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Full text of "Historische Zeitschrift"

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— — — ee > 
en u nee )eiie/>.e.hel\eChefjoi) Ban pet laf 2/5 





Berlag bon R. Oldenbourg in München und b Zeipnig. 


Studien 
ũber 
die Entwickelung der Verwaltungslehre 
in Deutſchlano 
von der weiten bãlite des 17. bis Ende des 18. Jahrhunderts. . 


Von 
Prof, Dr. Guſtav Aarchet. 
80, vl und 438 Zeiten. Pꝛreis 9,4 


Diefe Etudien zeigen für einen aus dem Leben des deutſchen Volkes herausgegriffenen 
Zeitabſchnitt wie man damals über Verwaltung dachte. Site beſchränken ſich dabei nid 
auf Deutſchland, ſondern verſuchen auch einigermaßen darzuſtellen, wie die Culturvölker 
Europas neben⸗, nach⸗ und miteinander arbeiteten und wie ſie in die große Fuge dee 
wijſen ſchaftüchen und civiliſatoriſchen Yorticrittes eingrifien. Die Studien find cin: wichtige 
Bauſtein in der Bintchafisgeſcicte des — Volkes. 





Verlag von R. Oldenbourg in Münthen und Leipig. 


. Vorfräge und Aufl ihe 


von 
A. Aluchhohn, 
weiland o. ö. Profeſſor an der Univerſität Göttingen. J 


Herausgegeben von 
K. Th. Segel u und A. Wrede. 


— 


32 Bogen, 8°. Preis M. 6.50. 


— 

Vorliegende Schriften umfaſſen die geſammelten Vorträge und Aufſätze 
des betannten, vor Jahresfriſt verſtorbenen Göttinger Hiſtorikers A. v. Kluckhohn. 
Es ſei daraus beſonders hervorgehoben die vorzügliche Monographie 
ber Königin Louife, ſodann die Vorträge über die Helden der Freiheitskriege, 
wie Zlücher, Scharndorfl, Gneifenau, Freiherr von Stein u. ſ. w., Die 
dur ihre geiftvolle, feine Charakteriſtik ein ledenswarmes Biſd 
der großen Männer und ißrer Zeit geden. 





Hiſtoriſche Zeitſchrift. 


(Begründet von Seinrich v. Spbel.) 


Unter Mitwirkung von 


Jaul Beillen, J. Erhardt, Otte Hinke, Otte Krauske, Max Jen, 
Siegmund Riejler, Maris Ritter, Konrad Barrentrapp, Karl Feumer 


herausgegeben von 


Friedrich Meinede. 


..,.un 


Der ganzen Zeihe 79. Band. 
Neue Folge 43. Band. 


Münden und Teipzig 1897. 
Drud und Verlag von R. Oldenbouro. 





. 


3nhalt. 


Auffäge. 


Seite 
Zur grieniicien Vorgeſchichte. Bon Julius Belod . 193 
ar Ebel Sozialismus in Europa. Bon Robert Böhlmann. 385 

Erfter . 
Bur — danders des Großen. Von Benedictus Riefe 1 
Deeimus Elodiug Albinus. Bon Otto Hirfchfeld . 452 

Die wirthſchaftliche Kultur der Deutichen zur Zeit Cäſars. Von 
Werner Wittich. .. 45 
Neuere Saraungen zu zur frantiſchen Rechisgeſchichte. U. Bon Richard 99 
4 

Die pfälzifche Politik und die e bobmiſche Rönigamaht 1619. Son 
Moriz Ritter . . 239 

Miscellen. 

Staat und Wirthſchaft der Germanen zur Zeit Cäſar's. Bon L. Erhardt 292 
Ein italienifches Stadtrecht des Mittelalterd. Bon Karl v. Hegel . 284 
Literaturberidt. 

Seite , Geite 

Allgemeines . . . . 68 ff. 299 ff. Oſterreich. 2... 11 
Sei ‚Sehticte ... 75 ff. 808 f- Mähren -. .». » 2... 491 F. 
üfiged Leben 2 0 . Säweh > 2... UL. 4061. 
Mittelalter: England oo. 128 ff. 
Quellentunde.... 00 ff. alien oo. 134 ſ 501 ff. 
Kaifertfum . . . . . 312 ff. Spanien... .. 509 fi. 
Kirhe . . 0... Bl4 ff. Schweben . 20 512 
19. Jahrfundert . . SCH. BIC Danemant. > > > >. 5 BISR, 
Deutiche Tandithaften: go; Rubland . . . . 381 f. Elfi 
urnberg " [u I- Unem . . .. 988 fi 523 fi. 
MB. 
—2 Tr 1 Boltsfeudgen . . . 525 ff. 
ganjeitädte . . . 1057. 487 f, Gedichte der Geographie. . 529 fi. 
zhleewig . . . »c Schule und Erziegumg . uf. 
Bommern . 105 Bergrecht 491 if 
Schlefien . . . .107 ff 493 7 f.. nr " 


1392 


IV 


Inhalt. 


Alphadetifhes Berzeihnis der beſprochenen Schriften.) 


Achelis ſ. Bonwetid. 
Altmann⸗Bernheim, Aus 
ewählte Urkunden z. Ver⸗ 

——e— 2. Aufl. . 

Anker, Uddrag af diploma- 
tiske Indberetninger om 
Unionens Forberedelse og 
Tilblivelse 1814 (Christia- 
nia 1894). . . 

‚ Uddrag af diploma- 
tiske Indberetninger om 
Unionens Forberedelse og 
Tilblivelse 1814. (Kjoben- 
havn 189%) . . 

Marqu. d’ Aragon, Le prince 
Charles de Nassau - Siegen 


Baar, Stud. über den geſchichtl. 
Unterricht an den böberen 
Lehranſtalten d. Auslandes. II. 

Better, D. Ende Amy Rob⸗ 
fart’3 ꝛc. 1560 . . 

de Benedetti, La diploma- 
zia pontificia e la prima 
spartizione della Polonia . 

Berner, Jahresberichte der 
tem ſenſchaft. XVII 


Bernheimſ. Altmann. 
Binz, Der rheiniiche Arzt Dr. 
oh. Weyer. 2. Aufl... . 
Bloch, Stiftamdinaend og 
Amtmaend i Kongeriget 
Danmark og Island 1660 

—1848.. 





Bobe, Geheimrath Detlev v. 
Ahlefeldt'3 Diem. 1617—1659 
Bodenheimer, Die Mainzer 
Eiubiften der Jahre 1792 u. 


W. Bode, Kurze Geſchichte der 
Trintfilien umd Mäßigkeits⸗ 
beſtrebungen in Deutſchland 

Böhtlingk, Wilhelm der Glor— 
reiche 

Dr. Martin Luther u. 
_ Ionaz v. Loyola 





Seite 

Bonn, Spaniens Niedergang 
während der Preisrevolution 
des 16. Jahrh. 

Bonwetſchu. Achelis, Die 

riechiſchen chriſtlichen n Shrilt- 
teller der erften drei Jahr⸗ 
hunderte. I (Hippolyt’3 Werte) 

Borel, Les foires de Gen&ve 
au quinzieme sitcle . 

Brandrud, Klosterlasse 

M. Braun, Bei. der Juden 
in Sclefien. 

Breen, Pieter Cornelizsen 
Hooft als schryver d. Neder- 
landische Historien . . 

Bröring, Das Saterland. I. 


549 
520 


520 


331 


I—VIID. rn 

Brüdner, Geih. Rußlands 
big zum Ende des 18. Jahr⸗ 
hunderts. I. . 

Karl Brunner, Der pfälgtfche 
Wildfangitreit unter Kurfürft 
Karl Zudwig (1664—1667) . 

Bruun, Om Ludwig Hol- 
bergs” trende Epistlen til 
en heifornem herre. . 

346 Chambalu, Entwidlung der 

holländiſch-oſtindiſchen Geſell⸗ 

ſchaft (1602 - 1798) . 
181 | Champion, La France 
d’apres les cahiers de 1789 

Christensen, Unionskon- 

gerne og Hansestaederne 


533 
368 


373 


591 1439 —1466 
Claar, Die Entwidlung der 
venetianifchen Verfaſſung von 
516 ‚ ber Einfegun bi8 zur 
Scliebung ne 3 Öroßen Rathes 
(1172—12 
176 Croce, Le ie storiche del 
Prof. Loria . . 
Curti, Carlo Emanuele I 
179| secondo i più recenti studi 
Davidſohn, Geſchichte von 
378 Floren;. 
Forſchungen zur älteſten 
564 Geſchichte von Florenz 


Brom, Bullarium Trajectense. 


Seite 


511 


501 


') Enthält auch die in den Auffägen ſowie in den Rotigen und Nachrichten beiprocheneu 


jelbitändigen Schriften. 


Dedouvres, Le ptre Joseph 
Polemiste . . 

Deloche, Les indices de 
l'occupation par les Ligures 
de la region qui fut plus 
tard appelde la Gaule . . 

Dierds, Geſch. Spaniens. II. 

Tobeneder, Regesta diplo- 
matica necnon epistolaria 
histor. Thuringiae. 2. Hbbd. 

Dvorak, Dva denniky dra 
MatiäSe Borbonia z Borben- 
heimu. . 

ST eiter, Markgraf Bernhard I. 
und die Antänge des Terri- 
torialjtaate® . . 

vehiarift des Kal. Friedrich⸗ 

Wilhelms⸗Gymnaſ. zu Berlin 
Feſt chrift des —— 
r Kärnten. 

Fla de, Das Kirchipiel Frauen⸗ 
hain ꝛc.. 

Franke, Social Forces in 
German Literature 

Fredericq, Onze histor. 
Volksliederen van voor de 
godsdienstige beroerten der 
16e eeuw. . 

Frederik den Sjettes, 
Udsoning med Napoleon. 
Udg. af Generalstaben 

dride, Die Memoiren des 
Grafen Yorbin . . 

Eiegmar Friedrid) (Graf Sieg. 
mar Dodna), D. Eriverbung 
des Herzogthums Preußen u. 
deren Ronjequenzen. 

Fruin, Uittreksel uit Fran- 
cisci Dusseldorpii Annales 
1566—1616 . en 

Geschiedkundige opstellen 
aangeboden aan R. Fruin 

Greenidge, Infamia 

Mon. Germ. Hist. Ep. t. 1. 
p- U. ed. Hartmann . . 

Hauſer, Geſchichte der Stadt, 
Herrſchaft und Gemeinde Elgg 

Haußpleiter, Aus der Schule 
Weianchthon⸗ 8 

Heber, Gutachten u. Reform: 
vorjhläge für das Bienner 
Generaltonzil 1311—1312 . 


Inhalt. 


Geite 
v. Heinemann, Zur Ent 
jtefung der Stadtverfafjung 
in Stalien . 
Heinrich, Wallenſtein als Her- 
z0g von Sagen. . 
Hellmann, 2. fog. Memoiren 
de Grandgamps u. . 
Hildebrand, Nedt u. Sitte 
auf den verichiedenen wirth- 
ihaftlihen Kulturſtufen. I. 
Hirſch, D. Winterfeldzug in 
Preußen 1678 -79 
Höhlbaumu. Seuiien, Ins 
ventare hanſiſcher Archive des 
16. Jahrhunders 1. 
Hutton, Philipp Augustus 
Hlligens, Geſch. der Lübecki⸗ 
ſchen Kirche von 1530—1896 
Janſen u. Sammer, Schles⸗ 
wig-Holjteins Befreiung 
Jecht, Codex dipl. Lusatiae 
superioris. II, 1. . 
Jorga, Philipp de Mezitres, 
1327—1405, et la croisade 
au XIVe sitcle 
Kampers, D. deutiche Kaiſer⸗ 
| idee in Prophetie u. Sage . 
188 | Kautsty, Die Geſchichte des 
Sozialismus in Einzeldar- 
ftelungen. I, 1 (Bon Plato 
bis zu den Wiedertäufern) . 
Keuſſen f. Höhlbaum. 
172 Kiem, Gel. d. Benediktiner⸗ 
abtei Muri-Gried. IT. . 
Knapp, D. alte Nürnberger 
Kriminalredit 
184 König, D. päpftliche Kammer 
ı unter Clemens V. und So: 
i Hann XXII. 
187 König Bilpelm auf feinem 
-  Kriegszuge in Frankreich 1370 
187° Kohler, Studien aus dem 
308 Strafrecht. IV (Strafrecht der 
italienischen Statuten vom 12 
bi3 16 Jahrhundert). 
‚Kretichmer, Einleitung in 
119 die Geich. d. grieh. Sprade. 
‚Kringelbach, Den. civile 


827 


84 


518 


5583 | Centraladministration 1848 
F til 93. 
rüner, Berlin ale itglie 
3641” der deutihen Hanfa 


312 


VI 


vanLangeraad, De Neder- 
landische Ambassade-kapel 
te Parys. L1I. . . 

Langlois, Manuel de bi. 
bliographie historique. 1. 

vd. Langsdorff, Johann Hus 

de Lanzac de Laborie, 
Memorial de J. de N or- 
vins. 1 . . 

Laßwitz, Th. Fechner 

Laursen, Kancelliets Brev- 
beger verdrerende Dan- 
marks indre forhold i Ud- 
drag. 1561—1565 . 

Le Blant, 750 inseriptions 
de pierres gravees inedites 
ou peu connue . 

Le Breton, Rivarol . 

Lenz, Luther 3. Aufl. . . 

Lerſch, Geſch. der Volksſeuchen 

Liebe, D. Kriegsweſen Erfurts 

Lindström, Anteckninger 
om Gotlands Medeltid. I. II. 

Lodge, Richelieu . . 

v. Loͤher, Das Kanarierbud) . 

Loewe, Die Weite der Ger: 
manen am Schwarzen Deere 

Lorenz, Staatsmänner u. Ge- 
fhichtichreiber des 19. Jahr⸗ 
hunderte . 

Loſerth, Sigmar und Bern⸗ 
hard von Kremsmünſter. 

Lucas, Geſch. der Stadt Tyrus 
zur Zeit der Kreuzzüge 

Lumbroso, Miscellanea Na- 
poleonica. Im... 

Melper, I Nichte der Kar- 
tbager. II. 

Albert de Montesquieu, 
Voyages de Montesquieu. I. 

Mon. Germ. Hist. f. Hart- 
mann. 

Neubaur, Aus der Geſchichte 
des Elbinger Gymnaſiums. 

Nielsen, Aktstykker ved- 
kommende Stormagternes 
Mission til Kjebenhavn og 
Christiania i Aaret 1314. I. 

Nohle, Geſchichte des deutichen 
Schulweſens im Umriß 

Ortvay, Geſch. d. Stadt Preß—⸗ 
burg. I—-UlI. 


Inhalt. 


Seite 
Ottolenghi, Della dignità 
imperiale di Carlo Magno 
Overmann, Gräfin Mathilde 
von Zufcien . 


188 


72|Edm. Pictet, Biographie, 
166 | travaux et correspondances 
diplomatiques de Ch Pictet 

de Rochemont . 
499 | Pira, Svensk-Danska Foör- 
300 handlingar 1593—1600 . . 


P. &. dv. Blanta, Pater Theo- 
dofius, ein menicenfreund- 
liher Prieiter . 

‚ Andrea? Rudolf von 





514 
Planta, ein republifanijcher 
Staatsmann . 
154  Plattner, Ulrici Campelli 
330 Historia Raetic.. I. I. . 


366 Porſch, Die Beziehungen Frdr. 





525 des Großen zur Türkei bi 

182 | zum Beginn und während des 
Giebenjährigen Krieges 

512 | Aus den Briefen des Grafen 

325 Proteid v. Oſten (1849 

142 —-1855) . . 


Quellen zur Bei. d. Stadt 
88 | ”: K onftadt in Siebenbürgen. 


Na ei fa h i ‚ Die Irganijation 
92, der Gejammtitaatsverwaltung 
| Schleſiens vor dem 30 jährigen 
111) Kriege . 
| Rehme, D. Lübeder Ober⸗ 
361 | Stadtbuch 


|Reijer, Sagen, Gebräuche u. 
Sprichwörter des Allgäus. 
L 9 u. IL1.. 

Chr. Reuter, D. Kieler Erbebuch 

Chriſt. Ritter, Nationalität 
und Humanität. 2. Aufl. 

Rosznecki, Polakkerne i 
Danmark 1659 efter Jan 
Paseks Erindringer 

381, Round, Geoffrey de Mande- 
ville . 

Sach, D. Herzogthum Schleswig 
in ſeiner ethnographiſchen u. 


177 
73 
128 | 





519 | nationalen Entwidlung. 1. 
CGomte de Saint-Cha- 
83 mans, Me&moires nor a a 
1832) .. 


338 ‚Saljeldj. Stein. 


Seite 
313 
135 


115 


190 


113 


113 


497 


173 


101 


523 


107 
487 


— 


348 


190 
128 


323 


553 


Sammlung von Briefen de? 
Brinzen Vilhelm an den 
Prinzen Karl 1813—1815 

Sammer. Janjen. 

D. Schäfer, Feſtrede 
22. Mär; 1897 . . 

KU Shmid u. ®. Schmid, 
Geſchichte der Erziehung. IV, 1 

W. Schulpe, Deutſche Geich. 
von der Urzeit biß zu den 
Karolingern. U. 

Schumann, Die Kultur Bom: 
mern? in vorgeſchichtlicher Zeit 

P. Schwarg, D. Neumark im 
Srenglibrigen 5 Kriege bis 3 


zum 


v. Schwerin. Helgoland . 
9. Seeliger, D. Bund d. Sechs⸗ 
ſtädte in Oberlauſitz während 
der Zeit von 1346 bis 1437 


Sepp, Görres.— 
Spahn, Verfaſſungs⸗ u. Wirth⸗ 
ſcaftsgeſchichie des Herzog⸗ 


thums Pommern von 1478 
bis 1625 

Spangenber 8, Cangrande I. 
della Scala. II (1321— 1329) 

Spencer, Einleitung in, das 
Studium der Soziologie. Über: 
fegung. 2. Aufl. 2 Bode. 

Staufer, Bwölf Geftalten der 
Slanzzeit Athınd . 

Stern u. Salfeld, Nürnberg 
im Mittelalter. U.. . 

Syveton, Une cour et un 
aventurier au XVII. siècle 

Tadra, Summa cancellariae 
(cancellaria Caroli IV). . 

Zeutih, Hundert Jahre ſäch⸗ 
fiiher Kämpfe . . 

Thirria, Napoleon II. avant 
l’Empire U. . 

Schr. v. Thüna, Ein aus 
Eiſenach ftammendes preußis 
ſches SInfanterie-Regiment im 
Siebenjährigen Kriege . 

Tocco, I fraticelli o poveri 
eremiti di Celestino secondo 
i nuovi documenti . . 

Tönniet, dobbes Leben u. 
Lehre 


Inhalt. 


Seite 
Tomaſchet Edler v. Stra— 
dowa, D. alte Bergrecht von 
180 Iglau.. . 
Frhr. v. Uslar-Gleichen, 
Geſch. d. Kloſters Reinhauſen 
b. Göttingen bis Mitte des 
| 16. Jahrb . 
Vidier, Repertoire method, 
du Moyen Age francais 


878 
80 








224 Vierkandt, Naturvöller und 
Kulturvölter 
I57 De la Ville de Mirmont, 
Apollonios de Rhodes et 
- Virgile. . 
565 | Charles Vulliemin, Louis 
485 Vulliemin 
Bulpinus, Ritter Geieric 


376 | Graf Bartensleben Ca- 
tom, Erinnerungen aus dem 

— Feidzuge von 1866 . 
Wartmann, Urkundenbuch d. 
105: Abtei Sankt Gallen. IV, 1—3. 
_Wauwermans, Hist. de 
1339| l’ecolecartographique Belge 
et Anversoise du X Vl.siecle. 

LO ....2.20200. 

1471 Woſſidlo, Mecllenburgiſche 
Voltsüberliefſerungen. J... 

76 Wuttke, Studien über d. Ent: 
widlung des Bergregals in 


182) Shlefien - 2... . 
Wylie, Hist. of England 
371| ünder Henry the Fourth. I. 


Zdekauer, Il constituto del 





164: Comune di Siena dell’ anno 
| 1262 © 004: 
524 ‚ I Frammento degli 
| ultimi due libri del piü 
126 antico Constituto Senese 


(1262—1270). . 
Zevort, Hist. de la troisiöme 
Republique. I. . 
372] Bielinsti, Cicero im Wandel 
| der Jahrhunderte 
Zimmerli, D. deutfc-frangö- 





164 ſiſche Sprachgrenze in der 
Schweiz. 1. 
303 | Zürder, Jeanne Darc 


VII 


Seite 


491 


378 


vmI Inhalt. 


Rotizen und Regrigies 


Allgemeines 

Alte Geſchichte 

Römifd-germaniid Beit und frühes Rittelalter 
Spätere Mittelalter . 

Reformation und Gegenreformation . 


Neuere Gefcicte feit 1789 
Deutihe Landichaften 
ur Geſchichte der Niederlande und Belgiens 
ale Geſchich te... 


Erflärung (von Dr. 3. Kaerft). . .. 


SSSRREER $ 


Zur Würdigung Alerander’3 des Großen. 
Bon 
DWenedictns Qiefe. 


Im Urtheil über Alexander den Großen fann man zwei 
verjchiedene Richtungen unterjcheiden. Die Vertreter der einen 
jehen in ihm zwar einen großen Kriegshelden, aber zugleich einen 
Tyrannen, der die hellenijche ‚Freiheit mit Füßen tritt, der mit den 
gewaltſamſten Mitteln jeinem Biel nachſtrebt, dejjen Lebensweg 
von Blut und Unrecht begleitet it. Die ſtaatsmänniſchen Fähig⸗ 
feiten de3 Königs werden geringer gejchäßt; jeine Abjicht war 
nicht die Ausbreitung der helleniichen Kultur, jondern fein un- 
gezügelter Ehrgeiz jegte jich ungemejjene Ziele. Durch jeine 
Erfolge berauſcht, maßte er ich göttliche Eigenichaften an und 
verlangte göttliche Ehren, und nicht weniger al3 die ganze da= 
mals befannte Erde wollte er unterwerfen, als ihn der Tod ab, 
rief. Dies iſt die ältere Auffafjung, die den Alerander mit den 
Augen eines Griechen oder befjer eines Atheners anjieht; ſie 
wird von Niebuhr und nach ihm beſonders von Grote!) vertreten, 
auh Arnold Schäfer und U. v. Gutſchmid ſchließen ſich ihr in 
einigen Stüden an. 

Ein anderes Urtheil ijt, wie befannt, von I. G. Droyſen 
in jeiner Gejchichte Alexander's und des Hellenismus fräftig zum 
Ausdruck gebracht worden. In der Würdigung der friegerijchen 


) Hist. of Greece 11,472. ch. 9; 12, 83 f. ch. 94 (Ausgabe von 
Zondon 1869). 


Hikterifhe Beiticheift N. 5. Bd. XLIII. 1 


2 B. Niefe, 


Tähigfeiten des Helden jtimmt Droyfen mit jenen Gelehrten 
völlig überein, zugleich aber hebt er feine ſtaatsmänniſchen Eigen- 
ſchaften mehr hervor, jeine Verdienite um die Ausdehnung der 
belleniichen Bevölferung und Kultur, jeine großherzige und weit- 
ſichtige Gefinnung gegen die unterworfenen Barbaren. Troyfen 
verläßt den griechifchen oder beſſer athenifchen Standpunft und 
jucht dag zu würdigen, was Alerander für die Welt überhaupt 
und für ihre weitere Entwidlung geleijtet hat. 

Bei diefem Wideritreite der Meinungen fommt auch die 
Schätzung der Duellen in Betradt. Man kann fagen, daß 
Droyſen's Urtheil im Ganzen von den älteren und befferen 
Autoren getragen wird, von Ptolemäos und Ariſtobul, die uns 
außer wenigen direkten Fragmenten bei Arrian und zum Theil 
bei Plutarch erhalten jind, während Niebuhr und Grote ſich zu- 
meiſt auf die ſpäteren Schriftiteller ftügen, vornehmlich auf 
Klitarch, einen Schriftfteller, der unter Ptolemäog II. (285 bis 
247) jchrieb?), nicht mehr zu Alerander’3 Zeitgenoſſen gehört, 
aber die Arbeiten der Zeitgenofjen in ftarf rhetorifcher Bearbeitung 
umgejtaltet hat. Diodor, Juftin und Plutarch haben ihn benusgt, 
aber am ausführlichiten liegt ung fein Werf bei Eurtius Rufus 
vor, der, ſelbſt Ahetor, nicht unterlaffen hat, die Rhetorik jeiner 
Vorgänger durch feine eigene zu verdoppeln. Dieje Elitarchiiche 
Überlieferung ift von allen Üübeln der rhetorischen Gefchicht: 
ichreibung, Dellamation, Übertreibung und Erfindung heim— 
gejucht worden. Und wie follte e8 auch anders jein? Denn 
an niemanden hat ſich die Mythenbildung jo frühzeitig und eifrig 


1) Klitarch gab für den Beinamen des Ptolemäos Lagi, Soter, die be- 
tannte Erklärung (fr. 11; Gurtius Rufus 9, 5, 21; Arrian 6,11,9. Nun 
ift aber jegt als feftgeitellt anzujehen, daß dem Ptolemäos erjt nach feinem 
Tode die Apotheoſe und der Beiname Soter zuerfannt worden ift; diejer 
läßt fich erft im 25. Fahre des Ptolemäos' II. zuerjt nachweiſen, d. h. 261 
v. Chr. (Poole, Catalogue of greek coins, Ptolemies p. XXV). inter: 
efiant ift, dab in dem Steuerpapyros aus dem 27. Jahre des Ptolemäog’ II. 
(259/8 v. Chr.) der Beiname Zorrgos erſt durch Korrektur nachträglich ein- 
gefügt ilt (Grenfell, Revenue laws of Ptolemy Phil. p. 75). Alſo wird 
Klitarch nicht vor 260 v. Chr. geichrieben haben, womit jtimmt, daß er ohne 
Zweifel den Ariftobul ausgiebig benupt hat. 


Zur Würdigung Alexander's des Großen. 3 


gemacht, wie an Alerander; diejer lebte ja in einer literariich fo 
fruchtbaren Zeit, wo überdies alle® von der Rhetorik beherrjcht 
war, und wohl jelten haben die Federn phantaftifcher, oft nur 
oberflächlich unterrichteter Schriftjteller ein jo dankbares Feld 
für wirkſame Daritellung gehabt, wie in feinec Gedichte. 
Schon die Reite der zeitgenöffiichen Schriftiteller lajjen den Ein» 
fluß der rhetorischen Dichtung erfennen, und noch mehr die 
Ipäteren, bei denen man ſtets, was auch der Gegenjtand der 
Erzählung fei, auf der Hut jein muß!). Diefer Sachverhalt ift 
für die Niebuhr-Grote'ſche Auffafiung wenig günftig; denn dieje 
gründet ſich nicht nur auf das von den geringwerthigeren Schrift- 
ftellern gelieferte Material, ſondern auch auf die daran gefnüpften 
Betrachtungen und Urtheile der rhetorischen Hiftorifer. Wenn 
man alſo nicht etwa glaubt, daß man fich in dieſen Dingen 
an die Forderungen der genaueren bijtoriichen Forſchung nicht 
zu binden brauche, muß man jagen, daß die Droyjen’iche Auf- 
fafjung beſſer begründet ift, als die andere, und ich habe daher 
in meiner Geſchichte Alerander’3?) fein Bedenken getragen, mid) 
ihr anzufchliegen. 

In neuerer Zeit iſt jedod) wiederum dem entgegengejeßten 
rote'ſchen Urtheil in Julius Kaerſt ein eifriger Verfechter 
entitanden. Seine Ausführungen, die er in drei verjchiedenen 
Abhandlungen niedergelegt hat?), lafien jih in Kürze jo zus 
jammenfaffen, daß Alerander nach der Schlacht bei Iſſos (333) 


— 





ı) Um nicht mißverſtanden zu werden, bemerfe id), daß damit nicht die 
Werthloſigkeit der geringeren Überlieferung, die ſich bei Diodor, Plutarch, 
Jujtin und Eurtius findet, behauptet werden fol; vielmehr ift auch bei ihnen 
aus der zeitgenöſſiſchen Überlieferung viel erhalten, ıwa8 Arrian übergangen 
bat. Es ift ftet3 zu erwägen, dab Ptolemäos und Arijtobul ung nicht felbit 
erhalten jind, jondern nur ihre Bearbeitung durch Arrian, der viel übergeht, 
zuweilen auch von der fchlechteren Überlieferung beeinflußt worden iſt und 
überhaupt feine Eigenart ſtark empfinden läßt. 

3) Geſchichte der griediichen und makedoniſchen Staaten jeit der Schladht 
bei Ehaeroneia. Bd. 1. 

s, Forſchungen zur Geſchichte Alerander’3 des Broken, Stuttgart 1887. 
Sybel's Hiſtoriſche Zeitichrift 74 (1895), 1f. 1935. Rhein. Muf. f. Philol. 
N. F. 52 (1896), 425. 


1* 


4 B. Niefe, 


und noch mehr nach dem Siege bei Gaugamela (331) jein Ver: 
halten den Makedoniern und Hellenen gegenüber völlig geändert 
habe. Während er früher in den Bahnen feines Vaters Philipp 
wandelte und im Dienfte der panhelleniichen Idee gleichham die 
Beichlüffe des helleniihen Bundes vollitredte, fchwebt ihm von 
jet an die Eroberung der ganzen Erde, im Often und im Weiten, 
als Ziel vor. Und zwar begründet er die Forderung der Welt: 
herrſchaft auf die Idee feiner Göttlichkeit; jene it die Verwirk— 
lihung diejer: von der ganzen Welt fordert er göttliche Ver- 
ehrung. Durch dieje maßlojen Pläne hat aber Alexander!) das 
von Philipp in weiſer Beichränfung Gewollte verdorben, und 
Alerander’s Werf gereichte dem Griechenthume nicht zum Heile, 
jondern zum Unjegen. 

Diefe Ausführungen ruhen zum guten “Theile auf Ber: 
muthung *) oder auf perjönlichen Gefühlen, die ja bei ver 
Beurtheilung großer Männer der Vergangenheit jtet3 eine Rolle 
Ipielen, und joweit nur das Gefühl in Betracht fommt, wird es 
faum väthlich jein, über Alexander's Beurtheilung in eine Er» 
Örterung zu treten. Anders jteht es Dagegen mit den Thatiachen, 
die von Kaerſt "und ſeinen Vorgängern zur Beltätigung ihres 
Urtheils herangezogen werden. Dieje laffen ji nad) Maßgabe 


1) Hierin folgt Kaerjt dem verftorbenen U. v. Gutſchmid. 

2) 3.2. die Behauptung (Kaerft, Forſchungen ©. 14 und Hiſt. Ztſchr 
74, 17), Alexander fei anfangs in den Bahnen der panhelleniſchen Politik 
jeine® Vaters Philipp gewandelt; denn von diejer Bolitit Philipp’ wiſſen 
wir nicht, umſoweniger, ald fie ja ’gar nicht zur Ausführung gelangt iſt. 
Ferner beißt es ebendajelbit, Alerander ſei durch ſeine neue Politik mit Heer 
und Bolt im ;heftige Konflikte Sgefommen. Wo find 'nun ‚diefe Konflikte? 
Gemeint ift der Prozeß des Philotas, der vom Heere jelbjt verurtheilt wird, 
die Hinrichtung Parmenion’s, der Tod "des Kleitos und die Verſchwörung 
des Hermolaog, die befannten Vorfälle, in denen ſich aud die alten Rhetoren 
jo gern ergangen haben. Hiebei ift von einem Sonflilt des Königs mit 
feinem Heere oder gar mit dem WVolke, das überhaupt nicht betheiligt ift, nie 
die Rede. Auch ift nirgends ausreichend bezeugt, daß dieje und andere Vorfälle 
mit der angeblichen Änderung in Alexander's PBolitif in Verbindung jtehen. 
Alles ift Vermuthung, reine Bermuthung. Lehrreich ift für diefe Dinge die 
forgfältige Unterjuhung Fr. Cauer's im 20. Supplementband der Jahrbücher 
f. Philologie Fleckeiſen's (S. 1 f.). 


Zur Würdigung Alerander’8 des Großen. 6 


unſerer Kenntniſſe prüfen und feſtſtellen, was bisher, ſoviel ich 
ſehe, unterlaſſen worden iſt!). Kaerſt bat zwar bemerkt, 
daß die Beglaubigung der von ihm angezogenen Nachrichten 
allerlei zu wünſchen übrig lafje?), hat aber auf eine nähere 
Unterjuchung verzichtet, und jo ſei es mir verftattet, daS Ber: 
ſäumte nachzuholen, um zu ermitteln, wie es fich 'mit der Selbſi— 
vergötterung Alexander's und den daraus hervorgegangenen 
Welteroberungsplänen verhält. Dadurch erhalte ich zugleich 
willfommene Gelegenheit, meine eigene Anfchauung, die ich im 
I. Bande meiner Geichichte der griechiſchen und mafedonischen 
Staaten niedergelegt habe, näher zu begründen und zu vertiefen. 
Kaerit hat es abgelehnt?), auf diefe Anſchauung näher ein- 
zugehen, für die er, wie er jagt, eine Begründung nicht gefunden 
babe*), und es wird daher, wie ich hoffe, auch ihm erwünscht 
jein, die Grundlagen meined abweichenden Urtheild etwas näher 
fennen zu lernen, 


Ehe ich zum erften Punkte übergehe, bemerfe ich noch 
jolgendes: Bekanntlich war unter den orientalifchen Sitten und Eins 
rihtungen, die Alerander nach des Darius Tode übernahm, auch 
die Proskyneſe, wonach wer vor dem Könige erichien, jich vor ihm 
niederwerfen mußte. Diefe Brosfynefe fällt aber nicht unter den 
Begriff der PVergötterung und iſt daher mit Recht auch von 
Kaerit’), wenn ich ihm recht verftanden habe, davon ausgeſchloſſen 
worden. Es iſt eine Vorſchrift der Hofetiquette, die nach der 
Anichauung der Perſer den König nicht etwa zum Gott machte; 


1) Mit einer gleich zu erwähnenden Ausnahme. 

2) Hiſt. Ztichr. 74, 30. 

2) Hift. Ztichr. 74, 27 Anm. 1. 

% Die vermißte Begründung liegt im wejentlichen, wie ſchon angedeutet, 
in der Buellenfritit und in der dadurch gegebenen Auswahl der Nachrichten. 
Es iſt z. B. ein großer Unterjchied, ob man Cicero nach den fpäteren Bes 
rihten und Ausſprüchen beurtheilt oder nad) den zeitgenöffiichen ‚Quellen. 
Richt weniger macht es aus, ob man bei der Würdigung Karl's des Großen 
die gleichzeitigen Quellen und Scrijtiteller beranzieht vder die jpäteren 
Erzählungen. So ift es auch bei Alerander: auch bei ihm jragt es fidh, ob 
man bei feiner Beurtheilung den Zeitgenofjen trauen foll oder der Legende. 

5) Hift. Zeitichr. 74, 29. 196. 


6 B. Niefe, 


denn fie waren weit davon entfernt, ihre Könige ald Götter 
anzujehen, und ebenjo hat Alexander, als er dieſe Sitte ein 
führte, nicht beabfichtigt, jich damit zum Gott zu erklären. Für 
den Griechen freilich, der jih nur vor den Göttern zur Erde 
niederwarf?), hatte dieſe Ehrenbezeugung etwas Übermenfchliches, 
und der freie, feiner Überlegenheit bewußte Hellene hielt es für 
unwürdig, fih ihr zu fügen. Darum bat auch Alexander von 
den Meafedoniern und SHellenen jeines Hofes die Proskyneſe 
niemals verlangt, hat aber zugleich, was jehr begreiflich iſt, mit 
der ihm eigenen Strenge darauf gehalten, daß nicht etwa Die 
Barbaren von Seiten der anderen deswegen verlacht oder ver- 
jpottet würden. Eine Bergötterung war, wie gejagt, mit der 
Proskyneſe nicht verbunden, und von den folgenden Erörterungen 
joll daher diefe als unweſentlich ausgeſchloſſen werden ?). 


Als erjten und wichtigſten Beweis dafür, daB Alexander 
dem Wahn der Selbitvergötterung verfallen jei?), betrachtet man 
den berühmten Zug zum Heiligthum des Ammon, den Alerander 
unter allerlei Beichwerden nach der Gründung Alerandrias mit 


1) Herodot 7, 136. 

2) Wobei ich zugleich auch auf die jhon oben S. 2 Anm. 4 angeführte 
Abhandlung Cauer's verweilen fann, wo die mit der Proskyneſe eng ver⸗ 
bundene Geſchichte des Kalliſthenes in einem der nachfolgenden Erörterung 
verwandten Sinne unterfudht worden ift. 

>) Die Bergötterung Alerander’3 ift, abgeſehen von den Hiftorifern und 
der älteren Kiteratur (St. Croir, Examen critique des historiens 
d’Alexandre-Le-Grand ©. 365 f.), bejonder& behandelt von D. ©. Hogarth 
(the English historical review 2 [1887], 317 f.), der volltommen zus 
treffend und überzeugend geurtheilt Hat. Ich hätte mir aljo meine Aus— 
führungen wenigſtens zum guten Theil fparen können, wenn nicht Kaerſt's 
Beifpiel gezeigt hätte, daB Hogarth's Ausführungen bei uns feinen Eindrud 
gemacht Haben. Eine Zufammenjtellung der Nachrichten im Sinne Grote's 
findet fih in der Theje von Emile Beurlier, De divinis honoribus quos 
acceperunt Alexander et successores eius. Paris 1890. Neuerdings hat 
auch G. Radet, Revue des universit6es du midi 1 (1895), 129 f. diefen 
Gegenitand in jehr anziehender Weiſe behandelt. Er geht noch weiter alt 
Kaerit und ſucht auszuführen, dab Alerander den orientaliihen Begriff des 
Gott-Königs angenommen und feine Anertennung überall erzmungen habe. 
Keiner diejer Verſuche hat Übrigen? da8 Material erſchöpfend vorgelegt. 


Zur Würdigung Alexander's de8 Großen. 7 


einem Theile des Heeres unternahm. Dies ift, wie Kaerſt meint, 
ein wichtiger Einjchnitt, ein deutliches Zeichen der veränderten 
Bolitif; von bier an geht die Bahn Alerander’s himmelwärts. 
Sehen wir daher, was über dies Ereignis befannt iſt. Nach 
Arrian?), der bier, wie öfter, jeinen Duellen allerlei eigene Zu— 
jäge beigemengt hat, hat Alexander einen religiöjen Grund; er 
will, wie feine Vorfahren Perjeus und Herakles, das Drafel 
befragen, auch jchreibt er dem Ammon einen gewillen Antheil 
an jeiner Geburt zu*). Er fommt auf der Daje an, beichaut 
fie, befragt den Gott, erhält erwünjchte Antwort und zieht 
wieder ab. Welche Tragen er an das Orakel gerichtet habe, 
ſagt Arrian nicht; wahrſcheinlich aljo haben feine befjeren 
Quellen, Ptolemäos und Arijtobul, nichts darüber enthalten, und 
nicht ohne Grund; denn es fcheint, daB nichtd davon befannt 
war. Alexander jelbit nämlich jchrieb in einem Brief an feine 
Mutter, daß er einige geheime Orakel erhalten habe, die er ihr 
Ipäter mündlich mittheilen wolle’), und dazu Itimmt, was der 
ältefte Berichterjtatter, Kalliithenes, erzählt, daß nämlich Alerander 
allein und ohne Zeugen die Drafel empfing. Er weiß in feinem, 
übrigend mit allerlei Schmeichelet getränften Berichte nur zu 
jagen, daß der Prieſter den König ausdrüdlih ald Sohn des 
Zeus (Ammon) angeredvet habe*), und dies ift ohne Zweifel ge= 
ihehen. Erſt die auf Klitarch zurücgehenden Autoren, Diodor, 
Curtins Rufus und Plutarch, wilfen mehr’). Alerander fragt, 
ob er den Tod ſeines Vaters völlig gerädht habe; aber der 
Prophet bittet ihn, nicht zu läftern; denn er habe feinen jterb- 
lichen Vater. Die zweite Frage iſt, ob ihm die Herrichaft über 

1) 3, 3, wo vermuthlih durch PBermittelung Ariſtobul's Kalliſthenes 
benugt ijt. Vgl. Kallifthenes, fr. 36 bei Strabo 17, 818. 

3) Dies iſt nicht ganz klar. Es fcheint, daß Arrian hier, von den 
ipäteren Quellen beeinflußt, dem Alerander ſchon vor dem Beſuch des Orakels 
eine Ahnung von feiner güttlihen Abſtammung beilegt. 

) Plutarch, Aler. 27. 

*%) Strabo 17, 813 j. 

8) Beurlier, a. a. O. S. 22 irrt, wenn er behauptet, daß dieſe Quellen 
wit den älteren, Kallifthenes, Arijtobul und Ptolemäos, übereinjtimmen. 


8 B. Niefe, 


alle Dienjchen vergönnt ſei, und fie wird bejaht!). Dieje im 
wejentlichen übereinjtimmenden Erzählungen?) können nad) Allem, 
was wir aus den älteren und beſſeren Quellen willen, auf 
Glaubwürdigkeit feinen Anſpruch erheben, fondern find ohne 
Zweifel erfunden?). Gut und ausreichend bezeugt ift nur, daß 
Alexander vom Prieiter Ammon’s ald Eohn des Gottes an- 
geredet ward, und darin liegt durchaus nicht, daß er zum Gott 
erklärt wurde oder daß er von Stund an göttlicher Verehrung 
theilhaft werden wollte. Bei den Ügyptern gehört, wie fchon 
oft gejagt ift, der Beiname „Eohn des NE“ oder „Sohn 
Ammon's“ zu den regelmäßigen Titeln der Königet), und es iſt 
aljo nicht zu verwundern, daß der Priefter den neuen König, 
der feinem Heiligthume jolche Ehre erwies, als Eohn des Gottes 
anredete,; es wäre eher zu verwundern, wenn er es nicht gethan 
hätte. Und inicht anders liegt die Eache, wenn man fie mit 
den Augen eines Griechen anfieht. Eine derartige Benennung, 
wie fie der Ammons-Prieſter dem Könige zurief, ift dem religidjen 
Gefühl der Griechen, und aljo auch Alerander’s, durchaus nicht 
entgegen. Denn, wie ebenfallö jchon oft bemerkt worden tft), jind 
nach hellentichen Begriffen die Grenzen zwiſchen Gott und Menſchen 
viel weniger ftreng gezogen al& nad) unferer Religion. Gewaltige, 
mächtige, durch ungewöhnliche Fähigkeiten ausgezeichnete Männer 
hatten nach grichiicher Vorſtellung etwas Göttliche. Dem 
Spartaner Lykurg jagt die Pythia nach Herodot’8°) bekannter 
Erzählung: „Sc, weiß nicht, foll ich dich einen Gott oder 


1) Diodor 17,51. Curtius Auf. 4, 7,26. Juſtin 11, 11, 10. Plutarch, 
Aler. 27. 

3) Juſtin allein behauptet, daß Alles ein abgelartetes Epiel gewejen jei, 
dat Alexander das Oratel ſchon vorber "habe wiſſen laſſen, welchen Beſcheid 
er wünſche. 

5) Noch weniger begründet iſt, was Kaerſt aus der klitarchiſchen Geſchichte 
gemacht hat, daß nämlich Alexander ſich zum Sohn Ammon's habe profla= 
miren laſſen (Forſchungen S. 10). Das hat ſelbſt Klitarch nicht geſagt. 

4) Siehe z. B. Erman, Ägypten ©. 88 f. 

5, Bol. 3.8. Troyjen, Hellenismus 1, 2,271. Wilamowiß, Ariftoteles 
und Athen 1, 337. 

° 1, 66. 


Zur Würdigung Alerander’3 des Großen. 9 


Menichen nennen,“ und jelbit dem Lyſander wurde vielfältig 
geopfert und andere göttliche Ehren erwieſen)). So weit ging 
e3 nun bei Alerander noch nicht; er wurde nicht als Gott, aber 
als eined Gottes Sohn begrüßt, was nicht dagjelbe iſt. Götter: 
jöhne waren aud) die Helden der epiichen Poeſie, die Stammes 
väter der edlen Gejchlechter, die man nad ihrem Tode als 
Heroen verehrte. Died wandte man auf die großen, verehrungs- 
würdigen Männer der eigenen Zeiten an, man dachte fich wohl 
ihre Geburt von Zeichen göttlicher Theilnahme begleitet?), und 
wenn man Alexander als Götterfohn bezeichnet, jo bezeichnet 
man ihn damit als gottähnlicy, als Liebling der Götter. Eine 
Bergötterung liegt in dieſem Attribut nicht, jo überſchwänglich 
es auch iſt. So wundern wir und auch nicht, daß um diejelbe 
Zeit von helleniichen Orakeln ähnliche Stimmen ausgingen, wie 
vom ägyptilchen. In dem jüngft von Alexander befreiten Sonien 
that das jeit langem verjtummte Orakel der Branchiden bei 
Milet, wie Kallifthenes erzählte?), feinen Mund wieder auf; die 
Sprüche wurden dem Könige nach Memphis überjandt, darunter 
ciner, daB er Sohn des Zeus ſei, und ähnlich hatte auch die 
Erythräiſche Seherin Athenais verfündet. Dies erzählt, und 
zwar zu Alexander's Berherrlichung, derjelbe Schriftiteller*), der 
ih fpäter angeblid; der Proskyneſe als unwürdig widerſetzt 
haben jol. Nad) feiner Meinung ward alſo Alexander, wenn 
er vonaden Orakeln ald Sohn des Zeus begrüßt ward, darum 
no nicht zum Gotte, und ähnlich muß Alerander ſelbſt gedacht 
haben; denn er hat nad) dem Beluch in Ammonium nidyt etwa 
göttliche Ehren für fich verlangt, Yondern Alles blieb beim Alten. 
Für ihn war der Beſuch des Ammon-Orakels eine religiöje 
Handlung; er wünſchte dem Gott, der auch in der helleniichen 





1) Plutarch, Lyſ. 18. 

2) Sch erinnere an Perikles (Herodot 6, 131), für ſpätere Zeiten an 
Scipio Afrikanus, bei dem allerdings die Nahahmung Alexander's in Be- 
trat zu ziehen ift. Bolyb. 10, 2, 5 f. Gellius 6, 1. 

3) Strabo 17, 814. 

) Kalliſthenes läßt auch fr. 37 (bei Rlutarch, Alex. 33) den Alerander 
in einem Gebet in der Schlacht bei Arbela ſich ala Cohn des Zeus bezeichnen. 


10 B. Niefe, 


Welt großes Anſehen genoß und viel bejucht ward, jeine Ber: 
ehrung zu bezeigen und etiwa über den Verlauf des Krieges oder 
was er ſonſt auf dem Herzen hatte zu befragen. 

Daneben hatte er aber vielleicht auch eine politische Abficht, 
um fich als Verehrer der ägyptiichen Gottheiten zu zeigen, ich 
jeinen neuen Unterthanen zu nähern und die den ägyptiſchen 
Königen von jeher gewährte religiöje Weihe zu erlangen. Denn 
Alerander hatte damals vielen Anlaß, auf die Anhänglichfeit und 
Sympathien der Ägypter Werth zu legen. Man geftatte mir 
furz hiebei zu verweilen. Er fam nad) Agypten, nachdem er 
den Darius bei Iſſos gejchlagen Hatte. Wie befannt, hat er den 
befiegten Feind nicht verfolgt, fondern ihm Zeit gelaflen, in aller 
Nuhe ein neues großed Heer zu bilden; zunächſt machte er fid) 
an die Eroberung Eyriens, Phöniziend und Ägyptens; denn 
mit Recht hielt er es, um das Erreichte zu fichern und den 
gejährlichiten Theil der perfiichen Kriegsmacht, die Flotte, zu 
zeritören, für nothwendig, erſt fich diefer Küftenlandichaften zu 
verjichern. Als er in Ägypten war, hatte er aljo noch nicht 
endgültig gefiegt; das Perſerreich war mit nichten zu Ende?), 
jondern e& jtand dem Alexander noch ein ſchwerer Kampf bevor, 
und das Schlachtenglück fonnte ſich auch gegen ihn menden. 
Syrien und Borderafien waren alsdann faum zu halten, jedod) 
Ügypten zu behaupten, fonnte er auch im Falle einer Niederlage 
hoffen. Dies Land, ebenjo reich an Hülfgmitteln wie ſchwer 
anzugreifen, war erjt vor furzem nac) langer Unabhängigfeit von 
den Perſern unterworfen uud hatte jchwer von ihnen gelitten. 
Es hatte ihn ohne Widerftreben aufgenommen, ja, er jcheint fait 
al? Befreier begrüßt zu fein. Hier richtete er fich daher zuerit 
dauernd ein, hier gründete er feine erite Stadt, Alerandria, durch 
die er jeine Verbindung zur See mit Makedonien und Hellas ficherte?). 

1) Das zeigt 3. B. der lange Widerjtand von Tyros. 

2) Man darf dem Alexander nicht zu weit gehende Abfichten bei der 
Gründung Alerandrias zujchreiben, als wenn er die fünftige Bedeutung der Stadt 
{don geahnt ‚hätte. Diefe beruht auf den Ptolemäern und der jelbjtändigen 


Entwidlung Ägyptens, Es ift jehr die Frage, ob fie die gleiche Bedeutung 
erlangt hätte wenn Agypten ein Theil des Reiches geblieben wäre. 


Zur Würdigung Ulerander’3 des Großen. 11 


Nun war er auch bemüht, die religiöje Weihe eines ägyptijchen 
Königs zu empfangen; in Memphis opferte er den Göttern und 
dem Apis!) und machte fih dann auf zum Orakel Ammon's, 
wo er als Sohn, als Geliebter des Gottes begrüßt ward. Wie 
er überhaupt jehr fromm war und den ganzen Glauben und 
Mberglauben feiner Zeit bejaß, jo Hat er fortan auch dem 
Ammon eine hohe Autorität eingeräumt und in feinem Kultus 
eine bevorzugte Stätte gewährt, und Prieſter dieſes Gottes 
Iheinen ihn auf feinem Heereszuge begleitet zu haben?). Daß 
Mlerander den Ammon wirklich für jeinen Erzeuger angejehen 
und feinen Vater Philipp verleugnet, oder daB Olympias diejem 
Gedanken Nahrung gegeben habe, dafür gibt es feine irgendwie 
beglaubigte Spur. Im Gegentheil hat der König dem Andenken 
Bhilipp’3 jtet3 die gebührenden Ehren erwiejen. Und wenn er 
den Herakles als jeinen Urahnen verehrt, wie fann cr dann den 
Ammon als jeinen Bater anjehen??) Was über die Vater: 
haft Ammon’3 gejagt wird, beruht auf den Wusjagen der 
ipäteren rhetoriſchen Schriftiteller, denen dies ein willkommenes 
Thema wart). Ebenjo wenig beweilt e8 etwas, wenn (324) in Opis 

ı) Yrrian 3, 1,4. 

N Arrian 7, 14,7. 23,6. 3. B. am Occan bei der Andosmündung 
wurden nad Vorſchrift Ammon's Opfer dargebradt. Arrian 6, 19,4. Bon 
Interefle ift Arrian 6, 3,2: di de ‘Hoaxkei Te To noonaTogı oneioas xai 
Auuomı ni akkoıs Feois, wo man hätte erwarten können, daß Ammon al? 
fin Bater bezeichnet wäre, wenn Alerander jich ihn als folhen gedacht hätte. 

2) Hogarth, a.a. DO. ©. 326. 

% Bei Arrian 4, 9,9. 10,2 ift es ein Gerede (Adyos) der geringeren 
Quellen, vgl. Curtius Ruf. 8, 5, 5. 7, 13; Plutarh, Aler. 2, und aus 
diefen vulgären Darftellungen ftammt Alles, was ſonſt darüber oft ganz 
widerijpreend behauptet wird, z. B. Strabo 14, 640 (nad) „Artemidor), 
Galius 13, 4, Lucian, Todtengeiprähe 12,2. 13,1. 14,1. Erdichtet ift 
auch die Inſchrift auf den Altären am Hyphaſis ‚bei Philoftratos, vit. 
Apollon. 2, 43, wonach Alerander dieje jeinem Bater Ammon, jeinem Bruder 
derafled und anderen Göttern weihte. Die Nachricht des Ephippos (fr. 3 
Scriptores rer. Alex. M. 116, Athen. 12, 537 E.), daß der König zuweilen 
ſich mit göttlichen Attributen gejhmüdt habe und als gehörnter Ammon, 
ald Hermes oder Herakles aufgetreten jei, ift offenbar erfunden; denn davon 
it fonft nie die Nede, ebenfo wie es falſch ift, daß ſich Alerander mit 


12 B. Niefe, 


die meuteriichen Soldaten höhnend ihn an feinen Vater Ammon 
wiejen!). Diefer Spott zeigt nur das, was überhaupt jeititeht, 
daß nämlich die Prieiter ihn ald Sohn Ammon's begrüßten, 
und daß Alexander dieje Ehre entgegennahm. Damit war der 
Kern des Mytho8 gegeben; Alexander's Verehrer wie jeine 
Gegner haben ihn in ihrem Sinne erörtert und gebraudit, und 
die Hiftorifer haben nicht verfehlt, ihn in novelliftiicher Art 
weiter auszubilden. 

Kaerit hat auch darin, daß Alerander die in Ägypten neu 
gegründete Stadt nach feinem eigenen Namen Alerandreia nannte, 
einen Beweis jehen wollen, daß er ſich göttliche Ehren beilegte. 
Er hat nicht erwähnt, daß auch Philipp, Alerander’3 Vater, als 
er feine erjte Stadt gründete, fie Philippoi nannte. Überhaupt 
it e8 nicht ohne Intereſſe, bei diefer Gelegenheit jich der Ehren 
zu erinnern, die Philipp empfing. Er wurde bei den Zeiten in 
Acgä, die mit feiner Ermordung einen jo jähen Abſchluß finden 
jollten, von den Hellenen mit den höchſten Ehren überjchüttet, 
ja in dem feftlichden Aufzuge erjchien nad) den Bildern der zwölf 
Götter ala dreizehntes das ſtolz geſchmückte Bild des Königs?). 
Das find göttliche Ehren, jo hoc), wie fie Alerander auch bei 
jeinem Bejuch des Trafeld nicht erhielt. Gleichwohl hat noch 
niemand behauptet, daß fi Philipp als Gott angejehen habe; 
im Gegentheil it ja Kaerit der Meinung, daß er im Gegenjaß 
zu jeinem Sohne mehr nüchternen Einnes und chimäriſchen 
Plänen abhold war; Kaerjt wird ihm alſo auch eine jolche Über: 
bebung nicht zutrauen und ‚fann daraus erjehen, dab göttliche 
Ehren, die einen Fürſten erwieſen werden, eine wirkliche Ver- 
götterung, emen Anſpruch auf Göttlicyfeit in feiner Weiſe 
bedeuten. 


Ammons-Hörnern habe abbilden laſſen, wie Clemen®, Alex. protr. 10, 96 
(p. 77 Bott.) angibt; denn die göttlichen Attribute erjcheinen auf den Münzen 
erit nad) feinen Tode. Bon ſolchen Quellen darf ſich fein Hiftoriter leiten 
lafien. Ich erinnere zum Schluß an die analoge Fabel des NWlerander- 
Romans, in dem der legte ägyptiiche König Nettanebos Alexander's Erzeuger ift. 
1) Arrian 7, 8,3. 
2) Diodor 16, 92, 


Zur Würdigung Alerander’3 des Großen. 13 


Wie jehr der Mythos auf dielem Gebiete mwucherte, lehrt 
eine jet zu erwähnende jeltiame Notiz Ariftobul’3, der zu den 
älteften und beiten Autoren zu rechnen ift!. Danad) hat 
Alerander die Araber angreifen wollen, vorgeblich weil fie allein 
ihm nicht gehuldigt hätten, in Wahrheit aus unerjättlicher Länder 
gier, und weil er gehört habe, daß fie nur zwei Götter ver- 
ehrten, den Zeus und Dionyjos?), nnd er gehofft habe, daß fie 
ihn als Dritten daneben verehrten würden. Hier ift deutlich 
gejagt, daB dies nur eine Vermuthung ilt; Alerander jelbit hat 
aljo nie den Wunjch fundgegeben, als dritter im Bunde unter 
den arabiichen Göttern aufgenommen zu werden. Ariſtobul's 
Worte zeigen nur, daß man über Alerander’3 arabiiche Pläne 
ganz im Ungemwijjen war und in Srmangelung bejtimmter Nad): 
rihten zu den abenteuerlichiten Einfällen griff. 

Nun jagt man uns aber, daß doch furz vor jeinem Tode 
Alexander von den Hellenen göttliche Ehren ausdrücklich verlangt 
babe?), und wäre dies richtig, jo würde unzweifelhaft erwiejen 
jein, daß er wirklich an jeine Vergötterung geglaubt oder fie 
doch eritrebt habe. Aber eine nähere Prüfung der Nachrichten 
zeigt, daß die Sachlage anders ijt*). Bei Alian, einem jpäten 
Sammler, der nicht im Rufe bejonderer Genauigfeit und Zu— 
verläjjigfeit iteht und jeine Nachrichten aus dritter oder vierter 
Hand zu übernehmen pflegt, findet ſich folgende Anekdote: 
Aerander jendet nad) dein Tode des Darius und der Eroberung 
des Perſerreiches den Hellenen die Botichaft, ihn als Gott an: 
zuſehen. Während die verichiedenen Gemeinden den Befehl jede 


 Strabo 16, 741. Arrian, anab. 7,195. Strabo gibt in manden 
Stüden, wie es jcheint, feinen Autor bejjer wieder. Arijtobul ſchrieb erit 
nach der Schlacht bei Ipſos (301 v. Chr.). 

2) Arrian nennt nicht Zeus, jondern Uranos. Bielleicht ſchwebte ihm 
Herodot 3, 8 vor, der die Urania (Aphrodite) und den Dionyſos als arabiſche 
Gottheiten nennt. 

5) Bgl. Droyjen, Helleniamus 1, 2, 273 i. Schäfer, Temoithenes 3, 312. 
Schäfer drüdt jih übrigens mit gutem (rund vorlihtig aus. (Brote über: 
geht es ganz, vielleiht aus kritiſchen Gründen. 

Schon Hogarth in der oben S. 6 angerührten Abhandlung S. 322 i. 
bat das Richtige bemerft. 


14 B. Niefe, 


nach ihrer Weile ausführen, beichlichen die Lakedämonier: „Da 
AUlerander ein Gott fein will, jo fei er ein Gott.” In der ans 
geblid Plutarchifchen Apophthegmenfammlung wird diefer Bes 
jheid dem Spartaner Damis in den Mund gelegt‘). Dieſe 
Anekdote ift aber die einzige Stelle, wo der Wunſch Alerander’s, 
von den Hellenen göttlihe Verehrung zu empfaugen, erwähnt 
wird. Gut bezeugt iſt Dagegen etwas anderes, nämlich daß um 
die Zeit, wo Alerander von Indien zurüdgefehrt war, aljo etwa 
324, in Athen der Antrag auf göttliche Verehrung Alexander's 
geitellt ward. Es wird berichtet, daB einige Redner, wie Lykurgos 
und Pytheas dagegen jprachen, während Demoſthenes von jeinen 
Gegnern bezicjtigt wird, dem Antrage nur ſchwach widerjprochen 
oder ihn gar begünjtigt zu haben. Daß alfo diejer Antrag 
geftellt wurde, jteht aus guten Zeugniſſen unzweifelhaft feit?). 
Es fcheint auch, daB er angenommen wurde; wenigjten® 
haben die Athener nach einer Nachricht beichlofien, den Alerander 
als Dionyjos zu verehren?).. Aber von wem iſt der Antrag 
angeregt worden ? Keiner der Zeugen jpricht von einem Wunſche 
oder Erlaß Alexander's, und unter den Aufträgen, die Nifanor 
zu den Olympien 324 vom Könige mitbrachte, wird Dieje 
Sache nicht erwähnt*). Biel wahrjcheinlicher ijt daher, daß die 
göttliche Verehrung Alexander’? durch einen Beichluß des 
helleniichen Synedrions?), der Vertreter des Bundes, veranlaßt 
worden iſt. Denn wie diefeg Synedrion auch früher mit Ehren. 
defreten und Glückwünſchen nicht geipart hatte, jo willen wir, 





1) Yelian, Var. hist. 2,19. Plutarch, Apophthegm. Lacon. 219 E. 
(1, 269 Dibot). 

2) Timäus bei Polyb. 12, 12b 8 3 vita 10 orat. 7, 22, 842D 
(2, 1026, 42 Didot). Plutarch, praecept. reip. gerend. 8, 6, 804 B (2, 982 
Did.) Dinarh in Demojth. 1, 94. Hyperides ©. 14 Blaß. Ein Ausſpruch 
de8 Demades bei Baler. Marim. 7,2 ext. 13 ift, wenn er edit fein jollte, 
vielleicht erft nach Alerander'8 Tode gefallen. 

s) Diogen. La. 6, 63. 

4 Diodor 17,109. Hyperides ©. 7 Blaß. 

6) Etwas derartiges fcheint Cyrill zu bezeugen in Jul. VI (vol. VI 
205 A), wonach Alexander von feinen Zeitgenofien zum 13. Gott erklärt ward. 
Vgl. dazu Koh. Ehryjoft. vol. X, 624 A und St. Croir, exam. crit. ©. 368 9. 5. 


Zur Würdigung Alexander's des Großen. 15 


daß gerade damals die Hellenen dem Könige göttliche Ehren 
erwiefen. Kurz vor feinem Tode (323) famen Geſandte aus 
Helad nach Babylon, nit gewöhnliher Art, jondern als 
Zbeoren, d. h. wie man fie an einen Gott jchidkte; fie über- 
brachten ihm dic beichloffenen Ehren mit Kränzen auf dem 
Haupte, jo wie man vor die Götter zu treten pflegte. Wahr- 
Iheinlich hatte aljo das Synedrion der Hellenen beſchloſſen, dem 
Könige göttliche Ehren zu erweiſen, und während die Feſtgeſandten 
nad Babylon gingen, um die Defrete zu überreichen, wurden 
in den cinzelnen Städten, namentlih in Athen, zur Aus— 
führung des, Bundesbeichluffes die nöthigen Anträge geitellt, die 
übrigens jonderliche Aufregung nicht erzeugt zu haben jcheinen. 
Alerander nahm die ihm gebotenen Ehren ohne Zweifel an, wie 
er es auch nicht anders Fonnte; niemand würde eine Ablehnung, 
die beleidigend geiwejen wäre, erwartet haben, und fein gerechter 
Richter wird ihm die Annahme zum Vorwurf machen fönnen. 
Höchſt mangelhaft ijt aljo bezeugt, dazu nicht einmal wahr: 
ſcheinlich, daß Alexander jelbft jeine Vergötterung veranlaßt 
habe. Erſt ganz ſpät, in einer möglichſt unzuverläſſigen Form, 
in der Einkleidung einer treffenden Antwort, kommt dieſe Nach— 
richt vor. Endlich das Zeugnis der Münzen, das von Kaerſt 
herangezogen wird, entſcheidet ſich vollends gegen ſeine Meinung. 
Kaerſt geht von dem Gedanken aus, daß, wer ſein Bild auf die 
Münze ſchlagen läßt, damit etwas in Anſpruch nimmt, was 
eigentlich den Göttern gebührt, wie denn in der That auf den 
Münzen der griechiſchen Blütezeit das Porträt feinen Platz hut. 
Nach diefem Sat, gegen den übrigens mancherlei einzumenden 
it, Hat Alerander fich göttliches Recht nicht angemapt; denn er 
bat, ebenjo wie jein Bater Philipp, nie mit jeinem Bilde gemünzt, 
jondern ganz nad) griehiichem Brauche mit anderen Typen, jeine 
Eilbermünzen durchweg mit Zeus und Herafles, die Goldmünzen 
mit Athene und Nike, geichlagen. Nur auf einigen Stüden 
glauben einige Numismatifer im Wünzbilde eine gemifje Ähnlich— 
feit mit Alexander's Zügen zu finden; aber dies ijt nur eine 
unfichere und jtreitige Vermuthung. Diejenigen Münzen, auf 
denen der Herakles⸗Kopf mit göttlichen Attributen, bejonder® den 


16 B. Nieje, 


Hörnern Ammon’3 cerjcheint, diejenigen ferner, die Alexander's 
eigenes Bild zeigen, find nad) dem Urtheil der Kenner erſt nad) 
dem Tode des Königs vornehmlich von Ptolemäos und Lyſimachos 
geichlagen worden; denn die Münze Alerander’3 wird noch eine 
Reihe von Jahren nad) feinem Tade weiter geprägt. Kaerſt 
jucht diejen Thatbeſtand, den er jelbjt im wejentlichen richtig 
darlegt, für jeine Meinung umzudeuten. Man müſſe, jagt er!), 
„dieſe Frage nicht nur vom rein numismatijchen, jondern aud) 
vom hiſtoriſchen Gejichtspunfte beleuchten“, und er führt aus, 
daß doch nach Alexander's Tode die göttlichen Injignien auf 
dem Münzbild erjchienen, und daß die Diadochen mit ihrem 
eigenen Bilde Hätten prägen lafien, was übrigens verhältnig- 
mäßig jpät und jelten geihah. Dies jet nicht zu erflären, wein 
nicht in Alexander's Politik die Grundlagen dazu vorhanden 
geweſen ſeien. Aljo auch für das, was nach jeinem Tode geſchah, 
wird Alexander verantwortlih gemadt. Aus dieſer Beweis— 
führung erfennt man nur, dag Kacrit die aus den Münzen 
abzuleitenden Schlüffe ablehnen und in ihr Gegentheil verwan- 
deln möchte, weil jie jeiner vorgefaßten Meinung wideriprechen. 
Umjo beifer ftimmen fie zu den oben angeführten Thatfachen. 
Auch aus ihnen ergibt ich fein Anzeichen, daß Alerander auf 
die Bergötterung bedeutenden Werth gelegt oder fie gar zum 
Princip jeiner Herrichaft gemacht habe. Alexander hatte ein 
hohes Bewußtſein jeiner Majeität, 1tets bat er ſich als König 
gefühlt, aber zugleich aud) als Menſch, der Freud und Leid mit 
ven Menjchen theilen mußte?). Aus jeinen legten Tagen fennen 
wir durch die Ephemeriden jein tägliches Leben; er erledigt jeine 
zahlloſen Gejchäfte und verfehrt zwanglos mit jeinen Freunden; 
von einer Bergötterung tit feine Spur. Er jelbjt opfert den 
Göttern fleißig; aber niemand opfert ihm. Er verhandelt über 
die Bergötterung ſeines veritorbenen Freundes Hephältion; daß 


1) Hijt. Zeitſchr. 74, 32. 

2) Hier fünnte ich die Anekdoten anführen, worin Alerander jich über 
die, welche ihn vergötterten, luſtig madt, 3. B. Satyros bei Athen. 6, 250 F, 
Plutarch, ler. 28. de adulat. 25. 


Zur Würdigung Ulerander’3 des Großen. 17 


er jelbft göttliche Ehren erhalte, wird dabei nicht erwähnt‘). 
Während ſeines ganzen Zuges war er von Schmeichlern um- 
geben, die ihn mit den Göttern verglichen, mit Herakles oder 
Dionyjos, ja ihn noch über fie ftellten?). Ägyptiſche Prieſter 
erflärten ihn für einen Sohn Ammon’s, griechiſche Orakel für 
einen Sohn des Zeus, und die Hellenen beichlojjen, ihn für einen 
Gott anzujehen. Dies ijt cin Zeichen überfchwänglicher Macht 
und cbenjolcher Verehrung; es find Erjcheinungen, die feine 
gewaltigen Erfolge mit Nothwendigfeit begleiten; ein von dem 
Könige ſelbſt ausgehendes NRegierungsprincip kann man nidht 
darin jehen. 

Auh die nächſten Nachfolger Alerander’3 haben es nicht 
anders gehalten. Da iſt feiner, von dem man behaupten fünnte, 
daß er fein Königthum auf dem Princip der Göttlichfeit des 
Herricher® aufgebaut habe. Antigonos und Demetrio8 wurden 
für Götter erklärt, aber dazu gaben nicht jie die Anregung, 
iondern die übermäßige Dankbarkeit der Athener?). Von den 
übrigen iſt feiner bei jeinen Lebzeiten vergöttert worden; man 
gab ihnen wohl einen göttlichen Urjprung, Seleufos und jeine 
Nachkommen follten von Apollo abitammen*), die Ptolemäer von 
Zeus und Herakles, aber der eigentlichen Apotheofe, der gött- 
lichen Ehre und des damit verbundenen Kultus find wenigſtens 
Seleufos I. und Antiochos I., ferner Ptolemäos I. erft nad 
ihrem Tode theilhaftig geworden. Erſt Antiochos II und 
Ptolemäos U. find wohl ſchon mährend ihrer Lebzeiten als 
Götter angejehen worden. Ein Ausdrud diefer göttlichen Vers 
ehrung jind in gewiſſem Sinne die Beinamen, die dieje Fürſten 

1) Arrian 7, 14,7. 23,3. 

2) Die von Wlerander eroberte indiihe Feſtung Aornos foll von 
Herakles vergeblidh angegriffen worden fein. Strabo 15, 688. Arrian, Anab. 
4,38,1. Indica 5, 10. 

s, Welchen Werth diefe Ehrenbezeugung hat, fieht man daraus, daß 
auch die begünſtigte Konkubine des Demetrivs, die Lamia, als Aphrodite 
Lamia geehrt wurde. Athen. 6, 253 A. 


% Zuftin 15, 4,2. Dittenberger, syli. Nr. 156. Deine Gefchichte der 
griech u. maled. Stuaten 1, 390. 


Hifteriiche Beitichrift R. 3. Sb. XLIII. 2 


18 B. Nieſe, 


empfingen, und auch dieſe find den erſten Königen, Ptole— 
mäern wie Seleuciden!), erſt nach dem Tode, nicht zu ihren 
Lebzeiten beigelegt worden. 


Es kann alſo nicht davon die Rede ſein, daß Alexander 
ſeinen Nachfolgern die Vergöttlichung wie ein traditionelles 
Regierungsprincip hinterlaſſen habe. Zum gleichen Ergebnis 
führt auch das, was wir über die wirkliche göttliche Verehrung 
Alexander's wiſſen. Es iſt zwar nur wenig?), aber es zeigt 
doch, daß, abgeſehen von den ſchon erwähnten Beſchlüſſen der 
Hellenen, eine ſichere Spur eines zu ſeinen Lebzeiten eingerichteten 
Kultus bisher nicht gefunden iſt. Erſt nach ſeinem Tode läßt 
ſich derartiges nachweiſen, zunächſt in wenig beſtimmter, mehr 
willkürlicher Form, erſt ſpäter als amtlicher Gottesdienſt. Die 
Jonier feierten bei Teos ihm zu Ehren an heiliger Stätte ein 
Feſt, die Alerandrien?), deren erſte Erwähnung aus der Zeit 
Antiochos' II. ſtammt“). In Megalopolis gab es ein Alerander: 
HeiligtHum mit einer Herme Ammon’3 vor der Thür). Wahr: 
ſcheinlich wurden diefe Gottesdienste erft nad) Alerander’3 Tode 
eingerichtet. Aber ſelbſt wenn fie älter fein follten, jo gibt es 
doch feine Andeutung, daß der König felbit fie gewollt habe. 
Im Gegentheil iſt es wahrfcheinlicher, daß fie aus dem cigenen 
Antriebe feiner Verehrer hervorgegangen find; denn beide, Jonier 
wie Megalopoliten, hatten bejondere Urſache, ihm dankbar zu ſein. 
Den erjteren gab er jchon 334 v. Chr. Demokratie und Freiheit 
zurüd®), und die Megalopoliten waren jeit Philipp mit Mafedonien 
eng verbunden und dem Alerander für feinen Beiltand gegen die 
verhaßten Spartaner zu Danf verpflichtet. Aber auch fie haben 
wohl erft nach des Königs Tode den Kultus eingerichtet. 








1) Über Ptolemäus I. |. oben ©. 4 Anm. Über die Seleuciden Babelon, 
Les rois de Syrie ©. IX. LI. 

2) Die Vollftändigleit ded mir zu Gebote ftehenden Material® kann ic) 
nicht verbürgen; es wird wohl noch manches nadjzutragen jein. 

3) Strabo 14, 644. 

*%) Bull. de corr. hellen. 1885 ©. 389. 

5) Pauſan. 8, 32,1. 

6) Arrian 1, 17,10. 18, 2. 


Zur Würdigung Wlerander’3 des Großen. 19 


Ob Ulerander nach feinem Tode feierlich unter den in jolchem 
Falle zu beobachtenden Riten zum Gott erklärt worden ift, iſt 
nicht überliefert. Uber er empfing heroiſche Ehren. Er ſchwebte 
gleihfam umfichtbar über dem Ganzen, und als die einzelnen 
Großen fich jelbftändig machten, leiteten fie ihre Rechte von ihm 
ab. Iegt erjcheinen auf den Münzbildern die göttlichen Attribute: 
der Herakles-Kopf oder, wie es bei Lyſimachos gejchieht, Alexander's 
eigenes Bild erhält die Ammons-Hörner!), Alle feine Nachfolger 
haben ihm ohne Zweifel diefe Verehrung zu Theil werden 
lofien?). Näher befannt ift, wie e8 von Eumenes gejchah, den 
angeblih der verewigte König felbit im Zraumgeficht dazu an- 
gewiefen hatte (318—317 v. Chr.). In einem prächtigen Belt 
Itand Alexander's Thronſeſſel mit den Infignien und Waffen, 
daneben Altar und Weihrauchfaß, aus dem Eumenes und Die 
anderen Führer täglich ein NRäucheropfer darbrachten; denn in 
dem Zelt verfanmelten fie fi) und faßten ihre Beichlüffe; 
es war der Sit des Oberbefehls und des Eöniglichen Amtes. 
Diefe Verehrung ift alfo den bejonderen Bedürfnijjen des 
Eumene® und der damaligen Reichsgewalt angepakt?). Auch 
bei dem in Perſepolis damals gefeierten großen Opferfeite fehlt 
Alexander's Verehrung nicht. In der Mitte des Feſtplatzes 
Itanden die Altäre der Götter, ferner Philipp’3 und Alerander’s, 
es folgten die Zelte der vornehmjten Führer, dann die übrigen. 
Wlerander, mit Philipp verbunden, fteht gleichſam in der Mitte 
zwilchen Göttern und Menjchen; er wird den Göttern nicht 
eigentlich zugerechnet, hat aber neben ihnen feinen Altar). 

Der Hauptfig jeiner Verehrung iſt jpäter Alexandria in 
Ägypten. Der erjte Beweis dafür ftammt aus der Zeit des 
Ptolemäos U. Bei dem Feſtzuge, der in deffen erften Jahren 


— — — — — — 


ı) L. Müller, Numismatique d'Alexandre le Grand ©. 29— 31. 
Die Münzen bes thrafiihen Königs Lyſimachos ©. 8 f. 

2) Guidad 8. Avrinargos berichtet, allein Wntipater habe ſich davon 
ausgeichlofien. 

9 Plutarch, Eum. 13. Diodor 18, 60,5. Bolyän. 4, 8,2. Nepos, 
Eumenes 7. Meine Gefchichte d. grieh. u. maled. Staaten 1, 240. 

% Diodor 19, 21. Meine Geidhichte 1, 263. 

2° 


20 B. Niefe, 


veranftaltet ward!), erjcheint zweimal ein Bild Alerander’s, ein- 
mal zuſammen mit Ptolemäos I. im Gefolge de Dionyjos, os 
dann als letztes in der Reihe der Götter, die mit Zeus an- 
bebt; ihm zur Seite Stehen Athena und Nife?). Und aus dem 
jpäter gejchriebenen Hymnus Theokrit's auf Ptolemäos II. er. 
fahren wir, daß fein Thronſeſſel neben dem des Ptolemäos 1. 
und Herakles im Zempel des Zeus Itand?). Hier wird aljo 
Ulerander zufammen mit anderen Göttern, gleihjam als ihr Be 
gleiter, verehrt. Exit jpäter erhielt er feinen eigenen Kultus, als 
nämlich jeine irdischen Reſte nach Alerandrien überführt wurden ; 
denn anfangs befand fich Alerander’3 Leichnam nicht in Alerandria, 
jondern Ptolemäos Lagi hatte fie, wie PBaufanias?) bezeugt, 
321 v. Chr. nad) Memphis gebracht, wahrjcheinlich zu dauernder 
Nuheftätte, denn damald war in der That Memphis noch die 
Hauptitadt Ägyptens; hingegen Alerandria wurde erft fpäter von 
Ptolemäos I. ausgebaut?) und zur Haupt und Refidenzitadt 
gemacht, nachdem er ſich von der Reichsgewalt losgelöſt hatte, 
und bot damals, d. i. 321 v. Chr., noch feinen würdigen 
Play für den Sarg Alexander's. Erſt Ptolemäos II. hat 
diejem in Alexandrien Grabmal und Heiligthum errichtet und 
die Leiche dorthin gebradht®). Hiemit fteht in volllommenem 
Einflange, daß die Papyrusurfunden uns erjt in der zweiten 
Hälfte der Regierung des zweiten Ptolemäos von jeinem Kultus 
Nachricht geben. Seit diefer Zeit wird er zufammen mit den 
vergötterten Ptolemäern verehrt und hat mit ihnen einen jähr- 
lichen PBriefter, der die Ehre der Eponymie genießt. Dieje Tbat- 


1) Beichrieben nad) Kallixenos von Athenäus 5, 201 f. Das Felt fcheint 
vor der Ehe des Ptolemäos II. mit feiner Schweiter Arfinoe (um 274 v. Chr.) 
gefeiert zu fein; denn diejer gejcieht feine Erwähnung. 

») Athen. 5, 2010. 202A. Athena und Nike find die gewöhnlichen 
Typen der Goldmünzen Alexander's. 

5) Theofrit 17, 14. Zeus und Herakles find die Typen der aleran= 
driihen Silbermünzen. 

% Baujan. 1, 6, 3. 

6) Tacitus, histor. 4, 81. 

6% Baufan. 1, 7,1. 





22 B. Nieſe, 


mals auf, und Alexander Severus, der nach ihm genannt war, 
bat ihn in jein Pantheon aufgenommen!). Dies it die Zeit, 
wo auch der Alerander-Roman entitanden zu fein jcheint, ein 
redendes Zeugnis dafür, wie unverlöjchlich, wie lebendig das 
Andenfen des großen Mafedonier3 im Wolfe weiter lebte. Hier 
fann ich dieſe frage nicht weiter verfolgen, die ohnehin nur auf 
breiter Grundlage erjchöpfend behandelt werden kann. Für den 
vorliegenden Zwed wird es genug jein. 


— — 


Aus der Idee der Göttlichkeit hat Alexander nach Kaerſt, 
wie ſchon Grote ausgeſprochen hatte, die Idee der Weltherrſchaft 
abgeleitet, die er zu erringen hoffte, und die ihm in dem an— 
geblichen Orakel des Ammon verheißen wurde. Nicht gering wahr: 
ih find die Pläne, die ihm zugeichrieben werden?).. Er wollte 
ganz Afien bis zu feinen äußerften Grenzen unterwerfen, dazu 
Arabien und Afrifa und den ganzen Weiten Europas, al® der 
Tod ihn aus diefer Welt abrief.” Zweimal fpricht Hiervon Arrian, 
unfer befter Autor; zuerjt wird in einer Nede, die er den Alerander 
am Hyphaſis an die Soldaten Halten läßt, da, wo er fie ver- 
gebens zu weiterem VBordringen anzufeuern jucht, diefer Plan 
entwidelt?). An Der zweiten, jpäteren Stelle‘) beißt «8, 
Alerander habe vorgehabt, Arabien, da8 Land der Athivpen, 
Kibyen und das Land der Numider jenfeit3 des Atlad zu um— 
fahren bis in die Straße von Gibraltar Hinein, Afrika "und 
Karthago zu erobern und jo in Wahrheit ganz Aſien zu be- 
berrichen; denn nad) einer alten Vorftellung, die wir 3.3. bei 
Herodot finden, wird Afrika als ein Anhängjel Aſiens betrachtet. 
Bon da wollte er dann nad) Einigen in das Schwarze Meer 
und die Mäotid gegen die Sfythen ziehen, nach Anderen gegen 


1) Ramprid., Alex. Sev. 31,5. Ebendajelbit c. 5 wird ein Tempel und 
Feſt Alexander's in Arce im Libanon erwähnt. 

2) Kaerit, Hift. Ztichr. 74, 24 |. 200 f. und etwas jhüchterner „Forichungen 
zur Geſch. Alexander's“ S. 20f. Ähnlich Radet in der oben citirten Abhandlung. 

5) Arrian 5, 26. 

% Arrian 7,1. 





Zur Würdigung Alexander's des Broken. 23 


Sicilien und Italien; denn die Kunde von der Macht der Römer 
babe ihn jchon gereizt. Aber dies alles bezeichnet Arrian als 
Gerede!) und deutet damit nach jeinem in der Einleitung aus— 
gejprodyenen Princip an, daß er e3 nicht in feinen Hauptquellen, 
Ptolemäos und Ariftobul, ſondern bei jpäteren, minderwerthigen 
Schriftftellern fand, die Beglaubigung alſo nicht gut ijt. Demgemäß 
finden wir diefe und andere Pläne auch bei den Schriftitellern, 
die von den mindermwerthigen Qucllen abhängig find. Plutarch?) 
redet an derjelben Stelle wie Arrian von der Umſchiffung Afrikas, 
und Diodor?) ſpricht von den Eroberungsplänen, die man im 
den Aufzeichnungen des verjtorbenen Königs gefunden habe. Es 
jollten 1000 Sriegsichiffe größter Art*) erbaut werden zu einen 
Feldzuge gegen die Karthager und die übrigen Küftenlandjchaften 
des weitlichen Mittelmeeres bis nah Sicilien hin, cin Landweg 
jolte an der Küſte Afrikas bis zu den Säulen des Herakles 
gebahnt werden; Landheer aljo und Flotte jollten zujammen 
wirfen®). Diefer Plan ift von den anderen gründlich verichieden ; 
von einer Umſchiffung Afrikas ift Hier feine Rede mehr, jondern 
Alexander begnügt ſich mit den Küſten des mittelländijchen 
Meeres. Der Glaubhaftigfeit der Nachrichten find dieſe Ab: 
weihungen gewiß nicht günſtig. Auch verjteht man nicht, wie 
Werander dazu gefommen fein joll, ſolche Entwürfe aufgezeichnet 
zu binterlafjen®), wenn man fie nicht als eine Art Vermächtnis 
anjehen will, wodurch er wenigſtens eine Erinnerung daran der 
Nachwelt übergeben wollte. Aber er ftarb unerwartet; jäh 
überfiel ihn die tödtliche Krankheit, und zu cinem Vermächtnis 
bat er, wic die föniglichen Tagebücher zeigen, feine Zeit mehr 


1) oi ÖS xai Tade areyoawar — Aeyovaıv. 

») Aler. 68. 

s) 18, 4,4. 

4) usizovs roimgwr, d. h. Bierruderer, Fünfruderer u. f. w. 

6) Der Weg konnte natürlich erſt nach Unterwerfung Karthagos ges 
baut werden. 

6, Nach Diodor muß man annehmen, daß Krateros diefe Pläne bei fich 
hatte. Aber fie gehen ganz über die dem Krateros zugedadıte Stellung 
hinaus; denn diefem war nur Maledonien und Griedyenland anvertraut; 
jene Flotte jollte aber hauptfählid in Aſien gebaut werden. 


24 B. Niefe, 


gefunden. Dies alles läßt vermuthen, daß wir es mit Er- 
findungen zu thun haben, die auf diefem Gebiete ja ebenfo leicht 
wie wohlfeil waren. Demgemäß babe ich in meiner Gejchichte 
Alexander's!) von diejen Dingen abgejehen. 

Frühere Hiftorifer jedoch und neuerdingg auch Kacrit 
haben, wie gejagt, den Nachrichten Höheren Werth beigemefjen. 
Man traut dem Wlerander ſolche Welteroberungspläne zu; 
gerade auf ihnen beruht es, wenn man ſich ihn jchon im 
Alterthume als von unerjättlider Eroberungsluft und nicht 
geringem Größenwahne behaftet dachte. Eine wichtige Stüße 
für jeine Meinung will Kaerſt im indischen Feldzug finden, der 
außerhalb der bisher bejchrittenen Bahn läge und ſchon an ſich 
auf derartige Eroberungspläne hindeute. Beſonders iſt für ihn 
die jchon erwähnte Rede des Königs am Hyphajis beftinmend. 
In der That gibt Arrian dieſe Rede ohne Vorbehalt und ohne 
anzudeuten, daß jie etiva einem weniger guten Autor entitamme, 
und wir müßten fie danad) den befieren Quellen, dem Ptole— 
mäos oder Ariftobul zujchreiben.e Und fo jcheint Kaerſt zu 
denken. Aber jchon Droyjen?) hat vermuthet, daß ſie nicht 
den Onellen entnommen, jondern Arrian's eigenes Werk fei, 
und biefür Sprechen gewichtige Gründe; denn nachdem der 
Autor an der zweiten Stelle von dem ®erede über Alerander's 
Pläne referirt bat, jpricht er zum Schluß gravitätiich und mit 
fichtlicher Anlehnung an Herodot's Redeweiſe feine eigene 
Meinung aus?) Er fünne, jagt er, Alexander's Gedanken nicht 
errathen und wolle nicht? vermuthen (womit er auch die vorher 
angeführten Nachrichten als Vermuthungen zu bezeichnen fcheint), 
aber das wolle er behaupten, man dürfe Alerandern nichts geringes 
zutrauen. Wuch wenn er zu ganz Mien noch Europa binzu= 
erobert, ja jogar die brittiichen Injeln erworben hätte, jo würde 
er doch nicht geruht haben, und immer würde er etwas neues, 
unbefanntes erjtrebt haben. Er ſchließt fich den Gerüchten über 


1) a. a. O. ©. 186. 
2) Hellenism. 1, 2, 156 Arm. 
2) Arrian 7, 1,4. 


Zur Würdigung Nlerander’8 des Großen. 2b 


Alexander's Abjichten nicht nur an, fondern erieitert fie noch). 
Bon dieſen Gedanfen ift nun auch die Nede am Hyphalis 
erfüllt, auch in Einzelheiten finden fich nahe Berührungen zwijchen 
Alerander’3 Worten und Arrian’s Betrachtungen!). Dagegen ift 
ichwer denkbar, daß Ptolemäos und Ariftobul, Arrian's Haupt: 
quellen, von dieſen Welteroberungsplänen nicht? berichtet und 
ie dennoch in jener Rede dem Könige jelbit in den Mund 
gelegt haben ſollten. Bedenkt man endlich, daB wir es mit einer 
Rede zu thun haben, und daß die Alten fich in den Reden die 
größte Tzreiheit nahmen, und daß bejonders Arrian, ohne es an: 
zudeuten, auch jeinen beiden Hauptquellen viel Eigenes hin: 
zugethan hat, jo wird man aus allen dieſen Gründen Die 
Meinung Droyſen's als jehr wahrfcheinlich anjehen müſſen. 
Hiezu kommen noch andere Erwägungen von enticheidender 
Bedeutung, aus denen unzweifelhaft hervorgeht, daß wir es in 
ver Rede am Hyphaſis nicht mit Gedanken Alerander’8 oder 
einer befjeren Hiftorifer, jondern Arrian’S zu thun haben. Da- 
zu muß id nun etwas ausholen, und da es jich hiebei nicht 
blog um die Würdigung Arrian's handelt, fondern auch Alexan⸗ 
der's und feines indischen Feldzuges, jo hoffe ih, daß mid) 
meine Leſer auch auf diefem Abwege freundlich begleiten werden. 
Der indische Feldzug Alexander's jchließt ſich unmittel- 
bar an den baftrifchen an und wurde, wie jelbitverjtändfich, 
ihon in Baltrien vorbereitet. Alerander war, fo weit nöthig, 
über Land und Leute unterrichtet; ſchon in Sogdiana war 
von jenjeitS des Indus der Fürſt Tariled zu ihm gefommen, 
um jeine Hülfe anzurufen?), und andere Einheimiiche begleiteten 
ihn auf dem TFeldzuge?). Im Sommer 327 ging cr über den 
Paropamiſos (Hindufujch) zu den Paropamifaden, brachte hier 
den Reit des Sommers zu, ging dann in's Thal der Kophen 
(Kabul) Hinüber, deſſen Landichaft cr im Winter (327,6) unter: 





1) An beiden Stellen wird Afrifa zu Afien gerehnet. 6, 26: 7, 1,2. 
Vgl. oben S. 22. 

2) Diodor 17, 8,4. 

3) 3.8. der Inder Siſikottos. Arrian 4, 30, 1. 


26 B. Niefe, 


warf, überjchritt im nächiten Frühling (326) den Indus und 
dann den Hydaſpes, wo er den Poros bejiegte (etwa im Juni). 
Es folgte der Übergang über die nächſten Ströme Afejines und 
Hyarotis. Am Hyphafis mußte er inne halten; das Heer, er- 
jhöpft durch die Anjtrengungen, injonderheit durch den beftän- 
digen Regen, wollte nicht weiter und drängte auf NRüdfehr. 
Alerander mußte einwilligen und fehrte an den Hydaſpes zurüd, 
wo er etwa Anjang September eintraf. Hier vollendete er den 
Bau jeiner Flotte und fuhr nunmehr den Indus hinab, um 
nach Unterwerfung der Anmohner des Flußthals (325) durch 
Gedrofien nach Perjien und Sufa zurüdzufehren. Er hat alfo 
nicht erreicht, was er wollte; er mußte auf den Wunich des 
Heeres am Hyphajis umkehren. Wie weit wollte er nun? das 
ift die Frage, eine Trage, wohl geeignet die Phantafie der 
Hiftorifer anzuregen. 

Wir hören nun, dag Alerunder ſchon am Hydaſpes, gleich 
nach der Befiegung des Boros, ehe er weiter oſtwärts zog, den 
Schiffsbau beginnen und Die Vorbereitungen zur Indusfahrt 
treffen ließ!). Alſo Hatte er Schon damals die Abficht, den Strom 
binabzufahren, und daraus hat Droyſen gejchloffen, daß Aleran- 
der, ald er am Hyphaſis umkehrte, jein Ziel zwar nicht ganz 
erreicht babe, aber dod) nahezu, und daß feine Abfichten über 
das Fünfitromland nicht hinausgingen. Ganz anders jedod) 
lauten die Pläne, die ihn Arrian in der Ichon öfters erwähnten 
Rede am Hyphaſis entwideln läßt). Der König fagt bier feinen 
Soldaten, es jei nicht mehr weit bis an den Ganges und den 
Öftlihen Ocean; er wolle ihnen dann zeigen, daß das kaſpiſche 
Meer mit dem indischen Golf zujammenhänge, wie auch das 
Verfiiche Meer; vom Perfiichen Meer aus wolle er dann weiter 
Afrifa umfahren big zu den Säulen des Herafles; dann werde 
auch Afrika ihnen gehören und Aſien in jeinem ganzen Unifange?) 

) Strabo 15, 698. Divdor 17, 89, 4. Curtius 9, 1,4. Meine 
Geſchichte 1, 135. 

2), Arrian, Anab. 5, 26. 

») Wie ſchon oben bemerft, rechnet Arrian Hier wie 7, 1 nach Herodot's 
Vorgang Mirifa mit zu Aſien. 


Zur Würdigung Alexander's des Großen. 27 


unterthan fein. Er jucht fie zu überzeugen, daß zur Sicherung 
des Croberten die Unterwerfung auch des nordöftlichen Afieng 
nöthig jei, verweilt auf das Vorbild jeines Ahnherrn Herakles 
und feuert fein Heer an, weiter vorzudringen und nicht müde 
zu werden. Zunächſt will er aljo Ganges und Ocean erreichen 
und von bier aus den Nordoften Aſiens überziehen und unters 
werfen, jpäter das übrige. Dies it offenbar der Sinn der 
Rede; in der That wird hier die Eroberung der Welt proflamirt. 


Kann nun Wlerander fo oder ähnlich gejprochen haben? 
Ich glaube nicht; weder damald noch jpäter hat er je ſolche 
Gedanken gehabt, wie fie ihm Arrian in den Mund legt. Ge 
jegt, er hätte vorgehabt, das ganze nördliche Afien zu erobern, 
jo würden wir ohne Zweifel wenigftens beim Feldzuge in 
Sogdiana, an der Grenze des Neiches, am SJarartes, davon ge: 
hört haben. Im Gegentheil jehen wir hier, daß Alerander fich 
damit begnügt, das zu unterwerfen, was die Perſer beſeſſen Yutten. 
Den Jaxartes Hat er, ähnlich wie früher die Donau, nur über: 
Ichritten, um die dortigen Stämme zu jchreden, und fchrte dann 
Jofort wieder um; die Unternehmung gegen die Maffageten gibt 
er auf, jobald fie dem Spitamenes nicht länger Schuß gewähren, 
aljo der Anlaß zu einem Kriegszuge fortjällt. Strabo, der hie- 
von erzählt, }pricht viel von den unbekannten Gegenden jenfeits 
des Sararte® und der Sogdiana, ferner von der Möglichkeit 
einer Seeverbindung Indien? mit dem Stajpiichen Meere, aber 
von weiteren Plänen weiß er nichts, obwohl er gerade die beſten 
Hiſtoriker Alerander’3 reichlich benußt hat und Sich ſtets auf die 
Geſchichte jeiner Feldzüge bezieht!). Auch jpäter hat Alerander 
durch feine Handlung oder beglaubigte Äußerung angedeutet, 
daß er folche Unternehmungen plane Er war furz vor jeinem 
Tode mit der Erpedition an den perfilchen Meerbufen beichäftigt, 
die das Ziel verfolgte, dad der Euphratmündung benachbarte 
Gebiet zu erfunden und zu unterwerfen. Er beauftragte ferner 
cinen jeiner Offiziere, den Herakleides, auf dem Slafpiichen Meere 





') 11,518. Nach Curtius Ruf. VII, 7 f. bat Alerander freilich daran 
gedacht, die Stythen jenſeits des Jaxartes zu unterwerfen. Vgl. unten ©. 33. 


28 B. Niere, 


eine Flotte zu bauen und die Küften zu unterjuchen. Von 
größeren friegerifchen Unternehmungen ift feine Rede. 

Aber an den Ganges hat Alerander doc, ziehen wollen; 
dafür haben wir bei verjchiedenen Schriftitelleen Nachrichten. 
Wie man jagte, hörte er von einem großen Heere, das fich aus 
den Bölfern am Ganges bilde, um ihn zu erwarten, und wünjchte 
ſehnlichſt, zu ihnen vorzudringen. Freilich Arrian fchweigt da- 
von, und wir müſſen aljo annehmen, daß die guten Autoren 
nichts davon wußten!); nur in den geringeren, mit vielerlei 
Mythen durchwirkten Erzählungen ift davon die Rede?). Den- 
noch hat Droyfen, der fich gegen die allzu phantaftiichen Pläne 
ablehnend verhält, das Zugeſtändnis gemacht, daß Alexander 
ohne Zweifel an den Ganges habe ziehen wollen. Mit Rüdficht 
auf die jchon begonnene Vorbereitung zur Indusfahrt nimmt er 
an, daß er dabei nur einen furzen Streifzug, eine Stavalfade 
beabfichtigt Habe?). Ich habe jchon in meiner Geſchichte Alexan⸗ 
der’8 darauf bingewielen, daß diefe Nachrichten ſehr verdächtig 
und wahrjcheinlic) durch die ſpäteren Zuſtände, wic jie durch 
Sandrofotto8 und feine Nachfolger hergeitellt und den Hellenen 
befannt wurden, beeinflußt morden jeien*). Eine erncute Er: 
wägung bat mic zum Ergebnis geführt, daß fie ganz werthlos 
jind und daß NAlerander an einen Feldzug zum Ganges wahr: 
jcheinlich niemals gedacht hat. Hiezu ift es nöthig, fich kurz 
darüber zu orientiren, was Alerander und feine Beitgenofjen 
von Indien wußten; denn davon hing der Feldzugsplan ab. 
Dabei müffen wir ung von den Vorftellungen, die das fpätere 


1) Arrian wird aus den anderen Quellen wohl davon gehört Haben, 
bat es aber abſichtlich, weil feine befferen Autoren nicht® davon mußten, 
übergangen. 

2) Plutarch, Alex. 62. Diodor 2, 37,3. 17, 93,2. Curtius Rufus 
9, 2,2. Juſtin. 12, 8, 10. Die weitere Ronjequenz diefer Nachrichten bat 
der Ulerander-Roman gezogen, der den König an den Ganges gelangen läßt, 
wie denn überhaupt diefer Roman die angeblihen Pläne Alerander’3 ver- 
wirklicht. 

2) Hellenismus 1, 2, 161. Wie Droyſen ſich eine bloße Kavalkade als 
möglich denkt, iſt nicht erſichtlich. 

*) Geſchichte der griechiſchen und makedoniſchen Staaten 1, 138 Anm. 5. 





30 B. Nieje, 


Melt. Aber immer ijt die Indien die Landichaft des Indus; 
vom Gange? wußte man nichts; diejer wird in der Literatur des 
5. und 4. Jahrhunderts nie genannt!), und nicht zufällig, denn 
man fannte ihn nicht. Es gibt eine lehrreiche Stelle der Meteoro- 
logie des Ariftoteles?), die zur Zeit der Feldzüge Alerander’d 
verfaßt if. Er jpriht von jenem Hochgebirge Wiens, das 
er Parnafo nennt’), von dem die meilten der großen Ströme 
Afiens herabfoınmen, der Baktros (d. h. der Oxos), der Choaſpes 
(bei Sufa), der Arares (d. i. der Jaxartes) und endlich der größte 
von allen, der Indus. Der Ganges exiſtirt im Erdbilde des 
Ariſtoteles noch nicht, ſonſt Hätte er ihn bier nennen müfjen; 
denn das Gebirge liegt zugleih nahe am Ende Aſiens, und 
gleich dahinter fommt das große Weltmeer. 

Diefe Vorjtellungen nun, wonach mit der Induslandichaft 
die Welt ein Ende hat und zugleich der Begriff Alien fich mit 
dem Perſerreich jo ziemlich dedt*), haben auch Alexander und 
jeine Begleiter gehabt, die noch ganz in den damals herrſchenden 
unbejtimmten, zum Theil ganz mythiſchen Borjtellungen von 
Indien lebten). Folglich hat er, als er den Feldzug dorthin 
unternahm, unter Indien das verftanden, was damals alle Welt 
veritand, nämlich die Induslandichaft, den legten Theil der 
perfiichen Monarchie. Den Namen Ganges hatte er wahrjchein- 
ih) überhaupt noch nicht gehört, und kann aljo auch nicht die 
Abficht gehabt haben, ihn zu erreichen. Halten wir dazu, daß 
Alerander ſchon am Hydaſpes die Rüdfahrt auf dem Indus 
vorbereitete, daß ferner alles, was wir über die unerfüllten 
Eroberungspläne des Königs hören, nicht von Zeitgenoffen her: 
rührt, fondern von jpäteren Schriftitellern, die eine ſehr er— 
weiterte und verbefjerte Kenntnis von Indien hatten, jo ergibt 


) Die Erwähnung des Ganges in einem nod dazu verdädtigen 
Fragmente des Kteſias (fr. 57 p. 87a Müller) berubt auf Konjeltur. 

») 1, 13 ©. 350a 18. 

” Was eine Verkürzung und Entjtellung des Namens Paropaniſos ift. 

%) Herodot 1,4: nv yap Acınvy xal a dromsorra EIvea Bapßapa 
oixeıevvraı ol Ilegoaı, ınv de Erownnv xai To 'Elknvıxov jynvros neywelodaı. 


5) Strabo 16, 686. 


Zur Würdigung Alexander's des Großen. 81 


ih) vollends, auf wie jchwachen Füßen die Annahme fteht, daß 
Alerander den Ganges habe erreichen wollen. Der Feldzug nad) 
Indien it nicht, wie Kaerſt meint, der Anfang eined neuen 
Unternehmens, fondern nur die Fortſetzung und Vollendung des 
begonnenen, der Eroberung des Perſerreiches. | 
Aber Alerander könnte, jo wird man einwerfen, am Indus 
und im Pendſchab vom Ganges gehört haben. Er fünnte es 
wohl, aber es gibt feine Spur davon, und der mühfelige, rafche 
Feldzug mit feinen unabläjligen Kämpfen und Beichwerden gab 
ihm nicht viel Muße!). Und milfen wir denn, ob die Inder 
jelbft viel vom Ganges mußten? Zwiſchen dem Indus und 
Sangesgebiet liegt eine jehr folide Grenze, eine breite Wüjte, 
und nur ein fchmaler Saum verbindet am Gebirge die beiden 
Länder. Entjcheidend ift, daß fich bei feinem der Zeitgenofjen 
Werander’3 auch nur eine Andeutung von der Erijtenz des 
Ganges findet, weder bei Ptolemäos oder bei Artjtobul, noch 
bei Onefifrito® und Near. Dieje Schriftiteller, die doch zum 
Theil erit geraume Zeit nad) Alerander’3 Tode jchrieben, ftehen 
no ganz auf dem Standpunfte der älteren Zeit. Für Onefi- 
fritos, vielleicht den älteiten, ift das Land des Mufifanos am 
unteren Indus der füdlichite Theil Indiens?); den Indus denkt 
er fich offenbar fo fließend, wie ihn die alten Karten malten?), 
nämlich nah Südoſten“). Er erwähnte die Inſel Zaprobane, 
die nach ihm weit im Ocean, 20 Tagesfahrten vom Feſtlande 
entfernt liegt’); vermuthlich hat er an der Küſte, die man an 
der Indusmündung berührte, von ihr gehört‘). Vom Ganges 
weiß er nichts, und ebenjo wenig Nearch und Die andern 





1) al a eldov de, dv nagudp argatıwrixi; xal Ögougp xateuadov Strabo 
15, 686. 

2) Strabo 15, 694. 

s) Strabo 2, 87. 

% Denn er fagt. dab der Indus anders als der Nil, der von Süden 
nad) Norden fließe, auf lange Streden ſich in dem gleihen Klima, d. 5. der 
gleihen Breite, halte. Strabo 15, 695. 

2) Strabo 15, 691. 

6) 20 Tage iſt etwa die Zeit, die ein Schiff von der Indusmündung 
nad Zaprobane (Ceylon) braudıte. 





32 B. Niefe, 


Zeitgenoffen. Man lernte ihn erft kennen, als Sandrafotto® vom 
Indus aus erobernd an den Ganges vordrang, als Megajthenes 
als Gejandter zu ihm ging und nun in feiner Beichreibung 
Indiens zum erjten Mal der helleniichen Welt die Gangesland— 
Ihaft erſchloß)). Damals wurde auch diefe dem Begriff Indien 
einverleibt, der fich ähnlich erweitert hat wie der Name Stalien, 
der urjprünglid auch nur den jüdlichjten Theil des Tpäteren 
Staliend bedeutet und fich erit jpäter infolge der politischen 
Neugeltaltung auf die ganze Halbinjel ausdehnt. 

Was aljo in der Rede Alerander’3 bei Arrian von einen 
Feldzug an den Ganges gejagt wird, fann weder von dem 
Könige jelbft geiprochen noch von feinen älteren und beſſeren 
Hiltorifern gejchrieben jein. Nicht anders jteht es nun ferner 
mit dem, was weiter folgt, wo Alerander die Abficht äußert, 
vom Ganges und dem öjtlichen Ocean das Kafpiiche Meer zu 
erreihen und zu zeigen, daß dieſes mit dem indijchen Ocean in 
Verbindung ftehe. Denn wenn er wirklich jo geiprochen hätte, 
fo würde er die Überzeugung gehabt haben, das Kaſpiſche Meer 
münde in das Weltmeer. Woher wußte er das? erſt kurz vor 
jeinent Tode entjandte er den Herakleides zur Erfundigung auf 
dad Kaſpiſche Meer, um, wie Arrian jagt?), feitzuitellen, ob 
es mit dem Schwarzen Meere oder mit dem Ocean zujammen= 
hänge; aber dieſe Expedition fam nicht zur Vollendung. Arrian 
hätte aljo den Alexander mindeftens eine verfrühte Keuntnis zu— 
geichrieben. Aber nicht nur dies; es kann mit großer Gemwißheit 
nachgewieſen werden, daß die Beitgenojjen Alerander’S von einer 
Mündung des Kaſpiſchen Meeres in den Ocean nichts mußten, 
gar nicht daran dachten und ſo feſt wie nur möglich vom 
Gegentheil überzeugt waren. 

Denn nad) der alten, ganz richtigen Anficht, die jchon 
Herodot?) vertritt, war das Kaſpiſche Meer cin Binnenjee ohne 


1) Megajtgenes fcheint erſt nach Beroſus gefchrieben zu haben; fein 
Bud kann aljo jrüheftend unter Antiochos I. (280—264 v. Chr.) abgejaßt fein. 

2) Anab. 7, 16,1. 

2) 1, 203. 


Zur Würdigung Alexander's des Großen. 33 


Abfluß, ringsum bewohnt. So jagt aud) noch Xriftoteles?), 
und ebenſo glaubten Alexander’ 8 Soldaten. Dies zeigte ich, 
als die Mafedonier an den Iarartes, den Syr Darja gelangten; 
denn diefen hielten jie für den Tanais, den Don, und benannten 
ihn jo?).. Dan glaubte, der Jarartes flöjje in die Mäotis, und 
da ferner der Tanais nad) der herrichenden Anficht die Grenze 
zwilchen Afien und Europa bildete, jo hielt man folgerichtig das 
jenfeitige Ufer des Jaxartes für Europa, führte aus dem 
Charafter der Vegetation Beweije dafür an und glaubte, die 
jenjeitigen Völker feien europäiſche Skythen?). Mit diefer Anficht 
verband man zugleich eine andere, anicheinend wohl verbürgte 
Thatjache, wonach der Jaxartes jeine Mündung im Kajpiichen 
Meere hatte. Der Tanaid galt nämlich, wie Ariftoteled bezeugt, 
für eine Abzweigung des Araxes, d. h. des Jaxartes“), und jo 
vereinigte fich Alles auf das beite; noch jpäter, eine Generation 
nad) Alexander, ſprach der Hiftorifer Hefatäos diejelbe Meinung 
aus?). Andere vermutheten aber auch, daß eine fanalartige 
Verbindung zwijchen dem hyrkaniſchen Meer und der Mäotis 





1) Meteor. 2, 1, 354a 3 und 1, 12, 351a 8, wo bad Meer 7, io row 
Karvnacov kiusn genannt wird. 


2) Dies ift ganz allgemein; vgl. die folgende Anmerkung und dazu die 
befannte Erzählung des Chares von Mytilene (fr. 17 p. 119, Müller bei 
Athen. 13, 575); noch bei Polybios 10, 48, 1 und felbft bei Lucian, Todten⸗ 
geipr. 12, 5 iſt es nicht anderd. Ariftobul gab daneben auch den einheimijchen 
Namen Sararted. Strabo 11, 505. Arrian 3, 30,7. 

3) Arrian 3, 30, 7; 4, 1, 1. 4,2. Curtius Ruf. 7, 7,2. Plutarch, 
Aler. 45 f. Meine Geſchichte 1, 115 Anm. 5. Alexander felbjt nannte 
nad einem bei Plutarch angeführten Briefe die jenfeitigen Völter Stythen. 
Für Arrian charakteriſtiſch iſt, daß er (3, 30, 7) meint, es fei ein anderer 
Tanais, nit der ffythifche, gemeint. Ihm war diefe alte Meinung nidt 
mebr verftändlich; fo weit reichte weder fein Wiffen noch fein Denten. 

*) Meteorol. 1, 18, 350a 24: rovrov d’6 Tavais anooyizeras uspos 
av eis ıny Mawrw Aiuvnv. Schon Herodot 1, 202 wirft den Arared und 
Jaxartes zujammen. Bol. Strabo 11, 531 und Ideler's Anmerkungen zu 
Ariftoteles’ Meteorologie. 

s, Stymnos V. 868. Ob der Eretrier oder der Teier (Abderite) hier 
gemeint iſt, macht für die Zeit faum Unterſchied. 

Hiſtoriſche Zeitjchrift N. 5. Bp. XLII. 8 


34 B. Niefe, 


bejtünde!). Nach den geographiichen Anjchauungen der Beit 
Alerander’3 rüdten eben Tanais und Sazartes, das Kaſpiſche 
Meer und die Mäotid viel enger zulammen, als e8 in Wirklich 
feit war. Dan wird diefen Irrthum leichter verftehen, wenn 
man ſich erinnert, wie die damaligen Erdbilder beichaffen waren; 
denn von diejen waren doch die Voritellungen der Gebildeten 
abhängig. Dem Einſpruch Kundiger zum Troy malte man da- 
mals wie in alter Zeit die bewohnte Erde freisrund?). Dabei 
fam der Orient gewaltig zu kurz, und was nach Oſten hin 
gehörte, mußte ſich nach Norden hin zufammendrängen laffen. 
Noch ſpäter ließ Klitarch zwiſchen Pontus und dem Kaſpiſchen 
Meere nur einen jchmalen Iſthmus beftehen?), und es erklärt fich 
nunmehr aus diejer ganzen Anjchauung leicht, wie Oneſikritos 
und nah ihm Klitarch und viele Andere*) dazu famen, am 
Kaſpiſchen Meere die Amazonen mit Alerander zufammenzubringen, 
deren Reſte man fiy am Südufer des Pontus, am Thermodon, 
oder, nach Herodot's befannter Erzählung’), am Oftufer des 
Zanaid dachte. Man glaubte am Kaſpiſchen Meer wie in 
Baftrien nicyt mehr jo weit vom Pontus entfernt zu jein. Der 
Fürſt der Choradmier (im heutigen Chorafan) behauptete nach 

ı) Strabo 11,509 f., wo Polykleitos von Larija ald Autor genannt 
wird, ein Dann, der vielleiht noch zu Alerander’3 Zeitgenoflen gehört, jeden- 
falls aber in der Generation nad ihm lebte. Vgl. Plutarch, Aler. 64. 

2) Ariftoteles, Meteorvl. 2, 5, 263b 13: dio xai yeloiws yonyovoı vor 
Tag 1egsodovs 775 yis’ yoayovaı yap xvxAntepn rw oixovuernv. Schon Herodot 
äußert fi ähnlid 4, 36: yelo ds öpwe yrs megiodovs yoayavyras nolkovs 
ndn —, 08 'Axeavov Ts heovra ygayovoı negıE Ti yıv dovaav xuxkoteoda or: 
ano Topvov. Dan fieht, der konjerbative Sinn der Zeichner und Maler be- 
bielt über die Forderungen der Wiflenichaft die Oberhand. 

3) Strabo 11, 491. Nah einer Notiz des Plinius h. n. 6, 31 Bat 
Seleukos I. daran gedadıt, diefen Iſthmus zu durchſtechen. Schwerlicd darf 
man aber mit Neumann (Hermes 19, 184 f.) diefes Projekt ernit nehmen; 
es ift ein Projekt der Studirftube, ganz ähnlich wie die ebenfall® bei Plinius 
(3, 101) dem Pyrrhos angedicdhtete Abficht, eine Brüde über das adriatifche 
Meer zu ichlagen. 

9 Strabo 11, 505. Plutarch, Aler. 46. Eurtius Ruf. 6, 5, 24 f. 
Suftin. 12, 8,5. Diodor 17, 77. 

5) Herodot 4, 110. 


Zur Würdigung Alexander's dc8 Großen. 35 


Arrian?), Nachbar der Kolcher und Amazonen zu jein, und erbot 
Tih, dem Alerander zur Unterwerfung diejer und anderer Pontus— 
völfer den Weg zu zeigen. 

Alles dies, auch die Mythen, ruhen auf der Vorausſctzung, 
daß das kaſpiſche Meer ein Binnenfee fei oder wenigſtens mit 
dem Ocean nicht in Verbindung jtehe; denn nur jo fonnte der 
Glaube eniftehen, daß Tanais und Jaxartes derjelbe Fluß feien. 
Die andere Meinung, nad) welcher das hyrkaniſche Meer einen 
Buſen des Oceans bildet, ift erft jpäter dDurchgedrungen. Zwar 
behauptet Plutarcy?), daß ſchon die alten Phyſiker lange vor 
Alerander davon gewußt hätten, aber das ijt ſehr zweifelhaft. 
Es müßte Schon einer der ionijchen Philofophen gemeint fein?), 
doc) davon ift und nichts bekannt; denn daß Hekatäos von Milet 
diejer Meinung geweſen jei, ilt ganz unerweislich. Wuhrfcheinlich 
liegt an dicjer Stelle, die überhaupt nicht genau ift, ein Irrthum 
Blutardy’3 vor*). Aber fei dem wie ihm wolle, jedenfalls dem 
Aerander und jeinen Genoſſen, injonderheit feinen älteiten 
Hiltorifern, lag dieſer Gedanfe ganz ferne. Zuerſt ausgeiprochen 
bat ihn PBatroflos, der unter Seleufos und Antiochos I. ein großes 
Stüd dee kaſpiſchen Meeres befuhr und, da er fein Ende fand, 
zur Meinung kam, daß es ein Buſen des Oceans fei?). Dieje 
ı) 4, 15,4; die Erwähnung der Amazonen zeigt, daß died weder aus 
Btolemäod nod) aus Mriftobul jtammt, obwohl es nicht als aus andern 
Quellen entlehnt kenntlich gemadt iſt. 

») Alex. 64. 

>) 9. Berger, Geichichte der wiſſenſch. Erdfunde 1, 31. 

+ Die Meinung, die der viel genauere Strabo 11, 509 dem Polykleitos 
zufchreibt, wird von Plutar dem Alerander beigelegt. Hätte einer der 
älteren Geographen oder Philofophen fie geäußert, jo würden wir wohl in den 
Erörterungen des Eratofihenes, die wir aus Strabo recht gut fernen, etwas 
davon hören. 

s, Etrabo 11, 518. Neumann (Hermes 19, 165 f.) jept die Fahrt 
zwiſchen 285 und 282 v.Chr. auf Grund einer jehr unficheren Kombination, 
wie er auch darin irrt (S. 185 f.), daß er nah Schöne's Vorgang den 
Ariftobul von ihm abhängig fein läßt. Wir willen nur, daß Patroklos unter 
Seleukos I. und Antiochos I. lebte und wirkte; es ift alfo wahrſcheinlich, 
daß er jene Fahrt noch unter Seleukos, etwa zwiſchen 300 und 282 v. Chr., 
audführte. 

3* 


36 B. Niefe. 


Anficht erlangte dadurch, daB Eratojthenes fie aufnahm und 
in jeinem neuen Erdbilde das fajpifche Meer in den nördlichen 
Ocean münden ließ, allgemeine Geltung und beherrjchte die Vor— 
jtellung big auf Claudius Ptolemäus. Auch Arrian folgt dem 
Eratoſthenes, den er als hochangejchene Autorität jchägt und 
wiederholt anführt!). Dieſe Eratojthenifche Geographie hat er 
nun auch dem Alerander in den Mund gelegt, darin wird nad) 
meinen Ausführungen nicht mehr zu zweifeln jein; aus ihr ſtammt 
der Ganges und der öſtliche Ocean, aus ihr auch die Verbindung 
des fajpiichen Meere8 mit dem Weltmeer. Für die Pläne 
Alerander’3 wird man die Rede alſo nicht ald Zeugnis ver 
wenden dürfen. 

Sch bin aber noch nicht am Ende. Noch ein neuer Ent- 
wurf erfcheint hier, freilich Telbjt für gläubige LZejer etwas uns 
pafjend in Alerander’3 Rede eingefügt, die Umſchiffung Arabiens 
und Wfrifas, und felbft diefer fcheint Kaerjt unter den Ent— 
würjen Alerander’3 einen Pla zu gönnen. Aber wiederum 
zeigen die geographiichen Anjchauungen der Zeit, daß Alexander 
Ihwerlich einen jolchen Gedanfen gejabt hat. Daß zwilchen dem 
perfiichen Golf und Ägypten eine Seeverbindung bejtünde, wußte 
man wohl; aber mit der Umjchiffbarfeit Afrikas war ed cine 
andere Sache. Nach Herodot's befannter Erzählung?) ließ Pharao 
Necho durch Phöniziſche Schiffer Afrifa umfahren. Die Reife 
duuerte 30 Monate, zweimal ward unterwegs gejäet und gecrntet 
und dann die Fahrt fortgefegt. Die Sonne fam ihnen unterwegs 
zur rechten Hand. Aber mit diejer Erzählung, deren Glaub— 
würdigfeit ja verichieden beurtheilt wird, war der Zuſammenhang 





1) Anab. 5, 3,1. 5,1. Indic. 3,1. Wobei in Erinnerung zu bringen 
ift, daß gerade zu Arrian's Zeit durch die Forſchungen de Marinus, die 
Ptolemäus verarbeitete, die alte richtige Meinung über die Natur des 
Kaſpiſchen Meeres wieder aufkam. Arrian fcheint davon keine Notiz genommen 
zu haben, und doc follte man von ihm erwarten, daß er hier genauer unter« 
richtet wäre; denn er war befanntlid) Legat von Kappadokien und bat einmal 
eine Fahrt auf dem Pontus bi nad) Diosfuriad unternommen. Jedenfalls 
bätte er, wenn er ein wifjenjchaftliche8 geographiſches Intereſſe gehabt hätte, 
leicht erfahren können, was andere feiner Beitgenofien jchon mußten. 

2) 4, 42. 


Zur Würdigung Alerander’3 ded Großen. 37 


des atlantiichen und erythräiichen Meeres mit nichten bewieſen. 
Nah dem Periplus des Stylax, der nicht lange vor Alerander 
abgefaßt wurde, iſt an der atlantijchen Küſte Afrikas das Meer 
wegen Untiefen und Seepflanzen bald nicht mehr jchiffbar, und 
ähnlich war die Meinung des Ariltoteled; daß eine Verbindung 
mit dem Rothen Meer beitche, wird nur als eine Meinung an: 
geführt!). Ariftoteles rechnet da® Erythräiſche Meer zu den ge 
ichlofjenen Binnenmeeren; doch Iteht es nach ihm auf eine Heine 
Strede mit dem atlantiichen Ocean in Berbindung?); nach ihm 
erſtreckt jich aljo das Feſtland bis in den Süden des indijchen 
Oceans. Alles war aljo ganz unbejtimmt, man war nur auf 
Bermuthungen und Sclüffe angewiejen, und auch Nlerander 
befand fich in feiner befjeren Lage. Anfangs, aljo etwa zu der 
Zeit, wo er angeblich jene Nede hielt, glaubte er, wie Nearch be- 
richtet, der Indus jei derjelbe Fluß wie der Nil, und wähnte 
am Indus die Nilquellen entdedt zu haben, bis ihn die Fahrt 
den Fluß hinab eines beiferen belehrte). Darnach muß cr fid) 
von Indien bis nach Ägypten ein einziges Feſtland und das 
Rothe Meer ald rings von Land umſchloſſen gedacht haben. 
Bei diefer Sacdjlage glaube ich nicht, daß der König wirklich 
ie daran gedacht hat, mit einer erobernden Flotte Afrifa zu um 
ziehen. Während man ji) Damals aljo ganz im Ungewilfen 
befand, hat wiederum Eratoſthenes, durch die Entdeckungen der 
Ptolemäer an der Oſtküſte Afrikas veranlaßt, die Lehre von der 
Umſchiffbarkeit Afrikas auf's neue verfündet und zur Herrſchaft 
gebracht. Treili fand auch er Widerſpruch, und Hipparch wie 
Polybios leugnen, daß man etwas wilje, und lafjen die Möglich: 
feit offen, daß fich das feite Land endlos nach Süden fortieget), 
und in der Btolemäiichen Karte ijt die Südſee befanntlich wieder 
ein geſchloſſenes Beden; aber die eratofthenische Meinung 'ift 
trogdem durchgedrungen und hat dadurch auch in der Mrrianijchen 


1) Stylar $53. S.93. 95 Müller. Ariftot., Meteorof. 2, 1, 354a 9. 

2) xarıa uıxoov xoıwonoica. Ariſtot. Meteorol. 2, 1, 353b. 35 j. 

3, Etrabo 15, 696. Arrian, Anab. 6, 1, 2. Berger, Wiſſenſch. Erd» 
tunde d. Griechen 1, 50. 

* Rolyb. 3, 38. Berger, Die geogr. Fragmente des Hippard) S. 80 j. 


38 B. Nieie, 


Rede Ausdruck gejunden. E& darf aljo nochmal hervorgehoben 
werden, daß dieſe Rede für die Kenntiifje der Abfichten Alexander's 
gar feinen Werth bat, jondern daß Arrian hier feinen eigenen 
Ansichten über Alexander's Pläne Ausdrud verliehen hat. Damit 
iſt es wahrjcheinlich, daß wie die ganze Nede Alexander’s, ſo 
auch die Antwort des Koinos Arrian's eigene Arbeit ij. Es fällt 
jehr in's Gewicht, daß wir auch in dem Vertreter der rhetorijchen 
Überlieferung, bei Curtius Rufus!), bei dieſer Gelegenheit eine 
Nede Alexander's und eine Antwort des Koinos jehen, und 
wer dieſe mit dem Urrianifchen vergleicht, wird finden, daß 
zwilchen beiden viele Anflänge beftehen, daß aber die thatjäd)- 
lihen ®erhältniffe bei Curtius viel beffer zum Ausdruck ge 
fommen find als bei Arrian?). Ich Ipreche die Vermuthung 
aus, daß der Anlaß der Rede von Arrian nicht dem Ptole— 
mäo8 oder Ariftobul, jondern der vulgären rhetorijchen Über: 
lieferung entnommen ift, daß aljo die älteren Schriftiteller bier 
gar feine Reden brachten. Arrian hat dieie Gelegenheit benußt, 
um die Abfichten Alexander's, wie er fie fpäter nochmals ent= 
widelt hat, diefem jelbit in den Mund zu legen. 

Über diefe maßlojen Welteroberungspläne dürfte genug gefagt 
jein. Es bleibt noch übrig, furz zu berichten, was wir jonft von 
Alerander’3 Entwürfen hören. Nicht lange vor jeinem Einzuge 
in Babylon fandte er den Herakleides an das fajpijche Meer mit 
dein Auftrage, eine Slotte zu bauen. Arrian?) fügt in längerer 
Darlegung Hinzu, er babe das kaſpiſche Meer und feinen Zus 
jammenhang mit dem Pontus oder dem Ocean erforjchen wollen. 
Seine Bemerfungen bewegen ſich dabei jo ſehr in feinen 
eigenen joeben beſprochenen geographiichen Vorſtellungen, find 
überhaupt fo individuell gefärbt, daß fie für Alexander's Abfichten 
nur mit Vorficht zu benugen find. Die Flotte hatte ficherlich nicht 
nur geograpbifche Zwecke, fondern jollte vornehmlich dazu dienen, 


9 2 und 3. 

2) Auch die Inſzenirung iſt bei Curtius viel befier als bei Arrian. 
Wie anſchaulich erzählt ber Rhetor, wie Koinos bervortritt, den Helm vom 
Haupte nimmt, denn fo will es der Brauch, und nun den König anredet! 


sy 7, 16. 


Zur Würdigung Alerander’3 bes Großen. 89 


die Unterwerfung der Gebirgsvölfer am Südrande des kaſpiſchen 
Meeres und ihrer nördlichen Nachbarn zu erleichtern. Daß eine 
größere Expedition geplant jei, an der etwa der König jelbit 
hätte theilnehmen wollen, wird nicht gejagt. Truppen wurden 
dem Herakleides nicht mitgegeben ; wahrjcheinlich war er auf die 
vorhandenen Bejagungen angewiejen. 

Etwas mehr hören wir über den arabiichen Feldzug, der 
den König in feinen legten Tagen bejchäftigtee Es war eine 
Fortſetzung der Nearchiſchen Seefahrt; die Expedition beitand 
aus der Flotte Nearch's, die durch einige in Babylonien erbaute 
Schiffe veritärft ward; es waren alles fleinere Fahrzeuge. 
Aus Cypern und Phönizien ferner wurden einige Kriegsſchiffe 
über Land in den Euphrat binübergefchafft, 17 größere und 30 
Kleinere, wozu Mannſchaften ebenfall® in Phönizien und Umgegend 
beichafft werden jollten. Dazu famen Landtruppen, die von 
Babylon aus vorangehen fjollten; der König ſelbſt wollte zu 
Schiffe folgen; Nearch befehligte wiederum die Flotte!). Ziel der 
Erpedition war die Beſiedelung der Ufer und Inſeln des perfifchen 
Meerbujens?), und daß fie fich darauf beichränfen jollte, dafür 
ipricht der mäßige Umstand der Rüftungen, wie denn auch nichts 
darauf hindeutet, daß eine längere Abweſenheit des Königs in 
Ausficht genommen wurde. Später glaubte man?), wie jchon 
oben erwähnt ift, er habe ganz Arabien unterwerfen wollen, 
angeblich weil die Araber allein ihm feine Sejandte gejchidt 
hätten, in Wahrheit aber, um fich von ihnen als dritten Gott 
verehren zu laſſen; dafür habe er ihnen dann ihre Freiheit 
belafjen wollen. Über den Werth diefer Vermuthungen habe 
ich ebenfalls ſchon geiprochen.e Daß es fi) um ein jehr weit- 
ausfehendes , langwieriges Unternehmen gehandelt habe, daß 
Alegander Arabien bis nach Ägypten habe umjahren wollen, ift 


ı) Strabo 16, 741. Arrian 7, 19. 25,2 u. 4. 

3) Arrian 7,19, 5: Tr» Te yao nagakiav nv ngos to xuAnıp to Ilsooı- 
so wwrosibew Enevösı xal Tas vnoors Tas &v tavrı. Vgl. Strabo 16, 741, 
wo von der. Eroberung des an Babylonien grenzenden Arabien die Rede ift. 

5) So ſchon Ariftobul, der, wie id) bier erinnere, erjt nad) 301 v. Chr., 
alio 20 bis 30 Fahre fpäter jchrieb. 


40 B. Nieſe, 


nad dem Stande der Vorbereitungen nicht wahrfcheinlich; dazu 
wären ganz andere Anjtalten nöthig gemejen!), und auch von 
Ägypten aus hätte eine ſolche Expedition in's Werk geſetzt 
werden müljen; denn Alexander war nicht der Wann, ohne 
genügende Vorbereitung etwas in die Hand zu nehmen. Daß 
er vielleicht jpäter, nad) ausreichender Erfundung und Vorbereitung 
da® Unternehmen ausgeführt hätte, iſt möglid. Daß er es 
damals gewollt habe, iſt weder gut bezeugt noch wahrjcheinlid). 

Alles übrige it womöglich noch weniger beglaubigt. 
Da iſt zuerit der fchon oben (S. 23) erwähnte Zug zur 
Eroberung der weitlihen Mittelmeerländer, der fich angeblich 
unter den binterlaffenen Entwürfen des Königs befand? Von 
Vorbereitungen dazu gibt es feine Spur; das legte, womit 
Alerander fich beichäftigte, war eben die arabiiche Expedition. 
Bei dem Zuge in den Weften wird bejonderd die Unter- 
werfung Karthagos hervorgehoben. Leider wiſſen wir nun von 
den Bezichungen Alexander's zu dieſer Macht jo gut wie nichts. 
In einer jehr anckdotiich gefärbten Geſchichte bei Juſtinus?) iſt von 
Bejorgnifjen der Karthager vor einem Angriff Alerander’3 die 
Rede. Belannt ift ferner, daß nad) den geringeren Quellen 
auc) die SKarthager im Jahre 323 cine Gejandtichaft nad 
Babylon geichidt haben ſollen). Wenn dies nicht erfunden 
fein jollte, jo würde man daraus eher auf Freundſchaft als auf 
Feindſchaft jchließen dürfen. Jedenfalls gibt es von feindlichen 
Abfichten Alerander’s gegen fie feine Spur?). 


) Denn wa? Nırian 7, 20, 3 über allerfei Erkundigungsfahrten 
einzelner Schiffer jagt, fann nicht als Vorbereitung gelten. 

2, Diodor 18, 4,4. Auch Arrian jcheint davon zu mwiflen, wie man 
aus der Nede des Koinos 5, 27,7 f. jchließen darf. 

s) 21,6. 

4% Arrian 7, 15,4. Diodor 17, 113. Auftin. 12, 13. Bei Diodor 
fommt eine Gejandtichaft der Karthager und der Libyphöniker; aber dieſe 
legteren waren als Iinterthanen der Starthager gar nicht in der Lage, eine 
Geſandtſchaft zu fchiden. 

5, Die karthagiſche KFeitgejandtichait, die in Tyros 332 gefangen wurde, 
wurde, was fid) von jelbft verjteht, begnadigt und ohne Zweifel heimgejandt. 
Arrian 2, 24,5. 


Zur Würdigung Alexander's ded Großen. 41 


Anderewo iſt von einem Zuge nah Sicilien und Italien 
die Rede, wobei Alexander das mihglüdte Unternehmen feines 
moloſſiſchen Vetter Alerander zu vollenden vorgehabt und es 
bejonder® auf Rom abgefehen habe, und es ijt befannt, daß 
jpäter von den Nhetoren die Frage eifrig erörtert wurde, ob Die 
Römer wohl dem Alexander hätten widerftchen können!). Nach 
anderen ebenfall® |päteren Berichten fam eine Gejandtichaft der 
Römer zum König nad) Babylon, und Alexander joll nach dem, 
wad er von ihnen jah und hörte, die zukünftige Größe Roms 
geweisjagt haben?). Dies Klingt durchaus nicht feindjelig oder 
friegeriih; und man fieht, daß dieje ſpäteren Erfindungen ſich 
gegenjeitig aufheben. Gut bezeugt ift nur, daß die Lukaner und 
Bretier, von denen der Molofjer Alexander vernichtet war, Boten 
nah Babylon ſchickten?). Welche Aufträge fie hatten, willen 
wir nicht; daß die Gefandtichaft mit dem Ilntergange des Mo: 
loſſers zujammenhing, iſt wahrjcheinlich ; auf friegeriiche Absichten 
Alerander’3 läßt fie nicht ſchließen?). 

Zum Schluß jei noch der angebliche Zug gegen die Skuthen 
erwähnt, der in der Form, wie er und überliefert wird°), ebenjo 
ein Traumbild der fpäteren Hiftorifer ift, wie die übrigen Welt- 
eroberungspläne. Wenn man ihn dagegen in der Faſſung nimmt, 
wie er einmal bei Arrian®) ericheint, als ein Verſuch, die Pontus⸗- 
ufer zu unterwerfen, fo ift dies ein Unternehmen, das für Ale: 
zander recht nahe lag, zumal wenn man bedenkt, daß ſchon 
vorher fein Feldherr Zopyrion einen freilid) mißglückten Anfang 
dazu gemacht hatte‘), Ob Alexander aber zur Zeit eines 


1) Arrian 7, 1, 3. Plutarch, de Alex. virt. 13, S. 300 ed. Tidot, 
Livius 9, 17. 

s) Ariſtos und Aſklepiades bei Arrian 7, 15,5. Klitarch fr. 23. Vgl. 
meine Geichichte 1, 182, 

5) Arrian 7, 15, 4. 

% Man kann vermutben, daß es ſich etiva um die lukaniſchen Geiſeln 
banbdelte, die dem Moloſſer Alexander zur Zeit jeiner eriten Erivfge gegeben 
waren und die fih vielleiht nody in Epirus beianden. Livius 8, 24, 4. 

8) Arrian 7, 1,3. 

6, 4, 15, 6. 

) Meine Geſchichte 1, 171. 


42 B. Nieie, 


Todes wirklid daran gedacht hat, ob er es ſelbſt oder durd) 
Andere ausführen wollte, davon jehlt uns wieder jegliche 
Kenntnis. 


Alerander trug ſich, als er ftarb, gewiß mit vielerlei Ent: 
mwürfen ; aber die ihm von der fpäteren, rhetorifchen Überlieferung 
beigelegten Eroberungspläne jind Erfindungen. Und wie leicht 
fonnten fie entitehen; feine Thaten und der Seitpunft feines 
Todes forderten zu ſolchen Phantafien geradezu heraus. Alle 
rander Hatte in verhältnismäßig furzer Zeit, in zehn Jahren, 
das perfiiche Neich erobert und von einem Ende zum andern 
durchzogen. Gerade ala er damit zu Ende war, ftarb er in 
jungen Sahren, noch nicht 33 Jahre alt. Man hatte ihn, fo 
lange er regierte, nur als Kriegshelden und Eroberer von un- 
gejtümer Kraft gejehen, der von einem Ziel zum andern raftlos 
vordrang. Iſt e8 zu verwundern, daß ınan fich vorftellte, er würde, 
wenn er länger gelebt hätte, auch jo fortgefahren fein? Gerade 
darin liegt der poetifche Reiz jeiner Perjon, daß man fich ihn 
inmitten ungeheurer Entwürfe dahingerafft dachte. Die Hiltorifer 
haben diefen Gedanfen verjchiedenartig, jeder nach jeiner Weiſe, 
ausgearbeitet; fie haben die anziehende Frage zu beantworten ge- 
jucht, wie er fi zu den fpäter zur Macht gelangten Bölfern, 
den Karthagern und vor allem den Römern, verhalten haben 
würde. In gewiſſem Sinne zur Nollendung gebracht hat dies 
alles der Alerander-Roman, wo der König diefe Entwürfe jeiner 
Hiftorifer wenigjtend zum Theil zur Ausführung bringt. 

In Wahrheit hat Alexander das Ziel, das er fich gejegt 
hatte, auch volllommen erreiht. Er zog aus gegen die Perfer, 
wozu ſchon jein Vater Philipp den Anfang gemacht hatte!). 
Seine Abficht war, das Perferreich zu erobern und ſich an Stelle 
des Darius zu jegen; darauf zielen von Anfang an alle feine 
Handlungen und Einrichtungen, und er hat es vollfommen aug- 


— — — — 


1) über Philipp's Abſichten, ob ſchon er das ganze Reich erobern, oder 
ſich mit einen Theile begnügen wollte, iſt gar nichts bekannt. Was Kaerit 
darüber vermuthet, der Gegenjag, in den er Philipp's Politik zu der feines 
Sohnes bringt, ift, wie jchon erwähnt, ohne jede Gewähr. 


Zur Würdigung Alerander’8 des Broken. 43 


geführt, nicht mehr und nicht weniger; die Grenzen des perſiſchen 
Reiches waren auch die feinigen; von einer grundjäglichen Ande- 
rung jeiner Politik im Verlaufe des Krieges kann dabei feine 
Rede jein. 

Nach jeiner Rückkehr aus dem Oſten (324 v. Chr.) finden 
wir ihn bejchäftigt, feine neue Herrichaft zu befejtigen und ums 
zugeitalten. Eine unermeßliche Fülle von Gejichäften lag auf 
ihm; jebt begann erſt die Arbeit. Er fiedelt Hellenen und Mafe- 
donier im Orient an, Phönizier will er an das perjiiche Meer 
verpflanzen ; die perfiichen Völfer zieht er zum Heer: und zum 
Neichsdienft heran, er will die Sieger und Befiegten zu einem 
Volke verjchmelzen; er läßt die Bergwerfe in Armenien unter: 
ſuchen und rüftet eine Expedition auf dem kaſpiſchen Meere. Er 
gebt nach Efbatana, bezwingt die Kofläer, dann geht er nad) Ba- 
bylon, das er, wie es fcheint, zur Hauptſtadt und zum Mlittel- 
punfte des Reiches erforen hat!). Bon hier aus will er an den 
perjiichen Golf gehen, als er ftirbt. Aber es gab noch viel mehr 
zu thun; die Unterwerfung und Befriedung des Reiches war 
noch fange nicht vollendet. In Indien, Baktrien und Karmanien 
waren Aufitände ausgebrochen und nur nothdürftig oder gar nicht 
unterdrüdt. In Kappadofien hatte jidy der Perſer Ariarathes 
unabhängig gehalten und anjehnliche Macht erworben; er wurde 
erſt jpäter von Perdiffas und Eumenes in einem Feldzuge mit 
anfehnlichen. Streitfräften überwunden. Die Iſaurer am Taurus 
hatten ſich empört, Ddesgleichen die Bithyner unter einem ein- 
heimischen Fürſten, dem Stammvater der jpäteren bithyniſchen 
Könige. Alles war noch unfertig, und es zu vollenden, erforderte 
fange Zeit und die ganze Kraft eine® Regenten. Und man joll 
glauben, daß Alerander an's andere Ende der Welt zu neuen 
grenzenlofen Unternehmungen geeilt wäre? Er hätte dann feine 
Entwürfe, die Neuordnung des Reiches, die Ktolonijationen, Die 
Berichmelzung der Hellenen und Barbaren im Stiche gelafjen 
und alles dem Berfall überantworte. Wir fünnen ficher jein, 
daß er ganz anders dachte, daß er in jeinem Reiche bleiben und 


ı) Strabo 15, 731. 


— — 





44 B. Nieje, Zur Würdigung Alexander's des Großen. 


vollenden wollte, was er angefangen hatte. Das entjpricht feiner 
Natur und Sinnedart; denn er war feurig und voll des höchiten 
Schwunges, zugleich aber umfichtig, überlegt und jeiner Ziele wie 
feiner Deittel bewußt. Ob ihn eine fpätere Zeit nochmals über 
die Grenzen jeined Reiches hinaus zu weiteren Kriegzügen geführt 
haben würde, wer fann es willen? Dieſe Frage bleibe der 
Dichtung überlaffen ; die wilfenschaftliche Forſchung fann jich nicht 
damit beichäftigen. 


Die wirthſchaftliche Kultur der Deutfchen zur Zeit Cuſar's. 
Bon 
Berner Wittid. 


R. Hildebrand: Recht und Sitte auf den verichiedenen wirtbichaftlichen 
Kulturftufen. Erfter Theil. Jena, Fiſcher. 1896. 


Recht und Sitte eines Volkes ftehen im engften Zufammen- 
bang mit der jeweils bei dieſem Volk herrichenden wirthichaftlichen 
Kultur. Eine beftimmte wirthichaftliche Kulturftufe bedingt ges 
wife rechtlihe und foziale Inſtitutionen. Völker !von gleicher 
wirtbichaftlicher Kultur haben daher jehr häufig gleiche Einrich— 
tungen und Sitten. Der Gedanke liegt nun nahe, die allgemeine 
Entwidlungsgeichichte des Recht und der Sitte im Zujammen- 
bang mit dem Forftſchritt der wirthichaftlichen Kultur zu be 
trachten, und zwar da8 jeweils herrichende Recht und die Sitte 
eines Volkes aus dem Stand feiner wirthichaftlichen Kultur zu 
erflären. 

Dieje Aufgabe hat ſich Richard Hildebrand in ſeinem Werf 
„Recht und Sitte auf den verjchiedenen wirthichaftlichen Kultur: 
ftufen“ geitellt. Bis jegt liegt nur der erfte Theil dieſes Werkes 
vor, aber die Unterjuchung ift in ihm joweit vorgefchritten, daß’ 
ein Urtheil über die Methode und deren Anwendung möglic) ift. 
Es liegen diejer Methode verjchiedene Borausjegungen zu Grunde, 
die zunächſt Elar hervorgehoben werden müſſen. 

Die erfte iſt die, daß Recht und Sitte thatlächlich jo jehr 
mit der wirthichaftlichen Kultur zujammenhängen, daß Jämmtliche 


46 W. Wittich, 


wichtigen Inſtitute des Rechtes und der Sitte durch wirthſchaft⸗ 
liche Urſachen weſentlich bedingt erjcheinen. 

Die zweite Vorausſetzung, unter deren Annahme der Ber: 
fafler die wirthichaftliche Kultur zur Erfenntnisquelle gerade der 
Entwidlung von Recht und Sitte gewählt hat, beitcht darin, 
daß der Entwidlungsgang der wirthichaftlihen Kultur immer 
und überall derfelbe ift, weil er immer und überall durch die 
gleichen Urjachen bedingt wird. 

Die dritte Vorausſetzung endlich, ebenfall® von großer Widy- 
tigfeit für die gejchichtliche Bedeutung der Methode, bejteht in 
der Annahme, daß die gleichen Wirthichaftszuftände inımer und 
überall in der gleichen Weife Recht und Sitte beeinflußt haben. 

Unter diejen drei Borausjfegungen hat der Verfaſſer jeine 
Methode auf die fundamentalen Fragen in der Entwidlungs- 
gefchichte des Recht? und der Sitte angewendet. Er hat zunächit 
drei Kulturjtufen, die der Jäger und Fiſcher, ferner die der 
Hirten und jchließlich die des primitiven Aderbaues gebildet. 

Dann hat er die wirthichaftlihen Eigenthümlichkeiten einer 
jeden diejer drei Kulturitufen mit großer Schärfe hervorgehoben 
und jchließlich gezeigt, wie die Beichaffenheit aller rechtlichen und 
ſozialen Inititute durch die wirthſchaftlichen Eigenthümlichfeiten 
bedingt war. 

Getreu feiner Vorausfegung bat er die Thatjachen, die ihm 
jowohl zum Entwurf feines Bildes von der Wirthichaft auf der 
betreffenden SKulturjtufe wie auch zur Darftellung der auf der- 
jelben herrſchenden Einrichtungen dienten, allen Völkern und 
Zeiten entnommen. Nur auf derfelben wirthſchaftlichen Kultur 
ftufe müfjen ſie ftehen, dann find auch die Grundzüge ihrer 
Einrichtungen gleichartig, einerlet ob fie als Indianer in Amerifa 
oder als Bujchmänner in Afrifa leben. 

Es liegt nicht im Plan diejer Studie, die Anfichten, Die 
Hildebrand auf Grund feiner Methode von den verjchiedenartigen 
Injtituten des Rechts und der Sitte gewonnen hat, im einzelnen 
au erörtern. 

Es joll nur ein Gegenſtand, allerdings der interejjanteite 
und vom Berjafjer mit fichtlicher Vorliebe behandelte, heraus⸗ 


Die wirthichaftlihe Kultur der Deutichen zur Zeit Cäſar's. 47 


gegriffen werden, nämlich feine Anjicht über Recht und Sitte der 
Germanen auf ihrer älteften geichichtlich befannten wirthichaft- 
lichen Kulturſtufe. Die ältefte, näher befannte Kulturftufe, auf 
der die Germanen zur Zeit Cäſar's ftanden, war dad Halb» 
nomadenthum. 

Was ift nun Halbnomadenthum nad) Hildebrand? Um 
diefe Kulturſtufe völlig zu veritehen, müfjen wir zunächſt willen, 
was Nomadenthum ift, d. h. welche Sulturjtufe und welche 
darauf erwachjenen Inititutionen der Verfaffer unter diefer Be- 
zeichnung begreit. 

Nomadenthum ijt Hirtenleben, d. h. diejenige Kulturitufe, 
auf der der Menſch hauptſächlich vom Ertrag der Viehzucht 
liebt. In dieſem Kulturftadium hält der Menſch Heerden. Es 
beiteht alio Vermögen. Das Vieh wird jedoch nur ausnahms— 
weije, in Fällen der Noth oder bei feitlichen Gelegenheiten, ges 
ſchlachtet. Regelmäßig lebt der Hirte nicht von Fleiſch, jondern 
von Milch und Käſe. Zur Erhaltung jeiner Heerde muß der 
Hirte fortwährend umbherziehen, mit dem SHirtenleben iſt das 
Nomadenthum unzertrennlich verbunden. Jedoch bejucht er mit 
einer gewifjen Regelmäßigfeit Jahr für Jahr diefelben Weidepläge. 
Aber die Erjchöpfung der Weide und der Wechfel der Jahreszeit 
halten ihn in jtändiger Bewegung. 

Sind die Heerden groß, jo fann nur immer eine bejchränfte 
Zahl von Familien auf einem und demjelben Play ihr Vieh 
weiden. Daher ift nicht einmal ein ganzes Gejchlecht in einem 
Zeltlager oder Dorf vereinigt. In der Hegel vertheilt jich jedes 
Geſchlecht in mehrere Zeltlager. 

Die Vermandtichaft beitimmt ſich nad) dem Vater. Die 
väterliche Gewalt dauert jo lange, bis der Sohn erwachjen iſt. 
Die Söhne erben zu gleichen Theilen, die Töchter gar nicht. 

Die eigentliche Arbeitskraft der Familie bilden die rauen 
und die Knechte, der Mann befigt um das Vermögen. Snechte 
find nur zum Theil Unfreie, meiſtens durch die Not zum Dienen 
geziwungene Leute des eigenen Stammes. 

Es befteht noch die volljte individuelle Freiheit und Unab— 
hängigkeit. Die Macht der Häuptlinge gründet ſich nicht auf 


48 W. Wittich, 


amtliche Befugnis oder ein angeborenes Herrichaftsrecht, jondern 
einzig und allein auf die Perfönlichkeit oder da8 Gewicht und 
Anjehen, welches unmittelbar aus der vornehmen Abkunft, dem 
höheren Alter, der überlegenen Einfiht und Thatkraft oder dem 
größeren Reichthum erwächſt. Daher fünnen die Häuptlinge 
auch nur rathen, nicht aber befehlen, die einzige wirkliche Gewalt 
ift die des Hausvaters. 

Wie entiteht nun aus diefem Hirtendafein des Nomaden 
das Halbnomadenthum ? 

Um dies zu begreifen, müſſen wir zunächit die Entjtehung 
des Pflanzenbaues betrachten. Der Pflanzenbau entwidelt ſich 
unabhängig von der Viehzuht aus der Pflanzenlefe. Ja, es 
gibt Völker, allerdings nicht in Aſien oder Europa, jondern in 
Afrifa und Amerika, die, ohne die Phaſe des Hirtenlebens durch 
laufen zu haben, direkt von Jagd und Fiſcherei zur Agrikultur 
übergegangen find. Wie und warum geht nun gerade der Nomade 
vom SHirtenleben zum Aderbau über? Nicht deshalb, weil er 
mit ihm befannt geworden ift, ihn entdedt oder erfunden hat 
und feine Vorzüge einfieht. Ja, es ift nicht einmal ſicher, ob 
er fi) darüber Klar geworden war, daß die ganze jpätere Kultur— 
entwidelung nur auf der Grundlage des Aderbaus vor fich 
gehen fünne. Ganz im Gegentheil fucht der Nomade, fo lange 
es ihm irgend möglich it, bei dem gewohnten und daher lieb 
gewordenen Hirtendalein zu verharren. Er fennt den Aderbau 
ſchon lange, aber er verachtet ihn. So lange jeine Heerden ihn 
und feine Familie ernähren, denkt er jo wenig daran, ein Ader- 
bauer zu werden, als heutzutage ein wohljtehender Ritterguts« 
beſitzer es fich einfallen läßt, feinen gut rentirenden Beſitz zu 
verfaufen und in der Stadt ein Gewerbe zu betreiben. 

Aber wir wiſſen bereits, daß die Kulturftufe des Nomaden- 
lebens Unterfchiede von arm und reich fennt. Es gibt große 
Heerdenbefiger, es gibt fleine Leute, die von ihrem VBiehbefig 
nur gerade leben fünnen, die durch Unglücksfälle oder Vermbgens—⸗ 
theilungen in äußerfte Dürftigfeit verjegt werden. Anfangs treten 
fie wohl ala Sinechte in den Dienjt der reicheren Stammes 
genofjen und werden bei der Wartung der Heerden verwendet. 


Die wirthichaitlihe Kultur der Deutſchen zur Zeit Cäſar's. 49 


Aber dicje Verwendung hat ihre Grenze. Trotzdem fteigt ihre 
Zahl. Die bitterfte Noth droht ihnen, und dann erft find die 
Borbedingungen für den gewaltigften wirthichaftlichen Fortſchritt 
gegeben. Sie bequemen fich dazu, als Aderbauer den Boden zu 
bearbeiten. Aber fie werden damit noch lange nicht freie, jeßhafte 
Bauern. Zunächſt beſchränkt fich der Aderbau in jeinen erften 
Anfängen auf die Sommerjaat, er Hat den Charafter eines 
Nebenbetriebes, die wichtigjte Erwerbsquelle bleibt noch auf lange 
Zeit die Viehzucht. Daher muß der Aderbau ſich den Betriebs- 
bedingungen der Viehzucht unterordnen. In der Nähe der 
Sommerweiden liegen die Getreidefelder. Selten wird ein Stüd 
Land länger als ein Jahr bebaut. Bei den Überfluß an Land 
bildet die geringfte Erfchöpfung des Boden? den Anlaß, den 
Aderbau zu verlegen. Wechfeln fie nun gar die Lage der Sommer 
weide, jo muß natürlich der Aderbau auch folgen. So ijt der 
Standort des Aderbaues aus den beiden Gründen, einmal wegen 
der jehr ertenfiven Betriebsweife und dann wegen der Fortdauer 
der nomadiſchen Lebensweiſe, fein feiter. 

Außerdem aber lebt der zum Ackerbauer herabgejunfene 
Nomade oder Hirte noch immer größtentheild von den Erzeug- 
nifjien der Viehzucht. Nun befigt er aber gar fein oder wenig» 
ftend nicht mehr genügend Vieh, um feine Lebensbedürfnifje zu 
befriedigen; denn fonjt wäre er ja nicht Aderbauer geworden. 
Das zum Leben nothwendige Vieh erhält er von dein reichen 
Heerdenbefiger, oder aber er wird von diefem mit den zum Leben 
nothwendigen Produkten der Viehzucht verjehen. In beiden 
Fällen aber muß er einen Theil der Ernte an den reichen Heerden- 
bejiger abgeben. 

Auf Ddiejer Kulturjtufe gibt es nun noch fein Eigenthum 
am Grund und Boden. Wahrſcheinlich hatten zur Zeit des reinen 
Nomadenthums die Gentes oder deren Untertheilungen, die Zelt- 
genojjenfchaften, abgegrenzte Weidereviere, innerhalb deren fie 
den Weidegang der Heerden fremder, nicht zur Gens oder Ge 
nofjenichaft gehöriger Befiger nicht zuließen. Aber dies dauerte 
natürlich nur jo lange, als jie das Weiderevier jelbjt benugten. 
Suchten fie andere Weiden auf, fo hatten fie wohl weder die 

Hikoriiche Beitihrift R. F. Bd. XLIII 4 


50 W. Wittich, 


Möglichkeit noch den Willen, andere Nomaden von den vers 
laſſenen Gebieten fern zu halten. Auch der primitive Aderbau, 
der unter Beibehaltung der nomadiſchen Lebensweiſe betrieben 
wurde, brachte hierin feine Veränderung hervor. Nur verhält- 
nismäßig höchſt geringfügige Beitandtheile der großen Beides 
reviere wurden zum Aderbau in Anjpruch genommen. So lange 
der Acerbau dauerte, war der Aderbauer im Beſitz diejer Grund- 
jtüde geſchützt. Auch die mächtigen Heerdenbefiger hinderten im 
eigenen Intereſſe jede Störung dieſes Beſitzes. Aber der häufige 
Wechſel im Standort des Aderbaues lich es ebenjomwenig wie 
zur Beit des reinen Nomadenthums zur Ausbildung eines 
dauernden Rechtes am Grund und Boden fommen. 

So ift bei den Nomadenvölfern der Übergang vom reinen 
Dirtenleben zu den Anfängen des Ackerbaues mit der Begründung 
einer ſozialen und wirthichaftlihen Abhängigkeit der Aderbauer 
verbunden. 

Der Grund diefer Erjcheinung beiteht darin, daß jchon auf 
der Rulturftufe des Hirtenlebens joziale Gegenjäge entitanden jind. 
Beim Anwachſen der Bevdlferung kann der ärmere Theil der- 
jelben jein Leben nur frijten, wenn er fi zunächit in den Dienſt 
der großen SHeerdenbejiger begibt. Dieſe verwenden die armen 
Bolfögenofjen zunächſt bei der Viehmirthichaft, dann aber auch 
bei einem allerdings noch jehr extenfiven und der Viehzucht 
völlig untergeordneten Aderbau. Sie verjehen dieje Aderbauer 
mit dem zum Leben nothwendigen Biel) und beanjpruchen dafür 
einen Antheil an der Ernte. So entiteht der primitive Aderbau, 
das Halbnomadenthum im Sinn Hildebrand’s. Aber die nomadijche 
Lebensweiſe bleibt bejtchen, und damit find dauernde Rechte am 
Grund und Boden nod) unmöglich; denn noch immer bildet die 
Hauptgrundlage der menjchlichen Exiſtenz die Viehzudt. 

Dieje Kenntnis der nomadischen und halbnomadiichen Kultur 
und der auf dielen Kulturftufen eriwachjenen Inftitutionen ver: 
dankt Hildebrand Hauptjählich den Studium der mongolijchen 
und arabijchen Völferjchaften. Beſonders die aus guten rufjiichen 
Reifewerfen näher befannten SKirgijen haben ihm viel Stoff für 
die Darftelung halbnomadischer Kultur geliefert, und aus der 


Die wirtbichaftliche Kultur der Deutichen zur Zeit Cäſar's. 51 


jozialen Ordnung dieſes halbnomadiſchen Volkes jcheint er jeine 
Anficht über die Art und Weije, wie Hirtenvölfer zum Aderbau 
übergeben, geichöpft zu haben. 

Nun zurüd zu der älteſten befannten Kultur der Germanen. 
Nach den übereinſtimmenden Berichten des Cäſar und des Strabo 
lebten fie hauptſächlich von Jagd und Viehzucht. Der lebtere 
erwähnt den Aderbau überhaupt nicht, der erjtere fchildert ihn 
ala höchſt unbedeutend; ficher ift aljo die halbnomadiſche Kultur 
unſeres Volkes in diefer Epoche. Wie war diefe im einzelnen 
beihaffen, welche Inſtitutionen erwuchlen darauf? Won glei): 
zeitigen Schriftitellern gibt nur Cäjar in einigen berühmt ge= 
wordenen Stellen feiner Kommentare zum galliichen Krieg darüber 
eine lüdenhajte Auskunft. Hildebrand interpretirt diefe Stellen 
fraft feiner Kenntnis der halbnomadiſchen Kultur und jucht die 
Züden der Überlieferung auf diejelbe Weife auszufüllen. Cäſar 
berichtet, daß um die Wohnfige der deutichen Stämme das Land 
weit und breit wült und unbebaut war. Nach feiner Anficht 
hielten die Stämme aus Ehrgeiz und aus Furcht vor feindlichen 
Überfällen dieſen Zustand künſtlich aufrecht. Hildebrand erklärt 
dieſe Erjcheinung aus wirtbichaftlihen Gründen. Da die Ger: 
manen hauptſächlich noch von Jagd und Viehzucht lebten, To 
hätten jie diefer unbebauten Ländereien als Jagd: und Weide: 
gründe bedurft. Daher gab es auch zu Cäſar's Zeiten noch fein 
Srundeigenthum, feine Seßhaftigfeit und feinen fejten Standort 
des Aderbaues bei den Germanen. Dielen Zuftand bejchreibt 
Cäfar im 22. Kapitel des jechiten Buches näher. Hildebrand 
deutet Diele Stelle folgendermaßen. Die magistratus ac prin- 
cipes wiejen den gentibus cognationibusque hominum qui 
una coierunt nur immer auf ein Jahr (in annos singulos) 
Land zur „Bebauung“ an, wo und in welcher Ausdehnung es 
ihnen paffend erjchien, und zwangen diejelben, das nächſte Jahr 
anderswohin zu überjiedeln (»anno post alio transire cogunt« 
— »neque longius anno remanere uno in loco incolendi 
causa licet«e B. G. 4, 1). Das den einzelnen gentibus 
cognationibusque jeweil® angewiefene „Aderland” blieb un: 
getheilt. 

4° 


62 | W. Wittich, 


Gentes cognationesque hominum, qui una coierunt., 
find nad Hildebrand Geſchlechter oder Sippidhaften, Die fich 
ganz wie die Mongolen der Vichweide wegen in Zelt: und Weide 
genofjenschaften vertheilt haben. Nicht immer das ganze Gefchlecht, 
fondern nur ein Bruchtheil desjelben zieht, wohnt und meidet 
zulammen. 

Hildebrand wendet jich nun gegen die herrichende Meinung, 
welche dieſe Sippichaften und deren Untertheilungen zu ſtreng 
organifirten Verbänden, aus denen dem Einzelnen Rechte und 
Pflihten erwachſen, madt. Er beitreitet ferner, daß bereite 
felte Uderfluren beitanden hätten, in deren Nutzung die einzelnen 
„Genoſſenſchaften“ einander alljährlih nur abgelöſt hätten. 
Auch will er aus der ausdrüdlichen Verneinung eine privaten 
Grundeigenthums nicht den Schluß gezogen willen, day zur Zeit 
Cäſar's ein Gefammteigenthum des Staated oder der Gemeinde 
an Grund und Boden beitanden habe, und daß die magistratus 
ac principes Organe der Geſammtheit geivejen jeien. 

Gegen die genofjenichaftlihe Organijation macht er geltend, 
daß die Angehörigen eines Geſchlechts ſchon durch Abitammung 
von einem gemeinfamen Stammpvater mit einander verbinden 
jeien. Ein anderer, als der durch dieje natürlichen Bande ge— 
gebene Zuſammenſchluß der Individuen wird von Hildebrand 
al3 unerwiejen und überflüfjig in Abrede geftellt. Auch die Zelt: 
genofjenichaft, der zujammen mweidende Haufen, ijt eine rein that- 
fädhlidye Bereinigung ohne jede genoſſenſchaftliche Organifation. 

Gegen fejte, längft eingerichtete Aderfluren ſpricht die halb- 
nomadilche Kultur der Germanen. Die Worte anno post alio 
transire heißt nicht Beſitzaustauſch vorhandener Aderfluren unter 
den „Genoſſenſchaften“, ſondern alljährlicher Wechiel des Stand- 
ortes des Ackerbaues. Jedes Jahr wird neues Aderland gerodet 
und dafür das im legten Jahr bewirthichaftete derelinquirt. 

Gegen die Annahme eines Gejammteigenthums an Grund 
und Boden macht Hildebrand geltend, daß zur Zeit Cäſars 
dauernd noch überhaupt fein Gemeinweſen, feinerlei Gefammtheit 
im Einne des Rechts bei den Germanen beitanden haben. Nur 
in Kriegäzeiten wurden die Stämme unter gewählten Anführern 


Die wirtbihaftlihe Kultur der Deutſchen zur Zeit Cäſar's. 53 


zu geichlojfenen Organifationen zufammengefaßt. Im Frieden 
gab es Feine mit bejtimmter amtlicher Befugnid ausgeitattete 
Behörde oder Obrigfeit (magistratus), fondern nur faktiſche 
Machthaber oder Häuptlinge (principes), deren Einfluß ein rein 
perſonlicher war. Der rechtliche Zujammenhang zwiſchen den 
einzelnen Individuen war für gewöhnlich ein rein genealogijcher, 
d. 5. durch Gebiet und Abjtammung gegebener, aber noch fein 
aus Zwecken entiprungener, durch Befehl oder Übereinkommen 
künſtlich gejchaffener. 

Auch dieſe Anfchauung von den älteften politijchen Verhält— 
niffen der Germanen iſt, wenn fie ſich auch auf den Bericht des 
- Cäjar ftüßt, in der Hauptſache aus den noch heute bei Beduinen 
und Tartaren beitehenden Zuständen gejchöpft. 


Da es nun zur Zeit Cäſar's für gewöhnlich, d.h. in Friedens— 
zeiten, feine ftaatlihe Gefammtheit im Sinne des Rechts gab, 
jo jchwindet damit auch jede Möglichkeit jür ein Eigenthum des 
Staated oder der Gemeinde am Grund und Boden. Aber aud) 
das Recht Einzelner am Grund und Boden, das aus irgend einer 
der damals bejtehenden Benußungsarten entiprang, will Hilde 
brand nicht als Eigentyum gelten laſſen. Die halbnomadijche 
Kultur der Germanen zur Zeit Cäfar’3 fannte noch fein Grunde 
eigenthum. 


Nachdem Hildebrand fo die herrichende Auffafjung des 
cäjariichen Bericht? abgelehnt hat, fommt er zu feiner eigenen 
Erklärung desjelben. Da er das Beltchen einer ftaatlichen 
Orgänifation der Germanen in diefer Epoche leugnet, jo fann 
er in den magistratus und principes Cäſar's feine Beamten oder 
Fürſten jchen. Er findet in den Worten Cäjar’3 einen Hinweis 
auf die allen halbnomadischen Stämmen gemeinjane joziale 
Sliederung. Er fieht in den magistratus und principes die 
reichen Heerdenbefiger, aus denen allerdings in Kriegszeiten die 
Anführer genommen wurden, und die in Friedenszeiten vermöge 
ihres Reichthums und ihrer perjönlichen Eigenjchaften jich eines 
großen thatjächlichen Einfluffes erfreuten. Die gentes ac cog- 
nationes hominum aber find nach feiner Anficht die ärmeren 


ö4 W. Wittich, 


Volfögenofjen, die der Unterftügung der Reichen bedurften und 
fi) bereitö dem Aderbau zugewendet hatten. 


Die wirthichaftliche Abhängigkeit diefer ärmeren Volks— 
genofien von den reichen Heerdenbefigern (magistratus ac prin- 
cipes) bedingt es aud), daß fie fich den Wünſchen der Icgteren 
in Bezug auf den Ort und die Ausdehnung des Aderbaues 
fügen mußten. Daher beißt es von den magistratus und prin- 
cipes »attribuunt« und »cogunt«e, und für die gentes ac cog- 
nationes hominum »non licet«e. Die großen SHeerdenbefiger 
ftanden dem Ackerbau mißtrauiſch gegenüber, weil er die Tendenz 
hatte, der Weide und Jagd mehr oder weniger Terrain zu ent- 
ziehen. Die war nach Hildebrand’s Anficht das Motiv, welches 
zur Zeit Cäſar's magistratus ac principes beftimmte, den Ader- 
bau nur ftellenweife und in bejchränfter Ausdehnung zuzulaſſen 
(quantum et quo loco visum est agri) und nicht zu geftatten, 
daß man des Aderbaued wegen länger als ein Jahr an ein und 
demselben Orte verblieb. 


Die den einzelnen gentes cognationesque hominum 
qui una coierunt jeweil® zum Aderbau überlaffenen Grund: 
jtücte blieben in deren ungetheiltem Beliy und wurden von ihnen 
gemeinjchaftlich bewirthichaftet. Hildebrand führt zur Erflärung 
diefer Erjcheinung an, daß es jchwer jei, Grundftüde und bes 
jonder8 die im vorliegenden Fall mwahrfcheinlich jehr Kleinen 
Grundjtüde zu theilen, und ferner, daß cine Theilung bei dem 
alljährlichen Wechfel des Standortes des Ackerbaues fid) nicht 
gelohnt hätte. 

Wie man fieht, beruht auch diefe Erklärung Hildebrand's 
völlig auf jeinen erſten Vorausſetzungen. Die gleiche wirth: 
Ihaftliche Kulturjtufe bedingt zu jeder Zeit und überall gleiche 
Inftitutionen. Alſo kann man die Nachrichten Cäſar's über 
Recht und Sitte der halbnomadiichen Germanen aus der Kennt— 
nis der Inititutionen der halbnomadijchen Kirgijen heraus deuten 
und ergänzen. 


Wir wollen in der Wiedergabe der Hildebrand’schen An— 
ihauungen hier Halt machen und ein Urtheil über die ganze 


Die wirthichaftlihe Kultur der Deutihen zur Zeit Cäſar's. b5 


Methode und deren Anwendung auf die ältejte germaniiche Kultur 
abgeben. 

Zunädhit ericheinen die grundlegenden Vorausfegungen jehr 
anfechtbar. 

Der Entwidlungsgang der wirthichaftlihen Kultur ift nicht 
einmal in feinen Hauptzügen immer und überall ein gleichartiger. 
Recht und Sitte hängen nicht jo jehr von der jeweils beitehenden 
wirthichaftlichen Kultur ab, daß alle ihre wichtigen Inſtitute auf 
diejer wirtbichaftlichen Kultur beruhen und nur aus diejer heraus 
erflärt werden fünnen. 

Hildebrand meint, daß der Entwidlungdgang der wirth- 
Ichaftlichen Kultur deshalb immer und überall ein in der Haupt- 
ſache gleichartiger jein müffe, weil die Bevölkerung immer und 
überall wachſe, und weil die wirthichaftlichen Intereſſen die 
mächtigften Triebfedern menjchlicher Handlungen jeien. 

Aber auch diche al8 Gründe angeführten Thatjachen find in 
diefer Ausdehnung nicht richtig. Es gab und gibt Epochen und 
Völker, in denen die Bevölkerung nicht wächſt oder gar abnimmt. 
Die wirtbichaftlichen Interefjen find namentlih in früheren 
Zeiten nicht die mächtigiten Triebfedern menjchlicher Handlungen 
gewejen. Die Sorge um die perjönliche Sicherheit trat in Zeiten 
unvollfommen entwidelter Staatögewult gleichberechtigt neben das 
wirthichaftliche Intereſſe. 

Allein jelbjt wenn man die allgemeine Geltung diejer beiden 
Behauptungen in der Hauptjache wenigſtens zugibt, jo folgt 
daraus keineswegs die von Hildebrand behanptete Gleichartigfeit 
der Kulturentwidlung. 

Denn der Entwidlungsgang der wirthichaftlichen Kultur 
wird noch von verjchiedenen anderen Faktoren beitimmend be- 
einflußt, die nicht immer und überall die gleichen find. Unter 
diefen müſſen vor allem die natürlichen Verhältniſſe hervor- 
gehoben werden. Allerdingd werden die natürlichen Verhältniffe 
in ihrer Bedeutung für die Kulturentwidlung häufig überſchätzt, 
aber jicher begeht man einen nod) größeren Fehler, wenn man 
wie Hildebrand, in diefen Fragen von den natürlichen Voraus— 
jegungen der Wirthichaft völlig abfieht. 


56 W. Wittich, 


Es iſt für die Kulturentwicklung eines Volkes nicht gleich— 
gültig, ob fein Daſein in einer inneraſiatiſchen Steppe, in einem 
afrifaniichen Urwald, an der fruchtbaren Küſte des mittelländifchen 
Meeres oder in den Ländern des Nord» und Oſtſeebeckens fich 
abſpielt. Schon dieje Berjchiedenheit der umgebenden Natur 
müßte eine Verjchiedenheit der Kulturentwidlung bedingen. So 
jehen wir auch in der That, daß der Gang der wirthfchaftlichen 
Kulturentwidlung feinesmegs ein gleichartiger war oder ilt. 
Hildebrand ſelbſt zeigt uns afrifanische und amerikaniſche Stämme, 
die, abweichend von den Aſiaten und Europäern, nicht alle die 
drei Kulturſtufen des Jäger⸗-, Hirten und Ackerbaulebens durch« 
liefen, jondern direft von der Jagd zum primitiven Aderbau 
übergingen, ohne je das Stadium der Viehzucht gefannt zu 
haben. Auch das Haupterfenntnismittel der Hildebrand’ichen 
Unterjucdhung, der Umjtand, daß viele Völker ſeit undenflichen 
Zeiten auf den verjchiedenartigen Stufen der priniitiven wirth- 
ihaftlichen Kultur ſtehen geblieben find und fo gut wie feine 
Spur der |pontanen ortentwidlung zeigen, beweilt, wie wenig 
gerechtfertigt die Annahme Hildebrand’3 von einer auch nur im 
Ganzen und Großen gleichartig verlaufenden wirthichaftlichen 
Kulturentwidlung ift. 

Aber auch der von Hildebrand behauptete enge Zuſammen⸗ 
bang aller wichtigen Inftitute des Rechts und der Sitte mit der 
wirthichaftlichen Kultur ift nicht ohne weiters zuzugeben. Aller- 
dings find die meilten Inftitutionen in irgend einer Weile von 
der wirthichaftlichen Kultur abhängig oder werden wenigitens in 
ihrer beftehenden Form durch diefe bedingt. Aber es it Klar, 
daß eben doch nur Diejenigen Inſtitute in ihrem Wejen durch die 
wirthichaftliche Kultur bedingt fein können, die aus wirthichaft« 
lichen Zwecken entjprungen find. Alle andern mögen zivar viels 
fach durch dieſelbe beeinflußt fein, aber wejentlich bedingt find 
fie eben doch nur durch die Zwecke, denen fie ihr Dajein ver- 
danfen. 

So find beitimmte, aus natürlichen Verhältniffen hervors 
gegangene Inſtitute, wie z. B. die Familie oder die Verwandts 
haft, ebenjowenig aus der wirthichaftlichen Kulturjtufe heraus 


Die wirthichaftliche Kultur der Deutichen zur Zeit Cäſar's. 57 


zu erklären, wie die geſammten religiöſen Vorſtellungen und die 
daraus abgeleiteten ethiſchen Anſchauungen. Auch die geſammten 
militäriſchen Inſtitute ſind in ihrem Weſen nur aus der militä— 
riſchen Technik heraus zu begreifen, ſo ſehr ſie auch im einzelnen 
mit der wirthſchaftlichen Kultur zuſammenhängen. 

Die Entwicklung der Wehrverfaſſung geht ihren eigenen 
Gang. Sie beeinflußt die wirthſchaftliche Kultur und wird von 
dieſer beeinflußt, aber ſie folgt dieſer nicht dergeſtalt, daß ihre 
einzelnen Formen weſentlich durch beſtimmte wirthſchaftliche Kultur⸗ 
ſtufen bedingt würden. 

Ein für die mittelalterliche Kultur von unberechenbarer Trag⸗ 
weite gewejened Inftitut ift das Lehnsweſen. Diejes ijt jeinem 
Weſen nad) eine militäriichen Zwecken dienende wirthichaftliche 
und rechtliche Einrichtung, die aber nicht von irgend einer wirth- 
ihaftlihen Kultur, fondern einfach durch das militärstechnijche 
Bedürfnis nach größeren wohlgeübten und mwohlgerüjteten Reiter: 
beeren hbervorgerufen wurde. In diefem Fall beitimmte Yogar 
das militärische Bedürfnis eine wirthichaftlihe Einrichtung, Die 
den größten Einfluß auf die gefammte Kulturentwicdlung auge 
üben follte. 

Trogdem, daß jo die allgemeine Geltung der Hildebrand’jchen 
Methode deshalb entichieden bejtritten werden muß, weil Die 
beiden diejer allgemeinen Anwendbarkeit zu Grunde liegenden 
Vorausſetzungen nicht zutreffen, jo hat fie doch auf einem bes 
ichränfteren Gebiet eine große Bedeutung; denn Die Dritte 
Borausjegung findet ſich thatjächlich faft immer verwirklicht. Die 
gleichen Wirthichaftszuftände beeinfluffen immer und überall in 
gleicher oder ähnlicher Weife Recht und Sitte. 

Hieraus aber ergibt fich die Möglichkeit, die durch die wirt: 
ſchaftliche Kultur bedingten Einrichtungen und Sitten eine 
Volkes aus den bejjer befannten gleichartigen Injtitutionen eines 
anderen zu erflären und zu ergänzen, vorausgejegt, daß beide 
Völker auf derjelben wirthichaftlichen Kulturſtufe jtehen. 

Diefe Vorausjegungen treffen nun bei den Sirgifen und 
den Germanen in der Hauptjache wenigitend zu. Denn beide 
Bölfer jtehen auf derjelben wirthichaftlichen Kulturſtufe, der des 


58 W. Wittich, 


Halbnomadenthums, und bei beiden Völkern handelt es ſich um 
Inſtitute, die durch wirthſchaftliche Intereſſen weſentlich bedingt 
ſind. Allerdings ſind fraglos die natürlichen Vorausſetzungen 
bei Kirgiſen und Germanen durchaus verſchieden und von jeher 
verſchieden geweſen. 


Die Germanen waren als wanderndes Volk von Oſten her 
in ihre zur Römerzeit innegehabten Sitze gekommen und hatten 
dort ein zwar wenig kultivirtes, aber nach Überwindung der 
erſten Rodungsſchwierigkeiten zum Ackerbau höchſt geeignetes Land 
gefunden. Auch war das Gebiet im Verhältnis zur Volkszahl 
nicht bedeutend und grenzte an ein hochkultivirtes, mächtiges 
Neih, das dem Vormwärtsdringen de Volkes einen nicht über: 
windbaren Widerſtand entgegenſetzte. 

Die Kirgiſen dagegen ſchweifen ſeit Menſchengedenken in 
verhältnismäßig geringer Zahl auf unendlichen Steppen umher. 
die allerdings keineswegs zum Ackerbau gänzlich ungeeignet ſind, 
aber doc) wegen der Bodenbeſchaffenheit und der Temperatur— 
verhältnijje ein Volf, das auf intenjivere Bodennugung nicht 
angewiesen ift, zum Aderbau nur wenig verloden. 


Aber dieje Verfchiedenheit der natürlichen Verhältniſſe, in 
denen beide Völfer Ichten und leben, ſpricht meines Erachtens 
nicht gegen die Annahme Hildebrand's, daß fie, als jie fi) auf 
gleicher Kulturftufe befanden, auch ähnliche Institutionen beſeſſen 
haben. Sobald die gleiche wirthichaftliche Kulturftufe erreicht it, 
find eben die durch wirthichaftliche Umstände weſentlich bedingten 
Inſtitutionen einander gleich, und ed kommt dann wenig darauf 
an, ob diefe wirthichaftliche Kulturftufe unter gleichen oder ver- 
Ihiedenartigen natürliden Vorausſetzungen erreicht worden: ift. 


Die verjchiedenartigen natürlichen Vorausfegungen bedingen 
dann nur eine verichiedenartige Entwidlung der wirthichaftlichen 
Rultur. 

So bildete die in Nede ftehende Kulturitufe, das Halb- 
nomadenthum, für das eine Volk, die Germanen, nur einen 
Durcdigangspunft der Entwidlung, während das andere, Die 
Kirgiſen, Jahrtauſende auf diefer Kulturſtufe verblieb. 


Die wirtbihaitlihe Kultur der Deutichen zur Zeit Cäſar's. 59 


Daher ıjt Hildebrand vollftändig im Recht, wenn er die 
auf der wirthichaftlichen Kulturjtufe des Halbnomadenthums er: 
wachjenden Spnititutionen bei cinem noch heute auf diefer Stufe 
itehenden Bolfe genau jtudirt und feititellt und dann mit den 
bier gervonnenen Borftellungen an die Unteriuchung der Inſtitu— 
tionen der ebenfalls halbnomadiſchen Germanen herantritt. 

Bei der Lüdenhaftigfeit der Überlieferung jpielen in dem 
Wild, das man fich von den älteften Einrichtungen der Germanen 
macht, vorgefaßte Vorjtellungen immer eine bedeutende Nolle. 
Daher erſcheint e8 Doch weit beifer, wenn dieje Vorftellungen 
aus der Verfaſſung eine® auf gleicher Kulturftufe ftchenden 
Volfes entnommen werden, als wenn fie völlig unbewußt und 
unfontrollirt aus der Anjchanung der europäischen Kultur des 
19. Jahrhunderts entipringen. 

Sehen wir nun auf die Ergebniffe der Hildebrand’schen 
Unterjuchung altgermaniicher Imjtitutionen näher cin, jo find 
jeine Darlegungen, daß in Friedenszeiten noch feinerlei Itaatliche 
Urganijation des Volkes beitanden habe, und daß Eigenthum 
einzelner Individuen oder der Geſammtheit am Grund und 
Boden noch nicht vorhanden geweſen jei, durchaus über- 
zeugend. 

Auch jein Hinweis darauf, daß demgemäß in den magistratus 
und principes Cäſar's feine Beamten und Fürſten, jondern 
einfady ſozial hochitehende, durch Reichtum und perjönliche 
Eigenjchaften ausgezeichnete, aber höchſtens im Krieg mit einer 
Amtögewalt außgeftattete Perſonen gemeint jeien, ijt völlig 
zutreffend. Dagegen jcheint mir entichieden anfechtbar, daß Die 
gentes und cognationes hominum verarmte Bolfögenojjen 
geweſen jeien, die ſich aus Not dein Aderbau gewidmet hätten. 
Ferner halte ich es für ausgeſchloſſen, daß die beichränfte Aus: 
Dehnung und der alljährliche Wechjel im Standort des der: 
baue3 von den magistratus und principes deshalb angeordnet 
worden jeien, weil fie bejorgten, der Aderbau möchte ſonſt der 
Sagd und Weide zu viel Terrain entziehen. 

Die erite Behauptung ift meines Erachtens nicht beweisbar, 
gegen die zweite fprechen pofitive, schwerwiegende Bedenken. 


60 WR. Wirtich, 


Hildebrand it Hier feiner Grundanichauung, die Injtitutionen 
aus der herrichenden wirthſchaftlichen Kulturftufe heraus zu er- 
Hären, nicht durchweg treu geblieben. Wir wollen eine fon» 
jequentere Anwendung der Hildebrand’schen Methode verjucdhen. 


Die Kulturftufe, auf der die Germanen zur Zeit Cäſar's 
itanden, war das Halbnomadenthum, ein wirthichaftlicher Zuftand, 
in dem der Hauptunterhalt des Lebens noch von der Viehzucht 
fam, der Aderbau aber nur nebenbei betrieben wurde Der 
Aderbau mußte fich daher den Betriebsbedingungen der Viehzucht, 
vor allem der wichtigften, der nomadijchen Lebensweiſe, unter- 
ordnen. Es fand nur auf den Sommerweiden ftatt, und mit 
dem Standort der Heerden wechielte auch der Standort des 
Aderbaue2. 


Auch Cäſar jchildert ganz deutlid) diefen Kulturzuftand. 
Sm 22. Kapitel des fechiten Buches jeiner Kommentare zum 
galliichen Krieg jagt er ganz. allgemein: „Mit Aderbau beſchäftigen 
ih die Germanen nicht, der größte Theil ihrer Nahrung beſteht 
in Milch, Käſe und Fleiſch. Auch bejitt niemand ein beitimmtes 
Maß von Ländereien oder überhaupt Grundeigenthum (proprios 
fines), jondern magistratus ac principes weijen alljährlid), wo 
und in weldem Umfang es ihnen gutdünft, den zujammene 
baujenden Sippjchaften Land an und zwingen fie im Jahre 
darauf, andersmwohin zu gehen.” Im 1. Kapitel des 4. Buches 
jagt er dasjelbe von dem germaniſchen Volksſtamm der Sueben. 
„An den Ländereien befteht fein Privateigenthbum oder Sonder: 
nutzung. Auch dürfen fie nicht länger al8 ein Jahr an einem 
Orte wohnen. Auch leben fie nur zum kleinſten Theil von Ge 
treide, zum größten von den Erzeugnijfen der Viehzucht und 
dem Ertrag der Jagd.“ 


Allerdings nennt Cäſar diefen wirthichaftlihen Zuſtand 
agricultura. Aber es ift far, daß er darunter nicht Aderbau 
im engeren Sinn, jondern Lande und Forftwirthichaft im all» 
gemeinen verjteht. Welcher Art dieje Yandwirthichaft war, geht 
nicht aus der Bezeichnung agricultura, ſondern aus der jpeziellen 
Beichreibung hervor, und aus diejer ergibt es jich mit Sicherheit, 


Die wirthichaftlihe Kultur der Deutichen zur Zeit Cäſar's. 61 


dab der Wirthichaftsbetrieb feinen Schwerpunft in der Viehzucht, 
nicht aber im Aderbau Hatte. 

Aus dieſer Thatfache folgt nun mit Sicherheit, daß das 
lateiniiche Wort ager in den beiden erwähnten Kapiteln nicht 
Aderland, d. h. den Bau der TFeldfrüchte gewidinetes Land, be- 
deutet. Hildebrand jelbft jagt (pag. 116), daß nur agri, aljo 
der Plural von ager, Ader im engeren Sinn bedeutet, daß 
Dagegen der Singular einfach Ländereien, häufig auch Territorium 
oder Gebiet, furz Land, als Grund und Boden bezeichnen kann. 
Es iſt nun auffallend, daß Cäſar in den beiden Kapiteln ager 
immer im Singular, niemals aber im Plural gebraudt. Eine 
gewiſſe Abſicht icheint bei diefem Feſthalten am Singular ob» 
zuwalten. Auch hiervon abgejehen, iſt es fpradjlich erlaubt, 
ſachlich dagegen geboten, das Wort ager nicht mit Aderland, 
jondern mit Grund und Boden oder Ländereien zu überjegen. 
Denn die ganze Daritellung Cäſar's ergibt klar, daß diejer ager 
in der Hauptjacdhe, d. h. zum weitaus größten Theil eben nicht 
aus Adern, jondern aus Weiden ınd Wald beftanden hat. 

Hier beginnt nun der Fehler Hildebrand’d. Er überjegt 
nämlich ager einfach mit Aderland und hält auch weiterhin daran 
feit, daß die YZutheilung durd) magistratus und principes, der 
gemeiniame Beſitz und die gemeinjame Nugung und endlid) auch 
die Wiederaufgabe am Schluß de? Jahres eben nur auf das 
Aderland Bezug hätten. Nicht zulegt aus diefem Grund hält 
er die gentes et cognationes hominum für verarmte Volks— 
genoffen, denn fie waren ja Aderbauer. Dieſer Überfegungsfehler 
führt jchließlicdy) zu der nad) der Hildebrand’ihen Methode am 
meilten zu verabjcheuenden SKonfequenz, daß die wichtigften 
Injtitutionen der Germanen aus einem ganz untergeordneten 
Theil der wirthſchaftlichen Kultur diejes Volkes erwachſen jeien. 
Denn es iit fein Zweifel, daß Cäjar in diejen Einrichtungen die 
wichtigiten SInftitute der Germanen bejchrieben hat, und daß 
andrerjeit3 der Aderbau eine durchaus untergeordnete Stelle in 
der altgermaniichen Volkswirthſchaft einnahm. 

Um zu einem richtigen Verſtändnis der von Cäſar gejdil: 
derten Einrichtungen zu gelangen, muß immer daran fejtgehalten 


62 W. Wittich, 


werden, daß alle dieſe Injtitutionen auf der wirthichaitlichen 
Kultur des Halbnomadenthums berubten. Ager iſt daher in 
der Hauptjache Weideland und nur zum allerfleiniten Theil Acker⸗ 
land. Die gentes et cognationes hominum beftehen nicht aus 
Aderbauern, jondern aus Viehzüchtern, von denen höchſtens ein 
Theil nebenbei auch etwas Aderban betreibt. Sie find daher 
auch nicht zurücgefommene, jozial niedrig jtehende Leute, ſondern 
in ihnen it das ganze Volk einbegriffen. Allerdings gibt 
e8 ſehr reihe und angejehene neben verarmten und zurüd: 
gefommenen Leuten darunter. Die Erjteren bezeichnet Cäſar als 
magistratus et principes, für die Bejtimmung der Letzteren 
jehlt uns vorläufig jeder Anhaltspunkt. Sicher aber find nicht 
nur ie, jondern das ganze Volf mit den gentes et cognationes 
hominum gemeint. 

Die halbnomadiſche Kultur bedingt e8 auch, daß fie nicht 
länger al® ein Jahr an einem Ort wohnen können. Denn die 
zahlreichen Heerden erichöpfen im Verlauf eines Jahres die von 
dem Wohnort aus erreichbaren Weidepläge völlig. Dann müſſen 
eben andere Weidepläge aufgejucht werden, und der geringfügige 
Aderbau muß den Standort des Hauptbetriebes ebenjo folgen, 
wie auch die Wohnfige verlegt werden. Der Umftand, daß die 
Niederlaffung an einem Ort gerade ein Jahr dauerte, hängt wohl 
mit dem Aderbau zujammen. Aber ficher wurde der alljährliche 
Wechſel des Wohnortes durch die Ernährungsverhältniffe des 
Viehes veranlaßt. Cäſar, der mannigfaltige, jhon von Hilde: 
brand zurücdgewiefene Gründe für das ganze, ihm räthjelhaft 
erjcheinende Verfahren vorbringt, jagt, die magistratus ac prin- 
cipes hätten die Weidegebiete angewiejen und auch zum alljähr- 
lichen Wechjel den Befehl gegeben. Eicher haben die reichiten 
und angejehenften Sippegenofjen eines Stanımes, die ja auch 
die größten Interefjenten waren, einen bejtimmenden Einfluß auf 
die Dauer der Niederlaffung und die Zumeilung des Landes an 
die einzelnen Sippen gehabt und ſich unter einander über alle 
dabei auftauchenden Tragen verjtändigt. 

Aber Cäſar betont den Zwang, den fie auf ihre Volks— 
genofjen ausübten, und das Planvolle in der ganzen Organi- 


Die wirtbichaftlihe Kultur der Deutichen zur Zeit Cäſar's. 63 


tation entichieden zu ftarf, und es ift Elar, weshalb er in dieſe 
Übertreibung verfällt. Er fann fich die ihm troß aller Gründe 
völlig widerjinnig vorfommende Ordnung nur als durch äußeren 
Zwang entitanden und durch äußeren Zwang aufrecht erhalten 
denfen. Hildebrand, der aus anderen Gründen derjelben Anficht 
it, leitet daraus wieder einen weiteren Grund für die joziale 
Unterordnung der gentes et cognationes unter dic magistratus 
et principes ab. Wie mir jcheint, entjpricht der Bericht des 
Säjar aus den angeführten Gründen gerade hier wicht ganz der 
Wirflichfeit, und damit fallen auch alle daran gefnüpften Folge: 
rungen. Ein viel mächtigerer Zwang, als ihn magistratus 
und principes je hätten ausüben fünnen, trieb die Germanen 
alljährlich dazu, ihre Wohnfige zu wechjeln, nämlich der Zwang 
der uralten Gewohnheit und der wirthſchaftlichen Nothivendigfeit. 

Auch die Erklärung, die Hildebrand für den gemeinjamen Befit 
und die gemeinfame Bewirthichaftung des Landes durd) die gentes 
ac cognationes gibt, iſt wenig befriedigend. Er meint, daß fleine 
Grundſtücke fih nicht jo leicht wie Heerden theilen laffen, und 
daß man aus diefem Grunde und außerdem wegen der furzen 
Dauer der Nutzung auf die Theilung verzichtet hätte. Auch hier 
gebt er wieder vom Aderbau als der vorherrichenden Benutzungs⸗ 
art des rundes und Bodens aus und macht fich jo das Ber- 
ſtändnis der gemeinjamen Wirthichaft und des gemeinjamen Be 
ſitzes unmöglid). 

Nimmt man dagegen die Viehzucht zur Vorausjegung, fo 
erflärt fich die Gemeinjamfeit von jelbit. Sehen wir zunädjit, 
was Cäfar darüber jagt. Sicher iſt, daß die einzigen Nechts- 
jubjefte in Bezug auf Grund und Boden die Sippen oder deren 
Untertbheilungen, die Zagergenofjenfchaften, waren!). Der Einzelne 





1) Hildebrand leugnet diefe Eigenfchaft der Sippe, und zwar aus zwei 
Gründen. Erſtens glaubt er, daß die Germanen zur Zeit Cäſar's überhaupt 
noch feine iura in re am Grund und Boden gehabt hätten. Allein ich Halte 
es für undenkbar, daß ein herrenlojes Gebiet dauernd oder aud) nur vorüber = 
gehend genugt oder beberricht wird, ohne daß ſolche dingliche Rechte, wenn 
auh nur vorübergehend, entitehen. Allerdings braucden dieſe Rechte nidıt 
gerade Eigentdum zu fein. Auch das jtaatsbürgerliche Wohnredht, dem Hilde⸗ 


64 W. Wittich, 


bat weder Grundeigentfum, noch einen thatſächlich abge 
grenzten Befig (.. . neque quisquam agri modum certum 
aut fines habet proprios ..., privati ac separati agri apud 
eos nihil est... ... Daraus folgt nun keineswegs eine gemeins 
ſame Wirthſchaft. Jeder Sippengenoffe fann für fein auf ber 
gemeinfamen Weide mweidendes Vieh einen eigenen Hirten halten. 
Es iſt aber auch denkbar, daß gewiſſe Anjtalten, wie 3. B. Die 
Hut, gemeinfam waren. Jedoch fommt e8 darauf wenig an. 
Sicher it, daß die Viehzucht jede Theilung oder innere Ab- 
grenzung des der Sippe zugemiejenen Weidegebieted verbot. Wie 
ſtand e8 nun mit dem Aderland? Zunächſt muß wieder betont 
werden, daß es wirthichaftlid) und räumlich gegenüber dem Weide: 
gebiet feine Bedeutung hatte. Es kam bei dem Aderbau nicht 
auf das Land, jondern auf die Arbeitskraft an. Wer von den 
Volksgenoſſen ſich der harten Arbeit des Aderbaues unterzog, 
hatte auch das Recht auf den Ertrag. Über die Wohlhabenden 
batten feine Beranlaffung dazu, dieje Arbeit auf fich zu nehmen, 
und die Ärmeren konnten nicht ohne fremde Beihülfe fich dem 
Landbau widmen. So fam c8, daß der Aderbau von Unfreien 
und Freien nur im Dienft und Auftrag der Reichen, der großen 
Heerdenbefiger, betrieben wurde. Das Maß de zum Aderbau 
in Anfpruch genommenen Landes ergab fich aus der Zahl der 
den großen Unternehmern zur Berfügung ftehenden Arbeitskräfte. 
Sicher fam es den der Weide gewidmeten Landflächen gegenüber 


brand die Nugungsbefugnis der Germanen am Grund und Boden vergleicht, 
entfpringt aus einem dinglichen Recht, allerding® nicht der privaten, ſondern 
der Öffentlichen Rechtsſphäre, nämlich aus der Gebietshoheit. 


Ein weiteres Argument Hildebrand’3 gegen dad Recht der Sippe auf 
da ihr zugemwiefene Gebiet bildet feine Annahme, dab es feine Geſammt⸗ 
heiten im Sinne des Rechts bei den Germanen gegeben habe. Damit wäre 
denn auc jedes Hecht einer Geſammtheit auf ein beftimmtes Gebiet aus⸗ 
geſchloſſen geweſen. Uber m. E. bildete gerade die Sippe eine jolche rechts 
lihe Gejammtheit. Denn Hildebrand ſelbſt gibt den rechtlihen Zufammens 
bang zwiihen den einzelnen Sippegenofien zu (S. 72). Es iſt nun nidt 
abzujehen, weshalb man den ausdrüdlihen Angaben Cäſar's, der die Sippen 
ala Rechtsſubjette des Grund und Bodens bezeidynet, feinen Glauben 
ſchenken follte. 





66 W. Wittich, 


wirthichaftlihen Fortſchrit, und als folder war er das 
Werk einzelner Unternehmer und der von ihnen abhängigen 
Arbeiter. 

Faſſen wir unfer Urtheil über die Imititutionen der Ger- 
manen zur Zeit Cäſar's nod) einmal kurz zujammen. Sie bes 
ruhten auf der wirthichaftlichen Kultur des Halbnomadentyumsg, 
d. h. auf einer wirthichaftlicden Kulturſtufe, auf der die Vieh: 
zucht noch die Hauptnahrungsquelle des Volfes bildete, der Ader- 
bau dagegen erit auffam. Infolge diefer wirthichaftlihen Vor: 
ausſetzungen fand ein öfterer Wechjel der Anfiedlungen und 
Mohnpläge ftatt. Die zufammenwohnenden Gejchlechtögenojien 
bejaßen ihre Ländereien gemeinjchaftli” und ungetheilt. Sie 
benugten diejelben zum größten Theil ald Viehweide, nur ein 
verſchwindender Bruchtheil diente ihnen als Aderland. Eine ftaat- 
lihe Organifation des Volkes beftand, wenigitend im Frieden, 
noch nicht. Die Gejchlechtöverbände, die Sippen, waren die ein= 
zigen Organijationen der Völferjchaft, die nur in Kriegszeiten 
gemeinjame Organe hatte. 

Die von Cäſar ald magistratus ac principes bezeichneten 
Perſonen waren gewöhnlich) feine mit einem imperium aus 
geitattete Beamte, jondern die angejehenften und reichiten Mit- 
glieder der einzelnen Sippen, die vermöge ihres Reichthums, 
ihrer fozialen Stellung und ihrer perjönlichen Eigenſchaften einen 
großen Einfluß ausübten und in allen wichtigen Angelegenheiten 
den Ausichlag gaben. Bon ihnen waren auch die verarmten 
Geſchlechtsgenoſſen jozial und wirthichaftlich abhängig, da gerade 
diefe neben Unfreien den Aderbau in ihrem Auftrag und mit ihrer 
Unterftügung betrieben. Der Betrieb des Aderbaues durch ver- 
armte Gejchlechtsgenofjen im Dienjt der reichen Heerdenbeſitzer 
wird von Cäſar nicht ausdrüdlich erwähnt. Jedoch ift man 
berechtigt, Diele bei anderen auf der Kulturftufe des Halbnomaden- 
thums ftehenden Völkern beobachtete Einrichtung auch bei den 
Germanen vorauszujegen; denn man fann fich ſchwer vorftellen, 
wie der Übergang von der Viehzucht zum Aderbau fi) in anderer 
Weile hätte vollziehen fünnen, und außerdem erklären ſich Die 
jpäteren Zuſtände, bejonders die zahlreichen Abhängigfeitsverhält- 


Die wirtbichaftliche Kultur der Deutihen zur Zeit Cäſar's. 67 


niffe, die wir bei den deutichen Stämmen finden, unter diefer 
Annahme am beiten. 

Wir wollen den Unterjuchungen Hildebrand's nicht weiter 
im einzelnen nachgehen. So verlodend es auch ijt, jeine geift- 
reichen Interpretationen berühmter Stellen in der Germania 
und befannten Urkunden zu beiprechen, jo würde doch eine ein- 
gehende Auseinanderjegung mit jeinen Anfichten, und nur dieſe 
wäre wirklich) fruchtbar, den Rahmen diejer Betrachtungen über: 
jchreiten. 

Trog mancher Widerſprüche in Einzelheiten können wir die 
Hauptrejultate feiner Unterjuchungen acceptiren. Als wichtigftes 
Ergebnis feiner Nachforſchungen ericheint die Zurüdweilung der 
herrichenden Anſicht, nach der die Hauptmafje des Wolfe bei 
den Germanen aus freien bäuerlichen Örundeigenthümern be- 
itanden haben ſoll (vgl. ©. 125 u. 142). Die Klaſſe der Bauern 
jegte fi) in der Hauptſache aus hörigen und freien Kolonen 
zujammen. ©rundeigenthümer dagegen waren nicht die Bauern, 
jondern die Grundherren, die von den Abgaben der abhängigen 
Bauern lebten. 

Die Methode Hildebrand’3 Hat fich aljo für die Erfenntnig 
der Entwicklungsgeſchichte menjchlicher Einrichtungen jehr ergiebig 
gezeigt. Zwar leiftet fie nicht das, was Hildebrand von ihr 
erwartet. Die wirthichaftlichen Kulturftufen können nicht allein 
als Grundlage und Syſtem für eine allgemeine Entwidlungs- 
geichichte des Rechtes und der Sitte dienen, weil Recht und Sitte 
der verjchiedenen Völker nicht durch die wirthichaftliche Kultur 
allein wejentlich bedingt find. Aber für das große Gebiet der 
durch wirthichaftlihe Kultur bedingten Inititutionen iſt jie von 
der höchſten Wichtigkeit. Alle diejenigen, die fi) mit der Ent: 
widlungsgeichichte der menjchlichen Wirthichaft beichäftigen, werden 
Hildebrand für die Eröffnung neuer Gefichtspunfte lebhaften 
Dank willen. 


n5® 


Kiteraturberidt. 


Naturvölker und Kulturvölfer. Ein Beitrag zur Sozialpfycdhologie von 
Alfred Vierkandt. Leipzig, Dunder & Humblot. 1896. XI, 497 ©. 


Bon den Gedankenkreiſen Wundt's und Ratzel's ausgehend, bietet 
das vorliegende Buch, das Werk eines jugendlich elaftifchen, edlen und 
feinen Geiſtes, eine ſtreng ſyſtematiſche Unterſuchung der pſychologiſchen 
Grundlagen der verſchiedenen Stufen der menſchlichen Kultur. Der 
Vf. iſt überzeugt von der Geſetzmäßigkeit alles hiſtoriſchen Geſchehens 
und er gliedert es durchweg ein in feſte, mit großer Schärfe der 
Diſtinktion durchgeführte Begriffe. Aber ſo weit geht ſein Kau— 
ſalitätsdrang einerſeits und fein esprit à systeme andrerſeits nicht, 
daß er, ſchnell fertig mit der Welt, die Thatſachen einſchnürte im 
einige wenige enge Formeln. Sie finden reihlid Pla in feinem 
Bau, und wo er ihnen zu nahe tritt, thut er es mehr aus Unkenntnis, 
denn aus doftrinärer Voreingenommenheit. Ziefere Studien auf dem 
Gebiete der eigentlich geſchichtlichen Welt werden ihm, der von philo- 
ſophiſchen Snterefjen und anthropo-geugraphifdden Studien ausgegangen 
ift, zweifello8 noch Vieles in ein anderes Licht rüden. Zwei Seelen 
wohnen, wie uns fcheint, in feiner Brujt. Er ift theoretiich Voſitiviſt, 
er kritifirt auf's jchärfite die in der Gejchichtichreibung, wie er meint, 
bisher vorherrichende „normative“ Betrachtungsweiſe, die, den höchſten 
idealen Werthen einfeitig zugewandt, die Thatfachen gleichſam in ihrem 
Schwunge mit fortreige und die fittliche Natur des Individuums 
wie der Gefellichaft mit einer faljchen Verklärung umgebe. Aber er 
ſieht doch fchlieglicy in diefen idealen Normen das eigentlihe Weſen 
der Vollfultur. Sind fie auch thatſächlich, wie er meint, nur „ein 
feiner Haud, der über den Dingen liegt“, jo geht es doch auch aus 
jeiner Unterſuchung überwältigend hervor, wie gewaltig fie und die 





70 Literaturbericht. 


entwickeln. Ihr volles Licht erhalten dieſe ſittlichen Grundlagen der 
Vollkultur erſt, wenn man ſie vergleicht mit der Denkweiſe der Halb- 
tultur, der Zwiſchenſtufe zwiſchen Natur: und Kulturvöllern, deren 
Übgrenzung und Bergliederung ein ganz beſonderes Verdienſt des 
Buches ift. Er rechnet zu ihr u. a. die femitifhen und mongoliſchen 
Kulturen und die der Inder und findet für fie charakteriftifch einer- 
feit3 den großartigen Dualidmus ihrer Religionen, der fie don den 
in und mit der Natur verwacjjenen Naturvölfern treunt, den Riß 
zwiichen der allmächtigen Gottheit und dem werthlojen und nichtigen 
Individuum (politifch entiprechend der Form der Despotie), andrer- 
jeit3 aber den Mangel innerer fittliher Werthe, der fie von der 
Bollkultur trennt, — ihre Gottheiten find in eriter Linie dynamisch, 
exit in zweiter Linie ethiih. Das Judenthum that zwar den widh- 
tigen Schritt vorwärts, daß es den Menſchen nicht nur der Gottheit, 
fondern auch der Natur gegenüberftellte, aber es verjagte für eine 
innerlihere Bejtimmung des Verhältniſſes von Gott und Menſch. 
Jeſaias und Seremia blieben unverjtanden von ihrer Zeit, und erit 
das Chriſtenthum erjegte die Idee der Gottesknechtſchaft durch die 
der Gottestindfchaft. Kennzeichen der Vollkultur ijt ed, daß fich die 
jittliden Kräfte der Wirklichkeit und des Lebens bemächtigen, daß die 
Schwungkraft idealer Gejinnung, die Überzeugung von dem unbedingten 
Mehrwerth der geiitigen Elemente hinausführt über den todten Punkt, 
den der Fatalismus und die Baflivität der Halbfultur nit zu über- 
winden vermag. Der Menſch der Vollkultur nimmt, derart vorwärts 
getrieben, au den Kampf mit den jpröden Realitäten auf, in der 
Technik wie in der Wiffenjchaft, während das geiftige Leben der Halb- 
fultur (charafteriftiich 3. B. bei den Juden) vorwiegend die formalen 
Wiſſenſchaften pflegt. Die moderne Technik Schafft nun gleichjam eine 
zweite fünftlihe Natur, deren Übermacht das Denken fo niederdrüden 
fann, daß eine Art NRüdfall in die Halbkultur erfolgt, daß deren 
peſſimiſtiſche Anficht von der Werthloſigkeit des Individuums wieder 
auflebt. Ach finde, der Vf. hat ſich ſelbſt von diefer peflimiftischen 
Anſicht an einigen Stellen (3. B. ©. 447) nicht ganz freigehalten. 
— Bolfultur in ihrem eigentlichen, jittlichen Kerne iſt überhaupt 
nicht8 Fertiged, fondern nur etivad Werdended und Ningendes, fort: 
während niedergezogen und dabei in ſich felbit vielfach gebrochen. 
Duantitativ überwiegen auch in der Bollfultur die unmwillfürlichen 
Bewußtjeinsvorgänge bei weiten die willfürlichen; ja, die Vollkultur 
fügt zu der primären Schicht des Unwillfürlien auch noch eine 


Geſchichtsphiloſophie. 71 


ſekundäre, entſtanden durch Mechaniſirung urſprünglich willkürlicher 
Bewußtſeinsvorgänge (mechaniſcher Betrieb des höheren Schulweſens, 
Bureaukratie u. ſ. w.). Sie ſchafft nicht nur, ſie zerſtört auch, — 
eine gar zu ſtarke Reduktion des Unwillkürlichen wird ihr ſelbſt wieder 
gefährlich; bei einer zu weit getriebenen Rationaliſirung des Lebens 
verliſcht die Glut des Idealismus und vertrocknet die Zeugungskraft 
der Volksſeele. Eine geradezu pathologiſche Erſcheinung iſt das 
ſtädtiſche Proletariat, welches den mechaniſchen Apparat der Vollkultur 
übernommen hat, ohne deren tieferen ſittlichen Gehalt zu erfaſſen. 
„Bor einen Herzensrichter, der nur auf die innere Geſinnung ſieht, 
würde da8 Gebäude der Vollkultur alg aus Trug und Blendwerk 
erſchaffen ſcheinen“ (S. 448.) Aber jene Verbindung von Refignation 
und Thatfraft, die der Vf. für den Menfchen der Bollkultur gegen 
über der Heiterfeit der Naturvölfer jo charakteriſtiſch findet, durchweht 
jein Buch bis zulegt. „Die Stimmung, in der die Menjchheit als 
Ganzes den Aufgaben der Kultur gegenüberjteht, ift wohl theilmeife 
die des Sieges, theilweife aber auch die des Kampfes mit ungewiſſem 
Ausgang, eine kriegeriſche Stimmung, wie fie es einjt in der duali- 
ſtiſchen verjiihen Religion war.“ 

Der Bf. iſt der individualijtiichen Auffaſſungsweiſe abhold, aber 
es ift ein Zerrbild, wenn er jagt, daß fie von dem äußerſt fompli=- 
zirten Kauſalnexus immer nur die eine Seite, nämlid) das zmeite 
Stadium der Vorgänge, die Rückwirkung de3 Einzelnen auf die Ge- 
lammtheit in’3 Auge fafle (S. 359). Er feunt offenbar die wifjen- 
ihaftlichen Leiſtungen der individualijtiichen Richtung zu wenig, ex 
wird auch Ranke, theilweife verführt, wie e3 fcheint, von Lamprecht, 
nit geredt. Bon Ranke und den politifchen Hijtorifern hätte er 
auch lernen fünnen, was der Staat für die Kultur bedeutet. Die 
geringe Berüdjichtigung der inneren Staatlichen Entwicklungen in ihrer 
Wechſelwirkung mit den fozialpfychologiichen Grundlagen iſt wohl der 
Hauptfehler des Werkes. Nur durch ihn it es erflärlich, daß er die 
Römer zu den Völkern der Halbkultur rechnet wegen ihres Mangels 
an fittlihen Werthen (S. 327), als ob nicht die Staatdgejinnung der 
Römer eine jo echte Blüte der Vollfultur wäre, wie nur irgend ein 
anderer der fittlihen Werthe der übrigen ariſchen Kulturvölker. 

Rühmenswerth ijt dafür wieder andrerjeits Die gegenüber den 
legten faufalen Fragen der Ntulturentwidiung beobachtete vorfichtige 
Zurückhaltung. Das Problem, warum fo wenig Bölfer dur) das 
Stadium der Halbkultur hindurd ſich zur Höhe der Vollkultur 


12 Riteraturberidht. 


erhoben haben, wird von ihm mit großer Zartheit behandelt. Er neigt 
dazu, eine höhere Rafjenbegabung der Arier und Semiten zufammen 
und der Arier wieder gegenüber den Semiten anzunehmen. Bei dem 
im hellen Lichte der Geſchichte vollzogenen Übergange von Halbkultur 
zur Volllultur an der Schwelle von Mittelalter und Neuzeit aber 
bejcheidet er fi, zu jagen, daß die wirthichaftlihe Ummwälzung nur 
ein Anreiz zur Auslöfung des inneren Umfchwunged geweien fein 
fönne, daß aber auch der religiöfe Vorgang „angelichts feiner drän⸗ 
genden Innerlichkeit wohl mehr die Bedeutung eined Symptond als 
die einer Uriadhe habe“ (S. 333). Keime zur VBollfultur, meint er, 
müflen jchon früher da geweſen fein und müſſen nad) dem Geſetz 
der Stetigfeit überhaupt auf allen tieferen Stufen voraudgefeßt werden. 
Nur daß fie eben auch fo verfümmern können, daß eine Weiter- 
entwidlung unmöglid) wird. Das jcheint und durchaus plaufibel. Wir 
haben ſchon oben angedeutet, daß wir diefe Keime zur Erklärung der 
Entitehung der Sitte fogar noch weiter zurüdverfolgen möchten, als 
es der Bf. thut. 

Wir haben Hier nur eine Auswahl der widhtigiten Gedanfen des 
Buches geben fönnen. Pielleicht jieht man ſchon aus ihr, daß es ein 
in voller Kraft emporjtrebender Denker gejchrieben hat, — noch nicht 
ganz in ſich ausgeglichen und widerſpruchslos, aber e3 find Wider- 
jprücdhe, über die man ſich freut, weil fie auf ein nad allen Seiten 
offened Auge deuten und eine jpätere harmoniſche Syntheſe beitimmt 
erhoffen lafjen. Fr. Meinecke. 


Manuel de bibliographie historique I. Instruments biblio- 
graphiques. Par Ch. V. Langlois. Paris, Hachette. 1896. 198 ©. 
3,75 fr. 

Aus Vorlefungen entitanden, die der Vf. als Vertreter der hi⸗ 
ſtoriſchen Hilfswiffenichaften in Paris zu halten Hat, ift dieſes Hand» 
buch auch unſern jungen Hiftorifern und angehenden Bibliothefaren 
warm zu enipfehlen. ES ift ohne jede franzöjiiche Einjeitigkeit zu— 
jammengejtellt, im Gegentheil ftillfchiveigend liegt ihm der Gedanke 
des internationalen Charafterd aller Wiſſenſchaft zu Grunde Mit 
Genugthuung wird man die Anerkennung lejen, die gerade deutjchen, 
vielfah Mujter gebenden, bibliographiichen Arbeiten gejpendet wird. 
Und neben den Jüngern der Wiſſenſchaft werden auch Andere von 
der auögebreiteten und fritifch = fundamentirten Gelehrjamteit des 
Büchleins vielfältigen Nupen ziehen fünnen. Darüber hinaus gibt 





74 Riteraturberidht. 


Abgeſehen von den Gründen perfönlicher Art, deren die Vorrede 
Erwähnung thut, iſt daS Anſchwellen des Umfanges diejes Wertes 
und damit Die Verzögerung feiner Beendigung aud durch den Ums 
ftand bedingt, daß der Bf. im 1. Bande ſich im weſentlichen nur 
mit Moverd auseinanderzufepen hatte, während er in dem vor—⸗ 
liegenden, je näher er dem Zeitpunkt des Konflifte® mit Rom kam, 
defto eingehendere und umfafjendere Rüdjicht nicht nur auf die Da= 
itellungen der römischen Geſchichte, jondern auch auf die überaus 
zahlreihen und in ihren Ergebniffen jo grundverfchiedenen quellen: 
fritiichen Unterfudhungen zu nehmen Hatte, in Denen wiederum 
Polybios, Livius, Appian und Dio Caſſius die wichtigften Stellen 
einnehmen. Bon D.’S erfolgreicher Beihäftigung mit diefen Problemen 
hatten ſchon einige in der Zwiſchenzeit erjchienene Abhandlungen 
Zeugnis gegeben, und feine jeßige zufammenfafjende Darlegung be= 
zeichnet meined Erachtens einen großen Fortſchritt auf einem viel- 
behandelten Gebiete. Er murde erzielt durch da3 vorjichtige alljeitig 
erwägende Verfahren des Bi. und durd die richtige Vereinigung 
der inhaltlichen Kritik der erhaltenen Berichte mit der Unterjuchung 
ihrer gegenjeitigen Beziehungen und der benubten Vorlagen. So 
gelangt M. zu einer volllommen zutreffenden Verwerthung des bei 
Polybios Gebotenen, indem er zwiſchen dem ihm vorliegenden Material 
und demjenigen, was Polybios daraus gemadıt Hat, fcharf unter: 
ſcheidet. In dem Ergebnig, daß Livius bereit3 in der dritten Delade 
Polybios benüßt habe, jtimme id; dem Bf. auf Grund felbit an- 
geitellter Unterfuchungen vollftändig bei. Minder reich an gelicherten 
Ergebnifjen iſt, was M. in dem erften Theile auf Grund gleich jorg- 
ſamer Forſchung über die Staatdverfafjung von Karthago ermittelt 
hat; dies ift in der ebenfo trümmerhaften als ihrem Anhalt nad) 
vielfach räthfelhaften Überlieferung begründet. Der Wunſch, au dem 
geringen Material möglichft viel Thatfächliches zu ermitteln, hat hier 
den Bf. meines Erachtens zu nicht bewicjenen Aufitellungen geführt, 
zu denen id) 3.8. dag ©. 37 ff. über die Gefchlechter Bemerfte rechne. 

Ein ähnliches Verhängnis, wie über der verfafjungsgeichichtlichen 
Tradition, waltet iiber der topographiſchen und inſchriftlichen Forichung 
auf dem Boden des alten Karthagv. Die unzureichenden Belagerungs:- 
ſchilderungen der antifen Schrijtiteller erfahren von dieſer Seite her 
nur geringe Veranſchaulichung, da das Terrain fi) unter dem Ein- 
fluß der Meeresbrandung und von Anfchwennmungen fehr weſentlich 
verändert hat, die älteren, an Ort und Stelle gemachten Beobachtungen 


Ulte Geſchichte. 75 


über Funde von Mauerreſten u. dgl. find vielfad ganz unzuverläfjig, 
und endlih hat eine weitgehende Zeritörung der einjt vorhandenen 
Keite noch das ihre gethan, um die Löſung topographifcher Aufgaben 
zu erfchweren. Es ift zu bedauern, daß dem Verfaſſer dieſes höchſt 
werthvollen Überblides der bisher gemachten Funde nicht gegönnt 
war, die Nuinenitätte ſelbſt zu befuchen; feiner genauen Sachkenntnis 
und ruhigen allfeitigen Erwägung würde e8 vielleicht doch gelungen 
jein, nod) einen oder den andern dunklen PBunft aufzuhellen. Die 
Infchriften, die M. gleichfalls herangezogen hat, ergeben fo gut wie 
gar nichts, weder für die Topographie, noch für die Geſchichte. So 
bedauerlich dieſer Mangel einer einheimifchen monumentalen Über- 
lieferung ift, fo wenig kann er bei einem Bolfe überraſchen, deſſen 
wenige Geſchichtſchreiber durchweg Griechen geweſen jind. 

Vieles in der Geſchichte Karthagos und in feiner Verfaſſung 
Innen wir nur durch Analogien und einigermaßen anfhaulic und 
verſtändlich machen, der Bf. nimmt daher in feiner Darſtellung mit 
Reht wiederholt auf engliihe und venetianiſche Verhältniſſe oder 
aud auf die deutichen Hanſeſtädte Bezug. 

Die Kriegführung ſowohl der Römer al3 der Karthager auf 

Sicilien wird von M. öfters getadelt, da jie jich vielfach als er- 
gebnislos erweiſt. Es ift mir zweifelhaft, ob wir zu ſolchen Anklagen 
berechtigt jind. Die Kampfweife jowohl Roms als Karthagos im 
eriten punifchen Kriege ijt die im Altertum mit wenig Ausnahmen 
allgemein übliche, auf die Ermattung des Gegners berechnete, worauf 
ad ©. 239 ganz richtig aufmerkſam gemacht wird. Wie die Griechen 
im peloponnefifhen Krieg, jo haben auch Römer und Starthager in 
dem Kampf um Sicilien die Kriegführung im großen Stile erjt lernen 
Müffen, und hier wie dort haben ſich die bisherigen, aus verhältnisg- 
mäßig Kleinen Verhältniffen abgeleiteten Grundſätze des Kampfes erſt 
AUmähli al3 unzureihend für die Löſung größerer Aufgaben er: 
Tiefen. Die einzelnen Führer oder die friegjührenden Staaten dürfen 
Darum, weil jie erjt allmählih den neuen Aufgaben gerecht wurden, 
Nicht getadelt werden, al3 ob es ſich um Verjtöße gegen abjolut jeit- 
Vtehende Grundſätze handeln würde. 

Diefer Wandel in der Theorie der Kriegführung fpielt au in 
dem Gegenfaß der politiſchen Parteien eine Rolle, und da id) der 
Anfiht bin, daß die Barciden in Spanien den Nlrieg gegen Rom im 
großen Stile vorbereitet haben, und insbefondere Hannibal in der 
völligen Niederwerfung ded Gegners und der energijchiten Offenſive 


76 Literaturbericht. 


ſeine Aufgabe als Stratege erkannt hat, fann ich die Auffaſſung M.'s 
über ſein Vorgehen gegen Sagunt nicht theilen. Ich glaube, daß 
Hannibal den Krieg gegen Rom gewollt und abſichtlich herbei— 
geführt hat. 

Die Vorzüge dieſes Werkes find jo mannigfah, daß man auch 
eine mit jeiner Gründlichfeit und der Allfeitigfeit der Erwägungen 
zufammenhängende Schwäche minder ſchwer empfindet: die Breite, in 
der fih der Bf. bisweilen gehen läßt, und die gelegentlich bi zur 
Spipfindigfeit getriebene Luſt, eine zweifelhafte Sache von allen 
Seiten in’8 Auge zu fafjen, wozu ich befonderd die meined Erachtens 
überfeinen und daher unbeweifenden Erwägungen rechne, die über den 
diplomatifchen Verkehr zwiſchen ©. Claudius und dem farthagifchen 
Befehlöhaber in Mefjana angeftellt werden. Sie erinnern falt an 
die Reden, die M. Dunder in den Bänden neuer Yolge feiner Ge- 
ihichte des Alterthums den Themiftofle u. U. halten läßt. 

Die Anmerkungen mit den Stellen und Literaturnachweifen, 
fowie den überaus maßvollen polemifchen Auseinanderjegungen bat 
M., von dem darftellenden Texte getrennt, an den Schluß ded Bandes 
verwiefen, der al3 eine willfonmene Gabe um der reichen Belehrung 
willen, die er enthält, gewiß alljeit$ begrüßt wird. 

Graz. Adolf Bauer. 


Zwölf Geftalten der Glanzzeit Athens im Zuſammenhange der Kultur⸗ 
entwidlung. Bon Albredt Stauffer. Münden u. Leipzig, R. Oldenbourg. 
1896. 5956 7 M. 

Der Bf. vorliegenden Werkes will im allgemeinen, univerfal- 
hiftoriihen Zufammenhange die politifhe und fulturelle Entwidelung 
Athens in ihren marfanteften Vertretern zur Daritellung bringen. 
Abgeſehen von der Einleitung, in der eine allgemeine Überfiht über 
die griehiiche Entwidelung gegeben wird, zerfällt dad Buch in 3 Haupt 
abſchnitte: 1. daS Lebensalter des Sieged, repräfentirt durch Kimon, 
Polygnot und Äfchylus, 2. das Lebensalter der Höhe, vertreten durch 
Perikles, Pheidias, Sophofled und Herodot, 3. daS Lebendalter der 
Krife, das in Alfibiades, Ariftophanes, Euripides, Thukydides und 
Sufrates feine Nepräfentanten findet. Erfreulich ift das Beftreben 
des DVf., der meines Wiffens als Forſcher auf dem Gebiete der alten 
Geſchichte noch nicht aufgetreten ijt, einerjeit3 fich mit voller Hin- 
gebung und Wärme in die von ihm dargeitellte Zeit und die al 
Nepräfentanten für diefelbe aufgefaßten Perjönlichkeiten zu verfenken, 





78 Literaturbericht. 


erheben, wohl auch für die Auffaſſung ſelbſt förderlich und klärend 
geweſen ſein; die Beurtheilung der politiſchen Thätigkeit des Perikles, 
den Vf. einerſeits vielleicht in eine zu ideale Höhe rückt, von dem er 
aber andrerſeits (S. 126 f.) jagt, daß er auf dem Gebiete der Ver⸗ 
fafjung nicht zu dem vollen Maße des Erreidhbaren, d. h. vor allem 
der Einjeßung einer oberiten Inſtanz gegenüber den Enticheidungen 
der Geſchwornen und den Beſchlüſſen der Volldverfammlungen, vor: 
zudringen vermocht babe, würde ji) doch anders geitalten, wenn das 
Weſen der attiichen Demokratie, wie fie fih in der Perikleifchen Zeit 
entwidelte, Elarer und deutlicher zum Ausdrud gebracht worden wäre. 
Ganz bejonderd möchte ich dieſen Einwand gegenüber den Daritel- 
lungen des „Lebendalterd der Kriſe“ geltend machen. Sch glaube, die 
Erörterungen würden bier noch etwas an Klarheit und Präzifion 
gewonnen Haben, wenn Bf. die große geiltige Beiwegung und Um— 
wälzung, die gegen Ende des 5. Jahrhunderts eintrat, als deren 
Hauptvertreter wir die Sophiiten zu bezeichnen pflegen, etwag mehr 
im Zufammenhange jlizzirt hätte; er würde dadurch aud) den Wicder- 
bolungen bei den einzelnen Bildern, die er gibt, wohl mehr ent- 
gangen fein. 

Am wenigiten bat mich nun in diefer Beziehung die Darjtellung 
der Wirkſamkeit des Sokrates befriedigt, fo jehr der Fleiß anzuerkennen 
it, mit dem der Bf. die einzelnen Züge aus der und befannten 
Litteratur zu einem Geſammtbilde zu vereinigen gejucht hat. 

Einerſeits habe ich die kritiſche Grundlage für die Refonjtrultion 
de3 DOriginalbildes ded Sokrates vermißt, andrerfeitd ein genauered 
Eingehen darauf, worin nun eigentlih das Wefentliche und Neue 
jeiner philoſophiſchen Methode felbft beftanden habe; was aber be— 
jonders hervorgehoben werden muß, it, daß Bf. doch wohl der Größe 
des hiſtoriſchen Problems, das in der Verurtheilung des Sokrates 
enthalten ift, nicht völlig gerecht geworden iſt, was um fo mehr zu 
bedauern iſt, da Vf. in diefer Verurtheilung den kritifchen Wende⸗ 
punft der athenifchen und hellenifchen Entwidlung ſieht. Gewiß iſt 
Sofrate8 der Märtyrer einer tieferen geijtigen nnd fittlihen Auf⸗ 
fafjung geworden; aber da die Glaubens und Lehrfreiheit dem antiken 
Staate im PBrincip unbefannt, feinem Wejen fremd war, jo hätte doch 
tiefer auf die Frage, in welchen Verhältnid die neue Philofophie zur 
griechiſchen Volksreligion ſtand, eingegangen, der Gegenſatz, der in ge- 
willen Sinne unjtreitig zwischen dieſer Vhilofophie und den Örundlagen 
der attiſchen Deinofratie beitand, Ichärfer hervorgehoben werden müſſen. 


Alte Geſchichte. 79 


Wenn ih nur nod zum Scluffe einige Wenige Hinzufügen 
darf, jo ſcheint mir Bf. den Alkibiades nach feiner Rückkehr zu ſehr 
als einen aufrichtigen Befehrten, im Lichte einer reinen Vaterlands⸗ 
liebe darzuitellen, bei Arijtophanes, deſſen Behandlung im übrigen 
ſehr leſenswerth ijt, zu fehr eine zujammenhängende Anjchauung, 
ein Idealbild des „ungebrocdhenen attifchen Weſens“ und eine daraus 
bervorgebende jyftematifche Abficht der Reform vorauszuſetzen. Zu 
weiteren Bemerfungen würden wohl auch noch andere Abjchnitte, 
z. B. der über Thufydides, Anlaß geben, doch gebietet der Mangel 
an Raum, hier abzubrechen. 

Gotha. J. Kaerst. 


Apollonios de Rhodes et Virgile. La Mythologie et les Dieux 
. dans les Argonautiques et dans l’Eneide. Par H. de la Ville de 
Mirmont. Paris, Hachette & Cie. 1894. 778 ©. 


H. de la Ville de Mirmont, der bereitd eine lÜberjegung 
der Argonautica des Apollonios von Rhodos veröffentlicht hat, 
ihentt und hier ein dicleibiged Bud (778 ©.!) über die „Mythologie 
und die Götter“ in Apolloniog’ Argonautica und in Virgil's Äneis. 
Für die Geſchichte der griediichen Religion (mann wird dag Wort 
Mythologie wenigitend aus gelehrten Unterſuchungen verſchwinden?) 
fommt bei den fleißigen Zufammenftellungen nicht daß mindeite heraus: 
jie fönnen nur als ein Beitrag zur Charafterijtif der beiden Dichter 
gelten, und es liegt aljo faum ein Grund vor, ſie in diefer Zeitjchrift 
zu beſprechen. Denn von hiftorifchen Gefichtspunften findet man 
feine Spur in dem ganzen Werke. Sofort dag erjte Kapitel, das 
Theogonie und Kosmologie behandelt, lehrt daS reihlid. Won den 
neueren Yorjchungen, don den Duellenunterfuhungen über Die 
Theogonieen hat der Bf. offenbar feine Kenntnis: er citirt Zeller's 
Geſchichte der Vhilofophie nach einer Überfegung aus dem Jahre 1877. 
Vie died eine Citat ſchon lehrt, hat das Bud, ein ſtark archaiſches 
Gepräge. Dean fann nur bedauern, daß foviel erniter Sammelfleiß, 
foviel warmes Intereſſe auf eine Arbeit verwandt iſt, die, in foldye 
Grenzen eingeengt und dabei jo weitichweifig angelegt, ergebnislos 
bleiben mußte. Weniger wäre ſehr viel mehr geweſen. Was nügen 
und die Zujammenjtellungen über die Götterthaten bei Apollonios 
und Birgit! Von einem innerlichen Verhältnis zu den Göttern, 
deren Eingreifen in die Geſchichte der Menſchen jie Ichildern, ift 
Apolloniod nody weiter entjernt als Birgil, deſſen Ddichterijche 


80 Literaturbericht. 


Geſtaltungskraft und deſſen Bedeutung der Vf. außerordentlich 
überſchätzt. Für den, welcher gelernt Hat, daß uns ſchon das ioniſche 
Epos eine Götterwelt en decadence darſtellt, und welcher weiß, 
wie dann der von den ionifhen Dichtern gefchaffene König der Götter, 
da8 Ideal eined Anakten der Heroenzeit, vielen echten Griechenherzen 
ferner fteht als die Gottheit manches Kleinen Kultus, die in einer 
dürftigen Kapelle, in einem einfamen Thal ein abgefchiedened, aber 
von ihren Frommen innig gepflegted Dajein friitet. der weiß aud), 
daß bei Apollonios und Virgil im weientlichen die Götter nur thun, 
was Jeder von ihnen feit der Blütezeit des ioniſchen Epos thun 
muß nad) dem Geſetz der ewigen Moira. Nicht weil Apollonios und 
Virgil Monotheiiten find, jpielt Zeus bei ihnen die große, vom Bf. 
auf fait 200 ©. bemefjene Rolle, jondern weil fie ihrem poetiſchen 
Vorbilde, dem Vater Homer folgen. Ich möchte alfo glauben, daß 
auch diejenigen, welche Apollonios und Virgil um ihrer felbit willen 
jtudiren und an ihnen Gefallen finden, aus diefem Buch nicht viel 
ded Neuen lernen werden 
Berlin. O. K. 


Geſchichte der Erziehung. Bon K. A. Schmid, fortgeführt von 
G. Schmid. 4. Band, Abth. 1. Stuttgart, Cotta's Nachf. 1896. 18 M. 

Die große, von dem unvergeßlichen K. A. Schmid begründete 
und von ſeinem Sohne G. Schmid in verdienſtlicher Mühewaltung 
fortgeführte Geſchichte der Erziehung ſchreitet langſam, aber ſtetig 
fort. Der vorliegende Band ſchildert die deutſche Bildungsarbeit 
während des Dreißigjährigen Krieges von Brügel, den norddeutſchen 
Pietismus von einem Ungenannten, den ſchwäbiſchen von G. Schmid 
und Gundert, den engliſchen Rationalismus von Schmid und Brügel 
und das franzöſiſche Bildungsweſen im 17. und 18. Jahrhundert von 
E. v. Sallwürk. Verfolgen wir die wichtigſten Erſcheinungen, ſo 
wird zuerſt die Schulreform Ernſt's von Gotha mit verdientem Nachs 
drud behandelt. Tie Gründlichfeit der Arbeit erhellt 3. B. aus der 
Anmerfung zu ©. 34 über den Methodus Reyher's und, was jehr zu 
Ihäßen, über die damaligen Schulbüder; exit die Neuzeit bat Die 
großen Berdienite dieſes Schulmannes anerfannt. Schon damals bes 
gegnen wir ©. 63 der Einrichtung einer Selefta über der Prima 
(vgl. über Halle S. 278), die fpäter durch Gleim's Stiftung auch dem 
Halberjtädter Gymnaſium gejchenft wurde, aber unter der Haft der 
Gegenwart und in ihrer Gier nad) raſchem Nuben gejchiwunden ift. 


Geſchichte der Pädagogik. 81 


An den frommen Herzog knüpft unmittelbar der große Seckendorff 
an, ein würdiges Bild des Einfluſſes, den ſo manche Staatsmänner 
Heiner Länder weit über deren Grenzen hinaus geübt haben. Das 
tragiihe Geſchick jeines Vaters ijt neuerdingd von R. Brode in den 
Jahrbb. der Erfurter Akademie 1896 Heft 22 ©. 113—155 muellen- 
mäßig geichildert. Es zeugt von der hohen Einſicht Seckendorff's, 
daB er auch die Erziehung des weiblichen Geſchlechts mit größerer 
Sorgfalt und doch in richtigen Grenzen fördern wollte; heute bildet 
man fich ein, dieſes Maß überjchreiten zu dürfen. Auch den Realien 
ſchenkte Sedendorff feine Theilnahme, nicht ohne Nachwirkung bei 
A. 9. Frande (S. 102). Die anonyme Darftellung des Halle'ſchen 
Pietismus zeigt großen Fleiß und meiſt richtiges Urtheil. Die Be— 
merfung S. 195: „Spener's Sohn ging übrigend von der Theologie 
zur Mathematik über, wurde 1710 Profeſſor in Halle, verfiel aber 
in tiefe Melancholie und fchied aus dem Amte 1718“ ſcheint auf einer 
Verwechſelung zu beruhen. Joh. Jak. Spener, der Sohn des großen 
Gottesgelehrten, war allerdings Mathematiker und als folher an der 
Halle'ſchen Nitterafademie tätig. von der er 1691 an die werdende 
Univerjität überging. Allein er ftarb ſchon in demfelben Jahre: vgl. 
dörjter, Überjiht der Geſch. d. Univ. zu Halle ©. 16; Editein, 
Ehronit der Friedrichs-Univ. S. 13; fo auch in den Alten. Sein Nach— 
ſolger auf dem mathematifchen Lehrituhl war Martin v. Oſtrowski, 
der aber 1692 nad Königsberg ging. Dann wurde das Zach neben 
er Durd den älteren Sperlette verjehen, bis es 1706 einen wür— 
digern Vertreter in Ehr. Wolff erhielt. Wie Spener, jo war aud 
Seckendorff, Flattich und die Schule von Port Royal gegen die Ver— 
wendung des Ehrgeizes bei der Erziehung; ebenſo ſpäter Böckh. Noch 
heut und immer gelten die Francke'ſchen Worte S. 216 von den drei 
hanptſachlichen Kindertugenden: Wahrhaftigkeit, Gehorſam und Fleiß. 
Die Verherrlichung der Fachklaſſen S. 249 wird heut wenig Zu— 
Hmmung finden; dieſe Einrichtung, welche noch im Anfang unſers 
Jahrhunderts an Berliner Gymnaſien beſtand, verträgt sich nicht 
mit dem Ziele einer harmonijchen Geijtesentwidlung, welche 3. A. Wolf 
und W. v. Humboldt ſchufen, nod auch mit der einheitlichen Ge— 
Kaltung des Lehrplans. Die Nachwirkung der Frande'ihen Pädu= 
gogik Hei Heder und ihre Umbildung durch H. U. Niemeyer wird 
hoffentlich fpäter gefchildert werden; der äſthetiſche und ſittliche 
ationalismus des Letztgenannten hat immerhin jeine Wurzel im 
ietismus. Sehr gelungen ift die Behandlung Bengel's durch 
dinoriſche geitſchrift R. 5. Bd. XLIII. 6 


82 Riteraturberidht. 


G. Sch., obſchon die Behauptung ©. 304, daß Bengel im Gegenjaß 
zu Francke geitanden, in diefer Kürze zu jchroff lautet. Den wiſſen⸗ 
ſchaftlichen, vielleicht aud, den ethifchen Mangel des Halle'ſchen Pie- 
tismus hat Bengel richtig beurtheilt; allein er befannte doc, erft in 
Halle eine febensvolle Glaubensgemeinde angefchaut zu haben, und 
umgefehrt mar srande dem Humanismus feineöweg3 fremd, wie enge 
auch manche feiner Unterrichtöregeln erfcheinen. Zreffend wird ©. 335 
auf eine beſtimmte Ähnlichkeit Flattich's mit Herbart, ebenfo S. 339 
auf den Unterfchied zwiſchen Beiden bingewiefen. Das ijt eben die 
von den Herbartianern nicht immer vermiedene Gefahr, daß die ftrenge 
Berwendung der Herbart’ichen Erfenntnigitufen zu einem Geiſteszwang 
ausartet, während jie nur ein Mittel neben dem individuellen Unters 
richte bilden ſollte. Lore, zu deilen Schilderung der Herausgeber 
eine lehrreiche Einleitung geliefert bat, jcheint mir ©. 367 an ſich 
überfhäßt zu fein; feine ftarfe Nachwirkung ift freilid) unleugbar. 
Er iſt klar wie alle Aufklärer, aber rein empirifch, nicht realiſtiſch, 
ohne Tiefe und Phantaſie, und treffend weiſt der Bf. ©. 397 Anm. 
auf jeinen und feiner Schule Grundirrthum Hin, der den Willen 
ſchlechthin von der BVerftandeserfenntni® abhängig madt. Petty's 
Bedeutung tritt erſt in der vorliegenden Darftellung ©. 343 ff. deut- 
lih hervor. Geiftvol und Har wird das franzöfiihe Bildungsweſen 
bis zur Revolution von Sallmürf ausgebreitet. Man fann jtreiten, 
ob Alles, was der verehrte Vf. beigebracht hat, für die nächſte Aufs 
gabe erforderlicd) war (die Aufzählung der verjchiedenen Liebeshändel 
der Frau dv. Waren3 hätten wir miflen können), aber in diefem Zus 
fanımenhange ijt daS Meifte werthvol. Gut wird ©.454 die Über: 
nahme des Öffentlichen Unterrichte in die Staatsverwaltung betont. 
Bu ©. 456 konnte erwähnt werden, daß PViger’3 Bud) de idiomatis 
Graecae dictionis dody nur durch Gottfr. Hermann’3 fcharffinnige 
Anmerfungen wiederbelebt, und daß Maimburg fpäter wegen feiner 
gallitanifhen Gefinnung zum Austritt aus der Geſellſchaft Jeſu ge- 
nöthigt wurde; vgl. Reuſch, Beiträge zur Geſchichte des Sefuiten- 
ordend ©. 73. Sehr zmedmäßig werden ©. 491 f. die Lehrpläne 
der Dratorianer, Jouvancy's und Rollin’8 tabellarifch zufammengeitellt 
und ©. 518 Anm. die Berwandtichaft Fenelon’3 mit den Rationalis⸗ 
mus aufgededt; feine Anfichten über Blut und Gehirn ald die Werk— 
itätten geiftiger Vorgänge würde man heute materialijtiih nennen. 
Wie gründlih und im Ganzen beifallswürdig auch Rouſſeau's Ent- 
widlung und Schriftitellerei dargeftellt wird, fo läßt jich doch am 


Gefchichte der Pädagogik. 83 


Schluß ein bündiged Urtheil über dad Bleibende und das Irrige in 
ihm vermifen. Zu abhängig von feinen Leidenfchaften, zu befangen 
in der Endlichkeit, zu baar der geichichtlichen Auffaffung, liebte er die 
Menfchheit weder fo lauter noch ſo hingebend, um Erziehungsregeln 
von reinem Werthe jchaffen zu können. 

Darf ih mir zum Schluß eine befcheidene Warnung erlauben, 
jo jcheint mir, daß die zunehmende Ausführlichfeit des Geſammtwerks, 
welche ja bei der Vielheit der Mitarbeiter erklärlich ift, die Schärfe 
und Bündigkeit der Darftellung und fomit auch die Überfichtlichkeit 
beeinträchtigt. Died hat ſchon hin und wieder mehr zu jinnvollen 
Betrachtungen als zu abjchließenden Urtheilen geführt, die doch für 
die Leſerwelt unentbehrlich find. Die Gefahr liegt ja auf diejem 
Gebiete überhaupt nahe, daß aus einer Geſchichte der Erziehung eine 
Geſchichte der allgemeinen Geiftesbildung werde; ſchon der veremwigte 
Lor. Stein hat hierauf hingewiefen. Hier follte dies durch ſelbſt⸗ 
verleugnende Beſchränkung auf das eigentlih Pädagogiſche vermieden 
werden, wogegen den jeweiligen Schulzuftänden mehr nadjzugehen 
wäre. Die verjchiedenen Theorien nach Urjprung, Inhalt, Zuſammen⸗ 
bang bilden ja die Grundlage; dann gilt es aber, ihren Eınfluß auf 
die Schüler, deren Gedeihen noch von anderen Bedingungen abhängt, 
auf die Schulzucht, auf Beichaffenheit und Verbreitung der widtigiten 
Scdulbüder zu verfolgen. Des Pietiſten Joach. Lange medicina 
mentis wird ©. 301 gedacht; jeine vielaufgelegte lateinifhe Gram— 
matit finde ich nirgends erwähnt. Daß durch die Heranziehung des 
thatſächlichen Schullebend die Aufgabe erjchwert wird, ift unzmeifel- 
haft: die wichtigften Echulen find zu ſchildern, die anıtlihen Vor— 
Schriften und Urtheile zu durchforichen, auch der Stand des bürger: 
lihen und fittlihen Lebens in den einzelnen Zeiträumen mit Maß 
und Wahl zu vergleichen. Allein im Ganzen Halte ich dieſe Forderung 
für unerläßli, und in diefer Gegenitellung jcheint mir der vorliegende 
Band bei allem Reichthum feines Inhalts der Theorie zu viel und 
der Wirklichkeit zu wenig Raum verjtattet zu haben. 

W. Schrader. 


Geſchichte des deutihen Schulweſens im Umriß. Von €. Wohle. 
Sonderabdruck aus Rein's Handbuch der Pädagogik. Langenſalza 1896. 
546 120M. 

Die fleine Schrift bietet in fnapper Daritellung ein wefentlid 
treued Bild von der Entwidlung des deutichen Schulweſens; jie zeugt 

6*® 


= — — — — — — — — — — —— — 
— . - - - .. - . 


84 Literaturbericht. 


von Beleſenheit und unbefangener Auffaſſung, iſt alſo frei von de 
Einſeitigkeiten, zu denen der heutige Schulſtreit ſo leicht verleite 
Unbeſchadet der durch den Zweck des Geſammtwerkes gebotenen Kür; 
könnte ſie hie und da mehr bieten. So fehlen faſt durchweg d 
Angaben der gebräuchlichſten Lehrmittel: fir das ſpätere Mittelalt: 
durfte Alexander's Doctrinale und andrerſeits Murmellius nicht wı 
erwähnt bleiben, da ohne fie der damalige Unterrichtsſtand unverſtändli 
bleibt. Die Disputationen wurden an den Univerfitäten bi im 
18. Jahrhundert hochgeſchätzt (gegen ©. 16b) und galten al® ei 
weſentliches Unterrichtsmittel, deſſen häufige Anwendung riedri 
Wilhelm I. jür Halle nahdrüdlid vorſchrieb. Daß dieſe Univerfiti 
gerade zur Vertretung der modernen Bildung gegründet fei (S. 29a 
ift zu viel gejagt; jo weit ging das Bewußtſein der regierende 
Kreife nicht. Die brandenburgifchen Nurfürjten wollten ihre Theologe 
und Juriſten don Rittenberg und Leipzig unabhängig machen un 
die neuerworbenen Landestheile auch geiltig ausrüjten; die Ne 
geltaltung der alademifchen Lehrweiſe ergab ji) dann aus der Eiger 
bewegung der Wiſſenſchaft. Die preußiiche Volksſchule im 18. Yahı 
hundert interfonfejjionell zu nennen (S. 36a), geht faum an und i 
eine aus dem heutigen Berwußtjein rückwärts gewandte Anfchauun: 
Sehr gut‘ iſt der allınähfiche Neuwuchs der Artiſtenfakultät entwideli 
überhaupt zeigen manche feinfinnige Bemerkungen (S. 16b über do 
Biel aller Bildung, S. 40b über den pädagogiihen Anhalt de 
wiedergeborenen Humanismus, über Art und Ziel des akademiſche 
Unterrits, über den Werth der Allgemeinbildung), daß der Herr V 
den geiltigen Kern der Thatſachen zu erfaflen veriteht. 

Halle a. ©. W. Schrader. 


Social Forces in German Literature. A Study in the Histor 
of Civilization by Kuno Franke, Ph. D. Assistant Professor of Germa 
Literature in Harvard University. New-York, Henry Holt & C 
1896. XIU, 777 ©. 

Diefe — don einem Deutjchen für Amerikaner — in feineöweg 
einförmigem Engliſch abgefaßte Geſchichte der deutſchen Literat 
wird im Heimatlande auch nicht bloß als „ein ſchwacher Ausdru 
unverbrüchlicher Treue und Anhänglichkeit an das Vaterland“ g 
würdigt werden, als den der Bf. fein Buch feinen in der Welt ve 
jtreuten Geſchwiſtern widmet. Sein Titel erjcheint zwar etwas fell 
ftändig gegenüber der hergebracht lehrmäßigen Form, wie darin m 





86 Literaturbericht. 


und zweitens die um ſie herum wirkenden politiſch-ſozialen Wandlungen 
zuſammenzufaſſen, treten in Francke's Buche mitunter nur allzudeutlich 
auseinander. Er kündigt den „neuen Idealismus in der geiſtlichen 
Literatur” ded 12. Jahrhunderts an, kommt aber nicht auf Clugny 
und Bernhard, nicht auf jene geiltlihe Dichtung in Deutichland, Die 
Kelle jeßt vollitändig in dieſem Zuſammenhang aufzufaflen gelehrt 
hat, fondern er abfolvirt nur das Penfun von Roland» und Ulerander- 
Lied. Er jtellt unter den Titel „Entſtehung der Mittelklaſſen“ welt- 
flüchtige Moyitiler, die im Verkehr der Seele mit Gott faum ihre 
joziale Stellung im Auge haben oder gar begründen helfen. Er be- 
richtet bei der „individualijtiihen Unterftrömung” gegen den Ab= 
ſolutismus in der Literatur des 17. Jahrhunderts nicht von den über- 
zeugten und erbitterten Gegnern der SHofliteratur, von Baltafar 
Schuppius bis Gabriel Wagner, nit von jelbjtändigem Pietismus und 
Realismus, fondern er muß die literarhiftoriihe Reihe von Fleming 
bis Gryphius und Weiſe vorführen. 

Im einzelnen wird man dem Verfaſſer gern folgen und ihm oft 
die glückliche Überführung des alten heimiſchen Gedanken- und Em— 
pfindungsgutes in die neue fremde Welt danken. Die engliſche 
Sprache kommt hier auch gewöhnlich mehr entgegen, als die rein 
romaniſchen, beſonders die franzöſiſche. Storm and stress z. B. iſt 
wirklich der deutſche „Sturm und Drang“, orage et assaut faum. 
Ein private Berichtigung F.'s beweilt jedoch, wie leicht auch hier Die 
fremde Sprache von der heimischen Voritellung abbiegt in’8 Befondere, 
anderd Beitimmte Er nennt (auf ©. 511) Immermann's Merlin 
that mysterious son of Satan and the Holy Virgin und bat mit 
diefer Bezeichnung der hl. Jungfrau Candida, die der Seßerteufel 
nod in große Anfang3buchitaben fjeßte, ein horrendum im Sinne 
des Ffatholiihen Dogmas gejagt. Denn in der lingua anglica ift 
nur eine Jungfrau holy, die anderen müjjen ſich mit einem lateinischen 
saintly begnügen. In den Beurtheilungen werden einige gemwagte 
Analogien und ſeltſame Parallelen befremden. Die von einem ver= 
wandten alten Einliedler befehrte Buhlerin der Schuldramatikerin des 
Hochadelſtiftes Ganderdheim, Hrotswitha, hat dod; gar wenig mit der 
Ehebrecherin vor ihrem Gatten in einer Sardou’fihen grande scene 
gemein. Rüdiger, als „der Mar Riccolomini“, des Nibelungenliedeg, 
erwedt nach der Hauptjeite jeine® Charakters, der jchlichten, ftraffen 
Männlichkeit, eine unpaflende Vorſtellung. Wer wird fich bei dem 
opferfrohen Mädchen in „armen Heinrih“ gerade an Goethe's 





88 Riteraturberidt. 


Dem Bf. haftet eine heute leider nur allzu häufige Abhängigkeit 
von Schlagwörtern an, die dem Hiltorifer beſonders jchlecht anitehen, 
da jie jich zwifchen ihn und das Geweſene, Gewordene jchieben, das 
nicht mehr für ſich felbft jprechen fann. So hat es ihm auch be— 
ſonders dad Wort „individual“, „individualiftiih“ angethan, mit dem 
er offenbar fehr verichiedene Begriffe verbindet. Er fegt ihm mit 
Vorliebe (und leider auch mit der Autorität einflußreiher Spezial: 
biftorifer) das ſchöne Wort „Eollektiviftiich“ enigegen oder an die 
Seite, je nachdem die Beleuchtung für das eine oder andere oder 
beide günftig ausfällt. Ja, er ſpricht gleichmüthig von einer individual 
morality und einer collective morality. Da3 ift nun freilid ganz 
in der Art, mie gegenwärtig im Theater und Salon, in Romanen 
und Feuilletons mit den Wörtern egoiftifh und — „altruiſtiſch“ ge— 
Hingelt wird, gleid) al3 wäre dag ganz gleihe Münze und lediglich 
Geſchmackſache, womit man zahlt. Früher nannte man un chat un 
chat et Rolet un fripon. Heute ijt er nur — fein Altruift. Auch 
das Wort Pantheism hat für %. einen ſo ſchönen Klang, Daß er es 
jogar Sant in einer Reihe mit Herder (I), Fichte, Schelling nicht vor 
enthalten mag, Kant, dem gejchworenen Yeinde der metaphylifchen 
Weltkonitrultionen und dem unermüdlichen Beleudhter und rückſichts⸗ 
loſen Ausleger des doppelfinnigen Spinoza. An dem Eiſenkopf Zuther 
rühmt er die moral greatness des courage of inconsistency 
und zeigt dabei jehr deutlih, wie einem das Haften an den äußer- 
lichen Prägungen der heutigen „Sozialwiffenfchaft” den Blid für das 
innere Maß des Charakterd und damit die Erfenntnid des hiſtoriſchen 
Charakters trüben fann. 

Münden. Karl Borinski. 


Die Hefte der Germanen am Schwarzen Meere. Cine ethnologifche 
Unterfuhung von Dr. Richard Loewe. Halle, DM. Niemeyer. 1896. 
XII, 270 ©. 

irgend Haben germanifhe Stämme der Völferwanderung in 
der Fremde ihre Sprade und Nationalität nachweislich fo lange 
bewahrt wie die Heinen Völkerreſte am Schwarzen Meere. Was 
davon überliefert iſt, jtellt Löwe nach dein VBorgange von Tomaſchek, 
Braun u. U. in genauer Sammlung und Prüfung aller z. Th. weit 
zeritreuten Nachrichten zujanımen, Hiſtoriſches und Sprachliches gleich 
ausführlich behandelnd. Es gelingt ihm auch, eine ergiebige Nach- 
lefe hijtorifcher Zeugniffe zu erbringen, und jeine außerordentlic) 





% Riteraturberidht. 


einander gefchieden und biß zu ihren lebten unjicheren Spuren ver- 
folgt werden. Wenn der Bf. die Nationalitätöfrage auch für fie in 
ganz nener Weife Löft, fo kann er fich dabei nicht auf die Über- 
lieferung, weder die bygantinifche noch die ruſſiſche, ftüßen, die hier 
immer nur Gothen nennt. Nur Ablavius (bei Sordan.) weiß noch 
von Herulern in den Sumpfniederungen der Mäotis. Die legte Ent- 
fheidung muß ſchließlich die Spradhe erbringen. Das Volabularium 
des Busbeck iſt bisher troß mandyen Sonderlichkeiten immer für 
gothiſch gehalten, wie ih glaube, mit Recht. Die furzen e, o, an 
denen 2. Anftoß nimmt, fommen auch im gothiſchen Runenalphabet 
und bei den Hiftoritern vor (vgl. Geberich, Euermud — ’Eßor- 
uovF bei Kordan. — Procop ꝛc.). Underes wird noch zu verfolgen 
jein. Aber wenn die Umwandlung von &, 5 zu i, ü, jo finguläre 
goth. Formen wie ada u. a. nur aus dem Gothifhen entlehnt fein 
follen, jo fragt man fi) doch: wenn hier lauter Heruler wohnten, 
wo denn die Gothen geblieben jind, die auf die Sprade der Heruler 
einen jo umgeitaltenden Einfluß augübten. Die entlegene furze Zeit 
ihrer benachbarten Siedelung reiht dazu unmöglich aus. 
Straßburg. R. Henning. 


Monumenta Germaniae historica. Epistolarum tomi II pars II. 
Gregorii I Papae Registrum epistolarum, libri X—XIV, cum Appen- 
dicibus. Post Pauli Ewaldi obitum edidit Ludovicus M. Hartmann. 
Berolini apud Weidmannos. 1895. p. 233 —464. 8 M. 


Der neue Band der Epistolae-Reihe führt dad Registrum Gre- 
gorü zu Ende; er enthält Buch 10—14, die Briefe vom September 599 
bi8 zum März 604. Appendix I bringt dag Schreiben, durch welches 
der Diakon Gregorind am 28. Dezember 587 einem Kloſter jeine 
Schenkung madt, App. II das Schreiben Belagiuß’ II. an den Diakon 
Gregorius vom 4. Oftober 584 affe 1052, App. III die drei Briefe 
Pelagius' U. an die Biihöfe Iſtriens 585—586, Kaffe 1054—56, 
deren dritter vielleicht von Gregor fonzipirt ilt. 

Bon dem neuen Bande gilt im allgemeinen, was vom Ref. über 
Pars I de8 2. Bandes gejagt worden ift (9. 3. 76, 110-111); 
insbefondere iſt die raſche Erledigung, die faubere jorgfältige Arbeit, 
die fenntnisreihe Kommentirung in vollem Maße anzuerkennen. 

Aus den fleineren Ausjtellungen, die ji Net. notirt hat, mögen 
hier folgende herausgegriffen werden. Zu Ep. 11, 56a cap. 9, ©. 342 
Note 24 behauptet der Herausgeber, Gregor’s Ausführungen werden 


Mittelalter. 91 


von Ecbertus Eboracensis (731—767) in Paenitent. III, 14 
(Manſi XII c. 451) citirt. Das Citat gehört nicht Egbert an, 
jondern einem angelſächſiſchen Pſeudo-Egbert, der nad der Mitte 
des 9. Jahrhunderts fchreibt und, wie den größten Theil feines Buß- 
buches, jo auch das Kap. 3, 14 dem MWBönitential Halitgar’s 
(5, 17) entnimmt; welde unmittelbare Duelle Halitgar feinerjeits 
für das Stüd benupt bat, ift nicht nachzumweifen; vgl. Waflerfch- 
leben, Die Bußordnungen der abendländiichen Kirche (1851) ©. 43, 
81, 331. Wie bier, fo gelangt der Herausgeber noch ein zweites 
Mal an der Hand einer unkritiichen Ausgabe zu irrthümlicher Auf: 
ftellung. Zu Ep. 13, 50, ©. 414, Note 1 heißt ed, die Inſkription 
der Nov. 123 (134) laute: ... Petro gloriosissimo magistro sacro- 
rum nostrorum officiorum. Dieje Aufſchrift findet jich nur in den 
interpolirten WUusgaben des Authenticum, abweichend von allen 
Handichriften und den älteren Ausgaben; in den fritifchen Editionen 
(Heimbach S. 1080, 1221, Schoell S. 593) fteht die Adreffe: Petro 
gloriosissimo praefecto praetorio, aljo genau Ddiefelbe, die Gregor 
S. 414, 19. 20) vor fi) gehabt hat. Zu dem Briefe 13, 50 ift 
ferner zu bemerfen: S. 414, 18. 19. hätte im Drud oder in einer 
Vote angedeutet werden follen, daß die Worte de sanctissimis .. 
znonachis ſich ebenfall3 mit den Authenticum (Rubrif der Nov. 123) 
decken; — S. 414 Note 1 a. E.: wenn der Heraudgeber unter Be- 
xujung auf Savigny ſich der Annahme zuneigt, Gregor Habe die 
Nov. 123 aus dem Authenticum gejhöpit, jo iſt dem gegenüber, 
unter Hinweis 3.3. auf Krüger, Geſchichte der Quellen und Lit. des 
Röm. Rechts (1888) ©. 356 fg., zu betonen, daß nad) dem jebigen 
Stande unferes Wiſſens über das Alter des Authenticum gar nichts 
feititebt, al3 daß es zwifchen 556 und ca. 1100 verfaßt ijt: fein 
Autor kann ſehr wohl alte Überjegungen einzelner Novellen über: 
nommen haben; „gerade der Brief Gregor's d. Gr. jpricht entjchieden 
dafür, daß jeiner Zeit dad Authenticum noch nicht vorhanden war, 
\onft Hätte er, nicht für eine andere Novelle (Nov. 90 c. 9) eine 
von dem Authenticum verjchiedene liberjegung geben fönnen“ 
(Krüger a. a. D.); — ©. 416, 18 item post pauca: fo lieſt die 
Handſchriftenklaſſe R, o dagegen item post multa; o verdient ent- 
Idieden den Vorzug, da zwiihen Nov. 123 c. 3 und c. 22 etwa 
vier volle Spalten der enggedrudten Shöll’fhen Ausgabe liegen; — 
S. 417, 11. 12 Modestinius: jo werden wohl alle Handjcriften 
des Herausgebers den Namen des Pandektenjuriſten Modeſtinus 


92 Riteraturbericht. 


Ihreiben; die Lesart hätte aber gegen den Verdacht eined Drud: 
tehler8!) durch eine Note im Apparat gefichert werden follen; ob 
nicht Gregor felbjt die richtige Namendform gefegt habe, fann man 
allerding® dahingeitellt jein laſſen; — S. 417 Note 3: Nov. 90 
c.9 = Juliani Epit. 83 c. 7 hat bei Gregor die Kapitelzahl XVI; 
da nun in einer Handichrift der Epitome Julian's unfer Stüd ala 
c. VI erfdeint, fo meint der Herausgeber, Gregor's Ziffer XVI 
jtimme mit diefer Handichrift überein (cum hoc codice concordat), 
was eine jehr kühne Behauptung it; — ©. 418, 4. 5: quod contra 
leges actum est, firmitatem non habeat, vgl. E. Juſt. 1,14, 5,1 
oder 1, 2,14,4 i. f. — Zu Ep. 10, 1 i. f, 12, 14 imit.; 11, 58 i. £. 
wären die von Conrat herangezogenen Stellen des Corpus iuris 
(Nov. 131 c. 13; ©. Juſt. 3, 1, 16) zu notiren geweſen. — Die 
Sprade Gregor’ ift von Neminiscenzen wie aus der Bibel, fo aus 
dem Suftinianiihen Rechtsbuche mannigfach durchſetzt, vgl. z. B. 
Ep. 11, 53 ©. 328, 6: ut unius poena multorum possit esse 
correctio mit &. Juſt. 9, 27, 1: ut unius poena metus possit esse 
multorum. — Ctörender Drudiehler ©. 367, 15 : 603 ftatt 602. 
Berlin. E. Seckel. 


Staatsmänner und Seichichtichreiber des 19. Jahrhunderts. Ausgewählte 
Bilder. Bon Ottofar Lorenz. Berlin, W. Hertz. 1896. 360 ©. 


Lorenz hat hier ältere und neuere Aufzeichnungen zur Geſchichte 
des 19. Jahrhunderts zu einem Buche vereinigt, deifen größter Beſtand— 
theil vorzugsweiſe, wenn nicht ausfchliegli nur jür Lejer geeignet 
ift, die mitten innejtehen in der Bejchäftigung mit den nıannigfaltigen 
Publikationen von Briefen, Reden, Erinnerungen der politifchen und 
politifirenden Männer diejes Jahrhunderte. So mander Cap läßt 
un? aufitehen, den einen und anderen Band aus den Repoiitorien 


) Die Vermuthung eines Verſehens liegt nahe für Jeden, dem feines 
der Manujfripte zur Hand ijt (Ref. hat Cod. Berolin. theol. 322 saec. X, 
— o*2 der Ausgabe, verglihen); der Verdacht drängt fit) umjomehr auf, 
als Mommſen zu Tig. 48, 4, 7 auf Grund von drei Handſchriften saec. IX, 
X und Bawdi dı Vesme in den Atti della R. Accademia delle Scienze 
di Torino 5 (1869/70), 249. 252. 256 auf Grund von 14 Handicriften 
Modestinus druden; alfo ift entweder die Überlieferung nicht fo einftimmig, 
wie es nad) dem Apparate des Registrum ſcheinen fünnte, oder aber haben 
Mommfen (bezw. fein Gewährsmann Krüger) und Baudi fich verlefen bezm. 
die handichriitliche Lesart ſtillſchweigend geändert. 


19. Jahrhundert. 93 


nehmen und nun nadjlejen, worauf 2. anjpielt, oder worüber er jeine 
bisweilen überraſchenden Bemerkungen madt. Da wird e3 nicht 
jelten vorfommen, daß man weiter lieft und zunächſt von dem Buche 
jelbit ganz abfonımt. So iſt ed mir bei mehreren Artikeln ergangen. 
L. regt bier an, aber er hält und nicht feit. Er jpricht über die 
Dinge und Perſonen, über das, was fie gethan und gejchrieben haben 
und mas über fie von Publiziften und Gejchichtichreibern geurtheilt 
worden iſt; er fpricht al3 ein in jeltenen Maße Kundiger und ermwedt 
die Vorjtellung, daß ihm nicht bloß vertraut it, was durd) den Druck 
zugänglich gemacht ift, fondern noch weit mehr durch Studium un: 
edirter Ucten und Mittheilungen hervorragender Staatdmänner. Er 
ipricht dabei in der Form ruhiger hiſtoriſcher Erwägung und in geilt- 
reiher Weile — aber troß alledem befriedigt er nicht, wenigſtens 
nicht in den Artikeln der vier eriten großen Abjchnitte: Metternid), 
Friedrich Wilhelm IV., Aus der öjterreihiichen Revolutionszeit, 
Sächſiſche Erinnerungen, welche die S. 1—241 füllen, und auch nidht 
in mandyen Artifeln oder Teilen der beiden letzten Abſchnitte Julius 
Fräöbel (5) und Charafterjfizzen (6). 

Er gibt, meilt im Anſchluß an andere Bücher Betrachtungen, die 
jih in Stil des Recenjenten oder Referenten bervegen und den Leſer 
nöthigen, fi) das Bild der Zeit, dad den Hintergrund bildet und 
erit das rechte Verſtändnis ermöglicht, immer wieder ſelbſt zu ſchaffen 
und Binzuzudenfen. Das ermüdet, mehr aber nod) jtört, daß X. ich 
nicht jelten in Urtheilen gefällt, die wohl auffallen, aber nicht überzeugen. 

Dahin rechne ich vor allem die wiederholten abichägigen, ja 
geradezu verädtlihen Benterfungen über Sybel’3 Begründung des 
deutichen Reiche. Er benuße jede Gelegenheit, jagt L. S. 135 Ylnnı.; 
um gegen dies Werf zu polemijiren, aber eine Begründung des 
Tadels findet fich nicht, wenigitens feine Begründung, Die über eine 
furze Bemerkung hinausginge. 

S. 118 wird Sybel getadelt, daß cr die irrige Voritellung, zur 
Zeit von Olmütz jei die öſterreichiſche Armee der preußiichen über: 
legen gewejen, gedantento8 wiederholt und „es nicht für nothwendig 
erachtet habe, die leiſeſte Kenntnis der wirklichen Zuftände Literreichs 
in damaliger Zeit fi) zu erwerben.“ TDTamit gibt er, gelinde gejagt, 
ein falſches Bild von Sybel’3 Taritellung. „Man hat oft Die Frage 
verhandelt”, jchreibt Sybel an der entiprehenden Stelle 2, 677, „ob 
Stodhaujen Recht gehabt in der Behauptung, daß Preußen dem Kampie 
gegen feine zahlreihen Gegner nicht gewachſen geweſen wäre. “Bei der 


94 Riteraturberidt. 


Begeifterung der preußifchen Truppen und der meuteriihen Gefinnung 
der Honveds, welche einen großen Theil des Biterreihifchen Heeres 
bildeten, ließe fich denken, Preußen hätte im erften Anfturm den 
Gegner geworfen. Aber auch dies einmal angenommen, bleibt immer 
die Frage beitehen, ob denn der Sieg jo zermalmend ausgefallen 
und die militärifche und diplomatifche Führung jo energifch und aus— 
giebig aufgetreten wäre, um nach wenigen Wochen den Frieden zu 
diftiren.“ Er erinnert dann an König Friedrich Wilhelm's IV. eigen 
artige Stellung zu diefem Konflikt, die eine Friegerifche Aktion gegen 
Dfterreih von vornherein lähmen mußte. „Sehr bald nah Olmütz 
fagte er zu dem engliihen Geſandten Grafen Weitmoreland ... 
das größte Glück bei der Übereinkunft fei, daß dadurd) ein Sieg 
Preußens über Diterreich verhindert worden, welcher bei der inneren 
Zerriffenheit Oſterreichs unvermeidlih gewefen.“ Mag man im 
übrigen Sybel's Darftellung loben oder tadeln, unbegreiflich erjcheint 
e8 doch, daß 2. diefem Sabe gegenüber jagen kann, Sybel habe die 
Macht Öfterreich8 überfchäßt, fi) von den Rodomontaden der Schtvar- 
zenberg und Genoſſen imponiren laufen. Unbegreiflid) wäre ed, wenn 
man fich nicht erinnerte, daB die berüchtigte rabies theologorum 
zur Beit ſich der Hiltorifer bemächtigt Hat, und daß Kraft und Kunſt 
mißbraudt wird, um die Mängel, die nothwendig jeder größeren 
Darftellung anhaften, fo einfeitig zu betonen, daß darüber ganz ver- 
gefjen wird, mas geleiltet iſt. 

Solch ein grundlofer Angriff liegt auch in der Behauptung, 
Sybel's Methode beftehe darin, nur die Alten ald Duelle gelten zu 
laflen und Memoiren, Privatbriefe und andere fonfidentielle Auße⸗ 
rungen zu verwerfen. Auch Fürſt Bismarck wird S. 255 herbeigeholt, 
um den Werth der konfidentiellen Papiere zu verſichern, damit der 
Schatten des großen Staatsmannes die Methode Sybel's recht in 
Naht und Dunkel drüde. Bedarf es wirklich ſolchen Zeugniſſes, um 
eine jo felbjtverftändlihde Sache zu ermweifen? oder hat Sybel an 
irgend einer Stelle das Gegentheil behauptet? In Sybel überwog 
der Huge Mann vielleicht noch den Gelehrten, und im bejonderen 
hatte er auf dem Gebiete der Alten und Protofolle jo reihe Erfah- 
rung wie Wenige; er hatte an fo mannigfaltigen und jo großen ®e- 
ſchäften Antheil gehabt, jo oft erfahren, daß in die Akten das Befte 
nicht hineingefchrieben wird, jondern nur, was für die Ausführung 
bzw. für die Bekanntgabe von Bedeutung oder nothwendig erſcheint: 
zu So thörichten Gedanken und Methoden, wie tie ihm bier 


19. Jahrhundert. 95 


zugeichoben werden, funnte er ſich gar nicht verirren, und einen derartigen 
Belehrung hätte er am menigiten bedurft. Wenn er in den Vorwort 
des 1. Bandes als Quellen nur die Alten nennt, die er benuben durfte, 
und erſt in dem Vorwort des 6. Bandes, tür den die Alten verjagt 
wurden, die Erinnerungen, Storreipondenzen, gedrudte und nicht ge- 
drudte Selbitbiographien der Handelnden, fo iit das fein Beweis für 
eine Geringihägung fonfidentieller Nachrichten. Es gejchieht, weil 
die Alten natürlich die erſten und wichtigiten Quellen bilden, aus 
denen dad Gerüft des hiſtoriſchen Gebäudes aufgejührt wird, zugleid) 
die erite Hülfe zur Kritik der in den ftreitenden Memoiren und Briefen 
vertretenen Auffafjungen. Bor allen aber: diefe Memoirenliteratur 
war großentheils allgemein zugänglich, die Alten zu benugen, war 
Sybel durch befondere Gunft der Verhältnifje zum erften Male und 
vermuthlich für lange Zeit allein erlaubt. 

Auch die Darſtellung Sybel's jelbit liefert fein Zeugnis für dieje 
irrige methodijche Unficht, und überdies hat und V. v. Unruh erzählt, daß 
e3 Sybel war, der ihn zur Ausarbeitung feiner Erinnerungen ermunterte. 

Ehe 2. ein ſolches Urtheil ausſprach, hätte er für wichtige Punkte 
nachweifen müfjen, daß Sybel zu Unrecht den Akten folgte und die 
Belehrung verihmähte, die aus der anderen Gruppe von Quellen zu 
gewinnen war. Das Hat er nicht gethan, und fo hat fein Tadel 
jetzt kaum einen anderen Werth, al® daß wir die Überzeugung ges 
mwinnen, daß 2. in dem Bude Sybel’3 vieles vermißt, was er nod) 
in der Erinnerung bewahrt oder wovon in den Memoiren und Briefen 
Anderer Nachrichten erhalten find. Das kann id ihm nachfühlen, 
und ©. 317 berührt er einen entjchiedenen Mangel des Sybel’jchen 
Werfed. Er erinnert daran, daß es in den Sahren 1860—66 viele 
Leute gegeben hat, „welche gemeint haben, daß die deutjche Frage nur 
durch eine nochmalige revolutionäre Erhebung gelöft werden würde 
und fönne, und die wahre Gejhichtichreibung wird die Verdienſte 
des Fürſten Bismarck vielmehr darin erbliden müſſen, daß er Deutfch- 
land vor diejer Revolution bewahrte. Jedenfalls ijt in den erjten 
ſechziger Jahren der Glaube an cine deutiche Revolution viel ver- 
breiteter geweſen und erjtredte jich in viel höhere Regionen, al& eine 
lahme Geſchichtsklitterung heute zugeitehen möchte.“ Unter dieſer 
Rubrik der Lahmen iſt natürlich zunächit wieder Sybel veritanden — 
aber wo bemüht ſich denn Eybel, jenen Glauben zu befämpfen ? 

Richtig iſt allerdings, daß von der Erregung des deutjchen Volkes, 
von der Bedeutung, die jie für die Entwidlung der Tinge hatte, bei 


96 Literaturbericht. 


Sybel zu wenig zu finden iſt. Ich habe nur nöthig, meine perſönlichen 
Erinnerungen wachzurufen, um das zu begründen. Ich habe den 
Winter 1863/64, da die ſchleswig-holſtein'ſche Frage von neuem in 
Fluß kam, in Göttingen erlebt und erinnere mich lebhaft der Bürger- 
und Studentenverfammlungen, der Stimmung und der Vorbereitung 
für den Strieg, von dem man hoffte, daß er auch die Bundestags«- 
mifere beenden werde. Lange babe ich eine Anfrage bewahrt, Die 
ein Hamburger Komitee verjandte, auf wieviel Mann Zuzug es für 
den Fall des Losbruchd rechnen fünne. Bejonderd trat hervor, wie 
die Erinnerungen von 1848 bis 51 nachwirften. Man ererzirte und 
übte ſich im Schießen, aber ed war ausgeiprocdhen, daß man fein 
Freicorps bilden wolle. Das Schidjal der Turner: und Studenten- 
{har in dem Gefecht von Bau, die Tradition, daß fie von den regu- 
lären Truppen abjichtlic) preißgegeben jei, warnte davor. Man hoffte, 
daß einer der Mitteljtaaten die deutihe Frage zugleih mit der 
Rettung Schleswig-Holſteins auf die Fahne jchreiben werde, und wollte 
in die unter folcher Führung gebildete deutiche Armee cingereiht werden. 

Eine große Studentenverjamnmlung, deren Verlauf durch einen 
fomifhen Zwiſchenfall jedem Theilnehmer unvergeßlid wurde, lehnte 
es auch ab, eine Adrefje an den Herzog von Auguſtenburg zu erlajien, 
weil nıan ihn zu wenig fenne und nicht wifle, ob man ſich fchledht- 
bin an feine Bolitif binden dürfe. Diefe Erwägung ift befonders 
harakteriftifch Fir die Nüchternheit, die troß aller Begeijterung auch 
in der alademiihen Jugend und den verwandten Rreife herrichte, 
und Ddieje Ruhe ijt wie dag Urtheil über Freiſcharen als der Ertrag 
der politifchen Nothjahre anzujehen, ald der Niederjchlag des Schmerzes, 
den diefe Jugend mit ihren Eltern erlebt hatte. Denn die Bewegung 
war an Sich fehr itarf, fo ſehr, daß auch die mit dem dänifchgejinnten 
Hofe in Hannover Tiebäugelnde Gruppe der Studenten dem Strome 
zunächſt folgen mußte. In der Landesverfanmlung, welde dann 
Ende 1863 oder Anfang 1864 in Hannover gehalten wurde, hätte 
der Hiftorifer Georg Waiß beinahe gegen jeinen Willen den Anlaß 
zu einer Demonftration gegeben, deren Folgen nicht abzujehen waren. 
Er begann einen Saß mit den Worten: Wie gerne zögen wir vor's 
Schloß... und wurde alsbald dur die ftürmifchen Rufe unters 
broden: Vor's Schloß! Bord Schloß! Er blieb aber ruhig und 
bändigte mit feiner Autorität die Verfammlung, jo daß er fortfahren 
fonnte, um dem Könige zu danken, mwenn feine Politik die Sache 
Schleswig-Holſteins unterjtügte. Man braucht nur irgend eine Zeitung 





98 Literaturbericht. 


In dem Abſchnitt über Metternich gibt L. eine Charakteriftik 
der nachgelaſſenen Papiere, wie fie ähnlich etwa Heigel gegeben bat 
(Eſſays 1892); auch da3 Gejammturtheil über Metternich weicht von 
den neucren Daritellern nicht jo weit ab, ald man nad) mandıen 
polemifchen Bemerkungen glauben möchte. Darum find diefe Abſchnitte 
aber doch recht nüblid zu leſen, denn fie ruhen auf felbftändiger 
Forſchung. Eben deshalb aber wende ich mid) gegen einige Be— 
merkungen, die mir unrichtig fcheinen. Nah S. 16 hätte Gerpinus 
Metternich wie einen ſchwachen Kopf behandelt. Ob der Ausdruck in der 
Geſchichte des 19. Jahrhunderts wirklich irgendwo begegnet, ohne daß 
er au8drüdlich auf gewiſſe Seiten oder Vorgänge beſchränkt wird, weiß 
ih nicht, aber es fehlt bei Gervinus nicht an Stellen, die da verbieten, 
ihm jo allgemein dieſe Charafteriftif zuzufchreiben. Sie paßt nicht 
einmal auf die bejonderd harte Stelle 1, 178, wo Gervinus neben 
der überſchwänglichen Schäßung der Einen die fühle Beurtheilung 
Anderer erwähnt, die da vorausfagten, „cd würden durch jeine 
(Metternichs) Winfelzüge und Kniffe, wie durch feine Mittelmäßigfeit 
und feinen Leichtjinn die erwarteten guten Früchte des (Wiener) Kon⸗ 
greſſes verjcherzt werden“. Einmal madır ſich Gervinus dies Urtheil 
doch nicht fchlechtiveg zu eigen, und dann läßt dies Urtheil ſelbſt durch⸗ 
aus noch die Möglichkeit offen, Mettenih als den Pirtuofen der 
Politit der Heinen Mittel zu fafjen, der er war. Nun nehme man aber 
etiwa die Nußerung von Gervinus 1, 299 Hinzu, wo er Metternich mit 
den auf den vorhergehenden Seiten charafterifirten Vertretern Preußens, 
Hardenberg und Humboldt vergleiht: „Ganz anders umfichtig und 
nach einem wohlerwogenen Intereſſe handelte Metternich für Djter: 
reich.“ Hält da Gervinus Metternich für einen Schwachen Stopf? Für 
was müßte er dann Hardenberg und Humbold gehalten haben ? Nicht 
richtiger il, wa8 L. hier von Treitſchke's Charafteriftif fagt; denn der 
ift Doch vor allen Anderen gemeint, wenn 2. tadelt, daß „jüngit ein defla= 
matoriiher Ton angeschlagen wurde, um Metternich als das verkörperte 
Princip aller nationalen Schmach zu bezeichnen. Es ift eine wenig em= 
pfehlengwerthe Methode, die Gejchichte jo zu behandeln, wie Marquis 
Poſa Theater ſpielt.“ So hat Treitichfe Metternich nicht beyandelt, auch 
nit auf jenen Geiten 2, 486—490, auf denen er Metternid’3 
Haltung gegenüber dem preußifchen Zollgejeg und dem Verfaffungd= 
plan Hardenberg's jhildert und verfpottet. Daß Metternich öſterreichiſche 
Intereſſen zu vertreten hatte, daS hat Treitichfe nicht überfehen. 
Sreilih betont cr, daB Metternich nichts ahnte von den fittlichen 





100 Literauurbericht. 


gelegentliche Bemerkungen, für deren beſſeres Verſtändnis der Vf. leicht 
hätte beſſer ſorgen können, aber ſie enthalten doch wichtige Beiträge zu 
der Memoirenliteratur. Am höchſten ſchätze ich die beiden letzten, über 
Herzog Ernſt und Guſtav Freytag. Staunen und Zweifel wird es 
erregen, daß L. S. 308 nachdrücklich betont, Herzog Ernſt habe ſeine 
Denkwürdigkeiten durchaus ſelbſt ausgearbeitet, und S. 142 Anm. 
ſagt: „Ich nehme davon Gelegenheit, meine gänzliche Abweichung von 
den Anſichten und Urtheilen dieſes Werkes (des Herzogs: Aus meinem 
Leben und meiner Zeit) ausdrücklich hervorzuheben.“ Genauer 
ſollte es wohl heißen, von manchen Anſichten und Urtheilen; denn 
im ganzen iſt L. ein entſchiedener Anhänger der Richtung des Kreiſes, 
deſſen fürſtlicher Patron Herzog Ernſt war. Mit vollem Recht 
betont er S. 313 ff. die politiſche Bedeutung der Militärkonvention, 
welche der Herzog 1861 mit Preußen abſchloß — am 30. Juli 1861 
nahm ſie der vereinigte Landtag von Koburg-Gotha an — und 
tadelt (S. 326) Sybel, daß er ſie nicht einmal erwähne. Der Artilel 
über Freytag iſt reich an glücklichen Schilderungen und wichtigen 
Beobachtungen. Sie erwecken das Verlangen, daß doch L. nicht 
verſäumen möge, über manche Geſchäſfte und Vorgänge, an denen er 
theil Hatte oder über die er aus privaten Mittheilungen Kunde bes 
figt, Aufzeichnungen zu machen, wie jie etwa in Unruh's Eriune⸗ 
rungen vorliegen. Ich richte ſolche Aufforderungen an viele Berjonen 
tie ich mich jelbjt dazu ermuntere; denn den Gedanken, den 2. wieder: 
holt betont, er fenne ich außvielfältiger Erfahrung als durchaus richtig 
an, daß die Akten eine Ergänzung durch private Aufzeichnung fordern. 
Tas große Jahrhundert unjeres Volkes neigt fich zu Ende. Die 
Generation jtirbt dahin, die es bald jubelnd, bald trauernd durd)- 
lebte: jorgen wir für Beiträge zu einer wahren Erkenutnis jeiner 
Geſchichte. Tazu fünnen aber nicht nur die beitragen, die Bezieh- 
ungen zu Diplomaten und hohen Beninten hatten oder felbit eine 
politiide Rolle jpielten: jeder Geſchäftsmann, jeder Schulmanı, jeder 
Forſtmann, jeder Richter u. |. w. kann dur nücdhterne Aufzeich— 
nung von einzelnen darafteriftiifhen Vorgängen in feiner Thätigfeit 
wichtige Beiträge zur Geſchichte der Gefellichaft und in befonderen 
der Umbildung unferer Verwaltung, der Veränderung ihres Geiſtes 
wefentlich beitragen. Die Geſchichte der Schulverfafjung in Preußen 
3. B., oder die der Verwaltung der Reichslande, die Wirkſamkeit 
unferer militäriihen Einrichtungen u. ſ. w. ift aus den Aften allein 
gewiß nicht zu jchreiben. 
Breslau. G. Kaufmann. 


19. Jahrhundert. , 101 


Aus den Briefen des Grafen Prokeſch v. Oſten (1849—1855). Wien, 
(Seroſd's Sohn. 189%. VIL, 472 © 


Bon dem gelchrten, liebenswürdigen und chreufeften Grafen Pro: 
keſch v. Djten, der Literreihh vom März 1849 bis Ende 1852 in 
Verlin vertrat und dann bis gegen Ende 1855 ald Ofterreich® Geſandter 
Die Verhandlungen de3 Bundestags leitete, erhalten wir hier einen 
ſtattl ĩ chen Band Briefe und Berichte aus diefer ſchweren Zeit. Die 
meiten find an den Minifterialpräfidenten Fürſten Felix Schwarzen: 
berg amd an deſſen Nachfolger, den Grafen Buol-:Schauenftein, ges 
richtet; dazu kommen Briefe an andere in den Geſchäften ſtehende 
Perſ Snlickeiten und an feine Fran. Prokeſch hat in Berlin eine be— 
denterzde Rolle gefpielt, als cin geſchicktes Organ der Politik des 
Für ſt en Schwarzenberg, und auch für die Charakteriftit des Königs 
und ſeiner Miniſter und anderer einflußreicher Perſonen finden ſich 
will kommene Beiträge. So in dem Briefe vom 28. November 1849 
E. 104, der da beginnt: „Bier gibt es feinen König und fein Minis 
ſſerium; es gibt nur Radowitz, Camphauſen und Beckerath.“ Auch 
über andere Verhältniſſe hören wir, fo in dem Briefe vom 5. Sep— 
tember 1849, in dem er den Fürſten Schwarzenberg über ein Ge— 
ſpräch mit Perfigny berichtet, der die Berliner Regierung fondiren 
jollte über die Aufnahme, die dort der Übergang der Republif zum 
Laiſerthum finden werde (S. 89). 

Ein ganz beſonderes Sntereffe erregen dunn die Berichte aus 
der Fraukfurter Zeit, weil fie ung die in Bismarck's Berichten ge: 
ihildenten BZujtände und Kämpfe nun von dem entgegengeſeßten 
Standpunkte aus betrachten laſſen. Darum trägt dad Bud) auch das 
Motto: Audiatur et altera pars. 

Un Neichthun des Inhalts, Klarheit und Schärfe ftehen Diele 
Berichte hinter Bismarck's Berichten erheblid) zurüd; aber das ſchließt 
noch feinen Tadel ein; fie zeigen den Bf. doch als einen hochgebildeten, 
seihäftsfundigen und eifrigen Mann. Die Nichtigkeit des gejellichait: 
lihen Treiben in den bundestäglichen Kreifen beklagt er mehrfach 
ähnlid wie Bigmard, und auch für die Haltung der Mittelitaaten 
hat er öfter ähnlichen Spott. Co fagt cr ©. 381 (1854), fie hätten 
ſich wie Rheinbündler benommen, und kurz vorber (15. Juni 1854) 
ichreibt er ©. 376 f.: „Die Bamberger Gefandten fcheinen über das 
Berk ihrer Regierungen verlegen. Hannover, beide Hejjen und Baden 
ftagen über Bayern und Sachſen und find beeifert, die Schuld von 
jich abzuwälzen.“ 


102 .Literaturbericht. 


Sein politiſcher Standpunkt war die Politik Metternich's und 
Schwarzenberg's. Daß eine neue Zeit angebrochen war, daß man mit 
Schelten über Revolution und über Demagogen die Forderungen 
einer Nation nicht beſeitigen konnte, das ſah er nicht ein. Man merkt 
denn auch, daß ihn mehr und mehr das Gefühl beſchlich, einen ver: 
lorenen Poſten zu vertbeidigen. 

Über fein Verhältnis zu Bismard äußert er ſich wechjelnd. 
Mehrfady betont er, daß Bismarck gute Formen und gute Bezieh- 
ungen pflege. Über die preußifche Politik urtheilt er aber gleichzeitig 
auf eine fo fchroffe Weife, daß dadurch die Charakteriſtik feines Auf- 
tretend in Bismard’d Berichten eine erhebliche Beltätigung gewinnt. 

„Daß die Angriffe Preußens auf die Stellung Ofterreih8 am Bunde 
fein Ende nehmen werden, bis die Parität im Umfange der zu 
Dresden geitellten Verlangen erreicht oder alle Hoffnung darauf ver- 
loren ift, darüber ift wohl fein Zweifel. Die täglichen Pladereien 
fönnen daher nicht überrafdyen. Sie könnten zwar weniger gemeiner 
Natur fein, doch das iſt Geſchmacksſache“ (S. 311). Das ijt ein böjes 
Wort, da8 auf das Urtheil ded vornehmen Herrn ein bedenkliches 
Licht wirft. Diefe „gemeinen Pladereien“ waren nicht® anderes als 
Forderungen, eine gewiſſe Ordnung in den Geſchäften einzuführen und 
gewilje zur Gewohnheit gewordene Mißbräuche abzujtellen, jodann die 
Uln:Raftatter Feftungsbaufache u. a., worauf eine ſolche Charakteritif 
des Übermuths wahrlid) nicht vaßt. (Vgl. Poſchinger, Preußen im 
Bundestage 1, 214 fj. 287 und fonft. Über die Preußiſche Politik ſchreibt 
Prokeſch ähnlich am 12. Juli 1853: „außer Neid gegen Öſterreich iſt dort 
(in Berlin) nichts thätig“ (S. 323), und am 10. Oftober 1854 (S. 397): 
„Wie weit der Dünkel, die Verblendung, der Hab und Neid und 
das Schlechte Gewiflen führen können, ift . . . fchwer zu beſtimmen.“ 
Und nod härtere Stellen finden ſich über das Preußen unter König 
Friedrich Wilhelm IV., der jich von den Feſſeln der Pietät nicht be- 
freien konnte, durch die er ſich an ſterreich gebunden fühlte und 
durh dieſe Rückſichten von der Verfolgung einer rein preußiſchen 
Intereffenpolitif zurüdhalten lieg. Bolle Anerkennung findet unter 
den preußifchen Miniftern nur Herr dv. Weitphalen (S. 323). Recht 
beachtenswerth ijt aud) die Unterftügung, die Prokeſch den nltramon— 
tanen Beftrebungen gewährte. (Vgl. ©. 323 u. 345 ff.) 

Im ganzen bat man aud hier dag Gefühl, daß in Profefch der 
Gelehrte und der Kavalier bedeutender waren ald der StaatSmann. 

G. Kaufmann. 


Köln. 108 


Inventare hanfifcher Archive des 16. Jahrhunderts, herausgegeben vom 
Verein für hanſiſche Geſchichte Bd. 1: Kölner Inventar. Bd. 1: 1531 bis 
1571. Bearbeitet von R. Höhlbaum unter Mitwirtung von H. Keuſſen. 
Hit einem Attenanhang. Leipzig, Dunder & Humblot. 1896. XVII, 
WS. 22M. 


Mit dem hier vorliegenden Bande veröffentlicht der Hanf. Geſch.⸗ 

Verein eine neue Reihe feiner Publikationen ; jie fließt ſich an die 
von D. Schäfer bearbeitete 3. Ubtheilung der Hanferecefje an und 
fol einen Überblid geben über die für die hanſiſche Geſchichtsforſchung 
des 16. Jahrhunderts vorzüglich in Betracht kommenden Beftände 
deut ſcher Archive. Der Anfang ijt hier mit Köln gemacht, auf einen 
2. ST ölner Band fol Braunfchweig folgen; für Danzig ift ein In⸗ 
ven tar in Borbereitung, für Lübed eined in Ausfiht genommen. 
Üe äußere Form der Berdffentlihung ift die der Regeſten; der vors 
egende Band enthält deren nicht weniger als 3770. Zugleich aber 
ſin D eine anſehnliche Reihe von Aktenſtücken, die 300 Seiten des 
Daradez füllen, ganz oder in ausführlicher Inhaltsangabe abgedruckt. 
derner jind, was fi) bei den meiſten ähnlichen ausländifchen Pu— 
blikationen nicht findet, eine Anzahl von Anmerkungen hinzugefügt, 
die neben fritifchen Bemerkungen zahlreiche dankenswerthe Literatur: 
nachweiſe enthalten. Die ganze Publifation macht den Eindrud einer 
Äußerjt gewiljenhaften archivaliſchen Arbeit, für die, wie dem Verein, 
jo namentlich den Bearbeitern hohe Anerkennung gebührt. Im Ganzen 
tellt dad Werk eine der wichtigſten Altenpublifationen des 16. Jahr⸗ 
bundert3 dar. 

inhaltlich bietet diefer Band eine ſolche Fülle von Stoff, von 

Bereicherung unjerer Kenntnijje, daß ed unmöglich ijt, in einer furzen 
Anzeige Alles nach Gebühr zu würdigen. Die 40 Jahre, die diejer 
Band umfaßt, zeigen ung die Hanfe in einem fteten Kampf, nicht 
mit Wehr und Waffen, jondern mit Papier und Privilegien, mit Öe- 
fandtichaften in’3 In- und Ausland, mit Verhandlungen und Ber: 
trägen. Es war eine ſchwere Zeit für die Hanje. Der Anfang des 
Inventars reicht noch hinein in die Wullenweber’fhen Wirren, den 
lübifch-dänifchen Krieg, die letzte friegeriihe Erhebung der Hanſe 
„gegen die jelbjtändig ji) emiporhebenden Reiche ded Nordens“. 
Bon allen Seiten dringt e3 feitdem auf die Hanje ein; neue wirth- 
Schaftliche Unfchauungen, von jungaufitrebenden Staaten getragen, im 
Verein mit politiiden Neubildungen an den Grenzen des Reichs er- 
ihüttern den alten Bund bis auf's innerjite Marl. Die ruſſiſche und 


104 Literaturbericht. 


ſchwediſche Gefahr, namentlich aber die livländiſche Frage iſt ein 
ſtehender Artikel der Hanſetage. England emanzipirt ſich entſchieden 
und ſich ſeines Zieles mehr und mehr bewußt werdend von der 
Hanſe; auch im Weſten bedroht ſie der heraufziehende ſpaniſch-nieder⸗ 
ländiſche Konflikt, wenn er auch zunächſt in ſeiner vollen Bedeutung 
noch nicht erkannt wurde. Und im Innern der Hanſe, den Städten, 
ein unruhiges Getriebe von miteinander ſtreitenden Intereſſen poli— 
tiſchen, konfeſſionellen, wirthſchaftlichen Charakters. Fragen der Elb⸗ 
zollprivilegien und Weſerfahrt, des Hamburger Bierſtreits und bre⸗ 
miſcher Rathsfehden, der Glaubenswirren und Kanzelzänkereien u. a. m. 
jind zwiſchen die die eigentlihen Kernfragen hanſiſcher Politik be- 
handelnden Receſſe u. f. w. gejtreut. Aber auch in den jpezifiich 
hanfiihen Dingen ftoßen wir auf eine Yülle von Kleinkram jtets 
wieder auftauchender Bejchwerden, meiſt alter guter Bekannter aus 
der Blütezeit ded Bundes; die Klagen über die Benußung „une 
gewohnter Seewege“, über die „butenhanfiihe Schifffahrt”, über die 
Fahrt nördlich von Bergen, über die butenhanfifchen Faktoren u. a. m. 
gehören hierher, — Alles Fragen, im Einzelnen geringfügig jcheinend, 
im Zufammenbang nit dem Ganzen aber dod) wichtig und zu be= 
tradhten als Baufteine, hier und da abbrödelnd von dem jtolzen, 
dem Untergang geweihten Bau. 

Es ift im allgemeinen fein erfreuliches Bild, dad ung das Stu- 
dium dieſes Bandes bietet. Wohl mahnte der Kaifer, mahnten ein- 
ſichtige Städte und Genoſſen wiederholt zur Einigfeit, wohl iſt er- 
freulid) die Rührigkeit eines Mannes wie Sudermann, defjen un 
ermüdliche Thätigkeit für die Sache der Hanfe beinahe auf jeder Seite 
de3 Bandes bervortritt. Aber die Nuglofigleit jener Mahnungen, 
diefer Thätigkeit tritt doch offen zu Tage. 

Wohl am meiſten Aufklärung erhalten wir durd) dies Inventar 
über die Beziehungen der Hanfe zu England; was ji bier findet 
über da8 Londoner Kontor, den Kampf der Hanſe mit Eduard VL, 
der 1552 die hanſ. Privilegien aufhob, und feinem Nachfolger, ift 
fehr reichhaltig. Durch dies umfangreihe Material treten diefe Ver- 
hältnifje in eine Beleuchtung, die jich allerdingd von derjenigen, in 
die jie Ehrenberg zu ſetzen verſucht hat, himmelmweit unterfcheidet 
(vgl. Höhlbaum in Hanf. Geſch. Bl. Jahrg. 1895); gerade die wich— 
tigften Altenftüde, wie der Bericht Sudermann's über die Gefandt- 
ſchaft 1556, die Artikel ded Hanfetag gegen den Handel ınit England 
(1557), Sudermann’d Proteft gegen die hamburgijch = englifchen 


Köln: Bommern. 105 


Abmachungen (1567), die lagen der Londoner Kaufleute über die Ojter- 
linge (1555) und viele8 Andere mehr find Ehrenberg entweder un- 
befannt geblieben oder gar nicht oder nur oberflächlich von ihm benußt. 
— Mit den Herausgebern ftimmt Ref. ganz überein in der Anjicht, 
daß eine befondere Bearbeitung und Herausgabe aller Ordnungen 
und Statuten für das Londoner und die übrigen hanf. Kontore fehr 
münfchenswerth ijt. — Nächſt den englifchen ftehen die niederländifchen 
Verhältnifje im Vordergrunde des Intereſſes. Brügge war „in Ab- 
gang gekommen“, das Kontor nach Antwerpen verlegt. Hier find 
nomentli hervorzuheben die Verhandlungen über die Reliden; der 
Ration in Antwerpen (1561 ff.), gegen die befonder8 Danzig ent— 
ſchiedene Oppojition madte, inden es dieſe Nicderlafiung als ein 
„Bagnid“ bezeichnete; die Vorzüge Middelburg’3 wurden ſchon damals 
berauggeftrichen. In Verbindung mit diefen Plänen ftehen die Pro= 
jefte über ein Bufamniengehen der Hanje mit den Niederlanden, mit 
Spanien gegen England, Projekte, in die auch Wilhelm von Oranien 
verrwidelt war. Aus den Beziehungen zu SFranfreid) möge das its 
tereſſante Material genannt werden, das über das Angebot des Königs, 
ein hanſiſches Kontor in feinem Lande zulaſſen zu wollen, handelt; be—⸗ 
dertenswerth iſt insbeſondere der Entwurf zu einem Handelsvertrag 
der Hanſeſtädte mit Frankreich vom Jahre 1568. Höhlbaum jtellt eine 
geſonderte Bearbeitung dieſer ſehr verwickelten Verhältniſſe in Ausſicht. 
Uberhaupt wird man erſt auf Grund dieſes und der andern in Ausſicht 
genommenen Inventare daran gehen können, hanſiſche Geſchichte im 
16. Jahrhundert zu fchreiben. Ältere und neuere Spezialbearbeitungen 
Werden durch diefe Veröffentlihungen antiquirt. Gerade in Ddiejer 
Erwägung aber ijt e8 zu hoffen, daß die Inventare ohne Unter— 
brechung möglichit ſchnell herausgegeben werden. 
Hamburg. E. Baasch. 


Verfaſſungs⸗ und Wirthichaftsgejchichte des Herzogtums Pommern von 
1478 bis 1625. Bon M. Spahn. (Staats: und jozialwiijenichaftliche 
Sorihungen. Herausgegeben von G. Schmoller. 14. Band, 1. Heft.) 
Leipzig, Dunder & Humblot. 1896. 202 ©. 

Die Verfaſſungs- und Wirthſchaftsgeſchichte einer großen Land— 
Ihajt in dem quellenreichen Zeitraum von 1478 bis 1625 alljeitig 
und zwar fo, dab nicht bloß ein Grundriß gegeben wird, auf 
202 Sciten darzujtellen, ijt ganz unmöglid. Der Bf. der vorliegenden 
Eritlingsfchrift hebt denn auch felbit bereit hervor, daß dad Buch 


Riteraturbericht. 


„et ganz das enthalte, was der Titel anlündigt. Verhältnismäßig 

gehend jind nämlih nur die landjtändiihe Verfafjung und bie 

nterorganifation behandelt. Allein auch diefe jind noch zu fnapp 
eggefommen. Eine Erſtlingsſchrift ſoll ihre Eriitenzberechtigung 
adurch darthun, daß fie etwas beweilt, unterjucht. Indeſſen gerade 
yavon finden wir bier jo gut wie nichts. Der Bf. erzählt und im 
Dozententon, und dazu noch vft in einer fehr abitraften Urt, jo und 
fo ſei es gewejen. Aber wir erjahren nicht, wie er zu diefen Ans 
jihten gelangt. Ein anderer Recenſent (Qohmeyer im Liter. Central⸗ 
blatt 1896, 31. Dftober) bat ſchon auf den Mangel hingewieſen, 
dag Spahn feine Belegitellen anführt. Die Frage, wie weit man 
im Citiren ardhivaliiher Quellen des 16. Jahrhunderts gehen ſoll, 
ijt gewiß nicht ganz einfady zu löfen. Wenn uns jedoch ſchlechter⸗ 
dings gar fein Beweismaterial geboten wird, fo iſt daS jedenjalld 
nit zu billigen. Die Tarjtelung macht dadurd) einen weniger 
glaubwürdigen Eindrud, während ihr thatjählid vielleicht GOlaub⸗ 
würdigfeit durchaus zufommt. Die Schilderung der Entiwidlung des 
Rathes 3. B., die Ep. gibt, ift mir recht wenig wahrjcheinlid. Hätte 
er jie mit einigem Beweißmaterial verjehen, fo würden wir wenigftens 
willen, woran wir ſind, während wir jegt hier und aud) an anderen 
Punkten und darauf bejchränfen müſſen, Fragezeihen zu machen. 
Aber aud) abgejehen von der unterlafjienen Beweisführung iſt Sp. 
Daritellung zu furz und zu dürftig gerathen. Er deutet zu oft nur 
fur, an oder referirt mit ein paar Worten über den Inhalt eines 
Aftenjtüdd, wo wir eine tief grabende Entwidlung der Dinge vers 
langen. ©. 11 jagt er z. B.: „Qangjamer, aber no zu Bogislav's 
Zeiten bildete jih der Grundſatz aus, daß aud die Reichsſteuern 
nit aus dem .füritlichen Einfonmen, jondern durch das Land auf: 
zubringen feien.“ Wie kann man dies wichtige Problem fo leichthin 
abmaden? Warum treibt man heute jo viel Verfaſſungsgeſchichte, 
wenn man gerade an jolchen Problemen jo jchnell vorbeigeht? Man 
jpricht heute jo viel über die Nothiwendigkeit verfaſſungs- und wirthe 
Ihaitsgefhichtliher Studien und richtet ſchwere Vorwürfe gegen die 
„politiſchen“ Hiltorifer. Aber wie vicle Arbeiten aus jenem Gebiet 
gibt es, die dem wiſſenſchaftlichen Bedürfniß wirklich genügen? „Gebt 
und glückliche Vorbilder!” — rufen wir mit Knapp (9. 3.78, 42; 
vgl. 75, 405 Anm. 1). ©. 42 wird die Frage des freien Verſamm⸗ 
lungsrechtes der Stände auc wieder bei weitem nicht gründlid) genug 
erörtert, ©. 172 ebenjowenig die Frage der Stellung der Fremden. 





Ponnern; Schleſien. 107 


Überall wären reichlichere Mittheilungen und eine gründlichere Berüd- 
ſichtigung des gefchichtlihen Zufammenhangs nothwendig geweſen. 
Ich Habe mich über diefe Mängel der Arbeit bier ausführlich) 
geäußert, weil fie leider bei ErftlingSarbeiten nicht ganz jelten find. 
Man kann keineswegs behaupten, daß ed dem Bf. an Gründlichkeit 
jehlt. Allein indem cr sich ein Ziel jtedte, das er nicht vollitändig 
erreiden konnte, jind viele Partien des Buches ungründlid) aus— 
gefallen -— ganz gewiß wider feinen Willen. Es wäre beijer gemejen, 
er hätte jich auf ein enger begrenzted Gebiet, etwa die Behörden- 
organijation, bejchränft!), dieſes dann aber gründlich behandelt. Daß 
er die Landtagdgeichichte mitbehandelt hat, können wir ſchon aus dem 
Grunde nicht billigen, weil diefe nie dargeftellt werden follte, bevor 
ei me wiſſenſchaftlichen Anſprüchen vollfommen genügende Edition der 
L Amdtagsakten (zum mindelten für da3 16. Sahrhundert) vorliegt. 
IL Brigens wollen wir, indem wir diefe Ausstellungen machen, nicht 
Mwuterlafien zu betonen, daß auch in der jegigen Form Sp.'s Bud) 
Del Lehrreiches bietet. Er hat zweifellos treuen Fleiß auf feine 
Uxheit verwandt und zeigt auch für einen Anfänger viel Sachkenntnis. 
mſomehr müfjen wir bedauern, daß er in der Wahl de3 Themas 
"U ücht glüdlicher geweſen ift. Leider verfügt er nicht über eine gefchidte 
MU usprudsmeife; die Lektüre ijt wenig angenehm. G. v. Below. 


Die Organifation der Gejammtitaatsverwaltung Schleſiens vor dem 
Dreißigjährigen Kriege. Bon Zelir Nahfahl. (Staatd- und ſozialwiſſen⸗ 
Ichaftliche Forichungen. Herausgegeben von G. Schmofler. Heft 55.) Leipzig, 
Dunder & Humblot. 1894. XL, 482 ©. 

Der Beridteritatter ijt in der angenehmen Lage, heute ein Wert 
beiprechen zu können, bei dem die an einen fchwierigen Stoff ge- 
wandte Mühe und Sorgfalt mit den Ergebnijjen des Bf. in günftigem 
Verhältnis fteht. Schlefien, dag Rachfahl zum Gegenjtand feiner 
Unterſuchungen gewählt hat, war von Haufe aus jlamwifcher Boden. 
Es bildete zuerjt einen Theil de3 polnischen Reiches, von dem es jich 
thatſächlich im Jahre 1163 und formell zu Beginn des 14. Jahrh. 
trennte. Deutſch wurde das Land erſt ſehr allmählich durch die Ein— 
wanderung deutſcher Anſiedler, die vor dem Jahre 1175 begann und 

1)J Eine ſolche zweckmäßige Beſchränkung findet ſich in der inzwiſchen 
erſchienenen Arbeit von Schottmüller über die Organiſation der Gentrals 
verwaltung in Cleve⸗Mark (Schmoller’3 Forſchungen 14, 4). 


108 Literaturbericht. 


bis zum 14. Jahrh. währte. Der Vf. beginnt daher das 1. Kapite 
über die Grundzüge der öffentlichen Verwaltung Schleſiens im Mittel 
alter durch einen Abſchnitt über die inneren Verhältniſſe des alt 
polniſchen Reiches und unterſucht erſt dann die Veränderungen, welch 
Schleſien unter dem Einfluß der Koloniſation und Germanifatioı 
erfahren hat. Das 2. Kapitel ift den Einungdbeftrebungen der ſchle 
ſiſchen Fürſten und Stände im 15. Sahrhundert, fowie der Regierumn, 
des Mathias Corvinus in Schleſien gewidmet. Mit einem furzeı 
Rüdblid (S. 127 ff.) ſchließt das 1. Bud. Hierauf wird im 2. uni 
3. Bud) die Gefammtjtaat3verwaltung Schleſiens im 16. Jahrh. ü 
je drei Kapiteln und einer Einleitung abgehandelt, und zwar merdeı 
im 2. Bud) (S. 133— 258) das Oberamt, das Ober: und Fürſtenrech 
und die Appellationsfanımer zu Prag al& allgemeine Landes- uni 
Gerichtsbehörden beiprohen. Das 3. und legte Buch (SG. 261—397 
betrifft die Finanzbehörden in Schlefien. Die Beſchlüſſe des Prage 
Generallandtaged vom Sahre 1552, welche dem Könige allen Einflul 
auf die Erhebung und Sammlung der Schaßungdfteuer entzogen 
jpalteten den gelammten Finanzdienſt für Schleſien bis auf Di 
unterften Organe „in zwei ſcharf von einander gejonderte Komplexe“ 
von denen der cine vom Slönige, der zweite von den Ständen ab 
hängig war. Der Bf. benugt darum für das 1. Kapitel das Jah 
1552 als zeitlichen Abſchnitt und befpricht dann in Kap. 2 die könig 
lihen, im dritten die Zandesfinanzbehörden jeit 1552. Auf ©. 39 
bis 405 werden die wichtigiten Ergebnifje der Unterſuchung in ge 
drängter Kürze wiederholt, und von S. 409 ab nod) Erfurfe und ei 
Urkundenanhang geboten. 

Am wenigiten gejichert ericheinen dem Berichterjtatter der Abfchnit 
über die altpolnifhen Einrichtungen, S. 1—37, und die Exkurſe L, I 
„Anfichten über die Entitehung der altpolniſchen Geſellſchaft“ un 
„Zur Geſchichte der ſlawiſchen Befigverhältniffe”. Wohl hat der DI 
auch bier fo ziemlich Alles geboten, mad man nad) den: heutige: 
Stand der Vorarbeiten erwarten durfte, namentlich aud die ein 
ihlägige polnische Literatur mit Hülfe des Herru San v. Kochanomwäl 
aus Krakau eingehend berüdfichtigt. Leider ift jedod) der Quellenſtof 
für die ältefte polnische Zeit dürftig und unbeftimmt, daher ver 
Ihiedener Deutung unterworfen. So lange man nidht einmal von 
einer communis opinio der polnischen Gelehrten in diejen Frage 
jprechen Tann, weiß der fremde Forſcher umjoweniger, wo er au 
jihern Grund zu bauen vermag. Findet beijpieldweije die feit den 





110 Literaturbericht. 


kraft landes- und lehensherrlicher Gewalt zu einer vom Willen de 
Stände unabhängigen Vereinigung der Fürſten, Ständeherren un 
Städte entwickelte. Mit eiſerner Hand eingreifend, war er bemüh 
ſtaatliche Autorität und Ordnung in dem arg zerrütteten Lande wied 
herzuſtellen. Die Ohnmacht feiner beiden nächſten Nachfolger Wladis 
(au8 und des unglüdlihen Ludwig, von welden: die böhmiſche 
Barone fpottend fagten, er fei ihr König und fie feien feine Herrei 
unterbrach jedoh die Entwidlung, die fo Hofinung3voll begonne 
hatte. Ein Glück, daß die fchlefifhen Stände ihre Macht und d 
Schwäche des Königthums unter den Jagellonen nicht benußten, u 
den neu errichteten Einheit3bau zu zeritören, jondern daß jie ft 
damit begnügten, ihren Antheil an der Gentralgewalt durch ausdrüc 
liche Genehmigung der Krone theil3 ficher zu jtellen, theil® zu erweitern 

Die Wiederaufnahme und Vollendung des von dem großen Corp 
begonnenen Werkes blieb den Habsburgern vorbehalten, welche m 
König Ferdinand I. im Sabre 1526 die Herrihaft in Schlefien aı 
traten. Epochemachend für die Gefchichte der öffentlichen Entwidlun 
des Landes durch ſtärkeres BZufanımenfafjen der Sträfte, un den Yu 
gaben zu genügen, weldye nun die Zeit an den Herrſcher jtellte, wı 
vor allem die Regierung des eriten Ermwerberd. „Alles, was für d 
Sentralifation de3 inneren Staat3lebens in Schlejien vor dem Dreißi 
jährigen Kriege feitend der Krone geleiftet wurde, tft in der Haup 
ſache dad Werf Ferdinand’3 I.; er fchuf die Grundlagen, auf den 
feine Nachfolger nur weiter zu bauen brauchten. Unter ihm bilde 
jih die föniglihe Gewalt, dieſes Konglomerat von lehens- und lande 
berrlihen Rechten und deren Trümmern, um zu einer wahren, gaı 
Schleſien und die vielfältigiten Gebiete des öffentlichen Leben? un 
faſſenden Obrigkeit, zu einer wirklichen Staatögewalt.“ (©. 140.) 

Auf Einzelheiten einzugehen, verbietet der Inapp bemeſſene Rau 
diefer Anzeige. Es genügt, hervorzuheben, daß R.'s Unterfuchung: 
auf dem Gebiet der Verwaltungsgeſchichte Schlefiend grundlegend fin 
Mit gewiſſenhafter Objektivität twiegt der Verfajjer die entgegengejeßt: 
Beitrebungen der Herriher, wie der fhlefifchen Stände und gelan 
jo zum Scluffe, daß die Löfung jener Aufgaben, die den Ständı 
unmöglid) gewejen war, mit Nothiwendigfeit auf das Königthu 
übergegangen fei, Das fich feit Ferdinand I. feinen neuen Pflicht: 
gewachſen zeigte, eine wahre Staatögewalt ſchuf und den abſtrakt 
Staatsgedanken aufnahm (S. 402). 

Graz. Luschin v. Ebengreuth. 


Oſterreich. 111 


Sigmar und Bernhard von Kremsmünſter. Kritiſche Studien zu den 
Geſchichtsquellen von Kremsmünſter im 13. und 14. Jahrhundert. Bon 
I Loſerth. (Aus dem Archiv f. öfterr. Gedichte. Bd. 81, 2.) Mit 
2 Tafeln. Wien, Tempsty. 1894. 100 ©. 

2. nimmt damit feine vor 22 Jahren veröffentlichten kritiſchen Unter- 
fuhungen über die kremsmünſterer Gefchichtöquellen wieder auf und 
gelangt im Widerfpruh zu G. Waiß durch Vergleihung der Hand- 
ſchrift Nr. 610 der k. u. k. Hofbibliothef in Wien, welche die Krems— 

münfterer Abtslijten enthält, mit der Kremsmünſterer Handichrift Nr. 401, 
weiche die narratio de ecclesia Chremsmunstrensi in jich birgt und 
bithex als das Autograph des Bernhardus Noricus galt, zu dem Ergebnis, 
dag wir in beiden Handichriften ed mit Arbeiten des Kremsmünſterer 
Gro ß kellers Sigmar zu thun haben, die ſich zu einander verhalten 
wie Der Entwurf zur verbefferten Reinſchrift; als ſolche ftellt ſich 
die Wiener Handfhrift dar. 2. hat Sigmar's literarifhe Thätigfeit 
auf Grund der vorhandenen Handjchrijten und mit Hülfe paläogra= 
phiſ cher Unterfuhungen — deren Ergebniffe troß der beigegebenen 
Shrüfttafeln für ſich allein allerdings nicht ganz überzeugen fünnten — 
dis in's Einzelne verfolgt, feine Lebensumſtände aufgehellt (Mobei u. a. 
gegen Waitz eriviefen wird, daß Siginar nicht ſchon vor 1298 gejtorben 
it, fondern wahrfcheinlich bi 1326 gelebt hat) und vor allenı dargethan, 
daB in der Gefchichte von Kremsmünſter für den Namen Bernardus 
Roricus fein Platz fei. Es ijt diefer Name in die Geſchichtsliteratur 
vermuthlih durch ein Mißverſtändnis Aventin's gekommen, der 
den Bernardus Noricus, ohne einen Gewährdmann zu nennen, als 
Mönd von Kremsmünſter und Verfaffer einer Gefchichte von Baiern 
bezeichnet. Die Münchner Handichrift Nr. 1273, die denjelben Ber- 
nardus Noricus als Verfaſſer der in ihr enthaltenen Stüde hiltorischen 
Inhalts nennt, gehört dem Ende des 16. Jahrh. an; die erwähnten 
Stüde jelbjt find, wie Niezler erfannt hat, einige Kapitel der Grün- 
dungsgeſchichte von Tegernſee. 

2.3 Unterſuchung jind zwei Exkurſe über den liber vitae von 

Kremdmünjter und über die vita Agapiti beigegeben. A. Chr. 


Urtundenbuh der Abtei Sankt Gallen. Herausgegeben vom Hiſtoriſchen 
Berein des Kantond St. Gallen. Bearbeitet von Hermann Wartmann. 
Theil 4, Lieferung 1—3. St. Gallen, Huber & Co. (E. Fehr). 1892— 94. 
IV, 656 ©. 

Seitdem 9. 3. 36, 619 u. 620 da3 1. Heft von Band 3 des 
Urkundenbuchs der Abtei St. Gallen angezeigt wurde, ijt 1882 mit 


112 Riteraturberidht. 


dem Jahr 1360 jener Band abgeſchloſſen, aber au mit 1892 
Band 4 begonnen worden, von dem zur Stunde drei Lieferungen, 
699 Stüde enthaltend, vorliegen. Der unermüdlicdde Präftdent des 
biftoriichen Vereins von St. Gallen fand wieder die Muße, fein Werl 
neu aufzunehmen, von 1360 bis 1402 das Urkundenbucdh fortzufegen, 
ganz bejonderd da ein zuverläfjiger Gehülfe, der Kuftod der Samm⸗ 
lungen, Emil Hahn, ihm die Laſt der früher ſelbſt beforgten Urkunden⸗ 
fopiaturen abnahm. Neben dem Etift3ardiv ift jeßt das ftädtifche 
Archiv von St. Gallen, mit Inbegriff des Spitalardivs, ald Material 
liefernd eingetreten, jo daß der Titel des Urkundenbuchs nur nod 
zum Theil dem Inhalte entfpridt. Ein Vorwort bringt die Rechen: 
ihaft über die Editiondgrundfäge. 

In ausgedehnteftem Umfange treten jeßt die Urkunden in 
deuticher Sprache in den Vordergrund. Ebenfo find die allermeijter 
Stücke des Bandes ganz neu mitgetheilt, auch die ziemlich zahlreicher 
föniglihen Urkunden, etwa ein Biertelhundert, ziemlich gleich viel: 
von Karl IV. und Wenzel, zwei von König Ruprecht, zumeijt biäheı 
nur im Regeſt oder noch gar nicht befannt. Sehr treten die Papft 
urfunden zurüd. Eine Abtregierung, die de? Georg v. Wildenjtein 
(bi8 1379), ift ganz hier repräfentirt; von dem Nachfolger, Kun: 
v. Stoffeln, fehlen noch die neun legten Jahre. Selbitverjtändlid 
fällt auch hier wieder die große Menge der Urkunden auf die Un 
gelegenheiten des Kloſterbeſitzes, Gefchäfte der verſchiedenſten Art 
einmal, als Nr. 2200, jteht auch ein Einfünfterodel, der Kirche 3; 
Niederſtammheim. Die benahbarten Dynaftenhäufer, Toggenburg 
die verfchiedenen Linien von Montfort, aber ganz bejonders Di 
ritterlihen Minifterialen, von denen mande gegenüber dem Gottes 
haufe zu anſehnlicher materieller Stellung emporwudjfen, voran di 
Ramſchwag, die Landenberg, die v. Rorſchach, v. Roſenberg und jı 
viele andere Namen, treten hervor. Auch für einzelne Beziehungen 
von Dpnaften zu ihren Unterthanen find die Urkunden, weil fie jeß 
zum Kanton St. Gallen zählende Orte betreffen, herangezogen, ſi 
für die Stadt Lichtenfteig des Toggenburgerd? Donat die Dre 
Stadtrehtöbriefe von 1400 — Nr. 2204 und 2205, 2207 — au 
dent dortigen Stadtarchiv. Dagegen beginnt anderntheils auch da 
Haus Diterreih in diefe Territorien des heutigen Kantons durc 
Güterkauf einzugreifen. 

Sndefjen treten jetzt auch neue Faktoren zur Seite des Gottes 
baufes immer deutlicher hervor. Neben der Stadt St. Gallen, di 





Öfterreih ; Schweiz. 113 


an den häufig bier bezeugten Städtebündniffen fi) betheiligt, ihre 
Angelegenheiten immer felbitbewußter ordnet, erfcheinen die Appen- 
jellex, in ihren UAnlehnungsverfuhen an St. Ballen, an die Städte 
um Den Bodenjee (allerdings find gerade diefe Urkunden zumeift nicht 
neu, ſondern ſchon von Zellmeger mitgetheilt worden). In Abt Kuno's 
Zeit erwachſen ſchon fehr bald neuerdings, von 1380 an, die Bwiftig- 
feitern mit der Stadt. Der Abt Hingegen fchließt am 23. Januar 
1392 auf Lebenszeit mit Herzog Leopold IV. von öſterreich das 
bier als Nr. 2028 aus dem Luzerner Staatsarchiv mitgetheilte 
Vvün Dnis, und am 13. März 1400 verpflichtet jih Hug v. Rofen- 
egg Propſt zu Friſen, dem Herzog, der ihn, ſobald die Abtei 
St. Gallen ledig werde, zum Abt daſelbſt befördern will (Nr. 2192, 
auchh aus dem Luzerner Archive). Neue Verwicklungen kündigen ſich 
damit an. 
Da8 15. Jahrhundert ift das achte Jahrhundert, in das der 
Ver üüger des Urfundenbuches an Hermann Wartmann’3 zuverläffig 
N Tender Hand hier eintritt. Möge ed ihm vergönnt fein, die ihm 
zu Yo hohem Dante verpflichtete Hiftorifche Forſchung noch recht weit 
in Ddieſe lebte Zeit des Mittelalter hineinzuführen. M.v.K. 


Bater Theodoſius, ein "menfchenfreundficher Prieiter. Bon Dr. P. G. 
. Mlauta. Bern, 8. 3. Wyß. 1893. 111 ©. 


Andrea? Rudolf v. Planta, ein republifanifher StaatSmann. Bon 
Dr. 8. €. v. Plauta. Zürich, Art. Inftitut Orell Füßli. 1893. 170 ©. 


Zwei ſehr verjchiedenartige, aber gleich beacdhtendwerthe Perjön- 
lich keiten des an bedeutenden Individualitäten ſo reichen Landes 
Graubünden bat Hier der gleihe Biograph zur Daritellung gebradt: 
dert katholiſchen Ordensmann, Kapuziner, P. Theodoſius Florentini 
MS dem Dorfe Münſter an der Tiroler Grenze, geboren 1808, 
ge Frorben 1865, und den reformirten Bolitifer und Volfswirthichafter 
ARD dem Engadin, angefehenen Urjprungs, Andreas Rudolf v. Blanta, 
ge Boren 1819, geftorben 1889. 

P. Theodofiu8 war nicht nur innerhalb ſeines Ordens zu hohen 
Stellungen emporgelangt, fondern aud) 1859 Generalvifar des Biſchofs 
don ur geworden; aber feine eigentliche Bedeutung, mochte er auch 
AUS Prediger und religidier Schriftjteller einen angefehenen Namen 
D ben, lag auf dem Gebiete der mit größter Aufopferung und 

illenskraft betriebenen Organiſation freier Bethätigung für Erziehung, 


Oiſtorijche Zeitſchriſt N. J. Bo. XLIII. 8 


114 Niteraturbericht. 


Krantenpflege, für Hereinziehung der Induſtrie in die Verbindung 
mit chriſtlichen ©efichtäpunften, und hierin zeigte er überall eine 
geradezu großartige jchöpferiihe Energie, wenn auch einzelne zu 
fühne Gründungen, Verſuche, Fabrifationdgewinn für die Hebung 
der arbeitenden Bevölkerung ſelbſt zu verwerthen, fcheiterten. Auf⸗ 
gerieben durch die enormen Anftrengungen, jtarb der merkwürdige 
Mann plöglid am Schlagfluffe. 

Planta wurde in einer Charafteriftif, die ein gefchidter Beurtheiler 
der jchweizerifchen Bundesverjammlung, ald Planta Prälident des 
Nationalrathes war, 1865, von ihm entwarf, „zunächſt Rhätier an 
Leib und Seele und nicht minder ein vortrefflicher Eidgenofje” ge- 
nannt. Föderaliſt in der Vertheidigung der forderungen feines 
eigenartigen Heimatkantons, war er doch in dieſen reifen der 
Bundesverfamnilung, wo er glei anfangs 1848 big 1869, ebenfo 
wieder feit 1876 bis 1881 dem Nationalrathe angehörte, eine jehr 
angefehene Perjönlichfeit. Als gemeinnüßiger Förderer volkswirth— 
ichaftlicher Interefien diente er voran Graubünden als ein Haupt 
urheber des Ausbaues des Netzes der Gebirgsitraßen, der Poſt—⸗ 
verbindungen, wobei er feinen Einfluß, jo binfichtlid der Neu— 
eröffnung der Fahrten über die dem Verfall anheimgegebene Stelvios 
itraße jeit 1869, auch über die Schweizergrenzen hinaus ausdehnte; 
ferner aber gab er als einfihtiger Sachverjtändiger auf dem Gebiete 
der Land» und Forſtwirthſchaft, der Viehzucht und Alpenwirthſchaft 
weiter wirkende trefilihe Anregungen. Allerdings, in einer eifrig 
verfolgten ‘rage, der ded Ausbaues der Eifenbahnverbindung von 
Cur nah Mailand über den Lukmanier, unterlag er der centraleren 
Linie über den St. Gotthard. — Als „Anhang“ ijt eine intereffante 
Berichtigung Planta's zu der Nede des Fürſten Bißmard im deutfchen 
Reichstag vom 6. Februar 1838 wieder abgedrudt; gegenüber der 
Ausführung, daß die Schweiz die glüdlihe Löfung der 1856 aufs 
getauchten Neuenburger Frage einzig ſterreich zu verdanfen gehabt 
babe, Napoleon III. dagegen feindjelig gegen diefelbe verfahren fei, 
betonte nämlich Planta, der als Mitglied der nationalräthlichen 
Speziallommijjion damald genaue Einfiht in den Gang der Dinge 
hatte gewinnen fönnen, den Verlauf, wie der franzöfische Kaifer zuerft 
durch den nad) Paris berufenen General Dufour, dann durch den 
nachherigen ſchweizeriſchen Minifter Dr. Kern dem Bundesrathe die 
jörderlihen Rathſchläge zur Löſung der verwidelten Angelegenheit 
babe zukommen laſſen. M. v. K. 


Schweiz. 115 


Biographie, travaux et correspondances diplomatiques de 
Ch. Pictet de Rochemont, depute de Gene&ve aupres du congr&s de 
Vienne, 1814, envoy& extraordinaire et ministre plenipotentiaire de 
la Suisse à Paris et à Turin, 1815 et 1816 — 1755 a 1824. Par 
Edmond Pictet. Geneve, H. Georg. 1892. X, 444 ©. (Mit Rorträt 
und arte.) 


Charles Pictet de Rochemont ift eine der außgeprägieiten Perſön— 
fichleiten des ſchweizeriſchen politiſchen Lebens in den erjten Jahr—⸗ 
zehnten unſeres Jahrhunderts. Ein Altgenfer, der ſich nach der 
zwangsweiſen Einverleibung ſeiner Vaterſtadt in das franzöſiſche 
Territorium über den Verluſt einer Bethätigung im öffentlichen 
Leben dadurch tröſtet, daß er einen angekauften Landbeſitz in eine 
Muſterwirthſchaft umwandelt und daneben in der Ausgabe ſeiner 
zugleich mit dem Bruder, dem gelehrten Phyſiker Marc Auguſte 
Pictet, beſorgten Zeitſchrift Bibliothèque britannique — ſeit 1814 
Bibliothèque universelle — einen literariſchen Sprechfaal von 
höchſter Bedeutung begründet, tritt Pictet als einer der ohne Er— 
wägung der großen Gefahr, unter Entfaltung der verbotenen Genfer 
Farben, ſich voranitellenden Snitianten bei der Befreiung Genfs vom 
franzöſiſchen Joche, Ende 1813, wieder in die politische Laufbahn 
ein, gerufen durch den früheren eriten Syndif der alten Republik, 
Ami Lullin. Gleich ſchon bei der Sendung an die in Bafel an 
wejenden alliürten Monarchen in den eriten Tagen von 1814, zum 
Behufe der Erreihung des Anſchluſſes des in feinen Gebiete er: 
weiterten genferifchen Staat? an die Schweiz, ift Pictet in hervor: 
ragender Reife betheiligt, und der Eindrud des ausgezeichneten 
Genfers, den diefer auf Stein hervorruft, ift ein jo nachwirfender, 
daß diefer ihn auffordert, ihn als Gcneralfefretär für die Aufgabe 
der Einrihtung der neu zu befependen franzöjifchen Gebiete in den 
Feldzug zu begleiten. Allein nähere Verpflichtungen führen Pictet 
Ende Februar nad) Genf zurüd, als ein franzöjifcher Angriff die 
Stadt bedroht. Mit Napoleon's Sturz folgen ſich dann nacheinander 
die widhtigften Sendungen Pictet's, nad) Paris, an den Kongreß von 
Bien, nad den Hundert Tagen nodymal3 nad) Paris, endlich nad 
Zurin, und zwar vertritt hier überall Pictet al3 gewandter ımd zus 
gleich charakterfeiter, von den maßgebenden europäifchen Kolitifern 
geachteter und gern angehörter Diplomat nicht nur die Eidgenofjens 
fchaft, jondern fpeziell auch die Intereffen feiner engeren Heimat. 
Die Bujammenfügung der Genfer Gebietjtüde zu einen: Ganzen durd 

8*® 


116 Riteraturbericht. 


Hereinziehung franzöfiiher und fardinifcher Wbtretungen und Here 
itellung eines territorialen Zujammenhang® mit dem Waadtland und 
dadurch mit der Schweiz war Pictet’3 Bemühungen zu verdanfen. 
Daß es nicht gelang, die feiner Einficht in militäriihe Dinge ents 
ſprechenden jtrategifchen Grenzlinien — bonnes frontieres — für 
die Schweiz zu erlangen, war nicht feine Schuld. — Nochmals trat 
er in feinen legten Tagen hervor, 1823 mit einer Antwort auf 
Sebaſtiani's Drohungen in der franzöfifchen Kammer: La neutralite 
de la Suisse dans l’inter&t de l’Europe, wieder 1824, als er in 
maßvollen Erwägungen von Erweiterungen der Genfer Fortifilationen 
abrieth, unbefümmert darum, daß alte Freunde und Geſinnungs⸗ 
genofjen deswegen an ihm irre werden wollten. 


Dieſes bejonderd in den Jahren 1813— 1816 Außerft reiche 
Leben eines als Menſch und als Bolitifer ganz hervorragenden 
Mannes ift in dem Buche unter Ausnutzung der großen privaten 
und öÖffentlidien Korrejpondenz vorgeführt. Die drei Viertel des 
Bandes, melde in Kapitel 3—6 die diplomatifhen Sendungen 
Pictet's behandeln, fchließen zahlreihe wörtlihe Auszüge dieſer 
Scıriftjtüde in ſich, welche jelbftverjtändlidy, befonderd aus der zu 
Wien vom 5. Oftober 1814 bis 31. März 1815 zugebradhten Zeit, 
neben den auf die Schweiz und Genf bezüglichen Fragen, eine Fülle 
weiterer wichtiger Beobachtungen enthalten. Die in diejen gleichen 
Monaten — im Januar — zuerjt in Pictet's Berichten auftauchende 
Angelegenheit der Neutralifation der nördlichen Theile von Savoyen 
findet danach in den Pariſer und bejonders in den Zuriner Berichten 
ihre Fortſetzung; überhaupt zeigte Pictet bei diefer legten Miſſion 
an den jardiniihen Hof nochmal feine vollendete diplomatifche 
Befähigung. Die dem Buche angehängte Karte illuftrirt Pictet’3 
Erfolg. Sie führt in verfchiedenen Farben daS alte Genfer Gebiet 
vor 1798, die 1815 und 1816 angejcjlofjenen Erweiterungen des 
Kantons, den Umfang der freien Bollzone, endlid die Ausdehnung 
de3 neutralijirten Savoyen vor. M. v. K. 


Les foires de Gen&ve au quinzieme siecle. Par Frederic Borel. 
Genève, H. Georg. 1892. VII, 286 5. —SPiöces justificatives. 25656. 


Durd) ‚ihre Lage, am Ausfluß ‚der Rhone kaus dem großen 
lemanifchen Seebeden, auf der Straße von den deutſchen nordöitlichen 
Grenzlandichaften her ftromabwärtd nad) Lyon und zum Mittelmeer, 


Schweiz. 117 


an derjenigen von ben nordweſtlichen burgundiichen Gebieten über 
bie Alpenpäſſe, voran den Großen St. Bernhard, nad Stalien, war 
die ſeit dem Anfang de3 14. Jahrhunderts politifch ſich immer freier 
ber egende Stadt Genf zu einem Verkehrsplatze ausgezeichnet geſchaffen. 
eine Frucht der neuerworbenen jtädtifhen Hoheit werden die 
RR efien von Genf durch daS 14. Jahrhundert hin zu einem wichtigen 
Gr Etor tbeil3 der ftädtifchen Entwidlung, theil® der Intereſſen näher 
Un D ferner liegender Landſchaften. Sieben bis acht Male alljährlich 
ab Dehalten, erblühen ſie immer kräftiger, bis die Konkurrenz der von 
der franzöfifhen Königthum begünftigten Meſſen von Lyon jie erft 
wmölert, dann ganz in ihrer Bedeutung berabbringt. Seit Qubd- 
Dig XI. 1462 den Franzofen den Beſuch der Genfer Meſſen verbot, 
Dexrmocdten diefe, wenn auch noch einzelne Erleichterungen, jo im 
"afang der Regierung Karl's VIII, eintraten, troß der zeitmweije 
Seschehenden hülfreichen Verſuche von favoyifcher, von eidgenöffticher 
Seite, fi nicht mehr zu behaupten, fo daß jie anı Ende des Mittel- 
Alters ganz von der früheren Höhe janfen. 


Diefes intereffante Kapitel ſtädtiſcher und kommerzieller Geſchichte 
Wird durd den Autor unter Zugrundelegung einer Sammlung von 
fünfzig zumeift dem Genfer Archive, daneben befonder8 aus Zurin, 
entnommenen Stüden, von 1400 bis 1503, bis in alle Einzelnheiten 
beleuchtet. Die Anftalten der bifchöflichen und ftädtifhen Behörden 
für die Meſſen und deren Beſucher — Polizei, Bauten von Hallen, 
Anlagen am Eeeufer zur Erleichterung der Landung, Sorge für die 
Beherbergung —, ferner die finanziellen Anordnungen und die daraus 
für die Stadt erwachſenden Einnahmen, die eigenthümlichen für den 
Berlauf getroffenen bauliden Einrichtungen in den ſtädtiſchen 
Straßen — die fog. hauts = bancs (logiae) mit ihren Holzſtützen 
und Vordächern vor den Häuferfronten — werden aus den Quellen 
eingehend geichildert. Die Bejuher der Meſſen — Franzofen, 
Burgunder, Savoyarden, Staliener, Deutfche, Schweizer Eidgenojien, 
Niederländer — werden gemuftert, ihre Waaren, das mit den Meſſen 
ſich kräftigende Genfer Gewerbe, die Handelsitraßen mit ihren Zoll- 
jtätten charalterifirt. Immerhin dürfte der Autor, wo ihm fpezifijche 
Genfer Angaben fehlten, da und dort etwas zu viel generalijirt, 
anderes Material zu ſehr zur Ausfüllung ſolcher Lücken herangezogen 
haben. Sehr anzuerkennen iſt die Ausarbeitung des einläßlichen 
alphabetiichen Regiſters. M. v.K. 


118 Literaturberidt. 


Louis Vulliemin d’apres sa correspondance et ses écrits. Essai 
biographique par Charles Vulllemin. Lausanne, Georges Bridel 
& Cie. 1892. 452 & (Mit Porträt.) 


Ein geiftig hervorragender, bis in ein hohes Alter thätiger, 
perjönlich ebenfo liebendwürdiger, al3 allgemein verehrter Repräfentant 
der welſchen Schweiz, der aber durch individuelle Beziehungen und 
wiſſenſchaftliche Arbeit zugleich mit deutſch-ſchweizeriſchen Verhältniſſen 
in enger Verbindung ſich hielt, war der 1879 im Alter von faft 
82 Jahren verftorbene Waadtländer 2. Vulliemin. Urfprünglid) 
Geiftlicher, biß ihn Geſundheitsrückſichten ſchon 1826 zivangen, das 
Predigtamt aufzugeben, widmete fich Vulliemin hiſtoriſchen Studien 
und jchrieb insbeſondere ald Fortjeter Johannes Müller'3 die Ge- 
Ihichte der Schweiz aus dem 16. bis an den Anfang des 18. SYahr- 
hundert. Als langjähriger Leiter der Societe d’histoire de la 
Suisse romande bot er förderlide Anregung für die Pflege der 
Geſchichte feiner Heimat. 

Schon bei feinem Leben bot Qulliemin in dem äußert ane 
muthigen Buche: Souvenirs racontes & ses petits enfants 1871 
einen Beitrag zu feiner Biographie. Das hier von einem Verwandten 
gegebene Lebensbild ijt Fürzer, jo weit die „Erinnerungen“ reichen — 
bis zur Vollendung der Müllerfchen Fortſetzung 1842 —, eingehender 
befonder® von 1849 an. Während bis 1863 und bis 1866 der 
Briefmechjel mit dem Neuenburger Bolitifer und Publiziſten H. Fl. 
Galame und derjenige mit dem Waadtländer antiquariihen Forſcher 
Fr. Troyon voranftehen, wurde jeit der Mitte ded Jahrhunderts 
Georg v. Wyß in Zürich hauptſächlich der vertraute, in biftorifchen 
Fragen vielberathene, aber ald Freund ebenfo hochgeſchätzte Korre— 
ſpondent, und jo legte der Vf. bejonders für die legten Jahrzehnte 
ganz vorzüglid die Briefe an den Präjidenten der fchweizerifchen 
geſchichtforſchenden Geſellſchaft zu Grunde. Einen ſehr breiten Raum 
nimmt von 1873 an die lebhafte Unterhaltung, mit ihren zahlreichen 
Erkundigungen, über die Arbeit ein, die der greiſe Hiſtoriker an die 
Hand genommen und 1875 und 1876, dann noch in einer zweiten 
Ausgabe, zu Tage brachte, die H. 3. 38, 500 u. 501 beſprochene 
furze Histoire de la Confederation suisse. 

Das vorangeitellte, technifch zwar nicht gerade gelungene Bild 
zeigt doch völlig die milden, gewinnenden Geſichtszüge des Patriarchen 
von Mornex, wie Qulliemin wohl nad feinem jtillen Wohnſitze bei 
Lauſanne benannt wurde. M. v. K. 





120 Literaturbericht. 


älteren Beringer von Landenberg eine Kundſchaft über ihre Frei— 
beiten — die Örundlage zum jpäteren Herrſchaftsrecht und die erfte 
Auskunft über die Befugniffe des ftädtiihen Rathes — ſich geben 
ließen, das Elgger Archiv ein ſtets reicheres Material. 

Seit der Reformation gehen die Verhältniſſe der Gerichtsherr⸗ 
Ihaft, die nach vielem Wechſel 1712 in den Befiß der Büricher 
Familie Werdmüller überging — noch jept ift dad Schloß Fidei⸗ 
commiß derjeiben —, und des Marftfledend neben einander ber. 
Erft die Ummälzung von 1798 fegte nun auch diefen feudalen 
Rechtszuſtäinden ein Ende, deren Schilderung — der eigeuthümlich 
und durch einander liegenden Berechtigungen, Nugungen und ad» 
minijtrativen Ordnungen — einen ganz bejonderen Werth des Buches 
ausmacht. Es verftand ſich von jelbit, daß bi8 an das Ende ded 
18. Jahrhunderts unaufhörliche Kompetenzftreitigfeiten fich fortipannen, 
in die der ald Wegierung übergeordnete zürcheriſche Landvogt auf 
Kiburg nur ſehr ungern eingriff. Man überblidt diefen Mikrokosmos 
in äußert injtruftiver Weiſe; denn ein recht weitjchichtigeg Material 
it da mit größtem Fleiße überfichtlich geordnet und wirthſchafts⸗ 
geſchichtlich ſowie fulturhijtorifch ausgebeutet. 

Der dritte Theil — Neueite Zeit —, der übrigens der fürzefte 
Abſchnitt des Buches ift, reicht, entiprechend der volksthümlichen 
Beitimmung des Werkes, bis in die Gegenwart hinein. 

M. v.K. 


Philipp Augustus. By William Holden Hutton. London, Mac- 
millan & Co. 1896. 2306. 2 sh. 6 d. 


Der Verlag Macmillan & Eo. in London beabfidhtigt, im Un- 
ſchluß an die unter dem Namen Twelve English Statesmen befannte 
Sammlung eine weitere, Nichtengländern gewidmete Reihe von Lebens— 
bejchreibungen ericheinen zu laffen. Profeſſor Bury am Trinity 
College in Dublin gibt diefe neuen Foreign Statesmen heraus. Es 
fol nicht jeder Staatdmann Aufnahme finden, der in der Gedichte 
jeine8 eigenen Landes Hervorragende3 geleiftet, fondern nur derjenige, 
der auf den Gang der europäischen Geſchichte maßgebenden Einfluß 
geübt bat. In einem der eriten erjchienenen Bändchen behandelt 
Hutton Philipp II. Auguſt von Frankreich (1180 bis 1223), dem 
merhvürdigerweife in Sranfrei noch feine irgendiwie brauchbare 
Biographie zu Theil geworden, und defjen Geſchichte in den letzten 
Sahren von Nichtfranzoſen am eifrigiten erforjcht worden ift. Die 


Frankreich. 121 


jo gewonnenen Ergebniſſe find aber in Deutſchland bisher nur wenig 
in diejenige geſchichtliche Literatur durchgedrungen, die auch weiteren 
Kreiſen zugänglich iſt. Und doch iſt die Kenntnis der langen und 
ungewöhnlich erfolgreichen Regierung Philipp's für ein richtiges Ver: 
ftändnis des Zerfalls der alten deutſchen Kaiferherrlichkeit ganz un⸗ 
erläßlich. Wenn Bhilipp nad) der Schlacht bei Bouvines den er- 
beuteten Reichsadler dem jungen Hohenftaufen. Friedrich zufenden 
fonnte, jo wird dadurd) die jahrhundertelange Einmiſchung Franfreichs 
in Deutſchlands innere Angelegenheiten ſymboliſch ausgedrückt. 

H. gibt im 1. Kapitel einen Überblid über die franzöfifche 
Monardie im 12. Jahrhundert. Im 2. jchildert er Philipp's An⸗ 
länge, im 3. den Fall des Haufes Anjou, im 4. die Schlacht bei 
Bouvines, im 5. die Fortjchritte des Königthums, im 6. die Be- 
ziehungen zwiſchen König und Papſtthum, in 7. die letzten Regierungs— 
jahre. Wie dieſe Zufammenjtellung zeigt, hat H. ed gar nicht ver- 
ludt, den gewaltigen Stoff planmäßig zu gliedern, fondern ſich damit 
begnügt, ihm nach den dankbarften und naheliegenditen Geſichtspunkten 
zu gruppiren. Er wurde dazu zum Theil durch den Stand Der 
Forſchung veranlaft. Über feine Stellung zu den Vorarbeiten ſpricht 
er ſich am Schluffe in einer kurzen Bemerkung aus: die Ergebniffe 
ſeiner eigenen Quellenforſchung hätten ihm oft franzöſiſche und deutſche 
Hiſtoriker vorweg genommen, ſo daß er, nur in ihre Fußſtapfen 
tretend ſein Ziel habe erreichen können. Er nennt die Namen 
einiger ſeiner Vorgänger, aber ohne genaue Titelangabe ihrer 
Schriften. Wir dürfen demnach von dem hübſch ausgeſtatteten 
Bändchen feine Bereicherung unſeres Wiſſens im Sinne der Fach— 
wiſſenſchaft erwarten. H.'s Verdienſt beiteht in der forgfältigen Zu: 
ſammenfaſſung des in Einzelſchriften zerſtreuten und ſomit ſchwer 
ugänglihen Stoffes, den er ſich auf Grund ſelbſtändiger Quellen— 
lektũre gut angeeignet und in anſprechender Erzählung wiedergegeben 
hat. Die Schickſale ſeines Helden, der den Menſchenkenner vor ſo 
manches ſchwer zu löſende Räthſel ſtellt, verfolgt er mit lebendigem 
Antheil, hält ſich aber von jeder unangenehmen Überfhäßung frei. 
die und da läßt er fi freilich verleiten, den Lobpreiſungen der 
höfi ſchen Biographen allzuviel Bedeutung beizumeſſen. Er hätte auf 
jeden Fall dem Leſer deutlich machen müſſen, daß rhetoriſch aus— 
geſchmückte Urtheile aus der nahen Umgebung des Königs als 
timmungsbilder recht werthvoll ſind, daß aber der zurückſchauende 
iſtoriter ſie von ſeinem höheren Standpunkt aus nicht ohne kritiſche 


122 Riteraturberidht. 


Prüfung ald feine eigene Meinung ausgeben darf. Etwas mehr 
Zurüdhaltung den Duellen gegenüber hätte der Verfaſſer wohl üben 
fönnen. Beim Tode des Königs, wo wir eine pfychologifche, ein- 
dringende Charafterijtif erwarten, wird und der Nadıruf eines höfiſchen 
Klofterchroniiten geboten. Auch fonft vermiſſen wir bie und da bei 
aller Übereinftimmung in der Gefammtwürdigung größere Tiefe und 
Schärfe der Auffaffung, jtraffere Unterordnung der Einzelheiten unter 
allgemeine politiſche Geſichtspunkte. Denn die Politik war doch der 
Lebensnerv dieſes Königs, der und zunächſt als ein Eroberer erjcheint. 
Der Krieg war ihm Mittel, nit Selbitzwed. Bejonnenheit und 
Energie rühmt Ranke vor allen an ihm. Die Zeitgenofjen natürlich 
haben jein Bild nad) der Schablone des frommen Ritterd audgemalt. 

Die Anerkennung, die wir H.'s nützlicher Leiftung willig zollen, 
wird Durch den Nachweis einiger ihm untergelaufenen Verſehen nicht 
gefchmälert werden. 

Ein böfer Drudfehler auf ©. 15 läßt Philipp am 19. ftatt am 
21. Auguſt 1165 geboren werden. Der Tod Ludwig's VII. wird 
©. 22 auf den 18, ©. 32 auf den 19. September gelegt. Nach 
neueren Forſchungen iſt der 19. richtig. 

Bei der Schilderung der Jugend fehlt ein Hinweis auf die nicht 
unwichtigen Verhandlungen über die Verheiratung des Prinzen 
zwifchen Raifer Friedrich I. und Ludwig VII. Es fpiegelt ſich darin 
immer der Widerfchein des großen Kampfes zwiſchen Kaifer und Papft. 
Philipp wuchs in diefen Gegenjäßen heran. ©. 25 wird irrthümlid) 
behauptet, der flandrifche Einfluß fei biß zum Tode des alten Königs 
vorherrichend gewefen, er hörte aber infolge des Eingreifeng Englands 
in die Verhandlungen von Giſors fhon am 28. Yuni 1180 auf. 

Die Gräfin Elifabeth oder Sjabella von Bermandois, Gemahlin 
Graf Philipp's, ftarb nit 1183, fondern 1182 (©. 34). Die 
Forſchungen Hermann Bloch's über Heinrich VI. find zum Schaden 
der einfchlägigen Ausführungen nicht benutzt. Die Belagerung von 
Ehäteau-Gaillard und die Schlacht bei Bouvines jind recht aus 
führlich behandelt, wenn man damit 3. B. die Albigenferkriege und 
die franzöſiſch-flandriſchen Beziehungen vergleiht. Die friegerifchen 
Schilderungen lehnen fich vielleicht etwas zu eng an die anekdoten⸗ 
bajten Duellenberichte an. Die Aufzählung der Orte, die das Heiratd« 
gut der eriten Frau Philipp's ausmachten, iſt ungenau. 9. hätte 
S. 93 Lillerd nicht mit dem bedeutenden Lille verwechſeln dürfen. 
wo das Richtige doch ſchon bekannt war. Ebenda wird der Ton 





124 Riteraturbericht. 


gar feine eigenen Mittheilungen Montesquieu's über feinen A 
enthalt bei den Briten haben; ed wäre wenigften® mehr denn mı 
würdig, wenn er gerade über da8 Land, das ihm in jeder Xi 
den tiefiten Eindrud hinterlafien hat, nur die wenigen, ſchon 
1818 befannten Notizen hinterlaſſen hätte. 


Im ganzen laffen ſich die Papiere, die und jept jeine Ne 
fommen befannt geben, in zwei große Gruppen jcheiden: in We 
eindrüde und in Papiere zur Entwidlung feiner Ideen. 


Und wenn der Eindrud der bisher belannt gewordenen Th 
nicht zu viel verfpricht, jo werden wir aus allen Papieren insgeſam 
ein jehr lebhafte und jehr interefjante® Bild von Montedquie 
Werdegang gewinnen, ein Bild, das vermuthlich wenig zu dem Urtf 
Sorel’3 ftimmen wird, Montedquieu fei mit dreißig Sahren jd 
fertig gewejen und biete in feinem Privatleben nichts Intereſſant 
weil es in feiner Weiſe feine Werke erläutere. 


Wir Haben es hier im bejonderen mit dem 1. Bande 
Voyages de Montesquieu zu thun. Er ift vom Baron Alf 
de Montedquieu mit Hülfe einiger Gelehrter von der Societe « 
bibliophiles de Guyenne veröffentliht und darf in jeder Beziehn 
al? eine Mujteraußgabe gelten. Eine kurze Vorrede des Barı 
fnüpft den Band an die beiden früheren Bublifationen an und 
richtet über feine Anlage wie den Antheil der verjchiedenen W 
arbeiter. Daran jchließt ſich eine ausführlide Einleitung von He 
Barckhauſen, die in vortreffliher Weife über Anlaß und Gr 
von Montesquieu's Neifen, die damalige (1730) uniichere politi 
Lage Europas, den äußeren Verlauf der Reifen und ihre weft 
lihen Eindrücke auf Montedquieu alle wünſchenswerthe Ausfı 
giebt. Darauf folgt eine genaue Beichreibung der in dem Ba 
veröffentlichten, von Raymond Celeſte entzifferten Manujfripte. D 
find Dieje ſelbſt abgedrudt, führen aber in dent vorliegenden Ba 
nur durch ſterreich und Stalien bi® zur Abfahrt Montesquieu's r 
Neapel. Der Reſt der Berichte über Stalien, die Notizen von fei 
deutfchen und Holländiichen Reife follen in einem 2. Bande folk 
Den Reijenotizen it zum Schluß noch ein reicher Anhang von | 
merkungen beigegeben ; die Herauögeber, zu denen hier noch Reinh 
Dezeimerid tritt, unterrichten in diefer ganz beſonders verdienſtvol 
Arbeit über alle von Montesquieu erwähnten PBerjönlichfeiten, Di 
und Berhältnifje mit einer höchſt anerfennenswerthen Sorgfalt ı 


Frankreich. 125 


Genauigkeit. Wenn alle Bände der Publikation ebenſo vorzüglich 
wie der vorliegende ausfallen, ſo darf ſich dieſe Nachleſe von 
Montesquieu's Werken den beſten Ausgaben moderner franzöſiſcher 
Schriftſteller an die Seite ſtellen. Es wäre nur zu wünſchen, daß 
die Veröffentlichung fchneller vorwärts rüdte! Nach den Inhalt des 
bisher Erfchienenen ift man auf das Weitere jehr gejpannt. 

Die bekannten Eigenfchaften des großen Denfers, bejonders feine 
iharfe Beobachtung, fein maßvolles aber beitimmtes Urtheil umd die 
außerordentliche Bieljeitigfeit feiner geijtigen Intereſſen prägen ſich 
aud in feinen Reiſeberichten überall aus. Da ijt fajt fein Gebiet 
frembländifchen Lebens, von dem er nicht mit regem Intereſſe Notiz 
nähme und ein werthvolles, wenn auch nicht immer richtiged Bild 
gewänne. So begegnen in dem bunten Durcheinander feiner Be 
obachtungen Urtheile über die’ erjten Männer jener Tage, mit denen 
er in perfönliche Berührung fam, Meine und bezeichnende Anekdoten 
zur Geichichte jeiner Zeit oder der jüngiten Vergangenheit, mehr oder 
minder kurze Anfpielungen auf gerade ſchwebende politiiche Händel, 
die er immer aus erjter Duelle beurtheilen konnte, eingehende Studien 
über Berfaffung und Leben der von ihm bereiften Länder, vor allem 
Venedigd, Sardiniend, Genuas und des Kirchenjtantd. Überall ver- 
täth ji) dabei der fünftige Verfaffer der Considerations und des 
Kaprit des Lois. Insbeſondere überraicht noch das Jaußerordentlich 
feine Kunſtverſtändnis, das er den Schätzen antiker und moderner 
Kunſt entgegenbringt. Da wird der fühle, fuftematifirende Denker 
zum ſchwärmenden Bewunderer echter Kunſt und leiht feiner Be— 
geifterung oft Worte, die gerade aus dem Munde dieſes jo ruhig 
abwägenden Mannes als eine fchöne Apotheofe italienischer Meijter: 
werte gelten dürfen. Und doch padt ihn zugleich inmitten der 
Trümmer Roms die Trauer über den Untergang des gewaltigen 
romiſchen Weltreiches und läßt ihm nicht eher los, als bis ihn Die 
Einficht in die Gründe der Vergänglichkeit dieſes wie jeden Menſchen— 
werkes zur Refignation zwingt. 

Erſt die PVeröffentlihung aller noch unbefannten Schriften 
Montesquieu's wird zeigen, wie weit ſich unſer heutiges Bild von 

ſeiner Perſönlichkeit und ſeiner Bedeutung zu wandeln hat. Aber 
die Nothwendigkeit einer neuen Biographie läßt ſich ſchon jetzt voraus⸗ 
Ieden. Sie hätte die verjchiedenen Eindrüde von Montedquieu’3 Reifen 
nd Studien zu ordnen, in ihrer Einwirkung auf feine Schriften zu 
olgen und fchließlich zu zeigen, daß lich hinter dem dürren, falten 


126 Literaturbericht. 


und ſchier unheimlichen Beobachter des „Geiſtes der Geſetzer ein le 


bendig empfindender, ja gefühlvoller Menſch verbirgt. 
Berlin. Theodor Kükelhaus. 


Napoleon III avant l’Empire. Par H. Thirria.. Tome seconCAk.. 
Paris, Plon, Nourrit & Co. 1896. 591 ©. 


Der 2. Band de3 Thirria’ihen Werles (vgl. H. 3. 76, 501) 
iſt dem erften raſch gefolgt und übertrifft ihn an Umfang, nit abemer 
an Güte. Die bereit früher erwähnten Fehler desfelben finden ji «ach 
hier in erhöhtem Maße wieder: eine jehr weitgehende Milde ind er 
Beurtheilung der politifchen Handlungsweiſe ded Helden, eine & -ır- 
hebliche Überſchätzung feiner Geiſtesgaben, ein empfindlicher Many el 
an fornellem Geſchick in der Daritellung der Ereignifie; dieleL Be 
reiht vom 20. Dezember 1848 bi$ zum 2. Dezember 1851, vonı>er 
Bejignahme des Präfidentenftuhles bis zum Staatdftreich, ohne jeder ch 
denfelben und feine Folgen näher zu .berühren, was allerding im 
den Rahmen des ftimmungsvollen Bildes, daS und der Pf. von de m 
wie ein Naturereignis ſich vollziehenden Übergang des gefammter: 
Frankreichs in das napoleonische Lager gibt, wenig gepaßt Haben würDe- 
Wenn er auch den Eidbrudy ded Prinzen Louis Bonaparte nit garız 
zu beichönigen vermag, jo meint er doh zum Schluß: L’histeire 
dans son jugement definitif sera indulgente au president et 
condamnera surtout la France, sa complice, son impatiente &t 
imptrieuse complice (©. 578). Wenn diefe Liebe jo heiß und diete 
Begeijterung jo allgemein gewefen, wozu hat es denn all der Opfer 
ded 4. Dezember auf den Boulevard von Paris, all der PBroftrig>= 
tionglijten für Cayenne und Lambeſſa bedurit, all der Schreden>= 
jenen in den Provinzen, die und heute urkundlich befannt jind um D 
gegen die der 18. Brumaire des erften Bonaparte ein unſchuldige 8 
Scäferjpiel geweſen ijt? 

Doch auch davon ganz abgejehen, iſt da8 Buch äußerft ſchwe 
fällig gefchrieben, au maffenhaft aneinandergereihten Beitungsercerpte 
und parlamentarifchen Berichten zufammengeitoppelt, bei denen fer? 
häufig jeder Hinweis jehlt, der über den hiſtoriſchen Wert De? 
Zeugniſſes aufklären fünnte oder deſſen Unwerth, — wie z. B. Dei 
den Auszügen au3 der damaligen bonapartiftiichen Preffe, wie Pte 
überall von der Gefellihaft des 10. Dezember vder vom Eiyfet 
feldjt in’3 Leben gerufen wurde, — ergeben würde. Indes, ſell it 
aus Th.'s Erzählung ergibt ji) unmiderlegbar, daß Napoleon III. 





Frankreich. 127 


nicht ſowohl durch eigenes Verdienſt ſeinen Herrſcherthron ſich 
erobert, als durch die unverſöhnliche Feindſchaft der anderen politiſchen 
Parteien im Lande untereinander; indem er die Nationalverſammlung 
in ihrer monarchiſchen Mehrheit mit dem rothen Geſpenſt der 
Demagogie erſchreckte, während er die breiten Volksſchichten gegen die 
Legitimität und den Kapitalismus der Orleaniſten in den Harniſch 
brachte und zugleich die Kirche zum Bundesgenoffen gewann, lähmte 
er jede Möglichkeit eines gemeinfchaftlichen Vorgehens, eine Politik, 
die ein bedeutended Genie, nur ein jehr weites Gewiffen und zu 
Alem entichlofjene Helfershelfer erforderte. Die allgemeine Strömung 
der Zeit, die Unfähigkeit der Gegner, vor allen auch fein Name 
baben feinen nicht fein, ſondern fehr grob gejponnenen Plänen zum 
Eiege verholfen. Einen Haren Einblid in die innere Geſchichte der 
Präfidentichaft Louis Napoleon’8 wird man jedenfalls aus dem 
Berke Th.'s nicht erlangen; denn der Vf. weiß darüber jelbft nicht 
mehr — oder will es doch nicht fagen — als die damaligen Zeitungs- 
blätter oder bereitö veröffentlichte Memoiren, wie die von Odilon— 
varrot, Maupas oder Granier de Caſſagnac berichten. Die perſön— 
liche Geſchichte des Prätendenten wird dabei ſehr wenig berührt, und 
doch läßt ſich aus ihr heraus, aus ſeiner, durch eigene Schuld 
bedrängten materiellen Lage heraus die Entwicklung der endlichen 
Dezemberkataſtrophe noch am leichteſten erklären; freilich auch kein 
erhebendes Leitmotiv für eine „völkerrettende“ That! Im Ganzen 
dürfte jedenfall3 dieſe verichämte Apologie des Staatsſtreiches und 
ſeiner pſychologiſchen Nothwendigkeit im heutigen Frankreich wenig 
nflang finden.!) R. 


Histoire de la troisitme Republique. Tome I: La presidence de 
M. Thiers. Par Edgar Zevort, recteur de l’Academie de Caen. 
Paris, Felix Alcan. 1896. XII, 411 €. 

Am obigen Bande, dem erjten eines auf drei Bände berechneten 
Wertes, daB bie zeitgenöſſiſche Geſchichte Frankreichs vom Sturze de3 
Zweiten Kaiſerreiches bis zur Ermordung Carnot's in gedrängten 
Zügen dem größeren Publikum vorführen ſoll, erzählt der Vf. nad) 
kurzer Einleitung, die Thatfahen vom 4. September 1870 bis zum 


— 





1) S. 97 ftatt Anftlett iit zu lefen Anſtett; S. 180 Defermon ftatt 
Dufermon; S. 310 Lahitte ftatt Kafitte; S. 249 ijt Combarel de Leyval der 
Name eines, nicht ziveier Abgeordneten u. |. w. 


128 Kiteraturbericht. 


Sturze des Präfidenten Thiers durd) die vereinigten monarchiſche 
und Herifalen Elemente der Derfailler Nationalverfammlung ar 
24. Mai 1873. In den jeh3 Kapiteln des Buches ift ſomit ein ge 
waltiger Stoff zuſammengedrängt und in entiprechender, oft feh 
ſummariſcher Skizzirung dem Lefer vor Augen gejtellt, da die ganz 
erite Hälfte des Krieges bi3 Sedan kaum ein Dutzend Seiten umfaß 
die Pariſer Belagerung und die Thätigfeit der Delegation von Tour 
und Bordeaur auf ungefähr 120 Seiten erzählt wird, eine weiter 
Bahl von 100 Seiten bi8 zum Sturze der Kommune führen und Di 
beiden legten Kapitel, in ungefähr gleihem Umfang, die Gefchid 
der Regierung Thierd’ vom 29. Mai 1871 bis zu feinem Abtrete 
ſchildern. Es kann ſomit felbitverjtändlich weder von einer eingeher 
deren Schilderung der Ereigniſſe, noch von einer Detaildyarafterift 
der handelnden Perſonen die Rede fein, wie fie und etwa in de 
lebendigen Erinnerungen Jules Simon’d entgegentreten. Aber dei 
jenige, dem ed nur um eine fnappe, möglichit unparteiifche Drienti 
rung auf dem betreffenden Gebiete zu thun ijt, wird in den Bud) 
von 3. einen recht brauchbaren Leitfaden finden, der die wid 
tigiten Daten und Thatſachen in anjprechender, warmer Schilde 
rung gruppirt, dabei aber mit möglichiter Unparteilichkeit, nach alleı 
Seiten, jelbft gegen die Männer der Kommune, gerecht zu jein bejtreb 
war. Und wenn aud) diefer erite Band bei der häufigen Behandlun 
des Gegenſtandes nur meist Belanntes darbietet, jo darf einer ü 
gleichem Geiſte politifher Mäßigung gejchriebenen Darſtellung de 
Präſidentſchaften Grevy’3 und Carnot's, die noch faum anders als ii 
der Tagespreſſe gejchildert wurden, mit Danf entgegengejehen werden.! 


Geoffrev de Maudeville..e A study of the anarchy by J. H 
Round. London, Longmans, Green & Co. 1893. XI, 461 ©. mi 
1 Facſimile. 

Borliegende® Bud beurfundet auf's treffendite den fritifche: 
Scharfſinn des durch feine meilterhaften hiſtoriſchen Auffäße befannte: 
Verfaſſers. Auch in Ddiefer Arbeit fällt das Hauptgewicht auf dei 


1) ©. 18 lied Chaudordy jtatt Chudordy; S. 169 Grosjean war Al 
geordneter des oberrheiniichen, nicht de8 Moſeldepartements; S. 174, da 
fein jranzöfiihes Parlament mehr obiture Unbekannte umfaßt Habe, als bi 
Verfammlung von 1871 6i8 1875, iſt entichieden falſch. Kaum eine andere ba 
jo viele Berühmtheiten aller Art gezählt ald die Nationalverjammlung. 





180 Literaturbericht. 


® 

ein, es fol bier nur auf die Gefährlichkeit jener zweiſchneidi 
Methode hingemwielen werden. R. will (S. 10) ofienbar zum er 
Mal einen Auszug aus einer Urkunde druden. Sie wurde — 
Ihon im vorigen Sahrhundert gedrudt!). Noch merkmürdiger 
dab Pf. überhaupt feinen Quellennachweis für feine Urkunde g 
Bei der Genauigkeit des Bf. würde man einen fo unbedeuten 
Lapſus fofort einem Verſehen zufchreiben, wenn derjelbe nicht 

der nächſten Seite wiederfehrte ?). Jedoch zu einem fachlichen S 
tum: die S 144—145 aufgeftellte Hypotheſe ſcheint mir unhalt 
zu fein. R. meint, daß der Titel comes eigentlid) nur neben i 
Vornamen ftehe, und daß der Name der Familie des Betreffen 
oder feiner Graffchaft oder auch feine® Hauptſitzes nur angehä 
werde, um ihn von einem gleichzeitigen und gleichnamigen Gre 
zu unterjcheiden. " So behauptet R., daß mit Rückſicht auf 

Grafen Gottfried von Anjou Gaufridus de Magnavilla, nacht 
er die Grafenwürde erhalten, immer mit dem Titel Comes 
Essexa unterjchrieben habe. Aber wozu hätte man erftend ei 
einheimifchen Grafen von einem ausländifchen, der niemal3 das Lı 
betrat, fo genau unterfcheiden follen? Und es läßt fich zweitens 
anderer Fall anführen, welcher des Bf. Auffafiung fchlagend mit 
jpridt. Der Graf von SHereford, Milo Glocestriae, unterzeid 
zweimal (S. 182, 314) Milo Comes Hereford, obgleid er 9 
Theorie gemäß nur die Unterfchrift Milo Comes führen müßte, vı 
es damals feinen gleichnamigen Grafen gab. 

Die zweite Hälfte unſeres Buches beiteht aus einer gro' 
Anzahl verjchiedenartiger Beilagen. Vielleicht die werthvollite 
handelt die Anfänge der Verwaltung London® (App. P.). 
Appellation der „Kaiferin” an Rom wird App. B. beiproden. 
jeßt daS Datum auf 1136 fejt und flärt die Erzählung des 7 
gange8® auf. App. D. behandelt die fog. fiskaliſchen Grafen. 
führt aus, daß das Studium der Frage dadurch erjchwert wird, : 
wir nur eine Urfunde, durd; welche Stephan einen Grafen ernan 
befigen. Die bejchenkten Grafen hätten alle zu dem größten ı 
reihiten Adel des damaligen England gehört und hätten jomit 
von Stubb8 angenommenen Zuſchüſſe aus der Schaglammer n 


1) Bei Mador: Firma Burgi Lond. 1726, ©. 28. 
») Die S. 112 gedrudte Urkunde fteht jchon in den Hist. Dune 
SS. Tres, app. p. L, Lond. 1839, Surtees Society. 





182 Literaturbericht. 


kenntlich zwiſchen den in den Quellen als Councils bezeichneten Ver 
ſammlungen in den Grafſchaften und dem Parlamente, das wol 
demjenigen von Weſtminſter nachgebildet war. Nur daß unter Heir 
ri IV. diefe irifhen Parlamente (Great Councils) infolge de 
ſchlechten Zuſtandes und der Unficherheit der Straßen auch wie jer 
Councils faft nur aus einem engeren Bezirke befucht zu fein pflegte 
und daher thatfächlih von den Graffchaft3verfammlungen nicht fo ſel 
verjchieden waren. 

Bon allgemeinerem Intereſſe it auch (Rap. 75) die anfchaulid 
Schilderung des ftädtifhen Leben? in England unter Heinrich IV 
insbefondere der Gilden, deren Bedeutung gebührend hervortrit 
In Bezug auf das urjprünglide Verhältnis der Gilden zu de 
jtädtifchen Verfafjungen bat W. die richtige Anſchauung, wenn er (üı 
Anſchluſſe an das trefflihe Buch von Groß) jagt: „Obwohl unzmeife 
haft Stadtverwaltung und Gilde urjprünglich zweierlei waren, j 
zeigt ſich doch bald ein allgemeiner Zug zur Verjchmelzung beide 
mit einander* (3, 184). Unter der in dieſem Abfchnitte benußte 
Literatur vermiffen wir, beiläufig bemerkt, die Arbeiten von Hege 

Nicht ohne Scharffinn weiß der Bf. fi gelegentlih auch i 
kritiſchen Auseinanderjegungen zu bewegen. Manchmal ergeben ſic 
dabei Berichtigungen früherer Darjtellungen, jo auch derjenigen vo! 
Pauli. In der Erörterung 2, 212—17 find wir mit dem Bf. be 
Meinung, daß die in der Gallia sacra 2, 362 ff. gedrudten Artike 
nit wohl diejelben fein fönnen, welche der rebelliihe Erzbifche 
Scrope an das Thor der Kathedrale von York beiten ließ. Di 
Yorker Artikel find, wenn wir W. recht veritehen, auch dem Führe 
der Königliden, Graf Weitmoreland zu Shipton Moor, vorgeleg 
worden, welcher erklärte, jeder verftändige Mann müſſe für fie ein 
treten. Das hätte Weſtmoreland — deſſen heuchleriiches Verhalte 
wir gleihwohl nicht vergeffen — von den in der Gallia sacra ge 
drudten doch fchlehterdings nicht jagen können, da in diefen Köni 
Heinrih der fchweriten Verbrechen beihuldigt wird. Ebenſo weni 
wie der Erzbifhof nad) der Proflamirung diefer Artifel noch hätt 
behaupten Fönnen, er wirke für den allgemeinen Frieden, nicht fü 
den Krieg. 

Die Erhebung und der Fall Scrope's bildet übrigens die inter 
eſſanteſte Epifode aus der Geſchichte der inneren Kämpfe feit der 
Tode von Percy Heißfporn. Der Bf. ftellt jie in allen Einzelheite 
dar. Was die hinterliftige Gefangennahme der Yührer ded Auf 


England. 183 


ſtandes betrifft, fo finde ih, daß auch nah W.'s Ausführungen 
etwas Rätbjelhaftes dem VBorgange immer noch anhaftet. Ausführlich 
und anfprechend ift die Erzählung von Scerope’3 Hinrichtung und 
Beiſetzung; werthvoll auch die Befchreibung, wie im Volfe der Glaube 
an Yeine Heiligkeit und Wunderfraft entjtand, im Bejonderen, wie die 
Rolle, weldhe der Erzbifchof einjt bei der Entthronung Richard's LI. 
gerpielt hatte, vergeffen ward, und wie fpäterhin fein Martyriun 
geradezu für die Anſprüche der Yorks gegen das Haus Lancafter 
zeugen follte. Dem Fachmanne ift aud die diefem Abjchnitte an- 
gehängte Überficht über die Duellen der Legende recht willfomnen, 
wenn aud) der gemöhnliche Lejer wohl finden wird, daß die Cinheit- 
lichkeit der Erzählung darunter leidet. 

Das Lebtere ift, wie wir ſchon bemerft haben, leider allzu oft 
der Fall. Die beiläufigen Erörterungen, wenn fie felbjt manches Be— 
lehrende enthalten (wie z. B. 2, 388—90 iiber die allmähliche Ver— 
drängung der franzöfifhen Sprache aus England), find gewöhnlich 
viel zu weit ausgefponnen. Der Bf. hat von Verhandlungen mit 
den Städten des Hanjebundes zu berichten und fann es ſich nicht 
verfagen, die Art und den Umfang des zwifchen England und der 
Hanſa betriebenen Handel3 mit vielen, theilweije einer andern Zeit 
angehörenden Einzelheiten ausführlih zu fehildern. Oder er gibt, 
wo er von der Erkrankung des Königs im Jahre 1405 zu fprechen 
hat, eine umftändliche Bejchreibung der in England damals grajliren= 
den Krankheit. Die Erzählung des Kampfes um ein paar Burgen 
veranlaßt ihn zu einer weitläufigen Erörterung über die Entwicklung 
und den Gebraud der Feuerwaffen bei Belagerungen. In ganzen 
Kapiteln wird die frühere oder aud die fpätere (3. B. Kap. 63) 
Lebensgeſchichte neu auftretender Perſönlichkeiten von Bedeutung er—⸗ 
sählt. Am weiteften entfernt fich der Bf. von jeinem Gegenitande, 
‚wo er gewifje auswärtige Verhältnifje behandelt. Im 3. Bande find 
liche Kapitel der Geſchichte des Schismas der Kirche, des Konzils 
Ju Wiſa und. der ſich daraus ergebenden kirchlichen Verhältnifje ge— 
Mid met, in denen die Haltung England doc) wohl niemal$ von 
ENT cheidender Bedeutung gewefen ijt. Mehr anı Blake iſt es, wenn 

3; Anfänge der huſitiſchen Bewegung in Böhmen genau geſchildert 

Serden, da ja die Lehren Wiclif's das vornehmſte Rüſtzeug für 

IoHan Hus abgegeben haben. 

E Der 4. Band ſoll binnen kurzem erſcheinen und das Werk zu 
MDe führen. Hoffentlich vermag uns der Bf. zum Schluſſe noch 


134 Literaturbericht. 


einen freieren Überblid über die Zeit Heinrich's IV. zu verſchaffen, 
als er bisher aus dem fo fleißig angehäuften, aber doch nicht recht 
gejichteten Stoffe zu gewinnen war. W. Michael. 


Zur Entjtehung der Stadtverfaffung in Stalien. Eine hiſtoriſche Unte— 
juhung von Lothar v. Heinemann. Leipzig, Pfeffer. 1896. 75 ©. 


Die kleine Schrift, ein Nebenproduft der Studien des Vf.“s. über 
die Gejhhichte der Normannen in Unteritalien und demgemäß au — 
dieſes Gebiet befchränkt, beruht vor allem auf einer ſorgfältiger- — 
Durchforſchung der einfchlägigen Urfundenbücher, au) der erit i mE 
neueiter Zeit erfchienenen; von ungedrudtem Material ift daß Chart _ mm 
larium der Inſel Tremiti in der Biblioteca Nazionale von Neape 
herangezogen; fünf Urkunden daraus werden im Anhange mitgetheil Am 

Ohne auf Einzelheiten!) einzugehen, halte id den Gedanfe-— 
einmal im Zuſammenhange zu unterfudyen, inwieweit die unteritalif Gm 
Gemeinwejen an der zu jtädtiicher tyreiheit emporftrebenden Cr 
widlung in Sstalien theilgehabt haben, für einen durdaus richtis — 
und anerfennenswerthen, und der Vf. Hat hiefür nicht wenig neu = 
und werthvolles Material beigebracht, wenn er jih aud m. E. ni 
genug von Konjtruftion freigehalten hat und zuweilen als Entwidlu rm, 
daritellt, wa8 als ein Nebeneinander aufzufajien iſt. Entſchiedem = 
Widerjprud aber meine id) dagegen erheben zu müfjen, daß der SE. 
das Ergebniß feiner an fich verdienitvollen Unterfuhung in dr Bez ſe 
überfhäßt, daß er nunmehr die erften Anfänge des ftädtifhen KO u: 
julat3 für Unteritalien in Anjprudy nimmt (S. 2) und die Behauptur = wg 
aufitellt, daß er ſchon für das 10. und 11. Kahrhundert für mehre ut 
Städte Unteritaliend eine Stadtvertretung nachgewiefen habe, die JE Eh 
nur dem Namen, nicht dem Inhalt ihrer Gewalt nah von denfome!- 
fuln, wie jie erjt Ende des 11. und Anfang des 12. Jahrhunde As 
in Oberitalien auftreten, unterfcheide (S. 29). In Wahrheit iſt > = 

) Dod) muß id) bemerken, daß die Zahl der Drud- und Flüchtigleiĩ 8 
fehler ziemlich groß ift; 3. B. Heydt ftatt Heyd (E. 6), verlautbar wer en 
(E. 10), im Einfluß jtatt einen (S. 34), die Entwidlung erſcheint typiſch U 
jein (S. 37), „überflügelt” mit nachfolgendem Hilfszeitwort „ind“ (©. 42) 
„je größere Bedeutung da Partikularredit ... gewann und ſchließlich u Fr 
Ausbildung eined bejonderen Stadtrechts führte“ (5. 46), gezogene Seihär® Ss 
zeugen (©. 49), Welten jtatt Titen (©. 59) und durch die ganze Schrift HF 7" 
durd Bibliotheca Nazionale. 





186 Literaturbericht. 


zu thun, welche auf Grund fleißiger Forſchungen manche Dinge ü 
helleres Licht rückt und da, wo fie nur eine Zuſammenſtellung vor 
bereits Bekanntem bieten konnte, mit treffendem Urtheil die Ergebniflı 
anderer Forſcher verwerthet. Ich muß es mir im allgemeinen ver 
jagen, auf Einzelheiten näher einzugehen; nur eine Frage, welche für 
die Beurteilung der Gräfin Mathilde von befonderer Bedeutung ift 
glaube ich umfomehr hier erörtern zu follen, als der Bf. eine Ge 
Ihichte der Gräfin in Ausficht Stellt. Hat die Gräfin Mathilde eineı 
wejentlichen Antheil an dem Zriburer Beſchluß gehubt, daß ein Konzi 
auf deutichem Boden unter päpitlihem Schuß den Streit zwijdeı 
Gregor VII. und Heinrich IV. beilegen fole? Gewiß bat der Bi 
darin Recht, daß die Angabe Arnulf's von Mailand (M. G. Ser. 8, 30) 
auf den Rath des Abtes von Cluny, der Kaiferin Agnes und de 
Gräfin Mathilde fei-ein generale colloquium zwiſchen König un! 
Papſt bejchlofjen worcen, dem Zufammenhang nad nur auf die Ber 
handlungen zu Tribur bezogen werden fann; aber es fragt ſich eben 
ob jene Nachricht Glauben verdient. Overmann (S. 200 ft.) bejah 
diefe Frage in Übereinftimmung mit Giefebrecht und im Widerjprud 
gegen Meyer von Knonau und Vogeler, — weil nachweislich Mathild: 
Gregor VII. zugeredet hat, die Reife nad) Deutichland zu unter 
nehmen. Aus diefer Thatſache fann man jedoch meine? Erachten 
nur fchließen, daß die Gräfin bei den Triburer Verhandlungen mit 
gewirkt haben fann, aber keineswegs, daß ſie dabei mitgewirkt Hat 
Meine Überzeugung, daß die Nachricht Arnulf’3 zu verwerfen ift 
Jeruht wefentlid; darauf, daß der Abt von Cluny in einem Athem 
zuge mit der Gräfin und der Kaiſerin Agnes als Urheber des Tribure 
Beichluffes genannt wird. Hugo dv. Cluny ijt aber Zeitlebens eiı 
väterlider Freund Heinrich's IV. und niemals ein bloßes Werkzeu 
päpjtlicher Politif geweſen; und er ſollte einen Beſchluß veranlaf 
haben, der dem Intereſſe des Königd jo ſchnurſtracks widerſprach 
daß diefer Alles daranjebte, um das Zuſammenwirken ded Papfte: 
mit den deutjchen Fürſten zu vereiteln?! Was der Bi. (S.1IIN. 2 
für die Anmejenheit Hugo’3 v. Cluny in Zribur anführt, hat nad 
meiner Anſicht Feine Beweiskraft, und aud für die Behauptun: 
(©. 199), daß der Abt in diefer Zeit der VBertrauendmann der Gräftı 
Mathilde war, wird D. den Beweis wohl jhuldig bleiben. 


K. Panzer. 


Stalien. 137 


Die Entwidiung der venetianijchen Verfaſſung von der Einfegung bis 
zur Schließung des Großen Rathes (1172—1297). Bon Rarimilian Elaar. 
(Hiftoriihe Abhandlungen, herausgegeben von Heigel und Brauert. Heft 9.) 
Münden, Lüneburg. 1895. 147 ©. 

Die vorliegende Arbeit, deren erjter Theil als Inauguraldiſſer⸗ 
tation der hiejigen Univerjität erichien, ift auf meine Anregung Hin 
entitanden, aber zu etwas Anderem geworden, ald id) gedadjt. Es 
Ihien mir wünfchenswerth, daß im Anschluß an die recht wadere 
Arbeit von U. Hain, Der Doge von Venedig ꝛc. 1032—1172 (1883) 
auch für die jolgende Zeit bi8 zum Ende des 13. Jahrhunderts die 
venetianiſche Verfaſſungsgeſchichte eine genauc Unterfucjung erfahre. 
Und zwar handelte es ſich meiner Meinung nad) darum, unter Heran- 
ziehung alles erreichbaren gedructen und ungedrudten Materiald Die 
Anfihten älterer und neuerer, deutfcher und venetianifcher Gefchidht- 
Ichreiber, wie Raumer, Leo, Romanin, auf das Sorgfältigite Eritijch 
zu prüfen, um zu möglichft jicheren Refultaten zu gelangen. Nament— 
lich ſchien mir dies geboten gegenüber Romanin, unftreitig dem bes 
deutenditen unter den Genannten, der feine Darjtellung vielfach auf 
Nachrichten ſpäterer Chroniſten aufgebaut hat. Der Bf. hat nun 
allerdings in Venedig im Staatdarhiv und auf der Marfus-Bibliothef 
emjig gearbeitet und die Hauptquellen, welche für das Thema in 
Vetracht kamen, die handſchriftlichen Protokollbücher des Großen 
Rathes, die Promiſſionen der Dogen ꝛc. im Archiv eifrig durch— 
gegangen und in weitem Umfang verwerthet; in vielen ſtrittigen 
Punkten iſt er aber über Romanin nicht hinausgekommen, da er ſich 
hier auf die gleichen Gewährsmänner, d. h. die dem 16. und 18. Jahr⸗ 
Hundert angehörigen Chronijten Caroldo, Marco Barbaro, Savina 
und befonderd Miuazzo (7 1702) jtügt. „Die Urkunden,“ bemerft er 
darüber felbjt (S. 117), „welche die wichtigfte Duelle für die frühere 

eit bilden, treten in der unferigen jehr zurüd und verichwinden für 
die Angelegenheiten innerer Verwaltung eigentlih) ganz... Sie 
tönnen nur zur Sllujtration der Rathsbeſchlüſſe dienen, deren Ori— 
ginale wir zumeiit bejißen. Selbſtändiges Material liefern ſie fehr 
wenig.“ Nach diefer Seite hin wird die Schrift Manchem, gleid) 
mir, eine Enttäufchung bereiten. 

Überhaupt wird man unfchwer erfennen, wo der Echwerpunft 
der Arbeit liegt: in der, jozufagen, politifhen Erfaſſung des Gegen— 
ſtandes, die mit der Individualität des jungen Vf.'s. auf das innigſte 
zuſammenhängt und bei Beurtheilung der Arbeit nicht außer Acht 


138 Riteraturbericht. 


gelafjen werden darf. Es fehlt weder an politifhen Seitenbliden 
auf die Gegenwart, noch an Hypotheſen und Vermuthungen, für 
welche oftmal3 die Belege mangeln. E83 herrſcht vielfach da8 Bes 
itreben vor, zuviel Fonftruiren, zuviel auß dem Vergangenen hervor⸗ 
gehen lafjen zu wollen, wo die Entwidlung vielmehr eine fprung- 
weiſe gewejen fein dürfte. Auch werden innerhalb der behandelten 
Periode die einzelnen Zeiträume nicht genug geſchieden, die Phajen 
der Entwidlung nit jo detaillirt dargelegt, wie man es wohl er 
warten möchte. Auch die Genauigkeit in der Gitirung und BDrud: 
legung läßt bißweilen zu wünſchen übrig’). 

Sonſt iſt der Stoff überfihtlid und klar in folgende 7 Kapitel 
eingetheilt: die Dogenmwahlen, der Große Rath, Senat, die Quarantia, 
die Signoria, der Doge, die Serrata del Maggior Configlio, worauf 
nod) ein Anhang über „Quellen und Literatur” folgt. Mit fihtlichem 
politiichen Berjtändnid hat der Bf. die großen Hauptfaftoren der 
venetianifchen Berfaflung und Regierung in dem angegebenen Zeit: 
raum jcharf neben= und gegeneinander hingeftellt und auf Grund 
ſeines Materiald ein umfaſſendes, anſchauliches, mit vielen neuen 
Detaild ausgejtatteted Bild von ihrer Thätigfeit entworfen. Den 
Mittelpunkt des venetianifschen Staatölebend bildet auch nad ihm in 
dieſem Zeitraum, d. h. im 13. Jahrhundert, der „Große Rath“, den 
Claar au der früheren Volksverſammlung, der concio, injofern her⸗ 
vorgehen läßt, als „die Nobiles, die in der Concio das Wort für 
die Gefammtheit führten, als die Vorläufer der Mitglieder des 
Großen Rathes anzufehen jind“. Und zwar bat der Große Rath 
eritend die gejammte Gejeßgebung über innere VBerwaltungd- und 
Regierungsangelegenheiten, zweitens jteht ihm die Oberleitung und 
Geſetzgebung in den geſammten Handels- und Hollangelegenheiten zu, 
drittend hat er damals aud) die Entjcheidung über Krieg und Frieden 
und die Handhabung der auswärtigen Politik. Trotz mehrfacher 
Kompetenzkonflifte hat Doge, Signoria und Duarantia in diefer Zeit 
auf den Großen Rath feinen entjcheidenden, der Senat feinen Ddaus 
eruden Einfluß gewinnen fünnen. Wie Muazzo ed außdrüdt: Der 
Doge und die Signoria — d. h. der Doge mit feinen ſechs Räthen 
(Consiglieri) und den drei Häuptern der Duarantia — Haben in- 
diefer Periode dad Vorjchlagsredt, Senat und Uuarantia das Be 
rathungsredht, der Große Rath das Enticheidungsredt. Die Stellung 


1) Bei vielen der angeführten Verordnungen und Beſchlüſſe wird man 
die Jahreszahl ungern vermiffen. 





140 Riteraturberidht. 


iſt gewiß in erfter Linie den großen Erfolgen Cangrande's, der i 
den Jahren 1321—29 nach einander Feltre, Belluno, Padua un 
Trevijo gewann, der während des Römerzugs Ludwig’3 des Baier 
eine bedeutfame Rolle fpielte und fjogar die Erwerbung Mailand 
in's Auge faßte, zu verdanfen, aber ganz entichieden muß auch ar 
erfannt werden, daß der Bf. in lebendiger Erfafjung feines Stoff! 
in Öruppirung und Darjiellung fehr erhebliche Fortichritte gemad 
bat. Man wird gern dad Kapitel über die innere Politik Cangrande' 
lefen und nur vielleicht wünſchen, daß für die auf Grund der Statute 
gegebene Stadtverfafjung Verona3 die Verhältniffe anderer Signorie 
zur Vergleihung herangezogen wären. Im Anhang find aus Venedi 
und Verona ungedrudte Urkunden mitgetheilt. Ein Exkurs hande 
über die hiſtoriſche Glaubwürdigkeit Wibertino Muffato’8 im 12. Buı 
der gesta Italicorum. Dafür, wie aud) fonit, hätte die Publikatio 
von (L. Padrin) il principato di Giacomo da Carrara, narrazion 
scelta dalle storie inedite di Albertino Mussato (cod. Vatic. 296 
Padova 1891 herangezogen werden müſſen. Ein anderer Exkur 
handelt über die vielbeftrittene Frage, wer der gran Lombard 
Dante’3 (Parad. XVII, 71) fei, und entjcheidet ſich für Cangrande' 
Bruder Bartolomeo della Scala, während eine gleichzeitig erjchienen 
Abhandlung von G. Sommerfeldt, Über das Geburtsjahr des Can 
grande I. della Scala (Mitth. des Snitit. f. ölterr. Geſch. 16, 425—5i 
für Alberto, Cangrande's Vater, plaidirt, namentlid aber im Gegen 
fat zu Spangenberg 1, 200 ff. das Geburtsjahr Cangrande's vo 
1291 auf 1281 zurüdjchiebt!). K. Wenck. 


Carlo Emanuele I secondo i piü recenti studi. Di 6iovanı 
Curti. Milano, Bernardoni. 1894. IX, 250 ©. 


Über Herzog Carlo Emanuele ift bis in die neuefte Zeit Hinei 
viel gearbeitet und veröffentlicht worden. Berge von unbelannte 
Dokumenten über ihn und jeine Zeit ruhen aber noch ungehoben i 
vielen Archiven und Bibliothefen Europas verjtreut. Ref. fand felb 
ber feinem mehrjährigen Aufenthalt in Stalien, mit Studien über di 
Geſchichte des Dreißigjährigen Krieges beichäftigt, befonders in dei 

1) Inzwiichen hat Spangenberg in einem Aujfag des Hiftorifhen Jah: 
buchs der ©. G. 17, 747—64 die auf dad Alter Cangrande's bezügliche 
Quellenangaben nod einmal erörtert und m. E. 1291 als Geburtsjaf 
jichergeftellt. 


Stalien. 141 


vatilaniſchen Geheimarchive, nicht allein in der für jene Zeit faft 
lüdenlos erhaltenen Nunziatura di Savoia das mwidtigite Material, 
jondern auch in anderen Sammelbänden eine reichhaltige Korreſpon⸗ 
denz des Herzogs mit verjchiedenen Hochgeitellten Perfönlichkeiten. 
der Bf. des vorliegenden Werts hat ſelbſt vorjichtig eingeräumt, 
dab noch nicht das lebte Wort über Carlo Emanuele gefprochen jei, 
job aber volljtändig davon ab, weiteres Duellenmaterial für feine 
Darftellung heranzuziehen. Umfomehr hätte man erwarten können, 
daß er nach feinem Plan, nad) den neueften Studien zu arbeiten, 
wenigftend die bisher vorhandene Literatur eingehend durchgearbeitet 
hätte. Auch das ift nicht einmal gejchehen. So wären Eurti zweifel⸗ 
[08 die Unterſuchungen Bhilippfon’3 über Heinrich IV. und Philipp ILL 
befonder8 für Die Anſprüche des Herzogs auf das Marcheſat Saluzzo 
und Genf von dem größten Nuben gewejen. Für die Politik 
Rihelieu’3 folgt er überwiegend italienischen Quellen; nicht einmal 
eine Memoiren fcheint er zu fennen, gefchweige denn die neueren 
Unterfuhungen von Fagniez u. 4. Taß in den Documentos in- 
editos LIV und LV eine wichtige Korrefpondenz des Herzogs mit 
dem Gouverneur von Mailand, Gonzales de Cordova, abgedrudt ift, 
iheint dem Bf. gleichfalls entgangen zu fein. Aber auch die Aus- 
wohl der italienischen Literatur ift ſehr ungleichmäßig behandelt. 
So fuht man vergebend die Verwerthung einiger gleichzeitigen 
Geſchichtswerke, wie die von Capriata und die von d'Arco heraus- 
gegebenen älteren Chroniken von Mantua, die für den Mantuanijchen 
Erbfolgefrieg von 1628 von Wichtigkeit find, dagegen ift das fom- 
pendiöfe Nachichlagewerf von Botta: Storia d’Italia eine reichlid) 
fließende Duelle. 

Auch von der Darftellung felbft ift wenig Gutes zu jagen. 
derzog Carlo Emanuele iſt unſtreitig für ſeine Zeit neben Männern 
wie Heinrich IV., Richelien, Olivarez u. A., mit denen er politiſch 
auf das Mannigfaltigfte in Berührung kam, eine bochbedeutfame 
Perjönlichkeit. Mit einer erjtaunlic) hartnädigen Energie veritand er 
8, nachdem er bald nach feiner Thronbefteigung die alten Miniiter 
ſeines Vaters bei Geite gefhoben und die Zügel der Regierung in 
ſeine kräftigen Hände genommen hatte, eine anerkannte Rolle in 
uropa zu ſpielen, und man darf wohl ſagen, daß zu ſeiner Zeit 
kein größeres politijches Ereignis fich abjpielte, an dem er nit in 
gend einer Weife beteiligt war. Er ift e8 dann auch gemefen, 

in dem favoyifchen Haufe den Grundfag einführte und verfocht, 


142 Literaturbericht. 


ſich in jeder Lebenslage ohne Rückſicht auf Moral der Mach— 
zuſchließen, die gerade die vorherrſchende war und durch deren T 
ftüßung er am bequemjten und gefahrlofeiten gewinnen konnte 
Politik, die allerdingd für feine Verbündeten oft recht gefä 
wurde, da fie e8 auch fertig befam, ſelbſt auf dem Schladhtfelt 
Partei zu wechſeln und dem Gegner fich beizugejellen, falls 
PVofitionen die günftigeren waren. In dem Lebenslauf eines ſi 
Fürſten gibt es viel zu erklären, C. aber bat ihn felten verſt 
und iſt ihm nirgends gerecht geworden. Er begnügt fi d 
oberflächlich längſt Belanntes wiederzugeben, unterſchiedslos eiı 
wichtigere Fragen, wie 3. B. die Kandidatur des Herzogs für 
deutfhen Kaifertbron im Sabre 1619 nad) der Unterjuchung 
Erdmannsdörffer nebenbei in einer Anmerkung abzufertigen, 
Ganze aber mit etwas Poeſie und einigen efjeftvollen Apercu: 
die moderne hiſtoriſche Wiſſenſchaft ſchmackhaft zu machen. 

Das Werk iſt dem Minifter Baccelli gewidmet worden un 
fogar nah dem vorgedrudten Dankſchreiben des Königs Um 
Aufnahme in der Eöniglichen Privatbibliothet gefunden. Wenn 
der Bf. zum Schluß feiner Arbeit die Abficht ausfpricht, einige ne 
Werke, die nad dem Erſcheinen des feinigen veröffentlicht fin 
einer zweiten Auflage zu verwerthen, jo darf man nur wün 
daß dann auch feine eigenen Unterjudjungen eine verjtändnisv 
und inhaltreichere Bearbeitung erfahren möchten. Kiewnin; 


Das Kanarierbuch. Geichichte und Gefittung der Germanen au 
kanariſchen Inſeln. Bon Franz dv. Löher. München, J. Schweitzer's 
lag (Joſ. Eichbichler) 1895. 603 ©. 

Die Hypothefe, daß die Urbevölferung der kanariſchen J 
germanijchen Urſprungs geweſen fei, hat v. 2. ſchon in einer frü 
Beröffentlihung aufgeſtellt. Die Wiljenfchaft hat fich fchon de 
unbedingt ablehnend dagegen verhalten, doch hat ſich der Vf. da 
nit abjchreden laſſen, den Gegenſtand nod einmal eingehend 
behandeln. Dad Urtheil wird aber auch dadurch nicht geä 
werden. Die Möglichkeit, daB nach dem Zujammenbruch der gı 
niſchen Königreiche in Nordafrifa und auf der iberiihen Halbinfı 
Theil der Bevölkerung fih auf die nicht allzu fern von der a 
niſchen Küjte gelegenen Kanarien geflüchtet haben könnte, ift nic 
beftreiten; wunderbar wäre ed aber ſchon, daß nicht eine Kund« 
einem ſolchen Ereigniffe den Weg zur alten Heimat diefer Stt 


Afrika. 143 


jurüdgefunden haben follte, wunderbarer noch, daß in der Abgeſchieden⸗ 
heit und bei dem Mangel aller fremden Einflüffe bei dem Volke ſelbſt 
nicht die mindeite Spur einer Tradition davon ſich erhalten haben 
jollte. Was aber die L.'ſche Hypotheſe wiſſenſchaftlich abſolut unmög- 
lich macht, iſt die ethnographiſche Seite der Sache. Ein Volk, das, 
wie die Vandalen oder die Gothen, ein oder mehrere Jahrhunderte 
lang mit einer ſo hochentwickelten Kultur, wie die des Römerreiches, 
in mehr oder minder enger Fühlung gelebt hatte, konnte auch unter 
dem Einfluffe einer taufendjährigen Abgefchiedenheit nun und nimmer: 
mehr auf einen Kulturzuftand zurücfinfen, wie ihn fonft nur die 
Böller der Steinzeit zeigen. Die vollkommen unhaltbare und eigent= 
lich unwiſſenſchaftliche Hypothefe zieht fi) nun allerdings durd das 
ganze Buch hindurch; allein wenn man von ihr abjieht, fo bleibt 
doch noch immer ein Reſt von höherem Werthe übrig. Der Bf. hat 
wirklich aus den Quellen geſchöpft und ſchildert uns die langwierigen 
Kämpfe, welche der endlichen Unterwerfung vorangingen, nicht nur 
gewiffenhaft und eingehend, fondern mit einer Wärme, die einen Theil 
des Intereſſes, welches der Bf. an feinem Stoff genommen, unwill- 
kürlich auch auf den Lefer überträgt, den die fchiefe Grundlage des 
Ganzen zuerjt vielleicht mit gemifchten Gefühlen an die Leftüre gehen 
ließ. Können wir dem Buche aud nicht eigentlich einen wiflenfchaft« 
lichen Werth beimefien, fo dürfen wir e8 doc anerfennen als eine 
reizuo Ile Populariſirung eines geſchichtlichen Abſchnittes, der zu weit 
abſeits gelegen war, um unter anderen Verhältniſſen einen fo be- 
geiltexrten Schilderer zu finden. K. Haebler. 


Notizen und Nachrichten, 


Die Herren Derfafler erjuchen wir, Sonderabzüge ihrer =. 
Seitfchriften erfchienenen Auffäge, welche fie an diefer Ste “ 
berücfichtigt wünfchen, uns freundlichft einzujenden. 

Die Redaktion. 


Allgemeines. 


Im Berlage von Biejede & Tevprient, Berlin, ſoll demnädjft eine neue 
Zeitſchrift erfcheinen: Das HohenzollerneJahrbud, Herausgegebue— 
von Paul Seidel. Es foll einen Mittelpunkt für die Forſchungen zu 
Geſchichte der Hohenzollern und ihrer Thätigfeit für den Staat bilden, uw ! 
neben der literarifcyen Seite des Unternehmens, für die namentlich Berne &*" 
und Koſer ihre Mitwirkung zugejagt haben, jofl befonderer Wert au > # « 
bildlihen Darſtellungen nach zeitgenöffifhen Quellen gelegt werden, j=& = 
deren Heranziehung der Herausgeber durch feine amtliche Stellung m L= 
Dirigent der Kunjtfammlungen in den gl. Schlöffern und Tiretor be 
Hohenzollern: Mufeums in der glüdlichjten Yage ift. Namentlih die Abſich t- 
u. a. eine Porträtgalerie nicht nur der Hohenzollern, fondern and Der 
hervorragenditen brandenburgiich preußiſchen Etaatädiener :c. zu veranjtalte TT, 
eriheint uns in der That fehr dankenswerth. 

Die Redaktion der Forſchungen zur brandenburgifden us D 
preußgiihen Geſchichte Hat an Stelle des verjtorbenen Brofeior? 
A. Naude jept Otto Hinge übernommen. Ba das letzte Michgelisheft 
erit im Februar dieſes Jahres erichienen iſt, ſoll das Oſterheft diesmal 
ganz ausfallen und das nächte Heft erjt zum Herbſt erfcheinen. Die Zeit“ 
ihrift hat ihre Aufgabe als Gentralorgan der brandenburgifchspreußifchert 
Geſchichtsforſchung bisher in fo ausgezeichneter Weije erfüllt, daß man nur 
wünſchen kann, daß es zur Ehre der Wiſſenſchaft und des preußiſchen 
Staates, der allen Grund bat, fid) dieſes Iandesgefchichtlihen Orgen® 34 
rühmen, weiter gedeihen und aufbliiben möge. 





146 Notizen und Nachrichten. 


und joll von jept ab in PVierteljahrsheften ericheinen mit vergrößertem 
Programm (Tahresabonnement 10 M.). 


Die Adminiftration des Böhmer'ſchen Nachlaſſes in Frankfurt bat 
beichlofien, die „NRegeiten der Erzbijhöfe von Mainz” bearbeiten 
zu lafien. Es foll zunächſt dag Will'ſche Regeſtenwerk iiber 1288 Hinaus 
bi8 zum Beginn de3 16. Jahrhundert? ergänzt und zugleid Nachträge zu 
dem Will’ihen Werke geiammelt werden, und zivar joll das Material nicht 
aus der Kiteratur geſchöpft, Sondern direft aus den Archiven ntöglichft 
vollftändig zufammengetragen und fritiich bearbeitet werden. Die Leitung 
des Unternehmens bat Prof. Höhlbaum, die Bearbeitung Dr. Dieterid 
übernommen. 


Der Dıkokoyızöos Zuihkoyo: TMapvaocaös in Athen bat den 
1. Sahresband einer eigenen Publikation erfcheinen laſſen: "Erernoi, 
Eros a’, Athen 1897, 228 ©. (Dazu ein zweiter Theil, Anyodocta, Sitzungs⸗ 
berichte zc. on’ ©.) Bon den in dem Bande abgedrudten Abhandlungen, 
die jich ebenjo auf naturwiſſenſchaftliches wie auf philologiſch-hiſtoriſches 
Gebiet erjtreden, notiren wir hier: Jleoi z7s &v Norim 'halia "Elirvooa- 
hertiwis anoıxias von B. D. Palumpos. — 'Oirunıaza avakeıra. Ilaoa- 
Tronoss Eis Toia Yuwoia Tov Jlavoaviov von N. G. Polites (mit Nad: 
trag). — Ta ’Eheraivia Mvorioea von D. Philios und 'H Oronarodoyiu 
ans Attınijs xal N eis TV yopav £noinoıws tov Alßavaor von Sp. P. 
Lampros. 


Das Märzheft der Preußiſchen Jahrbücher enthält einen bemerkens— 
werthen Aufſatz von E. Troeltſch: Chriſtenthum und Religionsgeſchichte. 
Verfaſſer zeigt, wie die Ausbildung der vergleichenden Religionsgeſchichte 
und die Einwirkung de8 geihichtlihen Sinne auf die Anſchauungen vor 
der Entwidlung des Chriſtenthums für die Stellung des letzteren in de 
Gegenwart von größter Bedeutung geweſen find, größer als der Einfluf 
der Naturwiſſenſchaften. Auch dag Chrijtenthum hat ji) der Anwendung 
de Entwicklungsgedankens und Hiltorifh-analytiiher Betrachtung nich 
entziehen können. Aber gerade auch bei diefer Betrahtungsweije behäl 
e3 jeine einzigartige Bedeutung als die Religion unter den Religionen 


Die Political Science Quarterly 12,1 enthält die Fortſetzung dei 
Aufjage® von Smith: Four german Jurists (Bruns, Windjcheid 
Shering, Gneiſt). 


Im Nineteenth Century 241 (März 1897) publizirt Ch. Whible: 
einen Meinen Aufſatz: The limits of biography, in dem er gegen da 
Hervorzerren und Breittreten von vertraulichen Beziehungen großer Perſön 
lichkeiten, vollends von Klatih und Schmug proteftirt. — Aus der Iften 
reihiih:Ungariihen Revue 21, 2 notiren wir einen Artikel von R. v. Len 
denfeld: Gedanken über die natürlide Grundlage unjerer Staatsforn 


Allgemeines. 147 


Verfaſſer jucht gegenüber fozialiftiihen Tendenzen auf Grund breit aus⸗ 

geiponnener naturwiffenfchaftliher Unalogien nadzumeifen, daß unfere 

Staatöform in der That durchaus auf natürlicher Grundlage ruhe; er 
operirt dabei aber ein wenig gar zu viel mit Begriffen wie Steimzellen 
u. ſ. w. — Im Hiftoriihen Jahrbuch 18,1 veröffentiht &. Schnürer 
einen Artikel: Lamprecht's deutiche Gefchichte, in dem er noch einmal die 
ganze Lamprecht-Polemik (Below, Rachfahl, Lenz, inte 2c.) Revue paffiren 
läßt. Uns fcheint die Fortſetzung diefer Erörterungen, foweit ihre Verfaſſer 
nicht jelbft bemerlfenswerthe neue Gejichtöpunkte in die Diskuffion zu 
werfen haben, ziemlich fruchtlos. 


Sn der Ztichr. f. Philoſophie u. philoſoph. Kritit 109, 2 veröffentlicht 
ST. Erhardt eine bemerfenswerthe Studie über: Kaufalität und Natur- 
geieglidgleit. Er erörtert den Unterfchied diefer beiden Begriffe und zeigt, 
daB in der Geſchichte nur von erfterer, nicht von Gejeglichkeit im Sinne 
der Waturgejepe die Rede fein kann. — Die Ztihr. fir Volkswirthſchaft, 
Sozialpolitit und Verwaltung 6, 1 enthält den Schluß der Abhandlung 
von ©. Sulzer: Begriff und Aufgaben der Geſellſchaftswiſſenſchaft (vgl. 
18, 523). — In der Ziſchr. für vergleichende Rechtswiſſenſchaft 12, 2;3 
veröffentlidt 3. Kohler eine fehr lange Außeinanderjegung: Zur lir- 
geichichte der Ehe. Totemismus, Gruppenehe, Mutterredht. Er weiß mit 
größter Sicherheit aus allerlei ethnographiſchem Material die Gruppenehe 
als urjprüngliden Ausgangspunft der Eheformen zu konjtatiren, wird 
aber jhwerlich irgend einen Ungläubigen überzeugen. 


Bon Herbert Spencer’s Einleitung in das Studium der Sozios 
logie Deutſche überſetzung, herausgeg. von H. v. Marquardſen) iſt jetzt 
eine zweite, durch ein Nachwort Spencer's vermehrte Auflage erſchienen 
ELeipzig, Brochaus. 2 Bde. 6 M.). Auch wenn man in der ftrift durch— 
geführten Analogie biologifher und fozialer Entwidlung noch nicht das 
Geheimnis der Geſchichte offenbart glaubt und von der gar zu nüchternen 
und grämlichen Geſchichtsauffaſſung des berühmten Philofophen nicht bes 
frie digt wird, ſo wird man doch viel aus dem Buche lernen können. Die 
inleitung iſt bekanntlich vorwiegend methodologiſchen Inhalts und ent: 
wickelt die ſubjektiven und objektiven Schwierigkeiten, die Vorurtheile des 
atriotismus, des Standes ꝛc., die eine unbefangene und genaue Erkennt—⸗ 
nis der ſozialen Vorgänge erſchweren. Zum Kapitel vom politiſchen Vor— 

„beit liefert, ohne e8 zu merfen, Spencer jelbjt einen lehrreichen Bei- 
9 — fein Urtheil über die felundäre Bedeutung des Staated gegenüber 
ans Sräften der Geſellſchaft iſt fehr ſtark beeinflußt durch engliſche Partei- 
* ſicht. — Das Nachwort Spencer's wendet ſich gegen einige franzöſiſche 
ritiker des Buches. 
In der Beilage der Münchener Allgemeinen Zeitung vom 17. und 
Februar findet ſich eine eingehende, feine Bedeutung würdigende und 
10* 


18. 


148 Notizen und Nachrichten. 


warm anerfennende Beiprehung des Buches von Riezler von %. Stieve: 
Der Herenwahn. — Aus der Wochenſchrift „Zukunft“ 5, 27 notiren wir 
bier einen Aufſatz von F. Mar Müller: Das Alter der orientalifchen 
Literatur. Verfaſſer führt anfprehend aus, daß Alter ein relativer Begriff 
und an jih ohne beionderen Werth ilt; außerdem überall zwiſchen kon⸗ 
ftruftiven (d. h. nur erichloffenen) und authentijchen (d. 5. von gleichzeitigen 
Zeugnifien gejtügten) Zeitbeitimmungen zu unterfheiden jei. Wirklichen 
Werth gewinnt auch da8 Studium ber ältejten Zeiten nur, injofern es zu 
unferer allgemeinen Erfenntni® beizutragen vermag. — Eine andere 
theoretiſche Frage aus dem Gebiet der alten Geſchichte behandelt O. Seed 
in den Kahrbüchern für Nationalölonomie und Gtatiftit 58, 2: Die Statiftif 
in der alten Geſchichte. Er wendet ſich namentlid gegen Beloch's Kon— 
jefturalftatiftit und gegen das Bedenkliche der Schematifirungen auf diejem 
Gebiet. 


Neue Büder: Lord Acton, Über das Studium der Geſchichte. 
Überſ. (Berlin, Gaertner. 1 M.). — Lie, Den europaeiske Litteratur 
i kulturhistoriske Billeder. (Kopenhagen, Gyldendal. 7 kr) — 
Chantepie de la Sauſſaye, Lehrbuch der Religionsgeihichte. Zweite 
Aufl. 8. 1-6. (Freiburg i. B, Mohr. 6 M.) — Ehſes, Feitichrift — 
zum elfhundertjährigen Jubiläum des deutichen Campo Santo in Rom. 
(Freiburg, Herder. 12 M.) 


Alte Geſchichte. 


Die Zeitichrift f. Afiyriologie 11, 2/3 enthält einen Meinen Artikel vorm 
Th. Nöldede: Harran, der fi gegen die Annahme Winfler'8 und Hil = 
precht's wendet, daß diefe Stadt in der babyloniichen Vorzeit große poli = 
tiiche Bedeutung bejefien habe. Ebendort behandelt C. 3. Lehmann - 
Die Mondfiniternig vom 15. Sabatu unter Samafjumulin (eine Prob — 
aus dem von ihm beigefteuerten Theil zu dem Werke des Aitronomes 
Ginzel: Spezieller Kanon der Sonnen: und Mondfinfternifie von 900 v. Chr - 
bis 600 n. Ehr.; vgl. dazu Bemerkungen von Cppert im Sprechſaal de 
Heftes: Les eclipses mentionndes dans les textes cundiformes). Da — 
Heft enthält noch zwei Feine Artikel von Lehmann über: Sar kissa®- 
Polemik gegen Mefjerihmidt über Bedeutung diejes Titel) und über 
Iriba tukte (in der Sceil’ihen Nabonid-Inſchrift) und eine Abhandlun € 
von ©. Hoffmann: Aramäiſche Inſchriften aus Nerab bei Alepp 
Neue und alte Götter. 


In der Scottish Review 57 veröffentliht C. R. Conder einen Au F 
jag: Egyptian chronology, in dem er namentlih an Petrie's chron I 
logifhen Anſätzen nicht unberedtigte Kritik übt. — Aus den Beriht &: 
der ſächſ. Geſellſch. der Wiſſenſchaften zu Leipzig 1896, 23 notiren m> ũñ 





150 Notizen und Nachrichten. 


Tyrtäus-Hypotheſe Berrall’3 zurüd: A note on the date of Tyrtaeus 
and the Messenian War (vgl. unfere Noiiz 78, 155). Dasſelbe Heft enthält 
nod eine Augeinanderjegung zwilhen %. Granger ud W. W. Fowler 
über: Roman Burial und eine lange Entgegnung von C. Torr auf eine 
Kritil feines Buche® Memphis and Mycenae von Myres, auf die eine 
Meplif von Myres in Nr. 2 folgt (wir verweilen beiläufig auf eine völlig 
abweiſende Kritik des Buches von Torr von Ed. Meyer im Liter. Central» 
blatt 1896 Nr. 49). Endlich notiren wir aus dem Heft noch eine jehr 
eingehende Beiprehung von ®. Wyfe des Buches von B. P. Grenfell: 
Revenue Laws of Ptolemy Philadelphus, edited from a Greek Pa- 
pyrus in the Bodleian library (mit Einleitung von Mahaffy, Oxford 18%). 


Das Journal of Hellenic studies 16, 2 enthält die Yortjegung des 
Artikels von Paton und Myres: Karian sites and inscriptions (nebft 
zwei Karten; die Verfaſſer fuchen zugleich auß den Monumenten ein Bild 
der hiſtoriſchen Entwidlung Kariens zu geben). V. W. Horte berichtet 
über: Excavations at Aleae and Hyampolis in Phocis, die don der 
britiihen Schule in Athen 1894 unternommen wurden (dazu 10 Nummern 


— 


— 
U 
— 
u 


Inſchriften und Infchriftenfragmente), und J. U. R. Munro publizirt: — 
Fpigraphical notes from eastern Macedonia and Thracia (26 Nummern — . 
Ausbeute einer Reife v. J. 189%). Endlich EC. Smith gibt eine gute— 


Überfiht: Archaeology in Greece 1895/96. 


Über die aufgefundenen Fragmente der Gedichte des Bacchylides mch 
F. 8. Kenyon, der eine Ausgabe vorbereitet, vorläufige Mittheilunge 
in den Rendiconti della R. Accad. dei Lincei 5, 6, 1. Bgl. ebndor 


einen Heinen Irtifel von R. Qanciani: I busti di Bacchilide e Pin 
daro nelle ville antiche. 





Die Revue de philologie 21, 1, aus der wir ſchon die Papyruspubli 
fation von Kenyon erwähnten, zu der B. Hauffoullier noch eine 
Note sur le Papyrus CLXXXVII du British Museum BHinzufüg — 
enthält außerdem noch einen Artikel von Hauffoullier: Dömes e = 
Tribus, Patries et Phratries de Milet (Zujammenjtellung des inſchrift — 


lihen Materials dafür) und einen intereflanten Auffag von Ph. Fabia 


Les theätres de Rome au temps de Plaute et de Terence (er ſucht zu 
beweijen, daß das Theater mit Eitreihen beträchtlich älter war, als Ritſcky K 


annahm und dab die betreffenden Plautus-Stellen echt jind). 


Sn der Revue des Etudes grecques 35/36 erörtert WM. Hollean == 
eingehend: Un decret du Koinon des villes de Troade (jpätzeitli, gem — 
funden 1891 von Legrand). Es folgt eine Abhandlung von &. Millau> — 
La geome6trie grecque considerde comme oeuvre personelle du göens > 
grec (die Griechen haben die Geometrie als Wiſſenſchaft geſchaffen) — 
W. R. Paton publizirt: Inscriptions de Cos, Cnide et Myndos (g = — 
funden von Stalesperis, 13 Nummern, darunter bemerkenswerthe Derek & ) 


Alte Geſchichte. 151 


md P. Jouguet: Epitaphe d’un Grec d’Egypte. Th. Barnaud fudt 
in einer Note sur une inscription de Pergame gegen fraentel nad: 
aumweifen, daß fie auf die erjte Gejandtichaft des Andronifos für Attalos II. 
nad Rom zu beziehen ift. 


Die Berichte Über die Verhandlungen der ſächſ. Geſellſch. der Wiſſenſch. 

du Leipzig 1896 H. 2/3 enthalten zwei Artikel von Meiſter: Ein alt» 

thefialiihes Ehrendefret für den Korinther Eotairos (aus dem 5. Jahrh. 

* Chr.; Erörterung der von Chatziſojidis publizirten Inſchrift) und: Die 

SDepo ſitionsurkunde des Xuthiad (neue Publifation und Erörterung); dazu 

eine Abhandlung von Hirzel: Die Homonymie der griehiihen Götter 
nach der Lehre antiker Theologen. 


. Ein Heiner Aufia von P. Knapp im Neuen Korreipondenzblatt für 
die Gelehrten und Realſchulen Württembergd 1897, 1: Zur Frage der 

METzehungszeit des herobdotiihen Geſchichtswerks, madt auf Stellen auf- 
MerZiam, die durch Anspielung auf jpätere Zeitereignifje für eine Abfaſſung 
Nach 423 v. Chr. zu Sprechen feinen, läßt e8 aber dahin geftellt, ob viel« 
eich Herodot jelbft nachträgliche Zufäge zu feinem Werte machte. 


In der Ztichr. f. Philofophie u. philof. Kritit 109, 2 gibt Th. Go m- 
ne 3 eine lobende Kritit der Campbell'ſchen PBlato-Studien: Die Jowett⸗ 
a. wmpbell’iche Ausgabe des Staates und die platonifche Chronologie. Vgl. 

MR demjelben Heft einen Nufjag von A. Töring: Thaled (er war nicht 
Xaterialiſt, fondern Hylogoiſt). — Zu Plato notiren wir nod) zwei Artikel 
m Journal of Philology 49: Platos later theory of ideas von J. L. Da⸗ 


Diez (gegen Jadjon) und von 9. Jackſon (gegen Zeller). 


Der Hermes 32, 1 enthält zunächſt den Schluß der Abhandlung von 
. Dittenberger: Antiphon's Tetralogien und das attijhe Kriminals 
Techt, die fi zu einer intereflanten rechtshiſtoriſchen Studie über Grund- 
Tragen des attiſchen Rechts gejtaltet und des Verfaſſers Anficht näher bes 
Jründet, daß die Tetralogien nicht von einem wirklich rehtsfundigen Manne 
Indie Antiphon ftammen können, fondern vielmehr von einem ionijchredenden 
Sophiſten, ber fie gegen Ende der perikleilhen Epoche oder bald danach 
Im Athen verfaßte. — Wir notiren aus dem Hefte noch eine Reihe von 
Hanpdidriftlichen, bezw. tertkritiichen Studien: Zur Tertgeidjichte der Gerniania 
Don R. Wünſch: zu Dionyfios von Halikarnaß Über die alten Redner 
Don E. Thomas; und Kritifch-eregetiidye Beiträge zu Philo von 2. Cohn; 
 ndlidy zwei Heine Artikel von W. Helbig: Eijerne Gegenjtände an drei 
Stellen des homeriſchen Epos (erweijen fich alle drei al8 nachträgliche Ein- 
Didtungen) und 9. v. Wilamowitz-Moellendorff: Die xenophon— 
Tifhe Apologie (gegen neuere Üüberſchätzung der Schrift 


In den Fledeijen’ihen Jahrbüchern 1896, H. 11 veröffentlicht G. Fried— 
wid einen Artilel: Zur griehiichen Geſchichte 411—404 v. Chr. chrono- 


152 Kotizen und Nachrichten. 


fogiihe Fragen; Geichichte der 30 Tyrannen). Dasjelbe Heft enthält die 
Fortſetzung von K. Lincke's Aufjaß: Sokrates und Xenophon (Beſprechung 
der drei erſten Bücher der Memorabilien) und den Schluß von H. Pom⸗ 
tomw'2 Unterfuhungen: Die dreijeitige Bafis der Mefjenier und Raupal: 
tier zu Delphi (6. da8 mejjeniihe Hilfscorp8 in Delphi, da® nad Nieſe's 
Mittheilungen das belphifhe Heiligthum 207 und 206 v. Chr. gegen 
Philipp V. von Macedonien beſchützte). Es folgt ein Artifel von 5. Enote: 
Noch einmal zu Tacitus Ab Exc. 1, 64 (Bertheidigung der Lesart inter 
undas; Auscinanderjepiung mit Wilms über die Moorbrüden), und end- 
lid, in Fortſetzung zu einem früheren Urtifel: Studien zu Antigonos von 
Koryjtod von R. Nebert (der Perieget, Raradorograph und Kunjtichrift: 
jteller Antigonos ijt mit dem Hiftorifer Antigonos identifh, der um 290 
vd. Ehr. geboren wurde. Nähere Beitimmungen zu jeiner Biographie.) 


Im Philologus 55, 3 veröffentliht H. Heifterbergf eine ftaat#- 
rechtlihe Unterfuhung über den Begriff: Municeps. Er nimmt an, daß 
das Wort urfprünglich zwei ganz verſchiedene Bedeutungen hatte, nämlich 
einmal diejenigen Perjonen bezeichnete, welche in den lateinifchen Kolonien 
und verbündeten Städten öffentliche ümter beffeidet hatten und deshalb 
zu römischen Bürgern geworden waren, und andrerjeit8® die nad Rom 
zugewanderten Beregrinen, die zwar an anderen römifchen munera Theil 
nahmen, aber gerade von der Belleidung öffentlicher Amter und dem 
Stimmrecht ausgefhloffen waren. Diele Doppelbildung desjelben Wortes 
bat aber doc etwas fehr Auffallendes. Wir notiren aus dem Heft nod) 
Artilel von H. Düntzer: Eine Heifefatire und eine Neijeepiftel des 
Horatius (Sat. 1,5 und Ep. 1,15) und von K. Weymann: Beiträge zur 
Geſchichte der altchriftlihen Xiteratur (zu Gregorios Thaumaturgos, Sul: 
piciuß Severus ꝛc. ꝛ⁊c.). Endlich Ph. Bannad publizirt und erürtert: 
Neue Bruchſtücke gortyniſcher Gejege, die vor zwei Jahren gefunden find- 


Aus der Beilage der Münchner Allg. Ztg. notiren wir Artikel vor 
O. Erufius: Die neueſten Papyrusfunde (5. März, Beiprehung des 
neuen Bandes von Grenfell und Hunt, Orford 1897); von Wecklein: 
Das griechiſche Theater (9. März, Beiprehung des Buches von Dörpfeld 
und Reiſch, Leipzig, 1896) und von Ad. Shulten: Aus dem römiſchen 
Afrila (24. März, Beiprehung von 3. Toutain: Les cites romaines 
de la Tunisie, Bari? 1896). 


In Schäffle's Btichr. für die gefammte Staatswifjenihaft gibt H— 
Michaelis eine: Kritifche Würdigung der Preiſe des Edictum Diocletiani 
dom nationalökonomiſchen Standpunkt aus, unter Vergleihung moderner 
Preis- und Lohnverhältniſſe. 

In der Ztſchr.f. Numismatik 20, 3/4 iſt ein Vortrag von E. Bernice 
abgedrudt: Über den Werth der monumentalen und literariihen Quellen 
antiker Metrologie. 





154 Notizen und Nachrichten. 


Epigrafi latine di Baja, auf deren einer ein curator augustalium 
Cumanorum perpetuus und curator perpetuus embaenitariorum 
trierum pisciniensium vorlonmt. 

Die Rivista di storia antica 2,2 enthält Artikel von E. Lattes 
I documenti epigrafici della signoria etrusca in Campania e i nom 
delle maschere atellane (hält gegenüber Duhn die Beweije für die einftige= 
Ausdehnung der etrusfiihen Herrihaft über Qampanien für ganz aus — 
reihend); — G. Borzio: Saggio di psicologia degli schiavi (in Griechen — 
land; Stellung der Stlaven und Rüdwirkung auf ihre Gefinnung); — 
©. Rojfi: Il concetto morale nel mito di Sisyphos; — ®. Jadin : 
Jefte (Bergleihung der Überlieferung vom Opfer Jephta's mit anderem 
ähnlihen Sagen); — 8. Holzapfel: Il numero dei senatori roman, 
durante il periodo dei re (urjprüngli 100; von Tarquinius Priefax 3 
verdoppelt; feit Beginn der Republit 300); — CE. Pascal: Ancora su 
Livio e i processi degli Scipioni (Augeinanderjegung mit Kimer); — 
S. Rocco: Sull’ origine del mito di Caronte (ftammt aus Agyptemw); 
— G. Tropea: Ecateo da Mileto ed i frammenti della Alsgınyr si: 
(Fortfegung) und unter Varietä scientifiche: Il pedagogo (in Griden: 
land und Rom). 

Unter den Abhandlungen der Barifer Academie des Inscriptions iſt 
ala Bd. 36, 1 eine Publikation von Edm. Le Blant erjdienen: 750 iAn- 
scriptions de pierres gravées inedites ou peu connues (Imprimerie 
Nationale 1896; 8,75 Fr.). Es ift eine jehr dankenswerthe Sammlumg 
und ſyſtematiſche Verarbeitung der kurzen griehiihen und lateiniichen 
Inſchriften von den Steinen der uns erhaltenen antiten Ringe, zumeiſt 
aus den erften vier Jahrhunderten unjerer Zeitrehnung. Die Injchrirten 
jelbjt find nad) Sachrubriken geordnet: 1. Salutations, souhaits, mentions® 
d’un present. 2. Devises affectueuses ou galantes. 3. Anneaux de 
tiances ou d’&poux. 4. Formules d’adoration et amulettes. 5. In- 
scriptions diverses. 6. Inscriptions chretiennes. 7. Noms propre8 
(griechiſche und lateiniſche oder in griedifchen und lateinischen Lettern)- 
Es iſt zugleih ein interefjantes Kapitel antiker Kulturgeichichte, da8 ist 
diejer Sammlung an uns vorüberzicht. — Bon demijelben Verfafjer ent” 
bält die Revue archeologique 30, 1 die Fortſetzung der: Paléographãe 
des inscriptions latines du DOIe siecle a la fin du VHe. 

Sn der Revue Historique 63, 2 gibt C. Jullian wieder eine über- 
fiht über franzöfifche Urbeiten zur römiſchen Geſchichte — Ein Arte} 
von ©. Reinad in ber Revue Celtique 18, 1: Les vierges de Sen» 
leugnet, dab aus der Stelle bei Pomponius Mela die Eriftenz vo 5* 
Drutdinnen zu folgern if. — In der Revue des universites du mid 3 
1897, 1 fegt G. Radet feine Recherches sur la geographie ancienn ® 
de l’Asie mineure fort (5. La campagne de Valens contre Proop® 
en 365; Lage von Mygdus). 


Alte Gefchichte. 155 


Ein Artifel von H. M. Gwatkin in der Contemporary Review 374: 
Irenaeus on the Fourth Gospel, wendet ſich namentlich gegen die Anjicht 
darnad’8, daß der Apojtel Kohannes gar nicht der Lehrer Polycarp's ge= 
weien und alſo das Zeugnis des Irenäus über ihn ohne Bedeutung jet. 
— In der Dublin Review 120 findet fih ein Xrtifel von Chapman: 
The Holy See and Pelagianism I. — Gegen Merkle (vergl. 78, 533) 
wendet ih in der Priscillian⸗-⸗Frage no einmal Ed. Herzog inder Revue 
internationale de Theologie 18: Priscillian.e — Aus demijelben Heft 
notiren wir den Anfang eines Auffabes von 3. Langen: Zur drifts 
lichen Kulturgefchichte (über die erjten Jahrhunderte), — Die Sipungs: 
berichte der Berliner Alademie der Wiſſenſch. H. 13 enthalten eine von 
darnad vorgelegte Abhandlung von Schürer: Über die Juden im bos— 
poraniihen Reihe und die Genoflenichaften der vedourvo: Feor oyıorov 
ebendajelbjt (leßtere find eine vom Judenthum ſtark beeinfluhte Mifch- 
religion, die Verfaſſer bis ins 4. Jahrh. verfolgt). 


In der Römischen Quartalfchrift 10, 4 veröffentliht H. Griſar einen 
Artitel über den Sartophag des Junius Bafjus (mit einer ihönen Lichts 
drudtafel; Erläuterungen der Tarftellungen auf derjelben‘. Ebendort be— 
bandelt A. de Waal: Die Taufe Chrifti auf vorkonjtantiniichen Gemälden 
der Katatomben und Th. M. Wehofer: Eine neue Aberkios-Hypotheſe, 
indem er fich gegen die im vorigen Heft von und beiprocdene Schrift 
von Dietrich wendet. Die Hauptiahe wird doc fein, ob es gelingt, das 
jeitliche Verhältnis der Aberkios-Inſchrift zur Alexander-Inſchrift fiher zu 
beitimmen, da davon ber ganze Beweis Dietrich's abhängt. Über dasielbe 
Thema it noch ein Auffag von C. M. Kaufmann im Märzheit 1897 
des „Katholit“ zu erwähnen: Die Legende der Aberliod:Stele im Lichte ur: 
driſtlicher Eschatologie. Verfaſſer will das „Königreich“ ꝛc. auf das Jen= 
8 beziehen, eine Erklärung, bie uns bei dem ganzen Zuſammenhang der 

Stelle geradezu ausgeſchloſſen zu jein fcheint; auch ſonſt jind die Er: 
Tungen des Verfaſſers gezwungen und unwahrſcheinlich. Vgl. auch die 
Analecta Bollandiana 16,1: L’inscription d’Abercius (Rejume:. 


‚Im der alten Moabiterjtadt Mabedan ift ein Fußbodenmoſaik gefunden 
ME einer Karte von Baläftina, Syrien und Ägypten aus den 5. Jahr: 
hum dert n. Chr. — In der Revue archéologique 30, 1 behandelt 

Blochet: Inscriptions de Samarkand (sc. der Fürſtengräber) 


In der Realencyllopädie für Theologie und Kirche 3. A. 2, 63—92 
tar 9. Belzer den Artikel Armenien, der uriprüngli von dem ver— 
ſio T benen Petermann herrührte, einer gründlichen Neubearbeitung unter— 
Gen. Gelzer beſitzt nicht bloß eine gediegene Kenntnis des Armeniſchen 
T unter den deutſchen Geſchichtsforſchern iſt er wohl der einzige gründ— 
che Kenner besielben —, fondern aud der armeniſchen Gejchichte, der 
po Litijchen wie der fırchlichen, welch letzterer er erit neuerdings einen bervor- 


156 Notizen und Nachrichten. 


ragenden Beitrag gewidmet hat (vom Unterzeichneten in dieſem Blat 
angezeigt). In dem Artikel find die Ergebnifje der neueren Forſchungen 
die jept für dieſes Feld etwas reidhlicher zu fließen fcheinen, mit Eritifche 
Auge und vollftändig vermwerthet. S. 63—67 enthält einen Abriß di 
pofitifihen Geſchichte, S. 67—74 eine Überfiht und Würdigung bi 
wichtigiten tbeologifhen und hiſtoriſchen Schriftiteller bi® zum 18. Jahı 
hundert, S. 74—92 eine Geſchichte der armeniſchen Nationallirde bis aı 
die neuefte Zeit und ſehr werthvolle ftatiftiihe mie hiſtoriſche Angabe 
über die Organijation berjelben in der neueren Zeit, fowie über die Aut 
breitung anderer Glaubensbekenntniſſe und die Bevölkerungszahl in Armenie 
und der Armenier außerhalb desjelben. Wer fi) raſch und doch genüger 
über die Geſchichte und LKiteratur Armeniend belehren will, dem farı 
der Artikel warm empfohlen werden. William Fischer. 


Rene Ziüder: Monuments Egyptiens du musde d’antigquit 
des Pays-Bavs a Leide. P. p. Pleyte. Ill. (Leiden). — Set 
Unterfuhungen zur Gefdichte und Altertpumstunde Ägyptens. 9. 1 u- 
(Leipzig, Hinrichs. 24 M.) — Gilbert, Beitr. 3. Entwicklungsgeſchick 
d. griech. Gerichtöverfahren® u. d. griech. Rechtes. (Leipzig, Teubner.) 
Wachsmuth, Neue Beiträge zur Topographie von Athen. (Xeipz, 
Hirzel. 3 M.) — Tiele, Gejhichte der Religion im Alterthum bis a 
Alerander d. Großen. Über. 1,2. (Gotha, Perthes. AM.) — Revill 
Jesus de Nazareth. 2 Vols. (Barig, Filhbader.) — Rauſchen, Jal 
bücher der criftl. Kirche unter dem Kailer Theodoſius d. Gr. (Freibu 
t.B, Herder) — Schneidemwin, Die antite Humanität. (Berlin, Wei 
mann. 12 M.) — Prosopographia imperii romani saec. I. I. II 
P. I ed. Klebs. P. II ed. Dessau. (Berlin, Reimer. I: 4 M 
IL: 20 M.) 


Ztömifd-germanifhe Zeit und frühes Mittelalter Bis 1250. 


In der Weftdeutihen Ztſchr. 16, 1 fett W. Sidel jeine Unter 
juhungen über: Die Privatherrichajten im fräntifhen Reiche, fort (2. Ka 
pitel: Die berrichaftliden Leute. Ausdehnung der Herrihaftsredhte, Lag 
der Leute). Ebendort veröffentliht &. Wolff einen Aufſatz: Römiſch 
Straßen in der Wetterau (Literatur, Hülfgmittel, Ergebnifje; dazu drei Zaf., 


Im Korrefpondenzblatt de3 Geſammtvereins 2c. 45, 3/4 veröffentlid 
Generalmajor Wolf einen Auffag: Die römifhen Mauern der Stab 
Köln, im Anſchluß an die Publilation von Schulge und Steuernagel; un. 
ebendort in Rr.5 5. Haug einen Artikel: Vom römiſchen Grenzwall, zun 
Theil im Anſchluß an den im Folgenden erwähnten Bericht Yon Hettne 


Am Zahrbud des kaiſerl. deutihen archäolog. Inſtituts 11, 4 it de 
Bericht Hettner's über die Thätigleit der Reichslimeskommiſſion ven 
Öffentliht. — In den Mittheilungen des hiftoriihen Bereines für GSteien 





158 Notizen und Nachrichten. 


19. Februar notiren wir einen Artifel von %. von der Leyen: Der 
beilige Chriftophorus (Entwidlung der Legende; Anzeige des Buches von 
K. Richter: Der beutihe S. Chriſtoph, Berlin 1896, Acta Germanica 5, 1). 


In den Berichten der ſächſiſchen Geſellſch. der Wiſſenſch. zu Leipzig 
1896, 2/3 veröffentlicht Sohm einen Heinen Artikel: Terra salica (sc. 
das Volkland der jaliiden Franken, das nicht freie Eigenthum bes Ein— 
zelnen war). 


In den Analecta Bollandiaca 16, 1 publizirt Sr. Cumont: les 
Actes deS. Dasius (nad) dem Parisinus Grec 1539). Dasſelbe Heft bring + 
die Fortſetzungen der Narratio Sergiae de translatione S. Olympiadis 
und des Bulletin des publications hagiographiques; endlich Artikel übex=: 
Les saintse du cimitiere de Commodille (an der Straße von Dftiex: 
Felix, Adauctuß und Emerita) und über: La Notitia fundorum du titare 
des SS. Jean et Paul a Rome (in der Inſchrift ijt servus sanctoramm 
zu lejen, nicht servus servorum). — L'Universite catholique 1897, 3 est: 
hält einen Artikel von Ch. %. Bellet: L’ancienne vie de Saint Martial 
et la prose rythmee (mit Abdrud der Vita; Berfafier ſpricht fih gegen 
Duchesne aus und für Urbellot, daß die Vita aus dem Unfang des 6. Ja hr⸗ 
hundert3 ftammt). — Die Studi storici 5, 4 bringen bie Fortſetzung Des 
Artikels von A. Erivellucci: Le chiese cattoliche e i Langobardi 
Ariani in Italia, und den Anfang eines Aufjate® von A. Mancini: 
La storia ecclesiastica di Eusebio e il de mortibus persecutorum 
(Art und Weile der Benützung lepteren Werkes dur Eufebiuß). 


Pio Rajna nimmt in der Romania 101 feine ‚Studien über das 
mittelalterlide Epo8 wieder auf: Contributi alla storia dell’ epopea e 
del romanzo medievale (Altre orme antiche dell’ epopea carolingia 
in Italia). 


Im Hiftorifhen Jahrbuch der Görres-Geſellſchaft behandelt %. Die: 
kamp eingehend: Das Zeitalter de3 Erzbiſchofs Andreas von Cäſarea- 
Er glaubt feine Blüte auf die Beit von 515 bis 535, die Abfaffung de 
Kommentars zur Apolalypje auf die Zeit bald nach 515 beftimmen zu 
fönnen. — In demijelben Heft madt R. v. Noftip-Riened dankens 
werthe nähere Mittheilungen über: Die Briefe Bapit Leo’ I. im Code 
Monacensis 14540 (nebjt einem Berzeihnis der 72 Briefe der Hand⸗ 
fhrift vom 13. Februar 449 bis 1. September 458, mit Unführung der 
Adrefiaten, Briefanfänge und Datirung). 


Im Archiv f. kathol. Kirchenrecht 77, 1 veröffentliht M. N. Stieglee 
einen Aufjag (Anfang): Dispenfation und Dispenſationsweſen in ihre 
geihichtlihen Entwidlung bis zum 9. Jahrhundert. Es ift eine forgfältige® 
Unterfuhung über Wefen, Vorgeſchichte und Entwidlung der Dispenfatior® 
im Kirchenrecht, die danach urfprünglih jede Ausnahme vom ftrenger® 


Frühes Mittelalter. 159 


Recht, alfo auch jede gefekliche Derogation und Privilegien umfaßt. Es 
tolgt ebendort eine Abhandlung von Ad. Roeſch: Die Bination (Wieder- 
holung der Meſſe) in älterer Zeit und nach dem jeßt geltenden Recht. — 
In der Theologischen Quartalichrift 79, 1 behandelt Schanz vom Stand: 
punkt des katholiſchen Kirchenrechts: Die Abjolutionsgewalt in der alten 
Kirche. 


In den Forſchungen zur brandenburgiichen und preußiichen Geſch. 9, 2 
findet ih eine jehr umfangreiche, über fieben Bogen ftarke Abhandlung 
von B. Guttmann: Die Gernuanijirung der Slawen in der Mart (Theile 
davon auch ala Berliner Difiertation gedruckt). Es iſt eine fleißige und 
füdtige Arbeit; aber das eigentliche Problem, wie es möglich war, daß 
ich die Germanifirung fo ausgedehnter Gebiete fo fchnell und durchgreifend 
vollziehen tonnte, tritt in der Darjtellung ganz zurüd und erfährt in 
feiner Weiſe eine neue Beleuchtung. Hundertundfünizig Jahre nach der 
aslaniſchen Offupation war Brandenburg jo gut wie völlig germanifirt, 
und derfelbe Prozeß vollzieht jich ganz analog in Ponimern und Medlens 
burg, obwohl ſich dort die alten jlawiihen Fürſtengeſchlechter erhalten. 
dier liegt aljo ein gemeinjames Problem vor, das aud) einer gemeinſchaft— 
lihen Löſung bedarf. Die fogen. Urgermanentheorie, d. h. die Annahme, 
dab die oftelbifhen Gebiete nie ganz von den Germanen geräumt waren 
und die zurüdgebliebene ſchwache germaniihe Bevölkerung nur unter 
lawiſche Herrſchaft gerieth, dieſe Annahme, die die Rückgermaniſirung am 
leichteſten zu erklären geeignet wäre und auch die ſchnelle Chriſtianiſirung 
nach Annahme des Chriſtenthums ſeitens der ſtammverwandten Sachſen 
wird vom Verfaſſer nur in einer Anmerkung nebenher erwähnt. Ebenſo 
ſehlt es an ftatiftifchen Zufammenftellungen an der Hand der Quellen über 
ie Ausbreitung der Kirchen und Klöfter, desgleihen über die Orts- und 
erſo nennamen. Was dagegen im allgemeinen über Recht, Berfafiung und 
ltur der Wenden in der Marl feftzuftellen it, wird vom Verfaſſer ein: 

scher und mit gutem Urtheil erörtert. Seine Arbeit behandelt aljo mehr 
die Slawen in der Mart, als die Germanijirung der Slawen, und ver: 
dient in diefer Begrenzung Anerfennung. — Dasjelbe Heft der Forſchungen 
ME Gt eine Rezenjion des Sommerfeld’fchen Buches über die Bermanifirung 
MR Pommern von F. Rachfahl. 


Im Neuen Archiv 22, 2 veröffentliht 8. Hampe die Fortſetzung 
es Berichts: Reife nadı England vom Juli 1895 bis Februar 1896, 
Den er weitere „Mittheilungen aus einzelnen engliiden Handſchriften“ 
act. (8. Aus einem Regiſter des Kardinald Ottobonus von €. Adrian, 
aa 1259-1267; mit Abdrud von neun Stüden, einem Mandat Papit 
Nexander's IV. an die Bewohner der Mark Treviio und adht Echreiben 
8 Ottobonus, an ben König Ludwig IX. von Frankreich ꝛc. 9. Zur 

Tchichte des Bisthums Lüttich) im 11. und 12. Zahrh., ungedrudte Stüde 


160 Notizen und Nadridten. 


aus englifhen Handicriften, darunter ein Schreiben Biſchof Godeba 
von Utrecht an den Erzbifhof von Köln v. J. 1119. 10. Papftbriefe 
12. und 13. Jahrh. in engliihen Handidriften, mit Abdrud mehr 
Stüde; 11. Zur Gejhidhte von S. Marimin bei Trier). — Es folgt 
Heiner Auflag von G. Caro: Ein untergejhobener Schiedsſpruch 
1231, den Verfaſſer zugleich als einen Beitrag zur Kritit der Ann: 
Januenses bezeichnet; denn es ergibt fih, daß der Berfafier des 
treffenden Theil® der genuefiihen Stadtannalen, Magifter Bartholom 
den wahren Sachverhalt über den untergeihobenen Schiedſpruch 
fhwiegen bat, obwohl er ihn fehr wohl kannte. Sodann dibt ®. Er 
eine jorgfältige Zergliederung und Quellenanalyſe der Mattfeer Anna 
Die Annalentomplifation de8 Dechants Chrijtian Bold von Meattfee. 
lich macht O. Holder: Egger Mittheilungen aus Handichriften des 
furter St. Peterskloſters (1. Nekrologiihe Notizen in Rudolf Kalent 
2. Aus der Helwig-Handichrift; 3. Bemerkungen über die Nefrologien ı 
anderen Arbeiten von Joh. Kircher, Columban Fugger und Gallus Stafl 
4. Grabſchriften und andere Inſchriften; 5. Ein Brief der Weiſſenbur 
Mönde an die vom Erfurter St. Peteröberge). In den Miscellen 
Heftes Handelt Th. Mommſen über: Das Nonnenalter (dag 40. Ja 
andere Überlieferungen beruhen auf Snterpolationen) und: Zur Weltdre 
vd. %. 741 (Mittheilung aus einer neuen Handſchrift derjelben); deögleit 
P. dv. Winterfeld: Zur Beurtheilung der Handfchriften des Walthari 
B. Sepp theilt: Ein unedirte8 Carmen de translatione S. Bartholom 
mit, und B.M. Baumgarten einen: Brief des Gegenpapftes Anacle 
vom 25. Februar 1131 (?). 

In den Mittheilungen des Inſtituts für öfterr. Geſchichtsforſchung 1 
veröffentliht Edw. Schröder, der der Geſchichte ſchon manchen Di 
erwiejen hat, bemerkenswerthe Unterjuhungen unter dem Titel: Urkuni 
tudien eines Germanijten. Er zeigt an einer Reihe von Fällen, 
ſprachliche Unterſuchungen dem mittelalterlihen Hiftorifer wejentliche Die 
zu leiften vermögen und zu jiheren Ergebnijjen über Zeit und Herk 
einer Urkunde führen. So gelingt es ihm zunädjt, dag Hersfelder Zehn 
Verzeihnig, das er nah dem Marburger Original neu abdrudt, 
Sicherheit in's 9. Jahrhundert zu datiren (in feinem Haupttheil zwil 
830 und 850); er zeigt dann in einem zweiten Abjchnitt: Herzfeldil 
in Urkunden der Ottonen, wie aud in Kaiſerurkunden Dialektifches 
OrtSbeziehungen hervortreten; im dritten Abjchnitt: Eine undatirte Sul 
Zraditiongurtunde, wird die Urkunde Dronke Nr. 577 ſicher in die 
vor 825 datirt; endlih im vierten Abjchnitt gibt er eine ſehr jorgfä 
und eingehende Unterfuhung der „Korneyer Traditionen“, die zu nı 
Beitimmungen über die beiden Regiſter I und I, ihre Grundlagen 
ihr Verhältnig zu einander führt. — In demjelben Heft behandelt 
Zangl: Die Urkunden Karl's d. Gr. für Bremen und Verden (die Fälſch 





Frühes Mittelalter. 161 


der Urkunde für Bremen ift die ältere, in der Verdener Urkunde benußte; 
für leßtere diente noch ein Bapitprivileg v. J. 1153 als Vorlage, während 
die zälfhung der Bremer Urkunde ſchon dem 10. Zahrh. angehört). 


In den Sißungsberichten der Berliner Akademie der Wiſſenſch. 1897, 
9. 9 handelt E. Diimmler: Über den furor Teutonicus (Aufkommen 
diefeg Augdruds im Mittelalter jeit dem 11. Jahrh.). 


Die Römiſche Duartalfchrift 10, 4 enthält außer dem Schluß der 
Bulhbel’ihen Abhandlung, die inzwiichen ſchon volljtändig als Dijjertation 
erihienen ift, noch einen Auffaß von W. Sievert: Das Vorleben des 
Bapites Urban IV. (1. Die Jugend Urban’3 und fein Leben bis zu feiner 
Ernennung zum Archidiakon von Lüttih; 2. Jakob, Ardidiafon von 
„ti, Erſte Gejandtihaft nad Preußen, Pommern und den Nachbar: 
ändern). 


In der Btfchr. des Bergiihen Geſchichtsvereins, Jahrgang 1896, theilt 
®. Harleß: Ungedrudte Clevijche Urkunden mit (fünf Nummern, 1242 
bis 1366, nach Abfchriften des Cleviſchen Regiftratord Turd in Vorarbeit 
zu jeiner Chronik). 

Ein Artilel von F. Thudihum in der Beilage der Münchener Allg. 
ötg. vum 3. und 4. März: Zur Geſchichte des Bergbaued und der Stadt: 
verfaffung in Sachſen-Meiſſen, gibt eine Überficht über die hiſtoriſche Aus— 

ute aus den von Ermiich publizirten drei Bänden de Urkundenbuches 
der Stadt Freiberg. — Ebendort in der Beilage vom 31. März behandelt 
db. Krones: Ein neued Buch über Ezzelino da Romano (sc. von 
S. Mitis, Maddaloni 1896). 


. Im Archivio storico Lombardo 3/12 handelt P. Fontana: Sull’ 
origine dell’ arte Longobarda (erörtert die Frage, inwiefern eigene 
germaniice Kunſtanfänge oder Defadenz der römiſchen Kunft vorliege; 
nticheidet iih mehr für letzteres). — Ebendort folgt eine Abhandlung von 

M. Magiftretti: 8. Pietro al Monte di Civate. Il corpo di 
S. Calocero (der Bau des Kloſters ift wahrſcheinlich ſchon auf den letzten 
Lang obardenkonig Deſiderius zurückzuführen und zwar urſprünglich auf 

Wietro al Monte; ſpäter wurde es dann nach Civate verlegt, zugleich 
mit den Gebeinen des Heiligen,. — Die Atti e memorie della societä 

iana 12, 1,2 enthalten Fortjegungen der Urkundenpublifation: Perga- 
Dene dell’ Archivio di Classe in Ravenna, riguardanti il monastero 

S. Maria (del Canneto) e di S. Andrea apoustolo, nell’ Isola di 
Serra, in Pola (7 Nummern von 1182 bis 1267) und der Iſtriſchen 
Geſſchichtsblatter von Benuſſi D. Bernardo: Nel medio evo. 


In den Atti della R. Accad. delle scienze di Torino 32, 1 ver» 
ðffentiicht F. Patetta einen Artikel über: Vacella, giureconsulto manto- 
vano del secolo XII (Berjajier einer Schrift, die von Liebermann nach 


Dißsriiche Zeitichrift R. 3. Bd. XLIII. 11 


162 Notizen und Nachrichten. 


Vorgang von anderen fälfchlich dem Vacarius zugeichrieben war). — Ebeı 
dort, in Nr. 2, findet fih ein Artikel von G. Boffito: Albigesi 
Genova nel secolo XIII (mit Abdrud zweier Urkunden, die ihr Bo 
fommen beweifen, vom 12. Oftober 1221 und vom 10. Januar 1278). 


Eine umfangreihe Urktundenjtudie veröffentlidt C. Cipolla i 
Bollettino dell’ Istituto sıorico italiano 18 über: Le piü anticle car 
diplomatiche del monastero di S. Giusto di Susa (1029—1212). 6 
behandelt in eingehender Unterjuhung die Überlieferung der einzeln 
Urkunden von der Gründungsurtunde vom 9. Juli 1029 bis zur DOrigine 
urtunde des Grafen Thomas L von Savoyen vom db. März 1212 uı 
bringt dann die Urkunden jelbft in Fritifher Ausgabe zum Abdrud. 


Aus einer Handichrift des Brittiihen Muſeums gibt heraus ur 
erläutert in den Rendiconti della R. Accad. dei Lincei 5, 5, 11/1 
M. Balzani: Una profezia del dodicesimo secolo (vun einen Xı 
bänger der antipäpftlihen Partei gegen Papſt Alexander III. gerichte 
Versus angelici finem scismatis venturum declarantes und dazu eim 
Descriptio ordinis versuum precedentium et expositio desupe 
cujusdam). 

Im Archivio stor. italiano 18,2 gibt €. v. Ottenthal eine Üben 
fiht über: Pubblicazioni degli anni 1894 e 95 sulla storia medievall 
italiane. 


In der Revue historique 63, 2 gibt Ch. V. Langlois einen Üben 
blid über: Les travaux sur l’histoire de la sociètôé francaise au moyer 
äge d'après les sources litteraires (Kulturgeidhidte im engern Sinne 
nit einer Lifte der in Betradyt fommenden Schriften und ihrer Stichwort 
im Unbang). 

Die Bibliotheque de l’&cole ues chartes 57 enthält den Unfang jeh 
jorgfältiger Unterfuhungen von P. Fournier über: Les collection 
canoniques attribuees A Yves de Chartres. Verfaſſer unternimmt ei 
die drei dem Iwo beigelegten Sammlungen erjt jede einzeln (im von 
liegenden Artikel die Tripartita) kritiſch zu unterfudhen, dann ihren Bei 
jaffer zu beſtimmen und endlid ihren Einfluß auf die kanoniſchen Samm 
lungen des 12. Jahrhunderts zu unterfuchen. 


Sn den Seances et travaux der Academie des sciences morale € 
politique 1897 veröffentliht U. Luchaire ein Stüd aus einer Histoir 
de France, die er im nädjıen Jahre zuſammen mit Lapiffe zu publizire 
gedentt: Le roi Louis VL et le pape Alexandre IIl. — In der Revu 
des sciences ecclesiastiques 438/40 behandelt &. Hautcoeur: L’orges 
nisation d’un grand chapitre au moyen-äge (Sankt Pierre de Kill 
gegründet 1055; ein Stück aus einer demnädjt zu veröffentlidende 
Histoire de St. Pierre de Lille). 


Spütered Mittelalter. 163 


Eine Zuiammenftellung über die ländlichen Dienfte und Abgaben aus 
den erften drei Bänden des Cartularium Monasterii de Rameseia yibt 
N. Reilfon in der American Historical Review 2,2: Boon Services 
on the estates of Ramsay-Abbey. — Blackwoods Magazine 977 ent- 
bält einen Auffag von C. R. Conder: Saladin and king Richard. 
The eastern question in the twelfth century. — In der Westiuinster 
Review, März 1897 behandelt 8. Bukhſh: The eve of the crusades 
(die tieferen Urſachen der Sreuzzilge). 

Bee Büder: Schlumberger, L'épopée byzantine & la fin du 

Xe siöcle. (Paris, Hachette & Co. 30 fr.) — Miller, Konradin von 
Hohenſtaufen. (Berlin, Ebering. 3 M.) — Bund, The celtic church 
in Wales. (London, Nutt. 12 sh. 6 d.) — Maitland, Domesday 
book and beyond. Three essays in the early history of England. 
(Cambridge, University Press. 15 sh.) — Plehn, Der politiiche 
Charakter von Matheus Parifienjis. (Staatd- und ſozialwiſſenſchaftliche 
Forſch. 14, 3.) (Leipzig, Dunder & Humblot. 3,60 M.) 


Späteres Mittelalter (12501500). 


In Band 4 der Revue de l’orient latin beginnt N. Jorga eine 
größere Veröffentlihung, die zunächſt die Rechnungsbücher der genuefifchen 
Kolonien in Caffa, Bera und Famaguſta vorlegt. 


In der Revue d’histoire diplomatique 11, 76 beginnt $und- 
Örentano mit der Beröffentlihung von Dokumenten zur Gefchichte des 
diplomatijhen Verkehrs im 13. und 14. Jahrhundert und publizirt zunächſt 
Mm Meitläufiges Notariatdinitrument über die Ausführung der Exrfommuni« 
tion des Grafen Buido von Zlandern vom Mai 1297. 


Im Archivio storico Lombardo Anno XXIII fasc. XI (1896) unter 
dem Titel: Un documento Cremonese relativo all’ universitas schola- 
num veröffentliht &. Romano eine Urkunde vom 8. Juni 1292, mittelft 
deren das consilium generale der Rechtsſcholaren von Cremona den 

oktor der Rechte Nicolo Matarelli (einen vorher und nachher befannten 
Gelehrten) für das nädite Jahr zu römiſch⸗rechtlichen Borlefungen in 
Cremona erwählt. Romano ſchließt gegen Denifle, Die Univerſitäten des 

ittelalters 1, 732° Anm. 2, aus dieſer Urkunde den frühen Beſtand einer 
allerdings nie zum Generalſtudium entwickelten Univerſität (nicht einer ein- 
eben Rechtsſchule), deren ehemalige Eriftenz bisher nur durch die jtädtifchen 

tatuten von 1387 bezeugt war. K. Wenck. 


Sehr intereflant ift eine Abhandlung von 9. B. Sauerland über 
—— Taxen und Trinkgelder an der päpſtlichen Kurie während des 
ütere Mittelalter in der Weſtdeutſchen Zeitichrift 16, 78 f. Beſonders 

Serrepümlich find die Bemühungen der Päpfte Clemens VI. und 
11° 


164 Notizen und Nachrichten. 


Innocenz VI. um den zu erwartenden reihen Nachlaß des Erzbiſchofs 
Balduin (f 1354) und die Manipulationen des Domtlapitels, diefe Summen 
der Zrierer Kirche zu erhalten. Beigegeben find eine Koitenrehnung für 
päpjtlihe Beftätigung der Wahl des Jahres 1503 und eine Bittihrift um 
Ermäßigung de3 Servitium commune von 1511. 


Das Hijtor. Jahrbuch Bd. 18 enthält S. 37 eine genaue Unterjugung 
von Sägmüller über die Größe des von Papſt Johann XXII. bei 
feinem Tode Hinterlajienen Schapes, über den die Angaben ſehr au_- 
einandergehen. Er wird vermuthlid nad) unierm Gelde, je nachdem man 
die Kauffraft aniegt, 12 oder 32 Millionen Mark betragen haben. S. 58 
bietet 9. Grauert eine Überfiht der neueren Dante-Forfhuug, ſtizz ärt 
Allgemeineres, ſowie auch die Refultate in einigen Einzelfragen. ©. 133 
endlih polemifirt F. Joſtes gegen W. Walther's Aufftelungen (N. ccdHI. 
Ztſchr. 7) über die Bibelüberiegung des Johannes Rellah von ca. 1450, 
an deren Eriftenz der erjtere durchaus jefthält. 


Summa cancellariae (cancellaria Caroli IV.) Formulär kral. kan- 
celäfe éeské XIV stoleti. (Ein Formular der fgl. böhm. Kanzlei des 
14. Jahrhunderts.) Z rüznych rukopısüv k vydäni upravil Ferdinan d 
Tadra, v Praze 1895. Daß bieje ebendajelbjt erjchienene Ausgabe eine 
völlig ungenügende ift, weil der Herausgeber drei Handfchriften unbenütz ® 
ließ, über die entweder wie über die Grazer ſchon gute Berichte vorlag F 
oder wie über die in Melt und Schlägl leicht erlangt werden fonnten, au 
der fritiihde Apparat nicht ausreichend und ebenio der Kommentar unzu — 
länglich ift, Habe ih ausführlich in der Zeitichrift für die öfter. Gym 
naſien 1896 Heft 12 ©. 1103 —1106 erwieien. J. L. 


8. Wend bringt in Mittheil. des djterr. Inſtituts 18, 69 vo 
neuem eine eingehende Unterjuhung über die rätbjelvolien und jehr eigen 
artigen Schidjale der Lucia, Tochter von Bernabo Bizconti (f. ſchon 9. Z. 
77, 546). Manches neue Material ift herangezogen, namentlich für den 
Verlauf ihrer engliſchen Heirat. Die elegante Darjtellung bringt uns dieje 
merkwürdige Frau vielfach menſchlich näher. Ein Exkurs ift der Mutter 
Regina della Scala gewidmet. 


Felice Tocco, der die Forſchung über die religidien Kämpfe tnner= 
halb des Franziskanerordens bereit durd eine Reihe der werthvolliten 
Arbeiten gefördert bat, widmet der bedeutenditen Gruppe innerbalb der 
Oppofition der Jranzislaner-Spiritualen, der Partei der Anhänger Angelo’s 
da Glareno (Pietro da Foſſombrone), eine jehr beachtenswerthe Studie 
(I fraticelli o poveri eremiti di Celestino secondo i nuovi documenti- 
Estratto dal Bolletino della Societa storica Abruzzese, Anno VI 
Puntata XIV. Aquila, Santini Simeone. 189%. S. 117—159.) Zunächſt 
auf Grundlage ber von Ehrle befannt gemachten Altenftüde, aber au mie 
Benugung neuer von Tocco an’d Licht gezogener Quellen werden bie 





Späteres Mittelalter. 165 


Schidſale und innere Entwidlung der poveri eremiti di Celestino, die 
bald ebenjo wie andere Difjidenten des Franziöfanerorden® im Volks— 
munde den Namen „eSraticellen” erhielten, in der Zeit von 1294 bis 1337 
in forgfamer, die Darftellung Ehrle's mannigfach ergänzender und berid- 
tigender Weiſe gejchildert. Im Anhang werden u. a. zwei Briefe Angelo’3 
und Fragmente feines „Breviloguium” erſtmals bekannt gemacht. 
H. Haupt. 
In dem ſechſten der von der badiſchen hiſtoriſchen Kommiſſion heraus⸗ 
gegebenen Neujahrsblätter: Markgraf Bernbard I und die Ans 
länge des Territorialftaates (Karldruhe, Braun, 1896, 138 ©.) 
faßt Richard Feſter die Ergebnifje des von ihm in mujtergültiger Weiſe 
bearbeiteten Regeſtenwerkes der Markgrafen von Baden zu einen vortreff- 
lien, farbenreihen Zeitbilde zulammen. Nach einem llberblide über die 
früheren Schickſale der Marfgrafihaft ſchildert er ihre innere Verfaſſung und 
Entwidlung unter Bernhard I., von deſſen organijatoriicher Befähigung 
die neugeſchaffenen Berhältnijie beredtes Zeugnis ablegen. Weitaus den 
Töten Raum beanjprucht die Darjtellung der äußeren Rolitif (S. 32-—123). 
Rit jiherem Blid und feinem Geichid verfteht Feſter eg, aus dem ver- 
Dirrenden Chaos der Greignifie, aus dem oft jcheinbar zuiammenhangs- 
loſen Wechſel von Fehden, Bündniſſen und Verträgen die leitenden, für 
die Beurtheilung der Bernhardiniihen Politit maßgebenden Ideen los— 
zuſchälen und Barzulegen. Mit Huger Berehnung und Benugung der 
Umſtände, mit Liſt und Gewalt hat der Zähringer im Krieg und Frieden 
ſtets unbeirrt ſein Ziel verfolgt und feine Hausmacht zu mehren, den Be— 
ſtand ſeines Fürſtenthums zu ſichern geſucht. Während in den erſten 
Vahren die oberſchwäbiſchen Intereſſen im Vordergrunde ſtehen und ihn 
in Konflikt mit Habsburg bringen, wird die ſpätere Zeit beherrſcht von 
dem reichsgeſchichtliche Bedeutung gewinnenden Gegenſatze zu Kurpfalz, in 
welchem ſeine Territorialpolitik ſich auf's innigſte berührt mit der Reichs— 
politit König Sigismund's. Im Verlaufe einer nahezu 60jährigen Regie— 
ung hat der Markgraf nit all’ feinen Nachbarn, Fürſten, Städten und 
Rittern, der Neihe nad) die Waffen gefreuzt: aber audy in dem letzten ent= 
chei denden Waffengange, den er in faſt völliger Vereinſamung gegen Kur— 
Pfalz und befien Helier zu vejtehen hatte, hat er, wenngleich unter ſchweren 
Pfern feine Selbirftändigfeit behauptet und die Fortexiſtenz des jung 
Aufftrebenden Territorialftaate® gefihert, der ihm jein Dajein verdantte. 
eues Licht wirft die Vorftelung auf den Marbacher Bund, vor allem 
aber auf die Geſtalt König Sigismund's, dejien geiſtvolle Würdigung in 
aus geſprochenem Gegeniage zu der berrihenden Auffaſſung iteht. Alles 
ın Allem, ein höchſt willkommener Beitrag zur fjpätmittelalterliden Terri: 
torial: und Reichsgeſchichte, der weit über den gewöhnlichen Yeierfreis der 
Kujahrshlätter hinaus lebhaftes Intereſſe beanipruchen dari und erwecken 
wird, K. O. 


166 Notizen und Nachrichten. 


Sodann Hus. Ausgewählte Predigten. Mit einer einleitenden Mono: 
graphie von ®. v. Langsdorff. U. u. d. T.: Die Predigt der Kirche. 
Bd. 27. Leipzig, Zr. Richter. 18%. XXX, 149 ©. Die von ®. vd. Langs⸗ 
dorff überjegten 13 Predigten und Predigtbruchitüde werden durch eine an 
weitere Kreiſe ſich wendende Biographie von Koh. Hus eingeleitet; dieſelbe 
läßt die nöthige Objeftivität bei der Beurtheilung des gefeierten Reforma— 
tor8 mannigfach vermiſſen. Hermann Haupt. 


A. Werming hoff ſchildert in einem intereſſanten Aufſatz der Bir. 
f. d. Geſch. d. Oberrheins 12, S. 1 f. die ſchriftſtelleriſche Thätigleir 
Otto's III. von Konſtanz (1411—1434 Biſchof, F 1451). Für und am 
wichtigiten jind feine Schriften gegen da8 Basler Konzil. ©. 5f. ift eine 
Überficht der VBibliothet des Mannes gegeben und im Anhang werden 
7 Beilagen, Briefe, Urkunden u. a. für die Jahre 1444—1452 publiziert. 
In derjelben Zeitichrift S. 108 f. behandelt 3. Beder des Weiteren Die 
Verleihung und Verpfändung der Reichslandvogtei Elſaß von 1408 bid 16354, 
vielfah auf Grund ungedrudten Materials. 


A. Bömer beſpricht in der Ziſchr. f. Kulturgeid. 4 © 4 Die 
deutihen Humaniften in ihrem Verhältnis zum weiblichen Gejchledt. 


D. Redlich veröffentliht in der Ztichr. des Bergiihen Geſchicht 3- 
vereind Bd. 32 eine Aufzeihnung über Verhandlungen des Geſandt — 
DMearimilian’s, Cornelius v. Zevenbergen, mit Herzog Wilhelm von Julic? 9⸗ 
Berg (Febr. 1492); cin intereſſantes Zeugnis für franzöſiſche Rheingelũ NV te 
vor 400 Jahren. 

Sn feinen Studien aus dem Strafreht 4 beginnt Sr 1- 
J. Kohler die Behandlung des befonderen Theild des Strafrechts d er 
(talieniihen Statuten vom 12. bis 16. Jahrh. Es werden befprodes# 
Die Tötungsdelikte, die Körperverlegung, die Freiheits- und Ehrendeli 
iintereſſante Beſchimpfungen!), die Briefbrechung, ſodann die Vergehung 
gegen das Eigenthum, gegen fremde Okkupationsrechte, der Vertragsbtu 9 
die Benachtheiligung der Gläubiger, der Betrug (intereſſante Waarenbetrug 
fälle), älle bei. Untreue und die Erprefiung. Das Ganze ijt eine face 18 
regijtermäßige BZujammenitellung werthvoller Lejefrüdhte, die von der aut 
üppigen Fortleben des germaniiden Rechts in Italien beredtes Beuget# 
ablegt. Die Interpretation des Ediktes iſt oft falſch, was fi wohl am= 
einer Vernachläſſigung der Literatur erklärt. Unangenehm berüßren pie 
trodenen, überdies unter dem Strich nochmals wiederholten Aufählunge#* 
der Belegitellen, 3. B. S. 323}. 327 5. 344352 ff. u. ſ. f. 

Hans Schreuer- 

Neue Büder: Michael, Geihichte des deutſchen Volkes ſeit Deztt 
13. Jahrhundert bis zum Ausgang des Mittelalterd. I. (Freiburg, Srbet- 
5 M) — Haller, Concilium Basiliense. II 1431—143. (Bafek 
Detloff.) — Altmann, Ausgewählte Urkunden zur brandenburg ĩ c 





Reformation. 167 


pteußiſchen Verfaſſungs⸗ und Verwaltungsgeſchichte. I. II. (Berlin, Gärtner. 
IM) — Politiſche Korrefpondenz des Kurfürſten Albrecht Achilles. IT. 
1475—1480. Herausg. v. Priebatſch. (Leipzig, Hirzel. 25 M.) — 
Rigault, Le progres de Guichard, &vöque de Troyes (1308—1313). 
(Paris, Picard et F.) — I capitolari delle arti Veneziane a cura di 
Giovanni Monticolo. IL (Roma, Forzani.) — Lungo, Florentia: 
uomini e cose del quattrocento. (Firenze, Barbera.4L.) — Shwahn, 
Lorenzo Valla. (Berlin, Mayer & Müller. 1.20 M.) 


Beformation und Gegenreformation (1500 —1648). 


Im Sommer 1499 jandte Ludovico Sforza den Conradolo Stanga 
nah Neapel, um mit König Friedrich über die Anzahl der von Neapel 
in dem Bündnis mit Mailand zu ftellenden Hülfstruppen zu verhandeln. 
3wölf Berichte dieſes Geſandten veröffentlicht Peliſſier aus dem Mai— 
länder Staatsarchiv in der Revue d’histoire diplomatique 10, 4. 


In derjelben Zeitihrift 11, 1 gibt 8. Paſſy eine Überfegung des 
Reiſe berichtes von Francesco Vettori über ſeine Geſandtſchaft als Beauf⸗ 
tragter der Republik Florenz zu Kaiſer Maximilian (Juni 1505 bis 
März 1508), leider ohne Bemerkung über die Herkunft des Berichts. 


Vorwiegend auf Grund Düfjeldorfer Alten jchildert D. Redlich in 
den Beiträgen z. Geſch. des Wiederrheins Bd. 11 die franzöfiiche Vers 
mittLungspofitit am Niederrhein im Unfang des 16. Jahrhunderts. Er 
behandelt die franzöfiihen Vermittlungsverjuche zwiichen Kleve und Geldern 
(1500-1503), den Kampf Cleves gegen Geldern (1503—1509), die Jülich'ſche 
Bolitit 1500-1511, den Widerftreit franzöftiicher und burgundiicher Eins 
flüfſe (1511—1518) und den Sieg des burgundiſchen Einfluſſes in Jülich 
und Cleve (1519). Eine Reihe interefjanter Aktenftüde werden im Anhang 
abgedruckt. 

Im Archivio della Societa Romana di Storia patria 19, 3. 4 ver⸗ 
difentlicht und beſpricht Ferrajoli ein ungedrucktes Breve des Papſtes 
Julius II. vom 20. März 1512, wodurd er Heinrich VIII. von England 
mit Frankreich belehnt. 

Die Reformation des badiihen Dorfes Kürnbach bei Eppingen be— 
ban delt W. Boſſert in der Zeitichrift f. Geſch. d. Oberrhein® 12, 1 auf 

Tund der Alten, die hierfür ungewöhnlich reichhaltig find und nod) völlig 
un betannt waren. Der Ort gehörte dem Deutſchorden, und die eigen— 
artigen Verhältniſſe machen die Reformationsgeſchichte beſonders intereſſant. 


rei Die Feier des 400 jährigen Geburtätagg Melanchthon's hat zahl- 
nie Schriften und Borträge hervorgerufen: In jeiner Gedächtnisrede im 
189298 Bunde zu Berlin (gedrudt in den Preußiihen Jahrbüchern 

7,3) zeigt M. Lenz, wie Melanchthon auch ale Theologe Humanift 


168 Notizen und Nachrichten. 


geblieben ift; wie es jtet3 das Ziel jeiner Bemühungen war, die humanifti 
fen Studien und die evang. Theologie gemeinjam zur Geltung zu bringen 
Lenz betont, dab man von einem ausgejprochenen Gegenjage zwiſchen ber 
älteren, torrelt firhliden und dem jüngeren Humanismus nicht rede: 
tönne; die deutihen Humaniften waren von Anfang an Pädagogen, un 
wenn irgend einer, fo ift Melanchthon allein unter diefem Geſichtspunkt 
zu verftehen. — Die Berdienfte Melanchthon's um die deutjche Reformatio 
würdigt W. Beyſchlag in einer Rede im evang. Bunde zu Halle (Deutid 
evang. Blätter, 1897, 3), die Eigenart feiner Theologie, das Berdienft feine 
Formulirungsarbeit ſtizzirt Harnack's Berliner liniverfitätsrede (Berlir 
Drud von Bürenftein). — Melanchthon als Mitarbeiter Quther’3 feieı 
F. Kuhn im Bulletin du protest. france. (1897, 3). — In den Monatshefte 
der Comenius-Geſellſchaft (6, 1. 2) gibt ©. Ellinger ein Stüd feiner den 
nächſt ericheinenden Biographie Melanchthon's; er Ichildert „Die Frühzeit 
Melanchthon's, die Zeit, in der er nur Humaniſt und noch nit Theolo 
war. — Melanchthon's Beziehungen zu Lfterreih-Ungarn behandelt G 
Loeſche in einer alademifhen Feſtrede (Jahrb. d. Gej. für d. Geſch. de 
Broteftantismug in Ofterreih j18, 1.2). — Auch der Verein für‘ Refor 
mationdgeihichte hat zu dem Jubiläum zwei Schriften (Nr. 55 u. 56) eı 
jcheinen lajjen: Fr. Cohrs jchildert, wejentli auf Grundlage von Bar 
felder, Melanchthon den Humaniſten, Profeſſor und Schulmann, als Lehre 
Deutſchlands; K. Sell behandelt Melanchthon und die deutſche Refor 
mation bis 1531. 


In den Jahren 1541 und 1542 beabſichtigte Erzbiſchof Albrecht vo 
Mainz dem Kurfürſten von Sachſen das Burggrafenamt von Halle abzr 
kaufen, um dadurch jeden Einfluß des Kurfürſten auf die dortigen Bei 
hältnijje unmöglih zu maden. Die Verhandlungen darüber, ihr Scheiter 
durch die Einwirkung Luther's und die Bedeutung der ganzen Sadıe fü 
die allgemeine Geihichte bringt E. Brandenburg in einem treffliche 
Aufſatze in der Deutſchen Zeitſchrift für Geichichtswiflenihaft zur Daı 
jtelung; im Anhang veröffentlicht er au8 dem Dresdener Archiv ſechs ur 
gedrudte Briefe Luther's in diefer Angelegenbeit. 


V. Bibl veröffentlidt in d. Jahrb. f. Geich. des Proteſtantismus in Diter 
reich (18, 1. 2) elf Briefe des Taijerlihen Nathes Caspar von Nidbrud a 
Melanchthon aus der Zeit vom November 1952 bis Juni 1556. 


Die religiöjfen Sdeen der Königin Margaretfa von Navarra jilde 
auf Grund ihrer poetifhen Werke A. Lefranc in mehreren Aufſätz« 
de3 Bulletin hist. et litt. du protest. france. (1897, 5. 1-3. 


Ebendort (H. 2) beipridt F. Kuhn zujammenfafiend die vor mehrer ı 
Jahren in Deutſchland durd die Schrift Majunke's bervorgerufene Polens 
iiber den Tod Luther's. 


Rejorination. 169 


In der Revue des questions bistoriques 1897, 1 unterſucht J. M. 
Befje die Frage, ob Loyola bei der Redaftion jeiner Exercitia spiritualia 
dad Excitatorium spiritale und das Directorium horarum canoni- 
carım von Garcias de Cisneros, Prior des Klofterd Mont Serrat (F 1510), 
gelannt und benupt habe. Er glaubt die bejahen zu müfjen, ivenn aud) 
feine wörtlihe Abhängigkeit nachweisbar iſt. 

Eine fritifhe Unterfuhung der hiltoriihen Zeugniffe über da8 Leben 
Faufts („der hiſtoriſche Fauſt) gibt G. Witkowski in der Teutfchen 
Beitihrift für Geſchichtswiſſenſchaft (N. F. 1,4): im Anhang ftellt er bie 
Zeugniſſe überfichtlich chronologiſch zuſammen. 


In den Mittheilungen d. hiſt. Ber. f. Steiermark (Heft 44, 1896) 
Ihildert Loſ erth die Reife des Erzherzog Karl II. nad) Spanien in den 
Jahren 1568—69. Der Erzherzog Hatte den Auftrag, perjönfid Infor: 
mationen über dag Echidjal des Don Carlos einzuziehen und im Namen 
des Kaiſers Borftellungen bei Philipp II. wegen jeines beziv. Alba's Ver: 
balten in den Niederlanden zu mahen. In diefer Hinficht richtete er jedoch 
nichts aus. Loſerth gibt als Einleitung eine kurze, hübſche Zuſammen— 
ſtellung der bisherigen Forſchungsergebniſſe in der Ton Carlos-Frage. 


Die Zeitſchrift für die Geſchichte des Oberrheins bringt in N. F. 12,1 
den Schluß der Abhandlung A. Overmann's über die Reichsritterſchaft 
m Untereljaß. Der Berfajier entwirft bier ein ebenjo klares wie der 
Sache nad unerquidliches Bild von der Haltung der faft ganz proteitan: 
tiſchen Ritterſchaft in den religiöſen Streitigkeiten zu Ende des 16. und 

eginn des 17. Jahrhunderts. Die klägliche Scheu vor energiſcher Aktion 
ſelbſt bei unerwartet günjtigen Konjunkturen, wie in den beiden Inter— 
regnen von 1612 und 1618, das haltlofe Schwanfen in der Stellungnahme 
der Union gegenüber, der naive Glaube, in einer Zeit jo hodhgeipannter 
kirchlich politiſcher Gegenſätze mit einer halb neutralen Haltung am ſicherſten 
zu fahren, das alles hat nothwendig dahin geführt, daß die „Neutraliſten, 
wie es ihnen Georg Friedrich von Baden vorherſagte, mit allen Vieren 
in den Koth fielen“. Im Mittelpunkt der Streitigkeiten ſteht das Refor— 
Mationdreht der Ritterſchaft, eine Frage, die in dem Territorium der 
Derren von Andlau akut wurde, als in dem gleihbenannten Stift die 
reitbare Abtiffin Maria Magdalena Rebſtock den Kampf gegen den Prote- 
ſtantismus begann und ſchon 1600 gewanı. Ter Erfolg der Gegenrefor: 
Mation ift der Nitterjchaft gegenüber ein vollftändiger geweſen. 


Dva denniky dra Matiääe Borbonia z Borbenheimn (zwei Tage: 
bücher des Dr. M. Borbonius von Borbenheim' vydal Max Dvoräk, v 
189. Durch dieje im hiſtoriſchen Archiv der tſchechiſchen Akademie 

der Wiſſenſchaften publizirte Arbeit hat ſich der Herausgeber in vortheil— 
after Weiſe bekannt gemacht. Borbonius war cin in den beiden eriten 
ahrze hnten des 17. Jahrhunderts bekannter Dichter und geſuchter Arzt. 


170 Notizen und Nachrichten. 


In jüngeren Zahren Erzieher im Hauje eines böhmischen Großen, fam 
viel in der Welt herum und begleitete namentlich feine Zöglinge na 
Bajel, wo er ſelbſt feine medizinischen Studien beendete. Er führte e 
genaued Tagebuch, von dem die Jahre 1596 (Iter Helveticum) bis 16! 
und dann ein Tagebud) aud dem Jahre 1622 vorliegen. Iſt das erfte 
von hohem Snterefje wegen der vielen Gelehrten, mit denen der Aut 
verfehrte, jo ift da zweite noch wichtiger wegen der Beziehungen d 
Schreiber zum böhmijchen Aufitand. In der Einleitung gibt der Herau 
geber eine ausreichende Skizze bes Leben? und Wirkens des Vorboniu 
der das harte Brot der Verbannung einem Übertritt in’3 jefuitiiche Lag 
vorzog. J. L. 


In einem ſehr leſenswerthen, in franzöſiſcher Sprache abgefaßt 
Aufſatz in den Berichten der Kopenhagener Akademie der Wiſſenſchaft 
von 1896 entwirft J. A. Fridericia ein feſſelndes Bild von den ſozial 
und nationalökonomiſchen Anjichten und Beitrebungen Chriſtian's IV. vı 
Dänemarf. Er führt und den König als ebenjo aufgellärten wie energ 
ihen Neformer vor, deffen Anregungen freilich bei der Bevölkerung niı 
immer Berjtändnig und Befolgung fanden, jo daß die erzielten Refulta 
dem Aufwand an WillenSkraft nicht ganz entipradyen. 


Wallenftein als Herzog von Sagan. Bon Arthur Heinrie 
Breslau 1896. 96 S. Die Schrift beruht auf genauefter Benügung der de 
Verfaſſer zugängliden Alten über alle Zweige der Thätigkeit Wallenftein 
bezüglich Sagand. Das Material felbft ift aber beſchränkt. Die gedruc 
Literatur ijt nicht in vollem Umfange herangezogen worden. Als Ergebr 
feiner Studie fieht Heinrid ein gewaltjames, nur auf den eigenen Vorth 
bedachtes, das Wohl de3 Landes und namentlid) aud) der Hauptite 
Ihädigendes Regiment. Mkgf. 


Einen erfreuliden Fund zur Gefchichte des großen Kurfüriten I 
U. Mörath, der Direktor des fürftl. Schwarzenbergiihen Centralarchi 
in Krummau, gemadt: Eine Reihe eigenhändiger Briefen des jungen Pu 
prinzen aus den Jahren 1634—1640 an Schwarzenberg, aus denen berei 
jein Mißtrauen gegen Schwarzenberg hervorgeht. Veröffentlicht find | 
nebjt einigen anderen einschlägigen Schriftitüden in der Zeitfchr. d. Ber, 
Geſchichtsvereins Bd. 32, 1896. 


Einen zeitgendffiihen Bericht über die Kriegsereignijie bei Saaffel 
im Sahre 1640, wo ſich Baner und die Kaijerlihen mehrere Wochen lan 
„Iharmußirend“ gegenüberlagen, veröffentliht Trint3 im 23. Heft I 
Schriften d. Ver. f. Sahfen-Meiningiihe Geſch. u. Landeskde (1896). 


Neue Bäder: Ernſt Schäfer, Yuther als Kirchenhiitorifer. (Güter! 
loh, Bertelamann. EM) — Häbler, Die Geidichte der Fugger'ſche 
Handlung in Spanien. (Weimar, Felber. WM.) — Hanotaux, Histoir 


. 1648 — 1789. 171 
da cardinal de Richelieu. II, 1 (1614—1617). (Paris, Firmin-Didot.) — 
Charlotte Koren, Henrik den ottende og Anna Boleyn. (&hriftiania, 
Matting. 480 M) — Storm, Maria Stuart, überi. von P. Witt: 
marın. (Münden, Schweiger. 2,50 M.) — Leach, English schools at 
the reformation 1546—48. (Weftminjter, Conjtable. 12 sh.) — Seder, 
Corpus constitutionum Daniae 1558—1660. IV,4. (Kopenhagen, Gad.) 
— ÖOxenstiernas skrifter och brefvexling. I, 2 (1606—1624); II, 8. (Stod: 
bolm, Rorftedt. 11 u.10O kr). — Bergh, Svenska riksrädets protokoll. 
VIII, 1 (1640—1641). (Stodholm, Norftedt. 5 kr. 50 öre.) 


1648 —1789. 


Dr. Karl Brunner: Der pfälziihe Wildfangitreit unter Kurfürit 
Karl Ludwig (1664—1667). Innsbruck, Wagner, 1896. 68. S. Eine tüch⸗ 
tige Arbeit, die einen dankenswerthen Beitrag zu dem vielbeitrittenen und 
verworrenen Problem des pfälziſchen Wildfangftreites liefert. Der Ber: 
iaffer jucht in ihr vor Allem die Fragen zu beantivorten: „In welden: 
Zuſammenhang fteht der Biftoriiche Verlauf des Wildfangftreites mit der 
politiihen Bewegung der Zeit, und worin liegt die wirthichaftlihe und 
hnanzielle Bedeutung der Wildfangsfrage?“ Im der Betonung diefes zu— 
legt genannten Geſichtspunktes liegt meines Erachtens das Hauptverdienit 
der Abhandlung. Behauptet doc Brunner geradezu: „Die Wildfangfrage 
üt in erſter Linie eine wirthichaftlih= finanzielle, ..... die legte und 
bau ptjächlichite Stage dabei war jtet3 die praftiiche Geldfrage.“ Und dieje 
Vebauptung wird durch den aftenmähigen Nachweis geftüßt, daß die wirk— 
lich eingegangenen Beträge des Wildfangrechts (53 737 fl.) nicht weniger 
als 12 Proz. der geſammten pfälziſchen Staatseinnahmen ausmachten. 
Hierin liegt in der That der beſte Schlüſſel zum Verſtändnis für das hart- 
näcfige Yeithalten Karl Ludwig's an ſeinem ſo feltiamen Necdte. Der 
urfürſt hat deswegen jowohl zu jeinen Lebzeiten, wie in der hiitoriichen 
Veurtheifung bis auf den heutigen Tag viele Vorwürfe zu hören be: 
ommen. Brunner nimmt ihn gegen die meiſten derſelben und zwar, wie 
mir ſcheint, mit Recht in Schutz. Er faßt die Wildfangfrage nur als einen 
Theil der geſammten Reformthätigkeit Karl Ludwig's auf, wodurch ſie erſt 
das Tichtige Relief erhält. Seine Erzählung vom Verlauf des Wildfang— 
HTeitez iſt anihaulih und angemejlen. Nur die in der Einleitung gege— 
bene tehtlihe Begründung und verfaſſungsgeſchichtliche Entiwidlung der 

Hanzcn Inftitution iſt etwas dürftig ausgefallen. Dafür vertröjtet er und 
ET auf eine genauere Unterjuhung darüber an anderer Stelle, der wir 
ME Wergnügen entgegeniehen. C. Sp. 
. As Karl II. von England in Herbit 1654 als Flüchtling in Köln 
‘Deilte, geriet er bei einem Beiuche in Düſſeldori mit dem projeftenreichen 
TAlzgraien Philipp Wilhelm von Neuburg zuſammen auf den Plan, feine 


172 Notizen und Nahrichten. 


Neftitution in England mit Hülfe eines großen fatholifchen Bundes unter 
der Ügide des Papftes durchzufegen. Mit diefem Iuftigen politiſchen 
Phantafiegebilde madt uns ein WUufjag von Haffenfamp im 3. Biertel= 
jahr&heft der beutih. Ztſchr. f. Geſchichtswiſſenſch. (N. %. Bd. 1) näher 
befannt. 


Unter Heranziehung von noch unbenupten Alten aus dem Düfiel = 
dorfer Staatdarhiv unternimmt derjelbe Verfafier in der Ztſchr. d. bite _ 
Geſellſch. f. d. Prov. Poſen (11. Jahrg. 1896), die Bewerbung des Pfalz, = 
grafen Philipp Wilhelm von Neuburg um die polnische Krone in den Wer 
und 60er Jahren des 17. Jahrh. zu jchildern, welche trog aller dafür au F— 
gewandten Mittel und troß der Unterftüßung dur den großen Kurfürſte m 
1668 mit einem völligen Fiasko endigte. 


In den Forſch. zur brand. u. preuß. Geſch. 9, 2 theilt Hir ſch einen 
Brief der Kammerfrau der Kurfürftin Luiſe Henriette von Brandenbaxra 
mit, der jehr ausführlide Angaben über die legten Tage und Etunden 
der Fürſtin enthält. 


Die Deutich-evang. Blätter 3 bringen ein Charalterbild der Eliſab eth 
Charlotte von Najemann, das nicht? wejentlid neues enthält. 


Suftad Fricke unterfuht die Memoiren des Grafen Forbin, Dez 
tapjeren Admiral Ludwig's XIV., und fommt zu den Ergebnis, daß Der 
Zweifel Ranke's an der Echtheit derfelben unbegründet ift, fein Urteil 
über den geringen Qucllenwerth aber zutrifft (Feſtſchriſt des kgl. Friedr ich⸗ 
Wilhelms-Gymnaſiums zu Berlin‘. 


Der Schluß der Zechlin'ſchen Arbeit über die Schlacht bei Fraujtadt 
GZtſchr. d. hiſtor. Geſellſch. f. Poſen 3/4 1806 vgl. 78, 179) bringt cine 
Darjtellung der Thätigleit der infolge der Niederlage cingejepten Unter- 
juhungsfommijfion, der Folgen der Schlacht und der zerfahrenen, disziplirs > 
ofen Zuftände im ſächſiſchen Etaat und Heer, die der eigentlihe inner e 
Grund für die Niederlage find. Angehängt find einige Altenftüde. 


Mehrere fürzlich erjchienene Aufſätze behandeln die politiihen Berhält- 
nijje Spaniens im Anfange de3 vorigen Jahrhunderte. Sn der Rer- 
d’hist. diplom. 11, 1 teilt Schefer die ausführliche Inftruftion mit, die 
der Marquis v. Bonnac, der 1712 als auferorbentliher Geſandter nady 
Epanien ging, von Ludwig XIV. erhielt und die für die bedrängte Lage 
de8 Staates charakteriftiih if. Die Bemühungen eine8 andern franzö⸗— 
ſiſchen Sefandten, des Marſchalls Tejie, der lebhaft von der Königin Elie 
jabeth unterftügt wird, im Jahre 1724 während der kurzen Regierung. 
Ludwigs I. und, als dejjen Vater dann wieder durch fein Zureden bewogen 
die Krone übernahnı, unter diejem die alte jpaniiche Partei am Hofe zu 
verdrängen und die franzöfiihe zu ſtützen, idhildert Baudrillart (Rev- 
des quest. hist. 60, 4.) Cine Würdigung der Politik Alberoni's verſucht 


1648 - 1789. 173 


iſtrong in der Scottish Review San. 1897 zu geben. Der Angel: 
t diefer Politik ijt nad ihm das Beitreben Alberoni’3, jein Vaterland 
in von der deutſchen Herrſchaft zu befreien. 


In den Mittheil. des AInftit. f. öſterr. Geich. 18,1 macht F. M. Mayer 
eſſante Mittheilungen aus dem Bericht eines NRegierungsbeauftragten, 
.J. 1728 eine. Reije unternahm, um die Induſtrie- und Handels- 
ilmiſſe in den öfterreihiichen Alpenländern fennen zu lernen und zu 
heilen, ob der Handel in den Seehäfen Triejt und Fiume nicht dadurd 
en werden könne, daß man bdiefe Häfen mit den indujftriereihen böh- 
en Ländern in Verbindung brädte. Der Reiſende verneint Diele 
e. Der Handel in den Seeftädten könnte nad jeiner Meinung nur 
en werden durch möglichſte Freiheit. 


In der Nouv. Revue retrosp. (Sanuar-Heft) beginnt B. d'Eſtrée 
eröffentlihung von Polizeiberihten über Parijer Tagesereignifie aus 
Jahre 1744, die fih nad Inhalt und Beitfolge als Fortſetzung der 
fation in dem Journal Barbier’3 herausſtellen. Die Berichte find 
dem General: Bolizeilieutenant Feydeau de Marville für Maurepas 
eitet und enthalten u. a. mandjerlei Angaben über Voltaire. 


Fine jehr bedeutjame Entdedung veröffentliht Arnheim in den 
J. 3. bramd.=preuß. Geſch. 9, 2. Er bat ein Bruchftüd der eriten 
tion der Histoire de mon temps Friedrich's des Großen gefunden, 
en Wortlaut ſich mande intereffante Bemerkungen anfnüpfen laffen. 


R. Porſch jtellt in einer Schrift die Beziehungen Friedrich's des 
en zur Türkei bis zun Beginn und während des Siebenjährigen 
ed dar (Marburger Dijjertation 1897), Er jdildert auf Grund des 
die Polit. Korreip. zugänglich gemachten Materials, wie die Aufmerf: 
it de3 Königs ſich allmählich der Pforte zuzumenden begann, wie er furz 
lusbruch des Krieges und namentlicd) während desjelben immer jehnlicher 
zündnis mit ihr wünſchte und zu erreichen ftrebte, und wie die Hoff: 
‚ihn immer wieder täuſchte. Für die Erkenntnis der engen Wecjel- 
hungen, in denen Strategie und Politik Friedrich's ftehen, finden fich 
fa hübſche Hinweiſe. Am Schluß faßt der Verfaſſer die Ergebnifie 
t jorgfältigen Arbeit furz zuſammen; man fann bier vielleicht die 
übrungen über die Durchführbarfeit und die Bedeutung der orienta: 
n Bolitit des großen Königs ald etwas zu optimijtiih beanftanden. 


Künpel zeigt in den Forſch. z. brandenburg.preuß. Geſch. 9, 2, 
die Darftellung, welche Ludwaldt von der Entitehungsgefhichte und 
atung der Wejtminjterfonvention gegeben Hat, nicht auf zwingende 
eile gegründet if. Doc auch die Beweisführung Küntzel's für jeine 
€, daß der Zwed der Politik des preußifchen Königs i. 3. 1755 nur die 
tung des Friedens geweien fei, jcheint dem Referenten nicht zwingend. 


174 Notizen und Radridten. 


Die Entſcheidung der Streitfrage über den Urſprung bes Siebenjährige 
Krieged wird aud die Beurtheilung der Weftminiterfonvention bedingen 
nicht, wie der Verfaſſer meint, umgelehrt. L. M. 


über den zweiten Zheil der Naude'ihen Unterjuhungen zur En 
ftehung des Siebenjährigen Krieges gibt Immich ein Neferat in du 
Jahrb. f. d. deutſche Armee 2c. April 1897. 


Eine für praftiihe Zwede beitimmte, die wiſſenſchaftliche Seite d 
Stage nur jtreifende Zujammenftellung de8 Standes der Kartenaufnahn 
wie er fih für das Jahr 1756 in den einzelnen am Kriege betheiligt 
Ländern feftjtellen läßt, gibt Oberft Burhardi auf Grund des in t 
tgl. Bibliothef und beim Gr. Generalftabe aufbewahrten Materiald. B 
beft 2 zum Mil.-Wochenblatt 1897. 


In der Deutihen SHeereszeitung 11—14 erörtert v. d. Weng« 
wieder emmal die Schlacht bei Prag mit ausführlicher Kritif der öfte 
reichifchen Strategie vor der Schlacht. Die Entjendung des Keith'ſche 
Corps beurtheilt er wie Delbrüd und bekämpft aud ſonſt Bernhardi 
Aufſtellungen (vgl. 76, 374). 


Rouſſet gibt in der Rev. de Paris 1. März eine Tarjtellung un 
Beurtheilung der Strategie und Taktik Friedrich's des Großen, die indefle 
nit eindringend und Mar genug iſt, um dem deutſchen Leſer etiwad Neue 
über den Gegenjiand zu bieten. 


In den Preuß. Jahrb. März 1897 wird die mwecjelvolle Laufbah 
eines preußiichen Beamten im vorigen Jahrhundert geſchildert. Die Hein 
Skizze würde fulturgejchichtlic noc, größeren Werth haben, wenn fie fi 
nicht ausichließlid auf die von dem Betreffenden ſelbſt niedergejchriebene 
Erinnerungen ftügte. 


U. Hallays gibt eine trefflihe Eharakteriftit von Beaumardaiß 
worin er den Widerjprüchen im Wejen dieſes Abenteurers und Induftrie 
ritters, der zugleich ein ausgezeichneter Hausvater und Freund war, ur 
befangen geredht wird. (Revue de Paris, 15. Mär; 1897.) 


Qeue Büder: Antonio Matscheg, Storia politica di Europ 
dal cominciare del regno di Maria Teresa allo sciogliersi della cos 
venzione di Kleinschnellendorf. (Belluno, Tip. Deliberali.) — Parise‘ 
L’Etat et les Eglises en Prusse sous Frederic-Guillaume I (1713- 
1740). (Paris, Colin et Cie. 12 fr) — Heußel, Friedrich's d. & 
Unnäherung an England im Sabre 1755 u. d. Sendung des Herzog va 
Nivernaiß nah Berlin. (Gießen, Nider. 1,20 M.) — Briefe Samu« 
Pufendorf'3 an Chriftian Thomaſius (1687—1693). Her. v. Giga 
Münden, Oldenbourg. 2M.). — de Maulde La Claviere, Les mik 
et une nuits d'une ambassatrice de Louis XIV. (Paris, Hachette.) - 





176 Notizen und Nachrichten. 


durchaus unabhängig ilt. Dasjelbe gilt auch bezüglich der Unterjud 
Aulard’3 (Reövol. franc., Februar 1897), der durch Prüfung der 
gaben über Sieyes ebenfalls zur Überzeugung von der völligen Ungl 
würdigfeit der Bulletins gelangt. H. Glaga 


Die Mainzer Klubiften der Jahre 1792 und 179. Bon 8 
Bodenheimer. (Mainz, Kupferberge. 1896. VI, 312 ©.) Der t 
andere Schriften aus demfelben Stoffkreis bekannte Berfafler jucht in d 
neuejten Arbeit die aus kritifher Abwägung zeitgenöffifher Stimmen 
wonnene Anſchauung urfundlid zu bekräftigen, daß der Kern und 
Maſſe der Mainzer Bürgerjhaft der revolutionären Phraſe kälter 
vernünftiger gegenübergeitanden habe, ald mandmal angenommen ı 
Aus den Alten des Stadtarchivs weilt er in der That nad, wie 
(ähnlichen Erfahrungen anderwärts entiprechend) die Zahl der Bürger 
Zandleute war, die zur Annahme der franzöjiihen Berfajjung und Anſt 
an die fränkiſche Republik entihloflen waren (S. 138. 206. 328 ff.). | 
darf fi diefes gejunden Partikularismus freuen, ohne zu emphatiſch 
dem Berfaffer (S. 181) darin eine Äußerung de3 „nationalen Ben 
ſeins“ erkennen zu wollen. — Außerdem bietet die Schrift eine An 
brauchbarer Berfonalnotizen. H. Ulman 


Aus der American hist. Review (2, 2) notiren wir eine kleine 
Handlung von Lincoln, der aus den Gahiers von 1789 die auf 
Möglichkeit eines friedlihen Ausgangs der revolutionären Bewegung 
weifenden Momente hbervorhebt, und einige an Walhington gerid 
Schreiben John Marſhall's, 1797—98 Mitglied der amerifanif 
Gejandtihaft in Paris, der die Lage Hollands, den Staatsſtreich 
18. Fruktidor, den Zuſtand der franzöjiihen Landwirthſchaft u. j. w. 
ſtändig erörtert. 


Bon Arbeiten über die Revolutionskriege notiren wir den Be— 
einer längeren Studie Über die Feldzüge von 1796 in Deutichland 
Italien. Jahrbücher für die deutſche Armee und Marine, Januar 
April 1897.) Der Aufſatz enthält jtrategiiche Betrachtungen und rey 
jeinen Urtheilen über Bonaparte nicht jelten zum Widerjprud. Sot 
den Aufſatz des Hauptmanns Lrifte: „Suwarow's Zug durd 
Schweiz“, der u. a. auch öjterreihiihe Archivalien benugt (Organ 
milit.wifjenjch. Vereine Bd. 52, 1896). 

In ber Edinburgh Review, Januar 1897, wird die Befchichte 
politifhen Meinung in Ulfter während der Revolutiondzeit dargel 
die zwar nad) wie vor im ſcharfen Segenjag zu den Katholiken jtand, 
damals für die iriſche Selbftändigfeit eintrat, und es merden Die 
ihiedenen zufammenmwirtenden Urſachen entwidelt, aus denen das ſch 
liche Feithalten der proteftantiihen Provinz an der Union mit Eng 
hervorging. 





Neuere Geſchichte jeit 1789. 177 


Tie Studie von Baifjiere über „Charles Nodier al3 Ver— 
ihwörer“ widerlegt aftenmäßig die Flunkereien über deſſen angebliche 
Verſchwörung gegen Napoleon, die fih in feinen zumeilen als Quelle 
benugten Souvenirs de la Revolution et de l’Empire finden. (Corre- 
epondant, 25. Oft. 1896.) 

Das 2. Heft der von A. Lumbroſo herausgegebenen Miscella- 
nea Napoleonica (Rom, Paris u. Bonn, 1896. LXVI, 177 ©., über 
d. 2 vgl. 9. 3. 76,184) hat folgenden Inhalt: 1. La Napoleoneide 
sis la Francia salvata, Proben eines Gedichte zur VBerherrlihung 
Nap oleon's von dem Pabuaner G. Polcaftro, der einer nad) dem Prä— 
liminardertrage von Leoben in das franzöfiihe Hauptquartier geichidten 
Sefandtihaft angehörte. 2. Briefe Johann's und Franz’ vd. Buol an 
do ſeph v. Buol, Mitglied der öfterreihiihen Direftorialgefandtichaft in 
Regensburg, über Tiroler Kriegsereignifie in den Jahren 1799— 1801 
arte Manneszudt der Rufen; Beſtechlichkeit Macdonald's). 3. Briefe 
des Staatsraths Mejan, Bertrauten des Vicekönigs Eugen, an den 
ita Lĩ eniſchen Staatsrath Graf Paradifi, während des ruffiihen Feldzugs 
l. Juni 1812 bis 20. Januar 1813 (offiziöfe Schönfärberei). 4. Echreiben 
eines Oberſten Chauvigny de Blot an den Grafen Artois, Toulon, 12. Juni 
1814 (Blan einer Beleitigung Napoleon's durch corfiihe Offiziere). 
5. Schreiben Proudhon's über Napoleon, vom 17. September 1858, 
analog feinen hier mehrfach erwähnten Aufzeihnungen. Die Beröffent- 
lich ung zeigt in den erläuternden Vorworten und Anmerkungen die außer— 
or dentliche bibliographiſche Gelehrſamkeit des Herausgebers. 


Unter dem Titel „Eine Ehrenrettung“ erläutert Graf Du Moulin— 
ckart, mit Benugung von Wiener und Berliner Archivalien, das viel- 
ad angefochtene Verhalten des Geh. Staatsreferendariug, fpäteren Bürger- 
meiſters von Münden, Joſef Utzſchneider, gegenüber dem Illuminaten— 
orden, ſowie die Urſache ſeines Sturzes im Jahre 1801. Er fiel, nicht 
infolge der Denunziation wegen Anſtiftung einer republikaniſchen Ver— 
Mörung, ſondern als Opfer der Berftändigung des Grafen Montgelas 
Pa der ihm feindjeligen Landidaft, die man für eine Anleihe nothwendig 
Fauchte. (Forſchungen zur Kultur- und Literaturgeſchichte Baierns von 
ein hardſtöttner, Bd. 5.) 


th G. Eavaignac behandelt, unter fleißiger, aber nicht immer irr— 
A. atäfreier Benugung deutſcher Quellen, die agrariihe und Verwaltungs: 
form Hardenberg’3. In dem Edilt vom 14. September 1811, das 
Segen den urfprüngliden Entwurf durch den Widerftand des Adeld in 
N; Rotabelnverfammlung freilich vielfach abgeſchwächt wurde, findet er 
och den Ausgangspunkt einer bedeutſamen ſozialen Wandlung. Bei dem 
STR @hormerieebift betont er den franzöfiihen Einfluß, auf den ſchon der 
Arzre Hinweie. Charakteriftiich für den radikalen Politiker Cavaignac ift 


ViReriiche Heitihrift R. J. Bd. XLIU. 12 


178 Notizen und Nachrichten. 


jein verkflaujulirtes Urtbeil über Hardenberg, für den er eine unverfenn: 
bare Vorliebe hat: er hält ihn im Grunde für wenig liberal gefinnt, ſpricht 
ihm aber die supériorité logique zu, die freilich im Reiche der Thatſachen 
nicht immer ein Vortheil jei; bei Stein erkennt er mehr als früher ben 
befonnenen bijtoriihen Zinn an. (Rev. des deux mondes, 1. April 1897.\ 


Ein populärer Bortrag O. Weber's über die Shlaht bei Nollen- 
dorf, der nichts Neues bringt und in der Beurtheilung der allgemeiinem 
Rage zum Theil anfechtbar it, wird in den Mitth. d. Ber. f. Geih.d _ 
Deutihen in Böhmen 35, 3 abgedrudt. 


Das Aprilbeit der Jahrb. f. d. deutihe Armee u. Marine bringt ein e 
eifrige Vertheidigung Radetzky's gegen den angeblich gegen ihn erhobenen. 
Vorwurf, daß er im „Jahre 1813 die „Ermattungzftrategie” befolgt Habmmme- „ 
und eine interefiante militäriihe Beurtheilung und Kritik der franzöfide — ze 
Stellung bei Wörth. 


Bittard des Portes erzäblt nah Rarijer Akten einen Kon c V 
zwijhen König Ludwig XVII. und Ferdinand VII. von Spanien, d a! 
dur die im Uftober 1814 von einem jpaniihen Diplomaten in Par — mi 
veranlaite Verhaftung jpanijcher Flüchtlinge entitand und erſt bei — wei 
Nachricht von der Rückkehr Napoleon’? beigelegt wurde. (Revue d — =! 
quest. hist. 1897, 1.) 


Nachträglich machen wir auf die Arbeit Ed. Fehre's: „Leben u — 1 
Schriften des Kurländers ‚sr. X. Lindner mit bejonderer Berüdfihtigu me14 
des ‚Manuffripts aus Süddentihland‘“ Baltiſche Monatsichrift Br. Ak 2 
aufmerkſam, die zwar fein lebendiges Sejammtbild feines Treibens ger Et, 
aber jehr fleißig alles Über ihn Erreichbare fammelt und kritiſch ſih EI. 
Der politiihe Charakter und die geiftige Bedeutung Lindner's eride T it 
auch biernah in feiner günftigeren Beleuchtung als bisher. Endgül 5 
nachgewiejen wird die Urheberichaft Lindner's für die Schrift „Über ie 
gegenwärtige Lage von Europa” 1821. 


Bardour veröffentlicht den Briefwechſel Chateaubriand's zu: it 
der Gräfin Duras während des Kongrejied von Verona. Unerheblich ra 
die Kenntnis des Ganges der diplomatijhen Verhandlungen, zeigen Di 
Briefe die zweidentige Haltung Chateaubriand's, der fih den Weg „ar 
Minifterium zu bahnen fuchte, das ihm bald darauf übertragen wurD «€. 
(Acad. des sciences mor. et pol., März 1897.) 


Unter dem Zitel: Aprös Navarin veröffentliht die Revue de Par3s 
(15. März 1897) die Anfzeihnung eines jungen franzöſiſchen Diplomate 3%, 
Brenier de Renaudiere, der mit Veliffier, dem fpäteren Herzog von Mala” 
tow, im Sonmer 1828 an den franzäfifhen Admiral Rigny gefanDt 
wurde, um die bevorjtehende Erpedition nad; Morea anzulündigen, ur? 





Neuere Geſchichte jeit 1789. 179 


ipätex an den Verhandlungen mit Capo d'Iſtria in Agina und in Poros 
theilamahm. Als Motiv der franzöſiſchen Politik erfcheint die Abficht, aus 
Mifztrauen gegen Rußlands Bläne in Griechenland möglidft raſch ein 
Ende zu maden. 


Eine „Kurze Geſchichte der Trinffitten und Mäßigkeitsbeſtrebungen 
mn Deutſchland“ Tiefert Dr. Wilhelm Bode (Münden, J. 3. Lehmann. 
1896) Es ift dies ein zum Nachdenken anregendes Buch, defien guter 
JOed unter dem bie und da ſich etwas hervordrängenden Traftätchenton 
hoffentlich nit leiden wird. Bon geſchichtlichem Intereſſe ift befonders 
die Schilderung der Mäßigkeitsbewegung in der eriten Hälfte dieſes Jahr: 
huxa derts und des Einflufjes, den dag Jahr 1848 darauf ausgeübt zu 
ha Ben jdeint. J. H. 


Mittheilungen aus dem Briefwechſel von Viktor Hehn und Georg 
ve Vtkholz veröffentlicht H. Diederih3 in der Baltiſchen Monatsſchrift, 
sAarruar- März 1897; es find viele intereſſante Urtheile über politische, 


ee xarifcge und wiſſenſchaftliche Perfönlichkeiten und Ereigniffe der Jahre 
3SES0_63 darunter. 


Den willenihaftlihen Ertrag der Tentenarfeier Kaiſer Wilhelm's J. 
An buchen, wird Aufgabe der nächſten Hefte fein. Im Ganzen jcheint es, 
12 jeien, abgejehen von der hocherfreulichen Veröffentlichung der mili- 
Diſchen Schriften, wejentlihe Fortichritte in der Vertiefung unferer Kennt— 
US feiner großen Regierungszeit nicht gemacht worden, als jei der Schatz, 
On dem Heinrich v. Sybel in guter Stunde fo koftbare Theile hat heben 
Aırfen, wieder in die Tiefe gefunfen, bewacht von fargen und mißtrauiichen 
D tern. Einige Ihöne Perlen daraus geben der Onden’schen Feitichrift 
a oh ihren Werth. Daß doch wohl noch befiere und mwürdigere Kräfte da 
Düren, das werthvolle Material zu formen, zeigt eine Reihe gehaltvoller 
eVTeſtreden, von denen wir bier die durch fünftleriiche Abrundung ſich auz 
Seichnende von B. Erdmannsdörffer Heidelberg, Hörning), die 
Werliner Univerfitätsrede don 9. Brunner (Berlin, 3. Beder), die an 
Unıterefianten, allerding® zum Theil vielleiht anfechtbaren Urtheilen reiche 
Berliner Alademierede von M. Lenz Sitzungsberichte 1897, Bd. 17) und 
Den ſehr gelungenen, triihen Vortrag von H. Delbrüd (SKaijer 
Wilhelm I. in feiner Bedeutung für Handel und Induſtrie, Preuß. Jahrb., 
Wpril 1897), der das Thema vom Verhältnis der Politif zum Wirthichafte- 
Leben behandelt, nennen wollen. 


Bon Heineren Beiträgen zur Biographie Kaiſer Wilhelm's erwähnen 
wir nocd die jorgtältige Arbeit über „Tas Treiten bei Barsiur-Aube“, in 
welher Major Dechend hauptiädlich Die Haltung des damaligen Prinzen 

ilhelm erörtert. Beſonders intereflant find die zahlreihen Auszüge aus 
dem Tagebuche des Prinzen während ber Frelheitskriege, von deſſen 
12* 


180 Notizen und Nachrichten. 


Exiſtenz, und zwar in einer kürzeren und einer ausführlicheren Faſſung, 
man bier zum erjten Mal erfährt. (Militär-Wocenblatt 1897, Beiheft 3.7 


Ein nit minder wichtiger Beitrag zur Biographie des Prinzem 
Wilhelm in den Freiheitskriegen ift eine (vom Befiger U. Meyer= 
Cohn in Berlin als Manuſkript veröffentlichte Sammlung von Bricferm 
des Prinzen an jeinen in Berlin zurüdgebliebenen Bruder Karl. Die 
Briefe jallen in die Zeit vom 9. November 1813 bis zum 2. Auguſt 181 
und enthalten interejlante Mittheilungen namentlid; über den Feldzug vom 
1814, die Kämpfe von Bar-ſur-Aube und La Fere⸗Champenoiſe, deu 
Mari auf Paris, den Aufenthalt in diejer Stadt und in England. 


Im Militär-Wochenblatt Nr. 24 werden auch noch zwei Schreibe er 
Kaiſer Wilhelm’3 veröffentlicht, da3 eine vom 30. November 1826, an dem x 
Prinzen Auguft gerichtet, betont die Nothwendigkeit öfterer und länger — 
Yeldmandver, das andere vom 21. April 1848, an General v. Prittwi z, 
bezeigt Genugthuung über die Haltung der Truppen in dem Kanıpfe u mx 
18. und 19. März. 


Rouije v. Kobell gibt zu ihren Aufzeihnungen „Unter den vier erik- — n 
Königen Baierns“ (Bd. 2) einige Ergänzungen, worin fie der Klarheit ı_ erw) 
Folgerichtigkeit Kaiſer Wilhelm’3 I. das widerſpruchsvolle Verhalten Köm—m ig 
Ludwig's II. entgegenftellt, der für die Kaijerwürde den Wedel zwijdkse en 
Hohenzollern und Witteldbahern und bei der Annerion von Eli «m # 
Kothringen die Erwerbung der badiihen Pfalz und eine Bergrößere zrıy 
der baieriihen Pfalz verlangte. (Deutiche Revue, April 1897.) 


Das Februarheft 1897 der Neuen militärifchen Blätter verheißt une Mer 
dem Titel „Weißenburg“ von „J.“ eine Darftellung der Ereigre E fie 
vom 2. bis 4. Auguſt 1870 auf franzöfifher Seite. Der Verſuch ee zz 
jtrategifhen Slarlegung der franzöfiihen Maßnahmen dieſer Tem ge 
mußte erfolglo3 bleiben, da hiezu die Quellen nicht außreihen, u we aın 
ite vollftändiger herangezogen werden, als es ber Berfafier nad ſeit = 
angeblih „volftändigen” Quellenverzeichniffe getan hat — wozu iE>m 
„Weißenburg“ im Märzhefte 1896 der „Jahrbücher für Deutihe Arır € 
und Marine“ hätte verhelfen fünnen. Er bleibt daher in einem Syſter me 
von Vermuthungen und an ji ganz verftändigen Erwägungen fteder 21. 
In Einzelheiten ift „I.“ ungenügend unterrichtet. Gr. 


Neue Zücher: SKaifer Paul's I. Ende. Bon R. R. (Stuttgazet, 
Cotta. 4 M.) — Gabler, Ludwig XVU. (Prag, Rivnac.) — We B- 
schinger, Le roi de Rome (1811-1832). (Paris, Plon.) — Ben 
detti, Essais diplomatiques (nouvelle serie) precedes d’une intr@>- 
duction sur la question d’Orient. (Paris, Plon, Nourrit et Cie) — 
®. Onden, Unjer Heldentaifer. ?yeitihrift zum bundertjähr. Geburt3- 
tage Kaijer Wilhelm’3 des Großen. (Berlin, Schal & Grund. 4,60 M.) — 





Deutſche Landſchaften. 181 


dv. Petersdorff, Der erſte Hohenzollernkaiſer. (Leipzig, Breitkopf & 
Härtel. 1,50 M.) — Briefwechſel des Miniſters Th. v. Schön mit Pertz 
und Droyſen. Herausgeg. von Rühl. (Leipzig, Duncker & Humblot. 
5,60 9.) — Friedjung, Der Kampf um die Vorherrſchaft in Deutſch— 
land 1859—1866. Bd. 1. (Stuttgart, Cotta. 10 M.) — Th. v. Bern— 
bardi, Aus den legten Tagen des deutihen Bundes. (Leipzig, Hirzel. 
T mM) — Lütken, Sekrigsbegivenhederne i 1864. (Kopenhagen, 
Gyldendal. 5 Kr.) — Kriegsgeihichtlihe Einzelichriften. Heft 19: König 
Vilhelm auf feinem Kriegszuge in Frankreich 1870. (Berlin, Mittler. 
1,75 M.) — Bippermann, Deutiher Geſchichtskalender 1896. BD. 1. 
Leipzig, Grunom. 6 M.) — Crowe, Lebenserinnerungen eines Jour- 
naliſten, Staatsmannes und Kunſtforſchers. 1825—1860. Überf. (Berlin, 
Mittler. 7,60 M.) — Militäriſche Schriften weiland Kaifer Wilhelm's des 
Großen Majeſtät. Herausgeg. von: gl. preuß. Kriegsminiſterium. 2 Bde. 
"Berlin, Mittler. 14,40 M.) — Lumbroso, Napoleone I e l'Inghilterra. 
(Roma, Modes & Mendel.) — Fövre, Hist. crit. du catholicisme 
liberal en France jusqu’au pontificat de Leon XIII. (Saint-Dizier, 
Thevenot. 5 fr.) — Memorial de J. de Norvins. P. p. L. de Lanzac 
de Laborie. III(1802—1811). (Paris, Plon.) — Bildt, Anteckningar 
frän Italien af en svensk diplomat. (Stockholm, Norstedt & 8. 6 fir.) — 
Siw off, Michel Katkoff et son Epoque. (Paris, Plon, Nourrit & Co. 
DO fr) — Deshamps, Das heutige Griechenland. überſ. (Großen: 
dbain, Starte. 4 M) 


Deutſche Sandfhaften. 
Ein anſprechender Vortrag von R. Graf Dumoulin-Edart über 
*Treitſchtke und das Elſaß“ findet ſich in den Neuen Heidelberger Jahr— 
üchern 16, 1. 


Proben aus den Rechnungen des im Jülich'ſchen belegenen Eijterzienjer- 

Ru oiters Mariawald aus den Sahren 1488 und 1489 veröffentlicht 

. Jriedlaender in der Btihr. d. Bergiihen Geſchichtsvereines. 
Dh). 32 (1896), 

Das Buch von Geh. Rath Prof. Binz in Bonn über den rheinijchen 
Arzt Dr. Johann Weyer, welches 1885 erſchien und in der Hilt. Btichr. 
S7, 475 anertennend beſprochen worden, liegt jegt in zweiter, vielfach ums 
gearbeiteter und erweiterter Auflage (Berlin 1896. VII, 189 ©.) vor. Der 
Berfajler, offenbar bejtrebt, Ouellenniaterial und Literatur möglichſt vol- 
jtändiqg auszunugen, hat nunmehr mittel® zahlreiher Abänderungen und 
Zufäge den Werth feiner fleigigen kulturgeihichtlihen Arbeit erhöht. Die 
Zujäge betreffen inSbejondere den Inhalt der Hauptichrift Weyer's über 

die Blendwerfe der Tämonen, die Abjchnitte über Ddejjen Gegner und 
Nachfolger, über den Exorcismus am Jülicher Hofe, die jehr vermehrten 


182 Notizen und Nachrichten. 


Taten über Weyer’d Familie und das über die politiihe Thätigfeit und 

die religiöje Überzeugung des Mannes Gejagte. Und ſo erſcheint' das 
Kebensbild des erſten Borkämpferd gegen Aberglauben und Hexenwahn 
wejentlich Ichärfer und vollftändiger. Aus dem S. 161—168 Witgetheilten 
erhellt namentlic der allmähliche Übergang Weyer's zum veformirten Bes 
tenntnis, ähnlich wie bei Heresbach. Ganz neue Beigaben find auch das 
Kapitel über Weyer's Schriften und das Namenverzeihnid? am Schlulle- 
S. 183—189;. Durch die Zujäpe S. 38—41 und S. 127 läßt der Ver— 
faſſer intereſſante Streiflicter auf das Fortwuchern des Herenaberglaubenun 
in der Gegenwart und auf die Haltung von Irganen des Jeſuitenordenæ 
diefem gegenüber fallen. H. 


In Fortſetzung früherer Unterfuhungen vgl. Hiſt. Ztſcht. 74, Vie 7) 
veröffentlicht Moriß Stern unter Mitwirfung von Siegmund Sal - 
feld weitere Quellen zur Geſchichte der mittelalterlihen Judengemeinde — 
auf deutſchem Boden unter dem Spezialtitel Nürnberg im Mitte wi" - 
alter, 2. Abtheilung (Kiel, 3. Fiende. 1896. Den Inhalt bilden Netr— — 
logien und Liſten frommer Stiftungen aus dem 13. und 14. Jahrhunde — t 
ein Berzeichnis der 1298 und 1349 getöteten Angehörigen der Nürnberg —r 
Judenſchaft, eine Zufanmenjtellung der Judenbürgeraufnahmen von 13 —“ 
bis 1330, Judenordnungen des 13. und 14. Jahrhunderts, welche namer — t⸗ 
lid über das Geldausleihen mannigfaltige Bejtimmungen treffen, jo ic 
Auszüge aus dem Nürnberger Einnahmebuch von 1380—1396, 1418—14:-— 0), 
1431— 1442, in denen nicht nur die Abgaben und Strafgelder der J—u n, 
jondern aud die von ihnen dem Rathe gewährten Darlehen vezeihme et 
iind. Den Beihluß machen Notizen aus Raths- und Gerihtsbüdern ee *6 
14. und 15. Jahrhunderts, jowie ein Namenregiſter. Tas mitgetfemr AEte 
Material ijt theil$ noch ungedrudt, theils in älteren Druden zerjtreut we —id 
bildet in jeiner Geſammtheit einen interejjanten Beitrag zur inneren ne 
ihihte Nürnbergd und der deutihen Stadtgejchichte überhaupt. Cie EI 
dritten Abtheilung werden die eigentlichen Urkunden vorbehalten. JH — 


Tas 17. Heft der „Beiträge zur Geſchichte von Stadt und Stift Ejie= m" 
(Eſſen 1896); legt wiederum Zeugnis ab von dem erfreulihen Streben => es 
Eſſener Hiſtoriſchen Vereins, ſeinen Veröffentlichungen einen wiflenide= —Aif⸗ 
lichen Charakter zu wahren. Die Artikel fußen durchſchnittlich auf primä = en 
Quellen und bringen daber jehr viel Neues. Da fie fi aber alle in 
engem lokalgeſchichtlichem Rahmen halten, fo ſei daraus hier nur Et" 
wähnt: Aug dem mittelalterlihen Efien von F. Schröder, eine ode A ch 
verarbeitete Sammlung von Notizen zur Kultur-, Wirthſchafts- und BF 
faſſungsgeſchichte der Stadt. 

Die Entwidlung der militärifshen Einrichtungen einer deutſchen Stax- ni 
vom Anbeginn bis in die neuejte Zeit ijt bisher noch nicht dargefte At 
worden. Aus dem fleinen Buche, das George Liebe über das Krieg = 








Deutſche Landſchaften. 183 


wien Erfurts geſchrieben hat (Weimar, selber. 1896), erkennt man 
wieder, daß die Bedeutung der Lokalgewalten auf politiihem und militäri- 
ſchem Gebiet ſich nicht iiber das Mittelalter hinaus eritredt hat. Die 
Territorien waren e3 vielmehr, die ihre VBejagungen den Städten aufs 
zwangen und die Bürgermilizen zu einem ganz bedeutungsloien Dajein 
binabodrüdten. 


Einen Beitrag zu demjelben Thema gibt Otto, inden er in der 
Stich. f. Kulturgeih. + 54 die Wehrverfaffung der Stadt Butzbach im 
Ipäteren Mittelalter fait ausichließlih auf Grund ungedrudten Materials 
erläutert. 

Vie Oberlaufigifche Gejellihaft der Willenichaften begann zum 
ISO. Gedenktage des Oberlaufiger Städtebündnijje® die Veröffentlichung 
eincs von R. Jecht bearbeiteten zweiten Bandes Codex diplomaticus 
Lusatiae superioris, welher „Urkunden des berlaujiger Huſitenkriegs 
wurıd der gleichzeitigen die Sechslande angehenden Fehden“ enthalten fol. 
Das vorliegende, bis 1423 reichende erite Heft (Görlitz 1896. 178 ©.) 
Deginnt mit einer ſehr verdienftlichen Überficht über die Börliger und 
Tberlaufißer Geihichtsquellen. Bon den darauffolgenden Urkunden und 
8 OTrefpondenzen ift allerdings der größere Theil bei Balady und Grünhagen 
Idon gedrudt. Ganz Neues bringen dagegen die zahlreihen Auszüge aus 
den Sörliger Rathsrechnungen, welche namentlid für die wirthichaftliche 
Seite der damaligen Kriegsgeihichte von Werth jind. Die Edition ijt 
Muftergiltig. H. W. 

Die Schrift von Hermann Seeliger: Der Bund der Sechsjtädte in 
Oberfaufig während der Zeit von 1346 bis 1437 (Görlitz 1896) iſt für ſich 
© Marburger Difjertation erjchienen, zugleich aber als Aufjag des Neuen 
Lau ſi ger Magazins 72, Heft 1, das als zweiter Theil der „Feſtſchrift zum 

- Gedenttage des Oberlauſitzer Sechsſtädtebündniſſes am 21. Auguſt 1896“ 
PET aaggegeben wurde. Sie gibt fleißige Forſchungen über die Gründung 
es Bundes der feh3 Städte Bautzen, Görlitz, Zittau, Löbau, Lauban und 
Taxezen;, über die inneren Lebensverhältniiie, VBehnigericht, Städte: und 
N tec Idelage, Steuern, Verhältnis der Städte zu einander, zum Landadel, 
ge doogt, Böhmenkönig und zu den Nachbarländern. Durch jorgfältige 
d EXT arbeitung der Kiteratur, jowie Zuziehung ungedrudten Materiald® aus 
wit jo widtigen Börliger Rathsrechungen bietet die Arbeit eine beachtens— 
SV the Bereicherung der Kenntnis von der mittelalterlichen Geſchichte und 
EEjaſſung der Oberlauſitz. Ein zweiter Theil ſoll die Geſchichte des Sechs— 
NG Diebundes während der Huſitenkriege behandeln. L. 


i Geihihte der Zuden in Schlejien. I: Bon den älteiten Zeiten 
big 1335. Bon Dr. M. Braun. Im Jahresbericht des jüdiſch theologi— 
chen Seminars in Breslau.) 1896, 40 u. 13 ©. Beilagen. Behandelt 

te Zeit unter der Herrſchaft der piaſtiſchen Herzöge, zuerjt die Privilegien, 


184 Notizen und Nachrichten. 


dann die Anfiedlungsorte, endlih die Synagogen und Kichhöfe. Kit 
einem Exkurs über die Privilegien und einem Verzeichnis der hebrätfchen 
Grabſchriften aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Braun liefert eine forg- 
fältige, auf genauer Kenntnis des Materials ruhende, die Nachrichten kritiid 
abwägende Arbett. Mkgf. 


Amtsrichter Georg Conrad drudt in der altpreugiihen Monatsſchrift 
Bd. 33 Heft 7/8 drei Handfejten ab: 1. eine inhaltlich fchon bekannte Ber: 
ihreibung über 1440 Hufen im Lande Sadjen vom 15. Auguſt 1321, 
2. eine erneuerte Handfelte von Gilgenau im Kreis Ofterburg von 1471, 
3. die 1663 wiederholte Konfirmation einer dem Jahr 1534 entitammenden 
Beichreibung des Grundbefiges der Stadt Bilgenburg. Neue wifjenjchaft: 
lie Resultate wird man der Publikation ſchwerlich entnehmen. 


Das Doppelheft 7,8 des 33. Bandes der Altpreußiſchen Monatsichrift 
enthält aus dem Nachlaß M. Toeppen's eine Edjilderung der preußiichen 
Landtage während der Regentſchaft des brandenburgiihen Kurfüriten 
Johann Sigismund (1609—1619). Sie jchließt fih) an die Arbeiten Toep- 
pen’3 über die Qandtage von 1603 bis 1609 an und ijt wie diefe in der 
befannten, tüchtigen Art des Verfaſſers auf Grund der Landtagsakten her- 
gejtellt. Das Manuſlript lag faft ganz drudfertig vor, jo daß der Heraus 
geber, R. Toeppen, nur die Seflion von 1617 nad den Auszügen feines 
Baters jelbftändig bearbeitet hat. 


„Die Erwerbung des Herzogthums Preußen und deren Konjequenzen“ 
benennt Siegmar Friedrich ein im Verlage von A. Dunder erichienenes, 
opulent ausgeſtattetes Buch. (Berlin 1896, 92 ©.) Hinter dem Pſeudonym 
verbirgt fid) Graf Siegmar Dohna, der Verfaſſer der belannten Familien⸗ 
geihichte der Dohnas; man erfennt das leicht, wenn man den eigenartigen 
Stil der beiden Bücher vergleicht. Den Anſpruch auf wiljenfchaftliden 
Werth, der jener Familiengeſchichte wegen des in ihr niedergelegten 
arhivaliihen WMateriales zukommt, erhebt die neue Arbeit nicht, fie iſt 
eine jhlihte Erzählung, deren Grundjtimmung, treue Liebe und Anhäng: 
lichkeit an Heimat und Dynaſtie, ſympathiſch berührt. Den Erwartungen, 
die man an den Titel fnüpjen möchte, entjpricht der Inhalt freilich nicht: 
der Berfafier behandelt zuerjt die Erwerbung Preußen? und der nieder: 
theiniichen Gebiete, fchildert dann die Kämpfe des Großen Kurfürſten bis 
zum Frieden von Dliva und den Stonflift mit den preußijchen Ständen, 
erzählt hierauf von der Erwerbung der Königskrone und jchließt mit der 
Schilderung des Retablifjements Oſtpreußens unter Friedrich Wilhelm L 
Daß der Verfaſſer namentlih im lebten Abjchnitt die Wirkſamkeit der 
Dohnas überjhägt, wird man ihm als einem Mitgliede der Familie nicht 
allzujehr verübehn. 


Zur Ergänzung des von ung erwähnten Aufjaßes von Tegner (vgl. 
78, 561) fei darauf hingewiejen, daß derjelbe in der altpreuß. Monats— 





Deutihe Landſchaften. 186 


Ihrift 1896, 1—4 Auszüge aus ben Taufregiftern und Kirchenbauaften des 
Donalitius gibt. 

In 9. 3. 75,549 und 77, 382 iſt über das werthvolle Material zur 
Gewerbe- und Kunſtgeſchichte berichtet worden, das Uhlirz in feinen „Ur: 
finden und Regeſten aus dem Archive der Reichshaupt- und Refidenzitadt 
Bien“ veröffentlicht hat. Jetzt ift von diefer Publikation der dritte 
(Schluß), genauer: der zweite Theil der zweiten Abtheilung, die Jahre 
1520—1619 umfafjend, nebſt Nachträgen zur älteren Zeit, erichienen 
(Separatabdrud aus Bd. 18 des Jahrbuchs der kunithiftoriihen Samm- 
lungen des allerhödjiten Kaiſerhauſes. Wien 1897. 247 S.). Es find 
wiederum theild Gemwerbeordnungen (3. B. ©. 9), theil® und namentlich 
Rachrihten über einzelne Gewerbetreibende und Kunftgegenftände mit- 

getbeilt worden. Das Regiſter ift zunächſt Perjonenregifter. Die Auf: 
3ählung der Gewerbe bei dem Stihwort Wien kann aber zugleich aud 
als Sachregifter dienen. Erwähnt mag noch werden, daß S. 14 fi. Stücke 
auB der zur niederöfterreihiihen Handwerkerordnung Ferdinand's 1. 
1527) erlafienen Ordnung der Handwerker in Wien abgedrudt jind. 

G. v. B. 

Unter den üfterreihiihen Landesgeſchichtsvereinen nimmt der bes 

Der zogtHums Kärnten nad Alter und Leiſtung einen der eriten Pläße 
ein. Urjprünglich ein Beitandtheit des unter dem Schuße des Erzherzogs 
Johann in’3 Leben gerufenen innerdjterreihiichen Geſchichtsvereines für 
Steiermart, Kärnten und Krain, trat er bald jelbitändig auf und entfaltete 
unter der Führung feines Direktor dv. Ankershofen eine jehr eriprieß- 
liche Thätigkeit, die namentlih in den legten 15 Jahren unter der ziel- 
ewußten führung des Barons Karl Haufer erneuten Auffchwung ge— 
Nommen hat und durd) eine zweckmäßige Umgeftaltung des Vereines, jowie 
der nunmehr von Simon Laſchitzer redigirten Zeitichrift „Carinthia“ 
in feſte Richtung gebracht worden iſt. Man wird dem Vereine nahrühmen 
dürfen, dab bei ihm da3 Wort Wiſſenſchaft nit ein Mäntelchen für 
unflare dilettantifche Strebungen ift, jondern daß feine Arbeiten durhaus 
nach pen Srundjägen und Forderungen moderner zorihung eingerichtet 
und ausgeführt werden. Daher konnte der Erfolg auch trotz mander 
Pemmung nicht ausbleiben und fand ſchönen Ausdrud und alljeitige An: 
ertenrnung bei der Feier des 50 jährigen Beitandes, welche der Berein am 
12. Spober 1895 in pjetätvoller Verbindung mit der Erinnerung an 
Ankersnoien’s 100. Geburtstag beging. Die aus diefem Anlafie heraus: 
gegebene Zeftihrift („Feſtſchrift des Geſchichtsvereins fir Kärnten.” 
lagenfurt, Ferd v. Kleinmayr. 1896. 172 S. enthält neben einem 
eTichte über die Feier eine Darſtellung der Vereinsgeſchichte aus der 
ber des bewährten Archivar® und Herausgebers der Monumenta 
historiea ducatus Carinthiae, Auguſt v. Jakſch, welche durcd mehrere 
Beilagen erläutert wird, und die von Dr. Franz Guſtav Hann gehaltene 


186 Notizen und Nachrichten. 


Teftrede über Ankershofen und die Aufgaben des Geſchichtsvereines. 
Beide Beiträge verdienen Beachtung für die Geichichte der landeskundlichen 
Forſchung in Äſterreich. K. Uhlirz. 


Aus der Feder U. Mell's bringen die Mittheilungen des bift. Ver. 
f. Steiermark (Heft 44, 1896) eine ausführliche, altenmäßige Darſtellung 
des windiichen Bauernaufftandes im Cillier Viertel Steiermarfd vom 
Zahre 1635, dem fih furze Schilderungen der fpäteren dortigen Bauern: 
unruhen bis zum Jahre 1675 anſchließen. 


Qeue Bäder: Daun, Adam Krafft u. d. Künſtler ſeiner Zeit. 
Ein Beitrag 3. Kunftgefhichte Nürnbergs. (Berlin, Herg.) — Scott: 
müller, Die Organifation der Eentralverwaltung in Kleve-Mark vor der 
brandenburgiihen Befigergreifung im Jahre 1609. ‘Leipzig, Duncker & 
Humblot. 3 M) (Staats- u. ſozialwiſſ. Forſch. XIV, 4) — Reuter, 
Das Kieler Erbebuch (1411—1604). (Kiel, Edardt. 8 M.) — Murko, 
Deutihe Einflüffe auf die Anfänge der Böhmiihen Romantik. (Graz, 
Styria. 3 fl.) — Mettig, Geſchichte der Stadt Riga. 7./8. Lief. (Riga, 
Kond & Poliewsky.) 


Sur Geſchichte der Aiederlaude und Belgiens. 


Die Eröffnung der vatikaniſchen Archive hat bereits aud für Holland 
Früchte getragen. Einen gelehrten Geiſtlichen, Herrn Dr. theol. Gisbert 
Brom, der längere Zeit in Rom weilte, hat fie veranlaßt, die ſämmtlichen 
päpftlihen Bullen und fonftigen von der päpitlihen Kanzlei herrührenden 
Schreiben, welche fid auf die Utrechter Diöceje beziehen, bis zur Zeit des 
großen Schismas zu ſammeln und zu bearbeiten. Die Beröffentlichung 
diejer ſehr umfangreichen Arbeit bat die Hiftoriiche Geſellſchaft in Utrecht 
ermöglicht, und fo ift 1891 dag erfte Heft de8 Bullarium Trajectense 
in Martinus Nyhoff's Verlag erjchienen, dem ziemlich regelmäßig die fieberm 
folgenden in den beiden nächſten Jahren gefolgt find. Der Verfaſſer Hat jid- 
nicht begnügt, die in den vatikaniſchen Regijtern erhaltenen Diplomata heraud= 
zugeben, jondern alle die Utrecdhter Diöceſe betreffenden, welche er irgendwe 
vorjand, namentlich in niederländifhen und belgischen Archiven und ir 
einigen dortigen Bibliothelen, in der belgiſchen königlidden Bibliothek unk 
in der Nationalbibliothet in Paris. Natürlich Hat er neben dem vatifanifchem 
Archiv auch die vatikaniſchen und Barberinijchen Bibliotheken benupt. Anck 
die ſchon gedruckten päpſtlichen Briefe ſind aufgenommen, jedoch nur mE 
Angabe der Anfänge und, wo es wünſchenswerth ſchien, eines Brudftüd« 
des Inhalts, Über den außerdem überall kurze Regeſten orientirer“ 
Die Arbeit, welche jegt vollitändig vorliegt, wird gewiß den Forſchern de 
niederländiihen Geſchichte, in erfter Reihe der Kirchengejchichte von großes 
Nupen fein. Die Sorgfalt der Herausgabe, namentlich aucd) in der Angalb 
der Daten, verdient rühmende Erwähnung, wenn aud natürlich bei ein« 


Zur Geſchichte der Niederlande und Belgien?. 187 


jolhen Arbeit Vieles aufgenummen wird, dejien Intereſſe einigermaßen 
fraglich erſcheinen wird. P. L. M. 


Im 28. Heft der Halle'ſchen Abhandlungen zur neueren Geſchichte (Halle, 
NRiemeyer) hat Dr. Emil Teubner unter dem Titel: „Der Feldzug 
Vilheln's don Oranien gegen den Herzog von Alba im Herbſt des Jahres 
1568° eine fehr Mare und forgfältige Darjtellung des erſten Unternehmens 
des Tranierd zur Befreiung der Niederlande gegeben. Nur fcheint es 
bedauerlih, daß er nicht auch die handſchriftlichen Quellen, namentlich 
im Brüſſeler Reichsarchiv, benutzt hat. Seitdem die Literatur tiber die 
niederländifche Revolution des 15. Jahrhunderts fo maſſenhaft angewadien, 
und namentlich fo viel Material gedrudt ijt, gibt e8 gar feine Möglichkeit 
mehr, ohne Verwertung der leßteren etwas wirklich Intereſſantes darüber 
31 jagen, was auch den Werth, der Neuheit hat. Die kritiihen Anmerkungen 
über das Verhältnis der niederländijchen Hijtorifer verdienen Anerkennung. 
Wantentlid) bat Teubner richtig eingejehen, day Hooft für diejen Zeitraum 
nie verdiene, zu den Quellen gezählt zu werden. Wenn der Verfajier 
id aveiter mit diefem Thema einlafien follte, müchte ihm die Doltor« 
diiiertation des Herrn Joh. Breen, Pieter Cornelizsen Hooft als 
schryver der Nederlandische Historien (Amjterdam, Wormjer. 1894) 
empfohlen fein, eine Arbeit, die allgenteine Anerkennung findet. P.L. M 





Sn einem ftattlihen Bande, dem erjten der neuen Reihe ber Werfe der 

Sir Oriſchen Geſellſchaft in Utrecht, hat R. Fruſin unter dem Titel: Uittreksel 
uit Francisci Dusseldorpii Annales 1566 —1616 (Haag, Nyhofi. 1894) das 
Tichtige und Wiſſenswerthe veröffentlicht, was in den bis jest, bi auf wenige 
Bruchſtücke, ungedruckten Annalen oder Kommentarien eines fanatiſchen 
holU cãndiſchen Katholiken des 16. und 17. Jahrhunderts zu finden iſt. In 
der die Gefchichte der katholiſchen Kirche in der niederländiihen Republik 
man nigfach neu beleudhtenden Einleitung hat der Herausgeber fein Verfahren, 
NUT cinen Yuszug zu geben, ertlärt. Wie wichtig aber bie jept heraus 
gegebenen Fragmente jind, hat Fruin nicht allein in diefer Einleitung 
dargethan, fondern aud in einem in den beiden erjten Nummern des 
dorjährigen Jahrgangs 1895 ber Beitichrift De Gids erfhienenen Aufjag 
De wederopluiking iPa3 Wiederaufblühen van het katho- 
licisme in Noord-Nederland omstreeks den aanvang 
der XVUe eeuw. Seiner Gewohnheit nad) hat der Berfajjer hier 
die Summe der Studien gezogen, welde ihn in den fepten Jahren am 
Reiften beichäftigt haben. Bei feinem 1894 nad vollendetem 70. Lebens 
laßre erfolgten Austritt aus feiner Profejjur an der Leidener Univerſität 
hat Dann eine Anzahl niederländifcher Hiſtoriker den Meijter der nieders 

ländijchen Geſchichtsforſchung eine Feſtſchrift gewidmet unter dem Titel Ge- 

hiedkundige opstellen aangeboden aan R. Fruin Haag, Nyhoff. 1894). 

ME ausſchließlich beſchäftigen ſich dieſe Aufſätze mit der niederländiſchen 


188 Notizen und Nachrichten. 


Geſchichte. Auf diejem Bebiet find aber faft ſämmtliche Theile der Geſchich 
wiſſenſchaft vertreten: politifche, joziale und wirthichaftliche, Kirchen» u 
Rechtsgeſchichte und Hiftorifche Kritil. Mitarbeiter waren die Profefion 
P. L. Muller, Blok, Rogge, Brill, Ucquog, Yodema Andreae und Bo 
der Archivar in Utredt S. Müller, der Archivar des Allgemeinen Neid 
arhivg van Riemsdyk und Herr de Beaufort. Berichiedene Umitär 
verhinderten die Mitwirkung anderer Gelehrten. Prof. Fredericq in G 
bat feinen Beitrag: Onze historische Volksliederen van voor 
godsdienstige beroerten der lve eeuw (Gent, Vuylitele; Haag, Ayhı 
1894; abgejondert herausgegeben. P.L.M 


Eine jehr umfangreidye, von der Utrechter provinziellen Geſellſch 
(einem mit jämmtlihen Wiſſenſchaften ſich befajienden Verein, der ni 
mit der Hiltoriihen Gejellihaft in Utrecht verwechjelt werden foll) ı 
Preisichrift gefrönte Arbeit Hat der durch jeine Tifiertation über t 
falviniftiihen Prediger und Märtyrer Guy de Brès befannte Dr. vı 
Langeraad in den Jahren 1893/94 in zwei Bänden herausdgegeb: 
unter dem Titel De Nederlandsche Ambassade-kapel 
Parys. Das Bud, auf weldes ein ebenfo jorgfältiges, als fleikig 
Studium, namentlid) des archivaliſchen Materials, verwandt ift, verdit 
darum Beachtung, weil jene Geſandtſchaftskapelle die einzige reformi 
Kirche in Faris, nah der Aufhebung der Edikts von Nantes, in ga 
Frankreich war, weldher die Regierung nichts anhaben fonnte, wenn 
auch verjucdte, deren Beſuch dur Franzoſen zu hindern. Als religid 
Mittelpunkt der Hugenotten hat fie aljo eine gewilje geihichtliche Bedeutur 
Ob dieje Bedeutung jedoch groß genug geweſen ijt, um den Aufwand 
gewaltiger Arbeit zu rechtfertigen, möchte bezweifelt werden. Die Leben 
ſchickſale jämmtliher an der Kapelle angeftellten Prediger werden in t 
Länge und Breite mitgetheilt, und den Lejern wird auch nicht die gering 
Kleinigkeit über Organifation der Gemeinde, Einrichtung von Kirche u 
Gottesdienſt u. ſ. w. geichentt. P. L.M. 


Die Bydragen en Mededeelingen der Hiſtoriſchen Bejellichaft in Utre 
(1894) enthalten u. U. da3 Tagebuch des niederländifhen Dichters Kor 
Huygens über feine Gejandtichaftsreiie nad) Venedig (1620); weiter ı 
von franzöfiicher Seite aufgejtelltes Sommaire de la forme du régi 
des Provinces-Unies des Pays-Bas (1647), das nicht ohne Intereſſe 
endlidy die merfwiürdigen Memoiren des legten holländiihen Gouvernes 
im Kaplande über die Ereigniſſe dajelbjt 1780—1806. — Der Jahrgo 
1895 (16) bietet einen jchönen Xrtifel von Fruin über die dafelbit x 
ibm herausgegebenen Aufzeihnungen des fatholiihen Pfarrer Buyd 
Amjterdam über die Stimmung des Volks in diejer Etadt bei dem üt 
gang zur Prinzenpartei 1578 und zwei merkwürdige Memoires über 
eigenthümliche Einrichtung der Regierung von Amſterdam im 17. Ja 


Zur däniſchen Geſchichte. 189 


hundert, welche die Machtſtellung dieſer Stadt in Holland lebhaft und klar 
beſchteiben. — Im 17. Theile (1896) finden wir dieſes Mal nicht Vieles vom 
allgemeinem Intereffe. Erwähnt fei ein Auszug der Dentichrift des Amiter- 
damerd Reael über den Anfang der Reformation in Amfterdam un die 
Mitte des 16. Jahrhunderts, mit einer verwandten Schrift eines katholiſch 
gelinnten @eijtlichen verbunden und herausgegeben von Herrn Dr. Breen; 
terner etliche Briefe ded Prinzen von Oranien an Bernard von Merode 
aus 1570 und 1571, nicht ohne Werth; eine Denkſchrift iiber die Magiſtrats— 
Änderung in Utrecht (1618) und endlich eine lange Streitichrift des remon⸗ 
ftantiihen Prediger Erynfie zu Brielle von 1617. P. J. B. 

De Vos erzählt in den Bijdragen voor vaderlandsche geschiedenis 
34 auf Grund der Brotofolle und Akten ausführlich die Geichichte und 
den Berlauf der großen Verjammlung von Deputirten der Provinzen in 
den Jahren 1716-1717, die für die damaligen zerfahrenen Zujtände in 
der Union bezeichnend jind. 

Die Überfiht, die A. Chambalu (4%, 0.2. u J) über die Entwid: 
lung der holländiſch-oſtindiſchen Geſellſchaft (1602—1798) gibt, 
kidet an einer erheblichen Einjeitigfeit der Auffaſſung. Der Berfafier 
derweilt faft ausſchließlich bei den Mängeln und Scattenjeiten der Bejell- 
daft. Eine Hiftoriihe Würdigung ihrer großen Erfolge und ihrer lang- 
lährigen beherrihenden Stellung in dem ausgedehnten Gebiet des indifchen 
Cceans läßt er ganz vermiffen. Der Zujag zum Titel „fein Vorbild für 
unjere Kolonifationsgejellfchaften“ läßt freilich vermuthen, daf es dem 
Lerfafier weniger auf eine objektive, bijtoriiche Würdigung, als vielmehr 
auf ein warnendes Beifpiel für die Gegenwart ankam. Ob es dafür gut 
gewählt ift, möchte Referent allerdings bezweifeln, denn der jo völlig ver- 
änderte Standpunft der Weltlage, des Welthandel und der Kolonijations- 
bedingungen läßt jeden Vergleih mit dem 17. und 18. Jahrhundert ſtark 
binnen. 

In den Annales de l’academie d’archeologie de Belgique (4 S.XIJ) 
beginnen die Herren Bamps und Geraets eine längere Abhandlung 
über die alten Bilden der Stadt Hajjelt. Es find das Vereinigungen 
Mit urjprünglicd rein militäriihen Zweden geweſen, die fidh bildeten, jeit 

Stadt 1330 die felbftändige Sorge für ihre Bertheidigung übertragen 
Dorden war. Bemertenswerth an diejen Verbindungen ift, daß jie einmal 
\ofort auch einen gejelligen und kirchlichen Charakter annehmen, und jo- 
dann auh dann noch ihre alte Organijation und Statuten beibehalten, 
als fie fih aus militärischen Verbänden zu Vergnügungsgejellidaften um» 
gewandelt hatten. 

Sur dänifhen Geſchichte. 


0 In einem Aufſatz: Saxo Grammaticus og den danske og svenske 
Idtidshistorie im Arkiv for nordisk filologie XIII, n. F. IX, tritt 


1% Notizen und Nahridten. 


Johannes Steenjtrup den Ausführungen Arel Olrik's in jeinem Bu 
Kilderne til Sakses Oldhistorie entgegen, daß Sarp viele jeiner ( 
zäblungen isländiihen und norwegischen Quellen entnommen babe u 
daß Diele in die däniſche bezw. fchwediihe Geſchichte gar nicht hinei 
gehörten. Er hebt hervor, dad es falich jet, den Dänen mythiſche Sag 
abzufprehen; wohl babe Saro die Jsländer benüßt, aber bei ihnen fänd 
fih auch mande Erzählungen, deren Grundlagen nad Dänemark gehörte 
Die einzelnen Ausführungen Steenjtrup’3 jind für die Kritit Saxo's vı 
größter Bedeutung. 


In Oversigt af det Kgl. Danske Videnskabernes Selskabs F« 
handlinger 1896 veröffentlicht dericlbe Autor einen höchſt inſtruktiv 
Aufjag über Dänemarks ältefte Eintheilung iNogle Underssgelser ov 
Danmarks »ldste Inddeling), dem eine Karte beigegeben it. 


Tie Abhandlung von Karl Bira, Svensk-Danska Förhandling 
1593— 1600 (Upjala - Tifjertation, Stocdholm, Ralmquijt, 1895) befpri 
mit völliger Ausnugung des gedrudten Material® und unter Heranziehu 
der Alten des Stodholmer Reichsarchivs die in den genannten Jahr 
beſonders über die Lappenfrage und die Streitigkeiten Herzog Karl'’® ı 
König Sigismund zwiihen Dänemark und Schweden geführten Berhar 
lungen bis zur Berabredung des Grenztages dom Februar 1601. 9 
trog der Entlegenheit in ihren Einzelheiten doch intereſſanten Verhältni 
Lapp- und Finmarkens, die gerade in jenen Jahren anfingen, ſich 
dauernder Ordnung zu gejtalten, erfahren bier zum eriten Male eine !lı 
und eingehende Bejprehung. Eine Kartenjlizze hätte das Verſtändi 
jehr erleichtert. 


In einem Scriftchen, betitelt: Polakkerne i Danmark 1659 ef 
Jan Paseks Erindringer Kopenhagen, Gyldendal. IV, 214 ©. 8°% rt 
öffentliht Stanislam Rosznedi die Erinnerungen de3 polniſchen Ei 
manns Tan Paſek, der 1659 in Czarniecki's Hilfscorpg den Feldzug nı 
Dänemark mitmadhte. Der däniihen Bearbeitung" der Aufzeihnungen 
Autors ijt eine Überjicht des ganzen Krieges mit bejonderer Berüdjichtigs 
der polniichen Reiter hinzugefügt, außerdem Mittheilungen über Bat 
Leben und einige noch fortlebende Erzählungen, die an den Aufent! 
der Polen erinnern. Paſel's eigene Aufzeichnungen zeigen große rt 
und geftatten Mare Blide in manche Züge des damaligen Volkslebens 
der cimbriihen Halbinjel. Auch Über den großen Kurfürſten, den Fül 
des Kriegszugs, und die von ihm befehligten Brandenburger und Kai 
lihen wird mandjerlei mitgetbeilt. 


Bermiſchtes. 


Zum Jahre 1898 ſoll ein öſterreichiſches archäologiſd 
Inſtitut in's Leben treten, das neben Veranſtaltungen von Erpebitio 


Vermiſchtes. 191 


und Ausgrabungen, zunächſt namentlich in Griechenland und im Orient, 
auch eigene Publikationen herauszugeben in den Stand geſetzt werden ſoll. 


In einem hübſch ausgeſtatteten Heft find jetzt die „Protokolle der 
Beneralverfammlung de8 Geſammtvereins der deutihen Ge. 
ſchichts und Altertbumspdereine zu Blankenburg a. 9. 1896” ale 
Sonderabdrud aus dem Sorrejpondenzblatt im Buchhandel erichienen 
(Berlin, Mittler & Sohn. 1897. 144 S.). 


Der Oberheſſiſche Geſchichtsverein hat fih unter dem Vorſitz 
von Prof. 8. Höhlbaum rekonſtruirt und beabfichtigt ſich jetzt namentlich 
der Erforſchung der hejjiichen Volkskunde, der Inventarijirung der Ardive 
und der Univerjitätsgeihichte im Zujanmmenbang mit dem allgemeinen 
geiftigen Leben des 17. Zahrhunderts in Mitteldeutfchland zu widmen. 


In Wiesbaden hat jih am 18. März d. J. als Sektion des Vereins 
für Naffauifche Alterthumskunde und Geichichtsforfchung eine „Hiſto— 
riſche Kommiſſion für Naſſau“ gebildet, deren Zwed die Heraus: 
gabe von Quellen und Darjtellungen der naſſauiſchen Gejchichte im weitejten 
Umfange in einer den forderungen der Wiſſenſchaft entiprehenden Weiſe 
it. Die der Kommiſſion gegebenen Sapungen, fowie eine die Ziele und 
Aufgaben derjelben darlegende Denkichriit jind im Drud erichienen. 
Interefienten erhalten diejelben gratis und franko durch den Schriftführer 
der Kommifjion (Wiesbaden, Friedrichſtr. 1). 


Für die Zeit bis zum 31. Dezember 1898 ift der Preis Breſſa in 
Turin, beſtimmt für die bedeutendſte Erfindung oder das hervorragendſte 
wiſen ſchaftliche Werk aus dem Zeitraum von 1895 bis 1898, wieder dem 
internationalen Wettbewerb eröffnet, alſo auch deutſchen Werten zugänglich 
(Brei 9600 Frs.). Einjendungen von Drudidriften an die kgl. Alademie 
der Wiſſenſchaften zu Turin. 


Ter Einfluß Gerlach Adolf's v. Münchhauſen auf die Hebung des geiftigen 
Lebens in Hannover. (Preis 340 M. 2. Prei® 680 M.) 


Vreisauf gaben der Academie des sciences morales et politiques 

nit 1898 (verlängert): Histoire des idees politiques de Louis XIV; 

Mr 1899: 1. Etudier le regime des manufactures royales en France 

Bunt 1789. 2. Histoire de la liberte de conscience et de culte en 

de ne depuis l’avenement de Flenry IV jusqu’en 1830. 3. Rapports 

dep a politique coloniale et de la politique europeenne de la France 
ulis je trait6 d’Utrecht jusqu’en 1789. 


RB reisaufgabe der Fürjtl. Jablonowski'ſchen Geſellſchaft für 


d 
as Johr 1900 (die Aufgaben für die vorhergehenden Jahre vgl. 9. 3. 


192 Notizen und Nachrichten. 


77, 383): Cine die infchristlichen ebenfo wie die literariihen Duell 
werthende Taritelung der jozialen und redhtlihen Stellung der Han 
und der wirthſchaftlichen Organiſation des (Wewerbebetriebe8 im gris 
Alterthum. Preis 1000 M. Einiendungstermin 30. November - 
Setretär der Geſellſchaft in Leipzig. 


In Karlsruhe jtarb am 25. Februar der audgezeichnete Literarh 
Michael Bernays im Alter von 62 Jahren ıgeb. in Hambı 
17. Nov. 1834), ein jüngerer Bruder des befannten Philologen 
Bernays. — In Brugg in der Zchweiz ftarb am 23. Februar nad 
jährigen Siehthum der früher als Profeſſor der Geſchichte in F 
i. Br. tbätig gewejene ältefte Sohn des Komponiſten Felix Mende 
Bartholdy, Karl Mendelsjohn:Bartholdy (geb. 7. yebruc 
in Leipzig). Er hatte u. a. eine neuere Geihichte Griechenlan 
jchrieben. — In Zurin jtarb im Februar der italieniiche Archäologe 
Shiaparelli; in Anzio Anfang März der ungariſche Archäolo 
Numigmatiter Karl v. Torma — In Glasgow ftarb am 10 
Henry Drummond, Verfaſſer des befannten Werkes: Das Rat 
in der geiltigen Welt (geb. zu Stirling in Schottland 1851\. — Zu 
ſtarb Anfang März der anf dem Gebiet der indogermaniihen Rel 
geihichte thätige Profeſſor Peter vd. Bradke im Ulter von 44% 
(Nerolog von H. Hirt in der Beilage der Münchener Allg. Zt— 
0. März.) 














Zur griechiſchen Vorgeſchichte. 
Von 
Julius Beloch. 


J. Ethnologiſches. 


Wir brauchen dringend eine „Geſchichte der griechiſchen 
Sprache“. Aber die Erfüllung dieſes Wunſches ſteht leider wohl 
noch im weiten Felde; beſitzen wir doch bisher mod) nicht eins 
mal eine dem heutigen Stande unſeres Wiſſens entjprechende 
Gefammtdaritellung der griechiichen Dialekte, wenn auch cine 
ſolche Darjtellung jegt von zwei Seiten her mit rültiger Hand 
in Angriff genommen ift. Inzwiſchen jind wir auch für die 
Abſchlagszahlung dankbar, die uns Paul Stretihmer in jeiner 
„Einleitung in die Geſchichte der griechiichen Sprache” gegeben 
bat!); möchte jic der Verfaffer entichließen, der Einleitung das 
Werk jelbft folgen zu lajjen. 

Die indogermanijche Urſprache und das indogermanitche 
Urvolf, deſſen Wohnjige und Kultur, Die Stellung des 
Griehjiihen im Kreiſe der verwandten Sprachen, endlich die 
ethnologiſche Stellung der den Griechen benachbarten Völker 
und der vorgriechiichen Urbevölferung von Dellas; das find die 
Gegenjtände, die wir in ciner Einleitung in die Geichichte der 
griechischen Sprache behandelt zu finden erwarten, und die denn 

1) Einleitung in die Geſchichte Der griechifchen Sprache. Von Dr. Paul 
Aretichmer. Göttingen, Vandenhoech & Ruprecht. 1896. IV, 428 2. 

iftoriiche Beitichriit N. 3. Br. XLIII. 13 


194 J. Beloch, 


auch von Kretſchmer behandelt werden. Es kann natürlich nid 
meine Abficht fein, dem Verfaſſer in feinen ſprachwiſſenſchaftliche 
Unterjuchungen zu folgen; überhaupt will ich feine Bejprechur 
des Buches geben, das doch jeder jelbit zur Hand nehmen mu‘ 
der ſich mit griechifcher Vorgeſchichte beſchäftigt. Wohl ab 
möchte ich auf einige der hiltorijchen Fragen eingehen, ber 
Löſung Kretichmer in Angriff genommen bat. 

Vielleicht das beite unter dem vielen Guten, was Kretſchmer 
Buch bietet, jind die Abfchnitte über die Völker Kleinafien 
Mit vollem Recht tritt der Verfafjer dafür ein, daß die Lykie 
und aljo auch die ihnen engverwandten Karer feine Ind 
germanen geweſen find. Aber die Hauptichwierigfeit, die fi 
diefer Annahme entgegenftellt, Hut er doch nicht befriedigend ; 
(öjen vermocht. Herodot (1, 171) berichtet befanntlid), daß d 
Lyder und Myſer an dem Kult des kariſchen Zeus in Myla 
als „Brüder“ der Karer Antheil Hatten; da nun die Diyi 
wahrjcheinlich ein thrafischer Stamm, jedenfall® aber Miyjer ur 
Luder den Phrygern nahe verwandt geweſen find (Xanthos b 
Strabon 12, 572), jo müßten e8 auch die Karer gewejen jet 
und weiter die Lykier. Und Herodot, der ſelbſt an der kariſche 
Küſte zu Haufe war, ift in dieſem Punfte doch gewiß e 
flajfiicher Zeuge. So hat man denn auf Grund diefer Stel 
eine ethnologiihe Einheit der weitfleinafiatiichen Völker ftatut 
obgleich doch Phrygiſch und Lykiich nach Ausweis der Inichrift 
ganz verjchiedene Sprachen gewejen find, die wahricheinlih g 
nichts mit einander gemein hatten. 

Hat denn aber Herodot wirklich jagen wollen, was man 
jeine Worte Hineinlegt? Wir find im allgemeinen viel zu je 
geneigt, andere nad) uns felbft zu beurteilen, und vergefl 
darüber oft, daß die Griechen das, was wir Geſchichtswiſſenſch« 
und Sprachwiſſenſchaft nennen, überhaupt faum gekannt habe 
oder doch nur in den eriten Anfängen. So find fie ſtets ber 
geweien, auf die nidhtsjagenditen Indizien bin barbariſch 
Städten und Völkern griechiichen Urfprung zuzuerfennen, u 
umgefehrt grichiihe Stämme zu Barbaren zu ftempeln, o1 
ihnen wenigstens barbarijche Abfunft zuzuichreiben. Weil Kadını 





196 J. Beloch, 


folgt daraus allein noch keineswegs, daß es wirklich ſo geweſen 
iſt. Aber eutweder, oder. Wir dürfen nicht beide Möglichkeiten 
kombiniren durch die Annahme, als hätten in Lydien zwei 
Völkerſchaften neben einander gelebt, eine Urbevölkerung flein- 
aliatiichen Stammes, und die indogermanifchen Einwanderer. Dus 
jcheint mir eine ganz unzuläjjige Übertragung von Analogien 
hiſtoriſcher Zeit auf vorhiſtoriſche Zuſtände. Wir jchen ja, wie 
es bei der Eroberung feindlicher Städte noch in homeriſcher Jeit 
zuging (31. 9, 598 f.): 
avdpas usw xreivovas, nolır ds Te NnVp auafüveı, 
rexva ds ı' alkoı ayoras Bayızwrors Te yıvalsas, 

So muß es bei der Ausbreitung der Indogermanen überalk 
gegangen fein, wo nicht, wie im Gangeslande, eine dichte und 
ſchon einigermaßen fultivirte Benölferung die Ausrottung um : 
möglih machte. ber auch im Gangeslande Haben doch di« 
Beliegten die Sprache der Sieger angenommen; und eine ſolch 
Ausgleihung der Sprade muß im Laufe der Sahrhunderk- 
überall eintreten, wo ein Volk ein fremdiprachiges Volk unten 
wirft: entweder die Sieger afjimiliren ſich den Befiegten, ode= 
umgefehrt. Ich glaube aljo, daß wir in der Annahme zwe= 
ſprachiger Länder in der antifen Ethnologie ſehr vorfichtig jemr 
jollten; von ©renzbezirfen und Ucbergangszeiten natürlich a % 
gejehen. Jedenfalls fehlt ung, was Lydien angeht, ein genügend = 
Anhalt für eine ſolche Annahme. Allerdings heißen die W 
wohner des Landes bei Homer Meoner, und diejer Name = 
dann Später durch den der Lyder verdrängt worden. Abw« 
das darf feineäwegs jo erklärt werden, als ob die Xyder & 
fleinafiatiiche Urbevölferung des Landes gebildet hätten, die jet « 
im 7. Sahrhundert gegen ihre indogermanifchen Herren, D 
Meoner, ſiegreich aufgelehnt hätte. Denn unterworfene VE 
pflegen den Namen ihrer VBeherricher anzunehmen, und die?‘ 
Nume bleibt dann in Geltung. Das Auffommen des Lyde! 
Namens hat alfo mit ethnographifchen Verhältnijjen überhas $ 
nichts zu thun, und hängt wabhrjcheinlich zujammen mit De 
Einigung des Landes durch die Dynaftie der Mermnaden (Grieck 
Geſch. 1, 2402). 





198 J. Beloch, 


griechiſche Halbinſel bereits ganz, oder doc) jo gut wie ganz, vor 
einer helleniichen Bevölferung eingenommen war. 

Wichtiger ald die Trage nach der Nationalität der vor 
bellenifchen Bevölkerung Griechenlands, die ſich mit unjera 
Mitteln doch nicht zur Enticheidung bringen läßt, ift die Frag 
nad) der Nationalität der Stämme, die auf der Grenze zwijchen der 
Hellenen einerjeits, den Thrafern und Illyriern andrerjeits ſaßen 
der Mafedonen und Epeiroten; hängt doch an der Beantwortun 
diefer Trage zum guten Theil unjere Beurtheilung der ganzeı 
griechiſchen Gefchichte jeit Bhilipp, und damit unjere Auffaffun 
der alten Gejchichte überhaupt. Die Art, wie ein Forſcher zi 
diefem Problem Stellung nimmt, und ob er überhaupt dazı 
Stellung nimmt, ift bezeichnend für jeine ganze wiſſenſchaftlich 
Richtung. Wer bei äußeren Zeugniffen fich beruhigt, wird bie 
mit feinem Urtheil fchnell fertig fein. Alexander I. von Mafe 
donien mußte nach Herodot feine helleniſche Abkunft nachweiſen 
ehe er zu den olympiichen Spielen zugelafjen wurde: Thufydide 
bezeichnet die Mafedonen und Epeiroten ausdrüdlich als Barbaren 
Iſokrates jagt, das hellenifche Königshaus von Makedonien herrſch 
über ein ftammfremdes Volk (aAlöprAov yevos), Ephoros läſ 
Hellas mit Akarnanien anfangen, jchließt aljo Epeirod davo 
aus (bei Strabon 8, 334) u. |. w. Noch die Vertreibung d- 
mafedoniichen Bejagung aus Korinth durch Aratos wird a 
Befreiung von der „Fremdherrſchaft“ (Erearrog agyı xai all« 
pvlos, Plut., Arat. 16) gefeiert; und befanntlich haben Gi 
Römer und Ätoler an Philipp die Forderung geſtellt, -- 
Eiiadog arcaong Erxwoeiv (Volyb. 18, 1,13 ff.), „ganz Helle 
zu räumen“. 

Gleich Hier aber jehen wir, wie wenig ethnologischen Wer 
tolhe Angaben haben. Denn Philipp fonnte erwidern: Ve 
welchem Hellas redet ihr denn Hier? Der größte Theil v= 
Ätolien ſelbſt gehört ja gar nicht zu Hellas (Polyb. 15,5. 7 
Natürlich dachte er nicht daran, den Ütolern die hellenife 
Nationalität abzujprechen; denn fie vedeten ja griechiih. Abe 
jo meint er, was den Ütolern recht ift, ift den Makedonen do 
billig, die ebenjo griechifch Iprechen. Er will nur diejenigen = 





200 J. Belodh, 


den Griechen, doch jedenfall3 in der Verwaltung ihrer eig 
Staaten und Städte, und im Verkehr mit den unteriworf 
Barbaren. Da fie das nun nicht gethan haben, fondern in 
die griechiiche Sprache verwenden, müſſen fie eben jelbit griec 
geiprochen haben. 

Das wird beftätigt durch den Bericht des Eurtius (6, 9. 
über den Prozeß gegen Philotas; ein Zeugnis, das allerd 
in der Regel zum Beweife des Gegentheil® angeführt zu we 
pflegt; mit welchem Rechte, werden wir gleich jehen. Die € 
lautet: Tum Philotas: praeter Macedonas inquit, pleri 
adsunt, quos facilius quae dicam percepturos arbitroı 
eadem lingua (Griechiſchj fuero usus, qua tu (Mlexar 
egisti, non ob aliud, credo, quam ut oratio tua inte 
posset a pluribus. Tum rex: F'cequid videtis, etiam 
monis patrii (de8 Mafedonijchen) Philotam taedere? Da 
ergibt ſich Doch eritens, daß alle mafedoniichen Soldaten ı 
griechiichen Rede zu folgen vermochten (denn die Verband, 
fand in der mafedonijchen Heeresverfammlung ftatt), zweit 
daß die anmwejenden „Griechen“ (Nicht-Mafedonen) wohl a 
falls eine mafedoniiche Rede verjtehen konnten, aber daß 
natürlich eine „griechiich“, d. h. attiſch gehaltene Rede lei 
(facilius) verftanden. Mit anderen Worten, e3 würde ſich j 
aus diefer Stelle ergeben, wenn wir es nicht ſonſt wühßten, 
das Makedoniſche nichts anderes war, als ein griechiicher Dio 
Wir hören denn auch niemals, daß die „Griechen“, um fid) 
den Makedonen zu verjtändigen, eines Dolmetſchers bet 
hätten, während im Berfehr mit Thrafern und Illyriern 
Dolmetſcher für fie unumgänglich war!). 

Aber ſchon lange vor Alexander müſſen die Mafedı 
griechiich geiprochen haben. Denn wenn ein Volk die Spı 
wechjelt, jo bleiben doch die aus der alten Sprache jtammeı 





1) XKen., Anab. 7, 3,25, Polyb. 28, 8,9. Kretichmer (S. 285) 
diefe Stellen mit der angeführten Stelle des Curtius nidht auf g 
Kinie fegen follen. Ein Mafedone verftand den JUyrier nur, wenn er d 
Spradye gelernt hatte (dıa To nv» duadextov eidermı Trr Ikhroida, 
Polybios jagt); den „Griechen“ verftand er ohne weiters, und diefer ihn 





202 I. Beloch, 


Hefiod betrachtet die Eponymen der theſſaliſchen Magneten ur 
der Mafedonen ald Brüder (fr. 23 Kinfel); Angaben die freilic 
wie oben ausgeführt worden ift, nur einen fehr relativen Wer 
haben. 

Leider haben wir bis jegt feine makedoniſche Inſchrift aı 
der Zeit vor dem Ende des 4. Sahrhunderte. Damals ab 
hatte das Land bereits den attischen Dialekt ald Amtsſprache a 
genommen; und demgemäß find alle uns erhaltenen makedoniſch 
Urfunden in diefem Dialekt abgefaßt, oder befjer gejagt, in d 
ſog. attifchen “own, mit Ausnahme natürlich der lateiniſchen I 
ichriften der fpäter von den Römern in Makedonien gegründet 
Kolonien. So verjagt uns hier die ficherfte Quelle unferer € 
fenntnis, die ſonſt jeder Diskuſſion über die ethnologiiche St 
lung der Mafedonen fofort ein Ende gemacht haben würt 
Es ift uns nun zwar durch die antifen Grammatiker eine ziemlic 
Zahl makedoniſcher Gloſſen erhalten. Aber es ift mit dieſ 
Gloſſen ein eigenes Ding; jeder lieſt heraus, was ſeiner ve 
gefaßten Meinung entipricht. Wer die Mafedonen für Barbarı 
hält, erflärt alle Gloſſen, die fi aus dem Griechiichen deut 
laffen, für griechiiche Lehnwörter; wer der entgegengejegten A 
jicht ift, weilt darauf Hin, daß in den Dialekt eines Grenzvolke 
wie e3 die Mafedonen waren, natürlich mancje® Wort aus d 
Sprache der benachbarten Barbaren eindringen mußte, um 
mehr, al8 ja ganz Niedermafedonien urjprünglid” von Barbar 
bewohnt war, und daß gerade ſolche, den Griechen unveritän 
liche, Wörter die Aufmerkſamkeit der Grammatifer in erfter Lir 
auf ſich ziehen mußten. Immerhin gibt es einige makedoniſt 
Wörter, bei denen eine Entlehnung aus dem Griechiichen mi 
deitens ſehr unwahricheinfich if. So namentlich die Bezeichnu 
der Nitterfchaft als „Kampfgenoffen“ (Ereiovı) des Sönigs, | 
ſich ganz ebenfo bei Homer findet, in Hijtoriicher Zeit aber n 
in Mafedonien fich erhalten hat. 

Die beitbezeugte, und zugleich hervorjtechendite phonetiſt 
Eigenthümlichfeit des mafedoniichen Dialekts ift die Vertretu 
der indogermanijchen Mediae aspiratae bh dh gh burd I 
entiprechenden Mediae, während jie befanntlich in allen übria 





204 J. Belodh, 


donische im Laufe der geichichtlichen Entwidlung dem Griechiich 
immer mehr angenähert hat. In der Zeit, als die Makedon 
bejtimmend in die Geſchicke der Welt einzugreifen begannen, w 
Makedonien ein griechifches, oder Doch im wefentlichen gr 
chifches Land, Attiſch die Schriftipracdhe, und die Sprache b 
Gebildeten überhaupt, bis dann jchließlich, Hier wie überall 
der griechiichen Welt, auch die Volksſprache in der attiſchen xoc 
aufgegangen: ift. 

Ganz ähnlich liegt die Frage nach der Nationalität d 
Epeiroten. Auch fie werden von griehiichen Schriftitellern d 
5. bis 4. Jahrhundert? als „Barbaren“ bezeichnet, und ihr Laı 
wird ebenjowenig wie Mafedonien zu Hellas im geographiich 
Sinne gerechnet. Auch hier fehlen Sprachdenfmäler im ei 
heimifchen Dialekt; wohl aber zeigen uns zahlreiche in Dodo: 
gefundene Öffentliche Urkunden der Molofjer und des epeirotiſch 
Bundes, daß das Land mindeſtens feit dem Ende des 4. Satı 
hunderts Griechifch aeiprochen hat. Und zwar ift bier der fori 
thifche Dialeft als Schriitiprache angenommen worden, der fı 
dem 4. Sahrhundert im Peloponne® und im ganzen griechiſch 
Weiten ebenjo zur Verkehrsſprache und überhaupt zur Spra« 
der Gebildeten wurde, wie der attiiche Dialekt am ägäiſch 
Meere und im ganzen griedhiichen Oſten. Wie in Mafedoni 
find auch in Epeiros die Orts- und Perjonennamen ganz übe 
wiegend helleniſch. Daß bereits im 5. Jahrhundert in Dodo: 
Griechiſch gejprochen wurde, bezeugt Herodot (2, 56); es wä 
eine willfürliche und bei einer Binnenftadt höchſt unmwahrichei 
lihe Annahme, daß Dodona eine helleniihe Spradinjel 
barbarifchem Gebiete gebildet hätte, vielmehr müſſen wir a 
nehmen, daß die Molofjer, zu deren Gebiet Dodona gehörte, € 
griechifcher Stamm geweſen find (vgl. Herodot 6, 126 f.). U 
die Molofjer um den Anfang des 4. Jahrhundert® mit d 
Chaonern und Thesprotern jich zu einem Bundesftaate zuſamme 
ichlofjen, bezeichneten dieje drei Völker ſich mit griechiichem Nam 
als oruuaxoı vor Areıpwrär „die Verbündeten unter den B 
wohnern des Feſtlandes“. Überhaupt ift eine ethnographiſc 
Grenze zwiichen Makedonen und Epeiroten gar nicht zu ziehen 





206 J. Beloch, 


mehr als unverſtändlich kann eine Sprache nicht ſein. Die 
Scholien interpretiren denn auch ganz richtig: orx &xovres ri⸗ 
dıahertov eraoAov yvwogTvaı „fie redeten einen nicht leicht ver- 
jtändfichen Dialekt.“ Alſo verjtehen konnte man fie immer nod), 
und folglich waren fie Griechen. Mindeſtens wird man zugeben, 
daß die Stelle diefen Sinn haben fann. Daß fie ihn haben 
muß, folgt aus fachlichen Gründen. Denn die Eurytanen bil- 
deten ja den Hauptitamm des ätoliichen Volkes (nEyıozov ufpos 
tovy Attwiow); und es ift im ganzen Altertum nie jemanden in 
den Sinn gefommen, den Ätolern das Griechenthum abzufprechen. 
Die oben angeführten Worte Philipp's bedeuten, wie wir gejehen 
haben, etwa® ganz andered. Wuch haben wir ja Inſchriften, 
Orts⸗ und PBerjonennamen genug, die alle die griechifche Natio- 
nalität der Ätoler umwiderleglich bezeugen. Und jpeziell die 
Eurytanen haben einen gut helleniichen Namen; ift doch Eurytos 
ein altberühmter griechiſcher Sagenheld. 

Im Borbeigehen will ich noch bemerfen, daß die herrſchende 
Borftellung über die MWohnfige der Eurytanen unbaltbar it. 
Unjere Karten ſetzen das Volt an den Nordabhang des Panä— 
toliton, in das Thal des Kampylos, und zwar nur aus dem 
Grunde, weil neuere Archäologen das bei Strabon (10, 448% 
ohne nähere Angabe Füber die Lage als eurytaniſche Ortichafe 
erwähnte Ochalia ganz willfürfich am Südfuße des Tymphreſtos 
angejegt haben. Nun iſt es ja evident, daß der Hauptſtamm 
der Ätoler nicht in diefer wilden Gebirgsgegend gejeffen habeım 
fann; vielmehr bildete das Thal des Kampylod im Alterthum 
die Landſchaft Aperantia. Über die Sie der Eurytanen haberm 
wir überhaupt fein direktes Zeugnis. Wohl aber willen wir au 
Thufydides (3, 94, 5; 100, 1), daß die Itoler in drei Stämme 
getheilt waren: Apodoter, Ophioneer und Eurytanen; die Apo- 
doter faßen im Thal des Daphnus an der lofriichen Grenze 
die Ophioneer nördlih und nordweitlid von ihnen an der 
Quellen des Daphnus und im Thal des Euenos; für die Eury - 
tanen bleibt demnach der Welten des Landes, dad Gebiet um de 
See Trichonis: das ift der fruchtbarjte Theil Atoliens, wo ſtets 
das Centrum des Bundes gelegen hat; und fo fonnte Thukt 





208 J. Beloch, 


dieſen Umſtänden würde es das Richtige ſein, uns überhaupt 
dieſem Gebiet für jetzt aller Vermuthungen zu enthalten, ı 
uns bei einem non liquet zu beruhigen. Da indes dieje Zur 
haltung von anderer Seite nicht geübt wird, jo möge es a 
mir geftattet fein, einmal den Weg der Hypotheſe zu bejchrei 
Das eine oder andere wird fich Dabei immerhin für die hiftori 
Erkenntnis ergeben, felbjt wenn die Rejultate mehr auf der nı 
tiven als auf der pofitiven Seite liegen Jollten. 

Selbjtverjtändfich werde ich dabei von allem abjehen, ı 
die Sage von den Wanderungen griechiicher Stämme aus ı 
Hiftoriicher Zeit zu berichten weiß. Denn dieje jog. Sage 
zum allergrößten Theile nicht weiter, als jpäte Kombinat 
entftanden in der Zeit, ald die griechiichen Stämme anfin 
ji mit der Frage nad) ihrer eigenen Herkunft zu beichäftig 
im 7. und zum Theil wohl auch Schon im 8. Jahrhund 
Es ift ganz unmöglich, aus inneren Gründen von diefen K 
binationen die Elemente zu fcheiden, die auf wirkliche Überliefer: 
zurüdgehen. Und aucd wenn das möglich wäre, jo gäbe t 
eine durch Sahrhunderte blos mündlich fortgepflanzte Überl! 
rung noch lange feine Gewähr für biftoriiche Richtigkeit; esn 
im Gegentheil höchſt wunderbar, wenn fich die Kunde Hiftorif 
Ereigniffe auf diefem Wege unverfälicht bewahrt haben To 
Wem es Vergnügen macht, auf foldem Grunde zu bauen, 
mag das ja thun; er kann dabei jehr viel Scharfjinn und 
lehrſamkeit zeigen, aber was er baut, find Kartenhäufer, die 
erite Lufthauch zujammenblätt. 

Beginnen wir unfere Betrachtung mit dem Pelopon: 
Wir finden hier befanntlich in Hijtorifcher Zeit drei Hauptodiale 
die doriſche Mundart, die in verjchiedenen Abitufungen in Zafoı 
und Mefjenien, in der Argolis, und höchſt wahrjcheinlich « 
in Achaia geiprochen wurde, den eleiiichen und den arkadiſ 
Dialekt. Dieje Dialekte haben ſich, wie natürlich, untereinar 
vielfach beeinflußt; auch wäre es an ſich möglich, daß fie 
erft von einander differenzirt hätten in einer Zeit, als der P 
ponnes bereit3 jeine jpätere Bevölferung beſaß. Wahricheinti 
aber ift doch, daß die Differenzirung ſchon eingetreten: ift, 





210 J. Beloch, 


Machen wir uns zunächſt die Konſequenzen der letztere 
Annahme klar. Die Argolis und Lakonien hatten in der myf 
näiſchen Periode bereits eine ziemlich bedeutende Höhe der. Kultı 
erreicht, die eine verhältnismäßig ftarfe Bevölkerung zur Borau 
jegung hat. Die Bewohner diefer Landichaften mußten al! 
etwaigen Eindringlingen aus den Bergdiſtrikten Mittelgrieche: 
lands an Zahl wie an Gefittung weit überlegen jein. Au 
waren fie viel bejjer bewaffnet; zeigt und doch noch die Ilic 
die Lokrer nur leicht gerüftet, und zum Nahefampf gegen m 
Helm und Schild gerüftete Krieger untauglich (13, 712 ff.): 

0V yap opiv oradin vonivn uiuvs yilor xig" 
ov yap &yov xöpudas yolxigeas innodaseias, 
010’ #xov aonıidas evmslovs xai uelliva born. 

Und was von den Lofrern noch im 8. Sahrhundert gil 
muß doch ebenio von ihren Nachbarn und Stammverwandter 
den Phokiern, Doriern und phthiotiſchen Achäern gelten, un 
nun gar noch einige Jahrhunderte früher. 

Unter diejen Umständen ift es jehr ſchwer zu begreifen, wi 
eine Eroberung der Argoli8 durch mittelgriechiiche Stämme d« 
mals möglich gemejen fein follte. Noch viel jchwerer zu begreife 
aber wäre e3, wie eine folche Eroberung einen Wechjel im Diale 
der Küftenlandfchaften des Peloponnes hätte herbeiführen fönnen 
Bielmehr würden die Eroberer fich den Eroberten ſprachlich aſſ 
milirt haben, wie das in ähnlichen Fällen immer geichehen iß 
Es fei denn, man wollte annehmen, die Eroberer hätten die U 
völferung des eroberten Landes vernichtet; in diefem Falle wür” 
aber auch die Kultur mit vernichtet worden fein, und das iſt E 
Peloponnes am Ende der myfkenäiſchen Periode keineswegs g 
ſchehen!). 

1) Es wird denn auch allgemein angenommen, daß in Theſſalien w 
der Einwanderung der Theſſaler der alte Dialekt fidh erhalten hat; wenn ra 
alfo konſequent fein wollen, müjjen wir dasfelbe auh dom Peloponnes ca 
nehmen. Man bat auf England Hingewiejen, dad durd) die Bölferwanderu 
germanijirt worden ijt, während Gallien feine römijche Nationalität bewa 1 
bat. Aber Gallien war ein viel civilifirteres, und infolgedefien auch didp 


bevöffertes Gebiet als Britannien, während die myfenäiiche Kultur ger 
im Peloponnes ihren Mittelpunkt Hatte. 











212 J. Beloch, 


jedenfalls ſpäter beſiedelt worden iſt, als die Inſeln des ägäiſce 
Meeres und die kleinaſiatiſche Weſtküſte, ſo müſſe der „doriſch 
Koloniſation auf Kreta, den ſüdlichen Kykladen und in der fartfc 
Doris eine vordortihe Kolonifation vorausgegangen jein. $ 
hätten aljo in diefem Gebiete eine ziweimalige griechiiche Kolı 
jation anzunehmen. 

Wie mißlich eine folche Hypotheje iſt, leuchtet auf den er‘ 
Blid ein. Wo gibt es denn in der ganzen Geſchichte der q 
chiſchen Kolonifation eine Analogie für einen jolhen Borgaı 
Gewiß, jo lange es ſich um einzelne Städte handelt, laſſen 
Analogien die Menge beibringen. Aber für ein Gebiet, jo g 
wie der halbe Peloponnes? Wenn Hier einmal eine vordori 
Bevölkerung ſeßhaft geweien wäre, würde doch irgendwo ein 9 
diefer Bevölkerung jich big in die hiſtoriſche Zeit erhalten hab 
haben ſich doch jogar Reſte der vorgricchifchen Bevölferung 
Kreta und Karpathos zu behaupten vernodt. Man hat daı 
bingewiefen, daß die Odyſſee (19, 177) neben Doriern auch Ad 
auf Kreta erwähnt. Aber dag beweilt gar nichts; der Gr: 
ift einfach, daß die Kreter Sdomeneus und Merioned unter 
achäischen Helden vor Troia auftreten. Da übrigens die Ad) 
joviel wir willen, doriſch gefprochen haben, jo würde fidh ı 
diejem Zeugnis für unjere Frage unter feinen Umjtänden etr 
ergebei. 

Wir können aber jehr wohl ohne dieſe Hypotheſe a 
fommen. Denn um die enge VBerwandtichaft der Dialekte ' 
Kypro3 und Arkadien zu erklären, it die Annahme durd) 
nicht erforderlich, daß zur Zeit der Kolonijation jener Inſel 
ganze Peloponnes noch arkadiſch geiprochen habe; es genügt v 
Itändig, wenn ein dem Arfadiichen verwandter Dialekt irgen! 
an den Küſten des Peloponnes gejprochen wurde. Wir dei 
bier zunächſt an Meſſenien. In diefer Zandichaft herrſchte 
hiltorijcher Zeit der lakoniſche Dialekt; aber das ift eine %ı 
der ſpartaniſchen Erorberung um die Wende vom 8. zum 
Sahrhundert. Sonjt müßten wir annehmen, daß Mefjenien fc 
einmal, in vorhiltorifcher Zeit, von Lakonien aus erorbert wor 
it, was ja die Sage allerdings berichtet; aber es ift a 


Zur griechiſchen Vorgeſchichte. 213 


Analogie nach ſehr wahrſcheinlich, daß dieſe Sage nichts weiter iſt, 
als ein Reflex der in der hiſtoriſchen Zeit erfolgten Eroberung. 
‚it Das richtig, ſo muß in Meſſenien bis zum 8. Jahrhundert 
ein vordoriicher Dialekt, d. 5. doch aller Wahrjcheinlichkeit nach 
Arkadiſch geiprochen worden fein. Auch ſonſt ſpricht Manches für 
das einftige Vorhandenjein näherer Beziehungen zwiſchen Meffe: 
nien und Arkadien, jo namentlich die Ableitung des mefjenijchen 
Königshaujes von dem arfadifchen Heros Acpytos!); doch bin 
ih natürlich weit entfernt, auf dieſes Argument bejonderes Ge: 
wicht zu legen. 
Weiter aber dürfen wir auch an Lafonien denfen. Es iſt 
die ſüdlichſte Landichaft des Peloponnes, im Often und im 
Weſten von hohen Gebirgen umfchlofjen, und gegen feindlichen 
Einfall gefchügt. Ohne Zweifel haben aljo die „Dorier“ dieſe 
Sandfchaft erſt befegt, nachdem fie jchon lange in der Argolis 
anäffig waren; es können Sahrhunderte dazwischen hingegangen 
jein. Und wie noch heute in Lafonien, und nur hier in ganz 
Griechenland ein Reſt des alten Dialekts fich erhalten hat, jo 
wird auch im Altertfum in den Gebirgen Lakoniens, und nament« 
lih auf den beiden Halbinjeln, die in den Kaps von Malen und 
Zänaron enden, der vordorijche Dialekt noch lange lebendig ge: 
blieben fein, nachdem die Centralebene von Sparta fchon von den 
„Doriern“ bejegt war. Daß die Bewohner der lakoniſchen Oſt— 
fülte, des jegigen Tzafonien, der alten Kynuria urſprünglich feine 
„Dorier“, aljo den Bewohnern von Argos und Sparta Itamm- 
ſtemd waren, jagt befanntlih auch Herodot (8, 73); daß er 
meint, „lie Schienen Soner zu fein“, Hat nicht viel auf fich, da 
die Kynuria, wie Herodot ausdrüclich angibt, zu feiner Zeit bereits 
dorifirt war, und wir doch nicht annehmen dürfen, daß Herodot 
PMachgefchichtliche Studien angeftellt hat. Wohl aber fehrt der 
ame Kynuria al® Name eines Gaues in Arkadien wieder; und 
da es fich hier um benachbarte Gebiete handelt, jo ift dieſe 
Yononymie doch vielleicht fein bloßer Zufall, wenigſtens wird 
Ne Der nicht dafür halten Dürfen, der die opuntijchen und 
— — — 
2) Eduard Meyer, Geſch. des Alterthums 2, 262 5. 271. 


214 J. Beloch, 


ozoliſchen Lokrer für Zweige desſelben Stammes anſieht!)y. Es 
kann mit dieſen Verhältniſſen zuſammenhängen, wenn die Spar: 
taner den Gott, der bei den Jonern Poſeidon, in der Argolis 
Poteidan heißt, mit arkadiſchem Namen Pohoidan (lakoniſche Form 
für Poſoidan) nennen; freilich iſt es ebenſo möglich, daß der 
Kultus des Gottes, der ja in Arkadien einen ſeiner Hauptſitze 
hatte, von dort nach Lakonien gewandert iſt, und mit dem Kultus 
der Name. 

Daß Kypros ſeine helleniſche Bevölkerung von der pelopo— 
neſiſchen Südküſte aus empfangen hat, iſt auch ſonſt ſehr wahr: 
ſcheinlich; namentlich der Kult des Apollon Amykläos weiſt 
nach Lakonien?). Nun war die Argolig; in der mykenäiſchen 
Periode die in der Kultur fortgefchrittenite Landichaft des Pelo- 
ponnes; ijt aljo natürlich, daß die Kolonifationsbewegung von 
bier ihren Ausgang nahm. Als dann auch die Bewohner der 
lafonischen Küfte an der Kolonifation Theil zu nehmen begannen, 
fanden fie Rhodos und einen Theil von Kreta bereit® von der 
Argolis aus bejegt. Auf Kreta mögen ji) Anfiedler „arfu 
diſchen“ Stammed (um der Kürze wegen diejen Namen für die 
„vordoriſche“ Bevdlferung des Peloponnes zu brauchen) vorm 
der lafonifchen Küfte neben den „dorischen“ Anfiedlern aus de 
Argolis fejtgejegt haben; man fann, wenn man will, dew- 
Namen der fretifchen -/exader und des Fretifchen Gortyn ad 
Beweis anführen; auch daß neben den drei doriihen Phyler— 
andere Phylen in den fretiichen Gemeinden vorfonnıen, mag zum 
Theil jo erflärt werden. Sedenfalld aber blieb auf Kreta, wer - 
der Dialekt zeigt, das „dorifche” Element durchaus überwiegende 


) Wenn zwei benadjbarte, oder doc nur durch geringen Zwiſchenraur — 
getrennte Volktsſtämme denfelben Namen führen, fo ift das ein ftarfes Argus 
ment dafür, dab fie gleihen Stammes waren, vgl. 3. B. Sicsuli und Sican 
findet ji die Homonymie aber bei räumlich weit voneinander getrennt 
Stämmen, fo ift eine Stammperwandtihaft zwar an fich möglich, aber m 
nothwendig noch auch nur wahrjdeinlid. Es Hat viel Unheil in der alte 
Geſchichte angerichtet, daß man dieje beiden Fälle beftändig zufammemmme- 
geworfen bat. 

2) (£3 gab in Kypros eine Stadt Aaxedaiuuw (Steph. Byz.), und Dez 
fyprifche Marion ijt bid auf die Endung homonym mit dem lafoniihen Marie — 





216 J. Belodh, 


Kenntnis fortichreitet, deſto deutlicher erfennen wir, daB ftat 
großer plöglicher Umwälzungen vielmehr ein allmählicher Über 
gang von Periode zu Periode ftattfindet. Daß e8 mit der mt 
fenäifchen Periode im Verhältnis zur homerifchen Stultur, ode 
archäologifch ausgedrüdt, der Periode des „geometriichen Stile 
nicht anders geweſen ift, wird ung von Tag zu Tag flareı 
je meiter die archäologiſche Durchforſchung Griechenlands for 
Ichreitet. 

So bleibt nur ein einziger Grund übrig für den, der Di 
Einwanderung der „Dorier“ an das Ende der mykenäiſchen Periot 
jegen will: Der überlieferte Anja der Rückkehr der Heraflide 
auf das 12. bis 11. Jahrhundert. Doch wir wifjen ja längſt, da 
diefer Anja von den Genealogen errechnet ijt, die fich im 6. un 
5. Iahrhundert ein Geichäft daraus machten, die Sagenmafi 
auf Grund von Generationgreihen in ein chronologiſches Schem 
zu bringen. Alle echte Sage aber ijt zeitlos. Und jchon Thı 
fydides hat erfannt, (1, 2), was heute vergejjen zu jein jchein 
daß die Wanderungen der griehijchen Stämme innerhalb d« 
griechiichen Halbinjel in eine Zeit gehören müſſen, in der die Natio 
noch nicht zur vollen Schhaftigfeit gelangt war. Archäologiji 
ausgedrüdt: Die Wanderungen gehören in die vormykenäiſch 
Periode; in die erfte, nicht in die zweite Hälfte des 2. Jah 
tauſends vor unjerer Zeitrechnung. 

Schen wir jegt, was fich über die Richtung diefer Wand: 
rungen ermitteln läßt. Das natürliche Einfallethor in den Belı 
ponnes bildet feincäwegs der Iſthmos, der durch Die unmer 
jame Bergfette der Geraneia gejperrt tt, und dem außerdem d 
Kerata und der Kithäron als Außenmwerfe vorlagern, jondern da 
Einfallätgor ift die Meerenge von Rhion am Eingange de 
korinthiſchen Buſens, wo die peloponnefiihe und die mitte 
griechiſche Küſte bis auf wenige Kilometer ji nähern. Dahe 
haben ſchon die griechiichen Genealogen und Zogographen, als ſi 
die Geſchichte der Rückkehr der Herafliden in den Peloponne 
fonftruirten, die Einwanderung auf dieſem Wege erfolgen laſſer 
Daß fie damit Recht hatten, zeigt die Schichtung der Dialefte 
während in Phokis, Lokris, Achaia, der Argolis engverwandi 





218 J. Beloch, 


doch die ganze Geſchichte nichts weiter als ein großer Prozet 
der Differenzirung, und dann wieder der Integrirung: 

xai ravz' allacoovra dıaunspes nvudaua Änyeı, 

allore ev yılörntı ovvepyouev' eis iv anarıa, 

aklors dar dig’ Ixacta Yopsuusva vsixsos Eyder. 

Als die Hellenen, damals noch ein wenig zahlreicher Stamm 
von den übrigen Indogermanen fich fchieden, müſſen jie alle die 
jelbe oder doch jo ziemlich diejelbe Sprache geredet haben, da: 
„Urgriechiſch“ unſerer Linguiſten; diefe Sprache bat fich dann 
als die Nation an Zahl wuchs und fich über ein weitered Ge 
biet verbreitete, in eine ganze Weihe Dialekte zeripalten, un 
endlich haben unter dem Einfluffe der Kultur und des Verfehr 
diefe Differenzen fich abgefchliffen, jo daß heute von den alte 
Dialekten faum eine Spur mehr übrig ijt. Ebenſo müſſen jen 
Urgriechen, als fie in ihre fpäteren Sige einwanderten, doch auc 
einen gemeinfamen Stammnamen gehabt haben, der ſie von de 
Nahbarjtämmen unterjchied. Diejer Name ift dann entweder ta 
Laufe der Zeit verloren gegangen, oder cr iſt ald Stammnan 
an einem Theil der Nation haften geblieben, während die übrige 
Stämme ſich mit befonderen Namen bezeichneten, bis daun endlid 
im 8. Jahrhundert das Bemwußtjein der gemeinfamen Nationaliti 
wieder zum Durchbruch fan, und injolgedeifen auch wieder ei 
gemeinjamer Name für das ganze Volk zur Geltung gelangt 

Vielleiht Tiegt hier die LRöfung der Pelasgerfrage. 3 
habe früher ganz unabhängig von der hier entiwicelten Gedante: 
reihe darauf hingewieſen, daß es aller Wahrfcheinlichfeit nach D 
theſſaliſche Ebene geweſen iſt, wo die Hellenen fich zuerjt dauerr 
niedergelafjen und ihre nationale Individualität ausgebildet hab« 
(Sr. Geſch. 1, 35); aljo das Gebiet (die Pelasgiotis), an de 
der Pelaögername bis in die fpäteften Zeiten gehaftet hat. Wer 
irgendivo, mußte hier der uriprüngliche Name des Volkes erhalt: 
bleiben, ähnlich wie der Name der Sachſen in England ſich heu 
in den Srafichaften erhalten Hat, die zuerjt von den germanijdy: 
Einwanderern in Befiß genommen murden (Effer, Middleſe 
Sufjer), oder wie der Name der Angeln an den Bewohnern ı 
England haftet, aber nicht mehr an den Bewohnern der engliſch 





220 J. Beloch, 


mit dem Doriernamen geſchehen, der zuerſt nach Kreta, dan 
nach Lakonien und der Argolis übertragen worden iſt. 


Daß es ſich Hier wirklich um Übertragung handelt und da 
nicht etwa ſchon die Einwanderer aus Mittelgriechenland in de 
Peloponnes den Doriernamen geführt haben, zeigt zunächſt di 
Analogie der Joner und Üoler; wir dürfen nicht zweierlei Ma 
und Gewicht brauchen, in der Prähiſtorie noch weniger, als jonf 
Es folgt ferner daraus, daß der Doriername an den Bewohner 
feiner Zandichaft des Peloponnes ald Stammname haftet, un 
daß Homer ihn in Bezug auf den Peloponnes noch nicht fennt! 
Es folgt endlid) aus der Thatſache, daß gerade die Bewohn 
der Landichaft, die zuerjt von den mittelgriechiichen Einwanderer 
im Peloponnes in Bejig genommen wurde, daß gerade d 
Achäer niemals unter dem Namen der Dorier mitbegriffen werden? 
Wir fönnten uns diejem legteren Argument nur entziehen dur 
die Annahme, daß der „doriſchen Wanderung“ eine achäijd 
Wanderung gefolgt wäre, und alfo die „Dorier“ durch die Achä 
aus Achaia verdrängt worden wären. Aber hat es denn d 
geringste Wahrfcheinlichfeit, daß furz nacheinander aus dem 
biet an den Hüften des malifchen Golfes zwei Wanderung: 
ganz in der gleichen Richtung erfolgt wären, die beide Mc 
Phokis und Lofrig überfprungen hätten, um in bderjelben pel 

2) Das beruht keineswegs, wie wohl gejagt worden ift, auf abſichtlid 
Ignorirung der „doriihen Wanderung“. So gelehrt waren die Aöden di 
nicht. Cie erwähnen ja ohne allen Anftoß Dorier auf Kreta; fie laf 
Herakles' Sohn Tlepolemos ſchon vor dem troiihen Kriege au Argosen 
Rhodos einwandern. Alſo Haben jie von der „doriihen Wanderung“ üb 
haupt nichts gewußt. 

2) Der Grund dafür iſt offenbar, dab die Bevölkerung des pelopon! 
ſiſchen Achaia nicht wie die Bevölkerung der Argoli® und der von ihr aı 
gegangenen Kolonien in die drei „doriſchen“ Phylen der Hylleer, Dymar 
und Pamphyler zerfiel. Erſt der Theil der Achäer, der nad) der Argo 
auswanderte, bat diefe Gliederung angeommen. Die Dymanen ſtamm 
wie ihr Name jagt, aus dem achäiſchen (?) Dyme; die Hylleer aus irge 
einem verjhollenen Gau; die Pamphyler find, wie wieder der Name fo 
Leute aus verjdiedenen Bauen, die fih zu dem Buge zufammengeihlof 
haben. 





222 J. Belodh, 


Mittelgriechenlands, Böotien und Attifa, haben ihr altes Bol 
thum behauptet. Von Attila haben die „Dorier“ nur die Me 
ris abzureißen vermocht. Der böotiſche Dialekt iſt allerdings ı 
doriſchen Elementen ſtark beeinflußt worden, aber das fann e 
Folge der Nachbarichaft fein und zwingt noch feinegwegs zu 
Annahme, daß „doriiche* Bevdlferungselemente in dieſe Laı 
Schaft eingedrungen find. Theſſalien jol, der Sage nad), ei 
von epeirotifchen Stämmen erobert worden fein; es fehlt u 
aber bei unjerer Unfenntnis des Dialefts, der in älterer Zeit 
Epeiros gejprochen wurde, jedes Mittel, um zu beurtheilen, n 
weit diejer Sage etwas Gejchichtliches zu Grunde liegt. Wa 
iheinlih Handelt es Sich bloß um einen Verſuch, zu erflär 
warum die Zandichaft, die bei Homer „pelasgijches Argos“ hei 
in biftorifcher Zeit den Namen Thejjalien führt. 

Das etwa ergibt fich, wenn wir den Verfuch wagen, ı 
Grund unjerer gegenwärtigen Kenntnis der griechifchen Diale 
den Echleier zu lüften, der die Anfänge der griechiichen Geſchic 
verhüllt. Ich möchte aber hier noch einmal betonen, wie unfid 
diefe Ergebnifje nothwendig fein müſſen; wahrjcheinlich iſt 
Prozeß der Schichtung der griehiichen Stämme, und damit 
Dialektbildung viel fomplizirter geiwejen, als wir mit unſe 
Mitteln zu erfennen im Stande find. Ein Blick auf die ( 
Ihichte der Wanderungen der germanischen Stämme mahnt ı 
zur Vorficht; freilich liegen die Probleme auf griechiichem Gebi 
infofern einfacher, al® bier durch die Natur des Landes i 
Wanderungen zum großen Theil ihre Richtung vorgezeichnet w 
Vielleicht aljo, daß wir jpäter einmal weiter fommen, wenn 
Funde von Dialektinschriften fic) mehren und eine ©enerat 
berangewachlen jein wird, die ſich frei gemadt bat von T 
Slauben, aus den Mythen den „hiftoriichen Kern“ herausſchä 
zu können. 

Schon jegt beginnt diefer Glaube zu wanfen. Dan gla 
zwar noch an die Sagen, aber es ift nicht mehr der naive Gla 
wie einst, vielmehr ift man bemüht, das uns von den Genealo: 
und Logographen überlieferte Bild der griechifchen Urgeſchi 
durch Beweife zu ftügen. Man gibt dabei wohl auch die Aut 


Zur griehiihen Vorgeſchichte. 223 


werfe der Stellung auf, um nur den Kern zu vertheidigen. 
Dieſer Kern aber ift die Sage von der Rüdfehr der Herakliden, wie 
die Alten jagten, von der „doriichen Wanderung”, wie es heute 
heißt. Und auch der Sag, daß ein Mythos, dem man das 
Mythiſche abftreift, deswegen noch lange nicht zur Gedichte 
wird, wird in der Theorie von nicmand beftritten. Aber Theorie 
und Praxis find ja befanntlich zwei ganz verjchtedene Dinge. 
Und fo läßt man denn die Herafliden fallen, aber ihre Dorier 
it man noch immer nach dem Peloponnes ziehen, jo und jo 
viele Generationen nach dem troijchen Sriege, und die Dialekte 
iollen dann den Beweis für die Sache geben. Denn daß alle 
anderen Beweiſe nichts helfen, beginnt man denn doc) nachgerade 
zu begreifen!). Dabei aber wird eines überjehen, eben die Haupt- 
tache: daß die Tialefte wohl den Beweis geben können, dat 
anmal eine Einwanderung mittelgriechiicher Stämme in den 
Beloponnes ftattgefunden hat, nicht aber, wann fie erfolgt üt. 
Und gerade das iſt der Punkt, auf den e3 allein anfommt. 
Daß in der halbnomadischen Vorzeit zahlloſe Stammverjchiebungen 
in Griechenland vorgegangen jein müffen, ift ja von vornherein 
far, und es liegt jehr wenig daran, diefe Bewegungen im ein- 
zelnen zu verfolgen; hiſtoriſch wichtig ift allein die Frage: ift 
Griechenland noch am Ende der myfenäifchen Periode von einer 
„Bölferwanderung“ erfchüttert worden? Zur Beantwortung dieſer 
Stage einen Beitrag zu geben, war der Hauptzweck der vor: 
tehenden Bemerkungen. 


— — — —— 


1) Näheres darüber in meinem Aujjag über die doriſche Wanderung, 
Rein. Muf. 45 (1890), 555 ff. Die feitdem in Mykenä und Ügypten 
gemachten Funde machen es wahrſcheinlich, daß die Blütezeit der mylenäijchen 
Lultur in Griechenland einige Jahrhunderte höher Hinaufzurüden ift, als ich 
damals angenommen Habe; e8 kommt darauf wenig an, denn in der Prä—⸗ 
hiſtorie ſind die Jahrhunderte billig. 


Neuere Forſchuugen zur fränkischen Nechtögeichichte')- 
Bon 
Richard Schröder. 


Il. 

Die Literatur über die fränfische Zeit hat inzwiſchen dur« 
Walther Schulte eine erfreuliche Bereicherung erfahren 
Je weniger wir und mit dem eriten, von dem Berfafler 1 
Gemeinſchaft mit Oscar Gutſche herausgegebenen Bande B 
freunden fonnten, der in unerlaubter Hüyperfritift alle ve 
Tacitus kommenden Nachrichten mit Mibtrauen behandelt um 
das ficherite Fundament unferes Wiſſens bei Ceite ſchieben 
jih mit Vorliebe auf die zum Theil ſehr wenig beglaubigt« 
Ergebniffe der vergleichenden Rechts- und Sprachwiſſenſcho 
jtügt, um jo rüdhaltlofer fünnen wir dem das merowingije 
Frankenreich behandelnden 2. Bande unjere Anerkennung ars 
jprehen. Die Darjtellung geht von großen Gefichtspunft« 
aus und iſt durchweg Kar, anichaulid und lebhaft. D: 
Principien der „Bibliothek deutſcher Geſchichte“ entfprechend ſin 
den einzelnen Ausführungen feine wiſſenſchaftlichen Begründung, 
beigefügt, man erfennt aber auf Schritt und Tritt die gewiſſe 
bafte Benugung der einschlägigen Literatur und die felbftändt 


1) Bgl. Hift. Ztfchr. 78, 193 fi. 

2) Deutſche Geichichte von der Urzeit biß zu den Karolingern. BD- 
Das merowingiſche Frankenreich. Bon Walther Schule. Stuttgart, 3- 
Cotta. 1896. 





226 N. Schröder, 


Eine der wichtigiten Streitfragen aus dem Gebiete des 
fränkiſchen Staatsrechts betrifft das Verhältnis der Reichsgeſetz 
gebung zu den Volksrechten. Die herrichende, von Boretius und 
Sohm begründete Anficht, der ſich, wenn auch im Einzelnen 
nicht jo weit gehend, auch Brunner angejchlofien hat!), unter— 
Icheidet befanntlich innerhalb der Neichdgejete, abgejehen von der 
als reine Beamteninftruftionen verjtandenen capitula missorum. „ 
die der Zuftimmung der Stammesbevölferung bedürftigen cap — 
tula legibus addenda und die ausſchließlich auf königlicher Mach - 
vollfommenheit beruhenden capitula per se scribenda. Nu r 
die erjteren waren auch für die mit Urtheilern aug dem Vol Ee 
bejegten Gerichte maßgebende Rechtsnormen; ihr Inhalt war 
Volksrecht, alſo Etammesrecht, und ſtand unter dem Brincip Der 
perjönlichen Rechte. Dagegen hatten die capitula per se scri- 
benda territoriale Geltung, im Zweifel für da8 ganze Reich 3= 
gebiet, aber ihre Durchrührung beruhte einzig auf der AmtS= 
gewalt des Königs und jeiner Beamten, jet es im Wege der Ber- 
waltung oder im Wege der Rechtiprehung des Königsgeridts. 
des miffatiischen Gerichts, oder wo, wie in Italien, cin fünig= 
licher Beamter als jelbiturtheilender Richter da8 Recht zu finder 
hatte. Dem Volksrecht jtand das Amtsrecht als reined KönigS= 
recht gegenüber. 

Diefe Unterjcheidung will Dahn, dem Schulge (S. 394) ſich 
anjchließt, nicht gelten laffen. Den Gegenjaß zwijchen den capı- 
tula legibus addenda des Stammesrecht3 und den capitula 
per se scribenda des territorialen Reichsrechts findet er viel- 
mehr weſentlich auf dem Gebiete des formellen Geſetzesbegriffs. 
Stammedrecht zu jchaffen oder zu brechen vermochte der König 
nur im Wege ordnungsmäßiger Gejeggebung, d. h. unter Zu 
ſtimmung des Neichdtages oder einer Stammesverjammiung, 
während er im Übrigen ein freies Verordnungsrecht beſaß, dad 


Stammes in Frage gefommen jeien, halte auch er das Brincip ber perjſön⸗ 
lichen Rechte für uralt. 

1) Bol. audı W. Sidel, Gött. gel. Anz. 1890 S. 234 ff.; Weitdeutick 
Beitihr. 15, 132. Hübner, Gött. gel. Anz. 1894 Nr. 10. Mühlbacher. 
Deutſche Geichichte unter den Karolingern ©. 263, 





Neuere Forſchungen zur fränkiſchen Rechtsgeſchichte. 227 


er nach Belieben mit oder ohne Mitwirkung ſeiner Großen aus- 
üben mocdhte'). Aber bindende Rechtönormen für jämmtliche Ge- 
richte, gleichviel ob Beamte oder Männer aus dem Bolfe das 
Urtheil fanden, waren die füniglichen Verordnungen ebenjo gut 
wie die volfsrechtlichen Gejege; beide enthielten Stönigsrecht, ein 
Gegenſatz zwiſchen Volksrecht und Amtsrecht war nicht vor 
handen?) Auch daB das Königsgericht ein Billigfeitägerichtshof 
geweſen jei, wird von Dahn in Abrede gejtellt?). 

Bekämpft hat die erwähnte Eintheilung der fränkiſchen 
Heicögeiege bejonderd Seeliger (SKapitularien der Sarolinger, 
1393). Buzugeben iſt demjelben, daß die Scheidung der ge 
maannten Stategorien auch unter den SKarolingern, unter denen 
nad Seeliger überhaupt erit eine Neigung in diefer Richtung 
Hexvortreten joll, nie konſequent durchgeführt worden ift. Viel— 
Tach find die königlichen Erlaffe gemischter Natur, enthalten 
Meihöreht und Volksrecht neben einander, und namentlic) in den 
CS zapitula missorum finden fi häufig neben bloßen amtlichen 
U nweifungen die verjchiedenartigften füniglichen Sagungen, deren 
BB utlifation und, wo es Noth that, auch die Überwachung ihrer 
Durchführung zu den Obliegenheiten der Königsboten gehörte. 
Seeliger gibt zu, daß man fich in der Slarolingerzeit eines ge: 
Wiſſen Gegenfages zwijchen lex und capitulare bewußt geweien 

Si und denfelben auch hie und da in der Anordnung der Geſetze 
Arıd der Art ihrer Publikation zum Ausdrude gebracht habe, aber 
Die Zuziehung von legislatores ans dem Stamme, defien Volks— 
Techt geregelt werden jollte, habe nur praftiiche und keineswegs 
vVerfafjungsmäßige Gründe gehabt. Von einer Zuftimmung des 
Volkes, jei es in befonderen Stammesverjammlungen, oder an 
den einzelnen Dingjtätten, fei nie die MNede gewejen; was man 
in diefer Richtung gedeutet habe, ſei theils auf die Fürſorge für 


ı) Könige der Germanen 7, 2,31 fi. 41}. 3, 417. 529. 579. Deutjche 
Geſchichte 1, 2, 648 f. Ähnlich Befeler, Über die Rechtskraft der Kapitularien 
(Feſtgaben für Homeyer, 1871). 

2) Könige 7, 2, 37 fi. 43. 87. Deutſche Geſchichte 1, 2, 561 fi. 642 ji. 
So aud, aber in etwas unflarer Weije, Schulpe ©. 395 ff. 

>) Könige 7, 3,531. 


228 R. Schröder, 


gehörige Publikation der Gejege, deren Befolgung man zuweilen 
noch durch bejondere Anerfennungzafte von Seiten der Bevöl⸗ 
ferung zu fichern fuchte, theils auf die bloße Zuftimmung der- 
Großen zu beziehen. Denn diefe Zuftimmung war nad See— 
liger auf dem Gelammtgebiete der Geieggebung, ohne daß mare 
zwiichen Reichsrecht und Volksrecht unterjchieden Hätte, verfaſſungs — 
mäßig nothwendig. Ter fränfiiche Reichstag war als Rechts — 
nachfolger der früheren Stammesverjanmlung zu einem ven-=- 
fafjungsmäßigen Faktor der Gejeggebung geworden. 


Diejer Auffaſſung des Reichstages ale eincd Organs de 
Staates oder des Volkes tritt v. Amira, wenigitens ſoweit 8 
ſich um die Zeit vor Ludwig I. handelt, mit Entidhiedert- 
heit entgegen. Höchitens laſſe fich jeit den SKarolingern einze 
gewilfe Tendenz, das Volk mehr an der Gejeggebung zu Be— 
theiligen, erfennen, aber der Reichstag jei nur ein Organ Des 
fränkiſchen Königs gewejen, dein von Anfang an das alleinige 
Recht der Gefeggebung zugeitanden habe!). In diejer Beziehung 
babe auch zwilchen reichs- und volfsrechtlichen Satzungen fein 
Unterfchied bejtanden, den Ausführungen Seeliger's in dieſer 
Richtung jei durchaus beizuftimmen, ja man habe die volfärecht- 
lihen Saßungen, weit entfernt fie über die reichSrechtlichen zu 
jtellen, jogar als die minderwerthigen betrachtet ?). 

1) Ebenſo v. Sybel, Entftehung des deutihen Königthums ©. 361 fl. 
und für die merowingiſche Zeit W. Sidel, Die merowingifche Volksverſamm⸗ 
lung ©. 27 fi. 

») Die befannte Beſtimmung des Diedenhofer Kapitulars vom Oftober 
821 (nad Eeeliger, a.a. O. ©. 55) über die Capitula legis Salicae von 
820 (Boretiuß 1, 295 c. 5): ut capitula, que praeterito anno legi 
Salicae per omnium consensum addenda esse censuimus, iam non 
ulterius capitula, sed tantum lex dicantur, immo pro lege teneantur, 
ſoll nad) Bejeler, a. a. D. ©. 12, dem Amira beiftimmt, in einfchräntendem 
Sinne verjtanden werden, was aber wegen des in immo liegenden Gedantend 
der Steigerung fpradjlih unmöglich if. Ohne den Worten Zwang anzuthun, 
kann man fie nur dahin erklären, daß die genannten capitula fernerhin nit 
mehr als Kapitulare, jondern nur al® ‚lex‘ bezeichnet, ja felbft unmittelbar 
al8 lex (d. h. als integrirender Theil der Lex Salica) beobachtet werden 
jollten. 








230 N. Schröder, 


zu Stande gefommen, von denen das fünfte (Köln c. Sn 
in das Jahr 595, aljo das Ickte NRegierungsjahr ChHildebert' 
zu ſetzen ijt?), demnach das erjte (Andernady, c. 1) wohl in do 
Jahr 591, dag zweite, unbenannte (in sequenti, c. 2) in 592, da 
dritte (Maestricht, c. 3) in 593, das vierte, unbenannte (c. 4) 
in 594. Als zuftimmend werden bier nur die Großen genanrzt 
(una cum nostris optimatibus pertractavimus, — conven xt 
una cum leodos nostros); daß aber damit keineswegs gejagt if t, 
das auf dem Märzfelde mitanmwejende Volf habe an der ganzen 
Berhandlung überhaupt nicht Theil genommen, ergibt fi aux 
einem Vergleiche mit dem Edift Liutprand’8, bei welchem in Den 
Protofollen zu den meilten Märzfeldfagungen ebenfall® nur Der 
Großen gedacht, in dem Protofoll der Sagung von 713 aber 
ausdrüdlich hervorgehoben wird: pridiae Kalendarum Maar- 
tiarum — — una cum omnibus iudieibus — — vel cun 
reliquis fedelibus meis Langobardis, et cuncto populo adsis- 
tente, und ähnlich 720: diae Kalendarum Martiarum — — una 
cum inlustribus veris obtimatibus meis — — vel universis n0- 
bilibus Langobardis, — — —asistente omni populo. Die Stel: 
lung des Volfes gegenüber den Großen wird bei der Märzield- 
geſetzgebung Liutprand’s und Childebert’3 II. diejelbe wie bei 
dem Edikt Chilperich’3 gemejen fein, d. h. feine aktive Theil 
nahme an den Berathungen, jondern eine mehr oder weniger 
paſſive, aber darum keineswegs überflüffige Aſſiſtenz, eine Ent: 
gegennahme der gefaßten Beichlüffe unter ſtillſchweigender Erthei- 
lung der Vollbort. Sollte ed denn in den Landesverſammlungen 
der germanijchen Urzeit viel anders geweſen fein? Der Unter 
ichied dürfte docdy nur darin gefiinden werden, daß in alter Zeit 
die VBollbort durch das Zuſammenſchlagen der Waffen (väpnatak, 
gairthing) zu lebendigem Ausdrucke gebracht werben mußte, was 
man noch bei dem Edift des Nothari von 643 glaubte bejonder? 





1) Die jaljhe Datirung bei Boretius rührt von dem handidriftlid arg 
entſtellten Schlußfaße ber, der nur in dem Leidener Cod. Voss. (10) ridtig 
dahin überliefert ift:. Data sub die kal. Marcias anno XX. regni 
domni nostri, Colonia feliciter. gl. Kruſch, Mon. Germ. Seript- 
rer. Merov. 2, 577. 





Neuere Forſchungen zur fränfiihen Rechtsgeſchichte. 231 


betonen zu müffen: addentes quin etiam et per gairethinx 
secundum ritus gentis nostrae confirmantes, ut sit haec lex 
firma et stabelis?). 

Ander® mag es bei dem Pactus pro tenore pacis vou 

SE Hildebert I. und Chlothar I. (Boretius, a.a.D. 1, 3) geweien 
dein. Auch Hier deutet die Ausdrucksweiſe (deeretum est ftatt 
Qecrevimus) auf eine Verftändigung mit den Großen hin, c. 14 
zuummt auf eine joldhe mit den Bilchöfen Bezug und der Text 
Des Leidener Codex Voss. enthält (c. 1) die Worte: decretum 
est apud nos maioresque natus Francorum palacii proce- 
rum?), aber das Ganze trägt nicht den Charakter einer volfe- 
rechtlihen Sagung und der Schlußſatz, welcher die das Geſetz 
nicht befolgenden Richter mit der Todezitrafe bedroht, erweckt, 
zumal wenn man den überwiegend romanijchen Charakter des 
von beiden Königen beberrichten Gebietes in Betracht zieht, eher 
ven Eindrud einer nur kraft Föniglicher Machtvollfommenheit ein- 
geführten und durchgeführten Nechtsänderung?). 

Dat die Könige des 6. Jahrhunderts oft genug ihr ein- 
jeitiged Verordnungsrecht in willfürlicher Weile ausgeübt haben 
müſſen, ergibt ſich aus den verfafjungsmäßigen Schranfen, welche 
demjelben durch das Edift Chlothar’3 II. von 614 (Boretius 1, 20) 
und die wohl etwas früher erlafjene Praeceptio desjelben Königs 
(ebenda 1, 18) gejegt wurden‘). 





2) Bol. meine Ausführungen in der Zeitſchr. f. Rechtsgeſch. 20, 53 ff. 
(germanift. Abteilung). 

2) Vgl. Amira, Gött. gel. Anz. 1888 ©. 58. Dahn, a. a. X. 7,2, 33. 

») Die entiheidenden Gründe für die Urheberſchaft Childebert’8 I. und 
Chlothar's I. an diejer Gejeggebung habe ich bereit? in der Monatsſchrift f. 
d. Geichichte Weſtdeutſchlands 6, 479 f. hervorgehoben. Sie werden al® neu 
wiederholt von Dahn, a.a.C. 7,2, 36, dem meine Ausführung entgangen iſt. 

) Das Edikt c. 13 beitimmt: Praeceptionis nostrae per omnia 
impleantur et quod per easdem fuerit ordinatum, per subsequentia 
praecepti nullatenus annullatur nec de palatio nostro tales prae- 
ceptionis requirantur. Wenn die in der Handichriit fchwer lecbare Stelle 
von Boretius richtig entziffert ift, können die Worte praeceptionis nostrae 
nit auf alle füniglihen Verordnungen, fondern nur auf die Praeceptio 
Chlothar's II. bezogen werden. Dieſe, die ſich felbit als generalis auctoritas 


232 NR. Schröder, 


Königliche Verordnungen, auch die fchon früher ergangenen 
Erlaſſe Chlothar’3 Il. und feiner Vorgänger im Reiche, follten, jo« 
weit fie per iustitia oder cum iustitia et lege competente zu 
Stande gefommen waren, und nur unter diefer Vorausſetzung, 
Geltung haben und durch feine ungejeglichen neueren Werord- 
nungen (subsequentibus auctoritatibus contra legem elecitis> 
wieder aufgehoben werden dürfen (Ed. c. 16, Präc. c. 9). Gegen 
das Geſetz (contra legem) erjchlichene Verordnungen wurden für- 
fraftlos erklärt (Präc. c. 5). Die Richter follten nur nad) der 
antiqui iuris norma entjcheiden, alle gegen Gejeg und Billig= 
feit ergangenen Urtheile (quae modum leges adque acquitatis- 
excedit) nichtig fein (Präc. c. 1). Das Erbrecht jollte nu 
juxta legem geregelt werden, dem föniglichen Verordnungsrechte 
alio dauernd entzogen bleiben (Ed. c. 6, Präc. c. 2). 

E3 würde unrichtig tein, wenn man unter den leges de 
Edikts und der Praeceptio ausſchließlich die volksrechtlichen 
Sejege verjtehen wollte, denn nicht nur das ungefchriebene Volks⸗ 
recht fiel mit unter diejen Begriff!), auch das Edikt, das als 
Reichsgrundgeſetz (edietum perpetuis temporibus valeturum) 
erlaffen wurde, war damit jeder einjeitigen Abänderung durch 
den König entzogen und dasjelbe muß, wenn wir c. 13 des Ediftd 
richtig ausgelegt haben, von der Bräceptio angenommen werden. 
Auf diefen Gebieten konnte eine Neuregelung nur im Wege der 
verfaffungsmäßigen Geſetzgebung erfolgen, und wenn auch die 
dem föniglichen Verordnungsrechte gezogenen Schranfen oft genug 
unbeachtet geblieben fein mögen?), prinzipiell ijt der Standpunkt 
auch unter den Sarolingern derjelbe geblieben. 


bezeichnet hatte, wurde nunmehr für einen integrivnden Beltandtheil des 
Edikts von 614 erklärt, jo daß ihr weder durd die Beftinnmungen des lepteren, 
noch aud) durch jpätere königliche Verordnungen derogirt werden jollte. 

1) Dahn, a. a. O. 7, 2,33 wirft Sohm und mir vor, quellenwidrig 
zwijchen pactus (al® ius scriptum) und lex (al® ius non scriptum) zu 
unterjcheiden. Das beruht auf einem Mißverſtändniſſe: nur wo die Quellen 
jelbft einen Unterfchied machen, wie in dem Würzburger Sendrecht, iſt dieler 
Segenjag von ung, und zwar mit vollem Rechte, angenommen worden. 

2) Der wahricheinlid unter Dagobert I. entitandene Theil der Lex 
Ribuaria ſetzt (Tit. 65 8 1), in Übereinftimmung mit dem Edit don 614, 





234 R. Schröder, 


auf cine ihm ausgeſprochene Bitte erlaſſen habe)). Höchſtwahr— 
icheinfich war dieſe Bitte von dem ribuarischen Volle ausgegangen 
aber wir erfahren nicht, durch welches Organ das Volk feiner 
Wunſch geäußert hatte. Nicht anders fteht eg mit den Capitul= 
legis Salicae von 820°), deren Beitimmungen ſich ſämmtlich al 
Weisthum zu erkennen geben, meijten® mit der Bemerfung, 

iudicaverunt omnes, oder: iudicatum est ab omnibus. Au 
einem Reichstage kann die Verhandlung nicht ftattgefunden habenn 
denn bei c. 7 wird ausdrüdlic eine Verhandlung mit dem Haile 
vorbehalten: ad interrogationem domni imperatoris reservarre 
voluerunt. Offenbar hat man c3 mit den Beichlüffen eimeı 
größeren Verfammlung zu thun, vielleicht eines miſſatiſchen 
Landtags; auch an übereinftimmende Bejchlüffe der einzelnen 
Zandgerichte oder bejonderer, auf denuntiatio regis berufenen 
Graffchaftsverfammlungen ließe ich denfen, nur die Annahme 
einer faliihen Stammesverfammlung erjcheint undenkbar. Das 

Weisthum hatte dann auf einem uns unbefannten Reichstage 

des Jahres 820 die reichdgejegliche Genehmigung erhalten und 

wurde auf dem Diedenhofer Neichdtage vom Oktober 821 für 

einen integrirenden Bejtandtheil der Lex Salica erflärt?). 

Dieje Erhebung eines Volksweisſsthums zu einem Stapitulare 
und des Sapitulare® zur Lex muß doch, wie überhaupt die 
Unterjcheidung der capitula legibus addenda von den capitula 
per se scribenda, eine innere Bedeutung gehabt haben, die 
ebenſowohl in der Verjchiedenartigkeit ihrer Rechtswirkung, wie 
in der verjchiedenen Art ihres Zuſtandekommens gefucht werden 
muß. Nur bei der volfsrechtlichen Geſetzgebung auf den Reid: 
tagen wird neben den Großen des Reiches wiederholt auch der 
Anwejenheit des Volkes ausdrüdlich gedadt. So in den Ein 
gangsworten de8 Lex Baiuwariorum: Hoc decretum apud 
regem et principibus eius et apud cuncto populo christiano 
qui infra regnum Mervungorum consistunt, in dem berühmten 





1) Boretius 1, 118, Note 9: Sicut petierunt, ita domnus imperator 
vonsensit. . 
2) Boretiug 1, 292. Vgl. oben S. 228 Anm. 2. 
2) Bol. S 228 Anm. 2. 


Neuere Forſchungen zur fräntiihen Rechtsgeſchichte. 285 


Berichte der Lorſcher Annalen über den Aachener Reichstag von 
802 2) und in der Vorrede zu den Capitula legibus addenda 
von 819°), Beſonders beachtenswerth aber ift das Protofoll 
des Capitulare Saxonicum von 797 (Boretius 1, 71): con- 
venientibus in unum Aquis palatii in eius [sc. Caroli regis] 
obsequio venerabilibus episcopis et abbatibus seu inlustris 
viris comitibus — — —, simulque congregatis Saxonibus de 
diversis pagis, tam de Westfalahis et Angariis quam et de 
Öostfalahis, omnes unianimiter consenserunt et apti- 
ficaverunt, ut etc. Weiter heißt e8 bei den einzelnen Kapiteln: 
‚Omnes statuerunt et aptificaverunt‘, ‚placuit omnibus Saxo- 
Wibus‘, ‚statuerunt‘, ‚convenit‘, ‚placuit‘, ‚placuit omnibus‘. 
Es ergibt fich, daß ein nur von den Großen bejuchter Reichstag 
für die volfsrechtlihe Gefeßgebung feine Zuftändigfeit bejaß, 
Tondern daß dazu die Anwejenheit des Volkes, d. h. Die den 
alten Märzfeldern eigenthümliche Verbindung des Reichstages mit 
einer Heceresverfammlung, erforderlich) war, wobei die von den 
einzelnen Stämmen gejtellten Aufgebote, mochten fie vollzählig 
jein oder nicht, al3 das verfammelte Volk des Stammes angejehen 
wurden’). Die Betheiligung diefer Aufgebote bei der Geſetzgebung 
fann nur in derjelben Form wie auf den alten Märzfeldern ge: 
dacht werden (vgl. ©. 230). 


1) Boretius 1, 105: congregavit duces, comites et reliquo christiano 
populo cum legislatoribus, et fecit omnes leges in regno suo legi, et 
tradi unicuique homini legem suam, et emendare ubicumque necesse 
fuit, et emendatam legem scribere. 


2) Ebenda 1, 250: cum venerabilibus episcopis et abbatibus atque 
comitibus vel cum reliquo populo. 


2) Bol. auh Brunner 1, 126. 382. Der befannte Ausiprud des 
Edictum Pistense von 864, c. 6 (Boretiusg — Krauſe, Capitularia 2, 313): 
Lex consensu populi et constitutione regis fit hat wohl nur nod die 
Mitwirtung des Reichdtages, ohne eine Berheiligung des Volkes, im Auge, 
obwohl es fih um eine Fortbildung de3 volksrechtlichen Gerichtsverfahrens 
handelt. Übrigens enthält der Ausſpruch, wie neuerdings Havet nachgemiejen 
bat (Melanges Havet 1395 S. 662. 673), eine aus Iſidor's Etymologien 
entlehnte Phraſe (vgl. Sidel, Bött. gel. Anz. 1896 S. 281. Dahn, a. a. O. 
7,2 41 Anm. 1). 


236 R. Schröder, 


Daß der König nur auf diefem Wege das VBolksrecht zıx 
ändern vermochte, zeigt fich deutlich an der Behandlung der 
Bannbupe?). Die befannten acht Bannfälle mit der hergebrachtern 
Bannbuße von 60 Solidi wurden durd) cap. 1 des beſprochenern 
Kapitulares von 797 in das ſächſiſche Volfsrecht aufgenommerz _ 
Offenbar hatte der König, und zwar nicht bloß von den af 
dem Reichstage anwejenden Sachſen, jondern auch von den Frankern, 
die Ermächtigung verlangt, in beſonders jchiweren Fällen eine 
Erhöhung der Buße eintreten zu lajjen (bannum fortioremm 
statuere); er war aber damit nicht durchgedrungen, jondern 
mußte ſich zur Zeit mit der nichtsjagenden Bejtimmung begnügen, 
daß eine derartige Erhöhung einer ſpäteren volksrechtlichen Ge- 
jeggebung (una cum consensu Francorum et fidelium Saxo- 
num) vorbehalten bleibe (c. 9). Erreicht wurde das Biel theil- 
weife unter Ludwig I. durch die Capitula legibus addenda 
von 819 (Boretius 1, 281), welche dem Könige für bejtimmte 
Fälle eine Verdreifachung der Bannbuße (c. 4, 5), bei Mikachtung 
eines fchriftlichen königlichen Befehls aber das Necht arbiträrer 
Beitrafung (c. 16) gewährten. 

Ähnlich wie mit der Bannbuße jtand es mit dem Fehderecht, 
das von den Sarolingern im Wege der NReichögefeggebung auf 
das entichiedenjte befämpft wurde, aber nicht auszurotten war, 
weil das Volksrecht es fefthieht und die Zuſtimmung des Volkes 
zu völligem Verbote der Fehde offenbar nicht erreicht werden 
fonnte?). Nur einzelne Auswüchje der Fehde, wie Heimjuchung 
und Brandftiftung, wurden aud) volfsrechtlich unter Strafe ge 
jtellt, der Kreis der von der Fehde ergriffenen Verwandten wurde 
eingefchränft, der Umfang der die Fehde ausjchließenden Ungefähr: 
werfe einigermaßen erweitert; im übrigen ſahen ſich die Könige 
bei allen zur Erzwingung eines Sühnevertrage® unter den geg- 
neriichen Parteien ergriffenen gejeggeberiihen Maßregeln ou 
adminijtrative Zwangsmittel beichränft?). 


1) Bol. Brunner 2, 36. 

2) Bol. Brunner 1, 221. 2,527 fi. Sohm, Reiche u. Ger.⸗Verf. 514 T- 

3) Vgl. Boretius 1,51 c. 22. 97 c.32. 123 c. 5. 284 c. 13; 2, u > 
c. 7. 20 c.8. 86 c.3. 





238 R. Schröder, Neuere Forihungen zur fränfifhen Rechtsgeſchichte 


im übrigen berubte ihre Durchführung, obwohl die Fronung 
für eine Reihe von Fällen durch Königliche Verordnung vor— 
geichrieben war!) und namentlich in Fällen der Snfidelität An—. 
wendung fand?), ausjchlieglich auf der Amtsgeiwalt der Organe 
des Königs. Erſt durch die Aufnahme in die Capitula legibuss 
addenda von 816 und 819 wurde die Fronung auch für di — 
Bollögerichte zu einem gejeglichen Zwangsmittel erhoben?) 


1) Ebenda 1,97 c. 32. 98 c. 36—38. 

?) Vgl. Brunner 2, 64. 460. 

5, Boretius 1,268 c. 4 f. 288 c. 11f. Brunner 2, 458. Über &>ie 
erite praftiihe Anmendung in einer alamannifhen Urkunde vgl. Hübner, 
Der Immobiliarprozeß der fräntiichen Zeit S. 235. 


lziſche Politik und die böhmiſche Königswahl 1619. 
Bon 
Mori; Witter. 


“ vorliegende Abhandlung wird feine bejonders reichen 
ıngen aus ungedrudten Schriftjtüden bringen. Vorzugs⸗ 
if gedrudtem Material fußend, jol fie durch jchärfere 
desfelben feſtſtellen, was wir zur Zeit willen können, 
) welchen Richtungen die Forſchung weitere Ergebniſſe 
ı bat. Ihr Gegenstand iſt der Verlauf der Verhandlungen, 
ur Berufung des Kurfürften von der Pfalz auf den 
en Thron führten. Ohne in den tiefer liegenden Zu—⸗ 
ang einzudringen, will ich die unmittelbar gegebenen That: 
3 welchen jener Verlauf fich zujammenfeßt, genauer dar- 
tuchen. Beginnen werde ich demgemäß mit der Trage: 
ıd mie ijt in den Beziehungen zwiſchen den pfälziichen 
ännern und den aufftändiichen Böhmen die Abficht, die 
it des Hauſes Ofterreich zugunften des Kurfürften Fried— 
. abzuwerfen, zuerjt zum Augdrud gelangt? 

von dem Beginn des böhmijchen Aufſtandes (23. Mai 1618) 
Tode des Kaiſers Matthias (20. März 1619) die böhmi— 
ände und Directoren in ihren Öffentlichen Erklärungen 
die Bertheidigung des Majeftätsbriefs und der Landes: 
[8 Zweck des Aufſtandes angaben, jo liegt es in der 
er Sadje und wird durch die Thatjachen bejtätigt, daß 
ter gehenden Abjichten zunächjt nur don dem verwegnern 


240 M. Ritter, 


Führern der Bewegung gefaßt und nur im geheimen geäußert 
wurden. Gelegenheit zu dem geheimen Austaufch derartiger 
Pläne mit den Prälzern bot fich im Juni des Jahres 1618, deu, 
als Bertrauensmann eines Teiles!) der Directoren, Balthaſar 
von Schlammersdorf am pfälziichen Hof ericjien, im Juli des 
jelben Jahres, da, al3 Gefandter der pfälziichen Regierung, Der 
Großhofmeiſter Graf Albredt von Solms in Prag eintraf, im 
November, da, als Abgeordneter des Fürſten von Anhalt, Der 
jelber nach Aufträgen des pfälziichen Kurfürften verfuhr, Achatius 
von Dohna in Prag erjchien?), und endlih im Januar des 
Sahres 1619, da derjelbe von Dohna fich, mit einer Inftruction 
Friedrich's V. verjehen, zum zweitenmal dort einfand. Sucht 
man nun im Hinblid auf diefe Beziehungen und an der Hand 
der zur Zeit maßgebenden Darftellung Gindely's nach beitunmten 
die Abficht des Thronwechfels verrathenden Äußerungen, fo findet 
man einen erften Belcg, in Gejtalt eines von böhmifcher Eeite 
kommenden Angebotes, im November 1618, cinen zweiten 
in Geftalt der pfälzifchen Entgegnung auf dieſes Angebot, im 
Dezember desjelben Jahres’). Daß aber in Wirklichkeit die An- 
regungen weiter zurückgehen, lehrt eine längft gebrudte, aber nicht 
genügend verwerthete Notiz. 


ı) Sindely, Geſchichte ded Dreibigjährigen Krieges 1, 353. 

2) Nach Dohna's Relation vom 27. November (Münchener Staat 
bibliothel. Collectio Cameraria t. 47. Bgl. Kurpfalz an Anhalt, 1618 
Oktober 20. Anhalt’ Inſtruktion für Dohna, Oktober 28.) traf er am 
2. November in Prag ein. Krebs (Chriſtian von Anhalt und die kurpfälziſche 
Volitit 5.65 Anm. 2) führt Briefe Dohna’s aus Prag vom 25. September 
(a. St.?) und folg. an. Sie müflen von einer diefer erſten @ejandtidalt 
vorauögehenden Reiſe herrühren. 

>) 1, 445. 447. Nur als jubjeftive Meinung erjheint es, wenn 
Gindely den Kurfürften riedrih von Anfang an den „feurigiten Wunid“ 
nad) der böhmischen Krone hegen läht (S. 354). Nur in einer ſehr weit 
zurüdgreifenden Entwidiung könnte e8 aud) berüdjichtigt werden, daß bei 
der Vermählung Friedrich's V. mit Elifabetd von England (1613) von 
Schönberg und vielleicht nocd anderen Pfälzern damit geprahlt wurbe, daß 
ihrem Fürſten noch einmal eine Königskrone, fei es die von Böhmen, fei es 
die von Polen, zufallen dürfte (Chamberlain, 1613 Januar 19, bei Bin 
wood 3, 421. Gutachten des Spanischen Staatsraths, 1618 April 24., bei 
Gindely 1, 186 Anm. 2.). 





242 M. Ritter, 


verdanfen wir lediglich einer vom Verfafjer für fich jelber nadh- 
getragenen Notiz. Der Grund des Schweigens hier wie dort 
liegt in der ngftlichfeit der pfälziichen Regierung, welche nichts 
von diefen Dingen der Feder vertraut wifjen wollte. 

Diefelbe Angftlichfeit offenbarte fidy noch in einer andern 
Seite der Verhandlung. Wie man nah dem weitern Verlauf 
derjelben annehmen muß, hatte Solms feine auf den Sturz der 
Öfterreichifchen Herrfchaft abzielenden Vorſchläge nicht als Auf: 
träge feines Kurfürjten, ſondern al3 private Meinungsäußerungen 
vorgebracht. Dies ermöglichte e8 der pfälzischen Regierung, die 
Wirkung folder Anregungen in tiefem Schweigen abzumarten; 
ja als nad) vier Monaten die Wirkung in Geftalt jenes Angebots 
der böhmischen Krone hervortrat, wartete der Kurfürft nochmald 
einige Wochen, bi8 er am 18. Dezember in einer für U. v. Dohna 
zu jeiner zweiten Gejandtichaft nach Prag ausgeftellten Inſtruc⸗ 
tion!) fich über jeine Stellung zu der Sache ausſprach. Offenbar 
fam es dem pfälziichen Kurfürjten darauf an, feine Initiative zu 
verwijchen und als der Ummorbene zu ericheinen. 

Betrachtet man nun von diefem Geſichtspunkte aus die Inftruc- 
tion, welche Dohna im Dezember 1618 erhielt, jo wird man 
von vornherein zweierlei fich gegenwärtig halten müffen: einmal, 
daß der Auftrag nicht an die böhmijchen Directoren indgefammt, 
jondern an Ruppa und „etwa auch andere vertrautefte* aus den 
böhmijchen Ständen gerichtet ift, d. h. an diejenigen, welche von 
dem Project einer pfälzischen Königswahl wußten, unter denen 
Ipäter neben Ruppa die Generale Thurn und Hohenlohe hervor: 
gehoben werden, — jodann, daß es fic) keineswegs um die jo 
fortige Aufwerfung eines Gegenkönigs handelte, fondern um eine 
Wahl, die erft nach dem Tode des Kaiferd Matthias, unter Be 
jeitigung der von Ferdinand durch Feſtſetzung feiner Nachfolge 
(1617) erworbenen Rechte, vorzunehmen war?). Indem nun der 


1) Abſchrift in der Coll. Cam.; mit der Bemerkung, daß fie von 
Gamerariug „auf gg. Bevehl concipirt” fei. — In Prag anmefend erjcheint 
Dohna am 16. Januar (a. St.?) 1619 u. fg. (Kreb3 im Programm des 
ſtädtiſchen Gymnaſiums zu Ohlau, 1875 ©. 12 Anm. 4). 

2) Diejer wejentliche Umjtand tritt in Gindely's Darjtellung nicht hervor. 





244 M. Ritter, 


ſich abzufchieben und die Mittel zur Durchführung derjelben von 
andern zu erwarten. Sie erfcheint radikal in ihren Zielen und 
Ihlaff im Handeln. 

Gewiß liegt num diefe Schlaffheit zum Theil an den perfönlichen 
Eigenichaften des Kurfürften und feiner Staatdinänner, aber zum 
größeren Theil war fie durch ihre Mittellofigfeit und ihre Ab: 
hängigfeit von fremder Hülfe bedingt. Unter denjenigen Mächten, 
die fich durch die Überlieferungen ihrer Politif in erfter Linie 
zur Unterftügung einer Erhebung gegen das Haus Difterreid) 
aufgefordert jahen, hielten fich außerhalb des Reiches Frankreich, 
England, die Generalftaaten, jolange Matthias lebte, vorjichtig 
zurüd, innerhalb des Reiches faßte die Union bei ihrer im Oe— 
tober 1618 zu Rotenburg gehaltenen Tagjagung allerdings den 
Beihluß, daß die Verlegungen de Majeitätsbrief® in Böhmen 
eine gemeine, die evangeliiche Religion und Libertät angehende 
Sache jei; aber fie bewährte diefe Gemeinjamfeit zunächit nur 
durch den lahmen Beſchluß, Durchzüge und Werbungen, die gegen 
die böhmischen Stände bejtimmt feien, in ihren Gebieten zu ver: 
bindern!). Durch diefe Zurüdhaltung ihrer Geſinnungsgenoſſen 
war den Pfälzern ein unmittelbares fräftiges Eingreifen in die 
böhmischen Wirren verboten, und auch für die Zukunft würde 
ih eine beſtimmte Ausficht, den in Böhmen begonnenen Umiturz, 
zu vollenden und zu erweitern, ihnen nicht eröffnet haben, wenn 
nicht ohne ihr Zuthun eine Handbietung von einer Macht zweiter 
Ranges gefommen wäre, nämlich vom Herzog Karl Emanuel von 
Savoyen. 


Da ich feine gefchichtlihe Darftelung geben, fondern nur 
einen Kreis von Thatſachen genauer fejtjtellen will, jo gehe ic 

1) Notenburger Abſchied und Nebenabihied, 1618 Oftober 183. (Berliner 
Staatsardhiv. Unionsakten Bd. 35). Außerdem beichlofien die Yürften, mit 
Ausnahme der nit dazu bevollmädtigten Geſandten von Kulmbad, Heilen 
und Öttingen, dem Kurfürften von der Pfalz zehn Monate zu einem Dar 
lehen jür die Böhmen zu erlegen. Aber in der oben erwähnten Inſtruktion 
des Kurfürjten von der Pfalz für U. v. Dohna vom 18. Dezember wird 
bemerkt, daß da3 von den Böhmen gewünſchte Darlehen der Union nicht zu 
erlangen jei, da fie ihre Mittel für ihren eignen Schug zufammenbalten mühe. 





246 M. Ritter, 


Kurfüriten Verfügung zu ftelen. Nicht unmittelbar eröffneze 
der Herzog diejed Anerbieten dem Kurfürſten, es wurde vielmekyr 
übermittelt durch ein an Kurpfalz gerichtete Schreiben des eng. 
liſchen Geſandten Wake in Zurin und dur ein an Mansfeld 
gerichtetes Schreiben des Herzogs ſelber. Das Padet, das beide 
Briefe enthielt, traf am 10. Auguft oder am Tag vorher im 
Ansbach, wo Mangfeld ſich damals aufhielt, ein). 


Daß Karl Emanuel ſich mit feinem eigenen Schreiben nur 
an Mansfeld wandte, lag in erfter Linie natürlich daran, daß 
der Graf die betreffenden Truppen zu befehligen hatte; aber es 
hatte auch noch einen anderen Grund: Mansfeld war damals 
bereit3 politischer Agent des Herzogs, und als ſolcher hatte er 
vor diefem Auftrag bereit8 einen andern erhalten. 


Sn dem auf Geheiß der baierifchen Regierung veröffentlichten 
Archivium Unito-Protestantium findet fich ein Gutachten über 
die bei dem Verfall des Kaiſers Matthias in nahe Ausficht 
rüdende und unter den Einflüffen der böhmiſchen Wirren vor: 
zunehmende Naijerwahl. Es räth, dem Haufe Oſterreich die 
Kaiſerwürde zu entzichen, und empfiehlt al3 den geeignetiten, den 
fatholijchen wie protejtantifchen Parteien und Mächten, die der 
Beherrihung des Neiches durch Spanien widerjtreben, gleich ge- 
nehmen Kandidaten, den Herzog von Savoyen. Daß diefed Gut- 
achten in die Anfänge der durch die böhmischen Unruhen ver: 
anlaßten ſavoiſchen Unterhandlungen mit Pfalz gehört, hatte der 
baierijche Herausgeber richtig gejehen; jeine weitere Meinung 
aber, daß es von den Fürſten von Anhalt und Ansbach verfaßt 
jei?), wird durch eine von Erdmannsdörffer benugte Abfchrift im 
Turiuer Archiv widerlegt, nach welcher die Denfichrift Durch den 
Herzog von Savoyen dem Grafen von Mansfeld zugeftellt war, 





ı) Ansbad) an Kurpfalz, 1618 Yuguft 10. (Archivium U. P., app. 
S. 264). Wale an Jatob I, 1618 Juli 23. (Gardiner, Letters ©. 4). 
Bol. Billermont, Mansfeld 1, 85/86. 

2) In der Appendix ©. 297 wird nur gejagt, daß Stüd fei manu 
secretariorum beider Fürſten geichrieben; in der vorausgehenden Abhand⸗ 
lung ©. 261 wird aud) die Autorſchaft beiden Fürſten zugejchrieben. 





248 M. Hitter, 


eine dürftige Antwort auf dieſe Frage geben. In einer Flug: 
jchrift, die im Jahre 1623 im Auftrag der pfälziichen Regierung 
und mit der Kenntnis der geheimjten Actenjtüde der pfälzijchen 
Politik erfchien!), wird erzählt, daß Karl Emanuel ſchon „viele 
Sahre vor Aufrihtung der Union“ dem Gejandten eines prote 
Itantiichen Fürlten den Wunſch ausgeiprochen habe, unter den 
Kandidaten für die Kaiſerwahl auch jeinen Namen genannt zu 
ſehen. ALS dann auf die Nachrichten vom böhmischen Aufitand 
der Herzog gegen Ende des Monats Juni jeine Eindrüde und 
Wünſche dem venetianiichen Gelandten eröffnete, jtellte er unter 
den in Deutichland zu erwartenden Folgen dic Trage der Nady 
folge im Kaijertum in den Vordergrund: ‘Ferdinand könne jegt 
vielleiht um die Nachfolge gebracht werden; Spanien jelbit 
fönnte, um nur ein anderes Mitglied de Hauſes ſterreich 
durchzubringen, jeine Kandidatur fallen laſſen?). Offenbar haben 
wir hier die allgemeinen Borausjegungen, aus denen die ‘Denk: 
Schrift und die Aufträge für Mansfeld hervorgegangen find. Haben 
daneben aber auch befondere und perjönliche Einflüffe auf dem 


1) „Bericht auf die Anhaltifche Kanzlei.” Man vgl. die Mittheilungen 
über die doppelte Relation Zollern’8 (1, 1. Londorp 3, 97) mit meinen 
„Briefen und Alten“ Bd. 3, Nr. 192 Anm., über die Sendung Molzer’s 
(1,3, Xondorp 3, 103b) mit „Briefe und Alten“ Bd. 1 Nr. 214. 298. — 
Gamerarius, der die Schrift entweder felbjt verfaßt hat oder, da er die 
Autorfchaft ablehnt, fie doch nady feinen Anweijungen hat anfertigen lafien, 
wünſchte, daB die einzelnen pfälziichen Räthe über ihren Antheil an ben 
betreffenden Vorgängen Berichte, al® Material für die Schrift, verfaßten 
(Kofer, Kanzleienitreit S. 43). In der That waren die Ausführungen über 
Pleſſen's Schreiben und Wirfen (1,2. 4. 7), über Dohna's Betbeiligung an 
der böhmiſchen Königswahl (2, 4), Über Jocher's Korreſpondenz mit Came⸗ 
rariud (1, 9) nur unter Beihülfe der Betheiligten möglid. Man könnte 
jogar vermutben, daß die oben S. 241 von mir erwähnte und viellad- 
benugte Sammlung de3 A. v. Dohna, welche zwifchen die in Abſchriften aufs 
genommenen Wltenftüde kurze referivende Bemerkungen einjdiebt und ſo— 
weit die betreffenden Schriftftüde in der Anhalt'ſchen Kanzlei mitgetheilt find, 
die8 am Rand notirt, zu Zwecken, wie fie Camerariuß andeutet, angelegt 
und fo in des Camerarius Befit gelommen iſt. — Die im Tert angeführte 
Stelle des „Berichtes“ findet fih 1,1. Londorp 8, 99. 

2) Bericht Zenos, 1618 Juni 25. (Momanin, Storia di Venezia 7, 242.) 








250 M. Ritter, 


weiter. Gleich am 10. Auguft Hatte der Markgraf von Ansbach 
an Anhalt gejchrieben!): die Nachrichten Mansfeld's über die 
Vorgänge in Böhmen würden hoffentlic) eine noch beſſere 
Entichließung des Herzogs bewirken. In der That langte einige 
Zeit nach dem 10. und fur, vor dem 23. Augujt — wieder im 
Einvernehmen mit Wafe — eine neue Botichaft, alſo die dritte, 
des Herzogs ein: aus Beifteuern der Republik Venedig, die frei: 
lich keineswegs bewilligt waren, aber deſto freigiebiger von ihm 
auf 3 Millionen Ducatons?) jährlich veranschlagt wurden, follte 
dem Kurfürft von der Pfalz eine Armee von 16000 Mann zur 
Verfügung geftellt werden, mit welcher er dann nach den gemein- 
jamen Intereſſen Savoyens und der Unirten in die deutjchen 
und böhmischen Wirren eingreifen mochte. 

Für die Stellung, die nun die pfälziiche Politik dieſen drei 
Botichaften gegenüber einnahm, war ein Gutachten entjcheidend, 
welches aın 23. Auguft der Fürit Chriftian von Anhalt und der 
Markgraf Joachim Ernjt von Ansbach dem SKurfürften Fried: 
rih V. abftatteten?). Worangeitellt jehen wir in diefem Bedenken 
die zwei den ganzen weiteren Lauf der pfälziichen Politik bes 
zeichnenden Gedanken, daß „resolutio status Germaniae auf 
Armirung und Krieg“ beruhe, daß hierbei aber mit der Union 
allein „der großen Kaltjinnigfeit halber übel fortzufommen“ jei. 
Es war der verhängnisvolle Gedanke, eine friegeriiche Politik 
hinter dem Rüden der Union zu betreiben, in der Hoffnung, fie 
hinterher nachzuziehen, mit dem fpäteren Erfolg aber, daß Pfalz 
von der Union im Stiche gelafjen wurde. Indem fich die Fürften 
dann zu den militärischen Anerbietungen des Herzogs wandten, 
meinten fie darauf fußen zu dürfen, daß diejelben einfach, ohne 
Vorbehalt bejtimmter Gegenverpflichtungen, gemadht waren. Wie 





!) Archivium ©. 263. 

2) Ein für allemal bemerke ich, daß in diejen Anſätzen nicht, wie es 
gewöhnlich verjtanden wird, die Goldmünze des Dulaten, jondern die Silber- 
münze des Dukaton (Eilberfrone) gemeint ijt. 

®) Archivium ©. 265. Dazu die weiteren Crinnerungen S. 281; 
ferner die Entwürfe der Haupt: und Nebeninjtruftion für Mansfeld und 
Dohna an Savoyen ©. 273. 277. 





252 M. Ritter, 


wurden, brachte ınan der Bewerbung Savoyens um die Kaiſer— 
frone nur mäßiges Wohlmollen entgegen. Gleich bei der erften 
Anregung der Sache durch Mansfeld hatte Friedrich V. ftrenge 
Surüdhaltung gewahrt!); jegt wurde der and) im weitern Ber 
lauf der favoischen Verhandlungen feitgehaltene Grundjag auf- 
geitellt, daß der in der Goldenen Bulle vorgejchriebene Wahleid “ 
dem Kurfürjten eine vorherige Zufage jeiner Wahlſtimme verbiete; : 
andererjeit® jedoch, um den Herzog nicht „allerdings deſperat zu 
machen“, jollte ihm jeine Wahl als die ‘Folge der Aufftellung 
und fräftigen Bethätigung des größeren Heeres in Ausficht ge 
jtelit werden: Friedrich V. werde alddann die pfälzische und 
böhmische Kurjtimme für ihn abgeben und dazu wohl noch die 
von Brandenburg und Trier?) gewinnen fünnen. — Der wahre 
Grund diefer Zurüdbaltung lag, wie in dem Gutachten ber 
Fürſten angedeutet und durch die weitere Führung der pfälzischen 
Politik beftätigt wird, darin, daß die Pfälzer feit einem Sahr 
einen andern Standidaten auf den failerlichen Thron zu führen 
gedachten, nämlich) den Herzog Marimiltian von Baiern, daß fie 
an diejen Beitrebungen trog aller baicriichen Abweifungen hdarr — 
nädig jeithielten®) und Ddiejelben nicht Durch voreilige Verpflich — - 
tungen gegen Savoyen durcjfreuzen wollten. 

Das alſo von Ansbach und Anhalt ausgeftellte Gutachten er ı 
and in allem Wejentlichen die Zuftimmung der pfälziichen Re—— 
gierung. Ihm entjprechend führte Mansfeld, den die böhmiſcher —— 


| We 


!) fort retenu: Archivium S. 274. 


2) In den weiteren Verhandlungen weit man auf den Einfluß hin —, 
den Frankreich beim Erzbisthun Trier befige. Dies fcheint mit franzöfiiher — 
Penjionen zufammengehangen zu haben. Vgl. Billermont, Mansfeld 1, 173 =. 

3) Zum Theil dürfte ſich diefe Hartnädigteit daraus erffären, daß dem T 
Herzog Marimilian in feinen Gegenjag gegen die angeblichen Beitrebungemmmmt 
des Hauſes Diterreich, das Kaiſerthum erblic zu maden, feine Macht z— 
verjiärfen und die Fürſten auf den Rang von den Randftänden berabzubrüde—m 
(WoljsBreyer 4, 192 Anm. 4), mit Kurpfalz doc) aud einen Berührung B-- 
puntt fand. (Vgl. u. a. kurpfälziſche Inftruttion für Schönberg, 1619 April &. 
Archivium S. 360. Baiern an Kurpfalz, 1619 Mai 10. Gründlide Irz= 
zeig ©. 105.) 








254 M. Ritter, 


führlicher behandle, al® fie es verdienen, jo gejchieht es daru 
weil die Einzelheiten und ihr Zujammenhang vielfach nur 
genauer Betradhtung richtig zu erfaſſen find. 

Durch drei Gejandtichaften find die pfälzifch-javoiichen X 
handlungen geführt: zuerit fam Chriftoph von Dohna n 
Turin, im October 1618"), dann weilte Mansfeld dajelbit, v 
Sanuar bi8 März 16192), endlich erjchien Chriſtian von Anh 
im Mai 1619°). Wie der Herzog Karl Emanuel feine Anerl 
tungen nicht unmittelbar an Kurpfalz gerichtet Hatte, jo gin« 
auch die beiden erſten Gefandten zwar mit Aufträgen, die Fri 
rich V. genehmigt hatte, aber äußerlich als Bevollmächtigte 
Fürften von Anhalt und Ansbach ab, welche der Herzog fi 
älterer Beziehungen von vornherein durch Manzfeld in's VBertran 
hatte ziehen laſſen; erjt Anhalt erfchien als der Abgejandte | 
pfälziichen Kurfürjten. Ein jeden Abjchnitt diefer Verhandlung 
bezeichnender Zug war das fortwährende Wbipringen von de 
was man furz vorher vereinbart zu haben jchien. Der Her; 
jcheint von dem Gefühl verfolgt zu werden, daß er fich zu n 
vorgewagt habe; die Pfälzer dagegen werden ſichtlich von d 
Gedanken geleitet, daß fie den einzigen wageluftigen Verbündet 
der fich ihnen genähert hat, nicht fo leicht wieder fahren laſ 
dürfen. 

Charafteriftiich für die Art Karl Emanuel war gleich je 
Haltung gegen Chriſtoph von Dohna“). Als diefer ihm t 


y Nach dem 3. Oktober (vgl. fein Schreiben im Archivium ©. 2 
reift er von Heidelberg ab; am 12. November, dem Tag feiner Rüdfehr n 
Heidelberg (Camerarius an Anhalt, November 13. Epist. selectae (16 
lit. c), jtattet er feine Schlußrelation ab (Gindely 1, 443 Anm.). 

2) Er traf in Zurin am 28. Januar ein (Neu an Ansbach, Februa' 
Archivium ©. 308). Über feine Abreife: Neu an Ansbach, März 28. (©. % 

s, Erfte Konferenz Anhalt's mit Karl Emanuel in Chivaſſo, Mai 
(Archivium ©. 380), Vertrag zu Rivoli, Mai 28. 

%) Leider iſt Dohna's Relation vom 12. November nur durd | 
genügende Angaben der Anhalt'ſchen Kanzlei (S. 23 nad der Uusgabe ı 
1625), Gindely’3 (S. 443, dazu das Schreiben von Solms, November 
©. 445) und Billermont’3 (Manzfeld 1, 97 f.) befannt. 





256 M. Ritter, 


die wirklichen Ziele, die verfolgt wurden, zu enthüllen wagte. 
Unter Betheurung des gejeglichen Sinnes der böhmijchen Stände, 
die nur Unrecht abwehren wollten, und der Perfidie des faiferlichen 
Hofs, der die Stände erft hinhalten, dann unterdrüden wollte, 
Ihloß man mit der Bitte um ein den Böhmen zu gemwährendes 
Darlehen, damit fie den Winter über ihre Truppen unterhalten 
fönnten, und mit der weiteren Bitte, der Union die Bundeshülfe 
jofort zu gewähren, wenn fie, auch ohne jchon angegriffen zu 
jein, zu ihrem Schuß Truppen in’s Feld ſtelle. Daneben follte 
dann der Gejandte fraft geheimen und mündlichen Auftrags?) 
das verfängliche Geſuch ftelen um des Königs Rath, was in 
dem Fall, daß die Böhmen nach des Kaiſers Ted den pfälziichen 
Kurfürften zu ihrem Könige wählten, von diefem zu thun jei. 
Als Dohna diefe Inftruction empfing, wußte man, dab. 
Wale ſchon kurz vorher nach England gereilt ſei. Im Hinblick 
auf feine Aufträge joll nun Dohna beim König dahin wirken. 
daß „bei diefem böhmischen Wejen und was deinjelben anhängt.— 
gleiche Konfilia zwiichen ihr (jeiner fgl. Würde), und Unirtere 
und den Herrn Generaljtaaten gehalten . . werden möchten" — 
Worin Wake's Aufträge im einzelnen beitanden, wird nicht gefagt — 
Aus feinen eigenen Außerungen ift aber zu entnehmen, daß emr 
einmal, wie oben erwähnt, für die Sendung des Mansfeld'ihem 
Hülfscorps die Dedung des föniglichen Namens gewinnen jollte , 
womit ſich nad) dem damaligen Stand der Dinge wohl aucHK) 
das Gejuh um Geldzufchüffe verband, ferner daß er für dr « 
fünftige Wahl des Savoyers zum römischen Kaifer eine Empfehlum 9 
des Königs an den Kurfürften von der Pfalz?) auszuwirken hatt =. 


1) Nur aus dem Tagebuch zu erjehen. 

2) Demgemäß die proposition in behalfe of the duke of Sav>y 
von Wale bei feiner Rüdreife dem Kurfürften von der Pfalz vorgetrag ern 
(Doncafter an Naunton, 1619 Juni 29. Gardiner, Letters ©. 129) Nee 
ber trug Wale dem König auch ded Herzogs Nipirationen zur böhmildgen 
Krone vor {vgl. Wale an Budingham, 1619 Zuni 15. A. a. O. 6.107) 
Aber das kann erft nad) den Ergebnifien der gleich zu behandelnden GefandT- 
ſchaft Mansfeld's geichehen jein. — Vgl. aud über diefe Punkte den Aues⸗ 
zug aus einem Bericht des ſavoiſchen Gejandten in London im Archiviam 
©. 397). 








258 M. Ritter, 


machten fie den neuen Borjchlag: für die Jahresfoften des größeren 
Heeres folle der Herzog aus den Schäßen der Republik Venedig 
nur die Hälfte, aljo 14. Millionen Dufatons liefern, während 
Kurpfalz fi anheifchig machte, die andere Hälfte in Deutfchland 
aufzutreiben, — ein Angebot, bei dem freilich das Wie eine dunfle 
Frage der Zukunft blieb!). 

In der That ließ Sich der Herzog auf den jo gemachten 
Verſuch des Feilſchens ein, nur daß er auf die Herabjegung der 
an ihn geitellten Anjprüche mit einer Erhöhung der von ihm ge 
stellten Forderungen antwortete. Indem er jich einerjeit3 bereit 
erklärte, von dem der Republik Vencdig zugedachten Geldzuſchuß 
die Hälfte, aljo ein Viertel de Gejammtbetrages, aus eigenen-__ 
Mitteln zu erlegen, verlangte er andererfeit3 für jeinen Antheiiik_ 
itatt einer vielmehr zwei Kronen, nämlich zur Saiferfrone not 
die böhmijche Königsfrone; dafür jollte der Kurfürft von de— 
Pfalz wieder entjchädigt werden, indem für ihn bei dem herbei 
zuführenden allgemeinen Zuſammenbruch der öfterreichiichen Modzmmmt 
der Eljaß, ein Theil des Erzherzogthums Djterreich, ja das Nöniummg- 
reid) Ungarn, gewonnen würden. Nach den Berichten des Sehe: 
tär Neu entiprang bei der Ausbildung dieſes ungeheuerliche- n 
Planes der Gedanke, die böhmijche Krone zu gewinnen, aus desmmen 
Kopf des Herzog3?), mährend das pfälziiche Entihädigung =: 


1) Entwurf der Inftruftion für Mansfeld, von Anhalt und Ansbah, “Un 
Schwabach jeftgejtelt am 22. Dezember 1618 (Archivium ©. 270; vgl. 
meine Bemerkung oben ©. 247 Anm. 3). Tazu eine Nebeninftruftion S.2 "9 
und das Schreiben Ansbad)’3 und Anhalt’ S. 295. — Die mit Mansfel > 
Inſtruktion beginnende Methode des Herabdingend, die fortan die Verhazt- 
(ungen tennzeichnet, ift bisher nicht beachtet. Vgl. Erdmannsdörffer S. 109 j. 
Bindely (1, 446) läßt gar dem Mangfeld „jo ziemlich diejelben Aufträge‘ 
erteilt werden wie Dohna. — Die in diefen Verhandlungen erwähnten Rad 
forſchungen nad) einem italienifhen Vikariat Savoyen's find wohl ebenjo 
nebenfädjlicher Natur wie die gelegentliche Nüdficht auf Savoyen's Bewerbung 
um den Königstitel. Die Deutung, welde Erdmannsdörffer (S. 111) ben 
Worten d’en (nämlid von dem im pfälzifchen Arhiv etwa zu Findenden) 
ajouter quelque chose gibt: man jolle die Papiere in geeigneter Weile 
zurecht machen, ijt m. E. nicht Baltbar. 

2) Aniprechend, aber 3. 3. nicht näher zu belegen ift die Bermuthung 
Erdmannsdörffer's (S. 112 f.), daß dem Herzog der Plan vielmehr vn 





Die pfälzifche Politit und die böhmifche Königswahl von 1619. 2569 


Project unter Mitwirfung von Neu zuftande fam. Gewiß ift, 
da Mansfeld den neuen Vorjchlägen gegenüber vor allem den 
einen Gedanken verfolgte, den unfteten Herzog raſch beim Wort 
3 nehmen und zu halten!). So beeilte er ſich denn, die An- 
ecbietungen deöfelben fchriftlich aufzufegen?) und ihn zur Unter 
3etchnung aufzufordern. Da die Schrift dem Herzog nicht ge- 
nehm war, jo fertigte er jelber eine andere Aufzeichnung, deren 
D>m ihm unterjchriebenes Original aber erft gegen eine ent- 
IX wechende Verpflichtung des Kurfürften von der Pfalz ausge: 
to uſcht werden jollte?).. Daneben übergab er dem Mansfeld eine 
Weitere von ihm unterzeichnete Eutfchließung bezüglich des unter 
De3 Grafen Befehl unterhaltenen Truppencorpst). 

Was ift nun nad) Ausweis der beiden legten, vom Herzog 
Qnıerfannten Schriften®) das Ergebnis der Verhandlung? Starl 
Emanuel verlangt, daß feine Wahl zum böhmischen Könige voll- 
Augen werde‘), und daß ihm für die Kaijerwahl die Stimmen 
Der Kurfürften von Pfalz und Brandenburg und noch eine? 
Dritten Wähler?) zugefichert werden. Sind diefe Bedingungen 


Manzfeld beigebracht jei, der ja zugleich Agent der Pfälzer und Savoyens 
war und die Ausfihten des böhmischen NAufitandes gewiß im günfjtigiten 
Nichte zeigte. 

1) Über das Folgende der Bericht Nen’3 vom 17. $ebruar (Archivium 
S. 318). 

2) Es iſt das in Neu's Bericht mit lit. A. bezeichnete Stüd, Archivium 
©. 310: sur la proposition. 

2) Es ift die nad Neu mit lit. B. bezeichnete Schrift ©. 310: il est 
vray (Savoyen's Autorfhaft u. a. an den Beicheidenheitsphrafen im Eingang 
zu erfennen). 

% Nah Neu mit lit. ©. bezeichnet. Es ift das Stüd ©. 312: pre- 
mierement le duc promet. 

s, Da man die verichiedenen Scriftjtüde nicht unterichieden bat, fo 
tonnten aud die Angaben über die Ergebnifje der Verhandlung nicht genau 
ausfallen. Eine Polemit über Einzelheiten, die leicht kleinlich ausfallen 
fönnte, darf ih mir erlafien. 

6) Moyennant ceste election effective iS. 311), Dazu Neu, 
Februar 17: dab Pfalz ihm die Krone „effective“ verjchaffe (S. 324). 

7) Der dritte wurde nachträglich eingefeßt (Neu, März 28. ©. 333). 
Er fehlt in dem einer Abſchrift entftammenden Abdrud der Schrift im 


Arnhtırinm 


260 M. Ritter, 





erfüllt, jo wird er für die in Deutichland aufzuftellende Armee 
das beiagte Viertel der Koſten zahlen und dag andere Viertel 
in DBenedig zu erwirfen fuchen. Er wird außerdem durch feinen 
„Kredit, feine Waffen und Mittel*!) dem Kurfürften von der 
Pfalz Ungarn, Elſaß und einen Theil von Ofterreich zu ver- 
ſchaffen juchen. — Neben diefen Leitungen wird dann nod be 
jonders die Unterhaltung des Manzfeld’ichen Corps geregelt?). 
Zwei verjchiedene Fälle werden dabei vorausgejegt: entweder 
wird der Herzog zum König von Böhmen gewählt, oder er er 
hält eine klare Entfchließung über die Verwerfung feiner An- 
ſprüche, welche, wie er bemerkt, füglich in zwei Monaten nad 
Mangfeld’3 Abreife aus Zurin erfolgen kann. Im Fall der 
Zurückweiſung feiner Bewerbung wird er noch bis zu dem Beit- 
punkt der verlangten Entichliegung die Koften der 2000 Mann 
erlegen ; wird er Dagegen gewählt, jo erhöht er durch Nachzahlungen 
die vom Tag der Überweilung der Truppen?) bi8 zur Abreije — 
Mansfeld's von Turin fälligen Zahlungen auf den Betrag des — 
Soldes für 3000 Mann zu Fuß und 400 Reiter, ferner für die 
darauffolgende Zeit auf den Sa von 4000 Manı zu Fuß une 
600 Reitern. Scheinbar fügte hiermit der Herzog zu feiner erfte —amm 
Leiltung eine zweite recht bedeutende Hinzu. Aber e8 war nu ı 
Schein. Denn hinfichtlich der erhöhten Ziffer von 4600 Mann 
hatte er an einer Stelle jeiner Erklärungen‘) die Worte einmmmmr- 
fließen lafien: „unterhalten von demjelben Gelde“, d. H. von der —n 


) Daß e8 ein Hülfscorps von 6— 7000 Mann fein follte, wurde nusiır 
in den Konferenzen erwähnt (Neu an Ansbach, 1619 Februar 11, m. 
©. 310. 315). 

3) ber diefen Puntt finden fih in der Schrift lit. B. fummariie—te 
Angaben, dann die genaueren Beltimmungen in lit. C. 

2) Als Anfangdtermin wird der 24. uni (1618) angegeben. Da Xer 
Übergang Manzfeld’3 aus dem Dienfte Savoyen’3 nad) ©. 245 Anm. 1 m 
24. Zuli (a. St.) erfolgte, ſo liegt bier ein Verſchreiben oder eine Juri w.d- 
datirung dor. 

*% In der Schrift B., am Ende. Daß die Worte den von mir cz 
gegebenen Sinn haben, wird durch des Herzogs Verhalten beim Vertwag 
von Rivoli beftätigt. Nicht richtig faht Erdmannsdörffer die Sache, S. 124 
3.12 v. u. 








262 M. Ritter, 


drängte fich denn abermals der Gedanke auf, daß man die Ge 
legenheit, die fich bot, nicht au8 der Hand lafjen dürfe. 

In Crailsheim, wo fich in den legten Tagen des März ber 
Kurfürſt Friedrich, der Markgraf von Ansbach und der Fäürſt 
von Anhalt zufammenfanden, wurde aljo beichlofien, die Ber: 
handlung nad) zwei Richtungen!) fortzuführen. Zunächſt nad 
Böhmen hin. Karl Emanuel hatte al® Bedingung jeiner Leis 
ſtungen aufgeftellt, daß er erit zum König von Böhmen gewählt 
jein müffe. Damit ging es nun freilich nicht jo gejchwind. Aber 
ald Ergebnis jener vorfichtigen Verhandlungen, die Kurfürft 
Friedrich über jeine eigene Wahl zum böhmifchen König hatte 
führen laffen, war ein vertrautes Werhältni® der pfälzifchen 
Agenten zu Ruppa und den Generalen Thurn und Hohenlohe - 
entitanden. Diefen PVertrauten nun beichloß man, den Verlauf | 
und Stand der javoifchen Verhandlungen, nicht ohne Übertrei — 
bung der vom Herzog gemachten Zulagen?), zu eröffnen un 
daran den Rath zu fnüpfen, daß die Generale und „Vornehmſte — 
aus dem Directorium“ dem Herzog feine Wahl zum Könige c 
zwar nicht ald Vorausſetzung, aber doch als die erhoffte Kol « 
der Erfüllung feiner Anerbietungen in Ausſicht ftellen möchten —. 

In der That ertbeilte der Fürſt von Anhalt am 
7. April dem Achaz von Dohna eine diefen Beichlüffen enumi: 
jprechende Inftruction?). Es war ein Schritt, der im Zujammermmmm: 
bang der pfälziichen Bewerbung fich als ein leuchtendes Beilpi! 
der Uneigennübigfeit des pjälziichen Surfürften verwerthen Tief. ; 
aber anderſeits zeigte fich in der Art, wie Anhalt die ſavoiſckye 
Kandidatur empfahl, doch Schon eine Kühle, die fich in ber Folge 
noch fteigern ſollte. Von vornherein, meinte er, fönnten Due 
Böhmen die Bedingungen, welche fie ihrem Erwählten vorjchreibe nı 


den Anfangdtermin: NRejolution der Staaten an Friedrich's V. Gefandten, 
1620 Februar 4/14. Khevenhüller 9, 1202). 

1) Vgl. die beiden Denkichriften vom 29. und 30. März im Archiviummn 
©. 335. 340. 

2) Es wurden 3. B. die Zahlungen für dag Mansfeld’iche Corps m zu? 
für die größere Armee als getrennte Bewilligungen dargeftellt. 

>) Eie findet fi in Coll. Cam. 47. 











264 M. Ritter, 


von Baiern zur Aufitellung jeiner Kandidatur zu beitimmen, er 
neuerte!). Was dann Savoyens Wahl zum böhmiſchen König 
anging, jo follte die Verwendung des Kurfüriten von der Pialz 
bei den Böhmen zugejagt, und ein guter Erfolg in jichere Aus 
ſicht geftellt werden, aber wohlgemerft nur für den all, dab 
vorher des Herzogs Anerbietungen „ihren wirklichen Effect” erreicht 
hätten, — womit die von Karl Emanuel aufgeitellte Reihenfolge: 
erſt Wahl, dann Erfüllung der Angebote, geradeweg® umgekehrt 
wurde. Endlich die Anerbietungen, die der Herzog gemadit, 
wurden umgewandelt in drei größere Forderungen: 1. für das 
in Deutichland aufzujtellende Heer verlangte man jtatt 750000 
drei oder doch zwei Millionen Ducatong für drei, mindejten® zwei 
Jahre, wobei noch immer die Gewinnung Venedigs zur Über: 
nahme jeines Antheil3 vorausgejegt ward. 2. Nicht eingejchlojjen 
in diefe Beifteuer, fondern neben derjelben, forderte man die 
Unterhaltung der 4600 Mann unter Mansjeld. 3. Ebenfalls 
zu diefen Verpflichtungen hinzutretend, jollte zum Zweck des dem 
Kurjüriten von der Pfalz zugedachten Ländergewinnd eine bes 
jondere Vereinbarung über einen gegen den Eljaß zu unter- 
nehmenden Angriff getroffen werden. 

Mit diefen Aufträgen reijte, einem von Karl Emanuel aus— 
geiprochenem Wunfche gemäß, fein geringerer, als der Fürſt von 
Anhalt nad Italien ab. Entſprach, jo müſſen wir bier aber 
wieder fragen, dem gejteigerten Anſehen, welches jo die Verhand⸗ 
[ung gewann, auch eine erhöhte Zuverficht der fürftlichen Unter 
händler? 

Einen Schluß auf die Stimmung, in der ſich Karl Emanue L 
befinden mußte, eröffnet ein Bli auf andere Verhandlungen, ire 
denen er fich damals bewegte. Wie oben bemerkt, hatte er beim 
Entwurf jeiner Projekte vor Allem auf die Mitwirfung Eng = 
lands und Venedigs gerechnet. Daß aber von Jakob einjtweilem® 
fein Zujhuß zu erlangen fei, mußte er inzwijchen ebenjogut wer < 
der Kurfürjt Friedrich erfahren haben. Um dafür wenigjtens dr « 
Burüdhaltung Venedigd zu überwinden, war bei der Geſand WE 





1) Wolf-Breyer 4, 203 Unm. 20. 





266 M. Ritter, 


erjtrebten Bündnifjes lautete: Verteidigung der Freiheit Italiens 

gegen die Übergriffe des Haujes ſterreich; aber wie die Zeit es 

mit fich brachte, richtete man die Beſtimmung desjelben Doch zu- 

gleich auf Deutjchland: Verdrängung des Hauſes Dfterreich vom 

der Kaiſerwürde, Buziehung der protejtantiichen Fürſten, wie 
auch der Öeneralftaaten zu dem Bündnis wurden von vornhereir; 
in Ausficht genommen!)., Es follte eben Ludwig XII. an ex 
Spite des neuen Bundes die gleichmäßig auf Italien und af 
Deutichland gerichtete Politik feines Vaters, die im Jahr 1610 
durchkreuzt war, wieder aufnehmen. 

Aber zu einer jo aggrefliven Bolitif fehlte den Männeraz, 
welche damald die franzöjiihe Regierung leiteten, jowohl Die 
Kraft wie die Neigung. Was bejonders die deutjchen Dinge an- 
geht, To faßte der Staatsjefretär Puijicur bereit? am 22. Des 
zember 1618 dem franzdfiichen Gejandten am faijerlichen Hof?) 
die Aufgabe Frankreichs dahin zujammen, daß es den Fortſchritten 
der Macht fowohl der Protejtanten wie des Hauſes Oſterreich- 
Spanien mit Behutfamfeit entgegenzutreten habe. Als Mittel 
für dieſen Zweck entdedte man fein andere® al® dasjenige des 
Königs Jakob, nämlich) die Vermittlung zwiichen dem Kailer 
und feinen Rebellen, für mweldye denn auch Ludwig dem Sailer 
feine Dienfte bereit3 hatte anbieten laffen. In diefem felben 
Sinne fonnte denn auch Buifieug bereit? am 3. April melden‘), 
daB der Antrag bezüglich der italienijchen Liga abgelehnt jet. 

So wußte der Herzog in den Tagen, da Fürft Chriſtian 
mit ihm verhandelte, daß für die ungeheuren Projekte, die man 
erivog,. weder von England, noch von Venedig, noch von Franb 


1) gl. den angeführten Bericht Gondi's vom 23. April. 

2) Baugy an Puiſieux, 1619 Januar 16. (Paris, Bibl. nationale, 
Me. fr. 15929). In der Rekapitulation von Puiſieur's Schreiben heißt &: 
que nous avong a nous garder de ceux de la nouvelle religion, en 
quelque lieu qu'ils soient, aussi bien que des Espagnols, soubs le 
nom desquels passe toute la maison d’Autriche, et que, l’accroisse- 
ment des uns nous devant estre aussy suspect que celuy des aultres, 
il faut apporter du temperament et de la prudence pour l’empescher 
esgaleıment en ces presentes occurrences. 

>) In dem oben angeführten Schreiben an Brulart. 





268 M. Nitter, 


lehrt ein unmittelbar vor feiner Rückkehr abgeftatteted Gutachten, 
auf dag ich noch zurüdfomme. 

Wenn nun trogdem nach Anhalts Eintreffen die Verband» 
lung zwiſchen ihm und dem Herzog mit unverfennbarem Eifer 
angegriffen wurde, jo wird der Grund nit darin liegen, dag 
man mittelft derjelben die großen Pläne, die aufgeftellt waren, 
alsbald zu verwirklichen hHoffte, jondern darin, daß man feit- 
jtellen wollte, wie weit man beiderjeit8 im Hinblid auf jene 
Pläne übereinzufommen vermochte!). So legte Anhalt den Ent- 
wurf einer Übereinkunft fchon am 5. Mai, drei Tage nad) Be- 
ginn der Beiprehungen, vor; aus Einwendungen des Herzogs 
ging ein zweiter Entwurf hervor, in den Karl Emanuel am 
8. Mai nochmals Verbejlerungen einfügte, worauf er am 9. Mai 
unterzeichnet werden follte. Ein Fieber, das den Fürſten befiel, 
hatte dann aber eine längere Verfchiebung des Abſchluſſes zur 
Folge; erit am 28. Mai wurde der Vertrag zu Rivoli unter 
zeichnet: einerjeitd vom Herzog von Savoyen, andrerjeit® von 
Fürſt Chriftian, der zugleih als Beauftragter des pfälziſchen 
Kurfürften und des Ansbacher Markgrafen handelte und die Ge 
nehmigung diejer Auftraggeber, zumal da der Vertrag von ben 
in Crailsheim gefaßten Beſchlüſſen recht weit abwich, nachdrücklich 
vorbehielt. 

Tritt man an den Vertrag von Rivoli?) mit der Frage 
heran, was einerjeit® der Herzog von Savoyen ich ausbedang, 
und was er andrerjeitö zu leilten hatte, jo lautet Hinfichtlich des 


1) Ähnlich Erdmannsdörffer ©. 132 3. 7 v. u., nur daß er die refignirte 
Auffafjung erjt während der Verhandlungen Anhalt’8 mit dem Herzog ent 
jtehen läßt, während bei den Craildheimer Konferenzen „die Augen der 
Fürjten ... mit der vollften Hofinung nad) Savoyen hin gewandt waren” 
(S. 125). 

2) Gedrudt bei Erdmannsdörfter S. 152. Nicotti (Storia dellc⸗ 
monarchia Piemontese 4, 142) gibt mit Berufung auf eine ardivelii 
Vorlage einen Auszug mit Zufäßen, die unmöglic in dem Vertrag gellande — 
haben können. — Wichtig für die Geſchichte des Vertrags könnte das „Core 
cept“ jein, das in der Anhalt’schen Kanzlei S. 64 analyfirt wird und L— 
(ſtatt 12) Artitel enthalten fol. Nach ©. 56 wäre e8 der Entwurf Anhalt -- - 
vom 5. Mai. 





270 M. Ritter, 


Ichlagen, folgt er denfelben mit einer Armee von 6000 Manz 
3. F. und 1500 Reitern, um einen Angriff gegen den Elſaß zum 
unternehmen. 

Auch Hier fällt zunächſt wieder die Herabminderung dew 
pfälziichen Forderungen auf: aus 2 Millionen waren 120000 
geworden, und der Angriff gegen den Elſaß war an eine gam; 
neue Bedingung gefnüpft!., Andrerſeits waren freilid dix« 
Angebote des Herzogs, welche früher Mansfeld mitgebradip: 
hatte, bedeutend erhöht, und vor Allem, die Einrehnumg 
der Koſten des Mansfeld’schen Corps in die vom Herzog zu: 
geſagte Hauptjumme war weggefallen; der Herzog jchien jegt 
bereit, die in Böhmen und die im Reich zu treffenden Kriegs— 
anftalten al8 zwei gleichberechtigte Unternehmungen zu behandeln 
und jede bejonderd zu unterftügen. Indes gerade dieſes war 
bloßer Schein. Kaum war der Hauptvertrag fertig, jo fügte 
der Herzog einen eigenhändigen Nachtrag Hinzu?), des Inhalts, 
daß die Unterhaltung der Mansfeld’Ichen Truppen aus den 
1200000 Dukatons zu bejtreiten jei?), d. h. es jollten nad) einer 
vom Herzog ſelbſt gemachten Berechnung‘) etwa 500000 Duh: 
ton? für Mansfeld abgezogen werden, und folglich für bie im 
Reich anzuftellenden Kriegsrüſtungen ein Beitrag übrig bleiben, 
der im beiten Fall nicht ganz ein Viertel der für diejelben ur 
jprünglich veranfchlagten Koſten erreicht hätte. Mit einem Schlag 
wurde damit das wichtigite Ergebnis der Verhandlungen beinahe 
um bie Hälfte ſeines Werthe& vermindert. Und nicht3 wollte 
e8 dagegen bejagen, wenn man in dem Vertrag die Abficht, die 

1) Bemertt in der Notiz Anhalt's ©. 411 no. 4. 

»), Da der Inhalt desfelben dem Art. 1 des Hauptvertragd widerfpridt, 
und das Ganze vom Herzog eigenhändig geichrieben ift, jo muß man am 
nehmen, daß er bei Gelegenheit feiner Unterzeihnung den Zuſatz machte. 

2) Auf dies neue Verhältnis weiſt die in fichtliher Berunitaltung 
widergegebene Notiz Anhalt’3 ©. 411: encores que les declarations ete. 

% Am 4. Mai gab der Herzog die monatlichen Koften des Mangel‘: 
ihen Corps auf 70000 Dufatons an (©. 381). In einer Randbemerkung 
weift darauf Dohna auf die am 6. Mai jolgende Berechnung desjelben 
Herzogs (S. 382; ftatt „1000 chevaux“ wird dort „600 chevaux“ zu lefen 
jein), die auf 42000 Dukatons fommt. 





272 M. Ritter, 


Punft aM’ die Einjchränkungen, welche jeine Forderungen und 
Hoffnungen durch diefe Beitimmungen erfahren hatten. Dan 
fertigte er noch ein Gutachten, in dem er feine Erfahrungen über 
die Perjönlichkeit des ttalienifchen Bundesgenoffen niederlegte. ES 
handelte über die Frage, ob der Herzog den Böhmen zur Könige 
wahl zu empfehlen jei’). Auf ſechzehn Gründe, die dafüx- 
fprachen, ließ er vierunddreikig folgen, die Dagegen waren, unk> 
was dieſen letttern ihr beſonderes Gewicht gab, war der Umftans _ 
daß die vorzugsmeile zu gunjten des Herzogs jprechenden Aru- 
gaben bier in ihr Gegentheil gewandelt wurden. Der Herzog, 
fo hieß es im erjten Theil, hat die größten Mittel, den Böhmen 
zu helfen: des Herzogs Schag, jo hieß es im zweiten TheiL, 
ift erjchöpft, fein Land ift verberbt, er hat fein Geld, for- 
dern nur Schulden. Ber Herzog, Heißt es zuerit, Hat den Ruf 
eines gewaltigen Kriegsmannes: aber, jo lieit man im andern 
Theil, er iſt „jo groß Werk nicht, als man e8 macht” ; mit feinen 
Kriegen hat er nicht3 ausgerichtet. Er wird, jo lautet ein anderer 
Sag, den Böhmen ihre Rechte beitätigen: aber, jo wird er 
widert, er hält feine Abjchiede, geht bald mit der einen, bald mit 
der andern Partei, wirft ſich rajch in große Unternehmungen, 
um fie hinterher im Stich zu laffen. Dann wurde fein Eigen- 
wille, feine Ausſchweifungen, feine völlige Unkenntnis böhmiſcher 
Art Hervorgehoben, kurz der Schluß, den man aus dem Gut» 
achten ziehen mußte, war, daß die Wahl des Herzogs ders 
Böhmen zum Unheil gereichen werde. 

Man könnte verjudht fein, noch einen Schritt weiter zu 
gehen und zu fagen: Anhalt 309g aus der Gefammtheit ſeiner 
Verhandlungen den Schluß, daB die Vereinbarungen mit Savoyer® 
überhaupt werthlo3 waren. Aber damit würde man doch zu 
weit gehen. Der Gedanke, der von Anfang an die pfälziiee 
Politik geleitet hatte, daß man nämlidy auf die Borjchläge > 
Herzog® geduldig eingehen müfje, jolange man hoffen däde 
irgend einen Vortheil daraus zu ziehen, blieb auch jetzt fü — 





1) Der Berfafier des Archivium (Tert 3. 294) jagt ausdrücklich, 
Fürſt habe es adhuc in Sabaudia commoratus verfaßt. 








274 M. Ritter, 


Pfalz und feine Räthe jede Werbung zu gunften Savopeı 
unterliegen, als ihren Hauptfandidaten für den Fall einer Wa 
den Herzog von Bayern nach wie vor bezeichneten und d 
Savoyer nur in zweiter Linie neben anderen, wie Däneme 
und Sachſen, vorichlagen wollten!)y. Eine weitere Bemerku 
Anhalts, welche zu denken gab, war jene Vorausjage, daß, wei 
Karl Emanuel zum böhmischen König gewählt werden jollte, f 
alsdann der im Vertrag zu Rivoli durchgeführte Unterſchi 
zwijchen demjenigen, mwa8 Savoyen für den böhmijchen Krir 
und dem, was er für die Sriegsanftalten im Neich zu leift 
babe, als nichtig herausstellen, und nur die Leiftungen zur 8 
theidigung Böhmen® und daneben der Erblande ded Herzo 
übrig bleiben würden?). Auch für dieſe Anficht konnte ſich Anh« 
auf die Natur der Sache berufen. ber daß er fie gerade je 
und jo nachdrüdlich aufitellte, lag au einer bejonderen inzwijch 
eingetretenen Veränderung. 

Faſt unmittelbar von feinen Verhandlungen in Italien wı 
Anhalt nach Heilbronn zu den Berathungen des dort zufammeı 
tretenden Unionstage3 geeilt. Hier wurde unter den Schmaı 
fungen des Interregnums und den aufregenden Eindrüden de 
fortjchreitenden böhmischen Aufſtandes der Beſchluß gefaßt, ei 
Heer in's Feld zu ftellen, das fich bei Ausführung des Beſchluſſe 
auf etwa 8000 Mann zu Fuß und 3000 Mann zu Pferd ftellte? 


1) Pfälziſche Rathsſitzungen vom 15. und 16. Zuli (Archivium ©. 4 
484). Chriſtoph v. Dohna, Werbung beim Kurfürjten von Sachſen, 161 
Auguft 13. (Tadra in den Sitzungsberichten der Wiener Atademie 88, 602). - 
Laue Antwort des pfälziihen Kurfürften auf die engliihe Werbung fi 
Savoyen: Doncajter, 1619 uni 29. (Gardiner 1, 129). 

2) In feinem eigenhändigen Zuſatz zum Vertrag von Rivoli behält fi 
Karl Emanuel auch ausdrücklich vor, daß feine Subfidienpflicht ruht, wer 
Spanien ihn in jeinen Landen angreift oder angreifen läßt. 

2) Heilbronner Abjchied, 1619 Juli 6. (Berliner Staatsardhiv, Union 
alten Bd. 35). Für die Stärke der aufzuitellenden Armee wird hier «a 
Beilagen verwiefen, die mir fehlen. — In einer Beilage zum Rotenburg 
Uniongabfhied vom 20. September 1619 (a. a. D.) werden die vornehmft 
Zruppentheile im Betrag von 7000 Mann zu Fuß und 2400 zu Pfer 
aufgezählt und auf einige andere ohne fpezielle Angabe verwiejen. D 
Angabe von 10—12000 M. 3. 3. und 3000 3. Pi. in dem Schreiben d 











276 M. Ritter, 


Aber auch die Trage, wie Anhalt die favoische Verbindung 
für die Förderung des böhmijchen Aufſtandes verwerthen wollte, 
ift nicht einfach zu beantworten. Er fand Sich ja vor dem 
Widerjpruch, daß der Vertrag von Rivoli die Wahl Karl Emanuel’a 
zum böhmijchen König erforderte, er jelber aber im Stillen zur 
Berwerfung diefer Wahl fortgefchritten war. Hier jehen wir 
nun den Fürſten zunächit ſich durch die Schwierigkeiten hindurdh.- 
winden, indem er feine Verpflichtungen buchitäblich, aber auch 
nur nach dem Buchſtaben erfüllt. Während Karl Emanuel feine 
Bewerbung jo ernft nahm, daß im Juli in feinem eigenen Namen 
ein Herr de Bauffe und der jegt wieder rein als ſavoiſcher 
Agent auftretende Mansfeld nad) Prag zu den Direktoren und 
Ständen abgingen, erjchien, als Abgeordneter des Fürſten Chriſtian, 
am 2. August wieder Achaz von Dohna in Prag’, Er mer 
an Ruppa gewielen, um im Anſchluß an die Beiprechungen vom 
April und in gleihem Geheimnis ihm über den Inhalt des 
Vertrags von Rivoli Mittheilung zu machen und dann über die 
durch Ddiefen Vertrag den böhmifchen Ständen und ihren Ver 
bündeten zugeicyobene ſchwere Entichließung, ob fie nämlich den 
Herzog von Savoyen zu ihrem Könige wählen wollten, Kath 
zu ertheilen. Der Rath des Fürſten lief auf eine knappe und 
fühle Angabe der Gründe für und wider hinaus: für dem Herzog 
ſpreche, daß er bisher am meiften für die böhmiſche Sache gethan 


1) Eine erfte Inftruftion für A. v. Dohna ift zu Amberg am 14. Juli 
ausgeſtellt, mit der Notiz, daB fie erſt gelte nad) Eintreffen der „Approbation 
de Heidelberg et de Anspach“. Dann folgt da® „ferner Memoriol 
eigentlich uf die igige Reiſe gerichtet“. Das Datum fehlt, wird aber dadurch 
beitimmt, daß Dohna am 2. Auguft in Prag eintraf (Gindely 2, 211). — 
In dieſer zweiten Inſtruktion wird zugleich ein, wie man nad dem Sinne 
annehmen muß (vgl. aud) Anhalt an Savoyen, 1619 Juli 15. Archivium 
©. 479), von Anhalt entworfene® Memorial für Mansfeld und Bauf, 
ebenfall8 über Savoyens Wahl, erwähnt, gegen defien Inhalt der Kurfürf 
von der Pfalz, obgleich er es im ganzen fich. „nicht mißfallen laflen“, einige 
Bedenken erhoben hat, bejonders daß er „nit zu fehr, noch öffentlich einvermijdt 
werden möchte”. — Damals aljo dirigirte Anhalt ala Vertrauensmann Korl 
Emanuel’3 auch nod die ſavoiſchen Agenten. (Die erwähnten Attenftüde in 
Coll. Canı. 47.) 





278 M. Nitter, 


auch der politifche Einfluß des Herzogs nicht zu verfchmähen. 
Er fuhr fort, am franzöfischen Hofe gegen Ferdinand's Nachfolge 
im Kaiſerthum VBorjtellungen zu machen‘), und mittel® jeiner 
Fürſprache bei Venedig hoffte der Heilbronner Unionstag einen 
Zuſchuß von Truppen und Geld zu erlangen). In der Hoff: 
nung auf ſolche Vortheile wurden die Verhandlungen über die 
Ausführung des Vertrags von Rivoli im Gang, und Die Trage 
der ſavoiſchen Königswahl in der Schwebe gehalten. 

Während nun aber fo die pfälziiche Politik in der Frage der 
Wahl eines böhmischen Königs eine hinhaltende war, indem fie 
einen Kandidaten vorjchob, der ihr felber nicht genehm war, 
wurde plöglich von anderer Seite auf eine endliche Entſcheidung 
gedrängt. Am 8. Juli trat in Prag der Generallandtag zu: 
jammen, an dem fich neben den proteitantifchen Ständen der 
böhmischen Kronlande auch diejenigen von Ober: und Unter 
Öfterreich betheiligten. Sein erſtes Werf war die am 31. Juli 
zwiichen den Ständen der böhmiſchen Lande geichloffene und am 
16. Auguft durch den Beitritt der proteftantijchen Lfterreicher 
erweiterte Sonföderation, die zugleich eine Verfaffungsurfunde 
des neuen Staatenbundes nach den Wünfchen der proteftantijchen 
Stände war. Die unvermeidliche Folge diejer erjten That war, 
am 19.—22. Yuguft, die Abjegung Ferdinand’s, worauf jid, 
als nunmehr unaufihiebbare Aufgabe, die Wahl eines neuen 
Königs herausitellte. 

Zwei Kandidaten waren feit dem Frühjahr 1619 für dieſe 
Wahl präfentirt. Der eine, von pfälziicher Seite empfohlen, 
war der Herzog Karl Emanuel, deſſen Empfehlung indes in jo 
engem Kreife und fo lau gegeben und fichtlich auch jo lau auf 
genommen war, daß in den Tagen der Enticheidung gar keine 
Stimmung in weiteren Kreiſen für ihn gemacht war. Der andere, 
für den fich feit den erften Tagen?) nach des Kaifers Tod, 


1) Puyſieux, 1619 Juni 12. GSiri 4, 33. Derjelbe ©. 46 nad einem 
Bericht Bentivoglio’3 oder Gondi’8 vom Auguft). 

2) Friedrih V. an Wale, 1619 Juni 30. Wale an Naunton, Juli 28. 
(8. 139. 167). 

*) Berichte Lebzelter'8 vom 25. März, 27. und 29. April, 3. Rai, 
Juni, 10., 13., 29. Juli u. f. w. (Müller 3, 207. 210. 212 f.). 





280 M. Ritter, 


jeiner Bereitwilligfeit zur Annahme mit joviel Vorbehalten und 
Fragen verjehen, daß er fie zur Noth jelbjt gegen Ferdinand 
hätte verantworten fönnen. In den folgenden Monaten jodanız 
hatte er gar, ftatt für jich, für den Herzog von Savoyen ge= 
worben, und noch am 2. Auguſt brachte Dohna nur jene Em- 
pfehlungen für Karl Emanuel mit!). Aber eben wie Dohna er— 
Ihien, in jenen Xagen, da die Stonföderation gerade erledigt, 
und die Alte der Abjegung und Neuwahl nunnehr unabwenddba x 
waren, mußten die Zweideutigfeiten aufhören. Ruppa, und wer 
etwa fonft noch in’8 Vertrauen gezogen wurde, wiejen jegt, am 
Vorabend der Enticheidung, das Spiel mit der ſavoiſchen Kam— 
didatur zurüd; feſtſtehend auf den erjten Anfnüpfungen, forderten 
fie um fo dringender Erklärungen de3 pfälziſchen Kurfürſten, 
auf deren Grundlage deffen Wahl ſich betreiben liche. 

Dohna konnte weiter nichts thun, als daß er zum Kur» 
fürften, der fich damals zufammen mit dem Fürſten von Anhalt 
in Neumarkt befand, zurüdeilte?); und da nun erhielt er endlich 
einen auf Friedrich's V. Wahl bezüglichen Auftrag, aber au 
jetzt noch in vorfichtiger und bedingter Faſſung. Nicht jchriftlih, 
jondern mündlich wurde er gegeben), und wie er lautete, ent⸗ 
hielt er feine „völlige und endliche Reſolution““). Was Fried» 
rich V. damals noch vor allem zurüdhielt, war die Einficht, die 








1) Nah den 3. Z. befannten Quellen erjheint Gindely’3 Behauptung 
(2, 211), daß Dohna beauftragt gemwefen fei, „offen um die Übertragung vr 
Krone an den Pfalzgrafen zu erfuchen“, durchaus unbegründet. Das Schreiben 
Dohna's vom 21. Auguft, das er anführt, bezieht fich auf die für bie gleid® 
zu erwähnende zweite Mijjion ihm ertheilten Aufträge. 

2) Mit diefen Verhandlungen verflecyten fich diejenigen über die Er= 
nennung Anhalt's zum oberſten Kriegsführer. Dohna notirt nun, dab e 
mit Schreiben über die leßtere Angelegenheit zum Kurfürften von der Pils 
und Antalt zurüdgefandt fei. „Das geſchahe den 6. und 7. Augusti st. n.”” 
Die Reife war nicht abzufchlagen, „auch vornehmlich wegen ber vertrauliien® 
Nachricht, Pfalz) zu geben, und hinwider zu vernehmen, wie fih der am — 
trobenden Election halben zu halten“ (Coll. Cam. 47.) 

3) Friedrich V. an Dohna, 1619 Nuguft 26. (Anhalt'ſche Kanzlei S. I00)- 

%) Dohna an Anhalt, 1619 Augujt 21. (nach der Überjegung der Ant= 
halt'ſchen Kanzlei, S. 92. Im Original in der Coll. Cam. 47 eilt e®: 
declaration finale et entiere). 





282 M. Ritter, 


wieder anlangte, eröffnete des Kurfürjten Erklärung einem kleinen 
Kreis von pfälzischen Vertrauensmännern, der fih um Nuppam 
geichaart Hutte. So fehr diefe nun nach einer unbedingten Ent- 
icheidung verlangten, nahmen fie doch auch das, was geboten 
wurde, an, um fortan entjchieden für die Wahl des pfälziichen 
Kurfürften zu werben‘). Dohna jelber, indem er feine Thätigg: 
keit auf das gleiche Ziel richtete, ſah fich feinerfeit? noch zw 
einem andern enticheidenden Schritte gedrängt: er zerriß Di« 
Verbindung von Pfalz und Savopyen, die zur Heuchelei geworden 
war. Da nämlich, wie erwähnt, Mansfeld und de Bauſſe auz 
dem Stampfplage erjchienen waren, und bejonders der erftere jet: 
nahdrüdfih für die Wahl Karl Emanuel’3 eintrat?), jo bliet 
Dohna nichts übrig, als die Kandidatur ſeines Kurfüriten im 
förmlichen Widerfpruch gegen die fanoifche Bewerbung zu ver- 
fechten. Er that es nicht ohne Bedenfen; denn, meinte er, es 
jt nicht zmedmäßig, daß ich mich den Vorjtellungen Mansfeld's 
allein zu ſtark widerjege?). Gerne hätte er in dieſer und allen 

andern Berlegenheiten jeine Verantwortung durch das perlönliche 

Eingreifen Anhalt’3 erleichtert geliehen. 

Aber ftatt daß Anhalt fam, oder der Kurfürjt Friedrich eine 
bejtimmtere Erklärung jandte, ging am 28. Auguſt noch einmal 
eine Warnung des Fürften Chriftian*) ab vor übereilter Wahl. 
Als fie niedergefchrieben wurde, war die Wahl, am 26. und 
27. Auguft, bereit? vollzogen. Abgeiehen von etiva einem halben 
Dugend böhmijcher AWdeliger) ftimmten ſämmtliche Wähler der 
böhmischen Kronlande für Friedrich V. 





1) Über die Wirkungen der pfälzifhen Erklärung vgl. Dohna's Bericht 
vom 22. Auguft (Anbalt’ihe Kanzlei ©. 95). 

2) Er jagte: que dans six mois il a moyen de delivrer six tonneu 
golts, pourveu qu’on l’accepte aux conditions convenables (Dohns, 
p. 8. zu dem Bericht vom 21. Augujt Coll. Cam). 

8) a quoy (propositions de Mansfeld) n'est pas a propos que 
moy seul je m’oppose par trop. 

4% An Dohna. Coll. Cam. 47. 

6) Die Ziffern weichen in den verjdiedenen Angaben (Gindely in den 
Sigungsberihten der Wiener Akademie 31, 61. 62; Dohna, Augult 21. 
Anhalt'ſche Kanzlei S. 101; Lebzelter, Augujt 26. Müller 3, 220) ein wenig ab. 





Iitiscellen. 


Ein italienifhes Stadtrecht des Mittelalters. 
Bon Karl v. Hegel. 


Lodovico Zdekauer: Il Constituto del Comune di Siena del. 
anno 1262. Milano, Hoepli. 1897. CXV, 519 ©. 

Derfelbe: Il Frammento degli ultimi due libri del piü antico Cor- 
stituto Senese (1262—1270). Siena. Estratto dal Bullettino Senese 
di Storia Patria.. 1896. 96 ©. 


Eine rege Thätigfeit gibt fih in Stalien in Erforſchung der 
Nechtöquellen des Mittelalterd fund. Es liegt auf Diefem Gebiet ein 
unermeßlich reicher Stoff vor, der faum zu überfehen und nod 
ſchwerer zu bewältigen it. Da verhältnismäßig nur wenig davon 
befannt ift, Hat man umfomehr dankbar zu fein für das, was und 
durch Veröffentliyung geboten wird. Im vorvergangenen Jahre 1895 
erichien in Florenz ein ftarfer Quartband unter dem Titel: Documenti 
dell’ antica costituzione del Comune di Firenze, herausgegeben 
von P. Santini, Bd. 10 der Documenti di Storia Italiana & 
enthält in der Einleitung ein Verzeichnis der Beamten der Aepublif 
Slorenz bi8 zum Sabre 1250 und im Tert Urkunden des Staates 
bis zu demjelben Jahr. 

Anderer Art iit das oben genannte Wert, das eine Statuten 
fanıınlung von Siena aus dem 12. und 13. Jahrhundert bringt. Der 
Herausgeber 2. Bdefauer, zur Zeit Brofefjor an der Univerfität Siena, 
hat ſich bereit3 verdient gemacht durch Veröffentlihung der Statuten 
fanımlungen von Piftoja aus den Jahren 1284 und 1296, die in 
zwei Duartbänden 1888 und 1891 bei Höpli in Mailand erjchienen 
find. Seine neue Arbeit, die ich hier anzeige, hat auf dem Titel das 





286 8. vd. Hegel, 


tractui adjicientes, ut nulla legis occasione .. . praelibata donati 
infirmari vel revocari valeat. Der Brundjtod und Stern des geltende 
Rechts war vielmehr das germaniſch-langobardiſche. 

In der rechtsgeſchichtlichen Abhandlung iſt der Herausgeb 
hauptſächlich bemüht, die Herkunft einer Reihe von Statuten au 
Verordnungen und Nathöbefchlüffen der früheren Zeit nachzuweiſe 
Zum Theil find diefe felbit mit Jahreszahlen datirt, das frühel 
von 1186, au8 dem Jahre, in welchem Kaiſer Heinrih VI. die Fre 
beiten der Republik Siena am 25. Oftober beitätigte (Stumpf 459% 
Aus dem ihm vorliegenden reichen archivaliſchen Material ermäß 
3. Ämterbücher und Aufzeichnungen verfchiedener Behörden, wie z. ! 
Libri d’Entrata della Biccherna, Libri dei Pretori u.a. M 
vermißt eine vorgängige Überficht von diefen Ardjivalien, wie er ei 
foldhe in feiner Ausgabe der Statuten von Piſtoja (Bd. 1 Praefat 
©. LXVII) vorausgeſchickt hat. 

Im Zuſammenhang mit dem Quellennachweis handelt Zdelau 
auch von dem Urſprung und der Bedeutung einzelner Staatdämter, 1 
bierbei bejonderd in Betracht foınmen. Es war nicht feine Abitd 
die Verfafiungsgeihichte von Siena, wenn auch nur in einer furze 
Skizze, darzuftellen, wie man jie gern hier finden möchte. Dod er 
jiedt man aus dem, was über die wichtigſten Staatdämter mitgetheil 
ift, wenigſtens fo viel, daß die Verfaſſungsgeſchichte von Siena in 
ganzen diefelben Entwidlungsphafen durchlaufen hat, wie die italie 
nifhen Stadtrepublifen überhaupt. Vgl. meine Gefchichte der italie 
nischen Städteverfaffung 2, 205 ff. und 245 ff. 

Das oberite und wichtigſte Staatdamt war der zuerft von Kaiſe 
öriedrich I. in den Städten Staliend eingeführte Poteſtas (Podestà 
Diefer wurde nachher das gewählte Oberhaupt der Stadtrepubli 
des fogenannten Comune. Er wurde nit aus den Bürgern de 
Stadt gewählt, ſondern von auswärts berufen, um nicht durdy Be 
wandtichaft und Familienrückſichten gebunden zu fein, und feine Amti 
zeit dauerte nur ein Jahr, worauf er Rechenſchaft über feine Amt: 
führung ablegen mußte. In Florenz wird der erjte Podeſta 12( 
genannt (Villami L. V c. 32), in Siena fommen zuerjt zwei Podef 
1229 bis 1230 vor (Prefaz. S. XXIV) Auf den Podeſta, de 
der Rath des Comune zur Seite ftand, wird die Geſetzgebung fein: 
Amtszeit zurüdgeführt; daher ſpricht diefer in den Statuten in erftı 
Perſon, als der, der fie fundgibt und ausführt. In der Statute 
fanmlung von Siena bezeichnet der Herausgeber S. XXIX d 





288 8. v. Hegel, 


Einfegung des Ausfchuffes der Vierundzwanzig, zur Hälfte Popo— 
lanen, im Sahre 1240, die im Rathe della Campana faßert. 
Mit diefen Vierundzwanzig find in Florenz die zwölf Älteten 
(Anziani) zu vergleihen, die im Jahre 1250 mit dem Volls- 
capitan eingefeßt wurden (Villani VI c. 39), nit aber mit ber 
florentinifchen Signoria dei Priori delle Arti, die bei der zweiten 
Erhebung des Volks (si fece il secondo popolo) im Jahre 1282 
in's Leben trat, womit die nberen zwölf BZünfte zur Regierung ge- 
langten. In Siena nahmen allein die Zünfte der Kaufleute und der 
Richter und Notare durch ihre Vertretung im Rathe an der Staats- 
regierung Theil (©. LIf.). 

Bon anderen Ämtern erwähnt der Herausgeber die 13 Emendatori 
del Constituto, die zuerjt 1226 vorkommen, eine ftändige Behörde, 
jährlih aus den drei Stadtquartieren (Terzi) im großen Rathe ge= 
wählt, welche die Aufgabe Hatte, die Beichlüffe der Räthe abzufaſſen 
und felbjit Anträge zum Nutzen und zur Ehre der Stadt zu ſtellen 
(S. XVII. Sodann die vier Provveditori di Biccherna, denen 
nebft ihren Unterbeamten die Finanzverwaltung oblag; zu diejen ge⸗ 
hörten drei Pretori, die die Zehnten und GStrafgelder erhoben 
und aud die Straßen und Mauern überwadten (S. XXVII), ſowie 
der Bulgano, der das Münzamt verwaltete. Nur obenhin berührt 
8. die Gerichtöverfaflung, über die mehr zu jagen war, als daß die 
Consoli del placito die Vormundsſachen und die freiwillige Ge 
richtöbarkeit beforgten (S. IX). Aus dem Statut Dift. I Rubrik 228 
De judice foretano eligendo ergibt fi, daß dem Poteſtas ein 
Judex zur Seite ftand, der gleidyfal8 wie jener von auswärts be 
rufen wurde und ein Sahr im Amte war. Er unterftühte den 
Poteſtas bei den Rathsverhandlungen und überwachte alle Staatd- 
behörden mit Ausnahme der Richterämter, wobei er darauf zu fehen 
hatte, daß fie ihre Funktionen den Gefeken gemäß audübten. Cr 
war aljo nicht ſelbſt Richter, fondern nur fontrollirende Staat 
behörde. Als Richterämter, die feiner Kontrolle nicht unterftanden, 
jind genannt die Richter de3 Comune, die Malefizherren (domini 
maleficiorum), der Kämmerer und die vier Proviſoren de Comune, 
die consules plaeciti, die Konfulen der vornehmen Frauen (consules 
dominarum) — eine merkwürdige Vertretung des weiblichen Ge— 
ſchlechts! 

Anders und beſſer organiſirt zeigt ſich die Gerichtsverfaſſung 
von Florenz in der Statutenſammlung von 1321. Die Amtsdauer 





90 K. v. Hegel, 


beſtimmt: Wer einen Friedensvertrag durch Zotichlag oder Bermundum 
bricht, der und feine Erben follen auf immer aus der Stadt verbanzıt 
fein und ihr Vermögen für die Kommune eingezogen werden. (R.23_) 
Vorbeugend verordnet ein anderes: Wenn Feindfchaft entiteht, ſo U 
der Poteſtas beide Parteien verbannen (68). Wllgemein fagt R. 29 : 
Wenn jemand einen Andern beleidigt (quicumque fecerit aliquam of- 
fensionem alicui), defjen Vermögen foll der Kommune haften. Diete 
unbeftimmte Faſſung des Ausdrudes gab der herrichenden Partei eine 
ſchneidige Waffe in die Hand. Man weiß, melden maßlofen Ge— 
brauch die Guelfen in Florenz von ihrer Gewalt machten: wer wegen 
ghibellinifcher Gefinnung verdächtig erfchien, wurde von allen Ämtern 
ausgeichloffen (Madjiavelli Istorie Fiorentine im 3. Bud). 

Berbannung von Bürgern findet nur ftatt wegen Totſchlags oder 
Verwundung (67), aber auch zeitweije für Miffethat, wenn jemand Die 
Geldſtrafe nicht bezahlt (91). Straflos ift Miſſethat gegen Verbannte 
(92), und geitattet ift Rache für Mifjethat (238). 

Enthauptung trifft den, der an einem Bürger oder Landbewohner 
(de civitate vel comitatu) Totſchlag oder Verwundung, auf die der 
Tod erfolgt, verübt (187. 188). Wer ihn außliefert, erhält 100 lib. 
Belohnung; 500 ift jchuldig, der ihn verbirgt (189). 

Körperverlegung oder Mißhandlung wird mit Gelditrafe gebiißt 
(179), felbft im Fall, wenn einer Hand oder Fuß, Nafe oder Jung © 
abfchneidet, nur mit 4 lib. für die Kommune (186). Auf Pieh>’ 
stahl fteht Erfah des Werthed und höhere Geldftrafe; wenn abe‘ 
jemand fie nicht bezahlt, muß er einen Tag in Stetten auf dem Mart ÆEt 
ftehen und wird nachher ausgepeiticht und verbannt (209). 

Berhältnismäßig Hart ift in diefen wie in anderen Fällen ee“ 
Beitrafung des Unvermögenden, der die Geldbuße nicht erſchwinge— = 
kann. Wer Raub an Sohn oder Tochter oder einem andern Fa 5 
milienglied begeht, joll 500 den. bezahlen oder er wird anı Galge — 
gehängt (201). Wer Frevel am Haufe, Thür oder Dad, durd Stein ⸗ 
werfen verübt, bat 100 lib. zu bezahlen, oder es wird ihm di 8 \ 
Hand abgehauen (203. 204). Wer einer Frau ein Kraut gibt, um Fehl. E j 
geburt zu bewirken, oder einen Liebestranf oder totbringenden Tran 
bereitet, iſt 200 lib. ſchuldig, oder er wird wie ein Totjchläger vr— 
urteilt (198.) Auf Brandftiftung jteht Verbannung des Thäters (222. 

Das gerichtlihe Verfahren findet ftatt zuerſt dur Inquiſitio 
des Poteſtas und der Ortsbehörden. Dabei foll aber die Torte ! 
gegen Bürger nicht angewendet werden, außer wenn einer ein Die 





d 








292 L. Erhardt, 


Straßen gewährt werden (169). Eine öffentliche religidfe Zeremonk « 
ift angeordnet: Alle Bürger in Stadt und Land im Alter von 1 X 
bi8 60 Zahren follen zu Anfang des Auguft in der Stadt erſcheine 
und nebit ihren Leuten Kerzen bis zur bifchöflihen Wohnung tragemm 
ausgenommen Kranke und Verbannte (37). 

Der Herausgeber hat ſich viel Arbeit mit nicht weniger als zeig 
Regiſtern gemadt. Man fann darin aud zu viel thun und Demd 
Auffinden erjchweren. Wejentlih nöthig find nur Namensverzeic 
niffe von Perjonen und Orten und ein Glofjar mit Worterflärungemm 
legtere werden hier ſchmerzlich vermißt, weshalb mandeg wexr 
ftändlich bleibt. Für die Spradforihung wären dieſe Statuten aux. 
dem 13. Jahrhundert außerordentlich ergiebig. 

Erlangen, im Sanuar 1897. 


Staat und Wirthihaft der Germanen zur Zeit Eafar’S. 
Bon 4. Erhardt. 


Der im vorigen Hefte diefer Zeitjchrift veröffentlichte Aufjag von 
Wittih über die wirthichaftlihe Kultur der Deutfchen zur Zeit Cäſar's 
und das Buch von Hildebrand, an das er jich anlehnt, erweden 
ſowohl methodisch wie fachlich fo ftarfe Bedenken, daß e8 mir erwünidt 
jheint, fie nicht ohne Entgegnung zu lafjen. Hildebrand wiederholt den 
ſchon oft gemachten Verſuch, die ältefte Kultur der Germanen durch Ber: 
gleiche mit Völkerſchaften, die noch heute auf primitiver Kulturſtufe ftehen, 
zu erflären. Es find aljo wefentlih ethnologifche Geſichtspunkte und 
ethnologiſche Beweismittel, deren ſich der Verfaſſer bedient. Die 
Beugniffe der Alten vernadläffigt er zwar nicht, und ich will ihm 
durchaus nicht den Vorwurf machen, daß er nicht, namentlich für die 
jpäteren Zeiten, auch ernithafte hiftorifche Studien gemadht habe. 
Aber er befchränkt fich überall auf die allgemeinen wirthichaftlichen 
Beugniffe, zu deren Erflärung er dann eben in feinen etbnologifdh- 
nationalöfonomishen Studien den Schlüffel zu befigen meint. 

Gerade einem ſolchen Buche gegenüber hätte nun ein Hiftoriker, 
wie mir jcheint, allen Anlaß gehabt, feinerjeitd defto energifcher den 
biftorifhen Standpunkt wahrzunehmen und vor allem die Frage aufs 
zumerfen, ob denn die Ergebniſſe des VBerfaflerd zu dem Geſammtbilde, 
das wir fonit von Leben und Urt der Germanen gewinnen, paſſen. 
Wittih bat ji aber von den Fugen und ficheren Ausführungen 





2885 2 Ir. 


wrmusiwfwn sera Yır md Äharufter me meter Murlkhkiie 
“rt mn Iusur tms Sol?es Tmigtienr fe uvrici 
Silbemun sm Birne sem ur mar = em mm yefoemem, 


-umal ‚u mager 3b eru Ne Siniderımger. Ne me Jüer 
vn Swwstomge Icoort ort. sBer ice sur Jene erw lN 


Jaurhundert ‘unter edenber Ycmm u wr Soriieilung auifen. 
ser Birmer ıder be Barer -gemin mE mann din 
ereahräiger? 

Bir dem sd Fudı son ibefnumd peruiesz ern Ip 
Feige! harur zu tere. zu meiden Jırgamgen ınd Feinfck 
“4 "fir, Beam Man ION ener meinen Zete es norrichea Su 
mie 3er unchicartlider sudgeser mö Te yedjam ı& Norm 
Anqgelpuuft nie illes länge immieler zu Sinnen yienbr. 
Kardinslieiler. den Hßdeseınd 'o jemuhr ar. Tt m. Z. U 
ganz uberfeher Zar. uas Joh auf ‚eder Seıre mierer uetlen be 
tritt 5a die zerman:ichen ZBölfer vor ıllem Eriezsnjifer 
ihre Fürſten vor allem Kriejsririteı narem. Tas Ariegs 
aber hat teine eigenen Beiege, du auch zur Die geiammfien 
richtungen eines Boll3 zit ohne Eirmurfung blerben fnmen & 
macht Hildebrand gegeniiber die treiterde Bemerfung, daS un 3 
alter ein Inititut von jo weitreichender Zırfumg amd anf dien 
ſchaitliche und rechtliche Entwidimng, wie das Lehusweſen. hanptſẽ 
aus militäriihen Bedürjnifſen hervorgegangen it We mü 
nun, wenn aud bei den io eminent friegeriidyen Rorfahren der n 
alterlichen Teutihen bereits der militäriihe Autor amt das ı 
fchaitlihe Leben Einfluß geübt Hätte? Tie Schilderug bei | 
fiber die Sueven hebt das friegeriihe Moment rur die Cimrie 
des Aderbaues bei ihnen ausdrücklich hervor, und wollen wir e 
Died Zeugnis bejonders in den Vordergrund rüden, jo haben 
anch die Pflicht, ihm nad allen Seiten bin gerecht zu mn 
Ebenſo wenig fann man allgemeine Betrachtungen über pru 
tulturanfänge dagegen geltend maden. Dan muB immer von W 
betonen, daß wir allen rund haben, uns endlid von der bi 
9) Jahren herrſchenden Vorijtellung zu emanzipiren, die die Gern 
ala ein eben Die erſten Unfänge der Nultur bei fich entwicke 
Not betrachtete. Wir wiffen, daß fie viele Sahrhunderte vor i 
erjten VYnftreten in der Geſchichte, aus Urfiten fommend, die ı 
mit andern ſpäter als Herrſcher und Kulturträger über die ı 
Welt ausgebreiteten Stämmen gemeinfam waren, ihr Zand mit bei 


2% L. Erhardt, 


von magistratus ac principees fpricht, alfo einen gar nicht mĩ 
zuverftehenden Ausdrud gebraudt, fo kann ich ihre Aufſtellung eb 
nur als gänzlich willfürlich bezeichen. 

Die Beugniffe Cäſars über den Aderbau der Germanen ha 
ich felbft früher als ficher auf Feldgemeinfchaft deutend erklärt (Göttin 
Gel. Anzeigen 1882, Stüd 39/40). Da mir aber alle fpäter 
Beugniffe von Tacitus ab vielmehr auf Eondereigen neben ungetbeilte 
Gemeindebefig zu deuten fchienen, jo glaubte ih damals, daß w 
in diefer Beziehung einen ausgeſprochenen Widerfpruch zwiſche 
Cäfar und Tacitus anzuerfennen hätten, und daß die Zeugnifi 
Cäſars, wie dies bei den Sueven ja auch deutlich hervortritt, nu 
auf einen friegerifhen Ausnahmezuftund zu deuten wären. JInzwiſchen 
ift e8 mir aber, namentlich durch das Studium des trefflichen Seebohm 
ichen Buches über die englifhen Torfgemieinden, zweifelhaft geworden 
ob wir nit auch die Cäſariſchen Nachrichten auf eine befonder 
Art einer mit dem Eondereigen verträglihen Gejammtbeftellm 
beziehen und fo aucd eine gemwifje Übereinflimmung der Cäfarijge 
und Taciteifchen Berichte gewinnen fönnten. Da auch Hildebran. 
und Wittich (dgl. Wittih’8 Exkurs: Über den Urfprung der Groß 
grundherrfchaft, in feinem Buche: die Grumdherrfchaft in Nordmeit 
deutichland) durch ihre Unterfuchungen dazu geführt worden jind, di 
Seldgemeinfchaft für die Germanen zu leugnen, fo würde id alj 
wenigftend in dieſer Beziehung zu theilmeife übereinjliimmende 
Refultaten mit beiden gelangen. 

Seebohm hat in feinem Buche nachgewiejen, daß die Wirtl 
ſchaftsform der fog. Gemenglage in England fi durch's gan; 
Mittelalter hindurch bis in die ſächſiſche Zeit zurüdverfolgen läß 
An Deutfchland treten ihre Überrefte fo typifch hervor, daß Meitze 
fie als die eigentlich germanifche Form, im Unterfchied zur keltiſche 
Hoffiedelung, in Anſpruch genonmen hat. Bei diefer Wirthichaftsfor 
ift eine gewifje Gefammtdigpofition für Beſtellung und Ernte, d 
fog. Flurzwang, unerläßlid. Etellen wir und nun einmal e 
ſolches Gewann bein Gemenglage-Syjtem vor mit feinen gleid 
Streifen Uderlandes, die von den Einzelnen in feiter Ordnung m 
einander bewirthichaftet werden müflen, gewinnen wir Da nicht e 
Bild, das fowohl zu den Zeugnis des Cäſar wie des Tacitus b 
zu einem gewifjen Grade merkwürdig ftimmt? Nun it ed allerding 
richtig, daß, wo wir diefe Wirthichaftsforn im Mittelalter treffe 
jie an Hörigendörfer gebunden erjcheint. Aber ift in der Sad 





298 L. Erdardt, Staat und Wirthſchaft der Germanen zur Zeit Gäfar'S_ 


an’3 Land gingen, um den Boden zu beftellen und Getreide ein- 
zuerndten. Die Germanen find jpäter ein Aderbauvolf par excellence 
geworden, und fie haben dabei an den überlieferten Formen auf's 
Zäheſte feitgehalten. Ich will damit nicht fagen, daß fie fi nach 

fefterer Niederlafjung nicht auch den Berhältniffen des Bodens und 

anderen neuen Bedingungen angepaßt haben. Im Gegentheil, ich 

ftimme auch darin Knapp bei, daß auch die Siedelung in Einzelhöfer, 

wo Berhältniffe und Boden fie empfahlen, jchon in der Urzeit neben 

ber Gemenglage bei den Germanen in Anwendung kam, ohne daB 

diefe Form nothwendig erit von den Kelten übernommen werden mußte 

Uber wo feine ganz bejondere Veranlafjung zu Neuerungen vorlag, 
da hielten fie allerdings zäh an den altüberlieferten Formen jeht, 
und fo haben ſich bi8 auf den heutigen Tag, trog wirthſchaftlichert 
Unzuträglichfeiten, die Überrefte einer Wirthichaftsform erhalten, dũe 
nit nur bis auf Tacitus und Cäſar zurüdreiht, ſondern dereı 
Anfänge vielleicht noch ein Jahrtauſend vor diefen Schriftitellemen 
zurüdliegen. 





800 Kiteraturbericht. 


dem der Geſellſchaft Ernft ift. Nur eine gewiſſe Belefenheit nd e ñ n 
gewiffer Sammelfleiß werden ihm zugeftanden. (Engeld nennt iEn 
„einen literarifchen Abenteurer, der im runde feined Herzens a urf 
die ganze Dfonomie pfeift“). 

Leipzig. P. Barth. 


TH. Fechner. Bon Kurd Laßwitz. (Frommann's Klaffiter der Phi Io⸗ 
fophie, Herausgegeben von Falckenberg. Bd. 1.) Stuttgart, Fr. Jrommazrn 
(E. Hauff). 1896. VII, 207 ©. 175 M. 

Für die jtarfe Zunahme des biographiichen Interefjes in Deutſch- 
land bot die nach dem Vorbild Morley’8 (English Men of Letters) 
entivorfene Unternehmung Bettelheim’8 (Führende Geifter) ein erfreu- 
liches Leihen. Sept iſt auch der ausſchließlich philoſophiſchen 
Autoren gemweihten anderen englijhen Eerie: Blackwoods philo- 
sophical Classics ein deutſcher Nachfolger erftanden, ber nad dem 
bisher erjchienenen Bänden durchaus ebenbürtig ſich neben die er- 
wähnten Unternehmungen ftellt und dem ein gleiche Gedeihen nit 
ausbleiben möge. Eine hiſtoriſche Zeitjchrift hat aber allen Grund 
diefen Erjheinungen mit Intereſſe zu folgen, ift doch dies Beſtreben 
in das Leben und in die Geſchichte des Werdend der großen Deuter 
jih zu verſenken nur ein Spezialfall des kräftig jich regenden 
hiſtoriſchen Intereſſes überhaupt. 

Wenn unter dieſen Geſichtspunkten die und vorliegende vorzüg⸗ 
liche Arbeit betrachtet wird, fo gilt unfer Lob zunächſt der glänzend 
gelungenen Darftellung Fechner's als Hiftorifcher Perjönlichkeit. Wie 
er die von der Vergangenheit ihm überlommenen Anregungen gan; 
in fid) aufgenommen, wie er fie zu eignen felbitändigen ®edanten 
umgeprägt und fie in diefer Form der Nachwelt weiter gegeben hat, 
diefe größte Aufgabe der Biographie iſt auf engem Raunte beinahe 
mujtergültig gelöjt — gelüjt von einem Mann, der ſich feinerfeitd zu 
denen zählen darf, deren eigne Arbeit ihren geficherten Boden in 3.8 
Lebenswerk findet. Nur an einer Stelle mödte ich das ſonſt ehr 
jeine hiſtoriſche Verſtändnis des Autors vermiffen. Es ijt heute zur 
Binjenwvahrheit geworden, daß die fogenannte deutſche Naturphilos 
jophie unſägliches Leid über Deutichland im allgemeinen und die 
deutſche Naturwiſſenſchaft im Bejondern gebracht Habe. Dies ift fo 
allgemein anerfannt, daß es, wie alle allgemein anerlannten Säße 
nit mehr wahr iſt. Daß F. durd) die Naturphilojophen, namentlich 
durch Ofen jtarf beeinflußt worden, würde man aud) ohne fein aus 





302 Literaturbericht. 


bed ſubjektiven Gedankenſpiels und des objektiven Beweiſes gewatg ar 
bat. Er verfäumt es nie ausdrücklich darauf hinzumeifen, wo D>ie 
Analogie an die Stelle des Beweiſes tritt und noch mehr; ihm dern 
durch und durch religiös denkenden Manne ift es nie eingefallen Die 
Überzeugungen, die ihm dad Gewifjeite waren, an denen ihm alles 
andere Wiſſen hing, nun aud für Undere als verpflichtend nachweiſen 
oder fordern zu wollen. 

Der Ausſpruch Fichtes: „Was einer für eine Philoſophie Hat, 
das kommt darauf an was für ein Menſch er ift“, ift!wie für F. 
geichrieben. So gewiß ihm die Beſeeltheit ded Kosmos war, fo feit 
ed ihm jtand, daß über wie unter der Schwelle deſſen, was und die 
Welt des Bemwußtjeind bildet, noch pſychiſche Weſen höherer wie nie= 
derer Art vorhanden find, die ihr Leben wie wir das unſere zuleß T 
al8 Momente im Bemwußtjein Gotted zu führen haben, je heller = 
diefe „Zaganfiht” gegenüber der „Nachtanſicht“ des Materialgm> 
oder des Dualismus zwifchen Körper und Seele hervorhob, jo w 
e3 ihm ferne, die, welche in der „Nachtanſicht“ ihr Genüge finden — 
zu einer anderen Weltanfhauung zwingen zu wollen. Nur def 
wollte er Zeugnis ablegen, daß er bei diejer fröftelnden toten An — 
jiht von Welt und Leben nicht verharren fünne, und Andern, diem 
dasfelbe Gefühl hatten, wollte er zeigen, daß dieje herrſchende Nacht = 
anficht fi mit Unrecht ald die „allein wiſſenſchaftliche“ bezeichne. 

Denn hilfreich liebevoll war fein ganzes Weien. Wir brauche 
nur feine „Nanna oder über das Eeelenleben der Pflanze” zur Hancc 
zu nehmen, um zu empfinden, wie es ihn kränkte, daß ſeinen farbige 
augentröjtenden Lieblingen die Seele abgeſprochen wurde, mit welh⸗i— 
feinen innigen Blid er ihre Bewegungen verfolgte, um zu zeigen 
daß es wirkliche Xebensäußerungen find, anderer Art als unſer Lebe 
fie zeitigt, aber dem Weſen nad nicht verſchieden. Und dieſe Lib — 
zum Schönen jtrahlt und aus allen feinen Schriften, namentlid) ade 
aus der Vorſchule der Afthetif entgegen. Es ijt erftaunlich, wie wenig 
bedeutende Meiſterwerke er gejehben und wie er aus dem Wenigen 
doc ebenfo eine großartige Anjiht vom Schönen zu gewinnen ver 
mochte, wie aus den wenigen unvolllommenen pſychophyſiſchen Eı- 
perimenten, die er mit befchränfteften Hilfömitteln machen mußte, eine 
in ihren wejentlihen Zügen noch heute geltende Theorie des geiftigen 
Lebens entjtand. 

Möge uns dies in den Mauern Leipzigd eingefchloffene und 
doc weltumſaſſende Leben 5.8, wieder einmal daran erinnern, dab wir 





304 Literaturbericht. 


Abneigung gegen einen ausgeſprochenen Mechanismus wurde die Nadt: 
heit dieſer Konſequenzen mehr verjchleiert; vorhanden war die Grund⸗ 
anſchauung bei ihm ſowohl wie bei Hobbes; da8 hat T. m. E. un⸗ 
widerleglich dargetjan. Die ſchroffe Konfequenz und Geſchloſſenheit 
ſeines Syſtems verdankt Hobbed dem Umſtand, daß er in hewor⸗ 
ragendem Maße, wenn auch nicht zu den Owruadeis, fo doch zu den 
Philoſophen gehört, die erſt nad volljtändiger langjähriger Ans= 
veifung ihrer Gebanten in die Offentlichkeit fih wagen. Bis auf 
ganz geringfügige Ausnahmen hatte er an dem einmal Durchdachtent 
nicht8 mehr zu ändern. Wenn ihm häufig Ankonfequenz darin nach⸗ 
gejagt wird, daß er, der Vertheidiger des Königthums, fpäter mit dest 
Protektor feinen Frieden machte, um nad) der Reftauration des König = 
thums fich wiederum dieſem anzufchließen, fo braucht man zur Ver⸗ 
theidigung Hobbes' gar nicht einmal zu dem gewiß richtigen Sap zut 
greifen, daß kein Menſch gezwungen ift, praltifch der Märtyrer fenex 
theoretiichen Anfihten zu werden. Die Wahrheit ift nämlich, 33 
Hobbes überhaupt fein Mann der Partei oder einer Partei wur, 
fondern lediglidy ein Mann der Ordnung, der eine Auflehnung gegen“ 
irgend welche irgend erträgliche Regierung fat für eine Sünde anjag- 
Diefe Sünde begingen in feinen Mugen die Barlamentarier als fie ſick) 
gegen das Königthum wandten, die Noyaliiten als fie gegen Grom= 
well fonfpirirten, die Nonkonformirten als fie gegen Karl II. agitirter „ 
in gleihem Maße. Es war diefe Stellung durchaus im Sinn fein 
Leviathan, fie war ganz feinem auf wiſſenſchaftliche Problem 
gerichteten Geiſt angemefjen, für den jede politiihe Ummwälzung en 
Störung ſchlimmſter Art bedentete. Aber wenn wir ihn dafür tadels® 
wollten, jo müfjen wir fein Verhalten mit dem Descartes’ vergleichen⸗ 
der dies Bedürfnidg der Ruhe auch auf feine Wiſſenſchaft in deut 
Grade übertrug, daß er es nicht wagte, fih zu den Anfihten® 
Galiläi's, die er privatim für richtig hielt, fi auch öffentlih zu= 
befennen. _ 
Eine folde NRüdjiht auf das eigne Wohl war Hobbes am J 
wiffenfchaftlihem Gebiet fchlechthin unmöglid. Seine Leugnung de 
Seele, feine Verwerfung des freien Willens, feine Anfidt von der 
Kirche als einer menſchlichen Snititution konnten ſehr wohl due 
ernfteften Folgen für ihn nach ſich ziehen, und doch Hat er nienod2> 
verfäumt für feine wifjenfchaftlichen Überzeugungen in die Arena „=! 
fteigen. Die Controverſe mit Bischof Bramhall, die T. in ſehr danken S⸗ 
werther Weife ausführlih Ddargeftelt Hat, gibt gegeniiber dest 











806 Literaturbericht. 


weitere Bände ſollen den Sozialismus in England, Frankreich und 
den übrigen Ländern während des 19. Jahrhunderts ſchildern. 

Man braucht von den jeitend des Bf. ‚für jeden „bürgerliden 
Gelehrten“ vorausgefehten Vorurtheilen in feiner Weile beeinflußt zu 
fein und wird gleihwohl gejtehen müfjen, daß das geplante Ustr= 
nehmen durch den vorliegenden Band in der unglüdlicäften Vie 
inaugurirt wird. Lag gerade für die Geſchichte der ſozialiſtiſchern 
und kommuniſtiſchen Ideen im Alterthum und Mittelalter eine Nie 
der trefflichiten Vorarbeiten vor, fo berührt e8 Doppelt peinlich, deiEs- 
uns in K.'s Werk eine mit fo außerordentlich geringer Sadhlenntni&$- 
bearbeitete, zum guten Theile auf längft antiquirte Arbeiten ſick) 
ftügende und durchaus unauögereifte Darftellung geboten wird — 
Überaus ärmlih und irreführend ift namentlich die Schilderung de 
Erſcheinungsformen des Sozialismus im Altertfum, die jih auf 
einen ganz flüchtigen, von jeder eingehenderen Kritik abfehenden Ab 
riß des Platonifchen Idealſtaats beſchränkt. Wie der Bf der Vor= 
gänger Plato's auf dem Gebiete der Sozialpolitit überhaupt nidyt 
gedenkt, jo wird die vielgeitaltige Entwidlung des antiken Sozialismus 
feit Plato mit ein paar Sägen voller Mißverftändniffe abgethan. 
In diefer Zeit iſt e8 angeblich „nicht mehr das Gemeinwejen, was 
die Philoſophen beſchäftigt, jondern das liebe Ih“ (S. 15). Bon 
den Gedanken der Ariſtoteliſchen Politikt, von den fozialpolitiiden 
Idealen der Stoa und deren Nachwirken in den mittelalterliden 
Anſchauungen vom Naturrecht fein Wort! — Leider muß das Urtheil 
über K.'s Darftelung der Geſchichte des Sozialismus und Kom 
munismus im Mittelalter noch ungünjtiger lauten. Sind aud hie 
des Bf. Vorftudien recht ungenügende gemwefen, fo ift doch vor allem 
der Doktrinarismus feiner grob materialijtifchen Geſchichtsauffafſung 
für Diefen Abſchnitt befonders verhängnisvoll geworden. Wer wie 8. 
die religiöfen und kirchlichen Kräfte des Mittelalterd einfach ignoritt 
und die gejammte Eutwidlung der mittleren Beit auf foziale und 
wirthichaftlihe Beweggründe zurüdführt, muß eben nothwendig ein 
Zerrbild der thatfächlihen Zuftände zeichnen. So liegt für K. die 
eigentliche Bedeutung des Urchriſtenthums in defjen angeblichem zie- 
bewußten Kommunismus; „fein praftifches Wirken, nicht feine frommen 
Schwärmereien haben dem Chriſtenthum zum Siege verholfen“ (S. 23); 
in den Evangelien zeigen ſich deutlihe Spuren des unverhüllten 
Klaſſenhaſſes der im Urchriſtenthum ſich organifirenden „Lumpen 
proletarier* (S. 136). Das urcrijtlide deal de Kommunismus 











308 Literaturbericht. 


vorliegenden Berichte fei ein „urjprünglidh ſtilles, friedliebendes Vollkche 
zu einer Bande blutdürftiger, geiler Schurken gejtempelt worden“ u. |. m 
Zu einer eingehenderen Yuseinanderjegung mit 8.8 Auffaflungerz 
die, um es mit einem Worte zu fagen, die eines Fanatikers find, iFi 
hier nicht der Ort; fürchten wir doc, bei der Beiprechung des für 
die hiſtoriſche Forſchung werthlojen Buches ohnehin ſchon zu lange 
verweilt zu fein. Geſpannt darauf darf man aber fein, ob die Kreife, 
an die fi das Bud) wendet, eine derartige dilettaytenhafte und irre 
führende gejchichtichreiberifche Leiftung fich werden gefallen laſſen. 
Herman Haupt. 


Infamia. Its place in Roman public and private law. Br 
A. H. J. Greenidge, M.A. Oxford, Clarendon Press. 1894. XII, 2196. 


Das vorliegende Werk behandelt unter einem Titel, der, wie der 
Vf. ſelbſt empfunden hat’), nicht ganz zutreffend ift, die bürgerliche 
Beicholtenheit bei den Römern als Rechtsbegriff und die aus ihr ent 
Ipringenden Rechtsnachtheile auf den Gebieten bes öffentlichen und 
privaten Rechtes. Diefer Gegenftand kann, abgefehen von dem 
juriſtiſchen, ein allgemein gejchichtliche8 Intereſſe beanſpruchen. Denn 
einmal ijt mit ihm auf's engite verfnüpft die Bedeutung der Cenſur, 
fiher einer der eigenartigiten Bildungen des römischen Staatöwejend, 
die nimmer wieder ihres Gleichen gefunden bat; fodann tritt auf 
diefem Gebiet im Gegenſatz zur modernen Behandlung der Ehren 
minderung im öffentlichen Recht (3. B. im deutſchen Strafgeſetzbuch) 
die bereditigte Scheu der Römer vor medaniihem Generalifiren 
in politifchejurijtiihen Dingen befonder8 klar, man darf wohl auf) 
jagen, beſonders rühmlich hervor. 

Savigny (Syſtem 2, 170 ff.) hatte freilih die Lehre aufgeftellt, 
e8 babe bei den Römern von Alterd ber einen rechtlid fcharf au& 
geprägten Begriff der Ehrloſigkeit (infamia) gegeben; ehrlos (infamis) 
jei derjenige Römer geweſen, welcher infolge einer allgemeinen Regel 
(nicht der cenforifhen Willkür) bei fortdauernder Civität ihre politi 
ſchen Rechte verloren habe und gleichzeitig privatrechtlicd in der pro 
zejjualiichen Stellvertretung bejchränft worden fei. Indes Hat die 


ı) Denn Infamia ift erft in fpäter faiferlicher Zeit zum allgemeinen 
techniſchen Ausdrud für den rechtlichen Ehrverluft geworden; in der Republil 
mangelt es überhaupt an einer Bezeichnung dafür. Auch daß infamia und 
infaınes in republilfanifher Beit wenigſtens „quafisjuriftifche" Ausdrücke 
gewejen feinen, ıwie der Bf. ©. 19 behauptet, ift durchaus unerweislich. 





810 Literaturbericht. 


Hiſtoriker, eine geſchichtliche Duelle erſten Ranges für die Darſtellung 
römiſcher Sitte geweſen. Daß aber unſere gefanmte Überlieferung 
davon gar nichts weiß, iſt gewiß nicht gering anzuſchlagen. Und 
wenn der Vf. von dieſem vermeintlichen cenſoriſchen Edikt ein Bild 
nad Analogie des prätorifchen entwirft, jo hat er dabei Eines nit 
gewürdigt: das Edift der Prätoren bat freilich zu einer Neubiliung 
des bürgerlichen Rechtes geführt, aber e8 enthielt jelber nicht materielle 
Rechtsſatzungen, ſondern es war bekanntlich nichts anderes ad me 
Prozeßordnung. 

Was aber die Beitimmungen des prätorifchen Edikts de postız- 
lando über die infames anlangt, jo entbehren die Verfuche des IT- 
(S. 114 ff.), fie au8 dem angeblichen cenforifchen herzuleiten, m. E- 
jeder Beweiskraft. Wenn Ulpian (Dig. 3, 1, 1 pr.), dem ber ÖF- 
folgt, die Beſchränkung befcholtener Berfonen aus dem Beſtreben de# 
Prätors herleitet, feine Würde zu wahren, fo werden wir vielmeh 
in feinem Verfahren den gleichen Grundgedanken erkennen, welder 
der cenforifchen ignominia zu Grunde liegt: volle NHechtsfähigfent 
fett volle Rechtswürdigkeit voraus, Mängel in diefer ziehen Be— 
ichränfungen jener nad) ſich; ein Brundfag, den der Prätor auch 
außer der Stellvertretung in Prozeß zur Geltung gebradjt hat!)- 
Es ift bei diefer Auffaſſung, ganz abgefehen von einzelnen unmittels 
baren Beugnifien, wie 5.8. über die turpi iudicio damnati, felbit- 
verfländlich, daß manche Kategorien von Befcholtenen gleihmäßig vom 
Cenjor wie vom Prätor zurüdgefegt wurden. Aber wenn man bie 
ganz verjchiedenen Aufgaben und Wirkungskreiſe beider Magiftraturen 
in's Auge faßt, wenn man fih in die römische Auffaſſungsweiſe recht 
lebendig hineindenkt, die nicht nur fein Bedürfnis, ſondern eine Ab- 
neigung dagegen bat, allgemeine Prinzipien in eine wohlgeordnete 
Neihe von Paragraphen zu zerlegen, dann wird man don vorneherein 
nicht vollfommene Übereinftimmung, fondern vielmehr Abweichungen 
in der cenforifshen und prätoriihen Behandlung der Beicholtenen 


) Dafür ijt ſehr lehrreich folgende Erzählung ded Valerius Maximus 
7, 7,7, die bißher unbeachtet geblieben zu fein fcheint (auch der Vf. erwähnt 
fie nicht): der ftädtiihe Prätor Q. Metellus verweigert einem Bordellwirth 
die Einweiſung in die Güter eines gewifien Bibienus, die dieſer jenem 
teſtamentariſch vermacht hatte (bonorum Vibieni possessionem secundum 
tabulas testamenti petenti); als Grund wird angeführt, der Prätor habe 
nit gewollt huie tamquam integro civi iura reddere, qui se ab omni 
honesto vitae genere abruperat. 





812 Riteraturberidt. 


Cenſur wiederhberzuftellen (S. 102), beruht nur auf gefälfchten Alten 
ftüden der Scriptores historiae Augustae und ift darum zu ver» 
werfen; gleiche8 gilt von dem angeblichen Schreiben des Kaiſers 
Mark Aurel (S. 20). 

Indes anftatt länger bei Einzelheiten zu verweilen, deren ſich 
bei einem fo weitichichtigen Stoff unſchwer noch manche vorbringen 
ließen, widme ich lieber zum Schluß nod einige Worte der Dar⸗ 
ftellung des Vf. Sie ift einfach und Mar; die Fülle zweifelhafter 
ragen auf diefem Gebiet, die bei unbefangenem Urtheil niemals 
ſchlechthin entfcheidbar find, bringt e8 mit ſich, daß ber Bf. ſich diel- 
fach mit den verfchiedenen Anſichten anderer Gelehrter auseinander 
zufeßen hat. Hr. ©. führt dies mit fchlichter Sachlichkeit aus mb 
bält fich von wiſſenſchaftlicher Gößenverehrung, die und auf römijden® 
Gebiet heute nicht felten anmwidert, ebenfo fern, wie von gehäffigen® 
Gelehrtengezänt. Das follte ja wohl inımer jo fein. Gewiß! Aue 
iſt bekanntlich, was da fein follte, in der angeblich idealen Welt des 
realen Betriebes der Wiffenfchaft genau fo rar als anderdwo ‘dns 
ce meilleur des mondes possibles'. 

Berlin. Elimar Klebe. 





Die deutiche Kaiferidee in Brophetie und Sage. Bon F. Kamperß— 
(Zugleich al8 zweite bis zur Gegenwart fortgeführte Auflage der „Kailer- 
prophetieen und SKaiferfagen im Mittelalter.) Münden, Berlag von Dr- 

H. Lüneburg. 1896. 231 ©. 

Eine vortrefflihde Schrift! Vf. geht auf die älteften Wurzeln 
der Kaiferfage, die antifen Sibyllenprophezeiungen und die meſſi— 
anifhen Prophezeiungen des Judenthums zurüd und zeigt, wie in 
jtetigem Prozeß des Zuwachſens, der Angleihung und Umdidtung 
Sagen und Prophezeiungen aus Oft und WVeft die Gejtalt und Auf— 
gabe de3 erhofften oder gefürchteten Zufunftsfaiferd bilden und wan— 
deln. Eine umfafjende Literaturfenntni2, die fi) mit eindringender? 
Kritif und Snterpretation verbindet, ermöglicht e8 dem Bf., den un 
unterbrochenen Zufammenhang diefer Sagenbildung von Auguſtue 
und Nero bis zur Neuzeit darzuftellen und damit zugleich den vol 
tändigen Beweis folhen BZufammenhanges zu erbringen. Indem eu 
dabei veranschaulicht, wie die verichiedenen Formen der Sage fi deu —— 
Beitverhältniffen und Stimmungen der Völker anpafien oder ſi e 
gleihfam in phantaftifher Spiegelung wiedergeben, liefert er eur E- 
Stüd europäifcher Völferpfychologie, daS weit über das literarhiftm =" 
rifhe Intereſſe hinaus anziehend und lehrreid it. Wir fehen bs — 





814 Literaturbericht. 


Vapſt Stephan habe im Auftrage des byzantiniſchen Kaiſers und zu 
gunften des Imperiums die Reſtitution des Exarchats und der dazu 
gehörigen Gebiete von Pippin erbeten. Neue Geſichtspunkte bietet 
die Schrift weder im allgemeinen nody im Einzelnen. B. 


Die päpftlide Kanımer unter Clemens V. und Johann XXI ist 
Beitrag zur Geſchichte des päpftlihen Finanzweſens von Avignon. Boss 
Leo König, S. I. Wien, Mayer & Co. 189. 87 © 220M. 

Eine Geſchichte des päpftlidhen Finanzweſens im ausgehendenz 
Mittelalter ift eine Aufgabe, deren gediegene Erledigung bei der un- 
endlichen Fülle des Stoffs leider noch nicht jo bald zu erwarten ift- 
Neihe Materialien zur päpſtlichen Finanzgeſchichte unter dem ertewe 
Avignoneſer Papit find vor fünf Jahren von den Serausgeberst 
de8 Regestum Clementis V. in einem bejonderen Bande (Appern- 
dices t. 1) veröffentlicht worden. Ihre Verarbeitung mußte um Jo 
erwünjchter erjcheinen, wenn es gelingen konnte dabei die Frage zu 
löfen: welche Einrichtungen find erft in Avignon unter der weſentlich 
veränderten Lage der Kurie entftanden, und welche haben fchon unter 
den Vorgängern Clemens V. ihre Ausbildung erfahren? König will 
mit feinem Buche die Erkenntnis fördern, „daß mit Johann XXIL 
nicht in einen jo umfafjenden Sinne, wie man gewöhnlich annimmt, 
eine neue Epoche des päpftlichen Finanzweſens begonnen, jonderm 
daß jchon unter Klemens? V., ja zum großen Theil unter Bonife 
zius VIII. das Kammerſyſtem der folgenden avignonifchen Päpite de 
ftanden bat.“ Wenn nur unfere Duellenpublitationen für die Zeit 
vor und nach Clemens V. irgend ausreichen könnten, um bie erfor 
derliche Vergleichung allfeitig durchzuführen! Sicher aber war do 
da8 erfte Erforderniß für jemand, der jenen Nachweis unternahm, 
daß er daß gedrudte Duellenmaterial mindeitend für einige Jahr⸗ 
zehnte einigermaßen beherrichte. Aber fo ausgedehnte Duellenftudien 
bat K. keineswegs gemadt. Auch für die Zeit Clemens V. reicht feine 
Kenntnis der Quellen nicht fehr viel über die Publikation der Bene 
diktiner hinaus. Was er zur Ergänzung und für die Zeiten vor 
ber und nachher (Johann XXII. jteht doch auch auf dem Titelblatt!) 
beibringt, ift von ihm aus einer eng begrenzten keineswegs immer 
gut gewählten Literatur gejchöpft worden, und dabei ift ihm noch 
allerlei Menſchliches paſſiert !). 


98 83 it unter Berufung auf die zweite Auflage von Hefeles 
Konziliengefchichte (6, 517) ein alter Irrthum wieder aufgenommen, der dort 





316 Literaturberidt. 


Johann's XXII. nit bezeugt findet. Aus Ehrle's Historia biblio- 
thecae Romanor. pontif. tum Bonifat. tum Aven. (1, 186 und 
246), die er benutzt, hätte er fi belehren können, daß dieſes Recht, das 
für die Vermehrung der päpitlichen Bibliothek jo weientlich in’3 Gewicht 
gefallen iſt, nachweisbar in Übung war in der Beit Johann's XXIL., 
aber wahrjdeinlid fon feit dem 13. Sahrhundert beftand. 

Läßt die Urbeit gar manche Wünſche unerfüllt, fo fol doch nicht 
unbemerft bleiben, daß K. feine reiche Hauptquelle mit dankenswerthem 
Fleiße benupt hat und und eine, freilich mit Vorſicht zu gebraudende 
und keineswegs vollftändige Überfidht über Einnahme und Ausgabe 
der päpftlichen Kurie zu Anfang des 14. Jahrhunderts gegeben hıt- 
Die Aufzählung der vier Hauptabjchnitte „Einnahmen“, „Ausgaben“ . 
„Vergleih der Einnahmen und Ausgaben“, „die päpftlicdden Kammer⸗ 
behörden“ gibt nur eine ſehr ungenügende Borftellung von derat 
mannigfachen Intereſſe, das der weitverzweigte Gegenstand, z. B. auch) 
für die Geſchichte der Liebesthätigfeit, der Mifjion, von Kunſt mD 
Wiflenfchaft, des Geldiwejend und der Behördenorganifation bietet- 
Daß die Würdigung oft des Beweiſes entbehrt, hängt mit der ein 
feitigen Auffafjung des Bf. zufammen. 

Marburg. K. Wenck. 


Schleswig-Holfteind Befreiung. Bon Karl Janfen und Karl Samwr- 
Mit einem Bilde des Herzogs Friedrih von EcjledwigsHolftein und zahl 
reihen Urkunden. Wiedbaden, Bergmann. 1897. XV, 799 ©. 

Sammer bat die8 Werk aus dem Nadjlafje Janſen's heraus 
gegeben und dabei einige fehlende Abfchnitte und fonft mandje Mit— 
theilungen aus dem Briefmechjel feined Vaters und anderen Altes 
hinzugefügt. Die Abſicht des Buches ift nicht, Hoffnungen oder Be 
ftrebungen auf Heritellung eined Kleinſtaats Schledwig-Holitein zu 
erneuen, aber e3 will die Politik des Herzog Friedrid und de 
Scleswig-Holfteiner rechtfertigen, die „auf dem Boden des Recht S 
ein felbjtändiges Schledwig-Holitein in engen Anſchluß an Preufe = 
und Deutſchland erjtrebt Haben.” Al Motto kann man die Work 
des Herzogs anjehen: „Daß ohne mein Auftreten die Herzogtfüme 
nicht von Dänemark getrennt worden wären, das weiß id, und &* 
wird nicht gelingen, diefes Blatt der Geſchichte, das mir gehört, au: 
zureißen“ (S. VID. Man wird das zugeben können und dod EC 
theilen, daß die Bolitit des Herzogs nicht mit der den Verhältnifg — 
angemeſſenen Klugheit und Kühnheit geleitet wurde. Aber kann — 





318 Literaturberidht. 


Über ich Habe den Eindrud, daß man dad durch eine andere Art 
der Darjtellung wirkſamer hätte zur Geltung bringen können. Das Verf 
gibt nach den erften hundert Seiten, welche die Zeit der Knechtſchaft 
1851—63 behandeln, in dem zweiten und dritten Bude S. 10102 
eine Erzählung von der Erhebung und von dem Krieg der Jahre 
1863/1864, handelt in dem vierten Buche von den Anneriondhbeftre- 
bungen und endlich im fünften und ſechſten Buche von der Vollendung 
der Dinge durch die Seriege von 1866 und 1870 und die Gründung. 
des deutfchen Reichs. Daran ſchließen fih S. 683—799 67 Beilagen. 
meilt Briefe des Herzogs, des König Wilhelm’ I, des Kronprinzere 
Samwer’3 u. a., dann Proflamationen, Aufzeichnungen über Geſprauͤch e 
und andere Alten. Darunter find höchſt werthvolle Mittheilunge wu 
und wenn man aud bei manchen Stüden gern die Angabe hätte, o 
und mo fie bereit3 gedrudt find und andere Erläuterungen, jo bietews 
fie doch eine werthuolle Bereicherung unferer Kenntnis und erwedert 
zum Theil auch noch darüber hinaus perſönliches und menſchliches 
Intereſſe. 

Auch der Darſtellung fol ihr Werth nicht abgeſprochen werden; 
ed fehlt ihr abe an Kraft und an der freiheit, weldde man gewinnt, 
wenn man von Biel aus zurüdblidt und nur erzählen will, wie es 
fo gekommen ift. In langen Ubſchnitten gibt der Bf. eine Art ur- 
tundlicher Berichterftattung über Verhandlungen, die man doch wohl 
zu den Akten rechnen muß, die nicht wieder belebt zu werden brauchen, 
die erhalten find von den Fleinen Irrgängen der Geſchäfte, auf denen 
beute niemand mit voller Aufmerkſamkeit wandeln kann als der 
Biograph oder der Advokat. Die Verfaſſer hätten die Maſſe der 
untergeordneten Vorgänge zujammenfaffen und die Hauptpunkte zu 
lebendigerer Anſchauung bringen müffen. Schien es nothwendig, 
Material mitzutheilen oder Vorgänge ausführlich zu ſchildern, die in 
diefen Rahmen nicht hineinpaßten, fo mußte das in den Anhang ver: 
wiefen werden. Mochte er doppelt fo ftark werden als die Dar 
ftelung, die Wirkung des Buches würde gewachjen fein, je mehr ed 
gelang, den Tert von Einzelheiten zu befreien, von denen der Lejer 
doch feine volle Anſchauung zu gewinnen vermag. 

Stürender aber als dieje Breite wirft noch der Umftand, daß 
die Berfafjer ihr Ziel zu weit faffen. Hätten fie fi) darauf befchränft, 
zu zeigen, daß die Politif des Herzogd und feiner Näthe unter den 
gegebenen Verhältniffen erflärlich gewejen fei, daß man Unrecht thue, 
ihnen Mangel an Verſtändnis für Deutichlands Noth und kleinliche 





320 Literaturbericht. 


zu müſſen. Wer ſich in die Stimmungen und Konflikte des Jahres 186 
zurüdzuderjegen vermag, der wird über den Herzog nicht den Stack 
brechen, weil er im Wirbel diefer Stürme des Hafje® und der Bex- 
achtung gegen Bismarck, die Damals die reife erfüllte, in denen de? 
Herzog die eifrigiten Freunde hatte, nicht die fühle Einficht gewans®, 
daß doch in Bismarck's Politik ein großer Zug liege, dem er ver 
trauen dürfe: aber e8 war jein Verhängnis. 

Der Herzog hat dad Land verloren und der Streit um Schleswig⸗ 
Holſtein brachte dann den Konflikt zwiſchen Öſterreich und Preufes® 
zur vafcheren Entiheidung. Damit und mit dem Kriege und Eige 
von 1870 kamen wir Deutſche auch aus den Konflikten heraus, ie 
ih) aus den Anſprüchen des Yuguftenburgerd und den Anfprüdes® 
Preußens erhoben Hatten. Es iſt der Ruhm des Herzogs, daß e 
dem zu folgen vermodte.. Guftav Freytag erzählt in ſeinent 
Buche von dem Sronprinzen und der deutjchen Kaiferfrone (S. 49), 
wie der Herzog bei Sedan am Rande des Höhenvorjprungs bet 
Donderyg in die Worte ausbrad: „Eine ſolche Stunde ändert die 
Gedanken des Menihen und legt neue Pflihten auf.” Mit ders 
Hinweis auf diefe Denkart fei e8 damals angeregt, dem Herzog noch 
jeßt in irgend einer Form eine fürſtliche Stellung zu verfchaffen, aber 
Bismard war dagegen, und wie er in der ganzen Frage den Aub— 
ſchlag gegeben Hatte, während der König und der Kronprinz gern 
bereit gewejen waren, den Herzog zuzulafen, jo jiegte er auch bier- 
Wir aber werden Freytag zuftimmen, wenn er fortfährt: „dem redlichen 
Herrn aber, welcher von feinem guten Recht gegenüber Preußen feſt 
überzeugt war und fi als Opfer einer felbftjüchtigen Politit bes 
trachtete, fol bier zum Angedenfen nachgeſagt fein, daß es nicht be= 
rechnende Klugheit war, welche ihm den Verziht auf das eingab, 
was er für fein hödhftes, von den Ahnen empfangened Recht hielt, 
jondern die Begeilterung eines treuen Deutjchen über den Sieg ſeine 
Landsleute und der Gedanke, daß an diefem großen Tage au ex 
für Deutjchland fein Liebites zum Opfer bringen müſſe.“ 

Diefe Erzählung, die idy nicht für eine Erfindung halten fans. 
und diefe kurzen Worte rechtfertigen jcheint und den Herzog beſſe - 
als der etwas fchwerfällige und die Hauptjadhe nicht mit genügend eX 
Klarheit aus der Maſſe des Materials emporhebende Verſuch vor 
Sanfen und Sanımer. 


Breslau. G. Kaufmann. 





322 Literaturbericht. 


und Bedeutung zu beſitzen, wenngleich es nicht an Anſätzen zur 
Leiſtung dieſer letzteren Aufgabe fehlt. Das Ganze zerfällt in einen 


allgemeinen und einen beſonderen Theil; der erſtere behandelt 


ſyſtematiſch Verbrechen und Strafe, ſowie die Umſtände, die bei 
Beurtheilung jenes und Abmeſſung dieſer in Betracht kament, 
während der letztere für das Verfahren gegenüber den verſchiedene 
Delikten eine größere oder geringere Anzahl von Beifpielen zufammers= 
ftellt. Ein detaillirtes Inhaltsverzeichnis und Sachregiſter erleigtarn 
die Benutzung in zweckmäßiger Weiſe. 


Bensberg. J. Hartung. 


Regesta diplomatica necnon epistolaria historise Thuringia®- 
2. Halbband (1120—1152). Namens des Vereins fir thüringiſche Gelhihte 
und Alterthumskunde bearbeitet und herausgegeben von Otte Debeneder- 
Sena, Fifcher. 1896. XXIV, 241446. 15 M. 


Wenn mein Vater bei der Beiprehung des erften Halbbandes 
der thüringifchen Negeiten — der lebten in feinem Leben — in die 
Beitichrift (77, 131 ff.) die Hoffnung ausſprach, die Fortjekungert 
diefes fo hervorragend erſchöpfenden und forgfältigen Regeſtenwerkſ 
möchten nicht allzulange auf ji warten lafien, fo Hat fidh dies ex⸗ 
fült. Und es hieße Eulen nach Athen tragen, wenn idy dem dort 
außgeiprochenen anerfennenden Urtheile noch etwas hinzufügen wollte, 
da id mid ihm voll und ganz anſchließe. Sa, noch mehr! Wenn 
nein Vater noch wünſchte, daß der Bearbeiter hätte andeuten follest, 
was er unter Thüringen verftanden wiflen will, fo ift dem in det 
Einleitung, die dem 2. Halbbande beigegeben ift, vollauf Rechnung 
getragen. Hier werden auch die Grundfäße, die bei der Auswahl 
und Anfertigung der Negeften von dem Bf. befolgt wurden, eingehen D 
erörtert. Unordnung und äußere Ausjtattung der Negeften ift felbft- 
verftändlich in diefem Bande die gleihe wie in dem erften und wird 
wohl aud für die Hoffentlich raſch folgenden Bände die gleiche bleiben 
müfjen, trogdem an fi der Vorwurf der Unüberfictlichleit und Un⸗ 
rubigfeit de3 Drudd wohl berechtigt ift. In einem Punlte jedoch 
fönnte ſich D. für fpäter die Aufgabe leichter machen und Raum er⸗ 
Iparen, wenn er ſich, anftatt bei manchem Ortsnamen immer wieder 
den zugehörigen Amtsgerichtsbezirk anzugeben, mit einem folchen Hin» 
weiß im Negifter begnügte, wo er fi ja auch jetzt fchon findet: 
Hierbei ergreife ich die Gelegenheit, um aud) dem Negifter, dad nad) 
dem allgemein als niufterhaft befannten des württembergiſchen 





824 Literaturbericht. 


Philippe de Mézières, 1327—1406, et la croisade au XIVe side. 
Par N. Jorge. (%. u. d. T.: Bibliotheque de l’Ecole des Hsutes 
Etudes, publide sous les auspices du ministöre de l'instructiom 
publique. Sciences philologiques et historiques. Fasc. 110.) Paris, 
Librairie Emile Bouillon. 1896. XXXVI, 558 ©. 


Dad Bild des allmählichen Verlöſchens eines großen weltgeidiht-= 
lihen Gedankens, wie es die Geichichte der Kreuzzugsbewegungen ises 
14. Jahrhundert bietet, ift an fich ein wenig anziehendes. Welche 
Fülle von weitausfchauenden Plänen, die Pläne bleiben, von unt= 
fafjenden Vorbereitungen, die zu nicht3 führen, von ſchwächlichen un D 
durhbrochenen Maßregeln, von denen nur felten, dem Auffladerri 
der Flamme vergleichbar, eine wirkliche That fi) abhebt, noch fellner 
ein Erfolg, und dann immer aud nur ein vorübergehender. Der 
einſt fo machtvolle Kreuzzugsgedanke reift die Maſſen nicht mehr mit 
fi fort, er erhigt allein noch die Köpfe der Idealiſten, der Projekten⸗ 
macher und, gelegentli, der Abenteurer. Eine der fejlelndften Ge⸗ 
ftalten unter den Idealiſten diefer Zeit Hat fi) der Bf. zum Helden 
feined Werkes erwählt, den Kanzler des vor allem durch feinen 
Überfall Alerandriend bekannten Königs von Eypern, Peter's L, der 
wie Peter von Amiend aus der Pilardie jtammenden Philipp von 
Meziered, der von feiner Jugend an, wo er fih vor Smyma die 
Sporen verdient, als Krieger, jpäter als Staatdmann, enbdlid am 
Hofe Karl’3 V. von Frankreich, und nach defien Tode in der Zurüd- 
gezogenheit bei den Cöleſtinern in Paris als fruchtbarer, wenn auf 
phantaftifher Schriftiteller unermüdlich für den ihn beherrſchenden 
Gedanken eingetreten it. 

Die Biographie ift breit, nach meinem Urtheil allzubreit, angelegt 
und hält fi) auch von Überfhägung ihres Helden nit frei (©. 7: 
l’homme qui a donne la direction & son siecle dans tant de 
graves circonstances); aber der Bf. hat feine Mühe gejcheut, um 
jeinen Stoff möglichſt volljtändig zufammenzubringen, bat, außer in 
den Barifer Anjtalten, in zahlreichen Archiven und Bibliotheken Staliens, 
ſelbſt Deutſchlands und Englands, Forſchungen angeftellt und die 
neuere Literatur, auch die deutfche, vollitändig herangezogen. Gleich⸗ 
zeitig erhalten wir eine Gejhichte der Kreuzzugsbewegungen im 
14. Jahrhundert, wobei es denn unvermeidlich war, daß beide Stofte 
mehrfach mehr äußerlich neben einander hergeben, als daß ihre innere 
Verknüpfung möglid) geweſen wäre; nahezu erſchöpfend ift diefe Ger 
Ihichte im Beitalter Peter’3 I. von Cypern, von deſſen Leben und 





826 Literaturbericht. 


Eine kurze Einleitung über die Hauptmomente der Geſchichte 
Frankreichs macht mit den Verhältniffen nad) Heinrich's IV. Te 
befannt. Darauf folgt in drei Kapiteln die Gefchichte der Jugen 
Nichelieu’3, feines kurzen Minifteriumd von 1616 auf 1617, nz» 
feiner Stillen, aber höchſt emſigen politifchen Arbeit bis zu feiner de 
rufung 1624. Die Darftellung der von da ab entfcheidenden Thätig — 
feit des Kardinals gruppiert fi) in vier weiteren Kapiteln um jene 
Thätigkeit in der Veltliner Frage und vor Rochelle, im Mantuanifdex 
Streit und im Kampf mit feinen einheimiihen Gegnern, in den po — 
litifhen Wirren Europaß bis 1635 und endlid in dem offenen, erY1 
allmählich glücklichen Kriege Frankreich gegen Habeburg. Der Beur= 
waltung Richelieu's, feiner Stellung zur Kirche und den entjcheider« = 
den Erfolgen feiner legten Lebensjahre find die drei Schlußlaptel 
gewidmet. 

Derart gewinnt man aus 2.3. Buch von allen weſentlichen 
Momenten in dem ftaatSmännifchen Wirken des Kardinald ein deut⸗ 
liches, vollftändiges und in der Hauptſache auch richtiges Bild. Be- 
ſonders gefchict verjteht es der Vf., Die eigentlich entfcheidenden Punkte 
berauszuheben ; auch da8 Ineinandergreifen der franzöſiſchen politiſchen 
Verhältniffe und der großen europäifhen Kombinationen in Richelieu's 
Wirkſamkeit hat er trefflich dargelegt. Nur eine gute, aus der reiden 
Litteratur forgfam erworbene Kenntnis und ihre gewifjenhafte Ber: 
wertung konnte 2. zu einer folchen Arbeit befähigen. Eigentliche 
Fehler giebt e8 nur wenig. Hie und da iſt er etivad einfeitig vor 
gegangen, fo wenn er jich zu eng an gewiſſe Vorlagen, wie die Me 
moiren Nichelieu’3, anfchließt und darüber andere, befonderd die 
neuejten Darftellungen überfieht. Beſonders bedauerlich ift es, daß 
er da8 große, von der franzöfifchen Akademie gefrönte Werk von 
Fagniez »Le Per& Joseph et Richelieu«e (2 Bde., Paris 1894) nid 
fennt; mindeftend hätte er die wefentlichen Ergebniffe Fagniez' ſchou 
aus feinen früheren Aufſätzen in der Revue historique fennen folen. 
Er würde daraus vor allem eine fehr viel Höhere Idee von der ge 
waltigen Bedeutung der „Grauen Eminenz“ und wohl auch ein etwa? 
anderes Bild von Richelieu's Perſönlichkeit vor 1630 gemonnen haben. 
Nichelieu ift, wie man jeßt beſtimmt verfichern kann, keineswegs von 
vornherein der fertige Staatsmann gewefen, ald den man ihn jo 
gerne hinftelt. So erſchien er biöher nur, weil man flet3 nur feine 
grandiofe Thätigkeit in den dreißiger Jahren vor Augen hatte. Bis 
auf feine ganz allgemeinen Ziele ijt feine Politik ſtets eine Politik von 





828 Literaturbericht. 


bis 1626 als den Anfang von Pater Joſeph's politiſcher Schrift⸗ 
ſtellerei beſchränkt, aber es auch ſo noch zu einem ſtattlichen Bande 
gebracht. Der Gang ſeiner Arbeit iſt kurz der: 

In einer längeren Vorrede führt er aus, in welchem Sinne er 
Fagniez' Werk fortführen wolle, wie er ſich durch ein zweijähriges 
Studium der authentiſchen geiſtlichen Schriften des Paters eine genane 
Kenntnis feiner Stile und Geiſtesart angeeignet und damit einen zu⸗ 
verläffigen Maßſtab für die Ermittelung feiner politiicden Arbeiten. 
gelihert habe. Auch glaubt D., aus der QTurciade, einem von ihm 
entdedten Gedichte des Paterd, die ganze Seele des StaatSmanne> 
und zugleid die Tendenz feiner politiihen Polemik berauszulejen— 

Für die Thatfählichkeit von Joſeph's publiziftifchem Wirken kaurm 
er ſich auf die Zeugnifje ſeines Sefretärd und erften Biographerz 
Lepre-Balain berufen. 

Bon diefer Grundlage aus fucht er dann in zwei Büchern die 
Schriften ſelbſt feitzufiellen; im erſten bejpricht er eine Reihe vom 
Alugjchriften unter dem Namen von Pater Joſeph's „allgemeiner 
Polemik gegen da8 Haus Hab3burg“, im zweiten behandelt er die 
Ürbeiten, die jener zur Vertheidigung von Richelieu’3 Politik gegen 
die Hauptangriffe der ſpaniſch-katholiſchen Preſſe verfaßt haben fol. 

Ein umfangreicher Anhang fucht endlich für viele der von’ ihm 
erörterten Schriften die Autorjchaft des Kapuzinerd noch mit neuen 
ſprachlichen Beobachtungen zu erhärten. 

D. kommt zu dem Ergebnis: Zwanzig Flugichriften, die Bände 
10 biß 21 des Mercure frangais, im erzählenden Theile wie in den 
eingerüdten Pamphleten, joweit dieſe nicht ſchon unter jenen zwanzig 
begriffen jind, und endlich der größte Theil der Gazette de France 
find das fchriftitellerifche Eigenthum der Grauen Eminenz. D., der 
aus den fpäteren Jahren ſchon jet noch „über hundert andere poli« 
tiſche Schriften“ aus der Feder feines Helden fennt, fchließt mit der 
Erklärung: „Pater Joſeph ift der erite ſtaatsmänniſche Publizift 
Frankreichs und der eigentliche Begründer der franzdjiichen Zeitung.“ 
Bisher galt Theophrafte Renaudot dafür. In einer fpäteren Arbeit 
will der Bf. den Pater zugleich als Vorgänger Pascal's und Boſſuet's 
in die Geſchichte der franzöſiſchen Literatur einreihen. 

Man jieht, dad neue Werk über den Pater Joſeph beanfprudt 
eine außerordentliche Bedeutung — wenn feine Refultate richtig find. 


Dieſes Prädikat müſſen wir ihnen aber zu unjerem Bedauern 
vorerſt verjagen. 





380 Literaturbericht. 


einſtimmungen dieſer Pamphlete mit jenen dreizehn andern gründen— 
Wohl möglich, daß dieſe oder jene Schrift, die D. dem Pater zu— 
ſchreibt, wirklich von dieſem herrührt. Aber das muß erſt bewielerw. 
werden. 

So lange D. alſo nicht neue und zwar rechte Gründe für jene 
Theje bringt, darf er auf feine Anerkennung feiner Ergebniffe hoffem — 
Was er jüngit al3 Replik auf Fagniez's Kritik vorgebradt hat!), ha = 
faſt gar feinen Werth, da es nur aus Wortklauberei und unböflidemmu 
von Eitelkeit ftrogenden Bemerkungen gegen feinen ®egner befteht. 

Das einzige Richtige, das wir big jetzt feiner Arbeit nachrühme wı 
fönnen, ijt feine Erfenntnis, daß die drei Ylugfchriften La reponse auz 
libelle intitule, Advertissement au Roy tres Chrestien’ (1625), 
Discours salutaire sur l’estat present des affaires d’Allemagne 
(1621) und Discours sur les affaires de la Valteline et des Grisons 
(1625) nicht von Fancan ftammen, den Geley fie irrthümlich zugeſprochen 
hatte. Die legtgenannte Schrift ift überhaupt von feinem Franzoſen, 
jondern von einen Italiener, wie es die Vorrede richtig angibt. Ob 
dad Pamphlet La cabale Espagnole entierement descouverte von 
1624 gleihfall8 nicht von Fancan fei, wollen wir noch unentjchieden 
laſſen. Jedenfalls wird ung D. fein Verfprechen, für mindejtend zehn 
von den 17 Flugſchriften, die Geley für Fancan angeſprochen hat, 
einen andern Urjprung nachzumeifen, ſchuldig bleiben. 

Sein ganzes Werf hat wieder einmal gezeigt, wie dringend nöthig 
eine gründliche Arbeit über die Publizijtit unter Richelieu ift. Der 
erwähnte Aufſatz von Fagniez darf ald ein guter Anfang dazu be 
grüßt werden. Th. Kükelhaus. 


Rivarol, sa vie, ses idees, son talent, d’apres des documents 
nouveaux par Andr6 le Breton. Paris, Librairie Hachette et Co. 18%. 


Bon Nivarol, dem geijtreichen: Vertheidiger des Königthums, 
Jind miehrere Lebenöbefchreibungen vorhanden. Auch feine Schriften 
jind wiederholt gefammelt worden, wenn cd audy nicht eine voll 
jtändige Sammlung derfelben gibt, die fchon deshalb kaum herzuftellen 
ift, weil feine Schriftftellerei eine überaus zerfplitterte geweſen ift, 
feine lugblätter zum Theil anonoym erfchienen oder nur in einer 
fleinen Anzahl von Eremplaren verbreitet wurden, die, wie er jelbit 
einmal fagte, der Wind verwehte. Der Vf. der neueften Schrift über 


!) Rev. des quest. hist., Januar 1897. 





332 Literaturbericht. 


Mannes, ſondern an der Hand der reichhaltigen Korreſpondenz, bi 
er mit feiner Gemahlin, einer Fürſtin Sanguszko, führte, fo vie 
Belehrung, daß man dem Bf. zu Iebhaftem Dank verpflichtet ijt. Fü 
die Jahre 1784—89 wird und hier eine Duelle erjten Ranges fk 
die polnifch=ruffiihe Geſchichte erjchloffen, und wenn fie auch mı 
ganz beitimmte Gebiete in neues Licht ſetzt, treten eben dieſe Gebiet 
doch umfo plaftifcher hervor. 

Der Prinz Karl von Nafjau- Siegen gehörte dem katholiſche 
Hweige der Nafjauer an. Es ift nicht die heutige Luxemburge 
Linie, ſondern ein Seitenzweig der Oranier, der ebenjo wie di 
Naffaus Hadamar im 17. Zahrhundert zum Katholizismus übertra! 
Erſt in fpanifhen, dann in franzöſiſchen Dienften ſtehend, franzd 
firten fi diefe Nafjauer fo völlig, daß außer dem Namen nicht a 
ihnen deutſch blieb, und das bat wefentlih dazu beigetragen, daf 
al8 im Jahre 1793 die regierende Linie des Hauſes Nafjau-Siege 
ausſtarb, da8 Erbe nicht ihnen, fondern dem Prinzen von Oranie 
zufiel. Es ift darüber ein langwieriger Prozeß geführt worden, di 
Ihließlid in eine Abfindung der Franzojen ausmündete, im Lebe 
des Prinzen Charles aber eine nicht unweſentliche Rolle jpielt. D 
Prinz, am 9. Sanuar 1745 in der Picardie geboren, verlor früh de 
Vater und wurde von feiner Mutter, einer Marquife de Mouch 
durchaus franzöfiich erzogen. Als Bünfzehnjähriger hat er unter I 
Caſtries am Siebenjährigen Kriege theilgenommen, dann im Dezemb 
1766 mit Bougainville die berühmte Reife um die Welt unternomme 
welche zur Entdedung der Scifferinjeln und der neuen Hebrid 
führte. In Paris erregte der Prinz jebt allgemeined Aufſehe 
Segur nennt ihn un vrai phenomene dans un milieu oü l'ur 
formit& resultait d’une longue civilisation, und allerdings w 
diefer junge Mann, der ausjah wie „ein Sräulein, das eben di 
Klojter verlaffen hat“, durch die Kühnheit feines Auftretens, dı 
ſichere Selbjtbewußtfein und die Fruchtbarkeit feiner abenteuernd: 
Phantaſie eine Erfcheinung, die am Hofe Ludivig’8 XV. und XV 
ihres Gleihen nicht hatte. Seine Quelle mit dem Grafen Eiterha, 
und nit Segur machten ihn zum Helden des Tages, fein glänzend 
Name, die Gunſt des Grafen von Provence ließen feinem Ehrge 
jeded® Biel erreichbar fcheinen. Er wird Obriſt des Negimen 
Royal Allemand, und bald danach jehen wir ihn ein Unternehm 
ergreifen, dag erjt in unferen Tagen zur Wirklichfeit geworden i 
Mit Genehmigung des Königs wirbt er eine lögion de Nassa. 





334 Literaturbericht. 


Anſprüche in Deutſchland durchzuſetzen, dann aber wollte er jebt im 
Polen feine wirthichaftliden Ideen angreifen; nicht nur Frankteichs 
ſondern aud Spaniens glaubt er als Fünftigen Abſatzgebietes fihemr 
zu fein. Den König von Polen und feinen Minifter, den Schatz — 
meifter von Littauen, Unton Ziejenhaufen, hatte er bereits für jew 
Gedanken gewonnen. 

Hier ſetzen nun mit dem 19. April 1784 die Briefe des Prem 
an feine Gemahlin ein. Sie find überall fehr gefchicdt in die Cuc= 
zählung verflodhten, und die erite Serie, meilt aus Wien, reiht br 
zum März 1786. Hier ift, abgejehen von einzelnen Kleinen Zügem«, 
welche Joſeph II., Kaunig, den alten Laudon und die Wiener GeſelI⸗ 
Ichaft jener Tage betreffen, das allgemeine Intereſſe verhältnismißüg 
gering. Der Prinz hatte den Kaifer für die Förderung feiner Plärze 
gewonnen, der Prozeß gegen den Statthalter wurde im Hofgericht 
zu feinen gunjten entjchieden, und aud) dem Unternehmen der Dnieftr- 
Ichiffahrt zeigte der Kaiſer ſich günſtig. Im Ganzen aber trägt diefer 
Abfchnitt mehr für die Biographie des Prinzen als für die großen 
Beitverhältniffe aud. Umſo interefianter ift der folgende Abſchnitt, 
der und den Prinzen in feinen Bemühungen zeigt, die Stellung de 
Königd Stanislaud gegen die Verſchwörung zu behaupten, die ſich 
in Anlaß der angeblicdyen Vergiftungsverjudhe, die er gegen Radziwil 
gerichtet haben jollte, über feinem Haupte zufammenzogen. Beſonders 
merkwürdig ift die Wiedergabe der Geſpräche des Prinzen mit Kaiſer 
Joſeph II. über die polnifchen Dinge. Sie kamen auf die erfe 
Theilung zu reden, und der Kaiſer fagte: „Unter den Konföderirten 
waren geicheute Leute, jo Pac, der ſehr Hug ift und am eifrigiten 
für da8 Gelingen feines Planes cintrat. Dieſe Leute hatten ſich in 
den Kopf geſetzt, daß fie den König entthronen könnten. Es waren 
Bac, der Bifhof von Kamieniec, die Lubomirski, Potodi, Zewronsli, 
Nadziwil und Andere, die zu mir geflüchtet waren. Ich ſprach mit 
ihnen, ſtellte ihnen die Nichtigkeit ihrer Mittel vor und daß der 
König von ganz Europa anerkannt ſei. Uber es Half nichts, fie 
waren völlig verdreht und boten überall die Krone aus. Sie boten 
fie dem Landgrafen von Helfen und allen Füriten an und unter 
ſchrieben fchlieglih das Interregnum. Ihre Ertravaganz ging jedoch 
nicht jo weit, daß tie ſich perfünlich bloßgeitellt Hätten; fie hatten 
Truppen, melde ftahlen und plünderten, befchräntten ſich aber felbft 
darauf, von Zeit zu Zeit in der Nacht einen Proteft an der Grenze 
anzujchlagen, und fuchten dann dag Weite, als hätten fie eine Helden- 





836 Riteraturbericht. 


WVeidenpflanzungen, hier Weinberge und wieder an anderer Stell 
Meiereien angelegt. Aus der Moldau läßt er einige Hundert Familie: 
eilig heranholen, und da all Died Treiben ftet8 an der großen Heer 
ftraße ftattfindet, welche die Kaiferin fahren wird, trägt er ſo a 
jeinem Theil dazu bei, einen Schimmer von Wirklichkeit in die groß 
Illuſion zu bringen. Da die Briefe aus dieſer Zeit ftetd daraı 
berechnet waren, von Potemkin perlujtrirt zu werden, können wi 
leider nicht willen, wie weit er felbft durch all das Blendwer 
getäufcht wurde, da ſich hier vorbereitete. Ein Stüd Beredhnmy 
aber auch Selbittäufchung fpielt ohne Zweifel mit; denn es entſpra 
durchaus feiner Natur, in Gedanken fommende Entwidlungsftadie 
vormwegzunehmen.. Dem Fürſten Potemfin aber fonnte nid 
erwünfchter fein, als dieſe enthufiaftifche, ftet3 zu ſofortigem Handel 
bereite, über alle Geldfragen mit höchfter Nonchalance hinmwegjehen! 
Natur. Sie begegneten fi) darin, und der Fürft ift denn auch mel 
als einmal bereit gewefen, die Koften jener Sllufionen auf fid ; 
nehmen. Nachdem fo Sübrußland und die Krim im Fluge durdhei 
waren, fehrten Potemkin und Naſſau nah Kiew zurüd, um d 
Kaiſerin und ihre Gäfle zu erwarten. Der Prinz Hatte feinen Ei 
Muß auf Potemkin dazu genutzt, ihn ganz gegen die polnifche Opp 
fition, zu der auch Branidi, der Neffe des Tauriers gehörte, ei 
zunehmen, fo daß all die Pläne, Stanislaud Auguſt zu Fall 
bringen, kläglich fcheiterten. Man wird jedod, um Nafjaus Verdien 
dabei nicht zu überfchägen, in Betracht ziehen, daß es dem ruſſiſch 
Intereſſe durchaus entſprach, vorläufig Ruhe zu halten, da weit 
Unternehmungen gegen die Türken bereit in Plan lagen und I 
Fürſt dem Prinzen Karl von Nafjau bereit3 eine leitende Stellu 
im künftigen Kriege zugefichert hatte. Troßdem war die polnilt 
DOppofition, die fich ihres Erfolges ſicher gewähnt hatte, in hohe 
Grade enttäufcht. Auch die Kaiferin, die inzwifchen in Kiew ei 
getroffen war, wies jedes Vorgehen gegen den König zurüd. 6 
folgte nun ein im Grunde recht Tangmweiliger Aufenthalt von üb 
zwei Monaten in Kiew. Das Eis des Dnieftr wollte nicht aufgehe 
und gegen die Unbeugſamkeit der Natur wollten feine Höflingskünf 
verfchlagen. Auch Katharina mußte fich befcheiden und warten. Si 
hatte ihren Mamonow mitgenommen und vertrieb ſich die Zeit, | 
gut es eben gehen wollte. Man fpielte Whift — 200 Rubel de 
Rober, was ſelbſt Naffau etwas theuer findet —, foupirte, dinirt 
und amufirte fi; endlih am 2. Mai 1787 war es fo wei 





888 Literaturberidht. 


welche jene ſchon einmal gejcheiterte Duadrupel- Wllianz zum Bu 
batte, deren Spite fi doch hauptjädhliher gegen England un 
Preußen richtete. d’Uragon meint irrthümlich, daß ein Gelingen dı 
Plane aud die Zukunft Polend als eines felbftändigen Staates | 
den Grenzen der erjten Theilung gefichert hätte. Davon Tann wol 
feine Rede jein. Katharina wollte nur die Beute für einen günftiger 
Augenblid fihern, um fie ji ganz zu eigen zu machen. Dod w 
dem auch fei, die Ablehnung der gebotenen Allianz durch Montmor 
bat das Projekt für immer befeitigt. Auch die Nolle, welde d 
Prinz im ruſſiſch⸗ſchwediſchen Kriege 1789 und 1790 fpielte, ift mic 
glüdlih gewejen. Seine Korrejpondenz Hagt bitter über die Mi 
gunft und das Übelmollen der ruffifhen Offiziere, mit denen ex, d 
als Vizeadmiral die ruſſiſche ARuderflottille tommandirte, zu kämpf 
hatte. Schließlich erlitt er zu ungeheurer Schadenfreude aller Rufj 
eine enticheidende Niederlage bei Sweskſund, und damit ift im Orum 
feine Yaufbahn abgejchlofjen. Der Friede von Werelä nahm ihm je 
Ausſicht, fi militärifch zu rehabilitiren, und die 18 Sahre, die 
noch zu leben hatte, find in einer unfruchtbaren Thätigkeit Hingegange 
die fi nur wenig von jener der übrigen franzöfiihen Emigrantı 
unterfcheidet. Nur daß er dabei zugleich als rufjifcher Agent figurir 
Naſſau ift dann noch einmal in aktiven Dienft der Kaiferin gı 
treten, al8 die Erhebung Polens unter Kosciuzko jtattfand, und feine 
übel angebrachten Überredungsfünften gelang es bekanntlich, Friedri 
Wilhelm II. von der Einnahme Warſchaus abzuhalten. Zwiſche 
diefem Creignid und der Eritürmung Pragad durch Sumorow lie 
die Entlafjung des Prinzen aus ruſſiſchen Dieniten. Er hatte Kathe 
rina darum gebeten, und jie hatte die Bitte gern erfüllt. Cie m 
ihm die fchwedische Niederlage nad), mit welcher feine Laufbahn al 
ſchloß. „Bei und — fchreibt jie an Grimm — liebt man die © 
ichlagenen nicht; um angefehen zu werden, muß man ſiegen.“ Der Re 
feine Lebens verklingt ruhmlos, fat ohne Erlebnifje, trog der große 
Beit, in die es fiel. Am 19. April 1808 ijt er, völlig vergeflen, aı 
feinem polniſchen Gute Tyma gejtorben. Th. Schiemann. 


Geſchichte der Stadt Preßburg. Bon Dr. Theodor Ortuey, ordent 
Profefior an der f. ung. Rechtsakademie zu Preßburg und Mitglied der um 
Akademie der Wiſſenſchaften. Herausgegeben durch die Preßburger Exil 
Sparkaſſe. Deutihe Ausgabe. 3 Bände. Preßburg 1892—%. 


Aus Anlaß ihres fünfzigjährigen Beitandes hatte die Preßburge 
Sparkaſſe befchlofjen, eine Monographie über die Gefchichte der Stai 





340 Riteraturberidt. 


Komitat (S. 96), in der Erzählung vom Mongolenfturm und in de 
Tarftellung der Kriege DOttofar'3 von Böhmen, aber dem aufmerk — 
famen Leſer bleiben auch mande Mängel nicht verborgen. Daß dee 
Landesgeſchichte allzuviel Raum gegönnt ift, macht fi) namentlid immc« 
Anfange bemerkbar; das ift übrigens ein Fehler, den O.'s Bud nur = 
andern Stadtgeichichten theilt. Störender ift die ſeltſame Art, wc 
fritiicde Fragen in oft weitſchweifiger Darjtellung behandelt werder 
Den Namen Preßburg leitet D. aus dem Slawiſchen ab (©. 97 
doch nimmt er den Ausgang nicht von den, fo viel ich fehe, erftvem- 
bürgten Formen Brezeöburg (Bern. Aug.) und Preslawaspurch (Anm 
Altah.), fondern von dem in ältern Ausgaben Aventin's vorlommendemz 
Wratislavia!). Aus Preßburg fol dann Poszony entitanden jcwz 
D. gibt alfo im Gegenſatz gegen Hunfalvy ?) den zeitlihen Vorrurug 
des ſlawiſch-deutſchen Namens zu, und darin darf man ihn zuftimmerz. 
aud) wenn man feiner Ableitung den Beifall verfagen muß. Nach 
meinem Dafürhalten ift aud) hier der Ausgangspunkt verfehlt; man 
jollte nit an PBofonium, jondern an die älteiten Formen Poſſen 
(Cosmas Prag.) und Bofan (Otto Frifing.) anfnüpfen®), und diefe 
führen und immer wieder auf den Perſonennamen Bofan, den man 
auch in Böſing erfennt und vielleiht aud in der Pötſcheninſel eher 
al die don O. vorgezogenen Petjchenegen vermuthen darf. Die 
Devorzugung Aventin's hat den Bf. aud bei der Schladht vom 
Sabre 907 in die Irre geführt. Die gleichzeitigen deutſchen Duell 
bringen über den unglüdlichen Kampf der Baiern nur Höchft Dürftige 
Angaben, dagegen erfreut und Qurmair mit einer ausführlichen Er 
zählung, die allerdings feit jeher lebhafte Bedenken erregt hat 
(Dümmler, Oſtfränk. Reich 3, 548 Anm. 1; Riezler, Geſch. Baiernd 1, 
257; Huber, Lit. Geſch. 1, 124) und daher von manchen deutſchen 


1) O. bat leider nicht die neue von Riezler bejorgte Ausgabe ber 
Annales Boiorum benußt, in diefer finden fich die fyormen Vratizolaum, 
Vratissolaoburgium, \Vratizolaburgium (1, 463. 654. 658; 2, 33. 49), 
man darf in ihnen eine gelehrte Nüdbildung aus Preßburg nad) Analogie 
von Breslau erbliden. Vgl. auch Riezler's Bemerkung (2, 607) über Aventin’s 
ſprachliche Marotten. 

2) Ung. Revue 1883, ©. 413. 

s) Ofterley, Hift.egeogr. Wörterbud) ©. 535, dem Umfauft (fterr.-Ung. 
Namenbuch) und Egli folgen, führt unter Preßburg zum Jahre 784 die Form 
Pozanum an; bie betrefienden Stellen beziehen ſich aber auf Bozen, vgl. 
Riezler, Geihichte Baierns 1, 164. 





342 Riteraturberidt. 


getragen iſt. Darüber hätte fi DO. in Steindorff's Kahrbüchern, di > 
ihm entgangen find, gut unterrichten fünnen. Die beiden an de 
Grenze gelegenen Burgen, die im Sahre 1042 nad) den Altaihe ur 
Jahrbüchern ſchon vor Ankunft der Deutfchen in Feuer aufgingermmr 
hält er mit Giefebrecht für Preßburg und Hainburg, während {do ex 
Steindorff a. a. DO. 1, 160, Anm. 5 hervorgehoben bat, dab dieje Arz = 
nahme einen Widerſpruch mit Hermann von Reichenau hervorru — 
Durch nichts gerechtfertigt ift e8 aber, wenn DO. weiter ausführt, dam 
diefe Burgen deutjche Beſatzung gehabt haben, welche den Brand g —— 
legt habe (S. 217). Den ungariihen Prinzen, dem Heinrih IL X_ 
das eroberte Gebiet nach dem Rathe des Böhmenherzogs überga >, 
mödte DO. für einen gewiſſen Domoßlo halten, den er zum Shure 
Wazul's macht, aber die von ihm aufgeftellte genealogiihe Tafel 
(©. 221) beruht ausfchließlih auf den ungarifhen Schriftſtellern, 
gegen deren Glaubwürdigkeit Huber, Oft. Geſch. 1,184, Anm. 1, ſchwer- 
wiegende Bedenken begründet hat. Als ein ſehr wirkſames Beilpief 
des fritiichen Verfahrens, dem DO. Huldigt, könnte man aud) die Aus⸗ 
führung über Vetvar anführen (S. 144). Er erklärt dieß als ein 
avariſches Wort, das nach feiner Anficht Waflerburg bedeuten fol, 

uud Hält es „nicht für unwahrſcheinlich“, daß die Avaren dieſen 
Namen in Erinnerung an Aachen wählten, wo ſich ihre Geſandt⸗ 
fchaften bei Karl dent Großen eingefunden hatten. In weiterer Be 
weisführung, in der er die romanischen Karner Niederdjterreichd für 
Überrefte diefer avariſch-karolingiſchen Zeiten erflärt, kommt er zu 
dem Ergebnifje, dies hunniſche Aachen fei das heutige Deutjch-Alten- 
burg. Nach folder Vorkoſt nehmen wir e8 ohne llberrafchung hin, 

auf ©. 303 Anm. 3 wieder einmal dem Hanthaler'ſchen Pernold zu 
begegnen und auf S. 270 zu erfahren, nicht allein, daß Klingjor ein 
Siebenbürger, fondern aud, daß er es war, der die „Alliance ber 
Häufer von Ungarn und Thüringen“ erdacht und die Vermählung 

der ungarischen Königstochter Elifabeth mit Ludwig, dem Sohne ded 
Zandgrafen Hermann, veranlaßt bat. 

Dieje Beifpiele mögen genügen. Mean jieht, daß DO. troß feine 
unverfennbaren Strebend, die deutihe Geſchichtsliteratur Tennen zu 
lernen, doch nicht allzu tief in Die Methode der neuern Forſchung 
eingedrungen ift. Das zeigt ſich aud darin, daß er ganz werthlofe 
und veraltete deutſche Geſchichtsbücher heranzieht, während ihm 
wichtige, grundlegende Werke entgangen find. Hier wird der Bi. 
für den Fall der Fortführung feiner Arbeit, die ja leider gerade 








Ungarn. 343 


dort abbricht, wo das bejondere Intereſſe beginnen würde, manche 
Züde auszufüllen haben; er wird dann auch vielleicht zu größerer 
Strenge gegen ſich felbft und zu der im weitern Verlaufe noch viel 
nothwendigeren Unbefangenbeit gelangen, fowie zu der Überzeugung 
durchdringen, daß es ſich auch auf diefem Forſchungsgebiete nicht um 
dern Gegenfaß zwifchen Deutfchen und Ungarn, fondern um bie 
höheren Aufgaben unferer Wiſſenſchaft handelt, die unabhängig find 
von Grenzpfählen und Nationalfarben, wenn fie auch nur gelöft 
werden fönnen und follen in warmer Liebe zu dem Boden, auf dem 
jeder von und fteht, und zu dem Volke, dem jeder angehört. 

Der Trud ded Buches und die Ausjtattung mit Facſimiles und 
Plänen find zu loben, weniger dürfte geläutertem Geſchmack die 
Velbftändige fünftlerifche Zuthat behagen. Karl Uhlirz. 


Notizen und Nachrichten. 


Die Berren Derfaffer erfuchen wir, Sonderabzüge ihrer = 
Zeitfchriften erfchienenen Auffäge, welche fie an diefer Stel 
berüdfichtigt wünfchen, uns freundlichfi einzufenden. 

Die Redattion. 


Allgemeines. 


Nach einer Mittheilung in der Rivista stor. ital. 14, N. $. 2. 
beabfichtigt PBrofefior Mazzatini eine Publikation, die alle auf DE 
Geſchichte Italiens bezügliche, in den Archiven befindlide Material Der: 
zeichnen joll, unter dem Titel: Gli Archivi della storia d'Italia- 
Jährlich jollen 6—8 Hefte zu je 80 Seiten eridheinen, zum Preije von 
1,25 8. (für's Ausland 1,60 2.) jedes. 


Eine neue philologifche Zeitfchrift hat in Belgien zu erjcheinen begonnen 
unter dem Titel: Le Musée Belge. Revue de philologie classique, 
publ. sous la direction de P. Willems et J. P. Waltzing. R.12 
enthalten Xrtilel von de Groutars: Les Italo-Grecs, leur langue et 
leur origine. — 8. Halkin: Restitution d’une inscription votive de 
Fl6malle. — 9%. Birfon: Le thesaurus linguse latinae et lArchiv 
für lateinifche Lerifographie und Grammatik. — A. Roer ſch: Etude sur 
Pbilochore. — ®. Gér ard: La langue vulgaire et le langage familier 
dans les satires de Perse. — A. Roegiers: La famille de Socrate 
et sa pretendue bigamie. — 9. Temoulin: Les collegia juvenum 
dans l’empire romain. — J. P. ®alging: Notes sur 1’Octavius de 
Minucius Felix. Als Unner zu der Zeitfchrift ericheint ein Bulletin 
bibliographique et pédagogique. 

Die franzöfiihe Geſchichtszeitſchrift Le moyen Age (Herausgeber 
Marignan, Prou und Willmotte;, Sekretär U. Bidier; Verlag von 
E. Bouillon, Paris) hat mit ihrem neuen Jahrgang eine neue Folge in 
erweiterter &eftalt begonnen. Der Umfang der Zeitjchrift iſt vermehrt, 


Allgemeines. 345 


und jie bringt jept in jedem Heft, neben dem kritiſchen Theil, einen Auf- 
ag. Das 1. Heft ber zweiten Serie enthält einen Artikel von Ch. Petit- 
Dutaillis und P. Collier: La diplomatie francaise et le trait6 de 
Bretiguy. — Als Ertraft aus dem vorigen Jahrgang des Moyen Age 
ft ein jehr reichhaltige® Repertoire meöthodique du Moyen Age francais 
(histoire, literature, beaux-arts) von N. Bidier erjhienen (Paris, 
Bouillon. 1896. 190 ©.). Es ift der zweite Jahrgang dieſes Repertoriumd 
über die gejammte Literatur zum franzöfiichen Mittelalter im weiteften 
Sinne für da8 Jahr 1895, und diefe Repertorien jollen auch hinfort regel- 
mäßig jedes Jahr erjcheinen. 


>18 Supplement zum Armorial general von Rietſtap beabſichtigt 
D. Gv. Epen im Haag (Archives héraldiques et généalogiques) ein 
Grand Armorial herauszugeben, das in ungefähr 50000 Wappen 
Rachh träge und Ergänzungen zu dem Rietſtap'ſchen Werk geben ſoll, indem 
es Vüch vor allem nicht, wie dieſes, auf die gedrudte Literatur befchräntt. 
Es ol in ca. zehn Lieferungen ä 4 M. ericheinen. 


. Im Berlage der Hinrich'ſchen Buchhandlung in Leipzig ift der 1. Band 
Anex lang vorbereiteten großen Publikation der Preußiſchen Afademie der 
Diijenihaften erfhienen: Die griehiihen driftliden Scrift- 
h e lter der eriten drei Jahrhunderte, herausgegeben von der 
Vechenväter - Kommijjion der kgl. preuß. Alad. der Wiſſenſch. 1. Bd.: 
Dippolyt’3 Werte, Bd. 1, herausgegeben von Bonwetidy und Achelid. Es 
\Dlien jest möglichſt jährlich drei Bände erjcheinen (1897 nod) zwei Bände 
Tigines), im Ganzen ca. 50 Bände zu je 30—40 Bogen, in denen nicht 
Nur die Kirchenväter, jondern auch alle jonjtigen griechifchen Urkunden des 
Ülteften Chriſtenthums (einſchließlich der Märtyreraften :c.) in fritifchen Aus— 
Qaben publizirt werden jollen. 


Gleichzeitig hat eine neue Folge der von Gebhardt und Harnad heraus- 
gegebenen „Zerte und Unterfuchungen zur Geſchichte der altchrijtlichen 
Literatur“ unter dem Titel: Archiv für die älteren drijitliden 
Schriftfteller in der Audgabe der Kirchenpäter- Kommiliion der gl. 
preuß. Alad. d. Wiljenich., zu ericheinen begonnen (I. 1: 8. Holl: Die 
Sacra Parallela des Johannes Damadcenud. I 2: G. NR. Bonwetid: 
Studien zu den Kommentaren Hippolyt’3 zum Buche Daniel und zum 
Hohen Lied). 

Die Ruſſiſche Akademie der Wiſſenſchaften beabfihtigt Biographien 
ruſſiſcher Schriftſteller zu veröffentlichen, bearbeitet von Benguerop. 

Das Kol. Preußiſche Hiſtoriſche Inſtitut in Rom beabfichtigt, 
vom Juni biefe® Jahres ab in Ergänzung zu den „Runtiaturberichten 


aus Deutichland“ und dem „Repertorium germanicum“ al® Sammelitelle 
für fMleinere Arbeiten und Mittheilungen eine periodiſche Publikation 


846 Notizen und Nachrichten. 


herauszugeben: „Quellen und Forſchungen aus italieniihere 
Archiven und Bibliotheken“ (jährlich zwei Hefte von zufammen 20 Vogerx 
Umfang zum Preiſe von 10 M.; Berlag von E. Loeſcher & Eo. in Rım>_ 
Tas 1. Heft bringt Artilel von 3. Haller: Aufzeihnungen über deux 
päpftlihden Haushalt aus avignonejiiher Zeit; 8. Schellhaß: Alten übe wc 
die Nefornıthätigfeit Felician Ninguarda's in Baiern und ÜfterricEy 
1572—1576; G. Rupke: Der preußiiche Hof vor 100 Jahren, Bridre 
eines fpantjhen Diplomaten aus Berlin vom Jahre 1797. 


Unter dem Titel: „Monographien zur Weltgeſchichte — 
herausgegeben von Ed. Hend, beabfihtigt die Berlagsbudhhandlung vc® mE 
Belhagen & Klaſing in Bielefeld eine Sammlung von populär gehaltene u . 
reich tlluftrirten Schriften zur Geſchichte nach Mufter der im felben Berl gg 
eriheinenden Künjtlermonographien zu veröffentlichen, jeden elegant ar > - 
geftatteten Band zum Preife von 3 M. Als 1. Band iſt erfchienen: Tr « 
Mediceer, vom Herausgeber (mit vier Aunftbeilagen und 148 Abb.). 
Sn demjelben Verlage ericheint feit Kurzem auch eine „Zeitfäriftjie 7 
Bücherfjreunde”, beraudgegeben von F. dv. Zobeltig, in der fer « 
Drude und Schriften, Nupferftihe und Holzſchnitte, Autographen zw D 
Ex libris und andere zum Bud und Schriftweien gehörige Diaz € 
behandelt werden. 


Bon einer neuen „Zeitſchrift für den gefhidhtliden Unter = 
richt”, herausgegeben von A. Hettler, iſt das 1. Heft erfchienen (Apri/ 
1397, Oſterburg i. A., R. Danehl's Verlag. Sie will hauptjählih den 
Zweden der Schule, und zwar nicht nur der höheren, fondern aller, auch 
der Volksſchulen, dienen, und legt daher auf Wrtifel von allgemeinerem 
Snterefie aus den: Gebiet der griechiſch-römiſchen und der deutſchen 
Geſchichte und daneben auf Fragen der Methodik des Geſchichtsunterrichts 
bejonderen Werth. Jährlich jollen zwölf Hefte ericheinen zum Abonne 
mentspreis von 12 M. Ter Inhalt des 1. Heftes iſt: Zwede und Ziele 
der Zeitjchrift, vom Herausgeber. Der Einfluß der griechiſchen Literatur 
auf die römijche Gejchichtichreibung, von W. Soltau (Anfang). — Die 
firhliche Gejepgebung Karl's des Großen von F. Plap (Anfang; Sitte 
und Leben des Klerus, Beſitz und Rechte der Kirche). — Zur Kritik von 
Wilhelm Herbſt's „Enchklopädie der Neueren Geſchichte“ von M. Thamm 
(eine etwas komiſch wirkende Zujammenjtellung von Drud: und anderen 
Fehlern, — Tie Germanen nad der Völlerwanderung. Eine kultur 
geichichtliche Yehrprobe aus dem Unterricht in Prima von F. Neubauer. — 
Die deutiche politiich-patriotiihe Dichtung als Begleiterin des Geidiht* 
unterrihts von 3. Zie hen. — Tie folgenden Hefte follen aud eine 
Beitihriitenihau und Bücherbejprehungen bringen. 


Bon den Zahresberihten der Geſchichtswiſſenſchaft it 
der 18. Sahraang, 1895, erfchienen (Berlin, Gaertner. 1897). Es ift der 








Allgemeines. 347 


erite don Berner herausgegebene Band, der erfreulicherweije mit derjelben 

Promptpeit wie feine Vorgänger erfhienen ift und aud ſonſt in ber 

äußeren Einrichtung ſich ganz an deren bewährtes Vorbild anſchließt. 

Bon widtigeren Berichten, die diesmal ausgefallen find, erwähnen wir 
die Über Ägypten, Germanifche Vorzeit, 15. Jahrhundert, Dreikigjährigen 
Krieg, Brandenburg, Kreuzzüge, Philofophie und Methodologie, dazu die 
auch ſchon im vorigen Jahrgang mangelnden über Berfafjung und 
Seſamimigeſchichte, England bis 1486, Dänemark ſeit 1523, Rußland und 
Böhmen, Rumänien, Diplomatik ꝛc. Dagegen find die Lücken des vorigen 
Jahrgangs für die Römer, das Jahrhundert nad dem Weſtfäliſchen 
Frieden, Schleſien und Polen diesmal erfreulicherweiſe ausgefüllt. Wir 
dweiũ feln nicht, daß die Jahresberichte auch fernerhin ihren Zweck beſtens 
erfüllen werden. 


_ 8 Breyfig verfudht in der „Zulunft“ Bd. 5, Nr. 33 u. 34 („Die 
Diie Driler der Aufllärung”) nadhzumeijen, dat erſt durch Bico, Boltatre, 
ET Der, Wintelmann ıc. eine univerjelle und „entwidlungsgeichichtliche“ 
Auffafiung in die bisher nur „deicriptive* und „politifhe Geſchicht⸗ 
Hr ipung gefommen jei. Daß und wie unfere heutige hiſtoriſch-genetiſche 
Affafjungsmeife mit der Aufflärung des 18. Jahrhunderts zujammen= 
Not, iſt längit belannt. Breyfig will aber mehr, er will jene Hiftorifer 
83 18. Jahrhunderts al8 Zeugen für das „entwidlungsgeichichtliche“ 
Yincip der neuen Richtung gegen die Armieligfeit der „Fragment: und 
ndividualhiſtoriker“ aufrufen. Er thut bier, wie anderwärts, jo, als habe 

ET gegen eine ganze Welt von Berkehrtheit mit feinen Tffenbarungen ans 
Aulämpfen. Echte Gefchichtihreibung ftrebt immer danach, zu „entwideln“, 
Qud wenn fie nicht an jedem Punkte die „Aufjuchung längjter Entwidlungs: 
reihen“ (man malt fih das mit Schaudern aus!) für ihre Aufgabe hält. 


Gegen die Lamprecht'ſche Geſchichtstheorie iſt jet noch einmal 
FJ. Rachfahl aufgetreten in den Sahrbüdern j. Nationalölonomie u. ſ. w. 
68, 659 ff. („Über die Theorie einer ‚tollektivijtiichen‘ Gefchichtswiflenichaft“;. 
Wir können und nad) dem, was an dieler Stelle wiederholt ausgeführt 
worden ift, nur einveritanden erflären mit der jcharfen Kritik einer Lehre, 
welche e3 als ihr Eigenftes rühmt, in den Grenzen der Erfahrung zu 
bleiben und doch mit der überjpannten Anwendung des naturmwiljenichaft- 
lihen Kaufalbegriffes auf die Geſchichte „das ſchwanke Seil metaphyſiſcher 
Epelulation beiteigt“. „Die Determination,” meint Rachfahl dagegen, 
„die der Hiſtoriker für die menjchlichen Entihliegungen fejtzuitellen vermag, 
bat für ihn immer nur die Bedeutung einer thatſächlichen, nicht aber einer 
notbhwendigen Verknüpfung zwiihen Motiv und Handlung.” Mit diejem 
Berjuche, eine bejondere hijtoriihe Kaujalität, die dad Merkmal der Noth— 
wenpdigfeit nicht in Sich ſchließe, zu ſtatuiren, geht nun Rachfahl freilich 
zu weit. Läßt ſich doch, wie er jelbjt wohl weiß und zugibt, andrerieits 


348 Notizen und Nachrichten. 


ja nidt beweilen, daß der Charalter der NRothwendigleit bei den 
geihichtliden Ereignifien abjolut ausgefchlofien ſei. Fruchtbarer wäre e8 
vielleicht gemwefen, im Anſchluß an die tiefgreifenden Unterfuhungen Dilthey“ & 
über Urfprung und inneren Kern des Kaufalgefepes überhaupt gegen Die 
Mechaniſirung desjelben vorzugeben. 


Auch die Revue historique (Mai-Juni 1897) widmet der Lampregt- 
Kontroverfe zwei Artifel. Der erfte von Pirenne (Une polemiguame 
historique en Allemagne) ijt ein ziemlich allgemein und obenhin gehaltene 
Hymnus auf den neuen Pfadfinder; die Necenjion der Deutihen Geiidyt 
von Blondel dagegen verbindet mit freundlicher Anerkennung feine- 
Talente und feiner anregenden Betradhtungsweije auch jehr deutliche Kriti 
der jchweren Mängel diejes Werled. Jede in den Inhalt desjelben wirllte 
eindringende Analyfe hat bisher Moriches in Fülle darin gefunden. Ebe: 
veröffentliht noh HB. Onden in den Breußiihen Sahrbüdern, Zulideyı 
eine Studie über die „Abſchreibetechnik“ Lamprecht's („Zur Quellenanal y 
modernjter deuticher Geihichtichreibung”), eine unerquickliche Arbeit an ſich 
aber leider nothwendig und zu Ergebnifjen führend, die für Lamprech 
überaus beihämend jind. 


Aus der Ztſchr. f. d. öfterr. Gymnaſien 48, 4 notiren wir nod einen 
Artilel von Em. Hannad: Lamprecht's deutiche Geſchichte und die neue 
Richtung in der Geſchichtswiſſenſchaſt, in dem fich der Berfafler zu diefer 
„neuen Richtung“ bekennt. — Ein Aufiaß von F. Neubauer in der 
Ztſchr. f. d. Gymnaſialweſen 51, 5: Die Nulturgefhichte auf höheren Lehr⸗ 
anitalten, erörtert das Verhältnis von politiiher und Kulturgejchichte im 
Geſchichtsunterricht im allgemeinen verjtändig. 


Sn der English Historical Review 46 behandelt Edw. Jenks: 
Fustel de Coulanges as an historian. Die Schmähſchrift von d'Arbois 
erwähnt er nur nebenher. Er jelbjt erbebt erſt Ausftellungen über 
Ausjtellungen gegen Fuſtel de Coulanges, um jchließlich in einen großen 
Lobhymnus zu enden, — eine feltfame Art von Würdigung. — Aus der 
Edinburgh Review notiren wir noch einen Eſſai über Gibbon: A great 
Historian. 


Über „Nationalität und Humanität“ handelt eine gefchichtöphiloie- 
phiſche Studie” von Chriſtian Ritter (Defjau u. Leipzig, o. 3. Zweite 
Aufl.) Die in der Hauptſache im ibdealijtiihen Sinne gehaltene Unter 
ſuchung kommt zu dem Schluß, „dab die Nationalitäten bis heute nur 
mehr oder minder volllonmene Induktionen (?) der Menjchheit ſinden 


In den Monatsblättern der Deutſchen Ztihr. f. Geſchichtswiſſenſch. 
N. F. 1, 11/12 veröffentlicht H. Geffcken einen Aufſatz: Der germaniſche 
Ehrbegriff, der hauptſächlich gegen die Below'ſchen Duellſchriften gerichtet 
iſt. Indem Verfaſſer nachzuweiſen ſucht, daß der dem Duell zu Grunde 


Alte Geſchichte. 349 


liegende EHrbegriff durchaus auf germanifhe Anſchauung zurüdführt, 
fflgert er, daß auch das Duell keineswegs mit Below als ein Produkt 
leltiſch⸗romaniſcher Zügellofigkeit zu betrachten fei, das erſt aus dem Aug- 
lande in Deutichland eindrang. 


Ein Artikel in der Beilage zur Münchner Allg. Ztg. vom 26. Mai, 
jezeichnet Skz.: Vergleichende Rechts- und GSittengeichichte, erörtert die 
3ereicherung der Wiffenihaft durch vergleihende Behandlung, unter 
ʒeſprechung von Schriften von R. Hildebrand und Th. Stieglitz. — Aus 
ettner's Geographiſcher Ztſchr. 3, 5/6 notiren wir Artikel von A. Vier— 
ın dt: Die Kulturformen und ihre geographiſche Verbreitung (ſyſtematiſche 
berſicht im Anihluß an fein im vorigen Heft diejer Zeitichrift befprochenes 
ed), und von 3. Ratzel: Die geographiihe Methode in der Ethno⸗ 
aphie (über TH. Achelis: Moderne Völkerkunde, Stuttgart 1896). — 
Trrer aus den Deutjchen geographiichen Blättern 20, 1/2 von 9. Schurg: 
eiträge zur Entftehungsgeichichte des Geldes (ethnologijche überſicht über 
everſchiedenen Geldformen); aus der Kirchlichen Monatsichrift 16, 6/7 
nen Auffag von 9. Köhler: Geſchichtsmaterialismus und Religion; 
RD aus dem Nineteenth Century 241 und 242 vom Duke of Argyll: 
Pencer and Lord Salisbury on evolution. 


JRKene Bäder: Bildemeifter, Eſſays. II. (Berlin, Her. 6 M.) — 
"&abreguettes, Socidts, Etat, patrie. I. (Paris, Chevalier-Mareng. 
3 fr.) — dv. Treitſchke, Hiftor. u. polit. Aufjäge. IV. (Leipzig, Hirzel. 
3 M.) — NR M. Meyer, Deutiche Charaktere. (Berlin, E. Hofmann.) — 
Rlok, Geschiedenis van het Nederlandsche Volk. II. (Groningen, 
Wolters. 6,25 Fl.) — Wittmann, Abriß der ſchwediſchen Geſchichte. 
(Breslau, KKoebner. 2 M.) — Bertolini, Storia generale d’Italia i il 
rinascimento e le signorie italiane. (Milano, Treves. 36 L) — 
Labriola, Essais sur la conception mat£rialiste de l'histoire. (Paris, 
Giard et Briere. 3,50 fr.) — Groſſe, Die Formen der Familie und 
bie Formen der Wirthſchaft. (Freiburg i. 8. 750 M.) — Nnapp, 
Srundherridaft und Rittergut. (Leipzig, Dunder & Humblot. 3,20 M.; —- 
RK. Fiſcher, Geihichte der neueren Philojophie. Jubil.:Ausg. 1. Bd. 
‚Heidelberg, Winter. 3M.) — Baumgartner, Geſch. der Weltliteratur. 
[,1. (freiburg 1. B., Herder. 120 M.) — Ed. Engel, Geld. d. engl. 
Literatur. Bierte Aufl. 1. (Leipzig, Bädeler. 1 M.) 


Alte Geſchichte. 

Bei Negadah in Oberägypten ift von Morgan ein Königsgrab aus 
fehr alter Zeit, wahrſcheinlich aus einer der eriten Dynaftien, aufgededt, 
daß, wenn aud nicht unberührt, doch noch viele fchöne Fundſtücke, eine 
Menge irdened Geräth, Waffen, Schmuckſachen, aud Stüde aus Bold und 
Elfenbein, und fehr alterthümliche Inichriften ergeben hat. — Wir notiren 


350 Notizen und Nachrichten. 


beiläufig einen Artikel von ®. Steindorff in der VBellage ber Münchener 

Allg. Big. vom 20. Mai: Die Verwaltung ber Alterthümer in Agypten 

der fi) aus Anlaß des Rüdtritts Morgan’8 von der Stelle eineß General = 

direftord mit den neuen Aufgaben beihäftigt, die feines Nachfolger 
warten. — Ebendort in ber Beilage vom 5. Mat findet fi ein Berich € 
von Moftert über einen von G. Schweinfurth in Katro gebaltenemm 
Vortrag: Sur l’origine des Egyptiens et quelques usages remontam % 
à l’äge de la pierre. 


"An Maſpero's Recueil 19, 1/2 publizirt U. Bouriant nad einemmx 
ägyptiihen Manuftript nicht unerheblihe: Fragments des petite pre >— 
phetes en dialecte de Panopolis (namentli von Joel, Amos, Mickp au 
und Zadaria). Das Heft enthält ferner Artikel von E. Chaffinat: Lee 
vexves de Manethon et la troisitme ennéade heliopolitaine ((dge= == 
Amelineau, der die dem Menes vorangehende prähiſtoriſche Heroendynaſt e 
nach neueren Funden zu hiftorifiren verfucht hat); von M. Barthelem > = 
Relation sommaire d’une excursion de quinze jours au nord d’Ale&x> 
dans la Syrie septentrionale, en septembre 1894 (Funde von nidrfteme 
und AltertHümern); von V. Scheil: Correspondance de Hammuri>ä„ 
roi de Babylone, avec Sinidinnam, roi de Larsa, oü il est queeioxm 
de Codorlahomor (Bublilation, Überjegung und Erörterung von dret 
Stüden) und von demjelben weitere Notes d’epigraphie et d’arch&lorie 
assyriennes; von ©. Maſpéro: Notes sur la g6ographie dgyptienn 
de la Syrie. Ferner die Fortſetzung der Recherches sur quelques bois 
pharaoniques von G. Beauviſage und den Anfang von Unterfuhungerz 
von 9. Moret: La condition des feaux dans la famille, dans la 
societe, dans la vie d’outre-tombe (Wuffafiung von amakhou); endlich 
Tublifationen von neuen Inſchriften 2c. von Dareffy, Spiegelberg, 
Pinches ıc. 


In der Bibliotheca Sacra S. 214 f. erörtert J. M. P. Metcali: 
The Tell-el-Amarna letters. — Aus der Weftminfter Review, April 1897, 
notiren wir einen Auflaß von U. Holmes: Wellhausen’s latest critic, 
in dem Berfafier das gegen Wellhaufen gerichtete Buch von Barter beipridt 
und entichieden für Wellhaufen Partei ergreift. 


Die Wiener Zeitichrift für die Kunde des Morgenlandes 11, 1 enthält 
einen Artifel von 3. Karabacek: Ägnptifche Urkunden aus den Bl. 
Mujeen zu Berlin. Verfaffer beipriht das 1. Heft der arabiſchen Ur: 
funden und ftellt für die Fortſetzung eine Reihe von dringenden Defiderata, 
Hinzufügung von Überfepungen und Erläuterungen, Buthaten, die bie 
Publikation erſt wirflih hiſtoriſch nutzbar madıen. 


Sn den Preußiſchen Jahrbüchern, April und Maibeft, veröffentlicht 
F. Zufti eine größere Abhandlung: Die ältejte iranifche Religion und 





Alte Geſchichte 851 


br Stifter Zarathuftre. Er gibt einen allgemeinen Überblid über Ent⸗ 
tehung und Eintheilung des Aveſta und führt dann, zum Theil unter 
örtlicher Mittheilung einzelner Lieder, die altperfifche Religion in ihren 
wundzügen dem Leſer vor. Zum Schluß wird die Tradition über Zara⸗ 
'ftra zufammengeftellt und erörtert. 


In der Imperial and asiatic Quarterly Review, April 1897, gibt 
9. Barler: A plain account of the life, labours and doctrines of 
’nfucius. 


In der Weitminfter Review, Mai 1897, behandelt 3. F. Hemitt: 
story as told in the cave deposits of the Ardennes. The travels 
the cave men of the stone age and their legends. 1. Theo hairy 
na of the mammoth age — Ein Xrtifel von 3. Legge in der 
»ttish Review 58: Primitive religion and primitive magic, vertritt 
Beſeelungstheorie. 

Aus dem Globus 71, 14,15 notiren wir Mittheilungen über: Neue 
ſchungen in den Ruinen von Urmal (Yulatan). 


In den Mittheilungen der anthropologifhen Gejellihaft in Wien 17,1 
Sffentliht 8. Penka eine größere Abhandlung: Zur Paläethnologie 
ttel- und Südeuropas. 1. Kelten und Gallier (ihr Einbrud) in Spanien 
>Igte gleichzeitig mit dem Vordringen der Germanen auf feltifches Ge— 
&). 2. Illyrier und Staliter (die ältefte ariſche Schicht in Stalien waren 

Illyrier. Der Einbrud der Staliter erfolgte im 11. Jahrhundert 
Er). 3. Thraker und Hellenen (da8 Verhältniß zwiſchen ihnen war 
nlih wie zwijchen Jlyriern und Jtaliern; die Thrafer waren die 
-Üger der mykeniſchen Kultur, und die griehifche Wanderung löfte diefe 
x 13. Jahrhundert ab). Die Rejultate des Verfaſſers müſſen natürlich als 
Br problematifch betrachtet werden. 


Aus der Zeitichrift für Ethnologie 29, 1 notiren wir einen Artikel von 
3. Schoetenjad über eine Studienreife: Bor: und Frühgeſchichtliches 
tus dem italienischen Süden (Sicilien, Sardinien) und aus Tunis. 


Ein interejlanter Aufiag von ®. Helbig in den Sitzungsberichten 
der Aladenie der Wiflenichaften zu Miüncen 1896, 4: Ein ägyptiiches 
Brabgemälde und die mykeniſche «stage, behandelt ein in der Revue 
arch&ol. von Dareſſy veröffentlichte® Wandgemälde aus dem Grabe eine 
igpptifhen Bolizeihefd, auf dem fremde Handelsſchiffe in einem ägnp- 
iſchen Hafen dargeitellt werden. Es ſind offenbar Schiffe von Phöniciern, 
ınd die hier dargejtellte phönicifche Kultur ijt ganz analog der ſog. myke— 
niſchen. 


Aus der Civilta cattolica 1124 u. 1126 notiren wir die Fortſetzung 
er Artikel: Gli Hethei-Pelasgi (Micene und Conclusioni storico- 
ritiche). — Im Globus 71, 4 behandelt A. Götze: Die trojaniihen 


852 Notizen und Nadridıten. 


Eilberbarren der Schliemann’ihen Sammlung. Ein Beitrag zur Urgeſchichte 
des Geldes. Er jieht die Kupfer- und Bronzecelte ald urſprüngliche Tauſch⸗ 
mittel an. 


In den Zahrbüchern für Nationaldtonomie und Statiftif 68, 3 ant⸗ 
wortet 3. Belod auf den Angriff von Eeed: Zur Bevölkerungsgeſchichte 
de3 Alterthums (vgl. die Notiz S. 148). 

Im Bulletin de correspondance hellenique 20, 11 veröffentlicH! 
Th. Reinach: Observation sur le systeme mone6taire delphique x 
IV. siecle (im Anſchluß an die von Bourguet veröffentlichte Inidrift. Ber 
fafjer glaubt danad in Delphi ein gemiichtes Syſtem konjtatiren zu fünnez« 
vgl. aber ein Nachwort zu dem Artikel unter Nouvelles et correspondancee= 
Es folgen in dem Heft Artikel von 3. Ebamonard: Theätre de Dil 
(ſehr eingehende Tarftellung der Ergebnifje der neuen franzöjiihen Aun S 
grabungen); von U. de Ridder und U. Choiſy: Devis de Livedi2 
(neue Publifation und Erörterung der 1891 gefundenen Inſchrift, ne 
Tafel); P. PBerdrizet: Notes sur Chypre. Inscriptions greegue 
(Ausbeute einer Reiſe von 1896; darunter eine griechiſche Verſion De- 
14. Pſalms); P. Hartwig: Une gigantomachie sur un canthare die 
l’acropole d’Athönes (vom Berfafier zum Bergleid mit dem Friefe por 
Schatzhaus der Ziphnier herangezogen) und von B. Dobronsty: Im- 
scription de Pizos (mit thraciihen Ranıen‘. 


In ber Classical Review 11, 3 fommt G. B. Grundy nod einmal 
auf teine Polemik mit Burrows zurüd: The Pylos and Sphacteria question. 
Ebendort 11, 4 fuht U. W. Verrall: The date of Tyrtaeus, den An: 
griffen von Macan zu begegnen, und ebenfo ſucht fih C. Torr nod ein: 
mal zu vertheidigen: Memphis and Mycenae. 

In den Neuen Jahrbüchern für Philologie 1896, 12 veröffentlidt 8. 
Krauth die Fortſetzung jeiner Unterfuhungen über: Berjchollene Länder 
des Alterthums (6. Tie öftlihen Zteuerbezirfe Perſiens nach Herodotos 
und den Dareios-Inſchriften). — Ebendort im erften Heft des Jahrgang? 
1897 finden fih Artitel von 5. Hultſch: Eine Näherungsrechnung der 
alten Poliorketiker Polyb. 19, 12 ff, Berehnung der Länge der Sturm 
leitern für die Mauern einer belagerten Stadt) und von Em. Hoffmann: 
Die Arpalbrüder (Zurücdweifung eines Angriffs von Wiſſowa). — Aus 
dem 3. Heft notiren wir hier nur einen Artilel (Anfang) von G. Friedrich: 
Die Entitehung des Thukydideiſchen Geſchichtswerkes (ſucceſſive Entitehung 
und Erweiterung desjelben). 


In der Märziikung der Berliner archäologiſchen Geſellſchaft trug 
Hiller v. Gaertringen einen Beriht Dragendorff’3 über die 
legten Ausgrabungen auf Thera vor, und F. Noad ſprach über Stadt: 
und Burgruinen in Lofris, Ätolien und Alarnanien. Vgl. die ausführ: 
lihen Berichte in der Wochenſchrift für Haffifhe Philologie Nr. 18 und 19. 


-—-- ——- 


Ulte Geſchichte. 363 


In den Mittheilungen des Kaiſerl. deutihen arhäolog. Inſtituts, 
Athen. Abth. 21, 3 mahen H. Schrader und A. Körte weitere Mit- 
theilungen über: Die Ausgrabungen am Wejtabhange der Afropolis 
(Skulpturen und Inſchriftenfunde). Schrader berichtet Über Funde im 
Gebiete des Dionyſion und Körte über das HeiligtHum des Amynos, ins 
dem er zugleih im Allgemeinen über den Heros Amynos und deſſen 
Lrgeonen handelt. In demfelben Heft ijt eine ältere, topographijche Arbeit 
von Volling über den Hügel „Sitelin bei Athen“ abgedrudt; endlich 

folgen noch Arbeiten von 9. v. Friße: Bu den griehifhen Todtenmaßl- 
reliefs (Verfaſſer enticheidet fich für die Deutung, daß dabei der Todte felbft 
als Heros bei den Greuden des Mahls im Jenſeits gedacht iſt; vgl. dazu 
noch einen Efjat in der Edinburgh Review 380: The sculptured tombs of 
ellas, im Anſchluß an das gleihnamige Werk von P. Gardner, wo der 
Aufjay von Fritze Schon berüdfichtigt wird), und von PB. Wolter’: Ein 
griechiiſcher Beitattungsbraud (sc. ein dem Todten umgelegtes Kinnband). 
— Sn den Mittheilungen 21, 4 gibt Sam Wide einen Bericht über von 
m zufammen mit Kjellberg unternommene Ausgrabungen prähiftorijcher 
Häber: Aphidna in Nordattila. P. Kretſchmer behandelt: Die ſekun— 
ATen (zujammengefegten) Zeichen des griehiihen Alphabet. Es folgen 
Trike von A. Wilhelm: Infchriften aus Attita (Ehrendekret; Namens» 
Verzeihniß der Mitglieder eines Eranos 2); D. Fränkel: Epigra- 
PBijcpe Miscellen; A. Körte: Attifhe yrgos (bei den Außdgrabungen am 
eitabhang der Akropolis gefunden) und Berichte über neue Funde. — 
as Jahrbuch des Arhäologiihen Injtitut3 12, 1 enthält eine Zuſammen— 
ellung von arhäologifhen Mittheilungen aus Südrußland von 9. Dragen- 
orff. 

In den Mittdeilungen des Staiferl. deutihen archäolog. Inſtituts, 
Wöm. Abth. 11, 3 publigirt CH. Hülfen die Fortfegungen feiner: Unter- 
Tuhungen zur Zopographie ded Palatins 5. Ter Tempel des Apollo 
Palatinus; lag auf der Tftede des Hügels) und der: Miscellanea epigra- 
fica (Tessere lusorie und Inſchriften von Cajalbordino und Tarent); dazu 
derfelbe noch einen dritten Artilel: Di una pittura antica ritrovata sull' 
Esquilino nel 1668 (nad Bartoli). Ebendort in Heft 11, 4 gibt U. 
Mau Relonftruftionen vom: Tempel der Fortunaga Augujta in Bompeji 
und vom: Städtiſchen Larentempel in Pompeji (dem fog. Senaculum). 
€. Peterſen wendet fi; gegen die Hypotheje Furtwängler's: Sul monu- 
mento di Adamklissi (vgl. dazu den unten erwähnten Artikel von Benn= 
dorf in den Lfterr. Ungar. Mittheilungen) und M. Roſtowzew behandelt 
die Bedeutung von: Anabolicum (Zoll auf Waaren in Agypten, die dann 
mit einer Steuerplombe, wie und deren erhalten jind, verjehen wurden). 


In den Archäolog. epigraphiihen Mittheilungen aus fterr.-Ungarn 
19, 2 publizirt und erörtert M. Roſtowzew eingehend: Eine neue Ins 
Ihrift au8 Halicarnaß (von Szanto gefunden, betr. den Bau eines Zolls 


Hiſtoriſche Heitichrift N. J Bd. XLIII. 23 


854 Notizen und Nachrichten. 


gebäudes in Halicarnaß). Es folgt ein Artikel von E. Groag: Patrizie 
und IlIviri monetales (Belleidung leßteren Poſtens durch Patrizier vor= 
Vespaſian bid Alexander). U. Stein publizirt: Zwei lykiſche Infchriiten« 
und veröffentlicht einen Aufſatz: Agypten und der Aufftand des Avidin 
Caſſius (der daran theilnehmende Mäcianus war nicht ber befannte Jarig 
des Namene). H. Gomperz erörtert die Frage: Hat es jemals in Edeſſ — 
chriſtliche Könige gegeben? (die liberlieferung über das Chriſtenthuc 
Abgar's IX. iſt legendariſchj und TH. Gomperz publizirt: Ein Grake 
epigramm aus Mylaſa in Karien. P. Sticotti berichtet Über Ergebnif 
einer Reije: Aus Liburnien und Sitrien, und den Schluß des Heftes bild, 
SInichriftenartitel von Majonica: Aus Aquileja (Weihinfchriften), vers 
Sr. G. Tocilefeu: Neue Infchriften aus Rumänien (Fortfebung, Ar. "T« 
bis 95; meift Grabſchriften, zum Theil in Berjen) und von der Rebaltiwnz 
mitgetheilte Injchriften aus Bhilippopel (6 Nummern) und Altbulgarit cp. 
Inſchriften (11 Stücke). Endlih enthält da8 Heft noch den {don er. 
wähnten, fehr bemerlenswerthen Auflag von DO. Benndorf: Adanllifjr, 
in dem er fi auch ſchon mit dem Aufſatz von Peterſen außeinanderjegr. 

Über die von ihm feit dem Jahre 1895 auf der Stätte bed altem 
Epheſus unternommenen Ausgrabungen bat jegt Prof. Benndorf der 
Wiener Alademie der Wiſſenſchaften Bericht erftattet. Danach ift nament 
fi ein großer, ſchöner Saalbau aufgededt, und bemerkenswerthe Skulpturen 
und Arditelturreite, daneben etwa 300 AInjchriftenrefte, find bis jetzt ger 
borgen. Größere Ergebnifie find wohl noch nad) weiteren Ausgrabungen 
zu erhoffen. 

Sn der Nähe von Teſtur in Tunis iſt eine große agrarifdhe In: 
ſchrift gefunden, ein Reglement für die Villa magna Valeriani mit 
Angaben über den Anbau des Landes und die Kohnverhältnifie der Ar⸗ 
beiter, ein Seitenftüd zu der berühmten Inſchrift vom Saltus Burunitanus. 
— Beim Cap WMatifon, öſtlich von Ulgier, ift eine Nekropole aus dem 
zweiten Sahrhundert n. Chr. entdedt. 

Sn der Revue catholique d’Alsace 16, 1 behandelt @loedler: 
La campagne de Cesar contre Arioviste en Alsace (fegt die Schlacht bei 
Stogheim im Unterelfaß an). — Aus der Nouvelle Revue Historique de 
droit francais et &tranger 21, 2 notiren wir: Fragments de la lex 
municipii Terentini (Reprodultion des Terte® nach Scialoja) und bie 
Fortfekung der Abhandlung von Meynal: Le mariage aprös les 
invasions. 

Da3 Bullettino della commissione archeol. comun. di Roma %, 1 
enthält eine intereflante Etudie von E. Serafini: L'arte nei ritretü 
della moneta romana repubblicana. Ebendort berichtet Or. Marucdi: 
Di un frammento di sarcofago cristiano con nuove rappresentanze 
eimboliche (im Februar in Rom gefunden, mit Abbildung) und Gatti 
tbeilt: Notizie di ricenti trovamenti di antichita (au8 Rom) mit. 





356 Notizen und Nachrichten. 


L’inscription d’Abercius et son dernier exegete, in dem der Verſaſſer be 
merkenswerthe Einwände gegen TDieterich erhebt und wieder für ben driyx 
lien Charakter der Injchrift eintritt. Vgl. dazu nod einen Artikel oz 
8. de G. in den Etudes religieuses 71 (deren officieller Titel übrigemw- 
jest: Etudes publiées par les Peres de la Compagnie de Jesus lautet‘ 
Un monument de la foi du second sitcle (l’Epitaphe d’Abercius). — 
In der Revue Benedictine 1897, 5 publizirt D. G. Morin: L'epistuml 
ad virginem lapsam, de la collection de Corbie, opuscule inedit vJ 
ıa fin du IV. siecle (vielleiht von Nicetas). 


In den Sigungsberichten der bayer. Akademie der Wifjenich. zu Münden 
1897, 1 behandelt H. Chriftenjen: Die Vorlagen des byzantiniicher 
Alerandergedichtes, jomwie die ‚srage nach dem Berfafler. — Ebenbort, ir 
Jahrgang 1896, H. 4 publizirt und erörtert 8. Krumbader einen: 
Dithyrambus auf den Chroniſten Theophanes (ein Proſaſtück aus einer 
Mündener Handſchrift nebft zwei Hyninen). — In den Melanges d’archdo- 
logie et d’histoire 17, 1 publizirt 9. Delehaye nad einem Manuferip? 
der Barberini'ihen Bibliothef: La vie d’Athanase patriarche de Con- 
stantinople (1289-93 und 1304—10). 


Nene Büder: Marquart, Fundamente ißraelitifher und jüdiider 
Geſchichte. (Göttingen, Dieterich. IM. — Friedländer, Das Juden 
thum in der vordriftl. grieh. Welt. (Wien, Breitenftein) — Darem- 
berg et Saglio, Dictionnaire des antiquites grecques et romainee. 
35. fasc. (Paris, Hachette. 5 fr) — Revillout, Notice des papyrus 
demotiques arclıaiques et autres textes juridiques ou historiquee. 
(Paris, Maisonneuve.) — Buſolt, Griechiſche Geſchichte bis zur Schlach 
bei Chäroneia. III, 1. (Gotha, Perthes. 10 M.) — Strack, Die Dynaflie 
der Ptolemäer. (Berlin, Hertz. 7 M.) — Philonis Alexandrini opers IL 
ed. P. Wendland. (Berlin, Reimer. 9 M.) — Murray, A History 
of ancient Greek Literature. (London, Heinemann.) — Sielinili, 
Cicero im Wandel der Jahrhunderte. (Veipzig, Teubner.) — Le Bour- 
geois, Les martyrs de Rome. I. (Paris, Lamulle et Poisson.) — 
Borsari, Topografia di Roma antica. (Mailand, Hoepli. 4,50 M) 
— Cichorius, Tie Relief der Trajansſäule. I. (Berlin, Reimer.) — 
Yung, Orundriß der Geographie von Jtalien. 2. Aufl. (Münden, 
Bed. 3,50 M.: 


DBömifh-germanifhe Zeit und frühes Mittelalter Bis 1250. 


In den Neuen Jahrbüchern für Philologie 1897, 1—3 handelt 
A Wilms über: Das Schlachtfeld im Teutoburger Walde. Er gibt zur 
nädjt eine ablehnende Kritik der Knoke'ſchen Habichtswaldhypotheſe, wobei 
aud die Knoke'ſche Schrift über die Pontes longi noch einmal beiproden 
wird, und er ſucht dann feine eigene Auffafjung von der Varianiſchen 


Frühes Mittelalter. 357 


ꝛclage näher zu begründen. Der letzte Kampf hat nad ihm im Lippi- 
Walde ftattgefunden, und das Sommerlager des Varus war in Det- 
— Bir notiren nod eine Recenfion der Knoke'ſchen Schrift von 
8 olff in Nr. 15 der Berliner Philologiihen Wochenschrift und einen 
aB vom Generalmajor Wolf (gleihfalld abweijend) im Korreipondenz=- 
des Geſammtvereins ꝛc. 45, 7: Das Varuslager im HabichtSwalde. 
der Stelle im Habichtöwalde foll übrigens jegt noch eine Heine Stein- 
mit Aſchenreſten und einem Schwert gejunden jein, und die darüber 
Teitete Notiz Mingt beinahe, als hätte man hier gar die Überrefte des 
23 jelbit gefunden! | 

Der Kontroverje über die Schlaht im Teutoburgerwalde und über bie 
tes longi ijt auch der größere Theil des 21. Bandes der Mitteilungen 
Bereind für Gedichte und Landeskunde von DOsnabrüd (Osnabrück, 
3. Kisling. 1897) gewidmet. In einer größeren Abhandlung behandelt 
Brejama: Die Ergebnifje der Bohlmwegdunterfuhungen in dem Grenz- 
Ir zwiſchen Oldenburg und Preußen und in Mellinghaufen im Kreiſe 
lingen. Er gibt vor allem eine genaue, durch viele Zeichnungen, Karten 
) Pläne erläuterte Beichreibung und techniihe Erörterung der auf» 
edten Bohlenmwege, die er in römiſche {die pontes longi des Tacitus), 
römiſche und mittelalterlihde unterfcheidet. Vielleicht ließen fi noch 
logiihe Indizien und eine Bergleihung mit in andern Theilen Deutid- 
ds gefundenen Moorbrüden zu genauerer Altersbeſtimmung verweıthen. 
Ichließt fi daran ein Artikel von H. Plathner: Eingetretene Ver— 
:bungen an dem Bohlmwege im Dievenmoore zwiſchen Damme und 
ıteberg, der gleichfalls technijche Erläuterungen gibt. Endlich der legte 
itel des Heftes: Zu den neuejten Römerforſchungen, enthält einmal 
i ablehnende Beiprehungen der Knoke'ſchen Hypotheſe von Schuchardt 
ı Hamm (jener hält die Umwallung für wahrſcheinlich forjtwirtbichaft- 
n Urſprungs; dieier leugnet nad) hemijcher Analyje, daß es fih um 
'n Leihenhügel handelt) und beiden antwortet Knoke in längeren 
gegnungen. 

In der Deutichen Zeitichrift für Geſchichtswiſſenſchaft, N. F. 2, Viertel: 
rsöheft 1 veröffentliht W. Schule einen Artikel: Principat, Comitat, 
Hilität im 13. Kapitel der Germania des Tacitus. Er wendet ſich gegen 
ȧner's interpretation vgl. die Notiz 77, 358) und ehrt jelbjt mit 
bt zu der Erklärung von dignatio im pajjiven Einne zurüd. Im 
igen aber kann ich jeiner Erflärung fo wenig wie der Wießner's zu= 
ımen, halte vielmehr die Leſung ceteri für ceteris für uncrläßlid, um 
einem richtigen Zuſammenhang der ganzen Stelle zu gelangen. FE. 

m Thiel’? Landwirthſchaftlichen Jahrbüchern 26, 1 ift eine Abhand- 
g von Braungart veröffentlidt über den: „Uralten Aderbau im 
enlande und jeine urgeichichtlihen=ethnographiihen und anthropolo⸗ 
ben Beziehungen“, auf die in der Beilage der Münchener Allg. Ztg. 


358 Notizen und Nachrichten. 


vom 3. Mai in einem Artikel: AUderbaugeräthe und Ethnographie uf 
merkſam gemadt wird. Namentlid) dag Verdienſt der Germanen um die 
Ausbildung der beiten Aderbaugeräthe wird von Braungart betont. 


Eine injtruftive Etudie veröffentliht Ed. Kraufe im Globus 71, LT 
und 18 über: Vorgeſchichtliche Flichereigeräthe und neuere Vergleichsſtück e 


An ben Schriften des Vereins für die Neumart, 5, behandelt U. Gi e 
Die Borgejhichte der Neumark, nad den Funden bargeftellt (von Unfezug 
bis in die flawifhe Zeit). — In den Württemberg. Bierteljabröheftenz, 
N. F. 5, 34 maht W. Neftle: Bemerkungen zu einigen Eigennamen auf 
römiſchen Inſchriften in Württemberg, die auf gallo-römiſche Miich- 
bevölkerung jchließen lajjen. 


Das Korreipondenzblatt der Weitdeutichen Ztichr. 16, 1 enthält Berichte 
über neue Funde von ©. Sirt: Fragment einer Uconftatue, gefunden bei 
Wahlheim, jept im Stuttgarter Yapidarium; von 8. Wolff, über das nıeu 
aufgegrabene Kaftell Heddernheim; von Ballat, über römiſche Funde im 
Wiesbaden, bei Straßenbauten und Fundamentirungen gemadt, zum Theil 
wahricheinlih aus den alten, 69 n. Chr. zeritörten Aquae Mattiacorum 
und von Waltzing über eine in Arlon gefundene Grabſchrift. Das beis 
gegebene Limesblatt Nr. 21 enthält Berichte der Streckenkommiſſare 
Nitterling (Kaftell bei Bendorf in der Rheinprovinz), Ballat (Ber 
fauf des Limes von Kaſtell Alteburg bis Kemel), Wolff (Erdfaftele 
Heidenbergen, Höchft und Hofheim‘, Conrady (die „Schanze“ bei Gericht 
ftetten, eine vorrömifche Befeftigung), Steimle {rhätifcher Limes in Bürt 
teınberg, Fortjegung in Nr. 22), Preſcher (Kaftell in Heidenheim an der 
Brenz) und W. Kohl Kaſtell Hammerſchmiede-Dambach und Limes-Pfahl⸗ 
roft in Kreutweiher). — Das Limesblatt Nr. 22 enthält außer der Fortſetzung 
des Steimle'ſchen Berichts noch Berichte von Wolff Über Straßenforjhung 
aus dem Bezirk Frankfurt a. M., von Schumacher über Gradlinigfeit 
des Grenzgräbchens auf der badischen Strede Rinſchheim⸗Tolnaishof, und 
von Kohl über ein Kuaftell bei Weihenburg a. S. in Mittelfranfen. — 
Im Korrefpondenzblatt 16, 2/3 berichtet Körber Über neu gefundene 
römiſche Inſchriften aus Mainz, und A. Kiza über eine Unterjuchung der 
fog. Poller-Köpfe (Kheindämme aus dem Mittelalter). In demielben Heit 
theilt noch Ritterling unter Miecellanea eine in Lykien gefundene In⸗ 
Ächrift mit, die fich auf den an Tomitian’3 Chattenkrieg im Jahre 83 be 
tbeiligten P. Baebiug Jtalicus, ſpäter Statthalter in Lykien, bezieht. — Aus 
Jr. 4 des Korreſpondenzblattes ift hier nur eine Miscelle von Kenne, 
eine Zujammenftelung über den mit Merkur identifizirten keltiſchen Gott 
Vijucius, zu erwähnen. 


Ein Heiner Aufſatz von G. Wolfram in ber Beilage der Mündner 
Allg. Ztg. vom 26. Mai: Der Landkreis Me, ein Territorium aus römiſcher 
Zeit, folgert aus den Ergebnijlen der Namenforihung, daB die alte civitas 


Srühes Mittelalter. | 359 


Mediomatricorum dem Andringen der germaniihen Stämme am längften 
widerftanden und dann immer eine jelbftändigere Stellung bewahrt habe. 


Das Archiv für kathol. Kirchenrecht 77, 2 enthält die Fortfegung 
der Abhandlung von Stiegler: Dispenſation und Dispenſationsweſen in 
ihrer geihichtlihen Entwidlung bis zum 9. Jahrhundert. Verfaſſer weiſt 
die Anſicht zurück, daß vor dem 11. Jahrhundert Dispenſationen für beab- 
ſihti gte Handlungen (in faciendis) nicht gewährt wurden. Dagegen waren 
die Dispenfationen bis zum 11. Jahrhundert ftet? allgemeiner Natur und 

Nrıten noch nicht Aufhebung der Wirffamfeit eines Geſetzes in Einzel: 
ällen. Dasfelbe Heft enthält einen Artikel von %. Ehrmann: Der kano⸗ 
niſche Proceß nach der Collectio Dacheriana Quellenanalyſe der zwiſchen 

& und 831 verfaßten Collectio und ſyſtematiſche Behandlung der auf den 
kamoniſchen Prozeß bezüglihen Theile). 

Die Studien und Mittheilungen aus dem Benediltiners und Cijter- 
Cienfer-Orden 18,1 enthalten, außer der Sortjegung der Wrbeit von 
Beith: Die Martyrologien der Griechen, einen Artikel von B. Ponſchab: 
Das Pontificalbuch Gundekars II. und der jelige Ultto von Metten (das 
Pontifikalbuch zeigt, daß Utto in Eihftädt von Biſchof Gundelar zum 
Tidcefanpatron erhoben war). — In der Ztichr. für Kirchengejchichte 18, 1 
veröffentliht 4. Freyſtedt: Studien zu Gottſchalk's Leben und Lehre 

{1. Gottihalt’3 Berurtheilung und Ende, ichildert fein tragifches Schichſal 
im Kampf um die Prädeſtinationslehre). In den Analekten des Heftes 
handelt O. Seebaß: Über die jog. Regula coenobialis Columbani und 
die mit dem Bönitential Columbas verbundenen kleineren Zuſätze (das 
Poenit. Columbani enthält zwei jelbftändige Pönitentialien, die aber 
wahrſcheinlich beide, der Haupttheil des zweiten fider, von Golumba her- 
rühren. Daran fchließt fi) noch eine Erwiderung an 9. J. Schmip). 


In den Mittheilungen des Inſtituts für öſterreichiſche Geſchichts⸗ 
forfhung 18,2 veröffentliht U. Manitius einen Meinen Artikel: Bu 
Dynamius von Maſſilia (über die Perfönlichleit des in der zweiten Hälfte 
des 6. Jahrhunderts lebenden Dichter® und Beiträge zur Textkritik des 
Gedichts De TLerine insula). — Ebendort unter „Kleine Mittheilungen“ 
behandelt Br. Kruſch: Die Zujäpe zu den Chroniken Iſidor's in 
Mommſen's Ausgabe der Meinen Chroniten, die neues Material zur 
fränkiſchen Geihidhte enthalten, und R. Sternfeld weilt hin auf: Ein 
unbelanntes Diplom Konrad's III. ‚vom 14. Eept. 1151, abichriftlih im 
Tepartemental:Arhiv der Iſere). 

Unter dem Titel Analecta veröffentliht EC. Weyman im Hiltoriichen 
Jahrbuch 18, 2 kritiiche Bemerkungen: Zu den (von Sauerland: neuedirten 
Zerten über Clemens von Meg. Ebendort publizirt B. M. Reichert: 
Acht ungedrudte Dominilanerbriefe aus dem 13. Jahrhundert (an die 
Dominilanerinnen des Klofterd St. Agnes in Bologna, nad) einer Würz- 
burger Handidrift). 


860 Notizen und Nachrichten. 


Die Studi storici 6, 1 enthalten die Fortfegung, bzw. den Schiuß der 
Artikel von WU. Erivellucci: Le chiese cattoliche e i Langobardii 
ariani in Italia, und von U. Mancini: La storia ecclesiastica di 
Eusebio e il De mortibus persecutorum. — Ebendort beginnt %. Muct = 
accia mit der Veröffentlihung einer urkundlichen Geſchichte des Orderr S 
ver: Cavalieri dell’ Altopascio, von jeiner Gründung im 11. Jahrfundert 
ab (mit Abdrud von 22 Urkunden aus dem 12.—14. Jahrh. aus dewm 
Staatsarchiv von Lucca). — Tas Archivio storico siciliano 21, 3/4 Bringt 
eine fulturbiftoriiche Studie von C. A. Sarufi: Ricerche sugli usi mnu- 
ziali nel medio evo in Sicilia (über Herkunft der Gebräude, ihre Ber: 
änderungen ꝛc.; mit Abdrud von 7 Nummern Urhinden und Altenftücke 
aus dem 13. und 14. Jahrhundert). — Im Giornale storico della litte- 
ratura italiana 86/87 handelt 3. della Giovanna: Ancora diSan 
Francisco d’Assisi e delle Laudes Creaturarum (gegen Dariano). 


In den Atti e memorie della R. Deput. di Storia patria per le 
provincie di Romagna 3, 14, 4/6 publizirt B. Uccame: Notizie e docu- 
menti per servire alla storia delle relazioni di Genova con Bologna 
(politiijhe und kommerzielle Beziehungen; mit Abdrud von 31 Nummern 
Urkunden und Attenjtüde von 1225 —1448ı. — In den Rendiconti della 
R. Accad. dei Lincei 6, 6, 1, veröffentliht E. A. Garufi als Vorarbeit 
für eine größere Schrift eine Abhandlung: Di una monetazione imp® 
riale di Federico II. transitoria fra Tari e gli Augustali (vgl. bie 
Notizen 74, 169 und 76, 357), und ebendort veröffentliht C. Cipolla: 
Nuove notizie intorno a Parisio di Cerea cronista veronese del 
Sec. XIII iin Ergänzung zu den Mittheilungen Hampes im Neuen 
Ardiv 22). 

Sin den Melanges d’archeologie et d’histoire 17, 1 nimmt 8. Du⸗ 
heöne feine Notes sur la topographie de Rome au moyen Age wieder 
auf (8. S. Maria Antiqua, lag an der Stelle von S. Maria Nova). — 
In ber Revue de l'Ouest 13, 3 behandelt Dom Fran(ois Plaine: 
Odon de Gilanefuil et l’autbenticit& de la mission de St. Maur (ver 
theidigt die Authenticität; Odon hat die Biographie des Yauftus mut 
überarbeitet). — Ein feiner Auffag von Ch. Huygens in der Revue 
de l’instruction publique en Belgique 40, 2: Zandelm, ſucht aus dem 
von Fredericq Ppublizirten Corpus documentorum inquisitionis, das 
Waumwermang nicht benutzt hat, neues Material zur Biographie Tanchelm's 
zu gewinnen und die Rolle, die er in jozialer und religiöſer Beziehung 
gefpielt hat, näher zu beftinment. 

Die Bibliotheque de l'éMole des chartes 58 enthält die Fortjegung 
der Unterfuhungen von P. Yournier: Les collections canoniques 
attribuees a Yves de Chartres (Bujammenjegung und Entftehung bed 
Liber Decretorum). ÜEbendort publicirtt 9. Umont aus einem neu 


Frühes Mittelalter. 861 


worbenen Manujfript der Barijer Nationalbibliothel: Un nouveau calen- 
rier romain tir&E des Fastes d’Ovide, der von den bisher belannten 
iehrfache Abweichungen bietet (San. bis Juni). — In den Questions 
Ästoriques 122 veröffentliht © Bacandard unter Melanges einen 
leinen Yuffag: La scola du palais merovingien, in dem er in forgfäl- 
ger Erörterung nadweift, daß eine literarifche Schule am merovingijchen 
of nicht ereftirte. 


In der Bibliothöque de la Faculte des lettres de Paris 3 veröfient= 
ht A. Luchaire eine Abhandlung: Hugues de Clers et le „De senes- 
ıÜlcia Franciae“. Letzteres ijt danach wahricheinlid eine Fälſchung aus 
n Dahre 1158, bei Gelegenheit der Verleihung des Titel3 senescalcus 
Ameise an Heinrich II. 


Aus dem Dijoner Ardiv veröffentliht CH. Pfiſter in den Annales 
Y’Est 11, 1 fünfundjechzig auf den von Moleme abhängigen Priorat von 
Ure-Dame de Nancy bezügliche Urkunden: Documents sur le prieuré 
tre-Dame de Nancy recueillis aux archives departementales de la 
te d’Or (von der eriten Hälfte des 12. Jahrhunderts ab). — Ebendort 
ht der Schluß der Notes sur les seigneurs, les paysans et la pro- 
iete rurale en Alsace au moyen äge. 


Sm Moyen Age 2,1, 2 publizitt M. Qecomte: Bulle d’Alexandre III. 
Our l’abbage de Faremontiers (9. Mai 1167). 


Die „Beihichte der Stadt Tyrus zur Zeit der Kreuzzüge“ von Dr. 
eopold Lucas (Berlin, Mayer & Müller. 1896. 92 S. 2,40 M.) kann 
igentlich feine Geichichte der Stadt genannt werden, vielmehr jcheint fich 
er Berjajjer nur zur Aufgabe gemadt zu haben, da8 Material zu einer 
Jeihichte zufammenzuftellen und nur da ausführlier zu werden, wo er 
er bisherigen Anjicht nicht beipflichten fann. Er jeßt dabei die Kenntnis 
er älteren Literatur voraus, allerdings aber eine jo genaue Detailfenntnig, 
aß feine TDarjtellung jtellenweije nur für den verjtändfich jein wird, dem 
ie Einzelheiten in jedem Falle jo bekannt find, wie dem Berfajier. Das 
ejen wird dadurch jehr erjchwert, daß der Berfajier (auper im Anhange) 
ie Bemerkungen in den Text jegt und oft nur dur ein Jnterpunftiong- 
ichen von der Darſtellung trennt. Sonjt aber wird man der Wrbeit die 
nerlennung nicht verjagen fünnen. Hoogeweg. 


Ein Aufiaß von ®. Larminie: Joannes Scotus Erigena (Comtems 
orary Review 376 hebt die Größe der wiſſenſchaftlichen Anſchauung des 
Rannes für da8 9. Jahrhundert hervor. — In der Law Quarterly Re- 
iew 13, 50f. veröffentlicht 5 ®. Maitland: Magistri Vacarii summa 
e matrimonio (neue Ausgabe nah dem Manuicript der Univerſitäts⸗ 
ibliothef zu QGambridge, verbunden mit dem Tractatus de assumpto 
omine, und Einleitung und Erläuterungen dazu. — Aus der Historical 


362 Notizen und Nachrichten. 


Review 46 notiren wir Midcellen von %. Baring; Domesday and som « 
tbirteenth century-surveys (zur Seftitellung des Pfluglandes im Domeßdary 
von J. P. Gil ſon: Two letters addressed to William Rufus (v2 
Hugo von Lyons und Hildebert von Le Mans), und von J. H. Roun D 
The earliest fines (20. Juli 1175 bis 9. Dezbr. 1180). — Die Arche 
logia Cambrensis 54 enthält den Anfang eine® Artifeld von J. Roger & 
Rees: Slebeth commandery and the knights of St. John (mit TB- 
drud eine® Stüdes: Notationes evidenciaıum seu munimentorum per- 
tinentium ad preceptoriam de Slebech. Confirmatio Domini Anselmi 
episcopi vom „Jahre 1230). 


Das Neue Archiv 22, 3 enthält den Schluß ded Beriht3 von AR. 
Hampe über feine Reife nad) England vom Juli 1895 bis Februar 18% 
(Beilagen, erfter Theil: 12. Formelbücher und Brieffteller in englischen 
Handfdriften. 13. Eine ungedrudte Bifion aus farolingifcher Zeit. Zweiter 
Theil: Handichriftenbeijhreibungen und Abdrüde fürzerer Etüde. Brit 
tiſches Muſeum; Lambeth Palace und Public Record Office in London; 
Cammlungen von Irford und Sambridge; Heinere Bibliotheten von Durham, 
Wincheſter, Lincoln, Ereter, Ealisbury, Dublin, Uberdeen, Aihburnbam: 
Place und Wigan‘. Das Heft enthält außerdem nur noch eine Abhandlung 
von H. Röhmer: Der fog. Serlo von Bayeur und die ihm zuge 
fchriebenen Gedichte (ihre Zeitfolge ꝛc. 2c., Lebensſchickſale und Weltanſchau⸗ 
ung ded Ende ded 11. und Anfang des 12. Jahrhunderts Tebenden 
Dichters). In den Miscellen des Heftes macht B. v. Simfon Bemer 
tungen: Zu Jordanis (conversio — Eintritt in den geiſtlichen Stand, 
Heimat in Weſtafrika 2); 9. Hampe desgleihen: Zur Erklärung eine 
Briefes Bapft Hadrians I. an den Abt von S. Denid (J. 2491), und 
O. Holder: Egger: Zu den Annales Moguntini; M. Manitius 
macht Mittheilungen über: Handſchriftliches (Kalender ꝛc. 2c. in Berliner 
Handidriften). 


An der Deutſchen Ztichr. f. Geſchichtswiſſenſch. N. F. 2. Monatsblätter 
1/2 veröffentliht G. Seeliger einen Nufjag: Forfhungen über die Ent- 
ftehung des Kurkollegs. Er gibt zunächſt einen Überblid über die Entwid: 
Iung der Anfichten im letzten Nahrhundert jeit Gemeiner und feht ſich dann 
mit Lindner auseinander, deſſen Aufſtellungen er noch einmal fcharf zurüd- 
weift. Er jelbit hält daran feft, daß ſich das Kurrecht aus einem Vorſtimm⸗ 
recht entwidelte, und ift geneigt, das Vorſtimmrecht aus dem Erzamt zu 
ertlären, aljo anzunehmen, da dag ältere Vorrecht bei der Krönungsfeier 
zu einem Vorrecht auch bei der Wahl geführt habe. 


An der Ztichr. für Handelsrecht 46, 1 veröffentliht Ad. Schaube 
eine Abhandlung: Zur Entjtchungsgeihichte des pilaniihen Constitutum 
urus .eine neue Unterfuchung des Codex Vaticanus 6385 und Relonftrul- 
tion des Constitutum und jeiner Geichichte danach). 


Frühes Mittelalter. 363 


„Die Anfänge der Geldwirthichaft” (sc. im fpäteren Mittelalter, feit 
isgang des 12. Jahrhunderts) behandelt G. Grupp in der Ztichr. für 
ilturgeſch. 4, 4/5 (Anfang). — Aus dem Korreipondenzblatt des Ge- 
Mmtvereins 2c. 2c. 45, 5 notiren wir noch einen Artikel von F. Thu- 
Hum: Die beiden älteiten Stadtrechte von Freiburg i / B. (dad zweite, 
Ößere Stadtrecht it eine Fälſchung des Raths der Stadt aus der Mitte 
8 13. Jahrhunderts), — In den Württemb. Bierteljahrsheften N. F. 
34 gibt Mehring eine: Urkundenlefe aus den päpftlihen Regiftern, 
T wmwürttembergifhe Orts- und Familiengeſchichte (von 1211 — 1306, 
| Regeften). 


In der Btichr. für die Gefhichte des Oberrheins N. F. 12, 2 veröffent⸗ 
HH. Witte eine größere Abhandlung: Der heilige Forft (am Wasgen⸗ 
ald) und feine ältejten Befiger, in der er die wechjelnden Schidfale dieſes 
Jaldes bis zu dem Übergang in den Alleinbefig der Staufen behandelt, 
id auch namentlich werthuolle genealogiſche Studitn daran knüpft (dazu 
ne Geſchlechtstafel des Hauſes Mümpelgart). Der noch ausſtehende 
chluß ſoll die ſtaufiſche Ziit und daneben den Urſprung von Hagenau 
id das Haus Mümpelgart behandeln. 


In einigen Monaten wird im Verlag von Regensberg in Münſter 
ne Neubearbeitung der Gams'ſchen „Series episcoporum“, bearbeitet von 
m gelehrten Ditglied des Minoriten-Ordens, derzeitigen päpftlichen 
Initenziar in Rom, P. Conrad Eubel, unter dem Titel „Hierarchia 
ıtholica medii aevi“ erjheinen. Im Gegenfat zu Gams, der 
ir auf gedrudte Suellen zurüdging, wird P. Eubel in erfter Linie das 
kunden: Material des Batilanifhen Arhivs zu Grunde legen. Auch alle 
tular:Biihöfe und alle Kardinäle (die Kardinal-Priejter und Kardinals 
iafone) follen in der „Hierarchia“ Aufnahme finden. Das Werk wird 
it dem PBontififat Innocenz III. einjegen und die Bijchofsreihen bis etwa 
m Sabre 1550 herabführen ; für die Zeit vor Innocenz III., für welche 
e Beſtände der Batilaniihen Archive verjagen, und für die Zeit von der 
‚itte ded 16. Jahrhundert3 ab würde jomit Sams’ „Series“ in Geltung 
eiben. Der erite Band der „Hierarchia“ wird mit dem Wontifilat 
Yartin’3 V. abſchließen. — Gleichfalls unter Redaktion von P. Eubel fol 

einigen Monaten der lang erichnte 5. Band des „Bullarium 
ranciscanum“, weldes die Jahre 1304-1334 umfajjen foll, unter 
n Auſpicien de3 Minoriten-Ordens ausgegeben werden. H. Haupt. 


RNene Büder: E. O. Schulze, Tie Kolonijirung und Germani- 
ung der Gebiete zwiihen Saale und Elbe. ‚Leipzig, Dirzel. 20 M.) — 
Hirſch-Greuth. Studien zur Geichichte der Kreuzzugsidee nach den 
reuzzügen. (Hiftoriihe Abhandlungen. Herausgegeben von Heigel und 
trauert, XL, (Müncen, Lüneburg. — Fr. Yudmwig, Unterjuchungen 
er die Reiſe- und Marichgeihwindigfeit im 12. und 13. Jahrh. (Berlin, 


364 Notizen und Nachrichten. 


Mittler.) — Brand, Trois siecles de l'histoire de Languedoc. (Tor 
louse, Marque®s. 1 Fr.) — Chevalier, Oeuvres historiques. I. (Annale==. 
de la ville de Romans). (Paris, Picard.) — Ademar de Chabanne=s 
Chronique p. p. Chavanon., (Paris, Picard) — Battistella, L_a 
republica di Venezia dalle sue origini alla sua caduta. (Bologn za. 
Zanichelli di Cesare e G. Zanichelli. 4 L.) — Grimme, Geldigte 
der Minnefänger. I. Paderborn, Schöningd. 6 M.) 


Späteres Mittelalter (12501500). 


In den Mitth. des Tfterreih. Inftituts 18, 231—340 ſetzt A. Dopid 
die 1893 begonnenen Beiträge zur Gejchichte der Finanzverwaltung Liter- 
reich8 im 13. Jahrhundert fort und erörtert weitläufig die Urganijation 
der landesfürftlihden Finanzverwaltung, insbeſondere das Landſchreiber⸗ 
und Hubmeifteramt. 


Mar Heber gibt in feiner Leipziger Difiertation „Gutachten und 
Reformvorſchläge für das Bienner Generaltonzil 1311—1312* (Leipzig 
1896. 74 ©.) eine ausführlihe Darlegung der ragen, die das Komil 
beijhäftigten, der TZemplerfrage, Kreuzzugsfrage und der Frage der inneren 
Reform der Kirhe. Er weiſt aus den zahlreihen Gutachten der PBubliziften 
jener Jahre nach, wie im Mittelpunft des Intereſſes wirklich die Reform: 
frage Stand, jo daß man das Konzil jehr wohl als Reformtonzil bezeichnen 
fann. Leider erwies fich der Einfluß der weltlihen Mächte, vor allem der 
des Königs von Frankreich, al hemmend; weder in Bezug auf Reform der 
Kirche, no für den Kreuzzug wurde etwas Mefentliches erreicht. Ter 
einzige beträdtlihe Erfolg war die Aufhebung des Templerordens, die 
lediglih Philipp dem Schönen zu gute fam. Ein Erturd behandelt Leben 
und Bedeutung des Petrus Durand. 


Das 2. Heft des Hijtorifhen Jahrbuchs bietet mannigfaltigen Inhalt. 
KR. A Kopp bringt S. 273 den erjten Theil einer Biographie von Petrus 
Paulus Vergerius d. ä. als Beitrag zur Gejchichte des beginnenden Hume- 
nismus und bietet zunächſt eine jorgfältige Lebensſkizze des interefianten 
Mannes (geb. 1370). ©. 363 drudt P. B. M. Reihert acht Domini 
fanerbriefe aus dem 13. Jahrhundert ab, die an die Dominilanerinnen zu 
St. Agnes in Bologna gerichtet und uns in einer Würzburger Hand: 
ichrift erhalten find. S. 375 befchreibt P. 8. Eubel eingehend die mit 
dem fog. Nicolaus Minorita zufammenhängenden Handſchriften der Bati- 
cana, unterjucht namentlih Inhalt und Verhältniß des Cod. 4009 und 
weilt auf einen andern God. 7316 al8 Vorlage der Ausgabe von Baluzes 
Manſi nochmals genauer Hin. 


Im Neuen Archiv 22, 771 weift 2. Schmig aus Urkunden nad, daß ber 
iog. Werner v. Lüttich, der Verfajler von Papitleben des 14. Jahrhunderts, 
identijch ijt mit dem Bonner Kanoniker Werner von Hafelbede aus Efien. 


Späteres Mittelalter. 365 


Einen werthvollen Bericht über Tod und Begräbniß Philipp's des 
drren von Frankreich veröffentlicht nad) einem Gefandichaftsbericht an den 

zu Majorta Baudon de Mony in Biblioth. de l’Ecole des 
rtes 58,1. Ebenda S. 78 bringt ©. de Mas Latrie fieben venetia= 
Be Dokumente über Beziehungen zum Orient und ©. 155 I. Viard 
enjtüde von 1362 über die Auslieferung von Dokumenten an England 
DIge des Friedensvertrags von Bretigny. 


In Revue historique 64,1 erörtert 3. Sufferand die Frage der 
itorſchaft des ‚Kingis Quair‘, eines Jakob I. von Schottland zugejchries 
nen Gedichts, im bejahenden Sinne. 


Sn der Revue d’histoire diplomatique 11, 161 fteht der Anfang 
ner Unterfuhung von G. Salles über die Einrichtung franzöfiiher und 
alienifcher Konfulate des Mittelalterd. ALS Fortjegung (j. oben S. 163) 
ingt Funck-Brentano ©. 234 f. ein ebenfall® jehr weitläufiges 
otariatsinftrument über die Beſchwörung bes Friedens-Vertrags zwiſchen 
tanfreih und Flandern von 1305 durch die dortigen Städte. 


In Notices et extraits 35, 2, 551 behandelt 8. Deligle eine Hand: 
rift der Sept psaumes all&ögorises der Pariſer Nationalbibliothet und 
ihließt aus den hiſtoriſchen Anſpielungen der beigefügten ®ebete in geijt- 
iher Weiſe als VBerfafferin eine Dame vom Hofe Karl's V., Chriftine 

Pijan, und als Zeit der Abfaſſung das Jahr 1409. Tas Pſalmbuch 
urde von ihr auch als Neujahr&gejchent an den Herzog Johann v. Berri 
yerreidht. 

In einer Züricher mediziniihen Difjertation „Joſ. Zürcher (med, 
act. in ‚lorenz), Jeanne Darc. Bom piychologiiden und pſycho— 
thologiihen Etandpuntt aus. Kine Studie. Leipzig 1895, gedr. bei 
wald Mutze, 147 ©.” macht ein Piydiater, ein Schüler Forels, den 
ıbedingt dantenswerthen Verſuch, die neuen Ergebnijie, welche die medi- 
niſche und pſychologiſche Forſchung über die Entitehung von Hallucina— 
onen bei Befunden gewonnen bat, für das hiſtoriſche Verſtändniß der 
ungfrau von Irleand fruchtbar zu machen. Leider gewährt er nur An— 
gungen, da der Mediziner und der Hiftorifer jih in ihm nicht durch⸗ 
‚ungen haben. So jtcht die unjelbjtändige und keineswegs fehlerfreie 
Beichichte Jeanne Darc's (im Auszug“ als 1. Kapitel neben dem 

Kapitel „Jeanne Darec's Hallucinationen und Autoſuggeſtionen“, in 
elhem 3. allgemeineren von Forel entlehnten Nuslaffungen über das 
zeſen der Hallucinationen und der Autojuggeition feſſelnde Erörterungen der 
zügliden Erjcheinungen bei Johanna anſchließt, aber doch nur einige 
fällig herausgegriffene Fragen, die auf dieſe Weije ihre Löfung finden 
inien, in Angriff nimmt. Wäre 3.3 Kenntniß der neueren hiſtoriſchen 
iteratur über Johanna eine breitere und tiefere (das oberflächliche Bud 
on Mahrenholg bat er viel zu fehr benugt und von ihm aud die faljche 


866 Notizen und Nachrichten. 


Namendform Dare Statt d'Are entlehnt), wären ihm namentlich die vorzügcg 
lihe Abhandlung von Th. Sidel „Jeanne d'Are“ H. 3. 4, 27350 ur 
die dad Milieu 3.8 beleuchtenden Forſchungen von Simon Luce (Jeanrm« 
d’Arc a Domremy, Paris 1886), ferner bie jeiner Abhandlung ſehr ve— 
wandten Wufläge von Thomafjin, „Seanne d'Arc's jeeliiche® Leben. Kerze. 
pſycholog⸗hiſtoriſche Forihungen” in „Nord und Süd“ Nov. und Daı 
1893 und endlich einige Abhandlungen bes unermüdliden Hermann Semm 
mig belannt, fo würde er bie Unterſuchung tiefer und umfaflender gefüßır: 
haben und nicht glauben, die Brozekakten zum eriten Mal von biefem Ge: 
ſichtspunkt auß zu durchforſchen, — in der That hat Th. Sidel in Am— 
lehnung an Hecker's Abhandlung über Bifionen von 1849 fon 1860 im 
Weſentlichen diefelbe Erflärung von 3.8 „Stimmen“ und Wundern gegeben, 
wie fie 3. jegt mit moderner Nomenklatur und mander Einfeitiglett der 
Nancyer Schule bietet. K. Wenck. 

In den Württembergifhen Bierteljahrsheften für Landesgeſchichte 
N. F. Bd. 5 behandelt P. Joachimſohn unter dem Titel „rühbume- 
nismus in Schwaben” den Kreis der fleineren Gelehrten und Dichter um 
Wyle und Steinhöwel, die weniger berbortraten, deren Bufammenbänge 
untereinander ihr in Münchener Handichriften erhaltener Briefwechfel zeigt. 
Als Beilage erhalten wir 36 Briefe von 14491463 mit einem Negifte. 

Neue Bäder: Feret, La facult6 de thöologie de Paris et ses 
docteurs les plus celöbres.. Moyen Age. IV. (Paris, Picard.) — 
Lehugeur, Histoire de Philippe le Long (1316—1822). I. (Paris, 
Hachette.) — Loſerth, Studien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahr⸗ 
hundert. I. (Sib.:Ber. der Wiener Akad.). (Wien, Gerold.) 


Meformation und Gegenreformation (15001648). 

Die Gefangennahme des Kardinals Ascanio Sforza durch die Bene 
tianer nad) der Niederlage bei Rovara (April 1500) und feine Auslieferung 
an die Franzoſen behandelt 2. &. BElijfier in der Rev. histor. (63, 2) 

In der Revue d’hist. diplom. (1897, 2) führt Baffy die in dieler 
Zeitſchrift (79, 1675 notirte Beröffentlihung des Geſandtſchaftsberichtt 
Vettori's weiter. 

Die von uns (78, 546) auch bereits erwähnte Veröffentlihung Witte 
mann's über Joh. Nibling, Prior von Ebrach, wird in den Studien und 
Mittheilungen aus dem Benediftinerorden (18, 1) fortgejegt. 

In der English historical review (1897, April) feßt 3. Gairdner 
feinen in diefer Zeitichrift (78, 547) erwähnten Aufjag über die Eheſcheidung 
Heinrich's VIII. fort. 

Die dritte Auflage der befannten ausgezeichneten Lutherbiographie 
von Mar Lenz, die kürzlich erichienen ift (Berlin, Gaertner. 24 €.) 
hat eine Reihe Meiner Änderungen und Zufäße. 


Reformation. 867 


er Ztſchr. f. Kirchengeſch. (18, 1) behandelt &. Bauch: Andreas 
als Scholaftiter, feine Entwidlung etwa bis zum Sabre 1614. 


ort gibt derfelbe mehrere kurze Melandthoniana, u. a. den An⸗ 
e. die Verbrennung der päpftlihen Defretalen (10. Dez. 1520), 
f Melanchthon's an Peter Burdhard (1518 Dez.) u. a. 


Katholik“ (1897, Mai) will N. Paulus in einem Aufſatze über 
on und die Gewiflensfreiheit zeigen, dag Melanchthon jehr 
ſowohl gegen die Katholiten, als gegen bie Wiedertäufer und 
ftirer war. 


ſchackert veröffentliht in der Ziſchr. f. Kirchengeih. (18, 1)- 
unbelannten Stüde des Briefwechſels Melanchthon's mit der 
tingen (au8 dem Göttinger Stadtardiv), nebit einigen anderen 
gen Altenftüden. Der Briefwechjel wurde geführt in den Jahren 
4 und 1561. 

Außerung Melanchthon's über den Begriff der Kirche (von 1561) 
ht ebendort P. Jürges. 


ſteuen Archiv f. ſächſ. Geſch. u. Alterthumsk. (18, 1. 2) ſchildert 
n einem intereſſanten Aufſatze auf Grund der Dresdener Archi⸗ 
Anfänge der Reformation in Schneeberg. Schneeberg war 
er Beliß der Ernejtiner und NAfbertiner, zeitweilig wechſelte die 

jährlih, dann wurde fie gemeinjam geführt. Das gab Anlaß 
ößten Verwidlungen, die erft 1531 ihr Ende fanden, ald Schnee: 
n alleinigen Beſitz der Erneitiner gelangte. 


er Ztſchr. f. Kirchengeſchichte (18, 1) fjegt W. Friedensburg 
räge zum Briefmechjel der fatholifhen Gelehrten Deutſchlands 
tationszeitalter (j. H. 3. 76, 549 f.) fort und veröffentlicht Hier fünf 
n Cochlaeus an Aleander vom 25. März bis 27. Oktober 1521, 
Bapft Leo X., drei Schreiben Aleander’3 an Cochlaeus und einen 
pion’® an Aleander, ſämmtlich ebenfalld von 1521. Die Briefe 
eſſant und werthvoll für die Biographie des Cochlaeus, bieten 
ie allgemeine Geichichte verhältnismäßig wenig Neues. 


Bericht über die 1527 unternommene Jeruſalemsfahrt zweier 
1er aus Friedau in Steiermark veröffentliht F. Khull aus: 
in den Mittheilungen des Hiftoriihen Vereins für Steiermart 


Jeränderungen im Reichsmatrikelweſen um die Mitte des 16. Jahr 
nanıentli die Verhandlungen Über eine Revifion der Matrikel 
teihstage zu Worms 1545, behandelt J. Müller unter Beigabe 
ıbefannter Alten in einem werthvollen Aufſatze der Ztiſchr. d. 
ns f. Schwaben und Neuburg (231. Wünſchenswerth wäre wohl 
genaueres Eingehen auf die früheren Matrikeln, namentlich die 


868 Notizen und Nachrichten. 


von 1521 gewejen; mande der angeführten Berzeichnilie über die unjihern 
Zahlen u. dal. gehen in ihrem Kern auf den Augsburger Reihätag von 
1518 zurüd. 


In der Ztſchr. f. Kulturgefch. (1897, 3, 4) fchildert 8. v. Roͤrycki 
den Humanismus in Polen, defjen Blütezeit in der zweiten Hälfte des 
16. Jahrhunderts fällt; die Hauptvertreter desjelben werden kurz charalterifirt. 


E. Better, „Das Ende Amy Robfart’8 nad) dem Bericht des ſpaniſchen 
Sefandten Alvaro de la Duadra vom 11. September 1560“, im Jahres: 
bericht der Bictoriafchule Darmftadt 18957, urtheilt, daß die erfte grau 
Leiceſter's, des Sünftling’8 der Königin Eliiabeth, ermordet morden fd, 
und daß dieje legtere fi zum mindeften ein Geſchehenlaſſen zu Schulden 
tommen ließ. F. L 


Zwei bisher unbelannte Briefe Margarethe's von Parma vom Auguft 
1566, der eine an Philipp IL, der andere an Gilbert d'Ongnyes, Bildol 
von Tournai gerichtet, finden fi in den Annales de la socidts .... de 
l’hist. de la Flandre 46, 2/3 abgedrudt. 


An der Hand eines vortrefflihen Quellenmaterial® begleitet Vegre⸗ 
nault de Pucheſſe Katharina von Medicis auf ihrer Reiſe nad dem 
Süden Frantreihs in den Jahren 1578/79, wo jie den Zweck verfolgte, 
die jüdlihen Provinzen, zunächſt Guyenne und Languedoc, zu pazifiziten, 
fie enger an die Monardie anzugliedern, der jie bis dahin ziemlich ſelb⸗ 
ftändig gegenüberjtanden, und die beiden Konfeilionen in ihnen mit ein 
ander zu verjöhnen. Diefem leßteren Zwecke dienten die Beiprechungen 
zu Nerac zwiichen den Vertretern der Natholiten und der Öugenotten im 
Februar 1579, bei denen der Verfaſſer befonders ausführlich vermeilt. 
(Revue des questions hist., April 1897.) 


Zu den zahlreihen jchon veröffentlichten Briefen der Gemahlin Hein 
rich's IV., Margarethe von Balois, find 24 neue getreten, welhe TZamizey 
de Yarroque in den Annales du midi vom April 1897 publizirt bat. 
Sie find während des zweimaligen Aufenthaltes der Königin in der Gas⸗ 
cogne 1579—82 und 15835—-85 gejichrieben, an den ipäteren Kanzler Pom⸗ 
ponne de Bellievre gerichtet und werfen neues Licht auf Perjonen und 
Berhältnifje in der Umgebung Heinrich's IV. jomwie auf diefen jelbit. 


Ten von Jeſuiten Gerard unternommenen Berfuh, die Katholiten 
von der Anftiftung der Pulververſchwörung von 1605 möglichſt rein zu 
waschen, juht B. Camm in einem Wrtifel in der Dublin Review vom 
April 1897 weiteren ultramontanen Kreiſen zugänglih und plaufibel zu 
machen. 


Anı Weuen Archiv f. ſächſ. Geſch. (18, 1. 2, 1897) unterfuht Wahl 
die Stellung Kurſachſens zu der Frage der Kompofition und Succeſſion 
1614—15 und führt das Schwanten der ſächſiſchen Politik darauf zurüd, 


* 


1648— 1789. 369 


daß der Kurfürſt Johann Georg ſtets die Wahrung ſeiner Anſprüche auf 
die Füklichechevefche Erbſchaft dabei im Auge hatte. 


Einen derb fatiriich gehaltenen Dialog, der das Schalten und Walten 
de Öfterreihifchen Statthalter Grafen von Sultz 1638 in Stuttgart, fein 
Kombfyftem und fpeciel die Plünderung des Reſidenzſchloſſes geißelt, 
druckt Joſenhans in den Württemb. Vierteljahrsheften f. Landesgeſch. 
ab. 9.5.5, 3/4 (1896). 

Eine kulturhiſtoriſch intereffante, anziehende Schilderung widmet 

IEment-Simon dem Leben und Treiben des franzdjiihen Adels in 
der Provinz unter der Regierung Ludwig's XIIL, indem er ein lebens 
dolle Bild von den Beſitzern des Schloſſes Bompadour in der erften 
Dälfte des 17. Jahrhunderts zeichnet (Revue des quest. hist., April 1897). 


Im Archivio storico per le province Napoletane 22, 1 (1897) 
Handelt Capaſſo ausführlih und mit Reproduttionen verfchiedener alter 
Stihe über die gleichzeitigen bildlihen PDarftellungen Maſaniello's, des 
Helden der NReapolitaniichen Revolution von 1647—48 und einiger feiner 
Hamilienangebörigen. 

Dene Bäder: Thudihum, Promacdiavel. (Stuttgart, Cotta. 
2M.) — Bronsveld, Het buitengewone gezantschap van den heer 
van Sommelsdijk bij den koning van Frankrijk in de jaren 1625 en 
1626. (Haarlem, De Erven Loosjes. 1,50 Fl.) — Mankell, Ofversigt 
af svenska Krigens och Krigsinrättningarnes historia. (4 Hefte bis 
1611.) (Stockholm, Militärliteraturföreningens förlag. Zuſ. 18 tr.) 


Schmertoſch beridhtet im Neuen Archiv f. fähl. Geſch. (18, 1. 2) 
über die Bemühungen Nurbrandenburgs und Kurſachſens in den leßten 
Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts, ſich der unterdrüdten Proteftanten in 
Ungarn anzunehmen. Obwohl er, auf Dresdener Alten geftüßt, haupt 
jählih die Schritte des Kurfürjten Johann Georg III. beleuchtet, gebt 
doch auch aus jeiner Darftelung hervor, daß die Führung des deutfchen 
Brotejtantigmug in diejer Frage nit Sachſen, ſondern dem Großen Kur: 
fürjten von Brandenburg zufiel. 


Andre le Glay fdildert in der Revue d’hist. diplom. (1897, 2) 
die Erpedition der franzöjiihen Hilfstruppen unter dem Befehl Navailles’ 
nad Kreta 1668—69 zur Unterftügung der in Kandia belagerten Bene 
tianer, wo der Herzog von Bcaufort bei einem Ausfall im Zuni 1669 fiel. 
Die Leiftungen der Franzoſen werden in ein helles Licht gerüdt und die 
Benetianer für den Berlujt der Iniel allein verantwortlich gemacht. 

Ferdinand Hirich: Der Winterfeldzug in Preußen 1678—79. Berlin, 
Saertner, 1897. IX, 113 S. Ter um die Geſchichte des Großen Kurfürften 

Hiſtoriſche Beitihrift R. F. Or. XLIII. 24 


370 Notizen und Nachrichten. 


hochverdiente Verfaſſer hat mit diefer nicht umfangreichen Schrift die Forſch⸗ 
ung über den preußifchen Feldzug wohl zum Abſchluß gebradht. In der aus⸗ 
führlichen Vorrede wird über die Quellen, die theilmeije gedrudt vorlagen, 
ein Marer Bericht erjtattet; für die Vorgeſchichte des Feldzugs vornehmlich 
bat der Verfaſſer das Berliner und Königsberger Arhiv ausgiebig benupt 

Während nämlid der Feldzug jelbit, einen fo durchſchlagenden Erfolg er 

auch aufzumweifen hatte, arm ijt an friegerifchen Ereignifien, geben uns die 

Berhandlungen des Kurfürften und feiner Königsberger Regierung mit 

den preubiihen Ständen einen Einblid in die außerordentlichen Schwierig: 

feiten, mit denen der Kurfürft zu kämpfen hatte. Der erfte Abſchnitt 

©. 1-37 — „Angriffspläne gegen Preußen und Anftalten zur Vertheidi⸗ 

gung de8 Landes 1675—78* — ſchildert eingehend und anfchaulid bie 

partitularijtiiche Selbftfucht, mit der die Stände fih allen Opfern für dad 

Staatöganze zu entziehen ſuchen, und die Beharrlichkeit, mit der der Kurs 

fürft auf feinem Willen befteht; noch waren ja nit 20 Jahre vergangen 

jeit dem heftigen Kampfe zwifhen dem Kurfürften und den Ständen um 

die Anerlennung der preußiihen Souveränetät. Der Kurfürft behielt 

Recht: die preußische Landmiliz erwies ſich gegen die matt und ungeididt 

geleitete ſchwediſche Invaſion al® gänzlich unbraudbar, und das Land 

wurde nur durch die vom Kurfüriten felbft herangeführten Truppen bes 

freit. Aber der Haß und die Erbitterung in der preußifchen Bevölkerung 

waren fo groß, daß man dem Kurfürften für jein Eingreifen nicht einmal 

Dank wußte. H. P. 


Im Archiv d. Ver. f. fiebenbürg. Landeskde. (N. %. 27, 2) beichäftigt 
ih Duldner mit der Geſchichte des Übergangs Siebenbürgens unter die 
Herrichaft des Haufe Habsburg. Der erfte vorliegende Artikel fehildert 
ausführlich die Politik des willensſchwachen Fürſten Apafı I., der zwiſchen 
Dijterreichern, Ungarn und Türken eingeklemmt 1686 fortwährend zu laviren 
fuchte, ehe die Waffenenticheidung zwijhen dem Kreuz und dem Halbmond 
fiel, mit allen diplomatiihen Künften aber die Bejegung jeines Landes 
durch ein kaiſerliches Armeecorps nit zu hindern vermochte. 


In einer eingehenden Unterfuhung weift A. Parnell (Engl. hist. 
rev., April! nad, dab die Nairne Papers, welche Macpherjon Ende des 
vorigen Jahrhunderts publizirt hat, und bie die Berather Wilhelm’s TIL, 
vor allem Malborough, in den Verdacht des verrätheriihen Verkehrs mit 
dem vertriebenen König bradten, feine Originale, ſondern Fäſchungen find, 
die vielleicht fchon von den damaligen Jakobiten, vielleiht aber auch erit 
von Macpherion jelbft begangen find. 


Sm Nuovo archivio Veneto theilt Tegani den Briefwechſel Rus 
ratorig mit Giuſeppe Bini mit und gibt eine Lebensfkizze dieſes wenig 
befannten, eifrigen Sammlers und Forichers auf dem Gebiet der Geſchichte 
Friaul's. 


1648 —1789. 371 


In der Rev. hist. 64, 1 gibt Syveton einen kurzen Gejammtüber- 
lid über die Politik Karl’8 XII, in dem er fi bemüht, die Handlungs- 
elle des Königs aus feiner jeweiligen Lage und dem wohlverftandenen 
Mierefie der Länder, in denen er fi} aufbielt und die er beherrfchte, zu 
Tlären. 


Desſelben Berfaffer interefjante und glänzend geichriebene Schrift Une 
ur et un aventurier au XVIII. siecle (Paris, E. Leroux. 1896. 309 ©.) 
Sonderabdrud aus der Revue d’hist. dipl. VIII) ift eine von uns 74, 180 
yon erwähnte Studie über die Thätigkeit des abenteuerlihen Barons 
ipperba in Wien und Madrid. Sie fchildert, wie R. mit weitaus mehr 
fü als Gewandtheit die jpanifch-öfterreihiihen Verträge vom 30. April 
ıd 5. November 1725 flieht, wie er dann feinen Vortheil keck aus— 
ltzend fih zum leitenden Minifter Spaniens aufwirft, bier aber infolge 
ner eigenen diplomatifhen Unfähigkeit bald Sciffbrud leidet, in letzter 
nie auch durd den öfterreihiichen Geſandten in Madrid felbit, Königs 
g — wenn wir defjen Berichten oder vielmehr den ihm gegebenen Ver⸗ 
berungen der jpanifchen Majeftäten Glauben fchenten dürfen. Syveton 
hrt, nachdem er die Endſchickſale Ripperda's etwas ihrer bisherigen Romantik 
itkleidet hat, mit großer Klarheit die jehr verwidelten diplomatijchen Ver— 
iltniſſe Ofterreichs zu Wefteuropa bis zum Sabre 1731 weiter. Zum 
chluſſe gibt Verfafler ung den geheimen Vertrag vom 5. November 1725, 
tr vollſtändig noch nie abgedrudt worden ift, mit defien Inhalt ung aber 
reit3 Armitrong (Elifabeth Farnefe. London 1892. ©. 186/7) bekannt 
macht bat. Dasfelbe gilt von den gleichfall® angeführten ganz geheimen 
vei Artileln des Vertrages von 1731, die wir aus Arneth (Prinz Eugen 
‚ 291) fennen. O. Weber. 

Als 10. Heft der Hiftoriihen Abhandlungen, herausgegeben von Heigel 
nd Grauert (Münden, Lüneburg) ijt ein Aufſatz von Dr. Sieg=- 
und Hellmann erjdienen mit dem nothwendigerweile etwa lang= 
tämigen Zitel: die jogen. Memoiren de Grandchamps und ihre Fort⸗ 
gungen und die fog. Memoiren ded Marquis de Saffenage Es ift dem 
Jerfajfer gelungen, mit einem großen Aufwande Hiftoriiher und philolo- 
tfcher Unterjuhungen nachzuweiſen, da weder ein Comte D. noch ein 
Rarquis D. die Berfafier der Guerre d’Italie und der Guerre d’Espagne 
nd, daß beides Phantajiewerfe ihrer Autoren find, daß der Verfafler der 
ruerre d’Espagne identiijh mit dem Fortſetzer der Guerre d’Italie 
in muß, dab eine feiner hauptjächlichiten Quellen die Lettres historiques 
ewejen find, daß das Ganze wohl als ein eriter Berfuch einer antifranzö⸗ 
ſchen Darſtellung de3 ſpaniſchen Erbfolgekriegs aufzufalfen if. Wer die 
(utoren waren, konnte Verfaſſer nicht feitjtellen, er läßt die Frage bezüg— 
ich Grandchamps offen, verneint fie und wie es jcheint mit Recht bezüg- 
ih Safjenage oder auch betreffs Sandras de Courtilz. Hellmann läßt ſich 
ianchmal allzufehr vom kritiihen Spüreifer binreißen, jo werden bei dem 

24° 


872 Notizen und Nachrichten. 


Nachweiſe der obenerwähnten Identität ber Berfafler ala Beweis beiden 
Werfen gemeinjame häufiger gebrauchte Wörter angeführt, wie moure 
ınent, poste, secours, succes (©. Bl) die aber doch in Büchern militis 
riihen Inhalts durchaus feine Stileigenthüimlichkeit bilden können. jeft 
iheint auch zuweilen die angewandte Mühe nicht im richtigen Nerbältnifie 
zum Gegenſtande derjelben zu jtehen, aber jedenfall bat Hellmann gezeigt, 
daß er mit großer Genauigfeit und Sachkenntnis zu forfchen verfteht, und 
man darf von jeinem Scharfjinne noch erfreulide Arbeiten erwarten. 
Ottocar Weber. 

A. Pribram beabjichtigt, feine ausgedehnten archivaliſchen For 
ihungen zur Geſchichte des böhmischen Handel® und der böhmiſchen Jr 
dujtrie im 17. und 18. Jahrhundert zu einer Reihe von Auflägen zu ver 
werthen, deren erjter nunmehr in den Mitth. d. Ver. f. d. Geſchichte der 
Deutſchen in Böhmen (35, 4) erjchienen if. Er behandelt die Gründung 
des böhmiſchen Kommerztollegiums, die nach mehreren vergebliden An- 
läufen erit 1724 zu ftande fam. Bon allgemeinen Intereſſe find die eins 
leitenden Bemerkungen, in denen der Zufammenbang zwiſchen den droni- 
{hen Yinanzfalamitäten Oſterreichs und feiner Geſammtpolitik, beſonders 
auch der auswärtigen, klar und überzeugend nachgewieſen wird. 


Michaud gibt in der Revue internationale de théologie 5, 17. 18. 
Auszüge aus der Korrefpondenz zwifhen der franzöfiihen Regierung und 
ihren Gejandten und Bevollmädtigten in Rom aus dem Unfang des Jahres 
1721, die fit auf die neue Papftwahl, die Bulle Unigenitus und das 
Kardinalat von Dubois bezichen, ohne eigene Zuthaten. 


In der Rev. d’hist. dipl. 11, 2 beginnt Boutry mit ber Darftellung 
der Geſchichte des Konklaves, in welchem Benedict XIV. gewählt wurde, 
und der Rolle, die Kardinal Tencin dabei geſpielt Bat. 


Desdeviſes au Tezert entwirft in der Rev. des Pyr&ndes 9,1 ein 
Bild von dem Zuftande der Bauart, der Polizei der Stadt Madrid, der 
Kleidung, den gejellihaftlichen Vergnügungen ihrer Bewohner u. a. während 
des vorigen Jahrhunderts. 


Als „zweiten Beitrag zur Geſchichte des Siebenjährigen Krieges“ hat 
L. Frhr. v. Thüna ein Buch erſcheinen laſſen, „Ein aus Eiſenach ſtammen⸗ 
des preußiſches Infanterie-Regiment im Siebenjährigen Kriege“ (Eijenad, 
W. Wildens. 1897. 146 S. 3,20 M.) Mit großem Fleiß find darin aus 
den Archiven, aus der älteren und aus der neueren Literatur die Nachrichten 
über dad vom Herzog von Sadjen-Eijenah 1740 an Preußen überlafiene, 
jpäter jog. Regiment von Kreugen zujammengetragen und zu einer zur 
jammenhängenden Darjtellung verwendet. Die Erzählung muß fidy aller: 
dings dem Stoff entiprehend im wejentlihen auf Einzelheiten bejchränten, 
wird aber dem künftigen Hiftorifer des Kriege eine brauchbare Bor- 
arbeit jein. 


1648 — 1789. 313 


Das 4. Beiheft zum Militärwochenblatt bringt drei Vorträge: Einen 
bon v. Duiftorp zur Beurtheilung kriegsgeſchichtlicher Darftellung, der 
durch zahlreiche Beijpiele aus der neueren Kriegsgeſchichte die pſychologiſche 
Wirkung des Kampfes auf die Truppen beleuchtet und zur nüchternen Auf⸗ 
fafjung den Berichten von Augenzeugen gegenüber mahnt; eine kurze, Hare 
und überjihtlide Schilderung der Schlacht bei Torgau mit Kartenfkizzen 
und Blan von Frhrn. v. Freytag-L2oringhoven, die allerdings 
nichts wefentlih Neues enthält und auf Probleme nit genauer eingeht: ; 
und eine für den Hiltorifer unergiebige Darjtellung der Operationen, weldıe 
der Schlacht von Liegnitz vorausgingen, und deren Folgen von v. Webern. 


Wir notiren aus den SZahrbüdern für Armee und Marine (Maiheit) 
die Überfegung einer Arbeit Hennebertg über die Leiftungen des In— 
genieurd Gribeauval während des GSiebenjährigen Krieges, welcher der 
Überjeger, Stavenhagen, einige Bemerkungen über den Feftungsfrieg und 
den Gegner Gribeauval's, Lefebvre, angehängt hat. 


F. vd. Weed verzeichnet in der Ziſchr. f. Geſch. d. Ober-Rheins N. F. 
12, 2 die für die dentſche Geſchichte werthvollen Stücke aus dem Nachlaß 
de3 Kardinals Garampi (F 1792). 


Auf eingehende Studien im Vatikaniſchen Archiv gejtügt, behandelt 
Augufto de Benedetti in einer Meinen beachtenswerthen Schrift (La 
diplomazia pontificia e la prima spartizione della Polonia. Pistoia 
1896. 2 fr.) die Beziehungen der Kurie zu Rolen vor der eriten Theilung. 
Das Ergebnis feiner Forſchungen ift eine Scharfe Verurtheilung der päpit- 
fihen Politil. Die Kurie hätte nach ber Anfiht des Berfajjerd vielleicht 
das Scidjal Polend verhindern können (7). Cie hat audh den feiten 
Willen gehabt, dem „Spanien des Nordens“ aus ber Not zu helfen, aber 
in völliger Verfennung de3 engen Zufammenhanges der politifhen und 
religiöfen ragen hat fie durch ausſchließliche Berüdfichtigung der katho— 
lichen Intereſſen, durch ihren unffugen Widerftand gegen alle Reformen, 
gegen jede Konzeflion an die Tifjidenten jelbjt da8 Meifte zu dem Unter: 
gang des polnijchen Reiches beigetragen. M.J. 


Einige lebendige Aufzeihnungen Lavaters über fein erites Zujammens 
treffen mit Karl Friedrih von Baden und feinen Aufenthalt in Karlöruhe 
im Sabre 1774 theilt Hund aus feinem Tagebuche mit. (Itſchr. für die 
Geh. d. Ober-Rheins N. F. 12, 2). 

Eine poetijche Epijtel eines hugenottifhen Emigranten an einen ihm 
befreundeten fatholiihen Beiftlihen, die Maillard im bull. du protest. 
franc. 15. Mai veröffentlicht, gibt Zeugni® von den freundicaftliden 
Beziehungen, die bei aller Verfolgung zwiſchen den Anhängern der ver- 
ſchiedenen Konfeflionen im 18. Nahrhundert bejtanden, und enthält einige 
fulturgejchichtlich intereflante Notizen Über das Leben und den Unterhalt 
des Ausgewanderten in London. 


374 Notizen und Nachrichten. 


Menue Bäder: Maronier, Geschiedenis van het Protestantume 
van den Munsterschen Vrede tot de Fransche Revolutie 16481789. 
I. U. (Leiden, Brille.) — 9. G. Schmibt, Fabian v. Dohna. (Hafle, 
Niemeyer. 5 M) — Bright, Maria Therefia. (London, Mac— 
millan & Co. 2 sh. 6 d.) — Bright, Joſeph U. (London, Mac— 
millan & Co. 28h. 6d.) — Waniek, Gottſched und die beutjche Literatur 
feiner Zeit. (Leipzig, Breitlopf & Härte.) — Colenbrander, De 
Patriotentijd. I. (1776—1784). (Haag, Nijhoff.) — Ingold, Bossuet et 
le jansenisme. (Paris, Hachette. 5 fr.) — Montesquieu, Voyages 
de Montesquieu. II. (Paris, Picard.) — Le Sueur, Maupertuis et ses 
correspondents. (Paris, Picard.) — Crousaz-Oretet, Le Duc de 
Richelieu en Russie et en France. (1766 — 1822). (Paris, Firmis- 
Didot.) — Desdevises au Dezert, L'’Espagne de l’ancien regine. 
La societe. (Paris, Lecene.) 


Qienere Geſchichte feit 1789. 


Bon 9. dv. Sybel's Geſchichte der Revolutionszeit erfcheint jept im 
Cotta'ſchen Verlage eine wohlfeile Ausgabe in 60 Lieferungen (Preis 40 Pf... 


In der Revol. francaise (März und April) zeigt der ruffifche Gelehrte 
U. Onou in einer ausführlihden Abhandlung, dab die Betheiligung der 
Urwahlbezirte bei den Wahlen von 1789 eine weit allgemeinere war, ald 
bisher vielfahh angenommen wurde. Sn denjelben Heften veröffentlidt 
Perroud eine vortrefflihe Unterjuhung über die Memoiren, Aufjäge, 
Briefe u. |. w. Manon Roland’3, deren Abfaffungszeit, Handjchriften und 
Ausgaben. Mijjol berichtet die legten Schidjale der 1617 gejchaffenen 
Bürgermiliz von Billefrandye, insbeſondere ihre Rolle in den Unruhen zu 
Ende Juli 1789. Hamel veröffentlidt ein weiteres Kapitel aus der 
neuen Auflage feiner Biographie von St. Juſt, eine eifrige Mpologie 
feines Helden gegen die Anklagen Fleury's (Saint-Juste et la terreur) 
wegen Entführung einer verheirateten Frau. Kleinere Mittheilungen 
betreffen ein Schreiben des Präfidenten der Jakobiner am 21. Januar 
1793, Moneitier, iiber die Hinrichtung Ludwig's XVL, den Selbftmord dei 
Birondiften Rebecquy und die Vorbereitungen zur Krönung Napoleon’s 1. 


Aulard erörtert die Entwidlung des religiöfen und kirchlichen Lebens 
in Frankreich vom 18. September 1794 bis zum 28. April 1802, in dem 
Zeitraum alſo der durchgeführten Trennung der Kirche vom Staate, und 
kommt nach einer jehr anerfennenden Charakterifirung der Freidenker, der 
Theopbilanthropen u.. w. zu dem Ergebnis, daß bei ber gegenjeitigen 
Tuldung der Religionsparteien, der ftrengen Niederhaltung ber über 
mädtigen Katholifen durch den Staat, Alles in bejter Ordnung und das 
Konkordat, defjen Napoleon nur zur Begründung jeiner Herrichaft bedurfte, 
firchenpolitiich überjlülfig war. (Revue de Paris, 1. Mai.) 


Neuere Geſchichte jeit 1789. | 375 


Paſſy's Gefhichte der Wetreideverjorgung don Paris unter dem 
tonfulat und dem Kaiſerreich ift ein wichtiger Beitrag zur Kenntnis der 
apoleonifhen Verwaltung. Anfangd von glänzendem Erfolge, verjagt 
as Don Rapoleon (wie von Friedrich dem Großen) bevorzugte Magazin: 
Nem in den Krifen der Jahre 1811 und 1812, ſodaß der Kaifer ſchließlich 
f Die Zwangsmaßregeln der Schredenszeit zurüdgreift. (Seances et 
AV. die l’Acad. des sciences mor. et polit., April und Mai 1897.) 

Seneral Chlapowski, ein Schüler der Berliner Militärakademie 
ter Scharnhorſt, jpäter Ordonnanzoffizier Napoleon's, bat Memoiren 
tterlafien, aus denen einige Abjchnitte über Kosciuszto, eine Miſſion 

Spanien 1808, die Schladten von Aspern und Ehling, Lützen und 
Atzen veröfientliht werden. Bei Lügen beftätigt er für den Anfang 
⸗Schlacht die völlige Niederlage Ney’s, defien junge Truppen ihre 
Affen mwegwarfen, und tadelt (wie Andere) die Unthätigfeit der über: 
Aenen verbündeten Kavallerie und die unterlaffene Umfaſſung der rechten 
lante der Franzoſen. Der nächtliche Reiterangrifi Blücher's ſoll durd) 
Nen Gefangenen verrathen worden fein. (Revue nouv., 15. April und 
. Mai.) 

Die Bertheidigung Antwerpens durch Carnot (1814) ſchildert Key⸗ 
Weulen. (Revue nouvelle, 15. Mai.) 


In den Jahrbüdern für die deutihe Armee u. Marine (Juniheft) 
veröffentlicht Jagwitz einige Aktenſtücke, welche bejtätigen, daß ber 
Ihwedifhe Kronprinz im Winter von 1813 auf 1814 die Abſicht hatte, 
das Lützow'ſche Corps in ſchwediſche Dienste zu übernehmen. 

Bu den bereit befannten Berichten der preußiichen, engliihen und 
öfterreihijhen Bevollmächtigten über die Reiſe Napoleon’3 von Fontaine- 
bleau nah Frejus treten nun auch die Berichte des rujfiihen Bevoll⸗ 
mädtigten Shumwalow, der namentlich, die Bedrohung Napoleon's durch 
bie empörte Bevölkerung der Provence anjdhaulich ſchildert. In einer 
djterreichiichen Uniform, mit einem ruſſiſchen Mantel und einer preußiichen 
Militärmüge nebft preußifcher Kokarde entzog ſich Napoleon den Rajenden, 
die ihn im Bilde henkten und ohne den Schuß der Kommiſſare, wie 
Schuwalow auf Ehrenwort verjidert, in Wirklichkeit gehenkt hätten. 
(Revue de Paris, 15. April.) 

Gleichzeitig beginnt die Revue bleue (8. Mai u. f.) die Veröffent— 
lichung der Berichte des rujjiihen Bevollmächtigten in St. Helena, Ramfay 
de Balmain (1316—1820), die bereit 1868 in einer rufjischen Zeitfchrift 
abgedrudt, aber unbeadhtet geblieben waren. Nach den bisher mitgetheilten 
Proben zu fchliegen, ſind diele Berichte werthvoller als die kürzlich befannt 
gewordenen öjterreihijchen und franzöſiſchen Urſprungs. 


Müng beginnt eine Beröffentlihung über die Rüdgabe der von den 
Franzoſen geraubten Kunſtſchätze. In dem eriten Artikel, der bie 


876 Notizen und Nachrichten. 


Verhandlungen von 1814 aftenmähig darftellt, wird anerkannt, daß Kört üñ 
Ludwig XVII. bereit3 damald den Preußen die Rüdgabe des Rube 
mündlich verfprodyen habe. (Revue nouv., 15. April.) 


Mar Lchmann jchildert in feiten und fcharfen Zügen Gneijenaız 
„den Liebling der Frauen”, „den Vertheidiger Kolbergd, den Schöpfer 
des preußiichen Heeres der Sreiheitäfriege, den Sieger von Belle-Alliance“. 
(Velhagen & Klaſing's Monatshefte, Juni.) 


Im Militärwochenblatt Nr. 50 u. 51 veröffentlit er ferner die um 
die Wende 1819/20 geichriebene Tenkichrift de Prinzen Auguſt von 
Preußen über die Landmwehrorganijation, welde eine Art Rüdtehr zum 
früheren Beurlaubteniyitem, aber mit Beibehaltung der allgemeinen Wehr: 
pflicht empfiehlt. (Es ilt eine der bemerfenswertheiten zeitgenöfitichen Kritilen 
des Boyen'ſchen Landwehrſyſtems, interefjant auch durch die Parallelen 
zur jpäteren Reorgantjation. 


Die von Ciſternes veröffentlichten Berichte Richelieu's aus Aachen 
(1818) enthalten über den Gang der Kongrekverhandlungen nichts, was 
nit jhon bei Stern, Geſchichte Europas, zu finden wäre; dagegen ift ein 
im Anhang mitgetheilter Briefwechſel zwiſchen Richelieu und Decazes 
höchſt charakteriitiich für die zweideutige Haltung des Letzteren. (Cosmo- 
polis, März und April.) 

Im 23. Bande der „Beijteshelden“ (Berlin, E. Hofmann. 18%) 
bietet Sepp eine ſchwungvoll gejchriebene Biographie jeines Lehrers 
Görres, die troß aller Begeijterung für den „alten Löwen“ dem 
Charakter des Mannes und jeiner Zeit in gleihem Maße geredt zu 
werden ſucht. Görres' „Mandlungen im Zeitenſtrome“ fommen flar und 
zum Theil wohlmotivirt zum Ausdrud. Aber wenn aud der Verjaſſet 
zugibt, daß die drei Epochen der Revolution, Reitauration und der „rd: 
lichen Umkleidung“ drei große Täujhungen für Görres bedeuten, der old 
Füngling Sranzoje, als Mann Deutſcher, als Greis Staliener gemweien ſei, 
jo ſucht er ihm doch für das ganze Leben den Geift der nationalen 
Gejinnung zu retten. Ja er fteht nicht an zu behaupten, daß jenen das 
Barlamentsjahr neben Arndt und Jahn in der Paulskirche gefunden 
hätte, wäre er nicht furz vorher aus dem Leben gejichieden. Das wäre 
aljo die vierte Epoche in dem Leben des leidenjchaftlichen Mannes geweſen. 
Tie dritte und bedenklichjte träte dadurch freilih in ein anderes Fidt. 
In der That ijt Sepp bemüht, auch diefe Wandlung zu rechtfertigen. Aus 
diefem Grunde will er Görres als eine durchaus mittelalterliche Geſtalt 
aufgefaßt willen, als einen zweiten Abt Trithemius, mit dem er denn 
aucd manches gemein hat. An der Thatjache freilich, daß Görres der 
Bater der modernen ultramontanen Geſchichtſchreibung ift, läßt fih nun 
einmal nicht rütteln, und jo iſt der Berfafier ehrlich genug, zuzugeſtehen, 
dat die Religion dem politiihen Zorn des enttäufchten „Helden“ als 


Neuere Geſchichte feit 1789. 377 


Fe gedient hat. Doch fieht Sepp in jeinem Lehrer trog alledem einen 
Läufer Döllinger's, der ſchon im voraus zum Unfehlbarkeit3dogma ent⸗ 
Den Stellung genommen babe, und legt ſchließlich zu defjen Gunſten 
© eigenen Berdienite in die Wagfichale, indem er erflärt, daß Görres' 
me bei der enticheidenden Abſtimmung in der baieriihen Kammer für 
t Krieg gegen Frankreich ſchwer in’3 Gewicht gefallen fei. R.D. 

M. Philippfon dharakterifirt Thiers als Hiftorifer aus Anlaß 
t 100. Wiederkehr jeined Geburtstages. (Cosmopolis, Mai.) 


In der Btihr. f. Kulturgeih. 4, 4 u. 5 jept Karl Adam feine 
tulturgeichichtlichen Streifzüge durch das Jahr 1848,49“ fort, eine Samm- 
ng von Lefefrüchten in nicht fehr anziehender Form. 


Der griediih-türfiihe Krieg Hat eine Neihe von Veröffentlichungen 
geregt, unter denen wir die folgenden erwähnen. Briefe Eugen Ca⸗ 
'ignac’s von der Erpedition in Morea (1828—29), an der er al? 
'genieuroffizier theilnahm, wenig günftig für die Griechen, mehrfad) 
rafteriftiih für das damalige franzöfiihe Heer (Revue des deux 
ındes, 1. Mai); Briefmwechiel zwiſchen Erzherzog Johann von Oſter— 
ich und Prokeſch-Oſten über Griechenland aus den Jahren 1837 
1847, die Briefe des Erzherzogs, ſehr bemerkenswerth durch das Vor—⸗ 
üb! der nahenden Revolution, die Briefe von Prokeſch, ähnlichen Inhalts 
e die bereit befannten Briefe an Metternich (Deutiche Revue, Juni-Juli); 
youpdenel, Frankreich und die Donaufürftenthümer nah dem Pariſer 
ngreß 1856, eine Berherrlihung der franzöfiihen Politik (ebenda, 
ai⸗Juni). 

Eine begeiſterte Schilderung der Perſönlichkeit Mazzini's gibt deſſen 
ndoner Freund Felix Moſcheles. (Cosniopolis, Juni.) 


Die Abtheilung für Kriegsgeſchichte des Großen Generalſtabes hat 
° Hundertjahrfeier in ihrem 19. Hefte der Kriegsgeſchichtlichen Einzel⸗ 
riften „König Wilhelm auf jeinem Kriegszuge in Frankreich 1870” 
ittler 1897. 1,75 M.), die perjönlichen Erlebnifje des Königs während der 
Ben Wochen „Von Mainz bis Sedan“ in jchlichter, durchaus würdiger 
ırjtellung geboten. Namentlich die Berhätigung des Königs auf dem 
hladhtfelde jelbjit, am 15. und 17. Auguſt fowohl wie am 18. Auguft 
d am 1. Eeptember wird — durch zwei Karten erläutert — jchärfer 
izifirt, ald e8 bisher geichehen, und das Bild jeines ganzen Feldlebens 
ährt durch die zufammengefaßten Mittheilungen aller erreihbären Augen= 
ıgen mancdherlei Bereiherung. ie der 74 jährige Heerkönig nicht nur 
perlich Staunenswerthes leiftete, jondern wie er auch bei allen Kriegs— 
chlüſſen mit volliter Klarheit die Verantwortung auf ji nahm, das 
ſellt auch Hier wieder unwiderleglich, und es zeigt fich gleichjam urkundlich, 
B er und niemand neben ihm der „Oberfeldherr”“ der deutihen Armeen 
r. Gr. 


378 Notizen und Nachrichten. 


Die im vorigen Hefte S. 179 erwähnte Feſtrede Brunner's zur 
Gentenarfeier Kaiſer Wilhelm’3 I. iſt jept auch in der Deutſchen Ztidr. |. 
Beihichtswiflenih. N. F. Bd.2 H.1 erjchienen. Wortrefflih in der Ber: 
fnüpfung ftaatliher und perfönliher Entwidlung ijt ferner die Feſtrede 
Dietrihd Schäfer’s (Heidelberg, Hörning), und mit Vergnügen lauſcht 
man, wenn Ottokar Lorenz in feinen mwarmherzigen Betrachtungen 
über Kaijer Wilhelm (Deutſche Rundſchau, März) die Töne Garlyle’ider 
Heldenverehrung anjhlägt. Mehr eine gewandte rhetoriſche Leijtung ift 
die und noch zugegangene Rede A. Böhtlingk's „Wilhelm der Glor⸗ 
reiche” (Heidelberg, Hörning). 


Der kürzlich verjtorbene langjährige Botſchafter Frankreichs in Rom 
Graf Lefebvre de Behaine behandelt die Beziehungen Bismarcks zu 
Papſt Xeo XIII, befonders die Nuntiaturen Aloyfi'3 und Jacobini's, und 
die Million Schlözer's. (Revue des deux mondes, 15. April u. 1. Juni) 


Qeue Bäder: Seignobos, Histoire pulitiyque de l’Europe con- 
temporaine (1814—189). I. (Paris, Colin. 1 fr.) — Crüwell, Tie 
Beziehungen König Guſtaf's III. von Schweden zur Königin Marie 
Antoinette von Frankreich. (Berlin, Dunder. 3 M.) — Begis, Curio 
sites revolutionnaires. Louis XVII. (Paris, Champion.) — Muguet, 
Recherches historiques sur la persecution religieuse dans le departe 
ment de Saöne -et-Loire (1789—1803). Il. (Chalons-sur-Saöne, Mar 
ceau.) — Stenzel, © 4. H. Stenzel’® Leben. (Gotha, Perthes.) — 
Poſchinger, Fürſt Bismard und der Bundesrat. II. (Stuttgart, 
Teutide Verlagsanftalt.) — Dentwürdigteiten aus dem Leben des Gen: 
Feldm. Kriegsminiiterd Grafen v. Roon. Herausg. von Waldemar Graf 
Roon. Bierte verm. Aufl. I. II. (Breslau, Trewendt. 720 M.) — 
(Trochu), Oeuvres posthumes du general Trochu. I. U. (Tours, 
Mame et fils. 15 fr.) — Zevort, Histoire de la troisieme r&publique. 
La presidence du marechal. (Paris, Alcan. 7 fr) — Palat, Biblio- 
graphie generale de la guerre de 1870:71. (Paris, Berger-Levrault.) — 
Gori, Storia della revoluzione italiana durante 1846—14 marzo 1848. 
(Firenze, Barbera.) — Comba, I nostri protestanti. II. (Firenze, 
tip. Claudiana. 5 L) — ®ilh. Müller u. Wippermann, Polit. 
eich. der Gegenwart. Bd. 30 (Das Jahr 1896). (Berlin, Springer. 
4,660 M.) — Schultheß' Europäifcher Geſchichtskalender. N. %. 12. Jahrg. 
1896. Der. v. Nolofj. (Münden, Bed.) 


Deutfe Landſchaften. 

3. Zimmerli jept feine Unterjuhung über „Die deutſch-franzöſiſche 
Sprachgrenze in der Schweiz”, deren eriter Theil Baſel und Genf, H. Georg. 
1891. VIII, 154 ©.) ihren Verlauf im Jura behandelte, in einem zweiten 
Theil 1895) für das Mittelland, die Freiburger:, Wandtländers und Berner: 


Deutſche Landichaften. 879 


Alpen fort; ein dritter und leßter Theil wird die Sprachverhältniſſe im 
Ballis unterfuhhen und die Gefammtrefultate zufammenfaflen. Der heutige 
Berlauf der Grenze wie ihre Geſchichte kommen in gleicher Weife zu ihrem 
Rechte. Ein kürzeres Kapitel behandelt die deutſchen Mundarten, ein 
längere3 die romanischen Patois des Gebietes, und an lebteres jchliehen 
ſich 14 werthvolle Zauttabellen. Zwei getrennte Karten machen den Schluß. 


Auf Zimmerli fußt U. Büchi, der in den Freiburger Geſchichtsblättern 
3 (1896), 33 ff. über „Die hiſtoriſche Sprachgrenze im Kanton Freiburg” 
ausführt, daß fie zu ungefähr dreiviertel die gleiche jei wie vor 600 Jahren, 
daß die dauernden Verichiebungen zu gunjten des Deutſchen erfolgt ſeien, 
daß das Franzöſiſche feit dem lesten Jahrhundert zwar eine Anzahl Pofi- 
tionen gewonnen, aber feine neuen, jondern nur ehemals romanijches 
Sprachgebiet zurüderobert habe. F. W. 

Ritter Sriedrih Kappler. Ein Elſäſſiſcher Feldhauptmann aus dem 
15. Jahrhundert, von Theodor Bulpinus (Beiträge zur Landes- und 
Volkeskunde von Elfah-Lothringen, 21. Heft. Straßburg, Heit & Mündel. 
18%. 111 S.). Friedrich Kappler war der erjte elſäſſiſche Feldhauptmann 
Maximilian's I. und befiegte im Dienfte des Herzogs Sigmund von Ofterreich- 
Tyrol die Benetianer bei Calliano im Welſchtyrol, in Marimilian’8 Dienſt 
die Franzoſen bei Dournon in der Franche⸗Comté. Gerade im Eljaß ift 
es recht eripriehlich, mit dem Andenken an die Landsleute in ded Reiches 
und deutſcher Fürften Dienfte auch das Andenfen an die deutſche Ver—⸗ 
gangenbeit zu weden und zu heben. Tas hat Berfafler auf Grund der 
vorliegenden Literatur in jchlichter, einfacher Weije gethan, und dafür find 
wir ibm Dank ſchuldig. —&. 

Nadträglih jei darauf hingewieſen, daß auch M. Balker in der 
Btihr. des Vereins für Thüring. Geſchichte N. %. 10, 1 umfangreiche 
Studien zur Kunde thüringifcher Geſchichtsquellen des 14. und 15. Jahr⸗ 
hunderts, bejonders ihrer handichriftlichen Überlieferung, gebracht hat. 


In den Mitteilungen des Vereins f. Geich. und Landeskunde von 
Osnabrück, 21. Bd., veröffentliht U. v. Türing unter Benußung einer 
nachgelaffenen Arbeit von Neinede ein „Ortſchaftsverzeichnis des ehe— 
maligen Hodftift? Osnabrück“, unter Hinzuziehung des Kirchipiels jedes 
Ortes, und weiterer Tabellen, die den Umfang der Stirchipiele und die wech« 
felnde administrative Eintheilung des Hochſtifts veranjichaulichen. 


Bon R. Woſſidlo ift der erite Band eines groß angelegten Werkes: 
Medlenburgiihe Bollsiiberlieferungen, erſchienen, in dem zunächſt die 
Räthſel gefammelt find. (Wismar 1897.) Eine Orientirung darüber gibt 
ein Artilfel von W. Golther in der Beilage der Münchener Allg. Ztg. vom 
22. April: Medlenburgiihe Volkskunde. 


Die Beiträge zur Geſch. der Stadt Roftod bringen im zweiten Heft 
des zweiten Bandes eine Berdifentlihung E. Dragendorff's aus dem 


380 Notizen und Nachrichten. 


Roſtocker Rathsarchiv: Die älteften Stadtbuch-sragmente Roftode (158 
bis 62), von denen bieber nur ein Heiner Theil im Medlenb. Urk.Vuch 
(Bd. 2) edirt worden ijt. E83 find im ganzen 220 meift kurze Aufzeich⸗ 
nungen, welde größtentheilg Abmachungen civilrehtlicher Art zwiichen eins 
zelnen Bürgern der Stadt betreffen und über Herkunft und Vermögens⸗ 
verhältnifje der älteften Nojtoder Familien, über Zahl und Arten der 
damals in der Stadt vertretenen Gewerbe, jomwie über masıche andere kultur: 
hiſtoriſche Fragen interejiante Aufichlüjie gewähren. Ein fehr ausführ⸗ 
lihes Namen: und Sachregiſter erleichtert die Benupung der dankens⸗ 
wertben Publikation. v. B. 


Im Auftrage der Geſellſchaft für Kieler Stadtgeſchichte hat Chr. 
Reuter das Kieler Erbebuch bearbeitet und herausgegeben (Kiel, 
9. Edardt. 1897. 8 M. LXII, 371 S.). Dasſelbe reiht von 1411 bis 
1604 und entbält die von dem Rathe erfolgten Überlafjungen von bebauten 
Grundjtüden aus einer Hand in die andere, und zwar bis 1471 in lateis 
nifcher, von da an in niederdeuticher Faſſung. Tie Duclle würde von 
großer Wichtigkeit bejonders für wirthichaftliche Unterjuchungen fein, wenn 
fie zugleich die Preife enthielte, welche bei Veränderungen durch Kauf ge 
zahlt worden jind. Dies ijt aber leider meljt nicht der Fall, vielmehr be 
fhränten jih die Eintragungen in der Regel auf die Angaben des alten 
und neuen Gigenthümers, der Zeugen und der Lage bed Grundftüde; 
hierzu kommen bisweilen noch Notizen Über Nenten, die darauf lajten, und 
deren Ablöfung. Was jich fonjt über die Form der in Betracht fommenden 
Rechtsaeichäfte, die Bewegung des jtüdtiichen Grundbeſitzes, den Antheil 
der Ritter, geiltlihen Körperichaften und auswärtiger Beſitzer, ſowie die 
Orts- und Baugeihichte Kiels daraus ermitteln läßt, hat der Herausgeber 
in der umfangreichen Einleitung jahgemäß erörtert. Die Ausgabe jelbit 
ift mit peinliher Sorgjalt bergeftellt, ihre Benupung wird durd ein Ber: 
zeihnis der Perjonen: und Ortsnamen, ein topographifches und ein Bort- 
und Sachregiſter erleichtert. J. H. 


Als willenichaftlihe Beilage zum Jahresbericht des Falk-Realaymne: 
ſiums zu Berlin, 1897, veröffentlicht Friedrich Krüner einen Auffag über 
Berlin als Mitglied der deutihen Hanſa, in den auf Grund der 
vorliegenden gedrudten Quellen, beſonders des hanfiihen Urkundenbuches, 
die Beziehungen Berlins und der übrigen märfijhen Städte zur Hanla 
erörtert werden. Ten Abſchluß diejer Beziehung bildete der vom Landes⸗ 
berrn erzwungene Austritt im Jahre 1442. 


Paul Flade, Das Kirchſpiel Frauenhain nebft den eingepfarrien 
Rittergütern und Dörfern von der älteften Zeit bis zum Jahre 18%, ein 
Beitrag zur Beihichte des Nöder-Elfterlandes, (Großenhain, Herm. Starke 
(CE. Plasnit. 1897. VII, 162 ©.) gibt eine auf fleißigen archivaliſchen 
Forſchungen berubende Daritellung der Geſchichte von Frauenhain (zwiſchen 


Bermifchtes. 881 


roßenhain und Elfterwerda) und der dahin eingepjarrten Dörfer. Aus— 
bend von den firdlichen Berhältnifien bringt er auch für die Geſchichte 
r Nittergüter und über Bejiger (v. Köderig, Pflug, v. Millau u. ſ. mw.) 
ıd die Geſchichte der Gemeinden mances Beachtenswertbe. E. 


„Aus der Geihichte de8 Elbinger Gymnaſiums“ behandelt Bro. 
r. 2. Neubaur in Ergänzung der jhon vorhandenen Daritellungen 
nige Kapitel. (Programm des Elbinger Realgymnaſiums 1897. 75 S.) Er 
It darin zunächſt die Namen der Rektoren des 16. Jahrhunderts feit und 
bt von jedem, joweit e8 möglich war, eine furze Lebensſtizze. In einen 
yeiten Theile beichäftigt fich die eingehende, ſorgſame Arbeit hauptſächlich 
it den Unterrichtögegenftänden, den Schulfeſten und Aufführungen, der 
Htlihen Stellung von Lehrern und Schülern und den Gehaltäverhält- 
fen der Lehrer bi8 zum Ende des 18. Jahrhunderts. 


Neue Büder: Annalen und Chronit von Kolmar. überfegt von 
abft. 2. Aufl. (Leipzig, Dyk. 3,20 M.) — Baer, Die Hirfauer Bau— 
zule. (Freiburg i. B, Mohr. SM.) — Lieſegang, Niederrheinifches 
tädtewejen vornehmlih im Mittelalter. (Breslau, Köbner. 20 M.) — 
ungers, Beiträge zur mittelalterlihden Topographie, Rechtsgeſchichte und 
ozialjtatijtil der Stadt Köln. (Leipzig, Dunder & Humblot. 3,40 M.) — 
nipping, Die Kölner Stadtrehnungen des Mittelalters. I. (Bonn, 
ehrendt. IHM.) — Jacobs, Werdener Annalen. (Düfjeldorf, Chwann. 
M.) — Brandig, Diarium, Hildesheimiiche Geſchichten 1471—1528. Her. 
Hänielmann. (Hildesheim, Gerftenberg. 13,60 M.) — Beſchorner, 
as ſächſiſche Amt Freiberg und ſeine Verwaltung um die Mitte des 15. Jahr⸗ 
inderts. (Leipzig, Duncker & Humblot. 3,20 M.) — Bartuſch, Die 
nnaberger Lateinſchule im 16. Jahrhundert. (Annaberg, Lieſche.) — 
iermann, Geſchichte des Proteſtantismus in Äſterreichiſch-Schleſien. 
zrag, Calve) -- v. Krones, Verfaſſung und Verwaltung der Mark 
nd des Herzogthums Steier von ihren Anfängen bis zur Herrſchaft der 
absburger. (Graz, Styria) — dv. Wretſchko, Tas öjterreihiiche Mar: 
yalamt im Mittelalter. (Wien, Manz. 5M.) — Jlwof, Die Grafen von 
ttemd. (Forſch. zur Verfaſſungs- und Berwaltungsgeihichte der Steier: 
art. II, 1. Graz, Styria. 3,40 M.) 


Bermifdtes. 


Die 23. Plenarveriammlung der Gentraldireltion der Monumenta 
ermaniae historica wurde in diejem Jahre vom 5. bis 7. April 
ı Berlin abgehalten. Zu neuen Mitgliedern der Gentraldireltion wurden 
e Herren Frofejjor Dr. Beumer in Berlin und Privatdozent Dr. Traube 
ı Miinden gewählt. Nach dem von Dümmler verfakten Jahresbericht find 
n Laufe des Jahres 1896.97 eridienen: in der Abtheilung Auctores 
ntiquissimi: 1. Chronica minora saec. IV. V. VI. ed. Th. Mommsen 


882 Notizen.und Nachrichten. 


DI, 3 A. a. XIII, 3).; in der NAbtheilung Scriptores: 2. Scriptores 
XXX, 1, Folioausgabe. 3. Scriptores rerum Merovingicarum ed. 
Krusch ID.; in der Abtheilung Leges: 4. Constitutiones et acta publica 
imperatorum et regum ed. Schwalm II.; in ber Abtheilung Antiqui- 
tates: 5. Poetae latini aevi Carolini III, 2, 2 (Schluß des 3. Bandes) 
ed. Traube. In der Sammlung der Auctores antiquissimi find bie 
fleineren Chroniken mit der legten Lieferung bed 3. Bandes zum Abſchluß 
gelangt. Das von Herrn Dr. Lucas entworfene ausführliche Regiſter über 
alle drei Bände wird im nächſten Sommer der Prefle übergeben werden. 
Der von Herrn Mommijen bearbeitete älteſte Theil des liber pontificalis 
bis 715 ift im Drude ſchon jo weit vorgerüdt, daß man etwa mit dem 
Ende des Jahres jeiner Bollendung entgegenfehen darf. Es ſoll ben Ans 
fang einer bejonderen Unterabtheilung von Quellen zur Bapftgeigihte 
bilden, für welche der allgemeinere Titel (Gresta pontificum Romanorum 
gewählt worden ijt. — Für alle8 Weitere müſſen wir auf den in dent 
Eipungsberichten der Berliner Akademie der Wiffenfchajten 1897 9. 20: 
abgedrudten Bericht jelbit vermeiien. 


Die Geſellſchaft für Rheiniſche Geſchichtskunde hat ihten 
16. Jahresbericht über das Jahr 1896 verſandt (Bonn, Georgi 197, 
zufammen mit dem Tille'ſchen Archivverzeihnis 128 ©.) Erjcienen fin D 
feit dem vorigen Jahr: Rheinifhe Akten zur Geſchichte des Zefuitenoderr® 
1542 — 1582, bearbeitet von 3. Hanfen, die dritte Lieferung der vo #1 
Scheibler und Aldenhoven herausgegebenen Geſchichte der Köln e 
Malerichule (eine vierte Lieferung joll noch folgen‘, und der 1. BnddeT 
Kölner Stadtrechnungen des Mittelalters mit einer Daritellung der Finan 75” 
verwaltung, bearbeitet von R. Knipping (Einnahmen und Entwidurs- & 
der Staatsſchuld. Faſt drudiertig liegt die jeit Jahren von dem leid =T 
nun dor dem Erſcheinen jeiner mühevollen Arbeit verjtorbenen Profis * 
Menzel vorbereitete Ausgabe der älteren rheiniihen Urkunden bis zu _ 
Jahre WW vor. Aud) die beiden eriten Abtheilungen der erzbtjhöfti Er ” 
kölniſchen egejten, bearbeitet von Menzel und Anipping, find der Bo _ ” 
endung nahe geführt. Vom neihichtlichen Atlas der Rheinprovinz wird be u 
Überjichtsfarte von 1789 nebſt Erläuterungsband in den nächſten Monte —— ” 
erſcheinen. Wir erwähnen endlich, daß der Vorstand der Geſellſchaft beſchloſ ⸗ " 
Bat, auch den Schluß des Buches Weinsberg in gefürzter Bearbeitung be 
auszugeben. Das Manujkript, bearbeitet von Dr. Zau, liegt bereitö 
zwei Bänden drudiertig vor, und der Drud bat begonnen. — Angeſchloſe = 
itt der Bericht der Kommiffion für die Dentmälerftatiftit der Rheinprovir®- = 
die in der Bearbeitung des Provinzialfonfervatord Clemen raſch vom _ 
geichritten ift. Dit dem GEricheinen des 4. und 5. Heftes bes 3. Band = * 
iit die VBeichreibung der Kunitdentmäler des Regierungsbezirtes Düffeldc® =7T 
zum Abſchluß gebracht worden, und es beginnt nunmehr die Beichreibuse £7 
de3 Regierungsbezirkes Köln. — Den zweiten größeren Theil des Here” 





2a 





Bermifchtes. 388 


nt wieder die von W. Tille bearbeitete, jehr dankenswerthe Überficht 
den Inhalt der Fleineren Archive der Rheinprovinz ein, und zwar 
en diegmal die Archive der Kreife München-Gladbach Stadt und Land, 
venbroich, Bergheim und Düfleldorf Stadt und Land verzeichnet. Im 
‚en find fo bereit3 nicht weniger als 382 Ardive von Pfarrämtern, 
germeilter- und Gemeindeämtern und von Privaten verzeichnet. 


Benuger der Archives nationales in Paris werden mit Intereſſe 
dem lehrreichen Aufſatz Kenntnis nehmen, in bem Delaborde die 
entarilirung und NRepertorifirung des fog. Supplöment du Tresor des 
rtes duch Dupuy im Anfang des 17. Jahrhundert? und die weiteren 
Alale diefer Sammlung bis auf unfere Tage erörtert. (Bibliothèque 
"ecole des chartes Janv.—Avril 1897, Bd. 58, 1, 2.) 


Am 8. und 9. Juni fand in Soeſt die Beriammlung des hanſiſchen 
chichtsvereins und des Vereins für niederdeutiche Sprachforſchung 

Borträge hielten Profeſſor Ed. Schröder über bie Namen des 
‚hen Handwerks (mit intereffanten Berfpeftiven auf die Wirthſchafts— 
ichte und die Beichichte der deutſchen Zamiliennamen), Ardivar Ilgen 
Soeft im Mittelalter und Dr. Mad über Stefan Paris und die han- 
ranzöſiſchen und niederländiihen Beziehungen gegen Ausgang des 
dahrhunderts. 


In Düſſeldorf tagte Anfang Juni die Verſammlung des hiſtoriſchen 
ins für den Niederrhein, bei der Vorträge von Schaarſchmidt, 
Fer und Tille gehalten wurden. 


Muh für die thüringiichen Staaten hat fih jegt unter Führung bes 
ins für thüringiihe Geihichte eine Thüringiſche Hiftoriiche 
wmijjion gebildet. die namentlid die Inventariſirung der örtlichen 
ve, Publikationen von Alten und Sammlung aller Art vollsthlim- 
u Materials beabiidtigt. 


Vom 21.—23. April hat in Jena der 22. deutſche Geographen— 
getagt. Wir erwähnen hier die Vorträge von beinr. Jimmerer 
8. Chberhummer über frühere dentiche Forſchungen in Kleinaſien 
über ihre eigene aemeinfchaftlihe Forſchungsreiſe im Jahre 1896, die 
entlich dem Stromgebiet des Halys galt. 

Jüdiſche Freisaurgaben: 1. Geihichte der Juden in Yabylonien. 
is 200 M. 2. Tie Lehre des Rudenthbuns von der Verjöhnung und 
n Bedingungen. Preis IM M. Mblieferung bis 1. Juli 1809 an 
Kuratorium der Jun Stiftung in Berlin. 

Ter Termin für die Freisaufgabe der Mevilien- Stiftung: Nachweis 
im Anfang des 16. Jahrhunderts in Köln vorhandenen Ztraßen und 
Be, it bie zum 31. Januar 1899 verlängert worden. Preis 4000 W.) 
neuen PFreisanigaben der Stiftung vgl. 78, 563 r. 


334 Notizen und Nachrichten. 


sn Wiesbaden itarb am . April in Alter von 95 Nahren Friedrich 
Weorad Bunge, aeb. in Niew und fange in den ruſſiſchen Üjrfeepro- 
vinzen thätig, zu deren Rechts und Nulturgeichichte er Zahlreiche Arbeiten 
veröffentlidt bat. -— In Wien jtarb Witte April der befannte Sun 
biitorifer Narl v. Yüßom, geb. 25. Tezember 1832 zu Wöttingen, Be 
gründer und Derausgeber der „Zeitichrift für bildende Kunſt“ -nebji Kunſt⸗ 
gewerbeblatt und Kunſtchronik, Sowie Neriaffer mebrerer größerer kunſthiſto— 
riſcher Werle. — In feiner Billa in Zucco anf Sicilien ftarb am T. Mai 
dev 1822 geborene Derzog von Aumtale, der audh als franzdiiicher 
Weichichtichreiber (klistoire des Princes de Conde) jih audzeichnete. — 
In Bonn it am 10. Mai im Alter von 62 Jahren Karl Menzel 
geitorben aeboren in Zpeier. Außer Schriften zur Gejchichte des deutſchen 
Mittelalters und der hiſtoriſchen Silrswijjenichaiten, die er an der Unts 
derjität vertrat, ilt von ibm namentlich die Fortführung von Schliephake's 
Geichichte von Naſſan zu erwähnen. Miürzere Beit, vom Frühjahr 1874 
bis zum Herbſt 1875, redigirte er unſere Zeitjchrift. gl. über ihn auch 
die Notiz über den Jahresbericht der Geſellſchaft für Rheiniſche Geſchichtb⸗ 
funde oben S. 82, 


Über Leben und Schriften von Alexander Brüdner ijt eine 
eigene Meine Schriſt von Eh. de Yarivpiere erfchienen: Un historien 
russe. Alexandre Brückner Bari, Ye Soudier. 1897. 50 S.) Die Zus 
ſammenſtellung der Schriften ift aber nicht vollitändig; wenigitens vers 
miſſen wir zum Theil die in unserer eitichrift erichienenen Arbeiten 
Brückner's. 


Erklärung. 


In Dem letzten Heite der „Hiſtoriſchen Feitichriit“, Bd. 79 H. 1, findet 
ſich eine Abhandlung von B. Miele, „Zur Würdigung Alexander's des 
Großen“, Die ganz, beſonders gegen meinen in dieſer Jeitſchriit (74, IR. 
193 m.) veröffentlichten Aufſatz: „Alexander der Srofe und der Hellenismus“ 
gerichtet it. Ich glaube, aucd den Erörtermmgen Nieſe's geneniüber, eine 
Aufiaſſung und Daritellung in allen wejentlichen Runtten aufrecht erhalten 
zu fonnmen, und eracbte es in Hinblick auf die große, univerjalbijtorijche 
Bedeutung Des Wegenitandes, ſowie das merbodologiiche Intereſſe, das ſich 
an den Reſtand umierer hiſtoriſchen Überlieferung über Alexander knüpft, 
auch ſachlich Mir wünſchenzwerth, zu den Einwänden Wieje's Stellung zu 
nebnnen. Ta dies aber in erfolgreicher Weiſe nur in einer etwas eim: 
qelenderen Begrundung meiner Anfigſiung möglich iſt, fo muß ich Diele 
rinem Lelonderen Auiſaße oder beionderen Erörterungen innerhalb einer 
umißsſſenderen, den mir geplanten Tarſtellung vorbehalten. J. Kaerst. 


. 














[Die Anfänge des Sozialismus in Europa. 
Yorz 


Robert Pohlmann. 


‚Eriter Theil. 


Wer den Urſprung der jozialijtiichen Ideen des Gricchen- 
thums nur im Schatten der Schule, in den Spekulationen „welt: 
fremder“ Denfer jucht, wer da glaubt, daß dergleichen Ideen in 
den Hörjälen verhallten, der verfennt, daß gerade die lebendige 
Wirklichkeit, jo zu jagen die ſoziale Atmojphäre, die den Griechen 
umgab, manttigjache Steine zur Entjtehung einer derartigen Ges 
danfenrichtung enthielt. 


Der Boden, in welchem die wirthſchaftliche, joziale und poli— 
tiſche Erijtenz des Griechen wurzelt, iſt der Stadtijtaat, die 
Polis. Nach) aufen hin jchließt fich dieſe „autonome“ ſtädtiſche 
Gemeinde eifertüchtig ab; ihre Politik iit vom Individualprincip 
faft bis zur Karrifatur beherricht. Aber eben durch dieſe Ntoli- 
rung fommt auf der anderen Zeite das entgegengejegte Princip 
zur Geltung. Cie führt dazu, daß nun die Gemeinde ſich um 
jo enger in ſich ſelbſt zuſammenſchließt. Das Storrelat des 
engherzigiten Stadtegoidmug iſt der fräftigfte Stadtpatriotismus, 
die in allen einzelnen Gemeindegenofjen Lebendige Vorſtellung 
von lofalen Sejammtinterejten. Und wie auf dem politiichen, 
jo iſt e8 auf wirthichaftlichem Gebiete. Der abgeſchloſſene ſtaat— 
liche Mikrokosmos der autonomen Gemeinde fann ſich in dieſer 
Selbitändigfeit nur behaupten, wenn er auch in der Beftaltung 

Hißoriicke Zeitſchriit RR Ab. XLIM. 2ñ 


386 R. PBöhlmann, 


der materiellen Grundlagen jeiner Exiſtenz nad) außen bin mög: 
lichjt unabhängig daſteht. Er muß alle Zeit in der Lage jein, 
im Notfall „fich jelbft zu genügen“. Sein hödjites Ideal üit 
naturgemäß auch wirthichaftlich die „Autarkie“!). Er kann daher 
nicht in Dem Grade, wie die moderne Stadt, in einer National: 
oder Volfswirthichaft aufgehen, wo jeder einzelne Produftions: 
und SKonfumtionsort ein völlig unjelbftändige® Glied in dem 
Organismus der Gejammtheit aller Einzelwirthichaften ift, und 
im Großen und Ganzen überall die Verhältniſſe der lofalen 
Produktion und Konjumtion durch diejenigen der Geſammtheit 
beitimmt werden. Wenn auch die lebhafte Entwidlung des Ver: 
fehrs, des Handels und der Induitrie, die werbende Kraft dei 
Kapitales die Schranken zwiichen den einzelnen Produftionz 
gebieten allenthalben durchbrach, und die territoriale Arbeit 
theilung jehr bedeutjame Fortichritte machte, jo ſuchte jich doch 
jede helleniſche Stadt auch wirthſchaftlich als ein möglichit jelbit- 
jtändiges Ganze zu behaupten, das von jich aus nach feinen be 
jonderen Bedürfniffen Produftion, Vertheilung und Konfumtton 
der Güter, Preisbildung und Abjagverhältniffe regelte. Man 
denfe an die Eingriffe in die wirthichaftliche Freiheit zum Schupe 
der Landeskultur, an die Stornhandel- und Thenerungspolitif 
mit ihren Zaren und strengen Verboten gegen Auffäuferet und 
Lebensmittelwucher, an die Ausfuhrverbote in Bezug auf Boden: 
produfte und Rohſtoffe der Induſtrie, an die Begünſtigung des 
(ofalen Marttes durch Handelsiperren, Straßenziwang und Stapel: 
rechte, durch Eingriffe in den Geld: und Kreditverfehr, an das 
Vorkaufsrecht des Staates in Bezug auf gewiſſe für jeine Zwede 
nothwendigen Güter, an die offenbar vielfach vorkommenden 
jtaatlichen Monopole u. dgl. m. Selbjt die Demofratie hielt eine 

1) Kai trr nos — rühmt Perikles in der Leichenrede von Athen — 
Tols taaı TapEOXEı HOaEvr xai Es TOMEUOV Xu Es EIOTETE AUTAOKEITATT. 
Thut 2,36. 2. Bol. Ariftoteles Kol. 1,1,8. 125: 5 Ö’ex adsoreur noncr 
xoirwwrin TehAsio: TOAE %ÖT, TU0ns EXorca EOS TTS attapxein; &s E10; 
eireiv. In diefer Beziehung trifft auch auf die helleniiche Polis dag zu, mas 
Schönberg, Jahrbb. j. Nationalökonomie u. Statijtit 1867 S. 1 fi. zur 
Charakteriſtik des mittelalterlihen Stadtſtaates bemerkt Hat. 


Die Anfänge des Sozialidmus in Europa. 887 


erartige energijche Staatsintervention in wirthichaftlichen Dingen 
icht für unvereinbar mit ihrem Princip der individuellen Freiheit, 
ut der — wenigſtens in Staaten, wie Athen — fo hoch entwidelten 
rreiheit des Eigenthums und Verfehres. Gerade in den Eentren 
es wirtbichaftlichen Fortſchrittes, wo die Eriltenz einer zahl« 
eichen Bolfsmenge auf Handel und Gewerbe beruhte, und die 
eimijche Landwirthſchaft den Bedarf nicht dedte, mußte es fich 
eſonders häufig fühlbar machen, auf welch jchmaler und ſchwan⸗ 
ender Grundlage das ſtädtiſche Wirthichaftsleben fich aufbaute, 
velche Gefahren Hier jede mirthichaftliche Kriſis, jede Unter: 
rechung der Kommunifation, jede Störung der Güterverſorgung 
wurd gewinnjüchtige Spefulationen Einzelner über die Bevölke— 
ung beraujbeichwören fonnte. Eine Situation, die e8 nicht bloß 
13 ein Recht, jondern geradezu als eine Pflicht der ſtädtiſchen 
Ibrigfeit erfcheinen ließ, die Produktion, Vertheilung und Kon—⸗ 
umtion der Güter zu überwachen!) und in diejelbe nöthigenfalle 
yeitimmend einzugreifen. 

Ein jolches Recht und eine folche Pflicht ergab fich ſchon 
ius der ebenfalld in der Natur des Stadtjtaates begründeten 
rationalen Anfchauungsweile über das Verhältnis der Gejammt- 
yeit zu ihren einzelnen Gliedern. Durd ihre Selbjtändigfeit 
ınd Abgeſchloſſenheit erhielt die ftädtiiche Gemeinde das Gepräge 
iner wenigſtens nach außen enge verbundenen Gemeinichaft?), 
yeren Mitglieder fich wohl bewußt waren, wie jehr hier die 
Rohljahrt, ja die Exiſtenz des Einzelnen von der des Ganzen 
and umgefehrt die Wohlfahrt und Leiftungsfäbhigfeit des Ganzen 
yon der der Einzelnen abhing.e Und je augenfälliger diefe Ab- 
hängigfeit jelbft für den kurzſichtigſten Egoismus zu Tage trat, 
umjomehr war man gewohnt, an der jtaatlihen Gemeinſchaft 
das zu jchägen, was jie für die allgemeine Kultur: und Wohl⸗ 


) So ijt 3.8. der Stand der Vetreidevorräthe ein ebenjo regelmäßig 
wiederfehrender Berathungsgegenitand der atheniſchen Etkleſie, wie die „Sicher⸗ 
beit des Landes”. Ziehe Arijtoteled AInv. od. 43. 

2) Beſſer ald in unferem „Stadtſtaat“ fommt diefe Eigenart der Polis 
zum Ausdrud in den engliichen Bezeichnungen city community (®rote) oder 
city commıonwealth. 

25* 


388 NR. Pöhlmann, 


fahrtspflege zu leilten vermochte?). Im den Zebensbedingungen 
des Stadtſtaates und nit in einer Naturanlage be 
Hellenenvolfes?) oder der angeblichen „antiken Staatsidee 
wurzelte die energiiche Betonung des Wohlfahrtszweckes im helle 
niſchen Staatsleben, die auch durch den jchnödejten Klaffenegoit: 
mus nic ganz verdunfelte Überzeugung, daß die Gemeinicaft 
verpflichtet ijt, für das materielle und jittliche Wohl ihrer Mit- 
glieder zu forgen, und daB an diejer Pflicht der Gemeinſchaft 
die ‚Sreiheitsfphäre des Individunms ihre naturgemäße Schrante 
findet). Wo man 10 lebhaft von dem Gedanken erfüllt war, 
daß der Menſch und das menschliche Leben erſt Werth erhält 
durch den Staat, da mußte man auch den Anjprüchen der Staat: 
lihen Gemeinſchaft an ihre Mitglieder einen weiten Spielraum 
gewähren. Wie bezcichnend ift es, daB der Begriff der Polizei 
als der jtaatlihen Ordnung der gefammten Volkswohlfahrt auf 
den Begriff der Polis zurüdjührt! | 

Wie weit derartige Eingriffe der Obrigkeit in die indivt- 
duelle Freiheitsſphäre einerjeitS und jene ftaatliche Fürſorge für 
das Wohl der Bürger andrerjeit8 gingen, das zeigen neben der 
ſchon erwähnten Wirthichaftspolitit des Stadtſtaates zahlreiche 
jozialpolitijche Maßregeln, wie z. B. gewiſſe Beichränfungen m 
Verfehr mit Grund und Boden (daS folonijche Grundbefismagi- 


i) Ariſtoteles Pol. 1,1. 8. 1252b... yıvousen ner or» Tor Sie sem, 
oraoa de Tor er Sir (sc. 7 od), 

2, Wie z. B. Bödh, Staatshaushaltung 1°, 66 annimmt. 

s, Wie wenig fpezififch ‚anti! diefe Staatsidee ijt, geht ſchon daran? 
bervor, daß fie auf Grund derfelben mafjenpfychologifchen Urſachenkomplexe 
genau fo im mittelalterlihen Stadtjtaat und in der Gegenwart wiederfeht. 
Dal. Schönberg, a.a. C. S. 15 ji. „Die Zeit” — jagt Bücher (Entitehung 
der Volkswirthſchaft ©. 49) vom Mittelalter — „gab dem Namen ‚Bürger‘ 
einen rechtlichen und fittlihen Snhalt, in welchem die Staat8idee der alten 
Hellenen wieder lebendig geworden zu fein ſcheint.“ Und von der Gegenwart 
fagt Adolph Wagner (Die akademiſche Nationalötonomie und der Sozialik 
mu3): „EI ift im Grunde uralter, wahrhaft klaſſiſcher Boden, auf den jept 
nur die deutſche ökonomiſche und foziale Theorie und Praxis fich bewußt 
wieder jtellen, der Boden, wo das Wort des großen Stagiriten — freilid 
in moderner Auslegung und mit modernen Hülfsmitteln feiner — Erfüllung 
entgegengeführt werden foll. 





3% N. Pöhlmann, 


eigenthum enthaltenen Nechte zu bejtimmen, damit das (Eigen 
thum oder gewijje Arten desjelben in dem Prozeß der Erzeugung 
oder der Bertheilung der Güter günitig fungire, eine etwaige 
Ihädliche Benügung des Eigenthums verhütet werde? 

War man aber einmal gewohnt, wenigftend im einzelnen 
Zweigen der Volkswirthſchaft das Herrichaftägebiet des Privat, 
eigenthums Durch Gejeggebung und Verwaltung nach Gründen 
öfonomifcher und gejellichaftlicher Zweckmäßigkeit regulirt zu jehen, 
jo war es nur eine Frage der jeweiligen Anſchauungsweiſe über 
dad, was geſellſchaftlich nüßlich, gerecht, oder ausführbar je, 
wie weit Theorie oder Praxis in der Beichränfung des privat: 
wirtbichaftlichen Gebietes gehen würden. Denn eine allgemein 
anerkannte principielle Grenze für die Ausdehnung der ftaatlichen 
Machtſphäre gab es ja nicht. 

Nun fanden allerdings die in der Natur der Stadtitaat: 
wirthichaft liegenden centralijtiichen Tendenzen ein ſtarkes Gegen 
gewicht in dem lebhaften Interefje an der möglichit freien Be 
wegung des Privateigenthums und des privatwirthichaftlichen 
Berfehres, wie es durch die fapitaliftiiche Entwidlung des Wirth 
ſchaftslebens, durch Handel, Induftrie und Geldwirthichaft her- 
vorgerufen war. Allein gerade jolche Konzeſſionen an die dem 
fapitalijtiichen Bedürfnis entiprechende Politik des Gehenlaſſens 
mußten ihrerjeit3 wieder dazu beitragen, im Volksbewußtſein dei 
Glauben an den Beruf des Staates zum regelnden und jchügenden 
Eingreifen wach zu halten. Der von der Freiheit ja allezeit 
unzertrennliche ſelbſtſüchtige Mißbrauch des Privateigenthums, 
durch welche dasfelbe zum Ausbeutungsmittel gegenüber Anderen 
wird, die auch ohne ſolchen Mißbrauch durch die bloße Über 
macht des Befiges gejchaffenen Gegenjäge mußten in der ſozialen 
Atmofphäre eines helleniichen Gemeinwejend nothwendig immer 
wieder eine Reaktion in diefen Sinne herbeiführen. 

Die Bürger eines jolchen Gemeinweſens konnten es unmög: 
lich auf die Dauer in dumpfer Refignation wie ein Naturereignid 
hinnehmen, wenn fie fic durch die beitehende EigentHumsordnung 
die Bedingungen zu einer gedeihlichen Entwidlung ihres Dajeins 
unterbunden oder gar ihre ganze Eriftenz gelähmt und unter 


Die Anfänge des Sozialismus in Europa. 891 


graben fahen. Ihnen war ja jtet3 die Macht allgegenmwärtig, 
welche bier ſchützend und helfend eintreten fonnte. Der Staat 
war für fie nicht ein abitraftes, myjteridfes Wejen, dem der Ein- 
zelne innerlich fremd gegenüberitand. Ihre Polis mit der allen 
Bürgern gemeinjamen Centrale, die nad) einem fchönen Wort 
von Curtius „darauf berechnet war, daß fie ein überfichtliches 
Ganze jei, daß in Theatern, auf dem Marfte, im Volksverſamm⸗ 
lungsraume die ganze Bürgerjchaft vereinigt fei, und des Herolds 
Ruf, jowie des Redners Stimme jeden Bürger erreiche!) — 
dieje Polis war für fie etwas jehr Konkretes, Leibhaftiges, gleich: 
jam ein großes Individuum, auf deſſen Willen einzumirfen aud) 
der Niedere hoffen durfte. Sie jahen es täglich vor Augen, wie 
mannigfaltig die Möglichkeiten zur Bethätigung dieſes Willens 
waren, wie gewaltig die Macht ihres Gemeinweſens gerade auf 
wirtbichaftlidem Gebiete war. Wie hätte da nicht auch der 
Arme, der Nothleidende, der im Kampf um's Daſein Erliegende 
jeine Frage an den Staat haben jollen, zumal wenn er erwog, 
was alles jchon mit Hülfe diefer Macht die Starfen der Gejell- 
ihaft für fich und ihr Intereffe zu erreichen vermocht hatten? 
Barum jollte jih mit einem jo gewaltigen Werkzeug fozialer 
Hülfe und jozialen Schuges nicht auch für" die Schwachen Großes 
ausrichten lafien ? 

In der That tritt ung, wenn wir dieſe Verbindungsfäden 
zwifchen dem eigenthümlichen gejchichtlichen Charakter des Stadt: 
ftaates und dem Scelenleben des Volkes aufmerfjam verfolgen, 
jofort al3 eine überaus bezeichnende ſozialpſychologiſche Thatfache 
der naive Ölaube an die Allmacht des Geſetzes entgegen: 
die Anjchauung, daß alles Gemwordene nur die Wirfung zweck⸗ 
bewußter menjchlicher Thätigkeit if. Was in Recht, Staat und 
Gejellichaft beiteht, wird auf den Willen eines „Gründers“ oder 
Geſetzgebers zurüdgeführt. Wer die Stlinfe der Gejebgebung in 
die Hand befommt und es nur an der nöthigen Entſchloſſenheit und 


1) Die Polis bat für den Griehen den Vorzug, dab die Bürgerzahl 
eine „mwohlüberjehbare” iſt (evavrontos Ariftoteled, Pol. 4, 4, 8. 1326b), daß 
die Bürger einander fennen (yrwoıseır arirkors roioi rıyer eicı ebenda 8 7). 


392 N. Pöhlmann, 


Konjequenz nicht fehlen läßt, der kann nach diejer Anficht wahre 
Wunder wirkten. Es iſt echt nationale Anjchauungsweije und 
nicht ihr jpezifiich eigenthümlid,, wenn die helleniſche Sozial: 
theorie die Fähigkeit des Staates zur Leitung der im jozialen 
Leben wirkſamen Kräfte jo überaus hoch anjchlägt, wenn fie 
durch einfache Gebote und Verbote der Staatsgewalt die mad 
volliten gejchichtlichen Entwidlungen aus der Welt jchaffen, dns 
ganze Volksleben in neue Bahnen zwingen zu können glaubte. 
Auch außerhalb der Lehrfäle der „Philoſophen“ begegnen wir 
genau demjelben Optimismus. 

Was hat man nicht alles bei den Männern für möglid 
gehalten, die als die Erften die ſyſtematiſche Hebung unterdrüdter 
und ausgebeuteter Volksklaſſen, in gewiffem Sinne „den Kampf 
gegen Armuth und Reichthum“ von Staatöwegen in die Hand 
genommen haben! Damit alle Bürger jelbft arbeiten müſſen 
oder zu arbeiten haben, erjolgt durch Periander ein rabifales 
Verbot der unfreien Arbeit’. Und das in einer Stadt, wie 
Korinth, deren glänzende industrielle und kommerzielle Blüte 
auf einer ausgedehnten Sflavenwirthichaft beruhte, und während 
alle Welt ringsum an der beftehenden Arbeitsverfaffung fefthielt, 
ja dieſelbe immer weiter entwidelte! Der Üppigfeit geht er zu 
Leibe, indem er alle Dirnen — in der Stadt der Aphrodite! — 
erjäufen läßt und eine joziale Kontrollbehörde einfegt, die ſorg⸗ 
fältig darüber wacht, daß Niemand mehr audgäbe, ald er ein 
nahm?)! Der „Bhilantrop“ auf dem atheniichen Fürſtenthron, 
PBiliftratos, fol dem gemeinen Manne eine jo ideale YFürjorge 
gewidmet haben, daß man noch in jpäter Beit von ihm rühmte, 
das atheniſche Volk habe ed unter ihm faft fo gut gehabt, wie 
im Kronosreich!“) Und vollends die großen Gejeßgeber! Aus 





ı) Ric. Dam. 58 nad) Ephoros. 

2) Bovinv En’ doyarwv xareoınaer, or or“ Eyiecav danasan nAduv 
7 xara tas r000000v:. Ps. Heracl. db. Müller, F.H.G. 2,2k. Etwas 
Ähnliches, aber doch kaum in dem bier angenommenen Umfang, beitand je 
allerding® in Korinth no fpäter, nad Diphilos b. Athenäos 6, 227. 

3) Ariſtoteles AInv. no). 16 von Bififtratos. Gleiches wurde behauptet 
von der Zeit Hippardh’8; ſ. den pfeudoplatonifchen Dialog Hipparch 229b. 





394 R. Böhlmann, 


zulegt feinen Ausdrud fand in der Forderung gleichen Rechtes der 
Genofjen in der Gemeinichaft. Der Stadtijtaat wird die de: 
burtsftätte der Demofratic! Gleiches Recht im Staat iſt aber 
auch gleiches Recht am Staat. Die Wohlfahrtspflege des Staates, 
die Fürſorge für den „gemeinen Nug und Frommen“, zu der, 
wie wir fahen, recht eigentlich die Polis berufen war, foll Allen 
ohne Unterjchied in gleicher Weile zu gute kommen!). Auch m 
Niedrigften wird die Überzeugung lebendig, daß, wenn Gelbik 
hülfe und Privathülfe verfagt, die Gefammtheit für ihn eintreten 
müffe. Nur injofern ift der Staat für ihn eine Organijation des 
allgemeinen Beſten, als er eben in demjelben fein eigenes 
Wohl inbegriffen weiß. Wie für die mittelalterliche Stadtobrig 
feit Förderung des „gemeinen Beiten“ und „Wohljahrt der Ar 
muth“?) zujammengehörige Begriffe find, jo Hat fich fchon der 
antife Stadtftaat diefer aus jeinem ureigeniten Weſen entjprin 
genden Konjequenz nicht entziehen fönnen?.. Welche Dienite 
leiltete er gerade dem Armen durch den gejeglichen Schuß gegen 
Vertheuerung des Brotes, durch die ftaatliche Invalidenverjorgung 
u.dgl.m. Und warum hätte er ihm nicht noch mehr leiiten 
jollen, als dieſes? 

Wenn die ſtaatliche Gemeinſchaft ein Mittel zur Befriedigung 
der Intereſſen Aller war, und wenn ein demokratiſcher Radilo 
lismus den Anjpruch erhob, daß Jeder gleiches Recht im Staatr 
babe, jo ergab fich auf diefem Standpunkt ganz von jelbit die 
weitere Forderung, daß der Staat ein für Alle gleich nüglicde 
Werkzeug jei. Konnte er aber dieje Funktion völlig frei bethä 
tigen unter Berhältniffen, wie ſie fih auf dem Boden de 
ı) Der Sap des Ariſtoteles (Politit 3,1,5b): 7 yap 0v moAstas ga- 
Teor elvas Tovs uereyortas 7 dei xoıwwrein Tot Orugepovros iſt recht eigent- 
lich Auzdrud der allgemeinen Volksüberzeugung. 

2) Nah einer Erklärung des Lübeder Rathes. Siehe Neumann, 
a. a. O. ©. 16. 

) Wie bezeichnend iſt allein die jo ganz auf dem Boden des Stadt 
ſtaates erwachſene Anſchauung, daß das politifhe Band eine Art Freundidaft 
jei und daher unter den Bürgern auch Gemeinfchaft, wie unter Freunden, 
beitehen ſollte! Siehe Eudemiſche Ethif 10. 1242: ou uorov yıla alla wa 
sg yihar xoıwoworsw. Vgl. ebenda: 7 de xat' ion yılia doriv 1; nohur, 





396 R. Pöhlmann, 


des geſchilderten Syſtems ſtaatlicher Regulative darſtellt und 
andrerſeits nur für Verhältniſſe Geltung beanſprucht, unter 
denen die Möglichkeit einer einheitlichen und planmäßigen Rege 
lung des Güterlebens nicht von vornherein in Abrede geſtellt 
werden kann. In dem engen Rahmen des Stadtſtaates, wo nicht 
das Schwergewicht großer Flächen und großer politiſcher Dimen⸗ 
jionen hemmend im Wege ftand, wo fich eine wirkſame Beherr 
ihung des ganzen Volkslebens von einer einheitlichen Spike 
aus leicht durchführen ließ!), da konnte man in der That an 
den Erfolg fuzialiftifcher Experimente glauben, und an Projekten 
und Erperimenten der Art hat es ja in der That nicht gefehlt. 

Es iſt ung leider nicht vergönnt, in den intimen Außerungen 
des Volkslebens jelbjit die angedeuteten Gedankengänge zu ver 
folgen. Was man in den PBroletarierhütten über den „Kampf 
gegen Reichthum und Armuth“ gedacht hat, der doch in den Lehr 
jälen und in der Literatur mit einem fo gewaltigen Aufwand 
von geijtiger Energie geführt ward, darauf läßt die beflagendwert) 
trümmerhafte Überlieferung nur ganz vereinzelte Streiflichter 
fallen. Wenn irgendwo, fo empfindet man hier die ſchmerzliche 
Bedeutung des Grote'ſchen Wortes, daß mir von der antiken 
Literatur eben nur das befigen, was von dem Wrad eines ge 
Itrandeten Fahrzeuges ar das Ufer getrieben iſt. Hat man van 
den Ideen eines agrariichen Sozialismus, die im 6. Jahrhundert 
unter dem bäuerlichen PBroletariat Attikas auftauchten, noch vor 
wenigen Jahren — vor der Wiederauffindung der ariftotelijchen 
Berfaffungsgeichichte Athens — eine einigermaßen genügende 
Vorſtellung gehabt? Und mas will jelbft unſere jegige Kunde 
bejagen ? 

Um jo jorgfältiger wird man ſolchen direkten Spuren nad; 
gehen müſſen, und wo fie ung verlafjen, werden wir wenigſtens 
mittelbar einigen Erjaß zu gewinnen juchen durch eine Analyie 
der ozialöfonomifchen und politiihen Zuſtände. Wenn biele 

1) Mie ſehr man die Bedeutung diejer Kleinheit des Staates für die 
Verwirklichung des Wohlfahrtszwecks zu würdigen wußte, zeigt die charalter⸗ 
iftifche Erörterung bei Arijtoteles 4, 4,5 ff. 1326a u. b. 





398 R. Pöhlmann, 


bat auch zu einer engen ökonomiſchen Gemeinſchaft der Bürger 
geführt. Die „Sozialifirung des Verzehrs“, die theilweife Gleich: 
beit des Konſums iſt durch eine Art von gemeinjchaftlicen 
Haushalt in weitem Umfang verwirklicht‘). Das wichtigſte Bro 
duftionsmittel des bejtchenden Wirthſchaftsſyſtems, die Arbeits⸗ 
fraft der hörigen Zandarbeiter, der Heloten, ift Kollektivbeſit 
der Gejammtheit. Someit Privateigenthum befteht, unterliegt 
es wenigiten® einer gewiljen ſozialen Regelung, jei es durch 
rechtliche Beichränfung der Herrichaftsbefugniffe des Grundeigen 
thümers, jet e8 durch die Sitte, welche Gegenftände des Bedarjes 
durch den Nießbrauch in gewiſſem Sinne zum Gemeingut madıte?). 
Nicht bloß nach außen, fondern aud in den Beziehungen unter 
einander fonnten fich hier die Einzelnen al® Glieder einer eng 
verbundenen Genofjenschaft fühlen. 


Daher fam in Sparta auch das Korrelat des Gemeinjchaft# 
principes, die Idee der Gleichheit, in beſonders prägnanter Weile 
zum YAusdrud. Die alte Wehrgemeinde der Freien und Gleichen 
bat ſich Hier lange in ungebrochener Kraft erhalten; und wenn 
gleich die fozialiftiiche Färbung des Gemeinweſens die fortichrei 
tende wirthichaftliche Differenzirung der Bürgerjchaft nicht hat 
verhindern können, jo bat doch auch der größere Befig vor der 
herrichenden Tendenz der Gleichheit fich beugen müffen. So ilt 
3. B. die demofratiiche Umgeftaltung der bürgerlichen Tracht von 
Sparta auögegangen. Die Spartaner haben ſich — wie Thu 
kydides berichtet — gegenüber dem Kleiderluxus der alten Zeit 
zuerjt des ſpäter allgemein üblich gewordenen jchlichten Bürger 
Eleideö bedient, und auch im übrigen haben hier die Vermögenden 
ihre Lebensführung derjenigen der Maffe gleichartig gejtaltet?). 
Die Rüdfiht auf die Gleichheit hielt fie ab, die im Reichthum 

1) Ariſtoteles, Politit 2, 2, 10. 12636: a nspl ras wınasıs dv Aaw- 
daluors xai Koity Tois ovooıriors OÖ vouodsrns Exolvocer. 

2) Vgl. Bd. 1,55. 62 ff. meiner Gefchichte des antiten Kommunismus 
und Sozialismus. 

s) 1,6: ueroian d’av dad xai ds Toy viv roonov noaros Aaxedaı- 
nurıoı Lyoioavıo wai bs ra alla rgus Tors noilors or ra uam xexınusror 
isodimurtoı uakıora xaTeoTroav. 


Die Unfänge des Sozialismus in Europa. 399 


liegende Macht zur Steigerung de3 materiellen Glüdes ent- 
ſprechend auszunügen!?). 


Enthielt nun aber die zunehmende Ungleichheit des Beſitzes 
nicht an fich ſchon einen Widerſpruch zu den Principien, auf 
denen jich dad ganze Gemeinweſen aujbaute? Wenn die bes 
ſtehende Wirthichaftsverfaffung nicht zu verhindern vermochte, daß 
den Befigern größeren Landeigenthums folche gegenüberitanden, 
deren Antheil für die volle Behauptung ihrer bürgerlichen Exiſtenz 
nicht binreichte, oder die überhaupt feine Scholle mehr ihr Eigen 
nennen fonnten, was hatten denn dann für dieje Enterbten die 
genannten Principien noch zu bedeuten? Und in der That fügte 
fih auch das jpartanifche Staatsrecht in den Zwang, der ji 
aus der thatjächlichen Geſtaltung des Privateigentbums ergab. 
Es ſchloß alle, welche die Beiträge für die gemeine Bürgerjpeifung 
nicht aufbringen konnten, vom Vollbürgerrecht der „©leichen“ 
(ouoroı) aus. 


Kein Wunder, daß fich Dagegen das Gleichheits- und Gemein- 
ichaftsgefühl, da8 in den Herzen lebte, mächtig auflehnte, daß 
man gegen die Konfequenzen der öfonomijchen Entwidlung die 
Srundprincipien des Gemeinweſens in's Feld rief?),. Wir haben 
noch einige Kenntnis von der gefährlichen Gährung, welche im 
Anfang des 4. Sahrhunderts unter den vom Kreiſe der „Gleichen“ . 
Ausgeichloffenen herrſchte. Bon dem Führer der Bewegung, 
Stinadon, heikt es, er habe im Verhör auf die Trage nad) dem 
Motiv der Verſchwörung die Erklärung abgegeben, daß er nicht 
etwa® ©eringeres jein wolle, ald Andere in Yacedämon?). Eine 
Antwort, die übrigens von den Bertheidigern des Beitchenden 
wahrjcheinlich entitellt ift und in Wirklichkeit ganz allgemein ges 
lautet haben wird: „Damit Kleiner in Sparta geringer ſei, ala 


— 





ı) Bgl. die allerdings übertreibende Bemerkung Theophraſt's bei 
Plutarch, Lykurg c. 10. 

2) Treffend hat den Widerſpruch zu dem grundlegenden demokratiſchen 
Princip auch Ariftoteles hervorgehoben Pol. 2, 6, 21. 1271a. 

3) Zenophon, Hell. 3, 3, 11 — reios avrov noowto Ti xai Bovkousros 
ravra nearroı. OÖ’ anexpivaro undevos irrwv elvaı Ev Aaxsdaiuor:. 


400 N. Pöhlmann, 


der Andere.“ Jedenfalls war die für alle jeine Schidjald 
genofjen längft vor ihm die gegebene Parole. 


Ebenfo war ed nad) Lage der Dinge unausbleiblich, daß 
von dem Moment an, wo fich das Gleichheitsbewußtfein kritiſch 
gegen das Beſtehende wendete, die leichheitsforderungen eine 
Ööfonomische Färbung erhielten, daß auf dem Boden der politi- 
chen eine joziale Demofratie erwuchs. Wenn es die ungleid- 
mäßige Beſitzes- und Einfommensvertheilung war, welche die 
bürgerliche Gleichheit vernichtete, jo war es in einem Staat, der 
mit jeiner Zwangsgewalt jo tief in das wirthichaftliche Leben 
eingriff, ein naheliegender Gedanke, daß die Staatsgewalt be 
rufen ſei, diefe VBertheilung durch eine zwangsmäßige Megulirung 
jo zu geitalten, daß die von hier aus der Gleichheit drohende 
Gefahr für immer als bejeitigt gelten fonnte. Ind die einfachite 
Formel, die fich für die Löſung der Aufgabe darbot, war die: 
„Thatſächliche Durchführung der Gleichheit Aller aud in 
materieller Hinficht“ oder — konkret ausgedrüdt — „Gleiches 
Recht für Alle an dem Boden“, der das materielle Subitrat 
ihrer ganzen bürgerlichen Erijtenz bildete. Für dieſe — in ihrer 
Tendenz auf Gleichheit der Lebensbedingungen unverfennbar 
fommuniftische — Unterftrömung innerhalb der Bürgerfchaft und 
nicht für die thatſächlich anerkannte Rechtsordnung Sparta? 
treffen die Außerungen über die grundjägliche Gütergleichheit der 
Spartaner zu, die uns in der Literatur entgegentreten?). 

Allerdings lag diefer agrarijche Sozialismus in gewifjem 
Sinne ganz in der Richtungslinie, welche ſchon bie biäherige 
geichichtliche Entwidlung genommen. Wenn ein Hauptfaftor ber 
Produftion, die Arbeitsfraft der Heloten, gejellfchaftliches Eigen 
thum war, wenn ein großer Theil des Bodenertrages ebenfalls 
regelmäßig der Hinüberführung in gejellichaftliches Eigenthum 
unterlag, jo that man nur noch einen weiteren Schritt auf der 

1) Iſokrates, Paneg. 179: ... rs yogas Ts noooines icorv dyew 
Inaotov. Polyb. 6, 45: ... Tas dyyalovs wriccıs ar ovderi mereorı nicor 


alla narras Tovs nohitag ioow &yew dei 175 nolırwng yoleas. Giehe meine 
Geſchichte 1, 104. 126. 


Tie Anfänge des Sozialismus in Europa. 401 


ngit betretenen Bahn, wenn ınan den Prozeß der Bergejells 
haftung auf den Grund und Boden jelbjt ausdehnte. Auch 
brte man damit ja nur zu dem Ausgangspunfte zurüd, in 
elhem die ganze beitehende Vertheilung des Bodens im legten 
runde wurzeltee Alles bürgerlihe Grundeigenthum war in 
;parta urjprünglic) durch Zutheilung von Seite der Gemein» 
haft entitanden und der Name „Los“ (xArogos) für den einzelnen 
;odenantheil fowie für die jpäteren Landanweiſungen auf er» 
jertem Gebiet haben die Erinnerung an dieſen Urjprung des 
rivaten Grundeigenthums ſtets wach erhalten. Ungleich mehr 
och, als bei anderen Bölfern muß hier im Volfsbewußtjein die 
nſchauung lebendig geblieben fein, daß die Erde trog aller Boden» 
uftheilung niemals völlig aufgehört habe, Gemeingut zu fein, daß 
aher alles Sondereigenthum ar Grund und Boden nur innerhalb 
er Schranken bejtehen fünne, die eben das vorbehaltene Recht der 
Ugemeinheit dem Willen des Einzelnen jegt. Das Recht der All⸗ 
emeinheit aber hatte zur Zeit der erften Yandtheilung darin jeinen 
usdrud gefunden, daß jedem wehrhaften Glied der Gemeinde 
n Grundftüc zugewieſen ward, das ihn in den Stand jegte, ſich 
nd jeine Familie zu erhalten und feine Pflichten gegen Die 
jemeinde zu erfüllen. Es bedeutete alfo nur die Rückkehr zu 
em in einer bejtimmten Entwidlungsphafe der Staat» und 
jejellichaftsordnung thatjächlich beitehenden Rechtözuftand, wenn 
tie Partei der ſpartaniſchen Bodenreformer dieſes Princip durch 
ne Neuauftheilung des gejammten Grund und Bodens, durch 
en „yñg aradanuic“ zu verwirklichen gedachte. 

Auch war dieje Forderung keineswegs jo utopiich, als es 
ns auf den eriten Blick erfcheint. Sie will ja nicht einen 
zruch mit der geiammten bisherigen Rechtsordnung. Das Biel 
ar ein ähnliches, wie e8 Proudhon einmal als das jeinige pro: 
amirt hat: Das Injtitut des Privateigenthums, auf dem die 
eihichtliche Rechtsordnung beruhte, jollte nicht abgeichafft, 
ondern nur verallgemeinert werden; es jollten die Schranfen 
ıllen, die es einem Theile der Bürger unmöglich machten, Eigen» 
hümer zu werden. Taher wird auch an dem Princip der privats 
irthichaftlichen Irganijation der Bodenwirtgichaft durch den 

Oiſtorijche Zeitihrift ®. F. Bd. XLIII. 26 


402 R. Pöhlmann, 


yis aradaouug nichts geändert. Eine Umwandlung derſelben 
in Sozialistische, für und durch die Gefellichaft betriebene Pros 
duftion war nicht beabfichtigt: Nur der Bezug und die Ber 
theilung des agrariichen Einfommens, der Grundrente, würde 
eine andere geivorden jein. 

Sozialiftiich, bzw. kommuniſtiſch ift allerdings an dem Refom- 
progamm die Überführung des Bodens in das Kollektiveigenthum, 
ohne welche eine radifale Neuregulirung der Befigverhältnijie 
nicht möglich war, jowie das Princip des gleichen Anteiles Aller. 
Diefes Princip hätte ja auf die Dauer gar nicht verwirflidt 
werden fünnen, wenn man nicht das Herrichaftsgebiet des Privat: 
eigentHums in der neuen Ordnung in einer Weile eingejchränft 
hätte, daB von einem wahren Eigenthum faum mehr die Rede 
gewejen wäre. Es hätte in feinen Konſequenzen ein fortwährendes 
regulirende8 Eingreifen in die Bertheilung und Einkommens 
bildung nöthig gemacht, immer wieder zu einem „jozialiftischen“ 
Bertheilungsiyitem geführt. 

Es wäre von höchſtem Interefje, zu erfahren, wie alt die 
Bodenreformbewegung in Sparta war, wie fie fich im weiteren 
Verlauf geftaltete und wie fid) die bejtehenden jtaatlichen und 
gejellichaftlichen Gewalten mit ihr auseinandergefegt haben. Leider 
läßt und aber die Tradition darüber faft völlig im Dunkeln. Die 
Lykurglegende, welche, da8 Programm der Bodenreformer in die 
graue Vergangenheit zurüdprojizirt und den erften radikalen Xer- 
ſuch zu feiner Verwirklichung jchon der Frühzeit der ſpartaniſchen 
Geſchichte zufchreibt, ijt eben nur eine Zegende. In der beglaubigten 
Geſchichte tritt uns das Verlangen nach einer Neuauftheilung de 
Grund und Bodens erjt im Laufe des 7. Jahrhunderts v. Chr. ent 
gegen. Aber auch da erfahren wir weiter nichts, als die unmittel: 
bare Urjache der Bewegung: Die wirthichaftliche Nothlage eines 
Theiles der Bürgerjchajt infolge der jchlimmen Kriegszeiten, die 
den Gegenjag von Arm und Reich jo verjchärft hätten, daß die 
unzufriedenen Elemente eben an jenes radikale Heilmittel appel 
lirten). Wie man dieſer revolutionären Bewegung Herr wurde, 

N Ariftoteles, Pol. 8,5, 12. 1307a: FArBousvor yag zıves dia Tor 


nohsuovr nEiorr avadacror noir tiv xogar. Dazu Pauſanias 4, 18, 1 
und 1, 101. meiner Gejchichte. 





404 NR. Pohlmann, 


ung zum erjten Mal eine ſoziale Klafje entgegen, die, wie fie 
dag Produkt des Fapitaliftiichen Wirthſchaftsſyſtemes tft, jo aud 
als Trägerin einer jozialiftiichen Negation desfelben auftritt. 
Wenn aber die Entitehungsgeichichte des Sozialismus mit 
der Beichichte des Kapitalismus zujammenfällt, jo ergibt ſich für 
ung vor allem die Frage: Wie alt ijt denn eigentlich) das, was 
wir als fapitaliftiiches Wirthſchaftsſyſtem bezeichnen? Man könnte 
geneigt jein, ziemlich weit in die Vergangenheit zurückzugeben. 
Denn cine vor allem in die Augen fallende Seite der fapite- 
liftiichen Wirthichaft, der Großbetrieb, tritt ung bereit3 in der 
Welt des Epos vollentwidelt entgegen. Die homerifchen Edel⸗ 
höfe mit ihren Maſſen von Arbeitäfräften, mit ihren großen 
Herden und ausgedehnten Ländereien laflen uns deutlich er: 
fennen, in welchem Umfang bier neben und über dem bäuerlichen 
Betrieb die große Güterwirthichaft emporgewachſen, wie tief die 
Kluft zwiichen Edelmann und Bauer auch in wirthichaftlicher 
Beziehung bereit3 geworden war!) Allein diefem Gutsbetrieb 
war feineswegs von Anfang an das eigenthümlich, was das 
Ipezifiiche Kennzeichen der fapitaliftiichen Wirthichaft bildet. Er 
war lange Zeit ein rein naturalwirtbhfchaftlicher. Was der Guts 
herr an Korn und Wein bauen, an Vieh züchten ließ, wanderte 
nicht auf den Markt zum Verkauf, jondern in den Haushalt 
des Herrenhofes zum Verbrauch. Es iſt Produktion zum Zwede 
des Konſums, nicht des Erwerbes. Der kapitaliſtiſchen Wirth 
ſchaft nähert jich der Gutsbetrieb erft ſeit der Zeit, in der er 
für den Verlauf auf dem Markte zu produziren begann. Und 
diefe Wandlung erfolgt eben im Laufe des 8. und 7. Jahr: 
hunderts, in dem Hand in Hand mit einer gewaltigen Zunahme 
der Bevölferung Städtewefen und gewerbliche Betriebjamfeit, 
Handelg- und Stolonialverfehr mächtig emporblühten und von 
den zahllojen raſch wachjenden jtädtiichen Mittelpunften aus die 
Geldwirthichaft ſich weithin über das Land verbreitete?). 


1) Eiehe mein Bud: Aus Alterthum und Gegenwart ©. 180 f. umd 
9. 3. Bd. 75 (Aus dem helleniihen Mittelalter). 
j 2, Tie Epoche der wachſenden Macht des Kapitals, die Thutydides mit 
den Worten andeutet: JSerarwrepas Ö& yıyvousns is "Eidudos nai Tow 


Die Anfänge des Sozialismus in Europa. 405 


Set wird das Ziel der Wirthichaft die Herjtellung einer 
(den Menge von Erzeugniffer, daß aus dem Berfauf eine 
jglichjt große Einnahme entſtand. Es vollzieht ſich der von 
iſtoteles in der Politif gejchilderte Umjchlag des „Hausver: 
zgens“ in jpefulatives Kapital, der Güterbeihaffung für den 
ıterhaltsbedarf in die Spekulation auf den Geldprofit, der fich 
3 Überjhuß über die Herſtellungskoſten ergibt‘). An Stelle 
c „Ofonomif“ tritt mehr und mehr die „Chrematijtif”, das 
jentliche Kennzeichen der Fapitalittiichen Wirthichaft. Und damit 
ebindet fich noch ein anderes. Das Einfommen aus dem Gewinn 
r Wirthſchaft foll möglichjt weit über den Bedarf des Lebens 
ıaus geiteigert werden. Es ſoll zur Bildung eines großen 
rmögens dienen, „Reichthum“ jchaffen, von dem ſchon Solon 
jagt hat, er fenne fein Biel, das erfennbar den Menſchen 
ſteckt iſt?). 

Die erſten Spuren dieſer Entwicklung reichen bis in die 
iten des epiſchen Geſanges zurück. Die Herren, vor denen 
re joniiche Aöde ſingt, und aus deren Leben er die Züge für 
ne Schilderungen entnimmt, find nicht mehr bloß Männer des 
affenwerfes. Sie haben ein ausgeprägt ökonomiſches Intereffe. 
ıd die jchon im Epos erfennbaren zahlreichen Fortſchritte in 
re Organijation der Arbeit, der Intenfität der Bodenkultur, der 


juatov ınv xtiow Erı ualdlov 7 NPUTEEOv Nosovusvns ra nokia Tupar- 
es Er Tois toiscı xafiotarıo TÜV n00000wv yueLörw» yıyyousvov .. . 
zıxa Te £önorvero 1, Elias sai zı5 Yahacans ualkov arteigorto (1, 13). 
zu die Schilderung bei E. Meyer, Die wirthſchaftliche Entwidlung des 
ertbums S.18 5. — F. Cauer, Parteien und Rolitifer in Megara und 
yen S. 17, hebt hervor, daß damals gleichzeitig die Ausbeute der Iydifchen, 
riihen und fpaniihen Bergmwerfe auf den griehiihen Markt gebracht 
rden fei; und er fchreibt diefer Erſchließung neuer Gold» und Silber: 
len eine ähnlihe Wirkung zu, wie der Entdedung Amerikas. Welch 
tere Anſicht Hier dabingejtellt bleibe! 
1) Siehe 1, 229 ff. meiner Geſchichte. 
2) Fr. 13 v. 72: 
horror 8’ ordsr Teoua negaousvov avögaoı xeiraı. 
(. die Sammlung der Theognidea v. 227 fi.: 
oi yag vor Tumn tsElotov EXovas Biov 
dıniacıov arerdoraı‘ Tis av x00EEIEN artarıas. 


406 N. Pöhlmann, 


allgemeinen Betriebsweile der Landwirthichaft überhaupt zeugen 
von ihrem erfolgreichen Bejtreben, fich den Anforderungen ge 
wachlen zu zeigen, welche die Leitung eines landwirtbjchaftlichen 
Großbetriebes an den Gutsherrn ftellte!), Wie ein moderner 
Landwirt wird in dem Erntebild des Achilleusichildes der Gute 
herr dargeftellt. Er fteht mitten unter feinen ?Seldarbeitern „die 
Freude im Herzen“ (yıFooıvog “re). Und dieſe Freude an 
Belig und Erwerb fommt überall im Epo8 zum Tlebhafteiten 
Ausdrud. Daß Adel mit Reichtyum verbunden jei, iſt eine jo 
jelbjtverftändliche Vorjtellung für das Epos, daß bei der Eharaf- 
teriftif adeliger Männer die Begriffe „reich und edel“ ganz 
formelhaft gebraucht werden. Und wie der Dichter im Lobe der 
Helden, befonders der Gefallenen mit Vorliebe auf diefen Vorzug 
hinzuweiſen pflegt, jo lieben e3 die im Epos auftretenden Edlen, 
jei es bei erjtmaligen Begegnungen oder, wo es darauf anfam, 
ſich perjönli Geltung zu verjchaffen, nicht bloß durch die Be 
rufung auf den Adel, jondern ganz befonders auf ihren Reid; 
thum ſich zu legitimiren, wobei mitunter in naivſter Weije die 
einzelnen Beitandtheile des Reichthums aufgeführt werden: die 
großen Schafheerden, die Menge von Saatfeldern, Baumpflar: 
zungen u. j. w.?)! Selbſt dasjenige Moment, welches recht eigent: 
lic) den Ehrenvorzug des Adels bildet, Wehrhaftigkeit und kriege: 
riſcher Ruhm muß es fich bei jolchen Gelegenheiten gefallen laſſen, 
erft nach dem Befig erwähnt zu werden! Schon fündigt fid 
die Zeit an, wo der Reichthum allen anderen Vorzügen mit 
Erfolg den Rang in der Gejellichaft jtreitig macht. 

Ein Odyſſeus will lieber noch länger in der Welt umber: 
ftreifen, wenn er dann nur mehr Hab und Gut nad Haule 
brächte! Kein Wunder, daß der Adel auch die neuen Erwerb‘ 
arten jeinem Intereffe dienftbar machte, welche der Aufſchwung 
des Verkehrslebens der wirthichaftlichen Spekulation eröffnete. 
Er mußte eg, wenn er nicht hinter dem mächtig emporftrebenden 
jtädtifchen Bürgertum zurüdbleiben wollte. Frühzeitig erjcheint 


i) Bol. mein Buch, Aus Altertfum und Gegenwart ©. 193. ($- 
3. 8b. 75.) 
2) Die Belegitellen ſ. a.a. C. ©. 176. (9. 3. Bd. 75.) 





4u8 N. Pöhlmann. 


das edle Weib verjchmäht es nicht, die Gattin des reichen 
Mannes zu werden; fie will den Reichthum ftatt des Abele. 
Das Geld ehren fie, darum freit der Edle die Tochter dei 
Reichen und den Reichen die Tochter des Edlen. Das Beld 
vermijht die Stände)“ — „Nicht umſonſt verehren did 
die Menichen am meilten, o Plutos; denn du erträgft auch den 
gemeinen Sinn, mit dir du begehrtefter aller Götter wird aud) 
der Gemeine ein edler Mann?).“ 

In einer Zeit, der es in diefer Weije zum Bewußtſein ge 
fommen war, daß „Reichthum Macht“ ift?), fonnte es auf die 
Dauer unmöglich ausbleiben, daß auch die bürgerliche Thätigfeit, 
wenn fie mit materiellem Erfolg gekrönt war, vielfach zum Auf 
jteigen in die höhere Klaſſe führte Mehr und mehr nimmt 
diejelbe ein plutofratiiches Gepräge an. Iſt doch fchon um die 
Wende des 8. und 7. Jahrhunderts das Wort geiprochen: „Dem 
Reichthum folgt die Chret).” — „Hab und Gut ift die Seele 
der armen Sterblichen?).” Und das folgende Jahrhundert hat 
den Gedanken noch jchroffer formulirt in dem berüchtigten Motto 
einer zahlungsfähigen Moral, daß „das Geld den Dann madtt, 
und fein Armer eine Ehre hat“®. In der volksthümlicen 
Polemik Solons gegen die herrſchende Klaſſe des damaligen 


1i) v. 183 fl. 
2) v. 523 .: 
Ilhoite, Peamw xahlıore xai iusp0EOTaTE Narım. 
Wer denkt Hier nicht an den Fluch über das Gold in Shakeſpeare's Timon 
4, 3)? 
9 Bold? Kojtbar, flammend rothes Bold? 
So viel hiervon macht ſchwarz weiß, häßlich fchön, 
Schlecht gut, alt jung, feig tapfer, niedrig edel. 
... ehrt den Dieb 
Und gibt ihm Rang, gebeugtes Knie und Einfluß 
Im Rath der Senatoren. 
3) @s nÄotros NAsicınv nace Lyss Övranır. Ebenda 520. 
*, Hefiod, Werke und Tage 373: 
tiovzp Ö' apstı, ani xVdos unı.dEı. 
5, Ebenda 685. 
6) yoruar’ arg teviygos Ö' ovdeis eher! LoFAos ovre rinos. Allüod 
Fr. 49. ®Bergt, Poet. Lyr. Gr. 3%, 168. Vgl. Pindar, Isthm. 2, 11. 


Die Anfänge des Sozialiämus in Europa. 409 


hens tritt das Moment der Geburt völlig zurüd Hinter der 
arfen Betonung der Thatſache, dag diefe „Mächtigen“ eben 
zleich diejenigen find, welche „im Reichtum prunken“!), welche 
Michtslos das Geldintereffe vertreten?). Und ganz ähnlich iſt 
3.2. in Milet, wo im 6. Jahrhundert die ariftofratijche 
ırtei auch als die der Reichen xar’ ESoyrv ericheint?), und 
derwärts, mo die Ariſtokraten ald die „Fetten“ oder bie 
schweren“ (04 rayeis) bezeichnet werden, al3 die, welche „Das 
rmögen“, das Geld hHabent). Neben dem Gegenjag von 
nehm und Gering kommt jegt mehr und mehr der von Reich 
d Arn als Merfmal der Klaffenjcheidung in Betradht?). 

Das Eindringen fapitaliftiiher Gefichtspunfte in die Oko⸗ 
mie des großen Grundbeſitzes, die Umbildung der alten Ariſto— 
tie in plutofratiichem Sinne fonnte ſich nun aber nicht voll- 
ben, ohne daB auch die Geſittung und Lebensanjchauung der 
richenden Klaſſe in mancher Beziehung eine andere wurde. 
mdel und Gewerbefleiß eröffneten ganz neue Möglichkeiten 
3 Lebensgenuſſes. An Stelle des mehr auf die Maffenhaftig- 
t des Konſums gerichteten Luxus der älteren Seit, bei dem 

Genußfähigfeit des Einzelnen immerhin eine bejchränfte war, 
d der daher auch nicht jeine ganze Lebensführung bejtimmen 
ınte, treten jebt die zahlreichen feineren Bedürfnijje der ent- 
delten Kultur hervor: Pracht und Glanz der Wohnung, der 
eidung u. f. w., jteigender Begehr nad) den Waren der Fremde. 
‚ ijt ein Zuzug, der mehr das ganze Leben durdhdringt, und 
: damit recht eigentlid — wie ſchon Ariſtoteles bemerkt hat‘) — 


1) Fr.5 bei Bergt, P.L. Gr. 2, 38. Siehe Ariftoteled 43. oA. 12,1: 
ö’ eiyor Or: van xai Xorpasır 10av ayıtoi. 

2) Fr. 4: yoruaos neıdoueron. 

8) ; niovris (vgl. bie „Richerzeche“ Alttöins)), die das ariftofratifche 
terefje vertritt gegen die „Partei der Fäuſte“ (7 yeswonaya). Plutarch. 
aest. Gr. 32, 298c. 

©) E17rop0L, Oi Tag ovGias, Ta yoruara Eyovtss. 

6) Schon bei Sulon Fr. 4 nÄAorroror ,.. raw ÖE nerıyoanm. 

°, Die rovyr, verbindet fi) ihm naturgemäß mit der o4syaoyia. Vol. 
3,7. 131la. gl. $ 21 über die Söhne und 6, 12, 9 über die frauen 
der oligardifchen Gejellichaft. 


410 R. Pohlmann, 


den Bedürfnis einer Gejellichaftsflaffe entgegenfam, in der der 
joziale Werth; des Einzelnen überwiegend nad) einem materiellen 
Maßſtab geſchätzt wurde. 

Wer kennt nicht die Schilderungen und bildlichen Darſtel 
ungen aus dem Leben der joniſchen und attiſchen Ariſtokraten: 
den Glanz des äußeren Auftretens, den Prunk der Beſtattungen 
u. ſ. w.!). Sie ſchreiten einher auf hohen Schuhen, in Purpur 
gewändern und den Duft ausgejuchter Salben um fich verbrer- 
tend, mit goldenen Armfpangen und goldenem Stirnjchmud ar 
gethan und jelbft das Haar in „goldenen Feſſeln“. Letzteres 
bejonders bezeichnend! Die vornehmen Herren wollen nicht bloß 
die „Anftändigen“ fein, fondern auch die „Zierlichen“. “Witten 
in das NRococco und in die Zeiten des ancien regime verjeßen 
uns die Lodenfrijuren und die kunſtreich geflochtenen Zöopfe, 
durch welche die Angehörigen der feinen Geſellſchaft den weiten Ab 
ftand, der den reichen Mann vom Armen trennte, auch im Außern 
recht finnenfällig zum Ausdrud brachten. Eben deshalb fteigert 
ji) die Zierlichfeit bi8 zur Geziertheit, wird überhaupt der Geilt 
der Etiquette und des Konventionalismus in dieſer Gefellichaft 
immer mächtiger”). Weil die gejellichuftlicden Abzeichen der Aus 
drud der jozial begünftigten Poſition find, und weil der Reid. 
tum ihre Hauptgrundlage ift, wird auf ihre Schauftellung der 
größte Werth gelegt. 

Der äußerliche materielle Zug in dem Dajein der herriden- 
den Gejelichaftsjchicht konnte natürlich nur dazu beitragen, daß 
die wirthichaftlichen Beitrebungen in ihrem Sinnen und Trachten 
noch mehr in den Vordergrund traten. Diejer Art des Luzus 
und des Lebensgenuffes iſt ja, wie Ariſtoteles in feiner piyhe 
logiſchen Motivirung der Chrematiftif treffend ausgeführt hat, 
gleich diejer jelbft eine gemwijje Richtung in's Endloſe eigen’) 
Sedenjall® ermöglichte die neue Geldwirthichaft die Steigerung 


1) Mit Recht weilt Eduard Meyer, Geich. d. Alterth. 2, 366 aud auf 
die Schilderung der Phäakenſtadt Hin, die nur ein Gegenbild der realen Ber 
hältnifje, z. B. Milet® fein könne! 

2) Vgl. Sittl, Die Patrizierzeit der griehifhen Kunft 1891. 

5) Bol. 1,13, 19. 1258a. 


Die Anfänge des Sozialiamus in Europa. 411 


8 Luxus bis zu einem Mae der Verjchwendung, wie fie — 
mal, was die vermögenzerrüttende Wirkung betrifft — unter 
n alten naturalwirthichaftlichen $ormen des Dajeins in diejer 
jeife nicht möglich war?). 

Kein Wunder, daB die bereits angedeutete innerlich durchaus 
wandte Tendenz der fapitalijtiichen Wirthichaft, die Unbegrenzt- 
it ihres Streben® immer allgemeiner zum Durchbruch fam. 
ıh der Ariftofrat, der für den Markt produzirte und jeine 
Hhiffe auf den Meeren jchwimmen hatte, unterlag dem Geſetz 
8 größtmöglichen Gewinnes, welches das Lebenzprincip der 
uen Gelellichaft geworden war. Und oft genug mag auch bei 
m diefer neue Erwerbötrieb zur Habjucht entartet fein. Auch 
wurde ergriffen von jenem Durjt nach) Reihthum, der überall 
t der merfantilen Spekulation fich einftellt. Das Wort, daß 
ın niemals jein Herz am Reichthum überjättigen fann, ſtammt 
n einem Edelmanne diejer Zeit?). Allerdings iſt der Tadel 
präcdiger als das Lob; und man muß ich gerade hier vor 
ſchen Verallgemeinerungen hüten. Aber es gibt doch zu denken, 
B in der Literatur, in welcher die Zeitſtimmung am unmittel- 
cſten und Iebhaftelten zum Ausdrud kommt, in der Lyrik, das 
nmer ruhende Halten und Jagen nach Gewinn und Genuß 
ht eigentlich ala die Krankheit der Zeit erjcheint. 

Aber auch die vom Mdel, die ihre Seele noch nicht der 
ıen Zeit verjchrieben hatten, konnten fich dem jpefulativen 
ige derjelben unmöglich ganz entziehen. Wenn der arijtofra= 
he Grundbeſitz auch unter den neuen durch die Geldwirthichaft 


ı) Bei Theognid wird geradezu der Gedanke ausgeſprochen, daB der 
flug chen mehr Menſchen zu Grunde gerichtet habe, als der Hunger. 
b05 f. Und wir können au2 jeinen Äußerungen in der That auf einen 
tverbreiteten und verderblihen Luxus fchliegen. Er jelbft fordert einmal 
Wohlleben und Verſchwendung geradezu auf. v. 1007 fi. Und wenn er 

anderes Mal wieder davor warnt, jo ſieht man doch aus der Art der 
jründung deutlich, daB der Dichter in jeinem Innerſten gerade dahin neigt, 
on er abräth. v. 903 fi. 

) Theognis v. 1157 f.: 

Hkovtos xai cogir Ir, tois auayerraroy aiei 
Oite yao av nAovrov Pruor rrEgXOEEOALK. 


412 R. Pöhlmann, 


geichaffenen Verhältniſſen jeine ſoziale Poſition behaupten wollte, 
jo brauchte er Geld und immer wieder Geld. Denn je met 
die Geldwirthichaft durchdrang, umjomehr wurde für jeden Ein 
zelnen die Macht des Geldes fühlbar als der Ware, die für 
alle unentbehrlich und für die alles fäuflich war, bejonders die 
zahlreichen neuen Befriedigungsmittel einer gejteigerten Lebens: 
haltung, die man in der eigenen Wirthichaft nicht produziren 
und doc auch nicht mehr entbehren konnte?). Die Verhältniſſe 
jelbjt drängten den Landwirth dazu, aus jeinem Grundbefig eine 
möglichjt ergiebige Geldquelle zu machen. 

AU dies muß man ſich vergegenwärtigen, wenn man den 
Zandhunger verjtehen will, der ſich in diefer Zeit der Grund 
ariitofratie bemächtigte. Sollte das Geldeinfommen fich mehren, 
jo mußte die Bodenrente jteigen, der Umfang des Gutsbetriebes 
oder wenigitens des Gutsbejiges eine möglichite Ausdchnung er 
fahren. Auf den „fetten Ader“ weiſt ein Dichter des 6. Jahr: 
bundert8 den Hin, deſſen Herz nad) Reichthum verlangt; denn 
der Ader „ift das Horn der Amalthea“?.. Mehr Land und 
größerer Ertrag wird dag Loſungswort der Herren, und jede 
Gelegenheit benüßt, es zu verwirklichen. 

Solche Gelegenheit mochten ihon die alten Klientel- Pacht 
oder Hörigfeitsverhältnifje darbieten, die einen Zeil der Ländlichen 
Bevölkerung jeit alter Zeit in Abhängigkeit vom Adel erhielten, 
Verhältniſſe, die e8 demjelben gewiß vielfach ermöglichten, Bauern- 
land zum Rittergut zu jchlagen oder den Antheil des Grundhermn 
am Bodenertrag auf Stojten feiner abhängigen Leute zu fteigern. 
Der fapitaliftiiche Individualismus beraubte dieſe Verhältmiſſe 
ihres patriarchaliichen Charafterd und machte fie zu einem Mittel 
der Ausbeutung des Nebenmenjchen. Die Bedingungen, unter 


1) Welche Bedeutung das Geld bereit® gewonnen, zeigt die Definition 
des Reichthums bei Theogni® v. 1185 ff.: 
Isor tor aAortoiow, 00015 noArs aoyvoöc Eat 
xai GVGGS xal yIhs ArYogFoVgor Tedin iarer Ö’ 1,movoi Te ra. 
2) zonikor horror ueherrv ige Nioros Aaygot' 
ayoıw yao ıs hryoraw Auaiteirz zeoas elvaı. 


Phoktylides Fr. 7. 


Die Anfänge des Sozialismus in Europa. 413 


denen die Hinterjajien oder auch die Pächter des Gutsherrn 
Wirthichafteten, wurden möglichſt zu guniten des legteren ver- 
ändert; und wenn fie den gefteigerten Verpflichtungen nicht nache 
kommen fonnten!), ſo machte er immer rüdfjichtslofer von den 
Zwangsbefugniſſen Gebrauch, die ihm ein hartes Schuldrecht 
jegenüber dem Säumigen einräumt. Sie wurden mit Weib 
und Kind feine leibeigenen Knechte, die er wie jeine Sklaven als 
inbedingt abhängige, auf das Exiſtenzminimum gejtellte Arbeiter 
einem Gutsbetrieb dienftbar machte oder durch Verkauf über Die 
Srenze unmittelbar zur Mehrung ſeines Geldeinfommens ver: 
endete. 


Ein anderer Weg, dad gewünjchte Biel zu erreichen, war 
as Ausfaujen von Bauernhöfen, ein Beitreben, das durch die 
zeitumſtände in hohem Grade begünftigt ward. Gerade damals 
var ja die Widerjtandsfähigfeit des mittleren und Eleinen Bauern, 
tandes gegen die Auffaugungsgelüfte des großen Befites vielfach 
eſchwächt. In joldden Epochen großer ökonomiſcher Umwälzun- 
en fommen die wirthichaftlich Schwachen gegenüber den Stär- 
eren immer in Nachtheil. Der Bauer befaß nicht die Elaitizität, 
ım jich den veränderten Verhältniffen fo raſch anzupafien. Die 
ald auch auf den Kleinverfehr ausgedehnte Geldwirthichaft ftellte 
en Bauern in fteigendem Maße in die allgemeine VBerfehrswirth- 
Haft und dumit in Verhältniſſe hinein, denen er mit feiner 
eſchäftlichen Unkenntnis, mit jeiner geringeren Kapitalfraft und 


1) Welch namenlojes Elend der Theilbau durch Vorſchußwirthſchaft 
der Ausbeutung der Nothlage von Seite der Herren fir den armen Pächter 
ur Yolge haben fann, zeigt der Bericht eine® Nugenzeugen über die Ber: 
ältnifje des heutigen Siciliens. Er fcildert die Abmejjung des Getreides 
ı einer Scheune „Als die Meſſung beendigt war, blieb dem Bauern nur 
m Häufchen Getreide, alle übrige gehörte dem Padrone. Der Bauer ſtützte 
ie Hand und das Kinn auf den Stil einer Schaufel und betradjtete ſtarr 
ald diefen feinen einzigen Haufen, bald jeine Frau und Kinder. Und ba 
ce nun wohl daran dachte, das ihm nah einem Jahre voll Mühen und 
Shweib nichts übrig bleibe, um jeine Familie zu erhalten, als dieſes 
yäufchen Getreide, erftarrte er fürmlid; und eine Thräne Stahl ſich aus feinem 
luge. Es ift befannt, daß nad) der Theilung manden Bauern nicht nur 
ar fein Getreide zufällt, jondern day fie auch nody fchuldig waren.“ 





414 R. Pöhlmann, 


Kreditfähigkeit ungleich weniger gewachien war, als der geichäfte 
fundige, fapitalfräftige und in dem forporativen Zuſammenhalt 
jeiner Klaſſe zugleich einen mächtigen Rückhalt befitende Gute 
herr. Unter dieſen neuen Verhältniffen und gegenüber einem 
jolchen Wettbewerb mochte e8 dem Bauern oft jehr ſchwer werden, 
ih auf jeiner Hufe gegenüber dem Bergrößerungsbedürfnis 
adeliger Gutsnachharn zu behaupten. Schon die Schwierigkeit, 
das Geld aufzubringen, deſſen aud) er jet in jteigendem Maße 
bedurfte, mußte ihn Häufig in eine Nothlage bringen. Sie wird 
eine der wejentlichiten Urjachen der allgemeinen und großen Ber: 
ſchuldung geweien jein, die und in Landjchaften, wie Attifa umd 
Megara als einer der Ichwerften wirthichaftlichen und jozialen 
Schäden der Zeit entgegentritt, wenn auch natürlich) hier und 
anderwärts noch eine Meihe anderer Momente mitgemwirft bat, 
wie Kriegsnoth, wirthichaftliche Kriien, allzu großes Wachsthum 
der Bevölferung u. dgl. m. 

War aber einmal in Form von Korderungsrechten in das 
freie bäuerliche Eigentdum Brejche gelegt, war einmal der Hype 
thefenftein auf Bauernland errichtet, zum Zeichen der Berpfän: 
dung!), jo ging der Prozeß der Enteignung des Bauern unauf 
haltſam weiter. Die an fich enorme Höhe des Zinsfußes in 
diefer Zeit und die mwucheriiche Ausbeutung der Noth ſorgten 
dafür, daß die Verſchuldung nur zu oft mit der völligen Inſol⸗ 
venz endigte. Dann durfte fich derjenige, den der Gläubiger ald 
fümmerlichen Theilpächter auf der Scholle jeiner Väter fißen lich, 
noch glücklich preijen im Vergleich mit dem, deſſen Land ein 
gezogen und zum Rittergut geichlagen wurde, der zum proleta- 
riichen Gutsarbeiter oder gar zum unfreien Sinecht, zu einem 
Mittelding zwiſchen Arbeitsthier und Menſch herabgedrüdt wart. 

So machte die fapitaliftiiche Ausgeftaltung der Agrarwirth⸗ 
Schaft immer größere Fortſchritte. Immer fühlbarer tritt die 
Tendenz hervor, die agrarijche Gejellichaft in zwei jozial ge 
jonderte Klaſſen zu jpalten, von denen die eine die Produktion 





1) der „Knechtſchaft“, wie Solon ſich außdrüdt. Fr. 36, 4. Wriftoteles 
49er. oA. 12, 4. Er fpriht von den 000: oAlayn nennyöoras. in 
Beweis für die Ausdehnung der Verfhuldung! 





416 N. Pöhlmann, 


die der bäuerlide Sänger aus dem armen Dorfe am Helifon an 
die Herrjchenden richtet, „die Flug fich’8 deuten mögen“. 

„So zur Nachtigall, der melodifhen, fagte der Habicht, 

Da er gar hoch in den Wollen fie trug mit den padenden Krallen — 

Dieſe jedoch wehllagte, zerfleiiht von den Krallen, ben frummen, 

Jämmerlich — jener nun fprach zu ihr, bewußt ſich der Stärke: 

Thörin, wozu das Geihrei? Tin Stärlerer hält dich gefangen. 

Und jo fhön du auch fingft, wie ich dich führe, fo gebft du. 

Ye nad) Belieben erwähl’ id) zum Schmauß did oder entlaß did.“') 

Bor den Herren fühlt ſich der Schwache recht los, weil er 
machtlos ift. Er hat die Empfindung, daß man ihm gegenüber 
einfach jenes brutale Recht ded Stärferen walten läßt, das die 
unvernünftige Natur beberriht, wo „Fiſche und Thiere dei 
Waldes und schnell befiederte Vögel einander verzehren um 
fundig des Rechts?),“ — das in einer höheren, fittlichen Welt 
herrſcht. Ein Gefühl, aus dem heraus ein unbefannter Dichter 
an jene Thierfabel die peſſimiſtiſche Moral geknüpft hat: 

„Thor ijt, wer jich erfühnt, mit den Stärkeren je fich zu meſſen, 

Nie fann Sieg er gewinnen und trägt zur Schande noch Unglüd.“®) 

Die hehre Göttin des Nechtes: Dife durchrvandelt Elagend 
die Stadt und die Sie der Menjchen, verdrängt durd) die Käußſ 
lichfeit der Herrichenden, der Gejchenfe verzehrenden, die frevien 
Sinnes beugen das Recht, mit jchiefem Spruche entjcheidend, 
Unheil fchmiedend den Anderen‘). Auf fie ift gewiß auch mit 
gemünzt der Weheruf des Dichters über die „Göttern und Men 
Ihen verhaßten“ faulen Drohnen, welche die Arbeit fleikiger 
Bienen verzehren?). 

1) Hefiod, VW. u. T. v. 202 fi. Die ältefte europäifche Fabel, die und 
befannt ift. 

2) Hefiod, ebenda v. 247 ff. Vgl auch das altdeutiche Sprichwort 
(Simrod S. 356): 

„Wer mächtig ijt, wird auch vermeijen, 
Große Fiſche die kleinen freſſen.“ 

s) Bei Heliod, a. a. O. v. 209 f. 

*) Ebenda v. 219 fi. 260 ff. 

5) v. 300 ff. 


Die Anfänge des Sozialismus in Europa. 417 


Man darf diefe Äußerungen eines durch trübe perjönliche 
Erfahrungen erbitterten Mannes nicht ohne weiterd verallge- 
meinern. Wie verbreitet aber am Ende diefer Periode die Übel⸗ 
ftände waren, die Hefiod in jeiner Heimat beflagt, zeigt Das 
vernichtende Urtheil, welches ein jo unbefangener Zeuge, wie 
Solon über jeine Standesgenofjen gefällt hat. In feinem Mahn» 
wort gegen die „Plevnerie der Reichen“, wie es Wriftotele® bes 
zeichnet!), nennt Solon die ſchnöde Habgier und den Übermuth?) 
derfelben die Quelle aller jozialen Kämpfe feiner Zeit. Er ſpricht 
von der Überhebung und der Maßlofigfeit der Wünſche diefer 
Reichen, die — obwohl im Schoße des Glüdes des Guten in 
Fülle genießend — den begehrlihen Sinn nicht zähmen wollen 
und durch Überjättigung willenlo8 der Sünde verfallen’), „Die 
am mceiften unter ung haben, — klagt er in dem jchönen fozialen 
Gemälde, in dem er von dem Gewinnſtreben der verjchiedenen 
Berufe ſpricht —, fie mühen fih noch einmal fo ſehr. Wer 
fönnte fie alle befriedigen?*) Und in einem anderen ©edichte 
beißt ed: „Durch ihren Unverftand arbeiten fie ſelbſt am Vers 
derben des Stanted, von Habſucht verleitet. Die Führer des 
Volkes find von ungerehtem Sinn, fie werden bald ihrer ſchweren 
Frevel harte Strafe büßen müſſen. Sie willen ihren Durſt nach 
Geld und Gut nit im Baum zu halten®), es genügt ihnen 
nicht, fi in Ruhe ihres wohlhäbigen Befiges zu freuen. Durd) 
Unrecht und Gewaltthat mehren fie ihren Reichthum, ohne Scheu 
vor dem Gute der Tempel und des Staates jtehlen und rauben 
fie, der eine Hier, der andere dort. Sie achten nicht die heiligen 
Saßungen der Dife, welche jchmweigend gewahrt, was geichehen 
iit und noch gejchieht. Aber fie wird mit der Zeit fommen, 


1) Adv. nok. 6, 3: ragaırwv Tois aAovolos un nAsovexteir. 

3) zrv Te yılapyıgiar Tıy Te vrregngariav. Ua. 0. 

s) tieteı yao x0g05 vBoı, oray nokus 0Aßos Enrrau 

ardoumoısıv 60015 u; vors aptıws }. 

Ariſtoteles Adnr. 704. 12, 2. 

*) Fr. 18 v. 73 ff.: 08 yag viv nusww nisiorov kyovaı Blow, Öinkacios 
onerdoroı" Tis av x0pEoeıer Anastas. 

5) Fr. 4: ov yag Eniorartaı xareyer x000r. 

Hhiſtoriſche Beitfhrift N. 5. Bd. XLITL. 27 


418 R. Böhlmann, 


Vergeltung zu üben. Unheilbare Wunden find der Stadt ſchon 
geihlagen, mit rafchen Schritten geht fie ſchnöder Sklaverei ent 
gegen, oder die Empörung bricht aus, und der fchlafende Bürger 
frieg wird aufgewedt, der die fröhliche Jugend Vieler dabinrafft.” 
— „Solches Unheil bereitet fich im Volke vor, von den Armen 
find viele verkauft, mit fchmählichen Feſſeln gebunden in fremdes 
Land geichafft, und fie müſſen — der Gewalt gehorchend — der 
Knechtſchaft fummervolles Elend tragen.“ Nicht bloß das Harte 
Recht, jondern die Willkür ift es, die fo Manchen in fremden 
Knechtesdienſt geſchickt hat, die e3 mit verfchuldete, dab jo Mancher 
„unmuthvoll entfloh dem Schuldzwang, irrte fern von Land zu 
Land, der eigenen Sprache Laut vergejjend, heimatlos.“ Und 
was die in der Heimat Gefnechteten betrifft, jo it es nicht der 
Schimpf der Unfreiheit allein, der auf ihnen laftet, jie müflen 
aud noch zittern vor dem harten Sinn der Herren! !) 

Hat dod) einer von diejen, der nicht zu den Schlechteiten 
gehörte, der Herrenmoral in einer Reife Ausdruck verlichen, welde 
die jcheue Furcht der Unterdrädten nur zu begreiflich erjcheinen 
läßt. Allerdings ift der „Ritterjpiegel adeliger Sitte“, wie man 
die Dichtungen des Theognie von Megara genannt bat, and 
einer Stimmung heraus gefchrieben, die durch den bereits heftig 
entbrannten Stlafjenfampf maßlos verbittert war. Man wird 
Daher nicht ohne weiters die herrichende Klaſſe als ſolche für 
die brutale Forderung verantwortlich machen, welche er an bie 
Standesgenoſſen richtet: „Tritt das thörichte Volt mit der Serie 
nieder, ſchlage e3 mit jcharfem Stachel und lege ihm das Jod 





1) 507 deonorem Tgousvusrors, Fr. 86, 12. Ariſtoteles Ans. moi 
12,4. Daß ijt ja recht eigentlih der Fluch diefer Unfreiheit, daß fie die 
durch die fapitaliftifche Entwidiung geförderte Tendenz zu umfittlicher Au 
beutung noch wejentlich verftärttee So lange man für ben Selbitgebraud 
producirte, hatte die Ausbeutung wenigſtens eine gewiſſe Grenze gehabt an 
dem Bedürfnis der zu VBerforgenden. Seitdem aber mit der Zwangsarbeit 
auch die Produktion für den Markt fi) verband, mußten ſich gerade für den 
unfreien Arbeiter die Folgen des entfeflelten Gewinnſtrebens bejonderd 
fühlbar maden, dem er jchuplos preißgegeben war. Inſofern iſt es nidt 
unberechtigt, wenn die moderne jozialiftifche Kritit der Gefellichaft die Waaren⸗ 
produftion mit Zwangsarbeit die ſchlimmſte Form ber Ausbeutung nennt. 





420 R. Pöhlmann, 


und Diftanz bei dem Junfer von Megara jo draftiich zum Aus 
drud fommt!!) Das ijt in der That die letzte Konſequenz dieſer 
Herrenmoral: Was zur Mafje gehört, ericheint als ein nügliche 
Herdenthier, deifen Dajeindzwed -im Grunde nur der ift, dem 
Intereſſe der bevorzugten Klaſſe dienitbar zu fein. Der Gedanke 
an die Verpflichtungen, welche die höhere Stellung dem herr 
Ihenden Stande auferlegte, der Gedanke an die gejellichaftlicen 
Reijtungen, auf denen allein die fittliche Berechtigung der Herr 
ichaft beruhte, erjcheint mehr und mehr zurüdgedrängt durch eine 
Lebensanficht, für welche der Befit der Macht lediglich ein Mittel 
zur Befriedigung des Klaſſenegoismus war. 

Es iſt ein klaffender Widerjpruh, der jo im Leben der 
Gejellichaft ſich aufthat. An Stelle des patriarchaliſchen Schutz 
und Vertrauensverhältniſſes, das nach den guten Traditionen 
der Ariſtokratie Edelmann und Volk verbinden ſollte, war überall 
da, wo die geſchilderten Tendenzen wirkſam geworden, ein weſent 
lich anderes getreten. Der Niedere fah fich jegt von dem Höheren, 
der ihm „Burg und Thurm“ fein follte*), nach den Erwägungen 
eines rein wirthichaftlichen Kalküls behandelt, für den der Grundiaf 
des noblesse oblige, die höheren fittliden Rückſichten ganz in den 
Hintergrund getreten waren. Bon derielben Macht, die zu jeinem 
Schutze berufen war, mußte er jegt feine Öfonomijche und foziale 
Eriftenz bedroht, ja vielfach geradezu vernichtet jehen. Sogar bie 
Staatögewalt, bei der jeder jein Recht finden zu müfjen glaubte, 
jah er in den Dienjt eines Klaſſenintereſſes gezwungen, das fi 
immer augenjcheinlicher als ein ihm feindliches erwies. 

Es hätte nicht dag heiße Blut des Südens in dem Adern 
dieſes Volkes rollen müfjen, wenn fich nicht der Gemüther der 
Gedrücten und Ausgebeuteten eine tiefe Verbitterung bemächtigt 
hätte, eine Verbitterung, mit der fich bei einem geiltig jo rege 
ſamen Volke naturgemäß fehr bald die Neflerion verband, ob 

ı) Der Vergleich entipriht auch ganz dem, was Theognis (v. 1255) 
als Lebensideal proflamirt: 

"Dot: un naidas Te Yıhei xai umevyas ITToVS 
xai xıaag, ovsore ol Fuuos Er EUgg00UTT. 


2) Axgonodıs xcè stioyos, wie Theognis v. 234 ji ausdrüdt. 


Die Anfänge ded Sozialismus in Europa. 421 


denn eine Rechtsordnung, die für jo Viele das Verjinfen in 
hoffnungsloſes Elend bedeutete, eine innere Daſeinsberechtigung 
babe. Aus dem Gefühl, dad Opfer eines fozialen Unrechtes zu 
fein, erwächſt die Kritik und aus der Kritif die Negation des 
Beitehenden. 

Das erfte Symptom dieſes Erwachens der Maſſe iſt für 
uns die Dichtung Hefiod’3. Die Scharfe und freimüthige Kritik, die 
er an der Klajjenherrichaft des Adels übt, iit überaus bedeutungs- 
voll, obgleich er der arijtofratiichen Gejellichaftsordnung als 
jofcher noch nicht entgegentritt. Die herrichenden Gemalten und 
die Rechtsordnung, auf der ihre Macht ruhte, wurzelten in der 
ganzen Vorftellung, die er von den Dingen hatte, viel zu feit, 
als daß ihm der Gedanke an eine joziale Umwälzung gekommen 
wäre. Auch find das Enticheidende für ihn überhaupt nicht 
äußere Deomente, fondern fittlich-religiöfe Gejichtspunfte. Nicht 
die Inftitutionen, fondern die Öefinnungen der Menichen find 
ihm die Quelle alles jozialen Glüdes, wie Unglüds. Sein Lied 
von der Arbeit erinnert in diejer Hinficht lebhaft an jene joziale 
Neformliteratur eines chriftlichen und ethiſchen Idealismus, mit 
der ja auch die Geſchichte des modernen Sozialismus beginnt!). 
Noch erfennt man auf diefem Standpunkt die Grundlagen der 
beitehenden gejellichaftlichen Ordnung an. Man möchte aber die 
Menſchen in ihrem Denken und Fühlen geändert jehen. Ge— 
jinnungswechjel ift die Lojung, deren Verwirklichung allein Die 
Schäden der Zeit heilen kann.” 

Ebenfo erwartet Heliod von dem, was wir modern den 
neuen jozialen Geiſt bezeichnen fünnten, wahre Wunder geiell- 
Ihaftlicher Wiedergeburt. In der Seele des gottbegeilterten 
Sängers lebt jene kindliche Glaubenszuverjicht, wie wir fie bei Dem 
Pſalmiſten und den Propheten, ſowie im chrijtlihen Sozialismus 
wiederfinden, der Glaube, daß es nur einer fittlichereligidjen Er: 
neuerung der Gejellichaft bedürfe, um die Welt von allem jozialen 
und Öfonomijchen Übel zu befreien. 


%) Vgl Sombart, Sozialismus und joziale Bewegung im 19. Jahrs 
hundert (1896) S. 15 f. 


422 NR. Pöhlmann, 


Wo man Jedem — Einheimifhem wie Fremdem — jem 
Recht gönnt (suum cuiquel) und nie vom Pjade der Gerechtig 
feit weicht, da — meint Hefiod — muß die Stadt gebeiben, 
und es blühen darin die Bewohner. Ewiger Friede waltet im 
Lande. Sie treiben nur Werfe des Frohſinns und niemals naht 
ihnen der Hunger ). Denn reichliche Frucht trägt ihmen die 
Erde, und das wollige Schaf erliegt faſt unter der Schwere der 
Bürde. Weiber gebären dajelbit nur Kinder, die den Vätern 
gleichen. Kurz, Alle erfreuen fich jtändigen Glüdes. Nie brauchen 
fie zu Schiffe zu fteigen: Ihnen genügt die Frucht der Nahrung 
ipendenden Erde. — So würde aus Qugend und Gerechtigkeit 
ein irdiiches Paradies erblühen, fast jenem jeligen Wunfchland 
vergleichbar, das dereinſt ja Wirklichkeit geweſen. 

Iſt aber die fittliche Erneuerung der Gefellichaft, ohne welde 
dem Dichter dieſes Glück nicht erreichbar, ja überhaupt kein ort 
Ihritt denkbar erjcheint, jemals zu erhoffen? Die Erfahrungen 
der harten Wirklichkeit, die Hefiod umgab, und die Stimmungen, 
die fie in feiner eigenen Seele wachriefen, waren zu trübe, al 
daß er diefe Frage hätte bejahen fünnen; und jo fieht er nirgends 
einen Weg ber Rettung. Die Kehrfeite feines ethiſchen Ideali— 
mus — darin unterjcheidet er fich von dem oben erwähnten 
reformatoriichen Utopismus der neueren Zeit — ift ein grenzen 
[ojer Peſſimismus gegenüber dem Beſtehenden. Er ift überzeugt, 
daß die Gejellichaft durch das finnloje Walten roher Kräfte zu 
einer unaufhaltfam fortſchreitenden Verjchlechterung aller Verhält: 
nifje verurtheilt fei. Das Ende werde die foziale Auflöfung fein, 
der Kampf Aller gegen Alle! 

„Nimmer eint mit dem Sohn fi der Bater, nidyt jener mit diejem, 
Nicht mit dem Wirthe der Saft, der Genojje nicht mit dem Genoſſen. 
Nicht wird der Bruder dem Bruder mehr lieb fein, wie e8 zuvor war.” 

Sauftrecht wird walten?). Nichts wird gelten der Gerechte 

und der Wacdere, Alles der Unbeilftifter und Frevler. Scham 


) v. 225. 
Orde nor’ iFediercı ner! ardonaı Aıuos Onndei 
ord' arr, Yahins ÖE ueunkora Eoya venortas. 
32) v. 182. 
3) yssoodıxas! v. 185. 





424 R. Pöhlmann, 


Der Kampf, den bier ein Einzelner aufnahm, mußte jih 
ja jehr bald mit innerer Nothwendigfeit zum Klaſſenkampf ent 
wideln. In dem individuellen Unrecht, das der Einzelne erfuhr, 
fam ja nur in beſonders draftiicher Weije das joziale Unredt 
zum Ausdruck, unter dem die Gefammtheit der niederen Alaſſe 
litt. Das Beitreben der Herrichenden, die zum jozialen Unrecht 
gewordene Klaſſenherrſchaft zu ſichern und den Genuß ihrer Bor- 
theile möglichſt zu fteigern, machte ſich nicht bloß zu Ungunften 
Einzelner, jondern der ganzen niederen Klaſſe fühlbar. Je rüd- 
fihtslofer man auf Koften des Beſitzes, der Arbeit, ja ſogar der 
Freiheit der niederen die Herrichaft der höheren Klaſſe um fi 
greifen ſah, je einjeitiger man den durch den allgemeinen wirt’ 
ſchaftlichen Aufſchwung gefteigerten Ertrag der Arbeit des Niederen 
dem Höheren zufallen ſah, um jo deutlicher drängte jich die Er 
fenntnis auf, daß bier nicht bloß Einzelne, jondern die Mafie 
als ſolche in ihrer Entwidlung geſchädigt und niedergehalten 
wurde, daß der Feind diefer Entwidlung nicht das einzelne In 
dividuum der herrfchenden Klaſſe, jondern die Klaſſe als folche jet. 

Die Empfindungen, die der Drud der Klaſſenherrſchaft in 
den Gemütbhern der Einzelnen wachrief, verdichteten fich zu einem 
einheitlichen Maffenbemußtfein. Auch die Mafje erwachte zur 
Erfenntnis eines eigenen Klafjenintereffed. Sie begann fid) ald 
eine jelbjtändige Gruppe ökonomiſch und fozial gleich Intereffirter 
zu fühlen. Und dies Gefühl wandte fich alsbald um jo feind 
jeliger gegen die herrfchende Klaſſe, je mehr eben dieſe ala bie 
eigentliche Urheberin des Elends der Maſſe erſchien, und je 
jchmerzlicher der Kontraft zwiſchen dieſem Elend und dem Glanz 
empfunden ward, den die vornchme Geſellſchaft jo gefliffentlih 
zur Schau trug. Ganz bejonders diejer Kontraft in der Lage, 
nicht bloß das Elend an fich, erzeugte in den Mafjen jenen 
Haß!), der jo unverföhnlich ift, weil er fich mit dem Gefühl des 
Neides verbindet. Wenn man die Intenfität des modernen 





1) Der Hab gegen die Reichen (aneyFeın 7 noos Tovs nAovaiors) war 
nad) Ariftotele® die Haupturfahe davon, daß in diejer Zeit die Führer und 
Vertrauendmänner des Volkes fo oft zu einer monardiichen Gewalt gelangten. 
Politit 8, 4, 5. 130ba. 





426 N. Pöhlmann, 


empfunden ward. Die Partei der „Fäuſte“, die wir in dem 
Milet des 6. Jahrhundert? im Kampfe gegen die Partei der 
„Reihen“ fanden !), dürfte überwiegend in Ddiejer ſtädtiſchen 
Mafje zu juchen fein. Noch wichtiger ift es, daB von Anfang 
an auch der bejitende Mittelitand und die in ihm vertretene 
Intelligenz an der Bewegung betheiligt ericheint. Auch der 
Mittelftand ſah ſich ja durch die herrichende Klaſſe theilweiſe 
wenigſtens in jeiner ökonomiſchen und jozialen Selbftändigfeit 
gefährdet. Es gab gewiß zahlreiche größere Hofbefiger, denen 
über furz oder lang dasſelbe Schidjal der Enteignung drohte, 
wie dem weniger widerjtandsfähigen Kleinbauern. Und was bie 
böchititehende, in raſchem wirtbichaftlihen Aufiteigen begriffene 
Schicht des Mittelftandes, bejonderd in den Städten, betrifft, 
jo war gerade fie recht eigentlich die Führerin der Oppoſition 
gegen die Herrichende Klaſſe, weil jie fich derſelben jozial und 
wirtbichaftlich immer näher gerüdt jah und den Ausschluß von 
ihren Ehren und Rechten immer lebhafter als unerträgliches Un 
recht empfand. 

So ging eine große revolutionäre Bewegung durd) die ganze 
außerhalb der privilegirten Klaſſe ſtehende Gejellichaft. Mit ben 
politiichen Forderungen der bejitenden und gebildeten Elemente 
des Demos vereinigt fich das Drängen der nothleidenden Klafjen 
nad einer Beljerung ihrer öfonomifchen und gejellichaftlicen 
Lage. Jene verftärfen fih im Kampf um die Nechtögleichheit 
durch das Gewicht der großen Zahl, welches die Maffe in die 
Wagſchale warf, und andrerjeits fommt die Mafje eben dadurd 
erst recht zum Bewußtjein ihrer Kraft. Sie ſah fich in ihren 
jozialöfonomifchen Forderungen gewaltig ermuthigt, zumal die 
herrfchende Klaſſe, die nun ihren Rüdhalt im Mittelitande ver 
Ioren hatte, der Bewegung meift tjolirt gegenüberjtand. Durch 
dies Zujammenmirfen politischer Parteiwuth und fozialen Haſſes 
erhält der innere Zmift, der jchon das 7. und noch mehr dad 
6. Sahrhundert erfüllt, völlig das Gepräge des Klaſſenkampfes. 
Er entjeffelt alle die furchtbaren Leidenjchaften und verbrecheriſchen 





1) Siehe oben ©. 409. 





428 R. Pöhlmann, 


Die Packknechte gebieten, das Geſindel (oĩ “axor) iſt den Guten 
überlegen. So wird — fürchte ich — die Woge das Schiff 
verſchlingen.“ 

„Ich fürchte“ — ruft der adeliche Sänger von Megara dem 
Freunde zu —, „daß die Überhebung, welche einſt die wilden 
Kentauren in's Verderben führte, auch unſere Stadt zu Grunde 
richten wird. Der Übermuth und die Thaten, welche einſt zu 
Magneſia geſchehen, erfüllen auch unſere heilige Stadt. Hoffe 
nicht, daß die Stadt ruhig bleiben wird; jchon ift fie ſchwanger, 
und ich bejorge, daß fie den frevlen Führer des Aufruhrs, den 
Rächer unjeres fchlimmen Übermuthes gebären wird!).“" — Und 
nach der Kataftrophe: „Die Stadt ift zwar noch die Stadt, aber 
das Volk ift ein anderes. Die, welche vordem Gejeg und Recht 
nicht fannten, welche — die Schultern mit dem Ziegenfell um 
hüllt — draußen vor den Thoren wie Hirjche meideten, die jind 
nun die Edlen. Die Gemeinen haben Amt und Würden erlangt, 
das, was dem Adel gehört, ift an die Gemeinen gekommen’). 
Die vorher Edle waren, find nun Gemeine. Wer vermag tolcen 
Anblid zu ertragen? Nun betrügen fie ſich lujtig unter einander 
und willen weder, was gut noch was ſchlecht ijt?). Unerträglide 
Geſetze haben fie aufgerichtet. Die Scham iſt untergegangen, 
Schamloſigkeit und Übermuth haben gefiegt und das ganze Land 
eingenommen®). Das gehört nun den Naben und dem Verderben. 
Aber feiner der feligen Götter hat uns dies verjchuldet, Jondern 
der Menfchen Gewalt und jchnöde Habgier und Übermuth hat 
ung aus vielem Glück in's Unglück gebradt. In furchtbare 
- Unheil find wir gerathen; raffte uns doch gleich das Geſchick 
des Todes hinweg! ?) 


fann, fondern nur auf eine Vertheilung der gemeinen Einfünjte. „Die hab 
gierigen Männer an der Spige des Staates jteden die Einfünfte in die 
eigene Taſche, ftatt fie gleihmäßig an Alle zu vertheilen.“ 

1) Theognis v. 542. 603 |. 47. 39 f. 

2) v. 233. 53 fi. 

2) v. 409 ff. 

% v. 289 ff. 

2) v. 833 ff. 819. 


Die Anfänge des Sozialismus in Europa. 429 


Dan muß diefe Stimmungsbilder fennen, um fich darüber 
flar zu werden, wie bier alles Beſtehende in feinen Grundveften 
erſchüttert war, wie ſich inmitten diejes gewaltiamen Zuſammen— 
bruches des Alten in leidenjchaftlichen, rückſichtslos die letzten 
Konſequenzen ziehenden Köpfen ein wilder Radikalismus, Die 
ausjchweifenditen Hoffnungen nicht bloß politischer, jondern aud) 
fozialer Neugeftaltung erzeugen fonnten. Welche Erichütterung 
und Verwirrung muß in Ddiejer rajchen Aufeinanderfolge von 
Revolutionen und Gegenrevolutionen das öffentliche Nechtsbemwußt- 
jein erlitten haben, zumal bei der rohen Maſſe, die ſich immer 
mehr bewußt wurde, daß ihre Fäuſte bei den meijten Umwälzungen 
den Ausfchlag gaben! Wenn die bürgerlichen Parteien ſelbſt um 
die Gunst des Pöbels buhlten, deſſen Mitwirkung fie nicht ent- 
behren konnten, wenn fie jeinen Inſtinkten nothgedrungen oft 
genug die Zügel fchießen lichen, jo mußten dadurch Anjprüche 
erwedt werden, die weit über die gemäßigt-bürgerlichen Reform: 
ideen hinausgingen. Auch ift es ja eine befannte piychologifche 
Thatſache, daB in Zeiten ftarfer Erregung gerade die ertremiten 
Richtungen eine Bedeutung zu gewinnen pflegen, die weit über 
ihre numerijche Stärfe hinausgeht. 

Neben diefen bejonderen Entſtehungsurſachen fommuniftijch- 
fozialiftiicher Ideen fommt nun aber noch eine Reihe von all- 
gemeinen Momenten in Betracht: Die ganze geijtige Atmoſphäre 
der Zeit, deren Eigenart man ſich vergegenwärtigen muß, wenn 
man Die ſoziale Bewegung wirklich verjtehen, d. h. in ihrer 
hiftoriichen Bedingtheit und ihrer faufalen PBerfnüpfung be— 
greifen will. 

Sollen wir die Zeit im allgemeinen charafterijiren, ſo 
werden wir als Hauptmerfmal eine außergewöhnliche Lebendigfeit 
und Beweglichfeit bezeichnen dürfen, wie fie in dieſer Weije den 
älteren Epochen unbefannt war. Durch die Expanſion des 
griechiichen Volkes über die ganze Mittelmcerwelt, durch die Ent: 
jefjelung des Verkehres, die Geldmwirthichaft, die fortichreitende 
politiiche und joziale Emanzipation find alle Schichten des Volfes 
in Fluß gekommen; es ift eine Bewegungsfreiheit der Individuen, 
eine Rajchheit des Kontaftes zwiſchen den einzelnen Elementen 


430 R. Pöhlmann, 


der Geſellſchaft möglich geworden, wir nie zuvor. Wir find in 
ein Beitalter der Maffenbewegungen und Maffenaktionen einge 
treten. Was ſich durch Gleichartigkeit des Berufes, der Arbeit, 
des Interejjes nahefteht, organifirt fich in größeren gejchloflenen 
Maſſen. Und dieje durch gemeinjame Vorſtellungen, Gefühle, 
Willensimpulje enge verbundenen jozialen Gruppen greifen mächtig 
in die Kämpfe der Zeit ein, fei e3 auf der Agora, fei es m 
Kampfe der Fäuſte. Der organifirte Zuſammenſchluß wird zu einer 
Hauptwaffe im Kampfe der Parteien, zu einem Hauptwerfzeug 
der politiichen und fozialen Emanzipation. Selbſt das ftabilite - 
Element der Gejellichaft, der Bauer, bleibt in diefer Beziehung 
nicht hinter den beweglicheren jtädtichen Klaſſen zurüd. Er tritt 
— 3.28. in Attila — genoſſenſchaftlich organijirt al3 eigene ge 
ichloffene Partei der der Demiurgen zur Eeite!). Die älteiten 
— gejchichtlich befannten — Drganifationen der Arbeit auf euros 
päiſchem Boden ! 

Und mit diefer größeren Beweglichkeit des Lebens verbindet 
fi) eine gejfteigerte Lebendigkeit des Dentend und Empfinden. 
Der wirtbichaftliche Wettbewerb, das Jagen nach Gewinn und 
Genuß, das wechjelvolle Ringen um gejellichaftliche und politiſche 
Macht Hat in das Dafein de Einzelnen und ganzer Klaſſen 
einen Zug der Unruhe, des Haſtens, der Unficherheit hinein 
gebracht, der fih in dem Gefühlsleben der Zeit jehr intenfiv 
ausprägt. Die Fülle der inneren und äußeren Erlebniffe, die 
in folcher Zeit auf den Einzelnen einftürmten, rang nach leiden- 
ſchaftlicher Entäußerung. Was dem freier gewordenen Blid ſich 
offenbart, will jofort fich mittheilen, auf Andere wirfen. Und 
dies Drängen und Treiben, dieje tiefe Erregung des ganzen 
Empfindungslebens erzeugt alsbald völlig neue Formen des Auf: 
druds. Wir befinden ung im Zeitalter der Lyril. Große Staate- 
männer und Gejeßgeber fprechen in gebundener Rede zu allem 
Bolfe; und neben ihnen, neben Tyrannen und Demagogen erheben 
Sänger und Dichter ihre Stimme und jchleudern ihre geflügelten 
Berje in die leidenjchaftlich bewegten Maffen. Dan kämpft mit 


1) Ariſtoteles, AInv. no. B. 13. 








432 N. Pöhlmann, 


der Glaube der Epoche an dus, was eine überlegene geijtige 
Kraft in der Bewältigung großer reformatorischer Aufgaben 
zu leiften vermag! Häufig ift e8 ein inzelner, der al 
Bertrauensmann der Allgemeinheit mit abjoluter Machtbefugni 
nach eigenem beiten Ermejjen die neue Ordnung der Dinge 
feſtſetzt. 

Dazu welche Revolutionirung der Sitten und Lebensanſchan 
ungen! Der neue demofratiiche Geiſt beginnt fich allmäblid 
dagegen aufzulehnen, daß die vornehme Welt den Abftand, der 
jie vom Volke trennte, noch länger in der bisher üblichen Weile 
zum Ausdruck brachte. ES beginnt die Zeit rigorofer Luru% 
gejeßgebungen, einer einfacheren bürgerlichen Geſtaltung de 
äußeren Lebens, die den verlegenden Prunf der alten Zeit mehr 
und mehr verdrängt hat. Soweit die gejchilderte Bewegung 
reicht!), ift die Ehrfurcht vor den Idealen der alten Zeit m 
Schwinden begriffen. Die Geftalten der Dichtung, die zu den 
ſtolzeſten Erinnerungen des herrichenden Standes gehörten, werden 
durch Umfegung in's Burleske auf das Niveau der Maſſe herab 
gedrüdt. Zu dem Pathos des homerijchen Heldengejanges tritt 
die parodiiche Dichtung in einen charafteriftiichen ©egenlaf- 
Selbſt die Religion wird in den allgemeinen Gährungsprozeß 
bineingezogen. Das erwachte fritiiche Bewußtſein bethätigt ſich 
gegenüber den Göttern des Olymps ebenjo, wie gegenüber den 
Herren diefer Erde. Man beginnt auch) an das Thun der Götter 
und bejonders an ihr Verhältnis zu den Menfchen einen fittlichen 
Maßſtab anzulegen. Das leichtherzige Epiel mit dem Menſchen⸗ 
ſchickſal, wie es die homerischen Götter treiben, tft der fort 
gejchrittenen ethiichen und jozialen Anjchauungsweije der Zeit 
ebenjo unerträglid) geworden, wie der Übermuth der Ariftofraten- 
herrſchaft. Wie das irdiihe Recht den Charakter der Willfür 
abftreiit, jo jollen auch die Götter nicht mehr lediglich ihren 
Launen folgen. Auch von ihnen fordert man Gerechtigfeit. Ia 
am Ende der Epoche iſt die Emanzipation des Gedankens auf 





1) d. h. in den fortgeichritteniten See- und Handeldftaaten am ägäifchen 
Vieere. 


Die Anfänge des Sozialismus in Europa. 438 


nem Punkte angelangt, wo die mythiſch begründeten Vorſtel⸗ 
ungen überhaupt nicht mehr genügten. Auf die alten Fragen 
ah Sinn und Bedeutung der Welt jucht man jet noch ganz 
indere Antworten, ald e3 die geweſen, welche der religiöfe Glaube 
rtheilt hatte. Auch bier jegt fich der freie Gedanke gegen die 
Kutorität der Tradition fiegreih durh. Er jprengt die legten 
Feſſeln, die dem Flug nach den höchſten Zielen noch entgegen« 
tanden. Unbefümmert um jede fremde Autorität jucht er ein 
Bild der Welt zu geftalten frei aus jich heraus, aus eigener Sraft! 
Die alte geiftige Seßhaftigkeit, die Selbitverjtändlichkeit altge— 
vohnter Anſchauungen iſt unmiederbringlich dahin?). 

Wo die wichtigsten Sdeenkreife und Daſeinsformen in diefer 
Beile im Fluß begriffen erichienen, war es nicht zu verwundern, 
aß ſich zulegt die Meinung einftellte, als gäbe es überhaupt 
nichts Feſtes mehr. Wenn fid) jo Vieles als vergängliche Ent— 
vidlungsphaje erwiejen, wie fonnte man fich da bei irgend einer 
Sejtaltung der Dinge, die den Widerjpruch herausforderte, als 
'iner endgültigen beruhigen? „Wie fonnte da die Geneigtheit 
Jauern, dor einem vereinzelten Erzeugnis des unaufhörlichen 
Wandelprozeſſes als vor etwas Ewigem und Unantaſtbarem in 
ven Staub zu finten?)?" Das „IIavra dei“ Heraflit’s zieht 
ıur Das Fazit der ganzen Epocdye. Und wenn Lafjalle von 
jiefem, ihm in mander Hinficyt jo nahe verwandten Denfer 
yemerft, „er babe alle Ruhe und allen Stillitand aus der Welt 
yerbannt, die ihm nur abjolute Bewegung gewejen”, „es war 
Sturm in diejer Natur“?), jo ift damit in gewiflem Sinne 
ie Zeit überhaupt gefennzeichnet, in welcher Die geiftige Eigen: 
ırt Heraklit's im legten Grunde wurzelt. Jene Feuerſeelen der 
jeraflitiichen Weltweisheit, in denen ſich Zafjalle ſelbſt geſchildert 
yat, fie find recht eigentlich das Produft der gewaltigen Gährungs- 
poche, weldye die joziale, politiiche und geiltige Phyſiognomie 
ed HellenenthHums von Grund aus umgewandelt hat. 








i) Vgl. die ſchöne Schilderung dieſes Kulturprogefies bei E. Meyer, 
Weih. d. Alterth. Bd. 2. 
2) Gomperz, Griehiiche Denker 1, 65. 
2) Die Philoſophie Heralleito® des Dunklen 1, 51. 2, 448. 
Hiftoriiche Zeitſchrift R. F. Bd. XLIIT. 28 


434 N. Pöhlmann, 


So war die Beit beichaffen — ich möchte jagen, jo mußte 
jte bejchaffen fein —, in welcher der Sozialismus feinen Einzug 
in Europa hielt. Aus der Zeitatmoiphäre erflärt es fich, wie 
jegt einerfeit3 jene zerjegende Sritif möglich wurde, welche felbit 
vor einer grundjäglichen Verneinung des Beitehenden nicht mehr 
zurüdichredte, und andrerjeits ein fanatifcher Glaube an die Er 
reichbarfeit ciner zukünftigen Ordnung fozialen Lebens, die fid 
eben auf einer von dem Beſtehenden principiell verſchiedenen 
Grundlage aufbauen ſollte. Wenn jo Bieles im Wandel der 
Zeit ander® geworden, wenn ſich — wie Solon einmal betont 
hat!) — Dinge verwirklichten, an die man vorher faum im 
Traum gedadt, warum nicht noch mehr? Warum nicht Ale, 
was erwünjcht und möglich erfchien? „Co wird die revolutionäre 
Gegenwart zum Nährboden für die joziale Utopie der Zufunft?).“ 


Und dieſer Ölaube an die Durchführbarfeit eines gejellichaft- 
lichen Ideales erhielt zu alledem noch cine mächtige Förderung 
dadurch), daß gerade damals derjenige Machtfaftor, auf melden 
e3 Dabei in erfter Linie anfam, daß der Staat eine neue erhöhte 
Bedeutung für das Gejammtleben des Volkes gewann. Aus 
den Widerſtreit gegen die ausbeutende Klafjenherrichaft, aus der 
Anarchie des Klaffenfampfes erwächſt damals der Gedanfe, durch 
die Gentralifirung der ftaatlihen Machtmittel in Einer Hand die 
Zöfung der Aufgaben zu ermöglichen, zu deren Übernahme fid 
der alte Staat unfähig erwiejen. Diefer Tendenz und der Sehn- 
ſucht nad) einer wahren Staatögewalt verdanft nicht nur die 
ſoziale Monarchie eines Periander und die Diktatur anderer 
Stuatenordner ihren Urjprung, jondern vielfach aud) die Tyrannis. 
die in dieſer Zeit jo überaus häufig das legte Ergebnis des 
revolutionären Zerſetzungsprozeſſes war und oft gerade an ber 
Spige der radikaljten Elemente des Volkes emporfam. Es it 
die Epoche der großen Staatöfünftler, in deren Hand der Staat 
als Kunstwerk, ala bewußte, von der Neflerion und genauer 


) Siehe Arijtoteles, SFrr. 04. 12,5. 
2) Eombart, a.a. O. ©. 12, mit Bezug auf die Gefchichte des modernen 
Sozialismus. 





436 N. Pöhlmann, 


Läßt uns doch die Überlieferung fait durchweg jchon über 
die grundlegende Frage im Unflaren, weldye von den verichieden: 
artigen revolutionären Bewegungen, von denen die Zeit erfüllt 
war, im einzelnen alle in Betracht fommen. Auch fteht für 
fie begreiflichermweife diejenige Bewegung im Vordergrund, die im 
allgemeinen die fiegende war: die rein bürgerliche, der Kampf 
der befigenden Bürger: und Bauernfchaften um die Beſeitigung 
der Privilegien des berrichenden Standes und um die Anerfennung 
der Öleichheit vor dem Geſetz. Weniger deutlich erfennbar it 
dagegen die vom Kleinbürger: und Kleinbauernthum vertretene 
demokratische Unterjtrömung, welche die Freiheits- und Gleichheit: 
forderung wefentlih radifaler auffaßte, als die oberen — an 
der Bevorzugung des Beſitzes feithaltenden — Schichten de 
Bürgerthums, aber allgemeinere Erfolge erft in der nächſten 
Epoche errang. Und die geringiten Spuren vollends hat natür- 
li die noch radifalere Bewegung hinterlaffen, welche der poli— 
tiichen Befreiung ohne weiters die joziale folgen laſſen wollte, 
aber mit dieſem ihrem Utopismus noch weniger durchzudringen 
vermochte, als der politische Radikalismus. 


Dazu kommt, daß in den Anfängen die proletarijche Be 
wegung mehr von dunklen Suftinften geleitet wurde, ein klares 
Biel, ein bejtimmt formulirtesg Programm für und nur ganz 
ansnahmsweije noch erfennbar iſt. Auch bier trifft die Bemer- 
fung Carlyle's zu, daß die erjten Regungen jener unglüdliden 
tief vergrabenen Maſſe wie die Bewegungen des Enceladus find, 
der, wenn er über jeine Schmerzen Hagen will, Erdbeben hervor: 
rufen muß. „ES find Bewegungen vollftändig inftinktiver Art, 
die ji) an dasjenige halten, was zunächſt liegt, und gegen das 
anftürmen, was ihnen handgreiflich im Wege zu ftehen jcheint. 
Es find Thaten, die uriprünglicdy zum großen Theile die Formen 
des Naubes und der Plünderung annehmen!).” Der unmitte 
bare Zweck ift, den Feind irgendwo in feinem Beſitzthum zu 
vernichten, wie e8 3. B. (um 640) die aufrühreriichen Maſſen in 

1) Nah der Bemertung Sombart’8 (S. 33) über die Anfänge der 
modernen proletarifchen Bewegung, die genau jo auch auf unjere Epoche zutrifft. 


Die Anfänge ded Sozialidmus in Europa. 437 


Megara thaten, die ihren „Haß gegen die Reichen“ dadurch 
ättigten, daß fie über die Herden der großen Grundbejiter her⸗ 
nelen und fie abjchlachteten?!). 

Diejes Ereignis, welches für uns die Geſchichte der prole- 
tarifchen Bewegung in der hellenischen Welt einleitet, iſt geradezu 
typisch für die erften Formen proletarischer Bewegungen über: 
haupt. Es ift ein Kampf gegen die äußerlich wahrnehmbaren 
Dinge, in denen jich der Gegner gleichjam verkörpert: Wie der 
industrielle Broletarier der neueren Leit die Fabriken und 
Mafchinen zertriimmerte, weil er bei ihrem Aufkommen jah, 
daß fie den Handarbeitern Konfurren, machten, wie er ſich gegen 
die Wohnungen der Unternehmer wandte, die al® die Zwing— 
burgen der neuen ©ewalthaber erjchienen?), jo richtete ſich Die 
Ruth jener ländlichen Proletarier des alten Megara gegen die 
Schafzucht der reichen Grundbefiger, die gewiß ſchon damals 
sur Proletarifirung des Bauernitandes, zum „Legen“ von Bauern: 
böfen und zur Verwandlung des Aders in Weideland ebenjo 
beigetragen hat, wie in den Zagen des Thomas Morus, der die 
Schafe reißende Beftien nennt, welche Menjchen frejfen und das 
Land verwälten?). 

Ähnliche Erfcheinungen, wie in Megara, hat die joziale 
Revolution ohne Zweifel auch andermwärt® gezeitigt, wo die Ver: 
hältniffe ähnlich lagen. In ſolchen Epochen hochgehender innerer 
Gährung erhalten ja die verbrecherijchen Inſtinkte ohnehin freien 
Spielraum dadurch, daß hier die Hefe vom Volksboden empor: 
fommt, und daß dieje auf dem tiefiten Niveau ftehenden Elemente, 
die irgendwo Anjchluß juchen müſſen, ſich naturgemäß derjenigen 
Bartei oder Gruppe angliedern, die zur beitehenden Ordnung 
im jchroffften Gegenjage ſteht. Su jehen wir, wie in demjelben 


1) Arijtoteled, Pol. 8, 4, 5. 130da. 

2) Sombart ©. 34. 

2) Welche Bedeutung die Schafzudt in Megara gewann (ebenio, mie 
für Attika!), zeigt Theognis v. 183, ber Tempel der Schafe fpendenden 
Demeter (Paufanias 1, 44, 4) und die großartige Entwidlung der Tuch— 
manufafturen Megaras, die gewiß meit älter find, als der Bericht, den 
kenophon, Mem. 2, 7,6, davon gibt. 


438 Rt. Röhlmenn, 


Megara nicht jehr lange nach der erwähnten revolutionären 
Bewegung die kommuniſtiſche Begehrlichkeit des Pöbels die 
Ihlimmften Orgien feiert. Die Armen drangen in die Häuler 
der Befigenden ein, verlangten, daß man ihnen gute Mahlzeiten 
auftiiche, und wo man ihnen nicht willfahrte, brauchten fic mit 
der größten Frechheit Gewalt?!)! 

Die Ironie der Geichichte ahndet Hier an den Beſitzenden 
gerade das, worin ihr fittliches Verſchulden lag: die Überfchägung 
des irdiichen Gutes, das Übermaß des Strebens nach Verbeſſe— 
rung des materiellen Dajeind. Die Menge handelte ja im Grunde 
nur nad) der Moral, die ein Dichter der Zeit in die charafte 
riftiichen Worte gekleidet hat: „Exit ſuche dir Lebensunterhalt, 
die Tugend, wenn du bereit zu leben hajt?).“ Auch der Neid 
findet hier jeine Befriedigung, für den ein materialiftiicher Luxus 
der denfbar bejte Nährboden it. Denn da diefe Empfindung 
fi) gutentheil® nach dem Maße des Berftändnifjes richtet, das 
man von dem Genufje Anderer hat, jo find es eben die von 
der ungebildeten Mafje naturgemäß am beften veritandenen und 
gewürdigten grobfinnlichen Genüfje, an denen Neid und Slafjen 
haß ſich am heftigiten entzündet. Und in ihrer Aneignung, m 
Kommunismus des Genießens wird dann auch vor allem ber 
Triumph des Sieges gejudt. 

Natürlih prägt ſich dann in jenen Ausjchreitungen einer 
verwilderten Mafje neben dem Wunjch, ſich die Genüffe an ber 
Zebenstafel nicht länger verfümmern zu laffen, auch der inſtinktive 
Trieb zum Theilen und Gleichmachen aus. Aber ob die hier 


1) Plutarch, Moral. 295 cd.: Meyageis..., nollıv xara Ilhatuna 
xai iengaror avrois Ehe Fegiar TWr Önuazıryaw olvoyoortıtav, baydagsrte 
zavyzınacı ta Talha Tois Äovsioıs A0Eh,@s NI00EFELOVTO xai TapırE; 
Eis Tas oixias avıav oil Neri;tes 1,5louv Eotiaodaı xai Ösınveiv nokvreios' 
Ei ÖE ui, Tiygaroıer noos Biar xal us vAgews EXoanto acer. Denn 
E. Meyer, a. a. O., dieje Vorgänge dahin verfteht, al® habe der Demos Zu 
lafiung zu den Gaſtmählern der Udelichen, d. h. zu den gemeinfamen Mahl⸗ 
zeiten der regierenden Bürger, verlangt, jo fehlt für eine ſolche Erklärung 
jeder Anhaltspuntt. Auch verfennt jie den im Text entwidelten Charalier 
der Bewegung. 

2) Photylides fr. 10: JızaFaı Bıoriv, agsımr 8, dtar 7, Bios 1b. 


Die Anfänge des Sozialismus in Europa. 439 


zweifelhaft vorhandenen fommunijtiichen Anſätze zu voller Ent- 
lung gekommen find, ob und inwieweit man hier |chon dazu 
tgeichritten ift, an Stelle der unmittelbar fichtbaren Dinge 
“ dahinter liegenden Rechts ordnungen zu befämpfen, auf denen 
beſtehende Gütervertheilung beruhte, das erfahren wir nicht. 

Uno bedeutjamer iſt es, daß uns ein ſolches pojitives 
:ogramım gejellichaftlicher Umgeitaltung fait gleichzeitig in der 
rarstevolutionären Bewegung des benachbarten Attifa begegnet. 
er traten damals unter den Arbeitern des Grund und Bodens, 
ter den überjchuldeten Barzellenbejigern und Pächtern, Theil. 
uern, Tagelöhnern, Knechten u. |. w. Gedanken des Umſturzes 
Tage, die jelbit einem jo radikalen Suzialreformer, wie Solon, 
3 überjchwenglid) und thöricht, als Ausfluß räuberiicher Gier 
chienen)). Dieje Gedrüdten und Beladenen der Gelellichaft 
‚ten nicht bloß die Schlachten der Bourgeoifie und der klein⸗ 
rgerlichen Demokratie jchlagen. Denn die Gleichheit und die 
eiheit, die dieje meinten, konnte ihre materielle Noth nicht bes 
tigen. Auch jie haben bereits gewußt, was Wähler von 
89 in den doleances der cahiers ihren Bertrauengmännern 
Sipradhen:: daB die Stimme der Freiheit dem Herzen eines 
enden, der vor Hunger jtirbt, nichts verfündet. Sie wollten, 
B mit den neuen Ideen jtaatöbürgerlicher Freiheit und Gleich. 
t auch auf dem Gebiete des Güterlebens ernſt gemacht werde, 
B die formale Freiheit und die Gleichheit vor dem Geſetz ge 
igert werde zur materiellen Gleichheit und fozialen Unabhängig- 
t. Und jo verlangten fie — wie Solon uns mittheilt — die 
eiche Betheiliaung Aller am Grund und Boden des 
ıterlandes?). „Das Land der Maſſe“ — dieje Forderung tritt 
5 bier zum erften Mal als die Parole der Enterbten entgegen. 

Ein Princip von ungeheurer Tragweite! Es bedeutete eine 
ige Ummälzung des Verhältniſſes zwiſchen Arbeit und Kapital 
joweit dies Kapital mit dem Grund und Boden verbunden 
r — zu gunften der Arbeit! Wenn Alle denfelben Antheil an 


1) Siehe Ariſtoteles Adv. rroA. 12, 3. 
V Eiehe ebenda: ... ueigas YIovos Rargidos xaxoicıv sodkous iTo- 
oiav Eye. 


440) NR. Pöhlmann, 


dem wichtigſten Produftiongmittel erhalten, wird der Antheil an dem 
Gejammtertrag der Volfswirthichaft, der auf die Arbeit fällt, und 
der unter den bisherigen Verhältniffen immer fleiner zu werden 
drohte, mit einem Schlage gewaltig vermehrt. Hatte die hie 
herige Entwidlung vielfach zum Untergang der ökonomiſchen 
Selbitändigfeit der landbauenden Klaſſe geführt, indem fie den 
Bauern von feinen Produftiongmitteln trennte und in einen be 
jiglofen Proletarier verwandelte, fo jollten jegt die Produftion« 
mittel, joweit fie zum Monopol von Grokgrundbefigern und 
Kapitaliften geworden waren, wieder in das Eigenthum des 
arbeitenden Volkes zurückkehren. Die Arbeit jollte das Joch des 
Kapitaliamus abſchütteln, und das Grundeigenthum aufhören, als 
Mittel fozialer Übermacht und ökonomiſcher Ausbeutung zu dienen. 
Was der adeliche Poet als eine Thorheit verabjcheut?), davon 
will auch der revolutionäre TFeldarbeiter nicht3 mehr wiſſen: Er 
will nicht mehr auf fremdem Grund und Boden für Andere fih 
mühen. Dem freien, auf eigener Scholle gejeflenen Mann ſollen 
die Früchte feiner Arbeit ungejchmälert zufallen. Ja, man kann 
jagen: Die perjönliche Arbeit wird geradezu zum enticheidenden 
Faktor der Produktion und der PVertheilung des Produktions: 
ertrages, jowie zur VBorbedingung der Theilnahme am Verzehr 
gemacht. Denn da der Bodenantheil, der bei der Auftheilung an 
den Einzelnen gefallen wäre, naturgemäß ein bejchränfter war und 
das Maß einer bäuerlichen Wirthſchaft nicht Üüberjchritt, fo hätte ſich 
der Forderung, die ſchon Hefiod an den Bruder richtete: „Arbeite, 
thörichter Perjes“ (Foyuleo vr, zrıe Ilego,) — Niemand mehr ent- 
ziehen fünnen. Die Klaffenunterjchiede verſchwinden. Auch der 
Edelmann muß ein Bauer werden und felbit zum Pfluge greifen?). 


N Bol. Theognis v. 581 f.: 
exFelom ÖE yıralza neoidgouov ardga TE udoyor, 
Os tv ahkoroirv Borker' ayaıgar agotr, 

2) Sehr richtig haben daher den Sinn der Forderungen diejed agrariichen 
Sozialismus Kaibel und Kießling gefennzeichnet, wenn ſie in ihrer Ber: 
deutfjhung der Adv. mod. die Erklärung Solon's über feine erfolgreiche 
Bekämpfung diejer Forderungen mit den Worten wiedergeben: — „Bu 
gleihen Theilen nicht darf der Edle, der Gemeine pflügen unjer fettes Land.” 


Die Anfänge des Sozialismus in Europa. 441 


o wird — modern gejprochen — der Reichthum einzelner und 
» Wohlhabenheit Weniger ſich in das Genughaben Aller ver- 
indeln. 


Welch ein Umjchwung jeit der Zeit, wo die Wöden von 
m Edelmann fangen, daß er „gleich einem Gotte im Volke ge 
rt ward“)! Es find Forderungen, die an die radifaliten 
edanfen der Bauernkriege oder vielmehr der modernen agrars 
staliftiichen Bewegungen erinnern ?). Die Schlagwörter, wie 
3. 3. in der Bewegung der Fasci unter den unglüdlichen 
yeilbauern Siciliend hHervorgetreten jind: „Wir wollen, daß, 
e wir arbeiten, Alle arbeiten, daB es feine Reichen und feine 
‚men geben joll, daß Alle Brot für ſich und ihre Kinder haben. 
ir müfjen Alle gleich jein“, das iſt alles ganz ebenſo bereits 
n den armen Xheilpächtern und Zandarbeitern des 6. vorchriſt— 
hen Sahrhundert3 empfunden und ausgeiprochen worden. Aud) 
wollten, daß „Alle in Allem gleich“ jeien?),. Und wenn 
r jozialdemofratiiche Parteitag des Jahres 1894 den Sag auf— 
Üte: „Die Agrarfrage als nothwendiger Beitandtheil der jozialen 
‘age wird endgültig nur dann geldjt werden, wenn der Grund 
ıd Boden mit den Arbeitsmittel den Produzenten wiedergegeben 
, die heute als Lohnarbeiter oder Kleinbauern im Dienſte des 
ıpitald dag Land beitellen“, jo ift das nicht? anderes, ald was 
> — ung dur Solon’3 Elegie aufbewahrte — ſozialiſtiſche 
ormel ebenfalls in Ausſicht jtellt®). 


1) Peos @s Tiero Inu@, wie die jtereotype Formel bei Homer lautet. 

2) Vgl. z. B. die Drohung der Gejandten des fränkiſchen Haufens in 
imberg, dab im ganzen Yande kein Haus mehr bleiben folle, das bejjer 
‚ al8 ein Bauernhaus u. dgl. m. 

3) navranacıv ouakors Tois Bios ni toors. Plutarch, Solon c. 16. 

*%) Buſolt, Griech. Geſch. 2*, 255 verfennt die Tragweite der Bewegung, 
nn er meint, dad Verlangen der Landauftheilung habe weſentlich die Auf⸗ 
lung der Ertiuogros yn der großen Grundherrn an die extruogoı betroffen, 
Ihe diejelbe auf Theilbau bemwirthichafteten. Das ift in der Forderung 
tenthalten, erihöpft fie aber noch lange nicht. Das Richtige hat ſchon 
iftotele3 gejehen In». nod. 11,2: 0 uer yag ÖTuos wero navı’ avadacra 
oev avıov (sc. Tor Sosemwa) und Plutarch, Solon 13: rır yir ava- 
caodaı ai dAms yeraoınoas ınv» noinsiov. Bol. aud die obige 


442 NR. Pöhlmann, 


Nun ift ja allerdings das ökonomiſche Endziel der ganzen 
Bewegung nicht eigentlich) ein ſozialiſtiſches. Sie will ja nid 
an die Stelle der fapitaliftiichen eine jogialiftiiche Organiſation, 
eine Öemeinwirthichaft fegen. Vielmehr jollen die großen Wirth: 
\haftöformen, joweit fich jolche bereit3 herausgebildet hatten, der 
fapitaliftiiche Eigenbetrieb einerſeits und die gleichfalls kapitaliſtiſche 
Wirthſchaft mit den von Einem Wirthichaftscentrum abhängigen 
Theilbauern andrerjeit3 eine Rüdbildung in Fleinbürgerlicem 
oder vielmehr Fleinbäuerlichem Sinn erfahren. Die großen Güter 
jollen zu Bauernjtellen zerſchlagen und die Theilpächter unab- 
hängige Eigenthümer werden. Das Ziel ift aljo ein ähnliches, 
wie ed einem Babeuf und St. Juft!) vorjchwebte: eine Wirth— 
ihaftdordnung, die zwar auf dem Princip der ökonomiſchen Gleich 
heit, aber nicht auf dem &emeineigenthum an den Produftiond 
mitteln, am Grund und Boden beruht, die infofern aljo feine 
jozialiftifche, jondern eine fleinbürgerliche oder -bäuerliche und 
individualiftiiche it. Als das Ideal der ganzen Bewegung cr 
icheint die wirthichaftliche Gleichheit auf dem Boden des Privat: 
eigenthums. 

Die ökonomiſche Situation der Iandbauenden Stlafje war 
eben keineswegs eine ſolche, daß fid) daraus mit Nothwendigkeit 
eine fozialijtiiche Zielfegung, dag — auf dem Großbetrieb be 
ruhende — Gemeinjchaftsideal hätte ergeben müfjen. Im Gegen 
theil! wenn man von der — durch die aufblühende Gewebe 
induftrie begiinitigten — Schafzucht abfieht, beitand in der agrar- 
iichen Entwidlung an und für fich durchaus feine ftärfere Ten: 
denz zum großen Betrieb als zum fleinen. Der fchon damals 


Sußerung in c. 16. — Wilamowig (Arijtoteled und Athen 2, 47), der von 
der richtigen Auffafiung ausgeht, meint, unter den Demofraten, die von 
Solon eine neue Landvertheilung forderten, habe das Bewußtſein geherridt, 
daß der Privatbejig an Grund und Boden durh Okkupation von ager 
publicus entjtanden ijt. Sie hätten alfo ein wahres Privateigenthum am 
Boden von vornherein nicht anerfannt. — Ich lafie diefe Annahme dahir 
geitellt. Die Üiverlieferung gibt für fie feinen Anhaltspunkt. 

1) Bei St. Juſt übrigens nicht einmal die „ganze“ Gleichheit, jondern 
nur eine relative. 


Die Anfänge des Sozialismus in Europa. 448 


‚och entwicelte gartenmäßige Anbau und die Spatenfultur, über: 
yaupt die Vorherrſchaft der „individuellen“ Kulturen, bei denen 
rer Ertrag nah Qualität und Menge jo weſentlich von der 
$üte der geleilteten Arbeit abhängt und daher die menjchliche 
Arbeitskraft die Hauptrolle fpielt, war dem Slleinbetrieb überaus 
jünftig. Sind doch ſelbſt die großen Beſitzungen, joweit es ſich 
im dieſe Kulturen handelte, offenbar ſehr häufig in eine Reihe 
leinerer Betriebseinheiten zerlegt geblieben und in der Form des 
Theilbaues von Kleinen Wirthen bejtellt worden'. Wenn aber 
te Vergeſellſchaftung der Produktion nicht nothwendig zu einem 
‚öheren, d. h. leiſtungsfähigeren Wirthſchaftsſyſtem führte, viel- 
ehr die fleinbetriebliche Korm unter Umſtänden eine höhere Bes 
entung hatte, leiltungsfähiger war, als die großbetriebliche, wenn 
oir felbjt heutzutage noch nicht mit Beitimmtheit jagen fönnen, 
velches die Entwicklungstendenz im Agrarweſen it, noch aud) 
velhe Betrichsform und ob überhaupt eine bejtimmte in der 
grariichen Produktion die überlegene ift?), — was hätte da den 
hnehin von Natur „antifollektiviftiichen“ Bauer veranlafien 
ollen, von der jeinen inneriten Neigungen allein entjprechenden 
ndividualiftiichen Betriebsweiſe abzugeben ? 

Fit doch jelbit die modernite jozialdemofratiiche Bewegung 
n diejer Hinficht nicht Über ihre Vorgänger im 6. Jahrhundert 
. Chr. Hinausgefommen! Noch im Jahre 1893 begegnen wir im 
‚VBorwärts” der Erflärung, daß die Vortheile des Großbetriebes 
n der Landwirthſchaft problematijc) ſeien, daß die Kooperation 
1er Arbeiter das Arbeitsproduft des Einzelnen nicht erhöhe und 
jaher der gemeinichaftlicye Betrieb nicht im Wejen der Land» 
virthjchaft begründet jei. Demgemäß ericheint es auch dem Vor— 
värts jelbitverftändlich, daß der ZYandarbeiter feinen Drang nad) 
ozialiftiicher Produftionsweije verjpürt, jondern ein Stück Land 
u individueller Broduftion haben will. „Dem Sozialismus des 
ndujtriellen entjpricht der Landhunger des ländlichen Arbeiterg, 


1) Siehe Pollux 7, 151: zrtinooros BE yr naga Zokamı 1, Eni ueges 
EVEYOVUET, Xal HUETI, To UE00S TO ano Taw yewpyov. Ter Stand der 
ttifhen äxeruoooı muß offenbar fehr zahlreich geweſen jein. 

2) Wie Sombart ©. 112 mit Redt bemerft. 


441 N. Pöhlmenn, 


und wenn er die Macht hätte, jo würde er nicht eine ſozialiſtiſche 
Produftionsmweije einführen, fondern die Güter der großen Grund 
befiger theilen;“") — genau fo, wie es jchon das ländlice 
Proletariat des alten Hellas erjtrebt hat. 


Wenn nun aber felbjt in der modernen Sozialdemokratie 
eine „Lleinbürgerliche Strömung“ ?) vorhanden ijt, die troß ihres 
Sozialismus nicht für die Vergejellichaftung der Tandwirthicaft: 
lihen PBroduftion eintritt, und wenn es ſelbſt nach dem Auge 
jtändnis von Engels und anderen Vertretern derjelben Richtung 
noc) keineswegs ficher ift, ob „die moderne Arbeiterflafje willen 
fein wird, mit den „Eleinbürgerlich ſozialiſtiſchen“ Anfchauungen 
diejer „Bauernverewiger“ aufzuräumen, warum jollten wir da 
der Bewegung der attiichen Feldarbeiter wegen ihrer Eleinbürger- 
lichen Ziele alle fommunijtifche und fozialiftifche Tendenz ab- 
\prechen ? 


Gibt ihr nicht ſchon das Berlangen nach Gleichheit der 
Lebensbedingungen, die Idee der Gleichwerthigfeit Aller und der 
duraus geichöpfte Anjprud) auf ein bonheur commun in ge 
wiljem Sinne eine fommuniftiihe Färbung? Und gleicht nicht 
auch dieſer attiihe Zufunftsjtaat, in welchem Sedermann eine 
Heimftätte und das wichtigjte Produftiongmittel für den notb- 
wendigen Lebensbedarf zu Theil werden fol, einen großen Galı- 
baus, in dem für jeden ein augreichendes Gedeck bereititeht? 
Iſt endlich nicht der Weg, der zum Ziele führen jollte: die Über: 
führung des Grund und Bodens in das gejellichaftliche Eigen: 


1) Wie bezeichnend iſt die Zweideutigkeit in dem Progranım der 
fozialiftiihen Theilbauern und Feldarbeiter de8 modernen Staliens, welches 
an Stelle des „Eigenthums der Padroni und Reichen” das „aller Arbeiter“ 
proffamirt! La propriet& — lad ih im Frühjahr 1897 auf einem jozia- 
liftiihen Maneranihlag an dem ehrwürdigen Broletto in Brescia — la 
proprieta dei mezzi di lavoro, la terra etc. deve essere tolta alla 
piccola classe dei padroni e dei ricchi e divenire proprieta della 
nuzione e cioe proprietä di tutti i lavoratori. 


2) Nach der Äußerung eines fozialdemokratiihen Autor, Calwer (Ein- 
führung in den Sozialismus VII), der aljo aud in diefer Richtung ein 
jozialijtiicheg Element anerkennt. 


Die Anfänge des Sozialismus in Europa. 445 


thum ausgejprochen fozialiftiich, wenn dies auch nur als eins 
maliger Aft gedacht war, und der Mafje das klare Bewußtjein 
ichlte, daß man, um die Gleichheit aufrecht zu erhalten, immer 
wieder von neuem zu einer gejellichaftlichen Regelung der Beſitz⸗ 
und Einfommensverhältniffc gedrängt worden wäre? 

Wenn wir — aus eben Ddiefen Gründen — ſchon das 
Programm der jpartaniihen Bodenreformer als ein ſozialiſtiſches 
bezeichnen mußten, wieviel mehr noch iſt dies der Fall bei dem 
der attiichen LZandarbeiter! In Sparta jollte das fapitaliftilche 
Wirthichaftsigftem, ſoweit es fi) um das Berhältnis zwiſchen 
Kapital und Arbeit handelte, überhaupt nicht angetaftet werden. 
Die wirthichaftlihe Exiſtenz der herrichenden Klaſſe ſollte nach 
wie vor auf dem arbeitslojen Renteneintommen beruhen, das fie 
von der arbeitenden Klaſſe bezog. Nur diejes Renteneinkommen 
wollten die ſpartaniſchen Reformer gejellichajtlich regulirt willen. 
In Attila dagegen Handelt es fich gerade recht cigentli um 
einen Kampf gegen da3 fapitaliftiiche Syſtem als ſolches und 
gegen den müßigen NRentengenuß, um eine gerechtere Vertheilung 
des Arbeitsertrages, um Die Begründung eine® auch das 
arbeitende Volk!) mitumfafjenden Reiches der Freiheit, Gleich. 
heit und Brüderlichkeit?). Und jollte der Glaube an die Mögs 
lichfeit einer jo radifalen Ausgleichung der fozialen Gegenjäge 
nicht allein jchon genügen, um dei attijchen Revolutionär diejer 
Zeit als Sozialiften zu bezeichnen ? 

Wie ernſtlich durch Diele agrarrevolutionäre Bewegung der 
ganze Beitand der Gejellichaft bedroht war?), zeigt die Über. 
tragung der Diktatur auf den Dann, der den Beruf in fi 
fühlte, „Gewalt und Recht verbindend“*) die ſoziale Krifis zu 
Löjen, jowie die enormen Opfer, welche Solon's Reformwerk, 


) Natürlid nur mit Beſchränkung auf die Staatdangehörigen, aljo 
unter Ausſchluß von Beifafien und Sklaven. 

2) Das überfieht Plutarch, wenn er (Solon c. 16) die attifche Forderung 
des yis aradacuos mit der „Iyfurgiihen“ Landaujtheilung vergleidt. 

®), Das beweilt auch die Äußerung Solon’8: 500: ds usizovs xai Bior 
ausivoves aivroiev av ue xai Yikov noswiaro. Ariitoteles, AObnV. od. 12,5. 

9) öuov Binv Te xai Öl ovrapuoaas. Fr. 86. 


446 R. Pöhlmann, 


die ſog. „Abwälzung der Laſten“, der bejigenden Klaſſe au’ 
erlegte: die Aufhebung aller LXeibeigenjchaft, ver Rüdkauf der in 
die Fremde verfauften Schuldner aus öffentlichen Mitteln, die 
radifale Kaſſirung aller Hypothefariichen und auf Verpfändung 
der Perſon beruhenden Scyulden?); eine Reform, die nach ber 
Anficht des Arijtoteles vielfach geradezu die Verarmung der 
Gläubiger zur Folge hatte?), und die man nicht mit Unredt 
in gewilfen Sinne eine Neuvertheilung des Eigenthums ge 
nannt hat?). 

Und damit ift nicht einmal alles erfchöpft, was Solon für 
die unteren Klaſſen gethan hat! Wir willen z. B., daß fein 
Gejeßgebung ſich auch mit der Lage der armen XTheilbauern 
beichäftigte*); und es kann nicht zweifelhaft fein, daß ihnen die 
ſoloniſche Sozialreform mancherlei befondere Erleichterungen ge 
bracht hat’). Von welcher Tragweite ift endlich das principielle 
Zugeltändnis, welches der Geſetzgeber der antifapitalijtiichen 
Zeitſtrömung machte: die Aufſtellung eines Marimums für den 
Erwerb von Grund und Boden !*®) 


) Alſo eine weit radifalere Maßregel, als die kurz vorher in Megara 
duichgefegte, mo die Släubiger nur die von den Sculönern empfangenen 
Binjen wieder zurüdzahlen mußten. (madırroxia) Plutarch, Moral. p. 2% c. 

2) Adnv. ol. 18, 8. 

») Siehe 1, 422 der G. d. a. K. u. ©. 

9 Bgl. Pollux 7, 151. 

5, Auch F. Cauer, a. a. O. ©. 69, und Buſolt, Griech. Geſch. 22, 22 
halten dies für wahrſcheinlich. 

e) Ariſtoteles, Bol. 2,4,4. 1266b: duorı ur ovv ν Öirauw. 
sis ınv nokırımv xowoviav 7) rijs ovolas önalorns al tar nalaı tivi; 
galvoyras Öıeysumures olov al Zohow bvouodernosev‘ xal nap' akloıs 
doti vouos, 05 xwArzsı xraodas yiv Donv av Bovimai rıs. — Es iſt bezeidı: 
nend für die Geſchichtsauffaſſung des atomiftiihen und einjeitig fapitaliftifchen 
Liberalismus, daß Grote (2, 106 D. U.) ſich nicht entichließen konnte, zu. 
zugeitehen, daß dieſe Stelle den fonjt allgemein angenommenen Sinn bat, 
obwohl er ſelbſt eine andere Deutung nicht geben fann. Sein Wunder, daß 
Grote vollends die Forderung des yis aradaouos al® „ganz und gar uns 
glaublich“ erklärt, für die ihm allerdingd nur Plutarch (c. 16) al8 Zeuge zu 
Gebote jtand, während wir jept Dank der An». moi. die von Grote vermißte 
Betätigung aus Solon’d eigenem Munde befigen. — Hier tritt uns der 





448 R. Vöhlmenn, 


über die Maßregel an fich und ihren Erfolg noch jo verichiedener 
Meinung ſein!). 

Nichts könnte auf die Mächtigkeit und Gefährlichkeit der 
damaligen ſozialrevolutionären Bewegung ein helleres Lit 
werfen, al3 die Energie, mit der bier die Staatögewalt im 
Intereffe des jozialen Friedens an das Vertheilungsproblem 
berantrat und den Kampf gegen das Joch eines ftaat3feindlichen 
Kapitalismus ihrerjeits aufnahm. Zugleich ift es ein Beweis 
für die Ausdehnung jener Bewegung, daß man fich nicht blop 
in Attifa, jondern, wie unjer Gewährsmann hinzufügt?), aud 
in anderen Staaten zu ähnlichen ftaatsfozialiftiihen Maßregeln 
gedrängt ſah und die VBermögensanhäufung ebenfalls durd 
gejegliche Verbote zu bejchränfen juchte?). 

Wie bedeutſam iſt e8 endlich, daß ſelbſt dieje tiefeingreifenden 
Reformen der jozialen Gährung nicht völlig Herr zu werden 
vermochten. Wenn troß der folonischen Laftenabjchüttlung ein 
Theil der attifchen Bevölferung in proletarıfche Zuftände ver 
Junfen blieb‘) und nur noch von dem gewaltjamen Umſturz, 








1) In diefer Frage empfinden wir die unglaublihe Dürftigkeit der 
Überlieferung bejonder8 ſchmerzlich. Wir wifjen weder, welches die zulälfige 
Größe des Grundeigentfumsd war, noch aud, wie das Marimum gegenüber 
den bejtehenden Eigenthumsverhältniſſen zur Geltung gebracht wurde, ob 
3. B. alles, was der Einzelne mehr beſaß, expropriirt wurde oder verkauft 
werden mußte, und was dal. Fragen mehr find. 

3) Siche Ariftoteled, a. a. O. 

3) Für die Idee, die diefen Beichränfungen zu Grunde lag, iit auch 
Die Äußerung harakteriftifch, welche Thales in den Mund gelegt wird, daß 
die Demokratie die befte jei, welche weder zu reiche, nod) zu arme Bürger habe. 

+) Dies mag nur Scylußfolgerung des Ariſtoteles und nicht direlt 
überliefert fein. Aber es entipricht jedenfall der geſchichtlichen Wahrheit 
mehr, als die Anjiht E. Meyer's (Gefch. d. Alterth. 2, 663), daß Solon „die 
foziale Noth definitiv gehoben“ habe. Eine Anſicht, mit der übrigens dad, 
was Meyer über die Sozialpolitit des Piſiſtratos (S. 773) bemertt, feines 
wegs übereinftimmt. — Nah Ariftoteles AInv. od. 13, 5 ſchließen fid) on 
Piſiſtratos an 08 Te agrorueros Ta yoca dıa Tı,v anopiav. Vgl. dazu 
Solon's eigene Uußerungen über die Unzufriedenheit der Raditalen mit feinem 
Neformwert und ihre Neigung zum gewaltfamen Unijturz. Ehbenda c. 12 — 
Befonderd unter der armen Bergbevölterung der Dialrie, auf die fid 





450 R. Föhlmann, 


die neue Monardyie kaum denfen. Mit ihrer auf die Befriedigung 
der großen Mehrheit des Volkes berechneten Politif hätte es jid 
jchleht vertragen, wenn jie ſich zum Urgan einjeitig Eleinbäuer- 
liher und proletarischer Ideale gemacht hätte. Und noch weniger 
wäre ein folcher bäuerlicher Radikalismus vereinbar geweſen mit 
den materiellen und ideellen Sulturbeitrebungen der Tyrannis, 
mit ihrer umjaljenden Fürſorge für die induftrielle und fommer: 
zielle Entwidlung, mit ihrer großartigen Pflege der Sunit, 
beionders der Baufunft, alles Dinge, für welche in dem Zufunfte: 
jtaat der ertrem agrarischen Volfepartei ſchwerlich ein Platz mar. 
Aber die Tyrannis hatte doch vielfach die Mittel, wenigitend 
einen Theil des radifalen Programms zu verwirklichen. Man 
mag die Fähigkeit des Staates zur Leitung der im jozialen 
Leben wirkſamen Kräfte noch jo niedrig veranjchlagen, jo vie 
iteht feit, daß die Macht des Staated gerade auf agrariſchem 
Gebiete eine große ift. Und dieſe Macht war ja eben damals 
durch das Emporfommen der neuen Monarchie weientlich gejteigert. 
Bon ihren Gegnern — den Vertretern des ariitofratijchen Grund— 
bejige8 — waren die einen im Kampfe gefallen, andere hatten 
fi) aus dem Lande geflüchtet oder waren in's Exil getrieben 
worden. Umfangreiche, der Konfisfation verjallene Ländereien 
Itanden der Staatsgewalt zur Verfügung. Sie hatte die Mög: 
lichkeit, zahlreiche Theilpächter zu freien Eigenthümern zu madyen 
oder durch Aujtheilung großer Güter neue Bauernſtellen zu 
ihaffen. Es iſt undenkbar, daß die Tyrannis, die doc jonit 
als eine eifrige Förderin des Bauernſtandes befannt ift, dieie 
Möglichkeit nicht ausgenügt haben follte, dem Lande den jozialen 
Frieden zu geben!), zumal eine joldhe Anderung in der Güter 
vertheilung zugleich die Grundlagen der gejelfchaftlichen Macht 
1) Auch F. Cauer, a. a. O. S.95, und Bufolt, Griech. eich. 2, 32 
find diefer Anſicht. E. Meyer, Geſch. d. Alterth. 2, 773 nimmt als jicer 
wenigiten® an, daß Piſiſtratos der ärmeren Bevölkerung bradjliegende Grund 
ftüde überwies und ihnen die nöthigen Gelder für die erite Einrichtung gab. 
Fa Hinjichtlid) Korinths hält auch er es für wahrjcheinlich, daß der Tyrann 
Kypſelos die Güter der Bacdjiaden zu Landanweiſungen für die ärmele 
Bevölkerung und die aus der Hörigkeit befreite Bauernſchaft benützt habe. 





Decimns Clodins Albiuus. 
Bon 
Otto Hirſchfeſd. 





Der Mann, dem dieje Unterſuchung gewidmet ijt, fann als 
biftoriiche Perfönlichkeit nur eine geringe Bedeutung in Anſpruch 
nehmen. D. Clodius Albinus ift einer von den im 3. Jahr 
hundert zahlreichen Generalen, die, von ihren Xruppen ala 
Kaiſer proflamirt, nur in einem verhältnismäßig Eleinen Theile 
bes römiſchen Neiches anerfannt und durch die überfegene Macht 
des vom Senat beftätigten Herrſchers binnen furzem befiegt und 
beieitigt worden find. Xrogdem jcheint mir dieſe Epijode der 
MWeltgeichichte einer erneuten Betrachtung nicht unmerth, da fie 
das Vorſpiel zu den gleichfalls auf dem Boden Galliens fid 
abjpielenden Prätendentenfämpfen bildet und auch in den neueften 
Darftellungen jener Zeit eine weder einwandsfreie, nod er 
ſchöpfende Darftellung erfahren Hat. 

Die Lage des römiichen Weltreiches bot nad) dem Tode 
des Commodus fast dasselbe Bild, als nach dem über ein Jahr 
hundert früher erfolgten Sturze Nero’. Die Vergebung de 
Thrones, der durch das Aussterben einer durch Generationen 
künſtlich fortgepflanzten Dynaſtie erledigt war, ftand nicht bei 
dem machtlofen Senat, jondern bei den Soldaten: wie in dei 
Sahren 68 und 69 die Truppen in Spanien im Verein mit dem 
gallifchen Landfturm, dann die Prätorianer in Rom, darauf bie 
‘germanischen und ſchließlich die orientalifchen Legionen ihren 


O. Hirſchfeld, Decimus Clodius Albinus. 458 


tandidaten die Krone auf das Haupt gedrüdt haben, jo haben 
ah der Ermordung des Commodus, nur in etwas anderer 
solge und Gruppirung, zuerjt die Prätorianer, dann gleichzeitig 
as illyrifchegermanische, das britanniiche und das fyrifche Heer 
re Generale auf den Schild erhoben. Nur infofern Hatten fich 
ie Anichauungen geändert, als die italifche Abkunft nicht mehr 
othwendig erjchien, um die Herrichaft über Rom und die Welt 
u erlangen: nachdem Spanien bereit® zwei Kaifer und gerade 
ie bedeutenditen hervorgebracht hatte, konnte auch das faſt nicht 
iinder romanifirte Afrika den gleichen Anspruch erheben. So— 
‚ohl Septimius Severus als Clodius Albinus waren Afrikaner, 
yährend Pescennius Niger einer bejcheidenen italifchen Familie 
er Seburtsftadt Juvenal's, Aquinum, entſtammte. Daß die 
Biege des Severus in dem afrifaniichen Leptis gejtanden hat, 
t fiher; an der allerding® nur durch die Biographie des 
({binus, die unter dem Namen des Julius Capitolinus gebt, 
erbürgten Nachricht, Albinus jei in Hadrumetum geboren, hat 
ıan Dagegen neuerdings Zweifel erhoben. Es iſt eingewandt 
yorden, daß Div dann nicht unterlaffen haben würde, die Lands⸗ 
annichaft de Severus und Albinus zu betonen, jerner, daß 
erodian die vornehme fenatorische Abkunft des Albinus im 
jegenjag zu Der niederen des Severus wiederholt hervorhebe 
nd jchließlih, daß die in die Biographie des Niger eingelegten 
yelphiichen Orakelſprüche Severus, und zwar ausdrücklich im 
jegenfag zu den beiden anderen Mitlaifern, als Afer und 
vena urbe profectus bezeichnen)). Die Berechtigung dieſer 
inwände würde man, jo gering auch die Autorität Herodian’s 
nd noch mehr der ſpät und jchlecht erfundenen Orakelſprüche 
t, zugeben müſſen, wenn ung Dio im Original und nit nur 
ı dem furzen Auszuge des Ziphilinus erhalten und wenn für 
ie afrikanische Herkunft des Albinus feine Biographie der einzige 
euge wäre. Aber einerjeit3 enthält auch die, abgejehen von 
nigen }päten Zuſätzen, zuverläjjige und faft ganz auf Marius 
Rarimus zurücdgehende Biographie des Severus die m. WE. 


ı) Deiiau im Hermes 24, 353 fi. 


454 <. Htrichfeld, 


unverdächtige!) Angabe, daß Clodius Celſinus, ein Verwandter 
des Albinus, aus Hadrumetum war, andrerjeit3 fällt ent 
icheidend in’ Gewicht eine von Albinus al® Cäſar geprägte 
Goldmünze und ein Medaillon mit der Aufſchrift Saeculo 
frugifero und der Darftellung eines zwijchen zwei Sphinxen auf 
einem Throne figenden bärtigen Gottes in orientaliſcher Kleidung, 
mit der Tiara auf dem Haupte, die Rechte erhoben, in der linfen 
zwei Ühren baltend. Denn diejelbe Gottheit findet fich, wie 
Froehner erfannt hat, in gleicher Haltung und mit denjelben 
Attributen auf einer Bronzemünze von Hadrumetum, eine Dar: 
jtellung, die TSroehner gewiß mit Recht für den in Afrika nad 
Ausweis der Inſchriften als deus frugum und deus sanctus 
frugifer verehrten Saturnus erklärt, der natürlich in der ihres 
Getreidereihthums wegen mit dem Beinamen frugifera belegten 
Kolonie Hadrumetum bejondere Verchrung genoß?). 


Wenn demnad) diefe Angabe der Biographie des Albinue 
ji) ausnahmsmeife als aus guter Quelle gefloffen ermweiit, ſo 
wird man die in derjelben befindliche Nachricht (c. 4): originen 
trazd a Bomanıs familis Postumiorum et Albinorum el 
Ceioniorum mit umjo größerem Mißtrauen anjehen, obſchon 
der Biograph fogar als Namen des Vaters des Albinus: 
Ceionius Poſtumus (ald Mutter nennt er Aurelia Mefjalina, war 
vielleicht auf guter Überlieferung beruhen mag) und einen nicht 
minder als diejen unbefannten Ceionius Poftumianus als Ver 
wandten desfelben bezeichnet. Schon die verblüffende Unfenntni 
des Verfaſſers betreffs des Unterſchiedes zwiſchen Cognomina 


ı) Anders urtheilt Mommſen im Hermes 25, 275; übrigens find 
Senatoren dieſes Namens auch ſchon in vordiocletianifcher Zeit bezeugt, vol. 
Prosopographia imperii Romani 1, 415. 

») Froehner, Les medaillons de l’empire Romain (Paris 1878) 
S. 150 ff., dem v. Sallet in der Zeitichrift für Numismatit 10 (1883), 167 
beiftimmt; die Münze von Hadrumetum iſt abgebildet bei Müller, Numi- 
matique de l’ancienne Afrique 2, 52 n. 29. Bereits XLenormant, Bevw 
numismatique 1842 ©. W fi. hatte die Münze des Albinug auf den phöni: 
fiihen Baal bezogen, aber nicht die Darjtellung auf der Münze von Hadru⸗ 
metum herangezogen. 





456 O. Hirfchield, 


Anichein nach das Kompliment nit an den Konjul und Stadt 
präjeften im Jahre 335 Leionius Rufius Albinus, fondern an 
den Präfeften von Rom in den Jahren 365 und 373 ©. Ceio 
nius Rufius Albinus Bolufianus, und die Anknüpfung de 
Albinus an die Familie der Ceionii Albini wird daher erft der 
zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts ihre Entſtehung verdanten'). 
Mag aljo Albinus auch, wie Dio verfichert, einer vornehmeren 
Familie als fein Nebenbuhler Severus angehört haben, }o ver 
dient Doch weder dieje Angabe, noch die wohl nur aus dem 
Cognomen de3 Vaters, Poftumus, herausgejponnene angebliche 
Verwandtichaft mit den Poftumit irgend welchen Glauben, da 
auch jie ſich allein auf das Zeugnis jeiner Biographie jtükt. 
Dieje ift aber, obichon fie von Tillemont bi8 auf Ranke als 
glaubwürdige Duelle Verwertung gefunden hat, faſt durchweg, 
wie jegt alle Kundigen willen, aus Zügen zufammengeitoppelt, 
die zum größten Theile wohl auf den elendejten aller Kaiſer 
biographen, auf Junius oder Aelius Cordus?) zurüdgehen. Denn 
Marius Marimus, aus dem die beiten der älteren Biographien, 
insbefondere auch der größte Theil der Severus- Biographie 
gefchöpft ift, Hat e8 verjchmäht, den Prätendenten eigene Dar: 
jtellungen zu widmen, jondern, wie den Avidius Caſſius in der 
Biographie des Marcus, jo Albinus und Niger in der des 
Severus abgehandelt?). Aus diejer find dann die Angaben über 
die beiden Prätendenten in jo lüderlicher Weiſe ausgezogen 
worden, daß Nachrichten, die ſich auf einen derjelben bezogen, 
entweder auf Beide übertragen oder der faljchen Perjon zugetheilt 

ı) Gar fein Gewicht befitt natürlich der gefälihte Brief des Marcus 
(vita Albini 10, 6): Albino er familia Ceioniorum, Afro homina, aber 
ebenjowenig der nicht minder gefälfchte de Ceverus (vita Albini 12,7): 
fingentem, quod de Ceioniorum stemmate sanguinem duceret. 

” Als Quelle wird Cordus in der Biographie ded Albinus an drei 
Stellen citirt (5, 10: quae qui volet nosse, Helium Cordum legat, qui frivola 
super huiusmodi ominibus cuncta persequitur; 7, 2; 11, 2). An der 
Eriftenz diejes Schriftiteller® zu zweifeln, wie Mommfen im Hermes 25, 2711. 
tyut, liegt m. E. fein Grund vor. 

°®) Vita Firmi 1,1: Marius Maximus Avidium Marci temporibus, 
Albinum et Nigrum Severi nun suis proprüs, sed alienis libris innezuil. 


Decimus Clodius Albinus. 457 


worden find!), Denn wie foll man e8 anders erflären, daß ein 
Pescennius Princus (wohl Primus oder Priscus zu leſen) als 
Sohn des Clodius Albinus genannt wird, und ebendahin gehört 
die Doppelbeziehung der dem Severus nur betreffs des Albinus 
ertheilten Vorausſagung der pannonilchen Beichendeuter: se 
victorem fulurum, adversarium vero nec in potestatem ventu- 
rum neque evasurum, sed iuxta aquam esse periturum?). Ja 
auch die Angabe, daß das Haupt des Albinus nah Rom gejandt 
worden fei, ift irrig von dem Biographen des Niger auf dieſen 
übertragen worden, während es nad) Dio's Zeugnis von Severus 
vor Byzanz, um die Belagerten von längerem Widerjtand ab- 
zuichreden, aufgepfählt worden ift?). 

Über die Verjönlichfeit des Albinus lauten die Urtheile im 
ganzen ungünjtig. Sein Gegner Severus hat in jeiner Auto— 
biographie natürlich ein nichts weniger als jchmeichelhaftes Bild 
von ihm entworfen und ihm alle erdenklichen Charafterfehler an 
geheftett); Cordus, der zwar die ihm von Severus vorgeworfene 


1) Die Biographien des Niger und Albinus werden zwar in der Hand⸗ 
ſchrift die erjtere dem Spartianus, die zweite dem Capitolinus beigelegt, find 
aber in der Made fo ähnlich, daß fie wohl demfelben Verfaſſer zuzujchreiben 
find. Darauf weiſen aud die Worte in der vita Nigri 9, 3 hin: sequitur 
nunc, ut de Clodiv Albino dicam, qui quasi socius huius habetur.... de 
quo ipso neque satis clara extant, qua eadem fortuna illius ſuit quae 
Pescennü und vita Albini 1, 4: sortem sllam, qua Severum laudatum in 
Pescennü vita dirimus (vgl. vita Nigri 8,1). Jedoch iſt in beiden der 
Schluß anfcheinend aus den Biographieen eined anderen Verfſaſſers angeflidt. 

2) Marius Marimus hatte die Prophezeiung nur auf Albinus bezogen, 
vgl. vita Albini 9,2: ut dicit Marius Maximus und unzweifelhaft aus 
ihm fchöpfte diejelbe der Verfafler der Biographie des Severus 10, 7, wo fie 
ausdrüdlih den von Severus auf dem Mari gegen Albinus bejragten 
pannoniihen Auguren zugeichrieben wird; dem entſpricht der Bericht über 
feinen Tod: vita Severi 11,6; vita Albini 9,3. Fälſchlich wird fie auf 
Niger bezogen in feiner Biographie 9, 5 (vgl. 5,8: apud Cyzicum circa 
paludem fugiens sauciatus et sic ad Serverum adductus atque statım 
mortuus); das Richtige über den Tod des Niger berichten Dio 74,8 und 
Hervdian 3, 4, 6 (daraus wohl Ammianus 26, 8, 15). 

”) Dio 74,8; vita Albini 6, 1. 

) Vita Albini c. 10: Severus...eum dicıt turpem, malitiosum, 
improbum, inhonestum, lururiosum; sed huec belli tempore vel post bellum, 
quando ei sam velut de hoste credi non poterat. 





458 I. Hirſchfeld, 


Trunkſucht in Abrede jtellt, führt dagegen draſtiſche Beiſpiele 
feiner Völlerei an ). SHerodian ftellt jeinem Charafter ein 
günftige® Leumundszeugnis aus?); ſtrenge militäriiche Haltung, 
die freilich zur Grauſamkeit ausgeartet fei, fchreibt ihm jein Bio 
graph zu, der gleichfalls jeine Unmäpßigfeit im Efjen und ge 
ſchlechtlicher Ausſchweifung ihm vorhält?); jeine Wünzbilder zeigen, 
befonder8 im Vergleich mit den ausdrudsvollen und ftrengen 
Severus: Typen, einen jchlaffen und gutmütigen Gefichtsaus 
drud*). Gefäljcht find die in die Biographie eingelegten Briefe de 
Kaijerd Marcus, die Albinus als vorzüglichen Offizier preijen?), 
ihm einen hervorragenden Antheil an der Unterdrädung des Auf 
itandes des Avidius Caſſius zufchrieben und als Belohnung das 
Conjulat durch den Kaiſer in Ausjicht ftellen laffen ). Hat 
Albinus in der That, wie auch fein Biograph behauptet, zu jener 
Zeit (im Jahre 175) in Bithynien geftanden?), jo fann er 
ſchwerlich mehr als Militärtribun geweſen jein, da er erft unter 
Commodus die Prätur bekleidet Hat?) und nad) dem unver 


ı) Vita Albini c. 11; jedody wird hinzugefügt: (Cordus) rin sam 
parcum fuisse dicit; quod Severus neyat, qui eum udserit ebrium etium 
ın bellu fuisse. 

2) Herodian 83, 5,2: yonatov zo nos elvas Aeyousror. 

5) Vita Albini c. 11. 

*) Ch der dem Clodius Albinud zugejchriebene Kopf im Vatikan (Ber 
noulli 2, 3 Taf. 8) ihm zugehöre, hält Bernoulli mit Recht für zweijeldeft, 
wenn aud daß frauje Haar ber Beichreibung feines Bivgraphen (c. 13: fur 
statura procerus, cupillo renodi et crispo, fronte luta, candore mirabili 
entfprede. Die fonftigen auf Albinus bezogenen Bildwerfe gehören ihm 
jiher nicht an, vgl. Bernoulli 2,3, ©. 19 ff. 

5) Auch der Biograph des Albinus c. 13 nennt ihn armorum sciens 
prorsus, jreilih mit dem wunderlichen Bufag: ut non male sui tempori 
Cutilina diceretur, wozu man vgl. vita Avidii Cassii 30, 4: nec defuerunl 
qui Ulum Catilinam vocarent. 

8, Vita Albini c. 10. 

7) Vita Albini 6,2. 

s Vita Albini 6, 7: dein praeturam egit sub Commodo famosisa- 
mam; nam eiusdem ludis Commodus et ın foro et in theatro pugna 
echibussse perhibetur. Die chronologiſche Anjepung der Prätur wird richtig 
jein, da ſie mit der jpäteren Karriere des ſchwerlich vor 150 n. Chr. geborenen 
Albinus übereinftimnt; die Angaben der Biographie über feine frühere Lauf- 





460 O. Hirſchfeld, 


Sproß ſeines zur Kaiſerwürde gelangten Großvaters und Vaters 
in dieſe Stellung berufen wurde. Von einer Adoption des Albinus 
wird zwar nichts berichtet; doch hat bereits Tillemont aus den 
von ihm auf Münzen und Inſchriften geführten Namen Septimius 
geſchloſſen, daß eine ſolche ſtattgefunden habe. Der von 
Edel!) dagegen erhobene Einwand, daß, wenn Albinus jenen 
Namen als Udoptivjohn des Severus erhalten hätte, er ihn ſicher⸗ 
lih nad) dem offenen Bruch mit demjelben abgelegt haben 
würde, ift m. E. nicht enticheidend, da Albinus wohl jeine 
Gründe haben fonnte, den Namen, der ihm als Cäfar verliehen 
war und in dem fich gewiſſermaßen die ihm auf die Thronfolge 
gewordene Zujage ausdrüdte, auch ald Augustus beizubehalten. 
Übrigens verdient hervorgehoben zu werden, daß der Name 
Septimius nicht nur auf einigen von ihm ala Cäſar gejchlagenen 
Münzen fehlt?), fondern auch auf folchen, die er als Auguſtus 
nad) dem Bruche mit Severus geprägt hat?), was auf die Ab 
werfung des ihm verhaßt geiwordenen Namens kurz vor der Kate: 
jtrophe gedeutet werden fünnte. Jedenfalls wäre es doc ein 
gar zu eigenthümlicher Zufall, wenn einerjeit3 Albinus den Ge 
ſchlechtsnamen des Severug als ererbten geführt haben und andrer: 
ſeits den Schriftftellern, die ihn nie mit demjelben nennen, von 
diejem Zuſammentreffen nichts befannt geworden jein follte. 
Die Cäjar-Würde, die der Kaiſer verleiht und dem Senat, 
wie e3 jcheint, nur zur Anzeige bringt‘), hat mit der Ernennung 
des 2. Nelius durch Hadrianus ihre feite Regelung für die |pätere 
Kailerzeit erhalten und auch die Stellung der Cäſaren im der 


1) Ebel, Doctr. numm. 7,166; aud) Klebs, a. a. DO. Hat jich bieler 
Anſicht angeſchloſſen. 

2) Cohen, Med. impér. Bd. 3, Albinus n. 56—59, doch findet ſich der 
Name Septimius bereits auf einer vor ſeinem zweiten Konſulat geſchlagenen 
Münze (Cohen n. 55). 

3) Cohen, a.a. O. n. 13. 40. 46. 51; auch auf dem ©. 465 Anm. 2 
erwähnten Goldftüd fehlt der Name Septimius. 

*% Herodian 2, 15, 5: 6 Seßüigos xai no0s nv aryaintov Ta avta 
avsveyswr ws av uahhor arTov Es Niortw inayayoıro. Der Berleiher der 
Würde iſt aber Severus: Tio 73, 15; Herodian %, 15,3; vgl. Mommſen, 
Staat3redht 2, 1140 Anm. 6. 





Decimus Clodius Albinus. 461 


Diocletianiſchen und der ſpäteren Zeit iſt nur eine Fortbildung 
derjelben!),. Sit auch, wie Mommſen ausgeführt hat“), mit dem 
Namen Cäſar feine magiftratische Befugniß verfnüpft und der 
Cäjar als jolder nur der dejignirte Nachfolger, nicht der Mit- 
regent, jo bat doch 2. Aelius die Statthalterfchaft in Pannonien 
als Cäſar mit außerordentlicher Gewalt geführt und ſowohl die 
tribunicifche ald® auch eine, allerdings dem Kaiſer fubordinirte 
profonjularifche Gewalt erhalten’). In ähnlicher Weiſe iſt allem 
Anjıheine nad) das Commando des Albinus in Britannien ge 
italtet und, wie ih aus der Partheinahme der Provinzen bei 
feinem Abfall von Severus fchliegen möchte, ihm ein Oberauf- 
jihtzrecht über Gallien und Spanien gegeben worden, während 
die Illyriſch-Pannoniſchen und die Germanifchen Truppen ohne 
Zweifel jeinem Commando nicht unterftelt worden find. Die 
tribunicijhe Gewalt dagegen hat Albinus ficherlich nicht erhalten; 
denn während dieje dem L. Aelius auf den Münzen ſtets beige« 
legt wird, erfcheint fie auf den Münzen, die Albinus als Cäſar, 
wie auch als Augustus geprägt hat, niemals, mit einziger Aus— 
nahme einiger ficher gejälichten Münzen*), von denen eine im 
Britiſh Mufeum befindliche (Cohen n. 19) den Revers Fellici- 
tatı P(opuli) R(omani) p(ontifer) m(aximus) tr(ibunicia) 
p(otestate) co(n)s(ul) III zeigt. Da aber Albinus fogar als 
Auguftus nicht den Titel pontifex mazimus geführt, auch nie 
mals ein drittes Konſulat befleidet hat, jo würde man Diele 
Münze dem Albinus abiprechen müffen, auch wenn man nicht, 
wie es hier der Fall ift, nachweiſen fönnte, daß dieſer Revers 
einer Hadrians-Münze (Cohen Bd. 2: Hadrien n. 600) ent⸗ 
nommen und fäljchlich auf Albinus übertragen worden ift. 

ALS die dem Albinus mit der Cäjar-Würde verliehenen Rechte 
nennt Herodian (2, 15, 5) das Recht der Münzprägung und der 
Statuenjegung, ſowie die ‚jonftigen Ehren. Was unter den 


1) Mommien, Staatdredht 2, 1139 Anm. 2. 

») Mommijen, Staatöredht 2, 1141. 

3) Mommfen, Staatsreht 2, 11653 Anm. 1 und 11569 Anm. 1. 

% Zwei jührt Edel 7, 164 mit Zweifel an ihrer Echtheit unter ben 
nummi Albini insolentiores an. 


462 O. Hirſchfeld, 


letzteren zu verſtehen iſt, willen wir nicht; wahrſcheinlich be 
ziehen ſie ſich u. a.?) auf die Cäſaren-Tracht, obſchon auf 
die Angabe des Biographen (c. 2), daß Commodus ihm bei An- 
tragung der Cäſar-Würde das Recht, ein Scharlachgewand (cocci- 
num pallium) zu tragen verliehen und das Purpurgemwand, aber 
ohne Soldftiderei, in Ausficht geftellt Habe, felbjtverftändlich nicht 
das Geringſte zu geben iſt und dieje Stelle höchitens als Zeugnis 
für die Cäſaren-Tracht des 4. Jahrhunderts verwerthet werden 
fann ?). 

Errihtung von Statuen iſt allgemein nidyt nur für die 
Cäſaren, fondern auch für die übrigen Mitglieder des Sailer: 
hauſes geitattet worden’); auch Widmungen und Opfer werden 
für den Kaiſer gemeinfam mit dem Cäjar vollzogen, von denen 
noch” vier Injchriften aus Oftia, Lugdunun und Afrika Zeugnis 
ablegen, auf denen überall der Name des Albinus getilgt worden ift‘). 
Das Bedeutungsvollite aber unter den Ehrenrechten der Cäſaren 
ift das Münzrecht, von dem Albinus, gleichwie auch 2. Aelius, 
einen fehr ausgedehnten Gebrauch; gemacht Hat: von jeinen zahl 
reichen Münzen gehört der weitaus größere Theil jeiner Cäſarenzeit 
an. Daß dieje, wie angenommen worden ift, in Britannien geprägt 
worden jeien, halte ich für ausgejchlofjen, da von einer Britan 
nifhen Münzftätte in jener Zeit nichts befannt ift. Zweifelhaft 


iy Auch an die Belleidung des Koniulat8 an dem auf die Adoption 
folgenden 1. Januar al® Kollege des Kaiſers (ebenfo erhielt 2. Aelius nad 
feiner Adoption am 1. Januar 137 da8 SKonfulat, aber nicht mit Hadrian, 
vgl Mommſen, Staatercht 2, 1142) fann erinnert werden. Bon der 
Kooptation zu den hoben Priefterämtern, die meiſt den Thronfolgern zu 
Theil geworden ift, hat man ſowohl bei X. Aelius, als bei Albinus Abftand 
genommen, vgl. Borgheſi, Oeurres 3, 432. 

2) Mommien, Staatsrecht 2, 1142 Anm. 1. 

3) Mommijen, Staatsrecht 1, 452 und 2, 829. 

%) Boilfieu, Inser. de Lyon €. 23 (a. 194); C.J.L. XIV n. 6; 
C. J. L. VIII n. 1549 und n. 17726 (unmittelbar nad) Niger’3 Beſiegung 
gejegt). — Inſchriften von Albinus als Kaifer gibt es nicht, mit Ausnahme 
der angeblid, in Albigny gefundenen faljhen Inſchrift Orelli n. 900 = 
Boiſſieu S. 4, die fid in Paris in der Bibliothdque Nationale befindet; 
fie ijt, wie allgemein anerkannt wird und ich nad) Autopfie beftätigen fann, 
eine ganz ungeſchickte Fälſchung des 16. oder 17. Jahrhunderte. 





464 O. Hirichield, 


Fälſchung oder fäljchliche Übertragung der dieje Auffchrift tragen: 
den Münzen des Caligula und Claudius. — Im Übrigen kehren 
die von Albinus verwandten Münztypen zum größten Theil auf 
den Münzen des Severus wieder; auc von ihm, wie von Severus, 
und zwar zuerft von diejen Kaifern, wird die Fides legionum!) 
auf den Münzen gefeiert, wofür bei Niger ſich die Auffchrift 
Fidei erercitus findet. Es verdient hervorgehoben zu werden, 
daß in der ganzen Juliſch-Claudiſchen Dynaſtie die Treue (fides) 
oder Eintracht (concordia) des Heeres überhaupt noch feine Vers 
berrlihung gefunden hat, dagegen jofort nach dem BZujammen 
bruch derjelben mit Galba und Bitellius die Fides militum und 
praetorianorum, die befanntlich fich nichts weniger als zuver 
läffig erwies, auf den Münzen erfcheint. Die folgenden künftigen 
Kaiſer haben diejer Aufichrift fich nicht bedient, fondern die 
Fides publica an die Stelle der Heerestreue gejeßt?); erſt unter 
Marcus, und zwar gerade in der Bedrängnis des Mlarcomaner 
Krieges wird die Auffchrift: Fides exercituum auf den vom Senat 
geprägten‘ Broncemünzen häufig, zu der dann unter Com 
modus noch jpeciell die Fides cohortium auf den faijerlichen 
Silbermünzen, fchließlich unter Gallienus und Poſtumus aud 
g'était empresse de faire frapper une medaille d’argent au nom du 
nourel Auguste, wozu er freilich felbft bemerkt: ‘le senat ne pourait 
frapper que de la monndie de cuivre‘. 

1) Herr Diffjard fchreibt mir: “on «a troure, au portes de Lyon, 
plusieurs kilogrammes de deniers a [leur de coin au rerers FIDES 
LEGION - COS : IT. 

2) Im Anfang der Regierung Veſpaſian's findet fi) noch die Fides 
erereituum auf den vom Senat geprägten Aupfermünzen (Cohen, Bd.! 
Vespas. n. 159—161, a. 71); die mit der gleichen Auffchrift verjehene Münze 
Domitian’® (Cohen, Bd. 1 Domit. n. 117) ijt wohl eine Fälſchung Baillantd. 
Unter Zrajan ijt zwar eine große Broncemünze mit diefer Aufſchrift geprägt 
worden (Cohen Ad 2 Trajan. n. 147), doch ift diefe ein Unicum und gemiß 
aus bejonderem Anlaß, vielleicht bei Beendigung des Dakerkrieges geſchlagen. 
Die Concordia ecercituum erjcheint feit Veſpaſian, außer unter Trajan, 
regelmäßig auf den Münzen, Concordia militum feit Commodus, Concordia 
legionum feit Balerianus, Concordia equitum unter Gallienus und feinen 
Gegenfaifern; dagegen die Aufſchrift Concordia praetorianorum bereits, aber 
auch auzjdlieglid, unter Galba und Bitelliuß. 


Decimus Clodius Albinus. 465 


die Fides equitum ſich geſellt: ein deutliches Symbol des angſt⸗ 
vollen Werbens um die wankende Treue des Heeres in dem zer« 
fallenden Römerreid). 

Eigenthümlich ijt den Münzen des Albinus, abgejehen von 
der Minerva Pacifera im Gegenſatz zu dem Mars Pacifer der 
Severu&Münzen?), die |päter von Geta aufgenommen ijt, die 
Aufichrift und Darftelung de8 Genius Lugduni auf feinen 
in Lyon als Auguſtus geprägten Goldmünzen und Denaren?), 
die unter jämmtlichen römijchen Staifermünzen feine Analogie 
findet?) und höchſtens etwa mit dem Genius Ilyriei auf den 
Münzen des Decius und Aurelianus zujammengeftellt werden 
fann. Offenbar bat Albinus den Genius Lugduni gegen» 
übergejtellt dem Genius populi Romani, der feit Beipafian 
auf den Kaifermünzen erjcheint, und damit Lugdunum als die 
Hauptitadt jeines Reiches verherrlichen wollen. Daß er in der 
That daran gedacht habe, ein Galliſches Reich zu gründen, wie 
es jpäter die Gallier Poſtumus und Tetricus verwirklicht haben, 
ijt freilich bei diefem aus Afrifa ſtammenden und dem römischen 
Senat ergebenen Staijer nicht anzunehmen; aber da zunächſt jeine 
Hoffnung ausſchließlich auf den Nordweiten des Reiches gejtellt 
war, hat er es für angezeigt gehalten, nicht mehr, wie als 
Cäſar, die in den Händen Sever’3 befindlife Roma aeterna 
auf feine Münzen zu jeßen, fondern die Galliiche Metropole. 
Der Genius von Lugdunum unterjcheidet ſich nicht wejentlich 
von der bergebrachten Darjtellung des Genius populi Romani: 


1) Dagegen bat Albinus den Mars Ultor, wohl nad) feinem eriten 
Eieg über die Severianer, auf eine feiner Münzen gelegt (Cohen n. 46), der 
bei Severus fidy nicht findet. 

») Soben 3, 419 n. 40 verzeichnet nur die Silbermünze: doch iſt neuer= 
ding? auch ein aureus mit derfelben Parjtellung und Aufichrift zwijchen 
Lyon und Trevour gefunden worden; vgl. A. de Barthelemy in dem „Annuaire 
de la Soc. Frunçg. de numismatique 1883 S. 354 und de Beliort ebenda 
1885 ©. 353 n. 21; dies .pradytvolle Boldftücd‘ befindet ſich nad) Mittheilung 
des Herrn Blandet im Cabinet de medailles in Rarid. 

) Auf einer, allerdings nur von Wiczay bezeugten und daher vielleidıt 
nit richtig gelejenen, feinen Broncemünze des Tetricuß (Cohen, Bd. 6 
Tetricus n. 47) erjeint die Aufſchrift Genius L/ug.] wieder. 

Hiſtoriſche Beitichrift N. F. Bd. XLIM. 30 


466 TI. Hirſchfeld, 


er erjcheint als nadter Jüngling, in der Linfen ein Füllhorn, in 
der Mechten ein Szepter haltend. Erſteres Attribut trägt aud 
der Genius des römiichen Volkes, es braucht daher nicht auf 
den Beinamen von Lugdunum: Copia bezogen zu werden; 
das Szepter ift dagegen nur den älteren Genius-Darftellungen 
eigen, während derjelbe feit den Flaviern regelmäßig ſtatt deſſen 
eine Schale hält, aus der er auf einen vor ihm jtehenden Altar 
libirt!). Ferner unterjcheidet fi) der Genius von Lyon durd 
die ihm ald Stadtgenius zufommende Mauerfrone und vor allem 
durch den am Boden mit ausgebreiteten Flügeln figenden Vogel, 
den Eckhel und Cohen für einen Adler?), dagegen Dijjard?) gewiß 
mit Recht, mit Rüdficht auf die von Pjeudo-Plutarch aus den 
xtioeıs des Rhodiers Elitophon berichteten Gründungsjage von 
Zugdunum, für einen Naben erflärt*), der unzmweideutig auf 
mehreren in Lyon und an anderen nicht fern Davon gelegenen Erten 
gefundenen Thonmedaillons erjcheint?), die eine auffallende 


1) Froehner, Medaillons Homains €. 36. 

2) Nach Angabe des Herrn Dr. Gaebler in Berlin, dem ic, glei 
wie den Herren Adrien Blandet in Paris und Paul Diffard in Lyon, 
für freundliche Nachweiſe zu Dank verpflichtet bin, findet ſich der Adler mit 
dem Genius verbunden erjt feit dem 4. Jahrhundert. 

3) Allmer- Tifjard, Musee de Lyon 2, 150 Unm. — Sn dem Felſen 
will de Witte in der gleich anzuführenden Publikation einen lion aceroupi 
erfennen, den er auf das Wappenthier des M. Antonius bezieht, was fider 
verjehlt iſt. 

4) Der NRabentopf findet fich bereit® auf den vor dem Sahre 727 
geprägten Münzen von yon mit der Aufichrift Imp. Divs f. bei Wuret: 
Chabouillet, Catalogue des monnaies Gauloises de la bibliotheque nationale 
n. 46604664; mit NRedt nennt Holder, Altcelt. Spradihap Bd. 28. 
v. Qugudunon diefe Gründungsfegende eine ‚etymologiſche Wappenjage‘. 

5) Das erjte ijt in Orange gefunden und von Froehner, Les Ausces 
de France S.39 ff. Taf. 15, 2 und von de Witte in der Gazette archeulgg. 
9 (1884), 257 ff. Taf. 34, 1 mit Kommentar veröffentlicht worden; die Über: 
einitimmung mit den Albinu&- Münzen bat bereit3 Froehner gebührend hervor: 
gehoben. Kin zweites identifches, aber veritümmelte® Medaillon ijt in Ste 
Colombe bei Vienne gefunden und befindet ji in der Sammlung Recamier 
in Lyon (vgl. de Witte, a. a. C. 5.260 und Allmer, Bull. Epigr. de la 
Gaule 2, 154 Taf. 15; C. J. L XII n. 5687), Gin drittes, jept wohl 
verlorened, hat Artaud in feinem in Lyon befindlidien Manuſkript über die 


Decimus Clodius Albinus. 467 


Ähnlichkeit mit jenen Albinuss Münzen zeigen. Auf ihnen fit der 
Genius auf einem Felſen, zu feinen Füßen ein Rabe, vor ihm 
iteht ein älterer unbärtiger, fajt fahlföpfiger, mit einer Toga 
befleideter Mann, der in der linken Hand eine Rolle, die auf 
dem Lyoner Exemplar mit einem Henkel verjehen ift, aljo wohl 
einen codex ansatus!) hält, mit der Rechten bringt er eine 
Schale mit zwei Ähren (auf dem Lyoner Exemplar anjcheinend 
Mohnblüten) dem Genius dar; hinter ihm liegt eine (nur in 
dem von Artaud überlieferten Eremplar vollitändig erhaltene) 
Hade. Auf einem der Medaillons fteht die mit Sicherheit zu 
ergänzende Inſchrift: /Genio] amantissimo co[loniae]: haheus 
propitium Caesare(m)‘ auf zwei anderen jteht über den Figuren 
feliceiter, auf dem von Artaud beichriebenen die Zeilenanfänge 
der Inſchrift: OPTI und AVI, die ich im Gegenſatz zu den 
von früheren Herausgebern vorgeichlagenen Ergänzungen etiva 
zu opti[fme eveniat] Au/g(usto) n(ostro)] mit der hergebrachten 
Acclamation feliciter ergänzen möchte. 

Wer ift nun unter dem Manne, der dem Genius Rolle und 
Schale darreicht, zu veritehen? De Witte und Allmer denten 
mit Nüdfiht auf die Hade an den Gründer der Kolonie 
Munatius Plancus und erkennen wohl richtig in der Rolle das 
Gründungsftatut, die lex coloniae. Allerdings hebt de Witte 
jelbit hervor, daß Blancus bei der Gründung von Lugdunum 
höchftend 45 Jahre zählte, während hier offenbar ein älterer 
Mann dargeftellt fei; doch kommt er über dieſes Bedenken 
mit der Annahme hinweg, daB es ein Porträt aus jeiner 
jpäteren Beit jein fünne. Aber die Anrufung: habeas propitium 
Caesarem, die unzmweideutig auf die Staiferzeit hinweiſt, it für 
Blancus, der Lugdunum im Jahre 43 v. Chr. gegründet hat, 
undenkbar, und die geäußerte Annahme einer zweiten Gründung 
oder Verſtärkung der Kolonie nah der Schladt von Actium 








antike QTöpferei bejchrieben und abgebildet (daraus de Witte, a. a. ©. S. 260 
Taf. 34,2). Das vierte endlih ift im Jahre 1887 in Lyon gefunden und 
von Allmer-Diffard, Musee de Lyon 2, 172 publicirt. 
1) Vgl. über diefe Mommjen im Hermes 2, 117 und Jordan, Röm. 
Topographie 2, 221 Anm. 58. 
30° 


468 O. Hirſchfeld, 


wird ſchwerlich Anhänger finden. Auch das angeführte Argu- 
ment, das Denkmal der Zeit vor Hadrian zuzuweiſen, weil der 
Mann unbärtig dargeſtellt ſei, kann ich nicht gelten laſſen, da 
e3 ſich hier um ein Porträt handelt und es unbärtige Männer 
wie zu allen Beiten, jo auch nad) Hadrian in römijchen Neid) 
gegeben Hat. Demnach wird man m. E. in der dargeitellten 
Perſon, die einen durchaus bürgerlichen, fait jpießbürgerlichen 
Eindrud madjt, vielmehr mit Froehner!) einen NRepräjentanten 
von Lugdunum, aljo wohl einen der (allerdings erjt jeit der 
zweiten Hälfte des 2. Sahrhundert® n. Chr. dort bezeugten) 
Duoviri zu erfennen haben, der dem Genius der Stadt durd) 
Überreichung der lex coloniae?) und der Schale mit den Ihren 
jeine Devotion bezeigt. 

Daß diefe Medaillons ſämmtlich ein und Dderjelben Zeit 
angehören, ift mir, wenn auch das in Lyon gefundene feineres - 
Material und eine, bejonder3 in den Proportionen der Figuren, 
feinere Technik zeigt, in hohem Grade wahrjcheinlich und 
die auffallende hnlichfeit mit der Albinus- Münze führt faft 
nothiwendig zu der VBermuthung, fie jeien aus Anlaß des An- 
Ihlufjes von Lugdunum?) an den dort refidirenden Gegenkaiſer 
angefertigt worden. Vor allem jcheint mir aber dafür zu jprechen, 
daß der Genius, durchaus im Gegenjag zu den jonjtigen Dar: 
jtellungen der Stadtgenien*), bier mit einem Schwert, das an 
einem über die Bruft gehenden Wehrgehäng befeitigt ift?), 


1) Froehner, a. a. D.; vgl. jeine Medaillons Romains ©. 37, wo er 
an einen Decurio von Lugdunum denkt. 

») Die Hacke will de Witte, a. a. O. ©. 260, auf die Gründung der 
Kolonie beziehen. 

») Daß zwei diejer Medaillon in der Narbonenſis gefunden find, beweilt 
natürlich nicht, daß diefe Provinz, wie es allerding® wohl möglidy ift, jich am 
Albinus angejcylofien habe. 

% Auch Froehner führt als einziges Analogon den bewaffneten Genius 
von Stalien (wenn die Figur fo zu benennen ift) auf den oStifhen Münzen 
des Bundesgenojienfrieges (Friedländer, Oskiſche Münzen Taf. 9, 1—5) an; 
doc) ijt einerjeits die Analogie nicht ganz zutreffend, andrerfeits ſpricht gerade 
diejes Beilpiel für die oben gegebene Erklärung. 

5) Das Schwert mit dem Wehrgehent ift auf dem Medaillon von 
range erhalten; abgebroden ijt das Schwert, jedoch dag kettenjürmige Wehr 





470 C. Hirſchfeld, 


ſeinen Fahnen folgten; man vermißt unter ihnen allein die zehnte 
Legion, die, obſchon in Wien, alſo in der von Severus bei 
ſeiner Erhebung verwalteten Provinz jtationirt, ſich Doch merk: 
twürdigermweife bei derjelben nicht betheiligt zu haben fcheint. 
Dagegen fehlen auf dieſen Münzen jämmtliche Legionen de} 
Orients, die Spanischen und die britannifchen, von denen die 
eriteren für Niger, die Iebteren für Albinus eingetreten find. 
Es fehlt ſchließlich die legio III Augusta in Numibdien, bie 
an der Thronerhebung thätigen Antheil zu nehmen ficher nidt 
in der Lage war; daß fie aber fich nicht gegen Severus er 
Härt, vielmehr in dem Kriege gegen Niger ſich aktiv für 
den Sailer bethätigt hat, beweifen die ihr unmittelbar nadr 
her beigelegten Ehrennamen pia rinder!)., Wohl alle auf den 
Münzen genannten Legionen, joweit jie in Europa jtanden, oder 
doch Detachements derjelben werden auch in dem Kampfe gegen 
Albinus Verwendung gefunden haben?); außer ihnen ein Theil 
der Prätorianer, deren Theilnahme an der legten Schlacht bezeugt 
it?) und die den Kaiſer auf jeinem Marie durch Pannonien 
begleitet zu haben jcheinen. Denn wohl mit Recht it eine in 
Pettau gefundene Dedifation, die ein Tribun der zehnten Kohorte 


1) Bol. Mommſen im C.J.L. VIIIS. XIX nebjt der dort angeführten 
Gtelle der vita Severi c. 8 8 7: ad Africam legiones misit, ne per 
Jabyum altque Aeyuptum Niger Africam occuparet ac p. R. penuria ra 
frumentariue perurgueret. Die Beinamen pia vindex finden ſich bereits aut 
einer unmittelbar nad Niger’3 Befiegung gejepten Inſchrift (C. J. L. VIO 
S. n. 17726); die Namen der Legion jind zwar getilgt, dody wird die Leſung 
von fell (Melanges de l’ecule de Rome 13, 511 Anm. 2) bejtätigt. 

*:) Die Theilnahme de3 illyrijchen und moefifchen Heeres bezeugen die 
©. 473 Anm. 3 u. 4 angeführten Inſchriften des Candidus und Marimus; über 
die legio XXII vgl. 5.472 Anm. 3; die Theilnahme der in Uintergermanien 
jtationirten legio I Minervia an der Schlacht von Lyon wird wahrjcheinlid 
durch die von ihren Tribunen Ti. Claudius Pompeianus für das Heil des 
Kaiſers Ddajelbit an die Aufaniae Matronae et Matres Pannoniorum et 
Delmatarum wohl unmittelbar nach der Niederlage des Albinus vollzogenen 
Dedifation de Boijjieu 6.59 = C. J. L. XIII n. 1766); die von Renier, 
Melangex d’myraphie S. 147 ff., gegen dieje Anſetzung geäußerten Bedenten 
halte id) nidyt für geredjifertigt. 

2) Div 75,6: 4 Seßnoos... uera Tow Öopvgooov. 


Decimus Clodius Albinu?. 471 


der Prätorianer: proficiscens ad opprimendum factionem Gal- 
licanam auf Befehl des Kaiſers dem Jupiter praestes darbringt, 
auf diejen Kampf bezogen worden, jo zweifelhaft es auch ift, ob 
wir, wie neuerdingd vermuthet worden ift, in dem Dedifanten, 
deſſen Name getilgt ift, den jpäter allmächtigen Prätorianerpräfekten 
des Severus: C. Fulvius Plautianus zu erkennen berechtigt find?). 

Auch die Streitkräfte des Albinus mögen der Zahl nad) 
nicht viel geringer geweien jein: nad) Dio kämpften in der Ent- 
Iheidungsschladht auf beiden Seiten zujammen etwa 150000 
Dann?) Aber unter jeinen Truppen können nur vier Xegionen 
gemwejen fein: die drei britanniichen?) und die in Spanien ftehende 
jiebente Legion“), aljo mit den Auxiliartruppen wohl nicht mehr 
ala 40000 reguläre Truppen, während der Reit, abgejehen von 


1) Vgl. v. Premerjtein, Ard.sepigr. Mittheil. aus Ofterreih ©. 181 ff., 
der in der eradirten zweiten Beile den Namen C. Fulvius Plautianus zum 
großen Theil nod) erfennen will. Mir fchien bei genauer Unterfuhung nur 
der zweite Bucdjtabe F jicher zu fein (vgl. C. J. L. III S. n. 10868); 
dab Plautianug, der bereit3 im Juni 197 Prütorianerpräfelt war, damals 
noch Tribun geweſen jei, bezeichnet Deſſau (Prosopographia 2, 97) mit 
Recht ald wenig wahrſcheinlich. 

2) Dio 75, 6: nerrexaidern uev uvoiades OTgatıwıwv Ovv AupoTspos 
izroyor, was Tillemont und Gibbon im Gegenſatz zu neueren Darjtellern 
ridhtig, wie die Worte or» augoreooıs zeigen, als Geſammtzahl faflen. Tem- 
nad) müfjen die Legionen des Severus, da er doch auch zahlreihe Auxiliar⸗ 
truppen mit fich geführt haben wird, weit unter der Effektivftärte in Gallien 
geweſen jein. 

3) Früher jtanden dort vier Xegionen nebft etiwa 45 Cohorten und 
zwölf Neiterfchwadronen, die Huebner (Hermes 16, 526, vgl. S. 580 ff.) auf 
etwa 6OWO Mann veranidlagt; doc) ijt da8 Occupationsheer jpäter weſentlich 
verringert worden (Huebner, a. a. O. S. 583). Die Stärfe und Schlagfertig- 
feit des britannifchen Heeres zu jener Zeit rühmt Herodian 2, 15,1. 

% Den Anſchluß Spaniens erweiit die S. 473 A. 3 citirte Inſchrift des 
Sandidus und vita Severi c. 12: interfectis innumeris Albint partium virts 
... tum et Hispanorum et Gallorum proceres multi vcciss sunt. Auch die 
Angabe Herodian’s 3, 7,1, dag Albinus es zaurra ra yarrıawra &drr, ge: 
ichidt habe, um fie zu gewinnen und daß diejenigen von ihnen, die fi ihm 
angeſchloſſen hätten, ſchwer dafür jpäter büßen mußten, wird in erjter Linie 
auf Spanien zu beziehen fein. — Daß Albinus aud im Lrient nad) dem 
Tode des Niger Sympathbien Hatte, ijt natürlich und wird durd) den Anſchluß 
der in Mrabien ftehenden legio III Cyrenaica bejtätigt (vita Severi c. 12). 


412 O. Hirſchfeld, 


der 1200 Mann ſtarken ſtädtiſchen Kohorte in Lugdunum'), 
bauptfächlih aus dem galliichen Landiturm ?) beitanden Haben 
wird. Übrigens ijt e8 fraglich, ob ſich ganz Gallien gemäß dem 
Beiſpiel der Hauptitadt an Albinus angejchloffen hat und in% 
befondere die Germanien benachbarten Gebiete nicht vielmehr, 
wie dies von den dort jtationirten Legionen nicht bezweifelt 
werden fann, für Severus Partei ergriffen haben. Eine vor 
etwa zehn Jahren in Mainz gefundene Injchrift, die wohl un 
mittelbar nach Beendigung des Krieges gegen Albinus geſetzt 
ijt?), bezeugt, dab die dort ftationirte 22. Zegion Trier bei einer 
Belagerung mit Erfolg vertheidigt habe; denn ich möchte nidt, 
wie vermuthet worden ift, diefelbe auf einen Einfall der Ger 
manen, die wahrjcheinli dann ald Barbaren ausdrüdlid 
genannt fein würden, beziehen, jondern auf einen Verſuch der 
Albinianer, die von den Severianern bejegte Stadt einzunehmen; 
daß die Albinianer in diefem Bürgerfriege (jo wird der Strieg 
gegen Albinus genannt‘) nicht als die Belagerer genannt werden, 





) Daß “die cohors XIII urbana an Severus fejtgehalten’ habe, wie 
Schiller, Röm. Kaiſergeſch. 1, 716 annimmt, ift nicht bezeugt. 

7) Über die außerordentliche Stärke desjelben bei der Erhebung deö 
Binder vgl. Plutarch, Galba c. 4 und Mommſen im Hermes 13, 9. 

2) Keller im Weſtdeutſch. Korreipondenzblatt 1886 ©. 140 (vgl. dazu 
Mommien ebenda ©. 185) — Defjau inscer. lat. sel. n. 419: in Alonoren) 
L. Septimi Severi pi Pertinacis Aug. invicti imp(eratoris) et M. Aureli 
Antonini Caes., legioni XXII pr(imiygentae) piiae) f(idel:) hunoris virtu- 
tisg(ue) causa, civitas Treverorum in obsidione ab ea Jdefensa; da Saracalla 
nur Cäfar, nicht einmal imperator destinatus genannt wird, ift die Inſchrift 
ficherlich, wie auch Mommſen annimmt, unmittelbar nad) Befiegung des Albinus 
gejegt; darauf weilt auch die Bezeihnung Sever’3 als invictus imperator 
bin, während er auf den Münzen erit nad dem Parthiſchen Sirieg dieſen 
Beinamen führt (Edhel 7, 192). ch beziehe die Anjchrift mit Keller auf eine 
Belagerung Trierd durd) die Albinianer, während Mommſen an einen Übers 
fall der Germanen denkt; die 22. Legion hat ficher, wie die in Germanien 
itehenden Legionen überhaupt, auf der Ceite des Severus geftanden. Auf 
die Angabe in der vita Albini c. 1, daß die Gall aut Germuniciani 
ecercitus den Albinus zum Kaijer haben wollten, ift nicht® zu geben. 

4% Dio 75, 4, 1: noiseuos Euprhıos nos Tor Akßivov. Vita Severi 10 
8 1: bellum cirile Clodi Albin. Ebenſo der Krieg gegen Niger: Ulpian. 
in Digg. 50, 15,1 8 2—38. 





474 C. Hirichield, 


Severus bewährt hatte und Später durch die Statthalterichait 
von Obergermanien ausgezeichnet wurde!), demnach vielleicht aud) 
an dem Kampf gegen Albinus aktiv theilgenommen hat. Statt 
halter von Obermöſien im Jahre 196 ſcheint 2. Fabius Eilo 
geweſen zu fein, der gegen die Anhänger des Niger in Perinth 
fommandirt hatte, dann Etatthalter von Pontus und Bithynien 
gewejen und ein außerordentliche Kommando über die verill(a- 
tiones) per Italiam exercitus imperatoris Severi geführt hat’), 
die wohl dazu beftimmt waren, die Alpenpäfje gegen einen Ein 
fall des Albinus in Italien zu deden?); er hat dann nad) dem 
Kriege die Statthalterichuft von Oberpannonien, möglicherweile 
bereit3 im Jahre 198 angetreten‘). Der von Albinus in Gallien 
bejiegte Feldherr des. Severus, Lupus, ijt vielleicht mit dem 
Statthalter Britanniens im Jahre 197 Birius Yupus identüd’). 
Ein jehr bedeutendes Kommando, vielleicht über die germanijchen 
Legionen, muß ſchließlich Lätus gehabt haben, der die Schladt 
von Lyon entjcheidet. Wir willen nur, daB er feiner dabei be 
wiejenen ziweideutigen Haltung wegen jpäter von Severud ge 
tödtet worden ift®); ob er mit Julius Lätus, auf deſſen Rath 
Severus den Prätorianerpräfeften Julianus umgebracht hat‘), 
identijch iſt, läßt fich nicht enticheiden. 

Wer die Prätorianer fommandirte, wilfen wir nicht; dab 
es Plautianus gewefen jei, wird man aber aus dem ihm jpäter 





1) Deſſau, Inser. Lat. sel. n. 1144 mit Anmerlung. 

2) Die zahlreichen ihn betreffenden Zeugnijje bei Tejjau in der Proso- 
pograph. 8.2 F n. 20. 

s, Herodian 3, 6, 10: (Severus) Zrsuure de xai orgarow Örvancrs (die 
"ort tilgen Belter und WMendelsjohn, arerıryor nera ÖIvraneos ſchlug 
Meiste vor) 16 ra orera Tor Alneor xarakı yousvor xal FEOTErEONTe 
1772 Irabias Tür eioBodas. 

% Sicher war er dort noch im Jahre 201, vgl. Defjau, a. a. O. 

5) C.J.L. VII n. 210 (mit Huebner’® Anmerkung) und n. 273. 

6) Vita Severi 15 6; Herodian 3, 7, 4—5. 

n Vita Juliani 8,1; der Bertheidiger von Nifibie im Jahre 199, der 
ritterlihen Standes war (Div 75, 3), iſt fiher von ihm verfchieden und 
vielleicht mit Maecius Laetus, dem Kollegen Papinian's in der Prätorianer: 
präfettur identiſch; vgl. Höfner zur Geſchichte des Staifers 2. Septimius Severus 
S. 297 ff. und Prusopogr Bd.2 Mn 43. 


Decimus Clodius Albinus. 475 


beigelegten Titel comes Augustorum per omnes expeditiones 
Auyustorum!) nicht Schließen dürfen. Vielleicht ift auch ein Theil 
der Ravennatifchen Flotte, deren Befehlshaber in einer Inschrift 
von Lyon aus unbeitimmter Zeit erjcheint?), bei dem Stampfe 
betbeiligt geweſen. 


Bon den zzeldherren des Albinus wird fein Einziger ge 
nannt; doch dürfte der Statthalter der Tarraconenjis 2. Novius 
Rufus, der jpäter von Severus getödtet worden iſt?), perjönlich 
an dem Galliihen Kriege theilgenommen haben. 


Den Marſch des Severus aus dem Orient nad) Rom in jeinen 
Hauptetappen zu verfolgen, find wir gleichfall8 durch literarische 
und epigraphiiche Zeugnifje in Stand gejegt. Die Nachricht von 
der Einnahme von Byzanz erhält Severus noch in Meſopotamien 
(Dio 74, 14); die Belagerung der Stadt hatte nach dem Zeugnis 
desselben Schriftjtellers®) drei volle Jahre gedauert; fie fann aber 
vor Ende ded Sommer? 193 nicht begonnen haben, demnach 
vor dem Sommer 196 nicht beendet worden fein’). Severus 
it alſo nicht vor dem Spätherbit dieles Jahres nach Europa 
gefommen und hat erjt gegen Ende des Jahres den Kampf gegen 
Albinus persönlich aufgenommen). Auf dieſe Zeit weilt auch 
die befannte Erzählung Dio's hin, day das Bolf in Rom an 
dem legten Renntage vor den Saturnalien (wohl am 15. Dez.) 
über die Fortſetzung des Krieges nach Beliegung des Niger in 


1) C.J.L. VI nn. 1074 (nidt vor dem Jahre 202). 

2) Boijjien, Inser. de Lyon ©. 16 = C. J. L. XUI n. 17%: 
Widmung an Minerva. Die gleihjald in Lyon geiundene Inſchrift eines 
jrraefectus viglum Boiſſieu ©. 3) gehört dagegen der ſchönen Buchſtabenform 
nad einer älteren Zeit an. 

2) Vita Severi 13, 7; als Ctatthalter der Tarraconenſis im Jahre 
193: C.J. L. I n. 4125. 

*, Dio 74,12: ini 6Ao» To1ETT, Xoovor NOAOGKOTnErON. 

8) Nirth, (Juaestiones Severianae S. 28 f. ſetzt die Eroberung in den 
Juli, weil fie nad Tio «5, 13 zur Ermtezeit erfolgt zu jein jcheint. 

Wirth, aa. ©. S.10 und 29 nimmt etwa Tftober-November an, 
mit Hinweis auf Herodian 3, 6, 10: Severus) 77» odomogiav noiwruevos 
ıno vigetois xui Xiocır. 


416 O. Hirſchfeld, 


laute Klagen ausgebrochen fei!); demnach iſt die Stunde davon 
wahricheinlich erft kurz vorher nach Rom gedrungen. 

Nicht lange vorher wird Albinus Britannien verlafjfen und 
jeine Rejidenz in Lugdunum aufgeichlagen haben. Denn wenn 
aud) das Verhältnis zwiichen Severus und Albinus gewiß bereits 
nad) Niederwerfung des Niger fich verjchlechtert hat und einerjeits 
Eeverus dem Albinus die ihm als Cäfar zulommenden Ehren 
gejchmälert, ja ihm jogar nad) dem Leben getracdhtet Haben joll?), 
andrerjeit3 Albinus auf die Stellung eines Mitregenten chen 
während des Kampfes im Orient Anfprnd) gemacht haben wird?) 
jo hat er doch erft auf die Nachricht von dem Anmariche de 
Severus den Auguftus-Titel angenommen und it erft dann nad) 
Gallien übergejegt, um Lugdunun als jeine Reſidenz zu be 
jeßent). 

In Viminacium, dem Lager der fiebenten Legion in ber: 
möjien, vollzog Severus die Proflamation jeines, wohl von Fabius 
Cilo?) dorthin gebrachten, damals etwa zehnjährigen Sohnes zum 
Cäfar: ficher vor dem 10. Dezember 196, da bereit3 vor Ablauf 
der vierten tribunicijchen Gewalt des Severus dem jungen Cäjar 
Antoninus, ohne Zweifel aus Anlaß der Verleihung diefer Würde 
und dieſes Namens, von den lottenoffizieren in Miſenum eine 
Dedifation dargebradht wird‘). Wenn Tillemont und die meilten 


1) Dio 75,4. 

2) Wenn die wohl derjelben Duelle entjtammende Angabe der vita 
Albini ce. 8 und bei Herodian 3, 5 auf Wahrheit beruht. 

2) Dio 75,4: de xai 17» Tor artoxgaTogos Esr;tes UNEXoXTr. Wil. 
Herodian 3, 5, 2, der von NAufforderungen vornehmer Senatoren an Albinus, 
während der Abweſenheit des Ceverus nach Rom zu kommen, um die Herr: 
ihaft zu ergreifen, zu beridten weiß. — Die Sendung des Heraclitus nah 
Britannien (vgl. Prosopogr. 2H n. 61 und Bilden im Hermes 20, 469) 
gehört wohl einer etwas früheren Zeit an. 

*) Herodian 3, 7,1: as de anınyyein to Alßirg un uellwv 6 Zeßrgo: 
ah nön naosasuevos...neoaweis ano ns Bosrravias ds ııw arıı- 
xeuucınv Takkiav Eotgaranedevoerv. 

5, Tio 77, 4 nennt ihn den roogsts und evepyeıns ded Caracalla. 

», C.J.L. X. n. 3341; die Entfernung von Biminacium bis Mijenum 
beträgt auf der Straße über Aquileja, Ariminum, Rom etwa 1000 römiſche 
Meilen, für deren Zurüdlegung ein Courier mindeften® acht Tage und Nächte 


Decimus Clodius Albinu?. 477 


neueren Darſteller die Erhebung Caracalla's zum Cäſar bereits 
vor den 30. Juni ſetzen, ſo beruht dies nur darauf, daß von 
dieſem Tage im Codex Justinianus ein gemeinſamer Erlaß der 
Impp. Severus et Antoninus Augg. datirt iſt; aber dieſe Dati— 
rungen bieten nicht die geringſte Gewähr, ſondern ſind zum Theil 
nachweislich erſt ſpäter auf den Namen beider Kaiſer geſtellt 
worden: werden doch bereits am 28. Juni 193, alſo kurz nach 
Severus' Erhebung (Cod. J. III, 28 1), ſodann am 11. März 195 
(Cod. J. IX, 1, 1) und am 1. Januar 196 (Cod. J. IX, 41, 1) 
beide Sailer genannt, während der leßtgenannte Erlaß von 
Ulpian (Digg. 48, 18, 1 $ 16) richtig dem Severus allein zu= 
geichrieben wird!). 

Sämmtliche Darſteller jener Yeit laffen Severus auf dem 
Mari gegen Albinus noch einen Abjtecher nah Rom machen, 
um fich des Senats und Volks zu verfichern und Albinus zum 
Staat3feind erklären zu lafjen: die Meeiften nach der Erklärung 
jeined® Sohnes zum Cäſar, da er offenbar direft vom Orient 
über Byzanz durh Thracien nah Viminacium gekommen ift. 
Aber es ift faum denkbar, daß der Kaiſer die fojtbare Zeit mit 
einer ſolchen Reife ohne erfichtlichen Zwed verloren haben follte; 
denn zu ciner Üchtung des Albinus durch den Senat bedurite 


gebraudt Haben wird (vgl. Triedländer, Sittengefhichte 2°, 23 f.); möglich it 
allerdingd, daß Severus den Senat und die in Stalien ftationirten Truppen 
ſchon vorher von feiner Abficht verftändigt hat. Nach einem Papyrus ift 
nad) Wilden’3 Ergänzung (Hermes 20, 455) der Feſttag im Tempel des 
Jupiter Capitolinus von Arfinoe: [vmsg rot avı;yogeva]Faı tor xuoov [uw 
Kaicaga Magxor Avorkııov) Ayrwrivov im Monat Xorax (27. November 
bi® 26. Dezember) gefeiert worden. 

1) Vgl. Krüger, append. p. 2° zu feiner Ausgabe des Cod. Justi- 
nianus: ‘Imp. Severus A. 11, 47,1; IV, 14, 1 (a. 196), item 11, 3, 1, quae 
potius ad a. 194 quum ad a. 20V pertinet: reliquae omnes: Impp. Severus 
et Antuninus AA; diefelbe Aufichrift iteht jogar noch über mehreren Erlajien 
längſt nadı Sever's Tode in den Jahren 213 und 214, vgl. Krüger, a. a. O. 
p. 3* Anm. 8. Vgl. dazu Mommſen: Die Kaiferbezeichnung bei den römijchen 
Juriſten in der Zeitichrift für Rechtsgeſchichte 9 (1870), 101 f. und betreffs 
der Datirung der Edikte des Diocletianus und feiner Mitregenten in den 
Codices: Mommſen in den Abhandlungen der Berliner Alademie 1860 
©. 349 fi. 


478 C. Hirſchfeld, 


es nur eines Befehles, nicht der perſönlichen Anweſenheit des 
Kaiſers!), und weder die Angabe ſeines Biographen, daß er auf 
dem Rückweg nach Rom die Erhebung des Albinus erfahren 
babe?), noch die im Jahre 196 aus Anlaß der beabſichtigten Rüd- 
fehr mit der Aufſchrift profectio Augusti und adventui Augusli 
Felicissimo?) gejchlagenen Münzen können al® Beweis dafür 
gelten, daß er dieje Abjicht wirklich ausgeführt hat. Gewiß ilt 
daher Herodian im Recht, wenn er Severus vom Orient um 
mittelbar gegen Albinus nad) Gallien ziehen läßt. 


Von Biminacium ift der Kaiſer mit jeinen Truppen nad) 
Pannonien marſchirt auf der über Sirmium führenden Heer 
Itraße, wo in Pettau der Tribun der zehnten Prätorianercohorte, 
wie bereit erwähnt worden ift, auf Befehl des Kaijers einen Altar 
dem Jupiter praestes geweiht hat*); hier dürfte er auch die Panne 
nischen Auguren fonjultirt haben, die ihm den Steg über jeinen 
Nebenbuhler prophezeiten?), und bier den jungen Cäjar zurüd- 
gelaffen haben, während er felbjt mit den noch zurücgebliebenen 
Truppen durch Noricum und Rätien nach Gallien eilte. Wahr 
Icheinlich im Helvetier- oder SequanersLand, das damals zu Ober— 
Germanien gehört Haben dürfte, wird er die Geſandtſchaft dee 
Senates empfangen haben, die, wie eine afrikanische Inſchrift 
bezeugt, an ihn nad) Germanien und an jeinen Sohn nad) Par 
nonien gejchidt war, ohne Zweifel, um die Glückwünſche de 
Senats zu der Proflamirung des Caracalla zum Cäſar zu über: 


1) So ift aud) die oratio imperatoris Severi in senatu recitata Ter- 
tullo et Clemente consulibus (a. 195) tdıbus Juniis (Digg. 27,9, 181 in 
Abweſenheit des Kaiſers verlefen worden. 

2) Vita Severi 10, 1: redeunti sane Roman. .bellum civile Clait 
IAlbini nuntiatum est... 

2) Eckhel 7, 175; Cohen: Severus n. 5—9 und n. 578. 581. 

) Bgl. oben ©. 471. 

6) Vita Severi c. 10; die oben ©. 470 Anm. 2 erwähnte Dedilation 
an die Matres Pannoniorum bezieht ſich übrigens fiher nicht auf diele 
Weiſſagung. Als Nultjtätte der mit den Matres verwandten Nutrices Au- 
gustae ijt Bötovio durch fürzlid) gemachte injchriftliche yunde erwiejen worden 
vgl. Burlitt Archäol.-epigr. Mittheilungen aus Lfterreih 19, 1 ff. 


Decimus Elodius Nlbinus. 479 


bringen’); auch dieſe Gefandtichaft ift ein Beweis dafür, dag 
Severus nicht felbft in diefer Zeit in Rom gewejen iſt. Erit 
im Beginn des neuen Jahres jcheint er in Gallien auf dem 
Kriegsſchauplatz eingetroffen zu jein. 

In Gallien ift es nach dem Zeugnis des Div mindejteng 
zu zwei Schlachten gekommen, in deren erjterer der Feldherr des 
Severus, Lupus, eine Niederlage erlitt). Die Enticheidungs» 
ſchlacht fand nad) Dio und Herodian nicht weit von Lyon, nad) 
dem Biographen des Severus bei Zinurtium, dem heutigen 
Tournus?) ſtatt. Zwiſchen diejen Angaben in der Weile ver— 
mitteln zu wollen, daß man an Stelle diejeg zu weit von Lyon 
entfernten Ortes Trivurtium (— Trévoux) einjegt, wie es nad) 
dem Borgange Tillemont’3*) auch neuere Darjteller gethan haben, 
ift ficher verfehlt; vielmehr handelt es jich hier offenbar um zwei 
verichiedene Schlachten, und die Worte des Biographen: primo 
apud Tinurtium contra Albinum felicissime pugnarit Severus 
weiſen deutlich darauf Hin, daß in feiner Quelle noch cine zweite 
Schlacht genannt war, die der Excerptor allerdings in jeiner 


1) C.J. L. VIII n. 7062 (Cirta): legatus ab amplissimo s[enotu] u: 
(Severum) [ilmp(erntorem) in Germaniam et [ad] Antoninum Caes(arem) 
[im]p. destinatum in Pannonilam] missus; die Inſchrift ift im Jahre 197 
oder Anfang 198, bevor Caracalla den Titel Auguſtus erhielt, abgefabt und 
gibt daher den dem Laracalla damals zutommenden Titel, die Gejandticait 
braucht aber darum nicht mit Schiller, Röm. Kaiſergeſch. 1, 715 Anm., und 
Anderen in die Zeit nad) der Befiegung des Albinus gefeht zu werden, in 
der Severus ſchwerlich noch einen Abjtecher nach Germanien gemacht bat; auf 
eine Glückwunſchdeputation des Senatd aus Anlaß der Ernennung des Cara⸗ 
calla zum Gäfar bezieht die Inſchrift mir Recht Henzen im Bull. dell’ institutu 
archeul.. 1856 ©. 90. 

2) Dio 75, 6: ovwsßn de Tov Alßivor noorega yayn vıx,cas Tor 
‚loönov tov roũ Zeßr,gor orparıyor ovra xai nollors Tor ow arıp Ödia- 
gIeipas orgarıwrav ' 6 ds ture ayaw (die Schladht bei Kyon) roAlas Bayer 
idsas Te nal roonas. Herodian 3, 7,2 fpricht nur von einigen Scharmügeln 
(axgoßokıouos) in Gallien vor der Entſcheidungsſchlacht. 

s) Tinurtium beißt der Urt in dem allein in Betradt kommenden 
Palatinus; der aus ihm abgejchriebene Bambergensis bietet Dinurtium. 

*) Tillemont Severe not. 18, der für diefe Anficht bereit? Chifflet in 
feiner Geihichte von Tournus citirt. 


480 I. Hirichfeld, 


flüchtigen Weile zu nennen unterlafien bat!).. Die Lage von 
Tournus, zwiſchen Chälon und Mäcon auf der großen Straße 
von Autun nad yon, entipricht durchaus der Marjchroute des 
Ceverianischen Heeres, das von Bannonien durch Noricum, 
Nätien und das Seguanerland ziehend, gerade hier das eigent- 
lihe Gallien betreten und die Albinianer zum Rüdzug ſüdwärts 
gegen Lyon gezwungen haben wird. Die legte Schlacht jcheint 
ji in dem Winfel abgeſpielt zu haben, der nordöjtlich von Lyon 
von der Nhöne und Saöne gebildet wird, wenn man Dio's 
Angabe, daB das Blut der Verwundeten ſich in die Flüſſe er 
goß, wörtlich nehmen joll; daB Albinus nach der Niederlage 
in ein an der Rhoͤne gelegenes Haus flüchtet), ijt nicht bemeijend, 
da er nach Herodian (3, 47,2) an der Schlacht perjönlich nicht 
theilnahm, jondern während berjelben in Lyon verblieb. Eine 
genane Lofalifirung iſt bei der Beichaffenheit der Tradition 
nicht möglich?). 

Das Datum der Schladt, den 1Y. Februar, bietet die Bio: 
graphie des Severus*); außführlide und in der Hauptjade 


Y, Vielleicht liegt übrigens der Irrthum des Biographen darin, daß er 
den Ort der Niederlage des Lupus mit dem der Entſcheidungsſchlacht vers 
wecjelt bat; wenigſtens jcheint Dio (vgl. S. 479 Anm. 2) nur von diejen 
zwei Schlachten in Gallien zu wiſſen. Die von NAllmer- Difjard, Muse de 
Lyon 3, 23 (vgl. 5, 61) geäußerten Bedenten erledigen fi bei diefer An 
nahme. Über die verſchiedenen Anfegungen der Schlacht vgl. U. de Ceuleneer, 
Essai sur Septime Severe ©. 101 Anm. 2; eine ‘premiere action apud 
Tinurtium’ nimmt aud) dD’Anville: Notice de la Gaule ©. 647 an. 

2) Div 75, 7: To alua nodv Eppin, uote xai eis Tovs noranors 
eionegeir. Tertullian, der als gleichzeitiger Zeuge in’8 Gewicht fällt, fept die 
Schlacht offenbar an die Rhöne, vgl. adr. nation. 1,17: adhuc Syriuse 
cadarerum odoribus spirant, adhuc Gulliae Rhodano suo non lavanl. 

>; Seuleneer a. a. O. hält die Gegend zwiſchen Rodetaillee und Neyron 
für bejonder8 geeignet. Die angeblid zwiſchen Sathonay und Rilliew 
gefundenen Schleuderbleie, die auf ein antikes Schladyifeld hinweiſen würden, 
find moderne Fälſchungen, vgl. Zangemeijter im C.J.L. IX n. 143* = 
Eph. epigr. 6, 122 n. 80°; zwei angeblid) ebendajelbji gefundene Bleie ohne 
Inichrift, die wohl aus derjelben Fabrik ftammen, ſah ih im Jahre 1878 in 
Zrevour bei Herrn Balentin Smith. 

) Vita Severi c. 11,7. 


Decimus Clodius Albinus. 451 


übereinjtimmende Berichte über den Verlauf derjelben geben Dio 
und Herodian. Nach beiden Echriftitellern wird der Flügel, den 
Severus fommandirt, von den Albinianern gejchlagen und Die 
Schlacht durd einen Flanfenangriff des Laetus, der in der Hoff. 
nung, daB beide Heere ſich aufreiben und ihm dann der erledigte 
Kaiſerthron zufallen würde, feine Truppen zurüdgehalten hatte, 
zu Gunſten des Severus entjchieden. Aber in Betreff der Rolle, 
die Eeverus in diejem Kampfe ſpielt, weichen die Berichte weient- 
li) von einander ab. Ber Dio fämpft Severus mit Heldenmutb: 
ein großer Theil feiner von ihm perjönlich zum Angriff geführten 
Garde wird getödtet, jein Schladhtroß geht ihm verloren, aber 
er wirft ſich mit gezüdtem Schwert, jein Feldherrngewand zer- 
reißend, jeinen in voller Flucht begriffenen Truppen entgegen, 
die bei dem Anblick ihres Kaiſers fehrt machen und die Albinianer 
in die Flucht jchlagen. Als Laetus eingreift, hatte fich nad) 
Dio der Sieg bereit3 dem Severus zugeneigt. Nach Herodian 
ftürzt dagegen Severus auf der Flucht vom Pferde und wirft 
den Kaiſermantel von jih, um nicht erfannt zu werden. Die 
Albinianer ftimmen bereits GSiegesgelänge an, da erjcheint Laetus, 
dem der Tod des Severus gemeldet war, und entjcheidet mit 
jeinen friichen Truppen die Schladt. 

Welcher diejer beiden Berichte iſt nun wohl der glaubs 
würdigere und auf wen gehen jie zurüd? Im allgemeinen ijt 
ja Dio, der dieje Zeit bereit3 im prätoriicher Rangftellung mit 
erlebt und die Ereigniffe jicherlich aufmerfjam verfolgt hat, uns 
zweifelhaft der befiere Zeuge; auch kann man ihn nicht einer 
Vorliebe für Severus, unter dejjen langer Regierung er nicht 
einmal zum Sonjulat gelangt it, insbejondere nicht in der 
Schilderung der Kataftrophe des Albinus bezichtigen!). Andrers 
jeitd ift Herodian, jo jcharf er auch über die Sraujamfeit und 
Geldgier des Severus urtheilt, doch ſeines Lobes als Feldherr 
voll und kennt kein Maaß in ſeiner Bewunderung gerade 


1) Vgl. beſonders Dio 75, 7: Ey’ ols Önkos yevonevos ws order em 
avroxpatopos ayador, Fri nahkor 1uas Ts xal Tor Öruor, vis Ensorsıher, 
Sepoßnoer. 

Hiftorifche Zeitſchriſt N. F. Bd. XLIII. 31 


482 ©. Hirſchfeld, 


betreff3 der Bejiegung de8 Niger und Albinus!). Aber hier wendet 
er jich bemußt gegen die Entjtellung der Thatjachen in gleich 
zeitigen Werfen und beruft ſich demgegenüber auf die unparter 
iſchen und wahrhaften Schriftfteller jener Zeit”). Wahrſcheinlich 
wird man dabei an Marius Marimus zu denken haben, da der gewiß 
aus ihm gefloffene furze Bericht in der Biographie des Severus 
injoweit mit Herodian übereinjtimmt, daß Severus für todt ge 
halten und beinahe ein anderer Kaiſer (d. 5. Laetus) an jeiner 
Stelle ausgerufen worden wäre): ein Seugnid, das umio 
ihwerer in's Gewicht fallen würde, wenn Marimus in der That, 
wie meijtentheils, freilid) ohne Beweis, angenommen wird, mit 
dem gleichnamigen bei Lyon fommandirenden General des Severus 
tdentiich wäre. Offenbar ift Dio's Darftellung die offizielle, deren 
Tendenz vorzüglich in der gefliffentlichen Betonung, daß der Sieg 
bereit3 durch den Heldenmuth des Kaijerd bei dem Eingreifen bes 
Laetus jo gut wie entfchieden gewejen jei, deutlich zu Tage tritt und 
die ohne Zweifel entiveder der Autobiographie des Severus oder 
wahricheinlicher dem Siegesbericht, den er nad) der Schlacht an 
den Senat jandte*), entitammt. Ja Dio geiteht indirekt jelbit 
zu, daß des Kaiſers Darftellung für den Schladhtbericht feine 
Quelle gewejen jei, wenn er unmittelbar darauf die Schilderung 
des jchmählichen Benehmens des Severus gegenüber der Leiche 
des Albinusd) mit den Worten beginnt: Acyw yag or 00a 6 








1) Herodian 3, 7,8 jtellt ihn diejer Thaten wegen über die größten 
Feldherrn der Römer; aud) bei feinem Tode rühmt er von ihm 3, 16,2: 
evdoforara Bıwoas, 6009 noos ra noksnıxa, Tav nwnorse Bacıldan. 

2) Herodian 3, 7,3; ws de Tıres TOv TÜTE ioTopToav, ol nos yapır 
alla nous aAnFeay Asyovres. 

>) Vita Severi c. 11, 2. 

*) Vita Severi c. 11, 4: ad senutum scripsit addita vratione victoriae. 

5, Über die verſchiedenen Angaben betreffs des Todes des Albinus vgl. 
Hoefner, Unterjud. 3. Geſch. d. Kaiſers Severus ©. 199 fi. Montfaucon, 
Antiqu. expliquee, supplem. Bd. 4 Taf. 19 glaubt die Scene, wie der balb- 
todte Albinus von Soldaten vor den auf einem adlerfürmigen Seſſel figenden 
Severus geſchleppt wird, auf einer Gemme zu erkennen und erklärt die darauf 
befindlichen Buchjtaben S- T- G (oder C) - M durch Stevere), t(enes) c(om- 
petitorem) m(urtuum). Einer Widerlegung bedarf diefe Ergänzung nicht; 
übrigens iſt wahrjcheinlidy die ganze Darjtellung gefäljcht. 





484 O. Hirſchfeld, Decimus Clodius Albinus. 


war es für Rom doch ein Glück, daß nicht dieſer unbedeutende 
und leicht zu bethörende Mann, ſondern ſein rüchkſichtsloſer und 
graufamer Gegner den Eieg davon getragen hat. Neues Leben 
hat freilic) aud) Severus dem morjchen Organismus nicht ein 
flößen können, aber wenigitend um ein Menſchenalter bat jeine 
zielbewwußte Energie den unabwendbaren Zuſammenbruch de 
Römerreiches hinausgejchoben. 


oderant senatores; denique victo eo plurimi senatores a Severo interfech 
sunt, qui eius partium vel vere fuerant vel esse videbantur; ähnlich vita 
Severi c. 12 (‘multi principes civitatis, multae feminae inlustres’') und c.13; 
Herodian 8, 5, 2 und 3, 8. 





Literaturbericht. 


H. H. v. Schwerin: Helgoland. Historisk - geografisk Under- 
sökning. Met 2 Kartblad och 1 Tafla.e Lund, Universitätsbuchhand- 
lung. 1896. 274, XXXIV ©. 


Die in den lebten Jahren raſch angeſchwollene Helgoland-Kitteratur 
erhält mit diefem Werke vom Auslande her einen Beitrag, der alles, 
wa3 feit dem vor 50 Sahren erfchienenen Wiebel’fhen Bude in die 
Deffentlichleit fam, weit überragt. Des Verfaflerd Nanıe hat auf dem 
Gebiete hiſtoriſch-geographiſcher Forſchung einen guten Klang, der 
gleid) durch feine erjte Arbeit über Herodot3 Darftellung der Geo⸗ 
graphie Europas begründet und durd feine Schriften über Sklaverei 
und Sktlavenhandel und den Muhamedanismus in Afrika befeitigt 
wurde. Das vorliegende Bud) ift ein wahres Mujterjtüd eingehender 
und felbjtändiger Forſchung. Der Bf. beginnt mit den älteften 
Nachrichten, die auf Helgoland bezogen worden find oder bezogen 
werden fünnen. Mit bejonderer Sorgfalt unterfucht er die bekannte 
Stelle Adam’3 von Bremen (IV, 3), die bejonderd Anlaß gegeben 
bat zu den übertricbenen, ja maßlofen Vorjtellungen von der ebe- 
maligen Größe Helgolands. Wenn fi) auch in Einzelnem Bedenken 
erheben, fo verdient doch die Umficht und Kühnheit der Kritik warme 
Anerfennung und bejonders die reihen geographiichen Nenntnifje und 
die umfaflende Belejenheit des Vf.'s auf den Örenzgebieten von Ge— 
Ihichte und Geographie. Das Märchen von einem ehemaligen nad) 
Duadratmeilen mefjenden, ja ſogar bis zum Feſtland hin ſich eritreden- 
den Helgoland zerjtört v. Schwerin für jeden Urtheilsjähigen volls 
jtändig und endgültig. Die Gleichjegung von Yarria mit Helgoland 
in der interpolierten Adamsitelle erflärt der Bf. höchſt anfprechend 
durch die Aufnahme einer auf Lindisfarne (Farn-Island) und feine 


486 Literaturbericht. 


Nachbarinſel Holy-Island (am äußerſten Nordende der Oſtküſte Enge 
lands) ſich beziehenden Nachricht. Den Namen der Inſel deutet er 
nicht, wie es ſeit jener Interpolation die Regel geworden iſt, al 
heilige Yand, fondern als Helland, Halland (Hellund, Hallund) = 
hohes Land, entiprechend dem Anblick, den die Inſel bat, und belegt 
das nicht nur durch Analogieen gleich benannter Inſeln, jondern auf 
durch die unter den Bewohnern Helgolands bis faſt zur Gegenwart 
gebräudliche Benennung und Auffajjung. In dem episcopus Far 
riensis einiger Urfunden und des Adam erfennt er unter Beibringung 
triftiger Gründe einen Biſchof der Faröer. Foſites-, Foſetisland, das 
Alkuins vita Willibrordi als eine an den Grenzen der Frieſen und 
Dänen belegene Inſel bezeichnet, und dad Adam mit SHelgoland- 
Farria identificirt, erklärt Schw. als Land Wurften. Die Nords 
friefen läßt er erit nad) Adams Zeit in die von ihnen beſetzten Se 
biete einmandern. Er hält dafür, daß Helgoland von jeher eine 
Doppelinſel war. Ihre beiden Theile, das gegenwärtige Helgoland 
und die öftlic) vorliegende Düne, waren bi$ zur Neujahrsnacht 1720/21 
durch einen fchmalen Streifen Landes verbunden, der nach Norden 
höher und fteinig, nad) Süden niedriger und jandig war und nur 
bon bejonders hohen Fluthen an feiner niedrigiten Stelle überjpült 
wurde. In der genannten Neujahrsnacht wurde er durchbroden, 
nachdem eine Reihe bejonderd gewaltſamer Fluthen in den Fahren 
1707— 1720 ſchon bedenklich an feinen Bejtande genagt hatten. Am 
1. Nov. 1711 war von einer diefer Fluthen auch der legte Reſt der 
„weigen Klippe“ himveggenommen worden, die am äußerjten Ende 
der DOftinfel (Düne) gelegen, diefe bis dahin gegen Die gefährlichen 
Nordiveititürme gededt hatte. Der in jener Neujahrdnacht entitandene 
Riß in der Verbindung der beiden Inſeln hat niemald ausgebeflert 
werden fönnen, fi) im Gegentheil bald erweitert und vertieft, jo daß 
ziemlich jeit einem Jahrhundert der gegenwärtige Zuftand beiteht, 
der bei mittlerem Wajjerjtande Schiffen von 5—6 m Tiefgang die 
Durchfahrt geftattet. v. Schw. ftelt in Abrede, daß die Inſel in 
hijtoriihen Zeiten jemals einen weſentlich größeren Umfang gehabt 
habe, als die dem Werke beigegebene Starte von 1697 zeigt. Mit 
größter, wohl zu großer Schärfe wendet jich der Bf. gegen Meyer's 
Starte und ihre willfürlien und abenteuerlihen Angaben. Einen 
Verſuch, die ungeführe Dauer der Inſel vorausfagen zu können. 
macht ex nicht, weil er mit echt beitreitet, daß Sichere Abbrödelung?- 
ziffern bis jegt ermittelt worden jeien; Die angeltellten Berechnungen 


Deutſche Landſchaften. 487 


weiſt er als völlig werthlos zurück. Er iſt aber ganz erfüllt von 
der Überzeugung, daß der Beſitz der Inſel für Deutſchland im höchſten 
Grade werthvoll ſei, und ſchließt ſeine anziehende und inhaltreiche 
Unterſuchung mit der Bemerkung: „Binnen Kurzem wird die vom 
Untergang gerettete, vormals ſo brockfällige Klippe, des 20. Jahr⸗ 
hunderts panzerbekleidetes Helgoland, zu ſeinem Wahlſpruch nehmen 
können das trotzig-patriotiſche: Feſt ſteht und treu.“ 
Heidelberg. Dietrich Schäfer. 


Das Lübeder Ober-Stadtbuch. Ein Beitrag zur Geſchichte der Rechts⸗ 
quellen und des Liegenſchaftsrechtes. Mit einem Urkundenbuche. Bon Dr. 
Paul Rehme, Privatdozent an der Univerfität Kiel. Hannover, Helwing'ſche 
Verlagsbuchhandlung. 1895. 413 ©. 


Es ift ein glüdliher Gedanke de3 Vf., durch die rechtsgeſchicht— 
lihe Darjtellung eines umfafjenden Stadtbuches das Fundament für 
eindringendere Unterjuchungen der Geſchichte unjerer deutfchen Grunde 
bücher zu ſchaffen. Schwerlich hätte ſich für die Aufgaben, die ſich 
Rehme gejtellt hat, ein beſſeres Beifpiel der ftädtifchen Grundbücher 
finden lafjen, ald gerade das Lübecker Ober-Stadtbud. Denn ſchwer⸗ 
li wird ihm ein anderes Grundbuch an die Seite geitellt werden 
fönnen, welches in jolhem Umfange und jolcher Regelmäßigfeit der 
Einjchreibungen erhalten iſt. Eine gejchlofjene Kette von Eintragungen 
aus einem Zeitraume von über 500 Jahren liegt in 74 Bänden vor. 
Cie beginnen mit den Jahre 1284 und enden im Jahre 1818. Cine 
Unterbrecyung findet ji nur in den Jahren 1811 bis 1814 während 
der franzöfifchen Oceupation; während dieſer Zeit find nur einmal im 
Sahre 1813 Einträge vorgenonımen worden. Der Endtermin des 
Sahres 1818 ward herbeigeführt durd die Wandlung, die ſich auf 
Grund der Lübeder Stadtbuchdordnung vom 6. Juni 1818 vollzog. 
Seitdem wechjelt das Syitem. Realfolien treten an die Stelle des 
bisherigen Modus der Eintragungen in rein dhronologiiher Reihen 
folge. Es iſt nah R.'s Anjicht ein äußerliches Moment, das dem 
Lübecker Oher-Stadtbud) feinen Namen gab: feine Aufbewahrung in 
den oberen Räumen ded Lübeder Rathhauſes. Schon feit dem 
zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts ſpricht man in Lübeck von einem 
Liber superior, der stat oversten bok, vorher von einem liber 
hereditatum für das gleihe Bud. Bekannt iit, daß dem Stadtbuche 
von 1284 ein älteres aus dem Jahre 1227 vorausging. Es wird 
jeit längerer Zeit vermißt und fcheint endgültig verloren zu fein. 


458 Literaturbericht. 


R. geht bei ſeiner Arbeit überlegt und ſorgfältig zu Werke. Er 
ſchickt eine allgemeine Einleitung über die lübiſchen Stadtbuchsver⸗ 
hältniſſe voraus (8 1), orientirt über Namen, Geſtalt und Einrichtung 
des Ober-Stadtbuchs (5 2 und 3) und fchließt hieran eine ums 
faffendere Unterjuchung über feinen Inhalt und über die Form’ der 
Einträge ($ 4-24). Bei Behandlung der beiden leßtgenannten 
Punkte wird der Nachweis erbracht, wie der Anhalt des Dber-Stadt: 
buches wechſelt, wie manches von der Eintragung ausfcheidet, mandes 
neu hinzukommt, welche Formeln zum Zwecke der Berlautbarung der 
Nechtögejchäfte verwendet, in welcher Form beijpieläweife Erbleibe, 
Kauf, Vergabung unter Lebenden und von Todes wegen, Servituten⸗ 
beitellung, Berpfändungen zur Einjchreibung gelangten. Aud auf 
ſcheinbare Nebenpunkte, die in Wirklichkeit für die praftifche Per. 
werthung des Grundbuchweſens von weitgehenditer Bedeutung waren, 
bat Bf. ein aufmerkſames Auge gehabt, (vgl. 3. B. die Ausführungen 
über die „Zuſätze“ der Einträge ©. 88 ff.). - Intereffant ift die Seit 
jtellung, wem diefe Entwidlung des lübiſchen Ober-Stadtbuchweſens 
zu verdanfen, wer Träger diejer Entwidlung geweien ift. Nach #3 
überzeugender Darlegung gebührt dieſes Verdienit den Buchrührern, 
d. h. den rechtöfundigen Stadtichreiben. „Fat jede Neuerung fällt 
mit einem Wechjel der Hand zufammen und taudt dann nicht plöplid 
auf, fondern bildet ſich allmählid zur Regel. Das gilt von den 
nebenfählihen wie von den weſentlichen Änderungen, es gilt ind 
bejondere von der Beurkundung der Auflajjung, von der Einführung 
des Supra= und des Infra-Zuſatzes, ja ſelbſt von der Theilung des 
Buches nad) den Kirchipielen, deren Beibehaltung nur von dem Rathe 
vorgeschrieben wurde“ ($ 24 a. E.). 

Belondered Gewicht möchte Ref. auf den weiteren Theil der Unter: 
fuhung — „Auflaſſung“ (8 25—29) und „Eintragung“ (8 30—40) — 
legen. Gerade jie bieten neue Geſichtspunkte und berichtigen cine 
Reihe von Fehlern früherer Arbeiten. Gleichzeitig beftätigen fie in 
beionderen Maße die von germanijtifcher Seite gehegten Erwartungen, 
daß gerade für die Geſchichte der Auflafjung im jtädtifchen Nechte 
durch Detailforihungen noch viel zu gewinnen fein würde. Eine 
Aufzählung von Cinzelheiten nad diefer Seite würde die Lejer 
diejer Zeitfchrift allzuſehr in juriftifche Detaild führen. Es ſei nur 
auf die Ergebnijje für die Nothiwendigfeit bzw. ntbehrlichkeit der 
Auflaſſung (S. 116 und 122), auf die Ausführungen über die Mit- 
wirfung der Erben bei VBeräußerungen (S. 132, 142 ff.), über die 


Deutihe Landſchaften. 489 


Vorausſetzungen (S. 185 ff.) und rechtliche Bedeutung der Eintragung 
S. 251 ff.) verwiefen. Zum Belege der fyitematifchen Daritellung 
ind in einen „Urkundenbudhe* (S. 273—408) ausgewählte Ein- 
ragungen des Ober-Stadtbuchs angefügt. Das im Wortlaute ab- 
zedrudte Material — indgejammt find es 436 Eintragungen aus den 
Xahren 1288 biß 1817 — bietet hierbei einen gedrängten Überblid über 
den geſammten vom Bf. behandelten Zeitraum des Ober-Stadtbuchs. 
Faſſen wir unfer Urtheil zufammen, jo fann es nur ein voll an= 
erfennendes jein. R.'s mühevolle Arbeit hat viel Fleiß und Geduld ges 
fordert. Sie darf aber auch den Anſpruch erheben, unjere Kenntniſſe 
über das deutjche Grundbuchweſen in reihen: Maße gefürdert zu haben. 
Gießen. Arthur B. Schmidt. 


Geſchichte der Lübeckiſchen Kirche von 1530 bis 1896, das ift Geſchichte 
des ehemaligen katholiſchen Bisthums und der nunmehrigen latholiſchen 
Gemeinde, jowie der fatholiichen Biſchöſe, Domherren und Ceelforger zu 
Kübel von 1580 bi8 1896. Bon E. Jlligend. Paderborn, Schöningh. 
1896. VII, 239 ©. 

Während der Haupttitel mit feiner tendenziöjen Einitlbigleit eine 
irreführende Anjicht von dem Inhalt und Zweck des Buches geben 
dürfte, wird man durch die breite Erläuterung des Nebentiteld 
darüber zur Genüge belehrt. Der Bf. iſt Paſtor der katholiſchen Ge- 
meinde in Lübeck und fchreibt in eriter Linie für feine Gemeinde— 
mitglieder; er wendet ſich darüber hinaus noch an einen größeren 
Leſerkreis, an alle Lübecker, die an lokalgeſchichtlicher Forſchung An— 
theil nehmen, und weiterhin an alle Katholiken Deutſchlands, um 
deren Wohlwollen zu direkter Uinterftügung jeiner Kirche anzurufen. 
Die praftiihen Zwecke eines ſolchen Appells haben an diefer Stelle 
feine Beurtheilung zu erfahren; und was die fpezifiich gemeinde— 
erbaulihen Abjichten des Buches angeht, jo läßt ſich nicht leugnen, 
dat jeine Nachrichten ein derartiges Intereſſe wohl zu befriedigen 
geeignet jind, zum Theil allerding3 einzig und allein auf dieſes In— 
terejje eines Heinjten Kreiſes berechnet fein können. Zumal wegen 
dieſes Leſerkreiſes iſt es anzuerfennen, daß der Bf. ſich von kon— 
feſſionellen Gehäſſigleiten durchaus und abſichtlich freihält. Auch 
die nicht katholiſchen Freunde der lübeck'ſchen Kirchengeſchichte werden 
ihm für die Mittheilung manches Details dankbar ſein. 

Aber das Buch erhebt auch auf eine wiſſenſchaftliche Beachtung 
einigen Anſpruch und erfordert aus dieſem Grunde hier eine Anzeige. 


490 Literaturbericht. 


Es will, wie der Titel beſagt, eine Geſchichte des „ehemaligen katho⸗ 
liihen Bisthums Lübeck“ feit 1530 liefern und glaubt durch ſeine 
Benupung der Literatur und mehrerer ungedrudter Archivalien zu 
ſolchen Ergebniffen gelangt zu fein, daß es ſich fpäterhin bei diejem 
Gegenitande „nur noch um minder wichtige Ergänzungen handeln 
kann.“ Dieſem Anſpruch fann das wiſſenſchaftliche Urtheil nur mit 
einer gänzlichen Ablehnung gegenübertreten. Der Bf. benutzt an m 
gedrucdten Tuellen außer feinen Pfarrarchive verfchiedene Aktenſtüde 
aus dem vatikaniſchen Archiv und aus dem Archiv der Propaganda: 
Kongregation in Rom, deren Mittheilung an ſich ganz wünſchenswerth 
iſt. Uber wie in aller Welt fann man die Gejchichte eines Bisthuus 
zu jchreiben unternehmen, ohne ſich im Öeringjten um die vornehmite 
Zuelle dafür, dad Archiv eben diefed Bisſthums und feine3 Tom: 
Eapitel3 jelbjt, zu fümmern, ohne ſich auch nur die Frage vorzulegen, 
ob und wo und in weldem Umfange diejes Archiv erhalten it? 
Schon aus dem Urkundenbuche des Bisthums Lübeck von Leverfus und 
danach aus Waitzens Wullenmwever hätte dem Bf. die Kunde fommen 
follen, daß die Beitände des Archives, Urkunden, Alten, Regiiter, 
Brief, Protofollbücher, in ihrem wejentlihen Umfange erhalten find 
und zum größten und werthvolliten Theile im großherzoglichen Haus 
und Gentralarchive zu Oldenburg beruhen, während der Reit id 
noch im Negierungsgebäude zu Eutin befindet. Da hätte ſich doch 
zum Mindeften ein Einblick verlohut; vielleicht würde der Vf. es 
ſelbſt als feine erjte Pflicht erkannt haben, zunächſt dieſes reiche und 
urfprüngliche Quellenmaterial zu durchforſchen, jtatt jich für feine vere 
meintlich abjchließende Darjtellung vereinzelte Aftenjtüde aus Rom 
zu holen, die bier doch nur ein gelehrtes Ornament darftellen. 

Tas Bud von Waig, das für die Reformation in Lübed dem 
Oldenburger Archiv eine Reihe von Notizen entnommen hat, iſt dem 
Bf. unglücklicherweiſe erjt nach der Vollendung jeiner eigenen Arbeit 
zu Gejichte gekommen; er Steht nicht an, in einen Nachtrage, der fait 
ein Neuntel des ganzen Buches ausmadıt, feitenlange wörtliche Auszüge 
aus Waitz und einigen anderen Werfen binterherzujchiden. Die ganze 
Tarjtellung zeigt überhaupt, daß der Stoff in jehr unvollfonmener 
MWeife verarbeitet it. Der Text beiteht theilmweife nur aus einer An- 
einanderreifung von Wltenauszügen; während der Anhang eine 
Anzahl ungedrudter Aftenjtücde zufammenjtellt, werden im Texte die: 
jelben Aftenjtüde in einer ſich über viele Seiten binziehenden Über: 
jegung mitgetheilt; an anderer Steile werden lange fateiniiche Alten 


Deutiche Landſchaften. 491 


in den Text eingejchoben, bei denen man jich vergeblich fragt, weshalb 
fie nicht mit ähnlichen Stüden in den Anhang verwielen jind. Auch 
trägt der Zwieſpalt, der fih in dem Thema des Buches befindet, 
nicht dazu bei, den Bufammenhang und die Überfichtlichleit der Dar- 
ftelung zu erhöhen; auch während ded 17. und 18. Jahrhunderts 
läßt ſich die Geſchichte der katholiſchen Minorität des Domkapitels 
nicht völlig von der Gedichte des lutheriſchen Bisthums und der 
lutheriſchen Majorität des Domkapitels loslöſen und jtatt deſſen allein 
in Verbindung mit der neufatholifhen Propaganda und den Une 
fängen der heutigen katholiſchen Gemeinde darjtellen. 
Berlin. Hernıann Oncken. 


Tag alte Bergreht von Iglau und jeine bergrechtlichen Schöffenfprüche. 
Herausgegeben von Dr. 3. A. Tomaſchek Edlen von Stradowa. Mit 
Unterjtügung der faif. Akademie der Wifjenjchaften zu Wien. Innsbruck, 
Ragner. 1897. XVI, 213 ©. 


Der Vf. deffen „Deutfches Recht in Ofterreich“ (1859) und „Ober: 
bof Iglau“ (1868) von grundlegender Bedeutung geworden find, hat 
vor beinahe 40 Jahren eine Bearbeitung des Iglauer Bergrechts in 
Ausiicht gejtellt. ES iſt ihm nicht entgangen, eine wie umfaſſende 
Aufgabe das war. Das Iglauer Bergrecht — oder, wenn man noch 
weiter zurüdgehen will, feine Hauptquelle, da3 zuerjt in Freiberg i/S. 
zur Fixirung gelangte Berggewohnheitsredht — hat eine wahre Welt- 
wanderung durchgemacht; wo überhaupt Bergbau betrieben und damit 
Feſtſetzung bergrechtlicher Norınen nothivendig wurde, da finden mir 
Spuren jener alten meißnifchemährifchen Rechte. So läßt fid) eine er— 
Ihöpfende Bearbeitung des Iglauer Bergrechts fauın lofalifiren; fie 
deckt jich nahezu mit der Geſchichte des allgemeinen Bergredht3 und 
dieje ıwieder hängt auf'3 innigſte zuſammen mit der allgemeinen Ges 
Ihichte des Bergbaus, einem bisher noch wenig behandelten Gebiet, 
defien Bearbeitung nicht bloß rechtswiſſenſchaftliche und volfswirth- 
Ichaftlicye, fondern auch bergtechniſche Kenntniſſe vorausſetzt. Der Bf. 
hat denn aud) jrüher beabjichtigt, die Darjtellung des Iglauer Berg: 
recht3 zu einer Geſchichte des Bergbaus in Deutjchland auszugeitalten 
— es ijt ihm aber fo gegangen, wie dem Ref., deiten Arbeiten über 
das Freiberger Bergrecht zunächſt viel weiter angelegt waren und 
ſchließlich doch wenig über eine Fritiide Materialſammlung hinaus 
gefommen find. Aber jo jehr man auch bedauern mag, daß T. nicht 
wenigftend eine ſyſtematiſche Daritellung des Rechtsſtoffs beigefügt 


492 Biteraturberidht. 


bat, jo müflen wir doch für das, was er bietet, aufrichtig dankbar 
fein und fein Werk als einen weſentlichen Fortſchritt auf dem Wege 
zu einer Gejchichte des Bergrechts bezeichnen. 

Es enthält zunächſt einige zufammenhängende Iglauer Bergredti 
quellen: die bergrechtlihen Abjchnitte der Stadtrechtdurfunde von 1249 
(1349 auf ©. 1 ift ein jtörender Drudjehler) nebft der Überſetzung 
des Stadtjchreiberd Joh. v. Gelnhauſen und die Varianten der jpäteren 
Redaction diefer Urkunde — beided war ſchon gedrudt (und zwar 
mit weniger Drudfehlern) in T.'s Deutihem Recht in Xifterreid 
E. 303 ff. — und dad „Deutſche Iglauer Bergrecht“, von dem 
bisher nur ein lüdenhafter Abdrud (in 3. U. Schmid's Ardiv für 
Bergwerksgeſchichte 2, 191) vorlag, eine ſehr wichtige Aufzeichnung, 
da fie vorzugsweiſe für Rechtömittheilungen nah auswärts benupt 
wurde, die doch häufiger vorfamen, als man nad) der Cinleitung 
5. XV annehmen jollte (vgl. mein Sächſ. Bergrecht des Dkittelalterd 
S. LXIX). So zeigt auch die Rechtsmittheilung, die T310—1327 
an den Nat zu Freiberg erging (gedrudt a.a.D. ©. 20ff.), eine 
nahe VBerwandtichaft mit jener im Iglauer Archiv vorhandenen Auf: 
zeichnung, die ich Danf der Gefälligfeit der Iglauer Stadtbehörde 
i. 3. für die Edition der nur in einer mangelhajten und unvol- 
jtändigen Abſchrift erhaltenen Freiberger Rechtsweiſung benupen 
konnte. Dann folgen, abgefehen von einer Heinen Notiz über die 
Constitutiones metallicae regis Wenceslai IL (nicht ILL.) und einer 
Wiederholung eines ſchon mehrfach gedrudten Weisthums für Klofter 
Leubus in Sclefien von etwa 1268 (de3 einzigen Iglauer Schöffen⸗ 
ſpruchs aus den 13. Jahrhundert), 152 Weidthümer und Urtel dei 
Sglauer Bergſchöffenſtuhls aus verjchiedenen Handſchriften, deren 
nähere Bejchreibung T. ſchon in feinem Werke über den Oberhof 
Iglau gegeben hatte. Sie umfajjen die Zeit von der Dlitte dei 
14. bi8 in die erjten Sahrzehnte des 16. Jahrhunderts und bieten 
ein überaus reiches Material für die Kenntnis des Iglauer Berg: 
rechts und der Praxis des dortigen Schöffenſtuhls; zu bedauern üt 
nur, daß der ſpröde Stoff nicht durd ein Sachregifter und Anmerkungen 
oder wenigitend Hinweiſe auf die einjchlagenden Paragraphen der 
Bergrechte leichter benußbar gemadt worden iſt. Der ältejte berg: 
rechtlide Eoder des Sglauer Stadtardjivs verdient bejonders wegen 
jeiner erjten 43 Einträge Beadjtung, die eine erweiterte Nedaction 
des Deutſchen Iglauer Bergrechts daritellen; von den Zufägen zu 
demfelben haben vier (no. 33—36) ficher auch in der Aglauer Rechts⸗ 


Deutſche Landſchaften. 493 


weiſung nach Freiberg geſtanden, da ſie ſich inhaltlich und theilweiſe 
wörtlich im Freiberger Bergrecht B (8 42, 38, 41, 37 meiner Aus— 
gabe) finden. 

Das Gebiet, innerhalb deſſen Iglau als Oberhof in Bergrecdht2« 
lachen galt, bejchränfte fid, nad) unferen Urkunden auf Böhmen, Mähren 
und Sclefien; wenn T. (S. V ff.) auch Meißen dazu rechnen will, 
fo fann man ihm ſchwerlich recht geben: erbat ſich aud Freiberg 
einjt eine Nechtömittheilung aus Iglau und wurden aud) ſpäter ger 
legentlidy) Anfragen von Meißen aus an die erfahrenen Schöffen in 
Iglau gerichtet, jo hat doc) ein regelmäßiger Rechtszug nad) Iglau 
weder von Freiberg noch von jonjtigen ſächſiſchen Bergjtädten aus 
jtattgefunden, ja der Iglauer Rath weiſt oft Anfragen aus Meißen 
zurüd (vgl. S. 171. 173. 177 u.6.)., — Dabei mag darauf Bin» 
gewiejen ıwerden, daß die Jahrzahl 1450 in einem Scöffeniprud) 
nad) Schneeberg (no. 130, S. 149) unmöglich richtig iſt; 1450 war 
der Schneeberg noch gar nicht fündig, vor 1470 hat es ſchwerlich hier 
ein Berggericht gegeben, und die drei dort genannten Gruben fommen 
erit in den Jahren 1476— 1500 vor. Auch gehört der Sprud) No. 149 
(S. 177) nit in’8 15. Jahrhundert (S. 208), ſondern in's 16.; 
Annaberg erhielt diefen Ramen erjt durch faiferl. Urkunde von 
22. März 1501. 

ALS Anhang jind dad Bergredht der mähriſchen Stadt Jamuitz 
(1537), eine Aufzeichnung über das Bergredht ungarifcher Bergſtädte 
(1498— 1500) und ein Nuttenberger, von Iglau aus approbirter 
Schöffenſpruch (1514) beigefügt. Die Verzeichniffe der Ortichaften, die 
mit Iglau in bergrectlichen Beziehungen ftanden, und hervorragender 
Berjonen, die in den Schöffeniprüdhen erwähnt werden, hätten ſich 
durch Beifügung der Geitenzahlen leicht in ein Orts- und Berjonen« 
regijter ummandeln laflen, das der Benutzer ſchmerzlich vermißt. 

Dreöden. H. Ermisch. 


Studien über die Entwidiung des Bergregals in Sclefien. Bon Dr. 
Konrad Wutle. Berlin, J. U. Stargardt. 1897. V, 211 S. 


Seit dem epochemiachenden Bud von Ad. Arndt: „Zur Geſchichte 
und Theorie de Bergregald und der Bergbaujreiheit” (Halle 1879), 
in dem der Nachweis geführt iſt, daß im 12. und 13. Jahrhundert 
dad Bergregal in Deutichland überall gegolten hat und die Bergbau— 
freiheit lediglicd) ald abgeleitet vom Bergregal anzufehen iſt und daß 
auch die fpätere Entwidlung ſich durchaus auf dieſer Grundlage 


494 Literaturbericht. 


vollzog, iſt keine größere Arbeit über dieſe Fundamentalfragen de 
Bergrechts erſchienen. Auch die vorliegende fleißige und ſcharjſinnige 
Arbeit geht auf die Entſtehung und älteſte Entwicklung des Berg 
regald nicht näher ein; ihr Schwerpunkt liegt in der Beantwortung 
der trage, wie jich daS Bergregal in Schleſien entwidelt hat, nachdem 
die ſchleſiſchen Fürſten durch die Unterwerfung unter die Lehnshoheit 
Böhmens im 14. Jahrhundert ihre Souveränität verloren hatten. 
Sie wendet ſich dabei mit aller Entſchiedenheit gegen die Auffaſſung, 
die Emil Steinbeck in ſeiner Geſchichte des ſchleſiſchen Bergbaus 
(Breslau 1857) vertritt, und die im Weſentlichen darauf hinausläuft, 
daß das jus ducale, das aud) nad) der Unterwerfung unter Böhmen 
den ſchleſiſchen Fürſten verblieb, jih mit dem jus regale völlig 
deckte. Die Belege, die Steinbed dafür anzieht, find theils, wie die 
Urkunden für Qeubus von 1178, für Grüßau von 1352, ala Fälfchungen 
nachgewiejen. theils befagen fie nicht dad, was Eteinbed aus ihnen 
herauslas; Wutke beweilt vielmehr, daß das jus ducale — menn 
auch feine urjprünglide Bedeutung eine weitere war — jeit dem 
14. Zahrhundert fi) hauptſächlich nur auf die oberfte Gerichtöbareit 
bezog. Steinbeck's Grundanſchauung, daB auch fpäter die ſchleſiſchen 
Fürſten Theile ihrer Territorien mit der vollen Regalität, alſo auch 
dem Bergregal, veräußern konnten, iſt falſch; nur der neue Ober 
lehnöherr, der König von Böhmen, war Inhaber der Regalıen. 
Durch die goldene Bulle, die den Kurfürjten den Befit der Negalien 
zuerfannte, wurde dies lediglich beftätigt; und die jpäteren Könige 
Böhmens, die ihre Oberherrlichkeit über die Fürſten Schleſiens 
immer weiter ausbauten und fie mehr und mehr auf die Stufe 
böhmifcher Großgrundbeliger herabzudrüden juchten, haben an ihren 
Regalrechten durchweg feitgehalten. Dies jpiegelt jich wieder in der 
ſtaatsrechtlichen Entwidlung der ſog. Standesherrfchaften, mit denen 
jih der größere Theil des Werkes beſchäftigt. Auf Grund eines 
reihen Meateriald führt der Bf. den Nachweis, dab eine redt- 
verbindliche Übertragung der fgl. Regalrechte und insbefondere des 
Bergregald an die Beliter diefer Standesherrfchaften niemals jtatt- 
gefunden hat, fondern daß es jich bei allen Privilegien, die ſich auf 
den Bergbau beziehen, lediglich um beſtimmte einzelne Bergwerke 
oder um zeitlich bejchränfte Befreiungen handelt. Beſonders eu 
gehend ift dies für die Standesherrjchait Pleß nachgewieſen; gleiche 
Verhältnifje fehren wieder in den Standesherrichaften Wartenberg, 
Trahenberg und Militfch, Sägerndorf, Leobihüg, Loslau, Freuden 





496 Literaturbericht. 


geſchichtlichen Beziehungen zum Hauſe Habsburg; aber zwiſchen dem 
hierin rivaliſirenden, wenn auch in ſeinen Anſprüchen weniger 
berechtigten St. Blaſien und feiner Gelehrtenakademie und den Ge 
lehrten von Wuri erhebt ſich ein äußerit leidenfchaftlicher Streit, dem 
ſchließlich — nad) 1760 — durch Gebote aud Rom und aus Wien 
Stillihweigen auferlegt wurde. Mit einem P. Herrgott konnte ſich 
Muri freilich nicht meſſen; aber der gelehrte Hiftorifer Fridolin Kopp, 
der 1751 —1757 Abt war, und P. Joh. Baptift Wieland, der gegen 
den Sanblafianer P. Heer die Vindiciae Vindiciarum Koppianarım 
ſchrieb, waren doch jehr nennenswerthe Vertreter benediktinifcer 
Wiſſenſchaft. Nah dem Sturm der belvetiichen Revolution 1798, 
der den damaligen Fürſtabt zur Emigration zwang, den im Kloſter 
zuriicgebliebenen Kapitularen die größten Heimfuchungen auferlegte — 
ebenjo gingen durch die Umwälzung im Deutichen Reiche die dortigen 
Herrihaften an den Fürften von Hohenzollern - Sigmaringen ver: 
loren —, kam e8 zur nachmaligen Wiederaufrichtung des Stiftes. Aber 
dasjelbe war durch die Neueinrichtung der Eidgenofjenichaft jet einer 
fantonalen Pegierung unterworfen. Der durch die Mediations⸗ 
verfafjung begründete Kanton Aargau war ein konfeſſionell part 
tätijche3 Gebilde; die feit dem Jahre 1830 neu erwachſende Reibung 
zwifhen den politifhen Parteien mußte nothwendig im dieſen 
gemifchten Territorien fi) auf den Boden der religiöjen Gegenjäht 
übertragen; feit 1835 war außerdem die jtaatlidie Verwaltung det 
Güter der im Kantonsgebiet eriftirenden Klöſter eingerichtet worden, 
und als 1838 eine Neuwahl für den durch Tod erledigten Stuhl dei 
Abtes eintrat, machte die Regierung ihre Rechte in einfchneidender 
Weife geltend. So wurde Muri der ſich von felbft ergebende Mittel 
punft, als die fatholifhe Bevölkerung des öftlihen SKantontheil 
1841 gegen eine neue, in der Ahbftimmung mit geringer Majorität 
angenommene Santonalverfaffung fi) erhob, und ebenſo lag ed für 
Die ſiegende radikale Partei nahe genug, die ganze Schuld jept den 
Klöſtern aufzubürden und zu deren Aufhebung zu fchreiten. Eine 
Hauptanklage gegen Muri war die von aller Welt geglaubte, aud 
jetzt noch vielfach durch die landläufige Gejchichtserzählung verbreitete 
Anſchuldigung, daß am 11. Januar, dem kritiihen Tage, mit den 
Ktlojtergloden Sturm geläutet worden fei; aber in einer für die Auf 
löjung hiſtoriſcher Parteimärchen geradezu typiſchen Weife iſt 18%, 
nachden: eine in Aarau gehaltene öffentliche Rede die Sache neuer 
dings un das Tageslicht gezerrt hatte, dur) Abhörung von zwanzig 





498 Literaturbericht. 


wirklich bedeutenden Abtheilungen des Campell'ſchen Buches hervor⸗ 
gezogen hatte. 

Der Leiter der Sammlung der „Quellen zur Schweizer Ge— 
fhidhte*, Dr. H. Wartmann in St. Gallen, der ſich überhaupt um 
die ganze Edition die größten Verdienite erivarb, ſtellt in feiner 
umfangreichen Einleitung zu Bd. 9 den thatſächlichen Werth diejer 
rätiſchen Geſchichte in das rechte Licht. 

Tie von den Urjprüngen des rätifchen Volles bis auf Campells 
eigene Zeit — der Autor ſtarb 1582 als Pfarrer zu Schleins im 
Unterengadin — reichende Geſchichte ijt im weſentlichen ein jehr 
fhmwerfällige8 Werl. Campell itand, da er für den großen Werth 
urfundlider Schäße entweder fein Verſtändnis hatte, oder da er 
ſolche nit für ſich aufzufchließen vermodte, vor äußerit dürftigem 
älterem hiftorifhem Material, jo daß er inäbefondere auf die 1548 
in Zürich erfchienene eidgenöfiifche Chronif von Stumpff, auf Kaspar 
Bruſch's Verzeihnid der Eurer Biſchöfe griff und in dem ganzen 
Abjchnitte über das Mittelalter in der Hauptſache bloß Stumpff aus 
zog und überfegte, in den lang gedehnten Kapiteln: Raetia servit, 
oder: Raetia usque adhuc servit, oder: Raetia spem libertatis 
fovet, oder: Raetia libertati recuperandae vicina und ähnlid, bis 
endli mit 1437 die Raetia foederata et libera erreicht iſt. Denn 
Campell ift als romaniſcher Engadiner von der Anficht erfüllt, die 
Hereinziehung feines Landes in das mittelalterliche römijch = deutihe 
Reich fei eine Zeit der Knechtſchaft geweſen, die erft durd die Ent- 
itehung der drei Bünde von einer neuen Freiheit abgelöjt worden 
jei. Werthvoller wird die Gefchichtserzählung vom Schwabenkriege 
an, wo ſchon perjönliche Überlieferung dad vorgefundene Material 
ergänzt, durch das 16. Sahrhundert hin. Denn mündliche Mit 
theilungen des Vaters, ferner jeined Lehrers, des Reformators 
Bhilipp Gallitius, offizielle Alten ftanden ihm Bier zu Gebote; von 
der Mitte des Sahrhundert3 an nahm Campell felbjt im Engadin 
und in Eur als reformirter Prediger an den Dingen lebhaften Ans 
theil, und zivar als heftiger Parteimann, jo als Gegner des in 
politiiche Prozeſſe zum Tode gebrachten fatholiihen Staatsmanne 
Dr. Sohann v. Planta (9. 3. 67, 162—164). Eine ermüdende 
Weitjchweifigfeit fehlt zwar aud) in diefen Partieen der zeitgenöſſiſchen 
Geſchichte nicht, jo daß da manche allzumweit ausgefponnene morali— 
jirende vder dogmatiſche Betrachtungen in der Wusgabe verkürzt 
wurden. Ein ausdrüdliched Gepräge empfängt dad Werf auch durch 





500 Xiteraturberidtt. 


Strohſitz herab daß: „Heute wir, morgen ihr“ der aufgeregten Menge 
drohend in’3 Geſicht wirft. Der Abgang in die Schweiz nad) dem 
nißlungenen Feldzug von 1792 mit der Hoffnung, unter piemonteſiſch- 
ſchweizeriſcher Fahne für das Königthum zu Fechten, beendigt den 
Band. 

Glücklicherweiſe jpricht bei alledem der Bf. mehr von dem, was 
er fieht und erlebt, ald von feinem individuellen Thun. Er befigt 
in hohem Grade die Babe, ſcharf aufzufajlen und pifant zu ſchildern, 
manchmal allerding3 mit etwas zu breiter Behaglichkeit; nicht immer 
lieft er ſich leicht. Erſt im 69. Lebensjahr (1838) hat er, allen ehr- 
geizigen Illuſionen definitiv entfagend, die Hand an die Darftellung 
jeines Lebens gelegt. Selten, 3.8. bei Berührung einer mythologiſchen 
Frage, die ihm im Harz aufitößt, ſucht er außer ſich Belehrung. 
Auh für die 40-50 Jahre ferne Vergangenheit ift fein eritaunlid 
friſches Gedächtnis ihm der Führer. Und, um es gleidy zu fagen, 
man Hat den Eindrud, daß ein wahrhaftiger Mann redet. ber 
freifih fann das ja nicht ohne weiterd bemweifend fein für die Treue 
des Gedächtnifjes zurüd in fo ferne Zeit und für bie Nichtigkeit zahl 
reicher interefjanter Erlebnijje, die felbit der gelehrte Herausgeber 
theild nur mit einem „fann wahr fein” (Verhalten im Prozeß Favras), 
theild gar nicht beitimmen fann. Zuweilen lajjen jich Zweifel nidt 
abweifen. So wenn Norvind nah Schilderung der Ichredendvollen 
Eindrüde am 5. und 6. Oftober 1789 jeiner Zulaffung bei emem 
Abendempjang des unglüdlichen Königspaares in den Tuilerien mit 
den Worten fchließlich gedenkt: „Und wenn ich hundert Jahre alt 
würde, fo würde ich in meiner legten Stunde mich noch des Eindruds 
erinnern, den ich empfing, al3 ich die Königin grüßte, ohne fie zu 
erfennen. Alle ihre Haare waren grau geworden.“ (S. 228). Wenn ein 
Irrthum über diefen fo in's Centrum feiner damaligen Gefühld 
welt dringenden „Eindrud“ dem Bf. pafjirt fein könnte, der die 
Treue feines Gedächtniſſes fo rühmt (avis au lecteur) und obendrein 
verjichert, daß feine Eindrücke noch treuer jeien, als feine Erinnerung 
(S. 236), jo müßte nach meinem Gefühl die objektive Zuverläſſigkeit 
Korvins als recht fraglich erjcheinen. 

Ohne endgültig zu urtheilen, will ich erwähnen, daß andere 
Beſucher der Königin aus jenen Tagen, Bailly, Pasquier u. a., ſo 
ſehr ſie die hohe Frau verändert fanden, jene pathologiſche Erſcheinung 
nicht erwähnen. Sicher ſind die Memoiren der Frau v. Campan 
flüchtig und unzuverläſſig, aber man wird ſich doch nicht leicht ent⸗ 





502 Literaturbericht. 


drucke W. Gieſebrecht's ſeine Grundauffaſſung des weltgeſchichtlichen 
Vorgangs, daß er nicht die Folge einer von langer Hand geplanten 
Verſchwörung Einzelner, jondern ein ſpontaner Aft des empörten Boll 
willens der Polermitaner geweſen ſei, „mehr behauptet als bewieſen“ 
babe, verſuchte ich dieſen Beweis nachträglich in einer Abhandlung 
zu führen, die 1871 in dieſer Beitfchrift veröffentlidt worden iſt 
Tazu mußte ich mich vor allem mit der mir bis dahin fremd geblie 
benen Chronik ©. Villani's bejchäftigen. Denn darum handelte e& jid 
bei diejer Streitfrage ganz bejonders, ob die in ſicilianiſchem Dialekte 
gejchriebene Legenda di Giovanni da Procida die Grundlage der 
ausführlichen Erzählung Villani's jei, oder ob jene Legende Villani 
oder einer Quelle desfelben entnommen fei. Die Unterfuchung hier: 
von führte mich auf die Duellen der Chronif Villani’3, bzw. zu denen 
der Stadtgefhichte von Florenz überhaupt. Sch fand hier zu meinem 
größten Erftaunen, daß für fie jo gut wie alle noch zu thun jei. 
Die Ausgaben der Chronif Villani's gaben feine Ausfunft hierüber 
und die bis dahin erfchienenen Geſchichten von Florenz ebenjomwenig. 
Die befannte Schrift von Gervinus über die florentinifche Hiftorio- 
graphie hatte jich ja ganz andere Ziele gejtedt, und die Schrift K. Hille: 
brand’3 über Dino Compagni faßte nur eine relativ junge Periode 
der Stadt, die Zeit Dunte’s, in's Auge. Da nun ungefähr gleid- 
zeitig mit diefer meiner Unterſuchung die ausgezeichnete Abhandlung 
von Scheffer-Boichorſt erfchien, in der unwiderleglich bewieſen wurde, 
daß die Chronik der ſog. Malefpini, die man bisher al& eine Haupt: 
quelle ©. Villani's angefehen hatte, eine Fälſchung fei, jo beſchloß 
ih, nich auf diefem Forſchungsgebiet näher umzuſehen. Ich that 
das, weil mir die herrliche Stadt Florenz, die italienijchite aller 
italieniichen Städte, befonderd an's Herz gewachſen war, und id 
hoffen durfte, doch noch etwas Neues zur Aufflärung ihrer Geſchichte 
beitragen zu fönnen. Denn wenn ich auch feine Darjtellung ihrer 
Anfänge und älteften Geſchichte bei dem ſtets leidenden Zuſtande 
meiner Augen fchreiben fonnte, jo glaubte id doch in einzelnen Ab- 
handlungen und Forſchungen, die ich beliebig abbrechen durfte, eine 
jihere Grundlage für einen fpäteren glüdlicheren Gejchichtjchreiber 
heritellen zu fönnen. Ich hoffe, diefe meine Abficht zum guten Theil 
erreicht zu haben; denn, ich habe eine Anzahl Chroniken und rag 
mente von jolhen, die bisher zum guten Theil ganz unbelannt oder 
nicht genügend veröffentlicht waren, mit ausführliden Kinleitungen 
und hiſtoriſchen Kommentaren herausgeben können. Auf wiederholten 


Stalien. 503 


Heilen nad) Florenz und durch das freundliche Entgegentommen der 
Vorjtände aller Archive und Bibliothefen, auf denen ich nachzuſehen 
hatte, iſt dies Refultat zu erreihen gelungen. Wenn ein nicht 
gerade als wohlwollend befannter Recenſent in diefer Zeitfchrift an 
dem 1. Hefte meiner „Quellen und Forſchungen“ Einiges vermißt 
bat, was er nachzuholen ji) dann ſofort anjchidte, jo konnte das 
nur gejchehen, weil der Kritifer nicht wußte, was ich im weiteren 
Verlaufe der Unterfuhungen zu bringen beabjichtigte. 

Daß meine Nachforſchungen nad unbekannten Chronifen der Arno= 
jtadt nicht ganz oberflächlicdy gewejen iind, bezeugt indireft auch das 
große und gründliche Werk, mit dem wir uns hier näher zu bejchäftigen 
haben. Denn feinem Autor ijt es, abgejehen von einem handjchriftlichen 
Funde, der mit der Geſchichte der Stadt nur indirekt zufammenhängt, 
nicht gelungen, auch nur eine Chronik zur Stadtgeſchichte neu auf: 
zufinden. Dagegen hat cr den Namen des Mannes entdedt, der die 
erjten Aufzeichnungen in italienischer Sprade zur Stadtgefchichte in 
die Form gebracht hat, in der fie bis zur Zeit ©. Villani's beliebt 
waren und in deflen Chronik zum Theil wörtlich eingerüdt worden 
find. Piero Bonfante, raccontatore delle storie, wie er ſich felbit 
nennt, feinen Beruf nad) ein judex zu Zlorenz, ift es nämlich ges 
iwejen, der zuerit den Martinus Polonus in's Stalienifche auszugsweiſe 
überjegt und in dieſe Arbeit dürftige Notizen über Vorgänge in Florenz 
eingejhoben Hat, die dann zu den jog. Gesta Florentinorum aus: 
gewachien und in dem von mir herausgegebenen Codex Neapolitanus 
am Beiten erhalten find. (S. Davidfohn, Forſchungen ©. 165 u. f.) 

Zu den Gründen, die mich beſtimmen mußten, auf eine zufanınen= 
bängende Darſtellung der älteren Geſchichte von Florenz zu verzichten, 
gehörte nicht in leßter Linie der, daß ich nicht im Stande war, alle 
die zahlreichen Urkunden zu ftudiren, die aus den Archiven Toskanas 
für die Gefchichte des Landes fchon herausgegeben waren. Noch weit 
weniger fonnte ich ed meinen Augen zumutbhen, das nuch weit grüßere 
Altenmaterial zu durchjorjchen, das in dieſen noch unpublizirt lag. 
Sch hätte das freilih billig haben fönnen, wenn ich es fo gemacht 
hätte, wie Herr Perrens, der nad) den Citaten jeiner bändereichen 
Geſchichte von Florenz großartige ardivalifhe Studien gemadt zu 
buben jcheint, in der That aber faſt nur die zahlreichen Regiſterbände 
de3 Florentmer Staatsarchivs angejehen hat. Das konnte mir nicht 
genügen. Tu ich aber doch zu meinen hijtoriihen Kommentaren der 
Annalen der Urkunden nicht ganz entbehren konnte, jo habe ich die 


504 Literaturbericht. 


wichtigſten im Archive von Florenz eingeſehen und die zum Theil 
ſehr werthvollen Ergänzungen zu ihnen aus dem Sieneſer Ardiv 
nah den Excerpten meined veritorbenen Freundes Th. Wüſtenſeld 
benutzt, foweit ich deſſen Handjchrift entziffern konnte. 

Das, man darf wohl jagen, ungeheuere Urklundenmaterial, ge 
drucktes wie ungedrudted, jorgfältig durchforſcht zu haben, ift das 
erite Verdienft des Herrn D. Es gibt fein großes Öffentliches Ardiv 
Toskanas, in dem er etwas für feine Zwecke zu finden hoffte, das 
er nicht dDurchmuftert und excerpirt hätte. Auch Kirchen und Privat- 
ardive einzelner alter Familien hat er fleißig ftudirt. Mehr als 
jieben Jahre lang hat er, in Florenz lebend, feiue ganze Arbeitökraft 
darauf verwendet, alte erreichbare Quellen für vie Gefchichte der 
Arnoſtadt zu fammeln, zu fichten, durchzuarbeiten und in einer ge: 
ihmadvollen, durchaus gut gejchriebenen und gedanfenreihen Erzäh: 
lung zu verwerthen. Tas werden alle unbejangenen Leſer dieler 
ausführlichen Gefhichte der Anfänge von Florenz behaupten müflen, 
foviel Einfprudy im einzelnen fie auch gegen neue Aufitellungen ihres 
Autord erheben und Zweifel darüber ausfprechen mögen, ob er nidt 
in fein Werk die Gejammtgefchichte Staliend und der Toskanas ind- 
bejondere zu ausführlich Hineingezogen habe. 

Für eine jede geſchichtliche Monographie iſt es fchwierig, das 
rechte Verhältnis zu finden, in dem die Erzählung des Allgemeinen 
zu der des Beſonderen ſtehen ſoll. Und das umſo ſchwieriger, wenn 
und aus den Anfängen einer geſchichtlichen Bildung nur ganz ver 
einzelte, abgerifjene Notizen vorliegen, und man nit nur das Bes 
dürjnid empfindet, ihre Bedeutung und ihren Zuſammenhang mit den 
gleichzeitigen allgemeinen Vorgängen flarzulegen, ſondern auch aus 
reinen fchriftjtelleriichen Stilgefühl heraus die einzelnen Theile der 
Erzählung in ein nicht allzugroßes Mißverhältnis gerathen zu laflen. 
Se nahdem nun der Lejer einer Monographie diefe8 Stilgefühl 
gelten laſſen wird und über die Beitverhältniffe unterrichtet ift, in 
der der Veriaſſer einer Monographie jeine Einzelheiten einzutragen 
hat, ehe ji die Erzählung im breiten vollen Fluſſe der Darjtellung, 
ohne von allzuvielen Untiefen und Katarakten unterbrochen zu werden, 
dahin bewegen fann, wird fein Urtheil über die Nidhtigfeit des in 
dDiejer Beziehung dom Autor innegehaltenen Maßes fchwanfen. Im 
großen und ganzen möchte ich für meine Perſon die vorliegende 
Arbeit, die fih, wie jchon die Trennung von Darftellung und For⸗ 
ihung beweijt, an einen größeren Leſerkreis wendet, wenn fie aud 





506 Literaturberidt. 


Nicht im äußeren Anſchluß an dieje Kapiteleintheilung find die 
„Forſchungen“ gehalten, die Davidſohn feinen Texte, der übrigen: 
auh mit zahlreihen Anmerkungen, welche Bemeidjtellen und hie 
und da aucd Heine Ausführungen enthalten, in einem bejonderen 
Bändchen beigegeben hat. Es jind 54 Ffleine Monographien ver: 
Ichiedeniten Inhalts, theils Fritsche Erörterungen, tbeil®, und zwar 
zum geringeren Theile, Terte und Regeſten, ſprachliche Zuſammen⸗ 
jtellungen u. j. w. Für den wiſſenſchaftlichen Gebrauch des Tert- 
bandes jind diefe Forſchungen felbjtveritändlich unentbehrlich. Werden 
fih doch an ihn die meiſten Kontroverſen anjchließen, welde das 
Buch aller Vorausfiht nad) doch nad) ſich ziehen mird. Denn bei 
der Menge der neuen Aufitellungen im einzelnen, die zum Theil nur 
ala Hypothefen behandelt werden konnten, werden abweichende An: 
jihten nicht ausbleiben und andenveitige Auſchauungen ſich geltend 
machen. Wenn ich bier auf dieſe Einzelheiten nicht fonderlich en 
gehe und dus Buch mehr als Ganzes beipreche, jo liegt der Grund 
biervon theil® an den oben angedeuteten perſönlichen Verhältmiſſen, 
theilg in dem Umſtande, daß mir bier in Florenz, wo ich mid) vor: 
üibergehend aufhalte, die nöthige Literatur doch nur mit äußeren 
Schwierigfeiten verbunden zur Band ilt. 

Zum 1. Kapitel bemerfe id), daB die Yage des etruskiſchen Florenz, 
dag 82 v. Chr. zeritört wurde, nachdem ed nicht mehr al& ungefähr 
125 Jahre beitanden hatte, auf einer jtromaufiwärt® von dem heutigen 
ölorenz gelegenen Arnoinſel, doch nicht jo jicher eriviejen zu jein 
jcheint, als D. annimmt. Ich weiß mid) volllommen von Anhäng— 
lihfeit an lofale Traditionen frei, muß aber doch jagen, daß der 
Beweis, den D. für feine Annahme beibringt, nicht ftringent zu fein 
jcheint. Die Thatſache, daß in der Nähe von ©. Salvi große antife 
Mauerreſte geitanden haben, die namentlih im 11. bis 12. Jahr—⸗ 
bundert als Steinbruch dienten, faun doc nicht erhärten, daß diele 
Baureſte etruskiſchen Urſprungs waren. Wer weiß, mer jie errichtet 
hat? Die jog. etrusfiihe Florentia war meiner unmaßgebliden 
Anſicht nach aud) feinediwegs rein etrusfiichen Urſprungs. 

Anſprechender als dieſe Hypotheſe jcheint mir die im 2. Kapitel 
vorgetragene Anjicht von dem griedhijchen Urſprunge der älteften, 
oder doch eines bedeutenden Bruchtheiles der älteften Chriitengemeinde 
zu Florenz zu fen. Iſt doch der einzige Florentiner Märtyrer, der 
bl. Minias, jeinem Namen nad ein Grieche, und Die hi. Reparata, 
der Die Hauptkirche der Ztadt geweiht war, iſt bDefanntlich eine 


Stalien. 507 


Märtyrerin aus Cäſarea in PBaläftina, welcher außer diejer mehrere 
Ktirhen in Städten am Mittelmeer und Tuskien geweiht waren. Auf 
zahlreichen alten chriftliden Grabſteinen, die in Florenz gefunden find, 
ſtoßen wir vielfad, auf griedifche Eigennamen. Die Ausführungen 
D.'s S. 38 u. f. jind in dieſer Beziehung jehr intereſſant. 

In dem 3. Kapitel hebt ®. u. a. mit Recht hervor, wie bedeu⸗ 
tend und lange nachwirkend der Einfluß der Langobarden, ihres 
Rechtes, ihrer Kultur und ihrer politiihen Gründungen, auf die 
jpatere Entwidlung, ja auf die Bildung der neuen italienifhen Natio- 
nalität überhaupt gewejen fei. — Eine gegen mich gerichtete Bemer: 
fung D.’3 möchte ich doch richtig ftellen. ©. 76 fagt er: „Die Nach— 
ridyten über die Stadt jind aus diejer Periode jo dürftig, daß nod) 
Hiltorifer unjerer Tage annehmen konnten, ed läge über ihrem Dajein 
ein jahrhundertelange® Schweigen gebreitet.” Dazu werde ich citirt 
I S.82 und „ähnlih, wenn weniger ausdrüdiih Billari*. Was 
babe ih nun gejagt? „Mit dieler Erwähnung der Stadt dur 
Agathiad verſtummen dann wieder, nun aber nicht für ein, jondern 
jür mehrere Sahrhunderte alle Hiftorifer iiber fie.” Daran halte ich 
auch heute noch jeit. Denn D. bat feine „ärmlicde Kunde” auch nicht 
aus Hiltorifern, jondern aus Konzilienbeichlüffen u. |. w. gewonnen. 
Vielleicht ließen fih noch andere Differenzpunfte zwifchen mir und 
D., der übrigeng nur durchaus anftändige Polemik übt, auf ähnliche 
Weiſe heben. Um nur auf einen Punkt noch aufmerkjam zu machen, 
wo er dem Grafen Paſſerini mala fides zujchreibt und mid) als von 
ihm in die Irre geführt Hinjtellt, S. 368 und Forjchungen ©. 84, 
bemerfe ich, daß der Graf mir gegenüber einmal verjicherte, es jei 
ihm nahegelegt worden, feinen Stanındbaum der Fanıilie Bonaparte 
dem Staifer Napoleon III. einzujenden, er babe da8 aber abgelehnt. 
(£3 gibt nody immer Leute, die, um eine von ihnen anfgeitellte außer: 
ordentliche Theje zu vertheidigen, zu gewagten Mitteln greifen, ohne 
daß man bei ihnen die Erlangung äußerer Vortheile u. j. w. als 
Motiv vorauszujegen nöthig hat. 

Doch ih darf wohl nicht in diefer Weile fortfahren, das ganze 
Werft D.'s mit ſolchen Bemerkungen zu begleiten! Ih will nur noch 
einige Hauptrejultate des Werkes hervorheben. 

Bor allen ſcheint mir die große kirchliche Bewegung Stalieng, 
welche im 11. Jahrhundert von Tuscien ausging und den Anfang 
der gregorianijchen Ktirchenreform bildete, jehr gerecht und richtig ge— 
ihildert zu jein. Daß D. dazu die älteite Vita des Stifter von 


VB Literaturbericht. 


Vallombroſa, des hl. Giovanni Gualberti, in einer Handſchrift der 
Biblioteca Nazionale zu Florenz aus dem Anfang des 12. Jahr⸗ 
hunderts vorfand, welche uns das Leben des Heiligen noch einfach 
und ohne die ſpäteren Fabeleien erzählt, muß noch beſonders hervor 
gehoben werden. Da man an der guten Latinität diefer Vita Anſtoß 
genommen bat, bemerfe ic), daß nach dem Urtheil fompetenter Balüo- 
graphen die Handichrift, welche jie enthält, wirflidy der Zeit angehört, 
der jie D. zufchreibt (Forſchungen ©. 63). 

Für die Energie, mit der D. allen fragen, die ihm wichtig zu 
fein fcheinen, nachgeht, ijt durchaus bezeichnend, was er zu der be 
rühmten Feuerprobe des Petrus Ignetus zu Settimo (S. 240) bei- 
bringt. Er hat einen Berliner Branddireftor darüber Lonfultin! 
Richtig fcheint mir auch die große Bedeutung, weldye das Außiterben 
des fadolingiichen Grafenhauſes 1113, das alſo faft gleichzeitig mit 
dem Tode der Großgräfin Mathilde (1115) erfolgte, für die Geſchicke 
Tusciend und namentlich für die der nächſten Umgebung der Stadt 
Florenz und dieſe felbft gehabt hat, hervorgehoben zu fein 
(Forfhungen ©. 83 u. f., Tert ©. 368). Über Einzelheiten wird bei 
der Dürftigkeit und Undeutlichfeit der älteften Annalen der Stadt 
hierbei ftetd einiger Zweifel übrig bleiben. Eine Menge von einzelnen 
Aufflärungen, welde ©. urkundlichem Aktenmaterial entnommen hat, 
und die den großen Fleiß verrathen, mit der alle8 in Betradt- 
fommende auf Genealogie und anderweitige Zufammenhänge durd) 
gejehen ijt, laffen ſich kaum, troß der Citate in den Noten fontrolliren. 
So groß ijt die Menge ded Neuen in Einzelheiten. Aber auch da, 
wo ©. zufanımenfaßt und bedeutendere Perjönlichfeiten und nahe zu 
bringen ſucht, 3. B. die Großgräfin Mathilde, können wir ihm nur 
beijtimmen. Ich halte feine Zeichnung der „mertwürdigen Frau“ 
für die bejte, die wir in unjerer Literatur bejigen (©. 253 u. }.). 
Nicht minder erfcheint mir die Auffafjung der für die Geſchichte 
Tusciens fo hochwichtigen deutjchen Reichskanzler unter Kaiſer Fried⸗ 
rih J. Rainald's von Dafjel und Chriſtian's von Mainz, durchaus 
zutreffend. Unzweifelhaft bat der Leptere hierdurch fein haftiges, 
intonfequentes, nur auf Herbeiſchaffung von Geldmitteln gerichtete 
Auftreten und durch fein grobes Ausſpielen der einen Kommune gegen 
die andere das Anjehen des Reichs in Stalien dauernd gejchädigt. 
Beiläufig bemerft, hätte D. jich bei Beſprechung des für die Geſchichte 
von Florenz und der Reichspolitik in Tuscien jo wichtig gewordenen 
Geheimvertrages zwiſchen Florenz und S. Miniato vom 5. Mai 1172 





510 Literaturbericht. 


Behandlung ſeines Stoffes gelungen. Selbſt vom 2. Bande ſind 
noch ca. 200 Seiten dem Mittelalter gewidmet, und die Geſchichte 
des Landes ſeit dem Tode Ferdinand's des Katholiſchen wird aui 
ca. 450 Seiten zuſammengedrängt. Eine theilweiſe Erklärung für 
dieje auffallende Eintheilung liefert der Abſchnitt über die mauriſche 
Kultur, denn hier wiederholt der Bf. den im allgemeinen glüdlid 
übermundenen Gedanken, daß der Sieg der Ehriften über die Mauren 
ein Sieg der Barbarei über die Kultur gewefen. Daß diefe Kultur 
längit im Verfall begriffen, zum größten Theile ſchon wieder ab- 
geitorben war, wird nur verjtedt in einem einzigen Satze angedeutet. 
Durdgängig fteht der zweite Band an innerem Werthe Hinter dem 
eriten erheblich zurüd. Wenn es dem Bf. möglich geweſen mar, die 
verhältnismäßig wenig umfängliche Literatur über die Gejchichte des 
ſpaniſchen Mittelalterd mit leidlicher VBollitändigfeit zu benugen, fo 
hat er für die neuere Zeit jich offenbar faum ernitlic) bemüht, ein 
Gleiches zu thun. Seine Darjtellung hält ſich im Ganzen durdaud 
in den berfömmlichen Auffafjungen, aud) wo diejelben durch neuere 
Forſchungen al3 thatfähhlich unhaltbar erwiejen find, wie 3. B. in der 
Geſchichte der aragonejiihen Freiheiten, de Don Carlos u. ſ. w. 
Bei der außerordentlich flüchtigen Sfizzenhaftigkeit fehlt es natürlid 
auch nicht an ſachlichen Irrthümern. So ijt es feinedivegd richtig, 
daß Barbarojja in Jahre 1540 Gibraltar weggenommen babe (©. 283), 
fondern ed handelte ji nur um einen jener räuberifchen Überfälle, 
wie jie die fpanifchen Küftenftädte zu Zeiten zu erdulden hatten. 
Ebenjo unridhtig ift die Behauptung, die Sufpenfion der Anmeifungen 
auf die Kroneinfünfte fei nur ein einziges Mal, 1575, erfolgt (S. 408); 
Bhilipp II. allein hat nicht weniger als drei Mal von diefer Maß— 
regel Gebrauch gemacht, 1557, 1575 und 1597, und Philipp IL. und 
Philipp IV. jind 1607 und 1654 feinem Beiſpiele gefolgt. Daß dad 
erite Buch in Spanien 1471 in Barcelona gedrudt worden fei (S. 180), 
it ebenfall3 eine neue Entdedung des Vf.; man kennt wohl einen 
Barcelonejer Drud von 1467, bei dem aber nachweislich ein Drud: 
fehler in der Jahreszahl untergelaufen ift, da3 erjte Buch ijt aber 
erit 1474 oder 1475 in Valencia, und zivar, wie mir kürzlich gelungen 
ijt jeitzuftellen, von dem Deutichen Lambert Balmart gedrudt. Das 
Regiſter folder Srrthümer würde ſich ohne Mühe bedeutend ver- 
längern lafjen, ich habe nur die mir zunächſt liegenden heraußgegriffen. 
Jedenfalls hat fic der Vf. troß feiner fchriftjtellerifchen Gewandtheit 
jeiner Ylufgabe nur wenig gewachſen gezeigt, und die Behauptung von 


Spanien. 511 


jeinen langjährigen Duellenftudien erhält durch die Unzuverläſſigkeit 
feiner Darftellung eine jehr eigenthümliche Beleuchtung. 


Dresden. K. Haebler. 


Spaniens Niedergang während der Preisrevolution des 16. Jahrhunderts. 
Ein induttiver Verſuch zur Geſchichte der Quantitätstheorie von Dr. Roritz 
Julins Bonn. Stuttgart, J. ©. Cotta Nachf. 1896. VIII, 199 S. 
4 M. (A. u. d. T.: Münchener Volkswirthſchaftliche Studien. 12. Stüd.) 


Der Vf. ſucht in der vorliegenden Abhandlung den Beweis dafür 
zu erbringen, daß die Preisſteigerung, wie fie in den ſpaniſchen Ber- 
bältnifjen des 16. Jahrhunderts und entgegentritt, bei weitem nicht 
ausfhlieglih die Folge einer Entwerthung der Edelmetalle durch den 
reihen Zufluß aus der neuen Welt geweſen, jondern mehr noch in 
einem außerordentlihden Mangel an Waaren feine Erklärung finde, 
der die Folge mar von der Unfähigfeit der jpanifchen Induſtrie, 
den weiten Markt zu verjorgen, der ſich ihr in der neuen Welt er- 
ſchloß. Es ift jedenfall mit großer Freude zu begrüßen, daß ein 
Thema von jolder Wichtigfeit jür die Wirthſchaftsgeſchichte des ge⸗ 
janımten Europa trog der jehr erhebliden Schwierigkeiten, welche 
fid) dem Forſcher hier entgegenitellen, auch einmal von einem Nationals 
öfonomen von Fach gründlich erörtert wird, und die Nejultate, zu 
denen der Bf. gelangt, jind in hohem Grade beachtenswerth, wenn 
ji) auch nicht verfennen läßt, daß die Kenntnifie des Vf. auf dem 
Gebiete der ſpaniſchen Geſchichte im allgemeinen nicht immer ganz 
zu einer richtigen Beurtheilung der regijtrirten wirthichaftlicden That⸗ 
jahen -ausreihen. So muß er 3. B. natürlidy eine fehr jalfche An— 
jiht von der Ausdehnung des ſpaniſchen Erporthandel3 gewinnen, 
wenn er in der Begründung des Konſulats von Burgos i. J. 1494 
etwas Neues fieht, während die Seejtädte der Nordküſte ſchon feit 
der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts eine unferer Hanja in vielen 
Dingen vergleichbare Bundes-Organilation bejaßen, die in Rodelle 
ihon jrühe, in Nantes jeit 1430, in Brügge jedenfalld auch ſchon 
vor dieſem Datum Konfulate unterhielt. Wenn ſonach auch mandıe 
Einzelheiten in dem vom Bf. entworfenen Bilde einer berichtigenden 
Anderung bedürfen, fo glaube ich doch, daß dasjelbe in jeiner Ge— 
fanımtheit ziemlich zutreffend iſt. Daß Elemente wirthichaftlichen 
Hortichritte® unter den Negierungen Iſabella's, Ferdinand's und 
Karl's V. eine wohlwollende Förderung empfingen, unter dem Über: 
wiegen fiskaliſcher Intereſſen aber unter Bhilipp II. und jeinen Nadı- 


512 Riteraturberidt.- 


folgern erftarben, ilt unzweifelhaft. Den Schaden der fremden Kon: 
furrenz bat der Bf. wohl, von den ſpaniſchen Schriftftellern des 17. 
und 18. Jahrhunderts verführt, überſchätzt. Diefe begann feine 
wegs erjt 1552 ſich des indischen Marktes zu bemächtigen, dem 
Teutijhland, die Niederlande und Genua genofjen als Unterthanen 
Karl's V. ſchon feit 1526 nicht nur Bollerleichterımgen, wie fie die 
Verordnung von 1552 gewährt, fondern Gleichberedhtigung mit den 
Epaniern, foweit der Indienhandel in Frage kommt. Daß der Bf. 
in diefen Verordnungen den Wendepunkt der fpanifchen Wirthfchaitk 
geihichte erblicdt, ift der einzige weſentlichere Punkt, in welchem id 
mich feinen Ausführungen nicht anzufchließen vermag. 
Dredden. K. Haebler. 


6. Lindströms Anteckninger om Gotlands Medeltid. 1. IL 
Stockholm, Norstedt. 1892. 189. 112 u. 531 ©. 


Gotland und Wisby jtehen beifpiellos in der neueren Geſchichte da. 
Sie erreichten den Höhepunkt ihrer Bedeutung erſt zu einer Zeit, wo 
das Mittelalter fchon feinem Ende entgegenreifte, und doch find wir 
für die Kenntnis ihrer Geſchicke weit mehr auf ihre baulichen Über 
reite als auf Schriftliche Denkmäler angewiefen. Ständen und allein 
die legteren zur Verfügung, fo würde und gar nicht der Gedanke 
fommen, daß Wisby fo bedeutend geweſen fein fönnte, wie feine 
Ruinen e8 belegen. Diefe Sachlage regt aber befonderd an, nun 
alles, was fchriftlic erhalten ift, zu fammeln, um die allgemeinen 
Boritellungen, die durch die antiquariihen Schäge feitgelegt find, 
möglihjt im Einzelnen auögeftalten zu können. Lindſtröm's Arbeit 
it der erite, auf genügend breiter Grundlage unternommene Verſuch 
in diefer Rihtung. Er bemüht ſich zunächſt, ausführlich) Rechenſchaft 
zu geben über den Verbleib der jchriftlihen Überlieferung, geht dabei 
auf's Sorgfältigite auch auf alle früheren Notizen ein und forjcht 
dem Schidfal der nachweisbaren aber verloren gegangenen Auizeid: 
nungen nad. Er behandelt dann die mittelalterlihe Geographie 
des Landes und liefert in diefem Kapitel ein werthvolles Verzeichnis 
aller nachweisbaren Ortichaften, wobei er mit Recht hervorhebt, daß 
man ſich nicht zu mundern habe über das PVerfehwinden mancher, 
ſondern darüber, daß noch ſo viele erhalten jeien. Weiterhin giebt 
er eine furze mittelalterliche Baugeſchichte Wisbys. Der zweite Band 
bringt die erhaltenen oder befannt gervordenen Znichriften von Siegeln, 
Bräbern 2c., dann eingehende Tarjtellungen der Geſchichte der Klöſter, 





514 Literaturbericht. 


faſſende Darſtellung der hanſiſch-nordiſchen Angelegenheiten im 
15. Jahrhundert zu geben. 

In einer Einleitung wird die Stellung der einzelnen Gruppen 
der Hanſeſtädte zu Skandinavien geſchildert, in 10 Abſchnitten dann 
rein chronologiſch, oft etwas zu chronologiſch, die Zeit von 1439 bie 
1466 behandelt. Der Abjhluß wird etwas gewaltfam in der Er 
nennung Gerhard's, des Bruders Chriftian L, zum Negenten von 
Schleswig Holftein gefunden. Die weiteren 15 Jahre der Negierung 
Chriſtian I. lagen außerhalb der Aufgabe des Bf. 

Die gedrudte Literatur, namentlic) die 2. Abtheilung der Hanſe⸗ 
rezeffe, iſt fleißig benußt; auch ungedrudte Kopenhagener, Lübeder, 
Stettiner, Danziger Ardivalien find herangezogen. In mehreren 
Punkten verſucht der Bf. von der Ropp zu berichtigen; doc) ift ihm 
da3 nicht immer gelungen. 

Chriſtenſen fommt im allgemeinen übrigens nicht zu anderen 
Urtheilen, al3 fie Schon bisher beftanden; daß Ehriftoph’3 von Baiern 
Bolitit gegen die Hanja ihm nicht viel Lorbeeren eingebracht, war 
befannt; und mit Recht citirt der Pf. S. 412 zujtimmend da? all 
gemeine Urtbeil, das ſchon vor langen Zahren Georg Waitz über 
Chrijtian I. Politit gefällt. Im Einzelnen und Kleinen find aber 
manche mehr oder weniger wichtige Aufflärungen zu finden; id) er: 
wähne den mitten in den Text eingefügten Exkurs über Chriftion 
van den Öhere ©. 262 ff., zu dem u. U. das Lübeder Bergenfahrer- 
Archiv benutzt worden ift. E. Baasch. 


Kancelliets Brevbeger vedrerende Danmarks indre forhold i 
Uddrag udgivne ved L. Laursen af Rigsarkivet. 1561—1565. Koeben- 
havn, Reitzel. 1893—9. V, 787 ©. 


Der vorliegende Band ijt die Fortſetzung der Publikation Brida’s 
(8. 3. 63, 507). Bricka's erfter Band (1551—55) umfahte 482 ©. 
jein zweiter (1556—60) 558, der vorliegende von Laurſen für bie 
nädhjften fünf Jahre 787. Die fortgejegte Sammlung der Konzepte 
im Reichsarchiv und die Einrichtung der Provinzialarddive hat dem 
Werke neben den „Briefbüchern“ neue Quellen zugeführt, aber haupt- 
fählich beruht die Häufung des Stoffd doch auf dem natürlichen Une 
wachen de Materiald. Die Entlajtung, die durch das gleichzeitige 
bzw. voraufgehende Erjcheinen der „Forordninger“ (9. 3. 76, 146) 
und der „Kronens Skoder“ erreicht wurde, hat das Anfchwellen de 
Bandes fo wenig verhindern können, wie da8 Streben, die Inhalte⸗ 


Skandinavien. 515 


angaben knapper zu geitalten. Es muß zweifelhaft ericheinen, ob der 
urfprünglide Plan der Eintheilung nach Luſtren ſich aufrecht erhalten 
laſſen wird. Allerdings hat für den vorliegenden Band der begin- 
nende Siebenjährige Krieg das Seine gethau, die Regierungsthätigfeit 
zu jteigern. Jedes der Jahre 1563 bis 1565 erfordert jajt ſo viel 
Raum wie 1561 und 1562 zujammen. Der Inhalt iſt entſprechend 
mannigfaltig und interejjant. Obgleich man für den Siebenjährigen 
Krieg nit über Mangel an Quellen Elagen fann, erhalten viele 
militärifhe und finanzielle Maßnahmen durdy die Brevboger erit ihre 
volle Beleudtung und mehr als ein Punkt wird richtig geitellt. Die 
Art der Bearbeitung fteht völlig auf der Höhe der früheren Bände; 
der Herausgeber hat fi) wie in „Kronens Skoder“ feiner Aufgabe 
durchaus gewachſen gezeigt und eine Edition geliefert, die ſich den 
vorzüglichen dänischen Leiſtungen der legten Nahrzehnte gleihwerthig 
anreibt. D. Sch. 


Andr. Brandrud: Klosterlasse. Et Bidrag til den jesuitiske 
Propagandas Historie i Norden. Kristiania, Steen. 1898. 


Den Namen „Klofterlaffe” führte im Volksmunde der Zefuit 
Laurig Nilsfön (rende), der in den Sahren 1576 bis 1580 in 
Stodhulm eine von ihm gegründete Schule leitete, die beftimmt war, 
fatholifhe Sefinnung zu begründen und zu verbreiten; er fand fein 
Domizil damald in dem früheren Franziskaner-Kloſter, woher der 
Name. Laurig Nilsfön, war 1538 oder 1539 zu Oslo (Chriſtiania) 
geboren, trat 1563 in Löwen zur fatholifchen Religion über und im 
nächſten Jahre ebendajelbit in den Sefuitenorden. Für den Plan der 
Rekatholiſirung Sfandinaviend, wie er von dem Sejuiten Poſſevin 
gefaßt und durch die Begründung des Hoſianum in Braundberg ge- 
ftügt wurde, erjchien der eifrige und landesfundige Norweger als ein 
bejonderd braudbares Werkzeug. Die fatholiihe Konfeſſion der 
®enahlin Johann's III, der polniſchen Katharina, und die Aus 
gleihsanwandlungen des Königs jelbit ließen Schweden ala den 
geeignetften Ausgangspunkt des Verſuchs ericheinen. Nach vier= 
jähriger Thätigleit wurde Laurig Nilsjön aber gezwungen, das 
Land zu verlaffen, ohne doch mehr erreicht zu haben, als daß er 
Keime inneren Zwieſpaltes zurüdließ, die ſich bald zu fcharfen, nur 
dur Gewalt audzugleihenden Gegenfägen entividelten. Nach 
22 jährigem Aufenthalte in oſt⸗- und jüdojtdeutichen Gebieten machte 
Klofterlaffe in Dänemart- Norwegen einen nenen Nerjuh, der im 

33 * 


516 Literaturbericht. 


einzelnen aber ſo keck und plump ausgeführt wurde, daß er ſchon im 
Beginn ſcheitern mußte. Als Lauritz im Jahre 1606 ſelbſt in Däne- 
mark erſchien, wurde er auf Anordnung des Königs alsbald wieder 
nah Deutſchland befördert. Er iſt 1622, mehr als 80jährig, in 
Wilna geſtorben, nachdem er bei der Eroberung Rigas im Jahre 
zuvor Guſtav Adolf in die Hände gefallen, von dieſem aber un 
beläjtigt entlajjen worden war. Sein dänijcher Verſuch gab nur An 
laß zu verichärjter Aufſicht. Der Beſuch jefuitiicher Kollegien in 
Deutjchland und jelbjt des collegium Gerinanicum in Rom von 
Dänemark und bejonders von Norwegen aus war im Bunehmen be 
griffen geiwejen; 1604 ward verboten, Leute anzuitellen, die dort ihre 
Erziehung genojjen hatten, jpäter (1624) allen Geiſtlichen katholiſcher 
Konfejfion der Aufenthalt im Reiche ſtrengſtens unterjagt. Vereinzelte 
GSeiitlihe in Norwegen und Dänemarl, die katholiſcher Gefinnung 
überführt wurden, jtrafte man mit Amtsentſetzung, Güterentziehung 
und Landesverweifung, nahm fie allerdings fpäter zum Theil wieder 
in’8 Land und in Stellung. Ber Bf. jchildert diefe Hergänge ein 
gehend und lebendig auf Grund der beiten Quellen, gibt aud ol 
Einleitung eine umfajlendere Darftellung der Begründung des Jeſuiten⸗ 
ordens, jeiner Organijation, Tendenz und Arbeitsweiſe. D. Sch. 


Geheimrath Detlev v. Ahlefeldt's Memoiren aud den Jahren 1617 
bi3 1659. Nach der Triginalbandichriit im Hafeldorfer Archiv herausgegeben 
von Louis Bobt. Kopenhagen, Höft. 1896. 

Mit einer Zamiliengefhichte der Ahlefeldt beauftragt, fand der 
Herausgeber bei der Ordnung des Archives des Gutes Hafeldorf, dus 
bi3 1731 den Ahlefeldt gehörte, dus Manuffript einer Selbjtbio: 
graphie Detlev von Ahlefeldt (geb. 1617, geit. 1686), der unter 
Chriltian IV., Friedrich Ill. und Chriſtian V. in militärischer und 
diplomatifcher Thätigfeit Namhaftes leiſtete. Detlev, von dem audı 
andere literariſche Erzeugniſſe erhalten find, erweiſt jich in feiner 
Eelbitbiographie ald ein Mann von vieljeitigen Kenntniffen, reichen 
Erfahrungen, gereiftem Urtheil und lebhaftem Geilte. Was er nieder: 
jchrieb, gehört mit zu dem Beiten, was dad 17. Jahrhundert in 
Teutihland an Mlemoirenliteratur hervorgebracht hat, und verbient 
nicht nur die Veröffentlichung, jondern muß in mehr als einer Rid- 
tung als ein interefjanter Beitrag zur Geſchichte des Jahrhunderts 
bezeichnet werden. Der Autor, der von jich felbit jagt, daß „die 
Ambition und der Ehrgeiz mein faible und dic passio praedominans 





518 Riteraturbericht. 


eine Hypotheſe, die, jeder Grundlage entbehrend, durchaus willkürlich 
it und mit den unverjtändigiten und leichtfertigiten Behauptungen 
von ihrem Urheber zu ftüßen verjucht wird. B. weift nach, daß von 
Iharfen Gegenjägen gegen Holberg und von einer ihm feindlichen 
Verbindung einflußreicher Zeitgenojjen gar nicht die Rede fein fann. 
Den vir perillustris hält er mit Elberling für eine Fiktion, eine 
Auffaſſung, die dem Inhalt der Briefe weitaus am meijten entipridt. 
B. nimmt auch Gelegenheit, gegen Brandes eine Lanze zu brechen, 
der in feiner pointirten, tendenziöfen Weile „den Stumpfiinn deö 
Volles und die dumme Geringſchätzung der berrichenden Klaſſen“ 
verantwortlic” macht für das Aufhören der dramatischen Produktion 
Holberg's in den legten anderthalb Jahrzehnten feines Lebens. 
Den Zweck der Briefe jieht Pf. im Einverftändnis mit ihrer Vorrede 
allein in dem Wunjche, über die bisherige dichteriiche Thätigfeit im 
Zuſammenhange Rechenſchaft zu geben, nicht mit Rückſicht auf bejon- 
dere perjönliche Gegner, jondern in Hinblid auf Bedenken und ab- 
fällige Urtheile, die gegenüber Holberg wie in allen ähnlichen Fällen 
laut geivorden waren. D. Sch. 


Frederik den Sjettes Udsoning med Napoleon. Breve fra Kan- 
cellipräsident Kaas under hans Sendelse til det Franske Hoved- 
qvarter i Maj og Juni 1813. Udgivet af Generalstaben. Kjoben- 
havn, Reitzel. 1894. 56 ©. 

Für die neueren Geſchicke Dänemarks jind feine Enticheidungen 
und Entſchlüſſe jo bedeutungd- und verhängnisvoll geworden wie die 
zum Bündnis mit Franfreih nad dem Angriff der Engländer auf 
Stopenhagen 1807 und wieder im Mai 1813, ald Verbündete und 
Franzoſen um Hamburg und die untere Elbe jtritten. Sie jind beide 
Male zum Unheil des Landes ausgefallen, wofür die Verantwortung 
doc gemildert wird durch die ungemeine Schwierigfeit der Lage, in 
die ji) die Monardjie in beiden fritiihen Zeitpunkten verſetzt ſah. 
Die hier mitgetheilten Briefe, zumeijt jchon in den Mleddelelser 
fra Krigsarkiverne gedrudt, werden eingeleitet durch eine Darlegung 
der politifhen Stellung Dänemarks und der militärischen Vorgänge 
in und um Hamburg im Frühling 1813 und mit einem kurzen Nach— 
wort geichlojjen. Kaas wurde zu Napoleon geſchickt, um die Hals 
tung der dänischen Befehlshaber in Altona, weiche verfuchten, Ham: 
burg gegen die Franzoſen zu deden, zu entichuldigen. Seine Berichte 
liefern verjchiedene interefjante Heine Züge zur Geſchichte des Feld— 


Skandinavien. 519 


zugs in Sachſen und zur Kennzeichnung der dortigen Stimmung. 
Napoleon entwidelte den Dänen gegenüber die gewinnende Lieben 
würdigfeit, die ihm, wenn die Lage es erforderte, jo mühelos zu 
Gebote ftand, ließ allerding3 auch feinem Haß gegen Bernadotte voll- 
jtändig die Zügel fchießen und erging fich in den maßlofeften Übers 
treibungen und Prahlereien: er habe 1200000 Wann auf den Beinen, 
und nicht eine Kartoffel werde man dem Könige von Dänemark weg- 
nchmen! Es war doch des Königs eigenjter Wille, der zum Abſchluß 
des Offenſiv- und Devenfivbündnifjes mit Napoleon führte, das Däne- 
mark in fo fchweren Nachtheil bringen follte. D. Sch. 


Aktstykker vedkommende Stormagternes Mission til Kjebenhavn 
og Christiania i Aaret 1814. Udgivne ved Dr. Yngvar Nielsen. 
Forste Raekke: Danske og engelske Aktstykker. Christiania, Dyb- 
wad. 1896. 


Bur Frage der Entitehung der ſchwediſch-norwegiſchen Union hat 
niemand jo unermüdlich und erfolgreich neue? Material zu Tage ges 
fördert wie Yngvar Nieljen. Er war der erite, der eingehender zu 
unterfuchen begann, welde Haltung die Großmächte gegenüber dem 
norwegischen Widerjtande einnahmen, eine Frage, deren Beantwortung 
in der That für die Beurtheilung der Hergänge von größter Bedeu- 
deutung geworden iſt. In der oben genannten Sammlung beginnt 
N. mit der Publikation der Aktenſtücke und Korrefpondenzen, die und 
zu diefer Frage erhalten jind. Er hält ſich aber nicht buchſtäblich 
an den Titel feiner Aufgabe. Die erjte und die legte der vier hier 
vorgelegten Sammlungen bringen däniſches Material, jene 29 Stüde 
über des Admirald Bille und des Oberſten Lonborg Sendung nad 
Norwegen im April 1814, diefe 71 Briefe einer zwifchen Friedrich VI. 
und feinem Staat3minifter Nield Rojenkranz in den Monaten Mai 
bis Auguft geführten Korrefpondenz. Zwiſchen beide find 26 Stüde 
eingeichlofjen, weldye die Sendung des englifhen Unterſtaatsſekretärs 
Sohn Philipp Morier nach Ehriftiania, und 58, welche die de3 neuen 
engliihen Gefandten in Kopenhagen, Auguſtus John Foiter, angehen. 
Während die drei Monarchen durch Schreiben an den dänischen König, 
die N. unter feiner erjten Sammlung abdrudt, für die Durchführung 
des Kieler Friedens zu wirken juchen und dem Wunſche Schwedend 
entiprehend Bevollmädhtigte fchiden, die erft in Kopenhagen und 
dann in Ehrijtiania auftreten follen, fucht die engliſche Regierung ſich 
durch eine direkte Sendung über den Stand der Dinge in Norwegen 


520 Literaturbericht. 


zu unterrichten und hebt in Morier's Inſtruktion nicht nur hervor, 
daß ſie ihren Verpflichtungen gegen Schweden nachkommen werde, 
ſondern auch, daß Großbritanien geneigt ſei, zu gunſten der Nor: 
weger zu vermitteln, um ihnen eine angemeſſene Sicherheit zu ver: 
Ihaffen für konſtitutionelle Privilegien, die fie etwa zu genießen 
wünſchten. Man darf von der Fortführung der Publikation, die zu 
den Schriften der norwegischen Geſellſchaft der Wiffenichaften gehört, 
hoffen, daß jie die meilten der noch beftehenden Zweifel in der viel 
und hart umkämpften Unionsfrage befeitigt und dieſe wifjenjchaftlid 
endlich zur vollen Erledigung bringt. D. Sch. 


C. J. Anker: Uddrag af diplomatiske Indberetninger om 
Unionens Forberedelse og Tilblivelse 1814. Christiania, Dybwad. 
1894. X, 100 ©. 

C. J. Anker: Uddrag af diplomatiske Indberetninger om Unio- 
nens Forberedelse og Tilblivelse 1814. Kjebenhavn, Kjaer (Decker 
& Kjaer), 1895. IX, 217 ©. 


Die beiden gleichnamigen Schriftchen enthalten die eine Die Be: 
richte des dänischen Gejandten in Stodholm, Krabbe⸗-Cariſius, der, 
ald Eriter nad) dem Kieler Frieden, feit Juni 1814 Dänemark bei 
der ſchwediſchen Regierung vertrat, die andere die Ktorrejpondenzen, 
Berichte und Noten des ſchwediſchen Generals Tawaſt, der, jeit dem 
Ausgange des Jahres 1813 in Dänemark bevollmädtigt, zunächſt den 
Frieden vorbereitete, dann jein Heimatland dort dauernd vertrat. 
Die Quellen find nit im Wortlaut wiedergegeben, fondern der ur: 
jprünglich franzöfiihe Text iſt zunächſt vom Herausgeber ausgezogen, 
und dieſe Auszüge find dann, wenn ih die Vorbemerkungen recht 
verjtehe, in’8 Dänifche überfeßt, die Überfegung ift aber von „ſprach— 
fundigen Leuten“ auf ihre Richtigkeit hin durchgefehen worden. Diem 
Forſcher wäre die urfprüngliche Faſſung Thon lieber gewefen. Die 
Auszüge jind in der zweiten Schrift, die zwiſchen 6=- und 700 Stüde 
bearbeitet, vielfach fehr kurz. Trotzdem darf gejagt werden, daß beide 
Arbeiten eine dankenswerthe Überficht geben über die Thätigfeit der 
beiden Gefandten und daß jich der Herausgeber deshalb ein Verdienit 
erwarb, als er auf Grund von Äußerungen Nielfen’3 und Aubert’3 
jein Unternehmen begann und durchführte. Er jtellt noch eine weitere 
ähnliche Arbeit unter dem Titel „Nampen for Norge ſom faerftildt 
og ſelvſtaendig Stat, fort i London 1814“ in Ausficht, melde die 
Korrejpondenz zwiſchen Chriſtian Friedrich und feinem Beauftragten 
in London, Carſten Unter, enthalten foll. D. Sch. 





622 Literaturbericht. 


Geſchichte“, wobei nur zwei Begriffe zu kurz kamen, der der Philos 
ſophie und der der Gefchichte. Wie alle die Adepten der geräufchvollen 
Nenaifjfance des maleriihen Wirrwarrs macht aud der Bf. jeinen Rniz 
vor den „Zhatiadhen“, glaubt aber im übrigen mit dem Hinweis 
auf ihre bloße Bedeutung der Exemplifilation fie über der Schulter 
anfehen zu fünnen. Noch jchlinnmer geht ed natürlich den „Indivi⸗ 
duen“, die ſich nun gar gefallen laffen müſſen, vor der „Macht der 
Ideen“ in den finjteren Winfel gejtedt zu iwerden. Zum Glück aber 
macht doch Brüdner aus feinem Verfahren fein gemeingültiges Princip, 
er fühlt ji dazu nur aus einen bejonderen Anlaß bewogen. Er 
meint in den Büchern von Strahl, Hermann und Bernhardi ſei dem 
Bedürfnis nad Kenntnis der Thatſachen in ihrer zeitlichen Aufein⸗ 
anderfolge ausreichend genügt, er wolle vielmehr den Nachweis führen, 
daß der abjprechende Zweifel an der dereinftigen vollitändigen Europäie 
firung Rußlands unbegründet jei, und an der Hand der fortichreis 
tenden Entwicdlung desjelben von einem notoriſch aſiatiſchen Volls— 
aggregat zu einen dem europäiichen Sulturleben nahe gebradjten 
Staatöwefen zeigen, daß die Borausjicht einer vollftändigen Aſſimi— 
lirung und Zivilifation alle Wahrfcheinlichkeit für fi habe. Diejem 
Geſichtspunkte follte aber auch ſchon ein früheres Buch desjelben 
Autor gerecht werden, und obgleich auch dort die gewählte Methode 
der Thatfachenreihen faſt mit denfelben Worten und mit Ddentelben 
ungegründeten Vorausſetzungen und Anklagen der „üblichen“ Tar- 
jtellung gepriefen wird, fo wird man doch fagen müſſen, daß das 
ältere Werf, „die Europätlirung Rußlands“ (1888), durch Flarere und 
planmäßigere Anordnung, durd) jyitematifdyere und logifchere Son⸗ 
derung der Faktoren und namentlich durch den Verzicht auf eine „zeit 
liche Vogelperjpeftive* über mehr als ein Kahrtaufend, bei welder 
man naturgemäß nur einen verſchwommenen dharafteriojen Eindrud 
empfangen fann, vor dem gegemvärtigen ſich weſentlich auszeichnet. 
Tas VBorliegende ftellt ji) doch im wefentlichen nur als eine Wieder: 
holung dar, wenn auch die eremplifizirenden Thatſachen aus anderen 
Schubfähern gezogen und etwad mehr für die Unterfcheidung des 
urſprünglichen Rußlands von dem durch die weſtliche Kultur au? 
jeiner Eigenart gehobenen, verbildeten gethan ift. Uber hier wie 
dort ruhen Plan und Auswahl auf der Willfür und auf den fub- 
jeftiven Neigungen des Vf., und es darf nicht Wunder nehmen, daß, 
joviel da aud) immer von der Macht der Ideen gefprochen wird, 
gerade ſolche Ideen, welche den größten Einfluß ausgeübt haben, 


Rußland; Siebenbürgen. 523 


nicht den beiläufigften Ausdrud fanden. Ich für mein Theil — um 
ein Beijpiel anzuführen — kann mir fein Motiv denfen, dag tiefer 
auf die Geſchicke und auf die joziale und politifhe Konfiguration 
Rußlands eingemwirkt Hat, als die jchredhaft ungleiche Vertheilung des 
Beſitzes, die durd feine Spur einer Nachahmung der Feudalität ges 
nildert wird und die mit ihrer Konſequenz der geringen, mangelhaften 
Geſellſchaftsgliederung das Uneuropäifchite an Rußland war und ges 
blieben ift. Ich lafje dahingejtellt, ob man die Erſcheinung unter 
dic Rubrik der Ideen oder unter die der Thatfachen jtellen will, aber 
daß bei den für den Bf. maßgebenden GefichtSpunften überhaupt da= 
von nicht geſprochen werden fol, kann ich doch nicht als gerechtfertigt 
anjehen. — Ter Pf. war ein fchwer gelchrter Mann, geiltreid), 
belefen in der ruſſiſchen Geſchichtsliteratur wie Wenige, verdient 
um ihre Fortbildung und Vertiefung durch einige namhajte Werke, 
aber id) meine doch, wenn er zuvor eine Geſchichte Rußlands von 
den Anjängen bis zur Neuzeit, gleichviel, ob nad) Regierungsepochen 
oder ſonſtwie eingetheilt, in der Art Hermann’3 oder aud) Bernhardi’s, 
jedenfal3 aber mit fcharflantiger, fritiicher Feſtſtellung des befannt- 
lid) immer don den Modernen al& „jelbitverjtändlih” vorausgejehten 
„Details“ abzufaſſen genöthigt geweſen wäre, ich meine doc, daß 
ihm die Luſt vergangen wäre zu einem ſolchen Luftbau von Ber- 
allgemeinerung und Erenplififation, wie der vorliegende, in welchem 
die Verallgemeinerung lediglich zu einer Privatbeichte des Pf. und die 
Eremplififation zu unterhaltenden Anekdoten herabfinkt, der aber auf 
dem Gebiete der Wiſſenſchaft eine fragmürdige Figur madt. 
Breslau. J. Caro. 


Quellen zur Geichichte der Stadt Kronſtadt in Siebenbürgen. Heraus⸗ 
gegeben auf Kojten der Stadt Kronjtadt von dem mit der Herausgabe bes 
trauten Ausſchuß. III. Kronitadt, Heinrid) Zeidner. 1896. 1123 ©. 

Sieben Jahre jind vergangen, feitdem der 2. Band der vor— 
liegenden Sammlung erihien. Der lange Zwiſchenraum zwiſchen 
dem 2. und 3. Band erflärt ſich einerjeit$ durch die Beſchränktheit 
der dem Ausſchuß zur Verfügung Itehenden Geldmittel, andrerfeits 
durh den größeren Umfang dieſes Bandes (1123 Ceiten). Der 
3 Band enthält die Nronjtädter Stadtrehnungen aus den Jahren 
1541 — 1550. Auf ihren hiftorischen Wert) wurde ſchon früher in 
diejen Blättern aufmerkffam gemadt (H. 3. 67, 5441. Wir finden 
hier Kronjtädter Zmwanzigitreynungen aus den Jahren 1500, 1541 


924 Literaturbericht. 


bis 1550 (12 Stück), Söldnerverzeichniſſe (2), Steuerzahlungen (5), 
Kaſtellansrechnungen (2), Stadthannenrechnungen (9), Schaffner⸗(10), 
Kirchen-(4), Weingeld- (1), Thorhut- und Aſperzins- (1), Kajten: (1), 
Apotheferrechnungen (2) u. a. Un der Redaftion betheiligten ji 
vornehmlid Gymnaſialdirektor Groß und Prof. Seraphin. Auch die 
mal iſt in der Anlage manche Berbefferung zu verzeichnen. Wurden 
Ihon im 2. Bande nicht alle Redynungen im vollen Wortlaut der 
Originalien verzeichnet, fo find jeßt nur noch die Stadthannenred- 
nungen unverfürzt, Die übrigen dagegen nur auszugsweiſe wieder 
gegeben worden. Schr danfenswerth find außer dem ausführlichen 
Berzeihnid der Ortd- und Perfonennamen die beiden Gloſſare (ein 
lateiniiche8 und ein deutſches), in denen nicht nur ſolche Wörter Auf: 
nahme fanden, die einer Erklärung und Überjegung unbedingt be 
durften, jondern auch foldhe, die in Texte in ungewöhnlicher Form 
und eigenthümlicher Verwendung vorfommen. Im Unhange finden 
jih jech! Tafeln mit Abbildungen von 82 verjchiedenen Wafjerzeichen. 
Auch diejer Band legt von dem wiſſenſchaftlichen Streben der Burzen- 
länder und Ktronländer rühmlich Zeugnis ab. J. Loserth. 


Hundert Jahre jähfiiher Kämpfe. Zehn Vorträge aus der Geſchichte 
‚der Siebenbürger Sadjen im legten Jahrhundert. Hermannijtadt, W Krafft. 
18%. 3445 3M. 


Das klaſſiſche Werk von ©. D. Zeutich über die Gejchichte der 
Siebenbürger Sadjen reicht bi8 zum Schluß ded 17. Jahrhunderts 
und hat feine Fortjegung erhalten. Das 18. Sahrhundert ift noch 
nicht zujammenfafjend behandelt. Als befonders nothiwendig aber 
erichien e3 für das Verſtändnis der Gegenwart, das jchon verblafjende 
Bild des jetzt ablaufenden Jahrhunderts mit feinen ſtets in neuer 
Kombination ſich wiederholenden Kämpfen in feinen Umriſſen feitzu: 
halten, jo fange noch theil3 die lebendige Zradition, theils auch Er: 
innerungen der Mitlebenden es geitatten. Deshalb hat ſich im Winter 
1895/96 ein Kreis eimiichtiger Vaterlandsfreunde zu Vorträgen in 
Herinannjtadt vereinigt, welche lebhaften Anklang fanden, und aus 
diefen iſt das Buch hervorgegangen, weldes Fr. Teutſch, der 
Sohn de3 unvergeßlihen Biſchofs, zufammengefaßt und mit einem 
ſchönen Schlußwort verjehen hat. Es iſt ganz überwiegend eine 
Leidensgejchichte, Doch tritt nicht die Klage in den Bordergrund, 
fondern die Taritellung der aufgewandten Thätigfeit, vorzüglich auch 
der litterariichen. Nur wenig davon iſt in Deutſchland befannt 


Siebenbürgen; Boltsjeucen. 525 


geworden, obgleich manche Werke, namentlid von M. Albert, e& vollauf 
verdienen, abgejehen von der wifjenfchaftlichen Arbeit, welche den 
Fachgenoſſen wohlbekannt ijt. Was vom ganzen Volk für Kirche und 
Schule, was von Einzelnen an geiltiger Arbeit geleijtet it, tritt ung 
hier in wahrhaft erjtaunlicher Fülle entgegen und Derechtigt durchaus 
zu der am Schluß ausgeiprochenen Zuverliht, daß ein jo reiches 
geiſtiges Leben die dauernde Widerjtandäfraft der deutichen Natio- 
nalität auch unter den jebigen Verhältnifien nad dem Zerichlagen 
der alten Schutzwehren verbürge. Die politiichen Kämpfe, wenn oud) 
erfolglo8, haben doch den im 18. Jahrhundert langfanı, aber ficher 
eingeichnürten Geiſt zu neuer Thätigkeit angeipornt, und mit der 
tief beflagten alten Selbftändigfeit find aud) viele hemmende Schranten 
gefallen. Wehmüthig berührt es, wie naturgemäß dieſe treuen 
Deutfchen ſich immer wieder an das Ddeutiche Kaiſerhaus anflam- 
merten, um immer wieder verlafjen und verrathen zu werden; nie= 
mals wußte man in Wien ihren Werth zu Ihäpen und jah im Grunde 
nur Ketzer in ihnen, die befehrt werden müßten. Sept jind fie defi- 
nitiv ein Theil des ungarifchen Staates, und, wie ©. 335 fehr richtig 
gefagt iſt, fie müffen, fo jchwer es ihnen fällt, begreifen, daß es 
nothwendig fei, ſich nicht nur äußerlich, ſondern auch innerlidy mit 
dem DualiSmus abzufinden und auf dem neuen Boden fich heimiſch 
einzurichten. Für Jeden aber, der ein Herz hat für diefen fernen 
Vorpoſten unferer Nation, wird dieſes Buch ein willkommenes Hülfs- 
mittel fein, um ein eingehendes Verſtändnis der Sachlage zu ge— 
winnen; mancher wird wohl eritaunt fein über dieſes reiche geiltige 
Leben am Fuße der Karpathen. 
Berlin. W. Wattenbach. 


Geſchichte der Volksſeuchen nach und mit den Berichten der Zeitgenvjjen, 
mit Berüdfihtigung der Thierfeuhen. Bon Dr. 8. M. Lerid. Berlin, 
S. Karger. 1896. IV, 455 ©. 

Der Vf. des Buches ift Arzt und wendet ji aud) im Vorwort 
an ärztlidhe Leſer, jeine Arbeit ijt aber wefentlich hijtorijch und hat 
jomit ein Recht auf einen Pla in diejer Zeitichrift; dafür muß ſie 
es jich gefallen lafjen, nad) denjelben Grundſätzen wie andere hiſtoriſche 
Arbeiten geprüft und beurtheilt zu werden. Der Vf. verzichtet auj 
die Zujammenfafjung gleichartiger Erjcheinungen in gewiſſen Zeit: 
abjchnitten, überhaupt auf jede jadhlihe Gruppirung; er berichter in 
jtreng annaliftiiher Ordnung Alles, was er über die Erjcheinungen, 


526 Literaturbericht. 


die Zeit und Umſtände, die Dauer und die Opfer der Volksſeuchen 
jeder Art in allen Zeiten und in allen Ländern zuſammengetragen 
hat, ohne beſondere Kunſt der Darſtellung, meiſt in einfach referirender 
Weile, in den letzten Zeiten überhaupt nur in Form von Notizen, 
unter Aufhebung des Zufammenhangd der Rede. Er berüdiichtigt 
and die Thierfeuhen in größeren: Umfange ald frühere Bearbeiter 
des Themaß. 

Es ift zwar ein unlogiſcher Ausdrud, wenn er ſich rühmt, dos 
bisher unbenügte Duellenmaterial bedeutend erweitert zu haben; that 
jählidy liegt aber der Schwerpunft und demnady auch der Werth 
des Buches, zu dem jahrelange Arbeit nothwendig geweſen ijt, wejent- 
lid in dem Zujammentragen einer auf den Lejer unheimlich wirkenden 
Hülle von Nachrichten über die Plagen der Menfchheit. Ob die 
wiflenjchaftliche Erfenntnis des Weſens der Volksſeuchen eine För—⸗ 
derung dur daS Buch erfahren habe, bleibe den Medizinern zu 
entjcheiden, unfer Wiſſen von der Häufigkeit ihre Auftretens und 
ihrer geographifchen Verbreitung hat jedenfalld reihen Zuwachs ge: 
mwonnen. Leider muß davor gewarnt werden, alle Angaben de3 Bi. 
al3 ficher beglaubigte anzunehmen ; die Energie feiner Kritik ſteht 
weit unter der ſeines Sammelfleißeds. Er ift ji ſchon nicht einmal 
des Unterſchiedes zwiichen unmittelbaren und abgeleiteten Quellen 
bewußt. Sigonius und Clüver werden unbefangen für Peſterſchei⸗ 
nungen des 14. Sahrhunderts zitirt. Daß 423 und 419 die Peſt in 
Rom und 417 v. Chr. in Griechenland geweſen fei, verbürgt ihm 
Kirchner. Zu einer Viehteuche bei den Hunnen im Jahre 80 v. Chr. 
muß Joh. v. Müller 1, 509 herhalten. Eine Nachricht Königshofend 
über Straßburg 1387 wird durch Kleinlauel’8 Reimchronik betätigt! 
Die Angabe über die Zahl der Opfer einer Augsburger Veit von 
1467 wird aus Saur's Städtebud) entnommen, u. |. w. 

Biel zu jelten vafft jich der Bf. zu Zweifeln an den Nachrichten 
feiner Gewährsmänner auf; er fehreibt den mittelalterlichen Quellen 
und viel zu häufig auch jpäteren Schriftitellern Zahlenangaben über 
die Opfer der Seuchen nad), die einfach unmöglich oder unfinnig find. 
©. 52 heißt es zum Jahre 645: Güthe (Poliographia Meiningensis, 
1676) jagt, daß damals (?) Meiningen außgejtorben und Graf Poppo 
von Henneberg mit Gemahlin und zwei Söhnen „Drauff gegangen 
fein ſollen“. Dieſer Güthe hat ihm auch fonft viel Ausbeute geliefert, 
von der ein gut Theil nicht zuverläffiger ift, als das vorjtehente. 
134€ berichter der B.: In Mühldorf an der (!) Inn waren vom 





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(over MTereasan, geMudien Nein. Z. Arm "CH 


Geſchichte der Geographie. 629 


der Vf. zu der Bezeichnung der Peſt in Hof 1408: „Der große 
ſtaub“ hinzu (ſterb?). Iſt ihm Staupe nicht bekannt? Mkgf. 


Histoire de l’&cole cartographique Belge et Anversoise du 
XVlieme siecle par le lieutenant-general Wauwermans, president de 
la soci6te royale de geographie d’Anvers. Bruxelles, Institut national 
de geographie. 189%. Bd. 1: 402 S., Bd. 2: 470 ©. (mit Titelbildern 
der Denfmäler von Mercator und Ortelius und 15 Tafeln). 

Die hohen Erwartungen, mit denen der anfehnliche Umfang des 
jtattlichen Werfeg und die hohe Stellung feines Verfaſſers den bes 
gierig danach greifenden Lefer erfüllen, weichen, jowie man den 
1. Bund auffchlägt, jofort dem tiefen Bedauern, daß ein in feinem 
Wirkungskreis vielleicht bedeutender Mann viel Zeit und Arbeit aufs 
gewendet hat für eine Aufgabe, für die er ganz unzulänglich vor- 
bereitet it. Der 1. Band tritt gar nicht an die Sache felbit heran, 
jondern behandelt (S. 17—188) die Geographie des Alterthums und 
des Mittelalter, naher (S. 189 — 398) Untwervend Entwidlung, 
jeine inneren Zuftände und feine Welthandelsitellung im 16. Jahre 
hundert. Es ift fchwer zu begreifen, wie ein General, der weder 
griechisch noch lateinijch verjteht und von der neueren Entwicklung 
der Studien über die Geographie des Alterthums nicht die leifefte 
Ahnung bat, auf den Gedanken fommen fonnte, für feine Studien 
über die Kartographie ded 16. Jahrhunderts das Altertum als 
Hintergrund audzumalen. Er hätte wirklich bejjer gethan, jid um 
die terrible comedie d’Aristophane (un 220 av. J. C.), um den 
Globus de Crates de Thebes (an 326 av. J. C.), um Erato- 
sthene de Syene und das dicäarchiſche Diaphragme (je ferme), 
um Die itineraires ecrits (itinera scripta) des Pompéius Mela 
niemal3 zu fümmern und feine Weisheit über den Urjprung des 
Namend Karte niemandem zu verrathen. Carte vient de l’arabe 
Karthi ou Khartos qui signifie carte marine, d’oü est venu £gale- 
ment le mot latin Charta, papier. — Mappe-monde en arabe 
se dit Bab-mandou ou Maba-mondi, c'est A dire Livre de geo- 
graphie. Von den geradezu niederjchinetternden Eindrüden diejes 
eriten Abſchnittes erholt man ſich etwas in der behaglich breiten 
Schilderung der Bedeutung Antwerpens, die durch die Vereinigung 
umfänglider Auszüge und Citate aus guten Büchern ſich zum an« 
genehmiten Theile des ganzen Werkes auswächſt. Aber das Ber: 
trauen, von dem Bf. eine Vertiefung der Senntnifje über die 

Oiſtoriſche Zeitihrift R. F. Bd. XLITL. 34 


530 Riteraturbericdht. 


Kartographie des 16. Jahrhundert? zu empfangen, ift doch fchon ver: 
foren, ehe man den 2. Band Öffnet. Won einer &cole d’Anvers in 
der Kartographie zu fprechen ijt, wie der Bf. (1, 13) jelbit meint, ein 
euphemisme ; Breufing hätte dafiir ficher ein fräftigered Wort 
gefunden. Indes darüber würde man binwegjehen, wenn für 
die thatfächlihe Kenntnis oder die Würdigung der Leiftungen der 
Männer, welche unter diefem Namen zujammengefaßt werden, wirt 
lich etwas Förderliche8 vorgebradt wäre. Das aber iſt kaum mög⸗ 
lich für einen Autor, der weder eigene archivaliſche Studien gemacht 
bat, noch den Stand der Forſchung auf dem Gebiete, daß er be: 
handelt, beherrichend überjieht. Beide Vorbedingungen fruchtbarer 
Arbeit gehen dem Vf. völlig ab, die letztere ſchon deshalb, weil der 
Kreis feiner Lektüre ich thatſächlich auf franzöſiſch gefchriebene Ar: 
beiten befchränft, und unter diefen wieder bejonderd werthvolle, wie 
die Werfe von Gallois, ihm ganz unbefannt geblieben jind. 

Bon der deutichen Wiſſenſchaft haben auf ihn direkt eingemirft 
nur franzöfifche Überfepungen von Huniboldt's Werfen und von 
K. Ritter's Einleitung zur allgemeinen vergleihenden Geographie. 
Breujing’3 einjchneidende Urbeiten über Mercator, die don Heyer 
veröffentlichte und eingehender vermwerthete Entdedung verjchollener 
Mercator:Karten auf der Breslauer Stadtbibliothef dur) Markgraf 
fennt er nur durch die Brille eines franzöfifchen Referate. Die zu 
nächſt liegende Erwartung, daß ein Hauptwerth des vorliegenden 
Werkes in vollitändigerer Ausbeutung dieſer neuen Entdedung liegen 
fünne, wird niedergejchlagen mit der trodenen Bemerkung: On 3 
fait de vains efforts pour retrouver les sources, auxquelles Mer- 
cator emprunta les principales donnees de sa carte... ce sont 
la des recherches d’assez mince portee.e Nul n’ignore quil 
y eut des cartes de differentes parties de l’Europe avant Mer- 
cator et le veritable talent de Mercator fut l’habilite et l’esprit 
critigque avec lesquels il en fut usage. C’est cela que reside 
toute l’importance de sa carte d’Europe. Dieſes jchnellfertige 
Ablehnen der Unterfuhung, die in der That noch weiter zu führen 
ijt, fennzeichnet diefen merfwürdigen Geſchichtſchreiber der Wiſſenſchaft 
genügend. Daß auch Günther's und H. Wagner’3 Arbeiten, Norden: 
ſtjöld's reicher Facſimile-Atlas und überhaupt alled, was von neueren 
literariichen Erjcheinungen für die Kartographie des 16. Jahrhunderts 
ernjtlih in Betracht fommt, außerhalb des Geſichtskreiſes des Bi. 
geblieben ift, braucht faum ausdrüdlich hervorgehoben zu werden. So 


Geſchichte der Geographie. 631 


wird fchwerlich jemand in die Lage fommen, von den Abfchnitten des 
Werles über Gemma Friſius, Gerhard und Rumold Mercator, 
Ortelius (2, 1— 209) irgend welden Nutzen zu ziehen. In dem 
Sclußtheil la Decadence (2, 211 —441) ſteht über die fpäteren 
Antwerpener Kartenfabrilanten manches, was man fonit nicht fo 
handlich beifammen findet, und für diefe Periode mag dad Bud) als 
Hülfsmittel für die erfte Orientirung braudbar fein; aber auch hier 
bietet e8 durchaus zweithändige Arbeit, nichts von originellem Werth. 


Breslau Partsch. 


34° 


Notizen und Nachrichten. 


Die Berren Derfafler erfuchen wir, Sonderabzüge ihrer in 
Heitfchriften erfchienenen Auffäge, welche fie an diefer Stelle 
berüdfichtigt wünfchen, uns freundlichft einzufenden. 

Die Redaftien. 


Allgemeines. 


Im Verlage von Mittler & Sohn fol demnädft eine neue Zeit: 
Ihrift für die gejammte Militärrechtswiſſenſchaft erſcheinen, 
herausgegeben von Dr. v. Mard (jährlih zmölf Hefte a 21: Bogen, 
Abonnementspreig 12 M.). 


Bom 1. Juli d. 3. ab erfcheint in Rom eine neue Rivista Ita- 
liana di Sociologia, herausgegeben von Salvatore Cognetti de 
Martits. — Auch von einer neuen Rassegna di scienze, lettere ed 
arti unter dem Titel L’Italia ift das erite Heft erichienen, das u. a. 
einen Artifel von ©. Barzellotti enthält: La filosofia nella storia 
della cultura (die Zeitſchrift erfcheint in Rom; Herausgeber D. Gnoli: 
jährlich 18 Hefte zum Jahresabonnement von 36 8. für's Ausland). 


Sn Sulmona ift da8 erjte Heft einer neuen Rassegna abruzze- 
se di storia ed arte unter Redaktion von Banja und Piccirelli 
erichienen (jährlich drei Hefte, Preis 3 Lire, für's Ausland 4,50 R.). 


In London bei Elliot Stod erfcheint feit Mai ein neue Genes- 
logical Magazine (monatlih ein Heft zum Preiſe von 1 eh. 
Sahresabonnement 12 sh.). 

Aus Frankreich wird das Ericheinen einer neuen Gazette numis- 
matique franglise angefündigt, herausgegeben von F. Mazerolle 
und R. Serrure. Deögleihen eine neue Zeitſchrift für Kunft und 
Kunitgejdhichte unter dem Titel: Revue de l'Art ancien et moderne, 
herausgegeben von %. Comte. 


Allgemeines. 533 


Im Schmoller'ſchen Jahrbuch 21, 3 veröffentiiht I. Hintze eine 
größere Abhandlung über: Roſcher's politiihe Entwidlungstheorie. Er 
fritifirt die von Roſcher in feiner „Politik“ vorgetragene Anficht, daß im 
großen und ganzen alle Völker und Staaten einen gleichartigen politiihen 
Entwidlungdgang durchmachen, der bezeichnet ijt durch die Stufen des 
patriarchaliich = volf3freien Königthums, der prieiterlich =ritterlichen Arifto- 
fratie, der abjoluten Monardie, deniofratiicher Berfaflungsformen und 
einer Spaltung in Blutofratie und Proletariat und fchliehlich des Cäſaris— 
mus. Er weift namentlich auf die Störungen hin, die diele im wejent- 
lihen partifulare, nationalgeſchichtliche Entwidlungstendenz durch die uni 
verjalen weltgefhichtlihen Jujammenhänge erleidet, und zwar ebenſowohl 
durch die Thatjahen der äußeren Staatenbildung wie dur die Sozialen 
Einflüſſe größerer Kulturgemeinfchaften. An Stelle der KHlaffififation nad 
dem ariftotellihden Schema muß vielmehr eine hiftoriiche Betradhtung der 
verfchiedenen ftaatlihen Formen treten, wobei bejonderes Gewicht zu legen 
ijt auf die verichiedene Größe des Staat? und überhaupt auf die Art, wie 
der Staat mit feinem Boden verbunden iſt (als Gau, Stadt, Territorium, 
Gropftaat, Weltreih); denn mit dem äußeren Umfang ändert ſich auch die 
Berfafjung, wie an verichiedenen Beiſpielen nachgewieſen wird. 


Auf den im vorigen Heft notirten Angriff von Rachfahl antwortet 
K. Lamprecht in den Kahrbüdern für Nationalötonomie und Statiftif 
in einem längeren Artikel: Individualität, Idee und ſozialpſychiſche Kraft 
in der Geſchichte (unter Eingehen namentlich auf die Humboldt » Ranfe’iche 
Ideenlehre). Rachiahl replizirt in einer furzen Entgegnung. Vgl. aud) 
noch eine Notiz don Lampredt in der Zeitichr. f. Geſchichtswiſſenſch., 
Monatsblätter 3/4: Neuere Literatur zu den bijtorijch = methodologtichen 
Erörterungen, und gegen den Angriff Onden’8 in den Preußiſchen Jahr: 
büchern ebendort im Auguſtheft eine Erklärung Lamprecht's nebit Ant- 
wort Oncken's. , 


Aus den Berichten des Freien deutſchen Hoditift zu Frankfurt a. M. 
13, 2 notiren wir eine Beiprehung Junker's von dem Werte A. Odin’: 
Genese des granda hommes. Gens de lettres francais modernes 
(Barid-Laujanne, 1895, 2 Bde.). 


%. Baar, der jhon früher in einem Programm den Gejchichtäunter- 
richt in Frankreich, Rußland und Nordamerika gejcildert hatte, veröffent⸗ 
licht jeßt in einem weiteren Programm (Progymnafium in Malmedy, 
Litern 1897, 21 ©. 4%) den zweiten Theil feiner: Studien über den geidjicht» 
lihen Unterridt an den höheren Lehranitalten des Auslandes, indem er 
nunmehr den Geichichtsunterriht in England, Spanien und Norwegen 
behandelt. Namentlih die ausführlide Taritellung über England bietet 
viel Intereſſantes. 


634 Notizen und Nachrichten. 


Die Revue des deux mondes vom 15. Juni enthält einen Auflak 
von Breal, einen Abichnitt aus einem Buch des Verfaſſers: Une science 
nouvelle. La s&emantique die Bedeutungslehre, d. h. die nad) dem Ver 
faſſer mit bewußter, intelleftueller Arbeit verbundene Ftrirung der Bedeu 
tung für die Worte). 


Da8 Juniheit der Deutichen Rundichau enhält einen fehr allgemein 
gehaltenen Vortrag von O. Seed: Die Entftehung des Geldes (zum 
Theil im Anſchluß an das Buch von Ridgeman). — In der Zeitſcht. f. 
Geſchichtswiſſenſch. 2, Monatsblätter 3/4, findet fih ein Aufſatz von 
F. Ratzel (mit einem Zuſatz von K. Lamprecht): Ethnographie und 
Geſchichtswiſſenſchaft in Amerika (weiſt namentlih auf eine Schrift von 
2. ©. Brinton Hin: An Ethnologists view of History, Philadelphio 
1896 ; der leitende Gedanke diefes Ethnologen über Geichichte iſt bemerkens 
iwertherweife: The conscious and deliberate pursuit of ideal aim» is 
the highest causality in human history). — Aus der Zeitichr. f. Philo— 
fophie u. Pädagogif 4, 3 notiren wir den Anfang einer größeren Arbeit 


u En } 


von O. Flügel: Jdealismus und Materialismus der Geichichte. 


Neue Büder: Crozier, Hist. of the intellectual development on 
the lines of modern evolution. I. (London, Longmans. 14 sh.) — 
Philolog.-hijtor. Beiträge, Curt Bahsmuth ıc. gew. (Leinzig, 
Teubner. EM. — Uebermweg, Grundriß der Geſch. der Philoſophie. 
II, 2. Adte Aufl. Bearb. von Heinze. (Berlin, Mittler), — 8. Stein, 
Die joziale Frage im Lichte der Mbilofophie. (Stuttgart, Ente) — 
v. Reihenau, Einfluß der Kultur auf Krieg und Kriegsrüftung. 
(Berlin, Mittler. 1,75 M.). — Tetz ner, Geſch. d. deutihen Bildung un? 
Augenderziehung ꝛe. (Gütersloh, Berteldmann.) — Deutſch-bſterr. Kitera: 
turgeih. 1. Lief. Heraudg. m. a. von Nagl u. Zeidler (Bien, 
Fromme. 1 M.) — Mandarini, I codiei manoscritti della biblio- 
theca Oratoriana di Napoli. iNapoli-Roma, Andrea. 35 L) — 
Clowes etc., The Royal Navy. I. (London, Low. 25 sh.) 


Alte Geſchichte. 

„der den Urjprung der Ägypter“ hielt Brofefior Schweinjurth 
in der Junis und Juliiigung der Berliner Geiellihaft für Anthropologie 
einen Vortrag im Anſchluß an die in den legten Jahren in Agypten 
gemachten präbiltorifhen Funde: vgl. die Notiz S. 350. — In den 
Sigungsberichten der Berliner Akademie der Wiflenih. 35 ift ein von 
Erman vorgelegter Aufiap von L. Borchardt veröffentlicht: Über das 
Alter des Sphinx bei Gizch (kann erit der Zeit des mittleren Reiches, um 
2000 v. Chr. entitammen‘. 

In der Academie des Inser. März April gibt X. Cppert einen 
Beitrag zur Metrologie: Le boisseau septimal ou métrétès chaldeen, 


Alte Geſchichte. 685 


und Thureau=sDangin gibt einen neuen Interpretationsverſuch ber: 
Inecription de la stöle des Vautours. — Wir notiren von Oppert 
noch einen gegen Mahler gerichteten Artikel in der Zeiticht. der deutichen 
morgenländ. Gefellih.: Die Schaltmonate bei den Babyloniern und die 
ägyptiich-haldäiiche Ira des Nabonafjar (legtere iwar nach Oppert nicht 
ala ein Theil der alerandriniichen Sothiß= Periode, um 575 vage Jahre 
verjüngt,.. — In ber Zeitſchr. f. Aſſyriologie 11, 4 veröffentliht G. Reißner: 
Notes on the Babylonian system of measures of area, und C. F. Leh⸗ 
mann im Sprechſaal Bemerkungen über das Schaltſyſtem: Nah Tag und 
Monat. — Im Journal of the Royal Asiatic Society, Juli 1897, 
beipriht und überjest Th. G. Pinches: Some early babylonian con- 
tracts or legal documents, 


Sn der Revue des Questions Historiques 123 veröftentliht A. 3. 
Telattre eine größere Abhandlung: Les dernitres decouvertes aux 
pays bibliques à propos d’un livre recent (sc. eines in Philadelphia 
unter Redaktion von Hilprecht erichienenen, mehr populären Buches: Recent 
research in Bible Lands, its progress and results, über defien Inhalt 
Verfaſſer, unter Anknüpfung fritiiher Bemerfungen, eine Überficht gibt, wos 
bei auch der Stand der ſumeriſchen und der Hittitiichen Frage diskutirt wird). 


‘m Journal Asiatique 9, 9, 1 veröffentliht Karppe: Melanges 
assyriologiques et bibliques (Erflärung der Bibel mit Hilfe der Ajiyrio- 
logie), und ebendort in Nr. 2 Tumon: Notice sur la profession de 
nıedecin d’apres les textes assyro-babyloniens. — Ausbreitung und 
Verwandtichaft der jemitiihen Völker behandelt J. Spiro in der Revue 
de Theologie et de Philosophie 13, 2: Les origines des langues 
semitiques. 


In der Beilage der Münchener Allg. 3tg. vom 12. u. 13. Juli iſt 
eine Giekener Reltoratörede von B. Stade abgedrudt: Die Entitehung 
des Volkes Firael (e3 entiteht, indem die unter Moſe im Jahwe-Kult ge: 
einten Nomadenftämme aus den Steppen um Kadeſch in Baläjtina erobernd 
Dordringen und dort zum Aderbau übergehen. — Aus den Etudes 
religieuses 11 notiren wir einen Mrtifel von R. M. de la Broiſe: 
Juifs et Romains. Commentaire historique d’un chapitre des 
Macchabedes (über da® erjte Juiammentrefien mit den Nömern im Jahre 
161 v. Chr.). — In der Revue des &etudes juives 68 behandelt 2. Golb d⸗ 
ihmid: Les impots et droits de douane en Iudde sous les 
Romains. — In der Zeitihr. f. wijlenich. Theologie 40, 3 beantwortet 
3. Böhmer die Frage: Wer ift Gog von Magog? dabin, daß Heſekiel 
Kap. 38,39 auf Babel zu bezichen tit. 


Als Extrait des Memoires de l’Academie des inscriptions et 
belles-lettres 36, 1 ijt eine Meine Schritt von M. Deloche erſchienen: 


536 Notizen und Nachrichten. 


Les indices de l’occupation par les Ligures de la region qui fut plus 
tard appelee la Gaule (Paris, Imprimerie nationale. 18 ©. 4%. Gr 
glaubt, folche Anzeichen für die ehemalige Ausdehnung der Ligurer über das 
mittlere Franfreih in Urtönamen, die an Ligures anflingen, zu finden, 
ein doc redyt unficheres Argument. 


Im Anschluß an die Artikel über die Hethei-Pelasgi in Griechenland 
folgt jegt in der Civilta cattolica 1128 ff. eine Mrtifelreife: Gli Hetbei- 
Pelasgi in Italia. — In L'’Anthropologie 8,2. behandelt &. Patroni 
im Anflug an Orſi: La civilisation primitive dans la Sicile orientale. 


In den Zigungsberiten der Berliner Akademie der Wiſſenſch. 29 
veröffentlicht Al. Conze ben: Jahresbericht Über die Thätigkeit des Kaiſerl. 
deutihen archäolog. Inſtituts. — Ebendort in Nr. 31 ift ein Artikel von 
E. Ziebarth abgedrudt: Neue attiihe Hypothekeninſchriften Mittbeilung 
und Erläuterung von 22 neuen Fragmenten). 


Tie Leipziger Studien 18, 1 enthalten zwei tüchtige Abhandlungen: 
Quibus rebus singulorum Atticae pagorum incolae operam dederint 
von C. Scherling (1. Aderbau und Viehzucht, 2. Handwerk, 3. Handel 
und: De scribis reipublicae Atheniensium von %. Benndarf ibehan- 
delt die verichiedenen die Staatsichreiber betreffenden Fragen zunächſt für's 
5. und 4. Jahrhundert und dann vom Ausgang des 4. Jahrhunderts ab, 
unter Hinzufügung einer nach den inichriftlihen Dekreten aufgeitellten 
Liſte). 

Die Xuova Antologia vom 16. Juni ff. enthält Artikel von E. Ro⸗ 
magnoli: Soggetti e fantasie della commedia attica antica. — Gegen 
Ariſtophanes als Politiker wendet ſich ein Aufſatz in der Contemporary 
Review 377: The obverse side of Aristophanes. 


Sn der Classical Review 11, 5 erörtert 9. Richar ds: The minor 
works of Xenophon {die respublicae, meiſt kritiſch. B. W. Henderſon: 
The grant of immunitas to Brundisium, erörtert die Bedeutung von 
areheıe, die Sula nah Appian B. E. 1, 79 der Stadt verlieh. R. WM. 
Burrows: Aristides and the battle of Salamis erhebt Bedenken gegen 
die von ung 78, 5209 erwähnte Hypotheſe Bury's. — In Heft 6 ver 
öffentliht J. B. Bur y einen Aufſatz: The European expedition of Darius, 
in dem er die Anficht vertritt, dag nur die beitimmte Funde von Gold in 
Seythien Darius zu der Erpedition veranlaßte. 


Aus dem Hermes 32,2 notiren wir Artikel von ®. Tittenberger: 
Tie deiphiiche Amphictionie im Jahre 178 v. Chr. (hiſtoriſch-ſtaatsrechtliche 
Erörterung des zuerit von Foucart im Bulletin de corresp. Hellen. 1,6 
veröffentlichten Ampbictionendefrets?: W. Tetlejjen: Zur Kenntnis der 
Alten von der Wordiee in Anknüpfiung an Müllenhoff's Alterthumskunde 
Bd. 1; B. Meyer: Zur Chronologie der Praefecti Aegypti im 2. Jahre 


Alte Gefchichte. 537 


Hundert (Zujammenjtellung nad neuen Inſchriften- und Papyrusfunden); 
C. Bardt: Zur Provenienz von Cicero’8 Briefen Ad Familiares (inter» 
efianter Ffleiner Auffag, der die theilweile Benügung von Cicero's Con» 
cepten für die Sammlung der Briefe nahmeift); W. Schulten: Ein 
römiſcher Kaufvertrag auf Papyrus aus dem Jahre 166 n. Chr. (Publi— 
fation und Erörterung des jet im britiihen Mujeum befindlichen Papyrus, 
nebft Yacfimiletafel); endlih eine Miscelle von 8. %. Neumann: Zu 
den Hiltorien des Salluft (1. Silius Italicus und Salluft. 2. Die Rede 
des Licinius Macer und der Brincipat). 


Das Rheiniſche Mujeum 52, 2 enthält Artikel von A. Körte: Zu 
attiſchen Dionyſos-Feſten (lleine Beiträge zur Geſchichte des Theaters); 
H. vd. Brott: Buphonien (Kritif der Überlieferung; Vergleichung der 
attiihen mit den anderen Buphonien); 2. Jeep: Beiträge zur Quellen: 
funde des Orient? im Alterthum (Erörterung von PBhiloftorgios 3, 4—11,; 
PB. Krumbholz: Zu den Aſſyriaka des Ktefiad (zeigt wieder ihre Uns 
brauchbarkeit); endlich Miscellen von O. Hirichfeld: Der Brand von 
Lugdunum (nicht vor Ende 64; Senela erwähnt ihn nicht aus Rüdficht- 
nahme) und von Bücdeler, der von einem in Köln gefundenen Grabjftein 
ein kleines Carmen epigraphicum publizirt. 


Im Philologas.56, 1 ift eine nacdhgelafjene Arbeit von 3. Dümmler 
veröffentliht: Sittengefchichtlihe Barallelen (über :Zodtenbräuce 2c. bei 
verjdiedenen Völkern). Ebendort veröffentliht R. Herzog eine inter- 
eſſante Zufammenftelung: Namensüberjegungen und Verwandtes (er unter- 
iheidet Accommodation, Überjegung oder Vertauſchung von Namen bei der 
Übernahme in die fremde Sprache). Wir erwähnen ferner Artifel von 
H. Lug: Zur Geſchichte Korkyras (Gründungsdatum; Verhältnis zu Kypſelos; 
Belagerung Korkyrag im Jahre 37473 und Abſetzung des Timotheus); 
W. Soltau: Der Annalift Rifo ial® Quelle für Livius); E. Schmweder: 
Über die Weltfarte und CHorographie des Kaiſers Auguftus (Fortſetzung. 
Berfafier behandelt Hier die römische Chorographie als Hauptquelle ber 
Geographien des Diela und des Rlinius. Die Chorographie jelbit bes 
trachtet er als in den legten Jahren des Auguſtus in engitem Anichluß 
an die Weltlarte von einem Lateiner abgefaßt und als das wichtigjte geo- 
graphiihe Wert über die ganze damals belannte Welt. Th. Baunad 
behandelt: Die Inſchrift des Soarchos von Lebena (gegen ZBingerle:; 
€. Wunderer den: Gtreit um dad Sprichtwort: Aoxgoi tas arvörxas 
(zu Polyb. 12, 12a, zugleich ein Beitrag zur Kritik des Timäus), und der: 
jelbe unter Miscellen: Die ältejte Eidesformel der Römer Polybius 3, 25, 6 
kritiſch und jachlich erörtert). 

Aus dem Philologus 56, 2 notiren wir die Auffäge von P. Meyer: 
Aus ägyptiihen Urkunden (1. xaroıxoı, Berhältnifie der angeiiedelten Sol— 
daten mit erblicher Verpflichtung des Militärdienſtes. 2. erixocw, in 


538 Notizen und Nachrichten. 


doppelter Bedeutung, Ausmujterung und Anmujterung); von R. Helm: 
Fulgentius de aetatibus mundi (eine Unterfuhung der Schrift in Stil 
und Anſchauungsweiſe und Bergleihung in beiden Sinjichten mit den 
Schriften des Mythographen Fulgentius führt dazu, die von Reiffer⸗ 
ſcheid angenommene Identität dieſer beiden Fulgentius zu beſtätigen: 
W. Liebenam: Curator rei publicae (eingehende Darſtellung jeiner 
Befugniſſe: die wechſelnde Bedeutung dieſer Behörde illuſtrirt den Ber: 
fal der fommunalen Selbjtverwaltung und die fteigende Bepormundung 
durh den Staat); X. Miller: it Byzanz eine megariſche Kolonie? 
(es gibt Feine ftihhaltigen Argumente dafür); und von J. Kaerit: 
Ptolemaiod und die Ephemeriden Nlerander’3 des Broken {jchräntt die 
Ergebnifje des Wilckenſchen Aufiages, vgl. die Notiz 73, 159, in einzelnen 
Punkten ein). 


Die Neuen Jahrbücher 67, 4.5 enthalten den Schluß der Abhandlung 
von ©. Friedrich: Die Entftehung des Thukydideiſchen Geſchichtswerkes. 
Berfalier glaubt, daß Thukydides zuerft die Geichichte des archidamiſchen 
Krieges fchrieb und auch jelbitändig veröffentlichte, 418; ebenio begann 
Zhufndides dann jpäter die Parjtellung der ficiliihen Expedition als 
jelbftändigen Werkes; erft nachträglid wurde die PDarftellung von 421 
bi3 415 eingejügt, Buch 8 hinzugefügt und endlih das Ganze zu einer 
Einheit, unter Zufügung von Einfhüben in Bud 2 und 5, überarbeitet. 
Dasjelbe Heft enthält Aufläße von DO. Melker: Zur Topographie be 
puniſchen Karthago {im Anſchluß an neue franzöjtihe Forſchungen, nament: 
li TDelattres, und in Ergänzung zu der vom Verfaſſer jelbft im 2. Bande 
feiner Geichichte Karthagos gegebenen Darjtellung) und von ®. Herageus: 
Zum Edicetum Diocletiani ‘Ergänzungen zu Blümner's Erklärung‘. — 
In der zweiten Abtbeilung behandelt A. Meſſer eingehend: Quintilian 
al& Tidaktifer (Anfang). 


Im Jahrbuch des Kaijerlid) deutihen archäologiſchen Inſtituts 12, 2 
veröffentliht &. Körte einen Aufſatz: Ein Wandgemälde von Bulci al? 
Dokument zur römiſchen Königsgeſchichte. Er beichreibt und bejpridt die 
befannten Darjtellungen, die er in den Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr. 
datirt. Tas Gemälde jtellt nach ihm dar, wie Rom vom Maftarna=-Zervius 
Tullius zur Befreiung gefangener Etrusker erftürmt, und König Tarquinius 
dabei getüdtet wird. Die Herkunft der römilhen Zarquinier aus Etrurien 
leugnet er. 


Auf dem Boden der alten Etruäferjtadt Vetnlonia ift in einem 
Grabe ein reicher goldener Frauenſchmuck, Armbänder, Ohrringe, Halsband, 
Daarnadeln, Fibeln, gefunden, der audı reichen figürliden Schmud, Vögel, 
Khimären, Flügellöwen ꝛc. trägt (wahrfcheinlih aus dem 6. Kahrhundert 
vd. Chr; — Ben dem Marmor Parium iſt cin neues größeres 
Bruchjtüd über die Jahre 336—299 v. Chr. aufgefunden. Die Inſchrift 


Alte Geſchichte. 539 


iſt leider theilweife nicht mehr entzifferbar, aber die bejjer erhaltenen 
Fragmente bieten doch mehrere neue Datirungen und Notizen von 
Intereſſe. 


Aus dem Märzheft der Notizie degli Scavi notiren wir einen Bericht 
von G. Patroni über: Avanzi dell’ antico recinto ed iscrizioni latine, 
die bei Atena-Lucana aufgegraben wurden, darunter bemerkenswerth 
namentlih ein terminus Gracchanus, einer der von den tresviri agris 
iudicandis adsignandis gejegter Stein, über den %. Barnabei dann 
noch ausführlier Handelt. — Aus dem Bericht von A. Sogliano im 
Aprilheft über die Ausgrabungen in Bompeji im April diejes Jahres heben 
wir hervor, daß wieder zwei jchöne Gemälde gefunden wurden, die im 
Heft abgebildet find. In demfelben Heft berichtet noh ©. Batroni über 
verjchiedene: Nuove ricerche di antichita nella Lucania (ſchöne Bronze= 
gefäße, Schmudftüde und Urnen aus Sala Consilina, eine Reliefdarftellung 
des Herkules mit dem Stier aus Tramutola, Inichriften ꝛc.). — Ein Artikel 
von ©. de Sanctiß in der Rivista di filologia 25, 2: Eschine e la 
guerra contro Anfissa, gibt eine Kritif der Darftellung des Krieges bei 
Aeſchines, den er mehr als einen von Bhilipp’8 Genie und Erfolgen ges 
blendeten Durchſchnittsmenſchen, nicht als gewifienlojen Verräther anfieht. 
— In den Rendiconti des R. Istituto Lombardo 2, 30 handelt 
Et. Ciccotti: Del numero degli schiavi nell’ Attica, indem er ſich wie 
Seeck ſcharf gegen Beloch's ftatiftiihe Anjäge wendet. — Ebendort, in 
Rr. 12/13 beginnt P. Raffı mit Unterfudungen: Della cosi detta Pata- 
vinita di Tito Livio. — In den Atti della R. Accad. delle scienze di 
Torino 32, 11 jtelt E&. $errero nad Inichriften und Münzen zujammen: 
I titoli di vittoria di Costantino. 


In der Revue des études grecques 37 beantwortet P. Perdrizet 
die Frage: Comment finit Chaleion (Stadt der ozoliſchen Lokrer; fie 
wurde nad einer Anfchrift vom Jahre 64 v. Chr. mit Deanthud vers 
Ihmolzen. Ebendort veröffentliht M. Holleaur: Quustions &pigra- 
phiques (1. Decret de Samos. 2. Inscription de Thespies, die große 
von Jamot zuerjt veröffentlichte Schenfungsurfunde eines Ptolemäus für 
die Stadt, bie Jamot dem Ptolemäus Philadelphus, Holleaur dagegen den 
Philopator zuzufcreiben geneigt ift; Publikation und Grläuterung ber 
Inſchrift. 3. Decret trouve a Tanagra; Ergänzungen und Kritik zur 
Publikation Dittenberger's). Endlih C. Brufton: De quelques textes 
difficiles de l’&vangile de Pierre, erörtert drei Stellen des Tertes. — Aus 
den Annales de l’'univerite de Gsrenoble 9, 2 notiren wir eine ums 
fänglihe Abhandlung von C. Chappuis: Annibal dans les Alpes (über 
die von Hannibal eingeichlagene Route). — Ein Artikel von P. Tannery 
in der Revue de Philologie 21, 2: Frontin et Vitruve befämpft die 
von Uifing erneuerten Zweifel an der Echtheit Vitruv's. 


540 Notizen und Nachrichten. 


Im Bulletin der Academie des Inser. Rärz, April theilt R. Cagnat 
die Inichrift von Hendir- Mettich für die Villa magna Valeriani (vgl. 
die Notiz ©. 354; unter Hinzufügung einer ÜÜberfegung mit. — Ebendort 
publizirt und beipridt GC. Jullian: Tablette magique de Chagnon 
(Charette-Inferieure, eine Verhexungsformel aus einem gallijch-römijhen 
Grabe des 2. Jahrhundert? n. Chr... 

Über die politiihen Gedichte de8 Horaz Handelt zujammenfafiend 
H. T. Karſten in der Mnemosyne 25, 3: De Horatii carminibus ad 
rempublicam et Caesarem pertinentibus (Anfang). — Tie Nouvelle 
Revue Historique 21, 3 enthält einen Wrtifel von P. F. Girard: La 
date de la loi Aebutia (Überſetzung der 1883 in der Jeitichr. der Savigny: 
Stiftung erjhienenen Abhandlung‘. — In der Revue des deux mondes 
vom 15. Juli orientirt E. Guillaume über die franzöſiſche Erpedition 
unter Bertone nah Palmyra: Les ruines de Palmyre et leur recent 
explorateur. — In den Wiener Studien 19, 1 erörtert F. Marr: Tas 
Tobesjahr des Redners Mefjala i13. n. Chr.; Vertheidigung der Über: 
lieferung). — Tas Ardhiv f. latein. LXerilographie 10, 3 enthält einen 
Heinen Aufſatz von Ed. Wölfflin: Firmicus DMaternus (Hinweis auf 
die Schrift von Glifford-Moore Über die Mathefis). 


Aus der Beilage der Münchener Allg. 3tg. notiren wir Artifel von 
R. Kralik: Sokrates und jeine Philoſophie (5. und 6. Juli; Auszug aus 
einer größeren Arbeit iiber das Leben des Sokrates); von F. Marr: Die 
Beziehungen der klaſſiſchen Völker des Alterthums zu dem feltiich:germas 
nifhen Norden (23. und 24. Juli; gegenjeitige Kultureinflüjle‘, und Beilage 
vom 28. Juni: Ein Pamphlet aus der römiichen Kaiſerzeit (tritt für die 
Autorſchaft Seneca® bezgl. der befannten Schmähſchriſt auf Kaifer Clau- 
dius ein). 

Aus dem Archaeological Journal 213 notiren wir einen hübichen 
Aufſatz von 9. P. Fitz-,Gerald Marriott: Family portraits at 
Pompei (mit Abbildungen‘. — Ebendort jegt Bunnel Lewis jeine 
arhäologiichen Überjichten jort: The antiquities of Arles. 


Unter den von Hunt und Grenfell gefundenen Papyri (vgl. die Notiz 
©. 355) befindet jidh einer aus dem 2. oder 3. Jahrhundert, der Aoyıa 
’Ir;oor, „Herrenworte“, enthält, und dem man für die Evangelienforihung 
große wie uns jcheint, übertriebene) Bedeutung beimißt. Seine Publi— 
kation ijt bereit3 erfolgt .Yondon, Yyromwde). Auch von A. Harnack wird 
darüber eine eigene Schrift veröffentlicht bei Mohr in Freiburg i. Br. — Eine 
allgemeine, jehr brauchbare Zujammenitellung über: Griechiſche Papyri, nadı 
Echriftitellern geordnet, gibt C. Haeberlin im Centralblatt für Bibliotheld- 
wejen Bd. 14. 


In jeiner Meinen Schrift: Kicero im Mandel der Jahrhunderte (Leipzia, 
Teubner 1807, 101 S.) bewährt ſich Th. Zie linski als geiſt- und fenntnifs 


Alte Geſchichte. 541 


reihen Führer, der nicht nur jeinen Licero felbjt gründlich fennt, jondern 
auch, mit rafchen Schritten die Jahrhunderte durchmefjend, und den Ein- 
fluß und die Bedeutung Cicero's für die aufeinander folgenden Kultur- 
epochen bi zur Gegenwart deutlih zum Bemußtjein zu bringen verjteht, 
insbejondere jeinen Einfluß auf die ältefte chriftliche Zeit, auf die Zeit 
der NRenaifjance und Humaniſten und endlich auf die Zeit der Aufllärung 
und Revolution. Freilich jcheint ung Zielinski die Bedeutung Cicero's 
an einigen Punkten zu überſchätzen. So ift e8 zwar gewiß richtig, daß 
Vicero’3 Briefe da8 Mufter für die Humanijtenbriefe geworden jind; aber 
mit der Annahme, al® wäre durch Cicero der perjönlidhe Brief überhaupt 
erjt wieder entdedt (S. 34 f.), ſchießt Berfafler doch über's Ziel. Ebenſo 
fann man mindeſtens zweifelhaft fein, ob die Drapirung der franzöfifchen 
Revolutiongmänner mit Römerthum und Liceronianigmus nicht vielmehr 
eine Schwäche ald ein Borzug war. — In den dem Schriftchen beigegebenen 
Noten wird beſonders gegen Nerrlich derb polemifirt; da deſſen Buch thats 
fählih an allen maßgebenden Stellen klare, wenn auch ruhigere Zurüd- 
weilung erfahren hat, jo fann man aud wohl zweifeln, ob e3 nicht befier 
war, 3 jegt ruhen zu lafien, ala es durch derartige Polemik zu galvanifiren. 


Tie Sigungsberichte der Münchener Ulademie der Wiſſenſchaften 1897, 
Heft 2, bringen die Fortjegung der Unterfuhungen von ©. %. Meyer: 
Zu Zojephus 4. Die Republik Ierufalem. 5. Das verlorene Geihidht?- 
wert, sc. eine Geichichte Syriend). — In demielben Heft erörtert A. Furt: 
wängler nod einmal das Denkmal von Adamkliſſi, indem er an jeiner 
Deutung und PDatirung feitbhält. Vgl. dazu noch einen Artikel von 
9. Bulle im Ardiv f. Anthropologie 24, 4: Die älteften Darjtellungen von 
Germanen. Mit jeiner Unzweiflung der Echtheit der Tiara des Saita- 
phernes jcheint Furtwängler übrigens Recht zu behalten nad) einer Mit: 
theilung von E. v. Stern in der Berliner Philolog. Wochenſchrift Nr. 24: 
Die Tiara des Saitaphernes und die Goldfälihungen in Südrußland. 
Die Fälſcher find danach wahricheinli die Gebrüder Hochmann aus 
Otſchakow, die da8 Gewerbe der Fälſchung von Alterthbiimern im großen 
betreiben. 


Ein Auffag von C. U. Kneller in den Stimmen aus Maria-Laach 
1897, 6 f.: Flavius Joſephus über Jeſus Chriſtus, tritt wieder für die 
Echtheit der belannten Stelle in den Antiquitates ein. — Im Expositor 5 
ftelt W. M. Ramſay: The census of Quirinus, die Zeit von Quirinud’ 
Negierung in Aſia auf 5-2 v. Chr. feft. — Zn den Proceedings of the 
society of biblical Archaeology 19, 5 erörtert €. 3. Bildes: The date 
of the Siloam Inscription (ijt viel jünger, ald man gewöhnlich annimmt, 
wahrſcheinlich aus der Zeit Herodes des Großen). 


In den Blättern des Vereins f. Landeskunde von Niederöfterr. N. F. 
31, 5/6 führt Kubitſchek: Zur Frage der Ausbreitung des Chriſtenthums 


542 Notizen und Nachrichten. 


in Rannonien, aus, daB die Anfänge des Chriſtenthums vor dem Zus 
jammenbrucd der römischen Herrichaft dort gering waren. 


In der Byzantiniihen Zeitichr. 6, 2 behandelt E. be Boor, in Ans 
ihluß und Kritik der Uinterfuhungen von F. Hirih in feinen „Byzanti⸗ 
niſchen Studien“: Die Chronik des Logotheten (die Nachrichten über den 
Logotheten in der Fortjegung des Georgios, die nicht daß Original it, 
aus dem die verwandten Chroniken ausgejchrieben find, jondern umgekehrt, 
find kritiich nicht verwerthbar;; vielmehr find Xebengzeit und Lebensumſtände 
de LTogotheten für uns vollftändig in Dunkel gehült. In einer Rad 
ihrift jest fi VBerfafler mit einer fürzlich erichienenen, zu abweichenden 
Refultaten gelangenden Arbeit von Vaſiljevskij auseinander und mad 
Mittheilungen aus Wiener Handſchriften). — Ebendort veröffentlicht 
G. Wartenberg einen Artikel: Leon Diakonos und die Chroniften (ſe 
bieten für die Zeit von 359— 76 zwei don einander unabhängige und 
gleiher Weiſe zu berüdfichtigende Darftellungen); gegen einen früheren 
Artilel von Wartenberg polemifirtt dann 9. Laurent in einem Heinen 
Artifel: Skylitzes et Nicephore Phocas. E. Bapig iept feine ein 
dringenden Unterfuhungen fort: Über einige Quellen des Zonaras; 
U. Bapadopulo3-Kerameusd madt handidriftlihe Mittheilungen 
über: Adwvıxa xordaxapioy avıiyoaya, und endlih A. Semenom theilt 
nad Latyjevd mit und erörtert: Eine Snfchrift mit dem Namen Kaiſer 
Suftinian’® von der Halbinjel Taman (über Kirchenbau). 


Ein Xrtitel von $. B. Bury in der Historical Review 47: The 
Turks in the sixth century, gibt zu der auf hinefiihen Quellen fußenden 
Darjtelung von Barker (vgl. die Notiz 77, 541) Ergänzungen und Be 
rihtigungen nad byzantiniihen Duellen. — Sm Journal Asiatique 9, 9,1 
behandelt Ed. Chavannes: Le Nestorianisme et l’inscription de 
Kara-val-gassoun (erhebt Bedenken gegen W. Schlegel, der mit Beſtimmt⸗ 
beit in der auf der Inſchrift erwähnten „neuen Religion“ den chriftlichen 
Neſtorianismus feititellen zu können glaubte), — Über Inſchriften der 
Aflaifinen au dem 13. Rahrhundert, die von Foſſey und Duffaud in 
Syrien gefunden jind, berichtet v. Berchem im Bulletin der Academie 
des Inser. März: April. — In den Nachrichten der Göttinger Geſellſch. d. 
Wiſſenſch. 1897, 9. 1 veröffentlicht N. BVonwetſch: Die apokryphen 
Fragen des Bartholomäus (deutjche Überjegung aus dem altflamwifchen und 
griehiicher Tert nach PBaffıliev). — Im Journal of the Royal Asiatic 
Society, Juli 1897 publizirt Gaſter eine englifche Überfegung von: An 
old Ilebrew Romance of Alexander (12. Jahrhundert). 


NRNene Büder: Petrie papyri: the hieratic papyri from Kahun 
and Gurob. Ed. by Griffith. (London, Quaritch. 52 sh. 6d.) — 
Marti, Seid. der israel. Religion. Dritte Aufl. (Straßburg, Bull. 
4 M) — Sellin, Beiträge zur israel. u. jüd. Religionsgeſch. IL 1. 





644 Notizen und Nachrichten. 


K. Shumader: Neue vom Limeskaſtell Tfterburten (6. Zuli; beim 
Aufräumen gemadte Funde) und Beilage vom 17. Juli: Die bataviice 
Göttin Nehalennia (über fie betreffende Inſchriften und Altäre, die jeit 
dem 17. Jahrhundert zu Tage gelommen find). 


Beim Limestajtell Alteburg ift nad Bericht des Stredenfommifiare 
Pallat eine Infchrift von hervorragender Bedeutung und Schönheit aus 
dem Jahre 213 n. Chr., auf den Alemannenfieg Caracalla’s bezüglich, 
gefunden. — Eine ausgedehnte prähiftoriihe Wohnjtätte mit ſehr zabl- 
reihen Fundſtücken von der paläolithiihen bis in die römifche Zeit iſt 
in Baden b. Wien entdedt. — Bei Bronczyn im Kreife Kaliich it 
ein großer Zund von Eilbermünzen, deutichen, dänifchen, böhmijchen 
und engliihen, au3 den Ende des 10. und Anfang des 11. Jahrhunderts 
gemadht. 


Ein Artitel von X. de Valbroger in der Nouvelle Revue Histor. 
21, 3 beipriht im Anſchluß an das Buch von Gefftoy: Maurs et insti- 
tutions de l’ancienne Islande. 

Aus den Mitth. des Vereins f. Anhaltiihe Geſch. 7, 4 notiren wir 
einen völferfundliden Auflaß von DO. Hartung: NAderbaulide Alter: 
thümer aus Anhalt. — In der Baltifhden Monatsſchrift 39 (44), 6 be: 
handelt A. Bielenjtein: Art und Gejichichte lettiicher Stedelung. Gegen 
ihn nimmt dann V. v. Zranjehe dad Wort, indem er die Frage: Waren 
die ſog. Bauerburgen oder Burgberge Livlands ftändig bewohnt oder 
nit? entichieden verneinend beantwortet. — Am Globus 71, 20 kritiſirt 
K. Rhamm: Über den Urfprung der Slawen, die gleichnamige tſchechiſche 
Schrift von X. Niederle; vgl. dazu dann Niederle in Pr. 24 und 
v. Hormuzali in 72,4. — Ein Artikel ven Eug. Scepkin im Ardiv 
if. Slawiſche Philologie 19, 34: Zur Neſtor-Frage, unterfudt im Anſchluß 
an Strulj die Frage, ob, bezw. inwiefern der Mönch Neitor als Ber: 
faſſer der rujliihen Urchronik gelten könne. 

In den Blättern des Bereind f. Landeskunde von Wiederdjterreid 
31, 1-4 und 5/6 behandelt AU. Dachler ausführlid: Das Bauernhaus 
in Niederöfterreih und jeinlen) Urſprung. — Im Ardiv f. öjterreichiiche 
Geſchichte 83, 2 veröftentliht of. Egger eine umfangreihe Abhandlung: 
Das Nribonenhaud. Als Stammvater ded Hauſes nimmt er den Mark⸗ 
grafen Aribo der Oſtmark um die Wende des 9 und 10. Jahrhundert? 
an, und der Stammſitz des Hauſes war nah ihm nicht im Chiemgau, 
jondern im Iſengau: er verfolgt dann genauer die weitere Ausdehnung 
und Verzweigung des Geſchlechtes. 

Ein Artikel von G. Sarrazin in der Zeitichr. f. vergl. Literatur: 
geich. N. F. 11, 2.3: Der Urjprung der Giegiried-Cage, ſucht deren hiſto⸗ 
riihe Grundlage wieder in den Schickſalen König Sigibert’3 von Auftrafien 
und jeiner Gemahlin Brunbild. 


Frühes Mittelalter. 545 


In den als drittes Heft der Bibliotheque de la Facult& des Lettres 
der Universite de Paris herausgegebenen Melanges d’histoire du moyen 
äge publiées sous la direction de M. le Prof. Luchaire veröffentlicht 
Roupardin eine: Note sur Ebles, abbe& de Saint-Denis au temps du 
roi Eudes. Gegen Favre, der in dem Erzlanzler des Königs Eudes, Abt 
von St. Germain-des-Pres, St. Denis und Jumieges und dem 892 in 
einer Revolte gegen Eudes getüdteten Abt von Poitiers, beide Ebulus 
genannt, zwei verjchiedene Perjönlichleiten ertennen wollte, ſucht Boupardin 
die Identität beider nachzuweiſen. 


Ein bemerkenswerther Wufjag von Nino TZamafjia in den Atti 
della R. Accad. delle scienze von Zurin 32,12: Fonti gotiche della 
Storia longobarda, judjt nachzuweiſen, daß die Anfänge der langobardiichen 
Geſchichte niht nur an eigene langobardiſche Vollsſage anknüpfen, jondern 
jih auch gothiihe Sagen und Überlieferungen angeeignet haben. 


Die Eigungsberichte der Berliner Alademie der Wiſſenſch. Nr. 35 ent⸗ 
halten eine fehr bemerfenswerthe Unterfuhung von Ad. Harnad: Über 
die „Ordinationes“ im Papſibuch. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die 
Eintragungen von Ordinationen für die Zeit von 468—536 und von 
Anfang des 7. Jahrhundert® ab im wejentlihen durchaus glaubwürdig 
find; weniger zuverläjfig, aber gleichfalls nicht ohme Grundlage find die 
Stüde von 336—468 und von 536 bis Anfang des 7. Jahrhunderts; die 
Lrdinationen können aljo als der werthvollite Beſtandtheil des Papſtbuchs 
bezeichnet werden. — Das Archiv für katholiſches Kirchenrecht 77,3 ent⸗ 
hält die Fortſetzung der Unterſuchungen von M. U. Stiegler: Dispen- 
jation und Tispenjationswejen in ihrer geihichtlihen Entwidlung, vom 
” Jahrhundert bi8 auf Gratian inkl. (Entwidlung der Theorie im 
Mittelalter). 


Die Revue internationale de thöologie 19 f. enthält die Fortſetzung 
der Betrachtungen von J. Langen: Zur rijtlihen Kulturgeſchichte. — 
Aus der Beitichr. f. deutiche Philologie 30, 1 notiren wir einen Aufſatz 
von dr. Kauffmann: Der Arianigmus des Wulfila (gegen Joſtes, 
nah dem Wulfila urjprünglich zur orthodoren Kirche gehört Hatte und erjt 
in feinem legten Lebensjahre Arianer geworden war). — Sn den Analecta 
Bollandiana 16, 2 werden drei größere griechiſche Stüde publizirt: Eusebii 
Caesariensis De martyribus Palaestinae longioris libelli fragmenta 
(1. Passio sanctorum Appiani et Aedesiil. 2. Passio sanctae Theo- 
dosiae. 3. Passio sanctorum Pamphili et sociorum). Ebendort werden 
aus einer PBarijer Handichrift herausgegeben: S. Macarii monasterii 
Pelecetese hegumeni acta graeca, und ©. Kurth veröffentlicht einen 
tleinen gegen Kruich gerichteten Aufſatz: Le Pseudo- Aravatius (Berfajier 
hält daran feit, dab in Wirklichkeit S. Aravatius nicht? als eine Bers 
frümmelung von Servatius iſt). — Die Zeitſchr. f. Kirchengeich. 18, 2 

Hiftoriihe Zeitihrift N. F. Bd. XLIII. 35 


546 Notizen und Nachrichten. 


enthält die Fortſetzung von Freyſtedt's: Studien zu Gonſchalt's Leben 
und Lehre i2. Die Zeit der Propaganda, biß 8481. In den Analelten des 
Heites veröffentlicht E. Neitle eine liberfegung der: Statuten der Schule 
don Nitibis aus den Jahren 496 und 590 (nad) dem von J. Guidi heraus: 
gegebenen fyriihen Text). 

Zwei Miscellen in der Historical Review 47 wenden ſich gegen Au: 
ftelungen Maitland's: Burh -geat-setl von ®. H. Stevenſon und: 
Military tenure before the conquest von J. H. Round. — m de 
Engliihen Studien 24,1}. gibt 8. Horit: Beiträge zur Kenntnis ber 
altengliihen Annalen, indem er eine Klaijififation ihrer handſchriftlichen 
Überlieferung verſucht. Tie Archaeologia Cambrensis 55 bringt bie 
Hortiegung von X. R. Reed: Slebech commandery and the knights 
of St. John (Aufftellung einer Lijte ihrer Beiigungen im 13. Jahrhundert). 


In der Revue Historique 64 veröffentliht 3. Guiraud einen Auf— 
jag über: Saint Dominique et la fondation du monastere de Prouille 
(Gründung des Nonnenflojter8 im Jahre 1205 durd) St. Dominicus, haupt 
jählih um die Frauen dem albigenfiichen Einfluß zu entziehen, und Ge— 
ihichte jeiner Anfänge und Eritartung). — Im Bulletin der Academie 
des Inscr. für März, April werden Mittheilungen gemacht über eine 
Korreipondenz zwilhen Raginbold von Köln und Rudolf von Lüttid im 
Ms. L. 6401 der Rariier Nationalbibliothef: Une correspondance d'éco 
lätres du XI. siecle. 


Tie Revue Histor de l’ouest 13, 1 und 2 enthält eine Bublifation 
von R. du Lys: Collection de chartes inedites des XII, XIL et 
XIV. siecles relatives a la famille de Vanloger iin der Normandie. — 
In der Nouvelle Revue histor. de droit 21, 2 publizirt 3. Tarbif: 
Une collection canonique Poitevine (au8 dem Ende des 11. Jahrhunderts, 
nah einem Manuifript von Bordeaux). — R. Merlet gibt in den Ques- 
tions Historiques 122 eine: Reponse & quelques objections à l’origine 
franque de Robert le Fort :gegen Favre, der den ſächſiſchen Uriprung 
Robert's vertritt). 

Ein Meiner Artilel von Dom Fernand Cabrol in den Ques 
tions Historiques 123: L’abbaye Benedictine de Silos en Espagne it 
eine Beiprehung der bemerfensmwerthen Urkunden und Gejchichte dieſer 
Abtei von Tom Ferotin (Paris, Lerour. 1897). Ebendort ſetzt fid 
GE. Vacandard: La vie de Saint Bernari et ses critiques, mit der Kritik 
jeined Buches über Bernhard von Clairvaux auseinander. — In der 
Revue de l’orient latin 4, 2/3 veröffentliht E. Rey ein: Resume clıro- 
nologique Je l’'bistorire des Princes d'Antioche (von der Eroberung 10% 
bi zum Aufhören der Selbitändigfeit nad der Zerftörung im Sabre 1268). 

Tie Revue de droit international 29, 2 enthält einen Xrtifel vom 
Comte Miche langelo Sappello: Les consulats et les bailages de 


Frühes Mittelalter. 547 


la republique de Venize. Er nimmt romaniihen Urjprung des Handels⸗ 
fonjulats an und führt e8 ſpeziell auf Venedig zurüd; man vermißt die 
Benüpung der Arbeiten von Schaube 


Sn den Atti della R. Accad delle scienze di Torino 32, 8 bes 
bandelt F. Batetta: Il manoscritto 1317 della Biblioteca di Troyes, 
dad die Summa codicis, die Questiones und die Summa legis Langob. 
(de8 Irnerius) enthält, und datirt die Handichrift aus paläographiichen 
Gründen jiher in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts (dazu eine Fac— 
fimiletafel). Eine Überjicht über die Irnerius-Kontroverſe, im ganzen gegen 
Fitting Partei nehmend, gibt Ed. Meynial in der Nouvelle Revue 
Histor. 21, 3: Encore Irnerius. — Bon PBatetta notiren wir nod 
einen Artilel im Bullettino senese di storia patria 3, 4 über da3 Capi- 
tulare Dicta beati Karuli imperatoris, dem er nicht mit Boretius frän- 
tiichen, ſondern italieniihen Urjprung zuſchreibt und defien Echtheit er in 
Zweifel zieht. — In den Atti Nr. 9 Handelt U. Spagnolo: Intorno 
all’ origine dei testi di diritto canonico contenuti in un codice della 
biblioteca Capitolare di Verona (unter Beichreibung der Handichriften) 
und in Nr. 10 gibt F. Gabotto einen Beitrag zur Geſchichte des mittel- 
alterlihen irchenrechts: Un conflitto giurisdizionale in Piemonte nel 1234 
(ein Streit zwilden der Gemeinde von Moncalieri und dem Biſchof von 
Zurin, in dem jener an den Erzbiihof von Mailand und der Biſchof von 
Turin dann an den Papft appellirt. Abdrud von 6 intereflanten, im 
Stadtarchiv von Moncalieri neu aufgefundenen Dokumenten). Bon 
% Gabotto notiren wir beiläufig noch auß der Revue des langues ro- 
manes 4, 10, 6: Notes sur quelques sources italiques de l'épopée 
francaise (gegen Gautier gerichtet). 


3m Archivio storico ital. 206 publizirt ®. Santini mit einer 
turzen Einleitung: Nuovi documenti dell’ antica costituzione del 
comune di Firenze (13 Nummern von 1192—1230). — Die Rivista 
Italiana per le scienze giuridiche 23, 2 enthält noch eine Nota von 
E.4.Sarufiüber: La monetazione di Federico Il di Svevia, gli Augustali 
e la pubblicazione del codice di Melfi. —- 3m Archeografo Triestino 
21,2 veröffentlicht B. Tomajin: Notizie storiche intorno all ordine dei 
frati Minori conventuali in S. Maria del Soccorso e nella Cella Vecchia 
di Trieste e in S. Maria di Grignano (unter Abdrud von zahlreichen lir- 
funden und Altenftüden), und ebendort veröffentliht 2. Morteani aus 
dem Stadtarhiv von Pirano eine gerichtlihe Beweißaufnahme vom Jahre 
1220 circa: Sulla lite per la decima dell’ olio tra i vescovi di Capo- 
distria e il clero e popolo Piranese. 


Sn der ZBeitichr. f. die Geſch. des Oberrheing 12, 3 veröffentlicht 

H. Bloch eine bemerkenswerthe Unterfuhung über: Die Urkundenfälichungen 

Grandidier's. Er weift die Unechtheit von 17 nur bei ®randidier 
35 


n48 Notizen und Nachrichten. 


überlieierten Königs- und Kaiſerurkunden bi auf Heinrich V. nach {1. Kaiſer⸗ 
urfunden für Kloſter Schüttern. 2. Die Ottontihen Diplome für Kloſter 
Ebersheim. 3. Karolingiihe und Ottoniihe Diplome des Bisthums Straß 
burg), und er führt aus, dag nach der ganzen Lage der Dinge nur Gran: 
didier jelbjt der Fälſcher jein fann, der jich durch falſchen Ehrgeiz, feinen 
Vorgänger Chöpflin wo möglich zu übertreffen, dazu verleiten ließ. — In 
demjelben Heft behandelt U. Klemm: Die Verwandtſchaft der Herren von 
Backnaug imit einer feine Reiultate illuftrirenden Stammtafel). 


In den Nachrichten der Göttinger Geſellſch. der Wiffenfch. 1897 Heft 2 
gibt P. Kehr einen NReijeberiht Über: Papſturkunden in Pifa, Yucca und 
Ravenna, wo er die Archive für dad aroße Göttinger Urkundenwerk durd: 
forfchte (dazu 18 Nummern Urkunden in meift volljtändigem Abdruch. — 
Ebendort gibt Kehr ferner einen Bericht über: Papfturtunden in Reggio 
nell'’ Emilia nad) Berichten von Dr. Schiaparelli und publizirt und 
erörtert eine Urkunde Gregor’3 VII. vom 11. Februar 1077, die für Die 
Geihhichte der Zeit unmittelbar nad) Canoſſa von Bedeutung ift. 


In der Zeitichr. f.Kirchengeich. 18,2 behandeltAldinger: Die Biichofs: 
wahlen in Verdun in den Jahren 1245—1256, die die Steigende Gewalt. 
des Papſtes veranihaulihen (zugleih in Ergänzung und Berichtigung zu 
Clouet's Histoire de Verdun). — Ein Auffat in der Theologiſchen Luartal: 
ichrift 79, 2 von Gigalski: Die Etellung des Papſtes Urban's II. zu 
den Saframentshandlungen der Eimoniften, Schismatiker und Häretiker, 
wendet fi namentlich gegen Mirbt's Auffaffung, daß Urban II. nicht nur 
tHeoretiich, jondern auch praftiih durchaus die Ungiltigfeit ſolcher Hand: 
lungen vertreten habe. — In den Neuen Mittheilungen dee Thüringiid- 
Sächſiſchen Vereins 19, 3 jchildert 8. Heine ein Nrchengefchichtlicheß Lebenk— 
bild aus dem 12. Jahrhundert: Wichmann von Geeburg, der 16. Erzbiſchof 
von Magdeburg. 


Ein Aufiag von WU. Schulte in der Zeitichr. f. deutiches Alterthum 
41, 3 behandelt: Eine neue Hypotheie über die Heimat Hartmans von Aue 
(nämlich die Hypotheſe von Schulte und Zeller-®erdmüller, daß Hartman 
ein zu Eglisau wohnender Dienftmann der Freiherrn von Tengen war). 
— In der Beitichr. für romaniihe Philologie 21, 2 findet fich ein Artikel 
von 3. F. D. Blöte: Der biftorifhe Schwanenritter. Danach nahm die 
Cage ihren Ausgang von Roger von Toeni (F c. 1040), deſſen Erlebniſſe 
und Wappen den älteiten Zügen der Cage zu Grunde lagen. Er mar ber 
Großvater der Godehilde von Toeni, die fih mit Balduin, .dem Bruder 
Gottfried's von Bouillon, vermäßhlte, und jo wurden diefe zu Nachkommen 
de2 Schwanenritterts geftempelt. 

Die Zeitichrift für Sozial- und Wirthſchaftsgeſchichte 5, 3 bringt die 
Fortiegung der Unteriuhungen von ©. vd. Below: Die Entftehung det 
Handwerks in Deutſchland (2. Die hiſtoriſche Stellung des Lohnwerks. 


Frühes Mittelalter. 549 


Nah dem Berfajier reicht dag jelbitändige Handwerk neben dem bloßen 
Lohnwerk viel weiter zurüd und war von viel größerer Bedeutung, als 
Bücher und Lamprecht annehnten). 


Es ijt bisher verfäumt worden, hinzuweiſen auf die ziveite weientlich 
erweiterte und vermehrte Auflage der „Ausgemwählten Urkunden zur Ber: 
faſſungsgeſchicht“ von Altmann-Bernheim (X und 405 S. Berlin, 
R. Bärtner. 1895). Eine jehr umfichtige Vermehrung um rund 100 Num— 
mern hat ftattgefunden, unter denen fih auch ein Ineditum, das Juden⸗ 
privileg Sigmund’3, befindet. Sonſt ift nur bei wenigen Stüden auf ur- 
jprünglihe Vorlagen zurüdgegangen, wie etwa bei der Goldenen Bulle, 
für die an einzelnen Stellen das Böhmiſche Eremplar follationirt wurde. 
Im Übrigen hat man, wie bei der erjten Auflage, vorwiegend Drude benugt. 
Doch ift Hier mit Dank anzuerfennen, daß die Herausgeber fich bereit die 
erften 45 Bogen von Constitutiones U in den Mon. Gerin. bis etwa zum 
Jahre 1245 zugängli gemacht haben. Es iſt das ein wohlthuender Segen: 
jag zu einer gleichzeitig erichienenen ähnlichen Ausgabe von Quellen, die 
für jo wichtige <tüde, wie das Rapitwahldefret von 1059, die Promissio 
Canusina und dad Wormſer Konkordat, den alten Drud von Pertz wieder: 
holt, obwohl der 1. Band der Constitutiones jeit 1893 vorlag, jo daß man 
nun bei der Benußung mit veralteten Zerten zu lämpfen bat. Immerhin 
möchte ich weiteren Auflagen des Altmiann=Bernhein erneute Sorgfalt in 
der Reinigung der TZerte wünſchen. Es gebt z. B. unmöglih an, für ein 
Stüd wie den Kurverein von Renſe jih mit dem alten Scheidt (1758) zu be=- 
gnügen und danı zu Stilverbeilerungen wie auf S. 42 fih nöthigen zu 
lajien. Uns find jo viele Eremplare der Urkunde erhalten (allein in 
Münden lafjen ſich über 12 Lriginale der Einzelurfunde zujammenbringen‘, 
daß es ein leichtes ijt, eines derjelben zu follationiven oder abzudruden. 
Jene Stelle auf ©. 42 heißt eben nicht: ‚an... unseren rechten frei- 
heiten und gewonheiten, ale wir von alters han und an des reichs 
churfürsten herkhomen und bracht ist‘, jondern ‚al® von alter an und 
als dez richs kurfürjten herfomen und brabt it‘ (nach einen der Berliner 
Eremplare). Der Kurvereinstert des jogenannten Nicolaus Minorita .in 
1. Aufl. S. 35) ift erfreulicherweije wieder verbannt. J. 8. 


FRene Büder: Koegel, Geſchichte der deutſchen Literatur bis zum 
Ausgang des Mittelalters. J, 2. (Straßburg, Trübner. 16 M.) — Grimme, 
Geſchichte der Minneſinger. I. Paderborn, Schöningh. — Rietſchel, 
Markt und Stadt in ihrem rechtlichen Verhältnis. (Leipzig, Veit & Co. 6 M.) 
—- Martin Saint-Leon, Hist des corporations de ındtiers etc. 
a 1791. (Parie, Guillaumin. 8 fr) — Eberjtadt, Magisterium und 
Fraternitas. iXeipzig, Tunder & Sumblot. 5,40 M.) — Turdhann, 
Tabellae chronogruficae ad solvenda Jdiplomatum data. (Innsbruck, 
Wagner 2 M.: — Picaved, (ierbert. Un pape philosophe. Paris, 


550 Notizen und Nachrichten. 


Leroux., — La storia de los quatro dotores de la santa eglesia. Nadı 
Bincenz vd. Beaupoid, herausgegeben vd. Lauchert. (Halle, Niemeyer 
12 M. — Lenel, Die Entitehung der Vorherrihaft Venedigs an ber 
Adria. (Straßburg, Trübner. 3,50 M.) — Oddo, Sommario della 
storia di Messina. (Messina, Principato. 3 L.) — Mancini, Cortona 
nel ınedio evo. (Firenze, Carnesecchi. 6L.) — Stubbs, Registrum 
sacrum anglicanum. 2. el (Oxford, Clarendon press.) 


Späteres Mittelalter (1250—1500). 


Ad. Shaube ninmt in der „Zeitihr. für Sozial- und Wirthſchafts⸗ 
geihichte” Band 5 einen längſt gedrudten, aber in der Literatur unbeadhtet 
gebliebenen SKour&beriht von den Champagnermejien aus den Jahren 
1223—1265 zur Grundlage werthvoller Erörterungen über die Organifation 
diefer Mefien und die auf ihnen verwendeten Gewichte und Münzen. Er 
wird hierbei mebrfah zu ſcharfem Widerjprud gegen Lamprechts Yus: 
führungen in deſſen 2. Bande des „Deutichen Wirthſchaftslebens“ geführt. 


G. Cipolla veröffentliht in den Rendiconti della accademia dei 
Lincei Serie V, 5, 336—353 eine Reihe von Urkunden aus den Jahren 
1273—1310 zur Geſchichte der Patarener und der Keger in Verona. 


R. Holtzmann behandelt in der Deutſchen Zeitichr. für Geſchichts— 
wifienichaft Neue Folge 2, 16. Philipp den Schönen von Frankreich und 
die Bulle Ausculta fili, deren Veröffentlichung der König verboten hatte 
und an deren Stelle er eine durch jeinen Gropfiegelbewahrer gefäljchte Bulle 
Deum time unterjchieben ließ. Da das Lriginal von Ausculta fili nidt 
mehr vorhanden ift, ift Herausgeber der Anſicht, daß es in Wirklichkeit 
damals feierlich verbrannt wurde. 


Als Ergänzung jeiner Dantejtudien veröffentliht H. Grauert in den 
Hiltoriichepolit. Blättern Bd. 120 zwei Artikel über Dante in Deutichland. 
Er führt u. a. den Nachweis, daß, wie jhon Johann v. Neumarkt, 
der Kanzler Karl’3 IV., die Göttliche Komödie beſaß und zu lefen veritand, 
aud für König Zigmund eine lateinijche Überjegung ſammt Kommentar 
1417 von Giovanni da Serravalle angefertigt wurde. 


Im Hiſtor. Jahrbuch 18, 533—571 beendet Kopp die Biographie dei 
älteren Bergerius (f. oben S. 364) mit einer Überfjicht feiner literarijchen 
Thätigkeit. Ebenda S. 6H08—631 gibt K. Eubel höchſt interefiante Nach⸗ 
weilungen über da3 Zaubereiunmeien und den Aberglauben am Anfang 
des 14. Jahrhunderts. Es handelt ſich um allerhand Verſuche, dur 
verzauberte Ztatuetten da® Leben Johann's XXII. zu gefährden. Abs 
gedrudt werden eine Reihe von Wltenitüden des Vatikaniſchen Archivs. 
S. 631 gibt noch 9 V. Sauerland Ürgänzungen zum Itinerar 
Johann's XXI. 


Reformation. 551 


» Srensdortf bringt in den Nachrichten der K. Geſellſch. der 
ich. zu Göttingen Philol.:hiltor. Kl. 1897 S. 43—86 eine werthvolle 
uhung „Zur Geſchichte der deutſchen Reichsinſignien“, vor allem 
Schidjale während der Aufbewahrung in Nürnberg. Doch aud 
lihe Belegitellen des früheren Mittelalterd find gejammelt und be- 
en, und e8 wird der Nachweis geführt, daß die Zurüdführung der 
‚dien auf Kaiſer Karl erſt jeit Beginn des 14. Jahrhunderts bervortritt. 


(I. Meiſter unteriucht in den Annalen des Hiftor. Vereins f. d. 
rhein 63, 1—21 die humanijtiihen Anfänge des Nikolaus v. Cues, 
[3 Nicolaus Treverensis in Briefen Poggio's und anderer Huma⸗ 
ieit 1427 vorkommt, in deren Kreiß er eine angefehene Stellung ein« 
t, und denen er die Kenntnis von in Deutichland befindlichen Hands 
:n der Klaſſiker übermittelt. Im Anſchluß an diefe Unterſuchung 
9. Grauert in der Lit. Beilage der Köln. Vollszeitung Wr. 516 
(4. Zuli im beionderen auf des Nikolaus Schrift De concordantia 
lica hin, die am deutlichiten feine Vorliebe für die klaſſiſche Literatur 
en läßt. 


‚ber die Reformationsverjuche im Dominifanerllojter zu Weſel 1460 
71 berichtet in ausführlicher Darjtellung im Jahrbud des Tiüfjel- 
Geichichtövereing 11, 82 ff. BP. M. de Loe, ©. Pr. auf Grund 
[ten des Düfjeldorfer Staatsarchivs. Vier Beilagen für die Jahre 
-1464 jind zum Abdrud gebradt. „ES ergibt fid), wie entjchieden 
mermüdlich von Seite der geiftlicden wie der weltlihen Gewalt bda=- 
earbeitet wurde, das firdjlidhe Xeben wieder in Blüthe zu bringen.” 


. Duponts;serrier entwirft in den NMe6langes d’histoire du 
n äge publ. par A. Luchaire & 39-92 ein Bild der literarijchen 
iien des Johann von Orleans, Grafen v. Angoul&me (f 1467). 
umjängliche Katalog der Bibliothef des Fürſten aus dieſem Jahre 
: zum Abdruck und wird mit den iorgfältigiten literariihen und 
ıphiichen Noten verjchen. 


Lene Zücher: Tie Rezejie der Hanijetage von 1256 bis 1430. 

Leipzig, Dunder & Humblot. 28 M.) — Hürbin, "Peter 
dlau. (Strapburg, Dei. 6 M.) — Weiß, Aeneas Syivius Picco— 
i als Papſt Pius II (Graz, Moier. 6 M.) -- Ayroles, La 
Jeanne d’Arc. UI. (Paris, Gaume. 15 fr.) — Hartwright, 
tory of the house of Lancaster. "London, Stock. 9 eh.) 


Meformation und Gegenreformation (1500 —1648). 


on hoben Werthe it Franz Eulenburg's umfangreicher Aufiap 
die ‚sreauenz der liniverjitäten in früherer Zeit“, in den „Jahr: 
ıı für Nationalölonomie und Statiftit 3. Folge, Bd. 13). Auf Grund 


552 Notizen und Nachrichten. 


eine3 weſentlich bejieren (Heidelberger) Ouellenmaterial® vermag Eulenburg 
die ausgezeichneten Ausführungen Paulien’8 (9. 3. 45, 289% zu 
betätigen, zu forrigiren und zu erweitern, ohne freilich die ſchon von 
Pauljen befolgte Methode verlajien zu können, zwecks allgemeiner Bered: 
nungen die für eine beftimmte Univerfität berechneten Berhältniiie als 
typiich anzunehmen. Eulenburg jept die von Paulſen anf 2%: Jahr be 
technete dDurchichnittliche Aufenthaltsdauer der Studenten an einer Unipverfität 
auf 1°/s Jahr herab. Das ungemeine Überwiegen der Artiſtenfakultät 
(0 %0), das bereits Paulfen bemerkte, vermag Eulenburg zahlenmäßig 
nachzuweiſen. Dreiviertel aller Studenten gelangten ihm zufolge nidt 
einmal zur unterjten atademiihen Würde, den Baccalaurcat. Nach Eulen 
burg’3 Berechnungen wird die von Baulien auf 6— 7000 angenommene 
ftudentifhe Gejammtfrequenz gegen da® Jahr 1500 auf die Hälfte reduzirt. 
Dabei wird mit Recht betont, daß felbft dieje verringerte Zahl noch eine 
hohe ift, da die „fozinle Nöthigung“ zum Studium mejentlich ſchwächer 
war als heute. Zelbjt in unjerer Zeit ijt, rein zahlenmäßig angejehen, 
der Trieb zur höheren Bildung fein ſtärkerer ald gegen Ausgang ded 
Mittelalterd. Ben tiefiten Stand erreiht die Gejammtfrequenz in den 
Jahren 1520 ff. und 1636 ff., wobei jedoch die langjame und auch nur 
partiell eintretende Wirkung des Dreikigjährigen Krieges bei weitem nicht dem 
gewaltigen Rüdichlag zu vergleichen ijt, der infolge der lutheriichen Kirchen: 
revolution eintrat. Die Frequenz fintt rapid auf "/s der 1515 erreichten 
Ziffer. Die tiefgreifende geiftige Erregung, die in dem Chaos der ſcheinbar 
zujammenftürzenden alten Kirchenverfaffung unſicher gewordene finanziele 
Verſorgung im geiftlihen Etande erflären diefe Thatſache. Übrigens wird 
dann bereit3 in den jahren 1546—1550 der Standpunkt wenigftens von 
1501 bis 1505 wieder erreiht. In einem Anhang handelt Eulenburg 
u. a. noh über den Aufenthalt deutider Studenten an ben 
italientihen Univerjitäten. Er berechnet die jährlie Durdhichnittszahl aut 
etiva 500, was dem hohen Prozentjag von 12 %o der gefanımten Studenten: 
zahl entiprähe. Tie veränderte Stellung der deutichen Univerfitäten in 
der wiſſenſchaftlichen Welt in früherer und jebiger Zeit zeigt fich deutlich 
darin, dal dag mittelalterlihe Deutſchland mehr Studenten an fremde 
Univerjitäten abgab, als jeinerjeit3 Fremde anzuziehen vermodte. 


In den Monat3heften der Comenius-Geſellſchaft, Bd. 6, Heft 5 und 6 
(1897), 2. 131—176 handelt Ludwig Keller wieder über „Grund— 
fragen der Reformationdgejhichte” Der Verfaſſer hält darin 
zufammenfafjende Rüdichau auf seine jeit 1878 erichienenen religions- 
geichichtlihen Arbeiten und ſetzt fih mit einer Anzahl von literariichen 
Gegnern, namentlih mit Lüdemann, Karl Müller, G. Boffert und dem 
Referenten auseinander. Wir haben in diejer Zeitichrift (namentlich 55, 
477 ff. und 65, 152 ff.) und zulegt in der Deutſchen Literaturzeitung 1897 
Nr. 15 Sp. 576 ff. unſere Anjchauungen über Methode und Werth der 


Reformation. 553 


Keller'ſchen Arbeiten deutlich genug geäußert und finden durch keine Stelle 
des neuen Aufſatzes Veranlaſſung, unſer abfälliges Urtheil zu modifiziren. 
Jede Erwiderung auf Keller's perſönliche Angriffe müſſen wir unſrerſeits 
ein für allemal ablehnen. Herman Haupt. 


In den Miscellanea storica della Valdelsa (5, 1) führt D. Marzi 
den überzeugenden Nachweis, daß Giovanni Lucido Samoteo, unter defjen 
Namen im Anfang des 16. Jahrhunderts verfhiedene Schriften über die 
Nothwendigkeit der Kalenderreform erichienen find, nur ein Pſeudonym 
ift für den als Mathematiter hervorragenden Dominikaner Giovanni 
Maria Tolofani. 


In den WDeonatöheften der Comenius = Gejellihaft 1897 5/6 ſetzt 
Ellinger den in diefer Zeitichrift (79, 168) erwähnten Aufſatz über 
Melanchthon's Frühzeit fort. 


Die Feſtſchrift der Univerſitäit Greifswald zu Melanchthon's 400s 
jährigem Geburtstag von J. Haußleiter („Aus der Schule Melanch— 
thon's“, Greifswald, Julius Abel, 1897) beſchäftigt ſich mit den theos 
logiſchen Disputationen und Promotionen zu Wittenberg in den Jahren 
1546—1560. Haußleiter ſtützt ſich auf ein reiches bisher unbenutztes 
Material, das er theilweiſe veröffentlicht und auf Grund deſſen er den 
Verlauf der einzelnen Promotionen und Disputationen ſchildert. Die 
Arbeit iſt namentlich werthvoll für unſere Kenntnis der theologiſchen 
Stellung Melanchthon's in dieſen Jahren. 


In der Zeitſchr. für Kirchengeſchichte (18,2) ſetzt W. Friedensburg 
die in dieſer Zeitſchrift (79, 367) erwähnte Veröffentlichung des Briefwechſels 
katholiſcher Gelehrter fort. 


Dankenswerthe Ergänzungen zu dem von v. Soden und Knaate 
herausgegebenen „Briefbuch Chriſtoph Scheurl's“ veröffentlicht G. Bauch 
in den Neuen Mittheilungen a. d. Gebiete hiltor.-antiquar. Forſchung (19, 3). 


Ebendort bringt G. Liebe eine Aufzeichnung des Zeugmeiſters Lauterer 
über Requifitionen von Kriegsmaterial aus dem Zeughauſe zu St. Morib- 
burg bei Halle v. 1547 zum Abdrud. 


Den Humanismus und die Reformation in Frankreich in den Jahren 
1512—1552 behandelt H. Haujer in einen leſenswerthen Aufſatze in der 
Revue historique 1897, Juli. 


3m Bulletin du protestantisme francais (1897, Mai) behandelt 
derielbe die Stellung des Rathes von Nimes zur Reformation in den 
Jahren 1532—1537. 


A. Lefranc ſetzt ebendort (Nuni) den in dieler Zeitichrift 79, 168 
erwähnten Aufſatz über die religidien Ideen der Königin Margarete 
von Navarra fort. 


5:4 Notizen und Nachrichten. 


Ebendort veröftentliht N. Weib ein Aktenſtück über die 1535 auf 
Wunſch von Margarete vd. Navarra geplante Berufung Melanchthon's zu 
einer Disputation nad Paris. 


Die Entjtehbung des Augsburger Interims (1548) fchildert auf Grund 
eines reichen Altenmateriald® G. Rolf in der Deutichen Zeitichr. für Ge 
ſchichtswiſſenſchaft N. 3. 2, 1. Entgegen der neueren Auffafiung tritt er 
am Schluß wieder für die Anficht Ranke's ein, daß der Kaiſer das Snterim 
urſprünglich als allgemeined Reichſsgeſetz, nit nur als Ausnahmegeſetz 
für die Proteitanten geplant habe. 


In einem in Karlsruhe auf Wunſch des Proteſtantenvereins ge 
baltenen, jegt im Drud veröffentlichten Vortrage zieht U. Böhtlingk 
eine geſchichtliche Parallele zwiihen Luther und Loyola (Dr. Martin Luther 
und Ignaz v. Loyola, Heidelberg, 3. Hörning, 1897). Die geijtreichen 
Ausführungen leiden durch die jchroffe Herporfehrung des Parteiſtand⸗ 
punktes; mande GCharaktereigenjchaften Luther's werden übertrieben ber: 
vorgehoben, während die Perjönlichkeit Loyola's doch faum ſachlich genug 
gewürdigt wird. 


Sm Bull. de la Societe d’hist. et d’archeol. de Gen®ve 1, 5 gibt 
R. Wipper, Profeſſor in Odeſſa, einen kurzen franzöfiihen Auszug feines 
(1894) ruſſiſch geichriebenen größeren Wertes über Kirche und Etaat in 
Genf im 16. Jahrhundert, im Zeitalter des Calvinismus. 


In den Preußiihen Jahrbüchern 1897, 8 ſchildert P. Simſon dad 
Leben des eifrigen Vorkämpfers des Katholizismus in Polen, Stanislaus 
Hofius 1504— 1579), der feit 1550 Biſchof von Ermland war und ald 
Großpönitentiar in Nom jtarb. 


Tie Antihten des PhHilojophen Thomas Campanella (1568—1639 
über den Urjprung und die Urjadhen der Reformation jtellt dar und beur: 
theilt Felici in den Rendiconti della R. Accademia dei Lincei 6, 3. 4. 


Als einen Beitrag zur italieniihen Wirthſchaftsgeſchichte veröffentlicht 
C. Cipolla in den Atti della R. Accademia delle scienze di Torino 
32, 9 Urfunden aus den Jahren 1524—1578 über die Beitallung, Rechte 
und Pflichten von Feldhütern in dem veronejiihen Dorfe Tregnano. 


In den Mitteilungen d. Inſt. f. öfterr. Geich. (Bd. 18) unterjucht 
Loſerth die fog. Bruder Pazififation von 1578, deren nad) mündlichen 
Erflärungen niedergeichriebener Tert in zwei verſchiedenen Faſſungen vor: 
liegt. Auf Grund eingehender kritiicher Crörterungen fommt er zu dem 
Ergebnis, daß nicht, wie bisher nah Hurter angenommen merben mußte, 
die ſtändiſche Faſſung, Tondern die fpäter von fatholifher Seite vorgebradte 
eine Fälſchung war, bie dem PBizefanzler Wolfgang Schranz zur Laſt 
zu legen ilt. 


1648—1789. 556 


In der Dublin Review vom Juli 1897 verſucht ein Benediltiner 
Norbert Birt den Nachweis zu führen, daß die Lage der englifchen 
(evangeliichen) Biſchöfe unter Elifabeth durchaus feine beneidenswerthe war. 
Bon oben ber mußten jie ſich alle8 gefallen lafien, meint er, und beim 
Volke Hatten fie keinen Reſpekt. 


In den Unnalen db. hiſt. Ber. f. d. Niederrhein (Heft 63, 1897) bes 
richtet Pauls ganz interefiant über die verjchiedenen Verſuche, die Ge 
mütskrankheit des legten Herzogs Johann Wilhelm von Jülich und die 
Kinderlofigkeit feiner Ehe durch Erorzismus und allerlei Beihwörung3- 
fünfte zu beben. 

Ein Artifel von Gaſton Boiffier in der Revue des deux mondes 
vom 15. Juni 1897 beichäftigt ſich mit den äußeren Schidjalen der aca- 
demie francaise im 17. Jahrhundert und jtreift u. a. auch die Geſchichte 
der Entitehung des dictionnaire de l'académie. 


Que Büder: Willmann, Geld. d. Idealismus. UI (D. 
Idealismus der Neuzeit.) (Braunjchweig, Bieweg) — Fauth, Dr. 
Martin Quther’3 Leben. (Leipzig, Freytag. 5 M.) — Biermann, Geid. 
des Proteitantismus in Ofterreihiih-Sclefien. (Prag, Calve. 5M) — 
Jacob, Die Erwerbung des Eljah durch Frankreich im Weſtfäliſchen 
Frieden. (Straßburg, Trübner. 850 M.) — Knod, D. alten Matrifeln 
der Univerfität Straßburg 1621—1793. I, I. (Straßburg, Trübner. 
36 M.) — Waddington, La republique des provinces-unies, la 
France et les pays-bas espagnols de 1630 à 16560. IH. (Paris, 
Masson) — Zanoni, La mente di Franc. Guicciardini nelle opere 
politiche e storiche. (Firenze, Barbera.. 4 L.) — Hist. de la langue 
et de la litterature francaise des origines a 1900. III. (seizitme 
siecle) P. p. Petit de Julleville (Paris, Colin. 16 fr) — 
Falgairolle, Jean Nicot, Ambassadeur de France au Portugal au 
XVle siöcle. (Paris, Challamel. 750 fr) — Zeller, La minorite 
de Louis XIII. (Paris, Hachette. 7.50 fr) — Hutton, The church 
of the sixth century. (London, Longmans. 6 sh.) — Fuller, 
Life etc. of John Iavenant, 1572—1641, Lord Bishop of Salesbury. 
(London, Methuen. 10 sh. 6 d.) — Gardiner, Cromwell's place 
in history. (London, Longmans. 3 sh. 6 d.) 


1648 —1789. 

Eine kurze biographiſche Skizze des englifhen Gejandten in Paris 
unter Cromwell und jpäteren Gouverneurs von Dünkirchen Sir William 
Lockhart (1620— 1675) bringt R. M.Lodhart im Augujtheit der West 
minster Review. 

Die Erzählung von dem Prozeß gegen Balthajar de Fargues 1665, 
die fih in den Memoiren St. Simon's findet und trog ihrer Widerlegung 


556 Notizen und Nachrichten. 


durch Gaillard und Cheruel immer noch nacherzählt wird, ift von Bois— 
lisle auf's neue mit erſchöpfender Gründlichkeit kritiſch geprüft worden. 
Der erſte vorliegende Artikel unterſucht die Rolle, die Fargues bei der 
ſog. Rebellion in Hesdin 1658 geſpielt hat. (Revue des quest hist. vom 
1. Juni 1897.) 


In der Zeitichrift für Sozial: und Wirthſchaftsgeſchichte 5, 3 theilt 
Baaſch zwei Altenftüde mit, die die Bemühungen Hamburgs im Anfang 
des 18. Jahrhunderts betreffen, jeinen Handel nad DOftindien 'auszudehnen 
und Beziehungen zu der Dftender Kompagnie anzufnüpfen. 


Williams unterjudht die Gründe, die den al8 Staatdömann und 
Polititer wenig bedeutenden Herzog von Nemwcaitle, der trogdem ein halbes 
Sahrhundert die höchſten Amter inne hatte, fo lange in feiner Stellung 
geitüßt haben. E3 find vornehmlich feine verwandtichaftlihe Verbindung 
mit den einjlußreichiten Perfonen, fein großer Reichthum und der gewaltige 
Einfluß, den er auf die Parlamentswahlen ausübte W. jchildert dann 
die Wahl von 1734, bei der dieler Einfluß am klarſten erfennbar bervor: 
tritt, in ausführlicher Weife, die mande interejlante Einzelheit über die 
damalige Art der Wahlmace bringt. (Engl. Hist. Rev., Juli.) 


Der Schluß des Aufiapes von Boutry über die Papſtwahl von 1740 
(vgl. 79, 372) jchildert nach den franzöfiihen Alten ohne weitere hiſtoriſche 
Ausblide die mannigfahen Schiebungen und Sntriguen, die das lange 
Konklave erfüllten. 


Lloyd theilt in der Engl. Hist. Rev. (Xuli) die Berichte des Mar- 
hal von Sachſen und Eir John Ligornierd, von denen der erjte jchon 
einmal, aber ungenau, gedrudt ijt, über die Schladt bei Fontenay mit 
und gibt einige Erläuterungen dazu. 


Um feine LZejer über den befannten Streit zu orientiren, beginnt 
Weiß im Hiſt. Jahrb. 18, 2 einen Aufſatz über den Urjprung des Sieben: 
jährigen Krieges und gibt zunächſt eine einfach referirende Inhaltsangabe 
der Lehmann'ſchen Schrift. 


Arnsperger beſchäftigt ſich in den Heidelberger Jahrb. 7, 1 mit 
der Stellung Leſſing's zur Leibniziſchen Philoſophie. Nach ſeinen Aus— 
führungen gehen die zwar nicht ſyſtematiſchen, aber eindringenden 
Studien Leſſing's darauf zurück, daß er in dem Philoſophen den geiſtes⸗ 
verwandten Denker fand, deſſen Anfichten er in dem Kampfe um dad 
große Problem des Verhältnifjes von Glauben und Wiſſen für ſich 
verwertbete. 


Eine Geſchichte der Kolonieen der ruiliihen Sekte der Lippowaner, 
welche hauptiächlih durd; die Bemühungen Joſeph's II. zur Anjiedlung in 
der Bulowina bewogen wurden, gibt R. F. Kaindl im Archiv f. ölterr. 


Neuere Geſchichte feit 1789. 567 


Geſchichte 83,2. Die Darftelung, der zahlreiche Urkunden aus den Jahren 
1783—1865, zum Theil im Auszug, angehängt find, behandelt die Grüns 
dung und die Entwidlung der Kolonten und die befondere Stellung, die 
die Kolonijten in ihren Privilegien, ihrer Beihäftigung, ihren Religions— 
gebräuchen und Sitten einnehmen. 


Ueue Bäder: Boutenmantel, De regeeringe van Amsterdam 
(1653— 1672). Uitgg. door Kernkamp. I. (Haag, Nijhoff. 5,50 Fl.) 
— Le Glay, Les orgines historiques de l’alliance franco-russe. 1. 
(—1717.) (Paris, Champion )— Cian, Italia e Spagna nell secolo XVIII. 
(Torino, Lattes. 8L.) — Waliszewski, Pierre le Grand. (Paris, 
Plon. 8 fr) — Franklin, La vie privee d’autrefois. La vie de 
Paris sous la regence. (Paris, Plon. 3,50 fr.) — Salmann, Bernard 
de Mandeville und die Bienenfabel-Kontroverje. (Freiburg i. B., Mohr. 
7 M.) — Altmann, Ausgewählte Urkunden zur außerdeutichen Ber: 
faflungsgeichichte feit 1776. (Berlin, Baertner.) — Magnette, Joseph I. 
et la libert& de l’Escaut. (Brüssel, Lebegue.) — Wallace, The hist. 
of Illinois and Louisiana under the french rule. (Cincinnati. 10 sh. 
6d.)— Buckley, A Hist. of Methodism in tbe United States. I,II. 
(New-York. 25 sh.) 


Neuere Geſchichte feit 1789. 


La France d’apres les cahiers de 1789. Par E. Champion. 
(Baris, Colin. 1897.) Die Cahiers der Wahlen von 1789, die vielfadh 
gleih damals gedrudt wurden, find von jeher als eine Hauptquelle für 
die Kenntnis der Zuftände und Stimmungen in Frankreich zu Beginn der 
Nepolution verwerthet, aber erjt neuerdings wiſſenſchaftlich publizirt und 
ſyſtematiſch durdhforicht worden. So weit dad Material in den Archives 
parlementaires und in zablreihen Kinzelpublifationen vorliegt, bat 
E. Champion ed mit großem Fleiße und mit vielem Geihid zu einer 
Schilderung des vorrevolutionären Frankreich veriwerthet, die urjprünglic 
in der von Laviſſe und Rambaud herausgegebenen Histoire generale 
veröffentlicht, jegt in erweiterter Geſtalt und in Buchform erichienen, viel: 
leicht nicht immer die wirklichen Zujtände, aber deren Spiegelung im Lichte 
ber öffentlihden Meinung wiedergibt. Das Ergebnis diejer den, Cahiers 
meift im wörtlihen Auszug entnommenen Angaben über die Berjafjungs- 
frage, den Gedanken der nationalen Einheit, den Partikularismus der 
Provinzen, das Verhältniß der drei Stände zu einander und zum König» 
tbum, Steuern, Finanzen, Gutsherren, Bauern u. j. w. entipridt den 
befannten Anſchauungen Aulard's und Champion's. Frankreich, jo leſen 
wir auch hier, wünſcht eine beſonnene allmähliche Reform auf friedlichem 
Wege: der Widerſtand des Königthums, dem ſich der vorher liberale und 
oppoſitionelle Adel anſchloß, verurſachte die Revolution. 


558 Notizen und Nachrichten. 


Die Briefe eines italieniſchen Staatsmanns P. Greppi über den 
Wiener Hof (Auguft 1791 biß September 1792) zeigen, ohne tiefere 
Kenntni® der diplomatiihen Borgänge, do gute Beobachtung umd 
treffende Urtheile, 3. B. über Thugut, den er einen „harten und falten 
Arbeitskopf“ nennt, beſonders auch über die Ausſichtsloſigkeit des Krieges 
mit Frankreich, deſſen natürlide Hülfsquellen er ſehr bo anſchlug. 
(Deutſche Revue, Juliheft 1897.) 


Die Revol. francaise hat im Maiheft folgenden Inhalt: Cahier des 
dritten Standes des Bezirk Verdun (jehr eingehendes Reformprogramm 
in 134 Baragraphen), nebjt dem ausführliden Protokolle über die dortige 
Wahlverhandlung. Ein Schreiben des Herzogs von Lianco urt vom 
14. März 1789, der unter Hinweis auf jeine Pflichten .ald Deputirter dem 
König fein Hofamt al® grand-maitre de la garderobe zur Berfügung 
ftellt, und die beruhigende Antwort des Königs. Die Widerlegung einiger 
von Gregoire erhobenen Beihuldigungen gegen Chaumette wegen angeb- 
lihen Bandalismus (von Guillaume). Chaſſin erweilt aus Eingaben 
des am 18. Fructidor deportirten Generals Millot von 1814 deſſen 
geheime Berbindung mit den Bourbonen im Jahre 17%. Aulard 
veröffentlicht eine berichtigte Liſte des Vorſtands des Jakobinerklubs von 
1789 bis zur Schließung des Klubs im Oktober 1794. Levy⸗Schneider 
erörtert die Entſtehung der Seeſchlacht von Oueſſant, 1. Juni 1794. Im 
Juniheft ſchildert Lihtenberger die Schickſale des Schotten John 
Oswald, eines begeiſterten Anhängers der Revolution, der mit zwei 
Söhnen im September 1793 in der Vendeée fill. Aulard gibt einen 
Neudruck der nur in einer Brojhüre erhaltenen namentlihen Abftimmung 
vom 13. und 14. April 1793 über die Erhebung der Anklage gegen 
Marat (Schluß im Juliheft). Debidour behandelt die Entwidlung der 
ultramontanen Bewegung im erjten Jahrzehnt der Julimonardie. 


Albert Sorel jegt jeine ſchönen Studien über die auswärtige Bolitit 
Frankreichs in der Revolutionszeit fort und zeigt in einer Abhandlung 
über den „Raitatter Kongreß und die Abtretung des linken Rheinufers“ 
den Fortgang der franzöfiichen Eroberungspolitik auch nad dem Frieden 
von Campo Formio, jener echt franzöſiſchen Politik der Erpanjion und 
Suprematie, die dag Direktorium in verworrener, widerſpruchsvoller Weile 
betrieb, Napoleon planmäßig aufnahm und methodild durdhführte. (Revue 
des deux mondes, 15. Juli.) 


Memoires du general comte de Saint-Chamans, ancien aide- 
de-camp du mar6chal Soult (1802—1832). (Paris, Plon. 1896. 542 ©.) 
Eines der jetzt jo zahlreich ericheinenden Memoirenwerfe aus der napole 
oniihen Zeit, da8 ohne großen Schaden für die Nachwelt hätte ungedrudt 
bleiben können. Der Berfafier, unter dem Kaiſerreich Oberſt, unter 
Zudwig XVIU. Befehlshaber einer Brigade der königlichen Garde und 


Neuere Geſchichte ſeit 1789. 569 


Kammerherr, ift nad der Julirevolution aus dem Dienſte gefhieden und 
1848 geftorben. Seine Aufzeihnungen, in denen er eine ausgeprägt 
legitimiftifche Anjchauung bekundet, berichten wejentlich über die jpanifchen 
Feldzüge, die er von 1809 bis 1811 ala Adjutant Soult's mitgemacht hat, 
jodann über den rujfiihen Feldzug von 1812. Wa er über die inneren 
Berbältniffe der fatferlihen Armeen, über den Mangel an Disziplin bei 
den Zruppen, über die Neibereien zwiichen den Führern u. |. w. erzählt, 
zeugt von nüchterner Auffafjung der Dinge und bietet einiges interefiante, 
neue Detail, das Allermeifte ift aber doch ſchon längft und in ausführ- 
liherer Weije gejagt worden. Am ebejten find noch diejenigen Kapitel, 
welde die Armeeverbältniffe unter den Bourbonen und den ſpaniſchen 
Feldzug von 1823 behandeln, wegen der Schilderung der royaliftiichen 
Strömungen im Heere, ſowie dasjenige über die Julitage in Betradht zu 
ziehen. Daß der DBerfajier eine jo naid=Übertriebene hohe Meinung 
von feinen geiftigen und körperlichen Vorzügen zur Schau trägt (ſelbſt 
feine „ſchönen Schenkel” und „Meinen Hände” werden von ihm ge: 
rühmt), wird ihm bei den allermeiften Lejern nit zur Empfehlung 
gereichen. R. 


Dragomirom vertheidigt dad Andenken Napoleon’3 gegen Proudhon's 
Angriffe, Hauptfählih von militärifhen Gefiht3punften aus. (Revue nouv., 
1. u. 15. Juli 1897.) 


Ganniers veröffentlicht die Briefe eines jugendlihen Militärarztes, 
S. Blanc, der im Februar 1812 Paris verließ, um zur „großen Armee” 
zu ſtoßen, und nad unjägliden Schwierigkeiten, oft zu Fuß marſchirend, 
im Juli Wilna erreichte, wo er verſchollen ift. Seine Schilderungen zeigen 
die Organtfation der franzöfiihen Armee und die Vorbereitungen zum 
ruffifhen Feldzug in wenig günftigem Lichte. (Revue des quest. hist., 
1897, Juli.) 


Unter dem Titel: „Bernadotte und die Bourbonen 1812 — 1814” 
erörtert Pingaud die Intriguen des Erſteren, um jeine Kandidatur 
für den franzöſiſchen Thron zu fördern, andrerſeits die Bemühungen 
der Bourbonen und auch Napoleons, den Kronprinzen für fih zu 
gewinnen. Neben Belanntem finden ſich dabei aud einige neue An— 
gaben aus ungedrudten Memoiren, u. a. Langeron’®, 3. B. über die 
Haltung Bernadotte's beim Sturze Napvleon’8 1814. (Revue de Paris, 
15. Suni 1897.) 


Eine Epifode aus den wenig befannten Kämpfen des nordmeitlichen 
Kriegsjhauplapes im Jahre 1813, den Sieg der deuticheenglijch-ruffifchen 
Truppen über eine Abtheilung Davout's bei Göhrde am 14. September 
1813 befchreibt Premierlieutenant Schwertfeger im Beiheft z. Milit. 
Wochenbl. 1897, 5.16. Heft. 


560 Notizen und Nachrichten. 


Bleibtreu's Betradjtungen über den Feldzug von 1815, in denen 
man mit Erjtaunen auch Scerr’3 Blücher als Duelle angeführt findet, 
geben mehr eine Erörterung verfchiedener Möglichkeiten mit vielen Wenn 
und Aber, ald eine Flare Feſtſtellung der Thatſachen. (Deutiche Revue, 
Juliheft 1897.) 


Der Schluß der Studie von Münp über die von den Franzoſen 
geraubten Sunitgegenftände (vgl. 79, 375) behandelt die Rüdgaben an die 
Niederlande und Stalien (Miſſion Canova's). Der Berfajter grollt bejon: 
ders den Engländern, die jich der Forderungen der Holländer annehmen, 
freut fi aber aller Fälſchungen und „frommen Lügen”, durch die die 
franzöjiihen Unterhändler die Beraubten um ihr Eigenthum betrogen. 
(Revue nouv., 15. Juli und 1. Auguft 1897.) 


Bornhal's im übrigen dürftiger Aufſatz über die verwaltungdredt: 
lie Stellung des preußiihen Minifteriums der geiftlichen Angelegenheiten 
(Berwaltungsardiv Bd. 5) enthält einige interejjante neue Thatjachen über 
die Gründung des Minifteriumd im Jahre 1817 und Über die damaligen 
inneren Gegenjüge im preußiſchen Staatsminiſterium. 


MWelvert behandelt in jehr jorgfältiger Unterfuhung die Schickſale 
der conventionnels regicides nad) der Revolution, bejonders ihre edit: 
lie Stellung während der Reftauration. (Revue histor., Juli 1897.) 


Wertheimer veröffentlicht die Berichte des Senerald Hartmann von 
Klerjtein und Schreiben Marie-Louiſe's über die Krankheit und den Tod 
des Herzogs von Reichitadt, weldhe die Thatjache unheilbarer Schwindjudt 
lediglich bejtätigen. (Revue histor., Mai-Juni 1897.) 


Briefe aus den Tagen der Juli-Revolution 1830 geben einige 
hübſche Stimmungsbilder und zeigen, wie die entfejlelte Nationalkraft 
Frankreichs ſich jogleicdh auf die Rheingrenze ftürzen möchte. (Nouv. Revue 
retrosp., Juliheft.) 


Einen Einblid in die Arbeitsweiſe Jakob Grimm's geben und 
17 feiner Briefe an den Sermanijten Prof. Fr. Mone, die Frhr. v. Wald: 
berg in den „Neuen Heidelberger Jahrbüchern“ 8, 1 publizirt. Die 
Briefe ſtammen aus den Jahren 1817—1841. 


Die allmählidye Abwendung des katholiſchen Theologen und Schriit— 
ſtellers Joh. Adam Möhler von Rationalismus zur Orthodoxie und zur 
Anerkennung der Unfehlbarkeit ſchildert Schmid im Hiſtor. Jahrbuch 
18, 2 u. 3. 


Die Deutſche Revue beginnt eine Veröffentlichung aus dem Bunſen— 
ſchen Familienarchiv, über deren polemiſchen Charakter man ver— 
ſchieden urtheilen kann, die aber jedenfalls Dokumente von hohem Intereſſe 


Neuere Geſchichte feit 1789. 561 


in Ausſicht ſtellt. Das erſte Kapitel (Yuliheft) betrifft die Neije des 
Brinzen von Preußen nad) England im Jahre 1844, bei der der Prinz 
zum fonftitutionellen Syitem belehrt werden jollte, und bringt einen 
werthvollen Beriht Bunſen's vom 9. September 1844 über jeine linter- 
redungen mit dem Prinzen, der namentlid Eichhorn's Kirchenpolitit be— 
fümpfte und in den Berfafjungsfragen die erzwungene Bewilligung einzelner 
Zugeftändnifte verwarf, während er einer Reform im ganzen und großen 
nicht abgeneigt gemweien wäre. Das zweite Kapitel (Auguſtheft) wendet 
jih gegen Treitſchke's Darjtellung der Bundesreformpläne von 1847 (D. ©. 
5, 691 f.), die fie durch wortgetreue Veröffentlihung der dort erwähnten 
Denkſchriften des Prinzgemahls Wlbert und des Fürſten von Leiningen 
zu widerlegen judt. Man wird zugeben künnen, daß leßtere Denkſchrift, 
namentlich durch die energiihe Forderung der Ausſchließung Lfterreich® 
aus Deutihland, im Original einen friicheren und Mareren Eindrud 
madt, als in Treitichte'3 Auszug, während die Dentichrift des Prinzen 
Albert, welde die deutihe Reform nur unter Mitwirkung Üfterreih8 an- 
jtrebt, au im vollen Wortlaut unklar und verfhwomnten bleibt. 


Ein glänzendes Zeugnis für die „Standhaftigfeit, Manneszucht und 
Menſchlichkeit“ der Soldaten in dem Barrifadenlampf vom 18. März 1848 
gibt der franzöſiſche Geſandte Graf Circourt, der mit U. v. Humboldt 
Zeuge des Ausbruchs der Revolution war. Der Verfaſſer, deſſen ſtark 
royalijtifch gefärbte Darftellung in vielfadher Hinjicht recht interefjant ift, 
tadelt ſcharf den freimilligen Abzug der Truppen und die würdeloſe 
Haltung des Königs, überjhägt aber in groteöfer Weiſe die Bedeutung 
jeiner eigenen antirevolutionären Haltung für dad Mißlingen der Er- 
bebung. (Revue de Paris, 15. Juni 1897. Bgl. H. 3. 78, 370.) 


In der Revue de Paris (1. Aug. 1897) publizirt Eugene d'Eichthal 
liberfegungen von Bruditüden der Memoiren des engliſchen Schriftiteller8 
Nafjau:-®. Senior. Es jind Unterhaltungen Najjau’8 mit Madame 
Cornu, einer Jugendfreundin Napoleon’® III. und enthalten vorwiegend 
Notizen über dag private Leben des Kaijers, nur weniges über Dinge 
öffentlichen Intereſſes. Der Kaifer wird charalterifirt ald etwas indolent, 
zur Melancholie neigend, dabei hartnädig und von großem Selbitver- 
trauen bejeelt. 


An der Deutihen Heereszeitung ‘Juni, Juli) jchildert Herman 
Granier auf Grund der neueiten Literatur den Feldzug von 1864 big 
zum Übergang nad) Alien. Seine Unterfuhungen beitätigen die Anſchauung, 
daß die Thätigfeit de3 Mrmeelommandos nicht felten dur Anordnungen 
von Berlin aus behindert wurde. 


Am Militär-Wochenblatt 1897 Nr. 10—12 find die im Winter 1866 67 
geichriebenen Erinnerungen de8 Generals der Kavallerie Grafen Warten 8⸗ 
Hiftoriiche Beitichrift N. F. Bd. XLIII. 36 


562 Rotizen und Nachrichten. 


leben:Carom au& dem Feldzuge von 18665 im Auszuge berirzmi:äl 
dann vollittändig ale Broihüre bei Minler & Sobn eidbiern Fr 
Rartendleben war damals Major im Großen Seneralitabe und ala Efzie:r- 
ſohn des Generalauartiermeiiters Generald von Rodbieläfi mir dieiem 
der unmittelbaren Umgebung Moltke's. In anipruch2loier yorm erweitern 
diefe Auizeihnungen uniere Kenntnis in ſehr wichtigen Runtım Ze 
Entihlup und die Beiehlsertheilung für die Schlaht von Königgräß — 
deren Klarlegung noch Heinrih von Sybel Schwierigfeiten machte — bie 
ganze Stellung Moltke's ala Generalſtabschei gegenüber dem Grogen Ixur!: 
auartiere und ben führenden Generalen, die Einwirfung Moltfe'< aut en 
Mainieldzug, die rüdwärtigen Berbältniite der Armee, Alles eribeim := 
zum Theil neuer, itet3 durchaus zuverläliger Beleuchung. Wan nett cus 
hieraus wieder, wie viel wir noch von ſolchen perjönlihen Mirtbeitunzen 
für die Gefchichte unierer großen Zeit zu erwarten haben. Gr. 


In der Nouvelle Revue 1. Aug. 1897 behandelt ein Diplomaticcs 
unterzeichneter Aufjat die Berhandlungen zwiihen Bismard und Benedeni 
über die von Napoleon III. erftrebte Vergrößerung Frankreichs im Jadre 
1866. Der Berfafier führt aus, daß Bismard das Projekt, Belgien zu 
annektiren, der franzöfifhen Regierung juggerirt, aber iie nachher in ihren 
Erwartungen getäuſcht habe. 


In der Revue des questions hist. (1897, Juli‘ jchildert Artbur de 
Ganniers in Anlehnung an die kürzlich erihienenen Memoiren von 
Trochu die militäriihe Laufbahn des Generald. Tem Staat2jtreiche ab- 
geneigt, als Bretone orleaniftiiher Sympathien verdädtig und jchon bed 
halb bei Hofe nicht beliebt, entfremdete er fi) dem Kaiſer noch mebr durd) 
freimüthige Kritit der AZuftände im Heere und erhielt daher zu Be 
ginn des Krieges von 1870 fein Kommando. Im Auguft zum Gouverneur 
von Paris ernannt, habe er, wie Berfafier behauptet, vergeblich den un⸗ 
heilvollen Einjluß der Kailerin auf die Cperationen betämpft. 


Einen anderen Beitrag zur Geſchichte des Jahres 1870 bringt Haupt: 
mann Schulz mit einer Studie über den Rüdzug Mac Mahon's nad) 
der Echladyt bei Wörth. Hiernach iſt ein einheitliher Rüdzugsbefehl nicht 
gegeben worden, jondern die Truppen haben ihn einzeln und zu ganz vers 
fhiedenen Zeiten erhalten. (Beiheft z. Milit.-Rocenbl. 1897. 5/6.) 


Die Studie von Lefebvre de Behaine über Leo XII. und Fürft 
Bismard (vgl. 9.83. 79, 378) ſchließt mit der Darftellung der Bermittlung 
des Papftes in dem Harolinenftreit und feiner Haltung während der Kriſis 
von 1887, worüber einige diplomatifche Einzelheiten mitgetheilt werben. 
(Revue des deux Mondes, 1. Juli.) 


Höchſt werthvoll für die intimere Kenntniß des ruſſiſch-türkiſchen 
Krieges find die vom 19. Januar 1877 bis zum 18. April 1878 reichenden 


Neuere Geſchichte jeit 1789. 563 


Auszüge aus dem Tagebuch eines Ungenannten, anjcheinend eine® Adjus 
tanten de8 Obertommandirenden Großfürſt Nikolaus, die in der Revue 
de Paris vom 15. Juli veröffentlicht werden. Sie geben ein treues Bild 
der wecjelnden Stimmungen im Lager, der Unzufriedenheit der Offiziere 
mit den Diplomaten, namentlid mit Gortſchakow und Schuwalow, der 
Schwankungen in der Frage der Bejegung Konftantinopels, die urjprüngs 
lit als Ziel des Krieges in's Auge gefaßt, dann wieder aufgegeben, von 
Kaijer Alerander jchliehlih zwar gewünſcht, aber nicht angeordnet wurde, 
während der Großfürſt aus militäriihen Gründen und in Ermangelung 
eines beftimmten Befehls fie unterläßt. Dazu eine Fülle Hödjit interefjanter 
Einzelheiten: Die zeitweilige abjichtliche Zerjtörung der telegraphiichen Ver⸗ 
bindung des Hauptquartiers mit PeterSburg, die amtlichen Flunkereien 
über das vorzüglihe Ausfehen der im elendejten Zuftand in Wdrianopel 
einziehenden Truppen, wodurch der Kaiſer in jehr gefährlicher Weije ge= 
täuſcht wurde u. f. w. 


Die Revue Je Paris vom 1. Juli publizirt einen jehr interejjanten 
nachgelaſſenen Ejlai Jule Ferry's über die dritte Republik aus dem 
Jahre 1890. Ferry jest darin auseinander, daß die Zerfahrenheit der 
Monardiiten und die Energie, mit der die republifaniiche Regierung den 
nationalen Aufgaben gerecht wird, die jicherite Bürgſchaft für den Beſtand 
der Republik jei. Von dem übrigen Inhalte ift noch hervorzuheben dag 
vernichtende Urtheil über Boulanger, den er als Hohlkopf ohne politiiche 
und militäriſche Qualitäten charakteriſirt. Daß er dennod eine große 
Rolle ipielen konnte, erklärt fih aus dem leicht entzündbaren Charafter der 
Rarijer, die leichtgläubig jeien wie die Pilger von Lourdes. 


Nene Büder: Lavisse et Rambaud, Histoire generale. IX. 
Napoleon. (Paris, Colin & Cie) — Masson, Napoleon et sa famille. 
1. (1769—1802). (Paris, Ollendorff. 7,50 fr.) — De Gain-Montaignac, 
Fpreuves d’un ev&que francais pendant la revolution. Publ. p. 
Duffau. (Paris, Poussielgue) — Maleissye, Mem. d’un officier 
aux gardes francaises (1789—1793). P. p. Roberti. (Paris, Plon. 
1,0 fr) — vd. Lanna, Metternih n. jeine Politik bis zum Zturze 
Mapoleond. Trieſt, Schimpff. 1,50 M.; — Murat, lieutenant de l’em- 
pereur en Espagne (1808). P. p. le comte Murat. (Paris, Plon. 7,50 fr.) 
— Frhr. dv. Freytag-Loringhoven, Die Heerführung Napoleon's und 
Moltke's. (Berlin, Mittler. 120 M.) — Grünhagen, Zerboni und Held 
in ihren Konflikten mit der Staatsgewalt. 1796—1802. 11. (Berlin, Bahlen. 
6 M.) — Kriegsgeihihtlihe Einzelfchriften. Heft 20 und 21: Tie 
Tperationen gegen Binoy im September 1870, (Berlin, Mittler. 3,75 M.) 
— Barnhagen, erder gegen Bourbadi. (Berlin, Shall. L5EOM., — 
Vaimbois, Campaegne de 1870'’71. Le XIIIe corps etc. (Paris, 
Charles-Lavanzelle. 3,50 fr.) — Doniol, M. Thierse, le Comte de 

36* 


664 Notizen und Nachrichten. 


St.-Vallier, le general de Manteuffel. (Paris, Colin.) — Baumgarten 
u. 8. Jolly, Staatdminifter Jolly. (Tübingen, Laupp. 45 M) — 
Andler, Les origines du socialisme d’&tat en Allemagne. ‚Paris, 
Alcan.) — Seilliere, Etudes sur Ferdinand Lassalle. ‘Paris, Plon. 
7,50 fr) — Mahan, The life of Nelson. I, II. (London, Low. 36 sh.) 
— Douglas, I. St. Mil. Überj. (Freiburg i. B. Mohr. 3,60 M. — 
P. Andreae, Geheime Konferensraad C.G. Andreae. I. (Kopenhagen, 
Gyldendal. 6Kr) — Pierling, La Russie et le Saint-Siege. 1. 
(Paris, Plon. 7,50 fr.) — Theal, Geschiedenis van Zuid-Afrika. Haag, 
Nijhoff. 7,50 Fl) — Campbell, British South Afrika etc. (17% — 
1819). (London, Haddon. 7 sh. 6d.) — Pellenc, Les Italiens en 
Afrique (1880—1896; (Paris, Baudoin.) — (Lentonnet), Expedition 
de Madagascar. (Paris, Plon. 3,50 fr.; — Levi von Halle, Baum: 
wollproduftion und Pflanzungsmirtbichaft in den nordamerifaniichen Süd— 
ftaaten. I (Die Sflavenzeit‘. (Leipzig, Dunder. IM.) 


Deutſche Sandfhaften. 


G Zumbült bebandelt in einem kleineren Wuflag der „Weit: 
deutſchen Zeitichrift für Geichichte und Kunſt“ (189%, die Verfaſſungs⸗ 
geihihte der Stadt Bräunlingen in Baden. Inter mehrfader, 
im einzelnen berechtigter Polemif gegen die Darftelung Gothein's in 
defien Wirthſchaftsgeſchichte des Schwarzwaldes fucht er die Unbaltbarfeit 
der Marktrechtstheorie darzutbun und nadzumeiien, daß viel mehr 
„die Anfänge der Stadt auf die Burg zurüdgeben“. Doch ſcheint uns 
dad Bräunlinger Material zu einer Entiheidung diefer und äbnlicer 
prinzipieller ragen nicht reichhaltig genug zu fein. So lafien die Quellen 
ung z. B. vollitändig für die wichtige Frage im Stich, aus melden Ur: 
fahen heraus denn die Nothwendigteit oder das Bedürfnis nad einem 
eigenen Gerichtsbezirke für Bräunlingen entftanden iſt. Im allgemeinen 
fann auch dieje im einzelnen genau gearbeitete Unterſuchung nur die 
dringende Nothwendigkeit beftätigen, daß von berufencer Seite von neuem 
die Entftehung des Begriffs der Gemeinde und eines befonderen Gemeinde: 
rechts unterfucht werde. Hier harrt eine der wichtigjten ragen der deutichen 
Rechts- und PVerfafiungsgeihichte der Löſung. 


Da der Stoff für die von uns 78, 185 erwähnten „Sagen, Gebräude 
und Sprihwörter des Allgäus aus dem Munde des Volkes“, geiammelt 
von K. Reifer (Kempten, Köjen, dem Berfafjer über den anfangs in Aus 
fiht genommenen Umfang hinausgewadjen ijt, fo hat er das Werk jetzt 
in zwei Bände getbeilt. Mit den neunten Heft ift der erite, die Sagen 
des Allgäus behandelnde Theil und damit zugleich der erite Band, den 
bejondere Regifter und Inhaltsverzeichnis beigefügt find, abgeſchloſſen. 


Deutſche Landſchaften. 565 


Das erſte Heft des zweiten Bandes beginnt dann mit dem zweiten 
Theil, den Sitten und Gebräuchen des Allgäus, die hier zunächſt im 
Anſchluß an die Kalenderfeſte, vom Nikolaustage an beginnend, dar 
geitellt werden. 


In den Unnalen des Hiſt. Ver. f. d. Niederrhein H. 63 gibt Tille 
einen orientirenden Überblid über die Fundorte, die Entſtehungsgeſchichte, 
den Umfang und die Bedeutung der Tauf-, Trau= und Sterberegiiter am 
Niederrhein. 


Eine Reihe von Aufjägen, die der verjtorbene Stadtſchulrath Keuſſen 
in der Krefelder Zeitung veröffentlicht hatte, bringt deijen Sohn jet in 
den Annalen d. hiſt. Ver. f. d. Niederrhein (Heft 63, 1897) gejammelt zum 
Abdrud. Inter populärer Form bergen jie die Ergebnijie langjähriger, 
eindringender Quellenftudien, und enthalten Beiträge — meijt fultur- 
hiſtoriſchen Inhalts — zur Geſchichte von Krefeld und Mörs im 17. 
und 18. Jahrhundert. 


Nachdem vor Jahresfriſt Archivrath Sello in Oldenburg unter Ber: 
wertbung bislang unbeadtet gebliebenen archivaliſchen Materiald „Caters 
lands ältere Geſchichte und Verfafjung“ zum Gegenjtande einer neuen Unter- 
ſuchung gemadt hat, legt nunmehr Dr. Julius Bröring im 15. Bande 
der „Schriften des Oldenburger Landesvereins für Alterthumskunde und 
Landesgeſchichte“ den eriten Theil einer gründlichen Arbeit über die 
Kulturzuftände des Saterlandes vor (Das Saterland. Eine Dar: 
jtellung von Land, Leben, Leuten in Wort und Bild. 1. Theil. Mit Titel: 
bild und 12 Abbildungen. Oldenburg, ©. Stalling, 1897.) Wir jind dem 
Berfafjer, der überall auf Grund eigener langjähriger Beobachtungen be= 
richtet, für jeine Mittheilungen über das fleine in unzugänglicen Mooren 
des weitlichen Oldenburg3 gelegene Ländchen um jo danfbarer, weil bie 
alten eigenartigen Sitten und Gebräude der Einwohner immer mehr im 
Strome des modernen Verkehres unterzugehen in Gefahr find. PB. 


Edmund Frhr. v. Uslar-Gleichen veröffentlicht eine Geichichte des 
Klofterd Reinhauſen bei Göttingen nad) der Reihenfolge der Äbte bis 
zur Witte des 16. Jahrhunderts (Dannover, Carl Meyer. 38 S.) Der 
gelehrte Verfafjer erörtert namentlid die genealogiſchen Zuſammenhänge 
der älteren Äbte und gibt die jpäteren Schiefale des Klojterd durchweg 
nah ardivaliihen Quellen. 


In den Neuen Mittheilungen a. d. Gebiete hijtor.zantiquar. Forſchungen 
19, 3 bringt K. Schöppe werthvolle Nachrichten zur Geidihte Naum- 
burg3 während des Bauernfrieges auf Grund des Raths-Kopialbuches. 


Ter befannte tüchtige Durchforſcher der Beichichte der Neumark 
P. Schwartz hat die Ereignifje des Dreikigjährigen Krieges in der Neumart 
bis zum Juli des Jahres 1627 zum Segenftand einer jorgfältigen Studie 


568 Notizen und Nachrichten. 


In Bonn jtarb am 22. Inni der befannte Philoſoph Jürgen Bona 
Diener :geb. 1829 in Hamburg). Auch den geihichtstbeoretiihen „ragen 
wandte cr jeine Aufmerkinmkeit zu, und unfere Zeitichriit hat von ihm einen 
trefilich geichriebenen Aufiag gebracht :Neue Verſuche einer Philo- 
jopbie der Geſchichte, in Bd. 251. — In Münden jtarb in der zweiten 
Hälfte des Juni der baierifhe Stantsardhivar Yudwig v. Trojt im Alter 
von 60 Jahren, den namentlich die neuere baierifhe Geſchichte zahlreiche 
Schriften und Publikationen verdankt. — Am 8. Auguſt ftarb in Bredlau der 
um die jchlefiihe Geſchichtsforſchung verdiente Archivrath Dr. B. Pfoten⸗ 
bauer. — In Wiesbaden jtarb am 13. Auguft der Überbibliotbelar 
Dr. van der Yinde, befannt vor allem durch teine Butenbergioriyungen 
igeb 1833). 


Am 8 Auguſt jtarb in Baiel der Kunjtbiftoriter JZafob Burdhardt 
im Alter von 79 Nahren, ein Mann, zu dem wohl jeder Biftorifer, der 
nadı Weſen und Uriprung des geijtigen Lebens der neueren Jahrhunderte 
gefragt hat, dankbar und bewundernd hinaufſchaute. Er bat in feinem 
Hajjiichen Werte „Kultur der Nenaijjance in Italien“ gezeigt, daß aud 
eine vorwiegend äftbetiiche Bildung im Stande iſt, zu den tiefiten geichicht- 
lihen Problemen vorzudringen und die äußeren Formen, deren Schönheit 
er mit umveruleichlichem Feingefühl zergliederte, aus den inneren bes 
wegenden Mäcten abzuleiten. Allerdings lag der Stofi günjtig dafür, 
aber jedenfall$ bat die Methode feiner Werte bahnbredend für die frucht— 
baren ISechjelwirfungen zwiſchen den hiſtoriſchen Spezialdigziplinen und 
der allgemeinen Geſchichte gewirkt. 


Einen anderen Vertreter des jo regen mifjenichaftlidy » literarischen 
Lebens in der Schweiz betrauern wir in Jakob Bächtold (geftorben 
in Züri am N. Auguſt, im Alter von 40 Jahren), dem Verfajier der 
„Beichichte der deutſchen Aiteratur in der Schweiz“ und der Biographie 
Gottfried Keller's. 


An l’Orient latin findet ſich cin größerer Nektrolog über L. de Mas— 
Latrie. — Mus den Juni und Juli-Heft der deutſchen Revue notiren 
wir bier einen bioaraphiihen Auflag von H. Belzer: Wanderungen 
und Seipräce nit Ernſt Curtius. 


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