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073
RilturilAe Seitlärif
herausgegeben von
Heinrich von Spbel,
o. 3. Brofefior der Geſchichte an der E. Lubw.-Mar.-Univerfität in München.
Fünfter Band.
München, 1861.
Literariſch-artiſtiſche Anſtalt
der 3. ©. Cotieſchen Puchhaudluug.
162520
Inhaſts⸗Aeberſicht.
Seite.
I Kaiſer Ferdinand II. und fein Seſqhihthreiber Hurter. Bon J.
Söltl (Schluß) - . . . 1
11. Kirchenfreiheit und airchenherrſchaft in der beſchichte. Bon g. €.
Bluntfhli . . . . . . . 46
1. Katharina II, und ihre Dentwürbigkeiten . . 88
IV. Coppi'® Annali d’Italia für das Jahr 1848. Ftalieniſche Gonföbe-
ration. Fremde Truppen. Bon U. v. Reumont . . . 99
V. Die Kaiſerpolitik Otto L_ Bon Wilhelm Maurenbrecher . 111
VI. Ueberfiht der hiſtoriſchen Literatur bes Jahres 1860.
m Allgemeine Weltgeſchichte. 16
. Alte Geſchichte . . . . . . 1683
3. Allgemeine Geſchichte bes Mittelalters . . . . 176
4. Geſchichte der neueren Zeit . . . . . . 201
5. Deutſche Geſchichte 219
Beilage. Nachrichten von der hiſtoriſchen Sommilften 6 bei ber ai
bayer. Akademie der Wiſſenſchaften. Zweiter Jahrgang. Zweites Stück.
VI. Ueber die Einheit des Menſchengeſchlechtes. Bon Theodor Waitz 289
VIIL Die Hl. Eliſabeth von Thüringen. Bon Franz X. Wegele . 861
IX. Georg von Böhmen, der Huffitenlönig. Bon Georg Boigt . 898
X. lieberfit der Hiforifchen Literatur bes Jahres 1860 (Kortiekung).
6. Deutſche Provinzialgeſchichte. Echwaben und Oberen . 476
n Mittelrhein . . . 483
Niederrhein . . . . 495
BVeftppalen . . . . 497
Nieberfachien . . . 503
Brandenburg. Bommern. Breußen 517
Oberſachſen. Thüringen. deſen 530
Franlken . 537
Bayern . 546
Die öfterreihiichen Etammlande 552
Böhmen. Mähren. Schiefiin . 561
T. Rachträge . . . . . . . . . 579
Iradfehler.
©. 256 3. 1». m. lies ſtatt „ber Humanität“ „bes Humanismus“.
€. 257 3. 11 v. u. muß hinter „vermeint“ eingeichaltet werben ( „ober
umgelehrt“).
©. 539 3. 4 v. u. muß heißen: Schannat in ben Vindemiis liter. Bd. 2
(Collectio Il) im Necrolog n. f. w.
©. 551 3. 6 v. u. lies fatt „Reitelbrock“ „Beitelrod“.
.....
1.
Kaifer Ferdinand IL und fein Geſchichtſchreiber Hurter.
Bon
J. Söltl.
(Schluß.)
XVIII.
Bald nach feiner Vermählung wollte Ferdinand feinen Kriegs⸗
mutb an ten Zürfen erproben, welche Caniſſa genommen hatten.
Marimilian II. hatte Schloß und Herrfchaft gekauft, weil dieſer Paß
je widtig fei, daß deſſen Verluft dem Feinde das Land bis Grätz
öffnen würde. Deßhalb Tieß er den Ort Eunftgerecht befejtigen und
es wurde eine Befagung hinein gelegt; allein fchon im J. 1581
Uagte tie fteyerifche Landſchaft, e8 fei cin göttliches Wunder zu nen—
nen, taß bei folder Vernadläffigung des Sriegsvolfes und feiner
Bedürfniſſe biefes Vollwert noch nicht dem Feinde erlegen fei. Die
Mannſchaft zu Fuß und Roß ſehe jih um Nahrung zu fuchen ge-
nötbigt, den Flecken zu verlaffen. Bei wachfender Gefahr verftärkten
ſich tiefe Klagen. Erzherzog Ernſt jammerte bei dem Kaiſer, daß
turch nachläſſige Loͤhnung die Befagung zur Verzweiflung gebracht
Pißecifge Yeitfärift v. Baur. 1
200 ne 3. Est,
werbe;'der Zuftand des Plages troftlos, unhaltbar fei. Darauf kam
einiggraber nicht ausreichende Hülfe und ver Kaifer beftellte als Be—
fehlehäber 1594 den Freiheren Georg von Parateifer. Diefer unter-
. ließ nicht, durch die dringlichften Vorftellungen zu überzeugen (1599
, ii April), daß Canifja die größte Aufmerkſamkeit verdiene. Aber es
—* ſchien, als ſollten unabwendbare verderbliche Zufälle zu ernſten An—
: .. zeichen einer düſtern Zukunft werben. Türkiſche Gefangene legten
Fener an, welches einen Theil der Kriegsvorräthe und der Feſtung
verzehrte. Nicht lange nachher ſtürzte ein Theil der Werfe ein, warb
ein anderer durch Gewitterregen mwefentlich beſchädigt. Paradeiſer ließ
Zag und Naht an der nothwentigjten Wieberherftellung arbeiten.
Dabei zeigte fih unter ver Beſatzung jest ſchon Meuterei, verlangte
ein Theil den Abzug aus dem Kriegsdienſt, ohngeachtet der Feind an
ber Grenze ftreifte. Am 7. Sept. erfchien vie türfifche Heeresmacht
vor der Feſtung, die Schwache Befagung hoffte auf Hülfe; am 14. Oft.
rüdte Herzog von Mercoeur zum Entjage heran; aber ver BVerluft
ber Zufuhr nöthigte ihn balo zum Abzug, ohne daß es ihn gelungen
wäre, Mannfchaft oder Lebensmittel in ven beträngten Platz hinein-
zubringen. Dann ging ein Theil der Ungarn fogar zum Yeinde
über und verrieth ihm vie Schwäche ter Stadt; die Zurücgebliebenen
bearbeiteten die Deutfchen, welche zu fejter Gegenwehr entfchloifen
waren; dieſe Hierauf verweigerten, fo daß Parabeifer feinem Geſchick
nicht mehr entgehen konnte. Am 20. Dit. 1600 wurde nach A tägi-
ger Belagerung das mit Waffen fchwer zu bezwingenvde Bollwerk dem
Feinde überliefert. Am 1. Dez. wurde auf des Kaifers Befehl ein
Kriegegericht nievergefegt, um Parabeifer’s Benehmen zu unterfuchen.
Diefes ließ fich in Bezug wenigftens auf Caniſſa und deſſen Befehls-
baber mehr durch den Einprud ftimmen, ven der Unfall ver Ueber-
gabe gemacht hatte, als durch Paradeiſer's ausführliche Darlegung
überzeugen. Er wurde verurtheilt und enthauptet, feine Güter ein-
gezogen.
Caniſſa's Befehlshaber war nicht Katholit. ‘Daher konnte ber
im erften Augenblide gefaßte Verdacht, er babe durch Uebergabe bes
wichtigen Bollwerk Ferdinand aus Rache in Gefahr bringen wollen,
leicht in die fefte Behauptung verwandelt werben, indeß die Gefchichts-
ſchreibung fpäterer Zeit fih auf ehrenhafte Weife hütete, kirchlicher
Kaifer Ferdinand 11. und fein Gefchichtfchreiber Hurter. 3
Ueberzeugung zu lieb durch fortlanfendes Fefthalten des Unertwiefenen
ſich zu befleden. ')
Kaum batte Ferdinand bie traurige Nachricht vernommen, bat
er ben König von Spanien, feinen Schwager, ven PBapft und ben
Kaifer um Unterftügung, ben wichtigen Pla wieder zu erobern.
Indeß wurden Berathungen gepflogen, Alles beftimmt, von allen
Seiten ber. famen gute Verheißungen und Ferdinand ließ e8 an all«
feitiger Zhätigfeit zu Förderung kräftiger Nüftungen nicht mangeln.
Cr wollte aber dem Unternehmen ſelbſt beiwohnen, das fowohl an
Zahl ver Mannfchaft als an Stattlichkeit der Ausrüftnng, als feines
Zweded wegen eines ber bebeutenbften während des langen Krieges
des Hauſes Defterreich mit der Pforte war. Die Herzoge ven Bayern
wünfchten ihm Glück zu feinen Vorhaben, und nachdem er fein Tefta=
ment gemacht, gebeichtet und den Leib des Herrn empfangen hatte,
übergab ihm ver Nuntius (am 23. Aug. 1601) das Heerbanner,
worauf er von feinem Bruder Maximilian begleitet ven Feldzug antrat.
Am 1. Sept. ging das Heer über die Mur, es zählte 23,000
Mann zu Fuß, 500 zu Roß, mit Allen, was zu einer Belagerung
erforderlich, aufs Befte ausgejtattet. Der Herzog von Mantua war
Oberanführer, Carl Formentin aus görzifchem Adel Ouartiermeifter,
ter aus Lothringen gefommene Drfeo Gulloni Zeugmeifter. Am
9. Sept. erſchien der Vortrab vor Caniſſa, am folgenden Tage rüdte
ver Gewalthaufe nad. Die Leitung der Belagerung wurde dem
Galloni anvertraut, vor deſſen Wohlredenheit die nothwendigere Rüdficht
auf Fähigkeit vor dem Erzherzog in den Hintergrund getreten war,
fo daß fein bald nachher erfolgter Tod nicht beflagt werden burfte.
Ferdinand fette überhaupt bei Mangel an eigener Erfahrung
unbetingtes Vertrauen in die Anorbnungen derjenigen Kriegsmänner,
welche die Belagerung führen follten. Diefelben legten aber ihre Un⸗
ı), So erzählt Hurter und fügt in der Anm. bei: Cäſar regulirter Chorherr
erflärt rundweg, es ſei unbefonnen, bieje Uebergabe aus Paradeiſer's Lu-
therthum abzuleiten, gleich als ob ein Proteftant nicht redlich handeln
lönnte. Hurter ſelbſt fagt (IV, 358): „in den vorhandenen Alten Tiegt
der unwiberleglihe Beweis von Paradeiſers Unſchuld.“ Warum fagt er
dieſes aur in einer Anmerlung? Warum zeigt er feine Unfhulb wit Kar?
*
4 3. Söltl,
fähigkeit oder Unvorfichtigkeit Thon dadurch an den Tag, daß fie dem
Zelt des Fürften die Stelle an der Spike des Lagers anwieſen wo
bie meijte Gefahr drohte. Doc bewies Ferdinand unverzagte Feltig-
feit, indem er bis zum Ente der Belagerung dort ausbarrte. Bald
zeigten fich, durch, Jahreszeit, Witterung und ungejunde Lage veran-
laßt, beim Heere viele Erfranfungen; von zwölf Kapuzinern, die mit
demfelben ausgezogen waren, ftarben vier in ihren feelforglichen
Dienjte. Der türkifche Befehlshaber in ver Burg beantwortete fchon
die Vorfchläge zu Unterredungen mit Kugeln. Unter Vorbereitungen
zu einem Sturm vergingen über anderthalb Monate, und als dieſer
endlih am 18. Oktober von drei Seiten erfolgte, war eine Brüde,
über welche Herberjtein mit den Deutfchen den Angriff bewerfftelligen
fonnte zu kurz, dabei fo ſchwach, daß tie ganze Schaar ins Waffer
fanf, ınit Noth fich retten mochte, und es fahen fich die Chriften
überall zurüdgefchlagen. In der Verweijung eines blanfen Säbels
als Antwort auf die Aufforderung zur llebergabe lag der Wink, weffen
man fich bei einem zweiten Sturm würde zu verfehen haben.
Bei allem dem hatte es Ferdinand an nichts fehlen lajfen, was
der Belagerung ben gehofften Erfolg hätte ſichern können. Er ver.
wendete feine eigenen Pferte zu Striegefuhren, gab die Zelte zu Sand—
fäden ber, zum Gewebe für ſolche anjchnliche Gelpfunmen. ')
Faſchinen waren in folder Menge bereitet worden, daß man
baraus ein Bollwerk hätte erbauen können, höher als die Feftung felbft.
Er Heffte fie noch immer zu gewinnen, dafern nur Erzherzog Mathias
Hülfe fenden möchte Am 7. Nov. ließ dieſer ven Feldmarſchall
Rußwurm mit 6000 Mann zu Zuß und 2000 zu Roß von Raab
aufbrechen. Am 14. rüdte er ind Lager ein und erhielt eine Stellung,
von welcher man dem Feind bie Zufuhr abfchneiden zu können boffte.
Bereits jedoch zeigten fih in Schnee, Froft und Wind grimmigere
Veinde denn die Zürfen waren. Schon ließen fih Stimmen hören:
wolle man die Strieger retten, fo dürfe man auf fo ungünftigem Boden
bei jo ververblicher Witterung nicht einen Augenblic® Länger verweilen.
Dem tapferen Rußwurm väuchte dieß ſchimpflich. Allein aus dem
') Das find die Thaten des Erzherzogs ? War es der Mühe wertb, fie an-
zuführen ?
Kaifer Ferdinand II. und fein Gefchichfichreiber Hurter. 5
Bericht ter zufammengerufenen Befehlshaber 309 er den Schluß, daß
der PVerfuch eines neuen Sturmes das Volk auf die Schlachtbant
führen hieße. Kaum war Jeder in fein Zelt zurüd, als ein Schnee
fiel wie nie feit Dienfchengetenten, dabei ein Sturm und eine Stälte,
dag nicht cinmal Wachtpoften jich ftehend erhalten konnten. Da auch
mit tem nächſten Tage Fein Wechjel zum Befferen fich zeigte, blieb
feine andere Wahl, ale zu retten, was noch möglich. Ferdinand ver-
kündete den Rüdzug. Er kam Niemanden gelegener als den Stalienern.
Rußwurnm hoffte noch das Geſchütz zu retten, wozu er und feine
Dberften einige huntert Pferde hergaben. Da mangelte aber allee
Zuggefchirr, weil e8 zu andern Sweden verbraucht worden. Es blieb
nichts übrig, als die Stüde zu zerfprengen; nur einige Wagen mit
Pulver fonnte Rußwurm zurücführen.
Am 17. ließ er die Zelte verbrennen und nahm noch die Kranken
und Verwundeten mit. Wber auch diefe mußte er hinter fich Laffen.
Eine fleine Meile von der Feſtung fchlug er am Abend das Quartier
auf. Des Erzherzogs Zelt mit feiner reichen Ausftattung und vielem
Silbergeſchirr, die Kutfchen, alles Yagergeräthe, der anjehnliche Vorrath
an Belagerungswerkzeugen, 42 Kanonen, 5 Karthaunen, 14,000 Flin-
ten, anvere Heeresausftattung, 6000 Kranke oder Verwundete waren
der Beſatzung als Beute geblieben; ten letteren allen wurden nachher
in dem Feftungsgraben vie Köpfe abgefchlagen. In einem Sumpf,
über welchen Herberſtein eine Brüde zu werfen unterlaffen hatte,
erlitten nach dem Abzuge noch viele Menfchen und Thiere den Tod.
— Die Heimtehrenden braten aus dem Lager eine Seuche nad)
Haufe, welcher nachher viele erlagen, und die bald darauf zu Laibach
auch fein einziges Haus verjchonte.
Ferdinand zeigte ſich über dieſen unglüdlichen Ausgang feines
Kriegsunternehmens geraume Zeit niedergefchlagen und ftumm, bis
ihn einft Wolf von Eggenberg an ver Tafel mit den Worten aufge-
richtet: Wollen &. D. ſich tröften, nicht der Feind, das Unwetter hat
Sie von der Belagerung zum Weichen gebracht.
Die nächften Fahre brachten das Unheil näher, und ber Herzog
Wilhelm von Bayern fah vie Möglichkeit voraus, daß Ferdinand die
Seinen in Sicherheit würte bringen müfjen. Deßwegen rieth er 1605,
derfelbe jolle ven Kaifer um Hülfe drängen, gute Kundfchofter an
6 I. Söltl,
ftellen, um gute Leute befonders um Katholiſche trachten, wenn er fich
auf feine kegerifchen Obriften nicht verlaffen könne, und vielleicht, fährt
der Herzog fort, fönnten E. L. auch ohne Maßgebung, mit den Ere-
ceutionen gegen. die Lanbleute ein wenig gemacder thun und biffimu-
liven, doch weiter felbft nichts damit vergeben. ')
Der Herzog hatte recht gefehen. Die aufrührerifchen Ungarn
erichienen auf fteierifchen Boten, plündverten, vermwüfteten, erfchlugen
viele Menſchen, fchleppten Knaben und Mädchen als Kaufwaare für
die Türken weg. Aber Johann Tzerklas ven Tilly, der nach einem
Vierteljahrhundert fo berühmt gewordene Kriegähelt, hatte, während
ber Erzherzog Ferdinand in Prag mit dem Staifer über des Landes
Bedrängniß fich berieth, an ber Spige geworbener Haufen und bes
Aufgebotes des Landes den Feind zurüdgebrängt. Die Noth einigte
Alles. Nie zuvor, wird bezeugt, hätten die Landleute treuer, williger,
gehorſamer gegen ihren Fürſten fich erzeigt.
XIX.
Zwei für jeden Landesherrn wichtige Gegenſtände befchäftigten
ben Erzherzog: die Finanzen und Bie Wehrverfaffung des Landes.
Daß die Gelpnoth nicht gering war, fehen wir aus einer Eröffnung
besfelben an die Landleute von Steyermarf zur Zeit, da feine Ver:
mählung bevorftand. „Sie wüßten, fagte er ihnen, wie fchwere
Schulden von Großvater und Vater her auf ihn fich herabgeerbt hät-
ten. Diejem feye zur Tilgung vor Jahren das doppelte Zapfenmaß
bewilligt worden. Der Ertrag besfelben habe biezu nicht hingereicht;
gegentheils feye fein Vater genöthigt gewefen, neue Schulden zu ma—
hen, auch mehrere Herrichaften zu verlaufen; taneben hätten ihn
ungetreue Diener un noch mehrere hunberttaufend Gulden gebracht.
Beranlafjung zu jenen Schulven läge größtentheild in Vorkehrungen
für das gemeine Wohl; andere hatten ihren Grund in der anerbornen
Milde. Sein Begehren gehe dahin, fie möchten an vemfelben eine
Millien tilgen«.
Diefer fchlechte Zuftand der Finanzen konnte eben fowohl Fro-
— —
') Bd. V, Beil. 180. ©. 400.
Kaiſer Ferdinand II. und fein Gefchichtichreiber .Hurter 7
jeftanten ermuthigen, als ihnen geneigteres Gehör verfchaffen. Sie
famen, aber ihre Vorfchläge waren unausführbare Abenteuerlichfeiten.
Neben viefem wurden allerlei Anträge auf Erjparniß gemacht, und
in ter Folge kamen wirklich einige Verbefferungen in ver Verwaltung
und der Wirthichaft zu Stande. Doch blieb die Verlegenheit des
Erzherzogs um vie erforderlichen Mittel für die Hofhaltung und vie
Landeserforderniſſe ſtets die gleiche, Bisweilen mußte er Geld bis zu
12 Prozent borgen.
Daß bei folchen Gelpnöthen vie Wehrverfaffung, hätte fie auch
nicht in anderer Weife an fchweren Gebrechen gelitten, felbft dem
unausweichlichften Bedürfniß kaum entjprechen konnte, muß wohl ein-
leuchten. Der ftetd mit gleicher Treue um feines Fürften Anfehen
und des Landes Wohl beforgte Graf Ambrofius von Thurn gab im
%. 1602 Vorſchläge ein, welcher Art der verwirrten Froatifchen Gränze
und dem untreuen Dienen bei Zeit fürzufommen wäre. Ob aber
bieje® ein wefentliches Ergebuiß zur Folge gehabt habe, wiffen wir
nicht.
Eines, ob Eigenthümlichkeit der Perfon des Landesfürjten, ob
neben viefer auch ver Zeit angehörend, darf nicht Übergangen werben:
das fittliche Betragen ver Solpaten blieb nicht unberüdjichtigt. Der
Hauptmannfchaftsverwalter zu Radkersburg erhielt im %. 1608 von
dem Erzherzog Befehl, diejenigen unter tem dortigen Kriegsvolf, welche
ein ärgerliches Leben führten, auszubezahlen und abzudanken.
Für Maria kamen inveffen wieder Tage ver Freude, da ber Kö—
vig Sigismund von Polen eine andere Tochter, Conftantia, von. ihr
zur Gemahlin begehrte. Am 23. Oft. 1605 wurde in Gräß ver
Heiratövertrag gefchloffen und bie Mutter begleitete die Braut nach
Bolen, mußte aber längere Zeit dort verweilen, weil ihre Gefunpheit
angegriffen war.
Indeſſen bereiteten ſich bei dem krankhaften Zuſtande des Kaiſers
Rudolf wichtige Dinge unter den Erzherzogen, um dem Mathias, dem
dritten Sohne des Kaiſers Maximilian II., die Nachfolge zu ſichern.
Stellen wir, fügt Hurter (V ©. 64 ff.), aus mancherlei zer⸗
ftreuten Andeutungen und Aeußerungen ein Bild dieſes Erzherzogs
zufammen, fo finden wir, daß er, wenigitend in ‚jüngeren Jahren
bie Unfähigkeit mit anfehnlichen Einkünften hauszubalten, mit feinen
8 . J. Söoltl,
Brüdern Ernſt und Albrecht gemein hatte, deßwegen eine hohe Stel-
fung vorzüglich al8 Mittel zu deren Vermehrung betrachtete. Ver:
anlaßte er früher Zweifel an ver Wantellofigfeit feiner kirchlichen
Ueberzeugungen ober vermieb er es wenigſtens damals nicht, ven
Schein auf ſich zu laden, als ſei er die Kirche preiszugeben geneigter,
denn von einem Gliede des Haufes Oeſterreich durfte erwartet wer-
den, fo wurde er nicht altein in Anhänglichkeit an fie, fondern felbft
in Eifer für diefelbe in dem Maße gefeftigt, in welchem er auf ven
Rath des Bifchofs Klefel hörte, vemfelben nicht bloß überwiegenden
fonvdern ausschließlichen Einfluß auf fich einräumte. Deswegen er-
wies er fich in der Folge zu Anerkennung einer rechtlichen Stellung
ber von der Kirche Getrennten weit zäher als fein Bruder Rudolf,
welcher zulegt fein Bedenken trug, bie wankende Herrfchergewalt auf
Koſten von jener zu feftigen. ALS daher Mathias der Forderung ver
unkatholifchen Stände Oeſterreichs nicht mehr ausweichen konnte,
fuchte er nach ertheilter „Religions = Affeluranz« bei dem Papft male
ein gehorfames Kind der Kirchen Freifprechung von der Schuld nad.
So war auch er es, ver bei feiner Vermählung in die Hausge-
fege (vermuthlich nicht ohne Stachel gegen feinen Bruder Rudolf)
bie Beſtimmung einrüden ließ: „daß binfort Fein vegierender Herr
von Defterreich ohne VBorwiffen und Willen der anderen Allen etwas
ber Tatholifchen Kirche oder dem geſammten Haus Vorgreifliches zu
bewilligen oder feftzufegen Macht haben, und, da vergleichen dennoch
gefchähe, ſolches kraftlos fein folles. Für diefen nun wurbe die Erb-
folge um fo eifriger betrieben, je mehr der Zuſtand des Kaifers ſich
verfchlimmerte. (V. ©. 73.)
Nicht allein wurde Niemand mehr vorgelaffen und durfte von
keinen Gefchäften gefprochen werben, fonbern es zeigten fich zwifchen-
ein förmliche Wuthausbrüche, im welchen er ven Nächftftehenben an-
fiel, verwunbete, zuweilen an fich felbft Hand legen wollte. Noch be-
venklicher fchien es, daß er Anhänger verfchievener Secten, unter fol.
chen felbft die gemeinften Leute, an ſich zog, ihnen oft das Geheimfte
anvertraute, Zufchriften an fie richtete und die Sage veranlafte, bei-
nahe hätte er durch fie zu heimlichem Entweichen fich bereven laffen.
Zwei Jahre früher hatte ver Erzbifchof von Prag den Bruber Lau⸗
renz von Brunduſio dahin berufen, um gegen bie Unkatholifchen zu
Kaifer Ferdinand II. und fein Geſchichtſchreiber Hurter. 9
prebigen und ein Fapuzinerflofter daſelbſt zu gründen. Rudolf hatte
ihm Hiezu neben dem auserfehenen Ort noch 2000 Thaler gegeben.
Wie er nun in feinen damaligen Seelenängften ven Cardinal Diet-
richjtein um Hilfe bat, glaubte diefer fie durch die Gebete der Ka⸗
puziner mildern zu können. Hierdurch wurde das Uebel noch ärger.
Rubdolf zeigte fortan Widerwillen gegen die heil. Meffe, ergoß fih in
Schmähungen wider die Fatholifche Religion, rief ven Teufel herbei ;
ibm, ſchrie er bisweilen, gehöre er an, er folle ihn nehmen und weg»
rühren. Sobald die Kapuziner ihre Gebete begannen, fing er an zu
wũthen und zu toben; bes Nachts fuhr er aus dem Schlaf auf und fchrie,
er werte von ihnen gepeinigt. Da forann ihr Nachtgebet auf den
Tag verlegt wurte, ftellten fich die Ausbrüche vefto heftiger während-
teilen ein. Deßwegen ging er damit um, viefe Ordensleute aus dem
Yante zu jagen, was bei dem Widerwillen ver unfatholifchen Land⸗
ftänte gegen biefelben ein Leichtes geweſen wäre, wenn fein bamaliger
Geſchäftseckel ſich hätte entſchließen können, irgend etwas zu unter»
ihreiben. Dabei tehnte er feinen Zorn auf alle Geiftlichen aus. Nach
ter Verabſchiedung der Geheimen Räthe Rumpf und Trautfon fprach
er von teren Hinrichtung oder Landesverweiſung.
XX.
Bei ſolcher Lage der Dinge berief Mathias von den Gliedern
reed Erzhauſes feinen Bruder Marimilian (Albrecht fand ſich an die
entlegenen Niederlande gebunden) nebft feinen Vettern Ferdinand und
Marimilian Ernft (ihren Bruder Leopold mochte er vielleicht zu fehr
tem Kaifer ergeben halten, Carl aber war noch minderjährig) zu einer
Zufammenkunft nach Wien. Befchwerden über den Staifer bildeten
ten Inhalt ver erzherzoglichen Eröffnung. Mathias ftellte vor: wie
ter Kaiſer bei fich erzeigenden Gemütheblöpigfeiten zur Regierung
ber Königreiche weder geuugfam noch tauglich fich befinde, deswegen
Fürforge, daß des Haufes, der Länder, ver katholiſchen Religion Er-
haltung gefichert bleibe, ihnen Allen obliege. Und fie willfahrten fei-
nem Wunſch und unterfchrieben am 25. April 1606 eine Acte, wo⸗
durch fie denfelben, damit des Haufes Macht und Würde nicht Gefahr
tiefen, zu deſſen Haupt und Säule nach Inhalt des Teftamentes
Kaiſer Ferdinand's beftellten, Alles genehmigend, was er hierüber wit
10 J. Str,
dem Bapft und ihrem Vetter von Spanien verhandeln würde. Dabei
verhießen fie, ihm mit jeglichem ihnen zu Gebote ftehenden Mitteln
zur Ermwählung als römifcher König behülflich zu fein. Erft ein bal-
bes Jahr fpäter trat auf bringendes Anfuchen des Bruders auch Erz:
berzog Albrecht diefer Verabredung bei ').
Seit dem Abfchluß der Uebereinkunft war fein voller Monat
verlaufen, als Mathias bereits eine keckere Sprache über ven Kaiſer
fih erlaubte. Bei einer Berfanmlung der unteröfterreichifchen Stänte
börte man aus feinem Munde: es ſei gegenwärtig von dem Saifer
feine Hilfe zu erwarten, er aber wolle mit ven Ständen Xeib uud
Leben laffen. Ferner ließ er durch Vertraute die Frage erörtern:
wie bei des Kaiſers Gebrechen die Erbfönigreihe und Länder zu er-
balten wären? (S. 97.)
Yu diefen Schriften werden bittere Anfchuldigungen gegen den—
felben ausgeſprochen. Er habe, wird gefagt, feinen Sinn von dem
Haus vergeftalt abgewendet, daß er die Nachfolge weder den natürli-
chen Erben, noch einem andern Blutsfreund gönnen möge. Durch ihn fei
zwifchen feinen Brüdern und Vettern Hader geftiftet, der eine von
ihm bald erhoben, tann wieter zurüdgefegt, zwifchenein Hoffnung
gemacht worden, er wolle fich nach Tyrol zurüdziehen. Dann wieder
babe er gleichmäßig bei ven Kur- und Fürften gegen Brüder und
Bettern Verdacht erwedt. Er fei tergeftalt ven Gett verlaffen, daß
er von demjelben weder hören noch reden, kein Zeichen besfelben um
fih leiden welle, bei feiner Predigt, bei feinem öffentlichen Gottes»
bienft, bei feiner Prozeſſion fich einfinde, fogar diejenigen haffe, welche
biefen beimohnten. Beicht und Communion ſeien bei ihm zur politi-
ſchen Gewohnheit geworben, fo daß man ihn zu feiner Zeit jo fchel-
ten und fluchen höre, fo ungebervig fehe, als an ven Zagen, an wel-
hen er das heilige Abenpmahl empfange. Daneben umgäben ihn
Zauberer, Alchymiften, Cabbaliften, rufe er dem Xeufel, wolle öfters
fih felbft Gewalt anthun, brülle wie ein Ochfe oder Löwe, fchlage
um ſich, zeige eine Raſerei, als wäre er befeffen. Zuweilen nenne
ı) Es wird bier bloß bie Erzählung mit Hurters Worten gegeben. Alle
befien „Sollte — Könnte — Möchte — Dürfte” — zur Bertheibigung
Ferdinand'e find weggelaffen.
Raifer Ferdinand II. und fein Geſchichtſchreiber Hurter. 11
er feine Brüder und Vettern Schelmen, Mörder, Zauberer, Leute,
bie ihm nach der Krone greifen wollten. Es träten Friften ein, in
denen er von feinen Geſchäften hören, feine Schreiben Iefen, feine
Geſandten vorlaifen wolle, mo er fi) abfperre, Vorftellungen dagegen
mit den Worten abfertige: er könne und wolle nicht helfen. Ver⸗
möge er irgend ein Gefchäft nicht abzulehnen, dann zeige er fich voll-
ende Furiofifch“, fchreie, fehelte, fluche ven ganzen Tag über, probe
denjenigen, welche etwas vorbringen wollten, ev werde fie aufhängen
laſſen; ftelle man ihm dann die Dringlichfeit ver Sache vor, fo werbe
er noch zorniger. Ebenſo wenig fei er zu einem Reichstage zu be-
wegen. Geld zwar befige er, wolle e8 aber nicht hergeben, den Ere-
bit babe er durch Wortbrüchigkeit zertört.
Mögen auch in viefen Schriften die Farben etwas ſtark aufge-
tragen fein, ven Grundzügen läßt fih Wahrheit nicht abfprechen, fagt
Hurter.
Es war aber bei folchen Zuſtänden dahin gekommen, daß von
Geſammtungarns Grundfläche vier Fünftheile mittelbar oder unmit»
telbar unter des Türken Hoheit ftanden, ein einziger Yünftheil dem
rechtmäßigen König verblieb.
Um viefen zu retten, wurben zu Ende des Jahres 1605 Fries
vensunterhandlungen eingeleitet, die über des Kaiſers Beharrlichkeit,
ver katholiſchen Kirche nichts vergeben zu wollen, erſt fruchtlos blie-
ben, bloß zu einem Waffenftillftand bis in die Mitte des Jahres 1606,
endlich zu einem Bertrag führten, veffen eilfter Abfchnitt lautet: Da
Seine Majeftät (Kaifer Rudolf) in Ungarn zu wohnen gehindert, dass
felbe fomit durch einen Landpfleger zu regieren genöthigt ift, foll die⸗
fer nicht bloß den Namen eines folchen führen, fonvern zum Beßten
der Landeseinwohner auch ınit deſſen Wefen ausgeftattet fein. Dem⸗
nach iſt der purchlauchtigfte Erzherzog Matthias als folcher mit uns
befchränkter Vollmacht einzufegen, biedurch jedes Toftfpielige und bin-
berliche MWeiterziehen nach Prag zu befeitigen.
Mit diefer Ernennung war dem Erzherzog zu Stillung ver in-
neren Unruhen und zu Herftellung des Friedens mit den Türken bie
Möglichkeit größerer Freithätigfeit eingeräumt. Er ſchloß mit Ste-
phan Bocskah, der ſich zum Fürften von Siebenbürgen und in einem
großen Theile Ungarns zum Herrn aufgeworfen hatte, einen Trieben,
12 I. Söltl,
gewährte ihm Siebenbürgen und ben weiten Landftrich von Ungarn
am linken Ufer der Theiß, freie Religionsübung mit der Bedingung,
daß dieſelbe ven katholifchen Belenntniß nicht zum Nachtheile gereiche,
Geiftlichkeit und Kirche frei bleibe und was in der Zeiten Sturm ge⸗
genfeitig weggenommen worben, an den vorigen Eigner zurüdfalle.
Kaifer Rudolf beftätigte den Bertrag. Darauf fchloß Matthias Frie-
den auch mit ven Türken.
Aber der Kaifer zögerte mit der Beftätigung, erhob darauf neue
Bepenklichkeiten und vie gegenfeitige Abneigung der beiden Brüder
fteigerte fih immer mehr. Und es entftand bei ber traurigen Lage
ver Angelegenheiten in Ungarn bei Matthias die Vleberzeugung, da—
fern er nicht dazwifchen trete, drohe dem Haufe der Verluſt feiner
glänzenpften Stronen.
Die durch Rudolfs thatlofe Gleichgiftigfeit fortwährend fich ver-
fhlimmernde Lage der Sachen benütten Einige, um den Erzherzog
wider den Bruder aufzuftacheln. Die Bewegung ver Heiduken er-
beifchte NRüftungen, vie Matthias alſobald anorbnete.e Daß er bie
Stände des Landes unter der Enns und von benjenigen ob der Enus
Ausſchüſſe einberufen habe, um über Vertheidigung ver Länder fich zu
befprechen, zeigte er dem Saifer an zu einer Zeit, in welcher freilich
Abſtellung nicht mehr möglich gewefen wäre.
XXI
Den drohenden Gefahren in Ungarn, der Stimmung in anvern
Landſchaften des Kaiſers, der Entfremdung, die länger ſchon beide
Brüder auseinanderhielt, und der von bed Kaifers Seite unabläfjig
neue Nahrung gegeben wurde, ben geheimen Entwürfen einer cben fo
wachfamen als rüftigen Partei, die eigentlich nur für ihre Abfichten
wirkte, gefellte fid) noch etwas hinzu, wodurch Matthias auf das Em:
pfindlichſte fich gefränkt fühlen mußte. Der Saifer hatte fhon am
8. Aug. 1606 einen Reichstag nach Regensburg auegefchrieben, an-
fangs Willens, venfelben in eigener Perfon zu leiten. Da einer ein:
getretenen Seuche wegen vie Zufammenktunft um ein Jahr mußte
verſchoben werben, änderte Rudolf feinen Vorſatz und befchloß vie
Ernennung eines Stellvertretere.
Hatte er Matthias fehon zu widerholten Malen dazu erfehen, fo
Kaifer Ferdinand II. und fein Gefchichtfchreiber Hurter. 13
durfte diefer bei ver Hoffnung, die fo lange beſprochene Angelegenheit
wegen der Nachfolge würde endlich ernftlicher zur Sprache kommen,
um jo zuverfichtlicher erwarten, (daß) die Wahl auf ihn fallen würde.
Aber Rudolf ernannte, chne dem Bruder auch nur eine Anzeige da—
von zu machen, feinen Better Erzherzog Ferdinand von Steiermark,
auf welchen er zu biefer Zeit fein höchſtes Vertrauen fegte'), dagegen
fih von dem Argwohn nicht losſagen konnte, Matthias möchte es ver-
fuchen, Bei den Reichsſtänden fo in Gunft fich zu fegen, um ihn felbft
von ver faiferlihen Würde zu verdrängen.
Daß die proteftantijchen Fürften biefe Ernennung ungerne fahen,
läßt fich nach demjenigen, was in Deutfchland über den Erzherzog fo
emſig verbreitet worben, leicht begreifen. Der Kurfürft von Sachſen
bemerfte dem Kaifer: Laſſe ſich auch nicht zweifeln, daß der Erzher-
zog Die Commiffion mit allem Ruhm, Lob uud Ehre verrichten werde,
fo jei doch zu beforgen, er dürfte allzufehr auf den Rath der Jeſuiten
horchen, deßwegen ter Reichstag ſich entweder zerichlagen oder doch
das nicht erzielt werden, weßhalb der Kaiſer denfelben berufen. Wie
es jcheint gelang es dem Kaiſer nicht, ven Kurfürften zu beruhigen;
denn derſelbe wiederholte feine Bedenflichfeiten bei obwaltender Ges
reiztheit der Fürſten durch die hitzigen von den Jeſuiten angejtifteten
Berfecutionen in des Erzherzogs Landen. Ferdinands Perfönlichkeit
überwand in der Folge alle Abneigung des Kurfürften gegen ihn.
Wurde nachher deſſen Ahnung dennoch zur Wirklichkeit, fo lag bie
Urfache hievon weder in jener, noch in Erwahrung des Bernutheten ’),
jagt Hurter.
1) Wie kam ber Kaifer dazu, Berbinanden zu feinem Stellvertreter zu er-
nennen? Warum febte er auf biefen fein höchſtes Bertrauen? Hurter
weiß doch fonft gar viele Muthmaffungen anzugeben, und ſchweigt gerabe
bei dieſem wichtigen Punkte. Nur einmal (V. 109) entfchlüpft ihm bie
Andeutung: Wußte man zu Prag etwas von der Verabredung der Erz⸗
berzoge? War biefes ber Ball, fo dürften Andeutungen darüber durch
bie Erzherzogin Maria bahingelommen fein. — Aus ben fpäter folgenben
Briefen wird ber Lefer die Sache deutlich erfennen. Offenbar wurde
aber das Wichtigfte mündlich verbanbelt.
2) Was heißt Das? Warum nicht deutlich?
16 J. Eöttl,
Bis in den zweiten Monat mußte Jerbinand der Ankunft der Gefant-
ten harren. Erft am 12. Yan. konnte er in eindringlicher Rede die Verſamm⸗
lung eröffnen. Der Hauptantrag beftanb in dem Geſuch um Kriegshülfe,
bei dem Aufftand der Haidufen und drohenden Friedensbruch der Zürfen
um fo dringender. Der Vortrag berührte ald Gegenftant der Berathung
noch Anderes, befonders die fehon feit manchen Jahren zur Sprache
gekommene Verbeſſerung ver Reichsjuſtiz. Aber vie kirchliche Spal-
tung (immer mehr den Normalzuftand ver Reichstage ausprägend)
warf fich, ehe man die Sache zur Hand nehmen wollte, auf die Form.
Zu allererjt, bieß es, fei feftzuftellen, welchem ver kaiſerlichen An-
träge in ber Erörterung der Vorrang gebühre? Schon an biefer
Frage gingen bie Stimmen nach ver Verfchiedenheit des Glaubens
auseinander.
Die katholifchen Geſandtſchaften wollten die Türkenhülfe, als dem
Dringlicheren, die anderen den Reichsfachen, als die inneren Angelegen-
beiten berührend, den Vorzug einräumen. Die Stimmung war burch
das, was fo eben mit Donauwörth fich ereignet hatte’), eine gereiz-
tere geworben; Ferdinands Ernennung zum faiferlichen Stellvertreter
batte dieſelbe nicht gebeſſert.) Was feine Perfönlichkeit unfehlbar
müßte bewirkt haben, das ward in den Hintergrund gebrängt durch
bie frifche Erinnerung wie das ehemalige Verfahren der von der Kirche
getrennten Reichsfürjten jüngft im eigenen Lande zu deren Gunften ’)
und zu Rettung des fürjtlichen Anfehens (ob zwar in ungleich milverer
Anwendung *) tur ihn theilweife fei befolgt worden.
Diefe Stimmung fund ihren Anbaltspunft und ihre Nahrung in
den Berwidelungen in Ungarn. .. Die Proteftanten verlangten, ber
Kaifer folle ven Frieden mit den Türken genchm halten, den Ungarn
1) Und kein Wort fonft über diefe wichtige Sache?
?) Dürfte auch ich vermuthen, fo möchte ich behaupten: bie Ernennung Fer⸗
dinands habe mit der Sache von Donauwörth einen natürlichen Zufam-
menbang, der wohl irgendwo auch fchriftlich angebentet if. Oder warb
dieß Alles mündlich verhandelt?
2) Zu weſſen Gunſten? Etwa der NReihsfürften ?
+) Man erinnere fih nur an Obontius, burg welche Mittel er follte belehrt
werben!
\
Kaiſer Ferdinand II. und fein Geſchichtſchreiber Hurter. 17
bie Religion frei ftellen; denn damit gegen dieſe ver Kampf fönne
fortgejegt werben, wollten fie ihr Geld.nicht hergeben.
XXI.
Indeß bemerkte man bei dem Erzherzoge Matthias, ver bisher
gegen den Kaifer über bie Schranken des Geziemenden nicht hinaus:
geihritten war, einen Umſchwung in Wort und Schrift. Woher die-
ſes? Wir irren gewiß nicht, wenn wir benjelben dem erfolgreichen
Beftreben Illeshazys und feiner Anhänger beimeffen.‘) Er brachte
zu Preßburg eine Verbrüberung der Ungarn und Defterreicher zu
Stande und ſchrieb darüber 31. Yan. 1608 dem Kaiſer: Die Ber-
bindung babe feinen andern Zwed, als ver Landfchaften, des Kaiſers,
der Chrijtenheit Wohl.
Aber bald galt ed, offen wider den Kaiſer aufzutreten, und bie
Ungarn erließen eine Vorftellung an die beutfchen NReichsftände und
baten nicht allein um Verwendung bei ihrem König zum Feſthalten
an bem aufgerichteten Frieden, fondern um Verweigerung jeder Tür⸗
fenhülfe, vie nur zum Zunder neuen Krieges werden müßte. ‘Durch
Beobachtung des Friedens werde nicht das Anfehen des Kaifers her⸗
abgefegt, nur die Wohlfahrt der Chriftenheit gefördert. — Welche
Wirkung ein folcyes Verlangen bei einem großen Theil ver dem kaiſer⸗
(ihen Begehren ohnehin nicht geneigten Oefandtfchaften in Negens-
burg haben werbe, das konnten diejenigen, von welchen basfelbe aus⸗
gegangen war, leicht ermeffen. Ste bemühten fich aber zugleich, vie
böhmischen und mährifchen Stände gegen dasfelbe aufzureizen. In
biefer Abficht richteten fie auch ein Schreiben au den Erzherzog Fer⸗
binand, der es feiner Mutter fandte, damit fie durd) die geheimen
Räthe deifen Beantwortung berathfchlagen laſſe, indeß er felbft an
demſelben Tage, 14. Februar, dem Kaifer hievon Mittheilung machte
und fchrieb: „Geſtern den 13. dies ift cin Curier hieher Tommen, und
bat neben ver gewohnlichen Orbinari von Prag unterfchiebliche Paket⸗
len aus Wien mit ſich bracht, die E. Kayſ. Maj. eınpfahen. Cttliche
find von meines Vettern und Bruders Erzherzogs Matthias Liebven,
') Nicht vielmehr dem Tiftigen Beſtreben Ferdinands und ber Jefuiten, bie
den Matthias verbrängen wollten ?
Hiſtoriſche Zeitfhrift V. Band. 2
18 g. Eättl,
die andern vom Kreisoberſten Seifried von Kollonitfh. .. Was an
mich überfchrieben gewejen, hab ich geöffnet, und weil auf das eine,
des Kollonitſch Sekretario Thomä Meyer zugehörig und bei den Kurf.
Sächſ. Gefandten zu erfragen fein folle, nachfolgende Erinnerung ver-
zeichnet gewefen: Zum Fall ver Mayr noch nicht zu Regenéburg an-
zutreffen wär, ſolle der Curier das Schreiben aufbrechen und ven
Einfluß, fo an das ganze Neich lautend und gehörig, wo es ſich
gebürt gegen einem Recepijfe überantworten,; tem in bes Mayrs
Schreiben hab er tie mehrer Nachrichtung abzunehmen, aberer, Mapr,
nirgend ber Zeit allhie zu finden: So ift das Schreiben an ihn gleich-
falls aufgethan.
Und fo dann daraus erfcheint, daß von nächit verfchiener Con⸗
gregation zu Preßburg au des heil. Reichs Kurfürften, Fürſten und
Stände ohne Zweifel eben ſolche Sachen wie an mich auch gejchricben
werben, und ich im Zweifel ftehe, ob8 mit E. Kayſ. Mt. Wiffen und
Willen gefchehe, zu tem, obs teren allhier anweſenden Reichs⸗Ständ,
Räth, Botichafter und Gefandten (in Betrachtung, daß es nicht an
fie, fondern an ihre Herren und Oberen gerichtet) annehmen möch-
ten ): Als hat mir anders nicht gebüren wollen, als midy hierüber
por allen Dingen bei E. Kaiſ. M. Beſchaids zu erholen, gehorſamſt
bittend, da unfchwer zu erachten, daß ter in ven Schreiben begriffene
Bericht von des Zürkifchen und Ungarifchen Wefens veränderten Zu:
ftand ber biefigen Reichſtagshandlung ein großes Nachdenken und Ber
fehrung bringen wird, ja vermuthlich etliche Gefandte mit Fleiß ihre
Erklärung über E. Mit. wider ten Zürfen gefuchte Hilf fo lang bie
auf gegenwärtigen Verlauf aufgezogen. . .
E. M. geruhen mir, je bälder je beifer Ihre Intention, weſſen
ich mich nun dießorts erhalten ſoll, anzufügen; auch weil in Erzherz.
Matthias Schreiben an mich Meldung gefchieht, e8 werde in Kurzem
eine antere völlige Relation hernach fommen, wofern zugleich an bie
Reichsſtände etwa Briefe und Gefandte mitgefchieftt würden, was dann
—
’) Barum hat man denn bie Schreiben der Gejanbten nicht wenigſtens zu⸗
erſt gezeigt? Warum bat man fie nicht an bie Fürften und Reicheftände
Aberjhiht? Aber Hırter fagt: Zur Eröffnung hielt ſich der Erzherzog
als laiſerlicher Commiſſarius befugter ale einen zwanzigjährigen Jungen.
Kaifer Ferdinand II. und jein Geſchichtſchreiber Hurter. 19
in biefem Fall mir zu thun ober zu laffen; auch wenn bes Kollonitſch
Schretar ver Mayr noch allhier erfcyiene, was ihm anzubefehlen und
aufzulegen jei.“
Mit diefem Schreiben fandte Ferdinand den Freiherrn Siegmund
driedr. von Trautmannstorf an ten Kaifer, und ertheilte demſelben
noch bejondere Inſtruktionen, wie er die Sache vorzubringen babe,
auch zu bevenfen geben folle, ch es gut fei, vie überſandten Briefe
ganz zu unterbrüden; benn wenn die Ungarn audere Mittel fänden,
ihr Begehren der Reichsverfammlung noch einmal fund zu thun, und
die Gefandten dann erfahren, man habe die Briefe an ihre Herren
unterfchlagen, fo möchte dies großes Mißtrauen erweden.
Der Kaijer felle vor den Ungarn warnen und alles bisher wegen
des Türfenfrievens Verhandelte ten Ständen offen vorlegen.
Die kaiſerliche Billigung der Maßregel Ferdinands war bereits
in Regeneburg eingetroffen, als erft vie Wotfchafter ver Reichsſtände
erfuhren, was mit ven Briefen vorgenommen worten. Eie ftellten
deswegen ten faif. Affiftenzrath Haniwald zur Rebe, ter neben An«
führung des Haiferlichen Befehles') mit ter feltjamen Ausflucht fich
behalf: die Briefe wären an bie Kurfürften felbft, nicht an deren
Abgeſandte überfchrieben gewefen; daher Zweifel, ob dieſe fie nur
annehmen konnten.) Kine fpätere Erklärung tes Erzberzogs an bie
Gefandten gab ale Grund jener Maßregel an: daß Briefe an Ihrer
Majeftät Räthe und Diener nad Wien geſchickt dort ebenfalls feien
unterbrüdt worden. ?)
Der Kaifer befahl darauf 23. Febr. feinem Bruder, mit allen
Neuerungen und Thätlichleiten einzuhalten, alle Zufammmenforderungen
der öfterreichifchen, hungarijchen und anderer Stänte uud alle Hand»
fung mit ven Türken einzuftellen, indem er felbft eheftens tie Erzher⸗
zoge zu fich rufen und mit ihnen vie Eachen berathen wolle.
Dem Erzherzog Ferdinand aber fendete er ven Trautmannsdorf
zurüd und deutete ihm an, er fege in feine Treue und Reblichleit als
— — — —j —
3) Wie kounte denn ein ſolcher Befehl von vornherein gegeben werben?
2) Geltfam aber neunt es Hurter. Aber Ferdinand hatte fich ja biefer Aus⸗
flucht in feinem Briefe an den Kaifer bedient!
2) Melde Ausrede! 9%
20 3. Sätt,
eines Familiengliedes die unbetingtefte Zuverfiht. Daß der Kaifer
ſich hierin nicht täufchte, wird aus dem weiteren Verlauf dieſer Ge-
fchichte hervorgehen. Auch darin erfcheint Ferdinand groß,') daß
er im Angeficht ernfter Verwidelungen und fteigender Bebrängniß
Rudolfs von Entfremtung, bie durch des Kaiſers Heinliches Benehmen
gegen vie beabjichtigte Vermählung vet Erzherzogin Magdalena (Fer⸗
dinands Schwefter) mit dem Erbgroßherzog von Florenz in jeber
Beziehung gerechtfertigt erfcheinen müßte, niemald auch nur die leifefte
Spur vurchbliden ließ. Indeß ging Mathias ungenirt feinen Weg
und entfchuldigte feine Schritte in einem Manifeft: was er bisher
getban habe, fei nur aus fchuldiger Fürforge zur Erhaltung des Hau⸗
jes, der Länder und Leute befjelben mit einhelliger Bewilligung und
Vollmacht feiner geliebten Brüder und Bettern gefchehen. Dasfelbe
zu Gottes Ehre und des gemeinen Vaterlandes Beſtem zu vollführen,
müffe er nunmehr auf allerlei Mittel und Wege denken.
Seine Schritte bei den Protejtanten am Reichstage in Negens:
burg fanten folche Gunft, feine Schriften folhe Zuftimmung, daß
eine Sendung des Grafen Althan im Namen des Kaifers einen Ge
genbericht wegen tes ungarijchen Verlaufes zu thun ohne Frucht
blieb, Ferdinand jede Hoffnung, an tiefem Reichstage etwas aus
richten zu Können, aufgab. Nur die Hoffnung, vem Saifer und ber
Sache ver Religien dienen zu können, verlieh ihm Ausdauer. Syn
eben dem Maße aber, in welchem die Spannung zwifchen dem Kaifer
und feinem Bruder fich mehrte, nahm vie gegenfeitige Spröpigfeit
zwifchen ben Reichsftänden überhand.
Noch ehe Ferdinand hiefür einen Beweis haben konnte, hatte er
geahnet, daß ver Wiener Vertrag zwifchen ven Erzherzogen von Ma-
thias zur Grundlage und zum Heber aller Wagniffe könnte gemacht
werden, deswegen nannte er denſelben einen verfluchten Vertrag”).
') Eudlich hat Hurter eine Belegenheit gefunden, feinen Helden groß zu
nennen.
*) Dabei citirt Hurter ben Brief Ferdinands an feine Mutter vom 20. Febr.
— 34 las den Brief (V. 432) und las ihn wieder und fand die ange-
zogene Wenfjerung nicht, endlich aber: „Weiln auch der geweſte obrifte
Kaifer Ferdinand II. und fein Geſchichtſchreiber Hurte. 2
Mathias aber bemühte fih, Jedermann von der Neblichfeit feiner
Abſichten zu überzeugen, ſchickte deshalb Geſandte nach verfchienenen
Richtungen, auch an vie Erzherzogin Maria, daß fie ihren Sohn zum
Beitritt vermöge. Allein fie war zu umfichtig, ald daß der Bote
einen beftimmten Befcheid hätte zurückbringen können. Ihre Antwort
lautete ſehr jein. Sie berührte ven eigentlichen Antrag gar nicht,
ſendern machte nur den Erzherzog auf feine Stellung zu dem
Kaiſer aufınerffan und bemerkte: fie zweifle nicht, ex werde Alles zu
des Kaiſers als nes Vaters bes Haufes beſtem Wohlgefallen verfügt
baben. — ben fo ausweichend antwortete fie auf ein neues Schrei-
ben: Sie könne dabei nichts thun, als mit ihrem armen Gebet Gott
aufleben, er wolle die Herzen zu feiner Ehre, ver Chriftenheit zum
Beften und dem Haufe zum Nußen vereinigen. Aber fügt fie bei,
lafien Sie ſich doch vor Allen die Religion anbefohlen fein; benn ben
Ketzern iſt nichts zu viel um baffelbe nicht zu begeben.
Mathias fuhr indeſſen fort, für feine Sache zu werben in Nom,
in Deidelberg, bei allen protejtantiichen Fürften und Neichsftänven,
und feine Briefe wurden in Regensburg glüdlich abgegeben. Als er
aber einen neuen Boten mit Briefen dahin abfandte, wurde berfelbe
angehalten, die Briefe ihm abgenommen und von den Affiitenzräthen
eröffnet. Das Erſte, was darin auffiel, war eine beglaubigte Ab⸗
fchrift res Wiener Vertrags. Bei dem Ableſen erfchraden die An-
wefenden. Der Landgraf von Leuchtenberg begab fich mit ven Ajfi
ftenzräthen fogleih zu Ferdinand und ſprach zu ihm fcharfe Worte
von Berfhwörung, von Pflicht und Eid, welche ihnen mit Sr. Durdh-
laucht ferner im Rath zu figen verböten, es wäre benn, daß er al8-
bald bei dem Kaiſer fich entjchulpige, mit ihm fich ausföhne, worüber
fie jeine Entfchlieffung erwarten wollten. Das ging dem Erzherzog
fo zu Berzen, ?) daß er in helle Thränen ausbrady und mehrmals bie
von Hermbflain bei biefen verfludhten conventum geweſen“ — Und dazu
yeißt die Rote: Die Zufammenkunft in Preßburg. —
Run frage ih, wer hat bie Urkunde abgefchrieben, wer hat bie An-,
merkung bazıı gemacht? Wer hat das Bud — die Geſchichte gefchrieben
und wie bat biefer die Urkunden benitt? So fchreibt man Geſchichte!
1) Warum? Weil feine Zweideutigleit an ben Tag kam!
22 g. Sätt,
Worte vernehmen ließ: fein Vetter gebe durch Tiefe Kundmachung des
Vertrages fchelmifch und verrätherifch mit ihm um. Durch mehrere
Stunden äußerte er den einzelnen Räthen feinen Kummer, fo daß fie
Mühe hatten ihn zu tröften. Wäre ihm, fagte er, in dem Augenblid,
da ber Landgraf die Sade vorgetragen, ein Meſſer in das Herz ge:
ftoffen werten, er glaube, ver Echreden würde das Blut zurüdgehalten
haben. — Die Meinung der Räthe lautete: die Erzherzoge hätten
feine andere Wahl, als fih von Mathias zu treunen.
Südlicher waren andere Abgefantte des Mathias nach anderen
Gegenden. Dur vie Beröffentlihung der Wiener Uebereinkunft,
wodurch vie anderen Erzherzoge als Mitſchuldige konnten dargeitelit
werben, erfchien er als bloßer VBollftreder eines längit [chen von ihnen
ausgegangenen Beſchluſſes.“) Die Faiferlihen Affiftenzräthe hatten
pflichtgemäß die gemachte Entdeckung nach Prag zu berichten. Damit
blieb Ferdinand, um feine und feines Brubers Ehre zu retten, feine
andere Wahl, als eine offene Darlegung. Sogleih mußte Traut-
mannsborf wierer nach Prag abreifen und die Entſchuldigung ſchrift⸗
ih und mündlich überbringen. Ferdinand ſchickte auch einen ver-
trauten Diener an Erzherzog Marimilian nach Innsbruck und evöff-
nete ihn, wie ihn die gemachte Entvedung im Innerſten betrübt, wie
er nicht umhin gekonnt habe, ta Alles zur Kenntniß ter Affiftenz-
räthe gekommen fei, bei dem Kaijer ſich zu entfchuldigen. Ferdinands
Mutter aber legte, febald fie deſſen Wittheilung erhalten hatte, eine
Fürbitte bei dem Kaifer für vie beiten Söhne ein.
Mathias war über die Verhaftung feines Voten böchlich entrüftet
unb jchrieb drohend an Ferdinand; ber Kaifer aber fand an des
Vetters Dienftbeflijfenheit großes Wohlgefallen und zeigte fich durch
deſſen Entſchuldigung im Betreff des Wiener Vertrages vollkommen
befriebigt. |
') Offenbar wollte Mathias gegen Ferdinand wirfen und ihm bas Bertrauen
bes Kaifere und ber Fürften entziehen und bie Wahl beffelben zum römi-
ſchen König hindern. Die Wictigleit nnd Gefährlichkeit der Sache fahen
die Mutter Ferdinande und die Räthe wohl ein.
Kaifer Ferdinand II. und fein Gefchichtfchreiber Hurter. 23
XXI.
Aber Ferdinands Anfichten über die bisherigen Schritte feines
Better Mathias und feine eigene Gefinnung erhellen aus feinen
driefen. In ihnen bewährt fih, fagt Hurter, in dem ungetrübteften
Kichte feine richtige Einficht, feine wankelloſe Treue gegen den Kaiſer,
fowie mit dem fefteften Gottvertrauen verfchmolzene Redlichkeit und
fein entfchievener Wille, lieber das Aeußerſte zu leiden, als zu Wider⸗
rechtlichem die Hand zu bieten. Zwiſchendurch Teuchtet dabei in dem
glänzenbften Lichte ver Mutter verwandte Gefinnung ') in Verbindung
mit ihrer durch höhere Ueberzeuguugen ’) veredelter Klugheit.) Die
Briefe, die der Sohn von dem Reichstage an biefelbe richtete, zeigen
uns einen fledenlofen Charafter, einen folchen Seelenabel, dem in ver
Folge der Glanz ber erften Krone der Welt nur als wohlverbiente
Beigabe dienen fonnte. *)
Zuerit folgen denn bier die gewechfelten Briefe wegen der Der:
baftung ver Boten bes Erzherzogs Mathias.
1. Ferdinand an den Kaifer. Regensburg 3. März 1608.
Gnädigſter geliebter Herr Vetter und Herr Vater!
Cuer faiferl. Dit. werben verboffentlich an mir bisher Anderes
nichts, als allen jöhnlichen Gehorfam und daß ich mich jeberzeit dero
gnädigften Willens eifrigft beflieffen, im Werk gefpürt und erfahren
haben, da ich dann (mit Gott bezeugend) für E. K. Mt. va es bie
Noth erfordert, Leib und Leben, Gut und Blut darzufegen keine Scheu
gehabt hätte und noch . . . Dieweil ich aber erfinde, daß Erzherzog
Mathias fi an dem, daß er fih E. Dit. für feine Perfon thätlich
widerſetze, nicht erfättigen läßt, fontern auch mich und andere Erz«
berzoge bei Derjelben in Ungnad vielleicht zu bringen gedenkt: fo
kann ich nicht unterlaſſen ... fürzufonmen mit dieſem meinem ge—
borfamen Schreiben. Und foll Derfelben nicht verhalten, als ich
geftern erfahren, daß ein Kurier von Erzberz. Mathias an Genffofler
— — — — —
) Wie wir fie bereits aus ben früher mitgetheilten Briefen lennen!
?) Was heißt Dies? Hatte fie eine höhere Ueberzeugung als ihr Sohn?
3) Beredelte Klugheit! Ihre Briefe zeugen davon ?!
) Eagt Hurter.
24 I. Sditl,
abgefertigt worben, alihier angelommen, daß ich mit den Affiftenz-
räthen für rathſam ermeſſen, denſelten anzuhalten') und nach Gele-
genheit der Sachen auch die bei Handen habende Brief zu öffnen,
wie dann durch die Affiftenzräthe geſchehen ... Und Bat ſich ...
eine authentifche Abfchrift gefunten beffen, was wir Erzherzoge und
auf fein Erfordern nah Wien im April 1606 mit einander verglichen.
.. ohne Zweifel dahin angefehen, daß er Solches zu einem Ded-
mantel feiner jest angemaßten ungebührlichen Attentaten zu gebrauchen
vermeint . . . welches Alles mich nicht unbillig in eine ſolche Betrüb-
niß und Belümmerniß gefeßt, dergleichen Id) die Tag meines Lebens
niemals überftanben.
(Folgt die Entfchuldigung, Ferdinand habe gemeint, er werbe
nach Wien gerufen, wegen ber döjterreichifchen Lande und Ungarn.)
Da wir tahin gelangt, hat uns .. Mathias Eurer Kaif. M. Leibee-
Indispoſition, fonbern auch Gebrechlichfeit an Sinn und Gemüth
mündlich und fchriftlih . . . fürgetragen und die Gefahr, welche allen
Defterreichifchen Landen daraus bevorftünde, vermaffen für Augen,
bag wir uns (weil wir dafür gehalten die Sachen feien alfo befchaffen)
mit ihm dahin verglichen, allen möglichen Fleiß anzuwenden, bamit
©. L. ald nah E. Kaiſ. Mit. ver ältefte von unferem Haus, zu einem
römischen König möchte erwählt und E. K. M. Derfelben fchwere
Loft mittragen zu helfen abjungirt werden, welches ich (ohngeachtet
ich mich deſſen lang geweigert) doch zulegt auf S. 2. Anhalten darumb
deſto lieber gewilligt, damit S. L. der Verdacht darin Sie mich jeber-
zeit gehabt, als wollte ich nämlich die Krone an mich bringen und
©. L. daran verhindern, aus dem Sinn genommen würde... Da-
mals habe ich mir die wenigften Gedanken gemacht, daß ©. 8. unfern
Bergleich wider E. K. M. auf einen folchen Weg, wie nunmehr leider
am Tage, mißbrauchen follte. Wie wir uns denn damals ftark gegen
einander verbunden, daß die Suchen im höchften Geheim gehalten und
außer unfer aller Verwilligung Niemand eröffnet werden ſollte ...
Wann dann mein und meine® Herren Bruders Meinung am
wenigften nicht gewefen, durch dieſen Vergleich des Erzherz. Mathias
1) IH — Ferdinand — habe ben Boten angehalten Der Lefer wolle
bieß merlen.
Kaifer Ferdinand II. und fein Geſchichtſchreiber Hurter. 95
8. zu einer ungebührlichen Praktik Vorſchub zu geben, fondern Dies
Alles auf ten empfangenen Bericht allein von des Beßten wegen und
Kur. 8 M. felbft, wie e8 neulih zu E. M. von mir und meiner
dran Mutter geſchickt worden, zu Guten von uns angefehen gewefen...
2. Regensburg, 4. März 1608.
Nachdem E. Kaif. Mt. nun etlihemal und noch erſt neulich
tur Trautmannsdorf . . . auferlegt, ich folle auf alle aus Defter-
reih und Ungarn abgehende Briefe, auch was wieder darauf erfolge,
fleißig Achtung geben, ... . jo habe ich nicht allein meines Vettern ..
Mathias und ter Preßburgiſchen Ungarifchen Verfammlung vorige
Schreiben aufhalten und E. M. zufertigen laffen, ſondern auch erft
den 2. März wieder einen Eurer Mt. Diener, ver von Wien auf
Yinz alder gelangte und zum Zacharias Gaitzkoffler reiten ſollte, arres
ftire, ') bei welchem fich feltfame folche Schriften gefunden, bie in
E. M. Kaiſerl. Affiftenz-Rath gelefen worden, und ich nimmermehr
gemeint, daß jie Erzh. Mathias zu dem Intent gebrauchen, oder auch)
dem Geitzkofer an die Hand gehen follen ... Aufm Paket iſt Feine
Ueberfchrift gewefen, cb im verpetfchirten Handbriefl ein Mehreres
begriffen, weiß ich nicht. Mir zu eröffnen ift aus erheblichen Urfachen
bedenklich. Der Arreftirte wird Seerauer genannt, fein Felleifen ift
durchfucht, finde darin weiter nicht.
... Herzog Mar in Bapern hat auf mein Erfuchen und Zu:
fhreiben gegen E. Mt. fidy erboten, daß er bei jetzigem fehwierigen
Zuſtand in allen feinen Landen und Gebieten einen Jeden, ver Eur.
Mt. zumider, auffangen und nieberwerfen laſſen wolle,“ wenn id)
mr 5. 8. deswegen Abifire. Es ift deshalb fehon an allen Grenzen
und Päſſen Fürſorge gefchehen. u. f. w.
Schreiben der Erzberzogin Maria an Kaiſer Rudolf.
3. Gräg, 12. März.
Mein Schn Ferdinand berichtet mich, was fich zugetragen zu
Regensburg mit dem ind Reich abgefandten Eurier ... . in biejer
Anhörung (bin) ich von Grund meines Herzens erfchroden und
hätte des Erzh. Mathias L. nimmermehr zugetraut, daß er meine
) Ferdinand gefteht und rühmt ſich hier wieber, er habe es gethan.
N) Wie weit konnte das gchen!
26 3 2ött,
zwei älteren Zähne tiefer Geftalt einrühren ſellt, was im bödchfter
Geheim rerkintlid und nur amt einem Hall, ver fi aber Gottleb
nicht ;ngetragen, auch verbeifentlidy nimmer begehen wirt, verglichen
werten. Run fann id mit Gott und ter Wabrheit wohl bezeugen,
raß werer ich nech meine Söhne das Wenigfte nicht gewußt, warum
fie nah Wien erbeten werten, wie ſie venn jeldde Reije ungern für-
genemmer, ich ihnen auch tiejelbe nimmermebr zeftattet hätte,
wenn mir was vergleichen vergekemmen wäre. Neben vem bat ſich
auch Ener Kai. Mt. wehl zu erinnern wilten, was ih Ihr ver
Tiefem etliche Mal von tiefer Materie ſowohl jchrift- ale männlich
in Untertgänigfeit anteuten hab laſſen, und daneben gebeten, Sie
wollen Ihr ven meinen Söhnen nichts Wirenwärtiges einbilten laſſen,“)
weil wir ihr aufrechtes Gemüth und ver gegen ©. K. Mt. ſchuldiger
Geherfam vor Anteren gar wohl bewußt. Welches dann E. Mt.
mit Gnaden vermerkt und felbft hoch vernünftig befunden, daß fie an
tergleihen Zufammentunft und Berathichlagung kein Schuld tragen.
Weil nun die Sade . . . ausgebreitet werden will und Soldes E. M.
vielleicht zu einer mehreren Offenſien Urſach geben möchte, hab ich
Diefelben in aller Demuth bitten wollen, daß Sie deſſen meine zwei
liebe Söhne mit Ungnaden nicht entgelten laffen u. ſ. w.
In einem Schreiben vom 17. März an ten Erzherzog Mathias
entſchuldigt fih Ferdinand wegen des mit dem Curier Borgefallenen
und fchiebt alle Schuld auf die Affiftenzräthe”).. Darauf antwortet
Mathias ven Wien 4. April, daß tie gefängliche Einziehung feines
Abgefandten, ter in Saucen gemeiner Ghriftenheit nnferes löklichen
Haufesé u. ſ. w. geſchickt worten fei, eine wahre Berlekung des Ge
fandten» und Völkerrechtes jei, da dies Alles auf einem allgemeinen
freien Reichstag gefchehen, ver allen Zu⸗ und Abreifenden perse fein
, Alſo Maria hat über ben Wiener Bertrag mündlich und ſchriftlich dem
Kaifer Andeutungen machen lafjen und zugleich ihre Söhne entſchuldigt.
Wie nun, waren dieſe Andeutungen Urſache, daß nicht Mathias fondern
Ferdinand nach Regeneburg gefchidt wurde?
’) Während er in feinen Schreiben an deu Kaifer feine eigene Thätigleit
rühmte !
Kaifer Ferdinand II und fein Geſchichtſchreiber Hurter. 97
frei fiheres Seleit gibt. Es kann aber, fährt er fort, nicht wohl
kim, daß fih E. 2. über folchen geführten Prozeß, welcher nicht al-
lin durch tie Kaiſ. Alfistenzräthe, fondern Inhalt Ihrer dem erften
Kurier gegebenen Kundſchaft von Ihr jelbjt begangen worden, ent⸗
ſetzen fellen.
Obwehl Ihre 8. fürgeben, taß Sie deſſen von Ihrer M.
ernftlichen Befehl empfangen und dies Alles von ben Affiftenzräs
then gefchehen: (fo) iſt doch Euer 8%. Kundſchaft, die Sie dem
Enrier eingehäntigt, verhanten, darin Sie felbft befennen, daß Sie
tie Brief, fo er bei fich gehabt, ton ihm abgeforvert haben... . ')
Dann führt Mathias an, daß fie zwar 1606 beſchloſſen, vie
Berbrüterung Damals noch geheim zu halten... . wie aber Eols
des gar nicht dahin gemeint werten, daß es in ewiger Stille und
Serfchwiegenheit bleiben, fondern zu feiner Zeit publicirt und an ten
Zag kommen folle.... Alſo kann ich nicht beftehen, daß tiefe
Publication ven mir umzeitlich nnd zuwider unferer tarin begriffenen
ausdrücklichen Intention gefchehen .
Ueber biefen Brief fchreibt Ferdinand an feine Mutter 12. Aprit.
Iſt mir vie Erklärung des Erzherzogs Mathias auf mein Schreiben
zuienmmen Was er mir für eine fchöne holdſelige Antwort gibt, Las
baken ©. 2. Di. aus ten beiliegenten Original zu vernehmen ...
Ift daraus leichtlih abzunehmen, daß er Leut um fich bat, fe tie
Ferern fchärfen, Die Unwahrheit auch auf das Papier zu bringen fich
nicht ſchämen). Nun babe ich rer Sachen mit dem Kanzler Herrn
Waldhanſer (einem der Affiftenzräthe) nachgedacht, Solches auch mit
tem Grafen Helfenjtein und tem Rath communizirt und die Sachen
dahin beracht, dag waun ich mich in weitläufige Verantwortung ein-
laſſen wollte, weil ich nicht umgehen würte können, basjenige cate-
gorice zu wwiberfprechen, deſſen ich mich nicht zu erinnern wüßte,
viel weniger aber baffelbe beftehen oder Ja dazu fagen könnte, taß
daraus nichts als mehrere Verbitterung erfolgen würde: Alfo haben
wir gleidy auf ein Concept gedacht, damit res Erzh. Schreiben nicht
3, Matthias hatte alfo am Laif. Hofe Leute, bie ihm die Sache mittheilten.
Zu weldem Lichte aber erjcheint Ferdinand?!
?), Wer bat ſich denn bisher ale unwahr bewieſen?
28 3 Söll,
unbeantwertet bleibe, welches €. 5. Di. ebenfalld hiemit empfangen,
das wofern e8 gefallen würde, alſebald E. F. Di. nah Wien beför-
dern könnten... . .
Sonſt aber nur dero gnädizite Meinung erinnern, wie ich bes
Erzh. Schreiben beantworten folle ').
In einem andern Schreiben vom 18. April über diefe Sache
erklärt aber Ferdinand wieder: es ift eigentlich Alles durch tie Aifi-
ftenzräthe gefchehen. Und wann ich mich fchon in dem einen und
dem antern Weg geirrt hätte, jo hab ichs nicht aus meinem eigenen
Kopf’), fonvdern mit aller damals anwejenden Ajliftenzräthe getban.
Einige Andere aus Ferdinand's Briefen mag feinen Charakter ncch
näher bezeichnen:
4) 4. Febr.
Freut mich vom Herzen, daß der Landeshauptmann (einer der
nicht katholiſchen Landleute) fich fo geberjamlih und willig erklärt,
wie id) denn an jeiner injenverheit meiner anderen Steprer Treu und
gehorfame aufrechter Affektion nie wicht gezweifelt.
5) 16. Febr.
Die Proteftirenden wollen, man felle in den Reichsabfchiev den
Religionefrieden aufs Nene beftätigen. Da werden die Katholifchen
(wie ich ihnen anveuten laffen) darauf fügen: fie feien es zufrieven,
man folle aber hinzufegen, daß Alles wieber in diefen Stand gerich-
tet und das reftituirt werde, fo jeit tem Neligionsfrieden den Katho-
lifchen unbilligerweife abgebrungen und genommen worven ......
Geftern hat ver Hannebald in einem Heinen Räuſchl zu mir gejagt;
er befürchte fich gar hoch, daß nicht ber Kaiſer ven Erzh. Matthias
heimlich aufreiben laſſe, ta nicht Leute mangeln, vie fich gar gern und
willig dazu würden brauchen lajjen.
7) 25 Febr.
Des Erzherz. Matthias Procediren ift gewiß feltfam zu verneb-
men und faun ich nicht glauben, daß er's für fich felbft gethan habe. Al⸗
len katholifchen Ständen gefällt es fehr übel, vie Qutherifchen aber
’) Welch einen Blick gewähren biefe Briefe in die Aufrichtigleit, Fähigkeit
und Yreithätigleit des Erzherz. Ferdinand!
?) Damit vergleiche man bie folgenden (10 und 14) Briefe.
Kaiſer Ferdinand II und ein Geichichtfehreiber Hurter. 29
riumphiren jehr darüber... E. L. Dt. feien ficher, daß ich ſowohl
af meine Reben, als fürnämlich aber auf mein Gewilfen gut ch:
tang geben will. Eolle, wie Gott will, der Religion nichts verloren,
jendern wo möglicy eher etwas dazu gewonnen werben, und wollte
ih lieber fo tief unter als ob der Erve fein, wenn Lie Religion etwas
leiden ſellte. Ya ich ſags Har, daß ich eher den Reichstag wollte
zerſtofſen, als der Religion ein praejudicrum gefchehen lajjen ').
8) 28. Febr. ZZ
Cs Hat in Wahrheit dies Ungariſche oder Preßburgifche Werfen
em ſchenes Ausſehen. Wie mir auch der von Trautmannsdorf an⸗
#igt, jo dürfte e& dazu kommen, daß mich J. M. in biefem gefähr-
lichen negotio brauchen und allein Ihr Hoffnung, ſolches Unweſen
zu ſtillen in meine Perſon ſtellen vürften : ... Ich beſorge gewiß,
daß man mich in dieſes Spiel führen will. Derohalben bitte ich
schmal, mir mütterlicy, brüderiich und treulich hierin zu rathen . . .
9), 1. März.
Daß der Landeshauptmann und die audern meine getreue Land—⸗
lente fich bis in den Tod bei mir beſtändig zu bleiben anerboten, das
hab ich mit Freuden verftanden. Ob fie gleich Ketzer find, habe ich
dech nie am ihrer Treue gezweifelt und zweifle noch im Wenigiten
nicht *).
Wenn ter Erzh. Matthias jett ſchon mit unferm zu Wien an-
gitellten und aufgerichteten Vergleich herfür wifchen wollte, weil ich
m Zeit in gar guten Gnaden bei J. M. bin, fo wühte ich mich,
ſchon herauszuziehen?).
Ob der Herr Vetter Wilhelm noch zu mir dieſe Faſten kommen
zırt oder nicht, kann ich nicht eigentlich wiſſen, wenn es aber ge⸗
ſchieht, will ih E. 3. D. Befehl in Allen geborjfamft nachkommen
mit Grüffen, Trunkbringen und Allem, fo mir E. 3. D. auferlegen
un befeblen' ).
", Wie feine Mutter „lieber follte das Reich verderben“.
?) Wieder ein ſchönes Lob für die Ketzer!
, Mau vergleihe damit die Entſchuldigungen Ferdinand's, bie oben mit-
setheilt wurden.
*, Bar denn Ferdinand fo gar unfelbftfländig, baf er Mies nur aul und
30 3, Söltl,
10) 7. März.
Die Affiftenzräthe haben ven Curier des Erzh. Matthias anhal⸗
ten laſſen ... man bat auch tie Abfchrift des zu Wien gemachten
Vergleich gefunden, ob welchen fie gewaltig erjchroden, und damit
zu mir herauf kommen, haben auch fehier nicht gewußt, was zu thun
oder zu laſſen jei, uud find gleichfam darob erftarrt. Nach langem
bin und ber Gedenken Haben ich und fie nicht® befferes befunden, als
alle Schriften bei einem eigenen Abgefandten Ihrer Mt. zu ſchicken
und ift das Loos wieder auf den Zrautinannsborf gefallen (ver) mid)
auch mit Grund der Wahrheit viefes zu Wien fürgelaufenen Verlaufs
entfchuldigen folle; ta ich aus ten Cinfchlüffen gefpürt, daß dieſes
unfer Werk durch das ganze Deutfchland, Welfchland und Spanien
ſowohl bei Keßern als Katholifchen foll publicirt werten, mich auch
beforgen müßte, wann ich's ſchon vertufchen wollte, daß es doch au-
vers woher an J. M. kommen und bie mir zugeorbneten Aſſiſtenz⸗
räthe Pflicht halber nicht anders thun Könnten als Solches bei J. M.
anzugeben. Habe ich mich derohalben zur Rettung meines und mei-
nes Herrn Bruders Ehre entfchlejfen, tiefes hiebei copei weiß lie-
gente Schreiben an J. M. bei dem von Zrantmannsberf abgehen zu
laſſen und ihm mehreren mündlichen Befehl gegeben. Ach bin zwar
ungern daran kommen, aber zur Sccurirung meiner und meines Bru⸗
ders Unschuld Habe ich einmal ter Zeit nicht anders thun Fönnen,
tamit auch J. M. mein zu berofelben bebarrlih tragenden treuen
Gemüth deſto Mehreres verfichert werben. Ich beforge mich wohl,
daß ver Erzh. Matthias Solches gegen mid) ungeabntet nicht wird
fürüber gehen Laffen, bitt derehalben E. F. D. die wollen die Sachen
mit beratbfchlagen . . . weſſen ich mich zu ber Verantwortung zu ver«
halten Habe... . Der Hamnibald vermeint, E. 5. D. die follen
mich und ten Herrn Bruder auf das Beßt bei J. M. entfchuldigen
. und nuter andern vermelten, tab E. F. D. unwiſſend dieſer
Vergleich für gelaufen ſei; da es E. F. D. auch gewußt hätten, daß
wir in dergleichen Sachen ſollten zuſammeulommen, fo würden Sie
nach bein Geheiß der Mutter thun mußte ober lonute? Wie oft kommt
Aehnlichet im den Briefen vor!
Kaifer Ferdinand 11. und fein Gefchichtichreiber Hurter. 31
ſee) und nimmermehr geſtattet Haben!) Ich befürchte mich nur,
tab nicht ich und ver Erzh. Matthias deswegen ineinander kommen,
me daß er mir nicht durch der Ungarn und Defterreicher Anftiftung
etwa Voſſen mache. Ich will aber gern von Gottes, ter Religion
une gerechten Sachen willen Alles ja ten Tod leiden.
ll, 10. März.
Mein Beichteater ift allbereitd von München wieder zurüd konz:
men unt haben ter Herr Bruder (Mar von Bayern) und ich ung
mit einanter verglichen, daß wir auf den 17. dies zu Leonjperg zu—⸗
iammentemmen follen, allda wir uns ver Notburft nach unterreven
werten, wie tem Ungarifchen und Oeſterreichiſchen Wefen zu helfen
jein wird. Morgen kommt ber Herr Vater bieher in tie Carthaus
Herz. Wilhelm) und werde ich gar gute Gelegenheit haben, vie Sa⸗
ben zuvor mit feiner Lieb abzudrejchen.
Ich beſorge mich gewaltig, daß der Erzh. Matthias gegen mich
gar ahnden wird, taß feine Leute alfo aufgehalten werben, weil aber
ch und vie Alfiftenzräthe folchen gemejjencen Vefehl ven J. M. Haben,
Sie mir auch deswegen ftark zufprechen, jo kann ich ihm einmal nicht
andere thun.... Wenn man fich nicht drein fchlägt und fich bes
fleißt, den Erzh. Matthias mit tem Kaifer zu vergleichen, fo tarf
ein böjes Feuer daraus entſtehen, fo nicht leicht zu löfchen fein wirt.
13, 14. Mürz.
Se viel nun die burh E. 3. Dt. gehaltene Berathfchlagung ans
kelangt, haben GE. 5. D. gar recht und wohl gethan, daß Sie lieber
ten Herrn Statthalter (Bifchor von Lavant) auch zugezogen haben ?).
Kir gefällt ter Räthe Meinung in Einem und tem Audern gar wohl,
will mich gewiß hüten, mich weder in Einen noch dem Andern zu weit
emzulaſſeu, und vie Sachen jeter Zeit wohl bedenken, und nichts
Schließliches ohne E. 3. D. Rath mich refolviren, ba ich gewiß wohl
auf mich zu ſehen babe, weil, wenn ich mich zuviel des Erzherz. au«
sehmen fellte, dadurch Ihre Mt. höchlich offendivt würde; erzeige ich
—N
‘) Maria ſchrieb wirklich in dieſem Sinne an den Kaiſer, wie oben mit⸗
getheilt wurrbe.
', Zur Beratung wegen bes Eutihnidigungsbriefes an den Kaiſer?
32 3. Eittt,
mich gar zu gut kaiſerlich, fo Iade ich mir ven Erzh. Matthias (wel⸗
hen ich für deperat halte) über meinen Hals. Habe deswegen wohl
Urfadde, Gott um nad und Berftand zu bitten, damit ich bei dieſen
gefährlichen Zeiten das recht Mittel finde... . deswegen auch ich
mit dem Herrn Vater Wilhelm und Herz. Marimilian jest Fünftigen
Montag zufanmen kommen werben.
E. 8. D. feien verfichert, daß ich mich von dem SKaifer nicht
leicht werde auf ein Eis führen lafjen, fonvern ich will allzeit, wie
man pflegt zu fagen, a pallı chiarı handeln.
14) Ohne Datum.
Die Keker bleiben ihrem alten Gebrauch nach Keter und tätige
Efel, wie fie denn böfer und ftätiger find, als fie noch nie gewefen,
wie €. 3. D. mit Mehreren von meinem Kanzler vernebinen werben,
und läßt fi) in Wahrheit die Sache nicht ungleich anfehen, ale wenn
der Reichötag eher zurüd als für fich gehen folle. Beffer ift, man
laffe ven Reichstag zerftoffen, als etwas Geführliches und ver Reli«
gion Schäpliches gepraktizirt werde.
Was unfern Vergleich zu Wien anlangt, werten E. F. D. alle
bereit bei dein Paul Kurier vernommen haben, was ich besiegen
für eine Gntfchulrigung bei Ihrer M. eingebracht. Ich Habs zur
Rettung meiner Ehr anders nicht thun Fönnen, weil ed alfo unter
bie Affiftenzräthe kommen, und von ihnen Ihrer M. wäre palefirt
werden. Dazu hat es nie nicht die Meinung gehabt, daß ſichs der
Erzh. dergeftalt gebrauchen folle, fonvern im Fall ver höchften Noth
und mit unferm Vorwiſſen. Weil er aber nicht dem Vergleich ges
mäß fich verhalten, fo kann er mirs auch nicht für übel halten, weil
ers und nicht ich publiziert, vaß ich mich alfo bei J. M. entfchulpige.
Ich bin froh, daß ich und mein Bruder cine folche Gelegenheit ge-
funden, und aus dieſer Halfter und ſchier unverantwortlichen Tractat
gezogen haben ... ch weiß mich anders nichts zu erinnern, fo ich
tem Herrn Vetter Marimilian gefchrieben, denn daß ich ihn ermahnt,
stark ob dem tivolifchen Receß zu halten, und ſich davon nicht treiben zu
laffen, wie ich dann in diefem Fall und (in) allen billigen Sachen be-
ftänbig bei und mit ihm halten will, desgleichen ſolle audy er thun ...
dieſes und fein Anderes habe ich mich gegen ihn verobligirt und hoffe,
daran nicht gefehlt zu haben. Wann ich aber unrecht gehandelt, will
Raifer Ferdinand II. und fein Geſchichtſchreiber Hurter. 33
ich mih gern E. 5. D. mütterlichen Straf hiemit nuterworfen ha⸗
ka une E. F. D wolle vergewilfert fein, daß ich wohl mit Reden
md Schreiben gewahrfam fein will und mich wohl hüten.
bb) 29. März.
Gott ver Herr wolle den Landeshauptmaun und meine Steyrer
“jo in ihrer geherfamen Affeftion beſtändig erhalten. Will auch
zeherſamſt gewärtig fein, wae E. F. D. wegen Beivehrung des Land-
dells mir ferner werden zufommen fallen. Ich bin noch der Dieis
sung, daß bei dieſen gefährlichen Zeiten vie höchſte Nothdurft Sols
des erfortere. Doch will ich meinem eigenen Kopf nicht folgen, fon»
dern mich gern mit Berjtändigeren Meinung vergleichen . . .
Weil Ihre Mt. das Bertranen wieder zu mir befommen, fo ver«
beite ich, daß ich dadurch nicht wenig Nus dieſem ungarischen Weſen
werte ſchaffen können.
Tas Concept des Schreibens an Erz. Matthias babe ich mit
ten Herrn Bater, Herrn Bruder und Hannebald commmmizirt, und
baben ihnen Solches wohl gefallen laſſen, allein hat ver Herr Vater
liche wenige Wort ausgejtrichen. Sonjten habe ichs ulfobald bei
anem eigenen Curier nach Wien ablaufen lafjen. Ich Habe viel mit
ten Herzog Max taraus geredet, der Hat zu mir gefagt: meine Hers
ven, ihr hättet wohl behutfamer mit dieſer Sache ungehen können;
aber ru haft recht gethan, daß du dich bei Ihrer Dit. deswegen ent-
ihufeigt haſt, quoniam prudentis est, consilia mutare.
Wie ich berichtet bin, fo wird ſich Erzherz. Albrecht nicht allein
tarh Schreiben, fontern gar durch einen eigenen Abgefandten bei
Ibrer Mit. des Wienerifchen Tractats halber entfchuldigen, fo ver»
beife ich auch, daß es ter Erzh. Max ebenfalls thun wird, wofern
ea anters feinem Gebrauch nach nicht ftätig ift. Alfo wird ver gute
Erzb. Matthias im Pfeffer liegen bleiben ').
E. 3. D. die mögen fich gewiß von mir verfichern, daß ich mich
'ı, Wie edel gedacht und gehantelt! — Aber Hurter fagt von Yerbinand
(V. 310): Und eine folhe edle offene Gemüuthéôart kann beharrlich
maßlojer Herrihfucht und im Dienfte derſelben ber verzwidteften Ränke
bezädtigt werden! — Kann mau denn glauben, Hurter habe bie Briefe
Ferdinand'e gelefen?
Dißerife Yeitfhrift v. Band. 3
34 , 3. Site, \
in biefem des Erzh. Mathias Handel mit dem Kaifer gewahrfam -
halten und nichts Schließlichs und Eigentlihs auffer E. F. D. und
der Räthe Vorwiſſen und Rath tun, mich auch hierinnen von Nies
mand, wills Gott, verführen laffen will.
(Dies wiederholt ev noch öfter.)
Hier mag füglich eingefchaltet werten, was Marin bereits am
1. März an ihren Sohn Ferdinand fehrieb wegen tes Ungarifchen
Wefens und des Preßburger Vergleiches, wegen welcher Angelegenheit
der Erzherzog Mathias den Herrn von Harrach an fie gefchickt hatte:
Dies Wenige Hab ich dir melden wollen, bamit vu Eins und
Anders fleißig erwägen, und weil die Sache an fich felbft zart, hitzig
und gefährlich ift, dich zwijchen dieſen beiven uns fo nahe angelegenen
Barteien forgfältig und anf billiger Wage halten wolleft. Wäre des«
wegen mein getrener Kath und Meinung, du gäbeft gegen ven ven
Harrad feinem Herrn dem Erzherz. nicht recht, auch nicht in Allem
unrecht, ſondern erbieteft vich bloß foviel, daß du all vein Vermögen
und Fleiß gern dahin amwenten wolleft, damit Ihre Mt. und der
Erzherzog aus diefem Diß- in einen andern Verſtaud wiederum ges
gebracht und durch terfelben Einigkeit die Erhaltung fowehl der Krone
Ungarns als diefer Lande aller befördert und unfer Haus vor einem
fo beproheten Bruch bewahret werte. Du weißt, wie wankelbar bie
Welt ift, und wie bald böſe oder oft umverftändige Miniftri die Ge-
müther ber Herrn verändern können. Deswegen ift ſich noch diefer
Zeit an feine Partei ganz und gar zu hängen und dadurch die antere
fo grob anzuftoffen, fondern weil der rechte Grund noch nicht genug
am Tag, von beiden Theilen viel pro und contra kann gehalten wer«
ben, und demnach bie befcheibene, vernünftige und verſchwiegene Neus
tralitit noch Liefer Zeit das Beßte, unterdeffen wird tie Zeit den
rechten Grund ter Wahrheit herfür bringen und uns zu ferneven Re⸗
folntionen Urfach und Wegweis geben.
Mein Kind! der von Harrach mache je gut, und tie Wahrheit
zu bekennen ijt ihm ja alje, daß einmal ver fromme Kaifer viel zu
langjam im feinen Sachen, denn foldhe Sachen wollen inımer Eil ha—
ben. Das ijt einmal wahr, dag man um Land und Leut wird kom—
men. Ich fürchte nur, daß nicht der Kaifer bir viel verheiße, damit
er dich wirer den Erzherzog Matthias verhege, und läßt dich danach
Kaiſer Ferdiuand II. und fein Gefchichtichreiber Hurter. 35
heden. Was ijts, wenn er dich zum vömifchen König macht und gibt
fir nichts dazu? In Sunmma, es ijt eine gefährliche Sache, vie ge-
wi wohl Berenfens bedarf. Der von Harrach wird dir alles fein
jagen; ſieh nur, daß bu dich nicht verrebeft, iſt bald gefihehen. Er
seht Den Vergleich zu Wieh Hoch an, verſchmacht ihm gar hart, daß
tu durch ven Edenberg begehrt Haft, daß man (denſelben) verbrennen
jet‘). In Summa, ich befind fo viel, daß der Erzherz. M. dieſen
Krgleich gewiß wird fürbringen. Das wär das Beßt, daß man fich
tarein fchlüg. Geſchieht's nicht, wird nichts Guts daraus und fürchte
id mich, daß nicht Alles über uns ausgehe.
13, 1. April jchreibt Ferdinand:
Das Verzeichniß des ungefallenen Wilobräts habe ich auch em⸗
rfaugen. Es iſt ziemlich viel, aber die Wahrheit zu bekennen, habe
ih mich cines viel größeren Schadens beforgt. Ich wollt wünjchen,
vb ſo viel Prädikanten oder vebellifche Rädlführer dafür verredt
wire ’).
19) 5. April.
E. 3. D. werben fehen aus Hannebalds, fo wollen Ihre Mt.
ten Reichstag werer aufheben noch verſchieben, entgegen wollen bie
Stände auch nichts thun, und gefchieht deren feines, fo fehe ich kein
— — — — ——
) Durch dieſen Brief wird Alles klar: Ferdinand hatte ſich bei dem Kaiſer
is Guuſt geſetzt zumeiſt durch feine Mutter, die eben nur Einiges vom
Wiener Vertrage andeutete, wie fie ſelbſt in ihrem Entſchuldigungsſchrei⸗
ben ſagt; es war wirklich darauf abgeſehen, daß Ferdinand die römiſche
Kõuigekrone erhalten ſollte, weil aber im Wiener Vertrag dieſe Krone
zunächſt dem Erzherz. Matthias war gleichjam verfiyert worden, und
Kerbinand felbft feine Zuſtimmuung md Unterfchrift gegeben hatte, fo
wellte er, daß dieſer Bergliid — die Urkunde — vernichtet würbe.
Matthias aber machte ihn eben wegen bes — zweidentigen — VBetra-
gen3 des Erzh. Ferdinand belamm. Dies wird Jedem Mar, ber bie
Briefe unbefangen lieſt und nicht geradezu als Sachwalter Ferdinand's
anftreten will. Gin ſolcher freilich muß Alles durcheinander werfen und
zu verwirren ſuchen, er führt aber eine ſchlechte Sache um fo ſchlechter.
*) Hat Hurter biefen Brief gelefen und dieſe Aeußerung feines Helden ger
fanut? '
5%
36 9. Sit, °
Mittel, wie ich aufjer groffen Spotts von hinnen weg kommen kann.
20) 10. April.
Ich fürchte, es werde nicht Alles, inſonderheit mit Succeſſion
des Reichs geſchehen, denn wie mir der Obriſte angezeigt, ſo ſollen
etliche Kurfürſten vermeldet. haben: ſie ſehen wohl, daß wir die Erz⸗
herzoge vermöge des 1606 aufgerichteten Vergleichs das hl. röm. Reich
wollten erblich machen, ſie würden aber ſehen, daß ſie dadurch den
Strich machten. Darf alſo wohl der gute Erzh. erurſechen, daß die
Succeſſion des Reichs von uns kommen bürfte .
Herzog Max (von Bayern) iſt noch gar willig auf Ihrer Mt.
Erforderung gegen Prag zu erfcheinen und gute officia zu präftiren.
..& 5%. Dt vie werdens gnädigſt erführen, daß ers gewiß mit
treuem Herzen in dem Werk erzeigen wird, denn er ift einmal ein
guter Mar)... Der Obrifte vermeint, daß es in biefer Prageris
Shen Zufammenktunft gewiß allerlei tractationes abgeben wirt. Bitt
berohalben unterthänigft, die Suchen berathichlagen zu laffen . . . ine
fonderheit aber wäre dieſes zu bevenfen, ob nicht zu begehren wäre,
baß wie der Erzh. Matthias vellmächtiger Gubernater in Ungarn
fein wid, daß ich ebenfall® vollmächtiger Gubernator in Groatien und
Windifchland zu fein begehrte... . Ich hoffe zu Gott, daß noch
wehl Mittel follen gefunven werden zur Dämpfung viefes Feuers,
wenn wir nur einmal zufanmenfommen. ‘Denn es ift gewiß , baß
Ihre Dit. in Vielen wider den Matthias gefündigt haben, fo fie wohl
hätten unterlaffen können.
16) 26. März.
Wenn mid Ihre Dit. etwa in fein Gubernament gegen Prag
gebrauchen wollte, jo will ih mich gewiß auffer E. 5. D. Vorwiſſen
und Rath nicht einlafien. Da es dazu kommen follte, daß (er) ver-
gleichen an mich begehrte und ich von E. F. D. Rath erhalten würbe.
1) Im Briefe heißt es ausbrüdiih Herzog Mar, und es kann nur bie=
fer gemeint fein, denn er follte auf das Drängen Berbinande nah Prag
zum RKaifer geben, um wegen bes Wiener Vertrages u. A. zu wirten.
Aber in der Gedichte (V. 305) redet Hurter vom Erzherzog Marie
milian.
j .
N
Kaifer Ferdinand II. und fein Geſchichtſchreiber Hurter. 37
XXIV.
Indeſſen jchleppten fich vie Verhandlungen am Reichstag zu Res
geneburg träge dahin. Ferdinand wurbe des Aufenthalt dert von
Tag zu Tag überbrüffiger. Unvermerkt fah er fih ver fo beſchwer⸗
lichen Stellung durch das Auseinandergehen ver noch zurüdgebliebenen
tathelifchen Geſandten des Reichstags in ven eriten Tagen des Mai
endlich enthoben. Die Sefandten der unfatholifchen Fürften hatten fchon am
26. April eine Schrift übergeben, die als Ablehnung der beantragten
faiferlichen Geſchäftsordnung fich betrachten ließ. Wohl vier Monate
hatte ver Reichötag unter lauter Zanfen gedauert. Die Einen meinten:
in dem leßten Bers des fiebenten Kapitels tes Evangeliums Johannis
fei das Wirken tiefer Verſammlung bezeichnet; die Andern fanden:
ſchleppend, ftürmifch, Krieg drohend habe fie fich erzeigt. Diefen Cha-
ralter gewann der Reichstag beſonders von dem Augenblid an, da
durch das Begehren der PBrotejtanten, eine Beftätigung des Religions⸗
frievens in ven Abfchied aufzunehmen, Bayeru zu den Gegenforderungen
ih veranlaßt fah: Alles wieder in denjenigen Stand zu fegen, darin
es zur Zeit des Paffauer Vertrags geftanden, womit die Rüderftattung
manches geiftlichen Gutes, veffen jene feit einem halben Jahrhundert
fih bemüchtigt, hätte erfolgen müſſen.
Das ift gewiß, daß durch tiefen Ausgang des Reichstages die
Stimmung in Deutfchland bitterer und gereizter warb, bie längſt vor«
handene innere Zertheilung fofort eine änffere Geftaltung gewann, in
ber erften Zufammenkunft ver unfathelifchen Gefandten unter ber
Benennung evangelifcher Correfponvenzrath die Anfänge des nachheri«
gen Corpus Evangeliorum erfchienen, durch welches tie gemeinfamen
Reiheangelegenheiten immer mebr ver confeffionellen Spaltung verflelen.
Kauui hatten die Reichstagsgeſandten Regensburg verlaffen, fo kamen
die Brandenburgifchen Markgrafen und ber von Baden, ver Kurfürft
von der Pfalz und der Pfalzgraf von Neuburg, der Landgraf von
Heſſen⸗Kaſſel, der Herzog von Würtemberg, der Zürft Chriftian von
Anhalt nebft einigen andern Yürften und Grafen und den Bevoll⸗
mächtigten mehrerer Städte in tem vormaligen Klofter Ahaufen in
Franken zufammen und fchloffen am 4. Mai, weil man von allerlei
Kriegsräftungen höre, einen Bund zur Vertheidigung.
38 J. Est,
Noch während Ferdinand zu Regensburg weilte, war feine Mutter
Maria geftorben, 29. April 1608. Auch nach ihrem Tode wellte
fie noch ihrem geliebten Sohn mit Rath beijtehen und in ihrem letzten
Willen (Beil. 225) wiederholte fie ihre früheren Ermahnungen wegen
der Religion, da er und feine Brüder in dieſer Hinficht durch den
Vertrag des Vaters nicht gebunden feien. Diefer habe ſich dermaſſen
in feinem Gewiſſen bejchwert gefühlt, daß er ſich darüber zu Nom
vom Bupfte abfolviren ließ, und er hat mit feiner eigenen Hand bie
Worte »unfern Erben“ ausgeftrichen. Weil vu, führt fie fort, alfo
hiebei fichit, daß es ihn aljo venete, fo hüte dich tavor, fo lieb dir
deiner Seele Scligfeit iſt, uud laß dich weder mit guten füßen noch
ſchmeichelnden, noch Droh- oder Zrugworten oder Schriften bewegen
zu einer folchen Bewilligung over Verheißung, wie denn dies auch
nicht in deiner Macht oder Gewalt fteht, ſondern eine folche Suche
ift, die allein ter päpftlichen Heiligkeit und dem geijtlidden Stande
gebührt und nicht div als cinem Laien. Das bitte und evmahne ich
dich ganz mütterlid, daß du mit deinen drei Landen und Unterthanen
alle gütige, guädige milde Grmahnung gebrauchen wolleft, was nur
menfchlich und möglich iſt thun, damit du fie mit Güte zu dem alleins
feligimachenten latholiſchen Glauben bringen kannſt, durch was Hilf
und Mittel es immer fein Fanır.
Hurter wirmet dem Andenken der Erzherzogin ein lauges Kapitel
(XLVIII.) und jehilvert ihre ganze Perfönlichkeit, ihre Zuneigung zu
ven Geiftlichen, ihre Frömmigkeit, wie fie fich in ihrem Land allen
Bruderſchaften, anch andern außerhalb vesfelben einverleiben ließ.
Eine große Anzahl von Indulgenzen für Roſenkränze, von Päpften
geweiht, für Agnuspei, für Medaillen mit päpftlichen Vergünftigungen
ausgeftattet, beweijen, daß ihr frommer Glaube gerne Alles um fich
vereinigte, was nach der Yehre ber Kirche dem innern Veben als Hilfe-
mittel dienen kann. Deßwegen hatte für fie nichts einen fo hohen
Werth, wie Ueberrejte der Heiligen, ob nun von deren Yeibern ever
Gewändern. Bon allen Orten ber fuchte fie dergleichen fich zu ver;
Schaffen; noch im legten Fahre ihres Lebens mußte Ferdinand feinen
AufentHalt in Regensburg dazu benügen, nm aus St. Emerams Abtei
ein Theilchen von dem Yeib des heiligen Biſchofs Wolfgang für fie
zu erbitten, und der Ausprud der Dankbarkeit gegen venfelben für ven
Kaifer Ferdinand II. und fein Geſchichtſchreiber Hutter. 39
Erfolg feiner Verwendung ift zugleich berjenige ber Freude, ihren
Wunſch erfüllt zu fehen. Wie werth ihr bie durch Clemens VIII.
erhaltene Vergünſtigung müſſe gewefen fein, vergleichen heilige Ueber—
refte in allen Klöftern und Kirchen Italiens verlangen zu bürfen,
läßt fich dem reichen Verzeichniß folcher entnehmen, bie ihr einzig in
Mailand überlaffen wurben. Ihre Ehrerbietung gegen viefelben be⸗
währte ſich dann durch die Faſſung, mit denen fie fie ausſtatten ließ.
Hiezu- gab fie mit freudigem Sinn Perlen, Edelgeſteine, Arm- und
Halszierden und die foftbarften Kleinovien her. So vereinigte fie in
ihrer Kapelle, vie feit der erjten Zeit ihres Aufenthaltes in Gräg
mit Recht ihr Augapfel konnte genannt werben, welcher fie fo eifrige
Sorgfalt und Liebe ftetS angebeihen ließ, zweierlei Schäße: diejenigen,
welche nur der Glaube würdigt und ſolche, die vor ver Welt ihre
Geltung nie verlieren werben. Die Mehrung von beiven Tieß fie ihr
ganzes Leben durch fich angelegen fein.
Er rühmt ihre Klofterftiftung in Gräg und wie fie häufig ge-
meinfchaftlich mit ihren Töchtern manchen Tag in bemfelben zubrachte.
Und obwohl fie ſich im Kloſter zwei Gemächer mit ausgezeichnetem
Seräthe hatte berrichten laſſen, in denen fie gewöhnlich dann, wenn
fie die Erzberzoginnen mitnahm, des Tags über ſich aufhielt, wählte
fie doch für die Nacht eine gewöhnliche Novizinenzelle in dem gemein»
famen Schlafhaus, an deren Thüre von Außen das gewohnte Täfel
hen Hing mit der Auffehrift: 1603. Schwefter Maria, Erzher-
zogin. Dann ftand fie um eilf Uhr auf, ging mit ven Andern in
ven Chor und trug, wenn die Kammerdienerin nicht fogleich zur Hand
war, ihre Laterne felbft, duldete auch nicht, daß eine Slofterfrau ihr
feuchte u. f. w. Darauf fchilvert Hurter ihr Bemühen zu befehren:
fie begab ſich bisweilen felbjt in adeliche Häufer mit einem Bilde ber
heiligen Jungfrau verfehen und ftellte mit beweglichen Worten dar
wie man doch den alten Glauben verlaffen und Diefe ') unter bie
gemeinen Weiber herabwürdigen könne? Bei allem dieſen Eifer war
fie von Bitterfeit und Härte gegen biejenigen frei, die fich nicht über-
zeugen ließen’). So geftattete fie den Hammermeiftern, welche bie
I) Die heil. Jungfrau.
2) Diefes wagt Hurter zu behaupten Augefichts der von ihm mitgetheiften
Briefe Mariens an ihren Sohn!
40 3. Sölil,
Auswanterung tem katholiſchen Glaubensbekenntniß verzogen und body
ihre Gewerke nicht verkaufen feunten, einen allmonatlichen Beſuch ber-
felben, um anordnen zu können, was zu teren Betrieb erforderlich.
Hurter meldet, wie wohlthätig jie gewejen, was fie in&bejondere
für die Kirchen gethan, wie demüthig und dankbar und Gott ergeben,
wie thätig und aufmerkſam auf bie Yandetangelegenheiten ') fie ge
wejen.
Dann ſpricht und rühmt er viel von ihrem Briefverkehr und
preift ten Ton ihrer Briefe’), und wie man ans ihnen alle Eigen⸗
Schaften ver Schreiberin herausleſe, und tiefe ftellen fi dar mit
einer Natürlichkeit, mit einen Bollgepräge, zu dem die Handlungen
nur wie nachträgliche oder ergänzente Belege ſich verhalten), Der
natürliche Grundton (ter Briefe) war Zartheit, Wohlwollen, Herzens⸗
güte, fagt Hurter. And fo wird denn durch den Verfaſſer Alles auf-
gefucht und aufgefunden, was der Erzherzogin zum Ruhme nach feis
nem Sinne gereihen mag. ALS leiſer Tadel klingt aber das
Folgende.
) Uub dieß iſt wahr.
2) Der Leſer bat ihn kennen gelernt dieſen Ten.
?) In der That, dies if fo! Zum Ueberfluffe mögen hier noch Auszüge
aus zwei andern Briefen folgen, welde fie auf ihrer britten Reife nad
Polen an Ferdinand fhrieb (IV. 536):
Dem ewigen Gott fei Lob, baß er dir beine Feinde in bie Hände
gegeben; tu biſt ibm Dank jhuldig und wir Alle. Das wäre ein
Haushalten geweſen. Aber unfer Herr flieht denen kei, bie ihre Hoff—
nung zu ihm haben. Ich erwarte mit großem Verlangen, wie der Ga⸗
belhofer pfeifen wirb (einer ber Abgeorbneten nach Prag und gefangen),
Nur bie Präbifanten alle gehenlt, denn fie find an biefem Allen ſchuldig.
Hab ich gern vernommen, wie man mit den Eiſenärztern umge⸗
gangen und laß mir Alles wohlgefallen. Allein Eines geht mir ab, daß
ih nicht erfahren hab, wie man mit den Raͤdelsführern umgegangen.
Denn bu weiſt wobl, daß die Lutherifchen nicht an bie Heiligen glauben,
fie then denn Beiden. Wollte beshalb gern wiffen, ob nicht etliche
Köpfe quitt gegangen, damit bein Gifer und Ernft befto mehr befräftiget
werde.
Kaifer Ferdinand 11. und fein Geſchichtſchreiber Hurter. 41
Bei aller Cinfachheit, beren tie Erzherzogin in ter Zeit
ihres Wittwenftandes für ihre Perfon fih befliß, fehlt es nicht
an Spuren, daß fie des Vaters und bed Bruders Neigung zu einer
glänzenven Hofhaltung theilte, und einer Wirthfchaftlidyfeit, wie Zeit:
verhältniffe nnd die Lage des Landes fie gefordert bitte, nicht immer
fih zu fügen wußte. Gingen auch anſehnliche Summen in Wohl«
tbaten jeglicher Art auf, fo beweilt doch ihre Forderung von 45,000 fi.
zum Unterhalt ihrer dev Mehrzahl nach minderjährigen Kinder, daß
fie rem Hinblid auf das Rangverhältnig vor derfelben demjenigen auf vie
feit Menfchengeteufen veranlaßten Bebrängniffe durch vie ftete Tür:
kengefahr das Uebergewicht einränmte. Den Winfen, welche Erzh.
Ferdinand von Zyrol den Kaijer bierüber zugehen ließ, mögen wir
entnehmen, dag nad) feines Bruders Ableben am Hofe zu Gräß eine
ziemlich unerbentliche Wirthfchaft geführt wurde, welcher die Erzher⸗
jogin, wenn auch diefelbe nicht gerade auf ihre Rechnung geftellt wer:
den kann, doch feinen Einhalt thun wollte „Er höre, fchrieb er nach
Prag, daß des Anjchaffens und Ausgebens Fein Ente ſeye. Er müſſe
fih endlich erklären, damit dem unordentlichen Befehlen ein Ziel
gejegt, vem jungen Herrn etwa& erhauſet werde» u. f. w.
Bald darauf erneuerte er feine Borjtelluugen: mes feye unerliß-
lich, der Kammer anzubefehlen, daß fie ohne Borwiffen des Erzh. Ernft
durchaus nichts gewähre, was die Erzherzogin oder in beren Namen
Anvere bejehlen möchten. Man habe in ver Zwijchenzeit, bis tie
Summe auf die Kinder aufgeworfen worben, bier ohnedem nur allzu:
viel gejchehen lafjen«.
Sie war eine große Freundin der Jagd, welcher fie auch nach
dem Tode ihres Gemahls mit Vorliebe pflegte, und Hurter, ver fel-
ten einen Tadel wagt, befennt doch: Das durfte mit Recht gerügt
werben, daß im Verhältniß zu den fürftlichen Einkünften und unter
ten unaufhörlichen Verwendungen auf die Gränze der Aufwand auf
das Jagdweſen ein allzugroßer gewefen fei. — Und ihr Hofmeilter
fchrieb ihr mit ehrenhafter Freimüthigfeit, va fie an ter Gräuze allzu
lange dem Waidwerk oblag, fte thäte beijer, früher zurüdzufehren, nicht
Feindesgefahr mache folches räthlich, ſondern ver Leute Gerede. Es
möchte ſonſt heißen, an der Jagdluſt wäre Ihrer Durchlaucht mehr
gelegen, als an des Landes Gränzen und Bewohnern.
42 J. Söltl,
Nachwort.
Ich bin am Ende der erſten fünf Bände des Hurter'ſchen Wer-
tes angelangt. Mit welcher Sehnſucht ich mach diefem Ende blickte,
kann ich nicht fagen; war mir Doch oft während bes Leſens zu Muthe,
als wandere ich durch eine dürre Wüſte ohne Baum und Straud,
ohne Duelle und Than.
Zuweilen zwar glanbte ich, jegt müſſe fich eine Dafe zeigen, eine
edle, wahrhaft große That, ein großfinniges Streben; aber als ich
näher kam, zerfloß das Trugbild vor meinen Augen und eine gränzeu⸗
lofe Wüfte ftarrte mich an. Doc zolle ich dem Verfaffer meinen
aufrichtigen Danf dafür, daß er mir und der Welt durch das Bud)
ben Harften Beweis geliefert hat, daß eben da nur eine leere Wüſte
fei, wo jo Manche noch ein ſchönes Land herrlicher Thaten und hoher
Geſinnungen vermutheten. Breilih wenn man nur Hurters Dar»
ftellung felbft, feine Erzählung lieft, da fieht man ein reiches ſchönes
Land und darinnen bie edeljten Männer und Frauen walten, geſchmückt
mit allen Tugenden; Lieft man aber die fo freigebig mitgetheilten Ur«
funten, ach! va löſt fih das fchöne Bild in eitel Dunft und Dich—
tung anf und die gemeine Wirklichkeit gähnt den Forſcher an, und
man begreift nicht, wie es möglich war, fünf Bände zufammenzu«
Schreiben über folche Perfonen und Zuftände, wie diefelben dem klaren
Blick wirklich erfcheinen und aus den gegebenen Briefen und Urkuns
den erſcheinen mülfen, fo daß feine Täuſchung mehr möglich ift.
In der Borrede (XVII) jagt Hurter: „In unferer Zeit wird
oft großes Gewicht darauf gelegt, durch künſtliche Zufammenftel+
lungen aus fcharjjinnigen Vermutdungen, gewagten Borausfegungen
und Schlußfolgerungen vie Gefchichte zu cenftruiren und ver fubjectis
ven Meinung des Schreibenden gemäß für bie Ereigniffe Beweggründe
oder Abfichten anzunehmen, oder einen Zuſammenhang des Gejchehenen
zu ertlügeln, wie dies Alles wohl hätte fein können, felten aber fo
gewefen ift. Das läuft mehr auf Gefchichtmacherei als auf Hiftorio-
graphie hinaus. Jene ift dem Verfaffer fremd; hHinfichtlich dieſer
hätt er fih an den Satz der Nechtögelehrten: quod non est in ac-
tis, non ext in mundo«, — Ya, Herr Hofrath, tie feile Geſchichts—
Kaifer Ferdinand II. und fein Gefchichtfchreiber Hurter. 43
macherei ijt wie eine feile Dirne, welche Geift und Leib verführt; Die
wahre GSejchichtjchreibung, weldye cben nur die Wahrheit fucht uud
gibt, welche eben nur durch die Wuhrheit belehrt und beffert, obne
daß fie dieſes gerade anjtrebt, vie wahre Geſchichtſchreibung ift Eur
und einfach und feifelt durch ihre ungefchmücdte Einfalt. Aber die
Geichichteinacherei liebt Pomp und Berhüllung, fie zeigt fich geſchmückt,
und wie cin fchlechter Anwalt einer fchlechten Sache will fie den Yejer
und Hörer verloden, von der Wahrheit abbringen und anf Neben-
wege führen, daß er der Hauptſache vergeffe. Ich frage nun: Wollte
Hurter einfach Geſchichte ſchreiben? Tritt er nicht vielmehr bei jeter
Gelegenheit, deren ce felbjt viele geflijfentlich jucht, als Anwalt md
Bertheidiger des Erzherzogs Ferdinand und feiner Mutter auf, ftntt "
einfach ihn handeln, und aus feinen Briefen ihn Fprechen zu laffen ?
Wie oft fchreibt er nicht ganze Abhandlungen, um die Vorfch-
rungen desſelben zu rechtfertigen, den Einfluß der Jeſuiten und der
Mutter auf ihn zu läugnen oder fo gering als möglich darzuſtellen,
dagegen vie freie Selbjtthätigfeit zu beweijen, während doch alle Bricfe
Ferdinand's felbft. vom ©egentheile Sprechen? — In welchem Lichte er-
fcheint ter Charakter feiner Mutter in ihren Briefen, über welche
Hurter nicht Worte Des Lobes genug finden kann? Glaubte er den
wirflich, Niemand werde biefe Briefe felbjt leſen, ſondern Feder werde
fegleich feiner Schilderung beipflichten ?
Mit welcher Kühnheit mochte er den Sat ansfprechen und gel—
tend zu machen ſuchen: quod non est in actis, non est in mundo
(Borrede XVIL), da er doch aus den mitgetheilten Driginalbriefen
Marien's und Ferdinand's wiffen mußte, daß gar Vieles und zuver—
läßig nicht das Umwichtigfte durch Gejandte oder bei perfönlichen Zu-
fammenfünften münblich verhantelt wurde?
Kein, dem Herrn Hofrat) war e8 nicht um die Ermittelung ber
Wahrheit, fonvdern um tie Vertheidigung Ferdinand's zu thun; er
übernahm die Suche als ein Anwalt und ſuchte dieſelbe, fo
gut ed anging, mit allen Künften eines Anwalts zu führen.
Daher die Langen WÜbfchweifungen von der Hanptfache, bie
Irr⸗ und Seitengänge, die er den jchen ermübdeten Nejer führt, vie
troftlofe Breite der Darjtellung, und ter Wortſchwall, der nur bes
täubt. So handelt nicht ver wahre Gefchichtfchreiber, der als un-
44 J. Söltl,
partheiiſcher Richter im Namen und gleichſam im Auftrage der ge⸗
ſammten Menſchheit die Sache vorträgt und ſelbſt entſcheidet, oder
Anderen daun die Entſcheidung überläßt; mißkennt auch er ſeine hei⸗
lige Pflicht, fo richtet über ihn ſelbſt und über den von ihm darge⸗
ſtellten Mann eine ſpätere Zeit, welche auf's Neue zu Gericht ſitzt
und das Urtheil fällt, wenn dieſes nicht ſchon die Gegenwart durch
ihre edelſteu Männer übernimmt, wie durch Geſchworne. Dieſem
Gerichte wird auch Hurter verfallen, oder iſt es ſchon nach der Art
und Weiſe, wie er ſeinen Helden ſelbſt zu zeichnen verſuchte, und nach
den Belegen, die er mittheilte. Denn nach dem, was er ſelbſt drucken
ließ, wird er es nicht mehr wagen, zu behaupten, er babe vie Zeich-
nung Ferdinand’s aus den Urkunden entworfen Har und wahr.
Er hat es gemacht, wie ein Vertheibiger, ber bei ganz Haren
Beweifen des gefchehenen Unrechtes feinen felbftgeftindigen Schügling
(und das ift Ferdinand in feinen Briefen) noch als einen Unfchuldigen
darftellen will, ftatt ihn der Milde der Richter zu empfehlen und bins
zumweifen, wie er durch Umſtände zu folchen Thaten veranlaßt und
gebracht wurde. Und bei Ferdinand wirkten Erziehung, Mutter und
Jeſuiten miteinander auf fein Thun ein, bier hemmend, dort brän-
gend, und was Maria vom Stönige von Spanien fagt in ihrem 41.
Briefe: „Mit einem Wort ift ver König in der Zucht wie der Mar,
daß er nichts reden oter thun darf ohne Wiſſen des Marquis von
Denia, er ift halt noch wie ein Kind, traut fich nicht zu reden; ein
fremmes Herz ift er, aber darfs nicht zeigen« — Tas darf nıan in
ber That von Ferdinand fagen. Gibt er doch felbit feinen Nuthera-
nern das Zeugniß ver Treue und des Gehorſams; aber Mutter und
Jeſuiten drängen und drohen, er darf fie nicht nach ihrem Glauben
leben laſſen, er muß fie verfolgen, wenn fie fich nicht Fatholifch ma⸗
chen laffen!
Und weiter fagt Hurter: „Je Harer vie ſich häufenden Wahrs
nehmungen unferer Tage es berausftellen, daß die Weltgefchichte feit
ber Menſchwerdung des Eingebornen eigentlich nur ein fortlaufenber
Kommentar zu ven Worten fei: und die Finfterniß bat das Yicht nicht
begriffen, deſto unerläßlicher wird es für den Einzelnen, bevorab für
den Schriftjteller, für ven Sefchichtfchreiber aber zu allererft, daß er
auf die eine oder die andere Seite fich ftelle; für das Licht, deſſen
Kaiſer Ferdinand II. und fein Geſchichtſchreiber Hurter. 45
Zräger das Chriftenthun (freilich nicht das zur Gejtaltlofigfeit ver-
achte und zur Farbloſigkeit verſchwommene) oder für die Finjterniß,
für das mit der Materie zufammengefoppelte Leben fich erkläre; mit
dem Hinken zwifchen beiden (fo lange und jo laut als duftige Blüthe
hoher Lebensweisheit angepriefen) wird fih je länger deſto weniger
durchkommen laffen«.
So fagt Hurter. Auf welde Seite er fich geftellt hat, wird aus
feiner Schrift Jedem Mar werden, ter fie mit Aufmerffamfeit Lieft;
far wird Jedem werben, daß er vie Würde, die der Gefchichte und
dem Gefchichtfchreiber ziemt, nicht kenne oder doch nicht bewahrt habe.
Man mag €8 verzeihlich finden, daß er von Eliſabeth, der Königin
ven England, fagt: "Graf Leicefter reichte ihr das Hemd, wenn jie
im Bette lag«, denn er feßte diefe Stelle doch nur unter die Anmer—
tungen; aber was foll man denken, wenn man folgende Stelle in der
Geſchichtserzählung felbft Lieft: „As Georg Scherer den Erzherzog
1575 auf feiner Reife nach dem Küſtenlande begleitete, warb er in
einem Heinen Orte mit Antern des Gefolges dem Iutherifchen Prä—
difanten in die Herberge gelegt. Mit viefem kam er darauf zu fpres
hen, wie Luther den Su aufftelle: wenn die Frau ihrem Manne
bie eheliche Pflicht nicht gewähren wolle, folle er biezu die Magd ru—
fen. Scherer ſchlug des Hausherrn Zweifel hierüber damit nieter,
daß er bemjelben in Luthers Schriften die entfprechenve Stelle nad)-
wies. Damit bewirkte er, daß diefer treue Schüler noch am gleichen
Abend den Rath des Meifters befolgte, alfo, daß das Hofgefinde am
frühen Morgen die Magd in unverfennbarer Andeutung des Vorge—
gangenen aus des Pfarrers Schlafflammer hervorgehen ſah, die über
der unwillkommenen Gntvedung in folche Beftürzung gerieth, daß fie
fih, fo lange jenes noch bort verweilte, nicht mehr bliden ließ«. 1.
©. 582.
Hat Hurter bei tem Nieberfchreiben dieſer Erzählung nicht ges
fürchtet, die Feufchen Ohren und Augen der Lefer zu beleidigen, ober
technete er vielleicht anf deren Beifall? Welche jonderbare Anficht hat
Hurter von der Gefchichtfchreibung!
II.
Kircheufreiheit und Kirchenherrſchaft in der Geſchichte.
Von
J. C Bluntſchli.
F. Laurent. lglise et l’etat; le moyen äge. Bruxelles, 1818. La
reforne. Bruxelles 1860.
F. Laurent, Ftudes sur l’histoire de l’humanite. La papaute et
l’empire. Bruxelles et Leipzig 1860.
Seit ungefähr zwanzig Fahren fehen wir überall in Dentfchland
firchlicyepolitifche Parteien fich bilden, welche im Stillen ſich ausbrei»
ten, einen fpürbaren Einfluß anf die Sefeßgebung und auf die Praxis
gewinnen und ernſte Kämpfe mit dem merernen Staate wagen. Tbs
wohl fie anfangs von der Mehrzahl ver Gebifteten ignorirt mid von
Vielen verachtet werten, finten fie doch bald in allen Schichten ter
Bevölkerung Anhänger und Freunde. In den höchſten Kreifen ver
Höfe und der Regierungen erhalten fie mächtige Gönner.
Achtung der Neligien und firchliche Freiheit find vie Loſungs⸗
werte, die fie anf ihre Fahnen fihreiben. Die Vereinsfreiheit der
neueren Zeit benngen fie in ansgedehntem Maße und mit großem Ger
Kicchenfreipeit und Lirchenherrſchaſt in ber Geſchichte. 47
ſchick. Sie ſtützen fich zugleich auf. die alten Maximen und auf bie
suen Grundrechte; und verftehen es, die fromme Gefchäftigkeit ver
grauen und den Ehrgeiz der Männer, die aufopfernde Hingebung der
einen und vie herrfchfüchtige Berechnung ver andern anf ihre Ziele
binzulenfen. Ueber alle Erwartung gelingen ihnen erfte Erfolge, und
ieter Erfolg wird zu einer Borftufe gefteigerter Auſprüche. Scon
fiimen unter ihnen Hoffnungen auf, daß bie revolutionsmüden Völker
ihrer Führung zufallen und der geremüthigte Staat an fich felber
wrweifelud der Erneuerung der Firchlichen Herrfchaft ſich ergeben
werde.
Aehnliche Erfcheinungen zeigen ſich in allen deutſchen Ländern,
aber den höchſten Aufſchwung haben dieſe kirchlich-politiſchen Parteien
in den größten deutſchen Staaten in den letzten Fünfzigerjahren ge—
nemmen. Der König von Preußen und der Kaiſer von Oeſterreich
ſchienen ihnen vorzüglich gewogen und in der Allianz mit ihnen cine
Stärkung der eigenen Autorität zu ſuchen. Wir beobachten ihr Wachs:
thum in proteftantifchen und in Fatholifchen Völkern; aber mächtiger
une nachbaltiger erweist fich die Fatholijch- firchliche, vie ſogenannte
ultramentane Partei. Da vie Reformation tie alte Kirchenherrfchaft
gebrochen und bie moderne Staatoherrſchaſt vorbereitet hat, fo gera«
then vie proteftantifchen Parteien der Art in Wiverfpruch mit der
Geſchichte und mit den Xorbiltern ihrer Conſeſſion, und das macht fie
ihwach und unficher. Die ultramontane Partei aber der neuen Zeit-
fennt dieſen Wiverfpruch nicht. Im Gegentheil: in den großen Päps
ften des Mittelalters und in ver früheren Weltherrfchaft ver Fatholis
ſchen Kirche findet fie das ivenle Vorbild, das fie zu ihrem Streben
begeiſtert. Der feftgeglieverte Breite Organismus ihrer Kirche und.
tie bergebrachten Ordensverbindungen geben ihr einen ſichern Halt und
weit umber reale Hülfe. Wenn fie in cinem Lande ins Gedränge
lemmt und gefchlagen wird, fo darf fie auf Villigung und Unter:
ftützung in autern Yändern vechnen und bie dortige Niederlage kann
bier zu neuem Siege führen.
Ihren größten äußerlichen Triumph hat Diefe Partei in Oeſter—
reich gefeiert, als der Kaiſer Frauz Joſeph mit dem Papfte
%ins IX. im Auguſt 1855 das Konkordat abſchloß. Seitdem es
ine mederne Staatenentwicklung gibt, Hatte niemals der Staat fich
48 I. €. Bluntſchli,
fo demüthig, niemals fo ergeben ter kirchlichen Autorität gezeigt. Erft
dieſes folgenfchwere Creigniß wirkte wie ein derber Schlag auf bie
öffentliche Meinung. Nun bemerkte man, wie hoch fchon die Au⸗
Sprüche ver Eirchlichspolitifchen Parteien gejtiegen feien, welche Macht
‚ fie bereits ergriffen haben. Man fragte fich wieder: Wo ftehen, wo⸗
bin gehen wir? Von tiefem Augenblide an beginnt eine Wendung.
Die Reftauration hatte ihren Höhepunkt erreicht und ihre Grenze ges
funden. Bis dahin fehritt fie erobernd vorwärts, nun muß fie Die
angefochtene Stellung vertheitigen. Die Konkordate von Württemberg
und Baden mit dem heiligen Stubl fine nur abgeſchwächte und ere
mäßigte Nachbildungen tes öfterreichifchen Konkordats, und felbjt dieſe
matten Copien erblajjen völlig und werden verworfen, febald fie an
das Sennenlicht der öffentlichen Verhandlung gezogen und der Ab-
ſtimmung der Volksvertretung unterbreitet werben.
Unzweifelhaft ijt dev Grundcharakter des XIX. Jahrhunderts
mehr politiſch als religiös. Die Rechtsideen der perſönlichen
und der nationalen Freiheit üben in unſerer Zeit eine viel größere
Gewalt über die enropäifchen Völker aus, als alle kirchlichen Streite
fragen, und mindeſtens cine eben jo große, als im XVI. Jahrhun⸗-
dert vie Vehre von ver Glaubenskraft und der Gnadenwahl. Das
Blut ver heutigen Menjchen pulfirt beftiger, wenn ihre Staatever«
fafjung ald wenn das Dogma der Transjubitantion angegriffen wird,
und fie find vafcher entfchleffen, für ven Ruhm ihres Vaterlandes ale
für die Chre ver umbefledten Empfängnip in ven Kampf zu geben.
Das Parlament fintet allgemeinere Theilnahme ald die Synode. Die
Berichte und Das Raiſonement der politiichen Preſſe haben eine wiel
mafjenhaftere Berbreitung als vie Ermahnungen und Mittheilungen
der kirchlichen Blätter. Auch die Heineren Fürſten und Regierungen
befigen in ihren Ländern eine fo intenfive Macht, daß feine Drohung
ber Stirchenanterität fie zu erjchüttern vermag, wenn fie ihren poli—
tiichen Beruf erfüllen. Die großen Entdeckungen, teren ſich unjere
Zeit berühmt, und die das Äußere Yeben ver Individuen und ter
Bölfer umgeſtalten, gehören ſämmtlich nicht ter Theologie fondern der
Mechanik, ver Phyſik, ver Chemie an, Die wie alle Naturwilfenfchaften
ſchon feit Menfchenaltern ver kirchlichen Bevormundung entwachſen
find. In den mannigfaltigen Werken der Geſchichte und der Philo⸗
Nirchenfreiheit und Kirchenherrfchaft in ber Geſchichte. 49
jopbie, im jeder Wiffenfchaft überhaupt, in der gefammten Literatur
und in ter Kunft ift das Bewußtjein menſchlicher Geijtesfreiheit mit
einer Stärke Ichendig geworben, die feine kirchliche Macht zu überwäl—
tigen vermag. Zwar ijt die Gegenwart nicht arm auch an Werfen
der Barınherzigfeit und religiöjer Liebe und Hingebung, aber fie iſt
dennoch viel reicher an weltlichen Tugenden, an gemeinnüßigen Arbei-
ten und Opfern, an politifchen Thaten. ‘Die moderne Wiſſenſchaft
und der moderne Staat find demnach die Hauptmächte der Neuzeit,
bie fortwährend in rieſenhaften Verhältniſſen aus dem Individualgeiſt
und aus dem Volkoleben herauswachſen und täglich weitere Gebiete
turchoringen und neue Werke bervorbringen, während die Neligion
und die Kirche ihre Ideale in früheren Jahrhunderten erbliden und
mühſam den Höhen nachjtreben, die fie vormals erftiegen hatten. Es
it harakterijtifch für die heutige Denkweife, daß der Papſt Pius IX.
jo lange von ven Völkern gefeiert wurde, als fie von ihm vie poli-
tiſche Befreiung Italiens Hofften, und daß er fofort unpepulär wurde,
als er anfing, die politifche Entwicdlung feines Vaterlandes ten kirchli⸗
chen Ueberlieferungen und Neigungen des Papſtthums unterzuorpnen.
Aber weniger noch al8 ein einzelner Menſch Kann fich ein Volk
immer nur Einer Richtung ergeben. Die Bielfeitigfeit feiner Natur
verlangt nach Berücdfichtigung ver Gegenſätze, die in ihm verbunden
find. Bon Zeit zu Zeit tritt das Bedürfniß eines Wechjels ein von
Ruhe und Bewegung, von Arbeit und Genuß, von Geijtesthätigfeit
und gemüthlicher Hingabe. Wenn das Volk von den politischen Auf-
regungen ermüdet und unbefriedigt ift von den geringen Nefultaten
feiner Kämpfe, wenn die Neue über feine Haltung in feinem Herzen
nagt und die Angſt e8 ergreift, wenn es das Vertrauen verloren hat
auf feine Führer, und feine Hoffnung auf vie Zukunft in der dunkeln
Roth der Gegenwart untergegangen ift: dann ift es auch im einem
politiich bewegten Jahrhundert hungrig geworden nad) den Zröftungen
ber heiligen Religion. Bon dem Segen ter Kirche erwartet es dann
eine reinere Befriedigung. In Gott und in dem ewigen Dingen fucht
es dann einen fejleren Halt und eine ftärfere Zuverſicht. Um deß—
wilfen folgen auf bie politifhen Revolutionen regelmäßig in
turzer Zeit religiöfe Reactionen. Deshalb auch war tas Wachs:
thum der kirchlich-politifchen Parteien in Deutſchland beſonders ſtark
Diſtoriſche Zeitſchrift V. Band. 4
60 I. €. Bluntfäfi,
nach ten unfruchtbaren Verfaſſungswehen ver veutfchen Revolution
von 1848 und 1849. Aus venfelben Urfachen lag es nahe, daß mit
der firchlichen Reaction fich die politifche Reaction verbüntett, mas
denn auch wirklich gejchehen if. Die neueren Konkordate find bie
fauren Früchte dieſes Bündniſſes.
Achnliche Erfahrungen wie Deutfchland Hatte Belgien gemadt.
Auch in Belgien war zu Anfang ver Fünfzigerjahre eine Kirchlich-por
litifche, tie fogenannte Fathelifhe Partei von der Zeitftrömung
empor gehoben worten und hatte fich der öffentlichen Gewalten zu
bemächtigen gewußt. Der hiftorifche Boden in Belgien und die Grund”
rechte der belgischen Berfaffung waren ihr günjtig. Belgien war nicht
wie Deutjchland durch zwei oder drei Confeſſionen gefpalten. “Die
reformaterifchen Neigungen des XVI. Jahrhunderts waren in ber
belgijchen Bevölferung von den Spaniern mit Feuer und Schwert gründ«
lih ausgerottet worven. Während Jahrhunderten jtand Das ganze Land
in dem Ruf jtrenger fatholifcher Geſinnung. Die Revolution vom
Fahre 1830 war das gemeinfame Werk der Fatholifch ultramontanen
Partei, welche die refermirte Regierung von Holland haßte, und ber
rabifal liberalen Partei, welche den Ideen des franzöfiichen Conſti⸗
tutionalismus huldigte. Die erjtere Partei hatte die bectrinäre Neie
gung der legtern Klug benugt, um möglichjt abjtracte Freiheitsbegriffe
in der Berfaffung zu ſanctioniren, die fie fpüter wider Die gefchwächte
Staatsinacht kirchlich auszubeuten verjtand.
In Belgien zuerſt wurde e8 wieder klar, daB auch heute noch
bie ultramentane Partei unter ter Freiheit der Kirche die Herr-
ichaft der Kirche verjtehe. Wit Berufung auf tie Freiheit der
Nticche wagte es der Biſchof von Gent bereits, bie Freiheit der Wij-
fenfchaft anzugreifen und die Hülfe der Stuatsgewalt gegen ven Pro-
feſſor Yaurent in Gent wegen Hiürefien in Auſpruch zu nehmen.
Der Kultusminiſter trante ſich freilich noch nicht, die Begehren des
Bilchofes zu erfüllen, aber ebenfo wenig, fie, wie e8 feine Pflicht war,
energijch zurück zu weifen. Die Gefahr für vie Lehrfreiheit an ver
Stantsuniverjität und für die wiljenfchaftliche Freiheit überhaupt war
unmittelbar nahe gerücdt und drohend genug. Damit aber war ver
Lebensnerv des modernen Veifteslebens getreffen. Schen hatte ein
anderer Profejjor vor der kirchlichen Macht furchtfam die Waffen ges
“
Kirchenfreiheit und Kirchenherrfchaft in ber Gefchichte. 61
ftredt. Aber Laurent wurde durch die Gefahr nur zu entfchloffenerem
Vorgehen gereizt. Die ultramontane Partei hatte c8 fehr zu bereuen,
daB fie gerade an tiefem Manne die freie Wiffenfchaft anzugreifen
gewagt hatte. Er ließ fie feine geijtige Ueberlegenheit und feinen ſitt—
lichen Zorn ſchwer empfinden. Als das belgiſche Volk gewahr wurde,
daß es zugleich in ſeinem Geiſtesleben und in feiner Vermögens» und
Familienſache bedreht werde, da erhob es fich im Mai 1857, und in
ten Sturme, der damals durch die belgifchen Städte wüthete, ftürzte
die ultramontane Herrfchaft haltlos zufanmen, als wäre fie ein Iuf-
tige Kartenhaus ')..
Das Werl Kirche und Staat, das wir in ber Ueberfchrift
zuerjt genannt haben, darf wohl ald eine reife Frucht der belgischen
Kämpfe infoferne betrachtet werben, al& der berühmte VBerfaffer in venjel-
ben ven Antrieb eınpfing, jeine Studien über das gefchichtliche Verhältniß
von Kirche und Staat in einem überfichtlichen Geſammtbilde der Welt
vorzuführen und als in dieſem Buche vie polemijchen Schneiden fchär-
fer gefchliffen find, al in vem größern Werke, ven Studien zur Ge-
Ihichte der Menſchheit, oder wie diefelben früher genannt waren, der
Geſchichte des Völkerrechts, deren jechfter Band die mittelalter-
lihen Kämpfe des Papſtthums und des Kaiferthums
ſchildert.
Laurent iſt in eminentem Sinne ein philoſophiſcher Geſchichts⸗
forſcher und Geſchichtſchreiber. Die äußeren Ereigniſſe haben für ihn
nur inſoferne ein Intereſſe, als in ihnen die Ideen ſich entwickeln
und offenbar werden, welche für die vielſeitige Darſtellung des menſch⸗
lichen Geiſtes von Bedeutung ſind, und um die Beweggründe der
handelnden Perſonen kümmert er ſich nur fo weit, als fie im Zuſam⸗
menbang ſtehen mit dem großen allgemeinen Entwicklungsproceß, ven
wir Weltgejchichte heißen. Er ift von dem Glauben erfüllt, daß dieſe
Weltgefchichte fein zufälligesSpieleitler Kraft jei, fondern daß unter Gottes
Führung des Geſchickes der Menſchengeiſt ftufenweife fortfchreite in
Selbfterfenntnig und Vervollkommnung. Er wendet daher all’ feinen
') Bgl. die fehr intereffante Schrift: Der Kampf ber Tiberalen und ber
katholiſchen Partei in Belgien, eine Warnung für Deutſchland. Zürid,
1857.
4%
53 % C. Bluntſchli,
Fleiß und Scharfblick dahin, um die Ideen zu erkennen, welche das
Völferleben in den verſchiedenen Zeiten der Geſchichte bald inſtinctiv
bald bewußt erfaſſen und bewegen. Indem er dieſe Ideen in ihrer
hiſtoriſchen Beziehung zu dem Gange ber Weltgeſchichte betrachtet, und
ihren logischen Zujammenhang mit ver Harınenie des Menſchengeiſtes
prüft, gelangt er zu einem Urtheil über ihren vorübergehenden oder
bleibenden Werth. Indem er vie Lebend- oder Handlungsweife ver
Vienfchen, vie als Vertreter tiefer Ideen gelten, und vie realen Wir-
fungen verfelben auf vie gemeinen Zuftände nach den Anforderungen
und PVerheißungen jener Ideale bemißt, hat er auch einen Maßſtab
gerechter Beurtheilung ſowohl über die hanteluden Menfchen als über
die Ausführbarfeit ihrer Gedanken gewonnen.
Der Standpunkt, von dem aus Laurent diefe Entwicklung über-
fhaut, ift werer ein Fatholifcher noch ein proteftantifcher, überhaupt
fein confeffioneller, nicht einmal ein chriftlicher, ſondern ein wiſſen⸗
fchaftlich menfchliher. Er fteht auf einer der Bergeshöhen, deren
eine auch Leffing jene entzückende Ausſicht gezeigt bat, von der er in
der „Erziehung des Deenjchengefchlechtes« ver Welt einiges mittheilte.
Auch Laurent hat diefe Höhe nur mit ſchwerer Arbeit des Forſchens
und bes Denkens erjtiegen, aber nun fühlt er fich anf verfelben
auch frei und licht, und hat den Muth, was er ba gejehen, denen zu
fagen, weldye die Kraft nicht haben, ſich ebenſo hoch emiporzuarbeiten,
und dennoch wiſſen möchten, was ein aufrichtiger Weijer erfchaut bat.
Wie er in dem vierten Bande feiner Gefchichte des Völkerrechts
das Chriſtenthum betrachtet, und in dem fünften die beiden entfchei-
denden Mächte zur Zeit des erjten Mittelalters, ven Katholicismus
mit feiner erziehenden Miſſion und die noch barbarifchen Germanen
mit ihrer Miſſion die Welt zu erfrifchen und zu befreien dargeſtellt
bat, fo behandelt er in dem fechiten Bande „das Papfttbum und tas
Kaifertfumu zur Zeit bes zweiten, eigentlichen Mittelalters. Gr tbeilt
den Stoff in drei Bücher. Das erfte befpricht die chriftliche Einheit
in bem Papjttfum und in dem Kaiſerthum, vie Mijjion des Papſt⸗
thums, die geiftlihe Macht vefjelben, die Reformen und Anfprüche
Gregor's VIL, die angeftrebte weltliche Macht ter Päpfte, die Idee
des Kaiſerthums und des teutfchen Reiche. Tas zweite Buch ftellt
den Kampf ter beiden Hauptmächte dar, zunächit den Kampf zwijchen
Kicchenfreigeit und Kirchenherrſchaft in der Befihichte, 53
Heinrich IV. und reger VIL, tie Stellung Heinrich's V.,
dann bie geiftig bewegtern Kämpfe ber Hohenftaufen Zeit, Frieb-
rich's I. mit Alexander TIL, ver Weltmonarchie Innocenz III,
Friedrich II. gegen Gregor IX. und Innocenz IV. In dem
pritten Buche wird ber Verfall des veutfchen Reiches und König—
thums, aber auch ber Verfall des Papſtthums, das Schisma, vie be-
ginnende Erhebung der Nationalitäten und bie erjten Negungen ter
Gedankenfreiheit gezeichnet.
Ueberall belegt er vie behaupteten Thatſachen und die berichteten
Aeußerungen mit Quellenzeugniffen. Ein mit der Gefchichte des Mittelal⸗
terö vertrauter Leſer wird gelegentlich Diefe oder jene Ergänzung des Bil-
des vermiffen, da oder dort eine Berichtiguug wünfchen, aber er wird
nie eine Spur von Unmahrhaftigfeit entveden und mehr ncch als den
rühmlichen Fleiß die freie Ummficht bewunvern, womit der Autor aus
ber Mafje der Wuhrnehmungen das für die Hauptaufgabe feines
Werkes Erhebliche heranszufinden und zu ordnen weiß. Auch wer an
ber bifterifchen Kritif ver Begebenheiten Manches auszufegen weiß,
wird doch von ver logifchen und ımoralifchen Kritik ver mittelalter-
fihen Ideen und Zuftände vie reichfte Anregung und Belehrung er-
fahren. In feltener Weife finden wir in Laurent viele löbliche Ei-
genjchaften und Dinge vereinigt, welche meiftens nur in einfeitiger
Richtung fich finden, ven fpefulativen Weitblid des Philoſophen und
ten fondernden Scharfblid des Yuriften, den religiöfen Glauben an
bie göttliche Weltleitung und bie freiefte Kritik aller religiöfen Offens
barung, Fleiß des Forfchens und anmuthige Schönheit im Aus»
druck, wiffenfchaftliche Größe und hohen perjönlichen Muth, ſchneidende
Schärfe ver Polemik nud zugleich humane Milde des Urtheile.
Anch in feinem größeren Hauptwerfe, wovon ber bezeichnete Band
nur einen Theil bilvet, verfolgt Laurent in gewiffen Sinne ein In—
tereffe menſchlicher Vervollſommnung. Er hat das Alterthum und
das Mittelalter nicht aus Vorliebe für diefe Zeiten burchforfcht, fon»
dern er bat fich im ver Vergangenheit ungefehen, um in ihr Lehren
für die Gegenwart und vie Zukunft zu finden. In höherem Grabe
noch zeigt fich dieſes praftifche Streben in ver Schrift über Kirche
und Staat, die wir in biefer Studie vorzüglich beachten. Das
Ganze ift auf drei Abtheilungen angelegt, wovon aber vorerit wur ir
54 9. €. Bluntſchli,
beiden erften erfchienen find, welche Kirche und Staat im Mittelalter, vie
Reformationdzeit inbegriffen, betrachten. Die dritte Abtheilung foll
dann fi unmittelbar mit der Gegenwart befchäftigen und fo bie
Spite bed ganzen Buches werben. Die eriten biftorifchen Abtheilun-
gen dienen zur Orientirung. Sie veranfchuulichen die Gegenfäge des
Mittelalters und der modernen Zeit, fie bezeichnen bie Uebergangs⸗
ftufen aus jenem in biefe und ſchildern im Bilde der Gefchichte vie
Gefahren, in welche ein falſcher Weg in verlehrter Richtung die heu⸗
tigen Völker verwickeln würde.
Indem wir nun ſeinem Vortritte nachgehen und ſeine Darſtel⸗
lung nachzubilden verſuchen, ſehen wir uns ſofort in eine von der
heutigen völlig verſchiedene Weltanſchauung verſetzt.
Dem Mittelalter ſchwebte das Ideal eines heiligen Chri—
ſtenereiches als das Ziel der Weltgeſchichte vor. Die ganze Chris
ſtenheit wurde aber als Eine Perſon betrachtet, deren geiſtige Poten⸗
zen in der Kirche ihre Ordnung und ihren Ausdruck finden und deren
leibliche Bedürfniſſe in dem Staate ihre Befriedigung ſuchen. Wie
die Seele über den Leib erhaben iſt, wie die Seele der Herr und
der Leib der Diener iſt, ſo wurde in der mittelalterlichen Theorie
der ideale Vorzug der Kirche über den Staat dargeſtellt.
Dieſem Grundgedanken eutſpricht die Scheidung des Klerus und ver
Laien, und die Erhebung des erftern über die legtern. Die faljchen
Decretalen führen tiefe für pas Verſtändniß der mittelalterlichen Kämpfe
fo wichtige Unterfcheidung auf die Autorität des Apoſtels Petrus zu-
rüd. Die Kleriker find die Männer des Geiftes, die Laien fine
die Männer des Fleifches. Jene find die Hirten, beren Beruf es
ift, diefe als die Schafe zu leiten. Jene werten dem Golde, dieſe
dem Eifen verglichen, wie tie päpftliche Gewalt ter Sonne ‚und bie
kaiferliche den Monde. „Der verworfenfte der Klerifer, fchrieb Pi⸗
lichborf gegen vie Waldenjer, bejigt dennoch eine höhere Würbe ale
der beiligfte ver Laien“. ALS das ideale Haupt der Chriftenheit wird
Ehriftus verehrt, und die Priefter find feine Stellvertreter auf ber
Erde. Bis zum Wahnfinn erbigt fich tiefer geiltliche Hochmuth in
fonft verftändigen Männern.
Das war nicht etwa nur die Meinung einzelner Eiferer und
eitler Narren. Es war die gemeine orthobore Lehre aller Schulen.
Kirchenfreiheit und Kirchenherrſchaft in der Geſchichte. 55
Man wagte es wohl, vie Confequenzen der Theorie zu beftreiten und
ihre Anwentung zu ermäßigen. man entzog fich ihr Häufig im praf-
tichen Leben und lich nicht felten auch bie Geiftlichkeit die Ueber—
macht des weltlichen Arms empfinden; den eigentlichen Grundgedan—
fen, vie geiftige Natur rer Kirche und die leibliche Natur des
Staates, wagte man nicht ernftlich anzugreifen. Der Firchlichen
Lehre, daß Gott die beiten Schwerter erjt dem Papfte verliehen habe,
damit dieſer das weltliche Schwert dem Kaiſer übergebe, feßte bie
faiferliche Partei die Meinung entgegen, daß Gott felbft das welt:
lihe Schwert dem Kaifer verleihe wie das kirchliche dem Papſt. Aber
vie Gibellinen waren ebenjo wie die Guelfen geneigt, unter dem Gott,
von dem fie die firchliche und die ftaatliche Macht ableiteten, fich Chri—
ftus zu denfen und dieſem Gotte ftand ver Papſt um feines religiöfen
Berufes willen offenbar näher als der weltliche Kaiſer. Die Erin
nerung freilih an ven einen weltbeherrfchenden Römerftaat, deſſen
Haupt der Kaifer und veffen Unterthan der Papft gewefen, war nie
ganz erlofchen und die Ahnung, daß ver Staat etwas Anveres und
Höheres fei ala der Diener der Kirche, lebte wohl fort in ven Ge—
müthe der politiichen Männer; aber man wußte doch nicht dem Firch-
fihen Grundgedanken gegenüber die höhere Natur des Staates in
einem burchgreifenden Worte zu bezeichnen; und weder die Philofo-
phie noch die Rechtswiffenfchaft waren bewußt und ftarf genug, um
von ber bindenten und hemmenden Autorität der Theologie fich ganz
zu befreien. |
Man muß es anerkennen, die Erhebung des Klerus über die
Laien und ver Kirche über den Staat hatte im Wittelalter einen
Sinn und eine gewiſſe Berechtigung. Die Geiftlichfeit war damals
ben Laien in der That geiftig fehr überlegen. Faſt alle Bildung, ins⸗
befonvere die wiffenfchaftliche Bildung, war in ihr concentrirt, die
Traditionen der antiken Givilijation wurden durch fie vornehmlich er:
balten, fie bewahrte die Einheit der europäifchen Eultur während der
Auflöfung des fränfifchen Reiches in fendale Anarchie; fie war ber
Zräger der religiöfen Dogmen und der Vertreter der chritlichen Mo⸗
ral; ihrer Erziehung ergaben fich die Fürjten und vie Völker, deren
wilde, trogige Roheit nur durch eine göttliche Autorität allmählich ges
zaͤhmt werben fonnte. Verglichen mit der brutalen Gewalt, welche
96 IE Bluctchli,
das raufluſtige une auéſchwcifende Treiben ver mittelalterlichen Ari⸗
ftefratie charalteriſirt, ericbeint ter tamalige Klerus trotz aller feiner
Mängel une Sunden teb wie ein Wehlthäter des Volkes. Seine
Macht war unentbehrlich, um tie Welt ver rem Rückfall in tie Bar-
barei zu retten.
Nah allen Richtungen breitete die Kirche damals ihre Macht
aus; und merhrörtiger Weiſe mit beſenderem Fleiße unt nie erjchlaf-
feneer Zäbigkiit, daher wit größtem Erjolge auch in ter Richtung,
welche ihrem geiſtigen Berufe am ferniten jtebt, auf Vermögens⸗
erwerb. Sie ſammelte unermeßliche Reichthümer und vertheibigte
dieſelben auf das tapierſte wider die Speliationen und Säculariſa⸗
tionen, welche ven Zeit zu Zeit ihren materiellen Beſitz bedrohten.
Wie die Fluth und Die Ebbe wechjelt vie Strömung, welche bald
die Schätze ver Kirche anfüllt, bald wierer entleert, und ver Kampf
des Nlerus mit ten Yaicn um den Beſitz auch ter irbifchen Güter
hört während des ganzen Mittelalters big auf Die neuefte Zeit nie
ganz auf. Tie Klagen ver alten Frankenkönige über das furdhtbare
Wachsthum des kirchlichen Grundbeſitzes werten neh im XVI. Jahr:
hundert ven den katholiſchen deutſchen Fürſten und im XVII. von
der Republik Venedig erneuert, und die Säculariſation der Kirchen⸗
güter, welche von den karolingiſchen Fürſten im VIII. Jahrhundert
vollzogen werten, wird in der europäiſchen Säculariſatien des XVIII.
und XIX. Jahrhunderts in größeren Dimenfienen und principieller
begründet wiererbelt.
Tas Eigenthbum als römischer Nechtsbegriff ift vie abfolute
Herrſchaft res egeiftifchen Zelbftgefühle. Der Eigenthümer will vie
irbifchen Tinge für ſich haben mit Ausjchließung alles Antern.
Wenn tie Kirche Tem religiöfen Princip der Liebe und der Opfer
treu blieb, das fie befannte, fo fennte fie am wenigften an biefem
Begriff Gefallen finden. In ver That in der itealen Deftrin, welche
fie errachte, um ibren Vermögenserwerb zu rechtfertigen, bat das rö⸗
miſche Cigenthum feinen Raum. Lie will fein Eigenthum für fich
an ben Gütern, Lie fie verachtet, fie entziebt nur tiefe Güter ber
Habſucht und tem Geize der Laien und verwaltet fie nur zu Gunften
der Armen, ver Eigenthumslofen. Das Kirchengut gehört nicht mehr
dem falten herzloſen Egoismus der Eigenthümer an, es iſt gebeiligt
Kirchenfreiheit und Kirchenherrſchaft in ber Gefchichte. 47
did. Sie fügen fich zugleich auf. die alten Marimen und auf die
neuen Grundrechte; und verftehen es, die fromme Gefchäftigfeit ver
Frauen und den Ehrgeiz ver Männer, die aufopferude Hingebung ver
einen und bie herrfchfüchtige Berechnung ver andern auf ihre Ziele
hinzulenken. Weber alle Erwartung gelingen ihnen erftc Erfolge, und _
jeder Erfolg wird zu einer Vorſtufe gefteigerter Aufprüce. Schon
feimen unter ihnen Hoffnungen auf, daß die revolutionsmüden Völker
ihrer Führung zufallen und der geremüthigte Staat an fich felber
verzweifelnd der Erneuerung der firchlichen Herrfchaft fich ergeben
werte.
Aehnliche Erfcheinungen zeigen fih in allen veutfchen Ländern,
aber ven höchſten Aufſchwung haben diefe Eirchlich-politifchen Parteien
in den größten dentjchen Staaten in den legten Fünfzigerjahren ge:
neinmen. Der König von Preußen und der Kaiſer von Oeſterreich
fchienen ihnen vorzüglich gewogen und in der Allianz mit ihnen cine
Stärfung der eigenen Autorität zu fuchen. Wir beobachten ihr Wachs⸗
tbum in proteftantifchen amd in Fatholifchen Völfern; aber mächtiger
und nachhaltiger erweist fich die Entholifch= Kirchliche, Die fogenannte
ultramontane Partei. Da vie Reformation vie alte Kirchenherrfchaft
gebrochen und die moderne Staatsherrfchaft vorbereitet hat, fo gera—
then tie proteftantifchen Parteien ter Art in Widerfpruch mit der
Geſchichte und mit den Xorbiltern ihrer Gonfeffien, und das macht fie
ihwach und unficher. Die ultramontane Partei aber der nenen Zeit-
kennt dieſen Widerfpruch nicht. Im Gegentbeil: in den großen Päp—
ften des Mittelalters und in ter früheren Weltherrfchaft ver Fatholis
ſchen Kirche findet fie das ideale Vorbild, das fie zu ihrem Streben
begeiftert. Der feftgeglieverte breite Organismus ihrer Kirche und.
tie hergebrachten Ordensverbindungen geben ihr einen ſichern Halt und
weit umher reale Hülfe. Wenn fie in einem Lande ins Gedränge
lommt umd gefchlagen wird, fo darf fie auf Villigung und Unter:
ſtützung in andern Ländern rechnen und die dortige Niederlage kann
bier zu neuem Siege führen.
Ihren größten Äußerlichen Zriumph hat viefe Partei in Defter-
reich gefeiert, als der Saifer Franz Joſeph mit dem Papſte
Bins IX. im Auguſt 1855 das Konkordat abjchloß. Seitdem es
eine moberne Staatenentwidhung gibt, hatte niemals ver Staat IR
58 ZI inurl,
und jegar zu drei Biertheilen ver Kirhe eferte, une im tem meijten
bejaß fie minzertend ein Biertsetl eder ein Drittdeil ces Landes.
Mar veritch: ed, weRsule hen ver ter Refermitien manche
Staaten es wagten, ben Erwerb »Ter tedten Pant gefeglich zu
bejhränten. Die Rerublik Yuzertg but idden 1535 cm ſelches Ge-
jeg erfaften, wie ned früber tie deuticgen Rechitieee Augsburg ( 1305)
une Regeneburg (IF. Tue im Jubre IM erweiterte Geſetz von
Benerig wurde freilib ven ter Kirche als toramiſch und ungiltig an⸗
gefechten, weil es wider tie kirdliche Freibeit gerichtet ſei. Aber vie
Republik beharrte nur ibr Verkämrier in dem Nampie mit ben Papft
Paul V., der Bruder Raul Sarpi. sub ven im Wittelalter ein⸗
leuchtenden Gruner dafũr an: Wernn man der Kirche tie unbeſchränkte
Freiheit tes Vermẽgenserwerbs geĩtattet, je wird ſie unzweifelhaft
ſich nach und nah alter Güter bemächtigen, und die Laien werden zu
Hörigen rer Kirche werten”. Seine Begrümdnung wurde auch durch
tie wunderliche Entgegnung tes Cardinals Bellarmin cher beſtä⸗
tigt ale widerlegt: »Die Kirche bat zwölf Jahrbunderte gebraucht,
um eisen Viertheil tes Bodens ;u erwerben, fie bat daher wieder
zwölf Jahrhunderte nötbig, um einen zweiten Viertheil fich anzueig-
nen; aber je lange tauert vie Weit nicht, deren Ente nach ter Ber-
ſicherung ver Apoſtel nahe iſt.“ Denn in tiefer Erwiederung ijt das
Zugeftäntnig eines unaufbaltjumen Wachsthums des Kirchennermd-
gens weit ficherer ale tie Ausſicht auf das nahe Weltente, welches
auch viefem Befige ein Ente machen würte.
Tie hundert Beſchwerden ber teutjchen Nation, welche
von ten katholiſchen Reichsſtänden auf dem Reichsſstage zu Nürnberg
im Jahre 1523 fermulirt worcen find, werfen ein grelles Streiflicht
auf tie firchliche Praris nicht blos des XVI. Jahrhunderts: „Die
(Heiftlichen benugen, chne alle Noth, lediglich um ihr Vermögen zu
erweitern und ihre Zinſen zu vermehren, jeve Öclegeubeit, um Yaien-
güter durch Ankauf over auf jedem möglidyen anveren Wege dur)
unzählige VBerlodungen an ſich zu bringen“. (Art. 60.) „Von dem
arınen Volke fordern fie, preilen fie aus und faugen fie aus, was das⸗
felbe mit äußerjter Anftrengung kaum berichaffen kann, und täglich
wachfen ihre Anſprüche. So jämmerlich beuten dieſe Hirten die ihnen
anvertranten Schafe aus⸗. (Art. 86.) „Alle Heilmittel der römischen
Kircpenfreipeit und Kirchenherrſchaſt in der Geſchichte. 47
ſchick. Cie ftügen fich zugleich auf. die alten Maximen und anf die
neuen Grundrechte; und verftehen es, die fromme Gefchäftigkeit ver
Frauen und ven Ehrgeiz ver Männer, die aufopfeınde Hingebung der
einen und tie herrfcpfüchtige Berechnung der andern auf ihre Ziele
hinzulenken. Ueber alle Erwartung gelingen ihnen erfte Erfolge, und
jerer Erfolg wird zu einer Vorftufe gefteigerter Anſprüche. Schen
feimen unter ihnen Hoffnungen auf, daß die revolutionsmüden Völker
ihrer Führung zufalfen und ber geremüthigte Staat an fich felber
verzweifelnd der Ernenerung ber Firchlichen Herrſchaft ſich ergeben
werte. ö
Aehnliche Erfcheinungen zeigen ſich im allen deutſchen Yändern,
aber ten höchſten Aufſchwung Haben dieſe kirchlich-politiſchen Parteien
in ven größten deutſchen Staaten in den legten Füufzigerjahren ge:
nemmen. Der König von Preußen und der Kaifer von Oeſterreich
fehienen ihmen vorzüglich gewogen und in ber Allianz mit ihnen cine
Stärkung der eigenen Auterität zu fuchen. Wir beobachten ihr Wachs
thum in proteftantifchen und in fathofifchen Völfern; aber mächtiger
und nachhaltiger erweist fich die katholiſch- kirchliche, bie ſogenanute
ultramentane Partei. Da vie Reformation bie alte Kirchenherrfchaft
gebrochen und die moderne Staatcherrfcpaft vorbereitet hat, fo gera«
then die proteftantifchen Parteien der Art in Widerfpruch mit ber
Geſchichte und mit ben Vorbildern ihrer Gonfeffien, und das macht fie
ſchwach und unficher. Die ultramontane Partei aber ber neuen Zeit
fennt diefen Widerfpruch nicht. Im Gegenteil: in den großen Päps
ften des Mittelalters und in ver früheren Weltherrfchaft dev katholi-
ſchen Kirche findet fie das ideale Vorbild, das fie zu ihrem Streben
begeiftert. Der feftgeglieverte Breite Organiemus ihrer Kirche und
die hergebrachten Orbensverbintungen geben ihr einen ſichern Haft amd
weit umher reale Hülfe. Wenn fie in einem Lande ins Gedränge
, femme und gefcplagen wird, fo darf fie auf Villigung und Untere
ftügung in andern Ländern rechnen und bie dortige Niederlage kann
hier zu neuem Siege führen.
Ihren größten äußerlichen Triumph Hat dieſe Partei in Orfters
gefeiert, als ber Kaifer Frauz Jeſeph mit deut Papfte
IN. i bicleh Seittem es
dr Staat ih
zeich
60 3 C. Bluntſchli,
die von ihr behauptete Miſſion, ten weltlichen Eigennutz und bie ir-
diſche Genußſucht zu überwinden, tie Ungleichheit der Glücksgüter
billig anszugleichen, die Armen zu fättigen, dem Elend zu helfen, bie
Segnungen ter Keligien und der Gultur zu verbreiten? Gewiß ger
ſchah Manches auch in dieſer Richtung. Die prachtvollen Kirchen⸗
bauten des Viittelaltere, die reiche Entfaltung bes öffentlichen Cul⸗
tus, die zahlreichen Armen» und Straufenanftalten aus alter Zeit, die
Gründung gelchrter Schulen, die Veredlung ter Landwirthſchaft an
manchen Orten, die Yörterung ber Kunſt waren großentheils eine
zweckgemäße Verwendung bes Firchlichen Reichthums. Aber dieſe Lei⸗
ftungen ſtehen doch weit zurüd hinter der Ergiebigfeit der kirchlichen
Hülfsquellen; und fein Urtheilefähiger kann es beftreiten, daß ter
weit größere Theil des Firchlichen Ueberflufjes für den weltlichen Lu-
zus der Kirchenfürften und Prälaten verbraucht wurte, welcher zu
dem religiöjen Ideal in feiner Beziehung paßte Für gemeinnügige
Zwecke geſchah fo wenig als möglich. Waren öffentliche Bedürfniſſe
zu befrierigen, fo bezog ſich die Kirche auf ihre Steuerfreiheit, um
jeden Beitvay zu verweigern und alle Koſten wierer ben Laien auf«
zubürben. Ihre Almoſen aber halfen ver Armuth nicht, fie beförder-
ten vichnehr die Trägheit und tie Bettelei.
Die Reaction ver Yaien gegen das Umſichgreifen des Firchlichen
Erwerbs trat im Wittelalter häufig in den robuſten Formen des Rau-
bes, der Gewaltthat und ter Zerftörung auf. Erſt gegen Ente des
Mittelalters erhält fie einen civilifirteren Ansorud. Die Säcularie
ſation ber Stirchengüter wurbe im XVI. Sahrhuntert mit religiäjen
Metiven, im XVIII. une XIX. mit voltswirthfchaftlichen und na-
turrechtliden Gründen vertheidigt. Damals wollte man vie Kirche
anf ihre religiöe-fittliche Aufgabe zurücführen und fie von ten Ber»
irrungen und Mißbräuchen reinigen, zu welchen bie Gier nach irbi-
ſchen Gütern und Genüſſen fie verleitet hatte. Später wollte man bie
wirtbfchaftlichen Volkskräfte von tem Drud befreien, ven das Kirch
liche Syſtem geübt hatte, und tie Pflichten des Staates für die öf-
fentliche Wohlfahrt erfüllen. Der Staat übernahm die Nulturpflege
und Die Sorge für die Armen, In Felge veffen vehnte er feine Auf:
ficht über die dem Kultus gewidmeten Güter aus und unterwarf bie
für die Armen geſammelten Güter feiner Verwaltung.
Kiirchenfreiheit und Kirchenherrſchaft in ber Geſchichte. 49
ſophie, im jeder Wiſſenſchaft überhaupt, in der geſammten Literatur
md in ter Kunjt iſt das Bewußtſein menjchlicher Geijtesfreiheit mit
einer Stärke Ichendig geworben, bie feine kirchliche Macht zu überwäl-
tigen vermag. Zwar ift die Gegenwart nicht arm auch an Werfen
ver Barınherzigkeit und religiöfer Liebe und Hingebung, aber fie it
dennoch viel reicher an weltlichen Tugenden, an gemeinnügigen Arbei-
ten und Opfern, an politifchen Thaten. Die moderne Wijjenjchaft
und der moderne Staat find demnach die Haupturichte der Neuzeit,
bie fortwährend in riefenhaften Berhältnijjen aus dem Individualgeiſt
und aus dem Volksleben herauswachfen und täglich weitere Gebiete
durchdringen und neue Werke hervorbringen, während Die Neligion
und die Kirche ihre Ideale in früheren Jahrhunderten erbliden und
mühjam ten Höhen nachitreben, vie fie vormals erjtiegen hatten. Es
it charafterijtifch für die heutige Denkweife, daß der Papſt Pius IX.
jo lange von ven Völkern gefeiert wurde, als fie von ihm vie poli-
tiiche Befreiung Italiens Hofften, und daß er fofort unpepulär wurde,
ald er anfing, die politifche Eutwicklung feines Vaterlandes ven kirchli⸗
ben Ueberlieferungen und Neigungen des Papſtthums unterzuorpnen.
Aber weniger noch als ein einzelner Menjch kann fich ein Volt
immer nur Einer Richtung ergeben. Die BVielfeitigkeit feiner Natur
verlangt nach Berückſichtigung ver Gegenſätze, die in ihm verbunden
find. Bon Zeit zu Zeit tritt das Bedürfniß eines Wechjels cin von
Ruhe und Bewegung, von Arbeit und Genuß, von Geijtesthätigkeit
und gemüthlicher Hingabe. Wenn das Volt von dei politifchen Auf—
regungen ermüdet und unbefriedigt iſt won den geringen Nefnltaten
feiner Kämpfe, wenn die Neue über feine Haltung in feinem Herzen
nagt und die Angſt e8 ergreift, wenn es das Vertrauen verloren hat
auf feine Führer, und feine Heffnung auf die Zukunft in der dunfeln
Neth der Gegenwart untergegangen iſt: dann ift es auch im einem
politiich bewegten Jahrhundert hungrig geworden nach den Zröftungen
der beiligen Religion. Von vem Segen der Kirche erwartet es dann
eine reinere Befriedigung. In Gott und in dem ewigen Dingen fucht
ed dann einen fejleren Halt und eine ftärfere Zuverficht. Um deß—
willen folgen auf die politifhen Revolutionen regelmäßig in
furzer Zeit religiöfe Reactionen. Deshalb auch war das Wachs—
thum der Kirchlich-politifchen Parteien in Deutfchland beſonders ſtark
Diſtoriſche Zeitſchrift J. Band. 4
62 3. C. Bluntfäli,
Energifcher als die Könige machten im Mittelalter oft tie Räthe
und Bürgerfchaften ver Stätte die Steuerpflicht auch der Geiltlichkeit
geltend. Auf dem engen Gebiete wurte von beiden Seiten mit aus⸗
dauernder Zähigfeit und heftigiten Cifer gekämpft. Jede Partei er-
probte ihre äußerften Zwangsmittel. Der Rlerus verweigerte bie
firchlicyen Gnaten und jtrafte mit ber Ercommunifation und bem
Interdiete. Die Bürger verbannten die Geiftlihen, welche fid) dem
Gottesbienfte entzogen, oder ſprachen tie bürgerliche Acht über fie aus:
„Niemand follte ihnen Lebensmittel oder Handelswaaren verlaufen
dürfen, alfer bürgerliche Verkehr mit ihnen abgebrochen werten“. In
mehr als Einer deutjchen oder italienifchen Stadt verloren bie Bann
ftrahlen der kirchlichen Autorität ihre Schreden. Die Bürger fingen
an barüber zu fpotten und gewöhnten ſich daran, vie kirchliche Hilfe
als entbehrlich auzujehen. Der Klerus mußte fich meiftens doch bes
quemen, Steuern an die Stadt zu zahlen.
An dieſem financiellen Intereſſe erjtarkte das Selbjtgefühl des
Staates ver Kirche gegenüber zuerft wieder. Die franzöfifhen Könige
griffen von Zeit zu Zeit willfürlich in die Kirchengüter ein, um ihre
Fiuanznoth zu erleichtern. "Der eifrig fatholiicheHabsburger Philipp IL. von
Spanien verhinterte troß feiner Verehrung für ben heiligen Stuhl
bie Berfüntigung ver Bulle: In coena domini, weil darin die Steuer-
freiheit des Klerus als ein heiliges Recht behauptet war, und nöthigte
ben fpanifchen Klerus im einzelnen Fällen zu Beifteuern. Zuletzt
tagte es vie Kirche felbit nicht mehr, von tem modernen Staate jene
Steuerfreiheit zu begehren, für welche fie im Veittelalter fo hartnädig
und mit principiellem Erfolge gekämpft hatte.
Zu der Zeit, als fie jede Steuerpflicht ablehnte, machte fie ihrer:
jeit8 ein inhaltjchweres Steuerrecht gegen die Laien geltend. Schon
in ven erften Jahrhunderten tes Chrijtenthums werden die Gläubigen
ermahnt, für bie kirchlichen Bedürfniſſe und zu Gunften ver Armen
die Zehnten von ihren Einkünften Binzugeben. Das war aber eine
freiwillige Gabe ver Frommen und Mildthätigen. Aber im Meittel-
alter veränderte fih der Charakter der Zehnten. Karl ter Große
breitete bie Zehentpflicht als Steuer über ganze Länder aus, und vie
firchlichen Autoritäten erklärten die Zehnten für eine allgemeine
und von Gott felbjt geordnete Kirchenfteuer. Das kirch—⸗
*
Kirchenfreiheit und Kirchenherrſchaft in der Geſchichte. 51
ftredt. Aber Laurent wurde durch die Gefahr nur zu entſchloſſenerem
Bergehen gereizt. Die ultramontane Partei hatte es fehr zu bereuen,
daß fie gerate an biefem Manne die freie Wiffenfchaft anzugreifen
gewagt Hatte. Er ließ fie jeine geijtige Weberlegenheit und feinen ſitt—
lihen Zorn ſchwer empfinden. Als das beigiiche Volk gewahr wurde,
daß es zugleich in feinem Geiftesleben und in feiner Vermögens» und
Familienſache bedreht werde, da erhob es fich im Mai 1857, und in
dem Sturme, ver damals durch die belgifchen Städte wüthete, ftürzte
bie ultramontane Herrfchaft haltlos zufanımen, als wäre fie ein Iuf-
tiges Kartenhaus ').
Das Wert Kirche und Staat, das wir in der Ueberfchrift
zuerft genannt haben, darf wohl als eine veife Frucht der beigifchen
Kämpfe injoferne betrachtet werden, als ver berühmte Verfaſſer in venjel-
ben ven Antrieb empfing, jeine Studien über das gefchichtliche Verhältniß
von Kirche und Staat in einem überfichtlichen Geſammtbilde der Welt
vorzuführen und al& in dieſem Buche die polemifchen Schneiden ſchär⸗
fer gejchliffen find, ale in dem größern Werke, ven Stubien zur Ge-
ichichte der Menfchheit, eder wie diefelben früher genannt waren, ber
Gefchichte des Völkerrechts, deren jechiter Band die mittelalter-
lihden Kämpfe des Bapftthbums und des Kaiferthums
ſchildert.
Laurent iſt in eminentem Sinne ein philoſophiſcher Geſchichts⸗
forſcher und Geſchichtſchreiber. Die äußeren Ereigniſſe haben für ihn
nur inſoferne ein Intereſſe, als in ihnen die Ideen ſich entwickeln
und offenbar werben, welche für die vielſeitige Darſtellung des menſch⸗
lichen Geiftes von Bedeutung find, und um die Beweggründe der
handelnden Berfonen kümmert er fih nur fo weit, als fie im Zufaıns
menhang ftehen mit dem großen allgemeinen Entwidlungsproceß, ben
wir Weltgejchichte heißen. Er ift von dem Glauben erfüllt, daß biefe
Beltgefchichte kein zufälliges Spiel eitler Kraft jei, ſondern daß unter Gottes
Führung des Geſchickes der Menjchengeijt ftufenweife fortfchreite in
Selbfterfenntnig und Vervollkommnung. Er wenbet daher all’ feinen
') Bgl. die fehr intereffante Schrift: Der Kampf ber liberalen und ber
katholiſchen Partei in Belgien, eine Warnung für Deutfhland. Zürich,
1857.
4%
64 3. C. Bluntſchli,
lung in Anſpruch, fo ſuchte fie nicht minder ſich der Rechtsherr⸗
Schaft des Staates zu entziehen und ihre cigene Rechtsherr—
ſchaft auszubreiten.
Die Immunität der Geiftlichfeit von ber weltlichen Juſtiz
folgt faſt mit logiſcher Nothwendigkeit aus dem katholiſchen Grund»
getanfen. Wenn vie Alerifer die Männer des Geiftes und vie Laien
tie Männer des Fleiſches find, wie kann fih da das Fleiſch erfrechen,
über ten Geiſt zu Gericht zu figen? Wenn vie Geiftlichen die Or⸗
gane Gottes find und ihre Sachen göttliche Saucen, wie barf der
übermüthige Menſch ſich unterftchen, über Gott zu richten? Eo ab«
ſurd uns heute tiefe Sclbiterhögung tes Klerus vorfommt uud fo
unnatürlich die Beengung des Staats anf feinem eigenften Gebiete,
fo war doch auch tiefes Vorrecht im Mittelalter nicht ohne Sinn;
denn bie Geijtlihen waren in Bildung und Moral ten Laien in ber
That fo überlegen und dieſe jo gewaltthätig und roh, daß tie Bes
ſchräukung der Paienjuftiz auf Laieuparteien im Intereſſe der Hüma⸗
nität lag.
Daburch werten freilich die unehrlichen Mittel, womit der Kle-
runs feine Immunität zu begründen und als altes Recht varzuftellen
fuchte, — bie Fälſchung der Gefchichte und die Fälſchung ver Gefeke
— nicht entſchuldigt, und der Hochmuth, ver fih in den fpätern Kir-
chengeſetzen ausſprach: „Niemand zwinge einen Geiftlichen oder Möuch
vor ein weltliches Gericht zu treten, denn das wäre ein Raub und
Schändung des Heiligen» — nicht gerechtfertigt. Aber wir nehmen
in Erwägung jener Grünte weniger Anftoß daran, wenn wir feben,
daß Kaiſer Friedrich II. im Jahr 1220 ven Grundfag, daß feine
ficchliche Perfon weder in Straf- noch in Civilproceſſen von einem
weltlichen Gerichte belangt werben dürfe, als allgemeines Geſetz ans-
ſprach.
Auch dieſes Recht nahm die Kirche als ein göttliches in An—
ſpruch. Noch im XVI. Jahrhundert wurde es von einem Concil im
Lateran beſtätigt. Aber inzwiſchen hatten ſich die Verhältuiſſe geän«
dert. Was eine Zeit lang erklärlich, vielleicht ein Segen geweſen
war, das war unter anderm Umſtande unnatürlich und verderblich
geworden. Die ftaatlihe Reaction, von ten vechtsgelehrten Laien
geleitet, blieb nicht aus, und in dem Fortſchritt der Jahrhunderte
Kirchenfreiheit und Kirchenherrſchaft in der Geſchichte. 65
wurde nach und nach in allen Ländern das frühere Privilegium
des Klerus als veraltet zur Seite geſchoben.
Daſſelbe hatte vorher zu den ärgſten Mißbräuchen geführt. Die
ideale Meinung der Kirche haßt zwar die Sünde, aber ſie iſt geneigt,
dem reuigen Sünder zu verzeihen. Sie will nicht den Tod des Sün—
ders, ſondern daß er ſich bekehre und lebe. Während die ſtaatliche
Gerichtsbarkeit früher ausſchließlich den Verbrecher ſtrafen wollte, um
an ihm die Macht der Rechtsordnung zu bewähren, ohne ſich um
ſeine innere Reinigung und Beſſerung zu bekümmern, und während
ſie auch heute noch zuerſt dieſe Gerechtigkeit erfüllt und erſt in zwei—
ter Linie auf Beſſerung Rückſicht nimmt, ſo iſt die Liebe die erſte
Pflicht une Sorge der Kirche und betrachtet fie die Strafe nur als
ein Erziefungsmittel zur Heiligung. Das Firchlice Ideal ftand fo
im Gegenſatz zu ven Zielen ber weltlichen Gerichtspraris, und deckte
ihre Mängel auf. Es diente auch dazu, die weltliche Rechtsentwick—
fung zu verebeln. Aber in ver Praris ver kirchlichen Gerichtsbar-
feit artete es feinerfeits in eine unleivliche Begünftigung verbrecheri=
ſcher Geiſtlichen aus, durch welche vie gemeine Rechtsordnung befleckt
und durchlöchert ward. Sie führte zu thatſächlicher Straflofig-
feit des Klerus.
Schon auf der Höhe des Mittelalters erhob fich hier und ba
ein energifcher Widerſpruch des beleidigten Gefühls für Gerechtigfeit.
Der Streit zwifhen tem Könige Heinrich II. von England und
dem Erzbiſchof von Banterbury, Thomas Becket, im XII. Yahr-
hundert ift befannt. Damals fchen wurde vie Straflofigfeit der Kle—
rifer, die im äußerften Fall Gefahr liefen, degradirt oder in ein Stlofter
eingefperrt zu werben, als ein Landesübel empfunden. Die Verbrechen
der Kleriker in Diebſtahl, Betrug, Fälſchung, Ehebruch, Mord hatten
furchtbar überhand genommen. Um hier Ordnung zu ſchaffen, erließ
der König mit Beirath der Großen des Reichs ein Statut, welches
vorſchrieb: „die eines Verbrechens angeklagten Geiſtlichen ſeien ver—
pflichtet, vor dem königlichen Gerichtshofe ſich zu verantworten und
die weltlichen Richter ſollen in ſolchen Proceſſen ſich mit ven geiſt—
lichen Richtern ins Einverſtändniß ſetzen. Geſtehen die Angeſchuldig—
ten ihr Verbrechen ein oder werden ſie überwieſen, ſo ſoll die Kirche
ihm feine Hilfe gewähren«. Thomas Becket und die übrigen Biſchöfe
diſtoriſche Zeitfärift V. Ban. y
66 9. €. Bluutſchli,
beſchworen anfangs jelbft das Statut. Dann erflärte jener es aus
geiftlicher Machtvollfommenheit für null und nichtig, weil es vie Frei⸗
heit und die Würde ver Kirche werlege. Der normannifhe Könige
ſtolz und der römifche Priefterftolz geriethen nun in einen heftigen Streit,
welcher die Aufmerffamteit von Europa auf fi) zog. Thomas Becket
felbft wurde das Opfer feines trogigen Widerſpruchs; aber die Kirche
verehrte in ihm einen Märtyrer ihrer heiligen reibeit, und ber König
ward doch genöthigt, zwar nicht das Statut von Clarendon, wohl aber Die
Nechtsübungen zu witerrufen, „welche wider die Freiheit der Kirche
in England eingeführt wurden“. Ganz beugte fich freilich das eng⸗
lifche Staatsgefühl nicht mehr unter das kirchliche Immunitätsgebot.
Auch im XIII. Jahrhundert ergriffen die weltlichen Richter doch in
zahlreichen Fällen angeflagte Geiſtliche, und ließen fie — trotz alles
Einſpruches der Kirche — hängen.
England war vorausgegangen in ver Bekämpfung ber klerikalen
Immunität. Auf dem Stontinent wurde viefelbe im Princip zwar
überall anerkannt; aber die Praris entfprach auch da nicht ver Theo⸗
rie. Die Klage ter Geiftlichleit, daß ihre Freiheiten nicht vefpectirt
werben, verſtummte nie völlig. In Frankreich und in “Deutfchland
waren Ausnahmen, in denen vie weltlichen Nichter einzelne Geiftliche
an Gut, Freiheit und Leben ftraften, nicht felten; die Italiener ge-
fielen fich tarin, indem fie jcheinbar vie firchliche Yuftiz ehrten, die
auf der verbreiherifchen That ergriffenen Geiftlichen unter möglichft
großem Volkszulanf und allgemeiner Verhöhnung ihren Obern zuzu-
führen.
Aber fo lange die Negel anerkannt blieb, waren auch bie ärgs
ſten Mißbräuche nicht zu vermeiden. Selbft viele Laien entgingen
ber Strafe, indem fie ſich betrüglich für Kleriker ausgaben, ober gar
in aller Eile zu Klerifern weihen ließen. Die Befchwerve der Deut»
ihen, daß faft niemals die geweihten Verbrecher ihre verdiente Strafe
ertulteten, hatte doch noch mehr Gewicht, als die Klagen des Klerus
über die Mißachtung feiner Vorrechte.
Endlich wurde tie Regel ſelbſt angegriffen. Seit bie leitenden
Ideen ſich änderten, nicht früher, wurde die Verbefferung ver Pragie
burchgreifend und nachhaltig. An diefer Umwandlung baben die Ju—⸗
riften einen großen Antheil. Bor allen der Franzufe Karl Dus
Kirhenfreiheit und Lirchenherrſchaft in der Geſchichte. 67
monlin, der berühmte Zeitgenojje von Eujaz und von Luther. “Der
Bapft Siemens VIII. verurtheilte die fämmtlichen Schriften Du⸗
moulin's, auch die am fich unverfänglichen, auch wenn fie „von Irr⸗
tbümern gereinigt« werden follten, zum Untergang; aber biefe Schrif-
ten blieben in den Händen ver Juriſten und wirkten fort bis auf bie
Rapoleonifche Geſetzgebung. Dumoulin wird von den Franzoſen als
ber eigentliche Begründer ihrer nationalen Yurisprudenz verehrt. Der
päpftliche Haß und die Vorliebe ver Franzoſen für die Werke Du⸗
moulins erklären fich großentheil® aus der Energie, mit welcher ‘Du-
moulin das werdende Recht des Staates auch der Kirche gegenüber
fowohl in feinem Leben als in feinen Schriften vertrat.
Mit Verachtung und Hohn wies Dumoulin tie hergebrachte
Ueberorpnung der Geiftlichen über vie Laien ab. Er fchrieb: "Much
in den geiftigen Dingen find die Laien nicht weniger befähigt, als bie
Geiſtlichen-, und züchtigte die unfittlichen Vertheidigungsmittel des
Klerus, ver fich auf gefälfchte und falfche Geſetze berufe, und ben
Aberglauben audbeute, mit zornigen Hieben, wie fie nie fchneidiger
gefallen war. Er verwarf geradezu alle Gerichtsbarkeit ver Kirche, indem
jedes Gericht feiner Natur nach ftaatlich fei. Er ließ feinen andern
Unterfchied des Klerus und der Laien gelten, ald den ver Beruf-
pfliht. Er fpottete des göttlichen Rechts, auf Das fich ver Klerus
berufe, al® einer Erfindung des Klerus felbft, um die Välfer zu bes
trügen.
Die Gedanken. Dumoulins konnten unter einem Volke, welches
in jeiner Mehrheit der veutjchen Kirchenreform widerſtrebte, damals
noch nicht verwirklicht werden. Aber auch die fatholifchen Juriſten
und die Regierung von Frankreich waren doch von jeher geneigt, die
Rechte des Staates hoch zu fchäten, und bie kirchliche Anmaßung zu
befchränfen. ‘Der Anftoß, den Dumoulin gegeben, brachte beide in
diefer Richtung vorwärts. Die Juriſten erfanden einen Unterfchied
zwijchen „gemeinen Vergehen ver Geiftlihen« und »privilegir—
ten Vergehen», die erjteren überließen fie noch ber firchlichen Ge—
richtsbarfeit, die letteri zogen fie vor das weltliche Gericht. Ihre
Auslegung des Unterfchiedes führte aber allmählig dahin, nur bie
Disciplinarfälle noch für „gemeine Vergehen“ zu erllären, alle
fhwereren Fälle aber als »privilegirtes zu behandeln. So wurde zu-
5*
68 3. €. Bluntſchli,
legt die Regel umgebreht, und das fogenannte gemeine Recht wurde
zur Ausnahme, das privilegirte Recht zur Negel. Unter allen Ver⸗
gehen wurde nur noch ver Concubinat der Kleriker den geiftlichen
Gerichten zur Beftrafung überlaffen. Vergeblich beriefen fich die
Beiftlihen auf die Nirchengefege und tie päpftlichen Bullen. Die
weltlichen Parlamente beharrten auf ihrer Jurisprudenz und behan-
delten jeve Abweichung ale nicht zu tuldenden „Mißbrauch.
Ebeufo bekämpfte Paul Sarpi in den großen Streite zwifchen
ver Republik Venedig und dem Bapfte die Immnnität der Kleriker
mit principiellen Waffen. Jener Streit war entbrunnt, weil die Re
publik zwei Geiftliche gefangen gefett hatte, den einen, auf dem bie
Anklage zahlreicher Giftmorde laftete, ven andern, weil er die Staats⸗
fiegel erbrochen und einer Fran aus gutem Haufe in fcandalöfer Weife
nachgeftellt hatte. Der Papft Paul V. wollte das nicht dulden,
und ercommmnicirte alle, welche ſich an ben Geweihten Gottes ver-
griffen oder dazu gehelfen hatten. In feinen Streitfchriften erwie⸗
verte Sarpi: «Will man einen einleuchtenden Beweis dafür haben,
daß die Immunität ver Kleriker fein göttliches Necht fei? Wir ken⸗
nen bie Geſetze, welche fie der weltlichen Gerichtsbarfeit entrüden, es
find das Privilegien, die, wie alle menfchlihen Gefege, nach und nad
und je nach den Zeitverhältnijfen gegeben werben ſind. ber diefe
Eremtionen find nur mit Beſchränkung, nicht unbedingt gegeben. Sie können
gar nicht allgemein fein; denn der Geiftliche muß Staatsuntertban
bleiben, oder die Obrigkeit hört auf Obrigkeit zu fein. &8 gibt keine
Souveränität, feine gefellfchaftlihe Orpmung mehr, wie e8 im Staat
eine zahlreiche und ınächtige Claſſe von Leuten gibt, die einen andern
Sonverän haben. — Die kirchliche Gerichtsbarkeit bietet auch der Ges
ſellſchaft keine Garantien. Kleriker werden, auch wenn fie die entfeß«
lichjten Verbrechen begangen haben, von ihr nie mit tem Tode 'beitraft,
jondern in ein Kloſter gefperrt, aus dem fie leicht entfpringen, und
ihre Straflofigfeit wird zum Anreiz für nene Xerbrechen. Auch hat
die Kirche immer nur ihr eigenes Intereſſe vor Augen. Die Ver:
ihwörung gegen die Autorität eines Biſchofs gilt ihr als ein unend-
lich fchwereres Verbrechen als der Mord eines Laienu.
Die Cardinäle Bellarmin und Baronius, welde die Sache
der Päpſte führten, beriefen fi mit größten Nachrrud auf Das gött-
Kirchenfreiheit und Kirchenberrichaft in ber Geſchichte. 69
lie Recht der Kirche: „In Wahrheit find bie Kleriker — die Hirten,
die Laien, auch die Fürften — die Schafe, die Geiftlichfeit find vie
Väter, vie Laien die Rinver. Das Schaf aber ift Unterthan ven Hir-
ten, ver Vater nicht Unterthan dem Sohne. Wenn vie Gefee des
Staates Benedig tiefem göttlichen Rechte widerftreiten, fo find dieſe
Geſetze nichtig von Rechts wegen.» In der That der Papſt felbit er-
Härte alle widerſprechenden Gefege der Republif für ungültig und
caffirte diejelben Fraft-feiner geiftlichen Machtvollkommenheit. Aber ver
Bapft und feine Garbinäle Hatten ſich in ver Zeit geirrt. Sie glaub:
ten im XII. Jahrhundert zu fein und fie lebten im XVII. Die welt-
liche Rechtsidee war mächtiger geworben und die Staaten fühlten ihre
Hoheit. Venedig widerftand, und als ver Papſt das Interdict auf die
Stadt legte, erklärte ver Doge Leonardo Donate das Interdiet für
null und nichtig, weil e8 dic Souveränität der Republik verlege.
Auch in den Frieden, der unter ber Vermittlung Frankreichs
zwiſchen Venedig und dem heiligen Stuhl endlich zu Stande kam,
wurde Das Stautsgefe nicht aufgegeben, das Firchliche Privilegium
nicht anerkannt. Die Verweifung der “Yefuiten, welche für die An-
ſprüche ver Kurie am eifrigiten gelämpft hatten, aus Venedig ward
trog der Verwendung der franzöfifchen Diplomatie nicht zurüdigenom-
men. Das einzige Zugeſtändniß, welches die Republik dem Bapite
machte, war daß fie die beiden gefangenen Geijtlichen dem »fehr chrift-
lihen Könige⸗ von Frankreich auslieferte, aber mit dem ausprüdlichen
Borbehalt, daß fie dadurch ihrem Rechte, auch über Klerifer zu richten,
nicht® vergeben wolle. In tem Jahre des Friedens noch wurden Mönche
und Weltgeiftliche zu Venedig wegen Vergehen gefangen gefegt und
von ben weltlichen Gerichten öffentlich beftraft. Die Kirche hatte ven
Muth nicht mehr, den Principienftreit zu erneuern. Sie änderte ihre
Doctrin noch nicht, aber fie gewöhnte ſich daran, ihre Doctrin für
nicht mehr ausführbar zu halten. Auch in romanifch-kathelifchen Län⸗
dern war noch vor der franzöfifchen Revolution die entgegengejeßte
Staatslehre herrſchend geworben.
Waren im Mittelalter vie Geijtlichen von der weltlichen Gerichts⸗
pflicht befreit worben, fe machte diefe Befreiung hinwieder bie Ein-
fegung kirchlicher Gerichte nothwendig, und gab es mit Rüdficht
auf den Klerus kirchliche Gerichte, jo war bei der herrichenden Stellung,
10 I. €. Bluntihft,
ver Kirche tie Ausbreitung der kirchlichen Gerichtsbarkeit über
die Laien nicht aufzuhalten. |
Zwar hatte Ehriftus jedes irpifche Nichteramt ausprüdlicd von
fih abgelehnt und fich nur das jenfeitige Weltgericht vorbehalten. Das
Hinderte aber tie Kirche nicht, zur Begründung ihres Richteramtes
nicht bloß auf die Mofaifch-jünifche Verfaffung, fondern auch auf bie
Autorität des neuen Teſtamentes fich zu berufen. Leichter war es noch
die neue Ynftitution von ber einmal angenommenen Uuterjcheidung bes
Klerus und der Laien aus philofophifch zu rechtfertigen. Da alle Ge
rechtigfeit von Gott ausgeht, fo find vie gottgeweihten Priefter fähiger
biefelbe zu handhaben al& vie Gott ferner ftehenten Laien, und da bie
geiftlichen Dinge auf das Ziel der Menſchen, die weltlichen nur auf
die Wege zum Ziel Bezug Haben, fo zieht die Macht ver Kirche in
geiftlichen Dingen als das Wefentliche vie Befugniß berfelben, über
weltliche Dinge zu urtheilen, als das Untergeordnete uach ſich. So:
gar das römische Necht, welches vor allen auch vie ausſchließliche Ge⸗
richtsbarfeit des Staates behauptet, mußte feine Zeugniſſe entitellen
laffen, damit fie den kirchlichen Ansprüchen als Autorität dienen. Die
weitefte Auspehnung erreichte das Princip der kirchlichen Gerichtsbar⸗
feit zur Zeit Junocenz TIL, der geradezu der Kirche dae Recht zu-
fprach, über alle Sünden zu richten. Damit war die Firchliche
Sompetenz über das geſammte Procekgebiet ausgebreitet, venn in jeder
Nechtöverlegung war anch eine Sünde zu erkennen.
Die Wirklichkeit entfprach freilich auch bier dem firchlichen Ideal
nicht. Die weltlichen Gerichte unterwarfen fich doch nicht ver höheren
Autorität der firchlichen Gerichte, und fuhren fort, ihre Gerichtsbar-
feit in weltlichen Sachen ſelbſtſtändig und ausfchließlich zu handhaben.
Aber in den geiftlichen Sachen wichen fie vor ter ausschließlichen Com⸗
petenz; der Kirche befcheiren zurück. Es gelang der Kirche doch, unter
dem Titel der geiftlichen Suchen tie Streitigfeiten und Klagen über
Berlöbniß und Ehe, über gefchlechtliche Beziehungen, über vie Recht-
gläubigfeit und Steerei, über Vermächtniſſe, über den Wucher vor ihr
Forum zu bringen und fie übte in Folge beffen eine unabwendbare
Macht aus über alle Familien und alle Individuen.
Proceffe fchlichten und richten paßte im Grunde doch nicht zu
dem eigentlicyen Beruf des Klerus. Derfelbe erwies ſich baher zu jener
Kirhenfreipeit und Kirchenherrſchaft in ber Geſchichte. 71
Arbeit durchaus untauglid. Mochten auch während bes Mittelalters
die Geiſtlichen um vieles gebildeter ſein als die Laien, ihre Gerichte
waren doch nicht beſſer als die Laiengerichte, und bald auffallend jchlech-
ter als dieſe. Ueber die Habfucht und Beftechlichfeit ver geiftlichen
Richter wird allenthalben im Mittelalter heftig geklagt ; vie Gerichts-
barkeit der Kirche wurde nad allen Richtungen ausgebeutet, um ven
Parteien in den mannichfaltigften Formen Geld und Gaben abzupreffen,
der Firchliche Proceßgang erleichterte mancherlei Ausflüchte und begün-
fiigte die langwierige Berfchleppung; der enbliche Ausgang war völlig
unficher. Der Vergleich der Firchlichen mit den Taiengerichten fiel ſchon
ſehr früh zu Gunſten der letzteren aus:
Mais l'on ne verra ja tant faire
D’abus, d’exces, d’extorsions,
Es layes juridictions
Comme l'on fait aux cours d’Eglise.
Vorzüglich aus eigennügigen Gründen erflärt fich die befondere Sorge,
welche die Kirche ven Teftamenten wihmete. Die Concilien ſchrei—
ben vor, daß ein Priefter zugezogen werten folle, wenn “Jemand eine
legte Willensordnung machen wolle, angeblich im Intereſſe der Frei⸗
heit des Teſtators und feines Seelenheild, in Wahrheit, um ihn zu
Bermädtniffen an die Kirche zu verleiten. Hatte ver Sterbenpe es
verfänmt, folche Seelgeräthe zu machen, fo ergänzte die Kirche auch
wehl diefen Mangel, indem fie ohne legten Willen einen Theil bes
Rachlafjes "für Fromme Zwedes in Anſpruch nahm. Ein Concil fieht
den Fall einer fo dürftigen Verlaffenfchaft voraus, daß die Wittwe und
die Kinder des Verftorbenen auf das Almoſen angewiefen werben, wenn
die Kirche die frommen Vermächtniffe beziehe, vie ihr gebühren. Dan
ſollte denken, in ſolchem Falle verzichtete die Kirche auf das Gelb ver .
Armen. Keineswegs, das Concil verorpnet für folche Fälle: "bie Kirche
ſolle fi) mit dem Drittheil der Verlaffenfchaft begnügen, wenn Waifen
da feien, und die Hälfte beziehen, wenn nur eine Wittwe vorhanden
fei.” Darf man es tadeln, wenn ber berühmte Nechtögelehrte Peter
von Cugnidres den Klerikern vorwirft, ihre Sorge für Wittwen
und Waifen bedeute Verlangen nach dem Gute derfelben, und wenn
der gelehrte Du Gange fie beſchuldigt, daß Hinter ber Sorge für
12 . I. €. Bluntſchli,
das Seelenheil ver Abgefterbenen die unerfättliche Gier nach dem hin⸗
terlaffenen Vermögen laure.
Die Staatsauterität äußerte fi im Mittelalter vorzugs⸗
weife in Form der Gerichtsbarkeit. Ward die weltliche Gerichte
barkeit von ber geiftlichen verträngt oder unterworfen, fo war bie
hergebrachte Zweiheit von Kirche und Staat aufgehoben, und es gab
nur noch tie Eine fouveräne Macht ter Kirche. Der Witerftand des
Staates gegen bie Lebergriffe ter Kirche durfte daher nie aufhören,
wenn nicht der Staat ſich felber aufgeben wollte. Am lebhafteſten
wurde der Kampf in Frankreich geführt. Anfangs galt e8 vie Be
ſchränkung der Tirchlichen Gerichtsbarkeit, fpäter ihre Befeitigung.
Shen im XII. Jahrhundert ſah fih der fromme König Lud⸗
wig IX. genöthigt, eine beſchränkende Verordnung zu erlaffen, welche
den Zorn Gregers IX. erregte; und die franzöfifchen Barone ver-
bünteten fich, um tie Klerifer, welche fich der weltlichen Gerichtsbar⸗
feit völlig zu bemächtigen drohten, auf ihren göttlichen Beruf zurüd
zu weifen. Selbſt die Drohung der Ercommunication hielt die Ba⸗
rone nicht ab, aber bie Verflechtung ihrer Familienintereſſen mit ven
Kirchengütern, vie Rüdficht auf tie Verforgung der jüngeren Söhne
mit Pfründen und Kloſterſitzen ſchwächte ihren Trotz und jchließlich
löste fih das Bündniß wieder auf, ohne die Zuftände gründlich ges
beffert zu haben.
Viel gefährlichere Feinde der firchlichen Gerichtsbarkeit als bie
Barone waren die Juriſten. Zwifchen ben Stlerifern und den Zu-
riften beſtand ven jeher eine inftinftive Abneigung. Der Gegenſatz
beruhte auf ihren Studien, auf ihrem Berufs- und Xebensziele, auf
ber ganzen Geijtesart. Die einen gingen von der Bibel, tie andern
von dem römijchen Gefegbuch aus; die einen fuchten die Kirche und ihr
Haupt, ven Papjt, auch über die Yürften zu erheben, die anderen ar-
beiteten für ben Staat und erkannten in dem Landesfürſten das ein-
zige Staatsoberhaupt; die einen beriefen fi auf das göttliche Recht,
bie andern auf das gefchriebene menfchliche Recht und die guten Lane
besbräuche. Die Religion begeifterte die einen, bie teen des Rechté,
des Staates, ber bürgerlichen Gefellfchaft tie andern. Wenn bie
„Juriſten böfe Ehriften« gejcholten wurden, fo war in dem Vorwurf
einige Wahrheit, obwohl e8 unter den Juriſten auch gute und auf
Kirchenfreipeit unb Kirchenherrſchaft in ber Geſchichte. — 73
nhtige Ghriften gab. Die Yurijten konuten aber mit ebenſo viel
Erund erwietern: "Pfaffenrecht erbärmlich Recht» und „Pfaffenregi-
went Vollsverderb⸗, wenn gleich es auch manche Kirchenfürften gab,
ter teren Krummſtab es fich gut wohnen ließ.
Schon im XI. Jahrhundert wenven fich die franzöfifchen Bi-
ſhefe mit Klagen an den König über die Lezijten: „dieſe Vipern, wel⸗
he das Eingeweide der Kirche zerbeißen, dieſe aus dem Fleiſche ges
bernen Läufe, welche an ihrer Mutter nagen. Durch alle Mittel
ischen fie vie kirchliche Gerichtsbarkeit zu zerſtören. Die Vögte ver⸗
Nieten ven Laien, einen Laien vor den Official zu bringen und erfin-
kn taufend Plagen gegen bie, welche e8 doch thun. Die weltlichen
Kichter wiſſen aus allem Realklagen zu drehen; und wie in derjelben
Sache ee zwei Urtheile gibt, eines des geijtlichen und ein anderes bes
weltlichen Gerichte, jo fichern fie immer dem legtern den Vollzug ; jo
wenig Ehrfurcht haben fie vor der Kirche, daß fie an die Ueberbringer
ripftlicher Briefe Hand anlegen, fie mißhandeln und einferfern, ihnen
ihre Briefe wegnehmen oder gar fie zwingen, viefelben aufzueljen.
tie Bögte fpetten ter Excommunication und erwiedern diefelbe mit
ter Sperre ter bifchöflifchen Einkünfte, ſogar die Zehnten belegen fie
zit Beſchlag und ertnen Wachen in tie Wohnungen der Prälaten,
je daß tiefe nirgends Ruhe finden: und wenn tie Beſchlagnahme auf-
#beben wird, jo fordern fie uoch Gebühren für ihre Mißwirthſchaft.“
Im Fahre 1329 wurde eine Verſammlung der franzöfifchen Prä-
ten veranftaltet, damit fie auf die Beſchwerde der Juriſten antwor-
a. Der Advokat des Könige Beter von Eugnidrce zeichnete in
itarfen Umriſſen die Mißbräuche und Ausfchreitungen ver geiftlichen
Werichte, und ließ drohende Worte fallen. Er ſprach von Rechten,
auf tie ver König nicht verzichten könne, weil fie zum Wefen des Kö—
nigthums gehören. Die Prälaten hatten einen jehweren Stand. Doch
bielten fie jeſt an ihrem Princip, daß ihre Gerichtsbarkeit göttliches
Recht jei und daß fie ihrerjeits nicht darauf verzichten können. Die
Verhandlung entigte ohne Entſcheid. Der König felbit war ſchwan—
tene zwijchen ben beiden Autoritäten. Aber von Peter ven Eugniöres
tatiren die franzöfiichen Zuriften das Verfahren „wegen Mißbrauch
ter kirchlichen Gewalt“, in deſſen Ausbildung bie gerichtliche
Therheheit des Staates über die Kirche ſich bewährte.
74 3. €. Blunitſchli,
‘
Es gab doch auch im Mittelalter innerhalb der Kirche fromme
Diener, welche jeve Ausdehnung ver kirchlichen Gerichtsbarkeit auf
Dinge von irvifchem Werth als ver Kirche unwürdig verwarfen. Der
heilige Bernhard von Clairvaux und der Biſchof Heinrich von Gent
Sprachen fich in dieſem Sinne aus; ver legtere äußerte fogar Zweifel,
ob nicht das (vermeintliche) Geſchenk Conſtantins eher ein Gift ale
eine Wohlthat für die Kirche fei.
Der philojophifhe Mönch Roger Bacon, ber freilich über ſeine
Zeitgenoffen hinaus fah, berauerte, daß in das kanoniſche Hecht fich
die Juriſterei eingefchlichen habe, und meinte, das firchliche Recht folfte
nur aus dem Evangelium gefchöpft werten. Ohne e8 zu wiffen, Bat
er damit den Nechtebegriff felbjt ale einen untirchlichen bezeichnet,
denn auf die Evangelien läßt fich wohl eine Morallehre aber keine
Rechtslehre begründen. Es war nicht unfirchlich, daß die Verfolgung
von Berbrechern vor den firchlichen Gerichten zur Straflofigfeit der⸗
felben führte, wenn fie reuig erjchienen und die Berföhnung der Kirche
anriefen. Aber es war tas bie Berneinung des Strafrechte. Die
Gerichtsbarkeit ift ihrem Wefen nach der Auspruc der nationalen
Souveränität; fie erſtreckt ſich nothwendig auf alle Perfonen und auf
alle Dinge, welche der menfchlichen Gemeinfchaft angehören, und fie
bricht mit Gewalt jeden Widerſtand, vem fie begegnet. Das Tann bie
Kirche nicht, denn fie bat dieſe äußerlich zwingende Gewalt nicht. Deß-
halb mußte jie fih das Schwert des Staates dienſtbar machen. Aus
biefem Grunde erhob fie tie Forderung, taß auf den Kirdenbann
bie ftaatliche Acht folgen ſolle. Kaiſer Friedrich TI. hatte
anch dieſes Begehren zugeftehen müſſen, aber an eine Durchführung
dieſes Gefeges war doch auch nachher nicht zu venten. Die Mächti:
gen fanden Mittel, dieſe Folge ber Ercommunifation zu behindern ;
tie weltlichen Gerichte waren ihm nie günftig; und das Webermaak
ter jchwerften Kirchenſtrafen, zu dem die kirchliche Gerichtsbarfeit ge-
drängt warb, offenbarte nur die Ohnmacht derfelben. Man glaubte
im Mittelalter an vie firchliche Gewalt, und man erfuhr doch auch
damals, daß die geiftliche Gewalt einen logiſchen Widerſpruch in fich
Schließe. Als die franzöfifchen Bifchöfe von Ludwig dem Heiligen
verlangten, er folle feine Gerichte anmeifen, tie Acht über die Gebann-
ten nach Jahr und Tag auszufprechen, beharrte ber König tarauf,
Rirhenfreipeit und Kirchenherrſchaft in der Geſchichte. 77
ee dürfe folches nur unter ber Boransfeßung gefchehen, daß die welt-
iten Richter ſich von ver Strafbarfeit der Gebannten zuvor über:
wagen. »Es wäre wider bie Vernunft, bemerkte er, wenn ich biejeni-
gr zwingen wollte, ſich ver Kirchenbuße zu unterziehen, venen viel:
leicht Die geiftlichen Richter Unrecht gethan haben, und es wäre Un-
echt, wenn ich ihre Berufung auf ihr gutes Recht nicht anhören
zelite«.
Von ter Reform bes XVI. Jahrhunderts erhielt ver Kampf der
tathelifib geblichenen Legijten gegen bie Kirchliche Gerichtsbarkeit einen
neuen Jmpuls. Ihre Angriffe wurden fräftiger, ihre Erfolge waren
zrößer. Allmäplich drängten fie viefelbe auf ein immer kleineres Ger
Ket zurüd, bie zulegt ter volljährig gewordene Staat alle Gerichts-
barkeit ale fein gutes Recht an fich 309.
Eine Zeitlang wurde vie kirchliche Gerichtsbarkeit noch gebufbet,
aber vie Juriſten gaben nicht zu, daß das göttliches Necht fei, das
Edangelium wiſſe nichts von folcher Gerichtegewalt. Sie leiteten bie-
idbe ber aus Fönigliher Zerleibung, und waren der Meinung, ver
König Habe das Recht, viejelbe einzufchränfen oder ganz zu be-
kitigen. Nur in „rein geiftlichen Sachen« fellte tie Kirche noch über
Yaien richten türfen. Wenn irgend ein "realedu Element in dem
Streit zu fingen war, fo behanpteten bie weltlichen Gerichte ihre
aueſchließliche Competenz. Ein königliches Erift erklärte als geiftliche
Sachen nur die Saframente, die religiöfen Gelübve, ven Gottesdienſt
und tie Kirchendisciplin. Selbft die Streitigfeiten über tie Che
wurten in ben meiften Fällen an vie Taiengerichte gebracht, und ebenfo
tie Prozeſſe über tie Kirchenpfrünten. Die Beſchwerde wegen Miß-
brauche. und tie Befikesfrage gaben ven weltlichen Gerichten ben
Anlaß einzugreifen. Tie Bulle: In coena domini, weldye vie fird-
liche &erichtebarfeit vertheitigte, wurbe in Frankreich nicht anerkannt.
Tie Parlamente erkannten auf Eperre ter bijchöflichen Einkünfte,
wenn ein Biſchof fie publicirte. Vergeblich erwirkten ultramentane
Diſchöfe eine Fäpftlihe Bulle, welche alle die von Rechts wegen er-
cemmunicirte, bie unter dem Vorwand ver Beſchwerde wegen Miß-
brauchs tie firchliche Gerichtsbarkeit mit Hilfe ber weltlichen Gerichte
zu entfräften fuchten. Auch dieſe Bulle wurte von den königlichen
Gerichtshofen als „Mißbrauch. behandelt: und als ver eifrige Biſchof
716 ’ 3. C. Bluntſchli,
von Angers ſich um bie Decrete ver weltlichen Gerichte nicht küm⸗
merte, bewährte fich die Kraft des weltlichen Mittels dev Güterfperre
auch an ihm. Der franzöfifche Klerus felbft Iernte das Staategefühl
achten, deſſen Organ bie Gerichte waren: und die gallicanifche
Kirche unterfchied ſich ebendadurch ven ver Fatholifchen Kirche in an«
bern Ländern, daß fie ſich den jejuitifch-ultramentanen Docirinen nicht
hingab, jondern mit dem Fortſchritte der ſtaatlichen Entwicklung im
Frieden bleiben wollte Niemals erkannte fie die „Unfehlbarkeit ves
Papftes« an, fie verwarf ben Sag vielinehr als unnatürlich, unchrift
lich und unwahr.
Die gallicanifche Kirche hielt an dem Sage feit: Sein Kanon
und feine firchliche Verordnung erwirbt in Frankreich gefegliche Kraft,
wenn fie nicht von der Staategewalt autorifirt find. Zu feiner Zeit
beftritt mıan das Recht ter Kirche zur Ercommumication. Den-
noch behaupteten die Juriſten fogar in diefen Dingen das Recht ver
ftaatlihen Controle. "Die Ercommunication,« fagten fie, „kann ges
mißbrancht werden, um tie Ehre eines Unterthans widerrechtlih ans
zugreifen, und Unterbrüdung zu üben.“ Die Parlamente behielten
jich vor, Klagen darüber an tie Hand zu nehmen, und die Ercom-
munication im einzelnen Fall als mißbräuchlih zu kaſſiren.
Die Legiften gingen weiter. Sie verfodhten ven Gruudſatz, daß
bie Könige von Frankreich überhaupt nicht ercommunicirt wer
ven können. Einzelne Pärfte wollten ven franzöfifchen Königen dieſes
Privilegium verleihen. Die Zurifien waren damit nicht einverftanden.
Sie behaupteten das Recht als ein nothwendiges, aus ter Natur des
Staates folgenves, das fein Papjt entziehen, auf das fein König ver-
zichten dürfe. Sie dehuten das Recht auf alle Beamten aus mit
Bezug auf ihre Amtshandlungen, denn infofern jeien die Beamteu⸗
Organe des Königs, und wie dieſer unverleglicy und unerreichbar für
die geiftlihe Strafe. In alter Zeit hatte Frankreich vie Noth des
Interdicts erfahren. Junocenz III. hatte mit dieſem Mittel den
König Philipp Auguft gezwungen, feine verftoßene Gemahlin wieder
zu nehmen. Nun war auch diefe Waffe fraftlos geworden. Die
Juriſten erklärten das ganze Inſtitut des Interdicts als „Mißbrauch.«
Im Mittelalter war das Stautsgefühl unficher, das Staatsbe⸗
wußtjein unflar, die Stantseinheit durch das Lehensweſen gefpalten,
Eirchenfrei helt und Kirchenherrſchaft in der Geſchichte. 77
des Staates Organiſation bürftig und unbeholfen. In allen dieſen
deziehungen beſaß die damalige Kirche günſtigere Bedingungen ihrer
Hat. Wenn ſeit Gregor VII. ihre größten Päpſte ven Anſpruch
ef Weltherrſchaft erhoben, fo konnte das auch vie zeitgenöffifchen
Yaien nicht befremden. Wer ven Geift ver Wenfchen beberrfcht, ver
befugt vie wirkſamſte Herrfchaft über die Menſchen: und die Kirche
ifte damals eine allgemein verehrte und ftrenge Geiftesherrfchaft über
die europäifchen Bölfer aus. Bor einer folchen idealen Hoheit mußte
ke Hebeit des Staates in den Staub finfen.
Die päpftliche Lehre von den Verhältniß der Kirche zum Staat
trägt ganz tiefes Gepräge der Herrichaft dev Kirche auch Über den
Staat. „Der Stuhl des heiligen Petrus bat die Macht zu binden
mb zu Löfen in geiftigen Dingen; um wie viel mehr bat er vie
Nacht auch über tie zeitlichen Dinge. Indem Gott dem Bapfte das
Recht verliehen hat, zu binden und zu löfen im Himmel und auf ver
Erre, hat er Niemanden ausgenommen von diefer Diachtwirkung; er
het ihm ale Fürſtenthümer auf der Erde unterthan gemacht, wer hat
a zum Fürſten über alle Zürften gefeßt.« Gregor VII., ver viefe
Säge aufftellte, verfuchte e8 auch, dieſelben praftifch auszuführen,
6 er feinen legitimen Oberherrn, ven Staifer Heinrich IV. entfegte.
Gregor war fo fehr von den unvergleichlichen Vorzügen ver Kirche
über Ten Staat erfüllt, daß er das weltliche Fürftenthum aus ven
Einfläffen ter dämoniſchen Kräfte erklärte, und nur die Kirche ale
Ne wahre Offenbarung res Gottesreiches betrachtete.
Richt in diefer Weife, wie der mönchiſch erzogene Gregor VII.
aber mit nicht acringerem Hochmuthe jah der juriftijch gebilvete In⸗
secenz III. auf die weltliche Gewalt herab: "Das Priejterthfum be-
rabt auf göttlicher Einſetzung, das Königthum auf menfchlicher Noth
mr Gewalt. Die Fürften haben Macht auf der Erbe, die Priefter
haben Macht im Himmel und auf ver Erde. Die Könige beſitzen
Gewalt über den Leib, die Priefter über Seele und Leib.“ Inno⸗
cenz III. liebt e8 die Kirche mit ver Sonne und den Staat mit dem
Mend zu vergleichen: „Wie die Sonne am Tage leuchtet, jo werden
vie Seelen ber Wenfchen von dem Papftthun geleitet, und wie ber
Mend vie nächtlichen Wege erhellt, fo werben die Körper von dem'
Rönigthum geführt. Der Kleinere Mond empfängt fein Licht von ber
18 I. C. Bluntichli,
größeren "Sonne. So empfängt vie fönigliche Gewalt ihren Glauz
und ihre Würde von ver Autorität des Papſtes. Der König ber
Könige hat den Bapft zu feinem Stellvertreter auf ver Erbe gemacht,
und damit zum Einem Haupt der Kirche und der Staaten. Die
ganze Welt fchuldet ihm Gehorſam. Er iſt nicht eines Menfchen,
ſondern des wahrhaften Gottes Statthalter.“
Sp ftolze Kehren mußte von den Päpften feiner Zeit ein Fürſt
wie Friedrich II. von Hohenftaufen vernehmen, und ver geiftweiche
König und Kaiſer, deſſen politifches Bewußtjein in ver Schule ber
Römer gebildet und durch die Traditionen feines Hauſes geftählt worden
war, mußte fich Jahre lang mit heimlichen Vorbehalten in fcheinbarer
Demuth venfelben beugen. Als er jpäter die Faiferliche Gewalt eben-
fo wie die päpftlihe unmittelbar von Gott ableitete, und auch für
jene Unabhängigkeit verlangte, als er fogar ſich darauf berief, daß
die Macht des Staates älter jei als tie der Kirche, fo erwieberte
ihm noch vell Entrüftung der Papſt Innocenz IV.: "Vor Jeſus
Chriftus war die weltliche Herrichaft principiell eine Tyrannei ohne
Regel und Map. Chriſtus Hat zugleich die königliche und bie Prier 4
fterherrfchaft begründet: er hat dem heiligen Petrus das Reich ans
vertraut im Himmel und auf der Erve. Gonjtantin hat feine Kaiſer⸗
Gewalt in die Hänte ver Kirche nierergelegt und fie von ihr in ges
reinigter legitim gewordener Form zurüdempfangen.«
Es fällt ven heutigen Menſchen jchwer, anzunehmen, daß fo ab»
gefhmacte Fabeln fogar von denen nur wenig bezweifelt wurden,
welche fie vortrugen, und won der Maſſe der Gläubigen unbevenklich
für wahr gehalten wurben. Aber die Macht der Einbildung war ba»
mals viel größer als die Macht ver Kritik. Tas hiftorijche Coſtume
diente ebenjo wie die eftirne des Jirmaments dazu, um ba6 geliebte
Ideal ver Tirchlich erregten Phantaſie aufzupugen. Jede hiſtoriſche
Forſchung galt als gefährlich, jede Prüfung als ein Irrweg, ber zur
Ketzerei verleite. Die firchlicde Theorie wurde zwar nie praktiſch,
weil fie im Wirerfpruch war mit der Natur des Menſchenlebens und
die realen Machtverhältuiiie ihr wiberftrebten. Aber fie wurde von
der großen Mehrzahl der unterrichteten Leute damals für richtig und
nawiderlegbar gehalten und heute noch herrſcht jie, nur wenig mobi»
fleirt, in ven ultramontanen Schulen.
Kirchenfrei heit unb Kirchenherrſchaft in ber Geſchichte. | 77
des Staates Organiſation dürftig und unbeholfen. Sn allen biefen
Beziehungen befaß die damalige Kirche günftigere Bebingungen ihrer
Macht. Wenn feit Gregor VII. ihre größten Päpfte ven Anſpruch
auf Weltherrſch aft erhoben, jo konnte das auch die zeitgenöffifchen
Laien nicht befremden. Wer ven Geift der Menfchen beherrfcht, ver
befist vie wirkſamſte Herrfchaft über die Menſchen: und bie Kirche
übte damals eine allgemein verehrte und ſtrenge Geiftesherrfchaft über
alle europäifchen Bölfer aus. Bor einer folchen idealen Hoheit mußte
die Hoheit des Stuutes in den Staub finfen.
Die päpftliche Lehre von dem Verhältniß ver Kirche zum Staat
trägt ganz dieſes Gepräge der Herrichaft der Kirche auch Über den
Staat. „Der Stuhl res heiligen Petrus hat tie Macht zu binden
und zu löfen in geiftigen Dingen; um wie viel mehr Hat er die
Macht auch über vie zeitlichen Dinge. Indem Gott dem Papfte das
Recht verliehen hat, zu binden und zu löfen im Himmel und auf der
Erte, hat er Niemanden ausgenommen von dieſer Machtwirkung; er
bat ihm alie Fürftenthümer auf der Erde unterthan gemacht, er hat
ihn zum Fürſten über alle Zürften geſetzt.“ Gregor VII., ver dieſe
Sätze aufftellte, verfuchte es auch, viefelben praftifh auszuführen,
als er feinen legitimen Oberherrn, den Kaiſer Heinrich IV. entfette.
Gregor war fo fehr von den unvergleichlichen Vorzügen ver Kirche
über ben Staat erfüllt, daß er das weltliche Fürftenthum aus ven
Einflüffen der dämenifchen Kräfte erflärte, und nur die Kirche als
die wahre Offenbarung bes Gottesreiches betrachtete.
Nicht in diefer Weife, wie ver mönchifch erzogene Gregor VII.
aber mit nicht geringeren Hochmuthe jah der juriftiich gebilvete In⸗
nocenz III. auf die weltliche Gewalt herab: „Das Priefterthfum be⸗
ruht auf göttliher Einfegung, das Königthum auf menfchlicher Noth
und Gewalt. Die Yürften haben Macht auf der Erbe, die Priefter
haben Macht im Himmel und auf ver Erde. Die Könige befigen
Gewalt über den Leib, vie Priefter über Seele und Leib.» Inno⸗
cenz III. liebt e& die Kirche mit der Sonne und ven Staat mit dem
Mond zu vergleichen: "Wie die Sonne am Tage leuchtet, fo werben.
die Seelen der Menfchen von dem Papftthunt geleitet, und wie ver
Mond die nächtlichen Wege erhellt, fo werten bie Körper von beim
Rönigthum geführt. Der Heinere Mond empfängt fein Licht non ver
n
80 3. €. Bluntſchli,
niedriger als die leßtere und ihr untergeortnet. Die weltliche Macht
ift nicht gehindert, ihre eigene Wirkſamkeit zu bethätigen, aber wenn
fie der geijtlihen Macht in ven Weg tritt, dann ift biefe berechtigt,
fie mit allen Mitteln zu unterbrüden.«
Man jieht, die indirecte Hoheit des Papftes über die welt
lichen Dinge kommt praftifch mit ver dire cten Doppelgewalt deſſel⸗
ben, wie fie von Gregor VII, Innocenz III, Bonifaz VIII. behauptet
wurde, auf daſſelbe Ziel hinaus, auf die vollftäntige Erniebrigung
und Unterwerfung des Staates. Die klerikale Herrjihfucht bat eine
beſcheidenere Formel bervorgebradht, um ihre Anmaßung bejjer zu
verdedfen. Dennoch gefiel dem Papfte Eirtus V. vie Beſcheiden⸗
beit jener Formel fo wenig, vaß er trog aller Bitten und Beſchwe⸗
rungen der Sefuiten und vieler Garbinäle die Schrift Bellarmins auf
den Inder der verbotenen Bücher fegen ließ. Er wollte auch nicht
zum Scheine auf feinen Anfpruch verzichten: der König ber Könige⸗
zu fein.
Indeſſen der Aenderung der Zeit konnte audy das unveränder-
lihe Papſtthum fich nicht entziehen; und Bellarmins Lehre von ber
irdifehen Gewalt ver Päpfte über die Könige wurbe bald nachher vom
ver ultramentanen Partei allgemein recipirt. Es konnte dieſer nicht
verborgen bleiben, daß tie offene directe Weltherrfchaft der Päpfte
nirgends mehr Glauben finde und feine Ausſicht ınchr auf Verwirk⸗
lichung habe, daß jelbft vie inbirecte Hoheit zu vertheirigen die größte
Anftrengung erfortern werve. Man muß es dem Jeſuitenorden nach⸗
fagen : er hat mit außergewöhnlichem Geſchick, mit zähefter Auédauer,
und mit nie ermattendem Eifer fich bemüht, die Reftauration der mittelalter-
lichen Papſtherrſchaft ven Fürſten, ſoweit Diefelbe irgend noch möglich fchien,
annehmbar zu machen und ven Völkern aufzunöthigen. Ihre Bemü-
bungen waren nicht ohne allen aber von feinen tauernden Erfolg. Es
gelang ihnen im manchen Ländern, bie Fortſchritte des Geiſteslebens
auf Jahrhunderte hin aufzuhalten, in ſchiefe Bahnen zu treiben, zu
untertrüden. Aber es gelang ihnen nicht, das emporſtrebende Wach6«
thbum ber Staatsimacht zu hemmen. Sogar ihre Erfolge wenbeten
ſich meiften® wider fie. Ihre Fortfchritte reizten ben uralten Haß der
Laienwelt gegen ben römifchen Klerus zur Wuth. Ihre Trinmphe ga-
Kicchhenfreiheit und Bircpenberrfcaft in ber Geſchichte. 81
ben den Anftoß zu Ausbrüchen ter Revolution, welche vie mühfamen
Fflanzungen ver Herifalen Herrfchaft mit ihrem Schutt bebedte.
Auf tem Goncilium von Trient wurde noch ein fühner BVer-
ſuch gewagt, die Hoheit der Kirche über den Staat in neuer Form
zur Anerlennung zu bringen. Der sivchenverfammlung wurde ber
Entwurf einer „Fürſtenreform- (reformatio principum) vorgelegt,
welche ‚tie alte Kirchenfreipeit erneuern follte. Darin wurde ven
dürften zu Gemüthe geführt, daß "Gott ihnen das Schwert gegeben
babe, damit fie die Kirche fügen und ihre Unterthanen zum Gehor—
jam gegen die Kirche anhalten.u Sie werden an ihre Pflicht erinnert,
„jelbft ven heiligen Gefegen der Päpjte und ver Concilien zu gehor-
hen und die von Gott georbnete Immunität ver Geiftlichfeit zu meh—
ren und ihre Beamten zu folder Achtung anzubalten. Niemand foll
fih unterſtehen, Eirchliche Perfonen vorzuladen ober gegen fie vorzu—
gehen, auch nicht aus dem Vorwand des öffentlichen Wohle und des
Königlichen Dienfted, ohne vorher von tem Firchlichen Ordinariat er
mächtigt worben zu fein.s Wer dagegen hantelt, wird mit der Er-
communication bedroht. Das Kirchliche Recht wird insgeſammt der
Verehrung der Fürften als „göttliche Borfehrift« empfohlen, und ihnen
bas drohende Verbot entgegen gehalten: "Niemand, wie hoch feine
Würde fei, auch nicht die Könige und die Haifer dürfen irgend welche
Ordnungen, Vorfchriften over Gejege aus eigener Machtvollfommen-
beit erlaffen, welche ſich auf vie kirchlichen Angelegenheiten, Streitig-
feiten oder Perfonen beziehen, noch in ſolchen Dingen irgend welche
eigenmächtige Maßregel verfügen. Sie dürfen fich nicht einmifchen in
vie firchliche Gerichtsbarkeit und find vielmehr ſchuldig, deren Urtheile
zu ehren und wo es nöthig wird, mit dem weltlichen Arm ber Kirche
zu Hülfe zu kommen.
Diefe Fürftenreform fand zwar großen Beifall bei den ehrwür-
digen Bätern. Aber fie entfprah doch zu fehr ihren mittelalter
fihen Idealen und zu wenig dem Geift des XVI. Jahrhunderts
und den Anfichten ber weltlichen Mächte. Sogar ver fanatiſchſte der
Könige Philipp II. von Spanien befchwerte fich lebhaft, daß durch
den Entwurf die königliche Majeftät verlegt werde. Sein nicht minder
orthoborer Oheim, ber deutſche König und römifche Kaifer Fexdivovv
Hiſtoriſche Zeitſchrift V. Band. 6
a)
82 9. €. Blauthhli,
fchrieb den heiligen Vätern, daß ihre Vorfchläge eine vollſtändige Zer
ftörung der weltlichen Autorität zur Folge hätten und mit dem herge⸗
brachten Rechte unverträglich feien. Er drohte, wenn biefelben ange-
nommen werben, jo würde dadurch ein furchtbarer Aufruhr ver Laien
entzündet, und die Kirchen von dem Grimm ber Laien bis auf den
Grund zerftört werben.
Der König Karl IX. von Frankreich erklärte dem Concil ge
radezu: „Er wolle feine Kronrechte unverfehrt erhalten, und geftatte
nicht, daß bdiefelben in Zweifel gezogen werben; auch gebenfe er
nicht, vor dem Concil darüber Rede zu ſtehen.« Sein Gefanbter, ber
Juriſt Serrier, ergriff dieſen Anlaß mit Vergnügen, um ben geift-
lihen Herren bittere Wahrheiten zu fügen: „Die Defrete über bie
Fürftenreforin haben die Beraubung ter KHönigsmajeftät und ben Un-
tergang ber gallicanifchen Slirchenfreiheit zum Ziele. Die fehr chrift-
lichen Könige haben nach dem Vorbild Conftantind wiederholt Gefege
über die Kirche erlaffen und dieſe Gefege find fogar in die Sammlung
der fanonifchen Rechtsbücher aufgenommen worden. Sie find mit ben
religiöfen Dogmen nicht im Widerſpruch, noch mit den Befchlüffen ver
alten Concilien, und fie refpectiren die Freiheit der Bifchdfe, ihren
geiftlihen Beruf zu üben; fie find fein Hinderniß für die Bifchäfe,
fogar mehr als 8 bis 9 Monate, wie das Concil von Trient es for-
bert, in ihrem Sprengel zu wohnen; fie türfen das ganze Jahr
hindurch bei ihrer Heerde wohnen und biefer das Beifpiel eines from-
men und fittenreinen Lehrers geben; nichts darin hindert fie jede eban⸗
gelifhe Tugend zu üben; fie dürfen bie kirchlichen Einkünfte ohne Ge⸗
fahr für die Armen verwenden, die wahren Eigenthümer der Kirchen⸗
güter. Aber wenn die Bifchöfe ihre Freiheit haben, jo Hat auch ver
Staat feine Rechte. Er läßt die Befchwerde wegen Mißbräuchen zu,
um bie Anmaßung bes Stlerus zu bejchränfen, und verweigert fein
Placet den Bullen, welche feine Macht angreifen, er befteuert ben
Klerus, wenn die öffentliche Wohlfahrt e8 verlangt. Die Könige von
Frankreich werden nie auf dieſe Rechte verzichten, die ihnen von Gott
verliehen find.« Am Schluß feiner Rebe fpricht der Geſandte ven
frommen Vätern fein Erftaunen darüber aus, daß fie, zufammengelom-
men, um bie Mißbräuche ver Kirche abzuftellen, nun auseinanber geben
wollen, ohne etwas Ernſtliches dafür gethan zu haben, aber fogleich voll
Kirchenfreiheit und Kirchenherrſchaft in ber Geſchichte. 83
Eifer feien, die fürjtliche Gewalt zu reformiren, welcher fie nach ver
heiligen Schrift „Gehorſam fehulven.«
Troß ihres Unwillens über tiefe frechen und nach Ketzerei rie⸗
chenden Reben des franzöfifchen Gefandten mwagten die verſammelten
Biter es doch nicht mehr, ven Entwurf der Fürſtenreform anzuneh-
men. Sie begnügten fih, in vagen Ausdrücken und in weniger impe⸗
ratoriſchem Styl tie kirchliche Immunität für göttliches und kanoni—
ſches Recht zu erklären und die Heiligkeit des Kirchenrechts der Ehr-
furdht und dem Schuge ver Staategewalt zu empfehlen. Aber troß
ber blafjen Färbung wurten tie Defrete des Concils doch von ben
latholiſchen weltlichen Mächten nur theilweije oder nur mit Vorbehal-
ten anerfannt und eingeführt.
Es war bereitd eine Umwandlung ber Grundgedanken über das
Berbältniß von Staat und Kirche theils eingetreten, theils im Anzug
begriffen. Innerhalb ver Kirche waren fogenannte Härefien entftan-
den, welche mit immer ftärferem Nachdruck ter Tirchlichen Hierarchie
tie nationale Idee entgegen hielten. Schon hatten Arneld von Bres⸗
cia in Rom felbjit und Suponarola in Ylorenz, die Engländer
Decam in Paris und Wykliff in Orford, Maſſil von Padua in
Stalien und Deutfchland, Johann Huf in Prag die fchärfiten Un-
griffe anf die Meltliche Herrfchaft ver Kirche gewagt. Als durch Mar⸗
tin Zuther und Ulrich Zwingli in Deutichland und in ber
Schweiz, durch Joh. Calvin in Wefteuropa die proteftantifche Kir:
chenreforin des XVI. Yahrhunderts ins Dafein gerufen ward, hatte,
den Reformatoren nur wenig bewußt, die national-politifche Be—
weguug fihon einen großen Antheil daran. Die Reformatoren gaben
zwar bie Idee der Kirche, als einer Gemeinſchaft der Gläubigen, nicht
auf, fie betrachteten dieſelbe noch als eine göttliche Inſtitution; aber
fie orbneten die äußere Erfcheinung der Kirche willig tem Staate
unter und erkannten auch in dem Staate eine inwohnende fittliche
Natur und Beitimmung. Sie fehrieben alle zwingende Macht und
daher alle Geſetzgebung, Regierung, Gerichtsbarkeit ausfchließlich dem
Staate zu. Der proteftantifche Staat war noch nicht völlig von
der theologifchen Doctrin, aber er war ganz von ber Herrichaft ber
Kirche emancipirt; dem Wefen nach war er ein erjter noch unklarer
Verſuch des modernen Staats, der fich endlih auch von ber
*
84 I. € Bluntſchli,
Befchränfung der Eonfefjion und von ber Autorität der Theologie be
freit hat.
Die mittelalterlich-tatholifche Fdee der herrſchenden Kirche ift
für immer untergegangen. Wenn auch im XIX. Jahrhundert die
ultramontane Doctrin fie von neuem zu veftauriren verfucht, fo wird
das zeitwirrige Streben ber Kirche ſelbſt verderblich, deren Obmacht
über den Staat e8 vergeblich wiererherftellen will. Die politifche Vor⸗
wärtsbewegung, welche der Eirchlichen Reaction jedesmal folgt, erweift
ſich auch jedesmal ftärfer und nachhaltiger als dieſe. Die civilifirte
Welt ift nunmehr einig darüber, daß ver Klerus weder geiftig noch
moraliſch höher ftehe als vie Laien, einig darüber, daß alle Rechtshohelt
in Geſetzgebung und in Gerichtebarfeit urſprünglich und ausfchließlic dem
Stuate gebühre, einig tarüber, daß tie Geiftlichkeit ven Staatsgefegen
und Staatsgerichten in gleicher Weife unterthan fei, wie alle anderen
Claſſen ver Bevölkerung. Wenn heute noch Ausnahmen gemacht wer⸗
den, wie z. B. in der Befreiung der Geiftlichen von ver Militärpflicht
oder in ver confeſſionellen Behandlung des Eherechts, fo beftehen auch
diefe Ausnahmen nur, weil fie von ver Staatsautorität ale
wohlbegrünret angefehen und anerfaunt, und nicht weil fie von dem
fanonifchen Recht gefordert und befohlen werben.
Aber wenn die heutige Welt über diefe Folgerungen des moder⸗
nen Staatsrechts einig ift, fo iſt fie noch nicht ebenfo Har über vie
Begrüntung berfelben und nicht eben fo ſicher in der Vegränzung ber
ftaatlichen Hoheit.
Beharrt man mit den gallicanifchen Theologen und Juriften anf
dem Princip, die Kirche als ein geiftiges und den Staat ale ein leib-
liches Reich zu betrachten, fo bleibt es unerflärlich, wie der Staat ale
der Leib der Kirche ala dem Geift übergeorpnet fein fol. Die Lehre
der Jeſuiten, welche umgekehrt Die geiftige Hoheit der Kirche über vie
leibliche Gewalt des Staates fegt, erjcheint dann als logifch allein
richtig. Die Theorie der erſtern iſt alſo logiſch inconfequent, aber
praltiſch ausführbar, vie ver legtern logifch confequent aber praßtifch
untauglih. Ganz ähnlich verhält es ſich mit den proteftantifchen Leh—
ren. Sie erkannten die Unterfcheivung von Staat und Kirche ale
zweier Neiche an, aber fie vertrauten dem Staatöhaupte zugleich die
Bunctionen des Kirchenregiments an, und erflärten das Etaatshaupt
Eirchenfreiheit und Kirchenherrſchaft in ber Geſchichte. 85
bamit zugleich als Kirchenhaupt, womit ein monftröfer Organismus
— zwei Weſen mit Eine Kopf — gefchaffen war. Sie brachen nicht
wlig mit ter fathelifchen Ueberlieferung, fie verglichen doch auch bie
Kirche tem Geiſt, und ten Staat dem Leib und wurden ebenfo Togifch
inconfequent, wie die Gallicaner, indem fie die Macht ver Realität
praftifch anerfannten und troß jener Anſchauung dem Staat auch bie.
Hebeit über die Kirche einräumten.
Wenn eine Theorie völlig unausführbar ift, dann ift das ein
ſicheres Zeichen, daß biefe Theorie nichts taugt; wenn vie Macht der
Realität und bie welthiftorifche Logik der Thatfachen der herföinmlichen
Lehre Danerndb und von Grund aus widerfprechen, dann ift e8 Zeit,
bes nene PBrincip aufzufuchen, welches bie Erfcheinung auch Logifch
allärt. Die alte Borftellung der beiten Gewalten, ber geifti«
gen umb der leiblichen, kann nicht richtig fein, weil fie von ber
Beltgefchichte thatfächlich überwunden ift. Die Kirche kann nicht das
geiftige Heich fein im Gegenfag zum Staat, als vem leibli⸗
den; venn es ift unläugbar, daß in dem Staate mehr geiftige Kräfte
virkſam find als in ter Kirche, und daß das politifche Selbſtbewußt⸗
kin tes Staated mehr männliche Energie und höhere Geiftesfreiheit
bewahrt als das religiöje Gefühl ver Kirche.
Indem Laurent jene Widerſprüche zwifchen Theorie und Praxis
ent zwiſchen alter Kirchenautorität und neuem Staatsrecht hervor-
hebt, ift er, wenn ich ihn recht verftehe, geneigt, die Löſung tarin zu
finten, daß er den Begriff der Kirche felbit als einer felbit«
ſtaäͤndigen Geiſtesmacht verwirft und in vem Einen Staate auf:
(äft. Wie der antite Staat das Gefammtleben des Volkes nach allen
Seiten darſtellt und beherrſcht, fo verlangt er von dem moternen
Etsate, daß feine Macht fich über alle gemeinfamen Beziehungen
gleichmäßig ausbreite. Die Religion erfcheint ihm als eine fehr wiche
tige und einflußreiche Seite des Dienfchenlebens, aber nicht andere
ao vie Wiffenfchaft oder bie Kunjt oder die Wirtbichaft. Dem Staate
überweift er baber bie Yeitung ber religiöfen und der moralifchen In⸗
terefien wie aller andern Nationalintereffen.
Freilich verneint er die Macht der Kirche nicht in der Meinung,
sm nun bie Gtaatögewalt für abfolut zu erklären. Er will nur
Gin Rei mit Einer Souveränetät, keine Spaltung in zwei
86 3. €. Bluntſchũ.
Reiche; aber auch dieſe Eine Sonveränetät barf nach feines Ueber-
zeugung nicht mehr eine fchrantenloje fein. Der Sonveränetät ber
Gemeinfchaft ftellt er tie Souveränetät ver Individuen, ober beffer
ausgebrüdt, die individuellen Menfchenrechte gegenüber, und
das Staatsrecht wird fo durch das Privatrecht befchräntt. Er will
nicht, daß ver Staat tie Erbfchaft ver Kirchenantorität in Glaubens⸗
fachen antrete und fortfege, aber er belämpft auch tie Meinung berer,
welche die Yrreligiofität für eine wefentliche Eigenfchaft des Staates
balten und einen atheiftifchen Staat verlangen. Er weiß wohl, daß
die Unterſcheidung von Staat und Kirche nicht bloß eine ultramen«
tane Lehre ift, fonvern auf dem ganzen Wefen und auf ber Gefchichte
des Chriftentgums beruht. Aber er will licher ber chriftlichen Au—⸗
torität wiberfprechen als eine Wahrheit verläugnen, von ber er fich
durch ernfte wilfenfchaftliche Prüfung überzeugt hält.
Obwohl ich das Recht der Wilfenfchaft, ten Ausſpruch auch ber höch⸗
ften religiöfen Autorität zu prüfen und nöthigenfalls vemfelben zu
widerfprechen, vollftäntig anerfenne und für den Freimuth bes mit
Recht hochgenchteten belgiſchen Gelehrten Tebhafte Sympathie em-
pfinde, und obwohl ich in fehr vielen und wefentlihen Dingen feine
Anfichten theile, fo Tann ich Loch in biefer Auflöfung ver Kirche im
Staat werer eine Erklärung ter welthiftorifchen Entwidlung noch vie
leitende Idee der Zukunft erkennen.
Die Unterfheibung von Staat und Kirche ift allen
dings erft mit dem Chriftentyum und durch das Chriftentbum in bie
Welt gelommen; weber bie orientalifche Theofratie noch ber enropäifch-
antife Volksſtaat kannten fie und auch der fpätere Islam begriff fie
nicht. Aber die Anfänge und Keime der Unterfcheibung find in ven
uralten Gegenfägen des Prieftertfums und des Königthums wohl zu
entveden. Indem Chriftus fchärfer als alle vor ihm und faft alle
nach ihm vie Religion und die Politit, das göttliche Reich und das
menschliche Reich unterfchied und den Anftoß gab zur Bildung einer
Kirche, im Gegenfaß zum Staat, vollzog er meines Grachtens eine
That nicht blos von vorübergehender, fonvern von bleibender Bedeu⸗
tung für die Weltgefchichte. Er brachte einen urfpränglichen Gegen-
fa aus ter Tiefe ber menjchlichen Natur an das Licht der Erfchei-
nung und lehrte die Menfchheit, ihr gemeinfames Leben je nach den
Kirchenfreigeit und Kirchenherrichaft in ber Geſchichte. 87
keiten Srunbprincipien in zwei verfchievenen Geftaltungen ausprägen.
Die Zweiheit der Kirche und des Staats ging von da an nicht mehr
verloren. Sie ward ver Haupthebel, weicher das Schickſal der europäifchen
Lätter bewegte und ihre Entwidlung förberte. Auch in unferm Jahr⸗
hauberte iſt jeber große Fortſchritt durch dieſe Zweiheit betingt, welche
endlich über das Gebiet des Chriſtenthums hinaus auch in die Reiche
ver Muhammedaner einbringt.
Die große Frage ift daher nicht, Zweiheit ober Einheit? fon«
bern: von welcher Art ift die nothwendige Zweiheit? In welchem
Berhältniß ftehen die beiten Geſammtweſen Staat und Kirche zu ein»
ender? Die Auflöfung der Kirche ift heute und morgen ebeufo un«
befriedigend, als im Mittelalter ver Verſuch war, ven Staat ber
Kirche einzuverleiben. Die Sonderung, nit die Mifchung ber
keiten Gebiete ift das Streben unfers Jahrhunderts.
As Tas Mittelalter fi die Menfchheit ale Eine Perfon
vachte, beſtehend aus ber Kirche und dem Stuate, wie der Menfch aus
Geiſt und Körper befteht, jo mußte tiefer Gedanke eine logische Ver-
wirrung erzeugen. Im einzelnen Menſchen nemlich ftehen fich Geift
und Körper nicht ale zwei Wefen, fondern nur als zwei zufammen
gehörige Eeiten Eines Weſens gegenüber. Kirche und Staat aber
waren trotz jener Theorie zwei Weſen, deren jedes einen ihm eigenen
Körper, feine Verfaffung hatte und ven einem ihm eigenen Willen
bewegt ward. Man konnte tie geijtige Seite des Staates gelegent-
lich läugnen, aber fie wirkte in ver Praxis fort, und man konnte bie
leibliſche Seite ver Kirche überfehen, ihr Schwergewicht wurde trotzdem
ventlich empfunden. Die Einzelnperfon bedarf, um als Ein Wefen
m leben, ver Einheit des Willens und des Gedaukens. Suchte man
viefe Einheit in ber Kirche, fo wurde ber Staat zum Diener ber
Kirche; fuchte man fie in dem Staate, fo wurde die Kirche zur Die-
serin des Staates. Aber ver Staat konnte der Kirche nicht auf die Dauer
dienen, weil bie Selbſtſtändigkeit des Nationalbewußtfeins dieſe Knecht—
ſchaft verwarf; und die Kirche kann nicht vie bloße Magd des Staa-
tes fein, weil fie nicht von der Staatsautorität, jondern von der Au⸗
terität Gottes ihre Miffion ableiten muß.
Die Macht der Realität nöthigt alfo ven Staat und die Kirche
6 zwei Berfonen zu begreifen, deren jede Geiſt und Körper
88 3. €. Bluntſchli.
bat. Erſt wenn das gefchieht, verliert die Vergleichung der Kirche
mit dein Geift und des Staates mit dem Körper alle Bedeutung und
ift die Meinung des Mittelalters, welche in den Öeiftlichen die Män-
ner des Geiftes, in den Laien die Männer des Fleiſches erkannte, des
finitiv überwunden. Wie die beiven Gemeinjchaften in zwei Drganiss
men, die eine in ber Staatsverfajlung, die andere in ber Ktirchenver-
faffung körperlich erfcheinen und jede von beiden von einem ande—
ven Geiſte erfüllt und bewegt wird, der Staat von dem menjchlich
bewußten Geifte ver Humanität und der Nationalität, die Kirche von
dem religiöfen Glauben an vie göttliche Offenbarung und von ber
Hingebung an ven göttlichen Willen: fo gibt und biefe vollere Auf-
faffung ver zwei Perfonen auch einen befrierigenden Aufjchluß über
ihr wechfelfeitiges Verhältnig. Cine jede derfelben ift felbftftändig in
fih, und doch auf Ergänzung durch die andere angewiefen; eine jebe
umfaßt von ihrer Seite her das gefammte nienfchliche Dafein, und
doch kommt tasfelbe nur in ter Verbindung beider zu volljtändiger
Erſcheinung. Vergleichen wir viejelben mit den Erfcheinungen ver or»
ganifchen Natur, fo ift es nicht das Verhältniß von Geift und Kör—
per in Einem Menfchen, welches vie nächfte Achnlichleit bietet, ſon⸗
bern das Verhältniß ber beiten Gejchledhter, vie in dem ehelichen Bunte
ihre engſte Vereinigung finten. In ber Durchführung aber biefes
Bildes weift nicht bloß die moterne Eutwidlung, fondern die Spradye
und fomit die Anfchauung aller europäifchen Völker, dem Staate
bie männliche, zer Kirche die weibliche Seite zu, und fpricht
bamit zugleich die üußere Uebererpnung des Staates über
die Kirche und tie Innere Cbenbürtigfeit ber beiden Gefammt-
perfonen aus.
II
Katharina U. uud ihre Denkwürdigleiten. *)
ſtatharinen's Denkwürbigkeiten, die jeßt vor zwei Jahren erfchie-
nen find, haben mit Recht großes Auffehen erregt. Man batte lange
vorher dann und wann munfeln gehört, daß vergleichen vorban-
ten wäre; aber niemand konnte etwas Näheres angeben; over wer
es Tonnte, ſchwieg wohlweislih. Dem Flüchtling, der ven den Ufern
der Themſe aus fein Vaterland mit fliegenden Blättern, Zeitjchriften
und Büchern überfchwemmt, vie ihren Weg, wie ınan weiß, bis in bie
höchften Regionen finden, dem betriebfamen Wanne, ver fchon fo vies
les Berjtedte aus Rußland zu Tage geförvert, verdankt auch jene
merkwürdige Schrift ihren Eintritt in die Deffentlichkeit.
Kaifer Baul fand diefelben, wie A. Herzen erzählt, unmittelbar
nad dem Tod der Kaiferin unter den geheimen Papieren, die er ver-
fiegeln ließ. Das Manufeript lag in verfiegeltem Umfchlag , deſſen
') Memoires de l’Imperatrice Catherine II., Scrites par-elle-m&öme, et pre-
cödes d’une pröface par A. Herzen. Londres 1859.
90 Katharina 11.
Auffchrift an ihn, ven Thronfelger, gerichtet war. Paul hielt das
Werk feiner Mutter ſehr geheim und hatte, wie beffen Inhalt be⸗
weit, alle Urfache dazu. Was für Urfuche aber Hatte Katharina ge
habt, ihre Denfwürtigfeiten aufzufegen?
Wir wiffen, dag auch Cäſar Denkwürdigkeiten gefchrieben hat,
nicht etwa, fih in Mußeftunvden angenehm zu befchäftigen. Denn
Mußeftunven kannte er am wenigiten, al® er vie Commentarien über
bie gallifchen Kriege unmittelbar nach deren Beentigung fchrieb. Ihm
kam es vielnichr,, als er den Kampf mit ber Gegenpartei übernahm,
vorzugsweiſe darauf an, die römische Welt mit feinen großen Berbien-
ften um ven Staat und mit den Heldenthaten befannt zu machen, bie
ihm das Vaterland eben auf Betrieb von Niedern und Feinden fchlecht
zu vergelten brohte. ‘Dagegen fellte vie folgende Schrift, die er über
den Bürgerfrieg verfaßte, ihm mithelfen am großen Werk ter Ber:
föhnung entgegengefegter Parteien, das er fich zum Ziel gefett hatte.
Wie der große Friedrich oft das Schwerbt mit der eher vertaufchte,
und wo das eine nicht ausreichte, die andere in Bewegung fegte, wieer
fie als Abwehr und als Angriffewaffe zu benußen wußte, ift ung befannt. -
Nicht minder verftand es Katharina, die Fever zu ihren Zweden
zu banchaben, fei es, daß fie vertrauliche Zeilen an Freunde, ober
geiftreiche Briefe an Voltaire und die Enchelopätiften fehrieb, bie ihr
Lob auspoſaunen follten, oder daß fie Heine Stüde für ihre Hofbühne
binwarf, ober auch, daß fie eine Staatejchrift abfaßte, wie cffenbar
jene Denfwürbigfeiten find.
Beim Erfcheinen derfelben wollte man vielfach ihre Aechtheit an⸗
zweifeln; aber ber Zweifel verſtummte gar bald, als man fie näher
anſah. Ta ftellte fich gleich, was die Sprache betrifft, das Molierifche
Franzöſiſche heraus, das Katharinen’s Briefen jo fchön anfteht; es fiel
bie Anmuth, Friſche und Lebhaftigkeit der Darftellung auf, welche nach
ben Urtheil der Zeitgenoffen ihrer mündlichen Unterhaltung einen fo
eigenthümlichen Reiz verlieh; man fühlte ſich mitten in bie Zuftänte
verfeßt, die fie dem Lefer vorführen wollte. Den möchte ich fennen,
ber in einer abfonderfihen Sprache, die fo ganz Katharinens Charak⸗
ter an fich trägt, das Leben, durch welches die merfwürbige Fürftin
ſich durchwinden mußte, in großen Zügen und mit feinen Strichen fo
zu ſchildern vermocht hätte, daß man ihm bie Wahrheit fegleich anfähe.
umb ihre Dentwärbigleiten. 91
Daß Katharina ihre Denfwürbigfeiten nicht fo ohne weiteres
bingeworfen, oder zum Zeitvertreibe gefchrieben habe, bezeugt ſchon
ire Einleitung dazu. Das Glüd, fo beginnt fie, fei nicht fo blind
als man ſich's vorftelle. Es fei oft ein Erfolg richtiger und genau
beftinnmter Maßregeln, die vom großen Haufen nicht bemerkt, dem
Creigniffe vorausgingen. Es fei noch insbefonvere ein Erfelg von
Gigeufchaften, Charakter und perfönlichem Benehmen. Zwei ſchlagende
Beifpiele davon feien fie felbft und ihr Gemahl.⸗
Allerrings folgt nun eine fehr lebendige Echilverung von Beider
rerfönlichen Eigenfchaften, Charakter und Benehmen, bie, wenn fie
rei Jahre weiter geführt werden wäre, Peter's III. Verſchuldung
an feinem eigenem Unglüd, und das verbiente Glück feiner Gemahlin
von felbit als Nutzanwendung ergeben hätte. Leider bricht fie indeß
mm tie Witte tes Jahres 1759 plößlich ab. Es verlautet noch von
serftrenten Rotizen, bie vorhanden gewejen wären. Kaiſer Baul warf
ke jeroch, wie einige behaupteten, ins Feuer. Das wäre num freilich
ſchwer zu begreifen, da jene Notizen kaum irgend etwas für Raul
Schlimmeres ausgefagt haben möchten, als das Manuſcript bereite
enthielt. Warum aljo das Manufceript aufbewahrt, dagegen alles
Aubre verbrannt? Tod gewöhnte ber junge Kaiſer gar fchnell tie
Belt, ſich über nichts zu wundern, was er that.
Dem fei, wie ihm wolle, das Manuſcript war, wie ber Umfchlag
kefagte, ven der Mutter an ven Schn gerichtet, dieſer jedoch nicht
augerevet. Vielmehr hält fich die Schrift ganz objectiv, ald wäre von
ige das große Publikum gemeint, das auch fogar mehrmals angeben-
tt wire.') Aber wer, der irgend Katharinens Eigenthümlichkeiten
tennt, möchte glauben, daß fie vor ver Welt fich in ihrer ganzen Blöße
hätte aufdecken wollen? Sie erlaubte fih, das willen wir, zumal als
mächtige Raiferin Alles, was ihr gefiel, oder wonach ihr gelüftete; aber
feinem Dienfchen lag e8 mehr am Herzen als ihr, die Dehors, wie bie
rernehme Belt e6 nennt, zu wahren. Daher bauptjächlich ftammte
tie Duplicität, in ber fie beinahe durchweg erfcheint. Sie war von
greßen Gebanten, von ftarfen Gefühlen erfüllt, und hatte faft immer
ven Muth, beiden den Ausdruck zu geben, nicht etwa burch Worte,
N) Bel befondere Memoires etc. p. 271.
92 Katharina II.
fondern durch die That. Dabei konnte ſie's aber kaum je fich verfa-
gen, dem Schein zu buldigen, ven fie gern vor der Welt retten mochte,
denn fie war ein vollftändiges Weib. Gerade was fie den brutalen
Männergeftalten gegenüber, mit denen fie fi) umgab, fo gewaltig und
ſtark machte, Tieß fie hinwieder nicht felten unentlich ſchwach erſchei⸗
nen. Nur wußte fie immer, was fie wellte.
Was wollte fie alfe, oder welche Abfichten begte fie bei Abfaffung
biefes Werkes? Denn jo können wir füglich, wenn fie auh Fragment
geblieben find, ihre Denkwürbigfeiten nennen. Wäre die Zeit, warn
fie diefelbe abfaßte, uns bekannt, fo fiele e8 wahrfcheinlich nicht ſchwer,
aus bein, was damals mit ihr und um fie vorging, auf bie Haupt
abficht zu fchließen, welche fie dabei verfolgte. Doch beipricht fie weder
bie eine, noch bie andere. Nur beiläufig kommt die Erwähnung eini⸗
ger Momente vor, aus denen wir die Zeit der Abfafjung ungefähr
zu errathen im Stante find. Die Kaiſerin erzählt‘) aus dem Some
mer 1749 ein anmuthiges Gefchichtchen, über das fie etwa zwanzig
Jahre fpäter mit dem Gegenftanv verjelben, tem Hetman Rafumowelt,
fih unterhalten habe. Nachher befpricht fie den öfterreichifchen Geſand⸗
ten Grafen Bernis, und erwähnt ihres Geſprächs über benfelben im
Fahre 1780, als fie in Mohilev ihre erfte Zufammenkunft mit Kaiſer
Joſeph II. Hatte.?) Hienach konnte die Schrift nicht vor der zweiten
Zuſammenkunft gefchrieben fein; diefe fand befanntlih Bald darauf in
St. Petersburg ftatt. Damals jtand Graf Rumänzow im vollen Glanz
feines Ruhmes; und wenn bie Ktaiferin gleichzeitig etwas wegwerfend
von ihrem bekannten Feldherrn fpricht, fo fegt fie mit Recht Hinzu ):
„troß feiner jetigen Berühmtheit und feiner Siege.“
Alles wohlerwogen, dürfte in diefelbe Zeit, d. 5. in ben Anfang
der achtziger Fahre, die Abfajfung der fraglichen Schrift fallen. Für
Katharina waren dieß gewitterfchwangere “Jahre, in denen fie, unges
achtet ihrer leivenfchaftlichen Hingebung an vie Günftlinge, beinahe
mehr als je vie Springfedern ihres reichen und thatkräftigen Geiſtes
fpielen ließ. Sie zerriß das Gewebe, mit dem fie achtzehn Jahre Lang
1) Mömoires p 112.
') M&moires p. 136.
3) Ebendaſ. p. 298.
unb ihre Denkwärbigfeiten. 98
bes großen Friedrich's ſchlauer Geift und einfchmeichelnde Perſon um⸗
Iponnen Hatte, fie fchloß zugleich einen geheimen Bund mit Defterreich,
dem fie ihren ältejten Buntesgenojjen und den treuften Vertreter ihrer
auswärtigen Bolitif opferte. Zu Panin's Sturz benugte fie nicht
minder ven Haß Potemfin’s, ale die Ränke und Umtriebe des gewal-
tigiten Unterhändlers, welchen ihr England je gefhicdt hatte, des Sir
James Harris, den zum Trotz fie gleichzeitig die bewaffnete Neutrafi-
tät ver kleineren Seemächte durchſetzte. Dem alten Miniſter ven
Boden zu entziehen, auf vem er ihr entgegen noch ferner Ränke fpin-
nen Könnte, fowie dem öjterreichifchen Bündniß eine feftere Grundlage
zu geben, befchloß ſie den Thronfolger auf Reifen ind Ausland, zu⸗
nächſt nach Wien zu fchiden. Nur follte Paul's argwöhnijches Gemüth
wie von felbjt auf ven Wunfch zu reifen fommen, ohne zu merken,
wozu er gebraucht werde.
Ihr Plan gelang, aber der fchlaue Panin vurchfchaute bald vie
Abfichten der Staiferin und hettte gegen fie ven Örokfürjten und veffen
Gemahlin auf, die er beide als feine einzigen Stüßen um jeden Preis
zurückzuhalten ſuchte. Ränke aller Art wurden in Bewegung gefekt;
man ſprach von Paul's Enterbung; noch jchlimmere VBerdächtigungen
gingen von Panin aus, Ter ganze Hof gerieth aus einer Aufregung
in die andere. Diefe theilte fich fogar tem Volke mit, das bei ber
enplichen Abreife des Scheivenden laut feine begeifterte Theilnahme
bewied. Darüber fhwoll Katharina’ Herz vor Aerger und Unmut,
welchen das Benehmen ihres Sohnes im Ausland zu befchwichtigen
nicht geeignet war. Er trat ihren Plänen und Abfichten oft fchnurs
itrads in ven Weg. Die Intriguen fpielten beftändig zwifchen ihm
und St. Petersburg fort. Dieß entging Katharinens Scharfblic nicht
und entflammte dermaßen ihren Zorn, daß fie Paul's VBertrauensmann
und Hauptvermittler ſeines Briefwechfeld nach Sibirien bringen ließ.
Welhe Stimmungen fi) ver Kaijerin in folcher Lage bemächtig«
ten, ijt leicht zu begreifen. Sie war gewohnt, daß fich Alles vor ihr
beugte, und bier verfagten ihr gerabe die Nächiten ven Gehorſam. Aber
fie war ein wunderbares Wejen, das fich beftäntig in den ftärfften
Gegenfägen bewegte; bald fenerjprühend wie ein Vulkan, bald kalt
wie Eis; bald bingebend voll Theilnahme, bald voll Hohn abftogend,
ein harmloſes Kind unter Kindern, und Fühn und entfchloffen, wo es
9 LKatharina 11.
galt, unter Männern. Dabei ragten beſonders zwei gewaltige Eigen⸗
fchaften berver, ein eiſerner Wille und ein unglaublicher Tact in gro-
Beu wie in Heinen Dingen. Von beivem konnte fie wenig an ihrem
Sohn veripüren. "
Auh war ver Muth feine ſchwache Seite. Daher trieb er be-
ftäntig ohne fefte Anfichten, wie ein Schiff ohne Ballaft, anf den ber
wegten Wogen des Lebens umher. Er warb ein Sonberling und ge-
rieth von einem Einfall auf ven andern. Dieß fonnte ihm am we⸗
nigften die Achtung der Mutter gewinnen, teren Liebe er längft ver-
loren hatte. Sie ihrerjeits litt Mangel an gutem Gewiifen, und warb
von brennendem Ehrgeiz verzehrt. So gab er ihr feit feiner Mün⸗
bigleit, feit einem Jahrzehend, oft genug Beranlafjung zu peinigenden
Beforgnijjen. Ya, feine erfte Gemahlin beste ihn dermaßen gegen bie
Mutter auf, tab Zeitgenojjen, welche Einjicht gewannen in das Ge
triebe, die Meinung ausjprechen, e8 würde zu argen Dingen gekommen
fein, wenn vie Großfürftin nicht im erjten Wochenbette geftorben wäre.
Vorher und nachher tauchten bejtäntig Gerüchte auf von Ber
ſchwörungen zu Gunjten des Thronfelgers, welche tie Kaiferin jedes⸗
mal mit dem ihr eigenen Geſchick niederzufchlagen wußte. Als nun
ihr Sohn im Ausland meijt ihren Abjichten und Wünfchen zuwider⸗
handelte, mochte jie wohl in Gedauken zu ihm fagen:
„Mein Sohn! was fällt dir ein, nach meiner Krone zu trachten ?
Rollte fie etwa, als dein Vater vom Thron ftürzte, bir von felbft
aufs Haupt? oder mußte nicht vielmehr ih mit entjchloffener Hand
zugreifen, damit fie nicht in alle Winde ginge? Wollte bein Vater
doch eben mich ins Klojter verftoßen, und dich zum Baftarb ftem-
peln! Bin ich nicht Schmied meines eigenen Glück's? Habe ich
nicht lange fchrediihe Jahre gelitten und gerungen, bie ich enblich
ans Ziel gelangte? Man hatte mich armes ſchutzloſes Kind am diefen
damals verpefteten Hof gefchleppt, und mein Schidfal an die Lauuen
eines im Kern verborbenen Knaben gefchmieret, ver mich ebenfo wenig
liebte, als ich ihn lieben mochte. Wie ein verfolgtes Reh gebekt, bielt
ih mich deunoh ein Jahrzehend hindurch mitten unter den Laſtern
aufrecht und fromm, bis auf allerhöchiten Befehl meine Unjchuld er⸗
log. Ta ward ich freilih Weib, ward Mutter von dir, und bie
Gluthen ver Keidenfchaft durchzuckten mich; aber ich wußte mich zu
und ihre Denlwärdigkeiten. 095
faffen, wich zu fügen, und ich lernte dienen, damit ich herrfchen lernte.
Das lern’ auch du. ch Hielt unverzagt unter allen Kränkungen und
Zemüthigungen den Blid auf die Krone gerichtet; hatte ich fie body
als Tas Inſtrument erlanıt, auf dem ich der Welt eines auffpielen
tönnte, wie kaum einer zuvor. Und ich vente, ich hab's geleitet.
Zwei Jahrzehnte ver Ehren und des Ruhms, wie fie Rußland noch
nicht erlebt hatte, find, feit ich vie Krone trage, bahin gegangen.
Danle tu auf den Snieen veinem Schöpfer, daß er mich dir zur
Mutter gab, die Kronen vergeben und verweigern kann. Dein Vater
bütte dir fcine ertheilt«.
Dieß ungefähr mochte der Kern deſſen fein, was Katharina in
ihren Denkwürdigkeiten tarzuftellen beabjichtigt. Sie fpricht nach
ihrer Weije die Abficht nirgend geradezu aus; aber wer ihrem Gedan⸗
tengange folgt, erräth fie alebald. Es Herrjcht Durch das Ganze eine
Kiarheit und Durchfichtigkleit, die allenthalben vom feinen fcharfen
Geijt ver großen Fürftin zeugt. Das Porträt des eigenfinnigen, in
ven Grund verborbenen Prinzen, ver fpäter ihr Gemahl werden follte,
eröffnet die Galerie der köſtlich gehaltenen Genrebilver, vie fich all-
mählig zu bifterifchen Gemälden erften Ranges erheben. Sie felbit
erfcheint dabei vorübergehend als zehnjühriges Kind, und tritt nicht
rolle fünf Fahre nachher beim Hof in Moskau mit ihrer Mutter auf.
Ihre kurze Schilderung verjett uns fogleich mitten in bie beiden
Barteien, vie ſich dort unter Elifabeth bekämpften. Katharina follte
bald felbit ein Spielball verfelben werten. Es war nahe daran, daß ınan
die junge Braut mitfammt der Wutter wieder heunfchidte. Kaum
war fie aber vermählt, fo pierchte man fie mit dem unliebenswürbi«
gen Wanne förmlich ein, ober hielt fie wie ein gefährliches Thier uns
ter Berfchluß, dem niemand außer Vertrauten ver herrſchenden Partei
nahen durfte. Ihr liebebebürftiges Herz kam jedem entgegen, ber
ir Theilnahme bewies; aber gar bald mußte ſie's erleben, daß ihre
Gunft jedem Berberben brachte. Ehrendamen, Hoffräulein, Kammer
frauen, Zofen, Diener, alle, denen fie fich beſonders gnädig bewies,
verfchwanven wie ter Blig, plöglich verheiratbet, oder heimgefanbt,
ever auch wohl eingelertert, unter ferne Regimenter geſteckt, jogar in
die Verbannung geſchickt.
Bor unfern Augen thut fich immer weiter ein wahrer Höllen«
96 Katharina 11.
pfuhl auf, je weiter wir im Leſen ver Schrift vorrüden. Und das
nannten neuerdings Ruffomanen die wahrhaft ruffiiche Negierung ber
milden Elifabeth. Der junge Fürſt fchüigte fo wenig feine bedrängte
Gemahlin, daß er fich vielmehr meift ihren Wibderfachern anfchloß,
und fie wohl mit eigenen Fäuſten mißhanvelte Jähzornig, feige,
boshaft, benimmt er fich zugleich fo kindiſch, daß er halbe Nächte.
durch mit Puppen fpielt. Aber er bett auch in den Wohnzimmern
feine Hunde ein, treibt die Diener und Stalffnechte mit Hetzpeitſchen
umber, zecht und raucht tann wierer mit feinen Genoffeu, bis er bes
trunfen ins Bett füllt.
Wir glauben dem gefränkten Weibe gern, daß ſie fich vornahm,
ihren Gemahl nicht zu Lieben, „weil fie jonjt ein folder Menſch zu
unglüdlich machen würbes. Nur vie fefte Hoffnung auf die Krone,
fo lautet mehrmals ihr Geſtändniß, hob fie über all diefen Jammer
hinaus. Eliſabeth hing zu fehr ihren Gelüſten nach, als daß fie fich
viel um das unglüdliche Weib gekümmert hätte. Aber endlich fiel
ihr ein, daß noch immer die Nachlommenfchaft ausbliebe. Dafür
fchalt fie die Ehrenvame aus, welche feit Fahren vie Aufficht über
bie junge Großfürftin führte, Es war ber Kaiſerin eigene Bafe, ge
borne Gräfin Hendrickſon, jegt an ten Oberceremonienmeifter Tſcho⸗
glefow vermählt. Der gejchäftigen Gräfin lag nun nichts jo fehr
am Herzen, als daß fie den deutlichen Wink, over vielmehr Befehl ver
Kaiſerm, zur Ausführung bringe.
Bereits feit längerer Zeit hatten zwei junge Hofcavaliere fich
an die Großfürſtin herangedrängt, offenbar von oben begünftigt oder
beſchützt. Sonjt hätten fie wohl kaum gewagt, ein fo gefährliches
Spiel mit ihr zu treiben, als infonderheit Sergei Saltitow fich ver
maß. Zwifchen beiven Männern ließ ihr die Gräfin die Wahl. Ka-
tharina hatte bereits gewählt; erſchien ihr duch längſt Saltikow »fchön
wie der Tag“, und wenn ſchon voll von Ränfen, doch höchſt unterhalten
‚und graziös. Das Verhältniß des liebenden Paares zieht fich durch
ein Drittel der Echrift, bald halb verftedt und wie insgeheim, bald
fharf und Mar hervortretend, bis es urplötzlich die Niederkunft ber
Sroßfürftin im Herbſt 1754 auf immer zerreißt. Saltitow ward ale
Ueberbringer ver Botjchaft, daß ein Thronfolger geboren ſei, nad)
und ihre Denkwurdigkeiten. 97
Schweden geſchickt, dann als Geſandter nah Hamburg, und fpäter
nach Paris.
Gin Dichter möchte kaum feiner und zarter jenes Verhältniß
tarftellen, als Katharinens Schilderung es ihrem Sohn gegenüber
that. Sie warf dem Ganzen ten leichten Schleier um, der einen
Reiz mehr verleiht, ohne daß er dem Sohne verftedte, was biefer
wiſſen ſollte. Paul erfuhr mehr, als er wünfchen mochte; und blieb
ihm noch ein Zweifel, jo mußte ihm eine unvorfichtige Aeußerung,
zu ter fich ter Großfürſt Peter binreißen ließ, venfelben vollends be»
nehmen. Als nämlich im Herbft 1758 die Großfürftin wieder fchwans
ger ging, rief er einft im Kreiſe feiner Genoffen ärgerlich aus:
"Weiß Gott, woher meine Frau zu ihren Schwangerjchaften kommt !u
Katharina ftopfte ſogleich dem gefchwägigen Herren Gemahl auf
igee fchlagende Weile den Mund; aber der Ausruf fiel ihr ſchwer
aus Herz. Ihr Scharjblid erkannte die furchtbare Gefahr, in ber
fie ſchwebte. Es galt, fchreibt fie '), mit ihm oder durch ihn zu
Grunte zu gehen, oder aber mich ſelbſt, meine Kinder, vielleicht auch
ten Staat vor vem Schiffbruch zu retten, ben bie geijtigen und kör⸗
rerlichen Gigenfchaften des Großfürſten in Ausſicht ftellten. ‘Diefer
texte Entjchluß ſchien mir der ſicherſte/ Ihm gemäß betrat fie kühn
ten Weg, ter allein zum Ziele führen Eonnte.
Fit nun Obiges, wie wir auseinander fegten, der Kern von Ka⸗
!tbarinens Denfwürbigkeiten, fo begreifen wir, weshalb fie aller Wahr
’heinlichleit nach dieſelben gerate nieberjchrieb, als ihr währenn ver
Reife im Auslande Sohn und Schwiegertochter fo vielfachen Verdruß
kereiteten. Die junge fehöne Großfürftin war, wie e8 damals ber
zanzen vornehmen Welt erging, von Frankreich, deſſen Moden und
Manieren bezaubert: fie hatte einen ununterbrochenen Briefwechfel
mit Mile. Berten und antern Modehändlern verabredet, fogar 200
Kitten mit ausgeſuchten Motewaaren vorausgefchict, auch neue Kam⸗
merriener mitgenonmen, und ven fühnen Plan gefaßt, eine Umwäls
zang im Kopfputz herbeizuführen. Aber vie Schwiegermutter kam ihr
‚sser. Sie erlich einen Ulas gegen tie Moden, der befonbers fchwer
2 YJırbalt jener 200 Kijten traf. "ch bin gewiß, fagte ver große
!, Mdmoires etc. p. 301.
bA iiqe Yeltfkrift v. Bam. 1
98 Katharina II.
Britifche Diplomat, dem wir jene Nachricht verdanken, daß wenn bie
Sroßfürftin in Riga das Verbot erfährt, fie tarüber fich mehr är⸗
gert, al8 wäre irgend ein Unglüd dem Ruhme oder dem Wohlfeln
des Reiches begegnetw.
Fünf Wochen fpäter — den 17. December 1782 — fchreibt ber.
felbe Sir James Harris: „Das Benehmen des Großfürften und ber
Großfürftin war feit ihrer Rückkehr vernünftiger, als man's erwarten
fonnte. Sie leben beinahe ganz vereinfamt, fie haben von ihrer Ges
fellfchaft ihre früheren Günftlinge ausgefchloffen, und man follte mei⸗
nen, fie wünfchten binfort nichts weiter, als fi nur nach der Kat
ferin Willen zu verhalten. Es ift fchwer zu fagen, welchem Grund
man diefen Wechfel des Benehmens zufchreiben müfleı. Sir James
zerbricht fich ven Kopf, Gründe dafür zu finden. Denen wir uns
aber, Katharina hätte dem ftörrifchen Sohn jene Denhvürbigteiten
mitgetheilt, fo wäre das ein Grund, fchlagender als Alles, was ber
Muge Diplomat erfinnen mochte. Ihre Klugheit würde, wie ſich von
felbft verfteht, dafür geforgt haben, daß Paul allein die Schrift Läfe,
und feine Abfchrift nähme. Eine ſolche Mittheilung möchte ihm aber
fo ſchwer in bie Glieder gefahren fein, daß er fich Hinfort gern ruhig
verbielt.
IV.
Capis Amali d’italia für das Jahr 1848. Italieniſche
Gonföderation. Fremde Truppen.
Bon
Alte von Reument.
Der Abate Antonio Coppi in Rom bat feine italienifchen Jahr⸗
bücher, tie Ergänzung ber mit dem Jahre 1749 endenden Muratori-
fen, welche fchon, vor nunmehr achtundzwanzig Jahren, Heinrich Xeo
rries, bis zum Schluffe des Jahres 1848 fortgeführt und fomit bei-
nahe einen hundertjährigen Cyclus vollenvet. Dem kürzlich erfchiene-
zen ftarfen Bande, der das verhängnißnolle Jahr enthält (Annali
dImlia dal 1750 compilati da A. Coppi. Tom X. 1848. Florenz
135). XXIV u. 816 ©. 8.) merkt man wahrlich feine Ermattung
a. Das Buch ift in einem nicht minder verhängnißvollen Moment
eridienen als bie Zeit war, welche es fchilvert; in einer Zeit wie dieſe
m e6 von boppeltem Intereſſe auf jenes Jahr 1848 zurüdzubliden,
tas fo manche Saat ausgeftreut bat, die wir heute auffprießen fehen,
— ein Fahr, deſſen ernfte Lehren leider in ven zunächft folgenden
theils nicht verftanden, theils nicht beachtet worben find, während bie
Befrietigung legitimer Forderungen bes Nationalgefühls, freilich von
verneberein fehr erfchwert durch das Verhältniß zwifchen Defterreich
zb Piemont, der im Stillen fortichreitenden und von mehr denn
einer Seite her genährten Revolution vielleicht Hätte Halt gebieten,
7 “
100 Alfreb von Reumont,
jedenfalls einer künſtlich und eiufeitig verkehrten, einem Theile und
nicht vem Ganzen frommenven, tem Genius wie der Gefchichte Ita⸗
liens witerfprechenten Richtung hätte entgegenarbeiten können.
Dies Intereſſe rechtfertigt die ausführlichere Behandlung, welche
ter Berfaffer, während er im liebrigen Form und Einrichtung feine®
Wertes beibehält, Diesmal für gut befunden hat. E8 rechtfertigt biefe
größere Ausführlichleit umfomehr, als alle bisherigen Bearbeitungen
ver Gefchichte des Jahres 1848, foweit fie mir bekannt geworben,
mehr oder minder vom Parteiftantpunfte ausgeben, ver bei ben in-
ländiſchen Darftellern einer fo naheliegenten Epoche kaum zu vermeis
den ift und auf welchen einige Ausländer ſich beinahe noch entfchiebes
ner geftellt Haben. Es rechtfertigt die größere Ausführlichkeit noch ba-
durch, daß nur Durch VBergleichung vicler ſcheinbar oft geringfügiger Facta
ein vollftändiges Bild, wie tie interefjanteften Vergleichungspunkte zur
Beurtheilung ver Gegenwart nach ihren Tendenzen und Perfonen ges
wonnen werben können. Wie oit finden wir ba Gleichartiges ungeachtet
äußerer Unterſchiede, wie oft radicale Unterſchiede bei Gleichheit der
Namen, wie oft Sinnesänderung ber bie und dert handeluden Perſo⸗
nen! Der Abate Goppi bejpricht nicht und beurtheilt nicht; er er
zählt und berichtet fu einfach und ſchmucklos wie möglich; er hält ſich
an die Documente verfchiedenfter Art, deren Hauptftellen er citirt; er
nimmt Rückſicht auf Die wichtigeren unter ven zahlloſen Publicationen
von Sleichzeitigen und Mitbetheiligten. Die Gazzetta di Nema und
Pepe's Histoire de la revolution et de la guerre d’Italie, die Ge-
fegfammlungen ber verfchiedenen Staaten und Majfaris Cası di Napoli,
die Denkſchriften der Civiltä catholica und Zobi's Storia civile della
Toscana, der Gräfin Spaur Viaggio a Gaeta und Dela Varenne's Au-
trichiens en Italie, Schönhals’ und Willifen’s Feldzüge von 1848,
nnd General Bava's Bericht über die militärifchen Operationen , bie
piemontefifhen Kanımerverhandlungen und Gioberti’8 Rinnuovamento
d’Italia, alles dies und hundert andere ber verfchiebenartigften Drud-
fachen find in dem Buche benugt, und zwar fo, daß man in jebem
Einzelfall ſich Raths erholen fanı. Mau fühlt des Verfaſſers An-
fiht und Urtgeil durch, in ihrem verftäntigen patriotifchen Sinn;
aber nirgend bringt er fie und fich feinen Lefern auf, wie er nirgenb
einer Tagesmeinung fchmeichelt oder einem Uebermaß Recht giebt. Ee
Coppi's Annali d’Italia für das Jahr 1848 ıc. "101
ift eine durchaus ruhige ftreng pragmatifche Darftellung, von unfgäg-
barem Werthe für die, welche einft diefe Gefchichte in ihrem Zufän-.
menhange zu ſchreiben Haben und weder durch Ranalli's fonft vielfach
(ebenswerthe Schilderung ter Begebenheiten ver Jahre 1846-48,.
noch durch Farini's intereffante aber parteigefärbte und keineswegg
überall aufrichtige Gefchichte des Kirchenſtaats, noch viel weniger aber:
durch die zahlreichen perfönlichen Denkwürdigkeiten befriebigt, over gar
ben hiftoriſchen Romanen des Paters Bresciani auf’8 Wort glaubend,
hier einen zuverläßigen Wegweifer durch das Labyrinth von Thatfachen
und durch den ſchwer burchtringlichen Wald von Drudichriften finden.
Auf ein ſolches ans Tanter Facten beſtehendes Buch referirend
einzugehen ift nicht gut möglich, wenn man nicht etwa die Gefchichte
dieſes Zeitraums felbft fchreiben will, was begreiflichermweife nicht bie
Aufgabe gegenwärtiger Zeilen fein kann. So möge denn bier nur eine
Phafe dieſer vielgeftaltigen Bewegung betrachtet werben, eine Phaſe, nicht
ohne Wichtigkeit für die Beurtheilung der damaligen, wie, vergleich»
weite, der heutigen Zuftände, Richtungen, Strömungen. Es find bies
bie Geſchicke der Törerationsbeftrebungen — Beftrebungen, angeregt
ven Dem, der fo vieles in Italien angeregt und in biefem Falle, wie
in manchen andern, ven ſchnödeſten Undank geerndet bat, von Bapft
Bius IX. Es ift hier nicht der Ort in vie Gefchichte ber älteren
Fõderationsverſuche einzugehen — wer etwas von italienifcher Ge⸗
fhichte überhaupt weiß, kennt fie. Er weiß, daß in dem legten Zeit-
raum, in welchem Italien noch eine nationale Politik hatte, das heißt
ver dem Einfall der Sranzofen im Jahre 1494, ver Verfuch einer
ſolchen Föberation, fo unvollkommen er immer fein mochte, gelungen
war, daß Neapel, Florenz und Mailand, zufammenhaltend, ben Grund
zn einem politifchen Syſtem legten, welches, weiter ausgedehnt und
veroolffemmnet, der Halbinfel jene Nationalität hätte fichern müſſen,
weiche Carls VIII. Heerzug vernichtete und welche weber ein großer
Bapft mit feinen faori il barbaro, noch ein großer Schriftfteller mit Fürſten
nach der Art des Cãſar Borgia wiederzugewinnen im Stande war. Er weiß,
daß dieſe Föperationsverfuche unter mancherlei Formen auflebten, felbft
im Hirn eines Cardinals wie Orfini von Gravina in ber zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Er weiß auch, daß man in jüngern
Zeiten -fo Heinmüthig geworben war, daß felbft ber blotze WR
109 --. Eu Alfeeb von Reumont,
.. .*.,
einge Zollvereins , als erſte Stufe zu einem Bündniß, die Wünſche
itec großen Zahl vollſtäͤndig befriedigt Haben würde, während bie ita⸗
Herifchen Regierungen fo wenig das naheliegente Bebürfniß und bie
+. billigften Forderungen erfannten, daß nicht zwei von ihnen fich bier-
.., "über einigen Ionnten und ein wahres Babel von Zolllinien und Ta-
.- rifen, wie von Dlünzen, Maßen, Gewichten beftehen blieb und alle Bes
ziehungen von Staat zu Staat auf bie unerträglichite Weile erfchwerte.
Ein Zollverein war es, womit die italienifchen Yundesbeftrebun-
gen begannen. Im September 1847 ſandte Pius IX. einen vertrau«
ten Prälaten, Giovanni Corboli Yuffi, nah Zurin, wo am 3. No
vember die Zolleinigung zwifchen Ren, Piemont und Toscaua zu
Stande fam. Die drei Souveräne, fo hieß es in ber gemeinfamen
Erklärung, feien von dem jteten Wunjche belebt, durch ihre Ginigfeit
zur Steigerung des Anſehens wie des Wohlſtands Italiens beizutra-
gen, überzeugt daß die wahre und feſte Bafis italienifcher Einheit durch
die Verfchmelzung der ınateriellen Intereffen der verfchievenen Staaten
gewonnen werben könne, während der Fortſchritt von nationaler In⸗
buftrie und Handel baburch gefichert werben müffe. Sie feien in dies
fer Anficht noch beſtärkt durch die Hoffnung, aubere Staaten ſich
ihnen zu gleichem Zwecke anfchließen zu fehen. Der PBapft äußerte
fi) im folgenden Jahre über die Gefinnungen und Abfichten, vie ihn
geleitet. Bom Anfang feines Pontificats an, ließ er in feinem Namen
erflären, habe er bie Zuftänte fo des Kirchenftants wie ber übrigen
Staaten Italiens in Betracht gezogen, ale gemeinfamer Vater
von Fürften und Völkern auswärtigem Kriege nicht minder wider:
ftrebend als innern Zerwürfnifjen. So babe er, um das wahre
Gluck Italiens zu fördern, Verhandlungen in Betreff eines Bänbniffes
zwiſchen ten Fürſten der Halbinfel ſich vorgefegt und unternommen, ale
das einzige Mittel zur Befriedigung ver Wünfche der Nation ohne Ber
legung der Rechte ber Fürften, wie ohne Beeinträchtigung der Ten-
venzen ber Völker zur Erzielung verftändiger Freiheit. So war ber
erfte Schritt gethan, und namentlich in Rom war man thätig für die
Verwirllichung und Erweiterung bes Plans, fo der Idee nach wie
durch Heranziehung anderer Theilnehmer.
In den erften Monaten von 1848 war wirklich bie Mehrzahl ver
italienifchen Regierungen ernftlich darauf bedacht, zum Abſchluß eines
Coppis Annali d'Italia für das Jahr 1848 sc. 103
eigentlichen Bündniſſes zu gelangen. Ceſare Balbo, als er zu Anfang
März in Zurin fein Minifterium bilvete, fchrieb im Entwurf des
Programms: „Politiſches Bündniß mit den drei anderen italienifchen
Fürften. Neapel uud Toscana, jenes unter dem Minifterium des Fürs
fien von Cariati, dies unter dem bed Marquis Rivolfi, fandten zu Ende
des Winters Bevollmächtigte nach Rom, wohin felbft von Seiten bes
revolutionären Gouvernements von ‚Sizilien und der gegen Defterreich
limpfenden Lombarbijch-Venezianifchen Provinzen Unterhänpler kamen.
Der Bapft, in feiner wieberholt geltend gemachten Stellung als ges
meinfamer Vater der Eatholifchen Welt, wünfchte, damals wie jeder-
zit, ein Defenfiobünpniß, und fandte Monfignor Eorboli nochmals nach
Turin, wohin von Neapel P. Fr. Leopardi ging, defjen Inſtructionen
fpeziell die italienifche Conföderation zum Gegenftande hatten, „welche,
wenngleich unter ven bejtebenden Umſtänden noch nicht vertragsweife
abgefchloffen, doch in ver That zwifchen den vier conftitutionellen Fürften
ſchon beitehe.” Ya, König Ferdinand ſprach am 7. April von diefer
Confoͤderation als bereits gefchloffen durch die allgemeine Zuftimmung
von Fürften und Völkern, und von dem Congreß, der in nächjter Zeit
zur Regelung berfelben in Rom zufammentreten follte. Der italienis
ſche Bund follte einen Bundestag (dietas) haben, zufammengefegt aus
den Repräfentanten der Parlamente ver einzelnen Staaten, zur Ent-
fcheivung über nationale Fragen und Kriegsangelegenheiten, deren Lei⸗
tung inbeß momentan dem Könige von Sardinien anheimgeftellt bleiben
ſollte. Wo ftieß viefer Plan auf Hinderniſſe? Beim Könige von
Sarvinien. Don der Lombardiſchen Ebene aus erklärte tiefer, es fei
jet feine Zeit zum Unterhandeln und Bünbnißfchließen, fondern zum
Kämpfen. Wäre erft ver Fremde vertrieben, fo könne man weiter
barüber reden. Ob Carl Albert Recht hatte, mag bahingeftellt blei-
ben. Genug, die Sache wurde bei Seite gelegt, und die neapolitani«
ſchen und übrigen Übgeorbneten kehrten nach Haufe zurüd.
Darım aber gab man das Project nicht auf, fo ungünftig fich
auch bald darauf die Umftände änderten. Das Toscaniſche Dlinifte-
rium bielt beſonders feſt daran. In der Thronrede vom 26. Juni
ward ſchon der conföderirten Staaten Italiens erwähnt, und die Zoll⸗
einigung wurde als Vorbereitung zum national⸗politiſchen Bündniß
bezeichnet, an deſſen Verzögerung, hieß es, die großherzogliche Re⸗
104 Alfred von Reumont,
gierung nicht Schuld trage. Seinerfeits entwidelte ter florentinifche
Senat in der Aoreffe tie Idee des Bundes näher: „Der föderative
Pakt, indem er jedem Cinzelftaate feine Perfönlichkeit Taffe, werde bie
politifche Uebereinftimmung alfer herbeiführen und durch ihre Vertre⸗
ter bie gemeinfamen Rechte und Intereſſen fördern, um ber italieni⸗
ſchen Nationalität Kraft und Achtung zu fihern, aus dem Bündniß
zur Erlangung der Unabhängigkeit werte der Bund zu beren Er⸗
baftung, und bamit die natienale Einheit ermachlen.« Bon Rom ans
wurden um dieſe Zeit durch das heterogene Mamianiſche Minifterium,
das Produkt der gegen des Papftes friedfertige Allocution vom 29.
April gerichteten Unruhen, im Einverſtändniß mit Toscana bie Unter⸗
bantlungen in Turin wieder aufgenommen: „Die drei Staaten, fchen
durch einen Zollverein miteinanter verbunten, follten vor Italien und
Europa erklären, daß ein pelitifches Bündniß zwifchen ihnen beftehe,
welches ven erhabenen und unfterblichen Bapft Pius IX. zum Begründer
und Vermittler habe.u Die Bevollmächtigten der drei Staaten follten
fih in Rem verfammeln, Daß ver vierte Staat, Neapel, nicht mehr
zu ben centrahirenden gehörte, war ein fchlimmes Zeichen; an wem
aber lag die Schul? Der 15. Mai, mit feinen Anläffen wahnwigig
und felbftmörberifch revolutionärer Ueberſtürzung und Ungenügfamtelt,
mag auf die Frage Antwort geben. Und woran fcheiterten auch bie
Bemühungen Rom’s und Zoscana’3? Zu Ende Yuli trat das ſchon
fange wankende und überholte Balbo’fche Minifterium ab, und vie
Bündniß-Unterbantlungen blieben, wie tie NRömifche Zeitung verfüns
bete, in Turin „aufs neue liegen.“
Der Kampf, auf welchen Carl Albert hingewiefen hatte, war nun
beenbigt. Sein Zwed war nicht erreicht worden, und in den Staaten,
welche unter verfchievdenen Formen ſich taran betbeiligt hatten, war
eine Gährung zurüdgeblieben, welche tie Regierungen mehr und mehr
erfaßte und ven normalen Bahnen abdrängte. Unter dieſen ungünftigen
Berhältniffen nah nun das piementefifche Gonvernement feinerfeits
die Bundesangelegenheit auf. Das Veinifterium Alfieri, welches am
19. Auguft auf das Eintage-Cabinet des Grafen Gafati folgte umb
fpäter als Minifterium Perrone-Pinelli modificirt fich fefter geftaltete,
verhieß fogleich bei feinem Antritt tie „Verwirklichung ber Zolleini-
gung wie des politiichen Bündniſſes der italienifchen Staaten. Schon
Coppi's Annali d'Italia fir dae Jahr 1848 ıc. 105
Safati Hatte den Abate Antonio Rosmini, den frommen Theologen
und eminenten Philoſophen, ver tamals gleich fo manchem Antern
mvita Minerva in tie praftifche Politik hineingezogen warb, nach Rom
gefanet, um für befagten Zweck zu wirken. An dieſen gingen nun,
unter tem 9. October, Inſtructionen folgenten wejentlihen Inhalts:
"Das Bündniß habe ven Hauptzwed, die Nationalität und Autonomie
Staliens zu fihern, wie die Garantie des Territorialbeitandes jedes
einzelnen Staates, bie Randesvertheidigung mittelft der von jeder Macht
zu ftellenten Gontingente, tie Erhaltung der durch die Verfaffungen
gewährleifteten Nechtszuftänte, tie Fortbildung und den Schuß bir
pelitifchen Freiheiten. Daſſelbe folle die mercantilen und abminiftra«
tiven Beziehungen zwifchen ven Einzelſtaaten erleichtern mittelft ter
Zolleinigung und der Identität der Poſten, Münzen, Maße und Ge:
wichte, wie auch, foweit als möglich, durch ein übereinftinmendes Sy⸗
ftem der Geſetzgebung, der Verwaltung und tes äffentlichen Unter-
richte. «
In Betracht der verworrenen Zeiten war dieſe Baſis viel zu
breit; unmöglich Tonnte man auf berjelben zum Ziele gelangen. Man
vente fich die Confufion in beinahe allen itaficnijchen Staaten im
Spätfemmer viefes Yahres, das precäre Verhältnig Piemonts zu
Defterreich währen tes Wuffenftillitandes, das tolle Treiben der durch
bie zahlreichen lombardiſchen Ausgewanderten verftärkten turiner und
genuefer Ultraliberalen, welche leider an dem genialen aber völlig un—
praftifchen Gioberti eine Stübe fanden, tie Schwäche der Autoritüt
in Zoscana, das fterile Erperimentiven zu Rem im Uebergang ven
einem Club-Minifterium Mamiani zu einem impotenten Minifterium
Fabbri, tie Verwirrung in den Legationen, wo an Bologna's Thoren
mit den Defterreichern gekämpft ward, die Zuftände im Königreich
Neapel, wo innerhalb zweier Monate die Scammern fich nicht über
Einen Gefegentwurf zu einigen vermochten, und, mit ficifianifcher Uns»
terftüßung, Aufſtände in Calabrien und in der Provinz Salern aus-
brachen — man denke fich dies alles und urtheile dann, welche Chan—
cen bie piemontefifchen Bündniß⸗Ideen hatten! Das päpftlie Gou⸗
vernement, an beffen Spite zur Zeit wo dieſe Vorfchläge gemacht
wurben, bereits Pellegrino Rofji (16. September) getreten war, hatte
volflemmen Recht, indem es unter folchen Terhältniffen an ber Idee
106 Alfred von Roumont, -
eines Defenfiv-Bünbniffes feithielt und ruhigeren Tagen vie allerdings
wünſchenswerthe Verwirklichung der Turiner Pläne anheimftellte. Wäh-
vend man legtere aber in Rom, nach Maßgabe ver Erfahrungen eines
theoretijch wie praltifch bedeutenden und geübten Staatsmannes, zu
umfaffend fand, war man in Toscana fcehon weit über diefelben hin⸗
ausgegangen. In demjenigen Theil der Halbinfel, wo Phantafterei
vorzugeweife eine exotiſche Pflanze ift und gefunder Sinn zu über-
wiegen pflegt, verjuchte man die Idee einer allgemeinen Demofratis
firung Italiens feltfamerweife unter Theilnahme ber beftehenden Re⸗
gierungen, auf Bundeswege mitteljt einer allgemeinen Conftituante zn
erreichen. Der pifanifche PBrofeffor Montanelli, welchen das Stubium
ber Rechte nicht auf Eare Begriffe und Logifche Folgerungen hinzu⸗
leiten vermocht hatte, führte am 8. October vor dein wider ben Groß»
berzog und das conftitutionelle Minifterium Capponi, die Erben Ri⸗
bolfifcher Schwierigkeiten und Verwiclungen, empörten Livornefer Volle
das fantaftifche fogenannte „demokratiſch⸗chriſtlich⸗ nationale⸗ Luftgebäube
auf, das als „Incarnation ber chriftlichen Idee auf breitefter Grund⸗
lage« bie europäifche Geſellſchaft zu retten beftimmt war. Die eiu⸗
zelnen italienifchen Regierungen follten nämlich mittelft einer nationalen
conftituirenden Verfammlung weinen permanenten Bundestag als les
bendige Perfonification Italiens gründen, eine Regierung ver Regie
rungen, eine Konjtitution der Conftitutionen.« Als das großherzogliche
Minifterium dem Ruf: Es lebe die Conftituante! wich, und Leopold IL.
fi, wie man es ausbrüdte, ver reinen Demokratie in die Arme warf,
d. b. ale amı 22. October verfelbe Montanelli mit dem alten Xivornefer
Demagogen und Geheimbünbler Guerrazzi ans Ruder fam, da wurden
zu Anfang November die vemokratifch:chriftlich-nationalen Ideen den
andern italienifchen Regierungen vorgelegt. Von Neapel und Rom
tum gar feine Antwort; von Zurin aus erwiederte man, faft wie im
April: es Handle ſich jet darum an ben Krieg zu denken, nicht an eine
Conftituante. Doch kam man dann, um etwas zu thun, auf das fchon
am 8. October vorgelegte Schema des Bundes zurüd.
Auf folche Abwege war man, während noch fogenannte vegel-
mäßige Gouvernements beftanden (wenn man ja dad toslanifche dazu
rechnen will), mit ver urfprünglich einfachen Bundes⸗Idee gerathen.
Neben den Minifterien hatte währenddeſſen noch eine zweite Re
Coppi's Annali d’Italla für tus Fahr 1848 :c. 107
sierung, bie der Clubs, geſeſſen. Wenn nicht die Minifter felbft
Elubiften waren, und als Clubiſten die Rebenregierung zum Sporn
wie zur Eontrole ver officiellen und verantwortlichen felbft einrichtes
ten, fo conftituirten die Clubs fich eigenmächtig dazu. Neben Mon⸗
tanelli in Florenz, neben Gioberti in Turin, ift ver Graf Mamiani
als das Muſterbild eines boctrinären Diinifterclubiften zu bezeichnen; bie,
um nicht einen andern Ausdruck zu gebrauchen, ärmliche Rolle, welche
biefer ſonſt vielfach begabte und Ienntnißreihe Mann an der Spite
ver Gefchäfte gefpielt hat, wie feine fchon während feines erften Mi-
nifteriums (Mai — Auguſt) zweideutige Stellung, ift zumeift dem
Umftande zuzufchreiben, daß er durch die Faction und deren Organe,
die Clubs, gehoben und gerufen, der Faction bienftbar und ein Organ
ver Clubs war, und gewiſſermaſſen in ſteter Confpiration gegen fei«
nen Souverän fich befand, deſſen Befehle er ausführen jollte, ven er
jeboch, nach feinem eigenen naiven Geftänpniß in der berühmten Par-
(aments-Eröffnungsreve vom 9. Juni, in die hohe Sphäre feiner geift-
lichen Autorität und des feligen Friedens des Dogmas zum Beten,
Seguen und Verzeiben verfegen wollte, während er mit feinen Col⸗
legen und feinen Freunden vom Club im Weltlihen gemüthlich fort-
regierte. Mamiani's damaliger Unterftaatsfecretär, ver nachmals
vielgenannte Luigi Carlo Yarini, müßte fi, wenn fein Gedächtniß
treuer wäre, als es nach einer Stelle in feinem Buche über den rö—⸗
wifchen Staat zu fein fcheint, ter Worte erinnern, womit Bius IX.
ihm den nicht= gutgebeißenen Entwurf der Rebe zurädgab: „Ich bin
Souverän wie andere Souveräne«. Doch kommen wir wieder auf die
Wirkfansfeit ver Clubs, Schon am 22. März, am Tage nad) der
Zerftörung der öfterreichifchen Wappenfchilver, wodurch ter Frühlings⸗
anfang gefeiert wurbe, befchloß der Circolo Romano dem päpftlichen
Minifterium, damals noch, vem Namen nach, unter Cardinal Antos
nelli, zu Hülfe zu fommen, um reine fefte Grundlage der Nutionali-
täts zu legen, mittelft eines allgemeinen Buntestags, eines in Non
zufammentretenden Nationalparlaments, welches, ohne fih in das
Berfaffungswefen ter Einzelftaaten zu mifchen, die allgemeine Politil
der Ration beftimmen und deren gemeinjame Intereſſen vertreten
würde. Daß die päpftliche Regierung, dem Andrang biefer Idee ges
genäber, an bem einfachen föberativen Projekt fefthielt, welches auch,
108 Alfred von Reumont,
nach Maßgabe ver tamaligen Lage, das allein praftiiche war, ift ber
reits oben bemerkt worden. Wie dann das Clubweſen auf eigene
Hand weiter agirte; wie bie unter bem Schutze ver neugebornen
franzöfifchen Republif am 5. März unter Mazzini’s Vorſitz in Paris
gebildete Aifociazione nuzionale Ytaliana, als Yortfegung ter im
vorhergehenden Jahr in London geftifteten „internationalen Ligue ber
Bälfer«, den Brüdern auf der Süpfeite ver Alpen, durch ihre Emiſ⸗
färe und Amneſtirten längft verftärft und erleuchtet, bie Hand reichte;
wie am 6. September unter dem Bräfivium Gioberti’$ in Turin bie
Societa nationale begründet ward, welche tie Erfämpfung ber Unab-
hängigkeit zugleich mit ver „Erhaltung der territorinlen Integrität
und ber politifchen Prärogative der verfchiedenen conftituirten italteni«
fhen Staaten“ auf ihr Banner ſchrieb: jene Verfanmlung, zu deren
Stiftern der des beabfichtigten Königsmords überwiefene Gallenga, ver
Graf Camillo Exvour und Angelo Brofferio gehörten, in welcher ver
Römer Pietro Sterbini im October als Abgeordneter des römifchen
Volksclubs ſaß, und wo die am 5. November von demſelben Ster-
bini und dem Fürften von Canino in Florenz verlündete »Nothwen⸗
pigkeit, den Grafen Roffi ans dem päpftlichen Minifterium zu ent-
fernen«, zur Sprache fam — auf alles dies kann bier nur bingebentet
werben; bie Details möge man in Coppi's Buche nachlefen. Als
dann der gehaßte Miniſter ans dem Miniſterinm ventfernt« war,
verhieß tie bem Bapfte von ter Empörung während bes Angriffe auf
den Quirinal aufgebrungene Berwaltung vom 16. November zugleich
mit der conſtituirenden Verſammlung in Rem vie Förderung bes
„föderativen Pakte⸗, nach der vom Volksclub am Abende nach Roſſi's
Mord angenommenen Faſſung. Es wurde hinzugefügt, daß bie Zu⸗
ftimmung des Königs von Eartinien zu biefer Föderation erlangt
ſei. Nachdem endlich Pins IX. fih aus ver Gewalt feiner Beprän-
ger gerettet hatte, proclamirte am 1. Dezember der Graf Mamiani,
als DOuafi« Chef des monftruäfen Minifteriums, vie Eonftituante,
"welche die Aufgabe haben follte, einen Bundespakt zu entwerfen,
welcher, während er bie Erijtenz ter Cinzelftaaten achte und ihre Ne
gierungeform nund Grundgeſetze -unangetaftet laffe, die Freiheit, Einig-
feit und abfolute Unabhängigkeit Italiens zu fihern und das Wohl
ber Nation zu gewährleiften ine Stande wäre⸗. Die in Forli abges
Coppis Anmali d'Italia des Jahres 1848 ıc. 108
haltene Berfammlung ber Deputirten von etwa zwanzig romagr'oli⸗
ſchen Städten, das heißt ihrer Elubs, vie fi) dann mit dem damals
deminivenden Club ter Hauptſtadt, dem Circolo popolare ober nazios
nale, durch Adreſſen in Verbindung ſetzten; bie Sitzungen bes letztern
im Palazzo Fiano, und Sterbini als politiſcher Erleuchter der auf
Piazza Santi Apoſtoli zuſammengetrommelten Bürgergarde, welche
ganz Werkzeug in den Händen der Faction wurde, förberten hierauf
bie Intereſſen der Eonftituante, wegen beren man fih mit Toscana
und Piemont zu verftänbigen fuchte, in einem Maße, das die Revo-
lution auf ihren Höhepunft, das beißt zur Republif und zur Dictatur
Mazzini führte, während in Florenz und in Zurin „demofratijche«
Minifterien dort die Entfernung des Großherzoge, bier nochmaligen
Krieg mit Dejterreih zur Folge hatten. So ijt es im Jahr 1848
wit ver italienifhen Bunbesjrage bei Regierungen und Clubs gegan⸗
gen. Die vor uns liegenten Annalı d’Italia enthalten an verfchie
denen Stellen alle der Aufzeichnung würdigen Enzelheiten ver Ges
ſchichte dieſer heterogenen Beitrebungen, deren Grundzüge bier im
biftorifchen Zuſammenhang vorgeführt worden ſind.
Noch über eine andere Frage fordert dies Buch zu einer kurzen
Betrachtung auf.
Das Cavourſche Ultimatum vom 7. September 1860 nahm die
Gegenwart fremder Truppen unter den Fahnen des Papftes zum Vor⸗
wande des Tags darauf begonnenen Einfalls in Umbrien und bie
Marken. Zu Ende Juli 1848 dagegen, nachdem die Piemonteſen
durch Radetzky aus der Lombardei verdrängt worden waren, und zur
Zeit in Rom die Revolution mehr und mehr um ſich griff, machte
der dortige Miniſter Mamiani, hente College des Grafen Cavour,
einem gewählten Kreiſe von Deputirten den confidentiellen Vorſchlag,
neben der Aushebung von Freiwilligen 12,000 Mann Fremdentruppen
unter die Fahnen zu rufen, das Commando einem fremden General
zu übertragen, und zur VBeftreitung der Keſten zwei Millionen Scudi
Papiergeld mit Zwangscurs auszugeben. Am 1. Auguſt votirte bie
Deputirtenfammer, tem Vorſchlag beiftiimmend, eine darauf Bezügliche
Adreſſe an den Papft, welcher erwieberte, eine fo wichtige Sache heis
ſche reiflichfte Ucberlegung und müſſe jedenfalls zunächft an bie erjte
Kammer zu gleichzeitiger Berathung verwiefen werben; ber qräßte
110 Ulfreb von Steument.
Feldherr des Jahrhunderts babe übrigens nicht mit frifch angewor⸗
benen Recruten gefiegt. Cine Antwert, welche von ber auf Monte⸗
cavallo wie gewöhnlich zufamengelaufenen Menge mit den Rufe Tod
den Cardinälen und Priefterns! entgegengenommen ward. Am fols
genden Tage nahm Pius IX. die von dem Grafen Mamiani und
feinen Gollegen angebotene Entlafjung au. Schon im Auguft des
vorhergehenten Jahres 1847 war dem Bapfte ein ähnlicher Borfchlag
gemacht worben. Boluifche Deputirte, vielleicht im Zufammenbange
mit ter bereits erwähnten Lontoner internationalen Bölterligue, welche
mit ber polnifchen bemofratifchen Gefellfichaft zufammenhing , beten
damals 5000 Mann an, die je nach Bedürfniß vermehrt werden könn-
ten. Der Vorſchlag ward ebenfo wenig angenommen. Es war bie Zeit,
wo Mazzini mittelft eines Schreibens Bius IX. ermnnterte, It alien
zu unificiren. Der Papft brauche gar nicht felber dabei thätig
zu fein: er brauche bios Die zu fegnen, welche für ihn und in ſei⸗
nem Namen handelten. Es hange ven Ihm ab, die beiden Worte
des Wahlſpruchs "Gott und das Volko, in die fchönfte umd heifigfte
Harmonie zu bringen und fo das Loos der Nation zu beftimmen.
V.
Die Kaiſerpolitik Otto J.
Von
Wilhelm Manrenbrecher.
1.
Wie die Erneuerung des römifchen Kaiſerthumes durch Karl den
Großen der ganzen mittelalterlichen Gefchichte ihre Richtung gege-
geben, fo erfcheint die Verbindung ter römiſchen Kaiſerkrone mit der
beutfchen Königswürde durch Dtto den Großen in Wahrheit als der
folgenreichfte und inhaltfchwerfte Moment der veutfchen Gefchichte. Von
der Auffaffung dieſes Ereigniſſes geht jede ‘Darftellung dieſer Epoche
ans, die mehr als eine blos ftoffliche Compilation fein will; von dem
Wertbe, ven man ihm beimißt, wird das Urtheil über jene Zeit und
bie ganze politifche, fociale und religiöfe Entwidlung unfers Volles
abhängig gemacht. Der Gegenfat der individuellen Anftchten und ber
Widerftreit der politifchen Tendenzen hat fi) bis auf die neuefte Zeit
grade an diefem Punkte zu ſtets lebhafterem Kampf entzündet; Politik
und Moral, Religion und Wiffenfchaft haben die Waffen zum Streite
liefern, und ven augenblidlihen Sieg im Bemwußtfein einer jeden Tages⸗
meinung entfcheiden müffen. Wenn nun überhaupt eine endgültige Ver-
ftänpigung angebahnt werben foll, dann wird man den Weg einzulchla»
112 Wilhelm Maurenbrecher,
gen haben, daß man bie Erneuerung des abendländifchen Kaiſerthums
mehr als bisher gefchehen in dem Zuſammenhang der politifchen Er⸗
eigniffe und der thatſächlichen Verhältniffe jener Zeiten aufzufaffen
fucht. Dazu iſt aber ein Doppeltes erforderlich. Zunächſt haben
wir und don ten fubjectiven Stimmungen zu befreien, die uns aus
der heutigen Weltlage in Politit und Religion erwacfen. Im 19. Fahre
hundert kann man von ver Nothwentigkeit einer veutfchen Garnifon in Ver
nedig fehr durchdrungen fein, man wird aber einräumen müffen, daß davon
ganz unabhängig bie Frage ift, ob im 10, vie deutfche Herrfchaft über
Rom eine Wohlthat für Deutſchland war. Sodann iſt es nothwen-
big, daß wir zwar in der Erkenntniß der einzelnen Facta uns metho-
diſch und genau, wie es ter heutigen Forſchung gebührt, an die gleich.
zeitigen und Ächten Quellen halten, daß wir aber in ter Beurthei—
lung der Ereigniſſe und Zuſtände nicht die Autorität auch bed Bes
ſten jener Mönche böber ftellen, als tie Geſetze ver Logik und das
Zeugniß des Erfolges. In der alten Gefchichte denkt niemand mehr
daran, fein Urtheil über Lykurg und Eolon, über vie römische Plebs
oder die Gracchen nach den Autoren zu richten, aus denen wir bie
Kenntniß der betreffenden Ercignijfe fchöpfen; es iſt diefelbe Beſugniß,
oder beffer viefelbe Verpflichtung jelbjtjtäntigen Urtheils, welche wir
biev ſür unfere vaterländiſche Gefchichte in Auſpruch nehmen.
Werfen wir bienach zuerft einen Blid auf die Reihe der neueren
Darfteller, um bie verjchierene Gejtaltung Liefer vorwiegend fubjectiven
Auffajfungen zu überfehen! —
Aus den antiquarifchen und ftantsrechtlichen Streitigfeiten ber
Reichspubliciſten heraus kam die deutſche Gefchichtichreibung erft zu
einer würbigeren Stellung durch Leibnig’s großartiges Annalenwerf
des abendländiſchen Reiches. Mit ter größten Velljtäntigfeit des Mas
teviales, muſterhafter Handhabung der hiſtoriſchen Kritik, weiten
ſtaatsmänniſchen Blick umfaßt v. gleich ſicher und gleich beſtimmt alle
Gebiete des abendländiſchen Kaiſerreiches, und erörtert alle ſtreitigen
Punkte mit gleicher Meiſterſchaft md gleichem Erfelge. ‘Der üblichen
Entſtellung der Thatſachen durch vie päpſilich geſinuten Schriftſteller
tritt er mit Entſchiedenheit und größteutheils mit Erfolg entgegen,
Beſtochen durch die gewaltigen Kaiſergeſtalten, deren Größe er neu
feſtgeſtellt nnd von alten Makeln neu gereinigt hat, begeiſtert durch die von
Die Laiſerpolitik Otto I. 113
ihm erfannte Macht der Ottonen gelangt er dann zu einer folchen
Hingebung und Bewunderung für bie kaiferlide Würde, daß ihm nes
ben dieſem Streben alles andere Handeln und Treiben der Fürſten
Fipfte und Vollkskräfte Berechtigung und Ehre verliert. Das fo oft
geihmähte 10. Jahrhundert ift ihm das goldene Zeitalter der deut-
ſchen Geſchichte; Ottos Größe überftrahlt alle Kaifer und Könige,
felbft Konftantin und Karl müffen vor feinem Glanz erbleichen; feinen
Rechte gehört der Erpfreis und feinem Befehl mußten Papft und
Kirche gehorchen. Diefe freudige Empfänglichfeit für die vaterländi«
Ihe Bergangenheit durchathmet alle Theile des großen Werkes. Hier
ift ohne Zweifel ein fubjektiver Enthufiagmus von böchitem Einftuk
anf die Hiftorifche Auffaffung, ganz entjprechend ven politifchen Be⸗
ftrebungen, welche Leibnig fonft verfolgt hat. Und doch müffen wir
fagen: ein unerjeglicher Verluft für die Forſchung ift doch das Ver⸗
borgenbleiben ver Annalen gewefen. An ber Hand biefes fichern Füh⸗
rers würde die Erfenntniß ver Vergangenheit die beiten Fortfchritte
gemacht unb jene allzu eifrige Bewunderung der Kaifer wohl bald
fi gemäßigt haben. Statt veffen mußte man jet mühfam Schritt
für Schritt das Material berbeifchaffen und die einzelnen Steine erft
forgfältig behauen, ehe ein ähnlicher großartiger Bau in Angriff ge
nommen werben fonnte.
Hahn unternahm mit großer Gelehrſamkeit dieſe vorbereitenden
Arbeiten; feine „Kinleitung« ift „Leine Hiftorie des beutfchen Volkes,
fondern ver deutſchen Kaifer, der deutſchen Könige, mit einen Wort
des deutſchen Reiches; es iſt eine vecht fleißige nur etwas ſchwer⸗
fällige Sammlung des Materials, die feinen Anjpruch auf geiftige
Durchoringung oder politifche Belebung des Stoffes macht. Auch
Maskov in feinen „Kommentarien« ftellt mit ficherer Kritik, ohne
Conjecturen und Combinationen in einfacher und präcifer Sprache den
objectiven Thatbeſtand feft, wobei er einzelne ftaatsrechtliche Fragen
oder biplomatifche Beziehungen mit’ feinem Blick und ſcharfem Urtbeil
erörtert; eine innere Verarbeitung aber und politifch-philofophifche Ge⸗
ftaltung des Stoffes lag nicht in feinem Plane.
Auf diefen breiten Grundlagen baute ſich bald die Geſchichtsdar⸗
ftellung auf, die, wefentlich verfchieven von der Barteinahme Leibnigen’s
für die Kaifer, ſich zwar nicht gerade zu ven Gegnern hielt, aber doch
Hiferifge Zeirfärift V. Ban. 8
114 Wilhelm Ranrenbredier,
alles Unheil und allen Berfall Deutfchlantg aus Tem vertehrten Stre-
ben jener Kaifer, insbefontere ven fortgefegten italienifchen Kriegezä-
gen berleiten wollte. Dieſe Richtung erfüllt die ganze Literatur ber
zweiten Hälfte tes 18. Jahrhunderts. Ihr namıhaftefter Vertreter ift
Michael Ignaz Schmibdt, ver in feiner »Geſchichte der Dent-
ſchen⸗ allen Nachdruck auf die Erfenutniß der Volkszuſtände legt und
mit fteter DBerüdjichtigung der nationaler Putereifen bie italienifchen
Züge ald politifches Unglüd unferes Naterlandes vertammt. Gelme
Abneigung gegen den Urheber dieſes Strebens nach Italien, gegen
ben großen Otto, geht bis zur völligen Verkennung aller perfönlichen
Größe, fo daß kei ihm Nichts mehr bleibt, als ein roher Krieger und
folvatifher Eroberer.
Bon diefer patriotifchen Gefinnung ift auch Eihhorns großar-
tige muftergültige „deutſche Staats- und Rechtögefchichte erfüllt.
Einem Mann, der ganz von nationalen Einn für deutfche Verfaffungs-
und Rechtsentwidlung durchathmet, das Elend ver Zujtänte Deutſch-
lands tief in ver Seele fühlt, mußte das Veftreben ver Kaifer, aus⸗
wärtige Eroberungen zu machen, höchft verderblich für die inuere Ent
wicklung erfcheinen. Die Verfchleuderung ver deutfchen Kräfte in den
„unglückſeligen“ italieniſchen Zügen wird ald Grund des inneren Der-
falles für die fpätere Zeit ſtets deutlicher betont.
Die Darftellung der aiferzeit, wie fie hier auf nationaler Grund⸗
lage beruht, gipfelt endlich in Ludens großer adeutſcher Gefchichteu.
Hier zeigt ſich Dicht neben einander die Stärke und bie Schwäche aller
fubjettiven Gefchichtsbetrachtung. Weit entfernt in ter Erlangung ver
römifchen Kaiſerkrone ein Heil für Deutfchland zu fehen, ftellt er alle
traurigen Folgen der oft wohl blendenten Siege, alles Verderben ber
italienifhen Züge ſchon bei Ottos erften Verfuchen in biefer Richtumg
dar. „Des dentfchen Reiches citele Größe und gebrechliche Herrlich
keit“ iſt das Motto des Abfchnittes, ter Ottos Kaiferzüge fchilvert.
Abgefehen von ver mangelhaften Begründung biefer Auffafjung bat
bie ganze Sache bei Luden, wie überhaupt bei allen ähnlichen Schrif-
ten, die micht aus jtrenger Kritik berausgearbeitet find, ſtets einen
perjönlichen Charakter; es fpielt fich, fo zu fagen, ein Familiendrama
des kgl. fächfifchen Herrfcherhaufes ab, an dem die Nation, trog allen
Die Kaiſerpolitik Otto I. 115
nationalen Verficherungen des Autors wenig Antheil nimmt und höch⸗
ftend den maſſenhaften Chor ver Handlung abgiebt.
Eine neue Richtung begann mit dem neuen Aufblühen der bifto»
riſchen Studien. Die zulegt von Luden und neben ihm von mehr
populären Darftellungen angeftimmte Verurtheilung ver Raiferzeit hatte
bald alfen fichern Boden verlafjen; es bedurfte einer genauen und all-
feitigen .Feftftellung der Zhatfachen, einer unerfchütterlichen Baſis,
von der aus bie geiftige Durchbringung des Stoffes ermöglicht würde.
Für die Regierung Dtto I. ift diefer Fundamentalbau von Köpke
and Dönniges mit fiherer Hand aufgeführt worden; der thatjäch-
liche Hergang liegt jest faft vollftändig flar und gejichtet zu Tage.
Später hat Dönniges in feinem „deutfchen Staatsrecht und deut⸗
fher Reichsverfaſſung- aus diefem fo zubereiteten Waterial ein Bild
der ottonifchen Regierung entworfen, das ebenſowohl ver Berfönlichkeit
des großen Kaiferd als feinen politifchen Plänen gerecht zu werben
verſucht. Mit größter Klarheit wird hier die Herrfchaft Ottos über
die Kirche, über deutſche Bischöfe und römische Päpfte hervorgehoben ;
mit vollem Bewußtſein wird bie faiferliche Weltberrfchaft nicht nur
als kühner Gebanfe Ottos, fondern auch als eine Nothwendigleit für
pie deutfche Entwiclung gefeiert. „Daß bie Völker für die Idee eines
ſolchen Kaiferftaates noch nicht gebildet waren,“ ift ihm nicht verbor-
gen geblieben; die trennende Tendenz der Nationalitäten ift ihm nicht
entgangen; aber dennoch ift es Ottos Verdienſt, „die Idee eined völ-
terrechtlichen Staates in die Gefchichte eingeführt zu haben.
Bon diefen Anfchauungen ift Gfrörer nun himmelweit entfernt;
er ift es, der fich mit voller Entfchievenheit und in dem Bewußtſein
aller Sonfequenzen auf den nationalen Standpunkt ftellt und dabei
doch die Verehrung für die katholifche Kirche vollſtändig zu bewahren
verfteht. Ihm erjcheint das planmäßige Streben der Ottonen nad)
der Kaiferkrone al8 ein vollftändiger politiſcher Mißgriff; die langen
Kämpfe um biefelben hatten ebenfowohl ihren Grund in ver energi-
fhen Oppofition aller Nationen, al8 in dem tiefen Mißtrauen, das
ſtets ber Eatholifche Klerus, als Förderer alles wahren Wohles ber
Menfcheit, ven Kaifern entgegenfegte. Wie nun in jenem confequent
feſtgehaltenen "Gegenfag der Kaiferbeftrebungen und des National-
willens« ein großer Fortfchritt nicht zu verkennen ift, ebenſo entſchie⸗
8 *
116 Wilhelm Maurenbrecher,
dene Einfprache muß man gegen jene bierarchifche Tendenz des Autors
erheben, ebenjo lauten Tadel gegen feine gewaltthätige Duellentritif
und feine Willfür in Aufuahme von unbegründeten Borausfegungen
nnd gewagten Hypotheſen richten. Dieſe legten Eigenfchaften haben
“denn auch ein ftarkes Mißtrauen gegen alle Behauptungen und Aus—
führungen Gfrörer’s erregt, das felbit in ſolchen Fällen nicht ausge⸗
blieben ijt, wo es in der Hauptſache nicht gerechtfertigt war.
Eine katholiſche Gefchichtsauffajfung, die nur dem Charafter aus⸗
fchließlicher Kirchlichkeit mehr entfpricht und ſich von Gfrörer’s oft füß-
nem Urtbeil über heilige Kirchenfürjten weit entfernt bält, liegt auch
dem Werte Damberger’s zu Grunde Auf eine Duellenkritif, vie
man nur als vollftändige Kritikloſigkeit bezeichnen kann, ift eine ganz
geiftlofe Verherrlibung Ottos geftügt, deſſen beiliger Miffion lediglich
felbftfüchtiger Ehrgeiz ver Fürften oder revelutionärer Sinn der Waffen
entgegengeftrebt haben fol. Ihn ſolchen Anfchauungen berührt fich
mit ihm Leo in feinen „Vorlefungen über vie Gefchichte des deutfchen
Volkes und Reiches⸗. Während er die Zhatfachen in lebendiger Er⸗
zählung und Harer Darftellung verführt, geht er von unverbehlen aus⸗
gefprochener Vorliebe für mittelalterliche Feudal⸗ und Kirchenweſen
aus; vie Faiferliche Herrfchaft über Italien ift fo fehr ſtillſchweigende
Vorausfegung, daß er über die Erneuerung derfelben durch Otto kaum
ein eingehendes Urtheil abgiebt. Bon Gegenſatz und Berechtigung der
Nationalitäten zu fprechen, heißt ihm vunvertaute eitele Anfichten« ; über-
haupt vein nationaler Standpunkt ift viel zu Hein für den Ehriften,
beffen Augen weit hinausbliden über die Heinen Könige der Welt.“
In diefem Sinne erfcheint er ſtets als Parteimann der kirchlich⸗päpft⸗
lihen Richtung; bemerfenswerth iſt befonders für die früheren Zeiten
eine häufige Uebereinſtimmung mit NRejultaten, wie fie Gfrörer’s
aſtrenge biftorifche Kritik“ zu Tage geförvert hat.
Nachdem fo die verfchiedenen Aufchauungen in oft geradezu ent-
gegengejegtem Urtheil, bald mehr auf perfönfichem Gefühl, bald mehr
auf Fritifcher Forſchung beruhend, fich geltend gemacht, vie Vorliebe
für das mittelalterliche Kaiſerthum aber ſich immer mehr Bahn ge-
brochen, hat endlich auf die umfaſſendſten Studien geftügt Giefe-
brecht tie Darftellung der Kaiferzeit begonnen. Stolz auf die Ver-
gangenheit des deutſchen Volkes und Reiches, wie Yeibnig, ohne in
Die Raiferpofitit Otte 1. | 117
ame ungemefjene Bewunderung zu verfallen; erfüllt von deutſchem Na⸗
Genalfinn, wie Eichhorn und Luden, ohne doch biefen allein zum ent»
ſcheidenden Maßſtab zu erheben, fiebt ©. in ter Railerpolitif des
rohen Dtto eine Nothwendigkeit für unfere veutfche Entwidlung; zu
Ottos italifchen Zügen drängte Die ganze Vergangenheit bes beutfchen
Lelfes hin, von ihnen empfing. die Zukunft lebendigen Anſtoß und
fruchtreifende Bewegung. Wenn auch die anderen Nationen Europas
ſich ſchwer unter das deutfche Joch fügen wollten, für die Deutfchen
zar dieſe Beherrſchung Eurcpas eine heilfame Fügung, die deutfchen
Stämme zu einer Bollseinheit zu einigen. Einen Widerftand ver Na-
tion gegen biefe Pläne durfte alſo ©. nicht anerkennen; der ludolfiniſche
Anfttanp ("der Krieg der Söhne gegen ven Vater“) ift nur ein Fa⸗
wilienzwift des ottonijchen Haufes, bei deſſen Eintracht allein die Welt⸗
kerrichaft zu behaupten möglich gewefen wäre.
Diefe Darftellung Dttos und feiner Zeit, die bier durch voll-
Kinbige Kenntniß des Eritifch geivonnenen und gefichteten Stoffes be»
gäudet iſt, führt zu einer hingebenden Bewunderung der ganzen Stat»
ferpelitif, die eben weil fie auf nationalem Sinn beruht, den größten
Auſpruch auf tie Zuftimmung ver beutfchen Nation zu haben fcheint
uud in der That von vielen Seiten gefunden hat. Eine gleich um»
faſſende, auf gleicher Baſis beruhende, aber zu geradezu entgegenge-
item Schiuffe gelangenve Auffaffung enthält dagegen Sy bel's Rede
über die KHaiferzeit. Hier wird aus bemfelben nationalen Geſichts⸗
sanft die antinationale Grundlage und antinationale Tendenz des Kai⸗
ierthums, die in Dtto neu auflebte, als Grund ver politifchen Zer⸗
rattung Deutfchlands anerkannt, und von bem Streben nach einer
wealen Weltherrfchaft über Kirche und Staat die Vernichtung des na-
tienalen veutfchen Königthums abgeleitet.
Tiefe beiden Auffafjungen, welche die ganze gefchichtliche Ent-
vicklung Deutfchlands in einem Blick umfpannen, ftehen fich fo dia⸗
metral entgegen, daß eine Verftänpigung eine völlige Unmöglichkeit zu
jein fcheint. Aber, wenn auch das politifche Enburtheil einjtweilen
ech ungefprochen bleiben mag — die hiftorifche Forſchung, glaube
xb, wird für die einzelnen Momente zu fichern Refultaten binführen
mp fo einer möglichen Einigung der Auffaffungen vorarbeiten können.
Jener Gegenſatz wird fich gerade bei Ottos Regierung am entfchieden«
118 | Wilhelm Maurenbreiher,
ften herausftellen, — und doch denke ich, kann man hier nad) ven bi6-
berigen Vorarbeiten zum Abſchluß gelangen, fobald die Quellenkritit
vollftändig angewendet, ſobald die politifche Lane der Zeit zu einem
Geſanmtbild vereinigt, fobald endlich auf ten innern Zufammenhang
der Einzelnheiten aller Nacherud gelegt wirt.
Indem bier eine kurze zufanmenfaffenve Darftellung der Politil
Ottos nach biefen Srundfägen verfucht werben foll, tarf ich für bie
thatfächliche Grundlage mich wobl auf die „Jahrbücher bes deutſchen
Neichesu berufen und an Siefebrechts Darftellung anfchließen.
2.
Sobald man die wahre Bedeutung des italifchen Zuges Dite’s,
auf dem ihm vie Kaifertrone als glänzenver Lohn für alle Mühen im
Rom entgegenwinkte, recht ins Auge faffen will, wirt man fich bie
Frage vorlegen müſſen: aus welchen Motiven ift der Gedanke biefes
Zuges entftanben? war cs ctwa eine perjönliche Sehnfucht des Herr»
fchers oder der Hilferuf des italienischen Volles? war es im Intereſſe
der deutſchen Nation oder ein politifche® Shftem des Eroberere, das
Otto tahinführte? ‘Die tiefere Erforfchung des gefammten Zeitalter
wird kaum einen Zweifel übrig laffen, daß jene Züge von politifchen
Motiven herzuleiten und aus politifchen Plänen zu ertlären find. Man
überfchaue Alles das, was Otto in Deutfchland, in Burgund und Frank
reih, was er gegen Dänen, Wenden, Ungarn und Griechen unter
nommen, unb man wird feinen Augenblick anftehen, Otto ein großar⸗
tiges politifches Syſtem zuzufchreiben. Man vergleiche dann feine Ten-
denzen mit der Bolitif König Heinrich I., und man wird in jeber Be-
ziehung dem völligen Gegenfag ihrer Ziele wahrnehmen: bei Heinrich
eine fejte maßvolle Beſchränkung auf eigene, bei Dtto eine unermüd⸗
liche allfeitige Einmiſchung in fremde Angelegenheiten.
Der Zufammenhang ver Ereigniffe in Otto's Regierung, bie
Hleichzeitigkeit und Folge feiner Handlungen legen fein politifches Sy⸗
ftem offen dar und zeigen eine Stette von politifchen Entwürfen, bie
fi über ganz Europa hin ausdehnt. Obwohl nun diefe planmäßige
Politif in den Quellen des 10. Jahrhunderts nicht offen zu Tage
tritt, wohl cher durch perfönliche Neigungen und äußerliche Beran-
laſſungen verkedt wird; fe ift doch der Schluß auf tie treibenten
Die Kaiferpolitif Otto 1. - 119
Beweggründe ebenfowohl aus ver rein äußerlichen Kette ver Thatfa-
den geftattet, ale durch die befondere Eigenthümlichkeit aller Quellen
geradezu geboten. Auf das legtere Moment, glaube ich, wird nech bes
fonderer Rachtrud gelegt werden müſſen; ver eigenthümliche Charakter⸗
zug aller dieſer Schriftiteller der ottonifchen Kaiferzeit muß fcharf in’s
Ange gefaßt und bei der politifchen Beleuchtung des Stoffes auf dus
beftimmtefte berüdjichtigt werben.
Alle gleichzeitigen Berichte über die Regierung Heinrich's und
Otto's geben nur wenig Auffchluß Aber bie politifchen Ziele und Mo-
tine ihrer Helden; eine pragmatiiche Verknüpfung der Thatfachen aus
politifchen Gefichtspuntten, einen Stanbpunft, ver fich von rein per-
fönficher ober religiöfer Motivirung frei macht, fucht man bei ben
Hiftorifern des 10. Jahrhunderts vergebens; ihnen genügt, es anzu
merfen: jener Fürft war muthig, tapfer, fromm; er handelte für das
Heil ver Kirche, für die Verbreitung bes göttlichen Namens, ihm
ſtand Gottes Hülfe fiegreich zur Seite. Wie fehr man auch dieſes
fromme Bemwußtfein ver Zeit in jedem Worte anerkennen, wie fehr
man fi) an ter Innigkeit der Ueberzeugung, ver Reinheit ver Be>
wunberung, dem oft poetifhen Schwung ver Darftellung erfreuen
mag, ebenfo ſchmerzlich wird man ben politischen Blick auf die Zeit
vermiffen, und ebenfo unjicher wird man dieſe Berichte nennen, wenn
fie als Grundlage einer politifchen Betrachtung dienen follen.
Sehen wir ab von den kurz abgeriffenen Jahrbüchern, vie mit
wenigen Worten bie Greigniffe jedes Jahres notiren, fo ift der eigent-
lichen Geſchichtsdarſtellung aller Zeitgenoffen dieſer Zug als charak⸗
teriftifches Merkmal aufgeprägt: jie alle fcheiden die Politik nicht von
ver Moral, alle urtheilen nur nach religiöfen und moraliſchen Prin-
zipien, alle gehen von ber Bewunderung ber kaiferlichen Größe aus.
Alle Gefchichtöwerfe, die das Bild ihrer Zeit beftimmt haben, find zu
einer Zeit gefchrieben, als Dtto im Glanz feiner Thaten, gejchmüdt
mit dem römifchen Kaiferbiadem, an ber Spige der abenplänbifchen
Ehriftenheit ftand; fie find von Männern gejchrieben, die entweber
nachweislich mit dem ottonifchen Hofe in Verbindung geſtanden ober
doch von tem Glanz der Hoffonne erleuchtet und geblenvet waren.
Nichts ift und von deutfchen Quellen erhalten, das von entgegenitre-
benden Tendenzen beeinflußt, die Anfichten ver Gegner im Zuſam⸗
130 Wilhelm Maurenbrecher,
menhange erkennen ließe. Die religiöſe Stimmung und die bewun⸗
dernde Hingebung an Otto's Größe find alfo die Eigenthümlichkeiten,
die alle Quellen gemeinfam haben und beren Einfeitigleit fcharf be-
tont werden muß, fobald man die Politif der Kaifer und Fürften,
fowie die Stimmung der Völler in ihrem wahren Lichte fehen will.
Bei einer ſolchen Unterfuchung ber einzelnen Schriften ergibt ſich
innerhalb jenes allen gemeinfamen Charakters eine große Mannigfal«
tigfeit von Nuancen bei ven Einzelnen; eine feltfame Miſchung von
ruhiger Erzählung und leidenfchaftlichem Parteiurtheil, von religiäfer
Begeifterung und eigenem Stammesgefühl tritt bald offener, bald
verhüllter bei ben Einzelnen hervor. Einige Turze Bemerkungen über
biefe Eigenthümlichkeiten der verfchievenen Duellen mögen unjere Auf
faffung ver ottonifchen Politik und ihrer Gegenfäge rechtfertigen.
Auf das traditionell überlieferte Bild des 10. Jahrhunderts und
das Gefammturtheil über vie deutfchen Könige Heinrich und Dtto hat
fein Schriftteller größern Einflink ausgeübt, als der Korvehyer Mönch
Wipufind, der von feinem Slofter aus bie Kriegszüge feiner Sach⸗
fen friſch und lebendig erzählte. Wenn bei ihm ber fpecififch religiöfe
Sinn nicht fo ſtark hervortritt, ganz frei von den Anfichten eines
Mönches ift er doch nicht geblieben. Dem Zanber ber ottonifchen
Größe dagegen ift er in ſolchem Maße bingegeben, daß feine wfäch
ſiſche Gefchichten zur Verherrlichung des Kaiferhaufes wird, und feine
Darftellung fi in eine Lobrede auf Otto's Erfolge verwandelt. Zum
Zeit der höchſten Blüthe ver ottonifchen Kaiſermacht gefchrieben, und
ber Tochter des Kaiſers gewidmet, ift fein Werk nicht ohne gute ftoff-
liche Unterftägung vom Hofe, nicht ohne Beeinfluſſung durch bie An-
Shauungen des Hofes geblieben. Der Stolz; und Jubel des Sachfen
über die mächtige Stellung des Sachfenfürften leuchtet überall her⸗
vor; die Weltherrfchaft, die ihnen nicht durch päpftliche Krönung,
ſondern vermöge des Rechtes ihrer Thaten gebühre, habe Heinrich
begründet, Otto gegen äußere und innere Gegner befeftigt und zum
Heil der Ehriftenheit gegen die Heiden behauptet. Anf ven erften
Blick fieht man, daß hier eine einheitliche Auffaffung zu Grunde liegt,
eine beftimmte Anficht feftgehalten und durchgeführt ift. Wie weit
darauf der Hof eingewirkt, ift im Einzelnen kaum zu fagen; jeben
falls mußte das die Meinung des abendländiſchen Kaiſers ausbrüden,
Die Ratferpolitif Otto 1. 121
ze der mit ihm emporgelommenen PBarteirichtung entfprechen. Hält
man dies feit, fo wird man bie von Wibulfind überlieferten That»
ſahen meiften® als richtig bezeichnen können; denn eine abfichtliche
Serprebung ver Geſchichte lag ihm fern; was er nicht genau weiß
ter mitzutbeilen Bedenken trägt, deutet er nur vorfichtig und in all
gemeinen Umriſſen an; auch fein perfönliches Urtheil ift immer be-
betfam und gewiß ſchonend ausgebrüdt. So tft Widukind uns durch
feine thatfächliche Ueberlieferung von großem Werthe, aber noch ale
Perteimann der kaiſerlichen Politik Otto's anzufehen, deren Berechti-
gung für ihn feftiteht, teren Entwicklung im Einzelnen aljo für ihn
sum nöthig war ').
Unter der Regierung Heinrich II. faßte ver Biſchof Thietmar
fin Geſchichtswerk ab, wozu er den von Widukind gegebenen Stoff
beuugte und aus münblicher Tradition noch Einiges hinzufügte. Es
ft intereffant zu fehen, wie fich hier das religiöfe Gefühl, das bei
Birufind eng mit ber Kaiferbewunderung verknüpft it, weiter ver-
reitet und den ganzen Bilde eine etwas andere Färbung gegeben
bit. In feiner Erzählung nämlich, die von moralifchen Reden, er-
baulichen Anefooten, prebigermäßigen Nutanmwendungen unterbrochen
wirt, fteigert er Widukind's Bewunberung zu der Erflärung, daß
rurch Otto das golvene Zeitalter ber Menfchheit herbeigeführt fei;
mmittelbar fei Otto durch die göttliche Gnade erleuchtet, von Gottes
eft jegnenter, oft ftrafenver, ſtets gegenwärtiger Hand geleitet und
füsrt. Eben dies Borwalten des religiöfen Tones führt ihn dann
mch oft zu einem felbftftändigeren Urtheil, das oft unverhohlenen
Tatel über einzelne Fehler Dtto’8 ausfpricht, aber nie die Nutzan⸗
werbung für ten frommen Lefer vergißt. So hat ſich auf ver Grund-
lage Wivukind's im Laufe weniger Yahrzehnten das Bild Dtto’e,
war mit einigen Nuancen, aber im Ganzen das Gleiche feftgeftellt;
tenn die religiöfe Betrachtung, wie fie bei Widukind etwas zurückge⸗
treten, von Thietmar ftärfer betont war, war ver ottonifchen Zeit
micht fremd; Darftellungen.aus jener Zeit tragen deutlich dieſen Stempel.
Es find beſonders die vielen Biographien der Heiligen und Bi⸗
f&böfe, die dieſen vorwiegend religiöfen Charakter an fich tragen: Er⸗
bauung bes Leſers, Ermahnung zu gottfeligem Wandel durch das
Beifpiel diefer Sottesfämpfer ift ihr Hauptzweck, vor dem bie rein
122 Bilpelm Maxrenbrecher,
gefchichtliche Tarftellung fehr in den Hiutergrunt zurüdtreten muß.
Bor allen andern iſt für Ttto’s Regierung von der größten Bebeutung
das Leben des Bruuc, von vem Kölner Mönch Ruotger bald nad
Bruno's Ted verfaßt une tur tie Beziehungen des Verfaſſers zu
Bruno’s Nachfelger Folkmar mit guten Nachrichten ausgeftattet. R.
ichreibt nun von ganz beſchränkt mönchiſchem Staudpunlt aus zur
Erbauung fremmer Chrijten. Die großartige pelitifche Bereutung
Bruno’s jcheint ihm felbftjtändig Taum zum Bewußtſein gekommen
zu jein. Denn fobald er, ven Boten der Kirche verlaſſend, feinem
Helden in das politifche Leben folgt, verfällt er in jenen ſtereotypen
Zon ver Bewunderung für den vorgejekten Bifchof. Trotzdem aber
— und das hat ben Ruotger manchen Lobſpruch neuerer Forſcher
eingebracht und das empfiehlt ihn auch wirflid — gibt er hier man⸗
ches Korn einer guten thatfächlichen Ueberlieferung, und bringt man⸗
ches neue ſchätzbare Detail über vie Iubolfinifche Empörung und Bru⸗
no's Thätigkeit in Lothringen bei, das zur Charakteriftif ver ganzen
Situation und der Lage ver Parteien trefflich dient. Abgefehen von
jenen einzelnen Veittheilungen, vie bei unferem lüdenhaften Quellen⸗
material von größten Werthe find, ift feine Schrift nur ein in
ziemlich gutem Latein gefchriebenes Erbauungsbuch, das in biographi-
ſcher Form Die Heiligkeit und Erhabenheit des chriftlihen Mannes
zu feiern und ale Wufter für jeden Lefer zu eipfehlen weiß’). Die
jelben religiöſen Tendenzen liegen auch dem Leben des Biſchof Udal⸗
rich von Augsburg und dem Yeben ber Königin Mathilde zu Grunde.
Diefe und alle ähnlichen Schriften, anch wenn fie einzelne gute No—
tigen mittheilen, gehen alle won Gefichtspunften aus, wie fie dem kirch⸗
lichen Yeben natürlich fine, aber von einer ächten Gejchichte immer
weiter abführen müffen. Intereſſant ift e&, zu beobachten, wie bie
herrſchende Anficht des lönigl. oder kaiſerl. Hofes auch auf viefe geiſt⸗
liche Yiteratur cingewirtt bat. Seine von allen jenen Biographien
feiert einen Mann, ber im Gegenfag zum Hofe geftanden: Erzbiſchof
Friedrich bat feinen Gejchichtfchreiber gefunden; nur bie politifche
Richtung der Ottonen dat ihre Heiligen und Bijchöfe dem Andenken
der Nachwelt überliefert. Die politifche Beeinfluſſung am Hofe it
fe weit gegangen, daß man Das „Veben der Königin Mathilde» unter
Heinrich II. nah den Sefichtspunkten umarbeitete, tie damals im
Schwunge waren.
-
Die Raiferpofitit Otto 1. 123
Während fo vie Bewunderung ber Kaiſergröße ſich überall mit
religisfer Stimmung gepaart bat, tritt noch eine dritte Art von Bes
rigten hinzu, bie wir als geradezu von Hofe hervorgerufen, als nin-
krirt« bezeichnen müffen. Nicht genug, daß ver Autor mit ven
Zendenzen ver böfifchen Bolitif übereinftimmt oder vom Hofe mit
Rachrichten unterjtägt wird: die Darftellung als Ganzes und in allen
Einzelnheiten ift vom ottenifchen Hofe eingegeben und geleitet. Dort
afaıb man wohl das Berürfniß auf bie Zeitgenoffen fowohl als
af dae Urtheil der Nachwelt zu wirken, irrigen Deutungen vorzus
beugen und falfche Darftellungen durch Darlegung des Sachverhaltes
ja berichtigen. Alle ſolche offiziellen und offiziöfen Berichte bringen
sum tie Wahrheit oft, aber nicht immer zu Zage; recht häufig ift
es auch nur ihre Abficht, eine beftimmte Anficht des Gefchehenen, vie
8 Intereſſe und vie Ehre des herrfchenden Syſtemes erforbert ober
wänfchenewerth macht, zu verbreiten und dem tFernerftehenden aufzu«
nsthigen. Während in dieſer Weife der libellus de imperatoria po-
testate die faiferliche Gewalt, die Otto's Vorgänger, Karl ver Große,
m Rom befeffen, durch eine gefchidte Darftellung der Vergangenheit
ale politifche Notwendigkeit für die Gegenwart nachweift; begann
u Deutſchland die Nonne Roswitha die Thaten Otto’s im Auftrage
uud nach Berichten des Faijerlichen Haufes aufzuzeichnen. Hier er-
ſcheint tann Otto ftets im fledenlofeften Glanze, „ein neuer David“;
tie Oppoſition mehrerer Glieder der kgl. Familie muß, fo gut es
eben geht, bemäntelt und vertufcht werben. Indem R. fo hin und
wieder ihre offiziellen Berichtigungen und Verbefferungen ver üblichen
Daritellung anzubringen weiß, gibt fie uns zuweilen auch Thatſachen
me Motivirungen an, bie, wenn auch nicht immer ftichhaltig, doch
derchgehends aus guter Duelle fommen, immer aber die Auffafjung
ter Hofpartei anzeigen ?). Eine von der faiferlichen Partei ausgehenve
Durftellung ter Häntel Otto's mit dem Papjte zeigt Yiutprand’s
„Geſchichte Otto's“. Einem Gefchäftsmann ver faiferlichen Regie—
rung, Der gerade in den von ihm erzählten Angelegenheiten thätig war,
ft wohl eine vollftändige Kenntniß der Sachlage und der Ereigniffe
m;utrauen; ihm haben die Alten felbjt vorgelegen; und fo ift feine
Derftellung ftellenweife von urkundlichem Werthe; doch wird man an
einzelnen Urtheilen und gelegentlichen Bemerkungen die politifche Par⸗
124 Wilhelm Maurenbrecher,
teiftellung des Autors nicht verfennen. Noch mehr tritt das zu Tage
in einer andern Schrift Liutprand’s, die er "Buch der Vergeltungen«
betitelt Hat und die mın füzlih als feine „Memoiren‘ anfehen
kann. Mit all!r Yeidenjchaftlichleit der Sprache, die dem Italiener
zu Gebote fteht und dabei aller Gelehrſamkeit, vie ſih ein Biſchof
des 10. Jihrhunderts erwerben konnte, entwirft 8. eine Sfizze ber
Bergangenheit, die voll des größten Xobes für das fächlifhe Herr-
fchergefchlecht, voll von Bitterkeit und Haß gegen bie italienifchen
„Tyrannen“ die Einmifhung Otto's in Italien rechtfertigen foll.
Wenn nun auch bie ungemeifenen fchranfenlofen Ergüffe feiner erreg⸗
ten Beredſamkeit ſtets mißtrauifch angefehen und als fubjeltive Zu⸗
thaten des Schreibenten entfernt werben müſſen, fo ift doch 2. in
ben wichtigiten thatfächlihen Mittheilungen volljtändig gegen allen
Zweifel gerechtfertigt werden; immer aber wird ein Urteil, das nur
auf feinem Zeugniffe ruht, mit dem größten Mißtrauen aufzunehmen
fein. Kurz, wir haben es mit einem Manne zu thun, ber inmitten
bes politifchen Lebens ſtehend, ter beftimmten pelitifchen Partei der
Faijerlichen Herrfchaft huldigt, dieſe feine Weberzeugung in jeder Wen⸗
bung feines Werkes bekundet und feine politifchen Gegner mit allen
Waffen ver politifchen Praris und ver biftorifchen Darftellung be⸗
kämpft ®).
Den wohlthuendſten Gegenſatz zu dieſen trüben Quellen bilvet
eine Reichsgefchichte, die im Nlofter St. Marimin in Trier gefchrieben,
unter dem Namen ver „Fortſetzung Reginos“ bekannt iſt. Wäh-
rend in allen bisherigen Darjtellungen vie politifchsreligtöfe Auffaffung
ber ottonifchen Kreiſe veutlih zu Tage tritt, finden wir bier eine
ziemlich objectiv die Thatſachen begleitende annaliftifhe Erzäh—⸗
lung, die in ihrem weitern Verlaufe ftets betaillirter und zuverläffiger
wird. Der Berfaifer verfelben, wahrfcheinlich ver fpätere Erzbifchof
von Magdeburg, Adalbert, ift zwar nichts weniger als ein Gegner
Otto's, allein feine Webereinftimmung mit Otto’ Politit hat ber
Freiheit der biftorifchen Auffafjung wenig Eintrag gethan; feine Er-
zählung ift unentftellt von dem üblichen panegyrifchen Schwung, und
frei von dem mönchiſchen Predigerton, der, ftatt zu erzählen, ecbauen
will. Wenn uns mehrere folche Darftellungen zu Gebote ftänden,
würde das Bild der Zeit viel Harer geblieben fein; alfein jene fub-
5 ’
Die Kaiferpofitit Otte 1. 196
jettiven Anfchauungen find den Quellen felten fo fern geblieben, als es hier
ter Ball ift. Welchen ververblichen Einfluß aber dieſe Tendenzen ber
Darftellung ausüben, zeigt fi) uns noch anfchaulicher an dem Ver⸗
bältnig zweier Quellen, die zwar Deutfchland felbft nicht angehören,
über deutfche Verhältniſſe aber viel Licht verbreiten: ich meine ven
Flodaard und Rider. Während Fl. in feinen Unnalen vie Ereig-
niffe der franzöfifchen Gefchichte und ihre Berührung mit ber deutfchen
in Lothringen in kurz abgeriffenen Notizen, aber vollftändig, treu mit
beinahe urkundlicher Gewiffeubaftigfeit verzeichnet; geht Richer von
biefen Mittheilungen Flodaards aus, weiß aber Allem eine andere
Geſtalt zu geben: ftatt Otto ift es ber Carolinger, dem die Herr-
ihaft gebührt, ihm fteht Otto in Allem nach und leiftet ihm nur
bie gebührende Hülfe. Wie fehr dieſe Anfchauung aller wirklichen
Geſchichte widerftreitet, braucht kaum bemerft zu werden. Da man
nan in biefen franzöfifch - gefärbten Berichten vie Gefährlichkeit ver
fubjeltiven Tendenzen fieht, ermißt man erft, wie behutfam unfere
deutſchen Duellen zu gebrauchen find, die alle mehr oder weniger eine
ottonifche Auffaffung und Faiferliche Färbung verrathen. In jenem
nationalen Ehrgefühl, daß fich gegen vie Herrfchaft des Ausländers
ausfpricht,. berührt Richer fih mit italienifchen Quellen feiner
Zeit. Während dort fchon in der Ehronif von Salerno ein italienis
cher Patriotismus durchklingt, ift die Chronik des Mönches Benedikt
vom Klofter St. Andrea auf Sorafte ganz erfüllt von den Gefühlen
des Haffes gegen die fremden Eroberer, ver Trauer um die verlorne
Größe Roms, der Erbitterung über vie Schmach Italiens; ein merk⸗
würbiger Gegenfag zu den deutſchen Geſchichtsbüchern, in denen ſtets
ver Einfluß des Hofes mit dem Eifer des chriftlichen Prieſters eng
verbündet ift.
Wie viel uns in biefer Duellenliteratur, bie wir bier kurz ge
muftert, auch geboten fein mag; große Lücken bleiben unausgefüllt
und können auch durch Darftellungen ähnlichen Charakters fchwerlich
genügend vervollftäntigt werden. Wie unfer Duellenbefund nun ein«
mal fteht, ift eine genauere Kenntniß der Politif jener Zeiten nur
möglih, wenn jene Nuancen innerhalb des allgemeinen Charakters
der Schriftfteller ftetS feftgehalten und berüdjichtigt werten. Aus ven
Wiverfprüchen ver höfiſchen Roswitha und des objektiveren Fortſetzers
126 Wilhelm Manrenbrecher,
Regino's, dem ſcharf ausgeſprochenen mönchiſchen Sinn Ruotger's ne⸗
ben dem rückhaltloſen ſächſiſchen Stammesgefühl Widukind's müſſen
wir die Berichte der Oppoſition ergänzen, und hierzu in den einzelnen
Andeutungen das Material herbeiſchaffen. Wird eine ſolche Quellen⸗
kritit aus dem Geſichtspunkt einer politiſchen Betrachtung ſtreng feſt⸗
gehalten, ſo wird ſich im Zuſammenhang der überlieferten Thatſachen
das Bild der ottoniſchen Zeit in allen weſentlichen Punkten deutlich
herausſtellen. Auf ver einen Seite wird das planmäßige Streben
Otto's nach) Beherrſchung der europäifchen Chriftenheit in Staat
und Kirche feititehen; auf der andern Seite wird ber Gegenfaß bie
fer Tenvenzen zu ven Wünfchen ver beutfchen Nation beftimmt ber-
portreten.
3.
Die gewaltige Herrfchaft Karl’s des Großen über vie ganze
abendlänbifche Chriſtenheit ftürzte nach feinem Tode durch die umpider-
ftehlih trennende Kraft der Nutionalitäten in Trümmer. Die taifer-
liche Diacht in den Händen feiner ſchwachen Nachfolger war nicht im
Stande, dieſem Zerfall vorzubeugen, und fchen bald zum fchwachen
Schatten von Karl's Hoheit abgeblaßt. In dem allgemeinen Chaos
der Völkerkräfte begannen gegen das Ente des 9. Jahrhunderts fich
überall Heinere Gruppen zu fanmeln und um größere oder Heinere lofale
Mittelpunkte fich zu neuen nationalen Staatenbildungen zu einigen. Wenn
e8 auch von Bayern aus Arnulf noch einmal gelang, wenigftens vie
Idee des alten Kaiſerthums zu retten, konnte doch durch ihm die Rei⸗
bung ber einzelnen Theile, ver Zerfegungs- und Neubildungsproceß
nicht aufgehalten oder verhindert werten. Mit zwingender Gewalt
trieb die Zeit zur Trennung ber verfchiedenen Nationen, zur ſelbſt⸗
ftändigen Geftaltung der einzelnen Völker.
Im Beginn des 10. Jahrhunderts war die zukünftige Geftalt
Europas jihon nicht mehr zweifelhaft: Frankreich, Burgund, Italien
und Deutfchland hatten ihre Keime angefegt, zu deren Reifen es nur
ber Zeit beturfte. Fraglich blieb allein, welcher von jenen Trümmern
ber alten europäifchen Weltmonarchie zuerft die Bildung eines nenen
felbftjtänpigen Staates vollendet haben würde. In Frankreich tobte
der Streit zwifchen ven Weiten ver farolingijchen Familie und den
Die Raiferpofitit Otte 1. 19
großen Bafallen, unter denen die nachmaligen Rapetinger vor alfen
bebeutenb geworden, zu welchen dann das mächtige Rormannengefchlecht
nen binzugetreten war. em einft vie Verfchmelzung des Landes zu
einem einheitlichen Staute gelingen und damit vie Herrichaft über das
Ganze anheimfallen wärte, war allerdings noch nicht abzufehen; vie
Möglichkeit ftand einftweilen noch jeder Partei offen. In Burgunt
waren die Barteilämpfe im Innern nicht geringer, und von Außen
drohte von zwei Seiten die Gefahr der fremden Einmifchung; das
Schidfal dieſes Landes alfo war noch ganz zweifelhaft. Die nächfte
Ausſicht zu einer nationalen Einigung hatte Deutfchland; die An-
bahnung berfelben wurde in Italien nicht minder kräftig verjucht;
in beiden Ländern zeigte fich ber befte Fortfchritt zu dieſem Ziele, als
Ottos große Perfönlichkeit in vie Regierung eintrat und in andere
Bahnen einlenfte.
Die beutfchen Stämme, die nach dem Verduner Vertrag zu einen
Reich verbunden gewefen, in ven traurigen Wirren der Folgezeit aber
faft vereinzelt Jeder fich Selbftjtändigfeit errungen hatten, waren erft
durch des Sachſenherzogs Heinrich Bemühungen wieder zur Staats-
einheit vereint, und durch feine geſchickte vie Wirklichkeit dev Verhäftniffe
ftets fein beachtende Bolitit ver Srunpftein eines neuen Reiches feft
und ficher gelegt worden. Während er im Innern mit richtigen
Blick für das einftweilen Erreichhare eine Vermittlung zwifchen ber
Einheit des Reiches und ber Autonomie ter Stämme zu finnen wußte,
bie doch fo ungelegt war, daß eine engere Verbindung, eine Stärfung
des Föniglichen Anfehens ftet8 mehr und mehr ſich anbahnen mußte: fo
zeigte er dieſelbe maßvolle Zurückhaltung und Befchränfung auf feine
Sphäre auch in dem Verhältniß zur Kirche. Weit entfernt von jener
im farolingifchen Staatöwefen begründeten halbgeiftlichen Auffaffung
des Königthums, die unwillkürlich zur Beherrfchung ber Kirche und
zu Eroberungen nad Außen binzuführen fchien, wies er gleich beim
Antritte feines Regimentes die priefterliche Salbung entfchieten zu⸗
rück und fuchte eine beftimmte Auseinanderfegung ver weltlichen und
geiftlichen Befugniffe während feiner ganzen Regierung anzubahnen.
So feft und Har feine Politik hier auf alle Verhäftniffe mit Scho-
nung des Beftehenden einzuwirken verfuchte; ebenfo deutlich und ebenfo
conſequent feſtgehalten treten feine Pläne nach Außen Hin zu Tage.
128 Büheln Maurenbreder,
Das deurfche Lothringen, das jib unter Kenrad von Deutſchland 106
gelöjt, wußte er bald wierer berkeizubringen; mit dem Könige von
Italien jtellte er jich auf einen freundſchaftlichen Fuß; in die franze-
ſiſchen und kurguntifchen Händel ließ er jich nur jo weit ein, als es die
Sicherung Deutſchlands, vie Vefeſtigung in Lothringen erforderte, ent»
hielt jich aber aller Einmiſchung in tie innern Angelegenheiten biefer
Länder und juchte, von ten Parteien berbeige;egen, nur allfeitigen
Frieden zu jtiiten, indem er je auf jede Art von Oberherrlichkeit über
jene den Teutjchen an Givilifation ebenbürtigen Nationen verzichtete,
wies er ter Kriegeöfraft res Volfes tie Bahn nach Tften, wo deut⸗
ſche Miſſion und Colenifation ven jchönften Boten fand, wo es galt
die Neichegränze gegen vie halbbarbariichen Ungarn, Slaven und Di-
nen zu fehügen.°) Dieſe Thätigfeit Heinrichs trug Deutichland bie
ichönften Früchte, überall begann feine Pflanzung zu blühen und zu
reifen, überall jtärkte fi) das deutſche Weſen; feinem Sohne hinter
ließ er das Neich in blühendem Zujtant voll Ausficht auf eine ſegens⸗
reihe Zufunft.
In Italien warb zu tverfelben Zeit ver gleiche Verfuch gemacht,
die Einheit und Unabhängigkeit ver Nation jicherzuftellen. Hier traten
der nationalen Sammlung nicht minder gewaltige Hinderniſſe ent-
gegen. Abgeſehen ven ven tiefgehenden Parteizerrüttungen, von ben-
Kämpfen der Öroßen unter fich und gegen jeden etiwa® mächtiger auf
tretenden Herricher, abgefehen auch von den lofalen Gegenfägen, bie
bier fehr ſcharf ausgeprägt waren, bildete befonderd das vömifche
Papſtthum ein Moment von ver größten Bedeutung auch für die po
litifche Entwidlung des Landes. Die univerfale Stellung, die ber
Stuhl Petri, als das geiftliche Oberhaupt ver ganzen Chriftenheit
fortwährend in Anſpruch nahm und zeitweife ſchon mit großem Er⸗
folge turchgefegt Hatte, und ein gewifjer von ihm beftänbig ausge
übter Einfluß auf bie unmittelbare Regierung ver Statt Rom machte bie
Dejegung beffelben zum Gegenſtand ver beftigften Parteikämpfe. Da
ber römiſche Land- und Stadtadel das größte Intereſſe hatte, ſich
ſeiner zu verſichern, ſo bildete ſich hier ein politiſches Treiben localen
Charalters, welches aber durch die weiten Verbindungen des Papſt⸗
thums bald auf alle italieniſchen Verhaͤltniſſe einwirkte, und jeder
Einigung der Nation um einen andern Mittelpunkt den heftigſten
Die Kaiferpofitit Otto 1. 129
Biderftand entgegenfegte. Troß aller biefer Hemmnijfe aber war Hugo
Graf ven der Provence im Kampfe ver Parteien, mit Unterftäßung
des Papſtes Johann X. zunächſt in ber Lombardei emporgelommen,
md ftrebte dann mit allem Eifer eines thatkträftigen Mannes feine-
Inigliche Gewalt über den Parteien zu behaupten und ganz Stalien
feinem Scepter zu unterwerfen. Es würde bier zu weit führen, aus»
füßrlich im Einzelnen zu zeigen, wie das Bejtreben Hugo’s auf Ein-
heit und Unabhängigkeit Ftaliens vom Glücke begünftigt war, wie er
alle Empõörungen niederjchlug und fich allmälich immer ftärler und
hoffnungsreicher in der Gewalt befeftigte.‘) Wenn auch feine Pläne
auf Rom fehljchlugen und im Gegenfag zu ihm dort Alberich fich der
Gewalt bemächtigte und das Papſtthum von feinem Willen abhängig
hielt; Hugo unterließ es feinen Augenblid, feine Thätigfeit auf Rom
binzuwenben, und ohne Zweifel würde er ohne die auswärtigen Ver-
wicklungen, welche ihn mehrmals im entjcheidenden Augenblide hemm⸗
ten, das erfehnte Ziel erreicht haben. Außerhalb Roms hatte er
olfe inneren Factionen mit Strenge unterprüdt, fich aller äußern Ans
griffe, theils durch kluge Unterhandlung, theild durch das Glück ver
Waffen erwehrt, die enge Verbindung mit ſeinem Heimathlande Bur⸗
gund anfangs beibehalten, dann nothgedrungen eine Zeit lang aufge⸗
geben, endlich theilweije erneuert, zulegt auch mit Glück gegen vie
ESaracenen in ven Alpen gekriegt: da, als er feine Macht vauerhaft
befeftigt glaubte, brach das Ungewitter vernichtend über ihn herein,
‚ das ihm ſchon lange von Deutfchland aus gedroht Hatte. Dtto, ber
feinen europäifchen Siegeszug begonnen, hielt ven Augenblick für ge«
eignet, den Angriff auf Stalien ins Werk zu fegen, zu dem ſchon
längft Alles vorbereitet und den Hugo's fortgefegte unterthänige Ge-
ſchenke weniger al8 Ottos anderweitige Beichäftigung bis dahin zu«
rüdgebalten hatten.
So wurde die Entwicklung Italiens durch Otto's Angriff untere
brochen und eine Verbindung mit Deutfchland eingeleitet, Die, hervor⸗
gerufen durch Otto's Richtung auf fehrantenlofe Weltherrichaft, bie
natienale Geftaltung beider Länder in gleichem Maaße gefährven
mußte. Sehen wir jetzt, wie fich dieſe Politit Otto's planmäßig ent-
widelt und Europa zu beherrfchen begonnen hatte! —
Diſtoxiſche Zeitſchrift J. Band. 9
130 Wilhelm Maurenbrecher,
4.
Während König Heinrich bei der Krönung bie feierliche Anerken⸗
nung durch das verfammelte Volt für genügend erachtend, bie Sul-
bung durch Briefterhand abgelehnt batte, war e8 Otto's Bemühen mit
möglicht großem Pompe biefe heilige Handlung vernehmen und fich ine
mitten ver Vertreter des Fürſtenſtandes und ter höhern Geiftlichleit
frönen und falben zu laſſen. Die ganze geijtliche Natur des König-
amtes ift hiermit erneuert. Otto ijt ber Herr der Chriftenbeit, nber
zur Verbreitung ber wahren Religion, zur Vernichtung der Heiden und
Ketzer, zum Schutz ter Diener Gottes eingefeßt, zu dieſen Zwecken
ron Gott Macht und Anfeben empfangen bat.“?) Der ganze Ges
genfaß, in den Otto zu feines Vorgängers Auftreten im Innern
und nach Außen Hingeführt werten mußte, ift bier fchon im Keime
enthalten und bie Cigenthümlichkeit feiner Erfcheinung deutlich zu er-
kennen. Seine geniale Perfönlichkeit, feine weitfliegenden Entwürfe,
die aller Schranken fpotten, feine religiöfen Neigungen, die immer
mehr das Kirchliche Leben bevorzugen, alle tiefe Cigenfchaften des
großen Otto fejjeln das Auge tes Betrachters in hohem Maße. Ueber
fieht man bie Tragweite feiner Plane, die confequente und fcharf fefte
gehaltene Energie ter Ausführung, tie berechnende Feinheit der Une
terhandlung und im kritifchen Moment das verwegene Dreinfchlagen
mit tem Schwerte, endlich tie überaus zwedmäßige Wahl feiner
Mittel und Werkzeuge: dann wird man zugeben müffen, feine Perfän-
lichfeit war ber höchſten Bewunterung, bie fie gefunden, nicht unwerth;
ber blentente Zauber einer ſolchen Erfcheinung war wohl geeignet, vie
näherſtehenden Genoffen zu feſſeln und bie Schriftjteller an die Vers
berrlichung feines Strebens zu gewöhnen.
Nach ter impojanten Feierlichkeit zu Aachen regte fich bald bie
Giferfucht ter Stämme gegen einander; aber bier zeigte Otto feine
Meiſterſchaft den Wiverjtand zu überwinden und alle Vortheile für
jeine Zwede auszunützen. Mitten ans jenen innern Fehden ragte ſchon ver
Gedanke an die Unterwerfung der Nachbarländer hervor; hier ſchon zeis
gen ſich Spuven jeiner Alles beſtimmen wollenden, überall tbätigen, überall
eingreifenten Politif. Während ter König von Tag zu Tag im In⸗
nern glüdliche Fortſchritte machte, begnügte er fich durchaus nicht mit
⸗
Die Kaiſerpolitik Otto J. 131
dem Reiche ſeines Vaters; auf Burgund und Frankreich richtete ſich
zunächſt ſeine Thätigkeit.
Die Kämpfe der franzöfifchen Parteien, die Reibungen der einzel:
nen Iocalen &ewalten hatten die wejtfräntifche Königsmacht zur tiefs
ften Srniebrigung herabgebracht. Als im Januar 936 der Königs—
tbron erlebigt war, lag die wirkliche Gewalt in den Händen des großen
Herzog Huge ven Francien, der allein ber Krone wieder einigen Halt
hätte verleihen Können. Derfelbe leufte die Aufmerkſamkeit ter Großen
auf ven legten Sproß der Larolingijchen Familie, der unter angelfüch-
ſiſchem Schuß in England Ichte. Bon bert kam Ludwig, „ber Ueber
ſeeiſche⸗ genannt, und erhielt unter Hugo's Leitung die Krone des
Reiches. Der Sinn des muthigen Jünglings aber ftaud auf Höheres,
als nur auf den Königenamen, ven allein ihm Hugo überlafjfen wollte;
er begann fich wirkliche Macht anzueignen und von Hugo's Leitung fich
unabhängiger zu fühlen. Hierdurch entjtand zwifchen dem Könige und
den Vaſallen, tie ihm erhoben, eine heftige Spannung, die envlich zu
offnen Kämpfen führte. ‘Diefe Lage der Dinge war zu lodend für
Dtto’8 vortringenden Ehrgeiz, ald daß er eine Einmifchung nicht Hütte
verfuchen follen; fein erjter Schritt war eine Verbindung mit den
rebellifchen Bafallen, Hugo erhielt ſchon 937 Otto's Schweiter Ha⸗
thuvin zur Semahlin und damit ein Unterpfand dev deutjchen Hilfe
gegen feinen Herrn.
Weit ſchneller und energifcher noch als in Frankreich entwidelten
ſich Otto's Abfichten in Bezug auf Burgund. Nachdem König Rus
belf, ver fowehl mit Deutfchland ein gutes Einvernehmen erhalten,
als fich mit dem italienischen Hugo zu beiverfeitigem Vortheil ausein-
anderzufegen gewußt hatte, am 4. September 937 geftorben war, ent«
ftand ein Wettkampf ver veutfchen und italienischen Politif, um bie
Bormundfchaft über den jungen König Konrad und die Herrichaft
bes Lantes. Beide Parteien errangen theilweifen Erfolg, Während
Hugo die Wittwe Bertha ehelichen, ihre junge Tochter Adelheid feinen
Sohn Lothar verloben und die 933 algetretene Provence wieder nit
feinem italienifchen Reiche vereinen konnte, gelang es Otto fich ver
Berfen Konrad's und feines Reiches zu bemächtigen und das König—
reich Burgund förmlich zu feinem Vafallenftaat zu machen. Durch
diefe rnergiſche Ausdehnung wurde fofort auch das Verhältniß zu Ita⸗
9*
132 Wilhelm Naurenbrecher,
lien ein gejpanntes, wenn gleich Otto einftweilen mit rückhaltender
Miene in zuwartenver Stellung verharrte.
Hatte Dtto feine gewaltthätigen Croberungsgelüfte biemit gegen
Weften beutlich angezeigt, fo bewährte er fich gegen Often als ber
beutfchen Gränze tapferen Schirmberru, ber chriftlichen Kirche wadern
Kämpfer, und fette allen innern Empörnngen unverlegt und muthig
ven königlichen Sinn entgegen, ver alle Wiverwärtigfeiten zu über⸗
winden vermag. Wie fehr man bie Gefährlichkeit dieſes jungen aufe
ſtrebenden Eroberers erfannt hatte, beweijt die Verbindung, in die fich
König Ludwig mit den beutfchen Rebellen 938 und 939 einlieh. Sein
Beitreben aber hatte jchlieglicy nur den Erfolg, dag Otto's Beziehnn-
gen zu der franzöfifchen Fürftenoppofition ftetS enger wurben. In der
gefährlichen Tage, in bie ven deutſchen Herricher die lothringiſch⸗frän⸗
fifche Empörung gleichzeitig mit dieſen Angriffen Ludwig's verfegte,
leuchtet uns Dtto’8 Größe im Feld und in ver Unterhandlung beil
entgegen. Bald Waffenftilljtand mit den auswärtigen Feinden verfu-
chend, bald gegen die Aufſtändigen ſiegreich kämpfend, überwindet er
alle Gefahr; durch den Sieg bei Andernach ift feine Krone gefichert
und der Rachezug gegen Ludwig erinöglicht. Der eidliche Vertrag mit
ven franzöfifchen Großen ftellt ſich 940 als eine förmliche Anerten-
nung der berhoheit Dttos überWeftfrancien heraus. Rache
ten er zu Attigny vie Hultigung der Großen entgegen genommen,
zwingt er Herzog Hugo den Schwarzen von Burgund, Lubwig’s
Danptftüte, die Waffen nieterzulegen und mit Otto's Schüglingen
Frieden zu halten. Allerdings aber bemerfen wir an dieſer Stelle,
daß er, nachdem er fo viel erreicht, Weiteres gar nicht erftrebt. ‘Den
franzöſiſchen König Hat er gebemüthigt, aber feine Vernichtung bat
er nicht im inne; den Herzog Hugo als Führer der Oppofition bat
er nterftügt, aber zum ftarken Haupte einer neuen Regierung will
er ihm nicht machen. Sein Ziel ift die Verewigung des Zwiſtes,
und damit des eigenen herrſchenden Einfluffes. Während er auf viefe
Art Frankreich gefpalten und abhängig erhält, verfolgt er noch auf
einer andern Seite diefelbe Politit eines in der Ferne angezeigten
einjtweilen vorfichtig zurückgehaltenen Einſchreitens, das den Herrn
Europa's fennzeichnet. — Wenn auch die Nachricht eines von Otto
bei der Papftwahl 939 geltend gemachten Einfluffes einftweilen als
Die Kaiferpolitif Dito I. 133
hechſt unficher dahingeſtellt bleiben mag *); eine feindliche Haltung
gen König Hugo tritt beutlih zu Tage. Als Berengar, das letzte
giährlihe Haupt einer etwaigen Oppofitien, Hugo's Verfolgungen
Ah durch bie Flucht entzogen und burch Vermittlung des Herzogs
fermann von Schwaben bei Otto Aufnahme gefunden; wird die von
Su fo Tringend gewünfchte Auslieferung des Flüchtlinge mit ber
ſtelzen Erklärung zurüdgewielen: Otto werde Niemanden verrathen,
ver fih zu ihm geflüchtet; gern aber werde er vie Verſöhnung beider
Theile vermitteln. Berengar alfo bleibt am Hofe Otto's und muß
sh einjtweilen ruhig verhalten und abwarten, warn Otto die Zeit
im jene „Berföhnungsverfuches geeignet finden werte. Denn in ber
süchtten Zeit Hatte er ſowohl im Innern eine drohende Gefahr für
ihren und Leben abzuwehren, als auch in ten franzöfifchen Verhält-
sten ſtets Gelegenheit und Antrieb zu neuer Einmiſchung und neuen
dertichritten gefunden. Ohne auf ten Berlauf ber franzöfiichen
Ertwicklung, ter wechfeljeitigen Verhanklungen und Treffen näher
einzugeben, genüge e8 zu bemerken, daß Herzog Hugo und feine
Partei, ſtets von Otto's Waffen unterjtügt, gegen ven fchwachen
Lenig einen Vortheil nah dem andern erringen; entlih 942 Bes
gan man, von allen Seiten am Friedenswerk zu arbeiten,
das zu Vouzieres an der Maas zu Stunde kam. Hierauf waren
vie Bemühungen des Papftes Stephan IX. und feiner Yegaten von
geßem Eiufluß gewefen. Während es in Italien dem von allen
Zeiten bochgeehrten und tem päpftlichen Stuhl treu ergebenen Abt
Dro von Clugny gelungen war, ein Abkommen zwijchen Alberich von
Rem und Hugo zu vereinbaren, Hugo von Rom zu entfernen und jo
tie Spaltung bes Landes mit allen ihren Conſequenzen zu erhalten:
hatte ter Papſt in Frankreich zu Gunften Ludwig's eine geijtliche Ein-
wirfung auf tie Vaſallen verfucht, und fo warb entlich bie gegenſei—
tige Anerkennung aller Parteien burchgejegt. Wenn wir jenen PBapft
Stephan wirklich als unter deutfchem Einfluß erhoben anfehen bürfen,
wenn wir dann tie fpäteren Berbintungen Otto's mit Nom berüd:»
fichtigen, die er ſtets zu feinen Sweden benuste: dann bürfen wir
weht ten Schluß ziehen, daß diefe Vorkommniſſe in Italien und in
Aranfreich nicht® anderes als ein Hug berechneter Schachzug ter otto⸗
nifchen Bolitit gewefen find. Wie dem aber auch fein mag, Otto's
134 Wilhelm Maurenbrecher,
mächtige Stellung in Frankreich wird durch dieſen Frieden nur ver⸗
ftärkt und feine wahren europäiſchen Pläne treten von jet an immer
offener zu Tage. Die nen entbrannten Umtriche ver franzöfifchen
Barteien führen nur feine fortgejeßte Unterftügung ter Herzege her⸗
bei; Ludwig's Pläne gegen Otto's Leben erzielen nur Veftrafung ber
Werkzeuge des chnmächtigen Karolingers: kurz, Otto's fihiedsrichtere
liche Stellung über den Parteien zeigt ſich in vollem, Glanze auf dem
Hoflager zu Aachen im Juli 944, wo vor ſeinem Thron König und
Herzog aus Weftfranfen ihr Recht ſuchen und Otto's Befehle ent-
gegennehmen.
In dieſer Zeit bereitet ſich nun eine Veränderung in ber ottoni«
chen Politik vor, Die zwar ftetd beufelben Zweck verfolgte, aber bie
bisherigen Mittel und Wege mit einer nenen Richtung vertaufchte und
durch eine ſchuelle Wendung ihrem entlichen Ziele näher Fam. Es
war dies der entfihiedene Barteiiwechjel in Frankreich und das Heraus
treten ans der bisherigen zuwartenden Stellung gegen Italien. Beide
Ereigniffe, gleichzeitig vollzogen, fallen unter venfelben Geſichtspunkt
und fließen aus demſelben leitenden Motive.
Wenn fchen auf dem Hoflager in Aachen fich deutſche Stimmen
für die Sache König Ludwig's hatten vernehmen laffen, aber durch
Otto's gebieterifchen Spruch zum Schweigen gebracht worden waren:
fo gewann jeit 945 diefe Partei eine raſch heranwachſende Bedeu⸗
tung. An ihrer Epige ſtanden Konrad, der neue Herzog von Lothrin⸗
gen, und deſſen vertrantefter Freund Heinrich, des Königs Bruber,
ter allen alten Plänen gegen Otto's Krone und Leben entfagt Hatte,
und ein entſchiedener Vorkämpfer ber ottonifchen Eroberungspolitik
geworden war. Tu König Ludwig in dic Gefangenſchaft der Nor—
maunen und dann in die Hände ſeines Gegners Hugo gerathen war,
ſo ſchien die karolingiſche Krone verloren und Otto's Schützling jetzt
im Einvernehmen mit den Normanen die volle Hoheit über das ganze
Land zu beſitzen. Seine Schritte bei Otto zu rechtfertigen, eilt Her-
zog Huge nah Deutſchland, aber bier empfängt ihn nicht der König
felbft, fonvdern Läßt ihn Durch Herzog Konrad abfertigen. Damit war ihm
bie deutſche Feindſchaft erklärt, die ganz confequent eintreten mußte,
feit er tie volle Macht in Frankreich zu erlangen, tie Einigung des
Landes unter einer ftarfen Herrfchaft zu vollenden fich anfchidte. —
Die Kaiferpolitil Otto I. 135
As ferner in Italien König Hugo nach vem Frievensfchluß von 942
feine ganze Macht gegen vie Saracenen in den Alpen gewendet und
943 diefelben der vollftändigen Vernichtung nahe geführt Hatte: da
hielt ihn vom legten vernichtenven Schlag die plögliche Nachricht zu.
rüd, daß von Deutfchland aus Verſuche unternonmen würden, eine
Erhebung gegen ihn anzuregen. Berengar hatte feine Spione ent»
ſendet, welche die Stimmung des Landes erfunden, und ven Boden für
ein beabfichtigtes Unternehmen vorbereiten follten. Im Frühjahr 945,
kurz vor dem Bruche mit den franzöfifchen Großen, traf dieſer Schlag,
ver fchen 943 in Deutjchland beabfichtigt gewefen fcheint, mit ver:
nichtender Gewalt das Königthum Hugo’s. Bon fehwäbifchen Schaa-
ren begleitet, von beutjchem Einfluß unterftügt, und was ung das
Wichtigſte bedünkt, als Lehensmann Dtto’s ) wagte Berengar
den Einfall in Italien, der über alles Erwarten glückte und im erſten
Anlauf die ganze Schöpfung Hugo's über ven Haufen warf. Man
fiebt deutlich, was Otto beabfichtigte uud was feine Pläne gegen ben
Nachbarn waren. In Italien durfte die Einheit ver Halbinfel unter
einer ftarfen Regierung nicht vollendet, Hugo’3 Königthum nicht be=
feftigt werben; ſondern Berengar, ter Bafall Otto’s, follte eine neue
Gewalt errichten, die im Lande noch nicht feſtgewurzelt, natürlich von
Dtto um fo abhängiger blieb. In Frankreich aber durfte die Macht
ber Herzoge, die Otto's Oberberrlichkeit anerfannt hatten, nicht aus»
ſchließlich herrſchen und tie Gewalt der Krone ganz verbrängen: fon«
dern es folite auch bier die Einigung der Monarchie verhindert und da⸗
burch beite Parteien zur Anerkennung von Otto's Hoheit gezwungen,
von feinem Willen abhäugig erhalten bleiben. Mit Bewunderung
nimmt man vie Klugheit wahr, mit welcher Dtto bie eigenthünlichen
Berhältniffe eines jeben Landes und die Schwächen ihrer Entwidlung
auffaßte und in mannigfaltiger Anwendung für feine Zwecke zu be-
nugen wußte. Sehen wir zu, wie weit es für den Angenblid gelang,
feine Pläne burchzufegen.
Schon im Fahre 946 unternahm Dtto einen gewaltigen Kriegs⸗
zug zur Unterftügung dee nun wieder freigelafjenen Königes gegen
Herzog Hugo von Francien und die von bänifchen Kriegsſchaaren une
terftügten Normannen. Obwohl derſelbe nicht unglücklich geführt
wurde, errang boch Dtto nicht völlig die Erfolge, die er erwartet
136 Wilhelm DMaurenbredger,
hatte. Defto wirkjamer zeigte fir) das nun angewandte Mittel einer
Einwirtung auf und durch vie Geiftlichkeit; bie jchon früher unter-
haftenen Verbindungen mit Rom wurden durch das biplomatifche Ge⸗
ſchick des Abtes Hatamar ven Fuld zu einer Demüthigung ber fran-
zöfifchen Rebellen benugt, und nad Ueberwindung eine® augenblid«
lichen Mißverſtändniſſes ver ganze päpftliche Einfluß aufgeboten, um
in Frankreich dem Karolinger und feinem beutfchen Schugherrn Ge⸗
borfam zu verjchaffen. So erjcheint denn zulegt — für die Details
genügt es, auf Giejebrecht hinzuweiſen — auf dem Eoncil von Ingel⸗
heim König Ludwig als willenlofer Schügling Otto's, von deſſen Befehlen
er und die ganze Synode abhängig find. Otto's Stellung als Schieb6-
richter der franzäfifchen Häntel, als Beichüger des Königthums und
Herr der Bafallen, als Gebieter des gallifhen Bodens iſt KO zur
allfeitigen Anerkennung gebracht, fo taß von Lothringen aus Weftfrancien
al8 „Provinz« in Otto's Auftrag verwaltet wird. Cinen gleichen
Erfolg Hatte Otto auch nach anbern Seiten. 947 ereilte fein ftra-
fender Arm die Dänen, die ihren normannifchen Stanımverwanbten gegen
Ludwig beigeftanden Hatten; mit mächtigem Zuge, im Einverſtändniß
mit den Angeljachfen, trang er in Jütland ein, erzwaug Unterwerfung
der Dänen unter feine Oberhoheit und Aufnahme ver chriftlichen
Miffion aus den neu errichteten nordifchen Bisthüimern °) In ber
felben Zeit machten bie flavifchen Kriege bedeutende Fortfchritte, und
unterwarf ſich der Böhmenfürft Boleslav dem Scepter Otto's.
Während fo Alles fich feinem Gebote fügte, überall feine auf
bie allgemeine Herrfchaft gerichteten Entwürfe mit großem Erfolge
fih verwirflichten: hatte Italien allein fich wierer ihm entzogen und
ber 945 geführte Schlag dort die beabfichtigte Wirkung verfehlt. Ale
vor Berengar's Schaaren und noch mehr vor feinen feinen diploma»
tiihen Künften Hugo’8 Herrſchaft zufammenzuftürzen drohte: da bes
gann ein merkfwürbiges Spiel der Antrigue, das zu ganz unerwarte-
ten Refultaten führte. Berengar, der wohl ftets auf eigene Herr-
ſchaft gezielt und Otto's Hülfe nur zu dieſem Zwecke als Mittel ge-
braucht hatte, erkannte vem Namen nach Hugo und feinen Sohn Kor
thar als König an und begnügte fih mit der thatfächlichen Leitung
ber italienifchen Regierung, mit der königlichen Macht ohne königlichen
Namen. Otto, der in andern Unternehmungen befchäftigt, nach ans
Die Kaiferpolitil Otto 1. 137
dern Seiten feine Pläne verfolgte, ſah einftweilen biefem Beginnen
rubig zu: gegen bie von feiner Seite etwa drohende Gefahr fuchte
Berengar in der Verbindung mit dem griechiichen Kaiferreiche Rück⸗
halt, während er nach Innen in unnachfichtiger Strenge gegen etwaige
Aufftandsverfuche fein Anjeben zu befejtigen ftrebte. Wenn aber auch
Dtto einftweilen nicht an Italien zu denken fchien: das ift gerade bei
ihm das charakteriftifche Merkmal des großen Staatsmannes, daß er
von ferne die Ereigniffe einzuleiten und für den Augenbli ber rafch
bervorbrechenvden nachdrucksvollen Handlung Alles vorzubereiten wußte.
Bie er vorher den Angriff gegen Hugo planmäßig feit 940 ins Wert
geſetzt hatte: fo legte er jett gegen Berengar die Bebingungen und
Mittel zurecht, fich den endlichen unmittelbaren Eingriff in Stalien
möglichft zu erleichtern.
Durh ren Abt Hadamar fnüpfte er 947 und 948, wie fchen
erwähnt, engere Beziehungen zu Rom an, wo man buffelbe Intereſſe
hatte, Berengar's Macht nicht allzu fehr anwachſen zu laffen. Auf
der andern Seite drang Herzog Heinrich, ven er feit Ende 945 in
Baiern eingejegt hatte, auf feinen wiederholten glüdlichen Ungarzügen
wahrfcheinlich 948 in Oberitalien ein, bielt Aquileja und damit ven
Eingang in Italien befegt und erwarb fich in ben Stäbten des ober
Italiens durch geſchickte Agitation eine einflußreiche Partei, die einen
etwaigen Kriegszug der Deutfchen fehr erleichtern mußte "').
Nachdem Otto fo Alles gegen Berengar vorbereitet, beburfte es
nur eines äußern Anftoßes, und es wurbe als verlodendes Beifpiel
für alle Folgezeit ver italienifche Zug in Scene gefekt.
Die Gelegenheit bot fih, wie von felbft, im Jahre 950.
5
Es ift fchon mehrfach, zuleßt von Gieſebrecht, ausführlich erör⸗
tert und dargethan worden, wie Otto's Stellung fich bis zum Jahre
950 fo mächtig entwidelt hatte, daß in ihm, dem factifchen Beherr-
fcher des ehemals Farolingifchen Staiferreiches, der Schwerpunft ber
"enropäifchen Lage ſchon damals zu ruhen fchien. Burgund und Franl-
reich, Böhmen und Dänemark waren ihm unterthan; vor ihm beugten
fih die flavifchen Fürften; zu ihm famen vie Gefandten ver Angels
fachjen und Griechen. Den Kreis des Abendlandes zu erfüllen, fehlte
158 Wilhelm Maurenbrecher,
nur noch Die Unterwerfung Italiens und bie dauernde Beeinfluffung
des päpftlichen Stuhles; ver factifchen Herrſchaft mangelte nur noch
bie Zierde des äußeren Glanzes, das ftrahlende Symbol der römi«
chen Kaiferkrone. Auch in Deutfchland felbft war es ihm gelungen,
bie Stammesgewalten ber Herzoge mit mächtiger Stärkung bes kö—⸗
niglichen Anfehens in Schranken zu halten. “Die Krone felbft fchien
befeftigt : Otto Tonnte feinen Schn Ludolf als Nachfolger bezeichnen,
ihm huldigen Tafjen und fo den Fortbeſtand des einigen Deutfchland
beim Thronwechfel ficher jtellen. Daneben fammelte der König in
ber Geiftlichfeit fich eine Macht, die, von feiner ftarfen Hand geleitet,
die mächtigfte Stüße des Throns, und der gewaltigfte Gegner des
Particulariemus zu werben verſprach. ben fowohl aus religiäfer
Neigung als aus politifcher Erfenntniß fühlte und zeigte Dtto je
länger je ftärfer eine tiefe Vorliebe für die Kirche, ver er neue Ge-
biete der Miffion in ven Slavenlanden eröffnete, die er im heimi⸗
fhen Reiche mit Gütern und Gejchenfen überhäufte. In feiner gan»
zen Politit fand der König die größte Unterftägung bei feinem jünge
ften Bruder Bruno, ver alle Regierungshanvlungen leitete und bald
bie Seele der Reichsregierung wurde, Die wichtigften Genoffen im
Kriege und bie eigentlichen Vorkämpfer feiner Heere waren jetzt fein
Bruder Heinrich und deſſen Fremd, der löwenmutbige Herzog Kons
rad von Lothringen, der Verwalter Sachjens, Hermann Billung, und
der Markherzog Gero; ihre Treue gegen ven König fchien feft gefichert.
Segen die am Hofe mahgebente Richtung war unter Allen bisher
nur Ein Mann confequent aufgetreten, ber Erzbiſchof Friedrich
von Mainz, veffen Wild in ven Quellen der Zeit aber fo unbeftimmt
gezeichnet ijt und deſſen Ziele uns fo unklar Bleiben, daß wir von
ihm nur Eins fefthalten können: er war ein frommer, vortrefflicher
Dean, aber ein bejtinbiger Gegner alles deſſen, was Otto wollte.
Er bat ftet8 den Mittelpunkt aller Oppefition gebilvet, er iſt ftets ver
Freund ter Feinde Otto’8 gewejen; am beftigften trat fein Wider⸗
ſtreben jeßt bei ven italienifchen Creigniffen hervor.
Dies war die Lage Otto's und Deutſchlands, dies das Rejultat
feiner Bolitit, als er ven lebten kühnen Schritt zum Ziele unter-
nabın, als er ven Krieg gegen Italien eröffnete.
ALS dort ver Erbe von Hugo's gebrochener Herrichaft, Lothar, am
Die Kaiſerpolitik Otte 1. 139
22. Nonember 950 plöglich geftorben war, hatte VBerengar mit ra-
her Hand fi und feinem Sohne tie italifche Königefrone auf's
Haupt zu feßen gewagt. Hiermit war der Dtto geleiftete Treueid
völlig gebrochen, vie Verbindung mit dem beutfchen Herrfcher ent-
ſchieden zerrijfen. Wenn Otto die in Anfpruch genommene Herrfcher-
ftellung in Europa wahren wollte, dann mußte ben Ufurpater bei
biefer widerrechtlichen Anmaßung fein Nächerarn ereilen. So
wird denn auch im Rathe ver deutſchen Fürften ber Ktrieg gegen
Berengar, und als weiteres Ziel ver Zug nah Rom befchloffen und
bie Rüftung angeortnet. Kin merkwürdiger Zwifchenfall ftörte auf
einen Augenblid tie Harmonie des Ganzen. Der zukünftige Thron»
erbe und tamalige Herzog von Schwaben, Dtto’8 eigener Sohn Yur-
bolf unternahm 951 noch während der NRüftungen feines Vaters ges
gen Berengar einen rafchen Zug, der nur an den Intriguen feines
Oheims Heinrich im obern Italien felbft ſcheiterte. Diefes Unter—
nehmen war gegen ven Willen Otto's gefchehen und gegen feine yeli-
tiichen Plane gerichtet. Die Einmifhung Otto's in Italien follte
baburch überflüffig, ver Zug nach ver Kaiſerkrone unmöglich gemacht
werven. Wir fehen alfo, daß Herzog Ludolf ter Kaiſerpolitik entgegen:
zutreten und fich einer Oppofitionspartei zu nähern begann '*).
Nach viefem unglüdlichen Vorſpiel fegte fich das impofante Hanpts .
beer unter Otto, Heinrich und Konrad in Bewegung, und bereitwillig unter»
warf fih das Land ten Deutfchen. Berengar’8 unbefejtigte Regierung
vermochte feinen Wirerftand im Felde zu leiften; er felbjt wurde in
die Bergfeſtunzen verjagt. Otto, „ber Deutfchen und der Longobar⸗
ben Könige» hbeirathete vie Königswittwe Adelheid und unterhandelte
nit der römijchen Regierung über die Kaiferfrönung. Das Ziel, das
er fünfzehn Jahre unabläßig verfolgt hatte, lag dicht vor ihm: ber lete
noch übrige Schritt war nur unbedeutend, ohne Gefahr und Mühe.
Wenn man fi) auch in Rom widerſetzen wollte, fonnte es nur einen
Augenblick zweifelhaft fein, daß Otto den Heinen Gegner vernichten
würte? Da, ale dein Gebäude der Weltmonardhie ver Schlußftein
aufgefeßt werben follte, wanften vie Fundamente des kühnen Baues,
erzitterte der heimifche Boden, auf dem Alles ruhte.
Wenn in jenem fchnellen Streifzug Ludolf's, wie ich meine, das
Aufleuchten einer bisher zurückgedrängten politifchen Richtung fichtbar
140 Wilhelm Maurenbrecher,
wird, wenn ſchon vorher ſich Erzbiſchof Friedrich wiederholt ben otto-
nifchen Plänen entgegengejegt hatte: fo tritt jeßt biefe Oppofition
unter der Führung Ludolf's und Friedrich's vorfichtig aber mit rück⸗
fichtslofer Deutlichkeit ihrer Ziele der bewußten Politit Otto's ge
rabezu in den Weg. Friedrich, eben mit ver ablehnenden Antwort
aus Rom zurüdgelehrt, verläßt in Begleitung Lubolf’8 eilig den itar
lienifchen Hof und begibt ſich nach Deutfchland; hier verfammeln fich
im fächfifchen Saalfeld alle in Deutfchland anmwefenden Fürften und
erheben gegen Otto's Politik energifche Einfprache. Die Nachricht
von biefer Drohung in der Heimath zwingt Otto, in Stalien ver-
länfig Altes aufzugeben; er läßt den Herzog Konrad zum Schuß ber "
Kombarbei gegen Berengar mit einem Heere zurüd, eilt fchleunig
über die Alpen und fucht die Gährung in Deutfchland zu befchwich-
tigen.
Während hier zwifchen beiden Parteien vie Spannung ber ent-
gegenftebenben Tendenzen täglich wächlt, tritt auch in Stalien eine
überrafchenne Wendung ein, bie Otto's Pläne gewaltig verfürzt im
die Wirklichkeit treten läßt. Herzog Konrad von Lothringen, Dtto’s
waderer Kriegsheld — wir wiſſen nicht aus welchen Gründen over
durch welchen äußern Einfluß bewogen — hatte Berengar die Hand
zur Berföhnung geboten, ihm die Anerkennung als König von Italien
unter deutſcher Hoheit zugefagt und ihn fo zur freiwilligen Unters
werfung bewogen. Friedlich eilten Beide nach Deutfchland zu Otto,
ben fie in Magdeburg antrafen. Hier begannen Unterhandlungen
und Streitigfeiten der Parteien über das Schidfal Ytaliens’’) Es
mußte der Bartnädigfte Widerſtand Herzog Heinrich’8 gegen alle Con⸗
ceffionen und der Haß ber Königin Adelheid gegen ihren Bebränger
überwunden, es mußte bie alte Feindſchaft zwifchen Erzbifchof Friedrich
und Herzog Konrad beigelegt und beider Verbindung mit dem Thron-
erben gegen Dtto’s Pläne offen verfündet werden. Da erft gab
Otto nah, und kam ein Compromiß zu Stande. Berengar
leiftet im Auguft 952 feierlich zu Augsburg ven Pehneeid für das
Königreich Italien und tritt Aquileja und Verona förmlih an Her-
zog Heinrich ab; dafür bequemt ſich Otto, für jegt auf die unmittel-
bare Regierung Italiens zu verzichten, und ven bereits angenommenen
Zitel eines Königs der Longobarden fahren zu laſſen. Trotzdem mwächft
Die Kaiferpolitif Otto 1. 141
bie Spannung zwifchen Heinrich und Ludolf, und durch Konrad's Bei⸗
tritt verftärkt, dauert die Oppofition fort. Denn das war Allen Kar
geworden: man hatte von Dtto nur ein augenblidliches Zugeftänd«
niß erzwungen, Stalieng Einverleibung war und blieb fein Ziel. Wäb-
rend nämlich Herzog Heinrih, mit der Marl Verona belehnt, zur
beftändigen Drohung an den Eingang Italiens geftellt war, hatte
Dtto im Vertrag von Augsburg dem König Berengar große Milde
gegenüber feinen Unterthanen geboten und im entgegengefeßten Fall
mit Entfegung gedroht; eine Klauſel, vurch die in jedem Augenblid
die Intervention herbeigeführt werden konnte"). Bei biefer fortge-
festen Neigung ber ottonifchen Politik, über bie kein Zweifel obwal⸗
ten kann, iſt es fehr erflärlich, daß auch die Oppofition, welche hie⸗
mit ftet6 neuen Grund zur Unzufrierenbeit fand, von einem Schritt
zum andern weiter vorgehend enplich zur offenen Empörung gelangen
mußte.
Wenn wir auf diefe Weife den Iudolfinifchen Aufſtand, ver von
Giefebrecht als der Krieg der Söhne gegen den Vater“ hervorges
gangen aus perfönlicher Kränkung, beleivigtem Ehrgefühl oder fchlauer
Ränkefucht aufgefaßt wird, aus tiefer liegenven Gründen herleiten,
bei den Aufftänpifchen einen nationaldeutfchen Charakter, in ihrer Er⸗
bebung die Regungen einer nationaldeutfchen Politik erbliden: fo
zwingt uns, wie ich meine, zu dieſer Auffaffung der innere Zufam«-
menbang aller Ereigniffe, wie er troß unferer einfeitig gefärbten Quel⸗
lenberichte in den Zhatjachen felbft zu Tage tritt. Wer unferer Dar⸗
ftellung der ottonifchen Politik zuftimmt, wer in verfelben das planmäßige
Streben nach Herftellung des Kaiſerthums Karl's des Großen, db. h.
ber Unterjochung aller europäifchen Nationen erfennt: für ten wird
ein Aufftand, ber gerade bei dem letzten entfcheidenden Schritt biefer
Bolitit ausbriht, und deſſen Führer zum Theil der völligen Unter-
jochung Italiens entgegen gearbeitet haben, nothwendig ven Charakter
eines Widerftrebens gegen eine folche Weltberrfchaft annehmen. Denn
bie ungeheure Betheiligung der Dlaffen, ja des deutfchen Volfes aller
Stämme, wird kaum aus jenen lediglich perfönlichen Wotiven erklärt
werben können, die man den Führern beizulegen gewohnt ift. Was
batte der Bayer für ein Intereſſe an einer Ehrenkränkung Konrad's?
Welchen regeren Antheil nahm ver Fraule an Gränzftreitigfeiten zwi⸗
142 Wilhelm Maurenbrecher,
fchen Rudolf und Heinrih? Auf diefe fo überaus merkwürdige Theil-
nahme der Volksmaſſen und der Städte für die Sache ver Empörer
iſt aller Nachdruck zu legen; auf das Gefühl, das dieſe Elemente
bewegte, kommt Alles an. Man wente nicht ein, daß dieſe allgemeine
Oppofition hervorgerufen fei durch die ftarfe Königliche Gewalt, vie
ſich Otto über die Stunmesher;oge beilegte, daß alſo das Stammes⸗
gefühl der einzelnen Provinzen den Aufſtand auf tiefe Höhe getrieben
babe. In Bayern war der Vertreter ver Provinz, Derzog Heinrich),
für den König, der Adel aber und das Volk mit höchſtem Kifer für
den Aufitand. Umgekehrt war der Herzog von Lothringen ein Führer
und Urheber der Empörung, während ber größte Theil des Adels
träftig zu dem Könige hielt. So ijt es unmöglich, ten PBarticularie-
mus der Provinzen als erflärenden Grund einer Bewegung aufzufaffen,
welche nicht bei einem Acte innerer Politit, ſondern bei den italieni«
fhen Plänen Dtto’3 auebricht und fie zu vereiteln fucht: was An⸗
laß zur Oppofition gegeben bat, das iſt auch Urfache des Aufſtandes
geworten. Wie nufere von fo bejchränft Eaiferlich-religiöfer Partei⸗
ſtimmung geivagenen Duellen doch deutlich erfennen laffen: überall
fand die Sache ver Empörer Beifall; felbjt in Otto's Heere regten
fih Stimmen, daß ihre Abſicht eine lautere fei; und unfere mönchie
ſchen Berichteritatter felbjt wagen es kaum, ein Verdammungsurtheil
über den Erzbijchof Friedrich, Otto's harinädigiten Gegner, laut wer⸗
ben zu lafjen ’°).
Berfolgen wir kurz die Gefchichte des Aufſtandes, die unfere
Auffaffung in allen Punkten beftätigen wirt.
Wührend im Verlauf des Jahres 952 ber Unmuth ber Oppo«
fition fih nach dem Reichstag zu Augsburg nur in ver Stille ges
ſammelt und überallhin feine Principien verbreitet hatte, verfuchten
953 die Häupter derjelben offen auf ven Sinn des Königs zu wir
fen und ihn von feiner Richtung abzulenken. Erzbiſchof Friedrich,
Ludolf und Konrad erjchienen in Mainz vor Otto, ver wehr-
[08 in ihrer Mitte und durch die drohenden Seichen ver
Empörung gefhredt, ihrem Wegehren wilfahrte und ihre Pläne
billigte. Aber kaum fühlte er ſich in Sachfen auf ficherem Bo—
ben, als er alle Zugeftändnifje widerrief und, tie Majeſtätsbeleidi⸗
ger zu ftrafen, einen allgemeinen Reichstag nach Fritzlar anfagte.
Die Kaiſerpolitik Otto 1. 143
Die kaiferliche Partei, die bier in der Mehrzahl war, benugte tiefen
Boribeil mit aller Energie und Härte. Aber die offen ausgefprochene
Rückkehr zu den alten Plänen, die enge Verbindung mit Herzog Hein«
rich und bie rüdfichtslofe Beitrafung aller entgegenſtrebenden Tenden⸗
zen gab jett das Signal zu allgemeiner Empörung in Franken und
Schwaben, und zum blutigen Parteikampf in Lothringen. ALS all-
mälig die Sache ter Empörer einige Bortheile errang, warf fid) Otto
mit feinem Heere auf Mainz, das von Ludolf felbjt vertheitigt wurde.
Nachrem zwei Monate lang alle Angriffe zurücgefchlagen worven,
unterbandelte man über einen Waffenftillitand und bald über einen
Frieden. Während ven Dtto den Häuptern des Aufſtandes Straf.
lofigfeit für ihr Beginnen zngefihert, und alle Mittel der Drohung
und Schmeicdhelei, ver Religion und Diplomatie in Bewegung gefegt
wurden, wiefen Zubolf und Konrad hartnädig alle Anerbietungen zu⸗
rũck und beharrten ftanbhaft bei ihrem Priucip. So zerſchlug fich
die Ausficht auf friebliche Beilegung des Streites, die Waffen muß-
ten entſcheiddn. War nun bisher fchon der Krieg ven Seite Dtto’s
ohne Erfolg geführt worden, fo fticg jegt die Woge der Empörung
zu fo bebrohlicher Höhe, daß Otto in die größte Gefahr für Thron
und Leben gerieth. Babern gefellte fich volljtäntig zu den Aufjtändis
fchen und fonnte durch Feine Bemühung zur Unterwerfung unter Here
zog Heinrich gebracht werven. Das fächfifhe Hilfsheer wurde für
Ludolf gewonnen und in Sachfen felbjt dielinrugen nur durch bie
größte Anjtrengung des Herzogs Herrmann nievergehalten. Ende
des Jahres 953 mußte das königliche Heer unverrichteter Dinge nach
Haufe entlaffen werden; Otto war jegt fuft feines ganzen Reiches
beraubt, und nur durch die theilmeifen Erfolge in Lothringen hielt
fich feine Sache. Dort hatte der neue Erzbifchof von Köln, Otto's
treuer Bruder Bruno, zum Herzog des Landes beftellt, mit Aufbie-
tung aller Energie und aller Feinheit eine Verbindung ver königlichen
Sache mit dem Wiverwillen des Adels gegen Konrad zu Stande ges
bracht; alle bewaffneten Unternehmungen Kourad's fowie alle Unter-
banblungen mit Bruno waren gefcheitert; biejer befeftigte durch Kluge
Conceſſionen feine Stellung als Bifchof und Herzog und drängte durch
die Verbindung mit der nationalslothringifchen Partei den Herzog
Konrad vollftändig aus dem Lande '*).
144 Wilhelm Manreubrecher,
Wie bier den König Bruuo's Thätigkeit vor dem Untergang
rettete, fo führte in ven andern Landestheilen der Ungarneinfall dem
Könige neue Kräfte zu und bob feine Sache wieder zur vollethüm-
lichen empor. Die Kunde von ven tiefen innern Zerrüttungen Deutfche
lands ift es wohl gewefen, bie jene unrubigen benteluftigen Raubs
fchaaren berbeizog. Als fie in Yahern einbrachen, war dort Ludolf's
Partei fiegreich aus ten bisherigen Kämpfen hervorgegangen und im
ganz Eüd- und Mittelveutfchland die Sache der nationalen Oppoſi⸗
tion im Uebergewicht. Diefe fchönen Erfolge nicht geitört zu fehen,
fonvdern die Wucht des fremden Angriffs auf dad Gebiet der einhei-
mifchen Gegner zu wälzen: eine folhe, wenn erflärliche, doch nicht
zu rechtfertigeude Erwägung führte eine Verftändigung Ludolf's mit
ben Nationalfeinven herbei’). Während er fie durch Geldzahlung
von Bayern abzuwenden verfuchte, machte Konrad fich erflärtermaßen
zu ihrem Führer und Haupt gegen Lothringen. Seit viefen Ent-
fchlüffen war ihre Sache verloren, vie Unterjtügung des Volles ver-
fcherzt, vie Sache Otto's im Steigen bei der Nation. Raſch vollzog
fih der Sturz der noch eben fo mächtigen Herzoge. Wie vordem bie
Neigung des Volles zu Ludolf's nationaler Politik ven Aufjtand fieg«
reich ausgedehnt Hatte, fo warf jegt die Entrüftung der Nation gegen
die Ungarnfreunde bald allen Wiverjtand zu Boden; Erzbifchof Fried»
rich und Konrad mußten fich demüthig dem Könige unterwerfen; nur
Ludolf vermochte fih ned eine Zeit lang in Baiern zu behaupten.
Aber der große Charakter des Aufitandes iſt erjtidt; ein trauriges
Nachipiel von blutigen Schlachten gewährt num ven Anbli eines
verzweifelten Waffenganges gegen überlegene Feinde, und endet mit
ber bußfertigen Unterwerfung unter Otto's gnädige Heheit.
Wenn durch dieſen zweijährigen Kampf die nationale O:ppofition
auch nicht in ihren Wurzeln vernichtet war, ſondern fich fpäter auf's
Neue und mit immer wachſender Kraft erheben konnte, fo war boch
für Dtto’8 Zeit der Sieg des Könige, vollftändig und bie Möglichkeit
zur SFortfegung der alten Uuiverfalpolitit gegeben. Nachdem dies
Streben nad der Weltherrfchaft fchon einmal nahe am Biel gefcheis
tert war, galt e8 jest, nach erneuerter Befeitigung der Monarchie,
mit doppelter Vorſicht und Energie den Griff nach ver Kaiferkrone
zu wiederholen. Diefer zweite italienifche Eroberungszug führte
Die Kaiferpolitit Otto I. 145
Idneller zum Ziele und liegt auch den Blicken ber Forſchung beut-
lider zu Tage. Es genügt daher, ganz kurz bie wejentlichiten Punkte
anzubenten.
6.
Während im allgemeinen Aufruhr des Bürgerfrieges alle weltli«
den Stügen der Föniglichen Herrfchaft wankten und tie ganze Vers
bindung der Krone mit den einzelnen Stämmen zu zerveißen drohte,
wurd die Berbindung mit dem Klerus immer mehr das leitende Brin-
cip der ottonifchen Staatsfunft. „Wie durch des allmächtigen Gottes
Gnade das Königliche Priefterthpum dem bebrängten Kaiſerthum bei«
geftanden«, fo übertrug Otto jett alle feine Huld auf das Bisthum,
das er mit treu ergebenen Männern ver „Laiferlichen« Partei zu be«
fegen wußte, das bie Leitung des ganzen abendlänbifchen Reiches zu
übernehmen berufen wurde '*). Diefe geijtlich politifche Richtung hatte
bald Gelegenheit, ihre Kräfte zu zeigen. Durch das Schwert eben
ſewohl als durch die Predigt des göttlichen Wortes warb ver Kampf
gegen Siaven und Ungarn entfchieden; hier erwarb man ficd) zugleich
biutige Lorbeeren und geiftliche Verdienſte; man ftritt und fiegte zu-
gleih für den irbifchen Herrfcher und für das Reich Gottes. Nach ver
hırzen Zeit von zwei Jahren war Dtto wieder der mächtige Gebieter
des Abenplandes, ver feine Eroberungen gegen die heidnifchen Slaven
durch Gero und gleichzeitig die Beherrichung des chriftlichen Frank⸗
reichs durch Bruno leitete, der enplich feinen Blick wieder auf
Italien richten Tonnte.
Es war dort eine unruhige Zeit haltlofer Regierungen und ewi-
ger Fehden eingetreten. Wie es zu erwarten gewefen, hatte Berengar,
von ber deutjchen Oberhoheit wenig bejchränkt, die Ausdehnung feines
Reiches über feine Grenzen, und bie Unterwerfung aller mächtigen
Großen begonnen und mit rüdfichtslofer Härte durchzuführen ver⸗
ſucht. Diefes Unterfangen konnte jo lange auf Erfolge rechnen, ale
Otto in Deutfchland befchäftigt war. Sobald er hier zu Kräften
gelommen, hörte er gern die Klagen ver longobardiſchen Flüchtlinge
an, die feine Intervention forderten, und trat in Verbindung mit ber
localen Regierung zu Nom, die gegen Berengar’s Streben ftet8 ebenjo
antämpfte, wie fie früher gegen Hugo’s Herrjchaft ein mächtiges Hin⸗
diſtoriſche Zeitſchrift J. Banr. 10
146 Bilfelm Maurenbreiter,
terniß geweſen. 96 gewann Otto Zeit und Gelegenheit zu einem
Angriff auf Berengar's Reich, und hierbei feierte tann Bruno's diplo⸗
matiſche Gejchicdlichfeit ihren größten Triumph, ta es ihr gelang,
ten tiefgebeugten Ludolf anfzurichten, und durch freundliches Zureten
ihn in des Vaters Pläne bineinzuziehen'’). Mit ven Reiten feiner
alten Gerofjen und ven ſächſiſchen Truppen unterftügt, drang Ludolf
in Italien ein, das jich dieemal ihm bereitwillig unterwarf und ben
"„Tprannene Berengar vollſtändig verließ. Als Ludolf eben mit ber
Verwaltung des italienifchen Königreiches betraut war, raffte ihn ein
früher Tod hinweg und das führerleje deutſche Heer eilte, den italies
nifchen Boden zu verlaffen. 957 war Berengar wierer Herr det
Landes, aber auch jegt nicht gejicherter ala vorher. Diefelbe Wiver⸗
feßlichkeit ver Großen, unter venen Otto fortrauernd Parteigänger
zählte, und dieſelben Zwiftigfeiten mit Rom, wo man bie entfernte
Herrichaft eines Ausländers der jtetS gegenwärtigen eine® nationalen
Fürſten vorzog, danerten fort, und führten entlich den entſcheidenden
Schlag herbei. Der Hilferuf Barft Johann XII. und ver »Schmer⸗
zensſchrei⸗ Italiens traf Otto bereit, entlich mit der ganzen Wucht
feines Reiches ven treulofen Vaſallen zu jtrafen und Italien von
Berengars Unthaten zu „befreien“. Nachdem mit ter größten Vor⸗
fiht und Umficht alle Verhältniſſe des deutſchen Staates und ber
beutichen Kirche georpnet waren, unternahm Dtto im Frühjahr 961
mit einem ftattlihen Heer ven zweiten italienijchen Feldzug. Wie
ſchon früher ter Gewalt deutſcher Waffen kaum jemals in Stalien
ein erfolgreiher Widerjtand geleitet werten war: fo wurte auch die
fesinal tie Eroberung des Landes in kurzer Zeit vollendet, der Zug
nah Rem in UÜebereinftimmmmg mit tem piäpftlichen Hofe ausge⸗
führt und Otto am 2. Februar 952 mit ver römifchen Kaiferfrone
gefhmüdt. So war das Ziel feiner Politif, fo war nach langer
Mühſal ver glänzende Lohn feines Strebens erreicht; Otto, "ber
heilige Kaijer«"), ftand an der Spitze des chriftlichen Europa.
Alles, was Otto jet unternahm, war nur der Ausbau der kai⸗
ferlichen Macht, die Erhaltung une Vefeftigung des Gemonnenen, bie
Confeguenz der bisherigen Politi. Wenn cr fi tem griechifchen
Kaiſerthum ebenbürtig bünfte nnd ihm gegenüber die Hoeheit des
Abendlandes behaupten wellte, fo ınußte er nicht nur die Anerken⸗
Die Kaiferpolitit Otto. J. 147
nung feiner Würde in Konftantinopel erftreben, fondern auch, um das
abenpländifche eich zu ergänzen, nach dem Erwerb ver unteritalienis
ſchen Gebiete des öſtlichen Kaiſerthums trachten.
Wenn er fih als Herrn der Chriftenheit fühlte und feine Stel-
lung über ven Nationen zur Sinigung des chrijtlichen Europas er»
beben wellte, fo mußte er tem Islam gegenüber die Vertretung des
Chriſtenthums übernehmen und fich mit den Arabern anseinanberfeßen.
Beun er endlich als höchſte von Gott eingeſetzte irdifhe Macht auf
Erden throuen wollte: durfte er weder die Sittenlofigkeit und will
türliche Beſetzung des römiſchen Stuhles dulden, noch die Heiden⸗
miffion außer Acht laſſen. In ver That, von feiner Macht bing
das über „ven Knaben auf Petri Stuhl« rvichtende Concil ab; von
ihm empfing vie Kirche Europa’s ihren Oberbirten, von ihn endlich
erbaten fich die Ruſſen ihre Prediger. Als Regent der heiligen Kirche
und des europäifchen Staates ordnete Otto Alles, Weltliches und
Geiſtliches, Croberung und Miſſion, Aeußeres und inneres. nAlles,
was Gottes Wille ift, weiß, unternimmt, liebt unfer Kaiſer. Kirche
md Staat ſchützt er mit feinen Waffen, verherrlicht er durch feinen
Charakter, beffert er durch feine Gefeken.
Was jo einen hochfliegenden, gewandten und energifchen Geift
tretz aller äußern Feinde und gegen ten Wiverftand feiner eigenen
Nation durchzufegen gelungen war, wird Das ver Nachfolger oter
werden es die jpätern Regenten zu behaupten und gegen äußere und
innere Gegner zu vertheivigen im Stande fein?
Die Gefchichte des deutſchen Volles Hat auf diefe Frage eine,
wie ich meine, unzweifelhafte Antwort gegeben, und jene ottonifche
Politik zu Den verunglüdten Verfuchen eines ivealen, aber ver Natur
der Dinge nicht entjprechenden Ehrgeizes geſtellt.
Das Syitem konnte in Europa nur fo lange und in fo weit
feine Geltung behaupten, als es mit fchwachen, umneinigen ober bil
bungslofen Nationen zu tun hatte. Jede Spur von innerem Ges
deihen und fortjchreitender Bildung bei einem der unterivorfenen Völ⸗
fer war eine Gefahr für das Kaiſerthum. Por Allem aber fand
Deutfchland felbft Feine Befriedigung in den idealen Gebilden feiner
Herrſcher. Vorübergehend konnte wohl ein Erfolg verfelben im Lande
das Echo des Beifalls erweden, und dem rohen Stolze einer mäch-
10*
148 Wilhelm Maurenbrecher,
tigen Volkskraft konnten momentane Triumphe ſchmeicheln — aber
immer zeigt ſich in ber Tiefe doch eine Strömung, die ſich ſol⸗
chem Streben ver höchſten Herren entgegen ſtemmt, und dem ivealen
Flug über Europa hin heinmend in ben Weg tritt. Noch unter ber
fächfifchen Dynaftie werten vie Folgen des Widerſtandes fühlbar.
Wenn fchon in ves großen Otto legten Lebensjahren bei feinem lan-
gen Aufenthalte in Italien fich vie Mipjtimmung ver füchfifchen Großen
regte; fo mußte Otto II. erft 6 Jahre lang gegen bie Factionen im
Innern, fowie gegen die rebelliichen Nachbarn in Frankreich, dem Nor⸗
den und Oſten kämpfen, ebe er das Kaiferreich feines Vaters berzu-
ftellen vermochte. Als er dann mit energifcher Conſequenz trog ber
Warnungen feiner alten Rathgeber feinen Angriff auf Unteritalien
eröffnete, trat der Mangel an ausreichender beutfcher Unterftügung
von Anfang an, und bei’ jevem Schritte immer fühlbarer zu Tage.
Nach dem furchtbaren Schlage, welchen endlich die Araber feinem
Heere verfegten, gährte e8 überall im weiten Reiche; überall erlitt
deutſche Herrfchaft und Gelonifation den gefährlichften Rückſchlag;
der Wucht dieſes Unglüdes erlag Otto's Kraft. Während der Min»
verjährigfeit Dtto IL. geſchah nur Unzureichendes, die angeftrebte
Monarchie feftzuhalten; die localen Gewalten gewannen immer mehr
Boden, die Stavenkriege blieben immer ohne dauernden Erfolg, in
Frankreich fegten nach fo vielen mißlungenen Verjuchen die Capetinger
ihre Thronbefteigung durch, und machten dem beutfchen Einfluffe auf
ihren Staat für immer ein Ende. Als nun Otto felbft mit jugend»
lihem Enthufiasmus, ungezügelter Phantaſie, muftifch-ascetifcher Re⸗
ligiöfität jene ererbten Kaijerpläne aufgriff und den realen Boden ver-
lajfend, des großen Otto Kaiſertraum nachzuträumen begann, da ftellte
fih auch der Widerſtand, ven einft ver Ahnherr gefunden, vem Entel
mit erneuter Energie entgegen; die Symptome vefjelben nehmen ge
gen das Ende feiner Regierung in jo erftaunlicher Weiſe zu, daß
jelbft der moderne Bewunderer ver Kaijerpolitif ihre Bedeutung bier
nicht verfennen fann. Das Zild, das und Giefebrecht von dem Zus
ſtande Deutſchlands nach Otto's Tod entwirft, zeigt der Webelftände
fo viele, ftellt „ben unfihern Grund, auf welchem das Rai-
ferreih ruhte«, in ein fo klares Licht, daß man die Verderblich⸗
teit der ganzen Kaiferrichtung bier in einem Blide überfieht. Trot
150 Wilhelm Maurenbrecher,
Anmerkungen.
i) Zur Kritik Widukind's vergleiche Wattenbach „Deutſchlands Geſchichte⸗
Queſlen“ p. 168 ff. — Es wird noch nöthig fein, das Verhälmiß jener
Sefammtauffaffung zu den einzelnen Berichten genaner zu prüfen. Vor⸗
läufig möchte ich befonders darauf aufmerffam maden, daß Wid. mit
der Bezeichnung „imperator“ wohl eben jene Weltftellung meint. Denn
eine befondere Verleihung biefer Würde kennt er nicht; ſchon von Hein-
rich fagt der Nerbeude Konrad: vere rex crit et imperator multorum
populorum. Der Gebraud beider Worte wechſelt ab; nad ber Ungarn⸗
ſchlacht 933 wird H. ale imp. vom Heere begrüßt; Oito erbält biefen
Titel fchon vor ber Begrüßung während ber Schladht von 955, gleich⸗
zeitig mit jener Rebe, die fo Fräftig das Gefühl der ſachſiſchen Weltherr⸗
ſchaft auefpricht (III. cap. 46), von da an fiihrt er befländig (mit einer
Ausnahme) diefen Titel. Dan fieht beutlih, daß durch biefe Bezeich-
nung, die Heinrich gleihmäßig wie Otto beigelegt wirb, beide Fürfien
ale gleichftehend ericheinen, als Fortſetzer ber alten Kaifermadt. Sollte
durch diefe Geſchichtsauffaſſung, die wohl am ottoniichen Hofe maßgebend
war, jene benfwürdige Etelle über Heinrich's Romfahrt (1. 40) veran-
laßt fein? —
?) Gegen biefe Meinung vom Charalter des Ruotger wird fih kaum eim
gegrüubeter Einwand erheben lafien; fchon ein Blick auf bie äußere Ber-
theilung tes Stoffes zeigt feine Tendenz an. Was feine thatfädhlichen
Mittheilungen über ben Iubeolfinifchen Aufftand betrifft, fo geben une
biefe ein ziemlich Mares Bild ber Verhandlungen zwifchen ber Laiferlichen
Bartei und der Oppoſition. Bruno's Reben (cp. 18) laſſen cinen Blick
binter die Eoufiffen thun, den man bei einem Parteiginger Otto's kaum
erwarten follte. Eehr merkwürdig ift eine Etelle in cap. 17. Trop-
bem baß Dtto durchgehende fchon als imperator bezeichnet wirb, heißt
e6 hier, daß Niemanb unter den Empörern bie königliche Hoheit (regia
majestas) habe angreifen wollen, fondern Jeder habe Kampf gegen Hein-
ri vorgegeben, in Wahrheit aber, bemerlt R., gegen alle Treuen des
Kaiſers (imperator). Es flingt dies faft wie cine Aenßerung der Op⸗
pofition feleft, die uns bier wie au cap. 16 überliefert iſt. Es fcheint
auch nicht bloßer Zufall zu fein, daß die Bezeichnung ber königlichen
Würde bisweilen flatt des üblichen imperator eintritt, und zwar flete ba,
wo ein Gegenfaß beider Bezeichnungen zu vermuthen ift (vergl. capp. 11,
152 Wilhelm Maurenbrecher,
?) Widnkind II. 1 überliefert bie Formeln bei der Krönung. Wenn fie auch
nicht autbentifch fein follten, fo iſt doch Otto's Auffaffung feiner Würbe
hierdurch ficher geftellt.
*) Diefe Nachricht beruht, abgeſehen von fpätern unächten Zengniffen, auf
einer Mittheilung bei Baronius. Ob bie Grundlage berielben von Werth
fei, muß fo lange dabingeftellt bleiben, als bie Baronius zu Gebot ge-
ſtandenen ungebrudten römiſchen Duellen nicht belanmt find. Einſtweilen
darf die gewifjenhafte Forſchung nur die Möglichkeit jener Nachricht ber
baupten.
*) Diefen wichtigen und für die ganze Auffaffung ber ottonifhen Politik fe
entfcheibenden Umſtand haben alle Yorfcher, fo viel mir befaunt gewor-
den, überfehen. Man fpricht wohl von Verpflichtungen Berengars gegen
Otto — Maslou auch von einer clientela — aber für ben Lehens-
eid läßt fih kaum ein pofitivere® Zeugniß verlangen, ale es in ber
Stelle Wibufind’s 111. 11 vorliegt, bei Gelegenheit bes 952 zu Auge
burg geleiteten Eides: .‚ubi Bernharius manus filii sui Adalberti ma-
nibus suis implicans, licet olim Hugonem fugiens regi sub-
deretur, tamen renovata fide coram omni exercitu famulatui
regis se cum filio suo subjugarit. Ihre Belanntſchaft mit biefen Ber-
hältniffeu verräth auch Roswitha, in Otto's Neflerionen. (Bere 602 ff.)
10) In dieſes Jahr fee ich mit Köpke den bänifhen Zug Otto's: bie tref-
fenbe Beweisführung deſſelben ſiehe Jahrbücher I, 2. p. 104 ff.
11) Heinrich's merkwürdigen Zug nach Stalien in Verbindung mit feinem
Sieg über die Ungarn, überliefert Wibulind II, 36. Fraglich bleibt das.
Fahr dieſes Krieges. Zum Jahre 948 und 950 werben Niederlagen
der Ungarn berichtet (Annales Emmerami und Ann. Hildesheimensss).
Glaublich fcheint e8 mir nun, baß der italienische Zug in das Jahr 948
fällt, welche Bermuthung durch Contin. Regin. ad ann 951 beflärkt wird.
Hier heißt es ven Ludolf's italienifhem Etreifzug, berfelbe fei verunglüdt
wegen ber Umtriebe Heinrich's: .‚paternus enim Henricus dux de Ba-
varia per triennium legatos suos praemisit in Italiam. — „per
triennium“ if eine handſchriftliche Variante für „per Trientum“, bie
ih aufzunehmen fein Bebenfen trage.
') Bergl. Contin Regin. ad ann. 951 und Roswitha. — Das, was Erfterer
mittheilt, wirb durch die Lage der Dinge ſowohl ale durch bie ſpätern Ereig-
nifje als relativ befte Ueberfieferung beglaubigt. Im ber bezlglichen
Stelle nahm ih die Lesarten zu.Hülfe, die ber Wiener Cober (bei
Die Kaiferpolitik Otto 1. 1853
Berk N. 7) bietet und bie von guter Außerficher Autorität unterftütst,
das ganze Verhältniß ſcharf und nachdrücklich bezeichnen.
„Quod ita (sc. Ottonis in Italiam) filius ejus Liutolfus cum Ala-
mennisanticipans, patremque, siquid ibi ad ingressum suum fortiter
ageretur, placare desiderans, nihil tale quod speraverat peregit, se
potius inconsultum patri ostendens totius in so bellionis et discordiae
seminarium sumpsit ‘.
Eine inbireete BeRätigung ber oben gegebenen Motivirung gibt uns
bie höſiſche Darfteflung ber Roswitha mit ihren offiziellen Berichtigungen.
13) Auch Hier tritt bie Differenz zwiſchen Widulind, Cont. Regin. und Ro6-
witha hervor. Der thatiächlihe Borgang it Mar. Alle perfönlichen
Motive, die man ben Häuptern der Oppofltion umterzufegen pflegt, tre-
ten bier auf und mögen Bier verglichen werben. — Sebenfalle find ſolche
nur don nutergeorbnetem Werthe.
1) In diefem Lichte erſcheint die Ermahnung zur Milde bei Roswitha, bie
ansbrädlich verfihert: eine Abſetzung VBerengar’s würde gleidy auf feine
Tyrannei erfolgt fein, wenn Otto nicht verhindert geweien wäre. —
Bergl. and) Mason.
35) Ruotger überliefert uns Cap. 15—21 eine Reihe von Einzelnheiten, aus
denen bie Gründe ber Oppofition, bie Reben ihrer Wortführer fich zu-
fammenftellen faffen. Bergl. auch Wibulind III. 13—40.
Widukind IN. 15 und Ruotger 16 ftellen das Urtheil über Erzbifchof
Friebrih Gott anheim Contin. Regin. urtheilt in feiner Weife Har
und beflimmt: „er war ein waderer und höchſt rühmenswerther Mann,
wenn er nur darin nicht zu tabeln gewefen wäre, daß er fobalb fih nur
ein Feind bes Königs erhob, fogleich ſich ale zweiten zu dieſem gefellte”.
3%) Ueber Thietmar 11, 15 und Contin. Regin. ad a 954 ift viel geftritten,
die ganze Gefchichte von Bruno's Untreue zulegt von Gieſebrecht als „als
bern“ verworfen worden. Dennoch glaube ich eben fowohl an ber Zu⸗
fammengebörigfeit beider Nachrichten als an einem zu Grunde liegenden
Schwanken Bruno's feftyaften zu müſſen. Aus Rather's Andeutungen
fheint hervorzugehen, daß man fid) etwas vorzuwerfen hatte (opera ed.
Ballerini p. 251), aud was Folkuin mittheilt, flimmt dazu. Die Bor«
gänge in Lothringen waren dann etwa folgende.
&s gab dort eine ftarke nationale Partei unter Graf Ragenar und
daneben einige wenige Anhänger Konrab’s. 953 tritt nun gegen Konrab,
der als Fremder von ben ächten Lothringern gehajt war, ala königlicher
Gtelivertreter Erzbiſchof Bruno auf und fucht fih zwiſchen ben Parteien
154
ı
19)
Wilhelm Maurenbreiier,
feſtzuſezen. Die Einfegung Hather’s verletzt die ganze Partei Magenar's.
Diefen Augenblid ergreift Konrad zu Berfucen, fi bei jeber Bartel
Verbindungen zu eröffwen: hierhin gebören feine Unterhandlungen mit
Bruno, der Eube 953 — we Dtto’s Eade fa Aberall verloren war —
barauf einzugehen wagt. Rah kurzem Schwanken rafft fi aber Bruns
zu energifchen Handeln auf. Seinen Parteigänger Nather preisgebeub,
fnüpft er eine enge Berbindung mit Ragenar an, und fo wird Konrab
vollſtändig vertrieben. — Der Lobrebner Brune’s barf natürlich wichte
von fokhen Dingen wiflen; feine ansbrädiihen Berfigerungen ber ber
ſtändigen Trene Bruno’s find verbädtig; er hat auch won üblen Ge⸗
rädten gehört (vergl, Kap. 15): fein Schweigen über biefe Gedichte
beweiſt alfo Nichte.
Bidafind III 30. Flodoard ad a. 954 und Contin. Regin. — Die
Meldung, daß Ludelf die Ungarn gerufen, nach Ruotger 19 und Thiet⸗
mar if wohl nur fpätere Barteiverfäumbung. Wie ficht es aber mit
Lubolf’6 Behauptung, daß dieſelben gey en ihn berbeigejogen feien?
Dies Brincip war ſchon ben Zeitgenoffen ler, vergl. Nnotger 20.
Die richtige Darftellung biefes Zuges gibt Cont. Regin. — über Bru-
no's Bermittinug vergl. Ruotger 36 — auch das Fragment ber Not
witha zeigt eime richtige Auffaflung.
20, „sanctus imperator“ Liutprand hist. Ottonis oap. 5.
VII.
Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur des Jahres 1860.
1. Weltgeſchichte. Allgemeines.
Dr. Unt. Gindely, Lehrbuch ber allgemeinen Geſchichte für
Eymnafien 1. Bd. Brag, Bellmann. 1860. 354 ©. 8.
Dr. Joh. Bnmüller, die Weltgeſchichte im Ueberblid für Gym⸗
mfien, Real» u. höhere Bürgerfchulen n. zum Selbftunterricht. Frei beach. Aus
3 aus des Berf. größerem Werke (In 3 Abtheilgn.) 1 Abtb.: Geſchichte ber
sen Belt gr. 8. (VI u. 210 6 m 2 Tab. in Imp.-Zol.) Freiburg im Br.,
Serter, 1860..
Th. B. Welter, Gymn.-Brof, Lehrbuch der Weltgeſchichte für
Gpmmafien u. höhere Bürgerihulen. 1 Thl.: Die alte Geſchichte. 19. verm. u.
verb. Hufl. gr. 8. (XVI u. 388 ©.) Münfter 1361, Coppenrath.
Dr. & Bernitfe, Oberlehr, die Geſchichte der Welt. 2. verm. u.
verb Aufl. 5. m. 6. Halbbd. Ler-8. Berlin, 1860, A. Tunter.
Inhalt: (3. Thl.) Die Gefchichte der Neuzeit. (1. Abth VIII u. 608 ©.)
Rudolf Dietfh, Lehrbuch der Geſchichte für die oberen Klaſſen
bez Oyımnafien und zum Eelbſiſtudium. Zweite vollſtändig neubearbeitete Auflage
Ehen Bandes erfie Abtheilung: Die Geſchichte bes Orients und Sriechenlande.
leipzig, Teubaex, 1860. VII, Bil ©. 8.
156 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
® Büp, Gymn.-Oberl., Grundriß zur Geographie und Ge-
ſchichte ber alten, mittleren und neueren Zeit für bie obern Clafſen der 58-
bern Lehranftalten. 1. Bb.: Das Altertum. 10. verb. Aufl. Coblenz, O4
beder, 1860. VIII, 382 ©. 8.
Dr. Johe. Miller, die allgemeine Weltgefchichte, dem beutfchen
Volke treu, wahr und Mar erzählt. 6. u. 7. Hft. Leipzig, Ruhl, 1860. gr. 16.
Inhalt: (10. Bd.) Die Gefchichte der neueften Zeit bis auf bie Gegenwart.
(1. Th S 161-320).
Rob. Springer, allgemeine Weltgeſchichte von ben älteften Bei
ten bis auf die Gegenwart. Für alle Stände. 24 u. 25 Lg gr. 8 (3. Bd
vn S n. 353—455 u. 4. ®b. S. 1-16) Berlin, Hafelberg, 1860.
Dr Heinrich Dittmar, Die Geſchichte der Welt vor nub
nad Chriſtus mit Rückſicht auf bie Entwidiung bes Lebens in Befigien
und Politik, Kunft, und Wiſſenſchaft, Handel und Induſtrie ber welthiftorifchen
Bölter. Für das allgemeine Bildungsbebürfuiß bargeflellt. In ſeche Bänden.
Neue verbeflerte und vermehrte Ausgabe. 1 bis 4. Liefg. Bd. 1. 641 6
Heidelberg, Karl Winter 1860. 8.
Dr. Karl v. Rotted, Hofrath Brof., allgemeine Weltgeſchichte f.
alle Etänbe von den früheften Zeiten bis zum SI. 1860. Mit Zugrundelegung
feines größeren Werkes bearb u. heransg. 7. Drig -Aufl. Sorgfältig burchgefehen
und bis auf bie neuefte Zeit fortgeführt von Dr. Wil Zimmermann. (Mm
30 Ffgn.) 1.—11. Lg. 8 Boe 480, 575, 480 ©. m 4 Etahlſtichen. Stutt-
gart, Rieger, 1860. gr. 16.
Karl v. Rotted’s allgemeine Geſchichte vom Anfang ber hiſtori⸗
ſchen Kenntniß bis auf unſere Tage 23 Aufl In 45 Liefgen. mit 24 Stahlſt.
1--20. fg. Bd. 1-7. Brannſchweig, Wefermann, 1860. 8.
CE Br. Beder's Weltgeſchichte. Achte, neubearbeitete, bis auf bie Ge⸗
genwart fortgeführte Ausgabe. Derautg. von Adolf Schmidt. Mit der Fort⸗
feung von Ednard Arnd. Bb. 1. u. 14. 504 u. 27% ©, Berlin, Dunder
nnb Humblot, 1860 8.
Dr Ger. Weber, Brof. u. Schulbir , allgemeine Weltgeſchichte
mit befonderer Berädfihtigung bes Geiftes- n. Eulturlebens ber Völler n. mit Be-
antung ber neueren geſchichtlichen Forſchungen für bie gebilbeten Stände bear.
8. 3b U. u d. T.: Geſchichte ber alerandrinifch-hellenifhen Belt nnb ber ri
miſchen Republik. 1. Hälfte. S. 1 — 400. Leipzig, Engelmann 1860. 8.
Augemeine Weligejchichte. 157
Es iſt in dieſer Zeitſchrift ſchon wiederholt aus Anlaß der Anzeige
ber früheren Bände die große Berbienftlichleit von Weber's Weltgeſchichte
hervorgehoben worden. Der Berf. entfaltet einen ungemeinen Fleiß und
großes Geſchick die Refultate der neueren Forſchungen zu popularijiren,,
. Und e8 ift dieſes Verdienſt um jo höher anzufchlagen, va viefelben oft
viel länger Zeit brauchen als man gemwöhnlid annimmt, bis fie in's
größere Publicum dringen. Die vorliegende erfte Hälfte des dritten Ban-
des behandelt die römijche Geichichte bis zum erften punifchen Krieg,
bie Geſchichte des Hellenismus dagegen führt fie großentheild weiter herab
bi8 zu den ben einzelnen Abjchnitten entſprechenden Endpunkten.
Daß gerade die die römijche Geſchichte der Älteren und älteften Zeit bes
handelnden Abjchnitte oft genug und aud nicht blos in controverjen
Punkten zum Widerſpruch herausfordern, wird niemand verwunbern.
Eine Unterfheivung 3. B. wie die S. 21 zwijchen Dii und Divi einer- '
feits, Dämonen anbererjeitd gemachte, wiberlegt fih nicht nur durch
tie Sache, fondern aud durch die anderweitige Darftellung des Verf.
ſelbſt. Es ift freilich in diefen Dingen noch fo Bieles nicht abfchließenn
feftgeftellt,, daß man einem Werte von ver Art des vorliegenden einzelne:
Irrthümer leicht zu Gute hält. In der zweiten Hälfte würbe Ref.
3. B. gleich gegen die Darftellung des Harpalifchen Proceſſes nicht bloß
ans einem Grunde Einſprache erheben müſſen. Uebrigens erjcheint
tiefer Theil des Werkes durchweg beſſer gelungen, wie denn die darin
gelöfte Aufgabe, fowie die Dinge gegenwärtig ftehen, in einem folchen
Werke ungleich danfbarer genannt werden muß. Im Allgemeinen wird
Weber's Weltgeſchichte auch in dieſem Banve ihren ehrenvollen Rang
unter ähnlichen Werten behaupten. A. P.
F. C. Schlosser, Allgemeene geschiedenis onder mededewer-
king van G. L. Kriegk uitgegeven. Uit het Hoogduitsch vertaald door
D. van Hinloopen Labberton en J. L. Terwen. X, 2. Xll, 2. Rot-
terdam, Petri, 1860. 8.
— — —, Werldhistoria. Nionde bandet. Stockholm, Hell-
sten, 1860. 8392 8. 8.
A. W. Engelon, Allgemeene geschiedenis der wereld. Be-
dee. Nieuwe geschiedenis. 3e druk. Groningen, Wolters, 1860. 6888. 8..
158 Ueberficht dee hiſtoriſchen Literaiur won 1860.
J. Moeller, Cours dldmentaire d’histoire universelle. 3
vols. Bruxelles, 1860. 242, 310, 260 8. 18.
Ed. W. d’Halluwin, Les deux yeux de l’histoire, ou Guide
chronologique et geographique de l’histoire universelle Moyen Age. Tome
2. Paris et Lyon, 1860. 623 8. 12.
Le Monde, Histoire de tons les peuples depuis les temps les plus
reculds jusgn’ & nos jours; par Saint-Prosper, de Sanrigny, Duponchel,
le baron Korff, Belloc et l’abbd Martin; revue et continude par C. de
Lostslot-Bachoue. Edition illustrie de 140 belles gravures. Paris 1860,
20 vols. 5323 p. 8
Joseph Haydn, A dictisnary of dates relating to all ages and na-
tions for universal reference; comprebending remarkable occurences, an-
cient and modern; the fundation, laws and government of countries etc,
particularly of the British empire. 9th edition revised and greatly enlar-
ged by Benjamin Vincent. London, Muxon, 1860. 740 8. 8.
Jobs. Scherr, allgemeine Geſchichte der Literatur. Ein Hau»
bud. 2. umgearb. u. erweiterte Aufl. Stuttgart, 1861, Brandt. VII m.
6836 8
5 U Körner, Prof, Lehrbuh der Handelegeſchichte. 2 thlgu.
Prag 1861, Erebner. 1. Abth. 160 ©. 8. (Ohne Werth.)
Beer, Ubolf Dr., Brofeffor. an ber Wiener Handelsalademie. Allg e⸗
meine Geſchichte bes Welthandels. Krfte Abtheilung. Wien, Bram
müller, 1860. X u. 277 S. 8.
Das lebhafte Intereſſe womit vie heutige Forſchung, fich der Er⸗
fenntniß auch der materiellen Öruntlagen des Lebens und ihrer Ent»
widelung zugewandt bat, ift ein jprechendes Zeugniß für den gejunden
Boden, auf welchem unjere biftoriihe Wiſſenſchaft fteht und wählt. Die
Geſchichte des Handels namentlih bildet ven Gegenftand vieljeitigfter
Ferihung; Werte wie Fallke's Geichichte des deutſchen Handels, wie bie
mufterhafte Monographie Hirſch's über Danzig, wie die Publikation von
Tafel uud Thomas über Venedig, fo Mandes auch was im Ausland
nach derſelben Richtung Hin geleiftet wird, haben dieſen Zweig der Er⸗
kenntniß in jüngfter Zeit um ein Bedeutendes erweitert und gefördert ;
für vie Kenntniß der deutſch⸗ nordiſchen Hanvelöverhältnifie ſtellt ti: von
Ulgemeine Weltgefchichte. 169
der hiſtoriſchen Commiffion unter Lappenberg's Leitung unternentmene
Sammlung der hanfentifchen Receſſe eine großartige Bereicherung in Aus⸗
fiht. Neben Forſchungen diefer Art darf auch das in feinem eriten Band
vorliegende Werk Beer's rühmend genannt werben. Der Berf. warb zur
Bearbeitung deſſelben zunächſt durch ein praktiſches Bedürfniß geführt
welches ſich ihm bei ſeinen handelsgeſchichtlichen Vorträgen an der Wiener
Handelsakademie ergab; nächſtdem aber wollte er zugleich ein „Leſebuch für
weitere Kreiſe geben, um auch dem größeren Publikum die Reſultate han⸗
delsgeſchichtlicher Studien in einem lesbaren Gewande zugänglich zu
machen.“ Bir haben bier natürlich nur den letzteren Geſichtspunkt ine
Ange zu fallen und glauben, daß ter Verf. venfelben ebenjo mit Hecht
ergriffen ald mit Süd und Geſchick vurchgeführt hat. Innerhalb ver
durch den Plan des Ganzen geftedten Grenzen erhalten wir in dieſem er-
fien Band eine lichtvolle Darftellung der beiden erften Epochen der Hans
belögeichichte, im Alterthum und im Mittelalter, nad ihren Hauptträgern
und verzäglichiten Mittelpunften; der Verf. zeigt an allen Stellen eine
ſehr eingehende Kenntniß der einichlagenven Literatur bis zu den jüngften
Beröffentlihungen, und indem er vor jevem einzelnen Abjchnitt die äl⸗
teren und neueren ihn betreffenden Hauptwerfe und Quellenſammlungen
aufführt, erleichtert ex dem minder Erfahrenen ven Weg zu eingehenverer
Belehrung. Der gegenwärtige Band fchließt mit ver Darftellung ber
Berhältuifie, welhe im 15. Jahrhundert zuerft die Macht der großen
deutſchen Hanſa untergruben — die Einleitung zu dem großen Umfchwung
des Welthandels im 16. Jahrhundert. Wir fehes mit Vergnügen ver
Fortfetzung bes Werted entgegen. B. E
Die gefhihtlihe Entwidelnng der National-Delonomil
und ihrer Literatur. Bon Dr. Julius Kautz, Profeſſor am Polytechnikum
in Ofen. Bien, 1860. 9. u. d. T. Tpeorie und Geſchichte der National»
Oetonomit. 2. Theil.
Der Berfafler hat fi) die Aufgabe geftellt, vie natienalsölonomifchen
Anfihten, Ideen und Theorien in ihrer geichichtlichen und literarifchen
Entwidlung von der äfteften Zeit bis auf die Gegenwart zu ſchildern.
Die gelieferte Arbeit documentirt im Allgemeinen jeine Befähigung zu
diefem allerdings fchwierigen Werke. Aehnliches ift ſchon früher, aber
nie im einem fo weiten Umfange verjucht worden, Obenan flanben auf
160 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
tem Gebiete ter allgemeinen Geſchichte ver politiſchen Delonomie län-
gere Zeit die Sranzejen, nur einzelne Partien wurden von deutſchen Volls⸗
wirthſchaftlehrern bearbeitet: fo von Roſcher, veflen Arbeiten freilich
geradezu epochemachend waren. Bortreifliche Gejichtspuntte für eine allgemeine
Geſchichte ver Vollswirthichaft giebt auch Karl Anies in feinem tüchtigen
Werte: Die politiiche Delonomie vom Standpunkte der geichichtlichen Me⸗
thode, Braunſchweig 1853, der auch augenicheinlih Hrn. Kautz die An«
regung zu feinem Werke gegeben; tiefer lehnt ſich wenigftens überall am
jenen an und ſucht die Winke und Andeutungen zu verwerthen und aus
zubeuten,. In der Einleitung behantelt Hr. 8. Weien und Aufgabe ver
Geſchichte und Nationalökonomit, Bedeutung und Zwed verfelben, ven
Zufanmenhang feciafer Theorien mit ter geſchichtlichen Entwidlung ver
Bölfer. Er ſchildert forann in einer Ueberfiht ven Entwidlungsgang ber
Nationalökonomik und vie Titerarifchen Hilfsmittel einer Geſchichte ver
Bollswirtbichaft. Das Wejentlichfte von dem bier VBorgetragenen findet
man bei Knies und bei Mohl: Geſchichte und Literatur der Staatswifien-
haften Bd. I und IM. Aber vie Zujammenftellung und Ausführung mandyer
Punkte, die in den genannten Werken nur angedeutet ſind, verdient alles Lob.
Das erfte Buch behandelt fodann die voltswirthichaftlichen Ideen und Anjichten
in Alterthum. Dieſe Partie ift wohl eine der ſchwächſten, was nur zum Theil
durch den Mangel an Vorarbeiten entjchuldigt werben kann. Genügenves
kann bier nur geleiftet werten, wenn man auf die Quellen zurüdgeht und
aus den Maffifchen Schriftftellern jelbft ein Bild des geſammten wirths
ſchaftlichen Lebens des Alterthums zu zeichnen verjucht. Dies hat Hr. R.
nicht gethan. Gr begnügt fich vie in hifterijchen und andern Schriften
niedergelegten Bemerkungen zu einen einheitlichen Ganzen zu verarbeiten. Die
Mangelhaftigleit der Quellenſtudien ift aber aud die Urſache vieler irriger
Bemerfungen, die aus anderen Büchern herübergenennnen worten find.
Der Bf. bejchränft fi) Übrigens nicht blos anf das klaſſiſche Alterthum, er
fucht auch den Orient in feine Darjtellung hineinzuziehen und vie trämmerar-
tigen Ueberlieferungen zur Schilderung der eigenartigen Entwidlung deſſelben
zu benützen, wobei e8 aber nicht zu billigen ift, wenn er neben andern
Ierthümern z. B. S. 9 die alten Iranier, Baltrer, Meder und Perſer
zufammenwirft, während eine Scheidung Noth thut. Der Abſchnitt über
die Sebräer ift wieder viel zu pürftig ; ter Verf. hätte hier tiefer eindringen und
feine Refultate beffer begründen müffen. In der Auseinanderſetzung des
Allgemeine Weltgeſchiche. 161
wirthichaftlichen Bolfslebens der Griehen und Römer vermijfen wir be-
ſenders die ſcharfe Scheidung der Zeiten und Stämme; dieſe find unter-
ſchiedlos zujammengeworfen. Das zweite Buch ©. 180 ff. behandelt die
volkswirthſchaftlichen Anfihten und Ideen des Mittelalters. Auch hier
wird eine Nachleje zu den folgenreichften Nejultaten führen; der Stoff ift
bier noch nicht gejichtet, das Material nicht vollftändig zu Lage geförvert,
indem die Hifteriter bisher dem materiellen Leben ver Völker viel zu wenig
Aufmerktjamkeit gejchenkt haben. Mau muß anerfennen: Hr. K. hat fich
bemüht mit einigen Zügen die mittelalterliche Wirthichaftsentwidlung zu
zeichnen. ur ift manche Partie viel zu dürftig und hätte jelbft nad
ten vorhandenen Hilfsjchriften viel tiefer erörtert werben fünnen, fo ©.
219 ff. was über Araber und Juden im Mittelalter gejagt wird, die in
ten materiellen Lebensfragen diefer Epoche eine große Rolle jpielen; auch
tie Volkswirthſchaft der Italiener iſt ftiefmütterlich behankelt.
In feinen Elemente befindet fi der Berf., wenn er im MI. Buche
auf die neue Zeit bis auf Adam Smith zu jprechen kommt. Ex theilt
dieje Epoche in vier Abjchnitte: 1) den Merkantilismus, 2) die frühefte
Reaction gegen ven Merkantilismus und die Anfänge der wiflenichaftlichen
Rationalöfenomit, 3) das Syſtem ver Phyfiofraten und 4) die unmittele
baren Vorgänger Adam Smith's in England, Deutichlaud und Italien.
Tie Bereutung des Merkantiljuftems, deſſen Schriftfteller ſich durch vie
Beſchränkung und Bejeitigung der Yeutaleinrichtungen und feudalen Zu-
ftänvde bereutende VBerdienfte erworben haben, wird gehörig gewürdigt, und
jelbft der genauefte Kenner der Nationalökonomik wird in diefer Partie
manches Rene finden, anderes wieder weiter ausgeführt, was bei Nojcher,
Knies u. A. nur angedeutet ift. Anerfennenswerth ift namentlich die Her⸗
beiſchaffung des bibliographiſchen Materials, welches man nirgends fo
reihhaltig findet. Im IV. Buche wird die Nationalölonomit ver
neueften Zeit fett Adam Smith einer genauen eingehenden Schilverung
unterzogen. Tiefer Abſchnitt nimmt vie Hälfte des Werkes ein, etwa
WO Seiten. Die Darjtelung der Smith'ſchen Ideen, die revolulionair
in der Wiſſenſchaft und im Peben gewirkt, wird gewiß befriedigen; mit
der Kritik des Smithianismus ©. 465 dürfte man weniger einverftanden
jein. Hier hätte Hr. 8. die Fingerzeige von Knies S. 188 ff. mehr bes
nügen und ausbeuten ſollen. Dafjelbe jcheint uns bei Ricardo und Mal⸗
thus der Ball zu fein. Anerkennung vervient der Abfchnitt „vie Nattonals
Piſtexiſche Zeitfärift V. Com, 11
162 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Oekonomik in Deutſchland von der Zeit Adam Smith's bis auf die
Gegenwart“, ſelbſt wenn man dem Urtheile des Verfaſſers nicht überall
beiſtimmen kann. Hr. K. ſucht überall das juste milieu zu vertreten, was
einer ſcharf zergliedernden Kritik Eintrag thut. Mit großer Vorliebe
iſt der Abſchnitt über Roſcher gearbeitet, der dem Kopfe und Herzen des
Verf., der in Roſcher ſeinen Lehrer und Meiſter anerkennt und feiert,
gleichmäßig zur Ehre gereicht. Wie allſeitig Hr. K. ſeinen Stoff behan⸗
delt zeigt der fünfte Abſchnitt, wo nicht nur die Bollswirthichaftstheorien
in Stalien, Holland, Belgien, Spanien, Portugal auseinindergejetst wer⸗
den, jondern auch den Nationalöfonomen in Polen, Rußland und Ungarn
Aufmerkſamkeit gejchentt wird. ©. 740-782 findet man überfichtlich bie
focialiftifchen Syſteme dargeſtellt; einige aber viel zu dürftig. — Die Dars
ftellung ift überall! ſchwungvoll, manchmal zum Nadjtheile des Werkes,
das bei einer nüchternern Behandlung gewonnen hätte, was man aber
entfchuldigen wird, wenn man berüdfichtigt, daß der gelehrte Berfafler
Ungar ift. Hierin finden audy die Mängel und Härten des Styls ihre
Erflärung. Wir vermiflen einen Index, der den Gebrauch des Buches im
jeder Hinficht erleichtert hätte, Dem wir Übrigens bie Anerkennung, welche
die fchwierige Arbeit gewiß verbient, von Herzen wünſchen. A. B.
K. Hildenbrand, Geſchichte u. Syſtem ber Nedts- m. Staate⸗
Bhilofophie. 1. Bd. Das klaſſiſche Alterthum. Leipzig, Engelmann. XX, 642
©. 8.
Dr. Ludw. Philippfon in Magdeburg, Ueber die Refultate im
ber Weltgeſchichte. 6 Vorlefungen. Leipzig, Baumgärtner, 1860. 1896. 8.
Alex. Alison, The philosophy and history of Civiliss-
tion. London 1859. 480 p. 8.
Clavel, les Races humaines et leur part dans la oivili-
sation. Paris, 1860. 435 p. 8.
Paul Eaffel, Brof. Lic. Th, Weltgeſchichtliche Vorträge. Erſte
Abtheilung. (Einleitung. — Das Ringervoll. — Die WMaflabler. — Ierufa-
lem und Rom. — Der Mibrafh und bes Geſetzee Ende. — Aliba und ber
Gternenfohn.) Berlin, Martin Berendt, 1860. 110 ©. B.
Friedrich v. Raumer, Hiforifg-politifhe Briefe Aber bie
Augemeine Weltgefchichte. 168
gefelligen Berhäftniffe der Menſchen. Leipzig, F. A. Brodhans,
1860. X, 460 © 8.
Albr. Kretſchmer und Dr. Karl Rohrbach, Die Trachten ber
Söller vom Beginn ber Gedichte bis zum 19. Jahrhundert. In circa 20
tif. 1. m. 2. Lief. 4 S. 1-24 m. 10 Chromolith. Leipzig, Bad, 1860.
98. Klemm, jan., Berindh einer Urgefhichte des Koſtüms mit
Beriehung auf das allgemeine Caulturleben ber älteften Böller der Erbe. Mit Ab»
bidungen nach Denkmälern ber Vorzeit (auf 6 Stein- u. 3 Holzfchutaf.) Dres-
den, Klemm, 1860. VII u. 136 8. 16.
8.Dor. Berlad, Sage und Forſchung. Ein Vortrag. Bafel, Bahn⸗
maier, 1860. 32 © 8.
9. Grätz, Geſchichte der Juden von dem älteften Zeiten bie auf bie
Gegenwart. Aus den Quellen neubearbeit. 5. Bd. A. u. d. T.: Geſchichte ber
Juden vom Abfchluß des Talmud (600) bis zum Aufblühen ber jüdifch - [pani-
ſchen Euftur (1027) Magbeburg 1860. X, 566 ©. 8.
v. Pawlikowébki, Ef. Ritter Cholemwa, hundert Bogen aus mehr als
fünfhunbert alten und neuen Büchern über bie Inden neben ben Chri—
Ren. Gin fiter.-hiftor. Beitrag zur Gefchichte der Juden feit Chriſtus. Zufammenge-
ſtellt und mit den nöthigen Negiftern verjehen. 1. Abth Freiburg im Br., Her-
der 1860. LIX, 926 ©. 8.
J. Bedarride, Les Juifs en France, en Italie et en Es”
pagne; recherches sur leur 6tat depuis leur dispersion jusqu’ & nos jours,
sous le rapport de Is légialation, de la littörature et du commerce. 2. éd.,
revue et corrigee. Paris, 1860. VIII, 616 p. 8.
KR. Schmidt, Die Geſchichte der Pädagogik in weltgeſchichtlicher
Entwidelung und im organifhen Zufammenhange mit bem Culturleben ber
Bälfer bargefiellt. 2. Bd. U. m. d. T: Die Geſchichte der Pädagogik in ber
Arinfigen Zeit. 1. Abth: Die Geſchichte der Pädagogik von Chriſtus bie zur
Reformation. Cöthen, Schettler, 1861. XII, 446 ©. 8.
2. Alte Gefchichte.
M. Dunder, Geſchichte des Altertgume. 5. u. 4. Bd. 2. Auflage.
Serlin 1860. Dunder und Sumblot. VII, 627; VII, 907 ©. 8.
11*
164 Ueberſicht der Hiftorifchen Literatur von 1860.
Bon beiden Bänden, welde vie griechifche Gefchichte behandeln, if
blos der erfte mit Benugung ter neueften Hülfsmitteln umgearbeitet wor»
den, ter zweite dagegen unverändert geblieben.
Dr. 9. Elemen in Lemgo, Handbuch der alten Geſchichte
Halle, 3. Fride. 1859. 328 ©. 8.
Audr. Deberih, Gumnafial-Oberl., Handbuch ber Geſchichte ber
Staaten des Altertbums f. Gymnafien. Leipzig, Fr Fleiſcher. IV, 282 6.8,
Bunsen, Egypt’s Place in Universal History; translated
from the German by C. Il. Cotterill. Vols IIl and IV. London, 1859 — 1860. 8.
Sm. Sharpe, The History of Egypt from the Earliest Times
till the Conquest by the Arabs, a. d 6410. 4. edit. 2 vols. London, 1860. 8.
9. Brugfh, Geographiſche Infhriften altägyptifger Denk
mäler gefammelt während der auf Befehl Sr. Majeftät bes Könige Friebdrich
Wilhelm IV. von Preußen unternommenen wiffenfchaftlihen Reife in Agyptem,
erläutert und herausg. 3. 2b. A. u d. T.: Die Geographie ber Aegypter nad
den Dentmälern ans ben Zeiten ber Ptolemäer und Römer nebft einem
Nachtrage zur GBeographie der alten Wegypter nach ben ägyptiichen Denk
mälern. Mit 17 Zafeln u. 1 Karte, nebft vollfänbigen Regiftern zu bem ga
zen Werle. Leipzig 1860, Hinrich's Berl. XII, 125 ©. 4.
Dr.Henri Brugsch, Histoire d’Eg ypte des les premiers temps de
son existence jusqu’& nos jours. Ouvrage accompagn6 de planches lith. et
d’un atlas, de vues pittoresques. (En 2 parties). 1. Partie: L’Egypte sous
les rois indigtnes. gr. 4. IX, 295 S mit 19 Steintafeln in gr. 4 qu. Fol
u. Imp. Fol) Leipsig 1859, Hinrich’s Verlag.
Aegypten ift das Pant, deſſen Räthjel zu löſen in ven legten Jahr⸗
hunderten wohl am meiften verfucht wurbe, Gleichwohl war der Erfolg
bis zur Entzifferung der Hieroglyphen nur ein geringer. Auch wer Bunfen’e
Werk vurdhgearbeitet, fchied von den Hypotheſen und Conftructionen der
Geſchichte mit dem Gefühle, daß von dem Buche mit fieben Siegeln noch
wenige gelöft feien. Aber die Schuld lag mehr am Berfafler, als an
dem Zuftande ver hieroglyphiſchen Forſchung. Noch nicht zwei Yahre
zehnde liegen zwiichen Bunſen's erften Bande und obgenannten Werke,
das und auf etwa treihundert Seiten die ägyptiſche Geſchichte von ven
älteften Zeiten bis 340 v. Chr, Har darlegt. Man erflaunt über
Alte Gefchichte, Aegypten. 165
die Fülle des Inhalts: denn nicht allein die ganze politifche Geſchichte,
unter ver die Darftellung ver 8. bis 11. Dynaſtie, und bie der Hykſos⸗
zeit chronologisch befonverd wichtig; Die der 12. vor berfelben, und ber
18. bis 20. Dynaſtie nad ihr mit ihren Ummälzungen und ruhmreichen
Herrſchern Sethos, Ramſes II. u. 111. beſonders anziehend und durch
Monumente anfhaulich gemacht find; ſondern auch eine an paſſenden
Stellen eingeflochtene Culturgefchichte, welche die religidfen Zuflände und
Beränderungen, die kunſt⸗ und felbft literärgefchichtliche Entwidlung Aegyp⸗
tens auseinander legt, findet auf dem engen Raume Plag. Freilich find
die einzelnen Ergebniſſe durch viele Vorarbeiten feitgeftellt gemwejen; ber
Berf. jelbft hatte in zahlreichen größern und Heinern Werten jehr viel dazu
beigetragen. Aber die Hare, durchſichtige ‘Darftellung, fortlaufend anf
monumentale Ueberlieferung geftüßt, deren Verhältniß zu der fchriftlichen
Tradition überall beleuchtet wird, ohne daß der Derf. mit Hhpothefen
Schwierigkeiten zu löſen fuchte, zu deren Entwirrung man noch Dent-
mäler erwarten muß, eine Darftellung, von deren Lectüre jeder Leſer ein
anſchauliches Bild der äußern und innern Entwidlung Aegyptens mit fort
nehmen wird, darin beruht das große Verdienſt des vorliegenden Werkes.
Eine ſolche Arbeit fehlte bis heute; vor der Räthſelhaftigkeit Aegyptens
war das große Publitum ftaunend ftehen geblieben; ein wirkliches In=
texefie für feine Gefchichte im weitern Kreiſe darf man feit diefem Buche
datiren. -cke.
A. Andtel, Cheope ber BPyramidenerbauer und fein Nachfolger.
Nochmalige gründliche und allfeitige Erörterung ber Bragen: was es mit dem
Einfalle der Hirten in Aegypten, dem Pyramidenbau, der Glaubwürdigkeit Ma-
netho’8 2c. für eine Bewandtniß habe. Leipzig, Dyk, 1861. X, 130 ©. 8.
Thornley Smith, The History ofMoses viewed in connection
with Egyptian Antiquities and the customs of the Times in which he li-
ve Edinburgh, 1800. 8300 p. 8.
Guf. Unrub, Der Zug ber Israecliten aus Egypten nad
Canaam Ein Beitrag zur biblifhen Länder- und Völlerkunde. Laugenſalza,
1860. VIL, 159 ©. 8.
Dr. Wilhelm Roßmann, Die madabäifde Erhebung.
Bortrag anf der Rofe zu Iena gehalten. 47 ©. 8. Leipzig, Beit & Com.
166 Ueberfiht der hiftorifchen Literatux von 1860.
Heine Ewald, Geſchichte des Volles Israel. 2. Ausg. 7. m.
fetter Bd. U. u. d. Titel: Gefhichte der Ausgänge des Bolles
Israel und des nahapoflolifchen Zeitalters. Mit ben Regiftern zu
allen 7 Bänden und ben Altertpümern. Göttingen, Dieterih. XXIV., 542 ©. 8.
Jahrbücher der bibliſchen Wiffenfhaft von Heinrih Ewalb,
Zehntes Jahrbuch 1859 — 1860. Göttingen, 1860. 374 ©. 8.
Vom allgemeinen hiſtoriſchen Standpunkte dürfte daraus hervorzu⸗
heben feyn: die Abhandlung ©. 29—45: über vie Wentung aller Ge-
ſchichte Israels in ihrer hohen Mitte. Im ter Ueberſicht ver 1859— 60
erichienenen Schriften zur biblifchen Wiſſenſchaft finden fi auch Bemer⸗
kungen über einige Schriften, vie das bibliihe Land und bie mit ber
biblischen ſich berührenve alte Geſchichte behandeln. S. 137 — 175.
Wilhelm Kellner, De Fragmentis Manethonianis, quae
apud Josephum contra Apionem ], 14 et I,26 sunt. Dissertatio inaugu-
ralis. Marburgi Cattorum. 1859. 63 8. 8.
Hegesippus, qui dicitur, sive Egesippus, de bello Judaico ope co-.
dicis Cassellani recognitus. Edid C F. Weber. Fasc. 4. Marburg, 1860
Elwert. p. 109 — 220. 8.
A. Müller, PhHarifäier und Saduzfäer oder IJudaiemns
und Mofaismus Kine hHifterifch » phifofophifche Unterſuchung als Beitrag
zur Neligionegefhichte Vorberafiens. In den Situngsber. ber kaiſerl. Atab.
ber Wiſſenſch. zu Wien. Phil. - Hiftor Claſſe Jahrg 1860. XXXIV. Bo
&. 95 — 165.
Derfelbe, Bier ſidoniſche Münzen aus ber röm. Kaiferzeit.
Eine numismatifch - phönizifhe Studie als Beitrag zur phöniz. Gefhichte. (Ans
ben Gitsungeber. 1860 db. f. Alab ber Wiſſenſch) Ler. 8. (206. m eins
gebr. Holzſchn) Wien, Gerold’s Sohn in Comm. geb.
The history of Herodotus: sa new english version, with
copious notes and appendices, illustrating tlıe history and geography
of Herodotus, from the most recent sources of information, and embodying
the chicf results obtained in the process of cuneiform and hieroglyphica!
discovery. By G. Rawlinson, assisted by H. Rawlinson, and J.G.
Wilkinson. Vol. IV, London, 1860. 570 8. 8.
Aue Geſchichte, Griechenland. 167
Carimann Flor, Dr. u. Brof., ethnographiſche Unterfuchung
iber bie Belasger. Klagenfurt, 1860. 133 ©. 8.
Dr ®. Boltmuth, Prof. der Philofophie zu Poſen, die Belasger als
Ermiten Gefchichtsphilofophifche Unterfuchungen. Schaffpaufen. Fr. Hurter’fche
uhhanblung. 1860. VIII. 324 ©. 8,
Ch. Lenormant, Les Grecs et les Scythes au Bosphore cimmerien.
Paris. Didot, 1860. 21 8. 4.
Kuror. Ilaragönyonovlos, Ictogıxai moayuareiaı. Athen, 1858.
rm, 370 3. 8.
GSriechiſche Mythologie und Antiquitäten nebft dem Kapitel
iter Somer und auserwählten Abfchnitten über bie Chronologie, Literatur,
Lauf, Mufit u f. w., überfeht aus G. Grote's Griechiſcher Geſchichte
ven Thor Fiſcher. 4. DD Leipzig, Teubner, 1860. 550 S. 8.
Eruſt Guhl und Wilhelm Koner, Das Leben der Grieden
zur Römer nad antilen Bilbwerfen bargeftell. 1. Hälfte: Griechen Mit
317 in den Tert gebrudten Holfhn Zeihnung und Schnitt von K Baum.
Berlin, 1860. 8.
Eine populäre Darftellung des Lebens der Griechen aus den mo-
sumentalen Quellen, welche vorzüglich geeignet ift, den Werth des Stu-
name ver claſſiſchen Kunſtdenkmäler für eine lebendige Geſammtanſchau⸗
ung des Alterthums in weiteren Kreijen geltend zu machen, und fid als
Ergänzung ver bekannten Weidmann'ſchen Handbücher befonvers für Schu-
in empfiehlt. Der erfte Theil der vorliegenden Hälfte, der ven
sibit die den Römern gewibmete zweite Hälfte nachfolgen wird,
ichildert vie baulichen Alterthümer ver Griechen in ihrem ganzen Uns
fange, ter zweite Theil umfaßt alle fonftigen äußeren Formen und Er»
iSeinungen des Lebens, Sitte und Tradıt, Handel und Wandel, Spiele,
defte, Opfer und Peichenbeftattung. Wie von der wiflenfchaftlichen Ge⸗
tiegenbeit der beiden Berf. nicht anders zu erwarten war, gründet fich
rad Game auf eine felbftftändige Durchforfhung des betreffenden Stof-
fes, wie fich tiejelbe namentlich in ver geſchickt und reich angelegten Holz⸗
Meittilluftration in fehr angenehmer Weife fühlbar macht. ‘Die Darftellung
bet im Allgemeinen unter ver Theilung der Arbeit nicht gelitten; nur
mödten wir dem erſten Abſchnitt hie und da eine größere Kürze und
Tricifion des Ausdrucks wünſchen. iz
1 Ueberficht ter Iierikhen Tirratur won 1860.
Jul Girard, Essai sur Thuceydide Paris, 1860 8. 352 ©.
Srifſich, Zur Iszrzfeeritit Des Berikles und Cleon.
Sun - Pref Driez, 189. 4
8. Breck, Tırer, Zur Beurteilung Tleens, bes Athenien⸗
fere, Symn - Frei. Tele, 1359. 3514
"NIer Adsti, rn uErpı Pikiazor apzeie igrogia 155
Maxztdovia;. Metrageasdtica, vıo Mapyagırov T. Aruiıca
Leirzig. 1860. Tenbnee XX, 317 p. 8
Dr O. Haupt, Tat leben und kzardminniide Wirken bes
Demeſtbenet, nı$ den Ouellen targefelt Mir dem lith., Bertrait des
Demeſtbenes. Fein, MRerzkad, 1851. X. 310 & 8.
Keine neuen Ergebniite eder Fortichritte in ter Forſchung, aber cine
fittlih warme und anidaulibe Taritellung.
K. Acwniov Aoyos dai ı75 devriga; avıov ngvrartia; €x veor
vos usıa eixororgageor Exdıdoueros. Adırıa, 1858 I IN, 556 p 8.
(Rede über Mleranter ben Großen ven 8. Aicpick.)
Alois Richter, Pelobins Leben, Bbilojophie, Staat
Lehre; letztere im Zujammenhange mit ben pelitiiden Theorien von Bla-
ton, Ariftoteles, Cicero und Zacitus, nebſt einer Einleimug über die Bedeutung
des Haffifhen Studiums im Allgemeinen und für die Theologie insbefondere.
Landehnt, 1860 Thomann. XVI, 427 ©. 8
Dr Thabdäus Lau, Tas Leben des Eyralufaners Dion.
Eine gekrönte Preieſchriſt. Prag, 1860. 119 ©. 8.
W. Trumann, Die Arbeiter und Communiften in Griedhen-
Ianb und Rom. Nah den Duecllen. Königsberg, Bornträger, 1860. VI,
3466 8.
Ter berühmte Berf. ter „Geſchichte Roms“ kietet uns bier in ver
anjpruchelofen Geftalt einer Stellenſammlung einen jehr dankenswerthen
Beitrag zur Kenntniß der national öfonemijchen Verhäftniffe des Alter-
thums. Der Titel erwedt von dem Reichthum des Zuhalts eine viel zu
beſcheidene Vorſtellung; die unmittelbar aus einer coloffalen Belejenbeit
gefloffene und mit feinen fachlichen Bemerkungen durchflochtene Darſtel⸗
lung unifaßt das ganze gewerkliche, künſtleriſche und merkantile Leben ter
Alte Geſchichte, Rom. 169
Alten, jeweit daſſelbe aus ‚den literarifchen Quellen zu erkennen ift. Bon
ver Denntung ver einjchlägigen gelehrten modernen Fiteratur hat fi der
Lerf. ver compilaterijhen Anlage ter Schrift gemäß gänzlich fern ges
belten. tz.
Dr L. Schmitz, A manual of ancient history, from the re-
melest times to the overthron of ths Western empire, A. D. 476. With
eopious chronological tables Vol. 2, Rome, Sicily, Carthage ctc.
London, Riringtons, 1859. 8.
B. C Niebuhr, The history of Rome: translated by J. Ch.
Hare and Connop Thirlwall New edit. 3 vols. London, Walton 1859-
2500 S 8.
Fr. Dor Gerlach, Prf. Dr., Dererum Romanorum pri-
mordiis. Balel, Ehweighäufer, 1860. 45 ©. 4.
G. L. Taylor, On the Stones of Etruria and Marbles of
Ancient Rome. London, 1859. 4.
Zum Römifhen Kalender Cine Entgegnung auf Th Momm-
ze a'e Angriffe von DO. E. Hartmann, Dr., Pıf. d. R zu Halle, Göttin⸗
sem, Ranbenheed Rupreht's Verlag 1860. 31 ©. 8.
Rommfen, Tb. Geſchichte des römifhen Münzweſens. Ber-
Im. Weidmann’ihe Buchhandlung. gr. 8. XXXI u. 900 ©.
Hobler, Francis, Formerly secretary of the Numismatic Society
of London, Records of Roman history from Cnaeus Pompeius
to Tiberius Constantinus, as exhibited on the Roman coins
eolleeted. 2 volumes. Westminster, 186). 4 XI. u. 862 8.
Ueber ein halbes Jahrhundert hat im Grunde Eckhel's doctrina num-
moram veierum in ver Numismatik geherriht. Nach ihm haben vor an-
vera Böckhh's meifterhafte metrologiſche Unterjuchungen auch auf dem Ge-
Ka ver alten Munzkunde neues Licht verbreitet, jo jedoch, daß fie bie
Münzen nur nad einer Seite betrachteten, als Werthmeſſer. Es ift dieß
cam Feld, welches vie eigentlichen Numismatiter und ausgejprochenermaßen
mh Echel mehr zur Seite hatten Liegen laflen. Bon Mommſen's
ſchen früher veröffentlichten einſchlagenden Abhandlungen und jett von
dem vorliegenden Buche wird nun aber eine neue dem Stanbpunct ber
170 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
heutigen biftorischen Wiſſenſchaft entſprechende Behandlung nicht bloß ber
römifchen Numismatik datieren. Der Unterſchied ſpringt grell genug in
bie Augen, wenn man die oben gleichfalls genannte in ihrer Art ver⸗
pienftliche, Übrigens an Wiffenfchaftlichkeit Hinter Eckhel's doctrina weit
zurückſtehende Schrift des Engländers Hobler, auf die bier aber nicht
näher eingegangen werben kann") betrachtet. ‘Die doctrina nummorum bat
ſich nunmehr, um Alles mit einem Wort zu fagen, durchweg in eine Ge⸗
ſchichte des Münzweſens zu verwandeln.
Es werden in Mommſen's Geſchichte des römiſchen Münzweſens einmal
bie metrologiſchen Unterſuchungen Böckh's in Hauptpunkten weſentlich be⸗
richtigt und zwar auf dem ganzen Gebiet der Metrologie, ſoweit ſie auf
die Münzen Bezug hat. Der erſte Abſchnitt behandelt die aſiatiſch⸗
griechifchen Münzſyſteme in einer Weiſe, daß nunmehr im Ganzen ihr
gegenjeitiges Verhältniß, ihre Gebiete und die Gefchichte der Veränderungen
Kar und plan vorliegen. Der zweite Abſchnitt weist die Einführung der⸗
felben in Sikelien und Großgriechenland nah und die Combinationen jener
Syſteme mit den Kupferlitren der Autochthonen, dann dieRebuctionen biefer,
die Verbreitung, Umbildungen, Anstaufchungen ber Münz-Syſteme. Es
folgt das älteſte latiniſche und etrusciihe Münzweien. Mit biefem
Abſchnitt geht ver Verfaffer zu feinem Hauptthema felbft über. In Etru-
rien folgt merkwürdig genug nicht nur die Goldprägung dem milefijchen
Fuß, jontern es ergibt ſich auch (j. Berichtigungen und Nachträge S. 860)
bie wichtige Thatſache, daß Etrurien nicht ausſchließlich auf attifchen Fuß
Silber gemünzt Hat, ſondern aud) auf denjenigen, den wir ven perfifchen
Eilberfuß genannt haben und der in ganz Kleinafien bie primitive Silber-
währung gewejen zu fein jcheint. Dagegen ift, während eine Einwirkung
ber etruscifchen Silberprägung auf vie römiſche allerdings anzunehmen
fein wird, Die etrusciſche Schwerkupferprägung nah M. jünger als vie
e) Nur folgende Worte aus der Borrebe mögen ale Beitrag zur Cha⸗
rakteriſtikl noch hier fliehen: My Cabinet was formed on the principale
ofem'oedying as nearly as possible, the principal events in the life
and reign of each of the Roman Emperors — that are to be found
on tho Larg Brass series of coins, but J. found the L.B. series at
times too rostrictive for historic purposes etc. und fo nahm er alfo
denn boch aud andere auf.
Alte Gefchichte, Rom. | 171
latiniſche. Bon dieſer vornemlich handelt nun eben der folgende Abfchnitt,
Iene früheren Auseinanverfegungen waren trot der relativen Selbitftändig-
keit der römiſchen Münzprägung nicht bloß dadurch nothwendig, daß aud
bie völlige Einfiht in fie erft durch die Erfenntniß jener möglich ift,
ſondern auch weil die Prägung in den von Rom factifch abhängigen aber
formell ganz oder auch theilweife felbftftändig gelaffenen italienischen Ge—
meinden („mit dem Namen von Paflivbürgergemeinven bezeichnete Münzen
haben wir lediglich) von Capua nebft Calatia und Atella“) zum Theil früheren
Prägungen folgt oder die römiſche mit früheren combinirt. Die Yeltftellung
des für Sitelien und Italien in ver älteren Zeit geltenden Werthverhült-
niſſes zwijchen Silber und Kupfer (1: 250) Half mit zu ber endlichen
richtigen Feſtſetzung der urjprünglichen Gleichung von Silber und Kupfer
auch in Rom, woran fi dann in meifterhafter Ausführung die weitere Ges
ſchichte des republicaniſchen Münzweſens und an dieje des katjerlichen reiht. Yu
den Kreis diefer Unterfuchungen find nun aber die geichichtlich wenigftens
eben jo wichtigen Fragen über die Münze als Verkehrsmittel, ihre Um⸗
lanföberingungen und ihr endliches Verſchwinden, ferner die wichtigen und
ſchwierigen Fragen über das Münzwejen als Theil des Staatorechts, fein
Verhältniß zur Autonomie und zu der Theilung der Staatsgewalt mit
bineingezogen worden. Sie erftreden fi nicht bloß auf die Prägung
jener italieniichen Gemeinden, bis venfelben nah und nach mit der for«
mellen Selbftftänpigfeit au das Münzrecht, allgemein vollends 665 f.
db. St. genommen wurde, fondern wir erhalten auch eine Ueberſicht über
biefelbe in ihrem Verlauf in allen Provinzen unter der Republik und
unter ven Kaijern, wo nun aud nicht autonomen Gemeinden Prägecon>
ceffionen ertheilt werden konnten, eine Ueberficht, wie fie hinwieverum eben
durch die grundlegenden Unterfuchungen über afiatifch>griehifche Munzſyſteme
erft möglich geworben ift.
Man fieht ſchon aus diejen wenigen Andeutungen, von welder Be-
beutung eine ſolche Numismatit für vie biftoriiche Wiſſenſchaft ift, für
die Geſchichte des Staatörechts, für bie politifche Gejchichte in ihrer erft von
unferer Zeit, ber biefe ragen freilich nahe genug liegen, erfannten engen
Zuſammengehörigkeit mit der Geſchichte der Volkswirthſchaft und bes
Rationalreihthums. Ich erwähne nur im Vorbeigehen vie Erklärung des
8.C., das in der Kaiſerzeit das unfehlbare charakteriftiiche Kennzeichen ver
Reichslupfermünze iſt. Das Kupfer war ja längft Creditmünze und «8
172 Ueberſicht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
fonnten dabei zu allen Zeiten auch große Summen in Kupfermünzen ges
zahlt werden. Merkwürdig genug war alfo bie Crebitmünze „unter bie
Controle der Publicität und des Staatsraths geftellt worden“ und ift
denn auch ter Verfall des römiſchen Munzweſens nicht von dieſer Credit⸗
Kupfermänze, ſondern vom Silbergeld ausgegangen. Ebenſo können bie
ſcharfen Pichter nım angedeutet werben, bie auch von biejer Seite ber auf
den Verfall der antiken Cultur im dritten Jahrhundert fallen, mit feinem
Silber, das (weniger der Denar als die Hauptfilbermünze biefer Zeit
ber argenteus Aurelianus oder Antonius) allmälig völlig zur Kupfermünze
herabſinkt, während ber Staat — in ver That ein Jahre langer Bankerott⸗
zuftand — die Entrichtung der Abgaben nur in Gold mehr geftattet.
Auch hier wird dann die Reftauration unter und feit Diocletian unter»
nommen, und hierauf burchgreifender unter Conftantin d. Gr. M. vers
folgt auch das byzantiniſche Munzweſen noch weit herab bis nach Juſtinian
und nicht ohne auch das vandaliſche, oftgothifche, fränkiſche u. |. w. zu
berüdjichtigen. Referent kann dabei nicht verweilen. Erwähnung muß
aber endlich noch finden außer ven für vie metrologiſchen Unterfuchungen
nöthigen Ueberfichten über Münzen anderer Syſteme mit ihrem Gewicht,
dem Aes grave, u. |. w. das PVerzeihniß ver römiſchen Kupfer⸗, Silber
und Goldmünzen von Einführung des Denars bi8 auf Cäfar mit einer
Fülle der werthvollſten Beiträge zur hiftorifchen Kunde dieſer Zeit. Für
die Chronologie des Münzweiens der Kaiferzeit konnte Mommſen noch auf
Edel verweijen, deſſen gerade in dieſem Abfchnitt vor allem mufterhaftes
Wert auch heute noch weentlich genügt. Beiträge von Werth zim Ver⸗
zeihnig des Münzwefens ver Kaiferzeit enthält auch Hobler's Arbeit, deſſen
Standpunkt freilich im Uebrigen nichts weniger als ber ber moternen hi⸗
ſtoriſchen Kritit if. Die fog. Familienmünzen hatte auch Echhel nach
gentes und familinse geordnet. Unterdeſſen haben vorzüglid Borgheſi's
und Cavedoni's Arbeiten für die Einführung tes hiſtoriſchen Princips auch
in tie Ordnung dieſer Münzen Bedeutendes geleiftet. Erſt bier aber
erhalten wir endlich das längft von jedem Numismatiker, für den bie
Numismatif mehr als Piebhaberei if, fowie von jevem, veffen Stubien fich
auf bie Zeit der Republik beziehen, erjehnte hiſtoriſch geordnete VBerzeichniß,
foweit es jett möglich ift.
Eine Anfangs verfuchte gevrängte Ueberſicht über die wichtigften Res
jultate von Monmſen's Forſchungen mußte unterbleiben, weil viefelbe,
Alte Geſchichte, Rom. 173
wenn fie auch nur einigermaßen allgemeiner verftänvlich gehalten werben
follte, bier bei weiten zu viel Raum in Anjpruch genommen hätte. Wenn
ein folches Wert zugleich felbftverftänplih dem Philologen wie dem Archäo⸗
logen, dem Mythologen und dem Antiquar in der vieljeitigften Weife Bes
lehrung, Anregung und Stoff bietet, fo follte an dieſem Orte zunächſt
wenigftend die Bebeutung für den Hiftorifer mit einigen Streichen
angedeutet werben. ‘Der Berf. fpricht felbft einmal in Betreff des von
ihm nur im Berlauf anderer umfafjenderer Unterfuhungen behandelten
Brovincialmünzwejens (bei deſſen Erwähnung bier noch gelegentlich bie
durchgängige BVerfchievenheit in Behandlung des Orients und Occidents
durch die Römer, fowie die Sonderitellung Aegyptens auch im Münz⸗
weſen berührt werben mag) die Hoffnung aus, daß feine Arbeit vielleicht
dieſen Forſchungen frifche Kräfte zuführen helfen werde; gewiß wird ein
ſolches Werk, indem es Ziele und Wege zeigt, andere zu ergänzenden
Forſchungen anregen, die natürlich theilweiſe auch berichtigend ſein werden.
Referent kann aber nicht ſchließen, ohne auch noch, nachdem er vor einem
Jahr erſt in diefer Zeitichrift über Mommſen's römische Chronologie be»
richtet bat, feine Bewunderung gegenüber ver Urbeitsfraft eines Mannes
ansgefprochen zu haben, die in ver That an die Zeiten eines Scaliger
erinnert. A, P.
P. J. Roeckerath, Foedera Romamorum et Carthagi-
niensium controverss critica ratione illustrantur. Dissertatio Historica.
Monasterii 1860. 74 ©. 8
Schneiderhan, Prf. Dr, Die Politik des Eajus Julius CA
far in feinem erſten Conſulate nad ben Duellen dargeſtellt. Rottweil (Tits
Bingen, Fues), 1859. IV, 81 © 4.
A. v. Bdler, Caͤſars gallifher Krieg i. 3 51 v. Chr. Nah
des Hirtins bell. gall. lib. VIIL bearbeitet nebft Erläuterungen über das rö⸗
miſche Kriegsweſen zu Cäſars Zeit. Mit 1 Karte und 1 Plane. Heidelberg,
I. € 23. Mohr, 1860. VII, 80 ©. 8.
Fr A. v. Söler, Generalmajor, Cäſars gallifher Krieg in
bem 3. 52 v. Chr. Avaricum, Gergovia, Alefia. Nach Cäfars bell. gall.
lib. VII bearbeitet. Mit 3 lith. Tafeln in Fol. Carlsruhe, Braun, 1859. VII,
28 8.
174 Ueberfiht der Hiftorifchen Literatur von 1860.
H. Taine, Essai sur Tite Live. 2. edition. Paris, 1859.
VIII, 352 ©. 8.
A Arnolb, das Leben bes Horaz und fein philoſophiſcher, fitt-
fiher und bichterifcher Charakter. Halle, 1860. Pfeffer. XVI, 180 ©. 8.
Sievers, Dr. ©. 8, Zur Geſchichte des Nero unb bes
Galba. Hamburg, D. Meißner, 1860. 57 ©. gr. 4.
€. Böller, De imperstoris M. Ulpii Nervao Trajani
vita. Particula prior. Gymn.⸗Progr. Elberfeld, 1859. 20 ©. 4.
No&l de Vergers, Essai sur Marc- Aurdlc, d’aprts lee⸗
monuments öpigraphiques , pröc&d6 d’une notice sur le comte Bart. Bor-
ghesi. Paris, 1860. XXXII, 188 S. 8.
Ferd. Walter, Geſchichte bes Römifhen Rechts bis anf
Jufinian. 2 Toeile. 3. fehr vermehrte Aufl. Bonn Weber, 1860. 8.
Corpus legum ab imperastoribus romanis ante Justinis-
num latarum, quae extra constitutionum codices supersunt. Accedunt res
ab imperatoribus gestae, quibus romani juris historia et imperii status il-
lustratur. Ex monumentis et scriptoribus graecis latinisque, ad temporis
rationem disposuit,, indicibus, qui codices quoque comprehendunt, consti-
tutionum, rerum, personarum, locorum instruxit Gst. Haenel. Fasc. II.
Leipzig, 1860 Hinrich's Vlg. 4. p. 275 — 282 nnd indices 287 p.
H. van Herwerden, Specilegium vaticanum continens no-
vas lectiones in historicorum graccorum excerpta, quas primus edidit An-
gullarius, prolstum e palimpsesto vaticano denuo excusso, additis commen-
tariis criticis cum in reliquorum tum in Diodori, etiam quae alibi ex-
stant,, eıcerpta. Leiden, 1860. XII, 232 ©, 8.
Aus philologiſchen Journalen und akademiſchen Ecqhriften.
Rheiniſches Muſeum für Philologie, herausg. von F. G. Wel⸗
der und F. Ritſchl. Neue Folge. 15. Jahrg. 4 Hefte. Frankf. a. M.
1860.
E. Kuhn, die griechiſche Komenverfaſſung ale Moment ber Entwiclung
des Stäbtewefens im Altertfum. S. 1— 88. — Theobor Mommfen, bie
zdmishen Eigennamen. ©. 169—210. — 2. Shmibt, bie Politil bes Des
Alte Gefchichte, Zeitfchriften. 175
meftbenes im ber Harpaliſchen Sache. S. 211-258. — A. v. Gutſchmied,
der zehnte Begenlänig im Bnch Daniel. S. 316—319. — A. Schäfer, zur
Geihichte von Karthago. ©. 391 — 400, mit einem Nachtrag 5. 488. — R.
Stein, Die vömifhen Meilenfleine in ben Rheingegenden. S. 489—507.
Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik, begrüntet
ven Jahn, hreg. von R. Dietfh und Alf. Fleckeiſen. Bd. 81 und 82,
12 Hefte. Leipzig, 1860.
9. Stein, Ueber die neueren Auſichten von ber Lyfurgifhen Lanbver-
theilang Bd. 81. ©. 599-607. — A. v. Gutſchmied, Ein Beitrag zu
bez Fragmenten der griechiſchen Hiftorifer. S. 703 — 708. Es handelt fid
zu gewifle Stellen der Kirchenväter Juſtinus, Tatianus, Klemens und Africa
„28. — W. Rein, Die neuere Literatur der römifchen Staats⸗ und Rechts⸗
altertbämer. 8. 709-728. — A. Schäfer, Zum Geburtsjahr des Demoſt⸗
henes. ©. 864.
BHilologns, Zeitfährift für das klaſſiſche Alterthum, bereg. v. Ernſt v.
Leutid. 16. Jahrg. 4 Hefte. Göttingen, 1860.
K Keil, Friecechiſche Inſchriften. S. 1- 89. — 8. Herbft, Jahresbe⸗
ruhe über Thukydides. S. 270— 351 — BP. W. Forchhammer, Ter Urs
fyrung der Mythen. S. 385 — 410. — Unter den einem jeden Heft beigege-
benen Witcellen finden fi Auszüge ans Echriften und Berichten ber gelchrten
GSeſel ſchaften fowie ans Zeitfchriften mit Rüdficht auf das Ausland.
Ia ben philologifhen und hiftorifhen Abhandlungen ber £
Alstemie der Wiffenfchaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1858, Berlin, Dümm⸗
er, 1859, findet fi eine Abhandlung von Parthey: Aegypten beim Geo-
geapden von Ravenna, S. 115—147, und von bemfelben: Zur Erdkunde des
alien Aegyptens, S. 509 — 638.
Uns dem Jahrgange 1859 (S. 1 — 92) war ſchon vor einem Jahre bie
Abhandlung von Lepfins über einige Berührungspunfte der ägyptiſchen, grie-
Sen und römifchen Chronologie befonders erſchienen. — Im eben biefem
Yehegange handelt Gerhard S. 41.9—483 über bie Metallipiegel ber Etrusker.
Monatsberichte der k. preuß. Afabemie ber Wiffenfchaften zu Berlin,
Derſin, 1860. 8.
Darin: Beder’s Barianten zum Joſephus, ©. 224—230. — E. Hüb-
ner, Eigraphiſche Reifeberichte, © 325-332 — Fortſetzung, ©. 4232 —450,
— Rommfen, Ueber in dem alten Falerii aufgefundene archaiſche Zuſchriſ⸗
176 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
ten. — Kiepert, Ueber die Schiffahrt ter Alten von Indien bis China,
©. 460-4162. — Kirhhoff, Ueber Infhriften von Cyzikos, S. 493 — 497.
Die beiden letzten Hefte liegen noch nicht vor.
Berichte über die Verhandlungen ber k. fähfiihen Geſellſchaft
der Wiffenfchaften zu Leipzig. Philologifch » Hiftorifche Claſſe. 11. Bd. Ihrg.
1859. Leipzig, Hirzel 8.
Burfian, Mittheilungen zur Topographie von Boiotien und Euboia
6. 109-152.
Sigungsberichte ber kaiſerlichen Alademie ber Wiffenfchaften. Phi⸗
loſophiſch · hiſtoriſche Claſſe. 33.35. Oh. Januar bie Juli 1860. Wien, in
Kommiſſion bei Karl Gerold's Sohn.
Bd. 35: Aſchbach, Ueber bie römifhen Mifitärftationen im Ufer- Ro
ricum, zwiſchen Lauriacum und Bindobona, nebft einer Unterfuhung Aber bie
Lage der norifshen Stadt Baviana, & 3-32. - Die Abhandlungen von Alois
Müller in Bd. 33 u. 35 f. oben S. 166.
3. Allgemeine Gefchichte des Mittelalters.
Bergmann, Fredderic-Guillaume, Prf. etc, Les Götes ou
la filiation gendalogique des Scythes aux Gödtes et des G»
tes aux Germain» et aux Scandinaves demonstree sur l’histoire
des migrations de ces peuples et sur la continuitd organique des pheno-
menes de leur état social, moral, intellectuel et religieux. Strasbourg unb
Paris, 1859. XV, 306 €. 8.
— — Les Scythes les ancttres des peuplos germani-
ques et slaves; leur dtat socaal, moral, intellectuel et religieux; es-
quisse ethno-gendalogique et historique. Deuxieme edition. Halle, 1860.
XVI, 80 S. 8.
Beide Schriften, von denen die zweite ſchon im Jahre 1858 er⸗
ſchien — die vorliegende Ausgabe iſt blos als eine neue Titelauflage
zu betrachten — enthalten die wunderlichſten Dinge über die Urwande⸗
rungen und Berwandtihaft der Völker. Die Sprachforſchung, auf bie
fih der Berf. hauptſächlich ftügt, ift nichts ale eine klägliche Wortſpie⸗
ferei, welche man bei dem gegenwärtigen Stand ver Wiflenjchaft unbe
greiflich finden muß.
Allgemeine Geſchichte des Mittelalters. 177
Bietersheim, Dr. Ed. v., Geſchichte der Bölkerwanderung.
2 Ed. Leipzig, T. O. Weigel, 1860. XI und 384 ©. 8.
Valentin Smith, Notions sur l'origine et le nom des Bor-
gondes et sur leur premier etablissement dans la Germanie. Lyon, 1860.
60 p. 8.
Jordanis seu Jornandis de rebus Geticis libr. cap. 1—3,
ed. Rect. Dr. C. Stahlberg. Hagen, 1859, Butz. 24 p. 4.
Jordanis de Getarum sive Gothorum origine et rebus
gestis. BRecognovit, adnotatione critica instruxit et cum varietate lec-
üenis edid. Carol Aug. Closs. 2 Hfte. (1 Hft. 64 8.) Stuttgart, 1861,
Fischbaber. 8,
Gu. L. Krafft, De fontibus Ulfilae Arianismi ex fragmentis
bsbiensibus erutis. Bonn, Marcus, 1860. 20 p. 4.
Peigne-Delacourt, Recherches sur le lieu de la bataille
d’Attila en 451, orndes d’une carte geographique et de planches chro-
molithographiques, representant: 1. les armes et ornements attribudes à
Theodoric, et qui font partie du cabinet d’antiquites de Sa Majesté l’em-
pereur. 2. les armes et ornements du roi Childeric, conserves au muséo
de Clany. Paris, 1860. 56 p. 4.
Dr. C. G. Klapper, Theodorici magni Ostrogothorum
regis, contra calumnistorum insimulationes defensio. Gymn.-Prgr. Aachen,
1358. 10 p. 4.
Ravennatis anonymi cosmographia et Guidonis Geo
grapbiae. Ex libris manuscriptis ediderunt M. Pinder et G. Parthey.
Accedit tabula. Berlin, 1860. Nicolai. 8. XXIII, 677 8.
Adf. Thierry, Recits de l’histoire romaine au oinquitme
sieele. Derniers temps de l’impire d’Occident. Paris, 1860. XXIII,
s2u p. 8.
Döllinger, Joh. Joſ. Ign. v., Chriſtenthum und Kirche in
der Zeit ber Gruandlegung. Regensburg, Manz, 1860. VIII, 480 8.
Erdr. Böhringer, Die Kirche Chrifi und ihre Zeugen.
1. BB. 1. Mhl.: Die Kirchengeſchichte der 3 erfieu Jahrhunderte in Biogra⸗
rien. 2. big wngearb. Aufl. 1.— 8. 2fg. Zürich, Meyer nnd Zeller'6 Verl.,
1661. 6168. 8.
Pipotiiqͥe Seitfärift V. Bam, 12
178 Ueberſicht ber hiſteriſchen Literatur nom 1860.
Ed. Reuss, Histoire de la th6ologie chretienne au
sieole apostolique. 2. edition, revue et augmentee, 2 vol SBtras
bourg, 1860. XVI, 1118 p. 8.
Milo Mohan, A Church History of theFirst ThroeCentu-
ries from the 30 th to the 323 th Year of the Christian Era. New-York,
1860. 428 p. 8.
U
W. D. Killen, The Ancient Church: its History, Doetrine,
Worship, and Constitution traced for the First Three Hundred Years.
London , 1859. 690 p. 8.
Henrion, Histoire ecclesiastique depuis la er6ation junge’
su pontificat de Pie IX; publiece par J. P. Migne Tome XVI. De
puis le concile general de Chalcddoine jusqu’au pontificat de saint Grd-
goire le Grand. Paris, 1860. VI, 770 p. 8.
8. Sraul, Die Hriflide Kirche au der Shwelle des Ire⸗
näiſchen BZeitalters. Als Grundlage zu einer kirchen- unb bogmenge-
ſchichtlichen Darſtellung des Lebens und Wirlene des heiligen Irenius. Leiy-
zig, 1860. Dörffling unb Franle. XV, 1686 8.
W. Bright, A history ofthe church from the Edict of ME
lan, a. d. 313, to the Council of Chalcedon. London, 1860. 440 p. 8.
Dr. Pif. A Hilgenfeld, Der Paſchaſtreit der alten Kirche ned
feiner Bedentung für bie Kirchengeichichte und für die Evangelienforſchung nr»
kundlich dargeſtellt Halle, C. E. W. Pfeffer, 1860. X, 410 ©.
Jakob Bernays, Ueber bie Chronik des Sulpicine Se—
verne. Ein Beitrag zur Geſchichte der klaſſiſchen und bibliſchen Studien.
Berlin, Hertz 1861. 73 ©. 4.
Der Berfafler gibt zunächft eine kritiſche, durchgreifend aufrän-
menbe und beſſernde Darftellung ver kirchengeichichtlichen Vorgänge,
weldye fi an die Keberei des Priscillianus knüpfen, er zeigt dann, welche
Stellung Severus dazu genommen, und wie dadurch fowohl die fiyli-
ſtiſche Form der Chronik wie die Auswahl und ſachliche Behandlung
ihres biblifchen Stoffes bedingt worden iſt. Indem ver Berfafler dieſes
Berhältnig mit ſcharfem Blide und feinem Geihmade im Einzelnen nach⸗
weilt, wirb ihm bie Chronik zu einem Lebensbilve ihres Autors, und
während fie über die von ihm behandelten Zeiten wenig Neues beibringt,
Uligemeine Geſchichte des Mittelalters. 179
ja einer intereffanten Quelle für vie Culture und die Tentenzen ihrer
Entftiehungszeit. Als erften charakteriftiihen Zug des Werkes bezeichnet
Bernays tie abjichtlihe Nachbildung des Eaffiichen hiſtoriſchen Style,
turch welchen ter bibliiche Stoff dem gebilteten Aquitaniſchen Publicum
ihmadhafter gemacht werten follte, als zweiten die Hervorhebung des
zän geſchichtlichen Beſtandtheils des alten Zejtaments, unter Zurückdrän—
gung des prophetiſchen Beſtandtheils, mit fehr fpärlihen Hindeutungen
triſcher md dogmatiſcher Art, und unter gänzlicher Ausichließung der
zenteftamentlichen Ereigniſſe — auch dies mit den Dinblide auf Leſer,
tie noch nicht gläubig waren, fondern es erſt werben follten. Neben ven
bibliſchen Büchern benutzte Severus bie und da profane Quellen; es ift
ebenio überrafhend wie nad unſerem Dafürhalten unwiderleglich, wie
Sernays aus ven betreffenden Notizen feines Autors eine Widerlegung
ver Joſephiſchen Darftellung der Zerftörung von Jeruſalem und zugleich
ein jenft verlorenes Bruchſtück der Hiftorien des Tacitus gewinnt. Con⸗
jecturen, Ergänzungen und Berbefferungen von ähnlicher Art, wenn auch
xicht ven gleicher fachlidyer Bedeutung, enthält vie Abhandlung in großer
Menge; fie zeigt überhaupt eine feltene Verbindung philologifcher Gelehr-
iamfeit mit äſthetiſchem und hiftoriichem Sinne, tie nichts mehr wünfchen
ft, als die Anwentung eines ſolchen Talentes auf einen großen ge⸗
ichichtlichen Gegenſtand. 8.
I. Bapt. Braun, Das kirchliche Vermögen von den älteſten
Zeiten bis auf Inſtinian I]. mit beſonderer Rüdſicht anf die Verwaltung
tefiefben gegenüber dem Etaate. Gießen, Berker, 1860. VII, 80 p. 8.
Ceillier Remy, Hintoiro g6endraleo des auteurs sacrds et
eecelesiastiques, qui contient leur vie, le catalogue, la critique, le
‚agement, la chronologie, lanalyse ct le denombrement des differentes
editions de leurs ouvrages, ce qu'ils renferment de plus interessant sur le
dıgme, sur la morale et sur la discipline de l’Eglise, l’histoire des con-
les tant generaux que particaliers, et les actes clıoisis des martyrs. Nou-
vells dditien, soigneusement revue, corrigee et complätee, et termindd par
uns table gendrale des matieres, par un dircceteur de grand sdminaire,
Tome V, eentenant les actes des martyrs au 4. siecle jusqu’ aux conciles
da 5. aitele inelusivement. Paris, 1860. VII, 676 ©. 8.
Thoodoreti Cyrensis episcopi opera ommia post recen-
12*
180 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
sionem Jaobi Sirmondi edidit graece, e codicibus locupletavit, antiquiores
editiones adhibuit , versionem latinam recognovit, lectionum varietatem,
amplissimos indices adjecit I]. L. Schulze. Accurante et denuo recog-
noscente ]. P. Migne. T. V. Paris, 1860. 642 8. 8.
Sozomeni ecclesiasticn historia. Edidit Rb. Hussey. 8 vols.
London, 1860. 1280 p. 8.
Monumenta sacra inedita. Nova Collectio. Vol. II. X. m. b. T.
Fragmenta ÖOrigenianae octateuchi editionis Cum fragmentis evangelicorum
graecis palimpsestis. Ex codice Leidensi folioque Petropolitano quarti vel
quinti, Guelferbytano codice quinti, Sangallensi octari fere aaeculi eruit
atque edidit Aenoth F. Cst. Tischendorf. Leipzig, Hinrich’'s Ver-
lag, 1860. XL, 300 p. 4.
Chronicon paschale, a mundo condito ad Heraclei imp. Ann. XX.
Opus hactenus fastorum siculorum nomine laudatum, deinde chronicae tem-
porum epitomes, ac denique chronici Alexandrini lemmate vulgatum oto Ac-
cedunt Georgii Pisidae opera quae reperiri potuerunt omnia. Accurante
J. P, Migne. Tomus unicus. Paris, 1860. 896 p. 8.
Xpovızoy avrrouor dx ÖLapopwr xpovorgaywr 1a zal dEryutey evl-
ieyiv xal ouyrediy vno Tewpyiov Auapıwlo®v Movayov. — Georgi
Monachi, dicti Hamartoli, Chronica ab orbe condito ad annum post Chr.
n. 842 et a diversis scriptoribus usque ad annum 1143 continuata nune
primum ad fidem codicis Musquensis, adjecta passim varietate seliquorum
codicum nec non Leonis grammatici ot Cedreni et annotatis locis s. scrip-
turae, patrum ecclesiasticorum et ceterorum scriptorum laudatis annisque
et post Chr. in margine adscriptis. Edidit E, de Muralto. Petropoli, 1859.
LII, 1016 p. 4.
C. Haas, Gedichte der Päpſte nah ben Ergebniffen ber neuefen
Sorfhungen verfaßt. Tübingen, Laupp, 1860. XV, 743 ©. 8.
Th. Greenwood, Cathedra Petri. A political History of the
great latin patriarchate. Vol. Ill. Books 6, 7 and 8, from the middle
of the ninth to tho close of the tenth century. London, 1860. 600 p. 8.
P. Lanfrey, Histoire politique des papes. Paris, 1860.
436 ©. K.
Bullarum diplomatum et privilegiorum sanotorum ro-
Ngemeise Geſchichte bes Mittelaftere. 181
manorum pontificum Taurinensis editio locupletior facta col-
lectione novissima plarium brevium, epistolarum, directorum actorumgue
5. sedis a S. Leone magno usque ad praesens curs et studio collegii ad-
lecti Romae virorum S. theologise et 88. Canonum peritorum quam D. N.
Pius Pape IX. apostolica benedictione erexit auspicante eminentissimo ac
rererendissimo domino 8. R. E. cardinali Franzisco Gaude. Tom. V. ab
Eugenio IV. (anno 1431) ad Leonem (anno 1521) Augustae Taurinorum,
1860. VIII, 821 p. 4. T. VI. ab Hadriano VI. (anno 1522) ad Pau-
lum IV. (anno 1559). Ibid. VIII, 614 p. 4.
Hagenbach, Prof. Dr. 8.8, Borlefungen über bie Kirden-
Geſchichte des Mitttelaltere. (In 2 Thln.) 1 Thl. Bon Gregore
des Großen Tob bis auf Immocenz Il. X. u. db. T.: Die chriſtliche Kirche
vom 7. bis zum 12. Sahrhunbert. Leipzig, Hirzel, 1860. XI. u. 334 ©.
gr. 8.
Hefele, Dr. Karl Soſ, Eonciliengefhihte Nah den Quellen
bearbeitet. Freiburg i. Br. Herber 1860. 4. Bb. VIII. 864 ©. 8.
Diefer neue Band der Conciliengeihichte umfaßt den Zeitraum von
dem Tode Karl's des Gr. bis zum 9. 1073, in welchem Gregor VII.
den päpftlihen Stuhl beftieg, etwa zwei Drittel beffelben aber fallen als
lein auf das 9. Jahrhundert, während das zchnte eine ganz beſonders
ſchwache Ausbeute gewährt. Den größten Raum nehmen unter den man⸗
nichfaltigen firchlichen Hänveln dieſer Zeit vie Lehrftreitigkeiten der grie⸗
hifchen und römiſchen Kicche ein. Den Standpunkt des Verfs. und bie
Anforderungen, die billiger Weife an fein Werk geftellt werben Fünnen,
haben wir fchon früher bei Gelegenheit des dritten Bandes erörtert (f.
Bd. I. 223 dieſer Zeitfchr.) und finden unfer damals gefälltes Urtheil
durch die vorliegende Fortſetzung in jeder Hinſicht beſtätigt. Es ift auch
hier rühmend anzuerkennen, daß die katholiſche Geſinnung, von der das
ganze Werk getragen wird, auf die Benutzung der Quellen und Hilfs,
mittel leinen maßgebenden Einfluß ausübt: der Verf. iſt nüchtern und
beſonnen genug, Damberger und GEfroͤrer, die er öfter ausdrücklich be⸗
kãmpft, auf den ſchlüpfrigen Boden ihrer leichtfertigen Geſchichtsmacherei
meiſt nicht zu folgen, die Schriften Neanders, Gieſebrechts u. a. prote⸗
ſtantiſcher Gelehrten werden dagegen von ihm nach Gebühr gewürdigt
und benutzt. Es fehlt auch nicht an ſelbſtſtändigen, kritiſchen Ausführuns
182 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
gen, die zu neuen und fruchtbaren Ergebniffen geführt haben ober ben
Ergebnifien früherer Forſcher zur Beftätigung dienen: fo find S. 253
mehrere Briefe des Papſtes Nikolaus richtiger angeordnet, als in Yafle’s
Hegeften, wie überhaupt ver Ehehandel Lothar's zu den am fleigigften
bearbeiteten Partien des Buches gehört; überzeugend iſt S. 517 ver
Nachmeis der Unechtheit eines von Richter evirten Attenftüdes vom 9.
878 geführt, ©. 793 entjcheivet fi der Verf. hinfihtlih der Synode
von Mantua im J. 1064 für die von ©iejebrecht gefundene Zeitbeftim-
mung amd ſucht dieſelbe noch weiter zu begründen, hyperkritiſch iſt da⸗
gegen S. 293 die Vermwerfung der Synode von Papia im 3. 866.
Bei der Schnelligleit, mit der dieſer Band unverkennbar ausgear⸗
beitet ift, laufen natürlich auch manche Ungenauigleiten mitunter und es
wäre gewagt, fih auf alle Einzelnheiten des Verfs. unberingt zu ver-
laſſen. So wird ©. 53 n. 2 Wala irrig Arjenius genannt, während
fein Bruder Adalhard diefen Beinamen führte, S. 262 läßt er Johann
von Ravenna und Hagano auf der römiſchen Synode von 863 verur⸗
theilt werben, wiewohl dies ohne Zweifel fchon vorher geichehen war;
was S. 264 über Hiltuins Eindringen in bie Peterskirche erzählt wird,
widerfpricht 3. Th. geradezu dem Berichte Hinkmars, auf den Hr. Hefele
fih ftägt; ©. 555 läßt er Arnulf von Baiern mit den Ungarn einen
Einfall in Deutfchland machen, von dem vie Quellen nichts wiſſen,
S. 633 wird im Widerfprucdhe mit Giefebrecht, auf dem doch fonft hier
die Darſtellung des Berfs. beruht, Biſchof Megingaud von Eichſtädt irr⸗
thümlich zu einem Begänftiger ver Gründung des Bisthums Bamberg
gemacht. Rothad von Seiffens heit bei Hefele ſtets Rothadius, wäh.
rend ihn bie Zeitgenoffen nie anders als Rothadus nennen, für ten Bei-
namen malus, der ben Könige Hugo von Italien beigelegt wird (S. 572),
ift dem Ref. kein Quellenzeugniß belannt. Die Benennung Heinrich ber
Finkler (S. 638 n. 2) follte billiger Weije in keinem wiffenfchaftlichen
Werte mehr vorkommen. Der Fleiß des Verfs. im Zuſammentragen des
Moterinles ſowie in der Benukung ber neueren Silfsmittel verdient alle
Anerkennung und wird ihm in dieſer Hinficht nicht wiel des Wefentlichen
entgangen fein. Zumal für vie im Ganzen noch fo wenig bearbeitete
karolingiſche Periode ift feine Zufammenftellung recht danfenswerth. Ueber-
gangen find in diejer Zeit alle auf ven h. Method und auf vie flavifche
Liturgie bezäglihen Verhandlungen, namentlicd eine bairiihe Synode,
Mägemeine GefGicte des Mittelcftere. . 183
wehefigeintich im 3 871, über welche die pannonifche Legende Auskunft
gibt, ferwer eine zweite bairiſche Synode im J. 900, deren Schreiben
an Papft Yohann IX. fi erhalten hat, ſowie das Rationalconcil vor
Salona unter Johann X., deſſen Alten wir durch Farlati kennen. Für
das Concil von Tribur im I. 895 hätten (S. 531) die Mittheilungen
von Waſſerſchleben (Beitr. zur Geſch. der vorgratian. Kirchenrechtsquellen
©. 167) benutzt werben müflen, bei der Synode von Dingolfing im
3. 932 bat der Berf. überfehen, daß bie Alten verjelben ſchon vor Witt
mann im Archive für ältere deutſche Geſchichtskunde, VII, 826 erſchienen
fab (5. 566). Das Schreiben des Photins an den Erzbiſchof von
Aquileja ift, wie Yarlati (Illyricum sacrum III, 78— 79) wahrjceinlich
gemacht hat, an Walber gerichtet (5. 468 n 3). Für die Kritik Liud⸗
prauds, dieſes beliebten Stihblattes aller katholiſchen Hiftorifer (S. 539),
bat der Berf. die trefflihe Abhandlung Köple's überſehen. Trotz vieler
Mängel im Einzelnen wird man das Werl des Hrn. Hefele, fo wenig
es eine umfaſſende Kirchengeichichte zu erjetgen vermag, immerhin als ein
nügliches Nachſchlagebuch auch in dieſem neuen Bande betrachten dürfen,
D.
Gfrörer, U.%., Papſt Gregorius VII und fein Zeitalter. 5.
Sb. 2. Hälfte and 6. Bd Echaffhauſen, Hurter, 1860. 5. ®b. XL, 545 bis
939 unb 6. Bb. XXX, 887 ©. 8.
Reuter, Hermann, Gefhihte Aleranders des Dritten
nub ber Kirche feiner Zeit. Erſter Band. Zweite völlig nen ausgear-
beitete Ausgabe. Leipzig 1860. XVI. 588 &, Zweiter Band. Ebd. XIV.
6936. 8.
Der Berf. hat in diefen Bänden die große biographifche Arbeit, vie
ee vor 15 Yahren mit ver erften Ausgabe des erſten Bandes begann,
durchaus von Neuem anfgenommen und weiter geführt, bis jet bis zu
den Tode Thomas Becket's. Er jagt Bo. I. p. IV. „Zu meinem Be⸗
dauern Habe ich als theologiicher Kicchenhiftorifer das Gefühl der Ver⸗
einſamung auf biefem Gebiete gehabt. — Während die Dogmengeſchichte
durch die emfigften Studien fort und fort angebaut wird, erſcheint die
politifche Partie ver Kirchengefhichte in bedenklicher Weiſe ſeit ven legten
15 Jahren von theologifchen Talenten vernachläßigt. Es ift ein beichä-
mendes Gefühl, das mich ergreift, indem ich erkläre, vie politiichen Hiſto⸗
184 Ueberſicht ber hiſteriſchen Fiteratur von 1860.
rifer Gaben in viejer Zeit — abgeſehen von tem, was für bie Erfor⸗
fhung ter erften chriſtlichen Jahrhunderte geiheben it — mehr für die
Kirdyengeihichte geleiftet als tie Theologen. Oder jellte dieſelbe vom
und etwa in die Grenzen eingejchleilen werten, die Neander innegehalten?
— dis hieße nichts Anderes, als tie Vetrachtung der großartigen welt
hiftoriichen Bewegung rer Kirche jener mititrebenten Genoflenichaft ber
politischen Hifterifer überlaften, venen wir doch die Ueberzenugung lichten
müffen, tag vie togmatiihe Bildung allein vie rechten Kriterien an bie
Hand gibt, an tenen die kirchenbiſtoriſchen Facta richtig zu ſchätzen find“.
Wir müſſen befennen, daß ver Verf. mit grofartiger Energie die Auf-
gabe, vie ihm vorſchwebte, zu löſen verjudt bat. Er tringt von Anfang
an mitten in das Getriebe ter pelitiihen Berbandlungen ein, in denen
vie Kirche nah allen Seiten jih tamals zu behaupten hatte. Bieten
namentlich tie neneren engliichen Publicationen für jene Periode ein über»
aus vellftäntiges Material vertrauter und officieller Correſpondenz, fo if
er bemüht geweſen, tier in feiner ganzen Fülle bis in das änßerſte Des
tail zu verwertben. Die jedem Bante binzugefügten fritiichen Beweis⸗
führungen, voll von Scharfſinn und ter größten und prompteiten Belejen-
beit, zeigen allertings, ta an manden Ctellen am Ende nur eine Ver⸗
muthung das legte mühjame Nejultat bleibt, aber im Großen und San
zen ift nach der einen Zeite hin tie Darſtellung doch von einer außer-
ordentlihen Sicherheit und Cintringlichkeit. Uns wenigftens ift noch nie
der Ton der damaligen politiihen Verhantlungen fo lebendig vor Augen
getreien, wie in tiefer Erzählung. Bei ver ganzen Art ver damaligen
ſchriftlichen Mittheilung, ihrer Unficherheit nad) außen, ihrer inneren Mis
hung von Contemplation und Tiplomatie fucht ter Verf. doch den ein»
zelnen Individuen pfychelegiih wo möglich bis an’8 Herz zu bringen.
Gewiß wird er ta manchmal fehlgegriffen haben, für vie engliich » fran-
zöfifchen Berhandlungen müſſen wir uns außer Stande beiennen, ihn im
Einzelnen zu controliren, aber gerade hier ijt ber Eintrud des Geſammt⸗
reſultats von einer überrafchenven und erjchütternden Unmittelbarteit.
Nicht ganz fo bei ver Tarftellung der Verhandlungen mit dem Kai⸗
fr. Tas Material ift lange nicht fo reich, dann aber hat der Berf.
bier offenbar doch von vornherein das Verhältniß der widhtigften Perſön⸗
lichkeiten verſchoben: daß er bie oft befprochenen Briefe über das beutjche
Patriarchat nochmals als ächt Hinftellt, dafür dürfen wir, wie Ref. weiß,
Wäpenteine Gefihichte des Wittelalters. 185
fine Beweisfährung noch erwarten, aber gerade bei dieſer Anficht fällt
es auf, daß er troß Ficker's Debuctionen die volle Initiative der kaiſer⸗
lichen Bolitit ganz allein oder faft ganz allein Friedrich zutheilt. Wir
mäflen geftehen, daß uns bier feine halbe Polemik gegen Ficker durchaus
nicht überzeugt hat. Iſt denn Friedrich's auffallenne Haltung Eberhard
von Salzburg gegenüber nicht ebenfall8 Beweis dafür, daß er dem rös
mihen Stuhl gegenüber keineswegs fo entſchieden war, wie ber große
Kiiniihe Staatsmann? Die fecundäire Stellung dieſes letteren ift für
ms mit das Auffallenpfte in der ganzen Darftellung gewejen. Hält man
die Sachlage feft, wie wir fie von Ficker richtig hervorgehoben glauben,
fo zeigt fi Damals eben überall das Uebergewicht der kirchlichen Bil
tung und ihre verwegene Kühnheit auf allen Seiten des großen Parteis
Impfes. Diejer ftaatsmänniiche Trieb auf die weltlichen Geſchäfte wird
aber freilich erft dann vollftändig verftändlich, wenn man außer ven di⸗
Nomatifchen Berhandlungen die adminiſtrative Richtung der Kirche in's
Ange faßt.
Wir wiffen nicht, wie weit der Berf. die inneren Verhältniſſe und
- Bewegungen ber Kirche nach dieſer Seite hin noch in's Auge zu fallen
gedenkt. An einer Stelle ift uns allerdings vie Nichtbeachtung berjelben
ſchr bemerklich geweſen, im 5. Kap. des 3. Buches, wo er von bem
Machtgebiet des ſchismatiſchen Papſtes und dabei auch von der dentichen
Kirche handelt. Daß es fich bei der Stellung bed norddeutſchen Epijlo:
pats mejentlid um die Ausfichten handelt, die Norbert vemjelben einſt
eröffnet und die feine Anhänger in größerer over geringerer Eutſchieden⸗
heit feftzubalten fuchten, davon findet fich hier feine Spur. Und doch,
bie ganze Bolitif Heinridy’8 des Löwen erhält erft ihr volles Licht, wenn
man diefe Prämenftratenfijche Richtung an der ſächſiſchen Gränze nicht
äberfieht.
An einer anderen Stelle hat Ref. im Allgemeinen feine Arnficht
über den Einfluß folder Bewegungen auf den damaligen Gang der Welt.
verhältniffe anzudeuten verſucht. Er muß fügen, daß auch vie Darſtel⸗
lung des Berf. im Großen und Ganzen ihn in feinen Wahrnehmungen
» 2. über die Stellung Frankreichs in 12. Jahrh. nur befeftigt bat.
Hier weiter darauf einzugehen, fehlt tem Nef. Zeit und Raum. In wie
weit ſolche Unterſuchungen ver Arbeit des Verf. entiprechen möchten, dar⸗
Äber zu urtheilen, müſſen wir erft vie Fortſetzung des Werkes erwarten,
186 Ueberſicht der hiſteriſchen Literatur won 2860.
zu welcher wir ihm mit ber wärmften Theilnahme Kraft und Friſche Daß
Geiſtes wünſchen. Nitzsch. .
I. 5 Damberger, Exproſeſſor, ſynchroniſtiſche Seſchichte ber
Kirche und ber Welt im Mittelalter. Kritifh aus ben Quellen bear
beitet mit Beihilfe einiger gelehrten Frennde. 15 Vd. (7. Zeitraums 5. Ab⸗
ſchniit) 1. Heft. Negeneburg, Puſtet, 1860. VI, 322 €. 8.
de Montalcmbert, LesMoinesd’Ocoident, depuis Baint Beuel
jusqu’ & Saint Bernard. Tomes I unb IL Paris, 1860. CCXlI, 885 pn
Montalembert, Graf v, die Mönche des Abenblaundes wow
hl. Benebitt bie zum bi Bernhard. Bom Berf. genehmigte beutiche Autg. ©.
P. Karl Brandes. 2 Bd. gr. 8. 616 ©. Regensburg, Man.
Petri Abaelardi opera. Hactenus seorsim edita nunc primum
in unum collegit, textum ad fidem librorum editorum scoriptorumque r®
censuit, notas, argumenta, indices adjecit Vit. Cousin, adjuvante C. Jour-
dain. Tomus Il. Paris, 1859. 334 &. 4.
Scholl, Earl, Bernhard der Heilige in Breiburg im
Breisgau. ine geichichtlihe Erinnerung. Carlsruhe, Ereuzbauer, 1860. 4
Recueil des historiens des oroisades, publi6 par les soims
de l’Acaddmie des inscriptions et belles lettres. — Historiens occidentaux
T. I. Paris, 1859. X\XVI, 828 ©. fol.
Im Anfang der vierziger Jahre vereinigten fi befunntlich einige |
franzöfiiche Gelehrte zu einer in ver That fehr wünſchenswerthen neuen
Ausgabe der Quellenſchriften der Kreuzzüge. Es erfchienen darauf unter
obigem Titel bis zum Jahre 1844 zwei Bände, welche als erfter Theil
des projectirten Werkes auf quergejpaltenen Seiten untereinander gebrudt
die jerujalemitiiche Gefchichte Wilhelm’ von Tyrus und feine altfranzd«
füihe Ueberfegung unter dem Titel: L’estoire de Eracles empereur et ia
conqueste de la terre d’outremer, c’est la translation de l’estoire de
Guillaume arcevesque de Sur. enthielten. An Bariantenverzeichniffen und
Regiftern fehlte es nicht, und ſomit kündigte fi bie Edition als eime
höchſt breite und ftattlihe Unternehmung an; ja man burjte fogar zwei⸗
feln, ob der Drud jener umfangreichen Weberjegung den bamit verbun⸗
Aigemeine Geſchichie des Mittelalters. 187
een Aufwand jeder Art lohnen werte. Leider verzögerte fich die Fort⸗
ierena des Werkes jehr erheblih. Es erſchienen zwar noch 1851 und
1653 zwei Yünte „Lois“. unter demſelben allgemeinen Titel, von denen
fer erjte Assises de la haute cour, ter untere Assises de cour des bour-
geots enthielt: die Edition der „.historiens‘“ aber ſchritt erft im Jahre
1°59 mm einen neuen, ben oben angezeigten zweiten Theil, vor. Tiefer
Miet Die Fortſetzungen ver Gejchichte Wilheln’s von Tyrus Bis zum
Jahre 1261 nach umfaſſendſter Benutzung des hantichriftlihen Materials.
Sir tegräßten ihn mit großer Freude, da dieſe Yortjeßungen wichtiges
Keeriihed Material enthalten, was bei jener untern Hälfte des erften
Tbeiled kaum der Fall war. Auch tiefer Theil tritt mit ylänzendem
zieren Apparate auf, denn eine Beichreibung der behandelten Manu⸗
Kite Mebt an ter Spite; ungemein zahlreiche Lesarten und Noten bes
gesten ven Tert; eine chronologiſche Analyje Wilhelm’s von Tyrus und
feiner Fertſetzer, ein Gloſſarium und ein Regiſter folgen — dieſe leß«
ren Veigaben auf nahezu 200 Großfolioſeiten. Ob tie Tüchtigleit der
Arden dieſer äußeren Erſcheinung entjpricht, bedarf einer umfafjendern
Emeriuhung: zu nicht unerheblichen Zweifeln aber regt es an, wenn wir
u ter chrenologiſchen Analyſe p. 664 ven Aufbruch König Konrad's
ze zweiten Kreuzzuge und jeinen Marſch durd) Baier, Oeſterreich, Uns
zarn, Pannonien, Möſien, Dacien (N) nah Wil. Tyr. zu 1146 gejeßt
"uren, ehne daß tie richtige Jahreszahl (1147) vaneben geftellt it; over
zeau wir p. 665 zu 1148 vor der Verſammlung zu Alkkon und vor ber
Reigermg von Damask nad Wil. Tor. citirt finden: Baudouin III et
ke petriarche vont au devant de Louis VII. und dann: Louis VII. a Je-
rumiem. während wir (vgl. Jaffé's Geſchichte des dentſchen Reiches unter
Kerrad tem Tritten p. 137 ff.) wiſſen, daß Ludwig erft nach der Bes
byrung von Damask nach Jeruſalem gelommen ift; ober menn wir
geh rarauf laut Wil. Tyr. die „Reunion des troupes a Tiberiade“ auf
ven 25. Mai angefegt finven, während ſchon eine große Anzahl Kreuz:
mösgeichichten dieſes Ereigniß zur richtigen Zeit, im Juli 1148, gebracht
bet; oter wenn wir außer den angeführten Daten etwa 30 der hervor«
ragenteren Creignijje des zweiten Kreuzzuges in der Analyje aufgezählt er-
babe, welche mit Ausnahme ver wenigen, die Wil. Tyr. mit einer nä-
beren Zeitkezeihnung verjieht, eben mur zu ihrem Jahre hingedrudt find,
ebzleich die Mehrzahl berjelben aus ven Briefen der Kreuzesfürſten und
188 Uceberficht ber hiſtoriſchen Lueratur ven 1860.
ben übrigen ſichern Quellen bis anf den Tag Hätte feftgeftellt werben
können. Doc genug, wir müffen bie weitere Ergründung bes wirklichen
Werthes der vorliegenden Evition einer andern Hand überlaſſen. B. K.
A. Ingerslev, Peter Fra Amieons og det förste korstog.
Kjöbenhavn, Gyldendal, 1859. 24 p. 8.
Ä Hody, baron de, Godefroid de Bouillon et les rois latins
de Jerusalem. 2. edit. Tournai, 1859. 8.
Beiträge zur Geſchichte der Krenzzüge, aus armeniſchen Quellen
von H. Betermann. Aus den Abhandlungen ber Igl. Akademie ber Wiſſen-
ſchaften zu Berlin 1860. Gelefen in ver U. d. W. am 29. März umb 14.
Mai 1860. Berlin, 1860. 4.
Da die meiften armenifchen Gefchichtfchreiber bis jet unbenutzt umb
anbelannt geblieben waren, während fie für die Gefchichte ber Krenzzüge
troß der anderweitigen reichhaltigen Quellen manche Belehrung und Be
ridhtigung bieten, fo können wir dem Verf. Dank fagen, daß er, ohne
bie Beendigung der begonnenen weitjchichtigen Editionen abzuwarten, nad
dem vorliegenden Material eine überfichtlihe Darftellumg unternommen
hat. Er ftütt fich hiebei vornehmlich auf die Parifer Arbeiten des War-
dapet Schahnazarean und des Mr. Dulaurier, welde fchon im vergan-
genen Decennium veichlihe Früchte getragen haben und noch mehrere
hoffen laſſen. Die Hiftorifer, welche er, großentheild bisher nur wenigen
Fachmännern bekannt, feinem Vortrag zu Grunde legt, find folgende:
Johannes Sarlavag d. i. Dialonus, der im Yahr 1129 n. Er.
ſtarb. Bon feiner armeniſchen Geſchichte find bis jet nur einzelne Frag⸗
mente bekannt geworden. Matthäus Urhajeti, ver befannte Chronift ans
Edeſſa; fein Werk reiht von 952 — 1136/7 n. Chr. Sein Fortſetzer
Grigor fchreibt bis 1162/3. Nerfes Clajenfis (F 1173) und fein jüngerer
Beitgenoffe Samuel Jerétz. Michael d. Große, der jacobitifche Patriarch
von Antiochien mit feinem Fortſetzer, dem Warbapet Barden. Johannes
Banalan (+ 1251), deſſen Chronik verloren ift, mit feinen Schülern,
dem Warbapet Kirakos und Wardan dem Großen (t} 1271). Sem⸗
bat Gundeſtabl (d. h. Connetable), der von 1208--1277 lebte. Sein
Wert ift bis 1331 fortgeſetzt. Wahram Urbajenfis over Sifenfis,
beffen Reimchronik bis 1280 reicht. Stephanos Orpeleom oder Orbe-
leom, ber eine Gefchichte von Großarmenien bis Ende des 13. Jahr⸗
1
Ulgemeine Geſchichte des Mittelalters. 189
mudert® ichrieb. Hethum's Buch über die Tataren. Nerſes Palienk
Kite nes 14. Jahrhunderts ꝛc.
Sir erhalten nun, wie diejes Verzeichniß erwarten läßt, imuntcherlet
Arflärung über ten Zujtand der armenifchen Landſchaften vor dein Bes
am der Kreuzzüge, über das Verhältniß der erften Krenzfahrer zu ben
Armeniern, über die erften Tecennien der chriftlihen Reiche in Syrien
ze tie Kataſtrophe von Edeſſa, nichts Nennenswerthes iiber den zwei⸗
wu Kreuzzug. Reichlicher fliegen die Quellen wieder in ber zweiten
Säfte res 12., im 13. Jahrhundert und über das Abjterben des la⸗
zurihen Einfluſſes in Syrien hinaus bis tief in's 14. Jahrhundert.
B. K.
Keil, ©. Dr., Geſchichte der Chalifen. Band 4 Etuttgart,
Beyieriike Buchhandlung, 1860. 8.
ir jahen im tritten Band, wie Bagdad, das Kom des Islam,
= tz Hänte ter Mongolen gefallen war. Die Vereinigung bes veligiö-
“a un? jtaatlichen Elements im Chalifate hatte jih zwar ſchon längſt
au ich jeibft gericht; damit war auch ter lehte Reſt ter Scheinherrſchaft,
am immer enger werdendes Territorialgebiet, verloren gegangen. Nun
ichen wir zimar das Chalifat in Aegypten wieder hergeftellt; aber in die—
im Erile chne LYandbefig und kaum zu etwas mehr, als um die Uſur⸗
sıtscn nach ihrem Willen zu legitinifiven. Die Scheineriftenz berech⸗
age den Verfaſſer, dieſen Band unter demjelben Titel ven übrigen ate
zihliegen. Toch über die Nebenjache des Ziteld gehen wir zum Inhalt,
icer reiten Keichhaltigfeit eine Kurze Ueberſicht am beften anjchaulid) ma⸗
den wirt.
Nach ter vergeblichen Reaction ver Ejjubitar gegen Aibek und Ku⸗
= ũchert ſich Beibars (S. 20) den Thron und bringt durch glüdliche
Rimrie gegen Chriſten, Mongolen, Aſſaſſinen, Kleinarınenier, in Nubien
ae Darla, Melta und Iemen Aegypten auf den Höhepunkt feiner Macht
zöbrend der Zeit der Bahritenjultane, zugleich für jeine Eritarfung im
Jerern durch kluge Beherrihung der Emire ſorgend. Seine beiden
Ssime S. 104) können ſich nicht lange halten. Tem Ehrgeiz ver Emire
wat erſt Kilawun (S. 113) mit Glück entgegen, der jeine Feinde ein-
in beſiegte, erft feine Gegner im Innern, dann die Mongolen, die ſüd⸗
bhen und Öftlihen Nachbarn Aegyptens, endlich die Chriſten, auch er
190 Ueberficht ber hiſteriſchen Literatur von 1860.
für das Wohl des Staates durch weile Mäßigung in Abgaben bebacht.
Seine Pieklingsiree, tie Franken ganz aus Syrien zu vertreiben, fübels
fin Sohn Galil (S. 174) zu Ende durch Eroberung von Alle und
Beirut. Cr fällt aber bald, ermordet in Folge der Unzufriedenheit feines
Emire. Seinen minorennen Bruder Naßir (S. 191) entiegen fie bay .
und nun felgen ſich raſch die Ujurpatoren Ketsbogha (S. 199) und Gwe |
fam eddin Yubjin (S. 204). Nach ihrem durch ihre Willtürlichleitem
beichleunigten Ende berufen die Emire wieder Kaßin (S. 221), Dee -
Mongolen hatten vie innere Spaltung zu einem glüdlihen Zuge bee
nutt, der erſt fpäter gerächt wurde. Naßir ift in der Regierung fo ber
ſchränkt, daß er 1309 eine Abdankung vorzicht. Beibars (S. 280) folgt
ihn, ver erjte Circajjier auf Aegyptens Thron, verliert aber bald wieber
die Herrihaft an Naßir, teilen jchledhter Charakter fih nun entwidel.
Die großartigfte Selbitjucht, vie jih in Argwohn und Rachſucht, im
Habgier und Verſchwendung oft genug zeigt, liegt allen feinen Maßre⸗
geln zu Grunde, vie freilich manchmal zum Beten des Landes ausſchla⸗
gen. Zum Glück waren die Feinde von Außen feleit fo ſchwach, daß
Aegypten wenigſtens nichts verler. Von feinen Söhnen (S. 412) hatte
feiner die Kraft, dem ausgejogenen Lande wieder aufzuhelfen, over ſich
gegen die immer mehr übergreijenve Softatesfa zu behaupten. Balb
feßten die Gewalt habenden Emire nur noch minderjährige Prinzen auf
den Thron. So reihen ſich bis 1382 in rajcher Folge 12 Regierungen
von Söhnen und Enkeln Naßir's an einander, während welcher bie Gefchichte
fi um vie Befehdungen ter Emire untereinander dreht. Da ergreift
einer derſelben, Berkuk, (5. 541) die Zügel ter Regierung. Zwar ver
lor er gegenüber einer andern Cmirspartei und in Folge eigener Rath⸗
loſigkeit over Feigheit 1389 dieſe wieder gegen den letzten Bahriten Hubji.
Aber im Jahre darauf machte er ſich von Korak aus eine neue Partei,
und mit ihr einen neuen Verſuch zur Eroberung ter Krone. Im Februar
1390 zog Berkuk in Kahira ein. Die Bahriten hatten nach beinahe an-
derthalbhundertjähriger Herrſchaft das Schickſal jo vieler Dynaſtien ges
theilt, die ihre Sicherheit in einer ſclaviſchen Soldateska zu finden meine
ten, ter fie aber zuerft, jich ihrer Treue zu verjichern, einfluftreiche Stel
In im Staate, bald bie Regierung, endlich ven Thron überlaſſen
mußten.
Schon biefe lurze Ueberſicht, bei ver die ganze Reihe der Befehdun⸗
lgemeine Geſchichte des Mittelalters. 191
gm ber Euire unter einander, fo vielfach fie auch auf vie Politik gegen
Sagen infinizen, unberädiihtigt bleiben mußte, gleichwie bie ‘Digreffionen
bed Berfaflerd, in denen er eben fo Mar als bündig die Verhältniffe Per
end andeinanderſetzt, die die Kriege beiver Länder hauptjächlich bebingen,
we auch ein näheres Eingehen auf die Zufanmenftellung ver biploma-
hen Bezüge, bei denen fo mandes intereflante Actenſtück zum erften-
male überfest wurde, unterbleiben mußte: dieſe Ueberficht wird ein Vild
bei zeichen Stoffes des Bandes gegeben haben, der gern manche Uneben-
keiten tes Stils überſehen läßt. Die gelöfte Aufgabe ericheint boppelt
Iuuienöwertb bei Betrachtung der vorhanden geweſenen Vorarbeiten und
be} Zuſtands ver zu benugenten Quellen. — An einer europäiſchen Ans
werunzen an Geichichtstarftellung entjprechenven Arbeit mangelte es
eimfih; denn Marcel's kurzer Abriß in dem Univers pittoresque ift
ſchen wegen feiner Kürze faum zu nennen und bei dieſer alles eher als
Iehlerirei. Makrizi, wie die Bergleihung der andern Quellen lehrt, ohne»
ba mit Berficht zu benugen, ift zwar von Ouatremere überjegt, ohne
aber ans feinem handſchriftlichen Material viel zur Kritik der Geſchichte
kegugeben. So war bieje, aljo ver Schwerpunkt aller hiſtoriſchen For⸗
hanz, lediglich Aufgabe des Verfaſſers. Die benütten Quellen find
Keils ven Zeitgenefjen gejchrieben, ein Umſtand, der oft der Kritik die
Sache eher erichwert, als erleichtert; denn wenn die Verfaſſer auch nicht
gerate fälihen wellen, fo übergeben fie doch oft für ihren Sultan un⸗
übliche Thatjachen und trüben fo ven Gang ver Geſchichte. An abe
ſihelichen Fälſchungen fehlt es übrigens auch nicht. Der Verfaſſer läßt
w ren Anmerkungen durch Zufammenftellung feines Materials an frag⸗
khen Punkten einen Blid thun in die Gewiſſenhaftigkeit, mit ver er fich
wiser Prüjung unterzogen, ımb man barf überzeugt fein, daß er unter
verjchiedenen Verſionen die den Übrigen Ereigniſſen angemeflenjte angenom-
men bat. Wo eine Entſcheidung noch nicht möglich war, ftellt er die ver-
jhiedenen Berfionen unter dem Terte zuſammen; vieles Licht hätte wahr.
iheiaſich die von der Wiener Bibliothek mit einer in wiflenfchaftlichen
Tuugen wicht genug zu tabelnden Illiberabilität verweigerte Hauptquelle
ve Ibn Fura in vielen Punkten gegeben.
Sell mau noch einige Wünjche ausſprechen, fo vermißt man ungern
ame gevrängte Darftellung des Hofitaats, der Finanzverwaltung und ähn-
Ber Dinge, auf die fo oft Bezug genommen werben mußte. Ihre aus⸗
1% Ueberſicht ber Hifterifchen Literatur von 1860.
führliche Tarftellung gebört freilich nicht in ein Buch, das bie äußere
Entwidlung des Staats zur Aufgabe bat; ta aber noch andere Arbeiten
darüber fehlen, ift das Verlangen kaum unbillig zu nennen. Schwerkich
möchte ter Paie mit ten überjepten Benennungen der Hofchargen sc. bei
richtigen Begriff verbinden, fo lange eine ſolche Cinleitung fehlt. Zuden
kann bei ter linvellftäntigfeit der edirten Quellen nur ver Kenner bee
nicht edirten, vor Allen alje wehl der Verf. dieſes Buches, das wöthige
Material zujammenftellen. Die vielen, gelegentliben Anführungen im
Quatremere's Mafrizi geben neh lange fein volljtäntiges Bild. Dei
Dceiventalen wäre wohl auch eine ausjührlihere Darlegung ber Ber
hältniffe zu ten Kreuzfabrern in Syrien erwünjcht geweien, ba er gerabe
aus orientaliſchen Quellen in vielen Punkten Klarheit zu gewinmen befft.
Tamit fei inter nicht gejagt, daß ein weientlicher Bunft übergaugen wäre.
Demnach haben wir in vorliegenden Bande ein gutes Gtüd Ges
ſchichte in neuer, Mritifdher Bearbeitung und türfen nur wünſchen, bag
ter noch fehlente Band über tie Herrſchaft ver Circaſſier, foweit es bie
unfaffenren Borarkeiten erlauben, bald vieje Abtheilung ber Chalifenges
ſchichte ſchließen möge. -che.
Dr. Ferd. Wilde, Cherpreb. , Geſchichte des Ordens der Te
pelherren. Nebſt Bericht über jeine Beziehungen zu ben Freimaurern umd
den neuern parifer Templern. 2. durchaus umgearb. und verb Ausg. (Fm
12 Liefgn.) 2 Bünde. Halle, Schwetſchke's Berl. 18650. 8.
Schwammel, Pıf. Ed. Joſ, Ueber bie angeblihe Mongolen⸗
Niederlage bei Olmütz. (In ber Nadit vom 24. anf ben 25. Juni 1241
Aus ten Eitungsberidten 1860 d. k. Alab. ter Wiſſenſch.) Lex. 8. 42 ©.
Wien, Cerold's Echn in Cemm.
Beneto-Byzantinifhe Analelten. Ten Tr. Karl HSepf, a. 8.
Brofeffor der Geſchichte an ber k. Univerſität zn Greifswalde Wien, 1860. 8.
Hatte tie Einnabme Vernjalemes durch die Kreuzfahrer dem abend»
läntijchen Fürften- und Ritterthum jattfame Gelegenheit geboten, auf un«
termorfenem Gebiete ſich, wenn and unſichere und gefährbete Baronien
und Herrſchaften zu grünten, ſo gab der Fall ven Byzanz im Lateiner-
zug dieſem mejentlichiten Antrieb ver heiligen Kriege, ver Raubgier und
Sroberungsinft, ein noch viel gelegeneres großes und ausgedehntes Reich
zum reis.
Allgemeine Geſchichte bes Mittelalters. 198
Tie Theilung des gräco-bizantinifchen Kaiſerthums, des “imperii Ro-
menise’ beichäftigte vie damaligen Kreuzfahrer ganz anders als die Noth
im Jerufalem und bie Drobbullen Roms, felbft eines Innocenz 111. Der
berühmte Theilungsvertrag iſt erft Durch die monumentale Arbeit des fel.
©. Tafel in den Dentichriften ver bifter. Claſſe der baier. Akademie d.
Bf. verftänplich gemacht worben, und liegt nım ned) correcter in dem
„Urkandenbuch ver Republik Venedig“ vor. Möchte darnach ein Kie-
"yet ein cartographiſches Bild entwerfen.
Die Mugen Benetianer nahen aus ver ftattlihen Bente nicht for
wehl die großen als tie vortheilhafteften Plätze. Sie behielten, was fie
m ihren Intereſſen als Handelsſtaat ausgejucht, auch jpäter, nachden bie
Ungekbidlichleit und Zwietradht ver occidentaliſchen Eindringlinge ven
Efigeren Palãologen die Wievereroberung des Reichs erleichtert hatte.
- Die Benetianer erkoren ſich, wie früher in Syrien, fo jett an ben
bielgewundenen Küjten und Buchten von Hellas dienliche Häfen und
Stappelplãtze. Zugleih war ihnen der griechiiche Archipelagus ftark in
ben Yngen.
Diele griechiiche Injelmelt diente namentlich ven Nobili zum Erwerb
Rattlicher und einträglicher Reſidenzen. Wurte tas wichtige Kandia durch
eine ganz merfwürbige Militärcolonie nady altrönifcher Art zu behaupten
gincht, ſo flochten die venetianiſchen Grundherren auf ven griechiichen
Iufeln ein weites und feſtes Net der Herrſchaft, unter ber Wegide und
za Dieniten der Mutterſtadt.
Die Gejchichte dieſer venetianiichen Theilfürften und Herren iſt nicht
bloß für die Republik felbit, jondern ebenſo jehr für die ganze Beziehung
des Occidents und Orients in ber zweiten Hälfte des Mittelalters von
weientlichem Belang.
Es ift aber eine ſolche erjt die Frucht (angwieriger und müheſeliger
Unterjuchungen in ardivaliihen Quellen, die erft vie jüngfte Zeit zu ver⸗
öffentlichen begonnen hat.
Hervorragende Berdienfte duch Beleuchtung dieſer Familiengeſchich⸗
in erwarb fich der edle Gavaliere Em. Ocogna, ver felbft eine aus»
gezeichnete Sammlung bandjchriftliher und anderer Werke beſitzt. Die
fpeciefle Bearbeitung jener Theilfürftenthiimer aber hat ſich ein veuticher
Veriher, Herr Hopf, früher in Bonn, nun in Greifswalte, zur Aufgabe
genommen. Es iſt ein erfreuliches Zeichen, daß fich gerade in vielem
Hißerifge geitſchrift V. Band. 183
194 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur
Theil ver italieniſchen Geſchichte Deutihe und Italiener ſchon feit Jahren
Die Hände reihen. Referent erwähnt bier nur der gründlichen Abbau
lungen, welde ver Stuttgarter Bibliothelar Herr Prof. Heyd in ng
Tübinger Zeitichrift über vie italienijhen Handelscolonien im Orig
niebergelegt hat, und wie wir erwarten, noch ferner nieverlegen wir,
Mit nicht geringerem Fleiße, und fo weit wir ſehen, mit genaner Zuch⸗
läßigfeit arbeitet auch Herr Hopf auf diefem mit Schwierigleiten exfüßle
ten Gebiete, nachten er ermünjchte Gelegenheit gefunden, ſich periduli
des nöthigen Stoffes in ven venetinnijchen Bibliotheken und Archiven
zu bemädhtigen. , |
Seiner „Geſchichte ver Injel Andros und ihrer Beherricher im dem
Zeitraume von 1207— 1566“ mit einem Nachtrage „Urkunden und Zu⸗
füge” folgen nun obengenannte „Beneto-biyzantinijche Analelten“, gleich⸗
falls, wie jene, aus den Sitzungsberichten der kaiſ. Akademie in Wien
beſonders abgebrudt,
Diefe Analekten behandeln die „Barozzi von Santerini und Tee
rafia und vie Piſani von Eanterini, Anaphi, Nie und Antiyare* —
ritig Teitet Herr Hopf Sunterin ab von Sancta Irene, vgl. Bene.
Urkundenbuch III, 185 —; ferner die „Midhieli von Zia und Seriphos“,
die „Premarini von Zia“, die „Örimani von Amorgos, Stampalia und
Sifante*, die „Quirini von Stampalia und Amorgos“, bie „Sormass
von Starpanto”, die „Navigajofi, Oroßberzege von Lemnos“, die „eb
colo von Namfio“ und endlich „venetianiiche Bürgergeichlechter (famiglie
eittedine) im Ardipel; die Schiavi von Nio und Amorgos, die Caſtelli
von Thermia und tie Bevazzoni von Nilaria“.
Mehrere Urkunden und genealogiihe Tafeln erhöhen ven Werth bie
fer Abhandlungen, bie fi ihrer Natur nach nur eines Heineren Kreiſes
von Kennern erfreuen.
Außer tem fpeciell » venetianifchen hat der Vf. noch eine intereffante
Notiz zu Ramon Muntaner beigebracht, und eine gleihe am Ein⸗
gang feiner Schrift Über die Bejigungen des deutſchen Ordens im
Griecheunland.
Wenn die Deutſchherren noch im J. 1736 neben ben anderen vom
einer Provinz Achaia und Romania fprechen, fo möchte weder letzteres
wie einige Öelehrte meinen, für vie heutige Romagna zu nehuen, noch Achaje
Wägemeine Gefcjichte des Mittelaltere. 185
kine Beweisfäßrung noch erwarten, aber gerade bei dieſer Anficht Fällt
es auf, daß er troß Ficker's Debuctionen die volle Initiative der kaiſer⸗
fihen Politit ganz allein oder faft ganz allein Friedrich zutheilt. Wir
müffen geftehen, daß uns bier feine halbe Polemik gegen Fider durchaus
nicht überzeugt bat. Iſt denn Friedrich's auffallende Haltung Eberhard
von Salzburg gegenüber nicht ebenfalls Beweis dafür, daß er dem rö⸗
miihen Stuhl gegenüber keineswegs jo entſchieden war, wie ber große
klniide Staatsmann? Die fecundäre Stellung dieſes legteren ift für
uns mit das Auffallendfte in der ganzen Darftellung gewelen. Hält man
vie Sachlage feft, wie wir fie von Ficker richtig hervorgehoben glauben,
fo zeigt fih damals eben überall das Uebergewicht ver kirchlichen Bil:
bung und ihre vermegene Kühnheit auf allen Seiten des großen Partei⸗
lampfes. Diejer ftaatsmännifche Trieb auf die meltlihen Geſchäfte wird
aber freilich erjt dann vollftändig verftändlich, wenn man außer ben di⸗
plomatiſchen Verhandlungen die adminiſtrative Richtung der Kirche in's
Ange faßt.
Wir wiffen nit, wie weit der Berf. die inneren Berhältniffe ud
Baregungen ver Kirche nach diejer Seite hin noch in's Auge zu faſſen
gedenkt. An einer Stelle ift uns allerdings vie Nichtbeachtung berfelben
ſehr bemerklich geweſen, im 5. Kap. des 3. Buches, wo er von dem
Machtgebiet des ſchismatiſchen Papſtes und dabei aud von der deutſchen
Kirche handelt. Daß es ſich bei ver Stellung des norddeutſchen Epijto-
pats weientlih um vie Ausfichten handelt, die Norbert vemjelben einft
eröffnet und die feine Anhänger in größerer oder geringerer Entſchieden⸗
kit feftzubalten fuchten, davon findet fich hier feine Spur. Und doch,
tie ganze Politik Heinrich's des Löwen erhält erft ihr volles Ficht, wenn
man tiefe Prämonftratenfiihe Richtung an ver fächfiichen Gränze nicht
äßerfieht. |
An einer anderen Stelle hat Ref. im Allgemeinen feine Anficht
über ven Einfluß folcher Bewegungen auf den damaligen Gang der Welt.
verhältniſſe anzudeuten verfucht. Er muß jagen, daß auch die Darftel-
lung des Berf. im Großen und Ganzen ihn in feinen Wahrnehmungen
. 3. über die Stellung Frankreichs im 12. Jahrh. nur befeftigt hat.
Hier weiter darauf einzugehen, fehlt vem Ref. Zeit und Raum. In mie
weit ſolche Unteriuchungen ver Arbeit des Verf. entſprechen möchten, dar⸗
äber zu urtheilen, müſſen wir erft die Fortſetzung des Werkes erwarten,
1% Ueberſicht ber hiſteriichen Literatzr von 1860.
et autres monuments religieux; par une societe d’archeologues. Ornd i
90 gravures. Paris, 1860. 8. 320 p.
5. Serpe, Tas Ehulmeien bes Mittelalters unb beffe
Reform im 16. Jahrb. Mir einem Nbtrud von Bugenhagen
Echulerdunug ter Etadt Lüked. Marburg, Elweit 1860. V, 96 S. 8.
Kiefjelbah, Wilheln, Der Gang des Belthbandels und b
Gutwidelung bes eurepäiiden Bälleriebens im Rittelalte
Stuttgart 1860. €. 322.
Ter Arkeiten, welde tie wirtbihaftlihen Zuftände und Entiwidiung
ftufen ver Bölter mit ven geſammten übrigen Manifeflationen des Boll
lebens im Zulammenbange auftaflen, giebt e8 wenige. Es läßt fi mi
längnen, daß e8 auch tie Aufgabe des Hifterifers iſt, dem Geiftesieh
einer Nation eben dieſelbe Aufmerkjamteit zu jchenfen wie ven politifdi
und religiös geſchichtlichen Momenten, um fe mehr, da alle dieſe Factore
welche das geichichtliche Leben einer Nation betingen, mit einander i
Zuſammenhange ftehen. Nur auf tiefe Weiſe iſt e8 möglih, bie we
ſchiedenen mannichfachen Kräfte, welche auf ven Lebensorganiämms ein
Volles mächtig einwirken, tennen zu lernen und bloszulegen. Die Aufga
aber ift fruchtbar aber allervings ſchwierig. Sie erfordert eine Maſſe
baftigkeit des Wiſſens in verjchievenen Gebieten, die wenigitens jetzt ſelt
fi vereinigt finvet: die vieljeitigfte hiſteriſche Bildung nebft einer genam
Kenntniß ter Vollswirthſchaft. Herr Kieſſelbach hat fich feit längerer Z
mit viefem Gegenſtande beichäftigt und ſchon ver Jahren einen Verfu
einihlägiger Art: „Cinleitung in die europäiſche Handelsgeſchichte, U
1852“ veröffentliht. Auch in ber deutſchen Vierteljahresſchrift find
fi eine Anzahl Aufjäge, welche Theile der gegenwärtig vorliegenden Ach
kilden und genügjam zeigen, wie intenfiv ih der Berfafler mit feime
Stoffe beihäftigt hat. Bon der richtigen Anficht ausgehend, daß
Formen des ftaatlihen Lebens in einer beſonderen Wechſelwirkung 3
Wirthſchaft ſtehen und die politiſchen und ökonomiſchen Zuſtände Reſulte
derſelben concreten geſchichtlichen Entwicklung find, erörtert der Verf.
mannigfachen blonomiſchen Hebel, welche für das Staatsleben und deff
Gebilde mächtige Impulſe abgeben. Auf dieſer Grundlage beruben fei
ſocial⸗politiſchen Studien. Er will in diefem Bude blos — wie er fl
ausdrückt — die losmiſche Perfpektive feftftellen, welche zum Verſtändui
Allgemeine Geſchichte des Mittelalters. 197
ver concreten und individuellen Entwicklung der verichievenen Nationen
kitragen fell. Es iſt ihm bloß um die allgemeinen national-ölonomijchen
eiere und ihre Einwirkungen auf die ftaatlichen Verhältniſſe zu thun,
me übertieß in jevem Lande nad) feiner territorialen Bejchaffenheit, der
Rubrigleit und Begabtheit feiner Bewohner ſich ſpecifiſch verſchieden aus⸗
ꝓtildet haben.
Die Borzüge und Mängel des K. Buches finden in ver befolgten De,
tiere ihre Erflärung. Sehr viel Wahres und Treffendes ſteht neben mancher
Unihtigfeit. Der geiftvelle Berfailer ift manchmal zu geiftreih und fucht
kieles auf eine unfruchtbare Weije zu combiniren und zu erklären, was
chse ren Dingen Gewalt anzuthun, auf leichtere Art hätte erzielt werten
Emm. Die Arbeit fordert durch geiftreihe Behauptungen und durch
erstere Hypotheſe vielfach zum Wiverfpruche heraus; fie iſt jedoch
äberall anregent. Dan wird manche gefchichtliche Anſchanung mangelhaft
feren aber zugeben müſſen, daß K. rein wirthichaftliche Verhältniffe vor-
trerẽlich aufzufajien und tarzuftellen verfteht. Einzelne Partien feiner
Liber gehören zu tem Beften, mas wir über berartige Gegenftänte ges
en haben. Es nicht alles neu, was er jagt, aber ſelbſt das Allbekannte
Rücht er wenigſtens in eine neue Form umzubilven und umzumodeln.
Freilib iſt auch Manches breit und manierirt, und es wäre zu wünſchen,
tat ras Streben tes Verfaſſers, alles logiih und jprachlich zuzuſpitzen,
zeriger hervorgetreten wäre.
Zir können und nicht in eine Kritik und Widerlegung einzelner An-
Ähten, die im tem Buche wietergelegt find, einlaffen. Das hiege ein Buch
si tas Buch piropfen. Wir verſuchen es blos ven Gang ter Entwidlung
tırmlegen und auf einige Einzelnheiten aufmerkjan zu maden. Hr. K.
ainert Z. 1— 29 ten afiutifhen Urjprung des Welthandels und jucht
veiennerö jene Momente hervorzuheben, welche die innige Verbindung des
wrrbihajtlichen Lebens tes claffiihen Alterthums mit den Oriente docu⸗
satiren. Vortrefflich ift das Bild, welches K. von Welthandel in ver
eim Hälfte des Mittelalter8 und vom Umſchwunge besjelben durch bie
kazzüge zeichnet. Nur hätten wir gewünſcht, daß ter Hr. Verf. eine
arere Gruppirung der Thatjachen angeortnet hätte. Tie handelsgeſchicht⸗
ie Miffien ver Juden im Mittelalter, welde Tas bewegliche Eigenthum
tem ſtarren Aderbauftaate gegenüber vertraten und bei dem deutſchen
198 Ueberſicht ber hiſteriſchen Literetar ven 1860.
Bürgertbum Patbe ſtanden. ift geiſtrell bebandelt. Tas bewegliche Eigene
thum war in Folge ver Nranzüge erftarft und ein bedentendes Agens für
vie kulturgeihichtlihe und peliniche Weiterenwicklung. K. verindht es nun im
pen jelgenten Abichnitten „tie pelitüche Gliederung des Aderbauthums im
Europa“: „tie ſeciale Bedeutung des Chrüitentbums*; „tie beiten Schwerter
Ghettes auf Erten“, vie das mittelalterlihe Leben bedingenden Factoren
berverzubeben. Dieſe Partien werten wehl viel Widerſpruch erfahren.
Aber fie geben dem Tenter viel Stoff, namentlih um vie eingreifende
Thätigkeit der Religion une ter Kirche auf tie wirthſchaftlichen Berhäft-
niſſe kennen zu lernen. Tie Partie über das ſtädtiſche Leben im Mittel
alter hätte füglich gekürzt werden küunen; es iſt manches nicht hieher Ge⸗
börige aufgenemmen werten. Bas ter Verf. S. 217 fi. über Meflen
und Märkte jagt, ift zwar nicht neu — Tas Meiſte findet man im bem
betreffenten Arkeitn Hüllmann’d — aber trefflih bargeftelt. Das
europätiche Handelsleben jeit ter Wietereröffuung ver Levante, der Begium
der Nationaljtaaten, vie Enttedung Amerikas und des Seeweges nad
Indien bilden vie letzten Abjchnitte des Buches. Wir haben mandhes
vermißt. So z. B. genauere Auseinanterjegungen über Wechſel, Baus
belöreht, Geld und Diünzmeien.
Die Bereutung tes Buches beruht ausjchliegli in deſſen foctal-polis
tiihen ever nationalökonomiſchen Partien. Die hiſtoriſche Forſchung —
und dies lag auch nicht in ter Abſicht des geehrten Berfaſſers — bat
feine Bereicherung erfahren. Die rein gejchichtlichen Abichnitte find all»
gemein befannten Werfen entnommen. Tie Auffaffung ift mandmal nen
und originell. Manches ift unrichtig oder ungenau, fo z. B. daß eime
Yudencolenie [hen um 500 v. Chr. in Malabar anfäßig war (fie famen
erft nad) der zweiten Zerſtörung des Tempels hin, vgl. Ritter, Erdkunde
V, 597 ff.), daß jene römijchen Kaufleute, welche unter ven Markomannen
in der Statt Marbors fi niederließen, ficher Juden find, dag in Ale
randrien die Gemara und Miſchnah abgefaßt worben. Die Entvedung
und Devölferung Islands wird in's Jahr 870 gejegt; erſtere felgte jedoch
ſchon 867, letztere 875 (ſiehe Peichel, das Zeitalter ver Entdeckungen
S. 102). — Die Anfiht, daß in Indien Gold und Silber zum Gelb»
ftoffe erhoben worben find, ift nicht begründet. Movers hat unferes Er⸗
achtens unzweifelhaft dargethau, daß Silber ale Geld blos auf die ſemi⸗
tiſche Welt in der älteſten Zeit beſchränkt geweien fei. (Movers, Phönizier
Allgemeine Geichichte bes Mittelalters. 199
m. 1, 8.29 ff. u. 56 ff). Die von Movers beigebrachten Beweisſtellen
erbeten dies zur beinahe vollſtändiger Gewißheit, freilich blos ſoweit bie
biterifche Ueberlieferung reiht. Dies ift aber für den Hiftorifer das
Surende. Wir glauben nicht, daß die Händel unter den Juden im Alter-
Sem je ein enticheidendes ftaatliches Moment geweſen find, wie dies
5. 20 behauptet wird. Der Betheiligung der Juden an dem Handel von
Extb une Eziongeber nach Indien in Verbindung mit den Phöniziern
kenn Sein ſolches Gewicht beigelegt werden. (Bergl. Saalfeld, Archäologie
se Hebrãer.) Wir könnten noch einiges beibringen, dies möge jedoch
zuüxn. A. B.
Des Ritters Arnold vou Harff Pilgerfahrt von Köln durch
Ken, Eyrien, Aegypten, Arabien ıc., wie er fie in ben Jahren 1496 bis
1499 velendet, beſchrieben und durch Seichnungen erläutert bat. Nah ben
üshen Oaubichriften und mit deſſen 47 Bildern in SHolfchnitten. Hereg. von
€ » Srecte. GCöln, 1800. LI, 280 ©. 8.
Ed. Brintmeier, Glossarinm diplomaticum zur Erläu-
weung ſchwieriger, einer biplomatifchen, biftorifchen, fachlichen, oder Worterllä-
sun; bebürftiger , Tateinifcher,, hoch⸗ und nieberbeuticher Wörter unb Formeln,
zehhe ſich in öffentlichen und Brivaturlunden , Capitularien, Geſetzen ac. bes
gieumten beutihen Mittelalters finden 2 Bd. 9. Heft. Gotha, Perthes.
&L E. 105 — 452.
TE Sickel, Monumenta graphica medii aevi ex archivis
& bikliotheeis imperii Austriaci collecta edita iussu atque auspiciis mini-
serii cultus et publicae institutionis caes. reg. Vindobonae ex officina cae-
mes regia typographica aulas et status 1858—6). Fasc. I—IV.
Die Texte der in den Monumenta graphica medii aevi enthaltenen Schrift-
ulm, Keramagegeben von Dr. Th Eidel, k. f. a o. Profeffor in Wien, aus
ber L. Hef⸗ und Etaatöbruderei. 1. Lief. 1859. 2. Lief. 1860. Bol.
Dieſes vortrefflihe Werk befriedigt ein altes Bedürfniß in neuer
Bee. Es hat ſchon lange an Schrifttafeln gefehlt, welche für den Ge⸗
kan des Unterrichts die Stelle ver Originalien vertreten konnten. Denn
mau darf fi darüber nicht täuſchen: Zchriftproben mögen noch jo ges
zes aufgefagt und noch jo forgfältig nachgebildet fein, immer bleibt der
keite Steindruck oder Kupferftich hinter dem Urbilde zurück. Die Auffaflung
vr Charaktere if ſchon bedingt durch die geiftige Dispofition des Sub»
200 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur won 1860.
jetts, das fie lieft, und jelbft ven zwei guten Kennern, bie hinter einander
daſſelbe Stück betrachten, kann, von der Erklärung abgejehen, ver leiste
einen Zug erjpäben, ter dem erſten ganz entgangen iſt. Dieſelbe Zufäl⸗
Iigleit herrſcht natürlih in no böherem Grade in Anjehung des nude
bildenden Künftlere. Um Paläographie zn lehren, dazu eignen fich eben
am jicherjten vie Triginale. Ta dieſe nicht immer leicht zu beichaffen find
und durch zu häufige Verwendung im Unterricht jelbft Gefahr laufen, fo
mußten Yehrer und Schüler dabei leiven. Diejer Schwierigleit ift man
bier in durchaus gelungener Weije abgeholfen. Der Aueweg it nicht bie
fünjtlerijche, jontern die photographiſche Nachkiltung. Die Originale find
erſetzt. Man bat jie in Paris für tie Ecole de chertes, wo auch ber
Herausgeber (ver jetzt das paläographiſche Seminar in Wien leitet) jeime
Bildung empfing, ſchon in Uebung gebabt, aber chne fie für weitere Bers
hreitung zu beftimmen. Hier nun haben wir bie erfte umfaflende Anwen⸗
bung für ein ſolches Werk in Deutſchland, und glei ift nicht blos das
zunächſt in's Auge gefaßte Inſtitut, fentern auch das Publikum bedacht
worden, dem tie Anſchaffung eröffnet iſt. Die Ausführung der Tafeln iſt
fo ausgezeichnet, wie fie von ter k. k. Hof» und Staatebruderei zu er⸗
warten mar. Ihre Auswahl beſchränkt fi zwar auf ven Umfang ver
Arhive und Bibliotheken des Kaiferftaats (vie Pombartei mit Mailand
eingeſchloſſen), aber bei teren Reichhaltigkeit und bei der eigenthümlichen
nationalen und geographiihen Zujammenjegung dieſes Gebiet fünnte nicht
leicht irgendwo eine territeriale Sammlung veranftaltet werten, Die uni⸗
verjeller wäre als viele, nur Die Merovinger fehlen ganz. Neben ven Ta-
feln geht ver volle Tert in moderner Schrift ber, in eigenen Heften. Der
Abtrud geſchah fe, daß aus ihm jedes Schriftzeichen des Urtertes in ſei⸗
ner Öejonvertheit, namentlich jever Einzelbuchſtabe des Facſimile's feinem
Werthe nad) richtig erfannt werten kann. Tie beftinmten Regeln, nach
weldyen Bei diefer verwwidelten Aufgabe verfahren wurte, gibt die Ginlei-
tung näher an, fie find nicht nur durchaus wiffenichaftlih, ſondern auch
durchaus praktiſch: ängſtliche Gewiſſenhaftigkeit und Mare Durchſichtigkeit
durchdringen ſich gegenſeitig. Künftighin werden, wenn alle Lieferungen
der Facſimile's erſchienen find, auch noch vollſtändige Erklärungen ver
vorliegenden Monumente gegeben werden. Das Werk wird ſich überall
als für den Lehrzweck fortan unentbehrlich erweiſen, auch für den Selbſt⸗
unterricht iſt es in jeder Beziehung ausreichend. Es iſt zu wänfden, daß
Allgemeine Geſchichte bes Mittelalters. 201
dee Lieferungen fi) raſch folgen und ber Wechfel der Miniſterien feine
Verinverung in der dieſem werthvollen Unternehmen zugewenveten Gunft,
terd tie es bei den bedeutenden Herftellungstoften allein ſich halten kann,
eintreten möge. Wir können noch einen weiteren Wunſch nicht unterdrücken.
Ja der fyiyſtematiſchen Bearbeitung des viplomatiichen Zweigs ver hiftori»
ſchen Hilfemillenichaften iſt Deutichland in neuerer Zeit von den Franzofen
entichieven überholt worden. Wailly hat aber zu fehr die nationalen
Awede im Auge, als daß er uns daſſelbe fen könnte, wie feinen Lands⸗
enten Der Gerandgeber der monumenta graphica follte die Ergebniffe
mer Studien, welche, wie ſich ſchon aus ver kurzen Einleitung des ers
fien Tertbeftes mit Sicherheit erkennen läßt, viel Neues und Werthvolles,
vie ganze Wiſſenſchaft Förderndes enthalten müſſen, gleichfalls veröffent-
chen, und zwar eben in ſyſtematiſcher Form. Wenn irgendwo in unſe⸗
rom Baterlande, fo muß bier ver volle Beruf für tiefe ſchwierige Auf
gabe anerkannt werben. W.
4. Geſchichte der neuern Zeit.
E. Lefranc, Histoire moderne, depuis le grand schisme d’Oc-
eident (1378) jusqu’ & 1789. 2 vol. Paris, 1860. 1016 p. 12.
Fıdr. Kortäm u. Karl Alb. Schr. v. Reihlin-Melbegg, Prof,
Geſchichte Europa’s im Uebergange vom Mittelalter zur Nenzeit. In 2 Bon.
1. Be. Leipzig, T. D. Weigel, 1861. XXIV u. 503 © 8.
I. 9. Merle VvAubignd, Geſchichte der Reformation bes 16.
Zahrpumberts. Aus b. Kranz. übertragen. 2. verb. Aufl. In 6 Bon. 1. 8b.
Etutigart, 9. F. Steinlopf, 1861. 428 ©. 8.
Jul. Jolly, Histoire da mouvement intollectuel au XVI.
sieele et pendant la premitre partie du XVII. 2 vol. Paris, 1860. XVI,
991 p. 8.
Leben und ausgewählte Schriften ber Väter nub Begründer
der reformirten Kirche. Herausy. von I. B. Baum, R. Chriftoffel, ©.
R. Hagenbach, C. Peſtalozzi, C. Schmidt, E Stähelin, C. Eubhoff. Eingeleitet
ven C. R. Hagenbach. 3. u. 4. Th. 1. Hälfte, I Thl. 1. Hälfte. Eiberfeld,
Friedriche, 1860. 8.
Iupalt; 8. Theil Capito und Buher, Straßburgs Reformatoren. Nah
202 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
ihrem handſchriftlichen Brtefichage, ihren gedruckten Schriften und anderen gleich
zeitigen Quellen bargeftellt von Prof Pred Joh. Wild. Baum (XIX, 611 ©.)
— 2. Th 1. Hälfte: Johannes Calvin, Leben u. auegewählte Schriften.
Bon Pfr Lic- E Stähelin 514 ©. — Johannes a Lasco. Bon Bat.
Beter Bartels. 72 S. — Leo Judä. Von Carl Pefalozzi. 106 ©.
Franciseus Lambert von Avignon Bon Dr. 8. W. Halfenlamp.
63 S. — Wilhelm Forel u. Beter Biret. BonDr. C. Schmidt. 716.
Hugo Lämmer, Dr. theol. u phil. Weltpriefler ber Didcefe Ermlaub.
Analecta Romana. Kirchengeſchichtliche Forſchungen in römifhen
Bibliotheken und Arhiven. ine Denkſchrift. Schaffhauſen (Hurter)
1861. VIII. u. 158 €. 8.
Der durch mehrere belobte kirchenhiſtoriſche Arbeiten ſowie durch
ſeinen Uebertritt zur katholiſchen Kirche, oder, wie er es nennt, ſeine
Heimkehr in's Gremium der una sancta, bekannte Verf. legt in dieſer
Denkſchrift ausführlich (nachdem eine kürzere Ueberſicht früher in der
Tübinger theolog. Quartalſchrift 1860 IM. 387 ff. gegeben werben war)
bie Rejultate der Forſchungen vor, vie er für verſchiedene Gebiete ber
Kirchengeſchichte in ven Archiven und Bibliothefen Roms angeftellt hat.
Neben gewiſſen bandjchriftlichen Ergänzungen für jeine Euſebianiſchen
Studien fette fih Herr 2. als Mittel- und Zielpuntt feiner Unterjud-
ungen des 16. und 17. Yahrhuntert, die Reformation und den Kampf
der römijchen Kirche gegen viejelbe; freilich wählt da Referent die Aus-
drücke, welche bei uns für dieſe Ereigniffe im Gebraud find; die am Feſt des
h. Bonaventura in Rom unterzeichnete Borrede des Bf. bedient fich einer
ganz anderen Terminologie, wonach fid) an die Eujebianifhen Studien
„die Beröffentihung und Verwerthung zumal der vaticaniihen Monu-
mente für Geſchichte ver ewig beflagenswerthen Härefie des 16. Jahr⸗
hunderts in Anfang und Fortgang ihrer vergeblichen Auflehnung gegen
bie Petra Petri, Beiträge zur Kirchengeſchichte des 16. und 17. Jahr⸗
hundert, aus hantichriftlihen Quellen Roms und die Monographie
über Baronius und fein Zeitalter anfchliegen fol.“ Auch ift es nicht
gerade im Dienfte der Wiflenfchaft, daß der Berfaffer feine Stutien
unternahm, ſondern — „Alles für Chrift ten Herren, den himmliſchen
Bräutigam der über ihre Feinde insgejammt fchließlih ſiegrei⸗
hen Kirche“; vie Wiffenihaft gilt ihm überhaupt nicht, wenn
fie nicht im Bunde mit ver Askeſe ficht, „und wiflenfchaftliche ohne
Geſchichte ber ‚neueren Zeit. 903
atceruche OGrõße hat allweg nur als Futter für Eitelfeit zu gelten, dient
sicht zur Berherrlichung deſſen, in vem alle Schäge ver Weisheit ver«
bergen, jonteru führt zum paganiftiichen Geniusenlt“.
Wir haben es in summa nit einer förmlihen Kriegserklärung gegen
ie Refermation und gegen tie proteflantiihe Auffafjung verjelben zu
tem, und „die Zerftärung der Phantome gegnerijcher Geſchichtsverdreh⸗
my ift des Krieges Zweck. Das Ziel ift nicht eben neu und fchon
mehrfach angeftrebt worden. Neu dagegen find die Mittel, vie hier ins
teld geführt werben jellen, neu, daß ein Kämpfer auftritt, ver „täglich
auf rem Tempelberg ver bi. Kirche fichend feine proteftantiiche Vergan⸗
zenheit jest erft in dem rechten Lichte betrachten und an ihre Beurthei⸗
bag ven rechten Maßſtab anlegen fann“, und welden die Hüter ver
«ebeimiten archivaliihen Schäge ter römischen Curie jelber fein Rüſtzeug
augelegt haben. Infofern wird c8 von einiger Wichtigkeit fein von dem
arten Kenntniß zu nehmen, weldhe tiefer erwählte Kämpfer Roms ges
gen die deutſche proteftantiiche Wiſſenſchaft führen wird, wohl and von
ver Art, wie er fie führt.
Wenn Her L. im Eingang feiner Denkſchrift mit feinem Wehrzeug
zewaltig raflelt, jo fanı man ihm das nicht ganz verargen. In ber
That tritt er mit Materialien auf, vie in ihrer Art völlig neu find.
Tie römijhen mehr oder minder öffentlichen Bibliotheken find bekanntlich
ehne allzugreße Schwierigkeit jedem Forſcher zugänglich; es hätte daraus
ſchon lange auch von deutſcher Seite für die Geſchichte des Reforma⸗
tienszeitalters manches Wichtige eruirt werden können; im Verhältniß zus
dem. was ba zu thun wäre, war das bisher Gethane bei weiten nicht
ausreichend; zumeiſt wandte man fich den älteren Zeiten ber beutichen
Eeichichte zu. So fand der Verf. hier ein noch wenig bearbeitetes Ge⸗
kit. Aber ihm war auch gegeben, was, abgejehen ven ten officiellen
Hifteritern der Curie, wie Baronius, Pallavicini u. A. vielleicht noch
Keinen, am wenigſten einem ‘Deutfchen , geftattet und in tiefem Umfang
geitattet werden iſt — Die Benugung des geheimen Vaticauiſchen Ars
chivs; für das zweite, dritte, vierte und fünfte Decennium bes 16. Ihdt.
bat er in jenem jenft unerreichburen Ziel ver Sehnſucht für jeden Hi-
Rerifer 21 Altenbände benußen, aus ihnen ercerpiren und copiren dür⸗
ſen; tie Ausbente ver Vaticaniſchen und anderer Bibliethefen kam hinzu
zud fo verfügt Herr 2. über ein aftenmäßiges Material für bie Ge⸗
304 Ueberfiht ber hiſteriſchen Litersiur won 1860.
fchichte des 16. und 17. Ihdis. und für vie Vegiehungen der Curie zu
Deutihland (taneben aber anch zu Frankreich, England, Polen, Spa-
nien, Pertugal u. a.), welches in ter That einzig genannt werben darf,
und welches man, and) chne vie janguinijchen Hoffnungen bes glüdlichen
Sammlers zu theilen, nit in Berinhung kommen wird zu unterichägen.
Da ver größere Theil ver vorliegenten Denkſchrift fi damit beichäftigt,
biefe Materalien nach ven verſchiedenen Kutegerien ihrer Provenienz aufs
zuzählen unt zu charakteriſiren, je kann ter gegenwärtige kurze Bericht
natürlid) nur auf die Hauptpunkte hinweiſen. Yür bie erften Jahrzehnte
ber Reformation ijt natürlich tie Ausbeute aus tem geheimen päpftlichen
Archiv, ſchon weil in ſich zujammenhängend, weitaus am wichtigften ;
bieje Yuftructionen und Öutacdhten, vieje mit dem 9. 1521 beginnenben
und bis in die 40er Jahre reichenven fortlaufenden Nuntiaturberichte und
die Correjpontenzen ver Legaten unter einander müſſen allertinge von ver
böchften Wichtigkeit jein, und es ijt nur zu wünſchen, baß Herr 2. fie
bereinft alle in forma vorlegen möge, wie er e8 in den Beilagen bier vor⸗
erſt mit einigen Proben gethan hat. Der Inhalt des zweiten Abjchnittes,
welcher das in Bibliothefen gejammelte Material jpecificirt, ift natürlich
weniger zujammenhängend und erſtreckt ſich über ein weiteres zeitliches
und jachliches Gebiet; Für die wichtigften Länder ver Chrijtenheit finden
fih bier Relationen aus verſchiedener Zeit; die Summlung püpftlicher
Inftructionen wird ergänzt, Memoiren verjchievenfter Art, in ver Batis
kaniſchen Bibliothek die wichtige Sammlung von Akten zur Geſchichte bes
Tridentiner Concils u, f. f. ine dritte Abtheilung endlich enthält vor⸗
nehmlich ven Nachweis vesjenigen, was Herr 2. für vie von ihn beab⸗
fihtigte Biographie des Baronius gejammelt hat; in ver Bibliothek ber
Draterianer in S. Maria in Ballicella, weldye ven handſchriftlichen Nach⸗
laß des Baronius befist, fand er das gefammte Material bei einander.
Zuletzt wird in 20 Beilagen eine Auswahl von Altenftüden aus bem
ganzen Umfang der von tem Berf. in's Auge gefaßten Epoche gegeben,
und bei allem Intereſſe, welches jene Nachweiſungen bieten, ift für's er.
fte diejer Theil doch bei weitem der widhtigfte. Wir erhalten dieſe Ak⸗
tenftüde nad forgfältigen Abſchriften, an venen wenig auszuſetzen iſt;
Ref. bemerkt höchſtens, daß befenvers in einigen italieniſchen Stüden
die falſche bisweilen finnftörente Interpunktion der Handſchriften hätte
befeitigt werben bürfen (3. B. ©. 98 3. 20); von Schreibfehlern fiel
Geſchichte der neneren Zeit. 206
ihm im Leſen bis jet nur einer (auf ©.89 3. 6), wo ftatt condilione
umweifelhaft cognitione zu lejen if. —
Was den fahlihen Inhalt dieſer Materialien betrifft, fo gefteht
Ref. dieſelben neben vem allgemeinen Intereſſe, welches fie natürlich ge⸗
währen, vorzüglid auch mit Rückſicht auf die ausgelprochene polemijche
Tenvenz Herrn 2.8 durchgeleſen zu haben; er konnte nicht umhin ſich
zu fragen, weldes wohl nun im Einzelnen „pie Phantome gegnerifcher
Geſchichtsverdrehung“ fein würden, welde vor der Sonne dieſes erften
Specimen von Aufflärungen verſchwinden follten; bei der Lectüre ber
mitgetheilten Nuntiaturberichte mußte er unwillkürlich verfuchen, darin
die verjprochenen „glänzenpften Belege“ zu finden „von ber liebenben
Mutterſorgfalt ver Kirde, deren Lebensprincip die Charitas ift und
bleibt, für die in ver Gefahr des Abfalls Schwebenven oder von ber
Einheit bereits innerlich und äußerlich Getrennten und den Sclingen
der Härefie Berjallenen“. Er muß befenien, daß er bei mannigjacher
Belehrung werer Phantome verſchwinden ſah, noch das Berhältnig ver
Curie zu unſrer Nation ihm in einem anderen Lichte erjchienen ift, als
bisher. Oper meint Herr L. wirtlih, daß etwa jenes Gampeggi’jche
Memorial an Carl V. vom 2. Juni 1532 (S. 89 — 95), worin er in
wiberlichfter Weife den Kaifer gegen vie proteſtantiſchen Stände aufhett
und den im Intereſſe des Kaiſers liegenden wenigftend temporären Frie—
densftand zwiſchen Proteftanten und Katholifen begeifert, ein Document
für die Charitas der una sancta fein foll? Freilich für ähnliche Stüde
bat er dann wohl die ſehr charakteriftifche Bezeichnung: „ein herrliches
Specimen ächt⸗- kirchlicher Diplomatit, die Schlangenklugheit allweg mit
Taubeneinfalt verbindet”. Oder meint Herr L., daß wirklih außer ihm
Jemand in jenem Discursus quo humani opus consilii non esse ponti-
Rcatum docetur (S. 121—125) einen Beweis finden wird für die Ein⸗
wirfung des hi. Geiftes bei der Bapftwahl und „eine ſchlagende Wiber-
legung derer, die — weil fie vom göttlihen Geſchichtspragmatismus
nichts verftehen () — im DBerlauf und Erfolg der Bapftwahlen das
Meiſte entweder „pertinaci partium studio‘ oder „ambitiosae prehensantium
industriae‘“ zujchreiben ?
Bir wollen vergleichen Beijpiele nicht häufen. Was Herrn L.'s
Standpunkt vorzüglich kennzeichnet, ift eine blinde und fanatijche Einſei⸗
‚tigfeit diefen feinen Materialien gegenüber, deren Werth er aus purer
206 Ueberſicht ber Hiftorifcheu Literatur von 1860.
Ehrfurcht vor ihrer Duelle bei weiten überſchätzt. Nirgends zeigt
ſich dieß auffallender als da, wo er es für geeignet hält, einen Ver⸗
gleich zwiſchen ven päpſtlichen Nuntiaturberichten und ven vielfach be⸗
nutzten Venetianiſchen Relationen zu machen. Daß ihm die letzteren mit
ihrer ausgeprägt ſtaatsmänniſchen Auffaſſung der Dinge höchſt verdäch⸗
tig ſind, daß er in den bekannten von Alberi publicirten Relationen „eine
theilweiſe Auticipation des Sarpi'ſchen Geiſtes, eine widerlich räſonni⸗
rende Krämerpolitik über kirchliche Fragen“ findet, mag man begreifen;
der Werth, den die eigenthümliche politiſche Stellung Venedigs gerade
dieſen Berichten gibt, muß natürlich dem entgehen, dem alle Geſchichte
ſich in Geſchichte der Römiſchen Kirche auflöſt. Aber man dürfte doch
verlangen, dag, wenn Herr L. Vergleiche auftellen will, er ſich auch des
Unterſchiedes bewußt wäre, der zwijchen ven jegenannten Relationen und
zwijchen Depeichen befteht, vie im Verlauf des diplomatiſchen Geſchäftes
geichrieben murben. Daß die Berfaffer ver Veneziauiſchen Relationen,
wenn fie nad Beendigung ihrer Ambaſſade dieſelben verfaßten, neben
dem Inhalt auch auf die Form achteten und z. Th. an eine literarifche
Berbreitung und Benutzung dachten, muß anerfannt werden, liegt aber
ganz in dem Charakter der literarijchen Verhältniſſe der Zeit und ift bei
römiſchen Attenftüden ähnlicher Art genau ebenjo ver Fall; vie Depe
hen tagegen wurden ebenjo bier wie dort „aus ber lebenvigen Unmittel⸗
barkeit, ex abundantie cordis““ gejchrieben, freilich von recht verſchiedenem
Standpunkt aus ; aber wenn Herr 2. zufällig feine vengianijchen Ge⸗
ſandtſchaftsdepeſchen kannte (es find deren nur wenige gedruckt), fo bes
rechtigt ihn die nicht einen Bergleich zwiſchen ven Depeſchen ver Nuntien
und ven Relationen ver Venezianiſchen Oratoren anzuftellen, welche eben
beterogen find. Es macht daher, wenn man zufällig in der Tage ıft,
auch viele venezianiſche Depeſchen gelejen zu haben, einen ſehr komiſchen
Eindrud, wenn der Verfaſſer S. 19 not. 38 eine Tepeiche Aleranders
aufführt, worin dieſer fügt, daß er Über gewiſſe Einzelnheiten nichts be⸗
richte, weil — non son aucora ben securalo, per cio non le scrivo, uub
wenn er ſich durch dieſe höchſt einfachen Worte zu ver originellen Be⸗
merkung begeiftern läßt: „wie wohlthuend ift dieſe leuſche (!) Zurüde
Baltung im Vergleich zu dein geichwägigen Weſen jo mancher auf Effect
macherei bedachten Venezianiſchen Relatoren !« Man fieht, Herr 2.
‚macht es jeinen Untoren leicht, ihm in Begeifterung zu verfeten. Referent
Geſchichte der neueren Zeit. 207
wäre wohl in der Lage, ihn ven gleichen „wohlthuenden” Effect diploma⸗
tiicher Keufchheit mit einer Menge von Stellen aus Venezianiſchen und
anderen nicht päpftlihen Depeſchen viejer Zeit zu bereiten, wenn er nicht
Bedenlen trüge, an. biefer Stelle Dinge aufzuführen, die fi” jür jeben
Berftändigen von ſelbſt verſtehen.
Auf eine Auseinanderjegung über die einzelnen Aktenſtücke wird Re⸗
ferent fich hier natürlich nicht einlaffen; einige Punkte mögen genügen,
um jeine Zweifel an der vurchgängigen „Zaubeneinjalt” namentlich der
intimſten Depeſchen der päpftlichen Nuntien zu motiviren, und um an«
zubeuten, wie Kritit und kritiſche Interpretation doch auch dieſen von
Herrn 2. jo hoch geſchätzten Aktenftüden gegenüber noch am Plate fein
wird. Im dem Bericht des Biſchofs von Aquila an den Cardinal Yar-
neje ſchließt S. 105 die Erzählung über den Berlauf des Wormijer Re⸗
ligionsgeſprächs 1540 mit den Worten: Melanchthone et Bulzero confes-
sarno lo articolo sempre firmato et tenuto dalla Ecclesie esser il vero —
quod nullum remaneret peccatum. Diele Behauptung einer fo rüdhalts-
loſen Rachgiebigkeit von Seiten der Proteftanten ſtimmt mit feinen ver
fonftigen Berichte über dieſe Verhandlungen und iſt einfach nicht richtig,
wie aus den Akten im Corp. Reform IV. p 38 — 91 hervorgeht; wenn
aber der Bildyof von Aquila bei dem Gejpräch zugegen war und den⸗
noch eine foldhe bare Unrichtigfeit, die fein Verſehen fein kann, berichtet,
fo muß dies wenigftens auffallend genannt werden. ©. 128—136 theilt
Herr 2. den Brief P. P. Vergerio's mit (d. 12. Nov. 1535), aus
welchem ſchon Pallavicini Conc. Trid. Lib. III cap. 18 8. 9 einen kurzen
Auszug gab; er enthält den Vericht über die bekannte Zuſammenkunft
Luthers und Bergerio’8 in Wittenberg, und fomit liegt nun das authens
tiſche Document, aus welchem vie römiſche Darftellung floß, zum Ver⸗
gleiche vor mit dem deutſchen Bericht (in Luthers Werk.) und ven Sar⸗
pi's (Conc. Trid. Lib. 1). Ref. will hier weder dieſen Vergleich aus«
führen, noch eine kritiihe Unterjuhung über die Glaubwürdigkeit ver
brei Berfionen anftellen, wie fie nch jüngft von Sixt (PB. P. Verge⸗
runs p. 45 ff.) verjucht und vielleicht etwas zu leicht zu Gunſten Sar⸗
ps entſchieden worden ift; da der Herausgeber des Vergerio'ſchen Brie⸗
je vemjelben höchſt wahrſcheinlich unbevingten Glauben beimef-
fen wird, wie Pullavicini, fo will Re. bier nur auf einen Bunkt
‚aufmerkjam machen, der bei der Unterjuchung über die Glaubwürdigleit des
208 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur Yon 1860.
Bergerio jehr in Betracht kommen muß. V. ſchreibt an den päpftlicden
Protonotar Ricalcati, an eine Stelle aljo, an welche er mit vollftäntiger
Offenheit und Rüdhaltlofigkeit berichten durfte und follte; da ift nun aufs
fallend, daß er fein Zufammentreffen mit Luther, überhaupt feine Reife
nah Wittenberg ald ganz zufällig darftellt; angeblih aus Furcht vor
dem Fanatismus des fegerifchen Landvolkes nimmt er feinen Weg von
Halle nach Berlin durch ſächſiſches Gebiet über Wittenterg; von hier
fteht er eben im Begriff weiter zu reifen — et ecco entrar il locotenente
(der ihm zur Begleitung beigegebene jächfiihe Vogt) con Marlino Luthero
et con Pomerano — und dann: io non puoli mostrarme altro che com-
sentiente, essendo dove io era et ascoltai Fra Martino et quel altro.
Hiernach aljo erjchiene es, als jei den Nuntius die Unterhaltung mit Lu⸗
ther anfgenöthigt worten, während es nach allen anteren Berichten un-
zweifelhaft ift, daß er Luther zu ſich beſchied; einen vollſtändig offen⸗
herzigen Bericht haben wir aljo feinesfall® vor und; Vergerio hatte
irgend ein Interefie dabei, ven Protonotar feine Reiſe nach Wittenberg
und feine Unterrebung mit Luther als etwas ganz Zufälliges darzuftellen,
was jedenfalld weder das eine, noch das andere war. Wir können uns
dafür nım zwei Gründe vorſtellen: entweber eine ganz perjönliche ge
beime Infteuction Pauls III., von ver Ricalcati nichts wußte und wiflen
follte; dies ift, obgleidy manche e8 angeben, fehr wenig mwahrfcheinlid) ;
aber — wenn man died annimmt, fo gewinnt die Aechtheit jener ges
heimen Unterhaftungen, welde Sarpi aus unbelannter Quelle mittheilte,
ganz erftaunlih an Chancen. Over, und dies ift wahrfcheinlicher, man
nimmt an, daß Vergerio in der That diefe Reife zu Luther auf eigene
Verantwortung, vielleicht von dem gerate bei ihm piycholegiich ſehr er-
Härbaren Verlangen getrieben, dem deutſchen Reformator perſönlich gegen»
über zu treten, unternommen bat; alsdann aber leuchtet ein, warım er
Die ganze Begegnung in das Licht des Zufalls zu fegen fuchte, und zu⸗
gleich, daß er über diejelbe nur das berichtete, was ihn nicht comproe
mittiven fonnte; aber auch in dieſem Falle bleibt vie Möglichkeit gewahrt,
daß der Sarpi’fche Bericht doch vie Wahrheit enthält, und ganz dazu
paſſend ift die ängſtliche Beſorgniß, womit Vergerio ten Protonotar Bit«
tet (©. 136) zu verhüten, daß nicht etwa eine Abjchrift feines Briefes
nad Deutſchland gelange. In dieſe Alternative ftellt ſich jett, wie Ref.
ſcheint, dieſe Streitfrage ; aber in feinem von beiden Fällen ift Vergerio’6
210 Ueberſicht der biflerifchen Literatar von 1860.
das Urtheil von Baronius’ großem Zeitgenoffen Paolo Sarpi für nahezu
gleihgewichtig halten mit dem Enthuſiasmus ſeines jeht zu erwartenden
Biographen. Sarpi aber fchrieb über Baronius an Caſaubonus: Fge
illura Romae novi, entequem honoribus manum daret et prurigine soribendi
tentaretur, cum solius animi trenquillitati et puritati oonseioaliae dares
operam. Nunquam kominem vidi simpliciorem quem unico verbo tibi ex-
primam. Nullas habebat opiniones proprias, sed ens e conversationibus
sine deleciu sumebat, quas tamen quasi proprias et bene perfectas perti-
‘asciter defendebat, doneo alias iussus potius fuisset quam edoctus.
B. RE.
Legationes Alexandrina etRuthenica ad Clementem VII,
pont. max. pro unione et communione cum sede apostolica, anno Domini
1595, die 15 januarii et 23. decembris, nunc separatim excussau studio
Augustini ex principibus Galitzinorum. Paris, 1860. XI, 142 p. 8.
Eug. Alböri, Le relazioni degli Ambasciatori Venetä
al Senato durante il secolo decimosesto, raccolte ed illustrate. Serie L
Vol. IV. Firenze, 1860, 467 p. 8.
Relasioni degli Stati Europei lette al senato dagli ambas-
oiatori Veneti nel secolo decimosettimo raceolte ed annotats da Nie. Ba-
rozzi e Gu. Berchet. Serie I. — Spagna. Fasc. 10. Venesis, 1860.
2. Bd. p.1—80.— Serio Il. Francia. Fase. 4—13. Venesia, 1859-60. 8.
Arnim, vertraute Gefhichte ber enropäiſchen Höfe u. Eta»
ten feit Beendung bes 30jähr. Krieges. Neues Licht aus geheimen Uxrchiven.
1. Abth.: Vertraute Geſchichte bes Preußifchen Hofe u. Staatt. In 20 Ligen.
1. 8b. 5 on. u. 2. ®b. 2 2fg. 1.86 VIII u. 812 © u 2.89% ©1098
128. Berfin, J. Abelsborffe Berl., 1860. 8.
89. Schultz, Geſchichte des Kriedens von Dliva vom 8. Mai.
1660. 82 ©. Labiau. Königsberg, Gräfe u. Umger, 1860. 8,
H. Prat, Etudes historiques. Dix-huititme sidcle. 1. partie,
Paris, 1860. 354 u. 875 p. 8.
Oeuvres de Leibnitz, publides pour la premibre fols d’aprös les
manuscrits originaux, avec notes et introduetions par A. Feucher de
Careil. T. 11. Lettres de Leibnitz, Bossuet, A. Ulrich, la deshemss Be-
u ME EUEOAÄ9u
Geſchichte ber neueren Zeit. 211
phie, Mine. de Beinon, pour la rdunion des protestants et des catholiques.
Paris, 1860. CVIII, 603 p. 8.
Er. Gomıpe, Geſchichte der religidfen Bewegung ber nenern
Zeit. 4. Bd. Leipzig, Wagner, 1860 XII, 876 p 8.
Adolph Stern, Bier Zitularlönige im ahtzehnten Jahrhun—
dert. Jakob IN und Karl Ednard von England, Theodor von Corſika, Sta⸗
aittaus Leneinstgn. Dresden, Carl Hödner, 1860. XIII. 168 ©.
Dr. F. €. Schloſſer, Geh. R. u. PBrof., Geſchichte d. 18. u. 19.
Jahrhunderte bis zum Sturz d. franzöfifhen Kaiferreihe. Mit
kefend. Rüdfiht auf geiftige Bildung 8. (Schluß-) Ob. Bis zum 9. 1815.
6%. wargane verb. Aufl. Heibelberg, I. C. B. Mohr, 1860. XI, 635 ©. 8.
De. F. C. Schlosser, Geh. R., Prof., Geschiedenis der acht-.
tionde senw en der negentiende tot op den ondergang van het Fransehe
keisserijk. Gosdk. uitgaaf. 2e druk. Gedeeltelijk op nieuw uit de 4e of
Instste seer veel verb. en verm. Hoogd. uitgaaf vertaald, en geheel herzien
door P. v. Os. 34e—4le afl. Sneek, vr. Druten & Bleeker. V. u. 3845. 8,
Bolfgang Menzel, Die legten 120 Jahre ber Weltgeſchichte
(1740—1860). Etutigart, Krabbe, 1860. 6 Bbe. 8.
Carl Lubwig Michelet, Die Geſchichte der Nenſchheit im
item Sutwidiungsgange feit bem Jahre 1775 bis anf bie neueften
Zeiten, 2. TU. Berlin, %. Schneider, 1860. IV, 616 S. 8.
Edw. Kust, Annals of the wars of the eighteenth cen-
taury, compiled from the most authentic histories of the period. Vol. 5.
1795 — 1799. London, 1860. 8.
Heinz. v. Sybel, Geſchichte der Revolutionszeit von 1789
bis 1795. 3. 3b. 2. Abt. Düflelborf, Buddeno' Berl., 1860. XVI
€, 343 -5%. 8.
Archibald Alison, Baronnet, Histoire de l’Europe durant la
nvolufion et les guerres de la republique de 1789 A 1797. Préoédéo
dene introduction par Nestor Considerant. 2. edition. T. 1. Bru-
zeiles. Leipzig, Dürr, 1860. 311 p. 8.
Gerzespendence diplomatique de Joseph de Maistre,
14*
212 Ueberfiht der hiſtoriſchen Literatur won 1860.
1811 17, rec. et publide par Alb. Blanc. 2 vols. Paris, 1860. VIII,
806 p. 8. -
. Heintr. v. Sybel, Die Erhebung@uropa’'s gegen Napoleon I.
Drei Borlefungen, gehalten zu Münden am 24., 27. u. 30. Mär; 1860. Mun
chen, literar.-artift Anftalt. VI, 146 © 8.
Srlebniffe eines Beteranen ber großen Armee während bes
Feldzuges in Rußland 1812, herausgegeben von beffen Sohne Riharb von
Moorheim, k. fähf. Hauptmann. Dresden, Meinhold u. Söhne, 1860. 8.
Diefe „Erlebniffe” bringen nichts weientlih Neues, was nicht ſchon
durch die jüngften Bearbeitungen des Feldzuges von 1812, namentlich
aber dur die fo interefjanten „Dentwürbigleiten Toll's“ von Th. v.
Bernhardi, drittes und viertes Buch, zur Geuüge bekannt geworben
wäre. Leſenswerth, als von einen Augenzeugen und perjönlichen Theilneh⸗
"mer berftammend, ift etwa nur die Schilverung der Gefechte, in welche
die tapfere fächfliche jchwere Kavallerie - Brigade Thielmann während
der Schlacht von Borodino verwidelt wurde und des glädlichen Angriffes
derfelben auf die Rajewsky⸗Schanze. L. H.
® G. Bervinus, Gefhichte des 19. Jahrhunderts feit dem
Wiener Verträgen. 4. Bd. 2. Hälfte Leipzig, Engelmann, 1860. VI. ©. n.
441 ©. 8. ©. unfere Zeitihrift Bd. 111. ©. 506 ff.
Die Kämpfe in Europa In den letzten zwölf Jahren (1848
— 1859), ein Cyklus von Gefechtsbildern unb biographiſchen Gkiggen von Mar
Biffart, k. württ. Oberlieutenant. Stuttgart, Gebr. Scheitlin, 1860. 8.
Ein mit gründliher Sachkenntniß, vollkommener Unparteilichleit und
wohlthuendem Freimuthe gejchriebenes Buch, welches die politifch«militäri»
hen Ereigniffe in Europa feit 1848 in funzen aber veutlihen Zügen
ſchildert, und als Gedächtnißhülfe für viefen Zeitraum Jedermann em-
pfohlen werben kann. Auffallend ift nur, daß in ven „Kämpfen in Eu-
ropa“ der Belagerung Venedigs und feines bewunderungswürdigen Wider
ftandes in den Jahren 1848 und 1849 nur fo obenhin Erwähnung ge
ichieht. L. H,
B. F. de Cussy, Consul-gendral, Precis historique des dre-
nements politiques les plus remarquables qui se sont passes depuis
1814 & 1859; ou exposd des changements principaux qui se sont produits
Geſchichte ber. neueren Seit. | 213
pundant cette epoque dans la situation respective des dtats souverains;
— des changements prinoipaux qu’ont subi les relations internationales
des dtats; — des modifications apportdes aux principes du droit des gens
par les trait6s publics conclus par cette dpoque. Leipzig, Brockhaus,
1859. VIII. 462 p. 8.
Hinter ben Eouliffen Hiftorifh-politifche Bilder ans der Neuzeit.
L ZU Bom Oktbr 1847 — Mai 1848. Genf, 1859 (Zürich, Schabelik).
N, 139 8. 16.
Documents et pieces authentiques, laissdes par Daniel Ma-
aim, president de la republique de Venize Traduits sur les originaux
et annotes par F. Planat de la Faye. 2 vol. Paris, Furne et Ce,, Edit.,
1860. 8 “
Bir haben hier ein Werk vor uns, welches bem Anpenfen eines
berääimten Todten gewidmet ift, dem Anvenfen von Daniel Manin, Dic-
tster Benedigs, währen ver Zeit feines verzweifelten Unabhängigfeits-
fampfes in ten Jahren 1848 und 19. Die binterlaflenen Papiere des
Serfterbenen, von deſſen Familie ven Herausgeber zur Veröffentlichung
avertraut, find die hauptfächlichfte Quelle dieſer Schrift. Es find theils
fficielle Dokumente, welhe Manin mit fih in's Eril flüchtete, theils
Vene Privatcorrefpondenz. Der Herausgeber wurde von der, wie une
ſcheint, richtigen Anficht geleitet, daß dieſe urfprünglich in englifcher, fran-
zfiicher, italienischer, ja felbft veutjcher Sprache abgefaßten, unzweifel⸗
haft wichtigen Atenftüde und Dokumente eine ungleich weitere Verbrei-
tung erlangen müßten, wenn fie auch in der am weitelten verbreiteten
Sprache, der franzöfiichen, ter Deffentlichleit übergeben werten Könnten,
wur bat deßhalb ſämmtliche mit ängftlicher Gewiſſenhaftigkeit in dieſes
Jriom übertragen. Er that dieß, wie wir meinen, in einer boppelten
Arficht, nicht nur um ihnen leichteren Eingang überhaupt zu jichern, ſon⸗
dern auch um gerade im gegemmärtigen Augenblide und nantentlich bei
femen Landslenten, vie Blide mit gefteigerter Erwartung auf die noch
immer verfchleierte Zukunft der Lagunenſtadt zu firiren. Wenn, woran
wir nicht zweifeln, das Erftere gelingt und das Buch in weiteren Kreiſen
Anfuahmıe findet, jo verwirklicht fich Die andere Abficht naturgemäß von
ſelbſt. Dem wir hören bier zum erftenmal die Stimme eines Mannes,
ber wie fein anderer in die geheimen Berhältniffe jener Zeit und jenes
Ortes eingeweiht gewefen, — eined Mannes, deſſen Namen zwar du®
214 Ueberſicht ber Yierifihen Literatur bon 1860.
Befungewert einer pelitikhen Partei iR, am beffen Gharatter aber ſelbſt
ver eutidyievenfte Gegner feinen Malel zu finden vermag.
Nicht alle Iinterlaflenen Papiere Manin's werten hier dem es
ſchichtsferſcher dargeboten: von ven Decreten und officiellen Aftenftäden
der venetianifben Regierung find mit fluger Umſicht nur jene in vie
Sammlung aufgenommen, welde in tirecter Beziehung zu den Ereig⸗
niſſen fiefen. Daher finten fi darin an Grlaflen über bie innere Bex-
waltung ver Republik, an militäriihen Berichten unt Berfügungen ver
bältnigmäßig nur wenige, währent tie viplematiihe Correipondenz, nas
mentlich mit ter franzöjiichen Republik, ven wichtigſten und wejentlichften
Inhalt bilvet. Um endlich aud dem objectiven Beobachter gerecht zu wer⸗
den, ift eine nicht unbeträchtliche Anzahl amtlicher Berichte beigefügt,
welche von den franzöfiichen und engliichen Confuln in Venedig während
tiefer Periode an ihre Regierungen erftattet wurden. Als Princip ıR im
biefer Zuſammenſtellung tie chronologiſche Ordnung feitgehalten; das
Geſanmibild gewinnt dadurch mehr an Klarheit, obgleich zu bedauern iſt,
daß der Mangel eines Inder die Orientirung einigermaßen erſchwert.
Wie ſchon aus dieſer allgemeinen Ueberſicht hervorgehen mag, ge⸗
bührt ven Herausgeber das Verdienſt, bie große Maſſe des vorhandenen
Materiales mit richtiger Erkenntniß des Wejentlichen gefichtet und zw
einem leicht überjehbaren Ganzen zufanmengefaßt zu haben, eine Auf
gabe, die in der Regel nur von Wenigen glücklich gelöft wird.
Das ganze Werk zerfällt in ſechs Epochen, von denen jede eimem
für die kurze Geſchichte der Republik beveutjamen Abſchuitt umfaßt.
Mit den wichtigſten Attenftüden des geieglihen Kampfes, welden
Manin, Tommaſeo und Avefani zu Ende des Jahres 1847 gegen bie
herrſchende Gewalt eröffneten, beginnt bie erſte Epodhe. Bon Maniz
zur Beröffentlichung beftimmte, von der kaiſerlichen Ceuſur aber geftri»
chene Zeitungsartitel, Memoires von Manin und Avejani an die Central
Gongregation von Venedig gerichtet, ein Schreiben Tommaſeo's an ben
Minifter Kübel, ein ſolches an den Erzbifchof von Udine, Berichte bes
engliichen Conſuls Dawkins an Lord Balmerfton, die geheimen Zuſtruc⸗
tionen für ben Gouverneur Grafen Spaur, endlich die Öefangennehmung
Manin’d und die Inftruction der Anklage gegen ihn, bilden das Bor:
ſpiel ver Tragödie, deren erfter Akt fi in der raſchen und unbiutigen
Revolution vom 17.— 22. März 1848 vollzieht. Manin, durch das
2 Echerhr ber iziäler Smzmtzz von 1860.
un x Ir. I x Aiiertffine eu 9 Sal 1942 ee er
in Peaı 2 Yemru ru D3 Te Exurr te Feliserlieni, am-
ser Ba au „riteiter Ir ed Smart, we Me Pe
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Lex, ex Im, :»: Roos te Beamer , Du
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Armııl Orr zur Ik Seal r24 mem Ürmerernement ges
Eitzet.
Un wierer Sezıen mun 2: Serbea um te Umeffürmg Franl-
reichs une tie Mithilie Enalaure, nur un tie Sieterfebr tes verbußten
Oeſterreichs atzmenren. Aber Ale wur vergebenẽ?. Tue umerkittfiche
Echidial verichzte mmaufbalriam feinen intern Ganz. Tie anzlii:fran-
zefiihe Vermittlung wirkte mm ten zuten Ratb ;u geben: ..d’enirer en
errangement avec le gouvernement sutrichien . Se klick tenn auch für
Beneeiz nichts mehr übrig ale ver Xampi ver Verzweiflung.
Ter uns hier nur karg zugemeiiene Raum geftattet nicht, ſelbſt nur
in kurzen Zügen ten Patrietisnus umt tie Tapferkeit, tie Anfopferung
und Totesverachtung zu zeichnen, in welcher Alt ımt Jung, Arm und
Reich, Bernehm une Nierrig bei rer Vertheidigung Venedigs wetteifer-
ten. In Mitte einer furchtbaren Belagerung, ven ver Cholera dezimirt,
von Hungersnoth aufgerieben, witerftanten vie Venetianer ımter ibrem
großen Mitbürger mit bewunterungswürtigem Heltenmuthe, bis fernerer
Wiverftand unmöglih wurde. Am 24. Auguft kapitulirte Venedig.
Welcher politiihen Anfiht man auch immer huldigen mag, tes Cinen
find wir, bezüglich dieſes „Blaubuches“ ver Republik Venedig, ſicher, daß
Niemand bei Durchleſung dieſes Werkes den Venetianern ſein Mitleid,
Manin aber ſeine Bewunderung wird verſagen können. Es iſt der chr⸗
liche, opferfreudige, begeiſterte Republikaner, der uns hier lebendig und
wirfend entgegentritt, ein Charakter, welcher eine ruhmvolle Stelle in der
Geſchichte bewahren, ven aber, vom Strahlenfranze höchſter Bürgertugen-
ben umleuchtet, fein Vaterland vor Allen und für alle Zeiten verehren
wird. L. H.
C. Court, Tabloaux synoptiques et chronologiques de
Gejſchichte ber neueren Zeit. 217
lbistoire universelle oontemporaine, donnant mois par mois
& presque jour par jour la situstion politique de tous les dtats connus
du globe, faisant suite & latlas de Le Sage. I. partie depuis la revo-
ktion de fevrier 1848 jusqu’ au congres de Paris, 1856. I. livraison.
inee 1848. Paris, 1859. XVI, 79 p. 8.
Charles Samwer, Recueil, nouveau, general, de traites,
savertions et autres transactions remarquables, servant & la connaissance
des relations dtrangeres des puissances et états dans leur rapports mutuels.
RBedig€E sur copies, collections et publications authentiques. Continuation
da grand recueil de G. Fr. de Martens. Tome XVI, Partie II. — A. s. le
t: Recueil general de traitds et autres actes relatifs aux rapports de droit
international Tome III, Partie Il. Göttingen, Dietrich, 1860. 641 p. 8.
Durch ben vorliegenten Theil dieſes durch Vollſtändigkeit, Correkt⸗
beit, bequeme Einrichtung und Ausſtattung hervorragenden Werkes Liegt
der 16. Band (der erſte Theil erſchien im Jahre 1858) vollendet vor.
Ter Raum geſtattet und nicht, bier alle die wichtigen Aktenſtücke, welche
wir in temfelben finven, zu nennen, und fo heben wir aus ber reichen
Sammlung, die uns darin geboten wird, nur einige wenige hervor. Das
zuerft abgetrudte Altenjtüd vom 10. Juli 1855 ift ter Vertrag zwijchen
England und Frankreich über die Art und Weije ter Theilung, der von
ihren Heeren gemeinjam im orientalischen Kriege zu machenden Beute,
weran ſich die Accejjionserklärungen von Sardinien unt ter Pforte an»
fliegen. Hierauf folgt eine ganze Reihe von Verträgen und Aktenftüden,
ie Direlt oder indirekt mit den Parijer Frieden vom 3. März 1856 zu:
iammenbhängen, von denen wir bejonters auf bie Protocolle der Partjer
Cenferenzen vom Jahre 1858, tie Moldau und die Walachei, aud die
Tenaumüntungen betreffen, und vie fich hieran ſchließenden Verträge
über lettere Angelegenheit zwifchen einigen deutſchen Staaten und ver
Bierte, anfmerkſam machen wollen. Dit ver dann folgenden Erklärung
tee Senats der jonijchen Infeln vom 6. Juni 1854, in Betreff eines Krieges
ven Großbritannien, ift dann die Reihe ver Aktenſtücke, welche ſich auf tie
eriemtaliiche Frage beziehen, gefchlofien, und es folgt nun in unjrer Sammlung
eine Menge von Heinen und größeren Handelsverträgen zwiſchen europäiſchen,
afiatiſchen und amerifaniichen Staaten, jowie Verträgen des Zollvereins
mit Berfien, Mexiko, der argentinischen Conföderation u. a, weran fi
denn nech Verträge des Zollvereins mit Sardinien und den joniſchen
318 Ueberfiht der hiſteriſchen Literatur den 1860.
Inſeln anſchließen. Hierauf finden wir die intereflanten Wätenftüde über
die Abſchaffung des Sundzolles aus den Jahren 1856 und 1857, wors
anf die Handelsverträge Japans mit England, Frankreich, Rußland und
den Rieterlanden aus ten Jahren 1855 bis 1858 folgen. Nachdem
nun noch der Vertrag Preußens mit Oldenburg über ven Jahdebuſen
vom 20. Juli 1853, nebft einer nachträglichen Beſtimmung dazu vom
1. December beilelben Jahres und die Urkunde über vie Befigergreifung
bed erworbenen Landes vom ö. November 1854 mitgetheilt iſt, folgt
ber Münzvertrag zwiichen Preußen und anvern beutichen Staaten vom
7. Auguft 1868. Weiter beben wir noch hervor die Schug- und Trutz⸗
Bundniſſe zwiſchen Tefterreih und Modena vom 24. December 1847
und zwifchen tem Kaiferfinate und Parma vom 4. Februar 1848, mit
denen auf Seite 500 tie auf vie italienijche Angelegenheit Bezug haben⸗
den Urkunden beginnen. Von viejen nennen wir das Programm Oeſter⸗
reichs in Betreff eines Congreſſes ver Großmächte vom 29. März 1859,
ferner vie Proflamationen und Manifeſte ver Kaiſer von Defterreih aub
Frankreich, den Waffenſtillſtand zu Billafranca, ven Frieden von Zürich umb
die Documente, welche hiermit iu Zufanmenhang ftehen, aljo vor allen bie
über die Abtretung ter Yombardei, Nizzad und Savoyens. Schließlich
finden wir dann noch, abgefehen von vielen andern wichtigen und intereſ⸗
fanten Attenftüden, ven berühmten Handelsvertrag zwiſchen Großbrittan⸗
nien und Frankreich vom 23. Januar 1860, und andere Verträge, bie
fi) hierauf beziehen. abgetrudt. Cine „Table chromologique“ und eine
„Table alphabstique,“* bie beine bei dem reichen Inhalte wohl nicht zw
entbehren fein würden, ſchließt wie bie frühern, jo auch viefen Theil. U.
Wolfg. Menzel, Supplement zu ber Geſchichte ber Ic
ten 40 Jahre (1816 — 1860). U. u. d. T.: Geſchichte ber neueſten Zeit
(1856 — 1860). Stuttgart, Erabbe, 1860. VIII, 392 ©. 8.*)
*) Die zahlreihen Schriften, welche ber öfterreicyifc »italienifch » Frampöftiche
Krieg im 3. 1859 hervorgerufen hat, dürfen hier übergangen werben.
Man findet fie, nebf ber ganzen Literatur ber itafienifchen frage, in
großer VBollſtäubdigkeit in der Bibliotheca historico-geographica von Dr.
Guſtav Schmidt (bei Bandenhoed und Rupredt in Göttingen) ver-
zeichnet. Wir benntzen gern bie Gelegenheit, um biefe verbieuflichen Ka⸗
Geſchichte der neneren Zeit. 219
b. Deutfche Gefchichte.
1. Ullgemeine veutfhe Geſchichte.
dorſchnugen zur dentſchen Geſchichte. Herausgegeben von ber
lijeriſchen Commiſſion bei ber Tl. bayeriſchen Akademie ber Wiſſenſchaften. Erſten
dedes erſtes Heft. Söttingen, 1860. 8.
Ce wird kaum nothwendig ſein, über den Zweck ver „Forſchungen
zu teuticgen Geſchichte“, deren erſtes Heft hiermit vor und liegt, une
md weiter auszulaſſen und das Bekannte zu wieberholen, aber kein Zwei-
jd kaum darüber beftehen, ver Beſchluß der hifteriihen Commiſſion, dem
Se Ferſchungen ihr Dajein verbanfen, gehört zu ven zeitgemäßeften, vie
iterhaupt von ihr gefaßt werden fonnten; es ift damit einem brin-
yaren, lange gefühlten Bebürfuiffe in würdiger Weiſe abgehols
km. Das vorliegende Heft enthält fieben Aufjäge, vie fi in ben
rerſchieden ſten Jahrhunderten der beutjchen Geſchichte bewegen und deren
ren man einen beitinumten Werth, eine unverfennbare Förderung bes
behandelten Gegenſtandes nachrühmen mug. — Hr. Prof. Waitz unter
wirft Die Nachrichten über „vie Niederlage ver Burgunder durch bie
Omen“ — in Folge welcher die erfteren aus ten Rheingegenden nad
Sekrupin verpflanzt wurten — und bie Anfichten ber Forſcher über die⸗
ies Ereigniß, tie in Beziehung auf Zeit und Umftänte jehr von einander
abweichen, einer neuen eingehenven Unterjuchung, die mit der Schärfe und
Sicherheit geführt ift, wie wir fie an biejen: Forſcher gewöhut find. Es
handelt ji) nemlid darum, ob die in Rebe ſtehende Kataſtrophe im J.
se bei dem bekannten Einfall Attila's in Gallien oder vorher in einem
beicntern Kriege erfolgt if. Man wird zugeben, es ift das eine für
untere ältere Geſchichte und auch für unjer nationales Epos nicht gleich-
jittige Frage. Beide Annahmen haben auch in älterer und neuerer Zeit
Arhãnger gefunten, chne daß aber bis jegt eine terjelben über die andere
ten Sieg bavengetragen hätte. Waig ftellt fi num ganz entſchieden auf
taloge, bie wit fo viel Sorgfalt und Fleiß zufammengeftellt werben, ben
deennden ber biftorifchen Literatur zu empfehlen. Es wäre jebenfalls zu
bebanern, weun, wie wir hören, bem Fortzaug bes Unternehmens Hin⸗
derniſſe entgegemfänben.
220 Ueberfiht ber hiſtoriſchen Literater von 1860
Seite ter legtern ter beiten Anlichten und faßt das Refultat jeiner Un⸗
teriubung in felgente Worte zujammen: „Im Jahre 137 erlag ber
König Gundicar ter Burgunder, ter am linten Rheinufer berrichte, mit
einem großen Theil jeined Volkes einem Angriif ver Hunen, wahrſchein⸗
lich ſelcher, die damals in Gallien umberzogen. Sechs Jahre ſpäter
wurde der Reſt des Volkes nach der Landſchaft Sabaudia verpflanzt. Hier
herrſchte Gundioch über ſie, der Ahuherr Der ſpäteren Könige, und ven
bier aus gelang ihnen bei der Auflöſung des römiſchen Reichs die Ans⸗
dehnung ihrer Herrſchaft über den Südoſten Galliens““. Bir zweifeln
nicht, daß dieſe Ausführung, beſonnen und ſorgfältig, wie ſie iſt, allen
andern gegenüber den Vorzug erhalten wird. — Eine zweite Abhandlung
(ron Ed. Winkelmann) beſchäftiget ſich mit der „Wahl König Hein⸗
rich's VII., feinen Regierungsrechten und ſeinem Sturz”. Wer ſich mit
der Geſchichte der Staufer irgendwie näher eingelaſſen hat, weiß, wie
dieſe Periode unſerer Geſchiche — wenige Momente ausgenommen —
zu ten vernachläſſigſten gehört, obwobl wir uns gerade auf fie je viel
zu gute thun, und obwehl wir darüber ein ausführliches Geſchichtswerl
beſitzen, das drei Auflagen erlebt bat und berühmter als faſt alle übrigen
geworten ift: von den Arbeiten von Jaffé, DO. Abel und Yider abge
jeben, ift in Wahrheit vie Hauptſache big jetst tech nur in tem Regeften-
werfe Böhmer's — ſoweit es fich erftredt — geleiftet werten. Bei tie
fer Zuchlage hat namentlih auch die Geſchichte König Heinrich's VII.
gelitten, die doch gerade für die deutſche Reichsgeſchichte je unendlich
wichtig geworben ift, weil man ſich ſeit Raumer gewöhnt bat, das gang
Intereife auf Die italieniihen Vorgänge zu vereinigen. Es ift bier wohl
der Ort, e8 zu bemerfen, daß ter fel. O. Abel jeiner Zeit die Geſchichte
diejes Königs zum Gegenſtande einer Jugendarbeit gemacht hat, vie fid
feit Jahren in unjern Hänten befindet und die, wenn es von uns allein
abgehangen hätte, ver Oeffentlichkeit nicht vorenthalten geblieben wäre,
eben weil fie, zwar turchaus nichts erfchöpfentes und vollkommenes, im⸗
merhin bis in vie jüngfte Zeit tie vergleihungsweiie beſte Bearbeitung
dieſes Gegenſtandes gemeien iſt. Nun freili, mit dem Grfcheinen ver
Unterfuhung Winfelmann’s, vie zwar nicht Die ganze Geſchichte König H. VII.
aber doch tie entjcheirenden Fragen, zum Vorwurfe bat, wäre eine ſolche
Beräffeutlihung faun noch am Plate, zumal nicht geläugnet werben kann,
daß die neuere Bearbeitung, wie Das nicht anders fein fonute, jene frühere
Geſchichte ber neneren Zeit. 221
tea Abel, die gewiß ſchon fünfzehn Jahre alt ijt, in jeder Beziehung
aitertriift. Hr. Winkelmann bat befanntlich ſchon vordem eine Probe
ar Befähigung für hiſtoriſche Forſchung, gerade auch auf tem Gebiete
dee Gejchichte ver Staufer, geliefert; feine gegenwärtige Peiftung ift eine
anhievene Bereicherung verjelben und zeugt von der beiten Schule. Nur
= Ein Rejultet feiner Unterjuhung aber wollen wir hier ausdrücklich
bimeifen, daß nemlih K. Friedrich II. bei viejen Vorgängen hier in
amem viel günftigeren Yichte erſcheint, als dies ſonſt ver Fall tft, eben .
weil ver Berf. bloß von einer umfaſſenden und gewiſſenhaften Benutung
der betreffenden Quellen ſich leiten läßt und einen wirklichen bijtorijchen
Emm befist. Und ähnlich wire es wohl mit 8. Fr. I. in den meiften Fällen
azchen, wo nicht tie Leidenſchaft und ein nicht zur Sache gehöriger (Eis
kr das Urtheil trüben. — Zwei ber folgenden Aufjäge bejchäftigen
ũch mit Kaiſer Ludwig tem Bayern, und beide enthalten zwar nicht
vejgreifende, aber doch erwünjchte Bereicherungen jeiner Geſchichte.
Be. 2. Delsner führt den altenmäßigen Beweis, daß in dem Kampfe
8. Larwigs mit dem Papſte auch deutſche Dominicaner fehr warmen An⸗
Keil an ver Sache des Königs genommen, die mehr oder weniger auch die
peutihe Sache war, und daß diefe Oppojiticn nur ſehr gewaltſam un⸗
wırrrädt werten tft: während man bisher immer nur von den Anſchluſſe
ver Arancisfaner an Ludwig zu erzählen wußte Hr. Dr. Pfannen-
tmin unteriwirft die Frage: „ob den Papſte Johann XXII. vie Wahl-
Zerrete ver Gegenkönige Ludwig bes Bayern und Friedrich des Schönen
serzelegt werten ſind?“ einer eingehenden Unterjuhung. Es ift im
Grm zum erſten Male, tag dies gejchicht — auch Kopp ift raſch da⸗
räber binmweggegangen — und doch ift jie von der größten Bedeutung.
Cr. Bfannenſchmid gelangt nun zu tem plaufiblen Ergebniß, daß ge-
sahte Wabldecrete allertinge tem Papſte vorgelegt werden fint, da
scier aber Anftant nahm, einen oder ten andern ter beiten Könige als
ehtmäßigen unzuerfennen und Das Richteramt über die Giltigkeit oder
Umzurigfeit ber Wahl überhaupt prätenbirte, jo habe er die gedachten De-
zue nah genommener Kinjicht wieder zurüdgegeben, vie fid) ja aud) in deu
ren. Archiven zu Wien und Münden befinden. —- Um nun auf ben
xech übrigen Inhalt des erſten Heftes ver Forſchungen einzugehen, jo ſei
zaihft eines Beitrages von Stälin über die Zeitbeftimmung ter Ans
zahme der Kaijerwürte durch Vlarimilian i. 3. 1508 gedacht. Noch
292 Ueberſicht der hiſtoriſchen Litersine don 1860.
Ranke in: feiner d. ©. im Zeitalter der Reformation (3. Ausgabe, Op, I
&. 135) gibt den zweiten Februar als den Tag an, an dem jene Am
nahme zu Trient gejcheben fei; Stälin teilt nun aber ein Schreiben
zweier Yugenzeugen, Unführer des Eßlinger Zuzugs beim Reichcheccc
an die Stadt Eßlingen mit, woraus mit Beſtimmtheit hervorgeht, baf
jene Thatfache am vierten Februar geichehen if. — Der Aufſatz bes
Herrn Onno Klopp: „das Neftitutionsebikt im nordweſtlichen Deutſch⸗
. land“ — ber umfangreichite des ganzen Heftes — beichäftigt fich mit
einen der verwideltften und verhängnißvollſten Vorgänge des breißigjäße
rigen Krieges und muß, auf urkundliches Material geſtützt wie er iſt —
gewiß mit Dank bingenommmen werden. Das Bedeutend ſte hievon finb
offenbar bie Mittheilungen, die den Durchführungsverfuch des Reſti⸗
tutionsebictes in der Stadt Osnabrüd betreffen ; das Bedeutendſte, Lebe
veichfte, wenn auch nicht Erbaulichfte. Gegen ven Standpunkt des Berfaflerd
— der in Ganzen jchon aus früheren Leiftungen deſſelben befannt iſt —
ließe fich freilich Manches einwenden, im Allgemeinen und im Einzelnen.
Indeß bat bereits vie Redaction in biefer Beziehung eine Andentung ge⸗
geben und zu Erörterungen fpecieller Fälle ift hier fein Platz Es wäre
übrigens in ver That wünſchenswerth, daß enblich einmal die Geſchichte
des breißigjährigen Krieges von einen hiezu Verufenen und mit ber gaus
zen nothwenbigen Kraft und Höhe des Geiſtes und des nationalen freien
Geſichtspunktes gejchrieben würde. Werke wie das von Berthold oder
Gfrörer, engherzig und bornirt wie fie find, können nur verwirrend wit
fen. — Zum Schluſſe ſei noch der Unterjuchungen über die erften Un
fänge des Gildenweſens“ von O. Hartwig erwähnt, bie eim oft ange
faßtes aber nie erledigtes Thema wieder aufnehmen und denen man außer
der wiſſenſchaftlichen Haltung nicht beftreiten kann, daß fie die jchwierige
Frage offenbar gefördert haben. — J. —
Quehlen zur bayeriſchen und dentſchen Geſchichte. Herantg.
auf Beſehl und Koſten Sr. Majeſtät bes Könige Maximilian II. VIIL Wr.
U. u.d. T.: Quellen und Erdrterungen u. f.w. Quellen VIII. ®.
Münden, 1860, bei Georg Franz. 418 ©. 8.
Die größere Hälfte, 312 S., füllt Erhard Shürftab’s Be
fhreibung tes erften markgräflichen Krieges gegen Nürn⸗
berg. Der Herr Herausgeber Joſeph Bader eörtert in emer Eim
keitang vie Urfachen des Krieges und in einem Nachtrag ©. 132 — 144
294 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Aus der Nachricht über die Thätigfeit der Commiſſion zur Heraus
gabe der Acta Conciliorum entnehmen wir mit Vergnügen, daß ter Trud
des Johannes de Segovia, welcher 2 Bände ausfüllen wird, im Herb
v. J. beginnen konnte.
Bfahler, Geſchichte der Deutfhen von ben älteſten Zeiten bid,
auf unfere Tage. 5. %fg. Stuttgart, Gebr. Sceitlin, 1860. 1. ®b. ©. 321
— 400. 8.
Dr. 3. ©. X. Wirth, Gefhichte der Deutſchen, New burchgeichen
und fortgefett bis auf bie Gegenwart von Dr. ®. Zimmermann. 4. Auf.
In ca. 20 Pfgn. Stuttgart, Hoffmann, 1860. 1. Lg. 1. Bb. S. 1-%. 8.
Mar Wirth, Deutihe Geſchichte von ber äftefien Zeit bie zur
Gegenwart. 1. fg. Kranffurt a M, 1861. 1 ®b. 8. 1—112. 8.
Sporſchill, Geſchichte der Dentfhen von den älteflen Zeiten is
auf unfere Tage. 2. Aufl. Mit 1 Stahlfl. u. mehr als 100 eingebr. Holze
ihn. Regensburg, Manz, 1859. 2. Hft. 1. Bb. ©. 145—272. 8.
Dr. ®. Wachsmuth, Prof, Geſchichte deutſcher Rationalität.
2 Th. A. u d. T.: Geſchichte der deutſchen Volksſtämme aus dem Geſichts⸗
puncte der Nationalität 1. Hälfte. Die Stämme niederdeutſcher Zunge u. bie
Heflen. Braunfhweig, Schwetſchke u. Sohn, 1860 Vill, 8841 S. 8.
G. Th. Dithmar, Deutfhes Hiftorienbud. Eine Sammlung von
Erzählungen aus ber beutihen Geſchichte. 2. verm Ausg. Frankf. a. M.,
Brönner, 1860. XIV, 510 S. 8.
Dr. Sr. Bülau, Brof., Die deutfhe Gefhichte in Bildern, nad
Driginalzeihnungen deutſcher Künftler, mit erläuterndem Zerte. 2. Bd. Dree⸗
den, Meinhold, 1859 u. 60 4.
Dr. ®. Buchner, Deutihe Ehrenhalle, bie großen Männer bes
beutichen Volles in ihren Dentmalen. 8.- 10. Lig. Darmfladı, Köhler, 1860,
©. 225 - 520. 8
Georg Waitz, dentſche Berfaifungsgefhichte. 8. 8b. Kiel, Cru
Somanı, 1860 X. 534 S. 8
Waig’ deutſche Berfaffungsgeichichte ift aus tem immer mehr fid
aufdrängenden Bebürfniß hervorgegangen, die feit C. Fr. Eichhorn's deut⸗
ſcher Staats⸗ und Reechtsgeſchichte weiter geführte wiſſenſchaftliche For⸗
296 Ueberſicht ber hiſtoriſchen Litetatur von 1860.
Hof und die Reichsverſammlung“ kehrt Die Betrachtung wieber zu: ben
centralen Negierungsfunctionen zurück und vermweilt am längften bei ven
Hofämterr und bei den Formen der Heichögejeßgebung.
Nur weniges Einzelne läßt fid) hier aus fo reichhaltigen Stoff ker
vorheben; wir wählen einige fchwierige und controverfe Themata aß,
um die Anficht des bewährten Forſchers hierüber zu vernehmen.
“ Im dem fchlieflihen Urtheil über Karl’8 des Großen Gejehgebung
und Regierungsthätigfeit weichen befanntlih die Meinungen der neueren
Hiftorifer weit von einander ab. Wait ftellt fie, feiner Methode auch hier
getreu bleibend, in einer Anmerkung ©. 286 ff. zufammen ; fein eignes
Urtheil aber Hält ſich vermittelnd zwiſchen den Gegenſätzen einfeitiger De
wunberung und Berwerfung. „Karls Einrichtungen, fagt er, jchließen alle
an altbegründete Verhältniſſe an, pre fie weiter bilden, nicht aufheben nd
zerftören; fie zeigen das Streben in die Mannichfaltigleit und Regelloſigkeit
ver Zuftänve eine beftimmte Ordnung zu bringen, — ber Macht ve
Herrſchers neue Stügen zu geben; aber dieſe Macht, jo groß und durch⸗
greifend fie fein mochte, ging nicht darauf aus, den Willen und bie Will⸗
tür des Einzelnen zum Geſetz für vie Geſammtheit zu machen; fie bes
wegte ſich innerhalb beftimmter Schranfen ; fte handelte, eben weil fte eime
germanijche war ımb blieb, nur in Gemeinſchaft mit anderen berechtigten
Gewalten; fie unterbrüdte nicht die Freiheit des Volles, fondern ließ ihr
Raum der Bewegung in ven einzelnen Kreifen und &emeinven, über bie
fie gewiffermaßen nur das weite Dach einer allgemeinen Reichsregierung
zu breiten juchte; fie hatte, weil fte zugleich eine chriftliche fein wollte and
fih auf's engfte mit der Kirche verband, das Heil des Bolls, die Erfül-
fung nicht blos feiner fittlichen, auch feiner religiöfen Lebensaufgaben im
Auge und fuchte beive nach dem Maß der jener Zeit gegebenen Einſicht
zu löſen.“
Waitz nimmt Karl den Großen in Schu gegen ben gewöhnlichen
Borwinf, daß er zu viel habe regieren und künſtlich fchaffen, ge
waltfam das Volk in eine beftimmte Richtung habe führen wollen; doch
ericheint auch ihm das Ziel, welches Karl und feine Freunde erftrebten, ”
als ein verfehltes und unerreichbares, weil „es überhaupt unmöglich war,
dem Geſetze aller ftaatlihen Entwidlung und beſonders der ber germani-
ſchen Völker entgegen eine ftaatlich Kirchliche Gemeinfchaft aller in dem⸗
jelben Glauben und unter derſelben Herrihaft vereinigten Nationen zu
Dentfhe Gedichte. 227
keründen unb auf die Dauer zu fihern.” Und hiemit ift gewiß das Rich⸗
te getroffen, wiewohl auch Diejenigen nicht irren, welche eben deßhalb
kan, daß Karl in der Richtung einer unausführbaren Idee zu viel ge-
welt und tem pelitiichen Leben der Bölfer Gewalt angethban habe. Ein
Jmbum wäre ed nur, zu glauben, daß chne ven Durchgangspunkt der
Reiche gemeinſchaft wie der kirchlichen Bereinigung, welcher Karls des
Orejen Regierung bezeichnet, die Entwidlung ver romaniſchen und ger-
nanijchen Kationen eine erjprießlichere gewejen wäre. —
Die Einziehung und Verleihung von Kirchengut ald Benefictum durch
die carelingifchen Herricher war befanntlic von großer Bedeutung für bie
Unstiivuny des Lehenweſens. BP. Roth hat in jeiner Geichichte des Be-
aehcialmejeu® gegen Die herlömmliche Meinung, dag der hauptſächliche
Exgriff in das Kirchengut duch Karl Martell gejchehen fei, und daß
zehn Söhne, Karlmann und Pippin, der Kirche einen Theil des Raubes
ærũckgegeben hätten, bie Anficht aufgejtellt, daß bie Sücularijation des
Kichenzuts im Öegentheil erft durch die Söhne Karl Martell's erfolgt
ki Baig vertheidigt tm erften Abjchnitt dieſes Bandes (5. 15 ff. 35 ff.)
ze ältere Auffaflung, wie er dies auch ſchon in jeiner Abhandlung über
ve Anjänge ver Bafjallität gethan hat. Bei ver Theilung des Kirchens
gi, wie fie Karlmann's Capitulare von Piftinä 743 und Pippin’s von
Enenſiones 744 beitimmt, jei nicht von ver Einziehung, fontern vielmehr
zen ver Rückgabe eines Theils des jeit Karl Martell's Regierung einges
ggmen und in weltliche Hände übergegangenen Kirchenguts vie Rebe.
„Die Maßregeln Karlmann's und PBippin’s, jagt er, haben nur Sinn und
Bevemtung dadurch, daß das Kirchengut ſich vorher jo gut wie vollftän-
Ri in den Händen ver Weitlichen befand;“ aljo nicht eine Verjchlimmes
zung für Die Rage der Stiche fieht W. darin, ſondern im Gegentheil eine
Berkeilerung.
Auch mir jcheint Roth zu weit zu gehen in dem Eifer, womit er
Kl Martell gegen jeinen ungeblihen Verläumder und „Fälſcher“
hiacmar in Schug nimmt; gibt er doch jelbft nachher wieder die Haupt⸗
sche zu: „Karl Martell behandelte die Kirche ebenſo gewaltſam, wie
ke Söhne, jein Verfahren war ſogar nadtheiliger, indem es von einer
zöfigen Auflöjung der Kirchenzucht begleitet war"; denn er wernichtete
Be Selbſtſtändigkeit der Kirche, vergab die Bisthümer an Yaien oder ließ
je mubeiegt; aber, meint Roth, dies war doch feine Säcularifation, keine
15*
228 Ueberficht ber Hiflorifchen Literatur von 1860.
gejelihe und allgemeine Einziehung eine® Theild des Kirchenguts durch
ven Staat, und, fügt er weiter hinzu, es beburfte derſelben auch nicht,
„ba die verweltlichten Bijchöfe unter Karl Martell den Bedürfniſſen ver
Regierung durch große freiwillige VBergabungen entgegen famen“ (Geld).
des Beneficialweſens ©. 333 f.). Alfo auch nad) dieſer Auffeffung wäre
doch der frühere Zuftand vor der divisio, wenn ich Roth recht verftche,
der jchlimmere für die Kirche geweſen; denn Karl Martell verfügte Lieber
ganz nah Willfür über die geiftlihden Stellen und das gefammte Kir⸗
chengut, als daß er, wie feine Söhne, eine gefeliche Theilung mit ber
Kirche vorgenommen hätte,
Dennoch jagt Roth von diefer divisio: „fie war in jeder Hinficht
ein Gewaltftreih, dem ſich die Kirche fügte” (a. a. D. ©. 315); aber
er berichtigt fich weiterhin felbft wieder, wenn er in dieſer Maßregel viel»
mehr ein Compronig zwiſchen Kirche und Staat erfennt und fie info
fern für gerechtfertigt erklaͤrt, als bie Geiſtlichkeit im Allgemeinen bei⸗
ſtimmte, wie denn auch nirgends eine Spur eines Proteſtes von Boni⸗
facius dagegen zu finden ſei (S. 359). Mit dieſer letzteren Auffaſſung
von Roth ſtimmen wir ganz überein; nur daß auch mir, gleichwie Waitz,
der von Roth gebrauchte Ausdruck Säculariſation mißfällt, da doch ſelbſt
für den von der weltlichen Gewalt zurückbehaltenen Theil des Kirchen⸗
guts Das Eigenthumsrecht der Kirche durch Precarium und Zins aus—⸗
drücklich anerkannt wurde. Und wie großen Werth die Kirche gerade
hierauf legte, erhellt aus der hierauf bezüglichen Aeußerung des Papſtes
Zacharias in ſeinem Brief an Bonifaz (Bon. Ep. ed. Giles No. 60,
Würdtwein No. 87), worin er ſich höchſt erfreut und dankbar darüber aus⸗
ſpricht, daß Bontfacius Died wenigſtens durchgeſetzt habe.
Es iſt hier nicht der Ort, näher auf den Gegenſtand einzugehen;
nur ſo viel ſei noch bemerkt, daß ich übrigens Waitz nicht beipflichten
kann, wenn er die auf das Kirchengut bezüglichen Beſtimmungen der
Synode von Soiſſons für gleichbedeutend hält mit denen der Synode
von Leſtines; ich hege vielmehr die Anſicht, daß das Verfahren des kirch⸗
Mlich geſinnten Karlmann und das von Pippin, der bie kirchlichen Dinge
nur nad) politiſcher Zweckmäßigkeit behandelte, auch in Beziehung auf
das Kirchengut ein verfchievenes war. Gleich auf dem erften concilium
Germanicum von 742, wozu Karlmann den Bonifaz und feine Mitbis
jchöfe berief, konnte ex von fig rühmen: Et fraudatas peounias eccle-
Deutiche Gefchichte. 229
serum restituimus et reddidimus. “Daß aber Pippin noch eine Zeit lang
Fe auf Karl Martell's Wegen fortging, beweijen vie Fälle, welde Roth
2. 337 ff. aufgeführt hat, wenn auch nicht alle gerade nur auf Pippin
mat nicht auch auf Karl Martell zu beziehen wären. Erſt jpäter im 9: 750,
mean wir ten Ann Bertiniani Ölauben jchenfen wollen, verſprach Pip-
pa tem Bonifaz eine allgemeine Keftitution an die Bisthümer; vamals
wwerbantelte er mit tem Papft über die Errichtung feines neuen König—
kame; in tem Gapitular von Soiffens 744 ift nur erſt von dem noth-
tärttigen Unterhalt ver Mönde und Nonnen die Rede. —
3m Gegenjag zu den überſchwänglichen Vorjtellungen, ven „Phan⸗
sen“ von Öfrörer und Leo über Bonifacius’ Berbienfte um tie Eini-
ganz des deutſchen Volkes, macht Waig die fehr richtige Bemerkung
S. 41), Daß „die kirchlichen Inftitutionen, welche Bonifacius in's Leben
rief, vielmehr jelbit erft möglich wurden durch das, was vie fränfifchen
Fürften eben damals in neuen Kriegen gegen bie beutjchen Herzoge er-
rengen batten, und daß fie nachher nur dazu beitrugen, das Gewonnene
a fichern und ihm eine weitere Berentung zu geben”; und was die an:
geblich durch Bonifacius hergeftellte deutſche Kircheneinheit betrifft, meiet
er auf vie Thatſache hin, daß dem Erzbisthum tes Bonifactus in Mainz
die Bisthümer ven Bayern und Alemannien nicht untergeben waren (j.
uch meinen Bortrag über vie Einführung des Chriftenthums bei ben
Germanen S. 21 mıd Note ©. 3°). —
Tas große Ereigniß ver Errichtung des zweiten fränfiichen König-
thums möchte Waitz (S. 67) nicht als eine Thronrevolution, jondern nur
als ven Abſchluß einer Entwicklung, welde vor einem Jahrhundert be>
zennen, bezeichnen. Bei ter Unbeſtimmtheit dieſes Auspruds läßt ſich
nicht wohl über die Sache ftreiten, der Abſchluß war eben bie Thronver⸗
änterung. (Nur das Citat: Hegel, Stäbteverf. I. ©. 209 ift zu berich⸗
tigen in Hegel, Tortrag Über vie Einführung des Chriſtenthums ꝛc. ©. 21.)
Yu Betreff ver Mitwirkung des Bonifacius bei diejem Ereigniß beſchränkt
sh Waitz auf die Bemerkung, daß es bei der Stellung, welche Bonifaz
aznahın, kaum wahricheinlich fer, daß eine Angelegenheit von viejer Be⸗
deutung ihm fremd geblieben (5. 60); und geſtützt auf ben fpäteren
Sexicht ver Ann. Laur. maj. nimmt W. auch die Anmejenheit und Bes
theiligung des Bonifaz bei der Salbung Pippin’s an. Doch fteht dem
Zengniß der Loricher Annalen das Schweigen des näher ftehenden Willi-
230 Meberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
bald im Leben des Bonifaz gegenüber; od) mehr Gewicht lege ich aber
mit Nettberg, was die Stellung des Bonifaz zu Pippin angeht, auf feine
beiden faft gleichzeitigen Briefe an ven Abt Fulrad von St. Denys und
an den König Pippin ſelbſt v. 9. 752 (Ep. 79, 80 bei G., 90 u. 91
bei W.) Mag Bonifacius an der Salbung Theil genommen haben, we⸗
nigftens an eine einflußreihe Stellung bei Pippin und an eine weſent⸗
liche Mitwirkung bei deſſen Thronerhebung ift im Hinklid auf dieſe Briefe
unmöglich zu denken. Doc möchte ich auf der anderen Seite ebenjo we⸗
nig der weiter gehenden Bermuthung Rettberg's beiftunmen, daß Bonifaz
ber Thronerhebung Pippin's entgegengewirkt habe, die Sentung des Pullus
im 9. 751 an ven Papſt Hatte, wie aus dem Schreiben des letzteren
(Ep. 76 G.) hervorgeht, eine ganz andere Abſicht, und Bonifacius hatte
nach feiner ganzen Sinnesrichtung und der Art feiner Wirkſamkeit mit ver
Politik des fränfifchen Königs gar nichts zu Schaffen; nur dem kirchlich
gefinnten Karlmann ftand er nah; zu Pippin trat er nie in ein ähnliches
Verhältniß.
Völlig erſchöpfend handelt Waitz S. 169 ff. von der Aufrichtung
des Kaiſerthums durch Karl den Großen. Alle Momente, welche hierbei
zuſammen wirkten: die thatſächliche Macht des fränkiſchen Herrſchers, die
ſtaatsrechtlichen und kirchlichen Ideen der Zeit, die äußeren politiſchen Be-
ziehungen werden nach einander vorgeführt und bringen die Ueberzeugung
hervor, daß die ganze Lage der Dinge auf dieſes Ereigniß als auf einen
nothwendigen Abſchluß der bisherigen Entwicklung des fränkiſchen Reichs,
wie der Regierung Karls des Großen ſelbſt, hindrängte. Ueber die Kai⸗
ſerkrönung ſagt Waitz S. 173: „Es ſcheint, daß von den Geiſtlichen in
Karls Umgebung der Gedanke ausging, den dann der Papſt aufnahm
und zur Ausführung brachte,“ und er will auch die Verſicherung Ein⸗
hard's, daß Karl auf den Vorgang am Weihnachtstage 800 nicht vor⸗
bereitet geweſen, nicht in Zweifel ziehen, freilich nur in dem Sinne, „daß
der König an dem Tage überraſcht warb”; denn daß er ſich ſchon vorher
mit dem Plane trug, ſei nicht zu bezweifeln. Auch hier, wie überall,
zeigt der beſonnene Hiſtoriker dieſelbe Zurückhaltung und Vorſicht im Ur⸗
theil, indem er im Hinzuthun eiguer Combination ſich auf das Natürliche
und Nächſtliegende beſchränkt; er will nicht die authentiichen Zeugniffe be-
richtigen, jondern fie ergänzen und verbinden. Effectvoller und verführert-
ſcher ift freilich die andre Methode, geiftreihen Einfällen zu Liebe, aus
1
mu om — as —
Deuiſche Geſchichte. 231
a Uuellen oft gerade das Gegentheil von dem, was fie ſagen, zu inter⸗
meiiren, aber um jo unfruchtbarer für wirkliche Hiftorifche Einficht und
Scdzung. —
Su dem folgenden 4. Bande, ber die carolingifche Zeit abſchließen
wat, veripricht Waitz noch beſonders zu betrachten: die Finanzverwaltung,
bed Heerweien, womit die Berhältnijfe ver Baffallität, und das Gerichts-
aden, wemit bie ter Immunität in Verbindung ſtehen. Man wird dort
see Zweifel noch mehr Einblid in das innere Verfaſſungsleben gewin-
mm. während und bier mehr nur die äußeren Kegierungsformen dargelegt
merden find. Rachdem man bie Iuflitutionen in Form und Bedeutung
immen gelernt bat, verlangt man zu wiffen, wie fie wirkten, und warum
3 ie wirkten? ob jie vie Abficht des Geſetzgebers erfüllten oder zu anderen
Egknifien führten? Namentlich die Baffallität und die Immunität ent-
halten Tie Keime der künftigen Entwidlung der politiſchen und kirchlichen
Xcichsverfaffung, melde ung Wait gleichfalls noch ausführen will.
K. Hegel.
Dr. 4. v. Daniels, Obertribunalrath, Handbuch ber beutfhen
Reichs⸗ und Gtaatenrehtsgefhichte. 1. Theil, Tübingen, 1859 &.597.
2 Theil. Band 1, 1860. ©. 548. 8.
Im Plane des Verfaſſers liegt es, in 4 Bänden eine Geſchichte ber
SHrung des deutſchen Reichs und jeiner Territorien, fowie des in den⸗
jeben erwachjenen öffentlichen Rechts zu liefern. Der bereits im I. 1859
ajchienene erfte Theil enthält von S. 12— 107 einen Abriß ver Schid-
iele ver verſchiedenen germanifchen Völkerſchaften bis zur Auflöfung des
gehen Träntijchen Heiches, und von S. 313—597 eine Darftellung des
Sefjetfungsredhts Bis zu biejem Zeitpunkt. S. 107— 313, alſo volle
Kr) Seiten, nimmt eine ſehr ausführliche Unterjuchung über bie alten
Beilsrehte und die fränkischen Reichsgeſetze ein, bei welcher fid) vieles
game kürzer fallen laſſen. In einer Reihe von Lehren ftellt ver Verf.
nme Anfichten auf, gibt fi aber zuweilen gewiß aud) unnöthigen Be-
venlen hin, 3, DB. wenn er S. 10% meint, die Aechtheit der Germania
BB Tacitus fei „nicht über Zweifel erhaben“, es könne jie möglicherweiſe
am beuticher Fiterat nachträglich fakricirt haben (!). Die bier und ba
seriuchten Etymologien, 3. B. ©. 52 Alamannen von alu. manig, ©. 51
üxanlen von vringen, vrangen, ©. 560 Sceffen von jhauen, S. 17
232 Ueberfiht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Germanen von dem Iateinijchen germanus, find ebenfall® nicht glädfich
zu nennen.
Des zweiten Theiles erfter Band, welcher auf allen 544 Seiten bie
unnöthige Weberjchrift „Einleitung“ trägt, enthält von S. 3 — 229 eine
Aufzählung der Quellen für Geichichte des deutſchen Reichs und ber ein
zelnen Reichsländer, fowie ter darauf bezüglichen Literatur. Auch bie
zu irgend einer Zeit mit dem deutſchen Reich in Verbindung oder Bes
ziehung geweſenen Länder, und dahin gehören freilich foft alle Staaten
Europa’s, find berüdfichtig.. ©. 229 bis zum Schluß folgt dann eime
„ſynchroniſtiſche Ueberſicht der Reichs⸗ und Stantengeihichte” vom $.
887— 1272, deren Yortjegung bis auf unfere Zeit einen folgenden Baud
füllen wird. Wir glauben, daß fi) namentlich gegen den Werth vieler
Pſeudo⸗Regeſten Bieles wird einwenven laſſen. F. Th.
Dr. 30. Fror Schulte, Brof., Lehrbuch der dentſchen Reicht⸗
und Rechtsgeſchichte. In 3 Lfgn. Gtuttgart, Nitzſchle, 1860. 1. Mg.
VI, 1466 8.
Geſchichte des deutſchen Rechte, in 6 Bänden. Bearbeitet von ©.
Befeler, H. Hälſchner, 3.8. Bland, A. 2. Richter u. DO. Stobbe
1. Bd. In 2 Abthl. Braunfchweig, 1860. 8.
Inhalt: Geſchichte ber beutichen Rechtsquellen. Bearb. von D. Gtobbe.
1. Abthl. XI, 655 ©.
Dr. 9. Zöpfl, Prof., AlterthHämer bes deutſchen Reicht und
Rechts. 1. Bb. Leipzig m. Heidelberg, 1860. ©. 398. 8. 2. Gh. chem
daſ. S. 499.
Diefe beiden Bände, welchen nod ein britter nachfolgen fol, verei-
nigen eine Anzahl von Abhandlungen, Recenfionen und Urkunden, welde
vom Berf. bereits früher in verjchievenen Zeitfchriften zum Abdruck ge
bracht worden waren; fie enthalten aber aud ein gutes Theil neuer Un-
terſuchungen. Zu ben letzteren gehört eine umfangreiche Ausführung in
Bd. 1, welde darthun fol, daß der deutſche Herrenſtand“ feine „Wiege“
in den Dinghöfen gehabt habe, und daß tiefe Tinghöfe „Ausgangspunkt“
oder „eriter Ausgangspunkt“ ver Landesherrlichkeit geweien fein, das
ſoll heißen, daß fih aus bloßen Grundbeſitzern wirflide Obrigleiten,
Grafſchaften, Fürſtenthümer gebilvet hätten. ‘Der Verf. verfpridht in ver
Aufichrift, dieß an einem beſtimmten Beifpiel, an dem Dinghof der Her⸗
—— NG
Dentſche Geſchichte. 233
ren Bödlin von Bödlinsau zu Ebersheim im Elfaß nachweiſen zu wollen,
hiuft aber ſtatt deſſen aus anderen namentlich eljafliichen Weisthümern,
and Urfunten, Rechtsbüchern, Capitularien, fo viele Argumente, daß
er ſeines Beiſpiels faft darüber vergigt. Die geitellte Aufgabe zerfiel
jachgemäß in zwei Theile, einmal darzuthun, welde Natur die Dinghöfe
batten, ehe fie in Landesherrlichkeit umſchlugen, und dann durch welche
Uriachen und wann ſich vie Landesherrlichkeit daraus entwidelt habe. Der
Berfaffer hat aber viele Fragen keineswegs jcharf gejonvert, und bei ber
Beweisführung überhaupt fo wenig Syſtem angewandt, daß es fehr ſchwer
wird zu ermitteln, worauf feine Annahnıen binauslaufen. S. 132—170
wird um wejentlichen richtig aber unvollftändig ausgeführt, daß nach frü⸗
berem deutſchen Recht ein Eigenthlimer, welcher gegen Zins an linfreie
eder Freie Lant zum Bauen überließ, berechtigt war, biefen Zins ohne
Hilfr̃e des Boltsrichters mittelit Pfändung beizutreiben, daß über bie
Erreitigfeiten zwiſchen Eigenthümer und Zinsbauer die Geſammtheit ber
Zinsbauern (Hubner, Hofhörigen) oder eine ausgewählte Zahl verjelben
ı Scheifen) urtheilten, ebenfalls ohne Dazwiſchenkunft des Volksgerichts
=. ſ. w., wie dieß Alles in ähnlicher Weife auch bei Streitigfeiten zwi⸗
ſchen Lehnherr und Bafallen ver Fall war. Obwohl der Verf. ©. 66
jelbſt zugefteht, daß es „Leine“ Dinghöfe gegeben babe, bei welchen ſich
tie Gerichtsbarkeit des Herrn hierauf beichränft habe, fo ftellt er tod)
tie durchaus neue Anficht auf, die Befugniffe des Hofherrn feien in der
Regel (Ausnahmen erklärten fih aus einem fpäteren Sinken ver Bedeu⸗
tung ver betr. Dinghöfe, ©. 11 u. 162) urjprünglidy weiter gegangen.
Er babe das Recht gehabt, auf frevelbafte Handlungen irgend welcher
Art eder rechtöwibrige Unterlaffungen der Hubner Geldſtrafen zu ſetzen
(5. 22), und zwar bis zu 30 Scillingen, aljo der Hälfte des Könige:
banns (S. 26 u. 27); er jei berechtigt gemweien, wenn ver König ben
Heerbann verfündigte, feine Hinterjafien (auch die unfrein?) als ihr Se-
wier ammführen (S. 19), mas ſich fpäter in ein Beſteuerungsrecht um-
wantelte (5. 20). Namentlich aber habe dem Herrn die Gerichtsbar⸗
keit in allen bürgerlichen und in ven meiften Strafjachen zugeftanden
(S. 11 — 13), mit Ausnahme nur ter jog. vier hohen Rügen,
nämlich Nothzucht, Diekftahl, Mord und biutende Wunden (5. 66), in
welchen Fällen ver Verbrecher an das gewöhnliche Gericht des Grafen
Gabe abgeliefert werden müflen (S. 70). Den auf handhafter That er»
234 Meberficht der hiſtoeriſchen Literatur won 1860.
griffenen abzunrtheilen und jelbft ben Tod über ihn zu verhängen, jet
jedoch zur niedern (!) Gerichtsbarkeit gerechnet worden, unb baber auch
dem Dinghofherrn zugelommen (S. 75), was fi jedoch jeit dem 14.
Sahrhundert geändert babe (!) (S. 78). Dieje hofherrliche Jurisdiction
treffe überein mit derjenigen ber alten Zentgrafen (bevor ſich das Zent-
gericht im 12. Jahrh. zu einem eigentlichen Criminalgericht umbildete,
(S. 74), ſei ihr coorbinirt gemejen (S. 70 u. 74). Die Oüter ver
weltlichen Hofherren hätten aljo einen Immunitätsbezirk ausgemacht, wie,
vermöge königlicher Privilegien, vie Befigungen ber Kirchen (S. 11 u. 39).
Den Beweis für dieje feine Behauptungen ift ber Verf. durchgängig
ſchuldig geblieben. Daß die Privatbefigungen weltlicher Herren Immmmi⸗
tät genoffen hätten, läßt ſich doch nicht mit Beiſpielen darthun, wo ber
Eigenthümer nicht ein weltlicher Herr, fondern eine vom König mit Im⸗
munität oder gar mit Grafſchaft bejchentte bifchöfliche over klöſterliche
Kirche iſt. Und doc benutzt folhe ver Verfaſſer überall für feine Be
weisführung, wie er auch nicht weiter darnach fragt, ob ber weltliche
Inhaber eines Dinghofs dieſen zu eigen bat, und nicht etwa von einem
mit Immunität oder Grafichaftsredyten beſchenkten Biſchof, Abt ober
Propft zu Lehen trägt. So wird S. 13 zum Beweis, daß in manden
„Dinghöfen“ über Hals und Haupt geurtheilt worden fei, ein Weiätkem
v. 3. 1482 über die Dörfer. Hornau und Kelchhein im Naſſauiſchen,
gebrudt bei Grimm, 1, 561, anggogen; allein das dortige Gericht der Herren
von Erpenftein war nicht ein grunpherrliches, jondern Immunitäte » ober
Grafſchaftsgericht einer Kirche, nämlich des St. Bartholomänsftifts zu
Frankfurt, von weldhen die Eppenfteiner feit dem I. 1367 Vogtei und
Blutbann zu Lehen trugen (Böhmer, cod. dipl. Moenofr. p. 723). Dies
ſes Weisthyum muß auch ferner S. 19 ven Beweis, und zwar ben ein»
zigen, dafür abgeben, daß bie Hofhörigen Landfolge hätten leiiten müſſen.
Eigenthümlich ift, wie nun der Verfaſſer weiter ausführt, in welcher
Art die Dinghöfe Wiege des Herrenftandes geworden jeien. Seit Ent-
ftehung der Fräukiſchen Monarchie jei das urſprünglich allen freien
Grundbeſitzern zugeftanvene Immunitätsrecht für ihre Haus eingeſchränkt
worden auf die größeren und edlen (deren es aljo ſchon uranfünglich vor
Eriftenz ver Dinghöfe gab), Grundbeſitzer, und bei dieſen zugleich ausgedehnt auf
ihr ganzes gejchloffened Grundeigenthum (S. 40 und 111). Diefe Be⸗
vorzugten jeien fo zum Stand geworben, domini terrae un alten Siun
Dertſche Geſchichte. 235
anmer, deren auszeichnendes Vorrecht gemeien jet auf ten Reichstagen
a eribeinen. (S. 88 u. 2395. Tieier Stand babe im 13. Jahrbun-
tert feinen Abſchluß gefimden; wenn einige ter freien Herren nachber
rarch Femiglihe Belohnung größere Rechte erlangten als ibre alte Im⸗
mitãt in fich ſchleß, jo thue dieß tem Stantesrecht rer übrigen feinen
Akbruch /S. 106 unt 67): auch dadurch ſei daſſelbe nicht für fie vers
teren gegamgen, daß fie ven ihrem Recht, auf ten Reichstagen zu er-
iceinen, keinen Gebrauch mehr machten (S. 89). Wenn e8 jih alle
für eine Familie, z. B. tie Bödlin ven Böcklinsan, um ten Nachweis
wer ASugebcrigleit zum hohen Adel handle, jo brauche nur erwieſen zu
werten, daß fie (aber Doch wohl ver tem 13. Jahrhundert!) einen
Tmgbef mit Immunität als Allod bejeilen habe, ver Nachweis der geüb-
en Reicheſtandſchaft ſei erlaffen () (S. 106 unt 239).
Wo erbringt nun aber ver Verfafler wenigftend ten aud nach fei-
zer eignen Iheorie nöthigen Beweis, daß vie Böcklin von Böcklinsau,
re Den Dinghof zu Ebersheim, dem Anjchein nach jeit dem 17. Jahrh.,
rem Klefter Ersheim zu Lehen tragen (5. 241), vor tem 13. Jahrh.
allediale Beliger deſſelben gemeien fein? Darnach forſcht man vergebene.
Nech ſeltſamer ſind die für Entwicklung der Landeshoheit aus Pri-
eatgrumnbejitrechten beigebrachten Gründe. Wir überlaſſen, weil der ver⸗
gennte Raum ein mehreres nicht geſtattet, unſeren Leſern, auf S. 80,
57, 38, 68, 123, 124, 324 und 355 ſelbſt nachzulefen. Wir würden
auch Die Übrigen Aufftellungen ves Berfaffers nicht jo ins Einzelne verfolgt
baden, wenn er nicht (©. 304) ausdrücklich darauf hinzumeijen für gut fände,
ak tietelken für tie rechtliche Stellung ver mediatiſirten Gerichtäherren
ven hohem und nieverm Adel in der Gegenwart „ven größter Bedeu⸗
ung“ werten fünnten Es erſcheint in Teiner Weiſe wünſchenswerth, ir-
gendwo imglüdliche Illuſionen anftonmen zu laſſen. Auf die zahlreichen
Unrichtigkeiten, tie fich im dem Aufſatz vorfinden, ift bereits von Konr.
Maurer in ter Krit. Vierteljahrejchrift, 1860, S. 269 im Einzelnen
eufmerfiam gemacht worden; wir notiven unter andern noch Die irrigen
Erflirungen ven gescheid (5. 12), von wortzins (5. 131), von ban-
nes allodii als „lateiniſcher“ Ueberſetzung von Eigengerichtsbarkeit (S. 47),
ven ..emf rechten vnversprochen mannen* (S. 322), da zu lejen ift:
„wufrechten“ v. m., das heißt aufrichtigen, ftraden, geraten, rechtlich ge⸗
finnten Penten, vgl. Grimm, deutſches Wörterb, „aufrecht“. F, Th,
336 Ueberficht ber hifterifchen Literatur von 1860.
Friedrich Thndihum, Die Sau- und Marktverfeffung im
Dentfhland Gießen, 1860. ©. 344. 8.
Diejes Wert iſt ver Beachtung von Seiten der Germaniften im bo»
ben rate zu empfehlen, weil ver Herr Berf. auf Grund feiner umfang»
reihen Forſchungen in größtentheil® ungebrudten Urkunden und ardiva-
liſchen Ueberlieferungen in principiellen Fragen Säge aufftellt und zu bes
gründen fucht, welche mit den ehren ber berufenften Rechtshiſtoriler im
erflärtem Widerſpruche ftehen. Es verbietet und leider der knapp zuge⸗
mefiene Raum des Näheren auf den Inhalt dieſes ſchon um der Neuheit
des darin enthaltenen Materials willen höchſt interejlanten Buches einzu
gehen, wir wünſchen aber, daß dasſelbe von ganz competenten Seiten ber
einer kritiſchen Beiprechung fich zu erfreuen haben möge, veren es im
Intereſſe ver Fortbildung unſerer teutichrechtlichen Kenntniffe durchaus
würdig if. Se ftellt der Verfaſſer, um nur ein paar Bunte bervorzu-
beben, in erften Theile die zwar nicht neue, aber doch nicht zum Durch⸗
bruche gelommene Behauptung auf, daß es ein Gauding, bei weldem
alle freien Einwohner des großen Gaues — Deutichland zerfällt nemlich
nad dem Berfafler bereits im 8. Jahrhunderte in einige Hundert großer
Bezirke (große Gaue), weldye felbft wieder durchgehends in Kleinere Be
zirfe (Untergaue, Zenten) getheilt find, von denen jever aus durchſchnitt⸗
ih 12 Ortsgemeinten (Torf« oder Bauerjchaften) befteht; vielen terri-
torialen Volksverbänden kommt auch eine verfchievene politifche Bedeutung
zu — zu erjcheinen verpflichtet geweſen feien, niemals gegeben habe, weder
vor Karl dem Großen noch nad dieſem. Vielmehr jeien die ungehotenen
Zentdinge zu allen Zeiten bie regelmäßigen Verſammlungen aller Freien
gewejen; an ber altehrwürbigen Maljtätte jeder Zent fei unter dem Vor⸗
fige des großen Gaugrafen, welcher daher von einer Zent zur andern
innerhalb feiner Grafſchaft umberzog, über alle ſchweren Verbrechen oder
Bergehen, Yreiheit, Rechtsfähigkeit und Örunbeigenthun gerichtlich ver⸗
handelt und entjchieden worden.
Ter Zentenar habe nur in den fogenannten wöchentlichen Gerichten,
wo über die geringeren Sachen erkannt wurde, den Vorfig geführt. Bon
einer Aenderung ter Gerichtsbarkeitsverhältniſſe will unfer Autor gar
nichts bemerkt haben, fo daß er dem Beweis zu führen unternimmt, „daß
Zent und Grafſchaft, Zentgericht und Pandgeriht, Zentgraf und Yand-
richter, Zenticheffe und Land« over Bergicheffe, Zentvolt und Landvolk
Deutſche Geſchichte. 237
eines und dasſelbe ſeien“. Der Unterſchied, welchen die Rechtshiſtoriker
bezũglich ter „Landgerichte“ und „Zentgerichte“ ſtatuiren, beruht nach
Thurihem nur in einer Verwechslung der Conpetenz des Zentgerichts
mit ter Amtsgewalt tes Zentgrafen: alle Zentgerichte hatten höhere
uup miedere Gerichtsbarkeit, je nachdem fie vom füniglichen Grafen ober
ren Tem durch dieſen legteren ernannten Zentenar abgehalten wurden;
Landgerichte, welche über ven Zentgerichten geſtanden und beziehungs-
weile an von dieſen leßteren verſchiedenen Malftätten abgehalten werben
feien, Habe es gar nie gegeben. — Schon dieſer eine Punkt wirb zwei⸗
felle® erheblichen Widerſpruch erfahren. Wir find einverftanden mit dem
Sage, daß es feine ſogenannte „Gaudinge“ gegeben habe, und halten
dafñr, daß die angeblihe Aenderung Karl's des Großen fid) Darauf bes
ſchränkte, daß er alle wichtigeren Criminal» und Civilrechtsſachen aus«
ihlieklih der Eompetenz tes Grafen unterftelltee Aber ver Meinung,
ls feien tie Zentgerichte allzeit die alleinigen Öerichtsftätten geblieben,
innen wir ums nicht anjchliegen. Um von anbern Bebenfen zu
fhweigen, jo müßte doch vor Allen die Stelle des befannten Utinenfijchen
Reichögeieged von 1232 ‚item ad centas nullus synodalis vocetur“
im befrietigenter Weije bejeitigt werten, was aber der Herr Verf. gar
zicht gethan habe, Synodalis heißt ſendbarfrei (corrumpirt, „ſemperfrei“),
ihöffenbarfrei. Wenn nun ber Kaiſer befiehlt, es dürfen vie jentbars
freien Lente nicht zu ten Zentgerichten gerufen werben, jo muß es für
Mejelben doch offenbar andere Gerichte gegeben haben, welche nicht Zen—⸗
ven hießen und eine jubjective höhere Competenz hatten als dieſe. Wir
halten darum für die Zeit des 13. Jahyr)yunderts vorerjt noch feit an
dem Gegenjage von Yandgerichten ala den höheren und Zentgerichten als
ten nieberen Gerichten eines Territoriums, injoferne als bei jenen über die
Rechtsſachen ter Schöffenbarfreien allein, bei diejen über tie der per»
ienlich freien, aber tinglih abhängigen Leute entjchieren wurde. Die
Aenterung, welche in ven Gerichtsbarkeitsverhältniſſen eingetreten ift, liegt
nach unjerem Dafürhalten tarin, daß früherhin die Competenz ver Ges
rihte nach ter causa fich beftinmmte, — intem für tie wichtigeren Seas
hen nur ber große Gaugraf, für die geringeren aber der Zentenar comes
petent war —, jpäter uber nach dem Stante der Parteien, jo daß man
keinen Unterſchied mehr machte zwilchen den causae majores und minores
fendern beim Lanbgerichte und beim Zentgerichte gleihmäßig über beide
2838 Ueberſicht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
entſchied, dort aber nur in Sachen ver Schöffenbarfreien, hier ia Sachen
der übrigen Gerichtöpflichtigen.. Soviel läßt fih and ven Reichsgeſetzen
und Rechtöbüchern des 13. Jahrhunderts zur Genüge erfennen.
In der zweiten Abtheilung feines Werkes führt Thudichum im fehr
anichaulicher Weife die Behauptung durch, daß Zent und Mark ſich decken
(„eve Zent ift eine Mark“), daß aus der Zentalmeinde erft vie Dorfe
almeinde und aus dieſer das Sonbereigen im Laufe ver Zeiten ſich ab»
gelöst habe. Zuerft ging nach der Völkerwanderung das Zentackerland
in ben Beſitz der einzelnen Dorfichaften über; dann folgen einzelne Wie
fen- und Weideflächen, ſelbſt Waldſtücke: das Uebrige aber, Wald, Waf-
fer umd Weide, blieb Zentalmeinde, bis im jpäteren Mittelalter die Zeut⸗
alnıeinden allmälig in Dorfalmeinven oder in landesherrliches und Pri⸗
vateigenthbum verwandelt wurden. Die Geſchichte ver Ausbildung des
Sondereigenthbums an Grund und Boden, fowie der Jagd und Fiſcherei,
die Abjchnitte über vie Gemeinde und über das Eigenthum an der Al
meinde find reich au polemifirenden Bemerkungen und jelbftitändigen
Rechtsausführungen. B.
Ed. Oſenbruggen, Prof., Das alamanniſche Sttrafrecht
im dentſchen Mittelalter. Schaffhauſen, 1860. ©. 419. 8.
Da die von Wilda bereitS vor Jahrzehnten begonnene Geſchichte des
Germauiſchen Strafrechts bein erften Bande unvollenvet ftille ftehen
mußte, fo unternimmt e8 ber Berfajler des vorliegenden Werkes, viefe
Geſchichte nah Wilda's Syſtem theilweiſe durch's Mittelalter bis auf
die neuere Zeit berabzuführen. Die Beſchränkung der Unterſuchungen auf
das Alamannische Recht machte es ihm möglich in biejem beftimmten
Kreife alle vorhandenen Quellen, jeien es Rechtsbücher, Stadtrechte, Ge⸗
riht8ordnungen, Urkunden, Chroniken, erſchöpfend zu benuten und zuver⸗
läffig zu erklären, auch die gewonnene Theorie durch kurze Mittbeilung
zahlreicher wirklicher Criminalfälle zu beftärfen over bie bejonvere Art
ihrer Anwendung zu zeigen. ‘Damit ift venn ein fefter Boden gewonnen
für die Bergleihung mit ſächſiſchem und fränfiichem Recht, wenn dieſe
einft eine gleiche Behandlung erfahren haben werden. Daß der Berfaffer
ftreng der Verſuchung widerſtand, diefe Dergleihung ſchon jet anzuftel«
len, ift feinem Werke nur zu gute gekommen. Daffelbe wird nicht nur
bei den eigentlichen Fachmännern, fondern, zumal es höchſt einfach und
Deutiche Geſchichte 23
anziebend geichrieben ift, ſondern auch bei allen Alterthums⸗ und Gefſchichts⸗
trennen freubige und dankbare Aufnahme finven; ift ja doch gerade das
Etrafrecht und Strafverfahren eines der wichtigften Kennzeichen vor- ober
zrädihreitender Cultur und des ganzen Nechtlebens bei einem Bolt. Bei
riejer Gelegenheit zeigt ſich endlich auch wieder von Neuen, wie vieles
Licht vie alten Bolksrechte und Capitularien gerade aus den jüngeren
nellen empfangen können, wie vieles höchſt Alterthüntliche ſich nament»
ch in tem abgelegenen freien Bergen ver Schweiz faft bis zur Schwelle
maferer Zeit erhalten hat. F. Th,
Müller, Dr. Joh. H., Deutfhe Munzgeſchichte. Erſter Theil:
Dentſche Munzgeſchichte bis zu der Ottonenzeit Leipzig. I. D. Weigel, 1860.
XIV. 376 S. 8
Das Buch von Müller ift ſchon feit längerer Zeit in ben Händen
aller Derer, vie ſich für den Gegenſtand intereifiren, und auch öffentliche
Urtbeile find ſchon mehrfach über vafjelbe ausgeſprochen. Sie erkennen
alle das Bervienit an, das der Verfafler ſich chen dadurch erworben,
tab er den Gegenſtand überhaupt zuerft eingehend und umfajjend bear»
beitet, dann den Fleiß in der Zujammenbringung des bürftigen und big«
ber ſehr zerftreuten Material, das Streben, daſſelbe unter allgemeine
Geſichtspunkte zu bringen, überhaupt die befondere Aufgabe im Zuſammen⸗
bang mit der allgemeinen Geſchichte zu behandeln. In Frankreich ift das
Höher jedenfalls mehr als bei uns in Deutſchland geſchehen, und da es
nh in dieſem Bande hauptſächlich um die fränkiſche Münzgeſchichte hans
deit, jo kommen bie Arbeiten franzöjijcher und belgiſcher Gelehrten*), welche
m ven legten Yahren mit großem Eifer ſich dieſem Gebiete zugewandt
baten, bier verzugsweile in Betracht. Dieje, vie theils in den beiven
Bevne de numismatique,, der franzöjiichen und belgiſchen, theils in bejon-
teren Menographien veröffentlicht find, in Deutſchland allgemeiner, und
namentlich aud) anderen als den eigentlichen Numismatikern, den Hiftorie
tem und Yuriften, näher gebradht zu haben, bürfte em Hauptverdienſt
rieſes Buches jein. er, wie eben vorher ich, verjucht hat, auch mit ben
Hälfsmitteln einer Vibliothek wie die Göttinger, ſich auf dieſem Gebiete
*) I nenne außer Sucrarb hier namentlih Petigny, Lenormant, Long-
perier, Fillon, Robert, Barthelemy, Thomas; in Belgien Cofter u. a.
240 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
zu orientiren, weiß in vollem Maße anzuertennen, wie ſehr dieß Werl die
Benutzung der numismatiſchen Literatur für hiſtoriſche Zwecke erleichtert.
Freilich habe ich dann auch wohl Gelegenheit gehabt zu bemerken, wie
der Verf. einigen ſeiner Vorgänger zu ſehr vertraut, ober, von ber Neigung
der Franzoſen, umfaſſende Combinationen und weitreichente Bermuthungen
aufzuftellen, angeftedt, ſich auch ſelber manchmal in Ausführungen ge
ben läßt, benen bie fichere Grundlage fehlt. Auch ift ihm nun doch
ein oder das andere in der neueren Yiteratur entgangen oder nicht zu⸗
gänglich geweſen. Ueber einige ſolche Punkte werde ich, theils in ver Ber-
faffungsgeichichte, theil8 in einer bejonderen Abhandlung zu jprechen, Ge⸗
legenheit haben. Anderes wird wahrſcheinlich eine eingehente Beurtheilung
eines gelehrten Numienatifers berausftellen oder tie Vergleihung mit
einer Reihe von Abhandlungen, die der ausgezeichnete Nationalölonom Dr.
Soetbeer über das Ältere Münzweſen ver Deutjchen in den Forſchungen
zur beutichen Geſchichte veröffentlicht, ergeben. Immer wird uber bie
große Brauchbarkeit der vorliegenten Arbeit dankbar anerkannt werben,
die durch eine etwas andere Anordnung, die weniger Verweiſnngen oder
Wiederholungen nöthig gemacht hätte, noch gewonnen haben würde. Auch
etwas mehr Präcifion virfte man wünſchen. Mean fieht wohl, daß der
Berf. des Stoffes doch nicht gleid, jo ganz Herr geiworten if. Einem
jelbftftändig bahnbrecheuden Werk, wie der etwas fpäter erfchienenen rö⸗
mischen Münzgeſchicht Mommſen's, wird Müllers Bud freilich nad
feinen eigenen beicheivenen Aeußerungen nicht verglichen werten türfen.
Aber neben ſolchen ift Raum für manche andere vertienftlihe Ar⸗
beit, und wie die Numismatiker diejes bereitwillig anerlannt haben, (Re-
vue de numismatique Belge 1860 p. 399 ff.), je ift gewiß für andere da⸗
zu doppelt rund. Und wenn jhen nad Guerart’s Arbeiten, tie bier
Übrigens nicht in allen Punkten Zuſtimmung finden, und mitunter auch
da nicht wo fie fie doch wohl auch jetzt noch vertienen, es nicht wohl
zu rechtfertigen war, wenn deutſche Rechts- und Geſchichtsforſcher in ven
Mün- und Seltverhältniffen ter älteren Zeit die wunterlichfien Irr⸗
thümer fih zu Schufven konmin ließen, jo ift jegt vollends Derartiges
als nicht mehr ftatthaft und hoffentlich auch als nicht mehr denkbar zu
bezeichnen. G. W:
Dentſche Geſchichte. 241
Dr. Johannes Falke, Geſchichte des deutſchen Handels. 2
Bye Leipzig, Mayer, 1859 u. 1860. 314, 423 ©. 8.
Zeit Jahren hat es Niemand verjudht, eine Öejanmtdarftellung ber
Eeichichte des deutſchen Handels zu liefern; nur die Gejchichte der
Haaia but Durch die epochemachenden Werke von Satorius und Lappen»
serg und durch einige Monographien jüngerer Zoricher gewonnen; Mono⸗
Fadhien find hier zunächſt am Plage. Indeſſen ift es anzuerfennen, daß
Er. Falle, ver durch einige Aufjäge in der Zeitjchrift für Culturgejchichte
ah dekannt gemacht bat, ven Verſuch wagte eine Geſchichte des deut⸗
hen Handels von ber älteften Zeit bis auf die Neuzeit zu fchreiben.
Ser mit ter Schwierigleit des Gegenſtandes einigermaffen vertraut ijt,
zrt zugeftehen müjjen, daß Herr Fallke billigen Anforderungen entjpro-
3& bat. Tine Bereicherung der Quellenforſchung ift das Buch nicht,
zeue Rejultste wird man wenigftens im eriten Bande wenige finden.
za Berfafier hat es verſchmäht, Nachweiſe und Belege zu liefern, die nur
üser tie Benugung ter Hilfsjchriften Singerzeige gegeben hätten, was wir
rerchaus nicht billigen können. Referent, der jich zufälliger Weile in letz⸗
er Zeit mit demſelben Gegenſtande beichäftigt hat, und daher in
ser Lage war, dem Herrn Verfaſſer nachzugehen, konnte fi übrigens bie
Ueberzeugung verichaffen, daß er die Arbeiten auf dem Gebiete der beut-
den Handelsgeſchichte kennt und benügt hat. Das Neue, was Re-
zent im eriten Bande gefunden, beſchränkt fi) auf einige Nürnberg
sat andere Städte betreffenve Notizen. Auf Einzeluheiten fünnen wir
z5 nicht einlaſſen und erlauben uns nur bervorzubeben, daß
»# Buch durch eine andere Öruppirung und Periodiſirung des Stoffes
zı Ueberfichtlichleit gewonnen hätte. Der Handel und Verkehr ver Hanja
bitte von dem tee gejanmuten übrigen Deutſchland geſchieden werten jollen,
m io mehr, da vie Verfehrölinien andy ganz antere waren. Einige irr-
dũmliche Behauptungen find aus anderen Werfen entlehnt, in den eriten
Fartieen namentlih vielen Stellen mittelalterliher Chroniften, vie über
Berfehr und Handel ſpärliche Nachrichten geben, viel zu viel Gewicht bei⸗
gelegt worden. In der zweiten Abtheilung behandelt Hr. Falke Die Handels⸗
Armen und Einrichtungen: den Oroßhandel, ven Ntlein- und ven Geld⸗
Haadel. Jene charakteriſtiſchen Momente, welche auf die Entwidlung des
Handels im Mittelalter überhaupt einen großen Einflug ausgeübt, find
as zu wenig ſcharf hervorgehoben und betont worven. Ref. muß ge-
Diſexiiqe Zeisfrift V. Bauv. 16
242 [ Ueberficht der hiſtoriſchen Piteratur von 1860.
ftehben, daß ihm ver zweite Band meit beſſer al8 ver erfte zu fein,
und auf jelbftftändigen For ſchungen zu beruhen ſcheint. Eine Fülle des
werthuollften Materials hat Herr Falfe bier zujammengeftellt und ver-
arbeitet. Wünjchenswerth wäre gewejen, tie Inpuftrie und ven Ader- .
bau, melde doch die Grundlage einer jeven Hanbelsthätigfeit bilven, et =
was ſelbſtſtändiger herwortreten zu laffen und nicht in die allgemeine Dar-
ftellung zu verweben; wir wilrden ein Flareres, überſichtlicheres Bild er-
halten. Hr. Falke nimmt zwei Perioden in ver neueren Zeit an; bie erfte reicht
bis 1620, die zweite bi8 auf die Gegenwart. Warım gerade das Jahr
1620 einen Abfchnitt bildet, konnte fih Ref. nicht erflären. Eine Fülle
biftorijcher und theilweiſe auch volfswirthfchaftlicher Kenntniffe wird man
nirgends vernifien, und die Darftellung ift meift dem Stoffe andemeſſen.
Ueber manche national öfonomijhe Behauptungen ließen ſich Eimwenbun-
gen machen. A. B.
Johannes Scherr, Geſchichte der beutfhen Frauen. In drei
Büchern nad den Duellen. Leipzig, Verlag von Otto Wiganb, 1860. VIII
und 478 ©. 8.
Ein jehr lesbares Bud, welches ein großes Material ftattliher Be⸗
lejenheit in anſchaulicher Weiſe zujammenftellt, nicht ven Anſpruch auf
ſyſtematiſche Erichöpfung oder vollftändige Darftellung des Stoffes madıt,
wohl aber aus den Quellen, oft in wirklichen Excerpten, eine Reihe cha»
rafteriftiicher und bezeichnender Bilder des deutſchen Frauenlebens gibt,
und damit einen Beitrag für die nationale Culturgefchichte Liefert, deſſen
Ausführungen fih duch alle Schichten ver Gejellihaft und alle Sphären
der Bildung verzweigen. Hier und da fünnte man rechten, ob die ge-
wählten Berfonen und Sittenzüge den richtigen Begriff von dem Durch⸗
fohnittszuftand der Epoche, des Standes, des Inſtitutes geben; im Allge⸗
meinen wird man fid der gejunden Geſinnung und ver frifhen Form
des Buches erfreuen, und dem Verf. für jeven ähnlichen Beitrag zur
Qulturgeihichte dankbar fein. S.
9. Schreiber, Die Schlachten ber Deutſchen. 1. Thl. Lau
genfalza, Schulbuchh. d. Thür. L.VB, 1858. IV, 204 ©. 8.
v. Beuder, General, Das beutfhe Kriegsmwefen ber Urzeiten
in feinen Verbindungen und Wechlelwirfungen mit bem gleichzeitigen Staats-
und Vollsieben. 2 Thle. Berlin, Deder, 1860. XIX, 1004 ©. 8.
Dentſche Geſchichte. 243
Bernhardus Ed. Simson, De statu quaestionis sintne
Einhardi necne sint quos ei ascribunt annales imperii specimen. Diss.
imaug. hist. Begimonti, Hartung, 1860. 8.
In Tiefer lobenswerthen Arbeit follen die Annalen nad Freſe's Vor⸗
zang tem Einhard wierer abgejprechen werden. Yebterer hatte behauptet,
ne Vita ſei nur ein flüchtiger und fehlerhafter Auszug aus den Sahrbü-
dern: Das wird in unferer Schrift bejtritten, und die Nachweijung, daß
Exrhard bei der Abfaſſung der Vita die Annalen kaum vor fich gehabt
baben Künne, geſchickt geführt. Die Unterſuchungen über die chronologiſchen
wur ſachlichen Beziehungen der jo enge zufummenhängenden beiden Anna⸗
m und ver Vita find im Einzelnen forgfältig und durchdacht, aber die
Hauptirage möchten wir doch damit noch nicht für abgemacht halteı.
Justeientere tie übrigens mit Bejcheivenheit ausgejprochene Vermuthung,
ah ter jyertieger ter Lorſcher Jahrbücher in ver Diöceſe von Tull ges
ietr babe, beweift nicht gegen Einhard; denn dieſe Bermuthung ift felbft
ter Luftig, and noch müßiger tie weitere, es jei ber Biſchof Frothar.
Dam wir das Streben des Verf. anerteimen und weiteren Arbeiten des⸗
weißen gerne entgegen ſehen, jo wünjchen wir zugleih, daß er ſich etwas
künziger fallen und feinen Styl Lefjern möge. W.
5 8. v. Raszek, Oberl., Salomo Ill, Bifhof von Konftanz u.
Zr von Gt. Gallen. Gin Beitrag zur beutichen Geſchichte am Ende bes
9. web im Anfange des 10. Jahrh. 1. Tbl. Gymn-Progr. Glogau, 1858.
ne. 4.
Die Geſchichtſchreiber der deutſchen Vorzeit, in beutiher Be⸗
ebeituug, herausgegeben ven Berk, 3. Grimm, Lachmann, Kante,
Ritter. 38. Lieferung. Berlin, Beſſer'e Verlag, 1860. XII u 55 © 8.
Zubalt: X. Jahrhundert, 5 Band: Der Hrotſuitha Gedicht über Gan-
ersbeim’6 Gründung und bie Thaten Kaifer Oddo 1., überf. von Dr. Th
®. Pinnb.
Ven Dielen beiten berühmten Gedichten ver ottonijchen Zeit lag bis⸗
ber nur das über vie Gründung von Gandersheim in einer Ueberjegung
ser, ein Grund, weshalb uns die obige ebertragung, vie im Allgemeinen
st. tem lirterte, jo meit e& bie möglichfte Beibehaltung ter rhythmiſchen
Fermen zuließ, getreu ift, boppelt willkommen ſein muß. Die Vorrede
der Ueberjegung ftellt zwar die Nachrichten über die Dichterin vollſtändig
wiammen, bat jedoch, da fie weber neue Geſichtspuntie Ni die Erken⸗
244 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
nımg der Werfe ver Hrotjuitha, noch eine vollftänbige Angabe ber bis⸗
ber gewonnenen Rejultate gibt, feinen eigenthümlichen Werth. U.
Markgraf Gero. Eine Hiftorifhe Monographie von D. v. Heinemann.
Braunfhweig, C. R. Schwetichle u. Sohn, 1860. XlI u. 174 ©. 8.
Die Reitauration der alten und merfwürbigen Gernroder Kirche hat
dem Berf., wie er jagt, „Lie innere Beranlaffung zu ber vorliegenden hiſto⸗
riihen Schrift“, ver Geichichte ihres Gründers, des berühmten Markgras '.
fen Gero, gegeben. Cie darf aber nicht in vie Reihe anderer bei ſolchem
oder Ähnlichen Anlaſſe gejchriebenen Bücher geftellt werten. Obſchon er
Verf. -hinzufügt, daß er zunächſt feine Yanbsleute im Auge gehabt, umb
beicheiven nur bemerkt, wie er hoffe, daß auch über die Grenzen Auhalts
hinaus der Gegenftand einiges Intereſſe finten werde, fo ift doch anzu⸗
erfennen, daß das Buch einen durchaus wiſſenſchaftlichen Charakter am.
fih trägt und als eine gelehrte Monographie von felbftftänviger Bedeutung
bezeichnet werben muß. Der Berf. ift vollkommen vertraut mit bem ges
genwärtigen Stand ter Forſchung auf dieſem Gebiete, benützt die einfchla-
gende Piteratur und geht dabei auf Grund eigenen Studiums der Quel⸗
len feinen jeldftftäntigen Gang. In jeiner Stellung als Archivar des
Hauptarchivs zu Bernburg hat er die Gernrodiſchen Urkunden zur Dispoſition
gehabt und giebt neue zuverläffige Abprüde derſelben in ven Beilagen
(freilich nah Grundſätzen, wie jie ver Aufſatz im legten Heft dieſer Zeite
ſchrift nicht billigen Tonnte), zeigt aud) eine genaue topographiiche Kunde
ter Öegend, in welcher Gero's Beſitzthum lag, und gewinnt taraus manche
beſonders intereffante Kejultate über jein Hertommen, feine und feiner
Familie Stellung. Dazu iſt das Bud) leicht und angenehm geichrieben:
während das gelehrte Detail in den Noten abgehandelt wird, hat die
Darſtellung eine aud für weitere Kreife anſprechende und doch nie von
der Würde einer wilfenjchaftlihen Arbeit herabfteigende Haltung. Es ift
bie8 namentlid ein erheblicher Unterſchied gegen vie frühere, fehr ge
lehrte und in mancher Beziehung bahnbrechende, aber auch an Wunderlichtei«
ten reiche und wenig genießbare Arbeit von v. Leutſch. Dagegen glaube
ih dann freilih, Daß der Berf. nianchmal feine Erzählung zu zuverſicht⸗
lid vorträgt, der Combinatien und Bermuthung zu viel vertraut, auch
wohl manches in die Darftellung hineinzieht was nicht eigentlich zur Sache
gehörte. Ich nenne in dieſer Beziehung z. B. die Schilderung des ſlaviſchen
Deutihe Geſchichte. 245
Heidenthums (S. 52—57) meilt nach 2. Giefebreht. Als eine unfichere
Annahme aber erfcheint mir z. B. was über eine erſte Reife Gero's nad
Rem im Zuſammenhang mit Otto's Plänen auf Italien (S. 64), über
ven Beriuch Lindolf’8 Gero zu beitechen (S. 71), da vie Urkunde, auf
die ſich dieſe Anjicht ſtützt, doch auch ganz anders ausgelegt werben fann
One farın feinen Sohn zu der Abtretung jeiner Güter genöthigt haben),
über tie Gründe, tie Otto beſtimmt haben follen, Hermann Billung und
abt Gero das jächjiihe Herzogthum zu geben (S. 105), gejagt wird.
Unb die Erörterungen über dic ftaatsrechtlihen Verhältniſſe Gero's, na»
mentlich tie Beziehung feines Herzogthums auf eine Vogtei über die neu
begrünteten Bisthümer Havelberg und Brandenburg, befriedigen mich
nicht, und manche Einzelheit, vie ver Verf. abweichend von dem, was ich
früher ın ven Jahrbüchern des D. R. unter dem ſächſiſchen Haus over
m ver Ausgabe des Widukind angenommen habe, feftftellt, 3. B. gleich
a Anfang die von ihn behauptete Verſchiedenheit des Legaten Siegfried
sen dem Bruder Gero's tiefes Namens, ſcheint mir wenigftens noch zu
wetteren Crörterungen Raum zu geben. Daſſelbe ift ter Fall bei der
Frege nad) der Echtheit oder Zeitbeftimmung einiger der mitgetheilten
Urfenten. Hierauf ift aber an tiefer Stelle nicht einzugehen In ber
Semuthung, daß ter Annaliſta Saro nah Nienburg an ber Saale
xböre, begegnet ver Verfaſſer fi) mit Lerebur (Aufjeß, Anzeiger 1860,
2. 2); dech iſt, was man geltend macht, wehl von der Benutung
Nienburger Nachrichten durch jenen Autor zu erklären. — Cine Karte
äßer Die Befitungen und Gaue Gero's ift eine angenehme Zugabe.
G. W.
Dr. Karl Enler, Ahjunct in Pforta, Erzbiſchof Willigis von
Reinz im den erſten Jahren feines Wirkens. Geſchichtliche Abhandlung Naum⸗
Siegling, 1860. 46 ©. 4.
Bilh. Gieſebrecht, Geſchichte ber deutſchen Kaiferzeit. 2,
En. Blüte bes Kaiſerthums. 2. veränderte Auflage. Dit 1 Kunſtbeilage v.
8. Diez Braunſchweig, Schwetidte u. Sohn, 1860. XX, 671 ©. 8.
Jos. Scholz, Vita St. Norberti, institutoris ordinis Praemon-
üratensis, postes archiepiscopi Magdeburgensis, Pars I. Diss. inaug.
Bussiau, 1859. At p. 8.
246 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Guilelmus Volkmann, De Ottone J., episcopo Bamber-
gensi. Pars prior. Dissertatio inauguralis historica. Regimonti Pr., 1860,
40 p. 8.
Killian, Beiträge zur Geſchichte ber erfien Hohenflaufen.
Gymn.-Broge. Mainz, 1859. 156 4.
Theod. Toeche, De Henrico VI. Romanorum imperatore,
Normannorum regnum sibi vindicante. Dissertatio inauguralis gr. 8
II! und 79 ©. Berlin, Mittler und Sobn. 1869.
Borliegende Heine Schrift, welche Ranke gewidmet iſt, beichäftigt fich
mit der Heirath König Heinrich's VI. und Conſtanze's von Sicilien und
mit den aus biejer Verkintung bervorgegangenen Kämpfen bis zur Krö⸗
nung Heinrich's in Palermo. Es berichtigt unter Anterm tie Chronologie,
welche Otte Abel für vie auf jene Heirath bezüglichen Creigniffe auf-
geftellt hatte, p. 9; dann behandelt es einen eigenthümlichen, bisher nicht
beachteten Plan, für ten Friedrich Barbaroſſa furz vor feinem Aufbruche
gegen den Trient ten Papft gewonnen hatte, den (jeit 1169) dent⸗
fchen König Heinrih in Ron zu frünen, wie der Berf. meint — zum
zweiten Mal als König, p. 23—28. Die ganze Angelegenheit ift vom
großen Intereife und fichert vem Berf. ven Dank ver Fachgenoſſen; nur
dieſer letere Punkt, das höchſt auffallenne Begehren einer erneuten Koö⸗
nige⸗, nicht Kaiferfrönung, türfte wohl nicht ganz ausreichenn feftgeftellt
fein. Zwar kannte das deutſche Stautsrecht des Mittelalters feine kaiſer⸗
lichen Mitregenten, tod) erwähnt auch der Berf. das VBorlommen von Aus:
nahmen in Lothar I. und Otto II, welche bei Lebzeiten der Väter zu Im⸗
peratoren ernannt wurden. Zwar hatte Papſt Lucius im Jahre 1184
ertlärt, „non rosse simul duos imperatores regnare.“* aber Friedrich 1.
batte damals die Erhöhung Heinrih’® zum Imperator gewünſcht, und
ſollte jegt unter ungleich günftigeren Berhältniffen feine Forderung bie
zum Künigstitel ermäßigen, jollte jelber ven Verdacht erweden, als ob die
Königlichen Rechte und vie Machtſtellung ſeines Schnes durch bie erfle
Krönung nicht genügen gefihert wären! Die Interpretation ber betreffen»
ben Quellenausfagen, welche ver Verf. vornimmt, ift wohl nicht im Stande,
biefe Zweifel völlig zu zerftreuen.
In den Kämpfen um die wirkliche Erwerbung des fühitalienifchen
Königreiches betreffen vie kritiſch bedeutenpften Abſchnitte die Auslieferung
Dentſche Geſchichte. 247
aut gãnzliche Zerſtörung von Tusculum bei Gelegenheit der Krönung Hein,
riche, tie Gefangenſchaft Konſtanze's und die viel erzählten, bellagten und
sertammten Grauſamteiten, welche Heinrich während feines Aufenthalts
a Zictlien begangen haben jell; fie werden auf ihr rechtes Maß zurüd-
yröhrt. Das Schriftchen ift eine rühmliche Probe des Fleißes und der
kriihen Bildung tes Verfaſſers; wir können daher feiner Berrbeitung
se ganzen Geſchichte Heinrich's VI, auf die er hindeutet, gern entgegen:
jchen. B. K.
Der Cardinal und Erzbiſchof von Mainz Conrad J., Pfalz,
zraf von Eheyern-Witteldbah Ein Lebens- und Charalterbild. Miün-
ie 1860, Ich Palm'e Hofbuchhandlung. S. VI u. 250. 8.
Das Buch will vie geichichtlich woichtigften Momente aus dem Leben
des Cardinals unt Erzbiſchofs Conrad I. von Mainz, Bruder Des Bayern»
kerzege Otte I. von Wittelsbach behandeln. Ter ungenannte Verfaſſer
geht in ter Einleitung zu, daß die Bearbeitung jeines Helden einer weit
zeãbteren Hand beturft hätte ala vie jeinige jet und wir müſſen und mit
dieier beicheirenen Bemerkung ganz einverftanden erklären, denn ven Verf.
ichtt unter anteren Eigenihaften ver allem vie wiſſenſchaftliche Bildung;
er weig gar nicht worauf es Lei ciner Aufgabe hiſtoriſcher Wiſſenſchaft
ıtemmt, und ift alſo von vorn herein nicht im Stande fie zu löſen.
Ber irgend einem hervorragenden Manne ein biographiihes Denkmal
‘gen will, muß doch zuerit die Handlungen deflelben zuſammenhalten und
art ihnen jich ein Urtheil über einen Charakter und jeine geijtigen Eigen»
ichaften zu bilven fuchen. Unjer Verfaſſer verführt aber gerade umgefehrt:
& nimurt bei Conrad Biederſinn und Klugheit von vornherein an und
kemübt ſich bei allen Handlungen des Gefeierten nachzuweiſen, daß fie
s2# vollkommen guten und evlen Motiven hervorgegangen jeien. Für Die
Ehbwihen und Fehler des Kirchenfürjten hat er fein Auge, und wenn
7 ten Buch mit anderen Büchern vergleichen, in tenen Conrad's oft
meirentized Benehmen gegen Kaiſer und Papſt und jeine vielfachen Yır-
rizuen gegen Friedrich Barbaroſſa und Heinrich VI. erzählt werten, fo
zäfen wir beinahe zu ver Meinung kommen, daß ber To verichietenartig
Targeftellte gar nicht ein und terjelbe Mann ſei. Wir müſſen dem Verf.
tichtecen widerſprechen, wenn cv behauptet, daß Otto von Witteldbach,
der trene Kämpe tes Kaifers, hauptjüchlich ven Verdienſten jeines Bru-
248 Ueberfiht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
ders Conrad das Herzogthum Bayern zu verdanken hatte; oder, daß Con⸗
rad’8 Beweggrund, warum er den vom Papfte erhaltenen Auftrag das
Schisma im Salzburger Erzftifte beizulegen abgelchıt babe, hohe Staates
klugheit gemefen fei. Wenn der Verf. mit großem Pathos über den Ges
gen beclamirt, welchen Conrad's Oppofition gegen die Pläne Heinrich's VI.
auf ein Erbkaiſerthum über Deutichland gebracht, fo hat er nicht eimmal
bemerkt, daß die von ihm wiederholten Reden Heinrich's und Conrab’6
nichts anderes als freie Compofitionen Raumer's find. Um jo weniger
lönnen wir und wundern, daß er Trithem und Aventin in einem them
mit gleichzeitigen Quellen benutzt, daß Ungenauigfeiten im Einzelnen im
großer Menge unterlaufen, daß 3. B. der Baf. ven Wortlaut feiner
Duelle S. 190, Note 14: „reliqui abire permissi sunt“ im Text S. 88
überjett: „bie Zurüdgebliebenen wurben feitgenommen und eingelertert !*
u. ſ. w. u.
Saiffer, Prof., Charakteriſtik d. Biſchofs u. Chroniken Otto u.
Freifingen. Rottweil. Tübingen, Yues' Gort., 1860. 82 ©. 4.
J. L. A. Huillard-Breholles, Historia diplomatica Fri
derici Il. sive constitutiones, privilegia, mandats, instrumenta quae guper-
sunt istius imperatoris et filiorum ejus. Accedunt epistolae paparum «&
documenta varia. Auspiciis et sumptibus H Alberti de Luynes. T. VI
pars I. Paris, 1860. 4. VII, 1—547 ©.
Ed. Winkelmann, de regni Siculi administratione, qualis
fuerit regnante Friderico II. Romanorum imperatore, Jerusalem et Sicilise
rege. gr. 8. 52 S. Berlin, Mittler et Sohn. (5. Zeitſchrift III, 322.)
G. Homeyer, Die Stadtbüher bes Mittelalters, insbefonbere
das Stabtbud von Quedlinburg. (Aus den Abd. d. k. Alad. d. Wiflenfch. zu
Berlin.) Berlin, 1860. 4.
Dieje wichtige Schrift fucht vorerft jene mannicdhfaltige Reihe von
Aufzeichnungen, welche unter dem Namen „Stadtbücher“ begriffen werben,
in Öruppen zu fonvern; dann geht fie im Bejonderen auf diejenigen über,
in welche privatrechtliche Verträge zum Zwecke gerichtlichen Beweiſes ein-
getragen wurden. Bon folhen wird ein Verzeichniß gegeben, foweit das
Moterial gebrudt vorlag und die Kunde von Handſchriften reichte. Daß
viefe Zufammenftellung noch vielfach (namentlich für ven Suden Deutſch⸗
Dentſche Geſchichte. 249
land') einer Bervollſtändigung fähig iſt, liegt in der Natur ver Suche.
En Stadibuch dieſer over jener Art hatte wohl jedes ſtädtiſche Gemein-
weien tereinft anfzumeifen; manche davon find nicht bis auf unfere Zeit
eicmmen, von ten meiften ift feine oder nur beiläufige Kunde in bie
CTeffemlichkeit gelangt. Um fo ermwünfchter erjcheint jete Bereicherung
wüerer Kenntniß auf viefem Gebiete, wozu der Verf. in ver zweiten Abs
theilnug feiner Schrift einen werthvollen Beitrag lieferte. Dieſelbe ent»
bit ven tbeilmeiien Abdruck eines bisher unbelannten Stadtbuches von
Cnetlinkurg, aus dem 14. Ihrhdt., das, wie ver Verf. felbft bemerkt,
wicht eigentlich in bie Reihe der oben bezeichneten im übrigen Theile der
Schrift vorzüglich in's Auge gefaßten Stadtbücher gehört. Sein verichie-
denartiger Inhalt gemährt dagegen reichhaltige Aufſchlüſſe über die poli⸗
üihe, die Berfaflungs- und Rechtsgeſchichte der Stadt. Beſonders möch⸗
im mir ben (platt«) deutſchen Bericht über tie Eroberung ver vor ber
Etart gelegenen Güntekenburg durch Biſchof Albrecht von Halberftabt
im J. 1325) hervorheben, woraus ſich ergibt, daß damals und in Folge
jenes Kampfes die Vogtei über die Altſtadt von dem Grafen von Regen⸗
kan an den Biſchof überging (S. 65 - 67). — Wie es von dem Verf.
= ermarten war, gewährt die Schrift wichtige Notizen auch über die
Startbücher im Allgemeinen, und faßt die für ven beſonderen Zweck tes
erften Theils gewonnenen Reiultate in ven „Ergebniffen” (S. 36 — 50)
su’baulich zujammen. Th. K.
8. F. Stumpf, Zur Kritik dbeutfher Städteprivilegien im
XI Jahrhundert. (Situngsberidhte ber kaiſerl. Alab. der Wiffenfchaften.
Sileſephiſch⸗hiſtoriſche Claſſe Ob. XXXI. Jahrg 1859. S. 603 — 638. —
Beionderer Abbrud , Wien 1960
Teer VBertaffer, welcher eine „Kritit ter deutſchen Stadtprivilegien
tea zehnten eliten und zwölften Jahrhunderts“ zur Herausgabe vorbereitet,
bit in dieſer Abhandlung zunächſt zwei Documente geprüft, welche bie
et zu den wichtigften urkundlichen Grundlagen für die ftädtijche Ver—
wfungegeichichte des 12. Jahrhunderts gerechnet worden ſind.
Es iit 1) die Urkunde Friedrich J. vom 20. Octbr. 1156 (Böhmer
Beg. 2365), in welcher er ter Stadt Worms „feinen kaiſerlichen Frieden“
releiht, Yeftimmungen über Verletzungen deſſelben trijft und zur Aufrecht⸗
baltung teflelben eine aus 12 biſchöflichen Miniſterialen und 28 Bürgern
250 Ueberficht ber Hiftorifhen Literatur von 1860.
beftehenve Behörde einſetzt; 2) tie Urkunde des Erzbiſchofs Philipp vom
Köln vom Mai 1169 (Yacomblet, Urkb. I, 433, jetzt auch Quellen zum
Geſch. ver Start Köln I, S.554), in welcher er den Inhalt eines „ur
alten, kaum nod) lesbaren Privilegs“, das ihm Bürgermeifter mıd Schöffen
von Köln und die Mlitglieder der Hicherzecheit auf jeine Frage nach dem
dem Burggrafen und dem Vogte von Köln zuftehenden Rechten vorlegen,
erneuert und beftätigt. — Der Verf. beichränft fih auf eine Unterjuchung
ver heiten Urkunden nach den äußeren Striterien ber biplematiichen Forn
und ter paläographiichen Geftalt und kommt zu dem ejultate, daß beide
gefälicht find. Zugleich unternimmt er e8 aber pofitio, die Mufter, welche
vorgelegen haben, jowie tie Zeit und ven Zwed der Fälſchung nachzu⸗
weijen. Schon tie Prüfung ter viplomatiihen Yorm bat bei beiden zu
entiheitenden Ergebniſſen geführt; in beiden kann eine Reihe von Zeugen-
unterjchriften in feiner Weile mit der Datirung in Einffang gebracht wer⸗
ben. Bei dem wormſer Privileg läßt ſich überhaupt feine Zeit ermitteln,
in der die aufgeführten Zeugen zujammen auftreten könnten. Die Einſicht
des im Archiv ver Stadt Worms aufbewahrten Originals bat dem Verf.
zugleidy die Gewißheit ver[hafft, daß jene unmöglihe Zeugenzuſammen⸗
ftelung nicht etwa eine fpätre, ter Aechtheit ver Urkunde felbft keinen Ein⸗
trag thuende Hinzufilgung ift; fie bat überhaupt ten Verdacht gegen bie
Aechtheit ver Urkunde Leftätigt, da Die Schrift ihrem Geſammteindrucke
nad) mie nach ter Form einzelner Buchftaben nicht früher als in das
Ente des 12. oder in den Anfang des 13. Jahrh. geiett werden kann.
— Tie pofitive Ausführung wirft allerdings nicht in gleihem Maße
überzeugend"); doch fcheint das für die Entftehungszeit der Fälſchung zwi⸗
ihen 1184—1208 gelten gemachte Argument durchſchlagend. Das Bri-
vileg Friedrich I. für Worms (Böhmer Reg. 2619) vom J. 1184 (jo ift
das Uriginal im wormjer Stabtardiv batirt, Stunpf S. 611; Arnold,
Freiſtädte I, 247) will als eine „renovatio et confirmatio‘“‘ alle früheren
*, Der Fälſcher fol feine Zeugenreihe faſt ganz aus ben Unterſchriften
zweier ächten Urkunden combinirt haben, 15 feiner 21 Zeugen finden
fih allerdings unter einer zu Worms ausgeftellten Urkunde Friedrich 1.
a 1165 wieder (Mon Germ. LL. 11,138), 3 andere follen ben werm-
fer Privileg von 1184 entnommen fein, doch weifen bie Abbrüde bes-
ſelben nur einen jener Namen auf.
Deutiche Gefchichte. 251
taiterlihen Rechtsverleihungen unfajlen, läßt aber gleichwohl jene wichtige,
ven Stadtfrieden aufrichtende Urfunte deſſelben Kaiſers unerwähnt, wäh⸗
rear das Privilegium Otto IV. a. 1208 eine ausdrückliche Anführung und
Arrätigung veilelben enthält. Sollte übrigens Die hier gebrauchte Bezeich-
zung „privilegia a divis augustis nostris predecessoribus eis concessa am
de pacis ipsorum confirmatione quam....“* jowie ter an bie hier
muterhbolte Abſchaffung bes Zweikampfes, welche eben in jenem Privileg
sen 1156 verfügt war, ſich knüpfende Sat: „alie quoque jura qualiacun-
we et bonas consuetudines privilegiatas eis confirmamus ... .*
zo darauf hinweiſen, wie das auch tie einzelnen Deftimmungen des
Zratrfrierens vermuthen laſſen, dar bier einem Erzeugniß ſtädtiſcher Au—
zacmie zu größerer Sicherheit und Unverbrüchlichteit ver Schein eines
sem Kaiier berrührenten Privilegs gegeben iſt? — Der Verf. macht dar-
a2 animerfiam, dag Die worinjer Privilegien den der Start Speier er-
alten von gleihem Inhalte immer ſchrittweiſe nachfolgen, und fucht das
zu ver Entjtehuugezeit der Fälſchung noch näher zu kommen. Durch das
Fririieg Heinrich V. a. 1111 werten bie Speirer von biteil befreit, bie
Sum Worms Durch die Priv. von 1112 und 1114: Friedrich I. dehnt
1182 tie Freiheit von hofrechtlichen Leiſtungen für Speier aud auf das
Hauptrecht“ aus: daſſelbe gefchieht für Worms durch das oben ange-
führte Priv. von 1184. Ebenjo meint der Verf. jet rem Priv. von 1198,
weiches ven Speirern tie Einſetzung eines Raths gewährt, alsbald eine
zermier Urfunde über eine Errichtung eines ſtädtiſchen Raths nachgebildet
zz als eine längjt in Gültigkeit ſtehende Rechtsverleihung dem König
Tre IV. zur Beftätigung vorgelegt. Das fei die Bedeutung jened an⸗
ætlichen Priv. von 1156.
Zie zweite von Hrn. Stumpf geprüfte Urkunde hat ſich ſeit langer
3er großer Beachtung erfreut. Bei ten Mangel an älteren Privilegien
> Statuten der Stadt Köln fab jid die Verfaffungsgeichichte in Bes
zen dieier für fie jo überaus wichtigen Statt allein auf Urkunden ange:
zieten, und gerate dieſe Urkunte jchien ſich beſonders dadurch zu empfeh⸗
a, daß ſie durch ihre Form als Weisthum von ven zufälligen und in—
Serruellen Beſtandtheilen, welche ſonſt den Gebrauch tes Urkundenmate⸗
rals für rechtsgeſchichtliche Zwecke erſchweren, frei war. Trotz ter allge:
zeinen Benutzung ver Urkunde iſt fie bis jetzt hinſichtlich ihrer außern Zuläßigkeit
zugerrüft geblieben. Nur Bondam (Charterb. S. 244, Note h) hatte
252 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatr von 1860.
auf die Unvereinbarkeit der Unterjhrift des „.Olto comes Gelrensis‘ mit
dem Ausftellungsjahr 1169 hingewiefen. Br. Stumpf zeigt daſſelbe an
andern Zeugenunterjchriften, jo gleiih an ber eriten: „Adolfus major deca-
nus et archidiaconus*, denn ſowohl ver als nah diefem Jahr wird im
den Urkunden ver Domdechant Hugo genannt. Ber anderen Perjonen ſtim⸗
men vie ihnen beigelegten Titel nicht mit den zu jener Zeit gebräuchlichen
überein; jo fol tie bier gebrauchte Bezeichnung .‚dux Brabantie* fon
nicht vor vem I. 1194 vorfommen. Für die Würde des im Tert ber
Urkunde erwähnten Burggrafen finden fi in ben fölner Urkunden bie ver»
ſchiedenſtei Namen nad einander; der hier gebraudte Titel „burgravius“
kommt aber nicht vor dem 9. 1180 vor, von wo ab er allerdings bie
gewöhnlichfte Bezeichnung wird. — Ganz biefelben Zeugenunterjchriftes
wie dies jog. Weisthum enthält eine andere, die Vogtei ver Stadt Köoln
betreffende Urkunde des Erzbiſchofs Philipp, welche die ſpäteren Abſchrif⸗
ten, aus denen wir fie allein fennen (bie ältefte ift aus dem Ende bes
15. Jahrh. und felbit wahriheinlih einen alten Copiarium des Domftifts
entnommen), gleichfalls in Das Yahr 1169 jeken. Bontam, ver biejer Ur⸗
kunde eine eingehende Unterfuchung widmet, ftellt fie hauptſächlich nach ber
einen hervorgehobenen Zengenunterjchrift in die Jahre 1182—83, mährend
Hr. Stumpf als tie möglihe und wahricheinliche Zeit für ein Zuſammen⸗
fein der aufgeführten Zeugen die J. 1187—89 berechnet. Aelter Tann
mithin auch das Weisthum nicht jein. Die Prüfung des im kölner Stabts
archivs aufbewahrten Originals ſchloß auch bier vie Annahme einer ſpäte⸗
ven Gorrectur des Datums aus; die Pergleihung jeiner paläographiichen
Geſtalt mit der unterer Urkunden des Erzbiſchofs Philipp ergab beden⸗
tende Verſchiedenheiten und machte vie Entftehung des Weisſthums in ber
erften Hälfte des 13. Jahrh. wahrſcheinlich. ine genauere Zeitheftim-
mung ſucht ver Verf. aus der neueren Geſchichte ver Start Köln zu ges
winnen. Die Ermordung des Erzbiſchofs Engelbert (1225), der bie era
bifhäflichen Rechte mit Kraft ver Stadt gegenüber zur Geltung gebracht
hatte, gab den Bürgern dae Zeichen, die Wiederherftellung ihrer echte
zu verlangen. Sein Nadfolger Heinrih 1. verfteht fich auch fofert Bei
Antritt jeined Amts dazu, ihnen „alle Rechte, Freiheiten und gute Ges
wohnheiten” zu beftätigen, welche fie bis zur Erwählung feines Borgängers
bejeflen haben.” (Urk. v. 1226, Yaccmblet II, 136.) In diefer Zeit, fo
lautet das Refultet des Berfs., habe man umter Benügung der Zeugen-
Dentſche Geſchichte. 258
mterichriften der ächten Urkunde des Erzbiſchofs Philipp Über die Vogtei
das ſog. Weisthum gefälſcht, um es als ein aus dem Anfange ver Re⸗
zerung des Erzbiſchofs Philipp herrührendes, uraltes Hecht erneuerndes
Tecument dem Erzbiſchof Heinrich zur Beſtätigung vorzulegen. Ob dieſer
seftine Nachweis gelungen jei, mag auch hier bezweifelt werben; dem Ges
wit der von Hrn. Stumpf geübten negativen Kritif wird ınan fich ſchwer⸗
Eh entziehen fünnen. Doch ift e8 wehl erflärlih, wenn man fih nur
zaxm und zögernd entjchließt, ein jo lange Zeit ohne allen Verdacht und
"kr ſe wichtige Beweisführungen gebraudytes Document aufzugeben, wenn
azmentlih von Seiten ter Kölner vie angegriffene Urkunde zu vetten ver-
mt wirt. Der Archivar ter Statt Köln, Hr. Dr. Ennen, hat alsbald
sıh rem Bekanntwerden ber Stumpf'ſchen Abhantlung in einen (al®
Ric. verfantten) Aufſatze: Der Kölner Schiereiprud vem J. 1169, eine
At. Unterfuchung über vie Nechtheit deſſelben (13. S.)“, eine Wirerlegung
der diplematiſchen wie der paläographiſchen Ausjtellungen verjelben unter-
zemmen. In dem neuertings erichienenen I. Bante ver Quellen zur Ge—
dichte ter Stadt Köln (S. 554, Note 1) ift die Vertheidigung gegen
tie Angriffe lesterer Art wiederholt.
Tie ſchwerwiegenden ben Zeugenunterjchriften entnonmenen Gründen
"een uns unmiberlegt. Bon der Unächtheit aus paläographiſchen Grün-
den hat ſich feittem auch Hr Prof. Waitz durch Einjicht des angeblichen
Triginals überzeugt (Forſchungen zur deutſchen Gejchichte I, S. 162 Note)
za ſich Für eine Entftehung tveilelben zu Anfang des 13 Jahrhunderts
szögeiprechen.
Den beiden hier unterjuchten Urkunden wird mit dem Nachweis ihrer
daichrheit zwar nicht alle Örauchbarteit für die ftäntiiche Verfaſſungsge—
iSibte entzogen fein; doch wird ihre Benutzung eine wejentlich andere
serten müjfen. Das Vertrauen in die älteren ſtädtiſchen Privilegien wird
Ser nach dieſem Porgange immer in etwas erſchüttert jein, und man
zirt es daher bringen wünſchen müſſen, daß Hr. Stumpf, dem man für
de eingehente Unterfuchung der beiden Urfunven zu großem Danke ver:
Michter ıft, recht bald mit der angefünkigten umfaſſenden Kritik ter älte-
a Stäptepririlegien hervortrete. F.
Otto Franklin, i. u. D. et priv. doc., De iusticiariis curiae
‚aperialis. Vratislaviae, typis et sumptibus Gi. Th. Korn, 1860. XVI,
127 p 8.
254 Ueberficht ber Hiftorifchen Literatur von 1860.
Nach einer Anzeige in Haimerl's öſterreichiſcher Bierteljahrsichrift
für Rechts⸗ und Staatswijienfhaft Br. VI S.54 ff. ein wichtiger Bei⸗
trag zur Geſchichte der Reichsverfaſſung. Die Einleitung handelt vom
dem königlichen Gericht im Frankenreiche und dem Amt des Hofpfalzgra⸗
fen. Sodann wird das Hofridhteramt, wie es 1235 gejchaffen wurde,
feine Competenz und fein Verfahren erörtert und die Perjönlichleit ver
einzelnen Hofrichter bi8 zum Jahre 1400 gejchilvert.
E. 5. Menzel, Zweiter Beitrag zur Geſchichte bes Theini-
{hen Städtebundes in ber zweiten Hälfte bes 13 Jahrhunderts. Gymm.⸗
Progr. Ratibor, 1859. 16 ©. 4.
K. Schwartz, Der zweite Feldzug Rudolf's von Habsburg
gegen Ottolar von Böhmen, nah ben Quellen bargefiellt. Syımn -Proge.
Hadamar, 1859. 20 ©. 4.
Dr. Sr. v. Weech, Kaifer Ludwig ber Bayer nnd König Io
bann von Böhmen Mit urkunblihen Beilagen. Smaugural-Tiffertatiew
Münden, Kaifer, 1860. X, 136 S. 8.
Dieſe Schrift ift eine Erftlingsarbeit, hat aber fiher das Berbienfl,
daß jie ein fo complicirtes und bedeutendes Verhältniß wie das Kaifer
Ludwig's des Bayern und König Johann's von Böhmen ſelbſtſtändig,
klar und fcharf zufanmengefaßt und namentlich im V. Abjchnitt manche
nene Thatjache oder Anfchauung entwidelt. Auch ter nationale Stand»
punkt, ven der Verf. bei feiner Darttellung mit edler Wärme feithält, iR
um fo mehr hervorzuheben, als gerade bie neueſte und gelehrtefte Bear⸗
beitung ver Geſchichte Ludwig's des Bayern in fo jhmerzlicher Weije bar
von verlaffen ift. -g-
Dr. 9. ©. Gengler, Ueber Aeneas Sylvius im feiner Bedentung
für die Rechtsgeſchichte. Erlangen, Bläfing, 1860 XLI, 108 © 8.
Der Verf. hat die Schriften tes Aeneas Sylvius als Yurift gelefen,
zugleidy aber ten Geſichtskreis feiner Notate beveutend nach der culturs
geihichtlihen Eeite hin ermeitert. So entwirft er denn in kurzen Zügen
ein „Culturbild“ Deutſchlands, fomeit es fih aus Aeneas' Aufzeichnungen
zufammenftellen läßt. Der etwas bunte und zerfahrene Stoff gewinnt erft
da mehr Zujammenhang, wo von ben ftaatsrechtlichen Injtitutionen Deutſch⸗
lands tie Rebe ift; das Privat« und Criminalrecht geben ver Natur ber
Dentfche Geſchichte. 255
Eache nach faſt völlig leer aus. Was die Stellung tes Piccolomini zum
Welaftiihen Jus betrifft, jo iſt fie keineswegs eine eigenthümliche und in
rer Folemit erft bei Hutten in ähnlicher Weiſe wiederfehrente (Anm. 5),
jendern vie wigelnte Verachtung der gloſſatoriſchen Gelehrtheit und ver
exbebülflichen Diction ver Schuljuriften, ferner Die Hervorhebung des na—
weichen und ethiſchen Rechtes ift den meiſten Humaniften gemeinfam und
m Poggio am Glänzendften vertreten. Die ftaatsrechtlidhen und jtaate-
rtileſephiſchen Anfichten des Aeneas wollen ſich nicht vecht in ein Syſtem
Irinzen laſſen, ihr Interefie ift mehr ein fubjectives als ein ſachliches, fie
Wrrinfen daher bedeutend je nad der Situation, wie denn 3. B. Die
Statsichrift von 1446 nur aus derſelben zu erklären ift. Unter den In⸗
ſtantienen hätte vie Einrichtung und ter Geſchäftsgang der Reichscanzlei,
tie Ref. im erften Bande feiner Biographie S. 278 nad einem unge-
tradten Briefe geichilvert, wohl eine Stelle verdient, denn hier hatte Aeneas
tie beſte Kenntniß und iſt unjeres Willens die einzige Quelle. — Auf
glädliher Spur verfolgt dann ter Verf., wie fi) an Aeneas Sylvius
tie einſt fe beliebten euchklopädiſch-kosmographiſchen Werfe unlehnen, die
Sckaftian Frank, Sebaſtian Münfter, Matthias Quadt von Kinkelbach
za, die man wohl wie einen abrupten Literaturzweig beſprechen hört,
mp wie diefe Männer wieder fruchtbar für tie Anregung deutjd) = rechte:
geſchichtlicher Forſchungen gewerten. Auf den faſt zu geträngten Tert
felgen, mehr als zwei Drittheile des Buches einnehmend, Anmerkungen,
tie ven reicher Beleſenheit zeugen und manchen gelehrten Nachweis brin-
xa, ten man freilich bei ter großen Mannigfaltigkeit ver Mlaterien hier
mer Leicht ſuchen würde. Wir machen auf Anmerk. 41 über ven ſchwar—
zu Ter von 1348 und ähnlidhe Seuchen und bejenvers auf Die Noten
137 und 148 über die deutſchen Reihsinfignien aufmerffan. —i—
Eammlung beutiher Rechtsquellen. 2. Bd. Jena, Frommann,
1550. VI, 377 S. 8 Enthält das Rechtebuch Ich. Burgoldt's nebft
kuutariihen Rechten von Sotha u. Eiſenach. Hrsg. v. 5. Ortloff. — (Ter
1. Dd., das Rechtsbuch nach Diftinctionen, erſchien ſchon 18306.)
8. Waſſerſchleben, Sammlung beutfher Rechtsquelllen.
1. ®&v. Gieſſen, Deyer, 1860. XXI. 452 S. 8. Enthält eine Reihe von
Onellen Magdeburger Redıts.
Dr. Georg Martin Thomas, Ueber einen Staatsbrief bes
256 Ueberſicht ber hiftorifchen Literatur von 1860.
Dogen Leonardo Loredano v. Benedig an ben Bürgermeifler umb
Rath von Ulm vom 16 Juli 1509. Ein Beitrag zur Gefchichte des beutichen
Bürgerthums jener Zeit. Münden, Giel, 1860. 19 ©. 8.
J. W. Kampſchulte, Die Univerfität Erfurt in ihrem Bew
hbältniffe zu dem Humaniamus und der Reformation. Erſter Theil:
Der Humanismus. Trier 1858. Zweiter Theil: Tie Reformation. 1860.
Der Gegenftand dieſes Werkes ift nicht eigentlich die Univerfität Er⸗
furt, fondern der Erfurter Humanismus während bes erften Jahrhunderts
des Beftehens der Univerfität, und insbejondere des Kreifes der Humani»
ften, welche in den erften Decennien des 16. Jahrhunderts fih in Erfurt
vereinigt und unter der Yührung des in dem nahen Gotha weilenten Ca⸗
nonicus Mutianus Rufus, in der geſammten gelehrten und nicht bloß im
der gelehrten Welt Europas als ordo Mutiani ſich einen gefeierten und
gefürchteten Namen erworben, in die Kämpfe ber Zeit lebendig eingegriffen
hat und zuleßt ein Opfer berjelben geworben ift. Die Schidfale der Uni⸗
verfität, auf welche diefe Männer und vie von ihnen vertretene Richtung
einen jo großen Einfluß übten, und die eng mit jenen verflochtene Ges
fchichte der ftäptiichen Ummälzungen bilden den Hintergrund zu ber zahl
reihen Gruppe ftreitbarer Poeten, deren wechjelvolles Leben und Wirken
ver Verfaſſer uns verführt. Diefe Arbeit, deren VBorbedingung die Samım-
lung und Sichtung eines nur mit großer Mühe zu erreihenten, aufßer-
ordentlich zertreuten und weitichichtigen Materials, einer Maſſe von jelten
gewordenen Druckſchriften, von tauſenden gebrudter und ungebrudter Briefe
war, deren nody größere Schwierigkeit aber in ver peinlich zeritreuenden
Verfolgung einer Menge verfchievenartiger Lebensläufe und geiftiger Ent⸗
widlungen und in der Bereinigung zahlreicher und oft fpröter Fäden zu
einem einheitlichen .tunjtwollen Gewebe lag, hat ver Verf. in einer Weile
ausgeführt, die jein Wert zu einem Ehrendenkmal deutſchen Fleißes und
Scharfjinnd machen würde, ſelbſt wenn die Bedeutung der gewonnenen
Nefultate der aufgewandten Mühe nicht entfpräche. Aber es ift fein um.
dankbarer Stoff, an ven er jeine Mühe verjhwenbet hat. Denn jener
Gotha-Erfurter Kreis fteht in der That in Mitten und auf dem Höhe⸗
punkt der deutichen humaniftiichen Bewegung, und wir freuen uns, daß
der Verf. mit richtigem Blid fi gerade dieſen Gegenftand zur Behand
fung ausgewählt hat, ver, ohne allzujehr in's weite zu führen, alle wich⸗
tigften Beziehungen der Humanität zu dem allgemeinen Leben der Nation
258 Ueberſicht der Hiftorifchen Literatur von 1860.
und e8 bat fih ihm ergeben, daß man in biefem Berein nicht allein ſo⸗
fort für Reuchlin Partei nahm, über ven Verlauf des Streits fi fort
während in der genaueften Kenntniß zu halten ftrebte, in immer wachſen⸗
ber Aufregung ſich gegenfeitig in der Bewunderung für Reuchlin und im |
ber Erbitterung gegen feine Feinde zu überbieten fuchte; fonvern daß ber .
reits 1512 hier der Gedanke auftaucht, mit eigner That in den Kampf |
einzugreifen; daß fodann während der Jahre 1513 und 1514 die brief .
liche Unterhaltung zwiſchen Mutian und einigen Auserwählten häufig in
dunkeln Ausprüden ſich um fatiriiche Schriftftellerei dreht; daß diefelben den .
anonynıen Triumphus Capnionis, der ten gleichen Zwed wie bie Epistolee .
und mit ben gleichen Mitteln verfolgt und durch Anfpielungen auf die
Epistolae ihr mwenigften® partielles Daſein und die Kenntniß von ihrem |
Inhalt verräth, ſchon 1514, lange vor feiner Herausgabe und che er .
irgendwo befannt geworben, einander zur Durchſicht zuſchicken; daß im
Unfang des Jahres 1515 Reuchlin ein im Namen des ordo Mutieni m
hohem Ton gejchriebenes Hülfsverfprechen empfängt, welches nicht wohl
auf etwas anderes als auf fatiriiche Schriftftellerei bezogen werden kann
und buch ein gleichzeitige8 Schreiben aus vemfelben ordo aud unver
kennbar als folche bezeichnet wird. Zu all dieſen Momenten tritt bamm
enticheidend der Umftand, daß nach dem Erjcheinen des erften Theils der
Epistolae, während durch ganz Deutichland der lautete Jubel der Huma⸗
niften ertönt, in den Briefen Mutian’d und feiner Yünger ihrer mit kei⸗
nem Wort Erwähnung geichieht, ein Schweigen, welches nur durch ihre
Autorichaft, aber durch dieje volllommen erklärt wird.
Der andere Punkt, welchen ich hervorheben will, betrifft eines ber
Hauptereigniffe der beutichen Geſchichte, nämlich den verhängnißvollen Um⸗
ſchwung in Luthers Richtung und Hunblungsweife währen bes Jahres
1520, durch welchen ver Reformator den wirfjamen Anftoß zu der großen
evangeliihen Volksbewegung ver folgenten Jahre gegeben hat. Auf den
Antheil Hutten's an diejer Wandelung, weldhen Strauß in ter Biogra⸗
phie befielben vernachläßigt, obwohl er unleugbar der bei weiten folgen-
reichſte Theil feiner ganzen Wirkjamfeit gewejen ift, haben Frühere bereits
aufnerfjam gemacht, jet wieder ausführlih Vorreiter in einer zugleich
mit Kampſchulte's zweiten Band erjchienenen, fehr beachtenswerthen Schrift
über „Puther’s Ningen mit ven antichriſtlichen Principien der Revolution“
(Halle 1860), und Kampſchulte kann hierin nur das Verdienſt in An-
Deuiſche Geſchichte. 259
fruch nehmen, mit größerer Quellenfenntuiß und darum vollitändiger als
bie anderen den im allgemeinen befannten Berlauf ver Dinge dargelegt zu
ſaben. Bolltommen neu aber ijt die Aufvedung einer anderen außer-
erdentlich wichtigen Seite des Ereignifjes, welche wir ihm verbanten. Sein
Bert liefert nämlich den unerwarteten und überrajchenden Nachweis, daß
Eretus Rubianus damals in derjelben Richtung und im Einverftändniß
mit Hutten mächtig auf Luther eingewirft Hat, und dag, wenn Luther in
gner Zeit auf kirchenpolitiihem Feld in Hutten’d Spuren eintritt, er zu-
gleich in der theologiihen Polemik unter dem herrſchenden Einfluß bes
Erstiniichen Geijtes fteht. Die Hauptgrundlage zu diefer Eutveduny bil
ven die höchſt merkwürdigen Briefe von Erotus an Luther, welche Böcking,
zum Theil zum eritenmal, zum Theil zuerjt in leöbarer Geftalt, in dem
1859 erjchienenen erften Band feiner preiswürbigen Ausgabe von Hut-
ten’8 Schriften veröffentlicht hat.
Der Hr. Verf. bat in der Borrete zu jeinem zweiten Bande den
Wunſch geäußert, dag man bald an die Sammilung der zahlreichen, noch
ungerrudten Briefe aus der Neformationszeit Hand anlegen möge. Gein
Berk ift der nachdrüdlichite Beweis dafür, daß die hiſtoriſche Wifjenfchaft
von einem folchen Unternehmen ven größten Gewinn zu erwarten haben
würde. C. A, Cornelius,
D. 5%. Strauß, Ulrid von Hutten 3. Theil. U. ud T.: der
ſpraͤche von Ulrich v. Hutten, überſetzt und erläutert. Leipzig, Brockhaus, 1860.
LVIII, 418 ©. 8.
U. Huttenl, equitis germani, opera quae reperiri potuerunt
omnia. Edidit Ed. Böcking. Vol. IV. Dislogi item pseudohuttenici non-
nalli. A. u d. T.: Ulrich's von Hutten Schriften hreg. v. Ev. Böding, 4.
Bd. Ulrich'e v. Hutten und irrig ihm zugeichriebene Geſpräche. — Driginalien
und gleichzeitige Ueberfetsungen, hrsg. und mit Aumerf. verſehen. Leipzig,
Teubner 1860. X, 692 ©. 8. (Der 3. Bd. foll fpäter erjcheinen; bie bei-
den erſten erichienen 1859. Vergl. Zeitfchrift Bd. III S. 219 ff.)
E. de Bouteiller, Histoire de Frantz de Sickingen, Che-
valier allemand du seizieine sitcle. Metz, 1860. XI, 339 p. 8.
Hlerander Brüdner, Zur Geſchichte bes Reichsſtages zu
Borme 1521. Die Verhandlungen über das Regiment. SHeibelberg, 1860.
11*
260 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Diefe Inauguralpifiertation ftellt fich die Aufgabe, vie Verhandlun⸗
geu zu erzählen und zu charakterijiren, welde auf dem Wormfer Reiches
tag 1521 über die durch die Wahllapitulation Karl's V verbürgte Ein»
fegung eines Reichsregiments zwifchen dem Kaifer und ben Reichſtänden
geführt wurden. Diefer Verlauf, ſowie die principiellen Gegenjäge zwiſchen
den auf die Regimentsordnung vom 3. 1500 zurüdgreifenden oligarchi⸗
fchen Tendenzen der Kurfürftenpolitit und der monarchiſchen des Kaifers
werden an der Hand der bereitS befannten Wechjelichriften Far und bins»
dig auseinandergeſetzt, wobei fich der Verf. in der politifchen Beurtheilung
weſentlich an die von Droyjen ausgeführten Grunbfäge hält. Daß ſchen
von 1521 an das Regiment nur ein „faiferlicher Staatsrath“ geweſen
fei, läßt fih dem Berf. nicht wohl zugeben; um nichts anderes anzu⸗
führen, genügt ſchon die Stellung, welche das Regiment und die Reiche
tage von 1522 und 1523 zu ber Iutherifhen Sache und zu dem Edilt
von Worms einnahmen, um bei der Auffafjung Ranke's zu verbleiben.
B. E.
Corpus Reformatorum. Post C. Gli. Bretschneiderum ed. H. R
Bindseil Vol. XXVIll. A. u. d. T.: Phil. Melanthonis opera, quae super
sunt omnie. Vol. XXVIll. Braunschweig, 1860. XVIII, 574 Sp. An-
nales vitae et indices XIV, 378 Sp. 4.
Dr. 9. Heppe, Philipp Melanchthon, ber Lehrer Dentſchlande.
Ein Lebensbild dem deutſchen Bolfe bargeftellt 1. n. 2 Aufl. Marburg 1860,
Koch. VIII. u. 224 ©. 8.
Dr. A. Pland, Dialon, Melanchthon, praeceptor Germaniae,
Eine Denkſchrift zur britten Säcularfeier feines Tobes. Nördlingen 1860, Bed.
vi, 184 ©. 8.
Bernd. Czerwenka, Pfr., Philipp Relanchthon nad feinem Le
ben und Wirken Zur feier ber 300jähr. Wieberlehr feines Xobestages
rag. Mit Melanchthons Bildniß (in Kpfrfl.), nebſt anderen Abbilbgn. (auf 1
Steintaf.) u. 1 Gtammtaf. in qu. gr. 4. Grlangen, Bläfing, 1860. XII,
2286. 8.
M. Joh. Ernſt Bolbeding, Philipp Melanchthon, wie er leibte
und lebte. Ein Lebenebild aus dem Zeitalter ber Reformation für Leier ame
allen Ständen. Nebſt 2 Anhängen: Grläuterungen und Zuſätze zn bem Cha⸗
963 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860,
tipp Melanchthon's in ber Aufa bes Fönigl. Gymnaflums zu Gisleben am
19. April 1860 gehalten. Eisleben, Reichardt, 1860. 47 ©. 8.
®. ©. H.Raspe, zum Gedächtniſſe M. PhilippMelaudtihon’s.
Rebe, gehalten im Hörfale der Domſchule zu Güſtrow am 19 Mpril 1860.
Güftrow, Opi u. Co, 1860. 17 S. 8.
Lubw. Frege, Philipp Melanchthon In feinem Wirken dargeſtellt
nach dem Urtheil feiner Zeitgenoffen Ein Bortrag. Berlin, Hayn, 1860. 22 S. 8.
Philipp Melanchthon, der Lehrer Deutihlande. Zum 8O0Ojährigen
Gedähtniß feines Todes, bem beutfchen Volle wieber vor bie Augen geſtelt.
Berlin, Küntzel u Bed, 1860. 486 8.
F. Schaubach, Ret., Das Leben PhilippMelanchthon's. 1.n.2.
anveränd. Aufl. Meiningen, v. Eye, 1860. 64 ©. 8.
E. €. 5. Schultz, Superint. Pred, Melanchthon'e Leben u. Wir
fen. Mit Bezug auf den 19. April 1860, feinen 300jähr. Todestag, f. Jeber⸗
mann bargeftellt. Berlin, Nicolai's Sort., 1860. 72 S. m Port. in Holzſchn. 8.
Henr. Keil, Prof, Laudatio Philippi Melanchthonis, Over
tio ad memoriam Melanchthunis ante 300 annos mortui celebraudam. Er-
langen, Bläsing, 1860. 20 p. 8.
Adph Kottmeier, Kect., Philipp Melanhthon, ber Lehrer Dentſch⸗
lands. Gin Lebensbild, auf Veranlaſſg. der 300jähr. Wieberfehr feines Tobet-
tags entworfen f. Echufe u. Haus. Harburg, Tandwerts, 1860. 40 ©. 12.
E. Schuhmacher, Enperint., Characteriſtik Melanchthon'e in 4
Zeichngn Anclam, Dietze, 1860. 39 S 8.
K. F. Th Schneider, Lic. Semin-Dir., Luther's Promotion zum
Doctor und Melanchthon's zum Baccalaureus ber Theologie. Nebſt 2 bisher
ungebrudten Briefen Melanchthon's. Neuwied, Heufer, 1860. IV, 58 ©. 8.
Dr. & W. Löhn, Dr. Saspar Creutziuger oder Eruciger, ber
Echüler, Freund und Amtegenoffe Luthers und Melanchthon's. Nach ungedrude
ten u. gebrudten Quellen. 2. umgearb. u. vermehrte Aufl. Leipzig u. Dresben,
Naumann in Comm. 1859. VII, 62 ©. 8.
Osw. Slo. Ehmidt, Nicolaus Hausmann, ber Freund Lu
ther's. Nah geihichtlihen Quellen bargeftellt. Leipzig, C. F. Bleilder 1860.
IV, 2 6 8.
Deuiſche Geſchichte. 263
. Mari. Herg, Helius Eoban Heſſe. Ein Lehrer⸗ u. Dichterleben aus
der Refermationsgzeit. Ein Bortrag. Berlin, Her, 1860. 33 S 8.
€. 4. Cornelius, Gefhichte des Münfterifhen Aufruhrs, in
mei Büchern Erſtes Buch: Die Reformation. Leipzig, 1855. Zmeites Bud:
De Biebertanfe. Leipzig, 1860. VI, 297 und VI, 413 ©.
Was vor Jahren einmal Ranke, von den Wiebertäufern handelnd,
3 Munich ausgejprochen hat: „es wäre wohl der Mühe werth, viefen
gimtrijchen Biltungen weiter nachzuforſchen, die jeltenen Schriften, in
zexen fie ſich ausgeiprochen haben, zufammenzujudgen, ihrem inneren Zus
wemenhang nadzuipüren”, dem wird bier zum erftenmale in einer dem
Saricht des Gegenſtandes entiprechenden Weije Genüge gethan; jenes
»örichtige Stüd in der Entwidelung der deutſchen Neformation, vie
Selbftũberſtürzung des evangeliichen Geiftes in die Ertrene des religidjen
am relitiichen Myſticismus, des Communismus gipfelt fi in dem zeit-
zelisen Siege, in der etlichen Kataftrophe, wozu dieſe Tendenzen in
Röntter gelangten. Der auf dem Gebiet ter niederdeutichen Geſchichte
teräbrte Verfaſſer, ver gerade den Munſteriſchen Angelegenheiten ſchon
zdrıh teine Aufmerfjamteit geſchenkt, hat nun begonnen, dieſen hervors
zazendſten Punkt in ter Geſchichte jener Stadt auf kreiter Grundlage
ztomend tarzuftellen. Bon den beiden bis jett erjchienenen Büchern
ebilt das erfte, gleichſam als Einfeitung, die Geſchichte des Eindringens
der Refermation in Weſtphalen, ven den erſten Kämpfen im J. 1525
= bis zu dem Siege Münſters über ven Biſchof in dem durch Heſſen
vermittelten Friedensvertrag von 14. Felr. 1533; das zweite gibt nas
zenlih die Geſchichte der wiebertäuferiichen Lehre und ihrer Träger bis
= dem Moment, wo von den Nieterlanden her vie eraltirteften Elemente
= Sekte auf tem mwohlvorbereiteten Boden von Münfter fi zujanmen-
en. Cornelius hat früher in einem bejontern Aufſatz (Geſch. Uuellen
ss Bisth. Münfter II p. IX — (XVIII.) die Unzulänglichkeit ter bisher
eis Tuellen benutzten Autoren für tie Gejchichte des Münſter'ſchen Auf—
sure nachgewielen; er hatte erfannt, daß jeine Arbeit faft durchweg auf
ndere®, zum großen Theil erft zu findendes Material, auf archiwaliiche
Ouellen gegründet werden mußte und ter nun vorliegende Theil derſelben
zibt uns tie Rejultate ter umfaſſendſten archivaliſchen Stubien, tie ber
Seri. mit liebevollem Fleiß in ven wichtigften Archiven une Bibliethefen
264 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Deutſchlands und 3. Th. des Auslands von Kaflel und Weimar, Berlin.
und Münden bis nad Straßburg, Amfterdam und Brüffel, vor allem’
in den weftphäfifchen Städten jelbft angeftellt hat; überbies wirb in bei⸗
den Bänden eine reihe Auswahl intereffanter Stüde anhaugsweife mit⸗
getheilt; von großem Intereſſe find u. a. namentlid die Jülich'ſchen und
Ravensbergiſchen BVifitationsaften vom 9. 1533 (Bd. I. Beil? ©. 216
— 248). Die Bereicherung, welche nad) diejer Seite der Reformations«
gefchichte hin unjere Kenntnig im Allgemeinen und vornehmlich im Detail
der Borgänge und Perjönlichkeiten durch dieſe Forſchungen gewonnen bat,
ift jevenfalls beveutend und dankenswerth; die fritifche Haltung, welde
der Berf. als Katholik den Auswüchſen des Proteftantismus und vbiefem
felbft gegenüber einnummt, ift maßvoll und würdig; man dürfte fie man⸗
chem feiner Glaubensgenoſſen als Mufter aufftellen; fie zeigt durchweg,
daß es dem Verf. mit ven Worten feiner Vorrede Ernft war, „daß es
ganz und gar nicht auf meine Meinung, fonvdern überall nur auf bie
Sache felbft ankomme“. Ein ſchöner, fnapper, alles Fremde, aber nicht
einen angemeflenen Redeſchmuck fern haltender hiſtoriſcher Stil verleiht
dem Buche auch ven Weiz anzichender und wohlthuender Form. Als bes
fonder8 gelungene Partieen find uns u. a. bie Beichreibung der Stabt
Münfter und ihrer inneren Verhältniſſe, und die burch verſchiedene Ab⸗
ſchnitte ſich Hindurchziehende pſychologiſche Charakteriftit Bernt Rothinanns
erjchienen. B. E.
€. Hafe, Das Neih ber Wiedertäufer. Zweite verbefferte Auflage.
Neue Propheten 3. Heft. Leipzig, VBreitlopf u. Härtel, 1860. 174 ©. 8.
Carlo Caraffa vescovo d’Aversa. Relatione dello stato dell’ im-
perio e della Germania fatta dopo il ritorno della sua nuntistura appresso
l'imperatore 1628. Herausgegeben von Joseph Godehard Müller, Prof.
in Hildesheim, im Archiv f. Kunde öster. Gesch. 1860. Bd. 23.
Herr Prof. Müller hat ſich ein auferorbentliche® Verdienſt durch die
forgfältige kritifche Ausgabe von Caraffa's fogenannter Relation erwor⸗
ben. Es find drei Handſchriften verglichen worden, die Noten zu dem
Zerte enthalten alle wünſchenswerthen Aufflärungen in fachlicher und
ſprachlicher Hinfiht, tie hinzugefügten Gapitelüberjchriften erleichtern bie
Veberfiht unt machen das vielfach ungeordnete Material, das fich collecs
taneenartig zujammenhäuft, der Benützung zugängliher. Es ift hier eine
266 Ueberfiht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
zufchlagen vergeflen, und meinte getroft, daß e8 „mehr als naiv fei, fol»
hed Zeug dem gebilveten Publitum vorzulegen“. Hrn. Müller’8 Publi-
cation zeigt nun, daß die im Vatikan aufbewahrte Relation des Card,
Caraffa in der That wörtlid in das vorliegende Werk verarbeitet, aber kei⸗
neswegs ibentiich ijt mit dem ganzen Werfe ſelbſt. Sie bildet vielmehr
nur einen ganz Heinen Theil vejlelben, und ift in unferer Ausgabe von
©. 258 bis 324 wörtlich zu finden, nur iſt aud bier manches dazwi⸗
ſchen erweitert oder weggelaffen.
Betrachtet man nun diejen Theil als jelbitftändige Relation, fo ent⸗
ſpricht dieſelbe allerdings weit mehr ven Begriffen, vie man fonft vom
Sejanptichaftsberichten hat. Auch erklären ji nun die mancherlei Wie⸗
berholungen, die hier und im erften Theile des Wertes vorlommen. Biel
leicht ift es geftattet, noch einen Schritt weiter zu gehen; wie ſich uns
aus dem Geſammtwerke eine einzelne Relation Caraffa's herausgeſchieden bat,
jo dürften auch noch andere Theile als felbftjtändige, von ver andern
unabhängige Relationen herausgehoben werben können. ALS eine ſolche
ift unzweibeutig jchen dem inneren Zuſammenhange nah S. 211 — 232
zu betrachten. Es iſt dieß vermuthlih die Relation des Jahres 1629,
die aber fchwerlih von Garaffa herrührt, und von welder Ranke als
von einer eigenen Relation geſprochen hat. Endlich ift die Schilderung
der Zujtände von Böhmen S. 232 — 258 offenbar wieder etwas jelbft-
ftändiges, woraus wir unter anderm die wichtige Notiz erhalten, daß ber
Feſttag des Johann Huf in Böhmen noch im Jahre 1622 öffentlich ge-
feiert und erft damals auf Verlangen des päpftl. Peguten aus dem Ka⸗
leder geitrihen worden ilt.
Faſſen wir nun aber das Ergebniß der Betrachtung über das un»
ter dent Namen einer Relation von Müller herausgegebene Werk zu⸗
ſammen, fo zeigt ſich, daß wir genau ba ftehen, wo wir nad Ranke's
Morten ftanden: „Auf jeven Fall vervient die Arbeit auch in dieſer Ge⸗
ftalt alle Aufmerkſamkeit. Die Relationen, die fie aufgenommen und
mehr oder minder verarbeitet bat, finp von hohem Werth“. 0. L.
Tilly ou La Guorre de trente ans de 1618 & 1632 par le '
Comte de Villermont Paris u. Tournay, 1860. 2 Vol. 8. @ine deutide
Ueberſetzung ift bei Hurter in Schaffhaufen erfchienen.
Daß der Graf Johann Tjerclaes von Tilly einer Biographie wirbig
ift, wird fein unbefangener Proteftant läugnen. Es iſt natürlih, daß
Deutihe Geſchichte. 267
an Kathelik durch Die Sympathien für den Verfechter feiner Kirche vor:
zaeımeie zu einer ſolchen Arbeit ſich geträngt fühlen wird. Sit ders
sie unbefangen, kann er fid zu ten Verſtändniſſe. und zu der ner:
ſennung ter bilteriihen Berechtigung der Gegenjüge der damaligen Zeit
abeben, je wird man eine in dieſem Geiſte gejchriebene Biographie, wenn
Re ienſt in ver Forſchung und Tarjtellung tem gegenwärtigen willen-
‘burrliben Standpunkte entipricht, willtonmen heißen müſſen. Bedauerlich
#, daß man dieß von dem eben genannten, im mancher Beziehung bes
adtenswerthen Werke tes Hrn. v Billermont nicht jagen kann. Er ift
Erchlich befangen, je daß er den Gegnern nicht gerecht werten kann. Um
dieie Behauptung zu beweijen, greifen wir einige bezeichnente Aeußerungen
reñelben heraus. Der belgiihe Graf beklagt Die Theilmahme des Vaters
sen Tilo an der Erhebung der Geuſen gegen Spanien. Er fpriht mit
Zexeifterung Davon, dag Tilly von den Jejuiten erzogen worden und jein
Yeven lang ihr Freund geweſen jet. Vom Kurfürſten Mar beißt es: II n’a
poat de rival parmi les princes de son temps ponr les talents et ne le
cede pour la grandeur et la mäle energie du caractère qu’au seul Fer-
daand 11.: da wire tod für den in wielen Beziehungen ausgezeichneten
Kr rer Mund zu vell genommen und die Gloriſication Ferdinand's iſt
zeradesu lächerlich. An Tilly rühmt der Verf. ganz beſonders la devo-
kon particuliere pour la Sainte Vierge, cette devotion naturelle aux ämes
pares et genereuses. Bei ten donauwörth'ſchen Händeln find die Ka—
Selten natürlih ganz im echte. Die veutihen Fürften, welde für
irre Kirche tem Kaiſer widerſtrebten, ſind alle verblendete Rebellen: ihnen
scıenüber bat ter Sailer allemal Recht. Guſtav Adolf iſt bei aller Ans
!ernung feiner Begabung, dem Hr. v. Villermont nichts weiter als ein
keuchleriicber und ũbermũthiger Egoift, teilen Yiebenswürbigfeit nur das
Feiultat ter Berechnung gemeien ſei. Man fieht demnach, ver Graf v.
Serment fteht auf dem ultramontanene Stantpunfte, auf tem das Bes
zreiien der Geſchichte unmöglich iſt. Doch läßt jih nicht läugnen, daß
a :m Ganzen in ſeinen Urtheilen, wie in Faſſung ſeiner Gedanken wer
niger leidenſchaftlich und anſtäudiger iſt, als die Ultramontanen gewöhn—
hen Schlages in unſerer deuntſchen Geſchichtſchreibung. Am auffälligſten
ta dieſer Beziehung iſt, daß er das Reſtitutionsedikt als höchſt unpolis
ih beklagt. Hätte er dieſen Geſichtspunkt ver Augen behalten, jo würde
er freilich zu der unparteiiichen Tarjtellung gekommen ſein, ohne jeinem
Leiten etwas zu vergeben.
268 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Was die Forfchung betrifft, fo hat der Verf. die beilgifchen Archive
benützt. Freilich ift Die Ausbeute, wenn auch für das biographifche Des
tail nutbar, doch im Großen und Ganzen nicht ſehr ergiebig. Beſon⸗
bers hätten die Beilagen ungebrudt bleiben können, da fie mit wenigen
Ausnahmen, welche intereflanteren aber befannten Inhalts find (wie ©.
264, 399, 437, 443 des 2. Bundes), die für den Krieg ziemlich wenig
beveutenden Beziehungen Tilly's zur Infantin Iſabella betreffen. Außer
dent benußt 9. v. DB. vorzugsweiſe die Schriften feiner Gefinnungsge-
nofjen, des Hurter, Ofrörer, Benjen u. |. w. Bei folder Einfeitigfeit
wird manches unerwähnt gelaffen oder verwiſcht, was ber Hiftorifer an⸗
führen und hervorheben muß, wenn er ven fich befämpfenten Parteien
gerecht werden will. Auch bat ver Berf. fein Bedenken getragen, ſehr
unkluge und gehäjfige Aeußerungen, die Zilly nad einem vom ef. ges
gebenen archivaliſchen Berichte kurz vor feinem Einfalle in Sachſen gegen
den ſächſ. Geſandten von Miltitz gethan bat, als jevenfalld von Miltig
mißverftanden oder übertrieben zu bezeichnen. Diefe Art von Kritik über
das, was nicht in den Kram paßt, ift freilich nicht Hiftorifh, kann aber
bei einem Barteijchriftiteller nicht auffallen.
In einer Beziehung fteht aber H. v. V. weit über den meiften
deutſchen Schriftftellern feiner Partei, nämlid in ver Klarheit und Ele
ganz ver Darftellung, vie ein franzöfifch fchreibender Schriftiteller freilich
nicht vernadjläßigen darf, wenn er nicht fofort fasco machen wil. Man
betrachte 3. B. die Charafteriftifen der Notabilitäten der Zeit, die in ber
Darftellungsweife einen jehr gefälligen Einprud machen und da, wo nicht
befangenes Urtheil das Bild unähnlih macht, 3. B. in ber Schilderung
des Herzogs von Friedland durchaus befriedigen.
Die Ultraniontanen fchreien noch immer Zeter darüber, daß Tilly
von der proteftantifchen Geſchichtſchreibung ſchändlich verläumbet werde.
Sie willen es entweder nicht ober wollen es vielmehr nicht wiflen, daß
ihre enjchiebenften wifjenjchaftlichen Gegner dem Zilly längft gerecht ge⸗
worten find. Gern werben dieſe dem H. v. V. zugeben, daß Tilly fidh
durch Einfachheit, Nüchternheit, Uneigennügigfeit und Gewiſſenhaftigkeit
vor vielen Heerführern damaliger Zeit ausgezeichnet habe, fie werden ihm
zugeben, daß Tilly's Verfahren vor Magdeburg ganz correct geweſen
fei und ihm nicht die Brutalität der Soldatesfa zufchieben, tie Magde⸗
burg zu Grunde richtete. Sie wifjen recht wohl, daß der wilde, fana⸗
270 Ueberficht der Hiftorifchen Fiteratur von 1860.
Erklärung finden. Magdeburg mußte, nachdem es mit Reaction bebroßt
den leider nichtsnutzigen Aominiftrator aufgenommen hatte, fich wehren,
Tilly mußte ven Wiverftand zu brechen fuchen, — das lag in ten Ge
genjäten, die hier zu dem furchtbarften Conflicte famen. Aber vie Beftia-
Iität ver Sieger und ber brutale Siegesjubel Pappenheimd wird nad
aller Reinigung viefer Geſchichte durch vie hiſtoriſche Kritik den bentjchen
Proteftanten ftets eine witrige Erinnerung bleiben, melde die Gegenpartei
nicht durch gehäſſige hiftoriiche Sophiftit wieder lebendig machen follte.
Uebrigens wird ein Hauptftüßpunft bei tiefer Kataftrophe, ob Magdeburg,
wie Guericke jagt, „in Folge des hiftorijch beglaubigten Befehls Pappen-
heims, zur Perturbation der Einwohner einige Teuer einzulegen, worin
die Soldatesfa nachher Feine Discretion und Aufbhören gewußt haben,“
oder durch die von Faldenberg gelegten Minen, over endlich durch das
verzweifelte Gefintel ver Stadt, Lei tem nachher ausbrehenten Sturm
winde vernichtet worden jei, ſchwerlich jemals entſchieden werten. Wer je
Augenzeuge einer bedeutenderen ſtädtiſchen Volksbewegung war, weiß, wie
ſelbſt vie ehrlichften Berichterftatter, die nicht überall jein können, in ber
Aufregung getäujcht werten und in ihren verjchievenen Kreijen tie einans
der wiberjprechenpften Gerüchte vernehmen und berichten. Auch officielle
Berichte haben bekanntlich fein Brivilegium der Unträglichkeit. Es iſt dem⸗
nach perfid, nur den ter Purteianficht entiprechenven Bericht gelten zu
laſſen und darauf für Geichichte ausgegebene Hypotheſen zu kauen, wie
z. D. den Könige von Schweren das abfichtlihe Preisgchen Magdeburgs
angerichtet und Yaldenberg zum Mordbrenner in Magdeburg gemacht
worten ift. Tilly hat Magdeburg nicht verbrennen wollen — Died wird
jeder vernünftige Hifterifer zugeben, und mit diejer Nechtfertigung des Feld⸗
herrn ınögen fidy die Gegner begnüzen, ohne, wie es Heiſing tbut (5.113),
ten Magteburgern zumuthen zu wollen, dem Tilly ob feiner Güte und
Geduld in ver Statt ein Denkmal zu feet. Hb.
Lettres de Gustaphe, Roi de Su&de, adressdes A son Gendral
Dodo von und in Kniphausen en 161, 1632. publides par H O Feith,
Doct en droit, Archiviste de la province de Groningue etc. Groningue,
1860 8.
Cine Eanımlung von 42 Briefen Guſtav Adolf's aus Dem GOrö⸗
ninger Archiv, die ſich faft alle auf vie Operationen beziehen, durch welche
212 Ueberfiht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
jener Schluß in einer vorläufig von Ilow den Offizieren gemachten Pros
pofition wirklich geftanden hat, aber in dem von Neumann nach jener Propoſi⸗
tion aufgeſetzten und vor ber Unterfchrift laut verlefenen Schreiben weggelaffen
worden iſt. Yür diejenigen, welde die Geſchichte Wallenfteine nicht ge
nau fennen, hat Hr. Dudik des Kaiſers Verfahren vor der Ausfertigung
bes erften Patentes, den 14. Januar, bis zur Unterzeichnung des zweiten
Patentes, den 18. Yebruar, nicht Har genug dargeſtellt. Falſch iſt S. 22,
daß Wallenftein im Februar mit Sachſen und Brandenburg unterhandelt
babe. Die geheime Aufforderung an Sachſen war im “December 1633
geihehen und ver zur einftweiligen Beſchwichtigung des Herzogs nach Pil-
ſen geſendete ſächſiſche Feldmarſchall Albrecht von Lauenburg ſchickte ſangni⸗
niſche Briefe über die Situation in Pilfen nach Dresden. Aber Arnim
ber eigentliche füchfiiche Bevollmächtigte, wurde von Wallenftein in Pilfen
und Eger bis zum Ende vergeblich erwartet; da Arnim erft kurz vor des
Herzogs Tode feine Inftruction erhalten hatte. Der Kurfürft von Bram»
denburg dagegen hatte die von Arnim gewünjchte Theilnahme an Separat-
Berhandlungen mit dem Herzog abgelehnt. Hb,
Bidrag till Historien om konung Gustav Adolfs AfS.
F. Hammarstrand. Upsala, 1859.
S. F. H --d, Bidrag till det trettioarige krigets historien
Gustaf Adolf i Tyskland, ar 1630. Upsala, 1859. 53 p. 16.
Dr. 8. D. Haßler, Brof., Die Beziehungen Guſtav Adolph'e
zu der Reihsftabt Ulm. Urkunbfihe Darlegung. Ulm, Stettin, 1860. 4.
Bogislaff Ph. v. Ehemuik, Königlichen Schwediſchen, im
Teutſchland geführten Kriegs. 7. Lig. 4. Thl., worin beffen völliger
rechter Berlauff unter ben Feld Marfchalln Leonhard Torſtenſon's ꝛc Kriege-
birection, von bes Feld Marjhalln Joh. Banners sc töbtlicden hintritt bie auf
erfigemelbten Feld Marſchalln abreifen aus Teutſchland beichrieben wird. 6. Bud.
Nach der Handichrift des Verfaſſers herausgegeben. Etodholm, Bounier, 1860.
VIII, 200 ©.
DOnno Klopp, Der König Friedrich II. v. Brenßen m. die bemt-
(he Nation. Schaffhaufen, Hurter, 1860. XVII, 508 ©. 8.
4. v. Losn, Die Kriegsverfaffung bes beutfhen Neihes
—
.................1 ——————————————— >” u
Dentfhe Geſchichte. 273
and des deutfchen Bundes (1668 — 1860). Deſſau, Aue, 1860. IV,
me 8.
Kranz Kugler, Geſchichte Friedrich's des Großen. Gezeichnet v.
SE. Menzel. Neue durchgeſ. Aufl , verm. durd 6 Abbildgn der den Beld-
besten Friederich'e in Berlin errichteten Standbilder, durch Schlachtpläne und
am von Dr. H Lange entworfene Ueberfichtslarte des Tjühr Krieges. Mit ein-
ger. Schjihen. u. Holzichntaf. Leipzig, Menbelsfohn, 1860. XIX, 513 ©. 4.
Dr. 8 5. Reihe, Friedrich der Große und feine Zeit. Nach
Kr bdeſten Tuellen bargeftellt. 2. Ster..Ausg 3 bie 12. Tg. m. 2 Stahlſt.
Yarig, KeIImann, 1860. VIM, 8. 97—558. 8.
Dr. Karl Ramshorn, Dir, Maria Therefia und ihre Zeit.
2 %g. m. eingebr. Holzſchn. u 1 Holzſchntaf. Leipzig, Boigt und Giüuther,
IS. 8. 65-128. 8.
3 8. v. Arhenholz, vorm. Hauptm , Geſchichte bes fiebenjäh-
rigen Krieges in Denutfhland. 7. unveräuterte Auflage. Heg u. m.
e 2ehensabriß des Berf. u. e. Regifter verichen v. Dr. Aug. Potthaſt. Mit
vom Bildniß Friedrich II. in Stahlſt u. 1 lithogr. u. color. Karte des Kriegs-
wazplages in gr Bol 1. u. 2. Lig. Berlin, Haude und Epener, 1860.
E. 1—160. 8.
Dr. A Sammter, Die Schlacht bei Liegnitz am 15. Auguf
1160. Zur 100jähr. Erinnerung verfaßt. Liegnig, Kuhlmey, 1860. 18€. 8.
3. Chr. U. Bürger, Borgänge in und um Torgau während
! Tjährigen Krieges, namentlid bie Schlacht bei Süptig am 3. Novbr.
160. Bei Belegenheit der 100jähr. Erinnerungstage e. f. Preußen ruhmreid)
gexerdenen Krieges geichrieben. Zorgau, Wienbrad, 1860. IV, 1208. 8.
6. Berghans v. Gröſſen, Deutſchland feit hundert Jahren.
deichictte ver Gebietseintheilung u ber politifhen Verfaffung bes Baterlandes.
1. Abth. U. u. db. T.: Deutihland vor huntert Jahren, 2. Bd. Leipsig,
ig. 7, 440 ©. 8.
Ernk Hellmuth, Kaifer Joſeph 11. Ein Bud für's Boll. Mit
„-80 luft. (in eingebe. Holzihn) v. 3. Lanfberger u. K. Swoboda. Im
°-10 Yan 1. Lg. 2 Aufl. Prag, Kober u. Markgraf, 1860. S. 1-10. 4.
Bring Friedrich Joſias von Coburg-Saalfeld, Herzog zu
Eabien, K. K. und bes hi. röm. Reiches Feldmarſchall, von U. v. Wisleben.
Sheriige Zeitſrift V. Bam. 18
274 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
3 Theile mit Karten und Plänen. Berlin, Beriag ber k. geb. Oberhofbuch⸗
dDruderei (R. Deder), 1859. 8.
Tiejes Werk ift, wie fih von jelbit verfteht, ver Allem in friege-
geihichtlicher Beziehung intereffant; aber auch für ven Hifterifer von Sad
bietet dafjelbe höchſt ſchätzenswerthes Material über vie politischen Ber-
hältnifje des deutſchen Reiches und des üjterreihiichen Staates, nament⸗
(ih in den verhängnißvollen Jahren 1793 und 1794. Allervings findet, :
fid) darin manches Bekannte und bereits Verarbeitete noch einmal vorge»
tragen, aber doch nur injoweit, um einen Hintergrund herzuftellen, auf
welchem dann die Perfünlichfeit des Geſchilderten mit all’ jeinen trefflichen
Geiſtes- und Charaftereigenjchaften, mie auch mit jeinen Schwächen und
Mängeln klar und mit plaftiicher Deutlichkeit herwertritt. Jedenfalls darf
fi ter Verfaſſer jchmeicheln, die Aufgabe volltommen gelungen geläft zu
haben, weldye er in der Vorrede als jene eines Biographen bezeichnet,
nämlich „mit der Yebensbejchreibung gleichzeitig Tinen Beitrag zur Welt:
gejchichte zu geben.“
Wir begleiten ven Prinzen von jeiner Geburt 1737 durch eine fröh⸗
lihe Yugentzeit und ein vielbewegtes, prüfungreihes Mannesalter bis zur
Rückkehr des Greiſes nach ver Heimath und feinem ruhigen, gottergebnen
Hinſcheiden 1815. Während 38 Dienftjahren, welche er in ter kaiſerli⸗
hen Armee verbrachte, nahm er an 13 Feldzügen ehrenvollen Antheil.
Bon 16 Schlachten, die er mitkämpfte, ftund ber Prinz in 10 an ver
Spitze jeined Heeres als Oberbefehlehaber; in ſechs von ihnen (bei Fed»
ſchan und Martineſtie 1789, bei Neerwinden und Famars 1793, be
Landrecies und Kateau Kambreſis 1794 war er Sieger; bei Wattignies
1793, bei Zuurnay und Fleurus 1794 blieb das Glück der Waffen un⸗
entſchieden, und nur bei Zourcoing, dem eigentlichen Wentepunft des Feld⸗
zuges von 1794, wurde er gejchlagen. Bon acht Feſtungen, bie er bela-
gerte, widerftanden nur zwei: Giurgemo 1790 und Maubeuge 1793 jei-
nen Angriffen, auf die Zinnen von Chotin 1788, Orjema 1790, Balen-
ciennes und Te Quesnoy 1793, Yanprecies und Menin 1794 pflanzte feine
Hund ven kaiferlihen Doppeladler. Seine militäriihe Geſchichte umfaßt
beinahe wie gejammıte Gejchichte des üfterreichiichen Heeres von 1756 bie
1794, aber nicht dieſe ift es, welche uns dieſe Biographie fe merkwürdig
madt. Cs ift vielmehr der jchroffe Gegenjag zwiſchen dem gejunten po»
litiſchen Takte eines einfachen ehrlihen Soldaten und ber egoiftiichen, für
Dentſche Geſchichte. 275
Srzarämeisheit geltenden Raãnkeſucht eines intriguanten, gewiſſenloſen
Tiplematen, der ſich uns hier wieder auf's Neue aufdrängt. Das ganze
Sewicht der habſüchtigen und grundſatzloſen Perſönlichkeit des Miniſters
Ihuaut drückt mit bleierner Schwere auf jede Bewegung ver ihren Geg-
sa an inneren Werthe weit überlegenen Armee des Prinzen Joſias.
3: Hemmungen, welche ſich durch die Natur eines Bündniſſes den Ope⸗
ratienen alliirter Heere entgegenftellen, wurden bis ins Unüberwindliche
sekeigert durch dad tem Freunde mehr als dem Feinde Gefahr drohende
&chen im Trüben von Seite des Wiener Hofes. „Ausgerüſtet mit um»
linglihben Ztreitmitteln, den G©ewaltanjtrengungen eines fanatifirten
Zeltes gegenüber, gefreust auf jedem jeiner Schritte durch eine undgil-
sede Politik und gelähmt turd eine von Haß und Neid erregte Kama—
ala, vermedhte es der Prinz von Coburg trog mannhaften Ringens
sicht, Dad durch innere Zwietracht berbeigeführte Unheil dauernd von
Zeamblant abzuwenden“.
Am empfindlichſten tritt ver verderbliche Einfluß Thugut's in ven
Srlsften hervor, welche der wegen feinec Herzensgüte jo oft gepriejene
Kaiſer Franz im April und Mat 1793 an ven Feldmarſchall ergehen
zer Mit Bezug auf die befannte Unterredung Coburg's mit Doumouriez
a Yıb, und vie nad) des legteren Flucht durch Mad vermittelten Unter:
Szebiungen mit Dumpierre, enthalten tiefe Erlaſſe, namentlih aber das
tiierlibe Hantichreiben vom 6. Mai, eine in Wort und Ton jo rild»
sheäleie und herbe Zurechtweiſung, daß fie einen treuen Diener, ver
ren Kaiſerhauſe jo erhebliche Dienfte geleijtet und ihm je eben das ver-
ren gegangene Belgien durch jeine Siege wieder erobert hatte, auf's
Tieiſte verlegen mußte. Mit Hecht bemerkt hier ter Verfaſſer: „Wenn
3 aber noch eins Beweiſes von der unbegränzten Hingebung tes Prin>
a für das kaiſerliche Haus beturft hätte, man würde feinen überzeugenderen
rsien können, als daß Coburg nad einem ſolchen Schreiben das Com—
zııte noch weiter fortführte” (Br. II. p. 177). Welche nachtheilige
Felgen jedoch diejer blinde, unverſöhnliche Haß des öſterreichiſchen Mints
ſers gegen jeden ſelbſtſtändigen, von uneigennützigen Motiven geleiteten
Tharakter, wie ter Coburg's war, auf den Gang der Kriegsführung
asüben mußte, mag 3. B. aus dem Umſtande hervorgehen, daß der
finz, ter Oberfeloherr des Kaijers, im Donate Juli 1793 ten Ver:
uch machte, durch Bermittlung eines fremden Monarchen, des Könige
18*
276 Ueberfift ber biſteriſchen Fiteratar wen 1860.
von Preußen, ven ieinigen zur Annabme eines nenen Feldzugplanes zu
bewegen, weturd tie unielige, nur durch enaliichen Eigennutz viftirte Be»
lagerung ven Züntirben beieitigt werten wäre.
Auch rer Blick ins greße Haurtauarnier ven 1794, in tie Umge-
kung tes damals an ter Zrige ſeines Heeres befindlichen Kaiſers, wel
hen uns ter IV. Akichnitt ver 11. Abtheilung ves vierte: Buches (Bo. I
p. 155 u. f.) geftattet, it hẽchſt bemertenswertb. Allen Entwürfen Co»
burgs, welde mehr als tie netbmentige Abwehr tes Feindes beabſich⸗
tigten unt eine Entſcheitung berbeirübren kennten, begegnete ter princi⸗
pielle Wideripruch Thugut's und Waldechs, während Rollin (ter chema-
lige. Erzieher des Kaiſers Franz, dasjenige, was er als militäriſch
richtig anerkannte, mit Nachrrud beim Kaiſer durchzuſetzen ſuchte, dabei
aber, we es irgend anging, ter Anſicht von Coburg und Mad entgegen
trat. Obwehl tiefe Lage des Prinzen als eine faum zu ertragente er⸗
iheinen mag, jo fühlte er ſich dennoch glüdlih, jest ten Kampf mit
jeinen Gegnern Aug’ in Aug” auskämpfen zu können, anjtatt wie früher,
als er nur im Schriftverfehr mit tem Kaiſer fiand, ihrem Treiben ge⸗
genüber faft wehrles tuzuftehen.
Es würde uns zu weit führen, alle interefianten Stellen viejes
ihägenewerthen Werkes auch nur anzudeuten; es genügt zu fagen, daß
es nad) unjerer Ueberzeugung dem Verfaſſer geglüdt it, das Bild ves
Prinzen Joſias von dem Roſte zu befreien, mit welchem Parteijuht, Neid
und Unfenntnig das Antenten dieſes nit großen aber wadern und recht⸗
ſchaffenen Mannes umzogen haben. j
Bon ten tem Verfafier zu Gebote geitandenen, bisher größtentheils
noch unbenügten Quellen find die merfwürbigften vie im Coburger Ar-
dive enthaltenen hinterlafjenen Papiere des Prinzen: feine Tagebücher,
feine Berichte an Joſeph II., Leopold I. und Yranz II, fein Briefmechiel
mit biejen Fürſten, dann mit Potemlin und Souworov; ferner find von
Wichtigfeit: ter Briefwechjel ter preußiſchen Militärbevellmädhtigten, Gras
fen Tauentzien und Dünhoff, mit dem Könige und dem Kriegsminifterium,
jener des Feldzeugmeiſters Fürſten Hohenlohe mit jeinem Bruder, endlich
die dienſtliche Korreſpondenz des Herzogs von York und des Erbprinzen
ven Oranien mit ihren Regierungen.
Was die Ausftattung des Werkes betrifft, jo iſt fie in jeder Bes
ziehung zufriedenftellend und Laffen namentlich die nach den Originalplänen
Deutſche Geſchichte. 277
geitechenen Karten (17 Blätter) weder hinfichtlich der Schönheit noch ver
Eenauigkeit ver Ausführung faum Etwas zu wünjchen übrig. L. H.
Frbr. v. Fiſcher, Major, Rückblicke auf die Heldenlaufbahn
weil Sr. kaiſerl. Hoh. d. Erzh. Karl v. Defterreidh, am Tage ber
Tabüllung höchſtdeſſen Monuments zu Wien am 22. Mai 1860. (Abdr. aus
t. äferreich. militär. Zeitfihr.) Wien, Gerold's Sohn, 1860. 35 ©. 8.
5. Steger, 1792 — 1813, Deutfhlands Erniebrigung durch
KRapeleon Bonaparte Ein Spiegelbild für bie Gegenwart. Leipzig, O.
RBizmb, 1860. IV, 191 ©. 8.
Adf. Telllampf, Die Franzoſen in Deufdland. SHiftoriide
Eder. Hannover, Riimpler, 1860 VIII u 358 &. 8.
Bilb. Baur, Das Teben des Freiherrn v. Stein. Nah Pert
erzähle Mir Stein’s Portr. in Stahlſt. Gotha, Beller, 1860. IV, 316©. 8.
Heinr. Erdr. Karl Frhr. v. u. 3. Stein. Hrsg. u. verlegt von dem
Hanpreerein für chriſtl. Erbauungsihriften in ben preuß. Staaten. Berlin,
Künkel u. Bed, 1860. 48 ©. 8.
Die Beſchuldigung Wrede’s durch E. M. Arndt Gin Wort
der Beriheibigung v. e bayer. Offizier. Münden, Yranz, 1860. XII, TIE. 8.
G. Bäürſch, Ferdinand v. Schill's Zug und Tod im 93. 1809.
Sr Erinnerung au ben Helden und an bie Kampfgenoſſen Mit Schill's Bild-
z, 1 Karte und 4 Plänen. Leipzig, Brodhaue, 1860. VII, 343 ©. 8.
Ferdinand vo. Sdill, Ein militärifh-politifhes Charakters
site. Nebſt Beilagen, enth. die wichtigſten officiellen Actenftüde aus dem 9.
1909 Botstam, Niegel’ihe B., 1860. 143 5. 16.
9. v. Sranfenberg-Lubwigsborff, Sec. -Lieut, Erinnerungen
ı2 das Schwarze Corps, welches Herzog Friedrich Wilhelm v. Braun-
Kmeiz- Dels im 3. 1309 errichtete. Aus dem Tagebucke eines Beteranen.
Sraunihweig, Echwetichle u. Sohn, 1859. 78 5. 8.
Dr. Heint, Beible, Major a. D. Gefhichte der deutſchen Frei-
heitefriege in ben 9. 1818 u 1814. 2. verb Aufl. 3.—8. Lig. Ber⸗
ſin, Dunder u. Humblot, 1860. 1. 8b XVI u. 8. 321 — 604 u. 2. 8b.
MU w 681 © 8.
218 ____ Meberflht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Joh. Sporfhil, Die Freipeitstriege ber Deutfhen in ben.
1813, 1814, 1815. 7. Aufl. 9 Bde. Mit 12 Etahlſt. n. 22 (lith. n.) color.
Echlachtplaͤnen. Braunfchweig, Weftermann, 1860. 2683 ©. 8.
Dr. Frdr. Förſter, Geſchichte der Befreiungslriege 1813,
1814, 1815. Nah theilmeife ungebr. Duellen u. mündl. Aufihläffen be
bentender Zeitgenofjen 2c. bargeftellt unter Mittheilung eigener Erlebniſſe 71.
—75. Lg. Mit 1 Eteintaf. Berlin, Hempel, 1860. 3. Bd. &. 361—960. 8.
Die Schlußacte der Wiener Minifterial-Conferenzen zur
Ausbilbung und Befefigung bes dentſchen Bundes. Urkunden, Ge
ſchicht und Kommentar von Ludwig Karl Aegidi. Erſte Abtheilung: Die
Urkunden. Berlin, Drud u. Berlag von Georg Reimer 1860. ©. 452. 8.
Belanntlih hat über die Entftehung der Wiener Schlußacte bisher
völlige8 Dunkel geherrſcht. Erſt jest, vierzig Jahre nach jenen verhäng⸗
nißvollen Vorgängen, ift e8 einem um die Geſchichte der neueften dentſchen
Rechtsentwicklung vielfach verdienten Forſcher gelungen, in ven Belig aller
jener Urkunden und Aftenftüde zu gelangen, aus denen fi) uns ein voll»
ftändiges Bild der von den deutſchen Minijtern damals zu Wien gepflo-
genen Verhandlungen varftellt. Diejelben find bier in größter Bollftän-
digkeit zum Aborude gebracht worben; nicht bloß die Protocolle der vier
und dreißig Sigungen, in denen der gewandte Stil von Gent unverlenn»
bar ift, fonvern auch zahlreihe Beilagen, enthaltend Dentichriften und Er⸗
kläruugen aller Art; nur wo es behufs ver Tagespolitif fachlich geboten
war, find von dem Heransgeber Anmerkungen binzugefügt worden, und
wenn biejelben ſich nun auch nicht gerade von fubjectiver Färbung überall
freihalten, fo ift das durchaus fein Nachtheil; e8 wirb wenig Lejer geben,
die nicht mit dem Inhalte derſelben übereinftinnmen.
Es mag nun in mander Peziehung auffallend erfcheinen, wie es
mögfich geweſen iſt, daß em folches Geheimniß bei der großen Zahl derer,
bie an demſelben Theil hatten, jo lange Zeit hindurch wirklich bewahrt wor⸗
ven ift. Es zeigt ſich indeſſen bei einer Einficht in jene Verhandlungen deut⸗
(ich genug, daß man allen Grund hatte, ven Zwiefpalt unter ben beit»
hen Regierungen, ver hinjichtlih ver Auffaflung ver Aufgaben und Zwecke
bes Bundes obwaltete, ven Augen des deutſchen Volkes zu verbergen, daß
es wenigſtens das hüchfte Intereſſe von Metternich erheiichte, in bie
Ständelammern feine Kunde tavon gelangen zu laffen, wie wenig man
Dentihe Geſchichte. 279
ea manden Urten mit ver bekannten öfterreichiichen Auffaffung von ven
"eispren Der Revolution und der Berverblichkeit landſtändiſcher Einrichs
ungen übereinftimnite.
Dr. 2. Fr. Ilſe, Frofeffer, Protokolle ber deutſcheu Minifte-
sis: Qonferenzen, gehalten zu Wien iu den J. 1819 u. 20. 1 —3. 2fg.
Artur a M, Auffarth, 1860. 1688 8.
Terfeike, Geſchichte ber beutihen Burdesverfammlung, insbe
satire ibres Verhaltens zu ben National-Intereffen. Bd 1. Dlarburg, 1860.
2 XXVII u 799. 8b. 2. Lief. 1.
Derielbe, Geſchichte ber porit. Unterfuhungen, melde durch bie
zixe ber Bunb:everfammlung errichteten Commilfionen, der Central-Unterfu-
2238. Jommiifienen zu Mainz und ber Bundes⸗Centralbehörde zu Frankfurt in
ta 3 1819 bis 1827 und 1833 bis 1842 geführt find. Frankfurt a. M.,
Arbinzer Schu u. Co, 1860. IX, 717 S 8.
Ilie's Ausgabe der Wiener Schlußakte ſtimmt mit ber Aegidi'ſchen
2 allen Punkten überein. Jedoch befindet jih Ilſe im Beſitz eines nod)
2r ciel größeren Materials, injofern ihn die ſämmtlichen Protocolle ver
Icxererfammlung zur Benützung vorliegen. Der Gebrauch, ten die
Srnemihaft bisher davon machen fennte, war ein beichräufter. Nur in
te Jahren 1816 bis 1828, und dann wieder im meuefter Zeit hat eine
Immgung ter Derhandlungen in ter befannten Quartausgabe ver Bun—
sspretscolle ſtattfinden fünnen, tie Jedermann zugänglich, aber tod) injofern
=z unrellfommen war, als darin nur Auszüge der wirklichen Verhand—⸗
ya gebeten wurden, Auszüge, welche bejonters von 1821—--1828 ter
3 keihaffen waren, Daß fie nicht das geringfte Intereſſe darbieten,
zen darin beſonders nur über Begräbnißfeierlichkeiten beim Zope der
deAdestagsgeſandten, über Bücher und antere Ghegenftänte, bie ver Bun-
tederſammlung zum Geſchenke vargeboten werden, gehantelt wirt. Wäh—
as der ganzen Periode von 1928 bis jegt, und wenn es jih um ge
were Nachferichungen handelte, auch während ver früheren Zeit, ijt man
2: Infermation einzig und allein an tie officielle Ausgabe ver Yuntess
sretecclle veriwieien, die in folio loco dietaturae in nur 170 Exemplaren
ztrudt und eigentlid) wur zur Meittheilung an vie Geſandten und
R:zierungen beftimmt iſt. Es findet jid nun wehl, daß dieſe Ausgabe
iin an öffentliche Bibliothefen verliehen wirt, aber wie es ſcheint nur
280 Ueberfiht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
um bort zur Verhöhnung berjenigen zu dienen, welche fie einjehen wollen
und außerdem zur fortwährenden Beunrubigung derjenigen Bibliothets-
Beamten, denen die Bewachung unter Androhung furchtbarer Strafen
aufgetragen ift. Es wird übrigens als ein Beitrag zur signatura temporis
die Zurüdweifung, welche ver berühmtefte Staatsrechtslehrer Deutſchlands
in diejer Beziehung in den jchlimmften Zeiten der Reaction erfahren hat,
von bleibenden, wenn aud) Iraurigem Intereſſe fein; glüdlicherweije bringt
e8 die Zerjplitterung Deutſchlands mit fi, daß eine Benützung in ei-
nem gewiflen Umfange zu allen Zeiten irgendwo burdhzujegen gewelen ift.
In der umfaſſendſten Weife fliegt nun Ilſe das gefammte Material der
Gejchichte der Bundesverſammlung feit einer Reihe von Jahren vor, und
zwar fo, daß ihm ſelbſt eine große Anzahl ver gefchriebenen Protocolle,
ferner der Verhandlungen und vertraulichen Sigungen nit unbekannt
geblieben find, daß ihm jogar 25 Protocolle der Bundes⸗Militär⸗Com⸗
miffion, die ungefähr in derſelben Stärke, wie die fonftigen Protocolle in
einen Foliobande erjchienen, zn Gebote geftanden fint. Uebrigens follte
nur dasjenige mitgetheilt werden, was im Intereſſe des deutſchen Bolts
veröffentlicht werden könne, eine Rechtsbeſchränkung, die wohl nur hinſicht⸗
lich ver Mifitärverhältniffe, namentlih der Bundesfeſtungen gerechtfertigt
fein wird.
Die Gefchichte der Bundesverjammlung, die num der Verf. auf Grund dieſes
Materials zu fchreiben unternommen bat, fol, wie fich beinahe von ſelbſt ver-
fteht, eine beſtimmte Beziehung auf bie großen deutſchen Nationalintereffen
baben,. in ver Weiſe, daß folche Angelegenheiten, vie für das allgemeine
Intereffe nur einen untergeorbneten Werth befiten, wie 3. B. die über:
rheiniſche Suftentationsjache, das Reichskammergericht, die Verhältniſſe
des deutſchen Ordens von der Darftellung ausgefchloffen bleiben, während
auf der andern Seite, was gewiß gleichfall8 zu billigen, auch ſolche Ber-
bandlungen, die zwar außerhalb der Bundesverſammlung vor fi gegan-
gen find, wenn fie nur mit den hier in Betracht foınmenven Materien im
Zufammenhange ftanden, hier herbeigezogen werden, wie namentlich bie
Verhandlungen ver füdweſtdeutſchen Staaten, die in dem Jahre 1818 und
ben folgenden behufs der Umgeftaltung ver katholiſchen Kirche am Site
ver Bundesverſammluug abgehalten wurde. Die Methode, in welcher dann
ber fo begrenzte Stoff zur Darftellung gebracht wird, ift nicht die chro-
nologifche, ſondern vie fynchroniftiihe, in der größere Perioden gebilvet
282 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
daß das Publikum einigermaßen über den Plan aufgellärt würde. Auch
follten den einzelnen Bänven zur beſſern Ueberſicht Regifter zugefügt wer⸗
den, von denen fid jest feine Spur findet.
Endlich iſt noch als ein beſonderes Wert cin Gegenſtand abgeſon⸗
dert worden, welcher nad dem urſprünglichen Plane einen iutegrirenden
Theil der Gejchichte der Bundesverſammlung bilden follte; es ſind das
die politiiche Unterjuchungen ter Gentralunterjudhungs » Gommiilien zu
Mainz und das, mas damit im Zujammenhange ſteht. Es jcyeint mir
nicht, als ob es zu tadeln wäre, daß fich der Verf. gerade hier beſonders
bat geben lajlen. Denn jo widerwärtig auf ver einen Seite dieje Dinge
auch find, in denen fi der ganze Jamnmier einer politiih abgeipannten
Zeit zeigt, fo haben fie doch für die ernfte hiftorifche Betrachtung ein
eigenthümliches Intereſſe, welches um jo mehr zu jeinem Rechte wird
fonımen dürfen, als jett die Bahnen verlaffen find, die damals zum tie
fen Schaden ver Entwidlung unjerer öffentlihen Rechtszuſtände einges
ihlagen wurden. E. M.
5. Blönner, Zur Gefhihte der Beftrebungen der preuß.
Regierung für eine politiihe Reform Dentichlanbe, vom Mai 1849 bis An-
fang November 1850. Mit beigefügten Anlagen. Berlin, Mittler's Eortim.,
1860. VL 290 © 8.
9. Heppe, Geſchichte des deutſchen Volkeſchulweſens. 5. Bb.
Gotha, Perthes, 1860. VII, 456 S. 8 (Schluß.)
R. Birchow, Zur Geſchichte des Ausſatzes und ber Spitäler,
befonders in Deutfhland 4 u 5. Artikel. (Eeparatabbrud aus Birs
chow'e Archiv für pathofogifhe Anatomie und Phyſiologie und für kliniſche
Medicin. 20 Band.) Berlin, G. Neimer, 1860. 8.
%. © 8 Hefeliel, Repertorium für Adelsgeſchichte. 1. Eräd
Berzeihniß von Monographien über bie Geſchichte nicht jonveräner, fürfll., gräfl.,
freiherrl u. abeliger Geſchlechter. Berlin, Heinide in Fomm, 1860. 338. 8.
Stammbuh bes blühenden uud abgeftorbenen Adele im
Deutſchlaud, heraueg. von einigen beutihen GEdelleuten. (In 4 Ben.) 1. Bd.
A-F., enth. zuverläßige u. urkundliche Nachrichten über 9898 Adelegefchlechter
Kegensburg, Manz, 1860 X, 409 ©. 4.
Die AltertHämer unferer Borzeit. Nah ben in dffentl. w. Pri⸗
Deuifhe Geſchichte. 283
setiamıminngen beſindl. Originalien zufammengeftellt u herausg. von bem rö-
mud-germ. Gentralmufeum in Mainz burch deſſen Confervator 2. Linpen-
(Hmitt. 6. Hft. 8 Steintaf. m. 8 BL Erläuterungen. Mainz, v. Zaberı,
1860. 8.
9. Haas, Die Nibelungen in ihren Beziehungen zur Ge
ſhichte des Mittelalters. Erlangen, Bläfing, 1860. XIII, 114 ©. 8.
Dr. A. v. Eye u. Jak. Kalle, Kunf und Leben ber Borzeit
vew Beginn des Mittelalters bis zu Anfang bes 19. Jahrh. in Skizzen nad
Crig.-Deufmälern. 2. nad chronolog. Reihenfolge zufammengeftellte Ausg. in
3 Ben. 2. Bd. 1. u. 2. Heft. 31 Kpfe.- u. 1 Steintaf. m. 32 DB. Tert.
Nürnberg, Bauer u. Raspe, 1860. 4.
Alb. Beip, Jacob Böhme, der deutſche Bhilofoph, ber Bor-
kinter chriſtiicher Philoſophie. Leipzig, Hirſchfeld, 1860. III, 260 ©. 8.
F. Bovet, Le Comte de Zinzendorf. 2 vol Paris, 1860. VII,
tip. 8.
Guſt. Freytag, Bilder aus ber beutfhen Bergangenbeit. 1.
22 Thl. 2. Aufl. Leipzig, Hirzel, 1860. 382 u 413 ©. 8.
Ed. Behſe, Geſchichte der deutſchen Höfe feit der Reforma-
tien. 48. Bd. A. u. d T: Gecſchichte der beutfchen Meinen Höfe. 14. Thl.
Lie geiftlihen Höfe. 4. Th. Hamburg, Hoffmann u. Campe., 1860. VIII.
319 8. (Edhluf.)
Jod. Jerem Kummer, Pred., Teftament Friedrich's b. Gro⸗
fen cd. Epifiel aus Erfurt 1757 an den Marquis d'Argens. inleitung, Ur-
kirift m. Ueberſegg. Eine Borlefg. Erfurt, Müller, 1854. 96 ©. 8
Johs. Scherr, Drei Hofgefhichten. Leipzig, DO. Wigand, 1860.
in, 331 ©. 8.
Heinr Dünger, Göthe u. Karl Auguft während ber erften fünf-
on Jahre ihrer Berbinbung, Studien zu Göthe's Leben. Leipzig, Dyd, 1861.
mn. 476 8.
Blaten’s Tagebud, 1796—1825. Hrég v. Karl Bfeufer. Gtutt-
gert, Cotta, 1860. XIV, 28865 8
Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen. 2. Aufl 1. ©. Don
284 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Schleiermacher's Kindheit bie zu feiner Anftelung in Halle, Octob. 1804. 98.
Bd. Bon Schleiermaher’s Anftelung in Halle, Oct. 180% bis an fein Lebens
ende ben 12. Kebr 1834. Mit Schleiermacher's Bildniß. Berlin, &. Reimer,
1860. VI, 407 u. 413 S 8.
Jof. 9. Görres, Geſammelte Schriften. Hrsg v. Marie Gör-
res 1. Abthl 6. Bd. A. u. d. T.: Bolitifhe Schriften. Münden, liter. art.
Anftalt, 1860. YI, 542 ©. 8.
Aler. v. Humboldt, Briefe an Barnhagen v. Enfe aus ben 3.
1827 —58. Nebft Auszügen aus Varnhagen's Tagebüchern, und Briefen vom
Barnhagen u. Andern an Humboldt. 1-4 Aufl Leipzig, VBrodhaus, 1860.
XXI, u. 400 S 8.
Humboldt, Lettres of A. v. Humboldt written between the
years 1827 and 1858 to Varnhagen v. Ense, together with Extracts from
Varnhagen’s Diaries and Lettres from Varnhagen and others to Humboldt.
Authorised Translation from the (ierman with explanatory. Notes and a
full Index of Names. London, 1860. XXVI, 334 p. 8.
Barnhagen v. Enfe, Briefe an eine Freundin. Aus ben Ja
ren 1844-53. Hamburg, Hoffmann und Canıpe, 1860. 2988 8,
Dr. Gerd. Eilers, Geh. Reg. -R., Meine Wanderung burd's
Leben. Ein Beitrag zur innern Geſchichte der erften Hälfte bes 19. Jahrh.
5. Thl. Leipzig, Brodhaus, 1860. XIN, 3128 8.
Ernf Morig Arndt. (Abgebrudt aus dem 5. Bbe. ber preuß. Jahr⸗
bücher.) Berlin, © Reimer, 1860. 45 S. 8.
Dr. G. Befeler, Zur Geſchichte d. dentſchen Ständerechts.
Berlin, Hertz, 1860. 10 S. 4
Dr. Ferd. Kampe, Geſchichte ber religidien Bewegung ber
neueren Zeit. 4. Bd. Leipzig, Wagner, 1860. XII, 376 &. 8.
Inhalt: Geſchichte des Deutichlatholiciemus und freien Preteflantiemus in
Deutfhland und Norbamerifa von 1848 1858.
Uns dentſchen Zeitſchriften.
Götting iſche gelehrte Anzeigen 1860.
Bir notiren aus dieſem hervorragenden kritiſchen Organ zunächf drei
Deutiche Geſchichte. - 285
Anzeigen des Hrn. Prof. Waitzz, welche fih über ausläindifhe Werte aus
kütren Jahren, bie aber als Beiträge zur Literatur der germaniſchen Geſchichte
kerrachtet werben können, verbreiten: Geographie de Grögoire de Tours von
Alfred Jacobs (Paris 1858), Collection des Cartulaires de France, Tom. VIII,
R Paris 1857) uub Codice diplomatico Longobardo, von Carlo Troya
-Nespel, 1855) — in Rr. 89, 146 -— 152. — Ju Nr. 85-88 gibt Hr. 9.
Istn eine eingehende Receufion von Otto Opel's Chronicon Montis Sereni,
ak, 1359. — Hr. 3. Köſtlin beipridht in Nr. GL u 62 eine Schrift von
Dr. 9. Brandes: Luthers Reife nah Rom, ober ift e8 wahr, daß derſelbe
bear tie Erufen ber Peterstirche erftiegen hat. Lemgo, 1859.
Zeitichrift für deutſches Recht und deutfhe Nechtswiffenihaft, bag.
wz Befeler, Reyſcher und Stobbe. Tübingen, 1860. 20. Bd. 1. und
2 Eeft
Kir maden befonders auf bie verbienftliche Abhantlung ven Fr. Thudichum
er „dus vormalige Reihslammergericht und feine Schidfale” S 148 — 222
srefiam.
Kritifhe Bierteljahresjchrift für Geſetzgebung und Rechts-
ziffenfhaft von 3. Pözl. 2. Br 1.—3 Heft. Münden, literar.-artift.
Isüalı, 1860.
In vem Artikel „zur vergleichenden germanijchen Rechtsgeſchichte“
£. 755 — 122 gibt der gründliche Kenner der nordiihen Rechtsquellen
Fr 8. Maurer, anfnüpjend Kritik, Abhandlung des Dr. Fr. Rive de
llorum et mulierum tutela in antiquo Scandinavorum jure (YVratislaviae,
59, höchſt beachtenswerthe Winke über vie Cinfeitigkeit und Unrichtig-
z rer Wilda'ſchen Methode in der Behantlung ver altgermanifchen
Ichtögucllen. Hr. Maurer beftreitet, daß wir ven Inhalt unjerer deut⸗
em Rotfärechte ohneweiters für moderner als den der nordiſchen Nechte
Sieden türfen und gefteht unter diejen keineswegs den norwegiichen und
4 meniger ven isländiſchen Rechtsquellen einen alterthüntlicheren Chn-
ter zu, als den mit dem deutſchen am meilten verwandten bänifchen
Kehre. Es genügt, auf die Fruchtbarkeit diefer Gedanken für die rich—
+ Erfenntniß der älteften deutſchen Rechtszuſtände hinzuweiſen.
Zeitſchrift für die biforifhe Theologie. In Verbindung mit
= 5heriihetheologifhen Geiellichaft in Leipzig, herausgeg von Dr. th. Chri⸗
Ts Bithelm Niedner. Gotha, Verthes, Jahrgang 1860. 4 Hfte. 634 ©. 8.
Sch 1: Zur Geſchichte der firaßburgifchen Wietertäufer in ben Jahren
286 = Ueberfſicht ber hiſtoriſchen Literafur von 1860.
1527 bis 1548. Aus ben Berzihtblidern und anbern ardivaliihen Quellen
mitgetheilt von T. W Röhrich, Pfarrer und Präſident bes Konfifioriums ze.
6 3 — 121. — Die Entfiehung ber helvetiſchen Sonfenfus- Formel, aus Zu⸗
rich's Epezialgeſchichte näher befeudhtet. Bon Dr. th. Alerander Schweizer,
Kirchenrath 2. S. 122 — 148.
Heft 2: Mittheilungen ans ber proteftantiihen Sectengeſchichte in ber heſ⸗
fiihen Kirde. Bon 8. W. H. Hochhuth, Pfarrer. Schluß der zweiten Ab⸗
iheilung (Iahrgang 1859. ©. 210 — 234). ©. 258 — 284. — Zacobus
Spreng, genannt Probſt, in ber Anfangszeit ber Reformation. Bon 8.
Kloſe.
Heft 3: Das chriſtliche Maͤrtyrerthum in ben erſten Jahrhunderten umb
deſſen Idee. Bon Dr. th. F. W. Gaß. Zweiter Artikel (vgl. unſere Zeit⸗
ſchrift S. 315 — 381). — Drei Urkunden zur Reformationsgeſchichte Mitge⸗
theilt von Dr. Theod. Muther. ©. 452-469. Die 3 Urkunden flammen
aus dem Weimarer Geſammtarchiv. Die beiden erften „beziehen ſich auf bie
neue Orbnung des Gottesbienftes in ber Stiftsfirdye Allerheiligen in Wittenberg,
welche 1525 für bie an der alten Liturgie fefthaltenden Canoniker eingeführt
wurbe und find ale Ausgang ber feit 1525 begonnenen auf Abſchaffung ber
Mefie gerichteten Bewegung nicht blos im biftorifcher, fonbern auch Titurgifcher
Beziehung fehr wichtig". Die britte enthält den Entwurf einer Cheorbuung
für das damalige Kurfürftenthum Sachſen, wie ber Herausgeber vermutbet, aus
bem Anfang ber vierziger Fahre bes 16. Jahrhunderts.
Heft 4: Luther's Grundbefig, bargeftellt von 3. C. Wibemann,
©. 475-570. ine fehr gelehrte, nicht blos für bie Kenntniß ber ökonomi⸗
[hen Berhältnifie des Reformators wichtige Abhandlung — Celio Secunde
Eurioni, bargeftelt von Dr. & Schmidt, Prof. ꝛc. ©. 571 - 634. Um
ziehendes Tebensbild eines auagezeichneten italienifhden Qumaniften, ber frühe
der römiſchen Kirche entfremdet, nad manchen Gefahren bicfjeits der Alpen, im
Laufanne und Bafel, „Freiheit für feinen Glauben ſuchte“, und auch als Edhrift-
ſteller für bie reformatorifhe Bewegung wirkte.
Hiftorifh-politifhe Blätter für das katholiſche Deutſchland, redi⸗
girt von Edmund Jörg und Franz Binder. Münden, 1860. Bd. 45
und 46.
Im 45. Bde. finden fih u. a. folgende hiftorifche Abhandlungen: „Der
alte Görres als Rämpe für Deutfhlands Ehre und Recht“ in
ſechs Artileln S. 161, 249, 349, 517, 721, 801 u. ff. — Die mittelalterfichen
Miffionen in Afrika. (Die Miſſionen in der Berberei im 13. unb 14. Jahrh.
und in Marollo im 13. und 14. Jahrh.) ©. 81, 177 fi. — „Die geifigen
Deutihe Geſchichte. 287
Irregungen in Böhmen vor Beginn des Huffitismus“ in 3 Arikeln, fortge-
ee in 2 Artikeln des folgenden Bandes. — Bd. 46 enthält noch außerdem:
* Irtifel über „Herzog Georg bei Bärtigen von Sachſen und die Reforma-
tea“, fc wie in den beiden legten Heften eine noch nicht abgefchloffene Abhand⸗
Enz über: „Magdeburg, Zilly und Guſtav Adolf“. — Andere Auffüte find
He Auszüge neu erfhienener hiſtoriſcher Schriften ober fürzere Anzeigen
derelben. Außer ber eingehenden Beiprehung von Hefele's Conciliengeſchichte
m 46. Bde., die fhen wegen einiger Beridhtigungen notirt zu werben ver-
Ken, heben wir nur noch bie beiden Artikel des 45. Bandes: „Zur Geſchichte
det lemkarbiichen Wunicipalitäten, bie fih an das vor ein paar Jahren er-
zuame Werk von Posper de Hauteville (Paris 1857 — 1858) auſchließt,
wrxcr.
Preußiſche Jahrbücher, herausgeg. von R Haym 5. u 6. Bd.
kerlin, 1860 ; Georg Reimer. 8. — Wir heben aus dieſer gediegenen Zeit:
'gir telgente Aufjäge als Bereicherungen der hiſtoriſchen Literatur hervor:
Senrih Theodor von Schön“ in 3 Artikeln des 5. Bandes. In eben die-
m Bande: „Der preußifche Staat während der territorialen Zeit” (im An-
Elaß an den 2. Theil von Droyſen's Geſchichte ber preußiſchen Politik), ferner
Pe Lebentikizzen über „Karl Ritter” und „Ernſt Moriz Arndt”, und von ben
%:rfein unter der Rubrit: „Alte und neue Nechtszuftinde in Preußen“ die
katın erften, welche fid mit den „Grundzügen der Reformen unter Friedrich Il.
ze mit den „Reformen der Yuftizverfaffung unter Friedrich 11” inebefondere
bkeitiftigen. — Die größern geſchichtlichen Aufiäge bes 6 Bandes behandeln
ssrziezend Perfönlichkeiten und Zuſtände des Auslander, fo die: „Studien zur
-sg;öhicken Literatur- und Culturgefhichte” , der Artikel über „Olivier Eron-
wel" und ter ausgezeichnete Aufjat über „Thomas Babington Macaulay“.
Arnſerdem mag neh ein bisher ungetrudter Brief „Göthe's an den Herzug
zca Feimar“ (vom 28. Oktb. 1847) erwähnt werden, von dem der Heraus»
seter mit Recht bemerkt, daß kaum ein Document aus jener Zeit befannt fein
verhe, das uns einen fo fhönen Einklid in das Verhältniß Göthe's zu feinem
srpfihen Freunde geftattete. —
Die Grenzboten, herausgeg. von Guſtav Freytag und Julian
Ehsmidt. 19. Jahrg Leipzig, Herbig, 1860. 5 Bde. 8. — Die rei
azeuge Zeitichrift, welche der Bolitil wie der Literatur in weiten Umfange ges
winner iR, brachte aud) in dem letzten Jahrgange eine Reihe werthvoller Bei⸗
ige zur Geſchichte. Wir notiren folgende: I. Bd. „Briefe des Herzogs Fried⸗
rich Bilhelm von Braunfhweig-Del® aus ber Kampagne von 1793.” Diefe
288 | Ueberfiht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
interefjanten Echriftfüde , welche über bas erfle Auftreten bes fpäter fo be
rähmten Kriegefürften Licht verbreiten und zugleich als ein Beitrag zur Ge⸗
ſchichte des Feldzuges von 1793 angejehen werben können , werben bier zum
erfieu Male und zwar von dem Original veröffentliiht. S 27, 57 ff. Altien-
Gefellihaften im Alterthum S. 382.
Br. 11 giebt S. 7 und 58 ungebrudte Briefe Gneifenaus. „Bieten
diefe Briefe (18 an der Zahl, ans ben Jahren 1816 — 1828) aud fein
anfergewöhnliches Material für bie Beurtheilung jener Jahre, jo Kiefern fie
doch in Keinen Zügen und Anmerkungen, in Urtbeilen und Ausiprühen in⸗
terefiante Specialitäten und zugleich den Beweis, welche politiich-fociale Partei⸗
richtung ſelbſt die hellſten Köpfe beherrſchte; fie bezeugen ferner bem berühmten
Berfaffer die höchſte Biederleit des Charakters.” Uuter bem Titel: „Bilder aus
der deutfchen Vergangenheit" &. 329 ff. wird die „Zortuna eines Bürgerlichen
nad dem breißigjührigen Kriege“ nad ber erſt jet zum Drud beſtimmten
Selbſtbiographie eines ſchlefiſchen Bürgerſohnes, der als Brandenburgifcher Rath
ſtarb, geihildert. Berner S. 385, 427, 457 ff. „ungebrudte Briefe von Stä-
gemann“, wie bie Gneiſenau's an den Prof. Beuzenberg gerichtet uud gleich
falls aus den Jahren 1819 — 1826. „Ein gefhichtliher Beitrag zu dem wahren
Bilde jener Zeit.“
111. Bd. Bilder aus der deutſchen Vergangenheit. Pfefferſäcke u. Krippenrei-
ter um 1660. ©. 1. Bilder aus der Geſchichte des Pietismus S. 161, 489,
497, 499. Bier werden 3. 3. Mofer, 3. Ch. Edelmann und Albrecht von
Haller von Yulian Schmidt in höchſt intereffanter Weile auf Grund ihrer
eigenen Zeugniffe nad) ihrem inneren religidfen Leben geſchildert. — S. 330
gibt Helbig nad der noch nicht gebrudten Aufzeichnung eines bayeriichen
Sofcavaliers aus dem Jahre 1680 ein Bild aus dem beutihen Hofleben. —
S. 361 — 372 die Polizei bei Griehen und Römern.
Bd. IV. ©. 161, 201 ff : Leibnitz und bie Kirchenvereinigung von Yu-
lian Schmidt. Cine werthoolle Abhaublung, bie fih an die jüngft zu Paris
erfhienenen ;: Oeuvres de Leibnitz , publides pour la premiere fois d’aprös
les manuscrits originaux par A. Foucher de Careil, T. 1 und 2 anlehnt.
S 435 ff. Raifer Leopold und feine Minifier. Gin Bild aus der Ber
gangenheit zum Vecrgleich mit ber Gegenwart von Helbig, mit Benugung
der im Dresdener Ardiv befindlihen Kopie eines handſchriftlichen Berichtes
eines ſchwediſchen Geſandten aus dem Jahre 1675. — Das Handwerl im
Altertum &. 53, 94, 128 fi. — u. Kludbohn.
Drud von Dr. C. Wolf 4 Eohn.
4
Nachrichten
von der
ſikeriſchen Commiffion
bei der
Aöniglich Zaptriſchen Ikademie der Millenſchaften.
(Beilage zur Hiſtoriſchen Zeitſchriſt heransgegeben von H. v. Sybel.)
Zweiter Jahrgang.
weites Htüd.
Münden, 1861.
Literariſch-artiſtiſche Anftalt
ber 3. G. Cotta’fhen Buchhandlung.
Drua son ir. CE. Wolf & Bohn.
Vu.
Hericht über den Stand der Arbeiten zur Herausgabe der
dentſchen Reichstagsalten.
Von
Inlins Weizſäcker.
Der Bericht des Prof. Voigt vom vorigen Jahre über die Her«
atgabe ver Reichetagsalten hat die wefentlichen Grundzüge für das
Usternebmen, die Öefichtspunfte für die Aufnahme des zu gewinnenden
Aateriaols und tie Art feiner Bearbeitung fejtgefegt, und vie erfte
Racyricht gegeben von den damals feit einem Jahr und einigen Mo⸗
naten begennenen Arbeiten. Nach dem Abgang des damaligen Bericht⸗
erftattere auf einen andern ehrenvollen Wirfungsfreis liegt es mir
als jeinem im März v. 8. eingetretenen Nachfolger ob ten heute
(Sept. 1860) gewonnenen Stand ver Sache überfichtlich darzulegen.
Neben Dr. Kluckhohn, weldhem außer anterweitigen burch ben
Ganz des Unternehmens geforderten gemeinfamen Arbeiten hauptfüch-
lich die Auobeutung der Codices der biefigen Bibliothek und ber mit
ver Bezeichnung Fürſtenſachen verfehenen Actenfascifel des hiefigen
Staatsarchivs zufiel, ift feit 2. Dezember v. Is. Dr. Büpinger in
Bien ale Mitarbeiter eingetreten, welcher aus ven ihm zu Gebote
kehenben Quellen die Bearbeitung der Zeit Friedrich's III. übernom⸗
6*
62 Bericht über ben Stand ber Arbeiten
men bat und zu tiefem Zwecke das dortige deutſche Neichsarchiv und
insbefontere bie Neich8-Regiftraturbücher vurchforfcht, da biefe letzteren
in einer Reihe von Bänden merkwürdige noch unbenugte, zum Theil
ſehr ſchwer zu lejente Concepte zu Stüden, deren Copirung ober
Beränterung bert unterlajjen wurte, zum Theil unvollzogene, aber
font in aller Form ausgeftellte Triginalurfunden enthalten; außer⸗
ven hat er tie Handſchriften ter k. k. Hofbibliothel vorgenommen,
und in dem vor mehreren Jahren aus dem Deutfchordenshaufe zu
Frankfurt aus unbekannten Grünten nach Wien abgegebenen Kurerz-
kanzlerarchiv tie officiellen Exemplare ber friebericianifchen Abfchiebe
aufgefunden, welche bei ver Erition werten zu Grunde gelegt werben
müſſen. Prof. Sickel in Wien, welcher fchon begennen hat, mitzu⸗
arbeiten, wird tie zur Crgänzung höchſt willlemmene Regiftratur
Eigmund’8 vornehmen. Dr. Ertmannsdörffer fohildert feine
italienischen Borjchungen in einem cigenen Reiſebericht. Im übrigen
find tem Unternehmen für bie laufenden Gejchäfte auch jüngere Kräfte
in erfreulicher Weiſe zugewachfen.
Die Einrichtung des aus einzelnen Zetteln beſtehenden, rein chro⸗
nologifch georbneten Repertoriums über alle bicher gehörigen
gebrudten und ungebrudten, copirten oder bloß notirten Stüde bat
fih al8 höchſt zwedinäßig bewährt. Die Erweiterung tiefer Regiftratur
durch literarifchen und ardhivaliichen Zuwachs ift fortgefchritten. Die
Seite ihrer Beftimmung, wonach fie als Regeſtenwerk für vie in
irgend einer Beziehung zu den Reichstagen ſtehenden und doch nicht
zur Edition geeigneten Etüde zu dienen hat, wird fich mit dem Fort⸗
fohritte ter Arbeiten beſonders für die fpätere Zeit immer mehr
geltend wachen, we eine forgfältige Ausjcheidung in dem fich maſſen⸗
weife berandrängenten Stoffe immer nethwenbiger wird. “Dinge, bie
wiederholt auf Neichstagen vorkommen, wie verfchiedene Streitigkeiten
deutſcher Fürſten unter fi im 15. Jahrhundert, Laffen ſich in ihrer
weitern Entwicklung werer ganz umgehen, ned auch in anderer als
als in Regeſten- over Notizen-Yorm bei der künftigen Ausgabe ver-
wenden.
Zunäcjt find vie hieſigen Schäge im FT. Reichs⸗ und im
t. Staatsarchive weiter ausgebeutet worden, vor allem bie ergie⸗
bigen, im Neichsardhive aufbewahrten Regensburger und Nörb-
zur Seransgabe ber beutfchen Heichstagsaften. 63
linger Reichstagsakten bis zu den fiebziger Jahren, dann Bis auf
eine Kleinere Nachleſe ver feinem Inhalte nach höchſt beveutenve 5. Band
vr Brandenburg-Anebahifchen. Die vorhergehenten Bände
ter letzteren nebft ben drei nachfelgenten find von dem Archivconfervato-
rum zu Bamberg für tie Dearbeitung eingeliefert worten (vie kaiſer—
Ixhen Bücher) und verfprechen eine ebenſo reiche Ernte an amtlichen
Itenftüden, Korrefpondenzen, Relationen, Inſtructionen, Staatsfchrif-
ten m. dgl., wenn gleich tie Hoffnung, aus ven früheren Bänden biefer
Eerie für bie Zeit vor den fechziger Jahren ein ten leßteren an Fülle
entiprechenbe® Material zu gewinnen, ſich nicht beftätigt bat. Die
mt Staatsarchive befintliche Serie von Reichstagsaften kurpfäl—
ziſben Urfprungs ift bereite in Angriff genoınmen worben, ebenfo
hebt nie baheriſche Serie aus demſelben Archive in fortfchreitens
ver Yearbeitung; beide zeigen fich theilweije auch für die ältere Zeit
au wertbuollen Documenten ergiebig. Dazu kommi eine bedeutende
Keibe von Fafcileln mit ter Bezeichnung Fürſtenſachen aus tem
L Reichsarchive, wovon ein Theil ver mehr territorialen Beſtimmung
tieſer Sammlung nach mit geringerem, aber immer noch ſchätzbarem
Grielge bereits turchforjcht ift. Außerdem wurde die Ansbeutung von
Cerice® ver biefigen Hof- und Staatsbibliothek in fruchtbarer
Reife fertgeſetzt In Bälde wird dann die lange Reihe von Neu:
targer Copialbüchern unterfucht werben, tie neben vielem, was
fir unfere Abfichten ohne Bedeutung ift, die wichtigften Stücde zur
Reihetagsgefchichte auch der früheren Zeit darbieten. Bereits kann
vet mit Rüdfiht auf tie kürzlih von mir unternemmene Er—
bekung im einer Anzahl anderer bayeriſcher Archive außerhalb
Rünchens zu planmäßiger Ergänzung ter hiefigen Schäte auf dieſe
auswärtigen Funde vergegriffen werben, was bei den unter der Dire-
ctien tes hieſigen Reichsarchives ftebenten F. Provinzialarchiven durch
ie äußerft zwedmäßige Gentralifirung dieſes Tienftzweigs und bie
perfönliche Gefälligkeit feiner Beamten befonters erleichtert ift.
Bis jetzt ſchon bat jich herausgeſtellt, daß, was Die Frucht—
karfeit für bie verfchiedenen Zeiträume betrifft, unter ten
m München vorhantenen Reichstagsaften die größere Ausbeute erft
mit ten fechziger Jahren beginnt. Dagegen wird ter bie jegt ned)
fpärlicgere Zufluß für bie frühere Zeit, wie. wir theils wiffen, theile
64 Bericht über den Staub ber Arbeiten
mit Sicherheit hoffen, durch anberweitige Funde gefteigert werben,
obfchon von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vorauszufehen
ift, daß bier tie Ernte immer bie reichite, von ver bes 14., daß fie
bort immer die verbältnißmäßig ſchwächſte bleiben wird, weswegen
für die legtgenannte Zeit in der Aufnahme von Documenten, welche
in irgend einer Beziehung zur Geſchichte der Reichstage ftehen, eim
weiterer Spielraum wirb verftattet fein müſſen. Es wird möglich
fein, da wo eigentliche Zufammenftellungen von Reichstagsakten fehlen,
durch Auffuchung vereinzelter nud zerftreuter Aftenftüde auch für biefe
Zeiten eine gewiſſe VBellftäntigfeit und einen genügenden Zuſammen⸗
hang in ber Sollection zu Wege zu bringen, wie fi) denn auf ber
biefigen Bibliothek für ven Reichstag ven 1442, in feinem Verhält⸗
niß zum Bafeler Eoncil, in Betreff ver Neutralität eine Reihe von
Reben und die ganze einleitende Correſpondenz Friedrichs III. mit
ven ÄAbrigen europäifchen Fürften vorgefunden hat, einiges ſchon bei
Würbtwein gebrudt, das andere neu, und wie fich auch unter bem
bayerifchen Fürftenfachen eine anfehnliche Reihe neuer Aftenftüde zur
Geſchichte Sigmund's vorgefunden haben.
Ziemlich vollftändige Bilder der Reichstage, ihrer
inneren Vorgänge und auswärtigen Beziehungen, theilweife mit allem
Beiwerk ihrer äußeren Erfcheinung und ihres Ceremoniels, haben wir
jhen jeßt, wie bieß bereits im vorjährigen Berichte hervorgehoben
war, für eine Anzahl von Verſammlungen. So der Huffitentag
zu Nürnberg ven 1431, die Landfrievend- und Türkentage zu Ulm,
Nördlingen und Nürnberg 1466, Regensburg 1471, Augsburg 1473
und 1474. Die Nörblinger und Nürnberger Tage ven 1466 find
mit neuem Material für die Gefchichte des Landfriedens, für welche
überhaupt ziemlich viele Nova zuſammengekommen find, und mit einem
intereffanten Fürftenprojecte zum Türkenzug bereichert worten. Durch
baperifcye und brandenburgiſche Infiruftionen hat ver Regensburger
Tag von 1471 weſentliche Erläuterungen erfahren, aus einer Miscellan⸗
Handſchrift des deutſchen Reichsarchivs zu Wien Tennt man jet aufer
dem Heinen auch ven bei Müller nur fummarifch erwähnten großen
Anjchlag in fpecialifirter Faſſung; aus den bayerifchen Fürftenbricjen
ift das Verhältniß tes Pfalzgrafen Friderich zum Kaiſer und find
beſonders bie auf dem Tegtgenannten Tag verhanbelten Streitigleiten
zur Serausgabe ber beutihen Reichetagsaften. 65
wer baperifchen Herzoge unter einanver beleuchtet werben. Die Vors
bereitumgen ter Augeburger VBerfammlung von 1474, die Reife tes
Raiiers von Trier dahin nebſt dem Zufammenbang der burgunbifchen
diege, bie Verhältniſſe ter böhmifchen und polnischen Gefandtfchaft
haben durch tie brantenburgifchen Relatienen eine fehr lehrreiche und
kaillivte Schilderung gewonnen.
In zweiter Linie ver Vollſtändigkeit treten dann hervor,
vie für die Tirchlichen Angelegenheiten fo wichtigen Zage von Frank
mt 1442, von Nürnberg 1443 und 44, vie Verfammlungen zu Nürn«
lerg 1467 und Regensburg 1467—68, die im Jahre 1469 zu Regens⸗
burg um 1479 zu Nürnberg gehaltenen Reichötage, der Türkenconvent
usa Freifing 1479, der Nürnberger Tag von 1480. Für jene Verſamm⸗
mgen an ven bierziger Jahren find aus den baherifchen Alten, aus
Eopices ver Bibliothefen zu München und Wien Beiträge gewonnen
werten. Die Reichétage von 1467 und 1469, das Verhältniß zu
Aöpmen, tie brantenburgifche Politik find wefentlich erläutert; zu dem
Regensburger Sejandtentage um Georgii 1469 haben bie brandenburg-
anabachiſcheu Alten wichtige, noch unbekannte Stüde geliefert. Aus
ner bayeriſchen Serie hat ſich für den Türkenkonvent zu Zreifing 1479,
aus der baheriſchen und Eurpfälzifchen für den Reichstag zu Nürnberg
am Luciä 1479 neues und fehr interejfantes Material ergeben, befon-
vers für tie traurige Bloßſtellung ver deutſchen Schwäche vor ben
Aremben in der orientalifchen Frage.
Endlich ift auch der Frankfurter Tag von 1427 aus bayerifchen
Aften, ter Rurfürftentag zu Mainz von 1441 und das Verhältuiß ber
earepãiſchen FZürjten und Herzog Albrecht's ven Bayern insbefondere
;a Bapft und Eoncil aus derſelben Quelle wefentlich erläutert worten.
Die wegen ihres intendirten Charafters ebenfalls hieher gehörige Mainzer
Trewinzialfynode von 1456 ift aus ven brandenburg⸗ ansbachiſchen Akten
tarch Aviſamenta und antere Stüde über ven Zürfenzebenten und
tie Üppofition gegen bie Curie, die Gefchichte ter Kurfürftenverfamme
lung deſſelben Jahres zu Frankfurt iſt aus tenfelben und ben bayeri⸗
ſchen Alten bereichert. Die obfchen nicht unbekannten Verhandlungen
des Könige Georg von Böhmen mit den Kurfürjten und mit Herzog
Yarwig von Bayern wegen feiner Wahl zum römiſchen König, nieder⸗
gelegt in den vorläufigen Bertragsentwürfen über bie für beide Seiten
66 Bericht über den Stand der Arbeiten
zu geiwinnenden Vortheile, wurben aus den brandenburg-ansbadhiichen
Reichstagsakten gezogen, und ebenda fanb ſich eine umfangreiche
Staatsfchrift von Martin Meder für venfelben König und benfelben
Zwei aus dem Jahre 1460, bisher unbelannt, aber vom hechſten
Intereſſe, ganz geeignet, das überrafchennfte Licht auf den Charalter
dieſes Fürften und auf feine gefammte Bolitit, fowie insbeſondere auf
fein Verhältniß zu Religion, Kirche und Papft zu werfen und bas
biftorifche Urtheil über ihn endgiltig feftzuftellen. Die bayerifchen
Neichstagsalten haben eine ganz unbelannte, fehr merkwürdige In⸗
fteuction der Gejanbtfchaft des Biſchofs von Augsburg und der Herzege
Johann und Sigmund von Bayern an den Pfalzgrafen Friedrich in
Betreff des Nürnberger Tags von Georgii 1468 ergeben, wie über
haupt die Stellung des letzteren Fürſten zum taiferlichen Hofe durch
wichtige neue Aktenftüde der brandenburg⸗anebachiſchen Serie aufger
Hört wurde. Das Wiener k. k. geheime Archiv hat einen bisher un»
gebrudten Landfrieden von 1465 geliefert.
Was fchon in dem vorjährigen Berichte von den juriftifchen
and thbeologifhen Gutachten des 16. Jahrhunderts, wo ber
Umfang der Schriftftüde der Unbedeutendheit ihres Gehaltes gleichkommt,
als Regel aufgeftellt wurbe, das dürfte auch auf eine Reihe ſolcher
Reden und Butacdhten aus ver Zeit der Eoncilien übertragen werben,
daß nemlich hiebei die Form von Ercerpten anzuwenden iſt. Es ift
dies gleich fehr durch den Gefichtspunkt der Ermöglichung der Edition
unferer ganzen Sammlung wie durch ben ihrer künftigen Brauchbar-
leit für den Forſcher nahe gelegt.
Auch dem Gefhäfte der Sollationirung wird eine noth-
wendige Grenze zu feen fein. Bei der großen Anzahl von Archiven
und Bibliothelen in deren Alten und WManufcripten viefelben Stüde
unaufhörlich wieberfehren, würde biefe Arbeit, vollftäntig durchgeführt,
ebenfo endlos wie nutzlos werben; denn bei ter Einrichtung bes
Schreibereiwefens auf ven Reichötagen ift, wenn, wie gar oft, ja in
ben meiften Fällen, die zu Grunde gelegte Conception nicht mehr zu
ermitteln ift, von ben einzelnen bictirten Protofollabfchriften nicht
zu fagen, daß eine vor ber andern in irgend einer Beziehung ben
Vorzug der Authenticität hätte, und wenn bei genauer Bergleichung
von 6 — 10 folder, an Werth gleichftehenner Exemplare berfelben
zur Seranegabe ber beutichen Reichstagsakten. 67
Ütenftüde ein vollkommen richtiger Text fich mit Sicherheit ergeben
het, fo wird Bei Wuffindung weiterer Abfchriften des gleichen Inhalts
eine einfache Durchſicht genügen, zu dem Zwecke ber Crinittelung, ob
mößere oder wefentlichere Abweichungen ftattfinden oder nicht.
Um die Arbeiten an den verſchiedenen Orten, bie
gleichzeitig ftattfinten, zu conformiren, erfcheint es, namentlich bei
Hnftiger Bermehrung ter Arbeitskräfte, als das zweckmäßigſte, daß
un den Stellen außerhalb Münchens bie einzelnen Mitwirkenden fich
merft anf vie Anlegung von Regeſten befchränfen, dieſe hieher mitthei-
im und von hier aus nach ber bloß mit ven hiefigen Mitteln mögli—
en Lieberficht fiber das fümmtliche Material die Anweifung zur
Aſchriftnahme oder zur Sollationirung mit ten auszuſendenden bereits
genommenen Copien cber zu bloßer Regiftrirung erhalten.
Es liegt mir nunmehr neh ob, Mittheilung zn machen
von den Ergebniffen einer im Auftrage der hijtorifchen Com-
miffion im September d. J. unternommenen archivalifchen Reife.
Ohne zn fofortiger Abfchrift des Aufgefunvenen jhreiten zu wollen,
war dabei die Abficht: theils im Voraus einer gewiſſen Menge ver:
banbenen Stoffes ficher zu werten, theil® tie Münchener Arbeiten
der nächften Zeit in Einklang zu bringen mit tem, was von ben be»
treffenden ausmärtigen Stellen zu erwarten ift. Beſonders bie ältes
ren Etüde ans ber zweiten Hälfte des 14. und ber erften des 15.
Jahrhunderts müfjen erwünſcht fein, ba von ter Erreichung einer
gewiffen Vollftänbigleit in biefer Zeit ber Beginn des Drudes ab-
bängig ift. Hatte fich jedoch ſchon bei ben Münchener Borräthen
gezeigt, Daß die eigentliche Auabeute meift erft mit ben wierziger Jah—
ren bes 15. Jahrhunderts anhebt und erft mit Beginn ber jechziger
umfänglicher wird, um von ba an rafch zuzunehmen und mit ben
neunziger Fahren fehr meffenhaft aufzutreten, jo war dieß auch das
Ergebniß für die auf tiefer Rundreiſe befuchten Orte: ganz wenig
ans dem 14., verhältnißmäßig wenig aus der erften Hälfte des 15,
Yahrhunderts, dagegen reichliches Zufträmen von Stoffen aus ter
zweiten Hälfte dieſes Säculums. Es ſcheint, daß nur felten vor ber
Mitte veffelben an eigentliche Sammlungen von Reichstagsakten gedacht
wurde, häufig erjt mit dem letzten “Drittel des Jahrhunderts over in deſſen
Berlaufe. Wo diefe fich alfo nur fehr fpätergeben, iftunter andern Ziteln zu
68 Bericht über den Stand ber Arbeiten
fuchen. Bieles mußte verloren gehen aus ber Zeit, wo nicht gefam-
melt wurde. Aber gleichwol ift eine zufammenhängende Reihe noch
berzuftehlen. Solange befendere Sammlungen nicht angelegt wurden,
finden fich die auf Neichstage bezüglichen Aktenſtücke mitten unter
biejenigen fchriftlichen Aufzeichnungen eingejchoben und zerftreut, welche
fih anf die faft wichtiger erjcheinenden befonberen Beziehungen eines
Neicheftandes richteten oder aus benfelben hervorgegangen find, mitten
unter Stüden, bie es mit engeren politifchen Kreifen ober [peciellen
Nechtsverhältniffen und Privatgefchäften zu thun haben und fchen
früher in Sammlungen vereinigt wurden. Bei ven Städten müf- _
fen daher bie etwaigen Collectionen von Akten der Stäbtebüntniffe
befonvers beachtet werben, weil fie bald auch Neichetage aufgenommen
haben; tann ihre Correfpondenzen in den Miffivbüchern, welche bie
bon den Magijtraten ausgegebenen Schreiben enthalten, während bie
eingelaufenen meift nicht eingetragen wurden und fich deßhalb in ge-
ringerer Anzahl vorfinden, weil fie zu verjchleudern durch ihre Ver
einzelung erleichtert war; weiterhin bie Rathöprotofolle, vie zwar
meift nur private Rechtögefchäfte enthalten, mitten darunter aber auch
ifolirte Neichsfachen in ganzen Altenftüden; daneben die Ratheverläffe,
in denen wenigftens Furze Notizen niedergelegt find; endlich die ftädtis
Shen Nechnungsbücher die theilweife fehr weit zurüdteichen und durch
vie für Gefandtfchaften und bei feierlichen Gelegenheiten veraufgabten
Summen fehr fichere Anhaltspunkte bieten von einer mit ihrem Alters
thum wachſenden Bebentung, wenn auch öfters nur für die Chrono⸗
logie. Die Geſchlechterbücher und bie Archive einzelner patricifchen
Familien dürfen gleichfalls nicht übergangen werben. In ten fürfts
lichen Archiven, geiftlichen und weltlichen, iſt es im Wefentlichen
biefelbe Erſcheinung; in den Grund⸗ und Gemeinbüchern, in ven Lehn⸗
und ugroffaturbüchern, in den Sammlungen ber - Eorrefpondenzen
finden fich mitten unter Kaufs- und VBerfaufs- und andern Urkunden, Ver
gleichen und Urfehten, Specialbünbuiffen und einfachen Notariatsinfteus
menten, Lehnbriefen und Schenfungent bie wichtigften politifchen Aftenftücte
für die Gefchichte des Reichs und der Keichetage eingefchaltet und
bei vielfach unfruchtbarem Suchen ftößt man plößlich, wo man es am
Wenigften mehr erwartet, auf bie intereffanteften, oft ganz unbefann-
ten Aufzeichnungen.
zur Herausgabe ber bentihen Reichétagsalten. 69
Meine Reife dauerte nur kurz, vom 1./2. bis zum 26. Sep⸗
tember incl. Sie erftredte ſich auf die meiften terjenigen ſchwä—
biihen Reichsſtädte, die jegt ber Krone Bayern einverleibt fine: Augs-
bg, Memmingen, Kaufbeuren, Kempten, Lindau, dann in Franken
af Würzburg, Bamberg, Nürnberg. Bei ter zuvorlommenden Art,
mit der ich an ben meiften Orten aufgenommen wurte, Fonnte es
nicht fchwer fein, auch in tiefer befchränften Zeit ten biesmaligen
Zweck zu erreichen, einen allgemeinen Weberblid über dasjenige zu
gewinnen, was bei ven einzelnen Stellen vorhanden ift.
ALS gänzlich auegeleert erwies fih Kempten, ein bei ber ein-
figen Bebeutung bes Ortes unerwartetes Ergebniß. Die Reichötage-
alten find in München zum Gebrauche bereit, und ein locales Archiv
ft nicht mehr vorhanven. Kinige Notizen aus cinem Gopialbuh,
das fich meiſt auf kaiſerliche Privilegien und Regalien befchräntt, aus
einer Shronif des Orts von 1543 bis 1599, vielleicht auch aus einem
Aftenfascifel über die Wiedertäufer werben künftig ter ganze Gewinn
von bortber fein.
Ebenſo wenig findet fih in Kaufbeuren cin eigenes Archiv
ber Stadt. Ein Theil der Regiftratur tes chemaligen ftäptijchen
Archivs ijt durch Das fatholifhe Stadtpfarramt gerettet werben, ver-
faßt von dem Ehroniften der Stadt W. 2. Hörmann 1739, woraus
fih ergibt, daß einſt Neichetagsakten und Reichetagsfchlüffe ven
Ende tes 15. und Anfang tes 16. Jahrhunderts an vorhanden ge»
weien find. In dem Kirchenarchiv des evangelifchen Stabtpfarrantes
finden fich einige Schreiben über Reichetage im Nefermationszeitalter,
Acta von 1556 und 1557 u. f. f., auch aus dem 17. und 18. Yahr-
hundert, für bie ältere Zeit nichte. In ver bantfihriftlichen Stabt-
hronif des kai. Rathes Hörmann find verfchiedene Faiferliche Briefe
und Urkunden, auch Aftenftüde in Reichsſachen aus bem ftädtifchen
Archive citirt; darunter bie Verbindung Karl’s IV. mit ter Bürger:
haft in Betreff ver Königswahl Wenzel's; eigentliche Reichstagsakten
ans früherer Zeit Hat fihtlich auch Hörmann ſchon in feinen Lagen
in Kaufbeuren nicht gefannt, die gerettete Regiſtratur mag alles einft
verhandene anzeigen; es wird nie etiwas weiteres ba gewefen fein, ba
ie Stabt bei ihrer Stleinhrit, objchon fie in ber Zeit ber Reforma—
tion ein bewegtes geiftiges Leben entfaltete, fich vielfach durch andere
70 Bericht über ben Gtanb ber Wrbeiten
Städte, wie Augsburg und Nürnberg auf den Neichstagen vertreten
Tief.
Bedentende Hoffnung hatte ih auf Lind au gefegt: feine infu-
lare Page, die alten Beziehungen zur Schweiz, die Stellung der Stabt
ale Sit des großen Reichstags von 1496 Tieß manches erwarten. Aber auch
hier ijt vieles zerftärt und zerftrent worden. Die Stadtbibliothek ent»
hält, ſoviel ich in ber kurzen Frift, die mir zur Durchficht vergänut
war, fehen lonnte, nichts für unfern Zweck erhebliches, der nachher
zur Unterſuchung verabreichte Katalog ergab in feinem Manufcripten-
Verzeichniß keinen weiteren Zroft. Die in biefer Bibliothek früher
vorhanden gewefenen Reichötagsakten gingen doch nur von 1700 bis
1791, faft ohne Unterbrechung, mit ven Beigaben 218 Bände; dieſelben
wurten 1819 an das k. Landgericht abgeliefert. Indeſſen, es tft auf
tem Rathhauſe ein ziemlich umfangreiches ftäbtifches Archiv vorhanden.
Hier finden ſich nun allerdings Reſte von Neichötagsakten, doch nicht
vor 1530. Die einzige Ausnahme davon macht ver Reichstag von
Lindau 1496, der fih in einem gebunvenen, trefflich erhaltenen, ziem-
lich ftarfen Faſcikel von ſchöner gleichzeitiger Hand vorfand. Politifche
Correfpondenzen eriftiren, auch auf Reichstage bezügliche aus dem 16.
und dem legten Drittel des 15. Jahrhunderts. Die NRatheprotofolfe
erſcheinen al® ganz unergiebig.
Am meiften Ausbeute war unter biefen Heineren ſchwäbiſchen
Neicheftäbten in Memmingen zu finden. Das ſtädtiſche Archiv im
Steuerhaus birgt eine Serie von Reichstagsaften in c. 20 Bänden,
ber erfte enthält die Fahre von 1486—1512, der Schluß der Reihe
fällt in den Anfang des 17. Zahrhunterts. Außerdem find die Neiche-
tagsabjchiede von 1496 bis 1559 in zwei befonveren Faſcikeln zufam«
mengeftellt. Cine Serie von Städteakten betrifft die Zeit von 1471
bis 1583 in 16 Faſcikeln. Weitere politifche Alta befchäftigen ſich
zwar auch mit Reichsfachen, aber erft vom 16. Jahrhundert an. So⸗
mit wäre hier gerade für die ältere Zeit die Unterfuchung nicht fehr
ergielig gewejen, wenn nicht noch zwei ziemlich wichtige Funde hätten
gemacht werben können. Der eine betrifft einen älteren Cober von
Stäbteaften, copia nous confederacionis ciuitatum imperialium
von 1382 an. Es find zunächft Städtebünbniffe, dann aber auch un⸗
gedruckte Taiferliche Landfrieven aus ver Zeit Ruprecht's und Sig-
zue Serausgabe ber deutſchen Reichstazsalten. 71
mund's; die Reichsconſtitution Albrecht's von 1438 und deſſen Land⸗
friede von demſelben Jahre hier zum erſtenmal für uns in gleichzeiti⸗
ger Abſchrift aufgefunden; ebenſo mehrere Sigmund'ſche Alten vom
Nürnberger Reichstag 1431, dann der gemeine Friede von 1474 mit
ben fich daran Inüpfeuben Verhandlungen, und das Ediet Friedrich's III
von Regensburg 1471. Noch unerwarteter, aber auch bebeutenter
war ber zweite Fund, die noch unebirten Acta concilii Constantien-
sis collecta a Joanne Andrea Ratisbonensi. Der Berfaffer bezeich⸗
net ſich in ver Vorrede als ven Autor ber unter feinem Namen längft
befannten Shronif; er fei aber, fo fagt er, durch feine Geſchichte tes
Concils erft zu feiner Chronik geführt worden, und die erjtere fei fein
Hauptwerl. Dies ift bie bier in zwei ſtarken Foliobänden vorliegente
Schrift, allerdings nicht in ihrer urfprünglichen Vollftäntigfeit, ſondern
in einem Auszug erhalten, welchen Uffenbah im Jahre 1717 pur
einen Schreiber veranftalten lieg, nach tem Codex eines Mainzer
Kloſters, und fo daß alle diejenigen Akteuftüce weggelaffen wurden,
bie fchon bei H. von der Hardt ftehen. So wie dad Werk nun hier
vorliegt, ift e8 eine nicht ſehr chronologifche Saumlung von diplema-
tifchen Dokumenten aus jener Zeit, hauptſächlich das Concil von Kon:
ftanz, aber auch fchon das von Pija betreffend, Briefe der verjchieden-
fien Perſonen, Gutachten, eigentliche Altın des conc. Const., Reben
und Verhandlungen, bie dort gepflogen wurden, dazwiſchen hinein
verftreust rein erzählende Partien (befonders die Huffitenkricge und die
darauf bezglichen Reichstage angehend), an die fich dann bie Alten-
ſtücke anjchließen. Für unfere Zwede ergeben fi) daraus eine Reihe
ungebrudter Schreiben geiftlicher und weltlicher Fürften. Das Ver:
hältniß Ruprecht's und Sigmund's zu den Goncilien und zur Kurie
wird dadurch wefentlich beleuchtet. Der Frankfurter Reichstag von
1409, die Neichöbeftenerung zum Kampf gegen bie böhmijchen
Keber, die Nürnberger Verjammlung von 1422, ver Frankfurter
Konvent von 1427 und feine Grecution, die ganze Wirkfamteit
Sigmund’ gegen die Huffiten findet die willlommenſten Belege und
Erlänterungen.
In Augsburg beginnen die Reichstagsakten leider auch ecft
ziemlich ſpät mit 1413, und ſelbſt von ta an fegen fie fich bis in bie
neunziger Fahre nicht ſehr umfangreich fort, werden dann aber immer
66 Bericht über ben Stand ber Arbeiten
zu gewinnenben Vortheile, wurden aus den brandenburg-ansbachifchen
Neichstagsakten gezogen, und ebenda fand fich eine umfangreiche
Staatsfchrift von Martin Meyer für venfelben König und venfelben
Zwei aus dem Jahre 1460, bieher unbefannt, aber vom böchften
Intereſſe, ganz geeignet, das überrafchenpfte Licht auf den Charakter
biefes Fürften und auf feine gefammte Politik, fowie insbeſondere auf
fein Verhältniß zu Religion, Kirche und Papft zu werfen und das
biftorifche Urtheil über ihn endgiltig feftzuftellen. Die bayerifchen
Neichstagsalten haben eine ganz unbelannte, fehr merkwürdige In⸗
ſtruction der Geſandtſchaft des Pifchofs von Augsburg und ber Herzege
Johann und Sigmund von Bayern an den Pfalzgrafen Friedrich im
Detreff des Nürnberger Tags von Georgii 1463 ergeben, wie über.
haupt die Etellung des letzteren Fürſten zum kaiſerlichen Hofe durch
wichtige nene Altenftüde der brandenburgsansbachifchen Serie aufge⸗
Härt wurde. Das Wiener k. k. geheime Archiv bat einen bisher um-
gedruckten Lanbfrieven von 1465 geliefert.
Was fchon in dem vorjährigen Berichte von den juriftifhen
und theologifhen Gutachten des 16. Jahrhunderts, wo ber
Umfang der Schriftftüde ver Unbedeutendheit ihres Gehaltes gleichkommt,
als Regel aufgeftellt wurbe, das dürfte auch auf eine Reihe folder
Reden und Butachten aus der Zeit der Goncilien übertragen werben,
daß nemlich hiebei vie Form von Ercerpten anzuwenden iſt. Es iſt
dies gleich ſehr durch den Geſichtspunkt der Ermöglichung der Edition
unſerer ganzen Sammlung wie durch den ihrer künftigen Brauchbar⸗
leit für ven Forſcher nahe gelegt.
Auh dem Gefhäfte der Sollationirung wird eine neth-
wenbige Grenze zu feen fein. Bei der großen Anzahl von Archiven
und Bibliothelen in deren Alten und Manufcripten viefelben Stüde
unaufhörlich wieberfehren, würde biefe Arbeit, vollftändig durchgeführt,
ebenjo endlos wie nutzlos werben; denn bei ber Einrichtung tes
Schreibereiwefens auf ben Neichstagen ift, wenn, wie gar oft, ja in
ben meiften Zällen, bie zu Grunde gelegte Conception nicht mehr zu
ermitteln ift, von ben einzelnen dictirten Brotokollabfchriften nicht
zu fagen, daß eine vor ber andern in irgend einer Beziehung ven
Vorzug ber Authenticität hätte, und wenn bei genauer Bergleichung
von 6 — 10 folder, an Werth gleichftehender Exemplare berfelben
zur Seransgabe ber beutfchen Reichstagsakten. 67
Mtenftüdle ein volſtommen richtiger Tert ſich mit Sicherheit ergeben
bet, fe wird Bei Auffindung weiterer Abfchriften des gleichen Inhalts
einfache Durchficht genügen, zu tem Zwecke ber Ermittelung, ob
gißere oter wefentlichere Abweichungen ftattfinden over nicht.
Um die Arbeiten an den verſchiedenen Orten, vie
Jeichzeitig ftattfinten, zu confermiren, erfcheint es, namentlich bei
eftiger Bermehrung ter Arbeitöfräfte, als das zweckmäßigſte, daß
ren Etellen außerhalb Münchens vie einzelnen Mitwirkenden fich
werft auf tie Anlenung von Regeften befchränfen, dieſe bieher mitthei-
ien und von bier aus nad) ver bloß mit ben hiefigen Mitteln mögli—
den Vieberficht fiber das fürnmtliche Material vie Anmeifung zur
Vchriftnahme oder zur Sollationirung mit ben auszufendenben bereits
genemmenen Scpien ober zu bloßer Negiftrirung erhalten.
Es liegt mir nunmehr nch ob, Mittheilung zu machen
ven ven Ergebniffen einer im Auftrage ber hijtorifchen Gom-
miffien im September d. %. unternommenen archivalifchen Reife.
me zu fofortiger Abfchrift des Aufgefunbenen ſchreiten zu wollen,
war tabei tie Abficht: theils im Voraus einer gewiſſen Menge ver-
baudenen Stoffes ficher zu werten, theils tie Münchener Arbeiten
ver nüchften Zeit in Einklang zu bringen mit tem, was von ben bes
treffenten auswärtigen Stellen zu erwarten ift. Beſonders bie älte
ven Stücke and ber zweiten Hälfte des 14. und ter erften tes 15.
Jahrhhunderts müffen erwünfcht fein, ta von ter Erreihung einer
gewiffen Bollftäntigleit in tiefer Zeit ber Beginn des Druckes ab-
hängig ift. Hatte ſich jedoch ſchon bei den Münchener Vorräthen
gezeigt, daß die eigentliche Auebeute meift erft mit den vierziger Jah—
rem des 15. Jahrhunderts anhebt und erjt mit Beginn ber fechziger
muufänglicher wird, um von dba an rafch zuzunehmen und mit ben
neunziger Jahren fehr meſſenhaft aufzutreten, fo war dieß auch das
Ergebuiß für die auf tiefer Rundreiſe befuchten Orte: ganz menig
6 dem 14., verhältnigmäßiy wenig aus der crjten Hälfte des 15.
Jahrhunderts, dagegen reichliches Zuftrömen von Stoffen ans ter
zweiten Hälfte dieſes Säculums. Es ſcheint, daß nur felten ver ber
Mitte veffelben an eigentliche Sammlungen von Reichstagsakten getacht
wurbe, häufig erſt mit dem letzten Drittel des Jahrhunderts ober in deffen
Verlaufe. Wo diefe fich alfo nur ſehr fpätergeben, iftunter andern Ziteln zu
68 Bericht Über ben Stanb ber Arbeiten
ſuchen. Vieles mußte verloren gehen aus der Zeit , wo nicht geſam⸗
melt wurde. Aber gleihwol ift eine zuſammenhängende Reihe noch
berzuftellen. Solange befondere Sammlungen nicht angelegt wurden,
finden jich bie auf Neichötage bezüglichen Wftenftüde mitten unter
biejenigen fehriftlichen Aufzeichnungen eingeſchoben und zerftreut, weldhe
fih auf die faſt wichtiger erfcheinenden befonderen Beziehungen eine®
Reichsſtandes richteten oder ans benfelben hervorgegangen find, mitten
unter Stüden, die e8 mit engeren politifchen Kreiſen ober fpecielleg
Nechtsverhäftniffen und Privatgefchäften zu thun haben und ſchon
früger in Sammlungen vereinigt wurden. Bei den Städten mäſ⸗
fen daher die etwaigen Collectionen von Alten der Stäptebüntniffe
befonters beachtet werben, weil fie bald auch NReichstage aufgenommen
haben; dann ihre Correfponvenzen in den Miffivbüchern, welche vie
von den Magijtraten ausgegebenen Schreiben enthalten, während bie
eingelaufenen meift nicht eingetragen wurben und fich tekhalb in ger
ringerer Anzahl vorfinten, weil fie zu verfchleudern durch ihre Ver
einzelung erleichtert war; weiterhin die Rathöprotofolle, bie zwar
meift nur private Rechtögefchäfte enthalten, mitten darunter aber auch
iſolirte Reichsfachen in ganzen Aktenſtücken; vaneben die Ratheverläffe,
in denen wenigitens kurze Notizen niedergelegt find; eudlich die ſtädti⸗
ſchen Rechnungsbücher die theilweije fehr weit zurüdreichen und durch
bie für Gefanbtfchaften und bei feierlichen Gelegenheiten verauegabten
Eummen fehr fiihere Anhaltspunkte bieten von einer mit ihrem Alter⸗
thum wachſenden Bedeutung, wenn auch öfters nur für bie Chrono»
(ogie. Die Gefchlechterbüdher und die Archive einzelner patricifchen
Familien Dürfen gleichfalls nicht übergangen werben. In ven fürfts
lichen Archiven, geiftlichen und weltlichen, iſt es im Wejentlichen
biefelbe Erfcheinung; in den Grund⸗ und Gemeinbüchern, in ven Lehre
und Ingroſſaturbüchern, in den Sammlungen der Correfpondenzen
finden fich mitten unter Kaufs- und VBerfaufds und andern Urkunden, Ver⸗
gleichen und Urfehden, Specialbünpniffen und einfachen Notariatsinftrus
menten, Vehnbriefen und Schenkungen bie wichtigjten politifchen Altenſtücke
für die Gefchichte des Reichs und der Reichetuge eingefchaltet und
bei vielfach unfruchtbarem Euchen ſtößt man plößlich, wo man es am
Wenigften mehr erwartet, auf die intereffanteften, oft ganz unbelann-
ten Aufzeichnungen.
jur Herausgabe ber bentihen Reichetageaften. 69
Meine Reife pauerte nur kurz, vom 1./2. bis zum 26. Eep-
ttaber incl. Sie erftredte fich auf bie meiften berjenigen ſchwä—
liſchen Reicheftänte, die jegt der Krone Bayern einverleibt find: Augs—
kg, Memmingen, Kaufbeuren, Kempten, Linbau, dann in Franken
si Bürzburg, Bamberg, Nürnberg. Bei ter zuvorlemmenden Art,
mt der ich an ben meiſten Orten aufgenommen wurde, konnte es
zit fchwer fein, auch in tiefer befchränkten Zeit den biesinaligen
Zeeck zu erreichen, einen allgemeinen Ueberblid über basjenige zu
gewinnen, was bei ven einzelnen Stellen vorhanden ijt.
Als gänzlich auegeleert erwies fih Kempten, ein bei ver ein—
Bigen Bedeutung bes Ortes unerwarteted Ergebniß. Die Reichötags-
den find in Mündyen zum Gebrauche bereit, und ein locales Archiv
R wicht mehr vorhanden. Kinige Notizen aus einem Copialbuch,
das fih meiit auf Taiferliche Privilegien und Regalien befchräntt, aus
amer Shronif des Orts von 15-43 bis 1599, vichleidht auch aus einem
Menfascilel über bie Wiedertäufer werben künftig ter ganze Gewinn
zew dorther fein.
Ghenfo wenig findet fid in Kaufbeuren ein eigenes Archiv
ver Statt. Gin Theil der Regiftratur des cheinaligen ſtädtiſchen
Ardyive iſt Durch das fatholifche Stabtpfarramt gerettet worden, ver
tagt von dem Chroniſten ver Stadt W. 2. Hörmann 1739, woraus
ap ergibt, daß einft Reichstagsalten und Reichetagsfchlüffe von
Ente bes 15. und Anfang tes 16. Jahrhunderts au vorhanden ge—
weten find. In dem Kirchenarchiv des evangelifchen Stahtpfarramtes
Auren fich einige Echreiben über Reichstage im Refermationszeitalter,
Acta von 1556 und 1557 u. f. f., auch aus bem 17. und 18. Jahr⸗
kunvert, für bie ältere Zeit nichte. In ter hantfihriftlichen Stabt-
deosif des fall. Rathes Hörmann find verfchievene Faiferliche Briefe
ut Urkunden, aud Altenftüde in Reichsſachen aus dem ftäbtifchen
Archive citirt; darunter die Berbintung Karl's IV. mit ter Bürger:
haft im Betreff ver Königswahl Wenzel’3 ; eigentliche Reichstagsalten
a früherer Zeit hat fichtlih auch Hörmann jchen in feinen Tagen
x Kanibeuren nicht gekannt, die gerettete Regiſtratur man alles einft
serbanbene anzeigen; ed wird nie etwas weiteres da gewefen fein, ba
rie Statt kei ihrer Kleinheit, objchon fie in der Zeit ver Reforma—
tem ein bewegtes geiftige® Leben entfaltete, fich vielfach durch andere
70 Bericht über den Staud ber Arbeiten
Städte, wie Augsburg und Nürnberg auf den Neichötagen vertreten
ließ.
Bedeutende Hoffnung hatte ih auf Lind au geſetzt: feine inſu⸗
lare Page, die alten Beziehungen zur Schweiz, vie Stellung ber Stabt
als Sit des großen Reichstags von 1496 ließ manches erwarten. Aber auch
bier ift vieles zerſtört und zerftreut werben. Die Stabtbibliothet ent⸗
hält, ſoviel ich in ber kurzen Friſt, bie mir zur Durchficht vergämmt
war, fehen Tonnte, nichts für unfern Zweck erhebliches, ver nachher
zur Unterfuchung verabreichte Katalog ergab in feinem Manufcripten
Verzeichniß keinen weiteren Troft. Die in biefer Bibliothel früßer
vorhanden gemwefenen Reichstagsakten gingen doch nur von 1700 66
1791, faft ohne Unterbrechung, mit ben Beigaben 218 Bände; biefelben
wurben 1819 an das f. Landgericht abgeliefert. Indeſſen, es ift auf
dem Rathhauſe ein ziemlich umfangreiches ftäbtifches Archiv vorhanden.
Hier finden fi nun allerdings Refte von Neichötagsalten, doch nicht
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vor 1530. Die einzige Ausnahme davon macht ter Reichstag von '
Lindau 1496, der fich in einem gebundenen, trefflich erhaltenen, ziem⸗
lich ftarfen Faſcikel von fchöner gleichzeitiger Hand vorfand. Politiſche
Correfpondenzen exiftiren, auch auf Neichetage bezügliche aus tem 16.
—
und dem legten Drittel des 15. Jahrhunderts. Die Rathoprotololle
erfcheinen als ganz unergichig.
Am meiften Ausbeute war unter dieſen Heineren ſchwäbiſchen
Neichsftädten in Memmiugen zu finden. Das ftäbtifche Archiv im
Steuerhaus birgt eine Eerie von Reichstagsakten in c. 20 Bänden,
ber erfte enthält die Fahre von 1486—1512, ter Schluß der Reihe
fällt in ten Anfang des 17. Jahrhunderts. Außerdem find die Reiches
tagsabſchiede von 1496 bis 1559 im zwei befonveren Faſcileln zufam-
mengeftellt. Cine Serie von Städteakten betrifft vie Zeit von 1471
bis 1583 in 16 Fafcifeln. Weitere politifche Alta befchäftigen ſich
zwar auch mit Neichsfachen, aber erft vom 16. Fahrhuntert an. So⸗
mit wäre hier gerade für bie äftere Zeit die Unterfuchung nicht fehr
ergiebig gewefen, wenn nicht nech zwei ziemlich wichtige Funde Hätten
gemacht werben können. Der eine betrifft cinen älteren Codex ven
Stäbteaften, copia noua confederacionis ciuitatum imperialium
von 1382 an. E3 fine zunächſt Städtebündniſſe, dann aber auch une
gedruckte kaiſerliche Panbfrieven aus ber Zeit Ruprecht's und Sige
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“
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zur Herausgabe der beutichen Reichttagsalten. 71
aund's; Die Reichsconſtitution Albrecht's von 1438 und deſſen Land⸗
Tiere von demſelben Jahre bier zum erſtenmal für uns in gleichzeitis
za Abſchrift aufgefunden; ebenſo mehrere Sigmund'ſche Alten vom
Gnrberger Reichstag 1431, dann ver gemeine Friede von 1414 mit
tan ſich daran Inüpfenten Verhandlungen, und das Ediet Friedrich's II
wa Regensburg 1471. Noch unerwarteter, aber auch bedeutender
mr ber zweite Fund, bie noch unedirten Acta concilii Constantien-
ss collecta a Joanne Andrea Ratisboneusi. Der Verfaſſer bezeich—
ut ſich in ver Vorrede ald ven Auter der unter feinem Namen längſt
klannten Chronik; er fei aber, fo fügt er, durch feine Geſchichte des
cencils erſt zu feiner Chronik geführt worden, und die erſtere fei fein
fuuptiverl. Dies ijt bie hier in zwei ſtarken Foliobänden verliegente
Schrift, allerdings nicht in ihrer urjprünglichen Vollſtändigkeit, fondern
a einem Auszug erhalten, welchen Uffenbach im Jahre 1717 durch
esen Schreiber veranjtalten ließ, nach tem Goter eines Mainzer
XRloñers, und je bag alle diejenigen Akteuftücke weggelafjen wurten,
sie ſchen bei 9. von ter Hardt ftchen. So wie das Werk nun hier
sertiegt, iſt es eine nicht jehr chronologiſche Sammlung von diploma—
tiſchen Dokunienten aus jener Zeit, hauptjächlich tas Concil von Ken:
ren; uber auch ſchon das von Pija betreffend, Briefe ter verfchieten-
ten Perſonen, Gutachten, eigentliche Akten dcs conc. Const., Reden
ae Verhantlungen, die dort gepflogen wurden, dazwiſchen hinein
verftreut rein erzählende Partien (bejonvers die Huffitenkriege und vie
Zauf Bezüglichen Reichstage angebend), an die fich daun vie Aften-
ade anſchließen. Für unfere Zwede ergeben ſich taraus eine Reihe
ezetrudter Schreiben geiftlicher und weltliher Fürjten. Tas 2er:
aälmiE Ruprecht's uud Sigmund's zu ben Goncilien und zur Kurie
ze radurch wefentlich beleuchtet. Der Frankfurter Neichstag von
39, vie Reichebejteuerung zum Kampf gegen die böhmijchen
zzer, tie Nürnberger VBerfammlung von 1422, ter Frankfurter
xezpent von 1427 und jeine Grecution, die ganze Wirkſamkeit
Zigmunt's gegen tie Huſſiten findet die willfenmenjten Belege und
Srläuterungen.
In Augsburg beginnen tie Neichstagsaften leiter auch eejt
mlich ſpät mit 1413, und felbjt von ta an feßen fie fich bis in die
seunziger Jahre nicht ſehr umfangreich fort, werden banıı aber immer
12 Bericht über ben Stand ber Arbeiten
inhaltvolfer bis ins 16. Jahrhundert und befonbers in biefem ſelbſt.
Aus der frühern Zeit erwedt ein vwereinzeltes Schreiben von 1444,
bisher unbelannt, großes Intereſſe: ein Brief rer Stadt Moinz am
Augsburg über ven Nürnberger Reichstag, ten Reichöconvent zu Speier
wegen der Branzofen, bie Friedensverhandlungen mit dem Dauphin
durch den Markgrafen Albrecht von Brandenburg. Die Reichstagé⸗
aften felbft enthalten gleich ven 1473 an erfreuliche Inedita und ſchon
für den Augsburger Reichstag biefes Jahres finten wir tie Empfang
feierlichfeiten der Stadt beim Einzug des Kaiſers, cin Verzeichniß ber
Gefchente, welche fie bei dieſer Gelegenheit ven hoben Herrfchaften
gemacht hat; fo auch tie Voranſtalten zun felgenten Reichstag daſelbſt
im Jahre 1474 und andere wichtige Aktenſtücke. Man empfindet
ſogleich, daß man in das Archiv einer Statt eingetreten ift, bie für
diefe Dinge von Bedeutung war.
Die Norrefpondenz berjelben bietet einen ſchönen Erſatz für ben
fpäten Beginn der eigentlichen Sammlung von Reichstagshandlungen
in einer Serie von 9 Bänden Miſſivücher, lauter Echreiben, bie
beim Abfchiden, alſo gleichzeitig in diefe Bücher eingetragen wurden,
faft unmmterbrochen von 1413— 1490. Der Gebrauch iſt ſehr erleichtert
durch die gewiſſenhaften archivalijchen Inhaltoverzeichniſſe und alphabetie
ſchen Namenregifter über vie einzelnen Bände. Hier ijt bei genauerer
Durchforſchung eine Anzahl intereffanter Inedita zu erwarten, eben
auc für bie ältere Zeit, wie denn ein folches Schreiben gleich von
1416 (Augsburg au Regensburg) die Mittheilungen eines ftäbtifchen
Rathsboten als Augenzeugen über ven Aufenthalt Sigmund's in Eng⸗
land, ten englifch-franzöfifchen Frieden, bie offizielle PVerfünbigung
desfelben durch ben römiſchen König am die amvefenden Fürſten und
Stüpteboten, Dad Project ter Zuſammenkunft ter drei Herrſcher von
Deutſchland, England und Frankreich und die Vernittlerrelle Sig«
mund’s enthält.
Dazu kommt dann neh tie eingelaufene Correſpondenz, vie
in einzelnen Stüden aber nidt fo vollſtändig wie bie ausgegebene
erhalten ift, unter den Pergamenturfunten eine ziemliche Anzahl von
Kurfürftenbriefen und Fniferlihen Schreiben, namentlich auch aus dem
fetten Viertel Des 14. Jahrhunderts und ſpäter. Beſonderes Suter:
eife wird künftig bie Unterfuchung der Peutinger'ſchen Gorrefpontenz
zur Herausgabe ber beutfchen Reichstagsalten. 13
bieten; fie ift von 1473, wo tie Reichstagsakten Leginnen, noch mager
Ds in die neunziger Jahre, von ba an aber fehr bereutend; es find
guy Reiben von Berichten aus tem 16. Jahrhundert ta, hunderte
u Briefen des Georg Fröhlich aus der Zeit des ſchmalkaldiſchen
Sunves. Beſonders für die Anfangszeit der Neformation wird diefe
Gefanptichafts-Korrefponten; fo erwünfcht wie ergiebig fein.
Richt zu vergeffen find auch die ebenfalls wohl repertorifirten
Bechannzen der Stadt, beſonders sub tit. generalia, generalia di-
stributa, legationes, wichtig für die Daten der Reichstage vornehm⸗
Gh ver ältern Zeit und vie Abſendung ver Stäpteboten dahin, werth-
sel wegen ver Sicherheit ihrer Angaben. Und gerate für das 14.
IAhrhundert find dieſe Rechnungen ſchon fehr vollſtändig; eine Lüde
MR zwijcben 1331 und 1363, dann folgen fie ohne Unterbrechung bis
1379, Träter erjt wider von 1388 bis 1398 ıincl., weiterhin von 1400
Bi 1460) ziemlich vellftändig.
Künftig werden dann auch, falls Hoffnung zu deren Eröffnung
ve ift, tie Archive der Familie Fugger zu unterfuchen jein, ta bie
bedeutende Stellung derfelben auch für unſere Zwecke Dort cine Aus-
beute verheißt.
Anh in Würzburg beginnen die Reichstagsakten erjt mit dem
Yale 1471. Sie laufen dann in vielen Faſecikeln bis 1778 fort.
Men ertennt mit Bedauern an dem Werthe des Crhaltenen, wie viel
m tens Berlorenen verloren iſt. ‘Denn gleich ter Regensburger
eichetag von 1471 ift Hier in einer bisher unbelannten Vollſtändig—
kit vorhanten. Er beginnt mit einer bijtorifchen Notiz über ten
säpftlichen Legaten Franz Piccolomini und einer Art Grundriß für
tie Auetheilung der Pläte an bie Potentaten und Fürſten, vie fie
neben Kaiſer Friedrich III. geſtanden⸗, nach einem gleichzeitigen Main:
sr Gemälde. Auf das Faiferliche Ausfchreiten und die Präfenzlifte
felgen tie eigentlichen Reich8tagshandlungen. Cie beginnen mit einem
Geiantifchaftsberichte der Würzburgiſchen Legation über tie erften
Amtien;en, bie fic gehabt, und fahren dann in Geſtalt eines Diariuns
iert. Die Gefandten bemerken zu jepem einzelnen Tag, was jie an beinjelben
gethan, und bie Pünktlichkeit ift jo weit getricben, daß fogar jeter Tag
beſenders notirt wird, au dem nichts gehandlet werden. Da finden ſich
ven intereffante Beobachtungen über das Parteiwefen auf dem Reichs⸗
14 Bericht über ven Stand ber Arbeiten
tag, cingebente Aufzeichnungen über tie Richtung ver Würzburgiſchen
Belitit, vie Beſchreibung ver Eröffaungefeierlichleit und ebenfalls ein
eingezeichneter Seſſiensplan für tie Rangertuung ber verichiebenem
Stände. Wie tanı die Verhandlungen felbjt protelellarifch berichtet
werten, geſchiebt dies mit einer Reicbhaltigfeit, wie fie noch iu feiner
ter ven uns kenügten Scrien bemerit wurte. Ebenſo dann für
tas Jahr 140, we auch ter Auſchlag jenes Mineriten zur Loſung
ber orientaliſchen Frage mitgetbeilt wird, ter auf nichte Geringere®
ausging, ald die Aushebung einer Armee ven 144,000 Monchen umb-
tie Belehrung aller Türken. Dazu mehrere unbelanute Städe zum
Nürnberger Reihstag von 14. Beſonders reich werten tiefe Fat—⸗
citel daun ven ten neunziger Jahren an. Bei ver fchulmäßigen fyfler
matifhen Art Liefer Wärzburgiſchen Gejandtfchaftsberichte ift auch
abgejehen ven ter biſtoriſchen Ztellung tiefes biſchöflichen Regiments
mir Sicherbeit anzunehmen, daß fie nicht erft damals fo geweſen find,
fonvern in ähnlicher Weiſe einft viel weiter hinaufgereicht haben: eime
ſelche jüchere Manier entjtcht nicht mit einem Wale, fie bildet ſich er
und wirt traditionell. Der Verluſt des älteren Theild der Arbeiten
Liefer geiftlichen Diplomatie ift nicht genug zu beklagen.
Die Urkunten enthalten viel Material über ven Yandfrieben und
bie Landfriedens⸗Einungen und fine daher, foweit tiefe Reichstagoſache
waren, auch für unfere Zwede zu verwerten. Es erfcheinen hier bie
Beziehungen Wenzel's zum päpfilichen Stuhle, die Königewahl vom
1410, ver Anteil tes Biſchofs Jchann an ver römifchen Königewahl
von 1411, vie Wahl Albrecht'S, tie Exrbvereine Böhmens mit Mainz
une Würzburg von 1366, 1373, 1419, 1422, 1459 und bie Verwer⸗
fung tur ten Papft 1466, Das Verhältnig tes Bistums zum Ba⸗
feler Concil, das des Papftes zum Pfalzgrafen von 1472. Sicher ift
hier noch Manches zu finten, was directe over invirecte Beziehung
auf bie Heichstage hat, beſonders da tie Mainz: Afchaffenburger Vor⸗
räthe mit ben Würzburgern bier vereinigt find.
Tie Mainz -Ajchaffenburger Ingreffaturbächer enthalten meift
privatrechtliche Verhaͤltniſſe, aber dazwifchen hinein vie wichtigften
politifchen Altenftüde; jo zeigt Jich in dem des Bifchof Joham II
in gleichzeitiger Abfchrift ein bereutendes Stück tes Mainzer Tags
von 1406, das fi) auch im Branffurter Stabtarchiv erhalten bat.
zur Herantgabe ber deniſchen Reichstagsalten. 75
übenje beachtenswerth find dann auch bie libri diversarum formarum,
Rärsburger Kepialbücher des bunteften Inhalts.
Tas Bamberger Provinzialarchiv hat drei verfchiebene Serien
ws Reich6tagsalten aufumweifen :
1) Die Brandenburg -Ansbachifche des Plajjenburger Archivs,
ta vortere Bünde das fogenannte faiferliche Buch enthalten. Die
sht eriten Bände find bereits hieher eingefanbt (j. auch oben). Vom
biſerlichen Buch ift aber in Bamberg felbjt noch cine faubere, größ⸗
zutheil8 gleichzeitige Sopie in drei Bänden mit einem alten Inder
serhanten und bazu kommt noch ein ziemlich ſtarker Faſcikel, bezeich-
æt ale zum faijerlichen Buche gehörig, Hofrath Schneider's collectanea,
Reichstagthantlungen, Reichsanſchlãge und Yanbfrieten Ketreffend, zu
zu ‚Jahren 1431, 1446, 1454, 1467, 1471, 1474, 1481, zwar lauter fpä«
zre Abichriften und von Höfler theilmeije auägebeutet, aber immer
nech des Bereutenden und Neuen genug bietend. Glücklicher Weife
ergänzen tie Stüde vom Huffitentag zu Nürnberg 1431 theilweife
rie im Wemminger Archiv gefunden, ebwohl auch fo noch nicht das
Ganze hergeſtellt ift. Beſonders bereichert werten bie Zage von 1471,
14:4, 1481.
2) Die bambergijch- Hochftiftifche Serie. Die 7 erjten Zafcikel
rzıhalten Tolumente von 1196 bie 1512, aber von ber frühern Zeit
ur wenig. Der 1. Band (Sign. Y,) fpringt nach ver ſchon befann-
za Frietens-Einigung Wenzel's von 1383 auf die Regierung Fried⸗
he LIL über und zwar mit bem nächlten uns berührenden Stüde
zieich in das Jahr 1488. Der 2. Band (Eign. 1) und bie felgen«
tem beichäftigen fich dann bereits und zwar in fehr ausgicbiger Weife
'zie überalf für diefe Zeit) mit ven neunziger Jahren des 15. und
aut rem beginnenten 16. Jahrhunderte.
3) Die bahyreuthiſchen Weichstagsaften fine in einer langen
Reihe von Faſcikeln aufgejtellt, aber leiter fcheint bier bag ganze
13. Zahrhuntert fammt dem 16. abhanden gekommen zu fein. ‘Die
Signaturen ber Bände find nur formell und geben nichts von Zeit
acr Inhalt an, es muß tie Aufgabe einer umfaſſenderen Unterſu⸗
Jung werden, ald mir dießmal durch die Kürze der Zeit möglich war,
wen einzelnen der zufammmengebundenen Faſcilel durchzunehmen; aber
jeweit ich fehen kennte, iſt nur das 17. und 18, Jahrhundert vertreten,
7
4
76 Bericht über ben Etanb ber Arbeiten
Es wird, befonders für die ältere Zeit, nothwenbig fein, bie
Semeinbücher zu unterfuchen, welche von den Markgrafen zahlreich
vorhanden find und politifche Verhäftniffe mit enthalten, wie eine
kurze Einficht zeigte, tann die Urkunden und Alten über das Berbält-
niß der Markarafen wie des Bistums Würzburg zu andern Reiche
ftänden und fremden Mächten, endlich bie Banıbergifchen unb Babe
reuthiſchen Abfchriftbücher.
In Nürnberg beginnt die eigentliche Serie ber Reichſtagsalten
erft mit 1495 und gleich barauf tritt eine große Lücke ein bie 1500;
es folgen darauf bie Jahre 1500, 1512, 1522—24, 1542, 1547, 1652,
1555 und ununterbrochen Läuft dann die Reihe von 1557-1806. Gtüd-
licherweife findet fich taneben noch ein vereinzelter fehr ftarler Band,
wie es fcheint, gleichfalls von Nürnbergijchem Urfprung, es find neben
ausführlichen Erzählungen von Friedrich's III. Römerzug von 1402
und von feiner Brautwerbung um Eleonore, meift Reichstagsjachen,
und zwar noch vom Jahre 1442 die Ausgaben ver Stabt bei Fried-
rich's Erfcheinen in Nürnberg (ohne Zweifel auf ber ‘Durchreife zum
Srankfurter Tage) und bie von der Stabt aufgewendeten Koften bei
feiner Ankunft im Jahre 1444 (offenbar zum Nürnberger Reichstag
von biefen Jahr), beides fehr inftructive Stüde; dann eine längere
Stantsfchrift des Nikolaus Cuſanus 1452 mit Reichetagsbeziehungen,
weiterhin die Tage von 1454 und 1455, Aftenftüde vom Congreß zu
Mantua, die Tage von 1460, 1466, 1467, 1468, 1469, 1471, 1474;
von biejem Material ift uns das meijte fchon zuvor durch handſchrift⸗
liche oder getrudte Quellen zugänglich gewefen, namentlich ein großer
Theil durch Könige Nachlaß, vieles aber begegnet uns bier doch hand⸗
fhriftlih zum erftenmal, einzelne® war bisher überhaupt noch unbe-
kannt geblichen.
Nürnberg befigt aber außerdem eine äußerft reichhaltige Samm⸗
lung von Briefbüchern. Sie beginnen nach Verluft der 6 erften
Bände mit dem Jahre 1404, und fchon eine flüchtige Durchficht ge-
nügte, die Wichtigfeit biefer Collection zu conftatiren: auch hier iſt
wieder ber Mainzer Zag von 1406 vertreten. ‘Die einzelnen Bände
umfafjen immer nur wenige Jahre. Schon mit der zweiten Hälfte
bes 15. Jahrhunderts begegnen uns ziemlich zahlreiche und umfänge
liche Inſtructionen für bie Stäpteboten zum Reichstag, in ber erften
zur Herausgabe ber deutſchen Neichstagsaften. 17
zeit des Siculums find jie mager und befchränfen jich mehr auf for:
zele Rotizen über vie Beihidung dieſer Verſammlungen. Die Serie
zrrart im Ganzen 359 Bände, bis zum Jahre 1738, es find Mif-
früher, wie tie Augsburger; die Anzahl ter außerdem erhaltenen
eszlaufenen Schreiben ijt ziemlich dürftig.
Tie Rathsbücher find verhanten von 14601 bis 1610 und 11.
Tirie pelitiſche Protokolle enthalten fie freilich nicht, aber Doch cinzels
ze& Werthvolle. Pelitiiche Rathsverhandlungen ſcheinen damals über:
saupt bier und in andern Städten nicht genauer protokollirt worden
a fein, inrem man fich begnügte, vie JInſtructionen für die Geſand—
ze aach ihrer Durchberathung in tie Miſſivbücher einzutragen, bie
ressalb bedeutender jint.
Während tie Rathebücher ausführlichere Akta enthalten, geben
tie jegenannten Ruthöverläße meijt nur kurze Notizen mit flüchtiger
Hand, berühren aber weit mehr einzelne Dinge aus den Verhandlun⸗
zen des Rathes auch über Sachen des Reichs. Cie beginnen mit
1449 un? ſetzen ſich dann nach einer längern Lücke erſt in ven jechzie
ger Jahren wieder fort, von ta ohne Unterbrechung bis zur Media—
tijatien.
Die Rechnungsbücher ſind ziemlich lückenhaft, beginnen aber ſchon
rit 1377. — Föormliche, auf Reichstage bezügliche Aktenſtücke, Staats—
jTriften und Präſenzverzeichniſſe finden ſich hie und da zerſtreut auch
3 zen Geidhlechterküchhern, vie ſich übrigens meiſt mit heraldiſchen
Tingen beſchäftigen. Die Archive ter Nürnberger patricifchen Häufer
särfen, jefern jie zugänglich find, nicht übergangen werten.
Zwar iſt Dad Ergebnig tiefer ſämmtlichen archivalifchen Erhebun—
zen für vie ältere Zeit nicht jo günftig geweſen, wie für tie fpätere,
25d nicht alle gehegten Hoffnungen jind erfüllt. Gleichwohl haben
rs auch für jene Periode wichtige Ergänzungen unjerer Sammlung
erzeben und c8 find an anteren Stellen noch mehr Aufſchlüſſe tar
ser mit Sicherheit zu erwarten. Die Verarbeitung des gewonnenen
Stoffes in Terbindung mit den großen, noch nicht erjchäpften Vor:
räthen Der Münchener Archive wird bie nächſte Aufgabe bilten.
.—
7.
VII.
Bericht über eine im Auftrag der Hifterifhen Commiſſion
unternommene Reife nad) Stalien.
Bon
Dr. 8. Ertmannsdörffer.
Die Reife, welche ich im Laufe des verfloffenen Jahres im Auf
trag der bijtorifchen Gommiffion turch einen Theil Italiens unter
nahm, hatte zum Zweck, tie Sammlung des Materials, welches in
ben dortigen Archiven und Bibliothefen für bie dentſche Gefchichte vom
ber Mitte des XIV. bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts ſich fine
bet und Speziell desjenigen, welches für das von der Commiffion une
ternonmene Werk der Herausgabe ver deutſchen Reichstags-Alten von
Belang fein konnte. j
Wenn etwa von der Zeit ver goltenen Bulle au, und mehr und
mehr im XV, Jahrhundert bie Reichstage bie Grundlage des pefiti«
chen Lebens in Deutfchland wurten, fo ging ein Stüd von ter Erb-
Schaft der alten menarchifchseingeitlichen Negierungsgewalt im Großen
und Ganzen doch nicht mit auf fie über — die Bezichungen zu den Reich
jenfeit8 ber Alpen. Die Praxis verfelben verblieb im Allgemeinen
eine Domaine des Kaiſerthums, nnd je ftärker und felbftftändiger in
Qericht über eine im Auftrag ber hiftorifhen Commiſſion ac. 79
Italien nationale politifche Bildungen fich erheben, um fo mehr nah—
zen tie Beziehungen des Reichsoberhauptes zu den Neichsfürften und
Sonmunen in Stalien ven Charakter auswärtiger Politif au. Die
ereute Herbeiziehung Italiens zum Weich fchien nothwendig; aber
wıner butte e8 eine jehr geringe und wenig nachhaltige Bereutung,
wenn bin und wieber, jei es unter Wenzel oder Ruprecht ober Maris
artlian, Die deutſchen Stänte auf den NReichätagen den Verſuch mach»
sen, auf tie Ausübung der Neichspolitif in Italien einen beftimmen-
ten Einfluß zu üben. Die wäljchen Füriten und Gommunen anders
tete vermieten es gern, von ihrem theoretifchen Recht zur Beſchickung
Ber Reichstage Gebrauch zu machen, um nicht dadurch zu ben bamit
in Rerbindung ſtehenden Pflichten jich zu befennen, und für nicht zu
zuzebente Gefchäfte zogen fie es vor, fich direct an ven Hof des Kai—
ſers zu wenten ober jeine gelegentliche Anwejenheit in Italien zu be=
zogen. In ter That mußte zumeift noch ein beſonderer Grund hin-
sutemmen, wenn in einzelnen Epochen die deutſchen Reichstage auch
rar tie Staaten Italiens von erhöhtem Intereſſe wurden, und muß-
ten ea Gründe jchr allgemeiner umfafjenrer Art fein. Solche Anläffe
Eerer das KV. Jahrhundert in feinen Verlauf namentlich zwei von
tr größten Dereutung: in feinen erjten Jahrzehnten vie Concilien,
ant weiterhin die Türkenfrage. Beide geben den Berathungen. ber
rentſchen Reichsſtände mehrfach ben Charakter europäifcher Entjchei-
sangen, unt mit ber großartigen Erweiterung ihres Wirfungsfreifes
serkant ſich ein verftärftes Intereſſe an ihnen in weiteren Streifen,
bejenders auch in Italien. Nach tem Abbruch ver conciliaren Be—
wegung und nachdem die türkiſche Frage aus einer brennenden zu
einer ſtehenden geworben war, hielt vornehmlich bie Gurte an dieſen
isren Beziehungen zu den teutjchen Reichötagen fejt; dieß währte bis
me XVI. Jahrhundert, wo tie religiöjen Angelegenheiten hinzutra—
ten und tamit den apoſtoliſchen Geſandten eine jtehente Rolle bei ten
Zerfamnilungen ter Reichsftänte zufiel. Für die übrigen Staaten
Italiens lag in der zweiten Dälfte des XV. Jahrhunderts, abgeſehen
ten ber hin nnd wieder angeregten Türkenſache, wenig ver, was fie
vermecht baben könnte, von dem böchft bewegten eigenen politiichen
reben ten Bli nach den deutſchen Neichstagen hinzulenken. Mailand
und Benebig mochten aus naheliegenden Gründen bie zu einem ges
80 Bericht über eine im Auftrag ber hiſtoriſchen Eonneifflon
wiffen Grab eine Ausnahme machen, einen allgemeinen Umſchwung
aber mußte der Eintritt Marimilians geben und vor Allem der Nach⸗
drud, womit er wieder bie auswärtige, befonvers bie italienifche Po⸗
litik erfaßte. In demfelben Grave als die ftänbifchen Elemente in
Deutfchland mit der Kraft neuer Ideen ven Plänen biefes Kaiſers
controllirend zur Seite oder in ben Weg traten, in bemfelben wurden
die Neichstage auch für bie italienifchen Staatsmänner oft Tage ber
wichtigften Entfcheivungen; Mailand und Venedig vorzäglid, Rom
nicht weniger, und bald auch Frankreich als italienische Macht muß⸗
ten fie als beachtenewerthe Factoren in ihren Gefichtöfreis aufnehmen.
Unter Karl V. waltete ein ähnliches Verhältni ob; abgefehen Davon,
daß einzelne italienifche Fürften, wie ber Herzog von Savohen durch
die Macht des Kaifer und durch die Chancen ver großen Bolitit
wieder in bie engeren Kreife des Reichs und damit zu den Reichs⸗
tagen herangezogen wurden — war bie durch bie Reformation her⸗
beigeführte Spaltung der Nation, wie das größte Hinderniß ver fai-
ferlichen Pläne, fo der Gegenftand des verfchievenartigften Intereſſes
nach allen Seiten hin. Auf den Neichstagen aber war es vornehm⸗
lich, wo bie Gegenfäte auf einander trafen.
Zeit, Ort und Art des Materials, welches von einer italienifchen
Neife für die Gefchichte der deutſchen Reichstage zu erwarten tft, läßt
fih aus dieſen Bemerkungen im Ungefähren und Allgemeinen vor-
weg vermuthen. Im Einzelnen treten taufend Zufälfigkeiten modifici⸗
rend hinzu.
Ich begann meine Studien Ende Novembers 1859 in Florenz.
Das reiche und durch Herrn Bonaini jet wohlgeorbnete Archiv ver-
fprach durch feinen vielfeitigen Reichthum auf den erften Anbfic doch
mehr, als es dann für meine Zmwede mir Teijtete. Die Beziehungen
der Stadt zu Karl IV. treten aus den vorhandenen Originalurkun⸗
ben und aus ben Libri dei Capitoli Mar hervor; ‘aber von Wenzel
an werden die Nachweife fpärlicher; unter Friedrich III. ift hier (was
fih in Zurin ähnlich wiederholt) faft völlige Ebbe. Die Rubrik ver
gefandtfchaftlichen Depefchen ift hier reicher als ich fie irgentfonft
fand; fie beginnt mit einzelnen Bänden fchon in ven Iegten Jahr⸗
zehnden des XIV. Yahrhunderts; für das XV. befitt man eine
Höchft anfehnliche Reihenfolge. Die Ausbeute aus benfelben für bent-
unternommene Reife nach Stalien. 81
ſche Geſchichte ift freilich ebenfo geringfügig, als in biefer Zeit bie
Peziehungen von Florenz zum Reich waren; jene Gefanbtfchaften be⸗
wegen fich vorwiegend in ausfchlieglich italienifchen Angelegenheiten
ſehr fpecieller Natur; nach tem Ausland bin erfcheinen die Bezie⸗
bangen zu Frankreich als die wichtigften’); die Verbinvung der Per
publik mit K. Ruprecht ift allein turch die auch bei Chmel verzeich-
neten Altenftüde vertreten; die Beziehungen zu Sigismund betreffen
namentlich nur deſſen Verbältniß zu Venedig (f. u. unter d. J. 1426);
oft mit Maximilian tritt eine Aenderung ein, und wenn auch Flo⸗
sentiner Geſandte auf feinem ver Reichötage tiefer Zeit anmwefend wa-
sen, fo finden fich doch in mehreren ver hierher gehörigen Bände aus
britter Hand viele bemerkenswerthe Nachrichten über biefelben. Cine
Ledung für Florenz zu einem Reichstag findet fich nirgends; doch
wird es zu den Zagen unmittelbar nach ber Einnahme von Gonftan-
tinopel. wohl ebenfo geladen werben fein, wie Siena und Lucca.
Bon den zahlreichen öffentlichen Bibliothefen von Florenz war die
Paurenziana mir bei weitem bie ergiebigſte. Neben einigen wichtigen
Handfchriften für das Basler Concil boten ſich hier unebirte Briefe
des Aeneas Sylvius von ven Reichstagen von 1454 und 1455, fowie
Kiniges für die Legation Beſſarion's i. 3. 1460. Die Niccarbiana
bet mir trog ihrer fchönen Sammlung ton Sumaniftenbriefen doch
nichts für meinen nächften Zwed; die Magliabecchiana nur wenig,
Einiges bie mir durch die freumpliche Vermittlung bes damaligen preu-
kifchen Minifterrefiventen 9. v. Reumont zugänglich gemachte Privat«
bibliothef des Vlarchefe Gino Capponi.
In Bifa genügten einige Stunden, um mich zu überzeugen, baß
für bie Zeit nad) Heinrich VII. keinerlei Ausbeute zu machen war;
bie auf dieſen Kaifer bezüglichen Akten aus dem Archiv der Familie
Roncioni fteht Herr Bonaini im Begriff zu veröffentlichen. In Lucca
fanden fich in dem leiter eben in einer Neuordnung begriffenen Archiv
einige birelte Reichstagsſachen; in ver VBibliothef der Canonici von
1) Aus biefen Depeihen ftammt ber größere Theil bes vor zwei Jahren
erfchienenen erfien Bandes ber Neguciations diplomatiques de la France
avec la Toscane — gejammelt von Ganeftrini, herausgegeben von
Desjarbins.
89 Bericht über eine im Auftrag ber hiſtoriſchen Commiſſion
S. Martino konnte ich von einigen intereffanten Handſchriften leider
nur eine flüchtige Einſicht erlangen. Tas Archiv und die Bibliothek
von Siena ſah ich nur beiläufig auf meiner Durchreiſe nach Rom;
wohl nur die Verbindung mit Aeneas Sylvius dürfte etwas auf Reiche
tage Bezügliches hieher geführt haben; einige Etüde dieſer Prove⸗
nienz lohnten meinen kurzen Beſuch.
Am März begab ih mih nah Rom. Die Heffnung aus dem
vaticanifchen Archiv das ermwünfchtefte Weaterial‘ zu erhaften, wurde
feier getäufcht. Ich bin dem fönigl. bayerifchen Geſandten in Rom,
Herren Baron ven Berger, für feine mehrfachen nad dieſem Ziele
bin angeftellten Bemühungen, wenn gleich fie vergeblich blieben, zu
anfrichtigem Danfe verpflichtet. Dagegen warb mir vie Benutzung
der vaticanischen Bibliothek in dankenswerther Weife geftattet, und ber
erfte Bibliothekar, Monf. ti San Marzano, erleichterte mir mehrfach
perjönlich mit der gefälligiten Zuvorflommenbeit die Auffindung mei⸗
nes Materials, welche durch bie gefetliche Vorenthaltung tes Kata⸗
logs fo fehr erfihwert wire. Weber tas Material, welches ich bier
fan, iſt werer nöthig noch thunlich, etwas Allgemeines zu fagen; ver
lange Zeitraum, den id in's Auge zu fallen hatte, ebenfo wie bie
Weiſe der italienifchen Bibliethefen in Miscellaneenbänden cft tas
heterogenfte zu vereinigen und die befchränfte, nur zu oft unterkro-
chene Arbeitszeit zwang zu ſporadiſchem Ergreifen Alles deſſen, was
und wie es fih tarbet. Man wird in ber unten folgenden Zuſam⸗
menftellung bemerken, daß nicht der unwichtigſte Theil meiner Mate⸗
rialien aus dieſer Bibliothek Der Bibliotheken ftammt. Die Samm-
lungen, welche ich außer ter Vaticana in Rom benußgt habe, fine vie
Corfiniana, die Angelica, die Cafanatenfis, die Vallicelliana und bie
Chigiana. In allen fand ich eine banfenewerthe Bereitwilligkeit; nur
in der (nicht Öffentlichen) Chigiana wurde mir von ihrem Biblio»
thefar eine fo knapp zugemejjene Friſt gefett, daß ich leider von ben
Schätzen diefer wichtigen Vibliothef nur eine flüchtige Anfchauung
erlangen konnte.
Tas Turiner Archiv, dem ich auf ver Rückkehr von Rom noch
einige Wochen witmen durfte, ift befanntlich eines der reichten, und
bie8 nicht minder als die liberale und entgegenkommende Weife, wo»
mit man es mir zur freicften Benutzung bot, hat mir die Arkeit in
unternommene Reife nah Stalieıt. 83
temjelben zu ber angenebinften gemacht. ‘Dem eigentlichen ſavohiſchen
Hauptfteck find mehrere andere urfprünglich felbitftänbige Archive jett
Incerporirt; fo namentlich das ver Markgrafen von Meontferrat, fo-
wie das von Saluzzo; in einer befontern Abtheilung findet fich eine
Ihene Sammlung Mailänder Archivalien vereinigt; über alle Theile
rertrefflih angelegte Inventarien. Neben dem Staatsarchiv war
früber auch das Archiv der Rechnungskammer (Camera dei Conti)
zen Wichtigkeit; ein jeßt angeftelltes Nachſuchen zeigte, daß dort wohl
michts mehr von ullgemeinerem Intereſſe namentlic, für auswärtige
Peziehungen zu gewinnen ift; nachträglich bemerkte ich, daß bie von
Guichenen in ven Preuves der Histoire genealogiques de la R.
Marson de Savoie an® der Camera dei Conti aufgeführten Stüde,
foweit fie vie Aeziehungen zum Reich angehen, fich jet alle im Etaate-
archiv befinten. Aus ter unten folgenden Zufanmenftellung ift er—⸗
whtlich, wie lebhaft in verfchievenen Epochen der Verkehr Savoyens
wit rem Reich und z. Th. felbft mit den Reichstagen war; abgefchen
Keienter6 von der Ebbe unter Friedrich III. ergibt jich bier eine ge—
wife Continuität. Auffallend war es mir für vie Zeit bes Herzogs
Ymereo VIII (Papſt Felix V.) und des Basler Cencils nur wenig
zu finden; bie biplomatifche Correſpondenz jenes Herzogs fehlt fait
ganz. Die vorhandenen acht Bände Bullarıum Felicis V. pp., welche
tem König von Sartinien im J. 1754 von Genf zum Geſchenk ge»
macht wurden, laffen auf ven Ort jchließen, wo dieſer Defect zu cr=
zinzen fein würbe, und diefe Vermuthung beftätigt ſich Durch bie Mit—
fheilungen, welche Sickel (vie Ambrofianifche Republif und das Hans
Sreoyen im XX. Bd. der Situngeberichte ter Wiener Afabentie
p- 185) aus dem Genfer Santonalarchiv gemacht hat.
In ber Biblioteca reale fintet fich nach ber Berfüherung des
Sibliothelars Cav. Promis für deutiche Beziehungen nichts außer ter
unten befchriebenen intereffanten Sammlung Gattinara'ſcher Papiere.
Tie Univerjitätsbibliothet konnte ich wegen ber Serien nur ziveimal
auf kurze Zeit befuchen; einige unten zu bezeichnende Sanpfchriften
terielben find nicht ohne Werth.
Ich gebe In dem folgenden eine, joweit thunlich, chrenelegiiche
Ueberficht über das von mir benußte Material; es wird keiner Recht
fertigung bebürfen, wenn biefelbe bie engen Grenzen ber biegen Reichs⸗
84 Bericht über eine im Auftrag ber hiſtoriſchen Conmiſſien
tags⸗Geſchichte nicht allzugenan einhält. Der Nachweis des Berbält-
niffes zu bem fchon gerrudten Material macht wenigftens auf voll⸗
ftändige Genauigkeit feinen Anſpruch, da die Bibliothek, welche mir
gegenwärtig zu Gebote fteht, mich bisweilen in empfindlicher Weiſe
im Stich läßt.
Jena im Januar 1861.
Karl IV. und Wenzel.
Florenz Archivio di State. Lib. XVI dei Capiteli — fol. membr. Zahl
reiche Schreiben Karl's IV. an die Commune von Florenz nom
9. 1350 an, welde die Stellung der Commune zum Reich feit
dem Pijaner Vertrag vom 21. März 1355 dharalterifiren (Mab-
teo Villani bei Muratori Script. XIV p. 290; von ber ibid. p. 291
erwähnten Beftätigung des Vertrags nad ber Ruücklehr Karl’s
aus Rom findet fi die Originalurfunde mit goldener Bulle un»
ter den Dimplomi Imperisli; danach ift das Datum bei Billaui
zu corrigiren, Siena 5. Mat 1355). Die Mehrzahl betrifft vie
von Florenz an die Reichskammer zu leiftenden Zahlungen, na-
mentlih tie auf 4000 for aur. beſtimmte jährliche Heichöftener.
In Bezug auf dieſe correjpondirt und ergänzt :
Liber XLVII dei Capitoli, welches vie Notariatsafte Üiber bie
einzelnen Auszahlungen enthält. Es geht bis zum Tod Karl's IV.
(Nov. 1378); das legte Stüd vom 31. Mär; 1379 ift eine
Erklärung von Prioren und Öonfalonier, daß fie die von Karl IV.
ber noch ſtehenden Reſte der (unterveß auf 4250 1. aur. erhöh⸗
ten) Steuer nachzahlen wellen. Für die Fortdauer des Berhält-
niſſes unter Wenzel zeugt u. a. eine Originalurkunde auf Perg.
dat. Florenz 27. Aug. 1381: Decret der Signorie über Abfen-
dung ven drei Oratoren an 8. Wenzel zur Hulvigung und zur
Verhandlung über vie jährliche Reichsſteuer, wobei fie bis zur
Bewilligung von 4300 fl. sur. Vollmacht erhalten. Bon einzel-
nen Stüden notire ich beiſpielweiſe
1350) Karl IV. zeigt den Florentinern an, daß er nad) erjelgter Aus»
ſöhnung mit Ludwig von Brandenburg demnächſt einen RT. zu
Nürnberg halten und dann feinen Römerzug antreten werde (o. D.
— um Üftern 1350) Lib. XVI. fol, 1.
unternommenen Reife nach Stalien. 85
1355. 20. Tec. Nürnberg. Karl IV. weift dem Garbinal von Oſtia
als Dank für feine Bemühung kei feiner Krönumg 1000 N. aur.
jährliche Penſion auf die Reichsſteuer von Florenz an. (Lib. XLVII.
fol. 2.)
1356. 12. April Prag. Karl IV. zeigt ven Florentinern an, daß er
vie flreitenden Parteien in ver Pombardei zum Ausgleich auf den
RT. nah Metz beſchieden habe (Lib. XVI. fol. 82).
1356. 1. Tec. Metz. Ernenerung der Anmeifung für den Cardinal
ven Oſtia (Lib. XLVII. fol. 2).
1376. 26. März Nürnberg. Karl IV. mahnt die Florentiner, von ihren An:
griffen gegen tie Kirche abzulaflen und weiſt anf ten bevorftehen:
ven RT. bin (Originalbf. auf Berg. bei den Diplomi Imper. ada).
1390. 5. Aprii Münden. Practica quam habent comunia Florencie
et Bononie cum Ilkıstri Principe d. Stefano Duce Bavarie.
Gontetta des Herzogs Stephan von Bayern zum Kampf gegen
Gievanni Galeazzo Bisconti von Mailand (pro destruclione
et exterminio comitis Virtutum) auf 6 Monate, in eigener Perjon
(Lib. XIV dei Capit. fol. 161 seq.). ine ähnliche Condotta v.
3. 1364: vie Grafen Iohanı und Rudolph „de Abespurg“* tre:
ten für 6 Monate in den Tienft von Florenz für 600 N. aur.
monatlihen Sold; dat. Gonftanz VII Id Jan., und ähnlid für
ren Grafen Wolfhard von Veringen, dat. Conſtanz 13 Kal. Jan.
1364 (Florenz; Archiv CL. XI dist. 1 Num. 22 fol. 198 sq.).
In Lib. XVI. dei Cop. zahlreiche Briefe von Cola Rienzi an tie
Flerentiner v. J. 1347.
Teria Archivio del Regno. Außer ven Abtheilungen: Diplomi Imperiali
und Lettere Principi bejenver8 Liber Litterarum Imperialium fol.
chart.; eine im XV. Jahrhundert begonnene une bis ins XVI.
fertgeführte Sammlung von Abſchriften kaiſerlicher Diplome und
Briefe, welche oft die nicht mehr vorhandenen Originale ergänzt.
1354. 3. Juni. Kaiſerliches Mandat an Grafen Amedeo von Savoyen
von dem unmittelbar unter das Reich gehörigen Wallis abzulaſſen
(Lib. Liti. Imp. fol. 67).
1355. 10. Ian. Mailand. Weiſung Karl's IV, an die kaiſerlichen Vögte
in Wallis, Peter von Arberg und Burkard Monachi von Baſel,
86
1356.
1361.
1362.
1372.
Bericht über eine im Auftrag ber hiſtoriſchen Eommifflon
bis auf Weiteres mit den: Grafen von Sav. Waffenſtillſtand zu
halten (Ibid. fol. 68).
Snveftiturbriefe von 14 Kal, Jul. 1355 Cremons und 16 Kal.
Aug. Prag (ibid. Fol. 68. 69); dazwiſchen liegt eine von Met wäh-
vend des RT. ausgehende Aufforderung an den Grafen, Gejaubte
zum Kaijer zu fjchiden, dat. Met 4. Jan. 1356 (Lettere Principi
ad a.) uud ber Seleitöbrief für bie heimkehrenden Gejandten, bat.
Prag 24. Yuli 1356 (Lib. Litt. Imp. fol. 69).
12. Kal. Aug. Prag. Uebertragung ber Appellation von geiftlichen
Gerichten in ver Grafihaft Savoyen auf den Grafen (Ibid. fol. 70
und Dipl. Imp.; gedruckt b. Lünig Cod. It. Dipl. I, 663 und befler
bet Guichenon Preuves p. 200).
5. 31. Aug. Aquiani. Entſprechendes Mauifeſt des Grafen Amebeo,
daß man binfort an ihn zu appelliven habe (Ibid.).
5. Mai Prag. Karl IV. erimirt die Grafihaft Genf von dem
Reichsvicariat des Grafen von Savoyen und erflärt biejelbe un⸗
mittelbar unter dem Reich ftehend (Ibid. fol. 200). Und eine Wie⸗
terholung dieſer Erklärung dat. Lucca 10. Febr. 1369 (ibid.
fol. 205).
17. Mai Prag. Manifeft Karls IV., womit er bie Grafſchaft
Savoyen und alle im Bereich des Königreichs Urelate gelegenen
Territorien deſſelben aus allen Verband mit dieſem eximirt und
piefelben für fortan dem Reich unmittelbar verbunden (incorpora-
mus, adunamus, annectimus © . 2... .. et unimus) erklärt. Da-
bei der Brief d. d. 20, Mai 1361, womit Karl dem Grafen das
Toenment unter goldener Bulle überſchickt (Diplomi Imp. ad a.).
Ber Guichenon fehlt dieſes Stüd; auffallenver iſt, daß auch ber
neueſte Geſchichtſchreiber Savoyens, 2. Cibrario, eine Notiz davon
nimmt. Zu bemerken ift übrigens, daß immerhin fpätere auf Sa⸗
voyen bezügliche Dokunente Karl's IV. vom Erzbiſchof von Trier
als Kanzler für Arelate unterzeichnet find.
21. Juni. Graf Auedeo von Savoyen verpflichtet ſich dem Kai⸗
jer zur Heeresfolge überall — precipue tamen in Alemanie Vtolie
et Galliarum partibus — und zwar „ad vitam ipsius domini nostri
Imperatoris et non ultra“ (Lib. Litt, Imp. fol. 78).
23. Nov. ...... Kaiferliche Erflärung, daß das Reichsvica⸗
nnternommene Reife nach Italien. 87
riat tes Grafen von ©. „se extendit ad terras dumtaxat Berna-
boris et Galeas Vicecomitum Mediolani, complicum colligatorumque
en ... suorum et non ulterius (Ibid. fol. 98). Vgl. dazu
Dumont C. D. Tom. II. P. I. 89.
33. 26. Sept. Nürnberg. 8. Wenzel belehnt ven Grafen von Sav.
/tbid. fol. 102).
S1. 16. Dec. Mainz. Derjelbe befiehlt vemfelben, nach dem Beſchluſſe
des RT. von Frankfurt Urban VI. al8 wahrhaft katholiſchem Papit
O berienz zu leilten (Ibid. fol. 103).
8. 13. März Yvodii (1voy?). Verſchiedene Edikte K. Wenzels über
vie Verwaltung ver Grafihaft Savoyen während ver Regentſchaft
für ven minterjährigen Amebeo VII. (Ibid. fol. 104. 105).
395. 23. Dec. Prag. Mandat HK. Menzel’ an Vaſallen und Unter-
thanen ver Grafſchaft Genf, ten Humbert ve Billarti zu geher-
chen, ven er nad tem Tod tes Grafen Peter damit befehnt habe
(ibid fol. 217).
40. 5. Juli Prag. Wiberruf tiefer Belehnung und Uebertragung ter
ſelben auf Humbert ve Altari (Ibid. fol. 266).
1400. Acta Concilii Pisani. Cod. Ms. chart. fol. Saec. XV. 532 Bl. in
2 Golumnen berieben — im Anfang fehlen mehrere Blätter
(Turin Univerfitätsbißl. Cod. Num. 238). Leider fonnte ich die
Hei. nur furze Zeit benußen. Cine Befchreibung gibt Paſini in
rt. gedrudten Katalog der Hpf. dieſer Bibl. pag. TV. Von ft.
Wenzel finten fi fol. 94. 95.
1409. 16. Febr. Prag. Wenzel erflärt ſich gegen den Cardinal Lars
tulfe ven S. Nicolo in carcere zu Gunften des Concils (S. Pet
ze, 8. Wenzel Urkundenb. 218).
149. 15. März Prag. Wenzel ernennt 5 bevollmächtigte Kommiffarien
zum Concil.
Sigismund.
1412. 2. Juli Ofen. K. Sigismund belehnt ven Grafen Amedeo VII.
ven Supoyen (Turin Archiv. Lib. Litt. Imp. fol. 111. 179.
1414. 6. Juli Bern. Mantat 8. Sigismunds an vie barones et bannereti
ver Grafihaft Sav. tem Grafen Amedeo zum Reeichsdienſt gegen
die Rebellen in Italien Zuzug zu leiften (Ibid. fol. 43).
88 Bericht Aber eine im Auftrag ber hiſteriſchen Commiſſion
1415. 10. Sept. Lucca. Paolo Ouinigi, Herr von Lucca bringt bem
8. Sigismund j. Glüdwänjche zur Krönung ie Aachen (Lucca
Archiv, Copialbuch von P. Guinigi).
1416. 2. Febr. Lyon. Quittung des Probſtes Benedikt von Stuhl⸗
weißenburg über 3000 Scuti, vie er von dem Grafen von Gas
voyen für ven Köuig in Empfang genommen (Tarin I cit. fol. 144).
1422. Reichstag in Nürnberg.
25. Auguft. Belehnung des Herzogs Amadeo von Savohen mit
ver Grafſchaft Genf (Dipl. Imp. ad a. dabei ein Notariatsinfiru-
ment tat. Chambery 8. Nev. 1465, wodurch das Vorhandenſein
dieſer Urkunde konftatirt wird).
25. Auguft. Erklärung 8. Sigismund’s, daß er in dem bei dem
Fiscalprocurator anhängigen Proceß über die Grafihaft Genf alle
feine Anfprühe zu Gunften des Herzogs von Sav. nachlaſſen
werde (Ibid.).
25. Auguft. K. Sigismund verbietet den Unterthanen des Her⸗
3098, von feinen Gerichten an den Kaifer zu appelliven (Ibid.).
26. Auguft bis 15. Oft 1423. Cine Anzahl von Urkunden über
eine von dem Herz. von Sav. (ex veris certis indubitelis iustisgue
causis) an ben Kaiſer zu leiftende Zahlung von 12,500 veneziani-
ſchen Dukaten (Turin Materie d’Impero 4“ categ. ad a.),
1423. 14. Dct. Ofen. NRatification der Belehuung mit Genf (Lib. Liv.
Imp. fol’ 126).
1424. 29. Mai. Ofen. K. Sigismund verbietet dem Ludwig v. Oran⸗
ges, fih Grafen von Genf zu nennen (Ibid. fol. 128). Weitere
Schreiben an venjelben fol. 130 — 141.
1426. Reihstag in Wien.
Legazione di Rinaldo di M. Maso degli Albizzi all’ Imperatorc dal
1. Febr. 1425 al 26. Genn. 1426 (Florenz Arch. di Stato Classe X
dist. 2 Num. 15. Depeigenband von 317 BU. Kopie). Haupt-
inhalt die Vermittelung der Florentiner zwijchen dem Kaifer und
Benedig. Daraus
1426. 16. März Wien. Bericht des florentinifchen Gejandten über ven
RT., nebft einem Verzeichniß der anweſenden Reichöftände.
1426. 5. Sept. Instruzione di quello dovra dire Lancelotto Grotti Ora-
tor del Duca Filippo Maria Visconti appresso l’Iimp”. Sigismondo
unternommene Reife nach Stalien. 89
per dimostrere il pericolo in cui si ritrova il suo stato invaso
delli Venezieni collegati co’ Fiorentini, Duca di Savoia, Marchese
d’Este, Duca di Mantova (Turin Mailänter Suchen Marz 2
Num. 5).
431. Reichstag in Nürnberg.
Die bei Guichenon Preuves p. 279. 280 und Yünig Cod. It. Dipl,
11. 2295. 2327 mit manden Fehlen abgebrudten Stüde (Turin
Zriginale auf Perg. unter d. Lettere Princ.).
432. 6. Febr. Herzog Amedeo quiktirt über 12,000 fl., welche ver Adel
und die Communen von Piemont ihm ald Erben feiner beiden
heime, Ameteo und Ludwig von Achaja jchultig waren, mit dem
Zuſatz, daß das Geld verwendet habe — nelle spese della guerra
in sassidio cell’ Imperatore (Turin Arch. Minutari Ducati num, 73).
1434. Reichstag iu Baſel.
26. April. 8. Sigismund befieblt ven H. Amedeo von Sav. in
feinem ante die nad der Krönung in Rem übliche Judenſteuer
für den Kaijer einzutreiben (Lib. Litt. Imp. fol. 145).
11. Mai. Defielben Aufforderung an benjelben zur Silfleiftung
gegen Diuiland (Lettere Principi ad a. Conf. Guichenon p. 286).
1434. Reichstag in Ulm.
21. Yuni. K. Sigismund notificirt dem H. Amedeo den bevor—⸗
ſtehenden Keichökrieg gegen Burgund (Lib. Liit Imp. fol 146).
9. Yuni. Derſelbe ſchreibt an |. Geſandten bei dem H. von Sar.
Graf Wilhelm von Montfort und Ritter Hemman v. Offenburg
über tie von dem Herzog verfuchte Vermittlung bei dein Herzog v.
Mailand, über den Sieg über die Hujliten, über die Judenſteuer
u. a. (Originalbf, in deuticher Sprache bei ven Dipl. Imp. ad a.
nebit lat. Ueberjekung).
1437. Reichstag in Eger.
31. Juli. Aufforderung an ven H. von Sav., ſich gegen Minis
(and zu erflären (Lib. Lit. Imp. fol. 147).
11. Juli. Schreiben des ſavoyſchen Gejantten am RT., Chriſto⸗
forus de Bellate an d. H. Amedeo, beſonders über einen beim
Kaiſer anhängigen Streit zwiichen ihm und dem Herzog Philipp
von Bourbon über gewiſſe Reichslehen in der Herrichaft Beaujeu
(baronia Belioci) (Ibid. fol. 148).
Bericht Über eine im Auftrag ber hiſtoriſchen Commiſſion
18. Juli, Derjelbe an denſelben; jhidt ihm Abſchrift der von
dem Geſandten des Herzogs von Bourbon beim Kaifer eingereich-
» ten Supplif (Ibid. fol. 149).
1139. 11. Juni Ofen. Verſpricht K. Albrecht II. nem Herzog von Sur.
jeine Gunſt in dieſer Angelegenheit (Ibid. fol. 148).
Die Ausgleihung des Streites erfolgte jpäter 1441, ohne ven
Kaiſer. Guichenon 1. 506.
Concil von Conſtanz.
Cod. Vatic. lat. Num. 1335, gr. fol. Pergament und Papier gemiſcht.
Einband neu; auf dem erften Blatt unten das Wappen ber Fa—⸗
milie Rovere. Inc. fol, 1.
ia nomine sancte et individue trinitatis, Hic liber continet Or-
dinationes statuta Constitutiones Decrela et alia Acta el gesta in
generali Constanciensi Concilio presidente Sanct”° in Christo palre
et domino nostro domino Johanue divina providenlia papa Vice-
simo terlio. Recollecta visa et ordinata per nos Prothonotarios No-
tarios et Scribas infrascriplos ad id per. eundem dominum nostrum
papam ipso approbante Concilio deputatos. Sub annis domini....
inferius annotalis.
Folgt der nach Seſſionen georbnete Inder; auf dem legten Blatt:
Finitus est iste liber per me Conradum Richardi de Witzenhusen,
Aus obiger Ueberichrift ergibt ih, daß dieſer Coder wohl ven ver
gleichen Redaction ift mut den bei v. d. Hardt (T. IV. Proleg. p. 14)
bezeichneten Braunjchweiger, Yeipziger und Gothaer Hoſſ., welche pas
officielle Protofol der von Johann XXIII. eingejettten Notare enthalten ;
fol. 6 findet jih das bei v. d. Hardt T. IV p. 94 aus ter Gothaer
u. Leipziger Hr. gegebene Stüd; fol. 16 ftimmt mit ven 3 genannten
Hoſſ. bei v. d. Hardt ibid. p. 159; fol. 128 ff. mit dem bei v. d. Hardt
T. V. p 76 aus ver Peipziger Hdf. gegebenen über den Raugftreit zwi⸗
ſchen ter franzöſiſchen und englifchen Nation. Bon fol. 150 au folgen
die Proceßacten gegen Benebict Xlll. Courad von Wigenhaujen jcheint
nur der Abjchreiber dieſes Exemplars zu jein.
Rom. Bibl. Casanatensis Cod. chart D. 1. 20. Varia saec. XV.
Fol, 275 Petrus de Alliaco, de tribulatione et reformatione
ecclesie ad papam,
92 Bericht über eine im Auftrag der biftorifden Commiſſion
Rom. 2 Kal. Apr. a, quinto. An die Aebte von Mölt und
Neuburg gerichtet.
Inc. Ad preclara devocionis et fidei merita.
Fol. 35. Citatio Johannis Comitis Armeniaci. Dat. Rom. X. Kal. Dec.
a. sexto (1423).
Fol. 44, Eadem citatio paullo tamen aliter concepta. Dat. ut s. —
Graf Johann von Armagnac war der legte Anhänger Be
nedict8 XIII. (Platina vita Joh. XXI).
Cod. Vatic. Num. 3934. Chart. fol. Varia saec. XV.
Fol. 171. Statuta provincielia Rev”! in Christo patris et Domini d.
Eberhardi archiepiscopi Salezhurgii Ap“* sedis Legato, edita
sub a. d. M® CCCC° XVII? mensis Novembris .. .. . —
Gedruckt bei Yabbe, Coneil. T. XII. p. 308 mit dem Da⸗
tum „circa annum domini 1420° und b. Martene VIII. 977,
wo die Note zu vergl.
Concil von Bafel.
Codd, Vatic. Regin. Num 1017 — 1020. 4 Bde, fol. chart. Saec. XV.
Der erfte dieſer 4 einft ver Königin Chriftine gehörenden Bände
ift eine Art von Tagebuch vom Concil mit zahlreichen beigefügten
Aktenftücden vom Beginn des Concils bis Ende 1434. Die ans
bern 3 Bände enthalten nur einzelne Stüde ohne Erzählung; doch
gehören nad) Schrift und Papter alle 4 zujammen. Vol. I. führt
die bejondere Aufjchrift: Epistole et Responsiones synodales S.
Bas. gen. Concilii. Aus Vol. I und II dürfte das Meifte bekannt
fein; ich notire nur
Vol. Il. Fol. 226. Hanc cedulam dedit quidam monachus pro voto
suo (0. D.) Inc. Olim antequam Greci a Latinis separaban-
tur Romanus pontifex non sic exaltabatur. — Es handelt
fih um Abfaffung eines Schreibens, worin, wie es jcheint,
die Titulatur: „Beatissime pater-“ gebraucht werben follte;
der Votant proteftirt gegen diefe „Sanctification“ ; die Kirche,
das Goncil darf fi vor dem Papft nicht fo bemüthigen.
Vol. IH. Fol. 1—9. Responsio data Ambassiatoribus illust-
rium principum Electorum S. R. J. per Rev‘ d.
Ludovicum de Roma ap“ sedis prothonot.
unternounnene Reife nach Italien. 93
Inc. P.P. ... . Oratio vestra in medio nostri sacri celus
proposita tres habet effectuales particulas.
Expl. — supra pelram est non quassatur. Explicit respon-
sio synodalis .. . . . a. d. 1438 d. 28. Dec.
Fol. 9—22. Proposilio facta Francophordie coram
I11®' principibus S. J. R. Electoribus per R”'* in
Christo patrem et dominum d. \ycolaum Syculi
Dei et ap“ sedis gratia archiepiscopum Panor-
mitanum vulgariter nuncupalum. (Bgl. Würbtwein
Subj. dipl. 98.)
Inc. Mecum tacitus sepenumero cogitavi —
Expl. — sue dilectissime sponse concedere dignetur. Amen.
Fol. 73 — 97. Tractatus domini S. Martini de neu-
tralitate.
Inc. „Quis dabit me in solitudinem diversorum viatorum‘*..
Expl. — Jesu Christi et sponse eius ecclesie collecte. Amen.
Der Inhalt ift vorzugsweiſe theologifch; mehr won Kirche
unt Goncil als von der Neutralität.
Fol. 97 — 120. Tractatus d. Joh. de Segobia contra
neutralitatem
Inc. Allegacio facta contra neutralitatem quam nonnulli dicebant —
Exp. — subiiciendo omnia debite correctioni cuiuslibet me-
lius sentientis.
Fol. 120—125. Consilium universitatis studii Vien-
nensis ad Archiepiscopum Saltzeburgensem su-
per intelligentia sive unione Electorum Impe-
rii circa celebracionem concilii generalis,
Inc. Circa maleriam unionis quam inieruns R”' patres et
IN” principes S R. S. Electores
Exp. — vel per talem principum unionem
Ein Tractat für das Concil gegen die Neutralität.
Fol. 125— 131. Cousilium universiltatis studii Er-
phordensis ad d. Archiep. Magunlinum ......
contra olim Eugenium et contra neutralitatem
principum Electorum ad Concilium provinciale
in Aschaffenburg nuper ... inchoatum in presenti
8*
94
Bericht über eine im Auftrag ber hiſteriſchen Eommiffion
anno 1440. Inc. P.P. Nedum per organum ven’ mag”“
Henrici Laybyng Expl. — vivit et regnat. Amen.
Es wird das nah Würbtwein Subs. dipl. VII p. 5—28
citirte Öutachten fein; dieſes Werk ift mir gegenwärtig nicht
zugänglich.
Fol. 319— 332. Opusculum de ruina et desolacione
super ecclesiam futura tempore scismatis editum,
De abusibus Romane ecclesie.
Inc. Quum hesterno die sacrorum eloquiorum codicem ar-
ripuissem.
Fol. 335—398. Tractatus sive proposicio D. Joh. de
Ragusio facta coram Rege Rom. Vienne in defen-
sionem S. Concilii Basiliensis contra papam Eu-
genium.
Inc. Convenit ecclesia magna cogitare quid facerent fratri-
bus suis. — Das Explicit gibt auch das Datum, ven
15. Mai 1438, tempore quo prefato Regi per ambassia-
tores Electorum offerebatur regni Romanorum electio, qui
et post acceptationem prefate interfuerunt proponi unacum
magistris et doctoribus universitatis Viennensis.
Vol. IV. Fol. 31—44. Tractatus de modo electionis Relicis
pape quinti.
Inc. Apprehendit dominus arma et scutum et exsurrexit
Exp. — laus et gloria sit deo in secula seculorum.
Fol. 45—56. Tractatus utrum papa peccaverit dissol-
vendo Concilium Basiliense,
Inc. Quoniam ab aliquibus revocatur in dubium et obicitur
contra C. B. |
Exp. — videtur necessarie per Concilium intendi debere.
Fol. 56 — 61. Propositio dom. Abbatis de Scocia
facta Maguncie in quadam dieta ibidem servata
a. d. 1439 de mense Augusti.
Inc. P. P.. . . Sacrosancta Synodus Bas. ... . vestras
R”“ paternitates..... salutat cum omnipotentis dei
benedictione,
Exp. — qui sine fine regnat, Amen.
uuternonmmene Reife nach Italien. 95
Das Stüd gehört zu dem Kurfürftentag vom 6. Auguſt
(auf ©. Sirt) in Mainz, auf welchen die Neutralität ver-
fängert wurde. Drei Concilgefandte Johann von Segobia,
Ich. Bachenftein und der Redner überreichen ein Schreiben
tes Concils (o. D.), worin die Kurfürſten gedrängt wer:
den, fi) offen gegen Eugen IV. zu erklären. Perſönlich an—
weiend war nur der Kurfürſt von Mainz; an dieſen und
an die Mainzer Provinzialiynove ift die folgende Rede ge-
richtet.
Fol. 61 —63. Propositio dom. Abbatis de Scocia
oratoris S. B. C. facta in provinciali synodo Ma-
guntina celebrata ibidem a. d. 1439 et iij men-
sis Augusti.
Auch hier Überreiht der Geſandte ein Schreiben des
Concils.
Inc. Daum gloriam incontaminati sacerdocii intenta mente
considero —
. Exp — qui sine fine vivit et regnat. Amen.
Fol. 63—70. Propositiones verjchiedener Drateren des Con:
cils an B. Felir .
Fol 70—9W. Berhandlungen des Concil mit England und
Frankreich.
Fol 90 — 92. Instrumentum in quo continetur ce-
dula avisamentorum data per ambassiatores Ro-
manoram et Francie Regum pro extirpatione
scismatis.
Es iſt das Stüd vom Mainzer NT, 1441, welches bei
Mäller RT. Th. 1. 52 ff. ſehr mangelhaft gedrudt ift. Vor—
aus geht ein Notarintsinjtrument, dann folgen die Aviſa—
menta felbft, wobei genauer als in der Ueberſchrift auch bie
Mitwirkung ver Kurfürften angegeben iſt.
Fol. 97 — 98. Ista est responsio que facta fuit in
Nurenberga oratoribus Concilii in festo 8.
Margarethe super hiis que proposita fuerunt ex
parte C. B. coram rege Romanorum,
Ino. Ad ea, R”' paires, que ex parti S. B. C. a Ser"”
D. N. Rom. Rege.
Bericht über eine im Auftrag ber hiſtoriſchen Commifſion
Expl. — merito grate future sit et accepte.
Diejes wie die nächftfolgenden Stüde gehört zu tem „Mar:
garethentag” in Nürnberg 1438.
Fol. 98— 117. Responsio concepta per unum ex
oratoribus S. B. C. ad oratores Invict” Regis
Rom. in dieta Margarete a. d. 1438 Nurenborge.
Sed non exhibita fuit,
Inc. Quoniam in hiis que fidei sunt gravis culpa censetur.
Exp. — parata semper sit reddere rationem.
Fol. 117 — 118. Cedula prima presentata dominis
deputatis per ambassiatores Regis Romanorum,
principum Electorum et aliorum Almannie pre-
tatorum,
Inc. Primo quod sacrum Concilium sui auctoritate aliquem
alium locum in Germania nominet —
Exp. — ut nulla machinacione ycumenici concilii sepedicti
valeat celebracio impediri.
Fol, 118— 121. Sequitur cedula dominorum depu-
tatorum (Antwort auf das vorhergehende).
Inc. Videtur dominis deputatis, quod pro pace universalis
ecclesie .... procuranda et servanda potest per hoc S. B.
C. condescendi peticioni —
Exp. — hic sancta Synodus dinoscitur obligata.
In diefem Stüd zeigt fih, daß ſchon hier Frankreich mit
unterhandelte, nicht erft bei den Verhandlungen in Bafel
im December 1438, wie man bisher annahm, wenigftens
wird bie obige Cedula prima bier genannt — oblata pro
parte Ser”! d. Regis Rom. ac Christ”! d. Regis Francorum.
Fol. 123 — 138. Sequuntur raciones quibus depußati
8. Concilii moti fuerunt, ut cedulam suam ita prout
jacet avisaverunt,
Inc. Veneris quinta Decembris et duodecima ejusdem . . .
(Einleitung; dann:) constat ex gentis hujus S. B. C. ac’
litteris summi Pontificis et notam est toto orbe —
Exp. — quia non est abreviala manus domini,
Fol, 138— 152. Sequuntur difficultates mote per
unternommene Reife nach Italien. 97
ambassietoresS.B.C. et quibus provideri debebat
antequam terciuslocus eligeretur indietaNurem-
burgensi in die S. Galli celebrata. .
Inc. In dieta Nuremb. de festo S Galli a. d. Millesimo...
(1438) per dominos relatores depulatos a tota inibi exi-
stente congregacione .. .
Exp. — quia alibi locus se offert ad hujus modi consideracionem.
Fol. 153 — 158. Rede eines deutihen Öejandten an
das Concil — ohne Namen und Datum. Der Zuſammen⸗
bang weist fie zu den Verhantlungen, die im De. 1438
und Yan. 1439 zwiſchen dem Concil und dem vom „St.
Gallen⸗-Tag“ nad) Bafel geihidten Geſandten gepflogen wurden.
Inc. Cum hodierno die hunc cetum sacrum pro pace eccle-
siastica conservanda. —
Fol. 162 — 177. Incipiunt probaciones, quod C.B. non
sit translatum nec dissolutum facte in Maguncia
ab Ambassiatoribus C. B.
Inc. Ad ostendendum evidenter, quod s. generale C. B. u.
e. r. non sit translatum. — Gehört wohl zun RT. von
Mainz 14141. .
Fol. 197— 199. Tractatulus de neutralitate secundum
studium Coloniense,
Inc. Ad requestam R'"' d. Theoderici Archiepiscopi Coloni-
ensis d. deputati Universitatis Coloniensis sicut prima facie
potuerant non auditis particularibus motivis parcium scisma
presens inducencium visum est conveniencius in tribus
propositionibus quibus super hac requisicione respondendum
est. Sequitur prima proposicio ... .
Exp. — simulatores et callidi qui provocant iram Dei. —
Fol. 199 — 212. Tractatus super neutralitate princi-
pum, per quendam religiosum fratrem Ordinis
Carthusiensis, apud Coloniam sacre Tleologye
professorem compilatus a. 1440.
Inc. ....modestia imperantis paterne jussionis cui resistero
non licebat —
Exp. — in secula seculorum benedictus, Expl. XVI pro-
98 Bericht über eine im Auftrag ber hiſteriſchen Sommilfion
posiciones super neutralilate principum tollende. a. d. ete_
(zu Gunſten des Concils).
Mit tiefem Stüd ſchließt ver vierte Band dieſer Sammlung.
Cod. Vatic. Num. 3934 fol. Saec. XV Varia.
Fol. 82. Hec suntpuncta formata per dominum nosirum
papam. — 14 polemiſche Punkte gegen Schisma und Concil :
Fol. 131. Avisata super petendis a S”. D. N — .
Dat. Frankfordie ®. Oct. 1446. — Bgl. Koch Sanclio prag-
mat. p. 176. Am Schluß von anderer Hand: Auscultals
est hec presens copia ab originali per me Jacobum Wider
Registratorem litterarum Imperialium que concordat omnino
cum originali. —
Fol. 166. Act» concilii provincialis Magdeburgen-
sis. — Tie einzelnen Decrete Diejes von Nicolaus von Cuſa
gehaltenen Concils: de concubinariis — de statutis eccle-
sierum in introilu ad beneficie vero solvendis — de Judeis
— de modo se habendi in choro — execuloria super pre-
missis — declaracio circa absolucionem pretacti juramenti —
de exercicio jurisdiccionis archidiaconorum et ceterorum iu-
dicum — de sacramento Eucaristie nun patile portando —
Dieje alle dat. Magdeburg, 25. Juni 1451 jollen in einer
Bulle gefaßt werben; eine bejonvere Yulle für das folgende
— quod hostie transformate non ostendantur dat. Hulberftadt,
4. Juli 1451. — In den Cod. ver Bibl. Casanatensis C. IN.
24 Fol. 140 finven ſich hiezu noch mehrere andere Decrete
3. B. de oracione pro papa et episcopo facienda. — In
Cod. Vatic. Num. 362 fol. 89 finden fi die Verordnungen
deffelben Cardinals für tie Reformation in der Diöceſe
Rürzburg, dat. Würzburg, 22. Mai 1451, und fol. 126
die Acta concilii Maguntini deſſelben Jahres, wie bei Martene
Vlll. 1005.
Fol. 137. Propositio mag. Thomae Corserii ad do-
minos congregatos in dieta Nurebergensi pro
parte illorum qui in Basiles sunt.
unternommene Reife nach Italien. 99
Inc. Explicaturi que nobis a S. Synodo iniuncta sunt a verbo
divini apostoli sumemus exordium (Ephes. cap. 4) —
Exp. Fol. 143 bricht e8 ab — hic deficit ultra unam cartam.
Scheint zım St. Sallen- Tag in Nürnberg Okt. 14138
zu gehören.
4. Vat. Ottobon. Num. 698. Acta aliquot Concilii Basiliensis.
Nembr. 4. 142 Bil. — Ex codd. Joannis Angeli Ducis ab Altaemps.
Fol. 1— 108. Verſchiedene einzelne Stüde von Concil, nanıent:
Ih viele über die Verhandlungen mit ven Böhmen: ſonſt
meiſt Bullen und Breven Engens IV. —
Dann folgt angebunven ein Traktat — de amore et di-
lectione dei et proximi.
»d. Yat. Ottobon. Num. 571. fol. chart. Varia.
Fol. 1— 107. Das befannte Summarium C. B. — editum per
me Augustinum Palricium . . . . jussu Francisci Piccolominei
Cardinalis Senensis a. s. 1480 mit alphabetiſchem Inder.
Fol. 117 — 132. Die Rede Ceſarini's Leim Empfang ver
Böhmen in Baſel 9. Ian. 1433.
d. Va. Ottobon. Num. 497 fol. chart. 355 BI. —- Abjchrift des XVI.
Jahrhunderts. —
Sieben Traftate ven Joh. de Turrecremata.
d Num. 312 der Bibl. der Canonici von S. Martino in Lucca.
Fol. 188— 196. Propositio Mag. Jo. de Turrecremata cum
esset Orator ad dyetam Maguntinam ex parle S. D. N. Eı-
genii pape.
Inc. Puritatem et iustitiam D. N. S. summi Pontificis D. Eu-
genii pepe iiii ex injuncto pro parte explicaturus,
Exp. — post lacrimalionem et fletum infundere exaltationem,
Fol. 196 — 202. Rebe veilelben an ten Staifer:
Inc. Si fuit clarissime Rex et virtuosissime Cesar unquanı
dies in quo oplassem —
Exp. — qui princeps est Regum terre Jesus Christus. Amen.
Amen. Amen.
we, Bibl. Angelica Cod. A. 8. 2. Chart. fol. Saec. XV. — von ver-
fchierenen Händen gefchrieben; unpaginirt. Auf ver erften Seite ein
Cardinalswappeu, welches bei Ciaccon. Vitae Pontiff. unter Pius 11.
100 Bericht über eine im Auftrag ber hiſtoriſchen Eommiffion
als das des Joh. Balues Gallus, episc. Andegaviensis, Presb. Card.
tt. S. Susanne, post episc. Albanensis — erjcheint.
Fol. 1 seq. Rebe des Ludovicus de Urbe (Pontanus) als Ge-
fandter des Concils an den Herzog Amedeo VIII von Savoyen.
Deifelben Tractatus de auctoritate ecclesie — Basilee con-
cilio generali in oclavo eius anno ibidem perdurante editus.
Fol. 26. Collatio facta per Rev. d. Archiepiscopum Panormi-
tanum olim abbatem Syculum coram Principibus Electoribus
in Frankfordia pro electione Romanorum Regis congregalis.
Qui Archiepiscopus una cum Patriarcha Aquilegiensi .. . .
missi fuerunt a S. Concilio generali Bas. ad dictos principes
ut supra congregatos. A. D. 1438 de Mense Marcii.
Inc, Mecum tacitus sepenumero cogitavi —
Iſt jevenfalls vie Rede, weldhe aus Würdtwein subst. dipl.
vi. 98 citirt wird, wo fie ohne Datum ift.
Fol. 27. Gersons Traktat de protestate ecclesiastica. Dann:
Allegationes d. Episcopi Gadicensis Hyspani de potestate Con-
cilii, facte tempore dissolucionis Concilii Basiliensis.
Tractat bes Marianus Sozinus von Siena de Surtilegiis, an
den Cardinal Beifarion. ’
Tractat de Virtutibus Moralibus.
Defensio sentencie late per s. gen. C. B. contra D. Euge-
nium papam per doctores disputata Bononie. — Der Tifputaut
Nicolaus Sancti de Raymondis ſchickt eine Copie ter am 8.
Auguft 1439 gejchehenen Dijputation an das Concil mit der
Bitte fie Öffentlich zu verlefen und Abſchriften an vie benach>
barten Univerfitäten zu ſchicken. Ein Abjchnitt betrifft auch
bie politiichen Suünden Eugens IV. in Italien, we er u. a.
jagt — non tamen pretereo Joannem Vitelescum de Corneto
quem Cesarem appellat, cuius hominis conditio apud omnes
manifesta erat etc.
Rom. Bibl. Angelica Cod. B. 3. 10. Fol. chart. Saec. XV. Acta Manu-
scripta ad C. B. spectautia et alia. — Enthält 71 Stüde; ein ſpäter
gemachter Inder bezeichnet bie bei Harduin gebrudten; auch die übrigen
ftehen meift bei Mansi und Martene.
unternommene Reife nach Italien. 101
peg. 59—68. Quod in Concilio procedendum sit
per naciones et non per deputaciones suadetur
primo antiquorum et modernorum Conciliorum auctoritate etc
— Bricht fol. 68 unvollendet ab, Die gleiche Forderung
ftellt 8. Sigismund, 4. Dec. 1434 bei Martene VII. 777.
pag. 79 seq. Hic continetur materia Hussitarum. —
Beſchreibung des Einzugs der großen böhmiſchen Geſandtſchaft
in Baſel am 4. Jan. 1433. Meiſt bekannte Sachen; das
Mandat der böhm. Geſandten (pag. 95 — 99) iſt bier vom
1. Sept. batirt; vgl. Martene VIII. 247.
pag. 123 — 125. 8. Heinrih von England f[hreibt
an die Oratores Germanice nationis auf vem B. C.
und dankt ihnen, daß fie durch ihre Stanthaftigfeit gemein»
ſam mit den englijchen Oratoren die Kirche vor dem Schioͤma
gerettet. Tat. Weltminfterpalaft 23. Juli 1433.
pag. 141. Capitula advisata pro concordia D. R. S.
Pontificis ad presens S. Concilium super dif-
ferenciis sequentibus. (o. D.)
Zwölf Punkte: 3. B. Num. 5: item quod pro presenti de-
linquant sedi ap“° usum reservacionis et confirmacionis maiorum
ecclesiarum cum suis dependenciis.
pag. 112. Isti sunt tres modi pulcerrimi tractandi
concordiem inter S D. N. Eugenium et C. B —
Dat. Basel 1433 de mense Augusto.
Inc. Novit mundus, R”' patres et domini ... „ . vestrisque
amplissimis palernitatibus luce clarius innotescit. —
peg. 119. De electione civitatis ubi Concilium
debet celebrari.
Inc. S. D. N. erit contentus quod in civilate Senarum, sivo
. Bononie. sive Mantue concilium conlinuelur in quo S'“
sua intendit adesse . . .
Expl. Item dabit subsidium circa expensas (tiefe Worte
groß geſchrieben).
Die beiten letzten Stücke find Vermittelnungsvorſchläge ber
Geſandten Eugens bei ihren Verhandlungen mit dem
Concil im Jahre 1433.
102
Rom.
Rom.
Rom.
Bericht über eine im Auftrag ber hiſtoriſchen Commiſſion
Fol. 333. Aeneae Silvii Senensis De potestate Concilii supra
papam Liber unus
Bibl. Angelica Cod. S. 1. 1. Fol. chart. Anfang Saec. XVI. un:
raginirt. Eine Sanımlung ven allerhand Papieren aus dem Nachlaß
des Cardinal Francesco Piccolomini (Pins II), welche hier chne jede
fachliche ever zeitliche Ordnung in einen ſtarken Folioband zufammen-
fopirt wurden. Daraus gehört hieher:
Fol. 19 seq. Manifeft des Erzbiſchofs Frievrih ton Salzburg,
wonit er das Wiener Concorvat vom 17. Febr. 1448 ver:
fündig. Dat. Salzburg 22. April 1448. — Dies ift ſomit
bie frühefte Verkündigung tes Concortats von einem deutſchen
Prälaten; dann folgt Mainz erft im Juli 1449 (Koch Sancı.
pragm. p. 244).
Bibl. Angelica Cod. S. 5. 24. Cod. membr. 4. Saec. XV; ohne
Titel und Aufſchrift. Die Einleitung fagt: . . . . hinc est igitur
quod in subscriptis continentur et sunt de verbo ad verbum inserta
decreta constituciones acta ordinaciones ceteraque gesta in sacro ge-
nerali B. C. presidente in eodem auctoritate ap“* Rev”° in Christo
patre d. Juliano miseracione divina sacrosancte R. E. sancti Angeli
dyacono Cardinali apee sedis Legate, collecta visa et ordinata per
nos prothonotarios notarios et scribas infrascriptos ad id per dictum
d. presidentem sacro eodem approbante Concilio deputatos, sub annis
ee. — Der gut aber ſchmucklos gejchriebene Band ift wohl original;
er geht nur bis zur XX. Sitzung und fliegt mit dem Abjekunge-
Tecret vom viiij Kal. Febr. 138. Ueber vie Cinleitung zum
Concil und die erfte Sitzung ganz ſummariſche Erzählung; von va
an bloß die Hauptaktenſtücke.
Bibl. Casanatensis C. III. 24. Varia. Bon fol. 77 an Alten ves
C. B. nad Seffionen geordnet; Tinte und Schrift zeigen bei jeder
Seſſion Unterjhiere. Vom J. 1442 fpringt e8 fol. 160 gleich auf
1148 über mit dem Beſchluß das Concil nad) Yaufanne zu verlegen.
Dann Acta et Decreta in Concilio Lausanensi — die befannten ; zulept
Copia cassatorum processuum post cessionem D. Felicis. Am Schluß
tes Bandes (unpag.) Brevis informacio de causa ecclesie quam pro-
sequitur S. B. C. contra Eugenium olim papam ilij.
104 Bericht über eine im Auftrag ber hiſtoriſchen Commiſſion
Entwurf der Geſandten. — Dieje Gefanttfhaft des kurf.
Colleges nad) Rom ift, ſoviel ich fehe, noch nicht bekannt;
der Entwurf ift o. D.; doch ergibt Orſini's Einleitung dazu
bie angegebene Datirung.
Fol. 19. 20. 67. 76. Mehrere Privatbriefe aus Teutjchland
über das Goncil i. 3. 1432.
Fol. 107. Bericht zweier venetianijcher Geſandter vom Concil.
Baſel, 14. Oct. 1433.
Fol. 84. 85. Inſtruction K. Sigismunds für feinen Geſandten
aus Rom an das, Concil. — ohne Datum und Namen.
Aus dem Tert ergibt fih, daß es die Yuftruction für den
Biſchof Ich. von Chur, Hartung Klur und Ricolaus Stod
jein muß, die gfeih nach der Krönung in Rom an das
Concil abgingen (Ihr Grevenzbrief vom 7. Juni 1433 b.
Martene Vıll. 607). Die plöglihe Umkehr Sigismunds
gegen das Concil ſpricht ſich hier jchärfer aus, als in einem
andern bekannten Aktenftüd.
Fol. 104. Schreiben ver Kurfürſten an das Council dat. Frank⸗
furt, 7. Sept, 1433 — bei Martene VIII, 636.
Fol. 347. 348. Ausſchreiben K. Sigismunds an die Reiche:
flände, worin er bie Wirren am Concil wegen ver verjuchten
Verlegung nad) Avignon fchilvert und in fehr erregter Weiſe
alle auffordert nah Bajel zu fommen ober zu fchiden, um
dieje Intrigue ver Franzoſen zu vereiteln. Dat. Eger...
— Das Ausichreiben ift noch auf dem Rt. von Eger 1437
verfaßt; ſpäter ale der Bf. von 5. Juli 1437 an d. Biſchof
Paulus von Stragburg (Martene VIll. 940), aber vor der
Citation des Papſtes am 31. Juli. —
Florenz Bibl. Laurenziana. Plat. XVI. Cod. 11. fol. membr. saec. XV.
Acta in Concilio Basiliensi. Iſt ter zweite Band eine® großen Tage:
buchs von Concil, das aus 3 Bänden beſtand;' der erfte und dritte
fehlen. Ueber ven Verfaſſer ijt nichts zu ermitteln. Der vorhandene
Band umfaßt die Fahre 1438— 1443. Die einzelnen Aktenftüde ſind
bei Bandini Catal. Cod. Lat. Bibl. Med-Laur. T. I. p. 189 seq. auf«
unternommene Reife nach Italien. 105
gezählt; viele von ihnen trifft der Uebelſtand, daß ter Verfaſſer fie
nicht in ter originalen Form gibt, ſondern fie paraphrafirt.
Florenz Archivio di Stato. Das von Mehus I. c. erwähnte Regestum Ar-
chivi Palatini, woraus er T. I. p. 235 ff. mehrere auf das Goncil
bezũgliche Briefe des Leonardo Bruno edirt hat, fteht jet unter ber
Zignatur Classe X dist. 1 Num. 34. Das Wicdhtigere daraus hat
Mehus publicirt; fonft:
Fol. 70. Uebereintunft der Prioren und des Gonfalonier von
Florenz mit den Cardinälen Eugens IV. über vie Aufnahme
des Concils. Dat. Florenz 28. Aug. 1436.
Unter anderen Schreiben, tie ven Eifer ver Florentiner für das
Cencil in ihrer Stadt zeigen, eines an das Basler Concil, worin fie gegen
gewifie „‚litteras diffamatorias** protejtiren, welche von dorther gegen Florenz
als Ort eines Concils andgegangen jeien. Dat. Florenz, 15. Yuli 1437.
— — |.
Terin Archivio del Regno. Materie Ecclesiastiche. — Bullarium Felicis V
pspe. 8 Binde nebft einem Inderband. Diefe Sammlung befand
fh bis zum 9. 1754 in Genf, und wurbe, wie ein dem Inder
vorangeſetztes Memoire angibt in diejem Jahr ven dem Rath von
Senf vem König von Sardinien zum Gejchent gemacht. Nach über-
ſchlägiger Zählung mögen alle 8 Bände zujammen etwa 3000 Bullen
enthalten, welche faſt ausſchließlich kirchliche Verwaltungsſachen ent:
halten und ſich namentlich auf einen Theil Oberitaliens, Sütfranfreid,
die Schweiz und einige deutſche Diöceſen bezichen. Bei den 8. Bd.
liegen noch 12 nicht unwichtige Originalbullen des Concils in Baſel
und Paujanne und ver beiven Päbjte Felix V und Nicolaus V, die
3; Th. ungedruckt find.
Ben Einzelnen notire ih aus tiefem Archiv ned:
1446 13. April. Bajel. Crevenzbrief des Concils für den Cardinal von
Arles, der von dem RT. in Frankfurt zurückgekehrt an P. Felix V
und an jenen Schn Herzog Ludwig von Savoyen geſchickt
wird, um ihnen Bericht von jeiner Sendung zu geben (Mat,
Eccles. Categ. 45 Mazzo 13. Num. 14. Orig. auf Perg.)
1446 16. April. Baſel. Tas Concil fordert den Herzog Ludwig von
106 Bericht über eine im Auftrag ber hiſtoriſchen Eommiffion
Savoyen auf bei den Eidgenoſſen dahin zu wirken, daß fie ſich
zu den Kurfürſten halten (!bid. Num. 15.)
1445. 1446. Verſchiedene Briefe den Krieg ver Eidyenofien mit Herzog
Albrecht betreffend (Ibid. Num. 17. und bei ven Briefen des
Herzog Ludwig).
Lucca Bibl, di S. Martino Cod. Num. 160. ”
Sermo D. Nicolai Siculi Archiepiscopi Panormitani habitus in C. B.
Ino. Maximum onus — Gegen die Auflöjung des Concils.
Ebenda fül. 275 — 312. Bon demſelben Sermo de Superioritate
Concilii . . . coram Sigismundo Imperalore premissa narra-
tione gestorum in C. B. et electionis anlipspe contra Eu-
genium IV.
Lucca Bibl. di. S. Martino Cod. Num. 204. — Tractatus Petri de Monte
Episcopi Brixiensis contra impugnautes Sedis ap'‘ auctorilatem
ad beat" patrem et clement"”* principem Eugeuium pp. IV. —
Inc, Maiores nostri beatissime pater.
Ibid. Cod. Num. 224. — Petri de Monte Veneti, de summi Pontifcis et
generalis Concilii nec non de Imperatorie M'* origine et po-
testate. — Dabei die Notiz — adscribebatur olim hic tractatus
fratri Johanni de Capistrano cum titulo Monarchia, sed a qua-
dam apostilla in margine aliena mauu scripta suo vero auctori
Petro de Monte tribuitur et additar proemium quod in originali
deficiebat.. In fine tractatus adest hec nota: dixit mihi cele-
bratissimus reprehesentator frater Robertus, quod Petrus de
Monte fuit auctor huius tractatus vir docius et repulatus in curia
et episcopus Brixiensis compilator famosi Repertorii (NB. ein
Repertorium utriusque iuris, was gebrudt iſt) — es wirb bann
weiter erzählt, wie diejer nahe daran war von Eugen IV. ten
Cardinalat zu erlangen, aber durch die Eiferſucht jeines Yande-
mannes, des Cardinals Barbo (dann P. Paul II.) verbrängt
wurde und bald nachher aus Kummer darüber ſtarb. —
Friedrich I.
1440. 21. Mai, Wien. Einladung an K. Karl Vil. von Frankreich zum
108 Bericht über eine im Auftrag ber hiſtoriſchen Commiſſion
macht und in Umlauf gefeßt worven ift, ergibt fi aus einem
andern Eremplar verjelben im Vatikan.
Cod. Vatican. — Ottobon. Num. 347 membr. fol. Ex. codd. Johannis
Angeli Ducis ab Allaemps.
Noch prächtiger ausgeftattet al8 die vorige Hbi.; hier find 182
Numern, indem zwiſchen Nr. 173 u. 174 die Oratio adversus
Austriales eingejchaltet ift; angebunden ift vie bekannte Schrift: Super
dicteriis Antonii Panormitae Apotegmata (sic), wie fie die Edit. Ba-
sil. p. 472 mit etwas verfchievenem Titel hat, nur daß in ber
Hof. vie Oratio ad Alphonsum am Schluß fehlt. Auf dem erjten
Blatt: Aenene Sylvii Epistolae transcriptae Neapoli MCCCCLYj.
Die Herausgabe muß aljo fehr bald erfolgt fein, da vie
Briefe Schon 1456 in Neapel copirt wurten. Ob viefe Fublifa-
tion der Reichstagsbriefe — in denen das Verdienſt des Aeneas
felbft nicht in den Schatten geftellt wird — vielleicht den Sinn
einer feinen nach Rom adreſſirten Reclame des Biſchofs von Siena
hat, der noch immer nur Biſchof war, ift hier nicht zu unter«
juchen; daffelbe würde dann auch die Tendenz ber in viefelbe Zeit
fallenden Schrift fein, die er in Form eines Briefed an den Erz
biichof von Warasdin noch beſonders über den Regensburger
RT. veröffentlichte (gebr. im 3. Bd. ver Manſiſchen Ausgabe).
und deren Ausführlichkeit und fergfältige Ausarbeitung etwas
Auffälliges hat. — Im December 1456 wurte Aeneas übrigens
zum Cardinal creirt.
Ich füge hier bei, was mir fonft von Handichriften des Aeneas
vorkam.
1454. Mehrere Schreiben von und an den Rath von Siena, die RTT.
dieſes Jahres betreffend Siena (Bibl. publ. und Lucca Archiv.)
1454. 15. Okt. Die Rede auf dem RT. in Frankfurt — meiſt fehr feh⸗
lerhaft gedruckt — eine ziemlid gute Abſchrift Cod. Vatic. 5382
Fol. 65— 88.
Cod, Vatic. Num. 5667 membr. Fol. saec. XV. Cine Sammlung ver-
fchievener bekannter Reden des Aeneas, 1464 vom Cardinal Fran⸗
ce8co Piccolomini veranftaltet und für den Biſchof von Cremona,
Jakob Silverio Piccolemini beftimmt, nach deſſen Tod fie in die
Bibliothek des Cardinals zurückkam. Sehr ſchön ausgeſtattet.
110
Bericht über eine im Auftrag ber hiſtoriſchen Commiffion
weiter eine Anzahl von Schriften dafür und dawider; dar⸗
unter :
Fol. 499. Ein Dialog des Aeneas über die fäculare Gewalt
des Papftes; Fragment. Interlocutoren find Bernarbinus,
Petrus und Aeneas; letzterer ift jchen nicht miehr Laie und
ftimmt für ven weltlihen Beſitz. (Inc. Places mihi Bernar-
dine — Expl. -- unius mensis ilinere — —)
Ibid. Cod. Num, 544. Chart. Miscell. Fol. XV, even des Aeneas (Fol.
1— 187), namentlich die von Manfi evirten, weiterhin Briefe, Reden
u.a. vom Cardinal Francesco PBiccolomini, Campanus, Yilelfus,
Ambroſius Camaldulenſis (Traverſari) u. 4. Angebunvden find
mehrere jehr alte Drude von Aeneas (der Belehrungsbrief an den
Sultan in einem Drud von 1475 in Cod. Vatican. 5109 Fol.
109 seq. mit der Angabe: MCCCCLXXV XI. Augusti G. F.
Tarvisii).
Rom, Bibl. Chigi. Cod. sign. J. VI. 208., chart. 4. saec. XV. Epystolae
seculeres Enee Sylvii de Piccolominibus Senensis Ser” domini
Friderici Romanorum Regis secretarii. — Dieje intereffante Hoſ.
it, wie e8 jcheint, autograph., d. h. ein Conceptbuh ven ver
Hand eines Schreibere des Aeneas mit feinen eigenhänvigen Cor-
vecturen; und zwar das Gejhäftsjournal des kaiſerlichen Secretärs
in d. 9. 1443 und 1444, worein die Concepte aller Briefe ein-
getragen wurden, die A. theils in eignem Namen, tbeil® in dem
des Kaiſers oder des Kanzlers Schlick jchrieb; faſt alle nur gejchäft-
lich (seculares). Es ſcheint, daß A. ſelbſt nach dieſer Hdſ. eine
zu publicirende Abſchrift nehmen ließ, indem er eigenhändig die
Numern, deren Abſchrift er nicht wollte, mit einem ‚dimitte“ am
Hand bezeichnete, auch ſonſt viele Correcturen anbrachte. — Cine
neuere vorangeſetzte Notiz (mahrjcheinlih von dem älteren Year) .
bezeichnet 94 Briefe als ungedrudt; doch ift dies nicht genau; es
jind weniger. — Die Hodſ. gehörte dem bekannten Agoftino Pa-
trizzi; von ihm mag jie ſchon früh in die gleihfalls ſaneſiſche Fa⸗
milie Chigi gefommen fein, veren Wappen der Einband zeigt.
Zwei andere ſchöne Aeneas - Hpil. derjelben Bibliothek, vie eine
Briefe (J. VII. 287), die andere Reden (J. VIII. 284) enthaltend
fonnte ich leider nicht näher unterjuchen.
112
1470.
1471.
1471,
1471.
Bericht über eine unternommene Reife nad Stafien.
ſchiedene Forderungen K. Friedrich's II. an den Papft — wahrs
icheinlih während feiner Anmejenheit in Rom vom Tecember
1468 an aufgeftellt. (Cod. Vat. 3934 Fol, 135. 136.)
Verhandlungen eines rheiniihen Kurfürftentage in Bacherach mit
franzöfiihen Geſandten über ein von dieſen vorgejchlagened neues
allgemeines Goncil in yon. (Cod. Vat, 3934 Fol. 54 seq.).
Der Tag iſt mir fonft nicht bekannt; die Datirung auf 1470
ift nicht ganz ficher.
Inftruction eines päpftlichen Legaten nad Deutſchland, Böhmen
und Ungarn in Sachen ver böhmijchen Thronfolge (Rom. Bibl,
Angelica Cod. S. 1. 1. Fol. 21 — 24) Wahrſcheinlich für den
Cardinal von Siena, der als päpftlicher Legat auf vem RT. im
Regensburg war.
Aufzeichnung der Seffionsortnung auf dem RT. von Regensburg
(Rom. Bibl. Casanatensis Cod. X. IV. 47 Fol. 106 — 109 unter
Verſchiedenem von Mameranus).
Reichsabſchied vom Türkenanſchlag in latein. Ueberſetzung mit
einem erläuternden Brief an einen Prälaten in Rom (Cod. Vet.
3934 fol, 162).
1472. P. Sirtus IV. empfiehlt ven 9. Sigismund von Tefterreich we
gen feines Berhaltens auf dem RT. in Regensburg einem bes
nachbarten deutſchen Fürſten (Rom Bibl. Angel. Cod. S. 1.1 Fol. 108).
1472 seq. Eine Sammlung von Inftructionen für päpftlihde Nuntien im
der Zeit von Sirtus IV. bis Julius I. (Florenz Bibi. des
Marchese Gino Capponi Cod. XXII, und biejelbe Sammlung vell-
ftändiger und correcter in Rom Bibl. Corsiniania Cod. 818. Beite
Fol. chart. und Gopien bes fpäteren XVI. Ihot.) — Die Inftruc-
tionen für Nuntien nad Deutſchland bieten beſonders für das
Verhältniß Friedrich's III. zur Curie vieles Neue.
Rom. Bibl. Angelica Cod. S. 1. 1. Dieje ſchon erwähnte Hp. enthält für
bie legte Zeit Friedrich's und für Marimiliau I. noch eine ziemliche
Anzahl Briefe, Bullen, Reden ac.
IX.
Bericht über die Ergebniſſe aus der k. k. Hofbibliothet und
dem 1. TE. geh. Haus: Hof- und Staats- Archive zu Wien.
Bon
Mar Büdinger.
ALS ich mit dem Anfange des Dezembers 1859 die Mitarbeiter
fdaft für vie Herausgabe ber veutfchen Reichstagsakten übernahm,
fahıte ich mich zuerft .über das an ver F. k. Hofbibliothef befindliche
zugeerudte Material zu orientiren, foweit dasſelbe für die Regierungs-
git Kaiſer Friedrichs III., welche ich zumächit in Angriff zu nehmen
kakfichtigte, von Wichtigkeit wäre. Da ein erfter Anlauf in ten
Latalogen nur geringe Ausbeute gewährte, fo waren mir Mittheilungen
ven Brofeijor Voigt jehr erwünfcht, welcher während feiner Studien
iter Enea Silvio auf eine Anzahl für unfer Unternehmen wichtiger
Etüde gefteflen war. Bor Allem bot bier das Autographen Enca’8
kikft (cod. 3389 olim Salisb. 32”) für die Jahre 1453 und 1454
fe reichlichfte Ausbeute an projektirten und vollzogenen Ausfchreiben,
en eificiellen und geheimen Correſpondenzen; nur für einen geringen
Theil genügten bier Excerpte. Demnächſt wurde der liber regum
Romanorum (n. 3423 ol. rec. 2072) des Thomas Ebentorffer von
Hafelbach vorgenommen, welcher für bie Verhandlungen mit bem
114 . Bericht über bie Ergebniffe
Baſeler Concil wichtig ift und auch anderweitige unbelannte Nachrichten,
namentfich aber für ven Reichstag von 1442 eine ganze Reihe von Reben
vollftändig bringt. Ein ausführlicher, einer Abſchrift ver goldenen
Bulle angehängter Bericht über das bei Friedrichs III. Krönung
beobachtete Ceremoniale ſammt ten von vemjelben gebrauchten Eides«
formeln (n. 8065) ergänzte das aus Windeck Belannte in erwünfchter
Weile. Für die Gefchichte ver dem Wiener Concordate verangegans
genen Bemühungen zeigten fich die Verhandlungen einer in Afchaffen-
burg gehaltenen Mainziſchen Provinzialfynore vom Intereſſe (n. 5180
rec. 264) und wurden theils copirt, theils excerpirt. Da die Brief⸗
fammlungen böhmijcher und ungarifcher Könige, welche ſich früher
auf ter Hofbibliothel befanten und aus tenen ſich einige Ausbeute
erwarten läßt, jet in ta® Archiv übertragen find, fo blieb für vie
Regierungszeit Friedrichs III. auf ter Hofbibliothek noch eine Nachlefe
in ven fonftigen Handſchriften des Enea Silvio übrig; nachdem ich
aber eine berfelben ohne Ergebniß durchgegangen hatte, verfparte
ih diefe Arbeit auf eine fpätere Zeit, um zuvor kie auf dem
k. k. geh. Haus-Hof- und Staatsarchive mögliche Ernte zu balten.
Auf der Hofbibliothet habe ich nachträglid mit Hrn. Cuſtos Birk,
welchem die Herausgabe der Alten des Bafeler Concild von ber kaiſ.
Akademie übertragen ift, noch eine Verabretung terart getroffen,
daß verfelbe und aus feinen Sammlungen mittheilen welle, was für
unjere Zwede Intereſſe Haben könne, während ihm aus unferen Mün—
chener Sammlungen alle auf das Bajeler Woncil felbft bezüglichen
Nachrichten von Werth und Abfchriften zukommen follten. Leider
baben fich bis jegt auf beiden Seiten feine Stüde gejunten, wie man
fie bei zwei fo parallel gehenden Unternehmungen hätte hoffen dürfen.
Eine Handſchrift (n. 4701 olim cod. univ. n. 116), welde ich vor
biefer Verabredung neh vorgenommen und in einigen Reden (fol.
412* sqq.) ter königlichen Gejandten von 1444 eine ermwünfchte
Schilverung der Beziehungen des Reiches zum Concil enthält,, bleibt
noch zum guten Theile auszunügen. Erledigt wurte fofort eine ns
ftruction des Könige, welcher bie mündlichen Aufträge für die Geſand—
ten noch eingefügt find; Gerbert, ver fie kannte, hat alles ſchwer zu
Leſende — eben das Intereſſanteſte — fortgelafjen. Inzwiſchen Hatte
Herr Birk ferner die Sefälligfeit, einige Stüde, welde Herr Dr.
116 Bericht über bie Ergebniffe
beiden Panbfriebenserflärungen von 1465, 2. Februar, und 1471,
1. October, die patriotifchen Plakate Albredhte von Branbenburg in
feinem Streite mit Herzog Ludwig von Bayern (1461) und eine
merhvürbige Bulle Papſt Pauls II, durch welde Herzog Sigmund
von Tirol aufgetragen wird, anf vem wegen bes Türkenkriegs berufe
nen Reichstage zu erjcheinen.
Wenn vie Ausbeute an bisher unbekannte Stoffe in der Haupt⸗
fammfung des E. E. geh. Haus» Hof» und Staatsarchivs eine geringe
war — tenn bei weitem die meijten von mir copirten, noch ungedrude
ten Stüde waren wenigftens in Regeftenferm befannt — jo brachte
eine Filialfammlung tiefes Archives over, wenn man will, ihrer zwei
um fo mehr lnbefanntes. In dem deutſchen Reichsarchive nämlich,
beifen ununterbrochene Sammlungen von Reichötagsakten freilich erft
mit dem Jahre 1530 beginnen, fanden fich zwei gebeftete Convolute
aus Älterer Zeit, teren eine® für die ven mir zunächſt in Angriff
genommene Periode von großer Wichtigkeit iſt. Es enthält basfelbe
(Deutsches Reichsarch. ins. n. 7) eine Reihe von Reichsanſchlägen
ven 1467 bis 1489, zum Theil Goncepte, vollendete und unvollenvete,
die auf den Reichstagen felbjt entftanven, zum Theile mit flüchtiger
Teer angefertigte Copien; unter den Anfchlagentwürfen ift ohne Zwei⸗
fel der interejjantefte einer von 76600 Mann zu Regensburg 1471
vorgelegt, welcher Lie Waffenfähigfeit des Reiches in ganz anderer
Weife als vie bisher bekannt gewortenen erfcheinen läßt. Neben den
Anfchligen felbft und den Entwürfen terfelben enthält aber ber Band
auch Verhandlungen über viefelben, insbefontere für ben Neichstag
ven 1471; ein Concept zu einer Rede bei dieſer ©elegenbeit, wahr»
Scheinlich während ver Verhandlungen felbft gefchrieben, faßt in einigen
wefentlichen Zügen, zum Theil mit terben Worten, bie Hauptfragen
zufammen.
Neben dem deutſchen Reichsarchive und vemfelben vorläufig ein-
verleiht befindet fich aber als Filialabtheilung des k. k. geh. Haus
Hof: und Etaatsarchives Hier auch das früher in Sachſenhauſen
aufbewahrte Kurerzkanzlerarchiv, welches entlih nad) fo manchen
Trandporten — von denen zu Waffer legen nicht wenige Etüde noch
heute ein fehr unwillflommenes Zeugnig ab — in Wien Ruhe und
Ordnung gefunden bat. Der erfte Archivar des geb. Archivs, laiſ.
aus ber f. I. Gofbibliothel ac. zu Wien. 117
Kath Dr. von Meiller, en welchen ich für meine Arbeiten fpeciell
geiwiefen war, hatte fich freumblichft ter Mühe unterzogen, aus diefer
Sammlung tes Kurerzfanzlers alle auf bie Reichetagsangelegenheiten
des 15. Jahrhunderts bezüglichen Stüde zufammenzuftellen und eine
ganze Reihe terjelben gefunten, meiſt Foliebände. Die Stüde find
verfchietenen Urfprunges, aber wie mir jcheint, alle von großem Werthe.
Das erfte Stüd, welches ich vornahm, war eine auf Pergament in
Großfolio ſchön gefchriebene Protokollaufnahme über die Königskrönung
von 1486, dasſelbe Stück, welches Müller mach einer ſchlechten Copie
(ſowie mit Einſchiebung von Eidesformeln, deren Provenienz ich nicht
lenne) vorgelegen hat.
Die folgenden Bände, zu welchen ich alsdann überging und deren
Inhalt bis jetzt erſt zum Theile ausgebeutet iſt, haben das Gemein⸗
ſame, daß ſie eine nach beſtimmten, wiſſenſchaftlichen oder politiſchen
Geſichtspunkten angelegte Sammlung bilden. Zum Theile hat man
bie erhaltenen gleichzeitigen Stüde — wie jih denn bier foldye in
Originalen fowohl, 3. B. an Nürnberg gerichtete Briefe, als in Con
cepten ber Mainzer Kanzlei finden — mit Abjchriften wenig jüngerer
Hand zuſammengebunden, wie das in dem loc. XIII n. 1 bezeich-
neten Banbe der Fall ijt, welcher großentheild Stüde des Reichstages
ven 1467 enthält; zum Theile find es blos Copien aus dem Ente
des fünfzehnten Yahrhunderts, welche, nach tem Inhalte zu fchliehen,
großentheils nach Altenftücen des Nürnberger Rathes angefertigt
wurden, wie das in dem Dante loc. XIII n. 3 ter Fall it. Gin
anderer Band (n. 5), ben ich in Händen gehabt habe, ijt gar erft
in ber zweiten Hälfte des fechzehnten Jahrhunderts gefchrieben, wie
ber Zitel ausprüdlich bejagt. ch fere dieſen Titel hierher, weil er
für ven Charakter ver ganzen Sammlung bezeichnend ift: Acten,
abschiedt und handlungen des widerstandts gegen des Turckhen
einbrechen zu Nurnberg, Regensburg, Ileidelberg und Augs-
burg auch der eilenden hilff gegen konig Mathias von Ungern,
gemainen pfennigs und letzstlichen des camergerichts halben
zu Nurnberg, Lindaw, Worms etc. auff erfordern des hoch-
würdigsten meines gnedigsten churfürsten und herrn, herrn
Daniels ertzbischouen zu Meintz (1555—1582) churfürsten, von
einem ersamen rath der stat Nurnberg irer churfurstlichen
116 Bericht über bie Ergebniffe
beiden Panbfrievenserflärungen von 1465, 2. Februar, und 1471,
1. October, die patriotifchen Plakate Albrechte von Brandenburg in
feinem Streite mit Herzog Ludwig von Bayern (1461) und eine
merfwürbige Yulle Papft Pauls II., durch welche Herzog Sigmund
von Tirol aufgetragen wird, auf dem wegen des Türkenkriegs berufe-
nen Reichstage zu erjcheinen.
Wenn vie Ausbeute an bisher unbefannte Stoffe in ber Haupt⸗
ſammlung bes E. E. geh. Haus» Hof» und Staatsarchivs eine geringe
war — denn bei weitem die meijten von mir copirten, noch ungebrude
ten Stüde waren wenigftens in Regeftenform befannt — fo brachte
eine Filialſammlung tiefes Archives ober, wenn man will, ihrer zwei
um fo mehr linbelanntes. In dem veutfchen Neichsarchive nämlich,
beffen ununterbrocdhene Sammlungen von Reichdtagsalten freilich erft
mit den Jahre 1530 beginnen, fanden fich zwei gebeftete Convolute
aus älterer Zeit, teren eines für bie von mir zunächſt in Angriff
genommene Periode von großer Wichtigkeit iſt. Es enthält basfelbe
(Deutsches Reichsarch. Ins. n. 7) eine Reihe von Reicheanfchlägen
von 1467 bis 1489, zum Theil Concepte, vollendete und unvollenvete,
bie auf ven Reichstagen ſelbſt entftanven, zum Theile mit flüchtiger
Feder angefertigte Copien; unter den Anfchlagentwürfen ift ohne Zwei⸗
fel ter interejjantefte einer von 766U0 Mann zu Regensburg 1471
vorgelegt, welcher tie Waffenfähigfeit des Reiches in ganz anverer
Weiſe als bie bisher bekannt gewortenen erfcheinen läͤßt. Neben ben
Anfchlägen felbft und ten Entwürfen terfelben enthält aber ter Band
auch Verhandlungen über viefelben, insbefontere für ven Neichetag
ven 1471; ein Concept zu einer Rede bei dieſer Gelegenheit, wahr»
ſcheiulich während der Verhandlungen felbft gefchrieben, faßt in einigen
wefentlihen Zügen, zum Theil mit verben Worten, tie Hauptfragen
zufammen.
Neben dem beutfchen Reichsarchive und bemfelben vorläufig ein-
verleibt befindet fih aber als Filialabtheilung des Ef. E. geb. Haut
Hof: und Ctaatsarchives Hier auch das früher in Cachfenhaufen
aufbewahrte Kurerzkanzlerarchiv, welches entlih nach fo manchen
Trandporten — von denen zu Waffer legen nicht wenige Ctüde noch
heute ein fehr unmillfommenes Zeugnig ab — in Wien Ruhe und
Ordnung gefunden hat. Der erfte Archivar des geb. Archivs, kaiſ.
aus ber f. k. Hofbibliothel zc. zu Wien. 117
Ratb Dr. von Meiller, en welchen ich für meine Arbeiten ſpeciell
gewieſen war, hatte fich freuntlichjt tev Mühe unterzogen, aus dieſer
Sammlung tes Nurerzfanzlers alle auf die Keichötagsungelegenheiten
des 15. Jahrhunderts bezüglichen Stüde zufammenzujtellen und eine
sense Reihe derſelben gefunden, meiſt Folioebände. Die Stüde find
derſchiedenen Urſprunges, aber wie mir ſcheint, alle von großem Werthe.
Das erſte Stück, welches ich vornahm, war eine auf Pergament in
Ereßfolio ſchön gejchriebene Protofellaufnahme über Die Königskrönung
ven 1436, tasfelbe Stüd, welches Müller nach einer Tchlechten Cepie
ijewie mit Einſchiebung ven Eidesfermeln, deren Provenienz ich nicht
tenne) vorgelegen Bat.
Die folgenten Bände, zu welchen ich alsdann überging und deren
Inbalt bis jegt erjt zum Theile ausgebeutet ift, haben das Gemein—
jame, daß fie cine nach Bejtimmten, wiſſenſchaftlichen ober politiſchen
Geſichtspunkten angelegte Sammlung bilden. Zum Theile bat man
tie erhaltenen gleichzeitigen Stücke — wie ſich Leim bier folche in
Criginalen jewehl, z. B. an Nürnberg gerichtete Briefe, als in Con—
cepten ber Mainzer Kanzlei finden — mit Abjchriften wenig jüngerer
Hand zufammengebumten, wie das in dem loc. XIII n. 1 bezeich—
neten Bande der all iſt, welcher großentheils Stüde des Reichstages
zen 1457 enthält; zum Theile fine es bles Copien aus dem Cute
tes jünfzehnten Jahrhunderts, welche, nach tem Inhalte zu ſchließen,
greßentheils nach Aktenſtücken des Nürnberger Rathes angefertigt
wnten, wie das in tem Bande loc. XIIIn. 3 ter Full iſt. Kin
aerer Band (n. 5), den ich in Händen gehabt habe, ijt gar erſt
in rer zweiten Hälfte Des jechzehnten Jahrhunderts gejchrieben, wie
ter Titel ausprüdlich beſagt. Ich fere dieſen Titel hierher, weil cv
nr ten Charakter ter ganzen Sammlung bezeichnend tft: Acten,
abschiedt und handlungen des widerstandts gegen des Turckhen
äinbrechen zu Nuruberg, Regensburg, Heidelberg und Auss-
burg auch der cilenden hilff gegen kunig Mathias von Ungern,
zemainen pfennigs und letzstlichen des vamerzgerichts halben
sa Nurnberg, Lindaw, Worms etc. auff erfordern des hach-
würdigsten meines gnedigsten churfürsten und herrn, herrn
Daniela ertzbischouen zu Meiutz (1555 — 1582) churfürsten, von
einem crsamen rath der stat Nurnberg irer clhurfurstlichen
118 Bericht über bie Ergebniffe aus ber k. k. Hofbibfiothel zu Wien.
gnaden communicirt, gehalten und furgangn in jarn 1460,
1467, 1468, 1470, 1471, 1472, 1484, 1487, 1496, 1497. So habe ih
denn in der That in den bißher vorgenommenen Bänten Liefer Samm-
lung tie auf Türkenfrieg und ungariſche Verhältniffe, auf Yandfrieven,
Neichegericht, gemeinen Pfennig und Kriegsanfchläge bezüglichen Bes
fchlüffe und mancherlei Verhandlungen, aber mit Ausnahme zweier
Hilfenefuche aus Böhmen vom Jahre 1466 Feinen anderen auf ben
Neichetagen verhandelten Gegenftand erwähnt gefunden, es fei denn
in Echriftftüden, welche mit ven erwähnten Punkten in Verbintung
ftehen. In diefer Art bot z. B. vie erwähnte Hanbfchrift XIII n.
1 für die Reichetage von Martini 1465 und Kiliani 1467 die Reden
und Gegenreden ver Etäpteboten der furfürftlithen und fürftlichen
Näthe, der Faiferlichen und ungarifchen Bevollmächtigten wegen tes
Zürfenzuges fowie im Landfriedensprojekt, deſſen Einleitung von ver
befannten wefentlich abweicht; von allem anderen auf dem Neichstage
von 1467 Verhandelten findet fich aber nichts. Ein anderer ganzer,
ziemlich ftarfer Band (n. 4) bringt nur die Verhandlungen des Res
genskurger Neichstaged von 1471, welche ſich unmittelbar auf bie
Zürfen bezichen, fammt einer jehr vetaillirten Herbergslifte in wabhr-
ſcheinlich gleichzeitiger Copie — von allem Anderen enthält er aber
nichts.
Mit ver Erledigung diefer Sammlung aus dem Kurerzkanzlerarchive,
welche für die Regierungszeit Kaifer Friedrichs III. in naher Aus⸗
ficht fteht, bürfte das in Wien für Diefen Zeitraum vorhandene Material
fo ziemlich erfchöpft fein. Denn die auf das Baſeler Concil bezüg—⸗
lichen Handſchriften ver Hofbibliothef, zu welchen auch bie bereits oben
(S. 114) erwähnte von 1444 gehört, werten nad) ter mit Herrn
Birk getroffenen Berabretung von diefem auch zu unferem Vortheile
auegebeutet werten.
Für die Periode von 1493—1518 liegt in den Reicheregijtratur-
büchern zunächft ſchon ein ungemein umfangreicher, wenn auch ver«
muthlich nicht in gleichem Grave ergiebiger Stoff ver. Da das Ar-
iv aber für die Regierung Marimilians au Driginalien und authen⸗
tifchen Kopien fhen viel reicher als für Die verhergegangene Regierung
ift und das Kurerzlanzlerarchiv vermuthlic” auch manche Ausbeute
liefern wird, fo läßt fich ein nicht unbedeutendes Ergebniß erwarten.
X.
Geſchichte der Wiffenfhaften in Deutſchlaud.
Nachdem Brofeffor Ranke in der Sitzung ber hiſtoriſchen Com—
silfien September 1859 den im erſten Stücke dieſer Nachrichten
zitzetheilten Plan vorgelegt Hatte, entſpann fich eine längere Diecufs
fen vornehmlich über die Frage, wie die Das Mittelalter betreffenden
Abſchnitte des Werkes zu behanteln fein. Man war einjtimmig in
der Anerkenuung des Grundgedankens, wie erheblich) uud Tehrreich eine
hiſtoriſche Betrachtung des wijjenfchaftlichen Lebens in Deutfchland
kin müjfe, wie lüdenhaft das bisher vorhandene Material über dieſen
Gegenftand fei, welch ein Intereſſe insbeſondere eine Darjtellung ge
währen werde, die nicht bloß ein ftoffliches Repertorium für ven Fach—
zenoſſen bilde, ſondern ven Inhalt als Theil der großen ulturent-
zidlung auch dem gebildeten Yaien vergegemwärtige. Man war ferner
sicht im Zweifel, daß für die fetten Jahrhunderte der Stoff nach
dächern geordnet und zur Bearbeitung jedes Faches ein möglichſt
hervorragender Genoffe deſſelben aufgefordert, für bie Gejchichte alfo
der Phyſik ein Phyfifer, für die ver Medicin ein Mediciner u. f. w,
gewonnen werben müſſe. Getheilt aber waren die Meinungen über
bie Frage, ob dasſelbe Verfahren auch für die früheren Perioden an«
wentbar ſei. Es wurte einerfeits geltend gemacht, daß auch für jene
Zeit die Gefchichte ver Mathematik nur von einem Mathematiker, daß
120 Geſchichte der Miffenfchaften in Deutichland.
überhaupt die Gefchichte jerer Disciplin nur in ihrem velljtäntigen
Zufammenhange targejtellt werten Eönne, daß überall die Zufammen«
faffung aller Miffenfchaften in einen einzigen Rahmen und unter einem
einheitlichen Gefichtspunfte ber Unbefangenheit uud Objectivität ter
Darjtellung nicht fremmen werde. Anvererfeits wurte tagegen bes
merkt, daß freilich in ter neueren Zeit bie einzelnen Fächer felbititin-
big und die Trenmung turdhgreifenter geworden, daß aber im Mittel-
alter die Einheit tea Studiums überwogen habe und folglich auch
Einheit der Darftellung erforderlich fei, tag man alje tert ven Stoff
nicht nach Fächern, ſondern nach Perieten zu fendern und zur Bear⸗
beitung jeter Periode einen Hifterifer einzuladen Babe, ter dann im
Einzelnen ven Beirath kundiger Suchfenner beranzichen ınöge. Die
Commiſſion bejchleß endlich, den Plan tur ihr Bureau weiter in⸗
ftruiren zu laſſen und erft in ter folgenten Sigung im Herbjte 1860,
zu einer befinitiven Beſchlußnahme zu fchreiten.
Als Sc. Majeſtät ter König voft Liefer Sachlage unterrichtet
wurte, erfolgte ſofort eine Allerhöchite Entfchließung, ven Könige liege
tie Durchführung gerade dieſes Werkes fo jehr am Herzen, daB er
die Commifjion anmweife, das Nöthige zum möglichjt baldigen Beginne
teilelben chne Zögern vorzufehren, und daß er, falls die regelmägigen
Mittel ter Commifjien bier nicht ausreichen follten, ferneren Anträgen
zur Deckung ter Koften entgegenfehe. Durch tiefen neuen Beweis ter
thätigen Fürſorge unferes erhabenen Beſchützers wurde es möglich,
ohne Aufenthalt zur Inangriffnahme des Theiles, über welchen in ver
Commiſſion alle Anjichten übereingejtimmt batten, ter Gejchichte ver
einzelnen Wijjenfchaften in Deutſchland während ber legten Jahr⸗
hunderte zu fchreiten, und neh im Laufe bes fchten Sommers Bear⸗
beiter für einzelne derſelben zu gewinnen.
Im Oktober 1860 nahm darauf dic Plenarfigkung der Commif-
fion die Tiscujfion des Geſammtplanes wierer anf. Indem man ven
der Sonterung ber mittleren und neueren Zeiten ausging, ergab fich,
daß die Scheidelinie derjelben bei ven einzelnen Wiffenfchaften fehr
verschieben iſt, daß bei einigen die moderne Entwicklung im 15., bei
andern erjt im 17. eter 18. Jahrhundert beginnt. So fam man zu
dem Wefchluffe, zunächſt nur Die neuere Zeit nach den einzelnen 4
bern in Angriff zu nehmen, jevem Bearbeiter die Yeftjtellung ver
Gerichte ber Wiffenfchaften in Deutfchland. 121
fangs- und Schlußepoche nach dem Entwicklungsgange des Faches
überlaffen und erft, wenn im Fortgang dieſer Ausarbeitungen vie
grenzung tes noch rüdjtändigen Stoffes beftimmt erhelle, die Ver⸗
Unng ter Arbeit für dieſen in Betracht zu ziehen. Nachdem dann bie
ige Der einzelnen Fächer feitgeftellt, wurven für tie Hanptabtheilung
rneueren Gejchichte ver Wiffenfchaften in Deutfchland
Einladungen an tie Mitarbeiter erlaffen und find in Folge deffen
6 heute folgende Zufagen in der Art eingetroffen, daß bie Publica»
m ver einzelnen Werke in den Zuhren 1862 bis 1867 mit Sicherheit
wartet werben kann:
Proteſtantiſche Theologie: Profeſſer Dorner in Göttingen.
Yurisprudenz: Prof. Zhering in Gießen.
Medicin und Phyſiologie: Prof. Birhow in Berlin.
Nationalöfonomie und cameraliftiiche Fächer: Hofrat Ro⸗
ſcher in *eipzig.
Eantwirtbfchaftslehre: Prof. Fraas in München.
Technologie: Director Karmarjch in Hannover.
Politik u. allgemeines Staatsrecht: Prof. Bluntſchli in München.
Kriegswiſſenſchaft: von Bernhardi in Berlin.
Philoſophie: Prof. Zeller in Marburg.
Aeſthetik: Prof. Loge in Göttingen.
Mathematik: Prof. Gerhard in Eisleben.
Altronomie: Director von Littromw in Wien.
Phyſik: Prof. Jolly in München.
Chemie: Prof. Kopp in Gießen.
Zoolegie: Hofrath R. Wagner in Göttingen.
Botanik: Prof. Nägeli in München.
Mineralogie: Prof. von Kobell in München.
Glaffiihe Philologie: Prof. Sauppe in Göttingen.
Sprachwiſſeuſchaft und orientalijche Philologie: Prof. Ben
fey in Göttingen.
Geograpbie: Dr. Oskar Peſchel in Augsburg.
Ueber vie Fächer der fatholifchen Theologie, ver Gefchichte und
2 Geologie find theils die Antworten der aufgeforverten Gelehrten
ich nicht eingegangen, theild wegen erfolgter Ablchnung oder einzelner
ebeufen weitere Beſchlüſſe zu faſſen.
⁊
122 Geſchichte der Wiffenfchaften in Dertſchland.
Wir freuen und, biefe Angaben mit der Meldung fchließen zu
können, daß Seine Majeftät der König, um die Verwirklichung nes
Unternehmens in pecuniärer Beziehung ein für alle Mal zu fichern,
ber Commiſſion hiefür, unabhängig ton ihrem ordentlichen Fond, tem
Betrag von 50,000 fl., aus Allerhöchſt Ihrer Cabinetscajje zum
Berfügung geftellt bat.
VII.
Ueber die Einheit des Menſchengeſchlechtes.
Von
Theodor Waitz.
Anthropologie ber Naturvölker. Erſter Theil. Ueber die Ein-
heit nes Renſchengeſchlechtes unb ben Naturzuftand des Menfchen, von Th.
Beig. eipig, 1859.
Die Trage nach den Menjchenracen, ihren Eigenthümlichkeiten
sub ihren Verhältniſſen zueinander, in Deutfchland hauptſächlich durch
Blumenbach angeregt und erfolgreich bearbeitet, nahm im Anfange
nufers Jahrhunderts das allgemeine Intereſſe in hohem rate in
Unfpruch. Mit großer Vorliebe beſchäftigte man fich beſonders mit
ven Echilverungen des Lebens und Treibens ber fog. wilden Völker,
weihe durch die Entredungen Cool's und anderer fühner Seefuhrer
ertt ſeit kurzer Zeit in den Gefichtäfreis ver civilifirten Welt einge-
treten, durch die große Verfchiedenheit ihrer ganzen Denfungsart und
Kebensweife für das Auge des Europäers ein anziehendes Schanjpiel.
berbeten und ihn zu den mannigfaltigften, theils unterhaltenten, theils
ernften und fehrreichen Betrachtungen veranlajjen mußten.
Sherifge Zeitiärift v. Baur. 19
292 Theodor Weit,
fcheinen, während e8 nur wenigen Stämmen gegeben war, zu einer
biftorifchen Entwidelung zu gelangen; und wer feinen Blick ernftgaft
und ausdauernd auf das Studium diefer Frage richtet, wirb ihn da⸗
purch fchärfen für die Beantwortung ber anderen, wo und worin bie
Beringungen alles Yortfchrittes ber Givilifation überhaupt zu fuchen
find. Gegenfäte beleuchten nicht nur einander oft durch den Eontraft,
fondern erleichtern auch vielfach das Verſtändniß, ja fie fchließen es
- bisweilen erft auf, und wir zweifeln faum, daß es fich in dieſem Falle
vielfach fo verhalten wird. Uns ftellt fich die Eivilifation und ihr
Fortschreiten Teicht al® eine Erjcheinung bar, die fo natürlich und
nothwendig von dem Menſchen hervorgebracht wurbe, daß fie ſich ges
wiffermaffen von felbjt verfteht und im Grunde gar keiner Erklärung
bedarf. Die aufmerkſame Betrachtung culturlofer Völker ift geeignet,
uns von dieſem Irrthume zu heilen, und damit zugleich vie wichtige
Frage ung näher zu rüden, was es denn eigentlich ift, woburdh ein
Volk fich Hiftorifch fertbewegt, ob ein ihm inwohnender allgemeiner
Geiſt, der fih zu einer bialeftiichen Entwidelung genöthigt findet, ob
feine phyſiſche oder feine pfychifche angeborene Naceneigenthümtichkeit,
ob feine Gemeinschaft und Mifhung mit andern Välfern, ob feine
Naturumgebung und äußere Lebenslage, ob ein innerer Trieb oder
eine befondere Kombination von Umftänden ber verfchiedenften Art,
over dieß Alles zufammengenonmen und in welchem Maaße? Möge
lich, daß fich auf biefe Fragen bei dem gegenwärtigen Stande unfers
Wiffens überhaupt keine befinitive Antwort geben läßt, möglich, daß
fie fich nicht im allgemeingiltiger Weife geben läßt, fondern daß Me
Gulturbewegung eines jeden Volles auf individuell eigenthümliche Weiſe
motivirt ift, jedenfalls ift e8 von Wichtigkeit, Alles anfzubieten, was
über tiefe Probleme einiges Licht zu verbreiten vermag, wenn bie
Stlarbeit, die wir dadurch gewinnen, vielleicht auch nicht bie de8 Son⸗
nenlichtes iſt.
Wolfen wir. auch nicht behaupten, daß eine gewiſſe Befchränft-
heit des Blickes eine nothwendige Folge bavon fei, wenn man fich ber
näheren Betrachtung culturlofer Völker entfchlagen zu Können meint,
fo unterliegt es doch keinem Zweifel, daß Eultur und Uncultur im
Leben der Völker ein Continuum bilden, fo taß fie in ununterbros
chenem Zufammenhange ineinander, über-, und auseinander hervor⸗
Leber bie Einheit bes Menfchengefchlechtes, 291
Verf er das Jutereſſe beeinträchtigen, das wir an erufthaften und
fergfältigen Löfungsverfuchen verfelben zu nehmen geneigt find.
Bir können beshalb bie jet vielfach verbreitete Anjicht nicht
Meilen, welche die in neuerer Zeit jo reichlich eingehenden Berichte
Ber die äußeren und inneren Eigenthünmlichleiten culturlofer Völker
mr in die Klaffe der Tagesneuigfeiten und Merkwürdigkeiten wirft,
"er itznen höchitens ein gewiſſes geogruphijches Intereſſe zugefteht.
GbR der Linguiftifche Werth, welchen Sprachproben befigen, aus de⸗
sen anf die Verwandtſchaft der Völker zu fchließen fo vielfach geftat-
it iR, und der naturhiſtoriſche, welcher forgfältigen Meſſungen ber
Ghävel und Körpertheile zufommt, aus benen die anatomifche Cha⸗
salteriitit der Bölfer hervorgehen foll, fcheinen uns nicht den wichtig«
Ben und wefentlichften Gefichtspunft zu bezeichnen, unter welchen vie
Renutniffe fallen, die wir von jenen Völkern erwerben, vielmehr Liegt
dieſer darin, daß wir durch fie eine äußerſt ſchätzbare Ergänzung ber
Gefchichte ver Menfchheit erhalten.
Dan kennt den Menſchen nur Halb, wenn man ihm immer nur
iss cinilifirten Zuftande vor Augen gehabt hat. Eo wahr es auch
R, daß das Hanptinterefle der Gefchichte überall barauf ruht, baß
mem im ihr die Givilifation der Völker, und zwar bei einem jeden
berfelben auf feine eigenthiunliche Weife ſich entwideln und geftalten
(ehe, fo unmahr und dem Intereſſe der Gefchichte felbft zuwider ift
sie oft gehörte Behauptung, daß Völker ohne fortfchreitende Civilifa-
Gen, weil fie in diefem Sinne feine Gefchichte haben oder doch feine
zu haben fcheinen, dem Hiſtoriker gleichgiltig fein dürften. Wir wol
les nicht geltend machen, daß eine ganze Reihe von Völkern, vie aus
wiefem Grunde vernachläßigt zu werten pflegen, keineswegs einer ges
wihten Givilifation ermangeln, veren Geſchichte nur noch in tiefes
Duntel gehällt ift, wie 3. B. die riejenhaften und wunberbaren Baus
werte in Central⸗Amerika, die monnmentalen Reſte von Peru, Merico
zum eines großen Theils ven Nord⸗Amerika, tie Berichte ver fpanie
ſchen Eroberer und Seidenbefchrer viefer Länder unwiterlegbar be»
weiten. Eine Hiftorifch intereſſante Erfcheinung find vie culturlofen
Götter eben durch ihre Culturloſigkeit, infofern ſich nämlich an dieſe
ieytere die Frage Inüpft, wie es möglich war und woraus es zu er⸗
Ligen ift, daß fie auf jener nietern Stufe unveränderlich zu beharren
19*
902 Theobor Waitz,
foheinen, während es nur wenigen Stämmen gegeben war, zu einer
hiſtoriſchen Entwidelung zu gelangen; und wer feinen Blick ernfthaft
und ausbauernd auf das Studium diefer Frage richtet, wirb ihn da⸗
durch fchärfen für die Beantwortung der anderen, wo und worin bie
Beringungen alles Yortfchrittes der Givilifation überhaupt zu fuchen
find. Gegenfäte beleuchten nicht nur einander oft durch den Eontraft,
fonvern erleichtern auch vielfach das Verſtändniß, ja fie fchließen es
bisweilen erft auf, und wir zweifeln faum, daß es fich in viefem Falle
vielfach fo verhalten wird. Uns ftellt fich die Eivilifation und Ir
Fortfchreiten leicht al8 eine Erjcheinung bar, die fo natürlich umb
nothwendig von dem Menſchen hervorgebradyt wurbe, daß fie fich ge⸗
wiffermaffen von felbft verfteht und im Grunde gar feiner Erklärung °
bedarf. Die aufmerkfame Betrachtung culturlofer Völfer ift geeignet,
uns von diefem Irrthume zu heilen, und damit zugleich tie wichtige
Trage uns näher zu vüden, was es denn eigentlich ift, wodurch ein
Bolt fih Hiftorifch fortbewegt, ob ein ihm inwohnender allgemeiner
Geiſt, der fih zu einer dialektiſchen Entwicelung genötigt findet, ob -
feine phyſiſche oder feine pfychifche angeborene Naceneigenthümlichkelt,
eb feine Gemeinfhaft und Mifhung mit andern Bälfern, ob feine
Naturumgebung und äußere Lebenslage, ob ein innerer Trieb over
eine befondere Gombination von Umftänden ber verfchiedenften Art,
ober bieß Alles zufammengenommen und in welchem Maaße? Wög-
Lich, Daß fich auf diefe Bragen bei dem gegenwärtigen Stande unſers
Wiſſens überhanpt Feine definitive Antwort geben läßt, möglich, daß
fie fih nicht in allgemeingiltiger Weife geben läßt, fondern daß Ne
Culturbewegung eines jeden Volkes auf individuell eigenthümliche Weiſe
motivirt iſt, jebenfalls ift e8 von Wichtigkeit, Alles anfzubieten, was
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fiber bieje Probleme einiges Licht zu verbreiten vermag, wenn die :
Klarheit, die wir dadurch gewinnen, vielleicht auch nicht die des Son⸗
nenlichtes ift.
Wollen wir auch nicht behaupten, daß eine gewiſſe Beſchränkt⸗
heit des Blickes eine nothwendige Folge davon fei, wenn man fich der
näheren Betrachtung culturloſer Völker entfchlagen zu können meint,
fo unterlient e8 doch keinem Zweifel, daß Cultur und Uncultur im
Peben ber Völker cin Continuum bilden, fo taß fie in ununterhros
chenem Zujammenhange ineinanver, über, und auseinander hervor⸗
Ueber bie Einheit des Menſchengeſchlechtes. 293
gehen, mag man num Unbildung und Rohheit als ben wahren Naturs
wand der Menſchen over erit als Folge ihres Verſinkens anzufehen
geneigt fein. Und darf barum ber Hiftorifer, welcher bie eine Geite
bed Lebensbildes der Menſchheit der Unterfuchung unteriwirft, die an⸗
bere nicht überfehen und igneriren, fo zeigt ſich dieß als um fo un—
elätlicher , wenn man beachtet, daß die Nacht hiftorifcher Zeiten, in
weiche weber Denkmäler noch Traditionen zurüdreichen, nur burch bie
Smlogieen in etwas erhellt werben kaun, welche die Zuftände ber
zit in das Reich der Gefchichte eingetretenen Völker an die Hand
wien. Daß diefe Analogieen im Allgemeinen nicht unberechtigt find,
bafür bürgt eben jene Sontinuität der Lebensentwidelung, die wir bei
bau ganzen Wenfchengefchlechte vorausfegen müſſen; aber mit großer
Serficht werben fie allerdings gezogen fein wollen, damit man fich
kiner Berwechfelung zwifchen geſunkenen Völkern und Naturvölfern
IHulvig mache. Indeſſen wird fich, welche Vorſtellung man fich vom
Meturzuftande des Menfchen auch bilden mag, doch allgemein behaup-
wa laflen, daß alle Civilifation fich erft im Laufe der Zeiten langfam
eutsnidtelt habe, nichts Primitives, fontern etwas Secundäres, Abges
isitetes fei, woraus ſich ergibt, daß wir alle Analogieen für die Zei—
eu uub Lebenszuſtände ber Völfer, welche ber Hiftorifchen Entwickelung
Lexfelben vorausgegangen find, nur bei denen zu fuchen haben, die
er GSinilifation ermangeln.
Wenn es enblich für ben Gefchichtsforfcher von Intereſſe ift,
eisen tieferen Blid in die angewandte Piychelogie zu thun, um das
Gemüthöleben, die Motive und Charvakterzüge, die ihm in ber Ge⸗
ſchichte au den Menſchen fo oft in unentwirrbarer Berwidelung und
m rätbfelhafter Verflechtung entgegentreten, nach ihrem natürlichen
mweren Zufammenbange fernen und verftchen zu lernen, fo bietet
Gh ihm für dieſen Zweck Fein geeigneteres und fruchtbringendercs Etus
yarmı dar ald das bes Lebens und Treibens culturlofer Völker. An
dieſen tritt fo vielfach unverbüllt und ungefchminkt auf was in dem
Kreife ber Eivilifation nur verſchämt, verfchleiert, verftellt jich zeigt
zup, obgleich verborgen, doch mächtig wirkſam, nicht zu Tage zu
tzeten wagt. Einfachere Verhältnijfe, in denen bie Verftellung und
Berküllung entiweber nicht der Mühe Ichnt oder noch ver Feinheit
ub weiten Borausficht unfähig iſt, erleichtern die Einjicht in das,
994 Theobor Waitz,
was den Menfchen innerlich bewegt, beſonders taturd daß fie das
Urtheil weit feltener irre führen. Die eindringende Betrachtung der⸗
felben führt insbefonvere zu dem überraſcheüden Nefultate, daß bie
Sivilifation nur mweniges fpecifiich Neue im inneren Leben tes Men⸗
fchen fchafft, Weniges zu dem fich nicht das Urbilb oter das Zerr⸗
bild auch bei dem fogenannten Wilden finven ließe, daß feinem We⸗
fen nach der Menſch überall verfelbe ift.
Bielleicht glaubt man aus dem Sturinm ter rohen Maffe, des
Pöbels, ver fich innerhalb civilifirter Völfer findet, venfelben Gewinn
ziehen zu können, ben man ſich von der näheren Kenntniß cnlturlofee
Stimme verfprechen darf. Man würte fih täufchen; benn felbft we
Cultur fehlt, gibt e8 Motive der Ehre, der Eitte und beu
Rechtes, die ſich kräftig wirkſam erweifen, gibt es eine äfe
fentliche Meinung, teren Gewalt ber Ginzelne oft ſchwer em
pfinden muß, gibt e& Bande ter Familie und ber Ratiewee
lität, die ihre Rechte geltend machen, gibt es religiöſe Vorftellungen,
benen machzuleben als heilige Pflicht geachtet wird; und wenn auch
Vieles davon uns nicht felten fo verkehrt und wunberbar mißbilbes
erfcheint, daß wir uns bald eines Lächelns bald eines mitleivigen Ach⸗
felzudens nicht erwehren können, fo find wir doch genöthigt, anzuere
fennen, daß hier gefellfchaftfiche Zuftände vorliegen, bie auf eigenthüm⸗
lihe Weife geftaltet, ihre Hegel und ihr Maaß haben; und find biefe
Regel und diefes Maaß auch nicht die umfrigen, fo beweift ihre Machl
über ben Einzelnen und über die Maffe doch ſchlagend genug, ba
Uncultur eines Volkes weit vwerfchieden ift von der Zügellofigfeit und
fittliden Verderbniß derer, die nur ben Auswurf eines folchen bilden.
1.
Die große Menge ver Völfer ohne Gefchichte gegenüber ber
Meinen Zahl wahrer Culturvölker hat vielfach ernfte Zweifel tarüber
erregt, ob es nicht fpecififche Unterfchieve unter den einzelnen Men⸗
fhenftännmen gebe. Diefe Zweifel werben dadurch unterftüßt, daß
bie vielen und zum Theil angeftrengten Verfuche, die man gemacht
bat, um niebrig ftehente Völfer einer höheren Stufe ver Entwidelung
entgegenzuführen,, faft chne Ausnahme gefcheitert find und daß ſelbſt
bie dauernde Berührung, in welcher jene in vielen Fällen mit civili»
Ueber bie Einheit bes Menfchengefchlechtes. 995
ten Menfchen gelebt hatten, wenig ober nicht® für biefen Zweck ge-
kißet Bat. Wie Lehre und Beifpiel, fo find felbft bie eigenen bitteren
Gfahrungen, vie ſelche Völker oft in vollem und übervollem Maaße
za machen gehabt haben, fpurlos an ihnen vorübergegangen und ba-
ben fie zu feiner Art von kräftiger Thätigkeit zu fpornen vermocht,
weh bie fie fich aus dem Elende herauszuarbeiten oder wenigftene
wa dem Untergange zu retten im Stande gewefen wären. Auf biefe
Detjache bauend bat man einen Unterfchied zwifchen activen und
sfmen Menfchenftänmmen machen zu mülfen geglaubt, beren erftere
u eigenem inneren Triebe und mit felbitftändiger Kraft vie Arbeit
we Ginilifation übernehmen und in fpontaner Entwidelung die Ur⸗
uber alles geiltig Großen und Bedeutenden find, das je von bem
„ Beufchengeichlechte zu Tage gefördert werben ijt, während bie andes
zum von Natur und darum unveränberlich geiftesträge und apatbifch
summer in bemfelben tbieräßnlichen Zujtande verharren, oder höchſtens
suueh ver Antrieb jener höheren Menſchenklaſſe jo weit in Bewegung
get werben, daß fie fich die ihnen dargebotenen oder vielmehr aufs
giszungenen Gulturelemente in befchränttem Wange aneignen (Klemm,
L Butitle).
Zu biefen piychologifch -biftorifchen Gründen gegen vie Einheit
des Mexſchengeſchlechtes als Art kommen einige Rejultate Linguifti«
fer linterfuchungen, die wenigitens eher geeignet find, fie noch zu
wezRärten als abzufchwächen. Die Zeit ift vorüber, ta man noch
nach einer gemeinfamen Urfprache ter Menfchheit fuchte und dieſe
esse ism Hebräifchen zu erfennen glauben fonnte. Zwar ift wohl
mech Lange nicht bie Hälfte der Sprachen ber Erde in feſte Claſſen zu
echnen uud ihre Verwandtſchaftsgrade zu beftunmen gelungen, aber
wie Berſchiedenheit des Baues in allen wejentlichen Punkten, vie fich
am eimer größeren Anzahl verfelben nachweiſen läßt, bevechtigt den
Syrachforſcher zu dem Urtheile, daß jeder Verſuch, fie aufeinander zu⸗
sulzmführen ober aus einer einzigen Duelle abzuleiten ein thörichtes
Unternehmen fein würde, und zwar ift e8 nicht fowohl der Mangel
am gänzlicher Uebereinftimmung in ben Wörtern ber verichiebenen
Srrachen welcher dieß als unmöglich erjcheinen Läßt, als vielmehr bie
guubverfchiebene Art und Weife, auf welche biefe in ihnen zum Aus⸗
kunde des Gedanlens im Sage verwendet werten — eine Verſchie⸗
996 Theobor Waitz,
denheit, bie weit tiefer greift al8 bie der Wörter allein, ba bie Art
der Veränderung und Verbindung ber lchteren zum Zwecke des Ge⸗
danfenausprudes in jeder Sprache etwas weit Fefteres und Beftän-
bigeres fein muß als tie Wörter felbft.
Endlich fehlt e8 auch nicht am einer Reihe von anatomijch » na«
turhiftorifchen Gründen, welche die Einheit des Menfchengefchlechtes
als unannehmbar Haben erfcheinen Lafjen. Die Differenzen, durch
welche fich vie phyſiſchen Charaktere der einzelnen Hauptftänme von
einander unterfcheiven, find, wie manche Naturforfcher glaubten, ber
beutenb nud conſtant genug, um fie für fpecififch erflären zu dürfen.
Namentlich gilt vieß von dem Schätel, deſſen Typus in Folge feiner
nahen Beziehung zu dem Gehirn und den Geiftesthätigfeiten, obme
Frage unter bie wwichtigften anatomifchen Kennzeichen des Menfchen
gehört. Der feitlich platte, von oben nach unten lang geftredite Schä-
bel des Negers mit vorftehendem Untergefichte, ver maſſiv vieredige
des Mongolen mit breitem Gefichte, der zum fchönen Oval abgeruns
bete bed Europäers bezeichnen die Außerften Verfchievenheiten, die fich
unter allen Berhältnijfen gleichmäßig zu repronuciren fcheinen. Zei⸗
gen ſich Hautfarbe und Haar vielleicht auch nicht ganz fo unverän⸗
derlich, als die Schätelform , fo ift doch der Grab ihrer Beharrlich-
feit auch unter veränderten Umftänden fehr beträchtlich und ihre Ber
fchievenheit bei den einzelnen Menſchenſtämmen belanntlich fehr bes
beutend. Man bat ferner darauf bingewiefen, baß weit erbeblichere
Unterfchiete, die fich innerhalb einer Xhiergattung finden, für hinrei⸗
chend gelten, bie Annahme ber Artverfchievenheit zu rechtfertigen.
Das bisweilen vorkommende ſpontane Ausjterben der Mifchlinge ver
ſchiedener Menſchenſtämme und ihre freiwillige Nücfehr zu ven Stamm»
typen, ter fogenannte Rüdfall, fellte nicht minder für einen ſpeci⸗
fiſchen Unterſchied ſprechen als bie Unfühigfeit mancher ungemifchten
Völfer der Verſetzung in ein anderes Alima auf die Dauer zu Wis
berftehen, wie man namentlich von dem Neger und Norbeuropäer bes
hauptet hat, wenn fie ihre Wohnfige mit einander vertaufchen. Yegte
man endlich noch die offenbare mannigfaltige Affenähnlichleit des Ne⸗
gers in die Wagfchale zu Gunften ver Artverfchievenheit, fo fchien
biefe, namentlich bei dem Mangel eines zweifellos und allgemeingiltig
feftgeftellten Begriffes ver Art im zoologiſchen inne, ein ganz ent⸗
ſchiedenes Uebergewicht erhalten zu müffen.
Leber bie Einheit bes Renſchengeſchlechtes. 297
Die nähere Prüfung ber angeführten Hauptpunfte, auf bie wir
a6 bier allein befchränfen, foll unfere fernere Aufgabe fein.
Die angegebenen Gründe gegen die Einheit tes Menfchenge-
ſchlechtes mögen auf den erſten Blick als fchlagend genug erfcheinen.
Eier üben ſich großentheils auf hinreichend ficher ſtehende Thatſachen,
beuen fich andere, welche für bie gegentbeilige Behauptung fprächen,
iwerlich in gleich augenfälliger Weile gegenüberftellen laffen wer⸗
den — unb bo wird eine genauere Unterfuchung zeigen, daß vie
üptere, die Ürteinbeit, mehr für fich bat als bie Artverfchiedenheit.
Zhetfachen find nicht immer unzweidentig, ihre Beweiskraft ändert
Bi nicht felten bei verfchievener Beleuchtung, und vieles hängt babei
som den Gefichtspuntten ab, unter welche man bie Hauptfrage ftellt
‚ uf wie fie Antwort geben follen.
So verhält es ſich bier.
Die Unterfuhung über vie Einheit des Deenfchengefchlechtes muß
see Allem bie Einheit bes Urjprunges, bie Abſtammung von einem
Baare , von ver Einheit ber Art unterjcheiden. Qeive, obgleich oft
uezwechfelt, find nicht nur nicht iventiich, ſondern verhalten fich zu ei»
nasder wie Beſonderes und Allgemeines: man ift befugt ven der er»
eren anf die letztere zu fchließen, nicht aber umgekehrt von biefer
uf jew. Gtammen alle Menfchen von demſelben Elternpaare, fo
Inen Bein Zweifel darüber fein, daß es Feine fpecififchen Verfchiebens
Geiten unter ihnen gibt, und wenn wir jenes darthun könnten, wür⸗
Leu wir badurd alle Thatſachen, bie man für die Artverfchiebenbeit
anführen möchte, durch einen pofitiven Gegenbeweis entlräften. Schwer⸗
ch aber wird fich ein folcher jemals entveden laffen, ja es läßt fich
vie Einheit der Abſtammung überhaupt kaum wahrjcheinlich finden.
Kinder Haben feine Erinnerung von ven Umſtänden, welche ihre
Geburt begleiteten, e8 müſſen erſt Jahre verfließen, bis fie dahin ges
Ksugen, einige Ereigniffe ihres früheren Lebens in ter Erinnerung
feRzubalten — und doch hat man gemeint in den Zraditionen über
Sie Abſtammung von einem Elternpaare und über große Wafferflu-
then in alter Zeit, wie fie fich bei fehr vielen Völkern gleichmäßig
über, eine Erinnerung an ihre Urgefchichte und an tie Schöpfung
ſeſbſt erfennen zu mülfen, wie fie von ben mofaijchen Büchern erzählt
wird. Aber abgefehen von ver Abenteuerlichkeit einer ſolchen Annahme,
298 Theodor Wait,
abgeiehen auch von ter Dunkelheit und Unbeftunmtbeit, bie folchen
Sagen fat immer eigen ift, kann bie Lebereinftimmung wohl eben
nicht wundern, mit weldyer viele Bölfer von einen erjten Menjchen-
paare abjtammen wollen, während eben fo viele andere vom Raben,
vom Wolfe, von einem Baume, aus einer Erbhöhle u. f. f. ihrem
Urfprung herleiten.
Uekerall wo verwidelte Erjcheinungen erklärt werben follen, iſt
es unfer natürliches und nothwendiges Beſtreben, nach möglichit ein⸗
fachen VBorausjegungen zu fuchen, aus denen fie fich ableiten laſſen.
Wir neigen uns darum immer am leichteften und liebften ben Ans
fichten zu, welche in ihrem legten Grunde zur Einheit und Einfach⸗
heit zurüdjühren. Diefe fubjective Maxime, welche unjere Liebe zur
Epjtematifirung ter Gedanken zu befriebigen verjpricht und vor Al⸗
lem für vie wiljenfchaftliche Heuriftit von hohem Werthe iſt, ſtürzt
uns, wie ſchon Baco von Berulam fehr treffend gezeigt bat, vor⸗
eilig und unbehutjam angewentet, in bie muannigfaltigften Irrthümer.
Wir werden fchwerlich irre gehen, wenn wir ihr nächſt ber bibliſchen
Erzählung ten hanptfächlichiten Antheil an dem Umſtande zumeifen,
daß man auch in ver Wiſſeunſchaft fich einer gewiſſen Vorliebe für die
Abſtammung ven einem Paare bis in bie nenefte Zeit nicht Hat
entfchlagen können. An Thatfachen und felbjt an Analogieen, durch
bie fie fich unterftügen ließe, fehlt es gänzlich, wie fich dieß nach ver
Natur des Gegenftanves nicht anders erwarten läßt. Im Gegentheile,
es fcheinen ihr eher die uns bekannten Analogicen zu wiberftrcben, ob»
wohl zugleich eingeftanden werden muß, daß biefe lettteren eben nicht
ſehr fchwer ins Gewicht fallen. Der Stand ber Sade ift nämlich
folgenter.
Die Annahme, daß vie Eontinuität der Naturentwidelung im Gan-
zen und Großen irgenpwo und irgentwann einmal unterbrochen ge⸗
wefen fei, widerftreitet ver Natur unferer Erkenntniß cbenfofehr ale
bie beſchränktere Beransjegung, daß in irgend einem einzelnen Yale
der nothwendige Zuſammenhang zwifchen Urfahe und Wirkung feble.
Deßhalb müjfen wir an dem Sage unberingt fejthalten, daß ber
Menſch, obgleich feine Entftehungsweife uns gänzlich unbelannt ift,
einen natürlichen d. h. einen foldhen Urfprung gehabt habe, welcher
durch ten auch fonft in ver Natur herrſchenden Cauſalzuſammenhang
Ueber bie Einheit bes Menfchengeichlechtes. 299
dein bewingt war, und wenn wir von einer Schöpfung des Menfchen
wen, fo Saum bieß wifienfchaftlich nur fo verftanden werben, daß
wie eimerfeitd unfere vollſtaͤndige Umvijjenheit über bie Entftehung des
Senjchen dadurch bezeichnen, und anbererfeits, wie für Alles in
ver Natur, was uns beren weiſe unb unjere Begriffe weit übers
feigente Planmäßigleit ahnen läßt, fo auch bier eine höchfte Intelli—
gez als Geſammturfache anzuertennen und gebrungen fühlen. Schließt
mu dieſes Letztere das Beſtreben nicht aus, nach dem Zuſammen⸗
fange ver uatürlichen Urfachen zu forfchen (mas von jeher nur von
ber Faulheit behauptet worben ift), unt ift diefer Zuſammenhaug
kmedhgängig ein ununterbrochener, continuirlicher, fo fcheinen wir ber
Beigerung nicht entgehen zu können, baß die Meufchen zunächft von
beu Affen ftanımen al8 von den menfchenähnlichften Wefen ver Erde.
Gewiel Demüthigendes und vielleicht ſelbſt Nieverjchlagenves cine
ſeiche Genealogie für manchen auch haben möchte, fo viel weniger an«
mutenbar würde es doch in jeder Nüdficht fein, ven „Herrn ter
Gihöpfung‘‘ etwa von einer andern Klafje von Thieren ober gar aus
u Schlamme ftammeu zu Laffen.
Gegen eine foldye Anficht, bei welcher natürlich vou einem er⸗
Ren Efternpaare keine Rede mehr fein könnte, fpricht inbeflen mehr
eis bio unfer Gefühl. Zwar hat neuerdings ein bedeutender engli⸗
fer Raturforfcher *) mit eingehenten Studien zu beweiſen gefucht,
zu alte jeigt noch vorhandenen Thierarten nur durch Umwandlung älterer
Typen entftanven feien, indem gewifle Individuen, vie den legteren
angehörten, in Folge einer Veränderung ihrer Lebensweife, welche ih⸗
mem durch veränderte äußere Umſtände anfgebrungen wurde, felbft or⸗
genifcdy umgebiltet und fo zu ven Stammeltern neuer Arten wurden
— eine Lehre, welche die Abftammung des Menfchen von den Affen
wmö felgeweife an die Hand gibt und weiterhin zu dem allgemeineren
Eske führt, daß alle organifchen Wefen urfprünglich „von einem
Frimerbialgebilve herſtammen, welchem zuerſt Leben eingehaucht
wurde.“ Indeſſen finden tiefe Anfichten, fo groben Beifall bem
©, Darwin, On the origin of species by means of ratural selection,
London , 1859.
802 Theobor Waitz,
Nimmt man envlich noch bie Grundverſchiedenheit bes Sprach
baues, die erheblichen Differenzen ber Körperformen und bie Ge⸗
jchiebenheit der weißen und ſchwarzen Race durch das Klima Hinz,
bie wir früher erwähnten , fo wird man bie Einheit des Urfprunges,
wenn auch nicht für unmöglich, doch für unwahrfcheinlich erflären
müſſen.
Anders ſteht es mit ver Frage nach ver Einheit bes Menſchen-
gefchlechtes als Art. Wir wollen mit Rückſicht auf fie die früßer
angegebenen Einwürfe jegt einzeln turchgehen.
Zuvörderſt dürfte allgemein zugegeben werben bag, wenn es ac«
tive und paffive Völker in dem Sinne gäbe, daß die einen fi ans _
eigenem Triebe und eigener Kraft civilifiren, die anderen aber ohme
freimde Anregung ewig im Zuftande der Rohheit beharren, wirllich
zwei verjchievene Menſchenſpecies vorhanden wären. Denn e6 wird
ſich nicht beftreiten laſſen, daß dieſer Unterfchied zwifchen ihnen ein
höchſt wefentlihes Merkmal träfe, ja wir dürfen behaupten, er träfe
das wichtigfte von allen, weil das Wefen bes Menfchen vor Allem im
ber Höhe feiner geijtigen Entwidelungsfähigfeit zu fuchen iſt, umb er
träfe auch das unzweideutigſte, weil es unzweifelhaft für die Einheit ber
Art maaßgebend wäre, gleichviel mit vielen Schwierigfeiten im Allge⸗
meinen bie Feitftellung des Artbegriffs verbunden fein mag.
Es ergibt fi) Hieraus von felbft, wie einfeitig unb ungenügend
die Behandlung der Trage nach ber Einheit des Menfchengefchlechte®
ausfallen muß, wenn man fie, wie bieß fo oft gefchehen iſt, als ein
Problem anficht, deſſen Löſung ausſchließlich ver Zoolcgie zuftehe.
Allerdings ift es richtig, daß vie Icktere einen Beitrag zu bemfelben
zu liefern bat, ver durchaus unentbehrlich ift, nicht minber, daß es
bisher vorzugsweife Zoologen und andere Naturforfcher gewefen find,
bie fich mit dieſem Gegenſtande befchäftigten — faft könnte man
fagen, daß fie ſich veffelben bemächtigten; aber ohne die Ver⸗
bienfte zu verfennen, die fie ſich auf viefem Gebiete erwor⸗
ben haben, muß doch Hervorgeheben werben, daß durch eben
diefen Umſtand der Mangel an Bielfeitigfeit herbeigeführt wor⸗
ben ijt, an welchem vie Betrachtung dieſes Gegenſtandes bis jet ge⸗
Weber die Einheit des Menſchengeſchlechtes. 308
Kitten bat. Die faft gänzliche Vernachläffigung der pſhchologiſch⸗hiſto⸗
tichen Seite deſſelben konnte nicht ausbleiben, da Gefchichtsforfcher
ſich en biefer Unterfuchung bisher faft gar nicht betheiligt haben, ob»
eich, wie wir bemerkten, ver Natur der Sache nach die Hälfte die⸗
fer Aufgaben ihnen zufällt; venn wie Immer die Entſcheidung über
ven zeofogifchen Speciesbegriff und deſſen Anwendung auf bie ver
ſchiedenen Menfchenftämme auch ausfallen mag, ob die Mienfchen alle
eines ober verfchiedenen Wefens feien, dieß wird zulegt doch nur bas
son abhängen, daß fie bei gehöriger Berüdfichtigung von Zeit und
Umftänven als Böller entwever zu nahe gleichen oder nur zu ſehr
umgleichen geiftigen Leiftungen befähigt erfcheinen.
Aus dieſem, wie uns jcheint, fchlechthin unmiverleglichen Satze
ergibt ſich von ſelbſt die matürliche Folge, in der wir die ver
Gigiebeuen Seiten der Frage zu betrachten haben. Wir prüfen zuerft
Die Gründe, welche bie zoolegijche und naturhiftorifche Unterfuchung
ga Uefern vermag, werfen dann einen Blick auf die linguiftifche Ent
widelung, und gelangen zum Abfchluß durch die Erörterung der pite
elogifch-Hiftorifchen Momente.
Bei der erften, der natur-biftorifchen Frage, find es vor Allem
wie Schwierigkeiten des Artbegriffes, welche der Löfung des Problems
un Wege fliehen, und auf die wir alfo unfere Aufmerkſamkeit zunächft
sichten mülfen. |
Allgemein zugegeben ift, daß ven Anfang einer jeden Art bie
(äsuumtlichen Individuen auamachen, welche in allen ihren weſentlichen
Merkmalen einander gleich find, und daß daher ver Artbegriff die con«
Raute Berbindung der letteren oder die feite typiſche Form bezeichnet,
ya weldyer wir die wefentlichen Merkmale in der Natur immer ver-
einigt fehen. Mögen wir uns nun biefe Feftigfeit des Typus als eine
deln, cder mit Darwin nur als eine relative denken, fo daß bie
Urten felbft erft im Laufe ver Zeit durch Umbildung auseinander ber-
vorgegangen wären, ter Begriff ber Art bleibt derſelbe, nur bie
Gyhäre feiner Anwendung ift in beiden Fällen verfchieven, benn vie
wäatine Unveränderlichkeit der Typen, welche gegenwärtig beftehen und
EM unter den jekigen Verhältniſſen gleichmäßig forterhalten, bleibt
debel unerfchättert,
FR num zwar ber Begriff ver Art als des conftanten Complexes
304 Theodor Waik,
wefentlicher Merkmale, die in ver Natur miteinander verbunden vor⸗
kommien, an ich ohne Schwierigkeit, fo geftaltet fich bie Sache doch anders,
fobald e8 fich um feine Anwendung handelt. Es befigen nämlich felbit die ühn-
Lichften Individuen gewiſſe Verſchiedenheiten und ftellen die typifche Form
ber Art immer anf eigenthümlich nüancirte Weife dar — es gibt Varie
täten —, und biefe Abweichungen zeigen im Laufe ber Generationen
nicht felten eine gewiſſe Dauer und Feſtigkeit — es gibt Racen in⸗
nerhalb der Art. Um daher in einem bejonderen Falle angeben zu
können, welche Individuen zu verjelben Art gehören, müjjen wir wife
fen, an welchen Kennzeichen vie lettere von ber permanenten Varie⸗
tät oder Race zu unterjcheiven ijt. Ein folches Kennzeichen hat mar
häufig in ven Artbegriff felbft aufnehmen zu müffen geglaubt, und
erſt dadurch ijt er ſchwierig geworben.
Eine fernere Schwierigkeit entfteht, wenn man, wie feit Cuvier
und auf Beranlaffung des von ihm aufgeftellten Artbegriffes häufig
gefcheben iſt, die Frage nach gemeinfamer Abſtammung in bie nad
der Art hineinzieht und dadurch eine Verwidelung fchafft, die nicht
nur unnöthig iſt, ſondern auch bie Unterfuchung diefes Gegenftanbes
auf eine falfche Bahn lenkt.
Nah Eupier nämlich ift die Art ter Verein aller ber Indivi⸗
buen, welche voneinander oder von gemeinfamen Eltern abftammen usb
berer, bie ihnen fo ftarf gleichen, als dieſe einander felbft, d. h. fo
ftart als Eltern und Kinter. Diefe Auffaffung des Artbegriffes,
welchem die größte Anerkennung und Verbreitung zu Theil geworten
ift, bringt von Baer, ver fie ebenfalls adoptirt, auf ben einfachflen
Ausdruck, indem er jagt, die Art fei „bie Eumme von Individnen
welche durch Abſtammung verbunden find oder fein könnten”. Folgt
nun zwar aus Einheit der Abſtammung Cinheit der Art, fo würde
ſich doch über die legtere in allen Fällen fait gar nichts Beſtimmtes
fügen laſſen, wenn die Entfcheitung über fie von ber erfteren allein
abhinge, deun über vie erſten Stammeltern ber jegigen Thier⸗ und
Menfchengejchlechter willen wir nichts, und überhaupt verbient es
entſchiedene Mißbilligung, daß man die Vegriffe von Stumm und Art
in der bezeichneten Weife miteinander iventificirt, weil bie Einheit des
Stanmmbaumes mit der Gonjtanz der wefentlichen Merkmale oder ver
Typen überhaupt nur infofern etwas zu fehaffen hat, als die Erfah
Weber die Einheit des Renſchengeſchlechtes. 305
zung lehrt, daß e& tie Fortpflanzung ift, vermittelft deren fich vie letzteren
erhalten. Dabei bleibt e8 aber nicht allein fehr wohl denkbar, ſon⸗
bern iſt nicht einmal unwahrſcheinlich, daß Wefen von gleichem Typus
am verfchiedenen Orten und zu verfchiedenen Zeiten, alfo ohne alle
Etammverwandtfchaft, entſtanden find. Der Zufaß aber, daß Indi⸗
söpmen, vie zu terfelben Art gerechnet werben fellen, einander fo ftarf
gleichen follen als Eltern und Kinder, ijt zu vag und unbeftimmmt,
wm eine präcife Anwendung zuzulajjen, und erregt bie fir jene Mufe
faffung fo bevenklihe Frage, ob denn ſtammverſchiedene Individuen,
wenn fie dieſen hohen Grab ber Aehnlichkeit dennoch beſitzen, zu ber»
ſeſhen oder zu verfchiedenen Arten gehören follen?
Es fcheint demnach dringend nöthig, tie Begriffe von Stamm
u Art fireng zu fondern. Nur fo ift es möglich, der Unterfuchung
wie erforderliche Klarheit zu erhalten.
Die fernere Aufgabe, ein Stennzeichen zu finden, das uns in ven
Staub feße, tie Art von ker Race mit Sicherheit zu unterfcheiden,
Mt Ewier's Beitimmung unberührt. Dan Hat fie anf mantcherlei
Eeiſe zu Löfen verfucht, boch ift e& bis jeßt nicht auf allgemein bes
friedigende Weije gelungen.
Den meiften Beifall findet noch jeßt das von Buffon aufgeftellte
Kriterium: , vie unbejchräntte Fruchtbarkeit: alle Individuen, die mit-
eimanber fruchtbar find, und Nachkommen erzeugen, welche in berfelben
Weite befähigt find, ein Geſchlecht von unbegrenzter Dauer zu be-
gräuben, find demnach höchſtens als racenverſchieden, nicht als artver-
ſchieren anzuſehen. Der entjchietenfte Gegner dieſes Satzes iſt ge—
gmwärtig Agaffiz*), welcher in ihm eine petitio principii zu ſehen
Jaubt. Der Zweifel, meint er, treffe eben bie Frage, ob nicht trotz
mmubefchränkter Fruchtbarkeit, bie fich mijchenten Typen wejentlich ver
fhieden fein und aus ihrer Mifchung neue permanente typijche For-
men hervorgehen könnten. An biefe Möglichkeit aber wollen tie mei—
8 Naturforſcher nicht glauben, und Agaſſiz ſelbſt iſt dieſer Annahme
nicht einmal zugethan, ſondern hält daran feſt, daß die Charaktere der
Arten unweränderlich ſeien.
®, Essay on classification. Lond. 1859.
- Diderifge Zeitſchrift. J. Band 20
806 Theodor Waitz,
Er thut daher jehe unrecht, feinen Einwurf gegen jenes Krite⸗
rium fo ſchneidend auszubrüden, denn es iſt eben nicht ein tbeereti-
ſcher Lehrſatz, ſondern eine Thatſache ver Erfahrung, daß tie organi»
fchen Wefen ihre conftanten Typen nur durch unbeſchränkte Forte
pflanzung erhalten, und die Gonftanz verfelben würde unbegreiflidh
fein, wenn Mifchlinge verfchievener Arten (Baftarde) in der Natur
nicht allein häufig entftänden, fondern auch ihren eigenen Typus dauer⸗
haft zu vererben im Stande wären. Dagegen pflegen fi ſogar in⸗
nerbalb derfelben Art in ver Freiheit vorzüglich die Thiere zu paaren,
die einander individuell am ähulichften find, bie Erzeugung von Bas
ftarden aber erfordert abnerme Uınftäude, und die Regel ift, daß fie
ausfterben in Folge von Unfruchtbarkeit.
Iſt demnach das Striterium ver Fruchtbarkeit allertings von ho⸗
hen Werthe, fo kann doch nicht geläugnet werben, daß es auch feine
Mängel hat. Sie liegen wohl weniger in dem Zweifel über das Ver
halten der Baſtarde in Blefer Rüdficht, als darin, daß es vielleicht
auch Racen und gewiß bloße Varietäten gibt, bie feine unbefchräntte
Fruchtbarkeit untereinanter befigen, Daß unter Umſtänden auch Artem
durch Unfruchtbarkeit gänzlich ausfterben, und daß endlich fich nicht
angeben läßt, durch wie vicle Generationen fich die Sruchtbarfeit bes
währen müſſe, um zu dem Schlufje zu berechtigen, daß bie betreffen«
ben Individuen zu derfelben Art gehören.
Daher muß es willfommen fein, in dem fogenannten Rückfalle
noch ein weiteres unterfcheidendes Merkmal von Art und Race zum
finden. Da nämlich überhaupt vie im Laufe ver Zeit entftandenen
Abweichungen vom Typus der Art unter veränderten Umftänden wies
ber zu verfchiwinten pflegen, ift man berechtigt nur diejenigen Typen
als Arten anzufehen, welche ihre Selbſtſtändigleit dadurch beweifen,
baß andere, die bloßen Varietäten, uuter gewiſſen Verhältnifien in fie
zurüdfallen, während fie ihrerjeits unter Teinen Umſtänden in antere
Formen übergeführt werden können. Gegen ven Rüdfall als Kenn-
zeichen won Art und Race ift, wo er wirklich eintritt, allertings nichts
einzuwenten, aber er ift nicht häufig genug, um eine mehr als bes
ſchräulte Anwendung zuzulaffen, und außerdem bleibt e8 möglich, ba,
wie 3. B. v. Baer anzunehmen geneigt ift, bloße Varietäten, die un⸗
ter beſonderen Umſtänden entjtanten find, vie Feftigfeit und Dauer
308 Theodor Waitz,
und andere modificirende Umſtände an ihnen hervorgebracht werden
oder nur nahezu ebenſo groß, ch und wie weit fie ſich conſtant
zeigen over nicht, ob bie vorhanbenen Kriterien von Art und Rare
der Arteinheit oder ver Artverſchiedenheit günftiger find.
Beginnen wir von dem legten Punkte, fo kann wenig zweifefßaft
fein, daß er weit ftärker für die Einheit ver Art als gegen fie ſpricht.
Daß im Allgemeinen vie verfchievenen Menjchenftänme unter ſich
unbefchränft fruchtbar find, feheint die große Zahl von Mifchlingen
und Mifchlingsvölfern zu beweifen, tie fich allerwärts finden. Sie
ift fo bedeutend, daß man nicht chne Grund zweifeln fann, ob es ein
wahrhaft ungemijchtes Volk überhaupt auf ver Erbe gibt, und follte
dieß der Fall fein, fo ift zu vermutben,, daß es fich in dieſem Zu⸗
ftande nicht lange Zeit mehr wire erhalten können. Dazu kommt
noch, daß bie Ueberführung der verſchiedenen Typen in einander durch
fortgefegte Diifchung der Stammracen vollkommen gelingt, wie eine
Menge unbeftrittener Erfahrungen beweijen: die Wifchlinge zeigen
alfo nicht das Verhalten der Baftarde fontern Das der Rachlemmen
verjchievener Racen, und die Stammtypen beſitzen nicht die feite Con⸗
ftanz und ftrenge Gefchiedenheit der Arten, ſondern find durch fläfe
fige Uebergangeformen mit einanber verbunden, welche darauf biste
weifen, daß wir fie vielmehr für Varietäten verfelben Art zu halten
haben. Wenn fich nicht alle Veifchlingsracen gleich lebensfräftig er⸗
weifen, fo ift dieß fein Einwurf gegen die eben ausgefprochene Ans
ficht, denn ganz daſſelbe gilt von ven einzelnen Menfchen und vom
ganzen Völkern auch ta, wo wir feine Urfache haben, dieß etwa ale
eine Folge der Miſchung anzufehen, und überdieß ift ver Sachverhalt
diefer, daß feineswegs alle, ſondern nur einige Arten von Mifchlin-
gen der förperlichen Rüſtigkeit ermangeln, turd welche andere ſich
auszeichnen. Daß es folche Ancompatibilitäten unter Völtern gibt,
fanıı fo wenig wuntern, als daß fie unter Individuen vorkommen.
Jedenfalls find fie verhältnigmäßig felten uud wie man das Menfchen-
gefchlecht auch eintheilen möge, nie werten fich zwei Hauptabtheilun⸗
gen finten laſſen, von deren Miſchung vieß als Regel gälte.
Man bat mehrfach die Behauptung aufgeftellt, daß fich eine
Mulattenbevölferung auf die Dauer nur zu halten vermöge, wenn
fortwährend eine Auffrifhung Des Blutes aus ben Stanımracen (Eu⸗
310 Theodor Waitz,
fähig find, und ähnlich fcheint es fich überall mit ven Mifchlingen zw
verhalten, wo folche in Menge aufgetreten find und für ihre befonvere
Sonftitution einigermaffen günftige Lebensverhäftnijfe vorgefunden haben.
Will man mit Gobineau in ber Mifchung verfchievdener Stämme
den Keim eines naturnothwendigen Verderbens fehen, ber tem Leben
ver Völker eingeimpft werde, jo muß man gejtehen, daß dieſes Ver⸗
erben gnroßentheild mit einer völlig unmerklichen Langſamkeit forte
fchreitet; will man mit Nott vie eigene Lebensfähigkeit der Miſch⸗
linge ganz in Abrede ftellen, fo läßt fich doch nicht leugnen, daß ihr
Aussterben große Zeiträume erforvert, weit größere, als das Ver⸗
ſchwinden anderer Baſtarde. Bejteht man nun gleichwohl auf einer
fpecififchen Verſchiedenheit zwifchen ven Hauptabtheilungen des Men⸗
fchengefchlechtes, jo behält man nur Die Wahl zwifchen zwei Behaup«
tungen, tie mit diefer Annahme felbft gleich unverträglich fine, daß
nämlich entwerer demnach das Klima, die Lebensweiſe und andere
äußere Einflüße mächtig genug feien, um bie fpecifilchen Charaktere
der einzelnen Menfchenarten in alle die verfchievenen Typen umzu⸗
bilden, welche ven Völkern der Erde eigen find, oder daß dieſe Tee
teren größtentheils einer fruchtbaren Mifchung verschiedener Menfchen-
Species ihren Urfprung verdanken.
Tragen wir weiter, ob die Eigenthümlichkeiten ver Arten, im
welche man die Menfchen eintheilt, fich in ſolchem Grade feft und un«
veränderlich zeigen, daß es gerechtfertigt erfcheint, fie als fpecifiich une
terfchieben zu betrachten. Zuerft muß in Bezug bierauf ſchon ver
Streit ein ungünftiges Vorurtheil erweden, ter darüber berricht,
welche Glieder der Eintheilung als vie hauptfüchlichften anzufehen
und wie viele berfelben anzunehmen fein. Blumenbach's 5 Racen
(Neger, Malaien, Kaukaſier, Americaner , Mongolen) finven fich von
Cuvier auf 3 Hauptformen reducirt (Neger, Mongolen, Europäer),
von antern zu fechs, fieben, elf und mehreren angeblichen Species ers
weitert, bis endlich von Ginigen, Die wo möglich aus jedem beſonde⸗
ven Volfe eine eigene Menſchenart machen möchten, eine noch gar
nicht gezählte Menge behauptet wird. Die lettgenannte Anficht, durch
ihre Unbeſtimmtheit Bequem und jchwer angreifbar, läßt fi nament-
lich mit den Refultaten ver Sprachforſchung nicht vereinigen, welche
abgefehen von Europa in einem großen Theile von Afien, in Sübd«
312 Theobor Walk,
artige Menſchen finden, die Hanptoöller aber, bie dem Kafferſtamme
zugehören, eine Körperbiltung zeigen, bie fich bald durch fchöner ges
wölbten und weniger feitlich platten Schäbel, bald durch minder wol⸗
lige8 Haar, wenig oder gar nicht platte Nafe, geringen Prognathis⸗
mus und oft turch mehrere dieſer Eigenthümlichleiten zufammenges
nommen cben fo ftarf von Negercharalter entfernen, als fie fich dem
des Europäers nähern. In ven wahren Negerländern, die fi auf
das Gebiet zwifchen Senegal und Niger nebjt ven Reichen im Often
des Tſad⸗See's befchränfen, begegnen wir ebenfall8 einer großen Menge
von Völkern, die feine eigentliche Negerphhfiognemie, fondern weit ed⸗
lere Formen bejigen, fo namentlich die Jolofs, Fulahs und ein großer
Theil der Mantinges. Eine große Menge anderer trägt zwar ben
allgemeinen Typus des Negers in leicht Fenntlicher Ausprägung, aber
bie fümmtlichen Eigenthümlichkeiten, turch welche man tiefen charak«
terifirt glaubt, finden ſich auch bier nicht Häufig beifammen. Am
weigen Nil fürlih von 6—8° n. 2. verſchwinden die Eigenthümlich-
feiten ter Neger mehr und mehr, und mit Ausnahme ver Hautfarbe
tritt eine immer ftärfere Annäherung an eurcpäifche Formen hervor.
Der Negertypns ift aljo Feine feit abgegrenzte, fpecififch bes
ftimmte, fontern eine fließente Korm*), deren einzelne Züge zuſam⸗
mengeſtellt, ein Extrem bezeichnen, das zwar in ber Wirklichleit mehr⸗
fah vorkommt und ſich fogar im Hottentoten und im Negrito ber
oſtindiſchen Juſeln gewiſſermaſſen karrifirt findet, in reiner Ausprä⸗
gung aber eben fo felten ift als die mannigfaltigften Variationen und
Abwandlungen deſſelben Häufig find. Ein großer Theil diefer Varia-
tionen ift zugleich jo befchaffen, daR er Uebergangéeſtufen zu anderen
Hauptformen, namentlic) zu ter des Europäers barftellt, und e6
würde nicht ſchwer fein, fie fo zu ordnen, daß daraus die Flüffigkeit
ber Unterſchiede vollkommen erfichtlih wäre. Wie man dieſe That⸗
fache auch veuten möge, man wird entweder den Mangel jo feiter
Formen wie fie den Arten eigen jind unmittelbar eingeftehen, ober
die Völker von mittlerem Typus für Miſchlingsvölker erklären und
*) Tie genaueren Nachweife über mehrere ber bier und im folgenden auf.
geftellten allgemeinen Site laffen fih an dieſer Stelle nicht geben.
814 Theodor Waitz,
Hauptrace in vereinzelten Beifpielen innerhalb einer anderen vor⸗
kommt. Darf man vieß nicht fo verftehen, als ob bisweilen volllem⸗
mene Neger unter den Mongolen oder Europäern geboren würten, fe
treffen wir doch bei ven Tegteren und durch Stammverwandtſchaft mit
“ ihnen verbunden nicht felten Menfchen, welche die Kennzeichen ber Ne⸗
gerrace mehr ever weniger volljtänvig an fich tragen und, abgefehen
von ver Hautfarbe, in den Grabe negerähnlih find, daß fie vom
jevem Beobachter ver ihnen in Afrifa begegnete, für wirkliche Neger
gehalten werben müßten. Unter ven Chinefen und Tunguſen lommen
bisweilen europäifche Phyjiognomicen vor, bei dein Botokuden in Süds
amerifa und bei ven Bolen dagegen ift man öfters auf Menſchen ger
ftoßen, welche eine entfchierene Chinefenähnlichkeit zeigten, und ber
Neu⸗Zealänder gleicht oft in allen Hanptzügen ven Eingeborenen von
Nordamerika. Blondes und rothes Haar, blaue, grünliche und licht⸗
.—— -_ . _—.-
braune Augen, heller Teint gehören ver Regel nach ausfchließlich ver .
weißen Race an, währent allen übrigen fchwarzes oder buntelbraunes
Haar, Augen von gleicher Farbe und gelbe bis ſchwarze Haut eigen
ift; aber auch in dieſer Hinficht finden fich Ausnahmen, wie es fcheint,
bei allen Völkern. Es fehlt auch hier an ver feften Abgrenzung, welche
allein berechtigen könnte, einen fpecifiichen Unterſchied anzunehmen,
denn nirgends in ber Natur befteht unter den verjchievenen Arten
berfelben Gattung ein folches Verhältniß, daß die Eigenthümlichkeit
ber einen ausnahmsweiſe fich bisweilen innerhalb der anderen zeigte,
und wer bad Menfchengefchlecht in mehrere Arten trennt, ift deßhalb
zu ber Ausflucht gendthigt, die gar nichts für fich hat, daß die ges
nannten und alle ähnlichen Beifpiele aus einer verborgen gebliebenen
Miſchung verfchievener Typen zu erklären fein. Nur eine ſchwache
Stütze gewinnt dieſe Anjicht darin, daß nicht die einzelnen Merkmale
einer jeden Art, fondern nur ihre Vereinigung ben Artcharakter ause
machen, denn wenn jene einzeln genommen bieweilen fehien können,
und zivar ein jedes von ihnen, fo ift ihr Complex felbft nicht feit und
conftant, ſondern veränberlich.
Die verfchievenen Thiere und Pflanzen, welche auf der Erbe le⸗
ben, laſſen fich nicht uffe auf vemfelben Boden, an einem beftimmten
Orte als Mittelpunkt entjtanden denken, von tem fie ausgegangen
wären und fich allmählig über alle Theile ver Erte verbreitet hätten.
Ueber die Einheit des Menfchengefchlechtes. 315
Birle verfelben befigen weder felbft tie Fähigkeit zu fo ausgebehnten
Banberunugen — fie würven den Hinvernijfen haben erliegen müffen,
bie ſich ihhnen entgegenftellten —, noch konnten fie fich paſſiv an ihnen
betheiligen und von anderen mitgenommen werten, auf ähnliche Weife
wie Bözel oft Pflanzſamen verbreiten oder wie dieß durch Flüſſe
mus Meeresſtrömungen gefchieht. Die ftrenge Gebundenheit ver mei«
Ren au Beitimmte klimatiſche Verhältniffe fett ihrer Verbreitung un⸗
überfchreitbare Grenzen. Nach Anleitung viefer und ähnlicher That⸗
jechen bat man tie Erde in eine Anzahl von zeologifchen und botanis
ten Provinzen getheilt, deren jede einen befonteren Mittelpuntt ber
Bertreitumg, ihr befonderes Schöpfungecentrum hat. Eine zwar bie Gren⸗
zu dieſer Provin;en bei ver Schwierigkeit des Gegenſtandes meijt noch
nicht hinreichend feitgeftellt, fo ftehen Doch die wefentlichen Verhältniſſe
außer Zweifel, anf welche fich tiefe Anficht grüntet. Ihre Betrachtung hat
wie uatürliche Beranlaffung dazu gegeben, daß man jich auch die Mien-
ken von jenen Mittelpunften urfprünglich ausgegangen dachte und bie
wrichierenen Hauptformen ihrer Körperbildung damit in Beziehung
ſetzte; und wie man fein Bedenken trägt Die Verſchiedenheit zweier
Secies im Thier⸗- oder Pflauzenreiche anzuerfennen, wenn ihre Uns
wfchiede auch noch fo gering, fie felbjt aber zu größeren Wanderun⸗
gu unfähig find und in getrennten Provinzen leben, fo hielt man ben
pecififchen Unterſchied auch unter den Dienfchen für jicher, welche Län⸗
term mit verfchicdener Fauna und Flora als Eingeborene angehören.
In neuerer Zeit bat hauptſächlich Agaſſiz dieſe Analogie geltend
macht und burchzuführen verſucht. Indeſſen ift er fich in feinen An⸗
ichten über tie Anzahl und Ausdehnung der zoclogiichen und botani«
fen Provinzen ber Erte fo wenig gleich geblieben, daß wir ſchon
ws dieſem Grunde fein großes Zutrauen zu der Präcifion feiner
Eintheilung tes Dienjchengefchlechtes in mehrere Arten faffen Fönnen.
Res man aber auch von tiefer halten möge — daß die Menſchen
zur innerhalb befchränkter Räume gewandert feien uud jich meift nur
wenig von ihren Urfigen entfernt hätten, ijt neterifch unrichtig, und
ielbft wenn fich anegetehnte Wanterungen nicht mit Beftimmtheit
nachweifen ließen, würte doch die ganze Ausftattung, bie ber Menſch
den der Natur erhalten hat, gegen ven Vergleich teffelben mit einer
Manze fprechen, die an den heimifchen Boden oder mit einem Thiere,
316 TTheodor Waitz,
das an ein beſtimmtes Klima gefeſſelt iſt; feine Fähigkeit zur Wan⸗
derung über ausgedehnte Länderräume iſt nicht nur die größte, ſon⸗
dern die Natur, die ihn umgibt, und vie geſellſchaftlichen Verhältniſſe,
in denen er lebt, ertheilen ihm auch die mächtigften Antriebe, fie im
unfangreicher Weife zu benugen. Laſſen wir aber felbjt die grobe Un⸗
wahrfcheinlichleit bei Seite, bie in der Annahme einer folchen Feſt⸗
fäßigfeit der Menfchen auf ihrem beimifchen Boden im Großen unb
Ganzen Liegt, fo verbietet und die Art der Vertheilung verfelben über
die Erde uns jene Anficht anzueignen. Es findet feine Gefchiedenheit
ſelbſt nur ver Hauptracen durch das Klima ftatt, und ihre Verthei⸗
pP — BR a
lung entſpricht nicht einmal in der Hauptſache den zoologiſchen und
botaniſchen Provinzen, wie man dieſe letzteren auch näher beſtimmen
möge. Die Polarvölker, bisweilen unter dem Namen einer beſonderen
hyperboräiſchen Race zuſammengefaßt, reichen weit nach Mittelafien
hinein, die Mongolen mit ihren Stammpverwanbten erftreden fich vom
Eismeere bis unter die Tropen, bie indogermanifchen Bölfer von Ye
land bi® jenfeits des Indus, und in Oſtindien Teben in nicht allzu
großer Entfernung von einander Menſchen, welche ven verjchiebenften
Typen angehören, vie überhanpt auf der Erbe vorkommen: Hinbus,
Negritos, Malaien und Mongolen, Auftralneger und Papuas bewohnen
mit Völfern von malaiifher Race zuſammen viele ver benachbarten
Snfeln, und dieſelben ober doc fehr ähnliche Formen finden füch im
Umerifa unter ven verfchiebenften Preiten.
Aus unferer bisherigen Betrachtung geht hervor, daß bie großen
Hauptſtämme weder durch fefte Äußere Kennzeichen noch durch klima⸗
tifche Verhältnijfe fo deutlih und Scharf gefchieven find, wie wir er»
warten müßten, wenn ihre Unterfehiete für fpecififch gelten follten.
Auch die Merkmale, welche dazu dienen können, Art und Race aus-
einanderzubalten, zeigten fich ter Arteinheit entfchieren günftiger ale
ihrem Gegentheil. Es ift noch übrig bie Frage näher in’d Auge zu
faffen, ob vie Verſchiedenheiten, die innerhalb tes Menfchengefchlechtes
auftreten, fich mit Wahrfcheinlichfeit als eine Wirkung des Klimas,
ter Lebensweife und anderer wechjelnder Umſtände betrachten laſſen,
benn nur in dieſem Falle find wir berechtigt bie Einheit der Art für
velljtändig erwiefen zu balteı.
Haben zwar die Beifpiele der geringen Strenge, mit welcher bie
318 Theodor Waitz,
unter ihnen unfere Anfmerkſamkeit auf einen wichtigeren Bunkt, indem
fie nämlich darauf hinweiſt, wie unftatthaft es ift, der Xehre von ber
Arteinheit und von ver Vuriabilität der Formen mit dem Einwurfe zu
begegnen, ob man benn glaube, daß Europäer wirklich jemals zu Negern
oder dieje zu weißen Menfchen werten könnten? Dieſes Letztere ift feine
nothwendige Confequenz, denn es genügt zur Erklärung der vorhande⸗
nen Erjcheinungen die Annahme, daß ter Einfluß ber Äußeren Um—
ftände groß genug fei, um aus irgend einer mittleren Form bie extre⸗
men Formen (Neger und Weißer) durch allmählige Umwandlungen ver
verfchiedenften Art hervorgehen zu laffen, wogegen die mögliche Umbile
dung einer extremen Form in bie andere gar nicht in Betracht gezogen
zu werben braucht.
Die Mächte, welche fih hauptſächlich an dieſer Umgeſtaltung bee
theiligen, find das Klima, die Nahrung und Lebensweife, ver Fort⸗
fchritt der geiftigen Bildung, endlich die fpontane Entftehung und Ver
erbung gewifjer neuen Kigenthümlichkeiten. Die Größe der Wirkfame
feit im Einzelnen anzugeben, welche einem jeven dieſer Factoren zuge»
fchrieben werben darf, ijt meiftens fehr fehwierig oder unmöglich, weil
ſich nur in änßerft feltenen Fällen ihre Zhätigkeit und teren Erfolge
ifolirt beobachten laffen: unvollkommener Schuß gegen klimatiſche
Scädlichkeiten, Mangel, geringe Mannigfaltigfeit und unverftändige
Wahl der Nahrungsmittel, ungefunde und frühzeitig aufreibende Lebens»
weife pflegen entweder alle oder doch zum Theil fo vorzugsweife mit
einem nietrigen Stande ber intellectuellen Bildung zuſammen zu treffen
und in berfelben Richtung auf die Entwicdlung des leiblichen Lebene
zu brüden, taß fich nicht leicht entfcheiden läßt, wie ver Antheil zu
begrenzen ijt, ten jene einzeln genommen am Nefultate haben. Faſt
nur dieß kann als ficher gelten, daß diejenigen Unrecht haben, welche
überhaupt in Abrete ftellen möchten, daß die Körperbildung des Men⸗
ſchen durch jene Einflüſſe beträchtlich verändert werde. Zum Bewelje
dafür hat man ſich Häufig auf vie zähe Beharrlichkeit berufen, die der
Typus der Juden unter allen Verhältniffen bewahrt hat. Freilich find
es nicht etwa genaue Meſſungen namentlich des Schädels, aus wel«
her fich tiefe ausnahmsloſe Gleichförmigkeit ergeben hätte — ſolche
Meffungen fcheinen vielmehr für das Gegentheil zu fprechen (Sandi⸗
fort) —, fonbern nur die fichere SKenntlichleit ihre® ganzen Habitus,
-.—— _
Ueber die Ginheit bes Dienfchengefchlechtes. 319
wo er auch vorkommen mag, hat tiefe Bolgerung an vie Hand geges
ben. Indeſſen auch ver leßtere variirt beträchtlich: in Sibirien von
Keller Daut und lichten Haar, durchlaufen die Juden von England
ww Deutichland an, über Spanien und Portugal nach Marokko, Sys
zen, Oſtindien und Congo hin alle Nüancen ver Farbe der Haut
wm des Haares, die fich in tiefen Ländern irgend finden, und es
Seheint, daß wir in diefer Abitufung vorzüglich eine Wirkung des Kli«
mes zu erfennen Gaben, da gerade dieſes Volk in allen Welttheilen
abgeſondert von der übrigen Bevölkerung gelebt, feine Religion und
Eitten feitgebalten hat und feiner Lebenseinrichtung und Eigenthüms
Bhleit -in jeder Rũckſicht treu geblieben ij. Eben deßhalb aber kann
mau fich kaum wunder, daß es fich auch im Aeußern nicht jo durchgrei⸗
es veränbert hat wie fo viele andere Vülfer. Wenn man ferner aus
zen altäghptiichen Denfmäleın den Schluß gezogen hat, daß viefelben
Seuptfermen ſich feit ven älteſten Zeiten unverändert durch äußere
Guflübe erhalten hätten, fo ſteht es um dieſen Beweis nicht beifer.
Mächte auch zugegeben werten, daß vie heutigen Fellahs, Neger und
Yauven mit voller Sicherheit in den altägyptiſchen Bildwerken ſich uns
kricheinen Laffen, fo wird man doch aus Durftellungen, welche offene
ie umr beitimmt find, einige typiſche Haupteigenthümlichkeiten ver
, Süller deutlich herauszubeben, nichts weiter folgern dürfen, als daß
ss ſchon in jener Zeit Menfchen gab, vie dieſe Charaktere an fich
tmgen. Und wem kann es noch einfallen zu zweifeln, daß ſchon da⸗
mes Reger in Afrika lebten, bie ven heutigen Neger glichen ? ober
vog Die Aegypter fich von jenen wejentlich unterſchieden? oder daß bie
Iden ſchon zu jener Zeit ihren feit ausgeprägten Typus befaßen ?
Dieß Alles beweilt fo gut wie nichts für tie Unveränderlichfeit der
menfchlicheu Körperformen durch äußere Einflüße. Die Zeiträume,
auch denen wir unfere Sulturgefchichte zu meſſen vermögen, find obnes
bin verſchwindend Hein im Vergleich mit denen, nach welchen bie Ges
jchichte wer Erde zählt, und vermuthlich bejteht ein ähnliches Verhält⸗
nij verfelben zu bein Zeitraume, ber feit bem erjten Auftreten bes
Renſchen anf ber Erbe verfloſſen ijt.
Gehen wir jet kurz bie einzelnen Haupteinflüſſe durch, welche
ia ber Umbildung der menfchlichen Organijation mitwirken.
Wenig beftritten ijt die modificirente Einwirkung des Klima's
320 Theobor Weit,
auf die Größe und die fehnelfere over langfamere Entwidelung bes
Körpers: in höheren Breiten wie in Berggegenden find die Menjchen
beffelben Stammes gewöhnlich von kürzerem gebrungenerem Baue ale
in wärmeren Klimaten und Tieflindern, doch ſcheint bie Abftanımung
hierauf von noch entfchievenerem Einfluffe zu fein. Berner ift be
kannt, taß unter den Tropen vie körperliche und geiftige Reife beden⸗
tend früher eintritt als in der gemäßigten Zone und in biefer früßer
als in der falten. Die Ansnahmen von tiefer Regel erklären fi
theild aus der Nahrung und Lebensweife, theild aus der Stammes⸗
eigenthümlichfeit, welche über die Wirkung des Klimas in vielen Fäl-
len das Uebergewicht behält. Sicherer als auf die Fruchtbarteit iſt
der Einfluß des leßteren auf die Hantfarbe, mit welcher die Farbe
des Haares und der Iris in einer gewillen Correfpontenz zu ftehen
pflegt. Allerdings entfpricht vie Hautfarbe in fehr vielen Fällen
nicht genau der geographifchen Breite, doch folgt daraus noch nicht,
baß fie vom Klima unabhängig ſei. Daß Bergbewohner unter übri⸗
gens gleichen Umſtänden heller find als vie Bewohner vor Ziefebenen
und bie Bevölkerung fälterer Länder im Allgemeinen heller als bie
wärmerer, läßt fich nicht wohl bezweifeln; nächftvem kommt babei im
Anſchlag, wie fehr fich die Menfchen vor ven Witterungseinflüffen
zu ſchützen wiffen, und wie ftarf ihre gewöhnlichen Beichäftigungen
fie diefen ausſetzen. Heiße und feuchte Länder fcheinen bei man⸗
gelndem Schuge durch Wälder das Dunkeln der Haut am ftärk-
ften zu begünftigen. Hänfige Wechfel ver Temperatur, befonbers
auch Wechfel von großer Zrodenheit und Näffe der Luft wirken
vorzüglich ftark in biefer Richtung. Die angeftanımte Hautfarbe, bes
fonver8 der dunkleren Racen, widerfteht äußeren Einflüffen öfters mit
Beharrlichkeit. Endlich fcheint auch die Nahrung auf fie mobiflcirend
zu wirken. Das Temperament wird vom Klima wahrfcheinlich eben-
falls mitbeftimmt.
Wie jehr von der Nahrung und Lebensweife die Verlümmerung
und das Gedeihen des Körpers abhängt und in wie hohem rate
biefe letteren auf die Energie bes geiftigen Lebens zurückwirken, be⸗
darf Feines ausführlichen Beweifes. Dagegen ift weniger anerfannt
und beachtet, daß auch bie höhere Entwidelung ver geiftigen Thätig⸗
feit von großem Einfluß ift auf die Ausbilvung des Leibes, im wels
322 Theoder Waitz.
bleß ven ven Eigenthümlichkeiten, tie dem Kreiſe bes leiblichen Le⸗
bens angehören, ſendern erſtreckt ſich auch auf das geiſtige Gebiet,
fo daß tie Gaben und Güter tes Geiſtes, welche tie Eltern erarbei⸗
teten, wenn fie auch nicht ungetbeilt und unmittelbar auf tie Kinder .
von ihnen übertragen werten konnen, tech keineswegs vellitändig ver⸗
loren geben, fentern ten jräteren Generationen mittelbar zu Gute
fommen. Findet aber unter günftigen lmfjtänten eine regelmäßige
Vererbung ven rein individuellen Eigenſchaften jtatt, und zeigen ſich
dieſe legteren felbit wicter merificıbar turch das, was ven ben Ei
zelnen im Yaufe ihres Lebens erjt erwerben und ihnen angebilvet wird,
fo gibt uns dieß von felbft an vie Hand, wie wir die Entſtehung ber
Racen anzufeben und zu erflären baben. Gleichwohl müſſen wir hiew
bei ausdrücklich hervorheben, daß tie beiprochenen Berbältnijje une
zwar feinen Aufſchluß darüber geben, auf welche Weije die Menſchen⸗
racen und ihre Verſchiedenheiten wirklich entitanden find, noch ob fie
auf tem angeteuteten Wege fich entwickelt haben, aber auf der andern
Eeite werten wir auch das Eingejtäntniß fordern dürfen, daß biefe .
Anficht ven der Sache ınit ten befannten TIhatjachen nicht nur wohl
vereinbar, fentern auch vie einfachite und wahrfcheinlichite fei.
Faſſen wir nämlich jegt Die bebeutenpiten anatomijchen und phe
fiologifchen Unterfchiete ins Ange, die unter den einzelnen Menſchen-
ſtämmen vorkommen, jo tritt leicht bie bekannte Affenähnlichleit bes
Negers als ver Punkt hervor, anf welchen jich die Annahme mehrerer
Dienfchenarten am jtärkten ftügen faun, beun bie gejchwänzten Men
ſchen, tie an den verfchiebenften Drten ver Erde bis in vie neuefte
— en DE — 49 [7 —
Zeit immer wieder aufgetaucht ſind, ſcheinen vor dem helleren und
unbefangeneren Blicke des Beobachters ebenſo verſchwinden zu ſollen,
wie dieß mit den Rieſen- und Zwerggeſchlechtern älterer Reiſenden ge⸗
ſchehen iſt.
In Rüdfiht ver Eigenthümlichkeiten des Negers nun, deren An⸗
näherung an den Affen in mehrfacher Beziehung nicht zu läugnen iſt,
hat man nur ſelten Die nöthige Vorſicht Des Urtheils beobachtet. Zu-
erſt iſt die Aehnlichkeit überhaupt nicht der Art, daß davon die Rede
fein könnte, den Neger eher zu den höchſten Affen als zu den Men⸗
ſchen oder etwa in die Mitte zwifchen beite zu jtellen: dieß verbieten,
um bei ben anatomifchen Hanptcharakteren bier allein ftehen zu blei-
+ Lo au.
Ueber die Einheit bes Menſchengeſchlechtes. 323
ben, die Entwidelung bes Gehirns und Gefichtd, die Zahn⸗ und
Bedenbilbung, vie Größe und Gejtalt der Extremitäten und ber Wir-
belfäule, welche den Affen mit phyſiſcher Nothwendigkeit zum Klettern,
ben Neger zum aufrechten Gang bejtimmen. Die Affenähnlichkeit dee
Regerkopfes befchräntt ſich, wie es fiheint, auf vie allgemeinen Um⸗
tiffe feiner Geſtalt, pas ſtark vortretende Untergejicht und das etivas
sngänftigere Verhältniß der vom Gehiru entjpringenden Nerven zu
ver Maſſe veifelben. Iſt felbft hiervon manches noch ftreitig, fo läßt
ich Dagegen Anderes, wie ;. B. die nicht ganz fenfrechte Stellung
ver Vorderzähne aufeinander, veshalb nicht am Neger bejonders ber-
rorheben, weil es ihm nicht ausfchließlich eigen tft, fondern auch bei
ubern Racen bisweilen vorkommt. Dahin gehört ferner das uns
inftigere Verhältnig unter den Abfchnitten des Arınes, ter Mangel
ver Waden, die Biltung des Fußes und die Stellung ter Zehen,
welche ihn öfters befähigt, fich derfelben in ähnlicher Weife zum Um—
faffen und Aufheben von Gegenjtänden zu bedienen, wie wir bieß mit
ver Hand thun. Und fo bleibt denn fajt nur noch Lie etwas geritte
gere Biegung der Wirbelfäule nebft der engeren und mehr keilförmi—⸗
gen Seitalt des Bedens übrig, die fih in jener Hinficht geltend ma—
Gen Taffen, da viele der Eigenthümlichkeiten, durch welche ſich ter Nes
er von anderen Racen unterfcheivet, keineswegs von der Art find,
daß man in ihnen eine Verwandtſchaft zu den Affen erbliden könnte,
Dieß gilt von der Befchaffenheit des Haares, das fich von thierifcher
Wolle fpecififch unterfcheivet, von ver Farbe der Haut und ihrer übel«
tiechenden Ausbünftung, vou den wuljtigen Lippen u. f. f. Will man
bie Affenähnlichleit des Negers nicht übertrieben hoch anfchlagen, fo
wirb man ihr Fein großes Gewicht in ver Entſcheidung der Racen⸗
frage beilegen föunen.
Die phyſiologiſchen Unterfchiede geben, wie fih von felbit ver»
fieht, im Allgemeinen ten anatomifchen parallel. ‘Das weit rafchere
Wachéthum des Affen und in Verbindung bamit feine Lebenspaner
bon etwa 30 Jahren, feine weit größere Beſchränkung im Klima und
in der Nahrnug reichen hin, um bie Größe des Unterſchiedes erkennen
zu lafien, ver zwifchen ihm und dem Vienfchen beitcht. Achnliche Dif—
ferenzen finden ficy innerhalb des Menfchengefchlechtes nirgends. Die
Einrichtung der thierifchen Dekonomie und die wefentlichen phyſiolo⸗
21 *
3924 Theobor Waits,
gifchen Functionen find bei allen Racen foweit tiefelben, als nicht
Klima und Lebensweife Abweichungen ven bem herbeiführen, was
anderwärts als Regel gilt. Dieß trifft namentlich den Eintritt ber
Bubertät, wie fehon früher erwähnt, ferner die Leiſtungen ver Ver⸗
dauungsorgane und die Muskelkraft, welche fich überhaupt von [pe
ciellen Lebensgewohnheiten fehr abhängig zeigen, die Lebensdauer, auf
deren Verkürzung verkehrte Eitten, Aberglauben und Unwiſſenheit
vielfach hinwirfen, und die Schärfe der Sinne, weldye durch beftän-
dige Uebung oft beveutend gefteigert und in eigenthümlicher Weiſe
entwidelt wird. Alles Uebrige, worin fonft Weſen derfelben Art mit»
einander übereinftimmen, wie bie mittlere Körperwärme und Yulsfre-
quenz, tie Duuer der Gefchlechtsthätigkeit und ver Schwangerfchaft,
bie Fruchtbarkeit und vie periodifchen Veränderungen bed Organis-
mus überhaupt, treffen bei ven verfchiedenen Menfchenftämmen nach
ben Bis jeßt vorliegenden Beobachtungen fo nahe zufammen , als fich
bei ver Verfchievenheit der Verhältniſſe, unter venen fie leben, irgend
erwarten läßt. Als einigermajjfen erhebliche Abweichungen von dem,
was bei und gewöhnlich ift, läßt ſich nur Weniges nennen: anges
borene Deformitäter waren bei der Mehrzahl der culturlofen Völler,
ehe fie in nähere Berührung mit den Europäern famen, verhältniß-
mäßig felten; vie Zeichen höheren Alters, namentlich granes Haar
und fchlechte Zähne, traten bei vielen derſelben erjt beträchtlich fpäter
ein al& bei uns, troß des vafchen Verblühens ver Jugend, das bie
natürliche Folge befchwerlichen Lebens und unvollfommenen Schußes
gegen die Einflüffe ter Witterung war. Ebenſo weifen die zahlrei⸗
hen Beifpiele außerordentlicher Naturbeilfraft, die ihnen bei äußeren
DVerlegungen zu ftatten Fam, bei den meiften auf eine ungewöhnlich
ftarfe Conftitution und fehr bedeutende Lebensenergie bin, welcher ger
genüber ber oft behauptete Mangel an Lebenskraft und das angeb«
liche fpontane Ausfterben ver eingeborenen Americaner und vieler Vol⸗
fer der Südſee fchwer zu Halten fein würde, felbft wenn nicht eine
lange Reihe von Zhatfachen vorläge, aus denen fich diefe Erfcheinung
hinreichend erklärt. Allerdings hat vielleicht jede Race befonvere bei
ihr einheimifche Krankheiten, tie Difpofitionen ber einzelnen Völlker
zu bejtimmten Krankheiten und daher deren Häufigkeit und Tödtliche
feit mögen verjchieben fein, daß aber manche ver einen oder andern
326 . Theodor Waitz,
feßung in fältere Klimate ebenfo ſtark gefährbet ift als ber Weiße
durch die entgegengefegte, jo wirb man dieß in verfelben Weife aufs
zufaffen haben; und felbft Die große, faft unverwüſtliche Lebenekraft,
zu der fich der cerjtere in manchen Ländern entwidelt, in benen ber
andere mühſam ein fchmwächliches und fieches Leben friftet, fcheint eben
nichtS weiter zu beweifen, als daß nur die Himatifchen Verhältnifſe
in denen ein Volk feit Jahrhunderten eingewohnt ift und benen fich
feine phyſiſche Gonftitution nach und nach möglichit vollftänbig ac»
comobirt hat, feinem Gedeihen günftig find.
Kommen wir ſchließlich auf vie Frage zurück, von ber wir aus⸗
gingen, ob bie Verfchietenheiten, welche fich innerhalb des Menſchen⸗
gefchlechteS zeigen, eben nur fo groß find, daß fie mit Wahrfcheinlich"
feit als Wirkungen des Klimas, der Lebensweife und anderer wech⸗
felnden Umſtände angefehen werben können, fo läßt fih das gewon—
nene Reſultat als Fein völlig befriebigendes bezeichnen, da fich nicht
beweifen läßt, daß dieſe Einflüffe fo verfchiedene Körperformen wirt.
lich) hervorzubringen im Stande find. Es erklärt fich dieß zum Theil
baraus, baß erft jeit wenigen Jahrzehnten forgfältigere Beobachtungen
in diefer Nichtung gemacht und gefammelt werben, und daß aus ver
langen Vergangenheit, die das Mienfchengefchlecht binter fich haben
mag, eine verhältnißmäßig nur fehr Heine Anzahl von Thatſachen
uns anfbehalten worden ift, bie über dieſen Gegenftand einiges Licht
verbreiten. Bleibt e8 uns aber auch verfagt, über bie Entftehunge«
weife der Menſchenracen eine einigermaffen wiſſenſchaftlich begrün«
bete Anficht zu gewinnen, bleibt e8 felbft zmeifelhaft, was für eine
Rolle die äußeren Lebensbebingungen, unter welche vie menfchliche Or⸗
ganifation geftellt ijt, überhaupt hierbei gefpielt haben, fo dürfen wir
doch an ber Einheit des Menfchengefchlechtes als Art mit einem bo-
hen Grabe von Sicherheit fefthalten.
Die Annäherung der am meilten thierähnlichen Körperbildumg,
die fih beim Neger fand, an den Affen war weber fo ftark und
burchgreifend noch fo auefchließlich, daß es gerechtfertigt wäre, bie
Ihwarze Race für eine befondere Species zu erflären; bie phhfiolos
gifchen Unterfchiede, welche die verfehievdenen Stämme barbieten, wa-
ren dieſer Anficht entfchieden ungünftig und eine feſte Scheibung der⸗
jelben durch das Klima fchien nicht ftattzufinden. Daß bie jest be
Ueber bie Einheit bes Menſchengeſchlechtes. 327
Pehenten Haupttypen, wie man von fpecifilchen Charakteren voraus⸗
jegen müßte, durch das Klima, durch Nahrung und Lebensweife, durch
ſert⸗ ober rüdichreitenre Eultur feine Veränderungen erlitten, ließ
Ki ebenfall® als unrichtig nachweifen, und das ununterbrochene Her-
sertreten neuer Eigenthümlichleiten an ven Individuen, vie fich biß-
weilen mit Bebarrlichkeit vererben, deutete auf ven Weg bin, auf
weichen allmälig felbft beträchtlich von einander abweichende Racen⸗
Saraltere entfteben und fich firiren köͤnnen. Werner ließ fich zeigen,
voß die Hauptformen nicht auf die Weife von einander gefondert und
abgeſchloſſen für fich beftehen, wie bieß mit verfchievenen Arten ber
Ball ift, ſondern daß jede derfelben in eine Menge von Nebenformen
ateinandergeht, daß auch dieſe leicht in Reihen einzuorbnen find,
weiche vie Unterfchiebe ver Haupttypen als flüffig erfcheinen laſſen —
seh innerhalb der einzelnen Menfchenarten, fo viele over fo wenige
man deren auch annehmen möchte, kaum eine geringere DBariabilität
Bettfiuben würbe, als unter jenen felbjt —, entlich daß bie allgemeine
wi wie es foheint unbefchränfte Fruchtbarkeit der verfchiedenften
| Geimme mit einanber und das Verhalten ber Miſchlinge durchaus
: 3 Gunften ver Arteinheit vevet.
Gehen wir nun zur näheren Betrachtung ver Linguiftifchen Gründe
über, mit denen fich, wie früher bemerkt, vie Einheit des Menfchens
sekblechtes befämpfen läßt, fo kann fich dieſe auf wenige Bemerkuns
gen beichränten, nicht weil jene Gründe überhaupt ven geringerem
Gewichte wären, ſondern vielmehr, weil fie allerdings das größte be-
fiten, dann aber eine genauere Prüfung fofert deutlich macht, daß fie
gear gegen bie Einheit ver Abjtammung, zugleich aber für bie Arts
anheit ber Menichen Zeugniß geben.
Es mißlingt, die fünmtlihen Sprachen auf eine Urſprache ober
auch nur auf einen gemeinfchaftlichen primitiven Typus zurüdzuführen.
Damit wird die Stammeseinheit, wenn auch nicht geradehin unmög—
I, doch in ein Zeitalter binaufgerüdt, das aller hijtoriichen For⸗
Mang unzugänglich bleibt, in vie Zeit vor ber Entjtehung ber
Srrache. Einige Sprachforſcher glauben allerdings cine allmälige
Extwidelung der Sprachtypen auseinander annchmen zu dürfen, näm⸗
398 Theobor Waitz,
ih fo, daß eine ftufenweife Umbildung einfilbigee Sprachen in ag⸗
glutinivenve und biefer in flectirende ftattgefunden hätte, währen an-
dere einen folchen Uebergang nicht für wahrjcheinlich Halten. Jeden⸗
falls fehlen bis jett nähere wifjenfchaftliche Rachweifungen barüber,
daß die erftere Anficht mehr fei als ein blendender Schematismns,
und es fcheint von ihr ungefähr tafjelbe zu gelten, was wir über bie
oft verficherte Herkunft des Menfchen von dem Affen anführten: es
fehlen beftimmte Thatfachen und Analogieen, aus venen ſich ein Schluß
ziehen ließe, wie für fo Vieles, was an ben Grenzen ver Gebiete
liegt, die eine wiſſenſchaftliche Bearbeitung zulaffen.
Je weniger aber die Linguiftif für bie Einheit bes Urfprunge®
aller Menſchen mit beſtimmten Gründen zu ftreiten im Stanve if,
befto entjchiedener kann fie für ihre Zuſammengehoͤrigkeit zu einer Art
in die Schranken treten. Co mannigfaltig und verfchiedenartig bie .
Mittel im Einzelnen auch find, teren fi) Sprachen von wefentlich |
ungleihen Baue zum Ausdrucke des Gedankens bevienen, fo läßt ſich
boch nicht behaupten, daß die einen dieſen Zweck auf gefchidtere, fidyer _
rere md allgemein verftändlichere Weife erreichten als vie anderen.
Es läßt ſich nicht nur derjelbe Gedankeninhalt, infofern er überhaupt
in ben Gedanfenfreis tes betreffenden Volkes eintreten fann, nach feiner
bermaligen Bildungsftufe, gleich gut, wenn auch eigenthümlich nüan-
“cirt, in jeder Sprade wievergeben, fonbern es find auch im Wejent-
lichen überall biefelben logiſchen Abhängigfeitöverhältniffe und Bezie⸗
Hungen der Vorftellungen zu einanter, tie dabei jevesmal dem Geifte
vorfchweben, und das Verſchiedene beſchränkt ſich auf die Hilfsmittel
ihrer Äußeren Bezeichnung und Darftellung allein. Dieſe Berſchie⸗
benheit aber, welche aus ter Unabhängigkeit und Selbftftändigkeit fich
erklärt, in welcher bie einzelnen Sprachſtämme fich entwidelt haben,
iſt offenbar Keine fpecififche, fendern zeugt gerade umgelehrt für bie
Identität Des pſychiſchen Lebens ver Menfchen in allen wefentlichen
Punkten. —
Wir gelangen hiemit zu ver legten, und wie früher bemerkt, ent«
ſcheidenden Unterfuchung, zu der Frage, ob die pfuchologifch-hiftorifche
Forſchung eine fefte Verfchievenheit zwifchen ven Vöolkern und Racen
in Bezug auf ihre geiftige Begabung und Bildungsfähigkeit nadh-
weift, oder cb auch Hier nur flüffige und grabuelle Unterfchieve an-
zuerkennen find.
830 Theobor Waik,
halb nur feine fecundären Fähigkeiten, d. 5. ben Kreis von Leiſtun⸗
gen barunter verftehen, welche ihm zu einer beftimmten Zeit und uns
ter gegebenen Umftänden möglich find, fo wie wir 3.8. einem Menſchen
die Fähigkeit zufchreiben ein Auch ven wilfenfchaftlichem Inhalte zu ver⸗
ftehen, nachdem er nämlich gewiffe Kenntniſſe fich angeeignet hat; alle
Fähigkeiten in viefem Sinne find nichts Angeborenes, fondern etwas
Erworbenes und ändern jich im Laufe ver Zeit, nach Maßgabe ber
Erziehung und ver Lebensfchicjale, die ein Einzelner ober ein Boll
erfährt. Ihre Befähigung ift zu jeder Zeit das Nefultat ihrer Ger
fchichte.
Unachtſamkeit auf jenen Unterfchied zwifchen primitiven und fecums
tären Fähigkeiten hat oft zu voreiliger Verurtheilung der culturlofen
Völfer geführt; man ftellte die geiftige Regſamkeit und vie hervor⸗
ragenben Leiftungen des Europäers der Apatbie und ftationären Uns
cultur des Negerd gegenüber, und glaubte daraus auf einen rs
fprünglichen Unterfchied der Geijtesgaben fchließen zu dürfen. Es wird
nicht fchwer fein durch eine genauere Betrachtung ver Sache biefe
Folgerung zu erfchüttern.
Zuerft läßt fich nachweifen, daß ber größte Theil der culturlofen
Völker in PVerhältniffen lebt, unter denen eine fortfchreitente Cul⸗
turentwidelung gar nicht ftattfinden kann, felbit für Menſchen, welche
mit den beften Fühigfeiten ausgeftattet wären, in Berbältniffen, vie
felbft tem im Schooße ber Givilifation erzogenen Europäer es un⸗
möglich machen würden, bie erworbenen geiftigen Güter zu bewahren,
gefchweige denn fie in noch größerer Fülle durch eigene Thätigleit zu
entwideln. Iſt dies aber der Fall, fo läßt fich nicht läugnen, daß
ein ungünſtiges Urtheil über die Fähigkeiten ver erfteren nicht auf ihr
Beharren in einem Zuftande der Unbildung und Rohheit gegründet
werben fann.
Ein Yand das keine dichte Bevölkerung hat ober nicht einmal eine
folde zu tragen im Stande ijt, kann nicht Die Wiege einer höheren
Cultur werden, böchftens kann e8 fich paffiv an der Civiliſation bes
theiligen, indem ed von civiliſirten Menfchen ausgebeutet und nutzbar
gemacht wird, fo meit feine eigenen Schäße und deren Zugänglichkeit
es geftatten. Ye größer die Zerftreuung ift, in welcher die Dienfchen
leben, fei es einzeln oder familienweije, befto bilflofer find fie und
Ueber bie Einheit bes Menſchengeſchlechtes. 331
deſto Häufiger fallen fie fchäplichen Naturgewalten zum Opfer. Die
Lraft wird aldtann entweder verbraucht im Kampfe mit der Natur,
zum das eigene Leben zu fchügen und vie dringendſten Lebensbedürf⸗
miffe zu befriebigen, ober fie entbehrt des nöthigen Spornes zur Thä-
Sigfeit und läßt den Menſchen in Stumpffinn und Faulheit verfinken.
Seicher Race er auch angehöre, die Iſolation tödtet alle höheren Be⸗
Arekuugen in ihm ober erſtickt fie im Seine, denn welche Ziele follte
die Huftrengung der Kraft auch verfolgen, wenn jich bie Ausficht in
We Zukunft nicht über die Länge bes eigenen Lebens hinauserftredt,
wenn tie Gefahren, bie biefes umgeben, ihm fait täglich ben Unter—⸗
gung vroben, wenn felbft ver Beſitz des Unentbebrlichften für vie
Buluuft fehr zweifelhaft ift, wenn das Zufammenichen mit Anvern
we die Vereinigung ber Kräfte, jo weit fie möglich ift, zu feiner Bes
friebigung des Chrgeizes und faft zu feiner Art gefelliger Freude, fons
dern nur zu einer gemeinfamen Betheiligung an ten Mühen um
Laften des Lebens führt? Nicht daß fie gemeinfam leiden, fontern daß
fe gemeinfam handeln wird für die Menfchen ein müchtiger Hebel ver
Gieung. Wetteifer, Streben nach Einfluß und Geltung, nach Macht
mb Herrſchaft ift zu allen Zeiten und bei allen Völkern, wenn aud)
im verfchiedener Weife bei rohen uud bei civilifirten, einer ber mächtig»
Ren Untriebe zu großen Kraftanftrengungen gewefen und ift es noch
zu Wo ſolche Motive zu keiner Wirkſamkeit gelangen, wo fie gur
nicht einmal entftchen können, weil die Menfchen zu zeritreut leben
und jeder nur an fich zu denken und für fich zu forgen genöthigt iſt,
va kann ein Fortſchreiten der Gefellfchaft gar nicht erwartet werten,
In ſolchen Verhältniſſen befand fich aber eine große Menge ver
Beller, welche feit dem Ende bes 15. Jahrhunderts in Amerika und in
Billen Ocean aufgefunven worden find, und es ijt begreiflich genug,
daß Die erften Entveder, wie fpätere Nachforfchungen ergeben haben,
vielfach die Größe der Bevölkerung jener Länder überfchägten, nicht blos
im Raufche der Freude und in Folge bes Neizes ter Neuheit, ſondern
haurtfächlich weil die Eingeborenen, unter beuen fich bie Kunde von ihrer
Uukımıft ſchnell verbreitete, felbit aus entfernten Gegenden nach ver
Rüfte zufammenliefen, um tie merhwürbigen Fremdlinge zu fehen, bald
uch um von ihrer Anwefeubeit Nuten zu ziehen oder fie zu vertrei-
ben. Nur Afrila macht in mancher Beziehung bievon eine Ausnahme;
332 Theobor Waitz,
man bat dort mehrfach eine bichte, aber gleichwohl culturlofe Bevol⸗
ferung gefunden, wogegen in Amerika, wo die Vollsmenge am ftärkiten
war, namentlich in einigen Theilen von Mexico und Peru, auch größere
geordnete Reiche beſtanden.
. Ein höherer Grad von Dichtigkeit der Bevöllerung iſt, wie ſich
von felbft verfteht, niemals ein Nefultat freier Wahl. Mehrere Völler
befegen nie frievlich ein und baffelbe Land, etwa um bie Antriebe zu
focialem Fortjchritt fich zu Nugen zu machen, die alsdann auf fie
wirken und fie zur Anftrengung fpornen würden, und abgefehen vom
ten Ländern, welche nugbare Probufte in großen Ueberfluffe barbies
ten, find Noth und Kämpfe immer die unvermeibliche nächjte Folge
fo naher Berührung der Menfchen miteinander. Völfer wandern nur,
wenn fie müffen. Jeder liebt den heimifchen Boden oter findet ſich
doch am ihn gefeffelt, vor Allem, weil er feine ſämmtlichen Lebensge⸗
wohnbeiten nur bier mit Sicherheit feft halten und fortfegen zu kön⸗
nen ſich bewußt ift, weil die unbelannte Ferne befonders von rohen
Bölfern als gefährlich und grauenhaft vorgeftellt zu werben pflegt,
weil fie fih Häufig von Feinden rings umgeben fehen, bie feinen Durch»
zug geftatten, weil fie endlich meift voll Pietät für das Land ihrer
Väter find. Der Esfimo im unwirthbaren Norden, der elende Feuer⸗
Länder auf feinen Felſeninſeln, ver WAuftralier in feinem waſſerarmen
Lande, ver Neger in ven ungefunden Sümpfen von Wadai und in Wis
gerbelta, — jeter befindet fi) wohl auf feine Weife, und wenn er
nicht, was indeffen auch oft genug vorkommt, fein Land für das glück⸗
lichfte der Erbe Hält, jo mag er e8 doch nicht verlaffen, fo lange ihm
freie Wahl gegeben ift.
Wanderungen aber und bie Kriege, welche aus ihnen zu entftehen
pflegen, find in mehr als einer Beziehung für den Fortfchritt fehr
wichtig; nicht blos infofern als fie zu erheblichen Kraftanftrengungen
führen und das Feld der Kenntniffe und Erfahrungen dadurch berei⸗
ern, daß fie Die Menfchen nöthigen, fih in eine andere Naturums
gebung finten und fie benügen zu lernen, fontern haupfächlich auch,
weil fie zu einer Mifchung verfchiedener Stämme nöthigen, die in
vieler Rückſicht vortheilhaft wirken fan: zuerſt fchon phyſiſch, indem
fie die Elemente ter Bevölkerung durcheinander wirft, denn es tritt
allem Aufcheine nach in Folge langen ungemifchten Beifammenbleibeng
334 Tdeodor Waik,
ih zu brechen, fo daß umgefehrt vie Naturmächte im größten Um—
fange dem menfchlichen Willen vienftbar werben. Werben wir dadurch
in den Stand gefegt unfere ganze Tebenseinrichtung und Befchäftigung
faft beliebig zu wählen, fo wird fie jenen bagegen von ber Natur vor⸗
gefhrieben, fie werben von ihr bei einer gewiffen Xebensweife und das
mit auf der nieveren Culturftufe, auf ber fie fteben, mit großer Ge⸗
walt feitgehalten.
Wir können uns jene Abhängigkeit Taum groß genug vorftelfen.
Die Nahrung richtet fich meift nicht nach zwedmäßiger Auswahl und
bält keinen fo vielfachen Wechfel ein, als zur Erhaltung und Kräfs
tigung der Geſundheit erforvert wird, ſondern bleibt auf das befchränft,
was die Natur unmittelbar barbietet, und felbft deſſen Gewinnung
erfordert oft Anjtrengungen, die bis zur Äußerjten Erfchöpfung ber
Kräfte gehen. Die Kleidung wird ebenfo unmittelbar der umgebenden
Natur entnommen, und wenn ihre Verfertigung oft auch mühſam ge
nug ift, fo leiftet fie doch zum Schuß gegen Kälte, Näffe und Sonnen-
brand meift weit weniger al8 die Abhärtung bes Körpers, die fo viele
fach die Begnemlichkeiten des Lebens nicht ſowohl erjegen, als ent-
bebrlich machen muß. Geräthe und Werkzeuge aller Art, zum Theil
die Früchte einer bewundernöwerthen und faft unglaublichen Geduld,
gewähren auch für die einfachften Verrichtungen nur eine geringe ums
geichidte Hülfe, und wo e8 Arbeit von vielen Tagen koftet einen mäßi«
gen Baum zu füllen, kann der Hausbau keine Yortfchritte machen.
Abgefehen von Peru, das im Befike des Lama und feiner ver⸗
ſchiedenen Arten war, hatte Umerifa vor ber Aukunft der Europäer
befanntlich feine größeren Thiere, welche ſich zu Hausthieren eigneten,
und feine hauptfächlichften Nahrungspflanzen waren Mais und Mas
nioc; die tropifchen Bewohner der Südſee aber befaßen außer einigem
Hansgeflügel nur das Schwein, welches zum Lafttragen und zur Hülfe
beim Landbau nicht brauchbar, ebenjo wenig wie der Hund in Be
tracht kommen kann, wenn es ſich um eine lnterftügung der erften
Schritte handelt, die in ver Richtung ver Civilifation gefchehen ſollen.
Ob Völker von weißer Race bei ſolcher urfprünglichen Beſchränkung
durch Die Naturumgebung dieſe erften Schritte gemacht und fie wit
nachhaltigen Erfolge gemacht Haben würden, läßt ſich füglich bezwei⸗
feln. Iſt auch die Viehzucht wohl nicht für alle Völler ohne Unter«
336 Theodor Waitz,
Volker. Durch verfchiedene Klimate hindurchgewandert ehe er in feine
beutigen Sie einzog, mußte er fich fehr verſchiedenen Raturverhält
niffen anbequemen und dadurch vielfach aus Erfahrung lernen; bie Ber
völferung dieſes Erdtheiles genießt ferner bie phyfifchen und geiſtigen
Bortheile einer vielfachen Mifchung verfchievener Stämme, einer dich⸗
ten Bevölkerung und eines Klimas, das zu fortgefegten, aber geinäßig«
ten Anftrengungen nöthigt; ihre einheimifchen Thiere und Nugpflauzen
find fo befchaffen, daß fie der Eulturentwidelung alle Förderung ame
gebeihen ließen, die von biefer Seite her irgend geleiftet werven fann. ‘
Wir unterlaffen es hierbei noch auf andere Verbältniffe, namentlich auf
die Bodengeftaltung felbft Hinzuweifen, weil fie und erſt der fortgefchrit«
tenen Civilifation und veren fernerer Ausbiſdung zu gute zu kommen
fcheinen, nicht aber ihrer primitiven Entftehung, mit welcher wir e6
bier allein zu thun haben.
Waren für eine große Zahl von Völkern die Hinberniffe zu bes
beutend, welche ver Entjtehung einer einheimifchen Kivilifation ent»
gegenftanden, als daß aus teren Mangel ein ungünftiger Schluß auf
ihre geiftige Begabung geftattet wäre, fo kann doch ein folcher aus ber
befannten Thatſache hervorzugehen fcheinen, daß die Bemühungen ver
Europäer für bie geiftige Erhebung ſolcher Völfer und das längere
Zuſammenleben beider miteinander fast ausnahmslos fchlechte oder gar
feine Srüchte getragen haben. Indeſſen auch dieſe Folgerung glauben
wir zurüdweifen zu müffen.
Nene Bildungselemente fich anzueignen gelingt am leichteften unb
wirft am folgenreichiten in der Kinpheit; fo fehr aber auch in mandher
Bezichung eulturlofe Völker den Hintern gleichen, fo würde man fich Loch
fehr täufchen, wenn man glauben wollte, daß dieß in der angegebenen
Rückſicht der Fall wäre. Es ijt eine der bervorftechendften und werth⸗
pollften Eigenthümlichkeiten des Gebilveten, daß er auch verftehen unb
für ſich nutbar machen lernt, was feinem eigenen individuellen Wefen
in hohem Grade entgegengefegt ift und wideritrebt. Der Ungeb Ivete
vermag dieß nie. Was ihm fremd, feiner Denkweiſe und feinen Sit-
ten zuwider it, findet er nur dumm und lächerlich oter unbegreiflich,
ftaunenewerth, wuiberbar. Seine Individualität ift nicht offen und
zugänglich für fremde Einwirkung, fondern in jich fertig, abgefchloffen
und unbeweglich zähe.
Ueber bie Einheit bes Menſchengeſchlechtes. 337
Bemerken wir am Engländer im Auslande ein ähnliches erclufi-
ves Wefen gegen alles Fremde in einem gewilfen Grade, fo werben
wir dieß auch an ihm, wie c8 feiner Bildung feinen Vortheil bringt,
sur als einen Mangel an Vielfeitigfeit und geiftiger Beweglichkeit betrach-
ten können. Bildſam in höherem Grade ijt nur das Sind. Daher
lann es nicht wundern, daß Verſuche einem Volke eine gewilje Art
ter Cipilifation einzuimpfen und anzubilven, faft immer fcheitern, haupt»
fählih aber dann, wenn dieſes mit culturlofen Völkern gefchehen fell,
wenn die dargebotenen Bildungselemente fich im feindſeligſten Gegen-
jage zu ben Eigenthümlichfeiten derer befinden, bie fie in fich aufneb-
men fellen, und e8 hierzu an jedem Anknüpfungspunfte fehlt, wenn
ie Träger ber neuen Bildung fich mit der eingeborenen Bevölkerung
werer äußerlich noch innerlich zu einem Ganzen verbinden und in’s
Gleichgewicht fegen, fondern tiefe nur ausbeuten, unter bie Füße tre-
ten, zu Grunde richten oder vertreiben, fo daß es auf die Dauer höchftens
burch die Gewalt des Stärkeren zu einem äußerlich frieblichen Ver:
hältniß zwijchen beiden fonımt, während Abneigung und Haß zwar
gerämpft werben, aber niemals wirklich verläfchen.
| Mit diefen wenigen Worten ift das Verhältniß bezeichnet, in
welches bie Europäer fait allerwärts zu den Eingeborenen neu entdeck⸗
ter Länder getreten find. Als Götter oder Halbgötter in vielen ders
felben empfangen und aufgenommen, würben fie für bie Verbreitung
ber Givilifation häufig den fruchtbarjten Boden gefunden haben, ben
fie fich irgend wünfchen konnten, wenn fie dieſen Zweck, der freilich
oft genug als Maske von ihnen gebraucht worden ift, wirklich hätten
verfolgen wollen. Statt deffen waren c8 vielmehr die überfpanntejten
Träume von unerfchöpflichen Schäten, welche vie große Mehrzahl ver
Spanier in die neue Welt trieb, c8 war die Ländergier und Geldnoth
der Könige, vie fie dorthin ſchickte. Selbſt ver Durft nach Kriegsruhm
und abenteuerlichen Heltenthaten, der den Bewohnern jener Länder fo
tbeuer zu ſtehen gekommen it, nimmt als Motiv bei den Eroberern
erft die zweite Stelle ein. Die Verbreitung des alleinfeligmachenden
Glaubens hat den dritten Platz. Sie geſchah mit Feuer und Schwert.
Die Ausrottung der „verfluchten Heiden“ galt jener Zeit für ein ver
bienftliches Werk, und felbjt die friedlichen Mönche, die den Conquis
faboren meift auf dem Fuße folgten und zum Theil mit der bewun-
Diſtoriſhe Zeitfgrift V. Baud. 2
338 Theobor Waitz,
bernöwertheften Aufopferung für das lebten und ftarben, was fie ale
ihren Beruf erkannt Hatten, Eonnten für den Fortfchritt der Eultur
nur felten Bedeutenderes leijten; bald wurde ihre Wirkfamfeit völlig
gelähmt durch vie ihmen nachdringenden beuteluftigen Groberer, vie
abzuhalten ihnen nur felten gelang, bald forderten fie felbft von ven
Eingeborenen nur ein äußerliches Bekenntniß und einen rein paffiven
Gehorſam, fo daß dieſe fpäter fich felbft überlaffen mit fchnelfen
Schritten der Verwilverung wieder entgegengingen. Nicht befjer, eher
noch fehlimmer als vie Spanier trieben e8 die Portugiefen in Brafl«
lien, und bie Thaten der Deutfchen in Venezuela bilden leider auch
feine Lichtfeite des fchauerlich vüfteren Gemäldes. Es war eben nicht
der individuelle Charakter der europäifchen Völker und noch weniger
die Individualität der Einzelnen, fontern der Charakter bes Zeitalters,
deſſen gänzliche Unfähigkeit zur Verbreitung feiner Civilifation über tie
Völker ver neuen Welt fih darin bewies. Auch nach der Eroberung
ging die völlig rücfichtslofe Ausbeutung ber Länder, die Knechtung und
Mißhandlung ihrer Lirbewohner, die fcharfe Scheidung und innere
Veindfeligfeit ver Nacen und Saften ihren Gang fort, und es ift bes
greiflich genug, daß im Großen und Ganzen weder bie wohlwollenven
Sefete der Könige von Spanien, noch die berühmte Bulfe Paul's III,
noch der Fleiß und die Berufstreue jo vieler Mijfionäre an biefem
Gange etwas zu ändern vermochten. |
Nah Neu-England freilich kamen Protejtanten, nicht gofoburftig
noch beuteluftig, fonvern ein Aſyl fuchend in der Wildniß für ihren
Glauben. Sie fanden e8 dort. Aber argliftig ſchon anfangs, oft im
Gefühl der Schwäche und aus eigener Noth, maßten fie fi) nad
furzer Zeit, gedrängt durch Zuwachs von außen und innen, eine Herr⸗
fcherftellung den Eingeborenen gegenüber an, von denen fie natürlich als
Eindringlinge betrachtet und befriegt wurben. Von ber Ausbreitung
ihres Glaubens unter ihnen redeten bie frommen Puritaner zwar nicht
jelten, thaten aber nur wenig für ihn. Je mehr die Macht der englifchen
Kolonieen wuchs, deſto offener und fhftematifcher wurben Betrug und
Zreulofigfeit und Gewaltthätigkeit gegen bie einheimifche Bevölkerung
geübt, und fchon vor dem Ende des 17. Jahrhunderts war der in-
telligentere Theil der letzteren mit ſich darüber im Klaren, daß fie bie
Weißen als ihre Todfeinde anzufehen hätten und dem Untergange ge
Weber die Einheit bes Menfchengefchlechtes. 339
weiht feien, wenn es nicht gelänge, fie gänzlich zu vertreiben. Kinge-
yeekt pwiſchen Franzoſen und Engländer, hatten fie von den Kämpfen
heißer miteinander immer am ftärfiten zu leiden, welche Bartei fie auch
ergreifen mochten. In Friedenszeiten fajt nur von dem Ausmwurfe der
eurepäifchen Menfchheit aufgejucht, ftanven fie in einer Berührung mit
ser Eimilifation, tie ihnen nur ververblich werven fonnte. Darf man
Wh wandern, daß ber beijere Theil berjelben fich mit Abfcheu von
kiefer abwenbete, und baß ber fchlechtere bereitwillig nur alle Lafter
zen ihre fich aneignete? Man weiſt jo oft baranf hin, daß culturloſe
Wer nur vie Lafter, nicht die Tugenden bes civilifirten Menſchen
amehmen. Die Antwort liegt nahe: das Cine ift leicht, das Andere
Mauer, Tas Eine macht ſich von felbft, das Antere forbert Kraft
er Erfenntniß und der Selbſtbeherrſchung.
Kaum fcheint es nöthig, auch noch die Neger und tie Südſeevöl⸗
kr beſonders in's Auge zu fallen. Uehnliche Urfachen haben auch hier
Seliche Wirkungen hervorgebracht. Den erfteren, für welche die Mife
fa erft feit kurzer Zeit in einigem Umfange thätig ift, hat vor Allen
we Etlavenhandel, deſſen Wirkungen alle Yebensverhältnijje zerrüttend
5 tief in’8 Innere von Afrika reichen, vor ber europäifchen Eivilifa«
fen einen gründlichen Abfcheu beigebracht, und der Name eines Ehri«
fen gilt Dort noch Heute in vielen Rändern, bejonbers im Vergleich mit
em des Muhammedaners, als ter Inbegriff der Habſucht, Härte
mb Unmenjchlichleit. Die Einwirkung der Europäer auf die Völfer
ver Sütfee ift größtentheils von fo neuem Datum, baß fich entjchei-
veute Kefultate noch nicht erwarten Laffen. ‘Der Einfluß von Vaga—
ten und Glücksrittern, Walfifchjägern und Seeleuten aller Art ift
Auen vielfach ververblich geworden. Der Streit katholiſcher und pros
waztifcher Miffionäre hat auf mehreren Inſelgruppen Unſrieden ge
let und bie übertriebene Strenge ter Methodiſten die leichtjinnigen
Velmefier zur Heuchelei geführt. Anverwärts Hat man Verbrecher:
Isuieen angelegt, wenn auch nicht in ter Abficht, vie Eingeborenen in
fe Rachbarichaft civilifirter weißer Menſchen dadurch zu bringen.
Biete Inſeln find bekanntlich zu verſchiedenen Zeiten der Spielball ver
awepälfchen und amerifanifchen Politik gewefen, bie ſich dort durch⸗
Iuten. Sie find es zum Theil noch — und bei dem Allen vebet
max, troß der gebeihlichen Anfänge, bie in ver Südſee hier und da
ME
340 Theodor Walz,
zu bemerken find (Sanbwichinfeln, Neu» Zealand) und bie man in
Amerika abfichtlich wieder zerftört hat (bei ven Cherofee®), von ber
Unfähigkeit der fogenannten niederen Nacen fich das Beifpiel der Ci⸗
vilijation zu Nutze zu machen, das fie täglich vor Augen haben!
Noch Vieles, fehr Vieles wäre über dieſen Gegenftand zu fagen,
boch wir brechen bier ab, da unferes Bedünkens das Vorſtehende wohl
erwogen, zu dem Beweiſe genügt baß unfere Civilifation den Einge⸗
borenen jener Länder nur als eine gleisnerifche Maske erfcheinen mußte,
bie ihren Haß und ihre Verachtung herausforberte und felbft dann
herausgefordert haben würbe, wenn ihre Leiftungen ihnen nicht, wie
fie e8 waren, völlig unbegreiflich gewefen wären und nur ein ftummes
Staunen eingeflößt hätten. Nimmt man noch hinzu, daß das Wenige,
welches jie von biefen Leiftungen allmälich verjtchen lernten, ihnen
felbjt in ihrer Lage kaum etwas nügen und ihre Bedürfniſſe, bie
ohnehin gering genug waren, nicht beffer, einfacher und ficherer be
friedigen konnte, als fie dieß für fich fhon zu thun vermochten, daß
fie ihre ganze LXebensweife und ihren ganzen Geranfeufreis erft hätten
umbilven müffen, um an ven Beftrebungen ber Europäer theilnehmen
zu können, fo wird man nicht mehr geneigt fein, ihnen geringere Fähig⸗
feiten als ven legteren deßhalb zuzufchreiben, weil fie diefen gegen.
über im Wefentlichen auf ihrer früheren Stufe der Bildung bie
jett beharrten.
Indeſſen folgt aus ver Widerlegung jener Gegengründe noch nicht bie
Richtigkeit der pofitiven Behauptung, daß bie Begabung ver verfchier
benen Menfchenftämme gleich fei, und für biefe felbft find wir nicht
einmal gefonnen, in unbebingter Weife, nämlich in dem Sinne ein-
zutreten, daß bie heutigen Europäer abgefehen von Erziehung und
Unterricht überhaupt nichts voraus hätten vor ben heutigen Negern
und eingebovenen Amerikanern. Dürfte vielmehr das Lektere Leicht
zuzugeftehen fein, fo ift doch in Bezug darauf zu erinnern, daß man
die Frage gänzlich verfchoben bat, wenn man fie auf biefe Weiſe
ftellt, venn e8 wird alsdann ftillfchweigend vorausgefegt, daß bie Ber
gabung ber Hinter, die vemfelben Volke angehören, wenn biefes in⸗
zwifchen feine fremden Elemente in ſich aufnimmt, zu jeder Zeit bie-
jelbe ift, mag biefes Volk in der Civilifation fortfchreiten,, zurückgehen
oder ftille ftehen. ‘Daß es fich in ber That fo verhalte, ift Taum wahr-
342 Theodor Waitz,
des Aufenthaltes und der Umgebung, einen Trieb zu vielfachen und
leidenſchaftlich heftigen Bewegungen urſprünglich mit, der es ihm, wie
ſo viele vergebliche Verſuche gezeigt haben, unerträglich und faſt un⸗
möglich macht ſich an regelmäßige Ausdauer und gleichförmige Ruhe
in ſeinen Thätigkeiten zu gewöhnen und in beharrlich ſtillem Fleiße
etwa mit unſerem Landmanne oder Handwerker zu wetteifern. Die
ſprichwörtliche Faulheit des Negers wird aus demſelben Grunde nicht
mit der Entſchiedenheit, mit welcher es ſo oft geſchehen iſt, gegen
ſeine Befähigung geltend gemacht werden dürfen.
Heben ſich aber die Fähigkeiten der Kinder allmälich den Fort⸗
ſchritten der Cultur ſelbſt entſprechend, ſo läßt ſich aus einer gerin⸗
gen Begabung culturloſer Völker, ſelbſt wenn ſie vollkommen erwie⸗
ſen wäre, noch nicht ſchließen, daß eine feſte geiſtige Verſchiedenheit
unter den Menſchenſtämmen beſteht, es ſei denn daß bie Culturun⸗
fähigkeit jener aus anderen Gründen vorher ſchon feſtſtände. Behaup⸗
tet hat man dieſe freilich oft genug, aber die Thatſachen ſprechen für
das Gegentheil. Die geiſtige Befähigung der Neger insbeſondere, die
im Ganzen doch noch etwas höher zu ſtehen ſcheint als die der mei-
ften Amerikaner, hat man häufig kaum ber Gelehrigfeit des Hundes
und Pferdes gleichitellen wollen.
Solchen Anfichten gegenüber genügt es, tarauf binzuweifen, deß
bie geiſtigen Hauptcharaftere des Menſchen ſich bis jetzt an jedem
auch dem elendeſten Volke gefunden haben, das die Erbe trägt, und
daß dieſe Charaktere felbft, wo fie fich zeigen, einen Unterfchieb auch
von den höchſten Thieren begründen, der fich noch nirgends durch alls
mäliche Webergänge ausgefüllt gefunden bat.
Ueberalf befinden fich die Menfchen im Beſitze der nothwendigften
Künfte und Kenutniſſe, durch welche fie fich vie Natur Dienftbar machen,
und wenn und diefe oft plump und armfelig fcheinen, fo überfehen
wir dabei nur zu leicht, daß äußerft geringe Hilfsmittel von cultur-
Iofen Völkern oft auf Die finnreichfte und gefchicktefte Weife benütt
werben. Beifpielsweife mag bier nur daran erinnert werben, daß
einft ein Engländer mit feinem complicirten Apparat auf den Fifch-
fang auszog an dem Columbia, in der Veberzeugung, daß feine Aus⸗
räftung weit mehr werbe leiften können als bie elenden Geräthe ver
Eingeborenen — er fand aber bald, daß er mit dieſen nicht concurriren
ET Tetor Buy.
zrsmmaniher Zersiluine mr Karameı Setrift,, e icheinen vie Spra-
Ken ulzrtsrer Pilker uh Part eurägingg fer wohl mit tenen ber
eulitrer eñen ar Komet.
Raser er Sorude Sr ed drum aäthig, mb tie weitere aue-
æichne: e Zigenthurt des Mader jr rwiter. daS er überall durch
ZJaseı ze Termin 2e Gegemtame feired tieferen Jatereited auf
rie Tauer ;e eiren DIE te weit es im feiner Mı$e steht, zu ver
enigen Serriät ft: er malt ꝝenigſtens rehe Bilder, ım tie Crime
rag ricbttge Derebergisr felsit Feftzusuiten eder Andern durch
Re ette Rıtriäe ven NS gr geben, er zrlanzt gewiñe Mertzeicheu
auf vie Mriber Vziter Teetea, er Arche durch eigene Arbeit etwas zu
ſchafñ̃en, weturh em Arteıfer auf tie Nachwelt ih danernd ver⸗
erke une certzär ärteriih abzubilden, wa: ibm in ter Natur ent-
gegentritt ner wa :ı feiner Fbantañie lebendig wirt. Wit tiefem
Trange zur Tarftelizzg ſeines Inneren fteht in nachher Verbintung
jeine Liebe za Buz ur Schmuck, durch vie er Anderen auf eine wohl-
gerällige eder umpenitente Beie erfjheinen, ver ihnen ſich auszeich⸗
um une auf fie einen Eintruck machen will.
Ein fermerer Kaurthurafter tes Meniten, tem wir überall wie
ter begegnen, Eefteht in ter Wertigkeit ter Familienbande, ten Abit
jungen des Ranges innerhalb ver Geſellichaft und einer getwijien Ort
nung ter Rechtärerbältniife tuch vie Sitte. Daß Gewalt tie Schran- '
fen des Rechtes rurbbriht, ift eine Erſcheinung, welche kei culture ı
loſen Pöltern natürlih häufiger verkemmt ald Bei civilijirten, aber
eine nähere Kenntnis terielben lehrt, tab jie ven ihnen in gleicher
Weiſe als Unreht verurtheilt wire. Ter Mangel gefchrichener Ge:
fege hat flũchtige Beebachter in unzähligen Fällen tie beſteheuden fe-
ften Rechtsgewohnheiten überjehen lajjen, ter geringe Umfang und
Werth des Privateigenthums und tie eft unbegrenzte Freigebigkeit
mit ber es verſchenkt wirt, haben jie verführt, deſſen Grijtenz zu leugnen.
In derfelben Weiſe hat tie Pelygamie zu ter Behauptung Veran⸗
laſſung gegeben, daß es eine eigentliche Che. bei ihnen gar nicht gebe,
und bie grundſätzliche Ungebuntenbeit, in welcher viele Völker ihre
Kinter, befonvers tie Knaben aufwachjen laſſen, hat zu dem Glauben
verleitet, daß bie Familie alles fejten Zufammenhaftes entbehre. Der
größte Theil diefer Anfichten ift durch vie genaueren Berichte witer-
A Zr ” DR Zu , Pe
Ueber die Einheit des Menfchengefchlechtes. 345
fegt, welche wir ber Sorgfalt neuerer Mifftenäre und Reiſenden ver-
tanken. Die feften Rangverhältniffe in ver Gefellfchaft, bald durch
tie Geburt bald durch Kriegsthaten vorzüglich beftimmt und gewöhn«
ſich dem Gingeweihten an gewijjen äußeren Abzeichen auf ven erften
li kenntlich, pflegen, wo fie vorhanden find, mit großer Eiferfucht
überwacht und aufrecht gehalten zu werben,
Entlich hat eine forgfältige Unterfuchung noch heransgeftelft, daß
es feinem Volle an religiöfen Vorjtellungen gänzlich fehlt, wenn wir
uster dieſen nämlich bie Ueberzeugung verftehen, daß es außer ben
materiellen finnlichen Dingen und unabhängig von ihnen höhere geijtige
Mächte gibt, die ihnen gebieten und dadurch das Schidjal der Mien-
ſchen und jeldft deren Eriftenz in ihrer Gewalt haben. Nicht alle
wear glauben an einen Schöpfer und Lenfer ber Welt oder überhaupt
au einen Gott in ver Bereutung, welche wir tem Worte beizulegen
gewehnt find, aber von feinen: fcheint geleugnet zu werden, daß es
Geifter gibt die den Lauf der Welt nach ihrem Willen lenken. Nachs
richten, welche das Gegentheil verfihern — und es gibt beren aller-
tings manche — find ver Ungenanigfeit und des Mißverſtändniſſes
rerrächtig. Gewiffe Eultushanplungen und eine Art von Opfer fin—
den fich daher auch faft turchgängig, minder allgemein beftinmmte Stät-
ten für die Verehrung, ein beſonderer Priefterjtand und Gebete; ver
Haute an ein Fortleben nad dem Tode fcheint tagegen faſt ohne
Antnahme vorzukommen.
Man darf im Hinblid anf die vorſtehenden Haupteigenthüm—
Kichkeiten, tie der Menfch nirgends auf ber Erbe verleugnet, wohl
fragen, ob fich noch eine fpecifiiche Verfchievenheit zwifchen niederen
und höheren Menfchenjtämmen annehmen läßt, oder ob nicht vielmehr
tuerch vie angegebenen Charaktere, vie fie mit einander gemein haben,
tie Gulturfähigfeit aller verbürgt ift und nur noch eine graduelle Ber-
ſchiedenheit übrig gelaffen wird, die durch allmäliche Uebergänge ver:
wifchbar fein muß. Verenfen wir noch, daß die Sprache eines jeden
Belkes uns vellfommen verſtändlich ift, febald wir nur auf ihre Er-
lernung den erforderlichen Fleiß wenten wollen, daß wir in ihr wie
ia ven Mienen und Geberten des Wilden dieſelbe Weiſe ver Auffaf-
faug der Außendinge, diefelbe Art der Verknüpfung ver Vorjtellungen,
diefelben Gefühle, Motive, Neigungen und Leidenfchaften mit volliter
846 Theodor Waitz,
Evidenz wiebererfennen, von denen wir und bewußt find, daß fie auch
uns innerlich bewegen und zum Handeln treiben, fo ſchwindet jeder
Zweifel darüber, daß wir, wenn auch auf verfchievenen Stufen ber
Entwidelung, in allen Hauptzügen ein getreues Ebenbild von dem
Typus unferes eigenen geijtigen Lebens, daß wir Wefen berfelben
Art vor uns haben.
Diefen Schluß beftätigen noch mehrere wichtige Umſtände, bie
bier wenigftens beiläufig Erwähnung finden mögen.
Auch hei den fog. nieveren Racen gibt es DBeifpiele, welche zei-
gen, taß fie einer Fortbildung zugänglich find. Das alte Merico,
Yucatan, Guatemala und Peru befaßen eine Eultur, die höchſt wahr-
fcheinlich im Wefentlichen ganz auf amerifanifchem Boden gewachfen
iſt. Die Fortfchritte, welche vie Cherofees in neuerer Zeit nach dem
Vorbilte der Weißen gemacht hatten, waren beträchtlich genug,
und mehrere Nachbarvölker fchienen ihnen darin felgen zu wollen.
Unter den Negerftämmen haben fi) namentlich bie Außerft thätigen
Krus an der Körnerkälte den Europäern angefchloffen und ihre Lei«
ftungen als Seeleute haben alle Anerkennung gefunden. Im Innern
von Africa hat der Iélam mehrere Völker auf eine beträchtlich Höhere
Stufe gehoben, als fie früher einnahmen, und bie Kolonie von Lis
beria verfpricht, wenn fie gehörig gefchont und unterftügt wird, einen
glüdlichen Fortgang zum Beſſern. Nur muß man, eingevent des lang⸗
ſamen Ganges aller Civilifation, befonders iu ihren Anfängen, keinen
unverftändigen Erwartungen fi) bingeben und fich nicht einbilven,
daß ein zufammengeworfener Haufe von Negern, wenn man ihnen
nur die Wohlthat erzeigt, fie nicht auf’8 Neue in tie Sklaverei zu
fchleppen, fich felbft Aberlaffen nach einer friedlichen inneren Entwide-
lung von einigen Jahrzehnten in Nüdficht jeiner Leiftungen einen
Bergleich aushalten werde mit einem europäifchen Culturvolke.
Wo ınan fich Die Mühe genommen Hat, die Lern- und Bildungs-
fähigkeit ter Kinder culturlofer Völker genauer zu unterfuchen, wie dieß
burch Miſſionäre vielfach gefcheben ift, hat fich bis jeßt noch immer
gezeigt, daß fie größer war, als man erwartet hatte, und es wird
häufig verfichert, daß jene in allgemeiner Begabung hinter europäifchen
Kindern kaum zurüdjtehen. Am beften ausgeftattet fand fich meift
— ——
348 Theobor Walk,
einanber zeigen, nicht von ihnen vwerfchieben waren. Wir nennen bies
fen früheften, relativ gleichen Zuftand, in welchem fich auch bie äfte-
ften Eulturvölfer einmal befunden haben müffen, den Raturzuftand,
ohne uns freilich auf ven Nachweis der Berechtigung dieſes Namens
hier einlaffen zu Können. Wer freilich nur eigentlich Hiftorifche Be⸗
weife für dieſen Gegenftand zugulaffen gefonnen wäre, würbe leicht
dazu fommen, einen folhen Naturzuftand ganz zu läugnen, er würbe
fich aber mit feinem NRaifonnement auch nothwendig im Kreife breben,
denn daß es beglaubigte Nachrichten oder Denkmäler aus einer Zeit
nicht geben kann, bie der Entftehung aller Eultur vorherging, verfteht
fih von felbft. Nur ven wichtigen Umſtand bier anzuführen, wollen
wir nicht vergeffen, daß Einzelne, die aus der civilifirten Gefellfchaft
ansfcheiden und fich ifoliren, durch ihre Hülflofigleit der Uebermacht
der Natur gegenüber fehr fchnell in einen Zuftand zurädfinten, ver
fih dem Leben ver fog. Wilden unvermeidlich nähert, und daß es eine
große Anzahl von Beifpielen gibt, in denen Europäer die längere Zeit
unter einem culturlofen Volle lebten, fich bis zu gänzlicher Unkennt⸗
lichkeit diefen verähnlicht hatten, während ber umgefehrte Fall, daß
ein in der Wildniß geborener Meufch ganz in bie civilifirte Welt fich
bineinfebte, verhältnigmäßig nur felten vorgefommen iſt.
Dürfen wir hierans zwar nicht fchließen, daß das civilifirte Le⸗
ben nur ein dem Menſchen aufgebrungener Zuftand fei, in welchem er
feiner Natur zuwider bloß durch künſtliche Mittel feftgehalten werbe,
fo ift doch fo viel richtig, daß feine ftärkften Naturtriebe, vie fich auch
im Schooße ver Eivilifation fortvauernd geltend zu machen ftreben,
ben Tendenzen ver letzteren entgegengefegt find und von ihr fortwäß-
rend unter einem ftarken Drucke gehalten werden. Sie breden mit
unbändiger Gewalt hervor, fobald diefer Drud zu irgend einer Zeit
zu ſtark nachläßt oder ganz aufhört, und wir dürfen deßhalb behaup⸗
ten, daß alle Kolonieen ver Europäer in überfeeifchen Ländern, auch
abgefehen von der Bedrängniß durch die Urbewohner höchft wahr:
fheinlich nach kurzer Zeit in die Verwilderung wieder zurüdgefunfen
fein würten, welcher ber Einzelne unter ähnlichen Limftänven unver
meidlich verfällt, wenn ihnen nicht die Zufuhr von Menfchen und
Hilfsmitteln aller Art aus dem Mutterlande die Möglichkeit gewährt
hätte, fich auf der Höhe der von Haufe mitgebrachten Eivilifation zu
360 Theodor Waitz, über bie Einheit bes Menfchengefchlechtes.
Folgenreiche der Unterfuchung doch erft, wenn wir im Einzelnen
uns genauere Rechenfchaft darüber zu geben verfuchen, wie groß
biefe Unterſchiede in Wirklichkeit find, wovon fie abhängen, wie
fie fich zu einander verhalten und auf welche Weife fie vielleicht ver⸗
ringert ober ausgeglihen und allmälih zum Verſchwinden gebracht
werben Tönnen.
VIL
Die Hl. Elifabeth von Thüringen,
Bon
Franz X. Wegele.
Die Landgräfin Eliſabeth von Thüringen nimmt unter den ge=
Khichtlichen Frauengeftalten des Mittelalters eine Stellung ohne glei-
gen ein. Einer in fich abgefchlofjenen Zeit, die weit hinter uns Al⸗
im liegt, angehörend, einer religiöfen Stimmung, von ber ein
Theil ver Chriſtenheit fich abgewenvet und ber ber andere nicht
mehr zu folgen vermag, im eminenten Grade Hingegeben, ift es
ihr gleichwohl gelungen, über die Schranfen ihres Jahrhun⸗
derts binweg in das Gefammtbewußtfein der fonft gerade in dieſen
Fragen getheilten Menfchbeit einzutreten und unter deren „He⸗
roen⸗ aufgenommen zu werben. Etwas ähnliches kann von feiner
andern Erfcheinung der Art behauptet werden. Denn was Bewun-
bertes und Ideales für alle Zeiten und Völker in Eliſabeth liegt,
fptelt nicht auf dem geräufchvollen Schauplat der großen Gefchichte,
und ift mit feiner ver blendenden Epochen over Kataſtrophen berfel-
ben vertettet, — fte hat feine Nation zum Siege und zur Erlöfung
geführt wie Jeanne D’Arc —: auf den Höhen ber Menfchheit ge«
3562 Franz X. Wegele,
boren und wandelnd, eines Königes Tochter und eines deutſchen Für⸗
ſten Gemahlin hat ſie vielmehr Alles, was ihre Zeit Herrliches und
Begehrenswerthes bot, weit von ſich geworfen und ein Leben ber Des
muth, der Entfagung, der Selbjtverläugnung und zulegt der Selbite
entäußerung geführt, das auch damals manchen als ein Gräuel oder
eine Thorheit erfchienen iſt. Allervings auf bie Waffe ihrer Zeitge
noffen und die zunächft darauf folgenden ©efchlechter Hat fie einen
überwältigenden Eindrud hervorgebracht; fchon bei Lebzeiten wurde
fie al8 eine Heilige verehrt und nur wenige Jahre nach ihrem Tode
von der Kirche feierlich und unter der lauten Zuftimmung der ge
fammten chriftlichen Welt als eine folche verfündigt; die fromme Lie
teratur aller Völker Europa's bemächtigte fich ihrer, Taum daß füch
das Grab über ihr gefchloffen, und trug, von Jahrhundert zu Fahre
hundert wachjend, und kaum geftört turch den Sturm der Reforma-
tiongzeit und ver Aufflärung, ihr Bild unverfehrt bis an die Schwelle
der Gegenwart, bie ihrerſeits nicht müde wird, vie Gefeierte
durch Kunſt und Poefie und Gefchichte immer wieder auf's Neue zu
feiern. Wird doch eben jeßt der herrliche Münfter zu Marburg, ber
vor fechs Jahrhunderten, zugleich als ein erhabenes Denkmal deut⸗
ſcher Kunft, fi über den Gebeinen der Heiligen erhob, im Innern
wieberhergeftellt, und ließ vor Kurzem ein edler deutſcher Fürſt an
ber Stelle, wo dieſelbe ihr reinjtes Glück genoffen und aber auch ven
Becher des Leids bis auf die Neige geleert, ihr Andenken in finni«
gen Bildern von Meifterhand erneuern; und kaum ein Jahr ver
geht, ohne daß ihre Literatur "in irgend einer Weife vermehrt würde.
Aus dieſer Thatfache allein ergibt fich wie von felbft, daß tie merk⸗
würbige Erfcheinung, mit welcher wir es bier zu thun haben,
feine fkünftlihe, Leine bloße Ausgeburt frommen Wahnes, ſchwär⸗
merijcher Bewunterung oder mönchiſcher Propaganda fein kann —
bie bier übrigens allerdings alle ihre Kräfte in Bewegung gejegt ha-
ben —: es muß etwas tiefercd, größeres und allgemein giltiges
zu Grunde liegen, wenn die verfchievenften Zeiten und Anfchauungen,
trog der Kluft, die fie fenjt trennt, im der Anerkennung und Berch-
rung derſelben umwillfürlich zufammentreffen. Das ift denn auch in
Wahrheit der Fall, ohne daß man jedoch fangen könnte, daß vie bisheri-
gen zuhlreihen Biographen der Heiligen gerade in den Hanptfragen
Die HI. Elifabeth von Thüringen. 353
igre Aufgabe vollſtändig und in jeder Bezichung gelöſt hätten. Dies
wird aber auch nur dann möglich fein, wenn man mit Sritif und forg«
tültiger Bietät zugleich und ohne alle Vorurtheile an die Betrachtung die—
166 Phänomens gebt und ven Muth bat, das Leben und ven Charakter ver
Kautgräfin, wiefie in der Wirklichkeit geworden und gewefen find, wieder—
berzuitellen. Unter diefen Umſtänden liegt vie Berfuchung nahe, ferne von
allen Nebengedanken, die ächten Zeugnijje und Quellen an ver Hund, hier
tie Gefchichte ter Heiligen auf's Neue zu unterfuchen und ſie von ben Zus
taten zu befreien, womit guigemeinter Eifer, allzulebhafte Phantafie oder
mangelnde Eorgfalt der Forfchung das urfprüngliche Bild ver reinen les
bentigen Berjönlichkeit von Anfang an verrunfelt haben. Alles Weiz
tere wirb fich daraus von felbjt ergeben. Cine feldye Prüfung
mäiten fich alle gefchichtlichen Größen gefallen laſſen, und je bes
grändeter ihr Ruhm iſt, um fo leichter werten fie biefelbe ertragen,
mu fo geficherter werben fie ‘aus berjelben hervorgehen. Die wahre
Gröge wird niemals dadurch gefährdet werten, Die fülfche fällt beſſer
hente als morgen. — —
Es wird für unfern Zweck wohlgethan fein, zunächſt einen Blick
anf die Quellen und auf bie Literatur zur Gefchichte ver Hi. Elifa«
bag zu werfen. Der ächten Ducllen find eben nicht viele, doch
reichen fie, in Verbindung mit andern fecunvären Hilfsmitteln, gerade
ums. Das ältefte Zeugniß ift ver bekannte Vrief, ten Konrad von
Marburg, Eliſabeths Gewiſſensrath und Zuchtmeijter, behufs ihrer
Sanonifation an Papſt Gregor IX, gerichtet hat!). Indeß iſt der
Inhalt des Briefe, was Das Leben der Landgräfin angeht, in auf—
Fallender Weiſe türjtig und einfylbig, während doch gerate dieſer Mann
ums die reichiten und wichtigften Aufjchlüffe Hätte geben können. Die
Daltung des Briefes ift übrigens nüchtern und in Feiner Weiſe über—
tpannt, und nur in einem einzigen Punkte — auf den wir zurüd-
tommen werden — erregt er kritiſches Bedenken, weil feine Ausfage,
mit einer ander, an fich ebenſo glaubwürtigen, im Wiberfpruche jteht.
Der größere Theil der Mittheilungen Konrads an den Rapft ift von
1) Gebrudt in Leonis Allatii Fvuuırıa, Köln 1653 p. 259 sqq. und
in Suchenbeders Analecta Hasiaca Coll, IX.
Hiferifge Zeitſchrift V. Band. 93
354 Branz X. Wegele,
der Erzählung der Wunder ausgefüllt, die nach Eliſabeths Tode an
ihrem Grabe gejchehen feien; von Wundern während ihres Lebens er⸗
wähnt er nichts. ine zweite, unendlich reicher fließente und wichti⸗
gere Duelle ift der fogenannte libellus de dictis IV ancillarum 8. Eli-
sabethae '), bie befchworenen Ausfagen ber vier ‘Dienerinnen ber
Landgräfin, die im Jahre 1234 behufs ihrer Heiligſprechung
über das Leben ihrer Herrin aufgenommen worden find ; fie haben,
richtig verftanden, im Wefentlichen auf volltommene Glaubwürdigkeit
Anſpruch. Endlich ald dritte Hauptquelle Haben wir bie in bie Nein⸗
barbsbrunner Annalen verarbeitete vita Ludovici, d. 5. das Le
ben des Landgrafen Ludwig IV. von Thüringen, Gemahles ber h. El»
fabeth, zu betrachten, veren Verfaffer Bertold, Neifelaplan des Lane
grafen und Mönd im Kloſter Reinhardsbrunn“), gewefen iſt. Bei
der maßgebenven Stellung, welche der Landgraf in dem Leben feiner Ge⸗
mahlin einnimmt, ift dieſe feine vortreffliche Biographie von höchſter
Bedeutung; fie ijt e8 aber ganz befonvers darum, weil ber Unter
das ifo wichtige Verhältnig beider Gatten wohl in’s Auge faßt uud
mit feinem Verſtändniße in feiner Erzählung barzuftellen verfteht. Das
mit find, wenn wir noch einige Urkunden, die bei Schultes?) ver zeich⸗
net find, binzurechnen, die Quellen erften Ranges bereits erfchöpft.
Was fonjtiwie unter diefer Kategorie aufgeführt wird, muß entſchie⸗
den zurücgewiefen werten. Die ältefte Lebensbefchreibung ber Heili-
gen von Cäſar von Heifterbach liegt zwar nur zum geringften Theile
gedrudt vor uns’), aber es geht daraus hervor, daß fie troß ihres
hohen Alters des Originalen nur weniges enthält und ſich vor Al⸗
lem an die erwähnten Ausfagen ber vier Dienerinnen anlehnt. Ein
anderes, berühmteres Leben der hl. Lanbgräfin von Dietrid vom
Apolda i. J. 1289 und zwar in lateinifcher Sprache gefchrieben,, if
1) Bei Menten, 88. Germ. II, p. 2077.
2) ©. Thüring'ſche Gefchichtsquellen Bd. I. Jena, 1854. — Deutide
Ueberfegung von Fr. Ködiz von Salfeld aus ben Jahren 1315 — 1328,
herausgegeben von H. Rüdert, Leipzig 1851.
?) Direstorium diplomaticum ber oberſächſiſchen Geſchichte. Bd. 11.
) ©. Etädler's Ueberſetzung des Lebens ber bi. Elifabeth von Montalem-
bert. Zweite Anflage (1845), ©. 568.
Die hl. Eliſabeth von Thüringen. 365
vie Längfte Zeit ungebührlich überfchägt und Leider die Grundlage aller
fpäteren Biographien der Heiligen geworben’). Stofflich angefeben,
wiererholt fie theilweiſe die Ausfagen ver Dienerinnen und namentlich
auch die vita Ludovici, deren in bie NReinharbsbrunner Annalen nur
verftämmmelt übergegangene Text gerade durch fie zum guten Theile
wieberbergeftellt werten lann. Was die Schrift außerdem enthält,
hört in das Gebiet ver Sage, wie fie fich feit einem halben Jahr⸗
Gunberte üppig genug um das Grab der Heiligen entfaltet hatte.
Jene gedankenloſe Verquickung aber des nicht Gefchichtlichen und bes
fagenhaften Elementes hat wie ſchon angedeutet viel Unheil angerich-
tet und wirft bi8 zur Stunde nach. Ein fpecifijcher Mangel der vorlie-
genden Biographie ift übervieß bie Ungenauigkeit der chronologis
ſchen Beſtimmungen, und doch verſpricht Dietrih in ber Eins
kitung , gerade biefem Momente jeine befondere Anfmerkfans
kit zuwenden zu wollen. In dieſer Beziehung ijt übrigen
u jetzt noch Vieles zu Teiften, wie wir hören werten.
Sell enblih das Wert von Wadding, bie Annales Minorum ?),
bier erwähnt werben, fo kann ich nicht umhin, in Bezug auf unjern
Ball, es aus ter Reihe ver eigentlichen ächten Quellen auszuſchließen.
Belsuntliy nimmt in dieſem Werke das Peben ver hl. Elifabeth
eisen Breiten Raum ein und werben namentlich die angeblichen Be—
ziehungen berfelben zu Franziskus von Affifi und dem von ihm ges
gränbeten Orden berichtet: jedoch fo lange das Manufeript des Frans
zulanerbruders, vem Wadding und fchon lange vor ihm Jakob Mon⸗
tanus *) ihre betreffenden Nachrichten entnommen haben follen, nicht
wor une Liegt und kritiſch unterfucht ijt, jehen wir uns gezwungen,
jenen Rachrichten die Authenticität abzufprechen und in ihnen vorläufig
nicht als vie im Laufe der Zeit innerhalb bes Ordens über bie be
rügmte Seilige, die fein Kleid getragen und feinen Namen verherr⸗
licht Hatte, entftandene und gepflegte Trabition zu erfennen. — Was
) Gebrudt in Canisius lectiones antiquac cd. Pasnage T. IV. womit
zu vergleihen bie Zufäge bei Menken, 1. c. p. 1988 sqgq.
N) Bweite Unflage, Rom 1732.
2) Vitae illustris Sanctae divae Elisabeth, in ber großen Sammlung von
GSurins T. VL Cdin, 1781.
23*
866 Franz X. Wegele,
die betreffente Lite ratur anlangt, fo iftfie faft unüberfehbar, indeß
meift erbanlicher und Tegenvenhafter Tendenz, und find es nur wenige
Leiftungen, die auch heut zu Tage noch vor das Forum der Willen
fchaft gezogen zu werten verbienen. An ver Spige fteht 8. W.
Juſti, der noch im vorigen Jahrhundert angefangen Hatte, ſich weit
der Erforfchung des Lebens der Heiligen zu befchäfrigen ') und acht⸗
undbreißig Jahre fpäter diefe feine Studien abgefchloffen hat *). Dieſer
Autor ift es nun, der zunächit das Vervienft hat, auf fpecififch litera⸗
rifhem Wege das Gedächtniß der Laudgräfin erneuert zu haben, nach
dem allerdings Winkelmann’) Hundert Jahre vorher ihm vie Babe
geebnet hatte. Juſti fehreibt als Proteſtant und Wationalift, um
kann ſich in die Zeit, der feine Heldin angehört, gar nicht finden,
bedauert e8 auch mehrmals ausdrücklich, Daß biefelbe nicht das Glück
gehabt Habe, in einem „beſſeren und helleren“ Zeitalter zu leben, (wäß«
rend boch, fo wie fie war, eben nur das ihrige fie hervorbringem
fonnte): aber er hat doch hiſtoriſchen Sinn und wiugetrübtes Urtheil
genug , das Große und Aufßerorbentliche jener Erfcheinung einzuſehen
und fich Taut dazu zu befennen, wenn auch die Achtung, die fie ihm
abzwingt, oft gerade in ven bebeutenditen Momenten eine unfrele
willige ift. Als Werk der Forſchung und Kritik betrachtet, läßt vie
Arbeit Juſti's dagegen noch vieles zu wünfchen übrig. Urfprünglidhe
und abgeleitete Quellen werben fait gar nicht unterfchieven unb im
principlofer Verwirrung und in ber bunteften Reihe das Verfchiebenfte
neben einander aufgeführt und benützt. Von dieſem Gejichtspuntte aus
angefehen berührt fih Yufti mit Diontalembert, vefien Leben ber
bl. Elifabeth gleich anfangs fo außerorventlichen Beifall geärntet dat
Da der edle Graf es felbjt ausgefprochen bat, daß er feine eigent
liche Gefchichte, fondern nur eine „Legende aus dem Jahrhundert des
Glaubens‘ zu Tiefern beabfichtiget habe, jo könnte man fich dabei viel⸗
leicht beruhigen, und wir in unferem alle, wo es fich gerade um bie
legenbenhaften Darftellungen nicht handelt, darüber hinweggehen: allein
das Buch ift einerfeits, was die Compoſition anlangt, zu bedeutend,
) Eliſabeth bie Heilige, Lanbgräfin v. Thüringen m Heflen ꝛc. Zürd, 1797.
) ©. die zweite Ausgabe feines Lebens ber Hi. Eliſabeth. Marburg, 1835.
2) S. Beſchreibung der Fürſtenthümer Heſſen und Hersfeld, 1698.
Die hl. Eliſabeth von Thüringen. 357
unb das Berl eines zu bebeutenben Mannes, und anbererfeits in weiten
ſtreiſen gerabe ale Gefchichtswert zu vorbehaltslos hingenommen
werben, als daß es erlaubt wäre, bie eigene Anficht darüber zurückzu⸗
beiten, felbft wenn fie nichts Neues vorzubringen hat. Welcher Lefer
Hätte es nicht an fich erfahren, jenes Buch ift mit einer Kraft ter
Weberzeugung und der Degeifterung gejchrieben, die augenblicklich Alles
mit ſich fortreißt: aber es ift eben ein Gedicht und nur als ein fol-
des kaum ver unbetäubte Berftand es gelten lafjen, und als folches
ſchlechthin Hätte es fich ausbrüdlich geben ſollen, ftatt fich mit einem
genzen Ballaft gelehrten Rüftzenges zu befchweren und boch keinen
Uzterfchieb zu Tennen zwifchen ven Ansfagen ber Dienerinnen und den
Träumen tes Baffionals, zwifchen ven Zeitgenoffen Bertold und
sm B. Martin von Kochem! Um fo größer ift das Vervienft von Monta⸗
imbert® beutfchem Ueberſetzer, J. bh. Städler, welcher die Schwächen
des Originals recht gut erkannt und biefelbe durch feine Anmerkungen
www Zuſaͤtze auszugleichen gejucht hat, die auch einen bleibenten Gewinn für
vie GSefchichte der Hi. Elifabeth bilden und durch deren Sorgfalt und
Gewifſenhaftigkeit vie Glorie der Heiligen doch wahrlich nichts ver⸗
leren Bat’). Die nenefte Lebensbefchreibung der Landgräfin endlich,
von ver hier gefprechen werben foll, rührt von ©. Simon ber,
mub wir fteben nicht im geringften an, ihr ven Preis vor allen ähn⸗
Eichen Berfuchen ber Art zuzufchreiben ?.., Die Schrift ſcheint bei
rem Erſcheinen vor ſechs Fahren nicht die Aufnahme und Verbrei—
tung, bie fie denn doch verbient, gefunden zu haben, und mit um fo
mehr Nachdruck möchten wir darum bier auf fie Hingewiefen haben.
Richt als Hätte nicht auch fie ihre Mängel, und als fei mit ihr vie-
fem Stoffe auch das letzte Recht gefchehen ; das einleitente Kapitel z. B.
ft ziemlich ſchwach, die Kritik in mehreren Fällen, die wir namhaft
machen werben, zu zahm; die chronologifchen Beftimmungen lajjen
») ©. bie zweite Auflage ber beutfchen Ueberſetzung. Achen u. Leipzig, 1845.
?) ©. Lubwig IV., genannt ber Heilige, Landgraf von Thüringen und Heſ⸗
fen und feine Gemahlin, bie bi. Eliſabeth von Ungarn. Ein geichicht-
liches Lebensbild aus dem Zeitalter K. Friedrich II. von ©. Eimon,
eo. Inth. Oberpfarrer zu Michelſtadt. Frankfurt a. M., 1854.
358 Fr. X. Wegele,
auch bier zu wünſchen übrig, und fo manche Frage, die ſchwer zu um
terbrüden, wirb nicht aufgeworfen; auch das könnte man bem Ber
faffer, wollte man unerbittlich fein, mit Bug zum Vorwurfe machen,
taß er ſich mit der deutſchen Weberfegung der Vita Ludovici bes
gnügte, während ihm bie Eriftenz ver damals noch ungebrudten Rein⸗
hardsbrunner Annalen vecht gut befannt war: aber diefen unlengbaren
Mängeln ftehen, namentlich im Vergleich mit feinen Vorgängern, body
ganz entfchiedene Vorzüge gegenüber. So ver Fleiß und die Sorge
falt ver Forſchung, die Auseinanderhaltung ber Achten und ber abges
leiteten Quellen, des Mythus und der Gefchichte, die Unbefangenpeit
und der glückliche hiftorifche Takt, womit er ber Zeit und dem We⸗
fen ver bi. Elifabeth,, ja fogar eines Konrad von Marburg gerecht
zu werben weiß, und namentlich auch die Erfenntniß, der gemäß ex
feine ‘Darftelung auch durchgeführt Hat, daß vie Biographie
feiner Heiligen nur in der innigften Verbindung mit ver ihres Ge⸗
mahls erfaßt und gefchrieben werben kann, was allen feinen Vor⸗
gängern ftet8 mehr nur dunkel und ahnungsweiſe vorgefchwebt Hatte,
So hat durch Herrn Simon's ſchlichte, von aller Kunft der Sompofition end
fernte, und keineswegs vollfommene Ausführung die Gefchichte ver
Landgräfin unendlich mehr gewonnen, als durch die glühende um
betäubende Rhetorik cined Miontalembert, und wir find überzeugt, ba
auch warniſchlagende Herzen fich von der befonnenen, von verftänbiger
Pietät getragenen Erzählung des genannten Autors werben angezee
gen und befriedigt fühlen. An uns aber ift es nun, in Hinblick auf
bie befprochenen Werfe und ihre angebeuteten Mängel, das Leben umb
die Charakterijtif der Landgräfin einer Reviſion zu unterziehen umb
befonders die Momente zu berüdfichligen, die bisher entweder gar
nicht oder nicht in der rechten Weife Berüdfichtigung gefunden haben. —
Nicht die geringfte Anzahl von Srrthümern und falfchen Anga⸗
ben, bie fich in die Gefchichte ver Hi. Elifabeth eingefchlichen, verbanft
ihr Dafein dem offenbaren Beftreben, das Leben ver Heiligen, das
auf ihre Zeitgenoffen und ihr Jahrhundert den Einprud eines Wun⸗
ders gemacht hat, in aller und jeber Beziehung dem Bereiche des
360 Franz X. Wegele,
noch den Satz Hinzufügen, daß es fich fehr leicht erweiſen Tiehe,
daß die ungarifchen - Gefchichtequellen von dem Dafein Klingeor's
gar nichts wiffen, und was dort fpäter von ihm erzählt wird, erft
ans Deutfchland und namentlich aus ben Legenden ver bi. Eliſabeth
eingeführt und verarbeitet werben ift. Man braucht blos bie betrefe
fenden ungartfchen Hifterifer fich darauf genau anzufehen, um fich von
ver Wahrheit diefer Behauptung zu überzeugen. Damit fällt denn
jene anmuthenbe Ueberlieferung im nicht8 zufammen, und haben wir
uns vorläufig mit der ZThatjache zu begnügen, daß Elifabetb im 5%.
1207 auf dem Schloffe zu Preßburg geboren worden ift, ohne daß
e8 ver Welt zum voraus geweiffagt war, als welch ein wunderbares
Geftirn fie fünftig leuchten würbe, oder vaß fie einft Lanbgräfin von Th
ringen zu werben beftimmt fei '). Ihr Vater war K. Andreas IL vom
Ungarn (1205—1235), aus dem Stamme ber Arpaten, ber wegen
eine® nicht gerade mit befonderer Leidenjchaft oder glänzendem Gr»
folge unternommenen Kreuzzuges den Beinamen des Hierofolymiters
erhalten hat; nach der Krone begehrend, jo lange fein älterer Bruder,
K. Emmerich, lebte, und als fie ihm geworden, ein Spielball ver
Parteien und ausländifcher Einflüffe, ohne wahre perſönliche Würde,
bem dann auch von dem unbänpigen Abel jene magna charta abge
rungen wurde, die die Grundlage ver berufenen Freiheiten der Ma-
gyaren geworben ift. Ihre Mutter war Gertrud, aus bem Haufe
von Meran⸗Andechs, das nebft ven Staufern und Wittelebachern das
mächtigfte in Süddeutſchland war, beffen reiche Befigungen und Rechte
weithin über Zirel, Bayern, Franken, das Voigtland, Kärntben,
Sitrien und Burgund ausgebreitet Tagen. Gertrud's Vater war Bers
thefo III, Herzog von Meran, d. h. Dalmatien, Graf von Anbeche,
Markgraf von Kärnthen und Iſtrien, der getreue Anhänger K. Fries
') Es hat uns nicht gelingen wollen, mit Sicherheit aufzufinden, woher
Eliſabeth ihren Taufnamen erhalten bat. Ihre väterlihe Großmutter
war Agnes, Tochter Boemund III., Fürften von Antiochien, ihre mütter⸗
liche hieß ebenfalls Agnes, und war Tochter bes Markgrafen Dedo von
Rochlitz. Indeß find wir fiberzeugt, daß fih ber Name Glifaberh in
einer der beiden betreffenden Genealogien irgenbwo findet. Die Elifa-
beth bei Fehler Geſch. v. Ungarn I., Genealg. Tafeln J. ift unhiſtoriſch.
Die hl. Eliſabeth von Thüringen. 361
berich I., der im %. 1209 geftorben ift und acht Kinder Hinterlaffen
bat, die alle in ver Gefchichte ihrer Zeit mehr ober weniger bedeutend
geworden find. So von den Söhnen Ebert, Biſchof von Bamberg,
Bertold, Patriarch von Aquileja, Otto, der Große genannt, Herzog
von Meran und Pfalzgraf von Burgund, Heinrih, Markgraf von
Andechs nnd Iſtrien. Don ven Töchtern, außer Gertrud, Hebivig,
vermäßlt mit Herzog Heinrich dem Bärtigen von Schlefien, und fpä-
tee heilig gefprochen, Agnes, berühmt durch ihre Ehe mit K. Phi-
App Auguft von Frankreich, und endlich Mathilve, Aebtiffin von Kigin-
gen, ber älteften und bedeutendſten Frauenabtei Frankens ). Clifabeth
war kaum ein Jahr alt, ſo erſchienen zwei ihrer Oheime, Biſchof
Ebert von Bamberg und Markgraf Heinrich von Iſtrien, als Flüch⸗
tige und Geächtete am Hofe ihres Vaters, bezüchtigt, Mitſchuldige
an der Ermorbung 8. Philipp's von Staufen zu fein. “Der Königin
Gertrud dritter Bruder, Bertold, ter fpätere Patriarch von Aguileja,
war ſchon früher dorthin gelommen, und ift durch ven Einfluß
feiner Schwefter, ver Königin, die offenbar ihren ſchwachen Gemahl
beßerrfchte, zur Würde eines Erzbifchofs won Kolocza und Banus von
Eroatien emporgeftiegen. So bilvete fi) in Ungarn eine wenn auch
Meine aber mächtige deutſche Partei, die jedoch nach allem ihre Stellung,
nicht ohne fie zu mißbrauchen, ausbeutete, und zulekt den leidenſchaftlichen
Haß der Nationalpartei gegen fich hervorrief, als deſſen erftcs Opfer
feiner Zeit vie Königin ſelbſt untergegangen ift. Ehe es aber dahin Fan,
war Bereits über vie Zukunft ber jungen Elifabeth das Loos gefallen.
Im %. 1211 erfchien eine glänzente Gefandtfchaft des Landgrafen
Hermann von Thüringen, um fie, bie eben erft vier Jahre zählte,
ale die Verlobte feines Schnes und Nachfolgers Ludwig nach Thü⸗
fingen und auf die Wartburg zu geleiten, eine Eitte früher Chebe-
rednng, die im Mittelalter bekanntlich nichts ungewöhnliches war.
Aus der Zeit zwifchen Eliſabeth's Geburt, und ihrer Verpflanzung
an ben thüringifchen. Hof ift uns über fie nichts irgentwie glaubwür⸗
diges überliefert; ihre fpäteren Biographen — darunter Montalem-
dert — wiffen aber doch mit einer Beftimmtheit, als wenn fie felbft
1) Ueber das Geſchlecht der Herzöge von Meran ſ. Hormayr fämmtliche
Bere, Bd. 11. (Stuttgart und. Tübingen, 1822.)
362 Franz X. Wegele,
babei geivefen wären, zu berichten, baß das Kind eben in ben betref⸗
fenden Jahren eine fo große Frömmigkeit und Heiligkeit an ben Tag
gelegt, daß fich ganz Ungarn daran erbaut und ben reichften Segen
davon empfangen habe. Stein Fluchen, kein Schwören, fein Streit
fei wührend biefer Zeit in Ungarn vorgefommen; — eine Erdichtung,
bie einen bejonders wohlthuerden Eindruck macht, wenn man tie ver⸗
worrenen, halbbarbarifchen, unrubigen Zuftände Ungarns jener Jahre
nur einigermaßen kennt. Nun behauptet, und wir haben fchon daven
gefprochen, die Ueberlieferung aber zugleich, der angebliche Klingser
babe auch die Verbindung der ungarifchen Königstochter mit bem jun⸗
gen Landgrafen von Thüringen eben damals in Eifenach vorher vers
kündigt, als er Eliſabeth's Geburt geweiffagt hat. Mit der Beſeiti⸗
gung jenes Propheten als einer gefchichtlichen Perfönlichkeit fällt in⸗
deß zugleich bie in jener Prophetie enthaltene Erklärung der in Frage
ftehenden Verlebung, und wir müfjen uns wieberum mit der Annahme
eines ganz natürlichen und gewöhnlichen Hergangs begnügen, wie
er in hundert andern Fällen ter Art auch ftattgefunden Hat; es
ift uns übrigens höchſt wahrfcheinlih, daß DB. Efbert von Bam⸗
berg, Eliſabeth's mütterliher Oheim, deſſen Zurüdberufung gerabe
im J. 1211 unter entjchievener Mitwirkung bes Landgrafen Hermann
von Th. betrieben wurbe, ber Vermittler und intellectuelfe Urheber
biejer Verbindung gewefen ift '). Genug: tie junge Eliſabeth ver⸗
ließ neh im %. 1211 ihr ungarifches Vaterland und wurbe, vom
ihren Eltern königlich ausgeftattet, von der erwähnten glänzenten Ge⸗
fandtichaft nach Thüringen und der Wartburg geleitet.
Allerdings ein Wechfel der äußeren Umgebung, ber nicht größer
hätte fein können. Thüringen burfte im Vergleich mit Ungarn von
bamal® ohne Webertreibung ein bochcultivirtes Land genannt wer⸗
den, und ver landgräfliche Hof gehörte chne Zweifel zu ben glän«
zendften im deutſchen Neiche. Landgraf Hermann hatte es verftanden,
) €. Godofredus Coloniensis zum J. 1211: Sifridus Maguntiensis ar-
chiepiscopus, cum Hermanno Landgravio et rege Boemise et quibus-
dam principibus et nobilibus terrao apud Bavinberg colloquium ha-
buit, ubi cpiscopum ipsius civitatis, propter nocem Philippi regis
expulsum, restituerunt.
— Ey mn- zn Dr
- Die hl. Eliſabeth von Thüringen. 363
Ihre hindurch die Wartburg zum Mittelpunkt der höfifchen Bildung
‚ wie ver Dichter jener Zeit zu machen, und biefe wieder hatten fein
' 6 aus allen Tönen und weithin erfchallenb gepriefen. Weniger
Aqen Freilich, und wohl mit vollem Rechte, hat er durch feine Hals
ung afS Neichefürft und im Kampfe des ftaufiichen und welfifchen
Heuſes um die deutfche Krone geerndtet, eine Haltung bie, von nad
ur mupatriotifcher Selbſtſucht dictirt, fchlechthin als politiiche Cha»
nüterlofigfeit bezeichnet werden muß, und zugleich über fein fchö--
us Baub das volle Maß wiederholter Verwüſtung und jchwerer Hein
hung verhängt hat. Landgraf Hermann war jet zum zweiten
male verheiratbet. Seine erjte Gemahlin, Sophie, aus dem Haufe
ver Pfalzgrafen von Sachſen“), war im J. 1195 gejtorben und hatte
Im zwei Töchter Hinterlaffen, deren eine, Jutta, in erfter Ehe ven
Yitern Markgrafen Dietrich von Meißen geheirathet hat, und fo vie
Gtammimmntter der noch blühenden Wettiner geworben it; Hermann's
| surite Gemahlin und zukünftige Schwiegermutter der Heinen Elifh-
bech hieß ebenfalls Sophie und war eine Tochter des Herzogs Otto J.
men Bayern. Sie hat tem Landgrafen Hermann zwei Züchter und
ser Söhne geboren, darunter Ludwig, den künftigen Gemahl der un«
gurifchen Rönigstochter. Die Landgräfin Sophie fcheinteine Frau ber beiten
Ust gewefen zu fein, wie fie vie damalige herrſchende, etwas oberflächliche
Bilvung und Sitte bervorzubringen im Stande war, aber einen höhern
Sendpunkbkt einer ungewöhnlichen Erſcheinung gegenüber hat fie nicht
zu finben verftanden, und vie Tiefe tes Gemüthes und Hoheit des
Geiftes , ohne bie eine ſolche Forverung allertings nicht erfüllt wer-
ven konnte, find ihr fremb geblieben. Ihr ähnlich war, in joweit wir
mus ein Bild davon machen können, ver ganze lantgräfliche Hof ges
Kimi: mehr nach außen gelehrt, Genuß liebend und bietene, auf
ver DHöße der Zeit unb ihrer weltlichen Bildung ftehend, aber von
einer gewiffen Oberflächlichkeit auch nicht frei zu Sprechen. Das war
ver Boden, an ven Glifabeth’8 ferneres Schidjal geknüpft wor⸗
ven ift.
— — — —
2) Nicht wie auch Simon (S. 9) wiederum behauptet, eine öſterreichiſche Prin⸗
zeſſin (vgl. Ann. Reinhardsbr. p. 47, 14, und Anm. 1.)
364 | Franz 3. Wegele,
Es ift wohl möglich, daß auf dieſe eigenthümlich organifirte,
von Haus aus auf eine ernſte Lebensauffaffung und inftinctive Hin⸗
neigung zu dem Göttlichen angelegte une offenbar frühreife Natur gerade
ber Gegenfaß der Umgebung, in bie jeßt fie geftellt war, fteigerub
mit eingewirkt bat. Zwar befonders auffallendes oder ungewöhnliches
hören wir in ben erjten Jahren ihres Wufenthaltes auf ber Wart«
burg von ihr nicht, obwohl wir durch die Ausfagen ihrer Dieneriunen
gerade auch über bie Zeit ihrer Kindheit hinlänglich genau unter
richtet find. Sie war ein beiteres Sind, das gerne fpielte und fcherzte
und tanzte, wie andere Kinder namentlich ihres Gefchlechtes, in veffen
Spielen aber allerdings ſchon die ernſte Richtung, die dann in ber
nächften Zeit in ganzer Kraft durchbricht, von Anfang an zu erkennen
ift. Und dann kam bald genug mancherlei Hinzu, was biefe ihre An⸗
Tage zeitigte. Im J. 1213 wurde ihre Mutter, vie Königin von
Ungarn, von einem ber Führer. der Nationalpartei ermorbet, und fo
jteng Elifabeth noch war, fo ferne fie dem Schauplag diefer Vorgänge
gerückt war, bas Ereigniß mußte einen dunklen Schatten auf ihr junges
Leben werfen. Am lanpgräflichen Hofe felber bilvete ſich rafch eine Partei
gegeu fie, fobald man fich über ihre, die Güter tiefer Welt verachtenbe
Stimmung nicht mehr täufchen konnte, und fi von ihr, wenn fee
zur Herrſchaft gelangte, ver herlömmliche heitere und vielleicht etwas
leichtgefchürzte Ton des Hofes und der Höflinge in feinem Daſein
bedroht ſah; zumal man fich, und barauf werden wir ſogleich zuräd-
fonımen, darüber faum mehr täufchen konnte, daß Eliſabeth's künfti-
ger Gemahl, der junge Landgraf Ludwig, in ter Beurtheilung bes
fie umgebenden Zreibens und in der ftrengern Auffaffung des Lebens
mit ihr entfchieden ſympathiſirte. Sogar die Landgräfin Sophie ſchloß
fi jener Oppofition an, vie jeßt, je näher bie Zeit ver wirklichen
Heirath rüdte, fih um fo mehr anftrengte, unter verfchievdenen Bor»
wänden biefelbe zu vereiteln. Nicht unmöglich, daß fich dieſe Abſicht
verwirklicht Hätte, wenn nicht ver unbeltechliche Tod ven Landgrafen
Hermann J. gerade in dem Augenblide abgernfen hätte, wo er eben
im Begriffe war, bie kaum ergriffene Sache K. Friedrich II. wieder
zu verlaffen (1216) ').
') Das Tobesjahr des Landgrafen H. I. wurde zwar früher häufig, unb
Die hi. Eliſabeth von Thüringen. 365
Diefer Tobesfall änterte mit einem Schlag die ganze Lage ber
Dinge auf der Wartburg, und ein volljtänbiger Syſtemwechſel trat
em: der junge Landgraf Ludwig IV., Eliſabeth's Verlobter, folgte
ſänem Bater als Regent in ter Lanpgrafichaft Thüringen und ber
Welzgrafichaft Sachien.
Diefer Ludwig ift eine unendlich liebenswürdige Perjönlichkeit,
ietentenb und tüchtig durch und durch, daher auch alle Biographen
ter bi. Eliſabeth unwillkürlich feine Lobredner geworden find, wenn
gleich fie ihm im Leben verfelben nicht die Stelle anwieſen, die ihm ge=
rt. Geboren im %. 1200, zählte er jett beim Tode feines Va⸗
6 zwar erit fechzehn Sabre, aber gleichwohl erkannte ihn K. Friebe
sh II. gegen das Herlommen als volljährig an, uud follte er zu«
eig die Vormundſchaft über feine beiden jüngern Brüder, Heinrich
Reöye IV. und Konrad, führen, jo gut war tie Meinung, bie über-
dd von ihm gehegt wurbe und vie er auch nicht zu Schauen ge«
muiht, fonbern cher übertroffen hat. Sein Biograph und Reifecapları
Berteld entwirft ein veizendes und gewiß ähnliches Bild feiner Per-
Hulichleit, deſſen Eindruck fih wohl Niemand entzichen kann. Es
ib eben bie harmonifhe Entwicklung und der turchaus ethifche
Gennbton feines Charakters, welche diefe Wirkung hervorbringen; bazu
San dann ber frühe Tod, ver einen bleibenden Glanz auf fein kurs
28 «ber inhaltreiches Leben zurückwarf. Einen größeren Gegenfaß,
6 zwiſchen ihm und feinem Bater in faft allen Beziehnn⸗
gen befteht, kann man fich kaum denken. Während an Hermann’s
Hefe ein heiteres etwas leicht gehaltenes Leben voll Luſt und Liedern
noch in neuefler Zeit von Simen (l. c. S. 242, Anm. 14) in bas I
1218 geſetzt. Jedoch mit Unrecht. Die authentiſchen Quellen jener Zeit
nmennen Alle das 3. 1216, fo baß darüber fein Zweifel erlaubt if, und
Landgraf H. I. verfhwinbet in der That von biefem I. an aus
der Geſchichte feines Landes und bes D. Reiches, nirgends wird er
mehr als lebend erwähnt, und bas allen ift, denke ih, enticheibend.
Anßerdem werben alle Einwürfe burd bie Thatſache geheben, baß Lub-
wig, als wirlliher Landgraf hanbelnd, bereits am 15. Januar 1217 ur-
tundlich auftritt. Bgl. Thur. Sacra p. 279. Schultes, Dir. Diplom.
11, 516.
366 Kranz X. Wegele,
berrichte, führt Ludwig einen ernften Ton ein; bie fröhlichen ſchutz⸗
bebürftigen Sänger verfchwinden, und ſelbſt ein Mann wie Walther
von der Vogelweide, der doch auch vordem nicht alles gelobt hatte,
fpricht feine Unzufriedenheit mit ber eingetretenen Veränderung unb
der Art und Weife Ludwigs offen und fpottendb aus’). Während
Herrmann als Neichefürft eine felbftfüchtige und unrähmliche Rolle
fpielte, hielt Ludwig unerfchütterlich zu tem ftaufiihen Haufe und zu
K. Friedrich II., und wenn es damals auch feinen Gegenkönig gab,
fo fehlte es doch nicht an DOppofition. Während Hermann
durch feine politifche Wandelbarkeit fih aus einem Kriege in
ben anbern ftürzte und über Thüringen bie volle Schale ber
Verheerungen und des Elendes ausgoß, iſt Ludwig in beivufße
ter Abſichtlichkeit der Mann des Friedens, der nur zum Schwerte
greift, um fein gutes Recht zu wahren, Unrecht zu ftrafen und den
Frieden für alle zu fchüten. Er bat ſich, finnig wie er wer, im
Gegenfaß zu feinem Water, wohl felbjt einmal mit Salomon bem
Sohne David’ verglichen, dem Gott ruhige und friebliche Zeiten
gefehentt und dem es fo verliehen war, bie dem Lande gefchlagene
Wunde zu heilen’). in getreuer Sohn feiner Kirche in ver vollen
Bedeutung des Wortes, wie- wir noch weiter hören werben, beftmmt
er fih doch feinen Augenblick, einen mächtigen Kirchenfürften (bem
Erzbifhof Siegfried von Mainz), der in einer Streitfrage profauer
Natur, wie fie zwifchen Mainz und den Landgrafen von Thüringen
nie fehlten, die geiftlihe Waffe des Kirchenbanns gegen feinen tobten
Bater und ihm felbft fehleuverte, mit den Waffen in ber Hand zur
1) Bl. Lach mann's (zweite) Ausgabe der Gedichte Walthers, Berlin, 1848.
Das Gediht S. 32 gegen Rolle (Ludwigs Schreiber ?) und bas ©. 85
3. 17 — 24, welches gegen ben jungen Landgrafen ſelbſt gerichtet if.
Dazu Halte man pie Erllärung ber beiden Gedichte, bie W. Wader-
nagel in Simrod’s Ueberfegung ber Gedichte Walthers gibt (Ans
gabe v. 3. 1833, Th. 2. ©. 164 unb ©. 184).
?) Bergl. Ann, Reinhardtsbr. p. 199, die Abfchiebsrebe Ludwigs vor bem
Landtage zum Kreuzzuge, beim Antritt bes Kreuzzuges: „Mihi vero tam-
quam Salomoni, filio David 'regis, concessit Deus tranquillitatem tem-
porum et quietem, et mox pacata sunt omnis, ut cernitis, ipso
pacem concedente,.“
Die hi. Efifabeth von Thüringen. 367
Befinnung zu bringen. Weberhaupt, fo ivealiftifch fonft feine Natur
angelegt erfcheint, in politifchen Dingen und in ven Intereſſen feines
Haufes iſt er entfchierener Nealift, wie das namentlich aus feiner
Haltung in ber meißnifchen Angelegenheit hervorgeht; nicht bloß, daß
er nach dem Tode feines Schwagers, des Markgrafen Dietrich, bie
ihm übertragene VBormundfchaft über feinen Neffen Heinrich (ven Er⸗
fa uchten) mit rühmlicher Energie führte und dabei alle die Negenten-
tugenden entfaltete, unter deren Einwirkung Thüringen ſelbſt fich be»
neidenswerth rafch erholte; er tauchte vielmehr auch bei Zeiten daran,
ſich ver Sterblichkeit feines Neffen gegenüber die eventuelle Belehnung
mit ben meltinifchen Haus⸗ und Reichslanden zu fichern, und bei
den Gefinuungen K. Friedrich I. für ihm ift ihm dieß nicht ſchwer
geworben — obwohl das enbliche Refultat ein geradezu umgelehrtes
geworben ift und jener verwaiſte Heinrich fchließlich das mit Ludwigs
Bruder, Heinrich Raspe IV., erlöfchende-Haus ter alten Landgrafen
son Thüringen i. J. 1247 beerbt hat.
Das alſo war der Mann, ver über Eliſabeths ferneres Schidfal
zu entſcheiden hatte und von dem es abhing, ob bie Abfichten ihrer
Gegner fich verwirklichen würden oder nicht. Und da genügt es
une, nach dem Zeugniffe Bertold’s, auszufprechen, daß Ludwig von Ans
feng an auf Seite feiner Verlobten geftanven und daß er von einer ihr
gleich geftimmten Natur war. Die Einflüfterungen ver Höflinge, ver
effene Tadel, den felbft folche gegen Elifabeth auefprachen, die ihm
fonft die theuerften waren, vermochten es nicht, ihn in feiner Neigung
irre zu machen. Ludwig war bis jegt rein burch’8 Leben gegangen
md bat fich diefe Neinheit fein freilich kurzes Leben Hinburch unents
weiht zn bewahren verſtanden. An Verſuchungen der verjchiedenjten
Art bat e& nicht gefehlt, und fein Reifefaplan hat uns einige ein«
fHlägige vecht hübſche Geſchichtchen überliefert, die auf bie herrſchende
Eitte ber vornehmen Gefellfchaft jener Zeit ein bebenkliches Licht
werfen und keinen erbaulichen Beitrag zur Sittengefchichte des noch
Immer gerabe auch von biefem Gefichtspunfte aus von folchen, die e8
nicht kennen, gepriefenen Mittelalters, und zwar anf feiner Höhe,
liefern’). Ludwig liebte die Verlobte feiner Jugend, er liebte fie ge-
1) ©. Annal Reinhardsbr. p. 148, 151, 152. Namentlich das ber Reihe
nach erſte Geſchichtchen auf p. 151 ift fehr bezeichnend.
368 Gr. X. Wegele,
rabe auch um beffen willen, was ihre Gegner an ihr haften, uub
feiner Zreue und Stanphaftigleit muß es zugefchrieben werten, baß
fie nicht, wie die Landgräfin Sophie und der größere Theil des Hofes
unter verſchiedenen Vorwänden e8 wünfchten und verlangten, in ein
Klofter verwiefen oder ihrem Vater zurückgeſchickt wurde, was in ähn⸗
lichen Fällen in jener Zeit oft genug gejchehen if. Nun wird man
vielleicht meinen, eine PVereitlung ihrer bevorftehennen Ehe unb
der Schleier ftatt tes Myrthenkranzes müßten ja gerade im inne
Eliſabeths geweſen fein — bie, wie ihre from men Biographen faft
obne Ausnahme nicht müde werben zu erzählen, nur ungern vem
iungfräufichen Stand verlaffen und fpäter, noch bei Lebzeiten ihres
Gemahls, dem Konrad von Marburg, ihrem Gewiſſensrathe gegenüber es
ausdrücklich bereut hat, in die Ehe getreten zu fein ? In ber That,
e8 ift das ein Moment, tas bei ter DBeurtbeilung bes Charafters
ber Heiligen ſchwer in die Wagfchale fällt und bem wir unfere befonbere
Aufmerkfamteit zu fchenfen haben. Und da haben wir benn zu-⸗
nächſt das Eine zu erwiedern, daß die gefchichtliche Wahrheit nicht
ftärfer entjtellt werden fan, ala es bie mönchijche Weberlieferung in dieſem
Bulle that, die natürlich in der Verachtung der Ehe ein Verdienſt und iu ber
Ehe felbjt nur ein nothwendiges Uebel zu erbliden vermochte. Die Sache
fteht vielmehr anders. Gewiß, Eliſabeth hat ſchon jett, wein auch innere
halb engerer Schranten, all tie menfchlichen und chriftlichen Tugenden der
Demuth, ver Barmherzigkeit, ver Hingabe au Gott geübt, durch bie
fie jpiter die Bewunderung ver Welt auf fich gezogen hat. Aber ba-
rüber hinaus ijt fie jegt und im den nächſten Jahren noch nicht ges
gangen; erſt als Konrad von Marburg fie in feine Zucht nimmt,
und im wahren Grunde erft nach ihres Gemahles Tode, tritt jenes
zweite Stadium ihrer inneren Entwidlung ein, in welchen fie mit
ihrer Vergangenheit fo zu fügen bricht und zu ihren früheren Tu«
genden auch Lie ver Askefe, ver ESclbftpeinigung, der Selbjtabtöbtung
fügt. Diefe Unterjcheidung zu machen haben alle ihre Geſchichtſchrei⸗
ber unterlaffen und doc) fordert Alles dazu auf. in innerer Kampf
der in ihr mit einander vingenden zwei Naturen mag bei ihr von
Anfang an vorhanden geweſen fein, fie hat aber unzweifelhaft das Gleich⸗
gewicht terfelben lange zu erhalten gewußt, und erſt ein plößlicher
Wechſel in ihren äußeren Verhältnijfen hat dann in die eine Schale
Die Hl. Slifabeth von Thliringen. 369
das ganze Gewicht fallen Laffen. Alfo, um darauf zurüczufonmen,
Elifabet5 war in Wahrheit fo weit davon entfernt, eine Auflöfung
res Eheverlöbnijfes mit Ludwig zu wünfchen, taß fie vielmehr das
Gelingen ber erwähnten Abfichten ihrer Gegner aus voller Ecele fürch-
we. Kurz, fie bat ven Landgrafen gelicht, wie ein reines, edles,
Iessfränliches Herz nur lieben kann, in ter ganzen Innigkeit und
Demuth ihrer Seele. Folgende liebliche Erzählung, bie Ludwigs Biogras
We uns aufbewahrt hat, mag beweifen, ob wir zu wiel behaupten. Als
We Rochinationen ver Gegner Elifabeths immer offener auftraten, beſchloß
einer ihhrer wenigen Freunde anı Hofe, ver ehrenwerthe Ritter Wulther von
Bergula, ver fie einſt von Preßburg nach der Wartburg geleitet hatte, fich
über vie Geſinnungen Ludwigs zu vergewiſſern, und richtete bei einer
Kpidtichen Gelegenheit und als er allein mit ihm war, folgende Frage an
venfelben: „Lieber Herr, was ift Eure Abficht mit des Königs von
Bugarı Tochter? Wollet ihr fie zur Ehe nehmen ober wieder heim—
ſenben zu ihrem Vater?“ Da wies der Fürft auf einen hohen Berg,
ben fie vor Augen hatten, und ſprach: „Siehſt bu ven großen Berg
wer une liegen? Wäre er von Gold vom Gipfel bis zur Tiefe, doch
weelit” ich lieber und leichter auf ihn verzichten als auf tie Che mit
Eiifebett. Mögen manche nach ihrer Art Eitles reden, ich liche fie
web will von ihr nicht laſſen.“ Und ber Bitter fragte wieder: „O
mein Gebieter, darf ich ihr dieſe Nachricht fagen?“ Und ver Fürft
exwieberte: „ Sauge fie ihr und bring’ ihr als Wahrzeichen dieſes.“
Mn er 309 einen koſtbar gefaßten Spiegel hervor, deſſen eine Seite
mit einem einfachen Glaſe verjehen, und auf teifen anderer der ges
Ssemigte Chrijtus gemalt war. Als ver Ritter nun an Clifabeth
jene Botfchaft und das Geſchenk brachte, da ergriff fie vorfichtig den
Spiegel, gerieth in große Freude und erzählte, zur Beſchämung ihrer
WBiverfacher, unter dein lieblichjten Lächeln das Vernommene weiter ').“
— Mit verfelben Wärme und rein menjchlichen Empfindung bat fie
ven Landgrafen in ver Ehe geliebt, das beweiſt Alles, was wir bus
rũber willen, das Größte und das Kleinjte, das beweift namentlich
auch ihre fchmerzliche Ueberraſchung, als jie zufälliger Weije erführt, daß
er das Kreuz genommen ; das beweijt ver rührende Abjchieb, den fie von
1) ©. Annal. Reinhardsbrunn. p. 167 — 109.
Pißszifge Zeitſchriſt. V. Band 94
370 Franz X. Wegele,
ihm nahm, als er ven Kreuzzug antrat; das beweiſt ihr lauter thränen«
reicher Schmerz, der fie bei ber unbe von feinem Tode überwäl⸗
tigt; das beweijt tie gottergebene Wehmuth, die fie bei dem Wieder⸗
fehen ver Gebeine Ludwigs in Bamberg ergriff! Möglich, taß fie
unter Taufenden von Männern gerade nur biefen Einen und in bies
fem Grave zu lieben im Stante war; das Glück foll aber nicht
binweggelängnet werben, das fie in diefem Bunte gefunden bat. Die
Ehe wurde i. J. 1221 wirklich vollzogen, als Ludwig 20, Elifabel
14 Jahre zählte. Daß man unter biefen Umftänden und ben äch⸗
teften Zeugniffen gegenüber behaupten Tann, Elifabeth babe wider if»
ren Willen diefen Schritt gethan, muß mit Necht befremben; daß ein
Zeitgenoffe Elifabeth’s, ihr ältefter Biograph, Cäfar von Heifterbach,
mit dürren Worten fagen kann, fie fei „gegen ihres Herzens Wunſch⸗
mit dem Landgrafen verheirathet worden, richtet fich bamit von felbft')
Auf die Aeußerung Konrads von Marburg in feinem Briefe an P.
Gregor , Elifabeth habe in fpäteren Fahren ihr Bedauern über ihre
Verehelichung ausgefprochen, werben wir weiter unten zurückkommen
und fie auf ihren Werth zurüdjühren.
Die Heirath Eliſabeths eröffnet vie zweite Periode in ihrem Ber
ben, die dann bis zum Tode ihres Gemahls fich erftredt, innerhalb
welcher jedoch wieber die Zeit vor und nach ihrer geiftlichen Unten
werfung unter Konrab von Marburg unterfchieben werden muß. Die
durchgängige Unterlajjung tiefer Unterfcheidung bat manchen Irrthum
zur Folge gehabt und das Bild, das wir uns in diefen Jahren (1221
bis 1225) von der Heiligen machen müjjen, in mehr als einem wer
fentlihen Momente entſtellt, indem fo mancher Charafterzug, ber erſt
feit und durch das Auftreten Konrads am landgräflichen Hofe im
berjelben hervortritt, unkritifcher Weife ſchon vor baffelbe gefegt wir.
) ©. die Fragmente aus Käfer von Heifterbah bei Städler (Ueberieh.
des geb. Werfes Montalembert'8 im Anhang, p. 572,) wo es heißt:
Cumque beata et venerabilis virgo Elisabeth ad nubiles annos per-
venissct, contra cordis sui desiderium nobilissimo prim6ipi
Ludovico Landgravio desponsata est et matrimonio juncta.“ — liebri-
gens hat Städler bereits felbft in einer Anmerlung (1. c ©. 45) bie
Unbaltbarkeit diefer Notiz Cãſars von H. hervorgehoben.
Die hi. Efifabeth von Thüringen. 871
Bon äußeren Begebenheiten in Eliſabeths Leben in dieſen Jahren ift uns
wenig überliefert — ein Befuch aus d. J. 1222, den fie mit ihrem Ge«
mahl und einem glänzenden Öefolge bei iprem Vater in Preßburg abgejtat«
tet hat. Bald nach der Rüdkehr ') gebar fie zu Kreuzburg ihr erſtes
Kind, einen Sohn, der feinem Großvater zu Ehren ten Namen Hermann
empfing, dem aber, wie wir hören werden, bie Tugenden feiner Mutter
zu Gute kommen follten. Ihr zweites Kind, eine Tochter, die als
Herzogin Scphie von Brabant befannt geworben ift, erblidte im
März; 1224 auf der Wartburg das Licht ter Welt, und ein drittes,
Gertrud, die fpätere Aebtijjin von Altenburg bei Wetlar, ift erft
nach Ludwigs Tode ebenvafelbit geboren worben?). Das cheliche Vers
bältniß zwifchen Ludwig und Clijabeth iſt in allen Beziehungen ein
mujfterbaftes, ein inniges und anmuthiges. Eliſabeth erfcheint überall
treg ihrer zunehmenden erniten Lebensanfchaunng und religiöfen Vers
innerlichung als das treue zärtliche Weib. Es wurbe ihr fchwer, fich
überhaupt von ihrem Gemahle zu trennen, in welchem fie mit Recht das
Ideal eines Mannes und eines chriftlichen Fürſten erblidte Auf
feinen häufigen Reifen im Lande umher pflegte fie ihn zu begleiten
und ließ fich babei von feiner Bejchwerlichkeit abfchreden. Zog er
aber in weitere Ferne und in den Krieg, wohin fie ihm nicht folgen
lennte, fo legte fie allen Schmud ab, der in ihren Augen feinen
Berth hatte, Heivete fich einfach und wie eine Wittwe. Erwartete
fie ihn dann zurüd, fo ſchmückte fie fich wieder, um ihrem heimfch-
renden Manne, wie fie ausprüdlich hervorhob, nicht zu mißfallen und
ihm Seine Veranlajjung zur Sünde zu geben. „Mich allein ſoll ex im
Herrn lieben mit ehelicher Zreue und Neigung, damit wir von dent,
dee die Ordnung ber Ehe geheiligt hat, einjt zufammen das ewige
Leben erwarten können ’).” Sie malte fich in Gedanken wehl auch
mit reizender Naivität das Glüd aus, ferne vom Getümmel der Welt,
Am 12. Dezember 1222.
2) Am 27. September 1227.
?) ©. Dicta ancillarum, p. II. (Mencken, 1. c. p. 2016, A.) —
Sed me solam in Domino sic diligat effectu maritali et debito, nt
ab eo, qui legem matrimonii sanetificavit, acternae vitao meritum
paritu exspectemus.“
24*
872 Franz X. Wegele,
mit Wenigem zufrieden, allein Gott und ihrem Gemahl Ichen zu tür-
fen. „Herr, fagte fie in einer traulichen Stunde einft zu Lubwig,
ich dachte ſchon oft daran, wie wir ein Neben miteinander führen könn⸗
ten, daß wir Gott wohlgefällig würben.“ — „Nun, antwortete der
Landgraf, was für ein Leben wäre dies?“ Und fie erwieberte: „Ich
wollte, wir hätten ein Gütchen, das man mit einem Pfluge bes
bauen könnte und zweihundert Schafe: dann könnteft du mit deinen
Händen den Uder pflügen und ich die Schafe melken.“ — „Ei
liebe Schwefter, gab Ludwig lachend zur Antwert, wenn wir ein Gut
hätten, das man mit einem Pfluge bebauen könnte und zweihmdert
Schafe, dann wären wir nicht arm, fondern reich‘). — Das
Glück, die Befrierigung, die fie in und an ihrem Gemahle fand,
wurben ihr wehl auch zur Veranlaffung bitteren Seelenſchmerzes,
reuiger Zerfnirfchung, aber nicht, weil fie dieſem Güde fich über»
haupt, fondern nur zur Unzeit überließ, wie damals, al® fie während
der Meſſe ihre Augen wohlgefällig auf ihrem Gemahle zu lange ru»
ben ließ’). Der hohe Grad und die Nechtfertigung biefer ihrer Ber
friedigung in dieſem Verhältniffe Tag, von ben perfönlichen vertreffe
lichen Eigenfchaften des Landgrafen abgeſehen, gewiß vorzugsweife in dem
Umſtande, daß biefer ihren Gewohnheiten und Tugenden ter Demuth,
ber Barmherzigkeit, ver Weltverachtung, der Abtödtung, der ungetheil⸗
ten Hingabe an Gott unbedingte Billigung fchenkte, auch wo er ihr
nicht folgen konnte, während nach wie vor tie Verftimmung des in
feiner Lebensluſt dadurch geftörten Hofes fortpanerte. Jene Tugenden und
Triebe wareı, je mehr ver Geijt der Kirche biefe Richtung begünftigte,
in Glifabetb immer mächtiger bervorgetreten und machen ja gerabe
das Große, Wunderbare an ihr aus, namentlich die Tugend ber ‘Des
muth, der Barmherzigkeit, ver Wohlthätigfeit, Die praftifche Seite ih-
rer Froͤmmigkeit, die befonders darum foviel Eindruck machten, weil fie
in diefem Umfange, in dieſer Anfpruchlofigfeit, in dieſer Rückhalts⸗
) ©. Städlers Ueberfegung, Anhang XII, p. 573. (Fragment aus
Cifar v. H)
?) S. Annal. Reinhardsbr. p. 152, 17 und p. 153. Die ſog. Biſion,
it fo ganz im Geifte jener Zeit gehalten, daß man zur Erklärung feiner
fünflihen Annahme bedarf.
Z14 Sm; E Sep,
Umnst iberzi, bis te meze Bereir ter afigrmeinen Reth ein Ente
machte. a Eiienzd Ita Hirte we ein Heiritel für 24 burd
Alter uxe Kraulteit SGekrechſiche uk überncten zmyleich perjönlich vie
Gestrele wer eimen Theil ver Filege in remiclben Ges if kein
Zweite, tab diejes hehe Mark, in tem vie Zugene ver Barrcherzig⸗
leit nud Beltveracktung in ihr Gewalt gemuue, mit tem Geifle zu-
faumenhing, ter nit lange verber tur Fran; ron Alfıfi von Ita⸗
lien antgezangen war, wie es auch eine Thatjache ift, daß Eliſabeth
in ven tritten Grar tiefes Urten& eingetreten, unb in Gifenach eines
der erftien Möfter d. C. in Tentfchlaue gegrüntet worben ift; auf
ber anutern Eeite loͤnnen wir aber nur wiererhelen, daß bie vorgege-
benen perfönlichen Beziehungen zeifchen S. Franzitcut und Elifabeth vor»
erft mit antbentifcheren Beweiſen antgeftattet werten müſſen, che fie auf
Glaubwärtigteit Anſpruch machen lönnen.
Bir haben hier nun ver Allem tas Eine berverzußeben, daß biefe
von uns nur ſchwach angerentete eminente Lebung ber Werle ver Darm
berzigfeit fih ter ausgefprochenen Zuſtimmung ihres Gemahles erfreut
hat. Keine Spur tavon, daß fie irgendwie von ihm barin beengt wer-
ben wäre. Als Ludwig im Sommer 1226 zu feiner Gemahlin unentlicher
Freude und Genugthuung woehlbehalten aus Italien zurücklehrte unb
Elifabeth’8 Gegenpartei fofort über ihre fogenannte Verſchwendung
Beichwerve erhob, gab er die bünbige Antwort: „Laſſet fie ben ar»
men Leuten un Gotteswillen Gutes thun, wenn und nur die Wart⸗
burg und die Neuenburg zu unferer Herrfchaft bleiben“ ')., Darant
ergibt fich ſchon von felbft, daß Ludwig's Gemahlin in ihrem Wohl
thätigkeiteerange fich nie vor ihm zu fürchten und zu einer frommıen
Nothlüge zu greifen veranlaßt fein konnte. Die liebliche Sage von ber
wunderbaren Zerwandlung von Speifen, die Elifabeth im Korbe ven
Armen bringen wollte, in füß buftende Rofen, ift eben nicht® als eine
Cage, bie fpäter hinzugebichtet oder auf fie übertragen worden ift,
und fein glaubwürbiger authentifcher Bericht erzählt fie. Ueberhaupt
beruben alle die Wunder, die der Landbgräfin als bei ihren Lebzeiten
gefchehen zugefchrieben werben, darunter auch bie fogen. Kleiderwun⸗
) &. Kun. Reinh.
5m Sram, X. Wegele,
Ir tale es bereitẽ eben angedeutet, in ber Lebensperiode ver
N C:takurd, die seid idrer Serbeirathung und dem Tode ihres Gemah⸗
rs ixgr. dadet des Aritreten M. Konrad's von Marburg auf
der Burrerrg einen wichtigen Abſchnitt, deſſen Bedeutung für vie im
are Errmikleng derielben, ſo viel ich fehen Tann, alle Biographen
na EN cart lanen. Und dech kann bie in feinem Auftreten
wien Fürtarı miht wichtig genug genommen - werden. Um es
berz zu das: eritramd Kenrar'd unmittelbares Zuthun und fuftematifche
Fomtang ertæxicelt ñch in Eliſabeth jene eminent ascetiſche Richtung,
dee dera in idren legten Ichenejahren ben Höhepunft erreicht, bie,
ir ĩeit Bid moglich. zu einem Brauch mit ihrer Vergangenheit führte
art ihr dad Yeden und Thun ver dem Tode ihres Gemahls ale etwas
darcdous Ungerſgenades, ale etwae, wofür fie Buße zu thun habe, ale
ctmwad, weten ite alle Erinnerung aus;ulöjchen habe, erfcheinen ließ. Man
mag über dieſe Ummandlurg veufen wie man will, uns ift e8 der gefchicht«
tiben Wabdrdeit gegenüber zumächit nur darum zu thun, bie Thatfache zu
ceritativen, und wir werten die Beweiſe dafũr nicht ſchuldig bleiben. Diefe
Umwantlung, zu ter tie Keime allerdings in ihr gelegen haben, hat M.
Kenrad berkeigcfübrt, un? es bat dann an äußern Umſtänden nicht ge⸗
feblt, die Eliſabetb in dieſer Richtung auf's äußerſte trieben. Wir können
nicht umbin, ed auszuiprechen, M. Kourad hat einen Zwieſpalt in ihr Ins
neres geworien und Die ſchoͤne Harmenie ihrer Seele geftört. Jenem Zwie⸗
jpalt ift nur buch ben früben Tot tes Landgrafen fein gefährlichiter
Stachel genommen werten, und im übrigen hat fie ihn zulegt aller»
tings beſiegt, aber nur, indem fie alles, was ihr font lieb und theuer
war, voran Die Pflichten gegen ihre Kinter, vie natürlichite und hei⸗
ligſie aller menjchliiben Empfindungen, tie Wutterliebe, und, wir bes
fürchten es, bie beſeligende Grinnerung an ten doch fo heiß geliebten
Mann ihres Herzens zum Opfer bradıte. Dies war das Werk M.
Konrad's: dagegen jene herrlichen Tugenden ber Demuth und ber
Barmherzigkeit, um deren willen fie mit Recht zu allen Zeiten ale
ein unerreichtes Muſter verehrt wird, an ihnen hat Konrad keinen
Antheil, fie hatte fie im höchſten Maße geübt, ehe fie unter feinen
Einfluß gelangte, und wir werben hören, er hat fie in dieſer ihrer
Leidenſchaft — bie einzige, die fie hatte, wenn biefes Wort einer jol-
hen Zugend gegenüber gebraucht werben darf — wie er felbft cr-
Die Hi. Eliſabeth von Thfringen. 377.
st, — vielmehr zurückzuhalten und zügeln zu müſſen geglaubt, in
Neier Leidenſchaft, um deren willen fie von Anfang an zum Gefpötte
ver Beltlinver geworben ift und die Verfolgung und ten Haß ihrer
Umgebung auf fich gelaben hat. Wir fegen hier tie Bekanntſchaft
mit Konurad's Berfönlichkeit und Charakter im Allgemeinen voraus,
Reine Frage, er war eine bebeutenbe, eine innerhalb feiner Kirche damals
zum Siege brängende Richtung in einer gewiffen Vollenvung re«
präfentirende Natur. Gelehrt, berert, umeigennüßig, ber Sache,
ber er biente, mit ganzer Ueberzeugung zugethban, unfträflichen
Banbels, und es ift abfurd, in tiefer Beziehung irgend einem Zweifel
Raum zu geben, wie gefiheben ift. Aber er war zugleich eine durch⸗
6 einfeitige, herrfchfüchtige, in feiner Heberzeugung maßloſe Natur,
die auch von ben äußerften Gonfcquenzen ihres Etandpunftes nicht
urücdhchredte und nicht bloß, allertings im Einklange mit dev Lehre
der Theologen feines Jahrhunderts die mönchijche Asfefe und die Los⸗
Wang ven ter menſchlichen Geſellſchaft für vie hüchfte Leiftung
ves Chriften bielt, ſondern aud ter Meinung war, jede Ab»
weichung von ben Öruntfägen ber Kirche müſſe mit Feuer und Schwert
eines beifern belehrt werden. Bekanntlich war jeit dem Anfange des
13. Jahrhunderts zunächit in Südfrankreich die Häreſie Der Albigenfer
uud Waldenſer in rajcher Verbreitung aufgetreten, ähnliche Erfcheis
zungen waren im oberen Italien aufgetaucht, und auch in Deutſch⸗
land drohten fie um fich zu greifen, und bier wie überall follte fie mit
allen Mitteln erſtickt werden. Unter biefen Umftänden war M. Konrad
kereitö im J. 1214 von B. Innocenz III. zum Inquiſitor in Deutsche
land ernannt, und P. Gregor IX. hatte dieſes Mandat erneuert
und erweitert. Konrad hat fich vom Anfang an dieſem Auftrage mit ber
ganzen Energie feiner kräftigen Seele hingegeben, und es dauerte nicht
lange, fo loderten auch in Deutjchland einzelne Ccheiterhanfen ').
Es ift bekannt genug, daß einerjeits die Gefahr übertrieben war,
) S. ,. B. ba8 Chronicon 8. P. Erford. (bei Menken III. ad a. 1222)
demnah iR Eimon zu berichtigen, ber (1. c. €. 135— 6) ben Landgrafen
gewifjermaffen mit ber Bemerkung entſchuldigen will, jene Thätigleit M.
Konrad'e habe erſt kurz vor Ludwig's Tode den Anfang genommen.
378 Gran; Z. Biegele,
uub baß audrerſeits gerabe gegen das allzweifrige Borgeben Kcnran’6
zulegt eine heftige Reaction eintrat, der er, einige Jahre nach dem
Tote der bi. Eliſabeth, zum Opfer gefallen ift.
So befchaifen war ver merfwürbige Mann, welcher ver Entwidelung
umferer Heiligen die gefchilverte felgenreiche Wendung gegeben hat.
Konrad kann nicht lange ver tem Sabre 1226 in feiner Stellung als
Gewiſſensrath Clifabeth’6 eingetreten fein;') wir betonen viefe Zeit
beftimmung, weil fie für unfere bereit ansgeiprochene Auffaffung nicht
gleichgültig if. Ob, wie von fpätern berichtet wird, von Rom ans
Konrad zu diefem Poften empfohlen worben ift, müffen wir dahin ges
ftelit fein lafſen; unmöglich ift es nicht, ba ein ſo kirchlich gefiunter
Hof, wie damals der landgräfliche war, gewiß früh vie Aufmerkſam⸗
leit der römifchen Enrie auf fich gezogen bat, und es in ihrem In⸗
tereffe lag, ſich einer fo wichtigen Bofttion in jeder Weiſe zu verfichern.
Wie dem aber auch fei, die Berufung des Mannes nad) ver Wartburg,
ber als Inquiſitor bereits der Schreden von Deutfchlanb gewor⸗
den war, deſſen excluſive Gefinnungen fein Geheimniß fein konnten,
zeugt vor Allem für vie hochlirchlichen hingebenden Aufichten des
regierenden Yandgrafen felbft. Freilich hat man viefes Verkältuiß
von Vebertreibungen nicht frei zu erhalten verftanten, und wir hal
ten uns verpflichtet, ein bamit zuſammenhängendes Mißverftänteiß,
deffen fich alle Biographen Ludwig's und feiner Gemahlin ohne Ans-
nahme ſchuldig gemacht”), mit dem viele fogar groß gethan haben,
der Wahrheit gemäß, wie es fich gebührt, aufzullären. Es wirb näms-
lich erzählt, das Vertrauen des Lanbgrafen zu M. Konrad wäre fo
weit gegangen, baß er ihm die Befegung fämmtlicher geiftlichen Bene⸗
1) M. Konrad fazt das ſelbſt im feinem Briefe an Papſt Eregor IX.
(bet Leo Allatius, 1. oc.) : „Duobus annis, antequam mihi com-
mendaretur adhuc vivente marito suo, Confessor ejus existens, eto.“
Da der Landgraf im Sept. 1227 geftorben ift, unb Konrad fagt, er fei
zwei Jahre vorher Eliſabeth's Beichtvater geweſen, fo werben wir feinen
Eintritt in biefe Stellung in bie zweite Hälfte bes 3. 1225 zu ſetzen
haben.
?) Auch Hr. Simon if bier ſchlechthin ber herkömmlichen Weberlieferung
gefolgt.
880 Franz X. Wegele,
zunächſt und vorzugsweiſe gerufen war. Bei einer geiſtigen Organi⸗
ſation, wie wir fie an Eliſabeth kennen, bei der adtetifchen Tendenz,
wie fie eben jegt in den maßgebenden SKreifen ber Kirche durch
bebeutenve, ja große Männer gefchaffen und begünftigt wurbe, wer
wollte fi wundern, wenn eine fo empfängliche Natur, wie bie ber
Lantgräfin, fehrittweife unter jenes Syſtem der Aslefe und Selbfter-
tödtung gebeugt wurde, das damals als die evelfte Blüthe des Glau⸗
bens gepriefen wurde? Es bauerte nicht lange, fo gelobte fie ihrem
eifernben Beichtiger förmliche und feierlide Obedienz, und ber Laud⸗
graf gab feine Zuftimmung dazu und behielt ſich nur ausprüdlich feine
Rechte als Eheherr vor’), fo daß fie von uun an"im Gruube zwei
Herren zu geborchen hatte; ein Verhältniß, in dem offenbar und uns
vermeiblich die künſtliche Schöpfung eine Zwieſpaltes für ihre
Seele lag. Die geleiftete Obedienz war identifch mit ber Unterordnuug
unter die Vorfchriften ihres Meifters, dem es voller Ernft mit ber
Durchführung feiner Anfichten war. Zwar die zwölf Denkſprüche ober
Lebensregeln, vie er Elifabeth fpäter gab, haben durchaus nichts Ueber⸗
ſpanntes an fi, zumal wenn man fie nad) der Zeit und ven Um⸗
ftänden ihrer Entftehung beurtheilt *), aber feine Praris geht doch uns
endlich weit über fie hinaus. So war eines der erften Geſetze, deren
Defolgung Konrad von feinem Beichtfinde verlangte, daß fie fortan
an ihrem Tiſche nur von rechtmäßig und nicht auf Kojten anderer,
zunächſt der Kirche, erivorbenen Güter ftamınenden Speifen efjen vürfe’).
Sie gehorchte freudig dieſer Vorſchrift, obwohl fie bei der jtrengen
Auslegung ber „Rechtmäßigkeit“, die Konrad aufitellte, Häufig in bie
Lage kam, hungern ever mit trodnem Brode fich begnügen zu müflen,
und auch dieſem Geſetz gab ihr Gemahl feine Zuftimmung. Konrad
dehnte aber dieſe Borjchrift fegar dahin aus, daß fie auch an fremden
Tafeln feine Speije genießen bürfe, ehe fie fich von beren rechtmäßiger Er»
werbung überzeugt habe *), eine Forderung, in welcher denn doch eine un⸗
läugbare Forcirung und Ueberſpanntheit liegt, ſchon weil fie nicht zu er-
1) Diet. ancill. L. c. p. 1014 sq.: „— salvo tamen iure mariti sui.“
2) ©. Jufti, L c. p. 162, Anm. 3.
3) Dieta ancill. P. 1], p. 2014, c£. A. R p. 169, 24.
9) Dicta ancill. 1. c.
Die Hi. Eliſabeth von Thüringen. 881
füllen war. Erft jeßt ferner hören wir von jenen häufigen körper⸗
ſihen Züchtigungen, die zur Nachtzeit ihre Dienerinen ihr ertheilen
uehten.’) Die körperliche Züchtigung hielt Konrad ganz im mönchijchen
Geifte feines Jahrhunderts überhaupt für ein fehr wirtfames Mittel
kr Kuße und zur Seligfeit, wenbete fie Eliſabeth gegenüber aber, fo
lmge ihr Gemahl lebte, doch nicht an. Als fie einmal durch Vers
ſinniß einer Prebigt feinen frommen Zorn befonders gereizt hatte,
leſtrafte er fie mit feiner Ungnade, dagegen ihre Dienerinen, denen er
Ne Schuld ver Verſäumniß beimaß, wurden, bis aufs Hemde entklets
bet, empfindlich gezüchtigt.”) Der Hauptangriff Konrad's war aber
seen das eheliche Verhältniß der Landgräfin gerichtet, — ba bie
Theorie, vie derſelbe verfocht, in ven ehelofen Stund und ber feger
zanunten Enthaltfamkeit den wahren und nächſten Weg zum Himmel
erfannte. Freilich konnte es fih Konrad nicht beikommen lafjen, Eli
fateth von ihrem Gemahle losreißen zu wollen, und fie mußte bei ver
erachten Dbedienzleiftung ihm zunächſt nur das Gelöbniß ablegen,
falls fie den Landgrafen überleben follte, nicht wieder zu heirathen. ?)
Über Konrad fchreibt nach ihrem Tode an den Papjt, Clijabeth habe
im feinee Gegenwart ihr Bedauern darüber ansgefprochen, daß fie
überhanpt verheirathet worden fei und nicht als Jungfrau das Leben
babe beichließen Können. *) Wir find meit entfernt, die Slaubwürbig-
5) Dicta aneill. 1. c. p. 2015—16: „Item surgens & viro, in secreta 0#-
mera fecit se fortiter verberari per manus ancillarum .. . . et hoc
fecit frequenter, postquam fecit obedientiam Magistro
Conrado.“
®) Diet. aneill. 1. c. p. 2017, B.: „— et ancillac, quibus M. Conradus
eulpam imposuit, usquo ad camisiam spoliatae, bene sunt adeo ver-
beratae.‘“
2) Dicta ancill 1. c. p. 2014: „— ct promisit in manns Magistri sui
Conradi, quod sorvaret perpetuam continentiam, si contigeret cam
supervivere mortuo marito suo.“
%) ©. Epistola M. Conradi ad papam (I, c. p.270): „Dnobas an-
nis antequam mihi coınmendaretur, adhuc vivente marito suo, Con-
fessor ejus existens, ipsam querulantem reperi, quod aliquando
fuerit conjugio copulate, ct quod in virginali flore vitam prescutem
non poterat terminare.“
882 Franz X Wegele,
keit dieſer Nachricht in Zweifel zu ziehen, behaupten aber doch, daß
dieſe Aeußerung nicht die wirkliche Ueberzeugung Eliſabeths geweſen
iſt und daß ſich, indem ſie dieſelbe that, von außen bearbeitet wie ſie
offenbar war, über ſich ſelbſt getäuſcht hat. Oder wird jemand, ange⸗
ſichts des erwieſenen innigen und zärtlichen Verhältniſſes zu ihrem Ge⸗
mahle, das wir auch nachher unverändert finden, die Stimmung, aus
der eine ſolche Aeußerung hervorgehen konnte, für ihre normale aus⸗
geben wellen? Das ift es eben, was wir oben ben Zwieſpalt nann«
ten, den Konrad in ihrer Seele aufregte, und darüber können wir nicht
hinaus. Allerdings war Elifabeth’8 Gemahl namentlich feit 1225 auf
feinen verfchiedenen, im eigenen und im Intereſſe des Reichs unter» .
nommenen Zügen und Reifen jo häufig von der Wartburg abwefend,
daß eine Anfchauung, wie bie in Rebe ftehende, unter den gegebenen
Berbältniffen, in einer Natur wie fie einmal war, vorübergehend
Kaum finden konnte;’) was aber, ich fage nicht über die Ehe übers
haupt, fonvdern in Bezug auf ihre Ehe die wahre Meinung ber Land⸗
gräfin geweſen fet, das iſt fehon in der nächjten Zeit, und wie un
fcheint in unwiderſprechlicher Klarheit, zu Tage gelommen.
Am 11. Septbr. 1227 ftarb Eliſabeths Gemahl, Landgraf Lud⸗
wig IV., ferne von ihr in Otranto in Apulien, als er eben im
Begriff war, mit K. Friedrich IL von dort aus ben Kreuzzug
anzutreten, der für den Saifer, eben weil er nicht ausgeführt wurbe,
bie Quelle fo heftiger Anlagen von Seite des Papftes Gregor gewor-
den ift. Für den Landgrafen hatten zwei Momente zufammengewirft,
ihn zur Theilnahme an viefem Zuge zu ‚beftimmen, auf ber einen
Seite fein eminent frommer und kirchlicher Sinn, auf der andern feine
treue Gefinnung gegen Friedrich. Aus liebevoller Rüdficht für feine
Gemahlin, die eben gefegneten Leibes war, hatte er ihr dieſen feinen
Entſchluß längere Zeit verheimficht und das Kreuz nicht, wie es Sitte
war, an feinem Oberkleive angebeftet, fonbern trug es in feiner Ta⸗
fche; fie entdeckte es aber gleichwohl früher, als er es gewünfcht hatte,
und erſchrak bei deſſen Anblic jo heftig, daß fie darüber in Ohnmacht
3) Wir bemerken hier, daß bie fraglihe Aeußerung Eliſabeth'e in dem Zur
fammenbhange, in dem fie M. Konrad vorträgt, offenbar in bie Zeit der
Reife des Landgrafen zu Kaifer Friedrich II. (im J. 1226) zu fehen if.
884 Franz X. Wegele,
Dtrant, wie erwähnt, hinwegraffte.‘) So ftarb er in ber Bläthe
ber Mannesjugend, einer ver ebelften deutſchen Fürften, die je gelebt,
ein theures Opfer jenes Enthuſiasmus ber Kreuzzüge, dem es wie nur
den Wenigften gelungen war, Gott zu geben, was Gottes, dem Kai⸗
fer, wa® des Kaiſers, und dem ficher bei längerem Leben noch eine
große Rolle in den bald beginnenden Verwidlungen im beutfchen
Neiche befchieden gewefen wäre. Sein Tod war aber beſonders für
feine Hausländer eine Calamität, denn feine fchlinmen Ahnungen ha⸗
ben fich nur zu bald und in umfaffender Weife erfüllt; eine Calamität
insbefondere und noch vielmehr für fein Haus, das dadurch um eine
in Ausficht ftehende große Zukunft betrogen ward und auf bem feit
feinen Weggang kein Segen mehr gerubt hat. Man muß daher wohl
fagen, daß in die Geſchicke Feines deutſchen Fürftenhanfes die Kreuz-
züge fo verhängnißvell eingegriffen haben, al& in das Haus Lubwig’s
bes Bärtigen. —
Aber auch für Elifabeth ift ihres Gemahles früher Tod entfcheis
dend, auch für fie verbängnißvoll geworben; er bildet die Peripetie im
dem Drama ihres Lebens und eröffnet den dritten und letzten Alt
deffelben. In innigem Bunde mit Ludwig hatte fie bie höchften menſch⸗
lichen und religidfen. Tugenden entfaltet und das Gleichgewicht ber
Kräfte und Anlagen bewahrt, aus denen ihre fo bedeutend und eigen-
thümlich erganifirte Natur zufammengefegt war. Eine Folge von Zube
wig's Tod aber iit, daß fie dieſes Gleichgewicht verliert und bie
einfeitige ascetifche Richtung, in vie fie noch bei Lebzeiten deſſelben
unter Einwirkung ver Zeitjtimmung und insbefondere M. Konrad's,
wenn anch noch unentfchieden, eingelenft Hatte, in nicht langer Zeit
vollftändige Gewalt über fie gewinnt.
Elifabetb war nach dem erwähnten fchmerzensvollen Abfchiete von
ihrem Gemahle nach der Wartburg zurüdgefehrt und Hatte ſofort Witt-
wenfleiver angelegt. Ueber bie nüchftfolgenden Pionate ihrer Cinfamleit
find wir fo gut als gar nicht unterrichtet; beſonders troftreich wird
dieſe Zeit nicht für fie gewefen fein, da ihre Schwiegermutter und ihre
beiden Schwäger, teren Einfluß naturgemäß bei ver Abweſenheit des
Landgrafen fteigen mußte, aus uns befannten Gründen ihr keineswege
) S. A. R. p. 205-207.
Die Hi. Efifabeth von Thüringen. 385
freundlich gefinnt waren. Wir willen nur bas Cine mit Gewifheit,
tag fie in diefen Monaten ihr drittes Kind (die jpätere Nebtiffin Gertrud
von Altenburg bei Wetlar) geboren hat und noch leidend war, als in Ver⸗
Lanfe nes Oftcbers (1227) vie Botfchaft von dem unerwarteten Ableben ih-
res Gemahls auf ver Wartburg anlangte. Elifabetd war auf cine foldhe
Kunde nicht gefaßt und wurde von ihr zunächft vollſtändig übermältigt.
„Als fie die Worte: er ijt todt! hörte — erzählt Kaplan Bertold —
Tchleß fie die Hände frampfhaft zufammen, legte fie mit gebeugtem
Haupte auf ihre Kniee und rief aus: „Todt, todt ijt mir nun auch
rie Welt mit ihrer Luſt und Freude!“'), dann ſtand fie auf, irrte wie
ander fih und laut weinend in fchmerzhaftem Ungeftim im Zimmer
Yin und her und Hammerte fi) an den Wänten an, bis fie zulegt wic«
ver Befinnung und Fafjung gewann.” Wir knüpfen hieran im Vorbeigehen
vie Frage, ob die eben gefchilvderte Haltung ver Heiligen bei der
Nachricht ven ihres Gemahles Tore nicht ein redenter Beweis für
unfere Auslegung und Würkigung jener Yemerlung M. Konrads in
feinem Briefe an ten Papft ift? Gewiß, über tie Che im Nilgemei«
nen hat Elifabeth ficher und ohne Beſchränkung die Anſchauung ihres
Meifters und der Theologen jener Zeit getheilt, wir wiederholen aber uns
fere Behauptung, daß fie in Bezug auf ihre eigene Ehejene gedachte Aeuße⸗
rang nur in einen fchwachen Augenblide und gegen ihre normale
und wahre Empfindung gethan hat. Es verging doch auch nach
Lupwige Tod noch einige Zeit, bis fie auf dieſem Standpunkte ans
langte: denn angelangt ift fie in der That auf demſelben. Gleich bie
nichften Greigniffe, vie fie trafen, Haben in Verbindung mit dem
fur; zuvor erlittenen unerwarteten und umnerfeglichen Verluſte
tie Zeitigung tiefes ihres letzten Entwickelungsſtadiums befchleu-
tigt. Die Nahriht von tem Ableben tes Lanbgrafen hatte
nemlich auf ter Martburg einen Syſtem⸗ oder Parteimechfel zur
Felge, der fih vor allem gegen deſſen Wittwe fehrte. Der Iegitime
Erbe und Nachfolger Ludwigs war nach der bisher im landgräflichen
Saufe beobachteten Praxis ohne Zweifel deſſen Erftgeboruer, Her»
mann (II.); da biefer aber erft vier Fahre zählte, fo fiel Ludwigs
) S. A. R. p. 208: „Mortuus, mortuus est et mihi mundus et omne
quod in mundo blanditur.“
diterifäe Beitfärift V. Band. 25
386 Sranz X. Wegele,
jüngerem Bruder, Heinrich Raſpe IV., die Vormundſchaft und
Regentſchaft zu. Indeß iſt es gewiß, daß im gegenwärtigen Falle
dieſe Praxis verlaſſen oder verletzt wurde: Heinrich Raſpe nahm ſtatt
der Vormundſchaft und Regentſchaft vie landgräfliche Würde ſelbſt
an ſich, ließ auch ſeinen jüngeren Bruder Konrad, (ten ſpäteren
Hochmeiſter des Ordens) an dieſer Würde theilnehmen, der junge Her
mann endlich wurde nur als der Dritte im Bunde betrachtet und
zunächft mit Heſſen abgefunden. Die Verſuchung an eine Uſurpation
von Seite ver Oheime bes legitimen Erben zu venlen, liegt nahe, wenig⸗
ftens ijt es unzweifelhaft, daß Landgraf Ludwig IV. vor jeinem Tode feine
derartige Anerbnung getroffen und nur in feinem Schne feineu
zukünftigen Nachfelger erblidt dat‘). Zwar waren bie Zuftänte im
Neiche im Augenblide noch nicht jo verwirrt, daß man eine ſolche
Rechtsverletzung für jo leicht tenkbar und möglich Halten Lürfte: indeß
läßt fih der ganze Hergang in jeiner Anomalie auf antere Weife
faum erklären und jtcht überdieß mit dem Charakter Heinrich
Raſpes' nach allem, was wir ſonſt davon wiſſen, in keinem Widerſpruch.
Die fpätere Anerkennung dieſer Ujurpation von Seite des Kaiſers
muß dann allerdings Hinzugetreten fein, inteß biefe bot, wie bie Dinge
lagen, wohl die geringjte Schwicrigfeit, und ijt offenbar auch erfelgt,
da jene Abweichung von der herkömmlichen Succejjiensortnung nie
mals angefochten worden ijt ‘). Nur durch die Annahme einer Ufjurs
pation wird ver Schlag begreiflih, der noch i. J. 1227 gerade von
Heinrich Raſpe auf Elijabeth und ihre Kinder geführt worten ifl.
Die Oppefition gegen Elifabeth und ven ven ihr angegebenen Ton
hatte, fo lange ihr Gemahl gelebt, ſchweigen mülfen, brach aber jet
mit um fo leidenfchaftlicherer Gewalt wierer hervor. An der Spige
berfelben ftanven die beiden Brüder des verjterbeuen Yantgrafen, eben
jener Heinrich und Konrad: ver erftere ein zweideutiger Charakter, ber
’) Es geht das gleich aus ber Urkunde 8. Fried rich I. v. Eept. 1227
(Spieß archivaliſche Nebenarbeiten, I. p. 147) hervor, worin berfelbe dem
bei ihm weilenden Landgrafen Ludwig IV. zm Liebe aud beffen Sohn
und Erben eventuell mit Meißen belehnt.
2) ©. über diefen dunklen Hergang auch Ficker: Vom Reichefürftenfand, L
©. 250 — 201.
Die hl. Giſabeih von Thüringen. 887
fh nach feiner Seite hin ein gute® Andenken zu fchaffen verftanven
Sat, ber andere eine heißhlütige, wilde Natur, aber offenbar von uns
enblich tieferem Schalte als fein Bruder, er bat auch fpäter, wie be«
Bamnt, bie befferen Seiten feines Wefens malten laffen und vie Erin-
zerung an feine ungebänbigte Jugend durch rühmliche Selbftüberwin-
bung auegelöfht. Diefe Partei hatte in ihren Abfichten um fo
leichtere Spiel, als ein guter Theil tes thüringifchen Avels und ter
fantgräflichen Dienftmannfchaft, darunter die ohnedem nicht zahlreichen
Unhänger Elifabeths, vom Kreuzzuge noch nicht heimgefehrt waren.
So war fie ſchutzlos und wehrlos dem Haffe ihrer Gegner ausge
Liefert , die für eine Erſcheinung wie tiefe war nie ein Verſtändniß
gehabt und, ihrer Meinung nach wenigjtens, unter ihrer Herrichaft zu lei⸗
ven gehabt hatten, ja, und dieß vielleicht nicht ohne einen gewilien Schein
ver Wahrheit, fich einredeten, das Intereſſe des Haufes und Landes
verlange es fogar, die Verſchwenderin unjchäblich zu machen. Das
Ergebniß diefer Stimmung war danu jene Ujurpation und Die Bere
treibung Eliſabeths und ihrer Kinder von der Wartburg; wie
eine Bettlerin wurte die Königstochter roh und mitleivlos in winter-
Giher Jahreszeit vor die Thüre gejtojfen. Auch diefer Hergang ift
etwas dunkel und munche Frage, bie fich aufträngt, bleibt unbeant»
wortet; im Wefentlichen wird man aber über die Gegenſätze zweier
amverföhnlicher Pebendauffaffungen und vie Anwendung roher Gewalt
wicht hinauskommen. M. Konrad jcheint während dieſer Kata—
ſtrophe abweſend gewefen zu fein, und vie Schwiegermutter Eliſabeth's
Rand ja auf Seite ihrer Feinde ; nicht einmal das unläugbare Anrecht
der Vertriebenen auf ihr vertragsmäßiges Witthum wurde anerkannt:
uud es will uns taher bedünken, wenn eine ſolche Beraubung und
Berftoßung gegen alles Recht gefchehen durfte, fo gehörte auch bie
Ufurpation nicht zu den unmöglichen Dingen. Eliſabeth brachte bie
nächſten Monate in Eifenach unter ven äußerſten Entbehrungen und
Demüthigungen zu und mußte bier die bittere Erfahrung machen, vaß
vie Bevölkerung ver Stadt, die von ihr in der Zeit ihrer Macht mit Wohl⸗
thaten überfchüttet worden war, aus Furcht ver dem neuen Herrn es nicht
wagte, in ihrem gegenwärtigen Hilflofen Zuftante ihr Theilnahme und
Mitleid zu bezeugen, ja daß fie felbit ven folchen mißhantelt und
verhöhnt wurde, an benen fie fich in befonderem Grate barmherzig
2b *
388 Franz X. Wegele,
bewiejen hatte. Und nun wird es uns kaum wundern, wenn viefe
Wendung ihres Schickſals eine Krifis iu ihrer Seele zur Folge Hatte,
bie im Zuſammentreffen mit der urſprünglichen Stimmung ihrer Na-
tur und allem Vorausgegangenen mit einer velljtäntrigen Ablehr
von ber Welt und allem, was fie noch an biefe gefefjelt hatte, und
mit einem abfeluten Aufgehen in ten Theorien M. Konrads enbigte.
Die Nichtigkeit des irdiſchen Glüdes war mit und feit dem Tode
ihre® Gemahls zu überwältigend über fie hereingebrochen, ale daß
man erjtaunen dürfte, wenn fie bie von ver Kirche gerade damals mit
ho nachtrudsvollem Eifer geprebigte Lehre von jener Nichtigkeit auch
in ben legten Conſequenzen zu aboptiren nun geneigt wurde.
War fie vorläufig doch in eine Lage verfegt, in ver fie nicht einmal
ihre einzige Leidenfchaft, das Elend ihrer Mitmenſchen zu lindern,
zu befriedigen vermochte. So ergab fie ſich denn mit rührender Faf-
fung in das über jie verhängte Loos und banfte ihrem Gotte für bie
Heimfuchung, mit ber er fie begnabete. In diefe Zeit fällt jene Bi⸗
fion, die ihre Dienerin Gijentrud erzählt’), und bie, auf ihren Kern
zurückgeführt, ihren jegt gefaßten Entfchluß, fortan Gott ausſchließlich
angehören zu wollen, jo bezeichnend ausprüdt. Diefe fogenanuten Bir
fionen kehren ven nun an häufig bei ihr wieder und find als das Er-
zeugnig ihrer durch das Unglück gehobenen und gejteigerten, inneren
Erregung aufzufaffen. Es gehört übrigens zur Charakteriſtik ver
Heiligen, daR fie, wie ihre cben genannte Dienerin verfichert, faft nie
zu bewegen war, ten Inhalt ihrer fubjectiv glaubwürbigen Vifionen
zus offenbaren, was bie eifrige Nachwelt (db. h. die Bollanviften) freilich
nicht abgehalten hat, ein ganzes Buch über bie ihr angeblich zu Theil
gewordenen Gefichte zu jchreiben.
Während fo Gfifabeth in ihrer Bedrängniß in Thüringen keine hilfe
reihe Hand fand — und es wirft diefe Thatjache doch ein bebenfliches
Licht auf jene Verhältnijfe und Menfchen — traten enblich ihre müt⸗
terlihen Verwandten wenigftens in fo weit für fie ein, baß fie bie
Verlaſſene zu fih nahmen. Ihre Tante Mathilde, Aebtiffin im Klofter Ki⸗
Bingen in Franken, lich fie im Frühjahre 1224 nebft ihren beiden Diene⸗
rinnen zu fich abhelen, während die Kinder, es ift nicht au&gemacht wo,
') Dicta ancill. 1 c. p. 2020.
Die Hi. Efifabeth von Thüringen. 389
jurädblieken '). Bon Kitzingen rief fie ihr Oheim, Biſchof Efbert, von
Yamberg, der feit längerer Zeit wieder in feine Ehrenund Würben einges
fegt war, zu ſich und wies ihr das Schloß Pottenftein zum Wohnfige
an. Hier nun wurde ihre Zukunft ernfthaft erwogen. ‘Der Bifchof, der
sen ihrem Seelenzuftand nur fehr im Allgemeinen unterrichtet ges
wefen zu fein fcheint, bätte fie am liebften wieder verheirathet, um
fo ihrer ungewiſſen und wie ihm fchien unmürbigen age ein gründ«
liches Ende zu machen!). Aber tiefe Zumuthung wies Elifabeth mit
ver entfchleifenften Entfchiebenheit von fich: jetzt mehr als je war jes
mes Sclöbnif, das fie noch bei Lebzeiten ihres Gemahls in M. Kon⸗
rads Hände abgelegt hatte, für fie von bindender Kraft, und gewiß
ehne daß dabei irgend eine Selbftüberwindung für fie nöthig war.
Sie war entfchleffen, einer folchen Zumuthung „mit Wort und That“
ju wiberftehen und, wenn ihr nichts anderes übrig gelajfen würde,
Reber durch Selbſtverſtümmelung einer folchen Gefahr zuvorzukom⸗
men ?). Diefe Stimmung hielt fie übrigens noch nicht ab, bie Grinnerung
an ihren Gemahl nach wie vor heilig zu halten. Eben jetzt kamen
die Begleiter Lubwigs vom Kreuzzuge, ven fie ihrerfeits wirklich aus⸗
gefühert Hatten, mit den Gebeinen deſſelben auf tem Wege nach ver
Heimath durch Bamberg, wo fie feierlich empfangen wurben. Die Ges
beine wurben im Dome auegeftellt, Elifabeth war aus PRottenftein her:
beigernfen werben. Ihre Haltung bei dieſem Wiederſehen ift für
aufere Auffaffung ihres Verhäftnijfes zu ihren Gemahle von befon«
N Daß auch die Kinber Eliſabethe mit nach Franken genommen worben
feien, wie noch Simon, (l. c. &. 115) erzählt, habe ich in ben glaub-
wärbigen Quellen nicht finden lännen.
2) Die Ueberlieferung , daß 8. Friedrich 11. Elifabeth zur Gemahlin be-
gebrt habe, iR zu jung und leibet au an zu vielen äußeren und in-
neren Unwahrfcheinlichleiten, ala baß fie Glauben verdiente.
”) ©, Dicta ancill. P. III. p. 2021. „— quia non conditionaliter,
si amicis meis placcret, sed absolute vovi integerrimam Cuntinentiam
post mortem mariti mei, ct si avunculus meus me invitam alicni
tradiderit, animo et verbis dissentiam, ct si aliam vinm evadendi
non haberem, secrete proprium nasum meum truncarem,
et sic nullus curaret me tamı deformiter mutilatam.“
390 Franz X. WBegele,
berer Wichtigkeit, und glüdlicher Weife find wir Durch zwei Augenzeugen
zur Genüge davon unterrichtet *). Der faum bezähmte Schmerz erwachte
wieder, und die Empfindungen, tie fie bei diefem Zufammentreffen
geäußert hat, athmen theilg eine unbedingte Ergebenheit in den Rath»
ihluß ver Vorfehung, teils bezeugen fie ihre Liebe und ihr in biefer
Liebe gefundenes Glück in einer Beſtimmtheit, die gegen jene öfters
berührte Acußerung M. Konrads, injoferne fie als ber Ausprud ihrer
normalen Anſchauung gelten foll, unwiderſprechlichen Proteft einlegt.
„Herr, — fofprac fie u. a. — du weißt wehl daß ich, fall es dein
beiliger Wille gewefen wäre, fein (Ludwig's) Leben und fein liebliches,
fröhliches Angeficht aller Freude und Wonne tiefer Erbe vorgezogen
hätte. Gerne würde ich die ganze Zeit meines Lebens in Armuth
und Dürftigfeit hinbringen, wenn ich mit deinem Willen feinen Um—
gang hätte "genießen können. Nun aber befehle ich ihn und mich dei⸗
ner Gnade und möchte ihn gegen deinen Willen auch nicht mit vem
Heinften Baare meines Hauptes in's Leben zurückrufen.“ — Die
thüringifchen Herrn, bie die Gebeine des Landgrafen nach Haufe ges
leiteten,, und voran ver ritterliche NMutolf von Vargula, prüdten nun
ihren Wunfch aus, Elifabeth möge mit ihren beimziehen, und Bifchof
Ebert geftattete dies gegen das ausbrüdliche Verfprechen, daß fie
feiner gefränften Nichte zu ihrem Rechte verhelfen wollten So ging
denn bie vertriebene Fürftin unter dem Schutze jener Braven wierer
nah Thüringen zurüd: mit ver NReclamirung ihrer zu Recht begrün-
beten und jo ſchwer gekränkten Anſprüche war fie durchweg einver-
ftanden. Im Kl. Reinharpsbrunn, wo unter zahlreichem Zuſam⸗
menfluß von Theilnehmenden die Beerdigung ver Gebeine Ludwigs jtatt-
fand, hat dann ver Schenf Rudolf fein verpfündetes Wort eingelöft und dem
Landgrafen Heinrich in muthigen Worten bag an der Wittwe feines Bru-
ders begangene Unrecht wenigſtens mit fcheinbarem Erfolge zu Gemüthe
geführt. Elifabeth wurde, wie fiedas wünfchte, in ihr Leibgeding und Wit⸗
thum eingefegt und follte auf ver Wartburg mohnen : obauch die Anfprüche
ihres Sohnes bei diefer Gelegenheit betrieben werten find, darüber
find wir in keiner Weife unterrichtet. Indeß vie guten Vorſätze tes
) ©. A. R. p. 210 und Dicta ancill. P. 11. (l. c. p. 2021, B.)
Die HL. Eliſabeth von Thüringen. j 391
Landgrafen Heinrich R. haben nicht lange nachgehalten; auf bie
Wartburg mit ihren Kindern zurücigefehrt, ſah Elifabeth fich bald genug
wieder ter drüdentiten Dürftigkcit und Zurückſetzung preisgegeben,
wie das eine ihrer Dienerinnen ausprüclich verſichert'). Wohl mög«
Lech, daß ihre früheren Gegner am Hofe es dem charakterlofen Fürften
um jo leichter wieder abgewannen, als Elifabeth, in Folge des in ihr
nach Tem Tore des Geinahls eingetretenen Wnfchwunges, den wir im
Auge behalten müffen, jest in gefteigertem Grade ſich den Urfachen
ügrer früheren Berfolgungen, ver Weltverachtung und den Tugenden
ver Darmberzigfeit Hingab. Ich darf hier nicht unterlaffen zu bes
merten, daß tiefe mißgünftige Behandlung Klifabeths nicht bloß dem
böfen Willen der Betreffenden zugefchrieben werben darf; eine fo ano»
male ud biegewöhnlichen Yebensanfichten in fo ungewöhnlicher Weife zu—
rũckweiſende Erfcheinung durfte doch faum darauf hoffen, von den ges
wöhntichen Menfchen, die fich bekanntlich ftets in ftarler Majorität befins
den, verſtanden oder gebultet zu werben. Indeß fcheinen gerade in biefer
Zeit ihre auf's Neue bedrohten öfonomifchen Angelegenheiten radical und
ein für allemal georonet worben zu fein, und zwar ijt diefer Akt zunächft
von M. Konrad. M. und, wenn michnicht Alles täufcht, unter Bermit-
wlıng P. Gregor IX. purchgeführt worden“). Wir erinnern ung, wie
man höchſt wahrjcheinlicher Weife ſchon früh, noch unter P. Honos
sin 6 IIL, ven Rom aus den ergebenen thäringifchen Hof, und vor
allem tie fromme Landgräfin in's Auge gefaßt hatte; daß Gregor IX,
darch M. Konrad veranlaft, für Elijabeth perfönliche Theilnahme bezengt
bat, ift eine ausgemachte Sache. Sicher erfannte er die Zierbe und den
Ruhm, der in ihr ber Kirche heranwuchs, und hatte darum befchlofe
fen, im ©eijte feiner Zeit und feiner Kirche nichts zu unterlaffen, was
vie Potenzirung dieſer außerordentlichen Erfcheinung beförtern konnte.
Es macht in der That den Eindruck, als follte im Sinne des Papftes
am Eliſabeth ein Meiſterſtück chriftlicher Volltommenheit geliefert wer«
ven. Daher fette Gregor jetzt ihren früheren Beichtvater — natür«
lich mit ihrer abfolut freien Zuftimmung — mit unbefchräntter Ges
ı) Dicta ancill. ©. III. p. 2021. C.
N Dicta ancilL (l. c.) ©. Ill. p. 2022. B—C.
392 Franz X. Wegele,
walt als Vormund in weltlichen und geiftigen Dingen über fie, ale
Führer , dem fie unbebingt zu gehorchen und dem gegenüber fie feinen
Willen mehr haben vürfe, ber ihr nach eigenem abfoluten Ermeſſen
den Weg zum höchjten Ziele zu weilen babe’): fo wenigftens hat
M. Konrad fein Mandat aufgefoht. Es muß indeß hervorgehoben
werben, daß Elifabeth in ver Abficht, wie es mit ihrem ferneren Les
ben gehalten werben folle, nicht ganz mit M. Konrab übereinftinmte.
Sie hätte fih am liebften in ein Recluſorium eingefchloffen oder wäre
als Bettlerin von Thüre zu Thüre gezogen. Das erzählt M. Kon
rad in feinem Briefe an den Papft felbft, fügt aber anch hinzu, daß
er ihr das, obwohl fie ihn unter vielen Thränen darum bat, nicht er⸗
laubt habe. Und num erjt habe fie (am Charfreitag 1229) feierlich
in ber Minoritenlirhe zu Eiſenach dem eigenen Willen und ber
Welt und allen ihren Freuden entfagt —, d. h. fie that, was M. Kon⸗
rad zuließ — und hätte auch ihren Befigthümern entjagt, wenn er
es zugegeben hätte.
An dieſe feierlihe und wenn auch nur fubjectio bindende
Unterordnung unter einen fremden Willen fchließt fi bie Ueber-
fierlung Clifabet58 nah Marburg im Verlaufe des Jahres 1229
an. Angefichts tiefer Thatſache ſtößt uns nur ein Bedenken
über bie intelfectuelle Urheberſchaft viefer Weberfiebelung auf,
das in zwei verfchieden lautenden und doch gleich glaubwür⸗
digen Nachrichten feinen Grund bat. M. Konrab nemlich er⸗
zählt in feinem Briefe an ven Papſt, Klifabeth fei ihm wi-
der feinen Willen nach Marburg gefolgt”); dagegen ihre Die-
nerin Eifentrud hat bie befchwerene Ausfage gethan, ihre Her⸗
rin ſei auf M. Konrad's Geheiß nah Warburg übergefiebelt’).
Bon diefen von einander abweichenden Angaben Tann offenbar nur
Eine wahr fein, uud man wird fich für die Ausfage Konrads oder
ber Dienerin entfcheiden müfjen, eine vermittelnde Auslegung ift un«
) ©. ben öfters angeführten Brief M. Konrads an ben Papſt, worin R.
feine frühere unb fpätere Stellung bei Elifabeth felbft Deutlich unterfcheibet.
?) ©. Epistola M. Conradi de M. 1. c. p. 271 (unten) „— me, licet
invitum, secuta est Marburch.“
2) Dieta ancill. 1. c. P. 11I. p. 2021. C. „— donec ad mandatum
M. Conradi Marburch se transtulit.“
Die Hl. Eliſabeth von Thüringen. 3093
möalich. Sollen wir unfere Anficht äußern, fo können wir nicht
smbin, ber Angabe der Gifentrud in dieſem alle den Verzug
ud tie höhere Glaubwürdigkeit einzuräumen. Nachdem einmal Elis
fabet& ihren eigenen Willen abgefchworen,, nachtem M. Konrad, wie
wir eben gehört, ihr zweierlei Yebensweifen, bie fie nacheinander hatte
wählen wollen, kraft feiner Autorität verboten hatte, ift e8 nicht wahr⸗
fcheinlich, daß fie witer feinen anegefprochenen Willen ihm von ber
Wartburg hätte nach Eifenach folgen können; das um fo weniger,
als eine entgegengejegte und durch nichts fich widerſprechende Nachricht
verliegt, zu ſchweigen davon, daß es nicht recht klar ift, was Konrad,
obwohl er wahrfcheinlich ans Warburg ftamnıte, außertem plöglich hätte
keftimmen können, auf Jahre hinaus vafelbft feinen bleibenden Aufenthalt
zu nehmen, während e8 fehr nahe lag, daß er Marburg als einen geeignes
ten Aufenthaltsort für die verwittwete Landgräfin hielt, da diefer Ort ihr
als Leibgebinge vertragemäßig ftipulirt war. Indem alfo Konrad
einige Fahre fpäter in der erwähnten Weife an ven Papſt ſchrieb,
muß er fich in einer Selbfttäufehung befunden haben, tie ihm übrie
gene nicht mißdeutet werben darf, ba nicht einzufehen ift, zu welchem
Zwede er abfichtlich hätte tie Wahrheit entftellen follen, und auch
außerdem gegen feine (jubjeftive) Wahrhaftigkeit Teinerlei Zweifels⸗
grũnde vorliegen.
Was nun den Aufenthalt ver Hi. Elifabeth in Marburg anlangt,
fo können wir uns tarüber furz fallen, ta feine Beranlaffung zu
thatfächlichen Berichtigungen geboten ift und derſelbe hei aller Eigen»
thämlichleit Mar vor uns Liegt. Sie hat über zwei Jahre tafelbft
sugebracht,, etwa vom Sommer 1229 bis zu ihrem Tere (19. Nov.
1231). Ihr Leben in viefer Zeit, das ihren Ruf bei ter Mitwelt
aufs Höchſte gefteigert hat, bewegt fich in zwei Richtungen, deren
Einien, im Grunde von einander unabhängig, neben einander laufen.
Die eine ift die Lebung ter Werke und Tugenden ber Barmherzig⸗
keit, zu ber fie jegt und zwar im potenzivten Grabe und mit einer
Aufopferung und Hingebung ohne gleichen zurüdfchrte. Sie hat gleich
anfangs in Marburg aus cigenen Mitteln cin reich ausgeſtattetes
Sefpital gegründet und deſſen Yeitung felber übernemmen. In dicfer
Zeit Kat fie auch die weltliche Kleidung, die fie bis jegt noch trug,
abgelegt und zugleich mit ihren Dienerinnen das graue Gewand ber
394 Franz X. Wegele,
Schweſtern des hl. Franziskus angezogen. Sich ſelber bat fie vie
höchſten Entbehrungen zugemuthet, dagegen Alles, über was fie an
Geld und Gelveswerth verfügen kounte, an die Armen unb Yeirenden
vertbeilt. Bereutente Summen ohne Zweifel: man wird aber doch
gut thun, die überlieferten bechgehenden Zahlenangaben etwas vor:
fichtig hinzunehmen. Immerhin aber bleibt gewiß, im Gefichtepuntte
der praftijchen Nüchftenliebe bat Eliſabeth das Höchfte erreicht, was
im Veittelalter von einer einzeln ftehenven Berfänlichkeit, namentlich
einer ſchwachen Frau, auf diefem Gebiete geleitet worven ift.
Ihre andere Richtung biefer Zeit anlangend, fo ift dieſe a&cetifcher
Natur, nicht Selbftverläugnung fondern Selbitertöbtung, und gränzt
nahezu an einen Bruch mit ihrer Vergangenheit. Daß biefe Richtung,
zu der es ihr an Prätifpofition zwar kaum gefehlt hat, burch beſon⸗
ders hinzutretende Umftände und namentlich durch bie ſyſtematiſche
Einwirkung M. Konrad's in ihr bis zu einem fo hohen Grab ent-
widelt worten ift, darf, fo weit wir fehen, nicht wohl bezweifelt wer-
ten. Konrad fette feinen Willen geradezu an die Stelle des ihrigen
und führte bie Rolle eines Zuchtmeifterd zur chriftlichen Vollendung
im ganzen Unfange und unerbittlic durch. Wir haben es fchon ein⸗
mal angebeutet: die edle Neigung Eliſabeth's, Alles dem vürftigen
Nächften hinzugeben, hat er, fpontanerer Natur wie diefelbe war, in
feiner Weife gepflegt, er hat fie vielmehr zurüdgehalten und, wie er
das felbft erzählt, verhinbert, vaß fie fich nicht von allem Befigthum,
das ihr noch übrig war, losfagte; er legte ferner ihrer perfönlichen
Aufopferung gegenüber ven Kranken mit rauher Hand den Zügel an:
dagegen in vie äußerſten Gebiete ver Afcefe, der Selbſtvernichtung,
bat er fie ficher hineingelenft, chne daß fie freilich auch hier ſchwer
zu lenken war. So hat fie fich denn widerſtandelos und mit volle
ſtändiger Selbftbefriedigung ergeben. Selbft ihre Kinder, die jie mit
nah Marburg genommen hatte, gab fie von fi, und brachte es
dahin, fie nicht mehr als ihre eigenen, fie mit feinem anderen
Gefühle als jeden anderen Menfchen zu betrachten‘), eine Re—
1) 5. Dicta ancillarum S. Ill p 2022. D. „Itcm Deco teste pueros
meos curo ut alium pruximum“; Doo commisi eos, faciat de eis
quod sibi placcat.
Die Hl. Eliſabeth von Thüringen. 395
fignatien, bie freilidy für ihren Erftgebornen fchlimm ausgeſchlagen hat,
der unter liebevoller mütterlicher Erziehung uud Uecberwachung wohl
nicht das Opfer freinver Gleichgiltigfeit und wie es fcheint, ber
Berführung geworten wäre. War Elifabeth ja überhaupt auf dem
Standpunkte angelangt, daß fie ihr früheres Leben, das fie zur Zeit
ihres Gemahls als Laudgräfin geführt, dieſes Leben voller Tugenden
und Aufopferung, durch Buße und Abtödtung auszugleichen habe ').
Die Bermuthung liegt nahe, daß fie bei diefer Stimmung, und nach
ver Hingabe ihrer Kinder auch bie tröftende Erinnerung an ihren
Gemahl Hingeopfert, und daß audy Er ihr nur mehr fo viel wie jeder andere
IKenjch beveutet habe. Ein Umſtand übrigens zeugt Doch wicher für ihre
außerortentliche und merfwürtig angelegte Natur. Sie hat nie die Hei«
terfeit ihres Geiftes verloren und ift bei allem Ernſt ihrer entjagen-
ven Lebensanfchauung niemals in wiberlichen Trübſinn verfallen. M.
Konrad war ein ftrenger Führer: in tem Beftreben, ihren Willen
vollſtändig zu brechen, griff er, getreu ber Gewohnheit jener Zeit, wo
er jeine Vorjchriften verlegt jah, in ber Regel zu ter Strafe ber
törperlichen Züchtigung, tie er Eliſabeth gegenüber zu Zeiten ihres
Gemahls und aleihr bloßer Gewiſſensrath nech nicht angewendet hatte. Ba⸗
denftreiche, tie er ihr ertheilte, waren ver häufig ſich wiederholende Aus»
druck jeiner Mißbilligung irgend einer auch an fich guten, aber von ihm ver«
pönten Hantlung, Stodjchläge und Geißelhiebe auf dem entblößten Rüden
tie Strafe für die Uebertretung einer von ihm gegebenen Vorſchrift. Ein
ienender Qruter vollzog in ſolchen Fällen vie Exekution und M.
Konrad fang Das Miferere dazu Zuletzt, um das Gedächtniß an
isre frühere Zeit volljtäntig todt zu legen, entfernte er fogar ihre
beiten Dienerinnen, die von jeher durchweg mit ihr fympathifirten,
ven ihrer Scite und erfegte fie mit zwei ältlichen wirermwärtigen
drauen, dic es verftanden, ganz in feinem Sinne, ihre Geruld auf
vie fchwerften Proben zu ftellen. Wenn unter biefen Umſtänden von
tem Fanatismus ihres Meifters etwas auf Elijaberh übergegangen ift, tür«
) S den Brief M. Konrad's von M. an ten Papſt, 1. o. p. 472 — „et
quasi mulicr indubitanter prudentissima, vitam suam ante actam
mihi recolligens dixit, sibi necesso case, talitcr contraria Contrariis
curare‘‘.
396 Franz X. Wegele,
fen wir uns nicht wundern. So lefen wir wirklich, baß fie z. B. iu
biefer Zeit gegen eine alte Frau mit Ruthenhieben mit eigener Hand
einfchritt, weil viefelbe nicht zur Beichte gehen wollte. Andererſeits
wieder erhob fie fich in Folge des ihr innewohnenden und nicht zu er⸗
ftidenven gefunden Idealismus über fo manches Vorurtheil ihrer Umges
bung. So wurde fie einmal aufgeforvert, ein gewifjes gerühmtes Bild in
irgend einer Kirche anzufehen, fie aber gab zur Antwort: „Ich bebarf
eines folchen Bildes nicht, weil ich die Suche in meinem Herzen trage«.
Ein andermal befuchte fie eine Kirche der Minoriten, und als fie bie
Mönche auf die fchönen mit Gold gefchmüdten Bilder aufmerffam
machten, erwiderte fie: „Ihr hättet Doch eigentlich beffer gethan, viefe
Summen für eure Nahrung und Kleidung, als auf diefe Wände zu ver-
wenben; ben Gegenftand biefer Bilder müßt ihr im Herzen tragen“. —
Wir werben kaum Hinzuzufeten haben, daß eine Erfcheinung,
wie fie Eliſabeth feit ihrem Aufenthalt in Marburg bot, bet
dem tamaligen Auffchwung ber Kirche, wie ihn bie beiden
nen geftifteten Orden des Franziskus und Dominikus hervor⸗
riefen und vorſtellten, einen außerordentlichen Eindruck hervorbrachte.
Sie wurde noch im Leben als Heilige verehrt und von nah und
fern aufgeſucht. Als fie dann endlich im November 1227 in ver
Blüthe des Lebens — fie zühlte eben 24 Fahre — bereits gänzlich
von der Erde abgezogen ftarb, da konnte e& bei der damals herr⸗
fhenden Stimmung und Macht der Kirche nicht ausbleiben, daß ihr
Auf fich über bie ganze Chriftenheit in nie gefehener Rapidität aus«
breitete, und nicht fehlen, daß, wo der Glaube an das Außerorbent-
liche fo Start war, M. Konrad fchon wenige Jahre nachher eine zieme
liche Anzahl an ihrem Grabe gefchehener Wunder an den Papft mel-
ben durfte, um bamit feinen Antrag auf die Heiligfprechung feiner
Schülerin zu begründen). Das größte und wahre Wunder aber,
das ihr mit Necht zugefchrieben wird, war ber allgemeine Sieg, den
fie, die Heldin der Demuth und Selbftverläugnung, fterbend und im
Tode über alle auch über ihre alten Gegner erfocht. Sie alle ohne Ausnahme
1) Ich wieberhole, daß M Konrad von Wunbern Eliſabeth's, die fie Bei
Lebzeiten verrichtet haben fol, nichts vworiß; bie Legende freilich weiß um
fo mehr.
Die Hl. Slifabeth von Thüringen. 397
haben fich zulegt vor ihr gebengt, felbft der wilde Landgraf Konrad
ift aus ihrem offenften Widerpart befanntlich ihr glühenpfter Ver⸗
ebrer geworden, bat ein neues Leben begonnen und zur Ehre ihres
Namens den Grund zu jenem herrlichen Münfter gelegt, ver fich jpä«
ter über ihren Gebeinen erhob.
Bir find zu Ende Die gefchichtliche Bedeutung ter hl. Elifabeth
führt fi) nach unferer Darftellung auf zwei Momente zurücd, bie
ver Reihe nach den zwei Hälften ihres Lebens ben Stempel auf-
drüden; das eine ift allgemeiner, das andere fpecieller Natur. In
dem letzten repräfentirt fie in ungewöhnlicher Vollkommenheit eine
Richtung, tie in der Kirche ihrer Zeit gerade mit beſonderer Energie
auffam, aber doch nur eine vorübergehende, die einer beſtimmten Zeit und
höchft einfeitigen Stimmung angehörte ; das ift ihre ascetifche Anfpannung.
Das andere aber, wodurch fie allen Zeiten und allen Völkern ange⸗
hört, das ift die Elifabeth ver Wartburg, vie bei der aufopferntiten
Rächſtenliebe zugleich ben reinjten menſchlichen Empfindungen nicht
den Krieg erklärte, die Tugenden ver Demuth und Zarınherzigkeit in
faft beifpiellofer Energie ausübte und doch nicht aufhörte, liebende
Gemablin und Mutter zu fein. In dieſer intenfiven und feltenen
Berbindung der ebelften menfchlichen und höchſten chriftlichen Tugen—
ten liegt das eigentliche Geheimniß des univerfellen Rufes, der un«
befhränften Popularität unferer Heiligen, aber nicht in den Geißel⸗
hieben und Badenftreichen ſonrad's von Marburg und eben fo
wenig in ber Ueberlaſſung ihrer Kinder an fremve Hände und an ven
mmberechenbaren Zufall. Der deutſche Meeifter, der in neuelter Zeit
dernfen war, das Gedächtnig der Yandgräfin auf ver Wartburg zu ers
zenern, bat mit glüdlichem Zact jenes Geheimniß entdeckt und es in
das anmuthige Werk feiner Kunft eingegraben. In tiefer Geftalt
wird Clifabeth auch in dem Andenken aller guten und edlen Men⸗
ſchen in Lie entfernteiten Zeiten fortleben.
— — —— —
RX.
Georg von Böhmen, der Huffitentönig.
Bon
Georg Voigt.
Franz Palady, Geſchichte von Böhmen. Größtentheild nad) Urkunden
und Handfchriften. Band IV. Tas Zeitalter Georgs von Podéèbrad. Abth 1.
Die Zeit von 1439 bis K. Ladisiaw's Tod 1457. 514 ©. Abth. II. 8.
Georg's Regierung 1457 — 1471. 704 ©. Prag, Tempsty, 1857. 1860. 8.
Fontes rerum Austriacarum. Defterreihifhe Geſchichtequellen.
Serausg. von der hiſtor. Commiſſion der kaiſ. Alab. der Wiſſenſch. in Wien.
Abth. II. Diplomataria et Acta. Band XX Urkunbliche Beiträge zur Geſchichte
Böhmens und feiner Nachbarländer im Zeitalter Georg's von Podiebrad (1450
— 1471). Gefanmelt und herausgegeben von Sram PBalady. Wien, 1860.
XVI, 665 ©. 8.
Zeugenverhör über den Tod König Ladislaw's von Ungarn und Böh-
men im Sabre 1457. Eine kritifhe Zufammenftellung und Würdigung ber
darüber vorhandenen Duellenangaben von Franz PBalady. (Aus den Ab-
handlungen ber T böhm. Gefellichaft der Wiffenih. V. Folge, I Bd.) Prag,
Calve, 1856. 71 S. 4.
Georg Boigt, Georg von Böhmen, ber Huffitentönig. 899
Die E. böhmiſche Gefellichaft der Wiffenfchaften ftellte in einer
Sigung vom 25. Juni 1826, um eine vaterländijche Gefchichte vom
kritiſchen Standpunkte aus anzuregen, eine ausführliche Würbigung
ber böhmiſchen Gefchichtfchreiber, vom erften derjelben bis zur Hajek⸗
jhen Chronik herab«, als Gegenftand einer Preisaufgabe hin. Kaum
darf uns gefagt werben, daß ber Urheber des wohlüberlegten Planes
ber Gejellichaft der tüchtige Joſ. Dobrowely war. Erſt nachdem ver
Zermin, der anfangs fchon auf ven Schluß ves Jahres 1827 feftge-
fegt war, bis zum März 1329 verlängert worden, licf eine Abhand⸗
lung mit der Devife Plus ultra ein, vie vollftändig ten Anfprüchen
der Gefellfchaft entfprach und am 24. Januar 1830 gekrönt wurde,
As der Verfaſſer erwies fih Herr Franz Balady, Redaltenr ver
beiden Zeitjchriften des böhmifchen Muſeums. Seine gefrönte Preis-
fchrift wurde unter dem Titel "Würdigung ter alten böhmifchen Ges
ſchichtſchreiber⸗ ver Deffentlichkeit übergeben. Die Grundlage für ein
Werl erjten Ranges war gewonnen. Obwohl Herr P. ſchon feit
jungen Jahren dem Studium. der böhmifchen Geſchichte und Litera-
tur obgelegen und bereits mannigfache Beiträge dazu aus Archiven
und Bibliothelen zuſammengebracht, fo erfihien es doch als eine mäch-
tige Förderung feiner Studien, al8 ein Befchluß der Stände des Kö⸗—
nigreiche Böhmen vom 7. März 1831 ihm den Auftrag ertheilte, eine
umfaflende Gejchichte Böhmens zu bearbeiten. Wir haben hier nicht
bie perfönlichen und politiichen Umftände zu erwägen, unter benen
der Hiftoriograph Böhmens feit mehr al8 30 Jahren fich feiner Les
bensaufgabe gewidmet. Nur wenige Momente, auf vie wir ohne In⸗
biscretion binweifen bürfen, mögen bezeugen, daß fein patriotischer
Weg auch auf dem Gebiete der reinen Wifjenfchaft nicht immer ein
ebener war. Er findet zu Hagen (Hiftor. Zeitfchrift Bv. II. S. 109),
daß die Schätze des böhmijchen Mufeums für ihn feit 1852 ein mit
SO Siegeln verfchlofjenes Buch geworben, und fchon in ben Editionen
böhmifcher Zunge im Casopis tesk&ho Museum und im Archiv
cesky hören wir mit Erftaunen von »„Genfurlüden«, einer Erfindung,
son der wir die Documente des 15. Jahrhunderts im 19. verfchont
glaubten und zu der wir ein würbiges GSeitenftüd nur in ver barbas
riſchen Vernichtung zweier Bände des Codex dipl. Poloniae im vo-
rigen Jahrhunderte wüßten. Welche Geftalt auch die Verhältuiffe
400 Georg Boigt,
des beutfchen Kaiferftante®, die uns der Augenblick im bebenflichen
Auseinanderweichen zeigt, einft annehmen mögen, vergleichen Berbre-
chen gegen die Wiljenfchaft würde fich felbft ein Regiment von lauter
Feudalherren und Erzbifchöfen kaum mehr erlauben. Kein Wunber,
wenn evle Gefühle unter felhem Drude zuweilen krankhaft über-
reist werden, wenn bie gemißhandelte Gefchichte eines Volles ftatt
des reinen Spiegel® zuweilen Srrlichter und Truggeſtalten zeigt.
Seit vem Jahre 1836, in welchem ver erfte Band ven Balady’s
Geſchichte von Böhmen erfchien, bis zu viefen Tagen, in weldyen wir
die 2. Abtheilung des 4. Bandes erhalten, ift der Aufban des Na⸗
tionalwerfes bis zum Tode des eingebornen Könige Georg am 22.
März 1471 gediehen. Wahrlich ijt es nicht hoch genug anzufchlagen,
wenn tie Arbeitskraft und Fülle eines ganzen Menfchenlebens einem
folchen Werfe gewidmet wird; will es boch fcheinen, als fei der jün-
geren Generation der Muth, nach fo fernen und umfaffenden Zielen
zu ftreben, in geringem Grade eigen, als fterbe jene Affipuität im⸗
mer mehr aus, tie treu und feit ein Jahrzehent nach dem andern
einer und derſelben großen Aufgabe fich Hingibt und in dem Gedan⸗
fen der Jugend noch bie Freude des höheren Alters zu finden wünfcht.
Herr P. hat wohl einmal geklagt, er babe ſich in unzähligen
Fragen der böhmifchen Gefchichte erjt felbjt die Bahn brechen, Hand⸗
langer und Baumeiſter in einer Perfon machen müſſen. Doch ift
es eben das, was feinem Werke am Meiſten zu Gute gelommen: nur
wer das Material felbit erhebt, kennt e8 auch ganz, nur ihm fpres
chen vie Zeugen unmittelbar; er weiß, was ihm nützt, und er lernt
fuchen, während er findet. Dann aber bedarf ed, um eine® oft fo
zerjtreuten und bunten over auch Fargen Stoffes Meifter zu werben,
eines Reichthums von fprachlichen, genealogifchen, Tocalen und ähn⸗
lichen Vorkenntniſſen, ven gleichfall® nur ein langer Umgang niit den
originalen Quellen erwerben kann. Diefe Sicherheit in ver Behand⸗
fung des Materials, dieſe Vertrautheit mit den Zuftänden und Werber
proceſſen feines Vaterlandes glauben wie mit jevem Bande wachfen
zu feben. Fügen wir noch Hinzu, daß ver Verf. die bei Werken ber
Art, welche auf einer Fülle von Stoff ruhen, übliche Weitfchweiflg.
feit mit glüclichem Tacte zu vermeiden weiß, daß er mit Strenge
jein Ziel fefthielt, eine Gefchichte des Koͤnigreiches zu fchreiben, bei
Georg von Böhmen, der Huffitenfönig. 401
welcher tie territorialen Befonderheiten zurückſtehen müffen, daß er in
ebler Form erzählt und zugleich für ven minder kundigen Lefer bie
großen Zufammenhänge und Gejichtspunfte andeutet, erwägen wir
endlich, wie gewaltig die Stellung Böhmens in den bisher behandel«
ten Perioden auf die Gejchichte des deuntſchen Reiches, fowie ber rö—
mifchen Hierarchie einwirtte — dann verjtehen wir wohl, wie bier
ein Werk entftehen fonnte, das in böhmijcher Sprache gefchrieben als
ein nationaler Schag betrachtet, in teutfcher Sprache als eine vor⸗
zägliche Bereichernung der deutſchen Gefchichtswifjenfchaft anerkannt ift.
Bevor wir aber auf ten Inhalt eingehen, wiünfchten wir ben
Leier mit der Natur bes Materials befannt zu machen, welches ben
beiven neueften Bänten dieſer Gejchichte von Böhmen zu Grunde
liegt. Der neue, zum großen Theil noch nicht veröffentlichte Stoff
wuhe Herrn P. in großartiger Fülle zu, feitvem er überhaupt in
die huſſitiſchen Zeiten trat. Er Hat die Auffaffung derſelben nicht
nur berichtigt und umgebilvet, fonbern völlig neu gefchaffen. Es ijt
meistens unmöglich, ihm in die Quellen zu folgen. Schon Alles, was
im Archiv tesky und im Casopis tesk. Museum in den Drud ger
gegeben wurde, ferner Editionen wie die huſſitiſchen Gefchichtjchreiber
und die Stari letopisow& (die böhmischen Annaliften des 15. Jahr⸗
hunderts) bleiben außerhalb Böhmens ven Meiften unverftinblich.
Außerdem aber bat ver Verfaffer aus den Archiven und Bibliotheken
zumal Böhmens, aber auch Schlefiens und Mährens, aus München,
Bien, Berlin, Dresven und Leipzig, Paris, Rom und Venedig eine
Maife von Documenten uud Metenftücen zuſannnengebracht. Im
Befige eines folchen Reichthums, ven erſt ein jahrelanger Fleiß er-
werben mußte, hat Hr. P. gewiß ein echt, über die VBernachläffigung
der allgemeinen beutfchen Geſchichte des 15. Jahrhunderts zu Hagen,
die er zumal in ter Zeit zwifchen 1460 und 1470 dunkel fand, ver-
muthlich aber in ven felgenten fünf Decennien noch dunkler finden wird.
Bor ihm hatten Ranke und Tropfen zunächſt wenigftens die großen
Umriffe gezeichnet und das Intereſſe für tiefe Zeiträume geweckt,
mb dann fell bier auch des unabläßigen Fleißes, ven ber leider da⸗
bingegangene Joſ. Chmel den Zeiten Friedrich's und Marimilian’s
gewidinet, in Ehren gedacht werben. Nun fteht zu erwarten, daß bie
Edition der Reichetagsacten eine großartige Grundlage für die Reichs⸗
Hiftoriſche Zeitfärift V. Bann. W
402 Georg Bolgt,
gefchichte jener Zeiten bilden wird. Möchten fid) auch tie »Faifer-
lichen Bücher», wir meinen die anf vie äußere Politik bezfiglichen
Actenſtücke der einzelnen weltlichen Särftenhäufer, der Bisthümer und
der Reichsſtädte herumreihen!
Dazu gibt nun der ſtattliche Band der Fontes, den Herr P.
uns bereitet, einen willkommenen Beitrag, ber ſich den Editionen ans
dem brandenburg⸗ansbachiſchen „Kaiſerlichen Buchen, das leider ſchon
in dreifacher Zerſplitterung und doch nicht vollſtändig vor uns liegt,
zur Seite ſtellt. Was der fleißige Forſcher in nicht weniger als 36
Jahren zur böhmiſchen Geſchichte von 1450—1471 zuſammengebracht,
erſcheint hier veröffentlicht, zum größeren Theil in vollſtändiger Form.
Etwaige Mängel hat er ſelbſt im Vorbericht faſt ſchärfer hervorge⸗
hoben, als ver Sritifer es thun würde. Die Documente und Briefe
wurden zunächjt zum Zwecke ter Verarbeitung, nicht: zu bem ber Edi⸗
tion gefaminelt; fie mußten dann in ber Form gegeben werben, in
welcher ver Summtler fie eben beſaß. Er begnügte fich öfters mit
Auszügen, bald weil ven Reiſenden wohl die Zeit prängte, bald weil
der Bezug zur böhmifchen Gejchichte ein entfernterer war. Solche
Auszüge von fundiger Hand lajfen wir uns gern gefallen; ein Ber-
fehen bemerften wir nur bei Nro. 309: im Vertrage zwifchen dem
Kaifer und Herzog Sigmund von Oefterreich trat vielmehr der Her
zog dem Kaiſer fein Drittbeil von Defterreih ab. Auch auf das
Schwanfen ver Orthographie, wegen veffen ver Herausgeber fich ent
fchuldigt, legen wir feinen gar zu hoben Werth. Daß einzelne Stüde
bereits an entlegenen Orten gebrudt waren, wollen wir ebenfo wenig
betonen; nur Nro. 294 könnten wir entbehren, ba Herr P. felbft ber
reitd Das Stüd aus berjelben Handfhrift in ten Situngsberichten
ber phil.=hiftor. Klaſſe der faif. Akad. ver Will. Br. IX. ©. 305
mitgetheilt hatte, und da es ſchon damals nicht umebirt war. Daß
er manches noch einmal gab, was Thomas Pesina int Mars Mors-
vicus mit frappanter Willkür verunftaltet, Finnen wir ihm nur danken.
Ueber bie Eorrectheit der Texte ift im Allgemeinen das Urteil fchwer.
Soweit aber die bloße Lectüre einen Schluß geftattet, fcheinen bie
reichen Mittheilungen aus ben Bibliothefen Prag’s, aus Scultetus
u. f. w. ben Stempel ver völligen Zuverläffigkeit zu tragen. Bon
benjenigen Stüden, die aus ferneren Archiven — wie P. felber ent-
Georg von Böhmen, ber Huffitenlönig. 403
ſchuldigend fagt, vor mehr ale 30 Jahren — gefchöpft wurten, gibt
uns nur eine Reihe von 6 Nummern aus dem Berliner K. Haus⸗
Archive zu Bedenken Anlaß, die ziemlich gleichzeitig auch in Riedel's
Cod. dipl. Brandenb. Hauptth. III. Bd. I. aus genau benfelben
Archipalien gedruckt wurden. Die Zahl der verfchieden gelefenen
Werte ift doch wicht unerheblich, indeß türfte eine Hälfte der Sünten
auf den Berliner Drud fallen. So las Riedel in Nro. 194: vestram
INustralitationem (welcher Pleonasmus in ver Loſung ver Abbreviatur!)
supplicamur, Palady in feiner Nro. 46: vestram illustralitatem de-
precamur. Nach ex parte fehlt bei R. predicti, welches P. hat.
Nr. 205 bezeichnet R. als einen Bericht an den Kurfürften (von Bran⸗
benburg) nach dem Driginal des K. Hausarchivs, P. feine Nro. 156
«is einen Bericht an ven Markgrafen Albrecht von Brantenkurg nad)
der Abjchrift in demſelben Archiv. Doc hatten Beide daſſelbe Stüd
vor fih, wenn auch R. in Zeile 10 hinter gelabin tie Worte vnd
sweren, und dafür P. ebendaſelbſt Hinter krocnen die Worte vnd
sslben ausgelaffen hat. Die Werte bei R. das der achiir schire
dar auff wirt slaghen find unverjtänblih, P. las ftatt schiir wohl
richtig schue. Tas Datum des Berichtes aber hat R. richtig (17. Mai),
$. auch in der Gefchichte von Böhmen S. 41 irrig (9. Mai) gelöſt. —
Uebrigen® finden fid) in dem Cod. diplomat. etwa ein Dugend Num—⸗
mern, welche Herrn P.'s Sammlung vervolljtäntigen , ohne indeß die
Hauptpuulte feiner Darjtellung modificiren zu können.
Es ift unglaublih, wie wichtige Hauptwerte über tie beutfche
Gefchichte jener Zeit noch ter Edition harren und fomit der Mög-
lichkeit eines völligen Unterganges preidgegeben find, felbjt folche, vie
verbältnigmäßig leicht zu erheben waren und Yanpfchaften angehören,
im denen durch vie hiltorifchen Vereine jeves Jahr Publicationen von
ungleich geringerem Werthe geförtert werten. Wir nennen hier vor
Alem die Breslauer Geſchichte des Peter Efchenloer. hr Uns
glüd wear, daß eine mangelhafte Abjchrift des veutjchen Textes in un-
geeignete Hände fiel und wirklich ebirt wurde‘), Man gibt fich in
diefen Falle gar zu leicht zufrieren. Für die Forſchung iſt ohne
) 8. Eſchenlhoer, Geſchichten der Stadt Breslau. Herausg. v. Kuniſch.
2 Bde. Bretlau, 1827.-
26*
404 Georg Voigt,
Zweifel das Tateinifche Werk, welches Efchenloer zuerft verfaßte, die
Historia Vratislaviensis, wichtiger als die fpätere beutfche Bearbei⸗
tung. In jener fanımelte ver Stabtfchreiber die Documente, bie ihm
reichliher al8 Anderen in die Hand fielen, ja zum guten {heile von
ihm felber abgefaßt wurden. Daß er fie indeß auch Hier nicht ohne
verbindenve Erzählung ließ, gebt aus einzelnen Anführungen in Klo⸗
ſe's tocumentirter Gefchichte und Befchreibung von Breslau hervor.
Die Gefchichte der Zeit von der Geburt bis zur Krönung bes Koö⸗
nigs Ladislaw fell aus des Aeneas Sylvins Gefhichte von Böhmen
entnommen fein. Als unmittelbarer Zeuge erzählt Eſchenloer die Ber
gebnijfe von 1455, in welchem Jahre er als Stabtfchreiber von Bres⸗
lau eintrat, bis 1472. In der deutjchen Bearbeitung find die Do
cumente und Briefe theil8 unbehelfen überfegt, theil® auch ganz weg⸗
gelaffen ; tafür ift die Erzählung umſtändlicher, eigenthümlicher, fer-
ner bis 1479 fortgefett. Die Iateinifche Originalhandfchrift befindet
ſich auf der Rhediger'ſchen Bibliothek zu St. Elifabeth: auch hörten
wir, baß vor einiger Zeit ein befjerer Codex der beutfchen Bearbei-
tung aufgefunden fei, vielleicht das Autograph, welches doch Kloſe
noch benutzte. Wie Ichrreich müßte cine Edition fein, welche beibe
nebeneinander gäbe, etwa mit Auslaffung ver überfegten Documente,
falls Drud und Papier gefpart werden müffen. Eſchenloer ift mehr-
mals und noch neuerdings als ver befte deutſche Ehronift des 15. Jahr⸗
hunderts bezeichnet worden. Er erzählt nicht von SCometen und Feuers⸗
brünften, von Hagelfchäden und gehenkten Verbrechern. Ein Nürı-
berger von Geburt und Magijter ver freien Künfte, hegte er wenig
das locale Intereſſe. Er fchrieb vielmehr im politifchen Sinn, zu welchem
fein Amt, die diplomatifchen Sendungen, zu denen man ihn benntte,
und fein freier Kopf ihn ungewöhnlich befähigten. Im Kampfe der Hier-
archie gegen den Feßerifchen König von Böhmen war Breslau, wel⸗
ches tem letzteren nie gehuldigt, tie Mauer ber Wechtgläubigfeit.
Eifrige Prediger erhitten das Volt unaufhörlich gegen bie irrgläubige
und jlawifche Herrfchaft, fehürten gegen viefelbe bei Papft und Für-
jten. Selbjt ver Rath widerftand diefen Demagogen, bie ihren An-
hang in ven Schenken und auf den Gaſſen hatten, nur mit Mühe.
Sie brachten bie Stadt wiederholt in die dringendſte Gefahr und
zeigten fich in derſelben feig und vathlos. Mitten in biefer bewegten
Georg von Böhmen, ber Huflitenfänig. 406
Zeit wahrte fich der Stabtfchreiber den verftäntigen Sinn. Er hafte
ben Böhmen und den Steger wie nur Einer. Als diefer den Bres⸗
lauern durch Boten kundthun ließ, daß er jedermann bei feinem Glau-
ben laffen welle, fand Efchenloer eine böfe Kegerei darin, daß es
mehr als einen Glauben geben folle. Daß aber das Volk ven Bo—
ten Spott und Hohn erwies, das, meint er, hätte doch nicht noth«
getan. Immer wieder tabelte er das Wühlen ver Pfaffen und bie
Aufwiegelung des Volkes gegen ven Rath; denn er fand, baß dem
blinden Fanatismus lange nicht vie Wehrkraft der Stadt entſprach,
es fei daher befjer, mit Ketzern Friede zu machen, als von ihnen vers
berbt zu werden. Seine Anficht, die er einft beim Armbruftfchießen
vor guten Freunden verfecht, brachte ihn in Mißgunft, ja in Lebens-
gefahr *). Sie gibt feinem Buch eine Fräftige politifche Haltung, vie
verbunden mit ber großartigeren Natur des Stoffes, ihn weit über
fonftige Stabtchroniften, ja über alle andern deutſchen Gejchichtfchrei«
ber feines Jahrhunderts emporhebt. Hoffen wir, daß Herrn Bas
lady’& Forſchungen auch für die fchleiifche Gefchichte diefes Zeitraumes
uud für den waderen Eſchenloer insbeſondere fruchtbringend werben.
Eine andere Duelle von reihem Gehalt haben wir erſt durch
Herren P. kennen gelernt. &s find die Görliger Annalen des Raths⸗
berrn und Bürgermeifters Bartholomäus Scultetus (T 1614),
bon deren Huandfchrift Herr B. ven dritten, vie Jahre 1450 — 1470
umfaffenden Band durch tie Güte des Görliger Stadtrathes Herrn
Guftan Köhler zur Benugung erhielt. Es ift eine Urkunvens und
Brieffammlung, von Scultetus nur mit bürftigen Randbemerkungen
verfeben , für ben betreffenven Zeitraum aber unfchägbar, weil ber
ſonſt verfchollene Nachlaß des damaligen Stadtfchreibers von Görlitz,
des Mag. Johann Frauenburg, darin aufgenommen worden. Weber
bie anderen Bände des Scultetns hat unferes Wiffens noch Niemand
auch nur Bericht erftattet ’). — Aus dem lateinifchen Ejchenloer hat
?) Geſchichten der Stadt Breslau Bd. I ©. 51, 52, 344 u. fonft. Einen
Abriß von Eſchenloer's Leben findet man in Kloſe's Breslau in ben
Beriptt. rer. Silesiac. ed. Stenzel Bd. III. S. 338 — 343.
3) Die Gelegenheit bazıı wäre in ben Borreben zu den von ber oberlaufiti-
ſchen Geſellſchaft der Wiſſ. fortgefeten SBcriptt. rer. Lusat. wohl ge
geben geweſen.
406 Georg Bolgt,
Herr P. nur fehr wenige, aus Scultetus aber reichliche und höchft
ſchätzbare Mittheilungen gemacht, |
Mithin ift das Material, aus welchem er das Zeitalter Köuig
Georgs dargeftelit hat, im Ganzen nicht ein zufammenbängenves und
hroniftifches, fontern mehr eine Reihe von Urkunden, Protekollen
Briefen und Berichten. So fehr dadurch die Peftigfeit der That⸗
fachen gewonnen, klagt der Forfcher doch mit Fug über den Mangel
eines Gefchichtfchreibere, ver König Georg nahe geftanten und uns in
feine Abfichten eingeführt hätte, Weber Bieles .bören wir nur feine
Gegner, Papft Pius II., den Cardinal Jacopo Ammannati-Piccolomint,
Efchenloer, Diugos, Benfini. Auf böhmiſcher Seite ift weder am
Hofe neh in ven Städten ein Gefchichtfchreiber zu finden, ver fich
über die allerbärftigfte Manier der Annaliften erhöbe. Es ift das
fein Zufall: die Künſte und Wiffenfchaften verftummten überhaupt in
einem Lande, im welchem allein ver gehäſſige Glaubensftreit vie Ge⸗
müther erfüllte, welches als ein Tegerifches von den großen geiftigen
Strömungen abgefchloffen war und befjen Regent eine geheimnißvolle
Cabinetspolitif trieb. Ein Mann wie Prolop von Rabftein, der ges
bildete Freund und Gorrefponvent Pins’ II., war wohl befähigt, vie
werthoollften Memoiren zu fchreiben. Aber e& lag auf dem böhmi⸗
jhen Hofe wie auf dem Lande ein Drud, ein Gefühl ber Unficher-
beit, die nur an die nächften Intereſſen, nicht aber an folche Unter
nehmungen für die Nachwelt denken ließen.
Am meiften ift zu bebauern, daß über den Zuftand des Landes,
über bie Organifation und bie Verwaltung ber buffitifchen Kirche mar
jo wenige und oft fo ſtark gefärbte Nachrichten vorliegen. Raum im
irgend einem beutfchen Zerritorium dürfte das Staatsarchiv jener Zeit
fo ſchonungslos vernichtet, fo ſpurlos verſchwunden fein, wie das des
utraquiftifchen Böhmenkönigs. Erhalten hat fich nur eine Brief- und
Actenfammlung, die zum anzeleigebrauch angelegt worden. Außer
vem hat Herr P. ein Stüd von hohem Yntereffe, ven Dialogus tes
Johann von Rabftein ven 1469, leider nur in beutfcher und gefürzter
Veberjegung, feiner Darftellung angehängt; lieber hätten wir das voll
ftändige lateinifche Original unter den „Beiträgen“ geſehen. Wäh—⸗
vend fo bem Verfaſſer gleichfam nur Tropfen ftatt der Quellen zu
Gebote ftanden, gewann er doch in den meiften Abfchnitten durch forg-
Georg von Böhmen, ber Huffitenkänig. 407
fame Benukung bes Materials und funtige Combination eine lebens⸗
volle Darftellung. Was der Literatur, dem Sectenwefen, der Seriegs-
tunft und fonft der Sittengefchichte angehört, hat man am Schluffe
der erjten Abtbeilung bes vierten Bandes zu fuchen.
Die größte und inhaltreichite Periode Böhmens liegt nun Hinter
feinem Hiftoriographen. Dennoch erwarten wir mit Spannung ben
nöchiten Band: er wird einen mehr als treißigjährigen lebhaften Ver.
faffungsftreit in Böhmen zu ſchildern haben, ver dann freilich in einen
Sieg des düftern Feudalismus, in eine Knechtung des Bauernvolkes
auslief — ein Abfchnitt der böhmifchen Gefchichte, ver bis jegt im
bunfelften Schatten der Unkenntuiß liegt. In der Gefchichte Böh—
mens, jo will es Herrn B. fcheinen, überwiege das tragifche Element
vor dem epifchen; das Schidjal habe den Böhmen die Rolle nicht fo
jeher bed Sieger als vielmehr des Märtyrers angewicfen.
Bon Anfang an hielt der Verfaſſer eine gewifje polemifche Stel-
lung für unvermeivlih. Daß er bei feinem Werke, fo fagte er in
ver Einleitung zum erjten Bande, auf dem Standpunkte eines Böh⸗
men ftebe, könne ibm nur dann verargt werben, wenn es ihn unge
tet gegen ihre Gegner mache. Er jeßte aljo ſchon damals natür-
liche Gegner voraus und verfah ſich einer Colliſion mit ven Erfor-
ſchern der beutfchen Gefchichte. Bekanntlich ift er auch von biefer
Seite her nicht ohne Anfechtung geblieben, abgefehen ſelbſt von ver
fingften Fehde um die älteften ‘Denkmäler der böhmifchen Literatur.
a derſelben bat er jih mit bitterer Schärfe über die Miß—
gunft des beutfchen Stammes beflagt, welcher auf den flawifchen als
einen nieberen berabfehe und auch im mwiljenfchaftlichen Kreiſe bie
Großthaten ber böhmifchen Gefchichte auf Selbittäufchung oder Trug
zarückzuführen bemüht fei. (Hiſtor. Zeitſchrift Bd. II. ©. 89, 90.)
So fehr wir überzeugt find, daß jener Streit, von jeder nationalen
Rückicht Losgelöft, lediglih auf dent Wege ver Kritik eine Löfung fin«
ben foll und wird, freuen wir und bob, Herrn P. bier auf einem
Gebiete zu finden, auf den wir ihn von jeder nationalen Animofität,
vou jeder Ungerechtigkeit gegen Wiverfacher des böhmifchen Volkes
freifprechen dürfen. Er felbjt bat jchwerlich einen Grund zu ber Ans
S
IX.
Georg von Böhmen, der Hnffitenfönig.
Bon
Georg Beigt-
Franz Palady, Belhichte von Böhmen. Größtentheils nad Urkunden
und Handſchriften. Band IV. Tas Zeitalter Georgs von Podébrad. Abth 1.
Die Zeit von 1439 bis K. Ladislaw's Tod 1457. 514 S. Abth. II. 8.
Georg's Regierung 1457 — 1471. 704 ©. Brag, Tempely, 1857. 1860. 8.
Fontes rerum Austriscarum. Deſterreichiſche Geſchichtoquellen.
Herausg. von ber hifter. Commiffion ber kaiſ. Alab. der Wiſſenſch. in Wien.
Worth. 11. Diplomataria et Acta. Band XX Urkunbliche Beiträge zur Gefchichte
Böhmens und feiner Nadbarlinder im Zeitalter Georg's von Bodiebrad (1450
— 1471). Geſammelt und herausgegeben von Sram Palacky. Wien, 1860.
XVI, 665 8. 8.
Zeugenverbör über ben Tod König Ladislaw's von Ungarn und Böh—
men im Jahre 1457. ine kritiihe Zufammenflellung und Würdigung ber
darüber vorhandenen Quellenangaben von Kranz Balady. (Aus den Ab
banblungen der E böhm. Geſellſchaft der Wiſſenſch. V. Kolge, I Bd.) Prag,
Calve, 1856. 718. 4.
400 Georg Boigt,
des deutſchen Kaiſerſtaates, die uns der Augenblid im bebenflichen
Auseinanderweichen zeigt, einft annehinen mögen, bergleichen Verbre⸗
hen gegen die Wilfenfchaft würde fich felbit ein Regiment von lauter
Feudalberren und Erzbifchöfen kaum mehr erlauben. Kein Wunber,
wenn eble Gefühle unter folchen Drude zuweilen krankhaft über
reist werben, wenn bie gemißhandelte Gefchichte eines Volles ftatt
des reinen Spiegel® zumeilen Irrlichter und Truggeftalten zeigt.
Seit dem Jahre 1836, in welchem ver erite Band ven Palacky's
Geſchichte von Böhmen erfchien, bis zu diefen Tagen, in welchen wir
die 2. Abtheilung des 4. Bandes erhalten, ift der Aufban des Nas
tionalwerfes bis zum Tode des eingebornen Könige Georg am 22.
März 1471 geviehen. Wahrlich ijt es nicht Hoch genug anzufchlagen,
wenn die Arbeitsfraft und Fülle eines ganzen WMenfchenlebens einem
folchen Werke gewidmet wird; will es doch fcheinen, als fei der jün-
geren Generation der Muth, nach fo fernen und umfaffenden Zielen
zu ftreben, im geringem Grade eigen, als fterbe jene Affibuität im⸗
mer mehr aus, die treu und feit ein Jahrzehent nach dem andern
einer und berfelben großen Aufgabe fich Hingibt und in dem Gedan⸗
fen der Jugend noch die Freude des höheren Alters zu finden wünfcht.
Herr B. hat wohl einmal gellagt, er habe fich in unzähligen
Fragen ver böhinifchen Gefchichte erjt felbjt die Bahn brechen, Hand⸗
langer und Baumeifter in einer Perfon machen müſſen. Doch ift
e8 eben das, was feinem Werke am Meiften zu Gute gelommen: nur
wer das Material felbft erhebt, kennt e8 auch ganz, nur ihm fpre-
hen die Zeugen unmittelbar; er weiß, was ihn nügt, und er lernt
fuchen, während er findet. Dann aber bedarf es, um eines oft fo
zeritreuten und bunten oder auch Targen Stoffes Meijter zu werten,
eines Reichthums von fprachlichen, genealegifchen, localen und än-
lihen Vorkenntniſſen, ven gleichfalls nur ein langer Umgang mit ven
originalen Duellen erwerben kann. Diefe Sicherheit in der Behand⸗
lung des Materials, dieſe Vertrantheit mit den Zuſtänden und Wertes
proceffen ſeines Vaterlandes glauben wir mit jevem Bande wachfen
zu ſehen. Fügen wir noch hinzu, taß ver Verf. die bei Werfen ver
Art, welche auf einer Fülle von Stoff ruhen, übliche Weitfchweifig-
feit mit glüclichem Tacte zu vermeiden weiß, daß er mit Etrenge
fein Ziel fefthielt, eine Gefchichte des Königreiches zu ſchreiben, bei
102 Georg Boigt,
gefchichte jener Seiten bilden wird. Möchten fich auch tie »Faifer-
fihen Bücher», wir meinen vie auf die äußere Politif bezügfichen
Actenftücde ber einzelnen weltlichen Furſteuhauſer, ter Biethũmer und
der Reichsſtädte herumreihen!
Dazu gibt num der ftattlihe Band der Fonter, ben Herr P.
uns bereitet, einen willfemmenen Beitrag, der fich den Editionen ans
dem brandenburg⸗ansbachiſchen „Kaiſerlichen Buche», das leiver fchen
in dreifacher Zerfplitterung und Doch nicht vollftäntig vor und liegt,
zur Seite ftellt. Was ver fleigige Forſcher in nicht weniger ale 36
Jahren zur böhmifchen Sefchichte von 1450—1471 zufammengebradht,
erfcheint hier veröffentlicht, zum größeren Theil in vollſtändiger Form.
Etwaige Mängel hat er felbft im Vorbericht faft fchärfer hervorge⸗
hoben, als ber Kritiker es thun würde. Die Documente und Briefe
wurden zunächſt zum Zwecke der Verarbeitung, nicht zu dem ter Edi⸗
tion geſammelt; ſie mußten dann in der Form gegeben werden, in
welcher ter Sammler fie chen beſaß. Er begnügte ſich öfters mit
Auszügen, bald weil ten Reiſenden wohl die Zeit drängte, bald weil
der Bezug zur böhmiſchen Geſchichte ein entfernterer war. Solche
Auszüge ven fundiger Hand lajjen wir uns gern gefallen; cin Ber-
fehen bemerkten wir nur bei Nro. 300: im Vertrage zmifchen Dem
Kaifer und Herzog Sigmund von Defterreih trat vielmehr ter Her:
zog dem Naifer fein Drittheil von Üefterreih ab. Auch auf Das
Schwanken ver Orthographie, wegen deſſen ver Herausgeber fich ent-
ſchuldigt, legen wir feinen gar zu hohen Werth. Das einzelne Stücke
bereits an entlegenen Orten gedruckt waren, wollen wir ebenſo wenig
betonen; nur Nro. 294 könnten wir entbehren, va Herr P. felbft be
reits das Stück aus derſelben Handſchrift in den Eikungsberichten
ber phil.- hifter. Klaſſe der faif. Akad. ter Wiſſ. Bo. IN. €. Un
mitgetbeilt hatte, umd da es ſchon damals nicht unebirt war. Daß
er manches noch einmal gab, was Thomas Pesina inı Mars Mora-
vieus mit frappanter Willkür verunftaltet, können wir ihm nur danken.
Ueber Die Gorrectheit ber Texte ift im Allgemeinen das Urtheil fchmer.
Soweit aber tie blefe Yectüre einen Schluß gejtattet, fcheinen Pic
reichen Mittheilungen aus den Bibliotheken Prag's, aus Scultetus
u. ſ. w. den Stempel der völligen Zuverläffigkeit zu tragen. Von
denjenigen Ztüden, bie aus ferneren Archiven — wie 8. felber ent:
® u ı
Io ze 1:
Georg von Böhmen, ber Huifitenfönig. 401
welcher tie territorialen Befonverbeiten zurüditchen müjjen, daß er in
edler Form erzählt und zugleich für den minder kundigen Lefer bie
großen Zufammenhänge und Gefichtspunfte andeutet, erwägen wir
entlich, wie gewaltig die Stellung Böhmens in den bisher behanbel«
ten Perioden auf die Gejchichte des deutſchen Neiches, ſowie der rö⸗
mifchen Hierarchie einwirkte — daun verjtehen wir wohl, wie hier
ein Werk entjtehen Fonnte, das in böhmijcher Sprache gefchrieben als
ein nationaler Scha betrachtet, in deutfcher Sprache als eine vor⸗
zügliche Bereicherung ber deutjchen Geſchichtswiſſenſchaft anerfannt ijt.
Bevor wir aber auf ven Inhalt eingehen, wünſchten wir ben
Lefer mit ter Natur des Materials befannt zu machen, welches ben
beiten neueften Bänden dieſer Gejchichte von Böhmen zu Grunde
liegt. Der neue, zum großen Theil noch nicht veröffentlichte Stoff
wuchs Herrn P. in großartiger Fülle zu, feitvem er überhaupt in
die Huffitifchen Zeiten trat. Er hat die Auffafjung derſelben nicht
nur berichtigt und umgebilvet, fondern völlig new geſchaffen. Es ift
meistens unmöglich, ihm in vie Quellen zu folgen. Schon Alles, was
im Archiv cesky und im Casopis tesk. Museum in ven Drud ge
gegeben wurde, ferner Editionen wie die huſſitiſchen Gefchichtjchreiber
amd die Starı letopisowe (die böhmifchen Annaliſten des 15. Jahr⸗
banverts) bleiben außerhalb Böhmens ten Meiften unverftändlich.
Außerdem aber hat der Verfaffer aus den Ardiven uud Bibliotheten
mal Böhmens, aber auch Schlefiens und Mäprens, aus München,
Bien, Berlin, Dresden und Leipzig, Baris, Nom und Venedig eine
Maffe von Documenten und Actenſtücken zuſammengebracht. Sm
Befige eines folchen Neichthums, den erft ein jahrelanger Fleiß er-
werben mußte, hat Hr. P. gewiß ein Recht, über die Vernachläffigung
ver allgemeinen beutjchen Gefchichte des 15. Jahrhunderts zu Hagen,
bie er zumal in ver Zeit zwifchen 1460 und 1470 dunkel fand, ver»
muthlich aber in den felgenden fünf Decennien noch dunkler finden wird.
Bor ihm Hatten Ranke und Tropfen zunächft wenigftens die großen
Umriffe gezeichnet und das Intereſſe für tiefe Zeiträume geweckt,
und dann fol hier auch des unabläßigen Fleißes, ven der leider ba=
Bingegangene Joſ. Chmel den Zeiten Friedrich's und Marimilian’s
gewidmet, in Ehren gedacht werben. Nun ſteht zu erwarten, daß bie
Edition der Reichstagsacten eine großartige Grundlage für die Reiche-
Hikerifge Zeitſchrift V. Band. W
402 Georg Boigt,
gefchichte jener Zeiten bilden wird. Möchten fi) auch tie rkaifer-
Tihen Bücher», wir meinen vie anf die äußere Politik bezügfichen
Actenſtücke ver einzelnen weltlichen Särftenhäufer, ter Biethümer und
der Reichsſtädte herumreihen!
Dazu gibt num ver ftattliche Band ber Fontes, ben Herr P.
uns bereitet, einen willkommenen Beitrag, der fih den Editionen aus
dem brandenburg-ansbachifchen „Kaiſerlichen Buche», das leider ſchon
in dreifacher Zerfplitterung und doch nicht vollftändig vor uns liegt,
zur Seite ftellt. Was ver fleifige Forfcher in nicht weniger als 36
Jahren zur böhmischen Gefchichte von 14501471 zufammengebracht,
erfcheint hier veröffentlicht, zum größeren Theil in vollftändiger Form.
Etwaige Mängel hat er felbft im Vorbericht faft fchärfer hervorge⸗
hoben, als ber Sritifer e8 thun würde. Die Documente und Briefe
wurden zunächit zum Zwecke ter Verarbeitung, nicht zu dem ber Edi⸗
tion gefammelt; fie mußten dann in der Form gegeben werben, in
welcher ter Sammler fie eben befaß. Er begnügte fich öfters mit
Auszügen, bald weil ven Reiſenden wohl die Zeit drängte, bald weil
ter Bezug zur böhmifchen Gejchichte ein entfernterer war. Solche
Auszüge ven fundiger Hand laffen wir und gern gefallen; ein Ver
fehen bemerften wir nur bei Nro. 309: im Vertrage zwifchen bem
Kaifer und Herzog Sigmund von Defterreich trat vielmehr der Her
zog ben Kaiſer fein Drittheil von Defterreih ab. Auch auf pas
Schwanken der Orthographie, wegen veffen ver Herausgeber fich ent-
Ichuldigt, legen wir feinen gar zu hohen Werth. Daß einzelne Stüde
bereits an entlegenen Orten gebrudt waren, wollen wir ebenfo wenig
betonen; nur Nro. 294 könnten wir entbehren, va Herr P. felbft bes
reits das Stüd aus berjelben Handfhrift in ten Situngsberichten
ber phil.= biftor. Klaſſe ver Faif. Afad. der Will. Bo. IX. S. 305
mitgetheilt hatte, und da es ſchon damals nicht unebirt war. Daß
er manches noch einmal gab, was Thomas Pesina in Mars Mors-
vicus mit frappanter Willkür verunftaltet, können wir ihm nur danken.
Ueber bie Gorrectheit der Texte ift im Allgemeinen das Urtheil fchwer.
Soweit aber die bloße Lectüre einen Schluß gejtattet, fcheinen bie
reihen Mittheilungen aus ben Bibliotheken Prag’s, aus Scultetus
u. f. w. den Stempel ber völligen Zuverläffigkeit zu tragen. Won
benjenigen Stüden, bie aus fernexen Archiven — wie P. felber ent⸗
Georg von Böhmen, ber Huffitenlönig. 403
ſchuldigend fagt, vor mehr ald 30 Yahren — geichöpft wurden, gibt
und nur eine Reihe von 6 Nummern ans dem Berliner 8. Haus⸗
Archive zu Bedenken Anlaß, die ziemlich gleichzeitig auch in Riedel's
Cod. dipl. Brandenb. Hauptth. III. Bd. I. aus genau tenfelben
Arhivalien gedruckt wurden. Die Zahl der verfchieden gelejenen
Werte ift doch nicht unerheblich, indeß türfte eine Hälfte der Sünden
auf den Berliner Drud fallen. So las Riedel in Nro. 194: vestram
Illustralitationem (welcher Pleonasmus in ver Loſung ver Abbreviatur!)
supplicamur, Palady in feiner Nro. 46: vestram illustralitatem de-
precamur. Nach ex parte jchlt bei R. predicti, welches B. bat.
Ar. 205 bezeichnet R. al8 einen Bericht an den Kurfürſten (von Bran-
denburg) nad) dem Original des K. Hausarchivs, P. feine Nro. 156
«is einen Bericht an ven Markgrafen Albrecht von Brandenburg nad
der Mbichrift in deuſelben Archiv. Doch Hatten Beide daſſelbe Stüd
vor ſich, wenn auch R. in Zeile 10 Hinter gelabin tie Worte vnd
sweren, und dafür P. cbenpajelbft Hinter kroenen bie Worte vnd
salben ausgelaffen hat. Die Worte bei R. das der schiir schire
dar auff wirt slaghen jind unverjtändlich, P. las ftatt schiir wohl
richtig schue. Das Datum des Berichtes aber hat R. richtig (17. Mai),
P. auch in der Gefchichte von Böhmen S. 41 irrig (9. Mai) gelöſt. —
Uebrigens finden fich in bem Cod. diplomat. etwa ein Dugend Num-
mern, welche Herrn P.'s Sammlung vervoliftändigen , ohne inbeß bie
Hauptpunkte feiner Darſtellung mobificiren zu können.
Es ift unglaublih,, wie wichtige Hauptwerke über bie deutfche
Gefchichte jener Zeit noch ver Erition harren und fomit der Mög⸗
lihleit eines völligen Unterganges preisgegeben find, felbft ſolche, bie
verhältnißmäßig Leicht zu erheben waren und Landſchaften angehören,
in denen durch die hiiterifchen QWereine jedes Jahr Publicationen von
angleich geringerem Werthe geförtert werten. Wir nennen hier vor
‚Mlem die Breslauer Gejchichte des Peter Efchenlver. Ihr Un
glück war, daß eine mangelhafte Abjchrift des deutſchen Textes in un—
geeignete Hände ficl und wirklich etirt wurde‘), Man gibt fich in
biefem Falle gar zu leicht zufrieren. Für die Forſchung ift ohne
3) 8. Eſchenloer, Gedichten ber Stadt Breslan. Herausg. v. Kuniſch.
2 Bde. Bretlau, 1827.
W
404 Georg Boigt,
Zweifel das Tateinijche Wert, welches Efchenloer zuerft verfaßte, bie
Historia Vratislaviensis, wichtiger als bie fpätere deutſche Bearbei⸗
tung. In jener fammelte ver Stabtfchreiber die Documente, die ihm
reichlicher al8 Anderen in die Hand fielen, ja zum guten {heile von
ihm felber abgefaßt wurden. Daß er fie indeß auch hier nicht ohne
verbindente Erzählung ließ, geht aus einzelnen Anführungen in Klo⸗
ſe's Documentirter Gefchichte und VBefchreibung von Breslau hervor.
Die Gefchichte der Zeit von der Geburt bis zur Krönung bes Ko⸗
nigs Ladislaw fell aus des Aeneas Sylvius Gefchichte von Böhmen
entnommen fein. Als unmittelbarer Zeuge erzählt Eſchenloer die Ber
gebnijje von 1455, in welchem Jahre er ala Staptfchreiber von Bres⸗
lau eintrat, bis 1472. In ber deutjchen Bearbeitung find die De
eumente und Briefe theils unbeholfen überfegt, theil® auch ganz weg⸗
gelaffen ; dafür ift die Erzählung umftändlicher, eigenthümlicher, fer-
ner bis 1479 fortgefett. Die Tateinifche Originalfandfchrift befindet
fih auf ver Rhediger'ſchen Bibliothek zu St. Elifabeth: auch hörten
wir, daß vor einiger Zeit ein befferer Cover der beutfchen Bearbei-
tung aufgefunden fei, vielleicht das Autograph, welches doch Klofe
noch benutte, Wie lehrreich müßte cine Epition fein, welche beibe
nebeneinander gäbe, etwa mit Auslaffung ver überfegten Documente,
false Drud und Papier gefpart werden müfjen. Cjchenloer ift mehr⸗
mals und noch neuerdings als ver befte deutfche Chroniſt des 15. Jahr⸗
hunderts bezeichnet worten. Er erzählt nicht von Kometen und Feuers⸗
brünften, von Hagelſchäden und gehenften Verbrechern. Ein Nürn-
berger von Geburt und Magijter ver freien Künfte, begte er wenig
das Iocale Intereſſe. Er fchrieb vielmehr im politifchen Siun, zu welchem
fein Amt, die diplomatischen Sendungen, zu denen man ihn benuste,
und fein freier Kopf ihn ungewöhnlich befähigten. Im Kampfe ver Hier:
archie gegen ben fekerifchen König von Böhmen war Breslau, wel-
ches ten legteren nie gehuldigt, die Mauer ver Wechtgläubigfeit.
Eifrige Prediger erhigten tas Volt unaufhörlich gegen die irrgläubige
und ſlawiſche Herrfchaft, fehürten gegen biefelbe bei Papft und Für-
jten. Selbſt ver Rath widerftand diefen Demagogen, bie ihren Ans
bang in ten Schenken und auf den Gaffen hatten, nur mit Mühe.
Cie braten die Stadt wiederholt in die dringendſte Gefahr und
zeigten fich im derſelben feig und rathlos. Mitten in biefer bewegten
Georg von Böhmen, ber Huffitenkönig. 405
Zeit wahrte fich ber Stabtfchreiber den verjtändigen Sinn. Er hafte
ven Böhmen und den Steger wie nur Einer. Als diefer ben Bres-
lanern durch Boten kundthun ließ, daß er jedermann bei feinem Glau—
ben laſſen wolle, fand Efchenloer eine böfe Ketzerei darin, daß cs
mehr als einen Glauben geben folle. Daß aber das Volk ten Bo-
sen Spott und Hohn erwies, das, meint er, hätte doch nicht noth—
gethan. Immer wieder tabelte er das Wühlen ver Pfaffen und bie
Aufwiegelung des Volkes gegen den Rath; denn er fand, daß dem
binden Fanatismus fange nicht tie Wehrkraft ver Stadt entſprach,
es fei daher beijer, mit Ketzern Friede zu machen, als von ihnen ver-
verbt zu. werten. Seine Anficht, die er einft beim Armbruſtſchießen
ver guten Freunden verfocht, brachte ihn in Mißgunſt, ja in Lebene-
gefahr ’). Sie gibt jeinem Buch eine Fräftige politifche Haltung, bie
verbunden mit der großartigeren Natur des Stoffes, ihn weit über
fenftige Stabtchroniften, ja über alle andern deutjchen Geſchichtſchrei—
ber feines Jahrhunderts emporhebt. Hoffen wir, daß Herrn Pas
lacys Forſchungen auch für vie fehleiifche Gejchichte dieſes Zeitraumes
med für den waderen Eſchenloer insbejondere fruchtbringend werben.
Eine andere Duelle von reichem Gehalt haben wir erjt durch
Serru P. kennen gelernt. Es find vie Görliger Annalen des Raths⸗
bern und Bürgermeifters Bartholomäus Scultetus (T 1614),
son deren Handſchrift Herr P. den dritten, tie Jahre 1450 — 1470
mmfaflenren Band turch tie Güte tes Görliger Stadtrathes Herrn
Sultan Köhler zur Benugung erhich. Es ijt eine Urkunden- und
Srieffammlung, von Scultetus nur mit dürjtigen Randbemerkungen
werfeben,, für ven betreffenden Zeitraum aber unſchätzbar, weil ter
feuft verfchollene Nachlaß des damaligen Stadtſchreibers von Görlitz,
vs Mag. Johann Frauenburg, darin aufgenommen worben. Weber
Ne anderen Bände des Scultetus hat unjeres Wiſſens noch Niemand
auch nur Bericht erftattet ), — Aus dem lateinifchen Ejchenloer hat
) Geſchichten der Stadt Breslau Bd. 1 €. 51, 52, 344 u. ſonſt. Ginen
Abriß von Eſchenloer's Leben findet man in Kloſe's Breslau in ben
Seriptt. rer. Silesiac. cd. Stenzel Bd. III. S. 338 — 319.
Die Gelegenheit dazu wäre in ben Berreben zu den von ber oberlaufißi-
(hen Geſellſchaft der Wiſſ. fortgefehten Scriptt. rer. Lusat. wohl ge
geben geweien.
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Georg von Böhmen, der Huffitenkönig. 407
tame Benutzung bed Materinld und kundige Combination eine lebens»
volle Darftellung. Was der Literatur, dem Sectenweſen, der Kriegs:
tunft und fonft ber Sittengefchichte angehört, hat man am Schluife
ver eriten Abtheilung bes vierten Bandes zu fuchen.
Die größte und inhaltreichite Periode Böhmens liegt nun hinter
feinem Hiftoriegraphen. Dennoch erwarten wir mit Epannung den
nächiten Band: er wird einen mehr als breigigjährigen lebhaften Ver
raffungeftreit in Böhmen zu fchildern haben, ver vamı freilich in einen
Sieg des büftern Feudalismus, in cine Knechtung des Baueruvolkes
anslief — ein Abfchnitt ver böhmischen Gefchichte, ter bis jett im
tunfelften Schatten der Unkenntuiß liegt. In der Gefchichte Böh⸗
mens, fo will e8 Herrn P. fcheinen, überwiege das tragifche Clement
ver tem epifchen; das Schidjal habe ven Böhmen die Rolle nicht fo
jchr dee Sieger als vielmehr des Märtyrers angewicfen.
Bon Anfang an hielt ver Verfaffer eine gewiſſe polemifche Stel-
tung für unvermeidlich. Daß er bei feinem Werke, jo fügte er in
ver Ginleitung zum erften Bande, auf dem Standpunkte eines Böh⸗
men ftebe, klönne ihm nur banı verargt werben, wenn es ihn unges
recht gegen ihre Gegner mache. Er ſetzte aljo ſchon damals natür-
lihe Gegner voraus und verjah fich einer Gollifion mit den Erfer-
ſchern ter beutfchen Gefchichte. Belanntlih ijt er auch von dieſer
Seite ber nicht ohne Anfechtung geblieben, abgefehen felbjt won ber
füngften Fehde um bie älteften Denkmäler der böhmifchen Yiteratur.
Ya derſelben hat er ſich mit bitterer Schärfe über vie Miß—
gunſft des beutfchen Stammes beklagt, welcher auf den ſlawiſchen als
einen nieberen berabjehe und auch im wiſſenſchaftlichen Kreiſe vie
Sroßthaten der böhmifchen Gefchichte auf Selbſttäuſchung oder Trug
zrüdzuführen bemüht fei. (Hiſtor. Zeitſchrift Bd. II. S. 89, WW.)
Co fehr wir überzeugt find, daß jener Streit, von jerer nationalen
Rückſicht losgelöſt, Teviglih auf dem Wege ver Kritik eine Löſung fin«
ven foll und wird, freuen wir uns doch, Herrn P. bier auf einem
Gebiete zu finden, anf den wir ihm von jeder nationalen Animofität,
von jeder Ungerechtigkeit gegen Widerſacher des böhmischen Volkes
freifprechen bürfen. Er felbjt hat fchwerlicy einen Grund zu der Ans
S
408 Georg Boigt,
nahme, als fei die Huffitifche Periode von ber neueren beutfchen Ge⸗
ſchichtſchreibung mit ftillem Widerwillen betrachtet over abfichtlich ver-
nachläjfigt worden, e8 müßte denn im Sinne römischer Rechtgläubig-
feit gefchehen fein. Erſt neuerdings hat Droyſen über den eingebo-
renen buffitifchen König Georg Urtheile gefällt, bei benen wahrlid)
eber von Vorliebe al8 von Mißgunſt die Rebe fein kann. Wir glau⸗
ben allerdings, daß auf diefe Periode ſowohl in Droyfen’6 wie in Pa⸗
lacky's Darftellung ein zu Helles Licht gefallen ift, nur daß in bes
Letzteren Gemälde des Umfanges und ver Ausführlichleit wegen, bie
Färbung fich gleichjan von felber berichtigt. Es iſt wohl natürlich,
daß, wer die Gefchichte eines Laudes oder das Leben eines bebeuten-
den Mannes bejchreibt, diefelben wirklich im Bortergrund des Welt⸗
intereffes fieht, weil fein perſoͤnliches Intereſſe den Umkreis der Ans»
ſchauung biltet. Die Neigung, die dazu verleitet, ift eine faft inftin-
ctive, und man pflegt ihr eben fo wenig wie etwa der Mutterliche einen
-Borwurf daraus zu machen, daß fie mit den Augen bes Gefühle fiebt.
Aber nütlich bleibt e8 denn doch, wenn derſelbe Gegenſtand auch von
einer anderen Seite her beleuchtet wird. Und fo gebenfen wir bier
abweichende Meinungen vorzugsweife über zwei Hauptpuntte zu äußern,
einmal über vie Bedentung des Utraquismus für die geiftige Ent-
widelung ver Culturvölker, und dann über bie beutfche, überhaupt bie
außerböhmifche Politit König George.
Droyſen fieht in deſſen Negierung „vie neue Staatsidee.“ Aus
zwei Tactoren jcheint er dieſe Anficht zu conftrniren. „Die ftraffe
Ordnung im Innern, die volle monarhifche Gewalt, die er als
Subernator vorbereitet, warb num vollendet; e& begann eine einfichtig
forgende und förbernde Verwaltung ihre Segnungen zu verbreiten.“
Und tann: „Zum erftenmale gab es ein Königthum, das ben rein po=
litiſchen Charakter des Staates begriff, zum erjtenmale Toleranz.“
In diefem Sinne wird der König der beveutentfte unter ven „Refor⸗
matoren dor ber Reformation‘ genannt. Ganz ähnlich urtheilt Herr
Palacky, nur läßt er fih ter Natur feines Buches nach ausführlicher
auf bie Begrüntung feines Urtheils ein. Auch ihm ift König Georg
ber Herold und Kämpe der Neuzeit, einmal als Huffit, dann als Herr-
her und Kurfürft, er ftarb als „Märtyrer der Idee bed modernen
Staates.” — —
Georg von Böhmen, ber Huffitenkänig. 409
Der Huſſitismus ift die große nationale That des böhmifchen
Stammes, der Höhepunft feiner Geſchichte. Es gibt wohl Heine
Sepereien, Ausfchreitungen ver religiöſen Phantafie, die faft zufällig
Bier oder bort auftauchen. Wie Wellen find fie entftanden und ver⸗
sangen. Sie entbehren gleichjam ber gefchichtlichen Nothwendigkeit,
weil fie außerhalb des Zufammenhanges ber fördernden geijtigen Strö-
mungen ftehen. Eben dieſer Zufanımenhang ift es nun, durch welchen
die huſſitiſche Bewegung ihre Bedeutung erhält. Sie ift ein Welter-
eigniß, infofern fie ven in Frankreich, England und Deutfchland be«
reiteten Zündſtoff in ſich aufnahm, und babei verdankte fie ihren hef—
tigen Puleſchlag tech vem naticnalen Körper, deſſen fpecififches Eigen«
thum fie wurte. Prag, feit geraumer Zeit vie Mefivenz des römis
ſchen Königthums, und feine Hochſchule, vie Lieblingsſchöpfung Karl's IV.,
bildeten ten Mittelpunkt, in welchem die Strahlen kühneren Denkens
und ſtärkerer religiöſer Empfindung ſich vereinigten. Zuerſt kam von
Parie her jenes Reformverlangen, welches an ber römiſchen Kirchens
verfaffung und Disciplin rüttelte, und wie es von der Sorbonne aus—
sing, fo überall die Univerſitäten am ſtärkſten ergriff. Wiklefitifche
Lehren famen von Orford berüber und erwedten ten Zweifel an der
‚ Untrüglichkeit des römifhen Dogma; man biöputirte num auch im
Prager Karolinum über tie Lehre ven ver Zransfubftantiatien oder über
bie Frage, ob nicht das Sacrament, durch die Hand eines mit Tod»
fünde behafteten Priefters verabreicht, jeine heiligende Kraft einbüße.
Das Anftreifen walbenfifcher Sätze ijt mehr zu füblen als zu beweiſen.
Dentſche Myſtik trat Hinzu, wie fie fich fenft in ven Gottesfreunten
mp ten Brüdern vom gemeinfanen Leben kundgab. Sie verlangte
Reinigung ter Eitten und Vereinfachung der Glaubensgrundlagen;
hatt einer unverftindlichen Dogmatik, wie jolche ſcholaſtiſch aufgebaut
werden, empfahl fie einfältiges Streben nach ten Tugenden, bie Chris
fn6 durch fein Beiſpiel gelehrt; gegen die Bibel ftellte fie die heiligen
Doctoren ver Kirche in zweite Reihe; ftatt ber werkheiligen Verehrung
von Biltern und Reliquien prebigte fie ein ftill erglübendes Aufgehen
im das wunterbare und nur dem verſenkten Gemüthe fich effenbarenve
Geheimuiß der göttlichen Yiebe. Nur bei einem Volke von ſtarker Ere
regbarfeit und Lebenskraft vermochten fo mannichfache Elemente wirt
ſam einzubringen und ſich dann zu einer eigenthünmlichen Oppoſition
410 Georg Boigt,
gegen das römifche Kirchenthum zu geftalten. Nicht geringen Antbeil
an verfelben hat in der That die Blüthe des Landes, die ſich an Die
Rorliche Earl’ IV. und des nicht mit vollem Rechte verrufenen
Wenzel knüpft: aus ihr cutfprang jene heitere, genießende Lebensluſt,
jener auf die äußere Welt gerichtete Sinn, der zu allen Zeiten ber
Urfeind der bierarchiich-möndhifchen Kirche iſt. So find es denn folge-
richtig der Stand ter Herren und Ritter auf ber einen, und tie ftolze
Hochſchule auf der anderen Seite, die mit Eifer ſich der neuen Rich
tungen annahınen. Mathias von Janow, der Sohn eines böhmischen
Nitters, ift der Denker und Schriftfteller, Johann Hus, aus dem
niederen Volle geboren, ver Held und Märtyrer diefer jugenblichiteu
und erfreulichiten Phafe der Glaubensabweichung. Noch ift die Frei-
heit ver Forſchung nicht durch abfchließende Dogmen gehemmt. Dar
rum lag in ver Bewegung damals auch noch vie Möglichkeit,
gleich der gallicanifchen, deren Tendenz eine größere Unabhängigkeit
ber Nationallirchen von Rem war, weit über die Grenzen ihres Heis
mathlandes hinaus eine großartige Propaganda zu machen.
Es ift befannt, daß während Hus im Gefängnilfe zu Coſtnitz ſaß,
ber Magifter Jakob von Mies vie Lehre von der Laiencommunion
unter beiden Geſtalten aufgriff, und dieſen Ritus jofort auch in den
Brager Kirchen zu üben begann. Bereits Mathias von Janow hatte
den Yaien deu Kelch gereicht, aber auf Befehl feiner kirchlichen Obe⸗
ven davon wieter abgelafjen. Hus billfkte im Kerter bieje Praxis ber
älteren Kirche. Ihm aber wie Janow war fie nur eine ver Confe-
quenzen, bie nebſt vielen wichtigeren aus dem großen Principe ber
Schriftgemäßheit floß. Während dieſe handgreifliche Kegerei d’e An-
hänger ver Parijer Lehren, welche das Concil beherrfchten , erbitterte,
padte fie die Maffe bes böhmifchen Volkes. Man Hatte nun ein
fihtbares Eynibol des Widerſtandes, eine Parteifahne, ein Stichwort,
das die populären Xeidenichaften in Bewegung ſetzte. Diefe Bewe⸗
gung wurde ſeitdem eine durchaus bemofratifche und entwidelte die
furchtbare Straft, die jeben neuen Impulſe ver Maſſen eigenift. Daß
fie auch Nationalfache wurde, war durch die Kämpfe, die zwifchen
Böhmen und Deutfchen in der Prager Univerfität geführt werben,
bereit8 angebahnt. Ein jechzehnjähriger Bürgerkrieg zerrüttete ven
Wohlſtand des Landes, löſte alle kirchlichen und bürgerlichen Bunpe,
Georg von Böhmen, der Huffitenkönig. 411
Richt nur das Taboritenthum, ſondern eine Fluth von neuernden
Meinungen, eine völlige Anarchie der Geiſter verhinderte jeden Ver
fuch, aus dem Chaos eine neue Landeskirche mit over ohne Rom zu
gewinnen. Die Cpelleute, vie fich der Bewegung zuerft günjtig ges
zeigt, meinten in ter Hochfchule einen Halt zu finden. Vergebens
jorderte diefe noch 1417, Niemand folle einen neuen Lehrfat öffentlich
verfünten, ohne vorher die Veftätigung ihrer Magiſter nachgefucht zu
baben. Erſt allmählich und in ter Noth res Wiverftandes errang
Brag eine Art Hegemonie in Böhmen wieber, in Prag aber herrſchten
bie huffitifchen Priejter, ohne unter fich einig zu werben. Jedoch nad)
Außen Hin errang biefer Fanatismus glänzende Eiege: vie Kreuzheere
zerftoben bei Mics und Tauß in erbärmlicher Flucht. Selbft der ver=
Schtliche Kegernamen, mit dem man die Sieger nun branbmarfte,
machte fie nur um fo ftolzer auf ihre nationale Eonterheit, um jo
woßiger auf ihren Kelch.
Aber weder ter ftürmifche Glaubensmuth, noch eine Nation in
Waffen, noch tie anarchifche Auflöfung einer Geſellſchaft, vie fich zu—
zer in georbneten Staats» und Rechtsformen wohlgefühlt, find Dinge,
nie auf bie Länge Beftand haben können. Die erſte Reaction ging
zem Adel des Landes aus, deſſen Beſitz Die demokratiſche Fluth eben⸗
fe bimwegzufpülen drohte, wie fie zu Gunſten ber Herren über bie
firchlichen Güter hergefallen war. Auch brach jich der huſſitiſche Sie-
setlauf 1433 ver dem fatholijchen und deutſchen Pilfen: 30000 Dann,
aus alten huſſitiſchen Parteien vereinigt, vernichten vie Stadt troß
sehnmonatlicher Belagerung weder zu ftürmen noch ihr bie Lebens—
mittel abzufchneiten. Schon half dabei ver Adel nicht nicht. Der
Geranfe, daß es in Böhmen nur Slawen und Verehrer des Laieu⸗
telhes geben dürfe, mußte jelbjt von ten Schwärmern aufgegeben
werden. Auch wurden huſſitiſche Rotten in Schleſien und Bayern ges
ſchlagen, ver Auf ihrer Unüberwindlichkeit war dahin. Mit dem Bes
Virfniffe der Ordnung regte fich unter folchen Umſtänden der Wunfch,
auch mit den Nachbarnälfern und mit ber Ntirche wieder in ein Ver⸗
hältniß zu treten. Damals fand fich der Mann, an deſſen Charafter
md Namen fich das Streben nach Kirchlicher Ordnung und Einheit
durch einen Zeitraum von etwa 44 Fahren geheftet bat. Es war Jo—
kann Rolycana, Magiſter und Prediger in ber Prager Hauptkirche
412 Georg Boigt,
am Zein, der Schn armer Eltern, zu jener Zeit nur wenig über bas
breißigfte Jahr hinaus. Seine Gelehrſamkeit war nicht ausgezeichnet, fein
Wandel aber tadellos. Obwohl ein eifriger Prebiger, lebte er doch
feutfelig und ohne Heiligenjchein mit dem Volke. Unerjchütterlic war
er in feinem Glauben an ven Keldy, über ven er für alles buffitifche
Bolf gleihfam vie Wache Hielt. Was ihn zur Bedeutung emporbob,
war ferner fein Zalent zu organifiren, zu verwalten und die minder
Feſten zu beberrfchen. Ein unbeugfamer Demagog auf feiner Kanzel,
war er bie zuverläffigfte Stütze jeder Regierung, die feinen gemäßig-
ten Utraquismus als herrſchende Religion anerkannte, zugleich aber
ber bitterfte Feind taboritifcher wie anticalixtiniſcher Beſtrebungen.
Ohne Rechtstitel führte er feit etwa 1427 in Prag die Oberleitung
des kirchlichen Weſens, erjt 1435 wurbe er auf einem Landtage, alſo
freilich von keiner Fanonifchen Autorität, zum Erzbifchof gewählt, auch
von Saijer Sigmund bejtätigt, obwohl viefem eine ſolche Beftätigung
fo wenig zuflam wie dem Landtage vie Wahl, Die päpftlihe Con»
firmation erlangte er nie, und nie hat ihn ber Ehrgeiz fo weit ger
führt, daß er fih um dieſen Preis eine Nachgiebigfeit in Glaubens
fachen hätte abloden laſſen. Dennoch hatte er lebhaften Sinu für
regelmäßige und tauernde Zuftinde Mit Eifer ergriff er die ver-
föhnliche Hand, vie das Basler Eoncil den Huffiten bot, aber mit
Energie und Geift vertheidigte er vor dem Goncil die Nothwendigkeit
ver Communion unter beiden Geftalten. ALS biefer Ritus entlich zu-
geftanpen wurde, war er auf böhmiſcher Seite die Seele der Vereini-
gung, welche in ben fogenannten Sompactaten gefchloffen wurbe.
Eine febr unvolltonmene Zransaction, diefe Compactaten! Das
Basler Eoneil machte in ihnen ein Zugeſtändniß, bei welchen es das
Einheittariom und zugleich das Dogma von der Unfehlbarleit ver rö«
mifchen Kirche preisgab. Sein Motiv lag nicht in der Sache felbft,
jontern in feinem Kampfe gegen Papſt Eugen. Um viefem gegen-
über die Hoheit und das Verdienſt des Conciliums zu manifeftiren,
ſpann man in Bafel die Verhantlungen an, bie zur Wiedereinbrin«
gung der Böhmen und ver Völker der griechiichen Kirche in ven Schooß
ber römischen führen follten. Die Griehen zog dann Papit Eugen
an jich: er brachte zu Florenz eine Union zu Stande, tie zwar auch
in ver Geburteftunde bereits den Todeskeim in fich trug, bei ber er
Georg von Böhmen, der Huſſitenkönig. 413
aber jeinem Brimate und dem Dogma Noms nicht einen Puuft ver
gab. Das Concil betrieb die Böhmennnion mit einem Eifer, der die
bierarchifche Tradition verläugnete. Ehrlich aber ging man von bei«
ven Seiten nicht zu Werke. Das Document , welches den Laienkelch
sugeftand, wurte reichlich mit Bedingungen, Clanſeln und Hinterthü—
zen verfehen, und die Böhmen nahınen es wie cine einfache Beſtäti—
gung ihrer Keterei mit allen ihren abweichenden Tchren, Formen und
Kiten bin, ohne fich um den näheren Inhalt der Artikel zu kümmern.
Am 5. Juli 1436 wurden auf dem Landtage zu Iglau in Gegenwart
Eigmunds die Compactaten veröffentlicht, aber gleih am nächſten
Tage entftand während ver Austheilung des Sacramentes nener Streit
wijchen Rolycana und den Basler Yegaten und man ſchied im Uns
frieven. Auch formell waren noch lange nicht alle Streitpunfte aus⸗
sezlichen, zumal über vie Verabreihung des Altarsſacramentes an
Kinter wurte man nie einig. Es lag aber im Intereſſe beiver Theile,
tie Compactaten mit Ojtentation für etwas auszugeben, was ſie doch
wicht waren. Das Concil that, als habe c8 vie Böhmen wicbereins
gebracht, tie Böhmen thaten, als ſei ihre Stegerei nun ſanctionirt.
Der kirchenrechtliche Juhalt und tie Gültigkeit dieſes Vertrages
find gerwichtige Fragen, durch teren Löſung das unbefangene Berfränds
niß einer langen Periode ver bühmijchen Geſchichte, mindeſtens des
Zeitalters Georgs von Podéebrad, weſentlich betingt wird. Unter
ſolchen Umftänten können wir es ſchon nicht billigen, daß Herr P.
ten Inhalt der Compactaten (Br. III. Abth. III. S. 217) nur
ebenhin und unvollſtändig, ja nach einer reinhuſſitiſchen Darlegung,
nicht nach ber von ihm ſelbſt lateiniſch und böhmiſch edirten Origi—
nalurkunde angibt. Ferner ſpricht er ven einer „Natification ber
Cempactaten von Eciten des Papſtes“ wie von einer unbejtrittenen
Thatſache. Direct menigjtens bat fie niemals jtattgefunden. Wenn
Bugen IV., wie ©. 272 erzählt wire, feine Billigung der Unions—
terjuche ausfprach und den Böhmen zur Verhandlung über tie Yaiens
cemmunion auch au feinem ferrarefijchen Concil eine gütige Aufe
nahme verhieß, jo folgt daraus doc gerade, Daß er jene Frage im:
mer noch als eine offene anſah, gewiß aber nicht, daß er die Kom:
pactaten als rechtögiltig betrachtete, geſchweige denn vatifichrte, was
414 Gesez DVeige.
tech nur tur eine teierliche Bulle hätte geichehen käunen ’), Es
wer Rarime ved rürttlihen Heſes, rie Unterhautimugen immer wie-
ter zu fıch kommen zu lañen, ja telbit am;mipinnen,, um den Wunjſch
ver Pereinigung rege ;u erhalten une durch zãhes Hinziehen ren tretzi⸗
zen Ketern ihren Reh dech nech ze eniwinzen Solche lUinterkanb-
Immgen tms es, tie Lern $. ;u ter Ammaheme führten, Nicolaus V.
ne Galisins III jeien beite nahe raten geweſen, die Cempactates
offen ;u betätigen. Ju Bind II. fiebt er tann ihren principiellen
Gegner, ven Mann ter „tectrinären Ansichlieglichleit- , tem man al⸗
fenialis ebene wie Köniz Geerg ald Opfer jeiner licherzengung be
trachten könnte.
Leirer it Herrn F. Hier eine Onelle unkelamnt geblieben, vie in
wielfscher Deziebung ven Werth, tein Urtheil vielleicht weſentlich mo⸗
dificirt hätte. Es ift eine Rere orer vielmehr eine Denkſchrift, vie
zer Ficcelemini etwa im Auguft 1455 dem Parite Galirtus ver⸗
trug *). Er ſtattete gleichjam Bericht ab über tie Runtiatur, vie
ihm vor trei Jahren auch für Böhmen übertragen werten. Gr ſprach
fermeli im Auftrage ves Kaiſers und Königs Ladislaw, uber koch
gleihjam auf cigenen Kerf und ans eigener Erfahrung. Zunächſt
bewies er mit ter größten Offenheit, wie turch alfe bie Mittel, veren
fih tie Curie bisher gegen tie Böhmen bedient, nichts ausgerichtet
werten. Leichter könne man ten Pauf eines Stromes rückwärts wen-
ten als fie vom Laienkelb abbringen. Unerträglicher noch fei ihre
zweite Forderung, tie Beſtätigung tes Erzketzers Rokyeana. — Nun
hatte ver Ficcelemini nech unlängjt mit Georg von Perebrat, bem
Gubernater, verbantelt, unter welchen Bedingungen er wohl die Reunion
feines Velkes mit ter römischen Kirche für möglich halte. Dieſer
hatte tie Beſtätigung der Gompactaten für durchaus nothwendig er-
Härt, in Betreff des Prager Clecten aber endlich geäußert: "Nun
*, Die Fictien mag indeß alt fein, obwohl ih fie nur einmal, in ber Rebe
König Georg's auf dem Laurentiusfandtage 1463 im Berichte ber Bres-
fauer an den Papſt bei Eſchenloer I. ©. 196 flude. Aber Georg
ſelbſt erbat wiederbolt vom päpſtlichen Stuhle die VBeitdtigung.
) Oratio habita coram Calixto III. de compactatis Rohemorum in
Pii 11. P. M. Orationes ed. Mansi T. IT p. 352.
Georg von Böhmen, ber Huffitenlänig. 415
fo fell8 auch Rokycana nicht fein, ver uns bie römijche Kirche frind-
lich machts! Daran fnüpfte Piccolomini, freilich mit vieler Vorficht,
tie Trage, ob e8 nicht vielleicht tas Klüyfte fei, ben Böhmen ihren
Zaienfelch zuzugeben, das Zugeftäubniß aber an die Beringung zu
faüpfen, daß biejenigen geftraft werten müßten, tie ben Kelch für
nethwendig zur Seligfeit erflärten, und daß alle fonjtigen Ketzereien
im Reiche getilgt würden. Man könnte fpäter bie gefchickte Clauſel
der Gompactaten benugen, welche nur venjenigen ven Kelch geitattet,
„Lie ihn im Gebrauche hätten“ — eine Generation, von welcher nach
50 Jahren keiner mehr leben wird. Auch fei der Laienkelch tem or-
thedexen Glauben und der apoftelifchen Tradition eigentlid) nicht zuwider,
nur müffe er mit Erlaubniß ver Kirche gencjjen werben. "Da das Concil,
bevor es durch päpftliche Autorität aufgelöft wurte, ven Böhmen ven
Kelch geftattete, fo fellte ich meinen (opinamur magis quam cre-
dimus), man könnte ihn auch jetzt zugeben“. —. Die Curie aber gab
dieſem Antrag keine Folge, ja ihre fpäteren Echritte feheinen zu Les
werfen, daß fie ſich eher mit Rofycana alg mit den Gompactaten,
der mit einem Reber als mit ter Stekerei befreundet hätte. Und
nicht andere dachte Pius als Papft felber: er verwarf bie Compa⸗
chsten feierlich, er verlangte unerbittlich ven König Georg das gefähr:
Bde Stüd, daß er als Landesherr mit Hülfe ter katholifchen Partei
vie utragniftifche unterdrücken ſolle. Die Anficht, daß Böhmens Be⸗
wülerung dem ausgefprochenen Willen des Herrichers folgen müffe
mb werde, obwohl auch Cardinal Carvajal ſie theilte und jie über-
beupt in Rom die berrichende war — fie war dennoch ein entfchie-
mer Irrthum.
Wir dürfen nie vergefjen, wie und durch welche Mittel Georg
a die Spitze bes Staates gelangte; denn nur allmählich und erſt
sah längerer Ausübung kann eine Macht ver Vehikel Meijter werben,
denen fie ihren Urſprung verdankt. Die kirchliche und bie jtautliche
Anarchie waren in Bähmen zufammen entftanten und nahmen einen
wechans gleichmäßigen Verlauf. Die populäre Unbändigkeit und Zer—
Iplitterung führte in beiven mit gleicher Nothwendigkeit zur Dictatur.
Dort rettete fich der Abel, invem er volksbeliebte Mäuner aus feinem
GStante an die Spite einer Partei ftellte, bier ver Priefterftand, itt«
m er ſich dem Regimente bes Previgers am Zein fügte. Es ift ein
416 Georg Beigt,
natürliches Geſetz foldher Bewegungen, daß fie nach und nach diejeni⸗
gen wie von felbft emportragen, die zum Leiten und Regieren vie
Züchtigften find.
Die Kunſtadt von Podebrad waren cin altmährijches Gefchlecht,
das in Böhmen nicht gerabe zu den angefehenften gehörte. Aber bie
nächften Ahnen des jungen Georg waren Huffiten, ſeitdem es über-
haupt Huffiten gab. Er felbit wuchs im Kampfe ver Parteien
empor. Als ein Yüngling von 14 uhren nahm er an ber
Schlacht bei Lipan Xheil (30. Mai 1434), in welcher die Haupt-
macht der Zaboriten und Waifen, bie beiven Brofope unb mehr ale
13,000 ihrer Krieger bingemeßelt wurven. Diefe Nieberiwerfung ber
huffitifchen ‘Demokratie war feine frühefte politiide Erinnerung. Die
Bannerherren erheben wieder muthiger das Haupt, durch Kirchengut
bereichert, im Bunde zufammenbaltend gegen die Reſte des Taberiten-
thums, unter ſich aber getrennt Durch die Confeſſion und durch ehr⸗
geizige8 Emporitreben der Bebeutendften. Die Wahl Rolycana's zum
Erzbischof von Prag und ber Abfchluß ver Compactaten bezeichnen
biefe Reaction auf dem FKirchlichen Gebiete. ' Am weiteften nach den
alten Zuftänden zurück ftrebten natürlich die katholiſchen Herren, bie
Neubaus und NRofenberg. Es gab nah Sigmunds Tod bereits eine
Mehrheit von Herren, die einer öfterreichifhen Wahl hold waren,
aber heftiger noch waren im Ritter- und Bürgerſtande die Antipa⸗
thien gegen vie deutfche Nation und ven Fatholifchen Glauben. Die
Regierungszeit, die man dem babsburgifchen Albrecht zuzufchreiben
pflegt, war vielmehr eine factifche Anarchie, die nach feinem Tode
faum fchlimmer werben konnte. Verwaltung, Abgaben, Gerichte hör-
ten wieder auf, Fehde und Gewalt traten an die Stelle. Aber viele
Periode zeigt nichts mehr vom demokratiſchen Charakter, es find le
biglich baroniale Bünde und Intereſſen, die einander bekämpfen. Ch
wohl zugleich auch in der Kirche die Spaltungen fich mehren, fo bes
feitigt fih tabei doch Nofycana, der Mann der Sompactaten, mit
feinem Anhang. An diefen Eirchlichen Kern fchloß ſich Alles an, was
ben Frieden und Die Ordnung wünfchte, ohne den Kelch Lauffen zu
wollen, eine immer wacfente Partei. Mit Rokycana verbündet, übte
feit 1440 Herr Hynce Ptacel von Pirkjtein die meifte Gewalt im
Lande. Ihm felgte als Haupt des utraquiftischen Herrenbundes Geerz
418 .- Georg Voigt,
wieder zur Geltung und bie Hanbelsverbindungen mit ben Nachbar-
ändern öffneten fich aufs Neue. Dem Wohlitand wurden mindeftene
die Wehe bereitet, auf denen er im Laufe friedlicher Jahre erblühen
mochte. Und alles das hatte das zerrüttete Neich dem Gubernator
zu danken.
Dem allgemeinen Friedenszuge folgten felbft die Eirchlichen Dinge.
Der Utraquismus durfte fich als geficherten Sieger anſehen, feit-
dem er in Prag die Alleinherrfchaft erlangt und da ver Regierer des
Landes felbft ihn befannte, Man wünfchte und meinte, mit ven Com⸗
pactaten wieder im Glauben und in der Gemeinfchaft ver Tatholifchen
Kirche zu ſtehen, man zeigte ſich empfindlich gegen die ſchmachvolle
Fortvauer des Ketzernamens. Der alte Fanatismus war im Erlö—
ihen, zur Krönung Ladislaw's im Oftober 1453 konnte felbjt das
verbannte Domcapitel nach Prag zurücdkehren und hier bleiben. Nicht
ben Compactaten gebührt folches Verdienſt, fondern dem, der im Nas
men bes Friedens die Macht handhabte. ‘Diefe Zeit ſchilderte Aeneas
Sylvius 1455 vor dem Papfte mit den Worten: „Durch das Be⸗
jtreben des Gubernators wurde ganz Böhmen gleihjam ein Bolt,
Jedem wurde fein Ritus gelajfen und eine Strafe gegen den verfügt,
ber den andern Theil wegen Stegerei bejchulpigen würde. So liegen
nun der Wolf mit dem Schafe, der Panther mit dem ungen bes
Löwen ruhig beieinandern °). Freilich war das nur ein factifcher Zus
ftand von kurzer Dauer.
Der junge König Ladislaw ftarb zu Prag eines jähen Todes,
ben Herr P. zum Gegenſtand einer eigenen Unterfuchung gemacht um«
ter dem oben angezeigten Titel. Hier findet man die Zeugnijje für
und gegen Giftmord in einer Fülle gefammelt, die nur ein fo belefe-
ner Horicher zufammenbringen konnte. Wir wüßten nur wenige bins
zuzufügen und feines von fchlagenver Bedeutung. Indeß conftatirt
ber Bericht des fächfifchen Geſandten Heinrich Yeubing vom 12. De⸗
cember 1457, den P. in den Urf. Beiträgen Nr. 120 felber mittheilt,
daß fchon damals, alfo wenige Wochen nach dem Tode des Könige,
auch außerhalb Wien’s von einem unnatürlichen Tode die Rede ging;
denn in Wien ſelbſt wurde ein Bericht wohl fchwerlich geſchrie⸗
®), Worte aus ber oben citirten Denkrede.
Georg von Böhmen, ber Huffitenfönig. 419
ben, welcher erzählt, daß Matthias Hunyadi zu Wiennen ges
fangen gelegen. ferner ift Herrn P. die Antwort von Seiten des
Könige Kafimir von Bolen an Zisfra vom Jahre 1458 entgangen,
in welcher ebenfalls von Gift und zwar auf ein weitwerbreitetes Ger
rũcht hin, geiprochen wird ’). Schlagenp können wir bie Gründe nicht
nennen, aus welchen Herr P. zu beweifen fucht, Ladislaw fei nicht
au Gift, ſondern am Bubonentyphus gejtorben; noch weniger fehlas
gend find die Auslajjungen feines ärztlichen Freundes, Diefe Kranke
beit war gleichſam bie officiöfe Verfion, vie allereings viel Wahr⸗
fheinliches und außerdem noch einige andere Zeugniſſe für fich hat.
Da fie aber in letzter Stelle eben auf Georg zurüdführt, fo wird,
wer biefen für den Giftmörder hält, fein Zeugniß natürlich zurüds
weifen. Auch enthält es einen Nebenumſtand, der uns nicht fehr glaube
wärbig erjcheinen will, daß nämlich ver fterbente König dem Guber-
nator fein Reich mit einer gewiſſen Gefühlsinnigfeit an's Herz gelegt
haben ſollte. Sieht viefe abſichtlich verbreitete Nachricht nicht jtarf
nach einer erften Vorbereitung der künftigen Herrichait aus? Du Pos
debrad fehr wenig Deutſch, Ladislaw aber gar fein Böhmifch fprach,
vermögen wir und überdies einen Discurs mit dem Sterbenven, uud
gar in ber wohlgejegten Form, wie ihn Aeneas Sylvius gibt, nicht
leicht vorzuftellen. Vor Allem aber iſt ein fchönes, faſt zärtliches
Berbältnig, wie Herr P. es zwifchen vem jungen Yabislaw und dem
Gubernator annehmen möchte, im höchſten Grave unwahrſcheinlich.
Des Habsburgifche Kind war Georg von Anfang an unbequem, wenn
wir aus feiner Bruft nicht jeden Funken des Ehrgeizes wegläugnen
wollen. Eo war immer ver Schüpling ter katholiſchen Barone ge⸗
wien. Sie mußten wohl, warum fie ihre Truppen im Bunde mit
ven öfterreichifchen Rebellen ins Feld ſchickten, um ven jungen König
7) Bei Diugoss Histor. Polon T. II. Lips. 1712. Lib. XII. p. 225.
Es ſchmerze den König, heißt es bier, quod illum (Ladislaum) fama
communi referente, quae universam christianitatem complet, audimus
veneno extinctum, de quo non aliis magis quam barunibus Bolıe-
mise, quibus ipse sc in tutum, propriis etiam Australibus praeter-
missis, permiserst, negligentius vitam suam providentibus, succen-
semus,.
27*
420 Georg Beigt,
ter Gewalt feines kaiſerlichen Bormundes zu entreißen; und Georg
wußte auch, warum er zur Befreiung Ladislaws feine Hand regte.
Har P. meint zwar, diefe habe tem Gubernator nicht unangenehm
fallen können, ja er habe ſich durch tie Hoffnung auf einen gefrönten
König im Gewinne gefühlt, weil „ken Fremden“ dadurch tie Gele
genheit genommen worden, aus ber Uneinigfeit ber Böhmen Nuten
zu ziehen. War aber Ladislaw felbft nicht ihm wie bem böhmifchen
Volke ein „Fremder?“ Die Schwierigkeiten, die dem jungen Zürften
in ven Weg gelegt wurben, gingen doch ſchwerlich von jemand an⸗
ders aus als von Georg. Seit vielen Fahren hatten ihn bie Böh-
men als ihren König von Friedrich geforbert; jest mußte er erit
wieder gewählt werden. Und nur unter ſchweren Bedingungen wolite
man ihm die Krone bieten: er fellte fein Erbrecht auf dieſelbe vers
läugnen und eine Wahlcapitulation annehmen, die ihm Ehre und Recht
kränkte. Er mußte ven Gubernator auf weitere feche Sabre beftä-
tigen. Daß tiefe Bebingungen von Georg herrührten, fagt uns noch
zum Weberfluffe Johann von Rabjtein ; ob der Grund „in dem Geifte
des Podebrad'ſchen Bundes’ Tag, ift fchwer zu beweifen, jebenfalle
hielt Georg bei feiner eigenen Wahl folche Bedingungen nicht für noth«
wendig. Die gejpannte Stimmung zwifchen tem Könige und Georg
blickt felbft in ver Erzählung Palacky's (Bd. IV. Abth. I. S. 412
bis 424) deutlich genug hindurch. Sie wird noch düfterer gefchilvert
in dem Bericht eines apoftolifchen Nuntius von 1462, der die Tra-
bition des ungarifchen Hofes wiedergibt‘). Darnach erklärte Podebrad,
als er zwei Meilen von Wien lagerte, er welle die Stadt deßhalb
nicht betreten, bamit ver König es nicht mit ihm mache wie mit den
Söhnen Hunyadi's, von denen er befanntlich den einen binrichten, den
anderen gefangen davon führen ließ. Auch joll er gedroht haben, wenn
Ladislaw nicht nach Böhmen komme, wolle diefes Reich einen anderen
König wählen. Endlich wird hier das fehr begreiflihe Motiv des
jungen Königs, daß er die berrfcherifchen Gubernatoren loszuwerden
juchte , offen ausgefprochen.
®) Relatio nuntii apostolici (wohl bes Erzbifchofes Hieronymus von Kreta)
sc. bei Engel Geſch. des Ungariſchen Reihes. Th. II. Halle, 1798,
©. 11, 12. Die von Engel geſetzte Zeitangabe iſt ganz unfinnig.
4223 Georg Beoigt,
ftaatsrechtliche Fiction, man wußte nicht einmal genau, ob nur ber
Herren- und Brälatenftand oder ob auch die Ritter und Städte mit-
zuwirfen berufen waren. Daß indeß auch die Kronländer zugezogen
werden follten, war burch die Urkunde Karl’8 IV. geboten worten,
und 1441 finden wir in der That mährifche, fchlefifche und Laufigifche
Herren und Boten in Prag, chne daß ihr Recht bezweifelt wurde.
Die Mitwirkung der Kronlanve, in denen vie Fatholifchen und
beutfchen Elemente überwogen und bie fächfifche Thronfolge fich bes
reits Sympathien erwerben, war tem Gubernator natürlich uner«
wünfct. Im Beſitze ter Macht nahm er fich Zeit, feinem Plan all
mählich verzuarbeiten. Gleich am Tage nach tem Tode Ladislaw's er»
öffnete er den höchften Beamten und Richtern des Landes, daß fein
Verweſeramt noeh bis zu den nächſten Pfingiten zu währen babe.
Nicht je beeilte er fich, ven Termin für ven Wahltag anzufeßen, viel-
mehr bebantelte er die große Action wie eines der laufenden Ge⸗
fcbäfte, deſſen Erledigung ten nächſten Lanttag im Wär; 1458 ab
warten mochte. An einem ſolchen aber hatten vie Stände ter Kron-
lande nichts zu juchen. Natürlich blieb die Zwifchenzeit nicht ungenugt.
Venn Herr P. meint, vie königliche Krone fei tem verbienten Patrio-
ten wie von jelbit gleichfam ale Erſatz für eine Bürgerfrone zuge⸗
füllen wenn er annimmt, Ladislaw babe ihm auf tem Sterbebette
die fürftige Regierung „gleichſam legtwillig vermacht,“ fo find das
Dad fchr alerbiame und unfichere Tebilel, auf tie ein Politiker wie
Georg ſchwerlich weit gebaut hat. „Gewiß ift auch — fährt Herr P.
ſort — daß Georg keineswegs verſchämt und blöde that, Daß er nicht
werte, Bi das Glück idn aufjuchte, jontern tab er ihm nicht min⸗
der sanieren ald verſichtig entgegenjchritt, wuhricheinlich mit dem
Wwattiern. daß die ederſte Gewalt ven jeher überall genommen und
vide sieht werde.“ Er wird auch Diejenigen Gemütber mit in
kim Nabeanı sowuen Nenn, tie an tem Begriff einer überlom-
meter Okwelr seltenen. Wir meiden Mitteln er nun gearbeitet,
ker won detzt zerärtih Sehnen erfirfihen. Dluger, ter Gegner ver
Tyan, vr nm ganzen Wodlect eine „Conſpiratien der Huſ⸗
nen vedt der dederredet. die angeiebeniten Herren jeien durch reid«
in AI NER, Ne ferien auch eingeichüchtert werten ’). Jo⸗
" lim Pre Li KU p DI, MR
Georg von Böhmen, der Huffitenkönig. 423
hann von Rofenberg, der Hauptmann von Schlefien, foll 17,000 Du⸗
caten erhalten haben; vie thätigften für Georg waren außer ihn ber
Dberftburggraf Zdenef von Sternberg und Herr Zbynel von Hafen-
kurg. Alle drei waren Satholifen und wechjelten hier ihre politifche
Farbe, fie zu gewinnen war dem Thronbewerber in mehr als einer
Hinfiht wichtig; fo wollen wir denn mit Herrn P. ihre Beftechung
„meter behaupten nody verneinen. Auch daß die böhmifchen Herren,
die fatholifchen wie die huffitifchen, in dieſer Bezichung in üblen Rufe
fanden, find wir geneigt, aus dem nationalen Hafje gegen fie zu er:
Nären. Ein anderer Umstand aber, über den wir gern von einem
ſo kundigen Gelehrten wie Herrn P. eine belehrenve Zufammenftellung
läfen, mag bier bebeutend in's Gemicht gefullen fein. Wir meinen
das Kirchengut, das während der Huflitenjtürme von ven Herren ſä—
enlarijirt worden. Wohl fellte nach der Krönung Ladislaw's eine Re:
wfion diefer Beſitzſtände ftattfinden, wir hören aber nicht, daß irgend
etwas Darin wirklich gefchehen. Vielleicht war es nur ein drohender
Wink, den der mächtige Gubernator damals für gut hielt. Aeneas
Sylvius fagte noch 1455 in Zone ber Begütigung '°), e8 feien Loch
aus 10 bis 20 böje Menfchen, vie fich im Befige folcher Kirchengüter
befänren. Je kleiner die Zahl, vefto voller müſſen die Wenigen zus
gegriffen haben. Herr Zdenék Koſtka, nachmals König Georg's ins
sigfter Bertrauter, bejaß die Güter des chemaligen Bisthums Leito-
mpichl, der gutfatholifche Ulrich von Roſenberg hatte zwei Klöſter
au fich gebracht. Das böfe Gewiſſen foldyer Bejiger war ohne Zweifel
em mächtiger Yactor in ihrem politifchen Betragen. Sehr tenkbar,
daß Georg manchem von ihnen für gute Dienjte das Verfprechen ge-
geben, ihren Befigtitel in Ordnung zu bringen. Andere mochten aus
demſelben Grunde an die huffitifche Cache ebenfo innig gefefjelt fein,
wie fpäter die Inhaber von Bankbillet® an das Haus Oranien in
England, ober vie Befiger von Afjignaten an die franzöfifche Revo—
Istion.
Auf der anderen Seite hing die Maffe des Volles an dem nie
verläugneten Utraquismus des Gubernators und an feiner flawifchen
0) In ber oben angeführten Denkrede p. 377, 378.
424 Georg Boigt,
Abkunft. In diefem Sinne war Rokycana fein thätigfter Agent:
ohne Aufhören eiferte er von ber Kanzel herab, wie man feines Herr-
fcherE aus frembem Stamme bebürfe und die beutfche Uebermacht
endlich bei Seite werfen müſſe. Nach folher Vorbereitung erbielt
auch das Prager Volk eine große Stimme bei der Wahl.
Der Landtag begann den 28. Februar 1458 auf dem Altftädter
Rathhauſe Prag’s. Die Anfprüce und Bewerbungen follten in aller
Rechtsform geprüft werben. Als die Stände aber bie franzöfifchen
Erbietungen geneigt zu hören fchienen, fchrie die aufgeregte Volksmaſſe
draußen, man folfe Herrn Girſik oder fonft einen Böhmen, aber kei⸗
nen Deutschen, überhaupt feinen Fremden zum Könige wählen, Diefe
„unwiderſtehliche Macht ver öffentlichen Meinung‘ äußerte fich fo
bandgreiflih, daß die Boten von Bauen und Görlig, die einzigen
nicht böhmifchen, bie auf dem Landtage waren, Prag fefort zu ver⸗
laffen für gut fanden‘). Dennoch hörte man am folgenden Tage,
am 1. März, die Gefandten des Herzogs Wilhelm von Sachſen ru⸗
big an. Am 2. März aber wogten bie bichten VBolfsmaffen auf allen
Straßen und Plägen und forderten mit ©ejchrei einen eingeborenen
König. Unter folder Einfhüchterung erfolgte im Rathhauſe Die Wahl.
Zpenef von Sternberg ſprach von des Vaterlandes Noth und Recht,
hielt bei den Ständen „ganz leife” die Umfrage und rief dann, plötz⸗
lih vor dem Gubernator niederfnieend, mit DBegeifterung: es lebe
Georg, unfer gnäbigfter König und Herr! Andere Herren folgten
feinem Beifpiel, fchnell lag ber ganze Landtag auf den Knieen und
gelobte die Treue. Draußen eriholl ein ftürmifcher Jubel: hoch lebe
Georg, ber König Böhmen’s! Unter dem Geläute der Glocken zeg
man in ben Zein, wo dem Könige gehulvigt wurde und Rokycang dem
Himmel und den Ständen für die glüdliche Wahl dankte. Herr P.«
brüdt fi über den Act wohl zu gelind aus. „Eine Art moralifchen
Zwanges — fagt er — wenn man e8 fo nennen will, waltete dabei
allerdings ob: es war die Preffion des allgemeinen Volkswillens.“
Das Gerücht freilih, als feien wiberfprechende Katholifen getöbtet
worden, weift felbjt Efchenloer als unwahr zurück. Zu eigentlichen
N) Urt. Beiträge Nro. 137.
426 Georg Boigt,
„Es fteht feft — fohrieb damals Aeneas Sylvius, als er feine Ge⸗
fchichte Kaiſer Friedrich's ſchloß — daß die Reiche mit Waffengewalt,
nicht auf gefeglichem Wege erworben werben.“
Dennoch muß man zugeben, daß Georg’s Anerkennung ungewöhn-
lich günftige Conjuncturen zu Hülfe famen Indem vie drei Reiche,
die Ladislaw innegehabt, auseinanterfielen , zerfplitterten fich auch bie
Erbanfprüche und einer lähmte den andern. Matthiad nahm vom un-
garifchen Throne Beſitz, ohne daß der Kaifer fein Necht aufgab. Da
biefer audy mit feinem Bruder Albrecht und feinem Vetter Sigmund
um das djterreichifche Erbe haderte, gab er das Ketzerland preis und
meinte in beffen Ufurpator einen Bundesgenoſſen zu gewinnen, ber
für ihn die Waffen ergriffe. Schneller no fam dem Emporlönm«-
ling ver greife Papſt Galirtus entgegen: er wellte von ber Vergif-
tung Ladislaw's nichts hören und foll für Georg, ſchon bevor dieſer
gewählt wurde, bereit8 bie geweihte Roſe und ein geweihtes Schwert
beftimmt haben”). Als dann ver Procurator Georg’8 ihm alles Er⸗
benfliche verfprach, fah er im Geifte ſchon Böhmen zur Kirche zu-
rüdgeführt und ven König gegen vie Türken im Felde, da nannte ex
ihn nun geliebten Sohn und König. Unter ten beutfchen Fürften
ftand es um Georg's Aufnahme in ihren Kreis noch mißlich, ald ver
Streit zwifchen ber brandenburgifchen und ver bayerifchen Partei im
Reiche losbrach. Nun aber bemühten fi) beide Parteien um ihm.
Bald titulirten ihn alle deutſchen Fürften als: „lieben Schwäher.“
Der alte Diether von Mainz fchalt fie darüber und verficherte, er
halte Girſik nicht für einen Chriften und werde ihm nicht fchreiben
— nad) furzer Zeit fchloß er fogar eine Erbeinung mit ihm. Enplich
ſchloß Georg auch mit Sachjen einen Vertrag und die Verabredung
einer Doppelehe ab, obwohl Herzog Wilhelm vorher an Kaifer, Bapft
und Kurfürften appellirt und ven erwählten König einen „Uffgerud«
ten‘ gefcholten.
'?) Der Brief des Joh. Lichtenfelfer v. 3 April 1458, zuletzt von Balady
Urk. Beiträge Nro. 151 mitgetheilt, if noch an Georg als Gubernator
gerichtet. Dennoch fpricht er fchon von ben Gnaden, bie ber Papſt ihm
post obedientiam regalem zu erweifen gebenfe. So ficher rechnete man
in Rom auf feine Wahl.
Georg von Böhmen, der Huffitenkönig. 427
Schon damals ftand Georg auf dem Gipfel feines Anfehens und
feiner Macht. Der große Hintergrund, auf welchem feine Perſon zus
gleich gefürchtet und Vertrauen einflößend erfchien, war die Zeit feines
Guberniums. Jetzt aber war feine Aufgabe unermeßlich viel ſchwie—
tiger. Was dem Gubernator al& ein ſchönes Verdienſt zugefchrieben
wurde, erichien für ven Gefrönten eine Pflicht. Und gar von dem
Emportömmling verlangen vie Wenjchen ganz Befonderes, frappante
2eiftungen, durch welche er ven natürlichen und überlegenen Herrſcher
kefundet, die den Neid derer überwinden, mit welchen er zuvor eines
Etandes geweſen. Weberfehen wir nun wie weit es Georg gelungen,
Die Parteien feines Landes zu beberrfchen, das Firchliche Yeben in
eme Bahn zu leiten und endlich feinem Neiche gegen das Ausland
hin eine Machtftellung zu gewinnen. In allen tiefen Richtungen ge«
benfen wir zu zeigen, wie es ihm nicht am tüchtigem Streben , wohl
aber an ver Erfenntniß der richtigen Wege oder an ihrer energi«
ſchen Berfolgung gefehlt Hat.
Leider find die Quellen äußerft farg, vie fein Regiment in Böh-
men beleuchten, unfüglich Vieles hat ver Fanatismus jener Zeiten
vernichtet, in welchen vie Jeſuiten das Land gutfatholiich machten
md tabei feinen beften Lebensfeim vergiiteten. ‘Doch läßt fich ein
algemeines Urtheil aus ven Prämiſſen und Refultaten wohl gewinnen.
König Georg fuhr ungefähr auf vemfelben Wege fort, ven er fich als
Pantesveriwefer gebahnt. Nach feiner Krönung beftätigte er alle
Reiche» und Hofbeamten ohne Ausnahme. Die anarchifchen Fa—
ctienen, tie Reſte des alten Taboritentbums, trat er vollends nieder.
Aber in feinem Streben, fich die vielverlangenden Barone des Landes
nicht zu entfremden und doch auch die populäre Grundlage feiner Ge—
walt zu conjerviren, lag ein unheilbarer Zwieſpalt. Nicht nur zeigte
isn fein richtiger Blick, daß fein feitefter Anhang im Stande der
Riobpfen, des niederen und ärmeren Avels, und im Bürgerthume
war, auch feine Neigung ging dahin, auf diefen Baſen das Wohl des
Landes zu begrünten. Handel und Wantel lagen ihm nahe am Her«
en. Dem Vlünzumvefen, das aus Dejterreich herüberfam, hat er
nach Kräften gefteuert, die Schinderlinge aus dem Lande getrieben und
die guten böhmiſchen Groſchen bergejtellt. Einen neuen Rathe, dem
er in wirthfchaftlichen Dingen große Gewandtheit zutraute, legte er
428 Georg Boigt,
bie Fragen vor, wie es möglich fei, in Böhmen eine fefte Münze
von wunveränderlichem Gehalt und Werth einzuführen, ven Bergbau
in Aufnahme zu bringen, die königlichen Amteien pafjend einzurichten,
die Summe des Imports und Erports im Handel Böhmens zu er-
gründen und biefen überhaupt wierer in Blüthe zu bringen — Fra⸗
gen, die auch als bloße Fragen für einen Fürften jener Zeit das eh⸗
renbite Zeugniß ablegen. Wie weit vie Cultur bes Landes wirklich
gebieben, ift fchwer zu fagen; wohl allzu früh wurbe ihr die nothwen⸗
digſte Gruntlage, der Friede, wieter entzogen. Dennoch Ichnte ven
Koönig die Anhänglichkeit jener Claſſen. Die Barone Dagegen ertru⸗
gen es nicht, daß einer aus ihrem Stande ihr Herrfcher war unb
daß er wirklich herrſchte. Seit 1462 traten einzelne, auch in Böhe
men, bem König entgegen. Den Dedtmantel für ihre oligarchifchen
Beitrebungen fuchten fie noch nicht im Glauben, weil die Maffe bes
Tolles und auch ihrer eigenen Unterthanen utraquiftiid war. Sie
geberteten ſich vielmehr al8 Patrioten, fanden die alten Rechte und
Privilegien verlegt, ihren Rath in den Yandetangelegenheiten vernach-
läſſigt, Die Fünigliche Gewalt übergreifend und herriſch. Später ver
ſchwor fich diefer „„Herrenbund“ offen mit ven Römlingen und mit
der deutſchen Yerölferung zum Berverben des Könige. Dezeichnend
it aber, daß ſich dieſe Herren geraume Jahre nicht zur Erhebung
eincd neuen Hauptes entfchließen konnten. Lange fah der König ihrem
Treiben mit unbegreiflicher Nachficht zu, die wir nicht mit Herrn P.
einer „natürlichen Gutmüthigkeit“ zufchreiben möchten. Gin reines
und volles Ergebniß bütte er nur erreichen fünnen, wenn er ſich auf
den Ritterſtand und bie Städte geftügt, an tie Spige einer allge
meinen Erbebung gegen die großen Feudalherren geftelt und vie
Sternberg und Rofenberg mit Raffengewalt zu Boden gefchlagen
hätte. Aber er wur älter, fein Körperbau fchwerfällig geworben, er
zeigte ſich berenflih und unentichleffen, wo e8 der burchgreifenten
Energie, der rajıhen That beturfte; überall hoffte er durch Fluges
Abwarten oder durch diplomatische Feinheiten feine Erfolge zu erringen.
So konnte er ſich auch nicht zum Auftreten gegen ven Stand, dem
er ſelder angehört, entſchließen. Im Gegentheil bat er ter baro-
nialen Autenemie, dem Schwinten ver Zemane und Lantjajfen, tem
Auflommen der Leibeigenjchuft eher Vorſchub geleiftet als gewehrt.
430 Georg Boigt,
wefen fein. In der Regel folgte ver König mit feiner Gemahlin
und feinen Kindern der Proceffion Rofycana’s, bei welcher außer ber
Monftranz viele Kelche, gefüllt mit dem Blute Chriſti, einhergetragen
wurden. Doc ging er auch bisweilen, beſonders an größeren Feſt⸗
tagen zu den Domberren nah S. Veit hinauf. Profop von Rab»
jtein erklärte einmal offen an der römifchen Curie, fein König müſſe
es mit beiven Parteien halten, tamit nicht die eine von ibm abfiele.
Es war Georg's bringender Wunfch und feine fchwerfte Auf
gabe, Böhmen wieder in die Reihe der gleichfam regulären Mächte
einzuführen, und ben böfen Fleck des Ketzerthums von feiner Krone
und feinem Lande zu tilgen. Zwar fchien es, daß vie Fürften unb
Bolitifer wenig Werth darauf legten, aber bie römiſche Kirche hatte
noch die Stimmung ver Völfer für fih. In Sachſen 5. B. erwed»
ten die mit dem Ketzerhauſe verabreteten Ehen ein bitteres Murten.
So lange Böhmen nicht wieder in dem großen Verbande ver latel-
nifchen Kirche war, hatte es ſtets eine bebenkliche Ausnahmeſtellung.
Das Bindemittel nun fah ver König in ven Compactaten und in ber
Fiction, daß er auf Grund verfelben ein rechtgläubiger und in ber
Kirche ſtehender Katholik ſei. Unter, jenen ragen, die er feinem
neuen Rathe Marini vorlegte, war gleich die erfte, wie man wohl
die Böhmen, vie einmal auf ihren Sompactaten beftänden, ohne Auf»
bebung verjelben mit ver römischen Kirche ausföhnen könne. Nach
feiner Wahl betrieb er mit Eifer, daß katholiſche Bifchöfe ihn Frönten,
und leiftete dafür einen Eid, der völlig rechtgläubig war, nur daß er
bes Laienfelhe® nnd der Compactaten nicht ausdrücklich gedachte.
Sofort fhidte er auch Boten an den Bapft und bat um ihre Beitä-
tigung. Den huffitiichen Unterthanen ſchwor er, die Compactaten
zu balten, er naunte fie einmal öffentlich vie heiligen Compactaten,
zunächft freilicd mit ber Erläuterung, daß fie vom heiligen Concil
ausgegangen feien. Mit ihnen meinte er die Union zu vollziehen.
Das war ein halber Mittelweg, eine fchwächliche Auskunft, mit
welcher der König nach beiden Seiten hin zu täufchen fuchte und
endlich doch nur fich felber täufchte.
Während der ganzen Regierungszeit Georg's blieb Rokycana ver
Dictator der huffitifchen Kirche, ver Mann mit ten mächtigen Yungen
und der eijernen Beftigleit. Wir fahen, wie feine firhliche und Ges
Georg von Böhmen, ber Huffitenkönig. 431
gs politifche Bahn Tange Zeit in einer gewilfen Parallele Tiefen.
Daun aber erreichte Georg eine anerkannte Stellung, Rokycana's
Macht dagegen beruhte bis zu feinem Zode auf der Demagogie. Er
nannte fich den Exrmwählten von Prag, ohne dem Yandtage das Ernen⸗
unugörecht eines Erzbifchofes zu vinbiciven. Er war von feinem Papfte
beftätigt und hielt tiefe Beftätigung boch für nothwendig. Er glaubte
ſich ſelbſt nicht berechtigt, utraquiftifchen Geijtlichen die Weihe zu er-
teilen, erließ jedoch für den ganzen utraquijtifchen Klerus Vorſchrif⸗
en, wie ein beftätigter Erzbifchof. Leider liegt die Organifation ber
huifitiichen Kirche fehr im Dunkel. Auch Herr Droyſen bebauert,
bob ihm die Materialien gefehlt, um vie Wandelungen des Kirchen⸗
echte, die König Georg vorgenommen, genauer zu entwideln; das
Benige, was er davon fenne, fei überaus merkwürdig. Es ijt zu
bedauern, baß er auch dieſes Wenige nicht mittheilt. Selbſt Herren
valachy ift es nicht gelungen, das Dunkel zu erhellen. Wir erfahren
durch ihn nur die Eriftenz eines utraquiftifchen Confijteriums in Prag,
weiches indeß allem Anſchein nach wenig hervortrat. Von katholiſcher
Seite wird überall Rokycana als Haupt und Herrjcher bargejtellt, nur
bet, im Bunde mit ihm, und im Intereſſe ver Politik, auch die für
mögliche Gewalt bisweilen in bie kirchlichen Dinge eingrifl. So war
webl vie böhmifche Kirche eine Mifchung von Dictatur und Anarchie.
Sie zeigt eine gewilfe Solidarität und eine bejtimmte Färbung, wo
ner herrſchende Geift des Zeinprebigers jich geltend machte, Sie follte
£atbolifch fein mit einigen Modalitäten, unter denen "die Wahrheit
des Keſches⸗ obenanitand. Das war ein Sa, auf welchem Roky—⸗
cana feftftand und mit ihm bie Utraquijten feines Anhangs; feine Un»
erfchütterlichleit im Kelche machte ihn zur volksthümlichen Geſtalt,
fücherte ihm das unbedingte Vertrauen; man fah ihn nicht wie ben
König verhandeln und erperimentiren. Sonſt liegt uns nur einer
feiner Erlaſſe an den utraquijtifchen Klerus ver: er betrifft tie Würde
uud Heilighaltung des Leichnams Chriſti, die Aufbewahrung des
Ghrisma, des heiligen Deles und Taufwaſſers, das Halten der Fa—
ften und Feſttage. Bis auf wenige Punkte, welche cben ven Act ver
Cemmunion betreffen, unterjcheidet ev ſich nicht von ähnlichen Ver-
sronungen, bie durch gutlatheliiche Prälaten oder Synoden erlajjen
432 Georg Boigt,
worben '*). Neben dieſer Art von Herrfchaft erhielt ſich unaufhör-
liche Sectenbildung und Irrlehrerei. Es ſcheint außerhalb Prag’s
an geeigneten Prieftern gefehlt zu haben; fo hören wir, baß Men
ſchen aller Gattung, die irgendwo die Weihe erfchlichen, bei den huſ⸗
fitifchen Gemeinden ein Unterfommen fanden und daß jeder zwanzigfte
Pfaffe ver Böhmen ein verlaufener Pole war '°).
Das Verhältniß zwifchen König Georg und Rolycana war fein
perfönliches. Wir erzählten fchon, wie der Gubernator fich bereit»
willig zeigte, den Oberpriefter fallen zu laffen, wenn er dafür bie
Verföhnung mit Rom erlangen könne. ‘Dem König wurde ter ftarre
und herriſche Magifter bisweilen unbequem. Als dieſer ſich einft
über einen Geiftlichen des katholiſchen Ritus beklagte, gerade zu der
Zeit, da Georg die unzweibeutigiten Erklärungen für den Kelch und
die Compactaten gegeben, fuhr er ven Priefter in Unmuth an: »Du
willft immer, daß Alle dir gehorchen, du felbft aber magft unter kei⸗
nem ftehen!« '*) Von Fatholifcher Seite wurbe vielfach behauptet, der
König laſſe fi) von Rokycana völlig beherrfchen. Das will Herr P.
nicht wahr haben: Georg, meint er, fei nicht fo unmündigen Geiftes
gewefen. Es ijt auch entfchieven unwahr, infofern von einer ein⸗
flußreihen Beratung, von einem geiftigen Webergewichte die Rede
fein foll. Aber ebenfo unläugbar ift, daß Georg von Rokycana, ine
fofern diefer das Prager Bolt und die utraquiftifche Partei überhaupt
hinter fich hatte, als König viel abhängiger war, denn als Guber⸗
nator, Dieſe Partei hatte bei feiner Wahl ein gewichtiges Wort
mitgefprochen, fie war ber Kern feines Anhanges. So feft aber ſtand
Georg doch nicht in ihr, wie ber unbengſame Briefter. König, Kö
nigin und Herren, fagt der alte Annalift, Hätten Rolycana gefürchtet;
denn dieſer habe Gott gefürchtet. So Lange Georg ten Gedanken
verfolgte, fich und fein Volk ver römifchen Kirche wieder anzufchließen,
+) Der Erlaß vom I. 1462 bei Balady Urf. Beiträge Nro. 275.
**) Riedel Cod. dipl Brand. Hauptth. II. Ed 1. p. 456. Aehnliches fagt
Aeneas Sylvius in ber mehrfach angeführten Denkrede.
. 30) Nach dem Bericht eines Fatholifhen Prieſters (aus dem Iateinifchen Efchen-
Ioer) bei Kloje a. a. DO. ©. 163. Pius folgt in feinen Commentarien
p. 241 eben biefem Berichte.
5 ®
>
Georg von Böhmen, der Huffitenkönig. 433
war in der Partei und ihrem Führer der Argwohn rege, der Laien⸗
leſch könne der Preis der Ausföhnung fein, der König könne aus po⸗
litiſchen Rüdfichten von ihm abfallen. Sam ein Legat oder Nuntius
ins Land oder gingen böhmifche Gefandte nach Rom, oder witterte
man fonft im Könige Fatholifche Neigungen, fogleich äußerte fich das
Mißtrauen in einer gefährlichen Aufregung, und Georg mußte es
burch irgend eine bemonftrative Erklärung befchwichtigen. Als ver
Bapft ven bisherigen Dechanten des Prager Domkapitels, Wenzel
von Krumau, zum Adminiftrator des Erzftiftes beftellte, Tieß Georg
ihn zu, Rolycana aber begann gegen ihn einen heftigen Streit um
bie Jurisdiction. Herr Zdenèk von Sternberg, unterftügt von ans
bern katholiſchen Herren, mahnte damals, im März 1459, ven König
an feinen Krönungseiv. Weil aber ein Vollshaufe, vom Zeinpreviger
augeftiftet, fich zu Georg drängte und ihn anflehte, er möge ihre Re⸗
ligion nicht vom Antichrift unter bie Füße treten laffen, fagte er wie
beleidigt zu Sternberg: »Ich geitehe zu, daß es fich fo verhält, wie
du fagft, aber geftehe auch du meine Verfprechungen gegen bie ans
dere Partei zu, fie find dir wohl bekannt, und wilfe, daß ich auch fie
vollftändig und unverlegt halten will” '’). Als ver König im Auguft des⸗
felben Jahres von Brünn zurüdkehrte, wo er dem Kaifer den Lehns⸗
eid geleiftet und darin die Ausrottung ber Ketzer gelobt, foll er ven
Huffiten auf ihre Frage, ob er fie damit gemeint, verfichert haben:
„Rein, nicht euch, meine Brüder, die ihr auf dem Wege der Wahr-
beit ſeid, ſondern diejenigen will ich in Böhmen ausrotten, welche
uns Seker und Schismatiler nennen« '*),
Der beftigfte Sturm entftand im Frühling 1461, als in Böh⸗
men ruchbar geworben, Georg ftrebe nach der Krone eines römischen
Könige. In der That hatte er für dieſen Fall dem Erzbifchof von
Mainz im Vertrage zugefichert, er werde fich im Empfange der Sa⸗
framente und in andern Stüden ver Gewohnheit ver römifchen Kirche
anfchließen und vie Glaubensirrungen Böhmens rin ein einig chrift-
1) Dubravius Histor. Bohem. Basil. 1575. Lib. XXX. p. 284.
36) Bericht Kiczings an ben Papf a. a DO.
Dißerifge Beitigrift. V. Band 28
434 Georg Boigt,
lih Wefen bringen“). Wie viel auch davon in Prag verlauten
mochte, als im März unter den Magiftern der Univerfität und unter
bem gemeinen Volle eine graufame Verfolgung taboritiſcher und brüs
bergemeinvlicher Keber auf Befehl des Königs eröffnet wurde, ald am
Gründonnerftage gar der Bifchof von Breslau auf dem Prager
Schloffe gegen ven Kelch preeigte, brach bie gefährlichite Gährung
los. Man eiferte und Hagte, was es denn genügt habe, einen Böh⸗
men auf den Thron zu erheben, wenn er felbjt fich beeile, ein Deut»
fcher zu werben. In den Verfolgungen fah man ein Streben, fich
dem Papfte wohlgefällig zu machen. Der Bifchof von Breslau mußte
flieden und bei dem Könige Schuß fuchen. Rokycana foll gegen dies
fen in ver Predigt offen geeifert haben. Man fieht, wie wenig Ge⸗
org bei folchen Bewegungen Herr der Lage war: er ließ fein Pros
ject, das an fich hoffnungslos geworten, nun vollends fullen und am
15. Mai ftellte er dem Yandtage einen Revers aus, durch welchen
er die Rechte und Freiheiten des Landes und befonvere die Compa-
etaten, das heißt den Kelch, aufrecht zu erhalten fich verpflichtete.
Aus demfelben Gefichtspunfte muß man auch vie fcharfen und
faft theatralifchen Erklärungen betrachten, die der König auf dem ver“ _
hängnißvollen Laurentiuslandtage zu Prag und in ben nachfolgenden
Briefterverfammlungen abgab. Seine Gefanbtfchaft nach Rom wer .
mißglüdt: der Papft hatte die Compactaten, ftatt fie zu beftätigen,
feierlich verdammt. Das aufgeregte Volk, welches das Botenſenden
und Briefwechjeln, überhaupt ven Verkehr mit Nom immer bearg⸗
wöhnt, mußte eine glänzende Genugthuung erhalten. Es war nic
Aufregung und Zorn, wenn ber König nun feierlic und wiederholt
betheuerte, daß er bei dem Kelche und ven Compactaten leben unb
jterben wolle; er fonnte nicht wohl anders, „weil die Sache, die Zeit
und bie öffentlihe Vorbringung jener ‘Dinge e8 fo erforverten ?)⸗.
Seitdem verſchloß ber kelchneriſche Starrfinn dem Könige jebe
Möglichkeit, fid auf weitere Verhandlungen mit der Curie einzulaffen.
19 Der Vertrag vom 3. Dec. 1460 bei Höfler Kaif. Buch S. 59 ff., das
Datum nach der Correctur Palacky's.
ꝛo) Seine eigenen entſchuldigenden Worte im Briefe an ben Papſt vom 3.
März 1463 bei Cochlaeus Hist. Hussit. Lib. XII.
N
Georg von Böhmen, ber Huffitenkönig. 435
Prepigte nur einmal wieber der Bifchof von Breslau auf dem Wen-
xleberge, fo fchrie alsbald Rokheana im Tein dreimal Zeter: wenn
man ihm jet nicht unterftüße, fo werde er verlaffen fein und ber huf-
Mifche Glaube ganz gefchwächt werben‘). Damals auch ließ er auf
feiner Kirche das gewaltige fteinerne Standbild aufrichten: ein ge⸗
könter Dann von riefiger Geftalt hielt in der einen Hand einen
weithin fichtbaren vergolbeten Kelch, in ber ankeren ein gezogenes
Echwert. Am Kelche las man bie Worte: Veritas vincit’’). Dem
Rönige follte eingefchärft werben, daß er zur Vertheidigung des Stel-
es berufen und unter dieſem Zeichen ver Sieg zu hoffen fet.
Wie wäre da der Gedanke Georg's, daß in feinem Reiche Ka⸗
iSelilen und Utraquiften einträchtig bei einanter wohnen könnten, aus»
füfebar geweſen! Am wenigjten ſollte man hier das erhabene Wort
Telerauz anwenden und eine geniale Anticipation unferer Duldungs⸗
begeiffe in Georg's Regierungsfyfteme finden wollen. Die Heinen Sec-
en, die in allen Farben und Geſtalten auftauchten, Zaboriten, Wille
Men, Brüber, Picarden, was in Böhmen ziemlich daſſelbe fagte wie
Reper, bis zu ten Chiliaften und Adamiten herauf — fie alle wur«
den von der rechtgläubigen utraqniftifchen Kirche und deren Papſt
Beöpcana ale verdammte Schisinatifer betrachtet. Bon der Toleranz
@eorg’6 gegen ſolche Diffiventen zeugten Zortur, Scheiterhaufen, Aus»
mtiung und vie Sterler im Schleffe Podebrad. Und doch lag auf
igrez Geite eine volle Wahrheit: fie predigten faft alle bie muthige
Lesiifung von der römifchen Autorität, die doch factifch auch bei ven
Mszaquiften Rokycana's vollzogen war, nur daß man hier nicht bie
Srlichkeit und Kühnheit hatte, fie auszufprechen. Daß Duldung und
gjeiches Recht der Katholiken in Georg's Wunfche Tag, ift nicht zu
begmeifeln. Aber fie lagen nicht in feiner Macht, am wenigjten in
Prag Rolycana gegenüber. Der König fette 1460 den Orben ber
Minoriten von der Obfervanz in dem verlaffenen Etifte bei S. Am⸗
bros ein; Rolycanı wußte vie Mönche wieder auszutreiben. Die
Yähtergefänge und Spottgemälde gegen ven Bapft und bie Fatholifche
ei) Bericht eines fächfifchen Boten vom Juni 1464 bei Palady Urt. Bei⸗
träge Niro. 317.
m Eſchen loer I. 6. 238. 259.
98 *
436 Georg Boigt,
Kirche, wo fie in Prag und andern Ketzerſtädten auflamen, vermochte
Georg nicht zu unterbrüden ), Die ewigen Händel zwifchen ben
katholiſchen Prieftern auf ver Burg und ben rofycanifchen in ver
Stadt Tonnte er nicht fehlichten. Am deutlichſten aber fprechen zwei
Statute, die von Rokycana ausgingen und unter Föniglicher Autorität
in Prag und ben antern huffitifchen Städten publicirt wurten. Dars
nach follte Hier niemand zum Bürgerrecht, in die Zechen oder Zünfte
oder zu Handwerferarbeiten zugelaffen werden, niemand Erbichaften
antreten over ein Eigenthum juriftifch erwerben dürfen, niemand auf
ein Begräbnig am geweihten Drte oder kirchliche Trauung Anfpruch
haben — er ſchwöre denn, in ver Communion unter beiden Geftalten
zu fein und zu bleiben. In der That wurden durch dieſe Maßregel
viele Menſchen zum Stelche oder aus dem Lande gedrängt **). Und
bas-gefchah im Jahre 1459, alfo zu der Zeit, in welcher das Ver⸗
hältniß Böhmens zur römischen Kirche noch das relativ Beſte war.
Herr P. ſpricht davon nur beiläufig und ziemlich obenhin: "Daß bie
utraquiftifchen Föniglihen Städte den Katholiken ebenfo wie vie father
lifchen den Utraquiften wehrten, fich bei ihnen anzufieveln und Bär
gerrechte zu genießen, war freilich unebel, geſchah aber auch ohne Res
kycana's Willen und Befehl, da unverbächtige Zeugniffe über feine
ungewöhnliche Toleranz in Religionsangelegenbeiten vorhanden find« *5).
Zunächſt vermiffen wir den Beweis dafür, daß in den katholifchen
Städten Ähnliche Edicte beftanden, und des Beweiſes bedarf es bier,
da es an fich fraglich erjcheint, ob FKatholifche Städte vergleichen ger
gen die berrfchende Mucht wagten. Werner wird in deu äfteften
Berichten, bei Efchenloer und in dem Schreiben der Breslauer, aus⸗
brüdlich gefagt, daß biefe Ebdicte gerade von Rolycana ausgegangen
feien, und daß Georg ihre Publication geduldet habe; Eſchenloer's
—
23) Eſchenloer I, S. 177. 259.
20) Bon biefen Edicten fprehen Efhenloer I. &. 169, ber Bericht Kic-
zing's an ben Papft und ein Schreiben ber Breslauer an das Garbinaf-
collegium, beide bei Klofe aa D ©. 45. 142, die Antwort bes
Biſchofs von Zorcelo bei Palady Url. Beiträge Nro. 315 und ber
Biſchof Rudolf von Lavant ebend. Nro. 383.
5) Gef. von Böhmen Bd. IV. Abth. II. ©. 668.
488 Geeocrg Beolgt,
reiner und ihren Ritus für allein förderlich halten müſſen, und fo
dachten auch die heiligen Böhmen, bie allein rechtfertiglich die Ge⸗
fege des Evangelit hielten«, wie fich einmal &fchenloer ironisch ans⸗
brüdt. Die Beitätigung ber Compactaten von Seiten des Papftes
hätte die Einheit durchaus nicht hergeftellt, au den Utraquiften noch
lange keine vömifchen Ehriften gemacht.
Herr P. nimmt für den Utraquismus eine hohe Stellung unter
denjenigen Momenten in Anfpruch, welche vie geiftige Entwidlung ber
europäifchen Menfchheit varftellen. Wir fprachen oben von einer er»
ften Phafe des Huffitismus, und dieſer geftehen wir eime felche Ber
beutung mit vollem Herzen zu. Mathias von Janow und Johann
Hus find Heldennamen in der Gefchichte der Befreiung der @eifter.
Der Utraquismus aber, wie er in ber Compactatenpartei und zur
Zeit des Königs Georg zur Erjcheinung kommt, ift nur eine Verkns⸗
&herung ber gewaltigen Bewegung, tie von jenen Männern audging,
eine fectirerifche Erjtarrung ohne Lebenskraft und Friſche. Herr P.
meint, der böhmiſche Hof habe für freiere chriftliche Ideen wie keiner
gewirkt und gelitten — „denn es galt abermals und nicht für YBäh-
men allein, der Entſcheidung der Frage, ob die Ideen bes Mittels
alters oder der Neuzeit zur Weltherrfchaft berufen und berechtigt wa⸗
ren“. Die neue Zeit in ver Gefchichte Europa's beginne man fälfch
lid — nach der Anſicht des böhmifchen Hiftoriographen — erft mit
dem 16. Jahrhunderte. Die Idee, welche die Reformation veram
laßt, fei ſchon ein Jahrhundert früher, um bie Zeit des Coftniger
Concils, in das Völferleben eingetreten, wenn auch faft lebiglich auf
eine Nation befchränft geblieben. Da der Sieg jener Idee im 16.
Jahrhundert auch nur ein theilweifer gewefen, va er ſich faum über
die Hälfte der Chriftenheit erſtreckt, fe fei alfo ver Unterfchieb beider
Epochen nur einer dem Grabe, nicht dem Wefen nach.
Dan kann diefen Vergleich nimmer gelten laffen, mag man nun
bei einer gefchichtlichen Erſcheinung ihre wirkende Kraft, ihren Erfolg
oder mag man ihren Gehalt, ihren inneren Reichthum als Maßſtab
anlegen. Der Utraquismus ift im beften Fall eine eingeftorbene Res
formation. Vom Beginne Parteifache einer aufgeregten Nationalität,
ftieß er ſchon dadurch die allgemeine Etimmung, zunächit in Deutfch
land, von fi ab; aber auch bei ven flawifchen Brüdern fand er keine
440 Georg Beist,
und fcharfe® geläutertes Denten. Boran ftanben bie Magiſter ber
Brager Hochſchule. Im Zeitalter Georg's ift von dieſer kaum mehr
die Rede. Sie Magte dem König Ladislaw nach feiner Krönung, wie
fie an Aeckern und Zinfen beruntergelommen fei. Tiefer aber war
fie als Führerin ver Geifter und in ben Leiftungen ihrer Lehrer ge-
funten. Einigkeit herrfchte in ihr allervings: ſeitdem man bie beut-
ſchen Magifter und Studenten ausgetrieben, beftand fie ganz ans
Böhmen und aus Utragqniften, bie zu Rokycana's Fahne gefchweren.
Und in derſelben Weife blieben ven Kekern die Schulen bes Auslan⸗
bes verſchloſſen. Iſolirt und vereinfeitigt mußte wohl das geiftige
Streben eined begabten Bollkes erftarren und fich deſto ftör«
rifher auf feine kelchneriſche Beſonderheit zurüdziehen. Ueber
den Abendmahlskelch verftand ver einfältigfte Priefter zu bisputiren
und jeber gebilvete Laie kannte die Bibelftellen, auf welchen vie huſ⸗
ſitiſche Anſchauung berubte, aber viel mehr wußte auch ber gelehrte
Mogifter nicht. Zur ftillen Lucubration war feine Neigung, felbft
ber Eifer ber Streitfchriften erlojh nad) und nad. Niemand fanb
fih gedrängt, das für die Nachwelt aufzuzeichnen, was er um fi
geſchehen ſah. Wer hätte jet daran gebacht, Weltweisheit zierlich
in Sprüche zu faflen ober fich über das öffentliche Xeben in feinen
Allegorien zu äußern! Man begnügte ſich mit den utraquiftifchen Kir⸗
henliedern, mit Spott= und Schmähgefängen. Kein Rachllang mehr
von der alten böhmischen Malerfchule; man erfreute fich höchſtens ber
polemifchen Earricatur und jubelte etwa über einen Baum, von wel-
chem fchöne nadte rauen wie reife Früchte herabfielen, während
unter dem Baume Bäpfte, Cardinäle, Bifchöfe, Mönche und Pfaffen
ihre Mäntel und Kapuzen auffpannten, um bie Frauen bamit zu fan-
gen *”). Selbft Handwerk und Induſtrie faßten nichts mehr in's Auge,
als was gerade zum Bedarf bes Lebens nothwendig war. Her P.
fpriht davon mit der unbefangenften Einfiht. „Das Kelchnerweien,
fagt er, wäre bei feiner geiftigen Armuth, nach dem Tode Rolkycana 6
und Georg’8 wahrſcheinlich theils in ven Katholicismus, theild in bie
neue Brüdergemeinbe aufgegangen. — hätte e8 nicht durch ven Kampf
wieder an Bewußtſein gewonnen. Er bemerkt höchft treffend, wie
— — — — —
”) Eſchen loer I. &. 259.
442 Georg Beigt.,
brechen. Trotzdem gab es auch fefte fittliche Bande: fo vie alten
Erbverbrüterungen, tie Stammesgenofjenfchaft, bie Verwandtſchaften
und Berfchwägernngen. Solche Rüdjichten bilden allein vie feften
Pole in vem ewigen Wechjel von Cinungen und Verbindungen, von
ntriguen und Schten. Daher blieben troß ver unausgefegten Bes
mwegung und tre& jahrelangen Kriegen doch vie territorialen Berhält-
niffe Deutfchlants im Großen und Ganzen dieſelben. Man machte
nicht Revolutionen und jtürzte nicht Dynaſtien, man begnügte ſich zu⸗
legt mit einem Städtchen cher einigen Aemtern und Zöllen und meinte
dann ſchon Großes erreicht zu haben.
Gemeinhin überſchätzt man die Wirkſamkeit der damaligen Feh⸗
den und unterjhägt man bie der Diplomatie. Letztere wurde, feit-
dem die geiftlichen Raͤthe mehr und mehr verfchwanden, durch eine
eigene Sorte von Menfchen geführt, durch Hofjuriften, politifche Sach
walter, gemeinhin Räthe genannt. Sie waren weder geborene Un⸗
tertdanen noch bleibende Beamte; gewöhnlich verpflichtete man fie
durch Eid und Solo auf ein over ein paar Jahre, oder man Mies
tbete auch ihr Talent zu einem beſtimmten Gutachten, zu einer Streit-
Schrift, einer Gefandtfchaft. Nicht felten dienten fie mehreren Höfen
oder Gorporationen zugleich, wenn tiefe nicht feindlich gegeneinander
waren. Wer fie in feinen ausfchiieglichen Dienft nabın, mußte fie
durch höhere Beſoldung entfchäpigen. Cinzelne blieben auch wohl,
zumal in älteren jahren, bei einem Heren und einem Hofe, etwa im
Canzleramte. Die Meiften aber gingen nach dem Verdienſt hier⸗ und
dorthin, wo man fie brauchen wollte. In folder Laufbahn bildeten
fih wohl abgefeimte Ränkeſchmiede, die an allen Höfen und in allen
Schlichen tes öffentlichen Rechts zu Haufe waren, Männer wie Hein-
rich Leubing, Johann von Lyſura, Jobſt von Einfievel, Laurentius
Blumenau, Menfchen, von denen Carbinal Carvajal einft fagte, ihnen
fei gegeben, ver Erde und den Bäumen zu fchaden. Politifche Cha⸗
raftere erwuchfen aus folchem Leben ohne Treue und Vaterland nicht
leicht; wir wüßten allein Gregor Heimburg zu nennen, dem bie Ener-
gie feines Hafjes gegen Papft und Kaifer eine feite politifche Richtung
gab. Man fieht wohl, wie unzuverläffig im Ganzen die Hände waren,
in denen das politifche Gefchäft lag; toppeltes Spiel und Beftechlich
feit kamen nicht felten vor. Der Fürft, ver fich ganz einem folchen
Georg von Böhmen, ber Huffitenfönig. 443
Sachwalter anvertraute, war gefährlich bevient. Nicht zum geringften
Grabe verdankte Markgraf Albrecht von Brandenburg feine Erfolge
dem Umftande, daß er fein eigener Anwalt und Gefchäftsführer zu
fein wußte.
Herr P. Hält es bei König Georg für eine „Kigenheitu, daß er
fih in allen Dingen fremden Rathes zu erholen pflegte. So übten
anch in böhmifchen Sachen, die er ohne Zweifel gründlich durchſchaute,
Zenék Koftfa und die Königin Johanna bedeutenden Einfluß. Die
Art aber, wie ihn in der außerböhmischen Politik feine fremden Räthe
mit den wunberlichiten Projecten in bie Irre führten, können wir
bech nur der eigenen Unficherheit und Natblofigkeit des Königs zu«
fchreiben; bier beherrſchte fein Zreiben ein erperimentivender Ehrgeiz
ehne feftes und Mares Ziel. Georg trat in die politifche Situation
des Reiches unter den glüdlichiten Aufpicien. Papft und Naifer was
ren ihm geneigt, er hatte an Matthias von Ungarn, feinem künftigen
Schwiegerfohn, einen natürlichen Bündner. Die deutſchen Fürften
von ter wittel8bachiichen wie von ver brandenburgifchen Partei dräng—
ten fich zum Bunde mit ihm, und fein politifches Bintemittel hat ſich
ihm in den Zagen ber Gefahr fo kräftig bewährt wie die Chebünbe
mit Sachen und Brandenburg. Für einen Emporkömmling war es
bie wefentlichfte Aufgabe, dauernde Verhältniſſe zu ftiften und fich Ver⸗
trauen zu erwerben. Indem er aber Freund und Feind unaufhör-
Gh wechſelte, bald nad) kleinen Vortheilen jagte, bald weitreichende
Entwürfe anfpann, verlor er vie Bertrauensjtellung, mit der er feine
königliche Laufbahn jo glüdlich eröffnet. Cin Wort des Markgrafen
Albrecht, der lange eine vorfchreitente Politik verfucht und dann boch
fein beftes Heil in einer conjervativen, jtill für die Zukunft forgenven
fand, bat auf Georg von Böhmen volle Anwendung: „Wer wider
ben Strubel wallen will und jevermann punftiren, kommt ihm fchwer
an. Wer aber einfältiglich hanvelt, getreulih und ohne Eigennuß,
der wandelt wohl ficher« °*).
Der Schein des Großartigen darf beſonders bei felchen Proje-
chen nicht täufchen, teren Erfelg vorzugsweiſe von ver Diplomatie ere
wartet wird. Ein Ehrgeiz, der fich nach tiefer und jener Seite vers
”) Droyfen Seh. der preuß Politik Th. II. Abth. J. S 311.
444 Georg Beigt,
leiten läßt, ift an fich weder großartig noch Mug. Am wenigften aber
barf man feine geträumten Ziele mit ven wirklich erreichten verwech⸗
fein. Das, fürchten wir, ift Herrn P. widerfohren, wenn er meint,
Böhmen habe unter König Georg "die große Weltbühne als eine eu⸗
ropäifche Macht betreten", ja ein „Uebergewicht im pelitifchen Syſtem
von Mitteleuropas behauptet. Nur wenn man bie Welt ausfchließ-
fich von Prag her anficht, kann man zu der Meinung verleitet wer-
ben, als hätten «bie politifchen Angelegenheiten Mitteleuropa’8 mehr
oder weniger alle ihrer Entfcheivung von Prag aus entgegengefehen«.
So foll z. 3. der böhmifche Hof gewichtig auf bie türkifche Frage
gewirkt haben. Das wäre body nur ein negatives Wirken, indem
Georg gerade fo viel, das heißt nichts, gegen die Türken that, wie
bie andern Fürften des Reiches, indem er vergeblich burch Unterftü-
gung der Yisfra’fchen Söldnerbande dem König von Ungarn ein wes
nig beläftigte, vergeblich gegen die päpftlich-venetianifch-ungarifche Liga
intriguirte.
Eine wahrhafte Machtftellung nahm Georg lediglich unter ven
deutfchen Fürften ein, und zwar etwa ein Jahr lang bie überwiegenbe.
Neutral in dem Ningen zwifchen ver Faiferlich-brandenburgifchen und
der wittelsbachifchen Partei, fchien er der natürliche Vermittler ober
der willfommene Bundesgenoſſe für jede Seite zu fein. Im Ganzen
trante man dem Bacificator Böhmens auch ven reblichen Willen zu,
den Frieden des Neiches zu erhalten. ebenfalls aber muß man bier
wie bei allen den fogenannten „Richtungen“ im Auge behalten, daß
bie Parteien dabei durchaus nicht gemeint waren, ſich in das Belie-
ben des Mittlers zu geben, daß fie nur billige Schlichtung des Zwi⸗
jte8 erwarteten und den „Sprüden” nur dann fich fügten, wenn fie
e8 nach Lage und Vortheil für gut bielten, ähnlich wie im cioilen
Schiedsgericht. Allerdings war Georg’! Stellung darum impofanter,
weil hinter dem Bertrauensamte eine bebeutende Macht Stand, bie
man zum Beiltande gewinnen, aber auch dem Gegner zufallen fehen
fonnte. Die Fürften indeß merkten bald, daß er fich in die Mittler-
rolle nur eindrängte, um bie Parteiung in ver Hand zu behalten und
heimlich zu ſchüren. Hätte er fein Anfehen vor dem Kriege in dem
Sinne gebraucht wie im Auguft 1463, fo hätte ihm das fFriebene
verdient ohne Zweifel eine große moralifche Macht bereitet. Er ver
446 Georg Bolgt,
war Jiskra mit den räuberifchen Sölpnerbanden, größtentbeil® Böh⸗
men, bie feinem Herrn mehr gehorchten als ihrem Hauptmann und
während ver legten zehn Fahre etwa 36 Schlöffer auf ungarischen
Bodeneingenommen hatten. Ein böhmifcher Patriot wardiefer Jiskra nicht,
er erbot fi) auch dem Könige von Polen, ihm Ungarn unterwerfen
zu helfen, er diente jedem, ver ihn gut bezahlte. Drohten an ber
einen Grenze vie Türken, fo mußte Matthias an der andern einen
Theil feines Heeres zur Abwehr dieſer Söldnerbanden verwenden .
Und dann, um die Anerkennung und Belehnung zu erlangen, überdieß
für viel Geld, verpflichtete fi) Georg auch dem Kaifer, ihm mit be
waffneter Hand zur Herrſchaft in Ungarn zu verhelfen. Nach folchen
Borgängen, die bis zu einem Abfagebriefe gegen „Matthias, der fich
König zu Hungarn nennt” gebiehen, war jedes moralifche Band zwi⸗
ſchen beiden für ewig zerriffen, und man kann Mathias Leinen ſonder⸗
lihen Vorwurf daraus machen, wenn er fpäter in cbenfo rüdfichte-
lofem Ehrgeiz mit den böhmijchen Baronen und dem Papfte conjpi-
rirte. Als jene Entwürfe fehlfchlugen, als Matthias die rebellifchen
Magnaten zu fich zurückkehren fah, die Sölpnerbanven aber mit Heeres«
macht zum Gehorfan brachte, da freilich ſchlug Georg ebenjo ſchnell
wieder um und verſöhnte fich mit ihm °") und begann nun mit ihm ver-
bünbet feine Wühlereien gegen Kaifer Friedrich. Man begreift wohl,
daß in folchen Alliancen kein Vertrauen und feine Dauer war.
Keined der großen Projecte Georg's ift über das Stadium ber
biplomatifchen Vorbereitung hinausgebiehen; wie weit e8 noch von ba
bis zum Ziele war, dürfte er felbft jich nicht verhehlt haben. Da
29 Relatio nuntii Apostoliei etc. a. a. D. ©. 13, 14.
30) Hiebei wünſchten wir zu berichtigen, was Balady Bd. IV. Abth. II.
©. 99 von dem geheimnißvollen Aufenthalte bes Cardinal Carvajal in
Böhmen erwähnt. Derjelbe beruht ausschließlich auf einer falfchen Lesart
im Briefe bes Papftes an Carvajal vom 6. Juli 1459: im Drude bei
Mailath ſteht da allerdings: ex Bohemia, in bem bei Kaprinai
Hung. diplom. P. II p. 335 unb feitbem aud bet Theiner Monum.
Hungar illustr. T. II Nr. 503 dagegen: ex Wienna. Die beiden er-
fien Abdrüde find mittelbar, bie letztern unmittelbar aus ben vaticani-
ſchen Negeflen eutuommen.
Georg von Böhmen, ber Huffitenkönig. 447
das letzte Stadium allemal das ver Waffen hätte fein müfjen, werfen
wir bier einen Blick auf die Friegerifche Macht des Königs, zumal
ba uns fcheint, daß gewiffe Momente hiebei fowehl von Droyſen
wie von Palady durchaus überfchägt worten find. Erſterer meinte,
dem König babe im nationalen und hujfitiichen Eifer eine Gewalt
zur Berfügung geſtanden, die er ficher beherrſchte, an beren Furcht⸗
barkeit aber die umliegenven Lande fich mit Schreden erinnerten. So
fhwer auch folche moralische Kräfte zu meſſen find, fo türfen wir
doch in dieſem Falle das berette Zeugniß des Erfolges nicht ver-
ſchmähen. Kam doch Georg in die Lage, zur Bertheitigung feines
Zhrones und des Steldyes alle Kräfte aufbieten zu müljen, deren er
Herr war. Da zeigte ſich allertings einige Regung bes nationalen
Bewußtjeins, ohne indeß dem Kampfe einen begeifternden Impuls zu
geben. Vom hufjitifchen Fanatismus aber finvet ſich kaum noch eine
Spur. Seitdem das taboritifche Feuer im Blut erftict worden, feits
dem Xabor felbft 1452 unkriegerifch und erbärmlich zu Grunde ge«
gangen war, hätte Niemand bie religiöje Wuth wicter weden können.
Auch hören wir nicht, daß Prag trotz Rokycana im Kriege einen [oe
derlichen Eifer bewieſen. Der Siege Zizta’s und Prokop's mochte man
ach mit Grauen gedenken, ihre Wieverholung aber hat Niemand mehr
gefürditet. Als Böhmen dur Matthias, durch den Tatholifchen Bund
umb durch beutfches Kreuzgeſindel bedroht wurde, ricf Georg die Sei«
zen nicht im Namen des Stelches, jonvern in tem des geführveten Va⸗
terlandes auf. Und ta galt es doch die Vertheirigung des heimifchen
Herdes und Glaubens. Für feine ehrgeizigen Pläne hätte er in dem
rubebepürftigen Lande ſchwerlich eine Unterjtügung gefunden, nur Diip«
trauen und Unwillen erregten Gerüchte wie die von feinem Streben
nach ber deutſchen Krone.
Herr P. dagegen betont eine andere Eeite, Die friegerifchen Neis
gungen und die Kriegöfunft ber Böhmen. Erjtere führen auf bie
Zeit des Taboritenthums und der Anarchie zurüd: ſolche Perioden ers
zeugen eine Maſſe von loegebundenen, arbeitsfcheuen Menſchen, und
im allen Claſſen finven fich abenteuerliche Köpfe. Als Frieden und
Drbnung zurüdkehrten, als man begann, die taboritifchen Horden und
bie raubluftigen „Brüder“ in Böhmen felber tortzufchlagen, entlub fich
biefer Ueberfchuß des Unternehmungsgeijtes nach andern Ländern hin.
448 Georg Voigt,
Böhmtfche Rotten, geführt von Edelleuten, bie nicht felten ven beften
Familien angehörten, begaben ſich in Dienft und Sold bei fremden
Herren. Wir finden fie in den nachbarlichen veutfchen Landen, im
Ungarn, an der Weichjel. Schloß fich gleich der „Auswurf von vie⸗
lerlei Völkern‘ ihnen an, fe bildeten doch geraume Zeit noch bie Böh-
men ven Kern. Man fette daher das Ketzerthum dieſer Banden vor⸗
aus und ließ fich päpftliche ‘Dispenfe geben, wenn man fich ihrer bes
biente. Doc ift e8 bei den meiften führern fchwer zu fagen, ob fie
unter einer oder unter beiven Geftalten communicirten, unb in ven
Banden felbft war ohne Zweifel mehr von Sold und Beute die Rebe
als von Kirche und Kelch. Zebrafen, das heißt Bettler, Lumpen
nannte man dieſes Gefinvel, welches fich oft der wilveften Zuchtloſig⸗
feit bingab. Herr P. meint, ihre Gefchichte betürfe noch fehr ver
Beleuchtung und es fruchte nicht, gegen diefe Sölpner „ale Räuber,
Lotterbuben und vergleichen zu beclamiren.” Eo gern wir jene wei»
teren Forſchungen abwarten wollen, können wir doch nicht zugeben,
was Herr P. als Refultat feiner bisherigen Grmittelungen über vie
Zebrafen aufjtellt. Er meint nämlich, ein Friegsluftiger Fürſt in Böß-
men bätte „ven alten Landesgeſetzen gemäß‘ feinen Unterthanen vers
bieten können, in fremde Kriegsdienſte zu treten, er hätte die Brüder⸗
rotten auch unter feine Fahnen ziehen und mit ihnen als Croberer
auftreten können; deſto ruhmvoller erfcheint ihm George Friedens
liebe, ‚trog feinem anerkannten Feldherrntalente.“ Daß jenes alte
Landesgefeß von den Sölpnern an ver Weichfel oder an ber Donan,
bie ohne Zweifel nach Geift und Zufammenfegung bereits fehr „Lo®e
mopolitifch” geworben, refpectirt worden wäre, möchten wir doch bes
zweifeln. Auch zum Kriege gedrängt, hat fich Georg ihrer nicht ber
dient, obwohl er fie vermuthlicy hätte haben können, wollte er fie
nämlich bezahlen; doch dünkt uns die Nachricht viel wahrfcheinlicher,
baß er bie unruhigen Köpfe gern in’s Ausland gehen fah. Sein Feld-
berrntalent bat fich übrigens nie in einer größeren Triegerifchen Si-
tuation erprobt; fein Krieg gegen Matthias und die rebellifchen Ba
rone unterfcheidet ſich nicht wefentlih von anderen Fehdezügen jener
Zeit und zeigt weder den überlegenen Feldherrn noch impofante kriege⸗
rifche Hilfsmittel. Was ihn rettete, war mehr bie Feſtigkeit feiner Stäpte
und Schlöffer, die Treue feiner Anhänger, als glänzende Waffenthaten.
Georg von Böhmen, ber Huffitenfönig. 449
Ferner ift uns unverftänblich, was Herr B. an verſchiedenen Or-
ten über vie „böhmiſche Kriegskunſt“ beibringt. Er leitet fie von den
Retten Zizfo’8 her und findet in den Zehrafen ven Uebergang von der
Kriegskunft Des Mittelalters zu ber nenzeitlichen, als deren Vater eben
Zizta bezeichnet wirt. Der tiecipfinarifche Organismus einer felchen
Eilenerbante ift doch eben nichts Merkwürdiges, wir finden ihn un:
tleich ansgebilveter und früher bei ven Lracceschifchen und fforzeschis
ben Rotten in Italien, die fich überdieß durch ein ſtarkes militärt-
ſches Corpégefühl auszeichneten. Und noch weniger können wir in
den Tabors und Wagenburgen, mögen dieſe auch immerhin auf die
Kefalen übergegangen fein, ein ſpecifiſches Merkmal ter merernen
Kriegafunft erfennen; Aehnliches macht fich von jelbjt bei einer Rotte,
bie all ihr Hab und Gut, allenfalls Meib und sind, mit jich führt.
Auch Hier wiſſen wir nicht antere, als daß cine erneuerte Kriegskunſt
ven der Ausbildung des Gefchüg- und Befeſtigungsweſens in Italien
fih herſchreibt. Im Uebrigen finvet fich nichts, was bie Kampfweiſe
ver Böhmen von der gewöhnlichen unterfchieden hätte. Muth und
Saffengeſchick waren es, vie fie in ver That auszeichneten, wie ge—
meinhin ven Soltaten ven Profefjion, wie feit ben burguntijchen
Kriegen die Schweizer und fpäter die deutſchen Pantsfnechte.
Aber, wie jchon berührt, der Gebrauch ter Waffen war Georg's
Reigung überhaupt nicht und nur ungern verfuchte er dag Glück ver
Zreffen. Er vertraute mehr und chne Frage zu ſehr auf bie Künſte der
Diplomatie, aufdie Praftifen, um inter damaligen Sprache zu reden. Am
meiften Auffehen hat fein Blau erregt, ven Titel und vie Gewalt eines
zömifchen Königs an fih zu bringen. Zum Verſtändniß und zur
Wärdigung dieſes Planes müſſen wir ein wenig ausholen.
Um bie eine Seite eines folchen Projectes in's Werk zu feken,
um ten babsbnrgifchen Friedrich ILL. im Weiche zu degradiren und
im feinen Erblanden zu bevrängen, gehörte in dev That jehr wenig.
Seittem das FTaiferliche Amt fih auf eine Hausmacht ftügte, war
dieſe nie fo erbärntich geweſen. In Oeſterreich und Steier lernt
mm Friedrich am gründlichſten kennen. Es gab ſchwerlich ein Ter—
ritorium im ganzen Umfange des Reiches, welches ſo ſchlecht regiert
und mit fo widerlicher Gleichgültigkeit zu Grunde gerichtet wurde.
Die nächſte Urſache war ber ewige Zwiſt unter ben haboburgiſchen
Piferifge Zeisfärift V. Banr. 29
450 Georg Boigt ,
Brüdern und Vettern, dem einzigen Haufe in ‘Deutfchland, in welchen
jeves Gefühl des Connexes verloren gegangen war. Die buroniale
Anarchie blieb bier die unbejtrittene Siegerin. Sein jümmerlicherer
Kampf als der des Kaiſers mit den Eizinger, Stein unb Buchheim,
mit den Fronauer, Baumlirchner und Grafened, mit biefem und jenem
Sölpnerführer over Räuberhauptmann. Yu ſolchen Fehden und im
den Streitigkeiten der Barone untereinander wurbe das offene Land
gräßlich verwüftet: man focht mit Soldbanden, meiftens Böhmen, bie
dann, unbezahlt oder unter dem Vorwande des rückſtändigen Solbes,
im Lande blieben und wie Räuber und Mordbrenner wüfteten. Bon
ihnen over auch unmittelbar von den Näuberbaronen wurden bie uns
glüdlichen Bewohner der Dörfer überfallen, gebranpfchagt, bie Saaten
vernichtet, die Ernten abgeführt, das Vieh tavongetrieben. Es gab
Dörfer, in denen feine Ente und fein Huhn mehr zu ſehen war,
nicht8 als Die im eigentlichften Sinne entblößten und ausgehungerten
Geftalten, und felbjt unter diefen morbeten die Herren oft mit temfe
lifher Luft. Bei dem Landesherrn war nicht nur feine Hilfe, er
felbjt ftenerte auf anderen frieplicheren Wegen zum Elend bei. Sein
Werk waren die neuen Zölle, die Abgaben auf Wein, Salz und Ge⸗
treive, Die Zugrunterichtung bes legten Reſtes von Handwerk und
Handel, Er fah feine Lande nur als ein Gonglemerat von fiecali-
fen Objecten an, die er mit ſchmutzigen Räthen wie Ulrich) Rieberer
und mit feinen Neuftäbter Kammerjuden ausfog. Letteren foll er
Geld zum Wucher geliehen haben, das heißt er felber trieb ven Wucher
mittelbar. Lehen und Privilegien wurden gegen entfprechende Zaren
verliehen, alſo verfchachert. Am meiften war feine ſchlechte Münze
verſchrieen, weil fie nicht nur fein eigenes Land ruinirte, fonbern
auch über die. Grenzen hinaus ververblich wirkte. Gläubiger befrie
digte er dadurch, daß er ihnen das Münzrecht verlieh, und dann ſchlug
er mit ihnen um vie Wette jene verrufenen „Schinderlinge,” aus bes
nen bas rothe Kupfer glänzte und die man anderwärts an den Gal⸗
gen nagelte. Ich weiß nicht, woher Herr P.?') die Notiz bat, daß
Erzherzog Wbreht, Herzog Ludwig von Bayern und vie Prälaten
von Salzburg und Paſſau darin verangegangen. Cbenborffer ’*)
’) 8b. IV. Abth. II. S. 139.
’*, Chron. Austriae ap. Pez Seriptt, II. p. 901, 902.
Georg von Böhmen, der Huffitenkänig. 451
nennt Diefe Fürſten nebeneinander, jedoch den Kaiſer und feinen Bru⸗
ber soran, und ein Salzburger Chroniſt fagt austrüdlich, ver Kaifer
habe das Beifpiel gegeben und bie anderen Fürften feien ihm gefolgt,
um nicht Schaden zu haben, und weil fie das kaiſerliche Geld nicht
zurkdiweifen fonuten?’). Mag fein, daß nachher einer die Schuld auf
bem andern fhob. Das Unweſen begann 1457 und war, uuterſtützt
rec Krieg und Mißwachs, im Jahre 1460 zu jelcher Höhe geviehen,
vo die Preife in Defterreich. auf das Eieben- bis Zehnfache ftiegen
zu ba alles Geſchäft ſtockte. Damals Haben ſich Menfchen in ven
wBäldern von Baumrinden und Aebnlichen genährt, Andere bie Ihren
Haufe eingefchlofjen, um nicht Zeuge ihres Todes zu fein.
ie Friedrich in ähnlicher Weife das Reich verwaltete, ſoweit es
im feiner Macht lag — das gedenken wir nicht weiter auszuführen,
Sein Intereſſe Haftete lediglich an den Nukungen und Gefällen, an
ven Canzleitaren, Kammergeldern, Judenſteuern und dergleichen. Das
Metio des Ehrgefühls war ihn völlig fremt. Auch ven Mangel an
Axterität ſchaͤmte er fich fo wenig zu zeigen, daß er jelten das Gebiet
von Reichsvaſallen ohne einen Geleitsbrief zu betreten wagte.
Wohl wurde viefes Verkommen des Reiches in allen feinen
Standen bitter empfunden. Slagen, Rufe nach Reform, Reformpläne
tauchen auf und miſchen fi) mit verwandten Beſtrebungen auf Firch-
Uchem ‚Gebiet. Sie werden ein ſtehendes Thema auf ben Reiche»
tagen, wahrlich aus einem tiefen Berürfniß der Nation entjprungen,
aber nichts beito weniger verfallen fie ter eigenfüchtigen Agitation,
nem fchlaue Prälaten und Juriſten fich ihrer als gewinnbriugender
Schreckmittel berienen. Nach einander warfen jih der Mainzer und
ver Trierer Erzbiſchof zu patriotifchen Führern im Kampfe gegen ven
kiligen. Stuhl und ben ihm verbünteten Kaiſer anf, um jih kann
re gefährliche Oppofition durch Gele, Guaden und Privilegien wies
ver abfaufen zu laſſen. Juriſtiſche Räthe wie ver fchlaue Lyſura
mifchten und verwirrten das fchändliche Spiel: nicht mit Unrecht
warf Cardinal Piccolemini biefen Menfchen einmal vor, fic ftifteten
zur deßhalb folche Umtriebe an, um babei unentbehrlich zu fein und
#2; Chron. Saltzburg. ap. Duellius Miscell, Lib. II. p. 141.
29*
452 Georg Boigt,
im Trüben zu fifchen. Die Demüthigungen, bie Friedrich erfuhr,
al8 er von feiner römiſchen Krönung heimkehrte, bie fteigende Ber»
achtung feines ſchlaffen, unkriegeriſchen Weſens, ter Haß, ven feine
Verbindung mit der römifchen Hierarchie erregte, ließen den Gedanken
immer näber treten, daß man fich eines folchen Reichshauptes entle⸗
digen müſſe und mit Leichtigfeit könne. Aber wer follte an feine
Stelle treten? Dem Mächtigen ftand die Beſorgniß, dem minder
Mächtigen die Geringfchägung entgegen. Auch war keiner ver Be⸗
werber fo lüftern nach der bloßen Würde, daß er fein Erbland umb
beffen Erträgniffe darum gewagt hätte. Wit dem Reiche gebachten
fie das Reich zu bezahlen. Immer hatte man Klagen gehört, daß
deſſen ſchmale Einkünfte nicht binzeichten, um bafür mit ftarler Hand
ven Landfrieden zu fchirmen, Weichögerichte zu beftellen, und nun
follten diefe Nußungen gar im Voraus verfchleudert werben, um bie
Kurftimmen zu bezahlen.
Der erite Bewerber um ben beutfchen Thren, von bem wir
bunfle Nachricht hören, war Herzog Philipp von Burgund, als er im
Frühjahre 1454 zum Regensburger Reichötage fam und den Bera⸗
thungen gegen vie Türken beiwohnte. Als der Erfinder des Pro
jectes wird Doctor Martin Mayr genannt’). Ohne Zweifel hängt
bamit zufammen, daß Lyſura damals in einer Separatverfanmlung,
bie im Quartier des Herzogs Ludwig von Bayern ftattfand, von
dem erfchütterten und zerriffenen Deutjchland veclamirte, weldyes drin⸗
gend ber Reform und einer imponirenden Saifermacht bevürfe, und
baß er unter dieſem Dedjchilte das Feuer gegen ven fäumigen Fried⸗
rich fchürte, der fich nicht bei dem Reichstage eingefunden. Allerdings
fiel der burgundifche Plan, aber nur um fchon im Herbſte beifelben
Jahres einem neuen Pla zu machen. Jetzt war Erzherzog Albrecht
von Oejterreich ver Bewerber, ein Yürft von wüſtem Chrgeiz, ver
feinen kaiſerlichen Bruder nur an Stolz, Verſchwendung und Gewalt⸗
thätigleit übertraf und von dem wahrlich eine Reform bes Reiches
fi) nicht erwarten ließ. Der Gölner Erzbiihof und der Pfalzgraf
2) Balady Bd. IV. Abth. II. S. 135 nah den in Note III näher be-
ſprochenen Erlbach ſchen Acten im k. Reichtarchiv zu Münden,
Georg von Böhmen, der Huſſitenkönig. 453
hatten ihm ihre Stimmen bereits verfchrieben; aus feiner Verfchrei-
Guug gegen letteren fehen wir, wie er mit Neichseinfünften zu bes
zahlen meinte. Mit tem zähen Jacob von Trier ſcheint er noch nicht
zum Ubſchluſſe gelommen zu fein, veifen Stimme follte ohne Zweifel
einen gewaltigen Breis koften. Der Kurfürft von Brandenburg fcheint
dem Project, ſchon aus Dppofition gegen den Wittel8bacher, entge⸗
gengearbeitet zu haben: er verfprach feine Stimme nur unter ber
Beringung, daß auch ber Kaifer felbft feine Einwilligung zu der Sache
geben müſſe; inbeß für den Ball, daß fie trottem gelänge, Tieß
er füch „ale Erzlämmerer des b. römifchen Reiches“ ven fogenanuten
geſdenen Pfennig von allen Juden in beutfchen Landen oder ftatt
veſſen 20,000 Bulven verfchreiben ). Obwohl alfo Albrecht auf dem
Bapier bereits brei Kurftimmen hatte, wenn auch die eine nur unter
wer faft amnullivenden Bebingung, fo fiel der Plan doch völlig zufam-
men. Als fein Urheber wird in den Erlbach'ſchen Acten wieder Mar⸗
in Diayr bezeichnet. Die Oppofition gegen den Kaifer, verbunden
mit antirömifchen Beſtrebungen, arbeitete indeß fort, ja fie erreichte
im Jahre 1456 ihren gefährlichiten Höhepunkt. Von ven Fürften,
vie ſich um Andrei zu Nürnberg verfammelten, erzählt ber fpeierifche
Ehrenift: „Dan meinte, fie wollten einen vömifchen König machen;
denn der Kaifer ber war ein unnützer SKaifer, er verftand nicht Krieg
wub Mißhelligkeit in den Landen nieberzulegen. — — Der Pfalz-
gref Herzog Friedrich von Heidelberg der meint ein römiſcher König
m werben n. f. w.“6). Bis noch fehlen für dieſe Kandidatur die
netunplichen Belege; finden fie fich einft, jo zweifeln wir nicht, Mar⸗
im Mayr wird aus ihnen bervorfchauen °”).
as Die Doeumente findet man in Chmel’s Regeften zum 10. und 12.No-
wernber 1454, Albrechte Berfchreibung gegen den Pfälzer vom 19. Nov.
bei Kremer Url. z. Geſch. Friedrich'e vo d. Pfalz n. 31. Die branden-
burgiſche Stipulation vom 6. Ian. 1455 bat erſt Riedel Cod. dipl.
Brand. Hauptthl. 111. Bd. I. n. 200 mitgetheilt. Es ift nur ein Ber-
fehen, wenn Balady ©. 135 das Project in's Jahr 1456 fett.
3) Gpeierifhe Chronik in Mon e's Duellenfommlung der Lab. Lanbesgefch,
®. 1. ©. 410 — 412.
22) Daß er im Dez. 1459 bereits in pfalzgräflihen Tienften geflanten, ſcheint
454 Georg Boigt,
In diefem Menfchen, ben wir für länger als ein Jahr auch ie
König Georg's Dienften finden, fieht Herr P. „einen ber vorzügliche
ften teutfchen Batrieten feiner Zeits. Die Archive werben über ihn
noch eine Fülle von Aufklärung geben; ver Patriotismus Mahr's wird
aber Ichon durch das vorhantene Material genügend beleuchtet. Er
fieht in ven Rufe, als babe er 1457, als mainzifcher Kanzler, kũhn
der römijchen Curie das Regiſter ihrer Sünden gegen bie beutjdhe
Kirche vorgerüdt. Man lefe aber feine und des Piccolomini berge-
börige Ariefe mit prüfendem Blid, und man wirb finden, daß Mapr
ber Gurie nur vie deutfchen Klagen und die drohende Oppofition, bie
er vermutblich felber angezettelt, kundthat, ja verrieth, daß er fie
recht grell und gefährlich ausmalte, um in fich den rettenden Helfer
erbliden zu laffen, daß er im Namen feines mainzifhen Herrn nein
gewiſſes Cinverjtänpniß« anbot, daß beite die Curie nur fchreden
wollten, um fich von ihr um guten Preis erfaufen zu laffen. Im
Dienfte Georg’ und in der Agitation gegen den Kaifer hat er bamm
am mailänbijchen Hof eine Rede gehalten, in ber er die Zerriſſenheit
und Ohnmacht ver teutfchen Nation, die in ihr herrfchende Rechte
und Friedloſigkeit in rheterifcher, in übertreibenver Weiſe ſchildert ?*)
Diefe Klagen findet Herr P. "wahrhaft rührend“. Es find eben bie
Worte eines agitirenden Gefantten, der ven Zuftand des Reiches um
ter Friedrich nach Kräften anfchwärzen mußte, um für eine Berän⸗
derung zu Öunften feines Herrn zu werben. Gin beutfcher Patriot
ijt wahrlich nicht, wer zum Wälſchen geht und ihm das Elend des
Reiches vorftellt, dem jener nicht einmal ben Lehnseid gefchworen.
Sonft wäre auch ter Piccolemini ein deutfcher Patriot, weil er in
der Oberienzerflärung vor Papft Calixtus Nehnliches redete, cder
Yyfura auf dem erwähnten Tage zu Regensburg. Ein Anderes ift
es, wenn Gregor Heimburg vergleichen vor einem beutfchen Kaifer-
gerichte den deutſchen Fürften in's Ohr donnerte. Oder ift Mayr
etwa darum ein beutjcher Patriot, weil er nach Umftänden auch bem
aus Palady Urk. Beitr. n. 204 hervorzugeben. Indem er Rath bes
Herzogs Ludwig von Bayern wirb, behäft er fih bie Fortbaner früherer
Tienfiverträge vor.
3) Die Rebe ebend. S. 205.
Georg von Böhmen, ber Huffitenlönig. 455
Böhmen, ber der beutfchen Sprache nicht mächtig und in feinen Au⸗
gen ein Seer war’), die beutfche Krone zuzufpielen vie Fäufliche
Das bot, wie einft tem Burgunder ?
Aber gewiß war Mayr ein Menfch von feltenem Geſchick für die
Bammlige Diplomatie: er beſaß in hohem Grabe tie Kunſt ver Ueber:
zerung und eine imponirende Gewanttheit; Umtriebe und feine Ränke
weren ſein Lebenselement. Keiner war an den Höfen bekannt wie
ee — den Alwiffer nannte ihn einmal Heimburg — die Fürften
fürdpteten fich vor feinen Intriguen und doch konnte man einen folchen
Menſchen nicht entbehren. Ich erinnere mich in fpäteren Acten gelejen
za haben, daß felbft Kaiſer Friedrich, als man dem gefährlichen Ju⸗
zißen einmal zu Leibe ging, von feiner Beitrafung nichts wiſſen wollte,
weit er ſelbſt ihn noch einmal brauchen zu können meinte.
Den König von Böhmen nahm Mahr bis zur Verblendung für
Wh ein. Das ganze Projekt deſſelben, das römiſche Königthum zu
erwerben, ijt fichtlich durch Mayr angeregt und ruhte auf Mayr, fo
lange es beftand. Auf dem Tage zu Pilfen im October 1459 wurde
die Sache in ver gewöhnlichen Weife vorbereitet, indem man, in Ver⸗
Kinbung mit ber’ bayerifchen Partei, über die ſchlechte Münze, über
Sie unficheren Straßen und vergleichen klagte und beichloß, auf Res
formen zu denken, ben Kaiſer an feine Pflichten zu mahnen. Es iſt
za vermnthen, daß Mayr fchen dieſem Tage als pfülziicher Rath, beis
wohnte. Daß er zu Eger, um Martini biefes Jahres, dabei war,
wifien wir beftimmt; hier entwidelte er tem Könige feine Getanfen.
Er wußte feinen Ehrgeiz aufzuregen und den Erfolg als ficher dars
srftelten, als richte Deutfchland auf ven Böhmen die Augen und er-
warte von ihm die Reform des Reiches, als bebürfe es nur einiger
Bipfomatifcher Operationen, um ihm tie römische Krone une mit ver
Ehre und dem Ruhme zugleich viel Nuten und Bortheil zuzubringen.
Die Neden Mayr’s, des in jeder Lage gemanpten, verfuchen uns frei:
lich noch nicht, in dem Ehrgeize Georg's letiglich den v„edlen Eifer
für Recht und Frieden in umfajjenveren Kreifen zu ſehen, eine Mo—
tisirung, die man mit ziemlich vemfelben Recht auch dem Burgunder,
dem Erzherzog und dem Pfälzer unterlegen fünnte. Im Gegentheil
In, Bergi. ebenb. Nro. 458.
456 Georg Beigt;
fcheint e8, daß Georg's Eifer von gewiſſen Heinlichen Rüdfichten nicht
frei, daß er ebenfo wenig gemeint war, die Einkünfte feines böhmi⸗
Schen Landes für das Reich zu verwenden, wie Friedrich bie des fteie-
rifchen. Wir find in der Lage, in des Königs Dentweife mit ben
Augen Mayr's einzubliden, der fie ohne Zweifel kannte. Georg terug
ihm auf, ein Verzeichniß der Einkünfte des Reiches zu entwerfen. Er
hatte alfo wegen ver aufzuwendenden Kojten feine Bedenken. Mahr
aber wußte für Alles Rath. Der Herzog von Mailand, ver. fchem
wiederholt und zulegt noch im November 1457 über feine Inveſtitur
mit dem Kaiſer verhandelt, follte für Böhmen gewonnen werben umb
biefein für die Legitimation feiner ufurpirten Fürſtenwürde eine an⸗
fehnlihe Summe zahlen. Die Specnlation auf das mailäudifche Geld
war fein neuer Gedanke, wir finden fie bereits in einer gegen den
Kaifer gerichteten Verbündung von Mainz und Pfalz von 1457, bie
höchſt wahrfcheinlid auch ſchon ein Wert Mayr’s gewefen '). Er
bewog nun Georg, ihn nach Mailand zu fohiden. Was er hier am
Ber der Geldfrage verhanbelte, war nur Schein und Vorwand ').
Der Herzog bot für die Juveſtitur nach längerem Preſſen 70,000 Du»
caten. Sehr bezeichnend ijt ber Rath, den Mayr dem König ertheilte,
er möge auch für ven Fall, daß er die Reichsadminiſtration nicht er⸗
langen könne, bei dem Kaiſer dieſe Fnveftiturfache betreiben belfen,
denn man könne Geld beransfchlagen. Uebrigens fand der fchlaue
Berhänpler in Herzog Sforza wahrlich feinen Zölpel, ver für unge
wiſſe Ausfichten fein gutes Geld hergegeben hätte.
Daffelbe Intereſſe waltete auch in ben Rathſchlägen vor, vie
Mayr feinem Herrn für den bevorftehenden Nürnberger Reichstag
ſchrieb. Da follte über ven Zehnten, ven ver Papit dem beutfchen
0) Bei Kremer Urkunden N. 51. Wer unfere Anſchauung von ter be
maligen Bürftenpolitit für zu ſchwarz halten möchte, den bitten wir, bie
jes Stüd einzufehen und zu prüfen.
») Das fagt er in feinem Berichte an ben König bei Balady Url. Bei-
träge N. 211 ganz offen: Et haec omnia in hunc finem dumtaxat
feci, ut si vestra regalis majestas vel regno Ungariae vel Romano
imperio praeficcretur, quod per supradicta capitula pecuniam et uti-
litatom a duce reportaro atque acquirere possetis,
Georg von Böhmen, ber Huffitenkönig. 457
Klerus, unb über ben Dreißigften der Ginkünfte, den er den Laien
aufznlegen getachte, verhandelt werten, Alles zum Zwecke des Tür⸗
kenfrieges. Wahr verfprach, ven Garbinallegaten, vie Faiferlichen
Käthe und Untere fo zu bearbeiten, daß man dem Könige nicht nur
alles Geld zufallen laſſe, das in feinen Landen, ſondern auch einen
heil von vem, welches in den übrigen Xerritorien des Reiches aufs
gebracht werde. Ferner müfje der König zum Feldhauptmann des
ganzen Reichöheeres ernannt werben und auch dafür vom Xeiche eine
tũchtige Geldſumme zichen °°). Endlich müſſe er fich zum Confer-
wator des Reichsfriedens ernennen lajjen, dadurch werte er bie Ad⸗
meiniftration und die Majorität der Kurftimmen gewinnen, daraus
werte er Ruhm, Ehre und Bortbeil erlangen. Ueber tiefe Dinge
erbot fi Mayr, mit ven Fürſten vinsgeheim und verfichtig« (clan-
eulum et per indirectum) zu verhandeln, er erbot ſich ferner zu einer
kateinifchen und beutjchen Standrede, die er im Namen des Königs
auf dem Reichstage bulten, worin er über den Mangel an Frieden
und Recht im Reiche Hagen und ben König als veren Herfteller
empfehlen wolle. Laſſen wir auch nicht unbeachtet, wie er ven König, um
ich felbft als Geſandten zu empfehlen, bebveutet, man bürfe dann zu
vem Neichötage, um Kojten zu eriparen, nur noch einen böhmischen
Baron und ven Biſchof von Breslan fehiefen. — Hält man mit bies
fen woblberechneten Eingebungen Mayr's tie Klage Heimburg's zu—
ſammen, ber König fei „je älter, je kärger“ geworben, fo ijt wohl
ter Schluß berechtigt, Georg fei ebenſo wenig von jenem „edlen Eifer«
wie Mayr von mpatriotifcher Sehnſucht- beherrjcht gewefen.
Bei ver Bewerbung un die Kurjtimmen und um die Adhäſion
ber größeren Fürſten zeigte fich dic politifche Lage ungemein günjtig.
Bar bie wittelsbachiſche Partei dem böhmifchen Plane an fich ges
meigt, jo wagten bie Brandenburger wenigftens nicht, fich ihm offen
entgegenzufegen. Die Verträge felbft aber, tie Mayr abſchloß, be—
weifen zur Genüge, taß bie Herſtellung von Recht und Frieden nur
ein gleißenter Berwand, ber Kauf um Geld und Wortheile aber ver
Kern ter Sache war. Der erjte und engfte Bündner war Herzog
, Et cum hoc magnam pecuniam de publico pro capitaneatu repor-
tabitis.
4583 Georg Beigt,
Ludwig von Bahern, burch ihn follten der Pfalzgraf und bie beiden
geiftlichen Kurfürſten von Mainz und Coln gewonnen werden. Dafür follte
er, gelang der Plan, des Reiches Oberbofineifter mit 8000 ungari⸗
fhen Gulven jährlichen Soldes werben, ferner in Abwefenbeit des rö⸗
mijchen Könige mit dem Pfalzgrafen als Statthalter eintreten uub
endlih Donauwörth behalten oder eine Einlöfung ter Stabt von
40,000 Gulden empfangen. Der Pfalzgraf ‚war wegen ter ſtur⸗
ftimme teurer: außer einer jährlichen Beſoldung von 8000 Gulven
unter einem anderen Neichstitel, fellte er ein Drittheil von einem
zu Frankfurt aufzulegenden Waarenzoll erhalten, eine gewiffe Anwart⸗
Schaft auf den Rheinzoll zu St. Goar '’) ein Zwölftheil der Gebüh⸗
ren von ber mailändifchen Inveſtitur und für feinen Bruder Rupert
ein fettes Bistum. Der Mainzer Erzbifchof bedingte ſich als Erzcanzler
bes Reiches jährlich 2700 Gulden, dann bie Hälfte der Canzleinugungen
wenn er ben Gefchäften felber vorftand, ven zehnten Pfennig ber
FJudenſteuer, 1000 rheinifche Gulden jährlichen Rathgeldes, 8000 für
feinen Willebrief in ver mailändifchen Lehnsfache.
Someit waren bie Verhandlungen im ‘December 1460 gebiehen.
Nah der Darjtellung bei Herrn P., ver tiefe Verträge nur obenbin
beipricht, follte man das Gelingen des Planes für ſehr wahrfchein-
ih halten; das größte Hinderniß, meint er, lag wohl „eben nur in
Georg's fchon zu hoch geftiegener Unwiterftehlichfeit und Unentbehr-
licpkeitu. Hatte ver König doch anfer feiner eigenen ſchon zwei Kur»
ftimmen. Hatte er fie wirklich? Mainz und Pfalz ftellten eine in-
haltjchwere Bedingung, die Herr P. völlig unbeachtet gelaffen, vie
aber ven Werth ihrer Verheißungen böchft zweifelyaft machte: fie
wollten zu nicht® verpflichtet fein, wenn nicht auch die Kurfürften von
Sachſen und Brandenburg in tie Wahl Georg’s willigten. Hier num
ftießen Georg und fein Mayr auf einen Gegner, ver fie au feiner
Belitit beide überholte, e8 war Markgraf Albrecht von Brandenburg
vmit fein fubtilen funden — bie nieman kunt burchgrunden«, wie
Michel Beheim ihn in feiner Reimchronik jhildert.
Der biplomatifche Ringfampf zwifchen viefen Parteien but das
höchjte Intereſſe. Albrecht's Aufgabe war, ben böhmifchen Plan zu
— — — —
22) Im ber Urkunde fleht ber alte Name „Gewer“, Höfler las „Bellir“.
Georg von Böhmen, ber Huffitenlönig. 459
kämen, wo möglich ohne ven König fo fehr zu reizen, daß er ihn
mebft anderen Gegnern auf dem Halſe gehabt hätte. Und er ver-
Raub es, aus ber Abwehr fogar in vie Offenfive überzugehen. An—⸗
fangs hielt er ben König bin, indem er allerlei Schwierigfeiten be-
wentlich hervorhob, doch verſprach er, fich bei feinem Schwiegervater
won Sachen und bei feinem Bruder von Brandenburg zu verwen⸗
Den, vwerlobte auch feine Tochter Urfula mit des Könige Sohn. Bald
Darasıf, nach feinem Ansbach zurüdgefehrt, ließ er Georg eine wun-
berfiche und wohl nicht ohne Abficht dunkel gehaltene Nachricht zu«
Sosummen: nach einem Gerücht gebe ver Pfalzgraf mit dem Plane um,
sömifcher König zu werben, und wolle man es ihm nicht günnen, fo
melle man einen nehmen, den man muß haben, c8 jei jebermann lieb
«er leid"). Beabfüchtigte er Argwohn und Uneinigkeit unter bie
Bünpner zu bringen oder wollte er ven Bli nes Königs nur von
Säpen ablenken, vie er felbft unterbeß fpann? Man wird feine über-
aus künftlichen Gewebe jchwerlich jemals ganz entwirren können. Ges
wig aber arbeitete er tamals unter der Maske ter Freuntfchaft dem
bößmifchen Broject rüftig entgegen. Ebenſo lavirte auf dem Tage
zu Eger im Februar 1461 ter branvenburgijche Kurfürft: bald war
er ver Meinung, man türfe bem Kaiſer nicht fo zu nahe treten, daß
man ihm einen Mitregierer und Lenker beſtelle, bald verlangte er,
ver Mainzer und ter Pfälzer müßten zuver in ven Surverein auf«
genommen und die Sache auf einem ordentlichen Neichstage betrichen
werben. Heimburg prophezeite ſchon damals, es werte nichts weiter
beransfommen, als ein fchwerer und blutiger Krieg zwiſchen Böhmen
uud Brandenburg. Dennoch hoffte Georg immer noch, auf bie Bran-
benburger durch fein Echiebsrichteramt einen Drud zu ben, während
fie nicht verfehlten, ihm eine gewiſſe Dereitwilligkeit und Hoffnung
zu zeigen. Diefed Spiel wurde auf dem Nürnberger Nurfürftentag
im März 1461 fortgeſetzt. Hier aber traten bereits bie erften Ans
zichen einer neuen Sonjunctur hervor. Wir beſitzen das Document
einer Bereinigung von drei Kurfürjten, vie für Reich und Kirche for-
) Schreiben bes Markgrafen an König Georg vom 21. Dec. 1460 6. Pa⸗
lady Ur. Beiträge N. 232.
460 Georg Boigt,
gen und gegen jeden Angriff, komme er auch von Papft oder Kaiſer,
zufammenjtehen wollen. Es befrembet nicht, in ſolchem Bündniß den
Mainzer und den Pfälzer zu finden; wie aber follen wir es deuten,
baß der britte — ver Kurfürjt von Brandenburg war‘)? Wohl bat
Markgraf Albrecht ven Kaiſer, er möge es feinem Bruder Friedrich
nicht übel denten, wenn diefer auch ein wenig den Patrioten mache,
um nicht aus dem Vertrauen und ver Genofjenfchaft ver anderen
Kurfürften ausgefchloffen zu werben. Wohl bethenerte er ihm, er
wolle lieber Leib und Gut in Gefahr fegen und noch mehr verlieren,
als er bereits verloren, Alles lieber, als gegen ihn, feinen Herrn,
handeln. Wenn nun bie brei verbündeten Kurfürften ein drohendes
Schreiben an ven Kaiſer richteten, ihn, der fett 15 Jahren nicht im
Reiche gewefen, zu einem Tage nach Frankfurt luden, wenn fie droh⸗
ten, im all er nicht fomme, wollten fie trotzdem thun, was ber Chri⸗
ftenheit und bem Reiche nothwendig ſei ) — fo follte und mußte
Friedrich glauben, nur zwei Kurfürften feien an biefer Oppofitien
ernfthaft, ver Brandenburger aber nur zum Scheine betbeiligt ).
Dennoch gingen die Abfichten des unergrünblichen Markgrafen tiefer.
Was galt ihm am fich der elende Kaiſer, was bie päpſtlich⸗kaiſerliche
Bartei mit ihrem confervativen Schimmer, wenn fie nicht als Hebel
zur Machterhebung des hohenzollerifhen Haufes dienten? War nım
einmal ver fteierifche Friedrich überall im Wege und feine Entfer⸗
nung unvermeidlich), warum follte vie erledigte Krone nicht ebeufo gut
den Branvenburgern wie dem Böhmen zufallen? Noch find ter direc⸗
ten Beweife tafür, daß ein ſolches Project wirflich beftand, nicht viele,
Wir finden biefe Sache aber mit kahlen Worten ausgefprochen und
in einer Verbindung, die jeven Verdacht ansfchlieft. Ale Georg ven
+5) Das Bündnik vom Eonntage Reminiscere 1461 5. Kremer Urkunden
N. 74.
) Diefes Borladungefcreiben vom 1. März 1461 b. Wencker Appar. et
Instruct. Archiv. p. 379.
7) Darum fchrieb er auch dem Bapfle am 7. April 1461 (Archiv f. Kunde
öfterr. Gefhichtsquellen Bd. XI. ©. 158): Copiam (littere) a duobus
electoribus, tercio quoque — — nobis misse etc.
Georg von Böhmen, ber Huffitenfönig. 461
Berfuch, die brandenburgifche Stimme für fich zu gewinnen, bereits
völlig aufgegeben, rieth ihm fein Mayr, gegen ten Kurfürften von
Brantenburg den Herrn von Sternberg aufzuhegen; ter fellte ihn
unter dem Vorwande ber ftreitigen Cottbufier Zehen, verbunten mit
dem Skönige von Polen, mit Herzog Victorin und einigen fchlefijchen
Zürften befehten, während Andere den Markgrafen Albrecht bevrän«
gen, damit Friedrich von Brandenburg gehindert werde, „bei ben
Kurfürften von des Reiches wegen für fich ſelbſt zu arbeiten, auch
ven von ten Kurfürften geſetzten Tag nicht Dbefuchen könne. Werner
gibt dieſer Rathſchlag Mittel an, um zu verhüten, taß auf dieſem
beuorftebenden Tage nicht® gegen den Künig und für einen Anderen
gehandelt werde. Man fieht, wie ver Plan als ein dem Böhmen⸗
tönige wohlbelannter zwar oberflächlich, aber deutlich genug berührt
wird *). Auch erklärt fih nun eine Reihe von Aeußerungen und
Thatfachen, die in ven Darftellungen bei Droyſen und Palacky räth-
ſelhaft bleiben mußten. Run verjiehen wir, warum Georg plötzlich
im April 1461 von einer fchiepsrichterlichen Vermittelung zwischen
Ludwig von Bahern und bem brandenburgijchen Markgrafen nichts
mehr willen wollte, warum ver Kurfürſt von Brandenburg, wie den
Schritten gegen ben Kaifer, fo auch der Appellation des Mainzers
au ein allgemeines Concil beitrat. Bor Allem wird nun auch klar,
%%) Außer den von Höfler ebirten Acten enthält bas Orig. bes erfien Bandes
bes Laif. Buches, welches das k. Reichsarchiv zu München bewahrt, noch
einige Yortfegungen von hoher Wichtigkeit, nämlich „Die unterrichtung
des handele ber bey uuferm heiligen vatter dem babſt von unjers gue-
digiſten bern deß fonigs zu Beheim wegen ift furzunemen“ — ohne Zwei—
fel ein Rathſchlag Nayr's, ferner ähnliche Rathſchiäge, wie gegen ben
Kaifer und Markgraf Albrecht zu verfahren fein würde. Jene „Unter:
rihtung“ fanb Herr B. im k. f. Archiv zu Wien, bat aber (Ur. Bei-
träge N. 239) nur ein paar anf frühere Zeit bezügliche Stellen ausge-
hoben und ben Hauptinhalt aud in feinen Geſchichtswerke vollſtändig
ignorirt. Im welchem Berhältni Übrigens jener Yand bes kaiſ. Buches
in Mänchen zn bem Bamberger Eremplar,, und zu beiben bie von Hrn.
BP. benutte Erlbach' jche Sammlung fieht, wirb bei ber Serausgabe ber
Reihstagsacten zu unterfuchen fein. -
462 Georg Boigt,
warum Georg den Kaifer aus der änßerften Bebrängniß rettete, als
er von den Wienern und feinem Bruder Albrecht auf der Vurg bes
lagert und befcheffen wurde. Kam auch ber brantenburgifche Plan
fo wenig zur Ausführung wie der böhmifche und feine anderen Vor⸗
gänger, fo erreichte ver Markgraf doch, daß er bie Ränke Mayr’s
völlig aus dem Felde ſchlug, Georg in die Defenfive drängte und bie
Berbündung der wittelsbachiſchen Intereſſen mit den böhmifchen
Ehrgeiz, ihm bie gefährlichite, glüdlich untergrub. So bielt ſich Kai«
fer Friedrich bis an fein Ende durd ein Syſtem von Eiferfucht und
Gegengewichten, das im Reiche nicht ausjtarb. Fürjten wie Matthias
von Ungarn, Karl von Burgund und verınuthlich noch andere, beren.
Beitrebungen bis jeßt das Dunkel der Archive deckt, haben feitbem
nach feiner Krone getrachtet, Friedrich aber bat fie alle überlebt umb.
fein Haus hat vie meiften beerbt.
Georg ließ ſich durch den verfchlagenen Mayr zu „Praoftifen«
verführen, für die er den Rathgeber ohne Zweifel gut bezahlen mußte,
obne den mindeiten Vortheil zu erlangen. Er bat baturch feine Stel⸗
lung im Weiche bedeutend erjchüttert und fich beſonders das bleibende
Mißtrauen des apoftolifchen Stuhles zugezogen. Dennoch blich er
ben chimärifchen Plänen, die feine Räthe, wohl mehr in der Ausficht
auf die Agitation als in ter Hoffnung auf ven Erfolg, ihm vorlege
ten, immer noch zugänglich, ein deutlicher Beweis, wie wenig er felbit
biefe ferneren Verhältniſſe beherrjchte. Nur in kurzen Zügen wollen
wir den Inhalt viefer weiteren Plane tarlegen, teren elender Aus⸗
gang doch nicht nur dem Zufall, fendern auch ter ſchwindelhaften
Eingebung zugefchrieben werten darf.
Zunächft Liegt uns eine Snftruction vor, beſtimmt für einen an
den Papft zu ſendenden Boten des Königs, offenbar noch ven Mahr
abgefaßt. Zwar können wir nicht behaupten, daß ter Bote wirklich
abgefertigt werten, aber ein müßiges Spiel der politifchen Phantafie
ijt der Rathſchlag doch auch nicht, ver König hatte den Surijten chne
Zweifel Tazu anfgefervert, nachdem er den Plan im Allgemeinen ges
billigt. Diefer aber war fein geringerer, als das römifche Königthum,
da man die Mehrheit ver Kurfürften nicht erlangen fonnte, jetzt trotz
Kurfürſten und Kaiſer, bloß durch päpftliche Einfegung und Waffen-
gewalt zu erwerben. Mit dem-Bapfte fell gerade fo verhandelt wer⸗
Georg von Böhmen, ber Huffitenfänig. 463
den, wie zuvor mit Mainz und Pfalz. Man fell ihm vorftellen, wie
wegen bes Kampfes gegen den Halbmond das Reich durch einen mäch—⸗
tigen Wegierer in Trieben und Einigkeit gejegt werben müſſe, wie dies
fer Regierer, ver Vöhmenlönig, dem Papſte helfen werte, feine Pro⸗
ceffe und Baunſprũche durchzuführen, das allgemeine Concil und eine
dentſche Bragmatif aber abzuwehren, wie er ihm überhaupt ein treuer
Bündner zu fein gebenfe. Dann foll man dem Papjt ein „Verſtänd⸗
zig» anbieten. Dafür, daß er dem Könige durch cine Bulle die Voll-
macht gibt, das Reich gleich einem folchen römifchen Kaiſer zu res
gieren, der durch die Kurfürften erwählt und durch ben Papſt gekrönt
werten, daB er die Fürſten und Unterthanen bes Reiches von ihrer
Pflicht gegen Kuifer Friedrich entbindet, dafür will ber König alsbald
nach feiner Erhebung Tas Kreuz gegen bie Zürfen nehmen, auch ven
Zehnten in Teutichland zu geben, „und dem Papfte davon merklich
Gut, deſſen man fich vereinigen werte, zukommen lafjen», etwa unter
veufelben Vebingungen, über bie jich ver Papſt mit Kaiſer Friedrich
geeinigt. Geht ver Papft aber auf folche Vorfchläge nicht ein, fo joll
ihen gedroht werten, der König werbe in ben Kurverein treten, ver
mainzifchen Appellation anhangen, für Concil und Pragmatif arbeiten,
„werurch dem Papfte, ven Cardinälen und Beamten feines Hofes
großer Aupen- entzogen» und durch Verbindung mit ben Stönigen von
Frankreich, Sicilien, Polen und Ungarn, jowie mit dem Herzog von
Bargund, „unüberwinblicher Abfall« vom Stuhle zu Nom gefchehen
würde. — Die weiteren NRatbfchläge betreffen faft nur tie Vorwände,
neter denen man die Gegner mit Wafjengewalt überfallen uud zwin«
gen könne. Dem Kaiſer fell die Einwilligung abgebrängt werben, in«
vem fein Bruder Ulbrecht, der König von Ungaru und ber Böhme
ihm gleichzeitig überziehen. Der Kurfürjt von Brandenburg fell durch
ven Herrn von Sternberg befchäftigt, Markgraf Albrecht „wegen ber
Untreue, die er dem König in des Reiches Sachen gethan hat“, durch
em Aufgebot feiner wittelsbachifchen Gegner geftrajt und wehrlos ges
macht werben.
Mag man dieſen Plan als praftiich orer unpraftifch, als erhü«
ben over abgejchmadt beurtheilen, hervorheben wollen wir nur vie ab—
jelute Principlofigkeit, mit ver man alle möglichen Factoren ter Po—
it in Bewegung zu jegen gewillt iſt. Der IUtraquijtenfönig ſoll
464 Georg Boigt,
durch ven Bapit zum Haupte des Reiches ernannt werben. Cr foll
gegen bie Türken ziehen und doch wird die Sache des Glaubens wie
eine reine Geldſache behantelt. Er foll, je nachdem ber Papft fich
zeigt, entweber für vie Allgewalt des römifchen Stuhles oder für eine
freie veutfche Nationallirche arbeiten. Er foll die eine Partei des Reiches
befriegen und dabei der anbern nebjt allen Kurfürften vor ven Kopf fchla-
gen. Diefer Berfchlag war vermuthlih Mayr's legte Arbeit als böhmi«
fer Rath, er trat num Tebiglich in ven Dienft des Herzogs Ludwig
von Bahern, moer fpäter gegen Georg agitirte und erklärte, er wolle mit
der Kegerei nichts zu thun haben und habe dem König einft treulich
gerathen, was auf deſſen Rückkehr zur katholiſchen Kirche abzielte **).
War Dlayr ein abgefeimter Räufefpinner, ohne Gewiflen und
ohne Herz für den Herrn, dem er diente, jo war fein Nachfolger im
der großen Politit des Könige, der fogenannte Ritter Anton Marini
ven Grenoble, ficher nichts mehr als ein Abenteurer. Man weiß
nicht, wie er an den böhmifchen Hof gekommen, fowie man nicht weiß,
wo er fpäter geblieben ijt. Der zungenfertige Sranzofe, der übrigens
audy die böhmiſche Sprache leicht und Bis zur vollen Fertigkeit in
Rede und Schrift erlernte, nahm ven König durch vie breifte Si⸗
herheit für fih ein, mit der er auf alle Fragen der Verwaltung nnd
der Politik zu antworten wußte. Fußten Mayr's Plane auf ter wir«
revollen beutjchen Reichs- und Fürſtenpolitik, fo war Marini gleich
alten folchen Wbenteurern Kosinopolit und fein Geſichtskreis reichte
über balb Enropa. Als böhmifcher Gefandter in Rom 1461 mu
thete er dent Papft aus eigenem Antrieb zu, König Georg zum Ober
befeblshaber gegen vie Türken zu beftellen und ihm von vorn⸗
berein ven Zitel eined Kaifers von Konftantinopel zuzufichern ; ber
Sieg über die Ungläubigen werde dann ein Leichtes fein. Pius nennt
ihn geradezu einen Schwäger. Aus dem Kopfe Marini's entfprang
die große Idee, die Angelegenheiten Europa's vor einem Fürjtenrathe
unter dem Vorſitze des Königs von Frankreich entjcheiden, die Autori⸗
tät des Papftes und bes Kaiſers verſchwinden zu laffen und auch ven
Türkenkrieg, als deſſen Protector bisher ver Papft gegolten, als euro-
päifche Sache in die Hand zu nehmen. Herr P. fcheint „dieſe Eman«
) Mayr's Brief von 24. Juni 1468 bei Balady Url, Beiträge R. 458.
466 | Georg Beigt,
Seinen Eifer für den heiligen Krieg erflärte er mit bem üblichen
Feuer, welches im Grunde zu nichts verpflichtete. Da indeß Marini
zum Abſchluß des großen Bünbniffes feine Vollmacht hatte, wünjchte
er ihm zu weiteren Unterhandlungen Gläd und hatte nichts dagegen,
wenn bieje gewilfermaaßen auch in feinem Namen geführt wurden.
Daß er zum Betriebe einer fo bochwichtigen Sache nicht einmal einen
eigenen Gefantten ſchickte, zeigt wohl feine Lauigfeit. Jetzt Tehrte der
Geſandte der drei Könige nach Venebig zurüd, wo man indeß bie
Hohlheit dieſer Liga gegen bie Türken vollkommen zu würbigen wußte.
Die Signoria beftand darauf, daß ver Papft und ber König von
Ungarn in den Bund gezogen werben müßten; fie glaubte nicht ge⸗
rade abmeifen zu dürfen, was Marini „mit vielen fchönen Worten”
im Namen der Herrfcher von Böhmen, Polen und Frankreich verfprach,
fie trug aber auch Fein Bedenken, ben Papft von ver Agitation zu
unterrichten. Vom kosmopolitiſchen Project fcheint hier nicht einmal
die Rebe gemwefen zu fein, in richtiger Erwägung, wie unempfänglich
bie venetianifche Politik für vergleichen Zräumereien war’) Trotz
ber inpirecten Abweiſung in Venedig finden wir Marini im März 1464
am ungarifchen Hofe. Auch hier wurden der Bund gegen die Tür
fen, ja fogar das Fürftenparlament als fchöne und wünfchenswerthe
Dinge bezeichnet, aber man müſſe fich deßhalb mit den beiden Häup⸗
tern der Chriſtenheit, mit Papſt und Kaifer, in’8 Einvernehmen feben;
geichehe das, fo habe König Matthias nichts bagegen, wenn Marini
auch in feinem Namen die Verhandlung am franzöfiichen Hofe fort-
führe. Von der Veranftaltung eines allgemeinen Concils, alfo über-
haupt von den Schritten gegen den Papft, wollte er durchaus nichts
wiffen; Concil und Kirchenreform, hieß es in der Antwort, gehörten
zum Berufe des römifchen Biſchofs. Wie wenig Beifall Marini hier
gefunden, geht daraus hervor, daß einige ungarifche Bifchöfe ihn mit
dem Bann bebrobten. Nun zog er mit einer großen böhmifchen Ges
ſandtſchaft wieder nah Frankreich, er felbft nannte fich zugleich
Geſandten von Polen und Ungarn. Aber unter ven geiftlichen Räthen
Ludwigs XI. ftieß die Kegergefandtfchaft auf ſchroffen Widerwillen
— — — —
s) Am Bezeichnendſten if bier das Stück bei Balady Urt Belt. n. 295 D.
Georg von Böhmen, ber Huſſitenlonig. 467
uub wohl nicht ohne Grund fanden fie an den Vollmachten Marini’s
aßlerlei auszuſetzen. Nur ein Freundſchaftsvertrag in fehr allgemeiner
Form Fam zwifchen ven Königen von Frankreich und Böhmen zu
Stanbe, die Berhanblungen über die große weltbürgerliche Idee wur⸗
Den amf das Unbeſtimmte vertagt und von der Türkenliga fcheint faum
eim Wort mehr gefallen zu fein. Der geniale Geſandte jo vieler Für-
fie blieb in Frankreich und verfchwindet fpurlos aus der gefchicht«
Ucen Kunde.
Diefe Projecte und Agitationen erjchütterten bedenklich bie Stel«
kung Seorg’8 gegen alle vie Mächte, mit denen er in Berührung trat.
Der Bapft, ver Kaifer und Matthias von Ungarn, alle von ihm ge=
täufcht und durch Heillufe Ränke gefährvet, arbeiteten feitrem aus
verfchievenen Motiven auf feinen Sturz hin. Erſt nach diefer Reihe
geicheiterter Berfuche trat Georg, jett nothgebrungen, in feine natür«
Ge Stellung zurüd. Seit dem Juni 1466 war Gregor Heimburg
nach Prag gelommen, um vem Könige bei ver Verfechtung feiner
Sache Beizuftchen, mehr ein Genoſſe und Helfer denn ein Diener,
wie P. treffend fagt, und wahrlich ein anderer Mann als Mayr und
Barini *'). Er war alt geworben im Kampfe gegen Nom und feit
Jahren unter dem Bann. Er vertraute auf vie Gewalt des wahren
Bertes und der männlichen Oppofition, nicht auf glatte Ausflüchte
web feine Nänle. Ihn trieb, wie er in feiner Apologie Georg’s jagt,
„vie Liebe zum Vaterlande, das ſtärkſte Band außer vem mit Gott‘;
aber ihn trieb auch ein ehrlicher und energifcher Haß gegen Alles,
wes er für wälſche Lift und römifchen Trug hielt. Die Zeit war
au fich vorbei, in welcher Georg den Papſt durch Verfprechungen und
w Zur Gorrectur ber Angaben bei Balady Bd. IV. Abth. II. S. 62
möchte ich bemerken, daß Heimburg nicht aus Würzburg, fondern aus
Schweinfurt ſtammt, wie fih aus einer feiner Reben in einer Münchener
Handſchrift beweifen läßt, daß feine Familie fchwerlich eine adelige war,
wie er ſelbſt fih in den im Nürnberger Archiv bemahrten Beſtallungs⸗
briefen und fonft immer nur ſchlechthin Gregor Heimburg nennt, und
enblich, daß fein Dienft bei Herzog Sigmund von Tirol zum legten Mate
im einem Document vom 17. Mai 1463 nachzuweiſen ift, welches man
im 7. Baube von Lichnowéky's Negeflen notirt findet.
i 30 *
468 Georg Boigt,
Hoffnungen hingehalten, im der er fi von ten päpftlihen Mahnungen
„allezeit behendiglich zu fpielen” gewußt. Er durfte jeßt nicht mehr
ſchwanken zwifchen Rom und Rokycana. Er juchte und fand bie beite,
bie einzige Stüße feiner Macht ba, wo fie wirklich rubte, in ver Zur
neigung feiner utraquiftifchen Böhmen, und auch ein heil der fa«
tholifchen vergalt die Schonung ihres Glaubens und ben Schug ihrer
Snterefjen durch anhängliche Treue. So hielt fi Georg in offenem,
freilich nicht immer glüdlichem Kampfe feinen Feinden zum Trotz. Ge⸗
lang e8 ihm auch nicht, Krone und Weich auf feine Nachfommen zu
vererben, fo bat er doch fein Voll und feinen Glauben vor ben
Gräueln einer Fatholifchen Reaction bewahrt. Der litragnismus
nahm feinen naturgemäßen Verlauf: eigener Fortbildung unfähig und
abgefchloffen ven den kämpfenden Bewegungen des Zeitaltert, vers
ſchwand er wie eine ſchwache Welle im Strome der beutfihen Refor⸗
mation.
Diejen lebten langen Kampf des utragniltifchen Königs, der in
der That ein ergreifendes Intereſſe gewährt, hat Herr P. in allen
feinen Phafen mit Sorgfalt verfolgt und mit Sicherheit bargeftellt.
Slaubten wir im Vorigen einzelnen feiner Anſchauungen entgegen-
treten zu müffen, fo wünfchten wir hier am Schluffe noch einmal zu
betonen, daß der Verfaſſer feinem alten Verſprechen treu geblieben,
zwar auf dem Standpunkt eines Böhmen zu ftehen, aber nicht unge
recht gegen bie Gegner der Böhmen zu fein. Der VBerfuchung, ven
nationalen König zu verberrlichen,, hat er nicht immer widerftanden.
Wohl mag der ſchmerzvolle Hinblid auf bie Folgezeiten nach Georg's
Tode, wohl mag der Drud der Gegenwart, unter welchem der Ber
fafjer fchrieb, umwillfürlich feine Feder beherricht haben. Dennoch
lebt ver gerechte Sinn in ihm, ben wir im Großen und Ganzen ein
Erbtheil der deutfchen Wiffenfchaft nennen dürfen. Gerade wenn fein
großes Werk nicht nur an ſich belehrt und erfreut, wenn es auch zu
weiterem Denken und Forſchen anregt, tritt feine Vortrejflichleit deſto
heller zu Tage. Nicht nur für die böhmijche Gejchichte iſt es vie
claffifhe Bearbeitung und wird vermuthlich noch für lange Zeit das
Buch der Bücher bleiben; auch die deutſche Gefchichte des 14. und
15. Jahrhunderts hat noch feinen Bearbeiter gefunden, zu bem man
ſich ſo freudig und erfolgreich wendete wie zu ben betreffenden Ab
|
Georg von Böhmen, der Huffitenfönig. 469
Schnitten in Herrn Palacky's Bude. Wünfchen wir, daß tie Aufre-
gung der neueften Zuge den Geſchichtſchreiber Böhmens werer ganz
in vie politijche Thätigkeit abforkire, noch ihm das offene Auge trübe,
das er in der Erkenntniß großer hiſtoriſcher Vorgänge geübt. Die
Pericte des Utraquismus Ichrte ihn, wie ver Geift einer Nation er-
lahmt und einfchrumpft, wenn er in dem engen und monotonen Kreis
ver Alltäglichleit gebannt wird, wie er fich dagegen verjüngt und
fräftigt durch Berührung, Bewältigung und Durcheringung verfchies
tenartiger fremder Elemente, tie feinen Horizent erweitern und ihm
immer nenen Gedankenvorrath zuführen, eine unimterbrechene edle
Thätigfeit in ihm nähren und unterhalten (Bb. IV. Abth. I. S.427).
Die Cultur Böhmens welkt tahin ohne ven ventfchen Hauch; durch
deiien Berührung ift fie gefchichtlich herangemachfen, und Niemand
wird tie Nothiwendigfeit Liefer Verbindung weniger verfennen als
Löhmens Hifterlograph.
Iorban, Mar, Dr. philos., Das Königthum Georg's von Pobrbrab.
Ein Beitrag zur Geſchichte ber Entwidelung des Staates gegenüber der kathol.
Kirke, zumeift nad) bieher unbelannten und in Auswahl mitgetheilten Urkunden
dergeſtellt. Leipzig, DBreitlopf und Härtel, 1861. XXIV, 5358. 8.
Leider erit nad) der Abſendung feines durch Palacky's Arbeiten
veranlaßten Auffages kam Ref. obiges Buch zu Geficht, welches
genau benfelben Zeitranm umfaßt wie der neuejte Band von Palacky's
bögmischer Geſchichte. Zwei Bücher ven bedentendem Umfange, vie
faft gleichzeitig erfcheinenn, venjelben Gegenſtand behanteln, ferdern
von feLbft zu einem Vergleich heraus, Dei ber Arbeit war Jordau
im baren Vortheil : er benugte bereits ben Band ter Fontes rerum
Austriacarum, in welchem P. ven größten Theil des Materials nice
vergelegt hatte, und auch deſſen darſtellendes Wert in böhmiſcher
Sprache, welches betentend früher erichien als tie deutſche Bearbei—
tung. Gleich hier ift zu betenen, daß Jordan, in dem wir nad) ger
wiffen orthographifchen Eigenthümlichkeiten — cr fchreibt z. B. er
xber ftatt Gezeter, zu Baren treiben ftatt Paaren — einen geberenen
Sachſen zu erfennen glauben, ſich der böhmiſchen Sprache, doch wohl
470 Georg Boigt,
erft durch mühfames Stubium, vollftändig bemächtigt hat und foweit
genügend ausgerüftet war, um auch bie früheren böhmifchen Editionen
Palacky's zu benügen. Obwohl er nun in der That neben Palady
eine „völlige Unabhängigkeit” in feiner Darftellung gewahrt Hat, mei⸗
nen wir doch nicht, daß diefelbe, hätte fie umgefehrt P. bereit vor⸗
gelegen, biefen zu irgend wefentlichen Abänderungen bewogen hätte.
Denn daß Jordan „zumeift nach bisher unbelannten Urkunden‘ gear«
beitet, ift eine völlig haltloſe Zitel-Behauptung, fofern man unter un«
bekannten Quellen nach üblicher Weife ungebrudte verſteht.
Mit einer Auswahl feiner neuen, aus Archiven und Bibliothefen
zu Breslau, Dresven, Leipzig und Jena gefchöpften Materialien bat
J. die etwa eilf Drudbogen umfaffenden „Beilagen“ gefüllt. Die
Auswahl hätte ftrenger fein follen. Was aus Efchenloer mitgetheilt
wird, konnte dahingeſtellt bleiben, va, wie wir mit Freuden erfahren,
Herr Dr. Friedrich Pfeiffer in Breslau eine neue Edition bereite
in Angriff genommen, bei welcher hoffentlich auch das Hiftorifche In⸗
terefje neben dem ſprachlichen gewahrt werben und ber Tateinifche
Efchenloer zu feinem Recht kommen wird. Unter der Rubrik Ro⸗
fenpfütifches« begegnen wir zunächft dem bekannten Türken⸗Faſtnachts⸗
fpiel und auf derſelben Seite der erftaunlichen Bemerkung bes Her⸗
ausgebers, die hier mitgetheilten Sachen feien „noch in keiner Samm⸗
(ung ter Gedichte Roſenblüt's abgeprudt«. Welche Sammlungen %.
wohl eingefehen hat?“ In des einzig nennenswerthen, ver Keller’ichen
(die doch nach S. 414 auch J. nicht ganz unbelannt war) findet ſich
das beſagte Faſtnachtsſpiel nach verſchiedenen Handſchriften edirt, und
nach der Dresdener, die J. abſchrieb, hatte es bereits Gottſched
herausgegeben, gerade in dieſer Form iſt es als das bekannteſte Stück
Roſenplüt's in allerlei Muſterleſen übergegangen. Das Sendſchrei⸗
ben des Dechanten Hilarius an Rokycana konnte als bloßer Ab⸗
druck gleichfalls wegbleiben, zumal da ſein Inhalt nicht ſonderlich be⸗
deutend iſt. Die Dialoge des Johann von Rabſtein, die Palackh
bereits im deutſchen Auszuge mitgetheilt, müſſen wir willkommen bei«
ßen, ſo viel auch der Text zu wünſchen übrig läßt. Wie faſt alle
dieſe Editionen iſt er reichlich mit Fragezeichen durchſäet, bei welchen
wir nur oftmals wiſſen möchten, ob dem Herausgeber bie Leſung bes
Wortes oder der Sinn fraglich geblieben. Auch Hätte ſich in man
Georg von Böhmen, ber Huffitenlönig. 471
den Willen für ven Text bei größerer Sorgfalt etwas thun laſſen,
wie 3. B. S.386 3.27 ftatt des unfinnigen pecci offenbar peccati,
©. 336 3. 23 ftatt poenam — poenitentiam zu lefen ift und dgl.
Debrigen® gehört eine bedeutende Zahl ver mitgetheilten Stücke we«
ber ber Zeit noch dem Stoffe nach eng zum Dbjecte des Buches. —
So wenig hoch aljo das bisher Unbekannte⸗- angejchlagen werben
taun, fo ift auch das bisher Gedruckte keineswegs umfänglich benugt.
Ferner wänfchten wir die franzöfifche Art zu citiren von ber beutjchen
Geſchichtſchreibung fern zu fjehen: was heißt es 3. B., wenn viel«
bäntige Werte furzweg mit den Namen Katona, Engel, Teleky u. f. w.
citirt werben, wobei der Verfafjer übrigens nicht confeyuent gewefen
ft „Commines Histoire de Bourgogne edt. Godefroy“
(5. 298) follen wir vermuthlich fo verftehen, daß neben Com⸗
minee’ Memoiren das befannte Werk von Barante benukt ift, wie
©. 351, wo außerdem als Verfaffer ver Gefchichte Friedrichs von ber
Balz ftatt Kremer ein Herr Eromer bezeichnet wird, bei bem
man eher verjucht wäre an ven polnijchen Hiftoriographen zu denken.
Der Berfalfer hat das Buch feinem Lehrer Droyfen gewids
met, dem es „in jedem Sinne zugehöre.“ In der That find bie
fritenden Ideen, Gedanken und Anſchauungen frappant tiefelben, vie
Droyfen ausgeſprochen, und auch in Faſſung und Ausdruck erfennt man
fofort ven abhängigen Nachahmer. Nun wird freilich bei dieſem Dianches,
was wir als eines Meifters Eigenthümlichkeit gern gelten laffen, nothe
wendig zur Dianier, und Irrwege find faft unvermeitlid. Da Ref.
gegen Drohſen's Ideen über vie Bebeutung Georg's und feines Stau»
tes feine Bevenlen bereit8 geäußert, die er auch nach ver Leſung vie
ſes Buches und auf die Gefahr bin, für Eurzfichtig erklärt zu wer«
den, nicht widerrufen kann, fo bleibt hier nur vie Methode zu erör-
ern, in welder %., was Droyfen in furzen Zügen und mehr bei«
läufig aufgeftellt, des Breiteren zu begründen fucht.
Ueber die relative Aermlichkeit ver Quellen, bie oft eine durch⸗
bringende Veberficht ver Sache unmöglich macht, Hilft Herrn 9. feine
üppige Phantafie hinweg, vie zumal in den politifchen Abfichten, Auf⸗
gaben und Situationen, in den „Programmen“ und „Bolitemen“ mit
ſeinftem Ohre das Gras wachſen hört. Vielleicht ijt es biefe Kunft,
rermittels welcher er nach dem Vorworte, wo er fich über „vie Natur
472 Georg Bolgt N
des hiftorifchen Erfennens und über die Methode ber Geſchichtſchrei⸗
bung“ ausläßt, in ben „mimetifchen Werth” einer überlieferten hiſto⸗
riſchen Kunde einzubringen fucht, worunter man fich fehr viel oder
auch fehr wenig vorftellen mag. ‘Die Darftellung felbit aber zeigt faft
auf jeder Seite, wie die Ideen, vie das Reſultat der Forfchung fein
follten , fchon im Voraus gegeben und feit waren. Aus dem vorlies
genden Material wurbe nur berausgenonmmen, was an bie Tenbenz
anzuflingen fchien oder pifante Kraft« und Schlagftellen varbot; Ans
deres wird gebogen und verrenft, bis es paßt, und ver Reſt bleibt
liegen. Ohne es zu ahnen, betritt J. jenen Weg der Unwahrheit
und Sophiftif, ven wir der ultramontanen Hiftoriographie am Schärfe
ften vorzuwerfen pflegen, fo fehr er das Papſtthum und die römifche
Kirche mit radicalem Haß und oft unbiftorifhem Spotte verfolgt.
Ob aber folhe Methode nach viefer oder jener Seite hin, mit mehr
Geiſt oder mehr Bornirtheit geübt wird, macht feinen wefentlichen
Unterſchied.
Wir leſen eine Heine Reihe von Beiſpielen verſchiedener Art aus,
bie jene Methode bezeichnen. S. 64 behauptet J. in Bezug auf bie
Beſchuldigung des Papftes, daß ben Katholiken im huſſitiſchen Böh-
men das (geweihte) Begräbniß verweigert werbe: es jei gewiß, baß
dergleichen Frevel nicht nur auf Gegenfeitigfeit beruhten, fonbern andy,
baß fie auf das Härtefte beftraft wurden. Cine fo kräftige Behaup⸗
tung aber bleibt ohne allen Beweis, obwohl die Verweigerung bes
Begräbnifjes von Seiten ver nur gebulbeten Statholiten an fich höchſt un⸗
wahrfcheinlich und ihnen auch nirgend vorgeworfen worden ift. Daß bie
Huffiten die Sommunion auch an Kinder und Wahnfinnige reichten, wie
man ihnen ſchon auf dem Basler Concil fo oft vorwarf, berubte ein-
fach auf dem Glauben an bie fubftantielle Heildwirkung des Sacramentes,
mit welchem auch die Berwerfung der Beichte übereinftimmt. Da inveß
biefe rohe Anfchauung Herrn Jordan nicht als ‚Factor in der Ges
ſchichte des fittlichen und geiftigen Befreiungskampfes der Menſchheit“
brauchbar erfchien, ja eher für das Gegentheil fpricht, umhüllt er bie
Sade ©. 71 mit den gefuchteften Sophiemen ; nach ihm follte man
3 B. glauben, viefer Sacramentsmißbrauch fei erft feit den Com⸗
pactaten eingerifjen! — Der Unterfchieb zwifchen beweibten und bes
weibt gewefenen Prieftern ift immer noch ein fehr großer. Welcher
Georg von Böhmen, ber Huffitenlönig. 473
Borwurf gegen bie Buffitifchen Priefter bei ver Disputation erhoben
werben, ift Referent nicht im Stande nachzufchlagen. Eſchenloer aber
ſpricht jetenfalls von „Weiber habenpen,“ die wie auch Handwerker
sub ungeweihte Laien, unter ven Huffitiichen Prieftern gewefen feien
uud von denen ein heil vielleicht noch die Mefje leſe. Mochte der»
gleichen vorgelommen fein ober nicht, Rokycana betrachtete es offen-
bar als Unfug, denn er beftand auf Unterfuchung ver Sache. Ohne
Princip gibt e& auch nichts Neformatorifchee. J. aber findet einen
thatfächlihen Uebergang zur principiellen Priefterehe barin, „daß
man feinen Anftand nahm, Männer zu Prieftern zu weihen, welche
verheiratbet gewejen waren, wie ja auch weder bie gelehrte Vorberei⸗
tung noch bie ftrenge Standeseigenthümlichkeit im kanoniſch-katholiſchen
Einne als unerläßlich galt” (S. 118). Daß viele hufjitifche Priefter
ihre Weihe irgendwo erfchlichen hatten und daß man fie in Böhmen
beunoch aufnahm, lag in dem abnormen Nothitand ber utraquiftifchen
Sirde; ©. 119, 120 fpielt J. um die Sache herum, ſpricht ven
„nenen Brieftern,” unter denen wir uns nichts zu denken verindgen,
zub meint enblich mit einem Humor, ber vielleicht auch bier den res
fermatorifchen Zug beweifen fol, es ſei ven Böhmen nur darauf ans
gelommen, daß „vie Papiere in Ordnung“ waren. Humoriſtiſch klingt
es auch, wenn cr ©. 128 in ver Beraubung der Kirchengüter, vie
wärend ber Kriege und der Anarchie geſchah, eine „Durchführung
ver Armuth“ der Priefter und ſomit eine „Gewähr ter Tugend“ fieht.
Nachdem er S. 120 erzählt, wie Rokycana bei ter Dieputation fich
auf Albertus Magnus und Thomas ven Aquino berufen, nachdem er
©. 126 noch zugeftanven, daß dieſer Vlagijter fich auch fonft wohl
auf die fcholaftifche Waffe eingelajjen, freilich „niemals im Sinne feis
ser katholiſchen Gegner,” erfcheint Rofycana S. 127 dennoch al8 Pros
get von ber „Srunblegung ver Bibel als einzigen Glaubenscanons“
wit „unnachfichtiger Sonfequenz.” — S. 75 — 77 entipricht bie ärm⸗
liche Kunte von einzelnen Thatfachen nicht entfernt ben Folgerungen
De daraus für Georges „Staatspolitik“, für „Säculariſation“ und für
bie „Idee des modernen Staates’ gezogen werten. Was das Prager
Confiftorium bedeutete, ift auch J. unklar geblieben; daß es aber „urs
ſprünglich ohne Zweifel aus Alte und Nengläubigen zuſammenge⸗
fegt war“, ift wieder eine ber Hier nicht feltenen Behauptungen, bei
474 Georg Boigt,
denen nur bie Kühnheit den Beweis erjeßt. Auch ein deutſches Par⸗
lament mit einer NReichsfteuer und einem kaiferlichen Generaliffimus
ift in Jordan's Phantafie durch M. Mayr entworfen gewefen. Leider
nur ift das angeregte Perlament keineswegs ein tagendes „Fürſten⸗
collegium,” ſondern lediglich ein Reichsgerichtshof, für ben man ben
Namen von den franzöfiihen Parlamenten entnahm; ver Zehnte nnd
Dreißigfte, von dem bie Rede ift, follte nicht „zur Durchführung des
neuen Reichsregimentes“ vienen, fondern war eine vom Papfte zu
Mantua proponirte Auflage behufs des Türkenkrieges, und ber Ges
neraliffimus wird gleichfalls zum Feldhauptmann des Reichsheeres
gegen die Zürlen an Kaiſers Statt. — Schließlich darf nicht über-
gangen werben, wie Jordan über das angreifende Verfahren Georg's
gegen Matthias von Ungarn hinausfommt. Das Document, in welchem
Georg mit tem Kaiſer pactirte, ihm für 31,000 Ducaten mit einem
Heere zur Erwerbung des Königreichs Ungarn zu helfen, ift J. „nicht
entgangen, er fennt e8 (S. 249) in einem Drud von 1793, „aber
ich Tenne es nur aus dieſer Erwähnung, und zu biefer Faſſung —
dafern fie autbentifch ift — Tann ver König“ u. f. w. Aber warum
kennt J. es nicht aug Palacky's „Url. Beiträgen,” vie er doch ſoviel
benugt hat? Da hätte er e8 nach dem Datum in Nro. 193 notirt
finden können und zwar aus dem Driginal des S. Wenzel» Archivs,
was feine Fritifchen Bedenken vielleicht beruhigt hätte; da hätte er in
Nr. 228, 229 Iernen können, wie biefelbe feindliche Politik mit ane
beren Kräften fortgefeßt wurde. Warım kannte er es nicht aus Pa⸗
lacky's Gefchichte von Böhmen (Bd. IV. Abth. II. S. 103), wo noch
einer bedrohlichen Fortfegung diefer Verhandlungen erwähnt wird? Die
Stelle dürfte in der böhmifchen Bearbeitung Palackh's fchwerlich feh⸗
len. Aber „viefen angeblichen Unternehmungen widerfpricht Georg’6
Grundſatz, daß das nationale Königthum das erfte Erforverniß zu ge
beihliher Entwidelung des Staates bilde.“ Daber Tann J. nicht
glauben, daß fie ernfthaft gemeint waren. Ebenſo in den Agitationen
George mit Jiskra und einem Theil der ungarifchen Magnaten; bier
kann %. zwar nit umhin, ©. 248 den „Schein ber Verrätherei“ zu
feben, aber die böhmifche Politik „ging im Grunde nur aus ber ehr-
lichen Abſicht hervor, allen politifchen Kräften gerecht zu werben, die ſich
regten“ — eine ftaatsrechtliche Maxime, die allerdings ſehr modern ift.
Georg von Böhmen, der Huffitenkönig. 475
Doch genug folcher Beifpiele. Sie lafjen wohl ahnen, daß es
dem Verfaſſer auf Feine Verfehen auch nicht fehr ankommen
wird. Wir bemerften bei ver Lectüre folgende: S. 2 ift von einer
Sedisvacanz von 1457 die Rebe, obwohl Calixtus III. während aller
ter erwähnten Agitationen noch bis zum Auguſt 1458 lebte; ©. 14:
Pius ift nicht ter Etifter des Ritterordens Societas Jesu; ©. 35:
wie foll Franziscus von Toledo ter Suffragan bed Erzbifchofs von
Kreta fein? ©. 56: vie Audienz der böhmischen Gefandten vor bein
Bapfte fand nicht am 14., fontern am 20. März ftatt; die S. 140
citirte Bulle ift nicht vom 8. Octbr., fonvern vom 24. Spthr. 1462
(nah Raynaldus Annal. ad h. a. n. 24); ©. 158: ver Bifchof
von Torcello hieß Deninico de’ Domenichi, aber nicht Franciecus;
©. 182 wird tie Bolitif ver venetianifchen „Krämer“ fehr mit Unrecht
und Unfenntniß gegeißelt; denn feit Jahren führten fie allein ven
Kampf in Morea und in Archipel, auch erfchien ihre Flotte nebft vem
Dogen, noch bever Pius ftarb, in Ancona; S. 236: gibt e8 einen uns
garifchen Biſchof von Weißbrünn, ber doch wehl der von Wesprim
fein fol.
Müffen wir nun im Allgemeinen fagen, daß der hohe Werth des
Balady’jchen Buches bei ſolchem Vergleiche nur um jo leuchtenver
bervertritt, jo ijt doch auch nicht zu verfennen, daß der Jordan'ſche
„Erſtling wiſſenſchaftl cher Thätigkeit“ einen Verfajjer von ungewöhn⸗
licher Begabung zeigt, die che Zweifel, wenn fie den „mimetifchen
Werth” abgeftreift haben und den veblichen Gewinn fuchen wird, zu
ihönen Hoffnungen berechtigt.
X,
Ueberſicht der hiftorifchen Literatur bed Jahres 1860.
| (Bortfeung.)
6. Deutſche Provinzialgeſchichte.
1. Schwaben und Oberrhein.
Archiv für die Geſchichte des Biethums Augsburg. Herausgeb.
v. U. Steichele 3. Bd. 3. Heft. Augéburg, 1860 8.
Enthält: Fr. Wilhelmi Wittwer Catalogus Abbatum monasterii £8. Udal-
rici et Afrae Augustensis, herausgegeben von Steichele.
2. Greiff, Beiträge zur Befhichte der deutſchen Schulen
Augsbnrgs. Aus urkundligen Quellen zufammengeftellt. Augeburg, 1858.
vm, 157 S. 8.
24fter Jahresberiht bes hiſtor. Kreisvereins im Regie
rungsbezirfe von Schwaben und Neuburg für die Jahre 1858 und
1859. — Mit einer Abhandlung über bie älteſten Glasgemälde bes
Domes in Augsburg und Abbildung berjelben in Farbendruck. Auge-
burg, 1860. 8.
Mittheilungen des Bereins für Kunf und Alterthum in
Ulm und Oberfhwaben, unter dem Protectorate Er. königl. Hoheit bes
Dentiche Provinzialgefhichtee Schwaben. 47T
Kronprinzen Karl von Württemberg. 13. Beröffentlihung. 12. Bericht. Der
größeren Hefte 8. Folge. Mit 5 Eteindructafeln und Holzſchnitten. Ulm,
1860, in Comm. ber Stettin'ſchen Buchhandlung. —
Inhalt: Das alemanniſche Todtenfeld bei llm. Bon Brof. Dr. Hafler. —
Zwei Roſenbergiſche Fehden. Bon Prof Dr. Beefenmeyer. — Auszug
ans ben Protolollen ber Bereinsfigungen. 4.
Haßler, €. D., Dr. Brof., Das alemannifhe Tobtenfelb bei
Ulm. Beichrieben und erläutert. Mit 5 Steindrudtafeln und Holzſchnitten.
Um, Druck der Wagner’ihen Buchdruckerei, 1860. 40 ©. 4.
Derſelbe, Die Beziehungen Guſtav Adolph'e zu ber Reichéſtadt
Use Urlundl. Darlegung. Ulm, Stettin'ſche Buchhandlung, 1860. 16 ©. 4.
BürttembergifheIahrbücder, für vaterländ Geſchichte, Geb⸗
grapbie, Statifil und Topographie. Hrsg. v db. k. ſtatiſt⸗topograph.
Bureau. Sahrg. 1858. 2 Hfte. (VI un. 487 ©. mit 2 Tab. in qu Bol.)
Eintigart, Aue, 1860. gr. 8.
Eathält im 1. Heft eine allgemeine Lanbeschronil v. 1858. ©&.1-47. —
u 2. Heft: Geſchichte des Münzweſens in Württemberg in Verbindung
mit dem fhwäbilhen und NReihemünzweien von Pfaff. ©. 44 — 216. —
Aänzfund auf dem Einfiebel von Stälin u. A. —
Siebenter Bericht über ben Alterthumsverein im Zaber
gau 1860—1800. Bond Klunzinger, Dr.philos., Stuttgart, 1860. 8.
Sin in Gugelingen aufgefundener römifcher Altar. — Architectur, Sculp-
mr und Malerei im Zabergau und jetigen Oberamt Birdenheim. — Ge-
fellichaftsangelegenhbeiten.
Schiller, Froͤr. v., Geſchichte v. Württemberg, 5. zum 3. 1740.
(Zum erſten Male im Drud hereg. u. aus ber „Württembergifchen Vollsbib⸗
Kethel“‘ abgebr. 3. 100jährigen Geburtstagsfeier bes Verf) 1—5. Lg (1. ®b.
mit 2 Holzſchntaf.). Stuttgart, Schaber, 1859. 260 &. gr. 16.
Th. Keim, Dr. Prof., Ambrofius Blarer, ber fhwäbiiche Reformator.
Rah den Duellen überfihtlih bargeftellt. Stuttgart, Chr. Belfer, 1860.
V, 155 G. 8.
Th. Preſſel, Archidiaconus, Ambroſiue Blaurer’s, bes ſchwäbi⸗
hen Reformators Leben und Schriften. Mit dem Bildniſſe Blaurer's.
Eintigart, Liefhing, 1861. VII, 611 ©. 8.
478 Ueberſicht ber hiſtoriſchen Literatur vom 1860.
Beide Arbeiten, denen handſchriftliche Materialien zu Grunde lie
gen, ergänzen ſich in willkommener Weiſe. Hr. Keim macht nicht
ben Anſpruch, eine erſchöpfende Monographie über das reiche Leben
und Wirken des fchwäbifchen Reformators zu geben; aber wenn wir
feine Schrift mit der wenige Wochen fpäter erfchienenen des Herm Prefiel
vergleichen, fo finden wir nicht allein, daß in“ dem kürzern Febensabriß
nichts Wefentliches übergangen ift, ſondern daß auch berfelbe neben dem
breiter angelegten Werke Preſſel's noch feinen eigenthämlichen Werth bes
hält. Die Hauptbebeirtung des leßteren Buches, das mehr einer Materia-
lienſammlung als einem darftellenven Werke gleicht. liegt in den reichlich mit-
getheilten Duellenauszägen und namentlich in den zahlreichen, zum erften
Mal abgenrudten Briefen Blaurer's oder Blarer's. Im Anhange fin-
ben fich außerdem noch einige Briefe Melanchthon’s und Calvin's, die
durch Blaurer zu Stande gelommene Zuchtordnung der Stadt Conſtanz
von 1531, womit das Reformationswert der Stadt abſchloß, ferner ber
Stiftimgsbrief einer von den Städten Conftanz, Lindau, Biberach und
Isni errichteten evangelifhen Schule zur Erziehung von Prebigern, und
envlich einige Gefänge und Lieder Blaurer's. — Aufgefallen tft une,
daß beide Schriftfteller in der Darftellung eines wichtigen Momentes im
bes Reformators Leben, nämlich feines Eintritt in das Kofler, bes
trächtlich von einander abweichen. Keim läßt den jungen Blaurer (©. 7)
erft am Schluß des Jahres 1614, „wohl von Tübingen aus,” nad) bem
Benedictinerklofter Algirsbach auf dem Schwarzwalve kommen, wo er ſich
von der Stille des Mönchslebens fo angezogen fühlte, daß er trotz man⸗
her Abmahnungen im folgenden Jahre in das Klofter eintrat. Nach
Prefiel aber wäre letteres ſchon um das Jahr 1510 geſchehen, und
Bruder Ambroſius hernach von feinem Orden in Anerlennung feiner
hervorragenden Zalente auf die Univerfität Tübingen gejandt worden.
Da für den frühern Eintritt in das Klofter keine Beweiſe beigebradt
werden, jo müffen wir bier Keim's Darftellung ven Vorzug zu geben.
Nah dem Tübinger Magiſterbuch magiftrirte Blaurer 1513 einfad als
„Ambrofius Blarer Canstadiensis“, jol wohl heißen ‚.Constadiensis“.
Lindenſchmit, Ludw., Die vaterländiſchen Alterthümer
ber Fürſtl. Hohenzoller'ſchen Sammlungen zu Sigmarin—⸗
gen, beſchrieben und erläutert. Mit 43 lith. Tafeln und 108 im ben Tert
gebrudten Holzſchnitten Mainz, v. Zabern, 1860. VIII und 228 ©, gr. 4
Dentihe Provincialgeſchichte. Oberrhein. 479
Schönhuth, Dietmar F. 5, Die Burgen, Klöfer, Kirchen
nnd Kapellen Württembergs unb der Preußifh-Hohenzol.
lera’fhen Landestheile mit ihren Geſchichten, Sagen und Mährden.
Unter Mitwirkung vaterlänbifher Schriftfiellee bargeftellt. 1. und 2. Bd,
je 10 Hefte. Gtuttgart, Fiſchhaber, 1859 und 1860. 488, 476 ©. 8.
Keller, ©, Der Hohenftaufen und feine Fernſicht, hiſtor.
uud topographiſch bearbeitet Mit einem lithogr. Panorama ꝛ⁊c. Göppingen
Otuttgart, Lindemann, 1860. IV, 160 S. 12.
Weiskopf, Anton, Pfr, Geſchichte des Klofters Beuren
au ber Donau, nebft einer Beichreibung der Klofterliche. Mit 1 lith. Ab-
Klbung des Hnabenbildes. Sigmaringen, Taggen. 91 ©. 16.
Martini, Ed. Ehrn., Pfar. Geſch. des Klofters u. ber Pfarrei
Er Seorgen anf dem Schwarzwald mit Rüdfiht anf bie Umgegend.
Em hiſtoxiſcher Verſuch. Wit 3 Lithograph. Abbildungen. St. Georgen, 1859.
‚Stuttgart, Detinger.) VI und 310 ©. 8.
9. Marmor, Seihichtlihe Topographie der Stabt EConftanz
uub ihrer nächften Umgebung mit befonberer Beridfihtigung ber Gitten- und
Enirmegefchichte derfeiben. In 3 Lieferungen. 1. Liefg. Conftanz, 1860, Selbſt⸗
verlag bes Berfoflers. 128 ©. 8.
Der Herr Berfaffer, praltifcher Arzt in Conftanz, ift als ein eif-
tiger Förderer der Geichichte jeiner Vaterſtadt bekannt. Es verdient alle An»
elemnung, daß er troß feines entgegenftehenven Berufes jich fleifig im
Archiv umgefehen hat, und wir werben für das, mas er uns bietet, dank⸗
ber fein, ohne den ftrengften Maßſtab anzulegen. Die gegenwärtige
Bablication freilich nimmt vorzugsweije nur ein locales Intereſſe in An⸗
ru; aber doch findet man ſchon in dem vorliegenden Hefte auch
Retizen von allgemeinerem Werth, fo 3. B. die handſchriftlichen Meittheis
Immgen über die Behandlung der Juden im 14. und 15. Jahrhundert.
(8. 107 ff.)
Gtaiger, Fr. X. C., Die Infel Reihenau im Unterfee, (Bo-
denſee bei Conſtanz) mit ihrer ehemaligen berühmten Reichsabtei. Urkundlich
beſchrieben. Mit 1 (lith.) Abbildg. der Infel und ihrer Umgebung (in fol.)
Sindeu, Stettiner in Comm., 1860. VI u. 178€ 8.
Zeitſchrift f. d. Geſch. des Oberrheine. Hersgb. v. db. Landes»
480 Ueberficht der Hiftoriichen Literatur von 1860.
archiv zu Carlsruhe durch den Director beflelden, 3. F. M. Mone Bd. XI,
Set 3 und 4. Bd. XII, Heft 1 und 2. Karlerube, Braun, 1860. ©. 257
bie 514; ©. 1 bie 256. 8.
Mone's vortreffliche Zeitſchrift verdient auch in diejem Jahre allſei⸗
tige Beachtung ; denn fie ift wie immer reih an mannigfaltigen urkund⸗
lihem Material und wendet ſich vielfach über das provinzielle Interefle
hinaus, wenig beachteten Fragen ver Bollswirthichaft, des Verkehrsweſent
und des focialen Lebens zu, fo in den Artikeln über die Flözer ei am
Oberrhein vom 14. bi8 zum 18. Yahrh. in Band fi. S. 257 — 280;
über ven Geldkurs vom 12, bis 17. Jahrh. S. 385 — 408; über
die Armen- und Krankenpflege vom 13. bi8 16. Jahrh. in Bd. 12
©. 5-53 und 142—194; Maß und Gewidt ©. 64— 68; Ber
tehbrswefen vom 15. bi8 17. Jahrhunderts S. 129 — 141 nnd die
Gehalte ftäntiicher und gutsherrliche Benmten und Diener
vom 14. bis 17. Jahrh. S. 255— 256. — Außerdem tbeilt der He
rausgeber eine Reihe von Kaiſerurkunden mit vom 8. bis 14. Jahrh.
(XI, ©.280—298, 428-438; XII, ©. 198— 211); ferner Raffani-
he Urkunden von 1174—1487, XI, 298—317 ; Urkunden über das
Dberelfaß vom 12. bis 16. Jahrh. S. 317—341. — Enplid gibt
Mone XI S. 408 — 428 Beiträge zur Geſchichte vr Schweiz uud
Xu, ©. 53 — 64 zur Geſchichte ver Franche-Comté unter Marimi-
lian und Maria von Burgund. Hübnergeridte S. 194—1%. —
Dambader fegt die Urkunden’ zur Geſchichte der Grafen von Freiburg
fort, und theilt außerdem eine Urkundenleſe zur Gejchichte fräntifcher Klä«
fter (Komburg, Lichtenftern und Murrhard), und Urkunden über Loffenau
mit. — Bader gibt Urkunden und Regeſten aus dem Archive ver
ehemaligen Grafſchaft Hauenftein. —
Badenia ober das Babifhe Land und Volk. ine Zeitichrift zur
Berbreitung ber hiftor.-topgraphifch - ſtatiſtiſchen Kenntniß des Großherzogthums.
Herausgegeben von Dr. Joſ. Bader, Archivrath, 1. Band. Heidelberg,
Emmerling, 1859. 4 Hefte. VI, 629 ©. Mit 5 Kupfern.
Wir notiren aus dem mannidfaltigen Inhalt: Eine altbabifche YFürftenge-
ſtalt (Chriſtof F 1527) nah Bild und Schrift. — Die beutiche Reichegren-
feftung Philippsburg. — Fickler, ber heilige Jüngling zu Niclaehauſen. —
Reih, aus ben Zeiten bes ZOjährigen Kriege. — Die Zerflörung von
Heidelberg im orleans'fhen Krieg. — Asbrand, das Kriegejahr 1790 am
Oberrhein. —
Dentiibe- Provinzialgeſchichte. Dberzhein. 481
Brogramm des LE EL Gymnaſiums zu Belblirh für bas
Gäuijahr 1859. Einſiedeln, Benzinger, 1859. 40 ©. 4.
Brogramm des Ef. i. Symnafiums zu Feldkirch für bas
Gäuljahr 1860. Freiburg i. Br., Herber, 1860. 252 ©. 8.
Diefe beiden Schriften tragen feinen anderen Titel, als den anges
gebemen, . enthalten aber ein’ jehr ſchätzenswerthes Material zur Gejchichte
ver öftlichen Bodenſeegegenden. Die erftere gibt ohne einen beftinunteren Zu⸗
jemumenhang Urkunden des 15. Jahrhunderts, worunter jeue die wichtig:
Rem find, welde fi) auf den Streit Herzog Friedrich's mit König Sig
mund beziehen und namentlich die in Folge der Conſtanzer Ereiguijje
ven Sigmund vorgenommene Berpfändung der Grafihaft Feldkirch an
vie Grafen von Toggenburg näher beleuchten. Auch die Deittheilungen,
weldye wir vurch eine Reihe von Urkunden über die eigenthümlichen Ver—
hältniffe der Lanbleute im Bregenzer Wald erhalten, verbienen hervorge⸗
hoben zu werben. — Leider lajlen ſich Bedenken gegen die Treue des
Abdrucks nicht zurüdweiien, 3. B. bei ven Urk. Wr. 13 u. 31. — tt.
Rr. 27 (vom 8. Dez. 1455) ericheint nicht blos im Texte jondern auch
m Regreß 8. Sigmund ftatt K. Friedrich — Mehr Vertrauen in jeine
Enrrectheit erwedt der Text in den Urkunden der zweiten Schrift, obs
wehl dieſe von vielen Druckfehlern entitellt iſt.
Nachdem eine Ueberficht ver Geichichte ver Ritter von Ems — ein
zit ten bier neu gewonnenen Rejultaten beveicherter Auszug aus den
in den Sitzungsberichten der Akademie ver Willenichaften zu Wien neuer
Yings witgetheilten Abriß der Geſchichte der Edlen von Ems von J.
Bergmann — vorangegangen tft, erhalten wir eine Urkundenſammlung
zu Geſchichte dieſes Geſchlechts, welche fich ver größeren Arbeit I. Berg»
mann's über venjelben Gegenftand ergänzend zur Eeite jtellt. Kaiſer⸗
sıtunven finden fih barın jet Sigmund, außerdem Manches, was Die
lenachbarten Reichsſtände, fürftliche und ſtädtiſche, geijtliche und welt
übe, betrifft. Bon bejenverem Intereſſe jind tie unter den Urkunden
mitgetheilten Briefe, von denen mehrere jid) auf den befunnten Feldhaupt⸗
mann Marx Sittih von Ems beziehen, für deſſen Stellung in jeiner
Heimat und zu ben öfterreihiichen Kegenten manches werthvolle Docu-
mewt beigebracht wird. — Die lleberjicht des mitgetheilten Materials
wird bei beiden Schriften durch kurze Regeſten, vie in chronolegijcher
Beige beſonders zujammengeftellt ſind, angenchm erleichtert. Th. K.
Gißecifäge Zeitfärift V. Dany. al
482 uUeberſicht ber hiſtoriſchen Literatur ven 1860.
Fröhner, Dr. Wilh., Die großperzgogl. Samminug vater
ländiſcher Alterthämer zu Karleruhe. 1. Heft. Die monumentalen
Alterthümer. (XII und 66 S. mit 1 Zabelle in qu. gr. 4.) Karleruße,
Groos in Comm., 1860. 8.
A. Coste, Notice historique et topographique sur la
ville de Vieux-Brisach, avec le plan de la ville de 1692. Mulhouse
Risler, 1860. 404 8. mit 3 Kpfrn. 8.
Ildephone v. Arr, P. Geſchichte berHerrfhaft Ebringen im
Jahre 1792, aus alten Urkunden gezogen, dem Drucke übergeben v. Pfr. Sof.
8003. (VII und 188 &.) Freiburg im Br., Wangler, 1860. 8.
Schreiber, Dr. Heinr., Der Schloßberg bei Freiburg Hifer.
Gemälde. Mit 1 (Tith.) Belagerungsplane der Stabt Freiburg vom Jahre 1744
und einer (fith.) perfpectiv. Anficht bes damaligen untern Schlofſes (in gu. 4.)
Neue unveränderte Ausgabe. Freiburg i. Br., Waugler, 1860. VII, 42 €. 8.
_ — —, Geſchichte der Stadt und Univerſität Frei
burg im Breisgau VII. u. IX. Lg. Geſchichte ber Univerſitaͤt Freiberg.
A. u. d. T.: Geſchichte der Albert-Lubwigs-Univerfität zu Freiburg im Brei
gan. I. Thl. Bon ber Kirchenreformation bis zur Aufhebung ber Sefnitem.
II. Thl. Bon ber Aufhebung ber Sefuiten bis zu Ende bes achtzehnten Iche⸗
hunderte. Breiburg, Verlag von Fr. Zav. WBangler, 1859 u. 60. VIII, 492.
Vo, 226 mit XVI ©. Regifter. 8.
Das Wert Schreiber’, welches jett vollendet vorliegt (bi® zum Ende
des 18 Jahrh.), muß als eine vortreffliche Leiftung betradytet werben.
Es ift ganz auf Driginalacten aufgebaut, reih an culturhiftorifchen und
literärgeſchichtlichen Material und dabei von einem ächt Liberalen unpar-
teiiichen Geifte durchweht. Wir betonen das Letere, weil ſich dem Ber-
faffer namentlich in der Darftellung des Verhältniſſes der Univerfität per
Öfterreichifchen Regierung, fowie zu dem Orben ver Jeſuiten und zu kirch⸗
lichen Autoritäten überhaupt wiederholt Gelegenheit zu Bezügen auf menere
Borgänge bieten Tonnte. Herr Schreiber hat aber nie den Weg ruhi⸗
ger actenmäßiger Darftellung verlaffen.
Im Jahre 1596 machten Erzberzog Ferdinand und das Orbinariat
zu Conftanz den erften Verſuch, die Jeſuiten an die Hochſchule zu brin⸗
gen. Diefe leiftete energifchen Widerſtand und wies u. a. daranf bin,
wie die Gejellihaft Jeſu ſich nicht zur Erzieherin eigne, da die von ihe
gebildeten Jünglinge ganz befonder® zum Hochmuth, Ungehorſam
Dentſche Provineialgeſchichte. Mittelrhein. 483
und zur Bosheit geneigt ſeien; von ber Art und Weiſe aber, wie bie
Säter ver Geſellſchaft collegialiſche Verhältniſſe behandelten, habe
man fich bereits zu Ingolſtadt überzeugt, wo mit ihrem Eintritt der
Friede und Cinigkeit unter den Profefjoren geftört worten jet. (S. 309
ves I. Theile.) Erft im 9. 1618 wußte Erzherzog Marimilian ten Wi-
derſtand zu brechen; aber kaum waren vie Sejuiten in vie theologifche
uud philofophifche Facultät eingedrungen, als fie (S. 410 ff.) mit immer
neuen Anfprücen und Beſchwerden auftraten, um alle Rechte der Uni⸗
verfität an ſich zu bringen. Selbſt die Noth des 30jährigen Kriegs, der
fe für ihren Theil gefchidt zu entgehen wußten, ſcheuten fie fich nicht,
za eigenem Bortheil auszubeuten. Wie jie aber die Wiſſenſchaften betrieben,
ergibt fi aus den uns faum begreiflichen ragen, melde fie bei Erthei⸗
Iang der Magiſterwürde vorzulegen pflegten (S. 421 ff.).
Intereffant ift es weiterhin zu ſehen, wie ſich vie Jeſuiten unter
Raria Therefia mit allen Mitteln der Einführung eine® befjern Lehr⸗
Hans zu wiberjegen wußten (3. Thl. ©. 9), bis envlich mit der Aufhe⸗
bung des Ordens (S. 45) die Univerjität ihre Freiheit wieder bekam.
Raſch bob ſich vor allem tie theologijche Facultät, als plöplich unter dem
Rädichlage, ver nad ten Joſephiniſchen Reformen eintrat, Ges
falle drohte, daß an tie Stelle ter Jeſuiten die Benedictiner treten möch⸗
ten. Die erfolgreiche Verwahrung, welche tie Hochſchule in rühmlicher
Einigkeit einlegte (S. 63 ff.), ift ein Actenftüd, das noch heute alle Bes
achteng verdient. Bemerkenswerth ift endlich auch die hochſinnige Hal«
tung, welche bie Univerfität in ben franzöſſſchen Revolutionskriegen be⸗
wies; ihrer Einkünfte zum großen Theil beraubt, bot fie 1793 zuletzt
wen Kirchenſchatz als freiwillige Gabe zum Kriege tar. Den Sehens
Karl ehrte fie durch Die Ernennung zum rector perpetuus.
Blläger, 3.9. 5, Geſchichte ber Stabt Pforzheim. In4-D
lieferungen. 1. n. 2. Lig. Pforzheim, Slammer, 1861. 1V, 192 ©. 8.
2. Mittelrhein.
Lehmann, 3. ©. Pfr, Urkundliche Gedichte der Burgen und
Bergſchlöſſer in den ehemal. Bauen, Graffhaften und Herr-
fGaften ber bayerifhen Pfalz Gin Beitrag zur gründl. Baterlandskunde.
5. &ie. (2. Bd. Des Epeyergaues 2. Th. S 353-444 und 3. Bb. ©. 1
N 64). Raiferslautern, Menth, 1860. gr. 8. 31
484: Weberficht ber hiſtoriſchen Literater von 1860.
Näöder, 8. W., Schulinſpeetor, Beiträge zur Orts unb Kirchen-
gefhidhte ber Gtabt Caub. Zum 300jährigen Gedächtniß ber evangel.
Kirchengeflaltung in ber Rheinpfalz und Caub a. 1560. Hanau, König,
1860. 41 ©. 8,
Archiv für heſſiſche Geſchichte und Altertiumslunde. Heraus
gegeben aus ben Schriften des Hiftorifhen Vereines für das Großherzogthum
Heffen von Dr. Ludwig Baur, Archivdirector. 9. Bd. 2. Heft. Darın
flabt, 1860. ©. 193 — 384. 8.
Die neun vormaligen Schottenfichen in Mainz u. in Oberheffen, im Zu⸗
fammenhang mit ben Edottenmiffionen in Deutſchland. Bom Pfarrer Huber
zu Darmſtadt (S. 193 — 348). — Ueber die Terminey des Kirchſpiels Win-
gershaufen vom Geometer Burk zu Butzbach. S. 349 — 384.
Sceriba, Dr. Heine. Ed., Pfr, Generalregiſter zu den Re
geſten ber bis jetzt gedruckten Urkunden zur Landet⸗ und Ortegeſchichte bes
Großherzogthume Heſſen. Darmſtadt, Jonghaue, 1860. III und 106 &. 4.
Baur, L. Dr., Archivdirector, Heſſiſche Urkunden vom Jahre
1016 — 1399. Aus dem Großherzogl. Heſſ. Haus- und Staatearchiv
zum erſten Male herausgegeben. J. Band 953 S. Darmſtadt, auf Koſten und
im Verlag des hiſtoriſchen Vereines, 1860. 8.
Diejer erfte Band der fehr verbienftlihen Sammlung, wovon im vo⸗
rigen Jahre die Schlußlieferung S. 683 — 953 erfchien, enthält 1378
bis dahin ungebrudte Diplome von Kaifern, Fürſten, freien Herrn, Rit⸗
tern, Klöftern und Privatleuten, die für die Gejchichte der Heflifchen Rande
und für die Rechtögefchichte überhaupt von höchſtem Wertbe find. Cs
ift Schade, daß ter Herausgeber eine nicht unbeträchtliche Zahl von
ganz wichtigen Urkunden in Noten nur auszugsweiſe und auch nicht in
chronologiſcher Ordnung mittheilt, wofür wir einen ftichhaltigen Grund
nicht zu erfennen vermögen. Bei einer zufälligen Bergleihung haben wir
leider wahrnehmen müſſen, daß das Orteregifter in hohem Grabe un⸗
vollftändig und ungenau ift und auf diefe Art mehr Schaven als Nupen
bringen Tann. Es ſcheinen darin alle nichtheſſiſchen Orte, welche in ben
Urkunden vorfommen, ausgelaffen zu fein. Da aber doch die Sammlung
ohne Zweifel auch der Geſchichte frankjurtifcher, kurheſſiſcher, bayriſcher,
badiſcher und naffauifcher Orte dienen ſoll und natürlicher Weife dienen
Deutſche Provinzialgeſchichte. Mittelrhein. 485
muß, jo können wir ein folhes Verfahren dem ein abfichtlicher Particu-
larismus gewiß nicht zu Grunde Tiegt, in keiner Weife billigen. F.Th.
Inscriptiones latinae provinciarum Hassiae trans
rhenarum collegit Carolus Klein. Mogontiaci. Sumptibus Henr.
Prickarts, 1858. VI, 22 ©. 4.
Zeitfhrift bes Bereins zur Erforfhung der rheinifhen
Geſchichte nud Alterthümer in Mainz. II, 1 u. 2. Mainz 1859,
Chronik der niedrigen Waflerflände des Rheins, v. J. 70 n. Chr. Geb.
bie 1858 nebſt Nachrichten über bie i. d. I. 1857-58 im Rheinbette von ber
Schweiz bis nah Holland zu Tage gelommenen Alterthämer und Merkwürbig-
keiten, insbefonbere über die damals fihhtbaren Steinpfeilerrefte der ehemaligen
ſeſten Brüde bei Mainz und bie unfern biefer Stadt im Rheinſtrom gemachten
Gutbedungen, mitgetheilt von Dr. med. Wittmann. — Antiquarifche Reifes
bemerlungen von &. F. — Nömiſche Infchriften aus Mainz nnd der Umge⸗
gend, zufamwengefiellt von Brof. Dr. 3. Beder in Frankfurt. — Ber
miſchtes. —
Karl Arnd, Landbaumfir., ber Pfahlgraben, nad den neueften For⸗
ſchungen und Entbedungen. Nebft Beiträgen zur Erforſchg. ber übrigen röm.,
wie auch der germ. Baudenkmale in der unteren Maingegend. Mit 1 Karte.
3. verm. Ausg. Frankf. a. M., Brönner, 1861. XII, 716 8.
Derſelbe, Geſchichte des Hochſtifts Fulda, von feiner Gründung
bis zur Gegenwart. 6 Hfte. 1. Heft. Fulda, Maier, 1860. 48 © 8.
Bittheilnngen an bie Mitglieder des Bereins für Ge-
ſjhichte und Altertpnmetunbe in Frankfurt a. M. I. 8b. IV. Hft.
Sranffurt, 1860. ©. 245—332, 8.
Derin: Ueber 2 nnebirte römiſche Inichriften aus Bingerbräd von Prof.
De. Beder. — Actenſtücke über ben Ueberfall von Frankfurt durch bie Yran-
ssien am 2. Jannar 1759, von Dr. W. Strider. — Zur Geſchichte ber län.
Begtei und Domprobflei-Bogtei in Sranffurt, von Dr. 2. 9. Euler. — Tie
Dinghöfe und das Weiothum bes Fronhofs zu Frankfurt, von bemfelben*). —
*) Diefe drei Meinen Beiträge von Dr. H. Euler find unter bem Titel:
Bon Bogteien und Dinghöfen (38 ©. 8.) beſonders abgebrudt
werben. Das Gchriftchen erörtert von neuem bie noch immer flxeitige
Frage ber die ehemaligen Bögte zu Frankfurt, und gibt ©. 15 — 25
As lIchrerfube ber Ycherikhen Yiiruatuz ver 1858.
Der Rah wer 53 m Fraser, ven ®. EC Priegt — Beabfifeigee Eritung
emer Unmerftät zu Zrauffurt im 14 Suichuntest, wem bemisihen — Des
iltede Sunennayier befindet ih im Kraufierore Embturdie, wem bemielben —
Yeucflüde aus tem erfien und brüten Bafe des Jenſtenate, wen Dr. Sram
Rei. — Pieinere Mittheilungen.
Reujahrsblatt, den Mitglichern tes Bereins file Geſchichee uub N
terthumetunde zu Yrauffurt a. M. bergefradt m I 13650: Der Erant-
ferter Ehronin Achilles Anuguf v. Lereuer, ven Dr. Eruarb Hey
dem, d. ; Mitglied des Borflandes des Vereins für Geſchichee uud Ylter-
thumetunde im Frauffurt Mit dem Bilbniffe Lersuere Frust a. M.
1860.
Hımel, Joh. Gg., Etadibibliothelar, Helienpemburgiige Heim-
Ehreosil, Homburg (FZranffurt «. M., Goar), 1860. VI, 226 8 Mit
8 Zei.
Unnelen des Bereins für NRaffanifhe Ultertäamelunde and
Deſchichteforſchung. V, 3. Wiesbaden, 1860. Darim:
Die Limburger Chrenil des Johannes. Nah J. Sr. Fauf's Fasti
Limpurgenses herausgegeben von Dr. Karl Roffel, Secrelär bes hiſter. Ber-
eins für Roffau. Wieebaben, 1860. XII. 119 ©. 8.
Es ift ein entſchiedenes Berrienft, das ſich der hifter. Berein für
Raffau dur eine neue Ausgabe ter befannten Limburger Chrenik erwor-
ben hat, obwohl bereits mehrere ältere Ausgaben veramsgegangen find.
Die ältefte, die I. Fr. Fauſt von Ajchaffenburg im 9. 1617 veranftaltet
bat, ift ſchon feit langer Zeit eine bibliographiſche Seltenheit gewerben,
umd daſſelbe gilt von den Druden ver Jahre 1720 und 1747, ja foger
die in unjerm Jahrhunderte veranftaltete Ausgabe C. D. Bogels (vom 9.
1826, wiederholt im J. 1828) ift höchſtens noch antiquarifch zu erreichen.
Außerdem haben, wie ter neueſte Derausgeber mit Recht hervorhebt, vie
Drude von 1720 an fih ven dem urfprünglichen Texte allzumeit entfernt
und den primitiven Charakter der Chronik in einem Grade verwifcht, daß
einen freilich micht ganz genauen Auszug aus ben Nedtsafterthämern von
Zöpfl mit dem Zugeſtändniß (S. 23), baß Zöpfl's Theorie beim Fraul⸗
furter Fronhoſe nicht zutreffe.e S. 26 — 38 folgt ein Abend bes um
1490 abgefaßten Weistyums über den Bronhof, in welchem 5.17 Zeile2
flatt chedingen thedingen d. i. teidingen zu lefen fein wird.
— sertubt See Sitertichen Literatur von 1860.
meirmizemr 2 Tun ters auf Beachtung Anipruch machen künnen.
I: ar werzre m Tee Sorsmf ven andern unterjcheitet unt worin
m mem Frumm Jun ne Die reihen Mittheilungen zur Ges
zer dr Tmeezer Isar se Mocen und ihres Wechſels, ter Art
si = : ’v Fmimumi 2 anderer Memente, die in Das Gebiet der
“os m Dre mehr Scrdiouft cimichlagen, über tie Geißel-
I. 0m Summit ser zdamt zum über auffonmmenbe bejontere
on de os )nrpeeer wopıe das im ſolcher Fülle nirgends
is 2m Sera Ir Soremf miangt, fo iſt ed Lie rein an-
eu TE. ma ind upernmes, immer aber anmuthig amd
lat una hau me ihr Selareitung ber Perjönlichkeit
Ma. os. 7 A ausmer Snswers pen Trier, ninmıt Die
Sredag SE WÄNZD Dam ut SIE. _g—
y “22 Neäisızir tes k2:: argeſchichte ber Stadt
Sim. sin Raten Saelesez DEN 24 S. 8.
Sy... Sr ır Imemczh. Urfastenbudh zur Geſchichte ber jett
Seo smart Rizengeseizie Sekionz ad Trier bildenden wittelrheinifchen
one are Rain. Sea XV är Zeiten Bis zum 3. 1169. Kchleny,
„Us A ... m. “
> ho. Jurkeramzmung, melde Hontheim's und Günther's
ad Ahr a Nutze Theis ũberflüſſig macht, untfaßt in 659
on. sd sach rm Nachtrag von 5 ferneren einen Zeitraum
se Seren Zoch es eben möglich, aus ten Originalien ge
2. 2 zeötsahar Verutzung Des bie jetzt zugänglichen Materials,
wa Uriange Bekanntes und Unbekanntes, Echtes wie
2. ren ces bei jeder einzelnen Nummer die Quelle ſelbſt
> Ro dem Ferſcher völlig anheimgeſtellt, über ihren
mie Wenn aber Der Herauogeber ſich beſtrebt, mit
ae zarte Art von Berichtigung, Erläuterung und Aue—
u. Nu arizränglicden Text auf's ſorgfältigſte wiederzugeben,
ze gem. DIV S. 442 ff.) das Feſthalten an bloßen
wog DENE die Erſchwerung eines „richtigen Verſtändniſſes“
m Keunutzer“ bereite mit Recht getatelt. Von ibm ift
zu agtuh beurtheilt. Wir beſchränken uns anf einige
u. m
u a Zubalt.
Deutſche Provinzialgeſchichte. Mittelrhein, 488
Bor Allem wichtig, obwohl verhältnigmäßig nicht gerade zahlreich,
erfcheint natürlih das jet zum erftenmale veröffentlichte Ta find es
namentlich die Abteien Prüm und S. Dlarimin, lange die hervorragend»
Ren im Trierer Sprengel, über vie wir neue Aufklärung erlangen. Die
gelvenen Bücher viejer beiden konnten vorzugsweile benutt werben,
obgleich fie — das eine im Driginal, das andere nur in (os
pieen erhalten — vornehnlih oft Anlaß zu Zweifeln an der ur
fprünglihen Echtheit geben. Außer eigentlichen Urkunden, Schenkungen
oder Beltätigungen, kommen jedoch auch einzelne ausführliche Güterver⸗
zeichniffe in Betracht, welche uns in jevem alle von Anfehen und Aus»
dehnung der Stiftungen ein dankenswerthes Bild gewähren: fo beſonders
Prüm's Berzeihnig, angeblih von 893, dann 1222 commentirt, N. 135,
und ein anderes der näntichen Abtei von 1003, Nachtrag N. 3. Haupt-
fählih aus ver Tarolingijhen Zeit werden uns mehrere wichtige bisher
ungerrudte Diplome mitgetheilt. Karl's des Großen Urkunde für Erz
Kichof Weomord von Trier, Nr. 27, benutzte Waig in der Handſchrift
bereitö in Bo. 3 der deutſchen Verfaſſungsgeſchichte S. 302. Für ©.
Maximin folgen, ebenfalls Karl zugefchrieben, Nr. 46, von Ludwig beu
Frommen Nr. 47, dann wieder Nr. 54. So überall find die genann⸗
ten Stiftungen in ven Diplomen ver nachfolgenden Könige, wie in denen
ver einheimiſchen Großen, beſonders aud der Aebte, hier zumeift berüd-
ſichtigt. Doch auch über allgemeine Verhältniſſe erhalten wir einigen
Aufſchluß. Hervorzuheben jind die höchſt interefjanten Beitimmungen des
Zrierifchen Provincial⸗Conciles v. I. 888, Nr. 127. Trier ſelbſt in
feinen mannichfaltigen Beziehungen wird erläutert. Wir nennen unter Ans
derem — was 3. B. die Stellung dieſes Erzſtiftes zur niederlothringi⸗
ſchen S. Servatind » Abtei von Maſtricht betrifft — tie Urkunde Kg.
Buentebolv’8 von 898, Nr. 144, die zwar ſchon Calmet, aber nur ſehr
mmpollftändig gibt. Auch die Karl's tes Einfältigen von 919 wird bes
richtigt, |. Nr. 160. Beide, bier zum erſtenmal zugleih mit Nr. 145
uud 161 vellitändig abgedrudt, tragen weientlih auch dazu bei, das ei-
genthümliche Verhältniß dieſer Könige zu ben eriten lothringiichen Herzo⸗
gen Reginar und Gijelbert, vie Yaienäbte in Maftriht waren, etwas
anfzuhellen. Nur hätte ſich Beyer hüten jellen, in feinen am Ente hin-
zugefügten, ganz in ter Weile Lacomblet's mit anerlennenswerthem Fleiße
verfertigten Regiftern ven Oiſelbert (j. N. 169 dux rectorque 3. Traject.
490 Ueberſicht ber hiſtoriſchen Literatur won 1860.
ecci.) als Bifchof von Maftricht aufzuführen, S. 725. Irrthümer und
Berftöße, wie ſchon Waig deren rügte, kommen in biefer Art leider dfe
ters vor.
Für die folgenden Zeiten, für bie Übrigens im Ganzen das Näm⸗
liche gilt, find hauptſächlich noch einige wichtige päpftliche Schreiben (fo
Nr. 286, 369, 460, 498—500) und manche erzbiſchöfliche Urkunden zu
beachten. —ch,
Dentwärdiger und nüßlider rheintfher Antiguarius,
welcher bie wichtigftien und angenehmften geographiſchen, hiftorifchen unb poli-
tiihen Mertwürbigfeiten bes ganzen Rheinſtroms von feinem Unsfluße in bas
Meer bis zu feinem Urfprunge darſtellt, von einem Nachforſcher im hiſtoriſchen
Dingen. Mittelrhein. 11. Abthl. 9. Bd. 5 Lieferungen. IT. Abthl. 7. Bb.
2.— 5. fg. und 8. Bb 1.—3. Lig. — 1, 9 auch unter dem Titel: Des
Rheinufer von Coblenz bis zur Nahe, Hiftorifh umb topographiſch dargeſtellt
burh Ehr. v. Stramberg. — Coblenz, R. F. Hergt, 1860. 8.
Herr von Stramberg wird nicht müde, Jahr aus Yahr ein für feinen
„Antiquarius” Material aus allen Eden und Enven zufammenzulefen ; es
gibt kein Stüd der Weltgefchichte, das, nahe oder fern, wichtig ober um-
wichtig, ficher wäre, nicht von dem „Nachforſcher“ mit dem Rheinſtrom
in Verbindung gebracht zu werden. Wenn er z. B. in einer Inſchrift
(U, 9, ©. 2) den Namen eines fpanijchen Commandanten im 30 jähri-
gen Kriege Frangipani findet, fo foricht er raſch der Geſchichte dieſes
Geſchlechtes nach, deſſen Ahnherrn er in den römischen Aniciern eutdect,
und er erzählt uns bei dieſer Gelegenheit auch die Lebensgefchichte des Phi⸗
loſophen Boethius, der ein Anicier war, ©. 13— 31. Sogar die bes
rüchtigte Theodora wird zur Anicierin gemacht. — Der Lamberger
Hof ©. 83 führt feinen Namen von einem vormaligen Vefiker, einem
Grafen von Lamberg, daher die Geſchichte dieſes urſprünglich öſterreichi⸗
ſchen Geſchlechts mit ſeinen Feldherrn, Staatsmännern und geiſtlichen
Fürſten S. 83 — 127. — Ein ähnliches fruchtbares Thema find die
Herrn von Bolanden, von Fallkenſtein u. Hohenfels — Im I. 1834
bat ein Dbrift v. Barfus die Yurg Neichenftein gelauft (S. 212), das iſt
Beranlaffung genug, um die Geſchichte dieſes Geſchlechts, deſſen berühm⸗
teſtes Glied ter churfürſtlich preußiſche Feldmarſchall Hans Albrecht vom
Barfus in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts war, einzuflechten. Die
Burg Rheinſtein (S. 256) führt zu der Geſchichte eines feiner ehemaligen
Dentſche Provinzialgefägichte. Mittelrhein. 491
Beſitzer, des Mainzer Erzbiihofs Mathias von Buche aus dem 14. Jah»
hundert. Das dankbarſte Thema aber ift der Rupertsberg S. 394
bis 711. Daß zunächſt die Legende des heiligen Rupert nicht übergangen
werben durfte, verfteht fich von felbit; es ift nur bemerkenswerth, daß
Hear von Stramberg, der ſich fonft nur um veraltete Literatur kümmert,
Gier in ver feltenen Lage tft, eine Schrift des Jahres 1858 (vom
Hofrath A. I. Weidenbach) benüten zu können, wobei er natürlich fei-
nem Öewähremann „buchſtäblich folgen” d. h. ihn ausjchreiben muß.
Die Süter des heiligen Rupert fielen feinen nächften Anverwanbten aus
dem falifchen Geſchlecht zu (S. 415); in jenen erfennt der Antiguarius
bie Ahnherrn ver Capetinger. So kommen wir denn mitten in die fran«
zöfiiche Seichichte und hören von allen möglichen Roberts. Weil aber
von Ludwigs VI. dritten Sohne dieſes Namens zufällig der Geſchicht⸗
ſchreiber des h. Ludwig, Joinville, erzählt, fo ſteht nichts im Wege,
auch von biefem ausführlich zu handeln, natürlich nicht von dem Ges
fhichtfchreiber allein, fonvern von bem ganzen Geichleht ver Soinville
(S. 448—504). — Das Klojter Hupertsberg wurde endlich un 30jäh-
jährigen Kriege auf Befehl des ſchwediſchen Generals Ramſay zerftört,
baber auf 40 ©. die Geichichte dieſes und feines Haufe und auf weis
teren 100 Seiten das Leben und die Thaten des Gegners von Ramjuy,
des Feldmarſchalls Wilhelm von Lamboy. Es iſt natürlih, daß ſich der
Antiquarius am liebften mit alten und neuen Adelsgeſchlechtern befchäftigt,
weil nad feiner Anficht noch im 16. und 17. Jahrhundert „kaum als
ein menſchliches Weſen galt, der nicht vornehm geboren" (S. 419)! —
Da der Raum uns nicht geftattet, wem »Nachforſcher“ weiter zu folgen,
fo möge das Mitgetheilte genügen, eine Methode zu charafterifiren, die in
der Mitte des 19. Iahrhunderts erfreulicher Weife vereinzelt bafteht.
K.
Görz, Adam, Regeften ber Erzbifhöäfe zu Trier von Hetti,
bis Johann IL 817 — 1503. Trier, 1861. XIV, 382. 4.
Dies: hochſt verbienitlihe Wert gibt uns ganz in ber Art ver Böh-
merſchen Kaiferregeften eine Weberficht über die Gefchichte ter Erzbiſchöfe
von Trier, wie wir jie von denen von Mainz und Köln noch immer
ſchmerzlich vermiſſen. Der Berfafier hat fich nicht mit der Ordnung und
Berarbeitung des gebrudten Materials allein begnügt, ſondern eine Menge
492 Ueberſicht ber hiſtoriſchen Literatırr von 1860.
ungedrndter Actenftäde, für das 14. und 15. Jahrhundert namentlich,
an das Licht gezogen. Auch vie Reichsgeſchichte des 15. Jahrhunderts
‚erhält dadurch mehrere ſchätzbare Bereiherumgen 3. B. für bie Hufliten-
friege, bie Theilnahme Jakob's von Sirk am den beutichen Angelegen-
heiten der 40ger und 50ger Jahre. Weniger erheblih find in dieſer
‚Beziehung die Negeften der langen Regierung Johann's I., welde faſt
nur Provinzielles enthalten, wie denn überhaupt bie eigentliche Correfpon-
benz der Erzbiichöfe fehlt und nur Urkunden gegeben werben, vermuthlich
weil jene von den Familien zurüdgefordert wurben. Indeß hätte ber
Berfaffer doch wohl gethan, einige allgemeine Bemerkungen für fpätere
Benutzer über die ardhivaliihen Schäte, aus denen er geſchöpft, voraus-
zuſchicken. Auch möchten an dem fonft gründlich gearbeiteten Werk auß-
zufeten fein die zu vielen Ergänzungen, welche bei manchen Erzbiſchöfen
des 12. und 13. Jahrhunderts faft den Umfang des Tertes ſelbſt er⸗
reihen und wohl hätten vermieden werben können, ba ber größte Theil
aus erft zu fpät benütten gebrudten Werken, wie Eberhard Windeck,
Remling, Geſchichte ver Biſchöfe von Speier xc., entnommen ift, ferner
die nicht wenigen finnentitellenven Drudfehler, weldhe zwar meift ver
zeichnet find, aber doch den blog Nachſchlagenden leicht irre führen.
H. P.
Marr, 3, Prof., Geſchichte des Erzfifte Trier b. i ber
Stabt Trier und bes Trierer Landes, als Churfürftentfum und ale Erzdideeſe,
von den älteften Zeiten bis zum Jahre 1816. 3. Bd. 2. Abthl. Euthaltend
bie Geſchichte der Abteien, Klöfer und Stifte. 1. Bb.: Die Abteien bes Be
nebictiner- und Cifterzienferorbene. Trier, Linz, 1860. X, 593 ©. 8.
Die Anficht, welche wir bei Beurtheilung ber beiden erften Bände
dieſes Wertes (Bd. I, S. 498 dieſer Zeitfchrift) ausgeſprochen haben,
finden wir durch dieſen neuen ver Geſchichte der VBenebictiner- und Ci⸗
fterzienferabteien des Erzſtiftes gewidmeten Band beftätigt. Einen me
ſentlichen Fortſchritt ter geſchichtlichen Forſchung bezeichnet auch Tas hier
Segebene nirgends. Die nur theilmeije Kenntniß oder oberflädhliche Be⸗
untung der einfchlägigen Yiteratur genügt dem immerhin beveutenven
Stoffe gegenüber keineswegs; wie in den beiten erften Bänden wirt das
Material mehr breit getreten, als bereichert over geläutert. Man ver⸗
gleihe 3. B. die Erzählung von den Händeln zwifchen Erzbifchof Al⸗
Deutfche Brovinziaigefgichte. Mittelrhein. 498.
bers mb St. Marimin ©. 106 ff. mit dem, was Fr. vorm Walde,’
de Alberone archiep. p. 32 sqq. (welhe Schrift der Verfaſſer nicht zu
keımen fcheint) über dieſen Gegenftand zufammengeftellt hat, ober ben Ab-
mitt über Regino mit dem, was Bähr und Wattenbach gegeben haben.
Große Bedenken muß die Art der Beuützung von Trithem's Schriften
erregen, bie der Berfaffer mit geringem Vorbehalte ausfchreibt. Wenn
er hiebei gegen Watt als Hauptargument für die Richtigkeit von Tri⸗
them's Titerarifchen Angaben geltend macht, daß diefer nach feiner eigenen
Aeußerung nur foldhe Schriften verzeichnet habe, die er felbft gefeben, fo
bleibt Dagegen zu erinnern, daß es ſich eben darum handelt, wie weit
jener Berfihermg Glauben zu ſchenken jei, und daß in jebem Falle
Mißverſtaͤndniße der Namen (vie falfchen Zeitangaben gefteht der Ver⸗
faffer ſelbſt zu) dadurch nicht ausgefchlofien find. Ganz haltlos ift, was
gegen Waitz' Urtheil über das Alter ter vita Agritüi und die Anfänge
ber Gesta Trevir. S. 198, 199 gejagt wird, während man gelten laſſen
faın, was ©. 195 ff. über die Anlage von Siegebert’8 Buch de scrip-
toribus ecclesise beigebracht ift. — Bei ter Flüchtigkeit, die fih an ver
ganzen Arbeit nicht verkennen läßt, fehlt e8 wieder nicht an unrichtigen
Ungaben; fo kann (S. 58) der dux Heinricus in den Urkunden K. Hein-
rich II. von 1023 nicht der luremburgifche Herzog ven Bahern fein, wie
der Berfuffer aus Gieſebrecht's Geſchichte der deutſchen Kaiferzeit, II, 587
(2. Aufl.) hätte entnehmen können; ©. 69 Anmerkung 1 fol Otto von
2. Heinrich I. „mehrere Jahre vor feiner förmlichen Erwählung im
Yahre 936“ zum Mitregenten angenommen worten fein, ©. 72 Hein«
rich 1. im Jahre 940 die Kirche zu Wienenhofen an St. Marimin über
tragen haben; vie an verjelßen Stelle angegebene Urkunde Heinrich IM,
M vom Jahre 1044, nit von 1054. Auch bat Hock längſt nachge⸗
wiefen, daß Gerbert nicht von Dtto I. (wie e8 S. 394 beißt), fondern
von Otto 11. vie Abtei Bobbio erhalten hat. — Mit gewohnter Breite
verfolgt der Verfaffer vie Gefchide der von ihn behantelten Klöfter bis
in’6 17. und 18. Jahrhundert, wo faft nur die Schilverung ber franzö⸗
ſiſchen Gewaltthaten und Ränke von allgemeinem Intereſſe ift. Berbält-
aigmäßig am Beten türfte die Gefchichte der Abtei Prüm behantelt fein.
Th. K.
Mittheilungen aus bem Gebiet ber kirchlichen Archäologie
494 Ueberſicht ber hiſtoriſches Literatur von 1860.
und Geſchichte der Diöcefe Trier von dem bifterifg-archäolegifdden Ver⸗
eine. Heft 2. Xrier, 1860.
Darin u. a.: Zur Geſchichte ber fogenannten römifhen Bäder in Trier,
von Dr. Ladner. — Archäologiſche, äſthetiſche und liturgiſche Studien vom
Baron F. de Roifiu, aus dem Brangöfiihen überfegt von Dr. Labuer. —
Einige noch nicht ebirte Imfchriften aus Pfalzel bei Trier und aus Trier ſelbſt,
von demfelben. — Suventarium über die Koftbarleiten und Reliquien bes Dom⸗
ſchatzes.
Jahreeber icht der Geſellſchaft für nügzliche Forſchnugen zu
Trier vom Jahre 1858, herausgegeben vom zeitigen Sekretär Schnee⸗
mann. Mit 2 meteorologifhen Tabellen Trier, 1859. 8.
Unter ben Auffägen und Berichten : Kloftermänzen im Sprengel ber Trier’
ſchen Erzdidzeſe, von Schneemann. — Die Minzflätten ber Trier'ſchen
Fürrbifhöfe, von demſelben. — Die Entersburg bei Bertrich, von Paſtor
DR in Demerath. — Die Grabmäler in der Kirche von Et. Wendel, von
demfelben. — Geſchichte der ehemaligen Herrſchaft und des Hochgerichtes zum
Wolmerath (Bortiegung) von demſelben. — Dritter Nachtrag zu Bohls
„Trieriſche Münzen“ von Dr. Ladner u... —
Dominieus, Al., Zur Geſchichte bes Trierifhen Erzbiſchofe
Balduin von Lükelburg. Coblenzer Gumnafialprogramm. Coblenz,
Bunt und Steinhaus, 1859. 32 ©. A.
Der Berfafler, der im einem früheren Progranım (1853) die Zus
ſtände des Erzbisthums Trier unter Balduin’ beiden Vorgängern Boe—⸗
mund von Warnesberg und Diether von Naflau dargeftellt bat, theilt
bier einen kleinen Wbjchnitt von einer umfangreichen Arbeit über Bal⸗
duin mit. Er charakterifirt mit richtigem Verſtändniß die Dauptquellen,
gibt eine fehr fleißige und ausführliche Beſchreibung des „Belduineum“
diefer reichen von dem großen Erzbifchof ſelbſt angelegten, mit prachtoollen
Gemälden geihmiüdten Urkundenſammlung im Coblenzer Archiv, gebt hier-
auf zur Erörterung „ver Wahl, der Verwandtſchafts⸗ und Bildungsver-
bältniffe Balduin's“ über, und ſchließt diefe Proben mit einem lleberblid
auf „die Thätigkeit und den Charakter des Erzbifchofs im Allgemeinen”. —
Man wird mit Freude eine Monographie begrüßen vürfen, wie fie ber
Berfafler veripriht. Bei der hoben Bereutung ter Provinzialgefchichten
im 14. Yahrhundert wird die Reichsgeſchichte nach mehr als einer Seite
einer feften Baſis entbehren, fo lange genügende Bearbeitungen ber er⸗
Deutide Provinzialgeſchichte. NRieberrhein. 495
ſteren fehlen. Was die Kritik des Herrn Verfaſſers betrifft, möchten
wir unfer Bedenken gegen das vetaillirte Ausmalen des Ganges einer
Schlacht nach poetiihen Quellen, wie es der Berfafler bei Schilverung
ver Schlacht von Woringen (1289) nah Yan van Heelu thut, nicht
unterbräden. F. W.
Mittheilungen bes Hiforifh-antiquarifhen Bereins für bie
Stäpte Saarbräüäden u. St. Johaun u. beren Umgebung. Ubthl 111,
1859: Ueber bie römifchen Rieberlaffungen und bie Römerfiraßen in ben Eaar-
gegenben von Dr. Schröter.
3. Niederrhein.
Annalen bes Hiftorifhen Bereins für ben Niederrhein,
insbefonbdere bie alte Erzdidcele Köln. Herausgegeben von dem
wißenichaftlihen Ausihuß bes Bereins. 7. u. 8. Heft, Köln, 1860. 8.
T. Set: Wegeler, das Schütenbudh ber Et. Sehafiansbruberiheaft im
der Stadt Andernach. — Biersdberg, über bie älteRen rheiniſchen Pfalz-
geafen mit Bezug anf ben Ort und bie Abtei Brauweiler. — Berriſch,
Vachrichten über bie Pfarrei Berk bei Croneuberg in der Eifel. — Nab⸗
befeld, 8 Urkunden über bie Gründuug und Dotation ber Kirchen zu Deus
eüggen, Lobiih und GBriethaufen in Cleve. — Mooren, zur Geſchichte ber
tel Ruchtkeden. — Nicolai, über bie Zeit bes zu Wachen gegen felix
von Urgel gehaltenen Concils. — Bärſch, Peregrinus Berti. — A.,
Die Ganptveränberungen bes nntern Rheinbettes , namentlich zwifchen Köln und
Zanten. — Ederk, Tagebuch bes Kölnifchen Ratheheren und Gewaltrichtere
Jean von Braderfelder. — Krebs, Beter Ulner v Gladbach — Braun,
zur VGeſchichte Schleidens. Derfelbe, das abelige Präuleinfift zu Heinsberg. —
Ennen, ber Maler Meier Wilhelm. — Literatur. Allerlei. —
8. Set: Wegeler, Diarinm bes Trier'ſchen Secretäre Peter Maier
von Regensburg über feine Ein- und Ausgaben, gehaltenen Scheffeneſſen ꝛc.
«is Scheffen und Scheffenmeiſter zu Loblenz , beginnend im Sabre 1508. Im
Uuszuge mitgetheilt. — Bergrath, Beftimmungen bes Etabtrechtes von
Cleve über Gilden, Maß und Gewicht, Fleiſchküren, Wagegeld, Grütte und
Stadtacciſen. — Bärih, Nachrichten über die Abteien Malmeby unb
Site. — Braun, Tobtenleuchter. Derſelbe, zur Geſchichte der Abtei
Greinfeld an ber Eifel. — Tintinnabula an Baldahinen. — Renmont,
Landgraf Ludwig 1. v. Heflen babet i. 3 1431 in Aachen u. Burtideid. —
DHooyer, UAblaßbrieſe f. d. Carmeliterkloſter in Cöoin. — dert, Necrolo-
B
498: Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
gium Gladbacense II et necorologium Sigebergense. — Literatur. Nilerlei
6. Bericht bes hiftorifhen Vereins für den Niederrhein. —
Duellen zur Geſchichte der Stadt Köln. 1. Bd. Herausgegeb.
von Dr. Leonard Ennen, Arhivar ber Stadt Köln und Dr. Gottfried
Eckertz, Oberlehrer 2. Mit 4 Tafeln. — Köln, 1860, Verlag der. Du⸗
Mont-Schauberg'ihen Buchhandlung. XXIX, 640 ©. 8.
Der vorliegende 1. Band einer Quellenſammlung zur Geſchichte der
Stadt Köln, auf deren hohen Werth auch für die allgemein deutſchen
Geſchichtsſtudien nicht hingewieſen zu werden braucht, zerfällt in 2 Ab⸗
theilungen. Die erfte (bi8 S. 444) umfaßt eine Reihe umfangreicher
Documente über die inneren Berbältniffe ver Stadt, vor Allem aus⸗
führliche Beitimmungen über die Berfafjung. ‘Der chronologifchen Ord⸗
nung ift bier eine Eintheilung nah Materien vorgezogen werden. Oben⸗
an ftehen vie - fogenannten Eidbücher aus ven Jahren 1921 — 1395
(S. 1-76) ; darauf folgen Rathöverzeichnifle ebenfalls aus dem 14. Ihrh.
(bis S. 84); Rathsverordnungen aus verfelben Zeit (bis ©. 138);
nene Documente über die vielbeſprochene Richerzeche (bis S. 147);
Birgerverzeihnifle (bis S. 177); Gerichte und Schreine (S. 178 bis
302), prozefiualifhe und andere rechtliche Beſtimmungen, darunter and)
das Minifterialreht; die Münzerhausgenoſſen (bis S. 316); vie
Mühlenerben (&. 328); Zünfte und Bruverfchaften (S. 329 bis
421); endlich die innern Känıpfe im 14. Jahrhundert, eine intereſſaute
faft gleichzeitige Chronit (bis 444). —
Während die in ber erften Abtheilung aufgeführten Documente bis
auf einige wenige zum erften Male zum Abdruck gekonmen find, enthäft
die 2. Abtheilung in chronologifcher Yolge 118 Actenſtücke aus ver Zeit
von 844—1200, weldhe zum großen Theile ſchon von Lacomblet, einige
aud von Andern, veröffentlicht worden waren. Es find meift kaiſerliche
und bifhöflihe Urkunden, darunter aud die in Form eines Weisthums
eingefleivete Verfaflungsurfunde von 1169, teren Echtheit neuertings jo
nachdrücklich in Zweifel gezogen worden iſt ((. unfere Zeitjchrift oben
©. 251). Es ift dies einer der wenigen Fälle, wo die Herausgeber einer
Urkunde kritijche Bemerkungen, wenn aud nur über die äußere Form
berjelben, beigefügt haben; ſonſt begnügen fie fich faft überall mit dem bloßen
Aborud der Materialien, jür beren Verſtändniß und beguemere Benutzung
Dentfche Provinzialgeſchichte. Niederrhein. 497
-(abgefehen von einem auffallend kurzen Regiſter) in Einleitungen oder
Anmerkungen nichts gefchehen if. Ten Grund (p. XXXIX.), daß
durch Erläuterungen ter an fich ſchon ftarfe Band zu umfangreich ge
worden wäre, können wir doch unmöglich gelten laffen. Oder follen wir
ans der Bemerkung, daß ein Commentar, „ver gar tief in bie Geſchichte
ver Stadt Köln eingreifen möchte,” jett um jo meniger gegeben werden
teunte, „weil die Thatjachen, tie er zu umfaſſen und an die er ji an⸗
ziiehnen bat, noch nicht vollftändig aufgeführt find“ — vielleicht bie
Hoffnung ſchöpfen, daß ein felcher Commentar jpäter geliefert werde?
Ob der Abprud, bei dein vie Crthographie beibehalten wurte, über»
all diplomatiſch genau ift, vermögen wir nicht zu enticheiten, können
aber bie Bemerkung nicht untervrüden, daß ein fo umfangreiches Druck⸗
fehlerverzeihnig, wie e8 fi hier am ES chluße fintet, einem Urkundenbuch
wicht zum Bierde gereicht. Im Uebrigen ift tie ſchöne äußere Ausftat-
img des Wertes feines reichen Inhalte würdig. Welche Fülle an Ma⸗
terialien aber vie folgenten Bände in Ausſicht ftellen, läßt fich fchen
aus der gebrängten Ueberfiht (S. XXI bis XXXIII) ter Schätze des
lölnifchen Archivs, worauf hier aufmerkjan gemacht fein möge, entnehmen.
Hoffen wir, daß der rühmliche Eifer, womit man dieſe Schäte zu heben
fecht, nie der Gründlichkeit Eintrag thun möge. K,
Schneider, Dr., Jakob, Gymnaſialoberlehrer Neue Beiträge zur
alten Geſchichte und Geographie ber Rheinlande. 1. Folge.
Düffelborf, Schaub, 1860. VII, 1208. 8.
Die Rheinlandſchaft von Nymwegen bis Xanten unter ber Herrſchaft ber
Aömer. Nah den Quellenſchriftſtellern und eigenen Localforſchungen bargeftellt.
Mit 1 fithogr. Karte in Farbendruck (in qu. gr. Fel.), enthaltend die alten Waſ⸗
ferläufe und Dimme, die Römerftraßen, Lager ꝛc. —
Kennen, Hermann, Dr., Die Stadt und Herrlidleit Ere
feld, Hiflorifch-topographifch dargeſtellt. 1. u. 2. Heft. Krefeld, Klein, 1859.
V x 106 ©. und 30 ©. als Anhang. 8.
Geſchichte der Familie Schenk von Nydeggen, insbeſondere bes
Rriegeobriften Martin Schenk von Nydeggen. Nach ardivaliihen und andern
authent. Quellen bearb. Köln und Neuß (Schwann), 1860. XL, 323 S. 8.
4. Weftphalen.
Geiberg, Joh. Suibert, Landes- und Rechtégeſchichte bes
Dißosikie Beitiaeift. V. Baur 32
498° Ueberſicht ber Hiforifchen Literatur von 1860.
Herzogtums Weſtphalen. Erſter Band, britte Mbtheilung. Gefchichte
des Landes und feiner Zuftände. I Theil (die Anfänge ber weitphälifchen Ge⸗
ſchichte bis zum Auegange der Karolinger 1—912). Arnsberg, U. 2. Ritter,
1860. XX, 358 ©. 8.
Der um die Gejchichte feiner Heimat jehr verbiente Forſcher legt
bier den erften Theil feiner lange vorbereiteten weſtphäliſchen Gefchichte
vor. Sie bildet die dritte Abtheilung des erjten Bandes, indem die frü-
ber erjchienene „viplomatijche Familiengeſchichte der alten weitphäliichen
Grafen“ fowie die „der weſtphäliſchen Dynaſten und Herrn“ als
bie beiden erften Abtheilungen des 1. Bos. der weſtphäliſchen Lan
des- und Nechtögejchichte gelten. Das Wert iſt ſichtbar mit vie
lem Fleiß und großer DBelefenheit ausgeführt. Aber ed will ums
fcheinen, al8 ob der Herr Verf. feine Grenzen hätte enger ziehen und ſich
mehr auf Weftphalen bejchränten ſollen, ftatt dag fein Buch an man-
hen Orten wie eine deutſche Verfaſſungsgeſchichte ausfieht; fo dürfte
es 3. B. nicht angemeffen jein, zum Zweck ver Schilderung der älteften
Rechtszuſtände Weſtphalens alle veutichen VBolksrechte, wie fie Namen ha⸗
ben, heranzuziehen, oder die focialen Verhältniffe der fpätern Zeit aus
Karls des Großen capitulare de villis zu folgen. Es ift nicht anders
möglih, als daß auf diefe Weife das Buch Manches enthält, was Nie
mand darin fuchen wird, und was man anderer Orten auch befier findet.
Denn es kommt hinzu, daß ver hochkejahrte Herr Berfaffer mit dem
rafhen Aufihwung der deutſchen rechtögefhichtfihen Forſchung nicht
überall Schritt halten konnte. Zwar find ihm bie neuern Arbeiten auf
biefem Gebiete nicht gerade unbefannt geblieben, aber das Wert bleibt
doch in manchen Punkten hinter der gegemwärtigen Forſchung zuräd.
So ift 3. 2. bei ten Erörterungen über die lex Saxonum Merkel's
Arbeit, vie ©. 291 freilid einmal angeführt wird, unbenutt geblieben,
eben jo bei ver Darftellung ter ſtändiſchen Verhältniſſe die umentbehrliche
Abhandlung Stobbe's. S. 295 wird die ganze Literatur der Formeln,
auch die neuefte von 1858, aufgeführt, aber Dümmler's Formelbuch des
Biſchofs Salomo von Conftanz (1857) Übergangen. — Landau ift für
Hrn. Seibert eine zu große Autorität.
Im Uebrigen enthält das Buch nicht allein vielerlei Material, fontern
erjheint auch in angenehmer Form. Die Darftellung ift im Ganzen
überſichtlich, Frijh und Tebendig, namentlich in den Partien, welche die
Dentiche Brovinzialgefhichte. Wefphalen. 499
gejellihaftlihen Zuſtände, Hauswirthſchaft, Aderbau u. |. w. mit einer
gewiſſen Borliebe behandeln. Hoffen wir, taß es dem Harn Ber.
vergönnt fein möge, mit rüftiger Kraft jein Werk durch jene Zeiten fort⸗
zuführen, vie ihm ein jehr reiches heimiſches Material, das erit durch
jeinen Fleiß der Forſchung zugänglich geworden ift, darbieten werten.
Noch möge ein jehr finmentitellenrer Trudjehler, ver den Herrn
Berf. jelbft erſt nach ver Ausgabe des Buches aufgefallen ift, berichtigt
werden. Es heißt nämlich S. 297: „Die übrigen Redtsjammlungen
Juſtinian's wurden fajt gar nicht gebraucht, bejonters weil alles kirch—
liche in ven faijerlihen Gontitutienen jeines Goter aus dieſem in ten
ven der Geiftlichkeit ſtark gebrauchten Theodoſiſchen Codex übergegangen
ft“. Es fell heißen: „daß meift alles kirchliche — des Coder in
diejen aus dem Theodoſiſchen u. |. w. K.
Duellen der weſtphäliſchen Geſchichte. Herauegegeben von Jo—
hann Euibert Seibertz, Kreisgerichtsrath ꝛc. 2. Vd. 2. und 3. Heft. ©.
161 —480. Arneberg, 9. Grote, 1860. 8.
Fortfegung der Cronica comitum et principum de Clivis et Marca,
Gelrise, Julise et Montium, necnon archiepiscoporum Coloniensium, us-
que ad annum 1392 bi ©. 253. — Geſchichte der großen Soefler Fehde
von Bartholcmäus von ter Late 1444 — 1447 Eis S. 407. — Güterver⸗
zeichniß des Kickers Telinghauſen (1280, bis S. 414. — Nachtrag zu Le-
roldi a Northoff Cronica pontificum Culoniensinm bid €. 420. — Eine
hanfeatiiche Geſandtſchaft ven Bremen nah Epanien, auf ibrer Reife durch
Veſtphalen, 1606, ven S. 421-427. — Güterverzeihniß ter Kirche zu An-
zödte, 1301 ©. 428-432. — Kurze Beſchreibung ber churfurſilich branten-
Surgüchen feindliden Belagerung der Etadt Werl im Jahre 1673. S. 433—
444. — Wirici Hiltrop catalogus abbatissarum regalis cccleriae Assindensis.
1614— 1644 bis Z. 4650. — Urlundennachleſe (1074 — 1277, —
Leidenrotb, Dr, Tas Yeben tes Piſchefſfe Meinwerk von
Bederborn bis zum Nömerzug bes Könige Heinrich's MH. im Jahre 1014.
(Gpmnafialprogramm aus Kamm. 1-60.) 8.
Der Verfjaſſer tiefer Heinen Schrift will ſewehl „das weltgeſchicht⸗
liche Bild res Lange verkannten“ Könige Heinrich II. als vie Lebenége⸗
ſchichte des Biſchofs Veinwerk von Paderborn darſtellen. Tabei ſchließt
er ſich in der Auffaſſung ſeines Steffes ter Anſicht Gieſcbrecht's am,
32*
500 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
ohne, foweit wir fehen, irgend etwas von Erheblichkeit hinzuzufügen.
Ebenſo wenig trägt die Schrift etwas zur Kenntniß der Paberborner
Bisthumsgeſchichte bei. W. i.
Fahne v. Roland, A., Friedensrichte, Die Herren und Frel-
herren von Hövel, nebſt Genealogie der Familien, aus denen ſie ihre
Frauen genommen. In 3 Bd. 1. Bd. 2 Abthlgn.: Geſchichte der verſchie⸗
denen Herren v. Hövel, u. von 100 rheinischen, weftphäfifchen, nieberländifchen
und andern hervorragenden Geſchlechtern. Kol. VIII und 320 & mit 16 Stamm⸗
tafeln in Imperialfol., eingebrudten Holzſchnitten und 8 Gteintafeln. Köln,
Heberle, 1860.
Derſelbe, Die Dynaften, Freiherrn und Grafen von Be
holz, nebft Genealogie derjenigen Yamilien, aus benen fie ihre rauen ges
nommen. Mit urlundlihen Belegen. 2. Bd. Urkundenbuch Mit Antogra⸗
phien, Siegeln, Notariats- und Papierzeihen iu Holzſchnitten und 1 Tithogr.
Taf. Köln, Heberle, 1860. 323 S. Bol.
Sobbe, Eng. v., Die Erfürmung ber Stabt Galzlotten am
22. Dez. 1833 durch die Schweden u Heffen. Eine Slizze ans bem
-BOjähr. Kriege. Aus der Zeitichr. für vaterländ. Geſchichte und Alterthums⸗
"hunde abgebr. Salzkotten, v. Sobbe, 1856. 20 ©. 8.
Cure, L., Bollsüberlieferungen aus dem Fürſtenthume
Waldeck. Märchen, Sagen, Vollsreime, Räthſel, Sprichwörter, Aberglauben,
Sitten und Gebräuche, nebſt einem Idiotikon. Arolſen, A. Speyer, 1860.
XIV, 518 S. 8,
O. Preuß und A. Falkmann, Lippiſche Regeſten. Aus gebrad-
ten und ungedruckten Quellen bearbeitet. Erſtes Heſt. Bom J. 783 bis zum
J. 1300. Mit 18 Siegelabdrücken. Lemgo und Detmold, WMeyer’iche Hof⸗
buchhandlung, 1860. X, 292 ©. 8.
Es iſt anerkennenswerth, wenn Männer, deren eigentliche Berufs⸗
thätigkeit außerhalb unſerer Wiſſenſchaft liegt, ſich um die Sammlung
und Verarbeitung hiſtoriſchen Stoffes verdient zu machen wiſſen, es iſt
doppelt anerkennenswerth, wenn ihnen dies an einem Orte gelingt, wo
wie in manchen kleinen Reſidenzen mit den gelehrten Hilfsmitteln auch
die Anregung zu wiſſenſchaftlichen Arbeiten zu fehlen pflegt. Dem vor-
Tiegenven Werte aber fieht man es nicht an, daß es anf ungünftigem
Boden erwachſen ift; es ift mit joviel Sachkenntniß, Geſchmack und
“
Dentſche Provinzialgeſchichte. Weſtphalen. 501
Sorgfalt ausgeführt, daß es Mitgliedern einer gelehrten Körperſchaft Ehre
machen köonnte.
Die obigen Regeſten dürfen mit Recht als die erſte ſichere Grund⸗
lage einer wiſſenſchaftlichen Geſchichte des Landes betrachtet werden. Zwar
fließen die heimiſchen Quellen bis gegen Ende des 13. Jahrhunderts
änferft ſpärlich, und die Forſcher find größtentheils auf die Geſchichts⸗
quellen ver benachbarten Gebiete angewiejen. Um fo vervienftlicher aber
M die Sammlung und Sichtung dieſes zerftreuten Material. Die Her-
ansgeber haben die Urkundenauszüge dur Duellenftellen zu ergänzen ge⸗
ſucht und fo gegen 500 Regeſten aufgeführt. Die Chroniken, namentlich
bie entfernteren, vürften vielleicht nicht vollftändig ausgebeutet fein; von
Urfunden aber werben jehr wenige übergangen fein. Mir ift nur aufs
gefallen, daR Fahne's Dortmunder Urkundenbuch unbenutzt geblieben,
wie dieſes bei Reg. Nr. 278 u. 342 gefchehen if. Die Urkunden Nr.
28, 40 u. 41 bei Yahne, wo ebenfalls Lippſtadt auftritt, follten in den
fippifchen Regeften nicht fehlen. — Die oft umfangreichen Erläuterungen,
welche vie Herausgeber beifügen, find forgfältig und zweckmäßig. Auch
die fleißige Zujammenftellung ver Literatur der lippiſchen Gejchichte ift
ſchr dankenswerth, wenn auch die Bemerkungen über allgemeinere mittel
alterliche Quellenwerte nicht überall mehr zutreffend ſind. — Der Fort:
fegung des Werkes dürfen wir mit um fo größerem Intereſſe entgegen:
fehen, als die archivaliſchen Quellen des 14. bis 16. Jahrhunderts eine
reichlichere Ausbeute verfprechen. Hoffen wir, daß bis dahin auch das
verwahrlofte Archiv von Lemgo, weldg einft nicht die unbeveutendfte
Stadt des hanſeatiſchen Bundes war, möge benugt werten fünmen.
Bir würden es nicht gerechtfertigt finden, wenn tie Herausgeber ter lip>
piſchen Regeften nicht alles aufböten, um ſich diefe gewiß fehr wichtige
Quelle zu öffnen. K.
Erinnerungen aus bem Leben ber Fürſtin Pauline zur
Lippe-Detmolb. Uns ben nachgelaffenen Papieren eines ehemaligen Lippi-
hen Staatsdieners. Gotha, F. U. Perthes, 1860. II, 61 ©. 8.
Wir konnten die Erinnerungen an tie Yürftin Pauline nicht lefen,
obme es auf das Lebhaftefte zu bebauern, daß eine Frau, welche an Ho⸗
beit des Geiftes und Evelmuth der Geſinnung eine Perle ihres Geſchlech⸗
tes war, während fie an Regierungsweisheit und Berufstreue als Muſter
5082 ueberſicht ber hiſtoriſchen Literatur von 1880.
unter den Fürſten leuchtete, bis heute keinen Biographen gefunden bat.
Daß es in Detmold niht an Kräften für eine ſolche Arbeit fehlt, zeigen
ichon die oben befprodyenen Regeften, und wenn man weiß, welch' innige
Berehrung noch heute, 40 Jahre nad ihrem Tode, Pauline unter dem
Bolt genießt ſo darf man auch nicht annehmen, daß Denjenigen, die am
beſten wiſſen, was die Fürſtin war und gethan, die rechte Geſinnung zu
einem ſolchen Werke fehlen könnte.
Die werthvollen Blätter der Erinnerung, welche uns vorliegen, wer⸗
den von dem Verf. ſelbſt nur als ein beſcheidener Beitrag zu dem Leben
Paulinens betrachte. Es finden ſich darin u. a. eine Reihe von Brie⸗
fen der Fürſtin, meift an ihre Freundin, die Frau ihres Kanzlers König,
gerichtet. Wir erlauben uns nur zwei für die Art der Fürftin charafteris
ſtiſche Stellen herzufegen: „Das Herz verblutet nicht, jo lange man uns
aufbörlich thätig ift, und es ift viel, unbejchreiblich viel, was der Menſch
vermag, wenn er feine Zeit vertändelt, verjpielt, verjeufzt und fich nicht
verzärtelt“. Ein andermal fagt fie (im 3. 1811): „Ich lefe mit hohem
Genuß Werke vorzügliher Schriftiteller; aber ich erlaube es mir nur,
wenn mein Tagewerk vollendet ift, und Liegt hier Matthiſon's neuefte
Liederſammlung, Göthe's eben erjchienenes Wert — dort ein Berg Cri⸗
minalacten, jo greift meine Hand mechaniſch nad) den letztern“ (S. 23).
Die ©. 28—34 mitgetheilte Auswahl von Bemerkungen Baulinens, vie
fie mit eigener Hand in die Criminalacten einzutragen pflegte, legen ein
glänzendes Zeugniß ab von ber Schärfe ihres BVerftandes, von ihrem
Gerechtigkeitsſinn und ihrer Humanität zugleich. K,
Mittheilungen db. Hifl. Vereines zu Oenabrück. 6. Br. Os⸗
nabrüd, im Eelbftverlag bes Bereins. 1860. 8.
Die Siegelbarkeit der Ritter und Echöffen in Osnabrück im 13. Jahrh.,
von Eduarb Freiheren von Schele. — Zur Gefhichte ber Bürgerfchaft von
Dsnabrüd, von Bürgermeifter Dr. Stüve. a. Die Häupter ber Bürger⸗
haft. — Feierlicher Einritt Ernft Auguft I. in das Fürſtenthum Osnabrüd
am 28. und 23. Scptember 1662. Mitgetheilt von E Freiherrn v. Schele. —
Der Handel von Osnabrüd, vom Bürgermeifter Dr. Stüve. — Ter ältefle
Graf und die älteſte Gräfin von Telfenburg, vom Auditor Möhlmann zu
Aurid. — Zur Topographie einiger Theile der alten Didcefe Osnabrüd aus
bem 9. und 12. Jahrhundert, vom Konrector Dr. Meyer. — Cine Osn«-
brüdifhe Geſchichte aus dem fiebenjährigen Kriege. Mitgetheilt v. Dr. Stü ve. —
Dentſche Provinzialgeſchichte. Nieberfachien. 503
Hiſßtoriſches Quodlibet. Vom Paſtor Gol oſchmidt. — Blankena vom Ge-
richtedirector Hoffbauer zu Herford. — Die Feſte im Kirchſpiel Buer von
Dr. Seit. Kirdipielsbeihreibungen aus ben Papieren des Bereins. — Jagd⸗
weotofoll ven 1652, mitgetheilt ven Bürgermeifler Dr. Stine. — Die
Grenzen ber bifhöflichen Jagd im ld Jahrhundert v. Conrector Dr. Meyer. —
Das Examen exemtorum, mitgetheilt von Dr. Stüve. — Miscellen von
demfelben. —
5. Riererfachfen.
Zeitfährift des Hifterifhen Bereins für Nieberfadfen.
Iahrgang 1858. Hannover, Hahn'ſche Hofbuchhandlung. 1859 und 1860.
6. 412. 8.
Im erften Doppelhefte treffen wir zunächft einen Aufjag von
Herrn von Alten über „bie Edelherren von Ridlingen” an. Die wenigen
Nachrichten, welche wir von dieſem bereits vor 1181 ausgeſtorbenen Ge:
ſchlechte haben, find jorgfältig zuſammengeſtellt une durch eine ausführ-
lihere Beſprechung von Urkunden der Wittwe des legten Edelherren er:
läntert werten. — Die folgente Abhandlung des Herrn Mooyer ın
Minden: „Beiträge zur Genealogie und Gejchichte der erlojchenen Gra⸗
fen von Sternberg‘ iſt beſonders duch tie Mittheilung von 32, bisher
noch ungedrudten Urkunden wichtig. Einige Bemerkungen des Verfaſſers
und des Ardivars Falkmann im Detmold dienen weſentlich zur
Erlãuterung jener Urkunden und zur Berichtigung eines andern Aufſatzes
ven Mocyer über denjelben Gegenſtand in den 9. Bande in der Zeit-
ichrift für Gejchichte Weſtphalens. — Hierauf find, als Nachtrag zun Calen-
berger Urkundenbuche, 16 bisher noch ungedruckte Borfinghänfer Urkunten
nach den Originalen mitgetheilt. — Alsdann folgen 4 ſehr interejlante
Urkunden, welche von Herrn von Hammerftein bier zuerjt veröffentlicht
find. Sie betreffen eine etwa von 1362 -— 1369 zwiſchen ben Herzögen
von Medienburg und Yüneburg geführte Fehde und geben uns ein an»
ſchauliches Bild von ter Art der damaligen Kriegsführung. — Auch
ver folgente Aufjag vom Archivſecretär Grotefenp „Beiträge zur Ges
fchichte ver hannover'ſchen Klöſter der ehemaligen Mainzer Diözeſe“ ver-
dient beſonders durch tie bier zum erften Male witgetheilten Urkunden
unfere Aufmerkſamkeit. Wir erjehen u. a. aus demſelben, daß einige Ans
gaben Letzner's über vie Genealogie ter Grafen von Pleße nicht jo un-
504 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur ven 1860.
bedingt zu verwerfen find, wie man bisher bei der bekannten Yabeliucht
befielden annahm. — Bon den übrigen Abhandlungen viejes Heftes
mag nur nod die nad Documenten des Töniglihen Archives zu Han⸗
nover über „pas Herzogthum Lüneburg in ven Jahren 1626 und 1627”
von Dr. Klopp, genannt werben.
Das zweite Doppelbheft dieſes Yahrganges wird zum größten
Theile durch eine hiftorifch-topographifche Beichreibung des Amtes Rauen-
ftein, vom verftorbenen Dr. Rudorff ausgefüllt. Wenn wir auch von
unferm heutigen Standpunkte aus, namentlih an dem rechtshiſtoriſchen
Theile diefer Abhandlung, welche im Jahre 1846 von dem hiftorifchen
Bereine für Niederfachfen mit einem Preife gefrönt wurbe, mandherlei
auszufegen haben, fo können wir doch dem großen Fleiße und dem um
Allgemeinen gelungenen Berfuche, die Topographie einer Gegend mit ih⸗
rer Geſchichte zu verbinden unfere Anerkennung nicht verfagen. — Im
dem folgenden Aufjate „über vie älteſten das Klofter Marienrode bes
treffenden Nachrichten” fucht Here von Alten, durch einen etwas ſehr ge-
fünftelten, wenn aud fcharffinnigen Beweis, nachzuweifen, daß jenes
Klofter am 16. Januar 1196 geftiftet und am 16. September 1200
eingeweiht fei. — Bon ven übrigen kleinern Mittheilungen dieſes Heftes
verdient beſonders ber, ven einem Zeitgenoflen verfaßte „wahrbafte und
eigentliche Bericht von der Schlaht vor Sievershauſen“ (S. 407—412)
eine Erwähnung. U.
Zeitfhrift des Hiforifhen Bereines für Niederſachſen.
Jahrgang 1859. Hannover, 1860. 8.
Die erfte Abhandlung dieſes Jahrganges „über eine Notiz des
Chronicon pieturatum des Botho, die Stadt Hannover betreffend, mit bes
fonderer Beziehung auf die Grafen von Schwalenberg“, wäre, wenigſtens
ben: größten Theile nach, beſſer ungefchrieben geblieben. Der Berfafler
berfelben, Herr von Alten, bält nämlich jene Notiz, obgleih er jelbft
nachmweift, daß fie im Allgemeinen unrichtig ſei, und insbeſondere bie
chronologiſche Einordnung derſelben, für fo wichtig, daß er ihr eine64 Sei⸗
ten lange Beiprehung widmet, fchlieglih aber zu dem Refultate kommt,
Botho müſſe an jener Stelle zuerft die Grafen von Baumrode (Wunftorf) mit
denen von Schwalenberg verwechſelt haben. Biel näher liegt es in ber
That, tie Angabe des Chroniften für ebenjo unfinnig zu halten, als es
Deutiche Provinzialgeſchichte. Nieberfachfen. 505
bie gleich darauf folgende über die Kriege ver Dänenkönige ohne Zweifel
RM. Wenn Herr von Alten als Quelle für leßtere Helm. I, 84 annimmt
(& 8), fo ift e8 wahrlich unbegreiflih, wie er S. 2 „von einer mehr
und mehr anerkannten Sorgfalt“ des Botho im Verwenden „älterer Nach⸗
richten“ fprechen konnte. Dahingegen find vie beiläufig gegebenen Unter⸗
fechungen über die Geichichte und Genealogie der Grafen von Schwa⸗
lenberg mit Scharffinn und Oründlichkeit ausgeführt worden. — Ge⸗
Kägt auf 6 mitgetheilte Urkunden hat hierauf ver Archivfecretär Grote
fend einen wejentlihen Nachtrag zu einem Aufſatze Mooyer's in ven
Mittbeilungen für Geſchichte und Alterthumskunde der Oftjeeprovinzen
9, 1 ff., über den Biſchof Dietrih von Wirland, geliefert. — Herr
Dr. Klopp bat fodann einen „Auszug aus einem Briefe eines höhern
Officiers der däniſchen Garnifon in Wolfenbüttel v. 26. September 1626”,
fowie Herr Dr. Conze „Hausſprüche aus Celle, Reime und Stadtfagen“
mitgetheilt. Hieran fliegt ſich eine mehr ftatiftiiche, als hiſtoriſche Ab-
handlung des Herrn Ringflib „vie Zunahme der Bevölkerung ver Stadt
Hannover.” — Es folgt ein Aufjag des Archivjecretär Grotefend „über
die Entwidelung ver Stadt Hannover bis zum Jahre 1369.” Derfelbe
ſollte urjprünglich nur als Vortrag bei Gelegenheit ter 25jährigen Stif-
tungsfeier des hifterijchen Vereines für Niederjachten benupt werben, und
ans dieſem Grunde darf man feine eingehenve Schilderung von der
Entwidelung der Stadt erwarten. ‘Da wir jedoch feine Geſchichte Han⸗
nover8 haben, jo wird uns jenes, im gebrängter Kürze und in großen
Zügen entworfene Bild auch in willenjchaftlicher Hinficht willlommen
fein müſſen. — Der Kürze wegen mögen bier, mit Uebergehung ver an⸗
dern nur nody drei Mittheilungen biejes Heftes erwähnt werten, nämlich:
Ueber den aus Hannover gebürtigen Tejeler Biſchof Ludolf Grove, (dom
Amtsrichter Fiedeler), ſodann: Zwei Actenftüde über tie Einführung ver
Sefniten in Stade und Goslar im Jahre 1630, mitgetheilt von Dr. Klopp,
and endlich ein Heiner Aufſatz des Herren von Hammerftein „zur Crläus
terung ver Theilungsurktunven ver Söhne Heinrich des Löwen.“ U.
Beiträge zur Gefhihte des Braunfhmweig - Lüneburgifhen
HSanfes und Hofes. Bon E. E. Malortie, königl. hannov. Oberhofmar-
Kalle. Erſtes Heft 151 ©. Zweites Heft 188 S. Hannover 1860, Hahn'ſche
Hofbuchhandlung. 8.
Wir erhalten in ven beiden vorliegenden Heften, denen noch mehrere
Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860. -
: Abhandlungen der hiſtoriſchen Entwidelung der Hofverhältuiffe an ſich
gen follen, vor Allem eine Reihe von Schilderungen ans ber braun⸗
weigslüneburgijchen Hofgeichicdhte, namentlich von Hoffeften des 18. Jahr⸗
inderts. Der Verf. hat viejelben „zum größten Theile aus bisher nicht
ir die Oeffentlichkeit benugten Quellen entlehnt.“ Außer einer bis im
‚a8 Heinfte Detail gehenden Beichreibung tes Geremoniell®, die, obwohl
ihr eine Abjpiegelung der Zeit und daher ein hiftorijcher Werth nicht ab⸗
zujprechen ift, durch ihre ftete Wiederkehr oft ermübet, wird uns gelegent-
lich auch mancher Beitrag geboten, ver für weitere Kreije Intereile haben
wird. Hiervon heben wir bejonders hervor, was Heft 1, ©. 45 über ven
Tod der Kurfürftin Sophie, 1, 129 über den Herrenhäufer Vertrag vom
Jahre 1725, ferner 2, 61 über vie Königin Karoline Mathilde von Dä⸗
nemark und 2, 142 über die Göhrde und das Treffen, welches dvaſelbft
im Jahre 1813 ftattfand, geiagt ift. In den Anlagen zum zweiten Heft
ift ©. 182 ein plattveutjches Gebicht aus dem Anfange des 18. Jahr⸗
hunderts abgebrudt, das einige Beachtung verdienen möchte. U.
Neigebauer, 3. F., Eleonore d'Olbreuſe, die Stammutter ber
Königshäufer von England, Hannover und Preußen. Ermittlungen zur Ge⸗
fchichte ihrer Heirath mit dem Herzoge von Braunfchmeig-Celle unb ber bama-
figen Zeit mit befonberer Beziehung auf Ebenbürtigfeitsheirathen. Braunſchweig,
Eduard Yeibrod 1859. IV, 220 © 8,
Herzog Georg Wilhelm von Braunfchweig-?iinekurg » Celle, verhei:
rathete ſich 1665 mit Eleonore d'Olbreuſe, der Tochter eines Schloß⸗
herrn in Poiten, die er am oraniſchen Hofe zu Breda fennen lernte.
Ihre Tochter Eophie Dorothea wurde vie Gemahlin des fpätern engli-
hen Könige George, des Sohnes ven Herzog Ernft Auguft von
Braunſchweig. —
Zur Geſchichte des Königreicht Hannover von 1832—1860
von Dr. Tppermann. 1. Bd. 1832— 1848. Leipzig, Otto Wigand,
1860. 8 XVI und 395 ©.
Ueber das, was mir von dieſem Buche erwarten Dürfen, äußert
fi) ver Verfaſſer jehr zutreffend in dem Vorworte, indem er fagt, „er
biete mur einen rohen Bau, von theilweije unbehauenen Baufteinen, höchſt
ungleihmäfig ausgeführt.“ In ver That ift ver im reicher Menge ges
gebene Stoff höchſt ungleihmäßig verarbeitet, denn während wir einige,
Deutihe Provinzialgefchichte. Niederfachten. 507
allerdings wenige Partieen bed Buches, fo befonvers die Über vie Protes
Ratio ber Göttinger Sieben und die darauf folgende Aufregung in ber
Mujenitant (S. 137 ff) ſowohl der Form, als dem Inhalte nach als
ſehr gelungen bezeichnen müſſen, finden wir an vielen anderen Stellen
faft nur in loſer, hronologifher Aufeinanverfolge, eine große Anhäufung
von Nachrichten über vie verfchiedenartigften Sachen und Angelegenheiten,
faft ohne jede lleberarbeitung (f. beſonders SS. 2411, 269, 273), fo daß das
ganze Bud) vielfach ven Eindruck macht, als ſei e8 überhaupt auf eine
nur flüchtig überarbeitete, aber chronologiſch geordnete Materialienfammlung
abgejehen. Hiezu würde dann auch jehr wohl paſſen, daß mehrere
Angelegenheiten gar nicht befprochen werten, ſondern anftatt deſſen ein»
fa auf eine gebrudte Abhandlung, ſei es im hannover’ihen Portfolio,
oder anderswo vermwiejen wird. Aber jelbft der loſe Zufammenhang des
Baches ift nicht felten noch dadurch unterbrochen worden, daß, um Raum
zu erjparen, noch während des Drudes weſentlich gefürzt mwurte Im
dieſer Beziehung iſt es beſonders zu beffagen, daß auf ©. 213 eine
ansführlichere Geichichte der Wahlen zu den Kammern von 1838—1840,
De im Manufcripte völlig ausgearbeitet war, weggelaſſen ift, denn auch
bie daſelbſt als Anhang zur Anlage XXI verfprodhenen Notizen find auf
S. 283 nicht anzutreffen. Freilich mochte die Rückſicht auf ven Druck
ven Berfaffer wohl zu manchen Abkürzungen bewegen, vie ihm ſelbſt
leid waren; denn ohnehin mögen fich jeinem Werke, bei ven Regierungs⸗
principien, welche jet in Hannover befolgt werden, wohl mancdherlei
Schwierigkeiten entgegengeftellt haben.
Doch genug Aber vie Schattenjeiten dieſes Buches, das man doch
im Allgemeinen nicht ohne Intereffe leien, aus dem man aber beſonders
fehr viele Kenntniffe über die neuere hannoveriſche Geſchichte ſchöpfen kann.
Kein anderes Buch liefert uns eine ſolche Fülle von gut geertnetem und
gefichtetem Materiale, als gerade tiefes. Namentlich vertienen die Des
richte über die ftäntiichen Verhandlungen, welche meiftene nach den Acten⸗
ſtücken der Stänteverlanmlung, tie einzufehen ter Verfafler früher als
Deputirter Gelegenheit hatte, zujanmengeftellt find, wiele Beachtung; denn
erft aus diefen Berichten erhalten wir, weil bisher nur die amtlichen Bes
fanntmahımgen vorlagen, über viejelben eine jichere Kunde. Ueberhaupt
hat Herr Dr. Oppermann manches biäher unbekannte Material benutzen
nnd dadurch nicht wenig zur fefteren Begründung der neueren deutſchen Ges
508 . Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
ſchichte beitragen Können. Auch in viefer Beziehung muß das, was über
bie Proteftation der Göttinger Sieben gejagt wird, hervorgehoben wer⸗
den. Ferner ift es dem Verfaſſer gelungen, ſich in ben Beſitz wichtiger,
bisher unbelannter Actenftüde zu fegen, wodurch das wenig ehrenhafte
und zweideutige Verhalten des Dr. Lang, dem von allen leitenden Per⸗
fönlichfeiten der verſchiedenen politifhen Parteien auh am meiften Auf⸗
merfjamfeit gewidmet ift, entjchleiert vor unfere Augen gelegt wird
(j. SS. 22, 192, 374). Anerfennenswertb ift es endlich auch, daß
der Berfaffer bei feiner Darftelung im Allgemeinen eine große Objecti«
vität bewahrt. — Bon den als „Beilagen“ angehängten 20 Acten⸗
ſtücken machen wir beſonders auf den, an biefem Orte jebenfalls fehr
bequemen Abbrud des Staatögrundgefeßes von 1833 aufmerkſam. U.
Urtundenbub des hiſtoriſchen Bereins für Niederſachſen.
Heft V.: Urkundenbuch der Stadt Hannover bis zum Jahre 1369. Han-
nover, Hahn'ſche Hofbuchhanblung 1860. VII u. 531 ©. 8. j
Wahrhaft erfreulich ift es eine Urkundenſammlung zu erhalten, welche
fo wie die vorliegende ihren Zwed erfüllt. Die Herausgeber, Dr. Grote
fend und Amterichter Fiedeler, bieten uns in berjelben nicht allein eime
große Vollſtändigleit des urkundlichen Materiales für bie ältefte Gefchichte
der Stadt Hannover, fondern haben dieſes auch in einer fo ſehr zwed-
mäßigen Weife edirt, indem z. DB. die großen Anfangsbudjftaben, fowie
bie Interpunkttongzeichen nad unferer heutigen, nicht nach dem Gebrauche
der Ausftellungszeit der Urkunden, geſetzt wurden, daß dadurch die Be
nützung biejes, für das nörbliche Deutichland jehr wichtigen Urkundenbu⸗
ches ungemein erleichtert ift. Auch in den den Urkunden beigefügten Roten
fcheint und gerade das richtige Maß innegehalten zu fein. Große Sorg⸗
falt ift auf die Anfertigung des Perfonen- und Ortsregifters, fowie auf
den beigegebenen „Plan von Hannover un Jahre 1369“, der unter Mit-
wirfung des Hofbaumeiſters Vogel ausgearbeitet ift, verwandt morben;
dahingegen könnte das Sachregiſter, wenn ein ſolches überhaupt gegeben
werden ſollte, wohl vollſtändiger ſein. Bei der Bearbeitung wurde natür⸗
lich vor allen Dingen das Archiv der Stadt Hannover ſelbſt, welches
anch reiche Ausbeute gab, benutzt, daneben aber auch das königliche und
mehrere kleinere Archive Nicht ſehr berückſichtigt wurde das „Hannöveri⸗
ſche Stadtrecht“, welches im vaterländiſchen Archive des hiſtoriſchen Ver⸗
Dentſche Provinzialgeſchichte. Rieberfachfen. 609
eins für Niederſachſen, Jahrgang 1844, ©. 177558, abgebrudt ift,
indem bie darin enthaltenen Urkunden nad beſſeren Abjchriften oder ven
Driginalen mitgetheilt wurben, und das urkundliche Material, was wir
ſonſt daſelbſt noch antreffen, fich nicht zur Publication in dieſem Urkun⸗
denbuche eignete. Hoffentlich erhalten wir bald ven den Herausgebern des
letzteren eine neue Ausgabe des intereflanten Copialbuches, das für das
bannover'fche Stadtrecht angelegt wurde, denn bie oben angeführte Ausgabe
läßt recht viel zu wünſchen übrig, — Der Zeitpunkt mit dem bie vor⸗
fiegenve erfte Abtbeilung des Urkundenbuches ver Stadt Hannover fchließt,
ergab ſich aus dem Umſtande, daß im Jahre 1369 das altlüneburgijche
Regentenhaus ausjtarb, ein Ereigniß, das in feinen Folgen für vie wei
tere Entwidelung der Stadt von großer Bedeutung war. U,
Grotefend, ©. 8%, Dr, Ardivfecretir, Die Entwidelung der
Stadt Hannover bis zum Jahre 1369. Hannover, 1860. 16 5. 8.
Kit 1 Rpfe.
Schnell, Dr. 5, Das Muſeum für Kunf und Wiſſenſchaft in
Hannover. Nah authentiihen Quellen. Hannover, Klindworth's Berlag,
1860. 66 ©. Fol.
Zur Erinnerung an G. ©. F. Hoppenftedt, kdnigl. hannoverſchen
Geh. Kabinetsrath, und fein Verhältniß zur Univerfität Göttingen.
Ein Beitrag zur Geſchichte des hannoverſchen Landes und des beutfchen Uni⸗
verfitätsweiene. Göttingen, Dieterih’ihe Buchhandlung, 1858. IV, 518. 8.
Es ſei uns geftattet, noch nachträglich auf ein Schriftchen aufmerk⸗
ſam zu machen, das in den beiden früheren Jahresüberjichten mit Unrecht
Übergangen worden ift; denn wer wie Hoppenftebt, deſſen Andenken dieſe
Blätter gewidmet find, von andern Berbienften um fein engeres Vater⸗
land abgejehen, die Angelegenheiten einer unjerer erjten Hochichulen in
fegwieriger Zeit 21 Jahre hindurch mit fo viel Liebe und Umficht lei⸗
tete und dabei überall als ein Dann von beveutenver Begabung und
@elfter Geſinnung erjcheint, verdient wohl in weiteren Kreiſen gekannt zu
fein. Die anziehente Lebensſkizze ift von einem Mitglieve ver Univer-
ftät (dem Bernehmen nah R. Wagener), das Jahre lang mit Hoppen⸗
Rebt in regſtem Verkehr geftanten, mit einer Pietät gejchrieben, die ben
Untor wie den Derewigten gleihmäßig ehrt. Ueber ven äußerlich wich-
tigſten Vorgang an der Göttinger Univerfitit während der Amtsdauer
619 ueberſicht ber hiſtoriſchen Literatur vom 1860.
Hoppenſtedt's, die Abſetzung der 7 Profefloren, erhalten wir feine neuen
Aufſchlüſſe. Der Berf. erwähnt blos, daß Hoppenſtedt fih auf alle
Weile, aber vergebend bemüht habe, jenes für ihn fo betrübende eig
niß zu verbüten. K.
Sappe, Heine. Phil., Befhreibung ber Münzen von Goslar.
Mit I Kpfrtaf. Dresden. Berlin, Mittler u. Sohn, 1860. XII, 1378. 8.
Archiv für Geſchichte und Berfaffung bes Fürſtenthumse Lü-
neburg. Unter Mitwirkung ©. Erc. des Hrn. Landihafts »- Dir. v. Hoden⸗
berg herag. von Syndicus E. 2. v. Lenthe. 8. Bd. Celle, Kapanır - Kar-
Iowa, 1860. Xu, 694 ©. 8.
Grundzüge der Geſchichte des Landes unb der Landwirth⸗
[haft des Herzogthums Braunfhweig. Bou Dr. J. L. U. Wedekind.
Braunſchweig, 1858. 8.
Sad, C. W., Negifrater, Geſchichte der Schulen zu Braun
ſchweig von ihrer Entfiefung an und die Verhältniffe ber Etabt in verfdie-
denen Jahrhunderten. In 2 Abtheilungen. — 1. Abtheilung X. u. d. T.
Geſchichte der Schulen zu Braunſchweig von ihrer Entfiehung an bie zur Re-
formation und die PVerhältniffe der Stadt im Jahre 1414. Braunfchweig.
Schwetihle und Eohn, 1861. XI, 1746. 8.
Der Aufftand der Stadt Braunfhweig am 6. u 7. Eeptem
ber 1830 und der bevorfiebeube Anfall bes Herzogthums
Braunfhweig an Hannover, Ürgänzungscapitel. Leipzig, Otto Wi⸗
gand, 1860. 16 ©. 8. |
Heifter, Karl v., Nachrichten über GBottfried Chrifloph
Beireis, Brof. zu Helmftebt von 1729 — 1809. Mit lith. Illuſtrat. im
Tondrud. V und 376 ©. mit 2 ESteintgfeln. Berlin, Nicolai’6 Berlag. 8.
Rofe, Ludwig W., Lehrer, Bremiſche Geſchichte für das Bolt.
4 Hefte VI und 376 S. Balett und Comp. Bremen, 1860. 8.
Merzdorf, 3 8. 8. Th, Dr, Bibliothefar, Oldenburg's Münzen
und Medaillen auf Grund der Münzfammlung Er Tl. Hoheit des Groß-
berzoge von Oldenburg hiftorifch-Fritifch befchrieben. Oldenburg, G. Stalling. VI,
140 @. 8.
Sanburgifhe Chroniken. Für ben Berein für hamburgiſche Ge-
Ichichte herausg. von Dr. J. M. Lappenberg. 2. Heft. Hamburg, 1860: 8.
Deniſche Provinzialgeſchichte. Niederfachfen. sit
Hamburg - Holfleinifhe Reimchronik vom Jahre 1119 — 1231. Kurze
Yamıburgiiche Reimchronik vom Jahre 801 bis zum Tode Graf Adolph's IV.
von Holkein. — Hamburgifhe Jahrbücher vom Jahre 1457 fir bie Jahre
1888 bis 1413. — Ein kort Uttod der Wendeſchen Chronicon. — Ham
bergiſche Jahrbüucher von 1531 bis 1554. — Des Bürgermeifters M.
Heder's Hamburger Chronik von 1534 bis 1553. — Des Bürgermeiftere
9. Langed Bericht Aber ben Aufftanb zu Hamburg vom Jahre 1488. —
Röpe, Georg Reinhard, Dr., Lehrer, Johann Meldior Goeze.
Eine Rettung. Mit lithogt. Porträten und Bacfim. XVI und 280 S. Ham-
burg, Nolte und Köhler. 8.
Jahrbücher für die Landeskunde der Herzogthümer Shie®
wig Holſtein und Lauenburg, herausgegeben von der &. 9. L. Geſell⸗
ſchaft für vaterländiſche Geſchichte, redigirt von Th. Lehmann u. Dr. Han
beimann. 2. Bb. 3. Het. 3. Bd. 1. und 2. Heft. Kiel, ablademiſche
Buchhandlung, 1859 und 1860. S 317 —459 und S. 1— 344. 8.
HM, 3: Kier, Anfichten über den Entwidiungegang ber innern Berfaffung
bes Herzogthums Schleswig mit beſonderer Berüdfichtigung des Amtes Ha»
bereieben. 1. S. 317 — 360. — Milde, die Kirchen der Herzogthümer Hol⸗
fein und Lauenburg in kunſtgeſchichtlicher Hinficht unterfuht II. Propſtei Ee⸗
geberg. ©. 369 — 377. — Kleine Mittheilungen.
" II, Inn 2: Brindmann, Wiebe Peters, ein berächtigter Randesfeinb
feines Baterlandes Tithmarfhen S. 1—15. — Ravit, die Auslegung bes
Amtes Segeberg im Jahre 1665. ©. 16 — 36. — Brindmann, Bruch
eines eidesftattlihen Gelöbniſſes der Befferung, vom Nathe zu Heiligenhafen im
Sabre 1591 mit dem Tode beſtraft. S. 57 bis 41. — KRolfter, bie
Abſter Dithmarſchens. S. 42 — 47 — Reicthe, die Erbauung eines Hoch⸗
gerichts zu Pölitz 1875. ©. 78 bis 2. — Nitzjſch, die Geſchichte der Dit-
marfiihen Geſchlechterverfaſſung. S. 83 bie 150 — Die Berbinbung ber
deuifchen Herzegthümer und das Eiderdänenthum. S. 151 bis 161. — Weber
einige alte Spiele und ihre urſprüngliche Vedeutung S. 162 bis 176. —
Friedlieb, Entgegnung auf die Bemerkungen bes Paſtor Dörk- Hanfen.
©. 177 bie 203. — Peterſen, die Pierbefüpfe auf ten YBauernhäufern,
beſonders in Norddeutſchland. S. 208 bis 273. — Kleine Mittheilungen. —
Baterlänbifhes Archiv für das Herzogthum Lauenburg
Unter Mitwirkung landeskundiger Männer berausg. tom Aubiteur und Ge⸗
richtehalter Sachau. 2. Bb. 3 Hefte Ratzeburg, Linfen, 1859 u. 1860.
446 8.
612 Ueberfiht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Darin: Moraht, bie Infdgriften auf den Abendmahlskelchen ber Kirche zu
Pölten. S. 47. — Unterthänige Beantwortung ber von löniglicher Kammer
in dem Schreiben an die hiefige königliche Regierung vom 7. März 1777 vor⸗
gelegte Frage, bie Beichaffenheit der Bauergüter im Amte Ratzeburg betreffend.
S. 48 bis 90. — Lauenburgifhe Briefe. S. 67 — 77 — Lange, bat
Landzollweien im Herzogthum Lauenburg. ©. 78 — 9. — Brindmans,
Beraubung bamburgifher Kaufleute auf Lübel- Hamburger Gebiet durch eimen
Lauenburger Landſaſſen. 16. Jahrhundert S. I6 — 102. — 9. Wernſtedt,
die Brocekftatiftil des Amtes Steinhorft. S. 103 — 106. — Meyer, Grtract
aus den Procefacten, betreffend bie Lebhnseigeufhaft ber Bauervogtshöfe im
Amte Lauenburg und bie bamit verbundene Grblichleit bes Bauern⸗
vogteibienftes, aus den 3. 1737 — 47. ©. 109 — 70. — Adler, einige
Gutachten früherer Amtsabvocaten über Meyerrechteverhäftnifie &. 171 — 9.
— Brintmaun, Großvogt und Amtmann Eggert von Bibow zu Lauen⸗
burg, vor dem faif. Kammergerichte im Streit mit Herzog Franz dem Jüu-
gern wegen Freilaſſung ans der Berftridung. &. 200 — 217. — v. Lang.»
rehr, der Tauenburgifhe Grund und Boden, ein Theil bes norbbeutichen Tiefe
landes. ©. 218 — 381. — Berdemeyer, Geihichte bes Gutes Turew.
©. 385 - 424.
Maad, Dr. v., in Kiel, Das urgeſchichtliche [hleswig-holkei-
nifhe Land. Gin Beitrag zur biftoriihen Geographie (Abdrud ans der
BZeitichrift für allgemeine Erdkunde). Mit einer Karte. Berlin, 1860. 59 ©. 8.
Chronik der Univerfität zu Kiel. Kiel, alab. Vuchhandl, 1859.
1166 4.
Zeitſchrift bes Vereins für Lübeckiſche Geſchichte m. Alter⸗
thumsekunde. Het 3. ©. 265 — 416. Lulbeck, 1860. 8.
Die flaatebürgerlihe Etellung ber Hanbmwerkfercorporationen im Luberh,
vom Staatsarhivar Wehrmann. — Aus den Aufzeichnungen bes Tühedi-
(hen Bürgermeift Heine. Brokes (Fortfetzung) v. Oberappellrath Dr. Bauli —
Caſpar Holfte, Prebiger an St. Betri, vom Oberlehrr Eartori —
Die ehemalige Sängerfapelle in ber Marienkirche, von Etaatsardivar Wehr-
mannn. — Die Bäder zu Lübeck in den Hungerjahren 1545 — 1547, mit-
geteilt von Oberappellrath Dr. Bauli. — Miscellen (ältere Etrafertenntniffe
"aus dem nicht mehr vorhandenen lıber judicii, mitgetheilt von demſelben. —
Ein Recept aus dem 13. Jahrhundert, mitgetheilt von Etaatsardivar Wehr-
mann. — Zwei Reifepälle aus bem 15. Jahrhundert von bemfelben.) —
Deutfhe Provinzialgeſchichte. Niederfachfen. - 513
Heibuifcher Gteinbau bei Blaufenfee, von Paſtor C. Klug. — Gefcichte
bes Bereins während der Jahre 1855 — 1859. —
Frensdorff, F. Dr. jur. PBrivatbocent. Die Stadt- und Geridte
Berfaffungkübed’s im12.u. 13. Jahrhundert. Lübeck 1861. &.207 8.
Dadurch dag Herzog Heinrih von Sachſen ſich vom Grafen Adolf
von Schauenburg vie Stapt Lübeck abtreten ließ (5. 9), trat dieſe aus
dem Srafichaftsrerbande heraus; die Bürger bejuchten von num an ihre
beionveren, auf dem Marktplatz abgehaltenen brei ungebotenen Dinge (S.
24), in welchen ein vom Herzog, jpäter, jeit 1181, vom König ernannter
Bogt den Borjig führte, der auch jenjt vorgeſetzter Beamter der Stadt
war (S. 20 u. 21). Im ungebetnen Ding mußte erjcheinen „omnis qui
possessor est proprii caumalis‘‘, d. 5. wer eignen Hauch, eignes Feuer,
eignen Haushalt hat, nicht blos „Hausbeſitzer“, wie S. 85 angegeben ift.
(Richtiger legt e8 der Verf. auch jelbft S. 83 u. 199 aus.) Der Verf. geht
(5.22) von ver für feine ganze Darftellung felgereihen Vorausſetzung aus,
daß es zu Pübel eine Ccheitung in höhere und niedere Gerichtöbarfeit
nicht gegeben habe, indem ter Bauermeiſter nad Erhebung zur Stadt
verihwunten fei (S. 20). Im Gerichte eines und deſſelben Vogts ſei
aljo über hohe und geringe Sachen geurtheilt werten. Unſerer Anficht
nach wäre größeres Gewicht auf vie Frage zu legen gewelen, wer befugt
war Urtbeil zu ſprechen. Daß ver Bogt für ji allein dieß nicht konnte,
ergibt fid) aus ben allgemeinen beutjchen Proceßgrundſätzen, und wird auch
vom Berf. S. 175 eingeräumt, obwehl er einmal ©. 82 meint, ter Vogt
babe Strafen an Peib und Peben zu „verbängen” gehabt. Ter Vogt
mußte aljo vie Urtheile von Andern finden laſſen. Tem Berf. ericheint
es nın S. 174 wahrſcheinlich, daß es zu Lübeck ſtändige Urtheilfinver,
Schöffen, nie gegeben habe, jentern daß ter Vogt irgend einen der am
Seriht (zufällig oder entboten?) anweſenden Bürger babe auffordern
können, ein Urtheil zu finden. Allein hierbei find wichtige und wejentliche
Fragen offen gelajlen. Wenn von einem Einzelnen ein Urtheil gefunden,
d. h. in Borjchlag gebracht ift, und die Öegenpartei dieſem widerjpricht
und ein anderes fintet, jo muß doch über dieſe Vorſchläge abgeurtheilt
werden; es muß Jemand da jein, dem die Folge, Die BVulbort zukommt,
da das Urtheilſchelten und Ziehen an den Rath erſt nachher eintreten
Inn. Gerade hierin zeigt ſich, daß wenn es wirklich keine ſtändigen Ur⸗
Sißeriſqhe Zeitſchrift V. Band. 33
514 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
theiler gegeben haben follte, ein Unterſchied zwifchen höheren und nieveren
Gerichten gewejen fein muß, und zu erfteren gewiß Gegenwart der gans
zen Volksverſammlung gehörte. Die S. 83 angezogene Stelle ver Sta-
tuten fpricht nicht dagegen, da fie fih bei Beziehung des „‚tantum‘‘“ auf
das Vorausgehende, dahin verftehen läßt, daß Über die drei genannten
Sachen nirgends anders, als im Echtending geurtheilt werden dürfe, fo
daß ein mehreres nicht ausgefchleffen iſt. Dies ift um fo mehr anzuneh-
men, wenn, wie der Berf. ©. 82 und 93 angibt, der Rath über Blut
nicht zu richten hatte, feine Befugnig vielmehr auch fpäterhin noch in ber
Hauptſache nur dahin ging, die Uebertreter der von ihm ausgehenten
polizeilichen Satzungen mit Geldſtrafen zu belegen (S. 42, 126, 167 u.
168). Uns will e8 jo fcheinen, als wenn das „richte“, welches der Vogt
mit 2 Rathmannen abhielt (S. 88 u. 173), eben nur ein Niedergericht
gewejen fei, mit dem Recht über Schuld und Schaden zu fpredyen, und
daß daher auch nur im dieſen geringen Sachen eine Appellation an ven
Kath (S. 176) zuläßig war. Damit flimmt, dag nad einer Notiz Bei
Maurer, Geſch. d. deutſch. Gerichtsverfahrens ©. 351, noch im 9. 1537
zu Lübel in Criminalſachen ver ganze Umftand, aljo die Volksverſamm⸗
lung, urtheilte, deren Berufung bei jeder geringen Klagſache dagegen nicht
üblih und nöthig geweſen fein wird. Es zeigt ſich hieran, daß bie von dem
Berfafier beobachtete Beſchränkung feiner Unterfuchungen auf bie Zeit vor
dem 14. Jahrh. mande Nachtheile mit fi führt, indem vie fpäteren
Zuftänte die ältere Verfaſſung Kar werden erfennen laſſen. Bei ver
Wichtigkeit, welche bie Verfaſſungsgeſchichte Lübecks hat, fteht zu wün«
ihen, daß der Verfaſſer feine Forſchungen bald weiter führe; vie ſchon
an dieſer Erjtlingsarbeit in allen übrigen Beziehungen bethätigte mufter»
hafte Sorgfalt und Umſicht läßt auf durchaus gediegene Ergebniſſe
hoffen. F. Th.
Dittmer, ©. W., Genealogifhe und biographiſche Nach—
richten über Lübeckiſche Familien aus älterer Zeit. Lubeck, 1859.
IV, 1126© 8.
Derfelbe, Der Lübeckiſche Bifhof Burchard von Serten und
feine Zeit, vom Jahre 1276 bis 1317. Ein Beitrag zur lübeckiſchen Staats⸗
und Kirchengeſchichte. Lübeck, 1860. VIN, 42 6 8.
Derfelbe, Die Lübeckiſchen Familien Greverabe und Warne-
Deniſche Provinzialgeſchichte. Niederſachſen. 515
Bäte im 16. Jahrhunderte. Gin Beitrag zur Culturgefchichte biefer Zeit.
bed, 1859. 24 ©. 8.
Dettmer, C. Dr., PBrofeffor, Guſtav Evers. Eine Lebensffizze. Lübed,
1859 , v. Robten. 20 8. 8.
Carl Georg Eurtius, Syndicus der freien und Hanfefabt
Läbed. Darſtellung feines Lebeus und Wirkens von Dr. W. Pleſſing. Lübed
1860, Berlag von Friedr. Asichenfeldt. 78 ©. 8.
Darftellungen, wie fie die hier genannte Schrift enthält, dürften am
wenigften in dieſer Ueberficht ver neuern hiftorijchen Literatur übergangen
werden. Veranlaßt zunächſt durch mehr perjünliche Beziehungen, durch
Anhänglichleit und Pietät von Angehörigen oder Freunden, haben fie body
gigleih eine unzweifelhafte Wichtigkeit für die Zeitgeſchichte. In allen
Theilen Deutſchlands, aber vorzugsweife allerdings in den freien Städten,
ft e8 Männern von einfacher bürgerlicher Herkunft und Stellung oftmals
vergönut, einen bedeutenden Einfluß auf die öffentlichen Verhältniſſe, bald
der engeren Heimath, bald des deutſchen Baterlandes überhaupt auszu«
üben; fie find zu bejonderer Bedeutung gelangt in jenen Jahren ver Um⸗
geftaltung Deutſchlands, auf die fih fortwährend unjere Aufmerkſamkeit
mit erhöhter Theilnahme hinwenvet, während deren Zeitgenoffen und Theil⸗
nehmer immer mehr aus unjerer Mitte icheiden; fie ericheinen nun als
Borbilder in Geſinnung und That, denen ein jüngeres Geſchlecht nachzu⸗
trachten bat. Zu dieſen Männern gehört auch ver 1857 in dem hoben
Alter von 87 Jahren verftorbene Lübecker Syndicus Curtius, deſſen Ans
denken dieje Schritt von einem nahen Verwandten gewidmet ift, während
die nächſten Angehörigen, die drei lebenven Söhne, freilich wohl Einzelnes
beigefteuert,, doch felbft das Leben des Baters zu fchreiben, aus beſchei⸗
dener Zurücdhaltung nit auf fich genommen haben. In mancher Ber
ziehung hat man dies vielleicht zu bedauern. Es wäre wohl zu erwarten
geweſen, daß fie ausjlihrlicher, eingehenter die Aufgabe behanvelt hätten,
als es bier gejchehen iſt, wo manche Seite des inhaltreihen Lebens doch
fürzer berührt und namentlich von einer wichtigen Quelle für folde Bio»
grapbien, ven Briefen des Verftorbenen, wenig Gebrauch gemacht it. Es
wird wohl auf umfangreiche Correſpondenzen mit anderen Lübecker Staats⸗
männern und mit dem bekannten ausgezeichneten Bremer VBürgermeifter
Smidt aus den Jahren 1813 ff., „welche über den Gang ter bamaligen
33*
516 Ueberficht der Hiftorifchen Literatur bon 1860.
Verhandlungen intereffante Aufjhlüfle geben,” Bezug genommen (5. 48
vgl. S. 50), allein leider feine nähere Mittheilung darans gemacht, nur
einzelnes nıehr Allgemeine aus Briefen angeführt. Ueberhaupt ift das
öffentliche Leben von Curtius nur kürzer gejchildert, mehr das pri⸗
vate und geiftige. Derjelbe hat von feinen Jenaer Univerfitätsjah-
ren her einen regen Antheil an allen literarijchen Angelegenheiten Deutſch⸗
lands genommen, hat ſelbſt der Mufe ver Poeſie mandye Stunde gewinmet,
daneben ver Kunft vielfaches Intereffe gezeigt, doch liegt feine Bedeutung
wefentlih auf anderen ©ebieten. Seine Sorge für Schul» und Unter
richtsweſen, für kirchliche Intereſſen, für Beſſerung ver Yuftiz, überhaupt
für alle gemeinnütigen Angelegenheiten, fichern ihm ein dauerndes Anden»
fen in ver Baterftabt; weiteren Kreiſen aber wird das Bild bes ein-
fachen, feften, gefinnungsvollen, patriotiihen Mannes ein erfreuliche und
werthes fein, wie biefe Schrift bei aller Kürze e8 anjchaulich zeichnet, fo
daß e8 auch denen lieb wird, die ben Berftorbenen, wie e8 bei mir ber
Ball, nicht perſönlich gefannt haben. G. W.
Jahrbücher und Jahresbericht des Bereins für Medlen-
burgifhe Gefhihte und Alterthumskunde, heransgegeben von
CH. ©. F. Lifh und W. ©. Beyer, Selretären bes Bereine. XXV. Jahr
gang 1860. 8.
A. Jahrbücher für Geſchichte. — Geſchichtliche Nachrichten aus dem Kfofter
Wienhauſen über das medienburgifhe Fürſtenhaus, I— VI, von Dr. Liſch —
Das Klofter Wienhaufen von demſelben — Eliſabeth von Wenden, Tochter
Borwin's I, von demſelben. — Nechtild von Lüneburg, Gemahlin Heinrich's I,
von Celle, von demſelben. — Margaretha von Lüneburg, Gemahlin Hein»
rich's II. von Mecklenburg⸗ Etargard, von bemfelben. — Jutta von Hope,
Gemahlin Zohann’s IV. von Medienburg- Schwerin, von bemielben. — Helena
von Rügen, Gemahlin Johann's III. von Medienburg, von demſelben. —
Ueber das Begräbnig Nikolaus des Kindes von Roftod, von bemielben. —
Ueber die Nahlommen bes Fürſten Pribielam von Reichenberg, von bem-
felben. — Ueber das mecklenburgiſche Wappen und befondere über ben flar-
gard. Arm, von demſelben — Die Befigungen ber Grafen von Schwerin am
linlen Elbufer und ber Urfprung der Grafen, vom Staatsminifter a. D. Frhr.
von Hammerftein zu Berdben. — Die Bewidmung bes Kloſters Reinbek,
von Dr. Lifh. — Urkundenſammlung von bemfelben. —
B. Jahrbücher für Alterthumskunde. — I Zur Alterchumstunde im
engeren Sinn. 1. VBordriftlihe Zeit. a. Zeit ber Hünengräber. b. Zeit ber
Dentſche Provinzialgeſchichte. Niederſachſen. 517
kegelgräber. Ueber die ehernen Wagenbecken ber Broncezeit, von Dr. Lifch
(Machtrãge). — Ueber das Kegelgrab von Petersberg, von Paſtor Maſch zu
Demern. — c. Zeit ber Wendengräber. Ueber den Wendenkirchhof zu Wo-
nit, von Dr. Liſch. — II. Zur Ortokunde. — I. Zur Baukunde:
Ueber die Burg und bas Land Grotebant, von Dr. Liſch. — Ueber die Kirche
zu Frauenmark, von demfelben. — Ueber bie Kirhe zu Luborf, von dem⸗
felben. — IV. Zur Wappenfunde. Ueber die Wappen bes Geſchlechtes von
Kuuth,, von demſelben. — V. Zur Gefchlechtertunde. Leber das Gefchlecht
von Koppelow, von bemjelben. — VI. Zur Minzlunde —
Wigger, Dr, Medienburgifhe Annalen bis zum $. 1066
Eine chronologiſch georbnete Duellenfammlung mit Anmerkungen und Abhand-
Imgen. Schwerin, 1860. 148 6. 4
Eine verdienftlihe Ouellenfammlung, die Auszüge aus Geſchicht⸗
jhreibern und Urkunden enthält, und fid) nicht allein über Mecklenburg,
fondern über das Gebiet ver Wenten an der Oſtſee überhaupt verkreitet.
In der Quellenkritik verzichtet der Verfaſſer darauf, eigenthümliche Nach⸗
richten zu geben, und bezieht ſich auf die Einleitungen in den Mon. Germ.
kistor. und auf L. Gieſebrecht's Wendiſche Geſchichten. Andere Aus-
führungen bieten, trotz einer nicht ſehr ſcharfen Kritik, manches Neue
and Intereſſante in Auffaſſung und Forſchung dar.
Schrödern, M. Dietrihd, Kurze Befhreibung der Stadt
unb Herrihaft Wismar. 2. Aufl. 8 Lig. ©. 545 — 619. Wismar,
Gunbladh, 1860. 8.
Liſch, G. C. F., Archivr, Urkundliche Geſchichte des Ge
ſchlechtes von Oerzen. 2. Thl.: Vom Jahre 1400 bis zu ben Jahren
1600 und 1700. Mit 2 Steindrucktafeln. 3 Tab. in Imperialfolio. Schwe⸗
rin, Stiller in Comm. 1860. XV, 814 © 8.
Sanfen, ©. 8, Der Sylter - Friefe. Gecſchichtliche Notizen,
chrouologiſch geordnet und benütst zu Schilderungen ber Eitten, Rechte, Kimpfe
und Leiden, Niederlagen und Erhebungen bes Sylter Boll in dem 17. und
18. Jahrhundert. Kiel, Homan, 1860. 236 ©. 8.
6. Brandenburg. Pommern, Preußen.
Märtiihe Forſchungen, herausgegeben von bem Vereine für Ge-
ſchichte der Marl Brandenburg. Bd. Vi. Yahrg. 1858. Berlin. 8.
Das Ciſterzienſer Monchslloſter Himmelpforte von Kirchner. — Ter
518 Ueberfiht der biftorifhen Literatur von 1800.
Ausgang des asfanifhen Haufe in der Marl, von F Boigt. — Beiträge
zur Glockenkunde ber Mittelmart, von Leop. Frhr. vo. Ledebur. — Ginige
Bemerkungen über bie Wiebervereinigung ber Neumarl mit ber Marl Bram
benburg, von %. Voigt. — Die Hiftorifhe Windmühle bei Eantfouci, Bruch⸗
ſtück von einem Hiftorifhen Werke über Sansfouci von 2. Schneider. —
Ueber den Krankheitszuſtand bes Kurfürſten Sriebrih II. und feine Riederle
gung der furf Würde, von A. F. Riedel.
*
Zwölfter Jahresbericht des altmärkiſchen Bereins fr va⸗
terländifhe Geſchichte und Induſtrie; Abtheilung für Geſchichte.
Herausgeg. von Th Fr. Zehlin, Vereinsielretär. Salzwedel, 1859.
Darin: Altmärkifhe Sagen und Gewohnheiten, von Danneil uud Krä-
ger. — Altmärkiſche Stodeninfhriften, von Bartid. — Die Wülſten ber
Altmark (Bortjegung) von Danneil. — Siegeltafeln mit Erläuterungen von
Wiggert.
Riedel's Codex diplomaticus Brandenburgensis Samm⸗
fung der Urkunten, Chronifen und fonftigen Gefchichtsquellen für bie Gefchichte
der Mark Brandenburg und ihrer Regenten. Fortgeſetzt auf Beranlaflung des
Bereines für Gefchichte ber Mark Brandenburg. Des erften Hanpttheiles oder
der Urkundenfammlung für die Orts- und fpezielle Landesgeſchichte 19. Band,
504 S. Des britten Haupttbeiles ober ber Sammlung für allgemeine Landes
und kurfürftlide Haus. Angelegenheiten. 2. Br. Berlin, &. Reimer, 1860.
514 ©. 4.
Der 19. Bd. der erften Abtheilung nimmt dadurch ein großes In-
tereffe in Bezug auf die Spectalgejchichte für fi in Anſpruch, daß ver-
felbe eine Fortjegung der Documente enthält, welche die Neumark betreffen.
Die arhivaliihen Nachrichten für dieſen Theil der Markt waren bisher
jo außerordentlich ſpärlich zu öffentlicher Kenntniß gelangt, daß ein gewiſſes
unbeimliche® Dunfel über dieſe Provinz verbreitet war, das nun durch
dieſe Mittheilungen wenigftens theilweije erhellt wird. In den fünf Ab⸗
theilungen: 8. Küftrin, Bärwalde, Zellin und Quartſchen, 9. Zehen,
Mohrin uud Schönflichs, 10. Drogen, Reppen und Zielenzig, 11. Kö-
nigsberg, 12. Marienwalde find nicht weniger als 712 Urkunden zujam-
mengetragen, die mit verhältnigmäßig wenigen Ausnahmen hier zum er:
ftenmale abgebrudt find. Namentlih hat das reichhaltige Königsberger
St adtarchiv zahlreiche Driginale dargeboten, wie auch das 1553 ange⸗
fertigte Marienwalder Copialbuch den Verf. in den Stand ſetzte, einen
Deutihe Browinzialgefchichte. Preußen. 519
danlesswertben Nachtrag zu ben im 18. Bande gelieferten Documenten
zu geben (nicht weniger ale 85 an der Zahl). Bon allgemeineren Iu«
tereſſe find beſonders die Schenkungen, weldhe der Biſchof von Pebus und
die Herzoge von Bommern und Polen ven Tempelberren machten, Güter,
welche nad Aufhebung dieſes Ordens auf die Johanniter übergingen.
Richt minder wichtig find auch die Urkunden, welche ſich auf die Lieber»
tragung der Neumark an den Kurfürften Friedrich 11. beziehen.
Der erite Band der vritten Abtheilung des Riedel'ſchen Cover ums
faßte die Zeit bi8 zu dem Tode Kurfürft Friedrich's II. Der vorliegende
zweite Band enthält zunächſt eine Nachleſe dazu, aus 48 Documenten
beſtehend. Dann folgen 205 Documente, der Zeit des Kurfürften Al⸗
breit, und 91, der Zeit des Kurfürften Johann Cicero angehörend; den
Schluß machen zwei reichhaltige Lehnsregiiter aus ven Jahren 1499
—1536. Haft jämmtlihe Urkunden find den Copialbuche des kurmär⸗
kiſchen Lehnsarchives und ven f. Hausardive entnommen und bier zum
erfienmale veröffentlicht. Sie bringen des Neuen nicht wenig; zunächſt
einen reihen Beitrag zur ulturgeichichte jener Zeit, von dem das Cin-
zelne hier nicht erwähnt werden kann. — Für die Perfönlichkeit Albrecht's
ift ein Schreiben deilelben an feinen Sohn Johann, damals Statthalter
in ver Markt, worin er deſſen Fehler hart rügt, bemerfenswerth (224);
pie Sorge für feine Wittme (244), ſowie mande humoriftiiche Stellen
in feinen Briefen (132) zeugen für fein inniges Familienleben. —
In Bezug auf das innere Staatsleben ift die wichtige Dispositio
Achillea vom Jahre 1473 jowie bie kaiſerliche Beftätigung verfelben
(Nr. 73, 96) hervorzuheben, die dem grauen Klofter in Berlin zur Auf⸗
Bewahrung übergeben wurde (79), und die die marfgräflichen Bejigungen
vor Zerjplitterung bewahrt hat. Bon der Einführung neuer Zollabgaben
und der Bierziefe jprechen mehrere lirkfunden (72, 74, 75, 87, 265).
Neue Beitimmungen über den Schwanenerden geben Nr. 247, 248, 272,
340; von ber Beiekung des Reichskammergerichts handeln Nr. 294,
295, 296 2c. Ebenjo find ausführliche Berichte über den Tod und bie
Beftattung des Kurfürften Albrecht mitgetheilt (Nr. 251, 253, 254). —
Die äußern ftaatlihen Beziehungen der Mark drehten ſich in dieſem Zeit
raum um die Bonmeriche und Crofjeniche Frage. Pommerns Streben
ing dahin, fich der Lehnsherrſchaft Brandenburg's zu entlebigen, und dies
Streben, trotz mancher Niederlagen mit der größten Beharrlichkeit feitgehal-
520 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
ten, brachte den erwünſchten Erfolg. Kurfürft Johann begnägte ſich mit
dent, von den pommer’jchen Ständen verbürgten Verſprechen, daß nad
dem Auöfterben des pommer’schen Herzoghanjes das Land an Branten-
burg fallen folte. Eine ganze Reihe von Urkunden betreffen dieſe An-
gelegenheit, die natürlich erft in Yolge von langen Verhandlungen zum
Abſchluß kam. — Droyfen hat bereit8 nachgewieſen, daß nicht, wie ge
wöhnlich erzählt wird, Kurfürft Albrecht feine Tochter Barbara dem
Könige Wladislam von Böhmen zur Gemahlin antrug, um ihr das Erbe
ihres erften Gemahls, des Herzogs Heinrih XI. von Glogau zu fichern,
fonvdern daß der König um ihre Hand warb. In Nr. 159 finden wir
ben Hergang diefer Werbung von Albrecht felber erzählt. Ungeachtet ver
feterlihen Verkündigung biejer Verlobung, und ungeachtet fih Barbara
feitvem als Königin von Böhme betrachtete, erfolgte doch das Beilager
nicht, und Hans v. Sagan ſowie König Mathias von Ungarn vertrieben
fe aus ihrem Erbe, jo daß fie fih mit Croſſen zc. begnügen mußte.
Riedel theilt über diefe Angelegenheiten etwa 40 Urkunden niit, von denen
die unter Nr. 331 und 342 bejonderd die Aufmerkjamteit auf fich ziehen,
da fie einen Blick in die Verhandlungen thun laſſen, welche zu Ende des
15. Jahrhunderts in Rom ſelber mit dem Papfte geführt wurden, und
welche auch Droyſen unbelaunt gewejen zu fein fcheinen. F. V.
AltertHämer undb Kunftdentmale des Erlaudten Hanfes
Hohenzollern. Hersg. von Rudolf Frhrn. v. Stilffried. Bd. II, Heft 1
(des ganzen Werkes Heft 7). Berlin, Verlag von Ernft und Kern, 1861.
Enthält Schriftliche Mittheilungen fiber Eitel Friedrich IT., Grafen von So-
benzollern, und Magbalena von Brandenburg, über ein Bildniß des Hochmei⸗
ſters Albrecht, Diarkgrafen von Brandenburg, und über bie Herzogin Urfula
von Münfterberg, Tochter bes Markgrafen Albrecht Achilles; dazu verfchiebene
Abbildungen, mworunter auch das Grabmal Könige Ruprecht und feiner Gemah⸗
fin Eliſabeth.
Fidicin, E., Stabt-Arhivar, Die Territorien ber Marl Bran-
benburg oder Geſchichte der einzelnen Kreife, Städte, Rittergüter, Etiftungen
und Dörfer in berfelben, als Kortfegung d. Landbuchs Kaifer Karls IV. 3. Bb.
Berlin, Suttentag, 1860. 4.
Inhalt: Der Kreis Weft-Havelland. — Der Kreis Ofl-Havelland. — Der
Kreis Zauche. Mit 2 (hromolith.) Karten in Fol. u. gr. Bol. XL, 228 ©.
Balter, A., Paſtor, Genealogifhe Geſchichte bes GSeſchlechte
Deniſche Provinzialgeſchichte. Preußen. b21
d. Jeetze. Ans urkmidlichen Onellen bearbeitet. Magbeburg, E. Banſch jun.,
1860. VIII, 138 ©. 8
Ein ſchätzenswerther Beitrag zur Familiengeſchichte altmärkiicher Ge
ſchlechter. Nach einer kurzen hiftorifchen Ueberfiht ver Güter, welche ver
Familie zugehörten, find die nachweisbaren Mitgliever verjelben fett
dem Jahre 1279 aufgeführt: Am meiften unter ihnen tritt Joachim
Chriſtoph hervor, der wegen feiner ausgezeichneten Verdienſte in ver
Schlacht bei Keſſelsdorf zum preufiichen Generalfeldmarſchall ernannt
wurde und in hohem Alter 1752 ftarb. F. V.
Lehmann, R., Paſtor, Kurfürfin Elifaberh die Belennerin
und ihre beiden Söhne, oder wie die Reformation in ber Marl Bran-
denburg zur Geltung gekommen if. Cine Geſchichte aus unferm lieben K3-
zigehaufe (Abdr. aus Traugott's Kalender ) Neu-Ruppin. Berlin, W. Echultze,
1860. 276. 8.
j Baſſewitz, , Die Kurmark Brandenburg im Aufammenbange
mit den Scidfalen bes Gefammtftaats Preußen während ber Jahre 1809 und
1810. Herantgegekeu von Karl von Reinhard. Leipzig, 5. A. Brochaus.
1860, XL, 7596 8
Die erfte Abtheilung des vorliegenten Werkes, die im Jahre 1847
erihien, ftellte vie Kurmark Brantenburg unmittelbar vor dem Aus⸗
bruche des Krieges von 1806 tar. Die zweite Abtheilung (in zwei
Bänten 1851 und 1852) ſchilderte ihre Verhältniſſe während jenes uns
heilvollen Krieges und ter Zeit unmittelbar nad) demſelben bie zu Ende
des Jahres 1808. Tie gegenwärtige dritte Abtheilung führt dieſe Arbeit
bis zum Schluffe des Jahres 1810 weiter, geht aber bei einzelnen Me»
menten noch über tiefe Zeit hinaus. Zur Grundlage ſeines Werfes be
nutste der Verfaſſer öffentlihe Blätter und Schriften jener Zeit, und
(bon damals an der Spitze der Verwaltung in ter Mark konnte er aus
feinen eigenen Erfahrungen fowie aus ten vorhandenen Acten eine reiche
Ausbente hinzufügen, wie es wohl kaum irgend einem antern möglich ge
weien wäre. Grinnert zwar oft die Darjtellungsweije an vie Abfaflung
amtlicher Berichte, und ift fie auch nicht frei ven Breite und Wiederho⸗
fung — was aud ter Abriß feines Lebens, ter dieſem Bande voranges
ſchidt ift, zugiebt —, je Tiefert doch die Arbeit ein ſchätzenswerthes Ma⸗
terial für die Geſchichte des preußiſchen Staates in jenem merkwürdigen
Beitraum feiner Erniedrigung und Regeneration.
b22 Ueberfiht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Sn 10 Abſchnitte hat der Berfafler feine Arbeit zerlegt. Die ſta⸗
tiftiichen Angaben in dem erjten find ſchon anderwärts mitgetheilt, und
die hiſtoriſche Ueberficht der europäiſchen Staaten in dem zweiten bringt
nichts Neues; nur da, mo er die Rückkehr des Königs nad feiner Haupt-
ftadt zu Ende des Jahres 1809 erzählt (S. 79 ff.), die neue Einrich-
tung des Hofitantes, die Krankheit, den Tod und die Beijegung ber Kö⸗
nigin Luiſe im Jahre 1810 ruft der Berfafler die alten frendigen wie
wehmüthigen Erinnerungen an jene bewegten Zeiten durch feine einfache
und fpecielle Darftellung wieder wach. Der 7. Abjchnitt (Polizei), der
9. (Zuftiz) und ver 10. (Gewerbe und Handel) berüdfichtigen ins»
bejondere die Rurmarl, fie haben aber vielfady auch ein allgemeineres In⸗
tereffe 3. B die Anorbnung der Continentaljperre (S. 648), die Unter
nehmungen des Majors von Schill und des Herzogs von Braunfchweig-
Dels im Jahre 1809 (461 ff.) ꝛc. AS ver eigentlihe Kern der Ar
beit find aber die 5 Abjchnitte zu betrachten, welche von der Organifas
tion der Behörden und des Heeres fowie von ber finanziellen age nicht
nur ber Provinz Brandenburg, fondern aud des preußifchen Staates
überhaupt handeln; fie liefern wem Gejchichtichreiber dieſer Zeit ein un-
entbehrliches und reiches Material.
Am ausführliften find vie finanziellen Verhältniſſe behan⸗
belt ; e8 find ihnen der 4. 5. und 6. Abſchnitt gewidmet. Und aller
dings hatten fie gerade in jener Zeit eine fo auferorventlihe Wichtig.
feit, daß der gänzliche Zerfall des Staates unvermeidlich zu fein jchien,
als ihrer Ordnung fi riefenhafte Schwierigkeiten entgegenftelltn. Es
ſollte nicht nur eine Kriegsftener von 120 Millionen Franken an Na—
poleon gezahlt werben — 70 Millionen ſogleich, 50 Millionen binnen
Jahresfriſt —, fondern es waren außerdem 10000 Franzojen in den
rei Oderfeſtungen Glogau, Küften und Stettin zu unterhalten und die
Durchmärſche fremder Truppen auf ſechs Heerftraßen zu tragen; außer:
dem brüdte die alte Schuld von 25 Millionen Thalern, und das hart er-
Ihöpfte Land ſchien ohne ftaatlihe Beihülſe nicht wieder aufathmen zu
können. Es gebridht hier an Raum, den Mittheilungen zu folgen, wie
man fi aus diejen Verlegenheiten retten wollte. Durch Aufhebung ver
älteren Geſetze, namentlid) des von 1713 über die Unveräußerlichleit ver
Domänen gewann man zwar die Mittel, 70 Millionen ter Kriegsftener
in Domänen » Pfandbriefen zu decken (S. 364), zur Abtragung ver üb⸗
Deutfhe Provinzialgeſchichte. Preußen. 528
rigen 50 Millionen wollte jedoch weder die Prämienanleihe (S. 351),
sch die Silber xc. Steuer (©. 354), noch vie in Holland eröffnete
Anleihe (S. 381), noch endlich Die freiwillige Zwangsanleihe (S. 396)
ausreichen. Während zu Ente Noveanber 1809 vie Schuld gänzlich ges
tilgt fein follte, veftirten in Mai 1810, mit Einfluß der aufgelaufenen
Zinfen, nod etwa 14 Millionen (S. 401). Napoleon drohte mit Eres
cution und zog bereitS Truppen zu dieſem Zwecke zufanımen, jo daß ver
damalige Yinanzminifter v. Altenftein dem Könige als einzige Nettung
anempfahl, einen Theil von Schlefien abzutreten. Da endlid wurde am
4. Juni 1810 der Minifter v. Harvenberg zum Staatskanzler ernannt;
mit dem Beginn feiner Verwaltung kam neue Ordnung und neues Peben
in bieje troftlofen Zuftänte. Wie da die endliche Abwidlung diejer ſchwie⸗
rigen Verhältniſſe erfolgte, auf durchaus andere Weile als gewöhnlich
dargeſtellt wird, muß man in dem Buche felber nadhlefen. F. V.
Boigt, F., Brof., Geſchichte bes brandenburgiſch⸗preußiſchen
Staates. Berlin, Ferdinand Dümmler's Verlagebuchhandlung. 1860. X,
663 S. 8.
Der Verfaſſer hat die Aufgabe, welche er ſich geſtellt, nämlich „die
bedeutenden Ergebniſſe, welche das Quellenſtudium ver vaterländiſchen Ge—
ſchichte in neuerer Zeit zu Tage gefördert hat, zuſammenzuſtellen und ſo
die äußere und innere Entwicklung des Staates in einfacher Sprache
vorzuführen,“ durchaus gelöſt. Man erhält eine klare, anſchauliche Ueber:
ſicht über die Geſchichte des Landes bis auf unſere Zeiten, nicht bloß der
Kegenien, da ver Verfaſſer mit Recht eine bloß biographiſche Verherrli⸗
chung der Fürſten, wie ſie in den neuerdings erſchienenen preußiſchen Ge⸗
ſchichten, z. B. ver von L. Hahn, für vie letztvergangene Zeit namentlich
unangenehm hervortritt, vermieden hat und fi bemüht in periodiſchen
Rückblicken die Qulturentwidelung tes Yandes darzulegen. Daß der Ber-
fafler ſich nicht bloß begnügt hat, andere Werke zu verarbeiten, zeigt
wie auch ſchon anderweitig anerkannt iſt, die beſonders gelungene Ges
fhichte ter Zeit von 1640 — 1770. Die Ueberſichten der Geſchichte
fpäter binzugefommener Pantestheile liegen fi, namentlic für vie zulegt
binzugelonmenen, wohl etwas abkürzen; ter Verfaſſer darf doch voraus
fegen, daß feine Leſer in ber deutſchen Gejchichte nicht jo unbewantert find,
daß fie bie älteften Schidjale ter Rheinlande nicht fennten. — Cinzelne
Beine Irrthümer find Lit. Centralbl. 1861 Nro. 10 ſchon bemerkt. Wir
524 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
fügen hinzu, daß gegen bie indogermanifche Abftammung ver Slawen wohl
fein Zweifel mehr ift (S. 13), und daß das Eoftniger Eoncil Gregor XII,
nicht abgejeßt hat (S. 125). H. P.
Fir, W., Seminarlehrer, Die Territorialgefhihte bes bran-
denburgifh-preußifhen Staates, im Anfhluß an zehn biftorifche
Karten überfichtlih bargeftellt. Berlin, 1860. Simon Schropp'ſche Landkarten⸗
handlung. IV, 146 ©. 8.
Zwar nur ein Auszug des größeren Werkes von demfelben Ber:
faffer, das unter dem Titel: „Ueberfichten zur äußeren Gejchichte Yes
preußifchen Staates“ 1858 erſchien, jedoch von felbftftändiger Haltung
und durch forgfältige Benugung des vorhandenen Materials ganz geeignet,
ein Hares Bild von dem Wachsthum dieſes Staates zu geben. F. V.
Staff, ©., Oberlehrer a. D., Brandenburgiſch-preußiſche Ge
ſchichte. in Handbuch für höhere Lehranflalten und zum Eelbftunterricht.
XII und 273 S. mit 3 Tab in gr. qu. und qu. gr. 4. Weblar, 1860. 8.
Hahn, Lud., Dr., geb. Reg.- u. Schulrath, Geſchichte bes preußi—
fhen Baterlandes. Mit Tab. u. 2 Stammtaf. in gr. 8. u. Imp. - Fol
5. verm. Aufl. XVI, und 630 ©. Berlin, Herk. 1860. 8.
Derjelbe, Leitfaden der vaterländifhen Geſchichte für Schule
und Haus. Mit Tabellen und 1 Zeittafel. 7. Aufl. Berlin, Befler , 1860.
VI, 1906 8
Dietfh, Rub., Abriß der brandenb.⸗preuß. Gefchichte. Mit
Karten. Beigabe zu des Berf. Grundriß ber allgemeinen Geſchichte. 2. durch⸗
gefehene und verbeflerte Auflage. Leipzig, Teubner, 1860. VII, 125 ©. 8.
Kurt, Frör., Recor, Tabellen ber preuß. Geſchichte. Weber-
fiht d. Geſch. d. preuß. Staates in funchroniftifcher Zufammenftellung m. Bei⸗
gabe 1 geuealogiſchen u. heraldiſchen Tafel für Schulen u. den Eelbftunterricht.
Leipzig, J. D. Weigel, 1860. %ol.
Förfter, Ferd., Dr., Preußens Helden im Krieg u. Frieden.
140—154. %fg. 4. Abt. Neuere u. neueſte preuß. Geſch. 106—120. Pig-
3. Bd 5.361 — 960. Berlin, Hempel, 1860. 4. (Erfcheint auch unter
dem Titel: Bon GElba nah Et. Helena.)
Derfelde, Breußens Helden im Krieg unb Frieden. Cine Ge⸗
fhichte Preußens feit dem großen Kurfürften bis auf unfere Zage. 2. Bb.
4. Aufl. Berlin, Hempel, 1860. XI, 548 © 4 (A. ud. T.: Fried⸗
Deutſche Provinzialgeſchichte. Preußen. 525
rich der Große. Geſchildert als Menſch, Regent und Feldherr. Eine wahr⸗
heitegetrene Geſchichte feines Lebens uub feiner Thaten. Mit 130 in den
Tert gebrudten Abbildungen.)
Arnim, Bertraute Geſchichte bes preußiſchen Hofes und
Staates. 4 Bände. Berlin, Abeläborf, 1860. 8. A. u. d. T.: Ber
teante Gefchichte der europäifchen Höfe und Staaten feit Beendigung bes 30jäh⸗
rigen Krieges. Neues Licht aus geheimen Ardiven. 1. Abtheilung. —
Droyfen, 3. G., Das Stralendorffiſche Gutachten. Aus
dem VIll. Bande der Abhandlungen der ET. ſächſiſchen Gejellihaft ber Wiſſen⸗
iheften p. 359 — 448. Leipzig, Hirzel. 1860. 8.
Borliegende Abhandlung, eine der Erläuterungen zu des Verfaſſers
Geſchichte der preußijchen Politik, hat den Zwed, die Aechtheit jenes Stra»
lendorffiſchen Gutachtens, welches bei Gelegenheit des Jülich'ſchen Erb⸗
folgeftreites von 1609 jo offen und nadt die Vernichtung Brandenburgs
als des Hortes der Ketzer für das Ziel der habsburgiſchen Politik ers
Märte, und die Autorfchaft des Faiferl. Vicekanzlers Lippold v. Stralen-
borff gegen vie vielfad, erhobenen Zweifel zu vertheidigen. Durch tie
Unterjuchung mehrerer Abjchriften des Discurjes, bie ter Verfaſſer mit
gutem Grund dem 17. Jahrhundert zumeift, und durch Hervorhebung
mehrerer fachlicher Berhältuiffe, vie jo wie fie erwähnt werten, nur ein
gleichzeitiger Publicift erwähnen konnte, widerlegt der Verfaſſer eudgültig
die Behauptung Küfters, daß Chr. Thomaſius mit ver Abfaffung des
Discurfes feine Zeitgenoffen babe miyftificiren wollen. Weiter firirt er
die Zeit feiner Entjtehung auf Juni 1609 und weift alle Bedenken ge=
gen die Autorſchaft des in einigen Abjchriften genannten Stralendorff
— ein Levin von Ulm, ver ſonſt genannt wird, eriftirte damals gar
niht — zurüd. In einem 2. Theile werben die 3 Ausgaben des Dis⸗
curſes von 1718, 1727 u. 1759 beiprochen, von denen ver Verfaſſer es
hochſt wahrfcheinlich macht, daß fie von preußiichen Publiciſten ausgingen,
um durch das Gutachten felbjt und die höchſt irenijch - wigigen Vorreden
m jener Zeit, ald die Jülich'ſche Erbfolgefrage wiederum einen Hebel
der. öfterreichifchen Politit gegen Preußen abgab, vie jeſuitiſch⸗habsburgi⸗
fen Iutriguen an ven Pranger zu ftellen und Preußen vor ihnen zu
warnen. — Kin nach ten beten Abjchriften revidirter Abdruck tes Gut⸗
achtens bildet ven Schluß des Ganzen. H. P.
526 Ueberfidgt der Hifterifchen Literatur von 1860.
Sammter, A.,Dr., Die Schlacht bei Liegnitz, am 15. Aug. 1760.
Zur 100 jährigen Erinnerung verfaßt. Liegniz, Kuhlmey, 1860. 18 S. 8.
Bürger, 8 Chr. A., Arhibiacon, Borgänge in und um Tor
gau während des Tjährigen Krieges, namentlih die Schlacht bei Säptis am
3. November 1760. Bei Belegenheit der 100jährigen Grinnerungetage eines
für Prengen ruhmreich gemorbenen Krieges gefchrieben. Torgau, Wienbrod,
1860, IV, 120 6 8.
Hahn, Werner, Friedrich Wilhelm I. und Luife, König
uud Königin von Preußen. 217 Erzählungen aus ihrer Zeit unb ihrem
Leben. 2. Auflage. Mit 17 Abbildungen in Holzichnitten. XII und 326 ©.
Berlin, Deder. 8.
Scholz, I. C., Loniſe, Königin von Prenßen. Gin Lebenebifb
zur 5Ojährigen XTobesfeier für Schule und Famiſie Erfurt, Körner, 1860.
4716. 16.
Königin Louife Ein Preußenbuh. 4. Aufl. Langenfalza, Kling.
bammer, 1860. XlI, 226 ©. 16.
Bade, Th., Luife, Königin von Breußen. Kin Lebeuebilb. Ber⸗
En, 9. Müller, 1860. IV, 122 © 16.
Köpke, Rudolf, Die Gründung ber k. Friedrich⸗Wilhelme—
Univerfität zu Berlin. Berlin, Ferd. Dümmler'ſche Verlagsbuchhandlung,
1860. VI, 30068. 4.
Geſchichte des kgl. preußifhen 6.Hufarenregimentes, (ehedem
2 ſchleſiſchen), zufammengeftellt von Ernft Graf zur Lippe-Weißenfeld.
Zum Bellen der Regiments-Epezialftiftung bes Nationalbanls. Berlin, Berlag
ber E. geh. Che rhofbuchbruderei von R. Deder. 1860. 8.
Ein äußerlich ſehr elegant ausgeftatteter Auszug der Tagebücher
und Dienftliften dieſes Regimentes jet feiner Errihtung im Febr. 1809
bis 1860; der gänzlihe Mangel an innerem Werthe dieſer Arbeit wird
durch die Beigabe interefjant und pifant fein ſollender, huſaresken“ Fähnd⸗
rihöftreihe und Garniſonswitze nur noch fühlbarer. L. H.
v. Horn, Hauptmann, Geſchichte bes f. preußiſchen Leib⸗In—
fanterie-Regimentes. Im Auftrage bes Regiments verfaßt unb berausg.
Berlin, Wagner, 1860. XX, 586 S. 8.
Deutiche Brovinzialgefchichte. Preußen. 527
Kichter, Dr. 2%, Geſchichte des Mepicinalmwefens der kgl.
preunßiſchen Armee bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zur Armee» und
Kulturgefhichte Preußens. Erlangen, Enke, 1860. 415 ©. 8.
Es enthält dieſes Buch eine zujammenhängende geſchichtliche Dar⸗
ſtellung des preußiihen Militärmedicinalmejens von den Zeiten des gros
ben Kurfürften an bis zur Gegenwart und beruht auf der umfaſſendſten
Kenntniß des gedruckten Materinles, auf archivaliſchen Mittheilungen und,
für die nenere Zeit, auch auf perſönlicher Wiſſenſchaft des um das Mi⸗
Ktärmedicinalwejen hochverdienten Verfaſſers.
Der ſtets im Auge gehaltene Zuſammenhang mit der Entwicklungs⸗
geſchichte der preußiſchen Armee verleiht ihm ein Intereſſe anch für uns
fere Wiſſenſchaft. W. A.
5. Stephan, k. preuß. Poſtrath, Geſchichte ber preußiſchen Po
von ihrem Urſprunge bis auf die Gegenwart. Berlin, M. Decker, 1859. XVI,
816 ©. 8.
31ſter Jahresberiht der Geſellſchaft für Pommer'ſche Se
ſchichte und Alterthumekunde, über bie beiden Jahre vom 1. April 1857
bis 1. April 1859.
Geſell ſchaftsangelegenheiten. — Anfertigung ber Zeichnung und des Auf-
riffes der Kirchenruinen zu Hilda bei Greifsmall. — Das alte nieberbentjche
Gedicht über die 10 Gebote, ehemals an einer Wand der Kapelle zu Pudagla
auf ber Infel Uſedom. — Das nieberdeutfche Gedicht über die 10 Gebote
wm den Etargarber Hanbicriften. — Die Greifewalder Orbnung für die
Dateler, 1443. — Die Denkichrift des Michel Vith, Altermannes bes Ge⸗
wendhaufes zu Stralfund, 1602 — 1630. —
Baltifhe Studien. XVII 2. Stettin. 8.
Bertheibigungsihrift der Stadt Stralfund, im Mai bes Jahres 1529
beim 8 f. Reihslammergericht in Speier eingereicht, wider die vom Stral⸗
fanber Oberkirchherrn Hippolytus Steinwer erhobene Anklage in Betreff der von
der Etadt verübten Verfolgung des katholiſchen Clerus. Aus ben Reichskam⸗
mergerichtöalten mitgetheilt von I G. 8. Kojegarten — Die Bernebmung
der gegen bie Etabt geftellten und 1527 zu Greifswald abgebörten Zeugen,
im Auezug mitgerheilt von demſelben. — Uebergabe bes Amtes Eldena an
Die Univerfität Greifäwald, 28. März 1634, unter dem Rectorat bes Dr. Ja-
bob Gerſchow. — Bernerlungen zum Leben bes Dr. Zatob Gerſchow, von
Br. Latendorf zu Neuſtrelitz — Das friebländifhe Kriegevoll zu Greife⸗
528 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
wald in ben Jahren 1627— 1631. Nah den Acten bes Greiftwalder Gtabt-
archives von 3. ©. 8. Kofegarten. (Bierte Fortfegung, enthält db. 3. 1630:
Guſtav Adolph's Landung in Bommern, 25. und 26. Juni 1630.) —
Zober, Ernſt Heinrid, Dr., Prof., Gymnaflaloberlehrer und Gtabt-
bibliothekar, Zur Geſchichte bes Etralfundber Gymnafiums 4. Beis
trag. Die Zeit von 1680 bis 1755. Mit dem lithographirten Bildniffe Rec⸗
tor P. Vehrs. Stralſund, Hingſt, 1858. IV, 114 © 4.
Daffelbe, 5. Beitrag. Die Zeit von 1755 bis 1804. Mit dem lithogr.
Bildniffe Rector Büttner's, ebendaſ. 1859. IV, 758. 4.
Daſſelbe, 6. Beitrag. Die Zeit von 1804 bie 1860. Mit bem fithogr.
Bildniſſen der Direetoren Kirchner und Nizze. Stralfund, Hingf, 1860. VIM
926€. 4.
Zeitfrift für die Gefhihte nnd Altertbumslunde Erm-
kfandse. Im Namen bes Hiftoriihen Vereins für Ermland herausgegeben vom
Domcapitular Dr. Eichhorn. 3. Heft, Mainz, Verlag von Franz Kirdyheim,
1860. 409 — 668 ©. 8.
Das Berhältni des Biſchofs Lucas von Watzelrode zum beutichen Or⸗
ben. Bon Brof. A. Thiel Artilel 11. Unter dem Hodmeifter Herzog
Friedrih von Eadien. ©. 409 — 459. — GEeſchichte der ermländifchen Bi⸗
ſchofswahlen, mit möglichfter Berückſichtigung ber ihnen zu Grunde gelegenen:
Rechtsverhältniffe, zugleich eine chronologiſche Grundlage für die Geſchichte der
Biihöfe Ermlands. Bon Domcapitular Dr. Eihhorn, Fortſetzung, 17. Jahrh.
©. 460 — 600. — Zur preufiihen Brafteatentunte. Bon Dr. Benber,
©. 601 — 627. — Hünengräber bei Lautern, von Gerichteaffeffor Breyer.
©. 628 — 632. — Ueber den altpreußijch - Kittauifhen Bernfieinnamen Gen-
tarae oder Gintaras. Nebſt einem Nachtrage über das Kleftron und über den
Eridanos. Bon Brof. Dr. Bedmaun, S. 633 — 618. —
Walter, 3, Joſeph v. Hohenzollern und Stanislaus v.
Hatten, zwei Biſchöfe Ermiande. 144 ©. mit 4 Holzſchnitttafeln u. eingebr.
Holzſchnitten. Mohrungen, NRautenberg. 8.
Danzig's Theilnahme an bem Kriege ber Hanfe gegen
Chriftian II. von Dänemark. Ein Beitrag zur banfeatijch-fcandbinaviihen
Geſchichte des 16. Jahrhunderts. Nacd Urkunden des Danziger Rathearchivee.
1. Abſchnitt. Von R. Bonszoermeny. Danzig, 1860. 48 © 4.
Der neuen preußifden PBrovinzialblätter dritte Folge. Her⸗
Deutfche Provinzialgeſchiche. Preußen. ' 599
ansgeg. von X. v. Haſenkamp. Bd. V und VI. Königsberg, in Commif-
fon bei Th. Thiele's Buchhandlung, 1860. 8. »
Da uns dieſer Jahrgang der Zeitihrift, die an werthvollen Bei-
trägen auch zur allgemeinen deutſchen Gefchichte reich zu jein pflegt, nur
bruchſtũckweiſe vorliegt, jo müſſen wir uns vorläufig begnügen, vie Titel
der einzelnen Abhandlungen, joweit fie uns bekannt geworten find, hierher
zu ſetzen.
Br. V.: Zur Kenntniß ter Volksbewegung und Sterblichkeitsver⸗
bältnijfe in ver Provinz Preußen, vom Regierungs- und Mevicinalrathe
Dr. Bald. — Zur Berfafjungsgeichichte ver deutſchen Univerjitäten.
Habilitationsrede vom Prof. Dr. Theodor Muther. — Eine bisher
unbefannte Lebensbejchreibung des heiligen Adalbert. Ab-
drud und kritiſche Einleitung, von W. Gieſebrecht. — Die Belagerung
der Stadt Danzig im J. 1577, von 8. Hoburg. — Kantiana.
Beiträge zu Immanuel Kant's Leben und Schriften, herausgegeben von
Dr. Rudolf Reicke. — Die Herenprocefje ber beiden Städte Braunsberg,
nach ven Griminalacten des Braunsberger Archivs bearbeitet von Dr.
3.4 Lilienthal, Director des Progymnaſiums zu Röſſel (Fortſetzung).
— Der alte Dinter, Feſtrede von R. Fatſchek. — Politiſche und
tirchliche Reden aus dem Anfange des 16. Yahrhunterts, Vortrag von
Brof. Dr. Th. Muther. — Guſtav Adolf und die preußiiche Regie⸗
sung im J. 1626. Nach den auf dem Geh. Archiv zu Künigsberg vors
haudenen urtundlihen Materialien, von Dr. Carl Lohmeyer. — Inter
von Mittheilungen find hervorzuheben: „Einige Beiträge über altpreußijche
Perſonen⸗ und geographiihe LTocalnamen, von I. Boigt, und zwei
Inedita, zur Erinnerung an Bhilipp Melanthon mitgetheilt von Prof.
Dr. Muther.
In Bd. VI.: Oftpreußen unter dem Doppelaar. Hiſtoriſche
Skizze der ruſſiſchen Invafion in den Tagen des Tjührigen Krieges, von
&. v. Haſenkamp. — Erimmerungen an Lobeck, Bortrag von Prof.
Dr. Lehro. — Kriegsordnung von Herzog Albrecht von Preußen. Mit-
getheilt von 8. Hoburg.
Stein, Dr. 9, Rabb., Die Geſchichte der Juben zu Danzig.
Seit ihrem Nuftreten in biefer Etabt bis auf bie neneftle Zeit. Zum erſten⸗
male ans handſchriftl. Quellen zufammengeftelt.e Danzig, Devrient, 1860.
64 G. 8.
Pipexiſche Zeitſqrift JV. Band. 34
680 Ueberſicht ber Hiftorifchen Piteratur von 1860.
7. Oberfadfen, Zhüringen, Heflen.
Flathe, Theodor, Dr., Eymnaſialoberlehrer, Die Borzeit bes
fähfifchen Volkes in Schilberungen aus den Quelleuſchriftſtellern. Leipzig.
B. Tauchnitz, 1860. XI, 2088 8.
Lubojatly, Franz, Das goldene Bud vom Baterlande oder
Sachſen font und jest, nebſt Entfiehung und Schickſalen feiner Städte und
DOrtfchaften. Ein Buch für Lefer aller Stände des ſächfiſchen Volles. 16— 32.
Lieferung (Schluß). Löbau, Walde, 1860. ©. 241 -- 510. 4.
Deutrih, Joh. Confant., Lehrer, Bilder ans ber Geſchichte
Sachſens oder bie wicdtigften und merkwürbigften Momente und Greigniffe
aus der Geſchichte Sachſens. Zur Unterhaltung unb Belehrung für Jung und
At erzählt. 9. bis 12. Liefg. (Schluß). Oſchatz, Oldecop's Erben, 1860.
©. 247 — 884. 8.
Geſchichte der fähfifhen Armee in Wort und Bild. Bon
Dr. Hauthal. 2. Aufl. 6. bis 10. Liefg. (Schluß). Leipzig, Bach, 1860.
©. 93 — 172. 8.
Montbe, I. v., kgl. fähflfher Hauptmann, Die churſächſiſchen
Truppen im Feldzuge 1806, mit befonberer Bezugnahme auf bas von
Höpfner’ihe Werl: „Der Krieg von 1806 u. 1807." Nach offiziellen Quellen
bearbeitet. 2 Bände. Dresden, Kunte, 1860. 8.
Diejes Werk erfüllt und fol, wie e8 den Anfchein hat, feinen an-
dern Zweck erfüllen, als die Irrthümer zu berichtigen, welche fi über
bie Theilnahme der hurjädhjiichen Truppen am Feldzuge von 1806 in
das große Höpfnerifhe Werk eingefchlichen haben. Blatt für Blatt ver-
folgt Herr von Montbe die Geſchichte des preußifchen Generals mit ge-
wiffenhaftefter Genauigkeit, und wo er eine irrige oder unridtige Angabe
in derjelben aufjpürt, ift er mit offiziellen Actenftüden und amtlihen Do⸗
cumenten zur Hand, fie zu widerlegen. Es muß rühmend anerfamt
werden, daß diefe Widerlegungen in der Negel vollkommen gelingen, je
den Schein gehäfligen Beſſerwiſſens vermeiden, und vor Allem fich nur
auf mögliche Irrthümer, me aber auf abfichtliche Entftellungen, oder
Färbungen von Höpfner’s Seite beziehen. Man fieht, daß al’ Das:
jenige, was Montbe aus den ſächſiſchen Archiven 2c. Neues bringt, dem
General Höpfner nicht befannt oder minveftend nicht zugänglich war;
aber man behält auch die Ueberzeugung, daß wenn Höpfner al’ Diefes
Deutſche Hrovingialgeſchichte. Oberſachſen. 531
gewußt hätte, er die Irrthümer in ſein Werk nicht aufgenommen haben
würde. Beſtätigt auf dieſe Weiſe die Schrift des Herrn v. Montbé ven
ehrenvollen Ruf der Unpartheilichfeit und Leidenſchaſtsloſigkeit, welchen ſich
Höpfner als Hiftorifer erworben, fo gibt fie auf der andern Seite rühm⸗
lich Zeugniß, daß ſich aud ver Herr Berfajler ver gleichen Tugenden
mit gleichem Eifer befleißigt, wie ſchon aus der wahrheitögetreuen und eben
nicht ſehr fchmeichelhaften Schilverung der fächfiihen Truppen bei Be-
ginn des Feldzuges im 1. Kapitel des erften Bandes hervorgehen kann.
Im Ganzen darf das Werk als ein fehr werthvoller Beitrag zur Ges
ſchichte des unglüdlihen Yahres 1806 betradytet werben. L. H.
Beder, Carl, Paſtor, Das edle ſachſ. Fürſtenkleeblatt ober bie
Hauptzüge aus dem Leben rer 3 Kurfürften Briebrid, Johann uw. Joh. Friedr.
Berlin, Schlawitz. 1860. 111, 444 ©. 8.
Stier, G., Corpusculum inscriptionum Vitebergensium.
Die lateiniſcheu Inihriften Wittenbergs , darunter Luthers 95 Sätze. Latein.
m. deutſch mit einem Anhang deuiſcher Infhriften. Wittenberg, Herrofe, AV,
168 ©. 8.
Die Schloßkirche zu Wittenberg. Weberfiht ihrer Geſchichte bis
auf bie Gegenwart. Zur Sicularerinnerung an bie beiden Jahre 1560 und
1760 zufammengeflellt und im Aujtrage des Vereines für Heimathkunde des
Kurtreifes herauegegeben vom zeitigen Echriftführer beffelben, ©. Gtier.
Wittenberg, 1860. 8.
Acta reotorum universitatis studii Lipsiensis inde ab a.
1524 usque ad a. 15,9. Edidit E. Zarncke. Pars I. et II. Leipzig,
1860. Zaudnig, X ‚526 &. Kol.
Lindau, M. B., Geſchichte der Haupt und Refibeuzfadt
Dresden vou der früheften bis auf die gegenwärtige Zeit 2. Bd. 4. bie
6. Heft. Dresden, Kunte, 1860. 241 — 480 ©. 8,
Lorenz, M. Chrn. Glob, Die Stabt Brimma im Königreid
Sachſen, hiſtoriſch beicrieben. 8. und 9. Heft. Leipzig, Dyk, 1860.
©. 449 — 5676. 8.
Witßleben, C. D. v, Regierungsrath, Geſchichte der Leipziger
Zeltung. Zur Erinnerung an das 200jährige Beſtehen der Zeitung. Leip⸗
zig, Teubner in Comm., 1860. VI u. 218 ©. 8.
340
632 Ueherſicht ber Hiftorifchen Literatur von 1860.
- Bidenwirth, sen, 5. F., Chronik ber kgl. ſächſ. Stabt Len-
genfeld im Boigtlande, mit geſchichtl. Nachrichten über bie Nachbarorte:
Mylau, Treuen, Plohn, Röthenbach, Grün u. Waldkirchen. Reichenbach, 1859.
Leipzig, Kößling. VII und 278 ©. 8,
Kämmel, Heinrih Jul., Dr., Prof., Dir, Erinnerungen an
Gottfried Hoffmaun, Rector in Lauban, 1695 bis 1708 und in Zitten
1708 bis 1712. Kin päbagogifches Lebensbild. 16 ©. Zittau, Yörfter. 8.
Neues Laufigifhes Magazin: im Auftrage ber oberlaufikifchen Ge-
ſellſchaft der Wiffenfchaften, herausgegeben von Guſtav Köhler. Bd. 36.
Jahrgang 1859.
1. Heft : Hiſtor. Nachr. von db. Huſſitenkriege in ber Oberlaufig feit dem
9. 1430, v. M. Jak. Gottl. Klo. — Die Url. d. Qubener Rathsarchivsé, na
ben Abichriften des Dr. Neumann. — Inhaltsüberſicht des Domſtiftsarchivs
zu Budiſſin.
2. Heft: Briefwechſel Zittauer Natheherrn mit Häuptern ber reformirten
Kiche zu Zürich im Jahre 1541, mitgeth. v. Pfar. Theod. Hergang. —
Geſch. d. geiſtl. Abminiftratur d. Bisths. Meißens i. d Oberlaufit ; nad ben
Urkunden bes Stiftsarchivs zu Bubiffin, von Dr. Theodor Neumann.
8. Heft: Ueber die Einführung hedenartiger Einfriedungen ber Aecker in
der Oberlaufig, von v. Möllendborf. — Bartholomäus Ziegenbalg —
Literatur bes oberlaufitifchen Adels, von Dr. C. U. Peſcheck.
4 Heft: Gefellihaftsangelegenheiten. —
Variscia, Mittheilungen aus dem Archive des Boigtländiihen alter-
thumsforfchenden Bereines, herausg. v. Fr. Alberti, Pfr. zu Hohenleuben,
Secretär d. Ber. 5. Lig. Im Selbfiverl. des Ber. Greiz, 1860. Ju Eom-
miffion bei Otto Heming. 160 ©. 8.
2. unb 3. Fortſetzung ber Bruchftüde aus ber Chronik Gera’s von Herrn
R. Fürbringer, Hofr. u. Oberbürgcrmeifter in Gera. — Fortgef. Beiträge
zuc Reuß⸗Geraiſchen Sitten-, ultur- u. Religionsgefd. v. demſelben — Die
Sueven oder bie Flußvölker bes alten Germaniens v. Herren Pfr. Fr. Bold.
mar Reſch in Zihirma. — Die Bergvöiler bes alten Germaniens, von
bemjelben. — Die 2. Eorbifche Grenzmark, v. Hofbibliothelar %. Hahn zu
Sera. — Brudftüde zu einer Schilderung des kirchlich⸗religiöſen Zuftandes un⸗
ſerer Gegenden um und vor der Zeit ber Kirchenverbeflerung, v. Hrn. Bfarrer
Kaphahn. — Jahresberichte v. 1855—1859,. — Urkunden mitgetheilt v.
Dr. Herzog. — Mittheilungen aus dem Ardive von Dr. Shmidt. 1. Be
Deutſche Provinzialgeſchichte. Oberſachſen. B38
grubnißkoſten ꝛc — 2. Gemeindeordnung yon Heinrich J. Grafen Reuß. —
Miscellen aus ben Archivrepertorien von demſelben. — Auszüge ans dem Ge⸗
meinebrief des Dorfes Endſchütz. — Die Bezahlung von 50 Pferden. —
Urkunden, mitgetheilt und beglaubigt von bem Freiherrn v. Reitzenſtein
in Münden. —
Neue Mittheilungen aus dem Gebiet hiflorifch- antiquari—
fher Korfhnngen Im Namen des thäringifh-fähfifhen Ber-
eines für Erforfhung des vaterl. Alterthume und Erhaltung feiner Dentmale,
herausgegeben von dem interimiftifhen Secr. deſſelben Dr. E 2. Dümmler.
9. 8b. 2. Heft. XI, 106 S. Halle u. Norbhaufen, Förſtemann's Verlag. 8.
Winter, bie Sprachgrenze zwiſchen Platt- und Mitteldeutih im Süden
son Jüterbog. — Opel, die Etädte Naumburg und Zeiz während bes
SOjährigen Kriege, aus Zader: Naumburgifhe und Zeiziſche Stiftschronic. —
Dpel, aller NReutraliften Spiegel, fliegendes Blatt. — Böhlau, Rechtsge⸗
Ihichtliches aus Reinele Bos. —
Mittheilungen ber Geſchicht⸗ und Altertyumsforfhenden
Geſellſchaft des Oſterlandes. IV. 3b. 4. Heft. V. 8b. 1— 3. Heft.
Altenburg, 1858 — 1860. 8.
IV. Bd. 4. Heft: v. Braun, Skizzen aus dem biplomatifchen Leben n.
Wirten des Eadjjen- Altenburgifhen Gefanbten am weftphäliihen Friedens⸗
congreffe, Wolfgang Conrad v Thumeshirn, 1645 — 1649. — Cohn,
bie Begauer Annalen aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Bergl. Hiftorifche
Zeitfhr. Bd. 1 ©. 248. — Wagener, ber Freihof in ber Neufladt zu Al⸗
tenburg , jet ber Pohlhof genannt. —
V. 8. 1— 8. Heft: Wagner, bie Eiurichtungen und Mafnahmen für
die Geiunbheit der Einwohner der Etabt Altenburg während bes Mittelaltere. —
v. Gabelentz, über die Entftehung der Zamiliennamen, mit befonderer Rüdficht
auf Thüringen. — Wagner, bie Urkunden zur Geſchichte bes Collegiatftifts
Et. Georg auf dem Edhloffe in Altenburg (Fortſetz.). — v. Gabeleng,
über eine Urkunde Dietrich’ von Leisnig. — Wagner, bie Brunnen unb
Bafferleitungen der Etadt Altenburg. — Hafe, über eine Urkunde des Bi⸗
ſchofs Berthold Il. von Naumburg, bie Ginfünfte der St. Peterslirhe in Zeiz
betreffend , im Jahre 1196. — Gröbe, bie Ausgrabung zweier Hügelgräber
Bei Hartroda. — Hafe, zur Gefchichte der Et. Bartholomäusliche zu Al⸗
tenburg. — Die Gründung des gemeinen Kaftens zu Altenburg. — Frau⸗
Rabt, 8 Urkunden zur Geichichte der Burggrafen von Altenburg und ber
Stadt Penig. —
534 ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Zeitfhrift bes Vereins für thüringiſche Geſchichte und Al⸗
tertbumsfunde. Bierten Bandes erſtes und zweites Heft. Jena, 1860.
265 S. 8.
Dieſe beiden Hefte bergen einen höchſt mannigfaltigen Inhalt, der
hier nicht Stück für Stück namhaft gemacht oder gar beſprochen werden
kann, auch dem Werthe und der Bedeutung nach ſehr ungleichartig iſt.
Eines und das andere aber mag hervorgehoben werben. So die Ab—⸗
handlung von Möller über das Klofter zum hl. Kreuz in Gotha, vie
um fo willlommener ift, als fie eine ähnliche Behandlung auch ver übri⸗
gen Klöfter ged. Stadt in Ausficht ftellt. — Ferner der Aufjak Dr. ©.
Grünhagen's über „ven Landyrafen ohne Land“, einen Enkel des
vielberufenen- Yandgrafen Albrecht Degener, ver in Schlefien geboren war
"und dort verſchwindet, nachdem ſchon fein Vater Heinrich, Albrecht's Erſt⸗
geborner, fi früh nad ebendemjelben Lande gewendet, dort eine Tochter
des Herzogs Heinrich II. von Breslau geheirathet und fein Ende gefun-
den hatte, ohne je wieder nah Thüringen zurüdzulommen. Wir hätten
baber lebhaft gewünſcht, ver Hr. Verf. hätte fi auch mit Landgraf
Heinrich eingehender bejhäftigt, wenn er einmal die Notizen Über deſſen
Sohn jammelte und unterfuhte — Weiter von Intereſſe ift Dr. 2. 8.
Hefje’s Mittheilung über die „Schevel’ihe Chronik von Thüringen“, freilich
nur wegen ber Anregung, die dadurch gegeben wird, da ohne eine genauere
Unterfuhung und Feſtſtellung ihres Werthes eine Anficht über dieſelbe
nicht gefaßt werden karın. — Bon dem übrigen Inhalte nennen wir nod
bie Mittheilung Micelfen’s „zur Beurkundung des Yudenfturms zu
Erfurt im J. 1349", die Beiträge W. Stein's über die „erlofchenen
Adelsgeſchlechter des Eijenacher Landes“, und endlih vie Funkhänel's
„zur Geſchichte alter Adelsgeſchlechter in Thüringen“. — 8 —
Rechtödenkmale aus Thüringen. Dritte Lieferung. Namens bes
Bereins für thüringifhe Geſchichte und Alterthumskunde heransgegeben von A.
2. 3. Michelſen. Iena, Friedrich Frommann, 1859.
Die alten Rechtsdenkmale von Aubolftadt: 1. Etatuten vom I. 1404. —
2 Zujäge in den Statuten von 1488. — 3. Zufäte zu ben Etatuten von
1488 aus der Mitte bes 16. Jahrh. — Stabtprivilegien von Blankenburg von
1456 u. 1470. — Urkundliche Nachrichten über Verhandlungen weſtphäliſcher
Fehmgerichte mit der Reichsſtadt Norbhaufen im 15. Jahrh. — Wuszüge aus
einem weimar'jhen Stadtbuche bes 14. Jahrh. — Statuten ber Stadt Könige
Deutihe Provinzialgefchichte. Thüringen. 536
fee, beRätigt 1559. — Hegung bes peinlichen Halsgerichts bei Königefee i. 3.
1547.
Günther, Dr. J., Thüringifhe Bilder Cine Sammlung von
Schilderungen ber wichtigſten Ereigniffe aus ber thüring. Geſchichte. 3. (Titel)
Auflage. Eifenberg, Schöne, 1847. 1V, 198 © 8.
Die Landgraffhaft Thüringen unter ben Königen Abolf,
Albrecht und Heinrih VII ine mkundliche Mittheilung zum Gebädt-
niſſe bes 60jährigen Doctorjubiläums Kriebrih Chriſtoph Dahlmann's, ver-
Sffentliht von A. 2. D. Mihelfen. Jena, 1860. 4.
Der um die thüringiiche Geſchichte bereits jo vielfach verdiente Verf.
behandelt in vorliegender Gratulationsfchrift einen Zeitraum der thürin-
giſchen Geſchichte, ver zu den wichtigften, aber auch verworreniten und
ſchwierigſten verjelben gehört. Es iſt hiebei begreiflicher Weife nicht dar⸗
auf abgefehen, den ganzen Inhalt viejes Zeitraumes offen zu legen —
das würde ein ganzes Buch erfordern —, fontern einzelne Momente wer:
den berausgeheben und namentlich die Anjprücde, die die genannten brei
Könige auf die Landgrafichaft erhoben haben, einer bündigen, auf Ur⸗
kmden geſtützten ‘Darftellung unterzogen. Und wir fpredhen es gerne
- aus, nicht ohne offenbaren Gewinn für die beffere und klare Erfenntniß
ber beiprochenen, fo verwidelten Vorgänge ift vie Unterfuhung des Verf.
geblieben, deſſen Stärke gerade in der Bewältigung derartiger Probleme
fiegt. Bet diejer Gelegenheit erinnern wir uns aber au, daß der Hr.
Berf. fi vor Jahren mit dem Gedanken ver Herausgabe eincd Codex
diplomaticus Thuringiae getragen und bereits eine Probe eines ſolchen ver⸗
öffentlicht hat, und erlauben wir uns, vemjelben jenen feinen Vorſatz in
das Gedächtniß zurüdzurufen. Deun ohne eine ſolche Urkundenfammlung
wird es nicht fo leicht zu einer thüringiihen Geichichte kommen, und
doch gehört eine foldhe, in ver rechten Art abgefaßt, zu den bringenbiten
Bepürfnifien innerhalb des weitern Kreiſes ver deutſchen Geſchichte über-
haupt. Es fcheint aber, daß man in den maßgebenden höheren Kreiſen
Thüringens für ſolche Bedürfniſſe gegenwärtig unempfindlicher als je iſt.
Der objective Grund dieſer Gleichgiltigkeit liegt freilich nahe genug umd
barf daher wehl auch in Worte gefaßt werten; er liegt vorzugsweile in
ber Zerriffenheit, in ber Getheiltheit ‘ver ehemaligen Landgrafſchaft. —g—
Jamilienbuch bes dynaſtiſchen Gefhlehts von Eicſtedt im
6536 Ueberſicht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Thüringen, Bommern, den Marten und Schleſien. Bearbeitet für die Familie
von Earl Auguft Ludwig Frhrn. v. Eidftedt, k. preuß. Oberſt a D.
Ratibor, 1860. VII, 872 ©. 8. (Mit Siegeltafeln u. fonftigen Abbilbuns
gen.) Als DManufcript getrudt.
Renovanz, 2., Chronik der Fürſtl. Shwarzbnrg. Refibenz-
ſtadt Rudolſtadt oder nad) ben beften Quellen bearbeitete Erzählung alles
befien, was fih auf bie Entſtehung und Entwidelung der Stabt Rubolftabt,
ihre Regenten zc. ven ben Afteften Zeiten bis auf die neuefte Zeit bezieht. 2
Heft. Rudolſtadt u. Erfurt, 5. W. Otto, 1860. S. 97—192. 8.
Leopold Fürſt v. Anhalt-Deifau, Selbſtbiographie, von 1676 bie
1703. Hreg. v. Hauptm. a. D. Ferd. Eiebigk. Deffau, Aue's Berl., 1860.
836€ 8.
Leopold, Fürf vo. Anbalt-Defjan, Eine Erinnerungsfchr. an bes
großen Fürften Leben u. Wirken Deffau, Baumgarten u.&o., 1860. 28 ©. 8.
Unbreae, Dr. Aug , geh. Reg⸗R., Chronik der Aerzte bes Reg-
Bezirts Magdeburg m. Ausihluß ber Halberfläbter, Quedlinburger und
Wernigeroder Lanbestheile. Aus amtl. Anlaß zufammengetragen. Magbeburg,
E. Bänid, 1860. 263. S. 8.
Leffer, Froͤr. Chen, hiſtoriſche Nachrichten von ber ehemals
faiferliden und des heil. röm. Reiche freien Stadt Norbhaufen,, gedr. bafelbfl
im 3. 1740, umgearb. u. fortgefeßt v. Brof. Dr. Ernft Günther Zörfe-
mann. Nah bem Tobe des Berf. hreg. vom Wagiftrate zu Norbhaufen, m.
1 Chromolith. Norbhaufen, Förſtemann's Verl, 1860. 435 S. 4.
Tettau, W. $ 9. v., Ueber das ſtaatsrechtliche Berhältniß
von Erfurt zu dem Erzfift Mainz. Ein Vortrag gehalten in ber öf⸗
fentlihen Sitzung ber Mlabemie gemeinnütiger Wiffenfchaft zu Erfurt den 15.
Dctb. 1859 (Abbrud aus ben Jahrbüchern ber k. Akademie gemeinnütziger
Wiſſenſchaft). Erfurt, Wällaret, 1860. 140 ©. 8.
Zeitfhrift bes Vereins für heſſiſche Geſchichte nnd Landes
kunde. Bd. VII. Heft 2, 3, 4. Kaſſel, im Commiffionsverlag von 3. 9.
Bohne, 18060. S. 109—408. 8.
Die heſſenlaſſelſche Kriegemadt unter dem Landgrafen Karl bis zum Frie-
ben von Rysmid 1697 ©. 109 — 215. — Eubfidienverträge zwifchen Beffen,
ben Vereinigten Niederlanden und England ans ben Jahren 1694 — 1708.
Deutfhe Provinzialgeſchichte. Franken. - 637
Ritgetheilt vom Bibliotkelar Dr. Berubardi. ©. 216— 246. — Die zwei
ätteften ſchriftlichen Grundlagen der landſtäudiſchen Berfaffung in dem Fürften-
sgum Hefien uub den anbangenden Graifchaften. Mitgetheilt vom Oberpoſt⸗
meifer von Nebelthau. S. 247-269. — Bon ben alten Heerwagen unb
Heerwagengelbern. Vom Oberappellationsgerichterath Dr. Büff. S. 270—90s
— Die Schladht bei Kalefeld. Vom Archivar Dr. Landau. ©. 291 — 96.
— Üctenftüde über bie große Bewegung im beutfhen Abel in ben Jahren
1576. Mitgetheilt von Landau. S. 297-327. — Die Bevölkerung Kur-
befiens und deren Bewegung. Mitgetheilt von ber kurfürſtlichen ftatiftifchen
Eommiffion. S. 328 — 376. — Beiträge zur heſſiſchen Ortsgefchichte, von
Landau. ©. 377-408.
Elard Mülhaufe, Die Urreligion des deutſchen Bolles
in heſſiſchen Sitten, Sagen, Revensarten, Sprüchwörtern nnd Namen. Caſſel,
Theodor Fiſcher, 1860. 353 &. 8. |
Ein Reihthum von mythiihen Sagen, Sitten, Sprücden und Ges
bräudhen, an denen ver fleigige und finnige Verfaſſer zu zeigen ſucht,
wie volftändig fich der jo umfangreihe germaniſche Goͤtterglaube in dem
Heinen heſſiſchen Bezirk erhielt.
Dommerid, Dr., Urkundliche Geſchichte der allmälihen Ber-
größerung ber Sraffhaft Hanau von ber Mitte bes 13. Jahrh. bis
zum Ausfterben bes gräflihen Haufes im 3. 1736. ine hifter. Unterfudhung
mit befonderer Berüdfichtigung ber 4 großen Erbſchaften der Hanauer Grafen.
Mit einer gemealogiihen Tafel. Hanau, König, 1860. IV, 164 S. 8.
8. Franken.
Archiv des biforifhen Bereins von Unterfranten und
Aſchaffenburg. 15. Band. 2. und 3. Heft. Würzburg, 1861. 8.
Diejes Doppelheft bringt manches Danfenswerthe. So die Fort⸗
feßung und Vollendung einer im erften Hefte tiefes Bandes begonnenen
Geſchichte des Etiftes St. Burkard zu Würzburg von M. Wieland.
Es handelt fih hier um tie Zeit von der Ummantelung des alten Be⸗
nebictinerflofters in ein Ritterftift bis zur Säcularifatien, (14641802).
Die Darftelung ift im MWejentlichen gleich ter Behandlung des erften
Theiles und verbient ber Verfaffer durch die aufgebetene Sorgfalt unfere
anfrichtige Anerkennung. Auch find noch einige Nachträge zum erften
Theile angefügt. — Der zweite Auffag von Fried. Emmert hat
538 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
„Adalbert und das Bisthum Würzburg zu feiner Zeit (1045 — 1090)”
zum Gegenftand und fteht an wiljenfchaftlichem Werthe über allen anderen
diejes Heftes. B. Apalbert nimmt nicht nur in ver Geſchichte feines
Stiftes, fondern auch in der Reichsgeſchichte jener Zeit bekanntlich einen
einflußreihen Plat ein, und nach beiden Seiten hin bat fi der Ver⸗
fafler nicht ohne Erfolg beftrebt, dem merkwürdigen Manne gerecht zu
werben. &8 ift allerdings Feine vollkommene mängelfreie Arbeit, mit der
wir e8 zu thun haben, es ließe ſich die Yorfhung noch um manches er-
gänzen, wenn bier dazu der Plab wäre, und die Jugendlichleit des Ber:
faflers fühlt fi leiht duch: aber ten Dilettautismus, der in Zeits
jchriften dieſer Art fonft ſich breit madt, bat er offenbar überwunden
und ben Weg der Wiffenichaftlichleit, ver befonnenen, ehrlichen, ſich be
ftimmten objectiven Grundſätzen ıimterwerfenden Forſchung betreten. —
Das dritte Stüd liefert Beiträge zu einer in den letzten Jahren vielfach
und nicht ohne Heftigkeit behandelten Yrage, nemlich zur Entſtehungszeit
ber „Haßſurter Rittercapelle.” Schon in dem 1. Hefte dieſes Bandes
hatte fi) der Berfafler, Herr N. Reininger, ausführlicher gegen bie
bekannten Aufftellungen des Herrn von Heibeloff gewendet und fie fieg-
reich zurückgewieſen, durch mehrere Actenftüde, die ihm inzwijchen be»
kannt wurden und hier mitgetheilt werten, ift ver Verfaſſer nun im
Stante, jeine ſchon damals geäußerte Anfiht über die Erbauung ver
Kapelle, und namentlich des Chores und die Bedeutung der Wappenbilver
peffelben näher zu begrünten. Das Hauptgewicht fällt auf eine Bulle
Pius I. vom Jahre 1464: indeß können wir nicht umhin, zu be
merken, daß jo ganz und gar wir aud) bereit find, den Grundgedanken
ter Beweisführung tes Verfaſſers zu unterichreiben — dieſe Beweis—⸗
führung immerhin eine kanm fchon abgefchloffene it und einzelne Fragen
und Zweifel doch wohl nody übrig bleiben. Endlich will uns bedünken,
daß, wenn man fih mit Fug und Recht einmal auf den Standpunkt
ver Kritik ftellt, die unter I und IT ntitgetheilten Actenftäde nicht fo ohne
weiteres in Bauſch und Bogen und tem vollen Inhalte nad) bingenom-
men werben türfen. — Ein auderer jchägbarer Beitrag zur Franconia
sacra ijt die Erörterung Wilhegr Reins über das Nonnenklofter Zelle
unter Fiſchberg (Würzburger Diöceje), Noch Uffermann (in feinem
Episcopatus Wirceb. p. 460) hat ſo gut als nichts über daffelbe mit-
teilen können; um fo mehr find wir Deren Rein für die Miübe ver-
Deutſche Provinzialgeſchichte. Franken. 539
pflichtet, womit er aus einer Reihe von Archiven unſere Kenntniß
über die Geſchichte dieſes Kloſters immerhin um ein Bedeutendes bereichert
bat. Die Stiftung ift mit von Biſchof Dtto I. ven Bamberg ausge-
gangen; leider ift aud Herr Rein für das 12. Jahrhundert bei jeinen
Nachforſchungen allzumenig vom Glück begünftigt gewejen, und es jcheint
nit, daß aus fränkiſchen Archiven ein Erjag für das Vermißte zu er-
warten fteht. — Bon tem übrigen Inhalt des Heftes heben wir ven
Aufjag von Dr. Kittel hervor, der zur Probe einer größeren Reihe
das Weisthum eined „Hubengericht8” von Dberau bei Ajchaffenburg vor-
legt. — Bon den hiftoriichen Notizen über den Landgerichtöbezirt Elt⸗
mann dürfte die Mittheilung Über das „Dachabdecken in Rottfeld“ in
fittengejchichtliher Beziehung von allgemeinem Intereſſe jein.
—, —
Ahtundzwanzigfier Jahresbericht des hiſtoriſchen Bereine
in Mittelfranten. Ansbah, Brügel, 1860. XXI. 131 © 8.
Borliegendes Heft enthält folgende vier Beiträge zur Gejchichte Mit-
telfrantens : 1) Kurze Beichreibung ter Stadt Nürnberg aus vem legten
Drittel des 17. Jahrhunderts. 2) Der Raugau und jeine Grafen. Ein
Berſuch von Hrn. Dekan Bauer in Künzelsau. 3) Negeften des Berg⸗
hen Nittergeichlehtes von Hrn. Dr. Sronmüller. 4) Bejchreibung
von Triesdorf (Domaine im Landgericht Herrievden) von Prof. A. M.
Fuchs. — Die „Beichreibung ter Statt Nürnberg” war immerhin der
Beröffentlihung werth, wenn jie auch nur untergeordneter Bedeutung iſt.
— Der Aufſatz des Hrn. Bauer iſt ein ſorgfältiger und zum Theil
ſcharfſinniger „Verſuch“, und namentlich dankenswerth iſt die damit ver⸗
bundene Skizze einer Geſchichte der Grafen von Bergtheim, um die ſich,
wie um viele wichtigen und wirklich ſchwierigen Momente ver Geſchichte
Oſtfrankens bis jettt Niemand gelümmert hat. Inte dieſe und ähnliche
ragen können, — fo weit eine Beantwortung hier überhaupt möglich
iſt — eine ſolche nur durch umfaffende Benugung alles getrudten und unge:
drndten Materials finden. Auch in Bezug auf das bereit und längſt
geprudte ift Hrn. Dauer manches entgangen, wie 3. B. was fich bei
Schemwert in ven Vindemiis literar. Bd. 2 Collectio t. V. 11. im Necrolog
des Michelsklofters zu Bamberg zur Genealogie gen. Grafen gehüriges
findet. — Die Regeſten des Berg’jchen Nittergeichlechtes bilden eine Er⸗
gänzung zu der Schrift des Hrn. Verf. Über die „Geſchichte von Alten⸗
540 Ueberſicht der Hiftorifchen Literatur von 1860.
berg und der alten Befte bei Zirndorf“; fie find fleißig gearbeitet, und
behandeln and bie Herren von Grundlech (Grindelach), die feit dem Au⸗
fange des 12. Jahrhunderts fo vielfady in den fränkiſchen Urkunden auf-
treten. — Die biftoriihe Bejchreibung von Triesdorf endlich fchilvert
mit Vorliebe und Sachkenntniß die Schickſale diefer markgräflich⸗ansbachi⸗
{hen Befitung, die in die Geſchichte des gen. Hauſes felbft enge ver
flohten ijt, und wobei e8 an intereflanten Bezügen nicht fehlen konnte.
— g —
22 n. 23. Bericht über das Wirken und den Stand bes hi-
ſtoriſchen Bereins zu Bamberg i. d. J. 18°%, u. 18°. Bamberg,
Reindl, 1859, 1860. XXXU u. 136 ©.; XXVINI u. 144 ©. 8.
Gewiß mit Recht fieht der Bamberger biftorifche Verein feine Haupts
aufgabe darin, noch ungebrudtes Quellenmaterial in feiner urjprünglichen
Geſtalt zu veröffentlihen, und wir möchten wünjchen, daß jein Beiſpiel
von anderen hiftoriichen Vereinen nachgeahmt würde. Den Hauptinhalt
ber beiben vorliegenden Publifationen bildet das Kopialbud des Kloſters
Langheim, welches Herr Pfarrer Schweiger, der ſchon früher manche ver
bienftliche Arbeit lieferte, in volllommen befrievigender Weile (vorderhand
bis 3. 3. 1350) herausgegeben hat. Die Urkunden ter Eifterzienferabtei,
einer Gründung des h. Otto, geben vielfachen Aufichluß über die Be:
figverhältniffe der Gegend, und find auch für die Geſchichte ver benach⸗
barten Dynaftengejchlechter, wie ver Herzoge von Meran, der Grafen
von Orlamünde von Henneberg u. a., von Belang. In der Einlei-
tung hat der Herausgeber die Reihenfolge ver Aebte herzuftellen verjucht
und dabei Uſſermann's Angaben vielfach berichtigt. Auch die Zuverläflig-
feit ver Daten in dem von ihm im fiebenten Bericht des Vereins mit
ben übrigen Kalentaren des Bisthums herausgegebenen Kalenvare von
Langheim hat er einer Fritifhen Prüfung unterzogen. Nähere Auskunft
hätten wir indeß über die ©. 35 des 23. Ber. erwähnten zwei Kopials
bücher des Klofters im Banıberger Ardiv erwartet. Den beiden Berich⸗
ten find am Ende unter tem Titel: „Miscellen aus ver Bamberger Ges
ſchichte“ Abdrücke oder Auszüge vermijchter Urkunden keigegeben, worun-
ter einige von bejenterer Wichtigkeit, fo vor Allem ver merfwürtige Brief
des Zaboritenführerse Prokop (des Großen), den er kei feinem Cinfalle
in Franken am 2. Yebruar 1430 an die Stadt Bamberg richtete (N. 9
Deutſche Provinzialgeſchichte. Franken. 541
d. 22. Ber.) — Die unter N. 4 des 22. Ber. (in der Ueberſchriſt
iſt fälſchlich Bonifaz VIII. ſtatt Bonifaz IX. genannt) mitgetheilten Ans
gaben über die Refignation des Biſchofs Lambrecht (im I. 1398) klären
diefen bisher dunklen Puuft auf und erledigen die Beweisführung Uſſer⸗
mann's (ep. Bamb. 192). Die Urkunde des Burggrafen Friedrich I,
von Nürnberg d. d, 22. Yebruar 1296 (mitgetheilt im 22. Ber. N. 1)
fehlte in ven Mon. Zoll. und ergänzt die dort vorfindlihen Urkunden
N. 320 u. 409 (T. 11). — Der Abdruck ſcheint im Kopialbuch, wie in ven
Miscellen genau und die Regeſten find ausführlich. Wir hätten nur
gewünſcht, daß das wörtlich Angeführte im Drud gefennzeihnet und
daß Abkürzungen, wie Wlinngus ftatt Wülflingus, restauram ftatt restau-
rationem (23. B. ©. 49) aufgelöst worden wären. Auch fehlt bei Bas
rianten hie und da ter Nachweis, woher fie genommen, un wäre im
23. Ber. ©. 135 eine Bemerkung darüber am Plate geweien, ob das
Schreiben wirklich abgegangen, da doch das Original im Bamberger Stadt⸗
archive verblieben. Im 22. Ber. ©. 73 ift der Ausftellungsort Rotens
burg nicht Rotenberg. Uffermann und die Hist. dipl. Nor. 172 baten die
richtige Leſeart. Schließlich verdient die ſchöne Ausftattung ver Publi⸗
fationen anerkannt zu werben. Th. K.
Archiv für Gefhihte und Alterthumskunde von Oberfran>
fen. VII. Bd. 1. Heft. Mit einer Steinzeihnung Vayreuth, 1860.
128 ©. 8.
Das Beſte, was diefe Publication tarbietet, ift die „Kurze Ger
fehichte der ſechs Aemter von Pfarrer Statelmann“ (S. 19 — 50), eine
verbienftlihe Zujammenftellung der auf dieſen Gegenftand bezüglichen
meift urkundlichen Daten, freilich nicht immer von den nöthigen Citaten
begleitet. Was dagegen Pfarrer Hirſch über die erfte allgemeine Kirchen⸗
pifitation im Fürſtenthum Culmbach, bejonters in Wunjietel (S. 6—18)
beibringt, findet fi) der Hauptjache nach beffer in Wunderlich's Schrift:
Etwas zur kirchlichen Berfaflung der Statt Wunfierel 2c. (Erlangen
1784) mitgetheilt. Die geſchichtlichen Mittheilungen über das Schloß
Wildenfels und das Geſchlecht der Wildenftein zum Wildenfels von Cra⸗
mer (S. 76— 93) enthalten eine fleigige aber ziemlich kritiffoje Anein⸗
anberreibung bereits befannter und fehr häufig ſchlecht beglaukigter Nach»
sichten. Unter N. 5 theilt Fehr. 8. v. Reigenftein 3 Urkunden aus
542 Veberficht ber Hiftorifchen Literatur von 1860.
den Originalen mit, von denen indeß zwei bereits im vorigen Jahre im
befferem Auszuge als dem hier berichtigten. ver Reg. boic. in dem vom
Bamberger biftorifchen Verein herausgegebenen Kopialbuch des Kloſters
Langheim befannt wurden, die dritte für die Geſchichte der Stadt Hof
von Interefle iſt. Ziemlih unbebeutend und fehr unklar abgefaßt find
die Beiträge zur Geſchichte des Ortes Kaulsvorff (an der Saale) von
Kiejewetter (S. 51—69). Und wenn am Schluffe das Verzeichniß ver
in der Reg. boic. enthaltenen auf das ehem. Fürſtenthum Bayreuth be-
züglichen Urkundenauszüge fortgejetgt wird, fo können wir uns ven bem
Werthe diefer durch viele Bublicationen hindurchgehenden Arbeit in feiner
Weiſe überzeugen. Th. K.
Monumenta Zollerana, Urfundenbuh zur Geſchichte bes Hanfes
Hohenzollern. Hreg. von Rud. Frhrn. v. Stillfried und Dr Traug.
Märder 6. Bd. Urkunden der fränkiſchen Linie, 1398 — 1411.
Berlin, Ernft und Korn, 1860. 642 S. mit eingebr. Holzſchn. 4.
Peez, Baireutd und Kulmbah unter Markgraf Friedbrid.
Baireuth, Giefel, 1859. 8.
Burkhardt, Dr. & A. H, Arhivar, Correcturen und Zufäge
zu Quellenfhriften für Hobenzollerifhe Geſchichte. 1. Das fai-
ferlihde Buh des Markgrafen Albrecht Achilles, beransgeg. von
Dr. Conftantin Höfler. Jena, Otto Deiftung, 1861. VI, 31 6. 8.
Geſchichte ber evangelifhen Kirhe im ehemaligen Fürften-
tbum Bayreuth, von Dr. Lorenz Kraußold, Konfiftorialrat5 und Haupt⸗
prebiger in Bayreuth. Erlangen, Andreas Deicyert, 1860. VIII, 338 &. 8,
Das Buch, welches als Feſtgabe zum 5Ojährigen Yubiläum des
Uebergangd des Fürſtenthums Bayreuth an die Krone Bayern erjchien,
behandelt vie Geſchichte der evang. Kirche in ten früher martgräflichen
Landen von dem Beginne der Reformation bis zum Jahre 1818, als bie
Kirche mit der Verfaſſung Bayerns auch eine neue Organiſation mit ei«
nem OÖberconfiftorium in Münden u. f. w. erhielt. Beſondere Rüdjickt
ift auf die jeinaligen inneren Verfafjungszuftinde der Kirche genommen.
Die Arbeit ift mit viel Fleiß und Geſchick gemacht; ver Verf. benüste
ein reichhaltiges Material — darunter auch Bamberger Ardivalin —
Deutſche Provinzialgefchichte. Franken. 543
und, was bejondere Anerkennung verdient, in feiner Darftellung läßt er
fi nie von konfejjioneller Leidenſchaft fertreigen. K. M.
Döderlein, Ludwig, Brof., Dr., Zur Feier ber 5Ojährigen
Einverleibung des Kürftenth. Bayrenth in das Königr. Bayern
Feſtrede im Auftrag bes kgl. academifhen Senats, gehalten am 2. Yuli 1860.
Erlangen, Bläfing. 1860. 19 ©. Bol.
Rürnbergs VBebeutung für bie politifhe und culturge
ſchichtliche Entwicklung Deutfhlande im 14. und 15. Jahrh. Vorir.
auf Beranlafjung bes Berliner Hülfsvereines bes germanifhen Muſeums in
Nürnberg, am 15. Februar 1860 gehalten von Dito Gabler. Berlin, Lud.
Raub, 1860. 356 8.
Lochner, ©. WB. 8. Lebensläufe berühmter und verdienter
KRüruberger. Nürnberg, 3 2. Schrag, 1861. IV, 66 © 8.
Ein Büchlein, das feinen Anſpruch auf wiſſenſchaftlichen Werth
machen kann, wenn auch der Berfaffer am Ende der einzelnen Biogras
pbien eine kurze Zujammenftellung der Schriften gibt, denen er jeine No⸗
ten entnahm. Neben ven Lebensläufen von Männern, denen Nürnberg
feine Bedeutung im 16. und 17. Jahrhundert verdantte, find aud die
Bervienfte einiger Bürger, auf die das heutige Nürnberg mit Berehrung
und Dank zu bliden Grund hat, gejchilvert. Als Beilage erſcheint —
nach Herrn Lochner's Sitte over befier Unfitte, ohne Angabe ver Duelle —
ein Brief der Gnadenberger Nonne Juliana Tucherin an den befannten
Dr. Chriſtoph Scheurl vom Jahre 1531. F. W.
Soden, F. %, Frhr. v., fürfl. Schwarzb. Major a. D., Kriegs- und
Sittengeſchichte der Reichsſtadt Nürnberg v. Eude d. 16. Jahrh.
bie zur Schlacht bei Breitenfeld 1631. I. Thl. 1590 — 1619, XXI,
572 8. 11. Thl. 1620 — 1628. XII, 457 ©. Erlangen, Bläfing. 1860,
1861. 8.
Nah der Angabe des Herrn Verfaſſers ift tie Hauptquelle feiner
Darftellung vie handſchriftliche Chronik des Hans Start von Stedenhof,
welche von den eriten Anfängen der Stadt Nürnberg Eis zum 9. 1628
reiht. Es wäre ohne Zweifel ein brauchbarer Beitrag zur Geſchichte
bes 17. Jahrhunderts gewejen, wenn der Berfaffer ung kurze Auszüge
aus diefer Aufzeichnung vorgelegt hätte; wir wiſſen nun freilich nicht, da
wir das Driginal nicht kennen, wie weit er daffelbe gelürzt bat, aber
544 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur don 1860.
nach Analogie früherer Soden'ſcher Arbeiten dürfen wir wohl präfus
miren, daß er in den 150 Bogen Excerpten, die er (j. Borreve zum
J. Theil) aus den 7 Foliobänden des Originald gemacht hat, alles nie
verlegte, was er nur immer für die „Eulturgejchichte” der Zeit wichtig
fand. Und darin pflegen Dilettanten fich nicht leicht concis zu faffen.
Wenigftens tritt in dem Werke ein ſolches Chaos aller denkbaren Gegen-
ftände auf: Neichstage und Geſandtſchaften, Kriegszüge und Unterhand⸗
lungen, Feftlichfeiten und religiöfe Wirren, „Exrceffe und Hinrichtungen,“
Schmaufereien und Leichenbegängnifie, — daß es nicht leicht iſt, ſich
durch dafjelbe eine Bahn zu ſuchen. Neben der Stark'ſchen Chronik find
noch verfchiedene Aufzeichnungen im Nünberger Ardiv, in der dortigen
Staptbibliothet und der v. Scheurl’ihen Sammlung benutt, freilich ohne
jede Angabe über veren Charakter und ohne alle gebräuchlichen Citate.
Die wenigen gebrudten Werke, die der Berfaffer zn feiner Bearbeitung
beizog, find am Eingange jedes Theiles genannt. Einige Parthien des
Buches find „nad Müllner's Annalen“ bearbeitet, denen die Ehre aus-
geichrieben zu werden, fo unenplich oft begegnet ift, daß man froh fein
müßte, wenn fie lieber einmal vollftändig gebrudt worben wären, wozu
gewiffermaßen Tochner ſchon einmal einen Anlauf genommen bat. Der einzige
Werth, den dieſes Buch für die Wiffenichaft haben könnte — das be
beutende Material, das e8, wenn aud) in chaotiſchem Zuſtande, immer:
hin enthält, ift vollftändig annullirt durch den Mangel eines Regifters,
das allein eine Benutzung möglid gemacht hätte Man muß endlich
noch beklagen, daß ter Zert durch eine Unmenge von Drudfehlern zu-
weilen bis zur Unverſtändlichkeit entftellt ift, — ein ſchlimmes Präjubiz
für die große Menge von Zahlen, welche er enthält. —* —
Eye, A. v., Dr., Leben und Wirken Albrecht Dürers.
Nörblingen , Bed. 1860. VI, 5256 8.
Dieſes Bud, das Kunfthiitorifer und Kunftfreunde mit warmen
Beifalle begrüßt haben, darf auch der Geſchichtsforſcher dankbar will
fommen heißen. Die Innigfeit des Gefühle, mit der ſich ver Berfaffer
in die Zeit und in bie localen Berhältniffe eingelebt hat, denen fein Held
angehört, entſpricht dem Fleiße, mit dem er Alles zujanmentrug, was
über Dürer gefammelt und gedruckt werten. Bon den Männern, bie
neben tem großen Künftler aufgetreten find, fcheint uns nur Willibald
Deutſche Provinziaigefchichte. Fraulen. 645
Pirkheimer, fein berühmter und auch um ihn hochverdienter Freund,
ungerecht behandelt zu fein. Das Zartgefühl des Verfaſſers hat in dem
Scherzreven, mit denen biejer den in Venedig weilenden Maler nedt,
doch wohl mit Unrecht übermüthige Herablajfung und in tem ehrerbietigen
Zone, in dem Dürer bem Nürnberger Rathöheren fchreibt, ber ganz im
Geiſte der Zeit begründet war, ficherlich nicht mit mehr Berechtigung
eine für ven Künftler kränlende demüthige Stellung jenem gegenüber er-
fennen wollen. — Was die Borfhung betrifft, die den Werke zu
Grunde liegt, fo beklagen wir, daß der Verfaſſer die reihen Materialien,
die Heller zur Geſchichte Dürer's gejammelt hat, nicht benutzte. Wir
gefteben, nicht zu begreifen, warum fie ihm nicht zugänglich waren
(f. Vorrede ©. IV), da fie auf der für Jedermanns Beſuch offen fte-
henden kgl. Bibliothek zu Bamberg aufbewahrt fin. Auch das Nürn-
berger Archiv hätte, um fo mehr, wenn ver bortige Archivar dem Ver⸗
faffer mit großer Zuvorkommenheit entgegentam, eingehender benutzt wer⸗
den müſſen. Daß man die Urkunden, vie man anzufehen wünjcht, näher
bezeichnen muß, ift ein Umftand, dem man auf jedem Archive der Welt
begegnet, ver aber von ver Pflicht, fih um das Erreichbare zu bemühen,
wicht entbindet. — Trotz dieſer Mängel bezeichnet das Eye'ſche Bud
einen fo bedeutenden Fortſchritt in der Dürer» Literatur, dag man mit
geipannter Erwartung den weiteren Bänden entgegenjehen darf, in benen
der Berfafler „vie geichichtlihen und ftatiftiichen Grundlagen in ftrengerer
wiffenichaftliher Yorm zu geben” veripridt. — F. W.
Baader, 3., Beiträge zur Kunſtgeſchichte Nürnbergs. Nörb-
fingen, Bed. 1860. VI, 112 ©. 8.
Sronmäller, ©. T. Chr., Dr., Geſch. Altenberge un. db. alten
Bere bei Hürth, fowie ber zwiſchen Guſtav Adolph und Wallenftein im
Hiährigen Kriege bei der alten Veſte vorgefallenen Schlacht Nah ben ur⸗
fuublichen Quellen bearbeitet. Nürnberg, 3. 2. Schmid's Verlag. 1860. V,
Be. 8.
Baader, 3., Ballenfein als Student an der Univerfität
Kidorf. Ein Beitrag zu feiner Imgendgeihicdte. Nürnberg, Bauer und
Rafpe. 1860. 326. 8.
Schneider, Eugen, Dr, Geſch. d. I. Landwirthſchaſte⸗, Ge⸗
Oieriſqhe Zeitfarift J. Bam, 35
546 Ueberfiht ber hiſtoriſchen iteratur won 1860.
werb- u. Sanbelsihule zu Bamberg. Ein PBrogr. z. Beier d. 25j6hr.
Beftehens derſelben. Bamberg, 1859. 8.
Zeitfhrift bes Hift. Ber. für das würtembergiſche Franken.
V. Bd. I Heft. Mit einer Tith. Beilage in 4. Künzelsau und Mergentheim.
1860. IV. 1726. 8, '
Bauer, ritterliche Geſchlechter im Gebiete der Jagſt. Buheubad, Die
fetten Herrn von Schüpf. — Bes, bas Aufblühen ber Stadt Erailsheim
unter der Herrſchaft ber Herren von Hohenlohe im 14. Jahrh. — Baner,
Bernbronn ; das Klofter Gerlacheheim; bie Herren v. Zobel u. v. Geyer; bie
Herren von NRofenberg. — Urkunden und Ueberlieferungen. Alterthümer ımb
Denkmäler. Statiſtiſches und Topographiiches.
Dillenius, 5. L. J., Dr., vieljähr. Del. u. Stabipferrer in Weine
berg ꝛe, Weinsberg, vormals freie Reichs⸗, jetzt würtemb. Oberamtsflabt.
Chronit berfelben. 1. Burg, gen. Weibertrene. II. Freiherruſchaft und IM.
Stadt. Etuttgart, Wilhelm Nitzſchke. 1860. VI. 294 6 8.
Geſchichte ber Buhbruderlunk im chemaligen Herzog
thume Franken und in benachbarten fränfifhen Stästen. Bon Thomas
Welzenbach, Scriftfeger. — Würzburg, Drud von Friedr. Ernſt Tpein,
1858. 1456 8.
Bayern.
Bavaria. Landes- und Bollslunde bes Königreihs Bayern, bearbeitet
von einem Kreife bayerifcher Gelehrten. In 4 Bon. 1. Bd. Ober- u. Rie
berbayern. 1. Abthl. Mit Kupfern und Holzſchnitten. München, literariſch⸗
artiftifche Anftalt, 1860. III, 672 © 8.
QDuißmaun, Anton, Dr, Die heidniſche Religion der Bai-
waren. Erſter faltiiher Beweis für bie Abſtammung biefes Volles. Leipzig
und Heibelberg. Winter’fche Verlagshanblung.. 1860. XX und 8lb ©. 8.
Der Herr Berfaffer hat den Verſuch gemacht, die Mythologie des
bayriihen Stammes, fomweit fie aus den alten Denfmalen und aus noch
berrihenden Sagen, Märdyen, Sitten und Gebräuden zu ermitteln ift,
darzuftellen und ven zerftreuten Stoff, wie er in ven Sammlımgen von
Panzer, Schönwerth, Alpenburg und anveren, fowie in Wolf's Zeitſchr.
für deutihe Mythologie und Sittenfunve vorlag, in ein georbnetes Ganze
zu bringen. In diefem Sammelfleiße, ver mit ver größten Gewiflen-
Deutſche Provinzialgeſchichte. Bayern. | 547
haftigkeit zu Merle gegangen ift, liegt nun auch das Hauptver⸗
dienft des Buches; durch alle übrigen Zuthaten bat Herr Du. feiner
mühjamen Arbeit leider mehr gefchadet als genutzt. Abgefehen von den
Schluffolgerungen rechnen wir dahin vorzugéweiſe das Beſtreben, alles
and mm im Gntfernteften an einen Mythus Anklingende berbeizuziehen
und nad) dem einmal angejchlagenen Akkord ver norbiihen Mythologie
zu flimmen. Da ver Berfaffer in den Orts⸗ und Perfonennamen einen
Banptbeweis für die Verbreitung eines Mythus findet, gibt er und Zu⸗
famımnenftellungen, vie mit den „Regeln ver biftorifchen Grammatik“ als
lerdings nit im Einklange ftehen. Einige Beijpiele mögen genügen:
Botinge und Odinburg (Oedenburg) werden zu Wuotan (21), die mit
Dur, Durren compenirten Namen zu Donar (53), die nit Haiderich und
Haderih (98), Wel und Wal zujammengejegten zum nord. Hödr und
Bali geftellt, ja die Mutter des Ietteren (Hinter) will der Verfaſſer im
Ortsnamen Rintpach wiederfinden (II)! Aehnlich ergeht es dem Feuergotte Poli,
dem tie mit Loh, Loch gebilteten Ramen zugewiejen werben (101), was
allerdings noch nicht jo arg ift, al8 ven Namen Hugo zum nord. Degir
zu ftellen (101). Auch dem von Bothe in jeiner mKronecke der Sassen“
erdichteten Gotte Krodo (mie Delius ſchon 1826 nadywies) werben bier
alle mit Hrod, Hruod, Rot componirten Namen zugetheilt. Wie weit
Hear Du. mit derartigen Beweiſen geht, ſieht man auf p. 58, wo er vie
bayriſchen Ortsnamen Ober⸗ und Unterflinsbah mit dem Donarcultus
mfammenbringt, weil Wolfram von Eidyenbah in einem feiner Lieder von
einem vlins von donresträlen ſpricht!
Auch andere Etymologien wären beffer unterblieben, namentlich der
im Bormworte über den Namen ber Bayern gebrachte Auslauf, deffen Wi⸗
derlegung Herr Du. in ten von ihm citirten Werfen und Grimm's Ge—
fhichte der deutſchen Sprache jelbit ohne Mühe finden wirt. Von ans
dern erwähnen wir nur daß das bayer. Mika 122) (Mitwoch) nad) Schönes
werth's Vorgang zum gothiſchen mikils (groß) geftellt wirt, während doch
Schmeller's Wörterbuch feinen Zweifel läßt, daß e8 ein verberbtes Mit-
tihen if. Das bayrifch » öfterreichiihe Wort Gankerl (Teufel) iſt iten-
tiſch mit Kanker (Spinne), aber nad dem Verfaſſer „Stimmt es auffal«
end und überraſchend'“ zu den Beinamen Odhins: Gangrädhr und
Bängleri (35). Die Bedeutung der nerd. Sif als Göttin des befruch⸗
tenben Negens ift uns wie auf ©. 133 zu lejen, noch in dem Ausdrucke
35*
548 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur won 1860.
fifeen, fifeln für das leichte, feine Regnen erhalten. Bor 40 Jahren
bat J. Grimm im Gefeße der Lautverfchiebung einen Prüfftein für Ety⸗
mologien entvedt — wie lange wird's noch dauern, bis die Wortdeuter
ſich dieſem Geſetze fügen? —
Schließlich können wir nur wiederholen, daß Herrn Qu.'s Buch als
Darſtellung der heidniſchen Religion der Bayern und als fleißige Samm⸗
lung aller darauf bezüglichen Ueberlieferungen eine ſehr verdienſtvolle Ar⸗
beit iſt, und daß wir mit Vergnügen dem zweiten Theile ſeiner For⸗
ſchungen, der die bayeriſchen Rechtsalterthümer darſtellen ſoll, entgegen⸗
ſehen. m.
Schubert, Gotth. Heinr. v., Dr., geheim. R., Die Geld. von
Bayern für Schulen. Neue vermehrte Ausgabe. Münden, Finſterlin,
1860. XII, 166 ©. 8.
Kid, Joh. Mid., Pfr, Bayer Geſch. f. Shulen und Fami—
fie, zur Erwedung ber Liebe zum Könige und Vaterlande. Nebft einer
Geographie Bayerns. 6. durchgeſehene und verbefferte Auflage. Augsburg,
Kolmann. 1860. IV, 686. 8.
Geſchichte der Bayern unb ihrer Fürfen. 1. Abth. (bie zum
Jahre Y11 n. Chr.) 2. Auflage. Paſſau, Elſäſſer und Walbbauer. 1860.
316 8.
Koch⸗Sternſeld, I. €, Ritter von, Das norbweflide
Bayern in der erfien Hälfte bes 9. Jahrhunderts: zunähft bie
Mark Tannara, zwiſchen bem Lech, ter Par, Ilm und Glan, fpäter bie
zweite Heimath ber Erlauchten zu Scheyern und Wittelebach ; in ihrem ethno⸗
graphifhen, dynaſtiſchen, kirchlichen und vwollswirthichaftlihen Beſtand. Aus
gleichzeitigen Duclen. (Aus ben Abhandlungen ber bayer. Alademie d. W.)
Münden, Franz, 1859. 43 ©. 4.
Holland, Dr. H, Kaifer Lubwig ber Bayer und fein Gtift yn
Ettal. Münden, A. Robfold, 1860. 51 ©. 8.
Ein Berfuh, nachzuweiſen, dag K. Ludwig mit dem Baue des Et⸗
taler Klofters und deſſen außergewöhnlicher Verfaffung nichts geringeres
bezwedte, „als inmitten einer furchtbar erregten und ſchwer zerrifienen
Zeit einen Öraltempel zu erbauen und fo ven fchönften Plan, ven je
eines großen Dichters Geift erfonnen, nad Möglichkeit zu realifiren“,
Hiſtoriſch neues finden wir nicht, im Gegeutheil einen Abdruck der Stife
Dentſche Proninzialgefchihte. Bayerır. 549
tungsurhinde aus Mon. Boic. VII. 235, ohne daß der Verf. zu ahnen fcheint,
daß der Ausftellingsort durchaus nicht in Ludwigs Itinerar paßt, was
wohl eine kurze Erörterung verdient hätte. — Was die Erflärung des
Namens Ettal betrifft, mit ver er fih auf S. 7 beſchäftigt, fo fcheint
ihm die einfachſte und einzige gleichzeitige entgangen zu fein. Johannes
Bictorienfis erzählt (fälſchlich z. I. 1330) die Gründung des Klofters
„quod Etal, id est Vallis Legis dicitur.“ (Böhmer Fontes I, 410).
F.W.
Schreiber, Dr. Fr. Ant. W., Geſchichte des bayerifhen Her-
3098 Wilhelm I. des Krommen, nad) Quellen und Urkunben bargefieflt.
Ein Beitrag zur vaterländiſchen Geſchiche. Münden, 1860. IX, 330 ©. 8.
Einundzwanzigſter Jahresbericht des Hiforifhen Bereins
von nub für Oberbayern. Für das Jahr 1858. Erſtattet in der Ple⸗
narverſammlung am 1. Juli 1859 durch ben erfien Vereinsvorſtand Briedr.
Deltor Grafen Hundt. Münden, 1859. 1486 8.
Zweiundzwanzigfier Jahresbericht bes hiſtoriſchen Ber-
eins von und für Oberbayern für bas Jahr 1859. München, 1860.
104 ©. 8.
Beide Zahresberichte enthalten bie üblihen Mitglieberverzeichniffe, VBerzeich⸗
niffe bes Zuwachies der Eammlungen bes Vereines, andere Bereinsangelegen-
beiten und Yurze Necrologe verftorbener Mitglieder, barunter im 21. Jahres,
bericht auch ein kurzer Lebensabriß Joſ. Chmels von Föringer.
Oberbayerifhes Archiv für vaterländiſche Geſchichte, her⸗
ausgegeben von dem hiſtoriſchen Vereine von und für Oberbayern. 21. Bd.
3. Heft. Münden, 1859. ©. 73 - 166.
Heinrich Biſchof zu Kiew und die Wallfahrt St. Leonhard, Berichte Aich⸗
ach, von Erneft Geiß, Veneficiaten bei St. Peter und Kaplan im k. Militär-
Teanfenbanfe zu Münden. &. 73—96. — Das Balfionsipiel zu Oberammer-
gau. ine gefichtlihe Abhandlung von Dr. 3. B. Prechtl, k. Pfarrer. S
97 — 125. — Nachträgliche Beilagen zur topographifhen Geſchichte ber Gtabt
Trannflein. Bon Joh. Joſ. Wagner, Schufbeneficiaten. S. 126-147. —
Beitrag zur Geſchichte der werphäfifgen Gerichte in Bayern, von Joſeph Hei-
ferer, vormaligen Gtabtfchreiber von Wafferburg. ©. 148 — 158. — Die
Grottenhalle und das Grottenhöfchen in der alten k. Reſidenz in Münden. Bon
Brot. Joſ. v. Hefner. ©. 158 — 166.
650 Ueberficht ber hiſtoriſchen Piterater von 1860.
Daffelbe. 19. Bd. 8, Heft. Münden, 1860. XVI, &. 429— 844.
8 Mit 2 Srundplänen.
Enthält die topographiihe Geſchichte ber Stadt Waflerburg am Jun. Bon
Joſeph Heiferer, ehemaligem Stabtihreiber daſelbſt. Mit einem Auhang:
1) Die Reihenfolge der Pfleg-Gerichts- und andern Tanbesherrlihen Beamten,
dann ber Stabtpfarrer und VBeneficiaten zu Waflerburg, und 2) Heiferer’s
ausführlihere Beihreibung ber Kirchen Wafferburge.
Verhandlungen bes hiſtoriſchen Vereins für Niederbayern.
Bd. VI, Heft 4. Landshut, Thomann, 1860. ©. 282—863. 8.
Achter Zahresbericht des Bereins fir 1859. — Das Johannis kirchlein zu
Kelheim oder das Monument Herzogs Ludwig I. von Bayern und bas Falfum
Betreffs der Ermordung biefes edlen Fürften, von Herrn Lehrer StoIll*. —
Die Slasgemälde zu Innkofen, Landgerichts Landshut, von Dr. Anton Wi⸗
ſend. — Harpredt, ber letzte Harslircher von Zangberger, herz. nieberbayeriicher
Kammermeifter und Rath, von H. Jakob Groß — Hiftorifhe Notizen über
bie Burgruinen Erlach nächſt dem Markte Velden und 2. das im ehemaligen
alten Erdinger Gaue, nun zum k. Landgerichte Landéhut gehörige Harlinger
Amt, von H. Zöpf.
Berhandlungen des hiſt. Ber. v. Oberpfalz u. Regensburg,
19. Bd. d. gefammt. Berhanbign. u. 11. Bb. d. neuen Folge. — A. n. d. T.:
Die Städte der Oberpfalz, auf Qeranlaffung Er. Maj. d. Königs von
*) Das, was Hr. Stoll ein Falſum nennt, ift nur eine unrichtige Angabe
bes Schauplates der That; fie geihah nad ten mit Oſtentation vorge⸗
tragenen Locafunterfuchungen bes Verf. an ber Stelle, wo fih am alten
Markt bie Johannis⸗ oder Spitalkirche erhebt. In Beziehung auf bie
Urheberſchaft des Mordes hält Herr Stoll unbebingt an ber von Prieb-
rich's II. Gegnern früh verbreiteten Anfiht, wonad ber Herzog auf An-
fiften des Kaifers ermordet wurbe, feft, obwohl er in bem obengenaun-
ten durch Otto ben Erlauchten zum Anbenten bes Baters erbauten Kir»
lein eine Juſchriſt entdeckte, welche mit beutlihen Worten einen Narren
als Mörder bezeichnet. Diefe Infchrift kann freilich ſchon aus fprachlicgen
Gründen nicht, wie ber Berf. meint, ans ber Mitte des 13. Zahrhun-
derts ſtammen; es liegt auch ſachlich viel näher, fie in bie Zeit ber
Reftauration ber Kirche (1602) zu verlegen; aber die Angabe fcheint ums
gleihwohl nicht bebeutungslos, und hat jebenfalls mehr innere Wahrſchein⸗
teit als die beliebte Anklage gegen Kaifer Friedrich IL K.
Dentſche Provinzialgeſchichte. Vahern. 661
Bayern Maxim. IL, hiſt. topogr. beſchrieb. u. herausgeg. Mit 8 Gtabtplänen.
Regensburg, 1860. XVI, 398 © 8.
L Geſch. u Topographie d. Stadt Neumarkt in ber Oberpfalz,
v. Om. Dr. 3. B. Schrauth, Arzt u. Butsbef. S. 1—1238. — I. Rem
burg vor'm Wald v. Hrn. Dr. 3. M. Söltl, geb. Hausardivar n. Uni
verftätsprof. S. 129 — 234. — I. Hiftor.-topifhe (sic!) Beſchr.
ber Stabt Weiden i. d. Oberpf., v. Hrn. Dr. ®. Brenner Shäf
fer, praftifcher Arzt in Weiden. S. 235 —290. — VBereinsangelegenheiten.
Nekrologe. — Antiquarifhes. —
Geſchichte m Topogr. d. Stadt Neumarkt in ber Oberpfalz,
von Dr. 3. B. Schrauth, Arzt u. Gutsbef. i. Woffenbah. (Beſond. Abbruck
ans dem 19. Bde. ber Berhandign. des hiſt. Ber. f. Oberpfalz u. Regensburg).
Regensburg, 1859. 128 ©. 8.
Eellectaneenblatt für bie Geſchichte Bayern’s, insbefon-
dere für die Gefhihte ber Stadt Neuburg ad. D. nnd berem
Umgebung, bearb. v. Mitgliedern b. hiſt. Filialvereines zu Reuburg.
25. Zahrg., 1859. Neuburg a. d. D., Berlag von Nuguft Prechter, 1860.
VIII, 154 S 8. Mit einem Anhang von 82 ©. 8.
Darin uub auch in einer Geparatausgabe erfchienen:
Neuburg n. feine Kürften. Ein hiſt. Verſuch als Beitrag zur Geſchichte
bes Fürftenthums Pfalz, Neuburg v. F. A. Förch, Stadtpfarrrer und Delan
and gl. bayrifchem geiftl. Rathe. Neuburg, 1860. 8.
Den Anhang des Heftes bildet der Jahresbericht des hiſtoriſchen
Filialvereines zu Neuburg a. d. D. für das Jahr 1859 mit einem
freilich ummwichtigen Bericht Über Ercurfionen zum Zweck antiquarifcher Un⸗
terfuchungen.
Reitelbrod, Geſchichte des Herzogthume Nenburg oder ber
jungen Pfalz. 1. Abthl. Gymm.Programm. Aſchaffenburg, 1859. 3068. 4.
Suttner, Joſeph Georg, Brofeflor ber Liturgil, Geſchichte bes
Silgdflihen Geminars in Eichſtädt. Rah den Duellen bearbeitet.
PYrogramm des biſchofl. Lveenms. Eichſtädt, 1859. 150 ©. 4.
2: Qunbt, ©, Ueber ben liber traditionum ans dem Klofter
562 Ueberficht ber hiftoriſchen Literatur won 1860.
Beihenſtephan in den Situngsberihten ber k. bayeriſchen Wlabeınie ber
Wiffenihaften zu Münden 1860. Münden, bei Franz. S. 889—46.
u Permaneder, Mich., Annales almae literarum universa-
lis Ingolstadii olim conditae inde autem primo huius saeculi initio
Landishutum posteaque Landishuto Monachium translocatae. München,
‘Weiss, 1860. 676 p. 8.
10. Die öſterreichiſchen Stammlaude.
Archiv für Kunde öferreihifher Geſchichtsquellen. Heraus⸗
gegeben von der zur Pflege vaterlänbifher Geſchichte anfgefteflten Commiſſion
der Taiferlichen Akademie ber Wiſſenſchaften. Wien, Gerold'e Sohn, 1860.
Bb. XXII-XXV. 8.
Der 23. Bd. des Archivs enthält: 1) Der bulgariſche Mönch Chrabru
(IX.—X. Jahrh.). Ein Zeuge der Verbreitung Glagoliſchen Schriftweſens un-
der ben Elaven bei deren Belehrung buch bie Heiligen Eyril und Method.
Bon Iguaz Joh. Hanus. — 2) Carlo Carafla Vescovo d’Arversa. Relatione
dello stato dellimperio e della Germania 1628, herausgeg. von Joſ. Gode⸗
hard Müller. Vergl. oben Zeitfchrift Bb. V, ©. 264 fi.
Der 24. Bb.: 1) Urkunden zur Gefchichte des Anrechtes bes Haufes Habe⸗
burg auf Ungarn. Bon Friedrich Firnhaber. Zehn wichtige Actenfüde aus
ben Jahren 1526 u. 1527, bie aus dem britifhen Mufeum gewonnen, früher
nur von Chmel gelegentlich benutzt worben find (Habsburg. Excurſe I. Situngs⸗
berichte 1851). — 2) Beiträge zur Genealogie ber Dynaften von Taunberg.
Don Kerbinand Wemsberger. — 3. Beiträge zu einer Chronik der archäo⸗
logiſchen Funde in der öfterreihifhen Monarchie (1856— 58), Bon Dr. Fror.
Kenner. IR auch in einem befondern Abprud bei Gerold’ Eohn in Com⸗
miffion erfchienen. — 4) Documenta Historiae Forojuliensis saecnli XIII ab
anno 1200 ad 1299. Summatis regesta a P. Josepho Bianchi Utinensi
(Bortfegung).
Bd. 25: 1) Nieberöfterreichifhe Bannfriebungen und zünftiihe Satzungen.
Geſammelt und mitgetheilt von 3. Zahn. — 2) Die Grafen von Heunburg.
Bon Dr. Karlmann Tangl. II. Abtheilung von 1249 — 1322. — 3) Tes
kaiſerlichen Oberſten Mohr von Wald Hochverratheproceh. Ein Beitrag zur
Waldſteins ⸗Cataſtrophe. Nah DOriginalien von Dr. B. Dubil, ©. unfere
Zeitichrift ober S. 271.
Sitzungsberichte ber kaiſerl. Alademie ber Wiſſenſchaften.
Deutiige Provinzialgeſchichte. Die öftere. Stammlande. 553
Phitoſophiſch-hiſtoriſche Claſſe. Bb. XXXII, Heft 8 bis Ob. XXXV.
Bien, bei Carl Gerold's Sohn in Commiſſion, 1860. 8.
Das Heft bes 82. Bandes enthält außer mehreren uns fern liegenden Ar-
Weiten Pfizmaiers die VBeneto-byzantiniihen Analelten von Hopf (f. unfere Zeit
Schrift oben ©. 182) und Stumpf’s belannte Abhandlung zur Kritik beuticher
Städte Privilegien — Bd. 33: Valentini, delle biblioteche della Spagna
©. 4—178. — Shwammel, über bie angeblidie Mongolenniebertage bei
DOlmäs. 24./25 Juni 1241. ©. 179—218. (If auch befonders ausgegeben
worden.) — Tomaſcheck, über bie ältere Rechtsentwicklung ber Etabt und des
Biethums Trient. ©. 341—- 372. — Beifalil, Stubien zur Geſchichte ber
alıbögmiihen Literatur. S. 218— 232 (f. unten Böhmen). — Lorenz, Otto⸗
far 11. von Böhmen und das Erzbiethum Ealzburg. S. 472—524 (au be-
ſonders herausgegeben) u. b. T.: \
Dttolar Lorenz, DOttolar Il. von Böhmen und das Erzbie—
spam Salzburg 1246 - 1260. Großentheils nad ungebrudten Onellen. Wien,
1860. 8.
Der Hr. Berfaffer bat uns fchon früher mit einer Abhandlung:
„Die Erwerbung Oefterreih8 durch Ottokar von Böhmen“ durch lichtvolle
Behandlung der durchaus verwworrenen Nachrichten über das öfterreichiiche
Interregnum zu großem Danke verpflichtet. Das Gleiche gilt von ber
vorliegenden Arbeit, welche jene Abhandlung gewiffermaßen ergänzt.
Hr. D. Lorenz hat dieſes Dial die Verhältniffe des Erzbisſsthums
Salzburg zum Vorwurfe genommen und daran einerfeit8 ten großen Kampf
zwifchen der päpftlichen nud faijerlichen Partei gejchilvert, von denen cr»
flere darauf ausgeht, die erlerigten Fürftenthümer im Süroften des Kei-
des, voraus Salzburg, mit zuverläßigen Parteigängern zu bejegen, bie
andere aber die Kirchengüter in merkwürdig revolutionärer Weije zu fücu-
lariſiren fi abmüht; andererſeits aber zeigt ver Verf, Daß die eigenthüm⸗
liche Stellung Salzburgs die Erwerbung Oefterreih8 und jpäter Steiermarts
durch den böhmiſchen Fürſten Ottofar im Wejentlichen bedingt hat.
Bir können auf den Inhalt nicht des DVreiteren eingehen, bemerfen
aber, daß dieſe Schrift reih ift am intereſſanten SDetailforichungen und
wirklich neuen Geſichtspunkten, welche fih aus dem vom Hru. Berf. ge
fammelten ungedrudten Wateriale ergeben haben. B.
Br. 84 enthält S. 17—56 folgende Abhandlung:
Alfons Huber, Dr. Brivatbocent an ber k. k. Univerfität zn Iunsbrud,
654 Meberfit ber Hiftorifchen Ziteraiur von 1860.
Ueber bie Entſtehungézeit der öferreidifhen Freiheitebriefe.
Bien 1860. 8.
Abhandlungen, welche eine feit langer Zeit vielfach ventilirte Streit-
frage zum enplihen Abſchluß bringen, nehmen mit Recht ein erhöhtes In⸗
terefie in Anſpruch. Daß die vorliegende Schrift zu diefen abſchließenden
Ürbeiten zu zählen fei, darf unbedenklich behauptet werben; es gilt von
ihr, was beifpielöweife wenn aud in höherem Maße von ber Ficker'ſchen
Arbeit: „Ueber die Entftehungszeit des Sachſenſpiegels u. ſ. w.“, weldy
lestere den Streit über die Priorität des Sachfenjpiegel® vor dem Schwa-
benfpiegel für alle Zeit gründlich zur Ruhe gebracht hat. Die große Aehnlich⸗
feit der Beweisführung, welche der Schüler feinem Lehrer abgelaufcht zu
haben fcheint, erinnert unwillkürlich daran, bei der kurzen Beiprechung ver
Huber’fhen Abhandlung auf die des Hrn. Prof. Ficker binzubliden. Wie
dieſer das Jahr 1283 als Ausgangspunft nahm, um zu beweifen, daß
ver Sachſenſpiegel vorher ſchon entftanden ſei und fo in abfteigender Linie
auf das Yahr 1235 herablam, als vor weldem der Sachſenſpiegel ent-
ftanden fein mußte, und ſodann umgefehrt von 1198 ausging, um zu be
weifen, daß berfelbe nach 1224 verfertigt fein müffe, in ähnlicher Weile,
hat e8 Hr. Dr. Huber durch eine höchſt gelungene, zwingende Berveisfüh-
rung verftanden, bie Zmeifel, welche bezüglich der Entftehungszeit ver un-
echten öfterreichifchen Yreiheitsbriefe insbejondere nad den Abhandlungen
Chmels etwa noch beftanven, zu zerftreuen, vie erhobenen Einwände zu
wiberlegen und die Böhmer-Wattenbachifche Aufftellung, daß ber ganze
Cyclus der unechten Freiheitsbriefe nicht dem 13. Jahrhunderte, wie Chmel
darzuthun ſuchte, fondern der Zeit Herzogs Rudolf IV. um das 9. 1359
angehöre, mehr zu befeftigen, ja bis zur Evidenz zu erheben.
Ausgehend von tem uns völlig neuen Refultate feiner Forſchung,
daß das Yand ober Enns vor 1254 nicht zu Oeſterreich gehört habe,
zieht der Hr. Verf. mit Recht den Schluß, e8 habe vor 1254 das Majus
und mas damit zuſammenhänge auch nicht eriftirt, weil darin die Marchia
supra Anasum als zu Oeſterreich gehörig aufgeführt werte. In tiefer Art
fließt der Verf. von beſtimmten hifteriichen Thatſachen auf die Unmög-
lichkeit der Exiſtenz ver unechten Privilegien vor dem I. 1355, weift fobann
nach, wie die Öoltene Bulle von 1356 dem Verfertiger derfelben vorgelegen
haben müffe, und fintet in ver Geſchichte Rudolfs IV, pofitive Anhaltspunkte
‚genug, um die Zeit ber Fälſchung in den Winter 1358 auf 1359 zu ſetzen.
Dentſche Provinzialgeſchichte. Die dfterr. Stammlande. 558
Zum Schluſſe werden noch einige entgegenftehende Bedenken befeitigt
und wollen wir es dem Hrn. Berf. zum Lobe anrechnen, daß er in feiner
Kritik eine Mäßigung beobachtet hat, welche den oft vagen und allzu un«
kritiſchen Schlußfolgerungen bes jeligen Chmel gegenüber nır aus ehren»
dem Pietätsgefühle zu erflären iſt. Der Werth der Arbeit liegt aber nicht
bloß in der oben bezeichneten eigenthümlichen Methode ver Bemweisführung,
wodurch fie vor allen Vorgängerinnen ſich vortheilhaft erhebt, ſondern aud)
in ber Beibringung fehr gewichtiger, neuer Deweisgründe, was wir hier⸗
mit gegenüber einer jehr oberflächlich abjprechenten Kritik in der Wiener-
Zeitung vom 21. Auguft 1860 ganz entſchieden hervorheben zu müſſen
glauben. B.
Ferner: Tomaſchel, über zwei ältere Rechtegutachten ber Wiener Uni-
verfität. S. 58-94. — 4. Müller, Pharifier und Sabucäer. S. 95 — 164.
— Firnhaber, Actenftäde zur Aufhellung ber ungarischen Gefchichte bes 17.
unb 18. Zahrh. &. 165-241. — v. Karajan, Bericht über die Thätigfeit
der Hiftorifhen Commiſſion ıc. 1858, 1859. S. 361— 370.
Bd. 35: Aſchbach, Über die römiſchen Militärftationen im Ufer-Roricum,
zwiſchen Lauriacum und Binbobona, nebft einer Unterfuhung über bie Lage ber
norifhen Etadt Faviana. S. 3-32. — A. Müller, vier ſidoniſche Münzen
aus der römifchen Kaiferzeit. ©. 33-50. — Maaffen, über eine Lex Ro-
mana canonice compta. @in Beitrag zur Geſchichte ber Beziehungen beider
Rechte im Mittelalter. S. 73-108. — Siegel, die beiben Denkmäler bes
öfterreichifchen Landrechts und ihre Entſtehung. S. 109-131. — Bergmann,
über das uralte Gejchlecht der v. Embe zu Hohenembs. S. 149 — 151. — Wein-
hold, Der Minnefänger von Etaded und fein Geſchlecht. S. 152—186. —
Bocher, das oberſte Spielgrafenamt im Erzherzogthume Defterreich unter und ob
der Enns. 6200-202. — Schupfer, degli ordini sociali e del possesso
fondiario appo & Longobardi. ©. 209 — 305.
Fontes rerum austriacarum. Oeſterreichiſche Gefchichtsguellen. Her⸗
ausgegeben von ber hiftor. Commiffion ber k. Alabemie ber Wiffenfchaften in
Bien. 2. Abth.: Diplomataria et acta. 20 Br. Wien, Gerold's Eohn, 1860. 8.
Zuhalt: Urkundliche Beiträge zur Geſchichte Böhmens und feiner Nachbar-
länder im Zeitalter Georgs von Pobiebrad 1450—1471. Gefammelt n. hereg.
von Frz. Palady. XVI u. 665 ©. (Bergl. oben ©. 898).
Jahrbuch für vaterTändbifhe Geſchichte. 1. Zahrg. Wien, Gerofb's
Sohn, 1861. V, 408 ©. 8.
Enthalt: Wolf, Joſeph U. und Friedrich II. in Neuſtadt 1770. &.1—22.
556 neberſicht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
— Büpinger, Nachrichten zur Sfterreichifhen Geſchichte in altruſſiſchen Jahr⸗
buchern überfeßt und erlärt. S.28—46. — v. Karajau, 3. Haybn in Lon⸗
bon 1791—1792. S. 47—166. — Dümmler, fünf Gedichte bes Sebulius
Ecortus an den Markgrafen Eberhard von Friaul, zum erfien Male herandge-
geben. S. 167—88. — Fiedler, zur Geſchichte Wallenſteins. S 189— 206.
— Böhmer, Schreiben des Könige Johann von Böhmen an feinen Machtbo-
ten am päpftfihen Hofe, Nov. 1345. &.207—14. — Wattenbad, aus ber
Chronik der Auguftiner zu Glatz. S:215—42. — Aſchbach, bie britannifchen
Aurifiartruppen in ben römifhen Donaufändern. S. 253—72. — Bfeiffer,
das Donauthal von Ladislaus Suntheim. ©. 273— 97. — Müller, ein grie
chiſches Schreiben des Sultan Suleiman an Anbreas Gritti über die Belagerung
Wiens im 3. 1529. S. 299—317. — Feil, Berfuhe zur Grünbung einer
Alademie der Wiffenjchaften unter Maria Thereſia. S. 319—407.
Glüdfelig, Dr. Legis, Studien Aber den Urfprung bes öflerrei-
Hilden Kaiferhaujes. Nebft 3 Hiftor.-genealog. Taf. (in gr. 4. u. qu. Fol.)
Prag, Kober u. Markgraf, 1860. XXI, 147 ©. 8.
Storis biografica dei regnanti di casa d’Austria, dall’ ori-
gine fino ai giorni nostri. Coi rispettivi ritratti. Triest, Coen, 1858. 151 &. 8.
Blusthal, F. S., Leopold Graf von Berhtold, ber Menfchen-
freund. Mit Eopien vou Driginalbriefen bes Kaifers Ferdinand IL, Erzherzogs
Leopold Wilhelm u. der Kaiferin Maria Therefia. Brünn, Nitſch, 1859. VI,
95 ©. 8.
Shmidt-Weißenfels, Ed, Fürſt Metternich, Geſchichte feines Le-
bens u. feiner Zeit. 8. u. 9. (Schluß-) Lfg. 2 Bo. m. Porter. in Stahl n. lith.
Tach. Prag, Kober u. Markgraf, 1860. VII, ©. 161—328. 8.
Campagnes du FeldmarechalRadetzky dans le nord de l’Italie
en 1848 - 1849 par un ancien officier superieur des gardes imperiales rus-
ses. (Princo Alexandre Trobetzkoy). Nouvelle edition. Leipzig, Brock-
haus, 1860. XI, 272 S. 8,
Carl Shwabe von Waifenfreund, Minifterial-Eoncipifi, Berfud
einer Geſchichte des öfterreihifhen Staats-Credits und Schul⸗
benwefens. Erſtes Heft. (Einleitung: Gefchichtlihe Rückblicke. — Defterreichs
Lage und Zuftände, feine Staats-, Eredits- und Münz-Berhältniffe beim Beginne
bes 18. Jahrhunderts.) Wien, Carl Gerold's Eohn, 1860. 60 S. 8.
Nikolaj Dyakowski, Dyarugk wiedenkiej Okayi roku
Dentfäge Probinzialgeſchichte. Die IRerr. Stammlande. 657
1688. Krakow 1861. (Tagebud) über bie Belagerung von Wien im J 1683).
986. 16.
Helfert, of. Aer. Freihr. v., Die öfterreihifhe Bolkeſchule.
Gefchichte, Syſtem, Statifiil. 1. Bb : Die Gründung ber öſterreichiſchen Volks⸗
faule durch Maria Thereſia. Prag, F. Tiempsty, 1860. XXI, 679 ©. 8.
Der Berfafler diejes wichtigen Werkes hat es in einer hohen amtli⸗
hen Stellung unternommen, die vielleicht nur ihm in dieſem Umfange zu⸗
gänglichen Quellen für eine willenjchaftliche Arbeit zu verwenden, welche
einen entſchiedenen Fortſchritt in ber Geſchichte des neueren Schulweſens
begründet, zugleid aber auch neue werthuolle Materialien zur Geſchichte
der Regierung der Kaiſerin Maria Thereſia enthält.
Der hier vorliegende umfangreiche erſte Band behandelt die Geſchichte
ber Gründung ver Volksſchule durch die Kaiſerin. ine lehrreiche Ein-
leitung ſchildert die Schul- und Bildungszuſtände der Mitte des 18. Jahr⸗
hunderts, weiſt nach, was in früherer Zeit für das Schulweſen in ten
einzelnen Provinzen gejchehen war, und verfolgt Die neue Organiſation ber
Boltsihule von ihren erften Anfängen. Für dieſe Darftellung konnte ber
gelehrte Verf. überall neues, unbelanntes archivaliſches Material benügen,
mit beflen Hilfe er ein lebendiges Detailbild im Fichte und Gepräge jener
Zeit entwirft. Wir lernen nicht allein vie verſchiedenen Methoren und
Schulpläne Tennen, ſondern aud die Träger und Beförderer des großen
Wertes treten hervor; wir können nah allen Richtungen den Gang ver
einzelnen Organijationen verfolgen und den Antheil der einzelnen Perſön⸗
lichleiten würdigen.
Mit beſonderer Vorliebe ift die Wirkſamkeit bes Grafen Ich. Ant.
Bergen, des Staatsminifterd ver inländiſchen Geſchäfte, die fegensvolle
Thätigkeit Kindermann's von Schulſtein und Felbiger geſchildert; am an⸗
zichendſten bleibt es zu verfolgen und aus den Originalien zu erkennen,
wie die Kaiſerin ſelbſt nicht allein die Oberleitung des Schulweſens in
ihrer Hand behielt, ſondern unmittelbaren Antheil an einzelnen wichtigen
Einrichtungen hatte. Die Schulfrage war ihr eine Herzensſache geworden
und in den Borbergrund ihrer Regierungsaufgabe ganz im Sinne ihrer Zeit
getreten. Böllig klar ijt dargethan, daß ſich die Bolksjchule in Oeſterreich nicht
aus älteren Einrichtungen entwidelt bat, in ihrer neuen Geſtalt ijt fie eine
völlig neue Schöpfung, fie hört auf ein kirchliches Inſtitut zu jein und wird
in den Kreis ver Regierungsangelegenbeiten als „politicum'* gezogen,
668 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Erft durch diefe neue Organifation wird dem Lehrerſtande eine Stel-
lung im Staate gefidert und fein Bemwußtfein gehoben. Obgleich man
mit unendlichen Hinderniſſen zu kämpfen hatte, bleibt e6 fehr überrafchenn,
welche fegen&volle Früchte dieſe planmäßige Thätigleit und das Zuſam⸗
menwirken für die Sache begeifterter Perjönlichleiten in verhältnißmäßig
kurzer Zeit getragen bat. Doch ſchon der Tod der Kaiferin bringt
einen Stiliftand und eine Aenverung in ver Verfolgung des biöherigen
Syſtems.
Ueberaus ſorgfältig gearbeitete Ueberſichten und Regiſter find eine
nennenswerthe Zierde des Buches, dem wir die verdiente Anerkennung auch
über die Kreiſe der Fachmänner hinaus wünſchen. ER,
Bergmann, Joh, Zwei Denkmale in der Pfarrlirde zu Ba
ben. I. Kür Paul Rubigall den Jüngeren (f 1576) und II. für Hieron.
Salius von Hirſchperg (f 1555) nebft einer Mebaille auf ben Kanzler Hof.
Zoppl vom Hauß und feine Gemahlin Euphroſyne von Hirfchperg vom 3. 1575.
Mit 2 Kupfertf. Aus den Situngsberichten b. k. Alab. der Wiſſ. Wien, Be-
rold's Sohn, 1859. 80 ©. 8.
Mittdeilungen bes hHiftorifhen Bereins für Steiermark.
Herausgeg. von deſſen Ausfchuffe 9. Heft. Gratz, 1859. IV, 304 ©. 4.
Darin: Weinhold, Steiriſche Bruhftüde altdeutſcher Sprachdenlmale. —
Fuchs, Abt Gottfried von Abmont. — Knabl, epigraphifhe Excurſe. —
Derfelbe, neuefter Fund römiſcher Infchriften in Cill. — Ilwof, bie Ein
fälle ber Osmanen in die Steiermarl. — Schmitt von Travera, Spital am
Semmering. — Tangl, Ergänzungen zur „Reihe der Biſchöfe von Lavant“.
— Gsöth, Urkunden⸗Regeſten für bie Geſchichte von Steiermarl 1457 —79.
Hermann, Heine, Handbuch ber Gefhihte bes Herzog»
thums Kärnten in Vereinigung nit den öfterreich. Fürſtenthümern (Hanb-
buch der Geſchichte des Herzogthums Kärnten 11. Abthl.). 3. Bd. Geſchichte
Kärntense vom J. 1780 — 1857 (1859) ober der neueften Zeit. 3 Heft:
Culturgeſchichte Kirntens vom J. 1790 — 1857 (1859) oder ter uenefen Zeit.
Klagenfurt, Leon. 447 ©. 8.
Archiv für vaterlänbifhe Geſchichte und Topographie
Herausgegeben v. db. Hiftor. Vereine fir Kärnten. Redigirt von Frhr. v. An-
ferspofen. 4. u. 5. Jahrg. Mit 2 Steintaf. in gr. 8. u. qu. Fol. Kla⸗
genfurt, 1858. 60. IV, 355 © 8.
Dentfe Probinzialgefipichte. Die äferr. Stammlande. 669
Mmittheilungen bes Hiftorifhen Bereins für ſtrain. Hregeg.
von Ang. Dimitz. Jahrg. 1860.
Enthält u. a.: Abt Georg von Rein und das Mofter Lantfiraß, 1577
—1605, burch Peter v. Rabie. — Die Einfälle der Osmanen in bie Gteier-
wart 1. Bon Dr. Franz Ilwof. — Ein neu aufgefundenes Banufeript, Sup»
plemente zu bes Fchru. v. Balvafor „Zopographie vom Krain*. Bon Dr. €. 9.
Coſta. — Die Stiftungenrkunde bes ehemaligen Cifterzienferfliftee Maria-
kemun bei Landftraß den 7. Mai 1249, von B.v.Radic. — Fortſetzung ber
Auszüge aus P. Biandi’6 Documenta historiae Forojuliensis saeculi XIII.
ab anno 1200 ad 1299. — Dertlihes in Laibach vom Juli 1815 bis Ende
1818. — Rüdblid auf die ehemals beftandenen Klöſter ber Klarifjerinnen im
Kran, indbefondere auf jenes in Laibah. — Kurze Geſchichte der Herrichaft
Adelsberg. — Stiftungsbrief des Klofters St. Klara zu Lad — Urkunden⸗
Negeften und andere Daten zur Geſchichte dieſes Klofters. — Annalen ber lan⸗
desfürfiliden Stadt Qurkfeld. — Beiträge zur Geſchichte der bisherigen Lane
desverfaffung des Herzogtums Krain. Von Dr. Coſta. — Regeften, den beut-
fen Ritterorden in Laibach betreffend.
Kurze Geſchichte des Salzburger Domes v. ©. A. P. Salz⸗
burg, Slouner, 1859. 26 ©. 16.
Geſchichte bes f. f. Sauptihießftanbes zu Salzburg und bes
Sääpgenweiens im Herzogtyum Salzburg vom Mittelalter bis auf unfere Tage.
Bon Anton Ritter von Schallbammer, k. k. Hauptmann, Ehrenmitglied bes
Ferdinandenms x. Galzburg, Verlag ber Mayriſchen Buchhandlung, 1859.
V, 1246 8.
Beiträge zur Geſchichte Tirols. Herausgeg. vom Ferdinandenm
ale hiſtor. Abtheil. der Zeitichrift beffelben: 3. Folge. 9. Heft. Imusbrud,
Bagner, 1860. 144 © 8,
Dieje Publication enthält: Beiträge zur Geſchichte Tirol's in ber
Zeit Biſchof Egnos von Briren (1240— 1250) und Trient (1250—1273)
son Joſ. Durig. Der Verf. verjelben, mit der einjchlägigen allgemei-
sen und fpezialgeichichtlichen Literatur wohl vertraut, hat das vorhandene
Uuellenmaterial durch archivaliſche Mittheilungen wejentlich bereichert und
auf dieſem Grunde eine für die Geſchichte des Landes ſehr wichtige Zeit⸗
periode zum erſtenmale kritiſch durchforſcht und mit Ausführlichkeit und
Borurtheilsloſigkeit geſchildert. Das allmälige Anwachſen und die Aus⸗
560 WUeberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
breitung der Herrichaft ver Tiroler Grafen im 13. Jahrhundert und ber
Kampf dagegen, welchen Egno von Eppan für die bedrohten Rechte ſei⸗
ner Bisthümer unternommen, und in welchem er jchlieglih fo gut wie
völlig unterlag, find Vorgänge, die für die Entwidlungsgeichichte ber
Territorien nicht minder wie für die mehrfach eingreifende Politik ver
legten Staufen von weientlihem Intereſſe find. Diele Bedentung des
Gegenſtandes tritt aus der vorliegenven Schrift deutlich hervor, und hätten
wir nur gewünſcht, daß eine durchfichtigere und Marere Bertbeilung des
Stoffes das Bild mehr abgerundet hätte, wobei auch die jet oft ftörenben
Wiederholungen weggefallen wären. Wenn der Berfuffer S. 27 vie
ſchon von Hormayr ausgejprochene Anfiht wieverholt, daß die Biſchöfe
von Briren wohl ſchon vor dem 13. Jahrh. mit der herzoglichen Gewalt
befleivet gewejen feien, fo vermögen wir dem nicht beizupflichten. Ein
ſolches Verhältniß würde dem Staatsrechte mindeſtens des 10. und 11.
Jahrhunderts völlig zuwiberlaufen, und fo lange nicht etwa nachgewieſen
wäre, daß die beutfchen Bisthümer in der Regel außerhalb des Herzogthums
geſtanden, müßte eine foldhe Annahme zum minveften auf pofitive Zeng⸗
niffe gegründet werben, was im dem gegebenen Falle nicht möglich if, wie
ber Verf. felbft zugefteht. Vielmehr unterfcheivet fi, um nur Eines zu ers
wähnen, die Immunitätsbeftätigung von 1111 (Böhmer N. 2005, Hor-
mayr Beitr. 3. Geſch. Tir. I, 62) in nichts von Privilegien ähnlicher Art.
In den Bemerkungen über den tiroliihen Bunvesbrief angeblich vom
Yahre 1323 ©. 119—136 hat P. Yuft. Ladurner überzeugend nachge⸗
wiefen, daß dieſes fonderbar genug von früheren tiroliichen Hiftorilern in’s
3. 1323 verſetzte Schriftſtück in's 3. 1423 gehört. — Bon demſelben
Berf. finden fih am Schluffe nody zwei kürzere Erörterimgen. Th. K.
Das Programm des !. E. Staatsgyumnafiums zu Innsbrnd
vom 93. 1859 enthält Gefhichte des Gymnaſiums feit dem Gintritte ber
bayerifchen Landeshoheit bis in bie neuefle Zeit von Direltor Siebinger.
(Fortf. u. Schluß) 27 ©. 4.
Scherer, P. A., Geographie und Gedichte von Tirol, em
Lejebuch für die vaterl. Jugend. 2. verb Aufl. Mit 1 (fith. m. color.) Karte
von Tirol (in 4). Iunebrud, Wagner, 1860. 216 ©. 8.
Alois Moriggl, Frühmeſſer, ber Feldzug db. 3. 1805 und feine
Folgen für Defterreih überhaupt und für Tirol insbefondere
1. Bd. Innebrud, Wagener, 1860. 184 ©. 8.
Deutjſche Provinzialgeſchichte. Böhmen zu; 561
il. Böhmen. Maͤhren. Schleſien.
Palacky, Franz, Geſchichte von Böhmen. ©. oben ©. 398.
Müller, J. Geſchichte von Böhmen von Einwanderung ber Bojer
bie anf unſere Tage. Für Schule u. Hans. Prag, Lehmann, 1861. VI,
244 S. 12.
Altertpämer u. Dentwürdigkeiten Böhmens. Mit Zeichgn. v.
Hof. Hellich und Wild. Kaudler. Beichrieben von Ferd. B. Mikowee.
1. 8b. 8.— 12. 2%fg. und 2. ®b. 1. u. 2. %g. Prag, Kober u. Markgraf,
1860. 4.
Gindely, Ant, Dr., Böhmen und Mähren im Zeitafter ber
Reformation. 1X. u db. T.: Geſchichte der böhmischen Brüder. 2. Ausg.
(Zitelauflage). In 10 Liefgen. 1. Liefg. Prag, Bellmann, 1861. VIII,
128 ©. 8.
Studien zur Geſchichte ber altböhmifhen Literatur von Jur
lins Zeifalil. III. Herr Smil Flaſchka von Pardubic. IV. Brud-
Rüde der Aufelmolegenbe. Wien, K. Gerold, 1860. 16 ©.
Herr Julius Feifalit hat auch im Laufe diefes Jahres uns mit ber
Fortſetzung feiner Studien (}. Band 3 dieſer Zeitichrift S. 501) über
bie altböhmijche Literatur befchenft. In Nr. I trachtet er die Frage zu
beantworten, welche von den, gewöhnlich dem Hrn. Smil zugejchriebenen
Gerichten rühren wirklich von ihm her, und bei welchen wird er fäljchlich
als Berfaffer genannt? Nach einer wijlenjchaftlich-kritiichen Unterfuchung
entſcheidet er die Frage dahin, daß nur das Lehrgedicht „ver Thierrath“,
von Hrn. Smil verfaßt wurde. — Nr. IV ift eine kritiiche Beurtheilung
der von Hanfa bejorgten Herausgabe dieſer Legente mit Hilfe der Bruch⸗
ftüde einer von Horky 1819 entdedten älteren Handſchrift. Feifalik be⸗
zeichnet den Beginn des 14. Jahrhunderts als den Zeitpunkt, in welchem
jene Legende verfaßt worden fein möchte.
Ueber die Königinhofer Handſchrift von 3. Feifalik. Wien,
Gerold 1860. 128 S. 8.
: ... Durch manche andere dringende Arbeiten verhindert konnte Feifalik
dieſe lang erwartete Abhandlung erſt jegt erſcheinen laſſen. ‚
Hiſtoriſche Zeitſchrift V. Band. 36
662 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
Feifalik fucht die Thefe zu beweiſen, „daß bie Gebichte der Koͤni⸗
ginhofer Handſchrift untergefehoben und erft in unjerem Jahrhundert ent-
fanden ſeien“.
Nach einigen perjönlichen Bemerkungen und Verwahrungen gegen
„incruſtirten Slavenhaß“ geht ver Verfaſſer auf die Unterfuchung ber
Frage Über, ob die Gedichte der Handſchrift volkothümlich, ob dieſe Ge⸗
dichte Volkslieder fein? Mit ver Beantwortung berjelben, fagt der Berf.,
ftebt oder fällt die Handſchrift felbft. Hr. Feifalik ftellt nun die Behauptung
auf, daß den Gerichten ver Königinhofer Handſchrift alle jene Eigenthüm⸗
lichkeiten fehlen, welche man von einem Volksliede verlangen darf, daß fie
fomit keine Bollsliever fein können. Wenngleich der Verf. einen großen
Aufwand von Scharfjinn und Gelehrſamleit in dieſem wie in den anderen
Buntten feiner Bewersführung entwidelt, fo ift mit dieſer Beweisführung
allein, nach unjerer Anficht jelbft für den Fall, daß ihm biefelbe geglädt
wäre, noch nicht erwielen, daß die Handſchrift unächt ift.
In de I Abtheilung hat fih Hr. Feifalik zur Aufgabe geftellt
nachzuweifen, daß bie Gedichte ver Hanbfchrift, welche heidniſchen Urſprungs
fein follen, „trotz aller Affectation altheidniſcher Geſinnung“, doch nicht
von einem Heiden herrühren, fondern nur in fpäterer Zeit entfpringen
konnten. ®
Hr. Feifalit fpricht überhaupt (III) dem Verfaſſer der Gedichte bie
Kenntnig der Sitten umd Gewohnheiten des 13. Jahrhunderts ab. Im
dem Gedichte „Ludise und Lubor‘“ zeigt fi) die ganze „bettelhafte Ar⸗
muth‘ des Verfaſſers der Handſchrift an poetifcher Kraft und an leben-
diger Kunde von dem Treiben des Mittelalters. — Der IV. Abfchnitt
ift dem Nachweiſe gewidmet, daß die Königinhofer Handſchrift in den Ent⸗
widlungsgang der poetijchen Literatur nicht pafle, da jene Gedichte weder
Alliteration noh Reim enthielten.
Aber auch die in einigen Gedichten vorkommenden Beziehungen auf
hiftorifche Facta (V), auf den Einfall der Sachſen und die Tatarenfchlacht,
können nad Anficht Feifalik's für die Echtheit nichts bemeifen, weil jene Er⸗
eigniffe ſich entweder gar nicht, oder nicht in ver gejchilverten Art und
Zeit nachweiſen laffen.
Hr. Beifalit kommt zum Schluffe, daß in der Handſchrift — bie
Sprache und Sprachformen abgerechnet — nichts altes und nichts alt»
Deutſche Provinzialgefhihte. Böhmen zc. -- 663
bößmifches ‚und am allerwenigften nichts vollsthümlich altes vorhanden ift.
ber Berjaffer hält die Königinhofer Handſchriſt für eine Fälſchung aus
neueiter Zeit. Am Schlufe ver Brochüre entwidelt er feine Anfichten
über die jogenannte „Örünberger Handſchrift“, welche er auch jür un⸗
recht hält.
Feifalik legt in diefer Brochüre gründliche Kenutnifle der böhmiſchen
Literatur und philologiſches Willen an ven Tag; die Form feiner Polemik
iſt ſarkaſtiſch und vornehm, und fo ift auch bei ihm die Folge nicht aus»
geblieben ; die Eechijche Agitation bat fih aus allen Tönen gegen ihn er»
boben. Auch gegen ihn wurden Spottgedichte gejchmiedet, die nad Art
des befannten „‚Schuselka näm pise‘‘ auf dem Repertoire cehiicher Bän⸗
lelfänger fteben.
Wie dadurch die wiflenichaftliche Seite der Frage gefördert wird,
vermögen wir freilich nicht abzufehen.
Zivot svatd Katering Legenda, Die „flavifche Legende ber heili-
gen Katharina“ herausgegeben- von Dr J. Pecirka, unb für ben Drud rebigirt
von C. 3. Erben. — Prag, 1860. XXIV., 221 ©. 8.
Dr. Pedirka entvedte die Hanpfchrift dieſer Legende in der k. Bi⸗
bliothel zu Stodholm. Erben ift ver Anficht, daß viejelbe gegen ben
Schluß des 13. Jahrhunderts von einem Priefter verfaßt worden fei, aljo
um jene Zeit, im weldher die Alerandrid, vie Legende von Judas
und Pilatus, der 12 Apoftel, des bi. Alerius u. a. getichtet wurden.
Die Stodholmer Handſchrift ſtammt aus ver Rojenberg'ichen Bibliothet
md ift eine Copie aus dem 14. Jahrhundert. Erben hat fomohl duch
die Herftellung eines correften Textes wie tur Beigabe eines Bocabu-
lariums ſich ein großes Verdienſt um vie St. Katharinen Pegenve erworben.
Peeirka fagt, daß diefer Pegende in der böhmiſchen Piteratur ter Rang
glei nach der Königinhofer Handſchrift eingeräumt werden müſſe.
Bäjeslovny Kalendar slovansky cilipozustatky Pohans-
kosv&ätecnych obraduv slovankskych usporadal J. J. Hanus.
Prag, Kober u. Markgraf, 1860.
I. J. Hanus, ber geiftreihe Kenner des ſlaviſchen Alterthums, hat
fhon durch feine „Sprichwörter-Fiteratur“ (böhmiſch), durch die, Abhand⸗
lungen zur ſlaviſchen Steuerfrage“ (deutich), Aber die „alterthümliche Sitte
368
564 Ueberfläht der hiſtoriſchen Literatur von 1860.
der Angebinve bei ven Deutſchen, Slaven und Fittauen” (deutſch), „über
die Schriftzeichen, in welchen ber bl. Cyrill ſchrieb“ (böhmifh), „Über ven
bulgarifhen Mönch Chrabru“ (deut), einen wohl begründeten Ruf als
Altertdumsforfcher in der höheren Bedeutung des Wortes erlangt. Er un⸗
ternahm es in dem vorliegenden „mythologiſchen Kalender der Slaven“
in jedem Kirchenfeſte, profanen Gebrauche, Kinverfpiele der Gegenwart
u. |. w. den Zuſammenhang mit ven alten heidniſchen Feierlichkeiten und
Ceremonien aufzujuchen. Er begnügt ſich nicht mit finnreihen Excurſen
in der mythologiſchen Welt der Slaven, er zieht vielmehr Bergleiche mit
jener der Germanen, Romanen und des Altertbums überhaupt; daß er
dabei auf die älteften Culturvölker des Dftens Rückſicht nimmt, iſt felbft-
verſtändlich. Dieſer Kalender ift das Ergebniß langer und tiefer Studien,
welche die flaviiche Culturgeſchichte wahrhaft bereichert haben. Es find
Beiträge zur Entvedung jener geheimnißvollen Quellen der Gejichichte der
menſchlichen Gefittung, welche den Forſcher endlich zu einem gemeinjchaft-
fichen Urfprung der Culturidee führen werden. — Danfenswerthe Beiga-
ben find die Berzeichniffe flawiicher, deutſcher und folcher fpecifiichen
Ausprüde in anderen Sprachen, welde im Kalender vorfommen; bann
die vergleichenve Weberficht ver altrömiſchen, der Kicchlichen, ſlaviſchen und
ventichen Feiertage, zum befferen Verſtändniſſe der altſlaviſchen Ceremonien.
Feftlalendber ans Böhmen. Ein Beitrag zur Kenntniß bes Vollkelebens
und Vollsglaubens in Böhmen. Bon D. Freihr. v. Reinsberg⸗Düringe⸗
feld. I. Lieferung. Wien u. Prag, Kober u. Marfgraf, 1861.
Der Berfafler unternahm e8, die Feſte und Gebräuche Böhmens zu
fammeln und nad) ven Tagen unſeres Kalenders zu ordnen. Die Arbeit
gibt ein Bild der reichen Phantafie und des Gemüthslebens des böhmijchen
Volkes. Die Heiligen, die in Böhmen verehrt werden, die kirchlichen Feſte,
die Gnadenorte, die Gelöbniffe und hiftoriichen Feſte, die volksthümlichen
Gebräuche und Ceremonien, Volkslieder, Sprichwörter und Wetterregeln
finden bier ihren Pla und ihre geiftvolle Deutung. Manches greift in
‚das Gebiet des bajeslovny kalendär des Hanus; doch hat Hr. v. Di
ringsfelo nur Böhmen und die poetifche Seite des Stoffe. vor Augen.
Hovnik naucny. Redaktor Dr. Frant. Rieger. V Praze, Kober
'& Markgraf, 1860. 8.
Sechzehn Hefte (von A- C) dieſes wifjenfchaftlichen Lexicons fin
‚ Dentiche Provinzialgeſchichte. Böhmen ꝛc. 565
bereits erfchienen. Treffliche Aufjäge hiſtoriſchen Inhalts haben Palady
und Tomel dazu geliefert. Insbeſondere ift Palacky's Biographie „Ctibor
von Cimburg“ ſehr bemerkenswerth.
Casopis Musea k. cesheho. Prag, 1861.
Unter dem reihen Inhalt dieſer Zeitjchrift ift Hattala’8 Abhandlung
zu Gunſten der Echtheit ver Grünberger Handſchrift hervorzuheben. (Auch
gegen Feifalik's Brochüre über die Königinhofer Handſchriſt wird Prof.
Hattala fiherem Bernehmen nad auftreten und die Echtheit diefer Hand⸗
ſchrift vom philologifchen Standtpunkt aus zu erweijen fuchen), dann bie
Beiträge zur Biographie böhmifcher Schriftfteller. Ueber flaviihe Fami⸗
liennamen von Hulakowsky. Ueberficht der ſüdſlaviſchen Literatur.
Moravan. Kalend&r na rok obycejiny 1861. V Brne, 239 &. Her
ausgegeben auf Koften ber Härebität von Cyrill und Methob. |
Bringt einige recht gute, populär gehaltene Hiftorifche Aufſätze, welche
fi zunächſt auf die HL Slavenapoſtel Eyrill und Method, dann auf den
hl. Clement und deren Wirken beziehen. Die Häredität, über deren Wirk⸗
ſamkeit im 3. Bde. dieſer Zeitichr. Näheres angegeben wurde, ftellt ſich
zur beionderen Aufgabe das nationale Gefühl der unteren Vollsklaſſen durch
das religiöje zu erweden. Es wäre Thorheit nicht zugeben zu wollen, daß
die Häredität auf dem beften Wege ift, ihre Zwecke zu erreichen, daß fie mes
fentlich beitrug, die Bildung des jlavifchen Volkes und fein nationales
Bewußtſein zu heben.
Rozprävy z oborn: Historie, Filologie a Literatury. Roc-
nik I. Vydaratele: Josef a Hermenegild Jirecek. Ve Vidni, 1860.
96 G. 8.
Die gelehrten Brüder Jiredek beabſichtigen durch dieſe Abhandlungen
„aus dem Gebiete ver Geſchichte, Philologie und Literatur“ ein wiſſen⸗
ſchaftliches Organ zu ſchaffen, welches vie Selbftfenntniß des cechoflavi-
fhen Stammes fördern fol. Die einzelnen Auffäge, darunter jene über
„vie Bibel von Kralig (der mähriſchen Brüder) und ihre Ueberſetzer“, über
„bie türkiſchen Denkwürdigkeiten des Michael Konftantinovic“, über „die
Gerichtsverfaffung tes 15. und 16. Jahrhunderts in Schlefien”, dann
„über vie Wirkungen der Hauchlaute in der böhmiſchen Sprache”, berech⸗
figen zu ber Erwartung, daß bie flavifche Piteratur durch dieſe „Abhand-
lungen“ wirklich bereichert werben wird. Diefer Unternehmung reiht fich
566 ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
der vom Fürften Rudolf von Then und Taris eben jetzt herausgegebene
„Prävnik“, eine juriftiiche Zeitfchrift, dann der „Pozor an, welcher, wie
der „Hlas“ in Mähren, die kirchlichen Sntereffen in ber Tageslitertatur
vertritt. ine namhafte Anzahl großer und Feiner politifcher Journale,
welche feit Kurzem neu erjchienen find, befunden das kräftige Puljiren bes
nationalen Lebens in Böhmen und Mähren.
Situngsberichte der k. böhmiſchen Befellfhaften der®ßiffen-
fhaften in Prag. Jahrg. 1860. San. — uni. 115 S. 8. Prag. Gerabel. — Phi
Iolog. Section: 9. Jänner 1860: Hattala Verhältniß ber Königinhofer Handſchrift
zur flavifhen Vollspoeſie 23. Jänner: Prof. Höfler Aber bie Belagerung von
Magdeburg durch Tilly. 6. Feb.: Brof. Nowotny über bas Futurum im Ela»
vifhen. 20 Feb.: Prof. Wocel über das in ber Prager k. Univerfitätsbibliothet
befindliche Paſſional der Aebtiffin Kunigunde. 5. März: Hanka über einen böh-
miſchen Wanbfalenber für das J 1517 von Baclar Zatedy. P. Erwin Bey
rauch über die Hanbfchriften des Menzel Kozman , eines böhmiichen Geſchicht⸗
fhreibers des XVII. Jahrh. 19. März: Hr. Tomel über die Topographie ber
Klleinfeite zur Zeit Karl IV. 23. April: Hr. Wocel über bie ſſlaviſchen Runen
zeichen auf den Ipolen von Rhetra. 21. Mat: Hr. Prof. Höfler über das am
gebliche Echreiben Rupprechts von ber Pfa an König Wenzel. 11. Ium:
Hr. Hanka über die ältefte bisher befannte böhmiſche Ueberſetzung ber apokryphen
Evangelien Nicodemi und ber Briefe bes Pontius Pilatus über bie letzten Le
benstage Jeſu Chriftt.
Mährens allgemeine Geſchichte. Im Auftrage bes mährifchen
Landesausſchuſſes dargeftellt von Dr. B. Dubil. I. Band. Ben ben älteften
Zeiten bis zum Jahre 906. Brünn, Georg Gaſtl, 1860. XIX. 402. 8.
ALS die mähr. Stände vor nahezu 30 Jahren ven Archivar Boczel
aufforbderten, eine Geſchichte Mährens zu fchreiben, lehnte jener dieſen
ehrenvollen Auftrag ab, „weil noch zu wenig hiſtoriſches Material vors
handen jei; es müßten zuwörberft al’ die Schäge, welche in ben öffent-
lihen und Privatarchiven Mährens verborgen find, gehoben werben; fonft
fönnte bie geftellte Aufgabe nicht gelöst werben“. — Es ift in der ge
Iehrten Welt bekannt, was feither in dieſer Richtung in Mähren geſche—
hen. Aber aud die großartigen Forſchungen in Deutſchland, die Quel⸗
lenwerke und die kritiſchen Stutien mußten natürlich ähnliche Arbeiten in
Mähren und Böhmen mächtig fürdern und die Möglichkeit, eine Pandes-
geſchichte Mährens zu fchreiben, anbahnen helfen.
568 ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur von 18600
triot blidte mit Andacht und Weihe auf jene heifige Stätte, illa loca, ubi
coepit Christienites! °
Diefe Stimmung fand Dr. Dudik vor, als er es in feiner Gefchichte
Mährens unternahm, die fromme Tradition über Welehrad, daß nämlich
diefes mährifche Welehrad ver wirkliche Sig Method's fei, anzuzweifeln.
Mit akademiſcher Ruhe behandelte er dieſe für die Ezechoflaven brennende
Frage. Es war ein Fehler, dag Dudik dieſer Tradition einen Stoß
verfetste, ohne fie völlig ummerfen zu können. Ein katholiſcher Priefter,
ber mit dürren Worten jene weihevollen Ueberlieferungen , jene Lieblinge»
gedanken des Volles angriff, erfchien wie ein Verräther des Baterlandes
and wie ein Ungläubiger zugleih. Dean erklärte viefen Benebictinermönd
gleichſam für wogelfrei.
Es verging faft kein Tag, an welhen in einem ber in Böhmen
und Mähren in böhmijcher Sprache erfcheinenven Tagesblätter ver Name
des Berf. nicht mit Abfchen genannt und Dubif als entarteter Sohn des. Bater-
lands, als Berräther dem üffentlichen Haſſe preisgegeben worden wäre.
Spottgevichte und fatirifche Schriften auf Dudik wurden colportirt, umd
man begann erftere fogar in Wirthshäufern abzuſingen. Dudik wäre
bald die nationale Vogelſcheuche geworden, wenn nicht Dinge von höhe.
rem Intereſſe, die Conftituirungsfrrge des Reiches, jener Hete für den
Angenblid ein Ende gemacht hätten. Es muß zwar zugegeben werben,
daß wenn ein anderer Mann als Dr. Dudik vie gleichen Angriffe anf
bie Welehrader Tradition gemacht hätte, wie 3. B. lange vor ihm Abbe
Dobrowsky, ein fo ftarfer Sturm fid) nicht erhoben hätte, allein es darf
auch nicht verfannt werben, daß in der Hetze gegen Dudik eine nicht ge-
ringe Manifeftation gegen das Deutjchthum lag Nur die Slaven in
Mähren, welche allerdings die überwiegende Mehrzahl bilden, nahmen an
jener Verfolgung activen Antheil, vie Deutjchen verbieten fich neutral.
Dubif wurde ad) als Theilnehmer jener mythiſchen Verſchwörung ange
jehen, welche nacheinander alle die clafjiichen Denkmäler altböhmifcher Pis
teratur als falsa, die Großthaten ver Czechoſlaven als fables convenues
barzuftellen beabſichtigt. Wie Feifalit und Büdinger die Königinhofer
Handſchrift, Schwammel tie Mongolenſchlacht und Held Jaroslav, fo
habe Dudik, jagt man, vie ftoßefte Erinnerung Mährens in ten Staub
gezogen, Welehrad als Ammenmährchen und König Spatopluf als einen
harakterlojen alten Herrn gejchilvert; dies alles, um die Raceninferiorität
Dewiſche Provinzialgeſchichte. Vöhnen zc. :. 509:
ver Slaven zu bemonftriren. Es bedarf wohl hier nicht der Bemerkung,
daß die erwähnten Gelehrten nicht im Einverftändniffe und nicht nach
vereinbarten Programmen handelten; allein die Gleichartigkeit und Gleich»
zeitigkeit der kritiſchen Arbeiten Feifalik's, Büdinger's, Schwammel’3 und
Lorenz’8 mit der „Geſchichte Mährens“ haben jenen fonderbaren Verdacht
erregt und den Haß gejhärft, zumal, Büdinger ausgenommen, dieſe Herren
aus Mähren ftammen und als. „odrodilci“,. „Entartete” betrachtet wer⸗
ben. Es iſt jelbitverftänplih, daß nationale Sympathien over Antipa-
thien in wiflenjchaftlihe Arbeiten nit bineingetragen werben dürfen;
une die Krikik, nur dieſe allein und das, was durch ihre feinen Siebe
paifirt, kann Anſpruch auf Beitand haben. Doch müflen wir e8 geitehen,
baß eine gewille „Luft am Zweifel” durch die kritiſch-hiſtoriſche Schule,
deren aufßerorbentlihe und großartige Bervienfte nicht in Abreve geftellt
werben können, hervorgerufen wurde, daß Mancher mit vorgefaßten Mei⸗
mungen an’ Werk geht, mit dem Entſchluſſe, einen Vorgänger auf Uns
richtigkeit zu ertappen. Es iſt eine gewiſſe Freude, ver erfte zu jein, ber
durch Icharflinnige Combinationen langeingebürgerte Anfichten und Bors
urtheile zertrümmert hat.
Dr. Dudik hat nicht allein in ſeinem Feldzuge gegen vie Welehraver
Tradition den Gegnern Blößen gegeben, er hat vielmehr in manchen an-
dern Partien der „Geſchichte“, einem gewillen Triebe nah Originalität
folgend, Lesarten von Urkunden und Behauptungen aufgeftellt, die jeine
keitiichen Talente nicht emipfahlen. Dr. Dudik jagt: Safarit und Palady
in der Urkunde dat. 27. November 1228 (Ced. dipl. Mor. II. 193) in-
terpunftiren: Velegrad civitas primo modo burgus, idy aber interpunttire:
Welegrad civitas, primo Modoburgus und halte diejen ganzen Paſſus für
Folge einer hiſtoriſchen Verwechslung ver ehemaligen Hauptftadt des pan⸗
noniſchen Mähren's Mofaburg, welches vielleicht, wie Dobrowely ver-
mutbet, bei ven Slaven Welegrad hieß, mit unjerm mährifchen „Weleh⸗
rad”. Dudik ftellt ji bier mit zwei anerkannten Autoritäten in ge
wagten Gegenſatz, ohne jeine Pejeart näher zu motiviren. Mit der In⸗
terpretation ter Urkunde Cod. dipl Mor. I. 71 geſchah ein kleines Uns»
gläd, der daſelbſt vorkommende Ausdruck: „Scoti (eine Münzſorte) wurde
mit „Schotte“ überjegt, und zwar mit der näheren Bezeihnung „Schot⸗
tiſcher Kaufmanıı“.
. Durch dieje und ähnliche Mängel, welde vielleicht hätten vermieden
570 Ueberſicht der hiſteriſchen Literatur vom 1860.
werben können, verloren die Lucubrationen über Welehrad bedentend
an Gewicht und die Yeinde nannten Dr. Dubil nicht allein einen abträu-
nigen Sohn des Baterlandes, fondern aud einen unkritiſchen Forſcher.
Selbſt auch über jene Partien des Werkes, bie eine beflere Beurtbeilung
verbienten, wurde baun das Berbammungsurtbeil ausgeiprochen.
Auffallend ift das Verhalten verjenigen, welde fi) nicht zu ben Nas
tionalen zählen. Dr. Dudik fand bei jenen feine Unterflügung, und mit
Ausnahme einer Anzeige des Werkes in ver Wiener Zeitung bat bis heute
kein nambaftes ventiches Blatt fi mit einer eingehenden Beſprechung
deſſelben befchäftigt. Dudik ftubirte genau bie Quellen, er ift mit bem
Ergebniffen der neueren und neueften Forſchungen ſehr vertraut geworben;
boch wid) er infofern davon ab, als er nicht den Weg betrat, ben ber
eine oder der andere Forſcher durch unmittelbare Studien bahnte, ſondern
er verfuchte e8 auf einem britten Weg zu wandeln, der nicht der richtige
fein konnte, weil nicht alle Forſchungen Dudik's felbftftännig waren. In
dieſer Sucht, originell fein zu wollen, wird wohl der Grundfehler in ber
Anlage ımd in der Ausführung des Werkes liegen. Es bürfte eben die⸗
fer Fehler auch von Andern erkannt worden fein. Um aber das CEruci⸗
fige gegen Dudik nicht zu vermehren, zogen fie e8 vor, zu ſchweigen.
Der erfte Band umfaßt in 3 Büchern die Geſqhichte Mahrens von
den älteſten Zeiten bis 906.
Das erſte Buch behandelt die Herrſchaft der Germanen, das zweite
die der Slaven in Mähren, das dritte und ausgedehnteſte die Chriſtiani⸗
firung Mährens. Im legten Capitel dieſes Buches behandelt der Berf.
bie Kulturzuftänne Mährens im 9. Jahrhundert.
Unter ven Schriften, welche ver Werke Dudik's entgegentraten, ift zu
erwähnen: die Brochure Brandl's: Welehrap, Wiverlegung der gegen
daffelbe von Dr. Dudik im I. Bande feiner mährifchen Gefchichte erho⸗
benen Zweifel vom Standpunkte hiftorijher Kritik. Brünn, 1860. Druck
und Verlag von Buſchak und Irrgang. 28 ©. 8.
Brandl, deſſen Talente wir volle Anerkennung zollen müſſen, wirft
fih in dieſer Brochure zum Vertreter ver nationalen Sache auf, er macht
fih zum Ritter ver Welehrader Tradition. Er vertheidigt nicht ohne
Geſchick ſowohl vom hifterijch » kritiichen, wie vom firdhlich » nationalen
Standpunkt die Annahme, daß das Welehrad bei Ungariſch-Hradiſch das
Welehrad des hi. Method war. Bald darauf erfhien: „Antwort auf
Deniſche Provinzialgeſchichte. Bölenen m. STE
Brandl's Welehrad“. Widerlegung ber von ihm wider den erſten
Band der allgemeinen Gefchichte Mährens vorgebrachten fogenannten kri⸗
tifchen Bemerkungen ven Dr. B. Dudik. (Brünn, 1860. ©. Gaftl),
worauf Brandl abermals ein Heftchen erfcheinen ließ unter dem Titel:
Entgegnung auf Dr. Dudik's „Antwort auf Brandl’ Wes
lehrad“. Brünn, 1860, Buſchak und Irrgang.
Dr. Dudik trachtet in der Entgegnung den jchlimmen Einbrud, ben
der mißlungene Angriff auf die kirchliche Tradition hervorrief, dadurch
zu paralyfiren, daß er die Tendenz feiner Methopgejchichte in gewiſſen
Formeln präcijirt, welche das Wirken der hl. Staven » Apofteln verherr⸗
lihen, und auf Mähren concentriven. Im geographijchen Theile der Frage
bleibt er ſich jedoch treu; an Welehrad (bei Hradiſch) ald Method's Sig
glaubt er einmal nicht.
Brandl, unterſtützt von der äffentlihen Meinung, greift gerade bieje
letgte Frage mit Vorliebe auf und trachtet vie Beweije zufammenzutragen.
Sein Stanppunft war ein leihtr. Er erfcheint als Vorkämpfer einer
nationalen Lieblingsidee, und die Meinen Nachläffigkeiten, deren ſich ber
Berfaffer der Geſchichte Mährens ſchuldig gemacht, erleichterten ihm we⸗
ſentlich bieſen Feldzug.
Ein zweiter Band ver „Geſchichte Mährens“ iſt, wie wir hören,
beudfertig. Warum zögert Dr. Dudik mit der Veröffentlichung veijelben ?
Darftellungder altkändifhen Berfaffung besMartgraftbnme
Mähren Bon H. R. v. Chlumezky, Lanbesardivspireftor. Brünn, Bnuſchak
w. Irrgang 1861. IL © 8.
Eine kurze Geichichte des Verfalls der altſtändiſchen Berfaffung in
Mähren. Diefe Schrift erfchien nach dem kaiſerl. Diplom vom 20, Ocs
tober 1860 und hatte den Zwed bei ten ragen ber Eonftituirung Oeſt⸗
reichs auf die Mängel jener altſtändiſchen Verfaflung binzumweifen. Die
ſtaatsrechtlich hiſtoriſche Abhandlung gründet fich Lediglich auf Originals
quellen. — —
Codex diplomaticus et epistolaris Moraviae. Urkunden-
Sammlung zur Geschichte Mährens, im Auftrage d. mähr. Landes - Aus-
schusses hreg von P. Ritter v. Chlumecky und red. v. Jos. Chytil.
VII. Bd. (1331—1349) 2. Abth. Brünn, Nitsch in Comm., 1860. 4.
Da noch ein Supplement als dritte Abtheilung des vorfiegenden
572 Ueberfigt ber ‚Hiftorifchen Literatur von 1860.
Bandes in Ausſicht fteht, fo it über den Inhalt deſſelben erft nach dem
Erfcheinen jenes Supplementes zu referiven. Das aber darf fchon hier
bemerkt werben, daß dieſe mufterhafte Urkundenſammlung gerade in bem
vorliegenden Theile durch ihr reichhaltiges bisher zum großen Theil ums
bekauntes Material für die Gejchichte Karl's IV. von größter Wichtige
keit ift. K.
Blusfal, 5 ©, Leopold Graf von Berchtold, ber Menfhen-
freund Brünn, Robrer 1859.
Die Biographie eines durch hervorragende wifjenfchaftliche Bildung
ausgezeichneten mähriſchen Edelmannes (+ 1809), der durch Gründung
von Spitälern auf eigene Rechnung, Einführung nüßlicher ſanitätspolizei⸗
licher und humanitärer Anftalten, perfönliche aufopfernde Verwendung bei
der Pflege von Kranken, Unterftägung von Armen den Ruf eines wahren
Menjchenfreundes, eines öfterreichiihen Howard's erlangte.
Zivot sv. Frautiska Borgie sepsal Jakob Proch4zka. Näkla-
dem dedictoi sv. Cyrilla a Methodia pro rok 1860 V. Brne 1860. 706°
Eine populäre Biographie des Hrn. Franz Borgia, herausgegeben
auf Koften der Häretität des Heil. Cyrill und Method.
Kirhlihe Topographie von Mähren, meif nad Urkunden unb
Handſchriften durch P. G Wolny 11. Abth. Brünner Didcefe III. Bb. Bräun
1860. 508 &. (Diefer Band bes trefflihen Nachſchlagebuch's enthält bie Be⸗
fhreibung ber drei Ardipresbyteriate: Iglau, Jarmeri und Wiſchan.)
Notizenbatt der hiſtoriſch-ſtatiſtiſchen Section ber k.k. mähr.-
ſchleſiſch. Gejellihaft zur Beförderung bes Aderbaues, der Natur⸗ u. Landeskunde.
1860. 12 Hefte. Redigirt von Chriſtian d'Elvert.
Bruder Berthold von Regensburg in Böhmen und Mähren. —
Baudenkmale in Trebitih. — Der veutiche KRitterorden in Mähren und
Schlefin. — Die Gründung der Olmüger Wenzelsfirde. — Aberglaube
in Mähren. — Seclowitzer Berghüttenrechte. — Die Laienpfründen in
Mähren. — Hochzeitsgebräuche. Ein Schuldrama. — Verordnung
gegen die Freigeiſterei. — Die vom Ferdinand II. beſtätigten Privilegien
Mährens. — Der Judenrabbi Schach. — Das Schülerfeſt am St. Yla-
ſius- und Gregoriustage.
Schriften ber hiſtoriſch-ſtatiſtiſchen Section derk.k. maͤhr.⸗ſchleſ.
Deutſche Provinzialgeſchichte. Böhmen ꝛc. 673
Geſellſchaft zur Beförderung bes Aderbanes, ber Natur- und Landeslunde. Re
digirt von d'Elvert. Brünn 1860. VI, 597. U. u.d. T: Beiträge zur
Geſchichte der !. Etädte Mährens, insbefondere berlandbeshaupt-
ſtadt Bränn von Chrifian b’Elvert.
Eine wahre Fundgrube hiſtoriſchen Materials zur mähriichen Stävie-
geihichte. Die Vermögensfragen der Stadt Brünn, der bekannte „Spiels
berg” und jeine fchauerlichen Memoiren, Rechteventmäler und Statiftik,
Zunftordnungen, Amtsgejhäftsbehandlungen, Reihenfolgen ftäptifcher Wür⸗
denträger, Stadt⸗ ud Rathsverfaſſung, Mauth- und Zollbücer aus alter
und neuer Zeit find in dieſem Buche mit ftaunenswerthen Yleige zuſam⸗
mengetragen. Seit 1850 find 13 ftarfe Bände der Sectionsjchriften er-
fchienen, zumeiit von tem rührigen und emfigen d'Elvert verfaßt und edirt.
Ehre dieſer Arbeitskraft und Arbeitsfreubigfeit!
Zur Gemeindbefrage der !. Landeshauptſtadt Brünn. Bon
Chrifian d'Elvert. — Brünn 1860. Rudolf Rohrer VI., 80 8. 8. :
Eine kurze Gejchichte der Berfaffung ver Stadt Brünn in neuerer
Zeit. Iſt als Beitrag zur Lbfung gewiljer obſchwebenden Vermögens⸗
verwaltungsfrage zu betrachten. Dieſe Darftellung iſt zumeift nad)
Driginalquellen bearbeitet. |
Zur Geſchichte der Stadt Datfhik in Mähren Bon Ichaum
Dundald, Bfarrer in Malefhau. — Brünn, 1859. NR NRohrer. 386. 8-
Ein Separataborud aus dem XI. Bande der Schriften ver hiſtor.
ftat. Section. Der Berf. hat fi begnügt, chronikartige Aufzeichnungen
und Urkunden einfach chronologifh aneinander zu reihen und im Urtert
wiederzugeben. — * —
Codex diplomaticus Silesiae. Herausgegeben vom Vereine für
Geschichte und Alterthum Schlesiens. Dritter Band: Rechnungsbücher der
Stadt Breslau. %. u. db. %.: Henricus Pauper, Rechnungen der Stadt
Breslau von 1299 —1358, nebst zwei Rationarien von 1386 u. 1387, dem
Liber Imperatoris vom Jahre 1377 und den ältesten breslauer Statuten.
Namens des Vereins f. G. u. A. 8. herausg. von Dr. Colmar Grünha-
gen, Privatdocent der Gesch u. College am kgl. Friedrichs-Gymnasium.
Breslau, Jos. Max & Comp. 1860. XVIl, 172 8. 4.
Während die erften zwei Bände bes fchlefiichen Urkundenbuches vie
kirchlichen und ländlichen Berhältniffe erläutern, ift viejer dritte der ſtädti⸗
fen Entwidlung gewinme. Er ftellt und das mittelalterliche Breslau
574 Ueberſicht der hiſtoriſchen Fiteraiut von 1860.
in feiner Ölanzperiove des 14. Jahrhunderts vor Augen. „Als die zweite
Sauptflabt des mächtigen Reiches, welches die Klugheit ver Luxemburger
im Often Deutſchlands fi aufgerichtet hatte, in allen feinen Intereflen
durch weile und wohlwollende Regenten wie Karl IV. gepflegt und bed
auch wieder felbftbewußt die ſtädtiſche Freiheit wor fremden Einfluffe forg«
fältig bewahrend, hat Breslau in jener Zeit glüdlihe Tage erlebt und
Großes hervorgebracht.” Die Rechnungsbücher ver Stadt gewähren außer
einem allgemeinen Bilde des bürgerlichen Lebens tiefe Einblide in ven
ſtädtiſchen Organismus und find reih an intereffanten Notizen, welche
bald einzelne Punkte der Sulturgefchichte, bald vie auswärtigen Beziehun⸗
gen Breslau’s beleuchten. Die in diefem Bande mitgetheilten Stüde find
folgende:
1) Henricus pauper. Unter dieſem ſchwer zu erflärenden Namen
wird ein Rechnungsbud der Stadt von 1299—1358. verftanten, das
nad) Verluft des Driginald auf Grund mehrerer Abſchriften hier heraus⸗
gegeben iſt. Es enthält nur Auszüge aus den eigentlichen Rechnungsbü⸗
dern, gleihfam ſummariſche Jahresberichte über die gejammte ſtädtiſche
Finanzverwaltung. Ein geſchichtskundiger Gloſſator (des 18. Jahrh.?)
hat einige erläuternde Randbemerkungen dazu gegeben, die mitabgedruckt
ſind. Doch bei weitem mehr hat der Herausgeber gethan, der mit rüh⸗
menswerthem Eifer den Text durch ſehr zahlreiche und ausführliche An⸗
merkungen erſt recht nutzbar gemacht hat. Manches mußte indeß uner⸗
klärt bleiben, was bei der Schwierigleit der Gegenſtände und ver theil⸗
weiſen Verderbtheit des Teries nicht zu verwundern ift. An zwei Stellen
möchte ich eine Berichtigung vorſchlagen. ©. 5 erſcheint zum 9. 1300
zweimal ein „dux de Ruja“. Der Herausg. hat nun auf ©. 161 bie
gloffatoriihe Erflärung, es fei ein dux de Russia gemeint, angenommen.
Da aber Rujan die alte Form für Rügen ift, fo dürfte bier eher an einen
Herzog von Rügen zu benfen fein. Nach der Vertreibung des Wladis—⸗
laus Lokietek (1300) war König Wenzel auch König von Polen geworden
und gerieth als folher mit dem rügifchen Fürften Wizlav in Kampf (vergl.
Balady 11.1, 381, Barthold 3, 73). Vieleiht kam diefer auf dem Wege
zu einer Unterhandlung über Breslau. — ©. 47 möchte zu lejen jein: qui
habebant (vinum) in vase‘‘ da vas ſtets (S.64 u. 96) in Verbindung mit
vinum vorlommt. — Weitere Einzelheiten hervorzuheben verbietet ver
‚Raum, body will ich wenigſtens einer intereflanten Notiz aus dem I. 1314
676 ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur vor 1860.
feine Aufgabe geweien, ihn möglichft berzuftellen und wenn man nicht
gutheißen wollte, die Verbeſſerungen in ven Text aufzunehmen, fo konnten
fie do in ven Anmerkungen Plat finden. Auch mit der Beibehaltung
der oft ganz finnlofen Interpunction kann ich mid) nit einverftanden
erflären. Ich füge einige BVerbefferungen bei. (S. 150) I. 3. 2 lies:
',„hominibus (malis) ei“ 3. 3: „teneatis. Spolia fieri‘. 3.: „conque-
'rimnr exploratores‘‘, 3, 9: „sive“ (tive ift Doch wohl nur Drudfebler).
3. 10: „Resic“ wie Klofe mit Recht verbefiert hat. 3. 12: „domos
suas““. (S. 151) 11, 3. 3.: „Cui mittitur‘‘, 3. 4: geboth, dabit . . .“
3. 5: „alii communes" 3. 6. Die Worte: „et omnes Vorkeufer‘ :ges
hören auf 3. 5 vor „sive in piscibus”, die ganze verftünmelte Rede ıft
aus 1. 3.8 zu verbefiern. Ebenſo ift nach Vergleihung mit I. 3. 1
Mar, daß 11 3. 5 vor „es ponet“ die Worte: „qui in valvis non jacel”
ſtanden. — Ein breifaches Negifter erleichtert vie Benntzung dieſes
Bandes, A. C.
Lebensgefhidhte ber heil Hebwig, Herzogin u. Lande«⸗
patroninv Schlefien. 1174 — 1243. Feſtag den 15. Oftober. Nah
ben beiten älteften u. neueften Duellenjchriften zum erftienmale ausführlich nebft
kurzen Lebensumriffen ber übrigen Glaubenshelden der Didcefe Breslau chro⸗
nologifh bearb. v. Augufin Knoblich, Kapellan SS. Corpus Christi in
‚Breslau. Mit 2 Bildern ber Heiligen. Breslau, Schletter'iche Buchhanbiung
18. Elutih), 1860. XXX, 272 ©. 8.
Die Herzogin Herwig von Sclefien, die Gemahlin Heinrich des
Bärtigen und gewöhnlich vie hl. Hedwig genannt, war — das ift ein-
flimmig angenommen — eine trefflihe Fürftin, welche fih nın Schlefien
jehr verdient gemacht hat. Ste war auferdem bis zur Schwärmerei fromm
und die Bethätigung diejer Frömmigkeit, jo fehr fie in ihrem Uebermaaß
der menschlichen Natur zumiderläuft, erflärt ſich doch aus der geiftigen
Strömung jener Zeit, die man deßhalb ald Grundlage fefthalten muß,
um das auf ihr fich erhebende Bild Hedwigs richtig zu erfaffen. Sollte
man nun ihre Lebensbefchreibung herftellen, jo ließe ſich eine zweifache
Art davon denken. Entweder man gäbe in jchlichter, ungelünftelter Weiſe
den Inhalt der Legende mit Auswahl wieder und erzielte auf dieſe Art
‘ein Buch, das zwar feinen geihichtlichen Werth haben, aber doch zu er-
baulichen Zweden für kirchengläubige Gemüther anwendbar fein würde.
Oder man ginge daran, eine wirklich geſchichtliche Darftellung von bem
* — 6 er —— — —— **
Deuiſche Provinzialgeſchichte. Schleſien. 577
Leben der fchlejifchen Herzogin zu entwerfen. Daun würde e8 fi ba»
rum baubeln, aus der überwuchernden Sagenfülle ven eigentlichen bifto-
riihen Kern berauszujchälen. Es würe dieß bei der Dürftigleit der üb⸗
rigen Quellen in Einzelnen jchwierig, doch nanıentlih durch die Ver⸗
gleichung mit andern Heiligenjagen bis zu einem gewillen Grade zu er⸗
reihen und immerhin ein vertienjtliher Berjuh. In dem vorliegenden
Buche ijt feiner ver beiden hier angeveuteten Wege betreten. Wirft man
freilich einen flüchtigen Blick auf die Kapitelüberjchriften und lieſt da
z. B. (©. 32): „Fünftes Cap. — Wie an ber hi. Fürftin Hebwig
ftolger Schwejter Agnes die ganze Chriftenheit Aergerniß nahm und wie
ihretwegen Papſt Innocenz III. Frankreich nit dem Interdict belegte” jo
könnte man glauben, ein Vollksbuch ver fi zu haben; aber wenn man
näher zuſieht und bald rhetorijch = jchymwülftige Declamationen, bald kokett⸗
novelliftiiche Schilderungen findet, jo läßt man dieje Vermuthung gleich
fallen. Der Berf. wellte vielmehr das Leben jeiner Heldin „nad ven
beiten älteften und neueften (!) Quellenſchriften“ chrenologijch bearbeiten,
Alſo hätten wir dod ein wilfenjchaftliches Werk zu beſprechen? Weit ge⸗
fehlt. Das Borbild des Verfaſſers war ter „ritterlihe Graf Monta⸗
lembert“ in jeinem Leben ver bl. Eliſabeth. „Zu glauben, was die Bors
elteen glaubten, macht uns keine Schande” (S. 59). In dieſem Sate
ift ver wiſſenſchaftliche Standpunkt des Verfaſſers gut ausgerrüdt und
man wird ihm bereitwillig ein hübſches Maaß ven dem „Berge ver
jegenven Glauben”, ven er (S. 13) an feiner Helvin preijt, zuerfennen.
Er nimmt eben Alles, was die vita Hedwigis berichtet, als völlig ver-
bürgt an und erklärt es in ſüßlich himmelnder Sprade für preiswürbig,
ſelbſt — man wird es kaum für möglich halten — einen jo efelerre-
genden Ing wie den, daß vie Heilige das Geſicht ihrer Intel mit dem
ſchmutzigen Waſſer, in welchem tie Nomen zuvor ein Fußbad genommen,
gewafchen hätte (S. 112). Neues wird man in tiefem wmeitjchweifigen
Buche nicht finven, wenn man etwa Folgendes ausninimt: (S. 13) den
naiven Gedanken, wie jdhwierig das Leſen in Hedwig's Tagen geweien
jei, da „das Geicriebene jenes Jahrhunderts jekt kaum noch vie Ges
lehrten zu entzifferu vermögen”, oder (S. 164) ten geiltreihen Einfall,
daß, weil die Mongolen jedem getödteten Chriften ein Chr abgejchnitten
hätten, jeitvem ungezogene Kinder in Schlejin mit Ohrenabſchneiden bes
beoht werben; feruer ben vergeblidyen Verſuch, unjere rer durch neue
Hiorifge Seitfärift. V. Band
578 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur von: 1860.
Ausdrücke wie (S. 112) „ſich verdemüthigen“ und (S. 221) „heilig.
mäßig“ zu bereichern, endlich (S 46) die pathetifhe Behauptung, daß
vie Klöfter, deren Aufhebung „vor der öffentlichen Meinung (2?) und bem
Richterſtuhl der Gejchichte (!) noch heut nicht“ begründet ericheine (©. 240),
dereinft am Tage des Gerichts von ihren Stiftern würden zurüdgefor-
dert wernen. — Bon einem fatholiichen Geiſt lichen, ver nicht einmal
bie Lebenszeit der Päpfte orventlich weiß, fo daß er (©. 26) meint,
1182 hätte Clemens Il. regiert, wird man natürlich weber gründliche
Kenntniſſe noch eigene Forſchung erwarten. Es Tann daher kaum be-
fremden, wenn er das alte Mährchen von ver Bisthumscathedrale zu
Schmograu wieder hervorholt (S. 21) oder von einem Kaiſer Philipp
redet (©. 48) und auf Grund einer unächten leubufer Urkunde ven Her-
zog Boleslaus mit Heinrih VI. in Italien kämpfen läßt (S. 28). Er
benugte zwar Stenzel's jchlefiihe Geſchichte, aber anftatt ſich mit dem
Ergebniffe eines fo bewährten, wenn auch „irrgläubigen” Forſchers über
die Mongolenfhlaht (S. 48): „Mehr nicht ale das ift uns auf glaub»
würbige Weife von dieſem merfwürbigen Ereigniſſe überliefert worden“
zu begnügen, tijcht er und ven Bericht des Diugosz wieder auf. —
Bedauern muß man, daß die fehr hübfchen Abbildungen einem fo kläg⸗
lichen Machwerke beigegeben find. A. C.
Stillfried, Rud. Frhr. v. Grafv. Alcantara, Beiträge zur Ge-
ſchichte des ſchleſiſchen Adels. 1. Heft. Berlin, Deder, 1860. 4.
Inhalt: Stammtafel und Beiträge zur älteren Geſchichte der Grafen Schaff⸗
gotſch. Mit 2 Abbildungen und 2 Ahnentafeln.
Schnurpfeil, Heinr., Dr., Bürgermeifter, Geſchichte und Befcrei-
bung ber Stadt Ober-Glogau in Oberfhlefien. Mit der Genea⸗
logie ber Grafen von Oppersborf. Mit 1 Tab. in gr. Fol. Ober - Slogan,
Handel in Comm., 1860. XVI u. 210 © 8.
Siebenundbreißigfter Jahresbericht ber [hlefifhen Geſell⸗
haft für vaterländiſche Kultur. Enthält: Arbeiten und Veränderun⸗
gen ber Gefellichaft im 3. 1859. Breslau, 1860.
Zeitfgrift des Vereins für Geſchichte nnd Altertbum Schle⸗
fiens. Namens bes Vereins herausg. von Dr. Richard Röpell. Dritter
Band erſtes Heft. Breslan, 1860.
Sharakteriftit der ſchleſiſchen, befonbers Breslauer Arcitelturen. Mitge⸗
Deutfhe PBrovinzialgefhichte. Schleſien. 579
tbeilt von Dr. Wilpelm Weingärtner. — Die Chronik der Auguſtiner Chor⸗
herren zu Glatz. Vom Ardivar Dr. Wattenbach. — Spitäler für Aus⸗
fätige in Schlefien. Bon demſ. — Zur Geſchichte von Breslau im 3. 1741.
Bon Dr. Eruarb Eauer. — Paul Winters Eelbftbiographie. Mitgetheilt
von Prof Dr. Auguſt Kahlert. — Schickſale ber im Kreiſe Pleß belegenen
tönigl. Dominen-Amtsbörfer, Imielin, Chelm und Kosztow, vom Reyierungs-
rath Schück in Oppeln. — Ueber bie Einwohnerzahl Breslau's gegen Ende
des 16. Jahrhunderts. Bom Regierungsratd Dr. Bergius in Breslau. —
Einleitung zur Geſchichte der evangeliſchen Kirche in Brieg, vom Kreitgerichte-
rath Müller daſelbſt. — Miscellen, vom Ardivar Dr. Wattenbad:
Schleſiſche Ritter in der Schladt bei Muhlborf. — Das Repertorium Heliae. —
Das Slavenfloftler in Dels. — Das Geyer'ſche Tagebud vom Jahre 1811. —
David Nentwig. Nachträgfihes über Ausfägige und etwas über Paul Winkler.
— Feuerordnung vom I. 1340 zu Liegnitz. Mitgetheilt von Dr. Sammter.
7. NMachträge.
Amedde Thierry, recits de l’'histoire romaine au Ve
sidcle. Derniers temps de l’empire d’occident. Paris, Didier et O'*.,
1860. XXI, 516 p. 8.
Der Berfafjer geht von dem Widerwillen aus, weldyen die von ibm -
behandelte Zeit erwede, von der gänzlichen Unkenntniß, welche über die⸗
felbe herrſche: jenen hofft er zu überwinden, bieje ift er durch Entredung
einer von ihm bis dahin ungeahnten Literatur in allem Wejentlichen zu
bejeitigen im Stande. Yolgt ein ausführlicher Beweis, daß „‚bas-empire“
eine willfürliche irreführende Bezeihnung ſei u. f. w. Wir find nun bes
gierig zu erfahren, wo Hr. T. das Weientlihe und Unterjcheitende bes
fünften Jahrhunderts findet: „ver letzte Kampf“, antwortet er (S. XVi)
„zwiſchen ver unfterblihen Macht ter Ideen und ver brutalen Gewalt,
die an allen Punkten ver Welt entfejjelt ıft und über Rem triumphirt,
bietet ein großartiges und ſchmerzliches Schaujpiel: das ift die Geſchichte
des fünften Jahrhunderts“. In den Germanen jieht der Berf. natürlich
als ein Anhänger der Schule, welche in dem Untergange der Karolinger
eine Niederlage des deutſchen Elementes feiert, nichts als Barbaren, vol
von jenen „eitlen Anmaßungen, welche jie in den Wäldern Germaniens
37*
580 Ueberfiht ber Hiftorifchen Literatur won 1860.
unter ihren Zelten von Thierhäuten nähren konnten” (S. 4). Man
kennt leiht, daß bei einer folhen Auffaſſung ein Verſtändniß der neuen
politiihen und Kultur = Elemente unmöglich ift, welde mit ver Böl⸗
ferwanberung in die Geſchichte eintreten; bie ganze Anfchauung findet mit
der Berichiebung des Schwerpunftes feine Ordnung mehr und es ift ganz
begreiflih, daß Hr. T. nur „Erzählungen“ und feine Geſchichte liefern
konnte.
Aber ſtellen wir uns einmal auf den Standpunkt des Bfs. und be-
urtheilen von benifelben aus fein Werl. Es behandelt vaffelbe in zwälf
Kapiteln die Geſchichte Italiens won 467 — 493, Noricum’8 und ber
Gothen etwa in demfelben Zeitraume. Nun ijt zwar Kapitel VIII 3. B.
überjchrieben „le roi Odoacre patrice d’Italie‘ S. 272—327; etwa bie
Hälfte des Kapiteld wird aber mit einer an ſich ganz lesbaren Darftel-
fung der Eutychianiſchen Streitigfeiten angefüllt; dergleichen mag um des
allgemeinen Titels willen hingehen, ven das Buch führt. Im Ganzen
wird ſich fonft ver Anordnung des Stoffes das Lob der Geſchicklichkeit
nicht abſprechen laſſen: es ift die ganze Arbeit fo jehr auf Unterhaltung
und fo ausjchließlih auf dieſe berechnet, daß ver Verf. auf vie Auss
wahl des Materiales feine hauptſächlichſte Anftrengung richten mußte.
. Denn was die eigentliche Form betrifft, jo glaubt Ref. kaum, daß die⸗
jelbe mit ihren zahlreichen vulgären Ausprüden und Wendungen ven fran«
zöftichen Stiliften ftrengerer Schule genügen wirb.
Sieht man aber auf den Inhalt, fo darf man keinen der An-
fprüche machen, welche vie heutige hiſtoriſche Wiffenfchaft erhebt. Bon
einer Quellenkritik ift nicht im Entjernteften die Rede: es genügt zu be
merten, daß die jämmtlihen Neben in Ennodius vita Epiphanii für baare
Münze genommen und mit großer Salbung wiederholt werden. Davon,
daß in die vita Severini zahlreihe Interpolationen gekommen find, hat
Hear T. eine Ahnung. Jornandes ift ihm ein Schriftfteller, gegen
deſſen Autorität in feinem Punkte ein Zweifel auflommt; aus welchen
Quellen derfelbe feine Nachrichten geichöpft hat, gebt Herrn T. nichts an.
Die byzantiniſchen Autoren find durchaus in jenen lateiniſchen berüdh-
tigten alten Ueberjegungen citirt, vie oft gerate Das Gegentheil von dem
fagen, was das Original meint.
Nun wird man fragen, ob denn Herr T. für eine Zeit, mit welder
die deutſche Geſchichtsforſchung ſich in den letzten Sahrzehnten fo vielfach
.
Rachträge. 681
beihäftigt hat, fo gar feine Rüdficht auf dieſelbe nimmt. Herr T. cie
tirt für die Oothengeihichte einmal (S. 274) Sartorius' Verſuch, ver
1811 erihien; was feitvern auf dieſem ©ebiete geleiftet ift, von Manſo
bis auf Köpfe und Schirren, das ift natürlich gleichgiltig. Don Gen»
ſerich's Regierung wird allerhand erzählt (S. 78 fgde); Papencorbt’s
Unterfuchungen bleiben dabei unberüdjichtigt. „Niébuhr hist. rom. t. I.“
wirb als ein Werk citirt (S. 269), in welchem man über das Jahr ber
Erbauung Roms und die Ältefte Jahresberehnung Aufſchluß fuchen mag.
Aehnlich wird Sapigny citirt und im deutſcher Gelehrſamkeit parabirt
noch einmal (S. 508) Mafmann’® deutſche Heldenſage.
Dan kann ſich denken, wie die zahlreichen Fehler find vie hei
folher Art der Arbeit entftehen. Wenn von Laureacum gefagt wird
(S. 335), e8 ſei gebaut gemwejen „dans le delta que forment & leur
confluent le Danube et le Lorch“ jo ift das freilich komiſch genug, aber
doch nur neben anveren ein geographiſcher Schniger, wie er in franzö⸗
fiihen Büchern öfters begegnet. Sievering (d. i. Sigeberti villa) bei
Wien wird wieder zum Aufenthaltsorte des Severinus und dazu aus
eigener Machtvollkommenheit des Verfaſſers zu einem im Mittelalter be
fiebten Wallfahrtsorte (S. 141). Ricimer ift (S. 8) ein „‚descendant
d’Arioviste‘“, weil aus einem fuevifchen Königsgeichlechte (vgl. Zeuß, bie
Deutſchen 456); Odovaker und Theodorich jchließen wierer in Ra⸗
venna einen Vertrag (S. 495), um Italien brüderlich zu theilen (vgl.
Köpke, Königthun bei den Gothen, 144) u. dgl. m.
Bor 100 Yahren hätte Herr T. mit feinem Buche vielleicht Ehre
einlegen Können; daß e8 die Jahreszahl 1860 auf dem Titel trägt und
auf fo gutem Mafchinenpapier getrudt ift, jet den Leſer in Erftaunen.
M. B.
Gieſebrecht, Wilhelm, Gefhihte ber deutſchen Kaifer-
zeit. 2. veränderte Auflage. 2 Bde. Braunfchweig, 1860. XXXVI, 871
und XX, 671 ©. 8.
Es ift eine erfreuliche Erſcheinung, daß ein Werk von dem Umfange
und dem willenfchaftlihen Werthe des vorliegenven eine ſolche Verbrei⸗
tung und folden Beifall gefunden hat, daß bereits nad) wenigen Jahren
Das Bedürfniß nad) einer zweiten Auflage ſich geltend machte Weſent⸗
lich wird freilich Hiezu in dem vorliegenden Falle die patriotiiche Wärme,
582 Ueberfiht ber Hiftorifchen Literatur von 1860.
bie ſich durch das ganze Wert hinburchzieht, beigetragen haben. Man
mag die Richtigkeit der Auffaflung des Kaiſerthums von Seiten des Ber-
faſſers bezweifeln, fie mag durch bie ftete Beichäftigung mit jener Zeit
des Glanzes und des Ruhmes zu fehr beeinflußt fein, man mag daher
die politiiche Bedeutung, des Buches verſchieden beurtheilen: das Ver⸗
dienft, in ben verichiebenften Kreifen ben vaterlänbiihen Siun erregt
und erfrifcht zu haben, wird man Herrn Gieſebrecht nicht abſprechen
lönnen.
Auch in wiſſenſchaftlicher Beziehung hat dieſe zweite Auflage er-
höhten Wert. Sie entipridt, auch ganz abgefehen von ven zahl
reichen ftyliftiichen Verbeflerungen, von der gewiljenhaften Benutzung aller
neuern Erſcheinungen auf dem Gebiete ver Literatur, auch von ver befr
fern Anordnung des Stoffes 3. B. in den Weberfichten ver Quellen und
Hilfsmittel, in erhöhtem Grade ven Anforderungen, welche wir mit Recht
an ein verartiges Werk, dem heutigen Stande ver Wiſſenſchaft zufolge
ftellen müſſen. Im Allgemeinen ift hierauf fchon bei ber Beſprechung
des erften Bandes in dieſer Zeitichrift 111, 206 hingewieſen worden,
und beichränfen wir uns jomit theil8 auf einige genauere Angaben, theils
auf einige Ausführungen über den zweiten Band. Kin beſonderes Ver⸗
bienft bat fi der Berfafler durch Benutzung verjchievener Quellen, vie
bisher faft unbelannt waren, erworben. Bor Allem find bier einige banı-
bergiſche Handfchriften zu nennen, die entweder noch an ihrem früheren
Aufbewahrungsorte oder in Münden eingejehen werden fonnten und bie
für die Auffoffung der kirchlichen Richtung Heinrich's II. von weient-
licher Bedeutung find. Nicht mit Unrecht wird der Berfafler in dem
Borworte geſagt haben, es dürfte ihm „von der gefammten Trabi-
tion diejer Zeiten, jo weit fie fih an Bamberg knüpft, kaum Weſent⸗
liches entgangen fein.” Einer dieſer Handfchriften wurde aud bie an-
fprechende Kunftbeilage, welche dieſem zweiten Bande zur Zierde gereicht
und bie vier dem thronenven Kaiſer huldigende Nationen varftellt, ent-
nommen. Die Bejchreibung ntehrerer anderer ähnlicher Bilder finden wir
I, 589. Noch daukenswerther ericheint und ver vollftänrige Abdruck
des Stüdes ver Königäberger Weltchronif, von deren Dafein wir ju
überhaupt erft durch den Berfafler unterrichtet wurden (Nachträge zum
3. Bd. ter 1. Auflage), welches die Regierungen Heinrih’8 I1., Kon⸗
rad's 1. und Heinrich's II. umfaßt (II, 668 — 671). Auf die einge
Radhträge. 663
hende Abhandlung über das Verhältniß dieſer Quelle zu ven Annales Pa-
lidenses und dem fog. Repgower Zeitbuche jowie der Ueberſetzung beffel-
ben (f. I, 789— 792) ift bereits in der hiſtor. Zeitichr. an andern Or⸗
ten hingewieſen worden. Ferner benützte Herr Gieſebrecht die befte, in
Wien aufbewahrte Handſchrift des Codex epistolaris Udalrici, dem er
unter andern vie Abjchrift der wichtigen, viel angeführten Urkunde für
die Minifterialen von Weißenburg im Nordgau entnahm. Der Abdruck
derſelben II, 667 macht ven fehlerhaften Text bei Edarb, und daraus
bei Fallenſtein entbehrlih. Durch Herrn Jaffé erlangte der Berfaffer
aus einer Caſſeler Hanpfchrift eine Copie des Briefes vom Erzbiſchof
Drun an Heinrih I. (Winter 1008) deren Abbrud II, 646 wir um fo
dankbarer anerfennen müffen, da wir daraus erft recht erfehen, wie man-
gelhaft die auf andern Abjchriften beruhenden Abprüde dieſes hochwich⸗
tigen Documentes_ find.
Aber nicht nur durch dieſe und andere neue Quellen, fondern auch
durch eine nochmalige ftarfe Durcharbeitung des vorhandenen Materials
ift die Darftellung theils erweitert, theils fefter begrünvet. Zahllos find
in diefer Beziehung die größern und Heinern Aenberungen in Text umb
Anmerkungen, fo daß das Zitelblatt des Buches mit Hecht das Präbicat
„veränderte” Auflage trägt. Die Beichaffenheit des neuen Dlaterials
brachte es jedoch ſchon mit fih, daß vie Erweiterungen vornämlid im
dem zweiten Bande, ber deßhalb auch um 50 Seiten flärler als in ber
erften Auflage ift, vorgenommen wurden. Für venfelben unterzog ſich
auch der Berfafler noch beſonders einer jorgfältigen abermaligen Prüfung ber
Quellen, wie er ſowohl felbit in dem Borworte angibt, als e8 auch auf
jeder Seite zu ertennen ifl. Daß bier troßdem manche Heine Ungenanig-
feit ftehen geblieben, daß and in diefer zweiten Auflage die Verfaſſungs⸗
geihichte, wie dem Verfaſſer mehrfach vorgeworfen, nicht genug beräd-
fihtigt und noch weniger mit Schärfe dargelegt ift, können wir ihm laum
zum Borwurfe maden, denn ber entiprechende Zeitraum unferer vater
ländifchen Geſchichte ift noch zu wenig durch Monographien erläutert
worden, als daß wir von einem allgemeinen, umfafienberen Werle darüber
eine nad allen Seiten hin befrievigenve Crörterung verlangen dürften.
Etwas mehr Genauigkeit hätten wir freilih in ven Angaben ver Quel⸗
len · gewäniht. So find z. B. 11, 14 die Ansfichten des jungen (Eh
senfried anf den Thron noch etwas ausführlicher ale in ber erſten Auf⸗
584 Ueberſicht der Hiftorifchen Literatur von 1860.
lage beſprochen, während ©. 574 das Citat dafür, eine Interpolation
zu ber Fundatio Brunwilacensis monasterii, wahrjcheinlid aus dem 13. Jahr⸗
bunbert, vergeblich gejucht wird, obgleich e8 in ber früheren Auflage hier
zu finden war. ©. 597 vermiſſen wir ven Beleg für bie Verbannung
des fpäteren Kaiſers Konrad I., obwohl bereitd Büdinger, öfter Geſch.
1, 452 Note 3 diejes für die erfte Auflage bemerkte Die von letzterem
bier angezogenen Worte des Aribo, bei Wipo Cap. 3, auf die Herr Gie
ſebrecht feine Ausführung vielleicht ftüßte, Fünnen auch mit der dunkeln
Macricht in der Vita Meinw. cap. 7 in Verbindung gebracht, und dür⸗
fen dann hier nicht verwendet werden. Auch einzelne Tleine Unrichtige
Yeiten hätten bei ver Beherrichung des Materials, wie fie dem Verfaſſer
zu Gebote ftand, leicht vermieden werben können. So wird z. B. S. 20
eine Theilnahme Heinrich's II. am Morde des Grafen Ekkehard ange-
beutet, obwohl dieſes doch weder aus ben Worten Thietmar's V, 5 zu
entnehmen ift (denn dieſe beziehen ſich ohne Zweifel auf Heinrich von
Katlenburg, ven ber Berfaffer allervings hier gar nicht nennt), noch zu
dem in bem Buche felbit gegebenen Bilde von dieſem Könige paßt. Mehr»
fach fcheint uns auch der Wortlaut ver betreffenden Quelle nicht genügend
bei der Wiedergabe ihres Berichtes berüdjichtiget zu fein. So vermuthet
man 3. 2. ©. 283, wo von dem Beltreben Konrad's II. die Krone
erblih an fein Haus zu bringen geſprochen wird, ſchwerlich die Nach⸗
riht bei Wipo cap. 11 und 23 „consilio et petitione principum regni“
babe der König feinen Sohn erwählen und jpäter „principibus regni
cum tota multitudine populi id probantibus“ ihn krönen lafjen. Hier jowohl
wie an andern Stellen möchte die Individualität des Herrſchers, gegen»
über einer naturgemäßen, jelbftftändigen Entwidelung zu jehr hervorgeho⸗
ben fein. Ueber vie Auffalfung und Deutung gar vieler Berichte läßt
fih natürlich mit dem Verfaſſer ftreiten. Wir vermögen ihm z. B.
nicht zuguftimmen, wenn er S. 374 von den Berbienften Heinrich's III.
um bie Einführung der treugaDei in Burgund jpricht, denn die ©. 623,
wörtlich wie in der erften Auflage dafür angeführten Verje des Tetras
fogus von Wipo (208 ff.) find durchaus nicht fo „unzweideutig“ wie
der Verfaſſer annimmt. Biel eher und einfacher als auf jenes Inſti⸗
tut laſſen fie fih ganz allgentein deuten, etwa fo wie die Stelle in ver
Vita cap. 1, wo von ber fchlieklidhen Beruhigung und Erwerbung Yır-
gunds buch bie beutichen Könige bie Rede ift und wo es von jenem,
Rachträge. 685
nachdem von den Sriegen feiner Vorgänger geſprochen ift, heißt: Ad ex-
tremum rex Heinricus tertius, pius, pacificos, linea justitiae, bello et pace
eandem Burgundiam temperavit cum magnificentia, ubi quae — tam
pacis quam belli consiliis, conciliis et conventibns — peregit, alias com-
memorabo. Offenbar ift hier pax nur dem bellum gegenüber geftellt.
Noch weniger freilih vermögen wir in den dert angeführten Worten, wos
durch Jocundus in ber translatio S. Servatii cap. 44 (vgl. 45 und 51)
ven Gönner feines Heiligen feiert: divinae religionis, divinae pacis au-
ctor et amator eine Bezeichnung Heinrich's IM. als auctor ter trenga
Dei zu finden, denn es Tiegt bier wiel näher, vie bezüglichen Worte des
maftrichter Geiftfichen, von dem Wattenbach S. 302 jagt, fein Werk fet
faum zu den Geſchichtsquellen zu rechnen, auf tie von ihm gegebenen
Nachrichten Über die Mainzer Synode vom Jahre 1049 zu beziehen, wo
„quidquid in divinis et humanis institutis antecessorum negligentia dilap-
sum esse videreiur et deletum“‘ (f. XI, 90) von Heinrich wieder herge⸗
ftellt fein fol. Auch Die diefen vielfach wegen feiner Zuneigung zn den
Geiftlichen gezollte Anerkennung kann zur Erklärung jenes Ausprudes
dienen. Somit ſcheint denn Kluckhohn, Geſchichte des Gottesfriedens
©. 58 ff., gegen den hier Herr Gieſebrecht feine Ausführungen richtet,
durch dieſe allertings nicht widerlegt zu fein.
Doch genug von terartigen Ausſtellungen an ben ſonſt jo vortreff-
Iihen Werke. Wenn ji tie Zahl verjelben auch leicht noch vermehren
liege, jo ift fie im Berhältwig zu dem Umfange tes Buches und zu den
CSchwierigfeiten, vie feiner Ausarbeitung eutgegenftanden, doch nur eine
geringe. Freilich werten auch tie kurzen Ausführungen zeigen, daß man
nicht überall und unbedingt den vom Verf. gewonnenen Rejultaten zus
ftimmen darf. Gerate bei den willenjchaftliben Zinn des letzteren
wird Diejes aber von ihm amı allerwenigften verlangt werten. — Im
Borworte des 2. Bandes ftellt ver Verf. ein baldiges Erjcheinen des drit⸗
ten in Ausſicht. Möge dieje in Erfüllung gehen und möge dann aud
biejer nene Band ebenjo jegensreich wie tie beiten früheren für tie Er⸗
gründung und Verbreitung der Kunde von ter Entwicklung unfers Vater⸗
landes wirken. U.
Liber de rebus memorabilibus sive chronicon Hen-
rici de Hervordia. Edidit et de scriptoris vita et chronici fatis aueto-
586 neberſicht ber hiſtoriſchen Literatur von 1860.
ritateque dissertationem praemisit Augustus Potihast Huxariensis-Westpha-
lus. Opus a societate literarum regia Gottingensi praemio Wedekindeo
ornatum atque editum. Gottingae, 1859. XXXVII, 327 p. 4.
Die Chronik des Heinrih v. Herford hat die längfte Zeit zu ben-
jenigen Werten umferer deutſchen Geſchichtſchreibung gehört, deren Exi⸗
ſtenz zwar belannt war, von ber eine Anzahl Forjcher auch Einſicht ge
nommen hatte, über deren Werth aber die Anſichten ziemlich verfchieven
lauteten und von welcher uns feine genügenve und erſchöpfende Beſchrei⸗
bung geliefert werden war. Es muß daher als ein entichievenes Ver⸗
dienft der k. Geſellſchaft der Wiffenjchaften zu Göttingen anerkannt wer-
den, daß fie eine Bearbeitung und Publication dieſes Wertes veranlaft
bat, bie, wie das unter ben gegebenen Umſtänden nicht anders fein Tann,
die wejentlichen und billigen Anforderungen au die Ausgabe gerade eines
ſolchen Geſchichtſchreibers vollftändig erfüllt.
Die Einleitung beihäftigt fih mit dem Leben und ben Schriften
des Autors, am ansführlichiten mit der Chronik felbft und allen ven
Momenten, die bier in Trage zu Tommen pflegen. Die Bearbeitung und
Wiedergabe des Tertes it den Grundſätzen angepaßt, bie durch bie M.
G. H. mit fo viel Erfolg zur Herrichaft gelangt find. Die forgfältige
Analyfe der einzelnen Beftanptheile und die Beſtimmung ihrer Herkunft
war in dem vorliegenden Falle die Hauptjache und feine Kleine Arbeit,
ift aber über alle Schwierigleiten hinaus bewältigt worden.
Der Berf. der Chronit, Heinrih, ftammte aus Herford in Weft-
phalen, wie ver Herausgeber glaubwürdig nachgewiefen hat, und nicht
aus Erfurt, wie Trithemius angibt, deſſen Autorität übrigens Hr. Pott-
baft fonft (3. 3. p. VIE.) viel zu body anſchlägt. Heinrich wird wohl
Anfangs des 14. Jahrhunderts oder in dem legten Jahrzehent des vor-
bergebenven geboren fein, ta er im 9. 1370 geftorben ift. Als Jüng⸗
ling trat er zu Minden in den Dominifanerorden und bat vafelbft, ein
paar Jahre eines Aufenthaltes in Soeft und etwa eine und bie andere
in Sachen feines Ordens unternommene Reije (p. VI.) abgerechnet, fein
Leben zugebraht und beichloffen. Daß ein Mann von feiner Bildung
und Gelehrjamteit innerhalb feines Ordens verſchiedene Aemter befleidet,
daß er der Schule zu Minden vorgeftanten habe (p. VI.), ift fehr wahr⸗
fheinlih, wenn auch beftimmte Nahrichten darüber nicht vorhanden find.
Bar doch Heinrich überhaupt ein fruchtbarer Schriftitellee (vgl. 8.2 ver
Nachträge. | BET.
Einleitung), und mehrere feiner Schriften dürften in ver That pädago⸗
gifchen Ursprungs fen. An Anerkennung jchon bei Lebzeiten hat es ihm
unter biefen Umſtänden nicht gefehlt; eine befondere Auszeihnung ift ihm
aber einige Iahre nad) feinem Tode durch K. Karl IV. geworben, ber
bei feinem Aufenthalte zu Minden im J. 1377 tem Leichnam bes Ges
ſchichtſchreibers eine Örabesitätte zu Füßen des Hauptaltared ver Domi⸗
nikanerkirche bereiten ließ, während verjelbe urjprünglih außerhalb ber
Kirche beerdigt worden war.
Und nun noch einige Bemerkungen über die Chronik ſelbſt. Sie
ift eine Univerſalchronik, wie fie fett dem 11. Jahrhunderte aufgelommen
waren, und reicht bis zum 9. 1355. Die Erzählung bewegt fih m
ver beliebten Eintheilung in 6 Weltalter, deren lettes mit Chriftus bes
ginnt. Die Compofition des Werkes iſt einfach und verftändig, ohne
höhere Anſprüche zu maden over zu erfüllen, nicht ohne Gebrechen aller-
bings, auf die bereitS der Herausgeber aufmertjam gemacht bat. Dem
Stoffe nad ift fie überwiegend Compilation, daher beim Drucke die er⸗
fteren fünf Weltalter, d. h. die Gefchichte der vorchriſtlichen Zeit, gänz⸗
ih unterbrüdt wurden und aud beim fechiten der vollſtändige Text erſt
mit bem 3. 687 beginnt.
Indeſſen liegt gerade in dem compilatoriſchen Charakter der eigen«
thümlihe Wert) ver Chronik, weil ihr Verf. mit nicht gewöhnlicher
Sorgfalt ein mafjenhaftes Material ausgebeutet und jo manche Nachricht
gerettet hat, die außerdem für und verloren wäre. Wir verweilen im
biefer Beziehung auf 8. 4 der Einleitung und auf das Werk ſelbſt. Daß
der Verf. feine altjächfiiche Heimath in der Darftellung etwas bevorzugt,
ift zu natürlich, als daß das befonders bemerkt zu werben brauchte. Was
ben Reichthum des verarbeiteten Stoffes anlangt, fürchten wir nicht zu
weit zu gehen, wenn wir Heinrich's Chronik allen ähnlichen Werken feiner
Zeit und des vorausgegangenen halben Yahrhunterts den Vorzug geben,
und ganz gewiß dürfte dieſelbe nicht zulett genannt werben, wenn es fidh
um Audeinanderfegung ver Verdienſte ver Dominilaner um die (veutiche)
Geſchichtſchreibung handelte. Dagegen in Beziehung auf die Zeitgejchichte
ift dem Werte kein bejonderes Lob zu ſpenden, mie das ſchon ber Bears
beiter felbft zugeftanden bat. Ueber tie Geſchichte K. Ludwig des Bayern
erfahren wir nur weniges von wirklicher Bedeutung, über Karl IV. fo
ziemlich nichts. Was fonft über die Vorgänge des 14. Yahrhunderis
588 Ueberfiht der hiſtoriſchen Siteratur von 1860.
mitgetheilt wird, ift zum Theil ver verlorenen brandenburgiichen Chronik
entnommen, zum Theil anderswo befier zu finden, ober befteht in fabel-
haften Hiftörchen, wie fie in ven Klöftern wohl gerne gehört wurben,
zu beren Berbreitung gerade die Mönche viel beigetragen haben, aus
denen man aber venn doch nur wenig lernt. Eigenthümlich im Munde
eines Meönches nimmt fi) namentlich die Erzählung S. 252—253 aus,
die, wenn fie Glanben verdiente, einen häßlichen Beitrag zur Sittenges
ſchichte des franzöfiichen Hofes unter K. Philipp dem Schönen Tiefern
würde. Was endlich die principielle Haltung Heinrih’s im Streite K.
Ludwig d. DB. mit ven Päpften anlangt, fo läßt er der Perfönlichleit des
Kaifers zwar ©erechtigleit wieverfahren (p. 271), verſchließt auch fonft
die Augen gegen die Gebrechen innerhalb ver Kirche nicht, aber die Po⸗
litik Ludwig's findet auch vor ihm Teine Gnade und kein Necht, und das
kann uns bei dem Dominilanermönde in keiner Weije überrafchen.
— 8 —
Zu Carlo Caraffa's relatione dello stato dell’ imperio
sben S. 264.
Mit Recht bat Herr O. %. im erften Hefte des 3. Bandes biefer
Zeitichrift auf die zwedmäßige Müller'ſche Publication der auch neben
Caraffa's gedrucktem Werke de Germania sacra restaurata ſehr beachtens⸗
wertben jogenannten Caraffa'ſchen Relationen hingewieſen. Und mit vol
lem Rechte rügt er, daß Hurter als Anhang zn feinen Buche über bie
Friedensbeſtrebungen des Kaiſers Ferdinand ein Stüd dieſer Rela⸗
tionen in deutſcher Ueberſetzung gegeben hat, ohne zu bemerken,
was Ranke früher in der Geſchichte der Päpſte darüber mittheilte,
als ob das Vorhandenſein dieſer Relation ganz unbelannt geweſen wäre.
Nur iſt nicht ganz klar, was ſich der Ref. denkt, wenn er dies Stück
als Caraffa's Relation ans ver Vaticaniſchen Bibliothek bezeichnet, wäh⸗
rend es nichts anderes zu ſein ſcheint, als der von Ranke dem Caraffa
abgeſprochene, mit einigen Veränderungen in die von Müller herausge⸗
gebene Relatione aufgenommene Beriht. Denn daß ihn Hurter dem Ca⸗
raffa zufchreibt, ft fein Beweis. Die von Hurter benutzte Wiener Ab>
fhrift konnte leicht mit Caraffa's Namen bezeichnet werden, ba biefer
Bericht in das ihm zugefchriebene handichriftliche Werk aufgenommen war.
Wenn nım Herr DO. L. weiterhin fehr heiter geftimmt worben ift, daß
Rodtcäge. 589
auch ich bei Erwähnung bes Caraffa’ichen Berichtes in meiner Polemik
gegen Hurter Ranle's Päpſte nachzuſchlagen verſäumt und getroft „von
den Zeuge gejprochen hätte, was Hurter dem gebilveten Publikum vor⸗
lege”, fo kann ih Herrn DO. L., jo leid mir's thut, in biejer heiteren
Stimmung nicht lajfen. Ich muß erwähnen, daß mir nur daran lag,
Hurter's Geſchichtſchreibung durch Analyſe feiner Gejchichte der kaiſer⸗
lichen Friedensbeſtrebungen zu charakteriſiren. Der Auhang, die Caraffa'ſche
Relation, ward von mir in einer Note in ein paar Zeilen erwähnt, wo
keine Veranlaſſung war, das Schweigen Hurter's über die mir wohl be⸗
kaunten kritiſchen Bemerkungen Ranke's zu rügen. Nöthig war num,
darauf hinzuweiſen, „daß es mehr als naiv ſei, ſolches Zeug“ — es
war auf eine Stelle insbeſondere hingewieſen — „zur Glorification
des Kaiſers“ — Died war gejperrt getrudt — „dem gebilveten Pub»
likum vorzulegen“. DBeigefügt war: „Zur unbefungenen Charalteriſtik
des Kaiſers und der Pfaffen jener Zeit ift es ganz interejlant“. Die
geiperrt geprudten Worte und den Zujat bat freilih ver Ref. wegzu-
taffen für gut befunden und fo mir eine Richtbeachtung der von Ranke
ale höchſt bedeutend anerkannten Relationen angebichtet, deren ich mid
nicht ſchuldig gemacht habe, K. G. Helbig.
Zur allgemeinen Weltgeſchichte.
Bellecombe, Histoire universelle. 2e partie: Histoire go-
nerale, politique, religieuse et militaire. Tome 5. Domination grecque. —
Alexandre lo grand et ses successeurs. — Les Ptolömdes d’Egypte et les
Beleucides de Syrio. — Annibal et les guerres puniques. — Rome
jusqu’ & la mort de Scipion l’Africiin. — Tome 6. Fin des Lagides
d’Egypte et des Séleucides de Syrie — Conquöte de la Grece et de la
Macddoine. — Destruction de Carthage. — Scipion I’Emilien et Nu-
mance. — Tiberius et Calus Gracchus. — Guerre de Jugurtha.. — M=
rius et Sylla. — Ciceron et Catilina.. — Triumvirat de Cesar, Cras-
sus et Pompee. — Dictature de Cösar. — Brutus et Cassius. — An-
tunius, Lepide et Oetave. — Auguste — Fin de la röpublique romaine
Paris, Furne et Ce., 1860. 594 und 612 ©. 8.
Chantrel, J., Nouveau cours d’histoire universelle,
T. 3. Histoire da moyen Age. Ire partie Depuis l’dtablissement de
590 Nechtrage.
Te6glise, Jusqu' à la mort de Charlomagne. Paris, Putois-Cretid, 1860.
VIII u. 35 © 12.
Costanzo, Salvador, Historia universal, desde los tiempos
mas remotos hasta nuestros dias. Tomo IV. Madrid, 1860. VIII u. 444
uub 276 ©. 4.
Kindblad, K.E,og G. H. Mellin, Allmän werldshistoria
for frantimmer og ungdom. Utarbetad efter de bästa källor. Attonde
bäfıet. Stockholm, Huldberg 1859. S. 401 — 448 und 64 © 8.
Möller, J., Cours complet d’histoire universelle. 6 vols.
Tournai, 1859. 12.
Alte Geſchichte.
Zimmermann, Carl, Dr., Babylon, Hifloriich-topographiiche Mit-
theilungen. Schulprogramm. Baſel, 1859. 46 ©. 8.
Donborff, 9, Die Jonier auf Eubda. Ein Beitrag zur Ge
ſchichte der griechiihen Stämme. Programm bes Joach. Gymn. Berlin, 1860.
606 4.
Banfe, Oberl., De Polycrate, Samiorum tyranno. Gymna⸗
falprogramm. Warendorf, 1859. 24 ©. 4.
Donaldson, John. Will, Varronianus: a critical and
historical introduction to the ethnography of ancient
Italy. 8. edit. London, Parker, 1860. 540 S. 8.
Bode, 9., Dr., Bemerlungen über die älteſte Geſchichte
Roms. Gymm. - Vrogr. Neu: Ruppin, 1859. 23 © 4.
Swanberg, Gustav, Hannibals täg fr&n Karthagena till
Turin dfwer Alperna. Akademisk athandling. Upsala, 1860.
686 8.
Bernouflli, 3.9, Dr, Leber den Charakter bes Kaifers
Tiverins. Gymnaflalprogr. Bafel, 1859. 29 © 8.
Korzilius, Ph., Der Ufurpator Marimus, feine Gmpörung
und feine Kriedensunterhandlungen mit den Kaifern Balentinian II. und Theo⸗
Vofins dem Großen. Gymnaflalprogramm. Zrier, 1859. 24 ©. 4.
Rachträge. 591
Teutige Ceſchiqhte.
Kutzen, Th., Dr., Brof., Gedenktage beutfher Geſchichte.
3 Hefte. Breslau, Hirt. 3 Bde. 8.
Inhalt: 1. Der Tag von Kolin. 2. Ausg. Mit einem lithogr. Plane
der Schlacht. XVl, 800 6. — 2. Der Tag von Leuthen. 8. Ausg. Mit
einem Schlachtplane. IV, 278 6 — 3. Der Tag von Liegnig. Mit
einem Plane. VIII, 143 ©. mit 2 Zabelln. —
Roth, Karl, Dr., Kleine Beiträge zur beutfden Sprad-,
Gefhihts- und Ortsforfhung. 13. u. 14. Heft. Münden, Finfterlin
1860. ©. 97— 200. 8.
Ebeling, Dr, Die ſtaatlichen Gewalten im Frankenreiche
nnter den Merowingern. Gymnafialprogramm. Greiffenberg, 1859.
26. 4.
Püning, Oberl., De Widukindo historico. Gymn. - Progr.
Recklinghausen, 1859. 22 p. 4.
Hupertz, Dr, Adelbertus archiepiscopus Maguntinus,
quae in certamine illo de investiendis episcopis exorto gesserit. Gymn.-
Progr. Coesfeld, 1859. 16 p. 4.
Scholz, Joh., Vita St. Norberti, institutoris ordinis Prae-
monstratensium, postes archiepiscopi Magdeburgensis. P. I. Diss. inaug.
Breslau, 1859. 44 p. 8,
Rau, Chriſtophorne Lehmann, und feine Chronica ber freien
Reicheſtadt Speier. Gymn.-Progr. Speier, 1859. 31 S. 4,
Better, Dr, Brof, Ereigniſſe im Markgrafenthume Rie-
berianjig während des BOjährigen Krieges, Eymn -Progr. Ludan, 1859.
326 4.
WBäürdinger, 3., 8. Bayer. Oberlientenaut, Johann Tzerflas Graf
von Tilly, bayeriiher Heerführer n. |. w. Im bayer. Militär -Wlmanacd
für 1859. Bierter Jahrg. Münden, Sleiſchmaun, 1859. ©. 76--275. 8.
Das Leben I. H. v. Weſfenberg'te, chemaligen Bisthumeverweier
in Conſtanz. Rah fchriftlihen und münbligen WRittheilungen beransgeg. von
einem freunde umb Berehrer bes Verſtorbenen. Breiburg im Br., Wagner,
1860. 1606 8.
5692 Veberficht der hiftorifhen Literatur von 1860.
Aus deutſchen Zeitſchriften und Jahrbüchern.
(Vergl. oben ©. 284 ff.)
Hiftorifhes Taſchenbuch. Herausgegeb. von Friebrih v. Raumer.
Bierte Folge 1. Jahrgang. Leipzig, Brodhaus, 1860. 418 6 8.
Inhalt: Die Mönderepublit des Berges Athos. Von Karl Nathanael
Biffon. S. 1— 88. — Der Brabanter Hof und eine Brüffeler Revolution
im 15. Jahrh. Bon Franz Löher. S. 89 — 158. — Giovanni Roſini. Bon
Alfred v. Reumont. S. 159—218. — Ein Schuß im Walde 1603*) Bon
Karl v. Weber. ©. 219-276. — Der evangelifhe Sagentreis. Ein Beis
trag zur Geſchichte der religiöſen Dichtung und Kunft des Mittelalters. Bon
Eduard Kolloff. S. 277 — 370. — Ernft Chriſtoph Auguft von der
GSahla”*).
Zeitfohrift für die gefammie Staatswiffenihaft. 16. Jahr
*) Da dieſe feltfame Bezeihnung faum auf einen Hiftorifchen Inhalt ſchließen
täßt, fo fei hier bemerkt, daß die von dem Berf. nach zahlreihen Acten-
bänden bes Drespner Archivs geſchickt bearbeitete Erzählung einen angeb-
lichen Mordanfall auf den Kurfürſten Chriſtian II. von Sachſen betrifit,
welcher vermeinte Mordverſuch nach grauenvollen Eriminalunterfuchungen
ausländifchen Anftiftern (Anhalt) zur Laft gelegt wurbe und zu Jahre
langer Feindſchaft zwiſchen deutſchen Fürſten und beinahe zum Kriege
führte.
*) Sahla, ein exaltirter junger Edelmann aus Sachſen, begab ſich zweimal
(1811 und 1815) nach Paris, um Napoleon zu ermorden; während des
Wiener Congreßes beabſichtigte er ſogar ein Attentat auf den König von
Preußen. Er ſtarb in Paris als ein Opfer feines Wahnes (1815).
Die fragmentarifchen Nachrichten, welche zulett Berk in bem Leben Stein’s
und Ludw. von Neiche in feinen Memoiren über ihn gegeben, werben
bier von einem ungenanten Schriftfteller aus authentiſchen Mittheilungen,
zum Theil vertrauficher Art, in baufensweriber Weife vervollftäubigt.
Nur verftehen wir nicht, welches der furchtbare Geheimbund fein foll
(S. 381, 406), in den fon der unglückliche Knabe verftridt wurde ;
baß der Berfaffer nicht ven Tugendbbund meinen kann, bemerkt er zum Ueber»
flug ausbrüdiih. Ta Sahla auch nah Wien nur auf eine Ladung des
bern des Geheimbundes gegangen fein fol, um das Berfahren gegen
nfeinen geliebten König” zu rächen, fo könnte jener Orden bob nur ein
ſpecifiſch fächfifcher geweſen fein.
Rachträge. 6983
gang. Tübingen, 1860. 1. m. 2. Heft. Auf bie werthoolle Abhandlung von
Heyb über bie italienischen Sandelseolonien in Paläſtina, Syrien und Klein-
armenien zur Zeit ter Kreuzzüge im 1. Heft iR fon an einem anbern Orte
(Zeitfchrift Bd. IV S. 528) aufmerliam gemacht worden. Wir notiren außer
dem v. Karnap, Zur Geſchichte der Münzwiſſenſchaft und der Werthzeichen.
Im Pädagogiſchen Archiv, herausg. von W. Langbein, 2. Yahr-
gang (Stettin, 1860) Heft 4 S. 312 — 322 verzeichnet Hr. Dr. Haade eine
Reihe von Unrichtigkeiten ſowohl in Zeiß' Lehrbuch der allgemeinen Geſchichte
vom Stanbpuntte der Kultur, Weimar 1858, als auch befonders in der fonf
empfehlenswerthen popnlären „Deutichen Geſchichte für das deutiche Voll” von
Quf. Mayer (Leipzig, 1858), auf bie wir die Beſitzer aufmerljam machen
möchten.
Protefuntifhe Monatsblätter für innere Zeitgeſchichte. Herans-
gegeben von Dr. Heinrich Gelzer. Gotha, Perthes, 1860. Bd. 15 u. 16. 8.
Wir notiren aus dem 15. Bde: 1) Zung-Etilling’8 Jugendgeſchichte. Zur
religiöfen Geſchichte Deutfchlande im vorigen Jahrhundert. Bon Dr. May
Göbel in Coblenz. ©. 47, 109 fi. — 2) Ein Reformationeverfud Pe-
ter’s des Großen. Brudftüd aus feinem geiſtlichen Reglement. S. 191 ff.
Merlwürdige Yragmente aus einem im Jahre 1721 im Petersburg gebrudten
Buche, das nad einer ©. 191 ausgeiprechenen Bermuthung ſelbſt in Rußland
vielleiht nur noch in einem einzigen Gremplare vorhanden iſt — 3) Staat
und Kirche im Reformationszeitalter. Ein Bruchſtück aus Leo Judä'e Leben
von ©. Beftalozzi. S. 268 fi. Der Verf. bearbeitete bie Biographie Leo
Yudä’s, der von 1521 -1542 Pijarrer in Zürih war, für das befanute Sam⸗
melwert: „Die Väter und Begründer der reformirten Kichhe“. Die barane
entneınmenen gegenwärtigen Mittheilungen behandeln das Verhältniß zwiſchen
dem Staate und ber evangeliſchen Kirche. — 4) Die deutſchen Concordate bes
19. Jahrhunderts, von Dr. E. Herrmann, Prof in Göttingen. 1. Artikel,
Der geichichtlihe Boden (8. 301 ff) Leider find weitere Artikel über biefen
Geſtand aus der Feder des bedeutenden Kirchenrechtslehrere in dem vorliegen-
den Jahrgange nicht erſchienen. — S 828, 395 ff : Erinnerungen an Zin⸗
zenborf. Zur Säcularfeier feines Todestages, I Mai 1760.
16. Bd.: Die Bedeutung bes Sokrates in der Bilbungsgeichichte der
Menfchheit, von Dr Friebr. Ueberweg. 5 39 fi. — Karl Immanuel Nitzſch
und bie evangeliihe Kirche ber preuß Rheinprovinz S 102. in zweiter m.
dritter Artilel: „Umriffe zur Gefchichte der rheinifhen Kirche von 1815 — 48°
finden ih ©. 262 -- 341 ff. — Die Bebingungen glüdlicher und großer Zei⸗
Diſtoriſche Zeitfärift V. Baud. 38
TEN
' 3 62105 007 263 55b 6
SLIDUULEBE
©. 5
ge /RBT 78
587 F iu,
VD iu. a5 4
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Stanford, California
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