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Full text of "Historische Zeitschrift"

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Begründet  von  Heinrich  v.  Sybel 

Unter  Mitwirkung  von 

Paul  Bailleu,  Georg  von  Below,  Otto  Hintze,  Otto  Krauske, 
Max  Lenz,   Erich  Marcks,   Sigmund  Riezler,   Moriz  Ritter 

herausgegeben  von 

Friedrich  Meinedce  und  Frit2  Vigener 

Der  ganzen   Reihe   117.  Band 
Dritte  Folge  —  21.  Band 


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7 


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München  und  Berlin  1917 
Druck  und  Verlag  von  R.  Oldenbourg 


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INHALT. 


Aufsätze.  Seite 

Die  Hethiter.    Von  Walter  Otto 189 

Römische  Klientelstaaten.  Vortrag,  gehalten  in  der  Historischen  Gesellschaft 

zu  Straßburg  i.  E.  am  11.  Januar  1916  von  Karl  Johannes  Neumann  I 
Der  Staatsstreich  des  Octavianus  im  Jahre  32  v.Chr.     Von  Adolf  Bauer  .     II 

Perioden  römischer  Kaisergeschichte.     Von  K.  J.  Neumann 377 

Eike  von  Repgow.    Ein  Versuch.    Von  Walter  Möllenberg 387 

Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  durch  Heinrich  von  Staden. 

Von  Max  Bär 229 

Frankreich  und  Ägypten  von  Leibnitz  bis  auf  Napoleon.  Von  S.  Hellmann  24 
Des  Kronprinzen  Friedrich  Consid6rations   sur  l'etat   prteent  du  corps  poli« 

tique  de  l'Europe.    Von  Friedrich  Meinecke 42 

Vitam  et  sanguineml    Von  Heinrich  Marczali 413 

Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  von  Schön  nach  1815.    Von 

Eduard  Wilhelm  Mayer 432 

Miszellen. 

Neues  zur  Hethiterfrage.    Von  Walter  Otto 465 

Zur  Archäologie  des  früheren  Mittelalters.  (Jahresbericht  1914.)  Von  G.Weise  253 


Literaturbericht. 


Seite 

Allgemeines : 

Biographisches 74 

Gesammelte  Abhandlungen    76.  271 

Kunstgeschichte 267 

Kapitalismus 275 

Schiffahrt 279 

Elementarereignisse 282 

Alte  Geschichte: 

Das  alte  Ägypten 284 

Sokrates      473 

Mittelalter: 

Bibliothekskataloge 286 

Kreuzzüge 77 

Der  Kampf  um  Sizilien  ....  288 

Deutsche  Hanse 479 

Kirchenstaat 481 

Zeitalter  der  Reformation: 

Die  Fugger 292 

18.  Jahrhundert: 

Shaftesbury 487 


Seite 

19.  Jahrhundert: 

Pleners  Erinnerungen 89 

Rußland  und  Napoleon  III.  .    .  94 

Bismarck 95.  492.  494 

Neueste  Geschichte  seit  1871 : 

Fürst  Bülow 98 

Rußland  im  Jahre  1905     ...  299 

Diplomatie  und  Bagdadbahn     .  301 

Kirchengeschichte : 

Die  visitatio  liminum 105 

Jesuitenorden 108 

Rechts-  und  Wirtschaftsgeschichte  HO 

Deutsche  Landschaften: 

Elsaß 114 

Rheinlande 116.  308 

Hessen 118.  122 

Hannover 123 

Sachsen 124 

Thüringen 126 


IV 


Inhalt. 


Seite 
Deutsche  Verfassungsgeschichte  .  .  310 
Deutsche  Sprache  und  Literatur  314.  317 
Deutsche  Universitäten.    .319.  320.  322 

Österreich 129.  130.  498 

Ostseeländer 325 

Frankreich 133.  135 


Seite 
England: 

England  und  der  Krieg  ....  327 

Angelsachsen      500 

Britischer  Imperialismus.    .  502.  506 

Heeresgeschichte     .    .    .     137.  143.  144 

Geschichte  der  Medizin     .    .    .  146.  149 


Alphabetisches  Verzeichnis  der  besprochenen 
Schriften. 

(Enthält  auch  die  in  den  Aufsätzen  und  den  Notizen  und  Nachrichten  besprochenen 
selbständigen  Schriften.) 


Seite 

Acta  et  epistolae  relationum  Trans- 
sylvaniaeHungariaeauecumMol- 
davia  et  Valachia  collegit  et  edi- 
dit  Dr.  Andreas  Veress.  Vol.  1. 
1468—1540 498 

Alliers,  Une  soclete  s6crete  au 
XVI le  siöcle  „La  Compagnie  du 
Tr6s-Saint  Sacrement  de  l'Autel 
ä  Toulouse" 356 

Ammon,  Nationalgefühl  und  Staats- 
gefühl   337 

Bachern,  Zur  Jahrhundertfeier  der 
Vereinigung  der  Rheinlande  mit 
Preußen 116 

Bächtold,  Zum  Urteil  über  den 
preußisch-deutschen  Staat  .    .    .   338 

Baltische  Studien  zur  Archäologie 
und  Geschichte 325 

de  Bassompierre,  La  nuit  du  2  au 
3  aoüt  1914  au  Ministöre  des  Af- 
faires Etrangeres    de  Belgique .   365 

Bauch,  Zum  Begriff  der  Nation  .  336 

Baumgarten,  Bismarcks  Glaube.  494 

Becker,  Die  Wiedererstehung  der 
Pfalz 547 

Beer,  Sir  Edward  Greys  Konferenz- 
vorschlag und  andere  Streitfragen 
der  diplomatischen  Polemik  .    . 

B6ret,   De   Gambetta  ä   Briand   . 

Cornelius  Bergmann,  Die  Täufer- 
bewegung im  Kanton  Zürich  bis 
1660 

Ernst  Bergmann,  Fichte  der  Er- 
zieher zum  Deutschtum  .... 

A.  Berr,  Die  Kirche  gegenüber  Ge- 
walttaten von  Laien 348 

Bertourieux,  La  V6rit6.    4.  Aufl.  365 

Biographisches  Jahrbuch  und  Deut- 
scher Nekrolog.  Herause.  von 
A.  Bettelheim.    Bd.  17'.    .    . 

Bibliographie  de  Belgique    .... 

Binder  s.  Ebner. 

Birt,  Römische  Charakterköpfe. 
2.  Auf] 

Blume,  Abbatia 

Bochkor,Az  Erdelyi Muzeum-Egy- 
erület  Jog-es  Tarsadulem  tudo- 
mänzyi  szakosztälyänak  Evkö- 
nyve  1913—1914  (Jahrbuch  der 
Rechts-  und  Gesellschaftswissen- 
schaftlichen Sektion  des  Sieben 
bürger  Museum-Vereins) 

Beati  Petri  Canisii  societatis  Jesu 
epistulae  et  acta  —  collegit  et  ad- 
notationibus     illustravit     Otto 


539 
365 


368 
154 


74 
540 


343 
339 


.   515 


Seite 
Braunsberger.     Vol.  6.     1567 
bis  1571 108 

Breßlau,  Handbuch  der  Urkunden- 
lehre für  Deutschland  und  Italien  151 

Fr.  Brie,  Imperialistische  Strömun- 
gen in  der  englischen   Literatur  506 

Bruggerer,  Die  Wahlkapitulationen 
der  Bischöfe  und  Reichsfürsten 
von  Eichstätt  1259 — 1790  .    .    .   543 

B  r  ü  n  i  n  g ,  Adamnans  Vita  Columbae 
und  ihre  Ableitungen 522 

Bryan,  British  rule  in  India     .    .  340 

Fürst  V.  Bülow,   Deutsche  Politik    98 

Büß,  Die  italienische  Frage  und  die 
Zentralmächte  im  letzten  Jahr- 
hundert bis  zur  Gegenwart  ,    .   180 

Clemenceau,  La  France  devant 
l'Allemagne,  1916 367 

Curätulo,  Francia  e  Italia    .    .    .   180 

Deneke,  Sprachverhältnisse  und 
Sprachgrenze  in  Belgien  und 
Nordfrankreich 541 

D  i  1 1  o  n ,  From  the  Triple  to  the  Qua- 
druple Alliance.  Why  Italy  went 
to  war 180 

Doeberl,  Entwickelungsgeschichte 
Bayerns.     1.  Bd.  . 543 

Driault,  La  röpublique  et  le  Rhin  367 

Droysen,  Aus  den  Briefen  der  Her- 
zogin Philippine  Charlotte  von 
Braunschweig  1732 — 1801   ...  357 

Ebner,  Württembergische  Münz- 
und  Medaillenkunde.  Bd.  2,  Heft 
1  u.  2 545 

Einkreisung  und  Durchbruch  der 
Zentralmächte .  539 

Erben,  Fichtes  Universitätspläne.   156 

Erdmannsdörffer  und  Obser, 
Politische  Korrespondenz  Karl 
Friedrichs  von  Baden.  1783  bis 
1806 305 

Eppensteiner,  Rousseaus  Einfluß 
auf  die  vorrevolutionären  Flug- 
schriften und  den  Ausbruch  der 
Revolution 359 

Esmonin,  La  taille  en  Normandie 
au  tempsdeColbert(1661— 1683)  133 

Faaß,  Dresdner  Bibliothekenführer  514 

Forst,  Die  Ahnenproben  der  Main- 
zer Domherren 154 

Franz,  Der  Erbfeind  im  Lichte  der 
Geschichte  und  Gegenwart    .   .  367 


Inhalt. 


Seite 

Fuchs,  Der  Geist  der  bürgerlich  - 

kapitalistischen  Gesellschaft  .    .  275 

Genzmer,  Das  Fischergewerbe  und 
der  Fischhandel  in  Mecklenburg 
vom  12.  bis  zum  14.  Jahrhundert  550 

Georg,  Emmich 364 

Geschiedkundige  Atlas  van  Neder- 
land 335 

Girard,  Avant  la  guerre     ....   541 

—  Wie  ein  Belgier  das  Verhängnis 
seines  Vaterlandes  voraussah.    .  541 

Goebel,  The  recognition  policy  of 
the  United  States 363 

Gottlieb,  Mittelalterliche  Biblio- 
thekskataloge. Österreich.  1.  Bd.  286 

Gutmann,  Das  französische  Geld- 
wesen im  Kriege  (1870 — 1878).    135 

Graßhoff,  Belgiens  Schuld    ...  541 

Grüner,  Der  Treubruch  Italiens 
1916 181 

Guglia,  Die  Geburts-,  Sterbe-  und 
Grabstätten  der  Römisch-Deut- 
schen Kaiser  und  Könige  ...    153 

Guyot,  La  Province  Rhenane  et  la 
Westphalie 367 

Hagen,  Die  Entwicklung  des  Terri- 
toriums der  Grafen  von  Hohen- 
berg 369 

Halko,  Richeza,  Königin  von  Polen, 
Gemahlin  Mieczyslaws  II.  .    .    .  524 

Härtung,  Deutsche  Verfassungs- 
geschichte vom  15.  Jahrhundert 
bis  zur  Gegenwart 310 

Hauff,  Die  unterseeische  Schiffahrt  279 

Hausenstein,  Belgien 540 

Hengesbach,  Frankreich  in  seinem 
Staats-  und  Gesellschaftsleben  .   365 

Hilt,  Camille  Desmoulins,  seine  po- 
litische Gesinnung  und  Partei- 
stellung    172 

B.v.  Hindenburg,  Paul  v.  Hinden- 
burg 364 

Hirsch,  Die  Klosterimmunität  seit 
dem  Investiturstreit.  Unter- 
suchungen zur  Verfassungsge- 
schichte des  Deutschen  Reiches 
und  der  deutschen  Kirche      .    .    110 

Hirschfeld,  Kleine  Schriften    .    .   271 

Hobbing,  Die  Begründung  der 
Erstgeburtsnachfolge  im  ostfrie- 
sischen Grafenhause  der  Cirkzena  548 

Hoernes,  Urgeschichte  der  bilden- 
den Kunst  in  Europa  von  den 
Anfängen  bis  um  500  v.  Chr.    .   267 

Hofmeister,  Die  Matrikel  der  Uni- 
versität Rostock 319 

Horöiöka,  Das  älteste  Böhmisch- 
Kamnitzer  Stadtbuch 185 

Hörn,  Volkscharakter  und  Kriegs- 
politik im   Dreiverband    ....    179 

Hutter,  Das  Gebiet  der  Reichsabtei 
Ellwangen 369 

Jacques,  London  und  Paris  im 
Kriege 366 

Jahn,  Die  Bewaffnung  der  Ger- 
manen in  der  älteren   Eisenzeit  345 

Jorga,  Notes  et  extraits  pour  servir 
ä  l'histoire  des  croisades  au 
XV«  siöcle.     Series  4  et  5  .    .    .     77 


Seite 

Jpstes,  Die  Vlamen  im  Kampfe  um 
ihre  Sprache  und  ihr  Volkstum. 
2.  Aufl 541 

Kaindl,  Die  Deutschen  in  Ost- 
europa  337 

Kirch,  Die  Fugger  und  der  Schmal- 
kaldische  Krieg 292 

Koebner,  Venantius  Fortunatus, 
seine  Persönlichkeit  und  seine 
Stellung  in  der  geistigen  Kultur 
des  merowingischen  Reiches  .    .  523 

Kolshorn,  Mackensen 364 

Kirchhoff,  Graf  M.  v.  Spee  .    .    .   364 

Krack,  Ludendorff 364 

Kratz,  Landgraf  Ernst  von  Hessen- 
Rheinfels  und  die  deutschen 
Jesuiten 122 

Quellen  zur   Geschichte   der   Stadt 
Wien.     Herausg.    von    Lampel. 
1.  Abt.,  8.  Bd 130 

Langhammer,  Belgiens  Vergangen-    , 
heit  und  Zukunft,  eine  geogra- 
phisch-geschichtliche Bewertung  542 

Die  Ritter  des  Ordens  pour  le  merite. 
Auf  Allerhöchsten  Befehl  Seiner 
Majestät  des  Kaisers  und  Königs 
bearb.  durch  G.  Lehmann    .    .    143 

Lien,  Das  Märchen  von  der  fran- 
zösischen  Kultur 366 

Liepmann,  Von  Kieler  Professoren  322 

Liman,  Der  Kronprinz;  Gedanken 
über  Deutschlands  Zukunft    .    .   367 

List,  Deutschland  und  Mitteleuropa  365 

Lloyd,  The  making  of  the  Roman 
people      343 

Loesche,  Zur  Gegenreformation  in 
Schlesien 356 

Luschin  v.  Ebengreuth,  Öster- 
reichs Anfänge  in  der  Adria .    .  518 

V.  Mackay,  Italiens  Verrat  am  Drei- 
bund     180 

H.  Maier,  Sokrates.  Sein  Werk  und 
seine  geschichtliche  Stellung  .    .   473 

Albany  F.  Major,  Early  wars  of 
Wessex,  being  studies  from  Eng- 
land'sschool  of  arms  in  the  West, 
edited  by  the  late  Chas.  W. 
Whistler 500 

Mann,  Das  Rolandslied  als  Ge- 
schichtsquelle und  die  Ent- 
stehung der  Rolandsäulen  .    .    .  349 

Marc,  Au  seuil  du  17  octobre  1905  299 

Marcks,  Vom  Erbe  Bismarcks  .    ,  492 

— ,  Otto  von   Bismprck 492 

— ,  Der  Imperialismus  und  der  Welt- 
krieg     518 

Massart,  Comment fies"  Beiges  r6- 
sistent  ä  la  domination  allemande  542 

Mehring,  Badenfahrt 370 

— ,  Urkunden  und  Akten  des  Kgl. 
Württ.    Haus-   u.    Staatsarchivs  370 

Mehrmann,  Der  diplomatische 
Krieg  in  Vorderasien 301 

A.  Meyer,  Der  politische  Einfluß 
Deutschlands  und  Frankreichs 
auf  die  Metzer  Bischofswahlen 
im  Mittelalter 547 

E.  Meyer,  England.  Seine  staat- 
liche und  politische  Entwicklung 
und  der  Krieg  gegen  Deutschland  327 


VI 


Inhalt. 


Seite 
Mever,  Reich  und  Kultur  der  Che- 

titer 189 

O.  Müller,  Die  Quellen  zur  Be- 
schreibung des  Zürich-  und  Aar- 
gaus    in      Johannes      Stumpfs 

Schweizerchronik 543 

Fr.  V.  Müller,  Spekulation  und  My- 
stik in  der  Heilkunde      ....   149 
O.  Müller,  Irrung  und  Abfall  Ita- 
liens  181 

E.  Müller-Meiningen,  Der  Krieg 
und    der    Zusammenbruch    des 

Völkerrechts.    3.  Aufl 179 

K.  A.  V.  Müller,  Über  die  Stellung 

Deutschlands  in  der  Welt  ...   179 
Neudegger,  Zum  Weltkrieg  1914 

bis  1916 365 

M.  Nordau,  Französische  Staats- 
männer     365 

Norden,    La    Belgique    neutre    et 

l'AUemagne 541 

— ,  Das  neutrale  Belgien  und  Deutsch- 
land im  Urteile  belgischer  Staats- 
männer und  Juristen 541 

Nostradamus,  Die  Franzosen  wie 

sie  sind 366 

Nötzel,  Der  deutsche  und  der  fran- 
zösische Geist 366 

de  Ombiaux,  La  r^sistance  de  la 

Belgique  neutre 542 

Oppel,  Das  Hohelied  Salomonis 
und  die  deutsche  religiöse  Liebes- 
lyrik      338 

P.  Oßwald,  Belgien 540 

Otto,  Alexander  der  Große  .  .  .  521 
Palamenghi-Crispi,  Giolitti.  .  180 
Pareti,  Studi  Siciliani  e  Italioti  521 
V.  Pastor.l  Hötzendorf  und  Dankl  364 
Passe lecq,  Le  second  Livre  Blanc 

allemand 365 

Pater,    Die    bischöfliche    visitatio 

liminum  ss.  apostolorum      .    .    .    105 
Patzelt,  Von  Crispi  bis  Sonnino, 

das  Schicksal  Italiens  .  .  .  .180 
Pauen,  Die  Klostergrundherrschaft 
Heisterbach.  Studien  zur  Ge- 
schichte ihrer  Wirtschaft,  Ver- 
waltung und  Verfassung.  .  .  .110 
Paulus,  Prosopographie  der  Beam- 
ten des  'A^aivotct]?  voudg  in  der 
Zeit  von  Augustus  bis  auf  Dio- 
kletian      159 

Petrich,  Paul  Gerhardt 317 

Pfeilschifter,  Deutsche  Kultur, 
Katholizismus     und     Weltkrieg. 

3.  Aufl 336 

Pingaud,  L'Italie  depuis  1870.    .   180 
Pitt,  Italy  and  the  Unholy  Alliance  180 
Planer   (Lützen),    Verzeichnis    der 
Gustav-Adolf-Sammlung  mit  be- 
sonderer     Rücksicht     auf     die 
Schlacht  am  6./16.  Nov.  1632    .    167 
Erinnerungen  von   Ernst   Freiherrn 
V.  Plener.   1.  Bd.  Jugend,  Paris 

und  London  bis  1873 89 

Prinsen,  Handboek  tot  de  Neder- 
landsche  Letterkundige  Geschie- 

denis 335 

Quelle,  Belgien  und  die  französi- 
schen Nachbargebiete 542 


Seite 

M.  V.  Rauch,  Urkundenbuch  der 
Stadt  Heilbronn.     III 370 

Reincke-Bloch,  Fichte  und  der 
deutsche  Geist  von  1914    .    .    .   156 

Jul.  Richter,  Das  Erziehungswesen 
am  Hofe  der  Wettiner  Albertini- 
schen  Hauptlinie 124 

V.  Richthofen,  Die  Politik  Bis- 
marcks  und  Manteuffels  in  den 
Jahren  1851—1858 362 

Rinkefeil,  Das  Schulwesen  der 
Stadt  Borna  bis  zum  Dreißig- 
jährigen Kriege 551 

Reeder,  Urkunden  zur  Religion  des 
alten  Ägypten 284 

Roemer,  Die  Baumwollspinnerei  in 
Schlesien  bis  zum  preußischen 
Zollgesetz  von  1818 184 

Roh  de.  Der  Kampf  um  Sizilien  in 
den  Jahren  1291— 1302  .    .    .    .  288 

Rose,    Im    römischen    Hexenkessel  181 

Rothert,  Im  alten  Königreich  Han- 
nover 1814 — 1866 123 

Charles-Roux,  Alexandre  II,  Gor- 
tschakoff  et  Napoleon  III      .    .     94 

Rudolf,  Italiens  Mittelmeerpolitik 
und  die  Dreibundkrise    ....   180 

Salomon,  Der  britische  Imperialis- 
mus. Ein  geschichtlicher  Über- 
blick über  den  Werdegang  des 
britischen  Reiches  vom  Mittel- 
alter bis  zur  Gegenwart      .    .    .   502 

Vatikanische  Quellen  zur  Geschichte 
der  päpstlichen  Hof-  und  Finanz- 
verwaltung 1316—1376.  2.  Bd.: 
Die  Ausgaben  der  Apostolischen 
Kammer  unter  Johann  XXII. 
nebst  den  Jahresbilanzen  von 
1316—1375.  Herausg.  von  K-  H. 
Schäfer 481 

Schiff  mann,  Österreichische  Ur- 
bare.   3.  Abt.,  2.  Bd.,  3.  Teil     .    186 

Schloß,  Italien  und  wir 180 

Schnütgen,  Das  Elsaß  und  die  Er- 
neuerung des  katholischen  Lebens 
in  Deutschland  von  1814  bis  1848  114 

Schröder  s.  Specht. 

Schrohe,  Mainz  in  seinen  Beziehun- 
gen zu  den  deutschen  Königen 
und  den  Erzbischöfen  der  Stadt 
bis  zum  Untergange  der  Stadt- 
freiheit (1462) 308 

Schrörs,  Untersuchungen  zu  dem 
Streite  Kaiser  Friedrichs  I.  mit 
Papst  Hadrian  IV.  (1157—1158)  525 

Schuck,  Var  forste  författare,  själs- 
historia  fran  medeltiden      .    .    .  531 

Schultheiß,  Die  deutsche  Volks- 
sage vom  Fortleben  und  der  Wie- 
derkehr Kaiser  Friedrichs   II.   .   352 

Schumacher,  Antwerpen,  seine 
Weltstellung  und  Bedeutung  für 
das  deutsche  Wirtschaftsleben  .  542 
Schwalbach,  Die  neueren  deutschen 
Taler,  Doppeltaler  und  Doppel- 
gulden vor  Einführung  der  Reichs- 
währung.   8.  Aufl 537 

Sophie    Charlotte    v.    Seil,    Fürst 

Bismarcks  Frau,  Lebensbild  .    .     95 
Severus,  Zehn  Monate  italienischer 
Neutralität 181 


Inhalt. 


VII 


Seite 

Sieghart,  Zolltrennung  und  Zoll- 
einheit. Die  Geschichte  der 
österreichisch-ungarischen  Zwi- 
schenzollinie 129 

Sohm,  Territorium  und  Reforma- 
tion in  der  hessischen  Geschichte 
1526—1555 118 

Spanger-Norton,  Englands  gua- 
rantee  to  Beigium  and  Luxem- 
burg      541 

Specht,  Die  Matrikel  der  Univer- 
sität Dillingen.  2.  Bd.,  Lief,  3,  4. 
Registerband,  Lief.  1,  2  Bearb. 
von  Schröder 320 

Speidel,  Beiträge  zur  Geschichte 
des  Zürichgaus 369 

Springer,  Die  Coccejlsche  Justiz- 
reform      82 

Steffen,  Demokratie  und  Weltkrieg  367 

W.  Stein,  Hansisches  Urkunden- 
buch.     11.  Bd.:  1486—1500   .    .   479 

Stern,  Reden,  Vorträge  und  Ab- 
handlungen      76 

Stoeven,  Der  Gewandschnitt  in 
den  deutschen  Städten  des  Mit- 
telalters   353 

Suchier,  Johann  Friedrich  Joa- 
chim.    Ein  Gedenkblatt     .    .    .  358 

Sudhoff,  J.  L.  Pageis  Einführung 
in  die  Geschichte  der  Medizin. 
2.  Aufl 146 

Teuf  fei,  Geschichte  der  römischen 
Literatur.     1.  Bd 519 

Teven,  Der  Deutsche  im  französi- 
schen Roman  seit  1870  ....   367 

Trietsch,  Deutschland.  Tatsachen 
und  Ziffern 365 

Uebelhör,  Frankreichs  finanzteile 
Oligarchie 366 

V.  Unger,  Gneisenau 144 

Valentin,  Belgien  und  die  große 
Politik  der  Neuzeit 540 


Seite 

Veress,  Fontes  rerum  Hungarica- 
rum.  I.  Matricula  et  acta  Hun- 
garorum  in  Universitate  Pata- 
vina  studentium 339 

— ,  Rerum  Transylvanicarum  .    .    .  339 

Vogel,  Geschichte  der  deutschen 
Hanse 373 

Wappler,  Die  Täuferbewegung  in 
Thüringen  von  1526  bis  1584   .   126 

Warschauer,  Geschichte  der  Pro- 
vinz Posen  in  polnischer  Zeit  .  551 

Waxweiler  (t),  La  Belgique  neutre 
et  loyale 541 

— ,  Hat  Belgien  sein  Schicksal  ver- 
schuldet?     541 

Weber,  Das  neuere  Verhältnis  von 
Österreich  und  England  ....  539 

Weib  Uli,     Liber    census    Daniae. 

Kung  Valdemars  Jordebok    .    .  528 

Weidner,  Studien  zur  hethitischen 
Sprachwissenschaft 465 

Weiser,  Shaftesbury  und  das 
deutsche  Geistesleben 487 

Weiß,  Elementarereignisse  im  Ge- 
biete Deutschlands 282 

Weller,     Württembergische     Ge- 
schichte.    2.  Aufl 545 

Winkelmann,  Zur  Entwicklung 
der  allgemeinen  Staats-  und  Ge- 
sellschaftsanschauung Voltaires .  536 

Wirth,  Der  Gang  der  Weltgeschichte  515 

Wolzendorff,  Der  Gedanke  des 
Volksheeres  im  deutschen  Staats- 
recht     137 

Wrede,  Deutsche  Dialektgeographie  314 

Codex  diplomaticus  Silesiae.  Bd.  28: 
Die  Inventare  der  r.ichtstaatlichen 
Archive  Schlesiens.  II.  Kreis 
und  Stadt  Glogau.  Herausg.  von 
Wutke 373 

Ziekursch,  Hundert  Jahre  schle- 
sischer  Agrargeschichte    ....  374 


Notizen  und  Nachrichten. 

(Die  Namen  der  ständigen  Mitarbeiter  sind  in  Klammern  hinzugefügt.) 

Seite 

Allgemeines  (Frischeisen-Köhler). 151.335.514 

Alte  Geschichte  (Brand is) 157.  342.  519 

Römisch-germanische  Zeit   und  frühes  Mittelalter  bis  1250  (Hof- 
meister)      160.  345.  522 

Späteres  Mittelalter  (1250—1500)  (Kaiser) 166.  352.  531 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648)  (E.W.  Mayer)  167.  355.  534 

1648—1789  (Michael) 169.  356.  535 

Neuere  Geschichte  von  1789  bis  1871  (Jacob) 172.  361.  536 

Neueste  Geschichte  seit  1871  (Hashagen) 179.  364.  539 

Deutsche  Landschaften  (Windelband) 181.  368.  542 

Vermischtes , 375.  553 


Römische  Klientelstaaten. 

Vortrag,  gehalten  in  der  Historischen  Gesellschaf t  zu  Straßburg  i.  E. 
am  11.  Januar  1916 

von 

Karl  Johannes  Neumann. 


Der  politische  Wert  des  römischen  Staatswesens  für 
alle  Zeiten  liegt  darin,  daß  es  die  entscheidende  Bedeu- 
tung der  militärisch -politischen  Macht  für  den  Bestand 
und  die  Entwicklung  des  Staates  klar  erkannt  und  auch 
in  der  Verfassung  zum  Ausdruck  gebracht  hat.  Das  rö- 
mische Staatsrecht  ist  die  Idealverfassung  des  militärisch- 
politischen Machtstaates.  Trotz  aller  Beweglichkeit  der  For- 
men verliert  es  diese  Hauptsache  nie  aus  dem  Auge,  darum 
ist  seine  Kenntnis  noch  heute  von  praktischem  Werte.  Es 
sind  keine  Praktiker,  welche  das  römische  Staatsrecht  für 
überwundene  Altertümer  von  nur  gelehrtem  Interesse  aus- 
geben. Es  ist  vielmehr  noch  heute  lebendig  und  kann  noch 
heute  angewandt  werden.  Worauf  es  der  römischen  Politik 
immer  ankam,  war  die  wirkliche  Macht  des  Staates,  die 
militärische  und  politische.  Und  wo  die  Römer  diese  Macht 
fest  erstrebten,  fanden  sie  dafür  auch  die  staatsrechtlichen 
Formen.  Der  Staatsmann,  der  weiß  was  er  will,  wird  auch 
noch  heute  aus  dem  römischen  Staatsrecht  lernen  können; 
er  wird  ihm  die  Formen  absehen  können,  in  denen  er  seine 
politischen  Absichten  verwirklichen  kann.  Trotz  aller  Rück- 
sicht auf  die  Formen  kommt  es  den  Römern  aber  immer 
auf  die  Sache  an.    Die  Form  ist  für  sie  lediglich  ein  Mittel, 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  1 

By 


2  Karl  Johannes  Neumann, 

das  politische  Ziel  zu  erreichen,  das  sie  wollen.  Formale 
Unterschiede  ohne  sachliche  Verschiedenheiten  haben  für 
sie  geringes  Interesse.  Aber  wenn  sie  sich  klar  sind  über 
das,  was  sie  wirklich  wollen,  dann  suchen  sie  im  Staats- 
recht nach  Mitteln  und  Wegen,  die  ihnen  die  Durchführung 
ihres  Willens  ermöglichen  und  erleichtern  sollen. 

Unsere  Betrachtung  der  römischen  Klientelstaaten 
ist  durchaus  realpolitisch  interessiert:  Die  Formen  kommen 
für  uns  nur  in  Betracht,  insofern  sie  Mittel  und  Wege  zur 
Erreichung  eines  gewollten  Zieles  boten.    So  beginnen  wir 
also    mit    einer    realpolitischen    Definition    der    römischen 
Klientelstaaten!    Es  sind  militärisch  und  politisch  von  Rom 
abhängige  Staaten,  außerhalb  der  juristischen  Reichsgrenzen. 
Die    Hauptsache   ist   ihre   militärische   und   politische   Ab- 
hängigkeit vom  römischen  Reiche.    Über  die  Stellung  dieser 
Staaten  außerhalb  der  juristischen  Reichsgrenzen  vgl.  Osca- 
rus  Bohn  qua  condicione  iuris  reges  socii  populi  Romani 
fuerint,  von  Mommsen  angeregte  Berl.  Diss.  vom  Jahre  1877, 
p.  71  unten,  auf  Grund  von  Proculus  lib.  octavus  epistolarum 
bei  F.  P.  Bremer,  jurisprudentiae  antehadrianae  quae  super- 
sunt  pars  altera  Sectio  altera  p.  127.   Lipsiae  1901 :  foederati  et 
liberi   nobis  externi.    Diese   Externität   der   Klientelstaaten 
war  noch  unter  Nero  geltendes  Recht,  aber  bereits  bei  dem 
gleichzeitigen   Juristen  Proculus  begegnet  uns  die  Theorie, 
sie  nicht  für  extern  zu  betrachten,  vgl.  Bohn  a.  a.  0.  und 
Proculus  a.  a.  0.;  diese  Theorie  ist  in  der   Folge  bei  den 
germanisch-römischen    Reichen   der   Völkerwanderung   zum 
Ausdruck  gekommen.    Am  klarsten  wird  die  Abhängigkeit 
der  Klientelstaaten  außerhalb  der  juristischen  Reichsgrenzen 
eben  durch  die  Vergleichung  mit  den  germanischen  Staaten 
der  Völkerwanderungszeit  innerhalb  der  Reichsgrenzen.  Diese 
germanischen  Staaten  stehen  juristisch  innerhalb  des  impe- 
rium  romanum,  ihr  Haupt,  der  germanische  Volkskönig,  ist 
gleichzeitig  kaiserlich  römischer  Beamter.  —  Aber  so  sicher 
die  tatsächliche  Abhängigkeit  der  externen  Klientelstaaten 
von  Rom  war,  so  sehr  haperte  es  mit  der  wirklichen  Ab- 
hängigkeit  der   germanischen    Staaten    vom    Reiche,    trotz 
ihrer  juristischen  Zugehörigkeit  zum  Reiche.    Rom  verfügte 
über  sie  durchaus  nicht  so  unbedingt,  wie  über  die  alten 


Römische  Klientelstaaten.  3 

Klientelstaaten.  Der  germanische  König  fügte  sich,  von  der 
Macht  seines  Volkes  getragen,  dem  Imperium  nicht  immer. 
Es  begegnet  uns  also  hier  jenes  Widerspiel  von  Theorie  und 
Praxis:  die  alten  Klientelstaaten,  unbedingt  abhängig,  aber 
außerhalb  des  Reiches  stehend,  und  im  Gegensatze  dazu  die 
Völkerwanderungsstaaten,  theoretisch  Teile  des  Reiches  und 
ihm  Untertan,  aber  faktisch  abhängig  nur  da,  wo  sie  selber 
wollten.  Wirkliche  Herrschaft  gewährt  also  die  Externität 
unter  Umständen  besser,  zumal  sie  den  Klientelstaaten  kei- 
nerlei Einfluß  auf  die  Politik  des  Reiches  gewährt;  für 
Staaten  außerhalb  der  Reichsgrenzen  kommt  ja  etwas  wie 
etwa  Einführung  der  Reichsverfassung  mit  den  Rechten,  die 
sie  gibt,  natürlich  gar  nicht  in  Betracht.  Vergegenwärtigen 
wir  uns  aber  zunächst  den  Entwicklungsgang  des  imperium 
Romanum. 

Die  Besiedlung  der  Höhen  auf  dem  linken  Tiberufer  war 
dadurch  bedingt  und  gefördert  worden,  daß  die  Tiberüber- 
schwemmungen, die  das  Fieber  zurücklassen,  nicht  so  hoch 
steigen.  Schon  in  alter  Zeit  gab  es  auf  diesen  Höhen  Sied- 
lungen, wohl  latinischen  Charakters,  aber  sie  waren  weder 
eine  Stadt  noch  ein  Staat,  sie  waren  kein  Roma.  Erst  der 
Vorstoß  der  Etrusker  über  den  Tiber  hat  aus  diesen  Sied- 
lungen die  Stadt  und  den  Staat  Roma  begründet,  das  er- 
gibt sich  als  historische  Konsequenz  aus  den  sprachlichen 
Untersuchungen  Wilhelm  Schulzes  über  die  altrömischen 
Namen.  Bereits  der  junge  Niebuhr  hat  erkannt,  daß  Rom 
eine  etruskische  Gründung  ist,  aber  der  alternde  Niebuhr 
hat  nicht  den  Mut  besessen,  seine  Erkenntnis  festzuhalten, 
und  erst  seit  Wilhelm  Schulze  ist  sie  durchgedrungen.  Das 
latinische  Alba  Longa  hat  sich  gegen  den  römischen  Etrusker- 
könig  nicht  halten  können,  Rom  wurde  die  Vormacht  La- 
tiums  und  allmählich  durchaus  latinisiert.  Die  erste  Er- 
weiterung des  römischen  Gebietes  ging  aber  über  den  Anio 
hinaus,  wo  die  große  sabinische  Grundherrschaft  der  Klau- 
dier  sich  freiwillig  dem  römischen  Staatswesen  anschloß  und 
einfügte.  Die  historischen  Sabiner  der  römischen  Urgeschichte 
sind  die  Klaudier.  Die  wechselnden  Beziehungen  Roms  zu 
den  latinischen  Orten  schlössen  338  v.  Chr.  mit  der  Unter- 
werfung Latiums  unter  Rom  ab,  Rom  beherrschte  seitdem 


4  Karl  Johannes  Neumann, 

Latium  durch  Einzelverträge  mit  den  einzelnen  latinischen 
Gemeinden.  Der  Anschluß  Kampaniens  an  Rom  bedrohte 
in  der  Folge  die  Samniten  und  machte  eine  Auseinander- 
setzung mit  ihnen  unvermeidlich;  nach  dem  großen  Sam- 
niterkriege  geboten  die  Römer  über  Unteritalien,  und  nach 
dem  etwas  späteren  Unterliegen  der  Etrusker  war  auch 
der  Norden  Mittelitaliens  unter  ihre  Hand  gegeben.  Kurz 
vor  dem  Beginn  der  großen  Kriege  mit  Karthago  war  der 
italische  Bund  vollendet.  Er  war  kein  Einheitsstaat  und 
besaß  auch  keine  einheitliche  Verfassung,  sondern  wurde 
durch  lauter  Sonderverträge  zwischen  Rom  und  den  ein- 
zelnen Staaten  zusammengehalten.  Die  römische  Verfas- 
sung wurde  auf  diese  Staaten  nicht  übertragen,  sie  behielten 
vielmehr  ihre  eigene  Verfassung,  abgesehen  natürlich  von 
den  Punkten,  die  dem  Zwecke  des  Bundes  hätten  wider- 
sprechen können.  Es  waren  lauter  souveräne  Staaten,  nur 
daß  ihre  Souveränität  im  Heerwesen  und  in  der  auswärtigen 
Politik  beschränkt  war:  Das  Heereskontingent  der  Bundes- 
genossen stand  den  Römern  zur  Verfügung,  und  wir  kennen 
die  Heeresmatrikel  der  Bundesgenossen  und  die  Organisation 
des  Bundesheeres  aus  dem  uns  bei  Polybius  erhaltenen  Ver- 
zeichnis der  italischen  Wehrfähigen  vom  Jahre  225  v.  Chr. 
Die  Einzelverträge  mit  Rom  bedeuteten  eine  Zentralisierung 
zugunsten  Roms  und  damit  eine  große  Steigerung  der  Macht 
des  Vorortes.  Trotz  der  großen  Zahl  der  einzelnen  Bundes- 
staaten war  ihre  Mannigfaltigkeit  doch  insofern  eine  be- 
schränkte, als  ihre  Gesamtheit  sich  drei  verschiedenen  Kate- 
gorien einordnete,  so  daß  man  eine  Karte  des  italischen 
Bundes  nach  seiner  politischen  Bed-eutung  in  nur  drei 
Farben  hat  entwerfen  können,  einer  Farbe  für  den  ager  Ro- 
manus; einer  zweiten  Farbe  für  die  latinischen  Gemeinden 
und  die  nach  latinischem  Recht  gegründeten  Grenzfestungen, 
die  latinischen  Kolonien,  endlich  einer  dritten  Farbe  für  die 
Staaten  der  Bundesgenossen  im  engeren  Sinne.  Ein  so  buntes 
Bild  dieser  italische  Bund  auch  bietet,  so  zeigt  sich  in  ihm 
doch  bereits  die  charakteristische  Eigenschaft  der  römischen 
Politik:  sie  hat  es  verstanden,  wirklich  zu  herrschen  und 
trotz  aller  Mannigfaltigkeit  der  Formen  den  Bestand  des 
römischen  Staates  und  die  führende  Stellung  des  römischen 


Römische  Kliehtelstaaten.  5 

Volkes  für  die  Dauer  zu  befestigen  und  zu  sichiern.  Trotz 
aller  scheinbaren  Lockerheit  wurde  der  italische  Bund  zu 
einem  festen  Herrschaftsgebiete  zusammengeschmiedet,  das 
bereits  nach  zwei  Generationen  im  hannibalischen  Kriege 
die  Belastungsprobe  aushielt.  Wodurch  hat  man  das  er- 
reicht? 

Das  direkte  römische  Staatsgebiet,  der  ager  Romanus, 
war  keine  geographische  Einheit,  sondern  war  in  unzusam- 
menhängenden Stücken  über  die  ganze  Halbinsel  zerstreut. 
Das  war  aber  kein  Moment  der  Schwäche.  Für  die  militä- 
rische Sicherheit  sorgten  schon  die  Festungen,  die  Kolonien. 
Und  die  Zerstreuung  bedeutete  zugleich  eine  Durchdringung 
ganz  Italiens  mit  römischem  Gebiete.  Heerwesen  und  aus- 
wärtige Politik  des  Bundes  unterstand  der  einheitlichen  Lei- 
tung Roms.  Auf  den  Auseinanderfall  des  Bundes  hatte 
Hannibal  gerechnet,  aber  seine  Hoffnung  hat  ihn  getrogen. 
Der  Bund  hielt  Rom  im  wesentlichen  die  Treue.  Dabei 
waren,  abgesehen  von  den  Latinern,  die  Bundesgenossen 
dem  führenden  Volke  nicht  einmal  national  verbunden. 
Das  Oskische  Süditaliens  und  das  Umbrische  Mittelitaliens 
sind  dem  Lateinischen  gegenüber,  trotz  der  Verwandtschaft, 
doch  geradezu  verschiedene  Sprachen,  der  Zusammenhalt 
des  Bundes  ruhte  nicht  auf  der  gemeinsamen  Nationalität, 
sondern  auf  der  Interessengemeinschaft.  Handel  und 
Verkehr  beruhten  auf  dem  commercium,  dem  privat- 
rechtlichen Schutze,  und  wurden  erst  dadurch  ermög- 
licht. Alle  bundesgenössischen  Staaten  hatten  aber  commer- 
cium mit  Rom.  So  war  hier  ein  für  die  damalige  Zeit  un- 
gewöhnlich großes  Gebiet  sicheren  Handelsverkehrs  ge- 
geben. 

In  zwei  Generationen  ununterbrochener  Kriege  hatten 
die  Römer,  seit  der  Bezwingung  Latiums,  die  Vormacht  in 
ganz  Italien  errungen:  es  lebten  kaum  noch  Leute,  die  den 
Frieden  kannten.  Die  Römer  standen  an  dem  Faro  von 
Messina  und  blickten  nach  Sizilien  hinüber.  Ihre  bloße 
Daseinsgewohnheit  konnte  sie  über  die  Meerenge  hinüber- 
führen. Mit  der  anderen  großen  Macht  des  Westens,  mit 
Karthago,  war  man  im  Jahre  306  v.  Chr.  zwar  zu  einer  Ab- 
grenzung  der    Interessensphären   gelangt,    die    Italien    den 


6  Karl  Johannes  Naumann, 

Römern  und  Sizilien  den  Karthagern  überwies;  aber  diese 
Abgrenzung  hatte  ihre  Bedeutung  geändert,  als  die  Römer 
auf  der  italischen  Seite  der  Meerenge  standen,  während  die 
Karthager  nach  Messina  strebten.  Und  der  große  Handels- 
staat Karthago  liebte  den  Frieden  um  des  bloßen  Friedens 
willen  ebensowenig,  wie  sonst  ein  großer  Handelsstaat.  Es 
i<:am  zum  Kampfe  der  großen  italischen  Landmacht  mit  der 
karthagischen  Seemacht,  in  dem  die  Landmacht  erst  zur 
Seemacht  wurde  und  mit  Hilfe  einer  technischen  Erfindung 
zur  See  die  Seemacht  überwand.  Die  Weltmachtstellung 
Karthagos  wurde  erschüttert,  und  nach  dem  zweiten  Puni- 
schen  Kriege  war  Karthago  aus  der  Reihe  der  Mächte  ge- 
strichen, wenn  es  sich  auch  wirtschaftlich  bald  wieder  er- 
holte. Die  Zerstörung  von  Karthago  war  keine  Notwendig- 
keit. Schon  der  erste  Punische  Krieg  hatte  die  Römer  zur 
Erwerbung  ihres  ersten  überseeischen  Gebietes  geführt,  West- 
siziliens, das  den  Karthagern  gehorcht  hatte.  Hier  standen 
die  Römer  vor  neuen  Problemen, 

Über  Westsizilien  und  Sardinien  hatten  die  Karthager 
nicht  eine  Hegemonie  ausgeübt,  wie  die  Römer  über  den 
italischen  Bund,  sondern  hier  hielten  sie  kompakte  unter- 
worfene Gebiete  in  Untertänigkeit.  Die  Verschiedenheit 
dessen,  was  die  Römer  in  dem  karthagischen  Sizilien  und 
Sardinien  vorfanden,  gegenüber  den  Verhältnissen  des  ita- 
lischen Bundes  wurde  für  die  Römer  der  Anlaß  zu  einem 
Systemwechsel  nach  dem  ersten  Punischen  Kriege.  Das 
System  des  italischen  Bundes  haben  die  Römer  auf  ihre 
ersten  überseeischen  Eroberungen  nicht  mehr  übertragen, 
sondern  der  ganz  anderen  Situation,  die  sie  in  diesen  Herr- 
schaftsgebieten der  Karthager  vorfanden,  damit  Rechnung 
getragen,  daß  sie  diese  den  Karthagern  untertänigen  Ge- 
biete einfach  in  ihre  eigene  Untertänigkeit  übernahmen. 
Die  von  den  Karthagern  den  Römern  abgetretenen  kartha- 
gischen Untertanen  wurden  jetzt  römische  Untertanen,  aus 
dem  vormals  karthagischen  Untertanengebiet  wurden  die 
ersten  römischen  Provinzen,  241  v.  Chr.  Sizilien  und  238 
V.  Chr.  Sardinien  mit  Korsika.  Der  italische  Bund  hatte 
diese  Provinzen  erobert,  nicht  allein  das  römische  Heer, 
trotzdem  wurden  diese  Provinzen  nicht  Provinzen  des  ita- 


Römische  Klientelstaaten.  7 

lischen  Bundes,  sondern  wurden  dem  führenden  Staate 
dieses  Bundes  angegliedert,  sie  wurden  nicht  Bundespro- 
vinzen, sondern  römische  Provinzen.  Es  war  das  logisch 
anfechtbar  und  entsprach,  wie  es  in  der  Folge  auch  emp- 
funden wurde,  auch  nicht  der  Billigkeit  gegenüber  den 
Bundesgenossen,  aber  es  sicherte  am  besten  Bestand  und 
Festigkeit  der  Herrschaft;  und  darauf  verstanden  sich  die 
Römer. 

In  dem  Maße,  als  die  römische  Herrschaft  sich  auf 
eine  Provinz  nach  der  anderen  und  auf  reiche  Länder  aus- 
dehnte, steigerte  sich  auch  der  unmittelbare  Nutzen  aus  der 
Verwaltung.  Von  Verkehr  und  Handel  profitierte  auch  der 
Bundesgenosse,  direkten  Nutzen  von  der  Verwaltung  der 
Provinzen  zog  aber  nur  der  römische  Bürger.  Hierin  liegt 
der  Hauptgrund  für  die  beginnende  Entfremdung  der  Bundes- 
genossen gegenüber  dem  führenden  Staate.  Die  römischen 
Provinzen  zu  Bundesprovinzen  zu  machen,  daran  dachte 
aber  niemand.  Aber  die  Beteiligung  der  Bundesgenossen  an 
der  direkten  Nutzung  der  Provinzen  ließ  sich  auch  auf  an- 
derem Wege  erreichen:  durch  die  Aufnahme  der  Latiner 
und  Bundesgenossen  in  den  römischen  Bürgerverband.  Der 
Ablehnung  dieser  Forderung  folgte  die  Auflösung  des  itali- 
schen Bundes  und  der  Bundesgenossenkrieg,  der  die  Römer 
zwang,  nachzugeben.  Sie  sahen  sich  jetzt  genötigt  einzu- 
räumen, was,  etwas  zeitiger  bewilligt,  die  ganze  Erhebung 
gegenstandslos  gemacht  hätte.  Seit  den  Jahren  90  und  89 
V.  Chr.  reicht  das  römische  Bürgerrecht  vom  Faro  von  Mes- 
sina bis  zum  Po;  jetzt  erfolgte  in  gewissem  Sinne  eine  Aus- 
dehnung der  römischen  Stadtverfassung  auf  Italien;  aus  den 
einzelnen  italischen  Gemeinden  wurden  neue  Munizipien, 
römische  Bürgergemeinden  mit  lokaler  Selbstverwaltung. 
Jetzt  schwand  der  Gegensatz  der  Italiker  gegen  Rom,  wie 
er  sich  seit  der  Gracchenzeit  geltend  gemacht  hatte;  es 
schwanden  die  Sprachen  und  Dialekte,  und  es  bildete  sich 
die  lateinisch-römische  Nation.  Diese  latinisch-italische  Na- 
tion herrschte  über  die  Provinzen. 

Bei  der  Organisation  der  Provinzialverwaltung  wurde 
im  Jahre  227  v.  Chr.  die  Zahl  der  Prätoren  erhöht.  An  die 
Spitze  einer  Provinz  trat  als  Provinzialstatthalter  ein  Prätor 


8  Karl  Johannes  Neumann, 

für  Kommando  und  Jurisdiktion;  er  vereinigt  in  seiner  Person 
die  Zivil-  und  Militärgewalt,  die  des  höchsten  Verwaltungs- 
beamten mit  der  des  Höchstkommandierenden.    Im  Süden 
Illyriens  haben  die  Römer,  227  v.  Chr.,  Griechenstädte  ihrer 
Einflußsphäre  eingefügt,  die  für  einen  Provinzialstatthalter 
nicht  einmal  einen  Wirkungskreis  geboten  hätten;  sie  traten 
als  freie  Städte  in  Zusammenhang  mit  dem  Reiche  als  civi- 
tates  liberae,  frei  auch  von  der  Steuerpflicht,  civitates  liberae 
et   immunes.     Auch   in   Westsizilien    wurden    solche   freie 
Städte  von  der  Gewalt  des  sizilischen  Statthalters  eximiert, 
und  als  die  Römer  im  hannibalischen  Kriege,  212  v.  Chr., 
auch  das  Gebiet  von  Syrakus  ihrer  sizilischen  Provinz  ein- 
verleibten und  dem  Statthalter  unterstellten,  erweiterte  sich 
auch  das  Gebiet  der  freien  Städte  durch  die  freien  Städte, 
die  mit  dem  Königreich  Syrakus  verbündet  gewesen  waren, 
ihre  Freiheit  wurde  römischerseits  sogar  durch  ein  Bündnis, 
ein  foedus,  gesichert,  es  waren  die  ersten  civitates  foederatae. 
Die  Lage  der  civitates  sine  foedere  liberae  et  immunes  ist  von 
der  der  civitates  foederatae  dem   materiellen    Inhalte  nach 
kaum  verschieden,  aber  die  Rechtsgrundlage  des  Zustandes 
ist  verschieden.    Bei  den  civitates  sine  foedere  liberae  et  im- 
munes kann  die  Lage  jederzeit  einseitig  von  Rom  aus  geändert 
werden,  durch  Gesetz  oder  Senatsbeschluß;  die  Lage  der  civi- 
tates foederatae  aber  ruhte  auf  einem  Bündnis,  einem  foedus, 
das  zu  seiner  Änderung  wenigstens  theoretisch  der  beider- 
seitigen Zustimmung  bedurfte,  ebenso  wie  Privatkontrakte. 
Freilich  ist  auch  bei  Privatkontrakten  die  freie  Beiderseitig- 
keit tatsächlich  vielfach  illusorisch,  insofern  die  wirtschaft- 
lich stärkere   Hand  hier  vielfach  allein,  wenn  auch  nicht 
formell,  so  doch  tatsächlich  die  Entscheidung  hat.    Außer 
durch  die  freien  Städte  hat  die  römische  Sphäre  in  Illyrien 
sich  aber  noch  durch  den  Freundschaftsvertrag  mit  einem 
illyrischen  Dynasten  erweitert:   nach  Appian  lUyr.  7  wurde 
der  illyrische  König  Pinnes,  der  Sohn  des  Agron,  amicus 
p.  R.    Diese  Freundschaft  begründete  den  privatrechtlichen 
Schutz,  das  commercium,  und  ermöglichte  damit  Handels- 
beziehungen. Durch  die  Verpflichtung  zur  Waffenhilfe  wurde 
Freundschaft  zur  societas  gesteigert,  und  der  erste  rex  socius 
der  Römer  war,  wie  es  scheint,  auch  ein  illyrischer  Dynast, 


Römische  Klientelstaaten.  9 

Demetrios  von  Pharos.  In  der  Folge  haben  die  Römer 
gelegentlich  auch  große  Gebiete,  ganze  Provinzen,  einzelnen 
verbündeten  Königen  überlassen,  sie  taten  das  in  den  Fällen, 
wo  sie  sich  mit  der  direkten  Verwaltung  des  Gebietes  aus 
bestimmten  Gründen  nicht  belasten  wollten.  Besonders  im 
Osten  begegnen  mehrere  solche  abhängige  verbündete  Staaten 
und  Fürsten;  der  bekannteste  von  ihnen  ist  der  jüdische  König 
Herodes,  ein  Mann  nach  dem  Herzen  des  Kaisers  Augustus, 
den  Römern  gegenüber  durchaus  verläßlich;  auch  vom  Kaiser 
anerkannt  und  hochgeehrt  erlebte  König  Herodes  den  großen 
Tag  seines  Lebens,  als  der  Mitregent  des  Augustus,  der 
zweite  Kaiser,  als  Kaiser  Agrippa  ihn  in  Jerusalem  be- 
suchte. Diese  verbündeten  Staaten  der  Klientelkönige  waren 
nicht  tributpflichtig,  nur  gelegentlich  wurden  von  ihnen 
größere  Zahlungen  gefordert,  und  militärisch  waren  sie  zum 
Zuzug  verpflichtet.  Ganz  nach  freiem  Belieben  konnten  die 
Römer  die  Klientelkönige  in  ihrer  Stellung  belassen  oder  ihr 
Gebiet  einziehen  und  in  direkte  Verwaltung  nehmen,  wie  sie 
es  mit  dem  jüdischen  Lande  taten,  als  sie  sahen,  daß  ihre 
weitgehende  Schonung  der  religiösen  Empfindlichkeiten  der 
Juden  der  pharisäischen  Demagogie  gegenüber  doch  nichts 
half.  Im  ganzen  aber  ließ  man  diese  Klientelreiche  bestehen, 
sie  ersparten  viele  Verlegenheiten,  und  sie  übten  ja  keinerlei 
Einfluß  auf  die  Reichsverwaltung  aus.  Ohne  weiteres  aber 
entschloß  man  sich  zur  Umwandlung  des  Klientelstaates  in 
eine  Provinz,  wo  man  den  Grenzschutz  verstärken  wollte; 
so  geschah  es  mit  Kappadokien,  das  einen  kaiserlichen 
Konsularlegaten  und  Legionsbesatzung  erhielt.  Besondere 
Schwierigkeiten  bot  Armenien,  ein  Alpenland,  dessen  direkte 
Beherrschung  eines  unverhältnismäßigen  Heeresaufgebotes 
bedurft  hätte.  Und  bei  Armenien  kam  es  den  Römern 
nicht  sowohl  darauf  an,  daß  sie  es  selbst  hatten,  als  viel- 
mehr nur  darauf,  daß  die  Parther  es  nicht  hatten  und  nicht 
den  maßgebenden  Einfluß  in  Armenien  ausübten.  Das 
suchten  sie  durch  Einsetzung  armenischer  Vasallenkönige 
zu  erreichen,  es  gelang  ihnen  aber  doch  nicht,  den  parthischen 
Einfluß  auszuschalten.  Der  Zwist  der  römischen  und  der 
parthisch-persischen  Parteien  in  Armenien  blieb  bestehen, 
so  daß  sich  Römer  und  Perser  endlich  unter  Theodosius  dem 


10         Karl  Johannes  Naumann,  Römische  Klientelstaaten. 

Großen,  um  387  n.  Chr.,  zur  Teilung  Armeniens  entschlossen. 
Diese  Teilung  Armeniens  zwischen  Römern  und  Persern  war 
der  Ausgang  der  armenischen  Adelsanarchie. 

Kappadokien  ist  dafür  besonders  lehrreich,  daß  bei  der 
Frage  Klientelstaat  oder  direkte  Verwaltung  die  Frage  der 
besten  Grenzverteidigung  für  die  Römer  in  erster  Linie 
stand;  sie  mußte  es  in  der  Tat  auch  sein.  Im  Innern  ihrer 
Gebiete  ließen  die  Römer  die  Klientelkönige  gewähren,  so- 
lange keine  Schwierigkeiten  entstanden.  Dem  Klientel- 
könige unterstand  das  ganze  Gebiet,  aber  mit  bemerkens- 
werten Ausnahmen.  Gewisse  Orte  von  ganz  besonderer 
Bedeutung  entzogen  die  Römer  der  Botmäßigkeit  des  Klientel- 
königs und  gliederten  sie  direkt  ihrem  eigenen  Reiche  an. 
Das  bemerkenswerteste  Beispiel  dafür  bietet  das  Klientel- 
königreich Mauretanien  mit  der  durch  seine  Lage  kommer- 
ziell hochbedeutsamen  Umgebung  von  Tingi,  von  Tanger. 
Hier  hat  bereits  der  Kaiser  Augustus  die  colonia  Augusti 
Julia  Constantia  Zulil  an  der  Ozeansküste,  südwestlich  von 
Tanger,  als  römische  Bürgerkolonie  begründet.  Plinius  n.  h, 
V,  1  p.  361,  5,  Mayhoff:  in  ora  oceani  colonia  Augusti  Julia 
Constantia  Zulil,  regum  dicioni  exempta  et  iura  in  Baeticam 
petere  iussa,  s.  dazu  E.  Kornemann,  Artikel  Coloniae  in 
Pauly-Wissowas  Real-Enzyklopädie  Bd.  IV,  1901,  S.  559, 
Z.  11.  Dieser  handelspolitische  hochbedeutsame  Ort  wurde 
also  der  Botmäßigkeit  des  Klientelkönigs  von  Mauretanien 
entzogen  und,  als  römische  Bürgergemeinde  eingerichtet, 
mit  der  Verwaltung  der  römischen  Provinz  Baetica  in  Süd- 
spanien verbunden.  Die  zeitgeschichtlichen  Analogien  sind 
hier  nicht  gut  zu  übersehen.  Man  sieht,  die  Römer  wußten, 
was  sie  wollten  und  verstanden  es,  dafür  auch  die  Form  zu 
finden.  Noch  heute  gilt  die  horazische  Norm  rem  tene:  verba 
sequentur.  In  das  Staatsrechtliche  übertragen  lautet  diese 
Norm :  rem  tene:  forma  sequetur.  Diese  Norm  ist  noch  heute 
in  Geltung. 


Der  Staatsstreich  des  Octavianus 
im  Jahre  32  v.  Chr.') 


Von 
Adolf  Bauer. 


In  den  Jahren  1873 — 76  wurde  ich  an  dieser  Hochschule 
von  verehrten  Lehrern:  Ottokar  Lorenz,  Theodor  v,  Sickel, 
vor  allem  aber  von  Max  Büdinger  in  die  Geschichtswissen- 
schaft eingeführt.  Ihrer  aller  gedenke  ich  heute  in  dank- 
barer Erinnerung  und  besonders  dessen,  wie  Büdinger  das 
geistige  Vermächtnis  unter  seinen  Schülern  lebendig  zu  er- 
halten wußte,  das  er  von  August  Boeckh,  Leopold  v.  Ranke 
und  Heinrich  v.  Sybel  überkommen  hatte. 

Vieles  hat  sich  seither  verändert:  ein  unermeßliches 
neues  Material,  das  nach  den  philologischen  Methoden  ver- 
arbeitet und  zugerichtet  sein  wollte,  ist  allen  Teilen  der  Ge- 
schichte, das  meiste  der  Geschichte  des  Altertums  zugewach- 
sen; auf  dem  nachbarlichen  Gebiete  der  antiken  Philologie 
hat  der  Standpunkt  des  Klassizismus  der  historischen  Auf- 
fassung Platz  gemacht;  grundsätzliche  Fragen  über  Theorie 
und  Methodik  der  Geschichtswissenschaft  sind  aufgeworfen 
und  besonders  die  eine  ist  mit  Leidenschaft  erörtert  wor- 
den, was  denn  die  eigentliche  Aufgabe  der  Geschichte  sei; 
gebieterisch  wird  heute  von  den  Historikern  aller  Zeiten 
eingehende  Rücksichtnahme  auf  die  sozialen  und  wirtschaft- 
lichen Zustände,  ja  auf  das  ganze   materielle  und  geistige 


*)  Antrittsvorlesung  gehalten  in  Wien,  9.  Mai  1916. 


12  Adolf  Bauer, 

Leben  der  Völker  gefordert;  dabei  muß  aber  der  Staat  und 
müssen  die  Träger  der  staatlichen  Gewalt  nach  wie  vor 
Rückgrat  und  Mark  der  Geschichtsdarstellung  bleiben. 

Es  wäre  also  Gelegenheit  genug  geboten,  aus  diesen 
allgemeinen  Fragen  eine  herauszugreifen,  durch  ihre  Be- 
antwortung ein  Bekenntnis  abzulegen  und  ein  Arbeitspro- 
gramm zu  entwickeln.  Ich  bescheide  mich  aber  mit  einem 
Vortrag  über  einen  engbegrenzten  Gegenstand,  für  den  ich 
eine  allgemeinere  Teilnahme  voraussetzen  darf.  Vielleicht 
gelingt  es  mir  auch  so,  Ihnen  zu  zeigen,  wie  ich  meine  Auf- 
gabe als  Vertreter  der  Geschichte  des  Altertums  auffasse. 
Dabei  wäre  es  mir  besonders  erfreulich,  wenn  die  folgenden 
Darlegungen  die  Zustimmung  meines  hochverehrten  Vorgän- 
gers auf  diesem  Lehrstuhl,  E.  Bormanns,  finden  würden. i) 

Ich  werde  die  Frage  untersuchen  und  beantworten,  ob 
die  absolute  Monarchie,  wie  sie  sich  in  Rom  von  Augustus 
bis  Diokletian  entwickelt  hat,  im  letzten  Ende  auf  einer 
durch  Augustus  vollzogenen  gesetzlichen  Umgestaltung  der 
republikanischen  Verfassung  beruht,  oder  ob  sie  das  Er- 
gebnis der  Gewalt  ist  und  durch  einen  Staatsstreich  ge- 
schaffen wurde. 

Die  antiken  Geschichtschreiber,  die  uns  von  diesen  Er- 
eignissen berichten,  sind  teils  Männer  von  mäßiger  Begabung, 
teils  sogar  recht  untergeordneten  Ranges,  aber  wir  genießen 
den  seltenen  Vorzug,  überdies  von  Augustus  selbst  unter- 
richtet zjd  sein.  Er  spricht  zu  uns  in  dem  auf  einer  klein- 
asiatischen Inschrift  erhaltenen  Rechenschaftsbericht,  der 
vor  seinem  Grabe  aufgestellt  der  Mit-  und  Nachwelt  von 
seinen  Taten  Zeugnis  gab.  Als  der  Princeps  Augustus  und 
anerkannte  Herr  des  römischen  Reiches  verfaßte  er  diese 
Urkunde  in  seinem  76.  Lebensjahr  und  stellte  darin  seine 
politische  Laufbahn  dar,  die  er  mit  19  Jahren  als  der  Privat- 
mann Octavianus  und  der  Erbe  Cäsars  begonnen  hatte. 

Gleich  in  den  ersten  Sätzen  verkündet  er,  daß  er  durch 
ein  aus  eigenen  Mitteln  angeworbenes  Heer  dem  durch  die 

1)  Die  Lehrkanzel  für  Geschichte  des  Altertums  und  Epigraphik 
wurde  nach  E,  Bormanns  Abgang  geteilt  und  mit  der  Vertretung 
der  alten  Geschichte  der  Verfasser,  mit  der  Vertretung  der  Epigraphik 
und  Altertumskunde  J.  W.  Kubitschek  betraut. 


Der  Staatsstreich  des  Octavianus  im  Jahre  32  v.  Chr.        13 

Herrschaft  einer  Partei  geknechteten  Staat  die  Freiheit 
wiedergab.  Damit  bezieht  er  sich  auf  seinen  ersten  Staats- 
streich. Durch  Anwerbung  eines  Heeres  und  durch  den 
folgenden  Krieg  gegen  die  verfassungsmäßigen  Inhaber  der 
Staatsgewalt  tat  Octavianus  im  Jahre  44  dasselbe,  was 
nicht  ganz  20  Jahre  früher  der  bei  Pistoja  besiegte  Um- 
sturzmann Catilina  getan  hatte,  als  er  mit  den  Waffen 
gegen  den  Konsul  Cicero  auftrat.  Octavianus  hatte  Erfolg; 
er  begnügte  sich  aber  damit,  sich  nun  die  Ämter  in  aller  Form 
übertragen  zu  lassen,  nach  denen  er  seit  seinem  ersten  poli- 
tischen Auftreten  strebte.  Die  Verfassung  war  also  bald 
wieder  hergestellt. 

Unter  diesen  ihm  übertragenen  Ämtern  erwähnt  er  auch 
den  Triumvirat  mit  konstituierender  Gewalt,  eine  in  der 
Verfassung  vorgesehene  Ausnahmsgewalt,  die  anderen  vor 
ihm,  wenn  auch  unter  anderen  Namen,  schon  wiederholt 
übertragen  worden  war,  die  er  mit  Lepidus  und  Antonius 
im  Jahre  43  übernahm.  Nachdrücklich  betont  er,  daß  er 
dieses  Amt  ununterbrochen  10  Jahre  lang,  also  bis  Ende 
33  V.  Chr.,  innegehabt  habe. 

An  einer  folgenden  von  seinen  Kriegen  handelnden 
Stelle  bemerkt  er:  Ganz  Italien  leistete  mir  freiwillig  den 
Treueid  und  verlangte  mich  zum  Führer  in  dem  Kriege,  in 
dem  ich  bei  Actium  siegte.  Denselben  Eid  leisteten  mir 
auch  die  Provinzen  Gallien,  Spanien,  Afrika,  Sizilien  und 
Sardinien.  Diese  Worte  beziehen  sich  auf  die  Vorgänge  im 
Jahre  32,  als  Octavian  an  der  Spitze  des  Westens  des  römi- 
schen Reiches  gegen  Antonius  und  Kleopatra  zu  Felde  zog. 

Endlich  am  Schlüsse  heißt  es:  Nachdem  ich  die  Bürger- 
kriege beendet  und  durch  allgemeine  Zustimmung  alle  Macht 
gewonnen  hatte,  übergab  ich  freiwillig  in  meinem  6.  und 
7,  Konsulat  die  Entscheidung  über  den  Staat  in  die  Hände 
des  Senats  und  des  römischen  Volkes.  Diese  Worte  beziehen 
sich  auf  die  Ereignisse  der  Jahre  28  und  27. 

Als  Grundlage  der  in  den  Jahren  32 — 28  ausgeübten 
Macht  bezeichnet  also  Augustus  selbst  durchaus  nicht  den 
33  erloschenen  Triumvirat,  sondern  eine  militärische  Aus- 
nahmsgewalt, die  er  während  des  Bürgerkrieges  ausgeübt 
und   dann   beibehalten   hatte;   diese  gab   er  freiwillig  den 


14  Adolf  Bauer, 

regulären  Staatsgewalten  in  den  Jahren  28  und  27  zurück 
und  erhielt  dafür  als  Gegengabe  eine  neue  Stellung  amt- 
licher Art,  den  Prinzipat,  den  er  bis  an  sein  Lebensende 
innehatte.  Über  alle  Einzelheiten  geht  der  knappe  Tat- 
sachenbericht naturgemäß  hinweg,  er  läßt  aber  das  Wesent- 
liche deutlich  erkennen:  was  in  den  Jahren  32 — 28  ge- 
schehen war,  hatte  seine  Legitimation  nur  in  dem  Notstand 
des  Staates  im  Jahre  32  und  in  der  damals  erteilten  Gut- 
heißung durch  die  Bürgerschaft.  Darin  liegt,  soweit  man 
billigerweise  erwarten  darf,  das  Zugeständnis,  daß  seiner 
Stellung  während  dieser  Zeit  die  rechtliche  Grundlage  fehlte, 
daß  sie  also  nur  durch  einen  zweiten  Staatsstreich  gewonnen 
sein  konnte. 

Alles  scheint  nach  des  Augustus  Worten  klar,  nichts 
darin  verheimlicht,  überall  sind  in  dem  Rechenschaftsbericht 
die  Grenzlinien  zwischen  verfassungsmäßigem  und  verfas- 
sungswidrigem Tun  strenge  beobachtet.  Octavianus  begann 
seine  Laufbahn  im  Jahre  44  mit  einem  ersten  Staatsstreich, 
auf  diesen  folgte  eine  Zeit  legitimer  Tätigkeit  in  verschie- 
denen Ämtern,  am  längsten  von  43 — 33  als  Triumvir,  dann 
folgte  ein  zweiter  Staatsstreich,  durch  den  er  sich  von  32 
bis  28  eine  militärische  Ausnahmsgewalt  schuf,  und  schließ- 
lich übernimmt  er  im  Jahre  27  den  Prinzipat,  ein  Amt  des 
neuen,  von  ihm  selbst  geschaffenen  römischen  Staatsrechtes. 

Jedoch  ist  dies  nicht  die  allgemeine  Ansicht.  Seitdem 
trotz  zugestandener  Bedenken  die  staatsrechtlich  systema- 
tische Betrachtungsweise  diese  Ausnahmsvorgänge  in  ihr 
Bereich  gezogen  und  deren  geschichtliche  Besonderheiten 
in  ein  juristisches  Schema  zu  zwingen  versucht  hat,  wird 
von  vielen  der  Staatsstreich  vom  Jahre  32  in  Abrede  ge- 
stellt und  der  Prinzipat  als  die  rechtlich  begründete  Fort- 
setzung des  Triumvirats  angesehen. 

Mommsen  hat  in  der  bewundernswerten  Schöpfung 
seines  römischen  Staatsrechtes  aus  den  wenigen  Fällen,  in 
denen  es  im  Verlauf  der  römischen  Geschichte  zur  Ein- 
setzung a.  0.  konstituierender  Gewalten  kam,  den  Satz  ab- 
geleitet, daß  diese  Gewalten,  gleichviel  ob  befristet  oder 
nicht,  unbegrenzt  waren  und  rechtlich  erst  dann  erloschen, 
wenn  ihre   Inhaber  freiwillig  darauf  verzichteten.    Da  von 


Der  Staatsstreich  des  Octavianus  im  Jalire  32  v.  Chr.        15 

einem  Verzicht  des  Augustus  auf  den  Triumvirat  nichts  be- 
kannt ist,  so  folgte  daraus,  daß  er  bis  zur  Übernahme  des 
Prinzipates  im  Jahre  27  im  Besitz  des  Triumvirats  blieb 
und  daß  sich  somit  seit  dem  Jahre  43  die  Monarchie  in  Rom 
durchaus  verfassungsmäßig  entwickelt  habe. 

Der  Widerspruch,  in  dem  dieses  Ergebnis  zu  den  eigenen 
Angaben  des  Augustus  steht,  wurde  damit  erklärt,  daß 
Augustus  später,  als  er  seinen  Rechenschaftsbericht  abfaßte, 
seine  Stellung  als  Prinzeps  nicht  mehr  als  eine  legitime  Fort- 
setzung des  Triumvirats  angesehen  wissen  wollte,  weil  sich 
mit  diesem  die  grauenhafte  Erinnerung  an  das  Blutbad  der 
Proskriptionen  verband.  Allein  dieser  Erklärungsversuch 
trifft  nicht  zu,  denn  Augustus  hat  sich  schon  seit  dem 
Jahre  32  nicht  mehr  Triumvir  genannt;  er  hat  also  nicht 
erst  später  den  Triumvirat  als  Ursprung^  des  Prinzipates 
verleugnet  und  einen  anderen,  revolutionären  Ursprung  fin- 
giert, sondern  schon  seit  dem  Jahre  32,  mit  dem  Ende  der 
zweiten  fünfjährigen  Frist,  den  Triumvirat  als  erloschen  be- 
trachtet. 

Wir  haben  also  zu  untersuchen,  worauf  sich  die  nn"t 
Augustus'  eigener  Darstellung  und  mit  der  zuletzt  erwähnten 
Tatsache  im  Widerspruch  stehende  staatsrechtliche  Lehre 
Mommsens  stützt. 

Die  Einzelfälle,  aus  denen  die  Theorie  von  der  unbe- 
grenzten Fortdauer  der  a.  o.  konstituierenden  Gewalt  ab- 
geleitet wird,  sind  folgende:  Zum  ersten  Male  wurde  durch 
ein  besonderes  Gesetz,  die  lex  Terentilia  vom  Jahre  451 
V.  Chr.,  die  Verfassung  vorübergehend  aufgehoben,  eine  Kom- 
mission von  10  Männern,  die  Dezemvirn,  mit  unbeschränkter 
Machtvollkommenheit  ausgestattet  und  beauftragt,  das 
Landrecht  aufzuzeichnen.  Da  sie  ihre  Aufgabe  in  einem 
Jahr  nicht  erledigen  konnte  oder  wollte,  so  setzte  sie  ihre 
Tätigkeit  noch  ein  zweites  Jahr  fort  -und  fand  ihr  Ende 
durch  Gewalt,  weil  die  Dezemvirn  des  Jahres  450  ihr  Amt 
nicht  niederlegen  wollten. 

Dieser  Fall,  auf  den  sich  Mommsens  Theorie  vornehm- 
lich stützt,  muß  aber  bei  der  Feststellung  des  Begriffes  der 
a.  0.  konstituierenden  Gewalt  ganz  ausgeschieden  werden. 
Die  Überlieferung  über  die  römische  Geschichte  des  5.  Jahr- 


16  Adolf  Bauer, 

Hunderts  ist  viel  zu  unsicher,  um  aus  ihr  verfassungsrecht- 
liche Aufschlüsse  zu  entnehmen.  Wir  wissen  nicht  einmal 
bestimmt,  ob  der  Auftrag,  den  die  Dezemvirn  erhielten, 
befristet  war  oder  nicht,  oder  ob  es  ihnen  überlassen  war, 
ihr  Amt  solange  zu  behalten,  bis  der  Zweck  erfüllt  war, 
zu  dem  sie  eingesetzt  worden  waren.  Wir  wissen  nicht,  ob 
die  ursprünglich  eingesetzten  Dezemvirn  für  das  Jahr  450 
sich  ein  zweites  Dezemvirnkolleg  rechtmäßig  als  Nachfolger 
bestellten,  und  ob  erst  dieses  sich  unrechtmäßig  die  Gewalt 
weiterhin  anmaßte,  so  daß  es  durch  eine  Revolution  zur 
Abdankung  gezwungen  werden  mußte.  Die  Darstellung  des 
Diodor  spricht  dafür,  daß  schon  die  Tätigkeit  des  ersten 
Kollegiums  auf  ein  Jahr  befristet  war,  und  dafür  sprechen 
auch  Analogien  aus  der  griechischen  Geschichte,  in  der 
solche  a.  o.  konstituierende  Gewalten  in  der  Regel  auf  ein 
Amtsjahr  befristet  sind.  Die  Stellung  der  Dezemvirn  gleicht 
überhaupt  derjenigen  Drakons  oder  Solons  viel  mehr  als 
den  a.  o.  konstituierenden  Gewalten  der  Diktatoren  und 
Triumvirn,  die  uns  im  1.  Jahrhundert  in  Rom  begegnen. 
Doch  sei  dem  wie  immer.  Dieser  mangelhaft  bezeugte  Vor- 
gang, über  den  auch  nach  Mommsens  Ansicht  nur  ein  juri- 
stisch-paradigmatischer  und  keineswegs  ein  geschichtlicher 
Bericht  bei  Livius  vorliegt,  blieb  vereinzelt.  Seine  Wieder- 
kehr wurde  fast  400  Jahre  verhindert  durch  das  Gesetz 
des  Valerius  und  Horatius,  das  die  Wiederholung  des  Teren- 
tilischen  Antrages  mit  strafloser  Tötung  des  Antragstellers 
bedrohte.  Der  Vorgang  bei  der  Einsetzung  der  Dezemvirn 
konnte  also  überhaupt  keine  rechtsbildende  Wirkung  haben 
und  er  beweist  daher  für  die  a.  o.  konstituierenden  Gewalten 
des  1.  Jahrhunderts  nichts. 

Erst  zwischen  den  sich  rasch  wiederholenden  Fällen,  da 
im  1.  Jahrhundert  a.  o.  konstituierende  Gewalten  bestellt 
wurden,  besteht  ein  Zusammenhang.  Es  sind  folgende.  Im 
Jahre  82  wurde  durch  ein  Valerisches  Gesetz  dem  Sulla 
die  a.  o.  konstituierende  Gewalt  als  Diktator  zur  Aufzeich- 
nung der  Gesetze  und  zur  Ordnung  der  Verfassung  über- 
tragen und  zwar  ohne  jede  Befristung.  Das  Erstaunen  war 
daher  allgemein,  als  er  im  Glauben,  das  Werk  getan  zu  haben, 
schon  im  Jahre  79  seine  Gewalt  freiwillig  niederlegte.    Im 


Der  Staatsstreich  des  Octavianus  im  Jahre  32  v.  Chr.        17 

Jahre  48  wurde  dem  Cäsar  eine  gleichartige  Diktatur  erst 
ohne  Befristung,  dann  als  Jahresamt  und  schließlich  auf 
Lebenszeit  übertragen,  die  er  bei  seiner  Ermordung  noch 
innehatte.  Die  Wiederkehr  solcher  Ausnahmsstellungen  eines 
einzelnen  wurde  im  Jahre  43  durch  ein  Gesetz  des  Antonius 
verpönt,  das  wie  das  Valerisch-Horatische  jeden  künftigen 
Antragsteller  außerhalb  der  Gesetze  stellte.  Dieses  Gesetz, 
das  die  Wiederkehr  solcher  Diktaturen  verhindern  sollte, 
war  aber  ebenso  wie  die  gleichartigen,  die  ihm  vorangegangen 
waren,  theoretisch  und  praktisch  gleich  erfolglos,  weil  der 
Souverän,  Senat  und  Volk,  es  ohne  weiteres  auch  jederzeit 
wieder  aufheben  konnten.  So  geschah  es,  daß  noch  im 
selben  Jahre  43  durch  die  lex  Titia  zwar  nicht  die  Diktatur, 
wohl  aber  der  Triumvirat  mit  a.  o.  konstituierender  Gewalt 
dem  Lepidus,  Antonius  und  Octavian  auf  5  Jahre  über- 
tragen wurde;  durch  ein  zweites  Gesetz  vom  September 
oder  Oktober  des  Jahres  37  wurde  er  nach  Ablauf  der  ersten 
Frist  abermals  auf  5  Jahre  erstreckt.  Diese  beiden  den 
Triumvirat  schaffenden  Gesetze  weisen  somit  ein  neues 
Merkmal  auf.  Im  Gegensatz  zu  Sullas  und  Cäsars  nicht 
befristeten  Diktaturen  soll  von  nun  an  die  a.  o.  konstituierende 
Gewalt  zeitlich  beschränkt  sein.  Darin  liegt  ein  Versuch, 
anders  als  bisher  durch  fruchtlose  Prohibitivgesetze  der 
Ausnahmsgewalt  Zügel  anzulegen  und  die  Gefahr  ihrer  be- 
liebigen Erstreckung  zu  bannen.  Zu  dieser  Konzession  fan- 
den sich  die  Triumvirn  bereit;  sie  wollten,  gewiß  in  erster 
Linie  Octavian,  dadurch  den  Verdacht  beseitigen,  als  strebten 
sie  nach  einer  dauernden  Machtstellung  wie  Cäsar.  Diese 
Fristen  haben  daher  selbstverständlich  rechtliche  Verbind- 
lichkeit. Der  Souverän  im  Staate  kann  zwar  sich  selbst 
nicht  für  alle  Zukunft  durch  Prohibitivgesetze  in  seinen 
Entschließungen  binden,  wohl  aber  kann  er  seinen  Man- 
dataren, auch  wenn  er  ihnen  die  a.  o.  konstituierende  Ge- 
walt überträgt,  eine  rechtskräftige  Frist  setzen.  Somit  ist 
es  unrichtig,  daß  im  römischen  Staatsrecht  die  a.  o.  konsti- 
tuierende Gewalt  grundsätzlich  erst  durch  den  Tod  oder 
den  freiwilligen  Verzicht  ihrer  Inhaber  ein  Ende  fand. 

Auf  die  nicht  befristeten  Diktaturen  folgen  vielmehr  die 
befristeten   Triumvirate.    Den    Dezemvirn   und    Sulla  wird 

Historische  Zeltschrift  (117.  Bd.)  ?,  Folge  21.  Bd.  2 


18  Adolf  Bauer, 

auch  der  Sonderauftrag  erteilt,  Gesetze  zu  geben,  der  dann 
bei  Cäsar  und  den  Triumvirn  entfällt;  bei  diesen  ist  viel- 
mehr die  a.  o.  konstituierende  Gewalt  nur  eine  äußere  Form, 
in  der  eine  faktisch  uneingeschränkte  Macht  anerkannt  wird. 
All  dies  ergibt  das  Bild  einer  geschichtlichen  Entwicklung 
und  die  Mannigfaltigkeit,  die  darin  zutage  tritt,  lehrt,  daß 
in  Rom  keineswegs  durch  alle  Zeiten  hindurch  ein  starrer, 
festumschriebener  Rechtsbegriff  der  a.  o.  konstituierenden 
Gewalt  gegolten  hat,  den  wir  als  Norm  zu  rekonstruieren 
und  in  den  Ereignissen  wirksam  anzuerkennen  hätten. 

Was  Octavian  seit  dem  1.  Jänner  32  getan  hat,  ge- 
schah also  nicht  zum  Schutze  seiner  automatisch  fortlaufen- 
den und  daher  legitimen  Machtstellung  als  Triumvir,  son- 
dern war  Gewalt,  der  die  gesetzliche  Grundlage  fehlte. 

Die  grundsätzliche  Anschauung  Mommsens  über  das 
Wesen  der  a.  o.  konstituierenden  Gewalt  blieb  bisher  fast 
vollständig  unangefochten.  Nur  gegen  seine  Beurteilung  der 
Vorgänge  im  Jahre  32  erhob  J.  Kromayer  im  Jahre  1888 
Einspruch  und  suchte  aus  ihnen  zu  beweisen,  daß  Octavian, 
damals  von  auswärts  nach  Rom  zurückkehrend,  einen 
Staatsstreich  begangen  habe,  als  er  infolge  der  Überschrei- 
tung des  Pomöriums  den  Senat  amtslos  zusammenberief 
und  während  der  Verhandlung  mit  Soldaten  umstellte.  Je- 
doch war  seine  Darstellung  dieser  Ereignisse  nicht  ganz 
richtig,  und  seine  Ansicht  fand  durchaus  nicht  allgemeinen 
Beifall.  Jüngst  kehrte  W.  Kolbe  im  Hermes  1914  nicht 
nur  ganz  zu  Mommsens  Theorie  zurück,  sondern  er  suchte 
auch,  und  zwar  gerade  aus  den  Ereignissen  zu  Anfang  des 
Jahres  32,  deren  Verlauf  er  mehrfach  erst  richtig  stellte, 
eine  neue  Bestätigung  für  Mommsens  Theorie  zu  gewinnen. 

Wir  haben  also  zu  untersuchen,  was  denn  diese  Er- 
eignisse eigentlich  lehren  und  ob  sie  so  zu  deuten  sind,  wie 
Kolbe  annimmt.  Dazu  müssen  wir  bis  auf  die  Anfänge  des 
Triumvirates  zurückgreifen. 

Das  private  Abkommen,  das  Lepidus,  Antonius  und 
Octavianus  auf  einer  Insel  bei  Bologna  über  die  Teilung 
ihrer  Herrschaft  im  römischen  Reiche  abgeschlossen  hatten, 
wurde  am  27.  Nov.  43  durch  das  Gesetz  des  Volkstribunen 
Titius  genehmigt  und  den  dreien  die  a.  o.  konstituierende 


Der  Staatsstreich  des  Octavianus  im  Jahre  32  v.  Chr.        19 

Gewalt  auf  5  Jahre  und  zwar,  wie  die  Schriftsteller  bezeugen 
und  eine  Inschrift  bestätigt,  ausdrücklich  bis  zum  1.  Jänner 
37  übertragen.  Als  dieser  Termin  herankam,  war  Lepidus 
in  den  Hintergrund  gedrängt,  Antonius  und  Octavian  waren 
verfeindet.  Da  aber  der  Krieg  gegen  Sextus  Pompeius  be- 
vorstand, blieben  beide  vorläufig  an  der  Spitze  ihrer  Ar- 
meen und  amtierten,  nach  der  auch  bei  anderen  Ämtern  in 
Rom  herrschenden  Gepflogenheit,  als  einstweilige  Stellver- 
treter bis  zu  einer  künftigen  neuen  Ordnung  der  Verhält- 
nisse weiter.  Im  September  oder  Oktober  des  Jahres  37 
kam  es  in  Tarent  zur  Verständigung  zwischen  Antonius  und 
Octavian  und  sie  beschlossen,  den  Triumvirat  weiterzubehal- 
ten, ließen  sich  durch  ein  der  lex  Titia  entsprechendes  Ge- 
setz diesen  abermals  auf  5  Jahre  übertragen  und  Octavian 
nennt  sich  seither  Triumvir  zum  zweiten  Male.  Der  Wort- 
laut dieses  Gesetzes  ist  uns  zwar  nicht  bekannt,  aber  so- 
wohl die  Titulatur,  die  durch  die  Ziffer  II  ausspricht,  daß 
der  erste  Triumvirat  mit  dem  Endtermin  der  lex  Titia  er- 
loschen war,  als  auch  die  Angabe  des  Augustus  in  seinem 
Rechenschaftsbericht,  daß  er  ununterbrochen  10  Jahre  lang 
Triumvir  gewesen  sei,  machen  es  zweifellos,  daß  dieses  Ge- 
setz mit  rückwirkender  Kraft  für  die  Zeit  vom  1.  Jänner  37 
an  erlassen  worden  war.  Die  zweite  Frist  für  den  Trium- 
virat lief  also  vom  1.  Jänner  37  bis  1.  Jänner  32.  Dasselbe 
beweist  das  offizielle,  inschriftlich  erhaltene  Verzeichnis  der 
Konsuln,  in  dem  der  Beginn  der  zweiten  Frist  für  den  Trium- 
virat zum  1.  Jänner  37  verzeichnet  steht. 

Wenn  also  Octavian  so  großen  Wert  darauf  legte,  daß 
die  Lücke,  die  zwischen  der  ersten  und  zweiten  Bekleidung 
des  Triumvirates  tatsächlich  bestand,  durch  eine  nachträg- 
liche Bestimmung  beseitigt  wurde,  wenn  er  in  den  Kon- 
sularfasten  eine  entsprechende  Einfragung  machen  ließ, 
wenn  er  sich  ferner  seit  dem  1.  Jänner  32  nicht  mehr  Trium- 
vir nennt  und  endlich  in  seinem  Rechenschaftsbericht  die 
ununterbrochene  zehnjährige  Dauer  des  Triumvirats  beson- 
ders betont,  so  folgt  daraus,  daß  er  diese  Termine  für  ver- 
bindlich erachtete;  Augustus  hat  also  davon  nichts  gewußt, 
daß  der  Triumvirat  rechtlich  solange  fortbestanden  hätte» 
bis  er  freiwillig  darauf  verzichtete. 

2* 


20  Adolf  Bauer, 

Damit  sind  die  Gesichtspunkte  festgestellt,  nach  denen 
die  Ereignisse  zu  Anfang  des  Jahres  32  zu  beurteilen  sind. 
Die  beiden  am  1.  Jänner  dieses  Jahres  das  Amt  antretenden 
Konsuln  gehörten  zur  Partei  des  Antonius;  schon  bei  ihrer 
Wahl  müssen  also  die  Gegner  des  Octavianus  darauf  gerech- 
net haben,  daß  mit  jenem  Datum  ein  Wandel  in  den  poli- 
tischen Verhältnissen  eintreten  werde.  In  der  Tat  greifen 
sie  auch,  weil  ihnen  Octavian  nicht  mehr  als  Triumvir  über- 
geordnet war,  sogleich  nachdrücklich  in  den  Gang  der  Staats- 
geschäfte ein,  die  alten  verfassungsmäßigen  Zustände  be- 
ginnen wieder  aufzuleben.  Octavian,  der  bisher  ganz  frei 
geschaltet  hatte,  muß  jetzt  mit  den  Konsuln  über  ein  Schrei- 
ben verhandeln,  das  kürzlich  von  Antonius  aus  dem  Orient 
eingetroffen  war.  Darüber,  was  mit  diesem  Schreiben  ge- 
schehen solle,  kommt  es  zwischen  den  Konsuln  und  ihm  zu 
einem  Kompromiß:  Octavian  verzichtete  trotz  seines  leb- 
haften Wunsches  darauf,  daß  die  darin  enthaltenen,  Anto- 
nius kompromittierenden  Schenkungen  an  Kleopatra  im 
Senat  verlesen  werden,  die  Konsuln  verzichteten  darauf, 
daß  die  für  Antonius  rühmlichen  Erfolge  im  Partherkrieg 
dem  Senat  zur  Kenntnis  gebracht  wurden.  So  wurde  ver- 
einbart, überhaupt  aus  diesem  Briefe  nur  das  eine  mit- 
zuteilen, daß  Antonius  angeboten  habe,  vom  Triumvirat 
zurückzutreten.  Damit  wollte  er  zwar  nur  dem  Octavian 
die  Möglichkeit  abschneiden,  sich  für  seine  Person  den 
Triumvirat  noch  ein  drittesmal  übertragen  zu  lassen,  aber 
durch  dieses  Angebot  anerkannte  Antonius  doch  auch  seiner- 
seits, daß  er  den  1.  Jänner  32  als  eine  Verfallsfrist  für  den 
Triumvirat  ansah.  Noch  mehr:  kurz  vor  der  zweiten  Sitzung 
des  Senates,  die  am  1.  Februar  32  stattfand,  verließ  Octa- 
vian Rom  überhaupt  und  überließ  damit  den  Konsuln  das 
Feld  vollständig. 

Er  blieb  eine  Weile  abwesend,  faßte  aber  dann  den 
Entschluß,  den  Kampf  gegen  Antonius  und  seinen  Anhang 
aufzunehmen,  kehrte  nach  Rom  zurück  und  berief  den 
Senat.  Gewohnt,  demjenigen  Gehorsam  zu  leisten,  der 
10  Jahre  lang  in  der  Stadt  unumschränkt  befohlen  hatte, 
versammelte  sich  der  Senat.  Die  Frage,  mit  welchem  Recht 
Octavian   ihn   berief,   wurde   entweder   gar   nicht   gestellt, 


Der  Staatsstreich  des  Octavianus  im  Jahre  32  v.  Chr.        21 

oder  wenn  sie  erwogen  wurde,  blieb  dies  erfolglos,  denn  man 
Wußte,  daß  Octavian  zur  Gewaltanwendung  entschlossen  sei. 
Octavian  erschien  in  der  Tat  in  der  Sitzung,  von  seinen 
Freunden  begleitet,  die  versteckte  Dolche  trugen,  der  Ver- 
sammlungsraum war  von  seinen  Soldaten  umstellt.  Unter 
solchem  Druck  nahm  er  zwischen  den  beiden  Konsuln  auf 
einem  kurulischen  Stuhle  seinen  Platz  ein  und  erhob  nun 
offen  Anklagen  gegen  Antonius,  worauf  die  Konsuln  nichts 
zu  erwidern  wagten.  Dann  vertagte  er  die  Sitzung  mit 
dem  Versprechen,  das  nächstemal  die  schriftlichen  Beweise 
für  seine  Anklagen  vorzulegen. 

Darauf  hin  verließen  die  Konsuln,  begleitet  von  gleich- 
gesinnten  Senatoren  die  Hauptstadt  und  begaben  sich  zu 
Antonius  nach  Ephesos;  das  Schreiben  des  Antonius,  in  dem 
er  um  die  Genehmigung  seiner  Schenkungen  an  Kleopatra 
gebeten  hatte,  nahmen  sie  mit.  So  war  Octavian  des  schrift- 
lichen Beweises  beraubt,  den  er  dem  Senat  zu  geben  ver- 
sprochen hatte.  Seine  Lage  war  sehr  übel,  er  war  nicht 
mehr  Triumvir,  hatte  auch  sonst  kein  Amt,  und  das  Be- 
weismaterial gegen  Antonius  war  ihm  entrissen. 

Er  fuhr  zunächst  fort,  die  Regierungsgeschäfte  in  Rom 
zu  führen  und  gegen  Antonius  Stimmung  zu  machen, 
brauchte  aber  noch  Zeit  bis  in  den  Juni,  ehe  er  ans  Ziel 
kam.  Damals  trafen  bei  ihm  zwei  Überläufer  aus  dem 
Lager  des  Gegners  ein.  Sie  hatten  seinerzeit  als  Zeugen 
das  Testament  des  Antonius  unterfertigt  und  berichteten 
ihm  nun,  daß  auch  diese  bei  den  Vestalinnen  in  Rom  hinter- 
legte Urkunde  die  Schenkungen  an  Kleopatra  und  ihre 
Kinder  enthalte.  Nun  hatte  Octavian  gewonnenes  Spiel. 
Die  Vestalinnen  verweigerten  zwar  die  Herausgabe  des 
Testaments,  aber  Octavian  ließ  es  mft  Gewalt  herbeischaffen 
und  im  Senat  verlesen.  Daraufhin  wurde  Antonius  des  ihm 
in  Aussicht  gestellten  Konsulates  für  verlustig  und  an  Kleo- 
patra der  Krieg  erklärt.  Nach  einer  starken  Agitation  in 
Rom,  Italien  und  den  Provinzen  leistete  nun  der  ganze 
Westen  des  römischen  Reiches  dem  Octavian  den  militäri- 
schen Treueid,  durch  den  sich  alle  Bürger  in  dem  bevor- 
stehenden Krieg  zum  Gehorsam  verpflichteten  und  in  die 
Armee  eintraten. 


22  Adolf  Bauer, 

Für  all  dies,  was  Octavian  seit  dem  1.  Jänner  32  getan 
hat,  fehlt  jede  verfassungsmäßige  Grundlage.  Ohne  bru- 
tale Anwendung  militärischer  Gewalt,  aber  durch  ihren 
maßvollen  Druck  und  getreu  seinem  Wahlspruch  „Eile  mit 
Weile",  hatte  Octavian  in  zielbewußter  politischer  Arbeit 
seine  Absicht  dennoch  vollständig  erreicht.  Er  hatte  die 
nationalrömischen  Instinkte  des  lateinischen  Westens  des 
Reiches  gegen  die  griechische  Osthälfte  und  deren  pflicht- 
vergessenen Herrscher  und  dessen  buhlerisches  Weib  zu  heller 
Kriegsbegeisterung  entflammt.  Dieser  Staatsstreich  trägt 
die  Charakterzüge  seines  kühl  berechnenden,  aber  staats- 
männisch einzig  begabten  Urhebers.  Was  Octavian  in  der 
schwierigen  Lage  des  Jahres  32  geleistet  hatte,  war  ein 
Meisterstück,  auf  das  er  zeitlebens  stolz  war  und  stolz  sein 
durfte;  die  Zustimmung  aller,  die  er  in  seinem  Rechen- 
schaftsbericht als  einzige  Rechtfertigung  geltend  macht, 
war  redlich  verdient;  daß  sie  einem  Staatsstreich  galt, 
suchte  er  daher  auch  gar  nicht  zu  verschleiern. 

Weder  Mommsens  staatsrechtliche  Theorie,  noch  die 
Ereignisse  des  Jahres  32  beweisen  also,  was  viele  annehmen, 
daß  der  Prinzipat  des  Augustus  sich  auf  gesetzlichem  Wege 
aus  der  Republik  entwickelt  hat;  er  beruht  vielmehr  auf 
zweimaliger  gesetzwidriger  Gewaltanwendung:  im  Jahre  44 
durch  Werbung  einer  Armee,  im  Jahre  32  durch  Usurpation 
einer  erloschenen  amtlichen  Gewalt. 

Mit  diesem  Ergebnis  stimmen  alle  erhaltenen  Nach- 
richten. Eine  Ausnahme  macht  nur  eine  beiläufige  Bemer- 
kung bei  Appian  (Illyr.  28).  Sie  enthält  eine  selbständige 
Berechnung  der  Zeitdauer  des  zweiten  Triumvirats,  nach 
der  es  den  Anschein  hat,  als  ob  diese  zweite  Frist  sich 
nicht  bis  zum  1.  Jänner  32,  sondern  bis  zum  selben  Datum 
des  Jahres  31  erstreckt  hätte.  Allein  Appian  ist,  wo  er 
auf  eigenen  Füßen  steht,  unzuverlässig,  sein  Werk  ist  voll 
von  ähnlichen  Versehen  und  Fehlern.  Mit  dieser  Bemerkung 
widerspricht  er  sich  selbst;  denn  an  einer  anderen  Stelle 
(b.  c.  V,  95)  gibt  auch  er  unter  den  Abmachungen  von  Ta- 
rent  wie  alle  anderen  Geschichtschreiber  an,  daß  damals  ein 
zweiter  fünfjähriger  Zeitraum  für  den  Triumvirat  ausgemacht 
worden  sei.    Unvereinbar  sind  ferner  mit  diesem  Ergebnis 


Der  Staatsstreich  des  Octavianus  im  Jahre  32  v.  Chr.        23 

die  Angaben  einer  Triester  Inschrift,  auf  der  Octavian  noch 
nach  dem  1.  Jänner  32  als  Triumvir  zum  zweiten  Male  be- 
zeichnet wird,  und  die  schlecht  abgeschriebene  und  sinnlose 
Titulatur  des  Augustus  auf  einem  Berliner  Papyrus,  aus  der 
man,  ehe  der  Schreibfehler  festgestellt  war,  ebenfalls  den 
Fortgebrauch  des  Triumvirtitels  nach  dem  1.  Jänner  32  fol- 
gern wollte.  Wie  hier  ein  irreführender  Schreibfehler,  so 
liegt  auch  in  der  Triester  Inschrift  ein  Fehler  vor,  sei  es 
dessen,  der  den  Text  konzipierte,  sei  es  erst  des  Steinmet- 
zen, der  ihn  aufzeichnete.  Solche  Mißgriffe  untergeordneter 
Beamten  und  Handwerker  kommen  aber  gegenüber  den 
Zeugnissen  nicht  in  Betracht,  die  Augustus  selbst,  die  Ge- 
schichtschreiber und  die  Ereignisse  an  sich  ablegen. 

Befreiung  des  Staates  von  der  Gewaltherrschaft  einer 
Partei  und  Berufung  auf  den  suffrage  universel  sind  Phrasen, 
die  wir  am  häufigsten  aus  dem  Munde  von  Usurpatoren  zur 
Rechtfertigung  einer  selbstsüchtigen  Politik  vernehmen.  Sie 
sind  dadurch  in  Mißkredit  gekommen.  Augustus  aber  durfte 
sie  mit  Fug  gebrauchen.  Er  hatte  sich  zwar  in  den  Jahren 
44  und  32  über  das  formale  Recht  hinausgesetzt,  aber  mit 
Einsatz  seines  Vermögens  und  seiner  Person  den  morschen 
und  überlebten  Bau  der  römischen  Verfassung  durch  eine 
meisterliche  Schöpfung  erneut.  Sie  ermöglichte  dem  römi- 
schen Reich  den  Fortbestand  auf  Jahrhunderte  hinaus. 
Augustus  ist  durch  den  Staatsstreich  zum  Wohltäter  der 
Menschheit  geworden. i) 

^)  Die  Abhandlung  von  O.  Th.  Schulz:  Das  Wesen  des  römischen 
Kaisertums,  Paderborn  1916  (Stud.  zur  Gesch.  u.  Kult  des  Altert.  8, 
Heft  2)  habe  ich  erst  später  kennen  gelernt.  Sie  stimmt  in  zwei 
wesentlichen  Punkten  mit  meinen  Darlegungen  überein:  I.  darin  daß 
die  Theorie  Mommsens  von  der  Rechtsunverbindlichkeit  der  Befristung 
der  a.  o.  konstituierenden  Gewalt  unrichtig  sei,  und  2.  in  der  daraus 
sich  ergebenden,  im  Anschluß  an  J.  Kromayer  gezogenen  Folgerung, 
daß  der  Triumvirat  am  31.  Dezember  33  erloschen  war. 

Auf  die  Theorie  Mommsens  und  auf  die  Einzelheiten  der  Vor- 
gänge des  Jahres  32  ist  der  Verfasser  jedoch  nicht  näher  eingegangen, 
der  auch  den  Aufsatz  W.  Kolbes  unberücksichtigt  gelassen  hat. 
Seine  Polemik  gegen  Mommsens  Staatsrecht  betrifft  im  übrigen  die 
Stellung  des  Augustus  seit  dem  Jahre  27. 


Prankreidi  und  Ägypten 
von  Leibnit2  bis  auf  Napoleon. 


Von 

S.  Hellmann. 


Die  Geschichte  und  die  Vorgeschichte  von  Napoleons 
Zug  nach  Ägypten  ist  oft  und  eingehend  behandelt  worden. 
Aber  die  Geschichte  der  Idee  selbst,  Ägypten  zu  einer  fran- 
zösischen Provinz  zu  machen,  steht  noch  aus.  Eigentlich 
nur  mit  Leibnitz'  Consilium  Aegyptiacum  hat  sich  die  For- 
schung eingehender  beschäftigt,  die  mannigfachen  Vor- 
schläge, die  nach  ihm  auftauchen,  und  die  Ansätze  zu  ihrer 
Durchführung  dagegen  oft  kaum  beachtet.^)  Auch  die  fol- 
genden Blätter  erheben  nicht  den  Anspruch,  die  Lücke  aus- 
zufüllen und  eine  zusammenhängende  Darstellung  zu  geben; 
ihr  Zweck  ist  erfüllt,  wenn  es  ihnen  gelingt,  das  an  man- 
cherlei Orten  zerstreute  Material  zusammenzusuchen  und  für 
spätere  Untersuchungen  bereitzustellen. 

Es  war  unter  dem  Einfluß  der  Pläne  des  Kurfürsten 
Johann  Philipp  von  Mainz,  der  Deutschland  zu  einer  Föde- 
ration zusammenfassen  wollte,  daß  in  Leibnitz  der  Gedanke 
auftauchte^),  die  französischen  Offensivabsichten,  denen  die 

1)  Kurze  Zusammenstellungen  bei  Jonquiere,  L'expedition  d' ^gypte 
I,  146  ff.,  A,  Fournier,  Napoleon  I.,  I,  139  Anm.,  in  der  Cambridge 
Modern  history  VIII,  595  (H.  G.  Rose). 

2)  Vgl.  O.  Klopp,  Die  Werke  von  Leibniz  II,  S.  XXII  ff.;  E. 
Pfleiderer,  Gottfried  Wilhelm  Leibniz  als  Patriot,  Staatsmann  und 
Bildungsträger  85  ff. ;  B.  Erdmannsdörffer,  Deutsche  Geschichte  vom 
Westf.  Frieden  bis  zum  Regierungsantritt  Friedrichs  des  Großen  1, 559ff. 


Frankreich  und  Ägypten  von  Leibnitz  bis  auf  Napoleon.      25 

Verwirklichung  der  Idee  des  Kurfürsten,  einen  Damm  ent- 
gegensetzen mußte,  auf  Ägypten  abzulenken.  Zum  ersten 
Male  gewann  er  greifbare  Gestalt  in  den  1670  entworfenen 
,,Bedencken  von  der  Securität  des  deutschen  Reiches".  Das 
Jahr  darauf,  als  immer  deutlicher  wurde,  daß  Ludwig  XIV. 
sich  mit  einem  Angriff  auf  Holland  trage,  erwuchs  die  dort 
mehr  gelegentlich  hingeworfene  Anregung  zu  einer  eigenen 
Schrift,  dem  sog.  Consilium  Aegyptiacum.  Ausführlich  setzte 
Leibnitz  auseinander,  welche  politischen,  militärischen  und 
wirtschaftlichen  Vorteile  Frankreich  von  einer  Besetzung 
Ägyptens  zu  erwarten  hätte.  •  Johann  Philipp  und  Leibnitz' 
politischer  Freund  und  Mentor,  Johann  Christian  Boyne- 
burg,  wurden  für  seine  Anschauungen  gewonnen.  Einen 
Augenblick  wandte  ihnen  auch  die  französische  Politik  ihre 
Aufmerksamkeit  zu.  Wenn  es  geschah,  so  freilich  nur,  weil 
das  seit  Franz  I.  bestehende  gute  Einvernehmen  mit  der 
Pforte  schon  seit  Jahren  unterbrochen  war.  1664  hatten 
in  der  Schlacht  bei  St.  Gotthard  französische  Hilfskräfte 
im  kaiserlichen  Heere  gegen  die  Türken  gefochten,  und  eben 
in  der  Zeit,  in  der  Leibnitz'  Plan  heranreifte,  lag  der  fran- 
zösische Gesandte  in  Konstantinopel  in  ernstlichen  Diffe- 
renzen mit  der  türkischen  Regierung.  So  forderte  das  fran- 
zösische Kabinett  Leibnitz  auf,  nach  Frankreich  zu  kom- 
men. Im  März  1672  reiste  er  nach  Paris  ab  und  unter- 
breitete den  Ministern  seine  Denkschrift.  Der  Kurfürst  von 
Mainz  unterstützte  seinen  Schützling;  im  Juni  1672  brachte 
er  seinerseits  den  Gedanken  einer  Besetzung  Ägyptens  durch 
die  Franzosen  vor  das  Kabinett  Ludwigs  XIV.  Aber  es 
geschah  zu  spät.  Der  holländische  Feldzug  hatte  begonnen; 
Johann  Philipp  mußte,  seine  Besprechungen  im  Lager  ab- 
halten: eben  die  Unternehmung,  die  man  auf  Ägypten  ab- 
leiten wollte,  war  ins  Rollen  gekommen  und  ließ  sich  nicht 
mehr  zurücklenken.  Wenn  Leibnitz  in  seinen  „Bedencken" 
Frankreich  den  Beruf  zugeschrieben  hatte,  ,,ein  führer  der 
Christlichen  waffen  in  die  levante  zu  seyn  und  Godefridos, 
Balduinos,  vor  allen  Dingen  aber  Ludovicos  Sandos  der 
Christenheit  zu  geben"  ^),  so  antwortete  Pomponne  nüchtern, 


0  Werke  (Ausg.  von  O.  Klopp)  I,  247  f. 


26  S.  Hellmann, 

die  Zeiten  Ludwigs  des  Heiligen  und  Phiilipps  des  Schönen 
seien  vorüber.  Vollends  war  jeder  Gedanke  an  die  Aus- 
führung der  Vorschläge  des  deutschen  Publizisten  und  Philo- 
sophen abgetan,  als  am  3.  Juni  1673  ein  neues  Abkommen 
zwischen  Frankreich  und  der  Pforte  zustande  kam. 

Der  Mißerfolg,  den  Leibnitz  erlitten  hatte,  war  für  ihn 
nicht  der  Anlaß,  seinen  Gedanken  aufzugeben;  wiederholt, 
zuletzt  noch  1703,  hat  er  in  den  großen  europäischen  Krisen 
der  nächsten  Jahrzehnte  von  Frankreich  und  Ägypten  ge- 
sprochen. Irgendeinen  Erfolg  hat  er  nicht  erzielt.  Seine 
Anregung  war  dem  Wunsche  entsprungen,  den  Ehrgeiz  einer 
europäischen  Macht  von  ihrem  augenblicklichen  Angriffs- 
objekt auf  ein  anderes  Ziel  abzulenken,  und  ebenso  war  es 
eine  Frage  der  aktuellen  Politik  gewesen,  Differenzen  mit 
der  Pforte,  welche  die  französische  Regierung  veranlaßten, 
einen  Augenblick  darauf  einzugehen.  Aber  der  Ursprung 
dieses  Gedankens  lag  nicht  an  der  Oberfläche  der  Gegen- 
sätze, welche  die  europäischen  Staaten  im  Zeitalter  Lud- 
wigs XIV.  trennten,  sondern  wurzelte  tiefer,  in  einem  Ideen- 
komplex, der  älter  war  und  die  europäische  Menschheit  länger 
und  stärker  gefangen  gehalten  hat  als  sie.  Leibnitz  zitiert 
in  seinem  Consilium  Aegyptiacum  wiederholt  ein  Fragment 
des  großen  englischen  Denkers  und  Staatsmannes  Francis 
Bacon,  De  hello  sacro^):  es  ist  zuletzt  die  Vorstellung  von 
einer  Solidarität  der  christlichen  Staaten  gegenüber  dem 
Islam,  aus  welcher  Leibnitz'  Vorschlag  hervorging,  ein  Ge- 
danke, der  den  Kreuzzügen  zugrunde  lag  und  entsprang. 
Er  hatte  sie  überdauert  und  war  ein  Ideal  der  abendländi- 
schen Menschheit  geblieben,  trotz  der  Entschlossenheit,  mit 
welcher  sich  die  französische  Politik  seit  Franz  I.  von  ihm 
abgekehrt  hatte. 

Der  Kreuzzugsgedanke  hatte  in  Frankreich  zum  letzten 
Male  die  Form  eines  politischen  Programms  erhalten,  als 
Moritz  von  Sully  in  seinen  Memoiren  von  dem  „großen 
Projekt"  Heinrichs  IV.  sprach,  einen  dauernden  Staaten- 
bund unter  französischer  Führung  in  Europa  zu  schaffen, 
zu  dessen  Aufgaben  nicht  nur  die  Aufrechterhaltung  des 


1)  Werke  II,  212,  414. 


Frankreich  und  Ägypten  von  Leibnitz  bis  auf  Napoleon.     27 

Friedens,  sondern  auch  die  Vertreibung  der  Türken  aus 
Europa  gehören  sollte.  Wir  wissen  heute,  daß  es  sich  bei 
diesem  angeblichen  Plane  Heinrichs  IV.  um  eine  Fälschung 
Sullys  handelt,  daß  der  König  nie  derartige  Absichten  ge- 
hegt hat.i)  Aber  Sullys  Zeitgenossen  und  den  nächsten 
Jahrhunderten  galten  seine  Worte  als  Wahrheit  und  der 
angebliche  Plan  als  eine  Realität.  Sullys  Werke  gewannen 
namentlich  im  18.  Jahrhundert  steigendes  Ansehen  in 
Frankreich.  Vor  allem  wirkte  der  ,, große  Plan"  auf  den 
Abbe  von  Saint-Pierre,  den  Vater  der  modernen  Friedens- 
bewegung, und  hauptsächlich  wohl  durch  seine  Vermittlung 
trieb  er  abermals  Blüten  bei  einem  französischen  Staats- 
manne  der  Zeit  Ludwigs  XV.  1738  arbeitete  Rene- Louis 
d'Argenson  ein  politisches  Programm  aus,  das  die  Zertrüm- 
merung des  türkischen  Reiches  durch  die  vereinigten  christ- 
lichen Mächte  und  die  Errichtung  neuer  Staaten  unter 
europäischen  Fürsten  in  den  damals  türkischen  Provinzen 
und  so  auch  in  Ägypten  verlangte.^)  Sehr  stark  wurden 
dabei  die  wirtschaftlichen  Fragen  betont;  d'Argenson  träumte 
auch  von  einer  Durchstechung  der  Landenge  von  Suez, 
einem  Gedanken,  der  eigentlich  seit  dem  Altertum  nie  ganz 
verloren  gegangen  war  und  auch  in  Leibnitz'  Gutachten  eine 
Rolle  gespielt  hatte.  Allerdings  sprach  d'Argenson  nicht 
geradezu  von  einer  Besetzung  Ägyptens  durch  Frankreich; 
er  ließ  vielmehr  die  Frage  offen,  an  welche  europäische 
Dynastien  die  einzelnen  türkischen  Provinzen  kommen 
sollten;  immerhin  ließe  sich  denken,  daß  die  Ausführung 
seiner  Gedanken  doch  wohl  dazu  geführ-t  hätte.  Indessen, 
wie  Leibnitz  und  der  Kardinal  Fleury  die  Ideen  Saint-Pierres 
nicht  ganz  ernst  nahmen^),  so  verfuhr  auch  d'Argenson  mit 
seinen  eigenen.  Der  „secretaire  d'^tat  de  la  republique  de 
Piaton",  wie  man  ihn  genannt  hat*),  war  ein  Theoretiker, 
aber  als  er   1744  die  Leitung  der  auswärtigen  Angelegen- 

^)  Vgl,  Th.  Kückelhaus,  Der  Ursprung  des  Planes  vom  ewigen 
Frieden  in  den  Memoiren  des  Herzogs  von  Sully,  Berl.  1893. 

*)  Journal  et  Mimoires  du  Marquis  d'Argenson  I,  361  ff. 

3)  Vgl.  W.  Borner,  Das  Weltstaatsprojekt  des  Abbe  de  Saint- 
Pierre  64  ff. 

*)  Biographie  universelle  XL  IV,  146. 


28  S.  Hellmann, 

heiten  übernahm,  unterließ  er  jeden  Versuch,  seine  Phanta- 
sien durchzuführen. 

Fünfundzwanzig  Jahre,  nachdem  d'Argenson  sein  Pro- 
jei<t  ausgearbeitet  hatte,  war  Frankreichs  Stellung  im  Nieder- 
gehen begriffen.  Der  Siebenjährige  Krieg  hatte  es  nicht  nur 
sein  Ansehen  als  Militärmacht  auf  dem  Kontinent,  sondern 
auch  den  größten  Teil  seiner  überseeischen  Besitzungen  ge- 
kostet. Kanada  und  die  meisten  ostindischen  Niederlassungen 
waren  an  England  gefallen,  Louisiana  hatte  zur  Entschädi- 
gung für  Abtretungen  an  Spanien  gegeben  werden  müssen, 
die  es  an  England  zu  leisten  hatte.  Der  Kolonialbesitz 
Frankreichs  bestand  nur  noch  aus  wenigen  Außenstationen, 
von  denen  bis  auf  den  heutigen  Tag  keine  zu  irgendeiner 
Bedeutung  gelangt  ist.  Seit  1761  unterstanden  die  franzö- 
sischen Kolonien  dem  Marineminister  Choiseul;  1766  über- 
nahm er  das  Auswärtige  Amt,  behielt  aber  noch  immer  die 
tatsächliche  Entscheidung  auch  in  anderen  wichtigen  Res- 
sorts. Choiseul  wollte  Frankreich  Ersatz  für  die  verloren 
gegangenen  Kolonien  schaffen;  wenn  auch  ohne  Erfolg, 
sandte  er  große  Expeditionen  nach  Guyana  und  Mada- 
gaskar, i)  Angeblich  soll  er  nun  auch  —  wenigstens  be- 
hauptet das  Talleyrand^)  —  schon  seit  1769^)  vorausgesehen 
haben,  daß  die  Engländer  ihre  amerikanischen  Kolonien  ein- 
büßen und  auch  Frankreich  dadurch  beträchtlichen  Handels- 
verlust erleiden  würde;  um  es  schadlos  zu  halten,  habe  er 
seitdem  versucht,  durch  Verhandlungen  Ägypten  zu  gewin- 
nen, i)  Es  wäre  das  erstemal  gewesen,  daß  ein  französischer 
Staatsmann  ernsthaft  daran  gedacht  hätte,  am  Nil  festen 
Fuß  zu  fassen.  Allein  von  Dokumenten,  die  von  solchen 
Verhandlungen  zeugten,  ist  nichts  bekannt  geworden.  Tal- 
leyrands  Angabe  ist  überhaupt  unglaubwürdig.  Gerade  in 
den  Jahren,  in  welchen  Choiseul  jene  Unterhandlungen  durch- 
geführt haben  müßte,  war  in  der  Türkei  in  französischem 
Auftrage  der  Baron  Franz  Tott  tätig,  der  Abkömmling  einer 
ungarischen  Emigrantenfamilie,  zuerst,  seit  1766,  als  Konsul 

1)  E,  Daubigny,  Choiseul  et  la  France  d'outre-mer  31  ff.,   130  ff. 

2)  In  dem  später  zu  erwähnenden  Vortrag  S.  299. 

3)  In  diesem  Jahr  bestritt  Virginien  dem  englischen  Parlament 
das  Besteuerungsrecht. 


Frankreich  und  Ägypten  von  Leibnitz  bis  auf  Napoleon.      29 

in  der  Krim,  dann  als  militärischer  Berater  der  Pforte,  der 
ihre  Artillerie  und  ihr  Schiffswesen  verbesserte  und  1770 
die  Dardanellen  gegen  die  Angriffe  der  russischen  Flotte 
befestigte.  1)  Ganz  wie  Deutschland  in  den  letzten  25  Jahren 
die  Türkei  gegenüber  England  und  Rußland  zu  stützen  und 
neu  zu  beleben  suchte,  so  wünschte  Frankreich  im  18.  Jahr- 
hundert ihre  Lebenskraft  zu  erhalten;  als  das  Endglied  einer 
Staatenkette,  die  von  Schweden  über  Polen  an  die  untere 
Donau  und  das  Schwarze  Meer  lief,  sollte  sie  ebenso  den 
Verbündeten  von  1756,  der  sich  jeden  Augenblick  wieder  in 
einen  Feind  verwandeln  konnte,  in  Schach  halten  wie  Ruß- 
land, dem  Frankreich  trotz  des  Siebenjährigen  Krieges  ein 
altes  Mißtrauen  bewahrte. 

Eine  fremde  Macht  war  es,  welche  zum  erstenmal  fran- 
zösische Staatsmänner  wieder  veranlaßte,  sich  über  Ägypten 
zu  äußern.  Seitdem  kaiserliche  Heere  den  Türken  von  Wien 
nach  Ungarn  und  über  die  Donau  gefolgt  waren,  schien  der 
Zerfall  der  Türkei  nicht  mehr  unmöglich  zu  sein;  ihre  Wehr- 
losigkeit  gegenüber  Prinz  Eugen  ließ  z.  B.  d'Argenson,  das 
Utopische  seiner  Pläne  nicht  empfinden.  Zugleich  aber 
schob  sich  von  Nordosten  eine  andere  Macht  immer  drohen- 
der heran;  Rußland  drängte  seit  Peter  dem  Großen  ihre 
Grenzen  zurück  und  begann  unter  Katharina,  den  Kern  des 
Reiches  zu  gefährden.  Osterreich  durfte  es  nicht  darauf  an- 
kommen lassen,  durch  Rußland  im  Norden  in  Polen  und 
zugleich  im  Süden,  vom  Balkan  her,  umfaßt  zu  werden: 
1772  war  es  nahe  daran,  für  die  Türkei  das  Schwert  zu 
ziehen.  Die  erste  Teilung  Polens  schob  dä'mals  einen  Augen- 
blick die  orientalische  Frage  beiseite;  aber  früher  oder  später 
mußte  eine  friedliche  oder  kriegerische  Auseinandersetzung 
über  den  Balkan  erfolgen.  Kam  es  dann  zu  einer  Teilung 
der  Türkei,  die  unter  den  russischen  Stößen  schwankte,  so 
war  die  Frage  nur,  wie  die  anderen  Mächte  sich  dazu  ver- 
hielten, vor  allem,  ob  Frankreich  ruhig  zusehen  würde  und 
mit  welchen  Konzessionen  sein  Stillschweigen  etwa  erkauft 
werden  sollte. 

Im  Januar  und  Februar  1771  berichtete  der  Groß- 
herzog Leopold  von  Toskana  seinem  Bruder  in  Wien  über 

^)  Vgl.  Biographie  universelle  XL  II,  6  ff. 


30  S.  Hellmann, 

Besprechungen,  die  er  mit  einem  Piemontesen  gehabt  hatte, 
dem  in  russischen  Diensten  stehenden  Chevalier  Massin,  von 
dem  man  allerdings  nicht  recht  weiß,  ob  er  ein  Projekten- 
macher war,  der  auf  eigene  Verantwortung  redete,  oder  ob 
er  im  Auftrag  seiner  Regierung  sprach.  In  diesen  Unter- 
haltungen kam  nur  die  Teilung  der  europäischen  Türkei 
zur  Sprache  und  die  Frage,  welche  Stellung  die  anderen 
Mächte  einnehmen  würden,  wurde  kaum  gestreift;  nicht 
mehr  Beachtung  fand  sie  in  einer  Anzahl  von  Teilungs- 
plänen, die  Kaunitz  auf  Grund  der  Berichte  des  Großherzogs 
ausarbeitete.  1)  Aber  sobald  es  sich  nicht  mehr  um  Ge- 
spräche handelte,  die  nur  den  Zweck  hatten,  zu  sondieren, 
sobald  die  Teilung  der  Türkei  ernsthaft  erwogen  wurde, 
war  sie  nicht  mehr  zu  umgehen.  Vor  allem  kam  es  dabei 
auf  Frankreich  an.  Denn  Kaunitz'  Mißtrauen  gegen  Preußen 
machte  das  Einvernehmen  mit  Frankreich  zum  Eckpfeiler 
der  äußeren  Politik  Österreichs;  brach  es  auseinander,  so 
war  jede  größere  Aktion  unterbunden.  Als  im  Juli  1777 
der  bisherige  Internuntius  in  Konstantinopel,  Thugut,  zu 
Unterhandlungen  in  Paris  erschien,  geschah  es  daher  in 
doppelter  Absicht;  er  sollte  Frankreich  zur  Unterstützung 
der  Türkei  ermahnen,  aber  gleichzeitig  zu  erfahren  suchen, 
welche  Absichten  man  für  den  Fall  ihres  Zusammenbruches 
hege.  Thugut  besprach  sich  darüber  mit  dem  Minister  des 
Äußern,  Vergennes,  und  mit  dessen  Nachfolger  auf  dem  Bot- 
schafterposten in  Konstantinopel,  dem  Grafen  von  Saint- 
Priest,  der  Thugut  selbst  aus  der  Zeit  seiner  dortigen  Tätig- 
keit bekannt  war.  Vergennes  äußerte  sich  jedoch,  der  Zer- 
fall der  Türkei  stehe  noch  in  weiter  Ferne;  für  Frankreich 
bedeute  er  keine  Gefahr,  da  sein  Levantehandel  dadurch 
nicht  bedroht  werde.  Zunächst  also  sei  es  Sache  Öster- 
reichs, an  Abwehr  zu  denken.  Lasse  sich  aber  der  Sturz 
des  Osmanenreiches  wirklich  nicht  mehr  verhüten,  dann 
werde  Frankreich  die  Hand  auf  Kreta,  Chios,  Cypern,  viel- 
leicht auch  auf  Ägypten  legen. 2) 


1)  Volz,    Die   Massinschen    Vorschläge,    Historische    Vierteljahr- 
schrift X  (1907)  355  ff. 

2)  A.   Beer,    Die   orientalische    Politik    Österreichs    seit    1774,. 
S.  66  f. 


Frankreich  und  Ägypten  von  Leibnitz  bis  auf  Napoleon.      31 

Es  war  das  erstemal,  daß  ein  französischer  Staatsmann 
den  Namen  Ägypten  in  den  Mund  nahm.  Aber  es  geschah 
nur  in  hypothetischer  Weise,  auf  eine  hypothetische 
Anfrage.  Liest  man  dann  vollends  die  Instruktion,  in  der 
Vergennes  im  April  des  gleichen  Jahres  den  nach  Wien  auf 
seinen  Posten  zurückkehrenden  Botschafter  Baron  de  Bre- 
teuil  ermächtigte  und  anwies,  der  dortigen  Regierung  zu 
eröffnen,  daß  Frankreich  die  Pforte  auch  mit  den  nach- 
drücklichsten Mitteln  zu  unterstützen  entschlossen  sei^),  so 
sieht  man,  was  jene  Zurückhaltung  bedeutete  und  welchen 
Gründen  sie  entsprang.  Trotzdem  erhob  sich  erneut  und 
ernstlicher  die  Frage,  ob  Frankreich  einen  beteiligten  oder 
unbeteiligten  Zuschauer  abgeben  würde,  als  nach  dem  baye- 
rischen Erbfolgekrieg  Österreich  immer  ernsthafter  sich  Ruß- 
land näherte,  Joseph  II.  ein  persönliches  Verhältnis  zu 
Katharina  gewann  und  lebhaft  auf  ihre  Absichten  einer 
Teilung  der  Türkei  einging.  In  der  Instruktion,  die  Kaunitz 
für  den  Grafen  Ludwig  Cobenzl  ausarbeitete,  als  dieser  1779 
als  Botschafter  nach  Petersburg  ging,  war  auch  von  den 
Schwierigkeiten  die  Rede,  die  sich  bei  einer  etwaigen  Tei- 
lung der  Türkei  einstellen  mußten.  Kaunitz  erwog  die  Ein- 
mischung Englands  und  anderer  Mächte,  und  ganz  beson- 
ders schien  ihm  die  Frage  des  Schicksals  Ägyptens  Schwie- 
rigkeiten zu  bergen,  da  der  Handel  und  die  Schiffahrt  auf 
dem  Roten  Meere  die  Aufmerksamkeit  der  europäischen 
Mächte  auf  sich  ziehen  würden.  2)  Die  ägyptische  Frage  be- 
schäftigte auch  Cobenzl.  In  einer  undatierten  Denkschrift, 
die  er  ausarbeitete,  sprach  er  von  einer  Ausdehnung  Öster- 
reichs bis  ans  Schwarze  Meer.  Mit  Triest  und  den  Donau- 
häfen in  der  Hand  würde  es  eine  ähnliche  Stellung  im  öst- 
lichen Mittelmeer  einnehmen,  wie  einst  Venedig;  nur  müßte 
Ägypten  einer  ruhigen  Macht  zugewiesen  werden,  wenn 
Österreich  sich  dieses  Besitzes  erfreuen  sollte:  Cobenzl  dachte 
daran,  es  dem  Malteserorden  einzuräumen. 3)  Aber  die 
ägyptische    Frage   mündete    immer   wieder   in   die   andere 


1)  Recueil  des  Instructions  donnies  aux  ambassadeurs  et  ministres^ 
de  France.    Autriche  509. 

2)  Beer  35  ff. 

3)  Beer  41. 


32  S.  Hellmann, 

größere  ein,  welche  Haltung  von  Frankreich  zu  erwarten 
und  wie  dessen  Anteil  am  türkischen  Erbe  zu  bemessen 
sei.  Durch  alle  Verhandlungen,  welche  die  beiden  Mächte 
1782  über  die  Türkei  pflogen,  zieht  sich  dieses  Problem 
durch.  Der  Staatssekretär  im  russischen  Kollegium  des  Aus- 
wärtigen, Besborodko,  glaubte  an  die  Möglichkeit  einer  fran- 
zösisch-englisch-preußischen Allianz  und  bezweifelte,  daß  es 
gelingen  werde,  Frankreich  mit  Ägypten  abzufinden.  Die 
österreichische  Politik  dagegen,  gebannt  durch  ihre  alte 
Gegnerschaft  gegen  Preußen,  hielt  den  Gedanken  einer  Be- 
teiligung Frankreichs  fest  und  deshalb  auch  für  durchführ- 
bar. Nicht  nur  suchte  Cobenzl  in  St.  Petersburg  in  dieser 
Richtung  zu  wirken^),  sondern  auch  Joseph  II.  äußerte  sich 
am  13.  November  1782  im  gleichen  Sinne  in  einem  eigen- 
händigen Briefe  an  Katharina:  Friedrich  der  Große  könne 
keine  einseitige  Vergrößerung  Österreichs  und  Rußlands  zu- 
lassen und  werde  sie  zu  vereiteln  versuchen;  daher  sei  es 
unerläßlich,  Frankreich  zu  gewinnen,  was  am  besten  ge- 
schehen könne,  wenn  man  ihm  Aussicht  auf  Ägypten  mache. 2) 
Nicht  nur  zu  der  Freundin  und  Verbündeten  äußerte  sich 
Joseph  so:  am  1.  Februar  1783  berichtet  der  französische 
Botschafter  in  Wien,  der  schon  genannte  Breteuil,  über 
eine  dreistündige  Unterredung  mit  dem  Kaiser.  Die  Be- 
ziehungen der  beiden  Kaiserreiche  zur  Türkei  waren  damals 
wegen  der  russischen  Förderungen  in  bezug  auf  die  Krim 
gespannt;  Joseph  sprach  davon,  wenn  die  Türken  ihren 
Widerstand  nicht  aufgäben,  sich  der  Moldau  und  Walachei 
zu  bemächtigen:  er  erinnerte  Breteuil  an  Ägypten,  wo 
Frankreich  sich  schadlos  halten  könne.*) 

Wir  sind  nicht  darüber  unterrichtet,  wie  die  französische 
Regierung  diese  Anregung  beantwortete.  Mindestens  äußer- 
lich hat  sie  ihre  Politik  nicht  geändert.  Nicht  lange  vor  dem 
Ausbruch  des  Russisch-Türkischen  Krieges  gingen  franzö- 
sische Offiziere  nach  der  Türkei  ab,  um  die  türkische  Armee 
zu  reorganisieren.  Noch  besitzen  wir  eine  Karikatur,  welche 
die  zierlichen,  gewandten  Franzosen  zeigt,  wie  sie,  zum  Teil 

1)  Beer  58  f. 

*)  A.  Arneth,  Joseph  11.  und  Katharina  von  Rußland  176. 

3)  Beer  68  f. 


Frankreich  und  Ägypten  von  Leibnitz  bis  auf  Napoleon.      33 

unter  Anwendung  sehr  nachdrücklicher  Mittel,  bemüht  sind, 
die  plumpen,  vierschrötigen  Türken,  deren  faltige  National- 
kleidung und  gewaltigen  Schnurrbarte  einen  lustigen  Gegen- 
satz zu  den  graziösen  Rokokouniformen  und  Zöpfen  der 
französischen  Instrukteure  bilden,  mit  den  Eigentümlich- 
keiten des  abendländischen  Exerzierreglements  vertraut  zu 
machen. 1)  Die  oberste  Leitung  der  französischen  Politik 
war  also  im  Hinblick  auf  die  Gesamtlage  Europas  nach  wie 
vor  bestrebt,  die  Türkei  zu  halten  und  rührte  nicht  an 
Ägypten.  Anders  die  französischen  Vertreter  im  Orient, 
welche  die  Interessen  ihres  Landes  dort  und  im  türkischen 
Reiche  überhaupt  wahrzunehmen  hatten.  Wie  es  häufig  ge- 
schieht, traten  für  sie  die  Erfordernisse  der  Gesamtpolitik 
zurück  hinter  den  wirklichen  oder  vermeintlichen  Vorteilen, 
welche  ihrem  Lande,  wie  sie  glaubten,  erwachsen  mußten, 
wenn  es  gegenüber  den  ihrer  Beobachtung  unterstellten 
Gebieten  eine  aktivere  Politik  einschlug.  Daher  finden  wir 
in  den  nächsten  Jahren  Anzeichen  einer  stärker  werdenden 
Tendenz,  die  Aufmerksamkeit  der  Zentralstelle  auf  die  Ge- 
biete hinzulenken,  die  ihrer  Tätigkeit  zugewiesen  waren. 
Sie  hatten  dabei  teils  wirtschaftliche,  teils  aber  auch  weiter- 
gehende politische  Ziele  im  Auge. 

An  der  Spitze  dieser  Männer  begegnet  uns  ein  Diplomat, 
den  wir  bereits  flüchtig  kennen  gelernt  haben,  der  Graf  von 
Saint-Priest,  der  seit  1769  Frankreich  in  Konstantinopel 
vertrat.  Das  Archiv  des  Ministeriums  des  Äußern  in  Paris 
bewahrt  eine  Denkschrift  von  ihm,  die  wohl  überhaupt  das 
Programm  seiner  orientalischen  Politik  enthält,  in  einen 
Satz  zusammengefaßt:  Saint-Priest  stellt  der  französischen 
Politik  die  Alternative,  entweder  die  zur  Selbsterhaltung 
unfähige  Türkei  zu  stützen  oder  sie  fallen  zu  lassen  und 
zugleich  aus  dem  Schiffbruch  die  Provinzen  zu  retten,  die 
als  günstigster  Erwerb  für  Frankreich  in  Frage  kämen; 
die  Fruchtbarkeit  des  Landes,  die  Leichtigkeit,  mit  der  es 
sich  erobern  lasse,  endlich  der  Umstand,  daß  es  den  Schlüssel 
zum  Roten  Meer  und  zum  Handelsweg  nach  Indien  be- 
sitze, rückte  Ägypten  unter  den  dabei  für  ihn  in  Frage  kom- 


^)  Vgl.  die  Nachbildung  bei  A.  Brückner,  Katharina  IL,  356. 
Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  3 


34  S.  Hellmann, 

menden  Teilen  des  osmanischen  Reiches  an  die  erste  Stelle.^) 
Und  allmählich  dringt  nun  in  die  Diskussion  über  Ägypten 
ein  neuer  Gedanke  ein,  der  wie  ein  leises  Präludieren  an  ein 
fernes,  glorreiches  Zukunftsunternehmen  anklingt.  So  oft 
bisher  von  Ägypten  die  Rede  gewesen  war,  ob  nun  der  Ge- 
danke, sich  des  Landes  zu  bemächtigen,  von  außen  an 
Frankreich  herangetragen  worden  war,  oder,  wie  bei  d'Ar- 
genson,  auf  französischem  Boden  selbst  entsproß,  immer 
war  der  Hauptnachdruck  auf  die  französischen  Handels- 
interessen gelegt  worden.  Von  altersher  ansehnlich,  müssen 
sie  durch  das  Merkantilsystem  bedeutend  gesteigert  gewesen 
sein,  und  der  Absatz  der  französischen  Produkte,  wie  ihn 
die  südfranzösischen  Städte,  Marseille  voran,  vermittelten, 
muß  sehr  namhafte  Ziffern  aufgewiesen  haben.  Aber  der 
französische  Handel  kreuzte  sich  auch  in  Ägypten  mit  seinem 
alten  Rivalen,  dem  englischen,  der  dort  über  die  Landenge 
von  Suez  den  Weg  nach  Indien  nahm.  Das  stille  Ringen 
der  Handelswelt  ging  von  Zeit  zu  Zeit  in  dem  allgemeinen 
politischen  Gegensatz  der  beiden  Staaten  auf,  wenn  diese 
in  kriegerischen  Konflikt  gerieten.  Schon  vor  Ausbruch  des 
amerikanischen  Unabhängigkeitskrieges  gab  es  Reibereien. 
Französische  Konkurrenten  benutzten  1775  die  Gelegenheit, 
um  sich  bei  indischen  Kaufleuten  einzuschiffen,  die  auf  der 
Rückreise  von  Ägypten  nach  Indien  begriffen  waren.  Eng- 
land untersagte,  der  monopolistischen  Behandlung  der  Kolo- 
nien jener  Zeit  entsprechend,  ein  derartiges  Verfahren  und 
erwirkte  1779,  noch  weitergehend,  von  der  Pforte  ein  all- 
gemeines Verbot  für  Europäer,  Suez  zu  betreten.  Den  Fran- 
zosen gelang  es,  den  Streich  zu  parieren:  sie  trafen  1785 
mit  den  wirklichen  Beherrschern  des  Landes,  denMamelucken- 
Beys,  ein  Abkommen  über  den  Suezhandel.  England  ant- 
wortete sofort  mit  der  Einsetzung  eines  Generalkonsuls.^) 
Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  diese  Rivalität  sich 
auch  in  den  Berichten  und  Vorschlägen  der  französischen 
Vertreter   im    Orient   widerspiegelt.     Französische    Schrift- 


1)  Jonquifere  a,  a.  O.  146. 

*)  Vgl.  die  später  zu  besprechende  Denkschrift  Magallons,  Revue 
d'^gypte  III  (1896)  217. 


Frankreich  und  Ägypten  von  Leibnitz  bis  auf  Napoleon.      35 

stücke,  welche  die  österreichische  Spionage  1776  auffing, 
ließen  erkennen,  daß  Saint-Priest  sich  mit  Vorschlägen  zur 
Hebung  des  Suezhandels  trug  und  zugleich  auch  sich  damit 
beschäftigte,  wie  der  englische  Handel  an  dieser  seiner  emp- 
findlichsten Stelle  getroffen  werden  könnte,  i)  Wie  weit  auch 
andere  französische  Denkschriften  sich  mit  diesem  Problem 
befaßten,  ob  auch  sie  den  Gegensatz  zu  England  erörtern 
oder  sich  auf  die  Besprechung  rein  wirtschaftlicher  Fragen 
beschränken,  wie  z.  B.  ein  Konsularbericht  aus  dem  Jahre 
17772),  ein  anderer  Bericht,  den  1778  oder  wenig  später  der 
vorhin  schon  genannte  Baron  Tott  als  Frucht  einer  Dienst- 
reise nach  der  Levante  und  Ägypten  erstattete,  endlich  ein 
dritter,  den  1781  ein  früherer  Konsul  in  Ägypten  an  den 
Marquis  de  Castries,  den  damaligen  Marineminister,  richtete^), 
ist  unbekannt,  da  die  betreffenden  Dokumente  der  Öffent- 
lichkeit nicht  vorliegen.  Aber  trotzdem  sie  gleichzeitig  ihre 
Tradition,  die  Pforte  zu  stützen  und  zu  schonen,  festhielt, 
verschloß  sich  die  französische  Regierung  den  militärischen 
und  politischen  Möglichkeiten  nicht  mehr,  welche  in  der 
geographischen  Lage  Ägyptens  beschlossen  lagen.  Kein  offi- 
zielles Dokument  unterrichtet  uns  darüber.  Aber  wir  wissen 
davon  durch  einen  Vorgang  aus  der  Welt  des  Geheimnisses, 
in  der  sich  die  Hälfte  aller  politischen  Arbeit  abspielt  und 
die  für  die  Mitwelt  oft  gar  nicht,  für  die  Nachwelt  immer 
nur  zu  einem  Teil  und  auch  dann  noch  oft  nur  durch  einen 
glücklichen  Zufall  aufgedeckt  wird.  Der  Naturforscher  Karl 
Sigisbert  Sonnini,  der  Ende  der  70er  Jahre  Tott  auf  jener 
Reise  begleitete,  traf  in  Kairo  einen  französischen  Offizier, 
der  die  geheime  Mission  hatte,  festzustellen,  ob  und  mit 
welchen  Mitteln  sich  von  Ägypten  aus  ein  Vorstoß  nach 
Indien  unternehmen  lasse,  ein  Auftrag,  dem  er  freilich,  nach 
Sonninis  Worten  zu  schließen,  in  wenig  geschickter  Weise 
nachgekommen  zu  sein  scheint.  Zum  ersten  Male  also,  wenig- 
stens soweit  unsere  jetzige  Kenntnis  reicht,  hatte  eine  eurO:- 

^)  Vgl.  Kaunitz'  Bemerkungen,   Archiv  für  österreichische  Ge- 
schichte XLVIII  (1872)  93. 

*)  Zitiert  in  dem  später  zu  erwähnenden  Konsularbericht  von 
vermutlich  1787,  Revue  d'^gypte  II  (1896)  650. 

*)  Jonquifere  a.  a.  O.  146  Anm.  2. 

3* 


36  S.  Hellmann, 

päische  Macht,  hatte  Frankreich  den  Gedanken  gefaßt, 
Ägypten  als  Sprungbrett  für  Indien  zu  benutzen.  Aber  der 
Plan  und  die  Absendung  jenes  Agenten  —  oder  dürfen  wir 
vielleicht  annehmen,  daß  ihrer  mehrere  tätig  waren?  —  hat 
greifbare  Früchte  nicht  reifen  lassen.  Nur  Denkschriften, 
wie  uns  Sonnini  sagt,  wurden  ausgearbeitet  und  abgeschickt, 
um  dann  in  den  Archiven  der  Versailler  Behörden  ihre  Ruhe- 
stätte zu  finden.  1) 

Gerade  aber  seit  den  letzten  Jahren  des  Anden  regime 
tritt  nun  immer  häufiger  der  Gedanke  einer  Besitzergreifung 
Ägyptens  in  den  Äußerungen  der  französischen  Agenten  her- 
vor. Es  war  wohl  die  Schwäche  der  Türkei  und  die  Halt- 
losigkeit des  Mameluken-Regimentes,  die  ihn  nahelegte.  Die 
letztere  fiel  sofort  europäischen  Reisenden  auf,  so  Volney, 
der  von  1783 — 87  das  Pyramidenland  besuchte  und  eine 
Reisebeschreibung  veröffentlichte,  die  seinen  Zeitgenossen 
als  klassisch  galt.^)  Daß  Frankreich  diese  Verhältnisse  be- 
nützen und  sich  Ägyptens  bemächtigen  müsse,  wird  zum 
ersten  Male,  soweit  wir  sehen,  mit  voller  Deutlichkeit  in 
einer  Denkschrift  ausgesprochen,  die  einen  ungenannten 
Konsul  zum  Verfasser  hat.  Veranlaßt  ist  sie  nicht  durch 
den  Gegensatz  zu  England,  den  wir  eben  wirksam  fanden, 
sondern  durch  die  Spannung,  die  dazu  führte,  daß  im  August 
1787  erst  Rußland,  dann  im  Februar  1788  Österreich  den 
Krieg  gegen  die  Türkei  begann.  Ihr  Verfasser  sah  den  west- 
lichen Teil  der  europäischen  Türkei  mit  Griechenland  und 
dem  Archipel  durch  Österreich  bedroht  und  hielt  es  für 
unvermeidlich,  daß  diese  Macht  sofort,  wenn  sie  dieses  Ziel 
erreichte,  ihre  Hand  nach  Ägypten  ausstrecken  würde,  dessen 
Eroberung  ihr  bei  der  Verwahrlosung  der  Befestigungen 
Alexandriens  nicht  schwer  fallen  könnte,  sobald  ihr,  was 
der  Verfasser  gleichfalls  für  wahrscheinlich  hielt,  eine  vene- 
tianische  Flotte  zur  Verfügung  stehen  würde.  Ägypten  aber 
würde  Österreich  nicht  nur  von  den  Produkten  Amerikas 
emanzipieren,  sondern  auch  ihm  selbst  die  Ausfuhr  von 
Kolonialgütern  ermöglichen,  ihm  Anteil  am  indischen  Handel 

^)  C.  S.  Sonnini,  Voyage  dans  la  Haute  et  Basse  Egypte  (Paris, 
an  VII)  11,265;  für  die  Zeitbestimmung  auch  1,237. 

«)  C.  F.  Volneys  Reise  nach  Syrien  und  Ägypten  (1788)  I,  200f. 


Frankreich  und  Ägypten  von  Leibnitz  bis  auf  Napoleon.      37 

gewähren  und  endlich  gestatten,  eine  Flotte  in  Suez  zu 
unterhalten.  Dies  aber  würde  der  letzte  Schritt  sein,  um 
Österreich  ein  ausgesprochenes  Übergewicht  über  alle  an- 
deren europäischen  Mächte  zu  verschaffen.  Es  sei  Pflicht 
Frankreichs,  dem  zuvorzukommen,  indem  es  Ägypten  be- 
setze, sobald  Österreich  und  Rußland  in  türkisches  Gebiet 
einrückten.  Der  Beleuchtung  der  Verhältnisse,  die  das  von 
ihm  angeratene  Unternehmen  ermöglichten  und  begünstigten, 
widmete  der  Beamte  weiterhin  einen  großen  Teil  seiner  Aus- 
führungen; über  die  Küstenverhältnisse,  die  Verkehrswege 
und  das  Klima  machte  er  der  französischen  Regierung  ebenso 
eingehende  und  auf  guter  Kenntnis  des  Landes  beruhende 
Mitteilungen,  wie  er  ihr  Ratschläge  in  bezug  auf  sanitäre 
Fragen  und  die  Haltung  erteilte,  welche  die  Okkupations- 
armee gegenüber  den  religiösen  Gebräuchen  der  Bevölkerung 
beobachten  müsse. 

Wir  kennen  diese  Denkschrift,  die  spätestens  im  August 
1787  abgefaßt  sein  kann,  durch  ein  Schreiben  von  Saint- 
Priest,  der  sie  an  Alancourt  sandte,  einen  Beamten  im 
Dienste  der  französischen  Gesandtschaft  in  Konstantinop£l. 
Dies  geschah  im  Jahre  1789.^) 

Die  Schwelle  der  Revolution  ist  erreicht  und  ein  paar 
Jahre  hören  wir  nun  nichts  mehr  von  Ägypten.  Allein  das 
Gespenst  des  Zusammenbruches  der  Türkei,  das  gegen  Ende 
des  Jahrhunderts  wieder  vor  französischen  Augen  auf- 
tauchte, lenkte  die  Aufmerksamkeit  abermals  auf  den  Nil. 
Der  Geniehauptmann  Lazowski,  der  von  der  französischen 
Regierung  mit  einer  Mission  im  Orient  betraut  worden  war, 
ging  in  dem  Bericht,  den  er  nach  seiner  Rückkehr  am 
4.  Januar  1798  erstattete,  auf  die  türkisch-ägyptische  Frage 
ein.  Die  Türkei  ist  nicht  mehr  zu  retten  —  aus  dieser  Über- 
zeugung heraus  fordert  er  Preisgabe  des  Einvernehmens  mit 
ihr    und,    wenn    die    Katastrophe    eintritt,    Besetzung    des 

1)  Revue  d'^gypte  II  (1896)  645  ff.  Das  Dokument  setzt  noch 
den  Friedenszustand  zwischen  Rußland  und  der  Türkei  voraus;  daraus 
ergibt  sich  der  oben  angegebene  Terminus  ad  quem.  1789,  unter  dem 
es  gewöhnlich  zitiert  wird,  ist  das  Jahr  der  Übersendung  an  d'Alan- 
court;  er  war  später  als  Militärkartograph  tätig  und  starb  1801  in 
München  (Biogr.  univ.  I,  19). 


38  S.  Hellmann, 

Archipels  und  Ägyptens  i):  wir  erinnern  uns,  wie  diese  beiden 
Gebiete  in  dem  Gutachten  von  1787  als  zusammengehörig 
einer  gemeinsamen  Bestimmung  unterliegend  erschienen. 

Wichtiger  aber  als  diese  gelegentliche  Äußerung  eines 
Offiziers  war  es,  daß  gleichzeitig  die  ägyptische  Idee  einen 
neuen  und  rührigen  Vertreter  in  einem  der  besten  Kenner 
des  Landes  fand,  in  Charles  Magallon^),  einem  Kaufmann  aus 
Marseille,  der  sich  etwa  1760  in  Ägypten  niedergelassen  hatte 
und  seit  1777  als  halboffizieller  Agent  Frankreichs  wirkte, 
zum  Teil  in  Verbindung  mit  dem  Botschafter  in  Konstan- 
tinopel. Als  die  Türkei  1786  gegen  die  Mamelucken  vor- 
ging und  die  Güter  der  Beys  konfiszierte^),  wurden  seine 
sehr  bedeutenden  Forderungen  an  diese  mit  einem  Schlage 
entwertet.  In  den  allgemeinen  Ruin  hineingerissen,  der  über 
die  französische  Kolonie  infolge  des  Zuges  des  Kapudan- 
paschas  hereinbrach,  kehrte  Magallon  1790  nach  Frank- 
reich zurück.  Er  geriet  in  Not,  aus  der  ihn  endlich  die 
Regierung  erlöste,  indem  sie  ihn  1793  zum  Generalkonsul 
in  Ägypten  machte;  dieses  Amt  versah  er  bis  zum  Jahre 
1797,  kehrte  dann  nach  Frankreich  zurück  und  starb,  fast 
achtzigjährig,  1820.  Da  er  nicht  nur  die  Schwäche  der 
ägyptischen  Zustände  kannte,  sondern  auch  die  Gefahren, 
die  sie  dem  fremden  Handel  bereiteten,  forderte  er  die  Be- 
setzung des  Landes  durch  Frankreich.  Schon  1796  muß  er 
eine  dahingehende  Denkschrift  ausgearbeitet  haben,  die  uns 
nur  aus  der  halb  ausweichenden  Antwort  bekannt  ist,  die 
ihr  der  damalige  Minister  des  Äußern,  Delacroix,  zuteil 
werden  ließ.^)  Magallon  ließ  sich  nicht  abweisen.  In  zwei 
weiteren  Denkschriften,  von  denen  die  eine  freilich  nur 
bruchstückweise  bekannt  geworden  ist,  behandelte  er  noch 
einmal  einen  Plan,  der  mit  seinen  eigenen  Erfahrungen  und 


1)  Jonquifere  I,  148. 

2)  Vgl.  Biographie  universelle  XXVI,  23 ff.;  Revue  d'^gypte  III 
(1896)  205  sagt  er,  daß  er  dreißig  Jahre  lang  in  Ägypten  als  Kauf- 
mann tätig  gewesen  sei. 

3)  Vgl.  J.  W.  Zinkeisen,  Geschichte  des  osmanischen  Reiches  in 
Europa  VI,  56 ff. 

*)  Biogr.  univ.  XXVI,  24;  ein  paar  Sätze  mehr  Jonquifere  1,  150 
Anm.  1. 


Frankreich  und  Ägypten  von  Leibnitz  bis  auf  Napoleon.      39 

Erlebnissen  unlösbar  verknüpft  war.^)  Als  genauer  Kenner 
des  Landes  legte  er  die  militärischen  und  wirtschaftl  chen 
Vorteile  dar,  die  Frankreich  von  der  Besitzergreifung  zu  er- 
warten hatte.  Darüber  hinaus  reizt  namentlich  sein  jüngstes 
Memorandum  unser  Interesse,  weil  es  zum  ersten  Male,  wie 
es  wenigstens  scheint,  alle  militärischen  Einzelheiten  einer 
ägyptischen  Expedition  erwägt.  Magallon  denkt  sich  ihren 
Verlauf  folgendermaßen:  Eine  Truppenzahl  von  12000  bis 
15000  Mann  genügt,  wenigstens  zur  Eroberung,  während  die 
dauernde  Besetzung  20000  bis  25000  erfordert.  Diese  Streit- 
macht wird  mit  starker  Artillerie  versehen,  die  unnützes 
Blutvergießen  erspart,  da  ihr  die  Mamelucken  nichts  Gleich- 
wertiges entgegenzusetzen  haben,  und  führt  leichte  Schiffe 
und  Kanonenboote  mit  sich,  die  den  Nil  hinauffahren  und 
die  Ufer  bestreichen  können.  Am  15.  Juni  geht  die  Expe- 
dition von  Toulon  oder  Korfu  ab  und  erreicht  Alexandria 
gegen  den  5.  Juli;  dies  ist  die  beste  Zeit,  da  dann  die  Pest 
erloschen  zu  sein  pflegt,  die  jedes  Jahr  eine  Zeit  lang  in 
Ägypten  wütet.  Nach  der  Landung  besetzt  die  Armee  sofort 
Rosette,  um  sich  den  Nachschub  zu  sichern,  und  bricht 
nach  möglichst  kurzem  Aufenthalt  in  Alexandria  auf  dem 
Landweg  und  unter  Benutzung  der  Wasserstraße  des  Nils 
nach  Kairo  auf,  das  in  fünf  bis  sechs  Tagen  erreicht  wird. 
In  der  Nähe  der  Stadt  wird  es  wahrscheinlich  zur  Schlacht 
kommen,  deren  Ausgang  nicht  zweifelhaft  sein  kann,  da  die 
Streitmacht  der  Beys  nur  aus  7 — 8000  Streitern  besteht, 
die  zwar  gut  beritten  und  ausgerüstet  sind,  aber  abend- 
ländische Fechtweise  nicht  kennen.  Geschlagen  werden  die 
Beys  nach  Oberägypten  zu  fliehen  versuchen.  Die  Ver- 
folgung, die  sofort  einsetzen  muß,  geht  bis  Assuan,  wäh- 
rend Kairo  einstweilen  von  5  bis  6000  Mann  in  Ordnung 
gehalten  wird. 

Magallons  Gutachten,  vielleicht  die  Frucht  eines  Ur- 
laubs, den  er  erhalten  hatte,  um  Material  für  seine  Pläne 
beizubringen^),  trägt  das  Datum  des  9.  Februar  1798.    Nach 

1)  Revue  d'J^gypte  III  (1896)  205  ff.  (an  XI  in  an  VI  zu  verbes- 
sern); das  (undatierte)  Bruchstück  Jonquifere  I,  150. 

2)  Vgl.  die  Bemerkung  Talleyrands  bei  G.  Pallain,  Le  ministire 
de  Talleyrand  sous  le  Directoire  124  f.  Anm.   Talleyrand  erwähnt  dort 


40  S.  Hellmann, 

noch  nicht  acht  Tagen,  am  14.,  legte  Talleyrand  dem  Direk- 
torium einen  ausführlichen  Bericht  über  das  geplante  ägyp- 
tische Unternehmen  vor:  er  folgt  im  Gedankengang  und 
zum  Teil  im  Wortlaut  durchaus  dem  Memorandum  des 
ehemaligen  Konsuls^):  aus  der  Sphäre  halb  privater  An- 
regungen und  Bemühungen  war  damit  die  ägyptische  Expe- 
dition in  das  Stadium  der  Vorbereitung  und  Ausführung 
getreten.  Ein  Vierteljahr  später  segelte  Napoleon  von 
Toulon  ab. 

Talleyrand  hat  sich  später,  wenn  auch  nur  einen  Augen- 
blick lang,  gerühmt,  der  Vater  des  ägyptischen  Projektes 
gewesen  zu  sein.  2)  Wann  sprach  er  zum  erstenmal  von  Ägyp- 
ten? Es  geschah,  kurz  ehe  bei  Napoleon  die  ersten  An- 
zeichen dafür  sichtbar  wurden,  daß  er  an  die  Erwerbung 
des  Landes  dachte.  Im  September  1796  kehrte  Talleyrand 
aus  der  freiwilligen  Verbannung,  in  welche  ihn  die  Revo- 
lution getrieben  hatte,  nach  Frankreich  und  Paris  zurück. 
Das  ein  Jahr  vorher  errichtete  Institut  de  France  wählte 
ihn  in  die  Klasse  der  Sciences  politiques  et  morales.^)  Seinen 
Verpflichtungen  zu  genügen  hielt  das  neue  Mitglied  zwei 
Vorträge,  den  einen  über  Amerika,  den  andern  wenig  später, 
am  15.  Messidor  V  (3.  Juli  1797),  über  die  Vorteile  von  Kolo- 
nien und  die  Notwendigkeit  für  Frankreich,  solche  zu  be- 
sitzen.*) Talleyrand  legt  dar,  wie  er  in  Amerika  mit  Erstaunen 
beobachtete,  daß  die  Arbeit,  welche  jungfräulicher  Boden 
schuf,  die  Leidenschaften  einer  kaum  überstandenen  Um- 
wälzung zu  besänftigen  und  einzuschläfern  imstande  war. 
Kolonisationstätigkeit  also  empfahl  er  auch  für  Frankreich, 
um  es  von  den  Leiden  der  Revolution  zu  heilen  und  zu 
befreien.  Unter  den  Gebieten,  die  für  diesen  Zweck  in  Be- 
tracht kamen,  nannte  er  auch  Ägypten.  Aber  es  geschah 
nur  flüchtig  im  Vorübergehen.    Weder  die  militärisch-poli- 


beaucoup  de  mimoires  relatifs  ä  une  expedition  dans  ce  pays,  die  Ma- 
gallon  ausgearbeitet  hatte. 

^)  Jonquiere  I,  154  ff. 

2)  Vgl.  Fournier  a.  a.  O.  I,  140  und  die  dort  angeführte  Literatur. 

')  Mimoires  du  Prince  de  Talleyrand  I,  248  f. 

*)  Mimoires  de  V Institut  national;  Sciences  morales  et  politiques  II 
(an  VIJ.  =  1799),  288  ff. 


Frankreich  und  Ägypten  von  Leibnitz  bis  auf  Napoleon.      41 

tischen  noch  die  wirtschaftlichen  Vorteile  einer  Besetzung, 
die  vor  ihm  schon  so  oft  besprochen  worden  waren,  erörtert 
er.  Nichts  berechtigt  oder  nötigt  uns  zu  der  Annahme, 
daß  Talleyrand  die  Denkschriften  Magallons  und  der  andern 
gekannt  hätte,  die  vor  ihm  der  ägyptischen  Frage  ihre  Auf- 
merksamkeit und  ihre  Tätigkeit  gewidmet  hatten,  und  auch 
nicht  in  der  Entfernung  blitzt  bei  ihm  der  große  Gedanke 
eines  Stoßes  gegen  England  auf,  der  ein  Jahr  später  Napo- 
leons Fahrt  leitete.  Nicht  der  Staatsmann  spricht,  der 
Meister  des  diplomatischen  Spieles  und  der  Intrigue,  der 
eben  damals  vor  seinem  Ziele  stand  und  zwei  Wochen  später 
die  Leitung  der  auswärtigen  Angelegenheiten  übernehmen 
sollte,  sondern  ein  Theoretiker,  der  in  eine  akademische  Be- 
trachtung halb  dilettantischer  Art  fast  aufs  Geratewohl 
den  Namen  Ägypten  warf.  Talleyrand  selbst  hat  später  von 
diesem  Ausflug  auf  das  Gebiet  politischer  Spekulation  nicht 
sehr  hoch  gedacht  und  spricht  in  seinen  Memoiren  ziemlich 
geringschätzig  nicht-nur  von  der  höchsten  wissenschaftlichen 
Körperschaft  des  Landes,  die  ihn  zu  dem  Ihren  gemacht 
hatte,  sondern  auch  von  der  Art,  wie  er  sich  seiner  Ver- 
pflichtungen gegen  sie  entledigte.^)  In  Wirklichkeit  aber  ist 
sie,  zugleich  mit  anderem,  auch  ein  Beweis  dafür,  daß  die 
Ehre,  den  alten  Gedanken  einer  Angliederung  Ägyptens  an 
Frankreich  zur  Ausführung  reif  gemacht  zu  haben,  ebenso 
einem  Größeren  als  er  zukommt,  wie  der  Ruhm  seiner  vor- 
übergehenden Verwirklichung. 

^)  On  avait  forme  ä  Paris  un  institut  national  des  sciences  et  des 
arts;  Vorganisation  seule  de  cet  institut  suffisait  pour  faire  fuger  de 
Vesprit  qui  regnait  en  France.  On  Vavait  divisi  en  quatre  classes.  Celle 
des  sciences  pliysiques  tenait  le  premier  rang.  Celle  des  sciences  morales 
et  politiques  n'etait  qu'au  second.  On  m'avait  nomme  membre  de  cette 
classe  en  mon  absence.  Pour  payer  mon  tribut  d'academicien,  fe  lus  ä 
deux  differentes  siances  publiques,  peu  eloignees  l'une  de  l'autre,  deux 
mimoires  qui  attirirent  assez  l'attention  a.  a.  O. 


Des  Kronprinzen  Friedrich 

Considerations  sur  l'etat  present  du  corps 

poiitique  de  l'Europe. 


Von 

Friedrich  Meinecke. 


Nicht  nur  die  großen  geistigen  Leistungen,  sondern  auch 
die  schöpferischen  Entschlüsse  und  Taten  im  Völker-  und 
Staatenleben  gehen  hervor  aus  einem  verborgenen,  aber  ganz 
organischen  Wachstum  in  der  Seele  großer  Männer.  Oft  ist 
es  nur  die  Kraft  überhaupt,  die  sich  langsam  entwickelt 
und  dann  plötzlich,  vor  große  Aufgaben  gestellt,  sich  über 
Wege  und  Ziele  des  Handelns  entscheiden  muß.  Nicht  selten 
aber  entsteht  in  diesen  stillen  Wachstumsperioden  auch  schon 
ein  deutHches  Bild  von  neuen  Wegen  und  Zielen,  ein  fertiger 
Feldzugsplan  entworfen  in  Zeiten  und  Lagen,  die  zur  Aus- 
führung dieses  Planes  noch  gar  nicht  sich  schicken  und  doch 
durch  die  Impulse,  die  sie  geben,  diesen  Plan  mit  hervor- 
rufen und  so  dazu  mitwirken,  sich  selbst  zu  überwinden. 
Wie  eine  absterbende  Zeit  eine  neue  aus  ihrem  Schoß  her- 
vorbringt und  wie  sie  dazu  des  Mediums  bestimmter  Per- 
sönlichkeiten bedarf,  wie  der  besondere  Mann  und  die  be- 
sondere Zeit  überall  zusammenwirken  müssen,  um  Neues  zu 
schaffen,  das  ist  ein  immer  wieder  anziehendes  und  lehr- 
reiches Schauspiel. 

Alles  war  vorausgesehen  und  vorbereitet,  schrieb  Fried- 
rich der  Große  an  Algarotti  am  28.  Oktober  1740,  als  er  mit 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Considdrations  sur  l'ätat  etc.      43 

seinem  Unternehmen  auf  Schlesien  hervorbrach.  Nicht  jede 
Einzelheit  dessen,  was  er  nun  tat,  läßt  sich  als  vorbedacht 
nachweisen  und  wird  es  wohl  auch  schwerlich  sein.  Aber 
wer  den  ersten  Band  der  Politischen  Korrespondenz  Fried- 
richs liest,  findet  überall  Spuren  eines  lange  vorher  durch- 
dachten Planes.  Er  hatte  den  Ehrgeiz,  an  das  europäische 
Schachbrett  sogleich  als  Meisterspieler  heranzutreten,  und 
sein  Glaube  an  die  Richtigkeit  seiner  Berechnungen  nimmt 
zuweilen  einen  fast  doktrinären  Charakter  an.  Ich  warte 
wie  der  Schauspieler  auf  das  Stichwort  meiner  Rolle,  schrieb 
er  am  7.  September  1737.i)  Er  setzte  hinzu,  daß  er  des- 
halb nnr  wenig  Aufmerksamkeit  für  die  Rolle  der  Übrigen 
habe.  Aber  das  darf  man  nicht  wörtlich  nehmen.  Er  hat 
das  Spiel  der  Übrigen  in  dieser  Wartezeit  nicht  nur  auf- 
merksam studiert,  sondern  leidenschaftlich  miterlebt.  Wie 
man  die  Frankfurter  Erfahrungen  Bismarcks  kennen  muß, 
um  seine  deutsche  Politik  seit  1862  zu  verstehen,  so  muß 
man  die  besonderen  politischen  Erlebnisse  kennen,  die  Fried- 
rich in  dem  halben  Jahrzehnt  vor  seiner  Thronbesteigung 
durchmachte.  Dem  Bilde,  das  Meister  der  Forschung  von 
diesem  Quellboden  der  friderizianischen  Politik  und  Staats- 
kunst entworfen  haben,  sind  wesentlich  neue  Züge  zwar 
nicht  mehr  hinzuzufügen.  Wohl  aber  ist  es  möglich,  einen 
bisher  etwas  matt  beleuchteten  Punkt  in  ihm  in  helleres 
Licht  zu  setzen.  Immer  schon  hat  man  in  der  merkwürdigen 
poHtischen  Jugendschrift  des  Kronprinzen,  den  um  die 
Wende  der  Jahre  1737/38  entstandenen  Considerations  sur 
Vetat  prisent  du  corps  politique  de  l'Europe  eine  erste  große 
Manifestation  seines  politischen  Denkens  und  Wollens  ge- 
sehen, ohne  doch,  wie  mir  scheint,  alles  herausgeholt  zu 
haben,  was  in  ihr  steckt.  Man  hat  sie  bisher  gar  zu  eng 
und  ausschließlich  aus  einem  einzelnen  Bedürfnisse  des  poli- 
tischen Moments,  in  dem  sie  entstand,  erklärt  und  erschöp- 
fend zu  verstehen  geglaubt.  Diese  Erklärung  war  richtig, 
aber  nicht  vollständig;  sie  beleuchtete  nur  den  Vordergrund, 
aber  nicht  den  Hintergrund  in  den  Absichten  des  fürst- 
lichen Verfassers.   Und  doch  taucht  ein  solcher  Hintergrund 


1)  An  Prinz  Wilhelm  von  Oranien;  Ranke,  Sämtl.  Werke  24,  201. 


44  Friedrich  Meinecke, 

schon  allein  bei  genauerer  Analyse  der  Schrift  auf,  zunächst 
zwar  nur  als  eine  etwas  argwöhnische  Vermutung,  die  sich 
aber  sehr  bald  stützen  läßt  durch  andere  sichere  Punkte 
aus  der  politischen  Entwicklung  des  Kronprinzen  und  vor 
allem  durch  die  Kontinuität,  die  sie  in  seine  Politik  vor 
und  nach  dem  Regierungsantritt  hineinbringt.^) 

Vergegenwärtigen  wir  uns  zunächst  die  europäische  Situa- 
tion jener  Jahre  und  die  damaligen  Ziele  der  preußischen 
Politik.  Der  alte  Gegensatz  zwischen  französischer  und  kaiser- 
licher Macht  hatte  erst  kürzlich  wieder  einen  Waffengang 
durchgemacht  im  Polnischen  Erbfolgekriege  der  Jahre  1733/35. 
Frankreich  kämpfte  für  den  von  den  Polen  zum  König 
gewählten  Schwiegervater  Ludwigs  XV.,  Stanislaus  Lesz- 
czynski,  der  Kaiser  mit  Rußland  im  Bunde  für  Friedrich 
August  von  Sachsen.  Das  russische  Bündnis  ersetzte  dem 
Kaiser  jetzt  die  Allianz  mit  den  Seemächten,  die  er  im 
Spanischen  Erbfolgekriege  genossen  hatte;  die  Seemächte 
blieben  neutral.  Frankreich  aber  hatte  jetzt  außer  Sardi- 
nien das  ehrgeizige  Spanien  der  Bourbonen  an  seiner  Seite, 
denn  der  Krieg  wurde  im  Grunde  weniger  um  Polen  als 
um  Italien  geführt.  In  Polen  kam  Frankreichs  Einfluß  und 
Macht  nicht  an  gegen  die  Vereinigung  der  beiden  großen 

^)  Die  Preußsche  Ausgabe  der  Oeuvres  Friedrichs  Bd.  8,  1 — 27 
gab,  da  eine  Handschrift  der  Considerations  nicht  aufzufinden  war, 
den  Text,  den  die  Oeuvres  posthumes  Bd.  6  S.  1 — 52  1788  gebracht 
hatten.  Professor  Hans  Droysen  hat  nun,  wie  er  mir  freundlichst 
mitteilt,  im  Voltaireschen  Nachlaß  in  St.  Petersburg  ein  Manuskript 
der  Considirations  von  Friedrichs  eigener  Hand  aufgefunden,  das  zahl- 
reiche stilistische  Abweichungen  von  dem  Texte  der  Oeuvres  posthumes 
enthält,  sich  inhaltlich  aber  mit  ihm,  von  dem  fehlenden  letzten  Blatte 
der  Handschrift  abgesehen,  vollständig  deckt.  Die  Vergleichung  der 
Varianten,  die  ich  vornehmen  durfte,  ergibt,  daß  der  Petersburger 
Text  zwar  nicht  ausnahmslos,  aber  überwiegend  glatter  und  sorg- 
fältiger in  der  Diktion  ist  als  der  Text  der  Oeuvres  posthumes  bzw. 
Oeuvres.  Die  Härten  des  letzteren  sind  zum  Teil  so  charakteristisch, 
daß  sie  nicht  auf  Rechnung  eines  sorglosen  Kopisten  oder  Heraus- 
gebers, sondern  des  Autors  zu  setzen  sind.  Der  Text  der  Oeuvres  post- 
humes beruht  demnach,  wenn  auch  vielleicht  nicht  direkt  auf  einem 
eigenhändigen  Manuskripte  des  Königs,  so  doch  indirekt  auf  einer 
früheren  Niederschrift  —  während  das  Petersburger  Exemplar  offenbar 
dasjenige  ist,  das  Friedrich  im  Sommer  1738  an  Voltaire  sandte  (s. 
unten  S.  69  Anm.  1)  und  das  er  für  ihn  also  stilistisch  verbesserte. 


Der  Kronprinzen  Friedrich  Consid^rations  sur  l'etat  etc.      45 

Ostmächte;  dafür  fielen  die  Entscheidungen  in  Italien  zu 
Ungunsten  des  Kaisers,  und  am  Rheine  fochten  seine  Heere 
trotz  der  Hilfe  des  Reiches  ebenfalls  ohne  Glück.  Preußen 
stand  auf  Seite  des  Kaisers,  aber  mit  halber  Kraft  und  ge- 
spalten in  seinen  Interessen.  Es  sah  mit  Sorge  Sachsen  und 
Polen  wieder  miteinander  verknüpft  und  ahnte  den  schweren 
Druck,  den  es  in  Zukunft  von  der  neuen  Machtkombination 
im  Osten  —  Österreich,  Rußland,  Sachsen-Polen  — ,  wie 
es  denn  auch  geschehen  ist,  zu  erleiden  haben  werde.  Trotz- 
dem hielt  es  zum  Kaiser,  weil  die  Verträge,  die  es  dazu 
verpflichteten,  zugleich  das  stärkste  seiner  damaligen  Zu- 
kunftsinteressen, die  Aussicht  auf  eine  erhebliche  territoriale 
Abrundung  und  Vergrößerung  am  Niederrheine,  zu  verbürgen 
schienen.  Das  Haus  Pfalz-Neuburg,  mit  dem  es  sich  in  die 
Jülicher  Erbschaft  einst  hatte  teilen  müssen  und  das  in- 
zwischen zur  Kurwürde  gelangt  war,  stand  vor  dem 
Aussterben;  der  greise  Kurfürst  Karl  Philipp  von  der  Pfalz 
war  ohne  Söhne  und  wünschte  die  Herzogtümer  Jülich  und 
Berg  der  Linie  Pfalz-Sulzbach  zu  vermachen  und  die  gut 
begründeten  preußischen  Ansprüche  auf  sie  beiseite  zu  schie- 
ben. Die  europäische  Konstellation  war  ihm  günstig,  denn 
jede  der  großen  Mächte  wünschte  ein  Wachstum  Preußens 
am  Niederrhein  zu  verhindern,  teils  aus  Eifersucht  gegen 
Preußen  überhaupt,  teils  aus  dem  besonderen  Interesse,  ge- 
rade an  den  Übergängen  des  Niederrheins  keine  stärkere 
Macht  sich  entfalten  zu  sehen.  Friedrich  Wilhelm  1.  spürte, 
daß  er  das  Ganze  seiner  Ansprüche  nicht  durchsetzen  würde, 
verzichtete  auf  das  größere  Herzogtum  Jülich  und  konnte 
durch  die  Garantie  der  pragmatischen  Sanktion,  die  er  dem 
Kaiser  Karl  VI.  gewährte,  in  den  Verträgen  von  1726  und 
1728  dessen  Zusage  davontragen,  ihm  zum  Herzogtum  Berg 
zu  verhelfen.  Mancherlei  hatte  nun  inzwischen  Preußen 
schon  gehört  und  erlebt,  was  ihm  Mißtrauen  einflößen 
konnte  gegen  die  loyale  Ausführung  dieser  kaiserlichen  Zu- 
sage. Es  steigerte  sich  zur  schmerzlichsten  Sorge  durch  die 
Überraschungen,  die  der  Ausgang  des  Polnischen  Erbfolge- 
krieges im  Wiener  Präliminarfrieden  vom  3.  Oktober  1735 
brachte.  Frankreich  und  der  Kaiser  vertrugen  sich  in  ihm 
derart,  daß  aus  der  Feindschaft  eine  Freundschaft  wurde. 


46  Friedrich  Meinecke, 

Frankreich  gab  das  Königtum  Augusts  III.  von  Polen  zu 
und  trug  dafür  die  Aussicht  auf  baldigen  Gewinn  Lothrin- 
gens, das  zum  Altenteil  des  entthronten  Königs  Stanislaus 
bestimmt  wurde,  ein;  Franz  von  Lothringen,  der  Schwieger- 
sohn des  Kaisers,  wurde  durch  Toskana  entschädigt.  Dem 
Kaiser  aber  wurde  der  heiße  Wunsch  erfüllt,  daß  sein  alter 
europäischer  Widerpart  ihm  nun  auch  die  Garantie  der 
pragmatischen  Sanktion  versprach.  Das  mußte  ihn  trösten 
für  den  Verlust  Neapels  und  Siziliens,  die  dem  spanischen 
Infanten  Don  Carlos  zufallen  sollten.  Dieser  Präliminar- 
friede  konnte  zwar  erst  nach  drei  Jahren  in  einen  definitiven 
Frieden  umgewandelt  werden,  weil  Spanien  und  Sardinien 
unzufrieden  waren  mit  dem  Anteil  an  der  italienischen 
Beute,  den  Kardinal  Fleury  ihnen  zumaß,  und  mehr  von 
ihm  verlangten.  Um  so  enger  rückte  nun  die  Politik  Fleurys, 
ohne  doch  die  Fühlung  mit  Spanien  zu  verlieren,  an  den  Wiener 
Hof  heran,  ließ  ihm  auch  gönnerhaft  freien  Lauf,  als  er 
Entschädigungen  für  das  Verlorene  in  einem  neuen  Türken- 
kriege suchte  und  im  Sommer  1737  an  die  Seite  Rußlands, 
das  schon  im  Kampfe  gegen  die  Türkei  stand,  trat.  Dabei 
wünschte  Fleury  im  Grunde,  daß  die  Türken  siegten,  um 
das  Anschwellen  der  russischen  Macht  im  Orient  zu  ver- 
hindern, und  sah  es  deshalb  zufrieden  mit  an,  daß  auch 
Österreich  nun  mit  seinen  erschöpften  Finanzen  und  seinem 
schlechten  und  schlecht  geführten  Heere  im  Osten  sich  zu 
verbluten  begann.  Österreich  hing  jetzt  an  seiner  Angel, 
angelockt  und  festgehalten  durch  mehr  als  einen  Köder, 
nicht  nur  durch  die  französische  Garantie  der  pragmati- 
schen Sanktion,  sondern  auch  durch  das  Interesse  an  der 
Ausführung  des  Präliminarfriedens  in  Italien,  durch  die 
französische  Konnivenz  zum  Türkenkriege  und  schließlich 
nun  auch  durch  ein  neues  gemeinsames  Interesse,  das  seine 
Spitze  gegen  Preußen  kehrte.  Die  preußische  Garantie  der 
pragmatischen  Sanktion  war  jetzt  durch  die  neuerworbene 
französische  Garantie  derart  wertlos  und  überflüssig  ge- 
worden, daß  der  Kaiser  nunmehr  auch  den  Preis,  den  er 
für  sie  einst  zu  zahlen  versprochen  hatte,  nicht  mehr  zu 
zahlen  für  nötig  hielt.  Auch  Frankreich  wünschte  Düssel- 
dorf nicht  in  preußischen  Händen.   Was  lag  näher,  als  daß 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Considdrations  sur  l'^tat  etc.      47 

Frankreich  und  Österreich  gemeinsam  jetzt  diktierten,  was 
aus  den  niederrheinischen  Landschaften  werden  sollte,  — 
auf  Kosten  Preußens.  Die  französisch-österreichische  Entente 
befestigte  also  sich  an  dieser  Aufgabe  und  gewann  nun  noch 
weitere  Hilfe  für  sie  gerade  bei  denjenigen  Mächten,  die 
jene  Entente  sonst  gar  nicht  gern  sahen.  Das  waren  die 
Seemächte,  England  und  die  Generalstaaten.  Sie  fürchteten, 
durch  den  neuen  französisch-österreichischen  Block  um  ihren 
Einfluß  in  Europa  zu  kommen.  Als  aber  dieser  Block  sie  ein- 
lud, einen  gemeinsamen  europäischen  Areopag  zu  bilden,  der 
die  jülich-bergische  Frage  entscheiden  und  den  Keim  eines 
großen  europäischen  Krieges  damit  zertreten  sollte,  vermoch- 
ten sie  nicht  nein  zu  sagen,  weil  die  vorgeschlagene  anti- 
preußische Lösung  der  Frage  auch  ihnen  gefiel.  Sie  folgten 
der  Einladung  zwar  nicht  ohne  einiges  Zögern  und  Be- 
denken. Aber  am  10.  Februar  1738  war  es  soweit,  daß 
identische  Noten  der  vier  großen  Mächte  in  Berlin  über- 
reicht wurden  des  Inhalts,  daß  der  König  sich  die  Vermitt- 
lung der  vier  Mächte  in  der  Erbfrage  gefallen  lassen  und 
von  eigenmächtigem  Vorgehen  absehen  solle;  nach  dem  Tode 
des  Kurfürsten  von  der  Pfalz  aber  sollte,  falls  eine  Einigung 
noch  nicht  erzielt  sei,  der  provisionelle  Besitz  beider  strei- 
tigen Herzogtümer  dem  Hause  Pfalz-Sulzbach  zufallen. 
Preußen  antwortete  ausweichend  und  begann  mit  dem 
Säbel  zu  rasseln,  um  zu  zeigen,  daß  es  sich  nicht  vergewal- 
tigen lassen  wolle.  Aber  wie  schwer  umwölkt  waren  nun 
seine  Lage  und  seine  Hoffnungen.  Alle  diese  Wolken  waren 
aufgestiegen  aus  dem  einen  Wetterwinkel  des  Jahres  1735, 
dem  Wiener  Präliminarfrieden,  der  französisch-österreichi- 
schen Entente.  Es  zeigte  sich  damals  schon,  was  später 
Friedrich  als  König  und  jetzt  wiederum  wir  im  größten 
Stile  erfahren  mußten,  daß  für  eine  zentrale  Macht  in 
Europa  nichts  gefährlicher  ist,  als  wenn  Ost-  und  West- 
macht einander  die  Hand  reichen. 

Das  also  war  das  erste  gewaltige  politische  Erlebnis 
des  Kronprinzen,  die  erste  Schule  politischer  Erfahrung 
und  europäischer  Staatskunst,  die  er  durchmachte.  Mit 
heißer  Leidenschaft  verfolgte  er  alle  Phasen  der  abschüssigen 
Wendung  seit  1735.    Als  er  im  Januar  1738  das  Unwetter, 


48  Friedrich  Meinecke, 

das  in  den  identischen  Noten  sich  entladen  sollte,  kommen 
sah,  schrieb  er  an  den  Minister  Grumbkow^):  Will  man  die 
edle  Palme  niederdrücken,  so  wird  sie  stolz  ihren  Wipfel 
emporschnellen.  Glauben  Sie  mir,  fuhr  er  fort,  jetzt  ist  es 
Zeit,  zu  schreiben,  um  die  Geister  zu  bearbeiten  und  zu 
gewinnen.  Die  Presse  muß  jetzt  arbeiten,  und  ich  habe 
mehr  als  je  Lust,  meine  Schrift  zu  veröffentlichen.  —  Das  ist 
das  erste  Zeugnis  für  die  Existenz  der  Considerations.  Sie 
stammt,  wie  auch  die  zeitgeschichtlichen  Anspielungen  des 
Inhalts  zeigen,  aus  den  Wochen  um  die  Wende  der  Jahre 
1737  und  1738.  Fassen  wir  diesen  Inhalt  zunächst  summa- 
risch ins  Auge. 

Friedrich  übte  den  alten  Kunstgriff  der  Publizistik,  die 
eigenen  Interessen  in  das  Gewand  gesamteuropäischer  Be- 
trachtungen zu  kleiden  und  dadurch  zu  verstecken.  Die 
geheimen  Triebfedern  des  ganzen  europäischen  Uhrwerks 
will  er  bloßlegen  und  zu  den  Quellen  der  Dinge  aufsteigen. 
Und  so  geht  er  denn,  wie  es  zu  erwarten  ist,  von  dem  ver- 
hängnisvollen Momente  des  Wiener  Präliminarfriedens  von 
1735  aus,  der  die  beiden  Antagonisten  des  Kontinents  zu- 
sammenführte zu  einem,  wir  würden  heute  sagen,  europäi- 
schen Länderverteilungssyndikat;  er  gebraucht  dafür  das 
klassizistische  Gleichnis  des  Triumvirates,  das  Augustus  mit 
Antonius  und  Lepidus  bildete.  Aber  der  Augustus  dieses 
Triumvirates,  so  heißt  es,  wird  Frankreich  sein,  und  Fleury 
setzt  das  Werk  Richelieus,  Mazarins  und  Ludwigs  XIV. 
fort  und  erstrebt  wie  sie  die  französische  Universalmon- 
archie. Doch  fängt  er  es  geschickter  an  wie  jene;  er  weiß 
seine  ehrgeizigen  Pläne  zu  verhüllen  unter  dem  Mantel  einer 
maßvollen  und  uneigennützigen  Politik.  Er  versteht  es, 
Europa  einzuschläfern,  um  dann,  wenn  die  günstigen  Augen- 
blicke gekommen  sind,  Zug  für  Zug  seine  Gewinne  ein- 
zustreichen. Ein  zweiter  Träger  expansiver  Politik  ist 
Spanien,  dessen  Ehrgeiz,  auf  Italien  gerichtet,  noch  lange 
nicht  gesättigt  ist.  Als  das  dritte  Element  von  maßloser 
Ambition  erscheint  dann  der  Kaiser,  dessen  evidentes  Ziel 
es  sei,  das  deutsche  Reich  in  eine  österreichische  Erbmon- 

^)  Koser,  Briefwechsel  Friedrichs  des  Gr.  mit  Grumblcow  und 
iVlaupertuis  S.  174  f. 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Considdrations  sur  I'^tat  etc.      49 

archie   zu   verwandeln.     Dauernd   und   unveränderlich   gilt 
der  Grundsatz,  daß  Fürsten  sich  vergrößern,  soviel  als  ihre 
Macht  ihnen  nur  irgend  erlaubt.    Dies  wollen  sie  alle,  aber 
sehr  charakteristisch  unterscheiden  sich  die  Methoden  der 
verschiedenen  Höfe.   Die  Beispiele,  an  denen  Friedrich  diese 
individuelle    Differenzierung   des    Geistes   der   Machtpolitik 
zeigt,  sind  Österreich  und  Frankreich.  Österreich,  hochmütig 
und  brutal,   entwickelt   durch  seine  eigene   Gewaltsamkeit 
und  durch  den  Haß,   den  sie  erregt,  ein   Gegengift  gegen 
seine  ehrgeizigen  Pläne.    Es  fällt  wie  ein  wilder  Löwe  auf 
seine  Beute,  während  Frankreich  wie  eine  Sirene  mit  süßen 
und  schmeichelhaften  Tönen  die  ihm  Nahenden  bezaubert. 
Seine  Erfolge  sind  nicht  das  Werk  des  Glücks  und  Zufalls, 
sondern  der  Penetration  und  Voraussicht  seiner  Minister  und 
der  guten  Maßregeln,  die  sie  ergreifen.   Langsam,  Schritt  für 
Schritt,  schiebt  es  seine  Ostgrenze  jetzt  vorwärts  und  wartet 
auf  den  einen  großen  Moment,  wo  alles  in  Europa  in  Fluß 
kommen  wird:  auf  den  Tod  des  Kaisers.   Seine  ganze  Politik 
gegenüber  den  Seemächten  und  den  nordeuropäischen  Staaten 
ist  darauf  zugeschnitten,  in  diesem  Momente  mit  Wucht 
hineinzutreten    in    das    gespaltene    Europa    und    alles    zu 
wagen.     Dann  wird  sich  das   Schicksal,  das   Griechenland 
von  Mazedonien    erfuhr,    mit  völliger  Konformität  wieder- 
holen, und  dann  wird  Frankreich  seine  Maske  abwerfen  und 
auch   die  vergewaltigen,   deren   Hilfe  es  jetzt  sucht.    Der 
Körper   Europas  also,  so  schließt  die   Schrift,   ist  lebens- 
gefährlich erkrankt.   Die  tiefste  Ursache  der  Krankheit  aber 
sei,  und  hier  verwickelt  er  sich  in  einen  Widerspruch  mit 
sich  selbst,  eben  jenes  Prinzip  der  maßlosen  Pleonexie,  das 
er  doch  vorher  als  das  dauernde  und  unveränderliche  Prinzip 
der  politischen  Welt  erklärt  hatte.    Möchten  die   Fürsten 
aufhören,  auf  Eroberungen  zu  sinnen  und  an  ihre  eigent- 
liche Bestimmung,  an  das  Glück  ihrer  Völker  denken.  Schande 
und  Schmach  ist  es,  seine  Staaten  zu  verlieren,  aber  Un- 
recht und  verbrecherische  Raubsucht  ist  es,  Länder  zu  er- 
obern, auf  die  man  kein  legitimes  Recht  hat.    Damit  klingt 
die  Schrift  schon  hinüber  in  die  Gedankengänge  des  Anti- 
macchiavell.    Auch  der  Antimacchiavell  wurzelt  in  den  Er- 
fahrungen der  europäischen  Politik,  die  Friedrich  seit  1735 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  4 


50  Friedrich  Meinecke, 

gemacht  hatte^);  er  war  ein  Aufschrei  gewissermaßen  gegen 
die  Bosheit  der  Machtpolitik,  die  das  kleine  Preußen  eben 
hatte  erdulden  müssen.  Ein  und  dasselbe  Erlebnis  also  hat 
den  sittlichen  Protest  des  Philosophen  gegen  die  Staats- 
kunst seiner  Zeit  und  den  stolzen  Entschluß  des  Staats- 
manns, die  Feinde  Preußens  mit  eben  den  Waffen  dieser 
Staatskunst  zu  schlagen,  hervorgerufen.  Kaum  sieht  man 
jemals  wieder  so  deutlich  in  Zwiespalt  und  Einheit  seines 
Wesens  hinein.  Beide  Seiten  seines  Wesens  hart  neben- 
einander und  doch  durch  gemeinsamen  Lebensgrund  ver- 
bunden, drücken  sich  in  den  Considerations  mit  unvergleich- 
licher Energie  aus.  Deshalb  ist  diese  Schrift  vielleicht  noch 
charakteristischer  für  ihn  als  der  Antimacchiavell.  Was  sie 
sagt  und  wie  sie  es  sagt,  was  sie  auswählt  aus  dem  Stoffe 
der  Zeitgeschichte  und  was  sie  verschweigt,  ist  sichtlich 
durchtränkt  von  Absichten  und  Berechnungen,  und  doch  ist 
sie  auch  des  Unwillkürlichen  voll  und  inmitten  alles  Kalküls 
von  jugendlicher  Frische.  Man  kann  sie,  weil  sie  so  reich 
an  Inhalt  ist,  unter  den  verschiedensten  Gesichtspunkten 
ausbeuten.  Aber  vor  allen  übrigen  Fragen,  die  man  an  sie 
richtet,  steht  die  eine  zuerst  zu  beantwortende  Frage:  Wel- 
chem politischen  Zwecke  diente  sie? 

Max  Duncker  hat  darauf  in  eingehender  Untersuchung 
eine  Antwort  gefunden,  die  bisher  allgemein  befriedigt  hat. 2) 
Sie  sollte  auf  die  Seemächte  wirken  und  sie  vor  dem  damals 
drohenden  Zusammengehen  mit  Frankreich  und  Österreich 
in  der  jülich-bergischen  Erbfrage  warnen.  Äußere  und  innere 
Anzeichen  sprechen  in  der  Tat  überwältigend  dafür,  daß  sie 
dies  tun  sollte.  Jenes  Schreiben  Friedrichs  an  Grumbkow 
vom  Januar  1738,  das  die  erste  Kunde  von  ihrer  Existenz 
bringt,  fährt  fort:  Wenn  Sie  es  für  angebracht  halten,  werde 
ich  die  Schrift  nach  England  schicken,  wo  sie  zuerst  eng- 


^)  Koser,  Einleitung  zum  Briefwechsel  mit  Grumbkow  S.  XXIV. 

2)  Eine  Flugschrift  des  Kronprinzen  Friedrich,  zuerst  in  der 
Zeitschr.  f.  preußische  Geschichte,  dann  in  dem  Sammelbande  „Aus 
der  Zeit  Friedrichs  d.  Gr.  und  Friedrich  Wilhelms  III."  (1876)  wieder 
abgedruckt.  Daselbst  S.  24  f.  über  die  Anspielungen  auf  zeitgeschicht- 
liche Ereignisse  aus  den  letzten  Wochen  des  Jahres  1737  und  auf  die 
Interessen  der  Seemächte. 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Considerations  sur  l'etat  etc.      51 

lisch  erscheinen  wird;  dann  wird  mein  Original  in  Holland 
vertrieben  werden  wie  eine  Übersetzung.  Am  Schlüsse  der 
Schrift  maskiert  sich  Friedrich  in  der  Tat  auch  als  Eng- 
länder, indem  er  seinen  Freimut  damit  entschuldigt,  daß  er 
als  Sohn  eines  freien  Landes  mit  edler  Kühnheit  sprechen 
dürfe.  Es  fehlt  in  der  Skizze  der  diplomatischen  Zeit- 
geschichte auch  nicht  an  mancherlei  Nutzanwendungen  für 
die  Seemächte.  Ich  wiederhole  sie  nicht,  weil  Duncker  sie 
genügend  erläutert  hat.  Und  die  Kette  der  Argumente 
schließt  sich  aufs  willkommenste  durch  den  schönen  Nach- 
weis, den  Duncker  führt,  daß  manche  Ausführungen  der 
Schrift  eine  unmittelbare  Kenntnis  der  preußischen  Staats- 
akten aus  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1737  verraten. 
Der  Kronprinz  erhielt  in  Rheinsberg,  wie  wir  aus  seinem 
Briefwechsel  mit  Grumbkow  wissen,  von  ihm  nicht  nur 
laufende  Mitteilungen  über  den  Gang  der  Politik,  sondern 
auch  ganze  Aktenstücke.  Und  er  entnimmt  in  seiner  Schrift 
aus  der  Korrespondenz  mit  den  preußischen  Vertretern  im 
Haag,  London  und  Paris  nicht  nur  eine  Reihe  charakteri- 
stischer Tatsachen  und  Urteile  über  zeitgeschichtliche  Er- 
eignisse, sondern  er  zieht  mit  ihnen  am  gleichen  Strange. 
Die  Seemächte  mißtrauisch  zu  machen  vor  allem  gegen 
Frankreich  und  womöglich  auch  gegen  Österreich  und  die 
drohende  ,,  Quadrille"  der  vier  Mächte  gegen  Preußen,  um 
Friedrich  Wilhelms  I.  Ausdruck  zu  gebrauchen,  auseinander- 
zuhalten, war  ein  Hauptbemühen,  eine  ganz  selbstverständ- 
liche Tendenz  der  damaligen  offiziellen  preußischen  Politik. 
Nur  fällt  es  dabei  sofort  auf,  daß  Friedrich  gerade  zwei  der 
nächstliegenden  Argumente,  mit  denen  man  auf  die  See- 
mächte wirken  konnte,  ganz  beiseite  läßt.  Auch  im  Zeitalter 
der  Kabinettspolitik  schlug  die  Diplomatie,  wenn  die  Dinge 
gerade  so  gewendet  werden  konnten,  gern  auch  die  konfessio- 
nelle Saite  an;  sie  schwang  auch  von  selber  noch  hier  und  da 
leise  mit,  im  katholischen  Lager  vielleicht  häufiger  als  im  pro- 
testantischen.i)  Immer  wieder  wurde  Luiscius,  der  preußische 

^)  Man  denke  z.  B.  an  den  Einfluß  des  Jesuitenpaters  üuarini  auf 
die  sächsische  Politik;  Koser,  Geschichte  Friedrichs  d.  Gr.  4.  Aufl.  1,291 ; 
Ranke,  Sämtl.  Werke  27/28  S.  415  f.,  vgl.  auch  daselbst  S.  228  über 
eine  aus  der  Zeit  der  Considerations  stammende  Kardinalsdenkschrift, 

4» 


52  Friedrich  Meinecke, 

Vertreter  im  Haag,  angewiesen,  dem  Ratspensionär,  den 
Regenten  und  dem  englischen  Botschafter  im  Haag  ein- 
zureden, daß  das  evangeHsche  Religionswesen  bedroht  werde 
durch  die  französisch-kaiserliche  Entente  (Erlasse  vom 
27.  August  und  9.  November  1737  und  18.  Januar  1738).i) 
Wenn  Fleurys  Pläne  gelingen,  heißt  es  am  9.  November 
1737,  wenn  Bayern  mit  Österreich,  wie  damals  betrieben 
wurde,  versöhnt  werden  sollte,  wenn,  so  können  wir  aus 
anderen  Berichten  ergänzen,  auch  Frankreichs  Freundschaft 
mit  Spanien  jetzt  neu  gestärkt  werde  —  dann  sei  die  große 
katholische  Liga,  an  der  seit  dem  Badenschen  Frieden  ge- 
arbeitet worden,  so  gut  als  formieret,  und  das  erste  Un- 
gewitter,  das  daraus  entstehe,  werde  allem  Vermuten  nach 
über  die  beiden  Seepuissancen  ausbrechen;  es  sei  unbegreif- 
lich, daß  sie  sich  so  indolent  erwiesen  und  nun  sogar  in  der 
Jülich-Bergischen  Erbfolge  mit  Kaiser  und  Frankreich  gegen 
Preußen  zusammenzugehen  schienen.  Die  Considerations  da- 
gegen, obgleich  sie  doch  sonst  mit  aufrüttelnden  Worten  für 
die  Indolenz  der  Seemächte  nicht  sparen,  berühren  auch 
nicht  mit  einer  Silbe  das  konfessionelle  Moment.  Man  wende 
nicht  ein,  daß  weltmännische  Überlegenheit  vielleicht  den 
jungen  Fürsten  abhielt,  das  abgegriffene  Motiv  zu  benutzen. 
Als  König  hat  er  sich  nicht  gescheut,  es  bei  Einwirkungen 
auf  die  Seemächte  beinahe  stereotyp  einfließen  zu  lassen. 2) 
Noch  auffallender  ist  ein  anderes  Schweigen.  Seit  län- 
gerer Zeit  gab  es  Streitigkeiten  Spaniens  mit  den  Seemächten, 
vor  allem  England,  wegen  ihres  rücksichtslos  betriebenen 
Schmuggelhandels  in  den  amerikanischen  Gewässern,  den 
sich  Spanien  nicht  gefallen  lassen  wollte.  Luiscius'  Berichte 
aus  den  Jahren  1737  und  1738  sind  voll  davon^),  und  sie 


die  den  Nutzen  der  französisch-österreichischen  Allianz  für  das  katho- 
lische Interesse  erörtert.  Auch  wenn  sie  gefälscht  sein  sollte,  wäre 
sie  doch  bezeichnend  für  die  damals  noch  möglichen  Vorstellungen. 

1)  Vgl.  auch  Droysen,  Gesch.  der  preuß.  Politik  IV,  3  S.  317. 

2)  Vgl.  z.  B.  Politische  Korrespondenz  1,  107,  122,  124,  128,  181, 
186  u.  ö. 

3)  Vgl.  auch  Droysen,  Gesch.  der  preußischen  Politik  IV,  3  S.  318, 
324,  345  f.  Borcke,  der  Vertreter  Preußens  in  London,  begleitete  seine 
Meldung  von  französisch-englischen  Differenzen  wegen  des  englischen 
Schmuggelhandels  nach  Martinique  am  26.  März  1737  mit  der  charak- 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Considerations  sur  l'etat  etc.      53 

meldeten  zugleich,  daß  Frankreich  auf  Spaniens  Seite  stünde, 
daß  merkantile  Verhandlungen  zwischen  Frankreich,  Spanien 
und  Portugal  geführt  würden,  daß  England  wegen  seines 
lukrativen  Handels  mit  Portugal  sehr  beunruhigt  darüber  sei 
(24.  September   1737),   daß   Spanien   ein   Unternehmen  auf 
Gibraltar  plane  (7.  Dezember  1737)  usw.   Wirklich  ist  dann 
im    Jahre    1739   der   offene   Krieg  zwischen   England   und 
Spanien  ausgebrochen,  und  Fleury  hat  im  September  1740 
sich  entschlossen,  den  Spaniern  eine  französische  Flotte  zur 
Hilfe    zu    senden.     Der    große    englisch-französische    Welt- 
gegensatz brach   also   wieder  aus.    Diese   Dinge  sind   von 
unermeßlicher  Bedeutung  auch  für  Preußen  geworden;  sie 
schufen  die  Konstellation,  in  der  Friedrich  als  König  sein 
schlesisches    Unternehmen   wagen    konnte,    weil    er   darauf 
rechnen  konnte,  entweder  die  englische  oder  die  französische 
Allianz  zu  finden.    Die  Spaltung  der  Westmächte  gab  einer 
Zentralmacht  wie  Preußen  sofort  Luft  und  Atemraum  — 
damals  wie  später.    Das  hat  man  auch  damals  in  Berlin 
sehr  wohl   erkannt.^)     In   einem   Erlasse  an   Luiscius  vom 
26.  April  1738  heißt  es:  Die  englisch-spanischen  Differenzen 
könnten  leicht  zum  Kriege  führen,  wo  dann  Frankreich  und 
die  Generalstaaten  hineingezogen  werden  könnten,  was  den 
europäischen  Affären  eine  neue  Gestalt  geben  und  unserem 
Interesse  vielleicht  nicht  übel  zu  statten  kommen  würde. 
Was   die   Minister   Friedrich   Wilhelms    I.   gemerkt   haben, 
sollte  das  nicht  auch  der  junge  Friedrich  gesehen  haben? 
Er,  der  in  den  Considerations  doch  gerade  einen  Keil  hinein- 
treiben will  in  die  drohende  Vereinigung  Frankreichs  und 


teristischen  Bemerkung:  „Die  Krone  Frankreich  hat  gegen  England 
eine  JMaxime,  so  die  einzige  und  beste  ist,  von  der  hiesigen  Nation 
sich  Recht  zu  verschaffen.  Denn  wenn  dergleichen  Streitigkeiten  vor- 
fallen, so  beklagen  sich  die  Franzosen  niemals,  sondern  suchen  gleich 
Repressalien  zu  gebrauchen  und  sich  in  Avantage  zu  setzen." 

^)  Aller  Welt  Augen,  heißt  es  schon  in  einem  Erlasse  an  Borcke, 
den  preußischen  Vertreter  in  England,  vom  19.  Februar  1737,  sind 
jetzt  auf  das  große  Seearmement  in  Spanien  und  Frankreich  gerichtet; 
einige  wollen  glauben,  daß  es  auf  England  gemünzt  sei  oder  daß  man 
zum  wenigsten  Port  JVlahon  und  Gibraltar  den  Engländern  wieder  weg- 
zunehmen beabsichtige.  Wir  sind  „curieux"  zu  wissen,  was  darüber 
gesprochen  werde. 


54  Friedrich  Meinecke, 

der  Seemächte  gegen  Preußen  ?  Wenn  er  auf  englische  Leser 
wirken   wollte,   warum  warnt   er  sie   nur  vor   Frankreichs 
kontinentalem    Ehrgeize,    vor    Frankreichs    Gelüsten    auf 
Luxemburg  und  die  Rheingrenze,  vor  Spaniens  unruhiger 
Politik  in  Italien,  warum  nicht  vor  dem,  was  den  Engländer 
in  Herz  und  Nieren  traf,  vor  der  maritimen  Politik  Frank- 
reichs und  Spaniens  ?i)   Schon  Lavisse  hat  bemerkt,  daß  dem 
Schreiber  der   Considerations  ,,die   Dinge   des  Meeres   ent- 
gehen".2)    Er  erklärt  es  aus  der  rein  kontinentalen  Orien- 
tierung der  friderizianischen  Interessen.    Diese  muß  im  all- 
gemeinen wohl  zugegeben  werden,  aber  Englands  Krämer- 
politik war   schon   damals   derart   Tagesgespräch   und   die 
englisch-spanischen  Händel  und  die  Frage,  wie  Frankreich 
in  sie  eingreifen  würde,  waren   derart  frisch  und  aktuell, 
daß  das  gänzliche  Schweigen  der  Schrift  von  diesen  Dingen 
schlechthin   rätselhaft   berührt  —  um   so   rätselhafter,   als 
die  bald  darauf  niedergeschriebene  Refutation  du  prince  de 
Machiavell  ganz  prägnant  und  scharf  die  große  politische 
und  wirtschaftliche  Bedeutung  des  merkantilen  Gegensatzes 
zwischen   Frankreich  und   Spanien  auf  der  einen  und  den 
Seemächten  auf  der  anderen    Seite  charakterisiert.^) 

Man  kann  sich  nur  mit  einer  Erklärung  helfen.  Die 
Tendenz  der  Schrift,  auf  die  Seemächte  zu  wirken  und  an 
ihre  besonderen  Interessen  zu  appellieren,  hat  nicht  von 
Hause  aus  bestanden,  liegt  nicht  im  ursprünglichen  Wurfe 
des  Verfassers,  ist  vielmehr  erst  nachträglich  und  darum 
unvcllkcrrmen  hineingearbeitet  worden.  Das  Schreiben  Fried- 


1)  Ganz  kurz  nur  und  ohne  jeden  Kommentar  werden  S.  23 
die  damaligen  Absichten  Frankreiciis  auf  Korsika  erwähnt,  die  in 
England,  wie  eine  iVIeldung  aus  London  vom  14.  Febr.  1738  zeigte, 
als  Vorstoß  gegen  die  englischen  Levantehandelsinteressen  aufgefaßt 
wurden;  England  hielt  es  mit  den  korsischen  Rebellen.  Das  Eingreifen 
Frankreichs  auf  Korsika  erfolgte  auf  Grund  einer  Konvention  mit 
Genua  vom  10.  Nov.  1737;  im  Februar  1738  gingen  darauf  französische 
Truppen  nach  Korsika  ab.  Letteron,  Pieces  et  documents  divers  p.  s.  ä 
Vhist.  de  la  Corse  1737/39  S.  61 ;  Journal  et  memoires  du  marquis  d'Ar- 
genson  1,  287;  Le  Glay,  Hist.  de  la  conquite  de  la  Corse  par  les  Fran- 
gais  S.  4. 

2)  Le  Grand  Frediric  avant  l'avenement  S.  197. 

3)  Oeuvres  8,  269. 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Considerations  sur  l'^tat  etc.      55 

richs  an  Grumbkow  aus  dem  Januar  1738  läßt  sich  damit 
recht  wohl  vereinigen.  „Ich  habe  mehr  als  je  Lust,"  heißt 
es  ja  darin,  ,, meine  Piece  zu  veröffentlichen;  wenn  Sie  es 
für  angebracht  halten,  werde  ich  sie  nach  England  schicken 
usw."  Die  Schrift  lag  damals  also  in  einer  bestimmten  Re- 
daktion bereits  fertig  vor  und  war  vom  Verfasser  auch 
schon  an  Grumbkow  mitgeteilt  worden,  denn  wie  konnte 
Grumbkow  sonst  in  der  Lage  sein,  ein  Urteil  über  die 
Zweckmäßigkeit  der  Veröffentlichung  abzugeben?  Und  nun 
läßt  sich  mit  Bestimmtheit  nachweisen,  daß  diese  Grumbkow 
mitgeteilte  „piece''  weniger  enthalten  haben  muß  als  die 
uns  in  den  Oeuvres  vorliegende  Redaktion.  Der  Brief  an 
Grumbkow  aus  dem  Januar  1738  beginnt  nämlich  mit  den 
Eindrücken,  die  die  Lektüre  des  von  dem  französischen 
Gesandten  Fenelon  am  14.  Dezember  1737  im  Haag  über- 
reichten Memoires  auf  den  Kronprinzen  gemacht  haben. i) 
Sie  müssen  ganz  frisch  sein.  Er  ist  entrüstet  über  die  Un- 
verschämtheit dieses  Memoires,  es  erinnert  ihn  an  die  inso- 
lente Rede,  die  der  Römer  Papirius  (gemeint  ist  Popilius 
Laenas)  dem  Könige  Antonius  (gemeint  ist  Antiochus)  von 
Syrien  gehalten  hat,  als  dieser  einen  Krieg  gegen  Ägypten 
plante.  Die  Considerations  in  der  Redaktion  der  Oeuvres 
enthalten  nun  ebenfalls  und  noch  ausführlicher  diesen  Ver- 


^)  Koser,  Briefwechsel  S.  174.  Mon  eher  Marechal.  En  lisant  le 
memoire  presente  ä  La  Haye,  il  me  semblait  entendre  le  discours  inso- 
lent que  Papirius  . .  .  tint  ä  Antonius  etc.  In  Berlin  wurde,  wie  Koser 
feststellte,  der  Wortlaut  des  Memoires  erst  im  Januar  1738  bekannt. 
Danach  hat  er,  abweichend  von  Duncker,  der  den  Brief  in  den  März 
verlegte,  ihn  mit  Recht  in  den  Januar  gesetzt.  Im  März  war  der  schlimme 
Eindruck  des  Fenelonschen  Memoires  längst  überholt  durch  den  noch 
viel  schlimmeren  Eindruck  der  identischen  Noten  vom  10.  Febr.,  die 
Friedrich,  als  er  den  Brief  schrieb,  noch  nicht  gekannt  haben  kann. 
Auch  die  im  Briefe  ausgesprochene  vorbehaltlose  Hoffnung,  auf  das 
seemächtliche  Publikum  zu  wirken,  hätte  durch  die  Beteiligung  der  See- 
mächte an  den  identischen  Noten  sehr  herabgestimmt  werden  müssen. 
—  Die  Akten  ermöglichen  es,  die  Tage  des  Januars  1738,  in  denen 
der  Brief  geschrieben  sein  muß,  noch  genauer  festzulegen.  Luiscius 
konnte  die  Abschrift  des  Fenelonschen  Memoires  vom  14.  Dez.  1737, 
die  er  sich  zu  verschaffen  gewußt  hatte,  am  7.  Januar  nach  Berlin 
absenden;  dort  traf  seine  Sendung  am  12.  Januar  ein.  Kurz  darauf 
muß  Grumbkow  die  Abschrift  dem  Kronprinzen  mitgeteilt  und  dieser 
den  Brief  geschrieben  haben. 


56  Friedrich  Meinecke, 

gleich,  verweisen  ebenfalls  dabei  auf  das  Fenelonsche  Me- 
moire und  fügen  dieses  als  Anlage  der  Schrift  bei.^)  Es  ist 
ausgeschlossen,  daß  die  dem  Momente  entsprungene,  auf 
eben  erfolgter  Lektüre  beruhende  Auslassung  des  Briefes 
über  das  Fenelonsche  Memoire  und  die  dadurch  erregte 
Reminiszenz  an  Popilius  Laenas  sich  bereits  in  demjenigen 
Texte  der  Considerations  befunden  haben,  den  Grumbkow 
damals  schon  kannte,  Sie  müssen  also  nachträglich  hinein- 
gearbeitet worden  sein. 2)  An  die  Veröffentlichung  der  Schrift 
muß  Friedrich,  wie  die  Worte  des  Briefes  an  Grumbkow 
beweisen,  schon  vor  der  Kenntnisnahme  des  Fenelonschen 
Memoires,  also  doch  wohl  von  vornherein  gedacht  haben. 
Jetzt,  nachdem  er  es  gelesen,  denkt  er  erst  recht  daran 
(fai  plus  envie  que  Jamals  de  publler  ma  pike).  Sie  gerade 
in  England  erscheinen  zu  lassen,  kann  ihm  aber  vielleicht 


^  1)  Preuß  hat  in  der  Ausgabe  der  Oeuvres  8,  28  f.,  wie  Duncker 
S.  42  f.  nachgewiesen  hat,  aus  Versehen  nicht  das  von  Friedrich  ge- 
meinte Memoire  vom  14.  Dez.  1737,  sondern  ein  älteres  vom  3.  Jan. 
1737  abdrucken  lassen.  Irrig  ist  auch  die  Vermutung  Droysens,  Ge- 
schichte d.  preuß.  Politik  IV,  3  S.  317,  daß  Friedrich  eine  am  18.  Mai 
1737  im  Haag  überreichte  gemeinsame  Note  des  französischen  und 
österreichischen  Gesandten  gemeint  habe.  Nur  auf  das  Memoire  vom 
14.  Dez.  1737  treffen  die  beiden  Merkmale,  die  sich  aus  den  Considera- 
tions ergeben,  zugleich  zu,  indem  es  1.  von  F^nelon  allein  gezeichnet 
ist,  2.  einen  drohenden  und  imperatorischen  Ton  anschlägt. 

2)  Eine  Textbeobachtung  bestätigt  dies.  Im  Briefe  an  Grumbkow 
schreibt  er  nach  ungenauer  Erinnerung  und  in  der  Hast  des  Augen- 
blicks Papirius  für  Popilius  und  Antonius  für  Antiochus.  Sowohl  das 
eigenhändige  Petersburger  Manuskript  wie  der  Text  der  Oeuvres  gibt 
die  richtigen  Namen  Popilius  und  Antiochus,  die  er  inzwischen  wohl 
bei  Rollin  nachgeschlagen  hatte.  —  Nicht  ausgeschlossen  ist  es,  daß 
auch  einige  Sätze  des  Schlusses  nachträglich,  und  zwar  nach  dem 
19.  Februar  1738,  dem  Tage  der  preußischen  Antwort  auf  die  identi- 
schen Noten  vom  10.  Februar,  hinzugefügt  sind.  Friedrich  war  höchst 
unzufrieden  mit  dieser  Antwort,  fand  sie  Charakter-  und  würdelos  und 
gab  dies  Grumbkow,  den  er  für  mitschuldig  hielt,  am  4.  März  deut- 
lich zu  hören  (Koser  a.  a.  O.  176).  Am  Schlüsse  der  Considirations 
aber  fordert  Friedrich  die  Fürsten  feieriich  auf,  das  Heil  ihres  Volkes 
nicht  blindlings  der  Sorge  eines  Ministers  zu  überiassen,  qui  peut  itre 
suborni,  qui  peut  manquer  de  talents,  et  qui  presque  toujours  est  moins 
intiressi  que  le  maitre  au  bien  public.  Ebenso  könnte  auch  der  Schluß- 
satz c'est  un  opprobre  et  une  ignominie  de  perdre  ses  Etats  ein  Reflex 
dieser  Stimmungen  sein. 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Considärations  sur  l'etat  etc.      57 

erst  jetzt  eingefallen  sein  {Si  vous  le  jugez  ä  propos,  je  Ven- 
verrai  en  Angleterre).  Dann  muß  man  aber  auch  mit  der 
Möglichkeit  rechnen,  daß  er  erst  jetzt  daran  gegangen  ist, 
sie  für  das  englische,  oder  allgemeiner  gesagt,  für  das  see- 
mächtliche Publikum  zu  aptieren  und  umzuredigieren.  Sehen 
wir  uns  nach  weiteren  Spuren  um,  die  diese  Vermutung 
stützen  könnten. 

Der  Kronprinz  teilte  am  19.  April  1738  Voltaire  mit, 
daß  er  ihm  demnächst  seine  Considerations  schicken  werde, 
daß  er  sie  in  England  habe  anonym  drucken  lassen  wollen, 
aber  aus  einigen  Gründen  die  Ausführung  dieser  Absicht 
verschoben  habe.  Im  Sommer  1738  ging  dann  die  Schrift 
an  Voltaire  ab.^)  Dieser  schrieb  ihm  darüber  am  5.  August: 
„Es  herrscht  in  diesem  Werke,  das  seines  Verfassers  würdig 
ist,  ein  Stil,  der  Sie  verrät,  und  ich  sehe  in  ihr  so  ein  ge- 
wisses Air  eines  Reichsstandes,  das  ein  englischer  Bürger 
nicht  hat.  Ein  Mitglied  des  Oberhauses  oder  der  Gemeinen 
hat  nicht  soviel  Interesse  an  den  deutschen  Freiheiten." 
Also  auch  Voltaire  fand  die  Schrift  unenglisch  gedacht  und 
für  englische  Leser  nicht  geeignet.  Nur  tadelte  er  nicht  das 
Zuwenig  an  englischem  Füllsal,  sondern  das  Zuviel  an 
deutschem  Füllsal  in  der  Schrift.  Und  in  der  Tat  berührt 
es  sehr  merkwürdig  in  einer  für  englische  Leser  bestimmten 
Schrift,  eine  längere,  mit  ausführlichen  Zitaten  belegte  Aus- 
führung über  verschiedene  Verstöße  des  Kaisers  gegen  seine 
Wahlkapitulation  zu  finden,  die  er  durch  die  Hineinziehung 
des  Reiches  in  den  Polnischen  Erbfolgekrieg  und  durch  die 
Veräußerung  eines  Reichslehens  wie  des  Herzogtums  Lothrin- 
gen begangen  habe.  Voltaire  wird  ferner  auch  an  den  starken 
Eifer  des  Verfassers  für  die  deutsche  Libertät  oder,  wie  dieser 
sich  ausdrückt,  für  das  seit  undenklicher  Zeit  in  Deutsch- 
land bestehende  gouvernement  dimocratique  gedacht  haben, 
das  von  den  erbmonarchischen  Zielen  des  Kaisers  bedroht 
werde.  Man  könnte  über  solche  binnendeutsche  Bestand- 
teile der  Schrift  wohl,  wenn  weitere  Bedenken  nicht  vor- 
lägen, hinwegsehen  und  dem  jungen  fürstlichen  Verfasser  es 
zugute  halten,  daß  er  den  Bannkreis  der  eigenen  Welt  nicht 

^)  Koser  und  Droysen,  Briefwechsel  Friedrichs  d.  Gr.  mit  Vol- 
taire I,  176  u.  196. 


58  Friedrich  Meinecke, 

ganz  verlassen  und  Interesse  für  reichspolitische  Fragen  und 
Möglichkeiten  auch  beim  englischen  und  holländischen  Leser 
vorausgesetzt  hat.    Aber  da  einmal  der  Verdacht  geweckt 
ist,  daß  er  nicht  immer  nur  an  englische  und  holländische 
Leser  gedacht  hat,  muß  man  sich  doch  die  Frage  stellen, 
ob  etwa,  als  er  die  Schrift  begann,  auch  ein  binnendeut- 
sches, ein  reichsständisches  Publikum  für  ihn  in  Betracht 
kommen  konnte.    Und  da  bleiben  die  Augen  sofort  am  Ein- 
gang der  Schrift  haften.   Man  pflegt  gern  beim  Beginn  einer 
Schrift,    die   einen   bestimmten    Leserkreis   sucht,   auf   ihn 
anzuspielen  und  ihn  mobil  zu  machen.    Das  tun  auch  die 
Considerations.     ,, Niemals,"    so    beginnen    sie,    ,, haben    die 
öffentlichen    Angelegenheiten    mehr    die    Aufmerksamkeit 
Europas   verdient    als  heute."     Ganz   neue  Dinge  bereiten 
sich,   so   ist  der  Sinn   des  zweiten  Satzes,   heute  vor.    Der 
dritte  Satz  aber  lautet:  ,,Wenn  es  der  Wißbegierde  eines 
vernünftigen  Menschen  würdig  ist,  in  die  Geheimnisse  der 
Höfe   einzudringen,   ihre  Abgründe  zu   erforschen   und   die 
Wirkungen  in  ihren   Ursachen  zu  entdecken,  so  muß  ein 
Fürst,  pour  peu  qu'il  figure  dans  l'Europe,  das  Auge  auf 
die  Haltung  der  Höfe  richten,  sich  über  die  wahren  Inter- 
essen  der  Reiche  unterrichten"  usw.     Ich  kann   mir  nicht 
vorstellen,  daß  Friedrich,  als  er  diesen  Eingangssatz  schrieb, 
ausschließlich  oder  auch  nur  in  erster  Linie  schon  an  ein 
englisches  und  holländisches   Publikum  gedacht   hat.    Die 
Worte  wären  verständlich,  wenn  er  die  Schrift,  sei  es  zur 
eigenen  Klärung,  sei  es  zum  Handgebrauche  der  preußischen 
Minister  begonnen  hätte.    Aber  damit  wäre  wieder  die  An- 
lage der  Schrift,  die  das  preußische  Interesse  unter  gesamt- 
europäischer  Betrachtung  verbirgt    und  also   offenbar  auf 
Leser    außerhalb    Preußens   berechnet   ist,    nicht    zu   ver- 
einigen.    Wir  sahen,  daß  er  sie  höchst  wahrscheinlich  von 
vornherein    zur  Veröffentlichung    bestimmt  hat.    So  bleibt 
denn,   wenn  wir  zugleich  an  die  reichsrechtlichen  Ausfüh- 
rungen   der    Schrift    denken,    nur    die    Vermutung    übrig, 
daß  er  deutsche  Reichsfürsten  im  Auge  hatte^),  die  er  be- 

1)  Man  nehme  hinzu,  daß  auch  der  Schhiß  der  Schrift  sich  un- 
mittelbar an  fürstliche  Leser  wendet:  Si  mes  reflexions  ont  le  bonheur 
de  parvenir  aiix  oreilles  de  quelques  princes  etc.  S.  25. 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Consid^rations  sur  l'etat  etc.      59 

einflussen  wollte,  deren  Haltung  ihm  vielleicht  Sorge  machte, 
die  —   so    müssen    wir   doch    nun  unsere  Vermutung  aus 
dem  Inhalte  der  Schrift  ergänzen  —  vielleicht  gar  zu  eng 
an  Frankreich  und  den  Kaiser  herangerückt  sind,  die  man 
warnen  muß  vor  dem  Ehrgeize   des  einen  wie  des  andern, 
denen    man    klarmachen    muß,    daß    die    reichsfürstliche 
Libertät  von  dem  einen  wie  von  dem  andern  bedroht  wird. 
In  dieser  Lage  waren  damals  die  wittelsbachischen  Fürsten, 
der  alte   Kurfürst   von  der  Pfalz,  der  Pfalzgraf  von    Sulz- 
bach, der  Kurfürst  Karl  Albert  von  Bayern.    Daß  Friedrich 
an  Kurpfalz  oder  an  Sulzbach,   die  unmittelbaren    Gegner 
und  Rivalen  in  der  jülich-bergischen  Frage,  gedacht  haben 
könne,  ist  freilich  kaum  anzunehmen.    Preußen  verhandelte 
wohl  mit  ihnen  über  eine  gütliche  Einigung,  aber  ohne  Er- 
folg.^)   Es  bot  ihnen  finanzielle  und  territoriale  Vorteile; 
wenn  diese,   wie  es  der   Fall  war,   nicht  wirkten,  war  es 
chimärisch,  sie  mit  hochpolitischen  Argumenten  zu  erweichen. 
Für  die  großen  politischen  Konstellationen  kamen  diese  Klein- 
fürsten nicht  in  Betracht.  Wohl  aber  war  Kurbayern  berufen, 
eine  Rolle  in  ihnen  zu  spielen,  und  eben  in  dem  Momente, 
den  die  Schrift  als  den  großen  Augenblick  nennt,  wo  die 
Pforten  aufspringen  und  Frankreichs  Ehrgeiz  unverhüllt  und 
massiv  heraustreten  werde.    Kurbayern  hatte  1731  gegen  die 
Anerkennung  der  pragmatischen  Sanktion  durch  das  Reich 
protestiert,  weil  es  eigene  Erbansprüche  an  die  habsburgischen 
Lande  hatte.^)    Wenn  der  Kaiser  stirbt,  so  heißt  es  in  der 
Schrift,  werden  alle  Kurfürsten  durch  die  Interessen,  die  sie 
zerteilen,  sich  veruneinigt  finden.    Die  einen  werden  in  der 
Jagd  nach   Sondervorteilen  in  die  Arme   Frankreichs  sich 
werfen  und  das  gemeinsame  Interesse  opfern;  andere  werden 
sich  um  die  Kaiserwürde  streiten;  andere  werden  sich  zer- 
reißen für  die  Sukzession  des  Kaisers;  andere,  geschwellt  von 
Hoffnungen,  die  ihnen  große  Allianzen  geben,  werden  überall- 
hin die  Fackel  des  Krieges,  Unruhe  und  Verwirrung  tragen. 
Ohne  Frage  dachte  Friedrich  hier  in  erster  Linie  mit  an 
Kurbayern.    Am  18.  März  1737  hatte  ihm  Grumbkow   ge- 

1)  Droysen,  Gesch.  d.  preuß.  Politik  IV,  3,  305. 

2)  Heigel,  Der  österreichische  Erbfolgestreit  und  die  Kaiserwahl 
Karls  VII.  S.  9. 


60  Friedrich  Meinecke, 

schrieben,  daß  der  eben  gestürzte  französische  Staatsmann 
Chauvelin  in  dem  Kurfürsten  von  Bayern  den  künftigen  Kaiser 
gesehen  habe.^)  Chauvelin  war  gestürzt  von  Fleury,  und  mit 
dem  Ausscheiden  dieses  scharf  antihabsburgisch  gesinnten 
Staatsmannes  war  die  letzte  Hemmung  der  französisch-öster- 
reichischen Entente  gefallen.  Und  nun  arbeitete,  wie  man 
gerade  in  den  Wochen  hörte,  wo  die  Considerations  entstan- 
den, Fleury  auch  an  einer  Verständigung  zwischen  Bayern 
und  dem  Kaiser.^)  Brands  Depeschen  aus  Wien  vom  19. 
und  30.  Oktober,  2.  und  27.  November  1737  berichteten  da- 
von, wenn  auch  mit  starken  Zweifeln,  ob  die  Verständigung 
gelingen  werde.  Am  28.  Oktober  1737  meldete  Chambrier 
aus  Paris  das  Gerücht,  daß  der  Kurfürst  von  Bayern  seine 
Lande  an  den  Kaiser  oder  den  Großherzog-Schwiegersohn 
Franz  von  Toskana-Lothringen  abtreten  und  dafür  Toskana, 
Parma  und  Piacenza  erhalten  werde,  oder  auch,  daß  Kur- 
bayern Augsburg,  Ulm  und  Regensburg  erhalten  und  dafür 
die  pragmatische  Sanktion  garantieren  werde.  Am  1.  No- 
vember 1737  meldete  auch  Luiscius  aus  dem  Haag,  daß 
Frankreich  sich  um  ein  Einvernehmen  zwischen  Österreich 
und  Kurbayern  bemühe  —  eine  unbegreifliche  Sache,  setzte 
er  hinzu;  da  alle  die  großen  Dinge,  die  der  Kardinal  tue, 
um  den  Kaiser  zu  befriedigen,  so  wenig  natürlich  für  einen 
Premierminister  von  Frankreich  seien,  so  vermehre  das  den 
Argwohn,  daß  der  Kaiser  sie  bezahlen  müsse  mit  irgend- 
einem Platze  der  Niederlande.  In  Berlin  horchte  man  hoch 
auf  bei  diesen  Meldungen.  Man  sagte  sich  zwar,  daß  es  bei 
den  hohen  Ansprüchen  Bayerns  an  das  Haus  Österreich 
sehr  schwer  sein  werde,  Bayern  zu  befriedigen  und  zur  An- 
erkennung der  pragmatischen  Sanktion  zu  bewegen.  Aber 
man  nahm  an,  daß  Fleury  ernstlich  darauf  ausgehe  und 
auch  hoffe,  einen  Vergleich  zwischen  Bayern  und  Osterreich 

^)  Schon  ein  französisch-bayerischer  Vertrag  von  1714  nahm  ein 
bayerisches  Kaisertum  nach  dem  Tode  Karls  VI.  in  Aussicht.  Heigel 
a.  a.  0.  S.  4. 

2)  Über  die  Tatsachen,  die  diesen  Richtiges  und  Unrichtiges  ver- 
mischenden Nachrichten  zugrunde  lagen,  vgl.  Heigel  S.  17  ff.  Anschei- 
nend hat  aber  auch  Heigel  den  ganzen  Umfang  dieser  Verhandlungen 
nicht  aufgedeckt.  Für  uns  kommt  es  hier  natürlich  nur  auf  das  an, 
was  man  in  Berlin  davon  hörte. 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Considärations  sur  l'ätat  etc.      61 

zustandezubringen.i)  Und  wenn  Fleurys  Pläne  gelängen, 
dann  sei  —  wir  haben  diese  Worte  aus  dem  Erlasse  an 
Luiscius  vom  9.  November  schon  kennen  gelernt  —  die 
große  katholische  Liga  so  gut  als  formiert. 

Wir  erinnern  uns,  daß  Friedrich  von  der  konfessionel- 
len Seite  der  französisch-kaiserlichen  Verständigungspolitik 
schweigt.  Eben  dies  Schweigen  läßt  sich  ungezwungen  be- 
greifen, wenn  Friedrich  bei  Abfassung  der  Schrift  eine  Ein- 
wirkung auf  Bayern  mit  im  Auge  hatte.  Eine  endgültige 
Aussöhnung  Bayerns  mit  dem  Kaiser  und  zwar  unter  fran- 
zösischer Ägide  wäre  für  Preußen  schon  damals  höchst  fatal 
gewesen,  hätte  der  Einkreisungspolitik,  die  Preußens  Inter- 
essen zu  ersticken  drohte,  ein  weiteres  Glied  hinzugefügt. 
Und  vor  allem:  Friedrich  hätte  damit  einen  der  Steine  seines 
künftigen  Brettspieles  verloren.  Denn  auch  er  sah  mit  ge- 
spannter Erwartung  dem  großen  Augenblicke  entgegen,  wo 
der  Kaiser  die  Augen  schließen  werde.  Schon  unter  dem 
bitteren  Eindrucke  des  französisch-österreichischen  Präli- 
minarfriedens stellte  er  in  einem  Briefe  an  Grumbkow  vom 
15.  November  1735  die  Berechnung  an,  daß  die  französische 
Garantie  der  pragmatischen  Sanktion  doch  von  sehr  zweifel- 
hafter Haltbarkeit  sei.  Wenn  der  Kaiser  stirbt,  schrieb  er 
am  24.  März  1737  an  Grumbkow,  welche  Revolutionen  würde 
man  nicht  in  der  Welt  sehen.  Jeder  würde  von  seiner  Nach- 
lassenschaft profitieren  wollen,  und  man  würde  soviel  Par- 
teien als  verschiedene  Souveräne  sehen.  Und  ein  Jahr  darauf, 
am  23.  Juli  1738:  die  Nachrichten  aus  Wien  geben  ein  trau- 
riges Prognostikon  für  die  deutschen  Dinge,  falls  der  Kaiser 
stirbt.  Frankreich  wird  dann  das  schönste  Spiel  haben,  das 
es  sich  wünschen  kann.  Nie  kann  ihm  Glücklicheres  be- 
gegnen, als  die  Fürsten  des  Reichs  veruneint  und  Wien 
gegen  Wien  konspirieren  zu  sehen,  um  die  ehrgeizigen  Pläne 
zu  begünstigen,  die  die  Richelieu  und  Mazarin  nicht  haben 
ausführen  können.  Daß  nun  Friedrich,  wenn  er  als  König 
den  Tod  des  Kaisers  erleben  sollte,  schon  damals  nicht  stille 
zu  sitzen  gesonnen  war,  bedarf  keines  umständlichen  Nach- 
weises.   Er  war  schon  für  den  Fall,   daß  er  als  König  den 


^)  Erlasse  an  Brand  und  Luiscius  vom  9.  Nov.  1757. 


62  Friedrich  Meinecke, 

Tod  des  Pfälzers  erleben  sollte,  entschlossen,  eine  Politik  zu 
treiben,  die,  so  schrieb  er  an  Grumbkow  am  I.November 
1737,  seine  Interessen  nicht  fremden  Mächten  opfern  werde. 
,,Ich  fürchte  vielmehr,  daß  man  mir  zu  viel  Verwegenheit 
und  Lebhaftigkeit  vorwerfen  wird.  .  .  .  Wer  weiß,  ob  die 
Vorsehung  mich  nicht  aufspart,  um  einen  ruhmreichen  Ge- 
brauch der  Vorbereitungen,  die  der  König  für  den  Krieg 
getroffen  hat,  zu  machen."  So  verrät  denn  auch  die  Stelle 
der  Considerations,  die  vom  Tode  des  Kaisers  handelt,  das 
heiße  Blut  und  das  schlagende  Herz  des  Schreibers.  Man 
kann  sie  ohne  Zwang  schon  dahin  interpretieren,  daß  er 
unter  den  Kurfürsten,  die  von  der  Hoffnung  auf  große 
Allianzen  geschwellt  die  Fackel  des  Krieges  erheben  würden, 
nicht  nur  den  Bayern,  sondern  auch  sich  selbst  mit  er- 
blickte. Er  ließ  wohl  etwas  moralischen  Tadel  mit  einfließen, 
aber  der  gehörte  nun  einmal  zur  üblichen  Ausdrucksweise, 
die  selbst,  wie  wir  eben  sahen,  in  den  vertraulichen  Briefen 
an  Grumbkow  nicht  fehlt.  Wie  er  sich  selber  in  seinen  ehr- 
geizigen Hoffnungen  dadurch  nicht  gehemmt  fühlte,  so 
brauchte  er  auch  nicht  zu  besorgen,  daß  er  den  bayerischen 
Leser  verstimmen  würde. 

Es  war,  so  dürfen  wir  zusammenfassend  sagen,  nützlich, 
in  einem  Augenblicke,  wo  Frankreich,  wie  es  hieß,  an  einer 
österreichisch-bayerischen  Verständigung  arbeitete,  den  Bay- 
ern daran  zu  erinnern,  daß  er  die  Karte,  die  er  beim  Tode 
des  Kaisers  auszuspielen  gedachte,  nicht  vorzeitig  aus  der 
Hand  gäbe;  es  war  auch  zweckmäßig,  ihn  nicht  nur  vor  dem 
jetzigen  Kaiser,  sondern  auch  vor  dem  künftigen  Frank- 
reich, das,  zur  Herrschaft  gelangt,  seine  Verbündeten  miß- 
handeln werde,  zu  warnen.  In  weiterer  Arbeit  an  der  Schrift 
trat  dann  die  Absicht,  auch  die  Seemächte  mit  Mißtrauen 
und  Sorge  vor  Frankreich  zu  erfüllen,  hinzu,  und  zwischen 
den  Zeilen  verrät  sich  zugleich  der  eigene  heimliche  Ehrgeiz. 
Die  Schrift  ist  also  nicht  nur  auf  den  Moment,  sondern  auch 
auf  die  Zukunft  eingestellt.  Sie  will  die  momentane  Ein- 
kreisung, die  die  jülich-bergischen  Ansprüche  Preußens  zu 
erdrücken  drohte,  lockern,  indem  sie  überall  Sprengpulver 
in  die  Fugen  der  drohenden  Koalition  wirft.  Dabei  war  die 
Augenblicksaulgabe,   Bayern  und  die  Seemächte  von  dem 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Considdrations  sur  l'^tat  etc.      63 

französisch -österreichischen  Blocke  fernzuhalten.  Diesen 
selbst  schon  zu  spalten,  konnte  man  damals  kaum  hoffen. 
Aber  die  Schrift  konnte  immerhin  auch  schon  den  lebenden 
Kaiser  vor  der  societas  leonina  mit  Frankreich  warnen,  und 
sie  zeigt  vor  allem  mit  Kraft,  daß  alles,  alles  sich  wenden 
werde,  wenn  der  Kaiser  einmal  die  Augen  geschlossen  habe. 
Tabulae  novae  für  Europa  und  Morgenluft  für  Preußen  — , 
das  ist  der  geheime  Grundgedanke  der  Schrift,  aus  ihr  selbst 
schon  herauszulesen  und  vollauf  bestätigt  durch  andere 
gleichzeitige  Ergüsse  des  Verfassers  und  doch  wohl  auch 
durch  das,  was  er  1740  getan  hat.  Sie  sollte  die  Situation 
mit  vorbereiten  helfen,  die  im  Anzüge  war,  und  sie  so  günstig 
gestalten,  daß  Preußen,  erlöst  vom  Alpdrucke  der  jetzigen 
Koalitionen,  wieder  in  die  Lage  kam,  ,, große  Allianzen"  zu 
suchen  und  zu  finden. 

An  welche  europäischen  Allianzmöglichkeiten  der  Zu- 
kunft nun  hat  Friedrich  damals  gedacht?  Am  nächsten  liegt 
es,  an  die  Seemächte  zu  denken,  auf  die  seine  Schrift  in 
ihrer  endgültigen  Form  ja  unmittelbar  einwirken  sollte.  Aber 
seine  Vernachlässigung  der  englisch-spanischen  Differenzen 
und  des  maritimen  Gegensatzes  zwischen  England  und 
Frankreich  spricht  nicht  dafür,  daß  er  diese  Möglichkeit 
damals  schon  so  energisch  und  scharf  erwogen  hat,  wie  er 
es  später  beim  Antritt  seiner  Regierung  getan  hat.  Etwas 
mehr  über  seine  damaligen  Gedanken  erfährt  man  aus  seinen 
Briefen  an  Grumbkow.  Am  1.  November  1737  empfahl  er 
ihm,  Zwietracht  zu  säen  zwischen  Österreich  und  Rußland. 
Dann  würde  man  am  Ende  zu  einer  Allianz  mit  Rußland  und 
vielleicht  auch  Sachsen  kommen,  und  vielleicht  würden  dann 
auch  Holland,  Dänemark  und  Schweden  hinzutreten,  und 
dann  könnte  man,  meinte  er,  offensiv  auftreten,  ,,ohne  diese 
stolzen  Mächte  zu  fürchten,  die  sich  anmaßen,  Europa  das 
Gesetz  zu  geben".  Das  Ziel  der  Considerations,  den  franzö- 
sisch-österreichischen Block  zu  bekämpfen,  tritt  hier  wieder 
prägnant  hervor,  aber  von  diesem  Wege  zum  Ziele  ent- 
halten die  Considerations,  soweit  ich  sehe,  nicht  die  ge- 
ringste Spur.  Man  sieht  nur  eben,  daß  Friedrich  hin  und 
her  suchte  und  tastete,  um  Luft  zu  schaffen  für  Preußen. 
Er  kam  auf  den  russischen  Weg  im  folgenden  Jahre  noch 


64  Friedrich  Meinecke, 

einmal  zurück,  als  er  zu  spüren  glaubte,  daß  Fleury  auf 
Rache  gegen  Rußland  sinne.  Dann  würde,  so  folgerte  er 
am  23.  Juli  1738,  der  Kardinal  vielleicht,  um  Preußen  gegen 
Rußland  zu  gewinnen,  in  der  jülich-bergischen  Frage  mit 
sich  reden  lassen.  ,,Man  müßte  dann  erwägen,  ob  es  zweck- 
mäßig wäre,  sich  einem  Kriege  mit  dieser  Macht  (Rußland) 
auszusetzen  und  sich  ihre,  Sachsens  und  Polens,  Kräfte  auf 
den  Hals  zu  ziehen,  oder  ob  es  nicht  besser  wäre,  eine  Allianz 
zu  bilden,  um  sich  der  größeren  Gewalt  entgegenzuwerfen, 
die  jetzt  alles  verschlingen  zu  wollen  scheint;  ob  es  nicht 
besser  wäre,  das  alte  System  zu  suchen  und  eine  Liga  gegen 
diese  verschmitzten  Franzosen  zu  bilden."  Er  überlegte 
also,  ob  man  mit  Frankreich  gegen  Rußland  oder  mit  Ruß- 
land gegen  Frankreich  gehen  solle,  ließ  aber  erkennen  oder 
versetzte  wenigstens  Grumbkow  in  den  Glauben,  daß  ihm 
das  ,,alte  System"  der  Front  gegen  Frankreich  sympathi- 
scher sei. 

Auch  die  Considerations  scheinen  auf  den  ersten  Blick 
ganz  und  gar  darauf  gestimmt  zu  sein.  Schon  Ranke,  als 
er  seinen  Aufsatz  über  die  großen  Mächte  schrieb,  hat  sie 
so  verstanden,  daß  sie  die  größere  Gefahr  für  Europa  nicht 
in  der  zwar  gewaltsamen,  aber  innerlich  schwachen  Macht 
des  kaiserlichen  Hofes,  sondern  in  der  einschläfernden,  aber 
klugen  und  lauernden  Politik  Frankreichs  erblickten.  Leiden- 
schaftliche Worte  der  Erbitterung  über  Frankreich  fallen 
auch  in  den  Briefen  an  Grumbkow,  und  selbst  Voltaire  be- 
kam sie  am  11.  September  1738  zu  hören,  als  er  nach  der 
Lektüre  der  Schrift  die  Politik  Fleurys  zu  entschuldigen  ver- 
sucht hatte.  Und  doch  bleibt  der  Blick  immer  wieder  haften 
auf  der  merkwürdigen  Stelle,  wo  er  die  Situation  schildert, 
die  der  Tod  des  Kaisers  im  Reiche  und  in  Europa  schaffen 
würde.  Er  hat  doch,  darüber  kommt  man  nicht  hinweg, 
seine  eigene  Handlungsweise  prophezeit,  wenn  er  von  Kur- 
fürsten spricht,  die,  geschwellt  von  der  Hoffnung  auf  große 
Allianzen,  die  Fackel  des  Krieges  erheben  würden.  Er  unter- 
scheidet sie  höchst  bezeichnenderweise  von  denjenigen  Kur- 
fürsten, die  sich  in  die  Arme  Frankreichs  werfen  würden. 
Gewiß,  blindlings  und  vorbehaltlos  wollte  er  das  damals 
ebensowenig  tun,  wie  er  es  1740  und  1741  getan  hat.    Er 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Consid^rations  sur  l'^tat  etc.      65 

hat  im  Juni  1740  seine  Boten  ausgesandt  an  den  französi- 
schen wie  an  den  engHschen  Hof,  um  zu  fragen,  wer  ihm 
am  meisten  böte,  an  den  französischen  Hof  aber  acht  Tage 
früher  als  an  den  englisch-hannoverschen  Hof.  Ich  meine, 
heißt  es  in  der  Weisung  für  Camas  nach  Paris  vom  11.  Juni 
1740,  daß  alle  ihre  Pläne  auf  Ausnutzung  des  Todes  des 
Kaisers  gerichtet  sind.  Wenn  man  mich  gewänne,  könnte 
ich  Frankreich  größere  Dienste  als  einst  Gustav  Adolf  er- 
weisen. An  Fieury  selber  schrieb  er  am  9.  September  1740: 
Frankreichs  und  meine  Interessen  sind  dieselben.  Sie  könnten 
keinen  festeren  und  entschlosseneren  Bundesgenossen  finden 
als  mich.  Gustav  Adolf  hat  einst  Frankreich  Dienste  ge- 
leistet. Und  Fieury  hat  es  im  Jahre  1740  nicht  zum  ersten 
Male  gehört,  daß  Friedrich  den  neuen  Gustav  Adolf  für 
Frankreich  zu  spielen  bereit  sei.  Lavisse  hat  den  Bericht 
des  französischen  Gesandten  La  Chetardie  in  Berlin  vom 
19.  November  1734  über  seine  Gespräche,  die  er  mit  dem 
Kronprinzen  geführt  hatte,  veröffentlicht.^)  Dieser,  der  sich 
damals  auf  eine  baldige  Thronbesteigung  gefaßt  machte, 
sprach  seinen  Wunsch  nach  einer  Verbindung  und  Interessen- 
gemeinschaft mit  Frankreich  aus.  ,,Hat  es  nicht,  sagte  er 
ihm,  einen  Gustav  Adolf  und  Karl  XII.  gegeben  und  ist  es 
unmöglich,  daß  Ihr  Männer  wiederfindet,  die  wie  sie  denken?" 
Er  wiederholte,  erzählt  der  Gesandte,  mir  die  Idee  von  einem 
Gustav  Adolf  und  Karl  XII.  wohl  fünf-  bis  sechsmal.  Ein 
Jahr  darauf  kam  der  französisch-österreichische  Präliminar- 
friede,  den  Preußen  und  auch  Friedrich,  wie  wir  sahen,  als 
ganz  schweren  Schlag  empfanden.  Friedrich  brach  die  poli- 
tischen Gespräche  mit  Chetardie  nun  ab,  erinnerte  ihn  aber 
im  März  1736  noch  einmal  mit  Bedauern  an  die  unaus- 
geführten Ideen,  die  er  ihm  in  jenen  Potsdamer  Gesprächen 
während  der  ernsten  Krankheit  seines  Vaters  mitgeteilt 
habe.2)  Die  Gesinnung  Friedrichs  gegen  Frankreich  kühlte 
sich  in  den  folgenden  zwei  Jahren  genau  in  dem  Grade  ab, 
in  dem  Frankreich  die  jülich-bergischen  Interessen  Preußens 
schädigte.    Dennoch  berichtet  Lavisse,  leider  ohne  ganz  be- 


1)  Le  Grand  Frediric  avant  l'avinement  S.  325ff. 

2)  Lavisse  S.  348. 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  5 


66  Friedrich  Meinecke, 

stimmte  Quellen-  und  Zeitangaben,  daß  sein  Chipotieren 
mit  Frankreich  weiter  gegangen  sei,  daß  Chetardie  bei  einem 
Besuche  in  Rheinsberg,  wo  Friedrich  seit  dem  Herbste  1736 
wohnte,  ähnliche  Worte  zu  hören  bekam  wie  im  März  1736, 
und  daß  der  Prinz  ein  andermal  ganz  ausführlich  den  Nutzen 
einer  preußisch-französischen  Allianz  erörtert  habe.  Wenige 
Wochen  vor  der  Niederschrift  der  Considerations,  am  8.  Sep- 
tember 1737,  richtete  der  Kronprinz  an  Fleury  ein  überaus 
höfliches  Handschreiben. i)  Es  handelte  sich  in  ihm  zwar 
nur  um  die  Anwerbung  langer  Kerle  in  Frankreich,  aber  der 
geringfügige  Anlaß  wurde  sicherlich  nicht  ohne  politische 
Absicht  benutzt.  Keine  Rede  kann  davon  sein  —  auch 
Lavisse  macht  sich  keine  Illusion  darüber  — ,  daß  Friedrich 
seine  Begeisterung  für  die  französische  Kultur  je  auf  die 
französische  Politik  übertragen  habe.  Schon  im  Antimac- 
chiavell  heißt  es:  „Vorliebe  für  die  eine  Nation,  Abneigung 
gegen  die  andere  . . .  dürfen  den  Blick  derer  nicht  trüben, 
welche  ganze  Völker  lenken  sollen."  Alle  irgendwie  denk- 
baren Allianzmöglichkeiten  vielmehr  gingen  ihm  schon  in 
jenen  Jahren,  je  wie  der  Wind  stand,  durch  den  Kopf,  nicht 
nur  die  russische  Allianz  gegen  Frankreich,  sondern  vorüber- 
gehend (im  Februar  1737)  sogar  einmal  ein  Zusammengehen 
mit  dem  Kaiser.  Aber  schon  die  reine  Staatsraison  erklärt 
es,  daß  er  immer  wieder  die  Idee  einer  französischen  Allianz 
betastete.  Er  sah  in  Frankreich  den  Gegner,  solange  die 
von  Fleury  geschaffene  französisch-kaiserliche  Entente  be- 
stand. Wir  dürfen  sogar  seine  Meinung  von  Frankreichs 
universalistischem  Ehrgeize  und  gemeingefährlicher  Macht, 
die  das  ostensible  Leitmotiv  der  Considerations  bildet,  für 
ganz  ehrlich  halten.  Und  doch  sah  er  vermutlich,  um  ein 
Wort  Cavours  zu  variieren,  die  Allianz  Preußens  mit  Frank- 
reich im  Buche  des  Schicksals  geschrieben.  Denn  derselbe 
Moment,  der  dem  höchsten  französischen  Ehrgeize  die  Tore 
öffnen  mußte,  öffnete  sie  auch  dem  preußischen.  Das  hin- 
geworfene und  doch,  wie  wir  meinen,  so  mächtig  empfundene 
Wort  von  den  „großen  Allianzen",  die  ehrgeizige  Kurfürsten 
beim  Tode  des  Kaisers  finden  könnten,  ist  gewiß  nicht  aus- 


1)  A.  a.  O.  S.  364,  vgl.  S.  243. 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Considdrations  sur  l'dtat  etc.      67 

schließlich  auf  die  französische  Allianz  zu  deuten.  Auch  die 
seemächtliche  Allianz  wäre  ihm  recht  gewesen,  wahrscheinlich 
sogar  noch  willkommener,  um  die  Gefahr  einer  französischen 
Übermacht  zu  vermeiden.  Aber  die  für  kontinentale  Zwecke 
leistungsfähigere  Allianz  war  eben  doch  die  französische. 
Und  Friedrich  fühlte  sich,  wie  seine  Handlungsweise  im 
Jahre  1741  vom  Abschlüsse  des  französischen  Bündnisses 
bis  zur  Kleinschnellendorfer  Konvention  beweist,  stark  und 
geschmeidig  genug,  um  mit  Beelzebub  gegen  den  Teufel  ein 
Stück  Arbeit  zusammen  zu  leisten  und  dann  seinen  eigenen 
Weg  zu  gehen.  Nicht  anders  hat  es  Bismarck  mit  Napo- 
leon III,  gehalten,  nur  daß  er,  mächtiger  als  Friedrich,  auch 
noch  imstande  war,  mit  Beelzebub,  als  dieser  seinen  Lohn 
forderte,  gründlich  abzurechnen. 

So  muß  denn  auch  noch  die  Vermutung  erwogen  wer- 
den, ob  Friedrich,  als  er  an  die  Veröffentlichung  der  Con- 
siderations  dachte,  die  ostensible  Fehdeansage  an  Frank- 
reich nicht  etwa  mit  einem  geheimen  Winke  an  Frankreich 
verbinden  wollte.  Er  mußte  sich  doch  wohl  darauf  gefaßt 
machen,  daß  das  Geheimnis  der  Autorschaft,  wie  ihm  Vol- 
taire ins  Gesicht  sagte,  nicht  ganz  verborgen  bleiben  würde. 
Ein  Vogel  mit  so  bunten  Federn,  wie  diese  Schrift  sie  trug, 
lief  nicht  lange  unerkannt  herum  in  der  argwöhnischen  Welt 
der  Politiker.  Einiges  spräche  schon  für  eine  unterirdische 
Absicht.  Fleury  konnte  sich  bei  der  Stelle  über  den  Tod 
des  Kaisers  sofort  an  die  analogen  Äußerungen  Friedrichs  zu 
Chetardie  erinnern,  er  konnte  aus  der  stark  auftragenden 
Schilderung  seiner  eminenten  diplomatischen  Begabung, 
seiner  meisterhaften,  immer  zugleich  den  Schein  der  Mäßi- 
gung und  möglichst  auch  die  Formen  des  Rechtes  wahren- 
den Politik  ein  ganz  massives  Kompliment  für  sich  ent- 
nehmen. Und  das  grelle  Bild,  das  Friedrich  von  der  inneren 
Schwäche  des  österreichischen  Staatswesens,  seinen  zerrüt- 
teten Finanzen,  seinem  verwahrlosten  Heerwesen  entwarf, 
könnte  Frankreichs  Gelüste,  die  Lage  nach  dem  Tode  des 
Kaisers  rücksichtslos  auszunützen,  anzureizen  bestimmt  ge- 
wesen sein.  Wie  es  denn  überhaupt  in  der  Tendenz  der 
Schrift  mit  liegt,  Frankreich  und  den  Kaiser  gegeneinander 
zu  hetzen.  Dennoch  glaube  ich  nicht,  daß  Friedrich,  solange 


68  Friedrich  Meinecke, 

er  an  die  Veröffentlichung  dachte,  eine  unmittelbare  Ein- 
wirkung auf  Fleury  zugunsten  Preußens  geplant  und  erhofft 
hat.  Dazu  war  die  Anklage  gegen  Frankreichs  Ehrgeiz  doch 
zu  stark  und  heftig.  Die  französische  Allianz  war,  so  ver- 
muten wir,  sein  verborgener  Zukunftsgedanke,  war  eine 
Möglichkeit  neben  anderen,  die  er,  als  er  die  Schrift  entwarf, 
vielleicht  mehr  unwillkürlich  verriet.  Fleury  hätte  ihm  die 
Schrift,  wenn  sie  als  Brandfackel  in  die  Öffentlichkeit  ge- 
worfen wurde,  doch  recht  übelnehmen  können.  Das  durfte 
Friedrich  wagen,  wenn  es,  wie  es  damals  drohte,  zum  Bruche 
zwischen  Preußen  und  Frankreich  wegen  der  Jülicher  Frage 
kam.  Er  durfte  es  nicht  mehr  wagen,  wenn  Frankreich  ein- 
lenkte und  Preußens  niederrheinischen  Wünschen  entgegen- 
kam. Und  dies  geschah.  Wir  kommen  damit  zur  letzten 
Phase  in  der  Geschichte  der  Considerations. 

Am  19.  April  1738  schrieb  Friedrich  an  Voltaire,  wie 
wir  hörten,  daß  einige  Gründe  ihn  veranlaßt  hätten,  die 
Veröffentlichung  der  Schrift  aufzuschieben.  Diese  Gründe 
hat  schon  Duncker  aufgedeckt.  Kurz  vorher  hatte  Fleury 
auf  dem  Umwege  über  den  Haag  dem  Berliner  Hofe  sagen 
lassen,  daß  er  aufrichtig  einen  Ausgleich  in  der  jülich-ber- 
gischen  Frage  wünsche.  Am  8.  und  19.  April  wurden  darauf 
die  preußischen  Vertreter  im  Haag  und  in  Paris  angewiesen, 
die  Absichten  Fleurys  näher  zu  erforschen.  Diese  Verhand- 
lung zog  sich  zwar  lange  hin,  aber  führte  am  5.  April  1739 
zu  einem  Vertrage  zwischen  Preußen  und  Frankreich,  durch 
den  Preußen  Frankreichs  Zustimmung  zum  Gewinne  des 
besten  Teiles  von  Berg,  freilich  ohne  Düsseldorf,  erhielt. 
Fleury  lenkte  schon  deswegen  ein,  um  in  der  Verwicklung 
mit  England,  die  aus  den  englisch-spanischen  Händeln  drohte, 
Preußen  nicht  auf  die  Seite  Englands  zu  treiben.  Aber  er 
hat  selber  ein  Jahr  später  angegeben,  daß  er  auch  schon 
an  den  ehrgeizigen  Thronfolger  und  an  eine  künftige  engere 
Allianz  mit  Preußen  dabei  dachte.^)   Man  begreift  nun  voll- 


1)  Instruktion  für  Valory  vom  1.  Juli  1739;  Recueil  des  Instruc- 
tions donnies  aux  ambassadeurs  de  France  XIV,  352  ff.  Mit  finassieren- 
der  Kunst  bemerkte  er,  daß  er  den  Vergleich  mit  Preußen  über  Jülich- 
Berg  schon  zu  Lebzeiten  des  Vaters  geschlossen  habe,  weil  der  an- 
spruchsvollere   Sohn    schwerer   zu    befriedigen    gewesen    sein    würde. 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Considdrations  sur  l'etat  etc.      69 

ständig,  daß  Friedrich  die  begonnene  Verhandlung  nicht 
stören  durfte  durch  die  Veröffentlichung  seiner  Schrift.  Aber 
er  hat  es  für  unschädHch  gehalten,  sie  Voltaire  vertraulich 
mitzuteilen.  Es  hat  noch  mehrere  Wochen  gedauert,  bis  sie 
endlich  abging.^)  Wir  erfahren  nicht,  warum  Friedrich  so- 
lange zögerte,  wissen  auch  nicht,  ob  während  dieser  Zeit 
noch  weitere  Veränderungen  im  Texte  der  Schrift  erfolgten. 
„Ich  hoffe,  schrieb  Friedrich  an  Voltaire  am  17.  Juni,  daß 
sie  nicht  aus  Ihren  Händen  gehen  wird.  Sie  werden  selbst 
die  Folgen  begreifen."  Aber  es  ging  damit,  wie  es  in  solchen 
Fällen  oft  geht.  Aus  dem  Tagebuche  des  Marquis  d'Argenson 
erfahren  wir,  daß  die  Freundin  Voltaires,  die  Marquise  von 
Chätelet,  nicht  allzu  diskret  mit  dem  Manuskript  umging. 
Sie  zeigte  es  einigen  Freunden,  diese  zeigten  es  wieder  an- 
deren. Am  13.  Juli  1740  hoffte  d'Argenson  die  Schrift,  die 
durch  die  eben  erfolgte  Thronbesteigung  Friedrichs  ein  fri- 
sches Interesse  gewonnen  hatte,  in  einigen  Tagen  in  die 
Hand  zu  bekommen. 2)   Es  regt  sich  die  beinahe  banale  Ver- 


Dieser  sollte  jetzt  durch  diesen  Vertrag  nur  eben  angelockt  und  durch 
die  Hoffnung  auf  eine  spätere  engere  Allianz  mit  Frankreich  fest- 
gehalten, aber  noch  nicht  ganz  befriedigt  werden.  Man  müsse  sich 
vorbehalten,  hieß  es,  die  Hauptfrüchte  dieses  Vertrages  unter  der 
Regierung  des  jungen  Fürsten  zu  pflücken, 

1)  Am  17.  Juni  teilte  er  Voltaire  mit,  daß  sie  beiliege  und  daß 
nur  noch  ein  zugehöriges  Memoire  (das  Fönelonsche  vom  14,  Dezbr, 
1737)  fehle;  tatsächlich  ist  die  Schrift  aber  erst  nach  dem  17,  Juni 
an  Voltaire  abgegangen.  Vgl.  Koser  und  Droysen,  Briefwechsel  Fried- 
richs d,  Gr.  mit  Voltaire  1,  196  Anm, 

2)  Journal  et  mimoires  du  marquis  d'Argenson  p.p.  Rather y  (1861) 
3,  138  f.  In  der  Koser-Droysenschen  Ausgabe  des  Briefwechsels  Fried- 
richs mit  Voltaire  1,  188  wird  die  ältere  Ausgabe  der  Argensonschen 
Memoiren,  die  die  Stelle  unter  dem  Datum  des  14,  Juni  1740  bringt, 
benutzt.  Rathery  vermutet  in  seiner  Ausgabe,  daß  die  Notiz  d'Argen- 
sons  „//  a  compose  des  mimoires  sur  les  interits  des  princes  etc."  auf 
den  Antimacchiavell  sich  bezöge.  Das  ist  ganz  ausgeschlossen.  Die 
Angaben  d'Argensons  über  das,  was  er  aus  Hörensagen  über  den  In- 
halt der  Schrift  erfuhr,  passen  nur  auf  die  Considirations,  wenngleich 
sie  sehr  viel  Verkehrtes  mit  einigem  Richtigen  mischen.  Auch  das 
Zerrbild  des  Gedankeninhaltes,  das  ihm  durch  das  Gerücht  zugetragen 
wurde,  zeigt,  daß  die  französischen  Leser  der  Schrift  den  starken  Ehr- 
geiz des  Verfassers  und  seine  Bereitschaft,  mit  Frankreich  gegen  Öster- 
reich zusammenzugehen,  durchschauten. 


70  Friedrich  Meineclie, 

mutung,  daß  auch  Friedrich,  als  er  die  Schrift  unter  dem 
Siegel  der  Verschwiegenheit  an  Voltaire  sandte,  die  Menschen 
genommen  hat,  wie  sie  wirklich  sind.  Hätte  er  es  für  schlecht- 
hin gefährlich  gehalten,  sie  in  die  Hände  französischer  Staats- 
männer gelangen  zu  lassen,  so  wäre  es  ein  unverzeihlicher 
Leichtsinn  gewesen,  sie  in  einem  Augenblicke,  wo  die  fran- 
zösisch-preußischen Verständigungsverhandlungen  eben  be- 
gonnen hatten,  nach  Cirey  zu  schicken.  Und  doch  hat  er, 
wie  wir  bemerkten,  die  Veröffentlichung  der  Schrift  unter- 
lassen, um  diese  Verhandlungen  nicht  zu  stören.  Wir  denken, 
man  kann  diesen  Widerspruch  ohne  Künstelei  erklären. 
Die  Veröffentlichung  der  Schrift  hätte  eine  offene  Fehde- 
erklärung Friedrichs  an  Fleury  bedeutet.  Als  vertraulich 
zirkulierendes  Manuskript  aber  konnte  sie  merklich  anders 
auf  ihn  wirken,  Fleury  konnte  aus  ihr  dann  wohl  entnehmen, 
daß  der  Kronprinz  schwer  ergrimmt  gewesen  war  über 
Frankreichs  unfreundliche  Haltung  in  der  Jülicher  Frage, 
ihm  die  Zähne  hatte  zeigen  und  Europa  alarmieren  wollen, 
aber  erfuhr  zugleich,  daß  er  diese  Absicht  aufgegeben  hatte, 
als  Frankreich  einlenkte.  Der  eitle  Kardinal  konnte  dann 
die  mit  Zorn  gewürzten  Komplimente  für  sein  diplomati- 
sches Genie  lächelnd  einstreichen,  und  Friedrich  trat  ihm 
entgegen  wie  ein  ebenbürtiger  Spieler,  der  ihm  in  die  Karten 
sah,  der  ihm  sagte:  ,,Ich  kenne  dich,  ich  kenne  deinen  Ehr- 
geiz, deine  Künste,  deine  Kräfte.  Ich  weiß,  daß  ein  Moment 
kommen  wird,  wo  du  die  Schleusen  aufziehen  wirst.  Dann 
wird  es  auch  deutsche  Kurfürsten  geben,  die  für  eine  große 
ambitiöse  Politik  zu  haben  sein  werden."  Das  war  nichts 
weniger  als  eine  unbedingte  Liebeserklärung,  konnte  aber 
von  Fleury,  wenn  er  sie  zusammennahm  mit  allen  übrigen 
Botschaften,  die  er  vom  Kronprinzen  schon  erhalten  hatte, 
recht  wohl  als  eine  bedingte  Offerte  aufgefaßt  werden.  Der 
Kronprinz  bot  ihm  eine  von  Dornen  umwachsene  Rose  und 
sagte  ihm  unter  dieser  Rose:  Ich  gehe  mit  dem  Meist- 
bietenden. 

Wir  tragen  mit  diesen  Vermutungen  und  Deutungen 
keine  fremden  Züge  in  Friedrichs  Staatskunst  hinein,  son- 
dern versuchen  nur,  eine  etwas  verloschene  Skizze  aus  seinem 
Skizzenbuche   nachzuzeichnen   mit    Hilfe   des   fertigen    Ge- 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Considerations  sur  l'^tat  etc.      71 

mäldes,  das  Friedrichs  Politik  von  1740  bietet.  Wir  er- 
innern noch  einmal  an  die  Weisungen,  die  der  Oberst  Camas 
am  11.  Juni  1740  mitbekam  für  seine  Werbung  in  Paris  und 
an  das  Gustav-Adolfmotiv,  das  in  ihnen  so  kräftig  ange- 
schlagen wurde.  Camas  sollte  geltend  machen,  daß  jener 
preußisch-französische  Vertrag  vom  5.  April  1739,  durch  den 
Preußen  mit  einem  Teile  von  Berg  abgefunden  war,  ihm 
noch  nicht  genüge,  um  ihn  auf  Frankreichs  Seite  fest- 
zuhalten; daß  England  ihn  umwerbe  und  ihm  sicher  viel 
bieten  werde.  „Kurz,  wenn  man  will,  daß  ich  guter  Fran- 
zose sei,  muß  man  mir  Bedingungen  bieten,  die  ich  ver- 
nünftigerweise annehmen  kann."  Sprechen  Sie  auch,  hieß 
es  weiter,  aus  Anlaß  der  Truppenvermehrung,  die  während 
Ihres  Aufenthaltes  in  Versailles  erfolgen  wird,  von  meiner 
lebhaften  und  stürmischen  Denkweise.  Sagen  Sie,  man 
müsse  fürchten,  daß  diese  Heeresvermehrung  ein  Feuer  in 
Europa  entzünde.  Sagen  Sie,  daß  ich  von  Natur  Frankreich 
liebe,  aber  daß,  wenn  man  mich  jetzt  vernachlässige,  dies 
vielleicht  für  immer  und  unwiderruflich  wirken  könne. 

Friedrich  hat  mit  dieser  hitzigen  Werbung  damals  nicht 
viel  erreicht  bei  dem  greisen  und  bequem  gewordenen  Kar- 
dinal. Er  hat  sich,  wenn  unsere  Vermutung  über  seinen 
Hintergedanken  bei  der  Sendung  der  Schrift  an  Voltaire 
richtig  war,  auch  in  der  Wirkung  der  Considerations  auf  Fleury 
wahrscheinlich  schon  arg  verrechnet.  Ich  habe  mich,  schrieb 
Fleury  am  29.  November  1741  an  Kardinal  Tencin,  durch 
seine  schmeichlerischen  Briefe  nicht  täuschen  lassen,  denn 
ich  weiß,  daß  sein  Lieblingsgedanke  {Systeme  favori)  ist,  daß 
Frankreich  zu  mächtig  sei  und  daß  man  daran  arbeiten 
müsse,  es  niederzudrücken.  Schon  Koser  hat  vermutet,  daß 
diese  Äußerung  sich  auf  die  Considerations  beziehe,  die  ihm 
durch  Voltaire  zugänglich  werden  konnten. i)  Auch  Fried- 
richs Versuch,  sich  Frankreich  als  zweiter  Gustav  Adolf  zu 
empfehlen,  prallte  bei  Fleury  ab.  Seine  Narrheit  ist,  schrieb 
er  an  Tencin  am  24.  Januar  1741,  ein  zweiter  Gustav  Adolf 
zu  sein,  wie  es  Karls  XII.  Narrheit  war,  Alexander  zu  ko- 

^)  Geschichte  Friedrichs  d.  Gr.  4.  Aufl.  1,  325,  dazu  die  Briefe 
Fleurys  an  Tencin  in  den  Mimoires  du  President  Hinault  (1855)  S.  343, 
346,  349 f.,  353  u.  ö. 


72  Friedrich  Meinecke, 

pieren.  Ich  traue  ihm  nicht,  erklärte  er  immer  wieder,  er 
ist  in  allem  falsch,  er  ist  ein  Fanfaron.  Friedrich  hat  dem 
Kardinal,  wie  die  Verhandlungen  von  1740  und  1741  zeigen 
sollten,  mehr  realpolitische  Entschlossenheit  zugetraut,  als 
dieser  besaß.  Er  rechnete  zu  sehr  auf  den  Geist  der  fran- 
zösischen Politik,  auf  ihr  ,, permanentes  Interesse",  zu  wenig 
mit  den  persönlichen  Eigentümlichkeiten  ihres  Trägers.  Oder 
auch,  so  könnte  man  es  deuten,  er  schloß  von  seinem  eigenen 
aktiven  Temperament  zu  sehr  auf  die  Aktivität  seines  Mit- 
spielers am  europäischen  Schachbrett.  Beides  ist  bezeich- 
nend für  den  zugleich  feurigen  und  rechnenden  und  in  seinem 
Feuer  sich  auch  leicht  einmal  verrechnenden  Geist  des  jungen 
Fürsten.  Schließlich  hat  ihn  doch  auch  seine  Rechnung  auf 
das  permanente  Interesse  Frankreichs  nicht  getrogen,  als 
Belleisle  im  Jahre  1741  den  zögernden  Fleury  mit  fortriß 
und  die  Allianz  vom  4.  Juni  mit  Friedrich  durchsetzte. 

Sind  unsere  Vermutungen  nicht  irregegangen,  so  wird 
das  Urteil  Dunckers,  daß  die  Considirations  keineswegs,  wie 
man  früher  angenommen  hatte,  eine  bloß  betrachtende  und 
objektive  Studie  seien,  nicht  nur  bestätigt,  sondern  noch 
verschärft  zu  gelten  haben.  Das  Gewebe  der  Absichten, 
die  in  ihr  walteten,  erweist  sich  als  reicher  und  kompli- 
zierter, als  er  es  sah;  aber  das  Bild  der  politischen  Jugend- 
entwicklung Friedrichs  wird  dadurch  nicht  etwa  undurch- 
sichtiger, sondern  vielmehr  einheitlicher,  zusammenhängen- 
der, kontinuierlicher.  Wie  es  eigentlich  immer  geschehen 
sollte,  wenn  die  feineren  Fäden  des  Lebens  sich  zeigen. 
Dieses  Leben  aber  hat  es  zugleich  an  sich,  daß,  je  mehr 
Berechnung  und  Ratio  man  in  ihm  aufdeckt,  um  so  stärker 
auch  das  Unberechenbare  und  Irrationelle,  die  Lebensfülle 
des  ganzen  Menschen,  emporrauscht.  Mit  dem  Nachweis  der 
Zwecke  und  Ziele,  denen  die  Considerations  entsprangen,  ist 
die  Aufgabe  der  Forschung  erst  halb  erledigt.  Sie  sind  eine 
nicht  bloß  betrachtende,  aber  sie  sind  auch  eine  in  hohem 
Grade  betrachtende  Schrift.  Max  Posner  hat  den  Einfluß 
Montesquieuscher  Gedanken  auf  sie  nachgewiesen.  Koser  und 
Lavisse  haben  sie  in  den  Zusammenhang  der  geistigen  Ent- 
wicklung Friedrichs  eingereiht.  Nun  erhebt  sich  die  weitere 
Aufgabe,  Friedrichs  Versuch,  das  europäische  Staatensystem 


Des  Kronprinzen  Friedrich  Consid^rations  sur  l'dtat  etc.      73 

als  eine  große,  in  sich  aber  mannigfaltig  und  individuell  diffe- 
renzierte Lebenseinheit  zu  sehen,  auch  noch  einzustellen  in 
die  Entwicklungsreihe  aller  analogen  Versuche.  Gerade  ein 
Jahrhundert  vor  den  Considerations  widmete  der  Herzog  von 
Rohan  sein  bedeutendes  Werk  De  V  Interest  des  Princes  et 
Estats  de  la  Chrestiente  dem  Kardinal  Richelieu.  Fast  ein 
Jahrhundert  nach  den  Considerations  schrieb  Ranke  seine 
„Großen  Mächte",  und  am  Vorabend  des  heutigen  Weltkrieges 
hat  der  Schwede  Kjellen  diesen  Versuch  erneuert.  Es  lockt 
die  Aufgabe,  von  so  bedeutenden  Aussichtspunkten  der  ver- 
schiedenen Jahrhunderte  aus  dem  großen  Problem  des  Ver- 
hältnisses von  Machtpolitik,  Staatskunst  und  Geschichtsauf- 
fassung näherzukommen  und  in  den  Wandel  der  Geschichte 
schaffenden  und  der  sie  betrachtenden  und  spiegelnden 
Kräfte  zugleich  einzudringen. 


Literaturberidit. 


Biographisches  Jahrbuch  und  DeutscherNekrolog.  Herausgegeben 
von  Anton  Bettelheim.  17.  Bd.  Berlin,  G.  Reimer.  1915. 
235  S. 

Den  Band  ziert  das  Bild  von  R.  v.  Liiiencron,  der  1820  in 
Plön  geboren  und  1912  in  Koblenz  gestorben  ist,  Eduard  Schroe- 
der  schildert  das  an  Arbeit  und  Erfolgen  überreiche  Leben  dieses 
Hauptredakteurs  der  Allgemeinen  Deutschen  Biographie,  des 
„Altmeisters  der  deutschen  Germanisten  und  des  allverehrten 
Seniors  der  deutschen  Musikforscher".  Er  zählte  schon  mit  im 
Kreise  der  Gebrüder  Grimm  und  Dahlmann  und  er  behauptete 
sich  in  den  beiden  Generationen,  die  danach  folgten.  „Er  ver- 
körperte noch  einmal  das  kostbarste  Erbe  unserer  klassischen 
altweimarischen  Kultur  in  staunenswerter  Vielseitigkeit:  er  war 
Professor  und  Hofmann,  Philolog  und  Poet."  Noch  mancher 
Name  fordert  zum  Bericht  auf.  Wer  möchte  an  FeHx  Dahns 
reichem,  vor  allem  unendlich  arbeitsfreudigem  und  hingebungs- 
vollem Leben  vorübergehen,  ohne  zu  gedenken,  wie  es  diesem 
Gelehrten  gegeben  war,  durch  seine  Dichtung  auf  sein  Volk  zu 
wirken.  Sein  Volk,  dem  er  sich  ganz  verpflichtet  fühlte,  dem  er 
mit  aller  Kraft  zu  dienen  suchte. 

Die  großen  Gelehrten,  wie  Justi,  Straßburger,  Regelsberger, 
Theodor  Gomperz,  Böhtlingk,  Erich  Schmidt,  der  unermüdliche 
Forscher  über  die  Geschichte  des  Posener  Landes,  dazu  zahl- 
reiche Künstler  und  sonst  hervorragende  Männer  haben  hier 
ihre  Biographie  gefunden.  Der  Herausgeber  des  Biographischen 
Jahrbuchs,  Anton  Bettelheim,  hat  auch  selbst  einen  Beitrag  ge- 
liefert in  der  eingehenden  Würdigung  von  Alfred  Freiherr  v.  Berger, 


Allgemeines.  75 

„Doktor  der  Rechte  und  der  Philosophie,  Universitätsprofessor, 
Dramaturg,  zuletzt  Direktor  des  Burgtheaters".  Eine  merk- 
würdige Vielseitigkeit  der  Begabung  war  in  ihm  und  eine  große 
Kraft  des  Studiums.  „Die  Kunst  zu  lernen,  war  ich  nie  zu  träge," 
durfte  er  mit  vollem  Rechte  von  sich  sagen,  aber  noch  seltener 
ist  wohl  die  Vereinigung  so  verschiedenartiger  und  doch  so  ener- 
gischer Wirksamkeit.  Nicht  ohne  Wehmut  ruht  das  Auge  auf  so 
opferfreudigen  und  doch  sich  selbst  die  Laufbahn  erschwerenden 
Naturen  wie  der  „Dichter  und  Bauer"  Emil  Servatius  Götz, 
aber  es  ist  doch  nicht  ohne  Stolz  und  Freude,  wenn  man  ihn  sich 
zuletzt  in  gewisser  Weise  hindurchringen  und  über  des  Lebens 
Not  erheben  sieht.  So  birgt  der  Band  eine  Fülle  der  Schicksale 
von  Menschen  der  verschiedensten  Kreise,  die  sich  in  der  einen 
oder  andern  Weise  über  den  Durchschnitt  der  Begabung  oder 
Leistung  erheben.  Zahlreich  sind  die  Künstler  vertreten,  unter 
ihnen  auch  die  Schweizer  A.  Welti,  A.  Deucher  (fehlt  im  Ver- 
*»  zeichnis  S.  182 — 185)  und  Joh.  Rud.  Rahn.  Den  Artikel  über 
Rahn  hat  Meyer  v.  Knonau  geschrieben  und  mit  so  eingehender 
liebevoller  Kenntnis,  wie  es  nur  bei  nächster  persönlicher  Kenntnis 
und  Freundschaft  möglich  ist.  Die  Fülle  der  Geister  verlockt 
immer  wieder  zurückzukehren  zu  dieser  Schar,  und  vor  allem 
derer  zu  gedenken,  die  mittelbar  oder  unmittelbar  die  Gedanken 
und  die  Kräfte  vertreten  und  gestärkt  haben,  die  Deutschland 
aus  dem  Jammer  und  der  Enge  der  ersten  Hälfte  des  vorigen 
Jahrhunderts  zu  der  Kraft  und  Blüte  der  Gegenwart  geführt 
haben.  In  eine  dieser  Gruppen  führt  uns  Frensdorffs  Artikel 
über  Regelsberger  vortrefflich  ein,  eine  andere  möchte  ich  durch 
Alexander  v.  Peez  vertreten  sehen,  den  Friedjung  in  einem  der 
ausführlichsten  Artikel  als  Volkswirt,  Politiker  und  Kultur- 
historiker schildert.  Er  war  ursprünglich  Vertreter  großdeutscher 
Ansichten,  aber  wie  nun  Deutschland  sich  ohne  Österreich  einigte, 
da  stellte  er  sich  auf  den  Boden  der  Tatsachen  und  übernahm 
die  Leitung  der  Augsburger  Allgemeinen  Zeitung  in  diesem 
Sinne.  Mit  besonderer  Wehmut  überschauen  wir  das  Leben  der 
hochbegabten  Jugend,  die  der  Tod  aus  den  Anfängen  oder  in 
der  vollen  Kraft  ihrer  Laufbahn  fortriß;  wie  den  trefflichen 
Theologen  Paul  Gottfried  Drews,  den  uns  Dobschütz  mit  Liebe 
und  Wahrheit  geschildert  hat. 

Breslau.  Georg  Kaufmann. 


76  Literaturbericht. 

Reden,  Vorträge   und  Abhandlungen.    Von   Alfred  Stern.    Stutt- 
gart und  Berlin  1914.    389  S. 

Von  den  vier  Reden  waren  drei  —  auf  Gabriel  Rießer,  auf 
Leopold  Ranke  und  Georg  Waitz  und  auf  Gabriel  Monod  — 
bereits  gedruckt,  die  auf  Kaiser  Wilhelm  l.  war  noch  nicht  ver- 
öffentlicht; die  vier  Vorträge  über  Beaumarchais,  Wieland, 
Mary  Wolstoncraft,  die  energische  Vorläuferin  der  Bewegung  für 
die  politischen  Rechte  der  Frauen,  und  über  Moltke  waren  bis- 
her noch  nicht  gedruckt.  Die  vier  Abhandlungen,  welche  das 
letzte  Drittel  des  Buches  füllen,  —  Mirabeau  und  Lavater,  Talley- 
rands  Memoiren,  Gneisenaus  Reise  nach  London  1809  und  endlich 
„der  große  Plan  des  Fürsten  von  Polignac  vom  Jahre  1829"  — 
waren  in  den  Jahren  1900 — 1904  in  Zeitschriften  erschienen, 
erscheinen  hier  aber  nach  sorgfältiger  Durchsicht  und  Ergänzung. 
Alle  diese  Aufsätze  und  Abhandlungen  sind  Zeugnisse  für  ein- 
dringende Forschungen,  die  Stern  anstellt,  ehe  er  die  Dinge  in 
den  großen  Zusammenhang  seiner  Darstellungen  einreiht  und 
auch  im  besondern  dafür,  wie  sorgfältig  er  sich  mit  dem  Ausgang 
des  18.  Jahrhunderts  beschäftigt  hat,  als  er  es  wagte,  die  Ge- 
schichte des  19.  Jahrhunderts  zu  schreiben.  Unter  den  Reden 
hat  die  im  Todesjahre  von  Ranke  und  Waitz  am  10.  August 
1886  auf  der  Versammlung  der  geschichtsforschenden  Gesell- 
schaft der  Schweiz  gehaltene  Rede  zum  Gedächtnis  der  beiden 
großen  Geschichtschreiber,  seine  pietätsvoll  verehrten  Lehrer, 
besondere  Bedeutung  durch  die  Bemerkungen,  welche  St.s  Auf- 
fassung von  den  Aufgaben  und  Mitteln  der  historischen  Forschung 
erkennen  lassen.  Bei  aller  Verehrung  bleibt  er  in  seinem  Urteil 
selbständig.  Unter  den  Vorträgen  möchte  ich  den  über  Beau- 
marchais hervorheben,  diesen  mit  allen  Wassern  gewaschenen, 
auch  in  der  Anwendung  der  bedenklichsten  Mittel  unbedenklichen 
Verfasser  des  Barbier  von  Sevilla  und  des  Figaro,  den  Helden 
der  von  Goethe  in  seinem  Clavigo  dramatisierten  Geschichte. 
St.  hat  es  vortrefflich  verstanden,  in  diesem  Lebensbilde  wichtige 
Züge  jener  schweren,  der  Revolution  zutreibenden  Zeit  hervor- 
treten zu  lassen.  Aus  dieser  Verwirrung  von  Privilegien  und 
Gewalttaten  war  schließlich  kein  anderer  Ausweg  zu  finden, 
wenn  nicht  noch  rechtzeitig  eine  starke  Hand  mit  Gewalt  auf- 
räumte. Als  eine  Art  Ergänzung  des  Bildes  dienen  manche 
Abschnitte   des   Vortrages   über  Wieland   und   die  französische 


Mittelalter.  77 

Revolution.  St.  hat  sich  gut  hineingefühlt  in  das  Wesen  und 
Denken  dieses  zeitweise  halb  vergessenen  und  doch  so  einfluß- 
reichen Schriftstellers. 

Zum  Schluß  hebe  ich  noch  die  gerechte  Bewunderung  hervor, 
die  St.  der  historischen  Kunst  des  großen  Feldherrn  Moltke  widmet. 
Er  preist  die  Objektivität  der  Beobachtung  und  den  „Zauber 
der  Form,  über  den  Moltke  wie  kaum  ein  zweiter  zu  verfügen 
wußte."  Nicht  bloß  den  Fachgenossen,  auch  den  Freunden  der 
Geschichte  sei  das  Buch  empfohlen. 

Breslau.  Georg  Kaufmann. 


Notes  et  extraits  pour  servir  ä  l'histoire  des  croisades  au  XV*^  sihcle 
publids  par  N.  Jorga.  Quatrikme  et  cinquibme  sdrie.  Edi- 
tion de  V Acaddmie  Roumaine  (Fonds  Alina  Stirbey),  Bucarest. 
1915.     VI  u.  378,  341   S. 

Nach  einer  mehr  als  zehnjährigen  Unterbrechung  nimmt 
der  Herausgeber  die  Weiterführung  dieser  Arbeiten  wieder  auf. 
Man  wird  sich  vielleicht  an  dem  Titel  stoßen,  denn  nicht  die 
Kreuzzugbewegung  in  ihrer  alten  Bedeutung  und  in  ihrem  Sinne, 
sondern  die  Unternehmungen  gegen  die  Türken,  die  Bereit- 
stellung der  Verteidigungsmittel  an  den  Grenzen,  die  Abwehr 
der  unaufhörlichen  Einbrüche  bilden  den  vornehmsten  Gegen- 
stand der  mitgeteilten  historischen  Berichte  und  Korrespon- 
denzen, und  nur  insofern  kann  man  den  Titel  noch  als  gerecht- 
fertigt ansehen,  als  außer  den  Unternehmungen  gegen  die  Türken 
auch  noch  solche  gegen  den  Islam  überhaupt,  z.  B.  in  Spanien, 
einbezogen  sind.  Beide  Serien  enthalten  historische  Berichte  und 
Korrespondenzen  (teils  vollständig  teils  in  Auszügen)  aus  der 
Zeit  vor  1453  (30  Nummern),  dann  zum  Jahre  1453  (22  Nummern), 
endlich  solche  bis  1500  (303  Nummern).  Die  Bedeutung  der  ganzen 
Sammlung  ist  aber  nicht  allein  wegen  der  die  Türkeneinfälle 
als  solche  betreffenden  Stücke  hoch  zu  bewerten,  wir  finden  in 
ihr  auch  mannigfache  Ergänzungen  zu  den  Publikationen,  die 
über  diese  Zeit  auch  von  anderer  Seite  erschienen  sind,  so  z,  B. 
zu  Adolf  Bachmanns  Ausgaben  von  Briefen  und  Aktenstücken 
zur  österreichischen  und  österreichisch-deutschen  Geschichte  im 
Zeitalter  Kaiser  Friedrichs  III.  {Fontes  rer.  Austriac.  2.  Abt. 
Bd.  42,  44,  46)  zu   Palackys   Urkundlichen   Beiträgen  zur  Ge- 


78  Literaturbericht. 

schichte  Böhmens  im  Zeitalter  Georgs  von  Podiebrad  (Fontes 
Bd.  20)  und  zu  den  noch  jüngst  (Budapest  1914/15)  erschienenen 
Bänden  (39  und  40)  der  Monumenta  Hungariae.  Diplomataria. 
So  zieht  nicht  bloß  die  allgemeine  deutsche  und  österreichische, 
sondern  auch  die  Geschichte  der  einzelnen  österreichischen 
Ländergruppen  aus  der  Sammlung  reichen  Gewinn,  Man  muß  es 
bedauern,  daß  die  von  der  bist.  Landeskommission  für  Steier- 
mark schon  vor  mehr  als  zwei  Jahrzehnten  in  Aussicht  genommene 
Veröffentlichung  der  in  den  steiermärkischen  Archiven  vorhande- 
nen reichhaltigen  Materialien  zur  Geschichte  des  Defensions- 
wesens  gegen  die  Türken,  die  von  dem  kroatischen  Gelehrten 
von  Boinicic  übernommen  worden  war,  nicht  zustande  gekommen 
ist,  denn  gerade  hier  wären  reiche  Ergebnisse  zu  erzielen  gewesen; 
dasselbe  gilt  von  dem  das  Landtagswesen  von  Steiermark,  Kärnten 
und  Krain  im  15.  und  16.  Jahrhundert  betreffenden  historischen 
Material,  dessen  Veröffentlichung  dringend  geboten  ist,  weil  es 
die  Geschichte  der  Türkenkriege,  vornehmlich  in  bezug  auf  die 
Kriegshilfen,  nach  vielen  Seiten  aufzuhellen  vermöchte.  Was 
in  dieser  Beziehung  bisher  geleistet  wurde,  liegt  in  den  mühe- 
vollen Versuchen  und  Forschungen  von  F.  v.  Krones  zur  Quellen- 
kunde und  Gesch.  des  m.  a.  Landtagswesens  in  Steiermark  (Bei- 
träge zur  Kunde  steierm.  Geschichtsquellen,  2.  Bd.,  1865)  vor. 
Wie  notwendig  es  aber  ist,  hier  in  methodischer  und  gründlicher 
Weise  vorzugehen,  davon  legt  ein  Vergleich  der  in  den  vorliegen- 
den beiden  Serien  enthaltenen  Materialien  mit  den  von  Krones 
veröffentlichten  Notizen  Zeugnis  ab,  und  wie  sehr  auch  die  jüngste 
Geschichtsschreibung  in  den  österreichischen  Ländern  durch 
den  Mangel  methodisch  geordneter  Quellensammlungen  zur  Ge- 
schichte der  Türkenkriege  behindert  war,  entnimmt  man  den 
Darstellungen  von  F.  M.  Mayer,  F.  v.  Krones  und  Alfons  Huber, 
die  für  die  hier  in  Betracht  kommenden  Zeiten  sich  mit  dem  be- 
gnügen mußten,  was  sich  aus  Unrests  Chronica  gewinnen  ließ, 
und  doch  ist  selbst  die  kritische  Beurteilung  dieser  gewiß  hervor- 
ragenden Quelle  erst  möglich,  wenn  auch  das  entsprechende 
Aktenmaterial  methodisch  gesammelt  und  gesichtet  ist  —  von 
Megiser  und  den  sonstigen  Historikern,  die  sich  mit  diesem  Gegen- 
stand beschäftigt  haben  nicht  zu  reden.  Daß  es  noch  viele,  auch 
unveröffentlichte  Quellen  zur  Geschichte  der  Türkenkriege  in 
den  österreichischen  Ländern  gibt,  darüber  hat  uns  schon  Ilwof 


Mittelalter.  79 

in  seinen  wichtigen,  wenn  auch  nicht  immer  kritischen  Aufsätzen 
über  die  Einfälle  der  Osmanen  in  die  Steiermark  (Mitt.  des  hist. 
Ver.  für  Steiermark  X,  253)  belehrt;  leider  sind  sie  nicht  ge- 
sammelt, und  so  wird  man  die  vielfachen  Ergänzungen  zu  dem 
bereits  bekannten,  die  sich  in  den  vorliegenden  Serien  finden, 
willkommen  heißen.  Sie  stammen  aus  zahlreichen  italienischen, 
deutschen  und  österreichischen  Archiven,  denen  von  Venedig, 
Ferrara,  Genua,  Ancona,  Modena,  Rom,  Mailand,  Florenz,  Bologna, 
Neapel,  Paris,  Parma,  Wien,  Innsbruck,  Ragusa,  München, 
Nürnberg,  Königsberg,  Leipzig  und  Dresden.  So  reich  nun  der 
Gewinn  für  die  Geschichtsschreibung  der  Türkenkriege  aus  der 
vorliegenden  Sammlung  ist,  man  darf  nicht  unterlassen,  auf  die 
zahlreichen  Mängel  aufmerksam  zu  machen,  mit  denen  sie  be- 
haftet ist.  Daß  sie  trotz  des  vielen  Neuen  doch  noch  recht  un- 
vollständig ist,  wurde  bereits  angedeutet,  aber  es  finden  sich  auch 
in  der  Anlage  des  Ganzen  und  der  Wiedergabe  der  einzelnen 
Stücke  Mängel  und  grobe  Verstöße.  Die  Anlage  hätte  eine  strenger 
chronologische  sein  müssen;  daß  sie  es  nicht  geworden  ist,  er- 
klärt sich  zum  Teil  aus  der  ungleichen  Behandlung  der  in  den 
einzelnen  Stücken  vorhandenen  Datierungen.  In  vielen  Fällen 
sind  diese  nicht  auf  unsere  Datierung  reduziert;  das  erschwert 
die  Benutzung  dieser  Ausgabe  der  Akten,  Korrespondenzen  und 
historischen  Berichte,  denn  es  zwingt  den  Benutzer,  sein  Calen- 
darium  medii  aevi  —  etwa  seinen  Grotefend  —  stets  in  der  Tasche 
zu  haben.  Wir  finden  hier  historische  Berichte,  die  nach  einer 
entsprechenden  Auflösung  der  m.  a.  Datierungen  in  margine 
förmlich  rufen.  Mehr  kommt  noch  in  Betracht,  daß  die  Auf- 
lösung, wo  sie  gegeben  ist,  oft  genug  eine  falsche  ist  und  den 
Beweis  liefert,  daß  der  Herausgeber  in  der  m.  a.  Zeitrechnung 
wenig  bewandert  ist.  Er  müßte  wissen,  daß  Abend  nicht  der- 
selbe Tag,  sondern  der  Vortag  ist  (vigiliä),  wie  man  heute  noch 
Sonnabend  —  Samstag  sagt,  oder  daß  feria  =  Wochentag  ist. 
Manche  Irrtümer  in  der  Datierung  erklären  sich  wohl  auch  aus 
der  geringen  Kenntnis  der  älteren  deutschen  Sprache  (s.  z.  B. 
4,  67,  wo  in  den  beiden  Fällen  die  Korrektur  ew{ch.)  nicht  not- 
wendig ist,  da  ew  an  sich  richtig  ist),  vor  allem  des  österreichisch- 
bayerischen Dialektes.  Ich  will  nur  einzelne  Fälle  ausheben: 
Heft  4,  S.  116:  item  am  gelen  (sie)  Montag  kom  wir.  Das  sie  hat 
wegzubleiben:    es    ist   der    geile  Montag    (nach  Esto  mihi)  im 


80  Literaturbericht. 

Jahre  1455  =  17.  Februar,  die  in  der  folgenden  Zeile  genannte 
Datierung:  „Suntag  Herren  vasnacht"  ist  der  vorangehende 
Sonntag.  —  S.  145  feria  quinta  ante  Augustini  ist  nicht  der 
fünfte  Tag  vor  Augustin,  sondern  der  Donnerstag  vor  Augustin 

—  also  nicht  24.  sondern  26.  August;  daher  ist  auch  S.  148  das 
Fragezeichen  nach  jeudi  zu  streichen.  —  S.  248  „an  aller  heiligen 
abent"  ist  nicht,  wie  hier  aufgelöst  ist,  der  25.  Dezember,  sondern 
der  Abend,  d.  h.  der  Tag  vor  Allerheiligen,  also  31.  Oktober. 
Der  Herausgeber  hatte  offenbar  den  Hl.  Abend  im  Sinne,  aber 
auch  dieser  fällt  nicht  auf  den  25.,  sondern  auf  den  24.  Dezember. 

—  S.  250:  samedi  avant  Madeleine  1466  ist  nicht  der  20.  sondern 
der  19.  Juli.  —  S.  253:  Kiliani  ist  nicht  der  18.,  sondern  der 
8.  Juli.  —  S.  256:  Sonntag  post  Jacobi  1467  ist  nicht  der  30.  No- 
vember, sondern  der  26.  Juli.  —  S.  264:  „am  Austertags  aben(!) 
1407"  ist  nicht  der  29.  sondern  der  28.  März.  —  S.  302:  „Montag 
nach  Viti  1471".  Da  St.  Veit  der  15.  Juni  ist,  kann  der  Montag 
darnach  nicht  der  7.  sein.  —  S.  342:  ,,Erchtag  vor  St.  Michels 
tag  1473"  ist  nicht  der  14.  sondern  der  28.  September.  Nicht 
besser  als  in  der  vierten  ist  es  in  der  fünften  Serie.  S.  52:  „Pfinz- 
tag  nach  St.  Galli"  ist  nicht  der  16.  (denn  das  ist  Galli  selbst) 
sondern  der  21.  Oktober.  —  S.  74:  Pfinztag  nach  Assumpt.  (Ma- 
riae)  1480  ist  nicht  der  22.  sondern  der  17.  August.  —  S.  126: 
„Fritag  nach  dem  suntag  Trinitatis  1482"  ist  nicht  der  4.  sondern 
der  7.  Juni,  dornstag  vor  S.  Margaretentag  nicht  der  18.  sondern 
der  11.  Juli.  S.  186:  „an  unser  lieben  frawen  abent  Assump- 
tionis"  nicht  der  15.  sondern  der  14.  August  (ein  nochmaliger 
Fehler  mit  abent  auch  S.  190  und  225).  —  S.  193:  Pfinztag  nach 
Dionisii  1491  ist  nicht  der  6.  (das  wäre  vor  Dionys)  sondern  der 
13.  Oktober.  —  S.  209:  an  mittichen  nach  Margarethe  nicht  der 
24.  sondern  der  17.  Juli.  —  Doch  genug  davon.  In  bezug  auf  die 
deutschen  Stücke  ist  zu  bemerken,  daß  auch  sprachliche  Irrtümer 
zu  verzeichnen  sind.  Man  muß  z.  B.  wissen,  daß  der  Steirer 
im  15.  und  16.  Jahrhundert  Grätz,  Susännä,  Johanna,  Rägnitz 
schreibt  und  Graz,  Susanna  usw.  spricht;  dann  wird  man  nicht, 
wie  das  hier  geschieht,  aus  dem  Sanntal  einmal  ein  Sänntal,  ein 
anderesmal  ein  Santal  machen.  Man  wird  dann  zu  verhägen 
kein  Fragezeichen  machen  und  wird  nicht  (umgekehrt)  schreiben : 
die  Türken  wern  zu  Parisch,  Grätz,  sondern  wird  wissen,  daß 
Parisch  =  Bairisch,  Bairisch-Grätz  =  Graz  ist,  im  Gegensatz 


Mittelalter.  81 

ZU  Windischgrätz.  Man  sieht,  wie  notwendig  es  gewesen  wäre, 
dem  Text  einen  Kommentar  beizugeben.  Der  ist  aucii  da  nötig, 
wo  es  sich  um  verballhornte  Orts-  oder  Familiennamen  handelt. 
Wiederholt  kommt  das  Geschlecht  der  Khuenburg  in  einzelnen 
Nummern  vor,  und  zwar  ist  es  Gandolph,  der  mehrfach  erwähnt 
wird.  Hier  finden  wir  ihn  das  einemal  (5,  18)  als  Keinburg, 
ein  andermal  (5,  120)  als  Krenburg  angemerkt.  Was  das  in  der- 
artigen Berichten  oft  genannte  Wort  sakman  bedeutet,  müßte 
doch  irgendwo  gesagt  sein;  wer  wird,  wenn  er  nicht  etwa  Kenner 
steiermärkischer  Weine  ist,  das  Wort  Rayfler  verstehen?  Auch 
das  Wort  Kreyd  muß  trotz  der  an  einer  Stelle  gegebenen  Er- 
läuterung: grida,  cri  de  guerre  näher  erklärt  werden;  denn  da- 
mit ist  die  Stelle:  Item  bey  dem  tag  ist  gewesen  die  kreyd  in 
dem  Namen  Gottes  und  St.  Lassla  (hier  stimmt  es)  und  in  der 
nacht  ist  gewesen  ain  andere  kreyd  (hier  stimmt  es  schwerlich). 
Man  darf  hier  auf  den  schönen  Aufsatz  von  Joseph  von  Zahn 
„Kreidfeuer"  (Styriaca  I,  84)  aufmerksam  machen.  Der  5,  195 
genannte  Hohenwaiter  ist  Andre  aus  dem  Hause  Hohenwart. 
Und  so  wird  man  kaum  irregehen,  wenn  wir  5,  127  nicht  Grinen 
sondern  Griven  lesen,  wie  es  S.  18  nicht  Vitring  sondern  Victring 
lauten  muß.  Mit  dem  Loyentag  (5,  116/17)  wird  wohl  auch  kaum 
irgendein  Leser  etwas  anfangen  können:  es  ist  der  Loitag  = 
25.  Juni.  Statt  Sirich  (4,  311)  wird  wohl  (s.  Hammer  II,  133) 
Sittich,  statt  Kartenser  oder  Kortenser:  Kartäuser  zu  lesen  sein. 
4,  112  scheint  ein  Mißverständnis  oder  mindestens  eine  Undeut- 
lichkeit  vorzuliegen.  Man  liest  dort:  Elle  (audience)  fut  accordee 
apres  le  depart  des  Aragonais,  le  25  (Dienstag  in  der  Karwochen). 
Der  Dienstag  in  der  Karwoche,  1455  ist  der  I.April,  während 
hier  der  25.  Februar  gemeint  ist.  4,  143  ist  zu  lesen  an  der  leng, 
nicht  aler  leng.  —  S.  147  Hes:  Ott  Herdeghen;  S.  191:  Pente- 
costes.  S.  262  dürfte  die  Handschrift:  Nürnwerg  haben.  In 
Nummer  201,  S.  301,  bedürfen  die  Namen  bzw.  Worte:  Laurent 
de  Saltzbourg  und  les  eveques  de  Rheinsee  einer  Erläuterung. 
Stücke,  die  jüngstens  an  anderen  Orten  gedruckt  wurden,  wären 
jedenfalls  zu  vergleichen  gewesen;  so  findet  sich  4,  41  (Nr.  XXI) 
in  extenso  in  Wolkans  Ausgabe  des  Briefwechsels  des  Eneas 
Silvius  Piccolomini  und  von  dort  konnten  einige  bessere  Les- 
arten genommen  werden.  So  heißt  es  dort  an  wichtiger  Stelle 
nicht  At  hunc  Balachus,  regionis  gnarus  usw.,  sondern  At  homo 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.»  3.  Folge  21.  Bd.  6 


82  Literaturbericht. 

Balachus  ...  An  späterer  Stelle  nicht:  in  estate  sondern  in  hac 
estate  . . ,  und  weiter  nicht  quam  plures  cum  sondern  complu- 
res  cum  ...  So  wünschenswert  es  ist,  daß  diese  Serien  fortge- 
setzt werden:  man  würde  es  dem  Herausgeber  danken,  würde 
er  für  die  deutschen  Stücke  Unterstützung  von  sachkundiger 
Seite  nachsuchen  und  die  sonstige  einschlägige  historisch-geo- 
graphische Literatur  in  ausreichendem  Maße  zu  Rate  ziehen. 
Graz.  J.  Loserth. 

Die  Coccejische  Justizreform.    Von  M.  Springer.    München   und 
Leipzig,  Duncker  &  Humblot.     1914.    XII  u.  387  S. 

Die  Entwicklung  des  absoluten  Militärstaates  in  Branden- 
burg-Preußen von  den  Tagen  des  großen  Kurfürsten  bis  zu  den 
Friedrich  Wilhelms  I.  hat  dazu  beigetragen,  die  schon  aus  anderen 
Ursachen  im  argen  liegende  Zivilrechtspflege  weiter  zu  schädigen; 
das  geschah  durch  die  Wegnahme  der  besten  Kräfte  aus  der 
Justiz  in  die  Verwaltung,  durch  die  häufig  damit  verbundene 
Verwendung  von  Gehältern,  die  für  die  Gerichte  bestimmt  waren, 
für  jene  anderen  Zwecke,  durch  die  Anstellung  zahlreicher  un- 
geeigneter Elemente  infolge  ihrer  Zahlungen  zur  Rekrutenkasse, 
durch  die  Rechtsunklarheit  infolge  des  wachsenden  Wider- 
spruches zwischen  dem  alten  Recht  und  den  neuen  Verordnungen 
der  Verwaltungsbehörden,  durch  die  Ausdehnung  der  Gerichts- 
barkeit dieser  Verwaltungsbehörden,  durch  häufige  Eingriffe  des 
Herrschers  in  laufende  Prozesse  u.  a.  m.  Während  so,  nament- 
lich unter  Friedrich  Wilhelm  I.,  die  Leistungsfähigkeit  der  Ge- 
richte immer  weiter  in  Frage  gestellt  wurde,  setzten  zugleich 
infolge  der  allenthalben  empfundenen  Mißstände  dauernd  wieder- 
holte, lebhafte  Versuche  zur  Reform  der  Justiz  ein;  sie  leitete 
unter  Friedrich  Wilhelm  I.  und  unter  Friedrich  dem  Großen 
bis  zum  Siebenjährigen  Kriege  Samuel  von  Cocceji.  Diese  Cocceji- 
sche Justizreform  schildert  der  Verfasser  der  vorliegenden  Arbeit 
auf  Grund  des  umfangreichen  Aktenmaterials,  das  in  der  Ab- 
teilung: Behördenorganisation  der  Acta  Borussica  wiedergegeben 
ist,  wie  der  weitverzweigten  Literatur;  im  ersten  Teil  seines 
Buches  stellt  er  den  Gang  der  Reform  dar,  d.  h.  die  mißglückten 
Reformversuche  unter  Friedrich  Wilhelm  L  und  dann  die  Durch- 
führung der  Reform  in  allen  Teilen  des  preußischen   Staates 


Zeitalter  Friedrichs  des  Großen,  83 

während  des  Jahrzehnts  zwischen  dem  Dresdner  Frieden  und 
dem  Siebenjährigen  Kriege;  der  zweite  Teil  behandelt  die  Ergeb- 
nisse der  Reform. 

Man  merkt  es  dem  Buche  wohl  an,  daß  es  einen  Anfänger 
zum  Verfasser  hat;  so  reicht  im  dritten  Kapitel  des  ersten  Teiles 
die  Darstellung  unter  dem  Titel:  „Die  ersten  Jahre  unter  Fried- 
rich Wilhelm  I."  bis  1737/38.  Über  die  Fülle  falscher  Zitate 
und  andere  Mängel  des  Buches  verweise  ich  auf  die  Besprechung 
von  R.  Hübner  in  der  Zeitschrift  der  Savigny-Stiftung  für  Rechts- 
geschichte, German.  Abt.  Bd.  36  (1915),  S.  498ff.  Damit  könnten 
es  der  Worte  über  eine  Anfängerarbeit  genug  sein;  ich  möchte 
aber  noch  gegen  die  Beurteilung  der  Ergebnisse  der  Reform, 
bei  der  der  Verfasser  den  herrschenden  Standpunkt  vertritt, 
wie  ihn  Koser,  Hintze  u.  a.  einnehmen,  einige  Einwendungen 
erheben. 

Den  Anstoß  und  die  Richtung  für  diese  Justizreform  gab 
(Springer  S.  28)  „die  ausdrückliche  Forderung  Friedrich  Wilhelms, 
alle  Prozesse  binnen  Jahresfrist  zu  erledigen.  Sie  wurde  für  alle 
Folgezeit  das  Sinnbild  für  das  Verlangen  nach  Beschleunigung. 
Er  hielt  an  ihr  sein  Leben  lang  fest,  sein  Sohn  übernahm  sie  von 
ihm."  Am  1.  Juli  1743  erließ  Friedrich  der  Große  an  Cocceji 
eine  Kabinettsorder,  in  der  es  hieß:  „Ich  finde  sowohl  hiebei  als 
bei  vielen  anderen  Klagten,  daß  es  noch  eine  schlechte  Frucht 
von  verbesserter  Justiz  sei,  wenn  arme  Unterthanen,  wenn  sie 
mit  einem  größern  und  reichern  Contrapart  zu  thun  haben, 
sich  24  Jahre  hindurch  chicaniren  lassen  müssen,  dergleichen 
Exempel  gewiß  viel  mehrere  vorhanden".^)  Diese  Kabinetts- 
order brachte  die  gegen  Ausgang  der  Regierung  Friedrich  Wil- 
helms I.  ins  Stocken  geratene  Reform  wieder  in  Fluß.  Unter  den 
sich  damals  viele  Jahre  und  Jahrzehnte  lang  hinschleppenden 
Prozessen  nahmen  also  die  sog.  Untertanen-  oder  Bauernprozesse 
einen  großen  Raum  ein^);  das  heiße  Verlangen,  dem  kleinen 
Mann,  dem  gedrückten  Hörigen,  schnelles  und  gerechtes  Gericht 
zu  verschaffen,  bildete  für  Friedrich  die  Haupttriebfeder  bei  allen 
Neuerungen  in  der  Zivilrechtspflege  während  seiner  langen  Re- 


^)   Acta   Borussica,    Behördenorganisation,  Bd.  VI,  2,  S.  614. 
S.  noch  S.  772/3,  781/2,  809/10. 

»)  Vgl.  noch  a.  a.  0.  Bd.  VIII,  S.  361. 

6* 


84  Literaturbericht. 

gierung.  Wir  werden  also  bei  der  Beurteilung  der  Coccejischen 
Justizreform  stark  berücksichtigen  müssen,  ob  jenes  Ziel  er- 
reicht wurde  oder  nicht;  eine  Beantwortung  dieser  Frage  er- 
schwert freilich  der  Umstand,  daß  nach  Abschluß  der  Reform  der 
Siebenjährige  Krieg  ausbrach  und  auf  den  Gang  der  Rechtspflege 
wie  auf  die  wirtschaftlichen  und  sozialen  Verhältnisse  naturgemäß 
höchst  ungünstig  einwirkte,  so  daß  sich  nicht  immer  klar  ent- 
scheiden läßt,  ob  die  nach  der  Reform  noch  zutage  tretenden 
Mängel  der  Ziviljustiz  der  Reform  selber  oder  dem  Krieg  zur 
Last  fallen. 

Dieser  Einwand  trifft  nun  aber  nicht  auf  die  Tatsache  zu, 
daß  man  sich  in  den  Tagen  Coccejis  der  Reformbedürftigkeit 
der  Untergerichte,  der  Stadtgerichte  und  besonders  der  Patri- 
monialgerichte  auf  dem  Lande  und  in  den  Mediatstädten,  zwar 
wohl  bewußt  war  (Springer  S.  47,  56,  348ff.),  daß  aber  trotzdem 
die  Untergerichte  „im  wesentlichen  unverändert  blieben"  (Springer 
S.  353).  Wie  wenig  die  von  Cocceji  durchgesetzte  Forderung, 
jeder  Unterrichter  müsse  vor  seiner  Anstellung  eine  Prüfung  vor 
den  Obergerichten  bestehen,  die  Rechtspflege  auf  dem  Lande, 
wenigstens  in  Schlesien,  hob,  dafür  verweise  ich  auf  die  Aus- 
führungen in  meinem  Buche:  „Hundert  Jahre  schlesischer  Agrar- 
geschichte.  Vom  Hubertusburger  Frieden  bis  zum  Abschluß 
der  Bauernbefreiung",  S.  119ff.^)  Über  die  Stadtgerichte  s, 
mein  Buch:  „Das  Ergebnis  der  friderizianischen  Städteverwaltung 
und  die  Städteordnung  Steins",  S.  128,  und  folgenden  Bericht 
des  Präsidenten  der  Brieger  Oberamtsregierung,  des  Freiherrn 
von  Zedlitz,  vom  12.  Oktober  1765  an  das  Justizdepartement, 
in  dem  er  zunächst  die  Aufhebung  der  ländlichen  Patrimonial- 
gerichtsbarkeit und  ihren  Ersatz  durch  die  Anstellung  von  Kreis- 
justiziaren  empfiehlt;  dann  fährt  er  fort:  „So  wie  bei  den  Adeligen 
auf  ihren  Gütern  die  Gerichtsbarkeit  schlecht  angewendet  wird, 
ebenso  schlecht  wird  die  Justiz  in  den  Städten  administriert. 
Sowohl  die  Mediat-  als  die  immediate  unter  Eurer  Majestät 
stehende  Magistrate  verdienen  diesen  Vorwurf.  Die  Oberamts- 
regierung  ist   wahrhaft   allemal   verlegen,   wenn   die   geringste 

1)  Um  der  falschen  Annahme  vorzubeugen,  als  ob  ich  Spr. 
aus  der  Nichtbenutzuug  meines  Buches  indirekt  einen  Vorwurf 
machen  wollte,  bemerke  ich,  daß  es  ein  Jahr  nach  Spr.s  Schrift 
erschienen  ist. 


Zeitalter  Friedrichs  des  Großen.  85 

gerichtliche  Handlung,  es  sei  ein  Zeugenverhör  oder  Eidesabnahme, 
auswärts  vorgenommen  werden  soll . .  .  Die  Magistrate  machen 
bei  Anfertigung  des  Rotuli  hundert  lächerliche  Fehler  . . .  Kommt 
es  endlich  in  einer  Stadt  zu  einem  Prozeß  und  fällt  es  dem  Magistrat 
ein,  Akten  zu  machen,  so  gehören  im  nachherigen  Appellatorio 
alle  juristische  Künste  dazu,  wenn  man  zu  Ersparung  der  Zeit 
und  Kosten  das  Verfahren  primae  instantiae  nicht  gänzlich 
kassieren  soll.  Dergleichen  Sachen  halten  uns  immer  unbe- 
schreiblich auf."^)  Da  man  nun  wohl  mit  Sicherheit  annehmen 
darf,  daß  die  meisten  Prozesse  gegen  Bürger  und  Bauern  oder 
von  Bürgern  und  Bauern  untereinander  nicht  über  die  erste 
Instanz  hinauskamen,  so  gewann  also  die  Coccejische  Justiz- 
reform für  die  meisten  Prozesse  und  den  größten  Teil  der  die 
Gerichte  beschäftigenden  Bevölkerung  Preußens  keine  Bedeutung. 
Der  schöne  Giebelschmuck,  mit  dem  Cocceji  durch  seine  Reform 
den  preußischen  Themistempel  zierte,  darf  nicht  darüber  täuschen, 
daß  seine  Fundamente  nachher  ebenso  brüchig  blieben  wie  vor- 
her. Diese  Tatsache  ist  bisher  noch  nicht  scharf  genug  betont 
worden,  wenn  es  auch  historisch  durchaus  verständlich  bleibt, 
daß  die  Reform  zuerst  sich  nur  auf  die  Obergerichte  erstreckte, 
und  erst  später  —  leider  erst  100  Jahre  später  —  zur  Verstaat- 
lichung der  Patrimonialgerichte  führte. 

Bei  den  höheren  Instanzen,  auf  die  sich  Coccejis  Reform 
also  beschränkte,  war  es  zunächst  einmal  nötig,  alle  alten  Prozesse, 
viele  hunderte  an  der  Zahl,,  kurzerhand  abzutun;  „es  war",  so 
urteilt  Fr.  Holtze  in  seiner  Geschichte  des  Kammergerichts, 
T.  III,  S.  218,  „somit  nicht  eigentlich  Justiz,  die  geübt,  nicht 
gerade  Recht,  was  gesprochen  wurde,  sondern  ein  ganz  praktisches 
Nummerntöten".  Nun  erwähnt  aber  Stölzel,  Brandenburg- 
Preußens  Rechtsverwaltung  und  Rechtsverfassung,  Bd.  2,  S.  272, 
eine  Kabinettsorder  „vom  27.  November  1779,  welche  auf  Be- 
schwerde eines  Majors  über  einen  bereits  an  70  Jahre  in  Cleve 
schwebenden  Prozeß  erging",  also  über  einen  Prozeß,  der  40  Jahre 
vor  der  Coccejischen  Reform  unter  Friedrich  dem  Großen  be- 
gonnen und  diese  überdauert  hat.  Man  wird  die  Frage  auf- 
werfen dürfen,  ob  es  sich  hier  um  einen  Ausnahmefall  handelt 
oder  ob  die  Schnelligkeit,  mit  der  man  Ende  der  vierziger,  Anfang 


1)  Breslauer  Staatsarchiv  Rep.  199.     M.  R.  V,  45e.    Vol.  1. 


86  Literaturbericht. 

der  fünfziger  Jahre  des  18.  Jahrhunderts  unter  Coccejis  Leitung 
mit  den  alten  Prozessen  aufräumte,  zur  Folge  hatte,  daß  ein  gut 
Teil  der  alten  Prozesse  unter  Beibringung  neuen,  von  jener  eilenden 
Justiz  nicht  beachteten  Beweismaterials  eine  fröhliche  Aufer- 
stehung feierte;  erst  wenn  wir  die  Geschichte  noch  eines  höheren 
preußischen  Provinzialgerichtes  als  Gegenstück  zu  Holtzes  Ge- 
schichte des  Kammergerichtes  besitzen,  wird  man  in  diesem  und 
manch  anderem  Punkte  klarer  sehen. 

In  meinem  oben  erwähnten  Buche:  „Hundert  Jahre  schlesi- 
scher  Agrargeschichte"  erwähne  ich  zufällig  auf  S.  21  Bauern- 
prozesse, die  auf  dem  in  Frage  stehenden  Gute  ungefähr  zu  der 
Zeit,  da  Cocceji  seine  Reform  in  Schlesien  durchführte,  einsetzten 
und  trotz  aller  von  Cocceji  zur  Beschleunigung  der  Prozesse  durch- 
geführten Neuerungen  an  40  Jahre  dauerten;  S.  191  einen  Bauern- 
prozeß, der  etwa  mit  dem  Anfang  der  preußischen  Herrschaft 
in  Schlesien  anhub,  1747  zugunsten  der  Bauern  endete,  bald  aber, 
etwa  zur  Zeit  der  Coccejischen  Reform,  wieder  aufgenommen 
wurde,  1753  zu  dem  gleichen  Ergebnis  wie  1747  führte,  ohne  daß 
aber  den  Bauern  bis  zum  Jahre  1765  ihr  Recht  wurde,  so  daß  es 
schließlich  zum  offenen  Aufruhr  kam.  Von  1775  an  bis  über  den 
Zusammenbruch  des  alten  Preußens  hinaus  prozessierten  die 
Untertanen  der  Herrschaft  Trachenberg  mit  ihrer  Grundherr- 
schaft (S.  247).  Das  sind  nur  ein  paar  Beispiele,  die  ich  in  meinem 
Buche  herausgriff;  ihre  Zahl  könnte  vermehrt  werden.  Unter- 
tanenprozesse, die  viele  Jahre  und  Jahrzehnte  dauerten,  die  mit 
der  Coccejischen  Justizreform  für  alle  Zeiten  verschwinden  sollten, 
hat  es  also  auch  nachher  gegeben ;  das  lag  zu  einem  sehr  bedeuten- 
den Teil  an  dem  Gegenstand  der  Prozesse,  der  durch  keine  Reform 
des  Prozeßverfahrens  und  der  Gerichtsorganisation  aus  der  Welt 
zu  schaffenden  Unklarheit  und  Dehnbarkeit  der  dem  Landvolk 
obliegenden  Verpflichtungen.  Man  mußte  im  großen  und  ganzen 
entweder  den  Hörigen  der  Willkür  oder,  was  besser  klingt,  der 
patriarchalischen  Herrschaft  des  Gutsherrn  überlassen  oder  aber 
die  Hörigkeit  aufheben;  alle  Versuche,  sie  beizubehalten,  die  aus 
ihr  fließenden  Pflichten  aber  scharf  und  deutlich,  juristisch  faß- 
bar, zu  umgrenzen,  scheiterten  schließlich.  Deshalb  konnte 
der  Gutsherr  gegen  seine  Untertanen,  wenn  sie  ihm  nicht  zu 
Willen  waren,  so  lange  prozessieren,  bis  sie  mürbe  wurden  und 
nachgaben.  Das  gleiche  gilt  von  dem  Verhältnis  zwischen  Mediat- 


Zeitalter  Friedrichs  des  Großen.  87 

Städtern  und  ihrem  Grundherrn.  Der  Versuch,  diese  Art  von 
Dauerprozessen  durch  die  Coccejische  Justizreform  ein  für  allemal 
zu  unterbinden,  hat  jedenfalls  sein  Ziel  nicht  voll  erreicht. 

Kurz  ehe  Friedrich  zur  Regierung  kam,  hat  Cocceji  ein  Ge- 
setz verfaßt,  das  die  meisten  der  gewöhnlich  so  langwierigen 
Untertanenprozesse  in  etwas  eigenartiger  Weise  aus  der  Welt 
geschafft  hätte,  wenn  jenes  Gesetz  nicht  bald  wieder  aufgehoben 
worden  wäre;  am  24.  Februar  1739  wurde  nämlich  das  sog. 
Bagatelledikt  veröffentlicht,  das  zwar  auf  eine  Anregung  Friedrich 
Wilhelms  I,  zurückging,  aber  von  Cocceji  allein  ausgearbeitet 
wurde,  ohne  daß  ihm  der  König  hineinredete  und  dadurch  die 
Einzelbestimmungen  verdarb,  so  daß  Cocceji  die  moralische  Ver- 
antwortung für  dieses  Edikt  trägt.  „Es  bestimmte,  daß  bei  allen 
Sachen  unter  50  Talern  kein  ordentlicher  Prozeß  zu  verstatten 
sei,  sondern  solche  bei  einem  mündüchen  Verhör  ohne  alle  Kosten 
und  Verstattung  der  geringsten  Weitläufigkeit  auf  einmal  abzutun 
sein.  Gegen  die  Urteile  sollte  kein  Rechtsmittel  verstattet 
werden."  (Springer  S.  67.)  Springer  betont  mit  Recht,  daß 
damals  bei  den  Untergerichten  ein  Streitgegenstand  von  über 
50  Talern  zu  den  Seltenheiten  gehörte;  die  meisten  Prozesse 
vor  den  Untergerichten  fielen  also  unter  dieses  Bagatelledikt. 
Wenn  demgemäß  ein  Gutsherr  gegen  einen  seiner  Untertanen 
klagte  und  im  Notfall  seine  Forderungen  derart  zerlegte,  daß  in 
dem  jeweiligen  Prozeßverfahren  das  strittige  Objekt  im  Wert 
unter  50  Talern  blieb,  so  entschied  des  Gutsherrn  Patrimonial- 
richter  nach  kurzem  Verfahren  endgültig  über  seines  Brotherrn 
Klage.  Man  muß  nun  entweder  annehmen,  daß  Cocceji  so  welt- 
fremd war,  diese  Folge  nicht  vorauszusehen;  solche  Annahme 
würde  aber  allem  widersprechen,  was  wir  über  die  Persönlichkeit 
Coccejis  wissen;  dann  bleibt  nur  der  Schluß  übrig,  daß  Cocceji 
die  meisten  Prozesse  gegen  Bauern,  Mediatstädter  und  Acker- 
bürger durch  eine  derartige  Kadijustiz  abtun  wollte,  damit  die 
auf  solche  Weise  entlasteten  höheren  Gerichte  sich  mit  den  vor- 
nehmlich die  höheren  sozialen  Schichten  berührenden  Prozessen 
um  so  besser  und  gründlicher  befassen  konnten.  Hinsichtlich 
dieses  letzten  Punktes  hat  dann  auch  im  großen  und  ganzen  die 
auf  die  Obergerichte  beschränkte  Coccejische  Justizreform  unter 
Friedrich  dem  Großen  eine  entsprechende  Wirkung  gezeitigt. 
Was  da  durch  die  Zentralisation  der  Obergerichte,  die  Regelung 


88  Literaturbericht. 

und  Vereinfachung  des  Prozeßverfahrens  und  Instanzenzuges, 
die  Säuberung  des  alten  Richterstandes,  die  Erziehung  eines 
neuen,  tüchtigen  Richterstandes  für  die  Obergerichte,  die  Be- 
schaffung einer  ausreichenden  Besoldung  für  diesen  neuen  Richter- 
stand, die  Regelung  des  Vorbereitungsdienstes  usw.  geschah, 
kam,  da  es  auch  auf  die  Gerichte  der  größeren  Städte  zuerst 
abfärbte  und  da  die  oberen  Klassen  des  Bürgerstandes  sich 
leichter  und  öfter  zur  Appellation  an  die  zweite  Instanz  entschlossen 
als  Kleinbürger  und  Bauern,  den  rechtsuchenden  höheren  sozialen 
Schichten,  dem  Adel,  den  Beamten  und  dem  besseren  Bürger- 
stand, vornehmlich  zugute  und  trug  dadurch  dazu  bei,  bei  diesen 
Schichten  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  die  Vor- 
stellung von  der  unübertreffHchen  Güte  der  Zustände  im  alten 
Preußen  zu  wecken,  während  die  kleinen  Leute  unter  den  furcht- 
baren Schäden  der  Patrimonialgerichte  und  kleinen  Stadtgerichte 
nach  wie  vor  litten. 

Endlich  noch  eins.  Zu  den  vielen  Vorzügen,  die  man  der 
Coccejischen  Justizreform  nachrühmt,  gehört  auch  die  von 
Springer  im  Anschluß  an  Weißlers  Geschichte  der  Rechtsanwalt- 
schaft wiederholte  Behauptung,  daß  damals  der  bisher  mit 
Recht  so  scharf  angefeindete  Anwaltstand  sich  gewandelt  und 
gewaltig  gehoben  habe.  Dieser  Auffassung  gegenüber  verweise 
ich  darauf,  daß  der  Freiherr  vom  Stein  1808  den  Anwälten  das 
Wahlrecht  zu  den  Stadtverordnetenversammlungen  entziehen 
wollte  (Lehmann,  Stein,  Bd.  II,  S.  465).  Mögen  bei  diesem  Ge- 
danken auch  manche  böse  Erinnerung  an  das  Treiben  der  Advo- 
katen in  der  französischen  Revolution  und  die  Abneigung  Steins 
gegen  jede  Art  von  Beamten  —  und  dazu  zählten  damals  doch 
auch  die  Justizkommissare,  d.  h.  die  Anwälte  —  eine  Rolle  ge- 
spielt haben,  so  gehörte  doch  auch  zu  dieser  Absicht,  die  dann 
Bordellwirten  und  ähnlichen  Leuten  gegenüber  verwirklicht 
wurde,  als  bedingungslose  Voraussetzung  eine  allgemeine  Gering- 
schätzung des  Anwaltstandes,  wie  sie  uns  in  den  Tagen  Friedrich 
Wilhelms  I.  und  des  von  ihm  den  Advokaten  aufgezwungenen 
schwarzen  Mantels  begegnet. 

Breslau.  Ziekursch. 


19.  Jahrhundert.  89 

Erinnerungen  von  Ernst  Freiherrn  von  Plener.  1.  Bd.  Jugend, 
Paris  und  London  bis  1873.  Stuttgart  und  Leipzig,  Deutsche 
Verlagsanstalt.     1911.    X  u.  392  S. 

österreichische  Memoiren  sind  nicht  so  häufig,  als  daß  man 
es  nicht  dani<bar  begrüßen  sollte,  wenn  ein  Mann,  der  etwas 
erlebt  hat  und  etwas  zu  sagen  hat  wie  der  langjährige  Führer 
der  Deutschliberalen,  Ernst  v.  Plener,  uns  seine  Lebenserinnerungen 
übergibt.  Freilich  bewegt  sich  der  vorliegende  Band  (dessen 
Anzeige  etwas  verspätet  erfolgt,  da  ursprünglich  das  Erscheinen 
des  zweiten  Bandes  abgewartet  wurde)  nur  erst  in  der  Peripherie 
der  österreichischen  Verhältnisse.  Er  bringt  gewissermaßen  eine 
politische  Bildungsgeschichte,  die  der  Geschichte  einer  politischen 
Tätigkeit  vorausgeschickt  wird,  und  diese  politische  Bildung 
wird  überwiegend  im  Auslande,  auf  dem  Boden  der  europäischen 
Diplomatie  und  der  europäischen  Kultur  der  Zeit  erworben. 
Den  Hauptinhalt  des  Bandes  bildet,  nach  den  Jugendjahren, 
die  Zeit  vom  Frühjahr  1865  bis  zum  Sommer  1873,  die  P.  als  diplo- 
matischer Attache  in  Paris  (bis  zum  Februar  1867)  und  dann 
in  London  verbrachte,  und  es  liegt  auch  für  den  Reichsdeutschen 
ein  besonderer  Reiz  darin,  wenn  die  für  die  neudeutsche  Ge- 
schichte entscheidende  Periode  nicht  von  ihrem  Zentrum  her, 
sondern  aus  einer  gewissen  Entfernung  heraus  von  einem  den 
Dingen  unbefangen  gegenüberstehenden  Manne  erzählt  wird; 
die  österreichische  Geschichte  dieser  Zeit,  die  gerade  in  der  großen 
Krisis  von  1866  auf  das  intensivste  miterlebt  wird,  schimmert 
in  der  Regel  von  weitem  durch,  so  eng  auch  der  Memoirenschreiber, 
dessen  Vater  damals  als  Finanzminister  im  Ministerium  Schmer- 
ling und  dann  als  Handelsminister  im  Bürgerministerium  tätig 
war,  durch  diese  persönliche  Beziehung  mit  den  wichtigsten 
Entschließungen  verbunden  erscheint. 

Man  kann  nicht  gerade  sagen,  daß  P.  zum  Memoirenschrift- 
stgller  geboren  sei.  Dazu  fehlt  es  an  jener  Unmittelbarkeit  des 
persönlichen  Erlebens,  die  sich  auch  in  der  künstlerischen  Wieder- 
gabe niemals  verleugnen  wird.  Die  Fülle  der  Erscheinungen 
wird  vielmehr  von  einem  sachlich  interessierten  Beobachter 
angeschaut  und  mit  einem  starken  Bedürfnis  nach  Objektivierung 
der  Dinge  historisch  dargestellt,  unter  gewissenhafter  Benutzung 
der  eigenen  Aufzeichnungen  und  Briefe  (an  den  Vater),  gelegent- 
lich auch  der  neueren   Literatur.    Diese   Herkunft  des  Bandes 


90  Literaturbericht. 

macht  sich  wohl  einmal  in  einer  Überladung  der  Notizen  bemerk- 
bar, in  denen  sich  gelegentlich  society-life  und  diplomatische 
Noten,  große  europäische  Ereignisse  und  ernste  geistige  Arbeit 
bunt  durcheinanderschieben.  Aber  der  große  Zusammenhang 
geht  darüber  nie  verloren,  er  kommt  sowohl  in  der  allgemeinen 
Geschichtsdarstellung  wie  in  der  Entwicklung  des  eigenen  Bildungs- 
weges zur  Geltung.  Auch  dieser  Entwicklung,  die  das  Intimste 
und  Persönlichste  der  Memoiren  umfaßt,  stellt  der  Verfasser 
sich  durchaus  objektiv  gegenüber.  Er  nennt  sich  einmal  einen 
„strengen,  jungen  Menschen,  der  sehr  viel  auf  Tradition,  Dis- 
kretion und  Ordnung  auf  der  Botschaft  hielt";  er  besaß  einen 
vom  Vater  ererbten  tätigen  Bildungstrieb  und  ein  unermüdliches 
Aufnahmevermögen;  er  erscheint  als  eine  Natur,  die  bewußt 
an  sich  arbeitet  und  in  ihrer  Sachlichkeit  mit  dem,  was  man 
gemeinhin  Österreichertum  nennt,  wenig  gemein  hat. 

Man  merkt  ihm  eben  die  festen,  von  Generationen  über- 
machten Traditionen  des  österreichischen  Beamtentums  an. 
E.  V.  P.  ist  aufgewachsen  in  dem  Geiste  des  liberalen  Zentralismus 
der  sechziger  Jahre,  der  jene  Traditionen  mit  neuen  Kräften  zu 
erfüllen  suchte  und  sich  zu  diesem  Zwecke  um  eine  breite  geistige 
Fundierung  bemühte.  Von  Eger,  wo  er  geboren  ward,  hat  ihn 
seine  Jugend,  der  Laufbahn  des  Vaters  folgend,  über  Prag  nach 
Ofen  und  Preßburg,  dann  nach  Lemberg  und  schließlich  nach 
Wien  geführt:  es  waren  die  letzten  Jahre  des  österreichischen 
Einheitsstaates.  Die  Ansicht  der  Dinge  wird  nie  aus  einem  pro- 
vinziellen Gesichtswinkel  oder  von  dem  Sonderinteresse  einer 
Nationalität  gewonnen,  sondern  von  dem  Gesamtstaat  und 
seinen  Bedürfnissen  her.  Der  europäische  Gesichtspunkt,  aus 
dem  der  junge  Diplomat  naturgemäß  auch  die  österreichischen 
Probleme  zu  beurteilen  sich  gewöhnte,  hat  diese  Neigung  nur 
noch  verstärken  können. 

Der  historische  Gewinn  des  ersten  Memoirenbandes  kommt 
hauptsächlich  der  europäischen  Geschichte  zugute.  Die  großen 
Figuren  dieser  Jahre,  Napoleon  III.,  Gladstone,  Disraeli,  Beust 
(dessen  staatsmännische  Künste  mit  Recht  einer  scharfen  Be- 
urteilung unterliegen)  werden  in  eindrucksvollen  Umrissen  vor- 
geführt. Die  großen  Krisen,  zumal  wenn  sie  auch  die  diplo- 
matische Mitwirkung  des  jungen  Österreichers  berührten,  er- 
fahren  jedesmal   sorgsame   und  aufschlußreiche   Erörterung,   so 


19.  Jahrhundert.  91 

das  Doppelspiel  Napoleons  zwischen  Österreich  und  Preußen 
vor  dem  Kriege  von  1866,  der  Verlauf  des  Luxemburger  Kon- 
flikts im  Jahre  1867  und  die  Frage  der  Kollektivgarantie  der 
europäischen  Mächte,  vor  allem  die  europäischen  Rückwirkungen 
des  deutsch-französischen  Krieges.  Sie  werden  von  einem  uns 
zwar  gefühlsmäßig  nicht  fernstehenden,  aber  doch  ausgesprochen 
österreichischen  Standpunkt  beurteilt,  der  zunächst  einen  Sieg 
Preußens  sowohl  wie  einen  Sieg  Frankreichs  als  schädliche  Er- 
eignisse einschätzte.  Man  erfährt  manches  Neue  über  die  Ver- 
suche zur  Bildung  einer  „Ligue  des  neutres",  über  den  deutschen 
Streitfall  mit  Großbritannien  in  der  Frage  der  Waffenausfuhr, 
über  die  Waffenstillstandsbemühungen  der  Neutralen  im  Jahre 
1870  und  die  Sprengung  dieser  Anläufe  durch  die  russische  Kün- 
digung des  Meerengenvertrages;  eingehend  wird  der  Verlauf  der 
Pontuskonferenz  geschildert. 

Daneben  rückt  für  die  Jahre  1867  bis  1873  die  englische 
Geschichte  in  den  Vordergrund.  So  sehr  sich  auch  seit  den  Neu- 
wahlen von  1868  die  demokratische  Umbildung  des  Staatswesens 
anmeldet,  der  Stil  des  politischen  Lebens  wird  noch  durch  die 
alten  parlamentarischen  Traditionen  bestimmt;  heute  scheint 
eine  Zeit  weit  zurückzuliegen,  in  der  aus  dem  Lager  beider  Par- 
teien dem  Ausländer  mit  Vorliebe  versichert  ward:  „we  do  not 
like  a  government  of  lawyers."  Die  politischen  Aktionen  dieser 
Jahre  werden  sehr  gründlich  abgehandelt,  die  Wahlreform  Dis- 
raelis  von  1867  und  dann  die  großen,  mit  unendlicher  Erwartung 
begrüßten  Unternehmungen,  mit  denen  Gladstone  sich  an  den 
Umbau  des  Staatswesens  machte:  allem  voran  die  Entstaat- 
lichung der  irischen  Staatskirche,  die  irische  Landbill,  die  irische 
Universitätsfrage.  Wir  beobachten  das  mächtige  Ansteigen  der 
liberal-radikalen  Welle,  zugleich  aber  schon  die  ersten  Anzeichen 
ihres  Nachlassens,  die  bezeichnenderweise  von  dem  Umschwung 
der  auswärtigen  Situation  ausgelöst  werden.  Schon  werden  in 
der  Rede  Disraelis  im  Kristallpalast  im  Jahre  1872  die  ersten 
Gegenkräfte  des  Imperialismus  sichtbar,  und  das  Versagen  der 
auswärtigen  Politik  Gladstones  ist  es,  das  ihnen  den  Boden  be- 
reitet. Und  zwar  ist  es  nicht,  wie  man  heute  drüben  wohl  hört, 
der  kriegerische  Eintritt  des  Deutschen  Reichs  in  die  Reihe  der 
Großmächte  gewesen,  der  einer  idealen  liberalen  Auslandspolitik 
den  entscheidenden  Stoß  versetzte,  sondern  eine  Reihe  von  andern 


92  Literaturbericht 

Umgestaltungen  der  Weltlage  bringt  die  Ernüchterung:  die 
Pontuskonferenz,  das  Vordringen  der  Russen  in  Mittelasien,  die 
doktrinäre  Behandlung  der  Kolonialbeziehungen  durch  die  Libe- 
ralen und  nicht  zuletzt  der  (von  P.  lichtvoll  analysierte)  Ver- 
lauf des  Alabamakonflikts  mit  den  Vereinigten  Staaten.  Es  ist 
bemerkenswert,  daß  damals  die  Amerikaner  in  der  maßlosen 
Überspannung  ihrer  sog.  indirekten  Entschädigungsforderungen 
auch  die  angeblich  durch  den  Kaperkrieg  der  Alabama  ver- 
anlaßte  „Verlängerung  des  Krieges"  anführten;  man  mag  heute 
den  Gedanken  nicht  unterdrücken,  wieviel  sie  durch  eine  nach 
dem  Buchstaben  des  Völkerrechts  allerdings  zulässige,  aber  mit 
dem  Geiste  wahrer  Neutralität  nicht  mehr  vereinbare  Gewäh- 
rung industriell-kapitalistischer  Kriegshilfe  (in  einem  von  dem 
bisherigen  Völkerrecht  nicht  vorgesehenen  Umfange)  zur  „Ver- 
längerung" des  Weltkrieges  beigetragen  haben. 

Auf  dem  Hintergrunde  dieser  großen  Begebenheiten  vollendet 
sich  die  politische  Ausbildung  P.s,  innerhalb  deren  die  Entwick- 
lung seiner  theoretischen  und  praktischen  nationalökonomischen 
Studien  am  bedeutsamsten  erscheint.  Seit  den  ersten  Anregungen, 
die  P.  in  den  Wiener  Studienjahren  von  Lorenz  von  Stein  er- 
halten hatte,  war  er  über  die  herrschende  Universitätsökonomie 
der  Rau  und  Röscher  rasch  hinweggeschritten;  theoretische 
Neigung  und  warmherzige  Anteilnahme  führten  ihn  den  sozialen 
Problemen  des  vierten  Standes  zu.  Schon  in  dem  Berhner  Stu- 
dienjahre war  er  in  Verkehr  mit  Lassalle  getreten,  dessen  Lebens- 
lauf er  später  in  der  „Allgemeinen  Deutschen  Biographie"  als 
einer  der  ersten  in  seiner  Bedeutung  zu  würdigen  unternahm. 
In  Paris  wie  in  London  suchte  er  die  persönliche  Bekanntschaft 
der  führenden  Nationalökonomen,  der  herrschenden  Schulen 
wie  der  Einspänner,  er  verfolgte  dort  die  französische  Arbeiter- 
bewegung und  ihre  Assoziationsversuche,  hier  die  englischen 
Trade  Unions  an  der  Hand  der  Blaubücher  und  aus  lebendiger 
Anschauung;  neben  den  älteren  Ökonomen  studierte  er,  auch  die 
mühsameren  Wege  nicht  verschmähend,  das  Kapital  von  Marx 
gleich  nach  seinem  Erscheinen.  Wohl  sind  seine  Bücher  über 
die  englische  Fabrikgesetzgebung  (Wien  1871)  und  die  englischen 
Baugenossenschaften  (Wien  1873)  zugleich  im  Hinblick  auf  spätere 
gesetzgeberische  Nutzanwendung  in  seinem  Vaterlande  geschrieben 
worden,  aber  doch  von  einem  starken  ursprünglichen  Interesse 


19.  Jahrhundert.  93 

veranlaßt;  man  mag  es  bedauern,  daß  er  seinen  Plan,  ein  Buch 
über  die  Lage  der  arbeitenden  Klassen  in  England  zu  schreiben, 
nicht  hat  ausführen  können.  Aus  alledem  wird  deutlich,  daß 
P.  über  den  wirtschaftlichen  Liberalismus  seiner  Zeit  längst 
hinausgewachsen  war.  Sein  Artikel  von  1872  über  „die  Krisis 
in  der  deutschen  Staatswissenschaft"  rückt  den  jungen  Öster- 
reicher schon  nahe  an  die  Seite  der  in  Deutschland  sich  bildenden 
kathedersozialistischen  Gruppe  heran,  und  ein  Nachruf,  den  er 
im  Mai  1873  John  Stuart  Mill  widmete,  erscheint  durchaus  von 
dem  Bewußtsein  einer  mit  Mill  ablaufenden  Geschichtsperiode 
und  von  dem  Vorgefühl  einer  neuen,  antiindividualistisch  orien- 
tierten Periode  bestimmt. 

War  er  somit  über  den  wirtschaftlichen  Liberalismus  längst 
hinaus,  so  hat  P.  die  allgemeinen  parlamentarischen  Ideale  des 
westeuropäischen  Liberalismus  tief  in  sich  aufgenommen.  Er  war 
von  der  Vorbildlichkeit  des  englischen  parlamentarischen  Lebens 
unbedingt  überzeugt,,  und  man  könnte  wenig  festländische  Liberale 
nennen,  die  so  tief  durch  diese  Schulung  hindurchgegangen  wären 
und  sie  so  ernst  genommen  hätten.  Nicht  allein  in  dem  Lesesaale 
des  Britischen  Museums,  sondern  zugleich  auf  der  Lords  Gallery 
im  House  of  Commons  hatte  er  die  ihn  bestimmenden  Eindrücke 
erfahren.  Der  Reiz  der  hier  miterlebten  Aktivität  des  politischen 
Handelns  trug  zu  einem  guten  Teile  dazu  bei,  ihn  im  Jahre  1873 
zu  veranlassen,  den  diplomatischen  Dienst  zu  verlassen  und  bei 
den  Neuwahlen  zum  österreichischen  Reichsrat  ein  Mandat  als 
Vertreter  der  Handelskammer  in  Eger  anzunehmen.  Es  ist,  als 
ob  schon  in  diesem  Bande  ein  leiser  Zweifel  durchklinge,  ob  die 
in  England  gewonnene  Schulung  in  parlamentarischer  Praxis 
ihm  gerade  die  richtige  Einstellung  auf  die  Besonderheit  der 
österreichisch-ungarischen  Probleme  bringen  konnte.  Das  eigent- 
liche biographische  Problem  aber  scheint  mir  darin  begriffen 
zu  sein:  auf  welche  Weise  und  mit  welchem  Rechte  eine  starke 
Neigung  zur  vita  contemplativa  schließlich  doch  bewußt  die  Wen- 
dung zur  vita  activa  vollzieht.  Das  Hinausstreben  aus  der  einen  in 
die  andere  Welt  gibt  den  vernehmbaren  Unterton  ab,  der  diesen 
ersten  Band  durchzieht.  Das  allgemein  menschliche  Entwick- 
lungsproblem, das  auch  den  in  der  Welt  der  Gedanken  lebenden 
und  einen  intensiven  Innern  Anteil  an  den  Dingen  nehmenden 
Mann  schließlich  drängt,  das  gewonnene  Rüstzeug  theoretischer 


94  Literaturbericht. 

Vorbereitung  und  lebendiger  Erfahrung  selbst  in  der  Welt  des 
politischen  Handelns  zu  verwenden,  hat  ihn  in  jenen  Jahren 
dauernd  innerlich  bewegt  und  beschäftigt  im  Grunde  noch  den 
Rückblickenden  im  Alter,  Schon  mit  25  Jahren  schreibt  er 
einmal  über  die  ihm  innewohnende  Neigung,  sich  mit  dem  Er- 
kennen der  Ursachen  und  der  Erklärung  des  Tatsächlichen  zu 
begnügen:  „Ich  weiß  recht  gut,  daß  diese  vielleicht  falsch  wissen- 
schaftliche Auffassung  nicht  den  ganzen  menschlichen  Geist  aus- 
füllen kann,  allein  vielleicht  weil  ich  mir  den  Weg  absichtlich 
schwer  machte,  habe  ich  die  andere  Hälfte  der  menschlichen 
Tätigkeit,  das  überzeugungsmäßige  Wollen  und  die  bewußte 
Einseitigkeit  in  der  Richtung  auf  ein  bestimmtes  Ziel  noch  nicht 
bei  mir  produzieren  können."  Im  Laufe  der  nächsten  Jahre 
scheint  sich  ihm  der  Schwerpunkt  seiner  Neigungen  immer  mehr 
nach  der  aktiven  Seite  zu  verschieben,  bis  im  Jahre  1873  der 
entscheidende  Entschluß  vollzogen  wird. 

Er  bedeutet  nicht  nur  den  Übergang  von  außerpolitischer 
zu  innerpolitischer  Tätigkeit,  sondern  vor  allem  die  innere  Um- 
stellung vom  Erkennen  zum  Handeln:  für  den  Menschen  Plener 
die  eigentliche  Lebensfrage.  Die  Lösung  dieses  Problems  wird  man 
erst  aus  dem  zweiten  Bande  beurteilen  können,  der  österreichische 
Memoiren  im  eigentlichen  Sinne  bringen  wird,  österreichische 
Geschichte  in  einem  Zeitraum,  der  von  einer  höheren  Warte  aus 
noch  wenig  angeschaut  wird,  aber  von  keinem  Berufeneren 
dem  historischen  Verständnis  erschlossen  werden  könnte.  Man 
darf  sich  von  diesem  Bande  einen  Reichtum  historisch-politischer 
Belehrung  und  allgemeiner  geistiger  Anregung  versprechen. 

Heidelberg,  Hermann  Oncken. 


Alexandre    II,    Gortschakoff    et   Napoleon    III.      Par   Franfois 
Charles- Roux.     Paris,  Plon-Nourrlt.     1913. 

Auf  560  Seiten  schildert  der  Verfasser  die  Beziehungen 
zwischen  Rußland  und  Frankreich  vom  Krimkriege  bis  zum 
Jahre  1871  auf  dem  Hintergrunde  der  allgemeinen  europäischen 
Politik.  Zahlreiche  archivalische  Mitteilungen,  insbesondere  aus 
der  Korrespondenz  zwischen  der  Pariser  Regierung  und  den 
Petersburger  Botschaftern,  sind  in  der  Darstellung  enthalten. 
Aber  trotzdem  enttäuscht  die  Lektüre,     Über  die  wichtigsten 


19.  Jahrhundert.  95 

Vorgänge,  z.  B.  über  die  Vorgeschichte  des  Krieges  von  1859, 
die  polnische  Frage,  die  Ereignisse  von  1864,  1866  und  1870, 
erfährt  man  kaum  etwas  neues;  die  Geschichte  des  Jahres  1866 
und  die  Vorgeschichte  von  1870  werden  auch  eben  nur  gestreift, 
während  die  Geschicke  der  Donaufürstentümer,  Montenegros 
und  andere  orientalische  Fragen  mit  ermüdender  Breite  be- 
handelt werden.  —  Im  allgemeinen  bestätigt  der  Verfasser  die 
hergebrachte  Anschauung,  daß  nach  dem  Pariser  Kongreß  Frank- 
reich und  Rußland  nach  einer  Verständigung  über  den  Orient 
und  nach  einem  engeren  Zusammengehen  überhaupt  strebten, 
aber  daß  sie  dabei  doch  von  Intimität  noch  weit  entfernt  waren. 
Neu  ist,  daß  Napoleon  sich  zum  raschen  Abschluß  des  Friedens 
von  Villafranca  u.  a.  auch  dadurch  bestimmen  ließ,  daß  seine 
Hoffnung,  Rußland  werde  Preußen  durch  Drohungen  von  einer 
bewaffneten  Intervention  abschrecken,  nicht  in  Erfüllung  ging. 
Allerdings  hat  Gortschakoff,  dessen  Selbstgefälligkeit  übrigens 
deutlich  in  seinen  Gesprächen  mit  dem  französischen  Botschafter 
hervortritt,  später  behauptet,  einen  starken  Druck  auf  Preußen 
ausgeübt  zu  haben,  und  Charles-Roux  scheint  die  Behauptung 
für  bare  Münze  zu  nehmen.  Aber  man  darf  wohl  an  der  Wahrheit 
zweifeln,  da  Sybel  aus  den  preußischen  Akten  nichts  davon  be- 
richtet, und  Zar  Alexander  für  den  revolutionären  Krieg  in  Italien 
wenig  Sympathie  hegte.  —  Ein  recht  ungünstiges  Licht  fällt 
abermals  auf  die  französische  Politik  während  der  polnisch-russi- 
schen Krisis  im  Jahre  1863.  Obgleich  man  in  Paris  über  die 
Stimmung  in  Petersburg  durch  die  Gesandtschaftsberichte  aus- 
gezeichnet unterrichtet  war,  ließ  sich  Napoleon  doch  durch  den 
Druck  der  öffentlichen  Meinung  zu  dem  bekannten  Vorgehen  gegen 
Rußland,  das  das  Tischtuch  zwischen  den  beiden  Kaisern  auf 
lange  zerschnitt,  verleiten.  Die  Schwäche  seines  illegitimen 
Regiments  ist  kaum  je  deutlicher  zutage  getreten  als  in  diesem 
Moment,  der  seinem  gewaltigen  Widersacher  in  Berlin  den  ersten 
großen  Sieg  über  ihn  verschaffte. 

Gießen.  G.  Roloff. 

Fürst  Bismarcks  Frau.    Lebensbild  von  Sophie  Charlotte  v.  SelL 
Berlin,  Trowitzsch  &  Sohn.     1914.    VIII  u.  251  S. 

Wir  haben  hier  ein  Familienbuch  erhalten,  das  mit  voller 
warmherziger  Hingabe  und  in  fesselnder,  lebendiger  Darstellung 


96  Literaturbericht. 

geschrieben  ist,  in  welche  die  Verfasserin  mit  Geschick  ausgewählte 
zahlreiche  Briefauszüge  hineinverwoben  hat.  Von  diesen  bieten 
das  meiste  Interesse  mehrere  bisher  unbekannte  Briefe  Johanna 
von  Bismarcks  an  ihre  nahe  Freundin  aus  der  Frankfurter  Zeit 
Frau  Marie  Meister  geb.  Becker,  besonders  die  aus  den  späteren 
Lebensjahren,  welche  bei  der  Gattin  wie  beim  Fürsten  selbst 
an  brieflichen  Mitteilungen  erheblich  ärmer  sind.  Zu  diesen  für 
die  Schreiberin  zum  Teil  recht  charakteristischen  Briefen  kommen 
einige  Mitteilungen  auf  Grund  mündlicher  Überlieferung  in  be- 
freundeten Familien,  die  sich  freilich,  so  wie  sie  geboten  werden, 
auf  ihre  Brauchbarkeit  nicht  prüfen  lassen,  auch  nur  Nebendinge 
berühren.  Sehr  wohltuend  tritt  auch  in  den  hier  zum  ersten 
Male  vorgelegten  Briefen  die  treue  und  hingebende  Freundschaft 
Johannas  zu  den  Menschen  hervor,  die  sie  einmal  in  ihr  Herz  ge- 
schlossen hatte;  in  dem  starken  Empfinden  von  Liebe  und  Ab- 
neigung kann  sie  bisweilen  an  den  Gatten  erinnern,  nur  daß  bei 
ihr  beides  naiver  und  unbedingter  war.  Wie  sprudelt  es  bei  ihr 
förmlich  heraus  nach  dem  Kissinger  Attentat  Kullmanns  auf 
den  Fürsten,  ganz  von  dem  Attentäter  selbst  abgesehen  auch 
gegen  die  anderen,  zunächst  nur  wegen  Verdachtes  verhafteten 
Personen,  gegen  das  „Satansvieh",  den  sächsischen  Bäcker- 
gesellen mit  dem  großen  Messer  —  wozu  braucht  ein  Bäcker- 
geselle ein  langes  Messer?",  eine  Tatsache,  die  ihr  schon  für  den 
Schuldbeweis  zu  genügen  scheint,  und  dann  gegen  den  ,, dritten 
Teufel",  den  man  auf  dem  Bahnhof  aufgegriffen  hatte  und  der 
eine  genaue  Beschreibung  von  Bismarck  und  dessen  Haus  „in 
seiner  schmierigen  Tasche  getragen". 

Aber  mit  dem  Gesagten  ist  auch  völlig  erschöpft,  was  uns 
das  Buch  bietet,  das  sonst  nur  eine  gewandte  Arbeit  zweiter 
Hand  ist,  für  die  frühere  Zeit  nicht  über  Marcks'  ersten  Band 
seiner  Bismarck-Biographie  und  sonst  nicht  über  Keudells  ,, Fürst 
und  Fürstin  Bismarck"  hinausgeht.  Über  das,  was  für  Bismarck 
gerade  diese  Gattin  und  mit  ihr  das  Familienleben  waren,  wird 
nur  Bekanntes  wiederholt,  dagegen  kein  Versuch  gemacht,  diese 
Frage  neu  oder  tiefer  anzufassen,  etwa  die  Verbindung  mit  dem 
religiösen  Leben  Bismarcks  herzustellen.  Wenn  die  Verfasserin 
in  den  ersten  Kapiteln  einige  Schritte  in  dieser  Richtung  tut, 
so  lehnt  sie  sich  lediglich  an  Marcks'  Vorbild  an,  aber  leider 
scheidet  sie  hier  wie  sonst  gar  nicht,  wo  sie  Eigenes  und  wo  sie 


19.  Jahrhundert.  97 

Angeeignetes  gibt.  Für  die  ältere  Zeit  ist  neben  den  Bismarck- 
briefen  und  Marcks'  erstem  Band  auch  das  Buch  von  Eleonore 
Reuß  über  Thadden  benutzt,  und  wenn  sie  auch  hier  und  da 
einmal  Keudell  zitiert,  so  läßt  sie  dabei  gar  nicht  erkennen,  in 
welchem  Maße  von  ihr  Keudells  Buch  ausgeschöpft  worden  ist, 
das  geradezu  die  Hauptgrundlage  für  ihre  ganze  Darstellung 
bildet,  ohne  das  sie  dieses  Lebensbild  so  überhaupt  nicht  hätte 
schreiben  können, 

Sie  liebt  es,  ihre  Mitteilungen  mit  novellistischem  Erzähler- 
talent auszuschmücken  (eine  gelegentliche  kleine  Probe  bieten 
S.  102  ihre  Ausführungen  darüber,  daß  Johanna  in  Petersburg 
das  Reiten  aufgegeben  hat,  denen  nur  die  kurze  Notiz  des  frei- 
lich hier  nicht  genannten  Keudell  S.  78  zugrundeliegt).  Auch  war 
nicht  nötig,  daß  die  Verfasserin  Johannas  innere  Fremdheit 
gegenüber  der  Politik  so  ganz  auch  in  ihr  Buch  übernahm,  in 
welchem  eine  Zeichnung  des  geschichtlichen  Hintergrundes  fehlt, 
auf  dem  sich  doch  nun  einmal  auch  dies  Frauenleben  an  der 
Seite  des  führenden  Staatsmannes  abgespielt  hat;  die  gelegent- 
lich eingestreuten  allgemeinen  Wendungen  lassen  diesen  Mangel 
nur  stärker  hervortreten.  So  vermissen  wir,  um  das  Jahr  1865 
herauszugreifen,  jede  Andeutung,  worum  es  sich  eigentlich  in 
Gastein  für  Bismarck  gehandelt  hat,  der  ihm  nach  der  Gasteiner 
Konvention  von  seinem  König  verliehene  Grafentitel  schneit  hier 
ganz  unvermittelt  in  das  bismarckische  Haus  hinein,  und  noch 
auffallender  ist  das  bei  der  gleich  darauffolgenden  Biarritzer 
Reise,  die  tatsächlich  ganz  als  schlichte  Familienbadereise  erscheint. 

Es  ist  gewiß  das  Bild  Johannas  mit  einfachen  Linien  zu 
zeichnen,  aber  dem  Biographen  ist  doch  hier  besonders  durch 
die  Hineinzeichnung  in  das  Lebensbild  des  Gatten  eine  lohnende 
Aufgabe  gestellt,  die  über  eine  anmutig  plaudernde  Erzählung 
vom  äußeren  Leben  mit  geschickter  Verwendung  der  eigenen 
Äußerungen  Johannas  hinausführt.  Freilich  wird  auch  hier  wieder 
der  Wunsch  rege,  daß  uns  von  den  eigenen  Briefen  der  Fürstin 
Bismarck  mehr  mitgeteilt  werde,  als  bisher  geschehen  ist;  zum 
Teil  ist  dieser  Wunsch  inzwischen  durch  die  Herausgabe  weiterer 
Briefe  der  Fürstin  von  E.  Heyck  erfüllt  worden,  aber  sie  sind 
ähnlicher  Art  wie  die  von  Ch.  Seil  mitgeteilten;  die  Briefe  an 
die  nächsten  Angehörigen,  den  Gatten  und  die  Kinder,  fehlen 
uns  noch  ganz.     Es  kann  ja  sein,   daß   in  diesen  ihre  schwere 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  7 


98  Literaturbericht. 

Lebensauffassung  und  damit  das  Hemmende,  was  sie  vielfacli 
dem  Gatten  gegenüber  gehabt  iiaben  mag,  meiir  liervortritt; 
aber  im  ganzen  läßt  doch  jede  weitere  Probe  aus  ihrem  Brief- 
wechsel erkennen,  daß  sie  eine  Persönlichkeit  auch  für  sich  war, 
und  daß  die  uns  bekannten  herrlichen  Briefe  des  Gatten  sich 
des  weiblichen  Echos  bei  der  Gattin  nicht  werden  zu  schämen 
brauchen.  Aber  wir  müssen  diese  Bausteine  erst  besitzen,  ehe 
sich  das  biographische  Denkmal  errichten  läßt,  das  Bismarcks 
Frau  verdient. 

Marburg.  W.  Busch. 

Deutsche  Politik.    Von  Fürst  von  Bülow.    Berlin,   Reimar  Hob- 
bing.     1916.     XVI  u.  359  S. 

Fürst  von  Bülow  hat  seinen  Beitrag  zu  dem  1913  erschienenen 
Sammelwerke  „Deutschland  unter  Kaiser  Wilhelm  IL"  erheb- 
lich erweitert  und  durch  die  Erfahrungen  des  Weltkriegs  be- 
reichert zu  einem  Buche  umgestaltet,  das  in  der  historisch-poli- 
tischen Literatur  unserer  Tage  einen  besonderen  Rang  behaupten 
wird.  Es  umfaßt,  zuweilen  erzählend,  häufiger  erörternd,  äußere 
und  innere  Politik  und  setzt  gewissermaßen  die  literarische 
Gattung  der  „Politischen  Testamente"  bedeutender  Staats- 
männer und  Regenten  des  ancien  rigime  fort,  ähnlich  wie  die 
,,  Gedanken  und  Erinnerungen"  seines  großen  Amtsvorgängers, 
doch  ohne  den  memoirenhaften  Charakter  derselben.  Es  ist 
eine  durchaus  staatsmännische,  nicht  historische,  aber  auch 
nicht  rein  publizistische  Hervorbringung.  Es  will  rechtfertigen 
und  einwirken  zugleich.  Es  ist  seinem  Kerne  nach  eine  Dar- 
legung der  Grundgedanken  und  Leistungen  seiner  eigenen  Amts- 
führung, und  alle  Linien,  die  aus  ihr  in  die  folgende  Zeit  und  in 
den  Weltkrieg  hinein  gezogen  werden,  verlängern  eigentlich  nur 
diejenigen,  die  er  für  seine  eigene  Amtsführung  schon  zeichnet, 
und  bleiben  sehr  viel  skizzenhafter  wie  diese.  Man  erwarte  darum 
kein  volles  und  erschöpfendes  Bild  unserer  Gesamtlage  vor  und 
während  des  Krieges,  wohl  aber  ein  höchst  interessantes,  sehr 
überlegtes  und  zugleich  unwillkürlich  charakteristisches  Bild 
dieser  Lage  vom  Standpunkte  der  Bülowschen  Reichskanzler- 
schaft aus.  Er  hält  offenbar  auch  absichtlich  mit  seinen  Urteilen 
über  die  Dinge  seit  1909  zurück,  und  man  kann  nur  an  mehreren 
Stellen  zwischen  den  Zeilen  spüren,  daß  er  kritisch  über  sie  und 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  99 

über  die  Leistungen  seines  Nachfolgers  denkt.  Etwas  deutlicher 
wird  er  wieder  in  der  Angabe  seiner  Kriegsziele.  Man  vernimmt 
mit  höchstem  Interesse,  daß  er  die  bekannten  Forderungen  der 
sechs  großen  Wirtschaftsverbände  von  1915  „rühmenswert" 
nennt  (S.  327).  Das  gibt  einen  Anhalt  für  die  jetzige  Stellung 
B.s  zu  den  Parteien  und  heutigen  Gegensätzen  unseres  öffent- 
lichen Lebens.  Mehr  haben  wir  an  dieser  Stelle,  wo  wir  nicht  die 
tagespolitische,  sondern  die  geschichtliche  Bedeutung  seines 
Buches  zu  würdigen  haben,  darüber  nicht  zu  sagen. 

Mit  warmer  Anerkennung  aber  muß  man  es  hervorheben, 
daß  gerade  die  geschichtliche  Seite  seines  Denkens  sehr  kräftig 
entwickelt  ist.  Er  hat  sich,  Bismarck  darin  nacheifernd  und 
vielfach  von  ihm  beeinflußt,  ein  ganz  bestimmtes  Bild  von  den 
Grundkräften  der  deutschen  Geschichte  und  von  den  politischen 
Qualitäten  des  deutschen  Volkes  geformt;  natürhch  nicht  aus 
eigentlich  wissenschaftlichem  Erkenntnistriebe,  sondern  um  die 
Unterlagen  für  staatsmännisches  Handeln  in  Deutschland  zu 
gewinnen.  Eine  Grundansicht  von  ihm  ist,  daß  unserem  Volke 
bei  aller  Fülle  großer  Eigenschaften  das  politische  Talent  bisher 
versagt  geblieben  sei.  Es  liege  im  deutschen  Charakter,  die  Tat- 
kraft vorwiegend  im  besonderen  zu  üben,  das  allgemeine  Inter- 
esse dem  einzelnen,  dem  engeren,  unmittelbaren,  fühlbaren 
nachzustellen,  ja  unterzuordnen  (S.  172).  Der  partikularistische 
Geist  des  Deutschen  habe  sich  jetzt  von  den  Einzelstaaten  auf 
die  Parteien  verlegt,  die  deutsche  Treue  zum  Parteiführer  sei 
selbstlos,  vorurteilslos  und  kritiklos.  Opposition  gegen  die  Re- 
gierung zu  organisieren,  sei  in  Deutschland  niemals  schwer, 
aber  immer  sei  es  schwer,  oppositionelle  Bewegungen  innerhalb 
einer  Partei  zum  Erfolge  zu  führen  (S.  186  f.).  So  sieht  er  denn 
auch  die  Ursache  für  die  verbitternde  Leidenschaftlichkeit  un- 
serer neueren  wirtschaftlichen  Kämpfe  nicht  in  Fehlern  der 
Wirtschaftspolitik,  sondern  in  der  Unvollkommenheit  unseres 
politischen  Lebens.  „Deutschland  war  vielleicht  das  einzige 
Land,  in  dem  die  praktischen  wirtschaftlichen  Fragen  peinlich 
und  kleinlich  auf  den  Leisten  der  Parteipolitik  geschlagen  wurden" 
(S.  325).  Mit  diesem  partikularistischen  Grundzuge  hänge  der 
Mangel  an  Kontinuität  in  der  ganzen  deutschen  Geschichte  von 
Karl  dem  Großen  bis  Bismarck  zusammen,  in  dem  er  unser 
Verhängnis  sieht  (S.  177).    Einmaliger  großer  Leistungen  seien 


100  *  Literaturbericht. 

wir  wohl  fähig,  und  so  sei  auch  jetzt  in  diesem  Kriege  unser  Volk 
über  sich  selbst  hinausgewachsen;  aber  nur  zu  oft  erfolgte  in 
früheren  Zeiten  auf  die  durch  die  Not  erzwungene  Einigung  ein 
Auseinanderfallen.  Wenn  unser  Volk  trotz  alledem  politisch  in 
die  Höhe  gekommen  ist,  so  liegt  das  nach  B.,  der  sich  dabei  auf 
Goethes  und  Bismarcks  Urteile  beruft,  an  einer  anderen  Eigen- 
schaft des  Deutschen,  „Der  Deutsche,  welches  Stammes  er 
immer  sei,  hat  stets  unter  einer  starken,  stetigen  und  festen 
Leistung  das  Größte  vermocht,  selten  ohne  eine  solche  oder  im 
Gegensatz  zu  seinen  Regierungen  und  Fürsten."  In  Deutsch- 
land sei  wie  kaum  in  einem  anderen  Lande  die  Kraft  der  Re- 
gierungen ausschlaggebend  (S.  8). 

B.  rechnet  also  mit  einem  einmal  gegebenen  unveränder- 
lichen Nationalcharakter.  Aus  ihm  erklärt  er  im  letzten  Grunde 
die  Besonderheit  unseres  poHtischen  Lebens,  aus  ihm  entnimmt 
er  die  Maximen  des  Handelns.  Man  versteht,  daß  der  Staatsmann 
nach  solchen  festen  Gegebenheiten  strebt.  Der  Historiker  kann 
ihm  nicht  unbedingt  darin  folgen.  Der  Staatsmann  steht  in  der 
Versuchung,  die  Fülle  seiner  zeitgeschichtlichen  Erfahrungen 
hinein  zu  projizieren  in  die  Vergangenheit  und  sie  mit  ihr  zu  einer 
konstanten  Einheit  zu  verbinden,  wo  dann  die  Gefahr,  das 
Mannigfaltige  zu  vereinfachen,  sehr  nahe  liegt.  Der  Historiker 
sieht  mehr  auf  den  Fluß  der  Dinge,  auf  die  Entwicklung  neuer 
Kräfte,  auf  die  Wirkungen  singulärer  Schicksale  und  Ereignisse. 
Er  versteht  den  Satz  von  der  Kontinuität  alles  historischen 
Geschehens  nicht  dahin,  daß  in  der  Tiefe  alles  beim  Alten  bleibt, 
sondern  daß  alles  Neue  im  engsten  Konnexe  mit  dem  Alten 
emporwächst.  Grundeigenschaften  der  Volkscharaktere  erkennen 
auch  wir  an,  erkennen  auch  diejenigen  an,  die  B.  uns  zuschreibt, 
aber  können  ihm  nicht  zustimmen  darin,  daß  der  ungeheure 
Umschwung  von  1870  das  Wesen  des  Deutschen  unverändert 
gelassen  habe  (S.  353).  Wenn  aus  dem  Charakter  des  Volkes 
seine  Schicksale,  zwar  nicht  ausschließlich,  aber  doch  wesentlich 
mit  erklärt  werden  dürfen,  so  muß  auch  der  Charakter  selber 
wieder  aus  den  ihn  treffenden  Schicksalen,  gewiß  nicht  allein, 
aber  recht  wesentlich  mit  erklärt  werden.  Die  Schicksale  schaffen 
zwar  keine  neuen  Charakterzüge,  aber  vermögen  die  vorhandenen 
teils  zu  fördern,  teils  zu  hemmen,  so  daß  es  schließlich  doch  zu 
ganz  neuen  Dosierungen  dieser  Züge  und  damit  auch  wesentlichen 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  101 

Veränderungen  des  Gesamtcharakters  kommen  kann.  Diese 
historische  Auffassung  könnte  selbst  das  staatsmännische  Handeln 
befruchten.  Denn  sie  befreit  von  der  lähmenden  Vorstellung, 
daß  das  deutsche  Volk,  unpolitisch  von  Natur,  ein  für  allemal 
darauf  angewiesen  sei,  bloßes  Instrument  irt  der  Hand  starker 
Regierungen  zu  sein.  Die  politischen  Fähigkeiten  des  deutschen 
Volkes  haben  sich  im  19.  Jahrhundert  ohne  Frage  gesteigert; 
selbst  auf  den  Umwegen,  auf  die  der  Deutsche  durch  seinen 
verbissenen  Parteipartikularismus  geführt  wurde,  ist  er  doch 
schließlich  vorangekommen,  und  die  Erziehung  durch  die  Par- 
teien, Vereine,  Gewerkschaften  usw.  kann  propädeutisch  für  den 
Staat  vorbereiten.  Darf  sich  doch  Fürst  B.  selber  als  ein  Er- 
zieher der  Parteien  zum  Staatsbewußtsein  fühlen.  Seine  Block- 
politik hat,  wie  er  mit  Recht  sagen  kann,  ein  weiteres  Stück  Boden 
für  den  nationalen  Gedanken  im  Volke  erobert  und  hat  einen 
wesentlichen  Anteil  daran,  daß  die  Wehrvorlagen,  die  früher 
gegen  den  Starrsinn  der  Parteiprogramme  zu  kämpfen  hatten, 
fortan  glatt  durchgingen.  Bemerkenswert  ist  dabei  auch  sein 
Urteil,  daß  er  in  der  Blockpolitik  keine  innerpolitische  Universal- 
medizin gesehen  und  niemals  eine  dauernde  Ausschaltung  des 
Zentrums  in  seine  Rechnung  gestellt  habe  (S.  218  ff.). 

Die  Blockpolitik  war  ein  glücklicher  Griff  der  Bülowschen 
Ära,  der  über  die  Bismarckschen  Traditionen  hinausging  und  sie 
doch  dabei  fruchtbar  fortentwickelte.  Auf  allen  übrigen  Gebieten 
der  inneren  Politik  ist  der  Zusammenhang  der  Bülowschen  Ten- 
denzen mit  den  Bismarckschen  Traditionen  noch  viel  enger.  B.  be- 
kennt sich  zu  einem  Staatskonservatismus  und  unterscheidet  ihn 
scharf  vom  Parteikonservatismus.  In  den  Parteien  Deutschlands 
sieht  er  nur  sekundäre  Bildungen;  als  die  eigentlichen  Träger 
des  Staatslebens  erscheinen  ihm  die  monarchischen  Regierungen, 
und  für  das  parlamentarische  System  fehlen,  meint  er,  bei  uns 
die  geschichtlichen  Voraussetzungen.  So  dachte  auch  Bismarck, 
aber  immerhin  spürt  man  bei  B.  trotz  seiner  scharfen  Kritik  am 
deutschen  Parteiwesen  ein  weicheres  und  nachgiebigeres  Ver- 
hältnis zu  den  Parteien  als  bei  Bismarck.  Er  steht  ihnen  nicht 
so  stark  und  herrisch  gegenüber  wie  dieser;  er  wünscht  ihnen  etwas 
von  der  „leichten  Versöhnlichkeit"  seiner  eigenen  gewandten 
Natur  und  redet  Konservativen  und  Liberalen  gut  zu,  daß  sie 
einsehen  möchten,  wie  sie  als  Parteien  immer  dann  am  stärksten 


102  Literaturbericht. 

gewesen  seien,  wenn  sie  zusammengegangen  seien  (S.  210). 
Tiefere  Weltanschauungs-  und  Kulturprobleme  sucht  er  von  der 
Behandlung  politischer  Fragen  möglichst  fern  zu  halten.  Das 
tat  auch  Bismarck,  aber  bei  B.  erscheint  das  alles  lässiger  und 
glatter,  und  was  er  über  die  Sozialdemokratie  sagt  (S.  235  ff.), 
ist  trotz  einiger  guter  Bemerkungen  etwas  unbefriedigend  und 
oberflächlich. 

Am  engsten  schloß  sich  B.  den  Bismarckschen  Traditionen 
in  seiner  Wirtschaftspolitik  und  Ostmarkenpolitik  an.  Die  Re- 
gierung, so  sagt  er  gut,  darf  nicht  wie  ein  Kaufmann  nur  die 
Konjunkturen  ausnutzen,  sie  muß  ihre  Wirtschaftspolitik  der 
gesamten  nationalen  Politik  unterordnen.  Nicht  nur  das  gegen- 
wärtige wirtschaftliche  Wohlbefinden,  sondern  vor  allem  die 
künftige  gesunde  Entwicklung  der  Nation  sei  sicherzustellen. 
Daß  allein  schon  die  politische  Selbstbehauptung  uns  zwingt, 
das  System  des  kombinierten  Agrar-  und  Industriestaats  selbst 
mit  Opfern  für  die  städtische  Bevölkerung  aufrecht  zu  halten, 
hat  wohl  der  Krieg  endgültig  gelehrt,  und  man  versteht,  wenn 
B.  mit  Genugtuung  erklärt,  daß  der  Zolltarif  von  1902  aus  der 
Reihe  der  Voraussetzungen  des  Sieges  in  diesem  Kriege  nicht 
fortzudenken  sei  (S.  313).  Bei  der  Erörterung  der  Ostmarken- 
fragen wiederholt  und  unterstreicht  er  die  Bedenken,  die  Bis- 
marck gegen  ein  autonomes  Kongreßpolen  oder  gegen  seine  Ver- 
bindung mit  Österreich  geäußert  hat.  Als  Ziel  unserer  eigenen 
Ostmarkenpolitik  nennt  er  die  Versöhnung  der  Staatsange- 
hörigen polnischer  Nationalität  mit  dem  preußischen  Staate  und 
der  deutschen  Nation,  aber  so,  daß  unter  allen  Umständen  unser 
nationaler  Besitzstand  im  Osten,  die  Einheit  und  Souveränität 
des  preußischen  Staates  sichergestellt  werde,  was  ohne  Härten 
und  Schärfen  nun  einmal  nicht  möglich  sei.  Unzweifelhaft  ein 
staatsmännisches  Ziel;  ungeheuer  wichtig  und  schwierig  aber 
ist  die  Frage,  ob  die  Wege  zu  diesem  Ziele  nach  dem  Kriege  noch 
genau  dieselben  sein  können,  wie  vorher.  Im  wesentlichen  sind 
B.s  Erörterungen  auch  hier  mehr  voraugustlich  orientiert. 

Bismarcks  auswärtige  Politik  wurde  weniger  angefochten 
als  seine  innere.  Wird  es  der  B. sehen  Politik  vielleicht  einmal 
umgekehrt  ergehen  ?  In  der  inneren  Politik  konnte  er  im  großen 
und  ganzen  dem  sicheren  Leitsterne  der  Bismarckschen  Tradition 
folgen.    In  der  auswärtigen  Politik  hatte  er  über  ganz  neue  Wege 


19.  Jahrhundert.  103 

und  Ziele  sich  zu  entscheiden,  denn  der  Eintritt  Deutschlands 
in  die  Weltpolitik  vollzog  sich  unter  ihm.  Die  Weltlage,  aus  der 
der  Krieg  hervorbrach,  bildete  sich  zur  Zeit  seiner  Amtsführung. 
Man  muß  sich  gewiß  von  vornherein  hüten,  mit  einem  vorschnellen 
post  hoc  —  propter  hoc  die  B.sche  Politik  dafür  verantwortlich  zu 
machen,  daß  der  russisch-französische  Zweibund  sich  zur  Entente 
mit  England  erweiterte  und  so  die  gegnerische  Koalition  die 
gefährliche  Überlast  erhielt,  die  zur  Lawine  wurde.  Denn,  so 
sagt  er  mit  Recht,  wir  sind  in  die  Weltpolitik  nicht  hineinge- 
sprungen, wir  sind  in  sie  hineingewachsen.  Allein  schon  durch 
den  Ausbau  der  Flotte,  den  wir  seit  1898  vornahmen,  traten  wir, 
um  mit  ihm  zu  reden,  in  eine  Gefahrenzone  erster  Ordnung  ein, 
und  Deutschland  mußte  dieses  Wagnis  aus  unentrinnbarem 
Zwange  auf  sich  nehmen,  wenn  es  nicht  auf  den  Schutz  und  die 
Geltendmachung  seiner  überseeischen  Interessen  verzichten 
wollte.  Mit  dem  Flottenbau  war  sogleich  auch  automatisch  der 
Gegensatz  zu  England  gegeben.  War  damit  auch  der  früher 
oder  später  ausbrechende  Krieg  Englands  gegen  Deutschland 
unentrinnbar  und  zwangsläufig?  B.  bestreitet  es  energisch  und 
spottet  mit  Recht  über  die  naive  Auffassung,  die  im  Kriege  ein 
unvermeidliches  Naturereignis  wie  Erdbeben  oder  Platzregen 
sieht  (S.  119).  Da  unsere  eigene  Weltpolitik  anders  als  die  der 
früheren  großen  Rivalen  Englands  defensiv  und  nicht  offensiv 
war  (S.  28),  so  war  es  nicht  aussichtslos  für  eine  behutsame  und 
feste  Staatskunst,  den  schmalen  Weg  durch  die  Klippen  der 
europäischen  Gegnerschaften  hindurchzusteuern.  Das  war  B.s 
ausgesprochene  Absicht,  und  er  deutet  es  mehr  als  einmal  an, 
daß  er  einen  Ruhmestitel  seiner  Kanzlerschaft  darin  sieht,  diesen 
Weg  zu  seiner  Zeit  noch  gefunden  zu  haben.  Es  ist  nun  heute 
noch  nicht  an  der  Zeit,  in  eine  eingehende  Nachprüfung  seiner 
Politik  und  des  Bildes,  das  er  von  ihr  in  seinem  Buche  gibt,  ein- 
zutreten. Wohl  aber  darf  man  ihm  schon  jetzt  eine  Reihe  ge- 
wichtiger Fragen  entgegenhalten  und  feststellen,  daß  er  selber 
seinen  Lesern  nur  eine  ungenügende  Antwort  auf  diese  Fragen 
bietet.  Die  verhängnisvolle  Verschlechterung  unserer  Weltlage 
trat  dadurch  ein,  daß  sich  die  englische  Gegnerschaft  mit  der 
französisch-russischen  Gegnerschaft  verknüpfte.  Mußte  das  ge- 
schehen? Die  Voraussetzung  dafür  trat  doch  erst  dadurch  ein, 
daß  wir  im  Oriente  eine  ganz  neue  Reibungsfläche  gegen  Ruß- 


104  Literaturbericht. 

land  erhielten,  die  zur  Zeit  Bismarcks  noch  nicht  bestanden  hatte. 
Dasselbe  Jahr  1898,  das  die  erste  Flottenvorlage  erlebte,  brachte 
auch  die  Rede  des  Kaisers  in  Damaskus,  die  das  Symbol  unserer 
neu  entstandenen  orientalischen  Interessen  wurde.  Schon  vorher 
aber  hat  ein  weitsichtiger  englischer  Diplomat  unsere  ersten 
Schritte  in  der  anatolischen  Bahnfrage  begrüßt  und  gefördert, 
weil  nun  Deutschland  dadurch  künftig  auch  gegen  Rußland 
engagiert  sei!  Man  wird  die  ernste  und  schwere  Frage  nicht  los, 
ob  der  Eintritt  in  die  orientalischen  Interessen  für  uns  ebenso 
notwendig  und  unabweislich  war,  wie  der  Eintritt  in  die  Flotten- 
politik, ob  es  weise  und  richtig  war,  zur  selben  Zeit  die  Grund- 
lagen für  eine  künftige  englische  und  künftige  russische  Gegner- 
schaft zu  legen.  Die  B.sche  Darstellung  gleitet  über  dies  Problem 
hinweg. 

Die  Rede  von  Damaskus  aber  und  die  Beziehungen  zum 
Islam  haben,  wie  B.  selber  erzählt  (S.  104),  auch  auf  unsere 
Marokkopolitik  1905  eingewirkt.  „Wir  hätten  uns  um  jeden 
Kredit  in  der  islamischen  Welt  gebracht,  wenn  wir  so  kurze  Zeit 
nach  diesen  Kundgebungen  Marokko  an  die  Franzosen  verkauft 
hätten."  Unsere  orientalischen  Rücksichten  hinderten  uns  also 
im  Jahre  1905  das  zu  tun,  was  im  Jahre  1911  dann  doch  wirklich 
geschehen  ist.  Nun  läßt  es  B.  zwar  dahingestellt,  ob  Frankreich 
1905  überhaupt  geneigt  war,  uns  einen  annehmbaren  Preis  zu 
zahlen.  Sollten  die  Akten  aber  einmal  ergeben,  daß  Frankreich 
uns  im  Jahre  1905  wesentliche  und  wertvolle  Kompensationen 
für  Marokko  zu  geben  bereit  war,  so  würde  die  B.sche,  im  Grunde 
wohl  von  Holstein  gemachte  Politik,  die  uns  nach  Algeciras  und 
in  alle  Marokkonöte  der  folgenden  Jahre  führte,  schweren  kriti- 
schen Einwänden  ausgesetzt  werden.  B.  meint  freilich  (S.  59), 
daß  durch  die  Konferenz  von  Algeciras  und  durch  ihre  wich- 
tigsten Beschlüsse  die  Absichten  der  deutschen  Politik  mit  Bezug 
auf  Marokko  im  wesentlichen  erreicht  worden  sind.  Aber  diese 
Beschlüsse  schufen,  wie  die  folgenden  Jahre  zeigten,  eine  ganz 
zweideutige  und  unhaltbare  Lage.  Sie  waren  ein  fatales  diplo- 
matisches Notwerk  und  Flickwerk.  Die  Zufriedenheit  B.s  mit 
ihnen  kann  seine  Leser  unzufrieden  stimmen. 

Begreiflicher  ist  die  Befriedigung,  mit  der  B.  den  Verlauf  der 
bosnischen  Krise  schildert.  „Sie  wurde,"  erklärt  er  sogar  (S.  60)^ 
„tatsächlich   das   Ende  der   Einkreisungspolitik   Eduards  VII." 


Kirchengeschichte.  105 

Durch  sie,  so  sagt  er  weiter,  wurde  weder  der  Krieg  entfesselt, 
noch  auch  unser  Verhältnis  zu  Rußland  ernstlich  geschädigt, 
und  die  Einkreisung  Deutschlands  habe  sich  als  ein  diploma- 
tisches Blendwerk  erwiesen,  dem  die  realpolitischen  Voraus- 
setzungen fehlten.  Wir  fürchten,  daß  man  diese  Aufmachung 
der  Dinge  selber  später  als  Blendwerk  bezeichnen  wird.  Denn 
die  realpolitischen  Voraussetzungen  der  Einkreisungspolitik  waren 
mit  eherner  Notwendigkeit  gegeben,  seitdem  Rußland  den  Schwer- 
punkt seiner  Machtpolitik  von  Ostasien  wieder  nach  dem  nahen 
Orient  verlegte  und  dort  nun  auf  uns  stieß.  Der  deutsche  Erfolg 
in  der  bosnischen  Krisis  war  ein  bedeutender  Augenblickserfolg, 
aber  ohne  dauernde  Wirkungen.  Rußland  wich,  so  wird  man 
doch  wohl  vermuten  dürfen,  deswegen  damals  vor  Österreich- 
Ungarn  und  uns  zurück,  weil  es  die  Nachwirkungen  des  japani- 
schen Krieges  und  der  inneren  Revolution  noch  nicht  überwunden 
hatte,  weil  es  sich  noch  nicht  stark  und  gerüstet  genug  fühlte, 
um  so  wie  in  den  Augusttagen  von  1914,  auf  England  und  Frank- 
reich gestützt,  das  große  Spiel  um  Konstantinopel  wagen  zu 
können. 

Man  könnte  diese  Fragen  und  Zweifel  an  der  Solidität  der 
B.schen  Politik  noch  vermehren.  Sie  treffen  aber,  um  es  noch 
einmal  zu  betonen,  nicht  ihre  Ziele,  sondern  ihre  Mittel  und  Wege, 
lassen  sich  auch  erschöpfend  heute  noch  gar  nicht  disku- 
tieren. Und  noch  weniger  denken  wir  daran,  an  dieser  Stelle 
Politik  zu  treiben  und  irgendwelche  Konsequenzen  für  unsere 
zukünftige  Haltung  anzudeuten.  Nur  das  historische  Urteil 
über  die  nun  hinter  uns  liegende  Vorgeschichte  des  Weltkrieges- 
und  die  Verteilung  der  Verantwortungen  in  ihr  gilt  es  zu  klären 
und  die  spätere  Forschung  darüber  vorzubereiten  durch  Auf- 
stellung von  Fragen,  die  in  der  glatten  B.schen  Darstellung 
entweder  übergangen  oder  verwischt  sind. 

Beriin.  Fr.  Meinecke. 

Die  bischöfliche  visitatio  liminum  ss.  apostolorum.  Eine  histo- 
risch-kanonistische  Studie  von  Januarius  Pater.  (19.  Heft 
der  Veröff.  der  Sektion  für  Rechts-  u.  Sozialwiss.  der  Görres- 
Gesellsch.)    Paderborn,  Schöningh.     1914.    XII  u.  152  S. 

Sägmüllers  Studie  über  die  visitatio  liminum  apostolorum 
(Theolog.    Quartalschrift  82.  Band)  erstreckte  sich  nur  bis  zur 


106  Literaturbericht. 

Zeit  Bonifaz  VIII.  und  behandelte  auch  für  diese  Spanne  die 
Entwicklung  des  Instituts  keineswegs  erschöpfend.  Um  so  mehr 
ist  es  zu  begrüßen,  daß  nun  auf  Göllers  Anregung  hin  diese  ein- 
dringende, bis  zur  Gegenwart  geführte  Untersuchung  Paters  vor- 
genommen wurde.  Den  Ursprung  der  Verpflichtung  zum  Limina- 
besuche  erkennt  P.,  indem  er  sich  im  wesentlichen  Sägmüller 
anschließt,  mit  gutem  Grunde  nicht  in  den  Wallfahrten  zu  den 
Apostelgräbern,  sondern  im  Besuche  der  römischen  Synoden,  die 
der  Papst  kraft  seiner  Stellung  als  Metropolitan  als  Mittel  zur 
Herbeiführung  der  Union  in  der  Kirche  auch  gegenüber  unab- 
hängigen Kirchenfürsten  benutzte;  durch  diesen  Besuch  wurde, 
wie  namentlich  das  Schicksal  Mailands,  Aquilejas  und  Ravennas 
zeigt,  die  Obedienz  zum  Ausdrucke  gebracht;  gleichzeitig  wurden 
die  Apostelgräber  besucht  und  wohl  auch  eine  Art  von  Bericht- 
erstattung und  Beratung  über  die  kirchlichen  Verhältnisse  der 
einzelnen  Diözesen  abgehalten.  Die  Handhabe,  auch  auswärtige, 
außeritalienische  Metropoliten  in  diese  enge  Verbindung  mit  Rom 
zu  bringen,  lieferte  die  seit  dem  8.  Jahrhundert  ausgebildete 
Übung,  das  Pallium  nur  an  persönlich  Anwesende  zu  verleihen. 
Dieses  Mittel  erwies  sich  als  wirksamer  für  den  regelmäßigen  Be- 
such an  der  Kurie  als  die  Synoden.  Bei  der  Verleihung  des  Pal- 
liums mußte  außer  der  Ablegung  des  Glaubensbekenntnisses  auch 
der  Obedienzeid  geleistet  werden,  in  dem  im  11.  Jahrhundert 
auch  schon  die  Verpflichtung  zur  visitatio  liminum  enthalten  ist. 
Für  Bischöfe  erwuchs  die  gleiche  Pflicht  wie  für  die  Metropoliten, 
seitdem  das  Papsttum  mehr  und  mehr  das  Bestätigungsrecht 
des  Metropolitans  durchbrach,  die  Konfirmation,  Provision, 
Admission  oder  Konsekration  an  sich  zog.  In  diesen  Fällen  hatte 
der  Bischof  den  Eid  der  römischen  Suffragane  zu  leisten  und 
damit  auch  die  Pflicht  der  Romfahrt  zu  übernehmen.  Bei  exemten 
Stiftern  und  Klöstern  wurde  dieser  Besuch  selbstverständlich  ge- 
fordert, nicht  exemte  wurden  bei  unmittelbarer  Besetzung  ihrer 
Vorstehung  durch  den  Papst,  bei  Eingreifen  desselben  in  Wahl- 
streitigkeiten ....  dazu  veranlaßt,  im  13.  Jahrhundert  sind  nicht 
nur  alle  an  der  Kurie  konsekrierten  Bischöfe  und  Äbte  zur  visitatio 
liminum  verpflichtet,  auch  von  den  Nichtexemten  wird  grund- 
sätzlich der  Besuch  in  jedem  Falle  gefordert,  wenn  auch  reichlich 
Dispensen  erteilt  werden.  Es  scheint  doch,  daß  die  Realvisitation 
(Besuch  mit  Liminasteuer  im  Gegensatze  zur  steuerlosen  Verbal- 


Kirchengeschichte.  107 

Visitation),  die  nach  der  eigenen  Angabe  P.s  eine  nicht  zu  ver- 
achtende Steuerquelle  war  und  die  seit  Bonifaz  VIII.  weiter  aus- 
gedehnt wurde  und  vielfach  Widerstand  hervorrief,  nicht  gar  so 
leicht  zu  tragen  war,  wie  P,  meint,  und  daß  die  päpstliche  Kammer 
denn  doch  nicht  „jede  Härte  in  der  Einziehung  der  Liminagebühren 
vermied".  Immerhin  haben  die  Realvisitationen  keinen  allzu 
großen  Umfang  angenommen.  Während  des  „avignonesischen 
Exils"  blieb  die  Visitationspflicht  ziemlich  regelmäßig  aufrecht, 
d.  h.  sie  wurde  zu  einer  Pflicht  des  Besuchs  an  der  Kurie,  das 
Institut,  das  dann  seit  dem  Schisma  sehr  in  Verfall  geriet,  wurde 
1585  durch  Sixtus  V.  reformiert,  Benedikt  XIV.  kräftigte  es  von 
neuem  namentlich  durch  abermalige  Ausdehnung  auf  die  praelati 
nullius,  seine  letzte  Regelung  erfuhr  es  durch  Pius  X.  1910.  Es 
ist  bedauerlich,  daß  der  Verfasser  nicht  in  der  Lage  war,  das 
Material  des  vatikanischen  Archivs  reichlicher  heranzuziehen;  eine 
seiner  Beilagen  (Nr.  1 — 3  geben  die  Eidesformeln  wieder,  Nr.  4 
eine  Übersicht  über  die  Dispensen  im  13.  und  14.  Jahrhundert, 
Nr.  5  ein  Verzeichnis  der  Verbalvisitationen  des  14.  Jahrhunderts) 
bringt  eine  Reihe  ungedruckter  Quittungen  von  Verbalvisitationen, 
die  finanzielle  Bedeutung  des  Instituts  läßt  sich  daraus  natürlich 
nicht  erkennen.  Störend  wirkt  in  der  mit  Ausnahme  einiger 
stilistischer  Unebenheiten  recht  lesbaren  Abhandlung  ein  stark 
hervortretender  apologetischer  Zug,  der  bis  zu  Vorwürfen  und 
Anklagen  führt:  es  hätte  wohl  schärfer  herausgearbeitet  werden 
können,  wie  sehr  die  Ausbildung  und  Ausweitung  dieses  Instituts 
im  engsten  Zusammenhange  mit  der  allmählichen  Ausbildung 
der  päpstlichen  plenitudo  potestatis  steht;  auf  der  andern  Seite 
überschreitet  der  Verfasser  die  Grenzen  rein  geschichtlicher  Be- 
trachtung, wenn  er  Gerhoch  von  Reichersberg  einen  ,, übertreiben- 
den Nörgler"  nennt,  ,,der  einige  Mißbräuche  gleich  dazu  ausnutzte, 
um  die  ganze  Einrichtung  der  Romfahrten  in  Grund  und  Boden 
zu  verdammen",  oder  wenn  er  meint,  zur  Zeit  des  Schismas 
„schimpfte  man  über  die  Taxen  ....  und  jeder  glaubte  sich  be- 
rufen, Kritik  daran  zu  üben,  seinem  Unwillen  Ausdruck  zu  geben 
nicht  bloß  in  ernsten  Abhandlungen  über  die  apostolische  Armut 
des  Papstes,  sondern  auch  in  seichten  Liedern  seinen  Spott  über 
die  Kurie  auszuspeien."  „Das  Baseler  Konzil  hatte  wie  in  Glau- 
benssachen auch  in  Angelegenheiten  der  kirchlichen  Disziplin  eine 
,Hberale'  Haltung  eingenommen,"   in  der  Reformation  „kommt 


108  Literaturbericht. 

der  Drang  nach  zügelloser  Freiheit  zum  Durchbruch",  die  Emser 
Punktatoren  und  ihre  Gesinnungsgenossen  werden  den  „kirch- 
lich gesinnten  Prälaten"  gegenübergestellt  usw.  Schade,  daß  die 
im  übrigen  gediegene  Arbeit  durch  solche  Ausfälle  verunziert  ist. 
Es  wäre  ersprießlicher  gewesen,  wenn  P.  eine  Frage  berücksich- 
tigt hätte,  deren  Wesentlichkeit  doch  auf  der  Hand  liegt,  die  er 
selbst  aber  gar  nicht  berührt:  die  Frage  nach  dem  Verhalten  des 
Staates  zur  bischöflichen  visitatio  liminum  im  geschichtlichen 
Verlaufe. 

Graz.  Heinrich  Ritter  v.  Srbik. 


Beati  Petri  Canisii  societatis  Jesu  epistulae  et  acta  —  collegit  et 
adnotationibus  illustravit  Otto  Braunsberger,  eiusdem 
societatis  sacerdos.  Volumen  sex  tum  1567 — 1571.  Friburgi 
Brisgoviae,  B.  Herder.  1913.  LXVI  u.  818  S.  Br.  30  M., 
geb.  33  M. 

Der  6.  Band  dieses  bedeutenden  Quellenwerkes  umspannt 
die  Korrespondenz  des  Canisius  in  den  Jahren  1567 — 1571  und 
bringt  161  Briefe  und  138  Briefauszüge  (Nr.  1470—1768).  Von 
diesen  161  Briefen  werden  105  hier  zum  erstenmal  veröffentlicht, 
während  11  nur  zum  Teil  bekannt  waren;  101  sind  in  lateinischer, 
57  in  italienischer,  3  in  deutscher  Sprache  abgefaßt.  Unter  den 
angeschlossenen  178  Monumenta  Canisiene  (Nr.  911 — 1088)  be- 
finden sich  106,  die  noch  nicht  und  12,  die  nur  bruchstückweise 
gedruckt  vorlagen.  Außerdem  hat  der  Herausgeber  dem  Text 
an  600  Anmerkungen  beigefügt,  die  auf  bisher  noch  nicht  ver- 
öffentlichte Quellen  zurückgehen.  Es  ist  also  ein  reiches  neues 
Material,  das  durch  diesen  Band  zugänglich  gemacht  wird;  wir 
können  hinzufügen,  daß  es  in  mustergültiger  Weise  geschieht. 
Die  bei  der  Herausgabe  der  früheren  Bände  betätigte  peinliche 
Akribie  macht  sich  auch  hier  überall  wohltätig  bemerkbar  und 
es  ist  nichts  unterlassen,  was  die  wissenschaftliche  Ausbeutung 
der  erschlossenen  Quellen  erleichtern  kann.  Die  Indices  leisten 
vortreffliche  Führerdienste,  so  daß  eine  rasche  und  zuverlässige 
Orientierung  über  das,  was  in  dem  Band  zu  finden  ist,  möglich 
gemacht  wird. 

Im  Mittelpunkt  steht  der  Briefwechsel  zwischen  Canisius 
mit  dem   Ordensgeneral   Franz   Borgia  und   Johannes  Polanco. 


Kirchengeschichte.  109 

Außerdem  erscheinen  mehrfach  als  Empfänger  und  Schreiber 
von  Briefen  Paul  Hoffaeus,  der  Vizeprovinzial,  dann  Provinzial 
für  Oberdeutschland,  Leonhard  Kessel,  der  Rektor  des  Kollegiums 
in  Köln,  Nikolaus  Lanoy,  der  Rektor  des  Kollegiums  in  Inns- 
bruck, Hieronymus  Natalis,  der  Assistent  von  Borgia  und  spä- 
tere Generalvikar,  Kardinal  Truchseß  von  Waldburg,  Bischof 
von  Augsburg,  Antonius  Vinck,  Proexpositus  der  rheinischen  Pro- 
vinz, Friedrich  von  Wirsberg,  Bischof  von  Würzburg. 

Die  intensive  und  vielseitige  Tätigkeit  des  Jesuitenordens 
in  jener  Zeit  bringt  es  mit  sich,  daß  die  Publikation  dieser  in- 
timen Briefe  für  nicht  wenige  Gebiete  des  kirchlichen  und  öffent- 
lichen Lebens  in  Deutschland  von  erheblicher  Wichtigkeit  ist. 
Auf  die  wichtigsten  Gegenstände,  die  zur  Verhandlung  gelangen, 
wird  von  Braunsberger  selbst  in  der  Inhaltsübersicht  hingewiesen, 
die  er  dem  Text  vorangeschickt  hat.  Das  bisher  bekannte  Bild 
von  der  Lage  der  katholischen  Kirche  in  Deutschland  während 
des  hier  in  Frage  stehenden  Abschnitts  wird  allerdings  im  wesent- 
lichen neu  bestätigt,  aber  die  Einzelzüge  beleben  es  und  machen 
vieles  deutlicher.  Beachtenswert  ist,  welche  Schwierigkeiten  es 
machte,  die  Reformbeschlüsse  des  Tridentiniums  durchzuführen, 
Sie  wurden  nicht  publiziert,  die  vorgeschriebenen  Priesterseminare 
wurden  nicht  eingerichtet,  es  fehlte  an  Theologen  und  Kanonisten, 
Diözesansynoden  fanden  nur  vereinzelt  statt,  der  apostolische 
Stuhl  galt  wenig,  die  kirchlichen  Strafen  wurden  nicht  beachtet, 
das  Beichtwesen  lag  im  argen,  die  Sitten  des  Klerus  besserten 
sich  nur  langsam.  Die  Urteile  des  Canisius  vertragen  zwar  wegen 
seiner  pessimistischen  Auffassung  der  Dinge  keine  Verallgemeine- 
rung, aber  sie  sind,  da  sie  nicht  vereinzelt  dastehen,  trotzdem 
nicht  ohne  Wert,  Auch  das  Verhalten  des  Kaisers  Maximilian  II, 
und  des  Herzogs  Albrecht  V,  von  Bayern  gab  ihm  zu  Klagen 
Anlaß,  Schweren  Anstoß  bereitete  ihm  das  Vorgehen  der  Pro- 
testanten, die  er  in  Steiermark,  Kärnten,  Krain  sich  ausbreiten 
sah;  die  Ulmer  suchten  unter  Verletzung  des  Augsburger  Re- 
ligionsfriedens die  katholische  Religion  aus  ihrer  Stadt  hinauszu- 
drängen; in  Augsburg^  nahm  die  Polemik  der  protestantischen 
Prediger  so  scharfe  Formen  an,  daß  die  Stadtobrigkeit  eingreifen 
mußte.  Auch  aus  anderen  Gebieten  berichtete  er  von  Übergriffen, 
Daneben  blieb  ihm  natürlich  nicht  verborgen,  daß  die  evangelische 
Sache  durch  die  inmitten  der  Protestanten  emporwuchernden 


HO  Literaturbericht. 

Streitigkeiten  schwer  geschädigt  wurde.  Kamen  diese  Verhält- 
nisse der  katholischen  Kirche  zustatten,  so  war  für  sie  doch 
noch  wichtiger,  daß  in  ihrer  Mitte  bereits  der  Prozeß  der  Restau- 
ration des  Katholizismus  eingesetzt  hatte.  Für  seinen  Fortgang 
liefert  die  Korrespondenz  des  Canisius  manchen  Beitrag.  Sie 
zeigt,  wie  die  Veranstaltungen  des  Papstes  Pius  V.  gewirkt  haben, 
auch  die  Bemühungen  weltlicher  Großen  und  einzelner  geistlicher 
Fürsten,  wie  der  Bischöfe  von  Konstanz,  Augsburg  und  Würz- 
burg, und  nicht  zum  wenigsten,  wie  allmählich  das  geistige  Leben 
neu  erwacht  und  die  kirchlichen  Einrichtungen  wieder  in  An- 
spruch genommen  werden.  Zahlreiche  wissenschaftliche  Schriften 
erscheinen  jetzt  in  Deutschland,  auf  Befehl  Pius  V.  wird  der 
Kampf  gegen  die  Magdeburger  Zenturien  aufgenommen,  und 
Canisius  arbeitet  darauf  hin,  daß  der  Jesuitenorden  mit  dieser 
literarischen  Bestreitung  der  Ketzer  geeignete  Kräfte  beauftragte. 
Unter  den  Schwierigkeiten,  die  dabei  zu  überwinden  waren, 
werden  unter  anderem  die  genannt,  die  sich  aus  den  Vorschriften 
über  den  Index  ergeben.  Besonders  ergiebig  ist  die  Briefsamm- 
lung, wie  nicht  anders  zu  erwarten,  für  die  Geschichte  des  Je- 
suitenordens selbst.  Aus  den  zahlreichen  interessanten  Mittei- 
lungen sei  besonders  hervorgehoben,  was  über  die  Beziehungen 
des  Ordens  zu  dem  Hause  Fugger  und  die  Behandlung  der  hier 
auftretenden  Fälle  von  dämonischer  Besessenheit  berichtet  wird. 
So  enthält  auch  dieser  6.  Band  der  Briefe  des  Canisius  ein  gewal- 
tiges Material,  nach  dem  sich  viele  Hände  ausstrecken  werden. 
Göttingen.  Carl  Mirbt. 

Die  Klosterimmunität  seit  dem  Investiturstreit.  Untersuchungen 
zur  Verfassungsgeschichte  des  deutschen  Reiches  und  der 
deutschen  Kirche.  Von  Hans  Hirsdi.  Weimar,  Böhlau. 
1913.     VIII  u.  230  S.     6  M. 

Die  Klostergrundherrschaft  Heisterbach.  Studien  zur  Geschichte 
ihrer  Wirtschaft,  Verwaltung  und  Verfassung.  Von  Hein- 
rich Pauen.  (Beiträge  zur  Geschichte  des  alten  Mönch- 
tums  und  des  Benediktinerordens,  herausgegeben  von  F. 
Ildefons  Herwegen.  Heft  4.)  Mit  3  Karten.  Münster  i.  W., 
Aschendorff.     1913.    XI  u.  219  S.    6,  geb.  7,75  M. 

Es  ist  sehr  zu  begrüßen,  daß  neuerdings  die  Diplomatiker 
immer   mehr   das    Bedürfnis    empfinden,    den    Reichtum    ihrer 


Rechts-  und  Wirtschaftsgeschichte.  111 

Einzelkenntnisse  und  die  Genauigi<eit  ihrer  Methode  gerade 
auch  großenteils  notwendig  deduktiven  Disziplinen  wie  der  Rechts- 
und Wirtschaftsgeschichte  zuzuwenden.  Diesem  Bestreben  ver- 
dankt man  Leistungen  wie  das  schöne  Werk  von  Alfons  Dopsch 
über  die  Wirtschaftsentwicklung  der  Karolingerzeit.  Durch  die 
Vorarbeiten  zur  Ausgabe  der  Diplomata  Lothars  IIL  und  der 
früheren  Staufer  wurde  Hans  Hirsch  auf  die  Entwicklung  des 
Immunitätsrechtes  zunächst  als  Quelle  diplomatischer  Echt- 
heitskriterien aufmerksam.  Sein  Buch  bietet  nun  trotz  der  auch 
im  Titel  angegebenen  zeitlichen  Begrenzung  des  Hauptthemas 
den  Versuch  einer  Geschichte  der  Immunität  nach  den  seit  dem 
11.  Jahrhundert  besonders  hervortretenden  Momenten,  und  es 
ist  gleich  zu  sagen,  daß  sich  dabei  nicht  nur  eine  Fülle  neuer 
Gedanken  und  Gesichtspunkte,  sondern  ein  Entwicklungsschema 
von  größter  verfassungsgeschichtlicher  Fruchtbarkeit  ergibt. 
Mit  Recht  geht  das  kurze  Einleitungskapitel  über  die  Frühzeit 
seit  dem  9.  Jahrhundert  von  dem  Eigenklostertum  als  der  ent- 
scheidenden Voraussetzung  der  späteren  Wechselwirkung  zwi- 
schen Immunität  und  Vogtei  aus.  Auch  der  ungefähr  gleichzeitig 
erschienene  zweite  Band  des  erwähnten  Werkes  von  Dopsch  trägt 
ja  eben  dadurch  zur  Klärung  des  karolingischen  Immunitäts- 
begriffs wesentlich  bei,  daß  er  die  königliche  Bevogtung  auf  die 
königlichen  Eigenklöster  beschränkt.  Die  beiden  großen  Be- 
wegungen nach  klösterlicher  Freiheit,  die  dann  in  der  histori- 
schen Mitte  von  H.s  Darstellung  stehen,  die  der  Hirsauer  Re- 
formklöster im  11.  und  der  Zisterzienser  vom  12.  bis  zum  17.  Jahr- 
hundert, zeigen  dann  den  Emanzipationstrieb  der  geistlichen 
Korporationen  in  immer  wechselnden  und  nur  dem  Endzweck 
nach  immer  gleich  gerichteten  Verhältnissen  der  Anlehnung  an 
oder  des  Kampfes  gegen  die  herrschaftlichen  Mächte  des  Papst- 
tums, des  Königtums,  des  Dynastentums  und  der  Territorial- 
hoheit. Daß  diese  Zusammenhänge  hier  immer  in  ihrer  ganzen 
Verwickeltheit  überblickt  werden,  gibt  ihrem  Bilde  hauptsächUch 
die  Überlegenheit  über  die  bisherigen  Vorstellungen.  Die  zuletzt 
von  Schreiber  so  ausführlich  behandelte  Bedeutung  des  päpst- 
lichen Schutz-  und  Eigentumsrechts  an  den  Reformklöstern  wird 
doch  erst  durch  das  von  Leo  IX.  begründete  Kompromiß  der 
Kurie  mit  den  dynastischen  Erbvögten,  die  Entstehung  einer 
zweiten  Kategorie  von  Reichsklöstern  unter  Königsschutz  ebenso 


112  Literaturbericht. 

erst  als  königlicher  Gegenzug  völlig  aufgeklärt.  Die  Untersuchung 
der  königlichen  Vogtei  und  des  daraus  vermutlich  zuerst  in 
Österreich  entwickelten  landesherrlichen  Defensorats  über  die 
Zisterzen  erschließt  dann  zuerst  das  Verständnis  der  stolzeren 
Anfänge  wie  der  bescheideneren  Ergebnisse,  durch  die  sich  die 
zweite  große  Epoche  der  Immunität  auszeichnete.  Endlich  er- 
öffnet es  ganz  neue  Ausblicke  auf  die  Kontinuität  germanischen 
Rechtes  in  diesen  reichs-  und  kirchenrechtlichen  Bildungen, 
wenn  (im  Exkurs  II  für  Hirsau  und  Muri)  die  Verbindung  grund- 
herrlicher Immunitätsverleihung  mit  kommunal  gewillkürten 
Hofrechten  der  Klosterfamilie  hervorgehoben,  vor  allem  aber 
(im  Schlußkapitel)  in  einer  schönen  Vereinigung  der  wichtigsten 
Teile  aus  Seeligers  und  Rietschels  streitenden  Lehren  die  „engere 
Immunität"  der  Klosterbezirke  eben  aus  dem  deutschen  Haus- 
und Siedlungsfrieden  selbst  hergeleitet  wird.  Verhältnismäßig 
am  wenigsten  ergiebig  ist  die  Forschung  des  Verfassers  da,  wo 
sie  auf  den  sachlichen  Umfang  von  Immunität  und  Vogtei  als 
Gerichtsbarkeiten  eingeht.  Gewiß  wird  namentlich  auch  gegen- 
über der  Kritik  Weitzels  die  für  diese  Dinge  grundlegende  Theorie 
Pischeks  von  „Dieb  und  Frevel"  noch  nicht  in  allen  Punkten 
als  endgültig  anzusehen  sein.  Aber  eins  dürfte  doch  wohl  dank 
ihr  feststehen,  nämlich  daß  der  Gegensatz  von  Niedergericht 
und  vogteilichem  Frevelgericht  den  Umfang  der  gerichtsherr- 
lichen Rechte  nicht  zu  erschöpfen  braucht,  daß  vielmehr  überall 
mindestens  die  Möglichkeit  einer  besonderen  Blutgerichtsbarkeit 
über  beiden  offen  bleibt.  So  vorsichtig  deshalb  H.s  Versuch 
auftritt,  gegen  Pischek  „Dieb  und  Frevel"  wieder  als  die  ganze 
Hochgerichtsbarkeit  zu  fassen,  es  verfehlen  mindestens  alle  die- 
jenigen Argumente  ihr  Ziel,  die  abgesehen  von  jenem  Terminus 
nur  überhaupt  Blutgerichtsbarkeit  im  Besitze  von  Vögten  auf- 
zeigen. Denn  dann  entsteht  aus  der  Nominalfrage  die  viel  wich- 
tigere sachliche  nach  der  Genealogie  einer  so  ausgedehnten  hoch- 
mittelalterlichen Vogtei,  nach  der  Stellung  nicht  sowohl  von 
Vogtei  und  Immunität  zueinander,  sondern  beider  als  Erzeug- 
nisse privater  Rechtsbildung  zu  einem  Dritten,  den  staatlichen 
hochrichterlichen  Gewalten,  wie  sie  sich  dann  ähnlich  in  den 
Territorien  über  den  Zisterzen  (doch  nicht  bloß  infolge  deren 
Entvogtung)  behaupteten.  Auf  diesen  viel  verheißungsvolleren 
Weg  ist  wiederum  ungefähr  gleichzeitig  mit  H.,  Glitsch  in  seinen 


Rechts-  und  Wirtschaftsgeschichte.  113 

Untersuchungen  über  mittelalterliche  Vogtgerichtsbarkeit  ein- 
gelenkt, indem  er  für  die  Schweiz  und  Süddeutschland  den  Ur- 
sprung aller  vogteilichen  Blutgerichtsbarkeit  aus  der  Grafschaft 
darzutun  unternahm.  Wie  wenig  mit  noch  so  gründlicher  Ver- 
gleichung  der  Urkundenterminologie  in  diesen  verfassungs- 
geschichtlichen Problemen  weiterzukommen  ist,  beweist  viel- 
leicht am  schlagendsten  H.s  sonst  ungemein  lehrreicher  dritter 
Exkurs  über  die  Benennungen  todeswürdiger  Verbrecher.  Diese 
Methode  kann  aber  auch  Flüchtigkeiten  in  der  Realinterpretation 
2ur  Folge  haben.  So  fällt  mir  als  eine  in  die  Rechtsaltertümer 
gehörige  Kleinigkeit  auf,  daß  H.  das  „cingulo  cinctus"  der  Be- 
stimmungen über  Auslieferung  von  Verbrechern  ans  Landgericht 
(S.  78  N.  1)  nicht  richtig  zu  verstehen  scheint;  wie  die  von  ihm 
selbst  (S.  129  N.  3  u.  4)  ausgeschriebenen  österreichischen  Ur- 
kunden belegen,  ist  der  Ausdruck  nicht  als  Fesselung,  sondern 
als  Bezeichnung  der  „Kleider  auf  dem  Leibe"  zu  deuten  und 
gehört  so  zu  der  Gruppe  der  Bestimmungen,  die  das  Verbrecher- 
gut dem  Immunitätsherrn  sichern  und  die  vom  Verfasser  so 
scharfsinnig  in  den  Zusammenhang  der  zisterziensischen  Steuer- 
und  Lastenfreiheit  eingereiht  werden  (S.  142  f.). 

Sehr  zugute  gekommen  wäre  die  Kenntnis  des  Buches  von 
H.  der  schon  früher  abgeschlossenen  Abhandlung  von  Pauen  über 
Heisterbach.  Zwar  zeugt  es  gerade  von  der  Solidität  ihrer  Ar- 
beit, wie  gut  sich  im  allgemeinen  ihre  verfassungsgeschichtlichen 
Darlegungen  in  die  Resultate  von  H.s  Zisterzienserkapitel  ein- 
ordnen lassen,  aber  an  der  Hand  dieser  hätte  sich  doch  wohl 
die  Schilderung  z.  B.  der  ,, klösterlich-privilegierten  Ausnahme- 
stellung" im  einzelnen  noch  schärfer  gestalten  lassen:  Die  drei 
Vorrechte  des  Brüderzeugnisses,  des  Gerichtsstandes  und  des 
Gerichtsgebietes  wären  dann  wohl  nicht  als  schwer  zu  verwirk- 
lichendes Maximum,  sondern  gegenüber  den  süddeutschen  Zi- 
sterzen  als  kärgliche  Ansätze  von  Immunität  erschienen.  Indes 
die  Absicht  des  Verfassers  ist  ja  hier  wie  überall  mit  Recht  zuerst 
gewesen,  vom  Standpunkt  einer  besonders  reichen  und  gut  ver- 
öffentlichten Urkundenüberlieferung  aus  einen  möglichst  viel- 
seitigen und  systematisch  geordneten  Tatsachenstoff  für  die 
Wirtschaftsgeschichte  der  niederrheinischen  Zisterzen  überhaupt 
zu  sammeln,  und  der  hohe  Wert  eines  solchen  Unternehmens  selbst 
wird  auch  durch  einige  weitere  Einschränkungen  nicht  berührt. 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  8 


114  Literaturbericht. 

denen  seine  Verwertung  in  der  weiteren  Forschung  zu  unter- 
werfen wäre.  Daß  Heisterbach  mit  Ausnahme  seines  Tochter- 
klosters Marienstatt  die  jüngste  und  ärmste  der  niederrheinischen 
Zisterzen  war,  bedingte  bei  ihm  eine  besonders  frühe  und  starke 
Abwandlung  der  neuerdings  durch  Hoffmann  so  trefflich  heraus- 
gearbeiteten sozialen  Arbeits-  und  Freiheitsgrundsätze  des  Or- 
dens. Es  verdient  aber  bemerkt  zu  werden,  weil  es  im  Buche 
selbst  nicht  zum  Ausdruck  kommt,  daß  das  Quellenmaterial 
geeignet  ist,  den  Eindruck  dieser  Sachlage  noch  zu  steigern. 
Das  Urkundenbuch  von  Schmitz  enthält  außer  den  Privilegien 
des  Klosters  überwiegend  den  Niederschlag  seiner  Einzelgeschäfte, 
hingegen  wenige  und  dürftige  systematische,  urbariale  oder  sonst 
deskriptive  Aufzeichnungen  von  selten  der  Grundherrschaft  selbst. 
Daher  einerseits  die  Fülle  der  Angaben  P.s  namentlich  auch 
über  die  geldwirtschaftlichen  Transaktionen,  anderseits  die  Spär- 
lichkeit derjenigen  über  die  vorherrschenden  Besitz-  und  Be- 
triebsformen auf  dem  Klosterland,  die  freilich  noch  obendrein 
in  verschiedene  Abschnitte  über  Besitzerwerb  und  Abgaben  ver- 
teilt sind.  So  treten  weniger  die  Stufen  der  wirtschaftlichen 
Entwicklung  hervor  als  ihre  schließliche  Tendenz:  Die  Mobili- 
sierung des  geistlichen  Grundbesitzes  in  einem  vornehmlich  von 
Städten  und  bäuerlicher  Zwergpacht  bestimmten  Wirtschafts- 
system. Überaus  bezeichnend  ist  dabei,  wo  sich  der  klösterliche 
Eigenbetrieb  bis  zur  Säkularisation  in  wesentlichem  Umfange 
allein  noch  gehalten  hat:  Es  war  in  der  kölnischen  Unterherr- 
schaft Flerzheim,  über  die  es  dem  Kloster  gelungen  war,  die  landes- 
herrlichen Rechte  der  Vogtei  und  Niedergerichtsbarkeit  zu  er- 
werben. 

Freiburg  i.  B.  Carl  Brinkmann. 

Das  Elsaß  und  die  Erneuerung  des  katholischen  Lebens  in 
Deutschland  von  1814  bis  1848.  Von  Alex.  Sdinfitgen. 
(Straßburger  Beiträge  zur  neueren  Geschichte.  Herausg. 
von  Martin  Spahn.  Bd.  6.)  Straßburg,  Herdersche  Buch- 
handlung.   1913.    164  S. 

Einen  doppelten  Zusammenbruch  hat  die  katholische  Kirche 
beim  Übergang  vom  18.  zum  19.  Jahrhundert  erlebt:  die  Revo- 
lution in  Frankreich  und  die  Säkularisationen  in  Deutschland 
beraubten  sie  ihres  weltlichen  Besitzes,  die  Philosophie  der  Auf- 


Deutsche  Landschaften.  115 

klärung  und  der  Kritizismus  Kants  entfremdeten  ihr  die  Seelen. 
Somit  durfte  Rani<:e  sich  berechtigt  halten,  im  Vorwort  zu  seiner 
Geschichte  der  Päpste  die  Kirche  als  historisches,  der  Geschichte 
angehörendes  Gebilde  anzusehen.  Wir  wissen  heute  —  und 
Ranke  hat  das  selbst  noch  erkannt — ,  daß  er  sich  geirrt  hat, 
daß  gerade  damals  (1824)  unter  den  Trümmern  der  Kirche  neue 
Keime  trieben,  die  eine  Verinnerlichung  des  Glaubens  herbei- 
führten, und  aus  denen  eine  neue  Kirche  erwuchs.  Die  Arbeit 
Schnütgens,  aus  einer  Straßburger  Dissertation  hervorgegangen, 
hat  sich  zur  Aufgabe  gesetzt,  diese  Erneuerung  des  katholischen 
Lebens  in  Deutschland  zurückzuführen  auf  den  Einfluß  des 
Elsasses,  vor  allem  des  Elsässers  Andreas  Raeß,  des  späteren 
Straßburger  Bischofs.  Sie  fußt  auf  reichem  Quellenmaterial, 
Briefen  und  Akten  auch  des  päpstlichen  Geheimarchivs,  und  ver- 
bindet Geschicklichkeit  der  Darstellung  mit  besonnenem,  ge- 
rechtem Urteil.  Man  fühlt,  wie  die  Sprache  wärmer  wird,  wo 
Sehn,  das  Aufblühen  der  katholischen  Bewegung  schildert,  doch 
wird  man  nirgends  ein  von  einseitiger  Parteinahme  be§timmtes  Ur- 
teil finden.  Die  Bedeutung  von  Raeß  während  seiner  Tätigkeit 
in  Mainz  und  Straßburg,  in  untergeordneter  und  in  führender 
Stellung,  in  den  Jugendjahren  leicht  entzündlicher  Kampfeslust 
und  in  der  ruhigeren  Zeit  des  Mannesalters  ist  gebührend  in  den 
Vordergrund  gestellt,  ohne  daß  die  Schwächen  des  mitunter  über- 
eifrigen Bekenners  verkannt  wären. 

Die  mittleren  Abschnitte  der  Arbeit  sind  die  wichtigsten. 
Sie  schildern  den  Einfluß  des  Elsasses  auf  das  literarische  und 
auf  das  Kulturleben  der  deutschen  Katholiken  und  die  Kirchen- 
politik dieser  Jahre,  alles  wesentlich  von  dem  Gesichtspunkt, 
inwieweit  Raeß  an  ihnen  beteiligt  ist;  die  Mitwirkung  des  Metzers 
Nikolaus  Weis,  des  späteren  Bischofs  von  Speyer,  tritt  daneben 
zurück.  Es  sind  die  Gedanken  des  französischen  Katholizismus, 
von  Chateaubriand,  Lamennais  und  de  Maistre,  die  Raeß  zu  den 
seinen  macht  und  weitergibt.  Übersetzungen  französischer 
Werke  ins  Deutsche,  nach  ihrem  volkstümlichen  Charakter  auf 
einen  weiten  Leserkreis  berechnet,  vor  allem  die  Gründung  und 
Leitung  des  „Katholik"  (1819)  sind  die  Mittel  einer  umfangreichen 
literarischen  Wirksamkeit;  die  Mitarbeit  des  im  Elsaß  bis  1826 
weilenden  Görres  ist  dabei  eine  wertvolle  Unterstützung.  Neben 
solch  mittelbare  Beeinflussung  der  deutschen  Katholiken  treten 


116  Literaturbericht. 

die  persönlichen  Beziehungen  zu  den  führenden  Katholiken  des 
deutschen  Westens.  Sie  ermöglichen  es  dem  geschickten  Elsässer, 
in  die  Politik  der  Oberrheinischen  Kirchenprovinz  vor  allem 
Einblick  und  auch  gelegentlich  Einfluß  auf  sie  zu  gewinnen. 
Ein  beweiskräftiges  Zeugnis  dafür  bieten  drei  Denkschriften 
von  Raeß  über  Belgien,  die  Oberrheinische  Kirchenprovinz  und 
über  Preußen,  gerichtet  an  das  französische  Ministerium  (S.  126  ff.). 

Die  Ausführungen  Schn.s,  der  auch  noch  der  Tätigkeit  von 
Colmar  und  Liebermann  und  der  elsässischen  Caritas  zugunsten 
Deutschlands  zwei  Kapitel  gewidmet  hat,  lassen  es  als  anziehende, 
allerdings  auch  schwierigere  Aufgabe  erscheinen,  für  die  späteren 
Jahre  von  Raeß  eine  in  gleicher  wissenschaftlicher  Weise  ge- 
sicherte Darstellung  zu  schaffen.  Verdienste  um  den  deutschen 
Katholizismus  nach  1848  hat  Raeß  kaum  mehr;  sein  Werk  führt 
weiter  der  Kardinal  v.  Geissei,  der  „kirchenpolitische  Organi- 
sator des  katholischen  Lebens  in  Deutschland"  (S.  130).  Wohl 
aber  hat  er  vor  und  nach  1870  im  Elsaß  und  für  sein  Land  im 
deutschen  Reichstag  eine  bedeutsame  Rolle  gespielt,  wenn  auch 
nicht  mehr  wie  früher  in  dem  Bewußtsein,  Vermittler  zu  sein 
zwischen  deutscher  und  französischer  Kultur. 

Metz.  Otto  Wiltberger. 

Zur  Jahrhundertfeier  der  Vereinigung  der  Rheinlande  mit  Preußen. 
Eine  Denkschrift  herausgegeben  im  Auftrage  eines  Kreises 
rheinischer  Freunde  von  Dr.  Jul.  Bachern.  Köln,  Bachern. 
[1915.]     268  S.    3  M. 

Die  Denkschrift  gibt  aus  der  Entwicklung  der  Rheinlande 
eine  Reihe  der  interessantesten  Längsschnitte,  die  allerdings  bald 
mehr  bald  weniger  von  katholischer  Warte  aus  gesehen  sind. 
Am  deutlichsten  zeigt  sich  das  natürlich  in  der  kirchlichen  Ent- 
wicklung, deren  erster  Teil,  die  katholische  Kirche  in  den  Rhein- 
landen, von  Lauscher  eine  von  katholischen  Idealen  warm  be- 
geisterte Schilderung  erfährt,  ohne  daß  man  aber  beim  Lesen 
die  dankbare  Würdigung  all  der  Schwierigkeiten  der  neupreußi- 
schen Akklimatisierung,  die  ehrliche  Anerkennung  des  guten  Wil- 
lens zum  gegenseitigen  Verständnis  bei  Grenzstreitigkeiten  zwi- 
schen Kirche  und  Staat  vermissen  muß.  Recht  trefflich  charakteri- 
sierend ist  hier  der  Abschnitt  über  kirchliche  Wissenschaft  und 
Kunst. 


Deutsche  Landschaften.  117 

Gegenüber  dieser  36  Seiten  umfassenden  meisterhaften  Be- 
leuchtung der  katholischen  Kirche  vermißt  man  in  der  auf  nur 
7  Seiten  behandelten  rheinischen  preußischen  protestantischen 
Landeskirche  jenes  liebevolle  Eingehen,  das  man,  wenn  man 
sich  doch  einmal  zur  Aufnahme  entschloß,  gern  erwartet  hätte. 
Köhler  gibt  in  seinem  sehr  skizzenhaft  referierenden  Aufsatze 
kaum  die  Umrisse  der  Entwicklung  dieser  Kirche,  so  anerkennend 
er  auch  von  ihrem  Wirken  spricht.  So  tritt  auch  in  der  „politi- 
schen Entwicklung"  von  Franz  Schmidt  der  große  Anteil  jener 
Männer  in  den  Vordergrund,  die  als  Vorläufer  oder  erste  Führer 
der  heutigen  katholischen  Parteirichtungen  angesehen  werden, 
namentlich  Görres'  und  Reichenspergers.  In  diesem  Abschnitt 
geht  das  Skizzenhafte  der  Darstellung  so  weit,  daß,  wer  seine 
Orientierung  über  das  rheinische  Parteiwesen  daraus  ent- 
nehmen wollte,  ein  sehr  unklares  und  eigenartig  schattiertes  Bild 
bekommen  würde.  In  der  von  P.  A.  Clasen  gegebenen  , »Wirt- 
schaftlichen Entwicklung"  staunt  man  sich  hindurch  wie  vor 
einer  reichhaltigen  kinematographischen  Revue,  ohne  überall  ganz 
zum  Bewußtsein  des  staunend  Erlebten  zu  kommen.  Man  sieht 
das  Wachstum  des  Handels  von  Stufe  zu  Stufe,  erlebt  die  deutsche 
Industrie  von  der  kleinen  Nähnadel  bis  zum  gewaltigsten  Essener 
Geschütz.  Mit  seiner  herrlichen,  von  Rheinlands  Bedeutung 
durchdrungenen,  für  Rheinlands  Größe  begeisternden  Aufforde- 
rung zum  Schutze  dieser  vom  Feinde  bedrohten  kostbaren  Güter 
ist  dieser  Abschnitt  vielleicht  wissenschaftlich  wie  stilistisch  das 
beste  Kapitel  des  Buches. 

Wo  Fortschritt,  muß  Wissen,  wo  Kultur,  muß  Bildung  sein. 
Wie  das  „Unterrichts-  und  Bildungswesen"  nach  und  nach  ge- 
regelt, verbessert  und  zur  Blüte  gebracht  wurde,  was  einst  und 
heute  für  Wissenschaft  getan  ward,  zeigt  in  knapper  aber  klarer 
Darstellung  Schnitzler.  Nicht  minder  verdienstvoll  sind  die 
entworfenen  Bilder  vom  rheinischen  „Justizwesen",  von  rheinischer 
Kunst:  Kausen  führt  uns  durch  die  vielen  juristischen  Wirrsale 
eines  Landes,  das  noch  fast  ein  Jahrhundert  lang  nach  Gesetzen 
eines  fremden  Staates  lebte,  zeigt,  wie  diese  sich  zunächst  halten 
mußten,  wie  sie  dann  nach  und  nach  —  nicht  preußisch,  sondern 
—  deutsch  geworden  sind.  Für  die  Darstellung  der  rheinischen 
Kunst  hätte  Hei  mann  den  Rahmen  zu  einem  Monumental- 
gemälde gebrauchen  können  und  hat  doch  bloß  ein  Medaillon 


118  Literaturbericht. 

zur  Verfügung  gehabt.  Um  so  anerkennenswerter,  daß  dies  nied- 
liche Medaillon  nichts  Wesentliches  entbehren  läßt,  in  seiner 
Kleinheit  nicht  unklar  wird.  Etwas  summarisch  mußte  Pieper 
in  seinem  Überblick  über  die  „Soziale  Kultur"  verfahren,  und 
was  Frhr.  v.  Steinaecker  vora  „Heereswesen"  sagt,  ist  viel 
mehr  der  letzten  und  vorletzten  Gegenwart  zu  Lob  gesungen 
als  entwicklungsgeschichtlich  entworfen. 

In  diesen  Aufsätzen  ist  ein  Jahrhundert  rheinischer  Entwick- 
lungsgeschichte behandelt.  Die  „ältere  Geschichte  und  Kultur 
bis  zum  Ausgang  des  römischen  Reiches  deutscher  Nation"  ist 
dem  Ganzen  als  Grundlage  in  meisterhafter  Kürze  mit  gründ- 
licher Sachkenntnis  von  Huyskens  vorausgegeben,  und  Schell- 
berg gibt  in  den  „Rheinlanden  zur  Zeit  der  Einverleibung  in 
Preußen"  eine  Überleitung,  die  besonders  das  nationale  Moment 
zu  betonen  sucht.  Der  Herausgeber  selbst  hat  das  einleitende 
Programmwort  über  die  rheinische  Eigenart,  die  er  mit  Partikula- 
rismus bezeichnet,  und  das  abschließende  Kapitel  geschrieben, 
den  Ausblick,  der  besondere  Erwartungen  an  die  gegenwärtige 
große  Prüfung  unseres  Volkes  knüpfen  möchte  zur  Erreichung 
eines  konfessionellen  Friedens  und  bislang  vermißter  Parität. 

Düsseldorf.  R.  A.  Keller. 

Territorium  und  Reformation  in  der  hessischen  Geschichte  1526 
bis  1555.  Von  Walter  Sohm.  Marburg,  Elwert.  1915. 
XXVIII  u.  186  S.   5  M. 

Mit  lebhaftem  Danke  und  innerer  Freude  an  dem  wohl- 
gelungenen Erstlingswerke  zeigten  wir  Walter  Sohms  Werk  über 
die  Straßburger  Schule  und  ihren  Rektor  J.  Sturm  in  dieser 
Zeitschrift  (113,  359ff.)  an.  Wenige  Wochen  später  war  der 
Verfasser  einem  Unglücksfall  beim  Auszuge  ins  Feld  zum  Opfer 
gefallen,  und  mit  ihm  hat  die  historische  Wissenschaft  einen 
jungen  Gelehrten  verloren,  der,  vortrefflich  geschult.  Bestes 
versprach  und  mit  voller  Hingebung  seiner  Persönlichkeit  seine 
akademische  Laufbahn  in  Marburg  mit  einer  Vorlesung  über 
Reformationsgeschichte  im  Wintersemester  1914/15  zu  beginnen 
gedacht  hatte.  W.  Sohm  arbeitete  gleichzeitig  im  Dienste  der 
historischen  Kommission  für  Hessen  und  Waldeck;  er  hatte  hier 
(vgl.  das  Vorwort  des  Vorstandes)  die  vor  zehn  Jahren,  nament- 
lich auf  Anregung  von  K.  Varrentrapp  beschlossene,  von  dem 


Deutsche  Landschaften.  119 

Unterzeichneten  lange  Jahre  übernommene  und  nur  sehr  ungern 
infolge  der  Berufung  nach  Zürich  aufgegebene  Sammlung  der 
„urkundlichen  Quellen  zur  hessischen  Reformationsgeschichte" 
weitergeführt  und  nahezu  zum  Abschluß  gebracht;  die  bei  der- 
artigen Publikationen  übliche  „Einleitung"  bildete  S.'s  Habili- 
tationsschrift und  wird  nunmehr  als  opus  postumum  vorgelegt. 
Es  ist  eine  Einführung  in  die  hessische  Reformationsgeschichte 
ganz  eigener  Art;  wie  über  der  Darstellung  der  Straßburger  Schul- 
geschichte haben  zwei  gütige  Sterne  über  ihr  geleuchtet:  Friedrich 
Meinecke,  dem  das  Buch  gewidmet  ist,  und  Rudolf  Sohm,  der 
Vater,  der  ein  ergreifendes  Geleitwort  vorgesetzt  hat.  Von  jenem 
stammt  die  Großzügigkeit  der  Auffassung,  von  diesem  ihre  in- 
haltliche Bestimmtheit;  beides  zusammen  aber  schuf  ein  Meister- 
vorbild territorialgeschichtlicher  Forschung  und  Darstellung. 
Das  historische  Recht  der  Territorialgeschichte  kann  nur  in  ihrer 
Verflechtung  mit  dem  großen  Gang  der  Weltgeschichte  liegen, 
sei  es  daß  sie  von  ihrem  Winkel  aus  in  die  Weltgeschichte  ent- 
scheidend eingreift,  sei  es  daß  Wellen  vom  Zentrum  an  die  Peri- 
pherie geschleudert  werden  und  die  Eigenart  ihrer  Brechung  das 
Wesen  der  Zentralwelle  schärfer  erkennen  lassen.  Diese  Ver- 
flechtung geschickt  zu  erfassen,  ist  die  Kunst  des  Historikers. 
Nun  ist  ja  freilich  der  geniale  Hesse  Philipp  ein  unvergleichliches 
Objekt  für  jene  Aufgabe,  aber  der  geschickte  Griff  erfordert  doch 
eine  persönlich  Tat;  die  bleibt  W.  S.s  Verdienst.  Für  die  spezielle 
hessische  Geschichte  fällt  sehr  viel  ab,  das  Quellenmaterial  war 
ja  zum  guten  Teil  neu  und  bietet  in  Personalien,  Pfarreigeschichte, 
Verwertung  des  Kirchengutes,  Kastenordnungen  (deren  Datierung 
ein  besonderer  Exkurs  S.  180 — 186  gilt)  u,  dgl.  eine  Fülle  des 
Neuen,  zumal  S.  bei  völliger  Literaturbeherrschung  vortreffliche 
erläuternde  Anmerkungen  beifügt.  Aber  das,  ich  darf  sagen: 
Geniale  des  Buches  liegt  nicht  hier,  sondern  in  der  Unterordnung 
und  Gruppierung  der  Stoffmassen  unter  einen  beherrschenden 
großen  Gesichtspunjct  und  in  der  Weiterbewegung  der  Ereignisse 
durch  die  innere  Logik  einer  leitenden  Idee.  Diese  formuliert 
der  Vater  Rud.  Sohm  so  (S.  XXIV):  „Die  Reformation  brachte 
dem  Territorium,  den  Untertanen  ebenso  wie  der  Obrigkeit,  die 
Gewissensfreiheit;  aber  sie  konnte  und  sollte  nicht  bringen 
die  Toleranz."  Dementsprechend  legt  der  Sohn  den  Finger 
darauf  (S.  XXII),  „wie  sehr  die  Geschichte  der  Toleranz  und  die 


120  Literaturbericht. 

der  Gewissensfreiheit  voneinander  zu  scheiden  sind".  Hier  muß 
zunächst  das  Verständnis  des  Wortes  „Gewissensfreiheit"  ge- 
sichert werden;  ich  finde  es  nicht  glückhch,  ein  Wort  zu  wählen^ 
das  mißverstanden  werden  kann.  Wir  pflegen  heute  gemeinhin 
unter  Gewissensfreiheit  die  staatlich  garantierte  Freiheit  der 
persönlichen  religiösen  Überzeugung  zu  verstehen.  Das  ist  aber 
nicht  der  Begriffsinhalt  bei  S.  Es  wird  nicht  zufällig  sein,  daß 
der  Vater  die  beiden  letzten  Silben  ( — freiheit)  in  Sperrdruck 
setzt;  denn  gemeint  ist  die  Gewissensbefreiung,  nämlich  vom 
kanonischen  Rechte  und  seinen  Ansprüchen  (vgl.  S.  7,  15,  19, 
33  u.  ö.).  Der  Begriff  ist  also  negativ  orientiert  und  nicht 
positiv.  Diese  Befreiung  von  der  Zwangsgewalt  des  kanonischen 
Rechtes,  der  als  positive  Kehrseite  der  rein  religiöse  reformatorische 
Glaube  entsprechen  würde,  hat  mit  Toleranz  gar  nichts  zu  schaffen ; 
der  Glaube  ist  sogar  unmittelbar  seinem  Wesen  nach  intolerant; 
die  Toleranz  ist  etwas  Weltliches  und  fällt  darum  in  das  Macht- 
gebiet der  weltlichen  Obrigkeit.  Das  Problem  ist  nun  dieses, 
ob  und  wie  die  Gewissensfreiheit  (im  obigen  Sinne)  gesellschaft- 
bildende Kraft  besitzt,  bzw.  wie  sie  in  bestehende  Rechtsordnung 
sich  einschiebt,  sie  umformend  oder  auch  von  ihr  gepreßt.  Evan- 
gelium und  Recht,  anders  ausgedrückt,  in  ihren  Spannungen 
werden  an  einem  konkreten  Beispiele  vorgeführt  —  ein  echt 
Sohmsches  (Vater)  Thema!  Das  Endresultat  ist  die  territoriale 
Landeskirche,  die  „Gewissensfreiheit"  ihren  Angehörigen  ge- 
lassen hat,  aber  die  ganze  Vergesellschaftung  einschließlich 
Sozialwirksamkeit  und  Kirchengutsverwaltung  an  die  obrigkeit- 
liche Direktive  abgetreten  hat,  die  ihrerseits  als  eine  christliche 
diesem  ganzen  Gesellschaftskomplex  den  religiösen  Einheits- 
stempel aufdrückt,  so  daß  —  nach  mittelalterlicher  Analogie, 
aber  in  neuer  Fassung  —  eine  territoriale  Einheitskultur  ent- 
steht. Eine  innerlich  zusammengehörige  Einheit  war  nur  auf 
diesem  Wege  zu  erzielen,  erst  auf  Grund  der  Einheit  des  christ- 
lichen Territoriums  konnte  aber  der  moderne  Nationalstaat 
entstehen;  so  formuliert  W.  S.  die  fein  geschliffene  These: 
„das  Territorium  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  mußte  intolerant 
sein,  damit  der  Staat  des  18.  und  19.  Jahrhunderts  tolerant  wer- 
den könne". 

Die  Aufrollung  der  einzelnen  Etappen  dieser  Entwicklung 
ist  außerordentlich  interessant;  den  Glanzpunkt  bildet  die  Vor- 


Deutsche  Landschaften.  121 

führung  der  theoretischen  Deduktion  des  Juristen  Eisermann 
(Kap.  8).  Unter  dem  Titel  des  „gemeinen  Nutz"  wird  hier  ein 
christliches  Staatswesen  entwickelt,  das  nach  und  nach  allerlei 
Funktionen  und  Komplexe  wie  Predigtamt,  Armenpflege  u.  dgl., 
die  ursprünglich  lediglich  der  religiösen  Liebesgemeinschaft 
(innere  Christenheit)  angehören,  aufsaugt  und  für  sich  beansprucht. 
Der  Einzelne  in  diesem  Territorium  kommt  in  den  Konflikt  von 
Person  und  Amt,  Staatsnotwendigkeiten  siegen  über  die  christ- 
liche Theorie.  Eisermann  faßte  nur  zusammen,  was  sich  teils 
schon  herangebildet  hatte,  teils  sich  heranzubilden  im  Begriff 
war.  Es  liegt  eine  tiefe  Tragik  in  dem  stufenmäßigen  Aufgehen 
der  aus  dem  Evangelium  entwickelten  Betätigungen  der  christ- 
lichen Gemeinde  in  die  obrigkeitliche  Leitung.  Aber  die  Tragik 
war  Notwendigkeit;  denn  die  Gemeinschaft  der  Gläubigen, 
jenes  unsichtbar-sichtbare  Gebilde,  wie  Luther  es  faßte,  war 
soziologisch  unfähig,  konnte  sich  nicht  halten  ohne  Anlehnung 
an  eine  zwingende  und  gestaltende  Gewalt,  als  die  sich  die  Obrig- 
keit anbieten  mußte.  So  führt  die  hessische  Reformationsgeschichte 
in  der  großzügigen  Auffassung  von  Walter  S.  das  praktisch  vor, 
was  die  zahlreichen  Untersuchungen  zu  Luthers  Kirchenbegriff, 
zuletzt  Troeltschs  „Soziallehren",  theoretisch  erörtert  hatten. 
Sie  bewegt  sich  in  Luthers  Bahnen,  aber  sehr  richtig  legt  S. 
den  Finger  darauf,  daß  sie  in  einem  wichtigen  Punkte  überschritten 
und  der  Neuzeit  entgegengeführt  werden:  in  der  Duldung  des 
Zwinglianismus  neben  dem  Luthertum  (S.  78f.).  Nur  hätte  ich 
hier  gerne  eine  Ergänzung  gesehen :  die  Abstellung  des  christlich- 
religiösen Lebens  des  Territoriums  auf  zweierlei  Lehre  wurde 
mit  der  Wittenberger  Konkordie  wieder  in  eine  Einheit,  den 
Buceranismus,  umgewandelt,  der,  wenn  ich  einmal  die  aus  der 
alten  Kirchengeschichte  wohlbekannte  Formel  gebrauchen  darf, 
binitarisch  Luthertum  und  Zwinglianismus  umschließen  wollte. 
Der  Konfessionscharakter  Hessens  bei  Philipps  Tode  war  der 
Buceranismus;  er  klaffte  aber  alsbald  auseinander  und  schuf  die 
unerquicklichen  Streitigkeiten  zwischen  Luthertum  und  Calvi- 
nismus. 

Ein  kleiner  Schönheitsfehler  an  dem  ausgezeichneten  Buche 
ist  das  Fehlen  eines  Registers. 

Zürich.  W.  Köhler. 


122  Literaturbericht. 

Landgraf  Ernst  von  Hessen-Rheinfels  und  die  deutschen  Jesuiten. 
Von  Wilhelm  Kratz.  (117.  Ergänzungsheft  zu  den  „Stimmen 
aus  Maria-Laach".)  Freiburg  i.  Br.,  Herder.  1914.  VI  u. 
99  S. 

Die  Konversion  des  Urenkels  Philipps  des  Großmütigen  von 
Hessen  gehört  zu  den  Fürstenübertritten,  die  gleich  dem  der 
Tochter  Gustav  Adolfs  Aufsehen  erregt  haben.  Seit  den  ältesten 
Darstellungen  von  Strieder  und  Rommel  hat  Ernst  von  Hessen- 
Rheinfels  eine  monographische  Bearbeitung  nicht  gefunden;  die 
vorliegende  Arbeit  des  Jesuiten  Kratz  will  keine  Biographie 
bieten,  vielmehr  gerade  die  Konversion  klarlegen  und  in  Ver- 
bindung mit  ihr  die  Stellung  des  Landgrafen  zum  Jesuitenorden, 
Verfasser  hat  sehr  fleißig  gearbeitet  und  namentlich  aus  den  im 
Marburger  Archive  lagernden  Akten,  darunter  auch  selbständigen 
Abhandlungen  des  Fürsten,  in  einem  abscheulich  verschnörkelten 
Stile  geschrieben,  geschöpft.  Daß  er  sie  ausgeschöpft  habe,  wäre 
zuviel  gesagt;  für  sein  Thema  wäre  ein  ausgiebigeres  Eingehen 
auf  das  religiöse  Denken  des  Landgrafen  erwünscht  gewesen, 
und  auch  über  den  Inhalt  der  Religionsgespräche  z.  B.  hätte 
man  gerne  Näheres  gehört.  Daß  Ernst  „vielleicht  die  geistig 
bedeutendste  Persönlichkeit  unter  den  Konvertiten  fürstlichen 
Standes"  seiner  Zeit  gewesen  ist,  wird  richtig  sein,  aber  es  gilt 
doch  eigentlich  nur  in  dem  Sinne,  in  dem  unter  den  Blinden  der 
Einäugige  König  ist,  eine  wirklich  hervorragende,  führende  und 
selbständige  Natur  ist  er  nicht  gewesen,  vielseitig  interessiert, 
ja,  aber  ziemlich  konfus  und  unklar.  Er  würde  den  Anschluß 
an  die  katholische  Kirche  nicht  gesucht  und  gefunden  haben, 
wenn  er  hätte  auf  sich  selbst  stehen  können;  K.  zeigt,  m.  E. 
überzeugend,  daß  die  Politik  mit  seinem  Übertritt  nichts  zu  tun 
hat,  er  vielmehr  aus  dem  Motive  konvertierte,  das  bis  zur  Stunde 
seine  Werbekraft  noch  nicht  eingebüßt  hat:  gegenüber  der  Spal- 
tung und  Zerrissenheit  im  Protestantismus  die  entscheidende 
Lehrautorität  zu  suchen  und  sie  im  kirchlichen  Lehramte  des 
Katholizismus  zu  finden.  Wer  so  denkt,  hat  die  befreiende  Tat 
von  Worms  1521  nicht  verstanden.  Das  von  Ernst  veranstaltete 
Rheinfelser  Kolloquium,  über  dessen  Inhalt  K.  leider  rasch  hin- 
weggeht, blieb  „ohne  Frucht"  und  rief  nur  eine  häßliche  lite- 
rarische Fehde  hervor,  zwischen  Landgraf  und  Prädikanten  bzw. 
zwischen  Kapuziner  und  Jesuiten.    Persönlich  ist  der  Landgraf 


Deutsche  Landschaften.  123 

kein  Fanatiker  gewesen,  sondern  ein  Vorkämpfer  der  Toleranz, 
so  eng  auch  seine  Beziehungen  zu  der  Gesellschaft  Jesu  wurden. 

Wenn  K.  laut  Vorwort  sich  um  eine  „objektive  Klarlegung 
des  Sachverhaltes"  bemühen  und  „vorgekommene  Fehler  und 
Mißgriffe  mit  derselben  Ehrlichkeit  buchen  will  wie  Verdienste 
und  Tugenden",  so  hat  ihn  dieser  löbliche  Grundsatz  doch  etwas 
im  Stich  gelassen  bei  Darstellung  und  Beurteilung  des  zum  Pro- 
testantismus konvertierenden  Jesuiten  Andreas  Wigand.  Wäh- 
rend das  Leben  des  P.  Rosenthal  „heiligmäßig"  sein  soll,  ist 
Wigand  ein  „unglücklicher  Mann",  ja,  ein  „pfUchtvergessener 
Mitbruder",  und  doch  kann  ihm  eigentlich  nichts  vorgeworfen 
werden  als  eben  die  Konversion,  die  Anklagen  auf  sexuelle  Ver- 
gehen sind  zum  mindesten  zweifelhaft.  Hier  mißt  Verfasser  mit 
zweierlei  Maß  und  beeinträchtigt  dadurch  etwas  den  Wert  seines 
verdienstlichen  Buches. 

Zürich.  W.  Köhler. 


Im  alten  Königreich  Hannover  1814 — 1866.  Von  Wilhelm  Rothert. 
(2.  Band  der  Allgemeinen  hannoverschen  Biographie.)  Han- 
nover, Ad.  Sponholtz.     1914.    599  S. 

Der  Band  enthält  43  Lebensbeschreibungen  von  Männern, 
die  in  der  Geschichte  Hannovers  von  1814 — 1866  hervorragende 
Bedeutung  gehabt  haben.  Die  beiden  Abeken,  die  Minister 
Bacmeister,  Borries,  die  beiden  Schele,  Stüve,  die  Könige  Ernst 
August  und  Georg  V.,  die  Juristen  und  sonstigen  Gelehrten 
Bening,  Kohlrausch,  Wöhler,  v.  Siemens,  Rehberg  u.  a.  fesseln 
uns,  denn  der  Verfasser  hat  das  wichtigste  Material  bequem 
zusammengestellt,  hat  ein  ruhiges  und  mannigfaltige  Verhält- 
nisse liebevoll  erwägendes  Urteil  und  eine  gewisse  Behaglichkeit 
der  Erzählung.  Den  oft  nur  in  ehrfurchtsvoller  Form  geschil- 
derten Stüve  scheut  er  sich  nicht  auch  prüfend  zu  betrachten, 
obwohl  er  seine  hohen  Verdienste  anerkennt.  Aber  an  mancher 
anderen  Stelle  ist  doch  das  scharfe,  klare  Urteil  durch  unterge- 
ordnete Erscheinungen  verdunkelt.  So  ist  das  Urteil  über  den 
König  Ernst  August  viel  zu  sehr  beherrscht  durch  die  Bewunde- 
rung seiner  Tätigkeit  und  Energie,  die  sich  doch  in  erster  Linie 
in  der  Unterdrückung  des  Rechts  und  der  Männer,  die  das  Recht 
vertraten,  offenbarte.    Das  Bedeutendste,  was  unter  ihm  ge- 


124  Literaturbericht. 

schehen,  ist,  der  Ausbau  der  hannoverschen  Verfassung  1848/49^ 
das  ist  nicht  des  Königs  Verdienst,  sondern  das  große  Werk  des 
Ministers  Stüve,  dem  Ernst  August  wieder  Knüppel  zwischen  die 
Beine  zu  schieben  begann,  sobald  die  fortschreitende  Reaktion 
seinen  eigentlichen  Ansichten  und  Wünschen  wieder  günstig  war. 
Immer  aber  ist  dem  Buch  ein  zahlreicher  Leserkreis  zu  wünschen^ 
es  bietet  viel  wichtige  Tatsachen,  die  der  gegenwärtigen  Gene- 
ration zu  entschwinden  drohen  und  es  ist  belebt  von  echter  Liebe 
der  Heimat. 

Breslau.  G.  Kaufmann. 


Das  Erziehungswesen  am  Hofe  der  Wettiner  Albertinischen  Haupt- 
linie. Von  Dr.  Julius  Richter,  Schulrat,  Kgl.  Bezirksschul- 
inspektor in  Chemnitz.  Berlin,  Weidmann.  1913.  XXIX  u. 
650  S.    (Mon.  padagogica  Bd.  52.) 

Sicher  zu  den  wichtigsten  Aufgaben  dieses  grundlegenden 
Werkes  der  deutschen  Bildungsgeschichte  gehört  die  Behand- 
lung der  Erziehung  an  fürstlichen  Höfen.  Nach  der  Darstellung 
der  „Jugend  und  Erziehung  des  Kurfürsten  von  Brandenburg 
und  Königs"  von  Preußen  (bis  auf  Joachim  II.)  von  Georg  Schu- 
ster und  Friedrich  Wagner  (XXXIV  1906)  folgt  jetzt  dieses  Werk 
über  die  Erziehung  am  Hofe  des  sächsischen  Herrscherhauses 
in  dem  alten  Schullande  Sachsen,  aufgebaut  auf  einer  ausgie- 
bigen Verarbeitung  des  reichlich  vorhandenen  Aktenmaterials, 
vornehmlich  des  sächsischen  Hauptstaatsarchivs  und  der  um- 
fänglichen Literatur,  die  aber  noch  keine  zusammenfassende 
Darstellung  aufzuweisen  hatte.  Das  Buch  beginnt  mit  dem  Stamm- 
vater der  Linie,  Albrecht  dem  Beherzten,  und  schließt  mit  Fried- 
rich August  dem  Gerechten  (f  1827).  Immer  werden  die  „Fa- 
milien" des  jeweiligen  Regenten  zusammengefaßt  und  jedesmal 
dabei  die  Hofmeister  und  Lehrer  und  die  mit  den  Prinzen  zu- 
gleich unterrichteten  Mitschüler  der  „Prinzenschule",  junge  Leute 
aus  dem  höfischen  Kreise,  und  fremde  Prinzen,  die  gern  an  den 
sächsischen  Hof  geschickt  wurden,  dazu  die  Lehrbücher,  die 
Unterrichtsfächer  und  die  Methode  behandelt.  Natürlich  wächst 
die  Ausführlichkeit  mit  der  vorschreitenden  Zeit.  Immer  aber 
bleibt  sich  die  Sorgfalt  in  der  Erziehung  gleich,  wobei  die  fürst- 
lichen Damen  des  Hauses  besondern  Anteil  nehmen.   Die  Mittel 


Deutsche  Landschaften.  125 

wechseln  mit  der  allgemeinen  Entwicklung  des  Bildungswesens, 
obwohl  manche  Fächer  den  Bedürfnissen  fürstlicher  Jugend  zwar 
charakteristisch  sind,  so  vor  allem  die  körperliche  Ausbildung 
im  Fechten,  Reiten  u.  dgl.  und  die  Schulung  zu  fürstlichem 
Benehmen.  Anfangs  trägt  die  Erziehung  den  humanistisch- 
theologischen Charakter,  konfessionelle  Theologie  und  das  Latein 
stehen  im  Vordergrunde,  sorgfältig  wird  seit  Heinrich  dem  From- 
men über  die  lutherische  Glaubensreinheit  gewacht,  und  beson- 
ders tritt  das  bei  den  Kindern  Kurfürst  Augusts  hervor,  aber 
auch  Rechnen,  Mathematik,  Geschichte  (nach  Sleidanus),  Erd- 
und  Naturkunde,  Zeichnen  werden  getrieben.  Noch  bewahrt  die 
Königliche  öffentliche  Bibliothek  in  Dresden  zahlreiche  Arbeits- 
hefte der  Prinzen.  Am  vollständigsten  sind  solche  Aktenstücke 
von  der  FamiUe  Christians  IL  erhalten,  denn  an  der  Erziehung 
beteiligten  sich  nach  dem  frühen  Tode  des  Vaters  Christian  L 
(1586 — 1591)  die  Mutter,  Kurfürstin  Sophie,  der  Großvater 
Johann  Georg  von  Brandenburg  und  der  Administrator  Friedrich 
Wilhelm  von  Weimar;  es  gab  also  fortwährend  Berichte  und 
Verhandlungen.  Im  17.  Jahrhundert,  das  in  der  allgemeinen 
höheren  Erziehung  als  Ziel  der  Ausbildung  den  galant'  komme, 
den  homo  politus  im  Auge  hat,  tritt  zuerst  bei  Johann  Georg  IL 
das  Französische  als  wichtig  auf;  daran  schließt  sich  schon  bei 
Johann  Georg  I.  die  sog.  ,,Cavalierstour"  (1601/02)  an  deutsche 
und  auswärtige  Höfe.  Johann  Georg  IV.  lernt  auch  Italienisch, 
denn  damals  erschienen  in  Dresden  die  italienischen  Fürsten- 
höfe als  Muster.  Unter  Friedrich  August  (dem  Starken)  nahm 
der  Religionsunterricht  des  Kurprinzen  als  Vorbereitung  für  den 
vom  Vater  längst  beabsichtigten  Übertritt  einen  konfessionslosen 
Charakter  an,  und  die  weit  ausgedehnten,  nach  Österreich,  Frank- 
reich, Italien  und  Spanien  gerichteten  ,, Bildungsreisen"  des 
Vaters  und  des  Sohnes  gewannen  eine  ganz  besondere  Bedeutung 
für  ihre  wie  für  des  Landes  Zukunft.  Den  Schluß  der  Erziehung 
bildete  für  die  Thronfolge  die  theoretische  und  praktische  Ein- 
führung in  die  Regierungsgeschäfte.  Von  einem  Universitäts- 
studium sah  man  dagegen  ab.  Bei  Friedrich  Christian,  dem  Nach- 
folger Friedrich  Augusts  IL,  der  früh  leidend  war  und  trotz 
mannigfacher  Kuren  immer  blieb,  trat  das  Interesse  für  Italien 
und  seine  künstlerische  Neigung,  von  der  auch  mehrere  Bände 
sorgfältiger  Handzeichnungen  Zeugnis  ablegen,  besonders  hervor. 


1 26  Literaturbericht. 

Auf  den  Bildungsgang  seines  Sohnes  und  Nachfolgers  Friedrich 
Augusts  des  Gerechten  übte  seine  geistvolle  Mutter  Maria  Antonia 
(von  Bayern)  einen  besonderen  Einfluß.  Ein  Blick  auf  die  Er- 
ziehung seiner  einzigen  Tochter  Maria,  die  von  dem  Vater  das 
Zeichentalent  geerbt  hatte  und  auch  als  begabte  dramatische 
Dichterin  hervorgetreten  ist,  bildet  den  Schluß  des  darstellen- 
den Teils. 

Diesem  schließt  sich  ein  dokumentarischer  Teil  von  siebzig, 
zum  Teil  umfänglichen  „Beilagen"  an:  Bestallungen  der  Hof- 
meister und  „Präzeptoren",  Instruktionen,  Lehrberichte,  Stun- 
denpläne, Entwürfe  von  Erziehungsplänen  u.  a.  m.  Ein  genaues 
Namenregister,  Zusätze  und  Berichtigungen  folgen. 

Loschwitz.  Otto  Kaemmel. 

Die  Täuferbewegung  in  Thüringen  von  1526  bis  1584.  Namens 
des  Vereins  für  Thüringische  Geschichte  und  Altertums- 
kunde herausgegeben  von  der  Thüringischen  historischen 
Kommission.  Bearbeitet  von  Paul  Wappler.  Jena,  Gustav 
Fischer.     1913.    XIII  u.  541  S. 

Der  erste  Teil  des  vorliegenden  Werkes  (S.  1 — 227)  bringt 
eine  Darstellung,  der  zweite  die  Urkunden  der  Täuferbewegung 
Thüringens.  Was  die  Bearbeitung  der  Urkunden  betrifft,  konnte 
der  Referent  nur  eine  Vergleichung  mit  dem  im  Staatsarchiv 
Marburg  befindlichen  Material  vornehmen.^)  (Nr,  30  und  40  der 
Urkunden,  betreffend  Melchior  Rink.)  Es  zeigten  sich  hierbei 
eine  große  Anzahl  zwar  nicht  sinnstörender,  aber  doch  die  Sprach- 
form verderbender  Lesefehler.  (Am  auffälligsten:  S.  300,  Z,  15 
und  16  von  unten:  statt:  „Ist  das  also?  Melchior  Rinck  dicirt: 
Ja..."  lies:  „Ist  das  also,  Melchior?  Respondit:  Ja...") 
Ebensowenig  sicher  sind  die  Angaben  des  archivalischen  Befundes. 
Nr.  30a — e  sind  kaum  insgesamt  als  ,, Konzepte"  zu  bezeichnen, 
a,  b  und  e  sind  Reinschriften  von  Kanzleihand,  die  nur  spätere 
Zusätze  erhalten  haben;  c  ist  eine  eigenhändige  Niederschrift 
Rincks,  aber  weshalb  Konzept?  Die  Bezeichnung  der  Stücke  d 
und  e  durch  diese  Buchstaben  ist  irrig.  Die  Originale  sind  zwar 
durchbuchstabiert,  aber  das  von  Wappler  als  d  angegebene  Stück 

^)  Referent  benutzt  hierzu  Abschriften  der  Akten,  die  seinerzeit 
Prof.  Kohler  in  Zürich  angefertigt  hat  und  die  von  neuem  mit  den 
Originalen  verglichen  wurden. 


Deutsche  Landschaften.  127 

gehört  im  Original  zu  c,  nur  daß  die  Hand  wechselt.  Trotzdem 
zählen  auch  die  Originale  von  a  bis  e.  Woher?  Weil  W.  das 
wichtige  d  ausgelassen  hat.  Warum,  ist  aus  dem  Befund  nicht 
ersichtlich,  denn  das  betreffende  Stück  ist  sauber  den  anderen 
beigeheftet.  Wenn  W.  es  für  überflüssig  hielt,  mußte  er  mindestens 
seine  Existenz  notieren.  Dabei  ist  es  aber  nach  unserer  Meinung 
ein  wichtiges  Stück,  denn  es  enthält  die  Begründung  des  dogma- 
tischen Standpunktes  Rincks  über  die  Taufe  und  ist  ausführ- 
licher als  das  von  W.  unter  c  wiedergegebene  Stück  gleichen 
Inhaltes.  Ebenso  schwer  wird  man  es  in  dem  Stück  e  empfinden, 
daß  W.  die  Gegengründe  des  hessischen  Pfarrers  Raidt  nur  durch 
die  Worte:  Folgt  Raidts  Entgegnung;  und:  Folgt  wieder  Raidts 
Erwiderung  hierauf,  andeutet.  Wenn  Raidts  Gründe  für  die  Kin- 
dertaufe auch  die  allgemein  kirchlichen  sind,  so  mußte  doch 
mindestens  dieses  angegeben  werden.  (Auch  in  der  Darstellung: 
S.  53f.  geht  W.  darauf  nicht  ein.)  Die  „Urkunden"  lassen  uns 
damit  an  zwei  der  bedeutsamsten  Stellen  im  Stich.  Ebenso  hat 
W.  bei  Nr.  40  zwei  Stück  ohne  Hinweis  fortgelassen,  die  zwar 
nicht  von  gleicher  Wichtigkeit,  aber  doch  auch  von  Interesse  sind. 

Wenn  man  damit  der  archivalischen  Arbeit  W.s  gegenüber 
unsicher  wird,  so  muß  doch  auf  der  anderen  Seite  darauf  hin- 
gewiesen werden,  welche  Fülle  wertvollsten  kulturgeschichtlichen 
Stoffes  von  W.  der  Forschung  dargeboten  wird.  Neben  Marburg 
sind  die  Archive  von  Dresden,  Meiningen,  Mühlhausen  i.  Th., 
Nürnberg  und  Weimar  benutzt.  Erst  jetzt  wird  es  möglich  sein, 
der  Reformation  im  Thüringer  Land  als  einer  Volksbewegung 
näher  zu  kommen. 

W.s  Darstellung,  die  den  Urkunden  vorangeht,  bewegt  sich 
in  diesen  Bahnen.  Seine  schlichte  Weise  zu  erzählen  wird  an 
manchen  Stellen  dem  Schicksal  der  einfachen  Leute,  von  dem 
er  zu  berichten  hat,  in  schöner  Weise  gerecht.  Und  doch  müssen 
wir  uns  fragen,  ob  diese  außerordentlich  breite  Darstellung  be- 
rechtigt war.  Zum  großen  Teil  ist  sie  doch  nur  die  Nacherzählung 
dessen,  was  in  den  „Urkunden"  nochmals  gegeben  wird  (vgl. 
etwa  die  Anmerkungen  S.  44  oder  46).  Was  sie  an  Literaturnach- 
weisen bringt,  hätte  sich  dort  ebensogut  einreihen  lassen.  Jeden- 
falls leistet  sie  das  nicht,  was  ihr  Hauptaugenmerk  hätte  sein 
sollen:  eine  geistige  Durchdringung  des  dargebotenen  Stoffes, 
ein  innerliches  Verständlichmachen,   ein  aus  der  sozialen  und 


128  Literaturbericht. 

religiösen  Kultur  der  Zeit  gewonnenes  Begreifen  der  Dinge.  W.s 
Standpunkt  ist,  wie  schon  früher^),  der  der  heutigen  Humanität. 
Damit  verbaut  er  sich  natürlich  ein  Verständnis  der  kirchlichen 
und  territorialen  Kämpfe  gegen  das  Wiedertäufertum,  wenngleich 
er  sich  auch  nicht  mehr  zu  so  schiefen  Darstellungen  hinreißen 
läßt,  wie  in  seinem  eben  zitierten  Buch.  (Referent  hat  hierzu 
an  einer  anderen  Stelle  anläßlich  einer  Bearbeitung  der  hessischen 
Reformationsgeschichte  Stellung  zu  nehmen.)  Aber  auch  diesen 
Standpunkt  hat  W.  nicht  hoch  genug  gewählt,  daß  er  zu  einem 
zusammenfassenden  Überblick  gekommen  wäre.  Er  zeigt  sich 
mehr  in  einigen  bitteren  Urteilen  der  ,, Vorgeschichte",  die  im 
Sinne  Booyes  abgegeben  sind  (z.  B.  S.  12  und  13)  und  beweist 
seine  Unzulänglichkeit  in  der  Stellung  W.s  zu  Justus  Manius. 
Dessen  Werke  über  die  Wiedertäufer  erscheinen  auf  S.  1  neben 
den  Büchern  Bullingers  als  „ganz  einseitige  und  leidenschaft- 
liche Parteischriften",  die  es  zu  überholen  gilt.  Dennoch  sollen 
sie  nicht  nur  (S.  222)  ,,vom  gegnerischen  Standpunkt  aus  ein 
vortreffliches  Bild  vom  Wesen  und  der  Lehre  der  Täufer"  ent- 
werfen, sondern  sie  bilden  auch  (S.  58)  trotz  allerlei  Polterns 
eine  derartige  ,,  Quelle  ersten  Ranges,  die  vortrefflich  nach  Seiten 
des  Wesens  und  der  Lehre  hin  die  vorhandenen  Täuferakten 
ergänzt,"  daß  W.  sie  seitenlang  (S.  59 — 71)  wörtlich  abdruckt. 
Wie  kann  W.  in  dieser  Weise  das  Urteil  eines  Mannes  teilen, 
der  eben  von  diesem  Standpunkt  aus  zu  der  von  W.  verachteten 
„Intoleranz"  kam?  Was  heißt  es,  wenn  dieser  Manius  z.  B. 
gleich  im  ersten  Satz  (S.  59)  die  Wiedertäufer  „Rattengeister" 
nennt?  Hatte  er  damit  Recht?  Stimmt  W.  ihm  zu?  Wir  er- 
halten keine  Antwort.  Trotz  der  „Darstellung"  reden  die  „Ur- 
kunden" nur  ihre  nicht  übersetzte  Sprache;  Quellenzeugnis  be- 
feindet Quellenzeugnis,  Anschauung  Anschauung,  wie  einst,  als 
sie  niedergeschrieben  wurden,  und  kein  Historiker  löst  dem 
Geiste  die  Zunge,  der  den  kämpfenden  Zeitgenossen  stumm  sein 
mußte,  nach  dessen  Sprache  wir  aber  begehren,  da  er  versöhnt, 
verstehen  lehrt  und  wahrhaft  belebt. 

Marburg  a.  L,  W.  Sohm  f. 


^)  Wappler,  Die  Stellung  Kursachsens  und  des  Landgrafen  Phi- 
lipp von  Hessen  zur  Täuferbewegung.  Münster  i.  W.  1910.  (Refor- 
mationsgesch.  Studien  u.  Texte,  Heft  13  u.  14.)  Vgl.  H.  Z.  111,  S.  224. 


Österreich.  129 

Zolltrennung  und  Zolleinheit.  Die  Geschichte  der  österreichisch- 
ungarischen ZwischenzoUinie.  Von  Dr.  Rudolf  Sieghart. 
Wien,  Manz.     1915.     VII  u.  413  S. 

Es  ist  eine  ausgezeichnete  Arbeit,  mit  der  uns  der  jetzige 
Gouverneur  der  österreichischen  Bodenkredit-Anstalt  in  Wien 
beschenkt  hat.  Sie  geht  auf  eine  Reihe  von  Jahren  zurück;  was 
Sieghart  als  junger  Forscher  zu  einer  historischen  Arbeit  gesam- 
melt, das  verwertet  er  nun  als  reifer  Mann  mit  der  ganzen  kennt- 
nisreichen Gewandtheit,  die  ihm  jahrelange  heiße  Arbeit  in  der 
Öffentlichkeit  seines  Vaterlandes  gegeben  hat. 

Wir  erfahren  zunächst  von  der  feindlichen  Richtung,  die 
unter  dem  Absolutismus  des  18.  Jahrhunderts  in  Österreich  gegen 
Ungarn  geherrscht  hat.  Vergeblich  haben  die  Ungarn  versucht, 
nicht  mehr  nur  Ausland  für  Österreich  zu  sein.  Vergeblich  hat 
auch  Kaiser  Josef  II.  gegen  die  herrschenden  Vorurteile  an- 
gekämpft. Als  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  der  ungarische 
Reichstag  wieder  häufiger  zusammentreten  kann,  fordert  er  stets 
aufs  neue  die  Aufhebung  der  ZwischenzoUinie.  Aber  die  Wiener 
Regierung  ist  dafür  nicht  zu  haben.  Da  tritt  in  Ungarn  selbst 
ein  Umschwung  ein,  man  ist  dort  auf  einmal  zufrieden,  von  Öster- 
reich wirtschaftlich  getrennt  zu  sein,  ja,  man  will  diese  Trennung 
noch  verstärken,  einen  reinen  Schutzzoll  für  Ungarn  einführen, 
um  eine  neue  Industrie  hier  zu  erwecken.  Die  Bewegung  des 
Jahres  1848  zerschneidet  auch  diesen  gordischen  Knoten.  In  der 
ersten  österreichischen  Verfassung  werden  sämtliche  Teile  Öster- 
reichs zu  einem  gemeinsamen  Zollgebiet  vereint,  und  wenige 
Jahre  später  wird  dieser  Beschluß  auch  durchgeführt.  Schwierig- 
keiten, die  sich  ihm  entgegenstellten,  wie  die  österreichischen 
Monopole,  werden  leicht  überwunden.  Freilich  wird  man  da 
bedenken  müssen,  daß  Österreich  damals  der  herrschende  und 
Ungarn  der  unfreiwillig  gehorchende  Teil  ist.  Interessant  ist  es 
zu  sehen,  wie  die  ungarische  Industrie  und  der  ungarische  Handel 
in  der  Zeit  dieser  Gemeinsamkeit  heranwachsen  und  sich  ent- 
wickeln. Diese  Verbindung  erreicht  ihre  Krönung  im  Ausgleich 
von  1867. 

Es  ist  unmöglich,  neben  der  Feststellung  der  Grundlinien 
dieses  Buches  auch  auf  die  reiche  Fülle  der  Detailfragen  einzu- 
gehen, die  S.  berührt.  So  die  Geschichte  der  einzelnen  Industrien, 
der  Monopole,  des  Schleichhandels.    Um  bei  letzterem  Kapitel 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  9 


130  Literaturbericht. 

einen  Augenblick  zu  verweilen:  man  hat  nachgerechnet,  daß  im 
Jahre  1832  zwei  Drittel  des  ganzen  Kaffeekonsums  in  Österreich 
hereingeschmuggelt  wurden.  Das  Pfund  heimischen  Tabaks  kostete 
in  Ungarn  18  Kreuzer,  in  Wien  aber  1  Gulden  12  Kreuzer,  trotz- 
dem die  Frachtspesen  nur  10  Kreuzer  auf  das  Pfund  betrugen. 
Es  gab  Städte  und  Dörfer,  die  im  Schmuggel  es  zu  einer  bestimm- 
ten Spezialität  gebracht  hatten,  wie  Hennersdorf  in  Böhmen  in 
englischen  Garnen. 

S.  gibt  seinem  Buche  einen  sehr  umfangreichen  und  wert- 
vollen Anhang  von  Staatsakten  und  statistischen  Nachweisen 
zur  Beleuchtung  seiner  Schilderung  bei.  Nur  aus  kleinen  Details 
kann  man  erkennen,  daß  der  einstige  Historiker  im  Drange  an- 
derer Beschäftigung  etwas  die  Berührung  mit  den  Hilfsmitteln 
seiner  Wissenschaft  verloren  hat.  So,  wenn  er  den  österreichi- 
schen Minister  Baldacci :  Baldani  nennt.  Jedenfalls  ist  das  Buch 
aber  dem  Inhalte  und  der  Form  nach  gleich  fesselnd  und 
wertvoll. 

Prag.  0.  Weber. 


Quellen  zur  Geschichte  der  Stadt  Wien.  Herausgegeben  mit 
Unterstützung  des  Gemeinderates  der  k.  k.  Reichshaupt- 
und  Residenzstadt  vom  Altertumsvereine  zu  Wien.  1.  Ab- 
teilung, 8.  Bd.    Redigiert  von  Dr.  Josef  Lampel.    Wien  1914. 

Nach  längerem  Stillstand  ist  wieder  ein  Band  der  Quellen 
zur  Geschichte  der  Stadt  Wien  (1.  Abteilung,  8.  Bd.)  erschienen. 
Josef  Lampel,  der  nun  die  Redaktion  des  Quellenwerkes  führt, 
hat  selbst  den  ersten  Teil  beigesteuert,  der  Nachträge  zu  dem 
noch  nicht  erschienenen  und  allein  den  Beständen  des  k.  u.  k. 
Haus-,  Hof-  und  Staatsarchives  gewidmeten  7.  Bande  bringt. 
Darum  wird  es  sich  empfehlen,  über  diesen  Teil  später  gemeinsam 
mit  Band  7  zu  berichten.  Nur  zwei  Dinge  möchte  ich  hervor- 
heben. L.  zog  die  Literatur  stärker  heran,  als  dies  bisher  der 
Fall  war,  und  veranlaßte  auch  seine  Mitarbeiter  dazu.  Das  ist 
eine  sehr  dankenswerte  Neuerung.  Ferner  erweiterte  er  die 
Grundsätze,  nach  denen  die  Aufnahme  der  einzelnen  Stücke 
erfolgt,  dahin,  daß  auch  alle  in  Wien  ausgestellten  Urkunden 
in  das  Quellenwerk  gehören.  L.  betrachtet  diese  Regestenbände 
als  eine  Vorarbeit  für  ein  Wiener  Urkundenbuch.    Unter  diesem 


Österreich.  131 

Gesichtspunkte  stimme  ich  der  Neuerung  bei;  es  fragt  sich  nur, 
ob  man  diesem  Verfahren  nicht  eine  zeitliche  Grenze  ziehen  sollte. 
So  wichtig  nämlich  für  den  diplomatischen  Bearbeiter  in  der 
Frühzeit  des  Mittelalters  die  genaue  Kenntnis  aller  gleichzeitigen 
und  am  selben  Orte  entstandenen  Urkunden  ist,  für  die  spätere 
Zeit  verliert  sie  bald  die  Bedeutung.  Denn  die  diplomatische 
Bearbeitung  des  spätmittelalterlichen  Materiales  muß  mit  anderen 
Mitteln  durchgeführt  werden  wie  jene  der  früheren  Zeit,  wenn 
sie  nicht  an  der  ungeheueren  Masse  des  Stoffes  scheitern  will. 
Ich  kann  des  näheren  auf  diese  Dinge  hier  nicht  eingehen,  ohne 
den  mir  zustehenden  Raum  weit  2u  überschreiten,  und  möchte 
nur  im  Interesse  des  Quellenwerkes  anregen,  des  Guten,  das  in 
der  Neuerung  sicherlich  liegt,  nicht  allzuviel  zu  tun. 

Auf  L.s  Beitrag  folgen  Regesten  zur  Wiener  Geschichte 
aus  oberitahenischen  Archiven,  die  Karl  Schalk  vornehmlich 
aus  der  Literatur  zusammengetragen  hat.  Trotz  ihrer  damit 
unvermeidlichen  Unvollständigkeit  sind  sie  ein  dankenswerter 
Anfang  auf  einem  bisher  wenig  gepflegten  Gebiete.  Sie  erstrecken 
sich  begreiflicher  Weise  in  immer  mehr  ganz  zufälliger  Auswahl 
auch  über  die  Jahrhunderte  der  Neuzeit.  Ob  das  überhaupt 
angeht,  ist  eine  Frage,  zu  der  wir  bei  dem  Beitrage  Thiels  Stellung 
nehmen  werden. 

Mit  großer  Freude  geht  man  Hans  Plöckingers  Beitrag 
(Regesten  aus  dem  Archive  der  Stadt  Krems)  durch.  Ich  will 
dem  Verfasser  übersehene  Flüchtigkeiten,  wie  etwa  die  irrige 
Auflösung  marschalcus  provintiae  statt  marschalcus  provincialis 
u.  ä.  nicht  vorhalten.  Daß  die  Urkunde  15  934  zu  1358  und  nicht 
zu  1308  gehört  und  mithin  jeder  Verdacht  an  ihrer  Echtheit 
schwindet,  hat  Plöckinger  indes  selbst  berichtigt.^)  Im  ganzen 
ist  diese  Arbeit  Plöckingers,  wenn  man  von  L.s  Nachtrag,  der  ja 
ausscheidet,  absieht,  die  erfreulichste  unter  den  dreien,  welche 
dieser  Band  bietet. 

Denn  der  letzte  umfangreiche  Beitrag  von  Viktor  Thiel 
ist  trotz  der  sorgsamen  Durcharbeitung,  die  ich  gerne  hervorhebe, 
eine  verfehlte  Sache.   Es  werden  Regesten  aus  dem  steiermärki- 


*)  Berichte  und  Mitteilungen  des  Altertumsvereines  1915, 
Bd.  48,  S.  21  Anm.  I.  Vgl.  auch  Kallbrunner  in  den  Archiv- 
berichten aus  Niederösterreich  I,  2,  S.  180,  Nr.  973. 

9* 


132  Literaturbericht. 

sehen  Statthalterarchive  geboten,  die  sich  über  die  Jahre  1565 
bis  1740  erstrecken.  Die  Arbeit  ist,  wie  ich  schon  betonte,  sehr 
sorgfältig.  Es  sind  auch  die  Repertorien  herangezogen  und  so 
heute  verlorene  Akten  der  Forschung  noch  mittelbar  erschlossen. 
In  dieser  Hinsicht  ist  der  Verfasser  sogar  etwas  zu  weit  gegangen, 
da  er  Repertorienvermerke  zu  Akten  wiedergibt,  welche  nach 
seiner  eigenen  Anmerkung  heute  im  Wiener  Staatsarchive  liegen. 
Das  ist  bei  dem  einmal  für  die  Quellen  bestehenden  Grundsatze 
der  Aufarbeitung  des  ganzen  Stoffes  nach  einzelnen  Archiven 
nicht  gerechtfertigt.  Man  kann  wissentlich  nicht  ein  Regest 
in  demselben  Werke  zweimal  geben  und  diese  Akten  müßten 
naturgemäß  in  einem  dem  Wiener  Staatsarchiv  gewidmeten 
Bande  wieder  erscheinen.  War  Thiel  vielleicht  der  Meinung,  daß 
eine  Veröffentlichung  des  Wiener  Materials  aus  dieser  Zeit  und 
in  dieser  Form  nicht  zustande  kommen  könne?  Der  Gedanke 
liegt  nahe,  denn  es  erscheint  wohl  ganz  unmöglich,  alle  auf  Wiens 
Geschichte  bezüglichen  Akten  in  Regestenform  zu  pubHzieren. 
Und  wie  es  unmöglich  wäre,  wäre  es  auch  gar  nicht  wünschens- 
wert; man  muß  die  Spreu  vom  Weizen  sondern. 

Wenn  sich  der  um  die  Geschichte  Wiens  so  wohlverdiente 
Altertumsverein  nicht  nur  die  Erschließung  der  Quellen  einer 
bestimmten  Zeit,  sondern  aller  Quellen  zur  Aufgabe  setzt,  ist  das 
durchaus  zu  begrüßen.  Aber  man  darf  nicht  alles  über  einen 
Leisten  schlagen.  Die  Arbeit  für  das  Urkundenbuch  der  Stadt 
Wien,  das  dem  Redakteur  des  Quellenwerkes  als  letztes  Ziel  vor- 
schwebt, muß  planmäßig  von  der  Erschließung  des  reichen  Akten- 
materials der  neueren  Jahrhunderte  getrennt  werden.  Es  trifft 
sich  bei  der  Geschichte  Wiens  zufällig,  daß  in  der  Zeit  des  vollen 
Sieges  der  Akten  über  das  mittelalterliche  Urkundenwesen  auch 
die  Geschichte  der  Stadt  selbst  eine  andere  wird.  Das  Stadt- 
recht König  Ferdinands  von  1526  bedeutet  „den  vollen  Sieg  des 
Landesfürsten  und  das  Ende  der  städtischen  Autonomie".^) 
Man  versuche  darum  bis  zu  diesem  Zeitpunkt  einmal  alles  Ur- 
kundenmaterial  auf  dem  schon  eingeschlagenen  Wege  der  Auf- 
arbeitung nach  Archiven  zusammenzubringen.  Wie  Krems 
müssen  auch  die  anderen  Archive  ausgebeutet  werden  und  zwar 
womöglich    mit    Rücksichtnahme   auf   die   Archivberichte   des 


»)  V.  Voltelini,  Die  Anfänge  der  Stadt  Wien  S.  144. 


Frankreich.  133 

k.  k.  Archivrats,  die  einen  Teil  der  langwierigen  Arbeit  werden 
ersparen  helfen. i)  Wenn  das  vielleicht  das  Erscheinen  der  Bände 
auch  erschweren  und  verlangsamen  sollte,  würde  das  nicht  schaden. 
Man  könnte  ja  einzelne  Hefte  ausgeben,  zu  denen  die  Register 
erst  später  erscheinen.  Das  sind  rein  technische  Fragen,  die  sich 
leicht  werden  lösen  lassen. 

Das  neuzeitliche  Material  aber,  die  ungeheure  Masse  von 
Akten,  kann  nicht  in  gleicher  Weise  und  darum  auch  nicht  nach 
Archiven  aufgearbeitet  werden,  sondern  nur  nach  Materien.  Es 
wird  sehr  verdienstlich  sein,  wenn  die  Quellen  zur  Geschichte 
der  Stadt  Wien  „ausgewählte  Akten"  zur  Geschichte  des  Handels, 
des  Gewerbes,  der  Polizei  usw.  in  den  Jahrhunderten  der  Neu- 
zeit bringen.  Ein  solcher  Band  kann  aber  nur  nach  langen  Studien 
auf  Grund  umfassendster  Kenntnis  erarbeitet  werden.  Er  würde 
freilich  in  viel  höherem  Maße  der  Wissenschaft  dienen. 

Es  tut  mir  leid,  daß  ich  den  vorliegenden  Band  so  nicht 
durchaus  loben  konnte.  Denn  ich  schulde  den  Quellen  für  manche 
Förderung  meiner  eigenen  Arbeiten  lebhaften  Dank.  Aber  eben 
weil  ich  weiß,  wieviel  Gutes  sie  bieten,  halte  ich  mich  für  berech- 
tigt zu  sagen,  um  wieviel  mehr  sie  noch  wirken  könnten.  Und 
ich  sage  es  nur  in  der  Meinung,  damit  in  etwas  vielleicht  dem 
rührigen  Vereine  auch  nutzen  zu  können,  dem  wir  für  seine 
reiche  Tätigkeit  so  sehr  zu  danken  haben. 

Wien.  Otto  H.  Stowasser. 


La  taille  en  Normandie  au  temps  de  Colbert  (1661 — 1683).  Par 
Edmond  Estnonin.  (Etudes  sur  les  institutions  financUres 
de  la  France  moderne.)  Paris,  Hachette  et  Cie.  1913.  XXXI 
u.  552  S.    7,50  Fr. 

Bei  der  großen  Bedeutung,  die  das  französische  Steuersystem 
für  die  Geschichte  des  Ancien  regime  hat,  ist  eine  ausführliche, 


*)  Eine  der  lohnendsten  Aufgaben  schiene  mir,  die  im  Wiener 
Staatsarchiv  aufbewahrten  Bände  der  landesfürstlichen  Register 
für  die  Geschichte  Wiens  auszunützen.  Es  wird  überhaupt  not- 
wendig sein,  nun  auch  auf  das  nur  handschriftlich  überlieferte 
Material  einzugehen.  So  zeitraubend  diese  Arbeiten  sein  werden, 
ihr  Ergebnis  wird  sicher  ein  reiches  sein. 


134  Literaturbericht. 

auf  umfassenden  archivalischen  Studien  beruhende  Untersuchung 
über  die  Taille,  die  älteste  und  wichtigste  direkte  Steuer  in  Frank- 
reich, sehr  zu  begrüßen.  Esmbnin  hat  sich  in  dieser  Erstlings- 
schrift allerdings  räumlich  und  zeitlich  beschränkt.  Er  beschäf- 
tigt sich  nur  mit  der  Taille  in  der  Normandie;  aber  die  Normandie 
war  eine  der  reichsten  Provinzen  des  Königreichs  und  daher 
ein  besonders  ergiebiges  Feld  für  die  Finanzkünste  der  Regierung. 
Er  beschäftigt  sich  ferner  nur  mit  den  23  Jahren  der  Verwaltung 
des  Generalkontrolleurs  Colbert;  aber  gerade  diese  Zeit  ist  von 
großer  Bedeutung  und  lehrreich  durch  den  Versuch  einer  festen 
Steuerorganisation  und  einer  ersten  Steuerreform,  zudem  quellen- 
mäßig ausgezeichnet  durch  ein  reiches  Aktenmaterial.  So  vermag 
uns  der  Verfasser  in  allen  Einzelheiten  darzulegen  die  jährliche 
Ausschreibung  und  Höhe  der  Taille,  ihre  Verwaltung  und  Re- 
partition  (d.  h.  ihre  Verteilung  auf  die  Generalitäten,  Elektions- 
bezirke  und  Städte,  Pfarreien),  die  Bestellung  der  colledeurs 
(Einziehungsbeamten)  und  die  Erhebung,  die  zahlreichen  und 
je  länger  je  mehr  verhängnisvollen  Privilegien  von  Ständen, 
Ämtern  und  Orten  sowie  die  verschiedenen  Arten  der  Taille 
(wobei  hervorzuheben  ist,  daß  nach  S.  276  die  sog.  taille  rielle 
keineswegs  nur  von  Immobilien  erhoben  wurde).  Das  Gesamt- 
bild ist  wenig  erfreulich.  Wohl  hat  Colbert  die  beim  Sturze  des 
Oberfinanzintendanten  Fouquet  1661  bereits  außerordentlich  an- 
geschwollene Höhe  der  Taille  etwas  herabmindern  können  und 
sie  während  seiner  Amtszeit  im  allgemeinen  auch  auf  dieser  Stufe 
zu  halten  vermocht  (nur  in  den  letzten  Jahren  des  Holländischen 
Kriegs  erreichte  sie  wieder  fast  die  alte  Höhe;  vgl.  die  genauen 
Zahlen  für  die  pays  d'äections  bei  Esmonin  S.  23  Anm.  4  und 
für  die  Normandie  in  der  5.  Beilage  S.  545  ff.).  Aber  tatsächlich 
ist  damit  wenig  gebessert  worden,  da  hauptsächlich  solche  Posten 
gestrichen  wurden,  die  schon  vorher  nicht  eingegangen  sind. 
Colbert  hat  auch  sonst  manchen  Unsicherheiten  ein  Ende  ge- 
macht und  eine  zuverlässige,  die  Leitung  durch  die  Zentralgewalt 
sichernde  Ordnung  der  Steuer  vorgenommen.  Aber  mit  seinen 
Reformen  bei  der  Einziehung,  die  viele  Mißstände  aufwies,  ist 
er  nur  teilweise  durchgedrungen,  und  sie  wären  zudem  auch 
nicht  geeignet  gewesen,  die  mannigfachen  Schäden  dieser  Steuer 
wirklich  zu  heilen.  Dazu  hätte  es  anderer  Mittel  bedurft,  eine 
gründliche  Änderung  bei  den  Ungerechtigkeiten  der  Verteilung 


Frankreich.  135 

und  Erhebung  und  vor  allem  einen  entschlossenen  Einbruch  in 
das  System  der  Privilegien.  Das  Elend,  das  nicht  zum  wenigsten 
die  Taille  in  weiten  Teilen  des  Landes  hervorgerufen  hat,  ist 
so  auch  von  Colbert  nicht  gehoben  worden.  Erst  nach  ihm  frei- 
lich haben  sich  die  Zustände  rasch  weiter  verschlimmert,  bereits 
der  Spanische  Erbfolgekrieg  brachte  gar  zwei  neue  direkte  Steuern, 
und  man  hat  überhaupt  daran  festzuhalten,  daß  das  Steuer- 
system des  Ancien  rigime  die  Hauptursache  der  Revolution  ge- 
wesen ist. 

Gießen.  Robert  Holtzmann. 


Das  französische  Geldwesen  im  Kriege  (1870 — 1878).  Von  Dr. 
Franz  Gutmann,  Privatdozent  an  der  Universität  Tübingen. 
Straßburg,  J.  Trübner.    1913.    X  u.  525  S. 

Mit  engem  Anschluß  an  Knapps  „Staatliche  Theorie  des 
Geldes"  und  an  die  von  Knapp  eingeführte  Terminologie  be- 
handelt Gutmann  das  französische  Geldwesen  im  Kriege  von 
1870/71  und  in  den  nächstfolgenden  Jahren, 

Einleitend  bespricht  er  zunächst,  wie  sich  die  Geldver- 
fassung Frankreichs  in  der  Zeit  vor  dem  Kriege  unter  dem 
Einfluß  des  lateinischen  Münzbundes  gestaltet  hatte.  Dann 
kommt  er  zu  der  Art,  wie  die  großen  Geldmittel  für  die  Füh- 
rung des  Krieges  beschafft  wurden:  Ansammlung  des  Goldes 
und  Silbers  bei  der  Bank,  Zwangskurs  für  deren  Noten,  An- 
leihen. Auswärtige  Schulden  hatte  Frankreich  damals  nicht, 
wohl  aber  besaß  es  in  ansehnlichem  Umfange  fremde  Werte, 
die  zu  Zahlungen  an  das  Ausland  benutzt  werden  konnten. 
Noch  deutlicher  zeigt  sich  der  Wohlstand  Frankreichs  in  dem 
glänzenden  Erfolge  der  beiden  inneren  Anleihen  vom  Juni  1871 
und  September  1872,  der  es  ermöglichte,  die  Kriegsentschä- 
digung sehr  viel  rascher  zu  zahlen,  als  anfangs  vorausgesehen 
war. 

Bald  erschien  das  Metallgold  wieder  im  Verkehr,  die  Bank 
löste  ihre  Noten  ein,  noch  ehe  sie  gesetzlich  dazu  verpflichtet 
war,  so  daß  die  formelle  Aufhebung  des  Zwangskurses  am 
L  Januar  1878  nahezu  unbeachtet  blieb.  Noch  einige  Wochen 
später  verhandelte  die  sociäi  d'economie  politique  ernstlich  über 
die  Notwendigkeit:    „de  supprimer  le  cours  force  par  suite  de 


136  Literaturbericht. 

l'abondance  de  l'argenV  und  erst  während  der  Beratung  wurde 
darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die  Aufhebung  ja  bereits  tat- 
sächlich und  gesetzlich  erfolgt  sei. 

Die  Akten  des  französischen  Finanzministeriums  zu  be- 
nutzen, ist  dem  Verfasser  nicht  gestattet  worden,  seine  sorg- 
fältige, wohldurchdachte  Untersuchung  stützt  sich  in  erster  Linie 
auf  die  amtlich  veröffentlichten  Ausweise  und  die  Kammer- 
berichte, außerdem  auf  die  Erörterungen  in  der  Presse  und  in 
der  volkswirtschaftlichen  Literatur.  Leicht  und  angenehm  zu 
lesen  ist  sie  nicht,  der  übermäßige  Gebrauch  wissenschaftlicher 
Fachausdrücke,  in  denen  der  Verfasser  förmlich  zu  schwelgen 
scheint,  erschwert  den  Genuß  der  lehrreichen  Arbeit. 

Berlin.  Paul  Goldschmidt. 


Kolonialgeschichte   der  Neuzeit.    Von  Veit  Valentin.    Tübingen, 
J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck).     1915.    226  S.    4,80  M. 

Je  mehr  im  letzten  Jahrzehnt  das  Interesse  an  kolonialen 
Problemen  bei  uns  zunahm,  desto  mehr  begann  man  sich  auch 
mit  der  Geschichte  der  Kolonisation  zu  beschäftigen.  Obwohl 
es  auf  diesem  Gebiet  noch  vielfach  an  den  notwendigen  Vor- 
arbeiten fehlt,  so  bestand  doch  das  Bedürfnis  nach  einer  Zu- 
sammenfassung des  gewaltigen  Stoffes.  Von  den  verschiedenen 
Büchern,  die  diese  Aufgabe  zu  erfüllen  suchen,  ist  das  Valen- 
tinsche  wohl  das  gelungenste.  Es  geht  der  Schwierigkeit,  die  in 
der  Kompliziertheit  des  Stoffes  gelegen  ist,  dadurch  aus  dem 
Wege,  daß  es  zunächst  in  großen  Zügen  den  Verlauf  der  Kolo- 
nialgeschichte darstellt  und  dann  dazu  übergeht,  die  kolonisato- 
rische Tätigkeit  der  einzelnen  Völker  zu  beschreiben.  V.s  Haupt- 
gesichtspunkt, der  die  ganze  Arbeit  durchzieht  und  ihr  einen 
einheitlichen  wenn  auch  naturgemäß  auch  einseitigen  Charakter 
aufprägt,  ist  der,  „den  kolonialen  Gedanken  unter  Ablehnung 
ökonomischer  Auffassungen  als  einen  Ausfluß  des  Staats-  und 
Machtgedankens,  die  Kolonisation  als  den  letzten  und  strengsten 
Gradmesser  nationaler  Kraft  und  nationalen  Selbstbewußtseins" 
zu  betrachten.  Manche  Urteile,  wie  etwa  das  über  die  heutigen 
Engländer  (S.  167)  und  die  völlig  unrichtige  Einschätzung  Kana- 
das (S.  121),  mögen  in  einer  neuen  Auflage  geändert  werden,  im 
ganzen  ist  das  Buch  durch  seine  übersichtliche  Anordnung  und 


Heeresgeschichte.  137 

seine  i<iare  und  frische  Darstellung  eine  ausgezeichnete  Einfüh- 
rung, geeignet,  diesem  wichtigen  und  neuen  Teil  unserer  Wissen- 
schaft weitere  Freunde  und  Forscher  zuzuführen. 

Göttingen.  Paul  Darmstaedter. 


Der  Gedanke  des  Volksheeres  im  deutschen  Staatsrecht.  Von 
Kurt  Wol2endorff.  Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr  (P.  Siebeck). 
1914.  ^  XII  u.  63  S. 

Diese  Schrift  ist  vor  dem  Krieg  verfaßt  worden,  behandelt 
aber  ein  Thema,  das  uns  heute  im  höchsten  Maß  beschäftigt. 
Wenn  man  ihm  eine  ganz  umfassende  Darstellung  wünschte,  so 
ist  doch  auch  die  kürzere  Erörterung  willkommen  zu  heißen, 
zumal  sie  gerade  die  Grundfragen  aus  der  Geschichte  der  deut- 
schen Heeresverfassung  zur  Diskussion  stellt.  Angeregt  zu  seiner 
Arbeit  ist  der  Verfasser  namentlich  durch  die  Werke  von  M. 
Lehmann  und  F.  Meinecke  über  die  preußische  Reformzeit.  Er 
greift  aber  in  seinem  historischen  Überblick  weit  zurück,  indem 
er  mit  einer  Darlegung  der  Heeresverfassung  in  der  deutschen 
Urzeit  beginnt. 

In  der  Schilderung  der  altern  Zeiten  gibt  Wolzendorff  eine 
Reihe  glücklicher  Formulierungen.  Der  Ernst,  mit  dem  er  den 
Dingen  auf  den  Grund  zu  gehen  sucht,  erweist  sich  als  durchaus 
fruchtbar.  Freilich  vermag  ich  ihm  nicht  überall  beizustimmen. 
Ich  will  mich,  da  er  meinen  ,, Deutschen  Staat  des  Mittelalters", 
der  etwas  später  als  seine  Schrift  erschien,  noch  nicht  benutzen 
konnte,  hier  nicht  ausführlich  über  unsere  differierenden  Ansich- 
ten äußern,  sondern  nur  einiges  andeuten.  So  große  Verdienste 
Gierkes  Genossenschaftsrecht  zukommen,  so  ist  es  doch  nicht 
möglich,  mit  der  Ausschließlichkeit,  mit  der  er  es  tut,  mit  dem 
Gegensatz  Herrschaft  und  Genossenschaft  zu  operieren,  und  seine 
Anschauungen  von  diesen  Verhältnissen  bedürfen  auch  noch  im 
einzelnen  der  Korrektur.  W.  schließt  sich  ganz  Gierkes  Theorien 
an  (vgl.  z.  B.  S.  5 ff.).  Ist  es  richtig  (S.  5),  daß  „die  feudale  Heeres- 
und Staatsverfassung",  „den  einzelnen  immer  nur  seinem  un- 
mittelbaren Lehnsherrn  unterwarf"?  Gibt  es  keine  Einschrän- 
kung der  Lehnsverfassung  im  Interesse  des  Staats?  Das  Sold- 
rittertum hat  nicht  bloß  einen  wirtschaftlichen  (S.  6),  sondern 
auch  einen  politischen  Grund.    Das  Kriegswesen  soll  von  den 


138  Literaturbericht. 

„kleineren  feudalen  Herren"  „ausschließlich  in  die  Hände  der 
sich  nun  bildenden  Landesherren  übergegangen"  sein  (ebenda). 
Überwiegend  ist  es  vom  Reich  auf  die  Landesherren  übergegangen. 
Die  Landfriedensbestrebungen  des  Mittelalters  stellt  W.  (ebenda) 
zu  einseitig  als  eine  Aktion  der  Landesherren  gegen  private  Mächte 
dar.  Ist  es  richtig  (S.  4),  daß  die  Städte  als  „Träger  des  alten 
deutschen  Genossenschaftsgedankens"  die  allgemeine  Wehrpflicht 
als  Grundlage  des  städtischen  Kriegswesens  „bis  in  die  Neuzeit 
hinein"  gerettet  haben?  Höchstens  für  die  Reichsstädte  könnte 
dies  gelten.  Aber  auch  schon  im  Mittelalter  wird  die  allgemeine 
Wehrpflicht  in  den  Städten  (in  den  Reichsstädten  besonders) 
stark  ergänzt,  vielleicht  sogar  überwuchert  von  dem  Söldner- 
heer (siehe  mein  älteres  Städtewesen  und  Bürgertum,  2.  Aufl., 
S.  78).  Und  in  der  Neuzeit  sind  die  Landstädte,  d.  h.  die 
große  Masse  der  Städte,  in  der  Heeresverfassung  einfach  Glieder 
des  Territoriums.  Wenn  der  Landesherr  einmal  ein  allgemeines 
Aufgebot  seiner  Untertanen  erläßt,  so  sind  die  Städter,  die 
daraufhin  erscheinen,  militärisch  nicht  brauchbarer  als  die 
Landbewohner.  Die  Erneuerung  der  altgermanischen  allge- 
meinen Wehrpflicht,  wie  sie  unvollständig  im  preußischen 
Kantonsystem,  vollständiger  in  den  Maßnahmen  des  19.  Jahr- 
hunderts uns  entgegentritt,  vollzieht  sich  nicht  im  Anschluß  an 
erhalten  gebliebene  alte  städtische  Einrichtungen  (unrichtig  W. 
S.  12).  S.  11  nennt  W.  den  Gedanken  der  allgemeinen  Wehr- 
pflicht den  „Gedanken  der  genossenschaftlichen  Verpflichtung". 
Hier  zeigt  sich  eben,  daß  man  mit  der  Gierkeschen  Kategorie 
doch  nicht  soviel  operieren  kann.  Die  allgemeine  Wehrpflicht 
kann  eine  öffentliche  Pflicht  sein,  ohne  daß  sie  rechtlich  einer 
„Genossenschaft"  geleistet  wird.  Ist  das  Rechtssubjekt  bei  der 
„Landesdefension"  (ebenda)  immer  nur  eine  „Genossenschaft"? 
Der  ,, Polizeidienst"  (S.  12)  ist  dem  mittelalterlichen  Territorium 
vertraut.!)  S.  13  spricht  W.  über  die  Gründe,  weshalb  das  länd- 
liche Aufgebot  in  der  Zeit  vom  16.  bis  18.  Jahrhundert  keine 
Rolle  spielt:  er  macht  das  wirtschaftliche  Interesse  der  Guts- 
herren  und   die   politische   Furcht   vor   einer   Volksbewaffnung 


*)  Es  mag  bei  dieser  Gelegenheit  auf  Fehrs  Abhandlung  über 
Landfolge  und  Gerichtsfolge  (1914)  in  der  Festgabe  für  R.  Sohm 
hingewiesen  werden. 


Heeresgeschichte.  139 

namhaft.  Diese  beiden  Gründe  treten  vor  dem  Umstand,  daß 
das  allgemeine  Aufgebot  technisch  einfach  unbrauchbar  war, 
durchaus  zurücl<.  Die  Furcht  vor  einer  Volksbewaffnung  hat 
nach  Besiegung  der  aufständischen  Bauern  im  16.  Jahrhundert 
wohl  eine  Rolle  gespielt.  Im  übrigen  messen  die  Quellen  diesem 
Motiv  keine  maßgebende  Bedeutung  zu.  Das  wirtschaftliche 
Interesse  der  Gutsherren  kann  schon  deshalb  nicht  ausschlag- 
gebend gewirkt  haben,  weil  keineswegs  alle  Bauern  (zumal  in  den 
westdeutschen  Territorien)  von  den  Grundherren  abhängig  sind. 
Wir  sehen  ja  auch,  wie  tatsächlich  die  Bauern  aufgeboten  werden 
(zu  Musterungen  und  zum  Teil  auch  zum  Krieg),  aber  jedesmal 
sich  als  unbrauchbar  erweisen.  Und  mit  dem  städtischen  Auf- 
gebot, für  das  die  von  W.  genannten  Motive  nicht  in  Betracht 
kämen,  verhält  es  sich,  wie  bereits  angedeutet,  ebenso  wie  mit 
dem  ländlichen. 

Die  Behauptung  (S.  16),  daß  die  Männer  der  Reformzeit 
sich  von  dem  „Genossenschaftsgedanken"  (im  Sinn  Gierkes) 
leiten  ließen,  möchte  ich  doch  etwas  einschränken.  Die  Idee  des 
Vaterlands  (S.  22),  Heimatsgefühl  und  Staatsgesinnung  (S.  23) 
sind  eben  nicht  identisch  mit  der  Genossenschaftsidee.  Die  Auf- 
fassung Wittgensteins  von  der  neuen  Heeresorganisation  darf 
man  nicht  mit  der  „des  Adels"  (S.  26f.)  gleichsetzen.  Es  würde 
nicht  schwer  sein  nachzuweisen,  daß  Wittgensteins  Ansicht  nicht 
an  vielen  Stellen  im  Adel  vertreten  wurde.  Bei  der  Schilderung 
der  Stimmung  des  Publikums  gegenüber  den  Heeresfragen  im 
Lauf  des  19.  Jahrhunderts  hätte  W.  (S.  32)  die  aus  der  Zeit 
der  Aufklärung  ererbte  Abneigung  gegen  das  stehende  Heer, 
gegen  die  militärische  Macht  überhaupt  (vgl.  Vierteljahrschrift 
f.  Sozial-  u.  Wirtschaftsgeschichte  1915,  S.  433  f.)  berücksichtigen 
sollen.  Zu  der  Art,  wie  W.  Stahl  in  Gegensatz  zum  ,, konstitu- 
tionellen Gedanken"  bringt,  kann  man  ihm  nicht  zustimmen. 
Das  von  König  Wilhelm  I.  geforderte  längere  Exerzieren  der 
Truppe  führt  W.  doch  zu  sehr  auf  ein  politisches  Motiv  zurück 
und  übersieht  entsprechend  die  rein  technischen  Erwägungen, 
die  dazu  führten.  Auch  den  Satz:  ,,eine  Frucht  der  Restauration 
ist  die  Umgestaltung  des  Heeres  in  der  Reorganisation"  (S.  37) 
möchte  ich  anfechten.  Der  Realismus  der  Zeit  war  über  die 
Restaurationsidee  hinausgegangen.  —  Was  W.  S.  63  über  Re- 
naissance  und   Rezeption   des   römischen   Rechts  sagt,   vermag 


140  Literaturbericht. 

ich  keineswegs  zu  unterschreiben.  Ich  glaube  in  meiner  Schrift 
über  die  Ursachen  der  Rezeption  des  römischen  Rechts  genügend 
dargelegt  zu  haben  (S.  151  f.),  daß  dasjenige  germanische  Recht, 
das  durch  das  eindringende  römische  verdrängt  worden  ist, 
durchaus  nicht  ein  „jede  Entwicklung  wirtschaftlichen  Verkehrs 
hemmendes"  gewesen  ist. 

Im  vorstehenden  habe  ich  abweichende  Ansichten  geltend 
gemacht.  Ich  könnte  aber  auch  zu  vielem  meine  Zustimmung 
aussprechen  und  möchte  ganz  besonders  W.s  Bestimmung  des 
Charakters  der  modernen  Heeresverfassung  der  Aufmerksamkeit 
empfehlen.  Was  er  über  die  Stellung  des  Offizierkorps  (Reserve- 
offizierkorps) und  der  Kriegervereine  sagt,  liefert  eine  Bestäti- 
gung der  in  meinem  „Deutschen  Staat  des  Mittelalters"  vor- 
getragenen Auffassung,  daß  das  altgermanische  Gefolge  die  Exi- 
stenz eines  wahren  staatlichen  Verbandes  nicht  ausschließt. 
W.  selbst  hat  auch  schon  die  Parallele  mit  dem  Gefolge  ge- 
zogen. 

Da  mich  hier  die  Diskussion  auf  die  in  meinem  genannten 
Buch  geäußerten  Anschauungen  geführt  hat,  so  möchte  ich  die 
Gelegenheit  wahrnehmen,  um  einiges  zu  der  eingehenden  und 
sachlich  so  ergiebigen  Besprechung  meiner  Schrift  von  Ed.  Rosen- 
thal in  dieser  Ztschr.  Bd.  115,  S.  372ff.,  für  die  ich  dem  Rezen- 
senten lebhaften  Dank  schulde,  zu  bemerken. 

Zu  der  Frage,  in  welchem  Umfang  K.  L.  v.  Haller  die  Dar- 
stellung der  altern  deutschen  Verfassungsgeschichte  beeinflußt^) 
hat,  sei  auf  H.  v.  Sybels  Aufsatz  „die  christlich-germanische 
Staatslehre",  Kleine  historische  Schriften,  Bd.  I,  2.  Aufl.,  S.  361  ff. 
hingewiesen.  Sybel  schildert  hier  die  alte  deutsche  Verfassung 
ganz  nach  Haller  (dessen  Anschauungen  kein  Hindernis  dagegen 
bildeten,  daß  er  außerdem  noch  seine  eigenen  Theorien  vom  Ur- 
sprung des  Königtums  hineinbrachte).  „Der  König  besaß  seine 
Herrschaftsrechte  ...  als  privates  und  persönliches  Eigentum  wie 
seine  Gelder  und  Äcker."    „Dem  Könige  gehörte  die  Gerichts- 

*)  Rosenthal  (S.  384)  beruft  sich  darauf,  daß  Jellinek  „die 
Patrimoniallehre  als  staatliche  Rechtfertigungslehre  für  eingehen- 
dere Widerlegung  nicht  mehr  bedürftig"  erkläre.  Gewiß,  für  die 
Gegenwart  verwirft  er  sie.  Aber  in  der  Darstellung  der  Ver- 
gangenheit verschließt  er  sich  nicht  ganz  gegen  sie.  Vgl.  meinen 
mittelalterlichen  Staat  I,  8.208  Anm.  1. 


Heeresgeschichte.  141 

Hoheit  ebenso  als  Eigentum  wie  ein  Stüci<  Geld  oder  Weide" 
(S.  377).  „Dieser  Mangel  in  der  politischen  Anschauung  hat  das 
Mittelalter  beinahe  durchgängig  beherrscht;  ....  er  bildet  .  .  . 
ein  wesentliches  Moment  in  der  heutigen  Lehre  des  christlich- 
germanischen Staats,"  Interessant  ist  es  dabei  noch,  daß  Sybel 
bei  der  Schilderung  der  christlich-germanischen  Staatslehre  eben 
auch  viel  von  der  Hallerschen  Doktrin  zugrunde  legt.  Vgl.  außer 
der  angeführten  Stelle  S.  367,  wo  er  die  Vertreter  jener  Lehre 
auf  die  Frage  nach  der  Entstehung  der  Staaten  die  Antwort 
geben  läßt:  „Ein  Starker  erhebt  sich  auf  eigene  Hand,  und  die 
andern  beugen  sich  entweder  seiner  Kraft  oder  freuen  sich  seines 
Schutzes."  Hätte  Sybel  die  „christlich-germanische  Staatslehre" 
etwa  nach  Leo  und  Stahl,  klassischen  Vertretern  derselben,  dar- 
gestellt, so  hätte  er  bemerkenswerten  Widerspruch  eben  dieser 
Autoren  gegen  Hallers  Doktrin  in  wichtigen. Beziehungen  zu  ver- 
zeichnen gehabt. 

Rosenthal  (S.  391)  glaubt  bei  mir  eine  einseitige  Überschät- 
zung der  Vortrefflichkeit  mittelalterlicher  Einrichtungen  zu  fin- 
den. Ich  meine,  von  einer  solchen  frei  zu  sein.  Als  Beweis  führt 
R.  meine  Ansicht  an,  „daß  das  Bewußtsein  von  der  verpflich- 
tenden Natur  des  Amts  im  Mittelalter  im  wesentlichen  ebenso 
bestanden  hat  wie  heute."  Hier  dürfte  ein  Mißverständnis  vor- 
liegen. Ich  behaupte  nur,  daß  die  Idee  der  Verpflichtung  ebenso 
vorhanden  war  wie  heute.  Natürlich  gebe  ich  einen  Gradunter- 
schied in  der  Ausprägung  der  Idee  und  in  der  praktischen  Be- 
tätigung derselben  bereitwillig  zu,  wie  ich  ja  auch  Beispiele  für 
diese  geringere  praktische  Betätigung  im  Mittelalter  angeführt 
habe.  Aber  die  Existenz  der  Amtsidee  an  sich  glaube  ich  mit 
Bestimmtheit  behaupten  zu  müssen,  und  darin  erfreue  ich  mich 
ja  auch  der  Zustimmung  R.s  (S.  378).  Der  Streit  kann  sich  nur 
um  das  Maß  drehen,  in  dem  die  Amtsidee  im  Mittelalter  verwirk- 
licht worden  ist.  Zur  Stärkung  meiner?  osition  möchte  ich  hier 
noch  einiges  vorbringen.  In  meinen  terminologischen  Unter- 
suchungen, durch  die  ich  meine  Ansicht  von  dem  relativen  Zurück- 
treten privatrechtlicher  Beziehungen  in  der  alten  Verfassung  zu 
stützen  suche,  habe  ich  bemerkt,  daß  der  betreffende  Sprach- 
gebrauch nicht  vollkommen  ausnahmslos  ist.  R.  (S.  377)  zieht 
diese  Argumente  in  Zweifel,  weil  „es  sich  nicht  um  feste  ein- 
deutige Termini  handle".   Aber  es  ist  doch  ein  bestimmter  über- 


142  Literaturbericht. 

wiegender  Sprachgebrauch  zu  beobachten.  Und  das  muß  genügen; 
denn  in  keiner  Zeit  wird  man  einen  absolut  eindeutigen  Sprach- 
gebrauch feststellen  können.^)  Ich  halte  daran  fest  (zu  R.  S.  379), 
daß  der  öffentliche  Zweck  des  Regals,  soviel  er  auch  von  andern 
Gesichtspunkten  überwuchert  worden  ist,  doch  zu  allen  Zeiten 
noch  eine  gewisse  Bedeutung  behalten  hat.  Im  zweiten  Band 
meines  Buchs  werde  ich  Gelegenheit  haben  dies  nachzuweisen. 
Zu  meiner  Feststellung,  daß  das  Mittelalter  den  staatlichen 
Rahmen  kannte,  meint  R.  (S.  382),  dies  werde  ernsthaft  nicht 
bestritten  werden  können,  besage  aber  nicht  so  sehr  viel.  Mir 
ist  es  sehr  willkommen,  wenn  meine  Feststellung  „ernsthaft  nicht 
bestritten  werden  kann".  Tatsächlich  ist  aber  diese  These  doch 
sehr  oft  bestritten  worden  (Sohm  sah  sich  doch  wahrlich  auch 
nicht  ohne  Grund  genötigt,  für  sie  einzutreten),  und  eben  des- 
halb schon  scheint  es  mir  etwas  zu  besagen,  wenn  sie  unbestreit- 
bar erwiesen  wird.  R.s  Ansicht  (S.  374),  daß  der  von  mir  zitierte 
Aufsatz  J.  F.  V.  Schultes  nicht  sonderlich  hoch  zu  bewerten  sei, 
trete  ich  natürlich  bei;  aber  die  von  Schulte  darin  vorgetragenen 
Anschauungen  von  dem  unstaatlichen  Charakter  der  mittelalter- 
lichen Verfassung  sind  doch  sehr  verbreitet  und  nicht  bloß  in 
der  populären  Literatur,  sondern  z.  B.  auch  in  finanzwissenschaft- 
lichen Werken  (vgl.  Ztschr.  f.  Sozialwissenschaft  1911,  S.  368). 
Im  übrigen  zeigen  auch  recht  gute  verfassungsgeschichtliche  Ar- 
beiten oft  starke  Verwandtschaften  mit  Schultes  Meinungen. 
Daß  aber  materiell  der  staatliche  Rahmen  sehr  viel  bedeutet, 
ersehen  wir  am  deutlichsten  wohl  aus  der  Steuergeschichte. 

Wenn  ich  im  Gegensatz  zu  Gierke  die  Einungen,  Zünfte, 
Ritterbünde  als  ein  wesentliches  Stück  des  Feudalismus  auffasse, 
so  wendet  R.  (S.  389)  ein,  es  sei  doch  zwischen  den  Bildungen, 
die  auf  dem  Herrschaftsprinzip  aufgebaut  sind,  und  jenen,  für 
die  der  Freiheitsgedanke  den  bestimmenden  Ausgangspunkt  bildet, 


*)  Interessante  Beobachtungen  auf  dem  Gebiet  dieses  Sprach- 
gebrauchs neuerdings  bei  O.  Schrader,  Vaterland  (akad.  Rede 
zur  100.  Wiederkehr  des  Geburtstages  Bismarcks,  Breslau  1915). 
Ich  möchte  ihm  jedoch  nicht  beitreten,  wenn  er  das  Politische 
in  das  Wort  Land,  Vaterland  durch  den  Einfluß  des  klassischen 
Altertums  kommen  läßt.  K.  v.  Amira  (s.  meine  Schrift  S.  129  f.) 
nimmt  an,  daß  schon  die  alten  Germanen  ihr  Staatsgebiet  Land 
nannten. 


Heeresgeschichte.  143 

eine  scharfe  Grenzlinie  zu  ziehen.  Allein  wie  ich  die  Gierkesche 
Kategorie  der  „Herrschaft"  ablehnen  zu  müssen  glaube,  weil  sie 
zuviel  umfaßt  und  Verhältnisse  in  sich  aufnimmt,  die  vonein- 
ander doch  stark  abweichen,  so  scheint  mir  anderseits  der  „Frei- 
heitsgedanke" nicht  einen  genügenden  Gegensatz  gegen  die  „Herr- 
schaft" zu  bilden.  Nach  „Freiheit"  im  mittelalterlichen  Sinn, 
d.  h.  nach  möglichster  Unabhängigkeit  vom  Staat  und  Privilegie- 
rung, strebten  Landesherren  und  Grundherren  wie  Einungen, 
Zünfte,  Ritterbünde  in  gleicher  Art,  R.  (S,  387)  hebt  hervor, 
man  müsse  zwischen  dem  mittelalterlichen  Staat  und  dem  Ge- 
meinschaftsgebilde, das  wir  heute  Staat  nennen,  scharf  unter- 
scheiden. Ich  bin  vollkommen  seiner  Ansicht,  Aber  ich  glaube 
eben  damit  eine  scharfe  Unterscheidung  aufzurichten,  daß  ich 
in  strengerer  Fassung  des  Begriffs  Mittelalter  Bildungen,  in  denen 
Gierke  schon  etwas  NeuzeitHches  sieht,  dem  Mittelalter  zuweise. 

Gegen  meine  Definition  des  Begriffs  Staat  beruft  sich  R. 
(S.  381f.)  auf  die  von  Jellinek,  Allein  dessen  Definition  kann 
nur  für  den  modernen  Staat  gelten.  Es  kommt  doch  aber  darauf 
an,  eine  Definition  zu  finden,  die  für  den  mittelalterlichen  Staat 
ebenso  gilt  wie  für  den  modernen.^) 

Freiburg  i.  B.  G.  v.  Below. 

Die  Ritter  des  Ordens  pour  le  mdrite.  Auf  Allerhöchsten  Befehl 
Seiner  Majestät  des  Kaisers  und  Königs  bearbeitet  im  Kgl. 
Kriegsministerium  durch  G.  Lehmann,  Wirklicher  Geheimer 
Kriegsrat  und  vertrag.  Rat  im  Kriegsministerium.  1.  Bd.: 
1740—1811.  671  S.  2.  Bd.:  1812—1913.  684  S.  Berlin,  Mittler 
<&  Sohn.     1913. 

Der  Verfasser  entwirft  zunächst  eine  Geschichte  des  Ordens 
pour  le  mirite.    Bei  der  Thronbesteigung  Friedrichs  des  Großen 


^)  Gegen  meine  Deutung  des  altgermanischen  Gefolges  in 
dem  vorhin  erörterten  Sinn  wendet  Rosenthal  (S.  385)  ein,  daß 
nicht  bloß  der  König,  sondern  auch  die  principes  ein  Gefolge 
haben.  Indessen  sind  sie  ja  staatliche  Personen.  —  Auf  die  aus- 
führliche Besprechung  meines  Buches  durch  Dopsch  in  den  Mit- 
teilungen des  Instituts  36,  S,  1  f.,  der  meiner  Darstellung  in  noch 
stärkerm  Umfang  als  Rosenthal  beitritt,  sei  hier  auch  verwiesen. 
Vgl.  ferner  Vierteljahrschrift  f.  Sozial-  u.  WG.  1915,  S.  225  ff.  und 
Zeitschrift  „Panther«  1916,  S.  52  ff. 


144  Literaturbericht. 

bestand  in  Preußen  neben  dem  Schwarzen  Adler-Orden  nur  noch 
ein  Verdienstorden,  der  Orden  de  la  ginirositi,  später  gewöhnlich 
„das  Gnadenkreuz"  genannt,  der  sich  aber  keines  besonderen 
Ansehens  erfreute.  Tatsächlich  war  diese  Dekoration  in  den 
letzten  Jahren  König  Friedrich  Wilhelms  1.  fast  ausschließlich 
für  Hilfeleistungen  bei  der  ausländischen  Werbung  verliehen 
worden.  Dies  ist  wohl  der  Grund,  weshalb  Friedrich  der  Große 
bald  nach  seiner  Thronbesteigung  den  Entschluß  faßte,  einen 
neuen,  dem  Verdienste  bestimmten  Orden  zu  stiften.  Die  Stif- 
tung des  Ordens  pour  le  merite  erfolgte  im  Juli  1740.  Er  war 
hauptsächlich  für  im  Dienst  befindliche  Offiziere  bestimmt.  In 
Friedenszeiten  hat  der  König  den  Orden  nur  selten  verliehen. 
Aber  auch  in  der  Verleihung  während  des  Krieges  für  vor  dem 
Feinde  bewiesene  Auszeichnung  blieb  der  König  maßvoll.  Weit 
freigebiger  war  König  Friedrich  Wilhelm  II.,  namentlich  aus 
Anlaß  der  Rheinfeldzüge  und  der  Ereignisse  in  Polen.  Unter 
Friedrich  Wilhelm  III.  erreichte  die  Zahl  der  Verleihungen  sogar 
die  Höhe  von  2454.  Unter  Friedrich  Wilhelm  IV.  dagegen  wurde 
die  Verleihung  auf  ausgezeichnete  Taten  und  außerordentliche 
Tapferkeit  eingeschränkt.  Unter  Wilhelm  I.  wurde  die  Wert- 
schätzung des  Ordens  auf  die  größte  Höhe  gehoben.  König 
Wilhelm  II.  hat  17  Verleihungen  eintreten  lassen. 

Im  einzelnen  führt  das  Lehmannsche  Werk  sämtliche  Ver- 
leihungen des  Ordens  seit  seiner  Stiftung  bis  heute  unter  mög- 
lichst genauer  Angabe  der  Persönlichkeit  des  Beliehenen,  der 
tatsächlichen  Vorgänge  und  näheren  Umstände,  der  Verleihungs- 
urkunden usw.  an.  Mit  einem  außerordentlichen  Fleiß  ist  das 
große  Material  zusammengetragen,  das  als  sehr  wertvolle  hi- 
storische Quelle  für  biographische  und  kriegsgeschichtliche  Zwecke 
bezeichnet  werden  muß.  X. 


Gneisenau.  Von  W.  v.  Unger,  Generalleutnant  z.  D.  Mit  4  Bild- 
nissen und  17  Skizzen  im  Text.  Berlin,  Mittler  &  Sohn.  1914. 
448  S.    9,50  M. 

Der  als  Biograph  Blüchers  rühmlich  bekannte  Verfasser 
ist  vermutlich  durch  die  bei  dieser  Gelegenheit  gemachten  Stu- 
dien auch  zu  einer  Beschreibung  des  Lebens  Gneisenaus,  dieses 
„Sternes  erster  Größe",  angeregt  worden.    Die  Arbeit  beruht  im 


Heeresgeschichte.  145 

wesentlichen  auf  dem  von  Pertz  und  Delbrück  wiedergegebenen 
urkundlichen  Material.  Dazu  sind  einige  bedeutenderen  neueren 
Veröffentlichungen  des  Großen  Generalstabes  („Das  preußische 
Offizierkorps  1806",  „Kolberg  1806—1807",  „Das  preußische 
Heer  der  Befreiungskriege")  sowie  eine  Anzahl  anderer  Werke, 
Denkwürdigkeiten,  Briefe  im  Privatbesitz  u.  dgl.  getreten.  Ob- 
wohl somit  wesentlich  neues,  grundlegendes  Material  nicht  beige- 
bracht ist,  hat  das  Buch  doch  seinen  besonderen  Wert.  Er  liegt 
vornehmlich  in  der  klaren,  knappen  und  übersichtlichen  Zu- 
sammenstellung, in  dem  vortrefflichen  militärischen  Urteil  und 
in  der  lebendigen,  warmen  und  von  Begeisterung  für  den  Helden 
getragenen  Darstellung.  Von  Gneisenau  sagt  der  Feldmarschall 
Graf  von  Schlieffen,  daß  er  die  Verkörperung  der  Gefühle  der 
Entrüstung,  des  Hasses  und  der  Rache  war,  die  Napoleon  durch 
die  Unterjochung  Preußens  hervorgerufen  hatte.  ,,In  Gneisenau, 
in  keinem  anderen,  hat  Napoleon  seinen  Überwinder  gefunden." 
Gneisenau  vor  allem  war  es,  der  von  Napoleon  die  Kunst  der 
Kriegführung  lernte  und  sie  dem  Meister  gegenüber  rücksichtslos 
anwandte.  Nicht  als  ob  er  keine  militärischen  Fehler  gemacht 
hätte!  Aber  seine  Energie,  die  Stärke  seines  Charakters,  seine 
glühende  Vaterlandsliebe,  halfen  ihm  darüber  hinweg  und  sicherten 
ihm  den  Erfolg.  Durch  eine  Kette  von  wunderbaren  Umständen 
wurde  der  Füsiiierhauptmann  aus  der  Masse  herausgezogen 
und  an  hervorragende  Stelle  gebracht.  Die  Tat  von  Kolberg 
reihte  ihn  unter  die  ersten  Männer  des  Vaterlandes.  Scharnhorst 
erkor  ihn  zu  seinem  Mitarbeiter  bei  der  Neugestaltung  des  Heer- 
wesens. Seine  größte  organisatorische  Leistung  war  die  Bereit- 
stellung der  schlesischen  Landwehr  für  den  Feldgebrauch.  In 
strategischer  Beziehung  ist  der  kühnste  seiner  Entschlüsse  wohl 
der  Eibübergang  1813  angesichts  des  Feindes  und  das  dem- 
nächstige Ausweichen  hinter  der  Saale  gewesen.  Als  im  Feldzuge 
von  1814  die  Rückschläge  bei  Champaubert,  Montmirail  und 
Etoges  durch  Gneisenaus  Unvorsichtigkeit  eintraten,  zeigte  er, 
daß  Charakterstärke  die  wichtigste  Eigenschaft  des  Feldherrn 
ist.  Nur  bei  Laon  verließ  ihn  zeitweise  die  Klarheit  im  Entschluß. 
1815  war  der  Entschluß,  nach  der  verlorenen  Schlacht  bei  Ligny 
auf  Wavre  zurückzugehen,  der  glückliche  Griff  eines  echten 
Feldherrngeistes.  Die  Verfolgung  Gneisenaus  nach  der  Schlacht 
bei  BelleaUiance  steht  einzig  in  der  Weltgeschichte  da. 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  10 


146  Literaturbericht. 

In  einem  sehr  eingehenden  und  wertvollen  „Rückblick" 
wird  die  Bedeutung  Gneisenaus  vom  militärischen  Standpunkt 
zusammenfassend  gewürdigt.  Seine  taktischen  und  strategischen 
Ansichten,  sein  Einfluß  auf  die  Gefechtsführung  und  auf  die 
operativen  Entschlüsse,  sein  Verhältnis  zum  Feldmarschall 
Blücher  und  zum  König  werden  einer  kritischen  Betrachtung 
unterzogen. 

Wenn  somit  vom  geschichtlichen  Standpunkt  aus  das  Werk 
Ungers  gegenüber  der  Bearbeitung  von  Delbrück  nicht  als  beson- 
derer Fortschritt  bezeichnet  werden  kann,  so  hat  es  doch  durch  die 
Hervorhebung  der  militärischen  Seite  und  die  eingehende  mili- 
tärische Bewertung  der  Tätigkeit  Gneisenaus  seinen  besonderen 
Wert  und  seine  Berechtigung  erhalten.  X. 


J.  L.  Pageis  Einführung  in  die  Geschichte  der  Medizin.  In  zwei- 
ter Auflage  herausgegeben  von  K.  Sudhoff.  Berlin,  S. 
Karger.     1915.    XXVI  u.  616  S.     Geb.  22  M. 

In  der  Vorrede  zu  einer  von  ihm  vor  Jahren  veranlaßten 
Sammlung  medizingeschichtlicher  Aufsätze  verschiedensten  In- 
haltes schrieb  Sudhoff,  daß  man  vielleicht  das  Programm  der 
Zeit  in  der  unvermittelten  Aneinanderreihung  disparater  Einzel- 
studien erblicken  könne.  Für  ihn  selbst  durfte  man  jedenfalls 
bis  dahin  seine  eigenen  Worte  gelten  lassen,  wenn  auch  über 
der  langen  Reihe  seiner  zahlreichen  Arbeiten  mehrere  gemein- 
same Gesichtspunkte  jeweils  gewisse  Gruppen  bildend  darüber- 
stehen, wenn  auch  ferner  einige  größere  und  zusammenfassendere 
Studien  von  ihm  bereits  vorlagen.  Und  doch  bestand  wohl  nicht 
nur  bei  dem  Referenten  schon  lange  der  Wunsch,  aus  Sudhoffs 
Feder  eine  großzügige,  einheitliche  Darstellung  mindestens  grö- 
ßerer Gesamtabschnitte  der  Medizingeschichte  zu  erhalten,  wozu 
nunmehr  ein  wichtiger  Anfang  gemacht  ist,  der  ganz  von  selbst 
weiterführen  wird. 

Daß  Sudhoff  bei  der  unter  einem  gewissen  Zwang  übernom- 
menen Neubearbeitung  des  verdienstlichen  Buches  von  Pagel 
nicht  sofort  das  Ganze  umgestaltete,  verstehen  wir  einesteils  aus 
dem  berechtigten  Gefühl  der  Pietät,  andernteils  auch  aus  der 
Unmöglichkeit  heraus,  in  der  vermutlich  nicht  unbeschränkt  zu- 
gebilligten Zeit  eine  noch  weitergehende  Neuschöpfung  zu  voll- 


Geschichte  der  Medizin.  147 

bringen.  Aber  auch  ohne  die  Versicherung  des  Vorwortes  würde 
man  aus  jeder  Seite,  insbesondere  aus  den  Literaturangaben,  die 
ergänzende,  nachtragende,  berichtigende  Arbeit  ersehen  können, 
deren  Raschheit  dem  mit  Sudhoffs  Stil  Vertrauten  auch  manchmal 
aus  sonst  bei  ihm  ungewohnten  Unebenheiten  der  Darstellung 
(wozu  auch  der  doppelte  Ich-Stil  beiträgt)  erkennbar  ist.  Welchen 
Schwung  er  aber  seinen  Worten  zu  verleihen  vermag,  zeigt  z.  B. 
das  geradezu  von  Begeisterung  getragene  Kapitel  über  Paracelsus. 
Und  noch  eines  sei  hierbei  ausdrücklich  ausgesprochen;  wenn 
Sudhoff  bei  Paracelsus  einmal  sagt:  „ich  müßte  ein  Buch  schrei- 
ben, wollte  ich  das  weiter  ausführen",  so  wollen  wir  ihn  recht 
dringlich  hiermit  um  dieses  Buch  gebeten  haben,  das  jedenfalls 
eines  seiner  eigensten  werden  würde.  — 

Die  beiden  ersten,  fast  ganz  von  Sudhoff  umgeschriebenen 
Vorlesungen  behandeln  die  älteste  Medizin  außerhalb  des  Griechen- 
tums. Aus  der  Heilkunde  der  heutigen  Naturvölker,  welche  in 
vieler  Beziehung  unser  naturgemäß  noch  viel  kleineres  Wissen 
von  der  auf  dem  gleichen  Weg  entwickelten  Medizin  der  Urbevölke- 
rungen, z.  B.  unseres  Kulturkreises,  ergänzen  muß  und  kann, 
ersehen  wir,  wie  zu  einer  auf  scharfer  Beobachtung  gegründeten 
Empirie  alsdann,  etwa  in  den  Händen  von  „Medizinmännern", 
bestimmte,  z.  B.  dämonistische  Krankheitsvorstellungen  und  Be- 
handlungsriten, hinzutreten.  Diese  beiden  primitiven  Stadien 
werden  kurz  aus  dem  über  Kelten  und  Germanen  Bekanntem 
belegt.  Es  folgt  eine  Betrachtung  der  bis  ins  4.  Jahrtausend 
V.  Chr.  hinaufführenden  chinesich-japanischen  Medizin  und  des 
europäischen  Einflusses  auf  dieselbe;  danach  ein  Streiflicht  auf 
das,  was  von  der  Medizin  der  Azteken  überliefert  ist.  Etwas 
ausführlicher  wird  auf  die  indische  Heilkunde  eingegangen,  deren 
Beziehungen  zur  Griechenmedizin  —  ob  sie  nur  Empfängerin 
oder  wohl  auch  Spenderin  gewesen  —  zum  Teil  noch  umstritten 
sind,  während  von  der  indischen  Chirurgie  manches  geschichtlich 
nachwirkte. 

Sehr  lange  geht  in  Babylonien  Kultisches  und  Ärztliches 
ineinander  über;  daneben  gab  es  wohl  einen  nicht  priesterlichen 
Ärztestand,  der  ja  in  dem  Gesetz  Chammurapis  in  nicht 
immer  rechtlich  beneidenswerter  Lage  uns  entgegentritt.  So  findet 
sich  auch  in  dem,  was  wir  aus  den  bis  ins  3.  Jahrtausend  zurück- 
reichenden Keilschrifttafeln,  die  aber  meist  der  Assyrerzeit  an- 

10* 


148  Literaturbericht. 

gehören,  bis  jetzt  erfahren  haben,  neben  einfacher  Registrierung 
tatsächUcher  Krankheitserscheinungen  und  erfahrungsgemäßen 
Behandlungsvorschriften  viel  Dämonistisches,  Beschwörungs- 
medizin, priesterliche  Wahrsagung.  —  Auch  in  Ägypten  lag  in 
einer  ebenso  unpersönlichen  Weise  die  Heilkunde  in  den  Händen 
der  Priesterkaste,  die  uns  aber  aus  wesentüch  früheren  Jahr- 
hunderten literarische  Produkte  geliefert  hat,  die  in  einer  An- 
zahl medizinischer  Papyri  erhalten  sind.  An  ihnen  wird,  obwohl 
sie  vielfach  in  der  Art  der  Aufzeichnung  ähnlich  sind,  doch  der 
Fortschritt  gegenüber  der  Medizin  des  Zweistromlandes  uns  dar- 
getan ;  aber  auch  die  zunehmende  Verknöcherung  des  Wissensstoffes 
und  das  Überwuchertwerden  von  magischer  Routine,  Trotz  der  so 
wichtigen  gesundheitlichen  Vorschriften  der  jüdischen  Kultgesetze 
ist  von  einer  eigentlichen  oder  gar  eigenen  Medizin  Israels  nichts 
überliefert,  was  auch  gilt  von  den  anderen  semitischen  Stämmen 
Vorderasiens. 

Die  nun  folgenden  Vorlesungen  über  die  griechische  Medizin 
glaube  ich  in  ihrer  Art  nicht  besser  charakterisieren  zu  können, 
als  indem  ich  die  Eingangsworte  hierher  setze,  daß  wir  gerade 
an  ihr  imstande  sind  zu  sehen,  wie  die  Medizin  auch  mit  dem 
ganzen  Kulturleben  eines  Volkes  aufs  innigste  verknüpft  ist, 
wie  sie  den  Bildungsgrad  der  Nation  während  der  verschiedensten 
Entwicklungsphasen  widerspiegelt,  wie  nach  und  nach  Mythe 
und  Aberglaube  verschwinden,  reellen  Kenntnissen,  geistiger  Auf- 
klärung und  exakter  experimenteller  Feststellung  den  Platz 
räumen,  wie  mit  dem  Fortschritt  der  allgemeinen  Bildung  auch 
der  der  Heilkunde  Hand  in  Hand  geht  —  aber  auch  wie  mit  dem 
politischen  Zerfall  und  dem  kulturellen  Niedergang  eine  Periode 
des  Stillstandes  eintritt,  der  schließlich  zum  Rückschritt  führt. 
An  ihr  macht  sich  in  unwiderstehlicher  Weise  die  Tatsache  gel- 
tend, daß  die  medizinische  Geschichte  ein  wichtig  Stück  Kultur- 
geschichte ist.  Alles  dies  an  unserem  Auge  vorüberziehen  zu 
lassen,  verstattet  besonders  das  Studium  der  „griechischen  Me- 
dizin", in  erweitertem  Umfange  aber,  wie  hinzugefügt  werde, 
das  Studium  des  ganzen  vorliegenden  Buches,  das  wohl  nicht 
nur  der  Referent  mit  großem  Genuß  und  reicher  Belehrung 
gelesen  hat,  sondern  welches  sicherlich  auch  den  Lesern  dieser 
Zeitschrift  vielen  Gewinn  zu  bringen  in  der  Lage  ist. 

Karlsruhe.  K.  Baas. 


Geschichte  der  Medizin.  149 

Spekulation  und  Mystik  in  der  Heilkunde.  Rektoratsrede  von 
Fr.  V.  Müller.  München,  J.  Lindauersche  Univ.-Buchhandlg. 
1914.    39  S.     1,60  M. 

Mit  der  Verlegung  der  Universität  Ingolstadt  nach  Lands- 
hut i.  J.  1800  traten  zu  dem  alten  Lehrkörper  eine  Anzahl  neu 
berufener  Männer  in  die  medizinische  Fakultät  ein.   In  dem  neuen 
Kreis  war  Tiedemann  (Anatom  und  Zoologe)  der  bedeutendste; 
seine  einer  wirklichen  Forschung  entsprungenen  Untersuchungen 
konnten  in  ihrer  auch  heute  noch  teilweise  als  klassisch  geltenden 
Art  weiteren  fortschreitenden  Arbeiten  Späterer  als  Grundlage 
dienen  und  wirkten   so  bis  in  unsere  Zeit  hinein.     Ganz  anders 
verhielt  es  sich  mit  den  übrigen  Vertretern  der  Medizin,  welche 
völlig  im  Banne  der  rein  spekulativen   Lehre  des  schottischen 
Arztes  Brown  standen,  welche  die  „Erregbarkeit"  zum  Prinzip 
des  Lebens  machte:  Der  Arzt  brauchte  nur  fest  zustellen,  welcher 
„sthenische"  oder  ,, asthenische"  Zustand  bei  dem  Kranken  vor- 
lag,  um   dann   hierauf   rein    logisch-formal    seine   Behandlung 
aufzubauen.     Röschlaub,  der  das  Werk  Browns  übersetzt  hatte, 
suchte  jene   Lehre   mit  scholastischer   Gründlichkeit  weiter  zu 
entwickeln;  ihm  schlössen  sich  die  übrigen  Landshuter  Professoren 
an.    Versuch  und  Erfahrung  wurden  gänzlich  verworfen  zugunsten 
einer  reinen  Konstruktion,  die  schließlich  dann  auch  nur  eine 
Art  von  Behandlung  zuließ.  Als  ein  Beispiel,  wohin  eine  derartige 
Einseitigkeit  führen  konnte,  mag  aus  dem  Lehrbuch  der  Physio- 
logie Phil.  V.  Walthers  nur  das  eine  angeführt  werden,  daß  dieser 
in  ausgesprochenem  Rückschritt  die  Blutbewegungslehre  Harveys 
für  irrig  und   unstatthaft  erklärte.    Das  Verständnis  für  eine 
solche   Richtung  kann  nur  gewonnen  werden,  wenn  man  den 
Einfluß   betrachtet,   welchen   damals   die   Naturphilosophie  auf 
Naturforschung   und   Medizin   gewann.      Hatte   doch    Schelling 
durch  Röschlaub  sich  in  die  Brownsche  Lehre  einweihen  lassen; 
gab  er  doch  auch,  zusammen  mit  dem  Würzburger  Mediziner 
Marcus,    die    „Jahrbücher    der    Medizinischen   Wissenschaft" 
heraus.    Werke   der   damaligen    Landshuter   Professoren   geben 
Schellings  Ideen  bis  in  Einzelheiten  wieder.    So  wird  es  begreif- 
lich, daß  auch  in  der  Medizin  der  Übergang  von  der  naturphilo- 
sophischen Spekulation  zur  Mystik  sich  geltend  machte,  wie  man 
bei  Röschlaub  sieht,  des  weiteren  bei  dem  Münchener  Mediziner 
Ringseis,  wie  eingehender  dargelegt  wird.     Düsterer  Aberglaube 


150  Literaturbericht. 

war  der  Endausgang  dieser  Richtung;  vollkommener  Stillstand 
in  den  Naturwissenschaften  ging  damit  einher.  Wie  durch  das 
Wiederauftreten  einer  aus  romanischen  Ländern  stammenden, 
nüchternen  Beobachtung  auch  in  Deutschland  die  Umkehr  und 
damit  der  so  außerordentliche  Fortschritt  der  Medizin  unserer 
Zeit  zustande  kam,  möge  man  aus  dem  lesenswerten  Vortrage 
selbst  ersehen,  der  mit  einem  Ausblick  auf  die  ganz  neuerdings 
sich  wiederum  in  so  verderblicher  Weise  geltend  machenden 
mystischen  Neigungen  mancher  Kreise  abschließt. 

Karlsruhe.  K.  Baas. 


Notizen  und  Nadiriditen. 


Die  Herren  Verfasser  ersuchen  wir,  Sonderabzüge  ihrer 
in  Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze,  welche  sie  an  dieser 
Stelle  berücksichtigt  wünschen,   uns  freundlichst  einzusenden. 

Die  Redaktion, 

Allgemeines. 

Walter  Goetz,  der  Nachfolger  Lamprechts,  gibt  in  seinem  Auf- 
satz über  „das  Institut  für  Kultur-  und  Universalgeschichte  an  der 
Universität  Leipzig"  Aufschluß  darüber,  wie  er  dieses  Institut  weiter- 
führen will  (Archiv  f.  Kulturgesch.  XII,  3/4).  Der  allgemeinen  Ge- 
schichte, die  er  mit  Lamprecht  Kulturgeschichte  nennt,  soll  es  dienen. 
Aber  es  ergibt  sich  auch,  daß,  sobald  man  von  allgemeiner  Geschichte, 
von  Geistesgeschichte,  von  Geschichtsphilosophie  spricht,  es  sich  um 
Aufgaben  handelt,  die  nur  dem  gereiften  Historiker  zugänglich  sind. 
Auf  den  organisatorischen  und  materiellen  Grundlagen,  die  nach 
Lamprecht  geschaffen,  hat  nun  der  Nachfolger  dem  bestehenden  In- 
stitut für  Kultur-  und  Universalgeschichte  ein  Forschungsinstitut  an- 
gegliedert, das  mit  den  ihm  zur  Verfügung  stehenden  Mitteln  (die  an 
die  Jahresbedürfnisse  unserer  landesgeschichtlichen  Kommissionen 
heranreichen)  nicht  —  zu  den  vorhandenen  —  ein  weiteres  deutsches 
Publikationsinstitut  werden  soll,  sondern  sich  die  Aufgabe  stellt,  zu- 
nächst 5,  später  vielleicht  10  jungen  Historikern,  die  ihre  Universitäts- 
studien mit  Auszeichnung  vollendet  haben,  für  je  zwei  Jahre  die  sor- 
genfreie Möglichkeit  zu  weiterer  wissenschaftlicher  Ausbildung  und 
allgemeiner  Entwicklung  zu  geben.  Mit  5  Stipendiaten  konnte  dieses 
Forschungsinstitut  am  1.  April  1916  eröffnet  werden. 

Mitten  im  Kriege  ist  die  erste  Abteilung  des  2.  Bandes  des  für  die 
Urkundenwissenschaft  grundlegenden  „Handbuchs  der  Urkunden- 
lehre für  Deutschland  und  Italien  von  Harry  Breßlau"  (2.  Auflage, 


152  Notizen  und  Nachrichten. 

Leipzig,  Veit  <&  Co.,  1915,  X  u.  392  S.)  erschienen.  Sie  behandelt  in 
den  Kapiteln  X — XIV  „die  Entstehung  der  Urkunden"  und  in  Ka- 
pitel XV  „die  Urkundensprache".  Gegenüber  der  ersten  Auflage  ist 
die  Anordnung  des  Stoffes  etwas  verändert.  Die  Darstellung  folgt 
dem  Gange  des  Beurkundungsgeschäftes  strenger,  als  es  dort  geschehen 
war  (Kap.  X:  1.  Petitionen  und  Vorverhandlungen;  Kap.  XI:  2.  Hand- 
lung und  Beurkundung,  Stufen  der  Beurkundung;  Kap.  XII:  3.  Für- 
bitter und  Zeugen;  Kap.  XIII:  4.  Die  Vorlagen  der  Urkundenschreiber, 
Formulare,  Vorurkunden,  Akte;  Kap.  XIV:  5.  Das  Verhältnis  der 
Nachbildungen  zu  den  Vorlagen),  und  unterscheidet  diese  Kapitel  durch 
die  regelmäßig  wiederholte  Überschrift:  ,,Die  Entstehung  der  Urkun- 
den" deutlicher  als  ein  einheitliches  und  enger  zusammengehörendes 
Ganze  von  den  übrigen.  Im  einzelnen  haben  wie  in  der  2.  Auflage 
des  1.  Bandes  (vgl.  die  Anzeige  in  Bd.  112,  S.  154 — 156)  die  Ergebnisse 
der  eigenen  Forschungen  Breßlaus  und  der  sonstigen  Literatur  auf 
die  Textgestaltung  vielfach  sehr  stark  eingewirkt.  Das  macht  sich 
namentlich  in  den  Kapiteln  X  und  XI  geltend.  In  Kapitel  X  sind  die 
Abschnitte  über  die  Suppliken  und  Supplikenregister  (S.  9 — 25)  und 
über  den  Konsens  der  Kardinäle  (S.  55 — 61)  völlig  neugestaltet,  in 
Kapitel  XI  die  Ausführungen  über  die  italienischen  Notariats-  und 
deutschen  Privaturkunden  (S.  81 — 88),  über  den  Beurkundungsbefehl 
(S.  95f.,  99 — 104),  über  die  Signierung  der  Suppliken  an  den  Papst 
(S.  105—109)  und  ihre  Datierung  (S.  110—115),  über  die  Konzepte 
und  Imbreviaturen  (S.  119—134,  145,  150—156,  157—159),  über  den 
Vollziehungsbefehl  in  den  Urkunden  des  Hofgerichts  (S.  180 — 182) 
und  in  fürstlichen  Urkunden  Italiens  (S.  189  f.).  In  Kapitel  XIII  sind 
neubearbeitet  die  Abschnitte  über  den  Liber  diurnus  (S.  243 — 247), 
für  den  Breßlau  bereits  die  in  Vorbereitung  befindliche  Ausgabe  des 
Codex  Ambrosianus  durch  Ratti  benutzen  konnte,  über  französische 
Formularbücher  des  12.  Jahrhunderts  (S.  254 — 256),  über  die  italie- 
nischen und  päpstlichen  Lehrbücher  der  ars  didandi  (S.  259 — 261, 
265 — 267),  über  Formularbücher  aus  der  päpstlichen  Kanzlei  (S.  269 
bis  271),  aus  den  Kanzleien  Rudolfs  von  Habsburg  (S.  273—275) 
und  Karls  IV.  (S.  277—281);  in  Kapitel  XV  die  Abschnitte  über  die 
Redefiguren  (S.  359)  und  über  den  Cursus  (S.  361—365),  über  das 
Italienische  in  den  Urkunden  (S.  381 — 383)  und  über  die  Ausbreitung 
der  deutschen  Sprache  in  den  Urkunden  (S.  387— 389).  Kapitel  XII 
und  XIV  sind  dagegen  im  wesentlichen  unverändert  geblieben,  ab- 
gesehen von  den  Ergänzungen  in  den  Anmerkungen  und  wenigen 
Änderungen  im  Text.  Der  Verfasser  kündet  den  Abschluß  des  Werkes 
für  die  Zeit  nach  dem  Kriege  an.  Unsere  Wünsche  für  dieses  Ziel 
sind  daher  eingeschlossen  in  die  Wünsche  für  das  große  Ganze  unseres 
Vaterlandes.    So  wird  es  auch  erst  nach  dem  geschlossenen  Frieden 


Aligemeines.  153 

möglich  sein,  das  Werk  in  seiner  Bedeutung  für  die  Wissenschaft  aus- 
führlicher zu  würdigen. 

Königsberg  i.  Pr.  A.  Brackmann. 

Arthur  Mentz  veröffentlicht  in  den  Neuen  Jahrbüchern  für  das 
klassische  Altertum,  Geschichte  und  deutsche  Literatur  und  für  Pä- 
dagogik 1916,  I,  8  einen  Aufsatz  über  das  Fortwirken  der  römischen 
Stenographie,  indem  er  ihren  Einfluß  in  der  karolingischen  Renaissance 
behandelt,  sowie  ihre  Bedeutung  für  die  Zeit  des  Humanismus  und 
die  Entstehung  der  englischen  Kurzschrift,  endlich  für  den  Neu- 
humanismus und  die  Schaffung  der  deutschen  Kurzschrift  nachzu- 
weisen sucht.  —  Der  gleiche  Verfasser  hat  im  Archiv  für  Urkunden- 
forschung 6,  1  neue  Beiträge  zu  den  tironischen  Noten  im  Mittelalter 
gegeben,  die  den  Aufbau  der  lateinischen  Stenographiesysteme  und 
namentlich  ihre  Beziehungen  zu  den  Silbennoten  deutlicher  heraus- 
arbeiten wollen. 

Über  die  dem  Archivalienschutz  in  Württemberg  und  natürlich 
auch  den  wissenschaftlichen  Zwecken  im  weiteren  Sinn  dienende  In- 
ventarisierung der  Pfarr-  und  Gemeinderegistraturen  handelt  an  der 
Hand  der  bis  jetzt  erschienenen  zehn  Hefte  der  Württembergischen 
Archivinventare  sachkundig  G.  Mehring  im  Korrespondenzblatt  des 
Gesamtvereins  der  dtsch.  Geschichts-  und  Altertumsvereine  1916, 
Juli-August. 

E.  Guglia,  Die  Geburts-,  Sterbe-  und  Grabstätten  der  Römisch- 
Deutschen  Kaiser  und  Könige,  Wien  1914  (Anton  SchroU  &  Co.),  ein 
gutgemeintes  Buch  für  anspruchslose  Leser.  Nicht  historischer  For- 
schung, sondern  einem  Bedürfnis  nationaler  Pietät  will  der  Verfasser 
in  erster  Linie  dienen.  Im  einzelnen  neben  schätzenswerten  Mittei- 
lungen über  die  späteren  Schicksale  der  Grabstätten  mancherlei  Irr- 
tümer und  Unzulänglichkeiten  in  dem,  was  über  die  Geschichte  der 
verschiedenen  Orte  und  ihre  Denkmäler  gebracht  wird.  Der  Verfasser 
weiß  noch  nichts  von  den  neueren  Forschungen  über  die  Pfalzen  in 
Aachen,  Ingelheim  und  Frankfurt,  er  hält  in  Lorsch  die  berühmte 
Torhalie  für  merowingisch,  irrt  sich  in  den  baugeschichtlichen  Angaben 
über  die  Klosterkirche  auf  der  Reichenau,  über  Quedlinburg  und  andere 
Bauten  des  früheren  Mittelalters.  Auf  den  Versuch  historischer  Wür- 
digung und  Charakterisierung  der  einzelnen  Herrschergestalten  braucht 
hier  nicht  eingegangen  zu  werden.  Wie  sinnig,  wenn  der  Verfasser  in 
der  Einleitung  mit  gewissenhaftem  Bemühen  die  „Sterbezone"  der 
deutschen  Kaiser  ausrechnet  und  befriedigt  feststellt,  daß  sie  sich  in 
nord-südlicher  Richtung  ungefähr  ebenso  weit  erstreckt,  wie  die  der 
Geburten,  in  ,,west-östlicher  Richtung  aber  viel  weiter:  von  St.  Juste 
in  Spanien  bis  zum  Flusse  Saleph,  dem  alten  Kalykadnus"!     Weise. 


154  Notizen  und  Nachrichten. 

Otto  Forst,  Die  Ahnenproben  der  Mainzer  Domherren.  (Quellen 
und  Studien  zur  Genealogie  I.)  224  Tafeln,  80  S.  (Register.)  Wien  und 
Leipzig,  Halm  <S  Goldmann.  —  Forst  hat  aus  dem  „ungeheuren  Quellen- 
material", das  ihm  für  seine  Studien  zur  Verfügung  steht  und  das 
„wohl  eine  teilweise  Veröffentlichung  verdient",  die  Ahnenproben  der 
Domherren  von  iVlainz  „zur  Publikation  bestimmt",  wie  sie  sich  aus 
den  Aufschwörungsurkunden  der  Stiftsherren  im  „Münchener  Archiv" 
ergeben.  Er  läßt  dabei  alle  die  vor  1637,  bei  denen  weniger  als  vier 
Generationen  nachgewiesen  werden,  beiseite,  u.  a.  weil  er  sie  für  weniger 
wichtig  hält,  was  mindestens  in  bezug  auf  rechts-  und  kirchengeschicht- 
liche Untersuchungen,  denen  er  auch  dienen  will,  irrig  ist.  Er  ergänzt 
auch  nicht  aus  Archivalien,  die  ihm  leicht  erreichbar  gewesen  wären, 
das  Material,  dessen  Lückenhaftigkeit  ihm  nicht  entgehen  konnte, 
so  daß  also  auch  für  das  spätere  17.  und  für  das  18.  Jahrhundert  von 
Vollständigkeit  nicht  die  Rede  sein  kann.  Er  überläßt  die  Korrektur 
von  Unrichtigkeiten,  die  er  als  solche  erkannte,  dem  Benutzer,  weil 
er  der  Meinung  ist,  daß  eine  Quellenpublikation  eine  solche  Korrektur 
nicht  gestatte,  und  „zu  Spezialuntersuchungen"  über  die  vielfach 
irrigen  Titelangaben  „mangelte  die  Zeit".  Die  224  Tafeln,  die  mit 
mehr  schönen  als  übersichtlichen  römischen  Ziffern  bezeichnet  sind, 
wimmeln  derartig  von  Fehlern,  daß  Anton  Müller,  der  die  Vorlage 
einzusehen  Gelegenheit  hatte,  zu  der  Überzeugung  gelangte,  Forst 
habe  die  Originalurkunden  des  Reichsarchivs  seiner  Publikation  über- 
haupt nicht  zugrunde  gelegt  (Hist.  Jahrb.  35,  152  ff.),  und  die  wenigen 
Seiten  des  Vorwortes,  auf  denen  die  Zahl  der  grammatischen  und 
anderen  Schnitzer  fast  noch  größer  ist  als  die  der  Absätze,  stehen, 
wie  auch  das  Register  mit  seinen  unzureichenden  Literaturangaben, 
auf  der  Höhe  des  Hauptteiles.  Kann  der  Verfasser  das  Verdienst  für 
sich  in  Anspruch  nehmen,  nachdrücklich  auf  eine  wertvolle  Quelle 
zur  Geschichte  des  west-  und  süddeutschen  Adels  aufmerksam  gemacht 
zu  haben  —  über  500  Familien  finden  sich  angeführt  — ,  so  fällt  ihm 
andererseits  zur  Last,  daß  nicht  leicht  sich  ein  Zweiter  dazu  entschließen 
wird,  das,  was  hier  so  völlig  mißraten  ist,  von  neuem  und  nun  in  wissen- 
schaftlichem Sinne  auszuführen. 

Gießen.  Ernst  Vogt. 

Ernst  Bergmann,  Fichte  der  Erzieher  zum  Deutschtum.  Leipzig, 
Verlag  von  Felix  Meiner,  1915,  340  S.  Preis  5  M.  —  Ein  schönes  und 
lebendiges  Buch!  Ein  Buch,  hervorgegangen  aus  innerer  Wahlver- 
wandtschaft des  Verfassers  mit  seinem  Helden,  geschrieben  mit  Wärme, 
in  höchst  lebendiger,  dramatisch  fortschreitender  Darstellung  und  mit 
einer  fast  dichterischen  Sprachgewalt.  Hinter  Fichte,  dem  Philo- 
sophen und  Erkenntnistheoretiker,  möchte  es  den  Menschen  uns  sehen 
lassen,  „den  Reformer,  Heilslehrer  und  Messias,  den  großen  Bringer 


Allgemeines.  155 

eines  neuen  und  doch  so  uralten  Lichtes".  Aus  dem  Dunkel  der  Ge- 
schichte soll  wieder  auferstehen  Fichte  der  Menschheitserzieher  und 
Erlösungslehrer,  der  große  Prediger,  Träumer  und  Seher  einer  ver- 
edelten Zukunftshumanität.  So  beginnt  das  Werk  mit  einer  Schil- 
derung von  Fichtes  lebendiger  geschichtlicher  Persönlichkeit  als  dem 
Schlüssel  zum  Verständnis  seiner  Lebensarbeit,  und  zeigt  in  eindrin- 
gendem Umriß,  wie  Fichte  von  Kant  und  Rousseau  aus  zu  einer  idea- 
listischen Umwertung  aller  Werte  und  der  Entwicklung  ihrer  Bedeu- 
tung für  den  Menschheitsfortschritt  fortging.  Dieser  philosophische 
Idealismus  bildet  die  Grundlage  des  Bildungsideals,  wie  es  sich  in 
Fichtes  Vorstellung  des  Idealmenschen  der  Zukunft,  des  Ideals  des 
Gelehrten  und  des  religiösen  Menschen  der  Zukunft  ausprägt,  und  er 
bestimmt  auch  seine  eigentliche  Erziehungslehre  und  die  von  ihm  ge- 
forderte Organisation  der  Volks-  und  Gelehrtenerziehung,  die  in  dem 
Nachweis  gipfelt,  daß  das  deutsche  Volk  berufen  sei,  in  dem  welt- 
geschichtlichen Akt  der  Selbsterziehung  der  Menschheit  die  Führung 
zu  übernehmen.  Mit  Fichtes  Beschwörung  an  alles  Deutsche,  in  der 
schwersten  Stunde  seiner  erhabenen  Sendung  doppelt  eingedenk  zu 
sein,  schließt  das  Buch,  indem  es  den  Blick  von  der  Vergangenheit 
auf  die  Gegenwart  lenkt.  Das  gewaltige  Ringen,  in  welchem  heute  das 
deutsche  Volk  um  seine  Existenz  noch  einmal  kämpft,  möchte  den 
Tag  heraufführen,  da  der  Traum  Fichtes  sich  erfüllt  und  seine  Mission 
sich  vollendet.  In  dem  Charakter  des  Buches,  das  ein  Bekenntnis 
ist  und  in  unsern  Herzen  die  Glut  der  heiligen  Begeisterung  für 
das  von  Fichte  erschaute  höhere  Menschentum  und  das  vollendete 
Deutschtum  entfachen  will,  liegt  es,  daß  es  ein  eigentliches  Ge- 
schichtswerk nicht  ist.  Zwar  treten  Kant  und  Rousseau  als  die  Vor- 
aussetzungen Fichtes  hervor,  Pestalozzis  Einfluß  wird  gestreift,  die 
Aufklärung,  wie  sie  Fichte  als  Hintergrund  seiner  Lebensarbeit  emp- 
fand, skizziert,  die  Frage  der  inneren  Entwicklungsgeschichte  Fichtes 
hier  und  da  (vor  allem  bei  der  Wendung  nach  dem  Atheismus- 
streit) berührt.  Aber  all  das  nur  andeutungsweise,  nur  so  weit,  als 
es  zu  dem  sachlichen  Verständnis  der  Gedankenwelt  Fichtes  erfor- 
derlich ist.  Das  Buch  teilt  mit  einem  plastischen  Kunstwerk  die 
Eigenart,  daß  es  gleichsam  in  keiner  Zeit  und  in  keinem  Räume 
ruht,  aber  dafür  uns  des  inneren  Lebens  und  der  Geschlossenheit  von 
Fichtes  Schöpfung  in  ihrer  zeitlosen  Bedeutung  teilhaftig  werden 
läßt.  Auch  kann  Bergmanns  Auffassung  von  Fichte  wissenschaftlichen 
Einwänden  unterworfen  werden.  Vor  allem  fällt  das  Zurücktreten  der 
Wissenschaftslehre,  an  der  Fichte  unermüdlich  als  der  Grundlage 
seiner  gesamten  Weltanschauung  arbeitete,  auf;  der  Verfasser  bezeichnet 
sie  einmal  sogar  als  „abstrus"  (S.  65)  und  muß  doch  ein  anderes  Mal 
(S.  253)   zugestehen,   daß   Fichtes    Erziehung   „Bildung  zur   Weltan- 


156  Notizen  und  Nachrichten. 

schauung  der  Wissenschaftslehre'^  ist.  Dadurch  wird  das  Bild  des 
Mannes,  der  ein  Reformator  und  ein  Denker,  und  zwar  ein  Denker 
von  unerhörtem  Radikalismus  war,  beträchtlich  verkürzt  und  viel- 
leicht auch  auf  eins  der  Mittel,  die  reformatorische  Tätigkeit  Fichtes 
in  ihrer  ganzen  Tiefe  zu  erfassen,  verzichtet.  Aber  das  ist  eine  Ange- 
legenheit der  spezielleren  wissenschaftlichen  Fichteforschung,  die  ge- 
wiß von  dem  Verfasser  als  einem  der  besten  Kenner  Fichtes  noch 
manche  Förderung  zu  erwarten  hat.  So  wie  das  Buch  vorliegt,  ist  es 
jedenfalls  eine  der  schönsten  Erscheinungen,  welche  die  durch  die  Stim- 
mung der  Zeit  stark  gehobene  Fichteliteratur  aufzuweisen  hat. 

Halle  a.  S.  Max  Frischeisen-Köhler. 

Hermann  Reincke-Bloch,  Fichte  und  der  deutsche  Geist 
von  1914.  Verlag  von  H.  Warkentiens  Buchhandlung,  Rostock  i.  Meckl. 
31  S.  Preis  0,70  M.  —  Die  Rede  möchte  Fichte  als  den  Wegbereiter 
für  den  nationalen  Staat  schildern.  Fichte  zuerst,  so  zeigt  der  Ver- 
fasser, hat  die  europäische  Entwicklung  seit  dem  Untergang  der  alten 
Welt  in  ihrer  Einheit  gesehen  und  die  römisch-germanischen  Völker 
als  die  Teile  einer  gemeinsamen  Nation  und  als  die  Träger  der  Welt- 
bildung vom  5.  bis  zum  19.  Jahrhundert  begriffen.  Von  dieser  An- 
schauung aus,  deren  Beziehung  zu  Rankes  Geschichtschreibung  bedeut- 
sam hervorgehoben  wird,  bahnt  sich  Fichte  den  Weg,  um  die  besondere, 
schlechthin  überragende  Stellung  darzutun,  die  den  Deutschen  als 
dem  rein  germanischen  Hauptvolk  für  die  Geschichte  der  Menschheit 
zukommt.  Hierbei  ist  entscheidend,  daß  Fichte  von  dem  deutschen 
Geist  die  Brücke  zu  dem  deutschen  Staat  schlägt  und  somit  das  Staats- 
bürgertum der  neuen  Zeit  mit  dem  humanistischen  Bildungsideal  der 
klassischen  Dichtung  und  Philosophie  verknüpft. 

Halle  a.  S.  Max  Frischeisen- Köhler. 

Wilhelm  Erben,  Fichtes  Universitätspläne.  Innsbruck  1914, 
Druck  und  Verlag  der  deutschen  Buchdruckerei.  73  S.  —  Ein  ausge- 
zeichneter Beitrag  zur  Universitätsgeschichte  des  schon  vielfach  um 
sie  verdienten  Verfassers!  Es  wird  in  sorgfältiger  und  überzeugender 
Beweisführung  gezeigt,  daß  die  uns  handschriftlich  überlieferte  Fassung 
von  Fichtes  „Ideen  für  die  innere  Organisation  der  Universität  Er- 
langen" entweder  der  ursprüngliche  Text  der  Altensfein  überreichten 
Denkschrift  ist  oder  diesem  ursprünglichen  doch  näher  kommt  als  der- 
jenige Text,  den  Fichtes  Sohn  in  den  Werken  veröffentlichte.  Durch 
den  Rückgang  auf  die  im  Anhang  der  Schrift  abgedruckte  handschrift- 
liche Fassung  wird  es  erst  möglich,  die  Bedeutung  des  Erlanger  Planes 
für  die  Universitätsgeschichte,  aber  auch  für  die  der  politischen  An- 
schauungen zu  bestimmen.  Endlich  zeigt  der  Verfasser,  daß  der  1807 
entstandene  „Deduzierte  Plan  einer  zu  Berlin  zu  errichtenden  höheren 


Alte  Geschichte.  157 

Lehranstalt",  der  in  seinen  Einzelheiten  bisher  zumeist  als  willkür- 
liches Produkt  spekulativer  Phantasie  erschien,  wesentliche  Gedanken 
von  Oxford  und  Cambridge  übernommen  und  mit  Wahrnehmungen 
aus  Tübingen  und  Pforta  vereinigt  hat. 

Halle  a.  S.  Max  Frischeisen-Köhler. 

Neue  Bücher:  Aufsätze  zur  Kultur-  und  Sprachgeschichte  vor- 
nehmlich des  Orients.  Ernst  Kuhn  zum  70.  Geburtstage  am  7.  Febr. 
1916  gewidmet  von  Freunden  und  Schülern.   (Breslau,  Marcus.   25  M.) 

—  Israel,  Brandenburgisch-preußische  Geschichte.  1.  Bdch.  (Leipzig, 
Teubner.  1  M.)  —  Salomon,  Der  britische  Imperialismus.  Ein  ge- 
schichtlicher Überblick  über  den  Werdegang  des  britischen  Reiches 
vom  Mittelalter  bis  zur  Gegenwart.  (Leipzig,  Teubner.  3  M.)  — 
Hruschewskyj,  Geschichte  der  Ukraine.    1.  Tl.   (Wien,  Frick.   5  M.) 

—  Garretto,  Storia  degli  Stau  Uniti  deW America  del  Nord  {1492 — 1914). 
{Milano,  Hoepli.)  —  Mc  Cabe,  Crises  in  the  history  of  the  papacy. 
(New  York  and  London,  Putnam.)  —  Ed.  Mahler,  Handbuch  der 
jüdischen  Chronologie.    (Leipzig,  Fock.    12  M.) 

Alte  Geschichte. 

In  dem  erst  jetzt  ausgegebenen  Heft  4  von  Kilo  14  ist  eine  reiche 
Zahl  von  Arbeiten.  W.  S.  Ferguson:  The  Introduction  of  the  Secre- 
tary-Cycle  (Nachträge  und  Verbesserungen  zu  seinem  Buche:  Athenian 
Secretaries,  wobei  der  Nachweis,  daß  the  secretary-cycle  started  with 
Kekropis  in  356/5  B.  C.  besonders  wichtig  ist);  L.  Weniger:  Die 
monatliche  Opferung  in  Olympia.  2.  Die  Prozession;  J.  L.  Myres 
und  K.  T.  Frost:  The  historical  background  of  the  Trojan  war -jT.  Walek: 
Über  das  aitolisch-akarnanische  Bündnis  im  3.  Jahrhundert;  L.  Bor- 
chardt:  Die  diesjährigen  deutschen  Ausgrabungen  in  Ägypten  (1913/14) 
und  die  diesjährigen  (1913/14)  Ausgrabungen  des  Egypt  Exploration 
Fund  in  Ägypten;  H.  Dessau:  Zur  Stadtverfassung  von  Tusculum; 
E.  Kornemann:  Die  Dreibeamtenzahl  in  Italien. 

In  der  Wiener  Zeitschrift  für  die  Kunde  des  Morgenlandes  29,  3/4 
sind  unter  den  Joseph  v.  Karabacek  zum  70.  Geburtstag  gewidmeten 
Arbeiten  einige  Aufsätze,  die  hier  nicht  übergangen  werden  dürfen. 
B.  Geiger:  Zum  Postwesen  der  Perser;  Fr.  Hrozny:  Zum  ältesten 
sumerischen  Ackerbau;  H.  v.  Mzik:  Die  Gideon-Saullegende  und  die 
Überlieferung  der  Schlacht  bei  Badr.  Ein  Beitrag  zur  ältesten  Ge- 
schichte des  Islam;  N.  Reich:  Zur  neueren  Literatur  über  die  heiligen 
Tiere  des  alten  Ägyptens;  A.  Musil:  Verkehrswege  über  Samävar 
zwischen  al-'Eräk  und  Syrien.    Mit  einer  Karte. 

In  The  American  Journal  of  Semitic  languages  and  litteratures 
32,  4  (Juli  1916)  finden  sich  einige  Aufsätze,  die  förderlich  und  lesens- 


158  Notizen  und  Nachrichten. 

wert  sind,  und  zwar  von  J.  H,  Breasted:  The  physical  processes  of 
writing  in  the  early  Orient  and  their  relation  to  tfie  origin  of  the  alpfiabet; 
J.  H.  Price:  Some  observations  on  the  financial  importance  of  the  Temple 
in  the  first  dynasty  of  Babylon. 

Im  Philologus  73,  4  sind  beachtenswerte  Arbeiten  von  A.  Stiefen- 
hofer:  Die  Echtheitsfrage  der  biographischen  Synkriseis  Plutarchs, 
worin  für  deren  Echtheit  mit  guten  Gründen  eingetreten  wird;  W.  Sol- 
tau, Zur  römischen  Verfassungsgeschichte,  und  zwar  1.  Epochen  der 
Verfassungsentwickiung,  2.  Die  Stiftung  der  21  römischen  Tribüne, 
3.  Die  Einführung  des  Konsulartribunats,  4.  Comitia  tributa;  E.  Som- 
merfeldt:  Zur  Frage  nach  der  Lebensstellung  des  Geschichtschreibers 
Herodian. 

In  den  Neuen  Jahrbüchern  für  das  klassische  Altertum  19,  8 
veröffentlicht  A.  Mentz  einen  Aufsatz:  Das  Fortwirken  der  römischen 
Stenographie,  der  auch  für  die  römische  Geschichte  mancherlei  Auf- 
schlüsse bietet.  Weiter  behandelt  B.  Lembke:  Justinians  pragmatische 
Sanktion  über  Italien  (554). 

Namentlich  im  Hinblick  auf  Ptolemäus  sei  auf  die  sorgfältigen 
Untersuchungen  von  Th.  Langenmaier:  Alte  Kenntnis  und  Karto- 
graphie der  zentralafrikanischen  Seenregion  hingewiesen.  Mitteilungen 
der  Geograph.  Ges.  zu  München  14,  1. 

In  der  Mnemosyne  44,  3  fährt  W.  Vollgraff  fort,  die  von  ihm 
gefundenen  Inschriften  aus  Argos  zu  veröffentlichen,  worunter  ein 
höchst  beachtenswertes  Decretum  in  honorem  civitatis  Rhodiorum  ist, 
das  Vollgraff  gut  kommentiert. 

In  den  Sitzungsberichten  der  Kgl.  Preußischen  Akademie  1916, 
39/40  handelte  Ed.  S  ach  an  vom  Christentum  in  der  Persis,  dessen 
Ursprung  besonders  im  Zusammenhang  mit  den  Kriegen  der  Perser 
unter  Sapores  I.  gegen  die  Römer  und  mit  der  Deportation  syrischer 
Christen  in  die  Stammprovinz  der  persischen  Könige  dargelegt  wird. 

Im  American  Journal  of  archaeology  setzt  W.  A.  Oldfather 
seine  dankenswerten  Studies  in  the  history  and  topography  of  Locris  U 
fort.  Ebenda  veröffentlicht  J.  C.  Rolfe:  Latin  inscriptions  at  the  Uni- 
versity  of  Pennsylvania  und  A.  L.  Frothingham  eine  mit  vielen 
Abbildungen  versehene  Abhandlung:  Babylonian  origin  of  Hermes 
the  snakegod,  and  of  the  caduceus. 

Aus  dem  American  Journal  of  Theology  20,  3  notieren  wir 
E.  F.  Scott:  The  Hellenistic  mysticism  of  the  fourth  gospel. 

Nachdrücklich  sei  hingewiesen  auf  den  Aufsatz  von  E.  Bickel: 
Das  asketische  Ideal  bei  Ambrosius,  Hieronymus  und  Augustin  in  Neue 
Jahrbücher  f.  d.  klassische  Altertum  19,  7. 


Alte  Geschichte.  1S9 

Die  griechischen  Nachrichten  über  Indien  bis  zum  Feldzuge 
Alexanders  des  Großen,  eine  Sammlung  der  Berichte  und  ihre  Unter- 
suchung, Von  Wilhelm  Reese.  Leipzig,  Teubner,  1914.  106  S.  — 
Die  Grundlage  der  griechischen  Kenntnisse  bildete  die  Erkundungs- 
fahrtj  die  Skylax  von  Karyanda  auf  Befehl  des  Darius  unternahm. 
Nach  ihm  sind  die  wichtigsten  Quellen  Hekatäos,  Herodot  und  Ktesias. 
Die  gediegenen  Ausführungen  des  auch  des  Sanskrits  kundigen  Ver- 
fassers seien  der  verdienten  Beachtung  empfohlen.  Geizer. 

Prosopographie  der  Beamten  des  ''A^aivotrrjs  vofiös  in  der  Zeit 
von  Augustus  bis  auf  Diokletian.  Vno  Franz  Paulus,  Greifswalder 
Dissertation  1914.  148  S.  —  Es  ist  eine  sehr  wertvolle  Arbeit,  die  hier 
von  einem  Schüler  Walter  Ottos  geboten  wird.  Derartige  statistische 
Zusammenstellungen  bilden  eine  Vorbedingung  für  die  wissenschaft- 
liche Verwertung  der  reichen  Papyrusschätze  Ägyptens.  Den  Haupt- 
teil bildet  eine  alphabetische  Aufzählung  sämtlicher  Personen,  die  im 
Arsinoitesgau  (dem  heutigen  Fajum)  im  öffentlichen  Dienst  gestanden 
haben.  Dieses  Register  wird  ergänzt  durch  chronologische  Listen  für 
häufiger  begegnende  Dienststellen  und  durch  eine  alphabetische  Ver- 
einigung aller  Dienststellen,  deren  Vertreter  jeweils  chronologisch  und 
geographisch  geordnet  sind.  Vorausgeschickt  hat  Paulus  eine  Zu- 
sammenfassung der  statistischen  Resultate.  Hier  wie  im  Titel  nennt 
er  die  von  ihm  behandelten  Personen  „Beamte".  Nicht  ganz  korrekt 
zählt  er  hierzu  auch  zum  Sicherheitsdienst  im  Inlande  abkommandierte 
Offiziere  und  Unteroffiziere.  Mir  schiene  überhaupt  zweckmäßig,  den 
Ausdruck  „Beamte"  zu  ersetzen  durch  „öffentlich  Bedienstete"  oder 
„im  öffentlichen  Dienst  stehende  Personen".  Der  „Beamte"  erweckt 
in  uns  die  Vorstellung  eines  Mannes,  der  sich  durch  seinen  Beruf  in 
geachteter  und  ökonomisch  gesicherter  Lage  befindet.  Diese  Vorstel- 
lung ist  hinsichtlich  ägyptischer  Gauverwaltung  der  frühern  Kaiser- 
zeit nur  für  die  obersten  Behörden,  die  Strategen  und  „königlichen 
Schreiber"  zutreffend.  Alle  andern  werden  von  der  Regierung  zu  ihren 
Diensten  zwangsmäßig  eingezogen,  vielfach  zu  ihrer  schweren  wirt- 
schaftlichen Schädigung,  da  sie  mit  ihrem  Vermögen  für  ihre  Dienst- 
verrichtungen, z.  B,  Steuererhebung,  haften.  Mit  der  Munizipalisierung 
der  Gauhauptorte  im  Jahre  202  griff  dieser  Zustand  auch  weiter  auf 
die  ursprünglich  als  Ehrenämter  bekleideten  städtischen  Würden 
und  neugeschaffenen  Ratsherrnstellen,  Die  Vollendung  des  Systems 
war  der  spätrömische  Staatssozialismus,  wobei  der  Idee  nach  mit  Aus- 
nahme einiger  Privilegierter  die  ganze  Bevölkerung  des  Reichs  im 
Staatsdienste  stand  oder  für  den  Staat  arbeitete.  Geizer. 

Neue  Bücher:  Pais,  Ricerche  sulla  storia  e  sul  diritto  pubblico 
di  Roma.    Serie  seconda:  sui  fasti  consolari.    {Roma,  Loescfier  &  Co. 


160  Notizen  und  Nachrichten. 

15  L.)  —  Harr  er ,  Studies  in  the  history  of  the  roman  province  of  Syria. 
(Princeton,  Princeton  Univ.  Press.  0,73  Doli.)  —  Bihlmeyer,  Die 
„syr."  Kaiser  zu  Rom  (211 — 35)  und  das  Christentum.  (Rottenburg, 
Bader.     3  M.) 


Römisch-germanische  Zeit  und  frühes  Mittelalter  bis  1250. 

Das  Römisch-germanische  Korrespondenzblatt  IX,  Nr.  3  bringt 
Bemerkungen  von  Johann  Schmaus  zu  Ludwig  Schmidts  Geschichte 
der  deutschen  Stämme  bis  zum  Ausgange  der  Völkerwanderung,  von 
denen  namentlich  die  Gleichsetzung  der  Chauken,  die  nicht  in  den  Sach- 
sen aufgegangen  seien,  mit  den  Franken  Beachtung  verdient;  ist  da- 
gegen die  Herleitung  eines  bayerisch-dialektischen  Ausdrucks  „Latinl" 
oder  „Latirl"  aus  der  Zeit  der  Unterwerfung  der  römischen  Provinzial- 
bevölkerung  durch  die  iVlarkomannen-Bayern  mit  den  daran  geknüpf- 
ten siedlungsgeschichtlichen  Schlüssen  überhaupt  ernst  zu  nehmen? 
J.  B.  Keune,  Hercules  Saxsetanus,  bespricht  ein  durch  unsere  Krieger 
bei  Metz  zutage  gefördertes  Denkmal.  In  kleinen  Ausführungen  handelt 
Quilling  über  „Neptun  mit  dem  Pelikan"  auf  dem  Obernburger 
Votivstein  und  über  das  Marsrelief  vom  Feldbergkastell,  G.  Behrens 
über  eine  Reibschüssel  mit  Stempel  aus  Kreuznach,  die  ihm  einen 
Beleg  für  Bormitomagus  als  ursprüngliche  Namensform  von  Worms 
liefert.  Ebenda  Nr.  4  versucht  Franz  Cramer,  Mercurius  Susurrio 
—  'E^fiTjs  Tid-vQiaTr,?  sich  weiter  an  der  Erklärung  des  von  ihm 
schon  in  der  Zeitschrift  des  Aachener  Geschichtsvereins  37  (s.  H.  Z. 
116,  526)  besprochenen  Inschriftsteines  vom  Aachener  Münster. 
F.  Reinecke  beschreibt  die  Reste  eines  römischen  Meierhofes  bei 
Burgweinting  unweit  von  Regensburg,  dessen  Zerstörung  oder  Auf- 
lassung er  in  die  1.  Hälfte  des  3.  Jahrhunderts  setzt.  O.  Tschumi 
bespricht  eine  römische  Bronzestatuette  mit  aufsitzendem  Bacchus 
oder  Amor  aus  Lugano,  Dr.  Körber  ergänzt  römische  Inschrift- 
fragmente aus  Mainz  zu  einer  Erwähnung  der  leg.  XVI,  G.  Behrens 
behandelt  „Bronzefigürchen  eines  trauernden  Gefangenen"  aus  Straß- 
burg, Köln  und  Mainz,  Karl  Wigand  „Genius  und  Juno"  auf  gallischen 
Denkmälern,  besonders  aus  Autun,  und  R.  Forrer  weist  auf  Spuren 
des  Mithrakults  und  einer  römischen  Sigillatatöpferei  in  Altenstadt 
bei  Weißenburg  i.  E.  hin. 

Lesenswerte  Bemerkungen  über  „Ostdeutschlands  slavische 
Namensgebung"  von  Alexander  Brückner  bringen  die  Deutschen 
Geschichtsblätter  1916,  4.  Heft.  Nicht  aus  slavischen  Wörterbüchern, 
sondern  aus  den  fertigen,  rein  slavischen  Ortsnamen  muß  man  die 
slavisch-deutschen  Ortsnamen  deuten,  die  oft  schon  in  der  ältesten 


Frühes  Mittelalter.  161 

Überlieferung  bis  zur  Unkenntliclikeit  entstellt  sind.  Fast  zwei  Drittel 
der  slavischen  Ortsnamen  sind  aus  Personennamen  gebildet,  können 
also  nicht  weiter  übersetzt  werden.  Die  Ableitung  erfolgt  in  verschie- 
dener Weise,  aber  es  handelt  sich  nur  um  grammatische,  nicht  um 
siedlungsgeschichtlich  verwertbare  Unterschiede.  „Der  positive  Er- 
trag, den  diese  ganze  Namengebung  liefert,  ist  ein  minimaler";  zu  ihrer 
Erforschung  sind  ausschließlich  die  Philologen,  die  sich  bisher  nur 
sehr  wenig  daran  beteiligt  haben,  Slavisten  und  ev.  auch  Germanisten, 
wo  es  sich  um  fälschlich  als  slavisch  angesprochene  deutsche  Namen 
handelt,  berufen.  •  j^|    , 

Das  Archiv  für  Urkundenforschung  VI,  1.  Heft  bringt  neben 
kleineren  „Beiträgen  zu  den  Tironischen  Noten  im  Mittelalter"  von 
Arthur  Mentz,  aus  denen  ein  Verzeichnis  der  Zeichen  der  Silbentachy- 
graphie  in  Oberitalien  und  Vorschläge  zur  Gliederung  der  lateinischen 
Stenographiesysteme  erwähnt  seien,  zwei  wichtige  Arbeiten  von  Breß- 
lau  und  Boye,  die,  beide  durch  eine  nicht  gewöhnliche  Weite  des  Blicks 
ausgezeichnet,  allgemeinen  Interesses  sicher  sein  dürfen.  H.  Breßlau 
behandelt  mit  der  sichern  Hand  des  Altmeisters  „Internationale  Be- 
ziehungen im  Urkundenwesen  des  Mittelalters".  Er  verfolgt  zunächst 
die  wenigen  Spuren  byzantinischen  Einflusses  auf  das  fränkische  und 
deutsche  Urkundenwesen,  wobei  ich  auf  die  Bemerkungen  über  den 
Kaisertitel  besonders  hinweise,  legt  dann  ausführlicher  die  Wechsel- 
beziehungen zwischen  deutscher  Königs-  und  Papsturkunde  dar,  nicht 
ohne  kurz  die  Einwirkungen  der  letzteren  außerhalb  Deutschlands 
zu  erwähnen,  und  schildert  schließlich,  von  dem  Einfluß  der  deutschen 
Kaiserurkunde  auf  die  engere  und  weitere  Nachbarschaft  ausgehend, 
nach  einem  raschen  Blick  auf  Unteritalien  und  Frankreich  und  das 
zunächst  ganz  von  Deutschland  her  befruchtete  und  erst  seit  dem 
Ende  des  12.  und  der  2.  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts,  auch  unter  Ein- 
wirkung der  Papsturkunde,  etwas  selbständiger  entwickelte  Urkunden- 
wesen der  Herrscher  Ungarns  und  Polens,  eingehend  die  sich  kreuzen- 
den deutschen  und  englischen  Einwirkungen  auf  die  Diplomatik  der 
skandinavischen  Reiche.  Die  Bedeutung  der  politischen  Verhältnisse 
und  ihrer  Verschiebungen  für  die  Bildung  und  Entwicklung  des  kul- 
turellen Lebens  tritt  hier  an  dem  Beispiel  der  wechselnden  Formen  und 
Gebräuche  der  Königsurkunden  aufs  lehrreichste  zutage.  Für  Nor- 
wegen ist  die  altenglische  Königsurkunde  lange  das  maßgebende  Vor- 
bild geblieben,  auch  in  dem  Gebrauch  der  heimischen  (altnordischen) 
Sprache  statt  des  Lateins.  In  den  dänischen  und  schwedischen  Königs- 
urkunden ist  dagegen  ein  etwaiger  englischer  Einfluß,  der  wohl  nur 
für  Dänemark  im  früheren  11.  Jahrhundert  wahrscheinlich  ist,  be- 
reits im  12.  Jahrhundert  durch  den  der  deutschen  Nachbarn  und 
der  päpstlichen  Kanzlei  verdrängt.  Auch  der  Nachweis  des  engen,, 
Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  1 1 


162  Notizen  und  Nachrichten. 

ungebrochenen  Zusammenhanges  zwischen  dem  angelsächsischen  und 
dem  anglonormannischen  Urkundenwesen  ist  nicht  nur  von  diploma- 
tischem Interesse.  Bei  den  Angelsachsen  ist  zuerst  das  hängende 
Wachssiegel  zur  Beglaubigung  der  königlichen  Writs  gebraucht;  von 
hier  aus  ist  diese  Form  der  Beglaubigung  erst  verhältnismäßig  spät 
nach  Frankreich  und  von  dort  im  Laufe  des  12.  Jahrhunderts  nach 
Deutschland  übertragen  worden.  Von  Otto  von  Freising  als  Ver- 
mittler wird  freilich  meines  Erachtens  lieber  nicht  gesprochen,  da  die 
von  Striedinger  ihm  zugewiesene  Urkunde  mit  Hängesiegel  ebensogut 
seinem  zweiten  Nachfolger  Otto  II.  (1184 — 1220)  angehören  kann.  Daß 
ähnliche  Erscheinungen  im  Urkundenwesen  nicht  immer  notwendig 
auf  Entlehnung  gedeutet  werden  dürfen  und  die  Möglichkeit  selb- 
ständiger Entwicklung  in  gleicher  Richtung  unter  ähnlichen  Bedin- 
gungen stark  in  Anschlag  zu  bringen  ist,  wird  an  der  Geschichte  des 
Doppel-  oder  Münzsiegels  gezeigt,  das  in  England  von  Knut  dem  Großen 
als  Symbol  seines  britisch-dänischen  Doppelkönigtums  geschaffen 
und  von  dort  nach  Dänemark  und  Skandinavien  überhaupt  übertragen, 
anderwärts  aber,  wie  früher  in  den  langobardischen  Fürstentümern 
Unteritaliens  und  später  in  Österreich  und  Böhmen,  unabhängig  aus- 
gebildet worden  sei.  Ein  Anhang  beschäftigt  sich  mit  den  fast  sämtlich 
mehr  oder  weniger  stark  verunechteten,  zum  Teil  ganz  gefälschten 
Urkunden  Stephans  I.  von  Ungarn.  Breßlaus  lehrreiche  Untersuchung 
ist  für  den  allgemeinen  Historiker  ebenso  wichtig  wie  für  den  Diplo- 
matiker  von  Fach.  Sie  wird  sehr  wesentlich  zur  Vertiefung  und  Ver- 
breitung der  Erkenntnis  beitragen,  daß  die  oft  berufene  „Einheitlich- 
keit" der  mittelalterlichen  Kultur  auf  einem  sehr  realen  Untergrunde 
regsten  und  mannigfaltig  gegliederten  Verkehrs  zwischen  Völkern 
und  Staaten  erwachsen  ist.  —  Die  Arbeit  von  Fritz  Boye  „Über  die 
Pönformeln  in  den  Urkunden  des  früheren  Mittelalters"  ist  eine  Ber- 
liner Dissertation  aus  der  Schule  von  M.  Tangl.  Sie  ließ  von  ihrem 
Verfasser,  der  seit  den  schweren  Kämpfen  in  Flandern  im  November 
1914  verschollen  ist,  für  das  wichtige  und  schwierige  Grenzgebiet 
diplomatischer  und  rechtsgeschichtlicher  Forschung  sehr  Tüchtiges 
erwarten.  Er  geht  im  Gegensatz  zu  früheren  juristischen  Behand- 
lungen des  Themas  von  der  Form  der  Strafklausel  in  Privat-,  Königs- 
und Papsturkunden  aus,  ohne  sich  aber  auf  die  rein  formale  Feststellung 
ihrer  Veränderungen  zu  beschränken;  im  Gegenteil  tritt  überall  der 
energische  Versuch,  den  Gang  der  Entwicklung  sachlich  zu  begreifen, 
entschieden  in  den  Vordergrund.  Mit  ihren  scharf  und  klar  heraus- 
gearbeiteten Sätzen  wird  seine  Arbeit  auch  dort  fruchtbar  wirken, 
wo  sie  noch  nicht  das  letzte  Wort  gesprochen  hat.  Sie  beginnt  mit 
einem  sehr  bemerkenswerten  Versuch,  den  Zusammenhang  der  grie- 
chischen mit  der  spätrömischen  und  fränkischen  Urkunde  unter  Zu- 


Frühes  Mittelalter.  163 

sammenfassung  der  Einzelergebnisse  der  Papyrusforschung  in  das 
rechte  Licht  zu  stellen.  Die  fränkischen  und  italischen  Pönformeln 
des  früheren  Mittelalters  müssen  durch  Vermittelung  der  spätrömischen 
Urkunde  von  den  griechischen  Formeln  stark  beeinflußt  sein.  Sie  stam- 
men, soweit  sie  Vermögensstrafen  androhen,  aus  der  griechischen  Fön 
und  der  römischen  Eviktionsformel,  die  sich  in  spätrömischer  Zeit 
verbunden  haben.  Die  Einwirkungen  der  griechischen  Urkunde  auf 
die  spätrömische  sind  überhaupt  bedeutend  größer  gewesen,  als  dies 
seinerzeit  in  Brunners  Darstellung  zum  Ausdruck  gelangen  konnte. 
Der  Wunsch  einer  systematischen  Untersuchung  über  die  gegenseitigen 
Beziehungen  beider  wird  gewiß  nicht  lange  auf  Erfüllung  zu  warten 
haben;  die  Spärlichkeit  des  römischen  Materials  wird,  wie  Boyes  Vor- 
gehen zeigt,  durch  vorsichtige  Heranziehung  der  frühmittelalterlichen 
Urkunden  etwas  ausgeglichen  werden  können.  Im  frühen  Mittelalter 
spielt  die  Pönformel  ihre  Hauptrolle  im  Privaturkundenwesen,  wes- 
halb Königsurkunde  und  Papsturkunde  zum  Schluß  nur  kurz  gestreift 
werden.  Die  Einwirkungen  einer  von  der  römischen  abweichenden 
germanischen  Rechtsanschauung  werden  neben  der  außerordentlichen 
Starrheit,  mit  der  sich  viele  Ausdrucksformen  der  spätrömischen 
Strafklauseln  in  den  fränkischen  erhielten,  nachdrücklich  hervorge- 
hoben. Androhung  geistlicher  Strafen  findet  sich  zuerst  in  den  Ur- 
kunden der  Päpste,  Bischöfe  usw.;  für  die  Umbildung  der  spätrömi- 
schen Konventionalstrafe  zu  einer  Strafe  gegen  jeden  Dritten,  wie 
sie  nördlich  der  Alpen  und  in  Spanien  eintritt,  dürfte  dieser  geistlichen 
Pön  keine  große  Bedeutung  zukommen.  Boye  hat  sein  Thema  fest 
in  den  rechtshistorischen  und  diplomatischen  Zusammenhängen  ver- 
ankert und  in  großen  Zügen  ein  wertvolles  und  anregendes  Bild  der 
Entwicklung  von  der  ausgehenden  Antike  bis  zum  Beginn  des  10.  Jahr- 
hunderts entworfen.  Möchte  eine  wünschenswerte  Fortsetzung,  die 
freilich  erheblich  mehr  rein  diplomatische  Arbeit  erfordert,  ohne  viel- 
leicht an  gleich  grundlegende  Fragen  sachlicher  Natur  zu  rühren,  von 
ähnlich  berufener  Feder  gegeben  werden!  A.  Hofmeister. 

Das  Bullettino  dell' Istituto  storico  Italiano,  Nr.  34,  Rom  1914, 
enthält  neben  kleinen  Mitteilungen  von  P.  Egidi  über  eine  Urkunde 
aus  Corneto  von  976  und  über  den  Liber  Fraternitatis  S.  Spiritus  et 
S,  Mariae  in  Saxia  de  Urbe  (aus  dem  15.  Jahrh.)  sehr  gründliche  Erläu- 
terungen von  L.  Schiaparelli  zu  der  von  ihm  für  die  Font i  per  la 
storiad'Italia  bearbeitete  Ausgabe  der  Urkunden  der  italienischen  Könige 
Hugo  und  Lothar  (/  diplomi  dei  re  d'Italia.  Ricerche  storico-diplomatiche. 
Parte  V.  I  diplomi  di  Ugo  e  di  Lotario).  Er  behandelt:  1.  das  Itinerar 
Hugos  als  Königs  von  Italien;  2.  die  Kanzlei;  3.  das  Formular  der 
Urkunden;  4.  die  Datierung;  5.  einige  allgemeine  und  besondere  Cha- 
rakteristika (a)  äußere  Kennzeichen,  b)  Diktat,  namentlich  mit  Rück- 

11* 


164  Notizen  und  Nachrichten. 

Sicht  auf  Vorlagen,  c)  Erwähnung  der  Verwandten,  d)  Privatbesitz); 
6.  Fälschungen  und  Interpolationen.  Seine  Ausführungen  dürfen 
von  keinem  übersehen  werden,  der  sich  bemüht,  das  über  der  Ge- 
schichte Italiens  und  Burgunds  im  frühen  10.  Jahrhundert  lastende 
Halbdunkel  aufzuhellen.  Daß  seine  Annahmen  und  Schlüsse  häufig 
Zweifel  oder  Widerspruch  wecken,  ist  bei  der  trostlosen  Beschaffen- 
heit des  Materials  kaum  anders  möglich.  Es  muß  freilich  davor 
gewarnt  werden,  zu  viel  indirekt  aus  den  zufällig  erhaltenen  Ur- 
kunden (von  Hugo  oder  Hugo  und  Lothar  83,  von  Lothar  allein  16) 
erschließen  zu  wollen.  Der  Bericht  der  Miracula  s.  Apollinaris  (auch 
gedruckt  im  Catalogus  Paris,  der  Bollandisten  II,  93  f.)  ist  m.  E. 
trotz  Poupardin  und  Schiaparelli  sicher  auf  Hugos  ersten  mißglückten 
Zug  nach  Italien  zu  beziehen,  dessen  Zeit  dadurch  (und  vielleicht 
durch  die  Urkunde  Berengars  I.  vom  19.  September  913)  auf  912/13 
bestimmt  wird.  Über  den  Zeitpunkt  der  Verschwörung  Walperts 
von  Pavia  und  seiner  Genossen  und  die  Pfalzgrafen  Giselbert  und 
Samson  vgl.  auch  meine  Schrift  über  ,,Die  heilige  Lanze",  S.  19  ff. 
Bei  der  zeitlichen  Ansetzung  der  Züge  Hugos  gegen  Rom  wird  die 
Reihenfolge  innerhalb  der  einzelnen  Jahresberichte  in  Flodoards 
Annalen  nicht  genügend  beachtet.  Auch  bei  der  Darstellung  der  Er- 
eignisse in  Toskana  ließe  sich  wohl  manches  mit  größerer  Wahrschein- 
lichkeit anders  fassen.  Starke  Bedenken  macht  er  gegen  Liudprands 
Erzählung  von  dem  Vertrage  zwischen  Hugo  und  Rudolf  II.  von  Hoch- 
burgund  über  Südburgund  (Provence)  geltend.  Schiaparelli,  der  sich 
dabei  allerdings  zu  Unrecht  auf  Koepke  bezieht,  vermutet  eine  Ver- 
wechslung mit  der  Überlassung  Viennes  an  Odo  von  Vermandois  und 
den  gleichzeitigen  Besprechungen  Hugos  mit  Rudolf  von  Frankreich 
928,  wovon  Flodoard  berichtet.  Er  trifft  hier  mit  dem  zusammen, 
was  ich  bereits  1912  in  den  Sitzungsberichten  der  Berliner  historischen 
Gesellschaft  (Mitteilungen  aus  der  historischen  Literatur  XL)  kurz 
skizziert  und  in  meiner  gleichzeitig  mit  oder  kurz  vor  Schiaparellis 
Abhandlung  erschienenen  Schrift  über  „Deutschland  und  Burgund 
im  früheren  Mittelalter"  des  näheren  ausgeführt  habe;  auch  in  der 
Beurteilung  von  Hugos  Stellung  zu  den  südburgundischen  Gebieten 
nach  Ludwigs  des  Blinden  Tode  sind  wir  einig.  Für  die  Chronologie 
ist  seine  Annahme  von  Interesse,  daß  nicht  selten  das  Regierungsjahr 
zugleich  mit  der  christlichen  Jahrzählung  umgesetzt  sei.  Man  wird 
diese  Möglichkeit  überhaupt  mehr  im  Auge  behalten  müssen,  bis  reich- 
lichere Beobachtungen  festere  Anhaltspunkte  für  die  Beurteilung 
geschaffen  haben.  Hugos  Tod  setzt  Schiaparelli  ins  Jahr  948,  statt 
947;  das  verlangt  genaue  Nachprüfung,  ohne,  wie  mir  ^eint,  bereits 
bewiesen  zu  sein.  Vor  allem  fragt  es  sich,  wie  weit  die  herangezogenen 
Königskataloge  als  voneinander  unabhängige  Zeugnisse  gelten  können. 


Frühes  Mittelalter.  165 

Wenn  Hugo  am  10.  April  947  in  Arles  gestorben  war,  so  brauchte  man 
das  in  Farfa  am  12.  JV\ai  oder  in  Lucca  am  18.  April  und  auch  in  der 
königlichen  Kanzlei  in  der  Lombardei  am  24.  April  noch  nicht  zu 
wissen,  und  die  Deutung  von  decessus  im  Catalogus  Ambrosianus  Os- 
celensis,  MG.  SS.  r.  Lang.  S.  520)  als  „Fortgang,  Abreise"  ist  eine 
ganz  böse  Entgleisung,  zumal  dieselbe  Quelle  einige  Zeilen  später  das 
Wort  in  ganz  dem  gleichen  Zusammenhange  für  „Abscheiden,  Tod" 
gebraucht.  A.  Hofmeister. 

In  der  Zeitschrift  für  Numismatik  1915,  S.  1  ff.  beschreibt  Her- 
mann Heineken  den  Münzfund  von  Netzow  bei  Havelberg,  der  aus 
etwa  17000  ganzen  und  40000  halbierten  Stücken  vom  13.  bis  15,  Jahr- 
hundert (Zeit  des  Kurfürsten  Friedrich  1.  von  Brandenburg)  besteht, 
und  behandelt  im  Anschluß  daran  eindringend  „das  Münzwesen  Salz- 
wedels im  14.  Jahrhundert"  mit  seiner  Anlehnung  an  den  sog.  wendi- 
schen Münzverein.  Mit  Heineken,  einem  Schüler  Dietrich  Schäfers, 
der  am  9.  September  1914  bei  Beauzde  im  Südwesten  von  Verdun 
den  Heldentod  gestorben  ist,  hat  die  Wissenschaft  einen  der  begabtesten 
jüngeren  Numismatiker  verloren,  der  in  der  Vereinigung  gründlicher 
historischer  und  numismatischer  Durchbildung  von  einer  nicht  immer 
gebührend  gewürdigten  Seite  her  die  mittelalterliche  Forschung  wesent- 
lich zu  fördern  versprach.  Seine  Leistungen  sind  von  J.  Menadier 
in  der  Zeitschrift  für  Numismatik  1915,  S.  174  ff.,  D.  Schäfer  in 
den  Hansischen  Geschichtsblättern  1914,  S.  XXXIX  ff.  und  K.  Reg- 
ung in  den  Mitteilungen  aus  der  Historischen  Literatur  43  gewürdigt 
worden.  A.  H. 

In  der  Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht  30.  Jahrgang, 
5.,  6.,  7.  Heft  gibt  Karl  Helm  eine  übersichtliche  Würdigung  der 
„Literatur  des  Deutschen  Ordens  im  Mittelalter",  in  der  auch  die 
Geschichtschreibung  des  Ordens,  namentlich  Nikolaus  von  Jeroschin 
im  14.  Jahrhundert,  kurz,  wenn  auch  wohl  ohne  eigene  Forschung, 
besprochen  wird. 

Neue  Bücher:  Prentout,  Etüde  critique  sur  Dudon  de  Saint- 
Quentin  et  son  Histoire  des  pr emiers  Ducs  Normands.  (Paris,  Picard.) 
—  Delisle,  Recueil  des  actes  de  Henri  II,  roi  d'Angleterre  et  duc  de 
Normandie,  concernant  les  provinces  frangaises  et  les  affaires  de  France. 
Oeuvre  posthume,  revue  et  publice  par  Elie  Berger.  Tome  Z**".  (Paris, 
Klincksieck.  31  fr.)  —  Recueil  des  actes  de  Philippe-Auguste,  roi  de 
France,  publice  par  H.  FranQois  Delaborde.-  Tome  /*♦".  (Paris,  Klinck- 
sieck.   24  fr.) 


166  Notizen  und  Nachrichten. 


Späteres  Mittelalter  (1250—1500). 

Rud.  Wolkan  veröffentlicht  in  der  Zeitschrift  für  österreichische 
Gymnasien  67,  4  u.  5  einen  Aufsatz  über  den  Ursprung  des  Humanismus. 
Seiner  Ansicht  nach  ist  „der  Kampf,  der  sich  .  .  .  gegen  das  Streben 
der  Kirche  nach  einer  Weltherrschaft  und  nach  dauernder  Weltver- 
neinung der  Menschheit  erhob,  dieses  alle  in  tiefster  Seele  ergreifende 
Ringen,  sich  von  den  Fesseln  zu  befreien,  die,  täglich  drückender, 
alles  iVlenschtum  in  seiner  Entwicklung  behindern  wollten,  dieser  Krieg 
um  Leben  oder  Tod  der  Menschheit .  .  .  das  treibende  Element  und 
der  Ausgangspunkt  für  alle  großen  Bewegungen  ...  bis  hinauf  zur 
Reformation".  Infolgedessen  hängt  der  Humanismus  eng  zusammen 
mit  dem  Sektenwesen  und  der  Mystik  einer-  und  dem  ganz  aufs  Welt- 
liche gerichteten,  Italien  erobernden  provenzalischen  Minnegesang 
anderseits,  wie  es  denn  kein  Zufall  gewesen  ist,  daß  das  Schicksal 
den  ersten  großen  Namen  unter  den  Humanisten,  Petrarca,  gerade  in 
die  Provence  geführt  hat,  die  Heimat  der  Sekten  und  des  Minnegesangs. 
„So  erscheint  uns  der  Humanismus  nur  als  ein  Glied,  allerdings  das 
wichtigste  und  bedeutungsvollste,  und  zugleich  als  der  Höhepunkt 
und  Schlußstein  in  dem  großen  Kampfe,  der  die  Menschheit  des  Mittel- 
alters der  freien  Luft  der  Neuzeit  entgegenführt." 

In  der  Zeitschrift  für  historische  Waffenkunde  7,  1  handeln 
B.  Rathgen  und  K.  H.  Schäfer  über  Feuer-  und  Fernwaffen  beim 
päpstlichen  Heere  im  14.  Jahrhundert,  indem  sie  die  in  den  Introitus 
et  Exitus  zahlreich  vorkommenden  Bezeichnungen  untersuchen  und 
erklären.  Aus  ihnen  und  aus  chronikalischen  Nachrichten  von  1331 
und  1334  ziehen  sie  den  Schluß,  „daß  die  Feuerwaffe,  die  Ausnutzung 
der  Treibkraft  des  Pulvers  zum  Schießen  auf  große  Entfernungen  und 
damit  die  ganze  neuzeitliche  Kriegsentwicklung,  ihren  Anfang  in 
Deutschland  genommen  hat."  —  Im  gleichen  Jahrgang,  Heft  2/3 
findet  sich  ein  Aufsatz  von  W.  Rose  über  Johann  von  Böhmen  und 
die  Schlacht  bei  Cr^cy,  in  dem  am  Schluß  des  Lebensbildes  die  Be- 
deutung der  Schlacht  unter  waffenhistorischem  und  strategischem 
Gesichtspunkt  gewürdigt  wird.  Manche  Ausführungen  dürften  nicht 
unwidersprochen  bleiben. 

Die  Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht  bringt  in  Bd.  30, 
6  u.  7  Fortsetzung  und  Schluß  der  Arbeit  von  Karl  Helm  über  den 
Anteil,  den  der  Deutsche  Orden  bis  zum  Ende  des  14.  Jahrhunderts 
an  der  Entwicklung  des  deutschen  Schrifttums  gehabt  hat  (vgl.  116, 
S.  551).  Die  weltliche  Literatur  ist  fast  ganz  auf  die  Geschichtschrei- 
bung beschränkt,  die  bis  weit  ins  13.  Jahrhundert  zurückreicht.  Von 
den  aus  Ordenskreisen  stammenden  theologischen  Schriften  hat  „der 


Reformation  und  Gegenreformation.  167 

Frankfurter"  (um  1370  von  einem  Kustos  des  Hauses  zu  Frankfurt 
verfaßt)  die  stärkste  Wirkung  ausgeübt:  von  Luthier  unter  dem  Titel 
„Ein  Deutsch  Thieologia"  gedruckt,  hat  die  Schrift  bis  in  die  Neuzeit 
hinein  ihren  Platz  behauptet. 

In  knappen  Zügen  schildert  Heinr.  Sambethin  den  Historisch- 
politischen Blättern  158,6  Arras  auf  der  Höhe  seines  Glanzes  und  seinen 
Niedergang  (burgundische  Herrschaft  von  1384 — 1477,  Besitzergrei- 
fung durch  Frankreich  und  Einnahme  durch  Maximilian  im  Novem- 
ber 1492). 

Die  umfangreiche  Arbeit  von  N.  Hilling  über  Römische  Rota- 
prozesse  aus  den  sächsischen  Bistümern,  auf  die  an  dieser  Stelle  wieder- 
holt (115,  213  und  449;  116,  346  u.  530)  hingewiesen  wurde,  wird  jetzt 
im  Archiv  für  katholisches  Kirchenrecht  96,  3  mit  dem  sehr  erwünschten 
Verzeichnis  der  in  den  Prozeßakten  genannten  Personen  zum  Ab- 
schluß gebracht.  i  ^'^f] 

Paul  Lehmann  stellt  die  größtenteils  auf  Einträge  in  Studien- 
heften zurückgehenden  Nachrichten  über  einen  spätmittelalterlichen 
nicht  unbedeutenden  Arzt  Johann  Fink  (geb.  um  1440)  zusammen, 
den  das  Schicksal  von  Unterfranken  auf  italienische  Universitäten, 
nach  Rom  (1477 — 79)  und  in  verschiedene  bayerische  Städte,  zuletzt 
an  den  Hof  zu  Landshut,  geführt  hat  (Historisches  Jahrbuch  der 
Görres-Gesellschaft  37,  2  u.  3). 

Neue  Bücher:  Rieh.  Neu  mann,  Die  Colonna  und  ihre  Politik 
von  der  Zeit  Nikolaus  IV.  bis  zum  Abzüge  Ludwigs  des  Bayern  aus 
Rom.  1288—1328.  (Langensalza,  Wendt  &  Klauwell.  4M.)  — Zao/i, 
Liberias  Bononie  e  Papa  Martino  V.    (Bologna,  Zanichelli.) 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500 — 1648). 

Oskar  Planer  (Lützen),  Verzeichnis  der  Gustav-Adolf-Samm- 
lung mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Schlacht  am  6./16.  November 
1632.  H.  Haessel  Verlag.  Leipzig  1916.  168  S.  —  Der  Verfasser  hat 
seit  34  Jahren  Druckschriften,  Autographen,  Einblattdrucke,  Bildnisse, 
Münzen  und  Waffen  gesammelt,  soweit  sie  auf  Gustav  Adolf  und  seinen 
Tod  bei  Lützen  Bezug  haben.  Zeitgenössische  und  moderne  Literatur 
sind  in  gleicher  Weise  berücksichtigt.  Eine  ganze  Reihe  von  Briefen 
werden  abgedruckt,  die  Titel  von  Flugschriften  ausführlich  angeführt. 
Deshalb  mag  die  liebevoll  ausgeführte  Arbeit  eines  Dilettanten  auch 
dem  Forscher  unter  vielem  Bekannten  das  und  jenes  Unbekannte 
bringen.  E.  W.  M. 

Zur  Geschichte  des  kirchlichen  Lebens  im  16.  Jahrhundert  seien 
zwei  Aufsätze  aus  dem  Archiv  für  Kulturgeschichte  Bd.  XII,  Heft  3/4 


168  Notizen  und  Nachrichten. 

angemerkt:  Ernst  Büttner  handelt  über  das  Buch  der  „Armenkiste 
an  Unser  Lieben  Frauen  Kirche"  zu  Bremen  (1525 — 1580),  seine  Be- 
deutung und  seine  mutmaßliche  Beziehung  zu  der  Armenordnung  in 
Ypern;  diese  letztere  Beziehung,  die  für  die  Frage  nach  der  Originalität 
des  reformatorischen  Armenwesens  nicht  ohne  Bedeutung  ist,  glaubt 
Büttner  in  der  Person  des  flandrischen  Prädikanten  Propst  zu  finden, 
der  in  Wittenberg  studierte,  sich  dann  in  seiner  Heimat  aufhielt  und 
schließlich  nach  Bremen  kam.  —  ,, Bilder  aus  dem  Leben  der  Geist- 
lichen der  Diözese  Eichstätt  um  die  JVlitte  des  16,  Jahrhunderts"  ent- 
wirft Adam  Hirschmann  auf  Grund  eines  Geschäftsbuches  des 
Generalvikars,  der  das  sittliche  Leben  der  Geistlichen  zu  über- 
wachen hatte. 

Gebhard  JVlehring,  Kardinal  Raimund  Peraudi  als  Ablaßkom- 
missar in  Deutschland  1500 — 1504  und  sein  Verhältnis  zu  Maximilian], 
(aus:  Forschungen  und  Versuche  zur  Geschichte  des  Mittelalters  und 
der  Neuzeit,  Festschrift  für  Dietrich  Schäfer).  Der  Aufsatz  ist  das 
Ergebnis  jahrelanger  umsichtiger  Nachforschung  nach  dem  vielfach 
verstreuten  unbekannten  Material  über  die  Legation  Peraudis,  die  der 
Jubiläumspredigt  und  der  Verbreitung  des  Jubelablasses  in  Deutsch- 
land galt.  Der  Ertrag  dieses  Ablasses  war  ausschließlich  für  den  Tür- 
kenkrieg bestimmt  und  sollte  in  Deutschland  verwahrt  bleiben.  Der 
allzeit  geldbedürftige  König  Maximilian  machte  fortgesetzt  die  leb- 
haftesten Anstrengungen,  sich  in  den  Besitz  des  Ablaßgeldes  zu  setzen ; 
zum  Teil  ist  ihm  dies  auch  gelungen.  Darüber  geriet  der  Kardinal, 
dem  es  um  das  Zustandekommen  des  Türkenkrieges  ernstlich  zu  tun 
war,  in  heftige  Auseinandersetzung  mit  dem  König  und  ist  ihm  auch 
in  einer  Reihe  von  Streitschriften  entgegengetreten.  Die  vielen  Züge, 
die  Mehring  in  das  bisher  bekannte  Bild  einzufügen  vermag,  werfen 
auf  das  Verhalten  Maximilians  und  auf  die  eigenartige  Natur  des  Jubi- 
läumsablasses ein  neues  Licht. 

Über  Luthers  Stellung  zum  Islam  und  seine  Übersetzung  der 
Confutatio  des  Ricoldus  unterrichtet  Hermann  Bärge  in  einem  leider 
in  zwei  Teile  zerrissenen  Aufsatz  in  der  Allgemeinen  Missions-Zeit- 
schrift 43,  2  u.  3. 

Joseph  Schweizer  teilt  im  Historischen  Jahrbuch  Bd.  37, 
Heft  2/3,  S.  400  aus  den  Akten  des  Archivs  von  Simancas  die  kaiser- 
liche Instruktion  des  Kardinals  Madruzzo  vom  10.  Juni  1546  mit,  die 
für  die  Geschichte  der  diplomatischen  Vorbereitung  des  Schmalkal- 
dischen  Kriegs  von  Interesse  ist. 

Neue  Bücher:  Gnirs,  Österreichs  Kampf  für  sein  Südland  am 
Isonzo  1615—1617.  (Wien,  Seidel  &  Sohn.  4  M.)  —  Jelinek,  Die 
Böhmen   im    Kampfe   um   ihre    Selbständigkeit    1618 — 1648.     (Prag, 


1648—1789.  169 

Taussig.  7,50  M.)  —  Lippert,  Beiträge  zur  Politik  Ferdinands  von 
Köln  im  Dreißigjährigen  Kriege  bis  zum  Tage  von  Schleusingen  im 
Juli  1624.    (Leipzig,  Deichert.    2,80  M.) 

1648—1789. 

Einen  Beitrag  zur  Historiographie  des  18.  Jahrhunderts  liefert 
Gustav  Sommerfeldt  mit  seiner  Arbeit  über  die  Altertumsforschun- 
gen des  1738  gestorbenen  Historikers  und  Linguisten  Gottlieb  Bayer 
in  den  Altpreußischen  Monatsheften  52,  1. 

In  den  Forschungen  zur  brand.  u.  preuß.  Gesch.  29,  1  behandelt 
O.  Herrmann  die  militärische  Laufbahn  des  Grafen  Finckenstein, 
des  Erziehers  Friedrich  Wilhelms  I.,  wie  auch  Friedrichs  des  Großen. 
Sie  begann  1676  und  endete  erst  1715  mit  der  Einnahme  von  Stralsund. 
Bedeutende  taktische  und  strategische  Begabung  wird  Finckenstein 
nachgerühmt.  Die  Wirkung  seiner  militärischen  Erziehung  auf  den 
Kronprinzen  Friedrich  muß  aber  mehr  erraten  werden,  als  daß  sie 
sich  beweisen  ließe.  (Graf  Albrecht  Konrad  von  Finckenstein  als 
Soldat.)  W.  M. 

Hans  Droysen  hat  nach  allem  vorhandenen  Material,  gedrucktem 
wie  ungedrucktem,  einen  Tageskalender  Friedrichs  des  Großen  zusam- 
mengestellt, von  seiner  Thronbesteigung  an  bis  zum  Ende  des  Sieben- 
jährigen Krieges.  Er  bietet  damit  zugleich  die  Fortsetzung  des  früher 
mitgeteilten  Tageskalenders  des  Kronprinzen  Friedrich.  (Forschungen 
zur  brand.  u.  preuß.  Gesch.  29,  1.) 

Eine  höchst  interessante  und  scharfsinnige  Studie  veröffentlicht 
G.  B.  Volz  in  den  Forschungen  zur  brand.  u.  preuß.  Gesch.  29,  1. 
Indem  wir  kurz  über  dieselbe  berichten,  wollen  wir  mit  unserer  An- 
erkennung so  wenig  zurückhalten,  wie  mit  allerlei  kleinen  Bedenken, 
die  gegenüber  der  Sicherheit,  mit  welcher  der  Verfasser  seine  These 
vorträgt,  wohl  am  Platze  sein  mögen.  Es  handelt  sich  um  die  Schick- 
salstage im  Leben  Friedrichs  des  Großen,  also  um  die  Zeit,  da  die 
Nachricht  vom  Tode  Karls  VI.  in  ihm  den  Entschluß  zum  Einmärsche 
in  Schlesien  wachrief.  Die  Untersuchung  betrifft  ein  einziges,  aller- 
dings höchst  bedeutungsvolles  Aktenstück.  Wenn  der  Verfasser  es 
in  der  Überschrift  schlechthin  als  „das  Rheinsberger  Protokoll  vom 
29.  Oktober  1740"  bezeichnet,  so  nimmt  er  damit  freilich  schon  etwas 
von  seiner  Beweisführung  vorweg.  Am  28.  Oktober  hielt  der  König 
zu  Rheinsberg  eine  Konferenz  ab  mit  dem  Minister  Podewils  und  dem 
Feldmarschall  Schwerin.  Am  29.  soll,  wie  die  Überschrift  besagt,  das 
fragliche  Schriftstück  entstanden  sein,  als  eine  Aufzeichnung  von 
Podewils,  die  er  mit  dem  Feldmarschall  entworfen  und  vereinbart  hat, 


170  Notizen  und  Nachrichten. 

aber  auf  Befehl  des  Königs.  Seine  Entstehungsgeschichte  gibt  es  selbst 
mit  der  Erzählung,  Seine  Majestät  habe  geruht,  ihnen  vertraulich  seine 
Meinung  zu  eröffnen  in  dem  Sinne,  daß  das  Ereignis  des  Hinscheidens 
Karls  VI.  zur  Erwerbung  Schlesiens  führen  müsse.  Die  beiden  hohen 
Würdenträger  haben  sodann,  fährt  das  Schriftstück  fort,  den  Befehl 
erhalten  und  befolgt,  die  Frage  sorgfältig  miteinander  zu  prüfen  und 
sich  über  den  besten  Weg,  um  zu  dem  ihnen  bezeichneten  Ziele  zu 
gelangen,  zu  äußern.  „Voici  nos  idees",  so  wird  die  nun  folgende  Dar- 
legung eingeleitet,  die  den  eigentlichen  Inhalt  des  Schriftstücks  bildet. 
Will  man  es  nun  als  ein  Protokoll  bezeichnen,  so  ist  es  nicht,  und  wohl- 
verstanden es  gibt  sich  auch  nicht  (wie  Volz  S.  70  behauptet)  als  ein 
Protokoll  der  von  Friedrich  mit  Podewils  und  Schwerin  gehaltenen 
Konferenz,  sondern  als  ein  Protokoll  der  von  den  beiden  Würden- 
trägern ohne  den  König  angestellten  Beratungen.  Zu  dem  ersten 
wird  es  auch  keineswegs  dadurch  erhoben,  daß  die  in  der  Polit.  Korr. 
I,  74  ff.  gedruckte  Fassung  nach  der  Mitteilung  der  beiden  haupt- 
sächlichen Pläne  den  Zusatz  enthält:  „Ce  sont  lä  les  deux  seuls  plans 
sur  lesquels  Votre  Majeste  nous  a  fait  l'honneur  de  nous  entretenir  hier." 
Und  wenn  ferner  diese  Fassung  fortfährt:  „Nous  parlämes  encore  d'un 
troisieme",  so  läßt  vollends  diese  im  Vergleiche  zu  den  vorhergehenden 
Worten  weniger  ehrerbietige  Ausdrucksweise  deutlich  erkennen,  daß 
der  nun  mitgeteilte  dritte  Plan  (der  ein  Abwarten  bis  zur  erfolgten 
Schilderhebung  Sachsens  empfiehlt)  nur  als  ein  Gegenstand  der  Bera- 
tung zwischen  Podewils  und  Schwerin  bezeichnet  werden  soll.  Nun 
liegt  aber  der  springende  Punkt  der  Untersuchung  wohl  in  der  wert- 
vollen Mitteilung,  daß  das  im  Geheimen  Staatsarchiv  befindliche 
Original  an  den  beiden  eben  mitgeteilten  Stellen  eine  ursprünglichere, 
erst  nachträglich  geänderte  Fassung  aufweist,  die  von  jeglicher  Bezug- 
nahme auf  die  vorangegangene  Konferenz  mit  dem  Könige  absieht 
und  es  darum  vollends  unmöglich  macht,  das  ganze  Schriftstück  als 
ein  Protokoll  dieser  Konferenz  zu  bezeichnen.  Das  mag  nun  zwar 
als  ein  äußerlicher  Umstand  wenig  bedeutungsvoll  erscheinen,  trifft 
aber  doch  des  Verfassers  ganze  Beweisführung  ins  Herz.  Er  will  näm- 
lich in  der  korrigierten  Version  eine  von  Podewils  verfaßte  Rechtferti- 
gungsschrift für  den  König  erblicken,  um  diesen  als  einen  der  gütlichen 
Verständigung  mit  dem  Hause  Österreich  grundsätzlich  geneigten 
Fürsten  erscheinen  zu  lassen.  Wenn  dem  so  wäre,  so  hätte  das  Schrift- 
stück doch  diesen  Charakter  erst  durch  die  bezeichneten  Änderungen 
erhalten;  in  der  ursprünglichen  Form  erscheint  Friedrich  ja  als  derjenige, 
der  nur  Schlesien  gewinnen  will,  „ä  quelque  prix  que  ce  füt".  Wäre 
also  dem  mit  der  Abfassung  des  Schriftstücks  beschäftigten  Podewils 
der  damit  verfolgte  Zweck  unter  der  Hand  ein  anderer  geworden?  Er 
hätte  als  gehorsamer  Diener,  der  dem  Könige  seine  Meinung  sagen  soll, 


1648—1789.  171 

die  Feder  ergriffen,  um  sie  niederzulegen  als  väterlicher  Anwalt 
der  guten  Absichten  seines  jugendlichen  Gebieters?  Und  noch  eine 
andere  vom  Verfasser  selbst  gekennzeichnete  Schwierigkeit  bleibt 
ungelöst.  Zwischen  Friedrich  und  seinem  Minister  beginnt  mit  dem 
1.  November  ein  neuer,  schriftlicher  Gedankenaustausch,  in  dessen 
Verlauf  das  „Protokoll"  niemals  erwähnt  wird.  Dieses  ist  eben,  sagt 
Volz,  weder  auf  Befehl  des  Königs  entworfen  noch  auch  ihm  je  vor- 
gelegt. Es  ist  auch  nicht  am  29.  Oktober,  sondern  erst  etwas  später, 
sagen  wir  am  3.  November,  niedergeschrieben.  Aber,  wenden  wir  hier 
ein,  wenn  also  erst  später  und  wenn  als  Rechtfertigungsschrift  verfaßt, 
wieso  dann  noch  zunächst  in  einer  Form,  die  diesen  Charakter  gar 
nicht  besaß  und  ihn  erst  durch  starke  Korrekturen  erhalten  mußte? 
Soweit  unsere  Bedenken,  die  uns  abhalten,  die  mitgeteilte  Beweis- 
führung glatt  zu  akzeptieren  und  uns  bewegen,  bis  zu  weiterer  Klärung 
immer  noch  einer  vorsichtigeren  Deutung  des  Tatbestandes,  wie  sie 
etwa  Grünhagen,  Ranke,  Droysen,  Koser  versucht  haben,  den  Vorzug 
zu  geben.  W.  Michael. 

Adolf  V.  Wiedemann-Warnhelm  will  auf  Grund  der  Hand- 
schreiben Josephs  II.  eine  Schilderung  der  Persönlichkeit  des  Kaisers 
versuchen.  Der  erste  (im  Hist.  Jahrbuch  37,  2  u.  3  erschienene)  Teil 
der  Abhandlung  gibt  eine  ansprechende,  wenn  auch  nicht  gerade  tief 
erfaßte  Schilderung  der  Tätigkeit  Josephs  in  den  ersten  dreieinhalb 
Jahren  seiner  Alleinherrschaft.  Der  große  Fleiß,  die  Vielgeschäftigkeit, 
die  Sorge  für  das  Kleinste  werden  recht  lebendig.  In  dem  sparsamen, 
einfachen,  fast  kleinbürgerlichen  Zuge  seines  Wesens  erkennt  man  den 
Helden  der  Kaiser- Joseph-Anekdoten  wieder.  Sein  Eingreifen  in  die 
Angelegenheiten  der  Kirche,  der  staatlichen  Verwaltung,  des  sozialen 
und  wirtschaftlichen  Lebens  zeigt  den  in  einem  fest  umschlossenen 
Vorstellungskreis   sich    bewegenden    Reformer   des    18.  Jahrhunderts. 

W.  M. 

Wir  haben  abermals  (vgl.  H.  Z.  116,  351)  über  eine  höchst  wert- 
volle Untersuchung  über  den  Bündnisvertrag  zwischen  Frankreich  und 
Amerika  zu  berichten.  Hatte  der  früher  erwähnte  Aufsatz  gezeigt, 
daß  in  erster  Linie  der  natürliche  Wunsch,  das  im  Siebenjährige  Kriege 
verlorene  Prestige  zurückzugewinnen,  die  Franzosen  zu  Verbündeten 
der  Amerikaner  gemacht  hatte,  so  lehrt  uns  die  Untersuchung  von 
C.  H.  Van  Tyne,  daß  die  französische  Staatskunst  sich  im  Jahre  1777 
der  Alternative  gegenüber  glaubte,  entweder  gegen  England  und  Ame- 
rika zugleich,  oder  mit  Amerika  gegen  England  Krieg  führen  zu  müssen. 
Rückblickend  hat  Vergennes  im  Jahre  1782  die  Lage  von  1777  so 
umschrieben,  und  daß  diese  Auffassung  wirklich  bestand,  zeigt  der 
Verfasser  an  der  Hand  des  gleichzeitigen  archivalischen  Materials. 
Zur  Erklärung  dieser  Auffassung  dient  es,  die  Meinung  des  französischen 


172  Notizen  und  Nachrichten. 

Ministeriums  zu  vernehmen,  England  sei  nach  der  Kapitulation  Bur- 
goynes  bereit  gewesen,  den  Amerikanern  die  Unabhängigkeit  zu  ge- 
währen, falls  sie  sich  mit  England  gegen  Frankreich  verbündeten. 
So  sehr  waren  die  Beziehungen  der  Westmächte  bereits  durch  die  ins- 
geheim den  Amerikanern  dargebotene  französische  Hilfe  verschärft. 
(Influences  which  determined  the  French  Government  to  make  the  Treaty 
with  America.     Amer.  Hist.  Rev.  21,3.)  W.  Michael. 

Von  wirtschaftsgeschichtlichem  Interesse  ist  die  kleine  Unter- 
suchung, die  E.  R.  Turner  in  der  American  Hist.  Rev.  21,  3  über  die 
„Keelmen  of  Newcastle"  veröffentlicht.  Er  sieht  mit  Recht  in  den  seit 
dem  16.  Jehrhundert  zur  Verbesserung  ihrer  Löhne  und  Lebenshaltung 
geschlossenen  Verbindungen  dieser  „Keelmen"  das  früheste  Beispiel 
eines  Gewerkvereins,  das  also  viel  weiter  zurückreicht  als  irgendein 
anderer  Fall.  Die  herrschende  (Webb)  Anschauung,  daß  es  vor  dem 
18.  Jahrhundert  kein  Beispiel  von  Trade  LJnions  gegeben  habe,  wäre 
danach  zu  korrigieren.  W.  M. 

Neue  Bücher:  Ischer,  Die  Gesandtschaft  der  protestantischen 
Schweiz  bei  Cromwell  und  den  Generalstaaten  der  Niederlande.  1652/54. 
(Bern,  Francke.  2,80  M.)  —  Schwinkowski,  Die  Reichsmünzreform- 
bestrebungen  in  den  Jahren  1665 — 1670  und  der  Vertrag  von  Zinna 
1667.  (Stuttgart,  Kohlhammer.  2,20  M.)  —  Lettres  du  Duc  de  Bour- 
gogne  au  roi  d'Espagne,  Philippe  V  et  ä  la  reine,  publikes  par  Alfred 
Baudrillart  et  Lion  Lecestre.    Tome  2  (lyog — 171 2).    (Paris,  Laurens.) 

—  Bernadotte  Everly  Schmitt,  England  and  Germany  1740 — 1914. 
(Princeton,  Princeton  Univ.  Press.) 

Neuere  Gesdiidite  von  1789  bis  1871. 

Camille  Desmoulins,  seine  politische  Gesinnung  und  Partei- 
stellung von  Käthe  Hilt,  Dr.  phil.,  BerUn,  Emil  Ebering,  1915  (Hist. 
Studien  Heft  133).  VI  u.  137  S.  —  Eine  fleißige  und  sympathische 
Anfängerarbeit  —  aber  auch  eine  typische  Anfängerarbeit!  Der 
eifrigen  Verfasserin  fehlt  begreiflicherweise  die  genügende  Übersicht 
und  Literaturkenntnis,  um  einzusehen,  daß  der  schreibgewandte  Ca- 
mille in  seinen  politischen  Ansichten  fast  jeder  Selbständigkeit  entbehrt 
(nebenbei  bemerkt,  ist  es  schwer,  in  der  heutigen  Zeit  Trivialitäten, 
wie  auch  er  sie  so  stark  bevorzugt,  geduldig  zu  lesen).  So  befriedigt 
der  erste  Teil  der  Arbeit  „Camille  Desmoulins'  politische  Gesinnung" 
wenig.  Wir  meinen  auch,  daß  zur  eindringenden  Charakterisierung 
Desmoulins  das  eine  Wort  Taines,  der  ihn  „l'enfant  terrible  de  la  Ri- 
volution"  nannte,  mehr  beitrage,  als  alle  Darlegungen  der  Verfasserin. 

—  Sehr  hübsch  ist  dagegen  der  zweite  Teil,  der  nachweist,  daß  Camille, 
der  immer  anlehnungsbedürftig  war,  sich  erst  JVlirabeau,  dann  Robes- 


Neuere  Geschichte.  173 

pierre,  dann  Danton  anschloß,  nicht  aus  Wankelmut,  sondern  weil 
er  von  seinen  angebeteten  Führern  (der  „heilige"  Mirabeau!)  enttäuscht 
wurde:  von  dem  ersten,  weil  er  der  Revolution  untreu  wurde,  von  dem 
zweiten,  weil  er  sie  durch  Blut  und  Schrecken  besudelte.  Es  ist  auch 
durchaus  erfreulich,  daß  eine  deutsche  Verfasserin  diesen  Mann  von 
Humor  und  moralischem  Mut  mit  so  viel  Mitgefühl  behandelt,  den 
die  modernen  französischen  Jakobiner  zugunsten  anderer  widerlicher 
Gesellen  stark  vernachlässigen,  hauptsächlich  weil  er  die  Schreckens- 
herrschaft so  vernichtend  beurteilte,  welche  jenen  bei  ihrer  sadistischen 
Phantasie  im  Grunde  sympathisch  ist.  Die  Schreibweise  der  Verfas- 
serin und  ihre  Übersetzungen  (z.  B.  S.  91:  Maitresse!)  lassen  gelegent- 
lich zu  wünschen  übrig. 

Z.  Zt.  Halicz.  Wahl. 

Auszüge  aus  Lebenserinnerungen  („Kreutz-  und  Querzüge")  des 
Deputy  Assistant  Commissary  General  in  englischen  Diensten  A.  L.  Fr. 
Schaumann  beginnt  sein  Enkel  C.  v.  Holleuffer  im  Oktoberheft 
der  Deutschen  Rundschau  zu  veröffentlichen:  zunächst  über  die  Vor- 
fahren und  die  Knabenjahre,  als  „kulturgeschichtlich  interessante 
Bilder  aus  Hannover  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts". 

Einen  Brief  Blüchers  aus  Münster,  30.  Sept.  1798  (nur  die  Unter- 
schrift ist  eigenhändig)  an  J.  G.  Hasenclever  in  Frankfurt  (Anlaß: 
Entlassung  von  dessen  Sohn  aus  Blüchers  Regiment;  angeknüpft  kurze 
politische  und  militärische  Bemerkungen)  hat  A.  Hasenclever  in  den 
Forschungen  z.  brandenb.  u.  preuß.  Gesch.  29,1  veröffentlicht. 

Erst  in  Paris  1798  hat  W.  v.  Humboldt  sich  näher  mit  den 
Schriften  der  Frau  von  Stael  beschäftigt,  im  September  sie  persönlich 
kennen  gelernt:  was  seine  Pariser  Tagebücher  (s.  H.  Z.  1 16,  540)  darüber 
bieten,  hat  A.  Leitzmann  (Deutsche  Rundschau,  Okt.  1916)  mit- 
geteilt; die  Tagebücher  brechen  für  uns  mit  dem  30.  Sept.  ab;  die 
Fortsetzung  dieser  wertvollen  Aufzeichnungen  ist  1806  infolge  der 
Plünderung  Tegels  verstreut,  dann,  wiedergefunden,  von  Alexander 
V.  H.  an  Ancillon  gegeben,  in  dessen  Nachlaß  aber  nicht  mehr  aufzu- 
finden. An  ihre  Stelle  tritt  nun,  zunächst  bis  1801,  für  Humboldts 
weitere  Beziehungen  zu  Frau  von  Stael  seine  ausgedehnte  Korrespon- 
denz mit  verschiedenen  Empfängern.  Man  bewundert  auch  hier  den 
glänzenden  Briefschreiber  mit  seinem  unbestechlichen  Urteil. 

J.  Lulves,  der  mit  sehr  optimistischer  Auffassung  die  verschie- 
denen Landungsabsichten  der  Franzosen  gegen  England  seit  dem 
14.  Jahrhundert  aufzählt,  ist  der  Ansicht,  daß  Napoleon  1.  durch  recht- 
zeitige Kenntnis  und  Anwendung  der  Erfindungen  des  Amerikaners 
Fullerton  (Dampf-  und  Tauchboote)  die  nicht  von  ihm  verschuldete 
Schwäche    der   französischen    Seerüstungen    überwunden    und    wahr- 


174  Notizen  und  Nachrichten. 

scheinlich  die  entscheidende  Überlegenheit  gegenüber  der  englischen 
Flotte  erhalten  hätte,  so  daß  er  vielleicht  wirklich  den  Landungsplan 
hätte  ausführen  können  („Warum  konnte  Napoleon  I.  England  nicht 
direkt  angreifen?"    Deutsche  Revue,  Sept.  1916). 

Hingewiesen  sei  —  ohne  übrigens  damit  Zustimmung  auszu- 
drücken, vgl.  Vergangenheit  u.  Gegenwart  1916,  S.  243  —  auf  die  kri- 
tischen Bemerkungen  von  C.  Brinckmann  zu  G.  Hasses  Buch  über 
Theodor  von  Schön  und  die  Steinsche  Wirtschaftsreform  (1915)  in 
Dtsche.  Lit.-Ztg.  1916,  Nr.  41. 

B.  Luthers  Aufsatz  über  Heinrich  v.  Kleists  Patriotismus  und 
Staatsidee  (Neue  Jahrb.  f.  d.  klass.  Altert,  usw.  27,  8,  S.  518—538) 
beschäftigt  sich  vornehmlich  mit  dem  „Prinzen  von  Homburg".  Er 
sucht  zu  erweisen,  daß  Kleist  —  preußischer  Patriot  im  Sinne  des  alten 
Staats  und  daher  im  Gegensatz  zu  Hardenberg  für  Reformen  aus  dem 
Wesen  dieses  Staats  heraus,  zugleich  aber  Individualist  mit  neuem, 
besonders  im  Verkehr  mit  Adam  JVlüller  erwachsenem,  romantisch 
gefärbtem  Staatsideal  —  in  den  Grundgedanken  des  Dramas  vornehm- 
lich durch  Adam  Müller,  speziell  dessen  1808/09  gehaltene  Vorträge 
über  die  Elemente  der  Staatskunst,  beeinflußt  sei.  —  In  der  „Her- 
mannsschlacht" sieht  W.  Wieber  die  Darstellung  des  Kampfes  zwi- 
schen germanischer  und  lateinischer  Rasse:  Kleists  Haß  gegen  die 
Franzosen  beruht  auf  instinktivem  Rassenhaß  (Kons.  JVlonatsschr. 
1916,  Juni  u.  Juli). 

Die  Fortsetzungen  des  zuletzt  H.  Z.  116,  541  erwähnten  Brief- 
wechsels zwischen  K-  Fr.  A.  Eichhorn  und  seiner  Gattin  im  Sep- 
tember- und  Oktoberheft  der  Deutschen  Revue  reichen  vom  23.  August 
bis  zum  21.  September  1813;  darunter  befindet  sich  der  z.T.  im  Preußi- 
schen Korrespondenten  veröffentlichte  Brief  über  die  Schlacht  an  der 
Katzbach. 

B.  Schmeidler  wendet  sich  (Forschungen  z.  brandenb.  u.  preuß. 
Gesch.  29,  1)  gegen  die  günstige  Beurteilung,  die  Bernadottes  Verhalten 
und  JVlaßnahmen  vor  Großbeeren  bei  Friedrich,  Die  Befreiungskriege 
1813/15,  II,  1912,  z.  T.  auch  bei  H.  Ulmann,  Gesch.  d.  Befreiungs- 
kriege II,  1915  gefunden  haben.  Schmeidler  hält  die  bekannte  Erzäh- 
lung von  Bülows  Auftreten  in  der  Konferenz  von  Philippsthal  (22.  VIII.) 
keineswegs  für  Legende;  Bernadotte  hat  nicht  am  21.  Sept.  abends 
in  seinem  Brief  an  Blücher  den  Entschluß  zur  Schlacht  ausgedrückt; 
sein  Schlachtplan  vom  22.  Aug.  und  sein  weiteres  Verhalten  lassen 
an  der  Ernsthaftigkeit  einer  Absicht  zur  Schlacht  auch  für  den  23.  Aug. 
(geschweige  denn  einer  Umfassungs-  oder  Überfallsschlacht)  zweifeln: 
ja,  er  hat  noch  am  23.  Aug.  nachmittags  Bülow  den  Befehl  zu  weiterem 
Rückzug  erteilt. 


Neuere  Geschichte.  175 

Auszüge  aus  den  Polizeiregistern  während  Friedrich  Wil- 
helms III.  Aufenthalt  in  Karlsbad  und  Teplitz  1816  nebst  Bemer- 
kungen über  fürstliche  Besuche  in  den  böhmischen  Bädern  finden  sich 
in  der  österr.  Rundschau,  15.  Sept.  1916. 

Im  Panther  III,  1,  1915  hat  F.  Rachfahl  eine  frische,  zusammen- 
fassende Schilderung  von  der  Entwicklung  der  „alten  Burschenschaft" 
gegeben. 

In  einem  glänzenden  Vortrage  hat  Fr.  Mein  ecke  die  Entwick- 
lung von  ,, Landwehr  und  Landsturm  seit  1814"  behandelt  (gedruckt 
in  Schmollers  Jahrbuch  40,  3)  in  ihren  drei  durch  die  Jahre  1860  und 
1888  bezeichneten  Epochen  und  in  ihrem  Zusammenhange  mit  den 
politischen  Strömungen  in  Preußen  und  Deutschland,  denn  „Heeres- 
verfassung ist  zu  allen  Zeiten  eine  politische  Frage  gewesen".  Der 
Biograph  Boyens  erklärt  die  dunklen  Schatten,  die  die  Erfolge  des 
Linienheeres  zu  Unrecht  auf  die  Reform  von  1814  und  1815  geworfen 
haben,  zunächst  rein  militärisch:  die  Sparsamkeit  der  Friedenszeit, 
die  Abneigung  der  Linienoffiziere  gegen  die  Landwehroffiziere,  deren 
mangelhafte  Ausbildung;  Boyen  hatte  gerade  „das  Maximum  der 
Wehrkraft  herausholen  wollen".  Zudem:  Boyens  Heeresverfassung 
war  der  „integrierende  Teil  einer  liberalen  Reformpolitik,  die  auf  Ver- 
fassung und  Volksvertretung  hinaussteuerte,  sie  aber  nicht  erreichte 
und  nun  in  das  Staatsleben  ein  unorganisches  Nebeneinander  von 
Herrschaftsstaat  und  Gemeinschaftsstaat  brachte".  Politische  Ab- 
neigung gegen  die  Landwehr,  die  Forderung  einer  Verjüngung  und 
Verstärkung  der  Feldarmee  —  aus  wirtschaftlichen  und  militärischen 
Gründen  — führen  mit  dem  Erwachen  von  Machtbedürfnissen  in  Preußen 
zur  Reform  von  1860:  hier  wird  das  meist  kaum  gestreifte  Verdienst 
des  jüngeren  Clausewitz  mit  Recht  hervorgehoben.  Was  damals  in 
bewußter  Absicht  geschaffen  wurde,  war  eine  zahlenmäßig  begrenzte, 
auf  den  Qualitätsgedanken  gegründete  Feldarmee,  und  dieser  Gedanke 
blieb  fast  zwei  Jahrzehnte  hindurch  im  wesentlichen  auch  im  neuen 
Reiche  maßgebend.  Und  doch  hatte  die  Erfahrung  von  1870  gezeigt, 
daß  damals  schon  „Roon  persönlich  und  als  Stratege  und  sein  Reor- 
ganisationswerk versagten",  gegenüber  den  Aufgaben,  die  Moltke 
stellen  mußte.  „Mit  der  Reorganisation,"  sagt  Meinecke  mit  Recht 
(S.  16),  „war  man  aus  der  Scylla  in  die  Charybdis  gekommen."  In 
der  Forderung  nach  einer  bis  dahin  fehlenden  wirklichen  Organisation 
des  Landsturms,  wie  sie  das  Gesetz  von  1875  brachte,  hat  sich  Eugen 
Richter  als  Handlanger  des  von  ihm  so  befehdeten  Militarismus  er- 
wiesen. Erst  das  Wehrgesetz  von  1888  bringt  in  der  , .Vereinigung 
der  Vorzüge,  der  Vermeidung  der  Mängel"  eine  Synthese  der  Prin- 
zipien von  Boyen  und  Roon;  es  will  die  ganze  Wehrkraft  der  Nation 


176  Notizen  und  Nachrichten. 

herausholen.  So  „erwies  sich  Boyens  gläubiges  Vertrauen  als  eine 
der  genialen  und  schöpferischen  Illusionen,  deren  das  geschichtliche 
Leben  bedarf".  Die  Grundgedanken  des  Gesetzes  von  1888  mit  der 
Bewährung  jetzt  im  Weltkrieg  eröffnen  die  Perspektive  auf  eine  neue 
politische  Synthese  von  Herrschaftsstaat  und  Gemeinschaftsstaat. 
Darin  zeigt  sich  die  ganze  Tiefe  der  staatlichen,  sozialen  und  geistigen 
Wandlungen  des  Jahrhunderts:  „Im  Geben  und  Nehmen  zwischen 
Staat,  Heer  und  Volk  hat  sich  auch  eine  Wandlung  unseres  Volks- 
schlags vollzogen,  die  die  Wandlungen  des  Landwehrproblems  erst 
ganz  verständlich  macht."  K.  J. 

Eine  sehr  ansprechende  Würdigung  seines  Großvaters,  des  Hi- 
storikers Wilhelm  Heinrich  Grauert,  gibt  H.  Ritter  v.  Srbik  in  den 
Sitzungsberichten  der  kais.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien, 
phil.-hist.  Klasse  176,  4.  Er  bezeichnet  Grauert  als  den  markantesten 
Vertreter  der  Niebuhrschule  im  engsten  Sinne  des  Wortes  und  findet 
seine  besondere  wissenschaftliche  Eigenart  darin,  daß  er,  der  wie 
Droysen  sowohl  die  alte  wie  die  neue  Geschichte  zum  Arbeitsfeld 
wählte,  auf  diese  letztere  die  von  Niebuhr  gelehrten  JVIethoden  und 
Prinzipien  der  althistorischen  Forschung  restlos  übertrug.  So  ist  die 
Skizze  in  der  Tat,  wie  der  Verfasser  es  beabsichtigte,  ein  Beitrag  zur 
Erkenntnis  der  Verbindung  von  Geschichte  und  Philologie  im  vorigen 
Jahrhundert  geworden.  Im  Anhang  veröffentlicht  Srbik  zwei  Briefe 
Niebuhrs  und  einen  Brief  Arndts  an  Grauert. 

Nach  Papieren  aus  dem  Nachlaß  des  Ministers  Abel  handelt 
JVl.  Doeberl  von  dem  persönlichen  Anteil,  den  König  Ludwig  I.  von 
Bayern  an  dem  Kölner  Kirchenstreit  nahm:  der  Übermittelung  von 
Nachrichten  Drostes  nach  Rom  nach  dessen  Gefangennahme;  der 
weitgehenden  Freiheit  der  bayerischen  Presse  in  der  Besprechung  des 
Konflikts;  der  Berufung  des  Bischofs  Geissei  zum  Koadjutor  in  Köln; 
ein  (abgedruckter)  Artikel  Abels  in  der  Augsb.  Allg.  Ztg.  faßt  Ludwigs 
Anteil  zusammen  (Hist.-Pol.  Bit.  158,  2:  König  Ludwig  I.  und  die 
kath.  Kirche). 

Th.  Schiemanns  Aufsatz  über  „Kaiser  Nikolaus  I.  in  Haus, 
Familie  und  Tagesarbeit"  (Deutsche  Rundschau,  Sept.  1916)  ist  wohl 
ein  Ausschnitt  aus  dem  zu  erwartenden  nächsten  Bande  der  Geschichte 
dieses  Kaisers. 

Weitere  Jugendbriefe  Kurt  v.  Schlözers  aus  Paris  vom  Februar 
bis  zum  August  1846  reichend,  finden  sich  in  der  Deutschen  Revue, 
Sept.  1916. 

Die  JVIitteilungen  aus  dem  warmherzigen  und  gemütvollen  Brief- 
wechsel Gustav  Freytags  mit  Graf  und  Gräfin  Wolf  Baudissin 
(1856—1862,  Deutsche  Rundschau,  Juli-Sept.  1916)  bieten  neben  dem 


Neuere  Geschichte.  177 

biographischen  Interesse  auch  mancherlei  Bemerkungen  von  poli- 
tischem Charakter. 

Die  zuletzt  H.  Z.  116,  543  erwähnten  Aufzeichnungen  aus  dem 
Kriegstagebuch  des  sächsischen  Hauptmanns  (späteren  Generals) 
Wittich  V.  Einsiedel  von  1866  werden  im  Septemberheft  der  Deut- 
schen Rundschau  zu  Ende  geführt  (vom  18.  Juli  bis  zur  Rückkehr 
nach  Dresden,  8.  November). 

Im  Oktoberheft  der  Deutschen  Revue  beginnt  Fr.  Thimme 
mit  der  Veröffentlichung  von  Auszügen  aus  Briefen  des  bekannten 
Parlamentariers  W.  v.  Kardorff  (1828 — 1907)  an  seine  Gattin  über 
seine  parlamentarische  Tätigkeit  (zunächst  1866 — 1869)  als  Vorläufer 
einer  größeren  Arbeit  über  Bismarck  und  Kardorff. 

P.  Herre  („Metternich  und  Bismarck"  in  der  österr.  Rundschau, 

1.  Sept.  1916)  versucht  im  Anschluß  an  die  Zusammenstellung  der 
Nachrichten  beider  Staatsmänner  und  der  Fürstin  Pauline  Metternich 
über  ihre  wiederholten  Begegnungen  nachzuweisen,  daß  die  Nach- 
wirkung dieser  Zwiesprache  und  besonders  von  Metternichs  Wort 
von  der  Nichtsaturiertheit  Preußens  sich  in  Bismarcks  Politik  und 
bis  in  die  Gedanken  der  letzten  Jahre  verfolgen  lasse.  Anschließend 
sei  hier  nachträglich  auf  drei  bereits  1915  im  „Panther"  III,  1  erschie- 
nene Aufsätze  hingewiesen:  1.  D.  Schäfer,  Aus  Bismarcks  Minister- 
und Bundeskanzlerzeit  (Abschnitt  aus  der  Bismarck-Biographie  des 
Kaiser- Wilhelm-Dank):  Betrachtungen  über  Bismarcks  Persönlichkeit, 
Auftreten  und  Charakter,  über  die  Grundzüge  seiner  Politik  im  Kon- 
flikt, in  der  dänischen  Frage  und  bez.  des  allgemeinen  Wahlrechts. 

2.  Georg  Irmer,  Bismarck  und  die  deutsche  Kolonialpolitik,  ein  kurzer 
sachkundiger  Überblick  von  der  völligen  Ablehnung  bis  zur  Entsen- 
dung Wißmanns.  Widersprüche  in  Bismarcks  kolonialem  Werdegang 
will  Irmer  nur  als  „scheinbare"  gelten  lassen.  3.  P.  Herre,  „Bismarck 
und  Österreich".  Dieser  Aufsatz  behandelt  ein  wichtiges  Problem 
der  Bismarckforschung  und  zeigt  in  seiner  gewundenen  Beweisführung, 
wie  schwer  der  m.  E,  vergebliche  Versuch  ist,  im  Sinne  der  in  Deutsch- 
land überwiegend  herrschenden  Auffassung  Bismarcks  Anschauungen 
und  Verhalten  auf  diesem  Gebiete,  insbesondere  soweit  das  Verhältnis 
zu  Rußland  hineinspielt,  für  die  70er  und  80er  Jahre  als  einheitlich  und 
widerspruchslos  darzustellen  (s.  aber  schon  Th.  v.  Sosnosky,  Die  Balkan- 
politik Österreich-Ungarns  II,  1915);  Deutschlands  Verhalten  1914 
und  seinen  Entschluß  zum  Kriege  sieht  Herre  als  durch  den  Wandel 
der  Zeiten  gegebene  Konsequenz  Bismarckscher  Politik  an.  —  Kri- 
tische, zum  Teil  recht  problematische  Bemerkungen  zur  Bismarck- 
auffassung  und  Bismarckliteratur,  insbesondere  zu  Lenz'  Beitrag  im 
Bismarck- Jahrbuch  („Bismarck  als  Diplomat")  macht  S.  S aenger 
im  Oktoberheft  der  Neuen  Rundschau.  K.  J. 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  12 


178  Notizen  und  Nachrichten. 

Auf  die  Bd.  116,  358  erwähnte  Besprechung  der  „Genesis  der 
Emser  Depesche"  durch  L.  Rieß  hat  R.  Fester  (Forsch,  z.  branden b. 
u.  preuß.  Gesch.  29,  1)  sachlich  nur  in  einem  Puni<te  (Übersetzung 
von  amends)  geantwortet,  in  dem  Rieß  erwidernd  bei  seiner  Deu- 
tung bleibt.  Auf  die  Angriffe  Festers  gegen  die  Redaktion  der  For- 
schungen erfolgt  a.  a.  O.  von  dem  Herausgeber  M.  Klinkenborg 
eine  sehr  entschiedene  Zurückweisung, 

Auf  Wunsch  des  Generalauditeurs  Fleck  hat  Edwin  v.  Man- 
teuffel  1872  den  von  Fleck  herrührenden  Entwurf  zum  Militärstraf- 
gesetzbuch eingehender  brieflicher  Kritik  unterzogen:  ganz  vom  preu- 
ßisch-militärischen Standpunkt  aus;  anregend  und  mit  sehr  beach- 
tenswerten Einzelheiten,  unitarisch  („diese  Pseudoprovinzen"),  aber 
ganz  ablehnend  gegen  die  prinzipiellen  und  einzelnen  Konzessionen 
an  die  Forderungen  des  Liberalismus  (herausgegeben  von  E.  Lennhoff, 
Deutsche  Revue,  Sept.  1916). 

In  dem  Septemberheft  der  Deutschen  Rundschau  findet  sich  ein 
Aufsatz  von  G.  v,  Graevenitz  über  die  deutsche  Militärmission  in 
der  Türkei,  insbesondere  die  Wirksamkeit  von  Moltke  und  v.  d.  Goltz, 

Beachtenswert  als  Ausdruck  politischer  Stimmungen  erscheint 
die  kritische  Besprechung  der  „deutschen  Politik"  des  Fürsten  Bülow 
durch  M.  Spahn  (Hochland,  Sept.  1916).  Sein  lebhafter  Tadel  trifft 
doch  die  Grundgedanken  der  auswärtigen  Politik  seit  der  Jahrhundert- 
wende, seine  tiefe  innere  Abneigung  die  ganze  innere  Politik  (nament- 
lich der  letzten  Jahre)  Bülows,  von  der  Spahn  eigentlich  nur  den 
Zolltarif  von  1902  gelten  läßt.  Er  wirft  Bülow  vor  allem  die  Verkenn ung 
der  schöpferischen  Kräfte  des  konservativen  Staatsgedankens  vor  und 
stellt  ihn  mit  seiner  „liberalen  Psyche"  und  als  Vorkämpfer  jener 
konservativ-liberalen  Mittelrichtungen,  bei  denen  alles  wahrhaft  Kon- 
servative verflüchtigt  sei,  in  dunklen  Gegensatz  zu  dem  hellen  Vorbild 
Bismarckscher  Staatsanschauung  und  Staatskunst:  denn  „Preußen 
und  das  Reich  ruhen  von  Natur  und  Geschichte  und  dank  Bismarck 
auf  konservativen  Grundlagen",  wozu  freilich  das  Bild,  das  Spahn 
selbst  in  seiner  Biographie  Bismarcks  von  der  Epoche  der  Reichs- 
gründung (III,  2;  IV,  1)  entworfen  hat,  nicht  eben  stimmt.  Stärker 
noch  als  zuvor  sieht  Spahn  das  Heil  Deutschlands  nur  in  völliger  Ab- 
kehr vom  Liberalismus  und  alleinigem  Aufbau  auf  konservativen 
Grundlagen,  wobei  die  Perspektive  auf  Paritätsforderungen  bis  zu 
den  Reichsstaatssekretären  nicht  fehlt.  K.  J. 

Neue  Bücher:  Chuquet,  De  Fridiric  II  ä  Guillaume  IL  {Paris, 
E.  de  Boccard.  3,50  fr.)  —  Otto  Brandt,  England  und  die  Napo- 
leonische Weltpolitik  1800—1803.  2.  verb.  Aufl.  (Heidelberg,  Winter. 
5  M.)  —  Roloff,  Die  Orientpolitik  Napoleons  I.    (Weimar,  Kiepen- 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  179 

heuer.  1,60  M.)  —  Melden,  Zur  Geschichte  des  österreichisch-russi- 
schen Gegensatzes.  Die  Politik  der  europäischen  Großmächte  und  der 
Aachener  Konferenzen.  (Wien,  Seidel  &  Sohn.  4  JVl.)  —  Les  origines 
diplomatiques  de  la  guerre  de  1870 — i8yi.  Tome  10.  2  juin — 10  juillet 
1866.  (Paris,  Ficker.)  —  Haller,  Bismarcks  Friedensschlüsse.  (Mün- 
chen, Bruckmann.    2  M.) 

Neueste  Geschichte  seit  1871. 

In  seinem  „Weltpolitischen  Wanderbuche"  legt  P.  Rohrbach 
1916  eine  Sammlung  von  Reiseskizzen  seit  1897  vor,  in  der  die  neueste 
Entwicklung  von  Weltpolitik  und  Weltwirtschaft  vielfach  beleuchtet 
wird.  Geschichtlich  ertragreicher  ist  die  in  2.  Auflage  erschienene 
Schrift:  „Der  Krieg  und  die  deutsche  Politik."  Über  Rohrbachs  son- 
stige kriegspublizistische  Tätigkeit  haben  wir  hier  nicht  zu  urteilen. 

Als  völkerrechtlicher  Chronist  des  Weltkrieges  betätigt  sich  neben 
andern  E.  Müller-Meiningen  mit  seinem  stoffreichen  Werke:  „Der 
Krieg  und  der  Zusammenbruch  des  Völkerrechts"  (3.  Aufl.,  1916). 
Polemisch  gehalten  sind  R.  W.  Horns  Ausführungen  über  Volks- 
charakter und  Kriegspolitik  im  Dreiverband  (Kriegspolitische  Einzel- 
schriften 9, 1916).  K.  A.  V.  Müllers  Vortrag  „über  die  Stellung  Deutsch- 
lands in  der  Welt"  (1916)  ist  durch  gute  geschichtliche  Übersicht 
ausgezeichnet. 

Die  höchst  lehrreiche,  vom  Handelsmuseum  in  Wien  heraus- 
gegebene österreichische  Monatsschrift  für  den  Orient  liegt 
bis  zum  42.  Bande  vor. 

Eine  dankenswerte  Orientierung  über  die  neuere  Türkeiliteratur 
veröffentlicht  H.  Grothe  in  den  von  ihm  redigierten  Beiträgen  zur 
Kenntnis  des  Orients  13,  1916. 

In  der  Deutschen  Orientbücherei  17,  1916  behandelt  C.  A. 
Schäfer,  ein  guter  Kenner  der  neuesten  Geschichte  der  deutsch- 
türkischen Wirtschaftsbeziehungen,  „die  Entwicklung  der  Bagdadbahn- 
politik" in  breitem  weltpolitischen  Rahmen.  Die  Arbeit  ist  reich 
an  brauchbaren  geschichtlichen  Gesichtspunkten.  Die  günstigen  Ur- 
teile, die  der  Verfasser  auch  über  die  weltpolitischen  Erfolge  der 
deutschen  Maßnahmen  ausspricht,  sind  jedoch  sachlich  nicht  immer 
gerechtfertigt. 


Italiens  Eintritt  in  den  Krieg  hat  bisher  keine  Veranlassung 
gegeben,  die  außerordentlich  dürftige  reichsdeutsche  Literatur  über 
die  Geschichte  des  Königreichs  Italien  und  seine  Stellung  in  der  Ge- 

12* 


180  Notizen  und  Nachrichten. 

schichte  der  Weltpolitik  wesentlich  zu  ergänzen.  Die  ältere  österrei- 
chische Tendenzschrift:  „Italiens  Mittelmeerpolitik  und  die  Dreibund- 
krise" von  F.  Rudolf  (2.  Aufl.,  1912)  bleibt  an  der  Oberfläche,  noch 
mehr  M.  Schloß,  Italien  und  wir  (Wien  1915).  Ähnliches  gilt  von 
Frhr.  B.  L.  v.  Mackay,  Italiens  Verrat  am  Dreibunde  (1915). 

Sprunghaft  gehalten  ist  J.  P.  Büß,  Die  italienische  Frage  und 
die  Zentralmächte  im  letzten  Jahrhundert  bis  zur  Gegenwart  (1916) 
und  der  Aufsatz  „Bismarck  und  die  italienische  Politik"  (Grenzboten 
35,  1916).  Besser  gelungen  ist  J.  Patzelts  Überblick  „Von  Crispi 
bis  Sonnino"  (Wien  1915).  Die  anonyme  Schrift  „Das  Schicksal  Ita- 
liens" (2.  Aufl.,  1916)  läßt  geschichtlich  manche  Frage  offen. 

Eine  wirkliche  Bereicherung  der  historischen  Literatur  ist  dagegen 
A.  Pingaud,  L'Italie  depuis  i8yo  (344  S.,  1915,  mit  brauchbarer 
Bibliographie).  Der  Verfasser,  der  kurz  vorher  zwei  tüchtige  Arbeiten 
über  die  Geschichte  der  Napoleonischen  Herrschaft  in  Italien  veröffent- 
licht und  mehrere  Jahre  in  Mailand  gelebt  hat,  gibt  einen  klaren  und 
inhaltreichen  Überblick  besonders  über  die  Entwicklung  der  äußeren 
Politik  des  Königreichs  Italien,  wie  er  in  der  reichsdeutschen  Literatur 
noch  durchaus  fehlt,  natürlich  mit  scharfer  französischer  Tendenz. 
Der  deutsche  wissenschaftliche  Historiker  wird  jedoch  ein  gründliches 
Buch  mit  französischer  Tendenz  einem  oberflächlichen  mit  deutscher 
Tendenz  immer  noch  vorziehen.  Auch  dieses  zeitgeschichtliche  Hand- 
buch eines  Franzosen  kann  wie  viele  andere  ähnliche,  an  denen  die 
französische  Literatur  zur  Geschichte  der  Weltpolitik  so  reich  ist, 
den  deutschen  Historikern  nur  empfohlen  werden.  Von  Billots  auf- 
schlußreichen Denkwürdigkeiten  (2  Bände,  1905)  hat  Pingaud  übrigens 
nicht  genügend  Gebrauch  gemacht. 

Weit  weniger  gehaltvoll  und  dabei  oberflächlicher  und  gehässiger 
ist  E.  J.  Dil  Ions  Arbeit:  From  the  Triple  to  the  Quadruple  Alliance. 
Wfiy  Italy  went  to  war  (1915,  242  S).  Seine  Beziehungen  zu  italienischen 
und  österreichischen  Politikern  und  Journalisten  benutzt  der  sehr 
selbstbewußt  auftretende  Verfasser  öfters  nur  zur  Mitteilung  von 
Diplomatenklatsch  und  zu  empörenden  Ausfällen  gegen  die  Mittel- 
mächte. Der  wirtschaftliche  Einfluß  Deutschlands  (the  Cain  among 
the  nations  of  the  earth)  in  Italien  wird  in  den  abschreckendsten  Formen 
geschichtlich  dargestellt.  Noch  schwächer  ist  W.  O.  Pitt,  Italy  and 
the  Unholy  Alliance  (1915,  224  S.). 

Wir  notieren  ferner  die  schon  1913  erschienene  Giolitti-Biogra- 
phie  von  T.  Palamenghi-Crispi  (270  S.)  und  G.  E.  Curätulo, 
Francia  e  Italia  ....  1849—1914  (238  S.,  1915).  Die  „innerpoliti- 
t^chen  Mächte  Italiens"  behandelt  E.  W.  Mayer,  Preußische  Jahr- 
bücher 160,  1915. 


Deutsche  Landschaften.  181 

Stimmungsbilder  aus  der  letzten  Zeit  vor  dem  Bruche  zeichnet 

E.  Rose,  im  römischen  Hexenkessel  [1915].  O.  Müller,  Irrung 
und  Abfall  Italiens  (Zwischen  Krieg  und  Frieden  28,  1915)  liefert 
recht  optimistisch  gesehene  Beiträge  zur  geschichtlichen  Psychologie 
des  italienischen  Verrates.  L.  Geigers  kulturgeschichtliche  Aus- 
lassungen (Los  von  Italien?  Bibliothek  für  Volks- und  Weltwirtschaft 
17,  1916)  sind  ebenso  wie  die  von  W.  Weisbach  (Neue  Rundschau 
27,  1916)  historisch-politisch  wenig  befriedigend. 

Die  nähere  Vorgeschichte  des  Eintritts  Italiens  in  den  Krieg 
und  seine  Verhandlungen  mit  den  Bundesgenossen  werden  von 
Severus  (Zehn  Monate  italienischer  Neutralität:  Perthes'  Schriften 
zum  Weltkrieg  8,  1915)  und  von  W.  N.  Doerkes-Boppard  (H.  Z. 
Bd.  116,  S.  363)  sachkundig  und  gründlich  dargestellt,  während  sich 

F.  Grüner  (Der  Treubruch  Italiens  1916)  damit  begnügt,  die  Bunt- 
bücher zu  exzerpieren  und  dazu  einen  kurzen  verbindenden  Text  zu 
liefern.  Der  Kritik  des  italienischen  Grünbuchs  widmet  sich  auch 
Graf  F.  L.  v.  Voltolini  (Nord  und  Süd   156,   1916). 

Eine  treffliche  historisch-politische  Würdigung  des  Irredentismus 
verdanken  wir  Ph.  Hildebrandt  (Deutsche  Revue  41,1916).  Th. 
V.  Sosnosky  beschäftigt  sich  in  seiner  Schrift  über  Irredentapolitik 
(Der  deutsche  Krieg  55,  1915)  ähnlich  wie  in  seinem  Werke  über 
Österreich-Ungarns  Balkanpolitik  und  in  seiner  Broschüre  „Der  Traum 
vom  Dreibund"  (Flugschriften  für  Österreich-Ungarns  Erwachen  8.9, 
1916)  u.  a.  mit  einer  geschichtlichen  Kritik  des  Irredentismus  und 
auch  der  Ährenthalschen  Politik  gegenüber  Italien.  Wir  verweisen 
ferner  auf  das  kürzlich  erschienene  Buch  von  M.  Mayr  (Innsbruck 
1916)  und  auf  den  ausgezeichneten  älteren  Aufsatz  von  Th.  Fischer 
(Zeitschrift  für  Politik  3,  1910).  J.  Hashagen. 

Neue  Bücher:  Fife,  The  german  empire  between  two  wars.  A 
study  of  the  political  and  social  development  of  the  nation  between  i8yi 
and  1914.  (London,  Macmillan.  6  sh.  6  d.)  —  Fürst  v.  Bülow, 
Deutsche  Politik.  (Berlin,  Hobbing.  6  M.)  —  E.  Daudet,  Les 
auteurs  de  la  guerre  de  1914.  I:  Bismarck.  (Paris,  Attinger  fr^res. 
3,50  fr.)  —  Hoetzsch,  Politik  im  Weltkrieg.  (Bielefeld,  Velhagen 
&  Klasing.  1,50  M.)  —  Steffen,  Demokratie  und  Weltkrieg.  (Aus 
dem  Schwedischen  übersetzt  von  Margar.  Langfeldt.)  (Jena,  Diede- 
richs.    5  M.) 

Deutsche  Landschaften. 

Aus  der  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins,  N.  F.  31,  3: 
Christian  Roder:  Villingen  und  der  obere  Schwarzwald  im  Bauern- 
krieg (mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Schicksale  und  Leistungen 

12** 


182  Notizen  und  Nachrichten. 

des  dortigen  Bauernführers  Hans  Müller);  Joh.  Adam:  Versuch  einer 
Bibliographie  Kaspar  Hedios,  des  Mitarbeiters  von  Bucer  bei  der 
Straßburger  Reformation;  Hans  Kaiser:  Romfahrten  eines  elsässi- 
schen  Johanniters  zu  Ausgang  des  17.  Jahrhunderts  (aus  den  Akten 
des  Straßburger  Johanniterhauses). 

Aus  Anlaß  der  Jahrhundertfeier  der  Zugehörigkeit  der  Pfalz 
zum  Königreich  Bayern  stellt  Albert  Becker  in  der  Monatsschrift 
„Pfälzische  Heimatskunde"  12,  Heft  4  u.  5  eine  Liste  der  aus  der  Pfalz 
hervorgegangenen  Männer  zusammen,  die  während  dieser  100  Jahre 
Bedeutung  für  das  deutsche  Geistesleben  besessen  haben  (Pfälzer 
Geistesleben  im  letzten  Jahrhundert).  Die  pfälzische  Geschichts- 
forschung desselben  Zeitraums  schildert  Hermann  Schreibmüller 
in  den  Deutschen  Geschichtsblättern  17,  Heft  6. 

Die  Zeitschrift  des  Vereins  für  hessische  Geschichte  und  Landes- 
kunde N.  F.  39  enthält  Ausführungen  von  Georg  Wolff  über  einige 
Aufgaben  der  archäologischen  Bodenforschung  in  Oberhessen,  eine 
Untersuchung  von  Ludwig  Armbrust  über  Göttingens  Beziehungen 
zu  hessischen  Städten  im  späteren  Mittelalter  und  die  die  Zeit  von 
1375 — 1377  umspannende  Fortsetzung  der  Beiträge  zur  Geschichte 
des  Landgrafen  Hermann  II.  von  Hessen  von  Friedrich  Küch. 

Im  Jahrbuch  1915  des  Historischen  Vereins  für  Nördlingen  und 
Umgebung  schildert  Georg  Grupp  die  Jugendzeit  des  späteren  baye- 
rischen Ministers  Fürsten  Ludwig  von  Oettingen-Wallerstein  und  die 
Mediatisierung  seines  Hauses  im  Jahre  1806. 

Ein  Bild  der  Verhältnisse  in  Bayreuth  zur  Zeit  des  Markgrafen 
Georg  Friedrich  in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  entwirft 
auf  Grund  der  Kirchenbücher  Franz  Herrmann  in  dem  Archiv  für 
Geschichte  und  Altertumskunde  von  Oberfranken  26,  2. 

Bilder  aus  dem  Leben  der  Geistlichen  der  Diözese  Eichstätt  ura 
die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  zeichnet  A.  Hirschmann  in  dem  Ar- 
chiv für  Kulturgeschichte  12,  Heft  3  u.  4,  unter  Benutzung  des  im  Eich- 
stätter  Ordinariatsarchiv  erhaltenen  Geschäftsbuches,  das  Tobias 
Frankmann  unter  dem  Titel  Vicariatus  Über  führte. 

Das  langjährige,  schließlich  doch  vergebliche  Sträuben  des  Kölner 
Kurfürsten  Joseph  Klemens  aus  dem  Hause  Witteisbach  gegen  die 
Annahme  der  Weihen  wird  dargestellt  von  Heinrich  Schrörs  in  den 
Annalen  des  Historischen  Vereins  für  den  Niederrhein  98  (Die  Berufs- 
kämpfe des  Kurfürsten  Joseph  Klemens). 

Seinem  Bericht  über  die  Arbeiten  während  des  Geschäftsjahres 
1915/16  an  der  Herausgabe  des  niedersächsischen  Städteatlas,  Abtei- 
lung Braunschweig,  fügt  P.  J.  Meier  eine  Einzeluntersuchung  hinzu 


Deutsche  Landschaften.  183 

über  die  Entstehungsgeschichte  von  Helmstedt,  wobei  er  sich  auf  den 
Grundriß  und  die  Fkirgestaltung  stützt  (in  dem  6.  Jahresbericht  der 
Historischen  Kommission  für  Hannover,  Oldenburg,  Braunschweig, 
Schaumburg-Lippe  und  Bremen,  S.  15  ff.). 

Aufzeichnungen  und  Briefe  zur  schleswig-holsteinischen  Geschichte 
während  dreier  Jahrhunderte  (von  1621 — 1891)  veröffentlicht  P.  v.  He- 
demann-Heespen  in  den  Quellen  und  Forschungen  zur  Geschichte 
Schleswig-Holsteins  Bd.  3;  er  entnimmt  sie  den  beiden  Archiven  von 
Deutsch-Nienhof.  An  derselben  Stelle  druckt  Ch.  A.  Volquardsen 
einen  Auszug  aus  den  Denkwürdigkeiten  des  Majors  der  schleswig- 
holsteinischen Armee  Hans  Hornemann  van  Aller  ab,  die  vor  allem 
auf  die  Ereignisse  nach  1848  einiges  Licht  werfen. 

Die  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  schleswig-holsteinische  Ge- 
schichte Bd.  45  enthält  eine  Reihe  größerer  Arbeiten:  F.  Cierpinski 
setzt  seine  an  dieser  Stelle  schon  angezeigten  Untersuchungen  über  die 
Politik  Englands  in  der  schleswig-holsteinischen  Frage  fort;  der  dies- 
mal veröffentlichte  Teil  umfaßt  die  Zeit  von  Ende  Dezember  1863 
bis  Anfang  Februar  1864  und  behandelt  im  wesentlichen  die  Vorgänge 
innerhalb  Englands,  nicht  so  sehr  die  Verhandlungen  des  Kabinetts 
mit  den  andern  Mächten.  Ebenfalls  mit  den  Problemen,  die  das  Jahr 
1864  der  Geschichtsforschung  bietet,  beschäftigt  sich  der  Vortrag 
von  Prof.  Graef :  1864;  Schleswig-Holstein  und  das  Ausland,  der  sich 
auf  die  bekannte  Publikation  der  französischen  Regierung  über  den 
diplomatischen  Ursprung  des  Krieges  von  1870/71  stützt.  G.  Adler 
untersucht  die  Volkssprache  in  dem  vormaligen  Herzogtum  Schleswig, 
Prof.  Wegemann  stellt  die  Größenveränderungen  zusammen,  die 
Schleswig- Holstein  seit  1230,  seit  dem  Jahre,  in  dem  673  qkm  Marsch- 
land der  Nordsee  zum  Opfer  fielen,  erfahren  hat.  Paul  v.  Hedemann- 
Heespen  erstattet  den  Literaturbericht  über  die  Jahre  1913 — 1915. 
Schließlich  gibt  Felix  Rachfahl  die  Dissertation  eines  seiner  Schüler, 
der  im  Felde  gefallen  ist,  Richard  Heberling,  heraus,  die  Zauberei 
und  Hexenprozesse  in  Schleswig-Holstein-Lauenburg  zum  Gegenstand 
hat.  Mit  demselben  Stoff,  allerdings  beschränkt  auf  das  17.  Jahr- 
hundert, beschäftigt  sich  eine  Abhandlung  von  Emil  Allgäuer  in  dem 
Archiv  für  Geschichte  und  Landeskunde  Vorarlbergs  11,  Heft  2 — 4 
(Zeugnisse  zum  Hexenwahn  des  17.  Jahrhunderts). 

An  Hand  der  Arbeiten  von  J.  Freund  und  Priebatsch  stellt 
Heinrich  Pudor  einige  Seiten  der  brandenburgisch-preußischen  Juden- 
gesetzgebung bis  1730  in  den  Deutschen  Geschichtsblättern  17,  Heft  8/9 
dar. 

Die  Wechselwirkung  von  städtischer  und  staatlicher  Gewalt  in 
der  Geschichte  Berlins  untersucht  E.  Kaeber  in  der  Zeitschrift  für 


184  Notizen  und  Nachrichten. 

Politik  Bd.  9,  Heft  3  u.  4.  Der  erste  bis  zum  Kurfürsten  Friedrich  II. 
hinreichende  Teil  ist  auch  abgedruckt  in  den  JVIitteilungen  des  Vereins 
für  die  Geschichte  Berlins  1916,  11. 

Das  13.  Jahrbuch  für  brandenburgische  Kirchengeschichte  bringt 
den  Schluß  der  Arbeit  von  Hans  Schulze:  Zur  Geschichte  des  Grund- 
besitzes des  Bistums  Brandenburg,  und  den  zweiten  Teil  der  von  Gustav 
Ad.  Skalsky  mitgeteilten  Quellen  und  Belege  zur  Geschichte  der 
böhmischen  Emigration  nach  Preußen.  Walter  Wen  dl  and  liefert 
einen  Baustein  zur  Vorgeschichte  der  Freiheitskriege  in  seiner  Abhand- 
lung über  Gottfried  August  Ludwig  Hanstein  als  patriotischen  Prediger 
in  Berlin.  Hingewiesen  sei  auch  auf  die  Miszelle  desselben  Verfassers, 
in  der  er  die  in  seinem  Buch  über  L.  E.  v.  Borowski  vorgetragenen  An- 
schauungen von  dessen  Einfluß  auf  die  Art  der  Frömmigkeit  Friedrich 
Wilhelms  III.  modifiziert. 

In  der  Zeitschrift  des  Vereins  für  Thüringische  Geschichte  und 
Altertumskunde,  N.  F.  23,  1  beginnt  N[.  Vollert  eine  Geschichte  der 
Kuratel  der  Universität  Jena.  Die  Begründung  dieses  Amts  im  Jahre 
1819  war  eine  Folge  der  Karlsbader  Beschlüsse.  Der  vorliegende  Teil 
beschäftigt  sich  mit  der  Tätigkeit  der  beiden  ersten  Kuratoren  v.  Motz 
und  v.  Ziegesar  in  der  Zeit  von  1820 — 1843. 

Angeregt  durch  einen  Artikel  der  Times,  der  die  Angabe  der 
Preußischen  Geschichte  von  Pierson  über  Menschenfresserei  in  Schle- 
sien nach  dem  Dreißigjährigen  Kriege  gegen  das  Deutschtum  aus- 
schlachtet, hat  Meinardus  sich  die  Mühe  einer  aktenmäßigen  Unter- 
suchung der  betreffenden  Ereignisse  gemacht  und  dabei  festgestellt, 
daß  von  irgendeiner  weiteren  Verbreitung  keine  Rede  sein  kann,  son- 
dern daß  nur  in  einem  einzigen  Falle  von  Seiten  eines  besonders  üblen 
Verbrechers  derartiges  nachweisbar  ist.  („Schlesische  Menschen- 
fresserei" —  eine  Geschichtsfabel,  in  den  Schlesischen  Geschichts- 
blättern 1916,  3.) 

Hans  Roemer,  Die  Baumwollspinnerei  in  Schlesien  bis  zum 
preußischen  Zollgesetz  von  1818.  Darstellungen  und  Quellen  zur 
schlesischen  Geschichte  Bd.  19.  Ferd.  Hirt,  Breslau  1914.  83  S.  — 
Nach  einem  Überblick  über  die  Einbürgerung  und  Entwicklung  der 
Baumwollspinnerei,  d.  h.  der  Erzeugung  von  Baumwollengarn,  in 
Schlesien  bis  zum  Jahr  1740  schildert  der  Verfasser  die  weiteren  Schick- 
sale der  Baumwollspinnerei  unter  der  Herrschaft  des  preußischen 
Merkantilismus  bis  zu  dessen  endgültigem  Fall  durch  das  Zollgesetz 
von  1818.  Es  handelt  sich  um  ein  trauriges  Kapitel  aus  der  friderizia- 
nischen  Wirtschaftspolitik;  bald  fallen  die  Maßnahmen  der  Regierung 
wirkungslos  zu  Boden,  bald  widersprechen  sie  einander  und  heben 
sich  dadurch  auf;  die  Rücksicht  auf  die  schlesische  Leinenindustrie 


Deutsche  Landschaften.  185 

führt  mehr  als  einmal  zur  Schädigung  der  Baumwoliindustrie.  Als 
am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  die  Einführung  von  Spinnmaschinen 
in  Frage  stand,  wußte  die  Staatsverwaltung  nicht  recht,  was  sie  tun 
sollte,  da  man  von  der  Maschinenspinnerei  eine  zu  starke  Schädigung  der 
im  Gebirge  angesessenen  Handspinner  befürchtete.  Im  zweiten  Teil 
seiner  Darstellung  führt  der  Verfasser  —  und  das  ist  dankenswert 
und  höchst  nachahmenswert  —  eine  Reihe  von  typischen  Betrieben 
der  Baumwollweberei  und -Spinnerei  vor,  so  daß  man  die  tatsächlichen 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  vor  Augen  hat  und  sie  nicht  bloß  von  dem 
einseitigen  Standpunkt  der  Regierung  und  ihrer  Akten  ansieht.  Gerade 
dieser  Teil  läßt  uns  bedauern,  daß  der  Verfasser  den  vergeblichen 
Versuch,  die  Baumwollspinnerei  in  den  Vordergrund  zu  schieben, 
nicht  aufgegeben  hat,  da  er  doch  immer  wieder  über  die  Weberei  und 
ihren  Absatz  reden  muß;  es  ist  schade,  daß  er  nicht  die  Geschichte  des 
gesamten  Baumwollgewerbes  in  Schlesien  geschrieben  hat. 

Ziekursch. 

Im  Selbstverlag  des  Vereins  für  Geschichte  der  Deutschen  in 
Böhmen  erschien  ,,Das  älteste  Böhmisch-Kamnitzer  Stadtbuch" 
(Prag  1915,  Kommissionsverlag  von  J.  C.  Calve).  Mit  der  Herausgabe 
hatte  sich  Adalbert  Horcicka  Jahre  hindurch  eifrig  beschäftigt.  Nach 
seinem  jüngst  erfolgten  Tode  wurden  seine  Vorarbeiten  dem  Archiv- 
verwalter des  Vereins,  Joseph  Bergl  zur  Richtigstellung  des  Textes, 
Alois  Bernt  zur  fachmännischen  Würdigung  des  Buches  vom  sprach- 
geschichtlichen und  Otto  Peterka  zu  der  vom  rechtsgeschichtlichen 
Standpunkte  aus  übergeben.  So  schließen  sich  an  die  Ausgabe  des 
Stadtbuches  selbst  zwei  umfangreiche  Aufsätze  „über  die  Sprache  des 
Stadtbuches"  (S.  158 — 221)  und  „über  dessen  rechtsgeschichtliche  Be- 
deutung" (S.  222 — 249)  an,  die  den  Gegenstand  in  erschöpfender  Weise 
behandeln.  Die  Aufzeichnungen  im  Stadtbuche  beginnen  mit  dem 
Jahre  1380  und  reichen  bis  an  die  Wende  des  15.  Jahrhunderts.  Sie 
bieten  für  die  Lokal-,  Rechts-  und  Kulturgeschichte  wichtige  Mate- 
rialien. Die  volkstümliche  Fassung  der  Eintragungen  läßt,  wie  Peterka 
mit  Recht  anmerkt,  das  Rechtsleben  in  einer  den  deutschen  Dorf- 
weistümern  vergleichbaren  Unmittelbarkeit  vor  uns  erstehen.  Der 
damals  noch  beschränkte  Verkehr,  der  stete  Bürgerkreis  und  die  große 
Rolle,  welche  die  Verwandtschaft  in  dem  Stadtbuche  spielt,  zeigen 
ein  Bild  von  seltener  Geschlossenheit.  Die  Ausgabe  selbst  ist  unter 
Berücksichtigung  der  zahlreichen  Berichtigungen  des  Stadtbuchtextes 
(S.  251—258)  eine  gute. 

Graz.  J.  Loserth. 

Die  in  dem  neuesten  (32.)  Band  des  Archiv  cesky  (Prag  1915) 
befindlichen  Materialien  enthalten  die  Fortsetzung  der  im  7.  Bd.  be- 
gonnenen, in  den  Bänden  10 — 12,  dann  zuletzt  im  19.  Band  weiter- 


186  Notizen  und  Nachrichten. 

geführten  Ausgabe  des  Registers  des  Kammergerichtes  von  1518 — 1524, 
und  zwar  die  Nummern  3011 — 5136  in  der  Bearbeitung  von  Jaromir 
Celakovsky.  Sie  sind  meist  Vorladungen,  enthalten  Aussagen  an 
Eidesstatt,  Rechtssprüche  usw.  und  haben  für  die  innere  Geschichte 
Böhmens,  für  die  Rechts-  und  Familiengeschichte,  teilweise  auch  für 
die  Wirtschaftsgeschichte  Bedeutung.  Von  den  2125  Nummern  sind 
nur  16  in  deutscher,  die  übrigen  in  tschechischer  Sprache  geschrieben. 
Ein  besonderes  Interesse  beansprucht  Nr.  4346,  da  dort  —  es  handelt 
sich  um  ein  von  den  bayerischen  Herzögen  Wilhelm  IV.  und  Ludwig  X. 
verlangtes  Verhör  eines  früheren  Geistlichen  über  begangene  Fäl- 
schungen —  schon  von  der  Verbreitung  lutherischer  Schriften  in 
Böhmen  gesprochen  wird.  Die  Einleitung  orientiert  über  die  Über- 
lieferung des  Materials  und  das  ausführliche  Register  enthält  alles  auf 
Personen,  Orte  und  Sachen  Bezügliche. 

Graz.  J.  Loserth. 

Im  dritten  Bande  der  mittelalterlichen  Stiftsurbare  des  Erzher- 
zogtums Österreich  ob  der  Enns,  deren  zweiten  Teil  ich  in  dieser  Zeit- 
schrift 3.  F.  18,  469  f.  angezeigt  habe,  sind  die  Urbare  von  Baum- 
gartenberg, St.  Florian,  Waldhausen  und  Wilhering  wiedergegeben 
(hrsg.  von  Konrad  Schiffmann,  österreichische  Urbare  3.  Abt., 
2.  Bd.,  3.  Teil.  Wien  u.  Leipzig,  Wilh.  Braumüller,  1915.  VIII  u.  411  S.). 
Die  Texte  sind  nun  vollständig  abgedruckt,  es  ermangeln  nur  noch  die 
Register  und  Karten,  die  einen  vierten  Band  füllen  sollen.  Aus  der 
Zisterze  Baumgartenberg  rühren  ein  kleines  Urbar  eines  einzelnen 
Granariums  aus  dem  13.  Jahrhundert  und  ein  Urbar  von  1335  her, 
das  zunächst  nach  officia  geordnet  ist,  dann  die  Einkünfte  der  Infir- 
marie,  der  Kammer,  des  Pitantiarius,  des  Siechenamtes  und  der  Ku- 
stodie  gesondert  aufzählt  und  überdies  gewisse  spezielle  Dienste  (Ge- 
treidedienste, Käse-,  Eier-  und  Mohndienste,  Hand-  und  Zugroboten) 
eigens  beschreibt.  Das  bedeutende,  noch  heute  blühende  Augustiner- 
chorherrenstift St.  Florian  lieferte  ein  Oblaibuch  von  ca.  1325,  ein 
Gesamturbar  von  1378,  dem  die  Erwerbungen  von  1382 — 1436  nach- 
getragen sind,  endlich  drei  Register  von  1404,  1413  und  1445,  deren 
beide  erste  nur  Einkünfte  der  Prälatur  angeben,  während  das  dritte 
alle  Stiftsämter  mit  Ausnahme  der  Celleraria  berücksichtigt.  Das 
Urbar  von  1375  ist  vollständig  nach  den  einzelnen  Stiftsämtern  (Prä- 
latur usw.)  eingeteilt  und  behandelt  nur  das  Burgrecht  von  den  Wein- 
bergen in  Niederösterreich  und  die  gebräuchlichen  Geschenke  und 
Verpflichtungen  besonders.  Dem  Augustinerchorherrenstift  Wald- 
hausen gehören  ein  Gesamturbar  von  1451  und  drei  Teilurbare  von 
1476,  1489  und  1500  an;  das  erstere  mit  einfacher  Gliederung  in  die 
beiden  großen  Amtsbezirke  südlich  und  nördlich  der  Donau  und  in 


Deutsche  Landschaften.  187 

Güter,  deren  Zinse  dem  Stifte  oder  einzelnen  Klosterämtern  zuge- 
wiesen sind,  während  die  Teilurbare  schon  eine  Verkleinerung  und 
Vermehrung  der  Amtsbezirke  und  eine  Zentralisierung  der  Einkünfte 
des  Konvents  aufweisen.  Der  Zisterze  Wilhering  endlich  entstammt 
ein  Urbar  des  Stiftsbesitzes  im  Mühlviertel  von  1287  und  in  Nieder- 
österreich aus  etwas  späterer  Zeit,  zwei  Besitzverzeichnisse  von  ca. 
1343,  ein  Fragment  von  ca.  1340,  ein  Einnahmeregister  derselben  Zeit 
und  ein  Gelddienstregister  von  ca.  1354.  Ämter  werden  in  diesen 
urbarialen  Quellen  formell  nicht  geschieden,  jedoch  die  Verwaltungs- 
bezirke nach  den  Flüssen  getrennt  und  jedem  Amte  steht  ein  Officialis 
vor.  —  Ich  muß  mich,  da  ich  die  Manuskripte  nicht  heranziehen  kann, 
eines  eigenen  Urteils  über  Schiffmanns  Beschreibung  der  Handschriften 
und  Textwiedergabe  enthalten;  beides  scheint  nach  Mitteilung  des 
Herausgebers  der  oberösterreichischen  Weistümer  Dr.  Ignaz  Nößlböck 
der  Kritik  nicht  geringen  Anlaß  zu  bieten.  Die  knappen,  der  Besitz- 
lage  und  der  Gliederung  der  Urbare  dienenden  Vorbemerkungen  sind 
dankenswert;  aber  sie  können  keineswegs  einen  Ersatz  für  die  zusammen- 
fassende Darlegung  der  wirtschaftsgeschichtlichen  Ergebnisse  bieten, 
durch  die  die  Urbarausgabe  erst  recht  brauchbar  würde,  wie  die  Edi- 
tionen von  Dopsch  und  Fuchs  zeigen.  Selbstverständlich  könnte  es 
sich  nur  um  eine  einzige,  alle  in  den  Textbänden  herausgegebenen  Ur- 
bare heranziehende  Untersuchung  handeln;  andernfalls  ist  zu  befürch- 
ten, daß  derartige  umfangreiche  Editionen  eines  auf  den  ersten  An- 
blick trockenen,  farblosen  und  eintönigen  Materials  bei  bloßem  Text- 
abdrucke und  ohne  wirtschaftshistorische  Durchdringung  halb  un- 
fruchtbar bleiben.  Ein  anderes  Bedenken:  Für  die  Benutzbarkeit 
dieser  Urbare  wäre  es  wohl  von  Nutzen  gewesen,  wenn  die  Erklärungen 
der  geographischen  Namen,  wie  es  von  Dopsch  und  Fuchs  geschehen 
ist,  jeweils  unter  dem  Texte  gegeben,  nicht  erst  ins  Register  verwiesen 
worden  wären,  mochten  immerhin  zahlreiche  Wiederholungen  dadurch 
notwendig  werden.  Unbedingt  aber  wäre  es  m.  E.  ratsam  gewesen, 
die  urkundlichen  Belege  für  Personen  und  örtlichkeiten,  soweit  sie  zu 
erbringen  sind,  jedesmal  an  den  zugehörigen  Stellen  bei  den  Text- 
ausgaben anzuführen;  auf  diese  Art  erst  gewinnt  man  ja  die  Möglich- 
keit, das  Erwachsen  des  Besitzstandes  der  Grundherrschaft  zu  er- 
kennen, den  uns  die  Urbare  in  einem  bestimmten  Zeitpunkte  als  gegeben 
darstellen.  Allerdings  wären  zu  dieser  Arbeit  eindringende  Archiv- 
studien erforderlich  gewesen.  Nun  hat  Schiffmann  in  diesem  Bande 
nur  dem  kurzen  Oblaibuche  von  St.  Florian  aus  dem  Urkundenbuche 
des  Landes  ob  der  Enns  die  urkundlichen  Belege  beigegeben  und  dem 
Verzeichnisse  der  Einkünfte  Wilherings  in  Niederösterreich  Ortsbe- 
stimmungen und  Urkundenverweise,  die  noch  Grillnberger  lieferte, 
beigefügt.    Gerade  diese  letztere  Arbeit   Grillnbergers  aber  beweist. 


188  Notizen  und  Nachrichten. 

wie  wertvoll  solche  Kommentierung  ist,  die  sich  im  Register  gewiß 
nicht  nachholen  läßt. 

Graz.  Heinrich  Ritter  von  Srbik. 

Neue  Bücher:  Genealogisches  Handbuch  zur  Schweizer  Geschichte. 
3.  Band.  Niederer  Adel  und  Patriziat.  (Zürich,  Schultheß  &  Co.  20  JVl.) 

—  Stolze,  Die  deutschen  Schulen  und  die  Realschulen  der  AUgäuer 
Reichsstädte  bis  zur  Mediatisierung.  (Berlin,  Weidmann.  6  M.)  — 
Johs.  Jaeger,  Kloster  Ebrach  unter  seinem  ersten  Abt  Adam  (1126 
bis  1166),  (Nürnberg,  Koch.  1,50  JVl.)  —  Rode,  Das  Kreisdirektorium 
im  westfäl.  Kreise  von  1522 — 1609.    (Münster,  Coppenrath.    2,40  M.) 

—  Geschichtsquellen  der  Provinz  Sachsen.  44.  Bd.  1.  Tl.  Quellen 
zur  städt.  Verwaltungs-,  Rechts-  und  Wirtschaftsgeschichte  von  Qued- 
linburg vom  15.  Jahrh.  bis  zur  Zeit  Friedrichs  des  Großen.  1.  Tl. 
Bearb.  von  Herm.  Lorenz.  (Halle,  Hendel.  18  M.)  —  A.  v.  Engel- 
hard t.  Die  deutschen  Ostseeprovinzen  Rußlands.  (München,  Müller. 
3  M.)  —  V.  Jaksch,  Die  Kärntner  Geschichtsquellen.  (Klagenfurt, 
Kleinmayr.    2,50  M.) 


Die  Hethiter. 

Von 

Walter  Otto. 


Reich  und  Kultur  der  Chetiter.^  Von  Eduard  Meyer.  Berlin, 
Karl  Curtius.  1914.  VIII  u.  168  S.  122  Abbild,  im  Text, 
16  Lichtdrucktaf.  u.  1  Karte.    8  M. 

Werke  zusammenfassenden  Charakters,  die  als  unbedingt 
zuverlässige  Grundlage  für  alle  weitere  Forschung  dienen 
können,  besitzen  wir  für  die  ältere  Geschichte  und  Kultur 
Vorderasiens  abgesehen  von  einer  größeren  Reihe  derartiger 
Arbeiten  zur  jüdischen  Geschichte  bisher  leider  immer  noch 
sehr  wenige.  Dies  ist  kein  Zufall,  sondern  zum  großen  Teil 
durch  den  heutigen  Stand  der  Forschung  bedingt.   Hat  doch 

1)  Ich  wende  anders  wie  Eduard  Meyer  im  folgenden  stets  die 
früher  von  deutschen  Gelehrten  vor  allem  gebrauchte  Namensform 
„Hethiter"  an,  nicht  deswegen,  weil  ich  sie  für  besonders  glücklich  halte, 
sondern  weil  ich  die  Prägung  einer  neuen  deutschen  Namensform 
neben  den  schon  im  Gebrauch  befindlichen,  von  ihr  wiederum  ab- 
weichenden französischen  und  englischen  nur  dann  billigen  könnte, 
wenn  die  neue  Anspruch  darauf  erheben  könnte,  den  wirklichen  Laut- 
bestand des  Volksnamens  ganz  genau  wiederzugeben.  „Chetiter"  wird 
nun  aber  nicht  einmal  dem  Lautbestand,  wie  er  uns  in  keilschriftlichen 
Texten  überliefert  ist,  „Chatti",  gerecht.  Und  selbst  gegenüber  dieser 
Wiedergabe  des  Namens  ist  Vorsicht  am  Platze;  denn  wenn  auch  die 
Hethiter  selbst  ihren  Namen  keilschriftlich  auf  diese  Weise  geschrieben 
haben  (und  nicht  nur  die  fremden  Völker),  so  steht  doch  noch  nicht 
fest,  ob  nicht  die  fremde  Schrift  und  vielleicht  vor  allem  die  in 
dieser  von  fremder  Seite  bereits  geprägte  Schriftform  des  Namens  der 
Genauigkeit  der  Transkription  im  Wege  gestanden  hat. 
Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  13 

By 


190  Walter  Otto, 

diese  auf  vorderasiatischem  Gebiet  mit  voller  Kraft  verhält- 
nismäßig spät,  viel  später  z.  B.  als  für  Ägypten,  eingesetzt, 
und  außerdem  hat  sie  auch  erst  sehr  viel  später  als  die  Ägypto- 
logie gelernt,  Selbstzucht  zu  üben;  so  gehen  die  Ergebnisse 
auch  noch  heutigentags  selbst  in  grundlegenden  Fragen  weit 
auseinander,  wenn  sich  auch  gerade  etwa  in  den  letzten 
20  Jahren  unter  den  beteiligten  Forschern,  abgesehen  von 
den  unbelehrbaren  Panbabylonisten,  eine  gewisse  Einigung 
anzubahnen  beginnt.  Inwieweit  diese  auch  bei  der  schon 
so  viel  behandelten  Hethiterfrage  eintreten  wird,  läßt  sich 
augenblicklich  leider  noch  nicht  voraussehen,  obwohl  das 
letzte  Jahrzehnt  Entdeckungen  gebracht  hat,  welche  die 
größte  Hoffnung  auf  eine  endgültige  Klärung  erwecken. 

Die  wichtigen  in  den  Jahren  1906  und  1907  gemachten 
Funde  in  Boghazköi  in  Kappadokien,  die  wir  der  Tatkraft 
Hugo  Wincklers  verdanken,  haben  uns  nämlich  nicht  nur 
reiches  neues  archäologisches  Material  gebracht,  sondern  sie 
haben  uns  auch  aus  den  Archiven  dieses  Ortes,  der  sich 
als  die  Hauptstadt  des  hethitischen  Großreiches  erweist, 
neben  zahlreichen  Urkunden  in  akkadischer  (babylonischer) 
Schrift  und  Sprache  auf  über  20000  Keilschrifttäf eichen  eine 
geschlossene  Masse  wenigstens  sicher  zu  lesender  Texte  in 
hethitischer  Sprache  beschert.  Sie  alle  stammen  aus  dem 
14.  und  13.  Jahrhundert  v.  Chr.  Der  Inhalt  ist,  soweit  schon 
jetzt  ein  Urteil  gestattet  ist,  ungewöhnlich  reichhaltig;  rein 
literarische  Texte,  unter  denen  die  religiöse  Literatur  stark 
vertreten  zu  sein  scheint,  finden  sich  neben  reichem  ur- 
kundlichen Material:  Bruchstücken  aus  der  umfangreichen 
diplomatischen  Korrespondenz  der  hethitischen  Großkönige 
mit  den  Höfen  ihrer  Vasallen,  mit  denen  Ägyptens,  Baby- 
loniens  und  Assyriens,  königlichen  Erlassen,  Staatsverträgen 
mit  den  auswärtigen  Mächten  u.  dgl.  Leider  ist  bisher  nur 
ein  ganz  geringer  Teil  der  Funde  veröffentlicht^),  und  erst 


1)  S.  Puchstein-Kohl:  Boghazköi  —  Die  Bauwerke  (1912).  Die 
Bearbeitung  der  Kleinfunde,  welche  L.  Curtius  und  S.  Loeschke  über- 
nommen haben,  ist  dagegen  noch  nicht  erschienen.  Einiges  wenige  von 
dem  sprachlichen  Material  ist  von  H.  Winckler,  Mitt.  Deutsch,  Orient- 
gesellsch.  Nr.  35  (1907),  S.  14ff.  und  in  „Vorderasien  im  2.  Jahr- 
tausend" (Mitt.  Vorderas.  Gesellsch.  1913,  Heft  4)  vorgelegt  worden, 


Die  Hethiter.  191 

in  allerletzter  Zeit  ist  durch  Fr.  Hrozny  die  Lösung  der 
neugestellten  sprachlichen  Probleme  energisch  in  Angriff 
genommen  worden.^) 

So  hat  denn  auch  Eduard  Meyer  in  seinem  Buche  über 
„Reich  und  Kultur  der  ,Chetiter'",  das  aus  einem  in  der 
Deutschen  Orientgesellschaft  im  Januar  1914  gehaltenen  Vor- 
trage erwachsen  ist,  vornehmlich  nur  die  archäologischen  Er- 
gebnisse der  neuen  Ausgrabungen  verwertet,  während  das 
wichtige  neue  archivalische  Material  nur  gelegentlich  heran- 
gezogen werden  konnte.  Doch  hat  er  inzwischen  in  einem 
besonderen  Aufsatz  in  den  Mitt.  Deutsch.  Orientgesellsch. 
Nr.  56  (1915),  S.  5  ff.  auch  zu  diesem  und  zu  den  von  Hrozny 
daraus  gewonnenen  sprachlichen  Aufstellungen  näher  Stel- 
lung genommen.  Leider  hat  er  in  seinem  Buche  auch  noch 
nicht  das  Ergebnis  der  wichtigen  Ausgrabungen  von  Hogarth 
in  Karkemisch  benützen  können,  da  die  einschlägigen  Ver- 
öffentlichungen erst  etwa  gleichzeitig  mit  diesem  erschienen 


ferner  von  Fr.  Delitzsch,  Sumerisch-Akkadisch-Hettitische  Vokabular- 
fragmente in  Abh.  Berl.  Ak.,  Phil.-hist.  Kl.  1914  und  von  Hrozn^, 
Mitt.  Deutsch.  Orientgesellsch.  Nr.  56  (1915),  S.  17ff.;  der  letztere 
bietet  auch  auf  S.  20  A.  2  Angaben  über  die  Veröffentlichung  einiger 
nicht  direkt  zu  den  Boghazköi-Funden  gehörender  hethitischer  Keil- 
schrifttexte; schließlich  jetzt  auch  von  Bohl,  Ausgewählte  Keilschrift- 
texte aus  Boghazköi,  Theologisch  Tijdschr.  L  (1916),  S.  159  ff.  u.  303  ff., 
die  Publikation  als  ungenügend  beurteilt  von  O.  Weber,  Orient.  Lit.- 
Ztg.  XIX  (1916),  Sp.  368  ff.  (Korrekturzusatz).  Das  große  Werk: 
Keilschrifttexte  aus  Boghazköi  von  Figulla,  Weidner,  Otto  Weber  und 
Hrozny  (Textautographien  und  Transkriptionen)  ist  erst  im  Erscheinen 
begriffen  (Korrekturzusatz:  Heft  1  u.  2  sind  inzwischen,  Ende  1916, 
erschienen,  das  erste  außer  den  Delitzschen  Vokabularfragmenten 
Texte  in  akkadischer  Sprache,  das  zweite  solche  in  hethitischer  Sprache 
enthaltend;  Transkriptionen  sind  noch  nicht  beigegeben). 

^)  S.  seine  vorläufigen  Mitteilungen  a.  a.  O.  und  sein  im  Er- 
scheinen begriffenes  Buch:  Die  Sprache  der  Hethiter,  1.  Lieferung, 
Ende  1916,  (S.  1 — 128,  Einleitung,  Nomen  und  Teil  des  Pronomens, 
Korrekturzusatz),  dies  Buch  das  erste  Heft  der  Boghazköi-Studien, 
die  in  Ergänzung  der  Textpublikationen  als  Hauptsammeistätte  für 
alle  der  Erklärung  der  neuen  Texte  dienenden  Arbeiten  gedacht  sind. 
Hingewiesen  sei  hier  auch  auf  so  wichtige  Kritiken  der  Hrozn^- 
schen  sprachlichen  These,  wie  die  von  Bartholomae,  Woch.  kl.  Phil. 
1916,  Sp.  67  ff.  u.  255  ff.,  sowie  von  Herbig,  D.  Lit.-Ztg.  1916, 
Sp.  421  ff. 

13* 


192  Walter  Otto, 

sind.i)  Entsprechend  der  Entstehung  des  Buches  darf  man 
ferner  nicht  erwarten,  in  ihm  eine  irgendwie  erschöpfende 
Behandlung  der  Geschichte  und  der  Kultur  der  Hethiter  zu 
finden;  insofern  bietet  sogar  das  früher  (1910)  erschienene, 
mehr  populär  gehaltene  Werk  von  Garstang,  The  land  of 
the  Hittites,  eine  gewisse  Ergänzung,  vor  allem  auch  hinsicht- 
lich der  bei  Eduard  Meyer  etwas  zu  kurz  gekommenen  Ar- 
chitektur und  der  Stadtanlagen.  Auch  die  Gliederung  des 
Buches  ist  etwas  lose,  trotzdem  wird  man  es  als  eines  der 
Werke  bezeichnen  dürfen,  mit  dem  sich  zunächst  jede  weitere 
Forschung  über  die  Hethiter  wird  auseinandersetzen  müssen. 
Eduard  Meyers  Darstellung  ist  vor  allem  aufgebaut  auf 
einer  Reihe  von  Denkmälern  desselben  Stils,  deren  Haupt- 
menge sich  im  östlichen  Kleinasien  —  Kappadokien  und 
Taurusgebiet  —  und  in  Nordsyrien  befinden,  während  uns 
im  vorderen  Kleinasien  nur  wenige  begegnen. 2)  An  vielen 
Orten  sind  nun  diese  Denkmäler  mit  Inschriften  in  einer 
Hieroglyphenschrift  direkt  oder  wenigstens  indirekt  verbun- 
den aufgefunden  worden,  mit  einer  Schrift,  als  deren  Aus- 
gangsgebiet schon  G.  Hirschfeld  (s.  S.  193  A.  1)  auf  Grund  ein- 
zelner Schriftzeichen  Kleinasien  festgestellt  hatte.*)  Da 
nun  die  zwei  wichtigsten  dieser  Fundstätten,  eine  klein- 
asiatische und  eine  syrische  —  Boghazköi  und  Karkemisch  — , 
ausdrücklich  als  Hauptsitze  der  Hethiter  bezeugt  sind*),  so 
hat  die  schon   vor  einigen  Jahrzehnten  zuerst  von  Sayce 

1)  S.  Hogarth,  Carchemish  (1914)  und  „Hittite  problems  and  the 
excavation  of  Carchemish"  in  Proceed.  of  the  Brit.  Acad.  V  (dies  mir 
nicht  zugänglich).  Beachte  auch  die  neuerlichen  Angaben  über  die 
Ausgrabungen  in  der  Nähe  von  Karkemisch  bei  Woolley,  Liverpool 
Annais  of  archaeol.  VI,  S.  87  ff. 

2)  Eduard  Meyer  hat  auf  einer  Karte  die  wichtigsten  Fundstellen 
„hethitischer"  Kultur  verzeichnet;  einige  weitere  Namen  findet  man 
z.  B.  bei  Hommel,  Grundriß  d.  Geogr.  u.  Gesch.  d.  alt.  Orients,  S.  47  ff. 
erwähnt. 

»)  Die  bisher  beste  Sammlung  dieser  Inschriften  s.  bei  Messer- 
schmidt, Corpus  inscriptionum  Hettiticarum,  Mitteil.  Vorderasiat.  Ge- 
sellsch.  1900,  1904  u.  1906. 

*)  Die  Belege  für  Boghazköi  s.  bei  Winckler,  Mitt.  Deutsch. 
Orientgesellsch.  Nr.  35  (1907)  S.  13  ff.  aus  den  neuen  Urkunden,  für 
Karkemisch  schon  bei  Delitzsch,  Wo  lag  das  Paradies  ?  S.  269  ff.  aus 
assyrischen  Inschriften. 


Die  Hethiter.  193 

(Academy  XVI  [1879])  ausgesprochene  Erkenntnis,  daß  wir 
an  all  diesen  Orten  Überreste  der  hethitischen  Kultur,  und 
zwar  auch  gerade  in  den  Schriftdenkmälern,  vor  uns  haben, 
weithin  Zustimmung  gefunden.^)  Dagegen  ist  jedoch  die 
Frage,  inwieweit  all  jene  Überreste  wirklich  von  dem  Einzel- 
volke der  Hethiter  oder  nur  von  verwandten  oder  von  ihnen 
beeinflußten  Volkselementen  herrühren,  bisher  noch  unvoll- 
kommen gelöst  und  auch  von  Eduard  Meyer  nicht  genügend 
beachtet  worden. 

In  den  kurzen  einleitenden  Bemerkungen  seines  Buches 
(S.  Iff.;  s.  auch  S.  124 ff.)  über  die  sog.  kleinasiatische 
Völkergruppe,  die  sich  in  ältester  Zeit  über  Kleinasien  hin- 
aus im  Westen  bis  nach  Griechenland  und  im  Osten  über 
Syrien  bis  in  die  Landschaft  Assyrien  erstreckt  hat,  hebt 
Eduard  Meyer  zwar  mit  Recht  neben  dem  Einigenden  auch 
die  trennenden  Elemente  in  dieser  Völkergruppe  hervor, 
deren  Einheitlichkeit  die  fortschreitende  Forschung  vielleicht 
noch  stark  zerpflücken  dürfte^),  in  den  Hethitern  sieht  er 
aber  ohne  irgendeinen  Vorbehalt  —  anders  jetzt  in  seinem 
Aufsatz  —  nicht  nur  eines  ihrer  Glieder,  sondern  erkennt 
sogar  der  weitverbreiteten  Gepflogenheit,  die  Gesamtheit  der 
ältesten  Bevölkerungsschicht  Kleinasiens  und  der  mit  ihr  in 
näherer  oder  weiterer  Verbindung  stehenden  Völker  außer- 
halb Kleinasiens  mit  dem  Hethiternamen  zu  belegen,  eine 

*)  G.  Hirschfelds  (Die  Felsenreliefs  in  Kleinasien  und  das  Volk 
der  Hittiter,  Abh.  Berl.  Ak.  1886)  und  Puchsteins  (Pseudohethltische 
Kunst  1890)  aus  archäologischen  Gründen  gegen  diese  Zuweisung 
erhobener  Einspruch  darf  wohl  heute,  zumal  nach  den  Funden  von 
Boghazköi,  ebenso  als  endgültig  erledigt  angesehen  werden  wie  der 
Versuch  Jensens  (vor  allem  Zeitschr.  Deutsch.  Morgenl.  Gesellsch. 
XLVIII  [1894],  S.  235 ff.,  429ff.  und  „Hittiter  und  Armenier"  1898),  die 
Inschriften  als  kilikische  zu  bezeichnen;  besonders  für  die  Umtaufung 
der  Inschriften  ist  schon  seinerzeit  kein  einziger  durchschlagender 
Grund  angeführt  und  sie  ist  wohl  auch  sofort  so  ziemlich  einmütig 
(m.  W.  ist  nur  Brockelmann,  Gott.  Gelehrt.  Anz.  1899,  S.  50ff.  ihr 
nicht  entgegengetreten)  abgelehnt  worden.  i,; 

2)  Die  Auffassung  von  Sundwall  (Die  einheimischen  Namen  der 
Lykier,  Klio,  11.  Beiheft  1913),  die  kleinasiatischen  Sprachen  seien 
sämtlich  unter  sich  aufs  alleren gste  verwandt,  erscheint  mir  nicht 
bewiesen;  gegen  sie  spricht  sich  jetzt  auch  aus  Danielsson,  Gott, 
Gelehrt.  Anz.  1916,  S.  527  (Korrekturzusatz). 


194  Walter  Otto, 

gewisse  Berechtigung  zu.^)  Bei  dieser  Gepflogenheit  handelt 
es  sich  jedoch  um  eine  recht  willkürliche  Handlungsweise; 
sind  uns  doch  die  Hethiter  als  ein  ganz  bestimmtes  Einzel- 
volk Vorderasiens  gerade  auch  durch  die  ältere  keilinschrift- 
liche  Überlieferung  belegt  (s.  im  folg.  S.  2131),  und  den  Namen 
eines  solchen  auf  die  größere  Gemeinschaft  der  „Klein- 
asiaten" zu  übertragen,  erscheint  zum  mindesten  ebenso 
ungerechtfertigt,  wie  wenn  wir  etwa  die  Italiker  als  Latiner 
bezeichnen  würden.  Die  Namenserstreckung  läßt  sich  auch 
dann  nicht  rechtfertigen,  wenn  wir  eine  besonders  weitgehende 
politische  und  kulturelle  Vorherrschaft  der  Hethiter  über  das 
„kleinasiatische"  Element  annehmen;  belegen  wir  z.  B.  doch 
auch  nicht  die  vielen  Völkerschaften,  die  einst  zum  Assyrer- 
oder  Perserreich  gehört  haben,  mit  dem  Namen  ihrer  Ober- 
herren. Die  Anwendung  des  Hethiternamens  als  Gesamt- 
bezeichnung würde  sich  sogar  schließlich  als  direkt  wider- 
sinnig erweisen,  wenn  dieser  Name,  was  nicht  ganz  aus- 
geschlossen ist,  gar  nicht  „kleinasiatisch"  wäre  (s.  im  folg. 
S.  206  u.  214  f.).  Inwieweit  im  übrigen  die  als  Oberbegriff 
auch  hier  angewandte  Bezeichnung  „Kleinasiaten"  wissen- 
schaftlich haltbar  oder  nur  ein  Notbehelf  ist,  läßt  sich  vor- 
läufig noch  nicht  recht  entscheiden^),   immerhin  fehlt  aber 

»)  Eduard  Meyer  S.  4  erkennt  zwar  das  Problematische  dieser 
Bezeichnung,  lehnt  sie  aber  leider  nicht  energisch  genug  ab  und  spricht 
daher  denn  auch  von  hethitischen  Denkmälern  im  engeren  und  im 
weiteren  Sinne  (s.  S.  59  u.  109).  Von  Orientalisten  wendet  z.  B.  neuer- 
dings O.  Weber  bei  Knudtzon,  Die  El-Amarnatafeln  II,  S.  1086  jenen 
weiteren  Begriff  an  (auch  z.  B.  H.  Winckler  hat  sich  ihrer  zum  Schaden 
der  Klarheit  seiner  Ausführungen  bedient,  s.  auch  gerade  sein  „Vorder- 
asien"); für  die  Sprachvergleicher  darf  immerhin  der  Titel  eines  Büch- 
leins von  A.  Fick  „Hattiden  und  Danubier  in  Griechenland"  als  cha- 
rakteristisch gelten  (s.  auch  Ficks  Ausführungen  daselbst  S.  50f.); 
bezüglich  der  Theologen  s.  etwa  Kittel,  Geschichte  des  Volkes  Israel 
1«,  S.  88. 

2)  Kretschmer,  Einleit.  in  die  Geschichte  der  griech.  Sprache 
(1895),  S.  288  ff.  hat  jedenfalls  das  große  Verdienst,  für  Kleinasien 
ein  Volkstum  sui  generis  als  Grundstock  der  Bevölkerung  vor  den 
eingewanderten  Indogermanen  wissenschaftlich  einwandfrei  erwiesen 
zu  haben.  Die  für  uns  historisch  greifbare  früheste  Bevölkerung  eines 
Gebietes  nach  dessen  Namen  bei  dem  Fehlen  einer  altüberlieferten 
gemeinsamen  Bezeichnung  und  bei  der  NichtVerwendung  dieses  Namens 
als    Gemeinschaftsbenennung   aller   jemals    hier   ansässig   gewesenen 


Die  Hethiter.  195 

bei  ihr  wenigstens  die  methodisch  immer  gefährHche  Ver- 
wendung des  Teiles  für  das  Ganze. 

Was  nun  die  sog.  hethitischen  Denkmäler  anbelangt,  so 
haben  wir,  und  zwar  vor  allem  bei  den  primitiveren,  so  und 
so  oft  mit  der  Möglichkeit  zu  rechnen,  daß  sie  nicht  speziell 
von  den  Hethitern,  sondern  von  dem  ,, kleinasiatischen"  Be- 
völkerungselement herrühren.  Gerade  die  neuen  systemati- 
schen Ausgrabungen  in  der  wichtigsten  Hethiterstadt  des 
1.  Jahrtausends,  in  Karkemisch,  die  uns  für  die  Zeit  vom 
3.  bis  zum  Ausgang  des  2.  Jahrtausends  die  Bronzezeit  an 
diesem  Orte  als  in  ihrer  Entwicklung  einheitlich  und  an- 
scheinend durch  keine  neuen  von  außen  eindringenden  Mo- 
mente bestimmt  kennen  gelehrt  haben^),  zeigen  uns,  wie 
schwierig  es  ist,  in  Gegenden,  welche,  wie  die  von  Karke- 
misch, zu  dem  Ausdehnungsgebiet  der  „kleinasiatischen" 
Völkergruppe  gehören,  Kulturüberreste  als  spezifisch  hethi- 
tisch  oder  nur  allgemein  als  „kleinasiatisch"  zu  bestimmen. 
Aber  auch  dort,  wo  einem  anscheinend  speziell  hethiti- 
sches  Kulturgut,  und  zwar  eben  auch  die  Hieroglyphen- 
schrift, entgegentritt,  hat  man  auch  in  diesem  Kulturkreis, 
zumal  bei  der  somatischen  oder  sonstigen  Verwandtschaft 
seiner  einzelnen  Glieder,  die  Möglichkeit  der  Kulturübertra- 
gung niemals  außer  acht  zu  lassen.^)    Für  die  Zeichnung  der 


Völker  zu  benennen,  erscheint  mir  an  und  für  sich  nicht  zu  beanstanden, 
doch  wissen  wir  bisher  über  die  Stellung  der  verschiedenen  von  uns 
angenommenen  Volksglieder  dieser  „Kleinasiaten"  zueinander,  über 
ihre  Verwandtschaftsbeziehungen  u.  dgl.  nur  sehr  wenig,  und  da  sie 
sich  weit  über  Kleinasien  hinaus  erstreckt  haben,  könnte  auch  das 
von  uns  als  Mittelpunkt  betrachtete  Gebiet  als  solches  vielleicht  zu 
Unrecht  angenommen  sein,  was  natürlich  ein  Aufgeben  des  Namens 
zur  Folge  haben  müßte.  Wenn  manche  für  „kleinasiatisch"  neuerdings 
der  Bezeichnung  „anatolisch"  den  Vorzug  geben,  so  kann  ich  hierin 
eine  Verbesserung  der  Benennung  nicht  sehen.  Einige  neue  Bemer- 
kungen über  die  sprachlichen  Probleme  bieten  jetzt  Kretschmer  bei 
Gercke-Norden,  Einleit.  in  die  Altertumswiss.  F  (1912),  S.  526  und 
Ungnad,  Orient.  Lit.-Ztg.  XVIII  (1915),  Sp.  241f.;  s,  auch  Eduard 
Meyer  S.  124  ff. 

^)  S.  hierfür  außer  Hogarths  Carchemish  auch  Woolley  a.  a.  O. 
S.  88  ff.,  92  ff. 

*)  Die  Gleichsetzung  von  hethitischer  und  „kleinasiatischer" 
Kultur,  wie  sie  z.  B.  besonders  scharf  H.  R.  Hall,  Journ.  Hell.  Stud. 


196  Walter  Otto, 

hethitischen  Kultur  werden  zwar  die  letzteren  Erwägungen 
nicht  zuviel  ausmachen,  wohl  aber  können  gerade  sie  die 
Verwertung  der  Denkmäler  für  historische  Rückschlüsse  all- 
gemeinen Charakters  umstürzend  beeinflussen. 

Bei  der  Benutzung  der  hethitisch-,,kleinasiatischen" 
Denkmäler,  auch  der  mit  Inschriften  versehenen,  als  histo- 
rische Quelle  ist  es  alsdann  sehr  störend,  daß  die  Zeit  ihrer 
Entstehung  noch  recht  strittig  ist,  wenn  auch  Puchsteins 
(a.  e.  a.  0.)  prinzipielle  Zurückdatierung  ins  1.  Jahrtausend 
unbegründet  war,  ebenso  wie  auch  Jensen  seinen  Ansatz 
speziell  der  Schriftdenkmäler  in  diese  späte  Zeit  in  keiner 
Weise  bewiesen  hat.*)  Selbst  das  Altersverhältnis  der  Über- 
reste zueinander,  ihre  Typologie,  ist  bisher  noch  nicht  voll- 
befriedigend geklärt.^)  Erst  wenn  die  auf  einigen  Denk- 
mälern stehenden  Königsnamen  mit  voller  Sicherheit  gelesen 
sein  werden,  wird  hier  ein  wichtiger  Schritt  voran  erzielt 
sein.  Hugo  Prinz  hat  zwar  in  einem  Beitrage  zu  Eduard 
Meyers  Buch  (S.  139  ff.)  zwei  von  ihnen  zu  lesen  versucht, 
als  Mursil  und  Chattusil,  d.  h.  als  die  Namen  zweier  uns 
schon  lange  bekannter  Herrscher  des  hethitischen  Großreiches, 
deren  Regierungszeit  durch  ägyptische,  babylonische  und 
assyrische  Synchronismen  ins  14.  und  13.  Jahrhundert 
festgelegt  ist,  und  sein  Deutungsversuch  ist  bestechend, 
aber  zunächst  ist  er  leider  noch  in  keiner  Weise  gesichert. 
Immerhin  darf  man  aber  schon  heute  mit  gutem  Recht 
gerade  auch  einige  der  mit  Inschriften  verknüpften  Denk- 
mäler in  die  Zeit  des  hethitischen  Großreiches  ansetzen,^) 


XXIX  (1909),  S.  19  ff.  vertritt,  schießt  freilich  weit  über  das  Ziel 
hinaus. 

^)  Er  vertritt  diesen  Ansatz  auch  noch  jetzt,  s.  Theol.  Lit.-Ztg. 
1916,  Sp.  362f.  Die  Neuschöpfung  einer  Bilderschrift  in  Kleinasien 
im  Verlauf  des  1.  Jahrtausends,  wie  sie  Jensens  Ansatz  voraussetzt, 
ist  übrigens  schon  aus  allgemeinen  kulturhistorischen  Erwägungen 
über  die  Schriftentwicklung  im  alten  Orient  so  unwahrscheinlich  wie 
möglich. 

*)  Auch  Eduard  Meyer  hat  auf  die  Datierungsschwierigkeiten 
gelegentlich  hingewiesen  (s.  z.  B.  S.  109  u.  143),  ohne  jedoch  in  der 
Darstellung  ihnen  immer  voll  Rechnung  zu  tragen. 

»)  S.  Eduard  Meyer  S.  23,  43  u.  97  ff. ;  gerade  die  Inschriften 
aus  Boghazköi  weisen  auf  das  hohe  Alter  der  Hieroglyphenschrift  hin. 


Die  Hethiter.  197 

Ebenso  wie  bei  der  Beurteilung  der  sog.  hethitischen 
Denkmäler  ist  auch  größte  Vorsicht  noch  vielfach  geboten 
gegenüber  allen  bisherigen  Feststellungen  über  den  physi- 
schen und  sprachlichen  Charakter  des  hethitischen  Volkes^), 
wie  über  seine  Herkunft  und  seine  späteren  Wohnsitze. 
Mit  Recht  ist  allerdings  schon  von  Max  W.  Müller  (Asien 
und  Europa  nach  ägypt.  Denkmälern  [1893]  S.  331)  die 
Eigenart  des  physischen  Typus  der  Hethiter  hervorgehoben 
worden,  und  man  stimmt  jetzt  wohl  so  ziemlich  allgemein 
überein,  daß  die  Hethiter  sowohl  auf  den  ägyptischen  Denk- 
mälern, als  auch  auf  den  einheimischen  Skulpturen  keine 
»indogermanischen«  und  keine  semitischen  Züge  aufweisen*), 
sondern  mit  ihrem  hyperbrachykephalen  Schädel,  ihrer  zu- 
rücktretenden Stirn  und  der  weitvorspringenden  Nase  den 
sog.  kleinasiatisch-armenischen  Typus,  wie  ihn  v.  Luschan 
zuerst  nachgewiesen  hat,  darstellen.*)  Es  bleibt  jedoch  noch 
zu  untersuchen,  inwieweit  in  den  Bildern  gerade  Angehörige 
des  Einzelvolkes  der  Hethiter  und  nicht  so  und  so  oft  ein- 
fach ,, Kleinasiaten",  Angehörige  des  Hethiterreiches,  wieder- 
gegeben sind;  Eduard  Meyers  (S.  13)  Hinweis  auf  die  ver- 
schiedene Haartracht  hethitischer  Krieger  scheint  mir  ein 
erster  Ansatz  zu  einer  solchen  Betrachtung  zu  sein,  der  hof- 
fentlich bald  weiter  ausgebaut  werden  kann,  wofür  jedoch 
eine  schärfere  Erfassung  des  ganzen,  vor  allem  auch  des 
sprachlichen  Charakters  der  Hethiter  —  sehr  viel  schärfer, 


über  das  Alter  der  nicht  beschrifteten  Denkmäler  s.  einige  Bemerkungen 
bei  Eduard  Meyer  S.  11,  16,  46, 

^)  So  hat  sich  auch  neuerdings  King,  A  history  of  Babylon  (1915), 
S.  225  ausgesprochen,  der  sie  mit  Vorbehalt  der  „kleinasiatischen" 
Rasse  zuweist. 

*)  Bei  dem  Gebrauch  des  Begriffes  „Indogermanen"  muß  man 
allerdings  gerade  im  Hinblick  auf  die  obige  Feststellung  sich  immer 
dessen  bewußt  bleiben,  daß  diese  nur  eine  durch  die  Sprache  zusammen- 
gehaltene Völkergruppe  darstellen  und  nicht  mit  einer  bestimmten 
Rasse  gleichzusetzen  sind;  immerhin  begegnet  der  somatische  Typus 
der  Hethiter  bei  keinem  anderen  der  indogermanischen  Völker,  mögen 
diese  auch  in  sich  noch  so  wenig  rassenrein  sein. 

»)  Außer  Eduard  Meyer  S.  12  ff.  und  Mitt.  a.  a.  O.  S.  10  ff. 
s.  vor  ihm  etwa  Hommel  a.  a.  O.  S.  42  und  O.  Weber  bei  Knudtzon, 
Die  El-Amarna-Tafeln  II,  S.  1086,  sowie  neuerdings  King  a.  a.  O.  S.  227. 


198  Walter  Otto, 

als  dies  bisher  möglich  war  — ,  eine  notwendige  Voraus- 
setzung ist. 

Daß  dies  demnächst  möglich  sein  wird,  ist  stark  zu 
erhoffen.  Allerdings  scheinen  zunächst  die  sprachlichen  Be- 
obachtungen den  Feststellungen  über  den  Typus  der  Hethiter 
erheblich  zu  widersprechen.  So  wird  neuerdings  sowohl  von 
Winckler  (Vorderasien  S.  74  f.)  wie  von  Delitzsch  (a.  a.  0. 
S.  41)  und  Ungnad  (Orient.  Lit.-Ztg.  XVIII  [1915],  Sp.  241  f.) 
gegenüber  früheren  Annahmen^)  ein  verwandtschaftlicher  Zu- 
sammenhang des  Hethitischen  mit  der  Sprache  des  Landes 
Mitanni  (im  nördlichen  Mesopotamien)  entschieden  geleugnet, 
d.  h.  mit  Volkselementen,  die  wohl  allgemein  —  so  auch  von 
Ungnad  —  mit  den  „Kleinasiaten"  in  engste  Verbindung 
gebracht  werden.  Ferner  hat  schon  im  Jahre  1902  Knudtzon, 
unterstützt  von  S.  Bugge  und  A.  Torp  auf  Grund  zweier 
Briefe  aus  dem  ägyptischen  Reichsarchivfunde  von  El 
Amarna,  deren  einer  an  den  König  von  Arzawa  gerichtet  ist, 
die  Sprache  dieser  Landschaft  als  indogermanisch  gedeutet^), 
und  da  Arzawa  —  wohl  im  hinteren  Kleinasien,  und  zwar 
jedenfalls  nördlich  von  Kilikien  gelegen  — ^)  mit  dem  He- 
thiterlande aufs  engste  verbunden  erscheint,  schien  auch  für 
die  eigentliche  hethitische  Sprache  ein  Ergebnis  gewonnen  zu 
sein;  neuerdings  erklären  im  Anschluß  an  die  neugefundenen 
hethitischen  Urkunden  Delitzsch  (a.  a.  0.  S.  39)  und  Hrozny 
(Mitteil.  S.  20),  wie  übrigens  vor  ihnen  schon  andere  (z.  B. 
Eduard  Meyer)  die  Sprache  der  Briefe  sogar  für  zweifellos 
identisch  mit  dem  Hethitischen.  Es  kommt  hinzu,  daß  auf 
Grund  ihrer  Entzifferungsversuche  der  hethitischen  Hiero- 
glypheninschriften sowohl  Jensen  als  auch  Thompson,  ob- 
wohl sie  im  schärfsten  Gegensatze  zueinander  stehen,  die 

1)  Vom  Standpunkt  des  Sprachforschers  ist  sie  besonders  kon- 
sequent durchgeführt  bei  Knut  L.  Talqvist,  Assyrian  personal  names 
(s.  den  Abschnitt  über  hethitisch-mitannische  Namen).  Gustavs,  Orient. 
Lit.-Ztg.  XVIII  (1915),  S.  298f.  (Mitanni-Stämme  im  Hatti)  wagt 
zunächst  keine  Entscheidung  zu  treffen. 

^)  S.  Knudtzon,  Die  zwei  Arzawabriefe,  sowie  die  „El-Amarna- 
tafeln"  I,  Nr.  31  u.  32,  und  Weber,  ebenda  II,  S.  1074 ff. 

")  Über  die  Lage  von  Arzawa  s.  außer  E.  Meyer  S.  131  etwa 
noch  Hommel  a.  a.  O.  S.  47,  1 ;  Winckler,  Mitteil.  S.  40;  Weber  a.  a.  O. 
II,  S.  1074  u.  1082. 


Die  Hethiter.  199 

Sprache  dieser  Inschriften  für  indogermanisch  halten,  wenn 
ja  auch  gerade  Jensen  irrigerweise  diese  Inschriften  den 
Hethitern  ganz  abspricht^),  und  daß  Delitzsch  (a.  a.  0. 
S.  41)  bei  seiner  Veröffentlichung  einiger  sumerisch-akka- 
disch-hethitischer  Vokabularfragmente,  in  denen  für  eine 
Anzahl  hethitischer  Worte  die  für  sie  in  der  einheimischen 
Keilschrift  verwandten  sumerisch-akkadischen  Ideogramme 
angegeben  sind,  wenigstens  verführerische  Anklänge  zum 
Indogermanischen  im  Hethitischen  zugegeben  hat,  ohne  sich 
jedoch  für  dessen  indogermanischen  Ursprung  auszusprechen. 
Dies  hat  im  Anschluß  an  die  neuen  Keilschrifturkunden,  in 
deren  Sinn  er,  vor  allem  unterstützt  durch  das  Vorhanden- 
sein jener  Wortzeichen,  mit  großem  Scharfsinn  einzudringen 
versucht  hat,  erst  Hrozny  (Mitt.  S.  23)^)  und  zwar  mit  voller 
Schärfe  getan.  Er  stützt  sich  hierbei  vor  allem  auf  eine  Reihe 
von  Konjugations-  und  Deklinationsformen,  auf  die  Pronomina 
und  Adverbia,  sowie  einige  weitere  Übereinstimmungen  im 
Wortschatz^);  er  wagt  es  sogar,  schon  den  speziellen  Cha- 
rakter des  Hethitischen  innerhalb  der  indogermanischen 
Sprachgruppe  festzustellen  als  eine  der  sog.  westindogerma- 
nischen Centum-Sprachen,  die  sich  aber  in  mancher  Hin- 
sicht auch  mit  den  sog.  ostindogermanischen  Satem-Sprachen 


^)  S.  Jensen  a.  a.  O.,  der  die  Sprache  für  eine  Vorstufe  des  Arme- 
nischen erklärt  hat  und  auch  heute  noch  hieran  festhält  (Lit.  Zentralbl. 
1916,  Sp.  244,  sowie  Theol.  Lit.-Ztg.  1916,  Sp.  362f.);  vgl.  ferner 
Thompson,  A  new  decipherment  of  the  Hittite  hieroglyphics  (1913), 
S.  98  ff. 

*)  S.  jetzt  auch  sein  im  Erscheinen  begriffenes  Buch  (Korrektur- 
zusatz). 

3)  E.  Meyer,  Gesch.  d.  Altert.  I  23,  S.  893  ff.  hat  schon  mit  Recht 
darauf  hingewiesen,  daß  das  Anfügungssuffix  assäl,  das  uns  im  Tocha- 
rischen  begegnet,  mit  dem  im  Hethitischen  den  gleichen  Zweck  ver- 
tretenden Suffix  assiel{assel)  identisch  sein  dürfte;  anders  als  Eduard 
Meyer  möchte  ich  jedoch  in  diesem  dem  lat.  que  entsprechenden  Suffix 
gerade  einen  altindogermanischen  Sprachbestandteil,  also  ein  weiteres 
indogermanisches  Element  im  Hethitischen  sehen.  Vgl.  hierzu  auch 
L.  V.  Schröder,  Wien.  Zeitschrift  f.  Kunde  d.  Morgenl.  XXII  (1908), 
S.  348  f.,  der  die  Suffixe  jedoch  fälschlich  der  Charrisprache  zuweist. 
Neuerdings  hat  auch  Hrozn^,  Sprache  der  Hethiter  S.  118  das  Pro- 
blem gestreift,  ohne  es  jedoch  schon  endgültig  zu  lösen  (Korrektur- 
Zusatz). 


200  Walter  Otto, 

berühre.^)  Für  die  Hroznysche  These  hat  sich  so  ziemlich 
uneingeschränkt  Otto  Weber  (Mitt.  Deutsch.  Orientgesellsch. 
Nr.  56  [1913],  S.  4ff.)  erklärt,  und  auch  Eduard  Meyer,  der 
früher  mit  großer  Bestimmtheit  den  indogermanischen  Cha- 
rakter des  Hethitischen  abgelehnt  hat 2),  hat  sich,  wenn  auch 
mit  gewissen  Einschränkungen  für  Hroznys  Aufstellung  aus- 
gesprochen. Dagegen  haben  erheblichere  Bedenken  gegen 
sie,  und  zwar  auch  gerade  solche  methodischer  Art,  Bartho- 
lomae  (a.  a.  0.)  und  Herbig  (a.  a.  0.)  geäußert^),  ohne  sie 
jedoch  in  ihren  Grundzügen  für  unmöglich  zu  erklären. 
Dies  haben  m.  W.  bisher  nur  Bork  (Orient.  Lit.-Ztg.  XIX 
[1916],  Sp.  289ff.)  und  Jensen,  der  letztere  vorläufig  ohne 
jede  Beweisführung  im  einzelnen,  getan.*) 

Bei  dem  augenblicklichen  Stande  der  Dinge  wird  der 
Historiker  gut  daran  tun,  mit  einem  abschließenden  Urteile 
recht  vorsichtig  zu  sein.  Vor  allem  heißt  es,  die  Hieroglyphen- 
inschriften bei  der  Beurteilung  des  sprachlichen  Charakters 
des   Hethitischen    zunächst  ganz   auszuschalten,   da  deren 

^)  Diese  Einordnung  scheint  Hrozn;^  zu  der  geographischen  Lage 
des  Hethitischen  zwischen  West-  und  Ostindogermanen  gut  zu  stimmen 
(s.  auch  S.  44)  und  so  diese  ihrerseits  die  Richtigkeit  der  sprachlichen 
Einordnung  zu  bestätigen.  Das  letztere  ist  jedoch  ein  Trugschluß. 
Ist  uns  doch  jetzt  z.  B.  in  dem  Tocharischen  eine  Centumsprache  mitten 
im  Gebiet  der  sog.  Ostindogermanen  bekannt  geworden,  und  in  dem 
Thrakisch-Phrygischen  hätte  sich  im  Falle  der  Richtigkeit  der  Hrozn^- 
schen  These  eine  ausgesprochene  Satemsprache  in  das  Verbreitungs- 
gebiet der  Centumsprachen  eingeschoben.  Der  Begriff  des  geographi- 
schen Bindegliedes  zwischen  den  beiden  Gruppen  wäre  daher  für  das 
Hethitische  selbst  für  die  Verteilung  der  indogermanischen  Völker  in 
historischer  Zeit  nicht  recht  anwendbar,  und  daß  man  diese  Verteilung 
so  ohne  weiteres  in  die  Frühzeit  übertragen  darf,  soll  noch  bewiesen 
werden. 

*)  Vgl.  außer  in  seinem  Buche  auch  Gesch.  d.  Altert.  I  2»,  S.  695. 

')  Gegenüber  Bartholomae  hat  Hrozn^,  Woch.  kl.  Phil.  1916, 
Sp.  259ff.  alle  seine  Aufstellungen  aufrecht  erhalten;  s.  jetzt  auch 
sein  Buch. 

*)  S.  Lit.  Zentralbl.  1916,  Sp.  244  und  Theol.  Lit.-Ztg.  1916, 
S.  362f.  Früher  hat  er  übrigens  das  „Keilschrift-Hethitische"  (Ar- 
zawa)  infolge  seiner  fraglosen  Verwandtschaft  mit  dem  Mitanni  ebenso 
wie  dieses,  aber  in  gleicher  Weise  auch  etwa  das  Semitische  als  eine 
entfernte  Verwandte  der  indogermanischen  Sprachen  bezeichnet 
(Zeitschr.  f.  Assyr.  XIV  [1899],  S.  180  ff.);  eine  solche  Charakteristik 
ist  für  unsere  Zwecke  natürlich  ganz  belanglos. 


Die  Hethiter.  201 

Entzifferung  bisher  noch  nicht  derartig  vorgeschritten  ist, 
daß  man  sie  zu  sprachlichen  Folgerungen  benutzen  könnte^), 
und  da  mir  ferner  noch  nicht  bewiesen  zu  sein  scheint,  daß 
sie  alle  in  hethitischer  Sprache  verfaßt  sind;  eigenartiger- 
weise ist  bisher  noch  niemals  mit  aller  Schärfe  die  Möglich- 
keit ins  Auge  gefaßt  worden,  daß  wie  etwa  die  anderen  Schrift- 
gattungen des  Orients  so  auch  diese  Hieroglyphenschrift  von 
anderssprachigen  Völkern  zur  Schreibung  der  eigenen  Sprache 
verwandt  worden  sein  könnte.^) 

Was  nun  die  hethitischen  Keilschrifttexte  anbelangt,  so 
kann  erst  die  Veröffentlichung  einer  größeren  Anzahl  und 
zwar  nicht  nur  in  Transkription,  sondern  auch  möglichst  in 
Autographien  eine  sichere  Materialgrundlage  für  die  Nach- 
prüfung durch  andere  Forscher  bringen.  Die  Lesung  scheint 
nach  den  Angaben  von  Delitzsch  (a.  a.  0.  S.  3)  gar  nicht 
so  einfach  zu  sein,  und  außer  der  Feststellung  des  genauen 


1)  Außer  den  Büchern  von  Jensen  und  Thompson  seien  von  Ar- 
beiten, die  für  die  Entzifferung  von  Bedeutung  sind,  genannt:  Messer- 
schmidt, Bemerkungen  zu  den  hethitischen  Inschriften,  Mitt.  Vorder- 
asiat. Gesellsch.  1898,  Heft  5  (wichtige  Kritilc  der  Aufstellungen  Jen- 
sens; Brockelmann  a.  a.  O.  wird  Messerschmidt  nicht  gerecht)  und 
Sayce,  vor  allem  sehr  zahlreiche  Aufsätze  in  Proc.  Soc.  Bibl.  Arch. 
Daß  jedem  der  Entzifferer  einzelne  richtige  Kombinationen  geglückt 
sind,  erscheint  mir  sicher,  aber  ebenso  sicher,  daß  keiner  von  ihnen 
bisher  darüber  hinausgelangt  ist.  Im  Interesse  der  Sache,  die  ein 
Zusammenarbeiten,  nicht  ein  Bekämpfen  verlangt,  ist  die  große  Selbst- 
tiberschätzung lebhaft  zu  bedauern,  mit  der  Jensen  seinen  eigenen 
scharfsinnigen,  aber  zum  Teil  auch  phantastischen  Versuchen  gegen- 
übersteht, und  seine  daraus  entspringende  unnötig  scharfe  Polemik 
gegen  die  Mitarbeiter,  s.  z.  B.  Lit.  Zentralbl.  1916,  Sp.  242ff.  und 
Theol.  Lit.-Ztg.  1916,  Sp.  361  ff. 

2)  Nur  bei  E.Meyer,  Gesch.  d.  Altert.  12»,  S.  697 f.  findet  sich 
ein  Ansatz  zu  einer  derartigen  Betrachtungsweise;  Jensen,  Zeitschr. 
Deutsch.  Morgenl.  Gesellsch.  XLVIII  (1894),  S.  250  hat  z.  B.  dagegen 
als  Grundlage  seiner  Entzifferung  gerade  den  entgegengesetzten  Stand- 
punkt gewählt.  Je  mehr  ich  aber,  wenn  auch  als  Außenstehender, 
die  bisherigen  Entzifferungsversuche  durchprüfe  und  je  öfter  ich  dabei 
darauf  stoße,  daß  der  Versuch,  der  in  dem  einen  Falle  manches  Wahr- 
scheinliche zutage  gefördert  hat,  in  einem  andern  nur  zu  ganz  ge- 
zwungenen oder  sogar  völlig  unmöglichen  Ergebnissen  gelangt,  desto 
mehr  hat  sich  bei  mir  die  Überzeugung  befestigt,  daß  die  Hieroglyphen- 
inschriften nicht  einsprachig  sind.  Vgl.  vorher  auf  S.  195  meine  Be- 
merkungen über  Kulturübertragung. 


202  Walter  Otto, 

Lautwertes  der  verwendeten  Keilschriftzeichen,  die  bei  der 
Unmöglichkeit  in  der  Keilschrift  Verschlußlaute  wie  d  und  t, 
g  und  k  und  andere  deutlich  zum  Ausdruck  zu  bringen, 
oft  recht  schwierig  sein  dürfte,  heißt  es  die  Umschriften 
der  gelesenen  Zeichen  sorgfältig  zu  prüfen,  zumal  bei  der 
Polyphonie  der  Keilschriftzeichen  im  Falle  ihrer  Verwen- 
dung zur  Schreibung  einer  ihnen  fremden  Sprache  die 
Möglichkeit  der  irrigen  Schriftauffassung  besonders  groß  ist 
und  noch  dadurch  erhöht  werden  kann,  daß  der  auf  eine 
bestimmte  Theorie  Eingeschworene  ganz  unwillkürlich  ge- 
neigt sein  dürfte,  sich  für  Umschriften,  die  zu  dieser 
passen,  zu  entscheiden,  i)  Liegt  außer  diesen  Textpublika- 
tionen alsdann  auch  das  Buch  Hroznys  mit  der  eingehenden 
Begründung  seiner  sprachlichen  Aufstellungen  ganz  abge- 
schlossen vor,  dann  wird  auch  für  den  Historiker  eine  end- 
gültige Stellungnahme  zu  seiner  These  möghch  sein.  Immer- 
hin hat  schon,  und  zwar  sofort,  Eduard  Meyer  (Mitt.  S.  8  f.) 
gegenüber  Hroznys  Annahme  von  dem  indogermanischen 
Grundcharakter  der  hethitischen  Sprache  auf  ihren  vom 
indogermanischen  Sprachtypus  anscheinend  abweichenden 
Gesamtcharakter  und  vor  allem  auf  ihren  reichen  fremd- 
artigen Wortschatz  verwiesen.*^)  Es  kommt  hinzu,  daß 
die  uns  bisher  bekant  gewordenen  hethitischen  Namen, 
die  der  Götter,  der  Könige  und  anderer  Hethiter^),  allem 
Anschein  nach  so  gut  wie  alle  nicht  nur  nicht  indo- 
germanisch sind*),  sondern  sogar  vielmehr,  und  zwar  zum 

1)  Herbig  a.  a.  O.  Sp.  422  scheint  sich  die  Möglichkeit  der  Mit- 
arbeit der  „Nichtassyriologen"  allein  auf  Grund  der  Transkriptionen 
zu  einfach  vorzustellen.  Korrekturzusatz:  Hrozny,  Sprache  der  He- 
thiter S.  VIII  stellt  die  Lesungen  zwar  als  völlig  gesichert  hin,  aber 
Bohl  a.  a.  O.  S.  306  und  auch  O.  Weber,  Orient.  Lit.-Ztg.  XIX  (1916), 
Sp.  369  weisen,  und  m.  E.  zum  Teil  mit  Recht,  auf  mancherlei  Un- 
sicherheiten und  Schwierigkeiten  hin. 

*)  Selbstverständlich  ist  sich  auch  Hrozn]^  der  unindogermani- 
schen Elemente  im  Hethitischen  bewußt  geworden,  s.  Mitt.  S.  39  f. 
S.  hierzu  jetzt  auch  seine  Bemerkungen  in  seinem  Buche  S.  IX  f. 
(Korrekturzusatz). 

')  Für  solche  Namen  s.  außer  E.  Meyer,  Mitt.  S.  12  auch  Hommel 
a.  a.  O.  S.  43. 

*)  Daß  die  indogermanischen  Namen  einzelner  syrischer  Dy- 
nasten und  einiger  Mitannikönige  um  1400  v.  Chr.  (s.  Zusammenstellung 


Die  Hethiter.  203 

Teil  ganz  deutlich,  „kleinasiatisches"  Gepräge  tragen;  daß 
es  sich  bei  diesen  allen  um  keine  spezifisch  hethitischen, 
sondern  nur  um  von  den  Hethitern  angenommene  Namen 
handeln  sollte,  darf  man  kaum  annehmen.  Anderseits  er- 
scheint es  mir  aber  auch  jetzt  schon  nicht  mehr  möglich,  das 
Vorhandensein  eines  starken  indogermanischen  Einschlags  im 
Hethitischen  zu  leugnen. i)  So  hat  der  von  Eduard  Meyer 
befürwortete  Ausweg,  daß  es  sich  bei  der  hethitischen  Sprache 
um  eine  Mischsprache  handle^),  trotz  der  prinzipiellen  Be- 
denken Herbigs  (a.  a.  0.  Sp.  427)  gegen  eine  solche^)  gar  man- 
ches für  sich.  Zu  einer  solchen  würde  auch  die  schon  (S.  198)*) 
erwähnte  Leugnung  einer  irgendwie  näheren  Verwandtschaft 
mit  der  Mitanni-Sprache  gut  passen.  Das  indogermanische 
Element  des  Hethitischen  würde  alsdann  als  jenes  zu  fassen 
sein,  das  den  Eindruck  der  Nichtverwandtschaft  der  beiden 
Sprachen  hervorgerufen  hat.  Denn  daß  die  von  dem  Indo- 
germanischen aus  zunächst  nicht  zu  erklärenden  Bestand- 
teile des  Hethitischen  „kleinasiatischen"  Charakter  haben 
dürften,  darf  man  wohl  abgesehen  von  den  Namen  auf  Grund 
des  „kleinasiatischen"  Typus  der  Sprachträger  und  ihrer  in 
den  Grundzügen  „kleinasiatischen"  Kultur  postulieren. 

Und  dies  um  so  mehr,  als  Hrozny  (Mitt.  S.  40  ff.)  in 
den  hethitischen  Keilschrifturkunden  die  gelegentlich,  und 
zwar  vor  allem  im  Ritual  begegnende  Verwendung  eines 
nichthethitischen  Idioms,  der  sog.  Charri-Sprache,  festgestellt 
zu  haben  glaubt,  die  dem  Mitanni,  überhaupt  der  klein- 


bei  E.  Meyer,  Zeitschr.  f.  vgl.  Sprachforsch.  XL II  [1909],  S.  17  ff.)  irgend- 
wie als  Namen  von  bereits  in  jenen  Gegenden  zur  Herrschaft  gelangten 
Hethitern  aufzufassen  seien,  ist  um  so  weniger  wahrscheinlich,  als  es 
sich  um  speziell  arische  bzw.  iranische  Namen  handelt. 

^)  Bei  unserm  Urteil  über  das  indogermanische  Element  im 
Hethitischen  ist  zu  beachten,  daß  die  Keilschrift  zur  Wiedergabe 
einer  indogermanischen  Sprache  nicht  recht  geeignet  ist, 

*)  Für  die  Annahme  einer  Mischsprache  hat  sich  jetzt  auch 
Bohl  a.  a.  O.  S.  305  ausgesprochen  (Korrekturzusatz). 

')  Ihnen  gegenüber  sei  hervorgehoben,  daß  man  doch  wohl  z.  B. 
auch  dem  Charakter  des  Ägyptischen  am  gerechtesten  wird,  wenn 
man  es  mit  Adolf  Erman  als  eine  Mischsprache  deutet;  E.  Meyers 
Gesch.  d.  Altert.  I  2»,  S.  49  Polemik  gegen  Erman  halte  ich  nicht  für 
glücklich. 


204  Walter  Otto, 

asiatischen  Sprachgruppe  sehr  nahe  stehen  soll.  Allerdings 
handelt  es  sich  hierbei  zunächst  im  wesentlichen  um  eine 
bloße  Behauptung  Hroznys,  für  die  der  Beweis  noch  zu 
erbringen  ist.i)  \ 

Ob  man  nun  das  Hethitische  als  eine  indogermanische 
Sprache  mit  starker  fremder,  sie  zersetzender  Beimischung 
aufzufassen  hat,  wie  es  gerade  nach  Hroznys  bisherigen 
Aufstellungen  scheinen  könnte  (so  auch  Kretschmer  bei 
Hrozny,  Mitt.  S.  40),  oder  ob  man  es  mit  einer  durch  das 
Indogermanische  zersetzten  „kleinasiatischen"  Sprache  zu 
tun  hat,  diese  Frage  läßt  sich  bei  der  Unsicherheit  all  unserer 
Grundlagen  vorläufig  nur  aufwerfen,  aber  noch  nicht  ent- 
scheiden.   Jedenfalls  ergibt  sich  aber  aus  der  Betrachtung 


1)  Von  Winckler,  Mitt.  S.  52,  Orient.  Lit.-Ztg.  XIII  (1910), 
Sp.  289  ff.  und  Vorderasien  S.  67  ff.  ist  zwar  die  Behauptung  aufge- 
stellt und  immer  wieder  vertreten  worden,  daß  mit  dem  Namen  Charri 
die  arischen  Elemente,  d.  h.  die  Herrenbevölkerung  in  Mitanni  be- 
zeichnet worden  seien,  und  E.  Meyer,  Gesch.  d.  Altert.  I  2^,  S.  652, 
672,  676  hat  ihm  beigepflichtet,  aber  bewiesen  erscheint  mir  dies  nicht. 
Denn  einmal  sind  die  arischen  Götter,  die  in  den  Verträgen  zwischen 
Chatti  und  Mitanni  unter  den  Göttern  des  letzteren  Landes  genannt 
werden,  durchaus  nicht  speziell  als  Götter  der  Charri  gekennzeichnet, 
und  ferner  lassen  sich  auch  nicht  die  Mitannikönige  mit  arischen  Namen 
als  zu  den  Charri  gehörig  —  eher  ist  das  Gegenteil  der  Fall,  s.  Winckler, 
Mitt.  S.  49  —  oder  diese  als  die  damalige  Herrenbevölkerung  erweisen. 
Es  bleibt  zunächst  m.  E.  als  einziges  Beweisstück  ein  König  Artatama 
von  Charri;  aber  aus  dem  arischen  Namen  dieses  einen  Herrschers  ist 
natürlich  auf  die  Nationalität  der  Hauptmasse  seiner  Untertanen 
ebensowenig  ein  sicherer  Schluß  möglich,  wie  aus  den  indogerma- 
nischen Namen  der  Mitannikönige  und  der  nordsyrischen  Dynasten. 
Wenn  bei  dem  sehr  lückenhaften  Material  überhaupt  eine  Vermu- 
tung am  Platze  ist,  so  scheint  sie  mir,  nachdem  uns  nun  Charri 
im  Hethiterreich,  im  Mitannilande  und,  wie  Winckler  erwiesen  zu 
haben  scheint,  auch  außerhalb  dieser  Gegenden  in  dem  Gebiet  auf 
Kleinasien  zu  bezeugt  sind,  nur  in  der  Richtung  möglich  zu  sein, 
daß  wir  in  dem  Charri-Namen  gerade  einen  Gemeinsamsnamen  „klein- 
asiatischer" Volkselemente  zu  sehen  haben.  Und  da  wir  ja  diese  auch 
in  Syrien  antreffen,  so  bedarf  die  Frage  nach  der  Rasse  der  alttesta- 
mentlichen  Choriter,  ägypt.  Charu,  trotz  der  bei  ihnen  sich  findenden 
semitischen  Namen  noch  neuer  Prüfung;  anders  wie  E.  Meyer,  Gesch. 
d.  Altert.  I  2^,  S.  675  f.  hat  denn  auch  z.  B.  Kittel  a.  a.  O.  P,  S.  38 
mit  der  Möglichkeit  gerechnet,  in  ihnen  eine  nur  starl«  semitisierte 
Schicht  der  Frühbevölkerung  Palästinas  zu  sehen. 


Die  Hethiter.  205 

der  Sprache  —  anders  als  aus  der  des  Typus  i)  und  der 
Kultur  — ,  daß  die  Hethiter  zur  Zeit  ihres  Großreiches, 
seit  dem  diese  Sprache  uns  bezeugt  ist,  kein  rein  „klein- 
asiatisches", sondern  ein  mit  Indogermanen  gemischtes  Volk 
gewesen  sein  müssen.  Gerade  in  Anbetracht  unserer  noch 
recht  unzureichenden  Kenntnis  wird  man  das  bisherige 
Fehlen  von  indogermanischen  „Rassen"-,  aber  auch  von 
sicheren  Kulturmerkmalen  wohl  ohne  Bedenken  dadurch 
erklären  dürfen,  daß  die  Indogermanen  geringer  an  Zahl 
gewesen  sind,  daß  sie  fremde  Frauen  genommen  haben  und 
daß  so  die  von  ihnen  mitgebrachten  fremden  Rassenmerk- 
male für  unsere  Blicke  verschwunden  sind;  für  das  übrigens 
wohl  nur  vorläufige  Nichtvorhandensein  von  Kulturmerk- 
malen (s.  aber  S. 218  A.  l.)2)  wird  man  wohl  ergänzend  an- 
nehmen dürfen,  daß  ihre  Kultur  der  ,, kleinasiatischen"  unter 
legen  war.  Daß  trotz  alledem  ihre  Sprache  nicht  ganz  ge- 
schwunden ist,  dafür  läßt  sich  durch  die  Annahme,  sie  seien 
in  den  ,, kleinasiatischen"  Völkerkreis  eingedrungene  Er- 
oberer, eine  befriedigende  Erklärung  finden.^)] 

1)  Es  ist  bei  dessen  Verwertung  immer  zu  beachten,  daß  uns 
für  die  Hethiter  bisher  nur  Abbildungen,  aber  noch  Iceine  anthropo- 
logischen Funde  vorliegen. 

2)  Wenn  Bohl  a.  a.  O,  S.  319  im  hethitischen  Pantheon  einen 
Hinweis  auf  den  indogermanischen  Himmelsgott  zu  finden  glaubt, 
so  ist  dies  noch  recht  unsicher  (Korrekturzusatz). 

^)  Es  sei  hier  als  Parallele  auf  die  Zustände  in  Nordsyrien  und  im 
nordwestlichen  JVlesopotamien  verwiesen  (s.  Eduard  Meyer,  Zeitschr.  f. 
vergl.  Sprachforsch.  XLH  [1909],  S.  17  ff.  u.  24  ff.).  Auch  dort  ver- 
mochten wir  für  die  Zeit  seit  1400  v.  Chr.  das  Vorhandensein  von  Indo- 
germanen zunächst  allein  aus  sprachlichen  Anzeichen  zu  erschließen, 
aus  den  schon  vorher  erwähnten  Dynastennamen,  die  uns  zugleich  das 
indogermanische  Element  als  die  Herren  der  alten  Bevölkerung  zeigten; 
erst  durch  die  Funde  von  Boghazköi  ist  uns  dann  als  weiteres  Anzeichen 
für  die  Anwesenheit  von  Indogermanen  die  Verehrung  arischer  Götter 
bei  den  Mitanni  bekannt  geworden.  Man  könnte  hierzu  auch  etwa 
daran  erinnern,  daß  auf  den  ersten  Blick  das  Volkstum  der  Germanen 
in  den  von  ihnen  auf  römischem  Boden  gegründeten  Reichen  im  römi- 
schen Wesen  zumeist  schnell  untergegangen  zu  sein  scheint,  ein  Urteil, 
das  sich  allerdings  bei  eingehenderer  Betrachtung  mit  reichem  Material 
als  recht  oberflächlich  erweist,  und  vielleicht  veranlaßt  uns  bessere 
Materialkenntnis  dereinst  auch  noch  bezüglich  des  Wesens  der  Hethiter 
zu  einer  Änderung  unseres  bisherigen  Urteils.  Schließlich  sei  für  die 
Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  14 


206  Walter  Otto, 

So  ergibt  sich  ein  anscheinend  geschlossenes  Bild  von 
dem  Wesen  des  Hethitervolkes,  das  jedoch  zunächst  noch 
sehr  viel  Hypothetisches  enthält.  Nun  ist  schon  von  Eduard 
Meyer  (Mitt.  S.  16)  die  Frage  nach  der  Herkunft  des 
indogermanischen  Elementes  angeschnitten  worden.  Und 
mit  ihr  erhebt  sich  die  wichtige  weitere:  Rührt  der  Name 
„Chatti"  von  ihm  oder  von  dem  ,, kleinasiatischen"  Bestand- 
teile her?  Zumal  dieser  nur  in  fremder,  in  keilschriftlicher, 
ägyptischer  (HtO  und  hebräischer  (nn,D^nn)  Umschrift  vor- 
liegt, ist  seine  sprachHche  Deutung  besonders  schwierig  und 
augenblicklich  wohl  noch  unlösbar,  aber  es  scheint  prinzipiell 
nichts  einer  Erklärung  aus  dem  Indogermanischen  entgegen- 
zustehen.i)  Würde  sich  die  eine  der  für  die  Herkunft  mög- 
prinzipielle Berechtigung  der  obigen  Schlüsse  z.  B.  auf  die  allgemeinen, 
mit  historischen  Beispielen  belegten  Ausführungen  über  das  Verhältnis 
von  Sprache,  Rasse  und  Kultur  von  Oberhummer,  Geogr.  Zeitschr. 
XXII  (1916),  S.  83  hingewiesen. 

1)  Jensen  hat  bei  seiner  Erklärung  der  Sprache  der  Hieroglyphen- 
inschriften an  die  armenische  Bezeichnung  der  Armenier  als  Haikh 
erinnert  und  nimmt  an,  daß  Hai  (Sing.)  aus  *Hatio  entstanden  sei. 
Bewiesen  ist  dies  nun  allerdings  nicht,  immerhin  mahnt  aber  auch 
dies,  die  Deutung  des  Chatti-Namens  aus  dem  Indogermanischen  nicht 
prinzipiell  abzulehnen.  —  In  diesem  Zusammenhange  sei  auch  immerhin 
darauf  hingewiesen,  daß  allem  Anschein  nach  nicht  ein  echt  klein- 
asiatischer Gott  wie  Tesub,  sondern  eine  Gottheit  uns  noch  unbe- 
kannten Namens  der  Hauptgott  von  Chatti  zur  Zeit  des  Großreiches 
gewesen  ist;  jedenfalls  tritt  uns  Tesub  nicht  als  der  Hauptgott  in  den 
Skulpturen  an  den  Wänden  der  großen  Felsnische  Jazylykaja  dicht 
bei  Boghazköi,  doch  wohl  der  heiligsten  Stätte  der  Königsstadt,  ent- 
gegen, und  auch  in  den  uns  bekannt  gewordenen  hethitischen  Götter- 
listen (s.  jetzt  auch  Bohl  a.  a.  O.)  erscheint  er  nicht  als  solcher. 
(E.Meyer  S.  85ff.;  157  ff.  Seine  frühere  Behauptung  in  Gesch.  d. 
Altert.  1 2»,  S.  712,  714,  Tesub  sei  der  Nationalgott  der  Hethiter 
[ähnlich  ist  wohl  die  Auffassung  von  Winckler,  Mitt.  S.  13  f.],  läßt 
sich  mit  diesen  späteren  Ausführungen  eigentlich  nicht  recht  vereinen; 
sie  ist  auch  jedenfalls  von  ihm  seinerzeit  nicht  bewiesen  worden.)  Daß 
neben  diesem  Gott  der  Gott  Tesub  ganz  besondere  Verehrung,  und 
zwar  gerade  auch  in  der  Chattistadt,  genossen  hat,  ist  freilich  nach 
den  uns  bekannt  gewordenen  Götterlisten  zweifellos.  In  dieser  Ver- 
ehrung hätte  man  aber  nur  wieder  ein  Zeichen  des  starken  Vorherr- 
schens  „kleinasiatischer"  Kulturelemente  zusehen;  die  besondere  Ver- 
ehrung des  Tesub  gerade  als  Herr  der  Stadt  Chatti  könnte  vielleicht 
damit  zusammenhängen,  daß  er  an  dieser  Stätte  schon  vor  dem  Er- 
scheinen der  Chatti  verehrt  worden  ist,  aber  auch  andere  Erklärungen 


Die  Hethiter.  207 

liehen  Annahmen  (s.  im  folg.  S.  214  f.)  dereinst  als  richtig  her- 
ausstellen, so  würde  sogar  der  Name  „Chatti"  unbedingt 
als  die  von  den  Eindringlingen  mitgebrachte  Volksbezeich- 
nung und  somit  als  indogermanisch  anzusprechen  sein. 
Bevor  ich  jedoch  auf  jene  Annahme  eingehe,  gilt  es  zu- 
nächst, sich  über  die  ältesten  uns  bezeugten  Wohnsitze  und 
im  Zusammenhang  damit  über  die  allmähliche  Ausdehnung 
des  Machtbereichs  der  Hethiter  klar  zu  werden. 

Hierfür  bieten  uns  einmal  die  schon  besprochenen  hethi- 
tischen  Kulturüberreste  Anhaltspunkte,  allerdings  sehr  viel 
schwächere,  als  man  für  gewöhnlich  —  so  auch  Eduard  Meyer 
—  anzunehmen  geneigt  ist.  Denn,  wie  schon  hervorgehoben, 
unterliegt  bei  manchen  ihre  Zuweisung  an  das  Einzelvolk 
der  Hethiter  mehr  oder  weniger  erheblichen  Bedenken,  und 
bei  anderen  ist  die  Zeit  ihrer  Entstehung  noch  wenig  ge- 
klärt; es  ist  daher  schon  deswegen  allein  auf  Grund  der 
Denkmäler  oft  kaum  zu  entscheiden,  inwieweit  und  für  wie 
lange  Zeit  an  ihren  Fundstätten  wirklich  Hethiter  gesessen 
haben.  So  ergibt  sich  z.  B.  aus  den  Überresten  kein  zwin- 
gender Grund  dafür,  nordsyrische  Orte  wie  etwa  Sendschirli 
und  Saktschegözu  als  frühzeitige  oder  dauernde  hethiti- 
sche  Sitze  zu  fassen;  das  vollständige  Fehlen  der  Hierogly- 
phenschrift auf  den  hier  gefundenen  Denkmälern  dürfte  doch 
kaum  rein  zufällig  sein^),  und  die  Gleichheit  des  Stils  ließe 
sich  immerhin  auch  durch  Kulturübertragung  und  bei  den 
zeitlich  frühesten  durch  die  zweifellose  Zugehörigkeit  der 
Bewohner,  wenn  nicht  zu  den  Hethitern,  so  doch  zu  der 


sind  denkbar.  Eduard  Meyer  rechnet  nun  mit  der  Möglichkeit,  in 
der  unbekannten  Hauptgottheit  den  Gott  Attis,  sem.  '^rW  (oder  ähn- 
Uch)  zu  sehen  (eingeschränkter  früher  Gesch.  d.  Altert.  12^,  S.  728), 
und  Hommel  a.  a.  O.  S.  44  hat  diesen  Namen  sogar  mit  dem  Chattu- 
namen zusammengebracht,  ohne  jedoch  beides  direkt  gleichzusetzen 
(sehr  klar  äußert  er  sich  nicht,  s.  auch  S.  47);  es  erscheint  mir  dies 
alles  aber  noch  viel  zu  unsicher,  um  irgendwelche  Schlüsse  darauf 
aufbauen  zu  können,  ganz  abgesehen  davon,  daß  hierbei  auch  noch 
sehr  strittige  religiöse  Probleme  angeschnitten  werden  müßten. 

^)  Das  Fehlen  erscheint  mir  um  so  auffälliger,  als  uns  gerade  in 
Sendschirli  das  Verlangen,  sich  in  Schriftdenkmälern  zu  verewigen, 
begegnet;  sind  uns  doch  bekanntlich  von  hier  besonders  alte  semi- 
tische Inschriften  erhalten. 

14* 


208  Walter  Otto, 

„kleinasiatischen"  Bevölkerungsgruppe  befriedigend  erklären. 
Bei  Verwertung  der  Denkmäler  muß  man  ferner  damit  rech- 
nen, daß  sie  an  ihre  Fundstätten  durch  den  Handel  oder 
durch  Verschleppung  gelangt  sein  können;  so  scheiden  Orte 
wie  z.  B.  Babylon  aus.  Andere  Funde  wie  etwa  die  Fels- 
skulpturen in  lonien  bei  Magnesia  und  Smyrna  beweisen 
vielleicht  nur,  daß  bis  in  diese  Gegenden  Hethiterkönige  auf 
ihren  Heereszügen  gelegentlich  gelangt  sind  und  entsprechend 
orientalischem  Herrscherbrauche  im  Felsgebirge  ihr  unver- 
gängliches Siegeszeichen  angebracht  haben;  das  vereinzelte 
Vorkommen,  das  immer  spärlicher  Werden  der  Zeugnisse, 
je  weiter  westlich  man  in  Kleinasien  vordringt,  könnte  man 
ebenso  für  diese  Erklärung  anführen  wie  die  Auffindung 
dieser  Überreste  gerade  an  den  alten  großen  Straßen  in 
jenem  Gebiete.  Die  neuere  Forschung,  auch  Eduard  Meyer 
(S.  72),  scheint  mir  daher  nicht  vorsichtig  genug  zu  ver- 
fahren, wenn  sie  vor  allem  auf  Grund  dieser  Felsskulpturen 
von  der  Ausbreitung  des  Hethiterreiches  bis  an  die  Küsten, 
ja  sogar  bis  auf  die  Inseln  der  Ägäis  als  ziemlich  gesichert 
spricht;  denn  so  allgemeine  Erwägungen  wie  etwa  jene,  daß 
eigentlich  nur  die  Annahme  einer  derartigen  Ausdehnung 
der  Hethitermacht  die  späte  Ansiedlung  von  Trägern  der 
kretisch-mykenischen  Kultur  an  der  kleinasiatischen  West- 
küste gut  erkläre,  stellen  infolge  unserer  bisherigen  Unkennt- 
nis der  politischen  Geschichte  der  Ägäis  und  des  vorderen 
Kleinasiens  im  2.  Jahrtausend  v.  Chr.  zu  viele  unbekannte 
Größen  in  Rechnung,  als  daß  durchschlagende  Beweiskraft 
ihnen  zuerkannt  werden  könnte.^) 

Nach  alledem  würde  man  bei  größerer  Vorsicht,  als  sie 
bisher  geübt  worden  ist,  über  die  Wohnsitze  und  die  Aus- 
dehnung der  politischen  Macht  der  Hethiter  in  Kleinasien 
und  darüber  hinaus  im  östlichen  Vorderasien  nur  zu  sehr 
ungewissen  Ergebnissen  gelangen  können,  wenn  nicht  glück- 
licherweise die  Anhaltspunkte,  die  die  Denkmäler  gewähren, 


1)  Ganz  besonders  wenig  skeptisch  sind  die  einschlägigen  Aus- 
führungen von  H.  R.  Hall,  Mursil  and  Myrtilos,  Journ.  Hell.  Stud. 
XXIX  (1909),  S.  19  ff. ;  s.  aber  auch  Hogarth,  lonia  and  the  East  S.  12  ff. 
und  Lenschan,  s.  v.  Jones  in  Paulys  Realenzykl.  d.  klass.  Altertumsw.* 
IX,  Sp.  1874. 


Die  Hethiter.  209 

durch  die  schriftliche  Überlieferung  ergänzt  würden  und 
zwar  ebensowohl  durch  die  keilinschriftliche  Tradition  — 
außer  den  einheimischen  Urkunden  Angaben  in  einer  baby- 
lonischen Chronik,  in  den  bekannten  Briefen  aus  dem 
ägyptischen  Reichsarchiv  in  El  Amarna  aus  der  Zeit  des 
3.  und  4.  Amenophis  (Anfang  des  14.  Jahrhunderts)  und  in 
den  assyrischen  Königsinschriften  seit  Tiglatpilesar  I.  (vor 
1100  V.  Chr.)  — ,  als  auch  durch  die  ägyptischen  Inschriften 
aus  der  Zeit  Thutmosis'  III.  und  der  19.  Dynastie,  sowie 
durch  das  Alte  Testament,  i)  Darnach  können  wir  von  etwa 
1475  bis  zum  Jahre  717  v.  Chr.,  dem  Jahre  der  Beseiti- 
gung des  Hethiterstaates  Karkemisch,  die  Ausbreitung  der 
Hethiter  wenigstens  in  den  großen  Zügen  mit  einiger  Sicher- 
heit verfolgen;  für  die  frühere  Zeit  besitzen  wir  freilich  nur 
eine  einzige  und  bisher  ganz  vereinzelte  Nachricht. 

Einen  ganz  sicheren  Ausgangspunkt  für  unsere  Fest- 
stellungen hat  uns  seit  den  Funden  von  Boghazköi  der  alte 
Name  dieses  Ortes  ,,Chatti"  d.  h.  Hethiter  geliefert.  Stadt- 
und  Volksname  ist  also  gleich  gewesen,  und  hierzu  kommt 
als  weiteres  wichtiges  Indizium,  daß  das  Hethiterreich  im 
Einklang  mit  einer  auch  sonst  zu  beobachtenden  Gepflogen- 
heit in  der  einheimischen  oder  der  ihr  nahestehenden  Tra^ 
dition  als  „Land  der  Stadt  Chatti"  bezeichnet  wird.^)  In 
diesen  Namensgebungen  tritt  uns  einmal  die  Bedeutung  des 
Hauptortes  als  des  alles  beherrschenden  Mittelpunktes  für 
seinen  Bezirk  besonders  deutlich  entgegen,  vor  allem  aber 

1)  Die  verschiedenen  Angaben  des  Alten  Testaments  sind  sehr 
übersichtüch  zusammengestellt  von  Eduard  Meyer  S.  136  f.  Wenn  die 
spätere  jüdische  Tradition  die  Hethiter  zu  einem  Teil  der  Urbevöl- 
kerung Palästinas  macht,  so  scheint  sie  mir  einen  ähnlichen  Fehler 
wie  die  heutige  Forschung  zu  begehen,  indem  sie  den  ihr  besonders 
bekannten  Teil  einer  Völkergruppe,  die  Hethiter  (s.  die  spätere  Be- 
zeichnung von  Nordsyrien  als  „Land  Chatti"!  vgl.  S.  227),  für  jene 
d.  h.  für  die  „Kleinasiaten"  einsetzt;  denn  daß  dereinst  ein  nicht- 
semitisches, und  zwar  ein  „kleinasiatisches"  Bevölkerungselement  bis 
nach  Palästina  hinein  gesiedelt  hat,  erscheint  mir  so  gut  wie  gesichert; 
Eduard  Meyer,  Gesch.  d.  Altert.  I  2»,  S.  378  u.  419  äußert  sich  leider 
nicht  scharf  genug,  fast  gegensätzlich  hierüber;  über  nichtsemitische 
r^amen  in  Palästina  s.  etwa  Kittel  a.  a.  O.  P,  S.  54f.;  vgl.  auch  Bohl, 
Kananäer  und  Hebräer,  S.  23  ff. 

*)  S.  Winckler,  Mitteil.  S.  13  f. 


210  Walter  Otto, 

bezeugen  sie,  daß  etwa  ebenso  wie  das  Reich  von  Akl^ad 
von  der  Stadt  gleichen  Namens  und  Assyrien  von  der  Stadt 
Assur,  so  auch  das  Reich  der  Hethiter  von  einem  Stadt- 
königtum, von  der  Gegend  von  Boghazköi,  ausgegangen  ist. 
Allzugroß  dürfte  das  Gebiet  dieser  Stadtherrschaft,  die  zu- 
dem an  einer  von  der  Natur  nur  als  strategische  Position 
gegenüber  den  großen  Handelsstraßen  des  hinteren  Klein- 
asiens begünstigten  Stelle,  auf  der  Hochebene  östlich  des 
mittleren  Halys,  lag^),  von  Haus  nicht  gewesen  sein;  sind 
doch  selbst  noch  zur  Zeit  der  großen  Macht  der  Hethiter 
z.  B.  die  Landschaften  Kizwadna,  d.  h.  etwa  das  pontische 
Kappadokien^),  und  Arzawa  mehr  oder  weniger  selbständig 
gewesen^),  wie  man  sich  überhaupt  das  Hethiterreich  auch 
zur  Zeit  seiner  größten  Ausdehnung  nicht  als  Einheitsstaat, 
sondern  ebenso  wie  etwa  zeitweise  Ägypten  und  Babylonien 
in  seiner  staatlichen  Organisation  mehr  wie  das  mittelalter- 
liche Deutschland  vorstellen  muß.*) 

Durch  die  neuen  Feststellungen,  die  uns  Boghazköi  über 
den  kleinasiatischen  Ausgangspunkt  des  Hethiterreiches  ge- 
stattet, ist  übrigens  die  schon  früher  gewonnene  Erkenntnis, 
daß  die  Hethiter  nicht,  wie  man  ursprünglich  annahm,  aus 
Nordsyrien  nach  Kleinasien  gekommen  seien,  sondern  daß 
das  Gegenteil  der  Fall  sei,  nur  bestätigt  worden.    Zu  den 


^)  S,  die  treffenden  Ausführungen  von  King  a,  a.  O.  S.  230  ff. 

*)  Herzfelds  Erkenntnis,  daß  wir  in  Kizwadna  die  ältere  Form 
für  Kappadokien  vor  uns  haben  (s,  Eduard  Meyer  S.  76  u.  156),  ist 
unbedingt  richtig;  die  Lage  hat  auch  schon  Winckler,  Vorderasien, 
S.  61  richtig  bestimmt.  Es  ist  leider  allgemein  nicht  beachtet  worden, 
daß  bereits  Hommel  a.  a.  O.  S.  42,  4  u.  47, 1  die  richtige  Gleichung 
mit  Kappadokien  gefunden  hat. 

3)  Für  die  politische  Stellung  von  Kizwadna  s.  W.  Max  Müller 
a.  a.  O.  S.  335  und  Winckler,  Vorderasien,  S.  59  ff.,  für  die  von  Arzawa 
Winckler,  Mitt.  S.  40  und  Weber  a.  a.  O.  II,  S.  1075,  deren  Gründe 
für  die  völlige  Unabhängigkeit  des  Landes  mir  jedoch  nicht  entschei- 
dend zu  sein  scheinen;  eine  gelegentliche  zeitweise  Selbständigkeit 
ist  natürlich  nicht  ausgeschlossen. 

*)  Es  geht  dies  deutlich  aus  den  Angaben  der  ägyptischen  In- 
schriften und  der  Boghazköitexte  über  die  den  Hethitern  untergebenen 
Herrscher  und  Völker  hervor;  besonders  charakteristisch  ist  auch 
z.  B.  das  von  Winckler,  Mitt.  S.  28  erwähnte  Edikt  des  Königs  Dud- 
chalia. 


Die  Hethiter.  211 

Beobachtungen  G.  Hirschfelds  (a.  a.  0.),  daß  die  kappado- 
kischen  Denkmäler  nicht  von  syrischen  Eroberern  herrühren 
könnten,  sondern  in  ihrer  Entstehung  mit  Kleinasien  aufs 
engste  verwachsen  seien,  hatten  sich  ja  die  Angaben  der 
El-Amarnabriefe  hinzugesellt,  denen  zufolge  erst  zur  Zeit 
ihrer  Abfassung  bzw.  kurz  vorher,  also  etwa  seit  den  aller- 
letzten Jahren  des  15.  Jahrhunderts,  die  Hethiter  als  Er- 
oberervolk allmählich  in  Nordsyrien  vorgedrungen  sind.^) 
Daß  schon  vorher  Bruchteile  des  hethitischen  Volkes  dort, 
überhaupt  außerhalb  Kleinasiens,  gesessen  haben,  dafür  gibt 
es  kein  sicheres  Zeugnis.^)  Auch  die  Erwähnung  des  Hethiter- 
landes in  den  Annalen  Thutmosis'  HI.  neben  den  syrischen 
Ländern  und  dem  angrenzenden  Gebiet  am  oberen  Euphrat 
weist  uns  darauf  hin,  daß  die  Hethiter  in  der  ersten  Hälfte 
des  15.  Jahrhunderts  in  den  Gegenden  diesseits  des  Taurus- 
gebirges  noch  nicht  heimisch  gewesen  sein  können,  sondern 
eben  noch  in  Kleinasien  ihren  Machtbereich  hatten.^)    Zu 

0  Bezüglich  der  Zeit  s.  Knudtzon  a.  a.  O.  I,  S.  44.  Vgl.  auch  die 
Angaben  von  Winckler,  Vorderasien,  S.  83  ff.  über  die  von  ihm  als 
„Aleppovertrag"  bezeichnete  Urkunde. 

2)  O.  Weber  a.  a.  O.  II,  S.  1088 f.  vertritt  z.  B.  diese  Auffassung, 
aber  das  Alte  Testament  liefert  uns  ein  solches  Zeugnis  nicht  (s.  vorher 
S.  209  A.  1),  und  die  ganz  wenigen  „hethitischen"  Eigennamen  und 
Glossen,  die  uns  in  den  El-Amarnabriefen  begegnen,  sind  m.  E.  noch 
gar  nicht  sicher  als  spezifisch  hethitisch  erwiesen  und  würden  auch 
dann  kaum  wirklich  entscheidende  Belege  darstellen;  zunächst  hat 
man  in  ihnen  einfach  „kleinasiatisches"  Sprachgut  zu  sehen,  und  der 
ägyptische  Resident  von  Jerusalem  unter  Amenophis  IV.,  Abdichiba, 
durch  den  als  Träger  eines  hethitischen  Namens  die  Hethiter  auch  mit 
dieser  Stadt  in  Verbindung  gebracht  zu  sein  schienen,  ist  vorläufig 
nur  als  Hinweis  auf  das  Vorhandensein  „kleinasiatisclier"  Elemente 
zu  verwerten  (die  Lesung  des  Namens  ist  noch  strittig,  s.  Weber  a.  a.  O. ; 
der  zweite  Bestandteil  ist  uns  aber  bisher  gerade  nur  in  Mitanni-  und 
Kizwadnanamen  belegt,  s.  Winckler,  JVlitt.  S.  48).  Die  falsche  Auf- 
fassung Webers  und  mancher  anderer  (E.  Brandenburg,  Zeitschs.  f. 
Ethnol.  XLIV  [1912],  S.  23ff.;  W.  Reimpell,  Orient.  Lit.-Ztg.  XIX 
(1916],  S.  327  wollen  sogar  hethitischen  Einfluß  in  den  ältesten  Denk- 
mälern Petras  nachweisen)  beruht  übrigens  wohl  zum  Teil  auf  der 
unglücklichen  Weitererstreckung  des  Hethiternamens;  auch  Winckler, 
Mitt.  S.  48  hat  sich  ihr  auch  in  diesem  Zusammenhang  nicht  zu  ent- 
ziehen vermocht. 

*)  S.  auch  die  von  W.  Max  Müller  a.  a.  O.  S.  320  f.  angeführte 
Inschrift  aus  der  Zeit  des  3.  Thutmosis. 


212  Walter  Otto, 

dieser  Zeit  muß  jener  aber  bereits  schon  sehr  bedeutend 
gewesen  sein;  sonst  würde  der  Ägypterkönig  nicht  von  dem 
,, großen  Hethiterlande"  sprechen,  i) 

Es  erhebt  sich  nun  die  Frage,  seit  wann  wir  in  Klein- 
asien mit  einem  selbständigen  Hethiterreiche  zu  rechnen 
haben. 2)  Und  ferner  die  weitere,  ob  die  Sitze  der  Hethiter  im 
hinteren  Kleinasien  als  ihre  ursprünglichen  anzusehen  sind. 
Einen  gewissen,  wenn  auch  noch  unsicheren  terminus  post 
quem  zur  Beantwortung  der  ersten  Frage  liefern  uns  die 
bekannten  kappadokischen  Keilschrifttafeln  mit  Geschäfts- 
urkunden in  altakkadischer  Sprache,  auf  denen  sich  die 
Namen  eines  Beamten  eines  Königs  von  Ur  und  eines  alt- 
assyrischen Herrschers,  sowie  die  Erwähnung  assyrischer 
Eponymen,  überhaupt  viele  assyrische  Eigennamen  finden 
(s.  E.  Meyer  S.  51  ff.  u.  153  f.).  Wenn  hier  auch  noch  sehr 
vieles  unsicher  ist,  so  bezeugen  sie  uns  auf  jeden  Fall 
die  politische  Oberherrschaft  Babyloniens  und  Assyriens  in 
den  letzten  Jahrhunderten  des  3.  Jahrtausends  in  Kappa- 
dokien,  und  da  der  Name  der  Assyrer  an  der  kappadokischen 
Küstenlandschaft  bis  in  die  Zeit  der  älteren  griechischen 
Geographie  haften  geblieben  ist  (Belege  bei  E.  Meyer,  Gesch. 
d.  Altert.  12^  S.  613f.),  obwohl  die  assyrische  Herrschaft 
damals  schon  sehr  lange  beseitigt  war,  so  muß  diese  Herr- 
schaft in  älterer  Zeit  ziemlich  fest  eingewurzelt  gewesen  sein. 
Wann  und  wie  sie  zusammengebrochen  ist,  darüber  wissen 
wir  nichts  Sicheres;  sollte  der  assyrische  König  Samsiadad 
seinen  Eroberungszug  zum  „Großen  Meer"  tatsächlich  in 
diese  Gegenden  unternommen  haben  (s.  über  ihn  E.  Meyer, 
a.  e.  a.  0.    I  2^,   S.  668  ff.),  so  würde  der  Zusammenbruch 


1)  Siehe  die  Angaben  bei  Breasted,  Ancient  records  of  Egypt  II, 
S.  485  u.  525.  Man  wird  wohl  in  dem  Wort  „groß"  nicht  nur  ein 
schmückendes  Beiwort  zu  sehen  haben,  zumal  dies  nicht  zu  dem  Cha- 
rakter der  sonstigen  geographischen  Angaben  der  Annalen  passen 
würde,  sondern  darf  hierin  wohl  eine  geographisch-politische  Be- 
zeichnung wie  etwa  in  „Großdeutsch"  und  „Kleindeutsch"  sehen; 
in  diesem  Falle  würde  besonders  deutlich  die  Ausdehnung  des  Reiches 
über  das  ursprüngliche  Gebiet  hinaus  auch  in  dem  Namen  zutage 
treten. 

*)  Die  Ausführungen  Wincklers,  Vorderasien,  S.  67 — 74  sind  leider 
so  schlecht  fundiert,  daß  man  sie  zunächst  ganz  beiseite  lassen  muß. 


Die  Hethiter.  213 

schon  vor  seiner  Regierung,  d.  h.  wohl  vor  1800  v.  Chr., 
anzusetzen  sein  (s.  hierzu  im  folg.  S.  215  A.  2).  Jedenfalls  wird 
man  aber  nach  alledem  das  Aufkommen  eines  selbständigen 
Hethiterstaates  in  Kappadokien,  der  von  irgendwelcher  Be- 
deutung war,  erst  für  die  1.  Hälfte  des  2.  Jahrtausends 
V.  Chr.  annehmen  dürfen. 

Wir  haben  denn  auch  bisher  gar  keine  zwingenden  Be- 
lege für  das  Vorhandensein  des  Einzelvolkes  der  Hethiter  in 
seinen  späteren  Sitzen  aus  einer  früheren  Zeit.  Denn  die  Funde 
an  Keramik,  Siegelzylindern  u.  dgl.  aus  Kültepe,  das  uns 
auch  die  bereits  erwähnten  kappadokischen  Keilschrifttafeln 
geschenkt  hat  (s.  E.  Meyer  S.  152ff.),  weisen  nichts  auf,  was 
man  nicht  ebenso  gut  wie  als  hethitisch  auch  einfach  als 
„kleinasiatisch"  bezeichnen  könnte.  Es  wird  freilich  jetzt 
auch  von  King  a.  a.  0.  S.  210  ohne  weiteres  behauptet,  daß 
unter  den  „Chattü",  welche  nach  einer  babylonischen  Chronik- 
notiz^)  zur  Zeit  des  letzten  Königs  der  1.  Dynastie  von 
Babel,  d.  h.  in  den  zwanziger  Jahren  des  20.  Jahrhunderts, 
Babylonien  angegriffen  haben,  die  kleinasiatischen  He- 
thiter zu  verstehen  seien  und  daß  diese  von  ihren  späteren 
kleinasiatischen  Sitzen  aus  diesen  Angriff  unternommen 
hätten.  Nun  erscheint  es  mir  allerdings  gesichert,  daß  diese 
Chattü  mit  den  späteren  Chatti  gleichzusetzen  sind.  Der 
Name  ist  derselbe^),  und  die  Möglichkeit,  mit  der  Eduard 
Meyer  (S.  57,  s.  auch  Gesch.  d.  Altert.  I  2»,  S.  648)  daneben 
noch  rechnet,  der  Name  könnte  von  der  Chronik  „verall- 
gemeinernd für  die  verwandten  Stämme  des  Nordwestens" 
gebraucht  sein,  beruht  eigentlich  allein  auf  der  von  mir 
schon    als    verfehlt    gekennzeichneten     verallgemeinernden 


^)  Veröffentlicht  von  King,  Chronicles  concerning  early  Babyl. 
kings  II,   S.  22;  leider  liegt  die  Notiz  in  stark  verkürzter  Form  vor. 

2)  Es  begegnet  uns  allerdings  m.  W.  sonst  die  hier  gebrauchte 
Form  mat  Chattü  nicht,  sondern  nur  die  Formen  mat  Chattl,  Chatte 
und  Chatta  bzw.  ^J^eiu  chatte  (s.  außer  den  Angaben  von  Delitzsch, 
Wo  lag  das  Paradies?  S.  273  auch  Knudtzon  a.  a.  O.  II,  S.  1575);  die 
andere  Endung,  die  sich  vielleicht  durch  Angleichung  an  die  in 
unmittelbarer  Nähe  gebrauchten  Ländernamen:  mat  Akkadu  und 
"i^t  Elamtu  erklärt,  ist  Jedoch  um  so  weniger  ein  Argument  gegen  die 
Gleichsetzung,  als  sich  die  Form  mit  u  auch  in  dem  bekannten  hethi- 
tischen  Königsnamen  Chattusil  findet. 


214  Walter  Otto, 

Anwendung  des  Hethiternamens  durch  die  moderne  For- 
schung; daß  das  Gleiche  auch  schon  die  gute  alte  Tradition 
der  Chronik  (die  Güte  betont  auch  mit  Recht  wieder  King 
a.  a.  O.  S.  210,  2)  getan  haben  sollte,  ist  aber  so  unwahr- 
scheinlich wie  möglich. 

Nicht  gesichert  erscheint  mir  dagegen  der  zweite  Teil 
der  Kingschen  Behauptung^),  da  er  das  Bestehen  von  Ver- 
hältnissen, die  wir  erst  einige  Jahrhunderte  später  wirklich 
belegen  können,  ohne  weiteres  für  die  Frühzeit  voraussetzt. 2) 
Aber  selbst  die  vorsichtigere  Formulierung  Eduard  Meyers 
(Gesch.  d.  Altert.  I  2^  S.  648),  die  Hethiter  seien  wohl  aus 
dem  Nordwesten  gegen  Babylonien  vorgedrungen,  ist  augen- 
blicklich, wo  der  streng  kleinasiatische  Charakter  des  He- 
thitervolkes stark  in  Zweifel  steht,  besser  fallen  zu  lassen, 
und  weitere  Feststellungen  sind  abzuwarten.  Denn  sollten 
wir  gerade  in  dem  indogermanischen  Volksbestandteil  die 
ursprünglichen  Träger  des  Chattinamens  zu  sehen  haben, 
so  könnte  das  Vordringen  der  Chattü  nach  Babylonien  auch 
sehr  wohl  von  dem  Osten  bzw.  Nordosten  aus  erfolgt  sein. 
Ist  doch  bei  der  Entscheidung  der  Frage,  von  wo  und  auf 
welchem  Wege  das  indogermanische  Element  des  Hethiter- 
volkes zu  den  Kleinasiaten  Kappadokiens  gelangt  ist,  auch 
sehr  wohl  an  die  Möglichkeit  eines  Eindringens  von  Osten 
aus  nach  dem  Westen  zu  denken. 

Jedenfalls  ist  eine  solche  Einwanderungsrichtung  für 
die  im  nordwestlichen  Mesopotamien  und  in  Nordsyrien  an- 
zutreffenden Arier  (s.  vorher  S.  205  A.  3)  anzunehmen^),  und 
der  indogermanische  (arische)  Einschlag,  der  uns  bei  den 
Herren  Babyloniens  seit  dem  18.  Jahrhundert  v.  Chr.,  bei  den 

^)  Der  negative  Teil  dieser  Behauptung  Kings:  unter  „f"^*  Chattu" 
dürfe  in  der  Chronik  nicht  etwa  Nordsyrien  verstanden  werden,  ist 
dagegen  wieder  richtig,  da  dieses  erst  in  späterer,  in  assyrischer 
Zeit  so  genannt  worden  ist  und  die  in  der  Chronik  vorliegende  alte 
Tradition  diese  späte  geographische  Bezeichnung  noch  gar  nicht  ge- 
kannt haben  kann. 

2)  Kings  Begründung:  die  hethitische  Hauptstadt  zu  Boghazköi 
„must  have  founded  far  earlier  than  the  end  of  the  fifteenth  Century  when 
we  know  that  it  bore  the  name  of  Khatti"  ist  in  keiner  Hinsicht  zwingend. 

")  S.  meine  Ausführungen  gegenüber  Prasek  in  der  D.  Lit.-Ztg. 
1909,  Sp.  3187f. 


Die  Hethiter.  215 

Kossäern,  entgegentritt^),  weist  uns  ferner  darauf  hin,  daß 
wir  mit  dem  frühen  Vorhandensein  von  Indogermanen  im 
iranischen  Hochland  zu  rechnen  haben  (so  ich  schon  früher 
D.  Lit.-Ztg.  1909,  Sp.3188)  und  mithin  auch  die  Möglichkeit 
eines  Einfalls  von  Indogermanen  in  Babylonien  von  jenen 
Gegenden  aus  in  der  Zeit  vor  1900  v.  Chr.  ohne  weiteres  in 
Betracht  ziehen  können.  Wir  hätten  dann  bei  dem  Ein- 
dringen der  Chattü  eine  ähnliche  Völkerbewegung  vor  uns, 
wie  sie  uns  in  der  babylonischen  Geschichte  so  häufig  be- 
gegnet; man  braucht  nur  an  die  Einfälle  der  Elamiten,  Gu- 
täer  und  Kossäer  zu  denken.  Wenn  wir  auch  über  den 
Ausgang  des  Hethitereinfalles  leider  nichts  näheres  wissen, 
so  stünde  immerhin  nichts  der  Annahme  entgegen,  daß  die 
„indogermanischen"  Chattü  in  mehr  oder  weniger  direktem 
Zusammenhange  mit  diesem  Vorstoß  ins  hintere  Kleinasien 
gelangt  sind  und  sich  hier  durch  die  Gründung  oder  Be- 
setzung der  „Chatti"-Stadt  dauernde  Sitze  gewonnen  haben. 
Es  wäre  schließlich  durch  die  Chroniknotiz  nicht  nur  das 
erste  bis  auf  das  Jahrzehnt  sichere  Datum  für  das  Auf- 
treten von  Indogermanen  in  der  Weltgeschichte  gewonnen, 
sondern  auch  zugleich  ein  gewisser  terminus  post  quem  für  ihr 
Erscheinen  im  östlichen  Kleinasien  festgelegt.  Denn  da  im 
15.  Jahrhundert  die  indogermanischen  Elemente  des  Hethiter- 
volkes mit  den  „kleinasiatischen"  bereits  zu  einer  Einheit 
verwachsen  gewesen  sind,  und  da  eine  solche  Einheit  nur 
als  das  Ergebnis  einer  langen  Entwicklung  denkbar  erscheint, 
so  dürfte  man  jenes  Erscheinen  kaum  zu  lange  Zeit  nach 
dem  Eindringen  in  Babylonien  ansetzen,  jedenfalls  nicht 
viel  später  als  in  das  19.  Jahrhundert  v.  Chr. 2) 


^)  So  sicher  wie  derVersuch  von  Scheftelowicz  (Zeitschr.  f.  vergl. 
Sprachforsch.  XXXVIII  [1905],  S.  260  ff.),  die  kossäische  Sprache 
als  indogermanisch  zu  deuten,  mißlungen  ist,  ebenso  sicher  erscheint 
es  mir  aber  auch,  daß  die  Sprache  nicht  frei  von  arischen  Bestandteilen 
gewesen  ist;  so  schon  ich  D.  Lit.-Ztg.  1909,  Sp.  3188  und  jetzt  etwa 
E.  iWeyer,  Gesch.  d.  Altert.   12»,  S.  653f. 

*)  Es  wäre  dann  die  weitere  Kombination,  daß  gerade  diese  indo- 
germanischen Wanderscharen  die  assyrische  Herrschaft  in  Kleinasien 
gestürzt  hätten,  sehr  verführerisch!  —  Gegen  den  obigen  zeitlichen 
Ansatz  darf  man  übrigens  nicht  etwa  die  ältesten  uns  bekannten 
Darstellungen  von   Pferden,  die  aus   Kültepe  stammen,   verwerten. 


216  Walter  Otto, 

Gegen  diese  Annahme  würde  auch  nicht  eine  Kombina- 
tion sprechen,  die  man  über  die  weiteren  Schicksale  der  in 
Babylonien  eingedrungen  gewesenen  Hethiter  aufgestellt  und 
die  allgemeineren  Anklang  gefunden  hat^).  Darnach  sollen 
sich  diese  Hethiter  in  der  Landschaft  Ghana  (=  Chani  = 
Chanigalbat)  am  Euphrat  südlich  des  Chaboras  festgesetzt 
haben;  ihnen  hätte  dann  um  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts 
der  babylonische  König  Agum-kakrime  einen  Teil  ihrer 
alten  babylonischen  Beute,  Götterbilder  des  Marduk  und 
der  Sarpanit  von  Babel,  entrissen.  Sollte  diese  Hypothese 
zu  Recht  bestehen,  dann  könnte  es  sich  sehr  wohl  um  Hethiter 
handeln,  die  in  dieser  Gegend  bei  dem  Vormarsch  zurückge- 
blieben wären.  In  diesem  Falle  wäre  es  jedoch  trotz  unserer 
geringen  Kenntnis  der  Geschichte  jener  Gegenden  auffällig, 
daß  in  ihnen  von  den  Hethitern,  die  Jahrhunderte  lang  dies 
Gebiet  beherrscht  hätten,  sich  keinerlei  Spuren  erhalten 
hätten.  Nun  ist  aber  die  Grundlage  dieser  Hypothese  so 
unsicher,  daß  es  besser  ist,  sie  zunächst  aus  der  Geschichte 
der  Chattü  ganz  zu  streichen;  denn  die  Geschichte  Babylo- 
niens  in  den  ersten  Jahrhunderten  des  2.  Jahrtausends  ist 
uns  noch  viel  zu  wenig  bekannt,  als  daß  nicht  die  Annahme, 
jene  Götterbilder  seien   von   nichthethitischen  Herren  von 

Eduard  Meyer  (S.  54;  s.  auch  Gesch.  d.  Altert.  12  3,  S.  613  u.  796) 
neigt  dazu,  sie  sehr  hoch  hinauf  —  bis  ins  3.  Jahrtausend  —  zu  datieren 
und  dementsprechend  den  Gebrauch  des  Pferdes  in  Kleinasien  für  älter 
als  in  Babylonien  zu  halten.  Nun  habe  auch  ich  mich  früher  (D. 
Lit.-Ztg.  1909,  Sp.  3188)  dahin  ausgesprochen,  daß  gerade  die  Indo- 
germanen  das  Pferd  in  Vorderasien  eingeführt  haben  dürften;  wer 
ebenso  urteilt,  könnte  also  geneigt  sein,  jene  Fundstücke  als  Beleg 
für  ein  früheres  Auftreten  der  Indogermanen  in  Kleinasien,  als  oben 
angenommen  ist,  zu  fassen.  Aber  die  Datierung  der  Funde  aus  Kül- 
tepe  erscheint  mir  bei  dem  Fehlen  systematischer  Ausgrabungen  an 
diesem  Orte  vorläufig  noch  so  unsicher,  daß  man  sich  bei  jedem  Ansätze 
um  Jahrhunderte  irren  kann;  gegen  einen  Ansatz  der  Pferdedarstel- 
lungen etwa  in  die  ersten  Jahrhunderte  des  2,  Jahrtausends  ließe  sich 
deshalb  m,  E.  kaum  ein  durchschlagender  Einwand  erheben.  Man  könnte 
daher  sehr  wohl  das  Erscheinen  des  Pferdes  in  Kleinasien  auch  erst 
mit  dem  oben  als  möglich  hingestellten  Eindringen  „indogermanischer" 
Chatti  aus  dem  Osten  nach  1900  v.  Chr.  in  Verbindung  bringen, 

')  S.  etwa  E.  Meyer,  Gesch.  d.  Altert.  12»,  S.  648  f.,  658,  671, 
756  (an  den  verschiedenen  Stellen  in  verschieden  bestimmter  Fassung) 
und  King  a.  a.  0.  S.  210. 


Die  Hethiter.  217 

Ghana  bei  einem  Einfall  von  diesen  in  Babylonien  geraubt 
worden,  zum  mindesten  ebenso  gut  möglich  wäre. 

Wie  dem  nun  auch  sein  mag,  auf  jeden  Fall  schwindet 
bei  der  Annahme  eines  Vorstoßes  ,, indogermanischer"  Chattü 
vom  Osten  nach  dem  Westen^)  die  gewisse  Schwierigkeit, 
die  den  bisherigen  Lösungen  entgegenstand,  daß  nämlich 
die  Hethiter  nach  ihrem  Einfall  in  Babylonien  wieder  in 
ihre  alten  Sitze  zurückgeflutet  oder  spurlos  im  Osten  ver- 
schwunden seien.  Immerhin  handelt  es  sich  aber  bei  dieser 
Erklärung  des  Erscheinens  von  Indogermanen  im  hinteren 
Kleinasien  nur  um  eine  der  drei  für  dieses  in  Betracht  zu 
ziehenden  Möglichkeiten.  Eduard  Meyer  (Mitt.  S.  16  f.)  hat 
bereits  mit  Vorbehalt  die  eine  von  diesen  zur  Erörterung 
gestellt:  die  Einwanderung  über  den  Kaukasus  aus  Süd- 
rußland, d.  h.  er  nimmt  dieselbe  Einwanderungsrichtung  an, 
welche  früher  Prasek,  Gesch.  der  Meder  und  Perser  I,  S.  34ff . 
für  die  Westiranier  postuliert  hat. 2)  Eduard  Meyers  An- 
nahme beruht  einmal  auf  der  m.  E.  durchaus  nicht  gesicherten 
Voraussetzung,  daß  später  auch  die  Kimmerier  diesen  Weg 
nach  Kleinasien  gezogen  seien,  und  dann  auf  ägyptischen 
Funden  aus  der  Zeit  des  neuen  Reiches  —  Birkenbast  an 
einem  Streitwagenrade  und  Bronzeschwerter  — ,  welche  uns 
auf  damals  bestehende  Beziehungen  zu  dem  südlichen  Europa 
hinwiesen.  Daß  diese  jedoch  nur  auf  dem  Wege  über  den 
Kaukasus  hergestellt  sein  können,  wird  nun  wohl  auch 
nicht  Eduard  Meyer  behaupten,  und  vor  allem  läßt  sich 
dies  alles  durch  Bestehen  von  Handelsverbindungen  einwand- 
frei erklären^),  ohne  daß  man  zu  der  Annahme  von  Völker- 


1)  Hierfür  könnte  man  auch  auf  das  schon  erwähnte  (S.  199  A.  3) 
eigenartige  sprachliche  Zusammengehen  zwischen  dem  Hethitischen 
und  dem  Tocharischen,  d.  h.  einer  dem  äußersten  Osten  des  indoger- 
manischen Sprachgebiets  angehörenden  Sprache  hinweisen.  S.  auch 
die  sehr  vorsichtigen  Bemerkungen  über  eine  mögHche  Verbindung 
der  Hethiter  mit  dem  Osten,  dem  zentralasiatischen  Hochland,  von 
Klauber  und  Landsberger,  Chetiter  und  Xeralot,  Zeitschr.  f.  Assyr. 
XXVIH  (1914),  S.  65ff. 

2)  S.  dagegen  meine  Ausführungen  D.  Lit.-Ztg.  1909,  Sp.  3188. 

^)  Nach  Eduard  Meyer  dürfte  der  in  Ägypten  gefunden  Streit- 
wagen vermutlich  aus  dem  Hethiterland  importiert  sein;  sein  Rad 
hat  jedoch  nur  vier  Speichen,  während  wir  gerade  für  die  hethitischen 


218  Walter  Otto, 

Wanderungen,  die  zudem  zeitlich  jedenfalls  sehr  viel  früher 
erfolgt  sein  müßten,  zu  greifen  braucht. 

So  scheint  mir  diese  weitere  Möglichkeit  zunächst  auf 
sehr  schwachen  Füßen  zu  stehen.  Aber  auch  die  dritte  und 
m.  E.  letzte,  die  Einwanderung  nach  Kleinasien  über  den 
Bosporus,  für  die  Hrozny  (Mitt.  S.  46)  eintritt,  und  zwar 
vor  allem  deswegen,  weil  auch  später  Indogermanen  diesen 
Weg  genommen  hätten,  muß  mit  manchen  unsicheren  oder 
wenigstens  lebhaft  bestrittenen  Gesichtspunkten  arbeiten.  Es 
ist  schon,  wenn  auch  mit  unrichtigen  Folgerungen  von  Ramsay 
{Histor.  commentary  on  the  epistle  to  the  Galatians  S.  19  ff.) 
auf  Beziehungen  zwischen  der  frühen  Kultur  in  Troja  und 
der  althethitischen  in  Kappadokien  hingewiesen  worden,  und 
Eduard  Meyer  (Gesch.  d.  Altert.  I  2^,  S.  752  u.  755)  hat 
mit  vollem  Recht  die  unbestreitbare  Übereinstimmung  in 
der  Technik  der  Bauten  von  Boghazköi  mit  denen  von 
Troja  II:  ungebrannte  Lehmziegel  mit  Holzfachwerk  auf 
Fundamenten  von  Bruchsteinen  hervorgehoben.  Solche 
Übereinstimmung  könnte  man  an  sich  geneigt  sein,  einfach 
durch  Kulturübertragung  zu  erklären;  immerhin  ließe  sich 
aber  in  diesem  Falle  zunächst  der  Einwand  erheben,  daß 
gerade  hierfür  reiche  vermittelnde  Bindeglieder,  wie  man 
sie  erwarten  müßte,  zwischen  den  beiden  Kulturstätten 
wenigstens  vorläufig  nicht  zu  belegen  sind  und  ferner  — 
und  das  ist  gewichtiger  — ,  daß  wir  jene  Bauweise  über- 
haupt nicht  als  kleinasiatisch  nachweisen  können.*)  Die 
Erklärung  der  Übereinstimmung  durch  das  Vorhandensein 
gleicher,  besonderer  Bevölkerungselemente  liegt  also  nahe. 

Nun  ist  ja  die  Frage  nach  dem  Charakter  der  Kultur 
von  Troja  II,  die  man  entgegen  neueren  Vermutungen  nicht  zu 

Streitwagen  nur  die  Sechszahl  für  die  Speichen  der  Räder  nachweisen 
können. 

^)  Ihr  Auftreten  in  der,  wie  ich  annehme  (s.  oben  im  folg.),  von 
Indogermanen  bestimmten  Kultur  von  Troja  II  gestattet  sie  gerade 
mit  diesen  in  Verbindung  zu  bringen  (Eduard  Meyer,  Gesch.  d.  Altert. 
I  2^,  S.  752  muß  seinen  Versuch,  sie  mit  Anregungen  aus  Babylonien 
zu  erklären,  selbst  einschränken  durch  die  Worte:  „wenngleich  die 
Ziegel  ungebrannt  bleiben").  Insofern  könnte  man  in  ihr  auch  das  erste 
uns  bekannte  Anzeichen  innerhalb  der  hethitischen  Kultur  sehen, 
das  auf  das  in  sie  eingedrungene  indogermanische  Element  hinweist,. 


Die  Hethiter.  219 

spät  —  noch  vor  2000  v.  Chr.  beginnend  —  anzusetzen  hat, 
heiß  umstritten.  Die  Behauptung  einer  engen  Verwandt- 
schaft mit  der  sog.  Kykladenkultur,  wie  sie  etwa  Beloch 
(Griech.  Gesch.  Il^,  S.  104  u.1 2^,  S.  130),  vertritt,  ist  jedenfalls 
ganz  unhaltbar  —  allein  eine  Betrachtung  der  Keramik,  ihrer 
Technik  (vor  allem  die  Benutzung  der  Töpferscheibe,  des 
Brennofens),  wie  ihrer  Formen,  zeigt  dies  mit  voller  Sicher- 
heiti)  — ,  aber  auch  die  z.  B.  von  Eduard  Meyer  (Gesch.  des 
Altertums  I  2»,  S.  748  ff.,  s.  auch  S.  693)  vertretene  These 
der  vollen  Gleichartigkeit  der  trojanischen  und  der  alten 
kyprischen  Kultur  ist  nicht  aufrecht  zu  halten;  fehlt  eben 
doch  in  älterer  Zeit  auf  Kypern  gerade  das  Hauptcharak- 
teristikum  von  Troja  II,  die  Gesichtsurne,  ganz,  und  bei 
näherer  Betrachtung  ergeben  sich  noch  weitere  sehr  be- 
deutsame Verschiedenheiten  zwischen  den  beiden  Kulturen. 
Damit  fehlt  aber  auch  jede  Berechtigung  für  Eduard 
Meyers  Vermutung,  daß  wir  ebenso  wie  für  Kypern  so  auch 
für  Troja  II  als  Kulturträger  die  „Kleinasiaten"  anzunehmen 
hätten.2)  Dagegen  scheinen  mir  diejenigen  recht  zu  be- 
halten, welche  trotz  der  Berührungspunkte  der  troischen 
Kultur  mit  der  der  Ägäis  für  Troja  II  auf  die  starken  Fäden 
hingewiesen  haben,  die  es  mit  den  Funden  aus  den  thraki- 
schen  Grabhügeln,  überhaupt  mit  dem  Norden  verknüpfen, 
und  welche  demgemäß  das  nordische,  nicht  das  südliche  Ele- 
ment als  das  den  Charakter  von  Troja  II  vor  allem  bestim- 

^)  Vgl.  hierzu  jetzt  auch  die  gut  orientierenden  Bemerkungen 
von  Kahrstedt,  Zur  Kykladenicultur,  Athen.  Mitt.  XXXVIII  (1913), 
S.  180  ff. 

*)  Selbstverständlich  soll  damit  nicht  jedes  kleinasiatische  Ele- 
ment für  Troja  II  geleugnet  sein,  und  ebensowenig  das  Vorhandensein 
von  mancherlei  starken  Gleichartigkeiten  zwischen  Troja  II  und  Kypern; 
hier  kommt  es  mir  aber  darauf  an,  das  Abweichende  herauszuheben 
und  die  Frage  zu  entscheiden,  inwieweit  dieses  als  bestimmend  für  den 
Charakter  der  Kultur  zu  fassen  und  wie  sein  Entstehen  zu  erklären  ist. 
Das  Gleichartige  wird  man  natürlich  auf  dem  schon  von  Eduard  iVleyer 
beschrittenen  Wege  —  gleiche  Bevölkerungselemente,  Wanderungen, 
Kulturübertragung  durch  Handel  • —  zu  erklären  haben.  Dussaud, 
Les  civilisations  prihelUn.  dans  le  bassin  de  la  Mer  Egee^  (1914), 
S.  139,  der  die  trojanische  Kultur  als  autochthon  faßt,  urteilt  übri- 
gens über  ihre  Beziehungen  zu  Kypern  sehr  viel  richtiger  als  Eduard 
iVleyer. 


220  Walter  Otto, 

mende  gefaßt  haben. i)  Nicht  nur  im  Kunsthandwerk  scheint 
mir  dies  deutlich  hervorzutreten^),  sondern,  und  zwar  noch 
schärfer,  in  der  Hausanlage,  in  der  man  wohl  allgemein 
die  Vorstufe  des  in  der  mykenischen  Kultur  uns  begegnen- 
den Megaron-Haustypus,  d.  h.  des  griechischen  und  damit 
eines  nordischen  Hauses  sieht  (s.  jetzt  auch  Dussaud  a.  a.  0. 
S.  126  f.). 

Darf  man  nun,  wie  es  auch  schon  geschehen  ist,  die 
kulturellen  Beobachtungen  zu  ethnographischen  Folgerungen 
benützen?  Dies  scheint  mir  sehr  wohl  möglich  zu  sein,  da 
es  sich  bei  Troja  H  um  eine  Kultur  von  einer  stark  indivi- 
duellen Note  mit  bedeutsamen  Gegensätzen  nach  der  einen 
und  grundlegenden  Gleichartigkeiten  nach  der  anderen  Seite 
handelt,  bei  der  man  mit  der  Annahme  der  Kulturübernahme 
durch  Volksfremde  nicht  recht  auskommt.  Kretschmer,  A. 
Körte,  H.  Schmidt  und  andere  haben  denn  auch  bereits  als 
die  Hauptträger  der  Kultur  von  Troja  H  wegen  deren  Ver- 
bindung mit  Thrakien  und  weiter  mit  dem  Norden  Indo- 
germanen  angenommen,  und  wer  gerade  auf  Grund  des 
Haustypus  der  mykenischen   Kultur  als  deren  hauptsäch- 

^)  S.  etwa  Kretschmer,  Einführ.  i.  d.  Gesch.  d,  grlech.  Sprache, 
S.  172 ff.;  A.  Körte,  Kieinas.  Studien  IV.  Ein  altphryg.  Tumulus 
bei  Bos-üjük,  Athen.  Mitt.  XXIV  (1899),  S.  1  ff.  und  Gordion  (Jahrb. 
arch.  Instit,  5.  Ergänzungsheft,  1904),  S.  6ff.  Ferner  H.  Schmidt 
Tordos,  Zeitschr.  f.  Ethnol.  XXXV  (1903),  S.  452 ff.;  Troja-Mykene- 
Ungarn,  ebenda  XXXVI  (1904),  S.  608 ff.;  Keramik  der  makedoni- 
schen Tumuli,  ebenda  XXXVII  (1905),  S.  91  ff.;  zu  beachten  ist  auch 
von  ihm:  Die  Ausgrab.  1909/10  in  Cucuteni,  ebenda  XLIII  (1911), 
S.  597  ff.  Schließlich  s.  etwa  auch  Pernice,  Das  Kunstgewerbe  im 
Altertum,  S.  60  f. 

2)  Ich  kann  hier,  um  nicht  zu  ausführlich  zu  werden,  meine 
Auffassung  nur  klarlegen  und  sie  nicht  in  den  Einzelheiten  begründen. 
Nur  das  eine  sei  bemerkt,  da  es  sich  für  viele  um  ein  besonders 
charakteristisches,  aber  gerade  in  letzter  Zeit  bestrittenes  Anzeichen 
nördlichen  Einflusses  handelt,  daß  die  Spirale  in  Troja  nicht  aus  dem 
ägäischen  Kulturkreis  stammen  kann;  denn  in  ihm  kann  man  ihr 
Werden  nur  auf  Kreta  verfolgen,  und  von  hier  ist  sie  selbst  nicht 
einmal  von  der  Inselkultur  übernommen  worden,  sondern  auch  dort 
von  Norden  her  eingedrungen  (Kahrstedt  a.  a.  O.  S.  186  beurteilt  dies 
sehr  viel  richtiger  als  E.  Meyer,  Altert.  123,  s.  783).  Die  Ansätze 
zur  Buckelkeramik  im  älteren  Troja  läßt  man  dagegen  bei  der  Be- 
sprechung des  nördlichen  Einflusses  besser  beiseite. 


Die  Hethiter.  221 

lichste  Träger  Griechen  d.  h.  also  Indogermanen  voraus- 
setzt, der  sollte,  da  ja  der  gleiche  Grund  auch  für  Troja  11 
vorliegt,  Indogermanen  für  dieses  nicht  leugnen.  Die  genauere 
Feststellung  des  speziellen  Charakters  dieser  Indogermanen 
als  thrakische  Phryger,  wie  sie  z.  B.  A.  Körte  vornimmt^), 
oder  sonst  wie  sollte  man  jedoch  zunächst  fallen  lassen; 
denn  das  Einzelvolk  der  Phryger  dürfte  erst  in  den 
letzten  Jahrhunderten  des  2.  Jahrtausends  nach  Kleinasien 
gekommen  sein.  2) 

So  können  wir  denn  schon  für  das  Ende  des  3.  Jahr- 
tausends ein  indogermanisches  Bevölkerungselement  für  die 
Troas  annehmen,  und  da  der  Grabhügel  von  Bos-üjük  im 
späteren  Phrygien  aus  der  Zeit  bald  nach  2000  v.  Chr. 
allerlei  Funde  genau  desselben  Stils  bietet,  wie  ihn  uns  die 
jüngeren  Schichten  von  Troja  II  kennen  gelehrt  haben  (s. 
A.  Körte  a.  a.  0.),  so  scheint  auch  die  Ausdehnung  der  Indo- 
germanen von  der  Einbruchsstelle  an  ins  innere  Kleinasien 
schon  für  die  Zeit  um  2000  v.  Chr.  ziemlich  gesichert  zu 
sein.  Ein  weiteres  Vordringen  indogermanischer  Scharen 
von  hier  aus  gerade  bis  in  die  Gegend  von  Boghazköi  wäre 
alsdann  als  sehr  wohl  möglich  in  Betracht  zu  ziehen;  sie 
würden  sich  in  diesem  Falle  nach  dem  Osten  auf  der  großen 
nördlichen  nach  Siwas-Erzerum  führenden  Querstraße  weiter 
vorgeschoben  haben,  d.  h.  etwa  auf  demselben  Wege,  den 
jetzt  die  anatolische  Bahn  nach  Angora  verfolgt.  Immer- 
hin muß  man  sich  auch  bei  diesem  Versuch,  das  Erschei- 
nen von  Indogermanen  in  Kappadokien  zu  erklären,  der  in 
ihm  enthaltenen  hypothetischen  Momente  stets  bewußt 
bleiben. 


^)  S.  hierzu  jetzt  auch  Pöhlmann,  Griech.  Gesch.  ^,  S.  24.  Beachte 
auch  die  Bemerlcungen  von  H.  Schmidt,  Zeitschr.  f.  Elhnol.  XXXVI 
(1904),  S.  608  ff.  über  Körperschmuclt  aus  Mykene,  bei  dem  man, 
soweit  es  sich  um  ältere  einfachere  Arbeiten  handelt  (Schachtgräber), 
einen  typologischen  Zusammenhang  mit  dem  trojanischen  feststellen 
kann;  auch  bei  ihm  fühlt  man  sich  ebenso  wie  bei  der  mykenischen 
Keramik,  soweit  sie  die  Tendenz  zum  Geometrischen  zeigt,  auf  den 
Norden  hingewiesen. 

^)  S.  Eduard  iVleyer,  Gesch.  d.  Altert.  I,  2«,  S.  691  f.  u.  750,  der 
mit  seiner  Polemik  gegen  Körte  nur  in  diesem  einen  Punkte  das  Richtige 
zu  treffen  scheint. 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  15 


222  Walter  Otto, 

So  heißt  es  sich  denn  vorläufig  noch  zu  bescheiden  mit 
der  Erörterung  der  vorhandenen  Möglichkeiten  und  eine  Ent- 
scheidung auszusetzen,  wie  denn  überhaupt  in  der  Hethiter- 
frage gerade  augenblicklich  mehr  das  negative  Element, 
die  kritische  Nachprüfung  selbst  anscheinend  sicherer  Er- 
gebnisse, zu  Worte  kommen  muß  und  zugleich  zunächst  vor 
allem  nur  die  Wege  gewiesen  werden  können,  welche  die  weitere 
Forschung  zu  beschreiten  und  auf  ihre  Gangbarkeit  zu  er- 
proben hat.  So  etwa  z.  B.  auch  hinsichtlich  der  wichtigen 
Frage  nach  der  Entstehung  des  hethitischen  Großstaates 
um  1400  V.  Chr.  und  der  Beteiligung  gerade  des  indoger- 
manischen Elementes  an  ihm.  Eins  steht  allerdings  hier- 
für fest:  die  Dynastie  des  Subbiluliuma,  mit  der  sich  für 
uns  die  große  Macht  des  Hethiterreiches  verknüpft  und 
der  dieses  wohl  auch  erst  seine  Größe  zu  verdanken  hat, 
stammt  nicht  aus  der  Stadt  Chatti,  sondern  aus  dem  uns 
sonst  nicht  bekannten  Orte  Kussar,  als  dessen  König 
Subbiluliumas  Vater  Chattusil  erscheint  (Winckler,  Mitt. 
35,  S.  17).^)  Daß  dieser  ein  zum  hethitischen  Reichssystem 
gehörender  und  nicht  ein  außerhalb  desselben  stehender 
Stadtfürst  gewesen  ist,  ergibt  sich  aus  seinem  Namen;  ob 
aber  in  seinem  Herrschaftsgebiet  das  indogermanische  Ele- 
ment eine  bestimmende  Rolle  gespielt  hat,  ob  es  im  beson- 
deren in  seinem  Geschlecht  von  Bedeutung  gewesen  ist,  das 
ist  eine  andere  Frage.  Die  anscheinend  durchweg  ,, klein- 
asiatischen" Charakter  tragenden  Namen  dieser  Dynastie^) 

^)  In  einigen  wenigen  Fällen  soll  dieser  in  späteren  Urkunden 
auch  bereits  als  „Großkönig  von  Chatii"  bezeichnet  sein,  s.  Winckler, 
Vorderasien,  S.  84;  ob  man  hieraus,  wie  Winckler  will,  den  Schluß  zu 
entnehmen  hat,  daß  er  bereits  König  des  Gesamtreiches  geworden  ist, 
oder  ob  nicht  in  jenen  Fällen  nur  ungenaue  nachträgliche  Ausdrucks- 
weise vorliegt,  wage  ich  ohne  Kenntnis  der  betreffenden  Urkunden 
im  Originalwortlaut  nicht  zu  entscheiden. 

^)  Selbst  wenn  man  geneigt  ist,  den  Namen  der  Chatti  als  von 
dem  indogermanischen  Volksbestandteil  herrührend  zu  fassen,  so  würde 
doch  der  Königsname  Chattusil  keine  volleAusnahme  bedeuten  —  schon 
seines  zweiten  Bestandteils  wegen;  ihm  gegenüber  darf  man  dem  ersten, 
da  bei  ihm  uns  nur  der  Volksname  entgegentritt,  sprachliche  Bedeutung 
nicht  beilegen,  sondern  nur  politische.  Korrekturzusatz:  Vgl.  zu  den 
Namen  jetzt  auch  Hrozny,  Sprache  der  Hethiter  S.  18  u.  51,3,  sowie 
überhaupt  den  ganzen  Abschnitt  über  Nominalstämme  auf  1,  S.  50  ff. 


I 


Die  Hethiter.  223 

könnte  man  sogar  sehr  wohl  dazu  verwerten,  diese  Dyna- 
stie vielmehr  als  eine  Reaktion  der  „Kleinasiaten"  gegen- 
über den  erobernd  eingedrungenen  Indogermanen  zu  fassen^), 
aber  selbstverständlich  könnte  eine  solche  auch  schon  früher 
eingetreten  sein.  Auf  jeden  Fall  muß  man  sich  aber  vor- 
läufig hüten,  wenn  man  von  Mitgliedern  dieser  Herrscher- 
familie, wie  etwa  dem  hethitischen  Anwärter  auf  den  ägyp- 
tischen Königsthron  in  der  Zeit  der  religiösen  Wirren  nach 
dem  Tode  Amenophis*  IV.  spricht,  sie  ohne  weiteres  als 
Indogermanen  hinzustellen.^) 

Die  Zeit  der  Herrschaft  der  Dynastie  Subbiluliumas,  in 
dem  wir  vielleicht  einen  der  großen  orientalischen  Eroberer 
sehen  dürfen,  ist  schon  heute  die  uns  am  besten  bekannte 
Epoche  der  hethitischen  Geschichte.  Wir  können  das  stete 
Anwachsen  der  Macht  der  Hethiter  gut  verfolgen.  Einmal 
ihr  Vordringen  in  das  unter  ägyptischer  Botmäßigkeit  ste- 
hende Syrien:  den  Ägyptern  wird  allmählich  der  ganze 
nördliche  Teil  des  Landes  entrissen,  wobei  sich  die  Hethiter 
die  Unterstützung  der  hier  ansässigen,  der  ägyptischen  Ober- 
herrschaft überdrüssigen  Amoriter  und  anderer,  erst  damals 
aus  der  Wüste  gegen  das  syrische  Fruchtland  vordringender 
Semiten  zu  gewinnen  verstehen,  und  in  den  ersten  Jahrzehnten 
des  13.  Jahrhunderts  unter  Ramses  II.  müssen  die  Ägypter  so- 
gar einen  Freundschaftsvertrag  mit  den  Hethitern  abschließen, 
durch  den  Ägypten,  wenn  auch  in  ihm  eine  Grenzfestsetzung 
in  Syrien  wohl  absichtlich  nicht  erwähnt  ist,  wenigstens 
stillschweigend  die  hethitischen  Eroberungen  in  Syrien  an- 
erkennt.^) Nicht  ganz  so  erfolgreich  waren  die  Anstrengungen 


^)  Winckler,  Vorderasien,  S.  74  sieht  in  der  Dynastie  eine  das 
Chattiland  überschwemmende  neue  Erobererschicht;  seine  Gedanken 
nähern  sich  somit  nur  der  oben  angeführten  Vermutung  und  vertreten 
auch  sonst  ganz  andere  allgemeine  Grundsätze. 

•)  Dies  tut  z.  B.  Hrozny  a.  a.  O.  S.  45;  sehr  viel  vorsichtiger 
äußert  sich  Eduard  Meyer,  Mitt.  S.  15. 

*)  Wir  haben  uns  leider  gewöhnt,  veranlaßt  durch  das  bisherige 
Vorliegen  von  Nachrichten  vor  allem  von  ägyptischer  Seite,  all  diese 
Vorgänge  zu  sehr  durch  die  ägyptische  Brille  zu  sehen;  so  spricht  z.  B. 
sogar  noch  Eduard  Meyer  S.  11  von  dem  „großen  Siege"  Ramses'  II. 
über  die  Hethiter  bei  Kadesch  (ähnlich  King  a.  a.  O.  S.  235),  obwohl 
der  Ägypterkönig  sein  strategisches  Ziel,  die  Einnahme  dieser  Stadt, 

15» 


224  Walter  Otto, 

der  Hethiter,  sich  Mesopotamiens  zu  bemächtigen:  die  Beu- 
gung des  mächtigen  Mitannireiches  unter  hethitische  Ober- 
hoheit ist  zwar  noch  Subbiluliuma  gelungen;  dagegen  hat 
Chattusil  II.  die  Einmischung  in  die  inneren  Verhältnisse 
Babyloniens  zwar  versucht,  aber  nicht  erfolgreich  durch- 
führen können.  Anders  als  nach  dem  Osten  können  wir 
leider  die  Ausbreitung  des  Reiches  nach  dem  Westen  in 
Kleinasien  noch  nicht  genauer  feststellen  (s.  vorher  S.  208); 
man  darf  aber  wohl  annehmen,  daß  gerade  in  der  Zeit  des 
Großstaates  die  zum  Reichssystem  gehörigen  Staaten  fester 
zusammengefügt  sein  werden,  dieses  gewisse  Abstreifen  des 
alten  Lehnsstaatcharakters  wohl  zugleich  Anlaß  wie  Folge 
der  äußeren  Machtausdehnung.  Sowohl  bei  dem  Auftreten 
der  Hethiter  in  Mesopotamien  wie  bei  dem  in  Syrien  können 
wir  übrigens  beobachten,  daß  sie  ihre  großen  Erfolge  nicht 
allein  der  Waffengewalt,  sondern  auch  vielfach  ihrer  ge- 
schickten Diplomatie  zu  verdanken  gehabt  haben. i)  Eine  Dar- 
stellung all  dieser  Erfolge  im  einzelnen  unterbleibt  freilich 
gerade  in  diesem  Augenblick  besser;  können  wir  doch  er- 
warten, binnen  kurzem  durch  die  Veröffentlichung  der  Ar- 
chivfunde von  Boghazköi  eingehendste  Angaben  hierüber  zu 
erhalten,  die  vielleicht  in  vielem  unsere  bisherigen  Auffas- 
sungen umstürzend  beeinflussen  können.^) 

Hoffentlich  erhalten  wir  durch  jene  Urkunden  auch 
authentisches  Material  über  den  Nieder-  und  den  Untergang 
des  hethitischen  Großreiches.  Vorläufig  sind  wir  hierfür  mehr 
oder  weniger  auf  Vermutungen  angewiesen;  Thronwirren  und 

nicht  erreicht  und  sich  sogar  hat  zurückziehen  müssen  (Breasted- 
Ranke,  Gesch.  Ägypt.  S.  337  urteilt  hier  richtiger).  Auf  jeden  Fall 
muß  man  bei  dem  hethitisch-ägyptischen  Freundschaftsvertrage  in 
Betracht  ziehen,  daß  er  allen  ägyptischen  Hoffnungen  auf  ein  großes 
asiatisches  Reich  endgültig  ein  Ende  gemacht  hat,  mögen  auch  viel- 
leicht nicht  alle  hethitischen  Erwartungen  durch  ihn  erfüllt  worden  sein. 

^)  S.  hierüber  außer  den  Angaben  Wincklers.  Mitt.  S.  18  ff. 
auch  jetzt  King  a,  a.  O.  S.  233  ff.  Korrekturzusatz:  Vgl.  auch  die  von 
Bohl  a.  a.  O.  herausgegebenen  Urkunden  in  akkadischer  Sprache. 

2)  Der  Versuch,  den  King  a.  a.  O.  S.  239  f.  gemacht  hat,  schon 
jetzt  den  allgemeinen  Charakter  dieser  hethitischen  Urkunden  zu  be- 
stimmen, sie  als  einen  Beleg  von  „greatcr  dignity  and  self-respect" 
gegenüber  etwa  den  ägyptischen  hinzustellen,  erscheint  mir  voreilig, 
da  wir  bisher  kaum  den  1000.  Teil  von  ihnen  kennen. 


Die  Hethiter.  225 

Aufstände  scheinen  auch  hier  schwächend  gewirkt  zu  haben 
(s.  z.  B.  Winckler,  Mitt.  S.  19  u.  32).  Die  Wiedererstarkung 
Assyriens  hat  zunächst  wohl  nur  die  Aspirationen  der  He- 
thiter auf  Mesopotamien  zunichte  gemacht,  aber  allmählich 
wird  sie  auch  direkt  bedrohend  gewirkt  haben.  Den  Unter- 
gang haben  jedoch  augenscheinlich  die  großen  Völkerbewe- 
gungen herbeigeführt,  die  die  Welt  der  Ägäis,  sowie  über- 
haupt den  Osten  des  Mittelmeerbeckens  in  der  2.  Hälfte  des 
2.  Jahrtausends  v.  Chr.  gewaltig  erschüttert  haben.  Welches 
der  damals  sich  neue  Sitze  suchenden  Wandervölker  dem 
Hethiterreiche  den  Todesstoß  versetzt  hat,  wissen  wir  bisher 
nicht.  Nilsson  (Gott.  Gelehrt.  Anz.  1914,  S.  602)  ist  neuer- 
dings wieder  speziell  für  die  Phryger  eingetreten;  er  stützt 
sich  hierbei  auf  den  von  dem  Assyrerkönig  Tiglatpilesar  I. 
zurückgeschlagenen  Einbruch  des  Volkes  der  Muski  in 
Kommagene,  die  er  im  Anschluß  an  eine  vielfach  angenom- 
mene Hypothese  Wincklers^)  als  Phryger  auffaßt  und  von 
denen  er  annimmt,  daß  sie  am  Ende  des  12.  Jahrhunderts 
über  Kleinasien  bis  an  den  Euphrat  vorgedrungen  seien. 
Der  Hypothese  Wincklers  stehen  jedoch  sehr  viel  größere 
Bedenken  entgegen  als  Nilsson  zu  wissen  scheint^),  und  die 
alte  Deutung  der  Muski  als  die  Moscher  im  Süden  des 
Kaukasus  erscheint  mir  immer  noch  wahrscheinlicher  zu 
sein.^)  Da  wir  diese  tatsächlich  später  in  dem  Gebiet  des 
alten  Hethiterreiches  antreffen,  könnte  man  sogar  geneigt 
sein,  in  ihnen  die  Stürzet  des  Hethiterreiches  zu  sehen,  aber 
bei  den  vielerlei  Völkerscharen,  die  um  1200  Kleinasien 
durchzogen  haben  dürften,  kann  auch  sehr  wohl  nicht  nur 
ein  Volk,  sondern  eine  ganze  Reihe  zum  Sturz  des  Hethiter- 
reiches beigetragen  haben*);  gerade  der  bekannte  Ansturm 

^)  S.  Altorient.  Forsch.,  2.  Reihe,  I,  3  und  bei  E.  Schrader,  Die 
Keilinschr.  u.  d.  Alt.  Testam.s,  S.  68  u.  74. 

2)  Auf  das  einzelne  vermag  ich  hier  nicht  einzugehen;  was  Körte, 
Gordion,  S.  9  ff.  als  Bestätigung  der  Wincklerschen  Hypothese  bei- 
bringt, ist  nicht  stichhaltig. 

^)  Auch  King  a.  a.  0.  S.  241  setzt  Phryger  und  Muski  nicht 
gleich. 

*)  Es  sei  hier  an  die  vielen  Völkernamen  erinnert,  die  uns  in  den 
ägyptischen  Inschriften  Merneptahs  und  Ramses'  HI.  als  vereint 
gegen  Ägypten  anstürmend  genannt  werden. 


226  Walter  Otto, 

der  „Nordvölker"  gegen  Ägypten  in  dieser  Zeit  zeigt  uns, 
wie  viele  Völker  damals  vereint  auf  die  Wanderung  gezogen 
sind.  Das  Erscheinen  dieser  „Nordvölker"  in  Syrien  und 
an  der  Ostgrenze  Ägyptens  um  1190  v.  Chr.  bietet  uns  übri- 
gens wenigstens  einen  ziemlich  sicheren  terminus  ante  quem 
für  den  Untergang  des  hethitischen  Großreiches.  Denn  da 
diese  Völker  trotz  der  ihre  Landwanderung  begleitenden 
Flotte  nicht  alle  von  Übersee  gekommen,  sondern  zum  Teil 
auch  gerade  mit  Kleinasien  in  Zusammenhang  zu  bringen 
sind^),  so  ist  ihr  Wanderzug  von  Kleinasien  nach  Syrien 
eigentlich  nur  ganz  verständlich,  wenn  ihnen  kein  Hindernis 
mehr  in  dem  ja  gerade  die  Eingänge  nach  Syrien  beherr- 
schenden Hethiterreiche  entgegengestanden  hat;  daß  erst  sie 
dieses  gestürzt  hätten,  ist  damit  natürlich  nicht  gesagt. 2)  Auf 
die  Zeit  um  1200  v.  Chr.  als  die  Zeit  der  Vernichtung  der 
Hethitermacht  werden  wir  übrigens  auch  dadurch  geführt, 
daß  uns  nur  etwa  bis  auf  diese  Zeit  hethitische  Großkönige 
bekannt  geworden  sind. 

Inwieweit  das  Einzelvolk  der  Hethiter  zugleich  mit  dem 
Zusammenbruch  des  großen  Reiches  aus  Kleinasien  verdrängt 
worden  ist,  vermögen  wir  vorläufig  noch  nicht  zu  sagen^); 
immerhin  besitzen  wir  für  die  Folgezeit  von  seinem  Fort- 
bestehen als  politisches  Gebilde  nur  Nachrichten  für  Syrien. 
Hier  scheint  es  als  solches  —  ethnographisch  ist  alles  noch 
ganz  unsicher*)  —  sich  vielleicht  zunächst  nur  im  Nord- 
osten, in  Karkemisch  am  Euphrat,  als  letzter  Zufluchtsstätte 

1)  Dies  ist  immerhin  den  Aufstellungen  von  A.  Fick  (zuletzt 
wieder  Zeitschr.  f.  vergl.  Sprachforsch.  XLVII  [1915],  S.  170 ff.)  über 
diese  Nordvölker  zuzugeben. 

»)  Nilsson  a.  a.  O.  faßt  freilich  die  Seevölker  zu  sehr  als  eine  Ein- 
heit von  Haus  aus,  wenn  er  behauptet,  sie  könnten  den  Weg  über 
den  Halys  nicht  genommen  haben  und  kämen  daher  als  Stürzer  des 
Hethiterreiches  nicht  in  Betracht. 

8)  King  a.  a.  O.  S.  210,  2  und  S.  241  spricht  von  einer  mit  der 
Vernichtung  des  Reiches  zusammenhängenden  Südwanderung  der 
Hethiter  durch  die  kleinasiatischen  Pässe  nach  Nordsyrien,  aber  einen 
Beweis  erbringt  er  hierfür  nicht. 

*)  Hier  gilt  es,  die  Namen  der  nordsyrischen  Dynasten  zu  prüfen 
und  die  sich  dann  ergebenden  hethitischen  Eigennamen  —  z.  B.  auch 
der  alte  Königsname  Subbiluliuma  begegnet  uns  hier  als  Herrscher- 
name —  mit  aller  Vorsicht  zu  verwenden;  Jensens  (Zeitschr.  Deutsch. 


Die  Hethiter,  227 

gehalten  zu  haben,  um  dann  von  hier  aus  in  Syrien  allmählich 
wieder  zu  größerer  Macht  zu  gelangen;  diese  hat  es  jedoch 
gegenüber  den  nach  Westen  vordringenden  Assyrern  nicht  zu 
behaupten  vermocht,  sondern  ist  ihnen  erlegen,  Karkemisch 
am  spätesten  im  Jahre  717  v.  Chr.  Seit  den  für  ihre  Zeit 
grundlegenden  Zusammenstellungen  von  Delitzsch  (Wo  lag 
das  Paradies?  S.  269)  über  den  Gebrauch  des  Namens  des 
Landes  Chatti  in  assyrischen  Inschriften,  welche  von  Zügen 
der  Assyrerkönige  nach  Syrien  handeln,  Zusammenstellungen, 
wonach  dieser  Name  von  dem  Reiche  von  Karkemisch  aus- 
gehend allmählich  für  ganz  Nordsyrien,  für  das  „Westland" 
gebraucht  worden  ist,  ist  bisher  für  die  Geschichte  der 
Hethiter  in  Nordsyrien  nicht  viel  geschehen,  sie  ist  noch 
ungeschrieben. 

Aber  nicht  nur  für  die  politische  Geschichte  der  Hethiter 
ist  noch  viel  zu  tun,  sondern  trotz  des  Buches  von  Eduard 
Meyer  auch  noch  viel  für  die  Erforschung  ihrer  Kultur. 
Diese  Kultur  erweist  sich  trotz  erheblicher  Beeinflussung 
durch  Babylonien  und  Ägypten  immer  mehr  als  ein  Gebilde 
von  starker  Eigenart,  und  sie  hat,  obwohl  sie  infolge  des 
Unterganges  des  Großreiches  nicht  voll  ausreifen  konnte, 
eine  nicht  unbedeutende  Höhe  erreicht,  vor  allem  auf  dem 
Gebiete  der  Architektur.^)  Sie  ist  auch  durch  den  Reichs- 
untergang nicht  ganz  gebrochen  worden,  vielmehr  hat  auch 
nach  ihm  ihr  Einfluß  nach  außen  noch  fortgedauert,  was 
uns  deutlich  im  assyrischen,  aramäischen  und  sogar  im 
griechischen  Kulturkreise  entgegentritt.^)  Bei  der  Erfor- 
schung dieser  Kultur  gilt  es  jedoch  jetzt  vor  allem  anders 
als  bisher  den  Versuch  zu  wagen,  das  speziell  Hethitische 
klar  von  dem  allgemein  ,,  Kleinasiatischen"  zu  sondern  (s. 
auch  vorher  S.  195);  dann  wird  es  wohl  auch  eher  möglich 
sein,  neben  der  Frage  nach  den  babylonischen  und  ägypti- 


Morgenl.  Gesellsch.  XLVIII  [1894[,  S.  237)  prinzipielle  Zweifel  gegen 
solche  Schlüsse  sind  zu  weitgehend. 

^)  Die  verschiedenen  Stadt-  und  „Königsburg"anlagen,  auf  die 
auch  Eduard  Meyer  des  öfteren  hinweist,  wird  man  wohl  später  auch 
bei  der  Feststellung  der  politischen   Entwicklung  verwerten  dürfen. 

«)  S.  hierfür  Angaben  bei  Eduard  Meyer  S.  17,  24,  35,  42,  48, 
62  ff.,  68,  92  ff.,  113,  117  ff.,  122. 


228  Walter  Otto,  Die  Hethiter. 

sehen  Einflüssen  auf  die  hethitische  Kultur,  für  die  bereits 
Eduard  Meyer  Grundlegendes  geleistet  hat^),  auch  die  nach 
eventuellen  indogermanischen  Einwirkungen  zu  beant- 
worten. Aber  auch  gerade  dieses  Problem  darf  man  erst  in 
Angriff  nehmen,  wenn  wir  das  neue  sprachliche  Material  gut 
zurecht  gemacht  zur  Verfügung  und  die  Frage  nach  dem 
Indogermanentum  der  Hethiter  endgültig  gelöst  haben. 
Überhaupt  wird  sich  ja  erst  nach  dem  Erschließen  der  ein- 
heimischen schriftlichen  Überlieferung  ergeben,  inwieweit  all 
das,  was  wir  bisher  aus  der  schriftlosen  Tradition  erschlossen 
haben,  zu  Recht  besteht.  Die  hethitische  Frage  kann  also, 
da  hier  einmal  eine  nachträgliche  Nachprüfung  der  Verwer- 
tung der  Denkmäler  durch  beschriftetes  Material  bald  mög- 
lich erscheint,  auch  methodologisch  von  großer  Bedeutung 
werden. 


*)  Eduard  Meyer  führt  auf  ägyptischen  Einfluß  zurück  z.  B.  die 
Sitte  der  Grabstelen,  auf  denen  der  Tote  beim  Mahle  sitzend  dar- 
gestellt ist  (S.  36  ff,),  ferner  die  Konzeption  religiöser  Bilder  wie  des 
Weltbildes  (S.  115  ff.),  ein  religiöses  Symbol  wie  die  geflügelte  Sonnen- 
scheibe (S.  29 f.;  bei  ihm  macht  sich  auch  zugleich  der  babylonische 
Einfluß  bemerkbar);  die  Sphinx  (S.  24 ff.),  die  Verkleidung  der  Wände 
mit  Steinplatten,  die  mit  Reliefs  geschmückt  sind  (S.  62);  zweifelnd 
steht  er  zunächst  dem  ägyptischen  Einfluß  auf  die  hethitische  Hiero- 
glyphenschrift gegenüber  (S.  42  ff.).  Der  babylonische  Einfluß  macht 
sich  natürlich  besonders  kennzeichnend  in  der  Annahme  der  Keilschrift 
bemerkbar  (S.  24),  er  tritt  uns  dann  aber  auch  deutlich  entgegen  in 
der  Kunst  (Siegel  S.  44  ff.,  55,  144  ff.)  und  speziell  gerade  in  Darstel- 
lungen religiösen  Charakters  (s.  noch  S.  28,  74,  106).  Dagegen  ist 
der  Versuch,  den  Weidner,  Studien  zum  Kalender  der  Hethiter  und 
Babylonier  {Babyloniaca  VI,  S.  164  ff.),  unternommen  hat,  auch  im 
hethitischen  Kalender  babylonische  Einflüsse  festzustellen,  völlig 
mißlungen,  da  schon  die  Grundlage,  die  Zurückführung  der  verwerteten 
Kalenderangaben  auf  babylonische  bzw.  hethitische  Astronomen,  ver- 
fehlt ist,  s.  Klauber  und  Landsberger  a.  a.  0.  S.  61  ff. 


Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung 
Rußlands  durch  Heinrich  von  Staden. 


Von 

Max  Bär. 


Im  Kgl.  Staatsarchive  zu  Hannover  wird  eine  Hand- 
schrift des  16.  Jahrhunderts  verwahrt,  welche  eine  von  einem 
gewissen  Heinrich  von  Staden  verfaßte  Beschreibung 
Rußlands  zur  Zeit  des  Großfürsten  Iwans  des  Schrecklichen 
enthält.  Vor  nahezu  zwei  Jahrzehnten  habe  ich  von  dieser 
überaus  wichtigen  Quelle  Abschrift  genommen.  Zu  einer 
Verwertung  aber  bin  ich  über  anderen  Arbeiten  nicht  ge- 
langt. Jetzt  aber  darf  nicht  nur  ein  wissenschaftliches,  son- 
dern sogar  ein  allgemeines  Interesse  für  jene  Beschreibung 
Rußlands,  dessen  Verhältnisse  heute  noch  vielfach  dieselben 
sind  wie  im  16.  Jahrhundert,  vorausgesetzt  werden. 

Um  im  folgenden  einen  Überblick  über  den  Inhalt  der 
Beschreibung,  über  ihren  Verfasser  und  über  die  für  ihre 
Niederschrift  maßgebende  Veranlassung  zu  geben,  werde  ich 
zunächst  den  historischen  Hintergrund  durch  eine  kurze 
Erörterung  der  Verhältnisse  zur  Zeit  Iwans  des  Schreck- 
lichen zeichnen.  Ich  werde  dann  weiter  flüchtig  die  Über- 
lieferungen streifen,  welche  dem  Abendlande  die  Kunde  Ruß- 
lands vermittelt  haben,  um  der  Beschreibung  Stadens  ihren 
wissenschaftlichen  Platz  anzuweisen.  Hierauf  wird  ein  Über- 
blick über  die  Beschreibung  selbst  und  schUeßHch  über  ihre 
politische  Bedeutung  folgen.  ^'^0^ 

Die  Regierung  des  Großfürsten  Iwans  IV.  Wassiliewitsch, 
dem  die  Geschichte  den  Namen  des  Schrecklichen  gegeben 


230  Max  Bär, 

hat,  füllte  die  Zeit  von  1533 — 1584.  Iwan  war  erst  3  Jahre 
alt,  als  sein  Vater  Wassili  im  Jahre  1533  starb.  Seine  Mutter 
Helena  Glinski  führte  zunächst  die  Regierung  unter  Bei- 
stand eines  Bojarenrates,  später,  nach  ihrem  Tode,  dieser 
allein  unter  wechselndem  Einfluß  der  Fürsten  Schuiski  und 
der  Familie  Glinski. 

f  Mit  seinem  17.  Lebensjahre  übernahm  Iwan  selbst,  un- 
erzogen und  in  grausam  sich  äußernden  Leidenschaften  auf- 
gewachsen, die  Regierung  und  vermählte  sich  mit  Anastasia 
Romanowna  Sacharin.  Aber  auch  jetzt  noch  waltete  der 
Einfluß  seiner  mütterlichen  Verwandten,  der  Glinski,  vor, 
bis  eine  Reihe  erschütternder  Ereignisse  einen  Wechsel  her- 
beiführte. Drei  gewaltige  Feuersbrünste  verwüsteten  1547 
Moskau.  Der  Palast  des  Zaren  verbrannte,  er  selbst  geriet 
in  äußerste  Lebensgefahr.  Die  Schrecken  jener  Tage  boten 
zwei  neuen  Männern,  dem  Popen  Silvester  und  Alexei  Fedo- 
row  Adaschew,  die  Möglichkeit,  die  Seele  des  jungen  Zaren 
ihrem  Einfluß  zu  erschließen.  In  den  13  Jahren  dieses  ihres 
Einflusses,  dessen  Fesseln  sich  Iwan  nicht  zu  entziehen  ver- 
mochte, war  die  Regierung  Rußlands  besser  als  je  vorher: 
nach  außen  glänzende  Erfolge  (vor  allem  die  Eroberung 
Kasans  und  der  Krieg  gegen  Livland)  und  die  Anfänge  einer 
Reform  im  Innern.  Da  starb  im  August  1560  die  Zarin 
Anastasia,  und  der  Gegensatz,  in  den  Silvester  und  Ada- 
schew in  den  letzten  Jahren  zu  dieser  getreten  waren,  ver- 
anlaßte  nun  den  seit  lange  erbitterten  Iwan  zur  Verbannung 
seiner  Leiter.  Um  so  schlimmer  wurde  nach  der  bisherigen 
Zügelung  der  Rückschlag,  als  nach  Beseitigung  der  lästigen 
Sittenrichter  keinerlei  Schranken  mehr  dem  bösen  Willen 
und  den  noch  schlimmeren  sinnlichen  Trieben  des  Zaren  sich 
entgegensetzten.  Es  gab  kein  Laster,  dem  er  in  der  Folge- 
zeit nicht  gefrönt  hätte.  Denn  nachdem  er  die  Bande  ab- 
geworfen, die  ihn  fesselten,  traten  alle  die  zurückgehaltenen 
bösen  Triebe  mit  einer  Gewalt  hervor,  die  ihn  als  den  zeigten, 
der  er  war,  als  den  bösartigsten  Tyrannen,  der  je  auf  einem 
Throne  gesessen  hat. 

Um  vollständig  frei  und  sicher  seine  Grausamkeiten 
ausführen  zu  können,  entschloß  sich  Iwan,  eine  Maßregel  zur 
Ausführung  zu  bringen,  die  ihresgleichen  weder  in  alter  noch 


Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  etc.      231 

neuer  Zeit  gefunden  hat.  Das  war  die  im  Februar  1565  er- 
folgte Einrichtung  einer  großen  Leibwache,  die  Gründung 
der  sog.  Opritschnina  und  Semschtschina  oder,  wie  Heinrich 
von  Staden  sie  nennt:  der  Aprisna  und  Semsky.  Er  sonderte 
nämlich  aus  dem  Gesamtreich  eine  Reihe  von  Städten  und 
bestimmte  Straßen  Moskaus  aus  und  erklärte  dieses  Gebiet 
für  sein  besonderes  Eigentum.  Das  war  die  Opritschnina, 
das  Ausgesonderte,  während  das  übrige  Rußland  unter  dem 
Namen  Semschtschina,  d.  h.  Landschaft,  der  Verwaltung 
des  Bojarenrates  überlassen  blieb.  Gleichzeitig  richtete  er 
die  Leibwache  ein,  6000  Mann  mit  Weib  und  Kind  wählte 
er  dazu  aus,  die  mit  Gütern  ausgestattet  wurden,  die  zur 
Opritschnina  gehörten.  Die  früheren  Eigentümer,  12000 
Familien,  wurden  von  Haus  und  Hof  ohne  Urteil  und  Spruch 
vertrieben.  Das  Schlimmste  aber  war,  daß  es,  wie  sich  bald 
zeigte,  gegen  die  Opritschniks  kein  Recht  gab.  Die  ganze 
Semschtschina  war  ihnen  zur  Plünderung  überwiesen;  ihre 
Abzeichen,  Axt,  Hundekopf  und  Besen,  setzten  alles  in 
Schrecken.  Mit  Rauben,  Plündern,  Martern  und  Hinrich- 
tungen selbst  der  größten  Würdenträger  waren  die  nächsten 
Jahre  angefüllt.  Die  Angst  vor  Verschwörungen  ließ  den 
schrecklichen  Fürsten  immer  neue  Opfer  seiner  Grausamkeit 
finden.  Das  schrecklichste  Gericht  sollte  im  Januar  1570 
das  seit  lange  von  ihm  gehaßte  mächtige  Nowgorod  erfahren. 
Damit  niemand  die  Stadt  verlassen  könne,  waren  rings  an 
den  Ausgängen  und  Straßen  Schlagbäume  errichtet.  Eine 
vorausgeschickte  Schar  von  Opritschniks  versiegelte  die 
Türen  von  Kirchen  und  Klöstern,  die  Geschäftsräume  der 
vornehmsten  Beamten;  ein  Teil  der  Bevölkerung  wurde  in 
Ketten  gelegt.  Am  6.  Januar  traf  der  Zar  selbst  vor  Now- 
gorod ein.  Hier  wurden  alle  die  Mönche,  welche  eine  ihnen 
auferlegte  Schätzung  nicht  gezahlt,  mit  Keulen  erschlagen. 
Dann  zog  der  Zar  in  Nowgorod  ein,  ließ  die  Stadt  plündern 
und  ein  6  Wochen  dauerndes  Gericht  halten,  dem  fast  die 
gesamte  Bevölkerung  der  Stadt  zum  Opfer  fiel.  Täglich 
wurden  viele  hundert  Menschen  jedes  Alters  und  Geschlechts 
hingerichtet,  ersäuft,  gepfählt,  verbrannt,  zu  Tode  gemartert. 
Für  1505  Menschen,  die  der  Zar  teils  selbst  umgebracht, 
teils  selbst  verurteilt  hatte,  ließ  er  später  Seelenmessen  im 


232  Max  Bär, 

Cyrilluskloster  zu  Bjelosero  halten.  Der  glaubhafte  Pleskauer 
Chronist  spricht  von  60000  Menschen,  die  zu  Nowgorod  ge- 
tötet wurden.  Aber  die  Mordlust  Iwans  war  noch  nicht  ge- 
stillt. Über  Pskow,  welches  wie  durch  ein  Wunder  dem 
gleichen  Schicksal  entging,  kehrte  er  nach  Moskau  zurück 
und  stellte  dort  durch  eine  mehrmonatige  Untersuchung  und 
durch  die  Folter  die  Unterlagen  zur  Verurteilung  neuer  an- 
geblicher Verräter  zusammen.  Auf  dem  Marktplatz  in  Mos- 
kau erfolgte  dann  unter  den  Augen  der  zusammengetriebenen 
Bevölkerung  die  martervolle  Hinrichtung  von  120  Opfern. 
Als  erster  fiel  der  Kanzler  Wiskowatz,  nachdem  einige  frühere 
Günstlinge  des  Zaren  bereits  auf  der  Folter  gestorben  waren. 

Die  Kunde  von  den  Verhältnissen  Rußlands  ist  dem 
Abendlande  erst  verhältnismäßig  spät  vermittelt  worden, 
und  man  kann  wohl  sagen,  daß  Rußland  für  unsere  Kenntnis 
eigentlich  erst  im  16.  Jahrhundert  entdeckt  worden  ist,  nicht 
zum  wenigsten  aus  dem  Grunde,  weil  in  ältester  Zeit  poli- 
tische Beziehungen  zu  jenem  Lande  überhaupt  nicht  statt- 
fanden. Den  Anfang  zu  Gesandtschaftsbeschickungen  und 
Verhandlungen  zwischen  dem  russischen  und  kaiserlichen 
Hofe  hat  erst  der  Kaiser  Friedrich  III.  in  den  Jahren  1486 
und  1489  gemacht.  Die  Berichte  dieser  und  anderer  Ge- 
sandtschaften sind  entweder  überhaupt  nicht  mehr  vorhan- 
den oder  enthalten  nur  das  sachlich  Wichtige  ohne  kultur- 
geschichtlich bedeutende  Nebenausführungen  oder  doch 
solche  nur  in  geringem  Maße.  Erst  der  Freiherr  Sigmund 
von  Herberstein,  welcher  1517  und  1526  als  kaiserlicher 
Gesandter  in  Rußland  war,  hat  daraus  Veranlassung  zu 
einer  umfangreichen  und  klassischen  Beschreibung  jenes 
Landes  genommen,  die  als  rerum  Moscoviticarum  Commen- 
tarii  im  16.  Jahrhundert  verschiedene  Male  gedruckt  wor- 
den sind.  Durch  dieses  Werk  wurde  Herberstein  nicht  nur 
für  das  Ausland,  sondern  für  Rußland  selbst  die  wichtigste 
und  reichste  Quelle  zur  Kenntnis  seiner  alten  Verfassung, 
Lebensart  und  Gebräuche,  ja  recht  eigentlich  der  Entdecker 
Rußlands.  Herbersteins  Werk,  das  1549  zum  erstenmal  ge- 
druckt wurde,  konnte  natürlich  nur  die  Zeit  unter  Iwans 
des  Schrecklichen  Vater  Wassili  in  Betracht  ziehen. 


Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  etc.      233 

Die  Schreckenszeit  des  Sohnes  Iwan  behandelten  dann 
in  einem  Sendschreiben  die  beiden  livländischen  Edelleute 
Eiert  Kruse  und  Johann  Taube.  Beide  wurden  1560  in  der 
Schlacht  bei  Ermes,  durch  welche  Iwan  die  letzte  Kraft  des 
livländischen  Ritterstaates  brach,  von  den  Russen  gefangen 
und  nach  Moskau  geführt,  wo  beide  1567  in  zarische  Dienste 
traten.  Hier  blieben  sie  einige  Jahre  und  spielten  eine  zweifel- 
hafte Rolle,  indem  sie  ihre  Landsleute,  die  Livländer,  zur 
Unterwerfung  unter  russische  Herrschaft  zu  bewegen  suchten. 
Als  der  Herzog  Gotthart  Kettler  von  Kurland  sich  nicht  für 
ihre  Pläne  gewinnen  ließ,  veranlaßten  sie,  daß  der  Großfürst 
den  Herzog  Magnus  von  Holstein  1570  zum  Könige  von 
Livland  erklärte,  in  dessen  Gefolge  sie  nun  eine  glänzende 
Rolle  spielten,  bis  sie  ihn,  da  sie  an  der  Dauer  seines  Reiches 
zu  zweifeln  anfingen,  verließen  und  sich  1571  an  den  König 
Sigismund  von  Polen  verkauften.  Beide  haben  dann  1572 
sich  wegen  ihres  früheren  Verrates  gegen  Livland  bei  dem 
Herzoge  Gotthart  Kettler  rechtfertigen  oder  wenigstens  ihre 
Handlungsweise  durch  eine  Schilderung  von  der  Grausam- 
keit des  Großfürsten  mildern  wollen.  Dieses  Schreiben  be- 
findet sich  im  Staatsarchive  zu  Königsberg  unter  dem  Titel: 
Schreiben  der  beiden  6  Jahre  zu  Moskau  gefangen  gehaltenen 
livländischen  Edelleute  Johann  Taube  und  Eiert  Kruse  an 
den  Herzog  von  Kurland  Gotthard  Kettler,  worin  sie  die 
Grausamkeiten  des  Zaren  Iwan  Wassiljewitsch  schildern. 
1572.  Das  Schriftstück  ist  1816  durch  Ewers  und  Engelhard 
herausgegeben  worden  und  bietet  eine  sehr  wichtige  Quelle 
zur  Geschichte  Iwans  des  Schrecklichen.  Bezeichnenderweise 
folgt  am  Schlüsse  des  ganzen  Schreibens  eine  Aufforderung 
an  Iwans  Feinde,  die  gegenwärtige  Schwäche  seines  Reiches 
zu  benutzen  und  sich  die  in  diesem  Sendschreiben  über  ihn 
gegebenen  Nachrichten  zunutze  zu  machen. 

Ein  sehr  bedeutendes  Werk  über  das  Rußland  des 
16.  Jahrhunderts  verdanken  wir  endlich  dem  Jesuiten  An- 
tonio Possevino,  der,  1534  zu  Mantua  geboren,  in  den  Jahren 
1581  und  1582  vom  Papste  zweimal  nach  Rußland  geschickt 
wurde.  Die  Sendungen  hatten  außer  der  Zustandebringung 
eines  Friedens  mit  Polen  und  dem  Versuche,  den  Groß- 
fürsten zu  einem  Kriege  gegen  die  Türken  aufzumuntern, 


234  Max  Bär, 

besonders  die  Bemühung  zum  Zweck,  den  Großfürsten  zur 
Annahme  der  römisch-katholischen  Religion  zu  vermögen. 
Possevinos  Werk  De  rebus  Moscoviticis  ist  1586  zum  ersten- 
mal gedruckt  worden  und  erlebte  1587  zwei  und  später  noch 
einige  Auflagen. 

Zwischen  die  soeben  genannten  Beschreibungen  Ruß- 
lands von  Herberstein,  Kruse-Taube  und  Possevino  schiebt 
sich  nun  die  hier  behandelte  Beschreibung  des  Heinrich 
von  Staden  ein.  An  allgemeiner  Bedeutung  und  an  Um- 
fang steht  sie  zurück  hinter  Herberstein  und  Possevino, 
überragt  aber  nach  beiden  Richtungen  das  Sendschreiben 
der  beiden  livländischen  Edelleute. 

Die  Beschreibung  Heinrichs  von  Staden  hat,  worauf  ich 
noch  weiterhin  zu  sprechen  komme,  einen  sehr  bedeutenden 
politischen  Hintergrund  dadurch,  daß  der  Verfasser  sie  dem 
Kaiser  überreicht  hat.  Es  ist  daher  höchst  verwunderlich, 
daß  die  Handschrift  Stadens  —  sie  enthält  188  reich  be- 
schriebene Folioseiten  —  an  einem  Orte  sich  befindet,  wo 
sie  niemand  vermuten  würde:  im  Kgl.  Staatsarchive  zu 
Hannover.  Nach  Hannover  aber  ist  sie  aus  einem  Orte 
gekommen,  wo  man  sie  noch  weniger  gesucht  haben  würde, 
aus  Stade.  So  hat  die  Handschrift  gewissermaßen  ihre  Ge- 
schichte. In  Stade  nämlich  wurde  bis  zum  Jahre  1869  außer 
den  alten  bremen-verdenschen  Archiven  und  außer  dem 
während  der  schwedischen  Herrschaft  erwachsenen  schwe- 
dischen Archive  von  jener  Zeit  her  und  in  diesem  selbst 
eine  größere  Gruppe  von  Archivalien  aufbewahrt,  die  man 
als  das  „Stader  Reichsarchiv"  bezeichnet  hat  und  zwar 
deshalb,  weil  man  wohl  sah,  daß  die  darin  enthaltenen 
Akten  und  Handschriften  sich  nicht  auf  das  Herzogtum 
Bremen-Verden  bezogen,  sondern  auf  alle  möglichen  Orte 
und  Gegenden  und  Gegenstände  des  weiten  deutschen 
Reiches.  Über  dieses  Stader  Reichsarchiv  habe  ich  fest- 
stellen können,  daß  es  nichts  anderes  ist,  als  das  von  dem 
Schweden  Alexander  Erskein  während  des  Dreißigjährigen 
Krieges  in  ganz  Deutschland,  namentlich  aber  in  Erfurt, 
Prag  und  Pommern  zusammengebrachte,  teilweise  zusammen- 
geraubte briefschaftliche  Material.  Alexander  Erskein  wurde, 


Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  etc.      235 

als  der  König  Gustav  Adolf  den  deutschen  Boden  betrat, 
Assistenzrat  und  Kriegskommissar  und  später  Kriegsrat. 
Nach  dem  Frieden  wurde  er  Erbkämmerer  des  Herzogtums 
Bremen  und  erbaute  in  dem  Dorfe  Schwinge  ein  Schloß, 
das  er  Erskinschwinge  nannte.  Erskein  hatte,  wie  er  selbst 
einem  Zeitgenossen  anvertraute,  die  Gewohnheit,  in  jedem 
Orte,  wohin  ihn  der  Krieg  führte,  zuerst  in  das  Archiv,  in 
die  Klöster  und  Jesuitenkollegien  zu  gehen  und  dort  wich- 
tigere Briefschaften  einzupacken,  um  sie  in  Mußestunden 
zu  lesen.  Auf  diese  Weise,  sagt  er  selbst,  habe  er  viele  den 
Schweden  gar  nützliche  Arcana  ergründet.  Eine  andere 
Nachricht  besagt,  daß  Erskein  namentlich  bei  der  Erstür- 
mung der  Prager  Kleinseite  viel  wichtiges  Material  erbeutet 
habe,  das  er  in  seinem  Hause  habe  aufstellen  lassen.  Die 
Richtigkeit  dieser  Nachricht  wird  durch  Erskein  selbst  ver- 
bürgt, wenn  er  sich  dahin  ausließ:  „gestalt  er  sotane  Händel 
aus  den  zu  Präge  überkommenen  Akten  ersehen  und  in 
Händen  habe".  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  Erskein  auch  die 
ihm  naturgemäß  hochinteressante  Beschreibung  Stadens  über 
Rußland  aus  dem  Prager  Archive  entnommen  hat. 

Über  die  Persönlichkeit  Heinrich  von  Stadens,  der  einer 
angesehenen  Bürgerfamilie  im  Städtchen  Ahlen  in  West- 
falen entstammte,  kann  ich  keinen  besseren  sprechen  lassen 
als  Heinrich  von  Staden  selbst.  In  einem  der  vier  Abschnitte 
seiner  Niederschrift  nämlich,  und  zwar  in  dem  letzten,  be- 
handelt er  seine  persönlichen  Erlebnisse  in  Rußland  und 
als  Einführung  dazu  seinen  Lebensgang.  Die  Einführung 
lautet: 

,,Ich  Heinrich  von  Staden  bin  ein  Burgerssohn  geboren 
in  der  Stadt  Alen,  welche  ligt  im  Stift  Munster,  eine  Meilen 
von  Becken,  3  Meilen  von  der  Stadt  Munster,  eine  Meile 
von  Hane,  2  Meil  von  Wahrendorf.  In  der  Stat  Alen  und 
anderen  umbligenden  Steten  wohnen  viel  meiner  Freunt- 
schaft,  die  von  Staden.  Mein  Vater  ist  gewesen  ein  schlechter 
guter  frommer  ehrlicher  Mann,  genant  Gide  Walter  von 
Staden,  darumb  das  mein  Vetter  auch  Walter  von  Staden 
der  Junger  geheissen  hat,  der  ist  izunder  Burgemeister  in 
Alen.  Es  ist  aber  gedachter  mein  Vater  seliger  in  Friede, 
lachendem  Mute  und  frölichem  Angesichte  in  Gotte  dem 


236  Max  Bär, 

Almechtigen  entschlafen.  Meine  Mutter  hat  geheissen  Kata- 
rina Ossenbach,  die  ist  in  der  Feste  gestorben.  Sie  haben 
vor  der  Ostpforten,  wan  man  auf  der  rechten  Hant  in  Stat 
gehet,  in  dem  ersten  Hause  gewohnet,  seind  3  Heuser  in 
einander  gebauwet,  darinnen  sich  meine  Eltern  seligen,  wie 
frommen  christlichen  Eheleuten  gezimet,  zusteht  und  ge- 
buret,  vorhalten.  Izo  wohnet  aber  meine  Schwester  in  dem- 
selbigen  Hause  und  hat  zur  Ehe  einen  von  Adel,  Johann  von 
Galen  genant.  Mein  Bruder,  Her  Bernhardus  von  Staden, 
ist  Pastor  in  Untrop  und  Vikarius  in  Alen. 

Do  ich  nun  in  Alen  soweit  gestudieret  hatte,  daß  ich 
mich  zu  einem  Officio  zu  begeben  in  Willens  mir  ein  Prister 
zu  werden  angemasset,  so  tregt  sich  gleichermassen  ein  un- 
vorsehnlicher  Unfall  zu,  daß  man  mich  bezuchtigte,  ich 
solte  einem  Studenten  in  der  Schule  mit  einer  Pfrime  durch 
einen  Arm  gestochen  haben,  deshalben  sich  unsere  Eltern 
mit  Rechte  kegen  einander  einlassen.  Komt  indem  mein 
Vetter  Steffan  Hovener  aus  Liflande,  ein  Burger  aus  Riga, 
der  sprach  zu  mir:  Vetter,  reise  mit  mir  nach  Liflande,  so 
bleibestu  zufrieden.  Da  er  mit  mir  aus  der  Pforten  kumpt, 
da  war  mein  Schwager  Franz  Baurman,  ein  Ratsherr,  bei 
uns,  der  nam  einen  Dornstrauch  und  sprach:  ich  muß  den 
Weg  zu  egen,  daß  ihn  Heinrich  von  Staden  nicht  balde 
wiederfinden  kann. 

Als  ich  nun  gen  Lübeck  in  meines  Vettern  Hans  Höve- 
ners  Haus  kamb,  schicket  er  mich  mit  einem  Schaubkarn 
in  den  Wall;  hir  muste  ich  schauben  und  die  gesazten  Zei- 
chen alle  Abende  bringen,  darmit,  wann  er  Bezahlung  for- 
dert, daran  nichts  feilete.  Nach  6  Wochen  sigelte  ich  mit 
meinem  Vettern  nach  Riga  in  Liflande.  Als  ich  zu  Philips 
Glandorf  in  Dinst  komme,  der  war  gestrenge  und  ein  Herre 
des  Rats,  da  kam  ich  wieder  an  den  Wall  zu  schauben.  Hir 
wart  es  mir  ganz  säur.  Der  Wall  muste  des  Grosfurschten 
halben  in  der  Eile  fertig  sein,  da  wart  der  Zeichengeber 
krank.  Er  vortrauwet  mir,  die  Zeichen  zu  geben.  Da  vor- 
sorgete  ich  mich  mit  so  viel  Zeichen,  das  ich  von  dem  Wall- 
schauben darnach  loß  wurde.  Da  ging  ich  auf  dem  Wall 
hin  und  wider  spaziren,  besach  den  Wall.  Also  lernete  ich, 
wie  ein  Wall  muß  gelegt  oder  gebauwet  werden. 


Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  etc.      237 

Mein  Vetter  Steffan  Hövener  sprach  zu  mir:  Du  tust 
kein  gut.  Da  liff  ich  hinweg  und  komme  in  die  Stadt  Wol- 
mar.  Hier  komme  ich  zu  dem  Amtmann  Heinrich  Muller 
in  Dinst;  hier  muste  ich  lernen  liflendische  Hovesgebrauch ; 
ich  wart  oftern  mit  Ruten  gestrichen,  laufe  derhalben  weg 
und  komme  in  den  Hof  Wolgarten.  Die  Edelfrau  fragete 
mich:  kanstu  lesen  und  schreiben?  Ich  antwortetet  ich  kan 
latin  und  deutsch  lesen  und  schreiben.  Der  Amtman  George 
Junge  war  ihr  ungetrauwe,  sprich  derhalben  zu  mir:  ich  will 
Dir  all  meine  Lantguter  vortrauwen,  die  Vogte  werden  Dich 
underweisen,  sei  mir  getreug,  ich  wil  Dich  darnach  wohl 
Vorsorgen.  Ich  sprach :  ich  bin  nicht  mehr  als  1 7  oder  1 8  Jahre 
alt.  Da  wart  ich  im  Hove  Wolgarten,  im  Hove  Patkul, 
Mellepenn  und  Udren  Amptman.  Der  Edelmann  war  ge- 
storben, der  war  im  Lande  der  reichste  gewesen,  Johan  Bo- 
korst  genant.  Da  kam  George  von  Hochrosen  und  freite 
diese  Witwen,  nimmet  sie  mit  sich  nach  Hochrosen.  Da 
kam  ein  Edelman,  Johan  Bokhorst  Vetter  aus  Deutschlant, 
und  erbete  dieselben  Lantguter.  Da  zog  ich  hin  und  wart 
ein  Kaufman  und  komme  auf  das  Schloß  Karkus,  da  war 
George  Welsdorf  Heuptman.  Karkus,  Heimet,  Ermis,  Tri- 
caten,  Rugien  und  Bortmeck  gehoreten  dar  zur  Zeit  Herzog 
Johan  in  Finlande,  dem  izigen  Koninge  in  Schweden.  Da 
kamen  vor  Karkus  Krigsleute  mit  falschen  Brifen  auf  das 
Haus,  gagen  Georgen  Walsdorf  vom  Hause,  hie  wurden 
meine  Guter  mir  apgenommen. 

Da  kam  ich  uf  Heimet;  hir  hilt  Haus  Graf  Johan  von 
Arz,  den  hatte  der  Herzog  gesezet,  diese  6  Heuser  zu  regiren. 
Dieser  machte  Vorbuntnis  mit  dem  Grosfursten,  wart  dar- 
über gefangen  zu  Riga  mit  heißen  Zangen  gerissen  und  ge- 
richtet. Wie  es  hie  zuging  muste  ich  auch  sehen.  Darnach 
kam  ich  in  Walmer  mit  einem  Pferde  zum  Gubernatori 
Knese  Alexander  Bolubensky,  der  zog  stetes  mit  dem  pol- 
nischen Krigsvolk  in  das  Stift  Dorpt  und  wir  hilten  stets 
reusche  Boiaren  sambt  ihrem  Gelt  und  Gut  gefenglich.  Die 
Beute  ward  ungleich  geteilet,  derowegen  wolte  ich  nicht  zu- 
legen, was  ich  überkommen  hatte.  Da  sie  mich  in  die  Statt 
krigten,  da  wart  ich  in  den  Turmb  gelegt  und  drauweten 
mich  zu  henken.    In  der  Kurze,  da  ich  gesehen  hatte  und 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  16 


238  Max  Bär, 

vorstund  das  liflendische  Regiment,  dardurch  Lifland  ver- 
loren wart  und  sach,  mit  wasserlei  Praktiken  und  Arggelistig- 
keit  der  Grosfurschte  Leifland  einnahm,  da  maclite  ich  mich 
auf  und  komme  an  die  Grenze.  Hir  muste  ich  mich  wiede- 
rumb  Henkens  besorgen.  Alle  diejenigen,  die  dem  Gros- 
furschten  abfallen  und  werden  an  der  Grenze  widerkrigen, 
die  werden  sampt  ihrer  ganzen  Freuntschaft  umbgebracht 
und  die  aus  Liflant  damals  nach  dem  Grosfursten  zihen 
wolten,  wurden  darüber  gekrigen,  musten  auch  gehengt 
werden.  Izunder  zihen  die  großen  Hauß  aus  Lifland  nach 
der  Moskaw  und  dienen  dem  Grosfurschten. 

An  der  Grenze  stecke  ich  eine  Schreibfeder  auf  die  Hut- 
schnure und  neme  rein  Papir  in  den  Basen  und  eine  Schwarz- 
buchse, darmit,  wan  ich  gegriffen  wurde,  mich  konte  aus- 
reden. Als  ich  über  die  Grenze  die  Encbach  komme  an  einen 
gelegenen  Orte,  da  schreib  ich  hirmit  an  Joachim  Schröter 
in  der  Stat  Dorpte,  er  solte  des  Grosfurschten  Stathalter 
fragen,  soferne  mir  der  Grosfurschte  wurde  Underhalt  geben, 
so  were  ich  gesinnet,  ihme  zue  dienen,  wo  nicht,  so  wolte 
ich  nach  Schweden;  ich  muste  aber  balde  Antwort  haben. 
Der  Stathalter  schickete  zu  mir  einen  Boiaren  Atalick  Quas- 
sanin  mit  8  Pferden,  der  entpfing  mich  freuntlich  und  sprach: 
alles  was  Du  von  dem  Grosfursten  bitten  wirst,  das  wirt  er 
Dir  geben.  Da  ich  zum  Stathalter  Knese  Michael  Morosow 
uf  das  Schloß  zu  Dorpte  komme,  der  hilt  sich  mit  Geberden 
kegen  mich  freuntlich  und  srach:  wiltu  alhier  dem  Gros- 
fursten dienen,  so  wollen  wir  hir  Dir  von  wegen  des  Gros- 
fursten Landguter  geben;  Du  weist  Liflandes  Gelegenheit 
und  kanst  ihre  Sprache.  Da  sprach  ich  nein,  ich  will  den 
Grosfursten  sehen.  Da  fragete  er  mich,  wo  ist  izo  der  Kunig 
in  Polen?  Ich  antwortete,  in  Polen  bin  ich  nie  gewesen. 
Da  waren  schon  die  Postpferde  und  ein  Boiar  bereit,  da 
kam  ich  in  6  Tagen  auf  der  Post  von  Dorpte  in  die  Muskaw, 
das  seind  200  Meilen  Weges.  Da  wart  ich  auf  der  Gesanten 
Kanzelei  gebracht;  hir  wart  ich  vom  Kanzeler  Andre  Was- 
silowiz  nach  mancherlei  Umbstende  gefraget.  Solches  wart 
dem  Grosfursten  von  Stund  an  zugeschrieben.  Mir  wart 
uf  derselbigen  Stund  ein  Pammet  oder  Memorialzeddel  ge- 
geben, darmit  konte  ich  alle  Tage  anderthalb  Spann  oder 


Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  etc.      239 

Eimer  Met  und  4  Dennige  Kostgelt  auf  der  Jammen  for- 
dern und  entpfangen.  Es  wart  mir  auch  also  balde  seiden 
Gewant  und  Tuch  zu  Kleidungen  gegeben,  darbei  ein  Stucke 
Geldes  zu  Geschenk. 

Da  der  Grosfurste  in  die  Muskaw  kam,  da  wart  ich 
vor  ihn  gestellet,  indem  als  er  aus  der  Kirchen  kam  und 
nach  dem  Säle  ging.  Der  Grosfurste  lacht  und  sprach: 
„gleba  gest",  bat  mich  mit  diesen  Worten  zu  Gaste.  Da 
wart  mir  ein  Pammet  oder  Memorialzeddel  auf  Landkanzelei 
gegeben,  da  krig  ich  Andre  Kolopowa,  der  war  Knese  Wo- 
lodmers  Schazleüter,  des  Tochter  Herzog  Magnus  hat,  den 
Hof  Fesnino  mit  allen  zugehörigen  Dorfern.  Da  war  ich 
auf  der  hohen  Schul.  Der  Grosfurst  kante  mich  und  ich 
ihn.  Da  hup  ich  an  zu  studiren;  ich  konte  schon  die  reusche 
Sprach  zimelicher  Maßen." 

Staden  fährt  dann  in  diesem  Abschnitt  fort,  über  die 
Ränke  von  Kruse  und  Taube  zu  sprechen  und  über  seine 
persönlichen  Beziehungen  zu  Kaspar  Elverfeld,  der  sich 
einer  unehrlichen  Handlungsweise  Staden  gegenüber  schul- 
dig machte.  Ich  muß  überhaupt  bemerken,  daß  Staden  bei 
der  Erzählung  seiner  Geschäfte  und  seines  Lebens  in  Ruß- 
land eine  ganze  Reihe  von  Freunden,  Bekannten  und  deut- 
schen Dienern  nennt,  die  ihn  betrogen  haben,  so  daß  es 
sich  wundersam  ausnimmt,  daß  er  an  anderen  Stellen  sich 
über  die  Betrügereien  der  Russen  ergeht,  während  doch  in 
seiner  Beschreibung  viele  Deutsche,  die  er  namhaft  macht, 
nicht  besser  sind.  Die  Besten  werden  es  ja  auch  vielfach 
nicht  gewesen  sein,  die  in  das  damalige  Rußland  gingen, 
um  ihr  Glück  zu  machen,  und  der  Deutsche  wird  Grund 
gehabt  haben,  als  er  das  Bibelwort  unter  seine  Sprichwörter 
aufnahm:  Bleibe  im  Lande  und  nähre  dich  redlich.  Weiter 
erzählt  Staden  in  diesem  letzten  Abschnitt,  wie  er  nach 
der  Einrichtung  der  oben  geschilderten  berüchtigten  Opri- 
tschnina  selbst  Mitglied  der  ,,Aprisna"  wurde,  wie  er  sie 
nennt,  und  noch  weitere  Erb-  und  Lehngüter  und  Höfe  in 
Moskau  vom  Großfürsten  erhielt,  wie  er  diese  als  abgabe- 
frei weiß  gestrichenen  Höfe  bewirtschaftete,  wie  ihm  der 
Großfürst  als  Auszeichnung  den  Namen  Andre  Wolodmiero- 
wicz  gab,  wie  er  täglich  am  Hofe  des  Großfürsten  war,  es 

16* 


240  Max  Bär, 

aber  ablehnte,  dauernd  in  der  nächsten  gefährlichen  Um- 
gebung zu  bleiben.  Er  sagt  sehr  richtig:  ,, Welcher  nahe 
bei  dem  Großfürsten  war,  der  verbrannte  sich,  und  der 
ferne  von  ihm  war,  der  erfror."  Er  erzählt  weiter  verschie- 
dene Rechtshändel,  die  er  mit  denen  hatte,  die  ihn  betrogen, 
und  wie  er  schließlich  das  in  Rußland  sehr  schwierige  Werk 
vollbrachte,  wieder  aus  dem  Lande  zu  kommen. 

Das  ist  ihm  denn  auch  geglückt.  In  Deutschland  fand 
er  einige  Zeit  später  Aufnahme  beim  Pfalzgrafen  Georg 
Hans^)  zu  Lützelstein,  der  ihn  zu  Sendungen  an  den  König 
von  Polen,  den  Deutschmeister  und  schließlich  auch  an  den 
Kaiser  benutzte. 

Den  Hauptteil  der  Stadenschen  Beschreibung,  über  die 
Hälfte  der  ganzen  Handschrift  umfassend,  bildet  die  eigent- 
liche Beschreibung  der  russischen  Verhältnisse  und  Ereig- 
nisse zur  Zeit  Iwans  und  zumal  aus  der  Zeit,  als  Staden  in 
Rußland  gelebt  hat,  also  aus  den  Jahren  1558 — 1572. 

Staden  gibt  zunächst  einen  allerdings  nicht  erschöpfen- 
den Überblick  über  die  Landes-  und  Kriegsverfassung,  dann 
genauer  über  die  verschiedenen  Behörden  in  Moskau,  wobei 
er  nicht  unterläßt,  über  die  Bestechlichkeit  und  die  Unter- 
schleife der  Beamten  sich  zu  verbreiten.  Nichts  war  zu  er- 
reichen, keine  Auskunft,  kein  Bescheid  ohne  Zahlung  von 
Geld.  Das  begann  schon  an  den  äußeren  Toren  der  Kanz- 
leien, „Auf  jeder  Kanzeleien  oder  Gerichtsstuben  waren 
zwene  Torwechter,  die  machten  denjenigen  auf,  die  da  Geld 
gaben,  die  nichts  zu  geben  hatten,  lissen  sie  die  Tore  zu  und 
welche  mit  Gewalt  sich  wollten  eindringen,  die  wurden  mit 
Gewalt  mit  einem  Stecken  einer  Ellen  lang  auf  den  Kopf 
geschlagen."  Schlimmer  noch  war,  daß  auch  die  Recht- 
sprechung nach  Gelde  ging: 

,,Wann  einer  im  ganzen  Lande  auch  allen  Stetten  in 
der  Moskau   nicht  recht  haben  kann,  so  kummet  er  auf 


1)  Es  ist  das  der  bekannte  fürstliche  Abenteurer  Georg  Hans 
Graf  zu  Veldenz,  ein  Schwiegersohn  Gustav  Wasas,  der  in  den  Jahren 
1570  ff.  den  Plan  verfolgte,  Reichsadmiral  einer  zu  gründenden  Reichs- 
flotte zu  werden.  Vgl.  Höhlbaum,  Die  Admiralsakten  des  Pfalzgrafen 
Georg  Hans,  Graf  zu  Veldenz,  im  Stadtarchiv  Köln.  Mitteilungen  aus 
dem  Stadtarchiv  Köln  18,  S.  1—55. 


Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  etc.      241 

diese  und  dergleichen  Kanzeleien  eine.  Wan  zwene  Partei- 
ische zusammen  kommen  und  der  Rechtfertiger  tet  einen 
Eit  und  hatte  Geld,  da  hatte  der  Unrechtfertiger  Macht 
ohne  Gelt  den  Rechtfertigten  auf  den  getanen  Eit  zum 
Kampfe  fordern  zu  lassen.  Es  waren  viel  Kampfschieger 
in  der  Moskau,  die  einen  jedem  dieneten  mit  Kampfschlahen 
vor  Gelt  und  ein  jeder,  der  das  Recht  mit  dem  Eide  gewunnen 
und  sein  Widerpart  nicht  darmit  zufrieden,  so  muste  er  mit 
•seiner  Widerpart  eigener  Person  den  Kampf  schlahen  oder 
er  hatte  Macht,  das  er  der  Kampfschieger  einen  vor  Geld 
in  seine  Stete  mieten  konte.  Es  war  allzeit  also  gemacht, 
daß  der  so  Recht  hatte  und  geschworen,  so  muste  er  doch 
Unrecht  haben,  hatte  er  mehr  Gelt  als  der  Gerechte,  ob  er 
schon  unrecht  war,  dennoch  muste  er  Recht  haben  und 
der  Rechte  Unrecht.  Wann  der  Kampfschieger  sich  schlug, 
so  fiel  der  Kampfschieger,  der  vom  anderen  das  meiste  Gelt 
entpfangen  hatte,  kegen  seinen  Widerpart  in  voller  Rustunge 
nieder  zur  Erden  und  sprach:  Winouat  gosni,  das  ist:  Ich 
bin  schuldig.  Mit  diesen  Worten  hatte  der  Gerechte  ver- 
loren und  der  Ungerechte  gewunnen,  so  der  Ungerechte  mehr 
Geldes  zu  geben  hatte  als  der  Gerechte." 

Abhilfe  dagegen  gab  es  nicht:  „Und  so  einer  dem  Groß- 
fürsten hat  klagen  wollen,  daruf  wart  fleißig  Acht  gegeben, 
der  wart  in  den  Turmb  gesetzt.  Hatte  er  Geld,  so  konnte 
er  loskommen.  Hatte  er  keines,  so  pleib  er  sitzent,  bis  ihm 
die  Har  vom  Haupt  bis  an  den  Nabel  wuchsen.** 

„Diese  Fürsten,  große  Bojaren  im  Regiment,  Kanzeler, 
Underschreiber,  Amptleute  und  alle  Befehlshabere,  waren 
alle  aneinandergehangt  und  ineinandergeflochten,  wie  die 
Ring  an  einer  Ketten.  Und  so  einer  von  diesen  oder  der- 
gleichen gesundiget  hatte  so  grop,  daß  er  den  Tot  verschul- 
diget, so  hat  der  Papst^)  Macht,  denselbigen  aus  der  Beutels 
Hand  zu  nehmen  und  ihn  frei  und  ledig  zu  lassen,  und  so 
einer  geraubet,  gemordet  gestolen  hatte  und  lif  mit  dem 
Gelt  und  Gut  in  ein  Kloster,  der  war  im  Kloster  so  frei 
als  im  Himmel,  wenn  er  schone  das  Gelt  dem  Grosfurschten 
aus  dem  Schaz  gestolen  oder  auf  Wege  geraubet  hatte,  wel- 


^)  D.  h.  der  Patriarch. 


242  Max  Bär, 

ches  in  der  Grosfurschten  Schaz  gehorent.  Korzlich  alle 
geistliche  und  weltliche  Herren,  die  ihr  Gut  also  mit  Un- 
recht gewunnen,  sprachen  lecherlich  also:  Boch  dal,  id  est: 
deus  dedit,  Gott  hat  es  gegeben." 

Die  Gründung  der  Opritschnina  oder,  wie  Staden  sie 
übereinstimmend  mit  Krause  und  Taube  nennt,  der  ,,Aprisna" 
erzählt  er  ebenfalls.  Nach  ihm  stammte  der  Rat  dieser  Grün- 
dung von  der  Zirkassierin,  der  zweiten  Frau  Iwans. 

,, Hiermit  fing  der  Grosfurschte  Knese  Iwan  Wassilowiz 
an  und  erwehlet  aus  allen  Reussen  und  auch  aus  frembden 
nationibus  ein  sonderlich  auserwelet  Volk,  machet  also 
Aprisna  und  Semsky.  Aprisna  seind  gewesen  die  Seinen, 
Semsky  aber  das  gemeine  Volk.  Also  fing  der  Grosfurschte 
an  und  musterte  eine  Stadt  und  Gebiete  nach  dem  andern 
und  welche  nicht  gefunden  wurden  in  den  Krigsmuster- 
registern,  das  sie  nicht  gedienet  hatten  seinen  Vorvetern 
gegen  den  Feind  von  ihren  Erpgutern,  denen  wurden  ihre 
Gutere  apgeschrieben  und  einem  in  Aprisnai  gegeben." 

,, Welche  Knesen  und  Bojaren  in  Aprisna  genomen  wor- 
den, die  wurden  nach  Geburt,  nicht  nach  Reichtumb  in  gradus 
vorgleichet  und  teten  darnach  den  Eid,  also  das  sie  nicht 
mit  den  Semsken  wolten  zu  schaffen  haben  noch  einge 
Freundschaft  mit  ihnen  machen.  Es  musten  auch  die  in 
Aprisna  schwarze  Kleider  und  Hute  tragen  und  fureten  an 
dem  Kocher,  da  die  Flischen  inne  stecketen,  an  einem  Stock 
gebunden  wie  ein  Quast  oder  Besen,  darbei  wurden  die  in 
Aprisnai  erkant." 

Das  Schlimmste  war  die  Bestimmung,  daß  ein  Mitglied 
der  Semsky  rechtlos  war  gegen  ein  Mitglied  der  Aprisna. 
Dann  begann  das  ruchloseste  Treiben  und  Morden,  das  je 
von  einem  Fürsten  gegen  sein  eigenes  Volk  begangen  worden 
ist.  Ich  habe  oben  schon  die  Vernichtung  Nowgorods,  die 
wunderbare  Schonung  Pskows  und  die  Hinrichtungen  in 
Moskau  erwähnt.  Ich  führe  diese  Tatsachen  nun  mit  Sta- 
dens  Worten  vor: 

„Es  kompt  der  Grosfurschte  wieder  vor  die  Stadt 
Großen  Nauwgarten,  legt  sich  3  Veitweges  von  der  Stadt, 
schicket  einen  Krigsobersten  in  die  Stadt  mit  seinem  Volk; 
dieser  muste  sein  als  ein  Vorspeer  oder  Kuntschafter.    Hie 


Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  etc.      243 

ging  das  Geschrei,  als  wolte  der  Grosfurschte  nach  Lifland 
zihen  und  der  Grosfurschte  zoch  in  die  Stadt  Grosneuw- 
garten  in  des  Bischofs  Hof,  nimbt  dem  Bischof  alle  das 
Seine.  Es  wurden  auch  die  grosten  Glokken  abgenomen  und 
was  ihm  gefiel  aus  den  Kirchen.  Also  lies  der  Grosfurschte 
die  Statt  pleiben,  befahl  den  Kaufleuten,  sie  solten  kaufen 
und  verkaufen  und  es  von  seinem  Krigsvolk,  den  Aprisnai, 
wohl  bezalt  nemen.  Hebt  an  und  zeucht  alle  Tage  in  ein 
sonderlich  Kloster,  treib  seinen  Mutwillen,  liß  die  Muniche 
rechtfertigen,  deren  auch  viel  totgeschlagen  wurden.  Dieser 
Kloster  in  und  außer  der  Stadt  seind  300  und  ist  nicht  eines 
vorschonet  wurden.  Darnach  wart  die  Stadt  angefangen 
zu  plünderen  und  des  Morgens,  wan  der  Grosfurschte  aus 
dem  Lager  vor  die  Stadt  kam,  muste  ihme  der  Oberste  in 
der  Stadt  entkegen  reiten,  darmit  konte  der  Grosfurschte 
erfahren,  was  in  der  Stat  des  Nachtes  geschähe." 

,, Dieser  Jammer  und  Elend  wehret  in  der  Stadt  6  Wochen 
lang  stets  aneinander.  Alle  Kramme  und  Gemacher,  da  Gelt 
und  Gut  innen  zu  vormuten,  wart  vorsigelt.  Der  Grosfurschte 
liß  sich  auch  eigener  Persone  auf  dem  Peinhofe  oder  -Haus 
stets  alle  Tage  finden.  In  dieser  Stat  und  Klostern  muste 
nichts  überbleiben  und  alles  was  das  Krigsvolk  nicht  konte 
mit  sich  fuhren,  dasselb  muste  ins  Wasser  geworfen  werden 
oder  vorbrante  und  so  einer  der  Semsken  aus  dem  Wasser 
etwas  wieder  holen  wolte,  der  muste  gehenkt  werden." 

„Darnach  wurden  tot  geschlagen  alle  gefangene  fremde 
Nationen,  der  meiste  Teil  waren  Polen,  sampt  Weip  und 
Kinderen,  und  sein  Volk,  die  sich  in  fremder  Nation  Volker 
vorheuratet  hatten.  Es  wurden  auch  alle  hohe  Gebende 
niedergerissen  und  alle  schone  Hofpforten  sampt  Treppen 
und  Fenstern  zerhauwen;  auch  ezliche  tausent  der  Burgers- 
tochter  von  den  Aprisnischen  weggefurt.  EtHche  Semsken 
kleideten  sich,  als  gehoreten  sie  in  Aprisna,  trieben  grossen 
Mutwillen  und  Schaden,  denselbigen  wart  nachgespuret  und 
totgeschlagen." 

„Darnach  zoch  der  Grosfurschte  weiter  fort  in  die 
Stadt  Pleskauw,  fing  den  Handel  an  gleicherweis  und  schicket 
nach  der  Narve  und  schwedischen  Grenze  Ladenske  Ossora 
Heuptleute  und   Krigsvolke  und  liß  seinen   Reussen  ihre 


244  Max  Bär, 

Guter  nehmen  und  zu  nichte  machen,  wurden  ins  Wasser 
geworfen  und  ezliche  vorbrandt.  Es  wurden  auf  diesen  Tag 
so  manch  Tausent  geistliche  und  weltHche  Menschen  umb- 
gebracht,  das  desgleichen  in  Reusland  vorhin  nie  ist  gehöret 
worden.  Der  Grosfurschte  liß  diese  Stat  die  Helfte  plün- 
deren, biß  das  er  kam  an  den  Hof  da  Micula  wohnet." 

„Dieser  Micula  ist  Kerls,  wohnet  in  der  Stadt  Pleskaw 
alleine  im  Hofe  ohne  Weip  und  Kint,  hat  viel  Viehe,  das- 
selbige  gehet  den  ganzen  Winter  im  Hofe  auf  dem  Miste 
under  dem  hellen  Himmel,  geret  und  gedeiet  ihme  wohl, 
ist  darvon  reich,  prophezeiet  den  Reussen  viel  zukünftige 
Ding.  Der  Grosfurschte  ging  zu  diesem  in  den  Hof.  Also 
fing  der  Micula  an  und  sprach  zu  dem  Grosfurschten:  Es 
ist  genung,  zihe  wieder  heim.  Der  Grosfurschte  gehorchet 
diesem  Micula  und  zoch  von  der  Stat  Pleskow  wiederumb 
nach  der  Slaboden  Alexandri  mit  allem  Gelt  und  Gut  und 
viel  grossen  Glocken  und  liß  von  Stund  an  bauwen  in  der 
Slaboda  eine  steinerne  Kirche,  darin  liß  er,  was  par  Gelt 
war,  und  an  die  Kirchen  wart  die  Tur  gemacht,  die  er  zu 
Grossen  Neuwgarten  von  der  Kirchen  mit  ihm  nahm.  Die 
Tur  war  gegossen  mit  Historien  figurlich  und  die  Glocke 
wurden  bei  die  Kirche  gehangen.  Nach  diesem  liß  der  Gros- 
furschte Knesen  Wolodimar  Andrewiz  im  Trunk  offenbar 
vorgeben,  das  Frauwenzimmer  nackent  auszihen,  von  den 
Hakenschutzen  schentlich  erschißen.  Von  seinen  Boiaren 
oder  Knesen  ist  niemand  überblieben." 

„Der  Grosfurschte  zoch  wieder  aus  der  Slaboden  Alex- 
andri in  die  Muskow  und  liß  fangen  alle  Befelichshaber 
und  Gebieter  in  der  Semsky  und  alle  Kanzeler.  Iwan  Wis- 
kowat  hat  das  Sigel  in  der  Semsky  gehabt,  Mikita  Funico 
ist  Schazherre  gewesen,  Iwan  Bulgakow  ist  auf  der  Gelt- 
kanzelei gewesen.  Hie  ermordet  der  Grosfurschte  bei  130 
Heupter,  die  alle  zu  raten  und  zu  gebieten  hatten  im  ganzen 
Lande.  Iwan  Wiskowat  wurden  zum  ersten  Nas  und  Ohr 
apgeschnitten,  darnach  die  Hende  apgehauben.  Mikita  Fu- 
nico wart  auf  dem  Markt  mit  den  Armen  an  Holzer  gebun- 
den und  mit  heissem  Wasser  begossen  und  also  vorbrant." 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Erzählung  gibt  Staden  dann 
eine   genaue    Beschreibung   Moskaus   vor   Begründung   der 


Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  etc.       245 

Aprisna  und  dann  der  Gebäude  des  Hofes  Aprisna  selbst, 
weiterhin  verbreitet  er  sich  über  die  Schogenverfassung  auf 
dem  Lande,  über  kirchliche  und  weltliche  Gebräuche.  Einige 
eingehende  Berichte  gibt  er  ferner  über  die  Einfälle  der  Tar- 
taren, des  krimmischen  Kaisers  Dewlet  Girai  und  die  voll- 
ständige Einäscherung  Moskaus  durch  sie;  sehr  eingehend 
behandelt  er  eine  Schlacht  mit  den  Tartaren  an  der  Ocka. 
Die  Kämpfe  mit  den  Tartaren  gaben  ihm  die  Veranlassung, 
in  einem  eigenen  Abschnitt  ein  Ereignis  zu  erzählen,  das 
er  nicht  mit  erlebt  hat,  weil  es  in  die  Zeit  vor  seiner  An- 
wesenheit in  Rußland  fiel,  die  Einnahme  Kasans  und  Astra- 
chans durch  Iwan.  Stadens  Darstellung  von  der  Eroberung 
Kasans  stimmt  hier  mit  den  sonstigen  russischen  Quellen 
über  diesen  gewaltigen  Erfolg  des  Jahres  1547  vollkommen 
überein.  Gegen  den  Schluß  dieses  Abschnitts  gibt  Staden 
eine  geographische  Beschreibung  der  Lage  und  Grenzen 
Rußlands,  der  Lebensmittelpreise  und  erzählt  beiläufig,  wie 
auf  den  Kanzleien  in  Moskau  mit  Pflaumensteinen  gerechnet 
wird.  Eingehend  behandelt  er  ferner  die  Behandlung  an- 
kommender Fremder  und  der  Gesandten. 

,,Wan  einer  kompt  an  die  reusche  Grenze,  er  sei  wer 
er  will,  aber  kein  Jude,  alsobalde  wirt  er  gefraget,  was  er 
begeret;  spricht  dann  derselbig,  er  begere  dem  Grosfurschten 
zu  dienen,  so  wirt  er  wiederumb  nach  allerlei  Umbstenden 
gefraget.  Es  werden  seine  Birecht  und  Rede  heimlich  uf- 
geschrieben  vorsigelt.  Uf  dieselbig  Stunde  wirt  er  auf  der 
Post  in  6  oder  7  Tagen  nach  der  Moskau  mit  einem  vom 
Adel  gefüret.  In  der  Moskaw  wirt  er  nach  allen  Umbsten- 
den heimlich  weitleuftig  gefraget  und  so  es  übereinstimmet 
mit  dem,  was  er  an  der  Grenze  geret  hat,  desto  mehr  wirt 
ihme  Glauben  gegeben  und  begnadiget.  Es  wirt  nicht  an- 
gesehen seine  Person,  Kleider  oder  Adelschaft,  sondern  es 
wirt  ihme  vleisig  Achtung  gegeben  uf  alle  seine  Rede.  Es 
wirt  ihme  auch  alsobalde  denselben  Tag,  wenn  der  komt, 
an  der  Grenze  Gelt  gegeben  zur  Zehrung  biß  in  die  Moskau. 
In  der  Moskaw  wirt  ihme  gegeben  denselbigen  Tag,  wenn 
er  kompt,  ein  Kostgeltzeddel.  Es  ist  gestiftet  in  der  Moskau 
ein  sonderlich  Hof,  in  welchem  gesotten  und  ungesotten  Met 
gebrauwet.    Hier  entpfingen   alle   Frembden   Nationen   ihr 


246  Max  Bär, 

tegelich  Kostgelt  nach  Laut  der  Zettelen,  einer  minder, 
der  ander  mehr.  Es  wirt  auch  demselbigen  ein  Zettel  ge- 
geben auf  die  Landstuben  oder  Kanzelei,  das  der  Grosfurste 
ihn  begnadiget  hatt  100,  200,  300,  400  Setwerten  Land- 
gutes. So  mag  derselbige  sich  im  Lande  umbsehen  oder 
fragen,  wo  einer  vom  Adel  ohne  Erben  gestorben  oder  im 
Krige  totgeschlagen;  der  Frauwen  wirt  etwas  zum  Under- 
halt  gegeben."  .  .  . 

,,  Kommet  ein  Gesandter,  dem  wirt  viel  Volk  entkegen 
geschickt  an  die  Grenze,  die  fuhren  ihn  einen  solchen  Weg 
umbher,  da  Bauren  wohnen,  biß  an  den  Ort,  da  der  Gros- 
furscht  den  Gesandten  Audiens  geben  will,  das  er  nicht 
zu  sehen  krigt  den  rechten  Weg  und  das  sein  Land  so  wüste 
ist.  Es  wirt  der  Gesandte  so  genau  bewahret  sampt  seinen 
Dienern,  das  kein  Auslender  bei  ihn  kommen  kann.  Es 
kommen  oft  zwene,  drei  Gesandten  in  eine  Gegent,  da  sie 
der  Grosfurschte  hören  will,  und  werden  so  hart  bewahret, 
das  ein  Gesanter  von  dem  anderen  nicht  weis.  Der  Gros- 
furst  vorhoret  den  einen  Gesandten  nicht,  er  weiß  schon 
was  er  dem  andern,  dritten  und  vierden  zur  Antwort  geben 
will.  Also  kann  der  Grosfurste  aller  umbligenden  Landes- 
herren und  ihrer  Lande  Gelegenheit  wissen,  aber  seine  und 
seines  Landes  Gelegenheit  kan  kein  umbligender  Landes- 
herr recht  wissen." 

Auch  diese  letztere  Erwähnung  von  der  Täuschung  der 
Gesandten  in  Ansehung  der  Volksmenge  stimmt  mit  den 
sonstigen  Berichten,  namentlich  mit  Herberstein,  überein. 

So  sehr  der  Weg  denen,  die  nach  Rußland  in  die  Höhle 
des  Löwen  hineingingen,  um  sich  dort  niederzulassen,  ge- 
ebnet wurde  —  man  suchte  nämlich  das  ganze  16.  Jahr- 
hundert hindurch  Fremde,  namentlich  Gelehrte  und  Hand- 
werker, hinzuziehen  — ,  so  schwer  wurde  es  ihnen  gemacht, 
das  Land  zu  verlassen. 

„Ein  Auslender  kann  sich  nicht  groß  versündigen,  das 
er  leichtlich  zum  Tod  verurteilet  wurde,  alleine  wan  er  ge- 
kriget  wirt,  das  er  aus  dem  Lande  weg  will  laufen;  als  denn 
komme  ihme  Gott  zu  Hülfe,  so  gilt  seine  Kunst  nicht  mehr 
und  seine  Gelt  und  Gut  kann  ihme  nichtes  helfen.  Es  ge- 
schieht seltene,  das  sich  ein  Auslender  understehet  aus  dem 


Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  etc.      247 

Lande  zu  laufen,  denn  der  Weg  ins  Land  ist  weit  und  breit, 
aus  dem  Lande  aber  ist  der  Weg  ganz  enge;  es  sei  dann, 
das  er  auf  der  hoclisten  Schule  Moskaw  ausgestudiret  hat, 
das  doch  nicht  mugelich  ist,  einer  sei  so  gelert  und  geschicket, 
als  er  immer  wolle,  kompt  er  in  die  Moskaw,  so  wirt  ers 
erfahren." 

„D.  Eliseus  Bomelius  kam  zum  Grosfurschten  aus  Enge- 
land in  der  Zeit  der  grossen  Pestilenz,  überkam  viel  Gelt 
und  Gut  und  hatte  den  Beutel  wohl  gespicket;  begerte  vom 
Grosfursten  einen  Pas,  als  wolte  er  seinen  Diener  apfertigen 
nach  Riga,  etliche  Kreuter  holen  zu  lassen,  die  er  in  dem 
Schaze  nicht  finden  kunt.  Er  selbest  nimbt  den  Paß,  machet 
sich  auf  in  der  Gestalt  seines  Knechtes,  hat  alle  sein  Gelt 
und  Gut  gemacht  in  Golt  gewechselt  und  in  die  Kleider 
lassen  neben.  Da  er  in  die  Stadt  Pleskau  uf  der  Post  kompt, 
wiewohl  sein  Bart  abgeschnitten  war,  und  wolte  auf  dem 
Markt  Fische  kaufen,  wart  er  doch  an  der  Sprache  erkant 
und  die  Reussen  klopfeten  auf  die  Gulden  und  fürten  den 
guten  Docter  in  Eisern  mit  Blei  zugegossen  wieder  nach  der 
Moskau." 

Aus  den  angeführten  kurzen  Proben  wird  man  den  Ein- 
druck gewonnen  haben,  daß  wir  es  hier  mit  einem  vielfach 
mit  anderen  Quellen  übereinstimmenden  und  daher  auch 
sonst  glaubwürdigen  Berichte  zu  tun  haben,  mit  einer  Quelle 
zur  Geschichte  Rußlands,  deren  Veröffentlichung  vollständig 
oder  mit  Auslassungen  erwünscht  wäre.^)  Was  aber  diesem 
Berichte  eine  ganz  besondere  Bedeutung  und  auch  zugleich 
eine  erhöhte  Glaubwürdigkeit  verleiht,  ist  der  Hintergrund, 
von  dem  er  sich  abhebt  und  die  politische  Veranlassung, 
aus  der  heraus  er  niedergeschrieben  worden  ist.  Denn 
Stadens  Bericht  gehört  nicht  in  die  zahlreiche  Klasse  von 
Reisebeschreibungen,  die  uns  aus  dem  16.  Jahrhundert  er- 
halten sind,  die  zur  eigenen  Erinnerung  des  Erlebten  und  als 
Lesestoff  für  die  Familie  und  Freunde  niedergeschrieben 
sind.    Heinrich  von  Staden  hat  vielmehr  seine  Beschreibung 


^)  Ich  bin  in  diesem  Falle  bereit,  einem  mit  der  russischen  Ge- 
schichte vertrauten  Gelehrten  meine  Abschrift  zur  Verfügung  zu  stellen. 


248  Max  Bär, 

keinem  Geringeren  überreicht  als  dem  deutschen  Kaiser, 
in  dessen  Auftrag  er  einen  Teil  von  ihr  verfaßt  hat,  verfaßt 
zu  einem  ganz  bestimmten  politischen  Zwecke. 

Ich  habe  oben  bereits  kurz  bemerkt,  daß  die  beiden 
livländischen  Edelleute  Taube  und  Krause  am  Schlüsse  ihres 
Berichtes  eine  Aufforderung  an  Iwans  Feinde  richten,  die 
damalige  Schwäche  seines  Reiches  zu  benutzen.  Der  Ge- 
danke war  verwandt  mit  dem  andern,  den  damals  die  Nach- 
barn Rußlands,  besonders  die  Polen  hatten,  und  den  übri- 
gens auch  der  Herzog  Alba  einmal  ausgesprochen  hat,  den 
Gedanken,  daß  die  natürlichen  und  noch  unentwickelten 
Kräfte  Rußlands  eine  große  Gefahr  für  Westeuropa  werden 
könnten,  und  daß  man  daher  Rußland  keine  Waffen  —  wie 
es  schon  damals  die  Engländer  taten  —  und  keine  Bildungs- 
mittel zuführen  dürfe.  Heinrich  von  Staden  ging  einen 
Schritt  weiter.  Um  die  Begründung  einer  großen  Macht  im 
Osten,  sei  es  durch  die  Russen  oder  die  Tariaren,  zu  verhin- 
dern, schlug  er  dem  Kaiser  deren  rechtzeitige  Zertrümme- 
rung vor,  einen  Krieg  gegen  Rußland  und  die  Eroberung 
des  Landes. 

Nachdem  nämlich  Staden  aus  Rußland  etwa  1572/73 
zurückgekehrt  war,  hat  er  Beziehungen  zum  Könige  von 
Schweden  und  dessen  Bruder  Herzog  Karl  von  Südermann- 
land angeknüpft.  In  des  letzteren  Auftrage  war  er  auch  nach 
Holland  gereist  und  mußte  sich,  um  ihm  Bericht  zu  erstatten, 
dann  nach  Lützelstein  begeben,  wo  sich  der  Herzog  bei  sei- 
nem Schwager,  dem  Pfalzgrafen  Georg  Hans  von  Veldenz, 
aufhielt.  Dieser  war  gerade  in  jenen  Jahren  eifrig  damit 
beschäftigt,  seinen  Plan  der  Gründung  einer  Reichsmarine 
und  seine  Bestellung  als  Reichsadmiral  beim  Kaiser  und 
den  Ständen  zu  betreiben.^)  Trotz  jahrelanger  Bemühungen 
hatte  er  damit  bekanntlich  keinen  Erfolg.  In  Staden  aber 
mußte  er  notwendig  einen  Mann  erkennen,  dessen  Kennt- 
nisse der  östlichen  Verhältnisse  ihm  nutzbar  sein  konnten. 
Mehrere  Monate  ist  Staden  Gast  des  Pfalzgrafen  gewesen. 
Von  Staden  wissen  wir  ferner,  daß  ihn  der  Pfalzgraf  an  den 


^)  Vgl.  darüber  Kunz,  Die  Politik  des  Pfalzgrafen  Georg  Hans 
von  Veldenz.    Bonn  (Dissertation)  1912. 


Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  etc.      249 

König  von  Polen  und  an  den  Deutschmeister  gesandt  hat. 
Der  Zweck  konnte  in  Ansehung  der  Person  und  der  Ver- 
gangenheit des  Gesandten  doch  nur  die  Behandlung  des 
späteren  pfalzgräflichen  Planes  gegen  Rußland  und  seines 
späteren  Anschlages  auf  Livland  sein.  Und  der  Zweck  der 
pfalzgräflichen  Sendung  Stadens  an  den  Kaiser  liegt  in  dessen 
Beschreibung  Rußlands  selbst  klar  zu  Tage.  Im  Auftrage, 
wie  Staden  sagt,  also  wohl  mit  Genehmigung  des  Kaisers^), 
hat  er  diesem  seine  Beschreibung  der  russischen  Verhältnisse 
und  seiner  Erlebnisse  überreicht  und  den  Plan  einer  Bekrie- 
gung Rußlands  aufgestellt.  Durch  die  Art  dieses  Planes 
aber,  durch  die  Wahl  des  Seeweges  über  Norwegen  herum, 
sollte  wiederum  das  pfalzgräfliche  Admiralwerk  gestützt 
werden.  Und  es  ist  mir  in  hohem  Maße  wahrscheinlich,  daß 
der  spätere,  in  die  Jahre  1578  und  1579  fallende  Plan  des 
Pfalzgrafen  zur  Bekriegung  des  Moskowiters,  wie  ihn  Schie- 
mann^)  veröffentlicht  hat,  auf  gemeinsamer  Arbeit  und  auf 
den  Besprechungen  mit  Staden  und  dessen  Plane  beruht, 
mit  dem  er  grundsätzlich  in  der  Wahl  des  Seeweges  und 
im  einzelnen  in  der  Aufzählung  der  zu  besetzenden  Orte, 
übrigens  auch  mit  einer  gewissen  Kühnheit  unwahrschein- 
licher Voraussetzungen  und  der  Betonung  gewisser  politi- 
scher Ziele  übereinstimmt.  Die  erwähnte  Kühnheit  der 
Voraussetzungen,  z.  B.  die  Stellung  der  Schiffe  von  den  ver- 
schiedenen an  der  Sache  ganz  uninteressierten  Reichen,  er- 
weckt geradezu  die  Vermutung,  daß  der  Stadensche  Plan 
unter  dem  Einfluß  des  Pfalzgrafen  entstanden  ist,  dessen 
sonstige  Machenschaften  gleichfalls  durch  die  Unwahrschein- 
lichkeit  seiner  Annahmen  und  Voraussetzungen  auffallen. 
Auch  die  anscheinend  protestantische  Tendenz,  wie  sie  ein- 
mal in  dem  Ausdruck  „Prädikanten",  den  Staden  gebraucht, 
zum  Ausdruck  kommt,  darf  eher  auf  den  Pfalzgrafen  zurück- 


1)  Ich  vermute,  daß  es  sich  um  den  Kaiser  Maximilian  handelt. 
Denn  in  dem  Anschreiben  an  den  Kaiser  sagt  Staden,  daß  seine  ver- 
storbenen Eltern  unter  ihm,  dem  Kaiser,  „ihre  Lebenszeit  hingebracht". 
Das  würde  aber,  wenn  man  es  auf  die  Person  des  Kaisers  beziehen  darf, 
nur  auf  Maximilian  passen. 

2)  Schiemann  in  der  Baltischen  Monatschrift  36,  S.  21 — 24  und 
Mitteilungen  aus  der  livländischen  Geschichte  15,  S.  117 — 159. 


250  Max  Bär, 

geführt  werden,  als  auf  Staden,  dessen  Bruder  katholischer 
Pfarrer  in  Westfalen  war.  Und  die  Kenntnis  der  genauen 
geographischen  Verhältnisse  des  nördlichen  Rußlands  konnte 
der  Veldenzer  wiederum  nur  von  einem  Manne  wie  Staden 
erhalten  haben.  Denn  der  König  von  Schweden  hatte  ganz 
recht,  wenn  er  von  seinem  Schwager  sagte,  Sibirien  liege 
weit  von  Lützelstein  und  Veldenz.i) 

Der  Stadensche  Plan  eines  Kriegszuges  gegen  Rußland 
bifdet  den  zweiten  Abschnitt  seiner  dem  Kaiser  überreichten 
Darstellung.  2)  Die  Stärke  des  Eroberungsheeres  bemißt  er 
auf  100000  Mann,  weniger  zum  Kampfe  gegen  die  Russen 
—  denn  diese  seien  durch  die  Tartaren  und  Polen  und  vor 
allem  durch  das  selbstmörderische  Wüten  des  Großfürsten 
so  geschwächt,  daß  sie  überhaupt  keine  Feldschlacht  mehr 
wagen  könnten  — ,  sondern  zur  Besetzung  der  Städte.  Man 
solle  aber  nur  solche  Mannschaft  nehmen,  die  in  Deutschland 
nichts  zu  verlieren  habe,  also  Leute  ohne  Haus  und  Hof. 
Er  gibt  ferner  die  Zahl  der  Feldgeschütze,  die  Höhe  des  An- 
gelds und  die  Zahl  der  Schiffe  an,  welche  letzteren  von 
Dänemark,  Hamburg,  dem  Prinzen  von  Oranien,  Frank- 
reich oder  Spanien  gestellt  werden  könnten.  Und  das  ist 
nun,  wie  schon  gesagt,  das  Charakteristische,  daß  Staden 
nicht  etwa  den  näheren  Landweg  vorschlägt,  sondern  einen 
Einfall  auf  dem  Seewege,  übrigens  auch  Schiffer  namhaft 
macht,  denen  durch  vielfache  Fahrten  der  Seeweg  geläufig 
ist.  Diesen  Seeweg  —  die  Abfahrt  soll  von  Hamburg,  Bre- 
men oder  Emden  erfolgen  —  beschreibt  er  nun  genau  um 
das  Nordkap  und  Lappland  herum  durch  das  Weiße  Meer, 
wo  in  Lappland  besonders  Kola,  dann  an  der  Dwinamündung, 
wo,  wie  er  sagt,  die  „Englischen  ihre  Fahrt  haben",  Kolma- 
gori,  dann  die  Onegamündung  besetzt  werden  sollen.  „An 
dieser  Seekant  müssen  Comisseschreiber  gehalten  werden, 
daß   sie  auch  in  und  aus  dem   Lande  verschaffen  uf  die 


1)  Kunz  a.  a.  O.  S.  32. 

^)  In  den  Wiener  Archiven  findet  sich  nach  Auskünften  vom  Jahre 
1898  erklärlicherweise  —  da  die  Akten  aus  dem  Kaiserlichen  Archive 
durch  Erskein  geraubt  wurden  —  keine  Nachricht.  Überdies  werden 
sich  die  Akten  bei  vorangegangener  mündlicher  Behandlung  eben  auf 
die  Beschreibung  selbst  beschränkt  haben. 


Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  etc.      251 

Schiffe  allerlei  Waren  und  wiederum  nach  Karkopola  —  also 
die  Onega  aufwärts  —  vorschaffen  alles  was  der  Feldherr 
von  Nöten  bedarf.  Also  kann  man  sich  aus  der  Christen- 
heit jährlich  genugsam  stärken,  der  Großfürst  kann  sich 
nicht  stärken,  alleine  daß  er  seine  Bauren  zum  Kriege  be- 
zwingen kann,  die  haben  keinige  Gewehr,  wie  die  Bauren 
in  der  Christenheit,  und  wissen  auch  nicht  vom  Kriege." 

Der  Seeweg,  den  Staden  eingeschlagen  wissen  will,  war 
für  die  damalige  Zeit  noch  etwas  Neues,  im  Binnenlande 
Unbekanntes,  kaum  ein  Vierteljahrhundert  kannte  man  ihn. 
Lediglich  der  Zufall  hatte  zu  seiner  Entdeckung  geführt  da- 
durch, daß  er  den  englischen  Seefahrer  Richard  Chancellor 
nach  Archangelsk  verschlug  und  diesen  dadurch  im  eigent- 
lichsten Sinne  für  das  Ausland  zum  Entdecker  eines  weiten 
Gebietes  des  nördlichen  Rußlands  machte.  Im  Jahre  1553 
nämlich  ließ  der  König  Eduard  VI.  von  England  drei 
Schiffe  ausrüsten  zur  Entdeckung  eines  nordöstlichen  See- 
weges nach  China  und  Indien  durch  das  Eismeer.  Nur 
eins  dieser  Schiffe,  von  Richard  Chancellor  geführt,  gelangte 
nach  vielen  Gefahren  in  das  Weiße  Meer  und  lief  in  die 
Bucht  von  St.  Nikolai,  einem  kleinen  Kloster  an  dem  west- 
lichen Ausflusse  der  Dwina,  ein,  wo  nachher  die  Stadt  Arch- 
angelsk angelegt  wurde. 

Staden  schlägt  nun  weiter  zum  Vordringen  in  das  Innere 
Rußlands  den  Weg  die  Onega  aufwärts  vor  über  Kargapola, 
Bjelosera,  Wologda,  Alexandrow  nach  Moskau.  Er  nennt 
alle  zu  besetzenden  Städte  und  die  Stärke  der  notwendigen 
Besatzungen.  Durch  vorherige  Besetzung  aller  umliegenden 
Punkte  könne  dann  die  Stadt  Moskau  ohne  einen  Schuß 
gewonnen  werden. 

Ob  nun  der  Stadensche  Feldzugsplan  zum  Glücke  aus- 
geschlagen wäre,  wenn  ihn  der  Kaiser  wirklich  zur  Ausfüh- 
rung gebracht  hätte,  das  ist  eine  andere  und  nicht  zu  beant- 
wortende Frage.  Staden  freilich  ist  des  Erfolges  gewiß  und 
verteilt  sogar  schon  die  Haut  des  russischen  Bären,  seinen 
Schatz,  den  auch  der  Veldenzer  öfter  erwähnt,  und  das 
Land.  Ihn  selbst  will  er  gefangen  in  die  Christenheit  geführt 
wissen.  Auf  hohem  Berge,  da,  wo  Elbe  oder  Rhein  ent- 
springen, soll  man  die  russischen   Gefangenen  vor  seinen 


252   Max  Bär,  Eine  bisher  unbekannte  Beschreibung  Rußlands  etc. 

Augen  totschlagen,  dem  Großfürsten  aber  eine  Grafschaft 
geben,  ihn  dort  bewachen  und  täghch  durch  zwei  oder  drei 
Prädikanten  den  Unglückhchen  unterrichten  lassen,  die  ihn 
Gottes  Wort  recht  lehren  sollen. 

Staden  schließt  mit  einem  weiteren  Ausblick.  Den 
Russen  müsse  Gottes  Wort  rechtschaffen  gepredigt,  stei- 
nerne Kirchen  müßten  erbaut  werden  statt  der  russischen 
von  Holz.  Jene  würden  stehen  bleiben,  diese  zerfallen. 
Besiedelung  des  Landes  sei  notwendig,  namentlich  des 
fruchtbaren  Resamer  Landes,  das  so  schön  sei,  daß  er  des- 
gleichen nicht  gesehen  habe.  Der  Kaiser  müsse  eine  be- 
stimmte Einnahme  aus  dem  Lande  erhalten  und  auch  Schwe- 
den, Dänemark  und  England  müßten  zahlen  für  die  Erlaub- 
nis zum  Handel  in  Rußland.  Wenn  Rußland  eingenommen, 
so  gehöre  Polen  zum  römischen  Reiche,  und  von  den  um- 
liegenden, zum  Teil  herrenlosen  Ländern  könne  Besitz  er- 
griffen werden.  Dann  werde  der  türkische  Kaiser  erkennen, 
daß  Gott  für  die  streite,  die  an  Christus  glauben,  dann 
werde  man  an  Persien  grenzen  und  Amerika  erreichbar 
sein. 


Miszelle. 

Zur  Archäologie  des  früheren  Mittelalters. 

Jahresbericht  1914.i) 

Von 
G.  Weise. 

Zunächst  ein  Überbiiclc  über  die  neuen  Bände  der  einzelnen 
deutschen  Denlcmälerinventare.  —  Von  den  „Kunstdenkmälern 
des  Königreichs  Bayern"  sind  sechs  stattliche  Hefte  im  Laufe 
des  Jahres  1914  erschienen.  Die  beiden  unterfränkischen  Bezirks- 
ämter Brückenau  und  Gerolzhofen  besitzen  keine  irgendwie 
nennenswerten  frühmittelalterlichen  Denkmäler.  Im  Bezirksamt 
Kissingen  wurde  die  romanische  Kirche  der  Zisterzienserabtei  Bild- 
hausen leider  1826  vollständig  niedergelegt.  Nach  dem  vom  Inventar 
veröffentlichten  Plan  von   1788  kommt  dem  Grundriß  dieses  Baues 


1)  Aufgabe  dieses  Jahresberichtes  wird  es  sein,  für  den  Historiker 
und  vom  Standpunkte  des  Historikers  unter  den  jährlichen  Neu- 
erscheinungen auf  dem  Gebiete  der  Archäologie  des  früheren  Mittel- 
alters, selbständigen  Publikationen  wie  Zeitschriftenaufsätzen,  das 
Wichtigere  anzuzeigen  und  zur  Besprechung  zu  bringen.  Einer  Recht- 
fertigung bedarf  vielleicht  die  gewählte  zeitliche  Begrenzung,  inner- 
halb der  die  Literatur  der  einzelnen  Jahre  berücksichtigt  werden  soll. 
Mittelalterliche  Archäologie  sollte  "sich  die  Wissenschaft  nennen,  die 
sich  mit  den  künstlerischen  Erzeugnissen  des  früheren  Mittelalters  als 
historischen  Quellen  befaßt.  Ihr  werden,  im  Gegensatz  zur  Kunst- 
geschichte, für  die  stets  die  Qualität  der  Objekte  im  Vordergrund 
stehen  wird,  alle  Denkmäler,  einerlei  ob  von  größerem  oder  geringerem 
künstlerischem  Wert,  gleichmäßig  interessant  sein;  nur  der  Quellen- 
wert bestimmt  die  Anteilnahme.  Die  Eigenart  des  Gebietes  könnte 
diese  Art  der  Behandlung  für  die  Erzeugnisse  der  Kunsttätigkeit  des 
Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  17 


254  G.  Weise, 

höchste  Bedeutung  zu.  Er  zeigt  östlich  an  das  Querhaus  sich  anschlie- 
ßend fünf  staffeiförmig  angeordnete  Apsiden  und  weist  damit  unmittel- 
bar auf  burgundische  Vorbilder.  Von  den  kluniazensischen  Klöstern 
ist  dieser  Grundrißtypus  in  der  Bourgogne  auf  die  Zisterzienser  über- 
gegangen und  von  diesen  dann  gelegentlich  weiter  verbreitet  worden. 
Ob  gleichzeitig  mit  anderen  architektonischen  Eigentümlichkeiten, 
die  auf  eine  eigene  Ordensbauhütte  schließen  lassen  könnten,  ist  immer 
noch  nicht  einwandfrei  festgestellt.  Bildhausen  wurde  ungefähr  in  den 
fünfziger  Jahren  des  12.  Jahrhunderts  von  Ebrach  aus  gegründet. 
Baunachrichten  für  die  Kirche  fehlen.  Der  Verfasser  des  Inventars 
setzt  ihre  Errichtung  mit  Recht  um  die  iVlitte  des  12.  Jahrhunderts 
unmittelbar  nach  der  Stiftung  des  Klosters  an.  Auf  deutschem  Boden 
gehören  bis  jetzt  nur  die  etwa  gleichzeitigen  Zisterzienserkirchen 
Georgenthal  (Thüringen)  und  Waldsassen  (Oberpfalz),  sowie  die  in 
den  Jahren  1142 — 1150  errichtete  Ostpartie  von  Thalbürgel  bei  Jena 
dem  nämlichen  Grundrißtypus  an.  —  In  der  Kirche  des  Zisterziense- 
rinnenklosters Frauenroth  die  prachtvollen  Grabsteine  des  Minne- 
sängers Graf  Otto  von  Bodenlauben  und  seiner  Gemahlin  Beatrix, 
von  denen  das  Inventar  gute  Aufnahmen  bringt. 

Unter  den  Denkmälern  des  Bezirksamtes  Lohr  darf  neben  der 
romanischen  Abteikirche  in  Neustadt  a.  JVl.  die  anscheinend  verhältnis- 
mäßig frühe  Peter-  und  Paulskirche  dortselbst  das  meiste  Interesse 
beanspruchen.  Es  ist  im  höchsten  Grade  dankenswert,  daß  die  Inven- 
tarisation  sich  hier  nicht  auf  die  Aufnahme  der  über  dem  Boden  er- 
haltenen Reste  beschränkt  hat,  sondern  durch  Grabungen  das  Bild 
des  ursprünglichen  Grundrisses  zu  vervollständigen  suchte.  Die  klöster- 
liche Niederlassung  in  Neustadt  geht  in  karolingische  Zeit  zurück.  In 
dem  merkwürdigen,  fast  zentralen,  einschiffigen  Bau  der  Peter-  und 


früheren  Mittelalters,  etwa  bis  gegen  Mitte  des  13.  Jahrhunderts,  mehr 
am  Platze  erscheinen  lassen.  Von  den  Jahrhunderten  der  germanischen 
Wanderungen  bis  zur  Zeit  des  Auftretens  der  Gotik  bei  uns  in  Deutsch- 
land soll  der  vorliegende  wie  die  künftigen  Jahresberichte  die  Neu- 
erscheinungen auf  dem  Gebiete  der  mittelalterlichen  Archäologie  um- 
fassen. 

Die  Redaktion  ist  bei  der  Einforderung  der  zu  besprechenden 
Literatur  dieses  Mal  zum  Teil  noch  auf  Widerstände  und  Ablehnung 
gestoßen.  Namentlich  von  den  neuerschienenen  Heften  der  einzelnen 
Denkmälerinventarisationen  konnten  nur  in  einem  Falle  Rezensions- 
exemplare erhalten  werden.  Die  Redaktion  legt  mir  nahe,  auf  diese 
Tatsache  hier  hinzuweisen  und  zugleich  der  Erwartung  Ausdruck  zu 
geben,  daß  in  Zukunft  der  Hist.  Zeitschr.,  wie  für  ihre  sonstigen  Be- 
sprechungen, auch  für  diesen  Jahresbericht  Rezensionsexemplare  der 
in  Betracht  kommenden  Literatur  zur  Verfügung  stehen  werden. 


Zur  Archäologie  des  früheren  Mittelalters.  255 

Paulskirche  mit  dem  kräftig  ausladenden  Querschiff  und  dem  recht- 
eckigen Chorquadrum  möchte  der  Inventarisator  die  älteste  Kloster- 
kirche sehen  und  sie  in  den  Anfang  des  10.  (Erneuerung  nach  Brand, 
bezeugt  nur  in  nachmittelalterlicher  Kompilation)  ev.  noch  ins  8.  Jahr- 
hundert zurückdatieren.  Die  Frage  kann  noch  nicht  als  endgültig  ent- 
schieden gelten.  Grundrißtypus  und  Kämpferprofile  scheinen  mir 
gegen  Entstehung  in  karolingischer  Zeit  zu  sprechen  und  eher  auf  das 
11.  Jahrhundert  zu  weisen;  die  angeführten  Analogien  sind  nicht 
schlagend.  Die  älteste  Klosterkirche  war  nachweislich  nicht  Peter 
und  Paul  geweiht.  Ältere  Reste  an  der  heutigen  spätromanischen 
Abteikirche  deuten  darauf  hin,  daß  auch  der  ihr  vorausgehende  Bau 
schon  an  der  gleichen  Stelle  stand.  Es  dürfte  sich  bei  der  Peter-  und 
Paulskapelle  vielleicht  doch  eher  um  eine  Nebenkirche  frühromanischer 
Zeit  handeln. 

Am  gewichtigsten  ist  der  die  Denkmäler  des  Bezirksamts  Stadt- 
amhof  in  der  Oberpfalz  behandelnde  Band  des  Inventars,  der  die 
Klosterkirche  in  Prüfening  und  die  bischöflich  regensburgische  Pfalz 
in  Donaustauf  enthält.  Baunachrichten  fehlen  leider  für  die  letztere. 
Stilistische  Anhaltspunkte  und  die  Verwandtschaft  mit  bestimmten 
Regensburger  Bauten  gestatten,  ihre  ältesten  Teile,  den  Palas  und  die 
überraschend  großartige  Kapelle  auf  Mitte  des  11.  Jahrhunderts  zu 
datieren.  Die  Kapelle  liegt  hier  schon  wie  später  in  der  staufischen 
Pfalz  in  Gelnhausen  über  dem  innersten  Torbau.  Die  geplante  Publi- 
kation der  Kaiserpfalzen  durch  den  deutschen  Verein  für  Kunstwissen- 
schaft wird  Donaustauf  nicht  übersehen  dürfen.  —  Prüfening  wurde 
1109  von  Otto  von  Bamberg  gegründet.  Eine  erste  Weihe  der  Kirche 
ist  für  1119  bezeugt,  der  Bau  muß  sich  aber  noch  länger  hinausgezogen 
haben.  Jedenfalls  ist  er  für  die  architekturgeschichtliche  Entwicklung 
im  bayerischen  Donautale  von  bahnbrechender  Bedeutung.  Er  bringt 
Neues  auf  allen  Gebieten,  wie  das  Inventar  im  einzelnen  nachweist. 
Man  wird  sagen  dürfen,  daß  mit  Prüfening  die  spätromanische  Periode, 
die  durch  das  Auftreten  bestimmter  westlicher  Einflüsse  charakteri- 
siert wird,  hier  in  diesen  Gegenden  einsetzt.  Das  Inventar  glaubt 
nach  der  heute  üblichen  Anschauung  alle  diese  Neuerungen  auf  Konto 
der  sog.  Hirsauer  Schule  setzen  zu  können,  für  deren  Existenz  der 
Beweis  immer  noch  aussteht.  Für  weit  wahrscheinlicher  möchte  ich 
es  halten,  daß  sich  hier,  wie  es  sich  auch  anderwärts  beobachten  läßt, 
seit  dem  Beginn  des  12.  Jahrhunderts  Beziehungen  zu  einer  ganz  be- 
stimmten Gegend  Frankreichs  geltend  machen,  Beziehungen,  als  deren 
Vermittler  in  diesem  Falle  der  Stifter  des  Klosters  selbst,  Otto  von  Bam- 
berg, anzusprechen  wäre,  so  wie  z.  B.  am  Oberrhein  dem  Stifter  von  Mar- 
bach,  Manegold  von  Lautenbach,  nahezu  um  die  nämliche  Zeit  die 
Rolle  zukommt.  Die  ganze  Hirsauer-  und  Kluniazenserhypothese  gleiche 

17* 


256  G.  Weise, 

beruht  doch  nur  auf  der  Tatsache  der  Übertragung  gewisser  Grundriß- 
dispositionen, für  die  allerdings  die  Erklärung  in  Ordensbeziehungen 
gesucht  werden  mag;  hier  aber  handelt  es  sich  um  das  unvermittelte 
Auftreten  technischer  Fertigkeiten  (Quaderbau)  und  mannigfacher 
Motive  des  architektonischen  Details,  als  deren  Träger  nur  die  aus- 
führenden Werkleute  in  Betracht  kommen  können.  Charakteristisch 
bleibt,  daß  gerade  dort,  wohin  die  Ordensbeziehungen  und  ev.  auch  die 
Grundrißschemata  weisen,  in  der  Bourgogne,  sich  gar  kein  Anhalt 
zur  Herleitung  jener  technischen  und  stilistischen  Eigentümlichkeiten 
finden  lassen  will.  —  Unter  den  romanischen  Wandgemälden  der 
Klosterkirche,  deren  Entstehung  zwischen  1130 — 1160  anzusetzen  ist, 
darf  man  den  Historiker  vielleicht  auf  jene  Darstellung  der  Schwerter- 
verleihung (Taf.  IX)  am  nordöstlichen  Vierungspfeiler  hinweisen,  die 
„lebendige  Illustration  zu  der  im  Investiturstreit  im  Mittelpunkt  der 
Streitfragen  stehenden  Schwertertheorie".  Der  thronende  Petrus  ver- 
leiht einem  Bischof  und  einem  weltlichen  Fürsten,  beide  durch  Nimben 
als  heilige  Personen  charakterisiert,  die  Schwerter.  Schon  Endres 
(Christliche  Kunst  II,  S.  160  ff.)  hat  auf  die  Übereinstimmung  mit 
einer  Stelle  in  Honorius  von  Autuns,  dessen  Schriften  in  der  Kloster- 
bibliothek vorhanden  waren.  Summa  Gloria  hingewiesen,  nach  der  die 
beiden  seitlichen  Figuren  als  Konstantin  und  Papst  Silvester  zu 
deuten  wären. 

Von  den  Kunstdenkmälern  in  Niederbayern  schließlich  liegt  jetzt 
das  2.  Heft,  BezirksamtLandshut,  vor.  Größere  romanische  Bauten 
fehlen,  dagegen  haben  sich  eine  stattliche  Anzahl  Dorfkirchen  des 
12.  und  13.  Jahrhunderts  ganz  oder  teilweise  erhalten,  bei  denen  sich 
zwei  verschiedene  Grundrißtypen  unterscheiden  lassen.  Das  Material 
ist  durchwegs  Backstein,  Man  bedauert,  daß  die  nur  sporadisch  in  ver- 
sprengten Gruppen  auftretende  spätromanische  Backsteinarchitektur 
der  bayerischen  Landschaften  noch  nicht  im  gleichen  Maße  die  For- 
schung interessiert  hat  wie  die  norddeutschen  Backsteinbauten.  Zum 
Teil  treten  hier  die  nämlichen  Motive  auf  wie  dort  und  machen  auch 
hier,  wo  an  holländischen  Einfluß  nicht  gedacht  werden  kann,  den 
Import  dieser  Kunst  aus  Oberitalien  wahrscheinlich. 

Die  „Kunst-  und  Altertumsdenkmale  im  Königreich 
Württemberg",  Donaukreis,  Oberamt  Göppingen,  bringen  neben 
der  doch  wohl  schon  geraume  Zeit  vor  1200  anzusetzenden  schlichten 
romanischen  Klosterkirche  zu  Boll,  von  der  leider  kein  Grundriß  ge- 
geben wird,  vor  allem  Faurndau,  bekannt  durch  die  reiche  Außen- 
architektur der  Chorpartie.  Die  Erbauung  wird  von  dem  Bearbeiter 
in  das  3.  und  4.  Jahrzehnt  des  13.  Jahrhunderts  angesetzt.  Die  Be- 
ziehungen zu  einer  Gruppe  gleichzeitiger  Bauten  in  jenen  Gegenden, 
Brenz,   Johanniskirche   in    Gmünd   und   Walderichskapelle   in   Murr- 


Zur  Archäologie  des  früheren  Mittelalters.  257 

hardt,  sind  schon  längst  erkannt.  Fraglich  erscheint  mir,  ob  man  in 
diesen  Anlagen  das  Werk  einer  autochthonen  schwäbischen  Schule, 
wie  die  Tendenz  besteht,  wird  sehen  dürfen.  Unvermittelt  und  ohne 
vorbereitende  Vorläufer  unter  den  älteren  einheimischen  Bauten^) 
tritt  diese  Richtung  etwa  um  1200  sogleich  mit  Werken  von  ausge- 
prägter Eigenart  und  beträchtlicher  technischer  Vollendung  auf.  Ver- 
mutlich handelt  es  sich  um  ausländischen  Import,  vielleicht  um  eine 
durch  die  Staufen  ins  Land  gezogene  Schule,  deren  Herkunft  freilich 
noch  ungewiß  bleibt.  Die  ganze  Frage  verdiente  eine  eingehende 
Untersuchung  unter  Berücksichtigung  des  gesamten,  in  jenen  Teilen 
Schwabens  erhaltenen  Denkmälermateriales.  —  In  dem  benachbarten 
Oberamt  Geislingen  wäre  die  von  Dehio  wohl  ohne  Grund  in  ihrer 
Echtheit  angezweifelte  Bauinschrift  von  984  an  der  im  übrigen  in  ihrer 
heutigen  Gestalt  erst  späteren  Jahrhunderten  angehörenden  Kirche 
zu  Gingen  zu  erwähnen,  die  deren  Errichtung  durch  Abt  Salman  von 
Lorsch  und  Weihe  durch  Gebhard  II.  von  Konstanz  meldet,  die  älteste 
bis  jetzt  bekannte  derartige  Inschrift  an  einer  deutschen  Land- 
kirche. 

Die  von  Luthmer  bearbeiteten  „Bau-  und  Kunstdenkmäler 
des  Regierungsbezirks  Wiesbaden"  liegen  mit  dem  jetzt  er- 
schienenen 5. Band  (Kreise:  Unter- Westerwald,  St.  Goarshausen,  Unter- 
taunus und  Wiesbaden  Stadt  und  Land)  abgeschlossen  vor.  Bleiden- 
stadt  mit  seiner  Abtei  des  hl.  Ferrutius  müßte  vor  allem  interessieren; 
leider  wissen  wir  über  die  karolingische  Klosterkirche,  deren  Weihe 
für  812  bezeugt  ist,  noch  gar  nichts,  obwohl  Nachforschungen  vielleicht 
möglich  wären.  Karolingische  Reste  sind  seinerzeit  an  der  kleinen 
Kirche  zu  Bier  Stadt  bei  Wiesbaden  zutage  getreten,  vor  allem  ein 
sehr  frühes  Portal  mit  primitivem  Schmuck  des  Türsturzes,  doch  steht 
der  ausführliche  Bericht  über  die  damals  vorgenommenen  Grabungen 
immer  noch  aus.  Der  gleichen  Gruppe  am  JVlittelrhein  bereits  durch 
mehrere  Beispiele  vertretener  vorromanischer  Portalskulpturen  ist  der 
aus  Geisenheim  im  Rheingau  stammende  hochinteressante  Türsturz 
zuzurechnen,  über  dessen  Auffindung  Brenner  im  gleichen  Jahre  in 
den  Annalen  des  Vereins  für  Nassauische  Altertumskunde  und  Ge- 
schichtsforschung (Bd.  42,  S.  132  ff.)  berichten  konnte.  Dem  vermut- 
lich karolingischer  Zeit  angehörenden  Stein  kommt  eine  besondere 
Bedeutung  zu  als  eines  der  frühesten  Beispiele  figürlicher  Monumental- 
plastik und  als  älteste  bisher  bekannt  gewordene  deutsche  Kreuzigungs- 
darstellung in  Stein. 

^)  In  Werken  wie  Schwärzloch,  Pliezhausen  usw.,  die  zum  Teil 
die  gleichen  Dekorationsmotive  in  weit  primitiverer,  roherer  Ausfüh- 
rung zeigen,  kann  ich  nur  unvollkommene  Nachahmungsversuche 
durch  einheimische,  provinziell  rückständige  Kräfte  sehen. 


258  G.  Weise, 

über  eine  der  wichtigsten  karolingischen  Stätten  am  JVlittelrliein, 
Kloster  Lorsch,  bietet  der  Kreis  Bensheim  der  „Kunstdenkmäler 
im  Großherzogtum  Hessen"  außer  einigen  guten  Abbildungen 
einzelner  karolingischer  Architekturglieder  leider  so  gut  wie  nichts 
Neues.  Der  Bearbeiter  beschränkt  sich  auf  die  Beschreibung  der  über 
dem  Boden  erhaltenen  Gebäudereste,  im  engsten  Anschluß  an  die  seines 
Erachtens  „in  jeder  Beziehung  ausreichende  Arbeit"  Adamys.  Die 
Frage  nach  den  Grundrißdispositionen  der  774  geweihten  karolingischen 
Klosterkirche,  nach  deren  Westpartie  und  Zusammenhang  mit  der 
Torhalle,  nach  Lage  und  Aussehen  der  als  „Varia"  bekannten  Grab- 
kapelle Ludwigs  des  Deutschen  wird  auch  hier  nicht  weiter  gefördert, 
als  es  durch  die  verschiedentlich  im  Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  im 
Klosterbezirk  vorgenommenen,  wenig  befriedigenden  Grabungen  ge- 
schehen war.  In  Lorsch  bleiben  dem  Spaten  noch  eine  Reihe  wichtiger 
Probleme  zu  lösen.  Sonstige  Baudenkmäler  des  früheren  Mittelalters 
bietet  der  Kreis  Bensheim  nicht.  —  Anschließend  kann  hier  gleich 
auf  den  3.  Jahresbericht  der  Denkmalpflege  im  Großherzog- 
tum Hessen  (Darmstadt  1914)  eingegangen  werden.  Er  bringt  (S.  74ff,) 
Einzelheiten  über  die  Auffindung  einer  Reihe  von  Grüften  im  Wormser 
Dom,  die  als  die  Grabstätten  der  dort  beigesetzten  Vorfahren  des 
salischen  Hauses  erwiesen  werden  konnten.  Lage  und  Anordnung 
der  Gräber  genau  wie  bei  den  Kaisergräbern  im  Speyrer  Dom.  Die 
Toten  ruhten  nicht  in  einer  besonderen  Gruft,  sondern  unter  dem 
Fußboden  der  Kirche,  im  östlichsten  Joch  des  Mittelschiffes,  unmittel- 
bar vor  dem  Kreuzaltar,  fast  alle  in  Steinsärgen,  von  denen  einer 
römisch,  zwei  mit  charakteristischer  frühmittelalterlicher  Ornamen- 
tierung des  Sargdeckels,  die  übrigen  unverziert.  Beigaben  fanden  sich 
keine  mehr;  von  den  teilweise  mit  Gold  gestickten.  Gewändern  hatten 
sich  nur  geringe  Reste  erhalten.  —  Erwähnung  verdient  in  der  gleichen 
Publikation  der  Bericht  (S.  248  ff.)  über  die  Wiederherstellung  der 
bis  dahin  profanen  Zwecken  dienenden  Burgkapelle  der  Wimpfener 
Pfalz,  einer  einschiffigen,  flachgedeckten  Anlage  mit  reicher  Gliederung 
der  dem  Burghof  zugekehrten  Schauseite,  Die  Entstehung  ist  um 
1200,  etwa  gleichzeitig  mit  derjenigen  der  übrigen  Teile  der  Pfalz  an- 
zusetzen. Im  Gegensatz  zu  Gelnhausen,  wo  sie  das  obere  Geschoß 
des  Torbaues  einnimmt,  stößt  hier  die  Pfalzkapelle  als  selbständiger 
Bauteil  an  die  eine  Schmalseite  des  Palas,  von  dessen  oberem  Stock- 
werk aus  ihre  westliche  Emporenanlage  zugänglich  war:  die  gleiche 
Anordnung  von  „Saal"  und  Kirche,  wie  sie  schon  über  3  Jahrhunderte 
früher  der  karolingische  Königshof  zu  Ladenburg  a.  N.  zeigt. 

Unter  den  neuerschienenen  Bänden  der  verschiedenen  norddeut- 
schen Inventarisationsunternehmen  könnte  der  Kreis  Höxter  der 
„Bau-  und  Kunstdenkmäler  von  Westfalen"  das  meiste  Interesse 


Zur  Archäologie  des  früheren  Mittelalters.  259 

beanspruchen.  Der  Kreis  besitzt  neben  den  vorromanischen  Resten 
der  Corveyer  Klosterkirche  noch  eine  Reihe  nicht  unbedeutender 
Bauten  spätromanischer  Zeit.  Die  Art  der  Bearbeitung  vermag  freilich 
nicht  durchaus  zu  befriedigen.  Der  richtige  Grundsatz,  die  Beschrei- 
bung der  einzelnen  Denkmäler  möglichst  knapp  zu  halten  und  vor 
allem  die  Abbildungen  sprechen  zu  lassen,  ist  zu  weit  getrieben,  zumal 
da  man  doch  öfters  die  Reproduktion  wichtiger  und  für  die  Feststellung 
der  Schulzusammenhänge  bedeutsamer  baulicher  Details  vermissen 
muß  zugunsten  der  Wiedergabe  von  allerhand  späteren  Kunstgewerb- 
lichkeiten. —  In  Corvey  werden  Westfassade  und  innere  Vorhalle 
wieder  einmal  auf  das  11.  Jahrhundert  datiert,  die  bauliche  Analyse 
des  Westbaues  kann  für  ein  Denkmal  von  derartiger  Bedeutung  als 
durchaus  ungenügend  bezeichnet  werden  und  übersieht  wichtigste 
Einzelheiten.  Daß  es  sich  hier  um  ein  vermutlich  von  dem  nordöst- 
lichen Frankreich  beeinflußtes  Westwerk  karolingischer  Zeit  mit  einer 
Emporenkirche  im  oberen  Geschoß  handelt,  deutet  schon  Effmann 
in  seinem  Buch  über  St.  Ricquier  (JVlünster  1912)  an  und  wird  die  in 
Aussicht  stehende  Publikation  desselben  Verfassers  über  Corvey  wohl 
aufs  genaueste  dartun.  —  Bei  der  Besprechung  der  in  ihren  ältesten 
Teilen  noch  aus  dem  11.  Jahrhundert  stammenden  Kiüanskirche  in 
dem  benachbarten  Höxter  vermißt  man  ein  näheres  Eingehen  auf 
die  Baugeschichte,  vor  allem  auf  die  Frage  nach  der  Entstehungszeit 
der  Gewölbe  in  den  verschiedenen  Teilen  des  Baues.  —  An  Höxter  reihen 
sich  die  spätromanischen  Anlagen  in  Lügde,  Brakel,  JVlarienmün- 
ster  und  Steinheim  an,  untereinander  nahe  verwandt  und  wohl 
einer  in  Paderborn  zu  lokalisierenden,  in  einzelnen  Ausläufern  (Lippolds- 
berg,  Germerode,  Hofgeismar)  weiter  weseraufwärts  und  bis  in  den  nörd- 
lichen Teil  des  heutigen  Regierungsbezirkes  Kassel  zu  verfolgenden 
Schule  zuzurechnen.  Die  oben  ausgesprochenen  Bedenken  hinsichtlich 
der  Behandlung  der  Baugeschichte  und  der  Auswahl  des  Abbildungs- 
materiales  gelten  auch  hier.  Die  Wiedergabe  der  beiden  spätromani- 
schen Tympana  der  Steinheimer  Kirche  ist  durchaus  ungenügend. 
In  Marienmünster  wird  der  Aufstellungsort  der  beiden  S.  166  abge- 
bildeten Grabsteine  verwechselt.  Ziemlich  unglaublich  ist  die  Datierung 
des  einen  derselben  auf  das  11.  Jahrhundert,  um  so  mehr,  als  die  Grün- 
dung des  Klosters  erst  ins  Jahr  1128  fällt. 

Von  den  übrigen  1914  erschienenen  Bänden  norddeutscher  In- 
ventare  braucht  nur  noch  das  38.  Heft  der  „Beschreibenden  Dar- 
stellung der  älteren  Bau-  und  Kunstdenkmäler  des  König- 
reichs Sachsen"  wegen  der  Reste  des  zwischen  IUI — 1119  gegrün- 
deten Nonnenklosters  Riesa,  der  ältesten  klösteriichen  Niederlassung 
in  der  Mark  Meißen,  erwähnt  zu  werden.  Die  Kirche  dortselbst  ist  zwar 
in  ihrer  heutigen  Gestalt  erst  das  Werk  späterer  Umbauten  und  Er- 


260  G.  Weise, 

neuerungen;  von  den  Klostergebäuden  dagegen  scheinen  beträchtliche 
Teile  der  Zeit  der  Gründung  anzugehören,  gehen  wenigstens  noch  ins 
12.  Jahrhundert  zurück. 

Der  Deutsche  Verein  für  Kunstwissenschaft  hat  1914  gleichzeitig 
mit  seinem  „3.  Bericht  über  die  Denkmäler  deutscher  Kunst" 
(Berlin,  Reimer),  der  u.  a.  über  den  Stand  der  Vorarbeiten  zu  dem  ge- 
planten Pfalzenwerk  Rechenschaft  gibt,  in  Eröffnung  der  Reihe  seiner 
ordentlichen  Publikationen  den  ersten  Band  der  von  A.  Goldschmidt 
bearbeiteten  „Elfenbeinskulpturen  aus  der  Zeit  der  karolin- 
gischen  und  sächsischen  Kaiser"  (Berlin,  Cassirer)  erscheinen 
lassen.  Die  Veröffentlichung  der  einzelnen  Stücke  erfolgte  nach  Mög- 
lichkeit in  Originalgröße.  Beabsichtigt  ist,  weiterer  Forschung  durch 
eine  möglichst  vollständige  Quellenpublikation  des  gesamten  Materials 
die  gesicherte  Grundlage  zu  geben.  Gerade  bei  den  frühmittelalterlichen 
Elfenbeinen  kann  eine  derartige  Arbeit  zur  Stunde  nur  selten  über 
bloße  katalogisierende  Aneinanderreihung  der  einzelnen  Werke  hinaus- 
gehen. Goldschmidt  macht  in  der  Einleitung  auf  die  Schwierigkeiten, 
mit  denen  die  Bearbeitung  zu  rechnen  hat,  aufmerksam.  Die  Anhalts- 
punkte zur  Datierung  und  Lokalisierung  der  in  ihrer  Mehrzahl  in 
öffentlichen  und  privaten  Sammlungen  zerstreuten  Stücke  sind  meist 
äußerst  gering.  Dem  Forscher  stehen  nur  stilistische  Rücksichten  zur 
Gruppierung  zur  Verfügung.  Erst  immer  neue  Durchdringung  des 
Materiales  kann  hoffen,  hinsichtlich  der  Provenienz  und  Zusammen- 
gehörigkeit der  verschiedenen  Gruppen  allmählich  klarer  zu  sehen.  — 
Neben  einer  beträchtlichen  Anzahl  kleinerer  Gruppen  und  Einzelstücke 
lassen  sich  unter  den  karolingisch-ottonischen  Elfenbeinen  heute  schon 
drei  große  Richtungen  von  scharfgeprägter  Sonderart  unterscheiden. 
Sie  vertreten  nach  Goldschmidt  „nicht  zufällig  nebeneinander  an  ver- 
schiedenen Orten  auftretende  Kunstschulen,  sondern  drei  aufeinander- 
folgende herrschende  Stile  ungefähr  aus  dem  Anfang,  der  Mitte  und 
dem  Ende  des  9.  Jahrhunderts".  Wir  sind  vorläufig  noch  genötigt, 
sie  nach  äußeren  Anhaltspunkten  zu  benennen.  Nur  die  jüngste  der 
drei  Richtungen  läßt  sich  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  in  Metz 
lokalisieren. 

Einen  Hinweis  wenigstens  verdient  bei  der  Unmöglichkeit,  den 
ganzen  Inhalt  hier  einer  kritischen  Besprechung  zu  unterziehen,  die 
wesentlich  umgearbeitete  und  erweiterte  Neuauflage  von  A.  Weeses 
„Bamberger  Domskulpturen"  (Straßburg,  Heitz),  der  ein  zahl- 
reiches Abbildungsmaterial  in  besonderer  Mappe  beigegeben  ist.  All- 
gemein angenommen  ist  mittlerweile  die  seinerzeit  zuerst  von  W.  auf- 
gestellte Datierung  des  Domes  in  seiner  jetzigen  Gestalt  auf  die  Jahre 
zwischen  1185  und  1237.  Der  Grundsatz,  daß  es  unrichtig,  bei  der 
Aufstellung  der  Baugeschichte  eines  derartigen  Werkes  stets  von  der 


Zur  Archäologie  des  früheren  Mittelalters.  261 

Annahme  einer  regelmäßigen,  in  sich  abgeschlossenen  Entwicklung 
auszugehen,  dürfte  überhaupt  überall  da  zu  beherzigen  sein,  wo  mit 
der  Möglichkeit  auswärtigen  Einflusses  zu  rechnen  ist.  Stilistische 
Verschiedenheit  einzelner  Teile  muß  nicht  notwendig  in  einer  längeren 
Unterbrechung  der  Bautätigkeit  ihre  Erklärung  finden.  Bauherren  des 
spätromanischen  Domneubaues  waren  nach  W.  vor  allem  die  Bischöfe 
Otto  II.  und  Ekbert  aus  dem  Geschlechte  der  Grafen  von  Andechs 
und  Meran.  Die  Vollendung  des  figürlichen  Schmuckes  fällt  unter 
Berthold  von  Leiningen.  Den  verwandtschaftlichen  Beziehungen  der 
Genannten  zum  französischen  Königshaus,  den  Grafen  der  Cham- 
pagne und  anderen  westlichen  Herrengeschlechtern,  wird  mit  Recht 
Bedeutung  beigemessen.  Unbestreitbarer  französischer  Einfluß  äußert 
sich  in  der  Adamspforte  und  den  auf  den  gleichen  Meister  zurück- 
gehenden Statuen  an  den  Pfeilern  des  Georgenchores.  W.  baut  die  zu- 
erst von  Dehio  festgestellten  Beziehungen  dieser  Werke  zu  bestimmten 
Gruppen  der  Reimser  Kathedralskulpturen  weiter  aus.  In  dem  Meister 
sieht  er  einen  Deutschen,  der  in  Reims  gearbeitet  haben  muß  und  sich 
aus  heimischen  Traditionen  und  in  der  Fremde  Gelerntem  in  glück- 
licher Verschmelzung  seinen  persönlichen  Stil  geschaffen  hat.  So  wie 
W.  die  betreffenden  Reimser  Werke  datiert,  wäre  das  Auftreten  dieses 
Jüngeren  Meisters  in  Bamberg  frühestens  in  den  fünfziger  Jahren  des 
13.  Jahrhunderts  anzusetzen.  —  Lebhaften  Widerspruch  von  verschie- 
denster Seite  rief  seinerzeit  bei  dem  ersten  Erscheinen  des  Buches  die 
Stellungnahme  des  Verfassers  zu  der  älteren  Bamberger  Skulpturen- 
gruppe, den  Apostel-  und  Prophetenreliefs  am  Georgenchor,  hervor. 
In  der  Neuauflage  berücksichtigt  W.  zum  Teil  die  damals  geäußerten 
Bedenken,  glaubt  aber  im  wesentlichen  an  seiner  These  festhalten  zu 
müssen.  Byzantinischer  Geist  wirkt  in  jenen  eindrucksvollen  Schöp- 
fungen zweifellos  nach.  Es  fragt  sich  nur,  ob  an  unmittelbare  Inspi- 
ration durch  irgendwelche  byzantinisch  beeinflußten  Werke  der  Klein- 
kunst zu  denken  sein  wird.  W.  lehnt  im  Gegensatz  zu  anderen  Be- 
urteilern diese  Möglichkeit  ab.  Er  scheint  mir  das  Richtige  zu  treffen, 
wenn  er  von  der  Anschauung  ausgeht,  daß  Werke  wie  die  Bamberger 
Apostel-  und  Prophetenreliefs  nur  aus  einem  traditionell  ausgebildeten 
Betrieb  der  Großplastik  hervorgewachsen  sein  können,  niemals  sieh 
aus  bloßer  Nachahmung  in  den  Motiven  noch  so  verwandter  Elfenbein- 
skulpturen oder  Handschriftenillustrationen  erklären  lassen.  Zudem 
ist  eine  plausible  Anknüpfung  der  Bamberger  Reliefs  an  bestimmte 
Werke  der  Kleinplastik  bis  jetzt  noch  nicht  geglückt.  Während  es  auf 
deutschem  Boden  auch  an  Monumentalarbeiten  fehlt,  die  sich  mit 
einiger  Berechtigung  als  Vorläufer  der  Bamberger  Apostel  und  Pro- 
pheten anführen  ließen,  glaubt  W.  in  bestimmten  französischen  Schulen 
verwandten  Geist  zu  spüren.   Allerdings  sind  die  Beziehungen,  die  er 


262  O.  Weise, 

geltend  zu  machen  weiß,  nur  sehr  vager  Natur,  und  dürften  kaum  als 
definitives  Ergebnis  befriedigen.  Auch  mit  der  Geographie  nimmt  es 
der  Verfasser  nicht  allzu  genau.  Wiederholt  wird  auf  Toulouse  und  seine 
Schule  als  die  einzig  denkbare  künstlerische  Heimat  der  Bamberger 
Arbeiten  hingewiesen,  dann  plötzlich  (S.  193)  tritt  Burgund  um  der 
politischen  Beziehungen  willen  dafür  ein.  Statt  greifbarer  Tatsachen 
werden  wir  mit  seitenlangen  ästhetisierenden  Betrachtungen  abgespeist. 
Die  mögen  später  vielleicht  am  Platze  sein,  wenn  einmal  der  historische 
Unterbau  der  Beziehungen  und  Abhängigkeiten  klargestellt  sein  wird. 
Daran  fehlt  es  für  die  deutsche  spätromanische  Architektur  und  Plastik 
zur  Stunde  noch  durchaus.  W.s  Ausführungen  scheinen  mir  an  dem 
Übel  zu  kranken,  das  fast  alle  derartigen  Untersuchungen  heute  so 
unerquicklich  macht.  Es  mangelt  ihnen  an  tatsächlichen  Unterlagen. 
Wir  arbeiten  mit  ein  paar  immer  wiederkehrenden  französischen  Denk- 
mälern, die  zufällig  publiziert  sind.  Was  bei  solchen  Anknüpfungs- 
versuchen herauskommt,  geht  in  den  meisten  Fällen  über  allgemeinste 
Analogien  nicht  hinaus.  Die  Schuld  trägt  die  französische  Forschung, 
weil  sie  in  allen  ihren  Veröffentlichungen  sich  immer  nur  mit  den  paar 
Hauptwerken  befaßt,  deren  Abbildung  wir  in  jeder  Kunstgeschichte 
begegnen.  Solange  dort  nicht  wenigstens  für  die  wichtigeren  Gegenden 
einigermaßen  das  gesamte  erhaltene  Material  in  brauchbarer  Ver- 
öffentlichung vorliegt,  werden  alle  unsere  Bemühungen  um  die  An- 
knüpfung deutscher  Denkmäler  an  bestimmte  westliche  Schulen  in 
gewissem  Grade  zu  unbefriedigender  Ergebnislosigkeit  verurteilt  sein. 
Und  dies  um  so  mehr,  wenn  derartige  Untersuchungen,  wie  es  hier 
geschieht,  ausschließlich  nur  den  Resten  der  Monumentalplastik,  die 
naturgemäß  beiderseits  der  Grenzen  sich  nur  in  beschränkterer  Zahl 
finden,  ihr  Augenmerk  schenken,  statt  zu  versuchen,  an  dem  viel 
reicheren  Material  der  Architektur  einen  Anhalt  zur  Lokalisie- 
rung der  sich  geltend  machenden  Abhängigkeitsverhältnisse  zu  ge- 
winnen. 

Ich  komme  zu  einer  Reihe  von  kleineren  Publikationen.  Als 
erstes  Bändchen  einer  Sammlung  „Die  Kunst  am  Bodensee",  in  der 
auch  Einzelhefte  über  St.  Gallen  und  die  Reichenau  in  Aussicht  ge- 
stellt werden,  ist  eine  sehr  sorgfältige,  reich  illustrierte  Monographie 
„Das  Konstanzer  Münster"  von  Gröber  bei  Stettner  in  Lindau 
erschienen.  Die  Baugeschichte  des  Münsters  rekapituliert  im  wesent- 
lichen die  bisherige  Forschung,  gibt  aber  auch  einzelne  wertvolle  Be- 
reicherungen. Wichtig  ist  angesichts  der  schon  von  verschiedenen 
Seiten  betonten  Verwandtschaft  des  Konstanzer  Münsters  mit  dem 
Goslarer  Dom  (Weihe  1050)  die  Feststellung,  daß  Bischof  Rumold, 
auf  den  jenes  in  seiner  heutigen  Gestalt  im  wesentlichen  zurückgehen 
muß,  vorher  Propst  in  Goslar  gewesen  war.  Mit  Recht  verwirft  Gröber 


Zur  Archäologie  des  früheren  Mittelalters.  263 

alle  Phantasien  über  Kluniazenser  oder  Hirsauer  Einfluß  auf  den  Kon- 
stanzer Münsterbau.  Dahingestellt  möchte  ich  es  noch  sein  lassen, 
ob  der  für  1128/29  bezeugte  Einsturz  der  Campanorum  turris  nicht 
doch  noch  einige  Veränderungen  am  Langhaus  gebracht  haben  könnte. 
—  Auf  den  bekannten  Arbeiten  von  Haupt,  Pastor,  Seesselberg  u.  a. 
fußt  im  wesentlichen  das  sich  an  weitere  Kreise  wendende,  gut  illu- 
strierte Schriftchen  „Germanenkunst"  von  H.  Popp  (Vereinigung 
Heimat  und  Welt).  Eigentümliches,  anscheinend  nationales  Kunst- 
wollen offenbaren  zweifellos  die  frühgermanischen  Altertümer  in  Skan- 
dinavien wie  in  Mitteleuropa.  Bei  uns  in  Deutschland  gehören  die 
Fundobjekte  der  alemannischen  und  fränkischen  Reihengräber  dieser 
Kunstwelt  an.  Gegenüber  der  Tendenz  zu  weitgehender  Germani- 
sierung der  eigentlich  mittelalterlichen  Kunst  wird  freilich  demjenigen, 
<Jer  statt  von  der  Prähistorie  vom  früheren  Mittelalter  kommt,  die 
Beobachtung  immer  bedeutsam  bleiben,  daß  der  merovingisch-karo- 
lingische  Kirchenbau,  soweit  wir  ihn  bis  jetzt  übersehen,  von  Anfang 
an  zu  dieser  frühgermanischen  Kunst,  die  in  Skandinavien  allerdings 
noch  länger  und  auch  auf  die  Architektur  ihre  Herrschaft  ausgeübt 
hat,  so  gut  wie  keine  Beziehungen  aufweist,  sondern  in  allen  seinen 
Formen  und  Motiven  der  provinzialrömischen  Welt  anzugehören 
scheint.  Der  Grund  wird  doch  wohl  in  der  verschiedenen  Nationalität 
der  ausführenden  Kräfte  zu  suchen  sein.  Goldschmiede  und  andere 
mehr  dem  häuslichen  Bedarf  dienende  Kunsthandwerker  mögen  die 
germanischen  Völker  bei  ihrer  Okkupation  der  römischen  Provinzen 
mitgebracht  haben,  der  Steinbau  erwächst  aus  den  handwerklichen 
Traditionen  der  unterworfenen  Provinzialbevölkerung  und  hat  immer 
den  Stempel  dieser  Herkunft  beibehalten.  —  Linder,  Die  Reste 
des  römischen  Kellmünz  (Trier,  Lintz  1914)  gibt,  wenn  auch  noch 
nicht  die  abschließende  Publikation,  so  doch  eine  vorläufige  zusammen- 
fassende Übersicht  über  die  Grabungen  des  Verfassers  an  der  Stätte 
des  spätrömischen  Kastelies  Coelius  mons  am  liier.  Der  festungsähn- 
liche Bau  mit  seinem  unregelmäßigen  Grundriß  und  den  starken  halb- 
runden Mauertürmen  hat  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  den  Unter- 
gang des  weströmischen  Reiches  überlebt  und  wurde  von  den  Alahol- 
fingern  als  Herrschaftssitz  übernommen  (vgl.  Baumann,  Forschungen 
zur  schwäbischen  Geschichte,  S.  277  ff.).  Eine  sehr  frühe  Kirchen- 
anlage scheint  an  der  Stelle  der  heutigen  Pfarrkirche  zu  vermuten. 
Mit  ihr  sind  die  von  Linder  aufgefundenen  merkwürdigen  Reste  christ- 
liches Gepräge  tragender  Tonreliefs  in  Verbindung  zu  bringen,  deren 
Datierung  vorläufig  noch  manches  Rätsel  aufgibt.  —  Mit  den  Dorf- 
kirchen  der  Uckermark  beschäftigen  sich  zwei  Studien  von  Ohle: 
„Die  Besiedelung  der  Uckermark  und  die  Geschichte  ihrer  Dorfkirchen" 
und  „Kurze  Bau-  und  Kunstgeschichte  der  Uckermark"  in  den  Jahr- 


264  G.  Weise, 

gangen  1913 — 1915  der  Mitteilungen  des  Uckermärkischen  Museums- 
und Geschichts-Vereins  zu  Prenzlau,  sowie  eine  fast  um  die  gleiche 
Zeit  erschienene  Greifswalder  Dissertation  „Die  Dorfkirchen  der  Ucker- 
mark" von  Nagel.  Die  Uckermark  weist  eine  überraschende  Zahl 
meist  dem  13.  Jahrhundert  angehörender  Feldsteinkirchen  auf,  wie  sie 
für  die  ganzen  ostdeutschen  Kolonialgebiete  charakteristisch.  Bei  der 
durchaus  gleichmäßigen  Gestaltung  der  Mehrzahl  dieser  Anlagen 
entbehrt  der  Gedanke  planmäßiger  Errichtung  im  Auftrage  eines  be- 
stimmten Bauherrn  nicht  der  Wahrscheinlichkeit.  Nagel  stellt  drei 
verschiedene  Grundrißtypen  fest;  im  Grunde  handelt  es  sich  doch  nur 
um  Modifikationen  ein  und  desselben  Schemas.  Nicht  recht  einleuchten 
will,  wenn  der  gleiche  Verfasser  gerade  die  am  reichsten  entwickelte 
Plananlage  für  die  frühesten  Bauten  in  Anspruch  nehmen  will,  zumal 
er  selbst  zugeben  muß,  daß  die  technische  Ausführung  bei  jenen  „Erst- 
lingsbauten" durchwegs  bedeutend  sorgfältiger  ist  als  bei  den  Anlagen 
einfacheren  Typs.  Also  wird  wohl  eher  an  mit  reicheren  Mitteln  aus- 
geführte, im  übrigen  aber  keineswegs  eine  besondere  Epoche  kenn- 
zeichnende Gotteshäuser  zu  denken  sein.  An  gewissen  Eigentümlich- 
keiten, die  auf  die  Ausführung  durch  verschiedene  Bauhütten  zu 
deuten  scheinen,  glaubt  Ohle  unter  den  älteren  Dorfkirchen  der  Land- 
schaft eine  geschlossene  südliche  Gruppe  und  eine  nördliche  um  Prenz- 
lau unterscheiden  zu  können.  Die  Grenze  zwischen  dem  Tätigkeits- 
bereich beider  Hütten  würde  sich  mit  derjenigen  der  Bistümer  Branden- 
burg und  Cammin  oder  des  weltlichen  Herrschaftsgebietes  der  Branden- 
burger Markgrafen  und  der  Herzöge  von  Pommern  decken.  Nagel 
lehnt  diese  These  in  einem  nachträglichen  Zusatz  zu  seiner  Arbeit 
ziemlich  kurz  ab.  Ohne  genauere  Kenntnis  der  betreffenden  Denkmäler 
läßt  sich  die  Frage  leider  nicht  entscheiden.  —  Paul,  Sundische 
und  lübische  Kunst  (Berlin  1914)  verfolgt  einige  Ausstrahlungen 
französisch  beeinflußter  Frühgotik  in  Malerei  und  Plastik  Stralsunds 
und  der  benachbarten  Gegenden,  Beziehungen,  für  die  Lübeck  sich  als 
das  vermittelnde  Zentrum  erweisen  läßt.  —  Sehr  zu  begrüßen  sind 
Gradmanns,  des  württembergischen  Landeskonservators,  „Kunst- 
wanderungen in  Württemberg  und  Hohenzollern"  (Stuttgart, 
Meyer- llschen,  Illustrierte  Kunstreisebücher  Bd.  1).  Ist  auch  ihr  Ziel 
vorwiegend  ein  mehr  ästhetisches,  und  wird  keineswegs  absolute  Voll- 
ständigkeit in  der  Aufzählung  aller  und  jeder  Werke  erstrebt,  so  bringen 
sie  doch  manche  wertvolle  Ergänzungen  zu  dem  in  seinen  ersten  Bänden 
nur  sehr  dürftigen  und  vielfach  rückständigen  offziellen  Denkmäler- 
inventar, auf  dessen  Angaben  auch  Dehios  Handbuch  sich  im  wesent- 
lichen noch  angewiesen  sah.  Die  Angaben  über  die  einzelnen  Denk- 
mäler des  früheren  Mittelalters  zeigten  sich  überall,  wo  ich  Stichproben 
vornehmen  konnte,  zuverlässig.    Hinsichtlich  der  Stellungnahme  zu 


Zur  Archäologie  des  früheren  Mittelalters.  265 

manchen  Problemen  wird  man  natürlich  hier  und  da  anderer  Mei- 
nung sein  können. 

Zum  Schluß  ein  kurzer  Hinweis  auf  verschiedene  Zeitschriften- 
aufsätze. In  den  „Mitteilungen  des  Vereins  für  hessische  Geschichte 
und  Landeskunde"  (S.  111  ff.)  ein  Referat  über  einen  Vortrag  Rauchs 
über  den  Stand  der  von  ihm  geleiteten  Grabungen  in  Ingelheim 
nach  der  Kampagne  von  1913.  Von  dem  engeren  Pfalzbezirk  (Königs- 
saal, Kirche  und  Atrium)  heben  sich  jetzt  die  nördlich  von  ihm  ge- 
legenen Villa  regia  und  die  im  Süden  zu  lokalisierenden  Wirtschafts- 
bauten ab.  —  Über  die  noch  nicht  abgeschlossenen  Grabungen  am 
karolingischen  Königshof  zu  Ladenburg  a.  N.  der  vorläufige 
Bericht  im  Korrespondenzblatt  des  Gesamtvereins  (S.  297  ff.).  In  der 
in  beträchtlichen  Teilen  des  aufgehenden  Mauerwerkes  noch  ins  9.  Jahr- 
hundert zurückgehenden  Sebastianskapelle  hat  sich  in  Ladenburg 
die  ehemalige  Eigenkirche  des  dortigen  Königshofes  erhalten.  An  ihre 
westliche  Schmalseite  schloß  sich  in  gleicher  Flucht  der  seitlichen 
Mauern  der  „Saal"  an.  Saal  und  Kirche  bildeten  den  freistehenden 
Mittelpunkt  des  Hofes.  Dessen  Wirtschaftsgebäude  und  äußere  Um- 
grenzung festzustellen,  vor  allem  auch  sein  Verhältnis  zu  den  Resten 
des  römischen  Lopodunum,  innerhalb  dessen  Mauerbering  er  sich  erhob, 
genauer  zu  bestimmen,  muß  die  Aufgabe  künftiger  Grabungen  sein. 
—  „Westfalen"  (S.  25ff.)  bringt  im  Anschluß  an  den  von  dem  gleichen 
Verfasser  herausgegebenen  Katalog  der  Skulpturen  des  westfälischen 
Landesmuseums  in  Münster  (Berlin  1914)  eine  kurze  Untersuchung 
B.  Meiers  über  die  Reliefplatten  an  der  Mauritiuskirche  in 
Münster,  für  die  ottonischer  Ursprung  mit  nicht  gerade  sehr  durch- 
schlagenden Gründen  plädiert  wird.  —  In  Fulda  wurden  im  Laufe 
der  letzten  Jahre  Grabungen  von  Vonderau  in  der  unmittelbaren 
Umgebung  des  Domes  vorgenommen.  In  den  Fuldaer  Geschichts- 
blättern (1913,  S.  129  ff.)  der  vorläufige  Bericht  über  die  Ergebnisse. 
Auf  dem  freien  Platz  vor  der  heutigen  Fassade,  die  den  nur  noch  aus 
Hterarischen  Nachrichten  rekonstruierbaren  Ostchor  des  karolingischen 
Baues  verdrängt  hat,  wurden  die  Fundamente  der  im  10.  Jahrhundert 
errichteten  Königskapelle  und  Reste  des  Paradieses,  dessen  östlichen 
Abschluß  jene  bildete,  festgestellt.  Die  Grabungen  an  dieser  Stelle 
sind  noch  nicht  abgeschlossen.  Im  Westen  des  Domes  trat  vor  der 
Bonifatiuskrypta  eine  halbkreisförmige  Fundamentmauer  zutage.  In 
ihr  die  Reste  einer  einen  inneren  Chorumgang  ummantelnden  großen 
Apside  zu  sehen,  wird  nicht  angehen.  Die  „äußerst  mangelhafte" 
Fundamentierung,  ebenso  wie  die  Tatsache,  daß  die  freien  Enden  des 
halbkreisförmigen  Mauerzuges  mit  den  anstoßenden  äußeren  Grund- 
mauern des  einstigen  Kreuzganges  im  Verband  standen,  dürfte  eher 
darauf  deuten,  daß  der  unter  Abt  Eigil  „Romano  more"  westlich  der 


266     G.  Weise,  Zur  Archäologie  des  früheren  Mittelalters. 


Kirche  angelegte  Kreuzgang  an  dieser  Stelle  in  Form  eines  Halbrundes 
um  die  ehemalige  Westapsis  herumgeführt  war.  Beachtenswert  bleibt 
die  Feststellung  dieses  Mauerzuges  im  Hinblick  auf  die  nicht  unähn- 
lichen Angaben  des  Baurisses  von  St.  Gallen.  —  In  den  Mitteilungen 
der  k.  k.  Zentralkommission  (S.  118 ff.)  berichtet  Frey,  Neue 
Untersuchungen  und  Grabungen  in  Parenzo,  über  wichtige  Feststel- 
lungen gelegentlich  der  Restaurierungsarbeiten  an  dem  dortigen  Epi- 
scopium.  Bestimmte  Anhaltspunkte  zur  Datierung  des  merkwürdigen 
zweigeschossigen  Baues,  dessen  Grundrißdispositionen  an  die  älteste 
Anlage  des  Trierer  Doms  erinnern  könnten,  fehlen.  Nach  Frey  wäre 
das  6.  Jahrhundert  als  Entstehungszeit  anzunehmen. 


Literaturberidit. 


Urgeschichte  der  bildenden  Kunst  in  Europa  von  den  Anfängen 
bis  um  500  v.  Chr.  Von  M.  Hoernes.  2.  durchaus  umge- 
arbeitete und  neu  illustrierte  Auflage.  Mit  1330  Abb.  im 
Text.  Wien,  Kunstverlag  Anton  Schroll  &  Co.  1915.  XIV 
u.  661  S.    Geh.  20  M.,  geb.  24  M. 

Das  bedeutende  Werk  des  Wiener  Gelehrten  hat  in  der 
vorliegenden  zweiten  Auflage  eine  vollständige  Umgestaltung 
erfahren,  die  hauptsächlich  dem  stofflichen  Zuwachs,  den  die  letzten 
15  Jahre  gebracht  haben,  zuzuschreiben  ist.  Wenn  trotzdem  der 
Umfang  des  Buches  gegenüber  der  ersten  Auflage,  die  1898 
erschienen  ist,  ein  geringerer  geworden,  so  ist  dies  nur  von  Vorteil. 
Viele  Einzelheiten  und  Ausführungen,  die  heute  nicht  mehr  die 
Bedeutung  haben  wie  früher,  sind  weggefallen;  die  Darstellung  ist 
im  ganzen  straffer  gefaßt,  der  Stoff  selbst  anders  geordnet  worden. 
Ein  erster  Teil  handelt  von  primitiver  bildender  Kunst  überhaupt, 
ein  zweiter  von  den  prähistorischen  Altertümern  im  besonderen 
Europas,  ein  dritter  von  der  Kunst  der  älteren  Steinzeit  und  ein 
vierter  von  der  geometrischen  Kunst  des  Bauerntums.  Daran 
schließen  sich  dann  Abschnitte  über  die  Kulturkreise  und  Kunst- 
richtungen der  jüngeren  Steinzeit  und  der  Kupferzeit,  der  Bronze- 
und  Eisenzeit,  wobei,  ihrer  Bedeutung  entsprechend,  die  vor- 
metallischen Perioden  besonders  ausführlich  behandelt  sind. 
Das  will  nicht  sagen,  daß  nicht  auch  die  Metallzeiten  eine  gewissen- 
hafte Durcharbeitung  erfahren  hätten;  im  Gegenteil,  die  Dar- 
stellungen der  Kulturkreise  und  Entwicklungen  der  Eisenzeit 
(S.  435 — 574)  scheint  dem  Referenten  eine  glänzende  Leistung. 

Einleitend  wendet  sich  der  Verfasser  gegen  die  Annahme 
eines   universalhistorischen   Parallelismus  zwischen   einer  onto- 


268  Literaturbericht. 

genetischen  und  allgemein  phylogenetischen  Entwicklung  der 
bildenden  Kunst.  Mit  Recht  hebt  er  hervor,  daß  dem  heutigen 
Kinde  die  Bedingungen  gar  nicht  mehr  geboten  werden  können, 
unter  denen  der  primitive  Mensch  selbständig  zur  Kunstübung 
gelangt.  Man  könnte  hinzufügen,  daß  auch  die  Psyche  des  Kindes 
mit  derjenigen  des  Naturmenschen  irgend  einer  Periode  gar  nicht 
vergleichbar  ist.  Es  wäre  zu  wünschen,  daß  die  Geisteswissen- 
schaften von  einer  Überschätzung  des  biogenetischen  Grund- 
gesetzes, das  in  den  Naturwissenschaften  genug  Schaden  ange- 
richtet hat,  verschont  blieben.  Auch  die  Behauptung,  daß  sich  die 
kunstgeschichtliche  Entwicklung  immer  und  überall  nach  einem 
und  demselben  Rhythmus  vollziehe  und  regelmäßig  mehrere 
analoge  Phasen  durchlaufe  (vgl.  z.  B.  W.  Deonna,  Les  lois  et  les 
rythmes  dans  Vart.  Paris  1914),  wird  als  irrig  zurückgewiesen, 
denn  weder  in  der  paläolithischen  noch  in  der  neolithischen  Kunst 
läßt  sich  ein  solcher  rhythmischer  Ablauf  feststellen. 

Hoernes  definiert  Kunst  als  „eine  Funktion  der  menschlichen 
Natur,  wodurch  diese  ihrem  Innenleben  auf  solche  Art  Ausdruck 
verleiht,  daß  ihr  daraus  Befreiung,  Genuß  und  Wohlgefallen 
erwächst"  (S.  1).  Ihrer  äußeren  Natur  nach  lassen  sich  die  Künste 
in  drei  Paare  gliedern:  Das  erste  Paar  bezieht  sich  auf  den  Körper 
(Leibesschmuck  und  Tanz),  das  zweite  bildet  im  Raum  für  das 
Auge  (Gerätschmuck  und  freie  Bildnerei),  das  letzte  in  der  Zeit  für 
das  Gehör  (Musik  und  Poesie).  In  jedem  Paare  sind  Künste  der 
abstrakten,  ästhetischen  Form,  des  Rhythmus  usw.  mit  solchen  der 
konkreten  Naturnachahmung  verbunden;  alle  drei  Paare  treten 
gleichzeitig  auf,  spielen  aber  in  der  Menschheitsentwicklung  in 
den  einzelnen  Zeitperioden  nicht  immer  die  gleiche  Rolle.  Am 
frühesten  mußten  die  Künste,  welche  sich  auf  den  menschlichen 
Körper  als  ihren  Träger  oder  ihr  Material  beziehen,  sich  zu  einer 
bestimmten  Höhe  entwickeln. 

In  der  bildenden  Kunst  machen  sich  von  Anfang  an  zwei 
Richtungen  geltend:  eine  seltenere  „naturaHstische"  und  eine 
allgemeiner  vertretene  „schematische"  oder  „geometrische".  Ver- 
fasser läßt  es  dahingestellt,  ob  die  erstere  mehr  in  dem  Mitteilungs- 
trieb, die  letztere  mehr  in  dem  Spieltrieb  des  Menschen  ihren 
Ursprung  hat,  aber  eine  solche  Annahme  hat  große  Wahrscheinlich- 
keit für  sich.  Die  beiden  Richtungen  sind  im  Prinzip  diametral 
entgegengesetzt;  „sie  bezeichnen  zwei  Pole  künstlerischer  Auf- 


Allgemeines.  269 

fassung  und  Darstellung"  (S.  9),  und  erst  in  der  späteren  Kunst- 
entwicklung  nähern  sie  sich  einander  und  vereinigen  sich.  In  der 
ältesten  Zeit  beschränkt  sich  die  naturalistische  Kunst,  die  als  das 
eigentliche  Problem  der  prähistorischen  Kunstforschung  bezeichnet 
wird,  ausschließlich  auf  die  Darstellung  des  Menschen  und  der 
Tierwelt,  aber  schon  frühe  (vgl.  die  Felsenmalereien  Spaniens) 
wird  auch  diese  Formwelt  durch  allmähliche  Abkürzung  und  Ver- 
einfachung gelegentlich  in  Motive  der  geometrischen  Dekoration 
umgewandelt.  Daneben  besteht  aber  von  Anfang  an  der  Geometris- 
mus,  der  die  allgemeinere  und  leichtere  Kunstform  darstellt  und 
für  viele  Völker  überhaupt  die  einzige  Kunstübung  geblieben  ist. 
Daß  dabei,  wenigstens  bei  rezenten  Wildstämmen,  neben  den 
technischen  Bedeutungen  auch  gewisse  Vorstellungen  eine  Rolle 
spielen,  glaubt  Referent  für  die  Senoi  nachgewiesen  zu  haben 
(vgl.  R.  Martin,  Die  Inlandstämme  der  Malayischen  Halbinsel. 
Jena  1905,  S.  801 — 854),  obwohl  zugegeben  werden  muß,  daß 
alle  komplizierteren  Deutungen  einfacher  geometrischer  Motive 
sekundärer  Art  sind.  So  einfach,  wie  Schröter  („Die  Anfänge  der 
Kunst  im  Tierreich  und  bei  den  Zwergvölkern",  Beiträge  zur 
Kultur-  und  Universalgeschichte  Bd.  30,  Leipzig  1914)  sich  die 
ornamentale  Kunstübung  bei  rezenten  Naturvölkern  vorstellt, 
liegen  die  Verhältnisse  denn  doch  nicht. 

Schon  in  der  Glyptik  der  älteren  Steinzeit  sind  übrigens  die 
Grenzen  zwischen  reinem  Bild,  abgekürzter  Bildfigur  und  bloßem 
Ornament  vielfach  verwischt.  Manche  Ornamente  sind  eben 
rein  technischen  Ursprunges,  andere  Umbildungen  und  Verkümme- 
rungen figürlicher  Darstellungen,  die  dann  aber  nicht  rhythmisch 
oder  symetrisch  auftreten,  sondern  meist  piktographisch  hingesetzt 
sind.  Die  dekorative  Kunst  der  jüngeren  Steinzeit  leitet  Verfasser 
nicht  von  diesen  paläolithischen  Abbreviaturen  ab,  wie  es  H.  Breuil 
tut,  sondern  nimmt  an,  daß  in  der  Änderung  der  wirtschaftlichen 
Kultur,  in  dem  Hervortreten  des  weiblichen  Anteils  am  Nahrungs- 
erwerb neue  Bedingungen  vorlagen,  die  der  Entwicklung  einer 
geometrischen  Kunst  förderlich  waren. 

Verfasser  behandelt  eingehend  die  einzelnen  Perioden  der 
prähistorischen  Kunst  in  Europa,  für  die  ein  übersichtliches, 
chronologisches  System  (S.  7 1-73)  gegeben  wird,  überall  sich  auf  ein 
reiches  Anschauungsmaterial  stützend.  Er  beschränkt  sich  dabei 
auf  die  freie  Bildnerei  und  die  Ornamentik  (mit  Einschluß  des 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  18 


270  Literaturbericht. 

Körperschmucks),  die  sich  hauptsächlich  in  der  Kleinkunst  und  der 
Kunstindustrie  dokumentiert,  und  läßt  mit  Recht  die  prähistorische 
Baukunst,  so  interessant  sie  für  die  allgemeine  Kultur  ist,  da  sie 
als  reine  Nutzbaukunst  auftritt,  beiseite.  Dabei  weist  er  vor  allem 
auf  die  Zusammenhänge  zwischen  Kunst-  und  Wirtschaftsformen 
hin  und  begründet  auf  diese  Weise  eine  „Kunstgeographie  der 
europäischen  Vergangenheit",  die  ganz  neue  Einblicke  in  die 
Kulturentwicklung  Europas  gestattet  und  auch  auf  die  historischen 
Zeiten  Licht  wirft.  Daß  dabei  Europa  als  Randbezirk  der  alten 
Welt  (S.  96)  aufgefaßt  wird,  ist  in  den  neuen  Forschungen  und 
Entdeckungen  im  nahen  Orient  begründet.  Unterschieden  werden 
die  drei  Perioden  des  Jägertums,  des  Bauerntums  und  des  Krieger- 
tums,  die  nicht  nur  durch  die  Eigentümlichkeiten  der  wirtschaft- 
lichen Grundlage  und  des  künstlerischen  Geistesausdrucks, 
sondern  auf  durch  die  wechselnde  Rolle  der  Arbeitsstoffe  und  der 
mit  diesen  geübten  Techniken  von  einander  unterschieden  sind. 
Eine  auf  diesen  Anschauungen  basierende  „Übersicht  der  Kunst- 
zeitalter Europas"  (S.  112 — 114)  sei  besonderer  Beachtung 
empfohlen. 

Auf  die  Ausführungen  in  den  einzelnen  Kapiteln  kann  hier 
nicht  eingegangen  werden ;  nur  einige  Anschauungen  des  Verfassers 
seien  noch  erwähnt.  So  bezweifelt  er  die  magische  oder  irgendwie 
transzendentale  Bedeutung  der  naturalistischen  Bildwerke  des 
Eiszeitalters  (S.  184  u.  ff.  und  601  u.  ff.),  und  in  der  Tat  haben 
manche  Auffassungen  wie  z.  B.  diejenige  der  Fratzen  von  Altamira 
als  Tänzer  mit  Tiermasken  wenig  Wahrscheinlichkeit  für  sich. 
Er  hält  daher  die  parietale  Kunst  des  Quartärmenschen  mehr  für 
eine  profane  Mußebeschäftigung,  welcher  der  Ort  und  das  Material 
entgegenkamen.  Nach  dem  Erlöschen  dieser  paläolithischen  Bild- 
nerei  ging  Westeuropa  durch  die  völlig  kunstlosen  Perioden  von 
Mas  d'Azil  undCampigny  hindurch  und  kam  erst  durch  ganz  neue 
Anregungen  aus  dem  Süden  und  dem  Osten  wieder  zu  einer  neuen 
Kunstübung.  So  ist  es  also  auf  dem  Boden  des  vorgeschichtlichen 
Europa  zu  zwei  hochspezialisierten  Kunstperioden  gekommen, 
einmal  zur  Zeit  der  jungpaläolithischen  Jägerstämme,  und  dann 
wieder  zur  Zeit  der  Bauernvölker  der  jüngeren  Steinzeit,  der 
Bronze-  und  ersten  Eisenzeit.  „Sowohl  der  Naturalismus  der 
einen,  als  der  Geometrismus  der  andern  hat  sich  in  voller  Einseitig- 
keit gründlich  ausgelebt  und  ist  als  führende  Richtung  in  unfrucht- 


Allgeraeines.  271 

barer  Beschränkung  erstarrt  und  erloschen  oder  von  stärkeren 
Mächten  verdrängt  worden.  Diese  Richtungen  vertreten  jedoch  die 
Elemente,  aus  deren  fruchtbarer  Berührung  und  gegenseitiger 
Durchdringung  die  höhere  oder  historische  Kunst  entsteht, 
als  ein  Ergebnis  der  Domestikation  der  naturalistischen  Wildform 
durch  die  Zucht  des  geometrischen  Stilgrundsatzes  (S.  576)." 

In  mehreren  Nachträgen  behandelt  Verfasser  dann  noch 
eine  Reihe  von  Spezialfragen  mehr  systematischer  Art,  die  sich  in 
der  chronologisch -historischen  Darstellung  nicht  unterbringen 
ließen.  Er  erhebt  bei  aller  Anerkennung  der  hohen  wissenschaft- 
lichen Bedeutung  der  paläolithischen  Kunst  berechtigte  Bedenken 
gegenüber  einer  Überschätzung  ihres  geistigen  und  künstlerischen 
Gehaltes  (gegen  Klaatsch  u.  A,),  indem  er  besonders  auf  das 
Unvermögen  zur  einfachsten  Gruppenbildung  hinweist. 

Es  steckt  viel  feine  Polemik  in  dem  Buch  (besonders  über 
das  Verhältnis  von  Prähistorie  und  Ethnologie,  über  Elementar- 
gedanke und  Kulturkreislehre,  über  Kinderkunst  und  Chrono- 
logie und  ähnliche  Fragen),  die,  da  der  Gegner  stets  ausgiebig 
zu  Wort  kommt,  überall  klärend  und  meist  sehr  erfrischend 
wirkt. 

Auf  das  reiche,  ausgewählte  Bildermaterial,  das  zum  Teil 
einer  Unterstützung  durch  die  kaiserl. Akademie  derWissenschaften 
in  Wien  zu  danken  ist,  muß  noch  besonders  hingewiesen  werden. 
Bei  der  umfassenden  und  vielseitigen  Kenntnis  der  literarischen 
Quellen  und  Musealbestände  über  die  H.  verfügt,  ist  sein 
Werk  zu  einem  ausgezeichneten  und  unentbehrlichen  Handbuch 
für  Prähistoriker,  Ethnologen,  Archäologen  und  Kunsthistoriker 
geworden.  Besonders  in  die  Hände  der  letzteren  möchte  man  es 
legen,  damit  auch  in  diesen  Kreisen  die  Prähistorie  endlich  ihre 
richtige  Wertschätzung  erfahre. 

Pasing  b.  München.  Rudolf  Martin. 


Kleine  Schriften.     Von   Otto  Hirsdifeld.     Berlin,  Weidmannsche 
Buchhandlung.     1913.    IX  u.  1011  S. 

Otto  Hirschfeld  ist  ein  Schüler  Ludwig  Friedländers,  des 
Verfassers  der  Sittengeschichte  der  römischen  Kaiserzeit,  und  ist 
diesem  Lehrer  und  Freunde  bis  an  dessen  Lebensende  dauernd  eng 
verbunden  gebheben;  von  einer  historisch  gerichteten  Philologie  ist 

18* 


272  Literaturbericht. 

er  ausgegangen  und  konnte  dieser  Verbindung  treu  bleiben, 
als  er  in  den  Kreis  Mommsens  eintrat.  Er  wurde  ein  Epigraphiker 
im  Geiste  Mommsens,  er  lernte  lateinische  Inschriften  nicht  nur 
tadellos  herauszugeben  sondern  auch  historisch  zu  verwerten; 
er  wurde  ein  Epigraphiker,  den  jeder  Historiker  auch  als  Historiker 
gelten  lassen  mußte.  Er  wurde  der  Genosse  und  der  erfolgreichste 
Mitarbeiter  Mommsens  an  Corpus  inscriptionum  Latinarum  und 
hat  dafür  nicht  nur  mit  A.  v.  Domaszewski  die  Ergänzungsbände 
der  Inschriften  der  Donauländer  bearbeitet,  sondern  vor  allem  das 
Riesenwerk  der  transalpinischen  gallischen  Inschriften  begründet, 
durchgeführt  und  vollendet.  Sie  wurden  sein  epigraphisches  Lebens- 
werk. Die  Wahl  des  Themas  für  seine  Doktordissertation  zeigt  H. 
zweifellos  durch  Friedländers  Sittengeschichte  beeinflußt;  und  in 
den  Kreis  Mommsens  trat  er  in  den  Jahren  ein,  in  denen  der  Meister 
den  Grund  zum  römischen  Staatsrecht  legte;  das  Jahr  1874  sah 
die  Magistratur  der  römischen  Republik  vollendet,  und  das  Jahr 

1875  brachte  den  großen  Wurf  des  Staatsrechts  des  Prinzipates,  in 
dem  das  Kaisertum  des  Augustus  als  Magistratur  aufgefaßt  war, 
ein  Gedanke,  der  zugleich  folgerichtig  durchgeführt  wurde. 
Die  Stütze  für  dieses  Staatsrecht  des  Prinzipates  bot  zwar  die 
Königin  der  lateinischen  Inschriften  im  Monumentum  Ancyranum, 
aber  die  Tausende  kleiner  lateinischer  Inschriften  blieben  hierfür 
ohne  Belang.  Dagegen  boten  eben  sie  die  Grundlage  für  eine 
Erforschung  der  Reichsverwaltung  der  Kaiserzeit,  eine  Aufgabe, 
an  der  die  Geschichtsschreibung  der  Kaiserzeit  selber,  auch  die 
eines  Tacitus,  achtlos  vorbeigegangen  war.  Eben  diese  Aufgabe 
löste  H.  1877  in  seinen  Untersuchungen  auf  dem  Gebiete  der 
römischen  Verwaltungsgeschichte,  dem  Buche  über  die  kaiserlichen 
Verwaltungsbeamten  bis  auf  Diocletian.  Referent  erinnert 
sich  noch  des  tiefen  Eindrucks,  den  dies  Werk  auf  ihn  machte, 
als  er  es  als  Leipziger  Student  las.  Um  den  Eindruck  des 
Buches  voll  zu  würdigen,  vergegenwärtige  man  die  sich  damalige 
Stagnation  der  römischen  Kaisergeschichte,  in  die  Mommsen 
erst  begann,  neues  Leben  zu  bringen.  H.  bot  etwas  vollkommen 
Neues,  das  volle  Bild  eines  bedeutenden  und  inhaltreichen 
staatlichen  Lebens.  Und  man  bedenke,  das  Corpus  inscriptionum 
Latinarum  steckte  damals  noch  in  seinen  Anfängen ;  was  gehörte 

1876  dazu,  diese  Fülle  zerstreuter  Inschriften  zu  übersehen  und  zu 
beherrschen !  Es  war  eine  überraschende  Ergänzung  zu  Mommsens 


Allgemeines.  273 

Staatsrecht  des  Prinzipats,  und  zwar  eine  Ergänzung  von  er- 
leuchtender Wirkung,  die  über  den  juristischen  Gedanken  hinaus  zu 
konkreter  Anschauung  führte.  Es  ist  das  historische  Meisterwerk 
0.  H.s,  das,  bei  genauester  Behandlung  des  Details,  nirgends  im 
Antiquarischen  stecken  blieb,  sondern  die  großen  Züge  der  Ent- 
wicklung erkannte  und  zur  Anschauung  brachte.  Wie  treten  uns 
hier  die  Stufen  entgegen,  die,  zwar  nicht  durch  die  Person  des 
Klaudius,  wohl  aber  durch  die  Neuerungen  seines  Regimentes, 
und  sodann  durch  Hadrian  und  Septimius  Severus  repräsentiert 
werden!  Damals  war  neu,  was  heute  zum  eisernen  Bestand  gehört. 
Bereits  in  der  2.  Auflage  seines  Prinzipates  würdigte  Mommsen 
selber  die  anschauliche  Realität  des  Werkes  und  begrüßt  in  ihm 
zugleich  eine  Nach-  und  Vorarbeit.  Mommsens  Erwartung,  die 
jüngeren  Arbeitsgenossen  würden  sich  diesem  Forschungsgebiete 
zuwenden,  hat  sich  erfüllt,  vor  allem  aber  blieb  0.  H.  selber  das 
hohe  Glück,  über  30  Jahre  selber  an  der  Fortarbeit  teilnehmen  zu 
können,  sowohl  an  der  Zurichtung  wie  an  der  Verarbeitung  vor 
allem  des  inschriftlichen  Materials.  So  konnte  im  Jahre  1905 
eine  völlige  Neubearbeitung  seines  Lebenswerkes  erscheinen: 
DiekaiserlichenVerwaltungsbeamtenbisauf  Diocletian. 
Berlin,  Weidmann,  1905.  VIII.  515  S.  statt  323  S.  Zu  einer 
Änderung- der  Grundlinien  war  kein  Anlaß,  aber  wieviel  Neues 
hinzugekommen  war,  zeigte  schon  die  Steigerung  des  Umfangs  um 
mehr  als  ein  volles  Drittel.  Von  Papyri  war  1877  noch  keine 
Rede,  wie  hatte  sich  aber  bis  1 905  die  Lage  verändert !  In  bewunde- 
rungswürdiger Weise  hatte  sich  H.  auch  in  die  Papyri  eingear- 
beitet und  sie  ausgiebig  verwertet,  besonders  für  den  neu  hin- 
zugekommenen Abschnitt  über  Ägypten  und  die  Provinzen  S.  343 
bis  409,  Dagegen  hat  die  neue  Auflage  die  Beamtenverzeichnisse 
der  ersten  fortgelassen  und  der  Fortführung  der  prosopographia 
imperii  Romani  vorbehalten;  was  mancher  bei  der  Unsicherheit 
des  Zeitpunktes  einer  solchen  Fortführung  bedauern  wird.  Rich- 
tiger wäre  es  vielleicht,  erst  dann  etwas  fortzulassen,  wenn  der 
Ersatz  bereits  da  ist. 

Im  Jahre  1903  haben  die  Fachgenossen  und  Freunde  den 
60.  Geburtstag  H.s  mit  einer  inhaltreichen  Festschrift  begrüßt, 
und  1905  zeigte  der  Sechzigjährige  seine  volle  Kraft  in  der  Neu- 
bearbeitung seines  Hauptwerkes;  in  zeitlicher  und  vielleicht 
auch  in  einer  gewissen  ursächlichen  Verbindung  mit  dem  70.  Ge- 


274  Literaturbericht. 

burtstage  von  1913  steht  die  Sammlung  der  Kleinen  Schriften. 
Nicht  viele  werden  bisher  diesen  Reichtum  in  seiner  Vereinzelung 
übersehen  haben:  um  so  willi<ommener  ist  die  Sammlung,  um  die 
sich  H.s  Schüler  Hermann  Dessau  besondere  Verdienste 
erworben  hat.  Auch  einige  Untersuchungen  der  Verwaltungs- 
geschichte, besonders  der  späteren  Kaiserzeit,  finden  sich  in  dieser 
Sammlung,  die  in  das  große  Werk  nicht  aufgegangen  sind.  Die 
Bearbeitung  der  gallischen  Inschriften  hat  zu  den  umfang-  und 
inhaltreichen  gallischen  Studien,  zur  Geschichte  der  provincia 
Narbonensis  und  Aquitaniens  und  zu  der  monographischen  Be- 
handlung von  Lugüdunum  geführt,  dessen  Inschriftenmuseum 
unter  den  mir  persönlich  bekannten  das  eindrucksvollste  ist.  In 
der  Untersuchung  über  das  Ende  der  gallischen  Statthalter- 
schaft Caesars  berühren  sich  Provinzial-  und  Weltgeschichte. 
Der  allgemeinen  Epigraphik  gehört  die  berühmte  Untersuchung 
über  die  fasti  Capitolini  an,  der  erste  Fortschritt  über  Borghesi 
hinaus.  Der  bedeutendste  Beitrag  dieser  kleinen  Schriften  zur 
Kaisergeschichte  ist  der  Aufsatz  zur  Geschichte  des  römischen 
Kaiserkultus.  Herzliche  Worte  der  Erinnerung  sind  den  Lehrern 
und  Freunden  Friedländer  und  Mommsen  gewidmet.  In  der 
älteren  römischen  Geschichte  vertritt  H.  den  Standpunkt,  den 
Mommsen  in  den  sechziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts 
erreicht  hat.  Der  neuen  kritischen  Bewegung,  die  1886  B.  Niese 
einleitete,  hat  er  sich  nicht  angeschlossen.  Dabei  wahrte  er 
sich  aber  auch  Mommsen  gegenüber  die  Selbständigkeit  des 
Urteils,  wie  seine  von  der  Mommsens  weit  abweichende  Beur- 
teilung der  Triumphalfasten  zeigt.  Seine  Schüler  erzog  H.  in 
gleicher  Weise  zur  Ehrfurcht  vor  der  Größe  Mommsens,  wie  zu 
voller  wissenschaftlicher  Freiheit:  das  zeigen  u.a.  H.Dessau, 
L.  M.  Hartmann  und  A.  Rosenberg;  Hartmann  bekundet  seine 
Selbständigkeit  sogar  gerade  in  seiner  Gratulationsschrift  zu 
H.s  70.  Geburtstag,  der  gehaltsvollen  Untersuchung  über  den 
spätantiken  und  frühmittelalterlichen  Staat,  in  der  er  auch  die 
ältere  römische  Geschichte  berücksichtigt  und  beurteilt  hat. 

Es  ist  der  volle  Ertrag  eines  reichen  Forscherlebens,  der  uns 
hier  vorliegt,  in  den  gallischen  Inschriften,  in  der  Neubearbeitung 
der  Verwaltungsgeschichte  und  in  dieser  Sammlung  kleiner 
Schriften.  Mit  dem  Danke  für  diese  großen  Leistungen  verbinden 
wir  den  Ausdruck  der   Hoffnung,   es  werde  der  umfassenden 


Allgemeines.  275 

Gelehrsamkeit  H.s,  der  Schärfe  seiner  Untersuchung,  der  Weite 
und  Tiefe  seines  Urteils  beschieden  sein,   noch  manche  schöne 
Frucht  der  Forschung  einzubringen.   Mögen  seine  höheren  Jahre 
denen  seiner  Freunde  Mommsen  und  Friedländer  gleichen! 
Straßburg  i.  E.  K.  J.  Neumann. 


Der  Geist  der  bürgerlich-kapitalistischen  Gesellschaft.  Eine  Unter- 
suchung über  seine  Grundlagen  und  Voraussetzungen  von 
Bruno  Archibald  Pudis.  München  und  Berlin,  R.  Olden- 
bourg.     1914.    XI  u.  438  S.     10  M. 

Es  ist  nicht  leicht,  dieses  Buch  zu  kennzeichnen.  Den  Ertrag 
einer  über  zwölfjährigen  Arbeit  legt  Verfasser  vor;  teilweise  vor, 
denn  das  ganze  Werk  soll  noch  einen  zweiten  Teil  umfassen  und 
hat  sich,  wesentlich  aus  materiellen  Gründen,  eine  starke  Kür- 
zung und  vielfache  Umarbeit  gefallen  lassen  müssen.  Daraus  er- 
klären sich  manche  Unebenheiten  des  Buches,  die  aber  nicht 
allzuschwer  wiegen,  da  das  Ganze  sich  sehr  anregend  liest  und 
vielseitige  Belehrung  bietet.  Verfasser  verfügt  über  ein  sehr 
ausgebreitetes  Wissen,  speziell  auf  dem  Gebiete  der  Antike,  und 
hat  sich  gründhch  und  mit  warmer  Anteilnahme  in  die  Probleme 
eingearbeitet.  Wie  man  auch  Stellung  nehmen  möge,  die  Lektüre 
lohnt,  so  daß  wir  das  Erscheinen  des  Schlußbandes  dringend 
wünschen  möchten. 

Wer  heutzutage  über  den  Geist  des  Kapitalismus  schreiben 
will,  muß  sich  mit  Max  Weber  und  Troeltsch  auseinandersetzen. 
Das  tut  auch  Fuchs,  dessen  Buch  mit  Troeltschs  „Soziallehren" 
zu  konfrontieren  eine  interessante  Aufgabe  ist.  Denn  F.  macht 
Weber  und  Troeltsch  Opposition.  Er  legt  eine  Gesellschaftslehre 
des  Christentums  bis  zu  den  Zeiten  Augustins  einschließlich  vor, 
aber  sie  soll  nur  die  Grundlage  bilden  zu  einer  Darstellung  der 
protestantischen  Ethik  und  des  Geistes  des  Kapitalismus.  Der 
bürgerlich-kapitalistische  Geist  soll  „mittels  einer  möglichst  weit 
ausgreifenden  Untersuchung  über  die  Grundlagen  unserer  Zeit" 
begriffen  werden.  Sofern  nun  Weber  ihn  wesentlich  vom  Cal- 
vinismus her  verstanden,  Troeltsch  sich  ihm  angeschlossen  hatte, 
glaubt  F.  eine  Ergänzung  durch  die  tiefere  Aufdeckung  der 
psychologischen  Motive  der  calvinistischen  Religion  bieten  zu 
können  und  will  sie  durch  einen  Rückgriff  auf  die  Persönlich- 


276  Literaturbericht. 

keit  Jesu  als  den  Quellpunkt  christlicher  Wesensart  gewinnen. 
Indem  aber  die  christliche  Idee  Gemeinschaft  wird,  im  Gedanken 
des  Corpus  Christi  einen  Organismus  bildet,  wird  die  Frage  nahe- 
gelegt, ob  trotz  gewisser  und  recht  tiefgehender  Unterschiede  die 
christliche  Gesellschaftsstruktur  mit  den  antiken,  in  den  religiös- 
staatlichen Gebilden  zumal  sich  manifestierenden  konstitutiven 
Ideen  wesensgleich  ist.  Zugleich  soll  dann  die  Abhebung  des 
modern-kapitalistischen  Geistes  von  Mittelalter  und  Reformation 
vollzogen  werden.  Das  letztere  soll  der  zweite  Teil  bringen,  das 
große  Programm  des  Übrigen  versucht  der  vorliegende  Band  zu 
lösen. 

Die  Persönlichkeit  Jesu,  der  das  erste  Kapitel  gilt,  wird 
unter  den  Gesichtspunkt  eines  „Versuches  zur  Erklärung  des 
Gegensatzes  antiker  und  christlicher  Geistesart"  gestellt.  In 
feiner,  lehrreicher  Weise  wird  dabei  der  Gottesbegriff  in  den 
Mittelpunkt  gerückt  und  als  eine  Synthese  der  griechischen  und 
jüdischen  Anschauung  begriffen.  „Der  antike  Gottesbegriff  und 
die  an  ihm  orientierte  Liebesidee  —  f'iow?  als  Kampf,  Agon,  Streben 
von  unten  nach  oben  im  Gegensatz  zur  herablassenden  christlichen 
aydnri  —  sind  von  einer  wundervoll  erhabenen  Schönheit,  aber 
auch  von  einer  marmornen  Kälte,  einer  starren  Geistigkeit,  die 
eben  vom  Willen  nichts  weiß  und  nichts  wissen  will,  ja,  ihn  in 
die  sinnliche  triebhafte  Seelensphäre  verweist."  Demgegenüber 
der  Judengott,  der  alttestamentliche,  der  Willensgott,  Feuergott, 
Gewittergott,  Stammes-  und  Kriegsgott,  machtvoller  National- 
gott —  das  Vorbild  des  Calvinistengottes.  Sehr  gut  wird  von 
hier  aus  (S.  36ff.)  die  Ethik  aus  dem  Geiste  der  Furcht  ent- 
wickelt. „Für  die  Masse  dieser  Gläubigen  war  die  Frage  nicht 
die:  wie  komme  ich  zu  Gott,  wie  werde  ich  eins  mit  ihm?  viel- 
mehr lautete  ihr  Räsonnement:  wie  schaffe  ich  mir  die  zürnende 
Gottheit  (denn  erzürnt  hat  man  sie  in  dubio  doch  wohl  immer) 
vom  Halse?"  Von  daher  datiert  der  gesetzliche  Geist  des  Juden- 
tums. Der  Verabsolutierung  der  Vernunft  {yötjoig  vorjatMg)  tritt 
die  Verabsolutierung  des  Willensmomentes  in  der  Gottheit  zur 
Seite.  Das  Gottesleben  Jesu  nun  hält  die  Mitte  zwischen  Grie- 
chentum und  Judentum,  sofern  der  Wille  Gottes  vom  Intellekte 
gleichsam  diszipliniert  ist  und  in  der  Liebe  als  vom  sittlich  be- 
stimmten Willen  mitbedingtem  geistigen  Akte  seine  vornehmste 
Äußerung  findet.    Das  kann  man  als  vergegenwärtigende  Kon- 


Allgemeines.  277 

struktion  gelten  lassen,  wenngleich  man  nicht  vergessen  darf, 
daß  der  jüdische  Willkürgott  auch  in  Jesu  religiöser  Welt  eine 
sehr  starke  Rolle  spielt,  wie  jede  neutestamentliche  Theologie 
zeigt.  Umgekehrt  ist  der  Satz,  den  F.  als  erschöpfende  Quint- 
essenz der  Lehre  Jesu  bezeichnet  (S.  47):  „Du  sollst  lieben  Gott, 
deinen  Herrn  und  deinen  Nächsten,  wie  dich  selbst"  von  Haus 
aus  ein  jüdischer  Satz  (3.  Mos.  19,  18).  Die  Dinge  liegen  also 
nicht  so  einfach,  wie  es  geschichtsphilosophisch  scheint.  Die 
Darlegung  von  F.  läßt  den  Erdgeruch,  der  zur  historischen  Figur 
Jesu  gehört,  sehr  stark  vermissen,  Jesus  wird  durch  die  Brille 
Bernhards  von'  Clairvaux  geschaut,  der  F.  besonders  lieb  ist, 
der  aber  bereits  ganz  gewaltige  Reduktionen  am  historischen 
Bilde  Jesu  vornahm.  Der  gewaltige  eschatologische  Spann- 
druck, unter  dem  Jesus  gestanden  hat,  verschwindet  bei  F. 
vollständig  und  es  wird  ein  Bild  erzeugt,  das  viel  zu  harmonisch 
ist,  um  richtig  sein  zu  können.  So  gewiß,  wie  F.  mit  Recht  her- 
aushebt, von  einem  Klassenhaß  bei  Jesus  keine  Rede  sein  kann, 
Herbheit  und  Schroffheit  gegenüber  der  Welt  und  ihren  Gütern 
fehlen  nicht,  und  eine  „fest  in  sich  ruhende  Persönlichkeit" 
(S.  57)  hebt  die  Spannungen  in  seinem  Leben  nahezu  auf,  die 
doch  vorhanden  waren. 

Aber  diese  harmonisierende  Tendenz  bei  F.  hängt  damit 
zusammen,  daß  er  überhaupt  die  Stellung  des  Christentums  zur 
Welt  bzw.  die  Askese  möglichst  der  Spannung  zu  entkleiden  und 
in  Harmonie  überzuführen  sucht.  Das  ist  ein  Grundzug  katholi- 
scher Auffassung,  der  von  F.,  der  wohl  selbst  Katholik  ist,  hier 
gehuldigt  wird.  Es  sind  ganz  ähnliche  Gedankengänge,  wie  sie 
Schilling  in  seinem  Buche:  Naturrecht  und  Staat  nach  der  Lehre 
der  alten  Kirche  entwickelt  hat.  (Vgl.  dazu  die  Besprechung 
von  Troeltsch  in  dieser  Zeitschr.  Bd.  115  S.  99ff,)  Das  Christen- 
tum erscheint  als  im  ganzen  völlig  harmonisch  und  bedeutet 
eine  volle  und  runde  Billigung  aller  sozialen  Kulturwerte  als 
von  ihm  zentral  anerkannter  und  den  Aufstieg  von  der  Natur 
zur  Gnade  vermittelnder.  Historisch  ist  diese  Auffassung  frei- 
lich durchaus  nicht  zu  halten,  zieht  sich  aber  durch  das  ganze 
Buch  von  F.  hindurch.  Was  erst  ein  Produkt  des  Thomismus 
ist,  kann  nicht  von  Anfang  an  da  gewesen  sein,  und  man  kann 
auch  nicht  Thomas  v.  Aquino  schon  bei  Bernhard  v.  Clairvaux 
finden,  der  vita  activa  und  vita  contemplativa  vereint  habe  (S.  16). 


278  Literaturbericht. 

Die  Askese  scheidet  so  als  bestimmendes  Moment  bei  F.  fast 
völlig  aus,  und  darum  wird  auch  die  innerweltliche  Askese  des 
Kalvinismus  ihrer  Bedeutung  beraubt  und  der  Ursprung  des 
kapitalistischen  Geistes  schon  im  mittelalterlichen  Kloster  ge- 
sucht. 

Auch  das  große  Kapitel:  die  altchristliche  Gemeinschafts- 
idee, ihr  Zusammenhang  mit  der  antiken,  sowie  ihre  Ausgestal- 
tung bei  Augustin  steht  unter  der  Wirkung  jenes  Gesichtspunktes. 
So  lehrreich  die  Entwicklung  der  antiken  Gesellschaftslehre  ist, 
speziell  auch  der  religiösen  Organisationsformen,  sie  hat  mit  dem 
Thema  nicht  allzuviel  zu  tun;  denn  die  Parallele  zum  altchrist- 
lichen Gemeinschaftswesen  liegt  nicht  hier,  sondern  im  Mysterien- 
wesen, auf  das  Verfasser  aber  kaum  eingeht.  Das  hängt  offenbar 
auch  wieder  mit  der  These  vom  harmonischen  Charakter  des 
Christentums  zusammen.  Nicht  ausgeschlossen  ist  dabei  natür- 
lich, daß  das  Christentum  Ausdrücke  aus  dem  antiken  Staats- 
leben entlehnt  hat,  ja,  die  hierzu  von  F.  S.  153 f.  gebrachten  Bei- 
spiele sind  recht  lehrreich.  Treffend  ist  auch  die  Bedeutung  des 
Organismus  als  Konstitutividee  der  paulinischen  Gemeinschaft 
herausgearbeitet;  sie  fehlt  allerdings  den  antiken  staatlichen 
Verbänden,  aber  auch  den  Mysterien?  Hier  war  doch  in  der 
allgemeinen  Brüderlichkeit  etwas  von  Gleichheit  vor  dem  gött- 
lichen Gesetze  und  Gleichheit  in  der  Liebe  zu  spüren.  Nicht 
der  politische  Gemeinschaftsgedanke  der  Antike,  sondern  der 
kultische  hätte  das  rechte  Vergleichsobjekt  mit  dem  Christen- 
tum abgegeben.  Wenigstens  in  seiner  paulinischen  Gestalt;  und 
es  war  dann  wieder  eine  Aufgabe  für  sich,  die  Umformung  der 
christlichen  Gemeinschaft  in  die  Staatskirche  darzulegen.  Jetzt 
ist  zwar  ganz  richtig  erkannt,  daß  „die  Kirche  als  die  eigent- 
liche Erbin  der  Antike  wie  des  Imperium  Romanum  zurückbleibt", 
aber  der  Prozeß  wird  nicht  genügend  klar  gemacht;  die  Analyse 
von  Augustins  „de  civitaie  dei"  tut  es  nicht  allein,  denn  Augustin 
setzt  die  wichtigsten  Veränderungen  schon  voraus.  Zum  Ver- 
ständnis der  Schrift  des  großen  Afrikaners  bringt  F.,  der  Troeltschs 
neueste  Arbeit  darüber  noch  nicht  kannte,  schätzenswerte  Beiträge, 
wenn  auch  hier  wieder  die  stark  ästhetische  Abtönung  an  Stelle 
der  lebhaften  Spannung  zwischen  Christentum  und  Welt  herrscht 
(vgl.  S.  239 ff.).  Es  wäre  unbillig,  F.  an  diesem  Punkte  mit 
Troeltsch  konfrontieren  zu  wollen,  nur  ganz  allgemein  sei  ge- 


I 


Allgemeines.  279 

sagt,  daß  seine  Auffassung  Augustins  ihn  an  den  Anfang  des 
Mittelalters  und  seiner  Einheitskultur  rückt.  Es  tritt  eben  immer 
wieder  die  Grundschwäche  des  F.schen  Buches  zutage,  die  Ein- 
heitskultur, die  ein  entscheidendes  Kennzeichen  des  Mittelalters 
ist  (Troeltsch,  Soziallehren  S.  179 ff.),  schon  so  früh  wie  mög- 
lich angebahnt  zu  sehen. 

Über  150  Seiten  Anmerkungen  sind  dem  Buche  beigegeben, 
gute  Belegstellen  aus  der  Patristik  vorab.  Wie  nun  Verfasser 
seine  These  im  Schlußbande  fortführen  wird,  müssen  wir  ab- 
warten. 

Zürich.  U^.  Köhler. 

Ludwig  Hauflf,  Die  unterseeische  Schiffahrt,  erfunden  und  aus- 
geführt von  Wilhelm  Bauer,  früher  Artillerie-Unteroffi- 
zier, später  k.  russ.  Submarine-Ingenieur.  Getreue  Wieder- 
gabe der  denkwürdigen  ersten  Schrift  über  das  erste  Unter- 
seeboot des  Deutschen  Wilhelm  Bauer,  erschienen  1859, 
neu  herausgegeben:  Bamberg,  C.  Buchners  Verlag.    1915. 

Es  ist  ein  verdienstvolles  Unternehmen,  heute  im  Zeitalter 
der  U-Boote  des  Mannes  zu  gedenken,  der  bereits  vor  nahe  zwei 
Menschenaltern  versucht  hat,  die  Wehrkraft  unseres  Vaterlandes 
zu  heben.  Mit  dem  Schwäbischen  Meere  sind  zwei  Erfindungen 
eng  verknüpft,  die  beide  Gemeinsames  aufweisen,  beide  Deutsch- 
lands Macht  stärken  wollten.  Wie  der  ZeppeHn  uns  heute  das 
Reich  der  Luft  und  seine  Beherrschung  erschlossen,  so  wollte  vor- 
dem der  schwäbische  Artillerie-Unteroffizier  Wilhelm  Bauer  aus 
Dillingen,  der  dem  Bodensee  ein  Wrack  entriß,  den  Feind  unter 
Wasser  angreifen  und  die  damals  so  mächtige  Dänenflotte  ver- 
nichten. Es  ist  daher  mit  Freuden  zu  begrüßen,  daß  dieselbe 
Buchhandlung,  die  schon  im  Jahre  1859  den  genialen  Mann 
unterstützte,  sich  jetzt  der  dankbaren  Arbeit  eines  Neudruckes 
jener  Broschüre  unterzogen  hat.  Man  will  dem  Bahnbrecher  der 
„submarinen"  Schiffahrt  in  seiner  Vaterstadt  Dillingen  ein 
Denkmal  errichten  und  dem  „im  Leben  viel  verkannten,  erst 
heute  im  großen  Weltkriege  richtig  gewürdigten  Manne  eine 
späte,  aber  wohlverdiehnte  Ehrung  bereiten".  Dazu  soll  in 
erster  Linie  die  Schrift  dienen,  die  uns  wieder  in  eine  Zeit  ver- 
setzt, in  der  Deutschland  weder  reif  noch  reich  genug  war,  solche 
Erfindungen  selbst  auszunützen.   Es  war  noch  die  Ära  (wie  S.  59 


280  Literaturbericht. 

sagt),  „in  der  Deutschland  seine  Söhne  mit  ihren  Erfindungen  in 
das  Ausland  trieb,  und  das  Ausland  sie  ausbeutete  und  die  Erfinder 

mit  Undank  lohnte!" Die  deutsche  Presse  erwähnte  ihn 

(S.  IV)  nur  höchst  selten,  auch  die  ausländische  ging  vornehm 
über  Bauers  Erfindung  weg.  Allein  die  „Hamburger  Nachrichten" 
und  „Webers  Illustrierte  Zeitung  zu  Leipzig",  sowie  der  englische 
„Kentish  and  Surrey  Mercury"  bildeten  rühmliche  Ausnahmen. 
Selbst  dann,  als  eine  amerikanische  „Erfindung"  unserm  Lands- 
manne  Bauer  seine  Erstlingsrechte  streitig  machen  wollte,  konnte 
er  die  Unterstützung  der  vaterländischen  Zeitungen  nicht  finden, 
obwohl  er  sie  zum  Schutze  für  seine  Ideen  anrief.  So  klagt  Ludwig 
Hauff  in  der  im  Februar  1859  zu  München  geschriebenen  Vorrede. 

Um  dem  bedrängten  Landsmanne  zu  seinem  Rechte  zu 
verhelfen,  ergriff  Hauff  in  jener  Zeit  die  Feder  und  schildert 
erst,  wie  Wilhelm  Bauer  durch  die  politischen  Verwicklungen  im 
Jahre  1859  an  die  Gestade  des  Sundewitt  geriet  und  dort  auf  den 
Gedanken  kam,  sich  der  Dänischen  Flotte  ungesehen  unter 
Wasser  zu  nähern.  Aus  Mangel  an  Mitteln  wurde  er  gezwungen, 
schwächer  zu  bauen,  als  er  errechnet  hatte,  so  daß  er  bei  der 
Probefahrt  am  1.  II.  1851  mit  seinen  beiden  freiwilligen  Begleitern 
fast  verunglückt  wäre.  „Notdürftig  nur  war  das  Ganze  ausgerüstet, 
besondere  Vorsichtsmaßregeln  von  Seite  der  Marine  waren  ebenso- 
wenig getroffen.  Es  gehörte  großer  Mut  dazu,  bei  voraussichtlicher 
Lebensgefahr  die  Fahrt  zu  wagen,  um  teilweise  die  nötigen  Beweise 
des  Gelingens  zu  geben  und  Erfahrung  für  allenfallsige  Verbesser- 
rungen zu  sammeln  usw."  heißt  es  S.  8.  —  Die  Marinekommission 
erklärte  sich  mit  dem  vom  Erfinder  gemachten  Berichte  zufrieden 
und  nahm  ein  Protokoll  über  die  mißglückte  Fahrt  auf,  dem  noch 
ein  Zeugnis,  daß  man  Bauer  als  zuverlässigen  und  höchst  ehren- 
haften Mann  kenne,  beigefügt  wurde.  Der  Professor  der  Physik, 
G.  Karsten  in  Kiel,  sprach  sich  ebenfalls  schriftlich  günstig 
über  die  Erfindung  aus,  er  hege  keinen  Zweifel,  „daß  eine  will- 
kürliche Regelung  der  Bewegung,  sowohl  der  auf-  wie  der  ab- 
steigenden als  auch  der  vorwärtsgehenden  möglich  sei".  Trotzdem 
die  Nachricht  von  diesem  Ereignis  die  Runde  durch  den  deutschen 
Blätterwald  machte,  brachte  sie  Bauer  doch  keine  Mittel  zu- 
sammen, mit  seinen  Versuchen  fortzufahren. 

Wir  können  Bauer  an  der  Hand  der  Schrift  nach  Österreich 
begleiten,  ohne  daß  er  etwas  erreicht.    Ebensowenig  blüht  sein 


Allgemeines.  281 

Weizen  in  England,  wo  er  dem  Prinzen  Albert  und  der  Königin 
Viktoria  sein  Modell  zwar  vorführen  durfte,  wo  die  Regierung 
aber  die  „Hyponautik"  zuerst  nicht  fördern  wollte.  Später 
gelang  es,  den  anfänglichen  Widerstand  zu  überwinden,  man 
beabsichtigte  aber  Bauer  um  die  Früchte  seiner  Mühen  zu  bringen 
und  versuchte,  sich  des  Deutschen  zu  entledigen. 

In  Frankreich  ging's  ihm  auch  nicht  gut;  erst  in  Rußland 
fand  er  einen  geeigneten  Boden,  seine  Pläne  in  Wirklichkeit 
umzusetzen.  Der  Großadmiral  Konstantin  hielt  die  Erfindung 
für  ausführbar  und  gab  die  nötigen  Mittel  zum  Bau.  Jedoch 
konnte  Bauer,  trotz  des  hohen  Gönners,  nichts  gegen  das  ver- 
rottete Beamtentum  ausrichten;  der  Erfinder  zeigte  auf  mehr  als 
130  Probefahrten,  daß  sein  „Submarine-Kreuzer"  schwimmen  und 
tauchen,  sich  bewegen  und  angreifen  könne.  Aber  Bauer  räumte 
schließlich,  angeekelt  von  den  vielen  Intrigen  gegen  seine  Person, 
das  Feld.  Er  kehrte  arm,  aber  ehrlich  geblieben  wieder  in  sein 
Vaterland  zurück. 

In  der  Heimat  lebte  er  dann  von  aller  Welt  abgeschlossen  nur 
seinen  Erfindungen,  die  sich  nicht  bloß  auf  das  submarine  Gebiet 
beschränkten.  Er  hat  den  Telegraphenkabeln,  Rettungsbooten  und 
sogar  der  Luftschiffahrt  seine  Aufmerksamkeit  zugewendet, 
hat  aber  bis  an  sein  Lebensende  sich  gegen  Angriffe  schützen 
müssen,  die  seiner  Idee  die  in  Rußland  doch  bereits  genugsam 
bewiesene  Lebensfähigkeit  absprechen  wollten. 

Den  Schilderungen  sind  noch  drei  Beilagen  angefügt,  die 
Protokolle  von  Kommissionen  aus  Triest,  Petersburg  und  München 
bringen.  In  einem  Anhange  wird  der  erwähnte  Bericht  über  die 
amerikanische  „Erfindung",  die  Bauer  für  eine  Nachahmung 
seiner  Pläne  ansah,  gegeben,  dem  schließlich  noch  zwei  sehr 
gute  Illustrationen  folgen,  die  die  erste  Ausgabe  nicht  haben 
konnte:  Wilhelm  Bauers  Brandtaucher,  der  heute  als  kostbare 
Reliquie  im  Hofe  des  Institutes  für  Meereskunde  in  Berlin  auf- 
bewahrt wird,  nachdem  der  Rumpf  bei  Hafenerweiterungsbauten 
in  Kiel  wieder  an  das  Tageslicht  gefördert  wurde.  Die  zweite 
Abbildung  zeigt  uns  das  Innere  mit  dem  noch  durch  „Knochen- 
dampf" betriebenen  Maschinenwerke. 

Lübeck,  Dr.  Schulze. 


282  Literaturbericht. 

Elementarereignisse  im  Gebiete  Deutschlands.  Systematische 
Sammlung  der  Nachrichten  über  Elementarereignisse  und 
physisch-geographische  Verhältnisse.  Herausgegeben  von 
dem  Gesamtverein  der  deutschen  Geschichts-  und  Alter- 
tumsvereine. I.  Die  Elementarereignisse  vom  Beginn  unse- 
rer Zeitrechnung  bis  zum  Jahre  900.  Gesammelt  und  mit 
Erläuterungen  versehen  von  Dr.  Jakob  Weiß.  Wien,  Adolf 
Holzhausen.     1914.    92  S. 

Das  Werk,  das  auf  Anregung  von  0.  Redlich  und  A.  Swarows- 
ky  1907  in  Angriff  genommen  wurde,  will  alle  Nachrichten  über 
Eiementarereignisse  und  physisch-geographische  Verhältnisse, 
die  von  dem  Normalen  abweichen  und  deren  wichtigere  Folge- 
erscheinungen im  Umkreise  etwa  des  mittelalterlichen  Deutschen 
Reiches  ohne  Italien  sammeln.  Für  die  Anfangszeit,  wo  nur 
über  die  äußersten  Grenzgebiete  direkte  Nachrichten  vorliegen, 
hat  der  Bearbeiter  dankenswerterweise  auch  Nachrichten  über 
auswärtige  Gebiete  verzeichnet,  soweit  sich  auf  eine  weitere 
Verbreitung  der  Erscheinung  schließen  ließ.  Freilich  wird  man 
sich  nicht  genug  vor  zu  bestimmten  Schlüssen  in  dieser  Richtung 
hüten  können.  Berücksichtigt  werden  sollen:  1.  kosmische 
Erscheinungen  (Meteorsteinfälle,  aber  nicht  Sonnen-  oder  Mond- 
finsternisse), 2.  tellurische  Erscheinungen  (Nordlicht,  Erdbeben, 
Bergstürze),  3.  Witterungserscheinungen  (sehr  große  Kälte  und 
Hitze,  strenge,  schneereiche  Winter,  heiße,  trockene  Sommer, 
Mangel  an  Regen,  übermäßige  und  häufige  Regen,  ungewöhnlicher 
Hagel,  ungewöhnliche  Stürme,  ungewöhnliche  Regen,  wie  Staub-, 
Blut-,  Steinregen),  4.  hydrographische  Erscheinungen  (Datum  des 
Zu-  und  Aufgehens  von  Gewässern,  Eisgänge,  Eisstöße  von 
Flüssen,  Überschwemmungen  und  ungewöhnliche  Wasserstände, 
Flußverschiebungen,  Versiegen  und  Austrocknen  von  Flüssen, 
Quellen,  Seen  und  Sümpfen;  Sturmfluten  und  ihre  Folgen, 
wie  Veränderungen  der  Meeresküste;  Gletschervorstöße  und  -rück- 
gänge,  Eisseeausbrüche,  Lawinen),  5.  Erscheinungen  an  Pflanzen 
und  Tieren  (Termin  der  Weinernte,  Blütezeit  der  Pflanzen, 
Eintreffen  und  Wegzug  der  Zugvögel,  Auftreten  von  Heuschrecken ; 
Einführung  neuer  Pflanzen  und  Tiere ;  Aussterben  von  Pflanzen  und 
Tieren),  6,  Folgeerscheinungen  in  bezug  auf  Lebens-  und  wirt- 
schaftliche Verhältnisse  (reiche  Ernten,  Mißernten,  Teuerung, 
Lebensmittelpreise;  Epidemien,  Viehseuchen,  Raupenfraß,  Wald- 


Allgemeines.  283 

Verwüstung;  Auflassen  von  Kulturland,  Auflassen  von  Getreide- 
arten, Weinbau).  Beabsichtigt  ist  die  Drucklegung  zunächst  nur 
für  die  Zeit  bis  etwa  1200  (1250, 1300),  wo  sich  die  Arbeit,  wie  man 
hofft,  durch  einige  wenige  historisch-geographisch  geschulte 
Kräfte  bewältigen  läßt.  Für  die  spätere  Zeit  sind  bei  dem  An- 
schwellen namentlich  auch  des  ungedruckten  Materials  durch  die 
einzelnen  Geschichtsvereine  geeignete  Personen  zu  gewinnen, 
die  nach  gemeinsamen  Anweisungen  zu  sammeln  haben  und 
deren  Sammlungen  vorläufig  handschriftlich  an  geeigneten 
zugänglichen  Stellen  niederzulegen  sind. 

Das  Unternehmen  darf  bei  seinem  weiteren  Fortgang,  der 
hoffentlich  durch  den  Krieg  nicht  in  Frage  gestellt  ist,  auf  großes 
Interesse  rechnen.  Für  diese  Anfangszeit  stellte  es  natürlich  an 
die  Arbeitskraft  des  Bearbeiters  unverhältnismäßig  größere 
Anforderungen,  als  äußerlich  im  Umfange  hervortritt.  Dessen 
Leistung  macht  im  ganzen  den  Eindruck  der  Zuverlässigkeit; 
er  hätte  aber  seine  Auszüge  zum  Schluß  noch  gründlicher  sichten 
sollen.  Dann  wären  nicht  zusammengehörige  Angaben  getrennt 
worden.  Auch  der  Wert  der  Überlieferung  wird  nicht  immer 
genügend  abgewogen;  abgeleitete  Zeugnisse  haben  neben  der 
Originalquelle  keinen  Wert.  Paul.  hist.  Lang.  IV  31,  woraus 
eine  Seuche  in  Friaul  und  Istrien  562  erschlossen  wird,  geht  auf 
die  bei  Paul.  hist.  Lang.  II  4  erzählte  große  Seuche  von  569/70. 
Zu  569/70  fehlt  für  die  Hungersnot  das  Zeugnis  des  Liber  Ponti- 
ficalis  unter  Benedikt  I.,  das  Quelle  für  Paul.  III  11  und  wohl 
auch  für  die  angeführte  Stelle  II  26  ist.  Die  Nachricht  über 
eine  Pest  654  hat  der  späte  Egmonder  Ergänzer  der  Xantener 
Annalen  nicht  mit  Verdrehung  der  Hist.  tripertita  des  Anastasius 
erfunden,  sondern  wörtlich  aus  Sigebert  abgeschrieben,  ebenso  die 
über  große  Kälte  und  Sternschnuppen  763.  Die  Ann.  Laurissenses 
minores  sind  als  Chronicon  Laurissense  breve  im  Neuen  Archiv 
XXXVI  neu  herausgegeben;  ihre  Nachricht  über  die  große 
Viehseuche  steht  zum  42.  Jahr  Karls  des  Großen  und  gehört  zu 
810,  nicht  zu  809;  die  Hildesheimer  Annalen  schreiben  diese 
Stelle  wörtlich  aus.  Auf  diese  bekannte  Viehseuche  von  810  ist 
wohl  auch  die  Erzählung  des  Poeta  Saxo  und  des  Chron.  Moissia- 
cense  809  zu  beziehen,  wenn  man  nicht  lieber  annimmt,  sie  habe 
809  begonnen  und  sich  bis  zum  nächsten  Jahre  von  Osten  weiter 
nach  Westen  verbreitet.    Unverständlich  ist  die  Angabe  zu  817, 


284  Literaturbericht. 

daß  die  Ann.  Xantenses  aus  den  Ann.  Hersfeldenses  schöpfen 
sollen.  Die  Ann.  Altahenses  maiores  berichten  zu  819  nach  der 
verbesserten  Ausgabe  von  E.  v.  Oefele  in  MG.  SS.  rer.  Germ.  1891 
nicht  von  einer  großen  Rinderpest,  sondern  von  einem  großen 
Feldzug.  Daß  die  alten  Kölner  Annalen  auf  dem  Wege  über 
Dijon  und  die  Normandie  nach  Lund  und  von  da  nach  Colbatz  in 
Pommern  gekommen  sind,  ist  ein  bekanntes  Beispiel  für  die 
Verzweigung  der  Annalistik  (was  der  Verfasser  sonst  weiß, 
S.74A.  1);  daß  alle  von  einer  Hungersnot  zu  822  berichten,  beweist 
also  nichts  für  deren  „größere  Verbreitung".  Der  Verbesserungs- 
vorschlag zu  Hermann  von  Reichenau  849  scheitert  daran,  daß 
Hermann  regelmäßig  die  Notizen  über  die  Reichenauer  Äbte  mit 
„Augiae"  einleitet.  Er  gibt  also  über  das  Erdbeben  nicht  mehr  als 
seine  Quelle,  die  Ann.  Alam.  cont.  Aug.  und  ihre  Sippe,  und 
brauchte  darum  überhaupt  nicht  genannt  zu  werden. 

Berlin.  A.  Hofmeister. 


Urkunden  zur  Religion  des  alten  Ägypten.  Von  Günther  Reeder. 
(Religiöse  Stimmen  der  Völker,  herausg.  von  Walter  Otto.) 
Jena,  Eugen  Diedrichs.  1915.  LX  u.  332  S.  Brosch.  7,50  M., 
geb.  9  M. 

Das  vorliegende  Buch  enthält  die  erste  größere  Sammlung 
altägyptischer  religiöser  Urkunden,  die  in  zuverlässigen  Über- 
setzungen vorgelegt  sind,  so  gut  das  zurzeit  möglich  ist.  Denn 
gerade  bei  diesen  Texten,  die  zum  Teil  als  heilige  immer  wieder 
aufs  neue  abgeschrieben  und  dabei  nicht  selten  stark  verderbt 
worden  sind,  ist  das  Übersetzen  vielfach  eine  besonders  schwie- 
rige Aufgabe.  In  der  klaren  Erkenntnis  dieser  Schwierigkeit  hat 
der  Verfasser  selbst  auf  die  Unsicherheiten  seiner  Übertragungen 
durch  Fragezeichen  gewissenhaft  hingewiesen  und  auch  daran  keinen 
Zweifel  gelassen,  daß  manche  äußerlich  als  sicher  erscheinende 
Stelle  sich  einmal  später  als  falsch  übersetzt  oder  erklärt  aus- 
weisen mag.  So  darf  der  Religionshistoriker,  an  den  das  Buch 
sich  in  erster  Linie  wendet,  diese  Quellensammlung  vertrauens- 
voll in  die  Hand  nehmen.  Er  darf  auch  für  die  gute  Auswahl 
des  Stoffes  dankbar  sein,  der  die  ägyptische  Religion  nach  allen 
Seiten  hin  beleuchtet.  Neben  dem  offiziellen  Tempelkult,  dem 
„Kirchenglauben",  kommt  der  Volksglaube  zu  seinem  Recht, 


Alte  Geschichte.  285 

neben  den  Stimmen  tiefen  religiösen  Lebens  fehlt  auch  der  Formel- 
kram der  Rituale  und  die  Magie  nicht.  Alle  Perioden  der  ägyp- 
tischen Geschichte,  mehr  als  drei  Jahrtausende,  sind  mit  Proben 
vertreten,  am  wenigsten  die  jüngste  hellenistische  Epoche,  die 
religionsgeschichtlich  wegen  der  vielen  Beziehungen  zu  der  helle- 
nistischen Religion  und  dem  Christentum  vielleicht  die  bedeut- 
samste ist.  Nach  dieser  Seite  hin  möchte  ich  für  eine  neue  Auf- 
lage eine  Erweiterung  wünschen,  welche  die  demotische  Literatur 
und  vielleicht  auch  die  griechische  (hermetische  Texte  und  Zauber- 
papyri) berücksichtigt.  Jedenfalls  dürfen  die  von  Griffith  aus- 
gezeichnet übersetzten  Leidener  magischen  Papyri  und  die  Hohen- 
priester-Geschichten nicht  übergangen  werden.  Auch  sollte  die 
demotische  Übersetzung  des  125.  Kapitels  des  Totenbuches  an 
ihrer  Stelle  verwertet  werden. 

Ein  ganz  besonderes  Verdienst  hat  sich  Roeder  durch  die 
Einleitung  erworben,  in  welcher  er  die  Entwicklung  der  ägyp- 
tischen Religion  schildert  unter  stetem  Verweis  auf  die  in  dem 
Hauptteil  übersetzten  Urkunden,  so  daß  diese  Einleitung  gleich- 
zeitig ein  Kommentar  zu  ihnen  ist.  Sie  ist  eine  durchaus  selb- 
ständige Leistung,  die  in  das  Chaos  der  ägyptischen  Götterwelt 
Ordnung  und  Sinn  zu  bringen  sucht.  Auch  da  wo  man  anderer 
Ansicht  ist^)  oder  das  Hypothetische  mancher  Konstruktionen 
unterstrichen  zu  sehen  wünschte,  wird  man  sich  doch  des  ener- 
gischen Versuches  eines  eigenen  Aufbaues  freuen.  Dadurch  ist 
dieser  Überblick  auch  im  Zusammenhang  lesbar  geworden,  was 
sich  nur  von  wenigen  Darstellungen  ägyptischer  Religion  sagen 
läßt.  Ausführliche  Register  ermöglichen  auch  für  Einzelfragen 
eine  bequeme  Benutzung  des  Buches,  das  nicht  nur  für  die  Ägypto- 
logie, sondern  auch  für  die  gesamte  Religionsgeschichte  eine  un- 
gewöhnlich wertvolle  Bereicherung  bedeutet. 

Straßburg  i.  E.  Spiegelberg. 


*)  Als  eine  Einzelheit  möchte  ich  erwähnen,  daß  Roeder  in- 
folge der  unrichtigen  Datierung  des  Amonshymnus  von  Kairo 
die  Aton-Lehre  nicht  richtig  charakterisiert  hat. 


Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  19 


286  Literaturbericht. 

Mittelalterliche  Bibliothekskataloge.  Herausgegeben  von  der  Kgl. 
Preußischen  Akademie  der  Wissenschaften  in  Berlin,  der 
Kgl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Göttingen,  der 
Kgl.  Sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Leip- 
zig, der  Kgl.  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften  in 
München  und  der  Kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften 
in  Wien.  Österreich.  1.  Bd.  A.  u.  d.T.:  Mittelalterliche 
Bibliothekskataloge  Österreichs.  Herausg.  von  der  Kaiserl. 
Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien.  1.  Bd.  Niederöster- 
reich. Bearbeitet  von  Theodor  Gottlieb.  Wien,  Adolf  Holz- 
hausen.   1915.    XV  u.  615  S.  mit  2  Taf.     16  M. 

Der  Bearbeiter  des  vorliegenden  Bandes,  der  Kustos  der 
Wiener  Hofbibliothek,  Theodor  Gottlieb,  hat  in  seinem  vor 
26  Jahren  erschienenen  tiefgründigen  Werke  „Über  mittelalterliche 
Bibliotheken"  (Leipzig  1890)  erstmals  den  weitverstreuten  massen- 
haften Stoff  über  Geschichte  und  Zusammensetzung  der  mittel- 
alterlichen Bibliotheken  in  mustergiltiger  Weise  gesammelt  und 
verarbeitet.  Er  sah  in  diesem  Werke  nur  den  Vorläufer  einer 
großen  Sammlung  sämtlicher  mittelalterlicher  Bibliothekskataloge, 
gab  sich  aber  über  die  Schwierigkeiten  der  Ausführung  dieses 
Planes  keinen  Täuschungen  hin.  Die  jetzt  Lebenden,  so  äußerte  er 
sich  1890,  würden  voraussichtlich  das  Erscheinen  der  Sammlung 
nicht  mehr  erleben.  Nun  ist  es  seinem  rastlosen  Eifer  und  der 
kräftigen  Unterstützung,  die  er  bei  W.  v.  Hartel,  Engelb.  Mühl- 
bacher und  der  Wiener  Akademie  der  Wissenschaften  gefunden 
hatte,  doch  gelungen,  nach  Ablauf  eines  Vierteljahrhunderts  den 
ersten  Band  der  mittelalterlichen  Bücherverzeichnisse  erscheinen 
zu  lassen.  Allerdings  hatte  der  Plan  einer  ganz  Europa  umspan- 
nenden Katalogsammlung  aufgegeben  werden  müssen.  Durch  das 
Zusammenwirken  der  deutschen  Akademien  mit  der  Wiener 
Akademie  ist  aber  doch  wenigstens  die  Herausgabe  der  mittel- 
alterlichen Bücherverzeichnisse  aus  dem  Gebiete  des  heutigen 
Deutschen  Reiches,  Österreichs  (ohne  Ungarn)  und  der  Schweiz 
gesichert  worden.  Während  für  die  reichsdeutsche  Abteilung  eine 
gemeinsame  Arbeitsstelle  in  München  geschaffen  wurde,  hat  G. 
die  Bearbeitung  der  österreichischen  Bücherverzeichnisse  in  so 
tatkräftiger  Weise  gefördert,  daß  mit  dem  Erscheinen  ihrer 
ganzen  Reihe  in  kurzer  Frist  gerechnet  werden  kann.  Der  vor- 
liegende erste  Band  umfaßt  die  mittelalterlichen  Kataloge  Nieder- 


Mittelalter.  287 

Österreichs;  die  Verzeichnisse  der  übrigen  österreichischen  Land- 
schaften hofft  man  in  zwei  weiteren  Textbänden  unterbringen  zu 
können.  Als  zeitliche  Grenze  wurde  das  Jahr  1500  gewählt; 
ausnahmsweise  werden  aber  auch  später  entstandene  Kataloge 
wesentlich  mittelalterlicher  Büchersammlungen  berücksichtigt. 
Die  Quellenforschung  beschränkte  sich  in  der  Hauptsache  auf  die 
österreichischen  Bibliotheken,  so  daß  künftige  archivalische 
Studien  wohl  noch  manche  Ausbeute  liefern  dürften.  Die  augen- 
scheinlich äußerst  gewissenhaft  und  sorgsam  vorbereitete  und 
durchgeführte  Druckeinrichtung  schließt  sich  an  diejenige  der 
Diplomata  in  den  Monumenta  Germaniae  fiistorica  an,  und  legt  das 
größte  Gewicht  auf  die  genaueste  Wiedergabe  der  Urgestalt  der 
Texte.  Es  wird  darin  so  weit  gegangen,  daß  auch  nach  Möglich- 
keit das  Bild  der  äußeren  Überlieferung  unter  Beibehaltung  der 
größeren  und  kleineren  Absätze  der  wiedergegebenen  handschrift- 
lichen Texte  gewahrt  wird,  ein  Verfahren,  zu  dem  meines  Erachtens 
eine  Nötigung  nicht  vorlag,  das  aber  naturgemäß  den  Umfang  des 
Werkes  und  damit  auch  die  Ansetzung  des  Verkaufspreises 
nicht  unerheblich  beeinflussen  mußte.  Von  den  76  mitgeteilten 
Katalogen,  unter  ihnen  41  Wiener  Bücherverzeichnisse,  sind  19 
bisher  ungedruckt.  Von  höchster  Bedeutung  sind  u.  a.  die  bisher 
unbekannt  gebliebenen  Kataloge  der  Kartause  von  Aggsbach, 
des  Benediktinerstifts  Melk,  des  Zisterzienserklosters  Heiligen- 
kreuz, der  Wiener  Dominikanerbibliothek  und  der  in  den  Besitz 
der  Wiener  Universität  übergegangenen  Büchereibestände.  Die 
Einleitungen  zu  den  einzelnen  Abschnitten  geben  äußerst  gründliche 
und  lehrreiche  Übersichten  über  Entstehung,  Entwicklung  und 
spätere  Schicksale  der  ältesten  niederösterreichischen  Bibliotheken, 
sorgfältige  Beschreibungen  der  handschriftlichen  Vorlagen  und 
Nachweise  der  zum  Teil  äußerst  reichhaltigen  und  weit  zerstreuten 
Literatur.  Die  Anmerkungen  sind  mit  Recht  auf  ein  möglichst 
geringes  Maß  beschränkt  worden.  Die  genauere  Bestimmung  des 
Titels  der  in  den  Vorlagen  meist  nur  in  sehr  unvollkommener 
Weise  katalogierten  Werke  ist  einem  Registerbande  vorbehalten, 
der  die  gesamten  Bände  der  österreichischen  Abteilung  umfassen 
soll.  Dieses  Gesamtregister  wird  die  kaum  hoch  genug  anzuschla- 
gende Bedeutung  des  neuen  Quellenwerkes  für  die  allgemeine 
mittelalterliche  Bibliotheks-  und  Literaturkunde,  aber  auch  für 
die  Geistesgeschichte  der  österreichischen  Lande  erst  so  recht  zur 

19* 


288  Literaturbericht. 

Geltung  bringen.  Schon  jetzt  aber  wird  man  das  großzügige  und 
entschlossene  Vorgehen  der  Wiener  Akademie  und  die  unermüdliche 
Hingabe  des  Bearbeiters  an  seine  große  Aufgabe  aufs  dankbarste 
anerkennen.  In  hohen  Grade  erfreulich  ist  die  Ankündigung, 
daß  auch  der  erste  Band  der  Deutschland  und  die  Schweiz  um- 
fassenden Abteilung  im  Vedage  der  Beckschen  Buchhandlung  in 
München  in  aller  Kürze  erscheinen  wird.  Er  wird  die  von 
Paul  Lehmann  bearbeiteten  Kataloge  der  zum  Bereiche  der 
einstigen  Diözese  Konstanz  gehörigen  mittelalterlichen  Biblio- 
theken enthalten. 

Gießen.  Herman  Haupt. 


Der  Kampf  um  Sizilien  in  den  Jahren  1291 — 1302.  Von  Dr.  Hans 
E.  Rohde.  (Abhandlungen  zur  mittleren  und  neueren  Ge- 
schichte, herausg.  von  G.  v.  Below,  Heinr.  Finke,  Friedr. 
Meinecke.  Heft  42.)  Berlin  und  Leipzig,  Dr.  Wa.  Roth- 
schild.    1913.     166  S.    5,50  M. 

Die  Geschichte  des  zwanzigjährigen  Freiheitskampfes  der 
Sizilianer  wider  die  Herrschaft  der  Angiovinen  von  Neapel  (1282 
bis  1302)  ist  zugleich  ein  Stück  Geschichte  des  aregonischen 
Königshauses,  das  aus  dem  Sonderleben  der  pyrenäischen  Halb- 
insel auf  die  Weltbühne  trat,  als  Peter  HL  im  Sommer  1282  die 
sizilianische  Krone  annahm.  Ihren  Besitz  hat  er  dann  auch  auf 
heimischem  Boden  im  Kampfe  gegen  Frankreich,  das  ihm  Aragon 
auf  Anstiften  der  Kurie  für  einen  französischen  Prinzen  rauben 
wollte,  erfolgreich  verteidigt,  gleich  darauf  aber  im  November 
1285  sterbend  Aragon  an  seinen  Sohn  Alfonso  III.,  Sizilien  an 
seinen  zweiten  Sohn  Jakob  II.  hinterlassen.  Die  Trennung  der 
beiden  Reiche  wurde  wieder  aufgehoben,  als  Alfonso  im  Juni  1291 
starb  und  Jakob  an  seine  Stelle  trat,  sie  erneuerte  sich,  als  Jakob 
im  Frieden  von  Anagni  vom  Juni  1295  Verrat  an  den  Sizilianern 
übte  und,  soviel  an  ihm  lag,  die  Insel  an  Karl  II.  von  Anjou 
zurückgab.  Sein  jüngerer  Bruder  Friedrich,  bisher  Jakobs  Statt- 
halter, wurde  von  den  Sizilianern  als  ihr  König  festgehalten  im 
Gegensatz  zu  dem  Anjou,  zur  Kurie  und  auch  zu  Jakob  II., 
er  trug  im  Frieden  von  Caltabellotta  1302  die  Anerkennung  als 
König  der  Insel  Sizilien  davon.  Natürhch  verschmilzt  der  Kampf 
um  Sizilien  in  der  Zeit  der  Vereinigung  beider  Kronen  auf  einem 


Mittelalter.  289 

Haupte,  im  ersten  und  dritten  Zeitabschnitt,  besonders  eng  mit 
der  äußeren  Politilc  Aragons,  die  daneben  anzulcämpfen  liat 
gegen  die  französisciie  Ausdelinungspolitik  und  gegen  Gelüste 
Castiliens  nach  einer  überragenden  Stellung  unter  den  Mächten  der 
pyrenäischen  Halbinsel.  Im  Hintergrund  steht  der  gemeinsame 
Kampf  der  beiden  christlichen  Mächte  wider  die  Mauren  und  der 
Kampf  Frankreichs  gegen  England  um  den  englischen  Länder- 
besitz auf  französischem  Boden.  Nehmen  wir  hinzu  die  ablehnende 
Haltung  der  aragonischen  Großen  wider  die  sizilianische  Politik 
ihrer  Herrscher,  so  bleibt  als  letztes  Glied  in  dem  großen  Ringen 
noch  die  Kurie  zu  nennen,  deren  Einfluß  sich  überaus  verschieden 
gestaltet  hat,  je  nachdem  die  päpstliche  Gewalt  an  einen  schwachen 
frommen  Mann  (Nikolaus  IV.,  Cölestin  V.)  ausgeliefert  war 
oder  ganz  ruhte,  weil  das  Kardinalkolleg  zerrissen  und  zerspalten 
durch  die  Parteiung  der  Colonnas  und  der  Orsinis  siebenund- 
zwanzig Monate  lang  zur  Wahl  eines  rechtsgültigen  Papstes 
sich  unfähig  erwies,  oder  endlich  von  einem  gewaltigen  Hierarchen 
(BonifazVIII.,  seit  24.  Dez.  1294)  tatkräftig  verwaltet  wurde. 
Alle  diese  Wandlungen  erfuhr  die  Kurie  in  den  vier  Jahren  vom 
Juni  1291  bis  Juni  1295,  und  auf  der  Darstellung  des  Einflusses, 
den  diese  Wandlungen  auf  den  Gang  der  sizilischen  Frage  gewonnen 
haben,  beruht  nicht  am  wenigsten  der  Reiz  der  Geschichte  der 
diplomatischen  Verhandlungen,  die  in  dem  Buche  Rohdes  auf 
Grund  neuen  reichen  Materials  aus  den  Archiven  zu  Barcelona  und 
Paris  gegeben  wird.  Wir  verdanken  ihr  eine  starke  Bereicherung 
und  Vertiefung  unserer  Kenntnis  gegenüber  den  Ergebnissen 
Michele  Amaris.  Auch  die  Zeit  von  1295 — 1302  war  von  R.  in 
seiner,  der  Freiburger  philosophischen  Fakultät  eingereihten  Dis- 
sertation, die  ihm  den  Weg  zu  einer  Biographie  Friedrichs  III. 
bahnen  sollte,  bearbeitet  worden."  Das  neue  Material  war  ihm  vor 
allem  geboten  in  den  zwei  Bänden  der  Acta  Aragonensia  seines 
Lehrers  Finke  und  in  weiteren  noch  unveröffentlichten  Stücken  aus 
dem  Archiv  zu  Barcelona,  die  im  3.  Band  der  Acta  Aragonensia  ans 
Licht  treten  sollen.  R.  selbst  hatte  das  Pariser  Nationalarchiv 
ausgenutzt,  die  abgeschriebenen  Urkunden  hoffte  er  zum  Teil 
später  herauszugeben,  er  hat  in  stattlichen  Nachträgen  (S.  153  bis 
166)  Ergänzungen  mitgeteilt,  die  er  auf  einer  Studienreise  in 
Barcelona  und  Valenzia  selbst  gewonnen  hat.  Ungefähr  alle 
Möglichkeiten  des  diplomatischen  Spiels  sehen  wir  in  den  Verband- 


290  Literaturbericht. 

lungen  zwischen  Aragon  und  Castilien,  Aragon  und  Frankreich, 
Aragon  und  Neapel  und  in  den  Gegenspielen  erschöpft,  der  Gesamt- 
eindruck ist  skrupellose  Machtpolitik  auf  allen  Seiten,  und  er 
wirkt  um  so  schärfer,  als  regelmäßig  eine  politische  Heirat  in  den 
Abmachungen  ihre  Rolle  spielt.  Für  Jakob,  der  offiziell  ver- 
heiratet war  (mit  dem  Kind  Isabella  von  Castilien),  werden  zwei 
andere  Bräute  in  Neapel  und  Paris  bereitgehalten.  Während 
Alfonso  III.  willens  gewesen  war,  sich  auf  eine  nur  aragonische 
Politik  zu  beschränken  und  Sizilien  seinem  Schicksal  zu  überlassen, 
wenn  nur  der  Bruder  König  Philipps  IV.  von  Frankreich  Karl  von 
Valois  seinen  Anspruch  auf  Aragon  aufgab,  entschädigt  durch 
Überlassung  der  Landschaften  Anjou  und  Maine  seitens  Karls  IL 
von  Neapel,  steckte  Jakob  IL  sich  das  höhere  Ziel,  in  Schutz-  und 
Trutzbündnis  mit  Castilien  die  Errungenschaft  seines  Vaters 
gegen  eine  Welt  von  Feinden,  gegen  das  Papsttum,  Frankreich  und 
Neapel  zu  verteidigen.  Aber  die  Rechnung  auf  Castilien,  das 
zwar  Aragons  Freundschaft  im  Kampf  gegen  die  Mauren  brauchte, 
aber  sich  nicht  im  Gegensatz  gegen  Frankreich  festlegen  lassen 
wollte,  weil  es  selbst  groß  werden  wollte,  betrog  ihn.  Das  trat 
grell  zutage,  als  bei  der  persönlichen  Zusammenkunft  zu  Logrono 
im  Juli  1293  Jakob  in  der  Gewalt  Sanchos  von  Castilien  von  ihm 
gezwungen  wurde,  ihn  der  vertragsmäßigen  Pflichten  gegen 
Frankreich  zu  entbinden  (vgl.  Nachtrag  zu  S.  61  auf  S.  161). 
Von  da  ab  trachtete  Jakob  im  Gegensatz  zu  Castilien  zu  einer 
führenden  Stellung  auf  der  pyrenäischen  Halbinsel  zu  gelangen  in 
Anlehnung  an  Frankreich,  unter  Verzicht  auf  die  Insel  Sizilien, 
für  die  er  seinem  Hause  Sardinien  gewinnen  wollte.  Daß  er 
dabei  seinen  Bruder  Friedrich  und  die  Sizilianer  verraten  mußte, 
kümmert  ihn  nicht.  Daß  Frankreich  seine  Hilfe  gegen  England 
wünscht,  bietet  ihm  Aussicht,  durch  ein  sehr  enges  Bündnis  mit 
Frankreich  seine  Machtpläne  zu  fördern.  —  Von  hohem  Interesse 
ist  es  nun,  wie  in  Sizilien  die  Sorge  vor  dem  Verrat  emporsteigt, 
aber  der  Kampfeswille  vor  allem  des  Bürgertums  keinen  Augenblick 
schwankt,  wie  die  Verhandlungen  durch  die  lange  Leere  des 
päpstlichen  Stuhls  aufgehalten  werden,  dann  aber  durch  die 
Schwäche  des  Einsiedlerpapstes  Cölestin  I.  aufs  neue  ins  Stocken 
geraten  —  seine  Abdankung  wird  geradezu  auf  den  Mißerfolg  in 
der  sizilischen  Frage  zurückgeführt  —  wie  endlich  die  starke 
Hand  des  Papstes  BonifazVIII.  einseitige  Sonderabmachungen 


Mittelalter.  29! 

zwischen  Frankreich  und  Aragon  verhindert  und  den  Frieden  von 
Anagni  vorschreibt,  ohne  freilich  das  freiheitsstolze  Volk  der 
Sizilianer  beugen  zu  können,  so  daß  der  Krieg  dann  noch  weitere 
sieben  Jahre  fortdauert  und  mit  der  offensichtlichen  Niederlage 
des  Papsttums  endet.  —  Es  ist  leider  nicht  möglich,  auf  die 
neue  Würdigung  der  Verhandlungen  und  Verträge,  die  R.  über  die 
älteren  Anschauungen  hinaus  bietet,  näher  einzugehen.  Wie  er 
die  Einzelheiten  urkundlicher  Forschung  und  zeitlicher  Festlegung 
undatierter  Stücke  mit  Sorgfalt  und  Scharfsinn  behandelt, 
wie  er  die  treibenden  Gedanken  der  scharf  umrissenen  politischen 
Persönlichkeiten  mit  ausgezeichnetem  politischem  Verständnis 
erörtert,  das  ist  überaus  anerkennenswert,  und  um  so  mehr, 
je  schwieriger  es  war,  in  dem  Gegenspiel  mannigfaltiger  Kräfte  die 
Fäden  der  Entwicklung  lichtvoll  zur  Erscheinung  zu  bringen. 
Nicht  minder  ist  die  kluge  Verwertung  des  literarisch  hochstehenden, 
aber  keineswegs  ebenso  zuverlässigen  chronikalischen  Quellen- 
stoffes sizilianischen  Ursprungs  zu  loben.  Wer  irgend  sich  für  die 
Geschichte  dieser  Zeit  interessiert,  sollte  das  Buch  R.s  nicht 
ungelesen  lassen,  wenn  auch  nur  ein  hingebungsvolles  Studium  den 
vollen  Gewinn  bringt.  —  Auszusetzen  habe  ich  nur  Kleinigkeiten, 
die  Form  „aragonesisch"  statt  „aragonisch",  Mandegoth  (päpst- 
Jicher  Notar  und  später  Kardinal)  statt  Mandagout,  das  Todes- 
datum Alfonsos  III.  (S.  6):  18.  März  1291  statt  18.  Juni.  — 
Mit  tief  erWehmut  gedenke  ich  des  frühen  Abbruchs  der  verheißungs- 
vollen Forschertätigkeit  des  hochbegabten  jungen  Gelehrten 
durch  seinen  Tod  fürs  Vaterland  am  21  .Februar  1915,  vgl.  die 
Notiz  in  Hist.  Zeitschr.  114,  472,  wo  auch  seiner  umfassenden 
Arbeit  über  den  großen  Seehelden  Roger  de  Loria,  den  Vorkämpfer 
der  Könige  Peter  und  Jakob,  die  1915  für  die  Annuari  des  kata- 
lanischen Instituts  gedruckt  wurde,  gedacht  ist.  Möchte  sein 
Lehrer  Finke,  der  ihm  in  der  Freiburger  Zeitung  gegen  Ende 
Februar  1915  einen  schönen  Nachruf  gewidmet  und  dann  das 
Buch  zweier  Toten  „Verwaltungsgeschichte  des  Königreichs 
Aragon  zu  Ende  des  13.  Jahrhunderts  von  Dr.  Ludwig  Klüpfel, 
aus  dem  Nachlasse  herausgegeben  von  Dr.  H.  E.  Rohde"  Berlin, 
Kohlhammer  1915  veröffentlicht  hat,  uns  aus  den  Studien  R.s  zur 
Geschichte  Friedrichs  III.  manches  gewähren  können! 

Marburg  (Lahn).  K.  Wenck. 


292  Literaturbericht. 

Die  Fugger  und  der  Schmalkaldische  Krieg.  Von  Hermann 
Joseph  Kirch.  (Studien  zur  Fugger-Geschichte,  herausg. 
von  H.  Grauert.  Heft  5.)  München  und  Leipzig,  Duncker 
6  Humblot.     1915.    XIV  u.  305  S. 

Daß  zum  Kriegführen  Geld  gehört,  ist  eine  alte  Wahrheit, 
welche  zumal  in  unseren  Tagen  nicht  besonders  betont  zu  wer- 
den braucht;  interessant  bleibt  jedoch  stets  wieder  die  Erfor- 
schung der  Mittel  und  Wege,  wie  bei  früheren  Kriegen  im  ein- 
zelnen Falle  die  finanziellen  Bedürfnisse  befriedigt  worden  sind. 
Es  ist  deshalb  dankbar  zu  begrüßen,  daß  sich  ein  Forscher  die 
Aufgabe  gestellt  hat,  auf  Grund  neuen  urkundlichen  Materials, 
wovon  in  den  Beilagen  (S.  197 — 294)  in  47  Nummern  interessante 
Mitteilungen  gemacht  werden,  die  Finanzpolitik  Kaiser  Karls  V. 
während  des  Schmalkaldischen  Krieges  im  einzelnen  zu  unter- 
suchen und  darzustellen;  allerdings  in  einer  gewissen,  ganz  be- 
stimmten Begrenzung  und  Beschränkung:  nicht  der  Kaiser  steht 
im  Mittelpunkt  der  Untersuchung,  sondern  sein  vornehmster 
deutscher  Bankier,  Anton  Fugger  aus  Augsburg,  und  deshalb 
erfahren  wir  über  die  rein  finanziellen  Maßnahmen  hinaus  im 
Interesse  der  Habsburger  noch  manches  für  die  Geschichte  des 
Hauses  und  der  Familie  Fugger  Interessante  und  Bedeutsame, 
aber  am  letzten  Ende  dreht  sich  doch  alles  um  die  Rückwirkung, 
welche  die  Kriegsereignisse  auf  die  Stellungnahme  Anton  Fuggers 
als  Geldleiher  der  Habsburger  ausüben. 

Klarer  als  wir  bisher  wußten,  geht  aus  des  Verfassers  Dar- 
stellung hervor,  daß  Anton  Fugger  es  gewesen  ist,  welcher  die 
großen  Rüstungen  Karls  V.  im  Sommer  1546  erst  ermöglicht  hat: 
wenn  er  sich  schroff  ablehnend  verhalten  hätte,  wäre  der  Kaiser 
nicht  imstande  gewesen,  so  rechtzeitig,  wie  es  für  ein  gutes  Ge- 
lingen seiner  Kriegspläne  nötig  war,  mit  seinen  Rüstungen  zu 
beginnen.  Freilich,  der  größte  Teil  dieser  Abmachungen  ist  noch 
heute  mit  dem  Schleier  tiefsten  Geheimnisses  umgeben  und  wird 
es  wohl  auch  stets  bleiben;  man  wird  annehmen  dürfen,  daß 
die  wichtigsten  Verhandlungen  mündlich  geführt  worden  sind, 
vielleicht  durch  Vermittlung  des  Kardinals  von  Augsburg,  der 
so  tief  in  die  kaiserliche  Politik  eingeweiht  war;  auch  wüßte 
man  gerne,  ob  bereits  im  Jahre  zuvor  während  des  Wormser 
Reichstages,  als  für  kurze  Zeit  der  Ausbruch  des  Krieges  un- 
mittelbar bevorzustehen  schien,  den  Fuggern  Andeutungen  gemacht 


Zeitalter  der  Reformation.  293 

worden  sind,  sich  für  eine  umfangreiche  Kreditgewährung  bereit«» 
zuhalten.  Es  ist  sogar  nicht  einmal  ausdrücklich  überliefert,  ob 
Anton  Fugger  von  Anfang  an  Zweck  und  Ziel  des  Unternehmens 
bekanntgegeben  worden  ist;  doch  wird  man  dies  wohl  als  sicher 
annehmen  müssen;  andere  mochte  die  kaiserliche  Diplomatie 
durch  falsche,  vorgeschobene  Kriegsziele,  wie  die  Vertreibung 
der  Franzosen  aus  Piemont,  wie  einen  neuen  Zug  gegen  Algier, 
täuschen;  einen  Geschäftsmann,  wie  Anton  Fugger,  hätte  man 
durch  solch'  kleinliche  Mittel  niemals  dazu  zu  bestimmen  ver- 
mocht, derartige  Summen  den  Habsburgern  zur  Verfügung  zu 
stellen.  Besonders  aber  war  eine  derartige  vorsichtige  Zurück- 
haltung in  diesem  Falle  gar  nicht  erforderlich,  denn  Anton  Fugger 
war  aus  politischer  und  religiöser  Überzeugung,  aus  Familien- 
überlieferung und  Geschäftsinteresse  ein  Parteigänger  des  Kai- 
sers, und  wenn  er  versucht  hätte,  dem  Hause  Habsburg  untreu 
zu  werden,  so  besaß  dieses  Mittel  genug,  ihn  durch  Erschwerung 
oder  gar  Unterbindung  jeglichen  Geschäftsverkehrs  zum  Gehor- 
sam zu  zwingen;  die  Welser  haben  es  während  des  Schmalkal- 
dischen  Krieges  erfahren  müssen,  was  es  für  ein  Haus  von  solch* 
internationalen  Geschäftsverbindungen  bedeutete,  sich  gegenüber 
den  finanziellen  Bedürfnissen  des  Kaisers  spröde  zu  erzeigen. 

Die  Schwierigkeiten  für  Anton  Fugger  lagen  vornehmlich 
in  der  Tatsache,  daß  er  Bürger,  und  zwar  der  reichste  und  steuer- 
kräftigste Bürger,  Augsburgs  war,  mithin  einer  Stadt,  welche  poli- 
tisch dem  Schmalkaldischen  Bunde  angehörte.  Dadurch  war  für 
ihn  die  Notwendigkeit  gegeben  —  auch  wenn  sie  sonst  nicht 
bestanden  hätte  — ,  alle  seine  Finanzoperationen  mit  einem 
möglichst  dichten  Schleier  zu  umgeben.  Und  als  schließlich 
das  Geheimnis  seines  Wirkens  für  den  Kaiser  doch  nicht  ge- 
wahrt wurde,  als  von  Seiten  des  Schmalkaldischen  Bundes  be- 
rechtigte Beschwerden  in  Augsburg  einliefen,  man  sogar  die 
Forderung  laut  werden  ließ,  die  Fugger  sollten  mit  ihrem  Gelde 
die  protestantische  Sache  unterstützen,  da  ward  die  Lösung  des 
an  sich  kaum  zweifelhaften  Problems,  ob  es  zulässig  sei,  daß 
der  Bürger  einer  dem  Schmalkaldischen  Bunde  angehörenden 
Stadt  den  Kaiser  erst  in  den  Stand  setze,  gegen  diesen  Bund 
Krieg  zu  führen,  dem  Augsburger  Rat  zugeschoben,  und  die 
wenig  würdige  Art  und  Weise,  wie  dieser  sich  aus  seiner  aller- 
dings recht  heiklen  Lage  zu  ziehen  wußte,  verdiente  mit  Recht 


294 


Literaturbericht. 


die  schärfste  Verurteilung  von  Seiten  der  protestantischen  Bundes- 
stände. Denn  diesen  mußte  es  doch  wie  Hohn  l<lingen,  wenn  der 
Rat  versicherte  (Beilage  Nr.  18  S.  227  f.),  daß  die  Stadt  „mit 
irn  Burgern,  die  aus  der  stat  gezogen,  dern  aber  wenig  seind, 
in  gepurlicher  Handlung"  stehe:  das  Entscheidende  war  nur, 
daß  der  eine  Fugger,  der  sich  für  die  ganze  Dauer  des  ober- 
deutschen Krieges  im  sicheren  Schwaz  in  Tirol  aufhielt,  in  diesem 
Falle,  als  finanzieller  Machtfaktor,  der  nützen  oder  schaden 
konnte,  betrachtet,  mehr  galt,  als  alle  zurückgebliebenen  Bürger 
Augsburgs  zusammengenommen.  Es  war,  wie  der  Verfasser  mit 
Recht  hervorhebt,  engherzigste  Kirchturmpolitik,  begründet  auf 
einer  in  kleinen  Gemeinwesen  unvermeidlichen  Vetternwirtschaft, 
aber  diese  Politik  hat,  wenn  auch  nicht  für  die  gemeinsame  Sache 
des  Protestantismus,  so  doch  für  die  Stadt  Augsburg  selbst  ihre 
guten  Früchte  getragen.  Als  die  Zeit  der  Not  kam,  als  es  galt, 
wieder  einen  gnädigen  Kaiser  zu  gewinnen,  da  war  der  von  seinen 
heimischen  Behörden  so  sorgsam  geschonte  Bankier  der  Habs- 
burger der  geeignetste  Fürsprecher  und  Vermittler  im  feindlichen 
Lager,  und  man  muß  zugestehen,  daß  Anton  Fugger  keine  Mühe 
gescheut  hat,  seiner  Vaterstadt  bei  dem  mit  Recht  schwer  er- 
zürnten Kaiser  einen  günstigen  Frieden  zu  erwirken. 

So  bedeutsam  die  Darstellung  dieser  Verhandlungen  für  die 
Geschichte  Augsburgs  ist,  soviel  Neues  die  sonstigen  Mitteilungen 
über  den  Besitz  der  Fugger,  über  ihren  Geschäftsbetrieb  während 
des  Krieges,  über  ihre  allgemeinen  Sicherheitsmaßregeln  im  Hin- 
blick auf  die  besondere  Geschichte  der  Familie  bringen,  der  dau- 
ernde Wert  dieser  Studie  beruht  doch  in  denjenigen  Teilen,  welche 
die  finanzpolitischen  Maßnahmen  Anton  Fuggers  im  Interesse 
der  Habsburger  behandeln.  Bei  guter  Beherrschung  des  vom 
Verfasser  herangezogenen  Materials,  mit  scharfsinniger  Kom- 
binationsgabe, welche  aus  vereinzelten  Angaben  treffende  und 
sichere  Schlußfolgerungen  für  die  Gesamtheit  der  Fuggerschen 
Geschäfte  zu  ziehen  weiß,  ist  es  dem  Verfasser  gelungen,  ein  im 
ganzen  unzweifelhaft  richtiges  Bild  der  Tätigkeit  Anton  Fuggers 
vor  dem  Schmalkaldischen  Kriege  und  besonders  während  des- 
selben zu  entwerfen.  Auf  alle  weitverstreuten  Länder  der  Habs- 
burger erstreckt  sich  seine  Wirksamkeit,  in  jedem  einzelnen  weiß 
er  neue,  andersartige  Hilfsquellen  flüssig  zu  machen,  aber  sie 
alle  wirken  doch  wieder  zusammen  zu  dem  einen  großen  Ziel, 


Zeitalter  der  Reformation.  295 

"den  Kaiser  im  entscheidenden  Moment  gerüstet  dastehen  zu 
lassen.  Es  soll  keineswegs  geleugnet  werden,  daß  die  Torheit 
und  mangelnde  Entschlußkraft  der  Schmalkaldener  viel  zu 
Karls  V.  endlichem  Erfolge  beigetragen  hat;  aber  Anton  Fuggers 
Verdienste  werden  dadurch  nicht  geschmälert:  durch  die  welt- 
umspannende Organisation  seines  Geschäftes,  zugleich  aber  durch 
seinen  festen  Willen,  durch  kühnes  Wagnis  Großes  zu  gewinnen, 
Wurde  er  der  ebenbürtige  Partner  dieses  Herrschers  mit  seinen 
die  Welt  umspannenden  Plänen  und  Entwürfen. 

Wie  erwähnt,  hat  der  Verfasser  umfangreiches  handschrift- 
liches Material,  vornehmlich  aus  dem  Fuggerarchiv  und  aus  dem 
Archiv  zu  Simancas  —  das  er  jedoch,  wie  es  scheint  (vgl.  S.  8 
Anm,  2),  nicht  persönlich  durchforscht  hat,  herangezogen ;  leider 
ist  er  gegenüber  den  neuen  Schätzen,  welche  ihm  in  solch'  reicher 
Fülle  zur  Verfügung  gestellt  wurden,  in  den  Fehler  mancher 
Anfänger  verfallen,  das  bereits  Vorhandene,  die  gedruckten 
Quellen,  geringer  zu  achten,  als  sie  wohl  verdient  hätten;  nicht 
als  ob  er  sie  ganz  beiseite  geschoben  hätte,  aber  es  muß  doch 
erwähnt  werden,  daß  er  wichtige,  für  seine  Forschungen  auf- 
-schlußreiche  Aktenpublikationen  unberücksichtigt  gelassen  hat, 
und  gerade  in  diesen  Fragen,  wo  wir  auf  Schritt  und  Tritt  noch 
so  sehr  im  Dunklen  tappen,  ist  jede  neue  Notiz  von  unschätz- 
barem Wert  —  ich  meine  die  in  Deutschland  m.  E.  von  der  For- 
schung noch  nicht  genügend  gewürdigten  großen  englischen  Publi- 
kationen zur  Geschichte  König  Heinrichs  VHI.,  für  des  Verfas- 
sers Arbeitsgebiet  Bd.  XXI,  1  u.  2  der  Letters  and  papers,  foreign 
and  domestic  of  the  reign  of  Henry  VIII.  (London  1908  und  1910), 

sowie  Bd.  VHI  des  Calendar  of  State  papers:   King 

Henry  VIII.  1545—1546  Spanish  (London  1904).  Gerade  für  die 
Geschäftsverbindungen  der  Fugger  in  Antwerpen  findet  sich  in 
der  ersten  Publikation  ein  reiches  Material,  insbesondere  über 
eine  Anleihe,  welche  damals  mit  dem  englischen  König  schwebte, 
und  die  zum  Teil  im  September  1546  zurückgezahlt  wurde;  die 
vom  24.  September  1546  datierte  Quittung,  die  „Absolutionis 
Schedula"  der  Fugger,  von  „Anton  Fugger  und  Neffen",  war 
bereits  mit  genauen  Zahlenangaben  gedruckt  bei  Rymer:  Foe- 
4era  Bd.  VI,  pars  3  (1741),  S.  133  f.  Aus  allem  geht  hervor,  daß 
die  damalige  Klage  der  Statthalterin  Königin  Maria  —  bei  R. 
Häpke:   Niederländische  Akten  und  Urkunden  Bd.  1  (München 


296 


Literaturbericht. 


und  Leipzig  1913),  S.  442  Anm.  1:  „Qm  l'argent  est  fort  estroit 
en  Anvers,  par  ce  que  les  Allemans,  quelque  asseurance  que  on 
leur  vuelt  donner,  se  retirent  petit  ä  petit;  du  moins  ceulx  qui  y  de- 
meurent,  serrent  la  bourse"  —  durchaus  berechtigt  war,  ja  der 
englische  Agent  Vaughan  meldet  aus  Antwerpen  unter  dem 
24.  Juli  ausdrücklich:  „Merchants  here  who  were  wont  to  emprunt 
to  tJie  Emperor,  Hearing  that  the  Protestants'  power  grows  greater 
than  the  Emperor  can  resist,  make  their  mony  from  hence  to  Lyons 
and  Venyce"  {Utters  and  papers  Bd.  XXI,  p.  1,  S.  660,  Nr.  1335): 
alles  Zeugnisse,  welche  uns  die  großen  Schwierigkeiten  erkennen 
lassen,  mit  denen  die  Fugger  in  ihrer  Antwerpener  Filiale  bei 
der  Befriedigung  der  finanziellen  Bedürfnisse  der  kaiserlichen 
Politik  zu  kämpfen  hatten. 

Einschneidender  noch  ist  die  Nichtberücksichtigung  der  an 
zweiter  Stelle  genannten  englischen  Publikation:  dadurch  ist 
es  dem  Verfasser  entgangen,  daß  eine  Anzahl  i)  der  von  ihm 
im  spanischen  Original  abgedruckten  Aktenstücke  bereits  ver- 
öffentlicht worden  war,  wenn  auch  in  englischer  Übersetzung 
oder  Bearbeitung;  aber  da  die  Kenntnis  der  spanischen 
Sprache  bei  uns  noch  nicht  Gemeingut  aller  Gebildeten  ge- 
worden ist,  so  dürfte  es  nicht  unangebracht  sein,  wenigstens 
auf  diese  Tatsache  kurz  hinzuweisen.  Wichtiger  noch  als 
dieser  Hinweis  auf  eine  Unterlassung  sind  jedoch  die  positiven 
Aufschlüsse,  welche  wir  durch  diesen  Band  des  Calendar  of  State 
papers  über  die  Finanzpolitik  der  römischen  Kurie  erhalten,  in 
welche  Anton  Fugger  in  der  ersten  Hälfte  des  Juni  1546  un- 
mittelbar eingegriffen  hat;  vgl.  die  interessanten  Mitteilungen 
aus  seinem  Schreiben  an  die  römischen  Kaufleute  über  seine 
finanziellen  Maßnahmen  im  Interesse  des  Kaisers,  erwähnt  in 
de  Vegas  Bericht  vom  28.  Juni  1546  {Calendar  a.  a.  0.  S.  417 
Nr.  286):   Trient  solle  für  das  aus  Italien  nach  Deutschland  zu 


1)  I.  Kirch :  Beilagen  Nr.  2,  S.  200/1  =  Calendar  Nr.  197,  S.  307, 
Zeile  14  von  unten  bis  S.  309.  II.  Kirch:  Beilagen  Nr.  4,  S.  203  f. 
=  Calendar  Nr.  257,  S.  391f.  (hier  als  Antwort  auf  ein  kaiser- 
liches Schreiben  vom  17.  März,  nicht,  wie  Kirch  annimmt,  vom 
16.  Februar;  der  spanische  Jurist  Galar9a  (Kirch  S.  204)  heißt  im 
Calendar:  „Galea9a«).  III.  Kirch:  Beilagen  Nr.  9,  S.  213  f.  =  Ca- 
lendar Nr.  270,  S.  4001.  IV.  Kirch:  Beilagen  Nr.  26,  S.  238  ff.  = 
Calendar  Nr.  328,  S.  478  f. 


Zeitalter  der  Reformation.  297 

überweisende  Geld  der  Bankplatz  Karls  V.  sein,  da  Venedig  zu 
ungünstig  liege,  da  Augsburg  nicht  sicher  sei  und  da  —  wie  wir 
an  anderer  Stelle  erfahren  —  es  in  Regensburg  keinen  Bankier 
gebe,  auf  den  solch'  hohe  Wechsel  ausgestellt  werden  könnten. 
Noch  wichtiger  scheinen  mir  die  neuen  Mitteilungen  zu  sein, 
welche  wir  aus  den  zahlreichen  Berichten  Juan  de  Vegas,  des 
kaiserlichen  Botschafters  in  Rom,  über  die  Politik  Papst  Pauls  III. 
erhalten:  des  Papstes  Saumseligkeit  in  der  Erfüllung  seiner  ver- 
tragsmäßig übernommenen  finanziellen  Verpflichtungen  sei  ledig- 
lich ein  Ausfluß  seiner  steten  Furcht,  der  Kaiser  werde  sich  vor 
der  Zeit  mit  seinen  Gegnern,  den  Lutheranern,  friedlich  verstän- 
digen, und  dann  sei  der  Papst  der  Betrogene  und  Geprellte;  be- 
sonders aber  gewinnen  wir  durch  diese  Korrespondenz  des  Kai- 
sers mit  seinem  Botschafter  einen  tiefen  Einblick  in  die  kaiser- 
liche Finanzpolitik,  welche  doch  im  damaligen  Augenblick  mit 
der  Fuggerschen  aufs  innigste  verknüpft  war;  alles  dreht  sich 
in  erster  Linie  um  die  Gestaltung  der  Auflage,  welche  mit  päpst- 
licher Bewilligung  dem  spanischen  Klerus  für  die  Unterdrückung 
der  Ketzer  auferlegt  werden  sollte:  auf  der  einen  Seite  scharfe 
Forderungen,  ja  unmittelbare  Drohungen  wegen  Nichterfüllung 
der  vertragsmäßig  vorgesehenen  Leistungen,  auf  der  anderen 
Seite  immer  erneute  Ausflüchte  und  Verschleppungen;  wenn 
auch  in  erster  Linie  politische  Gründe  für  die  Haltung  der  Kurie 
maßgebend  gewesen  sind  —  der  Druck  der  französischen  und 
vielleicht  auch  der  so  unmittelbar  betroffenen  spanischen  Ele- 
mente des  Kardinalskollegiums,  sowie  die  Furcht  des  Papstes  in 
seiner  Eigenschaft  als  weltlicher  Herrscher  vor  einem  zu  starken 
Anwachsen  der  kaiserlichen  Macht  — ,  so  bieten  diese  Noten  des 
Kaisers  sowie  die  Berichte  seines  Botschafters  auch  nach  der  rein 
finanziellen  Seite  hin  soviel  neues  und  interessantes  Material, 
daß  ihre  Nichtberücksichtigung  lebhaft  zu  bedauern  ist. 

Die  Tabelle,  welche  der  Verfasser  (S.  53)  über  die  finanziellen 
Leistungen   der   protestantischen  Stände^)  aus  Oberdeutschland 

^)  Ob  Herzog  Albrecht  von  Preußen  wirklich  dem  Schmal- 
kaldischen  Bunde  20000  Gulden  bezahlt  hat  —  vgl.  Kirch  8.46, 
auch  Anm.  4,  nach  Baumgarten:  H.  Z.  Bd.  36  (nicht  Bd.  18,  wie 
p.  IX  steht),  S.  55  ohne  Quellenangabe  — ,  möchte  ich  auf  Grund 
der  jüngst  von  Bezzenberger  herausgegebenen  Berichte  von 
Albrechts  Gesandten  Ahasverus  von  Brandt  (Heft  2:    1546,  1547, 


298 


Literaturbericht. 


veröffentlicht,  stimmt  im  ganzen  überein  mit  den  in  der  „Ge- 
schichte der  Stadt  Lindau  im  Bodensee",  herausgeg.  von  K. 
Wolfart,  Bd.  2  (Lindau  1909)  S.  316  f.  auf  Grund  der  Akten  des 
Lindauer  Archivs  mitgeteilten  Zahlen;  hier  noch  (S.  317)  einige 
interessante  Mitteilungen  aus  Briefen  des  Fuggerschen  Vertreters 
im  kaiserlichen  Hauptquartier,  Sebastian  Kurz.  Über  die  finan- 
ziellen Leistungen  der  niederdeutschen  Städte  für  den  Donau- 
feldzug wissen  wir  noch  gar  nichts;  daß  sie  nicht  groß  gewesen 
sind,  beweist  uns  eine  spätere  Klage  des  Landgrafen^),  aber  über 
die  tiefsten  Beweggründe  zu  solcher  Haltung  von  selten  dieser 
Kommunen  wissen  wir  wenig:  soviel  steht  fest,  daß  sie  für  die 
Verteidigung  des  Evangeliums  gerne  bereit  waren,  Gut  und  Blut 
zu  opfern;  das  haben  sie  in  den  Kämpfen  des  Jahres  1547,  hinter 
den  Mauern  Bremens  und  bei  Drakenburg,  heldenmütig  bewiesen. 
Halle  a.  S.  Adolf  Hasenclever. 


1548.  Königsberg,  o.  J.)  bezweifeln:  angeboten  liat  der  Herzog 
die  Summe  (a.  a.  O.  S.  206),  das  Angebot  wurde  auch  dankbar 
angenommen  (S.  212),  von  der  Zahlung  hören  wir  aber  nichts, 
ja  aus  Andeutungen  Brandts  möchte  ich  schließen,  daß  sie  nicht 
erfolgt  ist. 

^)  Ich  teile  (aus  meinem  Aufsatz :  „Kurfürst  Johann  Friedrich 
und  die  Katastrophe  von  Mühlberg"  diesen  Passus  nochmals  mit, 
da  er  mir  recht  bezeichnend  zu  sein  scheint  für  die  finanziellen 
Verhandlungen  innerhalb  des  Schmalkaldischen  Bundes  kurz  vor 
dem  Aufbruch  von  Giengen:  Landgraf  Philipp  an  die  Stadt  Braun- 
schweig, 14.  Juni  1547:  „Sie  (die  niederdeutschen  Städte)  wissen 
sich  aber  wohl  zu  erindern,  wie  ungleich  die  erlegung,  als  man 
im  obern  Landt  läge,  gevolgt,  das  viel  Stend  im  obern  landt,  der 
Churfürst  zu  Sachsen  (vgl.  Kirch  S.  53  Anm.  2)  und  wir  zwantzig, 
achtzehn  und  etlich  mehr  doppel  monat  erlegt,  aber  die  fursten 
Stedt  und  Stendt  des  Sachssischen  Kreiß  wissen  selbst  am  besten, 
was  sie  über  vielfeltigs  schreiben  und  anhalten  erlegt.  Sie  wissen 
sich  auch  wohl  zu  erindern,  das  zu  Gingen  mit  denselben  pott- 
schaften geredt,  neben  den  andern  Stenden,  die  oben,  bürg  [Bürge] 
zu  sein  vor  etlich  summe  geldts,  die  Wurttenberg  und  andere 
wolten  vorstrecken,  das  sie  solchs  abgeschlagen.  Aus  solcher 
ungleicher  erlegung  und  das  die  Iren  nit  wolten  mit  bürg  sein 
für  solch  ufgebracht  geldt,  hat  man  müssen  aus  noth  abtziehen" 
(Neue  Mitteilungen  des  Thüring.-Sächsischen  Vereins  in  Halle  a.  S. 
Bd.  24  [1910],  S.  218  Anm.  2). 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  299 

Au  seuit  du  17  octobre  1905.  Historique  du  mouvement  des  esprits 
en  Russie  de  1899  au  17  octobre  1905.  Par  Pierre  Marc, 
(Studien  zur  osteuropäischen  Geschichte,  herausg.  von  Prof. 
Dr.  Uebersberger,  Wien,  I.)  Leipzig,  K.  F.  Koehler.  1914. 
146  S. 

Der  Zeitraum,  den  der  Untertitel  nennt,  wird  nicht  gleich- 
mäßig behandelt.  Plehwes  Ermordung  am  15.  Juli  1904  wird  auf 
S.  18  berichtet,  der  Reformukas  vom  12.  Dez.  1904  auf  S.  23. 
Also  die  Schrift  beschäftigt  sich  im  wesentlichen  mit  den  ersten 
9^2  Monaten  des  Jahres  1905.  Den  Übergang  zu  der  eingehenden 
Darstellung  bildet  der  Bericht  über  die  versöhnlichen  5  Monate  der 
Hoffnung  unter  dem  Fürsten  Swiatopolk-Mirsky,  der  am  18.  Jan; 
1905  das  Ministerium  des  Innern  verließ. 

Der  Verfasser  gibt  nur  Material  zur  „Bewegung  der  Geister", 
keine  zusammenschauende  „Geschichte"  derselben.  Dabei  bleibt 
die  eigentliche  revolutionäre  Propaganda,  insbesondere  auch  der 
westeuropäische  Einfluß,  vage  im  Hintergrund,  besonders  in  der 
ersten  Hälfte  der  Schrift.  Darum  kann  vor  allem  die  Bewegung  der 
Geister  unter  der  akademischen  Jugend  Rußlands  nicht  ver- 
ständlich werden.  Auch  was  die  Arbeiter  bewog,  von  ihren  wirt- 
schaftlichen Gravamina  zu  revolutionär-politischen  hinüberzu- 
gleiten,  wird  nicht  recht  anschaulich.  Dagegen  bekommen  wir  ein 
gutes  Bild  von  der  geistigen  Disposition  der  Bauern  und  von  dem, 
was  sie  schließlich  ins  revolutionäre  Lager  trieb.  Auch  der  Bürger, 
der  in  Provinzversammlungen  und  Spezialkommissionen  hoffnungs- 
freudig an  Reformprojekten  arbeitet,  bis  die  anschwellende 
revolutionäre  Woge  ihn  mit  sich  reißt,  wird  ganz  lebendig  vor 
unsern  Augen.  Auf  Adel  und  Büreaukratie,  Hof  und  Kirche  dagegen 
wirft  die  Schrift  kaum  einmal  ein  Streiflicht.  Verbindungsünien 
zwischen  den  einzelnen  handelnden  Gruppen  fehlen  fast  ganz. 

Stark  tritt  das  dankenswerte  Bemühen  hervor,  authentisches 
erläuterndes  Material  zu  den  einzelnen  Geschehnissen,  die  in  der 
Regel  zunächst  fast  abrupt  als  Tatsachen  hingestellt  werden, 
in  möglichst  reichem  Maße  zu  geben.  Dem  Verfasser  standen 
Exzerpte  aus  zahlreichen  offiziellen  Berichten  von  Beamten, 
besonders  Provinzgouverneuren,  aus  Eingaben  an  den  Minister  des 
Innern  und  den  Zaren,  dann  aus  Resolutionen  und  Manifesten  von 
Vereinigungen  und  Kongresen,  Äußerungen  der  Presse,  und  vieles 
einzelne  sonst  zur  Verfügung. 


300  Literaturbericht. 

Die  Universitätsunruhen  vom  Februar  1899  werden  durch 
eine  Analyse  des  Rapports  Wannowskys  beleuchtet.  Reiche 
Mitteilungen  werden  aus  den  Gutachten  der  618  Lokalkomitees 
gegeben,  die  von  der  Spezialkommission  zur  Untersuchung  der 
ländlichen  wirtschaftlichen  Verhältnisse  unter  den  Auspizien 
Wittes  1902  eingerichtet  worden  waren.  Die  Stimmung  in  weiteren 
Kreisen  beleuchten  Auszüge  aus  den  Eingaben  von  15  Provinzial- 
versammlungen  an  den  Zaren  oder  den  Minister  des  Innern, 
im  Charakter  ganz  überwiegend  noch  vertrauensvoll  bittend. 
Sie  sind  fast  alle  aus  den  letzten  Wochen  der  Ära  Swiatopolk- 
Mirsky.  Dieser  gehören  auch  noch  die  ernsten,  mit  dem  Namen 
Gapons  verknüpften  Arbeiterunruhen  von  Anfang  1905  an, 
zu  deren  (nicht  ausreichender)  Erläuterung  besonders  das  Regie- 
rungscommuniqu6  mitgeteilt  wird.  Es  folgen  sehr  detaillierte 
Angaben  über  die  Verhandlungen  im  Schöße  der  Regierung, 
die  sich  bemüht,  in  engem  Anschluß  an  den  Reformukas  von  12.Dez. 
1904  allgemeine  Richtungen  für  die  Zukunft  festzulegen.  Das 
Anwachsen  der  Bewegung  im  Bürgertum  wird  durch  Auszüge  aus 
den  an  die  Regierung  gerichteten  Denkschriften  der  neuen  Kampf- 
organisationen der  einzelnen  Stände,  aus  ihren  Manifesten  und  den 
Resolutionen  ihrer  Kongresse  erläutert.  Besonders  gelungen  ist, 
wie  bereits  angedeutet,  die  Behandlung  der  Agrarunruhen  seit 
Februar  1905,  die  durch  die  Mitteilungen  aus  den  Berichten  der 
Provinzialgouverneure  eine  wirkliche  Aufhellung  finden.  Er- 
zählend, oft  ganz  annalistisch  die  Geschehnisse  nur  nach  den 
Daten  aufreihend,  wird  gezeigt,  wie  sowohl  die  Verzögerung  in 
der  Berufung  des  am  18.  Februar  versprochenen  Parlaments, 
als  auch  die  am  6.  August  erfolgte  Publikation  der  Bestimmungen 
über  Zusammensetzung  der  Duma  und  ihren  Wahlmodus  die 
Opposition  immer  weiter  verschärft,  und  wie  die  Bewegung  vor 
allem  auch  auf  das  bisher  als  zuverlässig  geltende  Heer  überspringt. 
Das  Autonomieedikt  für  die  Universitäten  vom  27.  August  1905, 
das  in  ihnen  Heimstätten  für  revolutionäre  Volkspropaganda 
großen  Stiles  schuf,  wird  als  schwerer  Fehler  der  Regierung 
erwiesen.  Wie  umfassend  und  gedanklich  durchgebildet  die 
Forderungen  der  Gesellschaft  geworden  waren,  zeigt  eine  besonders 
eingehende  Analyse  der  Resolutionen  des  Semstwo-  und  Städte- 
vertreter-Kongresses vom  12.  Sept.  Annalistisch  erzählend  wird 
wieder  Wittes  Heimkehr  von  Portsmouth,  dann  eingehend  der 


I 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  301 

gesteigerte  Fortgang  der  revolutionären  Wirren,  terroristischen 
Akte  und  besonders  der  großen  Streii<s  behandelt. 

Recht  unvermittelt,  weil  von  den  Stimmungen  der  Regierungs- 
und Hofkreise  gegenüber  der  anwachsenden  Flut  nirgends  präzise 
die  Rede  war,  wird  schließlich  das  kaiserliche  Manifest  vom 
17.  Oktober  1905  eingeführt,  das  eine  Reihe  der  wesentlichsten 
Forderungen  der  Gesellschaft  bewilligt:  Unverletzlichkeit  der 
Person,  Freiheit  des  Gewissens,  Versammlungs-  und  Koalitions- 
recht; ferner  die  Teilnahme  derjenigen  Volksklassen  an  der  Duma, 
die  nach  den  bisherigen  Bestimmungen  von  ihr  ausgeschlossen 
waren,  d.  h.  der  Arbeiter  und  des  geistigen  Proletariats,  des 
Hauptträgers  der  revolutionären  Ideen;  endlich  eine  wirksame 
Beteiligung  der  Duma  an  der  Gesetzgebung  und  an  der  Kontrolle 
der  Regierungsakte. 

Mit  Zeitungsstimmen  über  dies  Manifest  bricht  die  Schrift 
ab.  Sie  gibt  keinen  Ausblick  auf  die  nächsten  Jahre,  wie  sie 
auch  wesentlich  ohne  Einführung  ist.  Dieser  abgebrochene 
Charakter  kehrt  bei  fast  jeder  behandelten  einzelnen  Materie 
wieder.  Dazu  ist  die  Schrift  von  Anfang  bis  zu  Ende  ohne  Gliede- 
rung. Mit  einer  oft  irritierenden  Plötzlichkeit  springt  irgend 
ein  Absatz  auf  eine  neue  Materie  über.  Aber  die  große  Fülle  gut 
gewählter  und  oft  lebensvoller  Daten,  die  hier  auf  kleinen  Raum 
zusammendedrängt  ist  (ich  konnte  nur  das  am  meisten  Hervor- 
tredende  herausheben)  fesselt  beim  Eindringen  mehr  und  mehr. 
Vielleicht  hat  der  Verfasser  recht,  wemn  er,  obwohl  Augenzeuge 
der  Ereignisse,  mit  ausgesprochener  Absicht  wenig  Eigenes 
hinzutut.  Vielleicht  ist  ein  so  außergewöhnlich  komplizierter  und 
oft  fast  unheimlich  launenhafter  Vorgang,  wie  die  russische 
Revolution  es  ist,  noch  nicht  reif  für  eine  zusammenschauende 
Darstellung. 

Beirut,  Syrien.  Andr.  Walther. 

Der  diplomatische  Krieg  in  Vorderasien,  unter  besonderer  Be- 
rücksichtigung der  Geschichte  der  Bagdadbahn.  Von  Karl 
Mehrmann.  Dresden,  Verlag:  Das  größere  Deutschland 
1916.     182  S.,  2  Karten.    2,50  M. 

Indem  Mehrmann  die  Geschichte  der  Bagdadbahn  in  die 
große  diplomatische  Bewegung  hineinstellt,  deckt  er  manche 
interessante  Zusammenhänge  auf.  Der  Chefredakteur  der  Koblen- 

Historische  Zeitschrift  (U7.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  20 


302  Literaturbericht. 

zer  Zeitung  kann  „mit  einem  gewissen  Stolz  auf  das  Nachrichten- 
material sehen",  das  er  „in  vielen  Jahren  eifrigen  Sammeins 
zusammengebracht"  hat.  Der  spröde  Stoff  ist  übersichtlich 
gegliedert.  Der  erste  der  drei  Hauptteile  handelt  von  der  Ana- 
tolischen  Bahn,  d.  h.  der  Strecke,  die  noch  unsicher  tastend  in  das 
Innere  Kleinasiens  vorgetrieben  wurde,  zunächst  1892  bis  Angora 
auf  Grund  der  Konzession,  die  v.  Siemens  1888  erlangt  hatte. 
M.  übergeht  die  geplante  Fortsetzung  einer  nördlichen  Trasse, 
direkt  östlich  nach  Siwas  und  mit  dem  Blick  auf  Erzerum  zu, 
die  von  den  Türken  stets  gewünscht  worden  ist,  aber  erst  jetzt  im 
Kriege,  nachdem  die  Rücksichtnahme  auf  Rußland  fortgefallen  ist, 
in  Angriff  genommen  werden  konnte.  Er  bespricht  nur  die  zentrale 
Trasse,  von  Angora  über  Kaisarie,  die  vor  Rußlands  Veto  auf- 
gegeben worden  sei,  so  daß  dann  die  Strecke  nach  Angora  überhaupt 
als  Stumpf  stehen  blieb,  nachdem  in  jener  Aera  der  deutsch-eng- 
lischen Freundschaft  der  südliche  Weg  nach  Konia  und  in  die 
Nähe  der  Mittelmeerküsten  nicht  mehr  als  bedenklich  erschienen 
sei.  Erst  ganz  allmählich  habe  der  Bkck  sich  über  die  beiden 
Gebirgsriegel  des  Taurus  und  Amanus  hinweg  nach  dem  weiten 
Land  verschütteten  Reichtums,  Mesopotamien,  und  wagemutig 
darüber  hinaus  gerichtet.  M.  schreibt  dem  Kaiser  selbst  die 
Priorität  des  Gedankens  zu,  „daß  die  Ausbildung  des  deutschen 
Weltwirtschaftsreiches  vom  Festlande  aus  und  auf  dem  Festlande 
möglich  ist".  Gut  wird  herausgearbeitet,  wie  günstig  für  eine 
Erfüllung  solcher  Hoffnungen  zunächst  die  Position  der  deutschen 
Politik  war,  weil  das  Frankreich  der  Faschodazeit  sich  finanziell  an 
der  Bahn  beteiligt  hatte,  England  aber  durch  Rußlands  aus- 
gestreckte Fühler  nach  dem  Persischen  Golf  in  Schach  gehalten 
wurde,  bis  dann  die  seit  der  Jahrhundertwende  wachsende  deutsch- 
englische Spannung,  zusammen  mit  dem  noch  weiterbestehenden 
englisch-russischen  Gegensatz  „eine  Art  englische  Monroedoktrin 
im  Persischen  Meerbusen"  sich  verfertigen  ließ,  an  der  die 
deutschen  Bemühungen  schließlich  ihre  Grenzen  finden  sollten.  — 
Der  mittlere  Abschnitt  des  Buches,  über  die  „Bagdadbahn- 
konzession", verfolgt  zunächst,  wie  inmitten  des  allgemeinen 
Wettlaufs  um  Bahnkonzessionen,  die  der  deutsche  Vorvertrag  von 
Ende  1899  entfesselt  hatte,  inmitten  der  französischen  Vorstöße  von 
Syrien,  der  russischen  von  Ostanatolien  aus,  und  der  englischen 
Pläne  einer  Durchquerung  Arabiens,  Deutschland  aus  politischer 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  303 

und  finanzieller  Vorsicht  über  eine  Internationalisierung  der 
Bahn  mit  England  und  Frankreich,  freilich  vergeblich,  verhandelte, 
bis  dann  die  leichte  Fertigstellung  der  Strecke  Konia-Eregli 
1904  Deutschlands  finanzielle  Fähigkeit,  aus  eigenen  Kräften  das 
Werk  zu  vollenden,  erwiesen  habe.  Nachdem  dann  der  Rückzug 
des  gedemütigten  und  zermürbten  Rußlands  vom  Persischen  Golf 
1907  England  zum  entschiedeneren  Angriff  gegen  Deutschland 
frei  gemacht,  nachdem  die  türkische  Revolution  und  die  bosnische 
Krisis  die  deutsch-türkische  Freundschaft  auf  eme  so  harte  Probe 
gestellt,  sei  trotzdem  dem  „Geiste  einer  wuchtigen  Offensive", 
der  mit  Kiderlen  ins  Auswärtige  Amt  eingezogen  sei,  der  Vorstoß 
zwar  nicht  zum  Golf,  aber  in  zwei  neuen  Richtungen  gelungen: 
Nach  der  Potsdamer  Zusammenkunft  November  1910  wird  mit 
Rußland  die  Fortführung  der  Bahn  über  Chanikin  nach  Teheran 
festgelegt;  in  Alexandrette  wird  der  Anschluß  ans  Mittelmeer 
gewonnen  und  damit  der  englische  Plan,  in  direkter  Linie  von 
Bagdad  oder  Basra  das  syrische  Mittelmeer  zu  erreichen,  zwar 
keineswegs  „überholt",  wie  M,  meint  (dazu  greift  die  mesopo- 
tamische  Strecke  der  Bagdadbahn  zu  weit  nach  Norden  aus), 
aber  doch  eines  guten  Teils  seiner  Überzeugungskraft  beraubt.  — 
Der  Schlußabschnitt,  „das  Ringen  um  die  Endstrecke"  über- 
schrieben, legt  dar,  wie  England,  das  nach  den  Störungen  der 
Marokkokrisis  durch  die  akut  gewordene  Balkanfrage  mit  ihrer 
panslavistischen  Gefahr  zu  Verständigungsversuchen  mit  Deutsch- 
land veranlaßt  wurde,  zu  dem  Abkommen  von  Mai  1913  resp. 
Februar  1914  sich  bereit  fand,  in  dem  Deutschland  die  doch 
nicht  zu  haltende  Strecke  von  Basra  bis  Koweit  (das  die  Türkei 
nach  langem  Sträuben  unter  das  Schutzrecht  Englands  hatte 
geben  müssen)  den  Engländern  gegen  allgemeine  Handelszu- 
geständnisse am  Golf  auslieferte;  wie  in  demselben  Monat,  Februar 
1914,  auch  ein  Abkommen  mit  Frankreich  gelang,  das  außer  in 
Syrien  jetzt  auch  in  Ostanatolien,  dem  Einflußgebiet  seines 
Bundesgenossen,  weithin  festen  Fuß  gefaßt  hatte.  Der  Krieg  hat 
alles  abgebrochen.  Die  Türkei  hat  den  Betrieb  ihrer  Bahnen 
selbst  in  die  Hand  genommen.  Das  Kriegsministerium  hat  die 
aggressiven  Bahnen  von  Angora  gegen  Erzerum  und  von  Jerusalem 
gegen  Ägypten  vorgetrieben.  Die  Bagdadbahn  konnte  den  Taurus 
noch  nicht,  den  Amanus  nur  mit  einer  Notbahn  überwinden, 
und  in  Mesopotamien  fehlen  zwischen  Ras  el  Ain  und  Samarra 

20* 


304 


Literaturbericht. 


noch  591  km.  Den  Transporten  der  Schienen  und  Brücken  ist  der 
Seeweg  in  die  ägyptische  Bucht  gesperrt.  Die  finanziellen  Probleme 
türmen  sich  und  warten  auf  die  Generalrechnung  nach  dem 
Krieg.  — 

Die  erste  Geschichte  der  Bagdadbahnpolitik,  wie  die  Ankündi- 
gung meint,  ist  M.s  Schrift  nicht.  Ihr  letzter  Vorgänger  ist  das 
Buch  von  Alexandre  Ilitch,  Le  chemin  de  fer  de  Bagdad,  au  point  de 
vue  politique,  iconomique  et  financier,  Brüssel  1913,  236  Seiten 
(mit  Bibliographie).  Im  Gegensatz  zu  diesem  und  anderen  Werken 
tritt  bei  M.  das  Wirtschaftliche  und  Finanzielle  mehr  zurück, 
als  der  Gegenstand  es  erlaubt.  Er  zieht  die  finanzielle  Frage  nur  als 
Gegenstand  der  diplomatischen  Verhandlungen  mit  der  Türkei 
heran,  deren  ständiges  Bedürfnis  nach  Anleihen  und  Vorschüssen 
die  Jagd  nach  Bahnkonzessionen  so  vielgestaltig  erhält.  Von 
denjenigen  Finanzfragen,  die  speziell  die  Bahngesellschaften 
interessieren,  werden  nur  die  Dinge  besprochen,  die  in  den  Kon- 
zessionsverhandlungen öffentlich  hervortraten.  Kilometergaran- 
tien und  Bauzuschüsse,  nicht  aber  Fragen  der  Einnahmen,  der 
Tarife,  der  Rentabilität.  Ein  helles  Schlaglicht  weithin  würde 
z.  B.  die  Mitteilung  werfen,  wie  viele  MilHonen  der  Staat  jährlich 
zur  Deckung  des  Defizits  zu  zahlen  hatte.  Fast  ganz  ausgeschieden 
hat  M,  die  wirtschaftsgeographischen  Fragen,  die  doch  bei  allen 
Bahnplänen  neben  den  politischen  und  strategischen  entscheidend 
waren.  Mehr  nur  im  Vorbeigehen  wird  von  der  Bewässerung  der 
Ebene  von  Adana  und  dem  großen  mesopotamischen  Projekt 
Willcocks,  auch  von  den  Petroleumfeldern  längs  der  persischen 
Grenze  gesprochen.  Dagegen  werden  z.  B.  die  Bewässerungsan- 
lagen der  Ebene  von  Konia  nicht  erwähnt,  noch  wird  das  Verhältnis 
von  Alexandrette  zu  Messina  und  den  Flüssen  der  Ebene  von 
Adana  erörtert,  noch  eine  Erklärung  für  den  weit  nach  Nordosten 
zum  Tigris  ausholenden  Bogen  der  Bahnstrecke  von  Aleppo  bis 
Bagdad  gegeben,  der  jedem  Betrachter  der  Karte  auffällt,  aber  der 
Mehrzahl  der  Leser,  für  die  das  Buch  bestimmt  ist,  nicht  ohne 
weiteres  verständlich  sein  dürfte.  Freilich  ist  ja  die  Kenntnis, 
die  ein  Schriftsteller  ohne  Bereisung  des  Landes  von  diesen 
Verhältnissen  zu  gewinnen  vermag,  naturgemäß  bisher  sehr 
lückenhaft.  Da  ist  erst  noch  viel  Arbeit  zu  leisten  von  Spezial- 
untersuchungen und  wissenschaftlichen  Unternehmungen  wie  der 
Januar  1916  zuerst  erschienenen  Vierteljahresschtift:  „Archiv  für 


I 


Deutsche  Landschaften.  305 

Wirtschaftsforschung  im  (näheren)  Orient"  (Verlag  Riepenheuer, 
Weimar).  Immerhin  wäre  aus  der  vorhandenen  Literatur  schon 
eine  reiche  Ausbeute  zu  gewinnen,  wie  ein  Blick  in  die  wertvolle 
Bibliographie  von  784  Nummern  im  ersten  Heft  der  genannten 
Zeitschrift  zeigt.  Eine  geographische  Grundlegung  würde  auch 
über  die  technischen  Fragen,  die  neben  den  politischen  und 
strategischen,  wirtschaftlichen  und  finanziellen  die  Lagerungen  der 
Bahnnetze  bestimmen,  Aufklärungen  geben.  Eine  der  interessante- 
sten Fragen  z.B.,  die  nach  der  Fortführung  der  Linie  entweder  von 
Angora  oder  von  Konia  aus,  wird  sofort  durchsichtiger,  wenn  die 
größeren  technischen  Schwierigkeiten  der  nördlichen  Strecke  mit  in 
Rechnung  gezogen  werden,  da  alsdann  das  Zurückweichen  vor 
Rußlands  Druck  wesentlich  harmloser  erscheint. 

Daß  M.  sich  auf  die  Darlegung  der  diplomatischen  Bewegung 
beschränkt,  ist  an  sich  sein  gutes  Autorenrecht.  Aber  auch  diese 
Darlegung  bedarf  der  berührten  Ergänzungen.  Die  Schwierigkeit 
jeder  Darstellung  der  großen  politischen  Bewegung  der  jüngsten 
Vergangenheit,  daß  man  nämlich  trotz  offizieller  Zeitungs- 
artikel und  englischer  Ministererklärungen  doch  nirgends  recht  mit 
Sicherheit  auf  den  Grund  der  Dinge,  auf  die  treibenden  Kräfte  und 
die  wirklichen  Absichten  im  Schöße  der  einzelnen  Regierungen 
kommt,  kann  vielfach  durch  eine  Kontrolle  jeder  Nachricht  an 
wirtschaftlichen  und  anderen  Realitäten  und  Wahrscheinlichkeiten 
überwunden  werden. 

Beirut,  Andr.  Walther. 


Politische  Korrespondenz  Karl  Friedrichs  von  Baden.  1783—1806. 
Herausgegeben  von  der  Badischen  Historischen  Kommission, 
bearbeitet  von  B.  Erdtnannsdör£fer  und  K.  Obser.  6.  Bd. 
Ergänzungsband  (1783—1806).  Bearbeitet  von  K.  Obser. 
Heidelberg,  Carl  Winter.    1915.     12  M. 

Mancherlei  archivalische  Funde  des  letzten  Jahrzehnts  haben 
die  Herausgabe  eines  Ergänzungsbandes  zu  der  Korrespondenz 
Karl  Friedrichs  notwendig  gemacht.  Die  wichtigsten  stammen 
aus  nachgelassenen  Papieren  des  Großherzogs  Ludwig.  Seine 
militärische  und  politische  Tätigkeit  als  badischer  Prinz  sowie 
die  vorübergehende  Verwaltung  der  Finanzen  spiegeln  sich  darin 
vom  Beginn  seiner  Laufbahn  bis  zu  seinem  Sturz.    Sein  Wesen 


306 


Literaturbericht. 


hat  in  der  Beleuchtung  dieser  neuen  Quellen  nicht  gewonnen. 
Das  historische  Urteil  lautet  nach  wie  vor  ungünstig.  Andere 
Ergänzungen  boten  sich  dar  in  Briefen  der  Markgräfin  Amalie 
an  ihre  Tochter,  Kaiserin  Elisabeth  von  Rußland,  die  Gemahlin 
Zar  Alexanders.  Rein  persönlich  gesehen,  als  Schilderungen  von 
Hof  und  fürstlicher  Familie,  als  Beiträge  überdies  zur  Kenntnis 
Napoleons,  gehören  diese  Stücke  vielleicht  zu  den  reizvollsten 
des  Werkes.  Weitere  Aufschlüsse  fanden  sich  in  Aufzeichnungen 
und  Briefwechseln  der  badischen  Minister  Dalberg  und  Secken- 
dorff,  sowie  des  Staatsrates  und  Professors  J.  L.  Klüber.  Da  wir 
eine  Nachlese  vor  uns  haben,  die  einen  Zeitraum  von  mehr  als 
zwanzig  Jahren  durchstreift,  mußte  der  Bearbeiter  auf  eine  zu- 
sammenfassende Einleitung  verzichten,  wie  sie  den  früheren 
Bänden  vorausgeschickt  wurde. 

Karl  Friedrich  selber  tritt  in  der  Abfolge  dieser  gesammelten 
Schriftstücke  immer  mehr  zurück.  Seine  persönlichen  Schreiben 
reichen,  wenigstens  in  dem  vorliegenden  Bande,  über  die  neun- 
ziger Jahre  kaum  hinaus.  Ganz  verblaßt  seine  Erscheinung 
auch  dann  nicht.  Aber  man  sieht  weniger  den  Regenten,  der 
durch  Bauernbefreiung  und  wohltätige  Reformen  seinen  auf- 
geklärten Zeitgenossen  verehrungswürdig  wurde,  als  den  altern- 
den Monarchen,  den  gebeugten  deutschen  Fürsten,  der  von  Napo- 
leon erhöht  und  doch  so  tief  verwundet  wurde.  Auch  wo  er  das 
Wort  nicht  ergreift,  schaut  sein  gütiges  und  leidvolles  Antlitz 
zwischen  den  Zeilen  hervor.  —  Eine  eigenhändige  Denkschrift 
(1783),  die  von  der  Gestaltung  der  orientalischen  Frage  und  einer 
möglichen  Aufteilung  der  Türkei  ausgeht,  eröffnet  den  Band. 
Merkwürdig,  wie  diese  Vorgänge  einer  entfernten  Weltbühne  auf 
die  Berechnungen  des  oberrheinischen  Markgrafen  einwirken,  und 
doch  kommt  darin  eine  recht  bezeichnende  Tatsache  zum  Aus- 
druck: die  bis  zur  Reichsgründung  kaum  abgeschwächte  Ab- 
hängigkeit der  deutschen  Kleinstaaten  von  den  großen  Mächten! 
In  diesem  besonderen  Fall  erhoffte  Karl  Friedrich  durch  Ruß- 
lands Vermittlung  eine  Abtretung  vorderösterreichischer  Be- 
sitzungen, falls  das  Habsburgerreich  sich  nach  Osten  ausdehne. 
Der  Grundton  seiner  auswärtigen  Politik  wird  damit  angeschlagen: 
immer  wieder,  vom  Anfang  bis  zum  Ausgang  des  Monarchen, 
dreht  sich  alles  um  Erstarkung  seines  schmächtigen  Besitzes,  um 
Zusammenfassung,  Wachstum  und   Erhöhung  auf  Kosten  an- 


Deutsche  Landschaften.  307 

stoßender  oder  einschneidender  Nachbarn.  Die  Entstehung  eines 
deutschen  Mittelstaates  inmitten  des  zerfallenden  Reiches  und 
eines  sich  umbildenden  Europas  ist  ja  das  Thema  der  gesamten 
politischen  Korrespondenz  Karl  Friedrichs,  und  so  beherrscht  es 
auch  diesen  Nachtragsband,  der  den  schicksalsvollsten  Abschnitt 
einer  langen  Regierung  gleichsam  im  Fluge  durcheilt.  Alles,  was 
sich  um  diese  Lebensfrage  gruppiert,  kehrt  wieder:  die  ersten 
Erschütterungen  am  Oberrhein  infolge  der  Revolution,  es  folgt 
mit  dem  Ansturm  des  revolutionären  Frankreich  jene  Politik 
des  bedrohten,  eingeschüchterten  Landes,  die  zwischen  Angst 
und  Begehrlichkeit  hin  und  her  schwankt,  dann  der  Anschluß 
an  Frankreich  mit  allem,  was  er  im  Gefolge  hatte,  die  Nöte  des 
ausgepreßten  Baden,  aber  auch  die  Vergrößerung  des  Rheinbund- 
staates, das  Streben  nach  der  Königskrone  und  die  Erbfolge  der 
Hochbergs,  die  außerordentlichen  inneren  Schwierigkeiten,  die 
Sorge  um  das  Zusammenwachsen  der  Landesteile,  kurz  der  Auf- 
bau des  modernen  Rechtsstaates. 

Der  vorliegende  Band,  nach  bewährten  Grundsätzen  gesam- 
melt und  herausgegeben,  schließt  ein  Unternehmen  ab,  das  Karl 
Obser  zusammen  mit  seinem  Lehrer  Erdmannsdörffer  begonnen 
hat.  Und  schon  erntet  die  jüngere  Generation  in  Forschung  und 
Darstellung  die  Früchte  ihrer  gemeinsamen  Arbeit.  Als  eines 
der  vornehmsten  Denkmale  zur  süddeutschen  Geschichte  nicht 
allein,  sondern  der  gesamten  europäischen  Entwicklung,  die  sich 
unter  dem  Gestirn  Napoleons  vollzieht,  bleibt  die  Veröffentlichung 
der  politischen  Korrespondenz  Karl  Friedrichs  ein  hervorragendes 
Verdienst  der  Badischen  Historischen  Kommission.  Einer  jener 
Marksteine,  von  denen  aus  man  gern  weitere  Ziele  ins  Auge  fassen 
möchte,  wenn  es  die  Zeitläufte  nur  irgendwie  erlauben!  Gerade 
unter  dem  Eindruck  der  gegenwärtigen  epochalen  Wandlungen 
wenden  sich  die  Blicke  von  dem  Gründer  des  Großherzogtums 
zu  dem  Enkel,  der  den  alten  Rheinbundstaat  mit  hochgerichtetem 
Sinn  in  die  Bahnen  unseres  nationalen  Lebens  und  des  Reichs 
hinübergeleitet  hat:  möchte  über  der  Herausgabe  der  Quellen 
zur  Geschichte  Großherzog  Friedrichs  des  Ersten  dieselbe  Weit- 
herzigkeit der  Regierung  und  der  gleiche  Eifer  der  Gelehrten 
walten ! 

Rostock  (z.  Zt.  im  Felde).  W.  Andreas, 


308  Literaturbericht. 

Mainz  in  seinen  Beziehungen  zu  den  deutschen  Königen  und  den 
Erzbischöfen  der  Stadt  bis  zum  Untergange  der  Stadtfrei- 
heit (1462).  Von  Heinreidi  Sdirohe.  (Beiträge  zur  Mainzer 
Geschichte.  Heft  4.)  Mainz,  in  Komm,  bei  L.  Wilckens 
1915.    248  S. 

So  bedeutend  die  Rolle,  welche  die  Stadt  Mainz  im  Mittelalter 
gespielt  hat,  auch  war,  so  ist  ihre  Geschichte  in  der  neueren 
Historiographie  doch  arg  vernachlässigt.  Zwar  fehlt  es  nicht  an 
brauchbaren  Einzeluntersuchungen,  für  die  Gesamtgeschichte  aber 
sind  wir  immer  noch  auf  das  dilettantische,  heute  völlig  veraltete 
Werk  von  C.  A.  Schaab  (4  Bände  1841 — 51)  angewiesen.  Schrohes 
Absicht  ist  es,  diese  Lücke  auszufüllen.  Er  will,  wie  er  in  der 
Vorbemerkung  seines  Buches  sagt,  nicht  nur  die  auf  dem  Titel- 
blatte genannte  Aufgabe  lösen  und  die  Beziehungen  der  Stadt  zu 
den  deutschen  Königen  und  den  Erzbischöfen  darstellen,  sondern 
eine  Geschichte  der  Stadt  selbst  schaffen.  Die  Fülle  des  gebotenen 
Stoffes  und  der  umfangreiche  Fußnotenapparat  legen  ein 
rühmliches  Zeugnis  von  dem  Sammelfleiße  des  Verfassers  ab. 
Jeder,  der  sich  mit  der  Mainzer  Geschichte  beschäftigt  hat,, 
weiß,  wie  weit  das  Quellenmaterial  zerstreut,  wie  unvollkommen 
der  Stand  der  Vorarbeiten  ist.  Man  wird  daher  dem  Verfasser 
mildernde  Umstände  zubilligen  müssen,  wenn  sein  Werk  nicht  allen 
Anforderungen  gerecht  geworden  ist.  Seh.  ist  es  nicht  gelungen, 
den  umfangreichen  Stoff  zu  meistern.  Schon  die  Gruppierung  ist 
keine  glückliche.  Der  Verfasser  teilt  die  Stadtgeschichte  in 
eine  Anzahl  Perioden  nach  den  Zeitaltern  der  fränkischen  und 
deutschen  Königsdynastien  ein.  Nicht  das  Emporsteigen  neuer 
Herrscherhäuser,  sondern  Ereignisse,  wie  die  Erwerbung  der 
Stadtherrschaft  durch  die  Erzbischöfe  um  950,  die  Anfänge  einer 
selbständigen  politischen  Rolle  zu  Beginn  des  12.  Jahrhunderts 
und  die  Verleihung  des  großen  Freiheitsprivilegs  im  Jahre  1244 
bilden  Marksteine  und  Einschnitte  in  der  Mainzer  Geschichte. 
In  der  Darstellung  stehen  die  lokalgeschichtlichen  Gesichtspunkte 
zu  stark  im  Vordergrunde.  Ohne  Berücksichtigung  ihrer  größeren 
oder  geringeren  Bedeutung  sind  alle  erreichbaren  Nachrichten  zu- 
sammengetragen und  regestenartig  aneinandergereiht.  Z.  B.  ist  jede 
Anwesenheit  eines  deutschen  Königs  in  der  Stadt  mit  großer  Ge- 
wissenhaftigkeit registriert.  Der  Inhalt  von  Urkunden  und  Ver- 
trägen wird  meist  Paragraph  für  Paragraph  —  vielfach  sogar  unter 


Deutsche  Landschaften.  309 

Beifügung  der  Zeugenlisten  und  Klauseln  —  wiedergegeben,  ohne 
daß  das  Neue  und  für  die  Mainzer  Geschichte  Bedeutungsvolle  beson- 
ders herausgearbeitet  und  gewürdigt  wäre.  Der  Verfasser  hat,  wenn 
er  auch  ungedrucktes  Material  begreiflicherweise  nur  im  geringen 
Umfange  heranziehen  konnte,  sich  in  anerkennenswerter  Weise 
bemüht,  aus  den  Quellen  zu  schöpfen.  Freilich  wäre  hie  und  da 
eine  stärkere  Heranziehung  der  darstellenden  Literatur  und  eine 
schärfere  Kritik  der  Quellen  wünschenswert  gewesen.  Beispiels- 
weise steht  die  S.  1  benutzte  Merovingerurkunde  von  627  bei 
Pertz  unter  den  „Diplomata  spuria".  Der  angebliche  merovingische 
Königspalast  in  Mainz  ist  somit  wohl  in  das  Reich  der  Legende  zu 
verweisen.  Die  auf  S.  7  benutzten  Königsurkunden  sind  von 
Wibel  (Neues  Archiv  Bd.  35  (1905)  S.  165  ff.)  als  Fälschungen 
Schotts  nachgewiesen.  Für  die  ältere  Zeit  der  Mainzer  Geschichte 
hält  sich  der  Verfasser  hauptsächlich  an  das  Regestenwerk  von 
Böhmer-Will,  das  heute  leider  weder  nach  der  Seite  der  Vollständig- 
keit noch  nach  der  Seite  der  Kritik  ein  zuverlässiger  Führer  mehr 
ist.  Leidet  die  ältere  Geschichte  der  Stadt  unter  einem  empfind- 
lichen Mangel  an  Quellen,  so  ist  für  die  Zeit  vom  13.  Jahrhundert  an 
eher  das  Gegenteil  der  Fall.  Für  diese  Abschnitte  wäre  daher 
eine  strenge  Gliederung  des  Stoffes  nach  höheren  Gesichtspunkten 
besonders  wünschenswert  gewesen.  Vor  allem  hätten  die  Richt- 
linien der  städtischen  Politik  als  Rückgrat  der  Darstellung  schärfer 
herausgearbeitet  werden  müssen.  Hauptsächlich  waren  es  zwei 
Punkte,  um  welche  sich  die  Politik  der  Stadt  Mainz  drehte; 
L  Die  Erweiterung  und  Sicherung  der  politischen  Unabhängigkeit 
und  kommunalen  Selbständigkeit.  2.  Schutz  des  Handels  und  der 
Verkehrsstraßen.  Um  diese  Ziele  zu  erreichen,  lavierte  die  Stadt 
vorsichtig  zwischen  Königen  und  Erzbischöfen,  zwischen  Gegen- 
königen und  Doppelbischöfen  hin  und  her  und  schloß  zu  zahl- 
reichen Malen  mit  Fürsten  und  Städten  Schutz-  und  Friedens- 
bündnisse ab.  Wenn  auch  an  dem  Werke  Sch.s  noch  erhebliche 
Ausstellungen  zu  machen  sind,  so  soll  doch  nicht  verkannt  werden, 
daß  im  einzelnen  mancherlei  Nützliches  geleistet  und  vor  allem 
einem  künftigen  Darsteller  der  Mainzer  Stadtgeschichte  der  Weg 
wesentlich  geebnet  ist. 

Breslau.  Manfred  Stimming. 


310 


Literaturbericht. 


Deutsche  Verfassungsgeschichte  vom  15.  Jahrhundert  bis  zur 
Gegenwart.  Von  Fritz  Härtung.  (Grundriß  der  Geschichts- 
wissenschaft, herausg.  von  Aloys  Meister.  Reihe  II,  Abt.  4.) 
Leipzig  und  Berlin,  Teubner.     1914.    174  S. 

Es  ist  eine  bemerkenswerte  Leistung,  die  neuere  deutsche  Ver- 
fassungsgeschichte, die  durch  die  selbständige  Entwicklung  der  viel- 
gestaltigen deutschen  Territorien  so  unregelmäßig  zerspalten  und 
seit  1806  unter  dem  Sturmwind  neuer  Ideen  mehrfach  gebrochen 
worden  ist,  auf  geringem  Raum  in  flotter,  lesbarer  Darstellung 
zusammenzufassen  und  dabei  durch  geschickte  Kommentierung 
der  Literaturverzeichnisse,  in  denen  für  die  neuesten  Erscheinungen, 
d.  h.  die  noch  nicht  in  der  8.  Auflage  des  Dahlmann-Waitz  auf- 
geführten Arbeiten  eine  gewisse  Vollständigkeit  erreicht  worden  ist, 
dem  Leser  einen  bequemen  Anschluß  an  den  gegenwärtigen 
Stand  der  Forschung  zu  vermitteln.  Das  Buch  ist  zugleich  der 
Niederschlag  der  Bemühungen  einer  neuen  Schule,  welche  die 
verfassungs-  und  verwaltungsgeschichtlichen  Studien  über  die 
lange  so  ganz  überwiegenden  Interessen  an  der  Verfassungs- 
geschichte des  Mittelalters  in  die  Neuzeit  hinausgeführt  hat, 
und  deren  schnelle  und  reiche  Entwicklung  dem  überall  organi- 
sierten Interesse  für  Lokal-  und  Landesgeschichte,  dabei  in 
besonderem  Maße  dem  Einfluß  Schmollers  und  Hintzes,  verdankt 
wird.  Für  die  deutsche  Verfassungsgeschichte  der  Neuzeit  gab  es 
zusammenfassende  Darstellungen  bisher  nur  von  juristischen 
Interessen  aus,  die  mehr  systematische  Querschnitte  der  in 
verschiedenen  Perioden  gültigen  Rechtszustände  als  einen  spezifisch 
historisch,  d.  h.  am  Zusammenhang  mit  der  Gesamtentwicklung 
des  staatlichen  Lebens  orientierten  kontinuierlichen  Längsschnitt 
erstrebten. 

Ein  Werk  aus  einem  Guß  ist  diese  erste  Zusammenfassung 
natürlich  noch  nicht.  Schon  die  Interessen  eines  kurzgefaßten 
Lehrbuches  forderten  ein  Verweilen  bei  dem,  was  durch  lebhaftere 
Bearbeitung  in  den  Gesichtskreis  des  allgemeinen  Interesses 
getreten  ist.  Und  die  Notwendigkeit  einer  relativ  schnellen 
Fertigstellung,  vor  die  sich  Härtung  gestellt  sah,  schloß  von 
vornherein  die  Möglichkeit  aus,  durch  eigene  Spezialuntersuchun- 
gen die  Lücken  auszufüllen,  welche  die  Forschung  gelassen  hat. 
Es  schmälert  nicht  sein  Verdienst,  daß  auch  dieser  „erste  Versuch" 
zu  methodologischer  Besinnung  anregt  über  das,  was  von  einer 


Deutsche  Verfassungsgeschichte.  311 

Verfassungsgeschichte  der  Neuzeit  gemäß  den  besonderen  Be- 
dingungen, unter  denen  diese  Entwicklung  steht,  verlangt  werden 
könnte. 

Unbedingt  müßte  meines  Erachtens  für  die  Neuzeit  die 
geistige  Bewegung  hineingezogen  werden,  etwa  nach  der  Methode, 
die  Cunningham  in  seiner  englischen  Wirtschaftsgeschichte 
versucht  hat,  nämlich  am  Schluß  der  Darstellung  jeder  Periode 
herauszuarbeiten,  wie  die  tatsächlichen  Verhältnisse  auf  die 
Umbildung  der  volkswirtschaftlichen  Ideen  gewirkt  haben, 
und  am  Anfang  der  Darstellung  jeder  neuen  Periode  umgekehrt, 
wie  die  Ideen  das  Tatsächliche  umbilden.  Für  die  Reichsreform- 
bewegung des  15.  und  16.  Jahrhunderts  hat  H.  die  so  nötige 
Unterbauung  durch  die  Ideengeschichte  des  15.  Jahrhunderts 
wenigstens  berührt,  wenn  auch  eine  Durchführung  noch  nicht 
möglich  ist,  da  eine  einigermaßen  vollständige  Sammlung  der 
einschlägigen  Schriften  sich  noch  im  Stadium  der  Vorbereitung 
durch  die  Münchener  Historische  Kommission  befindet.  Die 
kameralistischen  und  staatsrechtlichen  Schriften  der  nächsten 
Jahrhunderte  müssen  sich  mit  Erwähnungen  begnügen,  auch 
noch  die  große  geistige  Bewegung  des  18,  Jahrhunderts  und  der 
Revolution.  Für  das  19.  Jahrhundert,  gelegentlich  auch  schon  für 
das  18.,  treten  dagegen  die  geistigen  Strömungen  gebührlich  in 
den  Vordergrund,  und  die  ausgezeichnet  durchsichtige  Darstellung 
ihrer  Wirkungen  in  den  verschiedenen  Gruppen  der  deutschen 
Einzelstaaten  sowie  ihrer  Umbildungen  bis  zur  relativen  Versöhnung 
der  Gegensätze  im  neuen  Reich,  soll  nicht  herabgesetzt  werden 
durch  die  Feststellung,  daß  eine  Zusammenfassung  der  staats- 
theoretischen und  politischen  Literatur  in  einem  besonderen 
Kapitel  immerhin  eine  bedeutende  Verbesserung  sein  würde. 
Die  ausgesprochene  Tatsache,  daß  „die  Parteibewegung  ein 
wesentliches  Teil  der  Verfassungsbewegung"  ist,  veranlaßt  zum 
Hinweis  auf  die  wichtigste  Literatur,  aber  für  die  Zeit  nach  1866, 
die  übrigens  nur  summarisch  besprochen  wird,  nicht  zu  einer 
Darstellung.  Eine  solche  dürfte  selbst  bei  der  in  Deutschland 
fortbestehenden  überragenden  Bedeutung  der  Regierung  nicht 
fehlen,  da  doch  auch  bei  uns  die  Parteiorganisationen  schon  in 
das  Regierungssystem  selbst  eindringen,  wenn  sie  auch  noch 
nicht  ein  so  integrierender  Bestandteil  derselben  geworden 
sind  wie  in  England  oder  den  Vereinigten  Staaten.   Sie  aus  einer 


312 


Literaturbericht. 


Darstellung  der  Verfassungsgeschichte  auszuscheiden,  würde  das- 
selbe sein,  als  ob  man  einen  so  wesentlichen  Vorgang  wie  die 
Ausbildung  eines  Kabinetts  in  den  neuzeitlichen  Staaten  nicht 
behandeln  wollte,  weil  das  Kabinett  sich  ebenfalls  ohne  Erlaubnis 
der  Theorie  eingeschlichen  hat. 

Die  Verwaltungsgeschichte  hat  H.  erfreulicherweise  in  vollem 
Umfang,  wenn  auch  für  die  neueste  Zeit  nur  in  allgemeinen 
Zügen,  in  die  Darstellung  der  Verfassungsgeschichte  aufgenommen,, 
ohne  daß  der  Titel  des  Buches  einen  entsprechenden  Zusatz 
erhält.  In  der  Tat  kann  eine  historische  Betrachtung  die  Scheidung 
nicht  aufrechterhalten.  Wenn  ein  Abschnitt  über  das  landes- 
herrliche Kirchenregiment  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  eingefügt 
worden  ist,  ohne  daß  übrigens  diese  Linie  fortgeführt  würde, 
so  hätte  man  noch  eher  ein  Kapitel  über  die  Rezeption  des  römi- 
schen Rechts  und  insbesondere  über  die  Städte,  die  doch  auch  seit 
dem  15.  Jahrhundert  noch  ein  wesentlicher  Faktor  in  der  Ver- 
fassungsentwicklung waren,  sowohl  politisch  wie  wegen  ihres. 
Vorgangs  in  der  Gesetzgebung  und  ihrer  bleibenden  finanziellen 
Bedeutung  erwarten  dürfen.  Daß  eine  solche  Darlegung,  abge- 
sehen von  Erwägungen,  fehlt,  wirkt  um  so  ungleichmäßiger,, 
als  H.  die  Geschichte  der  Territorien  relativ  ausführlich  von  den 
Anfängen  der  Landeshoheit  im  13.  Jahrhundert  an  entwickelt. 
Bei  der  überragenden  Bedeutung  der  Territorien  für  die  deutsche 
Verfassungsgeschichte  der  Neuzeit,  die  das  Buch  auch  sonst  in 
seiner  Raumökonomie  und  der  auf  Charakterisierung  der  ver- 
schiedenen Typen  verwendeten  ausgezeichneten  Sorgfalt  zur 
Geltung  bringt,  kann  diese  Vervollständigung  der  wesentlichen 
Reihe  bis  zu  den  ersten  Anfängen  als  berechtigt  gelten.  Es  bliebe 
dann  nur  der  ernste  Mangel,  an  dem  freilich  die  Ungleichmäßigkeit 
der  bisherigen  Forschung  die  Schuld  trägt,  daß  das  15.  Jahrhundert 
vielfach  ausfällt,  obwohl  gerade  damals  schon  die  Grundlagen  des 
Neuen  viel  fester  gelegt  worden  sind,  als  es  auch  H.  ahnen  läßt. 
Er  bespricht  den  entscheidenden  Fortschritt  in  der  Entwicklung  der 
fürstlichen  Gewalt,  die  damals  die  Elemente  des  Staatsgedankens 
lernt.  Hätte  er  auch  beachtet,  wie  weit  schon  im  15.  Jahrhundert 
die  Konsolidierung  der  landständischen  Verfassung  mit  ihren 
kollegialen  Ausschüssen  und  Behörden  für  Finanzen  und  Regiment 
fortgeschritten  war,  und  wie  lebhaft  die  territoriale  Behörden- 
organisation eingesetzt  hatte,  angeregt  sowohl  durch  die  ständi- 


Deutsche  Verfassungsgeschichte.  313 

sehen  Behörden  als  auch  schon  damals  durch  die  außerdeutschen 
Beispiele,  nachdem  die  großen  Konzilien  und  die  Renaissance- 
bewegung den  Blick  weit  über  die  Grenzen  Deutschlands  hinaus 
geweitet  hatten,  so  würde  er  schwerlich  noch  geneigt  sein,  mit 
einer  älteren  Anschauung  für  den  „entscheidenden  Fortschritt  in 
•der  Regierungsverfassung,  die  Errichtung  ständiger  kollegialer 
Zentralbehörden",  den  Zufall  des  Bekanntseins  Kaiser  Maxi- 
milians I.  mit  burgundischen  Einrichtungen  als  irgendwie  epoche- 
machend anzusehen.  Für  die  Weiterentwicklung  der  Forschung 
kann  es  nur  wertvoll  sein,  auch  durch  H.s  Buch  darauf  hingewiesen 
zu  werden,  wie  vielfältig  das  Verständnis  der  Anfänge  unserer 
neuzeitlichen  Entwicklung  noch  unter  unserer  mangelhaften 
Kenntnis  des  15.  Jahrhunderts  leidet. 

In  der  Auffassung  H.s  tritt  im  allgemeinen  ein  starker  Glaube 
■an  die  Realpolitik,  die  ausschlaggebende  Bedeutung  der  Macht, 
die  Majestät  des  kräftigen,  herrschenden  Staates  hervor.  Der 
Gegenstand  seines  Buches  kündet  ja  auch  auf  jeder  Seite  von 
unserer  deutschen  Erfahrung,  daß  wir  aus  jahrhundertelanger 
Unzulänglichkeit  nur  durch  wirksame  Macht  und  Blut  und 
Eisen  errettet  worden  sind.  Und  wir  haben  in  unserer  Geschichte, 
anders  als  die  Völker  in  unserem  Westen,  die  sich  deshalb  in 
ihrem  politischen  Empfinden  und  Glauben  so  weit  von  uns 
•entfernten,  kaum  ein  Beispiel  dafür,  nicht  einmal  im  Zeitalter  der 
Staatsminister  Stein  und  Hardenberg,  daß  ein  von  breiteren 
Kreisen  des  Volkes  her  aufgestiegenes  Staatsideal  sich  gewaltig 
umgestaltend  durchgesetzt  hätte.  So  nennen  die  anderen  unseren 
politischen  Glauben  materialistisch,  weil  er  das  Zutrauen  zur 
•wirksamen  Kraft  des  Ideals  verloren  habe  und  den  Machtstaat  als 
Selbstzweck  verehre.  Und  die  Forschung  kann  aus  diesem  Gegen- 
satz entnehmen,  daß  es  uns  heute  nicht  leicht  fällt,  die  Auseinander- 
setzung zwischen  Fürsten  und  Ständen,  den  Gegensatz  Preußens 
und  der  deutschen  Kleinstaaten,  das  Aufeinandertreffen  des 
Machtstaates  und  des  „humanen  Zeitgeistes"  der  späteren  Auf- 
klärung, den  Kampf  zwischen  Regierung  und  liberaler  Opposition 
mit  gleichmäßiger  Verteilung  von  Licht  und  Schatten  zu  schildern, 
noch  die  Tragik  der  beiden  großen  idealistischen  Bewegungen 
unserer  Verfassungsgeschichte,  der  Reichsreformbewegung  um 
die  Wende  des  15.  Jahrhunderts  und  des  Liberalismus  im  19.  Jahr- 
hundert, zu  ihrem  Recht  kommen  zu  lassen.   Vieles  einzelne  in 


314 


Literaturbericht. 


H.s  Buch,  sein  Verweilen  bei  dem  zentralisierten  Territorialstaat, 
sein  geringes  Interesse  für  die  Städte,  seine  Stellungnahme  in 
Kontroversen,  wie  etwa  der  über  den  Anteil  des  Fürstentums 
resp.  der  Stände  an  der  Ausbildung  der  landständischen  Ver- 
fassung, dürfte  mit  seiner  politischen  Stimmung  zusammenhängen. 
Um  so  mehr  aber  tritt  bei  ihm  ein  bemerkenswerter,  für  die 
Abfassung  eines  Studentenbuches  besonders  wesentliches  Bemühen 
um  Unparteilichkeit  und  eine  Beweglichkeit  des  Urteils  hervor, 
die  auch  die  gegnerischen  Auffassungen  verarbeitet.  Besonders 
deutüch  läßt  sich  das  an  seiner  gegen  frühere  Äußerungen  veränder- 
ten Stellungnahme  zwischen  Kaiser  und  Ständen  zur  Zeit  der 
Reichsreformbewegung  und  an  seiner  Behandlung  der  1848  er 
Bestrebungen  verfolgen.  Anklage  und  Spott,  die  sich  in  vielen 
Darstellungen  über  jene  Perioden  häufen,  fehlen  bei  ihm  durch- 
aus. Es  findet  sich  nur  der  stark  betonte  Hinweis,  in  dem 
ein  wenig  Urteilen  ex  eventu  steckt,  daß  dort  von  den  Ständen, 
hier  von  den  Liberalen,  etwas  unternommen  worden  sei,  was  von 
vornherein  dazu  verurteilt  gewesen  sei,  an  den  bestehenden  Macht- 
realitäten zu  scheitern. 

Beirut.  Andr.  Walther. 


Deutsche  Dialektgeographie.  Berichte  und  Studien  über 
G.  Wenkers  Sprachatlas  des  Deutschen  Reichs,  heraus- 
gegeben von  F.  Wrede.  Heft  4:  Emil  Hommer,  Studien 
zur  Dialektgeographie  des  Westerwaldes.  Wilhelm  Kr  oh, 
Beiträge  zur  Nassauischen  Dialektgeographie.  Heft  8: 
Georg  Wen k er,  Das  rheinische  Platt.  Otto  Lobbes, 
Nordbergische  Dialektgeographie.  Heinrich  Neuse,  Stu- 
dien zur  niederrheinischen  Dialektgeographie  in  den  Kreisen 
Rees,  Dinslaken,  Hamborn,  Mülheim,  Duisburg.  Albert 
Hanenberg,  Studien  zur  niederrheinischen  Dialektgeo- 
graphie zwischen  Nymegen  und  Ürdingen,  Marburg,  Elwert. 
1915.  Vll,  381  S.  und  2  Karten;  VH,  16*,  276  S.  4  Karten. 
13  M.  und  11,50  M. 

Auf  den  Karten  von  Wenkers  Sprachatlas  baut  der  Voll- 
ender seines  großen  Werks,  F.  Wrede,  in  Arbeiten  seiner  Schüler 
eine  Geographie  der  deutschen  Mundarten  auf.  Die  Wenker- 
schen  Karten  haben  dabei  vor  allem  heuristischen  Wert:  sie 
lehren    die    mundartscheidenden   Merkmale  und   ihre   Grenzen 


Deutsche  Sprache  und  Literatur.  315 

finden  und  zeigen  innerhalb  des  damit  vorläufig  abgesteckten 
Mundartgebiets  die  bezeichnenden  Unterschiede  von  Gau  zu 
Gau  oder  von  Ort  zu  Ort,  die  etwa  geeignet  sind,  Untermund- 
arten abzugrenzen.  Sie  geben  aber  zugleich  auch  stets  den 
Überblick  über  die  sprachlichen  Verhältnisse  der  Nachbargebiete, 
behüten  dabei  den  Bearbeiter  vor  falscher  isolierender  Behand- 
lung und  helfen  die  sprachlichen  Erscheinungen  durch  Verglei- 
chung  deuten.  Sache  des  einzelnen  Bearbeiters  ist  es  sodann, 
die  Sprachräume,  die  er  darstellen  will,  selbst  abzuwandern,  die 
Angaben  der  Atlaskarten  nachprüfend  zu  erweitern,  die  Grenz- 
linien als  Verkehrsscheiden  natürlicher  oder  politischer  Art  kennen 
zu  lernen  und  sie  phonetisch  und  geographisch,  nach  Ursache 
und  Alter  zu  deuten. 

Die  Darsteller  der  rheinischen  Mundarten  in  den  vorlie- 
genden beiden  Heften  sind  in  der  Lösung  dieser  Aufgaben  durch- 
weg sehr  weit  gelangt,  fast  überall  hat  sich  ergeben,  daß  die 
Mundartgrenzen  ihre  allgemeine  Richtung  im  späteren  Mittel- 
alter erlangt  haben.  Die  stärksten  politischen  Grenzen  sind  auch 
zu  den  bedeutendsten  Sprachscheiden  geworden,  sofern  sie  als 
politische  Grenzen  Dauer  hatten.  Das  zeigt  Hommer  für  den 
Westerwald,  Kr  oh  in  besonders  gründlicher  Arbeit  für  Nassau, 
Hanenberg  für  das  linksrheinische  Grenzland  zwischen  Krefeld 
und  Nijmegen.  Es  ist  hier  kein  Raum,  ihren  Ergebnissen  im 
einzelnen  nachzugehen,  dagegen  mag  versucht  werden,  an  einem 
zusammenhängenden  Gebiet  rechts  vom  Niederrhein  Gang  und 
Ziel  der  dialektgeographischen   Methoden  zu   veranschaulichen. 

Im  großen  wirken  hier  die  Grenzen  der  hochdeutschen  Laut- 
verschiebung als  Dialektscheiden.  Bei  Benrath  überschreitet  die 
Linie  den  Rhein,  die  südliches  laufen,  tief,  Zeit,  essen,  groß, 
machen,  reich,  von  nördlichem  lopen,  dep,  tid,  eten,  grot,  maken, 
rik  trennt.  Darüber  nach  Norden  reicht  die  Lautverschiebung 
nur  in  den  Wörtern  ich  und  auch:  die  ik  und  ok  beginnen  erst 
nördlich  und  östlich  einer  Linie,  die  den  Rhein  bei  Ürdingen 
überschreitet.  Die  rechtsrheinische  Mundart  zwischen  den  beiden 
Linien,  wie  sie  in  der  Nordhälfte  des  alten  Herzogtums  Berg 
gesprochen  wird,  untersucht  Lobbes.  Er  weist  überzeugend  nach, 
daß  im  Nordbergischen  die  mitteldeutschen  Spracherscheinungen 
so  stark  überwiegen,  daß  wir  erst  die  Ürdinger  Linie  als  mittel- 
deutsch-niederdeutsche Grenze  betrachten  dürfen.  Gegen  Norden 


316  Literaturbericht. 

deckt  sie  sich  mit  der  alten  Grenze  des  Herzogtums  Berg  ge- 
gen das  Herzogtum  Kleve,  die  Herrschaft  Broich  und  die  Reichs- 
abtei Essen,  sodaß  hier  die  spätmittelalterliche  kleinpolitische 
Geschichte  die  Sprachgrenze  verständlich  macht.  Dagegen  ist 
im  Osten  die  Ürdinger  Linie  zugleich  die  alte  Stammesgrenze 
zwischen  Franken  und  Sachsen,  die  seit  Chlodewigs  Tagen  ihren 
Lauf  nicht  geändert  hat  und  als  politische  Grenze  bis  in  die 
neueste  Zeit  fortbesteht.  Neben  dem  Unterschied  von  ich  und  ik 
ist  hier  unterscheidendes  Sprachmerkmal  die  3.  Plur.  Präs.  Ind.,  die 
im  Westfälischen  auf  -et,  in  den  rheinischen  Mundarten  auf  -en 
ausgeht.  Natürliche  Verkehrsscheide  ist  die  Ürdinger  Linie 
heute  so  wenig  wie  der  Rhein  oder  die  Benrather  Linie.  Den 
Mischcharakter,  der  die  nordbergische  Mundart  auszeichnet  und 
der  bisher  ihre  Zuweisung  zum  mitteldeutschen  oder  nieder- 
deutschen Gebiet  erschwert  hatte,  erklärt  Lobbes  aus  der  Siede- 
lungsgeschichte:  noch  nach  Mitte  des  11.  Jahrh.  war  das  Land 
zwischen  Rhein,  Ruhr  und  Dussel  ein  riesiger  Wald ;  von  ver- 
schiedenen Seiten  drangen  Siedler  vor,  brachten  ihre  Mund- 
arten mit,  die  sich  nach  Bewältigung  der  natürlichen  Hemm- 
nisse in  Kampf  und  Ausgleich  zu  einer  Mischmundart  vereinig- 
ten. Bei  einzelnen  sprachlichen  Erscheinungen  springt  die  Tat- 
sache dieses  Ausgleichs  in  die  Augen,  am  besten  bei  den  Formen 
für  euch:  ripuarisch  lautet  es  öch,  westfälisch  ink.  Das  Nord- 
bergische hat  den  Vokal  des  südlichen  Nachbars  mit  dem 
Konsonantismus  des  östlichen  zu  einer  Kompromißform  önk 
vereinigt.  Nachmals  wurden  Territorien  abgegrenzt  und  zu 
Verwaltungszwecken  in  Kreise  geteilt,  damit  ergaben  sich  neue 
Verkehrsscheiden  und  der  Anstoß  zur  Ausbildung  innerer  Mund- 
artgrenzen, die  nach  dieser  ihrer  Entstehung  höchstens  bis  ins 
13.  Jahrh.  zurückreichen. 

Nördlich  von  der  Ürdinger  Linie  liegt  das  rechtsrheinische 
Gebiet  des  alten  Herzogtums  Kleve,  das  Neuse  behandelt,  der 
Landstreifen  von  Duisburg  im  Süden  bis  Emmerich  im  Norden. 
Nach  West  und  Ost  hat  das  Gebiet  in  alter  Zeit  natürliche 
Verkehrsgrenzen  gehabt:  der  Rhein  hat  in  wilden  Katastrophen 
seinen  Lauf  vielfach  verlegt,  bei  Dämmerwald  und  Hünxerwald 
trennten  unwegsame  Wälder  das  Herzogtum  Kleve  vom  Gebiet 
des  Bistums  Münster  und  von  der  kurkölnischen  Feste  Reck- 
linghausen.   Innerhalb  des  damit  abgegrenzten  Gebiets  kommen 


Deutsche  Sprache  und  Literaratur.  317 

weder  Flüsse  noch  Gebirge  als  Verkehrshindernis  In  Betracht. 
Dem  entspricht,  daß  mindestens  ein  spezifisches  sprachliches 
Merkmal  im  ganzen  Gebiet  herrscht:  der  sog,  kleverländische 
Akzent,  der  (im  Gegensatz  zum  zirkumflektierten  rheinischen 
Akzent)  die  langen  Tonvokale  in  zwei  Teile  zerlegt,  einen 
längeren  ersten  mit  musikalischem  Hochton  und  einen  kürzeren 
zweiten  mit  Tiefton  und  Murmelvokal.  Die  Sprachscheiden  im 
Innern  der  Mundart  entsprechen  im  Ganzen  treu  den  Amts- 
und Herrlichkeitsgrenzen,  die  bis  1806  bestanden  und  die  ihrer- 
seits mehrfach  Schlüsse  auf  das  Alter  der  Sprachgrenzen  er- 
möglichen. Wenn  Dinslaken  ursprünglich  Tochterpfarrei  von 
Hiesfeld  ist  und  noch  1349  eine  neue  Stadt  genannt  wird,  so 
kann  eine  Grenze,  die  heute  in  mehr  als  25  wichtigen  Sprach- 
erscheinungen Dinslaken  von  Hiesfeld  trennt,  nicht  älter  als 
das  14.  Jahrh.  sein.  Oder  wenn  vom  Lande  Wesel  1498  die  Herr- 
lichkeit Diersfordt  abgetrennt  wird,  so  ist  die  heute  sehr  aus- 
geprägte Sprachscheide  zwischen  beiden  frühestens  im  16.  Jahrh. 
entstanden.  Bis  etwa  1650  sind  Verschiebungen  der  Grenzen 
erfolgt,  eine  neue  politische  Zersplitterung  hat  dann  nochmals 
neue  Mundartgrenzen  gebildet  und  altbestehende  verändert.  Seit 
Napoleon  1806  die  Landkarte  vereinfacht  hat,  sind  die  Linien 
unverrückt  geblieben. 

Die  Arbeiten  des  1.,  2.,  3.,  5.  und  8.  Hefts  von  Wredes 
Sammlung  bilden  zusammen  eine  geschlossene  niederrheinische 
Dialektgeographie  und  sind  die  wichtige  Vorarbeit  für  den  von 
der  Berliner  Akademie  geplanten  rheinischen  Dialektatlas.  Es 
wirkt  sympathisch,  daß  beim  Abschluß  der  Vorarbeiten  Georg 
Wenkers  Schriftchen  über  das  rheinische  Platt  von  1877  er- 
neut wird,  die  unscheinbare  Keimzelle  des  riesigen  Gesamtwerks. 

Freiburg  i.  B.  Alfred  Götze. 


Paul  Gerhardt.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  deutschen 
Geistes.  Auf  Grund  neuer  Forschungen  und  Funde  von 
Hermann  Petridi,  Dr.  theol.  h.  c.  Gütersloh,  Bertelsmann. 
1914.    358  S. 

Dieses  Werk  gehört  zu  den  erfreulichsten  Erscheinungen, 
welche  die  literarhistorische  Forschung  des  letzten  Menschenalters 
hervorgebracht  hat,  ja  es  ist  eine  der  besten  Biographien   die 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  21 


3t8  Literaturbericht* 

wir  besitzen.  Und  sie  gilt  einem  Dichter,  dem  die  Literatur- 
geschichte, so  sicher  und  einmütig  sie  in  seiner  Wertschätzung 
ist,  bisher  so  gut  wie  alle  Arbeit  schuldig  geblieben  war. 

Die  direkten  Quellen  für  die  Lebensgeschichte  Paul  Gerhardts 
fließen  spärlich,  und  wenn  der  Verfasser  sich  im  Vorwort  glück- 
lich schätzt,  sie  um  ein  paar  wertvolle  Stücke  vermehren  zu 
können,  so  beruht  doch,  wie  jeder  sofort  einsieht,  darauf  zum 
allerwenigsten  der  Wert  seines  Buches.  Aber  durch  das  gründ- 
lichste Studium  der  Orts-  und  Zeitgeschichte,  der  Theologie  und 
der  Dichtung  des  17.  Jahrhunderts  hat  Petrich  überall  einen 
festen  Grund  gefunden,  auf  dem  er  zunächst  das  Lebensbild  des 
Dichters  aufbaut,  die  Geschichte  und  die  Elemente  seiner  Bil- 
dung, sein  amtliches  Wirken,  seine  Kämpfe  und  Leiden  schildert, 
immer  eingefügt  in  einen  mit  sicherer  Hand  gezeichneten  lokalen 
Rahmen:  von  der  Kindheit  in  Gräfenhainichen  bis  zum  Lebens- 
ausgang in  Lübben.  Mehrere  dieser  biographischen  Kapitel  er- 
weitern sich  zu  kulturgeschichtlichen  Schilderungen  von  selbstän- 
digem Werte.  —  Auf  das  „Leben"  (S.  1—189)  folgt  als  zweiter 
Hauptteil  die  „Dichtung"  (S.  191—304),  und  hier  müssen  wir 
dem  Theologen  P.,  der  freilich  den  Germanisten  längst  kein  Un- 
bekannter mehr  ist,  das  höchste  Lob  spenden:  durch  ihn  ist  Paul 
Gerhardt  nicht  nur  biographisch,  sondern  auch  literargeschicht- 
lich  der  bestversorgte  Dichter  des  17.  Jahrhunderts  geworden. 
Wie  P.  die  Quellen  seiner  Dichtung  und  ihre  literarische  Abhängig- 
keit feststellt,  die  ihr  zugrunde  liegende  Theologie  und  die  Eigen- 
art von  Gerhardts  Frömmigkeit  sachkundig  und  feinfühlig  um- 
schreibt und  zum  Schlüsse  (S.  267—304)  seine  Kunst  im  Ver- 
hältnis zur  Kunstlehre  des  17.  Jahrhunderts  charakterisiert, 
Naturgefühl  und  Bildlichkeit,  Sprache,  Stil  und  inneren  Aufbau 
seiner  Lieder  darlegt,  das  alles  zu  lesen  ist  ein  Genuß,  der  jedem 
gebildeten  Laien  zugänglich  ist,  dem  Fachmann  aber  Anregung 
und  Förderung  weit  über  den  nächsten  Gegenstand  hinaus  bringt. 

Der  Verfasser  der  „Drei  Kapitel  vom  romantischen  Stil" 
darf  gewiß  sein:  auf  die  Anerkennung  und  auf  die,  so  hoffen  wir, 
nachhaltige  Wirkung  dieses  neuen  Buches  wird  er  nicht  so  lange 
zu  warten  brauchen  wie  bei  seinem  Jugendwerke. 

Göttingen.  Edward  Schröder. 


Deutsche  Universitäten.  319 

Die  Matrikel  der  Universität  Rostoclc.  Herausgegeben  von  Dr. 
Adolf  Hofmeister.  V.  Ostern  1789  bis  Juni  1831.  Bearbeitet 
von  Prof.  Dr.  Ernst  Schäfer.  Rostock  1912.  XIV  u.  127  S. 
4°.     13,50  M. 

Dieser  durch  den  Regierungsbibliothekar  zu  Schwerin 
Dr.  Ernst  Schäfer  bearbeitete  Band  führt  den  durch  Adolf  Hof- 
meister im  Jahre  1889  begonnenen  und  bis  zu  seinem  Tode  (1904) 
emsig  geförderten  Abdruck  der  Rostocker  Matrikel  zu  Ende. 
Eine  Veröffentlichung  über  das  Jahr  1831  hinaus  ist  nicht  mehr 
nötig,  weil  seit  dem  Sommersemester  1831  gedruckte  Personal- 
verzeichnisse der  Universität  erscheinen,  die  allgemein  zugäng- 
lich sind. 

Der  vorliegende  Band  ist  im  Umfang  schwächer  als  die 
vier  vorangegangenen  und  umspannt  auch  einen  viel  kürzeren 
Zeitraum,  er  steht  ihnen  jedoch  an  Bedeutung  des  Gebotenen 
nicht  nach.  In  die  42  Jahre,  die  er  behandelt,  fällt  die  beginnende 
Anpassung  der  Rostocker  „Akademie"  an  die  Forderungen  des 
Tages,  fallen  die  trüben  Erinnerungen  an  die  Franzosenzeit  und  an 
die  nach  v.  Kotzebues  Ermordung  immer  rücksichtloser  einsetzende 
Verfolgung  aller  freiheitlichen  Regungen  an  deutschen  Universi- 
täten. Obwohl  Rostock  in  diese  Bewegung  nicht  stärker  hinein- 
gezogen war,  so  erging  doch  am  7.  April  1819  der  Befehl  des 
Großherzogs  Friedrich  Franz  zu  einer  „mit  Aufmerksamkeit, 
Vorsicht  und  Mäßigung"  durchzuführenden  Untersuchung  der 
Gesinnung  unter  der  Rostocker  Studentenschaft.  Der  akademische 
Senat  berichtete,  daß  deren  „Betragen  nicht  zu  der  Vermutumg 
berechtige,  es  habe  sich  ein  herrschender  Geist  der  Gewalttätigkeit 
unter  ihnen  gebildet".  Eine  Mitwissenschaft  hiesiger  Studierender 
bei  der  Tat  Sands  sei  unerweislich.  Demungeachtet  wurde  in 
Ausführung  eines  Bundesratbeschlusses  auch  für  Rostock  am 
15.  November  1819  der  Geh.  Kanzleirat  v.  Schmidt  als  ,, außer- 
ordentlicher landesfürstlicher  Bevollmächtigter  zur  Oberaufsicht 
über  die  Vorträge  der  akademischen  Lehrer  und  das  sittliche 
Benehmen  der  Studenten"  bestellt. 

Diese  und  andere  Einblicke  in  das. akademische  Leben  kann 
man  aus  der  Ausgabe  der  Rostoker  Matrikel  gewinnen,  weil 
sich  diese  nicht  auf  den  Abdruck  der  Namenlisten  beschränkt, 
sondern  auch  die  von  Rektoren  und  Doktoren  gemachten  Vermerke 
berücksichtigt.  Neben  diesen  „Memorabilien",  die  in  der  Matrikel 

21* 


320  Literaturbericht. 

bis  zum  Jahre  1802  mit  einiger  Ausführliclikeit  niedergelegt 
wurden,  waren  die  Aufzeichnungen  des  Professors  Johann  Christian 
Eschenbach  (f  12.  Aug.  1823)  eine  reiche  Fundgrube  akademischer 
Nachrichten.  Eschenbach  veröffentHchte  sie  in  halbmonatHchen 
Heften  von  Ostern  1788  bis  Ostern  1807  als  „Annalen  der  Rostocker 
Akademie"  und  setzte  sie  dann  handschriftlich  in  10  Bänden 
fort,  von  welchen  sich  9  erhalten  haben,  die  bis  zum  Juli  1821 
reichen.  Der  Schlußband,  den  der  unermüdliche  Verfasser  noch 
kurz  vor  seinem  Tode  vollendet  hatte,  ist  leider  verloren  gegangen. 
Graz.  Luschin  von  Ebengreuth. 

Die  Matrikel  der  Universität  Dillingen.  Bearbeitet  von  Dr. 
Thomas  Specht.  2.  Bd.,  Lief.  3,  4.  Dillingen  1912/13.  — 
Registerband.  Bearbeitet  von  Dr.  Alfred  Sdiröder.  Lief.  1,2. 
Dillingen  1914/15.  (Sonderabdrücke  aus  dem  Archiv  für  die 
Geschichte  des  Hochstifts  Augsburg.) 

Die  Feier  des  hundertjährigen  Bestandes,  welche  das  kgl.  baye- 
rische Lyzeum  zu  Dillingen  im  Jahre  1904  festlich  beging,  hatte 
mancherlei  geschichtliche  Vorarbeiten  veranlaßt,  als  deren  erstes 
Ergebnis  Prof.  Dr.  Thomas  Specht  im  Jahre  1902  eine  Geschichte 
der  von  den  Bischöfen  von  Augsburg  1549  gegründeten  und  1804 
aufgehobenen  Universität  Dillingen  veröffentlicht  hat.  Später 
entschloß  er  sich  auch  zu  einer  kritischen  Ausgabe  der  Universitäts- 
Matrikel,  die  in  der  Bibliothek  des  bischöflichen  Priesterseminars 
unter  der  irreführenden  Bezeichnung  Matrimla  alumnorum 
vorgefunden  wurde.  Erhalten  hat  sich  der  erste  Band,  der  aus  den 
Jahren  1551—1695  nahezu  20000  Namen  überUefert.  Die  Ver- 
öffentlichung erfolgte  im  Archiv  für  die  Geschichte  des  Hochstifts 
Augsburg  und  mußte  darum  auf  eine  Reihe  von  Jahren  verteilt 
werden.  Erschienen  sind  bisher  der  vollständige  Matrikeltext  in 
zwei  Bänden  (I,  S.  1—722;  II,  S.  723—1188)  und  die  erste  Hälfte 
des  Registerbandes  (XXX  u.  208  S.). 

Die  hier  zur  Besprechung  stehenden  Schlußlieferungen  des 
Matrikeltextes  bringen  zunächst  (S.  963—1031)  die  Matrikel  der 
Jahre  1683—1695  zum  Abdruck,  sodann  S.  1032—1110  biographi- 
sche Nachträge  und  Ergänzungen  zu  den  Jahren  1551 — 1694, 
ein  Verzeichnis  der  benützten  Quellen  (S.  1110—1113)  und  von 
S.  1115  ab  eine  zusammenfassende  Darstellung  der  Ergebnisse. 
Auf  eine  genaue  Beschreibung  der  Matrikel  folgen  eine  Besprechung 


Deutsche  Universitäten.  321 

.der  Vorschriften  über  die  Immatrikulation,  Nachrichten  über 
deren  Vollzug  und  die  Rechte  der  immatrikulierten,  Angaben 
über  Alter,  Heimat,  Standesangehörigkeit  und  die  Zahl  der 
Studierenden,  endlich  eine  Darlegung  der  Grundsätze,  nach 
welchen  die  Ausgabe  erfolgte.  Dr.  Specht  wollte  mehr  als 
einen  bloßen  Abdruck  des  Matrikeltextes  bieten,  schon  darum, 
weil  dieser  keineswegs  vollständig  ist.  Von  den  19378  Namen, 
die  im  ganzen  geboten  werden,  ist  manch  einer  aus  den  Pro- 
motionskatalogen oder  den  Universitätsakten  gezogen  und  mit 
entsprechender  Bezeichnung  versehen  an  zutreffender  Stelle 
eingeschoben  worden.  Die  Namen  der  Inskribierten  wurden  in 
der  gedruckten  Matrikel,  um  die  Auffindung  zu  erleichtern,  von 
Jahr  zu  Jahr  mit  fortlaufenden  Zahlen  versehen.  Besonders 
lange  Zusätze  oder  Bemerkungen,  die  namentlich  der  Studien- 
präfekt  Zauponius  (1604 — 1628)  einzelnen  Namen  von  hohem 
Klange  gern  beifügte,  wurden  in  Fußnoten  verwiesen,  ebendahin 
kamen  durch  liegende  Schrift  unterschieden  die  vom  Herausgeber 
erkundeten  Lebensumstände  der  Studierenden.  Andere  Fußnoten, 
in  kleinerer  Schrift  und  durch  vorangestellte  Buchstaben  a,  b  usw. 
gekennzeichnet,  enthalten  textkritische  Bemerkungen.  Daß  Prof. 
Dr.  Specht  bei  der  Herausgabe  der  Matrikel  gute  und  gründliche 
Arbeit  leisten  werde,  ließ  schon  seine  früher  erschienene  „Ge- 
schichte der  Universität  Dillingen"  erwarten. 

Voll  der  Benutzung  erschlossen  wird  indessen  selbst  die 
beste  Ausgabe  einer  Matrikel  erst  durch  die  Register,  die  sich 
entweder  auf  die  Namen  und  die  Herkunft  der  Scholaren  beschrän- 
ken, oder  auch  noch  andere  Gesichtspunkte  berücksichtigen 
können.  Die  Bearbeitung  des  Registers  zur  Dillinger  Universitäts- 
matrikel hat  nun  Prof.  Dr.  Alfred  Schröder,  Herausgeber  des 
Archivs  für  die  Geschichte  des  Hochstifts  Augsburg,  übernommen. 
Schröder  berichtet  ausführlich  über  seine  Absichten  im  Vorwort 
des  erschienenen  Halbbandes:  sie  gehen  über  das  Maß  des  Nötigsten 
hinaus  und  werden  —  da  außer  dem  Studenten-  und  Ortsregister 
auch  noch  andere  Übersichten  geplant  sind  —  die  Ausnützung 
der  Matrikel  nach  mancherlei  Richtungen  erleichtern.  Willkommen 
vor  allem  wird  das  Register  für  familiengeschichtliche  Forschungen 
und  für  Arbeiten  über  die  Besetzung  kirchlicher  wie  weltlicher 
Behörden  in  den  katholischen  Gebieten  Südwestdeutschlands 
sein,  da  die  Dillinger  Universität  einen  ausgedehnten  Anziehungs- 


322 


Literaturbericht. 


kreis  in  Bayern,  Schwaben,  Franken,  Österreich  usw.  besaß. 
Die  vorliegenden  Lieferungen  enthalten  die  Einleitung  (I — XXX) 
und  auf  S,  1 — 208  den  größten  Teil  des  Studentenregisters  von 
Abel  bis  Schenk  von  Stauffenberg,  ich  möchte  jedoch  ein  ab- 
schließendes Urteil  erst  nach  Vollendung  des  Ganzen  abgeben, 
was  bisher  vorliegt,  berechtigt  zu  schönen  Erwartungen.  Prof 
Schröder  hat  alle  Namen  mit  den  oft  schwer  lesbaren  Vorlagen 
nochmals  verglichen  und  bringt  daher  auch  einzelne  Berichtigungen, 
die  unmittelbar  in  die  alphabetische  Reihenfolge  aufgenommen 
wurden,  wie  Alxinger  statt  des  verlesenen  Alfinger.  Die  S.  XXV  der 
Einleitung  bezweifelte  Ortsbezeichnung  Carnoviensis  Silesius 
beruht  indes  nicht  auf  einem  Hörfehler  des  Schreibers  für  Tarno- 
viensis  gleich  einem  der  schlesischen  Tarnau,  sondern  ist  auf 
Jägerndorf  in  Schlesien  zu  beziehen,  das  Carnovia  hieß, 

Graz,  Luscfiin  von  Ebengreuth. 


Von  Kieler  Professoren.  Briefe  aus  drei  Jahrhunderten  zur  Ge- 
schichte der  Universität  Kiel  (5,  Oktober  1915).  Von  Dr. 
M.  Liepmann,  Professor  der  Rechte  in  Kiel.  Herausgegeben 
zur  Erinnerung  an  das  250jährige  Jubiläum  der  Universität 
in  ihrem  Auftrag. 

Urkundenbücher,  Biographien  einzelner  hervorragender  Pro- 
fessoren, Briefsammlungen,  Beiträge  zu  ihrer  Geschichte  er- 
scheinen jetzt  häufiger  bei  den  Jubiläen  der  Universitäten  als 
vollständige  Darstellungen  ihrer  Geschichte.  Der  Grund  liegt  in 
der  Schwierigkeit,  das  vielseitige  Wesen  der  Universität  in  ein- 
heitlicher Darstellung  zusammenzufassen.  Man  sieht  sich  bald 
in  der  Gefahr,  Dinge  ausführlich  zu  behandeln,  die  nur  zu  ihrer 
Zeit  erheblich  waren  und  noch  häufiger  gleichartige  Vorgänge 
nacheinander  zu  erzählen.  In  meiner  Geschichte  der  Universität 
Breslau  habe  ich  diese  Schwierigkeiten  kennen  gelernt  und  be- 
greife, daß  man  lieber  eine  Aufgabe  wählt,  die  eine  Seite  des 
Lebens  der  Universität  reicher  und  lebendiger  entwickeln  läßt. 
Das  ist  nun  auch  in  Kiel  geschehen.  Im  Auftrag  der  Universität 
hat  Professor  Liepmann  zur  Erinnerung  an  das  auf  den  5.  Oktober 
1915  fallende  250jährige  Jubiläum  der  Universität  eine  Samm- 
lung von  Briefen  Kieler  Professoren  herausgegeben,  die  uns 
zwar  auch  in  die  wichtigsten  Schicksale  der  Universität  ein- 
führen, die  aber  ihren  Hauptwert  haben  durch  die  Blicke,  die 


Deutsche  Universitäten.  '323 

sie  uns  in  das  Leben  und  Wesen  einer  großen  Zahl  bedeutender 
Männer  gewähren.  Vier  Briefe  gehören  dem  ausgehenden  17,  Jahr- 
hundert an,  die  Nr.  5—49  dem  18.,  die  Nr.  50—289  dem  19.  Jahr- 
hundert. Der  letzte  ist  ein  von  Forchhammer  an  Haussen  ge- 
schriebener Brief  vom  2.  Januar  1892.  Forchhammer  dankt  dem 
Freunde  für  den  „Glückwunsch  zu  meinen  90  Jahren"  und  er- 
geht sich  dann  in  einer  so  lebhaften  Kritik  der  wissenschaft- 
lichen und  politischen  Zustände,  als  schriebe  ein  Fünfziger.  Von 
Haussen  sind  mehrere  Briefe  mitgeteilt,  und  indem  ich  sie  lese, 
steigt  mir  das  Bild  des  ebenso  klugen  wie  liebenswürdigen  Mannes 
auf,  wie  er  in  Göttingen  an  einem  festen  Tage  der  Woche  in 
einem  kleinen  Kreise  beim  Abendschoppen  weilte.  S.  273  steht 
ein  Brief  von  ihm,  den  er  22.  Juni  1851  aus  Göttingen  in  die 
alte  Heimat  sandte  und  der  für  die  trostlose  Stimmung  auch 
so  starker  Männer  in  jenen  Tagen  bezeichnend  ist.  „Ich  habe 
wahrlich  all  den  Jammer,  der  über  unsere  unglücklichen  Herzog- 
tümer hereingebrochen  ist,  täglich  in  meiner  Seele  so  mitgefühlt, 
als  ob  ich  noch  wie  vor  10  Jahren  mitten  in  dem  herriichen 
Land  und  unter  meinen  trefflichen  Freunden  lebte.  Bei  dem 
Kummer  und  der  Besorgnis,  die  ich  über  die  Gegenwart  und  die 
ganz  dunkle  Zukunft  des  Landes  und  meiner  Freunde  empfinde, 
bin  ich  kaum  auf  Minuten  fähig,  des  Lebens  froh  zu  werden. 
Und  wendet  man  den  Blick  auf  ganz  Deutschland  —  ist  die 
geringste  Aussicht  auf  eine  gedeihliche  Entwicklung  der  öffent- 
lichen Angelegenheiten  vorhanden?  Binnen  10  Jahren  haben 
wir  bei  der  jetzigen  Wirtschaft  die  gräulichste  Revolution  zu 
gewärtigen,  die  dann  nicht  da  stehen  bleibt,  wo  sie  1848  stehen 
blieb,  und  die  mit  den  Schuldigen  auch  die  Unschuldigen  ver- 
schlingen wird."  In  dieser  Klage  geht  es  weiter,  es  ist  eine 
Stimmung,  wie  sie  damals  auch  Dahlmann  beherrschte  und  zu 
den  stärksten  Ausdrücken  und  Urteilen  veranlaßte. 

Von  und  an  Dahlmann  finden  sich  eine  große  Anzahl  Briefe, 
und  in  allen  herrscht  jener  Geist  der  Verehrung,  die  Dahlmann 
überall  umgab,  wo  immer  er  auftrat.  Ganz  besonders  trat  mir 
das  entgegen  in  einem  Briefe  meines  verehrten  Lehrers  Waitz 
vom  16.  Januar  1842,  denn  Waitz  war  selbst  eine  gebietende 
Gestalt  und  um  so  stärker  ist  der  Eindruck  seiner  Worte.  Waitz 
hatte  einen  Ruf  nach  Kiel  erhalten  an  Michelsens  Stelle,  und  da 
gleichzeitig  Hanssens  Stelle  frei  wurde,  der  nach  Göttingen  be- 


Literaturbericht. 


rufen  war,  so  regte  sich  in  Kiel  der  Wunsch,  Dahlmann  wieder 
zu  gewinnen,  der  1813 — 1829  in  Kiel  Professor  gewesen  war. 
Waitz  gab  dieser  Hoffnung  begeisterten  Ausdruck,  und  auch  nach 
anderen  Seiten  ist  der  Brief  für  Waitz  lehrreich.  So  die  Wen- 
dung am  Schluß:  „Ich  lasse  mich  gern  in  solchen  Dingen  von 
den  Ereignissen  selber  leiten.  Da  es  nun  so  ganz  ohne  mein  Zu- 
tun an  mich  kam,  schien  es  mir  eine  Fügung,  der  ich  mich  nicht 
entgegenstellen  durfte.  Gott  hat  mich  bisher  wunderbar  ge- 
leitet.   Er  wird  ja  auch  dies,  wie  es  gut  ist,  hinausführen." 

Für  Waitz  sind  noch  mehrere  Briefe  von  höchstem  Interesse. 
So  ein  Brief  an  Ranke  aus  Anlaß  der  Berufung,  und  die  Antwort 
Rankes,  Nr.  127,  ist  ein  lebendiges  Zeugnis  von  dem  innigen  Ver- 
hältnis des  Meisters  zu  seinem  ausgezeichneten  Schüler  und  um- 
gekehrt. 

Eine  besondere  Frische  zeichnet  die  Briefe  von  Droysen  aus. 
So  fern  uns  auch  jetzt  die  Tatsachen  Hegen,  die  seinen  Humor 
oder  seinen  Zorn  und  Spott  reizten,  Droysen  fesselt  uns  sofort. 
Wir  erhalten  den  Einblick  nicht  nur  in  eine  von  wissenschaft- 
lichem Eifer,  aber  noch  stärker  fast  von  patriotischer  Sorge  oder 
Begeisterung  erfüllte  hochbegabte  Persönlichkeit  und  ihren  Kreis, 
sondern  wir  erleben  förmlich  jene  Tage  mit,  in  denen  unser  Volk 
zum  politischen  Leben  erwachte,  aber  in  engen  Fesseln  gebunden 
war.  Es  war  die  Zeit,  in  der  gerade  die  Professorenkreise  Mittel- 
punkte der  patriotischen  Wünsche  und  Hoffnungen  unseres  Volkes 
waren  und  auch  eine  große  Zahl  der  einflußreichsten  Vorkämpfer 
stellte.  Das  gilt  auch  noch  für  die  Periode  1864 — 1870.  Welch 
eine  Kraft  und  welch  patriotischen  Eifer  zeigen  da  z.  B.  die 
Briefe  des  Philologen  Ribbeck.  Am  22.  Oktober  1865  schrieb  er 
an  seinen  Bruder  einen  Brief,  der  so  beginnt:  „Wir  Auswärtigen 
haben  jetzt  um  so  mehr  Grund  zusammenzuhalten,  so  unaus- 
stehlicher manche  der  Autochthonen  durch  ihre  politische  Ortho- 
doxie auch  im  Verkehr  werden,  und  es  dürfte  der  Zeitpunkt  nicht 
fern  sein,  wo  unsere  ehrwürdige  akademische  Körperschaft  in 
zwei  Hälften  zerplatzen  wird."  Dazu  nehme  man  den  Brief  vom 
29.  August  1870,  in  dem  er  Treitschke  für  die  Übersendung  seines 
„herrlichen"  Aufsatzes  „Was  fordern  wir  von  Frankreich?"  dankt. 
„Zwar  unsägliche  Trauer  hat  er  (der  Krieg)  schon  über  unser 
Volk  gebracht  und  unberechenbar  ist,  wie  viele  Opfer  er  noch 
fordern  wird,  und  doch  ist  es  wie  ein  neues  Leben,  zu  dem  wir 


Ostseeländer.  325 

«rwacht  sind,  als  hätte  ein  wunderbares  Bad,  ein  umgekehrter 
Peliaskessel  unsere  Glieder  zu  einem  ungeahnten  heroischen  Pracht- 
bau umgeschaffen  und  ihnen  einen  göttlichen  Atem  eingehaucht." 
Doch  genug  der  Beispiele,  es  ist  eine  Fülle  kräftigen  geistigen 
und  politischen  Lebens  in  diesen  Briefen  und  damit  ein  Zeugnis 
für  die  große  Bedeutung  unserer  Universitäten  für  die  Entwick- 
lung und  für  das  Leben  unseres  Volkes.  Es  ist  uns  in  diesem 
Bande  eine  reiche  Gabe  gegeben. 

Breslau.  Georg  Kaufmann. 

Baltische  Studien  zur  Archäologie  und  Geschichte.  Arbeiten  des 
Baltischen  Vorbereitenden  Komitees  für  den  XVI.  Archäo- 
logischen Kongreß  in  Pleskau  1914.  Berlin,  G.  Reimer. 
1914.    415  S.  4°. 

In  der  Entwicklung  der  baltischen  Archäologie  bedeutete 
der  X.  Archäologische  Kongreß,  der  zum  erstenmal  in  den  bal- 
tischen Provinzen  tagte,  eine  Epoche,  Damals,  im  Jahre  1896, 
stand  das  wissenschaftliche  Leben  der  Ostseeprovinzen  noch  in 
voller  Blüte:  von  einem  Einfluß  der  Russifizierungsbestrebungen 
auf  die  Tätigkeit  der  wissenschaftlichen  Vereine  war  noch  wenig 
zu  spüren;  die  seit  dem  Jahr  1834  in  Riga  bestehende  Gesell- 
schaft für  Geschichte  und  Altertumskunde,  die  auf  archäologi- 
schem Gebiete  immer  schon  Bedeutendes  geleistet  hatte,  ver- 
anstaltete eine  Ausstellung  der  vorgeschichtlichen  Funde,  zu  der 
ihre  Sammlungen  die  reichsten  Bestände  hergaben;  Professor 
Hausmann  in  Dorpat,  der,  durch  Georg  Löschcke  gewonnen, 
der  erste  war,  der  an  der  Universität  ein  mit  praktischen  Übungen 
verbundenes  Kolleg  über  baltische  Archäologie  las  und  überhaupt 
die  archäologische  Forschung  des  Ostbaltikums  auf  sichere  wissen- 
schaftliche Grundlagen  stellte,  gab  gemeinsam  mit  dem  früh- 
verstorbenen Anton  Buchholtz  einen  Katalog  jener  Ausstellung 
heraus,  der  bleibende  Bedeutung  gewann.  Buchholtz  ist  auch 
noch  eine  Bibliographie  der  Archäologie  Liv-,  Est-  und  Kurlands 
zu  danken.  Kurz:  jener  Kongreß  und  die  ihm  gewidmeten 
Arbeiten  und  Anregungen,  zu  denen  auch  noch  bedeutsame 
Gräberfunde  kamen,  brachen  der  baltisch-archäologischen  For- 
schung neue  Bahnen. 

Als  im  Jahre  1914  kurz  vor  Kriegsausbruch  der  Archäo- 
logische Kongreß  in  nächster  Nachbarschaft  der  Ostseeprovinzen, 


326  Literaturbericht. 

in  dem  alten  Pleskau  am  Peipussee  tagte,  beschlossen  die  bal- 
tischen historisch-archäologischen  Vereine,  in  einem  literarischen 
Sammelwerk  ein  möglichst  vollständiges  Bild  der  wissenschaft- 
lichen Interessen  und  Arbeitsrichtungen  ihres  Landes  auf  den 
Gebieten  zu  geben,  die  Gegenstand  der  Kongreßverhandlungen 
sind.  Es  ist  ein  stattlicher,  mit  Bildern  reich  geschmückter 
Band,  der  vor  uns  liegt:  die  Livländische  Ritterschaft  und  die 
Stadt  Riga,  die  von  jeher  baltische  Heimatkunde  und  geschicht- 
liche Studien  gefördert,  haben  den  Druck  und  die  vornehme 
Ausstattung  durch  freigebige  Bewilligungen  unterstützt;  eine 
Reihe  namhafter  Gelehrten:  Richard  Hausmann,  Ernst  v.  Stern, 
Oskar  Montelius,  Hermann  Baron  Bruiningk,  Theodor  Schiemann 
u.  a.  haben  daran  mitgearbeitet.  Um  die  Redaktion  des  archäo- 
logischen Teils  hat  sich  Dr.  Max  Ewert  von  den  Berliner  Museen 
verdient  gemacht;  ihm  ist  überhaupt  die  baltische  archäologische 
Forschung  für  seine  Inventarisierung  der  vorgeschichtlichen 
Sammlungen  des  Rigaschen  Dommuseums  und  für  den  im 
Druck  erschienenen  vortrefflichen  Führer  durch  diese  reichen 
Bestände  zu  Dank  verpflichtet. 

Ein  Denkmalsschutzgesetz  hat  Rußland  noch  nicht  und 
durch  dilettantische  Ausgrabungsarbeit  ist  auch  in  den  Ostsee- 
provinzen gesündigt  worden,  aber  die  umsichtigen  und  mit  den 
Waffen  der  Wissenschaft  gerüsteten  Geschichtsvereine  des  Ost- 
baltikums haben  dem  schädlichen  Treiben  Unberufener,  der 
Raubgräberei,  ein  Ende  gemacht. 

Die  baltische  Archäologie  steht  noch  vor  einer  Reihe  un- 
gelöster Fragen.  Die  Probleme  der  baltischen  Steinzeit  in  größe- 
rem Zusammenhange  erörtern  zu  können,  bedarf  es  einer  inten- 
siveren Bodenforschung.  Auch  die  Frage  nach  der  Nationalität 
der  Bewohner  des  Landes  in  den  älteren  archäologischen  Perioden 
ist  noch  offen.  Den  altberühmten  Warägerweg  durch  Rußland 
hat  man  erforscht  und  hat  durch  Funde  schwedische  Kolonien 
an  ihm  entlang  nachgewiesen;  für  das  Dünatal  aber,  das  als 
Einfallstor  Bedeutung  gehabt  hat,  fehlen  die  Untersuchungen. 

Was  unser  Sammelwerk  darbietet,  sind  Einzelstudien,  die 
manche  Frage  der  Lösung  näherbringen.  Erwähnt  seien:  Martin 
Bolz'  Beschreibung  des  neolithischen  Gräberfeldes  von  Kiwi- 
saare in  Livland,  Hausmanns  Bericht  über  den  Dorpater  Depot- 
fund, Ewerts  Erörterung  der  Beziehungen  der  Ostseeprovinzen 


England.  327 

ZU  Skandinavien  in  der  ersten  Hälfte  des  11.  Jahrhunderts, 
Montelius'  Erläuterung  der  schwedischen  Runensteine  des  Ost- 
baltikums. Aber  auch  Mittelalter  und  Neuzeit  finden  Berück- 
sichtigung. Eine  vorbildliche  Untersuchung  über  den  ältesten 
livländischen  Grabstein  gibt  H.  v.  Bruiningk.  Harald  Cosacks 
Arbeit  über  die  auswärtigen  Verwicklungen  des  Ordens  in  Liv- 
land  von  1478—1483  führt  in  eine  der  unheilvollsten  Zeiten  des 
Ordens.  An  Schiemanns  Mitteilungen  über  die  italienische  Reise 
des  Kaisers  Nikolaus  I.  von  1845  ist  besonders  interessant,  was 
der  Zar  über  die  Zukunft  Österreichs  brieflich  zu  seiner  Ge- 
mahlin äußert. 

Bald  nach  Erscheinen  des  Werkes  ist  der  Weltkrieg  aus- 
gebrochen. Die  deutsche  Wissenschaft  in  den  Ostseeprovinzen 
ist  verstummt.  Was  ihre  und  des  Deutschtums  Zukunft  in  der 
ältesten  deutschen  Kolonie  sein  wird:  wer  vermag  das  heute 
vorauszusagen  ? 

Berlin.  A.  Buchholtz. 


England.  Seine  staatliche  und  politische  Entwicklung  und  der 
Krieg  gegen  Deutschland.  Von  Eduard  Meyer,  Geheimem 
Regierungsrat  und  ordentlichem  Professor  der  Geschichte 
an  der  Universität  Berlin.  Volksausgabe  1. — 10.  Tausend. 
Stuttgart  und  Berlin,  J.  G.  Cotta  Nachf.    1915.   XXIV  u.  213  S. 

Wenn  der  große  Historiker  des  Altertums  die  Staatsge- 
schichte Englands  im  letzten  Jahrhundert,  wenn  auch  aus  nur 
bekannten  Einzelheiten,  zusammenfassen,  in  Ruhe  durchdringen, 
sorgfältig  beurteilen  und  in  abgewogenen  Worten  darstellen 
würde,  so  erhielte  neben  der  Geschichtswissenschaft  auch  Politik 
und  Literatur  eine  köstliche  dauerhafte  Frucht.  Dieses  Büch- 
lein, zuerst  1915  schon  am  18.  Februar  vollendet  und  in  der 
vorliegenden  Ausgabe  am  22,  August  bevorwortet  —  mir  ging 
es  erst  am  12,  Dezember  1916  zu  — ,  müßte  den  Krieg  an  die 
Spitze  des  Titels  stellen.  Denn  zu  dessen  Verständnis  will  es 
jedem  allgemein  gebildeten  Leser  verhelfen.  Gemessen  an  solcher 
Entstehungseile  und  Zielbeschränkung,  führt  es  eine  erstaunliche 
.Fülle  von  meist  bis  ins  einzelne  genauem  Stoffe,  wohl  geordnet, 
kurz  und  deutlich  und  in  dennoch  stets  anregender  Form  vor. 
Verwickeltes  Gewebe  diplomatischer  Intrige  wird  ebenso  wie  der 


328  Literaturbericht. 

Gegensatz  politischer.  Anschauungen  klargelegt.  Zum  ernsthaften 
Nachdenken  über  staatliche  Fragen  allgemein  wird  das  Werk 
sicher  beitragen.  —  Hitze  und  Gefahr  unseres  Kampfes  erklären 
die  Leidenschaft,  die  den  Ausdruck  nicht  selten  übertreibt;  sie 
entspringt  überall  echtem  Vaterlandsgefühl  und  tief  ethischem 
Sinne,  der  nur  in  Kategorien  bürgerlicher  Moral  die  Geschicke 
der  Staaten  nicht  einzwängen  sollte.  Wohl  nur  zu  starke  Kür- 
zung verschuldet  es,  daß  mancher  Leser  S.  2  so  mißverstehen 
wird,  als  trete  die  Formel  von  Gottes  Gnaden  erst  gegen  die 
Stände  auf;  auch  S.  69  Z.  7  v.  u.  begegnet  Unklarheit,  S.  152 
Z.  6  v.  u.  ein  Schreibfehler.  Das  Beiwort  feminin  trifft  auf  den 
Pazifismus  nicht  zu:  dieser  staatswidrige  Traum  heiße  lieber 
prophetisch-christlich!  Zu  milde  dagegen  klingt  mir  die  Ver- 
dammung gegen  Englands  anonyme  Presse,  die  als  Einbläserin 
wie  als  Mundstück  der  öffentlichen  Meinung  zu  bezeichnen  war: 
kenne  ich  doch  jene  Sünder,  die  halbgebildet,  unerfahren,  von 
Deutschlands  Geist  und  Geschichte  wenig  unterrichtet,  nicht 
sowohl  der  Erkenntnis  oder  Verkündung  der  Wahrheit  über 
unsere  Zustände  dienen,  als  Geld  und  durch  prickelnden  Stil 
Namen  verdienen  wollten  und  ihren  starken  Anteil  an  der  Ver- 
hetzung der  Völker  nie  verantworten  werden  oder  können. 
Und  allerdings  läßt  sich  auch  nicht  mit  einem  Anstandswort 
verurteilen  jener  hochangesehene  Richter  Phillimore,  der,  zum 
Abwägen  bestellt,  darin  geübt,  nicht  in  kampfesheißer  Stunde 
zu  plötzlicher  Entscheidung  gedrängt,  sondern  von  ruhiger  Amts- 
stube aus  ein  Falschurteil  fällte,  weil  es  den  Bürger  eines  Fein- 
desstaats traf. 

Meyer  läßt  das  Mittelalter  Britanniens  fort,  das  aber  dort 
mehr  als  für  andere  europäische  Staaten  die  Grundlage  zum 
Verständnis  der  Gegenwart  bildet,  und  ebenso  jede  geographisch- 
volkswirtliche  Einleitung,  die  man  sich  aus  Steffen  oder  Kjellen 
ergänze.  Mit  der  Neuzeit  beginnend,  betrifft  das  Buch  nur  zu 
einem  Zehntel  die  Zeit  vor  dem  19.  Jahrhundert  und  zur  vollen 
Hälfte  das  letzte  Menschenalter  allein.  Dem  Geschichtsforscher 
neue  Tatsachen  zu  bringen  beabsichtigt  es  nicht.  In  den  meisten 
und  wichtigsten  Urteilen  stimmt  es  zu  den  Anschauungen  der 
führenden  Geisteswissenschaftler  und  Politiker  Deutschlands.. 
Eigentümlich  für  Edward  VII.,  der  sich  die  Ehre  gewiß  nicht 
träumen  ließ,  ist  der  Vergleich  mit  Agesilaos:  ein  König  lenkt 


England.  329 

kraft  persönlicher  Geschicklichkeit  den  Staat  trotz  der  Beschrän- 
kung durch  die  Verfassung.  Wenig  stimmt  dagegen  der  alte 
Vergleich  Englands  mit  Karthago,  der  auf  Seehandel  mit  Kolonien 
und  Söldnerheer  blickt.  Denn  daß  letzteres  als  unwesentlicher 
Zug  vor  der  Wehrpflicht  bei  Britanniens  erster  Todesgefahr 
weichen  werde,  konnten  nur  jene  zweifeln,  die  mit  Treitschke 
ein  »Krämervolk«  sahen  in  dieser  ehrgeizigen,  machtgierigen, 
abenteuerlustigen,  waghalsigen,  kampfesfrohen  Nation.  Weit 
mehr  kann  jener  Vergleich  lehren,  den  die  Briten  selbst  längst 
gezogen  haben  zwischen  Rom  und  ihrem  Imperium  über  weite 
Teile  der  Erde.  Wie  einst  beim  Unterliegen  des  Hellenismus 
vor  Rom  Teile  Vorderasiens  in  Orientalismus  zurücksanken, 
so  werde,  meint  M.,  wiederum  dieser  Krieg  die  Europäisierung 
Asiens  hemmen.  Allein  kann  der  denn  Englands  dortigen  Ein- 
fluß so  tief  schwächen,  oder  will  sich  die  Türkei  auf  alter  Grund- 
lage erneuern? 

Mit  Recht  wird  dem  deutschen  Freiheitsbegriff  der  des  Eng- 
länders gegenübergestellt,  der  negativ  größeren  Wert  legt  auf  die 
Unabhängigkeit  der  Volksmehrheit  von  der  Krone  und  sich 
weniger  bedrückt  fühlt  bei  der  Beschränkung  individuellen  Sinnes 
durch  die  öffentliche  Meinung.  Nur  in  den  bloß  gesellschaft- 
lichen Formen  müßte  der  starre  Konventionszwang  als  jeder 
alten  Herrschaftsschichtung  eigen  erkannt  werden,  ruhe  sie 
nun  auf  Geburt,  Beruf,  Amt,  Geld.  Seit  einem  Menschenalter 
aber  schreitet  die  Erfüllung  des  Staatsbegriffs  mit  positiver 
sozialer  Forderung  auch  drüben  gewaltig  vorwärts;  und  längst 
ist  das  Wort  State  aufgenommen  für  „Staat",  dessen  Begriff  schon 
vor  einem  Jahrtausend  zu  finden  war,  meist  unter  dem  freilich 
mehrdeutigen  rex.  Und  wie  kann  man  dem  Engländer  ein  Wort 
für  Vaterland  (my  country)  oder  Heimatsgefühl  absprechen !  Gewiß 
ringen  zwar  in  diesem  Kriege  auch  zwei  Staatsformen  miteinander. 
Aber  die  durch  und  für  die  Feinde  erfundene  Lüge,  er  drehe  sich 
um  jene,  sollten  wir  nicht  nachsprechen:  träten  wir  nur  Kriegs- 
flotte, Seehandel,  Kolonien  und  europäische  Festlandsvormacht 
ab  —  wir  dürften  „Potsdam"  behalten!  Vielmehr  genügt,  um 
Englands  Kampfstellung  gegen  uns  zu  erklären,  dessen  Welt- 
imperalismus  aus  unserer  Zeit,  verbunden  mit  der  von  M.  im 
einzelnen,  nicht  systematisch,  gekennzeichneten  Politik  schon 
des  17.  Jahrhunderts,  je  den  nächst  stärksten  Nebenbuhler  zu 


330  Literaturbericht. 

schwächen  und  womöglich  dann  zum  Freunde  zu  gewinnen. 
(Letztere  Absicht  lag  wohl  auch  hinter  Greys  frechem  Abschieds- 
wort an  Lichnowsky.) 

Vor  den  heuchlerischen  Lehren  vom  europäischen  Konzert, 
vom  Gleichgewicht  der  Festlandsmächte,  vom  schrankenlosen 
Erwerb  in  demokratischem  Staate,  vom  unbedingten  Freihandel 
zu  warnen,  als  vor  einem  Schwindel  zugunsten  bzw.  der  über- 
mächtigen Diplomatie,  der  britischen  Außenstellung,  der  Pluto- 
kratie  und  der  beherrschenden  Industrie  hält  M.  noch  für  nötig; 
daß  seine  kräftige  Stimme  auch  in  tiefere  Kreise  dringe,  bleibt  zu 
hoffen. 

In  Englands  Erziehungswesen  vermißt  auch  M.  Gymnasien 
für  den  Mittelstand  und  wissenschaftliche  Schulung  an  der  Uni- 
versität; daß  die  Gelehrsamkeit  unter  Spezialisierung  leide,  wirft 
aber  umgekehrt  auch  der  Engländer  uns  vor.  —  Eigene  Kenntnis 
verraten  die  Seiten  über  Irland,  Dessen  Nationalismus  übt  je- 
doch keine  so  das  Reich  zerstörende  Wirkung,  wie  dieses  Buch 
(das  doch  S.  35  hinter  Home  rule  nur  das  Ziel  provinzialen  Eigen- 
lebens erblickt)  glauben  machen  möchte,  ebenso  wie  es  das 
Selbständigkeitsstreben  des  Islams,  der  Buren,  Indiens  als  Hem- 
mungen des  Weltreiches  überschätzt.  Zur  Unabhängigkeit 
Irlands  treibt  u.  a.  auch  eine  Deutschlands  Freiheit  stets  be- 
fehdende Macht.  Die  Politik  durfte  den  Traum  des  persönlich 
edlen  Casement  wohl  benutzen,  aber  nie  als  Möglichkeit  hoch 
bewerten.  Die  Akten,  laut  deren  ein  königlicher  Gesandter  Groß- 
britanniens einen  Meuchelmörder  gegen  den  Hochverräter  auf 
neutralem  Boden  dang,  stehen  hier  abgedruckt;  sie  belegen, 
wie  Englands  Recht  hier  wie  in  manch  anderem  Stücke  rück- 
ständig im  Mittelalter  haften  geblieben  ist.  —  Den  Irischen 
Aufstand  sah  M.  voraus,  das  jähe  Ende  nicht. 

Besondere  Beachtung  erheischen  auch  M.s  Bemerkungen 
über  die  Vereinigten  Staaten,  sowohl  die  Sezession  wie  die  jetzige 
Feindschaft  der  Anglo-Amerikaner,  deren  Stimmführer  Eliot 
er  mit  gebührender  Grobheit  behandelt.  Wie  aber  gegen  M.s 
Meinung  Wilsons  Wahlsieg  1916  dem  Feinde  unwillkommen 
erschien,  so  dringt,  hoff  ich,  seine  andere  Ansicht  nicht  durch, 
daß  Amerikas  Krieg  gegen  uns  wenig  mehr  als  dessen  Schein- 
neutralität schaden  könne:  eine  Unterschätzung  wie  bis  1915 
jene  der  englischen  Möglichkeiten! 


England.  33i 

Über  den  älteren  Pitt  freut  man  sich,  auch  einmal  warmes 
Lob  ertönen  zu  hören;  Palmerston  erfährt  verdiente  Herabsetzung. 
Daß  das  Zurückweichen  in  der  Dänischen  Frage  1864,  für  das 
übrigens  Viktorias  persönlicher  Anteil  zu  erwähnen  war,  gegen 
Englands  Weltherrschaft  entschied,  scheint  überspitzter  Aus- 
druck. —  Wer  den  Handel  in  schwarzem  Menschenfleisch  brand- 
markt, muß  auch  sagen,  daß  ihn  nicht  allein  England  betrieb 
und  später  ihn  abschaffte.  —  „Das  Parlament  in  seiner  Blütezeit 
bis  1832  war  niemals  eine  , Volksvertretung',  sondern  die  organi- 
sierte Herrschaft  einer  kraftvollen  Aristokratie":  ein  an  sich 
richtiger  Satz,  den  aber  die  zumeist  doch  preußischen  Leser 
leicht  so  mißverstehen  können,  als  sei  unser  Abgeordnetenhaus 
„die"  Volksvertretung,  oder  als  berge  jenes  Unterhaus  trotz  der 
Auswüchse  nicht  den  Kern  und  Gedanken  der  Vertretung  des 
Volkes.  Irreführend  wirkt  besonders  der  Nachsatz,  das  Recht, 
Vertreter  zu  entsenden,  beruhte  auf  Königsprivileg:  er  gilt  nicht 
durchweg  und  bedeutet  nichts  mehr  fürs  18.  Jahrhundert.  — 
Geriet  England  mit  Beginn  des  19,  Jahrhunderts  „überall"  ins 
Hintertreffen?  Auch  in  Wirtschaft,  Technik,  Nationalökonomie? 
—  Transvaal  ward  1881  nicht  auch  im  Auswärtigen  unabhängig. 

Nach  M.  steht  „die  Gestaltung  des  nationalen  und  politischen 
Lebens  unendlich  viel  höher"  in  Deutschland  als  in  England,  in 
solcher  Allgemeinheit  scheint  mir  die  Bewertung  mehr  religiöser 
Glaube  als  wissenschaftliches  Urteil.  —  Über  den  National- 
charakter (eine  Wirklichkeit,  obwohl  sie  gewiß  zeitlich  sich  ändert, 
stellenweise  sich  selbst  widerspricht,  nie  restlos  in  Begriffe  auf- 
geht und  auf  viele  Engländer  in  keinem  Zuge,  ja  vielleicht  auf 
keinen  in  jedem  Zuge  paßt)  stimm  ich  mit  recht  vielen  deutschen 
Beurteilern,  u.  a.  Kant,  überein,  mit  M.  nur  in  längst  bekannten 
Hauptsachen,  z.  B.  daß  der  Engländer  oft  der  Systematik  und 
Kritik  ermangle,  der  öffentlichen  Meinung  sich  zu  sehr  beuge, 
den  Schein  der  Anständigkeit  überschätze.  Gegen  M.  leugne 
ich,  daß  er  skrupellos  gegen  Korruption  und  auch  außer  gegen- 
über dem  Feinde  zur  Falschheit  geneigt  sei,  des  Heimatsgefühles 
oder  Gartensinnes  oder  der  Fähigkeit  zur  Organisation  (im  be- 
sonderen auch  eines  Heeres)  entbehre,  daß  Meuchelmord  oder 
Falschspiel  sich  mit  dem  Begriffe  des  Gentleman  vereinen  lasse. 
Wohl  trägt  der  Offizier  die  Uniform  nicht  außer  Dienst;  er  schämt 
sich  ihrer  wahrlich  nicht !  —  Die  anglikanische  Kirche,  als  humani- 


332  Literaturbericht. 

sierend  stets  achtbar,  übt  jetzt  auch  starke  soziale  Fürsorge.  — 
Konfessionelle  Duldsamkeit,  mindestens  unter  allen  Monotheisten, 
ist  in  Englands  Staat  und  Gesellschaft  im  ganzen  weiter  ent- 
wickelt als  bei  uns. 

Unverständlich  geblieben  ist  mir  die  Behauptung:  „Ein  Staat 
wie  England  kennt  eine  wirkliche  Verantwortlichkeit  nicht; 
(diese)  wird  durch  die  juristische  aufgehoben  (und)  kann  nie  von 
einer  Körperschaft  getragen  werden;  (nur)  in  einer  starken 
Monarchie  liegt  die  ganze  auf  der  Person  des  Herrschers".  Kann 
denn  Ein  Mensch  die  Gesetze,  Verordnungen,  Anstellungen,  wie 
sie  der  Monarch  täglich  zeichnet,  die  Verhandlungen,  die  seine 
Regierung  führt,  die  Amtshandlungen  seiner  Beamten  ver- 
antworten? Und  das  bloße  sittliche  Gefühl,  das  M.  zu  meinen 
scheint,  kann  dem  amerikanischen  Präsidenten  oder  dem  Premier 
einer  Scheinmonarchie  genau  so  gut  eignen  und  wird  durch  ihr 
Volk  ebenso  notwendig  bei  ihm  vorausgesetzt  wie  durch  uns  bei 
unserem  Kaiser,  —  An  Englands  Verfassung  rügt  M.,  daß  kein 
Organ  über  den  beiden  Parteien  stehe.  Allein  erstens  ist  deren 
Gegensatz  bei  weitem  nicht  so  grundsätzlich  tief  wie  bei  uns, 
zweitens  wußte  mancher  Tory  drüben  trotz  seiner  Partei  den 
Staat  fortschrittlich  zu  lenken,  und  drittens  sucht  auch  unsere 
Monarchie  gewohnheitsmäßig  ihre  Räte  nur  in  Einer  Partei. 
Überhaupt  darf  nicht  der  Parlamentarismus,  wie  er  ist,  gegenüber- 
treten der  Monarchie,  wie  sie  sein  sollte  (oder  dem  abstrakten  Staats- 
gedanken, den  sie  doch  nicht  immer  verwirklicht).  In  der  Idee 
aber  weiß  natürlich  auch  Englands  Lehre  den  Staat  über  die 
Partei  zu  stellen. 

Wenn  ich  im  Gesamturteil  über  die  Ursache  des  Krieges 
von  M.  abweiche,  so  liegt  das  teilweise  an  anderer  Weltanschauung. 
Jedoch  nicht  allgemeiner  Philosophie  entspringt  mein  Zweifel, 
ob  dem  Tun  der  einzelnen  das  Beabsichtigte  auch  wirklich  rein 
folge,  sondern  der  Betrachtung  gerade  der  Verfassung  und  des 
Rechts  Englands,  wie  sie  der  überzeugte  Anglikaner  Stubbs  und 
der  Agnostiker  Maitland  mich  lehrten.  Daß  Edward  V IL, 
gewiß  Deutschlands  erfolgreichster  Feind,  den  Krieg  gewollt 
habe,  scheint  unbewiesen;  selbst  Grey  hätte,  laut  mangelnder 
Vorbereitung,  wahrscheinlich  lieber  durch  Diplomatie  friedlich 
sein  Ziel  erreicht.  Dieses,  die  Festigung  des  Universal- Imperialis- 
mus, in  geographisch  wie  handelspolitisch  weitestem  Sinne,  mit 


England.  333 

•der  für  Deutschland  notwendigen  Entwicklung  vereinbar  zu 
halten,  scheint  mir  der  Fehler  jener  Politik.  War  m.  E.  der 
Gegensatz  der  beiden  Reiche  eine  historische  Notwendigkeit, 
so  brach  er  in  einen  Krieg  aus  doch  erst  durch  die  Kugel  von 
Serajewo,  deren  Schützen  nicht  England  angestiftet  hat. 

M,  zeigt  zwar,  daß  Grey  an  die  Entente  sich  genau  so  ge- 
bunden hielt,  als  wäre  sie,  was  der  Diplomat  listig  leugnen  durfte, 
ein  formaler  Vertrag;  dennoch  mag  Grey  bis  Ende  Juli  ehrlich 
haben  vermitteln  wollen.  —  Ein  Krachen  des  Weltreiches  seit 
August  1914  vernehm  ich  nicht;  das  alte  Staatswesen  versagt 
keineswegs  in  Verwaltung,  Heer  oder  Wirtschaft.  Vielmehr 
festigt  <5ich  eher  das  lockere  Imperium,  und  die  Regierung  wagt 
tief  ins  innerste  Leben  der  Gesellschaft  einzugreifen,  nicht  bloß 
Geld,  sondern  Blut  und  Arbeit  fordernd.  Nicht  etwa,  um  einem 
Widerstand  gegen  den  Krieg  zu  begegnen,  koalierte  sich  Asquith 
die  Gegenpartei.  Vielmehr  war  der  Krieg,  wie  M.  selbst  zeigt, 
höchst  populär;  an  der  Universität,  wo  die  Jugend  den  National- 
geist überall  vertritt,  schlug  die  Leidenschaft  in  starke  Flammen. 
Wer  Alterszeichen  im  Angesicht  des  englischen  Staats  sucht, 
mag  vielleicht  stolz  auf  das  Nachmachen  deutscher  Ideen,  auf 
den  Mangel  eigener  neuer  Organisationsformen  oder  technischer 
Hilfen  deuten.  Allein  aus  der  Fremde  Gutes  sich  anzupassen, 
hat  bei  manchem  Staate  Verjüngung  bedeutet.  —  Brutal  er- 
scheint dem  Deutschen,  dessen  Sieg  es  hemmt,  das  alte  Seekriegs- 
recht; allein  brutal  daran  ist  nur,  daß  die  englische  Regierung 
einseitig  ihren  völkerrechtlichen  Verzicht  auf  Teile  davon  wider- 
rief und  als  Übermacht  keinen  Einspruch  Neutraler  erfuhr. 

Im  Hinblick  auf  die  Zukunft  meint  M.,  England  müsse  sich 
fortan  einreihen  in  ein  System  gleichberechtigter  Staaten  und 
Deutschlands  Entwicklungsnotwendigkeiten  berücksichtigen.  Hier- 
mit einverstanden,  seh  ich  in  solchem  Verzicht  auf  überstiegenen 
Welt- Imperialismus  keineswegs  notwendig  einen  Rückgang  des 
Reichsbundes  oder  gar  innerer  Staatskraft:  wodurch  mir  M.s 
Forderung  dauernder  deutscher  Rüstung,  die  fortwährend  er- 
innert, was  ein  Krieg  gegen  unser  Reich  bedeutet,  nur  um  so 
dringlicher  erscheint.  Mit  Recht  fordert  er,  in  Englands  Wesen 
und  Sprache  sollen  wir  nur  immer  tiefer  eindringen;  wird  doch 
jenes  Volk  weiter  zu  den  Leitern  menschlicher  Kultur  zählen. 
Nachäfferei  des  Fremden  verfällt  sicher  künftigem   Spott;  bis 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  22 


334  Literaturbericht. 

tief  ins  19.  Jahrhundert  hinein  taten  aber  die  Deutschen  auf 
unendlich  vielen  Lebensgebieten,  darunter  Politik,  sehr  recht, 
von  England  zu  lernen.  Eine  Vereinzelung  Deutschlands, 
oder  auch  nur  die  Absonderung  von  England,  geistig  oder  wirt- 
schaftUch,  erschiene  mir  als  schweres  Unglück  für  uns,  nicht  etwa 
bloß  für  die  höheren  Stände,  sondern  auch  den  vom  Weltverkehr 
stark  abhängigen  Fabrikarbeiter.  Der  beiderseitige  Nationalhaß, 
dessen  Verbreitung  (nicht  Unüberwindbarkeit)  ich  zugebe,  zählt 
m.  E.  zu  den  Sentimentalitäten,  deren  Einfluß  auf  deutsche 
Politik  auch  M.  in  der  Verfeindung  Japans  beklagt.  Gewiß  nicht 
unser  Auswärtiges  Amt,  wohl  aber  die  Meinung  der  Deutschen, 
auch  der  höchst  Stehenden,  bedarf  der  Mahnung,  die  Begriffe 
innerstaatlicher  Moral  nicht  zum  alleinigen  Maßstabe  des  Völker- 
verhältnisses zu  setzen.  Das  Gerechtigkeitsgefühl,  richtiger  Zorn, 
darf  hier  nicht  walten;  gäbe  es  selbst  Genugtuung,  die  unmöglich 
bleibt,  da  der  schwerste  Verlust  doch  in  unersetzlichen  Menschen- 
seelen besteht,  wir  dürften  dennoch  von  keiner  Strafe  reden, 
da  ja  ein  Richter  fehlt,  und  die  Gegenpartei  ihre  Söhne  auch 
nicht  in  den  Tod  geschickt  hat  für  eine  andere  als  eine  gerecht 
erachtete  Sache.  Daß  der  Fehler  auf  Britanniens  Seite  lag, 
bezweifelt  kein  Deutscher;  „Verbrechen"  nennt  ihn  heute  M.  als 
Politiker,  hoffentlich  nicht  künftig  als  Historiker. 

Berlin,  22.  12.  16.  F.  Liebermann. 


Notizen  und  Nachriditen. 

Die  Herren  Verfasser  ersuchen  wir,  Sonderabzüge  ihrer 
in  Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze,  welche  sie  an  dieser 
Stelle  berücksichtigt  wünschen,   uns  freundlichst  einzusenden. 

Die  Redaktion. 

Allgemeines. 

Die  „Gesellschaft  für  Deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschlchte" 
hat,  um  der  Forschung  wichtiges  Arbeitsmaterial  in  der  ursprünglich- 
sten Form  vorlegen  zu  können,  den  Grundstock  zu  einer  „Historisch- 
Pädagogischen  Handschriftensammiung"  gelegt.  Sie  hat  u.  a.  wichtige 
Teile  des  Nachlasses  Friedrich  Fröbels  als  Eigentum  überwiesen  er- 
halten und  richtet  nun  an  alle  Freunde  der  historisch-pädagogischen 
Forschung  die  Bitte,  die  neugeschaffene  Sammlung  durch  weitere 
Gaben  zu  vermehren. 

Im  Verlage  von  Martinus  Nijhoff  im  Haag  soll  eine  Serie  von 
Handbüchern  erscheinen,  welche  die  Literatur-,  die  Kunst-  und  die 
politische  Geschichte  der  Niederlande  behandeln  werden.  Die  Literatur- 
geschichte {Handboek  tot  de  Nederlandsche  Letterkundige  Geschiedenes), 
verfaßt  von  I.  Prinsen,  liegt  bereits  fertig  vor.  Von  der  politischen 
Geschichte  (Handboek  tot  de  Staatkundige  geschiedenis  van  Nederland), 
die  von  J.  H.  Gosses  und  N.  Japikse  bearbeitet  wird,  ist  die  erste 
Lieferung,  die  ungefähr  den  80jährigen  Krieg  gegen  Spanien  umfaßt, 
im  September  1916  ausgegeben  worden.  Die  politische  Geschichte 
soll,  in  6  Lieferungen  zu  je  F.  1,25,  im  Laufe  des  Jahres  1918  voll- 
endet sein. 

Im  gleichen  Veriage  erscheint  auch  in  einzelnen  Blättern  zu  je 
F.  2, —  (für  Subskribenten  F.  1,50)  ein  Historischer  Atlas  der  Nieder- 
lande {Geschiedkundige  Atlas  van  Nederland),  herausgegeben  von  einer 

22* 


336  Notizen  und  Nachrichten. 

Kommission,  der  u.  a.  P,  J.  Blök,  A.  A.  Beekman  und  H.  W.  Brug- 
mans  angehören. 

A.  Hulshof  gibt  im  Zentralblatt  für  Bibliothekswesen  1916, 
September-Oktober  einen  Überblick  über  die  Entwicklung  des  Stu- 
diums der  Paläographie  in  England  seit  der  Begründung  der  Palaeo- 
graphical  Society  im  Jahre  1873.  Der  holländische  Gelehrte  hat  gleich- 
zeitig den  Unterschied  hervorgehoben,  der  zwischen  dem  Studium  der 
Paläographie  in  England  und  in  Deutschland  herrscht:  während  die 
englischen  Veröffentlichungen  vornehmlich  vom  Britischen  Museum 
und  dessen  Beamten  veranstaltet  werden,  gehen  sie  in  Deutschland 
meist  von  einzelnen  Gelehrten  aus.  In  England  ist  das  Studium  der 
Paläographie  „eine  vornehme  Beschäftigung  einzelner  Bevorzugten, 
denen  es  beliebt,  weniger  gut  Gestellte  mit  einer  Auswahl  ihrer  Schätze 
zu  beglücken.  In  Deutschland  bildet  es  die  ernste  Lebensarbeit  emsiger 
Forscher,  die  . . .  sich  JVlithelfer  zu  gewinnen  suchen,  in  dem  Bewußtsein, 
daß  die  Ernte  groß,  der  Arbeiter  aber  wenige  sind".  Der  Stoff  selbst 
ist  von  den  Engländern  bisher  nicht  genügend  verarbeitet  worden, 
dieser  Aufgabe  haben  sich  zum  Teil  die  deutschen  Gelehrten  unter- 
zogen. Zum  Schluß  wird  darauf  hingewiesen,  daß  dem  Studium  der 
Paläographie  eine  weitere  Blüte  nur  beschieden  sein  könne,  wenn 
trotz  aller  durch  den  Krieg  hervorgerufenen  Entfremdung  die  Ge- 
lehrten Englands  und  Deutschlands  als  der  beiden  führenden  Länder 
auf  diesem  Gebiete  sich  zu  freundschaftlichem  Zusammenarbeiten  ver- 
einigen würden. 

Im  Nederlandsch  Archievenblad  25,  1  handeln  B.  JVl.  de  Jonge 
de  Ellemeet,  van  de  Meene  und  P.  van  Meurs  über  die  holländi- 
schen Kirchenarchive,  ihre  bessere  Bewahrung  und  Ausnützung,  S. 
JVluller,  H.  E.  van  Gelder  und  R.  Fruin  über  die  Aufnahme  von 
Privatarchiven  in  die  Staatsarchive  (die  JVleinungen  gehen  auseinander, 
jedenfalls  wird  man  Muller  zustimmen  müssen,  wenn  er  die  von  Pri- 
vaten zusammengebrachten  nichtorganischen  Sammlungen  den  Biblio- 
theken zuweist).  K.  Heeringa  sucht  für  die  osteuropäische  Ge- 
schichte Interesse  zu  wecken,  indem  er  aufzählt,  was  anderwärts  für 
deren  Pflege  geschehen  ist. 

Die  von  G.  Pfeilschifter  herausgegebene  Abwehrschrift  „Deutsche 
Kultur,  Katholizismus  und  Weltkrieg"  (vgl.  H.  Z.  116  S.  117  ff.),  die 
bereits  in  dritter  Auflage  vorliegt,  ist  nun  auch  in  französischer,  ita- 
Henischer  und  holländischer  Übersetzung  erschienen.  Weitere  Über- 
setzungen sind  vorgesehen. 

Aus  den  zahlreichen  und  meist  nur  in  Wiederholungen  schwelgen- 
den Erörterungen  über  das  nationale  Problem  ragt  der  Vortrag  Bruno 
Bauchs,  Zum  Begriff  der  Nation  (Berlin,  Reuther  u.  Reichard.  32  S.) 


I 


Allgemeines.  337 

hervor  durch  selbständige  und  feine  Gedanken.  Es  werden  die  natur- 
haften Grundlagen  der  Nation,  Blutsverwandtschaft  und  Boden,  be- 
sonnen untersucht,  und  von  ihren  historischen  Gegebenheiten  wird 
gezeigt,  daß  sie  durchweg  zugleich  „Aufgegebenheiten"  sind,  daß  ,,die 
Nation  Voraussetzung  und  Ziel  zugleich  ist".  Er  meint  dann,  daß 
ohne  den  Staat  die  Nation  als  Nation,  als  geschichtliche  völkische  Ein- 
heit gar  nicht  einmal  existieren  kann.  Das  geht  u,  E.  zu  weit.  Wohl 
ist  das  ideale  Ziel  jeder  höheren  nationalen  Entwicklung  die  Bildung 
eines  nationalen  Staates,  aber  auch  ohne  diese  ideale  Vollendung  kann 
die  Nation  als  Kulturnation  sehr  wohl  leben  und  gedeihen.  Man  ver- 
mißt darum  auch  eine  Erörterung  des  nationalen  Problems  im  national 
gemischten,  dem  sog.  Nationalitätenstaate.  Hier  greift  dann  die  Arbeit 
von  Alfred  Ammon,  Nationalgefühl  und  Staatsgefühl  (Schriften  des 
sozialwissenschaftlichen  akad.  Vereins  in  Czernowitz.  Duncker  6t 
Humblot  1915.  46  S.)  ein,  die  mit  Recht  bemerkt,  daß  die  konse- 
quente Durchführung  der  Nationalstaatsidee  immer,  namentlich  bei 
kleineren  Nationen,  am  Widerstände  härterer  politischer,  geschicht- 
licher und  wirtschaftlicher  Realitäten  scheitern  wird.  Im  übrigen  ist 
die  A.sche  Schrift  etwas  arm  an  historischer  Anschauung,  kann  aber 
dem  Historiker  manche  Anregung  begrifflicher  und  theoretischer  Art 
geben.  M. 

Die  neue,  von  Prof.  Dr.  W.  Kosch  in  Czernowitz  herausgegebene 
„Bibliothek  des  Ostens"  wird  nicht  ungeschickt  von  dem  be- 
kannten literarischen  und  politischen  Vorkämpfer  des  „Karpathen- 
deutschtums"  Prof.  Dr.  Raimund  Friedrich  Kaindl  in  Graz  mit  einer 
Übersicht  über  „Die  Deutschen  in  Osteuropa"  eröffnet  (Leipzig, 
Dr.  W.  Klinkhardt,  1916).  Werden  hier  zunächst  in  kurzem  und  so 
etwas  mechanisch  wirkendem  Auszug  aus  dem  bekannten  dreibändigen 
Buch  des  Verfassers  und  andern  Quellenwerken  (warum  fehlen  in  der 
„Schriftenübersicht"  Werke  wie  Nistors  Handel  der  JVloldau  und  Jire- 
ceks  mittelalterliche  Verfassungsgeschichte  Serbiens?)  die  Tatsachen 
(und  manchmal,  wie  z.  B.  die  Personennamen,  auch  schwankendere 
Anhaltspunkte)  der  osteuropäischen  Deutschensiedlung  von  den  Goten 
bis  zur  Kolonisation  des  österreichischen  und  russischen  Polizeistaats 
geboten,  so  wirkt  um  so  wohltuender  die  Gerechtigkeit,  mit  der  in 
Schlußübersichten  die  Summe  von  Kulturleistung  und  Schmarotzer- 
tum der  Gäste,  Undank  und  Recht  der  Wirte  gezogen  wird.  Nirgends 
stört  selbst  im  Krieg  billige  Begeisterung  und  Schlagwortlogik.  Die 
Bilderbeigaben,  mit  denen  der  Verlag  die  ganze  Reihe  begleiten  zu 
wollen  scheint,  sind  m.  E.  überwiegend  nicht  gerade  glücklich  gewählt. 
Oder  ist  das  nur  der  Eindruck  dessen,  der  sich  soeben  im  dritten  Bänd- 
chen, Josef  Strzygowskys  wundervoll-abstruser  Kunstgeschichte  des 
Ostens,  an  der  überwältigenden  Schönheit  der  Wiedergaben  zum  Teil 


338  Notizen  und  Nachrichten. 

aus  denselben  Gebieten  erfreute?  Gelegentlich  des  Krakauer  Holz- 
schnitts gegenüber  S.  33  hätte  wohl  der  Wirksamkeit  der  Stoß  mit 
einem  Wort  gedacht  werden  können.  C.  Brinkmann. 

Die  Schrift  von  Arnold  Oppel,  „Das  Hohelied  Salomonis  und 
die  deutsche  religiöse  Liebeslyrik"  ist  mir  im  Rahmen  der  Abhand- 
lungen zur  mittleren  und  neueren  Geschichte  (H,  32,  Berlin  und  Leipzig 
W.  Rothschild,  1911)  am  wenigsten  verständlich.  Ein  vielseitig  ge- 
bildeter, offenbar  im  ästhetischen  Interesse  auch  für  das  psychologisch 
anziehende  Thema  gewonnener  Anfänger  hat  uns  eines  der  schwierig- 
sten Gebiete  der  seelischen  Kultur  in  ein  paar  Kapitel  herausgegriffen 
und  weiß  nun  sich  und  uns  vor  den  zuströmenden  Lesefrüchten  nicht 
zu  retten.  Literaturgeschichte  ist  solches  Durcheinanderwirbeln  von 
Namen  und  Zitaten  jedenfalls  nicht:  wer  diese  Literatur  kennt,  erfährt 
nichts  Neues,  wem  sie  fremd  war,  der  kann  durch  den  Verfasser,  dem 
es  an  jeder  philologischen  Schulung  gebricht,  unmöglich  orientiert 
werden.  E.  S. 

Gegenüber  der  namentlich  von  welschschweizer  Seite  aufgestellten 
Forderung,  alle  Schweizer  müßten  im  Namen  der  liberal-demokrati- 
schen Staatsidee  ihr  Interesse  mit  einem  für  Deutschland  ungünstigen 
Ausgang  des  Weltkriegs  verknüpfen,  versucht  der  Professor  der  Ge- 
schichte in  Basel,  Dr.  Hermann  Bächtold,  in  einer  kleinen  Schrift 
„Zum  Urteil  über  den  preußisch-deutschen  Staat.  Eine  politisch-geo- 
graphische Studie"  (Basel,  Kober  1916.  32  S.)  das  Verständnis  für 
unseren  Staat  „aus  seinen  Lebensbedingungen  heraus"  zu  fördern. 
Er  tut  das  grundsätzlich  nur  von  politisch-geographischer  Seite  her, 
ohne  damit  freilich  behaupten  zu  wollen,  daß  „für  eine  vollständige 
und  allseitige  Erklärung  dieser  eine  Faktor  genüge"  (S.  9  Anm.).  Da- 
bei geht  er  von  dem  theoretischen  Satze  aus,  daß  „in  einem  Staate, 
dessen  Größe  den  Ansprüchen  seiner  Lage  nicht  entspricht,  diese 
Spannung  gelöst  wird  durch  eine  straffere  Anspannung  der  staat- 
lichen Gemeinschaft  und  der  JVlachtquellen  des  Staates"  (S.  11).  Das 
Vorhandensein  einer  solchen  Spannung  sucht  der  Verfasser  zunächst 
für  das  Preußen  vor  der  Reichsgründung  durch  einen  Überblick  über 
seine  politisch-geographische  Entwicklung  im  Westen,  Osten  und  an 
der  Nordküste  zu  erweisen  und  daraus  die  Notwendigkeit  einer  straffen, 
militärisch-politischen  Organisierung  und  Zentralisierung  des  Staates 
zu  erklären.  JVlit  der  Reichsgründung  habe  dann  Preußen  die  Eigenart 
seines  monarchischen  Beamtenstaates  dem  Reiche  einpflanzen  müssen, 
weil  auch  nach  den  Spannungen  der  politisch-geographischen  Lage 
des  neuentstandenen  Reiches  ein  radikal  demokratisch,  resp.  parla- 
mentarisch organisiertes  Deutschland  eine  zu  weiche  Masse  gegenüber 
den  starken  Kräften  der  politischen  Welt  gewesen  wäre  (S.  25).  Zum 
Schluß  verläßt  der  Verfasser  aber  doch  den  bloß  politisch-geographi- 


Allgemeines.  339 

sehen  Standpunkt  und  kann  sich  einige  rein  politische  Bemerkungen 
„nicht  versagen"  (S.  29).  Dabei  hebt  er  besonders  das  über  der  harten 
Natur  des  preußisch-deutschen  Staates  so  oft  übersehene  Verantwort- 
Jichkeitsgefühl  des  deutschen  Beamtentums  und  die  eminent  sittliche 
Auffassung  desselben  von  seinem  Amte  hervor,  —  Wir  können  uns 
nur  freuen,  daß  ein  deutsch-schweizerischer  Gelehrter  so  die  Einseitig- 
keit und  Voreingenommenheit  seiner  deutschfeindlichen  Staatsgenossen 
2u  korrigieren  unternimmt,  müssen  aber  leider  bezweifeln,  daß  der 
Deutschenhaß  der  letzteren,  sei  es  durch  die  ruhigen  politisch-geogra- 
phischen Betrachtungen  des  Verfassers,  sei  es  auch  durch  sein  warmes 
Lob  des  deutschen  Beamtentums,  auch  nur  zu  einer  vorurteilslosen 
Betrachtung  des  deutschen  Staatswesens  sich  bekehren  lassen  wird. 

H.  Rosin. 

Prof.  Dr.  Andreas  Veress,  Archivar  zu  Klausenburg (Kolozsvär), 
hatte  nach  langjährigen  Vorarbeiten  1911  mit  der  Ausgabe  seiner 
Fontes  Herum  Transylvanicarum  begonnen,  von  welchen  bis  zum 
Jahre  1914  drei  Bände  mit  Berichten  von  Jesuiten  aus  Siebenbürgen 
<1571 — 1588),  darunter  Possevinos  langgesuchte  Transylvania  (1584) 
und  ein  Band  Akten  über  die  Beziehungen  Siebenbürgens  mit  der 
Wallachei  (1468 — 1540)  schon  erschienen  sind.  Vergangenes  Jahr  er- 
öffnete er  eine  neue  Reihe,  Fontes  Rerum  Hungaricarum  betitelt, 
mit  dem  Druck  der  Matricula  ei  acta  Hungarorum  in  Universitate  Pata- 
vina  studentium  (1264 — 1864).  Budapest  1915.  Die  Vorzüge  der  frü- 
heren Bände:  sorgfältige  Sammlung  des  Stoffes,  Beigabe  von  Er- 
läuterungen und  guten  Registern,  prächtige  Ausstattung  unter  Verwen- 
dung zeitgenössischen  Bilderschmucks,  kommen  dem  letzterschienenen 
Werk  gleichfalls  zu,  das  durch  eine  Einleitung  in  lateinischer  Sprache 
auch  Benutzern  erschlossen  ist,  die  des  Magyarischen  nicht  mächtig 
sind.  Der  in  Rede  stehende  Band  enthält  in  seiner  ersten  Hälfte 
S.  1 — 149  die  Matricula  et  adnotationes,  d.i.  ein  Verzeichnis  von  Studie- 
renden aus  dem  Königreich  Ungarn,  deren  Aufenthalt  in  Padua  wäh- 
rend der  sechs  Jahrhunderte  1264 — 1864  nachweisbar  ist.  Die  Quellen- 
stellen und  Nachweise  sind  in  der  Sprache  ihrer  Aufzeichnung,  also 
meist  lateinisch,  die  Erläuterungen  in  magyarischer  Sprache  geboten. 
Die  zweite  Hälfte  des  Bandes,  Acta  et  Epistolae,  enthält  auf  S.  150 
bis  290  hundert  Aktenstücke  und  Studentenbriefe  aus  der  Zeit  von 
1508 — 1747,  die  einen  guten  Einblick  in  das  Leben  und  Treiben  an 
italienischen  Universitäten,  zumal  während  des  16.  Jahrhunderts,  ge- 
währen. Den  Beschluß  machen  Verzeichnisse  der  benützten  Literatur, 
der  Bildbeigaben  und  ein  sehr  ausführlicher  Index  Locor um  etNominum. 

L.  V.  E. 

Die  von  Edmund  Stengel  in  Marburg  angeregte  tüchtige  Unter- 
suchung von  Karl  Blume,  Abbatia.   Ein  Beitrag  zur  Geschichte 


340  Notizen  und  Nachrichten. 

der  icirchlichen  Rechtssprache  (Kirchenrechtliche  Abhandlungen^ 
hrsg.  von  Ulrich  Stutz,  Heft  83.  Stuttgart,  Ferd.  Enke,  1914,  XIV  u. 
118  S.)  kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  der  älteste  Beleg  des  Wortes 
„abbatia",  das  aus  dem  syrischen  abbas  =  pater  entstand,  zwar  aus 
Gallien  und  aus  dem  Jahre  651  stammt,  seine  Heimat  aber  in  Irland 
zu  suchen  ist;  dort  war  „abbas"  als  Bezeichnung  für  die  höchsten 
geistlichen  und  weltlichen  Würdenträger  (z.  B.  den  Papst)  in  Gebrauch 
und  das  Wort  „abbatia",  wenn  auch  nur  durch  Quellen  etwas  späterer 
Zeit  bezeugt,  entsprach  etwa  dem  abendländischen  „episcopatus".  Die 
weitere  Entwicklung  der  Bedeutung:  „Amt  des  Abtes",  „Gesamtheit  von 
Äbten",  „JVlissionsbezirk  eines  Abtes",  „Temporalien  und  Grundherr- 
schaft eines  Klosters",  „Kloster  und  Stift"  wird  in  teilweise  sehr  ein- 
gehender, auf  Stengels  Ausführungen  in  seiner  „Diplomatik  der  Immu- 
nitätsurkunden" beruhender  Diktatuntersuchung  der  einschlägigen 
Königsurkunden  zutreffend  dargelegt  und  zum  Schluß  die  ansprechende 
Vermutung  ausgesprochen,  daß  die  Wandlung  des  Wortes  von  der  rein 
persönlichen  Bedeutung  des  Abtsamtes  zur  dinglichen  des  gesamten 
Klosterbesitzes  unter  dem  Einflüsse  des  „germanischen  Eigenkirchen- 
oder  vielmehr  des  Benefizialwesens"  erfolgte,  das  „die  kirchlichen 
Anstalten  als  weltlichen  Besitz  behandelte  und  den  Dienst  an  ihnen 
nicht  anders  ansah  als  irgendein  weltliches  Dienstverhältnis"  (S.  85). 
Königsberg  i.  Pr.  A.  Brackmann. 

British  rule  in  India,  condemned  by  the  British  themselves,  publ. 
by  the  Indian  National  Party,  London  1915,  68  S.  William  Jen- 
nings  Bryan  {Secretary  of  State  of  the  United  States  of  America),  Bri- 
tish rule  in  India,  ohne  Ort  und  Jahr,  14  S.  —  Um  die  Verbreitung 
dieser  beiden  Propagandaschriften  bemüht  sich  die  Indische  Gesell- 
schaft in  Berlin  (Charlottenburg,  Wielandstr.  38).  In  deutscher  Aus- 
gabe sind  sie  im  Verlag  von  Karl  Curtius  erschienen.  Uns  sind  durch 
die  englische  und  die  von  ihr  beeinflußte  Literatur  (zu  welcher  auch 
das  kürzlich  hier  besprochene  Buch  von  Konow  über  Indien  gehört) 
so  einseitig  die  segensreichen  Wirkungen  der  englischen  Herrschaft  in 
Indien  vertraut  geworden,  daß  es  nur  nützlich  sein  kann,  einmal  in 
konzentrierter  Form  die  Anklagen  der  Gegner  zu  hören.  Die  Schrift 
der  Nationalpartei,  den  indischen  IVlärtyrern  für  die  Befreiungsbewegung 
gewidmet,  stellt  in  173  kurzen  Absätzen  geeignete  Aussprüche  aus 
Schriften  und  Reden  von  Engländern  zusammen.  Für  den  Historiker 
würde  eine  chronologische  Anordnung  dieses  Anklagematerials  einen 
wirklichen  Quellenwert  besitzen.  Die  in  der  Schrift  versuchte  sach- 
liche Anordnung  stellt  für  historisches  Empfinden  alles  durcheinander: 
monumentale  Worte  von  Salisbury,  Clive,  Burke,  Macaulay,  Auszüge 
aus  Keir  Hardies  „Impressions",  aus  einem  vertraulichen  Bericht  Lord 
Lyttons,  aus  einem  Manifest  der  britischen  sozialdemokratischen  Partei^ 


Allgemeines.  341 

dazu  aus  zahlreichen  sehr  unglcichwertigen  Schriften  und  Aufsätzen 
von  den  Zeiten  des  Siebenjährigen  Krieges  bis  zur  Gegenwart.  Immer- 
hin ist  die  Lektüre  eindrucksvoll.  Das  Bild  eines  wehrlosen  Volkes  tritt 
heraus,  dem  seit  Vj^  Jahrhunderten  „zur  Ader  gelassen"  (Salisbury> 
worden  ist,  und  zwar  in  zunehmendem  IVlaße  seiner  ländlichen  Bevöl- 
kerung, so  daß  nicht  nur  der  schimmernde  Reichtum  der  sozialen 
Oberschichten  dahingeschwunden  ist,  sondern  Armut,  Unterernährung 
und  Hungersnot  ständig  zunehmen;  eines  Volkes,  dessen  einst  blühende 
Exportgewerbe  systematisch  zerstört  worden  sind,  dessen  aufstrebende 
Industrie  gewaltsam  niedergehalten  wird,  dessen  Dorfschulmeister  durch 
die  erleuchtete  westliche  Kultur  vertrieben  worden  sind,  ohne  daß- 
dem  Volk  ein  Ersatz  gegeben  wurde;  denn  das  indische  Geld  wird 
für  das  Heer  und  für  Pensionen  von  englischen  Beamten  verwendet, 
deren  Stellen  trotz  königlicher  Versprechungen  den  Indiern  selbst  vor- 
enthalten werden.  Als  ein  sehnsüchtiges  und  zürnendes  Motto  ist 
Macaulays  Schilderung  des  glänzenden  Großreiches  Babers  und  der 
Prosperität  des  indischen  Volkes  vor  der  englischen  Eroberung  dieser 
Anklagesammlung  vorangesetzt  worden.  Der  Bryansche  Aufsatz  bringt 
im  ganzen  dieselben  Argumente,  die  soeben  skizziert  worden  sind.  Er 
ist  'nicht  nur  wegen  der  Persönlichkeit  des  Verfassers  von  Interesse. 
Er  ist  ein  Ausdruck  jener  idealistischen  Strömung  in  den  Vereinigten 
Staaten,  die  prinzipiell  gegen  Imperialismus  und  „Kolonialismus"  sich- 
wendet,  darum  auch  die  Annexion  der  Philippinen  verurteilt  und  den 
Weiterbesitz  nur  bis  zur  baldigen  Erteilung  der  vollen  Selbstregierung, 
zugesteht.  In  den  amerikanischen  demokratischen  Südstaaten  bin  ich 
dieser  Auffassung  in  weiten  Kreisen  begegnet.  Als  nach  der  Einnahme 
von  JVlanila  in  den  Vereinigten  Staaten  für  eine  koloniale  Politik  Propa- 
ganda gemacht  wurde,  sagt  Bryan,  habe  sein  Interesse  sich  auf  die 
britische  Herrschaft  in  Indien  als  das  klassische  analoge  Beispiel  der 
Geschichte  gerichtet.  Die  Erfahrungen  seiner  Bereisung  Indiens  haben 
ihn  dann  zu  dem  Schluß  gebracht,  daß  hier  der  Brite,  wie  viele  Völker 
vor  ihm,  wieder  einmal  die  Unfähigkeit  des  Menschen  bewiesen  habe, 
mit  Weisheit  und  Gerechtigkeit  eine  unverantwortliche  Gewalt  über 
wehrlose  -Menschen  auszuüben.  Daß  die  Inder  für  Selfgovernment  reif 
seien,  sucht  er  gegen  die  englischen  Argumente  zu  erweisen:  die  Gleich- 
wertigkeit ihrer  Intelligenz  werde  nur  durch  das  absichtsvoll  aus- 
geklügelte Examenssystem,  besonders  seit  der  reaktionären  Ära  Cur- 
zons,  verdunkelt,  und  ein  Einheitsgefühl  über  die  Gegensätze  der 
Rassen  und  Religionen  hinweg,  das  schon  in  nationalen  Kongressen 
zur  Erscheinung  komme,  werde  sich  alsbald  mit  der  Übertragung  der 
Verantwortung  einstellen.  Über  die  Unsicherheit  des  letzten  Arguments 
trägt  der  Idealismus  hinweg  mit  dem  Worte  Gladstones,  daß  Freiheit 
allein  die  Menschen  reif  mache  für  die  Freiheit.    Leicht  werden  solche 


342  Notizen  und  Nachrichten. 

Ideen  nicht  eine  Bresche  in  die  Traditionen  der  anglo-indischen  Herren- 
menschen legen.  Und  damit  das  Volk  ihre  Verwirklichung  nicht  etwa 
erzwinge,  hat  Wilson  die  Ausfuhr  dieses  Aufsatzes  seines  impulsiven 
Staatssekretärs  aus  den  Vereinigten  Staaten  verbieten  müssen,  d.  h. 
die  Verbreitung  in  Indien  durch  Vermittlung  der  revolutionären  indi- 
schen Patrioten,  die  in  San  Francisco  ihr  Zentrum  haben. 

Beirut.  Andr.  Walther. 

Neue  Bücher:  Wilh.  Windelband,  Geschichtsphilosophie.  Frag- 
ment aus  dem  Nachlaß.  Hrsg.  von  Wolfg.  Windelband  und  Bruno 
Bauch.  (Berlin,  Reuther  &  Reichard.  3  M.)  —  Wundt,  Völkerpsycho- 
logie. Eine  Untersuchung  der  Entwicklungsgesetze  von  Sprache,  iV\y- 
thus  und  Sitte.  7.  u.  8.  Bd.  (Leipzig,  Kröner.  20  JVl.)  —  Sommer- 
lad, Zur  Geschichte  des  thüringisch-sächsischen  Geschichtsvereins  1865 
bis  1886.    (Halle,  Gebauer-Schwetschke.    2,50  fA.) 

Alte  Geschichte. 

Der  verdienstvolle  Breslauer  Religionshistoriker  Rud.  Otto  hat 
in  der  ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahres  drei  indische  Schriften  über 
die  Vishnu-Religion  in  deutscher  Übersetzung  mit  wertvollen  Erläute- 
rungen an  drei  verschiedenen  Stellen  herausgegeben;  sie  stehen  in 
engem  Zusammenhang  und  ergänzen  sich.  Zur  Einführung  ist  pas- 
send gewählt:  Sakalavaishnaväcäryasamgrahah,  „Darstellung  (der 
Lehre)  aller  Vishnuitenmeister",  die  in  Kürze  die  vier  Hauptsysteme 
<ier  Vishnuiten  zusammenfaßt.  (In  der  Zeitschrift  für  JVlissionskunde 
und  Religionswissenschaft  1916,  Heft  3,  4.  Der  Sanskrittext  ist  her- 
ausgegeben in  Benares  Sanskrit  Series  Nr.  132.)  In  den  Perthesschen 
„Theolog.  Studien  und  Kritiken"  1916,  Heft  2,  folgte:  Pillai  Lokäcä- 
ryas  Artha  Paficaka,  „Die  5  Artikel"  von  Näräyana  aus  dem  Tamil 
ins  Sanskrit  übertragen  und  daraus  übersetzt  und  erläutert  (der  Sanskrit- 
text ist  mit  englischer  Übersetzung  veröffentlicht  im  Journal  of  the 
Royal  Asiatic  Society  1910,  S.  565—607).  Das  Schriftchen  behandelt 
die  fünf  Hauptdogmen  der  Südschule  (der  Tefigalais)  der  Rämänuja- 
Gemeinde  und  seine  Kenntnis,  besonders  der  von  Otto  gegebenen  Er- 
läuterungen ist  unbedingte  Voraussetzung  für  das  Verständnis  der 
derselben  Schule  angehörigen  Hauptschrift:  Yatipati  (oder  Yatindra) 
mata-Dipikä  des  Niväsa  (13./14.  Jahrhundert  n.  Chr.),  „Erklärung 
der  Lehre  des  Asketenfürsten",  d.  i.  Rämänujas,  des  berühmten  Kom- 
mentators der  Brahmasütren  und  der  Bhagavadgitä  (in:  Sammlung 
gemeinverständlicher  Vorträge  und  Schriften  aus  dem  Gebiet  der 
Theologie  und  Religionsgeschichte,  Tübingen,  JVlohr,  Nr.  80;  der  San- 
skrittext findet  sich  in  Benares  Sanskrit  Series  Nr.  132,  1907).  Die 
Dipikä  ist  eine  zusammenfassende  Lehrschrift  der  Südschule  der  Rämä- 


Alte  Geschichte.  343 

nuja-Gemeinde  der  Vishnuiten  mit  besonderer  Betonung  der  Erlösungs- 
und Heilslehre.  Gediegene  Übersetzungen  und  Bearbeitungen  solcher 
Texte  sind  von  großem  Nutzen  für  die  deutsche  Sanskritphilologie 
und  die  Erforschung  der  indischen  Religionsgeschichte.  Otto  genießt 
den  unschätzbaren  Vorzug  des  Verkehrs  mit  einheimischen,  in  diesen 
Gegenständen  von  Jugend  auf  wohl  bewanderten  Gelehrten;  während 
des  Krieges  konnte  er  sich  nur  des  Rates  des  in  Deutschland  zurück- 
gehaltenen Pandit  Ch.  T.  Roy  bedienen.  Seinen  weiteren  Arbeiten  auf 
diesem  Gebiete,  namentlich  der  in  Aussicht  gestellten  Übertragung 
und  Erläuterung  des  Siddhänta  aus  Rämänujas  Bhäshya,  auf  dem 
alle  diese  Schriften  beruhen,  darf  mit  Interesse  entgegengesehen 
werden. 

Frei  bürg  i.  Br.  Julius  Schwab. 

Die  Mitteilungen  der  Vorderasiatischen  Gesellschaft  20  (1915)  3 
enthalten  von  R.  Forrer  Untersuchungen  zur  Chronologie  der  neu- 
assyrischen Zeit,  die  Neues  bringen  und  nicht  unbeachtet  bleiben 
dürfen,  während  in  dem  von  derselben  Gesellschaft  herausgegebenen 
Alten  Orient  16,  1  W.  Schwenzner  das  geschäftliche  Leben  im 
alten  Babylonien  nach  den  Verträgen  und  Briefen  mit  Geschick 
darstellt. 

Die  Neuen  Jahrbücher  für  das  klassische  Altertum,  Geschichte 
und  deutsche  Literatur  und  für  Pädagogik  bringen  zwei  lesenswerte 
Aufsätze  von  M.  Pohlenz:  Kronos  und  die  Titanen  und  von  H. 
Lamer:   Die  Dardanellen  im  Altertum. 

Theodor  Birt  legt  sein  hübsches  und  prächtig  ausgestattetes 
Buch  „Römische  Charakterköpfe.  Ein  Weltbild  in  Biographien"  in 
einer  2.  Auflage  vor  (Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  1913.  363  S.),  die  ein- 
zelne Verbesserungen  und  Zusätze  aufweist.  Tiberius  ist  leider  auch 
jetzt  (vgl.  diese  Zeitschr.  113,  180)  nur  im  Vorübergehen  berücksich- 
tigt worden. 

The  making  of  the  Roman  people  von  Thomas  Lloyd  (London, 
Longmans,  Green  and  Co.,  1914.  136  S.).  —  Der  Verfasser  dieses 
phantastischen  Buches  tummelt  sich  in  den  Jagdgründen  der  Prä- 
historie und  der  Analogieschlüsse  und  beweist  so,  daß  das  arische 
Element  im  römischen  Volke  von  eingewanderten  Kelten  herrührt. 
Die  Patrizier  sind  Kelten,  die  Plebejer  gehören  der  vorgeschichtlichen 
„braunen  Rasse"  an,  die  in  der  neolithischen  Periode  die  ganze  Mittel- 
meerwelt besiedelt  hatte.  Mit  derselben  Sachkenntnis  wird  im  zweiten 
Teil  der  Schrift  die  enge  Verwandtschaft  des  Latein  mit  dem  Gaelischen 
•dargelegt.  Beiläufig  erfahren  wir  auch,  daß  die  Verkennung  der  gaeli- 
schen Grundlage  im  heutigen  Englisch  eine  Folge  der  „pangermani- 
schen Propaganda"  sei.    Mit   Geschichtswissenschaft  hat  das   Buch 


344  Notizen  und  Nachrichten. 

nichts  zu  tun,  dagegen  mag  es  als  Zeugnis  der  schon  vor   dem   Krieg, 
weitverbreiteten  Keltomanie  etwelche  Beachtung  verdienen. 

Greifswald.  Matthias  Geizer. 

Reich  an  fördernden  Untersuchungen  ist  Hermes  51,  Heft  3/4. 
H.  Dessau:  Über  die  Quellen  unseres  Wissens  vom  Zweiten  Punischen 
Krieg;  O.  Weinreich:  Zur  römischen  Satire.  1.  Die  Quellenfragfr 
von  Livius  7,2;  E.  v,  Stern:  Zur  Wertung  der  pseudo-aristoteli- 
schen  zweiten  Ökonomik;  Dr.  ¥,&\\:nEA0n0NNH2l^K0i:  nOAEMOJS'^ 
Br.  Keil:  Textkritisches  zu  den  Hellenica  Oxyrhynchica;  G.  Klaffen- 
bach:  Sisennas  Statthalterschaft  von  Makedonien;  Br.  Keil:  Zur 
Tempelchronik  von  Lindos;  A.  Rosenberg:  Amyntas,  der  Vater 
Philipps  H.,  der  geschickt  und  erfolgreich  die  Urkunde  in  Annual  of 
the  British  School  at  Athens  XVII,  193  behandelt;  W.  Kolbe:  Die 
griechische  Politik  der  ersten  Ptolemäer;  E.  v.  Stern:  Zum  atheni- 
schen Volksbechluß  über  Chalkis. 

In  der  Geografisk  Tidskrift  1916,  7  findet  sich  eine  mit  gutea 
Karten  ausgestattete  beachtenswerte  Arbeit  von  G.  Schütte:  Nord- 
og  Mellemevropa  efter  den  rensede  Ptolemaios. 

In  den  Sitzungsberichten  der  Kgl.  Preußischen  Akademie  der 
Wissenschaften  1916,  41  findet  sich  die  Fortsetzung  von  E.  Meyers: 
Untersuchungen  zur  Geschichte  des  Zweiten  Punischen  Krieges. 
Teil  3  und  zwar  6:  Ursprung  und  Entwicklung  der  Überlieferung  über 
die  Persönlichkeit  des  Scipio  Africanus  und  die  Eroberung  von  Neu- 
karthago. 

Die  Theologische  Quartalschrift  98,  2  enthält  Aufsätze  von  E. 
Stolz:  St.  Cyrill  von  Alexandrien  als  Wetterpatron,  und  A.  Steg- 
mann: Zur  Datierung  der  „Drei  Reden  des  hl.  Athanasius  gegen  die 
Arianer"  {Migne  Patrol.  Graec.  XXVI,  9—468),  der  trotz  Weigls  Wider- 
spruch an  seiner  Datierung  um  357  festhält  und  mit  Gründen  zu  stützen 
sucht. 

In  der  Zeitschrift  für  die  neutestamentliche  Wissenschaft  und 
die  Kunde  des  Urchristentums  17,  3  setzen  P.  Corssen  seine  dankens- 
werten Untersuchungen  über  das  Martyrium  des  Bischofs  Cyprian  und 
G.  Hölscher:  Über  die  Entstehungszeit  der  „Himmelfahrt  Moses" 
fort.  Weiter  erwähnen  wir  M.  Plath:  Warum  hat  die  urchristliche 
Gemeinde  auf  die  Überlieferung  der  Judaserzählungen  Wert  gelegt? 
und  H.  Koch:  Zum  Lebensgange  Kallists. 

Neue  Bücher:  Drerup,  Aus  einer  alten  Advokatenrepublik. 
(Demosthenes  und  seine  Zeit.)  (Paderborn,  Schöningh.  6  M.)  — 
R aussei,  Les  cultes  igyptiens  ä  Dilos,  du  III*  au  /*'"  stiele  avant  Jisus- 
Christ.  (Nancy,  impr.  Berger-Levrault.)  —  Clerc,  Aquae  Sextiae. 
Histoire  d'Aix-en- Provence  dans  l'antiquitL  {Aix-en- Provence,  Dragon.y> 


Frühes  Mittelalter.  345 

Römisch-germanische  Zeit  und  frühes  Mittelalter  bis  1250. 

Aus  dem  Zentralblatt  für  Bibliothekswesen  33  (1916)  sind  hier 
als  allgemeiner  interessierend  zu  nennen:  der  Reisebericht  von  Fr. 
Mi  1  kau  über  „Das  Kriegsschicksal  der  belgischen  Bibliotheken" 
(Heft  1/2),  die  Erinnerungen  von  Fr.  Ehrle  S.  J.  an  die  fast  25  Jahre, 
in  denen  wesentlich  durch  ihn  die  Vatikanische  Bibliothek  mit  ihren 
ebenso  liberalen  wie  praktischen  Einrichtungen  vorbildlich  für  die 
Erschließung  einer  Handschriftensammlung  zur  gelehrten  Benutzung 
geworden  ist  („Bibliothektechnisches  aus  der  Vatikana",  Heft  7/8;  der 
Titel  ist,  vielleicht  erst  in  der  Setzerei,  barbarisiert  worden;  „Biblio- 
thekstechnisches aus  der  Vaticana"  verdient  den  Vorzug),  und  der 
Überblick  von  A.  Hulshof  über  die  bahnbrechende  Tätigkeit  und 
Bedeutung  der  Palaeographical  Society  1873 — 1894  und  der  New  Palaeo- 
^rapliical  Society  1902 — 1915  („Das  Studium  der  Paläographie  in  Eng- 
land seit  1873",  Heft  9/10).  Hulshof  würdigt  auch  die  Bedeutung  der 
Anregungen,  die  in  neuester  Zeit  die  englische  Wissenschaft  durch 
Ludwig  Traubes  eindringende  Forschungen  und  Lehrbegabung  er- 
halten hat.  Freilich  wird  heute  wohl  allgemein  bei  uns  nicht  mehr 
alles,  was  er  zu  Traubes  Lobe  vorbringt,  als  solches  empfunden  wer- 
den. Der  deutsche  Professor,  dessen  „kühle  Haltung,  die  er  den  For- 
schern der  mittelalterlichen  Geschichte  und  der  Urkundenlehre  in 
seinem  Vaterlande  gegenüber  zur  Schau  trug",  neben  seiner  großen 
Verehrung  für  den  Franzosen  Delisle,  für  die  ausländischen  Zuhörer 
den  Reiz  seiner  Vorlesungen  erhöhten,  wird  hoffentlich  für  immer 
•der  Vergangenheit  angehören.  Wir  werden  stets  gern  und  dankbar 
des  Verdienstes  fremder  Forscher  gedenken,  von  denen  wir  zu  lernen 
hatten  und  zu  lernen  haben  werden.  Das  ist  selbstverständlich,  darf 
uns  aber  nicht  ungerecht  gegen  unsere  Landsleute  werden  lassen, 
deren  Leistungen  auf  dem  Gebiet  der  mittelalterlichen  Geschichte  und 
Quellenforschung  im  19.  Jahrhundert  in  weitestem  Umfang  für  andere 
Länder  vorbildlich  geworden  sind.  A.  H. 

JVl.  Jahn,  Die  Bewaffnung  der  Germanen  in  der  älteren  Eisen- 
zeit (700  V.  Chr.  bis  200  n.  Chr.).  Mit  227  Abb.,  1  Taf.  und  2  Karten. 
(Würzburg,  Kabitzsch,  1916.  7  M.)  —  Das  vorliegende  16.  Heft  der 
Mannusbibliothek  enthält  eine  sehr  wertvolle  Studie  aus  dem  Gebiet 
der  germanischen  Altertumskunde.  Auf  Grund  eines  reichen,  sorgfältig 
gesammelten  und  gesichteten  Fundmaterials  (das  eigentliche  Süd- 
deutschland bleibt  ausgeschlossen)  werden  zeitlich  zwei  große  Gruppen 
unterschieden :  die  späte  Latfenezeit  und  die  römische  Kaiserzeit,  inner- 
halb deren  die  Funde  nach  ihrer  Verbreitung  und  ihrer  Eigenart  ein- 
gehend geschildert  werden.  Der  Verfasser  ist  durch  seine  sorgfältigen 
Studien,  denen  vor  allem  auch  Besonnenheit  in  der  Zuweisung  der 


346  Notizen  und  Nachrichten. 

Funde  an  die  in  Frage  kommenden  Stämme  nachzurühmen  ist,  über 
seine  Vorgänger  hinausgel<ommen.  Anthes. 

Im  Römisch- Germanischen  Korrespondenzblatt  9,  Nr.  5  gibt 
G.  Wolff  weitere  Beiträge  „Zur  Chronologie  der  Ziegelstempel  der 
VIII.  Legion"  („II.  Die  Stempel  vom  Taunus  und  aus  der  Wetterau"), 
P.  Reinecke  bespricht  „Neue  neolithische  Siedelungen  in  Südost- 
bayern", F.  Wagner  einen  römischen  Grabaltar  aus  Kay  bei  Titt- 
moning  (Oberbayern)  und  A.  Riese  steuert  eine  Bemerkung  zu  dem 
„Rhenus  bicornis"  Vergils  bei.  Mit  dem  Schluß  des  laufenden  Jahr- 
gangs wird  das  Römisch-Germanische  Korrespondenzblatt  sein  Er- 
scheinen einstellen,  da  die  Römisch-Germanische  Kommission  des 
Kaiserlichen  Archäologischen  Instituts  beschlossen  hat,  vom  Januar 
1917  ab  ein  eigenes  Korrespondenzblatt  im  doppelten  Umfange  des 
alten,  vorläufig  auch  nur  jeden  zweiten  Monat,  erscheinen  zu  lassen. 
„Die  Kommission  sieht  in  einem  solchen  , Korrespondenzblatt'  ein 
unentbehrliches  Hilfsmittel  zur  Erreichung  ihres  Hauptzwecks,  für  alle 
auf  ihrem  Gebiet  Arbeitenden  mehr  und  mehr  eine  Beratungs-  und 
Sammelstelle,  möglichst  die  Zentralstelle  der  Forschung  zu  werden." 
Es  sollen  darin,  wie  bisher,  neben  Fundberichten  kleine  Aufsätze  von 
allgemeinerem  Interesse  aus  dem  ganzen  Gebiet  der  Forschungen  der 
Kommission,  von  der  neolithischen  bis  zur  merovingischen  Zeit,  ge- 
bracht werden,  namentlich  auch  solche,  die  durch  Belehrung  über  die 
Behandlung  von  Funden  und  Einblicke  in  die  Methoden  der  For- 
schung dazu  beitragen,  den  Abstand  zwischen  Liebhabern  und  For- 
schern zu  verringern,  das  Verständnis  beider  für  einander  zu  fördern. 
Daneben  werden  Nachrichten  aus  den  größeren  Museen  und  aus  den 
Vereinen  und  regelmäßige  Verzeichnung  der  wichtigeren  Literatur  so- 
fort nach  dem  Erscheinen  neben  besonderer  Besprechung  des  Bedeu- 
tendsten verheißen.  Das  neue  Korrespondenzblatt  wird  von  dem 
Direktor  der  Kommission  Koepp  unter  Mitwirkung  der  Herren  Krüger- 
Trier,  des  Herausgebers  des  alten  Korrespondenzblattes,  und  Schu- 
macher-Mainz herausgegeben  werden. 

Im  Korrespondenzblatt  des  Gesamtvereins  der  deutschen  Ge- 
schichts-  und  Altertumsvereine  64  (1916),  Nr.  9/10  setzt  sich  Fr. 
Hertlein  in  einem  Aufsatz  „Die  Jahreszeitensockel  an  den  Juppiter- 
gigantensäulen"  mit  den  Kritikern  seiner  Ansicht,  daß  sie  mit  den 
germanischen  Irminsäulen  zusammenhingen,  auseinander.  Ludwig 
Schmidt,  „Zur  Stammesverfassung  der  Sachsen",  verteidigt  die  alte 
Ansicht,  daß  es  keine  jährlichen  Versammlungen  aller  sächsischen 
Gaue  und  überhaupt  kein  ständiges,  alle  Sachsen  umfassendes  Band 
gegeben  habe,  aber  ohne  neue  Gesichtspunkte  vorzubringen  und  ohne 
der  grundlegenden  Veränderung  der  Quellenfrage  durch  die  Entdek- 


Frühes  Mittelalter.  347 

kung  der  älteren  Vita  Lebuini  genügend  Rechnung  zu  tragen.  Daß 
alle  sachlichen  Bedenken  gegen  deren  Darstellung  nicht  durchgreifen^ 
wird  gerade  aus  seiner  Zusammenfassung  deutlich.  Was  wir  sonst 
erfahren,  widerspricht  derselben  keineswegs  oder  kann  sie  vielmehr 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  teilweise  stützen.  Ohne  positiven  Anhalt 
in  den  Quellen  und  ihnen  gegenüber  zum  Teil  nur  gewaltsam  aufrecht 
zu  erhalten,  ist  dagegen  die  von  Schmidt  vertretene  negative  Ansicht. 
Das  ist  anderwärts  näher  auszuführen.  Bei  seiner  Auslegung  des  An- 
fangs von  c.  34  der  Capitulatio  de  partibus  Saxoniae  übersieht  Schmidt 
die  unmittelbar  folgenden  Worte:  sed  unusquisque  comes  in  suo  mini- 
sterio  placita  et  iustitias  faciat.  Danach  kann  es  sich  bei  den  im  Gegen- 
satz dazu  verbotenen  conventus  publici  „aller  Sachsen",  die  nur  vom 
Königsboten  in  königlichem  Auftrag  berufen  werden  können,  nur  um 
allgemeine  Versammlungen  des  ganzen  Stammes  handeln. 

A.  Hofmeister. 

In  einem  1.  Teil  „Beiträge  zur  Interpretation  der  Kapitularien 
zur  Lex  Salica"  erläutert  E.  Gold  mann  in  den  Mitteilungen  des  In- 
stituts für  österreichische  Geschichtsforschung  Bd.  36,  4.  Heft  mit  vor- 
sichtigem Scharfsinn  und  eindringender  Sachkenntnis  eine  Anzahl 
schwieriger  Ausdrücke  {cromaverint,  preter  evisionem  dominicam,  ut 
rebus  concederemus,  marias  qui  nuntiabantur  ecclesias,  quomodo  sie  ante 
pavido  interficiat,  ad  sorte  aut  ad  plibium  promoveatur,  ebrius),  zum 
Teil  sehr  einleuchtend,  wenn  auch  natürlich  nicht  in  jedem  Falle 
schon  das  letzte  Wort  gesprochen  ist. 

In  den  Nachrichten  von  der  Königlichen  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften zu  Göttingen,  philologisch-historische  Klasse  1916,  Heft  2 
handelt  Bruno  Krusch  eindringend  und  lehrreich  über  „Ursprung 
und  Text  von  Marculfs  Formelsammlung".  Er  weist  aus  den  von 
Markulf  benutzten  Urkunden  nach,  daß  dieser  nicht  um  die  Mitte  des 
7.,  wie  schon  Zeumer  gezeigt  hatte,  sondern  erst  im  Anfang  des  8.  Jahr- 
hunderts, und  zwar  wahrscheinlich  in  Meaux,  das  zu  Austrasien  ge- 
hörte, und  vermutlich  im  Heiligen-Kreuz-Kloster  (später  S.  Faron), 
nicht  in  Rebais,  schrieb,  aber  u.  a.  die  Klosterarchive  von  Rebais^ 
St.  Bertin,  Corbie,  St.  Denis  und  wohl  auch  von  B^ze  in  Burgund  be- 
nutzte. Sein  Auftraggeber,  Bischof  Landerich,  ist,  was  schon  für 
Zeumer  am  wahrscheinlichsten  war,  nach  Meaux,  nicht  nach  Paris 
oder  gar  nach  Metz  zu  setzen.  Näher  bestimmt  Kr.  die  Abfassungs- 
zeit zwischen  10.  Nov.  721,  weil  in  I  16  die  Immunitätsbestätigung 
Theuderichs  IV.  für  St.  Bertin  von  diesem  Tage  zugrunde  liege,  und 
18.  Jan.  722,  wo  bereits  Abt  Widerad  von  Flavigny,  unweit  Bfeze, 
II  17  in  seinem  Testament  benutzte.  Der  genaue  Terminus  post  quem 
bleibt  etwas  unsicher,  weil  im  einzelnen  mit  der  Möglichkeit  gerechnet 
werden  muß,  daß  nicht  gerade  die  uns  erhaltene,  sondern  eine  andere 


348  Notizen  und  Nachrichten. 

-verlorene  Urkunde  gleichen  Formulars  Markulfs  Vorlage  bildete.  Für 
das  rasche  Bekanntwerden  der  Sammlung  in  Flavigny  könnte  man, 
statt  an  einen  Umweg  über  die  Reichskanzlei,  vielleicht  lieber  an  einen 
Zusammenhang  mit  den  Fäden  denken,  die  von  JVlarkulf  nach  Bfeze 
oder  in  dessen  Nähe  (Flavigny??)  führen.  In  einer  Königsurkunde 
ist  Benutzung  einer  Markulfischen  Formel  erst  744,  in  einer  Urkunde 
des  Hausmeiers  Karl  Martell  schon  741  nachzuweisen.  Die  Arbeits- 
weise des  alten  Schulmeisters,  der  dem  praktischen  Rechtsleben  an- 
scheinend fernstand  und  es  liebte,  die  Formeln  mosaikartig  zusammen- 
zusetzen, wird  sehr  anschaulich  dargelegt.  A  H. 

Im  111.  Heft  der  von  E.  Ehering  veröffentlichten  Historischen 
Studien  untersucht  Adolf  Berr  (Die  Kirche  gegenüber  Gewalttaten  von 
Laien  [Merowinger-,  Karolinger-  und  Ottonenzeit,  Berlin  1913])  das 
Verhalten  der  Kirche  gegenüber  den  von  Laien  an  Klerus  und  Kirchen- 
gut in  der  Zeit  der  Merowinger,  Karolinger  und  Ottonen  verübten 
Missetaten.  Zu  diesem  Zwecke  durchforscht  er  mit  viel  Fleiß  und 
Mühe  die  Chroniken,  Heiligenleben  und  sonstigen  zeitgenössischen 
Quellen,  ohne  gerade  Vollständigkeit  zu  erreichen,  die  vielleicht  auch 
nicht  beabsichtigt  war.  Das  Hauptergebnis  der  Untersuchung,  das  im 
Schlußwort  des  Buches  (S.  125  f.)  dargelegt  wird,  bestätigt  im  wesent- 
lichen die  bereits  bekannte  Tatsache,  daß  die  Kirche  seit  dem  9.  Jahr- 
hundert zur  Hintanhaltung  von  Vergehen  gegen  Kirchendiener  und 
Kirchenbesitz  eigene  Normen  aufgestellt  und  diese  gegebenenfalls  — 
wenn  auch  nicht  immer  —  durchgeführt  und  durchgesetzt  hat.  Mit 
dieser  Feststellung  begnügt  sich  der  Verfasser;  eine  tiefere  Begründung 
des  jeweiligen  Verhaltens  der  Kirche  läßt  er  aber  vermissen,  ein  Mangel, 
der  in  der  in  Aussicht  gestellten  Fortsetzung  der  Arbeit  für  die  Zeit 
der  Salier  und  Staufer  vermieden  werden  sollte.  —  Als  Nebenfrucht 
liefert  die  Arbeit  einzelne  beachtenswerte,  quellenkritische  Bemer- 
kungen. Köstler. 

In  der  Zeitschrift  für  Kirchengeschichte  36.  Bd.,  3./4.  Heft  sucht 
P.  Rassow,  Pippin  und  Stephan  II.,  von  Caspars  Darstellung  der  Er- 
eignisse aus  zu  einer  anderen  Auffassung  des  Frankenkönigs  zu  kom- 
men, der  in  den  Verhandlungen  durchaus  nicht  von  der  Kurie  düpiert 
worden  sei,  sondern  sich  im  Gegenteil  dabei  als  ganz  ausgezeichneten 
Politiker  gezeigt  habe.  Seine  Gesichtspunkte  sind  einleuchtend,  aber 
sein  Beweis  ist  nicht  schlüssig,  weil,  wie  er  selber  andeutet,  sein  Aus- 
gangspunkt, die  mutmaßliche  Entwicklung  der  tatsächlichen  Hergänge, 
wie  Caspar  sie  gibt,  nicht  genügend  gesichert  ist.  A  H. 

In  den  Studien  und  Mitteilungen  zur  Geschichte  des  Benedik- 
tinerordens und  seiner  Zweige  37  (N.  F.  6),  3.  Heft  behandelt  Adalbert 
Puchs  die  1083  erfolgte  Gründung  des  Stiftes  Göttweig  durch  Bischof 


Frühes  Mittelalter.  349 

Altmann  von  Passau  („Das  Benediktinerstift  Göttweig.  Seine  Grün- 
dung und  Rechtsverhältnisse  im  Mittelalter  I."),  F.  J.  Bendel  be- 
ginnt eine  eingehende  Auseinandersetzung  mit  dem  „neuen  Fuldaer 
Urkundenbuch"  von  Stengel,  auf  die  nach  ihrer  Vollendung  zurück- 
zukommen ist,  und  M,  Buchner  sucht  seine  Annahme,  daß  Erzbischof 
Alderich  von  Sens  mit  zwei  Briefen  der  sog.  Formelsammlung  von 
St.  Denis  zu  tun  hat,  gegen  Levison  zu  verteidigen,  dem  er  in  einem 
andern  Punkte  im  Historischen  Jahrbuch  der  Görresgesellschaft  37, 
S.  221  ff.  entgegengetreten  ist  (vgl.  aber  H.  Z.  114,  S.  667);  für  die 
Quellenkunde  und  die  Überlieferungsgeschichte  von  Interesse  sind  die 
allerdings  mageren  Studien  zum  Johann  Trithemius- Jubeljahr  (1516) 
1916  von  F.  W.  E.  Roth  und  der  Beginn  eines  Aufsatzes  über  „Die 
Handschriften  des  Benediktinerklosters  S.  Petri  zu  Erfurt"  von  Joseph 
Theele. 

Das  Rolandslied  als  Geschichtsquelle  und  die  Entstehung  der 
Rolandsäulen.  Eine  Studie  von  F.  E.  Mann.  (Leipzig,  Dietrich  [Wei- 
cher] 1912.  173  S.)  —  Der  junge  Gaston  Paris  hat  einmal  bei  Er- 
örterung der  Namen  der  Heidenvölker  im  altfranzösischen  Rolands- 
liede  für  Ormaleus  das  Ermeland  herangezogen.  Von  diesem  müßigen 
Einfall  ist  die  ganze  vorliegende  Arbeit  mit  ihren  merkwürdigen  Er- 
gebnissen ausgegangen.  Herr  Mann  kam  bald  zu  dem  Resultate, 
daß  unter  Turs  und  Pers  nicht  Türken  und  Perser  zu  verstehen  seien, 
sondern  die  Einwohner  von  Thorn  und  Briesen,  daß  man  bei  Puille 
und  Calabre  beileibe  nicht  an  Apulien  und  Calabrien  zu  denken  habe, 
sondern  an  die  Insel  Poel  und  das  Land  Polabia,  daß  die  Sarazenen 
nichts  anderes  seien  als  die  alten  Stettiner,  deren  Namen  erst  Beda 
und  Alcuin  auf  die  spanischen  Araber  übertragen  haben  —  und  so 
findet  er  dann  auch  Rencesval  in  Prenzlau  wieder,  wo  Roland  seinen 
Märtyrertod  gefunden  hat  und  somit  eine  Rolandsäule  zu  Recht  besteht. 
—  Aber  dieser  neue,  gewiß  merkwürdige  historisch-geographische 
Kommentar  zum  Rolandsliede  geht  auch  die  Geschichtsforschung  sehr 
ernsthaft  an :  denn  der  ganze  spanische  Feldzug  Karls  d.  Gr.  vom  Jahre 
778  ist  eine  Fälschung:  überall  müssen  hier  für  Spanien  und  die  Araber 
die  Ostmark  und  die  slavischen  und  litu-preußischen  Völker,  Land- 
schaften und  Flüsse  eingesetzt  werden.  Ein  deutsch-fränkisches  Rolands- 
lied (von  ca.  820 — 830)  hat  diese  Vorgänge  in  dichterischer  Verklärung, 
aber  noch  mit  genauer  Festhaltung  des  ursprünglichen  Lokales  geschil- 
dert, erst  die  romanische  Umarbeitung  hat  jene  spanische  Maskerade 
bewirkt,  die  der  Verfasser  so  glücklich  war  aufzudecken.  Im  Lande 
zwischen  Elbe  und  Weichsel  bewahrte  man  jedoch  mit  dem  deutschen 
Gedicht  auch  die  Kenntnis  der  wirklichen  Vorgänge.  Die  Rolandssäulen 
aber,  die  man  dort  im  Zeitalter  des  deutschen  Ordens  zur  Erinnerung 
an  den  berühmten  „Preußenländer"  {Rutland I)  errichtete,  gehen  auf 
Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21   Bd.  23 


350  Notizen  und  Nachrichten. 

das  vorbildliche  Denkmal  zurück,  welches  wahrscheinlich  K.  Otto  IIL 
in  Magdeburg  errichten  ließ,  nachdem  das  ursprüngliche  Grabmal  ver- 
schwunden war.  —  Die  Schrift  hat  ausschließlich  psychologisches  Inter- 
esse, Der  Verfasser  glaubt  nicht  nur  felsenfest  an  seine  „unerschütter^ 
liehen  und  unwiderleglichen  Ergebnisse",  sondern  ist  überzeugt,  daß 
gerade  die  Beweisführung  mit  ihrer  „großen  Klarheit  und  Natürlichkeit" 
für  den  Leser  ein  Genuß  sein  wird.  Und  einen  solchen  Leser  hat  er 
vvirklich  gefunden:  der  ungenannte  Rezensent  des  Literar.  Centralblattes 
hat  das  Buch  ernst  genommen! 

Göttingen.  Edward  Schröder. 

Eine  Untersuchung  über  den  „Besitz  der  Zähringer  in  Ostfranken" 
gibt  G.  Bossert  in  der  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins  70 
(N.  F.  31),  4.  Heft,  Anlaß,  Streitfragen  der  deutschen  Fürsten-Gene- 
alogie des  IL  Jahrhunderts  unter  neuen  Gesichtspunkten  zu  behandeln. 

Im  Historischen  Jahrbuch  (der  Görres- Gesellschaft)  37.  Bd.,  2.  u. 
3.  Heft,  S.  267—284  beschäftigt  sich  Heinrich  Otto  mit  Einzelheiten 
der  Vorgänge  in  Kanossa  („Heinrich  IV.  in  Kanossa").  Beachtens- 
wert ist  die  Beobachtung,  daß  „stare"  bei  Donizo,  wie  überhaupt  im 
italienischen  Sprachgebrauch,  nicht  immer  geradezu  „stehen"  bedeute. 
Heinrich  IV.  habe  sich  in  einem  der  Häuser  des  Fleckens  Kanossa 
aufgehalten.  Hallers  Kritik  an  Gregors  Darstellung  der  Vorgänge  wird 
als  ungerecht  und  inkonsequent  abgelehnt.  Hauptsächlich  erörtert  Otta 
die  Reihenfolge  von  Buße  und  Verhandlungen  und  setzt  sich  hierbei 
mit  Campaninis  Kanossa-Führer  auseinander,  dessen  Darstellung  Josef 
Kohler  im  „Tag"  1911  Nr,  111  weiter  verbreitet  hat.  Festzuhalten  ist, 
mit  dem  Annalisten  von  St.  Blasien,  daß  der  König  keineswegs  im  Ein- 
vernehmen mit  Gregor  nach  Kanossa  kam,  sondern  diesen  dort  über- 
raschte. Damit  aber  ist  meines  Erachtens  Campaninis  Annahme,  daß 
die  bei  Donizo  als  Ort  der  entscheidenden  Zusammenkunft  genannte 
Nikolaus-Kapelle  in  der  Burg  Mongiovanni,  auf  halbem  Wege  zwischen 
Kanossa  und  Reggio,  gelegen  habe,  ausgeschlossen.  Sie  ist,  was  auch 
aus  Donizos  Worten  hervorgeht,  am  Fuße  des  Burgfelsens  von  Kanossa 
zu  suchen.  Auch  Otto,  der  Campaninis  Annahme  nicht  ganz  abweist, 
hält  das  für  ungezwungener.  Aus  dem  „remevit  Bibbiamllum"  Do- 
nizos, Vers  125,  läßt  sich  kaum  sicher  mit  Hampe  auf  einen  früheren 
Aufenthalt  Heinrichs  in  Bianello  schließen.  Otto  erkennt  die  schwere 
Niederlage  Heinrichs  in  Kanossa  an,  bezweifelt  aber,  ohne  zu  über- 
zeugen, gegen  Hampe,  daß  „auch  fernerhin  der  Name  Kanossa  das 
Symbol  der  Kapitulation  staatlicher  Macht  vor  kirchlichen  Herrschafts- 
änsprüchen  bleiben"  werde.  A.  Hofmeister. 

„Der  Kampf  um  Durazzo  1107 — 1108"  zwischen  Boemund  von 
jajent  und  den  Byzantinern,  für  den  auch  nach  ihm  Anna  Kommenas 


Frühes  Mittelalter.  351 

Darstellung  maßgebend  bleibt,  wird  von  Anton  Jenal  im  Historischen 
Jahrbuch  (der  Görres-Gesellschaft),  37.  Bd.,  2.  u.  3.  Heft  geschildert. 
Dabei  wird  das  bisher  ungedruckte  Gedicht  des  Radulphus  Tortarius 
„Ad  Gualonem"  (vermutlich  Gualo,  Bischof  von  Paris  1105 — 1116) 
nach  einer  Photographie  der  vatikanischen  Handschrift  abgedruckt 
und  erläutert.  Der  Dichter,  der  durch  andere  Werke  bereits  bekannt 
ist,  war  Mönch  im  Kloster  Fleury  an  der  Loire.  Die  Modernisierung 
der  Orthographie  geht  auch  in  Eigennamen  zu  weit.  Druckfehler  liegen 
anscheinend  vor:  Vers  81  (exercitus),  125  (Maeander),  142  (Aeolia), 
144  (urbibus),  191  {gere),  194  (impetu?),  257  {prae  nimio),  453  {eum). 
Unverständlich  ist  mir  perudi  Vers  287.  Sachliche  und  sprachliche 
Anspielungen  hätten  reichlicher  angemerkt  werden  können;  die  Ge- 
dichte Rudolfs  lohnten  wohl  einmal  eine  eindringendere,  auch  sprach- 
liche und  metrische  Bearbeitung  und  Ausgabe.  A.  H. 

Im  letzten  Heft  des  9.  Ergänzungsbandes  der  Mitteilungen  des 
Instituts  für  österreichische  Geschichtsforschung  behandelt  Franz 
Martin  eingehend  und  sorgfältig  „Das  Urkundenwesen  der  Erzbischöfe 
von  Salzburg  von  1106 — 1246".  Er  bezeichnet  seine  Arbeit,  die  nicht 
von  der  Schrift,  sondern  vom  Diktat  ausgeht,  als  „Vorbemerkungen 
zum  Salzburger  Urkundenbuch",  dessen  2.  Band  (790 — 1199)  inzwi- 
schen erschienen  ist,  möchte  aber  darüber  hinaus  einen  Baustein  für 
die  Geschichte  der  deutschen  Bischofsurkunde  und  in  weiterem  Sinne 
der  Privaturkunde  geben. 

„Das  Verhalten  Rainalds  von  Dassel  zum  Empfang  der  höchsten 
Weihen"  untersucht  Karl  Schambach  in  der  Zeitschrift  des  Histo- 
rischen Vereins  für  Niedersachsen  1915,  2.  Heft.  Er  will  den  langen 
Zwischenraum  zwischen  Wahl  und  Weihe  Reinaids  zum  Erzbischof 
(1159 — 1165)  darauf  zurückführen,  daß  der  Kanzler  die  Einkünfte 
seiner  vier  Propsteien  in  Hildesheim,  Goslar  und  Münster  habe  fort- 
beziehen wollen.  Doch  die  Überlieferung  ist  viel  zu  dürftig,  als  daß 
sich  mit  Sicherheit  ein  weiteres  Verbleiben  dieser  Pfründen  in  Reinaids 
Hand  nachweisen  ließe.  Aber  auch  wenn  das  der  Fall  wäre  —  auch  ich 
halte  es  für  sehr  möglich,  wenn  nicht  wahrscheinlich  — ,  reicht  es  zur 
Begründung  des  Aufschubs  der  Weihe  nicht  aus.  Mir  ist  nicht  zweifel- 
haft, daß  der  entscheidende  Grund  dafür  in  der  allgemeinen  Lage  der 
Kirche,  dem  Schisma,  zu  suchen  ist;  Reinald  war  ja  nicht  der  einzige 
Bischof,  der  sich  in  diesem  Falle  befand ;  man  wird  nicht  umhin  können, 
hier  die  gleiche  Erscheinung  auf  die  gleiche  allgemeine  Ursache  zurück- 
zuführen. Das  Beibehalten  der  Propsteien  ist  nicht  als  Ursache,  son- 
dern, falls  es  statthatte,  als  eine  der  Folgen  der  aufgeschobenen  Weihe 
zu  betrachten.  Nur  dann  könnte  es,  auch  dann  kaum  als  der  Haupt- 
grund, aber  doch  mit  als  ein  Grund  dafür  gelten,  falls  in  den  Stiftern 

23* 


352  Notizen  und  Nachrichten. 

die  Erhebung  eines  unsicheren  oder  alexandrinischen  Nachfolgers  zu 
fürchten  gewesen  wäre.  Aber  diese  Frage,  die  auch  kaum  mit  irgend- 
welcher Bestimmtheit  bejahend  zu  beantworten  wäre,  hat  Seh.  nicht 
aufgeworfen.  A.  Hofmeister. 

In  den  Mitteilungen  des  Instituts  für  österreichische  Geschichts- 
forschung Bd.  36,  4.  Heft  veröffentlicht  Fedor  Schneider  mit  Er- 
läuterungen ein  interessantes  „Schreiben  der  Ungarn  an  die  Kurie 
aus  der  letzten  Zeit  des  Tatareneinfalls  (2.  Februar  1242)",  das  mit 
drei  anderen  nur  auszugsweise  überlieferten  unterwegs  in  Siena  liegen 
geblieben  zu  sein  scheint.  Es  ergänzt  unsere  Kenntnis  von  den  kriege- 
rischen Vorgängen  nach  dem  Donauübergang  der  Tataren  zu  Weih- 
nachten 1241.  —  Ebenda  bekämpft  J.  Strnadt  („S.  Florian  und 
Rosdorf")  K.  Schiffmanns  Bemerkungen  zu  oberösterreichischen  Orts- 
bezeichnungen im  früheren  Mittelalter. 

Philipp  Heck,  Eine  neue  Theorie  der  sächsischen  Freidinge, 
Zeitschrift  des  Historischen  Vereins  für  Niedersachsen  80,  1915,  4.  Heft, 
setzt  sich  mit  dem  Buch  von  Eckard  Meister  über  die  Ostfälische  Ge- 
richtsverfassung, das  er,  über  Beyerle  (vgl.  H.Z.  1 14,  S.  445)  noch  hinaus- 
gehend, in  allen  Hauptteilen  für  verfehlt  erklärt,  auseinander.  Zu  der 
vermeintlichen,  von  Zeumer  vermuteten,  aber  nicht  erwiesenen  und 
mannigfach  bedenklichen  Identität  Eikes  von  Repgow  mit  dem  Ver- 
fasser der  Sächsischen  Weltchronik  vgl.  H.  Z.  115,  S.  207  und  Fest- 
schrift für  Dietrich  Schäfer  (Forschungen  und  Versuche  zur  Geschichte 
des  Mittelalters  und  der  Neuzeit,  Jena  1915)  S.  113.  A.  H. 

In  der  Zeitschrift  des  Historischen  Vereins  für  Niedersachsen  80, 
1915,  Heft  1  und  4  gibt  Friedrich  Ber the au  eine  erwünschte  Zusammen- 
fassung über  „Die  Wanderungen  des  niedersächsischen  Adels  nach 
Mecklenburg  und  Vorpommern". 

Neue  Bücher:  R.  W.  and  A.  J.  Carlyle,  A  history  of  mediaeval 
political  theory  in  the  West.  Vol.  III.  Political  theory  from  the  tenth 
Century  to  the  thirteenth.  {London,  Blackwood.  io,6  sh.)  —  Forst- 
Battaglia,  Vom  Herrenstande.  Rechts-  und  ständegeschichtliche 
Untersuchungen  als  Ergänzung  zu  den  genealogischen  Tabellen  zur 
Geschichte  des  Mittelalters.    1.  Heft.    (Leipzig,  Degener.    5  M.) 

Späteres  Mittelalter  (1250—1500). 

Die  deutsche  Volkssage  vom  Fortleben  und  der  Wiederkehr  Kaiser 
Friedrichs  II.  Von  Fr.  Guntram  Schultheiß.  Berlin,  Ehering  1911 
(Historische  Studien,  H.  94).  133  S.  8».  —  Schultheiß  nimmt  die  Ar- 
beit von  Kampers,  die  ihm  natürlich  als  Basis  vor  allem  auch  seiner 
Quellenkenntnis  diente,  wieder  auf  und  ergänzt  sie  speziell  nach  der 


Späteres  Mittelalter.  353 

Seite  der  Volkssage.  In  den  Anfängen  der  Sage  von  der  Wiederkehr 
Kaiser  Friedrichs  II.  erblickt  er  einen  stärkeren  waldesischen  Einschlag 
als  sein  Vorgänger,  und  er  dürfte  hier  Recht  behalten.  Die  deutsche 
Volkssage,  wie  sie  sich  vor  allem  in  der  lokalen  Kyffhäusersage  ge- 
staltet hat,  löst  er  von  der  literarischen  und  publizistischen  Geschichte 
dieser  Vorstellungen  vollständig  los  und  säubert  sie  ebenso  von  altem 
Götterglauben;  in  letzterem  Punkte  stimme  ich  ihm  ganz  zu,  im  ersten 
ist  er  vielleicht  zu  weit  gegangen,  obwohl  auch  hier  seine  Erfassung 
der  reinen  Lokalsage  eine  gesunde  Reaktion  bezeichnet.  Auch  die 
Ausscheidung  Friedrichs  des  Freidigen  als  Zwischenstufe  ist  für  die 
Lokalsage  unbedingt  das  richtige.  Eine  kleine  Sammlung  der  wich- 
tigsten Zeugnisse  beschließt  das  Büchlein.  In  der  zeitlichen  Ansetzung 
wie  in  der  Wertung  der  historischen  Quellen,  in  ihrer  Wiedergabe  und 
Übersetzung  finden  wir  allerlei  kleine  Anstöße,  die  eine  sorgfältige 
Revision  hätte  beseitigen  müssen.  Daß  der  Kyffhäuser  mit  JVlyrten 
bewachsen  sei,  entspricht  weder  der  Wirklichkeit,  noch  ist  es  von  der 
Sage  behauptet  worden  —  es  sind  einfach  Heidelbeeren  (myrtilli). 
Göttingen.  Edward  Schröder. 

JVIercedes  Stoeven,  Der  Gewandschnitt  in  den  deutschen  Städten 
des  JVlittelalters  (Freiburger  Abhandlungen  zur  mittleren  und  neueren 
Geschichte,  Heft  59.  Berlin  und  Leipzig  1915)  erörtert  eingehend  die 
Frage,  in  welchem  Maße  die  Einheimischen  und  Fremden  am  Tuch- 
ausschnitt beteiligt  sind,  wie  ihre  Rechte  sich  gegeneinander  abgrenzen 
und  die  Gründe  dieser  Abgrenzung.  Die  einschlägige  Literatur  ist  in 
großem  Umfange  herangezogen ;  nur  ist  die  vorausgeschickte  Literatur- 
übersicht recht  unübersichtlich.  n. 

Sehr  dankenswerte  Beiträge  zu  den  Habsburger  Regesten  des 
späteren  Mittelalters  bringt  eine  fünf  Bogen  starke  Arbeit  von  Otto 
H.  Stowasser  in  den  Mitteilungen  des  Instituts  für  österreichische 
Geschichtsforschung,  Ergänzungsband  10,  1.  Er  behandelt  hier  1.  die 
Kanzleivermerke  auf  den  Urkunden  der  Herzoge  von  Österreich  wäh- 
rend des  15.  Jahrhunderts,  indem  er  frühere  Forschungen  (vgl.  H.  Z. 
115,  210)  erweitert  und  näher  begründet,  insbesondere  daran  festhält, 
daß  diese  Kanzleivermerke  sich  auf  Beurkundungs-,  Fertigungs-  und 
Siegelbefehle  beziehen  können.  Hierauf  folgt  eine  eingehende  Unter- 
suchung über  die  Entstehung  des  alten  Wiener  Stadtbuchs  (Eisen- 
buchs): da  die  Einleitung  desselben  nach  Stowasser  als  formelle  Fäl- 
schung zu  betrachten  ist,  verkürzt  sich  das  Alter  um  drei  Jahrzehnte; 
immerhin  bleibt  das  —  somit  um  1350  anzusetzende  —  Eisenbuch 
auch  in  Zukunft  das  älteste  Stadtbuch  im  ganzen  Rechtskreis  der 
babenbergisch-österreichischen  Städte.  Auch  Nr.  3 — 5  beschäftigen 
sich  mit  Fälschungen:  es  handelt  sich  um  eine  angebliche  Urkunde 


354  Notizen  und  Nachrichten. 

König  Albrechts  von  1304  für  das  Augsburger  Domkapitel  und  um 
Urkundenfälschungen  aus  dem  Karmeliterkloster  Voitsberg  (15.  Jahr- 
hundert) und  dem  steiermärkischen  Kloster  Neuberg  (1497  anzusetzen); 
in  den  beiden  letzten  Fällen  tritt  die  plumpe  Fälschung  vermöge  der 
beigefügten  Schrifttafeln  besonders  gut  hervor.  Die  beiden  letzten 
Nummern  endlich  behandeln  auf  Grund  neu  herangezogener  Quellen 
den  Übergang  von  Hardegg  in  den  Besitz  der  Landesfürsten  (1392) 
und  den  Wiener  Landtag  vom  1.  September  1454. 

Die  urkundlichen  Nachrichten  über  Paza  (Beatrix)  von  Halle, 
Tochter  eines  angesehenen  Cölner  Bürgerhauses,  die  etwa  von  1318  bis 
1322  als  Schwester  des  Deutschordens  erscheint,  dann  aber  Zister- 
ziensernonne geworden  ist,  stellt  P.  Gilbert  Wettstein  in  den  Stu- 
dien und  Mitteilungen  zur  Geschichte  des  Benediktinerordens  und 
seiner  Zweige  N.  F.  6,3  zusammen;  eine  Urkunde  von  1361,  in  der 
dem  Kloster  Herchen  namhafte  Zuwendungen  gemacht  werden,  ist  im 
Wortlaut  wiedergegeben. 

Um  die  Deutung  einer  Stelle  in  Dachers  Chronik,  die  auf  die 
Belagerung  von  Meersburg  durch  Ludwig  den  Bayern  sich  bezieht 
(1334),  bemüht  sich  B.  Rathgen  in  der  Zeitschrift  für  historische 
Waffenkunde  7,  8.  Er  erklärt  die  dort  auf  selten  der  bischöflichen 
Gegenpartei  erwähnten  „Schüsse  aus  einer  Büchse"  als  Geschosse  in 
der  Art  der  späteren  Kanonenschläge,  bei  denen  durch  die  feste  Ein- 
kapselung  einer  viel  Salpeter  enthaltenden  Sprengmasse  eine  besonders 
starke  Knallwirkung  erzielt  werden  mußte.  An  die  Verwendung  von 
Pulvergeschützen  ist  nicht  zu  denken. 

H.  W.  Eppelsheimer  sucht  im  Archiv  für  Kulturgeschichte 
12,  3/4  den  Beweis  zu  führen,  daß  Petrarcas  Religiosität  in  ihren  An- 
sätzen schon  diejenige  des  Humanismus  überhaupt  ist:  nicht  ignoran- 
tistisch,  sondern  „Bildungsreligion  und  innerhalb  der  kirchlichen 
Dogmen  nicht  mehr  orthodox,  sondern  mit  antiken  Weisheitslehren 
durchsetzt;  ein  christlich-stoizistischer  Eudämonismus".  Er  tritt  hier- 
mit in  Gegensatz  zu  E.  Walsers  Untersuchung  über  Christentum  und 
Antike  in  der  Auffassung  der  italienischen  Frührenaissance,  die  wir 
H.  Z.  112,  436  kurz  erwähnt  haben. 

K.  Helm  (Alte  Wege  nach  und  in  Litauen)  zeigt  auf  Grund  zahl- 
reicher im  Königsberger  Staatsarchiv  beruhenden  Wegeberichte  aus 
den  Jahren  1384 — 1402,  in  welcher  Weise  der  Deutsche  Orden  die 
Vorbereitungen  für  einen  kriegerischen  Aufmarsch  in  den  Grenzlanden 
zu  treffen  suchte.  Aus  der  mitgeteilten  Probe  ist  zu  ersehen,  daß  die 
Kenntnis  der  litauischen  Topographie  bei  so  unausgesetzter  Arbeit 
wirklich  auf  eine  ansehnliche  Höhe  gebracht  werden  konnte  (Frank- 
furter Zeitung  1916,  Nr.  323,  Erstes  Morgenblatt). 


- 


Reformation  und  Gegenreformation.  355 

Angeregt  durch  die  Arbeit  von  J,  Schairer  (vgl.  H.  Z.  116,  157  f.) 
macht  P.  N.  Bühler  0.  S.  B.  in  den  Historisch-politischen  Blättern 
158,  8  ein  paar  Bemerkungen  über  die  Erforschung  des  religiösen  Volks- 
lebens am  Ausgang  des  Mittelalters,  in  denen  er  vor  allem  gründliche 
Spezialuntersuchungen  (z.  B.  in  den  wichtigsten  Reichsstädten)  fordert. 

J.  Kracauer  veröffentlicht  in  der  JVlonatsschrift  für  Geschichte 
und  Wissenschaft  des  Judentums  1916,  Juli-August  das  Testament 
einer  Frankfurter  Jüdin  aus  dem  Jahre  1470,  das  in  deutscher  Sprache 
abgefaßt  ist,  was  bei  jüdischen  Urkunden  des  15.  Jahrhunderts  zu  den 
größten  Seltenheiten  gehört. 

Von  der  wahrscheinlich  im  Jahre  1489  entstandenen  Epistula  de 
miseria  curatorum  seu  plebanorum  (vgl.  H.  Z.  116,  530)  hat  Alb.  Wer- 
minghoff  im  Archiv  für  Reformationsgeschichte  13,  3  eine  neue  Aus- 
gabe veranstaltet  und  hierin  außer  den  bekannten  älteren  Drucken 
auch  eine  zweite  Fassung  berücksichtigt,  die  sich  in  einer  jetzt  ver- 
schollenen Handschrift  des  Coblenzer  Staatsarchivs  befunden  hat  und 
nur  noch  durch  eine  —  wohl  von  L.  Eltester  herrührende  —  Überr 
Setzung  bekannt  ist. 

Neue  Bücher:  Brunetti,  Contributo  alla  Storia  delle  relazioni 
veneto-genovesi  dal  1348  al  1350.  (Venezia,  R.  Deputazione  veneta  di 
Störia  patria.)  —  Andreas  Heusler,  Rechtsquellen  des  Kantons  Tessin. 
13.  Heft.  Die  Gemeindestatuten  von  Capriasca  (1358)  und  Carona 
und  Ciona  (1470).  (Basel,  Helbing  &  Lichtenhahn.  3  M.)  —  Re- 
naudet,  Prereforme  et  humanisme  ä  Paris  pendant  les  premihes  guerres 
d'Italie  (1494 — J517).   {Paris,  Champion.) 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500 — 1648). 

Sehr  beherzigenswert  und  durchaus  zutreffend  sind  die  Mah- 
nungen, die  Sebastian  Merkle  in  „Vergangenheit  und  Gegenwart" 
6,  1  an  die  Geschichtslehrer  richtet,  zu  ihrem  Teil  darauf  hinzuwirken, 
daß  das  gegenseitige  Verständnis  der  beiden  Konfessionen  ein  besseres 
werde.  Mit  Recht  weist  er  auf  die  große  Anregung  hin,  die  sich  für 
die  protestantische  Geschichtschreibung  der  Reformation  aus  der  Be- 
schäftigung katholischer  Historiker  mit  Luthers  Persönlichkeit  ergeben 
hat  (Die  nationale  Aufgabe  des  Geschichtsunterrichts  gegenüber  der 
konfessionellen  Spaltung). 

In  der  Zeitschrift  für  die  Geschichte  und  Altertumskunde  Erm- 
lands  Bd.  19  S.  329 — 393  findet  sich  aus  der  Feder  von  Kasimir  von 
Miaskowski  ein  Aufsatz  über  die  Jugend-  und  Studienjahre  des 
ermländlschen  Bischofs  und  Kardinals  Stanislaus  Hosius,  der  für  die 
Geschichte  des  Humanismus  lehrreich  ist. 


356 


Notizen  und  Nachrichten, 


Georg  Loesche,  Zur  Gegenreformation  in  Schlesien  (Troppau, 
Jägerndorf,  Leobschütz).  Neue  archivalische  Aufschlüsse.  Leipzig 
1915  und  1916.  (Schriften  des  Vereins  für  Reformationsgeschichte 
Nr.  117/18  und  Nr.  123.)  Zu  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  wurde  erst 
das  Fürstentum  Troppau,  dann  das  Herzogtum  Jägerndorf,  dessen 
Hauptstadt  damals  Leobschütz  war,  dem  Hause  Liechtenstein  verliehen. 
In  dem  Liechtensteinschen  Hausarchiv  in  Wien,  das  erst  kürzlich  der 
Öffentlichkeit  zugänglich  gemacht  worden  ist,  hat  Loesche  die  Akten 
über  die  Schicksale  der  Protestanten  in  diesen  Gebieten  durchgearbeitet 
und  bietet  uns  seine  Ausbeute  in  einer  lesbaren  Darstellung,  die  eine 
Fülle  anschaulicher  Einzelheiten  enthält.  Die  Geschichte  der  Gegen- 
reformation wird  für  jeden  der  drei  Orte  getrennt  erzählt.  Ihr  Höhe- 
punkt ist  überall  das  Religionsstatut  von  1630,  in  dem  die  Bürger 
jener  Städte  sich  verpflichten  müssen,  keinen  in  der  Stadt  aufzunehmen, 
der  sich  nicht  als  Katholik  erklärt.  Das  JV\artyrium  derer,  die  dennoch 
ihrem  Glauben  treu  blieben,  wird  an  vielen  Beispielen  aus  dem  17.  Jahr- 
hundert veranschaulicht.  Auch  die  Altranstädter  Konvention  brachte 
den  Protestanten  geringe  Erleichterung,  da  sie  zwar  nicht  formell 
umgestoßen,  aber  doch  nur  sehr  lückenhaft  ausgeführt  wurde. 

Neue  Bücher:  Wegg,  Antwerp  i4yy — 1559.  From  the  batik  of 
Nancy  to  the  treaty  of  Cateau  Cambresis.  (London,  Methuen.)  —  Holm- 
quist,  Martin  Luther.  Minnesskrift  tili  Reformationsjubileet  1917. 
(Uppsala,  Sveriges  kristl.  Studentrörelses  Fori)  —  Thiel,  Die  inner- 
österreichische Zentralverwaltung  1564 — 1749.  1.  (Wien,  Holder. 
3,85  M.)  —  Karsten,  Karl  Gustav  Wrangel,  hans  ungdomstid  och  första 
krigarbana  1613 — 1638.   {Stockholm,  Norstedt  &  Söner.   5,50  K.) 


1648—1789. 

Nachdem  1913  der  Abb6  Auguste  der  Kompanie  „du  St.  Sacre- 
ment"  in  Toulouse  eine  eingehende  Monographie  gewidmet  hat,  sucht 
die  Schrift  R.  Alliers,  Une  societe  secrete  au  XVII'  siede  „La  Com- 
pagnie'du  Tris-Saint  Sacrement  de  VAutel  ä  Toulouse"  (Paris  1914, 
3  Fr.)  das  Liebeswerk  der  Brüder  auf  religiösem,  caritativem  und 
sozialem  Gebiet  noch  schärfer  zu  umreißen.  Indem  er  handschrift- 
liches Material  und  die  Korrespondenzen  anderer  Bruderschaften  heran- 
zieht, gelingt  es  ihm  in  manchen  Punkten,  über  Auguste  hinaus- 
zukommen. Eine  völlige  Klarstellung  wird  dadurch  erschwert,  daß 
die  Kompanie  nur  selten  selbst  handelnd  auftritt,  sondern  sich  hinter 
^einzelnen  ihrer  Mitglieder  verbirgt.  Ihre  Bedeutung  beschränkt  sich 
nicht  auf  ihr  eigentliches  Arbeitsgebiet,  einige  Brüder  haben  auch  in 
<len  politischen  Kämpfen  zwischen  Mazarin  und  der  Königin-Mutter 
■eine  Rolle  gespielt.  .  Walter  Platzhoff. 


1648—1789.  357 

Der  Aufsatz  von  Karl  von  Peez  über  die  kleineren  Angestellten 
Kaiser  Leopolds  I.  in  der  Türkei  (Archiv  für  österr.  Gesch.  105,  1)  be- 
handelt eine  Art  von  Organisation,  die  vor  dem  Ausbruch  des  großen 
Türkenkrieges  den  Interessen  des  Kaisers  im  osmanischen  Reiche  dienen 
sollte  und  im  ganzen  nützlich  gewirkt  zu  haben  scheint.  Es  sind  die 
Kuriere,  ferner  die  in  Ofen,  Belgrad  und  Sofia  festzustellenden  Korre- 
spondenten, die  kaiserlichen  Dolmetscher,  ein  geheimer  „Hinterlas- 
sener"  (wahrscheinlich  Vertreter  des  Residenten)  und  die  „Sprach- 
knaben" des  Residenten.  Von  Interesse  ist  es,  daß  das  Institut  der 
letzteren  erst  1754  aufgehoben  wurde  und  daß  an  seiner  Stelle  die 
Orientalische  Akademie  in  Wien  errichtet  wurde.  W.  M. 

Der  auf  archivalischem  Material  beruhende  Aufsatz  von  E. 
V.  Danckelman  über  „Die  kurbrandenburgische  Kirchenpolitik  und 
Kurpfalz  im  Jahre  1696"  wirft  auf  die  Bedeutung  der  religiösen  Frage 
in  Deutschland  gegen  Ende  des  Orleansschen  Krieges  ein  helles  Licht. 
Der  Gegensatz  zwischen  Katholiken  und  Protestanten,  aber  auch 
derjenige  zwischen  Lutheranern  und  Reformierten  geben  ein  Bild 
verworrener  kirchlicher  und  politischer  Verhältnisse.  Manche  katho- 
lische Fürsten  denken  wohl  daran,  wenn  erst  der  Krieg  mit  Frankreich 
zu  Ende  sei,  alsdann  mit  Hilfe  Ludwigs  XIV.  den  Protestantismus 
in  Deutschland  auszurotten.  Ein  neuer  Religionskrieg  scheint  nicht 
fern.  Von  solchem  Hintergrund  heben  sich  die  besonderen  hier  ge- 
schilderten Verhältnisse  ab.  Kurbrandenburg  interessiert  sich  für  die 
bedrückten  Protestanten  in  der  Pfalz,  arbeitet,  um  ihnen  helfen  zu 
können,  an  einer  Vereinigung  der  evangelischen  Stände  in  Deutsch- 
land, sucht  Schweden  zu  gewinnen  oder  gar  eine  große  Koalition  der 
Protestanten  in  Europa  zu  erzielen.  Umsonst,  der  Ryswycker  Friede 
versetzt  mit  seiner  berüchtigten  Religionsklausel  der  evangelischen 
Sache  in  Kurpfalz  den  Todesstoß.  (Zeitschr.  f.  d.  Gesch.  des  Ober- 
rheins.   N.  F.  31,4.)  W.  Michael. 

Als  Bd.  8  der  von  dem  Geschichtsvereine  für  das  Herzogtum 
Braunschweig  herausgegebenen  „Quellen  und  Forschungen  zur  Braun- 
schweigischen Geschichte"  erscheint  eine  von  Hans  Droysen  mitgeteilte 
Auswahl  „Aus  den  Briefen  der  Herzogin  Philippine  Charlotte  von 
Braunschweig  1732 — 1801".  Die  Schreiberin  war  die  vierte  der  Schwe- 
stern Friedrichs  des  Großen,  ward  1733  mit  dem  Prinzen  Karl  von 
Bevern  vermählt  und  hat  von  dieser  Zeit  an  bis  zu  ihrem  Tode  einen 
regen  Briefwechsel  mit  ihren  Angehörigen  geführt.  Ihre  französisch 
geschriebenen  Briefe  befinden  sich  heute  im  Königlichen  Hausarchiv 
zu  Charlottenburg.  Der  vorliegende  erste  Band  (Wolfenbüttel  1916. 
222  S.)  umfaßt  die  Zeit  von  1732—1768,  enthält  aber  nur  die  Briefe 
4er  Prinzessin,  nicht  die  Antworten.   Durch  Zahl  und  Inhalt  beanspru- 


358  Notizen  und  Nachrichten. 

chen  die  an  den  Vater  Friedrich  Wilhelm  I.,  an  Friedrich  den  Großen 
und  an  seine  Gattin,  die  Königin  Elisabeth,  gerichteten  Schreiben  das 
größte  Interesse.  Wertvolle  Aufschlüsse  oder  tiefe  Einblicke  in  die 
großen  Ereignisse  der  Zeit  muß  man  hier  freilich  nicht  erwarten.  Dazu 
war  schon  die  Persönlichkeit  der  Schreiberin,  die  es  an  Geist  z.  B. 
mit  der  Markgräfin  Wilhelmine  wohl  nicht  aufnehmen  kann,  nicht 
bedeutend  genug.  Doch  hatte  sie  vielleicht  mehr  Gemüt  als  die  be- 
rühmtere Schwester.  In  ihren  Briefen  erscheint  sie  wie  ein  getreues 
Echo  der  Stimmungen  am  preußischen  Hofe.  Teilnehmend  und  be- 
wundernd folgen  ihre  Blicke  den  Bahnen,  die  ihr  großer  Bruder  ein- 
schlägt, und  auch  für  den  Prinzen  Heinrich  —  „auch  er  gehört  zur 
Rasse  der  Helden  unseres  Hauses"  (S.  119)  —  ist  sie  voller  Bewunde- 
rung. Über  die  Ereignisse  des  Siebenjährigen  Krieges  findet  man 
manche  interessante  Bemerkung.  Nachdem  Charlotte,  offenbar  vom 
Könige  selbst,  gehört  hat,  daß  der  Krieg  unvermeidlich  sei,  ist  sie 
auch  voller  Zuversicht  (112 — 3).  Sie  ist  begeistert  über  Friedrichs 
Siege  bei  Roßbach  und  Leuthen  und  erklärt,  der  Tag  des  5.  Dezember 
werde  ewig  denkwürdig  sein  in  den  Fasten  Brandenburgs  (126).  Sie 
zittert  für  den  Ausgang  der  Schlacht,  die  ihr  Schwager  Ferdinand  den 
Franzosen  bieten  wird  (bei  Crefeld  1758)  und  die  freilich  auch  über 
das  Schicksal  ihres  Landes  entscheiden  muß  (133 — 4).  Sie  lacht  über 
die  ihrem  Gatten  wie  anderen  Fürsten  angedrohte  Reichsacht  (136). 
Sie  bringt  mit  rhetorischem  Schwung  dem  königlichen  Bruder  ihren 
Glückwunsch  dar  zum  Friedensschlüsse  von  Hubertusburg  (175).  Aber 
das  sind  freilich  nur  die  Höhepunkte  ihrer  Korrespondenz,  denn  diese 
ist  nichts  weniger  als  ein  politischer  Briefwechsel.  Dem  Verständnis 
der  Schreiberin  liegen  im  Grunde  die  kleinen  jedermann  interessieren- 
den Angelegenheiten  der  Gesellschaft  wohl  noch  näher,  so  wenn  sie 
von  musikalischen  Genüssen  berichtet,  von  den  Sternen  in  der  Ge- 
lehrtenrepublik, oder  gar  von  den  Wunderdingen,  die  man  auf  der 
Braunschweiger  JVlesse  zu  sehen  bekommt.  So  erhalten  wir  hier,  im 
ganzen  genommen,  eine  Quelle  zur  Geschichte  der  friderizianischen 
Epoche  und  darüber  hinaus,  die  neben  allem  übrigen,  das  wir  be- 
sitzen, nun  doch  auch  gelesen  zu  werden  verdient.        ^   Michael 

Von  Johann  Friedrich  Joachim  (1713—1767),  dem  Verfasser  des 
ersten  in  deutscher  Sprache  geschriebenen  Lehrbuchs  der  Diplomatik, 
hat  W.  Suchier  eine  gutgemeinte  biographische  Skizze  verfaßt.  Er 
behandelt  lediglich  das  äußere  Leben  und  Wirken  des  Mannes,  ohne 
den  Versuch  zu  machen,  seiner  wissenschaftlichen  Bedeutung  gerecht 
zu  werden.  Doch  gibt  er  mit  der  treuen  Aufzählung  der  Werke  und 
der  vielseitigen  Tätigkeit  seines  Helden,  halb  ungewollt,  ein  anschau- 
liches Bild  vom  Leben  und  der  Lehrtätigkeit  an  deutschen  Universi- 


1648—1789.  359 

täten  des  18.  Jahrhunderts.   (Johann  Friedrich  Joachim.   Ein  Gedenk- 
blatt von  Dr.  Wolfram  Suchier.    Halle  1915.)  W.  M. 

Dr.  Hans  Goldschmidt,  Amtliche  Statistik  am  Niederrhein 
im  18.  Jahrhundert.  Jahrbücher  für  Nationalökonomie  und  Statistik, 
Bd.  107  (Dritte  Folge,  Bd.  52).  Jena  1916.  —  Ein  Zufallsfund  im 
Archiv  eines  Adelssitzes,  die  Entdeckung  einer  „Tabelle  über  die  Ver- 
fassung und  den  Bestand  Amts  Blankenberg,  wie  solche  im  Junius 
1791  bestanden"  im  Gräflich  Nesselrodischen  Archiv  zu  Ereshoven 
an  der  Agger,  gibt  dem  Verfasser  Gelegenheit,  über  die  statistischen 
Aufnahmen  am  Niederrhein  zu  schreiben.  Es  ist  dort  eine  Masse  wert- 
vollsten Materials  seit  der  napoleonischen  Zeit  vernichtet,  verschleu- 
dert oder  zerstreut  worden,  und  das  von  Goldschmidt  veröffentlichte 
Bruchstück  läßt  den  Verlust  der  entsprechenden  Arbeiten  für  die 
übrigen  Ämter  des  Herzogtums  Berg  um  so  schmerzlicher  empfinden, 
als  diese  Tabelle  doch  schon  eine  gewisse  Höhe  der  wissenschaftlichen 
Interessen  zeigt,  die  sich  mit  den  rein  praktischen  Zwecken  der  amt- 
lichen Erhebung  verbanden.  Überhaupt  zeigen  die  statistischen  Amts- 
beschreibungen, wie  sie  Widder  in  seinem  Buche  für  die  mittelrheini- 
schen kurpfälzischen  Lande  (Joh.  Goswin  Widder,  Versuch  einer  voll- 
ständigen geographischen  historischen  Beschreibung  der  Kurfürstlichen 
Pfalz  am  Rhein,  4  Bände.  Frankfurt  a.  M.  und  Leipzig  1788)  heraus- 
gegeben hat,  daß  in  den  pfälzischen  Teilen  des  Rheinlandes  die  Stati- 
stik in  hervorragendem  Maße  gepflegt  wurde  (vgl.  Fabricius,  Erläute- 
rungen zum  geschichtlichen  Atlas  der  Rheinprovinz  II,  S.  219).  Für 
das  dritte  pfälzische  Gebiet  am  Rhein,  das  Herzogtum  Jülich,  ist 
doch  nicht  „das  gesamte  amtliche  Material  (statistischer  Erhebungen) 
verloren  gegangen",  wie  Goldschmidt  meint.  Wenigstens  eine  höchst 
wichtige  Tabelle  über  Bevölkerungsstatistik  aus  dem  Jahre  1767  ist 
erhalten  geblieben.  Ich  habe  darüber  in  den  Atlaserläuterungen  II, 
S.  257  f.  berichtet,  und  hoffe,  diese  Tabelle  noch  veröffentlichen  zu 
können. 

Darmstadt.  W.  Fabricius. 

Dr.  F.  Eppensteiner,  Rousseaus  Einfluß  auf  die  vorrevolutio- 
nären Flugschriften  und  den  Ausbruch  der  Revolution.  (Beiträge  zur 
Parteigeschichte,  hgg.  von  Adalbert  Wahl.  Heft  8.  Tübingen,  J.  C.  B. 
Mohr  (Paul  Siebeck)  1914.  VIII.  71  S.)  —  Die  Frage  nach  dem  Ein- 
fluß Rousseaus  auf  die  Entstehung  der  Revolution  wird  hier  von  einem 
Schüler  Adalbert  Wahls  in  einer  ganz  bestimmten,  aus  dem  Titel  der 
Arbeit  ersichtlichen  Abgrenzung  aufgenommen.  Schon  die  Einschrän- 
kung derartiger  Untersuchungen  auf  ein  bestimmtes  Gebiet  ist  ein 
Verdienst;  denn  nur  so  können  wir  hoffen,  allmählich  über  die  un- 
bestimmten Allgemeinheiten  unserer  seitherigen  Anschauungen  hinaus- 


360  Notizen  und  Nachrichten. 

zukommen.  Die  Hauptergebnisse  Eppensteiners  sind  folgende:  Der 
Einsatz  der  Einwirkung  der  Staatstheorien  Rousseaus  läßt  sich  zeit- 
lich scharf  bestimmen.  Seine  politischen  Werke  haben  bis  dicht  vor 
der  Revolution  keinen  eigentlichen  Leserkreis  gehabt  und  haben  da- 
her noch  nicht  oder  kaum  gewirkt  im  ersten  Stadium  des  vorrevolutio- 
nären Kampfes  von  1786  bis  Mitte  1788,  dem  Kampf  um  die  Reformen 
und  die  Freiheit.  Dagegen  kommen  sie  zur  Geltung  vom  letzten  Viertel 
des  Jahres  1788  ab,  d.  h.  in  der  von  Wahl  als  Ständekampf  bezeich- 
neten Periode  des  politischen  Flugschriftenstreits.  Von  da  ab  ist  Rous- 
seau, der  Staatsrechtslehrer,  wie  mit  einem  Schlag  der  führende  Meister. 
Und  zwar  wirken  seine  Gedanken  vom  Staatsvertrag,  vom  Gemein- 
willen und  besonders  von  der  Volkssouveränität,  während  seine  Polemik 
gegen  das  Vertretungssystem  verworfen  wird  und  die  zahlreichen  Ein- 
schränkungen und  Kautelen  im  konservativen  Sinn,  mit  denen  Rous- 
seau auch  in  der  Politik  wie  sonst  seine  kühnen  Grundsatzthesen  ge- 
legentlich abschwächt,  ganz  unter  den  Tisch  fallen.  Auffallend  ist^ 
wie  nach  dieser  Darstellung  Rousseau  solange  gar  nicht  wirkt,  um  dann 
plötzlich  und  so  gewaltig  zu  wirken.  Allein  der  Nachweis,  daß  es  sich 
bei  den  Flugschriften  in  der  Tat  so  verhält,  dürfte  der  mit  sorgfältiger 
Methode  und  vorzüglicher  begrifflicher  Klarheit  und  Schärfe  geführten 
Untersuchung  gelungen  sein.  Sehr  fein  ist  z.  B.,  wie  der  Verfasser  das 
Rousseausche  Eigengut  von  den  so  leicht  damit  zu  verwechselnden 
ähnlichen  politischen  Ideengebilden,  beispielsweise  dem  Staatsrecht 
der  französischen  Parlamente,  zu  scheiden  weiß.  Ergänzungen  dieser 
Studien  unter  Ausdehnung  auf  die  Brief-  und  Memoirenliteratur,  wie 
sie  der  Verfasser  in  Aussicht  stellt,  wären  sehr  zu  begrüßen.  Denn  der- 
artige exakte  und  gründliche  Untersuchungen  über  das  Maß  der  von 
den  Helden  der  Ideengeschichte  ausgehenden  Wirkungen  sind  ebensO' 
selten  wie  verdienstlich. 

Stuttgart.  P.  Sakmann. 

D.  J.  Hill  will  „ein  fehlendes  Kapitel  franko -amerikanischer 
Geschichte"  behandeln.  Er  meint  damit  die  besondere  Wirkung, 
die  die  amerikanische  Revolution  überhaupt  und  Franklins  Auftreten 
in  Paris  im  besonderen  auf  die  Erweckung  des  revolutionären  Geistes 
in  Frankreich  geübt  hat.  Die  überschwenglichen  französischen  Lob- 
reden, die  Franklin  bei  seinem  Tode  nachgerufen  wurden,  stammen 
aber  nur  von  Konstitutionalisten  wie  Mirabeau,  und  weder  von  den 
royalistischen  noch  von  den  demokratischen  Gruppen.  Jenen  ist  er 
schlechthin  „der  Organisator  der  Freiheit",  „der  Entdecker  der  Grund- 
lagen der  Gesellschaft".  Um  solche  Urteile,  wie  sie  selbst  den  Ameri- 
kanern fernlagen,  zu  verstehen,  muß  man,  meint  Hill,  bedenken,  daß 
die  Wirkung  der  großen  Schriftsteller,  als  Franklin  1776  nach  Frank- 
reich kam,  vorübergegangen  war,  ohne  ein  positives  Programm  -  ins. 


Neuere  Geschichte.  361 

Leben  zu  rufen.  Das  habe  Franklin  bewirkt.  Freilich  sei  der  ameri- 
kanische Einfluß  auch  gerade  dort  zu  Ende  gewesen,  wo  der  Absolutis- 
mus der  revolutionären  Regierung  begann.  Die  Aufgabe  der  Verfas- 
sung, die  Rechte  des  einzelnen  gegen  die  Macht  der  Souveräns  zu 
schützen,  habe  man  in  Frankreich  nur  auf  den  König  als  Souverän 
bezogen.  Die  amerikanische  Idee,  daß  die  Verfassung  auch  eine  Sicher- 
heit gegen  die  Übergriffe  einer  Volksregierung  bieten  müsse,  sei  in 
Frankreich  nicht  verstanden  worden.  Ein  richtiger  Gedanke,  aber 
eine  in  der  Bezugnahme  auf  Amerika  etwas  zu  scharf  konstruierte 
Formulierung.    (American  Hist.  Rev.  21,  4.)  W.  Michael. 

Neue  Bücher:  Cfiapman,  The  founding  of  Spanish  California. 
The  northwestward  expansion  of  New  Spain,  i68y — 1783.  (New  York, 
The  Macmillan  Co.)  —  Bolton,  Texas  in  the  middle  eighteenth  Cen- 
tury; studies  in  Spanish  colonial  history  and  administration.  (Berkely, 
Univ.  of  California.    3,50  Doli.) 

Neuere  Gesdiidite  von  1789  bis  1871. 

November-  und  Dezemberheft  der  Deutschen  Rundschau  ent- 
halten Fortsetzungen  der  S.  173  erwähnten  „Kreutz-  und  Querzüge" 
von  A.  L.  Fr.  Schau  mann:  Kulturbilder  aus  der  Knabenzeit  und 
dem  Eintritt  ins  hannoversche  Heer  als  Kadett. 

Die  prächtigen  und  umfangreichen  Briefe  Wilhelm  von  Hum- 
boldts an  Frau  von  Stael  vom  Juni  1800  bis  zu  Humboldts 
Übersiedelung  nach  Rom,  Oktober  1802  (Deutsche  Rundschau,  Nov. 
und  Dez.  1916,  s.  S.  173),  enthalten  eine  Fülle  von  persönlichen,  lite- 
rarischen, philosophischen  Betrachtungen,  zumeist  über  die  beiden 
Persönlichkeiten  selbst;  als  kongenialen  Übersetzer  weiß  Humboldt 
der  Tochter  Neckers  nur  Gentz  zu  empfehlen. 

Von  Königin  Luisens  Rolle  in  der  „sittlichen  Erneuerung" 
Preußens  hat  R.  Linder  in  den  Neuen  Jahrbb.  für  das  klassische  Alter- 
tum usw.  37,  9  gehandelt:  für  sie  ist  der  Kampf  gegen  Napoleon  ein 
Kampf  um  die  sittliche  Freiheit  der  Menschheit. 

Die  weiteren  Fortsetzungen  des  Briefwechsels  zwischen  K.  Fr. 
und  Amalie  Eichhorn  (s.  S.  174)  reichen  vom  25.  IX.  bis  20.  X. 
1813  (Deutsche  Revue,  Nov.  u.  Dez.  1916). 

Dem  Aufsatz  von  H.  O.  Meisner  über  „Deutschen  und  west- 
europäischen Freiheitsbegriff"  (Deutsche  Rundschau  Okt.  u.  Nov. 
1916)  gebührt  nachdrückliche  Erwähnung:  der  deutsche  Freiheits- 
gedanke der  Pflicht  steht  im  Gegensatz  zum  westländischen  der  Rechte; 
im  Ruf  nach  Freiheit  vom  Staat  finden  sich  englische  und  französische 
Doktrin  zusammen ;  so  beruhen  deutscher  und  westeuropäischer  Staats- 


362  Notizen  und  Nachrichten. 

begriff  in  ihrer  Verschiedenheit  auf  der  verschiedenen  Auffassung  de$ 
Freiheitsbegriffs  hüben  und  drüben. 

Eine  eingehende  und  liritische  Besprechung  von  Herrn.  Schlü- 
ters Buch  über  die  Chartistenbewegung  (1916)  bringt  O.  Blum  in 
Grünbergs  Archiv  7,  3. 

Grünbergs  Archiv  für  die  Geschichte  des  Sozialismus  7,  3  ent- 
hält zunächst  ein  Kapitel  aus  einer  in  Vorbereitung  befindlichen  Marx- 
Biographie  von  Franz  iVlehring:  Marx  im  Brüsseler  Exil  (1845  ff.): 
literarische  Tätigkeit  und  Agitation,  insbesondere  Beziehung  zum 
Kommunistenbund.  —  Gustav  Mayer  („Karl  Marx  und  der  zweite 
Teil  der  Posaune",  ebenda)  macht  sehr  wahrscheinlich,  daß  der  von 
Br.  Bauer  und  Marx  gemeinsam  unternommene  zweite  Teil  der  „Po- 
saune des  jüngsten  Gerichts  über  Hegel  usw."  im  Sommer  1842  ano- 
nym unter  dem  Titel  „Hegels  Lehre  von  der  Religion  und  Kunst. 
Von  dem  Standpunkt  des  Glaubens  aus  beurteilt"  erschienen  ist:  eine 
Satire  unter  der  Maske  der  Orthodoxie,  und  daß  der  zweite  Teil  dieses 
seltenen  und  geistreichen  Buches  „Hegels  Haß  gegen  die  heilige  Ge- 
schichte und  die  göttliche  Kunst  der  hl.  Geschichtsschreibung"  Marx* 
Beitrag  darstellt. 

Der  Eingang  von  E.  Lederers  Aufsatz  „von  der  Wissenschaft 
zur  Utopie"  (Grünbergs  Archiv  7,  3)  beschäftigt  sich  mit  der  Haltung 
des  Marxschen  Sozialismus  zu  den  Fragen  der  Handelspolitik. 

Sieben  Briefe  Lassalles  an  Freiligrath  (aus  dem  Goethe- 
Schiller-Archiv  in  Weimar)  zwischen  1849  und  1860  hat  mit  sorgfäl- 
tigem Kommentar  Gustav  Mayer  in  Grünbergs  Archiv  7,  3  veröffent- 
licht: anschließend  steht  dort  ein  von  N.  Rjasanoff  mitgeteilter 
kurzer  Brief  von  Joh.  Jacoby  an  Marx  vom  12.  II.  1871. 

Das  Verhältnis  des  Frankfurter  Bundestagsgesandten  zu  seinem 
Ministerpräsidenten  untersucht  Günther  Freiherr  von  Richthofen 
in  einer  Berliner  Dissertation,  betitelt:  „Die  Politik  Bismarcks  und 
Manteuffels  in  den  Jahren  1851—1858"  (Berlin  1915,  W.  Weber). 
Neues  fördert  der  Verfasser  in  seiner  etwas  eintönigen  Darstellung 
nicht  zutage.  Wir  sehen,  wie  der  Gesandte  sehr  bald  in  Frankfurt 
zur  Überzeugung  kommt,  daß  Preußen  nur  einen  Feind  hat,  Öster- 
reich, mit  dem  es  zu  einer  Auseinandersetzung  kommen  muß,  während 
Manteuffel  zwar  auch  über  die  Rücksichtslosigkeiten  des  Donau- 
staates stöhnt,  aber  doch  mehr  für  sanfte  Aushilfsmittel  ist.  Jede 
Gewalt  ist  dem  Minister  unsympathisch,  wozu  noch  kommt,  daß  er 
kein  Rückgrat  seinem  König  gegenüber  hat,  dem  er  sich  als  getreuer 
Diener  leider  stets  fügt,  auch  wenn  er  dabei  seine  Überzeugung  opfert. 
So  kommt  es,  daß  Bismarcks  Ratschläge  meistens  ungehört  verhallen,^ 
und  wenn  im  Krimkriege  Preußen  gegen  Österreichs  Drängen  nicht 


Neuere  Geschichte.  363 

eingreift,  so  liegt  das  nicht  am  Nichtwollen  Manteuffels,  sondern  daran, 
daß  die  Friedensverhandlungen  den  kriegerischen  Operationen  ein  Ende 
bereiten.  Richthofen  behandelt  außer  dem  Verhalten  beider  Staats- 
männer im  Krimkriege  noch  ausführlich  ihre  Politik  in  den  Fragen 
der  deutschen  Flotte,  der  Bundesreform,  die  Beust  1857  anregte,  der 
Zollvereinswünsche  Österreichs,  des  badischen  Kirchenkonflikts,  der 
Ulm-Rastatter  Festungsbauangelegenheit,  der  schleswig-holsteinschen 
Provinzen.  H.  R. 

Die  Fortsetzung  von  Fr.  Thimmes  Veröffentlichung  aus  W. 
V.  Kardorffs  Briefen  (s.  S.  177)  umfaßt  im  November-  und  Dezember- 
heft der  Deutschen  Revue  die  Zeit  bis  zu  Bismarcks  Sturz.  Besondere 
Beachtung  verdienen  neben  kurzen  Sätzen  vom  Dezember  1889  (betr. 
Verständigungsversuche  Bismarcks  über  das  Sozialistengesetz  durch 
Rottenburg  mit  Konservativen  und  Nationalliberalen)  die  Mitteilungen 
vom  Frühjahr  1878  über  das  Ausscheiden  Delbrücks  und  Camphausens 
und  Bismarcks  wirtschaftspolitische  Absichten. 

Julius  Goebel,  The  recognition  policy  of  the  United  States.  Stu- 
dies  in  history,  economics  and  public  law,  edited  by  the  Faculty  of  poli- 
tical  science  of  Columbia  University  LXVI,  I  (158).  (New  York  1915. 
228  S.  Preis  2  Dollar.)  —  Anläßlich  der  mexikanischen  Politik  des 
Präsidenten  Wilson  wurde  die  Frage  wieder  vielfach  erörtert,  nach 
welchen  Grundsätzen  die  Vereinigten  Staaten  bei  der  Anerkennung 
revolutionärer  Regierungen  und  neuer  Staaten  verfahren  sollten,  ein 
Problem,  das  bei  den  unsicheren  politischen  Zuständen  des  lateinischen 
Amerika  eine  große  Tragweite  hat.  Julius  Goebel  hat  es  sich  in  einer 
wertvollen  Abhandlung  zur  Aufgabe  gemacht,  die  bisherige  Praxis  der 
Vereinigten  Staaten  diesem  Problem  gegenüber  zu  untersuchen.  Da 
galt  es  zuerst  die  grundlegende  Tatsache  festzustellen,  daß  die  Union 
ihren  eigenen  revolutionären  Ursprung  nicht  verleugnen  konnte,  wie 
es  Jefferson  in  den  Worten  formulierte:  „Wir  können  sicherlich  anderen 
Nationen  nicht  die  Anwendung  des  Grundsatzes  versagen,  auf  dem 
unsere  eigene  Regierung  beruht,  daß  jede  Nation  das  Recht  hat,  sich 
ihre  Regierungsform  nach  Belieben  zu  wählen  und,  wenn  sie  es  wünscht, 
zu  ändern.  .  .  .  Das  einzige  Wesentliche  ist  der  Wille  der  Nation." 
Nach  diesen  Grundsätzen  verfuhren  denn  auch  Jefferson  und  seine 
Nachfolger.  Goebel  weist  das  im  einzelnen  nach  am  Verhalten  der 
Vereinigten  Staaten  gegenüber  der  französischen  Republik,  beim  Auf- 
stand der  spanischen  Kolonien  in  Amerika  und  bei  der  Losreißung 
von  Texas.  Die  glorreichen  Grundsätze  Jeffersons  erschienen  aber  den 
Staatsmännern  der  Union  in  ganz  anderem  Licht,  als  sich  1861  die 
elf  von  ihr  abgefallenen  Staaten  zu  einem  neuen  Staatswesen  zusammen- 
schlössen und  eben  auf  Grund  der  Prinzipien  Jeffersons  Anerkennung 


364  Notizen  und  Nachrichten. 


seitens  der  Union  sowie  der  europäischen  Mächte  verlangten.  Da 
hieß  es  plötzlich:  „Ja  Bauer,  das  ist  ganz  etwas  anderes!"  und  die 
Staatsmänner  der  Vereinigten  Staaten  beriefen  sich  auf  legitimistische 
Grundsätze.  Die  Erfahrungen  des  Bürgerl<rieges  haben,  wie  Göbel 
zeigt,  auch  noch  längere  Zeit  nachgewirkt,  bis  man  allmählich  wieder 
zur  älteren  Praxis,  der  Anerkennung  der  de-facto-Regierungen,  ohne 
Rücksicht  auf  ihren  Ursprung,  zurückgekehrt  ist.  Den  Gipfel  erreichte 
diese  Praxis  in  der  Anerkennung  der  Republik  Panama  durch  Roose- 
velt  im  Jahre  1903.  Die  mexikanische  Politik  Wilsons,  die  stark  aus 
dem  Rahmen  der  in  den  letzten  Jahrzehnten  befolgten  Übung  her- 
ausfällt, ist  in  dem  Buche  noch  nicht  besprochen.  Goebel  ist  jedoch 
der  Ansicht,  daß  die  Anwendung  des  reinen  de-facto-Prinzips  Jeffer- 
5ons  den  amerikanischen  Traditionen  am  besten  entspricht, 

Darmstaedter. 

Neue  Bücher:  Lord,  The  second  partition  of  Poland.  (London, 
Milford.  10  sh.)  —  Ward,  Germany  1815—1890.  Vol.  i.  {Cambridge, 
University  Press.)  —  Wolfsgruber,  Friedrich  Kardinal  Schwarzen- 
berg.  2.  Bd.  Pragerzeit.  (Wien,  Mayer  &  Comp.  10  M.)  —  Char- 
matz,  Minister  (Karl  Ludwig)  Freiherr  v.  Brück,  Der  Vorkämpfer 
Mitteleuropas,  (Leipzig,  Hirzel.  5  M.) —  Kohut,  Kaiser  Franz  Josef  L 
als  König  von  Ungarn.  (Berlin,  Schwetschke  &  Sohn.  5  M.)  —  Mc 
Laren,  A  political  history  of  Japan  during  the  Meiji  era  1867 — igi2. 
'{London,  Allen  &  Unwin.) 

Neueste  Geschichte  seit  1S71. 

Eine  Anzahl  bemerkenswerter  biographischer  Skizzen  und  Mate- 
rialsammlungen, die  großen  Heer-  und  Flottenführern  Deutschlands 
und  Österreich-Ungarns  gewidmet  sind,  verdienen  auch  an  dieser 
Stelle  eine  kurze  Erwähnung.  Paul  v,  Hindenburg  hat  in  seinem 
Bruder  B,  v.  Hindenburg  1915  einen  verständnisvollen  Biographen 
gefunden,  General  Ludendorff  wird  von  O,  Krack  (1915),  Mackensen 
von  O,  Kolshorn  (1916),  Emmich  von  W,  Georg  (1915)  behandelt. 
Mit  Hilfe  ergiebiger  Familienpapiere,  besonders  mit  Hilfe  von  Reise- 
briefen, die  bis  1884  zurückreichen,  ist  es  H.  Kirchhoff  gelungen, 
dem  Grafen  M.  v.  Spee  und  seinen  Söhnen  ein  umfängliches,  aber 
schlichtes  Denkmal  zu  errichten  (1915,    351  S,), 

Besonders  gehaltvoll  sind  Frhr.  L,  v.  Pastors  Arbeiten  über 
Hötzendorf  und  Dankl  (1916),  Sie  sind  ausgezeichnet  durch  eindring- 
liche Verwertung  wichtigen  authentischen  Materials,  z.  B,  Dankischer 
Feldpostbriefe,  und  werfen  auch  auf  die  Entwicklung  der  politischen 
Stimmungen  in  Österreich-Ungarn  vor  dem  Kriege  und  während  des 
Krieges  interessantes  Licht, 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  365 

„Deutschland.  Tatsachen  und  Ziffern.  Eine  statistische  Herz- 
stärkung" nennt  sich  eine  kleine  wirkungsvolle  Schrift  von  D.  Trietsch 
{München,  J.  F.  Lehmann,  1916),  die  einen  elementaren  statistischen 
Vergleich  zwischen  Deutschland,  Frankreich  und  England  anstellt.  Da 
aber  durchweg  nur  der  europäische  Standpunkt  eingenommen  wird, 
so  liegt  die  Gefahr  einer  allzu  optimistischen  Verwertung  auch  durch 
Historiker  nahe. 

JV^.  J.  Neudeggers  formlose  Notizensammlung  „Zum  Weltkrieg 
1914 — 16"  (München,  Ackermann,  1916)  bleibt  zu  sehr  an  der  Ober- 
"fläche,  als  daß  sie  ein  tieferes  geschichtliches  Verständnis  der  neuesten 
Geschichte  und  der  Vorgeschichte  des  Krieges  zu  fördern  vermöchte. 
Ähnliches  wäre  von  L.  Th.  List  (Deutschland  und  Mittel-Europa. 
Grundzüge  und  Lehren  unserer  Politik  seit  Errichtung  des  Deutschen 
Reiches,  1916)  zu  sagen.  Mehr  Beachtung  verdient  der  Beitrag  zur 
Vorgeschichte  des  Krieges  aus  der  Feder  des  deutschfreundlichen  Fran- 
zosen J.  Bertourieux  {La  Viriti,  4.  Aufl.,  1916,  auch  deutsche  Über- 
setzung). 

A.  de  Bassompierre,  La  nuit  du  2  au  3  aoüt  1914  au  MinisUre 
des  Affaires  Etrangtres  de  Belgique  (Paris,  Perrin,  1916.  47  S.)  ist 
als  Beamter  des  belgischen  Auswärtigen  Amtes  befähigt,  Ergänzungen 
zu  den  beiden  belgischen  Graubüchern  in  Form  von  kurzen  Denk- 
würdigkeiten zu  bieten.  Eine  freundliche  Beurteilung  des  deutschen 
Ultimatums  vom  2.  August  scheint  darnach  auch  innerhalb  des  bel- 
gischen Gesamtministeriums  nirgends  hervorgetreten  zu  sein.  Zur 
Frage  der  verschiedenen  Fassung  des  Ultimatums  in  den  amtlichen 
deutschen  und  belgischen  Veröffentlichungen  verweist  Bassompierre 
auf  F.  Passe lecq,  Le  second  Livre  Blanc  allemand.  Essai  critique 
et  notes  sur  l'altiration  officielle  des  documents  beiges.  Bassompierres 
mit  manch  überflüssiger  Reflexion  durchsetzte  Ausführungen  sind 
natürlich  mit  Vorsicht  aufzunehmen,  auch  soweit  sie  das  Verhalten 
des  deutschen  Gesandten  v.  Below-Saleske  betreffen. 


Zur  kritischen  Ergänzung  von  F.  Fleiners  „ Staatsauf fassung 
der  Franzosen"  (Hist.  Zeitschr.  115,  436  f.)  dienen  die  weniger  ab- 
strakt gehaltenen,  gleichfalls  geschichtlich  interessierten  und  für  die 
Zeit  nach  1871  ergiebigen  Ausführungen  von  J.  Hengesbach,  Frank- 
reich in  seinem  Staats-  und  Gesellschaftsleben  (Tat-Flugschriften 
8,  1915).  Auch  M.  Nordaus  Französische  Staatsmänner  (1916)  und 
G.  B6ret,  de  Gambetta  ä  Briand  (Paris,  Oudin,  1914,  vor  dem  Kriege 
erschienen.  461  S.)  sind  für  die  in  Deutschland  arg  vernachlässigte 
Geschichte  der  Dritten  Republik  heranzuziehen. 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  24 


366  Notizen  und  Nachrichten. 

Über  den  Titel  „Frankreichs  finanzielle  Oligarchie"  hinausgehend^ 
Hefert  M.  Uebelhör  (Der  Deutsche  Krieg  66,  1915)  einen  wichtigen 
Beitrag  zur  Vorgeschichte  des  Krieges  und  des  Eintritts  Frankreichs 
in  den  Krieg,  dem  man  Sachkunde  und  lebendige  Darstellung  nach- 
rühmen muß.  Auch  zur  Charakteristik  der  geistigen  Strömungen  in 
den  letzten  Jahren  vor  dem  Kriege,  beispielsweise  des  Neoimperialis- 
mus  und  des  in  Deutschland  auch  sonst  gut  analysierten  Esprit  Nou- 
veau  findet  sich  hier  manches  Beachtenswerte.  Der  Verfasser  hält 
sich  an  greifbare  Tatsachen  und  ist  aller  „Romantik"  abgeneigt,  was 
man  von  der  zu  günstig  gefärbten  historisch-psychologischen  Skizze 
von  K.  Nötzel  (Der  deutsche  und  der  französische  Geist,  1916)  nicht 
behaupten  kann.  Nüchterner  hatte  vor  dem  Kriege  E.  Bernhard 
im  Logos  3  (1912)  „die  Struktur  des  französischen  Geistes"  behandelt. 
Wenn  diese  Darlegungen,  soweit  sie  geschichtlich  sind,  auch  weit  vor 
1871  zurückgreifen  und  mit  Recht  das  18.  Jahrhundert  in  den  Mit- 
telpunkt rücken,  so  bieten  sie  doch  auch  für  die  Zeit  nach  187L 
ideengeschichtliche  Gesichtspunkte. 

Mit  Recht  hat  sich  in  Deutschland  das  auch  durch  R.  Schmidt 
(Zeitschrift  für  Politik  8,  1914)  angeregte  Interesse  der  kurz  vor  dem 
Kriege  über  Frankreich  hereingebrochenen  Finanzkrise  auch  sonst 
zugewandt.  Zu  nennen  sind  M.  Ritzenthalers  das  Thema  in  brei- 
terem geistesgeschichtlichen  Rahmen  anfassender  Aufsatz  in  der  Zeit- 
schrift für  Politik  9,  1915  (in  dem  man  übrigens  einen  Hinweis  auf 
Uebelhör  vermißt)  und  P.  Arndts  und  Seidels  allgemeiner  gehaltene 
Artikel  in  den  Zeitschriften  „Deutsche  Politik"  (1916,  I)  und  „Das 
Größere  Deutschland"  (1915,  I;  1916,  I). 

Seine  wertvollen  Beiträge  zur  französischen  Parteigeschichte  setzt 
H.  Lagardelle  in  der  Zeitschrift  für  Politik  8,  1914  fort.  Ein  neu- 
traler Anonymus  verbreitet  sich  über  „den  Zusammenbruch  der  fran- 
zösischen Linken"  (Deutsche  Politik  1916,  II)  und  das  Anwachsen  des 
Royalismus  in  Frankreich  während  des  Krieges,  dürfte  jedoch  mit 
seinen  allzu  bestimmten  Angaben  Zweifel  erwecken. 

Mit  den  letzten  französischen  Kammerwahlen  beschäftigen  sich 
eine  lange  Reihe  geschichtlich  wichtiger  Zeitschriftenaufsätze,  so  u.  a. 
F.  Faure,  La  fin  de  la  legislature  et  les  äedions  prochaines  {Revue 
politique  et  parlementaire  80,  1914),  G.  La  Chapelle,  Les  äedions 
generales  et  la  nouvelle  chambre  {Revue  des  Deux  Mondes  84,  VI  21, 
1914),  W.  Hasbach,  Die  französischen  Abgeordnetenwahlen  . .  .  und 
der  Krieg  (Nord  und  Süd  152,  1915). 

Aus  der  historisch-kritischen  Literatur  seien  hervorgehoben: 
N.  Jacques,  London  und  Paris  im  Kriege  (1915),  A.  Lien,  Das 
Märchen   von   der  französischen    Kultur,   und    Nostradamus,   Die 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  367 

Franzosen  wie  sie  sind  (1916),  ferner  die  Frankreichhefte  der  Süd- 
deutschen Monatshefte  (1915/6).  Weit  reicher  und  giftiger  ist  die 
französische  Literatur  zur  Geschichte  des  Deutschen  Reiches  während 
des  Krieges  emporgewachsen.  Ein  Beispiel  für  zahllose  andere  ist 
<j.  Cl^menceau,  La  France  devant  VAllemagne,  1916. 

Namhafte  französische  Autoren  widmen  sich  bereits  der  ge- 
schichtlich-volkswirtschaftlichen Vorbereitung  der  Wiedervereinigung 
des  linken  Rheinufers  mit  Frankreich,  so  Männer  wie  Y.  Guyot, 
La  Province  RMnane  et  la  Westphalie.  Etüde  iconomique.  (Paris, 
Attinger,  1915.  142  S.)  und  E.  Driault,  La  ripublique  et  le  Rhin 
(Paris,  Tenin,    1916.    160  S.)  u.  a. 

G.  Franz'  gutgemeinte  Broschüre  „Der  Erbfeind  im  Lichte  der 
Geschichte  und  Gegenwart"  (1915)  ist  geschichtlich  unbedeutend. 

Die  französische  Revancheliteratur  wird  von  H.  Heiß  treffend 
beleuchtet  (Internationale  Monatschrift  9,  1915).  Sehr  dankenswert 
ist  auch  die  eingehende  Bonner  Dissertation  von  L.  Teven,  Der 
Deutsche  im  französischen  Roman  seit  1870  (1915). 

Weitere  einschlägige  französische  Literatur  ist  von  J.  Has- 
hagen im  Kunstwart  28,  1915  und  in  der  Deutschen  Revue  41,  1916, 
sowie  von  M.  Schwann  in  der  Deutschen  Rundschau  42,  1916  be- 
sprochen worden.  Auch  andere  deutsche  Zeitschriften,  wie  die  Grenz- 
boten (1915),  enthalten  manche  Bereicherung.  Das  neueste  Buch  des 
schwedischen  Sozialisten  G.  F.  Steffen,  Dernokratie  und  Weltkrieg, 
1916,  beschäftigt  sich  ebenfalls  eingehend  mit  Frankreich.  Leider 
arten  die  Veröffentlichungen  dieses  allzu  fruchtbaren  Publizisten  immer 
mehr  in  formlose,  wenn  auch  kritische  (deutschfreundliche)  Material- 
sammlungen aus.  .   J.  Hashas,en. 

Paul  Li  man.  Der  Kronprinz;  Gedanken  über  Deutschlands  Zu- 
kunft. (Minden,  Verlag  von  Wilhelm  Köhler,  o.  J.  (1915).  8».  299  S. 
3,60  M.)  —  Der  im  Jahre  1916  verstorbene  Berliner  Verfasser,  ein 
besonders  als  Bismarckforscher  bekannt  gewordener  Gelehrter,  will 
hier  ein  Seitenstück  darbieten  zu  K.  Lamprechts  bekannter  „Bildnis- 
studie" über  Kaiser  Wilhelm  II.  Ist,  wie  die  Einleitung  ergibt,  das 
Manuskript  durch  Liman  im  Frühjahr  1914  fertiggestellt,  zu  einer 
Zeit  noch,  in  der  mit  dem  Verfasser  den  wenigsten  eine  Ahnung  von 
dem  beiwohnen  mochte,  wie  in  kürzester  Zeit  Deutschlands  Staats- 
wesen und  Politik  den  denkbar  schwersten  Prüfungen  ausgesetzt  sein 
würde,  so  ist  vieles  mit  Scharfsinn,  etliches  mit  geradezu  propheti- 
schem Geist  geschrieben,  z.  B.  S.  91  die  Reflexion,  daß  mit  einem  an 
Kraft  und  Willen  wachsenden  Geschlecht  auch  die  Erkenntnis  wieder 
erwachen  wird,  daß  ein  Volk  zu  gewissen  Zeiten,  um  nicht  zu  er- 
matten, auch  einer  stärkenden  Eisenkur  bedarf.  —  Ohne  über  Einzel- 

24* 


a68 


Notizen  und  Nachrichten. 


heiten  rechten  zu  wollen,  kann  anerkannt  werden,  daß  das  Buch  zur 
Abwehr  eines  sinnlos  verflachenden  Pessimismus,  wie  er  vor  dem 
Krieg  vielfach  anzutreffen  war,  wertvolle  Dienste  zu  tun  vermochte. 
Der  Wunsch,  der  deutschen  Nation  positiv  wertvolle  Dienste  durch 
Erörterung  der  wichtigsten,  besonders  in  geistiger  Beziehung  obschwe- 
benden  Tagesfragen  zu  leisten,  ist  der  Grundgedanke,  der  das  Ganze 
in  konsequent  durchgeführter  Weise  durchzieht.  Byzantinismus  tritt 
nirgends  hervor.    Die  Ausstattung  ist  eine  gute. 

Königsberg  i.  Pr.  Gustav  Sommerfeldt. 

Neue  Bücher:  Michael  JV\ayr,  Der  italienische  Irredentismus. 
(Innsbruck,  Verlagsanstalt  „Tyrolia".  3,40  JVl.)  —  Lanessan,  Hi- 
stoire  de  Ventente  cordiale  franco-anglaise.  (Paris,  Alcan.)  —  Janco- 
vici,  La  crise  balkanique  {1912 — J913).  (Paris,  Larose.)  —  PauL 
Louis,  La  guerre  d'Orient  et  la  crise  europeenne.  (Paris,  Alcan.)  — 
Der  große  Krieg  als  Erlebnis  und  Erfahrung,  hrsg.  von  Ernst  Jäckh. 
1.  Bd.  (Gotha,  Perthes.  10  M.)  —  Floerke,  Deutsch-amerikanische 
Randglossen  zum  Weltkriege.  (München,  Georg  Müller.  3  M.)  — 
Wheeler,  The  story  of  Lord  Kitchener.    2.  impr.    (London,  Harrap.} 


I 


Deutsche  Landschaften. 

Cornelius  Bergmann,  Die  Täuferbewegung  im  Kanton  Zürich 
bis  1660.  Quellen  und  Abhandlungen  zur  Schweizerischen  Reforma- 
tionsgeschichte II.  Leipzig  1916.  Anders  als  in  Deutschland  hat  in 
der  Schweiz  und  ähnlich  auch  in  Holland  die  Wiedertäuferbewegung 
die  Zeit  der  Reformation  überdauert  und  ist  erst  in  der  zweiten  Hälfte 
des  17.  Jahrhunderts  unterdrückt  worden.  Nach  Bergmann  ist  dies 
darin  begründet,  daß  die  Täufer  in  jenen  beiden  reformierten  Landen 
das  Schwärmertum,  die  staatsgefährlichen  Machtgelüste  zwar  ursprüng- 
lich auch  betätigt,  aber  dann  in  sich  überwunden  und  sich  auf  rein 
religiösem  Gebiet  gehalten  haben.  Daß  es  sich  in  Holland  und  in 
der  Schweiz  nicht  bloß  um  Analogien  handelt,  sondern  um  eine  trotz, 
der  weiten  Entfernung  deutlich  empfundene  geistige  Gemeinschaft, 
zeigen  die  wiederholten  Versuche,  die  man  von  Holland  aus  anstellte, 
um  die  Täufer  in  der  Schweiz  vor  der  Verfolgung  zu  schützen,  ihnen 
vor  allem  das  geraubte  Hab  und  Gut  wieder  zu  verschaffen.  Der  Ge- 
schichte dieser  Täuferverfolgung,  der  Auseinandersetzung  des  Züricher 
Staats  und  der  Züricher  Kirche  mit  der  Sekte  ist  Bergmanns  Darstel- 
lung vor  allem  gewidmet;  nur  in  diesem  Zusammenhang  erfahren  wir 
auch  etwas  über  ihre  Lehre  und  ihre  geistige  Entwicklung,  die  eigent- 
liche „Täuferbewegung".  Dieser  Mangel  ist  natürlich  aus  der  Beschaffen- 
heit der  Quellen  zu  erklären:  Die  Staats-  und  Kirchenakten,  die  Berg- 
piann  gründlich  durchgearbeitet  hat,  behandeln  die  Bewegung  ganz 


Deutsche  Landschaften.  369 

vorwiegend  vom  strafrechtlichen  und  disziplinarischen  Standpunkt  aus. 
Den  Versuch,  sich  von  den  Quellen  zu  lösen  und  die  nicht  unmittel- 
bar ersichtlichen  Zusammenhänge  zu  rekonstruieren,  hat  Bergmann 
nicht  gemacht,  und  m^cher  spätere  Benutzer  mag  es  ihm  auch  danken, 
daß  er  das  Material  chronologisch  aneinanderreiht  und  zu  weiterer 
Verarbeitung  die  Möglichkeit  bietet,  die  stark  beschränkt  wäre,  wenn 
er  selbst  den  Stoff  in  höherem  Maß  systematisch  durchdrungen  hätte. 
Ungemein  fesselnde  Probleme  werden  ja  hier  berührt!  Der  der  Wissen- 
schaft viel  zu  früh  entrissene  Walter  Sohm  hat  noch  jüngst  an  der 
Geschichte  der  Wiedertäufer  in  Hessen  jene  eigentümliche  Antinomie 
von  Gewissensfreiheit  und  Intoleranz  gezeichnet,  die  den  Territorien 
der  Reformation  eigen  ist.  Ähnliches  dürfte  auch  in  Zürich  zu  beob- 
achten sein,  wo  der  leitende  Geistliche  es  ablehnt,  sich  die  „Beherrschung 
der  Gewissen"  anzumaßen  und  doch  sehr  energisch  für  die  Vereinheit- 
lichung seiner  Kirche  sorgt.  In  gleicher  Richtung  wirken  die  Not- 
wendigkeiten der  Staatsbildung:  ein  Volk  —  so  wird  den  Holländern 
entgegengehalten  — ,  das  nicht  mit  geworbenen  Truppen,  sondern  aus 
eigener  Kraft  Krieg  führt,  kann  eine  Glaubensgemeinschaft,  die  den 
Waffendienst  verweigert,  nicht  dulden.  Deshalb  nimmt  auch  die 
weltliche  Macht  schließlich  den  Geistlichen  das  Heft  aus  der  Hand  in 
dem  Kampf  mit  der  Sekte  und  gibt  ihr  den  letzten  Rest. 

Eduard  Wilhelm  Mayer. 

Die  Dissertation  von  Carl  Speidel:  Beiträge  zur  Geschichte  des 
Zürichgaus  bespricht  Paul  Blumer  unter  demselben  Titel  auf  Grund 
eigener  Untersuchungen  in  sachlich  fördernder  Weise  in  dem  An- 
zeiger für  Schweizerische  Geschichte,  N.  F.  14,  3. 

Rechte  und  Einkünfte  des  Bistums  Sitten  im  Anfange  des  16.  Jahr- 
hunderts untersucht  D.  Imesch  in  der  Zeitschrift  für  Schweizerische 
Kirchengeschichte. 

Wieder  eine  neue,  recht  bedenkliche  Erklärung  des  Namens 
Elsaß  versucht  W.  Schoof  in  den  Deutschen  Geschichtsblättern  17 
<1916),  6.  Heft.  Er  will  in  „Elsaß"  „eine  Zusammensatzung  zweier 
uralter  Gemarkungsnamen"  Almend  und  siaza  sehen,  die  bedeute 
„gemeinschaftlichen  Besitz  an  Wald  und  Weide". 

Die  von  der  Württembergischen  Kommission  für  Landesgeschichte 
herausgegebenen  Darstellungen  aus  der  württembergischen  Geschichte 
bringen  zu  der  früher  erschienenen  Arbeit  von  Hohenstatt  über  die 
Entwicklung  des  Territoriums  der  Reichsstadt  Ulm  nun  zwei  weitere 
Arbeiten  aus  dem  Gebiet  der  historischen  Geographie:  Bd.  12,  Das 
Gebiet  der  Reichsabtei  Ellwangen  von  Dr.  Otto  Hutter,  und  Bd.  15, 
Die  Entwicklung  des  Territoriums  der  Grafen  von  Hohenberg  1170 
bis  1482  von  Dr.  Karl  Joseph  Hagen  (Stuttgart,  W.  Kohlhammer 

24** 


370  Notizen  und  Nachrichten 

.1914).  In  beiden  Arbeiten  werden  nicht  nur  der  Grund  und  Boden, 
sondern  auch  die  Rechte  und  Einkünfte  behandelt,  wie  dies  in  dem 
Begriff  des  mittelalterlichen  Territoriums  liegt.  Der  Besitzstand  EU- 
wangens  ist  untersucht  bis  zu  der  1460  erfolgten  Umwandlung  der 
Abtei  in  ein  Chorherrnstift,  der  der  Grafschaft  Hohenberg  bis  zu 
ihrem  Übergang  in  die  Hände  Österreichs.  —  Gustav  Mehring  schil- 
dert im  13.,  „Badenfahrt"  benannten  Band  der  Darstellungen  die 
Geschichte  der  württembergischen  IVlineralbäder  vom  Mittelalter  bis 
zum  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  fast  durchweg  nach  ungedruckten 
und  noch  unbenutzten  Quellen.  K.  W. 

Eugen  Schneider  weist  im  Schwäbischen  iVlerkur  1916  Nr.  555 
den  von  Treitschke  (Deutsche  Geschichte  I  S.  226)  und  anderen  gegen 
König  Friedrich  von  Württemberg  erhobenen  Vorwurf,  daß  er  poli- 
tisch unzuverlässig  gewesen  sei  und  nach  dem  Übertritt  zu  den  Ver- 
bündeten verräterischen  Verkehr  mit  Napoleon  gepflogen  habe,  über- 
zeugend zurück. 

Eine  sehr  wertvolle  Gabe  zum  Regierungsjubiläum  König  Wil- 
helms II.  von  Württemberg,  die  der  Historiker  freudig  begrüßen  wird, 
stellt  die  Publikation  des  Kgl.  Haus-  und  Staatsarchivs  in  Stuttgart 
dar:  Urkunden  und  Akten  des  Kgl.  Württ.  Haus-  und  Staatsarchivs. 
Zunächst  sollen  württembergische  Regesten  von  1301 — 1500  erscheinen, 
die  in  zwei  Abteilungen,  Alt-  und  Neuwürttemberg,  zerfallen.  Bisher 
liegt  der  erste  Teil  der  altwürttembergischen  Regesten  vor.  Er  ist 
von  Gebhard  Mehring  besorgt  und  enthält  die  Rubriken  Hausarchiv 
und  Kanzlei. 

Den  dritten  Band  seines  Urkundenbuches  der  Stadt  Heilbronn, 
der  die  Jahre  von  1501 — 1524  umfaßt,  legt  Moritz  von  Rauch  vor 
(Württembergische  Geschichtsquellen,  Bd.  19.  Stuttgart,  W.  Kohl- 
hammer, 1916.    782  S.) 

Der  10.  Ergänzungsband  der  Mitteilungen  des  Instituts  für  öster- 
reichische Geschichtsforschung  bringt  in  seinem  1.  Heft  aus  dem  Nach- 
laß von  S.  Herzberg-Fränkel  das  umfangreiche  Fragment  einer 
wertvollen  „Wirtschaftsgeschichte  des  Stiftes  Niederaltalch",  das  als 
Anfang  eines  selbständigen  Buches  gedacht  war.  Der  1.  Teil,  der  ein- 
gehend die  geschichtliche  Entwicklung  bis  zum  Anfang  des  14.  Jahr- 
hunderts schildert  und  in  mancher  Beziehung  mehr  bietet  als  der 
Titel  unbedingt  erwarten  läßt  (bemerkenswert  z.  B.  die  Charakteristik 
des  Abts  Hermann  des  Geschichtschreibers,  S.  162  ff.),  ist  vollständig 
ausgearbeitet;  von  dem  2.  Teil,  der  die  Verwaltung  und  den  Wirt- 
schaftsbetrieb auf  dem,  wie  in  der  Regel  bei  einer  geistlichen  Grund- 
herrschaft, weitgedehnten  Streubesitz  von  der  Regensburger  Gegend 


Deutsche  Landschaften.  371 

bis  unweit  der  ungarischen  Grenze  im  13.  Jahrhundert  darstellen 
wollte,  liegt  leider  nur  ein  Bruchstück  vor, 

Beiträge  zur  Geschichte  des  mittelalterlichen  Donauhandels 
liefert  A.  R.  v.  Loehr  in  dem  Oberbayerischen  Archiv  für  vater- 
ländische Geschichte  60,  2,  Er  behandelt  zunächst  die  Schiffahrt  im 
Donaugebiet  bis  zum  Ende  des  14.  Jahrhunderts,  sodann  die  Donau- 
zölle vor  dem  Jahre  1350,  Dasselbe  Heft  bringt  den  Abschluß  der 
sehr  ins  einzelne  gehenden  Biographie  des  Grafen  Karl  August  v.  Rei- 
sach durch  O,  Rieder, 

Das  von  Alfred  Schröder  herausgegebene  Register  zur  Matrikel 
der  Universität  Dillingen  findet  seinen  Abschluß  im  Archiv  für  die 
Oeschichte  des  Hochstifts  Augsburg,  3,  2,  Aus  dem  5.  Bande  der- 
selben Zeitschrift  seien  erwähnt:  P,  Bernhardin  LinsO,  F,  M,:  Ge- 
schichte der  Wallfahrt  und  des  Franziskanerklosters  Lechfeld,  Jul. 
Mi  edel:  Augsburgs  Namen  im  Verlauf  seiner  Geschichte,  und  die 
Würdigung  des  Vaters  des  Humanisten  Nikolaus  Eilenbog,  des  Arztes 
Ulrich  Eilenbog  durch  Friedrich  Zoepfl. 

Aus  Anlaß  der  200,  Wiederkehr  des  Todestages  von  Leibniz 
schildert  Jos,  Weiß  im  Bayerland  28,  7/8  dessen  Beziehungen  zu 
Bayern  und  den  Witteisbachern,  In  den  Historisch-politischen  Blät- 
tern 158,  10  gibt  derselbe  Verfasser  einen  Überblick  über  die  Stel- 
lung Leibniz'  zur  polnischen  Frage, 

Das  Schema  detaillierter  Fragen,  welches  das  bayerische  Ober- 
konsistorium im  Jahre  1807  und  dann  noch  einmal  1810  allen  evan- 
gelischen Pfarrämtern  des  Königreichs  zustellte,  um  sich  auf  Grund 
der  Beantwortungen  ein  genaues  Bild  von  der  Lage  der  evangelischen 
Kirche  schaffen  zu  können,  druckt  K.  Schornbaum  in  den  Bei- 
trägen zur  bayerischen  Kirchengeschichte  23,  1  ab  (Aus  der  ersten 
Zeit  der  bayerischen  Landeskirche). 

K.  H.  Schäfer,  Kirchen  und  Christentum  in  dem  spätrömi- 
schen und  frühmittelalterlichen  Köln,  in  den  Annalen  des  Histori- 
schen Vereins  für  den  Niederrhein,  98.  Heft,  S,  29 — 131,  sucht  die 
älteste  kirchliche  Geschichte  Kölns  und  zum  guten  Teil  der  Rhein- 
lande überhaupt  in  ein  wesentlich  neues  Licht  zu  rücken.  In  anregen- 
der Kritik  gibt  er  Gesichtspunkte  und  Material  zur  Ergänzung  und 
Berichtigung  namentlich  der  grundlegenden  Arbeit  von  Keußen  über 
die  Kölner  Topographie;  den  weitaus  größten  Teil  der  älteren  Kölner 
Kirchen  weist  er  der  römischen,  zum  Teil  noch  der  vorkonstantini- 
schen,  und  der  merowingischen  Zeit  zu.  Doch  führen  seine  Gründe 
xecht  oft  nicht  über  Möglichkeiten,  die  er  zu  rasch  als  wahrscheinliche 
oder  erwiesene  Tatsachen  annimmt,  hinaus.  Starke  Übertreibungen 
und   manche    Gewaltsamkeiten   beeinträchtigen   die   Wirkung  seiner 


372  Notizen  und  Nachrichten. 

meist  lehrreichen  Ausführungen,  deren  Tendenz,  römische  Grundlagen 
der  frühmittelalterlichen  Verhältnisse  zu  stärkerer  Geltung  zu  bringen 
und  einer  allzu  geringen  Bewertung  des  rheinländischen  Christentums 
bis  auf  Konstantin  entgegenzuwirken,  an  sich  Beachtung  verdient. 
Aus  der  Umbildung  lateinischer  Bezeichnungen  im  Volksmunde  kann 
nicht  auf  römischen  Ursprung  der  Kirchen  geschlossen  werden.  Frucht- 
bar ist  der  Hinweis  auf  das  in  den  Kirchenpatrozinien  vorliegende 
Material,  dessen  quellenmäßige  Durcharbeitung  für  größere  Gebiete 
wirklich  dringend  erwünscht  ist,  Schäfers  Bemerkungen  über  das 
Aposteln-Patrozinium  dürfen  dabei  freilich  methodisch  nicht  als  Muster 
dienen.  Nur  genaue,  in  jedem  einzelnen  Falle  selbständig  an  der 
Hand  der  letzten  Quellen  geprüfte  Tatsachen,  nicht  hier  und  da  aus 
der  Literatur  zusammengeraffte  Notizen  können  hier  zu  brauchbaren 
Ergebnissen  fühlen.  —  Eine  ältere  Hypothese  Schäfers,  daß  Köln 
ursprünglich  eine  „Doppelkathedrale"  besessen  habe,  weist  J.  Dorn,. 
Der  älteste  Kölner  Dom,  in  derselben  Zeitschrift  S.  137—154,  als  nicht 
genügend  begründet  nach.  A.  H. 

Bernhard  Duhr  S.  J.  beginnt  in  den  Historisch-politischen  Blät- 
tern 158,  9  eine  Darstellung  der  Wirksamkeit  der  Jesuiten  am  Neu- 
burger-Düsseldorfer Fürstenhofe  während  der  zweiten  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts.    Bisher  liegen  zwei  Fortsetzungen  vor. 

In  den  Annalen  des  Historischen  Vereins  für  den  Niederrhein  99 
behandelt  Theodor  Paas  die  Schicksale  der  Prämonstratenserabtet 
Steinfeld  vom  Beginn  des  15.  Jahrhunderts  bis  zu  ihrer  infolge  der 
Säkularisation  im  Jahre  1802  erfolgenden  Aufhebung.  Joseph  Greven 
veröffentlicht  kleinere  Studien  zu  Caesarius  von  Heisterbach. 

In  den  Mitteilungen  des  Vereins  für  Geschichte  und  Landeskunde 
von  Osnabrück  Bd.  39  schildert  H.  de  Ha  Valla  „Die  Benediktine- 
rinnenklöster des  Bistums  Osnabrück",  Gertrudenberg,  dessen  An- 
fänge bis  in  die  Zeit  Bischof  Bennos  II.  (f  1088)  zurückreichen,  ösede, 
das  Hauskloster  der  Edelherren  von  ösede  seit  1170,  und  Malgarten^ 
um  1175  von  Grafen  Simon  von  Tecklenburg  gestiftet,  nach  der  ver- 
fassungs-,  wirtschafts-  und  ständegeschichtlichen  Seite.  Bemerkt  seien 
die  Ausführungen  über  Doppelklöster  —  diese  3  waren  keine  solchen;, 
die  fratres  sind  conversi  =  dienende  Laienbrüder  —  und  Beziehungen 
Bischof  Bennos  II.  zu  den  deutschen  Kluniazensern. 

Besonders  für  die  Literaturgeschichte  von  Wert  ist  die  Ver- 
öffentlichung der  Mitgliederliste  eines  Vorläufers  des  Hainbundes,  der 
Deutschen  Gesellschaft  zu  Göttingen  aus  den  Jahren  1738  bis  1755- 
durch  Wolfram  Suchier  in  der  Zeitschrift  des  Historischen  Vereins, 
für  Niedersachsen  81,   Heft  1/2. 


Deutsche  Landschaften.  37^ 

Eine  wertvolle  Gabe  hat  der  Hansische  Geschichtsverein  seinen 
Mitgliedern  im  Pfingstblatt  XI  1915  geboten:  eine  kurze,  sehr  les- 
bare Geschichte  der  deutschen  Hanse  von  Walther  Vogel.  In  fünf 
Kapiteln  meistert  er  den  umfassenden  Stoff:  geographische  und  wirt- 
schaftliche Grundlagen,  die  Entstehung  der  Hanse,  Handel  und  Schiff- 
fahrt in  ihrer  Blütezeit,  den  Kampf  gegen  neue  Handelsmächte  und 
den  Untergang  der  Hanse,  Was  letzteren  angeht,  so  führt  er  aus,  da& 
der  Niedergang  der  Hanse  als  politischer  Einrichtung  nicht  ohne  wei- 
teres den  Niedergang  des  Handels  der  Hansestädte  nach  sich  zog. 
Allerdings  fielen  mit  dem  gemeinsamen  Rechtsbesitz  auch  die  gemein- 
samen Interessen,  und  es  blieb  zuletzt  nur  noch  ein  gewöhnliches 
Städtebündnis.  n. 

Codex  diplomaticus  Silesiae.  Bd.  28:  Die  Inventare  der  nicht- 
staatlichen Archive  Schlesiens.  II.  Kreis  und  Stadt  Glogau.  Heraus- 
gegeben von  Konrad  Wutke,  Breslau  1915.  —  Der  28,  Band  des 
Codex  diplomaticus  Silesiae  enthält  die  Inventare  der  nichtstaatlichen 
Archive  des  Kreises  und  der  Stadt  Glogau  und  ist  bearbeitet  von 
Konrad  Wutke,  der  als  langjähriger  Archivbeamter  und  erprobter 
Kenner  der  schlesischen  Geschichte  wie  kein  anderer  für  diese  Aufgabe 
geeignet  war.  Von  den  in  alphabetischer  Anordnung  aufgeführten 
Archiven  enthält  nur  das  Stadtarchiv  von  Glogau  quantitativ  und 
qualitativ  beachtenswerte  Bestände.  Das  Urkundenverzeichnis  um- 
faßt aus  der  Zeit  von  1253 — 1732  1372  Stücke,  von  denen  eine  größere 
Anzahl  bislang  unbekannt  und  unveröffentlicht  war.  Wutke  hat  sich,^ 
abweichend  von  der  sonst  vielfach  für  Archivinventare  geübten  Praxis,^ 
nicht  mit  einer  kurzen  Aufzählung  der  Urkunden  begnügt,  sondern 
er  gibt  ausführliche  Regesten  mit  allen  vorkommenden  Orts-  und  Per- 
sonennamen; ferner  ist  die  gesamte  gedruckte  und  ungedruckte  Über- 
lieferung der  Urkunden  herangezogen  und  kritisch  verarbeitet,  so  daß 
das  Inventar  nicht  nur  einen  zuverlässigen  Führer  durch  die  Urkunden- 
schätze, sondern  auch  ein  wissenschaftlich  brauchbares  Quellen-  und 
Nachschlagewerk  für  die  Geschichte  der  Stadt  Glogau  darstellt.  Dem 
Urkundeninventar  folgt  ein  Verzeichnis  der  Akten  mit  gegen  2000 
Nummern.  Die  ältesten  Bestände  des  Aktenarchivs  reichen  bis  in  das 
16,  Jahrhundert  zurück.  Eine  sachliche  Ordnung  wäre  erwünscht  ge- 
wesen; sie  ist  jedoch  nicht  vorgenommen,  vielmehr  sind  die  Faszikeln 
mit  Akten  über  die  verschiedenartigsten  Gegenstände,  wie  sie  in  dem 
in  Unordnung  geratenen  Stadtarchiv  lagern,  im  bunten  Durcheinander 
mit  kurzer  Inhaltsangabe  angeführt.  Ein  ausführliches  und  sorgfältig 
gearbeitetes  Register  hilft  jedoch  einigermaßen  über  die  Schwierigkeit 
der  Benutzung  hinweg. 

Breslau.  Manfred  Stimming. 


374  Notizen  und  Nachrichten. 

Als  20.  Band  der  Darstellungen  und  Quellen  zur  schlesischen 
Geschichte  ist  eine  umfangreiche  Arbeit  von  Johannes  Ziekursch 
erschienen :  Hundert  Jahre  schlesischer  Agrargeschichte.  Vom  Hubertus- 
burger Frieden  bis  zum  Abschluß  der  Bauernbefreiung.  Eine  ausführ- 
liche Besprechung  behalten  wir  uns  vor,  zunächst  sei  nur  kurz  auf 
dieses  Werk  hingewiesen. 

Die  Entwicklung  der  ersten  Posener  Wollmärkte,  die  durch  den 
Oberpräsidenten  Flottwell  bei  seinen  Bemühungen  zur  wirtschaftlichen 
Hebung  der  Provinz  ins  Leben  gerufen  worden  sind,  untersucht  Man- 
fred Laubert  in  den  Historischen  Monatsblättern  für  die  Provinz 
Posen  17,  Oktober-Novemberheft.  J.  Kostrzewski  stellt  hier  die 
im  Jahre  1915  erschienene  polnische  Literatur  aus  dem  Gebiet  der 
Posener  Provinzialgeschichte  zusammen. 

Im  jüngsten  Heft  der  Sitzungsberichte  der  kgl,  böhmischen 
Gesellschaft  der  Wissenschaften  (Jahrgang  1915)  bringt  F.  Bar  tos 
unter  dem  Titel  NemecMho  Husity  Petra  Turnova  spis  o  rädech  a  zvy- 
clch  cirkve  vychodn'i  (Des  deutschen  Hussiten  Peter  Turnow  Schrift 
von  den  Einrichtungen  und  Gewohnheiten  der  morgenländischen 
Kirche  =  mores  et  ritus  Grecorum)  zum  Abdruck.  In  einer  lesens- 
werten Einleitung  handelt  der  Herausgeber  nicht  bloß  über  die  Schick- 
sale des  Peter  Turnow  (er  stammte  aus  dem  preußischen  Städtchen 
Tolkemit  bei  Elbing  und  hatte  in  Prag  studiert),  sondern  auch  über 
die  in  der  Hauptsache  auf  Wiclif  zurückzuführenden  Beziehungen  der 
hussitischen  Theologie  zur  griechisch-morgenländischen  Kirche,  die 
Turnow  auf  seiner  Reise  nach  Griechenland  kennen  gelernt  hatte 
{ritüs  Grecorum  conscripti  per  Petrum  Prutenum  qui  eos  ad  oculos  sie 
fieri  conspexit).  Turnows  Schrift  handelt  außer  von  den  Sakramenten 
von  folgenden  Gegenständen:  De  occisione,  tractatuum  descripciones, 
4e  sculptilibus,  de  ieiunio  und  de  hello.  In  der  Einleitung  finden  sich 
einige  belangreiche  Angaben  über  die  hussitische  Propaganda  in  deut- 
schen Ländern  und  einzelne  sympathische  Äußerungen  in  hussitischen 
Traktaten  über  die  griechische  Kirche,  wozu  schon  Wiclif  das  Bei- 
spiel gegeben  hatte. 

Graz.  J.  Loserth. 

Neue  Bücher:  Eggenschwiler,  Die  territoriale  Entwicklung  des 
Kantons  Solothurn.  (Solothurn,  Buchdr.  Gaßmann.  3,60  M.)  — 
Escher  (f)  und  Schweizer,  Urkundenbuch  der  Stadt  und  Land- 
schaft Zürich.  10.  Bd.  1319—1325.  (2.  Hälfte.)  (Zürich,  Beer  <S  Co. 
9,25  M.)  —  Doeberl,  Entwickelungsgeschichte  Bayerns.  1.  Bd.  3.  ver- 
mehrte und  verbesserte  Auflage.  (München,  Oldenbourg.  16  M.)  — 
Weller,  Württembergische  Geschichte.  2.,  neubearbeitete  Auflage. 
<Berlin,  Göschen.    1  M.)  —  Wilh.  Müller,  Verzeichnis  hess.  Weis- 


Vermischtes.  375 

tümer.  (Darmstadt,  Histor.  Verein  f.  d.  Großh.  Hessen.  2  M.)  — 
Alb.  Becker,  Die  Wiedererstehung  der  Pfalz.  (Kaiserslautern,  Kayser. 
2,40  M.)  —  Kley,  Geschichte  und  Verfassung  d.  Aachener  Wollen- 
ambachts  wie  überhaupt  der  Tuchindustrie  der  Reichsstadt  Aachen. 
(Köln,  Kratz  &  Cie.  3,50  M.)  —  Barlage,  Die  Lebensmittelpolitik 
der  Stadt  Duisburg  bis  zum  Verlust  der  städtischen  Selbstverwaltung. 
1.  Teil.  (Münster,  Coppenrath.  3,50  M.)  —  Frdr.  Voigt,  Der  Haus- 
halt der  Stadt  Hamburg  1601—1650.  (Hamburg,  Gräfe  &  Sillem. 
6  M.) 

Vermischtes. 

Von  der  Samson-Stiftung  bei  der  Kgl.  bayer.  Akademie 
der  Wissenschaften  sind  im  Jahre  1916  zwei  Preisaufgaben 
ausgeschrieben  worden.  Die  erste  wünscht  eine  Behandlung  des  The- 
mas „Die  Ehe  im  alten  Griechenland",  wobei  die  nach  Land- 
schaften und  Zeiten  stark  variierende  rechtliche,  religiöse  und  sitt- 
liche Auffassung  in  ihren  verschiedenen  Typen  herausgearbeitet  wer- 
den soll.  Die  hellenistischen,  insbesondere  alexandrinisch-ägyptischen 
Verhältnisse  sollen  dabei  noch  nicht  berücksichtigt  werden.  Als  Preis 
für  eine  in  jeder  Hinsicht  genügende  Lösung  sind  4000  Mark  und  die 
Veröffentlichung  der  Arbeit  auf  Kosten  der  Stiftung  ausgesetzt.  Der 
letzte  Termin  der  Einlieferung  ist  der  31.  Dezember  1920.  —  Das 
Thema  der  zweiten  Aufgabe  lautet  „Die  ethischen  Gefühle  und 
Vorstellungen  bei  den  europäischen  Völkern  während  des 
Weltkrieges".  Es  soll  sich  darum  handeln,  die  noch  frischen  Be- 
obachtungen, die  auf  dem  Gebiete  der  Massenpsychologie  und  der 
Ethik  während  des  Krieges  gemacht  sind,  zu  sammeln,  zu  beschreiben 
und  zu  analysieren.  Dabei  werden  sogleich  eine  Reihe  von  Einzel- 
fragen, die  zu  bearbeiten  sein  werden,  hervorgehoben,  wie  etwa  die 
folgenden:  Welche  Mittel  haben  die  kriegführenden  Völker  zum  Be- 
kämpfen ihrer  Feinde  für  erlaubt  erachtet?  Wie  verhielten  sich  die 
Neutralen  bei  ihrer  Beurteilung  von  Kriegführenden?  Inwieweit 
glaubten  die  einen  oder  anderen,  unter  dem  Deckmantel  der  Neutra- 
lität Kriegführende  unterstützen  zu  dürfen?  (Fragen,  bei  denen  uns 
allerdings  die  Beschränkung  auf  die  „europäischen"  Völker  zu  enge 
erscheint.)  Für  die  Beschaffung  eines  möglichst  breiten  Quellenmate- 
rials wird  auf  den  Umstand  hingewiesen,  daß  z.  B.  in  München,  Berlin, 
Hamburg  seit  Beginn  des  Krieges  alles  derartige  irgend  erreichbare 
Material  in  öffentlichen  Sammlungen  aufgespeichert  wird.  Der  für 
eine  in  jeder  Hinsicht  genügende  Lösung  ausgesetzte  Preis  beträgt 
6000  Mark  und  die  Veröffentlichung  der  Arbeit  auf  Kosten  der  Stif- 
tung. Als  spätester  Termin  der  Einlieferung  gilt  der  Ablauf  des  fünften 
Jahres  nach  dem  letzten  Friedensschluß. 


376  Notizen  und  Nachrichten. 

Am  7.  Juli  1916  ist  Adolph  Wohlwill  (geb.  in  Seesen  10.  Mai 
1843)  in  Hamburg  gestorben.  Seit  frühester  Jugend  hier  ansässig, 
hat  er,  nachdem  er  1866  bei  Waitz  promoviert  hatte,  von  1867  bis 
1906  in  dieser  seiner  zweiten  Vaterstadt  in  fast  ununterbrochener  Folge 
geschichtliche  und  literarhistorische  Vorträge  gehalten,  in  der  ersten 
Zeit  als  Vertreter  von  Aegidi  und  im  Anschluß  an  die  Vorlesungen 
des  „Akademischen  Gymnasiums",  später  als  staatlich  angestellter 
Dozent  für  Geschichte.  Neben  dieser  seine  Kräfte  stark  in  Anspruch 
nehmenden  Tätigkeit,  die  dem  heutigen  ausgedehnten  Vorlesungs- 
wesen Hamburgs  die  Bahnen  wies,  ist  Wohlwill  auch  publizistisch  sehr 
rührig  gewesen.  Außer  literarhistorischen  Arbeiten,  wie  denen  über 
Schubart  und  Georg  Kerner,  sind  zu  nennen  seine  Schriften  über 
das  Verhältnis  Norddeutschlands  zu  Frankreich  an  der  Schwelle  des 
18.  zum  19.  Jahrhundert,  seine  hansestädtischen  Forschungen,  die  in 
zahlreichen  kleineren  Aufsätzen  niedergelegt  sind  und  namentlich  das 
18.  Jahrhundert  behandeln,  endlich  aber  eine  größere  Reihe  von 
Schriften  über  die  Geschichte  Hamburgs  vorzüglich  im  18.  und  19.  Jahr- 
hundert. Letztere  Forschungen  hat  Wohlwill  zusammengefaßt  in  dem 
Buche  „Neuere  Geschichte  der  Fr.  u.  Hansestadt  Hamburg,  insbeson- 
dere von  1789 — 1815"  (Gotha  1914),  das  allerdings  tatsächlich  weit 
überwiegend  eine  Geschichte  des  genannten  engeren  Zeitabschnittes 
ist.  Als  Schüler  von  Wattenbach  und  Waitz  ist  Wohlwill  ein  Ver- 
treter strenger,  kritischer  Geschichtschreibung;  alle  seine  Arbeiten 
zeichnen  sich  durch  sorgfältige  Quellenforschung  und  umfassende 
Archivstudien  aus.  Am  wertvollsten  ist  seine  Darlegung  dort,  wo 
er  sich  bemüht,  den  Gang  der  Politik  mit  Geistesströmungen  und 
kulturellen  Anschauungen  in  Verbindung  zu  bringen;  dagegen  ent- 
behren seine  biographischen  Arbeiten,  namentlich  die  über  die  ham- 
burgischen Bürgermeister  Kirchenpauer,  Petersen,  Versmann  des 
scharfen  Urteils,  des  psychologischen  JVloments,  wie  auch  der  Wärme 
der  Darstellung,  die  man  in  der  Schilderung  zeitgenössischer  Lebens- 
gänge ungern  vermißt.  In  der  Zeitschrift  d.  Vereins  f.  hamb.  Ge- 
schichte" Bd.  12  (1908)  hat  Wohlwill  „Rückblicke  auf  meine  Lern- 
und  Lehrjahre"  veröffentlicht,  die  als  Beitrag  zur  deutschen  und  ham- 
burgischen Gelehrtengeschichte  wertvoll  sind.  Bausch. 


Perioden  römisdier  Kaisergeschichte. 

Vortrag  in  der  Historischen  Gesellschaft  zu  Straßburg  i.  Eis. 

gehalten  von 

Karl  Johannes  Neumann. 


Wenn  ich  über  Perioden  römischer  Kaisergeschichte  hier 
in  Kürze  handeln  will,  so  liegt  dem  die  Auffassung  zugrunde, 
daß  historische  Perioden  etwas  anderes  und  mehr  bedeuten 
als  bloße  Einschnitte  und  Abschnitte  zu  leichterer  Über- 
sicht des  Lesers.  Mir  ist  dabei  nicht  unbekannt,  daß  auch 
die  zweite  Auffassung  von  namhaften  Geschichtsforschern 
vertreten  wird.  Ein  so  geistvoller  Historiker  wie  Heinrich 
Geizer  äußert  sich  in  diesem  Sinne  im  Eingange  seines  Ab- 
risses der  byzantinischen  Geschichte,  die  der  zweiten  Auf- 
lage von  Krumbachers  Geschichte  der  byzantinischen 
Literaturgeschichte  von  1897  beigegeben  wurde:  „Alle 
Periodisierungen  und  Begrenzungen  im  Verlaufe  der  Welt- 
geschichte sind  lediglich  konventionell  und  darum  völlig 
willkürlich.  Die  Geschichte  selbst,  in  der  jedes  Ereignis 
mit  den  vorangehenden  und  den  folgenden  in  einem  ursäch- 
lichen Zusammenhang  steht,  macht  keinen  Abschnitt;  sie 
ist  ein  fortlaufendes  Kontinuum." 

Dieser  Auffassung  Geizers  gegenüber  genügt  es,  an 
Ein-  und  Abschnitte  der  Geschichte  zu  erinnern  wie  die 
französische  Revolution,  den  Sturz  Napoleons  I.,  den  Krieg 
von  1870  und  die  Begründung  des  neuen  Reiches.  Gewiß 
stehen  auch  diese  gewaltigen  Ereignisse  als  Glieder  in  der 
Kette  von  Ursache  und  Wirkung,  aber  es  besteht  eben  ein 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  25 

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378  Karl  Joh.  Neumann, 

Unterschied  von  großen  und  kleinen  Ursachen  und  Wir- 
kungen, von  Umgestaltung  und  Umwälzung.  Und  auch 
bei  den  langsamen  allmählichen  Umbildungen  der  Geschichte 
fehlt  es  nicht  an  Paßhöhen  und  Wegescheiden.  Die  zeit- 
liche Ordnung  der  Geschichte  hat  gewisse  Ähnlichkeiten  mit 
der  Sonderung  im  Räume.  In  der  Geschichte  entspricht 
die  Sonderung  der  Perioden  in  der  Zeit  der  Länderscheidung 
im  Räume.  Was  sind  Länder?  Es  sind  gut  individualisierte 
Teile  der  Erde.  Die  größten  räumlichen  Individuen  auf 
der  Erde  sind  die  Erdteile,  um  deren  Scheidung  und  Ab- 
grenzung sich  die  Griechen  bereits  seit  alter  Zeit  bemühten, 
und  auch  der  Abgrenzung  der  Länder  haben  die  Griechen 
zeitig  ihre  Aufmerksamkeit  zugewandt.  Herodot  ging  da- 
bei zunächst  von  dem  Volkstum  aus  und  suchte  Kilikien  da, 
wo  Kiliken  wohnten.  Aber  die  beste  Länderscheidung  wird 
in  allererster  Linie  von  den  natürlichen  Grenzen  ausgehen 
und  die  Berücksichtigung  der  Volks-  und  Staatsgrenzen  damit 
verbinden.  Eine  solche  bewußte  Länderscheidung  bot  unter 
Kaiser  Tiberius  Strabon,  in  der  Länderkunde  ein  Vorläufer 
Alexanders  v.  Humboldt  und  Karl  Ritters.  Dem  entsprechend 
sind  historische  Perioden  gut  individualisierte  Zeiträume  des 
geschichtlichen  Lebens,  die  durch  ihren  Inhalt  und  Gehalt 
zu  einer  Einheit  verbunden  sind  und  sich  eben  dadurch  von 
dem  abheben,  was  ihnen  vorausgeht  oder  folgt.  Besonders 
deutlich  tritt  die  Einheit  der  Perioden  in  den  historischen 
Ideen  zutage,  die  bestimmte  Perioden  erfüllen  und  beherr- 
schen: historischen  Ideen  oder  vielmehr  Idealen,  denn  in  den 
historischen  Ideen  erscheint  die  Idee  als  Ideal,  als  Ziel 
des  Strebens.  Ein  solcher  gut  individualisierter  Zeitraum 
der  Geschichte  ist  die  wohlabgegrenzte  Periode  von  1815 
bis  1870,  die  durch  die  Fragen  der  deutschen  Einheit  und 
der  verfassungsmäßigen  Freiheit  zusammengehalten  und 
abgegrenzt  wird,  eine  Periode,  die  doch  etwas  ganz  anderes 
bedeutet  als  eine  bloße  Gliederung  zu  bequemer  Übersicht. 
Diese  Ideen  und  Ideale,  sie  stecken  in  den  Köpfen  der  Men- 
schen, und  sie  liegen  auch  in  der  Luft.  So  empfanden  und 
wußten  wir  alle  schon  vor  dem  Kriege,  daß  wir  in  einer 
neuen  Periode  mitten  drin  standen,  die  durch  das  Schlag- 
wort Weltpolitik  richtig  charakterisiert  wurde. 


Perioden  römischer  Kaisergeschichte.  379 

Bei  der  Scheidung  der  großen  Weltperioden  kann  eine 
Subjektivität  der  Auffassung  dadurch  hervorgerufen  werden, 
daß  der  BHck  des  einen  sich  den  Keimen  des  Entstehenden 
und  Werdenden  zuwendet,  während  der  andere  festhalten 
möchte,  was  nicht  ganz  abgestorben  und  tot  ist.  Aber 
auch  diese  Verschiedenheit  der  Betrachtung  läßt  sich  da- 
durch überwinden,  daß  man  feststellt,  bis  zu  welchem  Zeit- 
punkt das  Alte  noch  das  bestimmende  ist  und  von  wann 
an  es  diesen  seinen  Einfluß  dem  Neuen  hat  abtreten  müssen. 
Zwar  gibt  es  nach  Heinrich  Geizer  kein  keckeres  Unternehmen 
als  die  Grenze  von  Altertum  und  Mittelalter  feststellen  zu 
wollen,  aber  Alfred  v.  Gutschmid  hat  wohl  gewußt,  daß 
solche  Keckheit  vielmehr  ein  Wagemut  ist,  ohne  den  es 
nicht  abgeht.  Und  auch  der  Tübinger  Kirchenhistoriker 
Karl  Müller  hat  geglaubt,  es  wohl  verantworten  zu  können, 
als  er  in  den  Spuren  Gutschmids  der  Beantwortung  dieser 
Frage  nachging;  seit  den  Tagen  Ferdinand  Christian  Baurs 
ist  weltgeschichtliche  Betrachtung  der  Tübinger  Wissen- 
schaft nicht  entschwunden.  Wenn  ich  im  wesentlichen 
Anschluß  an  Gutschmid  die  Grenze  zwischen  Altertum  und 
Mittelalter  für  das  Abendland  mit  dem  Einbrüche  der  Lango- 
barden und  für  den  Osten  mit  Mohammed  gegeben  finde, 
so  kommt  dabei  die  Rücksicht  auf  das  die  Zeiten  bestimmende 
und  beherrschende  zum  Ausdruck.  Von  jenen  Daten  an 
herrscht  nicht  mehr  das  Alte  sondern  das  Neue. 

Aber  nicht  über  diese  Grenze  von  Altertum  und  Mittel- 
alter, nicht  über  Justin  II.  oder  Heraklios  II.  will  ich  hier 
reden,  sondern  über  die  ältere  römische  Kaiser- 
geschichte. Freilich  ist  schon  über  deren  Abgrenzung 
keine  Einheit  mehr  vorhanden,  eher  noch  über  ihren  Anfang 
als  ihren  Ausgang,  denn  daß  sie  mit  Augustus  einsetzt,  ist 
nicht  strittig,  fraglich  ist  nur,  ob  man  Cäsar  als  Vorspiel 
oder  Widerspiel  behandeln  soll.  Mommsen  hätte  seine 
Kaisergeschichte  da  begonnen,  wo  der  dritte  Band  seiner 
römischen  Geschichte  aufhört,  mit  dem  Jahre  46,  mit  Thapsus. 
Und  er  hätte  sie  herabgeführt  bis  dahin,  wo  sein  Staats- 
recht aufhört,  bis  auf  Diokletian  exklusive.  Gliedert  man 
die  Weltgeschichte  nach  dem  Staatsrecht,  so  wäre  dieser 
Einschnitt  durchaus  richtig,    denn  auf  den  Prinzipat    des 

25» 


380  Karl  Joh.  Neumann, 

Augustus  folgte  seit  Diokletian  die  absolute  Monarchie 
des  Dominates.  Aber  die  weltgeschichtliche  Betrachtung 
kann  nicht  zugeben,  daß  diese  Formen  der  Staatsverfassung 
den  Hauptinhalt  der  Zeiten  ausmachen  und  die  Perioden 
der  Weltgeschichte  trennen;  sie  kann  das  um  so  weniger, 
als  die  formell  konstitutionelle  Verfassung  des  Prinzipates 
der  Sache  nach  von  Anfang  an  eine  verkappte  Herrschaft 
des  Prinzeps  war.  Historisch  viel  wichtiger  als  die  Frage 
von  Prinzeps  und  Senat  war  damals  der  Kampf  der  großen 
Religionen,  die  Entscheidung  dieses  Kampfes  entschied 
auch  über  die  Weltgeschichte,  und  in  diesem  Kampfe  steht 
Diokletian  noch  auf  der  Seite  des  Alten,  während  Konstantin 
die  neue  Religion  zum  Siege  führt.  Eine  neue  Weltperiode 
beginnt  noch  nicht  mit  Diokletian,  sondern  erst  mit  Kon- 
stantin, mit  seiner  Alleinherrschaft  und  dem  Konzil  von 
Nicäa. 

Wenn  Ausgang  und  Endpunkt  somit  bestimmt  sind, 
so  unserliegt  die  innere  Gliederung  dieses  Zeitraumes  er- 
heblich größeren  Schwierigkeiten.  Hier  wird  der  eigene 
Versuch  von  der  Auseinandersetzung  mit  der  üblichen 
Gliederung  auszugehen  haben. 

Das  erste  Jahrhundert  der  Kaisergeschichte,  die  Zeit 
der  julisch-klaudischen  Dynastie,  bildet  in  der  Tat  eine  Ein- 
heit, es  sind  die  drei  Generationen,  die  das  republikanische 
Leben  verlernen  und  vergessen  und  sich  in  dem  Prinzipat 
eingewöhnen  und  einleben.  Der  mit  Neros  Sturz  verbundene 
Versuch  einer  Erneuerung  der  Republik  ist  nicht  mehr 
wiederholt  worden.  Nach  dem  Vier- Kaiser- Jahr  periodisiert 
man  herkömmlicher  Weise  mit  der  Dynastie  der  Flavier, 
mit  Vespasian,  Titus  und  Domitian,  68 — 96,  und  dann  mit 
dem  Ausgange  der  Antonine,  mit  Commodus,  dem  Sohne 
Marc  Aureis,  der  am  letzten  Dezember  192  getötet  wurde. 
Der  Ausgang  der  Antonine  ist  ein  sehr  beliebter  Einschnitt; 
mit  ihm  schließt  kein  Geringerer  als  Ludwig  Friedländer 
seine  Darstellung  der  Sittengeschichte  der  römischen  Kaiser- 
zeit. Größere  Unsicherheit  besteht  rücksichtlich  des  3.  Jahr- 
hunderts; hier  hat  man  wohl  mit  dem  Sturz  der  punisch- 
syrischen  Dynastie  vom  Jahre  235  oder  aber  auch  mit 
Decius,  249 — 251,  einen  Einschnitt  machen  wollen. 


Perioden  römischer  Kaisergeschichte.  381 

Der  tiefste  Denker,  der  bisher  die  Kaisergeschichte  dar- 
gestellt hat,  ist  Edward  Gibbon.  Wo  läßt  er  den  Nieder- 
gang des  Reiches  beginnen?  Mit  Commodus.  Mit  seinem 
Regierungsantritt,  mit  dem  Jahre  180,  setzt  bei  Gibbon 
die  Geschichtserzählung  ein;  einleitungsweise  geben  die 
ersten  drei  Kapitel  Gibbons  eine  Charakteristik  des  Zeit- 
alters der  Antonine  und  finden  den  glückseligen  Zustand 
der  Römer  noch  unter  Antoninus  Pius  und  Marc  Aurel; 
allmählich  sei  er  unsicher  geworden.  Dagegen  glaubt  Korne- 
mann  den  Verfall  mit  Hadrian  einsetzen  zu  sehen;  er  findet 
ihn  in  dem  Aufgeben  der  Offensive  durch  Hadrian.  Unter 
Trajan  noch  kräftige  Vorstöße  und  erfolgreicher  Angriff, 
unter  Hadrian  der  Verzicht. 

Wie  steht  es  nun  mit  der  Begründung  dieser  Periodi- 
sierung?  Vom  rein  staatsrechtlichen  Standpunkt  aus  be- 
trachtet würde  in  der  Tat  Domitian  eine  Wende  der  Zeiten 
bedeuten,  sein  Regiment  bezeichnet  einen  Markstein  in  der 
Entwicklung  des  Prinzipates,  in  der  Stellung  des  Prinzeps 
zum  Senate.  Domitian  hat  die  Zensur  dauernd  mit  dem 
Prinzipat  verbunden,  und  das  bedeutet,  daß  der  Prinzeps 
die  Zusammensetzung  des  Senates  juristisch  in  seine  Hand 
bekommt.  Dabei  bleibt  juristisch  der  Senat  souverän, 
aber  der  nicht  souveräne  Prinzeps  hat  die  Zusammensetzung 
der  souveränen  Körperschaft  diskretionär  in  der  Gewalt. 
Praktisch  darf  man  die  tatsächliche  Bedeutung  dieses  Kaiser- 
rechtes nicht  überschätzen;  der  Macht  der  großen  Herren, 
etwa  solchen  Leuten  gegenüber,  von  denen  sechs  die  Hälfte 
des  gesamten  Grund  und  Bodens  der  Provinz  Afrika  be- 
saßen, konnte  das  zensorische  Recht  des  Prinzeps  leicht 
versagen.  Und  vor  allem,  was  interessierte  die  große  Menge 
der  Bevölkerung,  die  Untertanen,  die  Provinzialen,  die 
bessere  oder  schlechtere  Stellung  des  Senates.  Nur  senatori- 
sche Kreise  selber  finden  mit  Nerva  und  Trajan  eine  neue 
Zeit  anbrechen,  ein  neues  Säkulum,  einen  neuen  Kurs. 
Sie  rühmen  die  Vereinigung  von  Prinzipat  und  Freiheit, 
eine  Zeit,  wo  man  denken  durfte  was  man  wollte,  und  aus- 
sprechen was  man  dachte.  Ein  Mittel,  zu  verhindern,  daß 
jeder  dachte  was  er  wollte,  wird  Domitian  wohl  ebenso 
wenig  wie  sonst  jemand  besessen  haben;  und  größere  Frei- 


382  Karl  Joh.  Neumann, 

heit  brachte  der  neue  Kurs  lediglich  den  Senatoren.  Gut- 
herzig war  Domitian  gewiß  nicht,  aber  einer  der  gedanken- 
reichsten unter  den  Kaisern.  Und  rücksichtlich  der  Güte 
der  Verwaltung  steht  sein  Regiment  nicht  anders  da  als 
das  seiner  Vorgänger  und  Nachfolger  auf  dem  Throne. 
Periodisieren  könnte  man  nach  Domitian  wie  nach  Decius 
die  Geschichte  von  Staat  und  Kirche.  Domitian  bringt  die 
unter  Nero  noch  nicht  erfolgte  grundsätzliche  Stellung- 
nahme des  römischen  Staates  gegenüber  der  christlichen 
Religion,  und  die  Christen  beantworten  die  Kriegserklärung 
des  Kaisers  mit  ihrer  eigenen,  mit  der  Offenbarung  des  Jo- 
hannes; Domitian  persönlich  ist  der  Antichrist  der  Apokalypse 
in  der  Gestalt,  die  wir  besitzen.  Mit  Decius  dagegen  wird 
die  Repression  des  Christentums  zu  einem  planmäßigen 
Kampfe  gegen  die  Kirchenorganisation.  So  bilden  Decius 
und  Domitian  zwei  Marksteine  für  Staat  und  Kirche,  aber 
noch  nicht  für  eine  Periodisierung  der  Kaisergeschichte 
überhaupt;  denn  den  Hauptinhalt  der  Geschichte  bildet  der 
Kampf  zwischen  Staat  und  Kirche  erst  seit  Diokletian. 

Geht  also  eine  einheitliche  Entwicklung  von  Vespasian 
und  Titus  über  Domitian  zu  den  Antoninen,  so  ist  zu  sagen, 
daß  auf  der  anderen  Seite  auch  weder  die  Ermordung  des 
Commodus  noch  auch  der  Tod  Marc  Aureis  einen  tiefen  Ein- 
schnitt bedeutete.  Gewiß  war  das  Orientalentum  der  punisch- 
syrischen  Dynastie  nicht  ohne  Belang,  aber  mehr  auf  religiösem 
Gebiete.  Wirklich  entscheidend  war  nicht  der  Tod  Marc 
Aureis,  sondern  sein  Leben,  genauer  was  er  erlebte  und  er- 
litt: es  war  der  Beginn  der  Völkerwanderung,  es  war  der 
Angriff  der  Markomannen.  Die  Stöße,  die  jetzt  beginnen, 
erschüttern  das  Reich,  sie  machen  es  wanken  und  schließ- 
lich zerfallen.  Jetzt  rächte  sich  die  schlechte  Grenze,  die 
Augustus  nach  der  Varus-Katastrophe  dem  Reiche  gegeben 
hatte,  sein  aus  Gründen  der  inneren  Politik,  da  er  sich 
nicht  entschließen  konnte,  eine  vierte  Armee,  eine  Eibarmee 
aufzustellen,  geborener  Verzicht  auf  die  Eibgrenze,  auf  die 
Verbindung  der  oberen  Elbe  mit  der  mittleren  Donau.  Bei 
anderer  Politik  des  Augustus  wäre  das  Land  zwischen  Elbe, 
Rhein  und  Donau  längst  romanisiert  gewesen,  und  damit 
war  eine  ganz  andere  Verteidigungsmöglichkeit  gegeben.  Sonst 


Perioden  römischer  Kaisergeschichte.  383 

hatte  Augustus  soweit  Eroberungspolitik  getrieben,  als  nötig 
war,  um  dem  Reiche  gute  natürliche  Grenzen  zu  geben,  er 
hat  die  Alpenländer  bis  zur  Donau  und  Moesien  unterworfen; 
und  in  etwas  hatte  Domitian  die  spätere  augusteische 
schlechte  Rhein-Donaugrenze  verbessert  durch  den  Beginn 
der  Limesanlage,  die,  unter  seinen  Nachfolgern  fortgeführt 
und  unter  Antoninus  Pius  vollendet,  Rhein-Brohl  mit  Regens- 
burg verband.  Auch  die  Eroberung  Dakiens  durch  Trajan 
diente  der  Sicherung  der  Grenze,  und  von  Trajans  unzweck- 
mäßiger Einverleibung  Mesopotamiens  in  das  Reich  behielt 
Hadrian  das  für  die  Grenzverteidigung  brauchbare  Nord- 
mesopotamien zurück,  während  er  den  Mut  besaß,  auf  das 
weitere  südmesopotamische  Gebiet  zu  verzichten.  In  der 
guten  Defensive,  in  der  Anlegung  der  Limites,  in  Germanien 
und  Rätien,  in  Britannien,  im  arabischen  Ost- Jordanlande, 
liegt  noch  kein  Zeichen  des  Verfalls;  die  Katastrophe  be- 
ginnt erst  mit  dem  Angriffe  der  anderen,  mit  dem  Marko- 
mannenkriege. Mit  ihm  beginnt  die  Auflösung  des  Reiches. 
Vorbereitet  hat  sich  die  Katastrophe  freilich  längst  durch 
den  Niedergang  der  italischen  Bevölkerung  infolge  der  von 
Augustus  beibehaltenen  Heeresordnung  des  Marius,  die 
Jahr  für  Jahr  die  kräftigen  jungen  Leute  Italien  entzog, 
um  sie  ihm  erst  als  mürbe  Veteranen  wiederzugeben.  Italien 
alterte  allmählich  und  wurde  müde,  den  Niedergang  der 
Bevölkerung  hatte  man  bereits  unter  Nerva  wahrgenommen 
und  hatte  versucht,  ihn  mit  der  Palliativmaßregel  der 
Alimentarinstitutionen  beizukommen.  Noch  aber  hielt  sich 
die  Leistung  des  ganzen  auf  der  Höhe.  Noch  ganz  auf  der 
Höhe  steht  Hadrian  und  seine  Zeit.  Seit  1891  wissen  wir, 
daß  das  Pantheon  nicht  von  Agrippa,  sondern  erst  aus 
hadrianischer  Zeit  stammt;  noch  besaß  diese  Zeit  die  Kraft, 
in  dieser  Rotunde^)  eines  der  Wunder  der  Welt  zu  schaffen. 
In  den  Bildnissen  des  Antinous  schafft  die  Zeit  Idealgestalten 
mit  Porträtähnlichkeit.  Und  in  dem  Edictum  perpetuum 
des  Salvius  Julianus  gab  Hadrian  die  erste  Kodifizierung 
des  Zivilrechts  seit  den  zwölf  Tafeln.    Freilich  war  es  die 


^)  über  die  Orientalisierung  der  römischen  Kunst  vgl.  das  be- 
rühmte Werl<  von  Alois  Riegl:  Die  spätrömische  Kunstindustrie  nach 
den  Funden  in  Österreich-Ungarn,  Teil  I,  Wien  1901. 


384  Karl  Job.  Neumann, 

letzte  Leistung  vor  der  Ermattung.  Die  öde  Niciitigkeit  der 
Schriften  Frontos  hat  Mommsen  in  ihrer  symptomatischen 
Bedeutung  gewürdigt.  Geistige  Nullen  hat  es  unter  den 
Literaten  wohl  zu  jeder  Zeit  gegeben,  aber  daß  diese  Null 
die  gefeierte  geistige  Größe  der  Zeit  war,  das  gibt  der  Zeit 
ihre  Signatur.  Kein  Wunder,  daß  nach  Mommsen  in  der 
Folge  die  Barbarisierung  Italiens  einsetzt.  Unter  Antoninus 
Pius  steht  die  Welt  stille,  die  Geschichte  als  Werden  und 
Geschehen  hat  aufgehört,  sie  ist  zum  reinen  Sein  geworden. 
Und  bald  darauf  wird  das  Reich  unsanft  aus  seiner  Ruhe, 
seinem  Quietismus  aufgestört  durch  die  Markomannen. 

Der  Markomannenkrieg  Marc  Aureis  ist  es  demnach, 
mit  dem  die  Wende  der  Zeiten  einsetzt  und  die  die  Periodi- 
sierung  der  römischen  Kaisergeschichte  bedingt.  Die  erste 
große  Hauptperiode  der  Kaisergeschichte  umfaßt  die  Zeit 
von  Augustus  bis  auf  Antoninus  Pius;  es  folgt  der  Nieder- 
gang und  der  Zusammenbruch  und  dann  die  Wiederaufrich- 
tung des  Reiches.  Wie  gliedert  sich  diese  zweite  Haupt- 
periode? 

Hier  macht  weder  der  Ausgang  der  orientalischen 
Dynastie  noch  Kaiser  Decius  einen  Einschnitt.  Der  Zu- 
sammenbruch des  Reiches  erfolgt  erst  unter  Gallienus, 
mit  der  persischen  Gefangenschaft  Valerians  von  260,  mit 
der  Begründung  des  gallischen  Kaisertums  in  Trier  und  Bor- 
deaux, mit  der  Herrschaft  der  Palmyrener  im  Osten  und 
den  mannigfachen  sonstigen  Insurrektionen.  Durch  die 
Angriffe  der  Barbaren  und  die  Sonderbestrebungen  der 
einzelnen  großen  Truppenkörper,  die  durch  keine  gemein- 
samen Interessen  und  durch  keinen  einheitlichen  gewal- 
tigen Willen  mehr  zusammengehalten  werden,  bricht  das 
Reich  auseinander.  Und  der  Typus  eines  Neurasthenikers 
wie  Gallienus  war  nicht  imstande,  es  zusammenzuhalten 
oder  es  wieder  zusammenzubringen.  Gewiß  war  die  Situation 
nicht  nur  äußerlich  sehr  schwierig,  aber  sie  lag  doch  nicht 
hoffnungslos:  hier  zeigt  sich  wieder  einmal  die  Bedeutung 
der  großen  Männer.  Kaiser  Claudius  II.  schaffte  Ruhe 
vor  den  Barbaren,  und  Aurelianus  stellte  die  Einheit  des 
gesamten  Reiches  wieder  her,  er  ist  der  Vorläufiger  Dio- 
kletians, auch  als  dominus  et  deus.    Mit  Claudius  und  Aurelian 


Perioden  römischer  Kaisergeschiclite.  385- 

beginnt  die  letzte  Periode  dieser  Kaisergeschichte,  sie  reicht 
von  ihnen  bis  auf  Konstantin  den  Großen.  Sie  vollendet 
sich  in  dem  Ausgleich  zwischen  Staat  und  Kirche.  Ich  will 
nicht  alles  das  im  einzelnen  ausführen,  was  über  die  zweite 
große  Hauptperiode  und  ihren  charakteristischen  Inhalt  zu 
sagen  wäre,  sondern  möchte  nur  noch  auf  einen  Einwand 
hinweisen,  den  man  dagegen  erheben  könnte,  diese  Periodi- 
sierung  einer  Darstellung  der  römischen  Kaisergeschichte 
zugrunde  zu  legen.  Als  ich  meine  Periodisierung  Theodor 
Nöldeke  zuerst  mitteilte,  fragte  er  mich:  wird  man  auch 
Stoff  genug  für  Ihre  zweite  große  Periode  haben,  für  die 
Zeiten  des  Zusammenbruchs  und  der  Wiederaufrichtung 
des  Reiches?  Gewiß  nicht  bei  dem  herkömmlichen  Anschlul^ 
an  die  antiken  Historiker  und  einer  Art  von  Wiedererzäh- 
lung. Dann  kommen  wie  bei  Domaszewski  wenig  mehr  als 
100  Seiten  auf  540  Seiten  für  die  erste  Periode.  Aber  wenn 
Hirschfelds  Verwaltungsgeschichte  und  Mommsens  Ge- 
schichte der  Provinzen  von  Cäsar  bis  auf  Diokletian  die 
Verwendung  der  Inschriften  für  die  Darstellung  gelehrt 
haben,  so  handelt  es  sich  jetzt  um  die  Herausarbeitung  des 
dritten  Jahrhunderts  unserer  Zeitrechnung  als  einer  Periode 
allergrößter  welthistorischer  Bedeutung,  als  der  Periode  der 
Vorbereitung  für  die  großen  Entscheidungen  der  Zukunft^ 
wie  sie  das  4.  Jahrhundert  brachte.  Wir  müssen  hier  gründ- 
lich brechen  mit  der  Beschränkung  der  Geschichte  auf  den 
Staat,  die  bei  anderen  Zeiten  am  Platze  sein  mag,  aber  hier 
ist  auch  die  Staatsgeschichte  nicht  mehr  zu  verstehen  ohne 
vielseitige  Würdigung  aller  Kräfte,  die  sich  in  der  Tiefe 
regen.  Wir  haben  zu  schildern  den  Niedergang  der  Volks- 
kraft und  der  Wirtschaft  in  ihrer  ursächlichen  Verbindung 
mit  dem  Falle,  und  weiter  die  Regeneration  durch  die  un- 
verbrauchte körperliche  und  geistige  Kraft  der  Leute  aus 
dem  illyrischen  Dreieck,  durch  die  dem  Reiche  so  notwendige 
und  heilsame  Barbarisierung.i)    Wir  folgen  der  wirtschaft- 


^)  Die  Frage  nach  dem  Altern  und  der  Regeneration  der  Völker 
ist  eines  der  allerschwierigsten  historischen  Probleme,  die  es  überhaupt 
gibt;  die  Geschichte  wird  hier  zur  Biologie,  und  die  Frage  kann  in  ihrer 
Tiefe  nur  erfaßt  werden  bei  einem  Sichdurchdringen  von  Geschichte, 
Physiologie,  Psychologie  und  sozialer  Ethik.    Der  Vortrag  des  Stutt- 


386       K.  J.  Neumann,  Perioden  römischer  Kaisergescliichte. 

liehen  Wiederaufriehtung  und  den  neuen  Formen  des  wirt- 
schaftlichen Betriebs  und  der  Organisation  der  Arbeit.  Die 
Papyri  eröffnen  den  Einblick  in  die  Rezeption  des  griechi- 
schen Rechts  und  in  die  Umbildung  des  römischen  Rechtes 
zum  Weltrecht,  und  dann  vor  allem  der  Kampf  der  Geister 
in  den  Weltanschauungen  und  den  Religionen,  der  Unter- 
gang der  griechisch-römischen  Antike  und  das  Aufkommen 
des  Synkretismus,  der  Bruderkampf  der  Synkretismen  und 
der  Sieg  des  Christentums.  Die  Aufgaben,  die  hier  zu  stellen 
sind,  sind  mit  Sicherheit  zu  erkennen.  Die  Schwierigkeiten 
liegen  in  der  Ausführung,  aber  auch  hier  wird  der  Satz  sich 
bewähren,  man  müsse  das  Unmögliche  versuchen,  um  das 
Mögliche  zu  leisten.  Wer  wird  davon  träumen,  das  höchste 
Ziel  voll  zu  erreichen?  Aber  ohne  den  Versuch  kommt 
man  nicht  weiter. 


garter  Arztes  Professor  E.  v.  Baelz  über  das  angebliche  Altern  und 
Sterben  der  Völker  (wiedergegeben  in  den  Verhandlungen  der  Gesell- 
schaft Deutscher  Naturforscher  und  Ärzte,  83.  Versammlung  zu  Karls- 
ruhe vom  24.  bis  29.  September  1911,  II,  1,  S.  456)  hat  die  Lösung 
des  Problems  dadurch  natürlich  nicht  fördern  können,  daß  er  das 
Vorhandensein  des  Problems  bestreitet.  Ein  so  scharfer  Beobachter 
und  tiefer  Denker  aber  wie  Paul  de  Lagarde  war  sich  darüber  voll- 
kommen klar,  daß  die  Völker  altern  wie  die  Menschen.  Jedermann 
wird  seine  deutschen  Schriften,  die  noch  heute  so  frisch  sind  wie  am 
ersten  Tage,  gern  wieder  einmal  im  Zusammenhange  lesen  und  sich 
aus  dem  unerschöpflichen  Werke  assimilieren,  was  er  sich  zu  assimilieren 
vermag.  An  dem  Altern  auch  der  Völker  hat  Paul  de  Lagarde,  wie 
gesagt,  nicht  gezweifelt.  Und  wer  könnte  sich  heute  dem  verschließen, 
—  auch  wenn  er  es  wollte  —  daß  das  französische  Volk  in  das  Greisen- 
alter eingetreten  ist? 


Eike  von  Repgow. 

Ein  Versuch.^) 

Von 
Walter  Möllenberg. 


Über  Eike  von  Repgow  ist  uns  so  gut  wie  nichts  über- 
liefert. Keine  Clironik  nennt  seinen  Namen,  nur  ein  paar 
zufällig  erhaltene  Gerichtsurkunden  erwähnen  ihn  unter  den 
Zeugen  —  in  einem  Atem  mit  einer  Reihe  von  mehr  oder 
weniger  unbedeutenden  Persönlichkeiten  —  und  allein  durch 
seine  Werke,  die  er  geschaffen  hat,  ist  sein  Andenken  auf 
uns  gekommen. 

Eike  von  Repgow  ist  uns  vor. allem  der  Verfasser  des 
berühmten  deutschen  Rechtsbuchs,  dem  er  den  Namen 
„Sachsenspiegel"  gegeben  hat.    Aber  wir  würden  nicht  ein- 


1)  In  der  Beurteilung  Eikes  von  Repgow  läßt  sich  in  neuerer 
Zeit  ein  bemerkenswerter  Umschwung  zu  seinen  Gunsten  beobachten. 
Immer  mehr  dringt  in  der  Literatur  über  den  Sachsenspiegel  die  An- 
sicht durch,  daß  es  nicht  angeht,  ihn  einfach  für  unzuverlässig  zu  er- 
klären, wenn  seine  Darstellung  der  Rechtsverhältnisse  dem  Stand  der 
urkundlichen  Überlieferung  nicht  zu  entsprechen  scheint.  Es  ist  das 
unbestreitbare  Verdienst  des  in  seinen  sonstigen  Ergebnissen  allerdings 
vielbekämpften  Buches  von  Heck  über  den  Sachsenspiegel  und  die 
Stände  der  Freien,  die  seit  Schröder  und  Zallinger  üblich  gewordene 
Skepsis  gegenüber  dem  Spiegier  als  unberechtigt  erwiesen  zu  haben. 
In  den  Bahnen  positiver  Kritik  wandelt  auch  Eckard  Meister  in  seiner 
jüngsten  Veröffentlichung  über  die  ostfälische  Gerichtsverfassung  im 
Mittelalter. 

Dazu  kommen  die  anregenden  Untersuchungen  K.  Zeumers,  be- 
sonders  über  die  Sächsische  Weltchronik,  in  der  er  ein  Werk  Eikes 


388  Walter  MöUenberg, 

mal  wissen,  wer  dieser  große  „Spiegier"  ist,  wenn  er  nicht 
selber  in  einer  Reimvorrede  zum  Sachsenspiegel  das  Visier 
ein  wenig  lüftete  und  sich  zu  erkennen  gäbe.  Er  tut  es  durch 
die  Worte: 

Nu  danket  al  gemeine 

dem  von  Valkensteine, 

der  greve  Hoyer  ist  genant, 

daz  an  diutisch  is  gewant 

diz  buch  durch  sine  bete: 

Eyke  von  Repgowe  iz  tete. 

Nicht  ganz  so  offen  tritt  er  bei  seinem  anderen  Werk 
hervor:  der  Sächsischen  Weltchronik.  Auch  der  Weltchronik 
schickt  er  eine  gereimte  Vorrede  voraus,  in  der  er  sich  an 
alle  wendet,  die  später  einmal  die  Chronik  fortsetzen  werden: 

Ich  han  mich  des  wol  bedacht: 

diz  buch  ne  wirt  nimmer  vollenbracht, 

de  wile  diu  werlt  stat: 

so  vile  Wirt  kunstiger  dat  — 

des  müz  diu  rede  nu  bliven. 

Ich  ne  kan  nicht  scriven, 
daz  noch  gescen  sol; 
mir  genügit  hiran  wol. 

Swer  so  leve  vorebaz, 
swaz  dan  gesche,  der  scrive  daz 
unde  achtbare  warheit. 
Logene  sal  uns  wesen  leit. 
Daz  ist  des  van  Repegouwe  rat. 

Es  ist  eine  viel  umstrittene  Frage,  wer  dieser  van  Repe- 
gouwe ist,  der  hier  den  Rat  erteilt,  nur  achtbare  Wahrheit 
als  Geschichte  aufzuzeichnen.  Noch  der  letzte  Herausgeber 
der  Sächsischen  Weltchronik  in  den  Monumenta  Germaniae 
historicä^)  hat  sich  mit  gewichtigen   Gründen  dafür  aus- 

2U  erkennen  glaubte.  Den  überzeugenden  Nachweis  der  Autorschaft 
Elkes  hat  uns  vor  kurzem  die  aus  Roethes  Schule  hervorgegangene 
Dissertation  von  H.  Ballschmiede  gebracht. 

So  scheint  mir  der  Zeitpunkt  gegeben,  einmal  zusammenzustellen, 
was  wir  über  die  Persönlichkeit  des  Verfassers  des  Sachsenspiegels  und 
der  Sächsischen  Weltchronik  erschließen  können.  Natürlich  kann  es 
sich  nur  um  einen  Versuch  handeln;  wer  Elkes  Bild  zu  zeichnen  unter- 
nimmt, wird  im  allgemeinen  über  Vermutungen  nicht  hinauskommen. 

1)  Deutsche  Chroniken  II,  1.    Hannover  1877  (Weiland). 


Eike  von  Repgow.  389 

gesprochen,  daß  allenfalls  die  Reimvorrede  Eike  zugeschrie- 
ben werden  kann,  daß  aber  die  Weltchronik  nicht  von  Eike, 
sondern  von  einem  seiner  Blutsverwandten,  einem  Geistlichen, 
und  vielleicht  unter  Eikes  Auspizien  abgefaßt  worden  ist. 
Heute  brauchen  wir  nicht  mehr  an  Eikes  Autorschaft  zu 
zweifeln.  Für  sie  ist  als  erster  K.  Zeumer  vor  sechs  Jahren 
wieder  eingetreten^);  und  was  der  feinsinnige  Historiker 
hier  vorgeschaut,  das  hat  dann  hinterher  die  philologische 
und  germanistische  Untersuchung^)  glänzend  bestätigt.  So 
sehen  wir  denn  in  Eike  nicht  nur  den  Verfasser  des  Sachsen- 
spiegels, wir  sehen  in  ihm  auch  den  Autor  des  ersten  größeren 
in  deutscher  Sprache  geschriebenen  Geschichtswerks,  der 
Sächsischen  Weltchronik. 

Zwei  Werke  also,  in  ihrer  Art  bahnbrechend,  geben  uns 
den  Begriff  von  der  bedeutenden  Persönlichkeit,  die  hinter 
ihnen  steht;  wir  sehen  wohl  die  unvergängliche  Spur  von 
seinen  Erdentagen,  die  wir  bewundernd  verfolgen;  er  selber 
aber,  Eike  von  Repgow,  ist  unseren  Blicken  entschwun- 
den wie  eine  Lichterscheinung,  die  zu  zerfließen  droht, 
wenn  wir  sie  zu  erfassen  suchen. 

Und  doch  wird  uns  das  Wagnis  vielleicht  gelingen, 
Eikes  Schatten  einmal  zu  bannen,  wenn  wir  seine  Werke 
aufschlagen   und   sie   durchforschen   nach   den    Selbstzeug- 

^)  Die  Sächsische  Weltchronik,  ein  Werk  Eikes  v.  Repgow.  Fest- 
schrift, Heinrich  Brunner  zum  siebzigsten  Geburtstag  dargebracht. 
Weimar  1910,  S.  135—174. 

2)  H.  Ballschmiede,  Die  Sächsische  Weltchronik.  Dissert.  Berlin 
1914.  B.  weist  mit  Erfolg  nach,  daß  die  von  Weiland  seiner  Ausgabe 
zugrunde  gelegte  C-Gruppe  der  Handschriften  sich  von  der  Urfassung 
am  weitesten  entfernt.  Die  C-Fassung  stellt  eine  auf  Veranlassung 
des  Weifenhauses  und  den  Interessen  der  Dynastie  entsprechende  Um- 
arbeitung dar.  Auch  die  sog.  B-Rezension  enthält  Zusätze,  die  sich 
auf  norddeutsche,  besonders  Bremer  und  Hamburger  Verhältnisse  be- 
ziehen. Auf  sie  geht  vor  allem  die  bekannte  Predigt  c.  76  zurück,  die 
bisher  der  Autorschaft  Eikes  am  meisten  im  Wege  stand.  Die  kürzeste 
Fassung  bieten  die  Hss.  1 — 12  (A-Gruppe),  in  denen  die  Chronik  mit 
den  Jahren  1225  und  1230  schließt.  Auch  die  A-Rezension  weist  einige 
Zusätze  auf,  besonders  die  gegen  Kaiser  Heinrich  IV.  gerichteten  Ver- 
leumdungen. Die  nicht  erhaltene  Originalrezension  der  Sächsischen 
Weltchronik  Eikes  hatte  die  gereimte  Vorrede,  ihr  fehlten  die  Predigt 
und  die  Zusätze  über  Heinrich  IV.,  sowie  das  Märtyrerverzeichnis 
c.  73  und  noch  einiges  andere.    Eikes  Chronik  schloß  mit  c.  366. 


390  Walter  Möllenberg, 

nissen  persönlichster  Art,  die  darin  enthalten  sein  könnten. 
Da  werden  wir  freilich  die  Blätter  oftmals  hin-  und  her- 
wenden müssen.  Es  ist  nicht  Eikes  Art,  von  sich  selber 
zu  reden;  hinter  allem,  was  er  schreibt  über  Menschen,  Zeiten 
und  Dinge,  tritt  er  mit  seinem  eigenen  Ich  so  bescheiden 
zurück,  daß  nur  ein  geschärftes  Ohr  den  leisen  persönlichen 
Unterton  heraushört. 

Wir  kennen  weder  Tag  und  Jahr  von  Eikes  Geburt, 
noch  die  Zeit  und  den  Ort  seines  Todes.  In  den  Urkunden 
tritt  er  zuerst  im  Jahre  1209  auf;  als  Zeuge  einer  gericht- 
lichen Beurkundung  war  er  damals  bereits  in  seinen  Mannes- 
jahren. Im  Jahre  1233  weilt  er  noch  unter  den  Lebenden; 
es  ist  die  letzte  beglaubigte  Nachricht,  die  wir  über  ihn 
besitzen.  Stand  er  in  den  zwanziger  Jahren  des  Jahrhun- 
derts, als  er  den  Sachsenspiegel  und  die  Weltchronik  voll- 
endete, auf  der  Höhe  seines  Schaffens,  so  werden  wir  an- 
nehmen dürfen,  daß  er  spätestens  ums  Jahr  1180  geboren 
wurde.    Gestorben  ist  er  wohl  bald  nach  dem  Jahre  1233. 

Über  Eikes  Vorfahren  ist  wenig  bekannt.  Die  Familie^) 
muß,  nach  der  Vorrede  des  Sachsenspiegels:  Von  der  Herren 
Geburt  zu  schließen,  altsächsischen  Ursprungs  sein.  Als  die 
deutsche  Kolonisation  die  mittlere  Elbe  und  die  untere  Saale 
und  Mulde  erreichte,  ist  sie  in  den  wendischen  Gau  Seri- 
munt  eingewandert.  Hier  liegt,  unweit  von  Aken,  das  Stamm- 
gut Reppichau,  von  dem  sie  seitdem  ihren  Geschlechtsnamen 
führte.  Die  ersten  Träger  dieses  Namens  begegnen  uns  in 
einer  Urkunde  vom  Jahre  1156:  Eyco  und  Arnolt  de  Rype- 
chowe;  neben  beiden  erscheint  im  Jahre  1159  noch  ein  Mar- 
quard  v.  Reppichau;  und  in  einem  dieser  drei  werden  wir 
den  Vater  oder  Großvater  unseres  Eike  zu  sehen  haben. 

Eike  verleugnet  sich  nirgends  als  ein  Kind  seiner  Hei- 
mat. Daß  in  einer  Weltchronik  Orte  wie  Aken,  Calbe, 
Lippehne,  Gatersleben,  Sommerschenburg,  Remkersleben, 
Zörbig  auftauchen  können,  verstehen  wir  erst,  wenn  wir 
uns  klarmachen,  daß  Eike,  der  Verfasser  der  Sächsischen 
Weltchronik,  hier  auf  heimatlichem  Boden  steht. 

^)  über  die  Vorfahren  und  das  Folgende  überhaupt  vgl.  F.  Winter, 
Eiko  von  Repgow  und  der  Sachsenspiegel.  Forschungen  zur  Deut- 
schen Geschichte,  Bd.  14  (1874),  S.  305  ff. 


Elke  von  Repgow.  391 

Über  Elkes  Jugend  breitet  sich  noch  immer  ein  Dunkel, 
und  für  Vermutungen  ist  darum  der  Spielraum  frei.  So 
steht  es  z.  B.  für  Zeumer  fest,  daß  Eike  in  den  geistlichen 
Stand  eingetreten  ist  und  jedenfalls  von  vornherein  zum 
Geistlichen  bestimmt  war.  Er  schließt  dies  vor  allem  aus 
der  gelehrten  Bildung,  deren  Spuren  in  Eikes  Werken  un- 
verkennbar sind,  eine  Bildung,  wie  sie  im  allgemeinen  da- 
mals nur  das  Kloster  oder  die  Domschule  vermitteln  konnte. 
Dazu  gehören  die  Kenntnis  der  lateinischen  Sprache  und  die 
Vertrautheit  mit  der  biblischen  Geschichte  und  im  beson- 
deren mit  der  Vulgata  und  mit  der  Historia  scholastica  des 
Petrus  Comestor.  Die  Stelle  des  Sachsenspiegels  (I  25,  2), 
daß  ein  als  Kind  dem  Kloster  Geweihter,  der  nach  erlangter 
Mündigkeit  das  Kloster  wieder  verläßt,  sein  Lehnrecht  und 
Landrecht  behält,  und  daß  auch  dem  Erwachsenen  nach 
dem  Novizenjahr  der  Austritt  aus  dem  Kloster  noch  offen 
steht,  wobei  die  Regel  der  Graumönche,  der  Zisterzienser, 
zum  Beweis  herangezogen  wird,  möchte  Zeumer  als  ein 
persönliches  Erlebnis  Eikes  ausdeuten,  der  vielleicht  als 
Kind  „gemonkt"  und  zwar  in  ein  Zisterzienserkloster  ge- 
bracht worden  sei,  wo  er  für  den  geistlichen  Beruf  vor- 
bereitet wurde.  Als  er  mündig  geworden,  sei  er  dann  wieder 
,, ausgefahren"  und  habe  sich  dadurch  Landrecht  und  Lehn- 
recht gewahrt.  In  der  tiefen  Religiosität  der  Reimvorrede, 
in  der  theologischen  Färbung  des  sog.  Prologus  zum  Sachsen- 
spiegel und  des  Textus  Prologi  und  in  der  Verdammung  der 
Unfreiheit  durch  das  göttliche  Recht  sieht  Zeumer  eine 
Nachwirkung  der  geistlichen  Erziehung,  die  Eikes  Gedanken- 
welt beherrschte  und  seinen  Gefühlen  die  Prägung  gab, 
auch  als  er  wieder  im  Weltleben  stand. 

Um  es  gleich  hier  zu  sagen:  Zeumer  kommt  aus  dieser 
Anschauung  heraus  zu  der  weiteren  Überzeugung,  daß  Eike 
am  Ende  seines  Lebens  in  das  Kloster  zurückgekehrt  ist, 
wo  er  in  seiner  stillen  Zelle  die  Sächsische  Weltchronik 
schrieb  und  sein  Leben  beschloß.  Es  findet  sich  in  der 
Weltchronik  bei  Erwähnung  des  Kaisers  Konstantin  ein 
predigtartiger  Rückblick  auf  die  ersten  drei  Jahrhunderte 
des  Christentums,  ,,die  reine  Kindheit  der  heiligen  Christen- 
heit", den  allerdings  nur  ein  Geistlicher  geschrieben  haben 


392  Walter  Möllenberg, 

kann.  Der  Prediger  gebraucht  selber  den  Ausdruck:  we 
geistliken  lüde;  er  spricht  hier  zu  seinen  geistlichen  Ge- 
nossen, denen  er  einen  Spiegel  vorhalten  will.  Diese  Predigt 
ist  es  vor  allem  gewesen,  an  der  man  sich  stieß,  wenn  es 
galt,  die  Frage  zu  untersuchen,  ob  Eike  der  Verfasser  der 
Weltchronik  sein  könnte.  Aber  wir  wissen  heute,  daß  die 
ganze  Predigt  eine  spätere  Einschiebung  ist;  Eike  kann  gar 
nicht  der  Prediger  gewesen  sein.  Auch  ist  die  Chronik  bereits 
ums  Jahr  1225  von  Eike  abgeschlossen;  da  er  noch  1233 
als  Laie  bezeugt  ist,  so  kann  er  die  Chronik  nicht  als  Geist- 
licher geschrieben  haben. 

Und  wie  steht  es  mit  der  Erziehung  zum  geistlichen 
Stande?  Da  ist  zuerst  die  sog.  gelehrte  Bildung  Eikes. 
Man  kann  ihm  allerdings  die  Kenntnis  des  Lateinischen 
nicht  absprechen,  hat  er  doch  nach  seiner  eigenen  Angabe 
den  Sachsenspiegel  zuerst  lateinisch  abgefaßt  und  ihn  danach 
erst  ins  Deutsche  übertragen.  Wir  kennen  freilich  die  latei- 
nische Urfassung  des  Sachsenspiegels  nicht:  wir  haben 
mehrere  hundert  Handschriften  des  deutschen  Sachsen- 
spiegels, aber  seltsamerweise  nicht  eine  einzige,  die  uns 
diese  lateinische  Urfassung  überliefert.  Die  lateinische  Ur- 
fassung ist  spurlos  verschwunden.  Das  kann  nicht  reiner 
Zufall  sein;  Eike  selber  gibt  uns  den  Schlüssel  dazu.  Ane 
helphe  und  ane  lere  hatte  er  das  lateinische  Rechtsbuch 
ausgearbeitet,  des  ime  was  vil  ungedacht,  wie  er  ehrlich  ein- 
gesteht. Man  hat  diese  Verse  der  Reimvorredei)  bisher  oft 
und  seltsam  mißverstanden^).  Eike  wollte  nichts  anderes 
damit  sagen,  als  daß  die  erste  lateinische  Fassung  des 
Sachsenspiegels  ein  öffentlicher  Mißerfolg  gewesen  ist,  da 
er  das  Buch  ohne  eigentliche  Gelehrsamkeit  im  Lateini- 
schen und  ohne  Beihilfe  zu  schreiben  unternommen  habe. 
Der  Mißerfolg  veranlaßte   ihn,   den   lateinischen    Sachsen- 


0  Rvrde.  z.  Ssp.  V.  273—75. 

^)  So  Philippi  in  seinem  Aufsatz:  Ist  der  Sachsenspiegel  ur- 
sprünglich in  lateinischer  Sprache  verfaßt?  MJÖG  XXX,  S.  401—411. 
Gegen  den  Versuch  Philippis,  die  Existenz  eines  dem  deutschen  Sachsen- 
spiegel voraufgehenden  lateinischen  Rechtsbuchs  Eikes  zu  bestreiten, 
wendet  sich  K.  Zeumer  in  der  Festschrift  für  O.  Gierke  (Weimar  1911, 
S.  455—474). 


Eike  von  Repgow.  391 

Spiegel  völlig  zurückzuziehen,  vielleicht  hat  er  selber  das 
Buch  aus  Verdruß  über  die  nicht  ganz  unberechtigte  Kritik 
vernichtet.  Uns  fehlt  infolgedessen  die  Möglichkeit,  Elkes 
Kenntnisse  im  Lateinischen  nachzuprüfen.  Im  deutschen 
Sachsenspiegel  hat  er  jede  Spur  der  lateinischen  Urfassung 
getilgt,  und  die  gerühmte  richtige  Flexion  der  lateinischen 
Eigennamen  in  der  Weltchronik  reicht  zu  einer  Nachprüfung 
nicht  aus,  wenn  es  überhaupt  noch  einer  besonderen  Nach- 
prüfung bedarf. 

Und  wie  mit  der  angeblichen  Gelehrsamkeit  im  Lateini- 
schen, so  ist  es  mit  Elkes  Kenntnis  gelehrter  Werke,  die  er 
zitiert.  Entscheidend  ist  nicht,  daß  er  sie  zitiert,  entschei- 
dend ist  allein,  wie  er  sie  benutzt.  Da  sei  nur  an  die  Sachsen- 
spiegelstelle (I  3,  1)  erinnert,  wo  aus  den  origines  Isidors  ein 
Origenes  gemacht  wird,  eine  fatale  Verwechslung,  die  wir 
dem  Spiegier  nicht  groß  ankreiden  wollen,  die  aber  ein 
Schlaglicht  werfen  könnte  auf  seine  dilettantischen  Kennt- 
nisse oder  auf  seine  den  Dilettanten  verratende  Methode, 
nicht  auf  die  Werke  selber  zurückzugehen,  sondern  sich  mit 
Zitaten  aus  zweiter  oder  dritter  Hand  zu  begnügen. 

Es  ist  richtig,  daß  im  Mittelalter  die  Geistlichen  die 
hauptsächlichen  Vertreter  der  gelehrten  Bildung  waren,  aber 
soviel  sehen  wir  jetzt,  daß  Elkes  gelehrte  Bildung  nicht 
ausreicht,  ihn  eben  seiner  Gelehrsamkeit  wegen  zum  Geist- 
lichen zu  stempeln.  Auch  den  Laien  höherer  Kreise  man- 
gelte in  jener  Zeit  nicht  alle  Bildung.  Lebende  Sprachen, 
besonders  Französisch,  Religion,  die  Kunst,  sich  höfisch, 
d.  h.  gebildet,  zu  benehmen,  Unterweisung  in  der  Waffen- 
führung und  Körperübungen,  das  ist  ihr  typischer  Bildungs- 
gang.^) Wie  weit  er  führen  konnte,  zeigt  allein  schon  das 
Beispiel  eines  Wolfram  v.  Eschenbach.  Die  lateinische 
Sprache  war  keineswegs  ganz  ausgeschlossen.  Warum  soll 
man  nicht  annehmen  dürfen,  daß  Eike  als  Knabe,  ohne 
„gemöncht"  worden  zu  sein,  eine  Zeitlang  am  Unterricht 
einer  Kloster-  oder  Domschule  teilgenommen  oder  den 
Unterricht  eines  Geistlichen  genossen  hat?  Etwa  in  Magde- 
burg oder  in  der  damals  in  besonderem  Ansehen  stehenden 

*)  Alwin  Schulz,  Höfisches  Leben  zur  Zeit  der  Minnesinger,  Bd.  1. 
Vgl.  Philipp!  a.  a.  O. 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  26 


394  Walter  Möllenberg, 

Schule  des  Paulsstifts  in  Halberstadt,  aus  der  zwei  Magde- 
burger Erzbischöfe  hervorgegangen  sind,  Wichmann  und 
Ludolf,  beide  ältere  Zeitgenossen  Eikes?i) 

Noch  vieles  spricht  dagegen,  in  Eike  ausgesprochener- 
maßen einen  verpfuschten  Theologen  zu  sehen.  Hinter 
seinem  Interesse  an  dem  Land-  und  Lehnrecht  tritt  das 
kanonische  Recht  völlig  in  den  Hintergrund;  die  kirchlichen 
Dinge  können  unmöglich  im  Mittelpunkt  seiner  Gedanken- 
kreise gestanden  haben.  Ja,  er  befindet  sich  geradezu  im 
Gegensatz  zu  der  kirchlichen  Anschauung  des  Mittelalters. 
Eine  päpstliche  Bulle  (Gregor  X I. :  Salvator  generis  humani) 
hat  nicht  weniger  als  14  Artikel  des  Sachsenspiegels  ver- 
dammt und  ein  Augustinermönch  Johannes  Kienkok  eine 
Streitschrift  gegen  den  Sachsenspiegel  geschrieben.  2)  Lassen 
wir  den  Verfasser  der  Weltchronik  nun  noch  für  sich  selber 
zeugen.  Van  sante  Petere  want  an  disen  paves  —  so  sagt 
er  einmal  —  waren  mer  dan  negentich  pavese,  de  waren  alle 
uterkorene  lüde;  se  helden  up  der  weit  vor  gode  mit  erer  gude, 
mit  erer  lere.  Sider  wurden  se  ettelike  wandelbare.  Dat  gescha 
darvan,  alse  man  sprikt:  Alse  dem  manne  wasset  sin  gut,  so 
wasset  oc  ime  sin  mut  (c.  131).  Oder  wenn  er  sich  als  Histo- 
riker über  die  angebliche  Konstantinische  Schenkung  äußert: 
dat  ne  wet  ich,  wo  dat  mochte  sin,  wände  sin  (Konstantins) 
sone  unde  mer  dann  drittich  keisere  hadden  de  stad  (Rom) 
an  des  rikes  gewalt  mer  dan  dreehundert  jar  wände  an  des 
koning  Pippines  tiden  (c.  78).  Oder  wenn  er  nach  der  Schil- 
derung der  Leiden  der  christlichen  Märtyrer  den  Ausspruch 
tut:  Wogedan  Ion  si  van  godde  hebten,  dat  wet  got  alene.  It 
hadde  jedoch  betere  wesen,  dat  si  de  afgode  angebedet  hadden. 
Kann  ein  Mann,  der  es  für  erlaubt,  ja  für  vernunftgemäß 
erklärt,  seinen  Christenglauben,  wenn  auch  nur  in  der  höch- 
sten Not,  zu  verleugnen,  in  einer  Gedankenwelt  leben,  die 
durch  eine  ausgeprägt  geistliche  Erziehung  beeinflußt  wor- 
den ist? 


^)  F.  Kohlmann,  Erzbischof  Ludolf  von  Magdeburg,  sein  Leben 
und  seine  politische  Tätigkeit.    Diss.  Halle  1885,  S.  7. 

2)  H.  Böhlau,  Zur  Chronologie  der  Angriffe  Kienkoks  wider  den 
Sachsenspiegel.  Zschr.  d.  Savigny-Stift.  f.  Rechtsgesch.,  4.  Bd.,  Germ. 
Abt.    Weimar  1883,  S.  118—129. 


Elke  von  Repgow.  395 

Trotz  laienmäßiger  Bildung  erhebt  sich  Eike  von  Repgow 
weit  über  die  große  Masse  seiner  Standesgenossen.  Ein  un- 
bezähmbarer Wissensdrang  mag  ihn  schon  früh  zu  eigenen 
Studien  getrieben  haben.  Preist  er  doch  laut  das  Hören 
guter  Lehre  und  das  Lesen  in  den  buken,  dar  men  de  war- 
heit  suchen  mach  unde  bevinden.^)  Nicht  nur  die  biblischen 
Geschichten,  die  Geschichtschreiber  der  deutschen  Vergangen- 
heit und  juristische  Bücher  zogen  ihn  an,  auch  die  zeitgenös- 
sische Poesie  blieb  ihm  nicht  unbekannt.  Anklänge  an  Hart- 
manns Erec  und  Iwein,  an  Moritz  von  Craon,  an  den  Tristan 
Gottfrieds  von  Straßburg^)  und  an  ein  Lehrgedicht  des 
Pfaffen  Werner  von  Elmendorf^),  die  man  in  den  Versen 
seiner  Reimvorreden  herausgefunden  hat,  geben  uns  eine 
Ahnung  davon,  wie  ausgedehnt  die  Lektüre  war,  die  er 
pflegte.  Dazu  kommt,  wie  sich  nachweisen  läßt,  Walther 
von  der  Vogelweide*),  neben  Wolfram  v.  Eschenbach  der 
größte  Poet  des  Mittelalters,  zu  dem  Eike  mehrfach  in 
persönliche  Beziehung  treten  konnte.  Eine  erste  Gelegenheit 
dazu  mag  sich  auf  dem  großen  Hoftag  gefunden  haben,  den 
König  Philipp  von  Schwaben  Weihnachten  des  Jahres  1199 
in  Magdeburg  abhielt. 


1)  Rvrde.  z.  S.  Weltchronik. 

2)  R.  Schröder,  Bemerkungen  zu  der  Persönlichkeit  des  Eike  v. 
Repkow.  Zschr.  d.  Savigny-Stift.  f.  Rechtsgesch.,  1.  Bd.,  Germ.  Abt. 
Weimar  1880,  S.  227. 

*)  G.  Roethe,  Die  Reimvorreden  des  Sachsenspiegels.  Abhand- 
lungen der  Kgl.  Ges.  der  Wiss.  zu  Göttingen.  Philolog.-hist.  KL, 
N.  F.,  Bd.  2,  Nr.  8.    Berlin  1899. 

*)  Von  der  unten  erwähnten,  an  sich  allein  noch  nicht  beweis- 
kräftigen Stelle  in  der  S.  Weltchr.  über  den  Hoftag  zu  Magdeburg  ab- 
gesehen, finde  ich  z.  B.  eine  flagrante  Übereinstimmung  zwischen 
Ssp.  III  63,  1:  Constantin  de  koning  gaf  deme  pavese  Süvestre  .  . .  und 
S.  Weltchr,  c.  78  (S.  118,36):  He  gaf  oc  dem  pavese  ...  und  Walter 
(Ausgabe  K.  Lachmann)  25,  11:  Künc  Constantin  der  gap  so  vil  .  .  . 
Über  die  Verwandtschaft  der  ersten  Reimvorrede  zum  Ssp.  zu  Wal- 
ter 18,  1 — 14  s.  u.  Walters  Aufenthalt  bei  Markgraf  Dietrich  von 
Meißen  und  seine  Beziehungen  zu  Landgraf  Ludwig  von  Thüringen 
machen  ein  mehrfaches  Zusammentreffen  mit  Eike  immerhin  wahr- 
scheinlich. Ein  direkter  Beweis  läßt  sich  dafür  natürlich  nicht  er- 
bringen. 

26* 


396  Walter  MöUenberg, 

Man  kann  sich  vorstellen,  daß  dieser  Hoftag  überhaupt 
im  Leben  des  späteren  Spieglers  und  Geschichtschreibers  von 
tieferer  Bedeutung  gewesen  ist.  Hier  vielleicht  zum  ersten 
Male  tat  sich  vor  ihm  die  große  Welt  auf,  die  Welt  der 
Könige,  die  Welt  der  geistlichen  und  der  Laienfürsten,  der 
Fahnenlehen  und  Heerschilde,  eine  Welt,  die  ihn  seither  in 
ihrem  Banne  festgehalten  hat.  Ein  Schaugepränge  seltenster 
Art  bot  sich  der  von  Fern  und  Nah  herbeigeströmten  Menge 
dar,  als  der  König  am  Weihnachtstage  in  feierlichem  Geleit 
zum  Dom  zog,  geschmückt  mit  dem  kaiserlichen  Diadem, 
das  Reichszepter  in  der  Hand.  Ihm  vorauf  schritt  der  Herzog 
Bernhard  von  Sachsen  mit  dem  Reichsschwert,  hinter  dem 
König  die  Königin  Irene,  die  liebliche  griechische  Kaiser- 
tochter, geführt  von  der  Quedlinburger  Domina,  der  Äbtissin 
Agnes,  und  von  Jutta,  der  Gemahlin  Herzog  Bernhards,  und 
im  Gefolge  des  Herrscherpaares  die  anwesenden  Bischöfe  in 
großem  Ornat,  die  Fürsten,  Grafen,  Barone  und  was  sonst 
noch  zum  Hoftag  entboten  war  oder  sich  eingefunden  hatte, 
darunter  der  landfahrende  Sänger  und  Poet  Herr  Walther, 
der  das  Fest  in  begeisterten  Worten  besingt: 

Ez  gierte  eins  tages,  als  unser  herre  wart  geborn 

von  einer  maget,  dier  im  ze  muoter  hat  erkorn, 

ze  Megdeburc  der  künec  Philip pes  schone. 

Da  gienc  eins  keisers  bruoder  und  eins  keisers  kint 

in  einer  wat,  swie  doch  die  namen  drige  sint: 

Er  truoc  des  riches  zepter  und  die  kröne. 

Er  trat  vil  lise,  im  was  niht  gach: 

im  sleich  ein  hohgeborniu  küneginne  nach, 

ros  ane  dorn,  ein  tube  sunder  galten. 

Diu  zuht  was  niener  anderswa: 

die  Düringe  und  die  Sahsen  dienten  also  da, 

daz  ez  den  wisen  muoste  wol  gevallen. 

Auch  Eike  hat  den  Eindruck  dieses  großen  Tages  fest- 
gehalten, kurz  und  knapp  auf  seine  Art,  und  was  er  in  der 
Weltchronik  erzählt  von  König  Philipp  und  dem  groten  hof 
to  Maideburch,  dar  he  krönet  ging  mit  sinem  wive,  das  scheint 
die  Worte  des  Sängers  wieder  aufzunehmen:  es  gienc  eins 
tages  .  .  .  und  den  schönen  Spruch,  den  Herr  Walther  der 
alten  Krone  und  den  echten  Reichsinsignien  weiht,  die  wie 
zu  einer  ,, Augenweide"  mit  ihren  Trägern  vor  dem  ehr- 
furchtsvoll staunenden  Volk  vorüberzogen.  — 


Eike  von  Repgow.  397 

Überschauen  wir  an  dieser  Stelle,  wo  wir  den  jungen 
Eike  eintreten  sehen  in  die  große  Arena,  die  seine  Welt  wer- 
den sollte,  einmal  den  großen  geschichtlichen  Hintergrund, 
auf  dem  sich  sein  Leben  abspielt.  Bis  in  die  Zeiten  Friedrich 
Barbarossas  müssen  wir  unsere  Blicke  zurückschweifen  lassen. 
Was  von  Kaiser  Rotbarts  Kriegstaten  und  Romfahrten  und 
von  seinem  Kreuzzug  ins  heilige  Land  heimkehrende  Ritter 
und  Knappen  zu  erzählen  wußten,  das  mag  noch  das  Knaben- 
herz Eikes  begeistert  haben.  Die  machtvolle  Kaiserzeit  hat 
in  der  Weltchronik  ihre  gebührende  Würdigung  erfahren, 
und  es  klingt  wie  eine  Erinnerung  aus  der  Jugend,  wenn 
der  Chronist  den  Bericht  über  den  tragischen  Tod,  den  der 
Kaiser  auf  seinem  Kreuzzug  im  Flusse  Saleph  fand,  mit 
den  Worten  begleitet:  do  ward  grot  jamer  in  der  cristenheit. 
In  Eikes  reifere  Jugendjahre  fällt  die  Regierungszeit  Kaiser 
Heinrichs  VI.,  eine  kurze  Glanzperiode  des  Kaisertums,  aber 
ohne  nachhaltige  Bedeutung  für  Deutschland,  voll  Unruhe 
und  Streit.  Wie  wenig  Anklang  dieser  glänzende  Vertreter 
der  imperialistischen  Ideen  mit  seinen  Hoffnungen  und  Ent- 
würfen bei  seinen  Deutschen  gefunden  hat,  dafür  ist  Eike 
ein  beredter  Zeuge,  der  ihn  mit  unverhohlener  Abneigung 
behandelt.  Den  großartigen  Plan  Heinrichs,  das  Wahlreich 
in  eine  Erbmonarchie  zu  verwandeln  und  den  Mißerfolg  des 
Kaisers  kann  er  nur  mit  ironischem  Beigeschmack  erzählen: 
Do  de  keiser  sie  verevenet  hadde  mit  den  vorsten,  he  bat  se, 
dat  se  wolden  geloven,  dat  dat  rike  erfde,  alse  andere  koning- 
rike  dot.  Dat  geloveden  se  unde  gaven  ime  des  hantveste.  Do 
dit  de  Sassen  vernamen,  it  versmade  in  sere  unde  makeden 
grote  degeding  uppe  den  keiser e.  Do  dat  de  keiser  ver- 
nam,  he  hadde  angest  vor  in  unde  let  de  vorsten  ledich 
eres  gelovedes  unde  sande  in  ere  hantveste  weder  in  dat  selve 
grote  degeding.  Die  Sachsen,  das  stellt  der  Chronist  hier 
triumphierend  fest,  haben  das  alte  Herkommen  gerettet, 
das  Herkommen,  das  der  Jurist  im  Sachsenspiegel  in  dem 
Rechtssatz  zusammenfaßt:  Die  düdeschen  solen  durch  recht 
den  koning  kiesen  (III  52,  1). 

Die  nun  folgende  Zeit  des  Kampfes  zwischen  Weifen 
und  Staufern,  die  Zeit  des  Doppelkönigtums,  hat  Eike,  der 
inzwischen   zu   seinen   Jahren  gekommen   war,   voll  reger 


398  Walter  Möllenberg, 

Anteilnahme  miterlebt.  Von  den  beiden  Gegenkönigen  er- 
greift er  zunächst  die  Partei  des  Staufers  Philipp  von  Schwa- 
ben, nach  dessen  1208  erfolgter  Ermordung  erkennt  er  gern 
und  willig  den  Weifen  Otto  IV.  an  und  bleibt  ihm  auch 
treu,  als  dem  Weifen  in  Friedrich,  dem  jungen  Sohne  Hein- 
richs VI.,  ein  Nebenbuhler  ersteht.  Erst  von  Ottos  Tode 
(1218)  datiert  er  die  eigentliche  Regierung  Friedrichs  II., 
der  nun,  wie  er  nicht  ohne  Befriedigung  verzeichnet,  ein 
koning  ane  werren  (c.  357)  ist. 

Das  weltgeschichtliche  Ringen  zwischen  den  geistlichen 
und  weltlichen  Gewalten,  das  hundert  Jahre  vor  Eikes  Ge- 
burt unter  Kaiser  Heinrich  IV.  durch  Papst  Gregor  VII. 
entfesselt  worden  war,  findet  in  Eike  einen  objektiven  Histo- 
riker (c.  179).  Seine  Anschauung  hierüber  hat  er,  wie  be- 
kannt, auch  im  Sachsenspiegel  niedergelegt  in  der  Zwei- 
schwertertheorie: Tvei  swert  lit  got  in  ertrike  to  bescermene 
de  kristenheit:  deme  pavese  is  gesät  dat  geistlike,  deme  keisere 
dat  wertlike  (I,  1).  In  kirchenpolitischen  Dingen  ist  Eike 
vorsichtig  und  zurückhaltend,  aber  so  sehr  er  bestrebt  ist, 
die  weltlichen  und  geistlichen  Gewalten,  beide  von  Gott 
eingesetzt  und  bestimmt,  sich  zu  ergänzen,  gerecht  gegen- 
einander abzuwägen  (Ssp.  II  u.  III  63,  1),  so  entschieden 
denkt  und  fühlt  er  im  Herzen  kaiserlich.  Kaum  nimmt  er 
Notiz  von  dem,  der  sich  damals  „als  das  natürliche  Ober- 
haupt der  Welt"  ansah,  von  dem  großen  Papst  Innocenz, 
der  in  den  Wirren  dieser  Zeit  eine  so  überragende  Stellung 
einnahm.  Er  vermerkt  wohl,  wie  beiläufig  nur,  seine  Wahl 
in  der  Weltchronik  und  seine  Parteinahme  für  Otto  und 
gegen  Philipp,  sowie  die  spätere  Bannung  auch  Kaiser  Ott.s, 
aber  man  hört  aus  dem  Chronisten  den  Spiegier  sprechen, 
der  den  Rechtssatz  aufstellt:  Ban  scadet  der  sele  unde  ne 
nimt  doch  niemanne  den  lif,  noch  ne  krenket  niemanne  an 
lantr  echte  noch  an  lern  echte  (III  63,2).  Nur  der  Jurist  ist 
interessiert,  als  der  Chronist  die  bedeutsame  vierte  Lateran- 
synode des  Jahres  1215  aufzeichnet:  aber  sein  Interesse  gilt 
nicht  einmal  ihrem  eigentlichen  Ergebnis,  der  Zusammen- 
fassung der  kirchlichen  Ordnungen  in  70  Kanones;  allein 
die  Abänderung  des  kanonischen  Verwandtschaftsrechts,  die 
sich  mit  der  im  Sachsenspiegel  aufgestellten  Theorie  über 


Eike  von  Repgow.  399 

die  Sippezahl  (I  3,  3)  berührt,  vermag  seine  Aufmerksam- 
keit zu  erregen. 


Die  Repgows  besaßen,  wie  sich  nachweisen  läßt,  in  der 
Stadt  Magdeburg  ein  eigenes  Haus.^)  Es  könnte  reizvoll 
erscheinen,  Eikes  Beziehungen  zu  Magdeburg,  die  sicher 
mannigfach  gegeben  waren,  sich  weiter  auszumalen.  Wir 
wissen  nichts  darüber.  Aber  das  sehen  wir  doch,  daß  Eike 
weder  Stadtkind  noch  Stadtbürger,  sondern  ganz  und  gar 
ein  Sohn  des  platten  Landes  ist.  Nicht  Stadtrecht  will  er 
im  Sachsenspiegel  aufzeichnen,  nur  das  Recht,  das  die 
Schöffen  im  Landding  finden,  wo  an  den  uralten  Stätten 
nach  der  Väter  Brauch  der  Graf  unter  Königsbann  richtet. 
Das  spezifisch  Bäuerliche  ist  es,  das  uns  im  Sachsenspiegel 
ins  Auge  fällt.  Ländliche  Dinge  wie  Pflug,  word  (Hofstatt), 
mesgrepe  (Mistgabel),  swinkove  (Schweinestall)  u.  ä.  zeigen 
uns  das  Milieu,  dem  der  Spiegier  entstammt^),  und  was 
ihn  sonst  noch  näher  kennzeichnet,  das  ist  ritterliches  Wesen: 
Burgen,  Schwert,  Schild  und  Harnisch,  Streitroß  und  Zwei- 
kampf. Sicher  war  es  seine  Freude,  mit  Armbrust  und 
Köcher  durch  Wald  und  Feld  zu  reiten,  die  Bracken  und 
Windhunde  an  der  Koppel,  und  dann  in  fröhlicher  Hatz 
das  Wild  zu  jagen  und  das  Hifthorn  zu  blasen,  wovon  er 
mit  waidmännischem  Verständnis  und  mit  fast  poetischer 
Anschaulichkeit  mitten  im  Sachsenspiegel  eine  Schilderung 
gibt  (II  61). 

Noch  fehlt  uns  ein  rechter  Begriff  von  dem  Stand, 
in  dem  Eike  geboren  ist  und  gelebt  hat.  Die  Antwort  hier- 
auf ist  nicht  leicht;  die  Frage  bedingt,  daß  wir  ein,  wie 
es  scheint,  fast  unlösbares  Problem  berühren,  das  der  Spiegier 
selber  bei  seiner  Darstellung  der  Standesverhältnisse  uns 
aufgegeben  hat. 

In  seiner  bekannten  Heerschildordnung  (13)  unterscheidet 
er  sieben  Abstufungen:  den  ersten  Heerschild  besitzt  der 
König,  dann  folgt  der  Heerschild  der  Bischöfe,  Äbte  und 
Äbtissinnen,  in  der  dritten  Ordnung  folgen  die  Laienfürsten, 

1)  Urkundenbuch  der  Stadt  Magdeburg  Bd.  1,  Nr.  88. 

2)  Vgl.  Ballschmiede  a.  a.  O.  S.  35. 


400  Walter  MöUenberg, 

die  Lehnsmannen  der  geistlichen  Fürsten  geworden  sind,  zu 
viert  die  freien  Herren,  zu  fünft  die  schöffenbaren  Leute 
und  die  Dienstmannen  der  freien  Herren,  zu  sechst  deren 
Lehnsmannen  und  zu  siebent  alle  anderen,  von  denen,  wie 
es  heißt,  man  nicht  weiß,  ob  sie  Lehenrecht  oder  Heer- 
schild überhaupt  besitzen. 

Dieser  lehenrechtlichen  Rangordnung  tritt  nun  eine 
Wergeidtafel  an  die  Seite,  gegliedert  nach  Fürsten,  freien 
Herren  und  schöffenbaren  Leuten,  die  an  Wergeid  und 
Buße  gleich  sind,  Biergelden  und  Pfleghaften,  Landsassen, 
Lateleuten,  Tagewerkern,  Pfaffenkindern  und  anderen  un- 
echt Geborenen  usw.  (Ssp.  HI  45). 

Wenn  wir  einer  alten  Glosse  zum  Sachsenspiegel  Glauben 
schenken  dürfen,  so  war  Eike  von  Repgow  ein  schöffenbar 
Freier.  In  der  Tat  ist  es  mindestens  auffällig,  daß  er  sich 
im  Sachsenspiegel  mit  besonderer  Vorliebe  gerade  mit  dem 
Recht  der  Schöffenbaren,  der  freien  Schöffenbaren,  der 
schöffenbar  Freien,  wie  er  sie  in  buntem  Wechsel  nennt, 
beschäftigt,  ihr  Recht  vor  allem  darstellen  möchte.  Im 
Gegensatz  zu  den  niederen  Freien,  den  Pfleghaften,  die 
dem  geistlichen  Gericht  der  Dompröpste  und  dem  welt- 
lichen Gericht  der  Schultheißen  und  zu  den  Landsassen, 
die  dem  geistlichen  Gericht  der  Erzpriester  und  dem  welt- 
lichen Gericht  der  Gografen  unterstehen,  besuchen  die 
schöffenbaren  Leute  das  bischöfliche  Sendgericht  und  das 
Grafending  (I  2).  Von  den  Fürsten  und  freien  Herren, 
denen  sie  in  der  Wergeldtafel  äußerlich  gleichstehen,  sind 
sie  durch  einen  feinen  Unterschied  gesondert:  doch  eret  man 
—  so  heißt  es  hier  —  die  vorsten  und  die  vrien  Herren  mit 
golde  to  gevene  unde  gift  in  tvelf  güldene  penninge  to  bute, 
den  schöffenbar  Freien  dagegen  gibt  man  drittich  Schillinge 
.  .  .  pundiger  penninge  (Ssp.  III  45).  Im  Heerschild,  wo  sie 
die  fünfte  Stelle  einnehmen,  sind  sie  den  Dienstmannen  der 
freien  Herren  gleichgestellt,  lehnrechtlich  stehen  sie  also 
unter  den  freien  Herren,  denen  sie  landrechtlich  verwandt 
sind.  Sie  heißen  „schöffenbar",  weil  sie,  sei  es  durch  Ge- 
burt und  Vererbung  vom  Vater  auf  den  ältesten  Sohn  oder 
den  nächsten  und  ältesten  Schwertmagen  (Ssp.  III  26,3) 
oder  durch  königliche  Verleihung  (Ssp.  III  81,  1)  das  Recht 


Eike  von  Repgow.  401 

und  die  Pflicht  haben,  beim  Grafending  zu  erscheinen  und 
auf  der  Schöffenbank  Platz  zu  nehmen.  Die  „Schöffenbar- 
keit"  ist  bedingt  durch  Grundbesitz  und  zwar  durch  ein 
Eigengut,  ein  hantgemal,  von  mindestens  drei  Hufen  (Ssp. 
III  81,  1).  Hantgemal,  Dingpflicht  und  Schöffenstuhl  ge- 
hören zusammen  (Ssp.  III  26,2).  Aber  der  Schöffenbare 
ist  auch  frei:  niemals  kann  ein  Ministerialer,  ein  Dienstmann, 
Schöffe  sein.  Nur  wenn  in  einer  Grafschaft  die  Schöffen- 
geschlechter aussterben,  werden  aus  den  Reichsministerialen 
vom  König  neue  Schöffen  eingesetzt,  die  zuvor  mit  ordelen 
vom  König  freigelassen  und  mit  Reichsgut  aus  der  Graf- 
schaft begabt  worden  sind  (Ssp.  III  81).  Nie  kann  ein 
Reichsministerialer  über  einen  schöffenbar  freien  Mann 
Urteil  finden  oder  gegen  ihn  als  Zeuge  auftreten,  wenn  es 
um  Leib,  Ehre  oder  Erbe  geht;  Urteil  finden  oder  Urteil 
schelten  darf  in  einem  solchen  Falle  nur  ein  Ebenbürtiger 
(Ssp.  III  19,  1).  Ohne  Freiheit  also  keine  Schöffenbarkeit 
(Ssp.  III  54,  1).  Die  Freiheit  vor  allem  unterscheidet  den 
Schöffenbaren  von  dem  Dienstmann,  mit  dem  er  den  glei- 
chen Heerschild  hat.  Sind  alle  Vorbedingungen:  Hant- 
gemal, Schöffenstuhl  und  Freiheit  gegeben,  so  bedarf  es, 
um  als  schöffenbar  Freier  und  als  ebenbürtig  von  den 
schöffenbar  Freien  anerkannt  zu  werden,  noch  des  Ahnen- 
beweises; vier  Ahnen  sind  zum  mindesten  erforderlich: 
Vater,  Mutter,  zwei  Älterväter  und  zwei  Ältermütter  (Ssp. 
I  51,  3;  III  29,  1).  Die  Ahnenprobe  findet  jedoch  nur  statt, 
wenn  ein  schöffenbar  Freier  von  einem  ebenbürtigen  Ge- 
nossen zum  Zweikampfe  herausgefordert  wird  und  nur  in 
dem  Gerichte,  dem  der  Herausgeforderte  durch  sein  Hant- 
gemal zugehört. 

Das  also  ist  der  Stand  des  schöffenbar  Freien,  den  der 
Spiegier  in  so  eindringlicher  Weise  nach  allen  Seiten  hin 
zu  umschreiben  sucht,  weil  er  ihm  vermutlich  selber  an- 
gehört. Daß  wir  hier  gewissermaßen  nur  eine  juristische 
Konstruktion  Eikes  vor  uns  haben,  die  sich  nicht  ohne  wei- 
teres mit  den  tatsächlich  überlieferten  Verhältnissen  in  Ein- 
klang bringen  läßt,  wie  sie  sich  in  den  überlieferten  Ur- 
kunden widerspiegeln,  ist  nicht  ganz  von  der  Hand  zu  weisen. 
Man  braucht  sie  nicht  gleich  Erdichtung  oder  Fälschung  zu 


402 


Walter  Möllenberg, 


nennen.  Das  letzte  Wort  ist  darüber  noch  nicht  gesprochen. 
Wer  Elke  kennt,  wird  ihm  bewußte  Erfindung  nicht  zu- 
trauen. Zweifellos  geht  er  von  Verhältnissen  aus,  die  für 
ihn  noch  gegeben  waren,  unserem  Auge  aber  nicht  mehr 
deutlich  erkennbar  sind,  weil  wir  es  mit  einer  Übergangs- 
zeit zu  tun  haben,  in  der  sich  alles  im  Flusse  befindet.  Der 
Übertritt  Freier  in  die  Ministerialität,  die  Ausbildung  eines 
neuen  Ritterstandes,  der,  auf  einem  Gemisch  von  Geburts- 
und Berufsstand  beruhend  und  Edle  sowohl  als  unfreie 
Dienstmannen  umfassend,  manche  Grenzen  verwischte  und 
der  sich  ausbildende  Gegensatz  zwischen  dem  Ritterstande 
und  der  nichtritterlichen  freien  Landbevölkerung  haben  die 
ständische  Gliederung  des  Spätmittelalters  in  Adel,  Stadt- 
bürger und  Bauern  nur  vorbereitet;  zu  Eikes  Zeiten  bestand 
sie  in  dieser  Form  noch  nicht. 

Eike  spricht  es  an  einer  Stelle  offen  aus,  daß  er  von 
den  Leuten  nichts  hält,  die  neues  Recht  aufbringen  wollen 
(Rvrd.  z.  Ssp.  V.  42);  er  will  allein  das  Recht  aufzeichnen, 
das  von  den  Vorfahren  überliefert  worden  ist  (Rvrd.  v. 
151  ff.).  Nicht  vorwärts,  sondern  rückwärts  hat  er  den 
Blick  gewendet.  Ist  es  nicht,  als  wollte  er  sich  mit  Ge- 
walt gegen  die  mächtig  hereinbrechende  neue  Entwicklung 
anstemmen?  Diese  bewußte  Tendenz,  dieser  konservative 
Zug  hat  mit  Erdichtung  oder  Fälschung  nichts  gemein. 
Vielleicht  waren  es  persönliche  Erlebnisse,  Anfeindungen, 
Kränkungen,  die  ihn  veranlaßten,  den  Stand,  dem  er  sich 
zurechnete,  in  das  rechte  Licht  zu  stellen,  aus  dem  guten 
alten  Recht  mit  allen  ihm  zu  Gebote  stehenden  Feinheiten 
der  juristischen  Definition  nachzuweisen,  wer  er  war  und 
was  er  war:  Ein  Freier  jedenfalls,  der  stolz  war  auf  sein 
Stammgut,  sein  Hantgemal,  und  auf  den  ererbten  Schöffen- 
stuhl. Daß  der  Mensch,  das  Ebenbild  Gottes,  der  Mensch, 
dem  Gewalt  gegeben  ist  über  Fische,Vögel  und  alles  Getier  (Ssp. 

II  61,  1),  unfrei  sein  könnte,  will  ihm  überhaupt  nicht  in  den 
Sinn.  Zwar  kann  er  nicht  bestreiten,  daß  Unfreiheit  auf 
dieser  Erde  tatsächlich  besteht,  aber  er  leitet  sie  her  aus 
einem  zur  Gewohnheit  gewordenen  Unrecht,  das  in  Zwang, 
Gefängnis  und  unrechtmäßiger  Gewalt  begründet  ist  (Ssp. 

III  42).    Ist  es  denkbar,  daß  Eike,  der  so  fühlt  und  spricht, 


Eike  von  Repgow.  403 

selber  die  Unfreiheit  auf  sich  genommen  hat  und  in  die 
Ministerialität  eingetreten  ist?  Das  Gewicht  dieses  persön- 
lichsten Zeugnisses  ist  zu  groß,  als  daß  sich  die  landläufige 
Meinung  aufrecht  erhalten  ließe,  die  Eike  zum  Ministerialen 
macht,  weil  er  einmal  bei  einem  gerichtlichen  Akt  unter 
Ministerialen  auftritt. 

Wir  glauben  festeren  Boden  unter  den  Füßen  zu  haben, 
wenn  wir  uns  den  sechs  Urkunden  zuwenden,  in  denen 
Eikes  Name  genannt  wird.  Die  erste  zeigt  uns  ihn  auf  der 
Dingstätte  zu  Mettine  (im  Gau  Serimunt)  im  Jahre  1209.i)  Die 
Burggrafen  Johann  und  Walter  v.  Giebichenstein  übereignen 
der  Nienburger  Kirche  ihr  Schloß  Sporen,  und  Friedrich 
V.  Krosigk,  der  an  Stelle  des  Grafen  im  Gericht  den  Vorsitz 
führt,  beurkundet  diese  Übereignung  unter  Hinzuziehung 
von  Zeugen.  Es  sind:  Markgraf  Dietrich  von  Meißen,  der 
Schultheiß  Heinrich  gen.  Rabil,  Werner  von  Ampfurt,  Jo- 
hannes und  Heinrich  von  Gneiz,  Effo  von  Dröbel,  Eike 
von  Reppichau,  Heinrich  von  Schkeuditz  und  dessen 
Sohn,  Burggraf  Dietrich  von  Kirchberg,  Graf  Heinrich  von 
Regenstein,  Wolfer  von  Pezne,  Heinrich  v.  Stechow  und 
Ludwig  von  Teuchern. 

Im  Jahre  1215  weilt  Eike  beim  Fürsten  Heinrich  von 
Anhalt  auf  dem  Schloß  Lippehne.^)  Heinrich  bewidmet 
hier  mit  Zustimmung  des  Grafen  Hoyer  von  Falkenstein 
als  Lehnsinhabers  das  Kollegiatstift  Coswig  mit  einigen 
Gütern.  In  der  darüber  ausgestellten  Urkunde  werden  als 
Zeugen  aufgeführt:  die  nobiles  viri  Hogerus  de  Valkensten, 
Odelricus  de  Vredeberge,  Johannes  de  Gniz,  Wernerus  de  Su- 
seliz,  Conradus  Mackecherf,  Heico  de  Repechowe,  Bertramus 
et  Balduinus  de  Thornowe.  Auf  die  ausdrücklich  als  nobiles 
viri  bezeichneten  Zeugen,  denen  Eike,  was  wohl  zu  be- 
achten ist,  zugerechnet  wird,  folgen  eine  Anzahl  von  Mini- 
sterialen: Conradus  de  Waldesere,  Albertus  de  Rozelowe,  We- 
dego de  Richowe,  Teodericus  de  Gatersleve,  Sifridus  Schelinge, 
Theodoricus  de  Nithlawe,  Tymo  de  Plezege,  Arnoldus  ei  Hu- 
goldus  de  Reder e,  Gerardus  et  Theodoricus  fratres  eins,  Gun- 
zelinus  de  Blanzeke,  Luderus  et  Hartwicus  de  Scheniz,  Bodo 

1)  Cod.  dipl.  Anhalt,  l,  Nr.  779. 

2)  ibid.  II,  Nr.  14. 


404 


Walter  Möllenberg, 


de  Reine,  Alexander  Unholde,  Johannes  advocatus  de  Coz- 
wich  et  Otto  prefectus  eiusdem  loci. 

Einige  Jahre  später,  1218,  erscheint  Eike  im  Gefolge 
des  Markgrafen  Dietrich  von  Meißen,  desselben,  mit  dem  er 
im  Jahre  1209  das  Mettiner  Grafending  besucht  hat.^)  Zu 
Grimma  überträgt  der  Markgraf  dem  Kloster  Altzelle  einige 
Güter.  Die  Übertragung  wird  bezeugt  von  den  folgenden: 
Otto  praefectus  de  Donin,  Johannes  de  Lubin,  Ekkehardus  de 
Duchere,  Theodericus  de  Sladebach,  Otto  de  Yleburch,  Geve- 
hardus  de  Zurbeke,  Fridericus  de  Turgowe,  Albertus  de  Sten- 
bach  et  Petrus  filius  eins,  Fridehelmus  de  Rogats,  Tymo  de 
Rogats,  Heiko  de  Ripchowe,  Theodericus  Filia  und  Jo- 
hannes de  Uthusen. 

Schon  bald  darauf,  1219,  ist  Eike  wieder  beim  Fürsten 
Heinrich  von  Anhalt,  als  dieser  den  Stiftsherren  von  Goslar 
eine  Vergünstigung  gewährt. 2)  Als  Zeugen  treten  hierbei  auf: 
Comes  Hoyerus  de  Valkensten,  borchgravius  Hermannus  de 
Wetin,  Henricus  de  Gniz,  Conradus  Maketserf,  Conradus 
Slichting,  Hugoldus  de  Reder,  Eico  de  Repechowe,  Con- 
radus dapifer  de  Waldeser,  Olricus  dapifer  de  Welsleve,  Helem- 
bertus  de  Hekelinge,  Conradus  de  Mandere,  magister  Wal- 
therus  de  Aken,  Estwinus  vicedominus,  Rudolffus  canonicus. 

In  einer  ganz  veränderten  Umgebung  begegnet  uns  Eike 
wieder  auf  dem  Landding  zu  Delitzsch  im  Jahre  1224  beim 
Landgrafen  Ludwig  von  Thüringen.^)  Der  Landgraf  erteilt 
hier  dem  Kloster  Altzelle  eine  Urkunde  und  zieht  bei  diesem 
Akt  folgende  Zeugen  hinzu :  Theodericus  praepositus  de  Monte 
Sereno  et  Jacobus  capellanus  suus,  Wrezlaus  filius  regis  Boe- 
miae,  Meinherus  burchravius  Misnensis,  Hogerus  de  Wride- 
berg,  Wolferus  de  Pesne,  Gevehardus  de  Zurbeke,  Hermannus 
de  Sconenburg,  Eico  de  Ribecowe,  Conradus  de  Landesberg, 
Fridericus  de  Marus  et  Wernerus  frater  eins,  Albertus  de  Bele. 


^)  V.  Posern-Klett,  Zur  Geschichte  der  Verf.  der  Markgrafschaft 
Meißen  im  13.  Jahrhundert.  Mitt.  d.  d.  Ges.  z.  Erforsch,  vaterl.  Sprache 
u.  Altert,  in  Leipzig,  Bd.  2,  S.  30. 

*)  Cod.  dipl.  Anhalt.  II,  Nr.  32.  Urkundenbuch  der  Stadt  Goslar 
I,  Nr.  400. 

^)  O.  Dobenecker,  Regesta  diplomatica  necnon  epistolaria  hist. 
Thuringiae  II,  Nr.  2138. 


Eike  von  Repgow.  405 

Nur  noch  einmal,  neun  Jahre  später,  1233,  taucht  Eike 
auf  und  zwar  in  Salbke  iuxta  pontem,  als  die  Markgrafen 
Johann  und  Otto  von  Brandenburg  dem  Kloster  Berge  bei 
Magdeburg  in  Gegenwart  des  Grafen  Bederich  von  Dorn- 
burg und  der  Schöffen  der  Grafschaft,  zu  der  die  Gerichts- 
stätte zu  Salbke  bei  der  Brücke  gehört,  ihr  Erb  und  Eigen 
zu  Billingsdorf  auflassen. i)  Eine  zahlreiche  Zeugenschaft  ist 
zugegen  und  wird  nach  Rang  und  Stand  uns  vorgeführt. 
Zuerst  die  illustres  viri:  consanguinei  nostri  (d.  h.  der  Mark- 
grafen Johann  und  Otto  von  Brandenburg)  Henricus  comes 
Ascharie,  Henricus  et  Bernardus  filii  ipsius,  Willebrandus 
maioris  ecclesie  Magdeburgensis  prepositus,  Theodericus  de 
Dobin.  Sodann  die  nobiles:  Theodoricus  de  Treban,  comes 
Conradus  de  Regensten,  Albertus  de  Arnsten.  Darauf  die 
scabini  eiusdem  cometie:  Hinricus  scultetus,  Conradus  de  Co- 
thene,  Bernardus  de  Ekkehardestorp,  Hinricus  Leo,  Hinricus 
de  Bigere,  Burchardus  et  Herdovicus  fratres  de  Wallesleve  und 
Heidenricus  preco  (Frohnbote),  mit  dem  die  Schöffenbank 
also  abschließt.  Es  folgt  nun  für  sich  stehend:  Eico  de 
Repchowe.  Auf  ihn  endlich  die  fideles  nostri,  die  Ministe- 
rialen der  brandenburgischen  Markgrafen:  Henricus  et  filii 
ipsius  de  Stendale  Johannes  et  Henricus,  Gozwinus  de  Boi- 
zeneburc,  Alvericus  de  Kerchowe,  Herwicus  de  Wellen,  Wille- 
kinus  de  Turnowe,  Bertramus  de  Swaneberch,  Burchardus  de 
Irckesleve,  Engilhardus  de  Hvethorp,  Engilboldus  et  Johannes 
filii  ipsius  de  Slevenitz,  Liudgerus  et  Theodoricus  et  Henricus 
de  Weddighe,  Johannes  de  Haldegestorp. 

Die  sechs  Urkunden  können  uns  manche  Frage  beant- 
worten, manches  neue  Rätsel  geben  auch  sie  wieder  auf. 
Daß  wir  den  Verfasser  des  Sachsenspiegels  auf  einem  Grafen- 
ding zu  Mettine,  auf  einem  Landding  zu  Delitzsch  und  end- 
lich auf  einer  Dingstätte  in  Salbke  finden,  hat  das  allgemeine 
Interesse  immer  in  ganz  besonderem  Maße  erregt.  Bei  den 
Gerichtshandlungen,  an  denen  wir  ihn  teilnehmen  sehen, 
handelt  es  sich  freilich  nicht  um  Prozesse  in  Straf-  oder 
Zivilsachen,  sondern  lediglich  um  Akte,  die  in  den  Bereich 
der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  fallen,  um  Beurkundungen, 


^)  Urkundenbuch  des  Klosters  Berge  b.  Magdeburg,  Nr.  88. 


406  Walter  Möllenberg, 

die  ZU  größerer  Bekräftigung  sich  des  Dingzeugnisses  be- 
dienen. Die  Gerichtszeugen  brauchen  wir  dabei  nicht  not- 
wendig auf  der  Schöffenbank  zu  suchen.  Wir  haben  kein  Recht, 
aus  den  Urkunden  mehr  herauszulesen,  als  sie  beweisen 
können.  Man  kennt  die  durch  Homeyer,  den  verdienstlichen 
Herausgeber  des  Sachsenspiegels,  populär  gewordene  An- 
schauung, daß  Eikes  Schöffenstuhl  zu  Salbke  stand,  daß 
die  Dingstätte  zu  Salbke  der  Grafschaft  Billingshohe  an- 
gehöre, und  daß  Graf  Hoyer  von  Falkenstein  hier  Richter 
gewesen  sei,  , »gewohnt,  das  Urteil  zu  fordern",  und  Eike  ein 
Schöffe,  „berufen  es  zu  weisen".  Hieran  ist  so  ziemlich  alles 
falsch.  Die  Salbker  Urkunde  selber  verrät  uns,  in  welcher 
Grafschaft  die  Dingstätte  zu  Salbke  liegt  und  wer  hier 
Richter  ist:  es  ist  nicht  Graf  Hoyer  von  Falkenstein  und  die 
Grafschaft  Billingshohe,  es  ist  die  Grafschaft  Bederichs  von 
Dornburg,  die  auch  als  Grafschaft  Mühlingen  bezeichnet  zu 
werden  pflegt.  Den  Umfang  der  Grafschaft  wissen  wir  ziem- 
lich genau:  die  Saale  bei  Calbe  und  Nienburg  bildet  ihre 
östliche  Grenze,  Unseburg,  Altenweddigen,  Schwaneberg  und 
Deutsch-Salbke  sind  ihre  westlichsten  Punkte,  Sülze  und 
Elbe  begrenzen  sie  im  Norden  und  Osten.  Im  Besitz  der 
Grafen  von  Dornburg  ist  sie  seit  dem  Ende  des  12.  Jahr- 
hunderts. Die  gewöhnliche  Dingstätte  ist  nicht  bei  Salbke, 
sondern  bei  Mühlingen. i)  Das  in  der  Salbker  Urkunde  ge- 
nannte Billingsdorf,  heute  eine  Wüstung  südlich  von  Süll- 
dorf und  Dodendorf,  hat  mit  der  vielgenannten  Dingstätte 
zum  Billingshoch  nichts  gemein,  die  man  im  Felsenberg  bei 
Ebendorf  und  Dahlenwarsleben  wiederzufinden  glaubt.  Die 
nach  dieser  Dingstätte  benannte  Grafschaft  zum  Billingshoch 
berührt  mit  Sülldorf,  Osterweddingen,  Dodendorf  und  Wen- 
disch-Salbke  die  Nordgrenze  der  Grafschaft  Mühlingen,  ihre 
natürliche  Ostgrenze  bildet  die  Elbe  bei  Fermersleben,  Buckau, 
Magdeburg  und  Frohse,  ihre  Westgrenze  verläuft  über  Langen- 
weddingen,  Gr.-  u.  Kl.-Rodensleben,  Wellen,  Irxleben,  Gr.- 
u.  Kl.-Santersleben,  Schackensleben  bis  über  Glüsig  und 
Wedringen  hinaus,  im  Norden  erstreckt  sie  sich  über  die 

1)  über  die  Grafschaften  Mühlingen  und  Billingshoch  vgl.  F. 
Winter  in  den  Geschichtsblättem  für  Stadt  u.  Land  Magdeburg,  Jgg.  9 
(1874),  S.  281  ff. 


Eike  von  Repgow.  407 

Ohre  bis  zu  der  großen  Colbitzer  und  Letzlinger  Heide.  Als 
Inhaber  der  Grafschaft  zum  BiUingshoch  tritt  1142  Graf 
Burchard  von  Falkenstein  auf,  dem  1174  sein  Sohn  Otto 
folgt.  Von  Otto  von  Falkenstein  geht  sie  auf  die  Markgrafen 
von  Brandenburg  über,  von  diesen  1316  auf  die  Erzbischöfe 
von  Magdeburg. 

Eine  Legende  haben  wir  zerstören  müssen,  und  auch  der 
berühmte  Schöffenstuhl  Eikes  bei  Salbke  wird  der  Kritik 
nicht  standhalten.  Wir  sahen  selber,  daß  die  Salbker  Ur- 
kunde Eike  seinen  Platz  ausdrücklich  außerhalb  der  Schöffen- 
bank hinter  dem  Frohnboten  anweist.  Er  steht  gewisser- 
maßen für  sich  allein  auf  der  Dingstätte:  unter  all  den  illu- 
stres viri,  den  nobiles,  den  Schöffen  der  Grafschaft  und  den 
brandenburgischen  Ministerialen.  Weder  hier,  noch  auf  dem 
Landding  zu  Delitzsch,  noch  auf  dem  Grafending  zu  Mettine 
muß  er  ausgerechnet  als  Schöffe  erschienen  sein.  Nicht  die 
Dingpflicht  hat  ihn  auf  die  drei  Dingstätten  geführt;  man 
müßte  sonst  annehmen,  was  fast  unmöglich  ist,  daß  er  drei 
Schöffenstühle  besessen  hätte.  Es  liegt  wohl  näher,  daß  er 
die  Dingstätten  mehr  zufällig  besucht,  weil  er  sich  gerade 
im  Gefolge  des  Fürsten  Heinrich  von  Anhalt,  ein  andermal 
des  Landgrafen  Ludwig  von  Thüringen,  ein  drittes  Mal  der 
brandenburgischen  Markgrafen  befindet.  Stand  er  vielleicht 
zu  ihnen  nacheinander  in  einer  Art  Dienstverhältnis?  Das 
ist  ein  Schluß,  den  die  Urkunden  sehr  wohl  zulassen  und 
sogar  wahrscheinlich  machen.  Nur  um  ein  freieres  Dienst- 
verhältnis könnte  es  sich  freilich  handeln,  etwa  als  Ratgeber 
in  Rechtsangelegenheiten.  Ein  eigentliches  Amt  hätte  er 
sicher  verschmäht,  sein  Stolz  sträubte  sich  gegen  die  Min- 
derung des  ,, Rechts",  die  mit  dem  Amt  verknüpft  sein 
konnte  (Ssp.  III  28,  l),  und  lieber  setzte  er  den  Wanderstab 
weiter,  als  daß  er  sich  in  Abhängigkeit  oder  gar  in  die  Mini- 
sterialität,  in  Unfreiheit,  begab. 

Die  mehrfach  in  den  Sachsenspiegel  eingestreuten  Be- 
merkungen über  Mark  und  Markgraf  und  deren  rechtliche 
Sonderstellung  dürfen  wir  ohne  Bedenken  aus  persönlicher 
Anschauung  Eikes  herleiten  und  auf  seinen  zeitweiligen  Auf- 
enthalt in  den  Marken  Meißen,  Lausitz  und  Brandenburg 
deuten.    Lassen  doch  die  Urkunden  auf  mehrfache  Bezie- 


408  Walter  Möllenberg, 

hungen  Eikes  zu  den  Markgrafen  schließen,  besonders  zu 
dem  Markgrafen  Dietrich  von  Meißen.  In  seiner  Kaiser- 
treue fand  Eike  in  Dietrich  einen  Gesinnungsgenossen,  von 
dem  Herr  Walter  von  der  Vogelweide  rühmt: 

der  Missenaere 
der  st  iemer  iuwer  äne  wan: 
von  gote  wurde  ein  enget  i  verleitet      (12,  3). 

Wie  Eike,  so  steht  Dietrich  auf  der  Seite  König  Philipps, 
und  wieder  wie  Eike  tritt  er  nach  Philipps  Ermordung  ohne 
weiteres  für  den  Weifen  Otto  ein,  um  erst  gegen  dessen  Ende 
zu  dem  Staufer  überzugehen.  So  mochten  Eike  mit  des 
Meißners  Hof,  an  dem  neben  Herrn  Walter  der  Minnesänger 
Heinrich  von  Morungen  ein  häufiger  Gast  war,  manche 
Fäden  verbinden. 

Nicht  weniger  häufig  bezeugt  sind  Eikes  Beziehungen 
zu  Heinrich  I.  von  Anhalt,  dem  Grafen  von  Ascharien.  Es 
mag  für  Eike  freilich  nicht  leicht  gewesen  sein,  zwischen 
Heinrich  und  Dietrich  zu  wählen,  als  der  Markgraf  im  Jahre 
1217  als  Parteigänger  des  Staufers  Friedrich  die  Askanier 
mit  Krieg  überzog,  Anhalt  verwüstete  und  zweimal  die  dem 
Repgowschen  Stammgut  benachbarte  Stadt  Aken  belagerte. 
In  der  Weltchronik  hallt  etwas  nach  von  dem  Kampf  und 
Kriegsgeschrei,  doch  leidenschaftslos  gibt  Eike  nur  ein  paar 
Hinweise  auf  diese  Ereignisse,  ohne  zu  ihnen  Stellung  zu 
nehmen.  Allein  aus  der  Häufung  von  Nachrichten  über 
Krieg,  Brand,  Verheerung  und  Hungersnot  kann  man  er- 
messen, mit  wie  bekümmertem  Herzen  Eike  sein  teures 
Sachsenland  unter  dem  Streit  der  Parteien  leiden  sah. 

Wir  können  nicht  einmal  sagen,  auf  wessen  Seite  Eike 
in  dem  Streite  Graf  Heinrichs  mit  dem  Nienburger  Abt 
Gernot  steht.  An  Gernot,  der  dem  Grafen  die  Vogteigerecht- 
same  bestritt,  wurde  die  grausame  Strafe  vollzogen,  die  der 
Spiegier  selber  jedem  androht,  der  sich  unberechtigt  anmaßt, 
unter  Königsbann  zu  dingen:  desal  —  so  heißt  es  im  Sachsen- 
spiegel — ,  wedden  sine  fangen.  Daß  man  den  der  Zunge 
beraubten  Abt  auch  noch  blendete,  konnte  Eike  unmöglich 
billigen.  Fast  klingt  es  wie  ein  Vorwurf  gegen  Graf  Heinrich, 
wenn  der  Chronist  die   Blendung  überhaupt  erwähnt,  als 


Eike  von  Repgow.  409 

wollte  er  sich  gegen  die  Untat  verwahren,  die  sich  auf  keine 
Weise  entschuldigen  ließ. 

Waren  es  Unstimmigkeiten  solcher  Art,  die  Eike  ver- 
anlaßten,  den  Hof  des  starrsinnigen  Askaniers  zu  verlassen 
und  den  des  hochgepriesenen  Landgrafen  Ludwig  von  Thü- 
ringen aufzusuchen?  Die  sittenstrenge  Zucht,  die  hier  den 
heiteren  Glanz  der  Tage  Landgraf  Hermanns  und  seiner 
fahrenden  Sänger  abgelöst  hatte,  die  Zucht,  bei  der  Werke 
der  Liebe  wie  himmlische  Rosen  blühten  und  der  Ort,  wo 
Heilige  wandelten:  das  war  es,  was  Eike  eintauschen  konnte. 
Leider  schweigt  die  Überlieferung,  und  nur  die  Phantasie 
vermag  sich  weiter  mit  diesen  Dingen  zu  beschäftigen. 

Was  mag  alles  zwischen  diesen  Jahren  1224  und  1233 
liegen,  von  dem  wir  keine  Kunde  haben:  vielleicht  die 
Höhepunkte  in  Eikes  Leben,  Zeiten  des  Reifens  und  des 
Vollendens,  die  uns  den  Sachsenspiegel  und  die  Sächsische 
Weltchronik  schenkten.  Nur  in  jahrelanger  mühevoller 
Sammelarbeit  können  beide  Werke  entstanden  sein.  Sie 
gingen  wohl  nebeneinander  her,  da  sie  sich  gegenseitig  er- 
gänzen. Eine  genauere  Datierung  wird  immer  unmöglich 
sein.  Daß  der  Sachsenspiegel  auf  diese  Jahre  zurückgeht, 
zeigt  die  Erwähnung  eines  Landfriedens,  den  die  keiserlike 
gewalt  gestediget  hevet  dem  lande  to  Sassen,  der  auf  einen 
Sächsischen  Landfriedenstext  des  Jahres  1223  (oder  früher) 
gedeutet  wird.  Das  auf  dem  Mainzer  Reichstag  des  Jahres 
1235  neugegründete  Herzogtum  Braunschweig  nennt  der 
Sachsenspiegel  noch  nicht  unter  den  Fahnenlehen  im  Lande 
Sachsen.  Die  S.  Weltchronik,  soweit  sie  auf  Eike  selbst 
zurückgeht  und  nicht  auf  seine  Fortsetzer,  reicht  nicht  hin- 
aus über  das  Jahr  1225;  auch  das  spricht  für  diese  Zeit. 

Geschichtlich  beglaubigt  ist  nur  noch  eins:  Eikes  Freund- 
schaft mit  Graf  Hoyer  von  Falkenstein,  dessen  Name  mit 
dem  Sachsenspiegel  unlöslich  verknüpft  ist.  Wir  können  die 
beiden  schon  am  Hofe  Heinrichs  von  Anhalt  nebeneinander 
sehen.  Graf  Hoyer  verdiente  es  wohl,  einmal  mehr  hinein- 
gestellt zu  werden  in  das  helle  Licht  der  Geschichte.  Ein 
mächtiger  Dynast,  reich  an  ausgedehntem  Besitz,  beseelt 
von  großem  Ehrgeiz,  erfüllt  von  dem  Streben  nach  Erweite- 
rung seiner  Macht,  fehdelustig:  so  erscheint  er  vor  allem  in 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  27 


410  Walter  MöUenberg, 

seinem  rücksichtslosen  Kampf  mit  der  Äbtissin  Sophia  von 
Quedlinburg  um  die  Quedlinburger  Stiftsvogtei.^)  Auch  in 
ihm  verkörpert  sich  sozusagen  die  konservative  Tendenz 
seiner  Zeit,  die  der  aufstrebenden  Territorialgewalt  in  den 
Weg  tritt,  als  deren  Repräsentantin  wir  die  Äbtissin  an- 
sehen dürfen.  Der  jahrelange  voll  Haß  und  Leidenschaft  mit 
allen  Mitteln  geführte  Kampf  interessiert  uns  hier  nur,  so- 
weit der  Chronist  der  Sächsischen  Weltchronik  dabei  Partei 
ergreift  und  in  der  Vertreibung  der  Äbtissin  eine  gerechte 
Sühne  für  ihre  „Missetat"  sieht  (c.  364). 

Eine  gemeinsame  Grundstimmung  kennzeichnet  Eikes 
Verhältnis  zu  Graf  Hoyer.  Fabelkunst  hat  es  mannigfaltig 
ausgeschmückt,  Romandichtung  sich  des  Stoffes  bemächtigt: 
wie  Eike  auf  Hoyers  Burg  Falkenstein  im  Selketal  sitzt  und 
den  Sachsenspiegel  schreibt.  Noch  heute  zeigt  man  auf  der 
Burg  ein  Turmgemach  als  Eikes  Behausung.  Wir  brauchen 
diese  Butzenscheibenromantik  nicht,  uns  genügt  es,  was  Eike 
selber  über  die  Entstehung  des  Sachsenspiegels  erzählt:  von 
dem  ersten  Rechtsbuch,  das  er  ohne  Hilfe  und  Lehre  latei- 
nisch abgefaßt  hatte,  von  den  Angriffen,  die  der  ungelehrte 
Autor  zu  erdulden  gehabt,  von  der  tiefen  Mutlosigkeit,  die 
ihn  darüber  ergriffen,  von  dem  freundlichen  Zuspruch  Graf 
Hoyers  und  seinem  Rat,  es  einmal  mit  der  deutschen  Sprache 
zu  versuchen,  und  wie  dann  schließlich  durch  die  herzlichen 
Bitten  des  Grafen  die  letzten  Bedenken  Eikes  zerstreut  wur- 
den und  das  Rechtsbuch  als  Sachsenspiegel  seine  Auferste- 
hung fand.  Für  alles  spricht  der  Autor  dem  Freunde  seinen 
Dank  aus  und  setzt  den  Dank  gleichsam  als  Widmung  vor 
das  Buch  in  Reimversen. 

Die  280  Verse  der  Reimvorrede  zum  Sachsenspiegel  sind 
nicht  aus  einem  Guß  geformt;  man  hat  sie  schon  früh  als 
zwei  selbständige  Teile  erkannt,  die  nach  Form  und  Inhalt 
deutlich  voneinander  zu  sondern  sind. 2)  Der  zweite  Teil 
(V.  97—280),   in   kunstlosen   Reimpaaren  gedichtet,   plan- 


^)  Grosse,  Zur  Verfassungsgeschichte  Quedlinburgs  (1024 — 1237). 
Ztschr.  d.  Harzver.  f.  Gesch.  u.  Altert,  Jgg.  49  (1916). 

2)  Vgl.  G.  Frommhold  in  der  Ztschr.  der  Savigny-Stift.  für 
Rechtsgesch.,  Bd.  13,  Germ.  Abt.  Weimar  1892,  S.  125  ff.  Roethe 
a.  a.  O. 


Eike  von  Repgow.  411 

mäßig  durchdacht  und  disponiert,  reicher  an  Bildern,  tiefer 
an  Gedanken,  gilt  als  das  eigentliche  Vorwort.  Got  hat  die 
Sachsen  wol  bedacht,  sint  diz  buch  ist  vorgebracht  den  täten 
al  gemeyne  —  das  sind  stolze  Worte,  mit  denen  Eike  sein 
Werk  einführt.  Er  möchte  wünschen,  daß  es  nicht  in  un- 
rechte Hände  gerät,  denn  die  Zahl  der  gottesfürchtigen  und 
rechtlichen  Menschen  ist  gering,  und  dem  Verfasser  ist  die 
Unzulänglichkeit  seines  Buches  wohl  bewußt.  Er  hat  das 
Recht  nicht  erdichtet,  er  will  nur  das  gute  alte  überlieferte 
Recht  der  Vorfahren  wiedergeben  und  zwar  vornehmlich 
sächsisches  Recht. 

Spigel  der  Saxen  soll  das  Buch  daher  genannt  werden, 

wende  Saxen  recht  ist  hiran  bekant, 
als  an  einem  spiegele  de  vrouwen 
ire  antlize  beschouwen. 

Zum  Schluß  gibt  er  noch  genaue  Weisungen,  wie  es 
richtig  zu  benutzen  ist,  und  spricht  einen  kräftigen  Fluch 
aus  über  jeden,  der  sich  unterfangen  wird,  Zusätze  zu 
machen  oder  Verdrehungen  vorzunehmen: 

de  meselsucht  müze  in  bekliben, 
und 

Sver  des  tübeles  ane  ende 

wolle  wesen,  der  sende 

ime  diz  orkunde 

unde  vare  zu  der  helle  gründe. 

Diese  Gedanken  nimmt  der  erste  Teil  der  Reimvorrede 
in  12  kunstvollen  Strophen  zu  je  8  Versen  noch  einmal  auf.i) 
Im  Ton  einer  Hohnrede,  mit  der  Herr  Walter  v.  d.  Vogel- 
weide einmal  einen  neidisch  kritisierenden,  poetischen  Kon- 
kurrenten abgefertigt  hat  (18,  1 — 14),  wendet  sich  Eike  gegen 
die  zahllosen  Verleumder  und  Widersacher,  die  ihm  und  seinem 
Werke  inzwischen  erstanden  sind.  Man  muß  die  ergreifen- 
den Worte  auf  sich  wirken  lassen,  um  die  Tragik  zu  ver- 
stehen, die  dem  Leben  des  Spieglers  nicht  fremd  ist.  Wie 
ein  Wild,  daz  di  hunde  buffen  an,  steht  er  am  Ziele  {zu  rame), 

^)  Roethes  eindringliche  Untersuchungen  über  die  Reimvorreden 
wollen  den  Nachweis  erbringen,  daß  die  erste  Rvrde.  nicht  von  Eike 
stammt.  Zwingend  ist  dieser  Beweis  nicht,  so  scharfsinnig  er  geführt 
wird.  Daß  sich  ein  anderer  so  in  Eikes  Seele  versetzt  haben  könnte, 
läßt  sich  nur  schwer  vorstellen. 

27* 


412  Walter  Möllenberg,  Eike  von  Repgow. 

aber  mit  unsagbarer  Verachtung  blickt  er  herab  auf  das 
Gehudel  der  offenen  und  versteckten  Gegner  und  fordert  sie 
höhnisch  heraus  zum  Wettkampf: 

Maniger  wanet:  ein  meister  sin 
binnen  sineme  krenge, 
de  kume  bleve  ein  meisterlin, 
liefe  er  mit  mir  die  lenge. 

Wohl  durfte  er  stolz  sein  und  sich  einen  Meister  nennen, 
sah  er  zurück  auf  das  Werk  seines  Lebens,  das  größer  war, 
als  er  vielleicht  selbst  ermessen  konnte.  Hat  doch  der  Sachsen- 
spiegel die  Rechtsentwicklung  in  Deutschland  und  weit  über 
die  deutschen  Grenzen  hinaus  auf  Jahrhunderte  entscheidend 
beeinflußt  und  ist  doch  die  Sächsische  Weltchronik  der  Aus- 
gangspunkt einer  deutschen  Geschichtschreibung  geworden, 
der  sie  Vorbild  und  Anregung  gegeben  hat.i) 

Wie  einen  Landfahrer  sahen  wir  Eike  von  einem  Fürsten- 
hof zum  anderen  ziehen,  vielfach  angefeindet  und  verkannt, 
einsam  fast  im  Bewußtsein  seiner  sittlichen  Größe.  Ein 
Kämpfer  auf  seine  Art  für  Wahrheit  und  Recht  —  so  ist 
er  eines  Tages  ins  Grab  gesunken  —  irgendwo.  Die  über- 
lebenden Zeitgenossen  haben  ihn,  wie  es  scheint,  vergessen, 
aber  seine  Werke  zeugen  laut  von  ihm  bis  an  das  Ende 
aller  Dinge. 

1)  Zeumer  a.  a.  O. 


Vitam  et  sanguinem! 

Von 

Heinrich  Marczali. 


Es  gibt  kaum  eine  Szene  in  der  ungarischen  Gescliichte, 
die  nebst  ihrem  unmittelbaren  Effekt  eine  so  nachhaltige 
Wirkung  auf  unseren  Staat  und  auch  auf  die  allgemeinen 
politischen  Verhältnisse  ausgeübt  hätte,  wie  das  am  11.  Sep- 
tember 1741  im  Königsschlosse  in  Pozsony  (Preßburg)  vor- 
gefallene Ereignis.  Was  noch  wichtiger  ist:  es  war  eine 
Offenbarung  der  Volksseele  und  hat  in  deren  Entwicklung 
und  Erhebung  Epoche  gemacht.  Es  ist  daher  eine  wahrhaft 
historische  Aufgabe,  sie  in  allen  Einzelheiten  zu  erforschen 
und  in  allen  ihren  Resultaten  klarzustellen. 

Wir  wollen  uns  mit  der  psychologischen  Seite  des  Er- 
eignisses beschäftigen. 

Ist  der  Entschluß,  der  Ungarn  wieder  zu  einem  maß- 
gebenden Faktor  der  europäischen  Politik  machte,  rein  unter 
dem  Einflüsse  der  traurigen  Worte  der  Königin,  mehr  noch 
unter  dem  unwiderstehlichen  Zauber  ihres  betrübten  Ge- 
sichtes, dem  Bilde  der  verfolgten  Unschuld  entstanden? 
Oder  war  der  Boden  dazu  schon  so  gut  vorbereitet,  daß 
die  schöne  Fürstin  in  jenem  historischen  Augenblick  nur 
die  reife  Frucht  ihrer  und  ihrer  Getreuen  Bemühungen  zu 
pflücken  brauchte?  Zur  Lösung  dieser  Frage  möchte  ich 
einige  Daten  vorführen,  die  bis  jetzt  der  Aufmerksamkeit 
der  Forscher  entgangen  sind. 


414  Heinrich  Marczali, 

Den  Ausdruck  „vitam  et  sanguinem''  hat,  nach  Arneth, 
zuerst  Gr.  Johann  Pälffy  benützt,  als  er,  nach  seiner  Er- 
wählung zum  Palatin,  am  22.  Juni  im  Thronsaale  den  her- 
kömmlichen Eid  in  die  Hände  der  Königin  ablegte.  Der 
berühmte  österreichische  Gelehrte,  der  sich  die  Erforschung 
und  Darstellung  der  Geschichte  Maria  Theresias  zum  Lebens- 
ziele setzte,  spricht  es  auch  aus,  daß  ,, dieser  Ausdruck  hier 
zum  ersten  Male  vorkommt",  i)  Er  erwähnt  dann  dieser  Sen- 
tenz nicht  bis  zum  11.  September,  so  daß  deren  Benützung 
bei  ihm  ganz  vereinzelt  erscheint. 

Wir  können  den  Beweis  dafür  liefern,  daß  diese  Rede- 
wendung auch  schon  früher  gebraucht  wurde.  Sehen  wir 
den  Seelenzustand,  dem  sie  entsprungen  ist. 

Es  ist  bekannt,  daß  der  Reichstag  von  1741  stark  oppo- 
sitionell gesinnt  war  und  daß  den  Ständen  vor  allem  die 
gesetzliche  Heilung  der  Beschwerden  (Gravaminä)  am  Herzen 
lag.  An  Gründen  zu  diesen  Beschwerden  mangelte  es  durch- 
aus nicht.  Auf  dem  Reichstage  von  1728/9  war  es  sowohl 
in  der  Frage  der  Besteuerung  von  Grund  und  Boden,  als 
in  der  Frage,  ob  man  die  Protestanten  wegen  Verweigerung 
eines  ihrer  Religion  widersprechenden  Eidschwures  aus  dem 
Reichstage  ausschließen  könne,  zu  einem  offenen  Bruche 
zwischen  Hof  und  Ständen  gekommen.  Diese  Fragen  waren 
seitdem  ungelöst  geblieben  und  bildeten  eine  stete  Quelle 
der  Unzufriedenheit.  Seitdem  aber,  seit  zwölf  Jahren,  war 
die  Diät  gar  nicht  einberufen  worden.  Die  Würde  des  Pala- 
tins  war,  gegen  das  Gesetz,  seit  zehn  Jahren  nicht  besetzt. 
Seit  1732  stand  Franz  von  Lothringen,  später  Gemahl  der 
Königin,  als  Statthalter  an  der  Spitze  der  Regierung.  In 
dem  1737  ausgebrochenen  Türkenkriege  wurden  die  ungari- 
schen Heerführer  nicht  verwendet.  Der  allezeit  getreue  Graf 
Johann  Pälffy  schrieb  damals,  daß  er  diese  Schmach  nie 
verwinden,  sondern  mit  sich  ins  Grab  tragen  werde. 2)  Einer 
der  Führer  der  höfischen  Partei,  der  kluge  und  geschmeidige 
Präsident  der  kön.  Tafel  und  der  Ständetafel,  Anton  von 


1)  Maria  Theresias  erste  Regierungsjahre,  von  Alfred  Ritter  von 
Arneth,  1.  Bd.,  S.  273  und  S.  402.  Die  —  nicht  genannte  —  Quelle 
ist:  Gabriel  Kolinovics,  Nova  Hangar iae  Periodus  S.  184. 

*)  Brief  im  Senioratsarchiv  in  Pozsony. 


Vitam  et  sanguinem!  415 

Grassalkovics,  schrieb  nach  dem  Frieden  von  Belgrad  1739 
an  den  Vizekanzler  Grafen  Ludwig  von  Batthyäny:  „dies  ist 
die  Frucht  der  Verachtung  unserer  Nation".^) 

Dabei  erhöhten  sich  die  Steuern  von  Jahr  zu  Jahr;  die 
Pest  forderte  Tausende  von  Opfern;  die  Verheerungen  und 
Übergriffe,  wie  der  offizielle  Ausdruck  lautete:  Exzesse,  der 
kaiserlichen  Soldaten  verleideten  dem  Bauer  das  Leben  und 
schlugen  manche  Bresche  in  die  Vorrechte  des  Adels.  Und 
jetzt  macht  die  Lage  der  Dinge  in  Europa  die  Opposition, 
ja  die  Herausforderung  des  Hofes  gar  leicht.  Das  Heer  der 
Königin  wurde  noch  vor  dem  Reichstage  bei  Mollwitz  von 
den  Preußen  geschlagen,  Franzosen  und  Bayern  hatten  sich 
schon  Oberösterreichs  bemächtigt  und  bedrohten  Wien  und 
Prag.  Kein  Wunder,  daß  die  österreichischen  Minister  Ungarn 
schon  in  Flammen  erblicken.  War  ja  die  politische  Kon- 
stellation für  die  Dynastie  unzweifelhaft  noch  gefährlicher 
als  im  Jahre  1703,  als  der  Aufstand  Räköczis  ausbrach, 
denn  jetzt  fehlte  es  an  den  verläßlichen  Bundesgenossen,  die 
damals  dem  Kaiser  beistanden.  Die  Erinnerung  an  die  mehr 
als  ein  Jahrhundert  dauernden  Aufstände  bewirkte,  daß  die 
Räte  der  Königin  noch  immer  Ungarn  als  den  nächsten  und 
deshalb  gefährlichsten  Feind  betrachteten. 

In  den  seit  der  Vereinbarung  von  Szatmär  (1711)  ver- 
flossenen dreißig  Jahren  hatte  sich  die  königliche  Macht  auch 
in  der  Gesetzgebung  nicht  bloß  zur  überwiegenden,  sondern 
sozusagen  zur  alleinherrschenden  Gewalt  emporgeschwungen. 
Auf  dem  Reichstage  von  1722—23  haben  die  Stände  den 
königlichen  Vorschlag  zur  Reform  der  Gerichtshöfe  ver- 
worfen. Die  persönliche  Intervention  des  Herrschers  genügte 
zur  Annahme  und  Inartikulation  des  Vorschlags.  Noch  be- 
zeichnender für  das  persönliche  Regiment  ist,  daß  der  König 
nach  dem  Reichstage  von  1728—29  dem  Komitat  Trencs6n 
geradezu  verbot,  seinen  Abgeordneten,  Herrn  von  Baerta- 
kovics,  den  Führer  der  ständischen  Opposition,  wieder  zu 
wählen. 

Langsam  schwand  der  Zustand  der  Schwäche,  in  wel- 
chen früher  die  Kämpfe  gegen  Türken  und  Deutsche,  dann 

*)  Brief  im  Nationalmuseum  Qu.-Lat.  168. 


416  Heinrich  Marczali, 

der  Aufstand  Räköczis  die  Nation  gestürzt  hatten.  Damals 
war  sie  froii,  wie  die  am  meisten  gebrauchte  Phrase  dieser 
Epoche  sagt,  „in  den  Port  eingelaufen  zu  sein".  Jetzt 
konnte  sie  ihre  Segel  wieder  stolz  und  frei  entfalten.  Die 
durch  die  Kriege  gegen  Türken  und  Franzosen  zur  schwin- 
delnden Höhe  emporgewachsene  kaiserliche  Macht  war  seit 
dem  Hinscheiden  des  Prinzen  Eugen  in  stetem  Verfall  be- 
griffen. Es  hatte  den  Anschein,  als  ob  mit  dem  Aussterben 
des  Mannsstammes  auch  das  Reich  der  Habsburger  seiner 
Auflösung  entgegensehen  würde. 

Den  Mitgliedern  und  Führern  des  Reichstages  konnte 
es  nicht  verborgen  bleiben,  daß  ein  neuer  Geist  in  die  Ver- 
sammlung eingezogen  war.  Bei  einem  Diner  des  Banus, 
Grafen  Josef  Esterhäzy,  an  dem  auch  der  Protonotar  Niko- 
laus von  Jankovich  zugegen  war,  sagte  der  alte  Herr  zu 
seinen  Gästen:  „Es  ist  klar,  daß  diese  Versammlung  weit 
über  die  früheren  emporragt.  Es  gibt  in  ihr  viel  mehr  weise, 
gelehrte,  scharfsinnige  Männer.  Früher,  wenn  ein  anerkannt 
kluger  Abgeordneter  eine  Rede  hielt,  hörten  ihm  alle  zu 
und  folgten  ihm,  wie  wenn  Apolls  Orakel  gesprochen  hätte. 
Jetzt  aber  leiden  die  Zungen  der  Nachbarn  an  dem  Reize 
der  Rede,  so  daß  sie  selbst  den  klügsten  Sätzen  nicht  folgen, 
sondern  sie  widerlegen  wollen.  Die  Stellen  in  der  Regierung 
möchten  sie  am  liebsten  mit  unerfahrenen  Leuten  besetzen. 
In  den  Sitzungen  wollen  sie  sich  nicht  mit  der  Kenntnis 
der  Gesetze  und  guter  Gewohnheiten  einen  Namen  machen, 
sondern  mit  Übermut  und  Selbstlob.  Mit  solchen  Mitteln 
wünschen  sie  ihre  unwissenden  und  in  den  öffentlichen 
Angelegenheiten  unerfahrenen  Söhne  oder  Klienten  im 
Statthaltereirat  und  in  den  Gerichtshöfen  unterzubrin- 
gen."i)  - 

Diese  scherzhafte  Rede  des  Banus  liefert  zugleich  einen 
sehr  interessanten  und  lehrreichen  Beweis  dafür,  daß  diese 
ständischen  Reichstage  doch  nicht  so  entfernt  von  dem  Be- 
streben waren,  auf  die  Besetzung  der  Regierungsstellen  Ein- 
fluß auszuüben,  als  man  es  nach  ihrer  Organisation  und 
ihrer  öffentlichen  Wirksamkeit  voraussetzen  sollte. 


1)  Am  4.  Juni,  Kolinovics,  1.  c.  S.  97—98. 


Vitam  et  sanguinem!  417 

Auch  in  Äußerlichkeiten  gab  sich  der  zu  neuer  Kraft 
gediehene  nationale  Geist  kund.  Die  ganze  Ständetafel  er- 
schien in  ungarischem  Kostüm,  schwarz,  weil  das  Trauerjahr 
um  König  Karl  III.  (Kaiser  Karl  VI.)  noch  nicht  abgelaufen 
war.  Auch  bei  den  Magnaten  zeigten  sich  nur  wenige  im 
deutschen  Hofkostüm.  Ein  deutsches  Wort  konnte  hellen 
Zorn  entfachen.  Als  ein  Graf  einige  Worte  in  dieser  Sprache 
sprach,  schrie  Adam  v.  Acsädy,  Bischof  von  Veszprem,  ehe- 
mals Hofkanzler:  ,,wer  T....  spricht  hier  deutsch?"  Ein 
sehr  verbreitetes  Pasquill  trug  den  Titel:  „Valedictio  ünga- 
riae  ad  Germanos"  —  Abschied  Ungarns  von  den  Deutschen. 

Dieser  neue,  stark  oppositionelle  Geist  verursachte  auch 
in  verhältnismäßig  unbedeutenden  Angelegenheiten  Aus- 
brüche der  Heftigkeit  und  Leidenschaft.  Die  wahre  parla- 
mentarische Schlacht  aber  wurde  um  die  Feststellung  des 
königlichen  Inauguraldiplomes  und  des  Krönungseides  noch 
vor  der  Krönung  geschlagen.  Der  Einzug  der  Königin  war 
für  den  20.,  die  Krönung  für  den  25.  Juni  festgesetzt.  Bis 
dahin  mußte  diese  wichtige,  die  ganze  Verfassung  sichernde 
und  womöglich  mit  neuen  Garantien  verschanzende  Arbeit 
fertiggebracht  werden. 

Die  Ständetafel  beschloß  am  2.  Juni,  auf  Vorschlag  ihres 
Präsidenten  Grassalkovics,  die  Zusammenstellung  der  Be- 
schwerden nach  den  Distrikten  (diesseits  und  jenseits  der 
Donau,  diesseits  und  jenseits  der  Theiß,  Kroatien).  Diese 
Beschwerden  sollen  dann  als  Substrat  zur  Basis  der  even- 
tuellen Änderung  und  Erweiterung  des  königlichen  Diplomes 
dienen.  Die  Distrikte  waren  am  12.  Juni  mit  dieser  Arbeit 
fertig.  Zwei  Tage  später  schlägt  Grassalkovics  die  Entsen- 
dung einer  Regnicolar-Deputation  vor,  an  welcher  auch  die 
Magnatentafel  teilnimmt  und  welche  auf  Grundlage  der 
Distriktualarbeiten  das  neue  Diplom  entwerfen  solle.  Die 
Stände,  später  auch  die  Magnaten,  nahmen  den  Vorschlag 
an.  Doch  erhob  sich  bei  der  Oberen  Tafel  eine  Debatte 
darüber,  ob  ein  Geistlicher  Präsident  dieser  Deputation  sein 
kann.  Die  Frage  wurde,  nachdem  mehrere  Bischöfe  und  der 
Banus  dafür  gesprochen  hatten,  bejaht.  So  wurde  seinem 
Range  gemäß  Graf  Gabriel  Patachich,  Erzbischof  von  Ka- 
locsa,  Präsident  der  Deputation.    Der  Kirchenfürst,  der  in 


418  Heinrich  Marczali, 

seiner  Residenzstadt  den  Gebrauch  der  serbischen  Sprache 
bei  Stock-  oder  Geldstrafe  verboten  hat.^) 

Außer  dem  Erzbischof  war  der  hohe  Klerus  noch  durch 
den  Bischof  von  Pecs  (Fünfkirchen)  und  den  Großprobst  von 
Szepes,  den  späteren  Primas  Barköczy,  repräsentiert,  die 
Bannerherren  durch  den  kgl.  Oberstallmeister  Grafen  Franz 
Esterhäzy,  die  Grafen  durch  den  General  Graf  Georg  Csäky, 
den  Obergespan  Graf  Thomas  Berenyi,  dann  durch  die 
Grafen  Paul  Balassa  und  Leopold  Draskovics,  die  Freiherrn 
durch  Baron  Georg  Ghyllänyi  und  Baron  Johann  Peterfy. 
Auch  die  Delegierten  der  Ständetafel  wurden  der  strengen 
ständischen  Sonderung  gemäß  gewählt.  Die  Protonotare 
Sigismund  von  Pecsy,  Nikolaus  von  Jankovich  und  Johann 
von  Terstyansky  vertreten  die  königliche  Tafel  (Ober- 
gerichtshof), der  kroat.-slavonische  Protonotar  Adam  von 
Naissitz  diese  Länder,  Adam  Käroly,  Domherr  von  Györ, 
(Raab)  den  Klerus.  Die  Komitate  waren  vertreten  durch 
Ladislaus  von  Schloßberg  (Pozsony)  Georg  v.  Szentivanyi 
(Nögräd),  Alexander  von  Czompö  (Sopron;Ödenburg),  Franz 
V.  Szegedy  (Veszprem),  Johann  v.  Okolicsänyi  (Zemplen), 
Franz  v.  Kubinyi  (Gömör),  Samuel  v.  Patay  (Szabolcs),  Sigis- 
mund V.  Andrässy  (Csongrad),  die  Städte  durch  die  Depu- 
tierten von  Pozsony,  Selmecz  und  Zägräb.  Hierzu  kamen 
noch  die  Ablegati  Absentium:  Gabriel  v.  Pronay,  der  einen 
ungarischen  Herrn,  und  Nicolaus  Bencsik,  der  einen  Indi- 
genen  vertrat.  2) 

Es  fällt  in  die  Augen,  wie  einheitlich  ständisch  und 
oppositionell  trotz  aller  scheinbaren  Gegensätze  diese  Depu- 
tation war.  Nicht  nur  ihr  Präsident  bezeugt  dies,  mehr 
noch  die  Teilnahme  der  Abgeordneten  von  Pozsony,  Sopron 
und  Zemplen,  der  Führer  der  Opposition,  unter  welchen 
sich  besonders  Joh.  v.  Okolicsänyi  durch  seine  unbeugsame 
Energie  und  seine  Rednergabe  auszeichnete.  Ihr  Elaborat 
hatte  in  der  Tat  eine  Verstärkung  der  Landesrechte  und  Frei- 
heiten zum  Ziele,  wie  sie  bis  dahin  nur  in  der  Wahlkapitula- 


1)  Historia  Metrop.  Eccl.  Coloc.  von  Steph.  Katona  11.72. 

2)  Diarium  Diaetale.   Manuskript  des  Ungar.  Nationalmuseums. 
Fol.  Lat.  607. 


Vitam  et  sanguinem!  419 

tion  Wladislaus'  II.  (1490)  und  in  den  königlichen  Diplomen 
des  17.  Jahrhunderts  errungen  werden  konnte.  Im  ständi- 
schen Interesse  war  die  vollständige,  für  alle  Zeiten  ver- 
bürgte Steuerfreiheit  des  Adels  ihre  Hauptforderung,  staat- 
lich die  vollkommene  Entfernung  jeglichen  auswärtigen  Ein- 
flusses auf  die  vaterländischen  Angelegenheiten,  die  Inte- 
grität des  Reichsgebietes,  die  Einverleibung  Siebenbürgens. 
Der  Entwurf  wurde  von  allen  vier  Distrikten  angenommen. 
Schon  am  18.  Juni  konnte  Grassalkovics  melden,  daß  das 
Elaborat,  obgleich  noch  nicht  ganz  fertiggestellt,  doch,  grö- 
ßerer Eile  halber,  verhandelt  werden  könne.  Nachmittags 
wird  es  diktiert  —  die  Reichstagsakten  werden  erst  seit 
1790  gedruckt — ,  dann  am  19.  von  beiden  Tafeln  verhandelt 
und  mit  einigen  Modifikationen  auch  angenommen. 

Dieser  in  seinem  ganzen  Wesen  und  in  allen  seinen 
Sätzen  durch  und  durch  oppositionelle  Diplomentwurf  wird, 
durch  den  Reichstag  in  Begleitung  eines  Gesuches  (Instantia) 
der  Königin  unterbreitet.  In  diesem  Gesuche  begründen  die 
Stände,  ihre  Treue  betonend,  die  von  ihnen  angestrebten 
Änderungen  des  von  König  Karl  III.  bei  seiner  Krönung 
1712  gegebenen  Diplomes.  Das  Dokument  schließt  mit  den 
Worten:  „Wir  bitten  Eure  Majestät  unterthänigst  auch  die 
Ihr  unterbreitete  Modifikation  des  Krönungseides  allergnä- 
digst  gutheißen  zu  wollen.  Es  wird  dies  ein  ewiges  An- 
denken der  Gnade  Eurer  Majestät  zu  dieser  Ihr  erblich  unter- 
thänigen  Nation  sein.  Für  Welche  Gut,  Leben  und  Blut 
eifrigst  zu  opfern  für  uns  der  allergrößte  Gewinn  und  Ruhm 
sein  wird.  Wir  wollen  vor  aller  Welt  bezeugen,  daß  die 
Stände  dieses  Reiches,  das  unter  den  Reichen  Eurer  Maje- 
stät das  erste  ist,  was  Liebe,  Treue  und  Opferwilligkeit  an- 
belangt, hinter  niemanden  zurückbleiben. "i)  Unterschrieben 
sind:  „Eurer  Majestät  unterthänige  Kapläne  und  Diener, 
getreue,  erbliche  Unterthanen,  die  in  Pozsony  versammelten 

1)  Pro  qua  fortunas  vitam  et  sanguinem  alacriter  profundere,  in 
lucri  et  gloriae  prima  polissimaque  parte  numerabimus,  et  orbi  testatum 
facere  studebimus,  Status  et  Ordines  Regni  istius,  quod  Majestatis  Ves- 
trae  Regnorum  primum  est,  in  amore,  fidelitate  et  devotione  nulli  secundas 
futuros.  —  Coronatio  Serenissimae  Mariae  Tfieresiae  in  Reginam  Hun- 
gariae.    Schwandtner,  Scriptores  II.  587 — 588. 


420  Heinrich  Marczali, 

Stände  Ungarns  und  seiner  Nebenländer"  und  in  ihrem 
Namen  „Frater  Emericus",  der  Primas  Emerich  Esterhäzy, 
und  Graf  Johann  Pälffy,  Iudex  Curiae. 

Gewiß  ist  diese  Adresse  ein  charakteristisches  Denkmal 
der  Gesinnung,  nicht  bloß  des  Reichstags,  sondern  der  ganzen 
Nation.  Neben  dem  kräftigen  Ausdrucke  der  nationalen 
Tradition,  der  seit  Jahrhunderten  wiederholten  Beschwerden 
und  Forderungen,  und  als  ihre  Ergänzung,  findet  sich  in  ihr 
eine  Wärme  der  dynastischen  Treue,  der  Anhänglichkeit  an 
die  geheiligte  Person  des  Königs,  wie  sie  seit  den  Tagen 
Ludwigs  des  Großen,  seit  bald  vierhundert  Jahren,  wohl 
ohne  Beispiel  war.  Da  der  König  von  Ungarn  nicht  mehr 
deutsch-römischer  Kaiser  ist,  ist  dieses  Reich  unter  seinen 
Reichen  das  erste.  Das  Recht,  sowie  die  Pflicht,  seine  Macht 
zu  erhalten,  fällt  also  in  erster  Linie  dieser  Nation  zu.  Um 
diese  große  Aufgabe  lösen  zu  können,  muß  die  Nation  selbst 
frei,  sicher,  mächtig  sein. 

Wir  müssen  hervorheben,  daß  „vitam  et  sanguinem''  hier 
nur  ein  Teil  des  Anerbietens  ist.  Auch  das  Gut:  fortunas 
wird  angeboten.  Eine  Beschränkung  wie:  vitam  et  sangui- 
nem  —  sed  avenam  non,  wie  sie  die  viel  spätere  Anekdote 
vorspiegelte  —  lag  diesen  gesunden,  kräftigen  Männern 
ferne.  ^) 

Diese  Adresse  wurde  also,  wie  wir  gesehen,  am  18.  Juni 
von  den  Ständen  verhandelt  und  angenommen.  Nachmittags 
wurde  sie  diktiert,  so  daß  auch  die  Reichstagsjugend,  deren 
Obliegenheit  die  Vervielfältigung  der  Reichstagsakten  war, 
ihren  Inhalt  kennen  mußte.  Am  19.  wurde  sie  bei  der  Obern 
Tafel  verhandelt  und  angenommen.  Hier  erregte  es  großen 
Anstoß,  daß  in  einer  so  wichtigen  Angelegenheit  die  Stände 
vor  den  Prälaten  und  Magnaten  schon  ihren  Beschluß  ge- 
faßt hatten.  Auch  hier  war  der  Protonotar  Sigismund  von 
Pecsy  Referent,  dem  als  solchen  während  der  Verhand- 
lung ein  Sitz  zwischen  den  hohen  Herren  angewiesen  wurde 

1)  Schon  die  Gesetze  des  16.  Jahrhunderts  enthalten  dieses  An- 
erbieten, So:  1554.  1.  Non  parcentes  rebus,  fortunis  et  vitae  etiam  pro- 
priae.  1556.  1.  sese,  vitam,  fortunasque  cor  am  Status  offerunt.  1557. 
1.  vitam  et  fortunas  profundere  paratos.  1566.  3.  pro  ipsius  Majestate 
et  dulci  Patria  sanguinem  cum  vita  profundere. 


I 


Vitam  et  sanguinem!  421 

und  zwar  ein  sehr  vornehmer:  gleich  nach  den  Reichs- 
baronen. 

Dem  Herkommen  gemäß  waren  die  Protonotare  (die 
rechtsl<undigen  Beisitzer  der  Oberrichter:  des  Palatins,  des 
Iudex  Curiae  und  des  Personals,  d.  i.  des  königlichen  Stell- 
vertreters in  Justizsachen),  die  Verfasser  und  Referenten  der 
Schriften  unserer  ständischen  Versammlungen.  Wir  müssen 
also  in  erster  Linie  Sigismund  von  Pecsy  für  den  Verfasser 
des  historisch  gewordenen  Satzes  halten.  Doch  dürfen  wir 
nicht  aus  den  Augen  verlieren,  daß  Pecsy  Protonotar 
des  Oberstlandesrichters  {Iudex  Curiae),  also  des  Grafen 
Johann  Pälffy  war,  noch  auch,  daß  Grassalkovics  an  den 
Arbeiten  der  Deputation  sehr  tätig  Anteil  genommen 
hat.  Diese  beiden  Staatsmänner  konnten  sehr  wohl  dafür 
sorgen,  daß  die  so  oppositionelle  Adresse  wenigstens  in 
einer  höchst  loyalen  Hülle  erscheine.  Es  wird  also  der 
wahre  Autor  sehr  schwer  zu  finden  sein,  um  so  weniger, 
als  über  die  Verhandlungen  in  der  Deputation  nichts 
Schriftliches  vorliegt,  und  die  Abfassung  eines  Protokolls 
dieser  Verhandlungen  dem  damaligen  Usus  gar  nicht  ent- 
sprach. 

Sobald  das  Wort  geprägt  ist,  wird  es  auch  gebraucht. 
Am  20.  Juni  erfolgte  der  königliche  Einzug;  am  21.  die 
feierliche  Eröffnung  des  Reichstages  im  Thronsaale.  Nach 
der  kurzen  Rede  des  Hofkanzlers  in  ungarischer  Sprache 
hielt  die  Königin  eine  Ansprache,  in  welcher  sie  die  Stände 
begrüßt  und  erklärt,  sie  wünsche  nicht  so  sehr  ihnen  Herrin 
als  Mutter  zu  sein.  Dann  übergibt  die  Königin,  wie  es  das 
Herkommen  erheischt,  die  königlichen  Propositionen,  d.  h. 
das  vom  Hofe  gewünschte  Arbeitsprogramm  des  Reichstags, 
dem  Hofkanzler,  der  sie,  da  noch  kein  Palatin  gewählt  war, 
dem  Primas  überreicht.  So  beantwortet  nun  Frater  Eme- 
ricus  im  Namen  des  Reichstages  die  königliche  Thronrede. 
Diese  Antwort  spricht  die  Hoffnung  aus,  daß  die  ungarische 
Nation,  durch  so  viele  Schicksalsschläge  auf  die  Probe  ge- 
stellt und  dem  Verderben  nahe,  nun  durch  die  Weisheit 
und  Güte  der  Herrscherin  zu  neuem  Leben  erblühen  werde. 
Er  erklärt  im  Namen  der  Stände,  als  heiliges  Gelöbnis,  daß 
sie  bereit  sind,  mit  eifriger  Seele  für  das  Wohl  und  das 


422  Heinrich  Marczali, 

Glück  der  königlichen  Majestät  Leben  und  Blut  zu  ver-;^ 
gießen.  1) 

Die  Wendung  ist  also  beinahe  wörtlich  der  Adresse  ent- 
nommen. Nur  „fortunas"  ist  weggeblieben.  Die  Phrase  ist 
dadurch  kürzer,  martialischer  geworden.  In  dieser  Umprä- 
gung benützt  sie,  wie  schon  bemerkt  und  bekannt,  tags 
darauf  Graf  Johann  Pälffy,  als  neugewählter  Palatin. 

Doch  erscheint  das  Wort  nicht  nur  offiziell  im  Munde 
der  großen  Herren.  Während  des  Reichstags  erschienen 
Pasquille  in  Menge,  sowohl  in  Versen  als  in  Prosa.  Ein- 
zelne unter  ihnen  sind  gegen  Individuen  gerichtet,  doch  die 
große  Masse  will  auch  auf  diese  Weise  dem  nationalen  Fühlen 
dienen.  Die  von  der  Königin  gewünschte  Wahl  ihres  Ge- 
mahles, des  Großherzogs  von  Toskana,  zum  Korregenten 
begegnete  sehr  starkem  Widerstände  und  war  alles  eher  als 
populär.  Es  gibt  einen  Vers,  welcher  der  allgemeinen  Ansicht 
über  diese  Neuerung  in  folgenden  Worten  Ausdruck  verleiht: 
„Weh  mir  elenden,  verlassenen  Waise,  Dem  einst  so  glück- 
lichen, schönen  Ungarland.  Bis  jetzt  haben  nur  Deutsche  in 
ihm  geschaltet.  Jetzt  sollen  auch  Franzosen  in  ihm  walten^ 
Herren  sein  über  all'  unser  Gut." 

Doch  macht  die  Opposition  vor  der  Königin  Halt:  „Ich 
weiß,  daß  Ihre  Majestät  daran  keine  Schuld  trägt.  Möge 
also  dein  Herz  Hoffnung  zu  ihr  fassen.  Auch  menge  ich 
meine  Königin  nicht  in  diese  Dinge,  sondern  preise  sie  mit 
eifrigem  Herzen  bis  zum  Tode.  So  lange  ich  lebe,  stehe 
ich  für  sie  in  Waffen  und  bedauere  nicht,  meinen  letzten 
Blutstropfen  für  sie  zu  vergießen. "2) 

Der  loyale  Auslaut  dieses  Pasquills  wird  noch  inter- 
essanter, wenn  wir  bedenken,  in  welchem  Zusammenhange 
dasselbe  Wort  fünfzig  Jahre  früher,  noch  vor  Räköczi,  ge- 
braucht wurde: 

,,Ich  vergieße  mein  Blut  für  meinen  Vater,  für  meine 
Mutter.    Ich  lasse  mich  töten  für  meine  schöne,  beringte 


1)  Ita  ex  parte  fidelium  Statuum  et  Ordinum  sancta  fide  promitti, 
quod  pro  felicitate  incolumitateque  Suae  Majestatis  Reginae  vitam  et 
sanguinem  profundere  alacri  animo  parati  sint.  Coronatio  p.  582 — 583. 

2)  H.  Marczali,  Ungarn  im  Zeitalter  Josefs  II.    1,32—33. 


Vitam  et  sangainem!  42S 

Braut,  ich  sterbe  noch  heute  für  meine  ungarische  Nation", 
lautet  ein  historisches  Volkslied  der  Kuruczenzeit. 

Seit  der  Hinrichtung  Konts  und  seiner  Gefährten  durch 
König  Sigismund  zu  Ende  des  14.  Jahrhunderts  war  die 
ungarische  Muse,  mit  seltenen  Ausnahmen,  königsfeindlich 
gewesen.  Jetzt  begann  sie  loyal  zu  werden  wie  zur  Zeit 
der  nationalen  Könige,  der  Arpäden  und  der  Anjou. 

„Worte  gelten  wie  Münzen."  Wie  hat  sich  das  Gepräge 
geändert!  Wie  ist  doch  das  reine  Gold  des  Gefühles  das- 
selbe geblieben! 

Doch  war  damit  der  Geist  des  Widerstandes  nicht  er- 
storben. Nach  der  Krönung  kam  er  wieder  zur  Herrschaft. 
Die  Königin  wollte  an  dem  Inauguraldiplom  ihres  Vaters 
nichts  ändern.  Wohl  war  sie  bereit,  die  berechtigten  Wünsche 
der  Stände  in  besonderen  Gesetzen  zu  erfüllen,  doch  hielt 
sie  vieles  nicht  für  berechtigt.  Die  Unzufriedenheit  war  all- 
gemein. Diese  Unzufriedenheit  wurde  noch  genährt  durch 
die  Meinung,  die  Königin  sei  wohl  geneigt,  den  Wünschen 
der  Nation  zu  willfahren,  doch  würden  ihre  guten  Vorsätze 
durch  den  Neid,  die  Mißgunst  und  die  Habsucht  ihrer  deut- 
schen Minister  vereitelt. 

Jedenfalls  zeugt  diese  Meinung,  welche  die  Person  des 
Herrschers  von  seinen  Räten  scheidet,  von  gesundem,  kon- 
stitutionellem Sinn.  Auch  daran  können  wir  kaum  zweifeln, 
daß  die  vertrauten  Getreuen  Maria  Theresias  die  Nach- 
richten von  dem  Zwiespalte  zwischen  der  Königin  und  ihren 
Ministern  verbreiteten  und  wissentlich  wohl  noch  vergrö- 
ßerten, schon  deshalb,  damit  der  Sieg,  nach  so  hartem 
Kampfe,  um  so  ruhmvoller  erscheine.  Doch  wurde  auch 
die  Person  der  Königin  in  diesen  Streit  verwickelt.  Ein 
Pasquill  klagt  sie  des  Wortbruches  an.  Sie  hat  versprochen, 
die  Mutter  der  Nation  zu  sein,  und  hat  sich  in  diesem  Fuchs- 
pelz in  das  Vertrauen  der  Ungarn  hineingestohlen,  um  sie 
dann  verderben  zu  können.  Andererseits  war  die  Königin 
durch  das  Mißtrauen  beleidigt,  durch  die  Aufzählung  der 
unter  der  Regierung  ihres  Vaters  stattgefundenen  ungesetz- 
lichen Handlungen  der  Regierung  tief  gekränkt.  Maria 
Theresia  hatte  ritterlichen  Gehorsam  erwartet  und  oft  trot- 
zigen Widerstand  gefunden  in  Angelegenheiten,  die  ihr  am 


424 


Heinrich  Marczali, 


meisten  am  Herzen  lagen.  Als  der  Kampf  um  das  Diplom 
wogte  (24.  Juni),  vergleicht  der  Botschafter  von  Venedig 
die  Sitzung  dem  polnischen  Reichstag.  Der  Erzbischof  von 
Kalocsa  fiel  in  Ungnade,  weil  er  der  Mitregentschaft  des 
Gemahles  der  Königin  heftig  opponierte.  Später  behaup- 
teten die  Abgeordneten,  daß,  wenn  sich  nichts  erreichen 
ließe,  es  besser  wäre,  den  Reichstag  zu  schließen  und  nach 
Hause  zu  gehen.  Sie  wären  von  ihren  Absendern  bedroht, 
wenn  sie  so  wenig  mitbrächten.  Viele  gingen  wirklich  nach 
Hause. 

Hiezu  kam  noch  der  Vormarsch  der  Franzosen  und 
Bayern,  der  sämtliche  nichtungarische  Länder  Maria  There- 
sias mit  Wien  bedrohte.  Man  muß  die  günstige  Lage  aus- 
nützen, um  möglichst  viele  und  große  Konzessionen  zu  er 
langen,  so  lange  diese  Lage  anhält.  Jetzt  ist  ja  die  Königin 
allein  auf  Ungarns  Treue  angewiesen.  Joh.  von  Okolicsänyi 
trat  mit  immer  erneuten  Forderungen  auf. 

Dies  war  die  Stimmung  der  Ständetafel,  bevor  Maria 
Theresia  am  11.  September  den  Reichstag  zu  sich  ins  Schloß 
beschied.  Die  Eröffnung  des  Reichstags  war  im  Zeichen 
der  vollen  Loyalität  vor  sich  gegangen,  später  trat  die  extrem- 
nationale Strömung  in  den  Vordergrund.  Die  kaum  grünende 
zarte  Pflanze  des  Vertrauens  zwischen  König  und  Nation  war 
in  Gefahr  zu  erfrieren. 

Die  Frage:  freier  Wille  oder  Determinismus  ist  eine  der 
tiefsten  und  schwierigsten  Fragen  der  Psychologie  und  somit 
auch  der  Geschichte.  Steht  Individuen  und  Nationen  die 
Freiheit  des  Entschlusses  zu  oder  herrscht  das  strenge  Gesetz, 
der  Zwang  der  notwendigen  Folgen  der  Ursachen  über 
Massen  wie  über  einzelne? 

Auch  die  Nation  hat  ihre  innere  Seelengeschichte  wie 
das  Individuum.  Die  einzelnen  Momente  dieser  inneren 
Geschichte  sind  nicht  aus  einem  Gusse,  selbst  bei  den  ent- 
schiedensten Personen  fehlt  die  völlige  logische  Konsequenz. 
Je  reicher  die  Vergangenheit,  um  so  mehr  verzweigen  sich 
ihre  Wirkungen,  um  so  mehr  Möglichkeiten  des  Entschlusses. 
Hier  ist  der  göttliche  Funken:  der  Entschluß,  die  Tat,  die 
Frucht  eines  plötzlichen  Affektes,  dort  die  reflektierende 
Wirkung  von  vergangenen  Seelenzuständen.   Der  freie  Wille 


Vitam  et  sanguinem!  425 

besteht  in  der  bewußten  Wahl  des  Individuums  oder  der 
Masse,  welche  Phase  ihrer  eigenen  Vergangenheit  sie  im 
entscheidenden  Augenblick  für  sich  als  Wegweiser  an- 
nehmen. 

In  jenen  Tagen  kämpfte  in  der  ungarischen  Volksseele 
die  Jahrhunderte  alte,  auf  soviel  Leid  begründete  Tradition 
des  Mißtrauens  ihren  Kampf  gegen  die  auf  gegenseitiges 
Vertrauen  fußende  Hoffnung  einer  besseren  Zukunft, 

Diese  erregten,  oft  erbitterten  Kämpfe  nahmen  das  Inter- 
esse der  Stände  stärker  in  Anspruch  als  die  Verwicklungen 
der  äußeren  Lage.  Für  diese  mangelte  es  in  Ungarn  —  viel- 
leicht zum  ersten  Male  in  seiner  Geschichte  —  ganz  an  Ver- 
ständnis. Nach  Mohäcs  hatte  Siebenbürgen  als  selbständiger 
Staat  eine  hochentwickelte  Diplomatie,  und  auch  die  ungari- 
schen Räte  des  Habsburger  Königs  waren  in  die'  Staats- 
geheimnisse eingeweiht.  Die  ein  volles  Jahrhundert  lang 
währenden  Freiheitskämpfe  gaben  auch  der  protestantisch- 
ständischen Opposition  vollauf  Gelegenheit,  als  Gesandte 
oder  im  Senat  in  die  auswärtigen  Angelegenheiten  Einblick 
zu  erhalten.  Seit  dem  Frieden  von  Szatmär  aber  hatte 
Ungarn  ebensowenig  eine  Armee  als  eine  Diplomatie.  Wien 
schloß  es  hermetisch  vom  Auslande  ab.  Wie  Maria  Theresia 
später  schrieb,  waren  dort  die  österreichischen  Minister  mit 
den  Böhmen  in  stetem  Zwist  und  nur  darin  einig,  die  Ungarn 
fernzuhalten. 

Deshalb  forderte  der  Reichstag  für  Ungarn  einen  Anteil 
im  Staatsministerium,  welche  Forderung  auch  gewährt 
wurde  (1741.  Gesetzartikel  11).  Bei  der  Beratung  über, 
diesen  Gegenstand  erntete  Graf  Thomas  Berenyi  den  größten 
Beifall.  Er  sagte:  Ganz  Europa  weiß,  daß  die  Minister  der 
Königin,  in  der  Führung  der  Geschäfte  geübt,  auch  den 
schwierigsten  Verhandlungen  gewachsen  sind.  Weshalb? 
Weil  sie  sich  stets  mit  diesen  beschäftigen.  Die  Ungarn 
werden  aber  mit  Verachtung  von  den  Staatssachen  'aus- 
geschlossen und  können  sich  also  diese  Geschicklichkeit 
nicht  erwerben.  Besäßen  sie  sie,  so  würden  sie  mit  ihrem 
Verstand,  ihrer  Sachkenntnis  und  ihrer  Geschicklichkeit  auch 
die  besten  unter  jenen  nicht  nur  erreichen,  sondern  wohl 
auch  übertreffen.   In  diesem  Punkte  dürfen  wir  nicht  schwan- 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  28 


426 


Heinrich  Marczali, 


ken,  wollen  wir  nicht  die  dumme  Fabel  und  Verleumdung 
derer  bestätigen,  daß  in  Ungarn  nur  Ochsen  und  Wild  ge- 
deihen. 

Es  handelte  sich  also  darum,  Ungarn  den  ihm  gebühren- 
den Anteil  an  der  Regierung  der  Monarchie  gesetzlich  zu  er- 
wirken. Nie  waren  die  Voraussetzungen  dazu  so  günstig 
als  in  jenem  Augenblick.  Jahrhunderte  lang  waren  die 
Könige  Ungarns  zugleich  Kaiser  des  römisch-deutschen 
Reiches.  Ihre  Familientradition  zog  sie  nach  Westen;  in 
ihrer  Politik  spielte  Ungarn  selten  die  führende  Rolle;  trotz 
aller  sie  dazu  einladenden  Gesetze  kamen  sie  nur  selten  und 
nie  auf  längere  Zeit  in  dieses  von  Türken  und  Bürgerkriegen 
zerfleischte  Reich.  Mit  dem  Aussterben  des  Mannesstammes 
der  Habsburger,  mit  der  Thronbesteigung  einer  Frau,  mußte 
dieser  Zusammenhang  aufhören.  Maria  Theresia  war  vor 
aller  Welt  „Königin  von  Ungarn  und  Böhmen",  dieses  Land 
hatte  also  wohl  das  Recht,  als  das  erste  unter  ihren  Erb- 
ländern zu  gelten.  War  ja  Ungarn  schon  im  15.  Jahrhun- 
dert, zusammen  mit  Böhmen  und  Österreich,  unter  der  Re- 
gierung der  Habsburger;  und  galt  es  doch  als  selbstver- 
ständlich, daß  es  die  Residenz  des  Königs  sein  muß.  König 
Albrecht,  der  nur  mit  Einwilligung  von  Ungarn  die  römisch- 
deutsche Krone  erlangen  durfte,  lebte  und  starb  in  Ungarn. 
Sein  Sohn,  Ladislaus  V.,  erklärte  bei  seiner  Großjährigkeits- 
erklärung  (Ende  1452),  „ich  bin  ein  Ungar  und  werde  in 
Ungarn  wohnen". i)  Ja  selbst  Ferdinand  I.  hat  nach  der  Er- 
oberung Budas  (1527)  ein  ganzes  Jahr  im  Lande  verbracht 
und  nur  die  Erneuerung  des  Kampfes  mit  den  Türken  und 
die  daraus  folgende  Teilung  des  Reiches  bewog  ihn  und  seine 
Nachfolger,  das  weniger  bedrohte  Wien  oder  Prag  zu  ihrer 
Residenz  zu  erheben. 

Jetzt  war  das  Reich  wieder  eins,  und  waren  auch  die 
Spuren  der  Jahrhunderte  währenden  Verheerungen  nicht 
verwischt,  so  begann  in  ihm  doch  frisches  Leben  zu  sprießen 
und  das  Vertrauen  in  eine  schönere  Zukunft  konnte  empor- 
keimen. Hatte  ja  schon  Prinz  Eugen  Ungarn  als  den  mög- 
lichen Schwerpunkt  der  Monarchie  bezeichnet. 


*)  Aeneas  Sylvias.   Historia  Friderici  III. 


Vitam  et  sanguinem!  427 

War  aber  das  Reich  eins,  war  es  erstarkt  und  voll  Zu- 
versicht in  seine  Kraft,  konnte  es  nicht  noch  einmal  den 
Versuch  machen,  sich  der  Herrschaft  Wiens  zu  erledigen? 
Das  war  es  ja,  was  die  österreichischen  Minister  erwarteten 
und  befürchteten.  Deshalb  rieten  sie  von  der  Bewaffnung 
Ungarns  ab,  da  diese  sich  zuerst  gegen  den  Hof  kehren 
würde. 

Noch  bei  der  Einführung  der  weiblichen  Erbfolge  hatte 
man  eine  wenn  auch  stille,  doch  um  so  hartnäckigere  Oppo- 
sition zu  bekämpfen.  Der  Palatin,  Graf  Nikolaus  Pälffy, 
der  damals  die  Vorbereitung  der  Stände  auf  sich  nahm  und 
sich  in  dieser  Angelegenheit  an  seinen  Protonotar  Franz  von 
Szluha,  einem  ehemaligen  Anhänger  Räköczis,  wandte,  er- 
hielt von  diesem  die  Antwort:  weder  die  Politik,  noch  die 
Würde  der  heiligen  ungarischen  Krone  gestatten  es,  daß  das 
größere  ein  Accidens  des  kleineren  sei;  daß  das  Königreich 
sich  einem  Herzogtum  unterordne;  es  sei  also  am  besten, 
das  Recht  der  freien  Wahl  zu  behaupten.  Eine  damals  sehr 
verbreitete  Schrift  sieht  in  der  Union  mit  Österreich  den 
Ruin  des  Vaterlandes.  Es  wird  zur  Provinz  herabsinken. 
„Heute  bricht  der  letzte  Tag  der  Freiheit  an." 

Doch  verhallte  die  Stimmung  der  Freiheitskriege  immer 
mehr.  Szluba  selbst  war  es,  der  im  Reichstage,  am  30.  Juni 
1722,  die  Stände  in  einer  langen  Rede  aufforderte,  die  weib- 
liche Erbfolge  dem  König  anzubieten.  Er  mochte  daran 
denken,  was  ihm  der  Palatin  am  7.  März  auf  seine  Vernei- 
nung geantwortet  hatte:  „sollen  wir  dann  den  Moskowiter 
oder  eine  andere  Potenz  wählen".  Das  Land  bedurfte  der 
Ruhe,  wollte  nicht  alles  aufs  neue  aufs  Spiel  setzen  und 
sah  doch  im  unzertrennlichen  Band  {perpetua  unio)  mit 
Österreich  seine  beste  Sicherheit.  Hatte  man  ja  mit  den 
alten  Verbündeten  gegen  die  Habsburger,  Franzosen  und 
Türken,  genug  schlechte  Erfahrungen  gemacht.  Mußte  ja 
mit  dem  Tode  Räköczis  auch  die  persönliche  Anhänglichkeit 
an  den  alten  Führer  aufhören.  Ohne  Begeisterung,  doch  mit 
Beruhigung  unterwarf  man  sich  dem,  was  unausweichlich 
schien.    Es  war  Sache  der  Konvenienz,  nicht  des  Herzens. 

Unter  solchen  Umständen  konnten  die  nach  der  Thron- 
besteigung Maria  Theresias  gemachten  Versuche  ihrer  Gegner, 

28* 


428 


Heinrich  Marczali, 


besonders  des  französischen  Hofes,  sich  in  Ungarn  eine  Partei 
zu  schaffen,  kaum  auf  Erfolg  rechnen. i)  Doch  war,  trotz 
des  Krieges,  kein  tiefer  Haß  gegen  Preußen  oder  Franzosen 
zu  verspüren.  Nur  der  Anspruch  des  Kurfürsten  von  Bayern 
auf  die  Krone  erregte  allgemeines  Mißfallen. 

Auch  als  verlautete,  daß  Franzosen  und  Bayern  in  Ober- 
österreich eingerückt  seien,  trat  keine  wesentliche  Änderung 
ein.  Man  sah,  wie  man  das  schwere  Geschütz  von  Buda 
zur  Verteidigung  Wiens  transportierte;  man  bemerkte,  daß 
das  Regiment  Baireuth  von  Preßburg  ebendahin  marschierte, 
und  daß  die  Königin  selbst  sich  dahin  begab,  um  die  Stadt 
durch  ihre  Gegenwart  zu  begeistern.  Die  Verhandlungen  des 
Reichstages  bezeugen,  daß  all  dies  die  Stände  ziemlich  kalt 
ließ  und  sie  keinesfalls  zur  frischen  Tat  anspornte. 

Die  Königin  aber  war  schon  entschlossen,  nach  eigener 
Einsicht  vorzugehen  und  sich  und  ihre  Sache  Ungarn  an- 
zuvertrauen. Unter  ihren  Räten  war  Bartenstein,  der,  aus 
Straßburg  gebürtig,  unbefangen  sein  konnte,  und  der  als 
Sohn  eines  Professors  von  den  hochgeborenen  Ministern 
scheel  angesehen  ward,  wie  es  scheint,  der  einzige,  der  mit 
ihr  übereinstimmte.  Er  schrieb  am  4.  September  an  Grassal- 
kovics  —  im  Auftrage  seiner  Herrin  — ,  er  möchte  mit  ihm 
unter  vier  Augen  über  die  Sache  sprechen,  über  welche  die 
Königin  schon  mehreremal  mit  ihm  (Grassalkovics)  verhan- 
delte, und  in  welcher  sie  ganz  auf  ihn  vertraue. 2)  Es  konnte 
kaum  von  etwas  anderem  die  Rede  sein  als  davon:  ob  die 
Königin  auf  die  Treue  und  Loyalität  der  Ständetafel  bauen 
könne.    Der  Magnaten  und  Prälaten  war  man  ja  sicher. 

Dies  war  also  der  Beginn  der  Aktion,  welche  in  der 
denkwürdigen  Sitzung  vom  11.  September  ihren  Abschluß 
fand.  Seit  dem  4.  September  wiederholte  man  oft,  daß  die 
Königin  geneigt  sei,  diese  ihr  so  treue  Nation  zu  bewaffnen 
und  nur  durch  ihre  Minister  an  der  Durchführung  ihrer 
edlen  Absicht  gehindert  werde.   Am  10.  September  gab  der 


1)  Marschall  Graf  Bercs6nyi,  Sohn  des  Generals  der  Räköczischen 
Revolution,  schrieb  damals  an  Gr.  Johann  Pälffy.  Dieser  aber  sandte 
den  Brief  an  den  Hof. 

2)  Im  Archive  in  H6dervär  unter  den  Grassalkovicsschen 
Schriften. 


Vitam  et  sanguinem!  429 

Palatin  ein  großes  Gartenfest,  an  welchem  alle  anwesenden 
Mitglieder  des  Reichstages  —  viele  waren  ja  schon  abgereist 
—  teilnahmen.  Da  trank  man  begeistert  für  die  Königin 
und  empfahl  ihre  Minister  der  Hölle.  Der  Ungar  hatte  für 
wen  zu  schwärmen  und  wem  zu  grollen. 

Nur  der  große  Staatsmann  kann,  mit  dem  Gewichte 
seiner  Persönlichkeit,  im  entscheidenden  Moment  die  viel- 
köpfige, buntgesinnte,  verschieden  denkende  Menge  zu  einer 
handelnden  Einheit  zusammenlöten.  Diese  Szene  hat  Maria 
Theresia  in  die  Reihe  der  weltgeschichtlich  Großen  empor- 
gehoben. Kaum  hätte  jemand  sonst  in  derselben  Lage  den- 
selben Erfolg  erringen  können.  Schon  der  Fürst  von  Ligne 
hat  erklärt,  daß  die  Ungarn  nie  für  einen  Mann  getan  hätten, 
was  sie  für  ihre  Fürstin  taten.  Die  Worte,  die  Erscheinung 
Maria  Theresias  appellierten  nicht  an  Gehorsam,  an  Pflicht, 
sondern  an  Recht,  Nationalstolz  und  Ritterlichkeit,  Eigen- 
schaften, die  der  Ungar  en  masse  nie  von  sich  weisen  kann. 

Und  so  geschah  das  Wunder.  In  solchen  Momenten 
entscheidet  nicht  die  Besonnenheit,  nicht  der  rechnende 
politische  Sinn,  der  bei  den  hohen  Würdenträgern  gewiß 
mit  im  Spiele  war,  sondern  bloß  die  Spontaneität  und  Wärme 
des  Gefühles,  das  auch  den  Kalten  mit  sich  reißt.  Und  es 
war  ein  Wunder,  das  dort  geschah.  In  einem  Augenblick 
zerfloß  eine  jahrhundertelang  im  Busen  genährte,  bittersüße 
Tradition  und  verblaßte  die  Erinnerung  an  die  nationale 
Tragödie.  Die  Gegenwart  und  die  Zukunft  hatten  die  Ver- 
gangenheit besiegt. 

Nicht  die  Erregung,  wohl  aber  der  plötzliche  und  ein- 
stimmige Ausdruck  dieser  Empfindung  wurde  dadurch  wesent- 
lich erleichtert,  daß  schon  seit  Monaten  ein  Losungswort  im 
Schwange  war,  das  alles  in  sich  faßte,  was  alle  unter  dem 
Eindrucke  der  Worte  der  Königin  fühlten;  ein  Losungswort, 
das  nicht  nur  die  innere  Bewegung,  sondern  auch  die  Tat 
in  sich  schließt:  das  „Vitam  et  sanguinem". 

Für  einzelne  wie  für  Nationen  sind  die  inneren  Beweg- 
gründe des  Entschlusses  entscheidend.  In  ihrer  Rede  vom 
11.  September  hat  Maria  Theresia  nur  edle  moralische  Saiten 
berührt.    Mag  der  Ungar  einzeln  wie  immer  sein,  politisch 


430 


Heinrich  Marczali, 


oder  selbst  sittlich,  als  Nation  bleibt  stets  die  Ehre  sein 
Leitstern. 

Es  war  dies  vielleicht  der  schönste  Tag  des  Adels,  der 
damals  noch  die  Nation  bildete.  Dem  Ruhme,  den  er  an 
diesem  Tage  gewann,  verdankte  er  die  moralische  Kraft, 
die  seine  Privilegien  noch  ein  Jahrhundert  lang  aufrecht 
erhielt.  Seitdem  hieß  der  Ungar:  die  Geißel  seiner  Tyrannen, 
die  treueste  Stütze  seines  rechtmäßigen  Herrschers. 

Es  ist  bekannt,  wie  der  größte  politische  Schriftsteller 
seiner  Zeit,  Montesquieu,  der  ja  Ungarn  auch  aus  eigener 
Anschauung  kannte,  dieses  Ereignis  beurteilte.  Es  spricht 
davon  im  „Esprit  des  Lois'\  in  dem  Kapitel:  Inwieweit  der 
Adel  geneigt  ist,  den  Thron  zu  vertheidigen. 

„Das  Haus  von  Österreich  arbeitete  stets  an  der  Unter- 
drückung des  ungarischen  Adels,  Es  sah  nicht  ein,  welchen 
Wert  dieser  einst  für  ihn  haben  werde.  Es  suchte  bei  diesem 
Volke  Geld,  das  es  nicht  hatte,  und  sah  nicht  die  Männer, 
die  es  hatte.  Als  so  viele  Fürsten  sich  in  seinen  Besitzungen 
teilten,  fielen  die  Stücke  der  Monarchie  einzeln,  unbewegt, 
untätig  zusammen.  Leben  war  nur  in  diesem  Adel,  der  zu 
Zorn  entfacht  Alles  vergaß,  um  zu  kämpfen,  und  dachte, 
seine  Ehre  fordere  Verzeihung  und  Tod." 

Dagegen  sind  die  Legenden,  welche  die  welthistorische 
Szene  umranken,  die  Anwesenheit  des  kleinen  Erzherzogs 
Josef,  das  „Moriamur" ,  die  Bestätigung  der  ganzen  Goldenen 
Bulle  usw.,  auf  die  Werke  Voltaires  zurückzuführen.  Der 
große  Rationalist  konnte  ein  Wunder,  wie  es  dort  geschah, 
nicht  begreifen.  Er  erklärte  es  auf  seine  Weise  und  sicherte 
dadurch  den  schon  im  Umlaufe  befindlichen  Mythen  eine 
nicht  verdiente  Popularität,  i) 

Für  uns  ist  der  11.  September  1741  ein  Wendepunkt 
unserer  Geschichte.  Um  es  kurz  zu  sagen,  der  erste  große 
Sieg  der  modernen  nationalen  Idee  über  die  mittelalter- 
liche. 

Das  ständische  Wesen  des  Mittelalters  beruhte  auf  dem 
do  ut  des.   Forderung  und  Bewilligung  werden  sorgfältig  ab- 


1)  Histoire  de  la  guerre  de  1741.    Par  M.  de  Voltaire.  A  La  Haye 
J756,  S.  52—54  und  65. 


Vitam  et  sanguinem!  431 

gewogen.  Das  Aragonische:  wir  erkennen  Dich  als  unseren 
König  an,  wenn  du  unsere  Rechte  bestätigst  und  sicherst  — 
se  no—  no  —  ist  der  schärfste  Ausdruck  dieses  Gedankens. 
Die  ungarische  mittelalterliche  Verfassung  war  in  dieser 
Hinsicht,  schon  seit  der  Goldenen  Bulle  von  1222,  der  arago- 
nischen nahe  verwandt.  Die  Folge  davon  war,  daß  die 
Kräfte  des  Staates  im  Kampfe  gegeneinander  sich  aufrieben. 
Die  moderne  Nation  sagt:  Wir  sind  eins  und  unteilbar. 
Du  kannst  nicht  unser  Feind  sein,  du  richtest  sonst  deine 
eigene  Macht  zugrunde.  Führe  uns  gegen  unsere  Feinde, 
die  auch  die  deinen  sind.  Wir  folgen  dir  zum  Siege  bis  in 
den  Tod. 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken 
Theodors  von  Schön  nach  1815. 


Von 
Eduard  Wilhelm  Mayer. 


Theodor  von  Schön  (1773 — 1856)  hat  schon  mit  vierund- 
dreißig Jahren  an  den  Reformen  Steins  bedeutsamen  Anteil 
genommen  und  hat  als  Greis  noch  das  nachmärzliche  Preußen 
gesehen,  —  „der  überlebende  Mann  der  Heroenzeit",  wie  ihn 
Bunsen  damals  nannte.  Als  Zeuge  der  großen  Tage  von 
Königsberg  und  Memel  hat  er  denn  auch  vor  allem  die  Ge- 
schichtsforschung beschäftigt,  obgleich  keine  Rolle  diesem 
starrsinnig  in  vorgefaßten  Meinungen  befangenen  Mann  weni- 
ger angepaßt  sein  konnte.  Seine  Aussagen  sind  im  Wechsel 
von  Anklage  und  Verteidigung  mehrfacher  Untersuchung 
unterworfen  worden. i)  Zuletzt  ist  es  ihm  aber  doch  meist 
ergangen,  wie  es  nach  den  Erfahrungen  der  gerichtlichen 
Psychologie  solchen  Naturen  oft  geht:  die  Richter  ärgern 
sich  an  dem  hochfahrenden  und  herausfordernden  Gebaren 


1)  Die  jüngste  Phase  der  Kritik  ist  eingeleitet  worden  durch  das 
sorgsam  untersuchende  Buch  von  M.  Baumann,  Theodor  von  Schön. 
Seine  Geschichtschreibung  und  seine  Glaubwürdigkeit.  Berlin  1910. 
Vgl.  hierzu  Friedrich  Thimme,  Eine  Rehabilitierung  Theodors  von 
Schön?  (Forsch,  z.  brandenburg.  u.  preuß.  Gesch.  Bd.  23,  S.  171  f.> 
Auf  der  kritischen  Untersuchung  von  Baumann  fußt  auch  die  zu- 
sammenfassende Darstellung  von  Gustav  Hasse,  Theodor  von  Schön 
und  die  Steinsche  Wirtschaftsreform.  Zugleich  ein  Beitrag  zu  einer 
Biographie  Th.  von  Schöns  (Leipziger  Diss.  1915). 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    433 

des  Zeugen;  die  Form  seiner  Worte  spricht  gegen  ihn,  mag 
ihr  Inhalt  so  oder  so  bewertet  werden;  er  bleibt  eine 
mißliebige  Persönlichkeit,  mit  der  niemand  gerne  viel  zu 
tun  hat. 

Man  kann  die  Entstehung  dieser  Stimmung  wohl  be- 
greifen und  es  doch  bedauern,  daß  unter  dem  Einfluß  solcher 
Antipathien  die  Forschung  sich  weit  mehr  mit  den  Aussagen 
Schöns  als  mit  seinem  Handeln  und  Denken  befaßt  hat. 
Zumal  für  die  Geschichte  der  politischen  Ideen  müßte  eine 
Untersuchung  seiner  Äußerungen  lehrreiche  Erkenntnisse  er- 
geben. Nicht  etwa  deswegen,  weil  sie  stets  von  einer  starken 
originalen  Kraft  zeugten,  sondern  weil  wir  daraus  ersehen 
können,  wie  im  Spiegel  einer  Staatsanschauung,  deren  wich- 
tigste Bildungselemente  dem  18.  Jahrhundert  entstammen  — 
vor  allem  der  Aufklärung  und  dem  deutschen  Idealismus,  der 
Freihandelslehre  und  doch  auch  der  Tradition  des  frideriziani- 
schen  Preußens  — ,  die  Ereignisse  und  Gedankenbewegungen 
der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  sich  darstellen.  Schön 
hat  jene  bestimmenden  Eindrücke  seiner  Jugend  verhältnis- 
mäßig unverfälscht  in  sich  erhalten  und  sich  neuen  Ein- 
flüssen wenig  zugänglich  gezeigt.  Daß  nun  ein  so  fest  ge- 
prägter Charakter  auf  die  wechselnden  Zeitströmungen  han- 
delnd und  beobachtend  reagiert  hat,  ermöglicht  uns  eine 
Art  geistesgeschichtlichen  Experimentes,  wie  es  uns  selten 
verstattet  ist.  Namentlich  wird  es  reizvoll  sein,  zu  schildern, 
wie  auf  diesen  Kopf,  dessen  stärkste  geistige  Wurzeln  im 
18.  Jahrhundert  liegen,  die  politischen  Begebenheiten  der 
vierziger  Jahre  wirken. i)  Seine  Stellungnahme  zu  diesen 
Ereignissen  wird  aber  erst  dann  verständlich  werden,  wenn 
wir  neben  seinem  Anteil  an  der  preußischen  Reform  auch 
seinem  späteren  Wirken  unsere  Aufmerksamkeit  schenken 
und  uns  namentlich  von  seiner  Verwaltung  der  Provinz 
Preußen  (1824  —  bzw.  Westpreußens  allein   1815  —  bis 


1)  Reiches  Material  an  Tagebüchern  und  Aufsätzen,  namentlich 
aus  der  Zeit  nach  Schöns  Entlassung,  liegt  noch  unverwertet  im  Nach- 
laß (Staatsarchiv  Hannover,  Depositum  von  Brünneck).  Im  folgenden 
benutze  ich  ein  paar  Auszüge,  die  ich  mir  bei  einer  im  wesent- 
lichen anderen  Zwecken  dienenden  Durchsicht  dieser  Papiere  angefer- 
tigt habe. 


434  Eduard  Wilhelm  Mayer, 

1842)  ein  klareres  Bild  zu  machen  vermögen.^)  Denn  mag 
auch  seine  Denkweise  oft  stark  aprioristisch  und  unbelehrbar 
erscheinen,  so  kann  doch  nicht  geleugnet  werden,  daß  er  sich 
mit  seinen  Erfahrungen  auseinandergesetzt  und  an  ihnen 
seine  Ansichten  geklärt  hat. 

I. 

Theodor  von  Schön  selbst  ist  nicht  unschuldig  daran, 
daß  die  Geschichtschreibung  sich  mehr  mit  seiner  Teilnahme 
an  dem  Reform-  und  Befreiungswerk  in  den  Jahren  1806 
bis  1813  als  mit  seinen  Leistungen  im  reifen  Mannesalter 
befaßt  hat.  Er  hat  in  seiner  Selbstbiographie  und  seinen 
sonstigen  mündlichen  und  schriftlichen  Erzählungen  mit 
Vorliebe  bei  jener  Heroenzeit  verweilt  und  von  dem,  was 
er  weiterhin  erlebte,  nur  kärglich  und  nicht  ohne  Mißmut 
berichtet.  2)  Sein  persönliches  Leben  schien  ihm  ebenso  wie 
das  allgemeine  seit  1815  zu  versanden,  wenn  er  es  mit  den 
tief  bewegenden  Erlebnissen  der  vorangegangenen  Jahre 
verglich,  und  bei  der  Rückschau  kam  ihm  das  Gefühl,  als 
hätte  er  schon  mit  42  Jahren  den  Höhepunkt  überschritten. 
Über  die  Periode  von  1816 — 1839  urteilte  er  resigniert:  ,,Die 
Zeit  neigte  sich  einem  alten  Hauswesen  zu,  wo  man  Diener 
und  Geräte,  wenn  sie  gleich  außer  der  Zeit  und  unbequem 
sind,  doch  erhält,  weil  sie  einmal  da  sind. "3)  Und  nicht 
ohne  Bitterkeit  vergleicht  er  den  Aufschwung  der  Jahre 
nach  1806  mit  der  rasch  einsetzenden  Ermattung:  ,,Man 
sollte  glauben,  daß  alle  Lichter  der  Zeit  von  1807/15  die 
jetzigen  Gräuel  zerstörend  in  Masse  aus  dem  Volke  jetzt 
hervorbrechen  müßten.  Aber  schon  das  Bild  der  Regierung 
als  Produkt  des  Standes  des  Volkes  zeigt  das  Gegenteil.  In 
der  Zeit  von  1807 — 1815  konnten  Ideen    einzelner  nur  da- 


^)  Einen  Teil  von  Schöns  Verwaltungstätigkeit  behandle  ich  in 
der  Schrift:  Das  Retablissement  Ost-  und  Westpreußens  unter  der 
Mitwirkung  und  Leitung  Theodors  von  Schön.  Jena  1916.  (Schriften 
des  Instituts  für  ostdeutsche  Wirtschaft  in  Königsberg  (Pr.).    Heft  1.) 

2)  Nach  Äußerungen  über  seine  Tätigkeit  als  Oberpräsident  habe 
ich  in  den  ungedruckten  Papieren  vergebens  gefahndet. 

')  Aus  den  Papieren  des  Ministers  und  Burggrafen  Theodor  von 
Schön  Bd.  3,  S.  155. 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    435 

<iurch  sich  geltend  machen,  daß  die  Gemeinheit  durch  den 
äußeren  Druck  wertlos  gemacht  war.  Die  Erfahrung  nach 
dem  Jahre  1815  zeugte  aber  deutlich,  daß  nur  allein  durch 
die  gewaltsame  Unterdrückung  gemeiner  Gesinnung  in  jener 
Zeit  Ideen  hatten  einfliegen  können,  diese  aber  in  dem 
Grade  wieder  wichen,  als  der  Druck  sich  verringerte.  Das 
Volk  war  in  den  Jahren  1807 — 1815  im  Zustande  des  Rau- 
sches und  die  Zeit  war  zu  kurz,  als  daß  ein  Charakter  sich 
hätte  bilden  können."^) 

Solche  harte  Worte,  die  die  Kleinheit  der  Epigonen  an 
der  hohen  Gesinnung  messen,  wie  sie  aus  Not  und  Gefahr 
erwachsen  war,  hören  wir  wohl  mehrfach  aus  dem  Munde  der 
Reformer.  Schön  aber  sieht  in  diesem  Kampf  des  Guten  mit 
dem  Bösen  den  bewegenden  und  alles  bestimmenden  Gegen- 
satz der  preußischen  Geschichte  im  neuen  Jahrhundert.  Die 
Schlachtrufe  Revolution  und  Legitimität,  die  Schöns  Zeit- 
genossen mehr  und  mehr  in  zwei  Heerlager  spalteten,  wan- 
delten sich  ihm  zum  Widerstreit  von  Reform  und  bureau- 
kratischer  Stagnation.  Er  hat  sich  auf  Grund  dieser  An- 
schauung die  Zeitgeschichte  konstruiert:  Seit  1805  ringen 
,,  Geist"  und  ,,  Gemeinheit"  miteinander  um  die  Herrschaft 
im  preußischen  Staat. 2)  Diese  neuen  Ariman  und  Ormuzd 
hatten  aber,  auch  wenn  er  nur  abstrakt  von  ihnen  spricht, 
in  seiner  Vorstellung  ganz  leibhaftige  Gestalt.  Die  Schuck- 
mann,  Bülow  und  wie  sonst  die  Berliner  Bureaukraten  und 
Reaktionäre,  die  er  haßte,  heißen  mochten,  —  sie  waren 
jener  ,, gemeinen",  „ideenlosen"  Gesinnung  ergeben.  Von 
dem  Tage,  an  dem  diese  Richtung  sich  vordrängte,  datiert 
er  den  Sündenfall  des  preußischen  Staates:  1817  ,,feyerte 
die  Gemeinheit  ihren  ersten  Triumph.  Unter  dem  Vorgeben 
des  historischen  Rechts  sollte  die  Repräsentation  aus  dem 
beinahe  in  keiner  Provinz  mehr  lebenden  ständischen  Ver- 
hältnisse abgeleitet  werden." 

Der  Vorwurf  der  „Gemeinheit"  traf  also  nicht  allein 
jene  matte  und  ängstliche  Politik  der  Reaktion,  der  auch 


^)  Stücke  aus  meinem  Glaubensbekenntnis  (beendet  12.  Januar 
1846).    Hannover  a.  a.  O.  Nr.  62. 

2)  In  einem  undatierten  Aufsatz  (Hannover  a,  a.  O.  Nr.  2,  fol.  27) 
führt  Schön  diesen  Gedanken  durch. 


436 


Eduard  Wilhelm  Mayer, 


wir  die  Fruchtbarkeit  absprechen,  sondern  er  zielte  zugleich 
in  das  Herz  der  damals  aufsteigenden  Geistesbewegung:  der 
Romantik  mit  ihrem  Verständnis  für  das  organisch  Gewor- 
dene, für  die  Geschichte.  Von  dieser  Zeitströmung  hat 
sich  Schön  auch  nicht  einen  Augenblick  tragen  lassen,  son- 
dern hat  gegen  sie  zu  schwimmen  versucht.  In  der  inneren 
Gegnerschaft  gegen  den  neuen  Geist  liegt,  wenn  wir  von 
dem  Stocken  der  äußeren  Laufbahn  absehen,  wohl  der  tiefste 
Grund  für  die  Unbefriedigung,  die  er  in  den  Jahren  nach 
1815  empfand.  Auch  für  seine  Stellung  zu  den  Ereignissen 
und  Problemen  der  vierziger  Jahre  ist  es  entscheidend  ge- 
wesen, daß  die  Gedanken  der  politischen  Romantik  völlig 
an  ihm  abgeglitten  sind.  Er  verurteilte  auf  das  schärfste 
die  Erziehung,  die  Friedrich  Wilhelm  IV.  zuteil  geworden 
war:  „Ancillon  gab  ihm  Geschichte  ohne  philosophisches 
Leben.  Savigny  und  die  märkischen  Junker  sprachen  von 
der  allein  notwendigen,  allein  heilbringenden  historischen 
Entwicklung.  Notizenkram  sollte  Philosophie  und  Religion 
ersetzen.  "1) 

Schön  beharrte  auf  dem  philosophischen  Standpunkt, 
den  er  als  junger  Mensch  in  Königsberg  gewonnen  hatte,  und 
entwickelte  nicht  jenen  Sinn  für  den  Reichtum  und  den 
Zusammenhang  des  geschichtlichen  Lebens,  den  die  Romantik 
auch  vielen,  die  von  Kant  ausgegangen  waren,  erschloß.  Dies 
deutet  schon  darauf  hin,  daß  er  auch  die  Philosophie 
Kants  unter  einem  bestimmten  Gesichtswinkel  aufnahm,  der 
die  in  ihr  enthaltenen  irrationalen  Elemente  ausschaltete  und 
ihm  damit  den  Weg  versperrte,  auf  dem  er  ein  Verständnis 
für  den  Wert  individuellen,  geschichtlichen  Lebens  hätte  ge- 
winnen können. 

Man  weiß  ja,  daß  Schön  gegen  den  Freiherrn  vom  Stein 
ganz  ähnliche  Vorwürfe  wie  gegen  die  historische  Schule  er- 
hoben hat.2)  Er  habe  nur  eine  , »sogenannte  historische  Bil- 
dung" gekannt,  „welche  ohne  Philosophie  der  Geschichte  im 


1)  Hannover  a.  a.  O.  Nr.  62. 

*)  Dabei  möchte  ich  unentschieden  lassen,  inwieweit  Schön 
Steins  Historismus  schon  in  der  Zeit  ihres  Zusammenarbeitens  miß- 
billigt hat,  oder  ob  diese  Kritik  nicht  vielmehr  erst  nachträglich  aus 
dem  Kampf  gegen  die  historische  Schule  sich  entwickelt  hat. 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v-  Schön.    437 

Staatswesen  immer  zur  Barbarei  führt";  er  habe  deshalb 
immer  nur  nach  ,, Beispielen,  nicht  nach  Ideen  gehandelt". 
Daran  sei  jene  schlechte  Göttinger  Erziehung  schuld,  die 
nach  Pütters  Art  mit  ,, Notizen-Massen,  ja!  Notizen-Bergen" 
den  besten  Geist  zu  dämpfen  geeignet  gewesen  sei.^)  Daß 
in  Göttingen  Schlözer  und  Gatterer,  später  Spittler  und 
Heeren  ihren  Hörern  eine  großzügige  Anschauung  der  Ge- 
schichte vermittelten,  vermochte  Schön  nicht  zu  würdigen, 
weil  er  ganz  und  gar  in  den  Gedanken  jener  Aufklärung 
befangen  war,  die  nur  das  logisch  verknüpfte  System,  nicht 
den  intuitiv  erfaßten  geschichtlichen  Zusammenhang  als 
wissenschaftliche  Wahrheit  gelten  ließ.  Deshalb  konnte  er 
in  der  Geschichte  bestenfalls  nur  eine  in  Schubfächern  ein- 
zuteilende Vorratssammlung  von  Beispielen  sehen,  die  in 
ihrem  propädeutischen  Wert  der  begrifflichen  Klärung  über 
die  ,,Idee  des  Staates"  weit  unterlegen  war. 

Was  aber  verstand  Schön  unter  der  Idee  des  Staates, 
die  er  bei  Stein  so  wenig  entwickelt  fand  und  die  er  auch 
bei  seinen  ,, ideenlosen"  Zeitgenossen  vermißte?  Er  hat  den 
Begriff  selbst  nie  klar  verdeutlicht,  aber  die  häufig  wieder- 
kehrende Formel  läßt  doch  gewisse  Rückschlüsse  auf  die 
geistige  Provenienz  dieser  Staatsphilosophie  zu.  Aus  einem 
als  ewig  gültig  aufgestellten  Begriff  des  Staates  will  Schön 
im  dialektischen  Prozeß  die  Grundsätze  der  Regierung  und 
Verwaltung  ableiten.  Er  steht  im  Banne  eines  rationalisti- 
schen Naturrechts.  Wie  er  seine  Ideen  gewinnt,  das  hat  er 
einmal  in  einem  Augenblick,  in  dem  er  mit  den  politischen 
Verhältnissen  besonders  unzufrieden  war,  drastisch  übertrei- 
bend folgendermaßen  geschildert:  „Nun  rufe  ich  mir  zu: 
Mache  Phantasie-Bilder,  träume,  reiße  Ideen  vom  Himmel, 
so  viel  Du  los  kriegen  kannst,  und  halt  sie  fest,  damit  die 
ideenlose  Zeit  Dich  nicht  ideenlos  (gemein)  mache.  Man 
muß  faseln,  um  vernünftig  zu  bleiben  usw."^)    Kant  würde 


^)  Briefwechsel  des  Ministers  und  Burggrafen  von  Marienburg, 
Theodor  v.  Schön  mit  G.  H.  Pertz  und  J.  G.  Droysen.  Herausgegeben 
von  Franz  Rühl,  Leipzig  1896  (Publik,  d.  Vereins  f.  d.  Gesch.  v.  Ost- 
u.  Westpreußen).  S.  18:  Schön  an  Pertz,  S.Jan.  1848;  S.  217 f.: 
Schön  an  Droysen,  14.  Febr.  1852. 

2)  Schön  an  Brünneck,  2.  Febr.  1842  (Aus  den  Papieren  III  495). 


438  Eduard  Wilhelm  Mayer, 

Über  diesen  „schwärmenden"  Metaphysiker,  der  so  tollkühn 
den  Himmel  stürmt,  den  Kopf  geschüttelt  haben.  Schön 
selbst  ist  sich  dabei  des  Schwärmens  wohl  bewußt  und  sieht 
deutlich,  daß  gegenüber  dem  Schwelgen  in  Ideen  der  prak- 
tischen Vernunft  dem  Verstand,  „diesem  nothwendigen  Haus- 
knecht der  Vernunft",  sein  Recht  gewahrt  bleiben  müßte. 
Aber  er  beruft  sich  auf  die  Schlechtigkeit  der  Zeit,  auf  ihre 
„Gemeinheit",  um  zu  zeigen,  daß  sie  den  normalen  Gebrauch 
des  Verstandes,  die  ständige  Kontrolle  der  Gedanken  an  der 
Erfahrung  nicht  gestatte,  weil  diese  Erfahrung  für  höher 
gestimmte  Seelen  zu  trübe  sei.  Geistvoll  hat  er  aus  den 
kantischen  Kategorien  heraus  die  Geschichte  der  Restaura- 
tion zu  deuten  versucht:  „Die  jetzigen  Wirren  in  den  Staaten 
entstehen  dadurch,  daß  die  Völker  Ideen  wollen  und  daß 
die  Gouvernements  sich  auf  Verstandesbegriffe  beschränken. 
Daraus  entsteht  bei  den  ersten  ein  maßloses  Treiben,  denn 
Ideen  sind  unendlich  und  bei  den  letzteren  eine  Hinneigung 
zum  Vergangenen  in  dem  Grade,  daß  dabei  mehr  vom  Ge- 
biete der  Chronik  als  von  philosophischer  Aufnahme  der 
Geschichte  die  Rede  ist."i)  Erfahrung  und  Denken,  die 
Kant  in  weiser  Begrenzung  ihrer  Gerechtsame  miteinander 
ausgeglichen  hatte,  fallen  wieder  auseinander.  Gerade  die 
von  Schön  ganz  richtig  hervorgehobene  „Unendlichkeit"  der 
Idee,  ihr  Charakter  als  regulatives  Prinzip  führte  in  die 
Philosophie  Kants  den  Entwicklungsbegriff  ein  und  ermög- 
lichte auch  auf  ihrem  Boden  ein  Verständnis  der  Geschichte. 
Schöns  Idee  aber  verliert  die  Beziehung  zur  Erfahrung  und 
wird  „maßlos".  Er  ist  deshalb  in  Gefahr,  wieder  dem  un- 
kritischen Rationalismus  des  18.  Jahrhunderts  zu  verfallen. 
Das  Unhistorische  des  Liberalismus  erscheint  bei  Schön 
zum  guten  Teil  als  eine  Reaktion  gegen  die  Lehre  vom 
historischen  Recht.  Wohl  ist  wie  bei  so  vielen  seiner  libe- 
ralen Zeitgenossen  auch  bei  ihm  die  naturrechtliche  Anlage 
unverkennbar,  aber  er  hätte  von  seinem  philosophischen 
Standpunkt  und  von  seinen  staatsmännischen  Erfahrungen 
aus  doch  auch  die  Möglichkeit  gehabt,  entwickluitgsgeschicht- 
lich  zu  denken.   Daß  jene  ungleich  stärker  als  diese  sich  ent- 


1)  Schön  an  Kamptz,  6.  April  1840  (Aus  den  Papieren  IV  534f.). 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    439 

faltet  hat,  ist  wohl  nur  daraus  zu  erklären,  daß  das  Schlag- 
wort vom  historischen  Recht  als  Deckmantel  gedankenlosen 
Beharrens  mißbraucht  wurde  und  damit  die  geschichtliche 
Anschauungsweise  in  Mißachtung  kam.  Schön  selbst  hat 
die  Versteifung  auf  Extreme  zuweilen  bedauert,  und  ein  kon- 
servativer Fortschritt  würde  seinen  Idealen  mehr  entsprochen 
haben.  Gerade  darin  sah  er  die  Größe  der  Reformzeit,  daß 
damals  „Verstand  und  Vernunft"  oder,  wie  wir  wohl  inter- 
pretieren dürfen,  Erhaltung  und  Bewegung  ins  rechte  Gleich- 
maß gesetzt  gewesen  seien,  i) 

Die  ideengeschichtliche  Betrachtung  würde  demnach  nur 
ein  verzerrtes  Bild  von  Schöns  Gedankenwelt  gewinnen,  wenn 
sie  sich  an  seine  radikalen  Äußerungen  hielte.  Sie  entspringen 
vielfach  jener  Opposition  gegen  die  herrschenden  feudal- 
romantischen Mächte  und  sind  der  Ausdruck  einer  persön- 
lichen Verstimmung  und  Nörgelsucht,  der  Schön,  je  älter  er 
wurde,  desto  mehr  die  Zügel  schießen  ließ.  Nur  aus  seiner 
politischen  Praxis  können  wir  erkennen,  welches  die  wirklich 
treibenden  Gedanken  seiner  Theorie  sind. 

II. 

Theodor  von  Schön  ist  in  den  vierziger  und  fünfziger 
Jahren  von  den  preußischen  Liberalen  als  ihr  Vorkämpfer 
auf  den  Schild  erhoben  worden.  Er  verkörperte  für  sie  die 
Zeit  der  Reform,  deren  Bestrebungen  sie  wieder  aufgenommen 
wissen  wollten,  und  das  politische  Testament  Steins,  das 
Schön  im  Jahre  1808  verfaßt  hat,  galt  ihnen  als  ein  erstes 
Programm  ihrer  eigenen  Richtung.  Unter  Schöns  Einwirkung 
hat  sich  auch  jene  ständisch-liberale  Opposition  gebildet,  die 
Ostpreußen  zu  einem  Herd  des  entschiedenen  Freisinns 
machte.  Gerade  die  Radikalen  haben  sich  mit  Vorliebe  auf 
ihn  berufen.    Inwieweit  mit  Recht? 

Wer  den  Ursprüngen  von  Schöns  Liberalismus  nach- 
geht, wird  finden,  daß  die  französischen  Doktrinen  ein  viel 
geringeres  Maß  von  Einfluß  auf  ihn  haben  als  auf  die  Radi- 


>)  Ebenda  S.  536:  In  den  Jahren  1807 — 15  konnte  anders  als  in 
Frankreich  „bei  uns  die  Idee  unmittelbar  und  allein  durch  ihre  Macht 
und  Herrlichkeit  ins  Leben  treten,  weil  dabei  dem  Verstände  die  ihm 
gebührende  Ehre  gegeben  war." 


440 


Eduard  Wilhelm  Mayer, 


kalen  der  vierziger  Jahre.  Er  ist  in  erster  Linie  wirtschaft- 
lich gerichtet  und  folgt  den  Antrieben  der  freihändleri- 
schen Lehren  von  Adam  Smith,  die  Schön  bei  seinem 
Lehrer  Kraus  in  Königsberg  kennen  gelernt  hatte.  Schön 
will  alle  staatlichen  Schranken,  die  dem  freien  Wettbe- 
werb entgegenstehen,  aufheben  und  dem  Schaffenstrieb 
des  einzelnen  freien  Weg  bahnen.  Ihn  bestimmt  zu  dieser 
Forderung  weniger  der  fröhliche  Optimismus  des  großen 
Schotten,  der  aus  dem  freien  Spiel  der  Kräfte  eine  natür- 
liche Harmonie  hervorgehen  sieht,  als  vielmehr  ein  sitt- 
licher, erzieherischer  Gedanke:  Die  kantische  Idee  des  auto- 
nomen, pflichtbewußten  Willens  hat  Schöns  liberales  Denken 
ebenso  nachhaltig  befruchtet  wie  die  freihändlerische  Lehre. 
Beide  Gedankenkreise  verbindet  er  zu  einer  ethisch  tief  be- 
gründeten politischen  Theorie.^)  Er  erstrebt  die  wirtschaft- 
liche und  politische  Freiheit,  weil  sie  die  Verwirklichung 
seines  sittlichen  Lebensideals  befördert:  Nur  der  ganz  auf 
sich  und  seine  Kraft  gestellte  Mensch  wird,  davon  ist  er 
überzeugt,  sein  Höchstes  leisten  und  seine  Gaben  voll  ent- 
falten. Die  Freiheit  ist  für  Schön  weniger  ein  Grundrecht 
des  Staatsbürgers,  wie  sie  den  süddeutschen  Liberalen  er- 
scheint, als  vielmehr  ein  Mittel,  die  stärksten  moralischen 
Kräfte  aus  den  Menschen  herauszulocken.  2)  Sein  Liberalis- 
mus wurzelt  nicht  so  sehr  im  Naturrecht  als  in  dem  strengen 
Geist  des  kategorischen  Imperativs,  der  lebendigsten  Kraft, 
die  er  seinem  philosophischen  Studium  verdankte.  Der 
innige  Zusammenhang,  der  den  älteren  ,, ethischen"  Libera- 
lismus^), wie  er  sich  auch  in   Ernst  Moritz  Arndt  und  in 

1)  Die  Wechselwirkung  der  kantischen  und  der  nationalökonomi- 
schen Bildungselemente  in  Schöns  Entwicklung  bis  1807  arbeitet  die 
Dissertation  von  Hasse  gut  heraus.  Vgl.  meine  oben  angeführte 
Schrift,  Das  Retablissement  usw.,  S.  39  ff. 

2)  Im  politischen  Testament  Steins  von  1808  bezeichnet  es  Schön 
als  das  Ziel  der  Reform:  „die  Disharmonie,  die  im  Volke  stattfindet, 
aufzuheben,  den  Kampf  der  Stände  unter  sich,  der  uns  unglücklich 
machte,  zu  vernichten,  gesetzlich  die  JVIöglichkeit  aufzustellen,  daß 
jeder  im  Volke  seine  Kräfte  frei  in  moralischer  Richtung  entwickeln 
könne."  G.  H.  Pertz,  Das  Leben  des  JVlinisters  Frhr.  v.  Stein,  Bd.  II, 
S.  309.  —  Faksimile  von  Schöns  Entwurf:  Aus  den  Papieren  III  220. 

3)  Vgl.  E.  JVlüsebeck,  Die  ursprünglichen  Grundlagen  des  Libe- 
ralismus und  Konservatismus  in  Deutschland.   Korrespondenzblatt  des 


Politische  Erfalirungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schon.    441 

Dahlmann  verkörpert,  mit  dem  klassischen  Idealismus  ver- 
bindet, ist  bei  dem  Oberpräsidenten,  der  in  der  Stadt  der 
reinen  Vernunft  regierte,  mit  Händen  zu  greifen.  Vor  jenen 
anderen  hatte  er  den  großen  Vorteil  voraus,  daß  er  seine 
Gesinnung  praktisch  werden  lassen  konnte.  Zwar  seit  1809 
nicht  mehr  im  Mittelpunkt  der  Staatsregierung,  aber  doch 
im  Wirken  für  die  Provinz,  in  der  er  fast  einen  väterlichen 
Absolutismus  ausübte.  Hier  hat  er  jenen  Liberalismus  zur 
Geltung  gebracht,  dem  es  noch  mehr  um  die  Eigenkraft 
als  um  das  Eigenrecht  des  Individuums  zu  tun  ist.  Indem 
er  die  wirtschaftliche  und  politische  Freiheit  zu  verwirk- 
lichen sucht,  denkt  er  ebenso  an  die  Gesamtheit,  an  den 
Staat,  wie  an  den  einzelnen.  Ethik  und  Staatsräson  weisen 
ihn  in  die  gleiche  Richtung. 

Die  Lage  Ost-  und  Westpreußens  war  nach  dem  opfer- 
reichen Kriege  besonders  schwierig,  und  Schön  hatte  ver- 
hältnismäßig nur  geringe  Mittel  zur  Verfügung,  um  der 
Provinz  aufzuhelfen.  Aber  seiner  Überzeugung  nach  konnte 
auch  mit  Geldunterstützungen  das  Übel  nicht  behoben,  son- 
dern allenfalls  dem  Leistungsfähigen  ein  Ansporn  und  eine 
kleine  Erleichterung  gegeben  werden.  Das  einzig  durchgrei- 
fende Heilmittel  schien  ihm  nur  darin  zu  liegen,  daß  die 
Bewohner  der  Provinz  sich  selbst  wieder  emporarbeiteten, 
und  als  die  Aufgabe  des  Staates  betrachtete  er  es,  sie  dazu 
anzureizen  und  ihnen  diesen  Weg  nicht  etwa  durch  irgend- 
welche gesetzliche  Hindernisse  zu  verbauen.  Er  hielt  es 
für  eine  falsche  Maßregel,  die  die  Willenskraft  des  einzelnen 
bloß  lähme,  wenn  der  Staat  in  seinen  Forderungen  an  Steuern 
und  Abgaben  zurückging.  Er  verwarf  jene  Mittel  merkanti- 
listischer  Wirtschaftspolitik,  mit  denen  Friedrich  Wilhelm  I, 
und  Friedrich  der  Große  zerstörte  Provinzen  wieder  auf- 
zubauen gewußt  hatten:  die  staatliche  Reglementierung  des 
Getreidehandels,  die  Züchtung  neuer  Wirtschaftszweige, 
überhaupt  die  Bevormundung  durch  den  Staat.  Schön 
suchte  durch  Notstandsarbeiten  Gelegenheit  zum  Erwerb 
und  damit  zur  Selbsthilfe  zu  schaffen.  Das  Recht  auf  Arbeit 
wird  von  ihm  anerkannt  als  eine  Gegenleistung  des  Staates, 

Gesamtvereins  der  deutschen  Geschichts-  und  Altertumsvereine  1915, 
Nr.  1  u.  2,  S.  1—26. 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  29 


442 


Eduard  Wilhelm  Mayer, 


die  der  Pflicht  des  Bürgers  entspricht,  die  eigene  Kraft  aufs 
höchste  anzuspannen.  Ist  für  jeden  die  Möglichkeit  vor- 
handen, sich  etwas  zu  verdienen,  dann  bleibt  es  seinem 
freien  Willen  überlassen,  wie  weit  er  davon  Gebrauch  machen 
will. 

Die  so  verstandene  Freiheit  gleicht  sicherlich  mehr  der 
sittlichen  Autonomie  Kants  als  dem  Rechte  des  Sichauslebens, 
das  die  liberale  Phrase  so  leicht  aus  ihr  machte.  In  diesem 
Geiste  hat  Schön  in  der  Provinz  gewirkt,  und  es  kann  nicht 
bestritten  werden,  daß  er  eine  große  moralische  Macht  über 
ihre  Bewohner  ausübte.  Wir  haben  lebendige  Zeugnisse  da- 
für, wie  er  die  besten  Kräfte  in  den  Menschen  zu  wecken 
wußte. 

Aber  wird  dieser  sittlich  und  staatsmännisch  beherrschte 
Liberalismus  bei  Schön  nicht  zuweilen  überboten  von  einem 
Radikalismus,  der  bloß  zerstört  ohne  aufzubauen,  der  vor 
allem  nicht  frei  ist  von  demokratischem  Klassenhaß?  Nach 
einer  in  manchen  Kreisen  Ostpreußens  fest  eingewurzelten 
Tradition  hat  Schön  den  dortigen  Adel  systematisch  aus 
seinem  Besitz  zu  verdrängen  sich  bemüht.  Diese  Tradition 
knüpft  daran  an,  daß  unter  seiner  Verwaltung  in  den  zwan- 
ziger Jahren  eine  beträchtliche  Zahl  der  größeren  Güter,  die 
seit  dem  Kriege  hoch  verschuldet  waren,  von  dem  ritter- 
schaftlichen Kreditinstitut  unter  den  Hammer  gebracht 
wurden.  Bismarck  hat  ihr  in  einer  Reichstagssitzung  zu 
weiterer  Verbreitung  verholfen,  indem  er  Schön  nachsagte, 
er  habe  den  Adel  als  eine  unhaltbare  Rasse  betrachtet  und 
habe  deshalb  seine  Güter  billig  in  andere  Hände  bringen 
wollen. 

Die  ruhige  historische  Forschung  wird  diese  schweren 
Vorwürfe  nicht  als  berechtigt  anerkennen.  Biographisch  ge- 
sehen liegen  die  Dinge  vielmehr  so,  daß  gerade  jener  Not- 
stand der  größeren  Grundbesitzer  in  Ostpreußen 
bei  Schön  den  Durchschlag  konservativerer  Ansich- 
ten in  der  Adelsfrage  herbeigeführt  hat.  Daß  seine 
Anschauungen  in  diesem  Punkt  deutlichen  Wandlungen  unter- 
worfen waren,  ergibt  sich,  wenn  wir  seine  Äußerungen  aus 
der  Zeit  der  Reform  mit  späteren  aus  den  vierziger  Jahren 
vergleichen: 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    443 

Zeitlebens  hat  sich  Schön  allerdings  dagegen  gewandt, 
daß  der  Adel  als  eine  „besondere  Menschenrasse"  behandelt 
werde.  Im  Sinne  seiner  philosophischen  Meister  glaubte  er 
an  die  unbedingte  Überlegenheit  des  Geistes  und  der  Bil- 
dung über  alle  Vorzüge  der  Geburt.  Außerdem  hielt  er  es 
für  eine  dringende  Forderung  kluger  Volkswirtschaft,  daß 
der  adlige  Grundbesitz  dem  völlig  freien  Wettbewerb  unter- 
worfen wurde.  Das  Oktoberedikt  von  1807,  an  dessen  Zu- 
standekommen Schön  so  hervorragenden  Anteil  hatte,  hob 
die  bisherigen  Schranken  im  Grundstücksverkehr  auf  und 
schlug  damit  eine  Bresche  in  die  wirtschaftlichen  Privilegien 
des  Adels:  Diese  Privilegien  sollten  nicht  mehr  die  mög- 
lichst nutzbringende  Bewirtschaftung  des  Bodens  hindern; 
der  Adel  sollte  im  wirtschaftlichen  Kampf  seine  Tüchtigkeit 
bewähren.  ,, Moralisch-politische  Realität  war  die  Basis  des 
Standes,  und  alles,  was  nicht  zu  diesem  hohen  Bilde  poli- 
tisch-moralischer Würdigkeit  paßte  und  nicht  unbedingt  not- 
wendig war,  sollte  von  ihm  entfernt  bleiben,  z.  B.  jedes 
Scheinleben. "1)  Wie  die  wirtschaftliche  Abschließung  des 
Adels  wollte  Schön  auch  die  politische  beseitigt  wissen.  Das 
schien  ihm  damals  in  der  Not  des  Jahres  1808  um  der  Staats- 
macht willen  notwendig:  ,, Durch  eine  Verbindung  des  Adels 
mit  den  anderen  Ständen  wird  die  Nation  zu  einem  Ganzen 
verkettet.  Sie  wird  zugleich  die  allgemeine  Pflicht  zur  Ver- 
teidigung des  Vaterlandes  lebhaft  begründen."  Offensicht- 
lich hat  Schön  damals  die  englische  gentry  mit  ihren  flüssigen 
Grenzen  gegenüber  den  mittleren  Ständen  als  Ideal  vor 
Augen  gehabt.  In  diesem  Sinne  ist  es  zu  verstehen,  wenn  er 
bei  den  Beratungen  über  die  neue  Verfassung,  die  dem  Adel 
zu  geben  sei,  es  als  seinen  letzten  Gedanken  verrät:  ,, Ver- 
kettet man  ihn  allmählich  mit  den  anderen  Ständen,  so 
löset  er  sich  allmählich  auf  und  verschwindet,  ohne  es  selbst 
gewahr  zu  werden. "2)    An  eine  sofortige,  völlige  Abschaf- 


^)  Schön  an  Droysen,  März  1851,  über  das  politische  Testament 
und  die  Adelskonstitution  von  1808.  Briefwechsel  usw.  S.  176.  Die 
Akten  über  diese  Adelskonstitution  sind  verschwunden.  Vgl.  Leh- 
mann, Freiherr  von  Stein  II  515,  Dazu:  Pertz  an  Schön,  18.  August 
1849,  Briefwechsel  usw.  S.  23f. 

^)  Lehmann  a.  a.  0.  II  514. 

29* 


444 


Eduard  Wilhelm  Mayer, 


fung  des  Adels  hat  demnach  Schön  auch  damals  nicht  ge- 
dacht. 

Wenn  er  aber  im  Alter  behauptete,  er  habe  im  Jahre 
1808,  weit  entfernt  von  dem  Gedanken,  den  Adel  zu  be- 
seitigen, ihm  vielmehr  unter  veränderten  Verhältnissen  neues 
Leben  geben  wollen^),  so  ist  doch  ein  Unterschied  des  Urteils 
deutlich  zu  bemerken.  Er  erklärt  sich  aus  der  Rückspiege- 
lung von  Erkenntnissen,  die  Schön,  wie  wir  sehen  werden, 
gerade  in  den  übel  berufenen  zwanziger  Jahren  gewonnen 
hat.  Auch  den  Gedanken,  daß  bei  einem  gewissen  Kultur- 
zustande eines  Volkes  der  Adel  notwendig  sei,  legt  er  erst  nach 
Jahren  seinen  Äußerungen  aus  der  Zeit  von  1807/8  unter.  2)  Er 
ist  in  der  Tat  das  Produkt  einer  späten  Geschichtskonstruk- 
tion und  wird  erst  verständlich,  wenn  wir  folgende  Aufzeich- 
nung vom  16.  März  1846^)  zu  Hilfe  nehmen,  die  zugleich 
ein  Beispiel  dafür  gibt,  was  Schön  sich  unter  einer  ,, philo- 
sophischen Geschichte"  vorstellte:  Im  rohen  Zustande  ver- 
trete der  Adel  im  öffentlichen  Leben  die  ,,Consequenz",  d.  h. 
das  Gewohnheitsrecht  und  die  politische  Tradition,  und  bilde 
damit  den  ,,Damm  gegen  Willkür";  er  allein  entwickle  auch 
auf  dieser  Stufe  ,,eine  gewisse  Portion  Intelligenz".  Sobald 
aber  die  absolute  Monarchie  oder  die  ,, Despotie",  wie  Schön 
sagt,  errichtet  sei,  verliere  der  Adel  seine  allein  bevorzugte 
Stellung.  ,, Durch  Vernichtung  des  Adels  als  politischer 
Körper  entsteht  der  Despotie  gegenüber  der  Mittelstand. 
Eines  Theils  will  der  Souverain  Gefährten  gegen  den  Adel 
durch  den  Mittelstand  sich  bilden,  anderen  Theils  werden 
die  Regeln  der  Consequenz,  deren  Vertreter  früher  der  Adel 
war,  Gemeingut,  und  so  entsteht  zwischen  dem  rohen  Haufen 
und  dem  Adel  ein  Stand,  der  für  das  öffentliche  Leben 
seinem  Wesen  nach  Intelligenz  mit  sich  führt  und  bei  wel- 
chem, da  die  Vorurteile  des  Adels  ihn  nicht  hemmen,  die 

1)  An  Friedrich  Wilhelm  IV.  bei  Übersendung  eines  Faksimiles 
des  Politischen  Testamentes  von  1808.  Schön  wendet  sich  gegen  die 
falschen  Deutungen,  die  dieses  Dokument  gefunden  habe:  „So  hat 
man  die  Vernichtung  des  Adels  darin  gesucht,  obgleich  gerade  das 
Gegenteil,  nämlich  die  Begründung  des  Adels,  darin  enthalten  ist" 
(Aus  den  Papieren  111219). 

2)  An  Droysen,  22.  März  1851.    Briefwechsel  usw.  S.  176. 
^)  Hannover  a.  a.  O.  Nr.  62. 


I 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    445 

Intelligenz  sich  frey  entwickeln  kann.  Je  mehr  bey  diesem 
Cultur  Stande  des  Volkes  dieWillkühr  des  Souverains  hervor- 
tritt, um  so  mehr  bemüht  sich  das  Volk,  die  frühere  Stellung 
des  Adels  einzunehmen.  (Tyrannen  machen  freye  Men- 
schen!)" ,,So  macht  im  natürlichen  Gange  der  Dinge  die 
Intelligenz  sich  im  öffentlichen  Leben  geltend  und  so  ent- 
steht und  muß  notwendig  entstehen:  die  constitutionelle 
Monarchie."  „Soll  nun  in  dem  constitutionellen  Staate  ein 
Adel  seyn,  wie  bey  einem  tiefen  Cultur  Stande  des  Volkes 
notwendig  seyn  dürfte,  so  kann  der  Adel  nur  im  öffent- 
lichen Leben,  aber  nicht  in  Majoraten  oder  anderen  Ein- 
richtungen der  vordespotisch  finsteren  Zeit  Wurzel  und 
Basis  haben." 

Damit  erkennt  Schön  nun  doch  wieder  einen  selbstän- 
digen Wert  des  Adels  an  ,,als  Kern  des  öffentlichen  Lebens 
und  als  Bewahrer  der  Rechte  des  Throns  und  der  Freiheit 
des  Volkes".^)  Das  spezifische  Junkertum  freilich,  als  dessen 
Charakteristikum  Schön  die  Gleichgültigkeit  gegen  das 
öffentliche  Leben  betrachtet,  scheint  ihm  zur  Vernichtung 
verurteilt.  Denn  der  Adel  muß  sich  als  lebendige  Kraft 
im  Staate  bewähren,  wenn  er  mit  der  neu  aufstrebenden 
Klasse  Schritt  halten  will.  Die  ,,  Intelligenz",  die  Bildung, 
soll  im  Staate  herrschen.  Darum  fordert  Schön  für  den 
gebildeten  Mittelstand,  mit  dem  er  sich  in  gemeinsamem 
geistigen  Besitz  verbunden  weiß,  gleiches  Recht  wie  für 
den  Adel. 

Diese  Gesinnung  hat  er  vielen  seiner  Standesgenossen 
in  der  Provinz  einzuimpfen  verstanden.  Die  liberalen  ost- 
preußischen Adeligen  von  den  Auerswalds  und  Sauckens  bis 
zu  Hoverbeck  stehen  mehr  oder  minder  unter  dem  Einfluß 
des  einstigen  Oberpräsidenten.  Magnus  von  Brünneck  hat 
noch  im  Jahre  1858  sein  politisches  Glaubensbekenntnis  fol- 
gendermaßen abgelegt:  ,,Ich  glaube  mit  Schön,  daß  .  .  . 
nirgend  mehr  der  große  Grundbesitz  und  am  allerwenigsten 
bei  uns  in  Ermanglung  eines  jeden  wahrhaft  aristokratischen 
Elementes  zu  besonderen  Ansprüchen  berechtigt  ist,  sondern 
daß  die  Macht  der  Bildung  und  des  Besitzes,  gleich  viel 


*)  Selbstbiographie;  Aus  den  Papieren  III  90 — 102. 


446 


Eduard  Wilhelm  Mayer, 


welcher  Art,  wenn  nicht  überwiegend,  so  doch  wenigstens 
zum  gleichen  Theile  in  dem  Mittelstand  ruht,  der  uns  auch 
vorzugsweise  die  älteren  wahrhaft  liberalen,  nur  das  Ge- 
meinwohl erstrebenden  Beamten  geliefert  hat."^)  Brünnecks 
Sohn  freilich,  an  den  dieser  Brief  gerichtet  ist,  vertritt  be- 
reits damals  wieder  mehr  ständisch  gefärbte  Anschauungen. 
Jener  politische  Selbstverzicht,  der  sich  in  den  Worten 
seines  Vaters  ausspricht,  war  wohl  auch  nur  möglich  auf 
dem  Boden  einer  Wirtschaftstheorie,  die  so  stark  von  frei- 
händlerischen Vorstellungen  beherrscht  war,  daß  der  Ge- 
danke an  eine  Interessenvertretung  des  größeren  Grund- 
besitzes noch  keinen  Raum  gewinnen  konnte.  — 

Die  starke  Gefolgschaft,  die  Schön  im  ostpreußischen 
Adel  für  sich  gewann,  wäre  kaum  auf  seine  Seite  getreten, 
wenn  er  wirklich  jene  radikale  Adelsfeindschaft  betätigt 
hätte,  die  ihm  später  nachgesagt  wurde,  oder  auch  nur, 
wenn  ihm  jene  „allmähliche"  Auflösung  des  Adels  noch  als 
wünschenswert  erschienen  wäre,  die  er  1808  erhofft  hatte. 
Fragen  wir  aber,  wann  Schöns  Gedanken  über  den  Adel 
die  konservativere  Prägung  erhalten  haben,  die  uns  in  den 
Äußerungen  aus  den  vierziger  Jahren  entgegentrat,  dann 
müssen  wir  —  das  ist  unser  thema  probandum  —  als  den 
Wendepunkt  sein  Verhalten  angesichts  des  Notstandes  des 
größeren  Grundbesitzes  in  Ostpreußen  bezeichnen,  das  doch 
gerade  Anlaß  gegeben  hat,  ihn  des  derbsten  Radikalismus 
zu  bezichtigen. 

Als  Schön  im  Jahre  1824  die  Verwaltung  der  Provinz 
Ostpreußen  übernahm,  war  dort  auf  den  größeren  Gütern 
ein  völliger  Besitzwechsel  im  Gang.  Nach  der  Theorie  des 
laissez  faire,  laissez  aller  hätte  er  eigentlich  einen  Eingriff  in 
diesen  wirtschaftlichen  Prozeß  scheuen  müssen.  Die  staats- 
männische Einsicht  hat  aber  schließlich  obgesiegt  über  seinen 
nationalökonomischen  Doktrinarismus.  Daß  es  ihm  einen 
gewissen  Kampf  gekostet  hat,  ist  seinen  damaligen  Äuße- 
rungen anzumerken.  Er  rang  sich  aber  schließlich  zu  der 
rettenden    Formel    hindurch:    Wirtschaftlich    könne    es 


I 


1)  Brünneck  an  seinen  Sohn  Siegfried,  12.  Dezember  1858. 
Paul  Herre,  Von  Preußens  Befreiungs-  und  Verfassungskampf.  Aus 
den  Papieren  des  Oberburggrafen  Magnus  von  Brünneck  (1914)  S.  457. 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    447 

zwar  dem  Staat  gleichgültig  sein,  ob  A  oder  B  ein  Gut 
besitze,  aber  politisch  sei  ein  allgemeiner  Besitzwechsel  be- 
denklich und  man  dürfe  ihm  nicht  tatenlos  zusehen.  Gerade 
jetzt,  wo  die  Möglichkeit  bestanden  hätte,  den  Adel  seiner 
wirtschaftlichen  Basis  durch  ein  rein  passives  Verhalten  zu 
berauben  und  ihn  so  aufs  engste  mit  den  anderen  Ständen 
zu  verketten  und  zum  Verschwinden  zu  bringen,  erkannte 
Schön  seinen  Wert:  Der ,, wichtigste  Stamm  der  Nation" 
müsse  erhalten  werden.^)  Schön  hat  deshalb  an  mehr  als 
sechshundert  Gutsbesitzer  Unterstützungen  ausgeteilt,  und 
unter  ihnen  sind  sicher  viele,  die  ohne  diese  Hilfe  dem  all- 
gemeinen Bankrott  verfallen  wären.  Die  üble  Nachrede 
richtete  sich  deshalb  zunächst  weniger  dagegen,  daß  Schön 
einen  Teil  des  Adels  um  seinen  Besitz  gebracht  habe,  als 
dagegen,  daß  er  sich  durch  die  reichlichen  Unterstützungen 
mit  königlichem  Gelde  bei  der  grundbesitzenden  Aristokratie 
beliebt  zu  machen  suche. 2) 

Freilich  so  weit  konnte  Schön  seinen  früheren  Stand- 
punkt nicht  verleugnen,  daß  er  jedem,  bloß  weil  er  dem 
„wichtigsten  Stamm  der  Nation"  angehörte,  seinen  Besitz 
verbürgte.  Die  Ausmerzung  der  unrettbar  Verschuldeten 
machte  ihm  schon  die  Beschränktheit  seiner  Mittel  zur 
Pflicht,  und  in  solchen  Fällen  wurde  auf  seine  Veranlassung 
rasch  und  summarisch  verfahren,  weil  er  überzeugt  war, 
daß  das  Hinziehen  die  Sache  nur  verschlimmerte  und  die 
Güter,  erst  wenn  sie  in  andere  Hände  gekommen  seien, 
wieder  besser  bewirtschaftet  werden  würden.  Mehr  als  zwei- 
hundert Güter  sind  in  den  Jahren  1824 — 1835  von  der  ost- 
preußischen Landschaft  unter  den  Hammer  gebracht  worden. 
Der  leitende  Gedanke  war  dabei  für  Schön  durchaus  wirt- 
schaftlicher, nicht  politischer  Art:  der  Kredit  der  Provinz 
mußte  gehoben  werden,  und  ohne  jene  Eisenkur  konnte  seiner 
Meinung  nach  denen,  die  noch  zu  retten  waren,  nicht  ge- 
holfen werden.  Er  sah  es  wohl  nicht  ungern,  daß  auch  viele 
Angehörige  der  bürgerlichen  Schichten  die  Gelegenheit  be- 
nutzten und  sich  ankauften;  aber  davon,  daß  er  systema- 

1)  Vgl.  Das  Retablissement  usw.  S.  43. 

2)  Schön  an  Friedrich  Wilhelm  IV.,  25.  März  1841.  (Aus  den 
Papieren  II 1320.) 


448 


Eduard  Wilhelm  Mayer, 


tisch  die  subhastierten  Güter  an  Pächter,  Hirten  und  Pferde- 
händler gebracht  habe,  wie  ihm  nachgesagt  wurde,  kann 
keine  Rede  sein. 

Daß  Schön  ganz  und  gar  nicht  gewillt  war,  den  leistungs- 
fähigen Adeligen  in  seiner  wirtschaftlichen  Stellung  anzu- 
tasten, zeigt  seine  Haltung  bei  der  Auseinandersetzung  zwi- 
schen Gutsherrn  und  Bauern. i)  Er  hat  dabei  fast  durch- 
gängig seinen  Einfluß  zugunsten  des  ersteren  geltend  ge- 
macht, mit  der  Begründung,  daß  man  alles  vermeiden 
müsse,  was  den  ohnedies  schon  bedrängten  größeren  Grund- 
besitz noch  mehr  belaste.  Schön  hat  sich  gegen  jede  Aus- 
dehnung der  Regulierung  auf  Klassen,  denen  das  Recht 
dazu  noch  nicht  erteilt  war,  ausgesprochen  und  hat  dafür 
gesorgt,  daß  dem  Gutsbesitzer  billige  Arbeitskräfte  zur  Ver- 
fügung standen.  Er,  der  im  Jahre  1808  die  Aufhebung  der 
Gesindeordnung  verlangt  hatte,  hat  sich  in  den  dreißiger 
Jahren  dafür  eingesetzt,  daß  sie  auf  die  Instleute  Anwen- 
dung zu  finden  habe!  Das  Auskaufen  der  Bauern,  das 
in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  von  den  ost- 
preußischen Gutsbesitzern  eifrig  betrieben  wurde,  hat  er 
ruhig  geschehen  lassen. 

So  dürfte  sich  Schöns  Stellung  zum  Adel  also  um- 
schreiben lassen:  Er  fordert,  daß  der  Adel  wirtschaftlich 
und  politisch  mit  dem  Mittelstand  auf  gleichem  Fuße  zu 
behandeln  sei,  gibt  ihm  aber  die  unteren  Schichten  der 
Bevölkerung  preis  und  bekehrt  sich  zu  der  Ansicht,  daß 
die  Erhaltung  eines  festen  Stammes  von  Grundbesitzern  um 
des  gemeinen  Wohles  willen  unerläßlich  sei.  Wenn  die  libe- 
rale Presse  laut  verkündete,  es  sei  kein  Unglück,  daß  der 
Adel  bankrott  werde^),  so  hat  gerade  der  drohende  Besitz- 
wechsel in  Ostpreußen  Theodor  von  Schön  veranlaßt,  sich 
auf  den  politischen  Wert  einer  wurzelfesten  Aristokratie  zu 
besinnen.  Von  manchen  wurde  er  nun  gar  als  Junker  ver- 
schrien.3)  Solch  gegensätzliche  Beurteilung  traf  den,  der 
zwischen  Junker  und  Adelsfeind  vermitteln  und  ,,sich  über 


I 


1)  Vgl.  Das  Retablissement  usw.  S.  82—85. 

2)  Treitschke,  Deutsche  Geschichte  Bd.  II,  S.  108. 

^)  Schön  an  Gervinus,  12.  November  1847  (Aus  den  Papieren 
II  317  f.). 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    449 

A  und  Non  A  (Aristokratie  und  Demokratie)  erheben" 
wollte.  — 

Schön  will  den  Staat  liberalisieren,  aber  nur  weil  und 
soweit  er  damit  dem  Staate  zu  dienen  glaubt.  Dies  gilt 
auch  von  seiner  Stellung  zur  Verfassungsfrage.  Das 
innerlichste  Motiv,  das  ihn  dabei  bestimmte,  ist  jener  tiefe 
Gedanke,  der  gerade  dem  deutschen  Liberalismus  sein  un- 
verlierbares Recht  gibt  und  den  man  schon  feinsinnig  mit 
Luthers  Glaubenslehre  in  Zusammenhang  gebracht  hat: 
daß  nämlich  der  einzelne  den  Staat  nicht  nur  als  äußer- 
liche Zwangsgewalt  empfinden  soll,  sondern  daß  er  ihn  aus 
eigenster  Überzeugung  und  aus  freiem  Willen  bejaht;  ge- 
schieht dies,  dann  strömen  auch  dem  Staat  gewaltige  mora- 
lische Energien  zu.  In  diesem  Sinne  hatte  Schön  bereits 
im  Jahre  1808  für  Preußen  eine  Nationalrepräsentation  ge- 
fordert: man  müsse  der  Monarchie  neue  Kräfte  zuführen, 
das  Volk  dürfe  den  Staat,  für  den  es  sich  aufopfern  solle, 
nicht  gleichgültig  oder  widerwillig  betrachten. i) 

Die  Nationalrepräsentation  kam  nicht  zustande,  und  die 
Errichtung  von  Provinzialständen  im  Jahre  1823  hat  Schön, 
wie  wir  schon  hörten,  als  ein  übles  Zugeständnis  an  die  Ver- 
teidiger des  historischen  Rechts  verurteilt.  Diese  Kritik  ent- 
springt aber  mehr  dem  Unwillen  darüber,  daß  überhaupt 
kein  Parlament  für  die  ganze  Monarchie  geschaffen  wurde, 
als  der  Ablehnung  jeder  provinziellen  Vertretung. 2)  Denn 
als  Schön  im  Jahre  ISlö^)  nach  Westpreußen  kam,  hatte 


1)  Steins  politisches  Testament.    Pertz  a.  a.  O.  S.  311. 

2)  Schön  war  der  Ansicht,  daß  die  preußischen  Provinzen  mehr 
als  bisher  verschmolzen  werden  müßten,  aber  doch  nur  allmählich  und 
unter  Schonung  berechtigter  Eigentümlichkeiten.  Deswegen  bekämpfte 
er  im  Jahre  1815  sogar  die  Vereinigung  Litauens  mit  dem  Regierungs- 
bezirk Königsberg.  An  Hardenberg,  16.  Juli  1815  (Staatsarchiv  Kö- 
nigsberg, O.-P.,  V,  Nr.  14a):  „Ich  glaube,  daß  wir  durchaus  dahin 
arbeiten  müssen,  den  Pommer,  den  Lithauer,  den  Märker  zu  vernichten, 
aber  ich  glaube  auch,  daß  man  bey  Erhaltung  des  Guten,  das  Natio- 
nalität giebt,  diesen  Zweck  nur  allmählig  erreichen  und  in  dieser  gei- 
stigen Sache  durch  Befehle  wenig,  durch  Cultur  Mittel  aber  allein  und 
nur  zum  Ziele  kommen  könne." 

^)  So  muß  es  in  meiner  Schrift  „Das  Retablissement  Ost-  und 
Westpreußens  usw."  Seite  15  Zeile  11  v.  u.  heißen  statt  des  Druck- 
fehlers: 1816. 


450  Eduard  Wilhelm  Mayer, 

er  es  selbst  sehr  eilig  mit  der  Errichtung  eines  Landtages  in 
der  Provinz.  Er  usurpierte  diesen  Namen  einer  Versammlung 
von  Notabein  der  einzelnen  Kreise,  die  ausschließlich,  um 
über  die  Verteilung  der  Retablissementsgelder  zu  beraten, 
zusammenberufen  waren.  Die  Berliner  Behörden  waren 
nicht  wenig  darüber  erstaunt,  daß  Schön  diese  Versamm- 
lung als  den  ,, ersten  westpreußischen  Landtag"  behandelte 
und  dabei  ganz  nach  den  Künsten  der  liberalen  Doktrin 
verfuhr.  Als  einzelne  Gutsbesitzer  sich  über  die  hier  ge- 
faßten Beschlüsse  beklagten,  belehrte  er  sie:  ,,daß  gegen 
einen  von  den  Deputierten  der  Stände  der  Provinz  gefaßten 
Beschluß  keinem  einzelnen  Gutsbesitzer  ein  Widerspruch 
zustehen  könne,  weil  in  dem  Beschluß  der  Generalver- 
sammlung jederzeit  auch  der  Wille  des  einzelnen  enthalten 
ist."i) 

Die  Worte:  vox  populi  vox  dei  gehören  zu  jenen  Kern- 
sprüchen von  Schöns  politischem  Glaubensbekenntnis,  die 
er  mit  ermüdender  Regelmäßigkeit  bei  jeder  irgendwie  pas- 
senden Gelegenheit  vorbringt.  Man  möchte  zuweilen  glauben, 
daß  er  die  Theorie  von  der  Volkssouveränität  vertreten  habe, 
und  es  ist  auch  keine  Frage,  daß  er  sich  mit  der  französischen 
Staatsphilosophie,  namentlich  mit  Rousseau,  auseinander- 
gesetzt hat.  Gerade  Rousseaus  Lehre  von  der  volonte  gene- 
rale hat  ihn  öfters  beschäftigt.  Er  hat  sie  sich  aber  ganz 
auf  seine  Weise  zurecht  gemacht:  ,, Rousseau  sagt:  der  All- 
gemeine Wille,  nicht  der  Wille  Aller  solle  im  Staate  herr- 
schen. Er  hätte  sich  klarer  ausdrücken  können:  Mit  Ideen 
regiert  man  die  Völker  und  nicht  Individuen  oder  eine 
Menge  Individuen,  sondern  Individuen  in  geistiger  Gemein- 
schaft, welche  das  Individuum  vernichtet,  können  Werk- 
zeuge von  Ideen  seyn."^)  Bei  solchen  Spekulationen  geriet 
Schön  auf  wunderliche  Spielereien,  die  immerhin  zeigen, 
daß  dieser  abstrakte  Geist  vor  keinen  Folgerungen  zurück- 
scheute und  daß  ihm  die  Monarchie  im  Reiche  der  Idee 
nicht  als  die  höchste  Staatsform  galt: 


^)  Vgl.  Das  Retablissement  usw.  S.  17. 

2)  Hannover  a.  a.  O.  Nr.  60  (Aligemeine  Aufsätze  aus  der  Zeit 
von  1848  bis  1856). 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    451 

,,1.  Das  vollständige  Leben  in  Gott, 

2.  Das  alleinige  Leben  der  Ideen, 

3.  Das  Moral  Prinzip, 

4.  Die  Republik, 

5.  Der  geschlossene  Handelsstaat, 

6.  Der  Communismus 

sind  Ideale,  welche  die  Menschen  niemals  erreichen  können, 
aber  nach  welchen  die  Menschen  unaufhörlich  und  unaus- 
gesetzt streben  sollen.  Sie  stehen  in  so  genauem  und  engen 
Zusammenhange,  daß,  wenn  man  das  Eine  im  Leben  ge- 
stalten will  und  die  Übrigen  zurückbleiben,  das  Resultat 
nur  eine  Mißgeburt  seyn  kann.  Nur  ein  gleichmäßiges  Streben 
zu  diesen  Idealen  kann  die  Menschen  dem  Himmel  näher 
führen."!) 

So  wurde  Schön  in  seinen  theoretischen  Reflexionen 
durch  einen  gewissen  Systemzwang  auf  einen  extremeren 
Standpunkt  gedrängt,  als  er  in  der  Praxis  je  vertreten  haben 
würde.  Für  Preußen  schwebte  ihm  als  Ideal  ein  politischer 
Zustand  vor,  der  zwar  mit  dem  der  üblichen  konstitutionellen 
Doktrin  nicht  zusammenfällt,  aber  durchaus  eine  verfas- 
sungsmäßige Beschränkung  des  Königtums  mit  sich  führt,  2) 
Als  das  Wesen  der  konstitutionellen  Monarchie  hat  er  es, 
wie  wir  oben  sahen,  betrachtet,  daß  der  Mittelstand  Anteil 
am  politischen  Leben  nimmt  und  bekommt.  Auf  die  Ertei- 
lung einer  Verfassungsurkunde  hat  Schön  keinen  Wert  ge- 
legt, da  ihn  das  Beispiel  Englands  lehrte,  wie  unerheblich 
diese  äußere  Form  sei.^)   Englische  Zustände  schwebten  ihm 


^)  Ebenda.    Aufzeichnung  vom  17.  Mai  1849. 

2)  R.  Koser  in  seinem  Aufsatz  „Zur  Charakteristik  des  Ver- 
einigten Landtags  von  1847",  Festschrift  zu  Gustav  Schmollers  70.  Ge- 
burtstag (1908)  S.  309f,  rückt  Schöns  Anschauung  etwas  zu  stark 
von  der  konstitutionellen  Doktrin  ab;  die  Äußerungen,  die  er  ver- 
wertet, sind  zum  Teil  ausdrücklich  darauf  berechnet,  den  König  Fried- 
rich Wilhelm  IV.  und  andere  davon  zu  überzeugen,  daß  in  den  von 
Schön  vertretenen  Forderungen  die  gefürchteten  liberalen  Giftzähne 
ausgebrochen  seien.  Schön  hatte  sich  gegen  den  Verdacht  des  Königs 
zu  verteidigen,  daß  er  auf  die  Schulmeinung  der  Liberalen  eingeschworen 
sei.  Vgl.  das  Gespräch  Schöns  mit  dem  König:  Aus  den  Papieren 
JII  137. 

')  Brief  vom  4.  Juli  1841,  Aus  den  Papieren  III  40L 


452  Eduard  Wilhelm  Mayer, 

wohl  auch  vor,  wenn  er  den  Ständen  Anteil  an  der  Exeku- 
tive und  der  Gerichtsbarkeit  vindizierte.  Er  hat  diese  stän- 
dische Mitwirkung  gefordert  als  ein  Gegengewicht  gegen  die 
Bureaukratie,  die  er  in  ihrer  souveränen  Stellung  gegenüber 
dem  Untertanen  mit  der  katholischen  Hierarchie  verglich,  i) 
Allein  die  konstitutionelle  Monarchie  schien  ihm  die  Einheit 
und  Stetigkeit  in  der  Regierung  zu  verbürgen,  deren  Mangel 
er  dem  herrschenden  Beamtentum  zum  Vorwurf  machte. 
Er  geht  auch  hier  vom  Staat,  nicht  vom  Individuum  aus: 
„Repräsentation  sichert  allein  gegen  unfähige  Minister.''^) 

III. 

Wenn  also  Schön  in  seiner  praktischen  Politik  mit  den 
liberalen  Strömungen  nur  so  weit  gehen  wollte,  als  sie  ihm 
dem  Kompaß  des  Staatsinteresses  zu.  folgen  schienen,  so 
hat  er  den  nationalen  Forderungen  gegenüber  noch 
viel  stärker  den  Primat  der  ,,Idee  des  Staates"  geltend 
gemacht.  Ihm  standen  nicht  die  Wege  offen,  auf  denen 
so  viele  seiner  Zeitgenossen  sich  dem  nationalen  Gedanken 
zu  nähern  vermochten.  Er  hatte  sich  nicht  von  der  roman- 
tischen Geschichtsbetrachtung  den  Sinn  für  Volkspersön- 
lichkeiten erschließen  lassen.  Er  trat  aber  auch  nicht  so 
weit  auf  den  Boden  der  Theorie  von  der  Volkssouveränität, 
daß  ihm  der  nationale  Einheitsstaat  als  eine  demokratische 
Forderung  hätte  geläufig  werden  können.  Schön  blieb  im 
Banne  einer  unnationalen  Staatsauffassung,  die  man  geneigt 
wäre,  veraltet  zu  nennen,  wenn  sie  nicht  unverwüstliche 
Ideen  enthielte. 

Für  seine  Stellungnahme  ist  es  entscheidend  gewesen, 
daß  er  in  Westpreußen  und  —  wenn  auch  in  viel  gerin- 
gerem Grade  —  in  Ostpreußen  Provinzen  mit  national  ge- 
mischter Bevölkerung  zu  verwalten  hatte.  Ähnlich  wie 
seinen  Landsmann  Hermann  von  Boyen^)  haben  auch  ihn 
die   Erfahrungen  in  den  östlichen  Teilen  der  preußischen 


0  Woher  und  Wohin?   Aus  den  Papieren  III  230—239. 
")  An  Brünneclc,  9.  Februar  1842,  Aus  den  Papieren  III 501. 
^)  F.  Meinecke,    Das    Leben   des    Generalfeldmarschalls    H.  v. 
Boyen  II,  S.  414  u.  438. 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    453 

Monarchie  bestimmt,  dem  nationalstaatlichen  Gedanken 
jene  ausschließliche  Geltung  zu  bestreiten,  die  ihm  der 
Zeitgeist  mehr  und  mehr  zuwies. 

Schöns  Polenpolitik  ist  erst  im  Laufe  der  Jahre  schärfer 
und  weniger  nachsichtig  geworden.  Als  er  1815  Oberpräsident 
von  Westpreußen  wurde,  glaubte  er  noch  durch  liberale 
Konzessionen  und  kulturpolitische  Maßregeln  die  Polen  ge- 
winnen zu  können.  Jenen  ,, ersten  westpreußischen  Landtag" 
hat  er  stolz  ,, seinen  polnischen  Landtag"  genannt  und  hat 
es  als  einen  erfreulichen  Erfolg  gerühmt,  daß  sich  auch  der 
Pole  fassen  ließe,  wenn  man  es  nur  recht  anfinge,  i)  Als  dann 
im  Jahre  1820  in  Posen  und  in  Westpreußen  das  törichte 
Gerücht  umging,  Rußland  wolle  Danzig,  Bromberg  und 
Thorn  okkupieren,  meinte  Schön:  „Jetzt  wäre  allerdings 
der  Zeitpunkt,  wo  die  Ausführung  der  Königlichen  Bekannt- 
machung wegen  der  ständischen  Einrichtungen  uns  alle 
deutschen  Herzen  gewinnen  und  auch  die  Polen  vollständig 
entwaffnen  würde."^)  Daß  bisher  noch  in  Westpreußen  ,,die 
Neigung  für  polnische  Einrichtungen  und  polnische  Sprache 
unbedingt  vorherrsche  und  unser  Gouvernement  als  Insti- 
tution der  Gewalt  betrachtet"  werde,  schien  ihm  nur  aus 
dem  tiefen  Kulturzustand  des  Volkes  erklärlich,  und  er 
hoffte  bestimmt,  daß  mit  der  Ausbreitung  deutscher  Bildung 
auch  diese  Antipathie  schwinden  würde.  Allein  durch  solche 
geistige  Waffen,  nicht  durch  militärische,  ließen  sich  seiner 
Meinung  nach  die  östlichen  Provinzen  gegen  den  ,,  Koloß  im 
Norden  und  Osten"  sichern,  in  dem  Schön  auch  in  der  Zeit 
der  heiligen  Allianz  stets  eine  ernste  Gefahr  für  den  preußi- 
schen Staat  sah.  Als  er  im  Jahre  1815  von  Litauen,  diesem 
„Vorposten  der  Kultur",  Abschied  nahm,  meinte  er:  „Es 
ist  kein  anderes  Mittel,  als  mit  dem  Lichte  in  die  Finsternis 
zu  dringen  und  es  hier  so  helle  zu  machen,  daß  jeder  sich 
des  Lichtes  freue,  den  grellen  Abstand  fühle  und  selbst  der 


1)  Schön  an  Stägemann,  7.  Februar  1817.  Briefe  und  Akten- 
stücke zur  Geschichte  Preußens  unter  Friedrich  Wilhelm  III.  aus 
dem  Nachlaß  F.  A.  v.  Stägemanns.  Herausgegeben  von  Franz  Rühl. 
Bd.  II,  S.  140. 

2)  An  Hardenberg,  29.  Dezember  1820.  Geheimes  Staatsarchiv, 
Rep,  74,  H.  II,  Generalia  19. 


454  Eduard  Wilhelm  Mayer, 

Barbar  durch  Achtung  gelähmt  werde.''^)  Wie  in  Litauen 
hat  er  dann  auch  in  Westpreußen  dem  Schulwesen  seine 
besondere  Fürsorge  zuteil  werden  lassen  und  hat  damit  ganz 
bewußt  an  die  Maßnahmen  Friedrichs  des  Großen  angeknüpft; 
an  vielen  Orten  wurden  auf  seine  Veranlassung  neue  Ele- 
mentarschulen eingerichtet. 2)  Bald  wurde  Schön  auch  auf- 
merksam auf  die  besonderen  Gefahren,  die  in  den  polnischen 
Gebieten  von  der  Geistlichkeit  drohten.  Er  erzählt,  daß, 
noch  als  er  nach  Westpreußen  kam,  am  15.  Juli  jedes  Jahres 
in  allen  katholischen  Kirchen  zur  Erinnerung  an  die  Schlacht 
von  Tannenberg,  also  an  die  Niederlage  der  deutschen  Ritter, 
ein  Dankfest  gefeiert  wurde.  Mit  solchen  alten  Gewohnheiten 
räumte  er  auf.  Auch  begann  er  bereits  in  den  zwanziger 
Jahren  darauf  zu  dringen,  daß  der  Staat  für  eine  bessere 
Ausbildung  der  Geistlichen  Sorge  trage^),  —  noch  immer  in 
dem  Wahne,  daß  alle  polnischen  Bestrebungen  nur  aus  der 
geistigen  Unreife  der  Bevölkerung  erwüchsen.  Es  war  im 
eigentlichen  Sinne  ein  Kulturkampf,  den  es  seiner  Meinung 
nach  zu  führen  galt. 

Die  zunehmende  Verschärfung  von  Schöns  Urteil  über 
die  Polen  erreicht  den  Höhepunkt  in  einem  Verwaltungs- 
bericht vom  10.  Juli  1833.*)  Wiederum  beruft  er  sich  auf 
die  Erfahrungen  Friedrichs  des  Großen,  der  es  auch  erst 
versucht  habe,  die  Polen  durch  Güte  zu  gewinnen,  aber 
dann  zur  Überzeugung  gekommen  sei,  daß  das  fremde  Ele- 
ment nur  durch  Einrichtung  deutscher  Schulen  und  durch 
den  Auskauf  der  polnischen  Gutsbesitzer  in  den  preußischen 
Staat  eingefügt  werden  könne.  Schön  gibt  zu,  daß  das 
zweite  dieser  Mittel  unter  seiner  Verwaltung  nicht  habe  in 
Anwendung  kommen  können  und  empfindet  offenbar  eine 
gewisse  Scheu  vor  dieser  radikalen  Maßregel.  Dabei  hätte 
gerade  der  Bankrott  eines  großen  Teils  der  größeren  Güter 


1)  An  Hardenberg,  16.  Juli  1815.    Königsberg,  Staatsarchiv  O.-P. 
V,  Nr.  I4a. 

2)  An  Hardenberg,  18,  August  1821,    Danzig,  Staatsarchiv,  Rep. 
161,  209. 

')  Schöns   Verwaltungsbericht  für   1828,  erstattet  am  20,  Juni 
1829.    Geheimes  Staatsarchiv,  Rep,  90,  38,  Specialia  16,  vol,  I. 
*)  Ebenda  vol.  II. 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    455 

in  den  zwanziger  Jahren  für  den  Auskauf  polnischen  Be- 
sitzes eine  überaus  günstige  Konjunktur  geboten.  Damals 
ist  eine  Gelegenheit  versäumt  worden,  ähnlich  wie  später 
unter  Caprivi.  Schön  hat  einen  zweifelhaften  Trost  zur  Hand: 
,,Mit  Beförderung  des  Schulwesens  und  mit  Einführung 
einer  durchaus  geregelten  Administration  scheint  den  Polen 
bei  uns  unheimlich  geworden  zu  sein,  denn  es  haben  viel- 
leicht mehr  als  die  Hälfte  der  polnischen  Gutsbesitzer  in 
dieser  Zeit  freiwillig  Westpreußen  verlassen."  Der  Krebs- 
schaden liege  auf  kirchlichem  Gebiet:  ,,Der  übelste  Um- 
stand, welcher  der  Germanisierung  der  Provinz  entgegen- 
steht, ist  der,  daß  . . .  Katholizismus  und  Polonismus  ver- 
wechselt und  von  der  großen  Menge  für  gleichbedeutend 
gehalten  wird.  Die  polnische  katholische  Geistlichkeit  giebt 
sich  alle  Mühe,  diese  Täuschung  zu  erhalten."  Die  Klöster 
seien  ,,  Fundgruben  der  Barbarei  und  des  Polonismus",  und 
ihre  Aufhebung  müsse  endlich  strikt  durchgeführt  werden. 
Außerdem  sei  es  nötig,  daß  das  Domkapitel  den  Polonismus 
ablege,  daß  jeder  Geistliche  auf  einer  Universität  studiere 
und  daß  die  Stadt-  und  Elementarschulen  vom  Staat  unter- 
stützt würden.  „Ich  bin  überzeugt,  daß,  wenn  dieser  Plan 
gehörig  verfolgt  wird,  die  polnischen  Gutsbesitzer  sich  frei- 
willig aus  Westpreußen  herausziehen  werden."  Wirtschaft- 
liche Zwangsmaßregeln  schlägt  Schön  deshalb  nicht  vor:  die 
Kulturpolitik,  durch  die  die  unteren  Schichten  gewonnen 
werden  sollen,  wird,  so  hofft  er,  die  polnische  Aristokratie 
abschrecken  und  ihr  den  Aufenthalt  im  Lande  verleiden. 

Erinnern  wir  uns  daran,  daß  wenige  Jahre,  bevor  Schön 
diese  Denkschrift  abfaßte.  Flottwell  Oberpräsident  der 
Provinz  Posen  geworden  war  und  dort  eine  entschiedene 
Germanisierungspolitik  begonnen  hatte.  Es  bedarf  noch 
genauerer  Untersuchung,  inwieweit  die  beiden  Männer  sich 
gegenseitig  beeinflußt  haben.  Flottwell  hat  von  1812 — 1830 
unter  Schön  gearbeitet,  bis  1825  als  sein  unmittelbarer  Ge- 
hilfe. Schön  hat  ihn  geradezu  als  seinen  „ehemaligen  Schüler" 
bezeichnet.^) 

*)  Aus  den  Papieren  III  152.  —  Das  Verhältnis  der  beiden  zur 
Zeit,  da  sie  amtliche  Beziehungen  hatten,  erfährt  eine  gewisse  Be- 
leuchtung durch  die  Vorgänge,  die  S.  89 f.  meiner  Schrift:  Das  Reta- 


456  Eduard  Wilhelm  Mayer, 


Der  entscheidende  Eindruck,  der  Schön  gegen  die 
streng  gestimmt  hat,  war  der  Aufstand  von  1831 
Unkultur  des  Volkes  schien  sich  ihm  in  dieser  Erhebung 
mit  voller  Deutlichkeit  zu  offenbaren,  und  er  glaubte  auch 
zu  wissen,  woher  seine  Rückständigkeit  komme:  noch  sei  ja 
dort  der  Bauer  nicht  befreit  —  wie  es,  so  müssen  wir  den 
Gedanken  in  Schöns  Sinn  natürlich  ergänzen,  in  Preußen  seit 
dem  Oktoberedikt  glorreichen  Angedenkens  der  Fall  ist.^) 

Ähnlich  hat  Schön  angesichts  der  polnischen  Bewegung 
im  Jahre  1848  geurteilt:  Das  Maß  der  Freiheit  eines  Volkes 
bestimme  sich  überall  in  der  Welt  nach  dem  Grade  seiner 
Gesittung.  „Wäre  im  Königreich  Polen  jede  Spur  der  Ab- 
hängigkeit von  einem  Mituntertan,  insofern  sie  die  Vernich- 
tung des  freien  Willens  ist,  durch  das  Volk  selbst  beseitigt 
worden,  . . .  dann  wäre  die  Unabhängigkeit  des  Königreichs 
Polen  von  selbst  erfolgt."  Polen  müsse  das  Recht  zu  freier 
Entwicklung  sich  selbst  ,,in  geistiger  Weise  schaffen".  „Sen- 
senmänner allein  können  niemals  den  kategorischen  Imperativ 
ersetzen." 


1 

Polen    ■ 
Die    ^ 


blissement  usw.  erzählt  werden.  Männer  wie  General  v.  Wrangel, 
die  von  der  Notwendigkeit  einer  schärferen  Germanisierungspolitik  in 
Posen  überzeugt  waren,  hatten  bei  dem  Wechsel,  der  1830  im  dor- 
tigen Oberpräsidium  stattfand,  Schön  auf  diesen  Posten  zu  bringen 
gewünscht.  Vgl.  die  Briefe  des  Generals  v.  Wrangel  vom  4.  August 
und  8,  Oktober  1830,  herausgegeben  von  G.  v.  Below,  Deutsche 
Revue  XXVII  3,  S.  329. 

^)  Die  in  dem  Brief  Schöns  an  Gervinus  vom  12.  November  1847 
<Aus  den  Papieren  II,  8.  316)  zitierte  Erzählung,  die  der  Herausgeber 
nicht  beibringen  konnte,  lautet  an  der  betreffenden  Stelle  der  „Deut- 
schen Zeitung"  vom  2.  November  1847  (Nr.  125,  S.  993)  wie  folgt: 
Der  polnische  Emissär  Konarski  sei  in  Königsberg  mit  Schön  zu- 
sammengetroffen (nach  dem  Zusammenhang  etwa  1835).  „In  den 
heftigsten  Ausdrücken  ergoß  sich  der  edle  Staatsmann  über  die  Revo- 
lution vom  Jahre  1831  und  über  die  fürchterliche  Verantwortlichkeit, 
<iie  die  Polen  durch  die  Nichtbefreiung  der  Bauern  auf  sich  gegen- 
über der  Geschichte  genommen,  wenn  Rußland  einst  die  zivilisierte 
Welt  bekriegen  sollte.  Konarski  blutete  das  Herz;  aber  er  theilte  die- 
selben Ansichten  und  wagte  deshalb  nicht  zu  widersprechen.  Schüch- 
tern fragte  er  nur,  ob  noch  Polen  geholfen  werden  könne?  ,,Ja,"  lautete 
die  Antwort,  „wenn  der  Adel  sein  Unrecht  gegen  die  Bauern  einsieht 
und  es  gut  macht."  Dieses  Wort  entschied;  der  Ausspruch  eines  so 
«dien  und  erfahrenen  Mannes,  der  selbst  Zeuge  einer  demokratischen 
Regeneration  eines  Volkes  gewesen,  galt  Konarski  für  ein  Orakel." 


I 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    457 

Diese  Äußerungen  finden  sich  in  einer  Schrift  über 
„Staat  oder  Nationalität"^),  die  Schön  unter  dem  Ein- 
druck des  polnischen  Aufstands  von  1848  geschrieben  hat, 
und  die  er  auch  wohl  als  „Aufsatz  gegen  die  Polen"  be- 
zeichnet hat.  2)  Vom  Standpunkt  der  Polenpolitik  aus  hat 
er  die  nationalen  Probleme  jener  Zeit  beurteilt.  Sein  Wider- 
spruch gegen  die  polnischen  Ansprüche  ist  für  ihn  der  Anlaß 
gewesen,  daß  er  sich  über  das  Verhältnis  von  Staat  und 
Nation  eine  Theorie  ausgedacht  hat,  die  die  ihm  eigene  dok- 
trinäre Blässe  nicht  verleugnet,  aber  doch  von  tieferer  Be- 
deutung ist,  da  sie  dem  Staatsgedanken  zu  seinem  Herren- 
recht verhelfen  will. 

Wir  fassen  Schöns  Gedanken  wohl  an  ihrer  tiefsten 
Wurzel,  wenn  wir  die  Kultur  als  eine  Schöpfung  des  Staates 
und  nicht  der  Nation  bezeichnen.  Nach  den  Urteilen,  die  wir 
eben  wiedergaben,  könnte  es  scheinen,  als  ob  er  den  Staat 
selbst  als  ein  Produkt  der  geistigen  Kultur  auffaßte,  als  ob 
nach  seiner  Meinung  der  selbständige  polnische  Staat  auto- 
matisch erstehen  würde,  wenn  nur  einmal  der  kategorische 
Imperativ  das  Volk  durchdrungen  hätte.  In  der  Tat  ist 
aber  der  Satz  in  dieser  Form  unvollständig  und  bedarf  einer 
Ergänzung,  die  für  national  gesinnte  Polen  trostlos  klingen 
mußte;  der  Gedanke  steht  auf  der  gleichen  Stufe  wie  der 
andere,  daß  ja  doch  ein  Königreich  Polen  immer  noch  be- 
stehe —  allerdings  in  Abhängigkeit  von  Rußland.  So  folgt 
auch  auf  jenen  Vordersatz  der  Nachsatz:  allerdings  gedeiht 

^)  Sie  ist  als  Manuskript  gedruckt:  Berlin  bei 'Sittenfeld  1848. 
Ein  erster  Entwurf  der  Broschüre  findet  sich  unter  Schöns  Papieren 
(Hannover,  Nr.  62)  in  Gestalt  eines  Schreibens  an  Herrn  von  Morawski 
in  Breslau  vom  9.  Juni  1848;  dieses  trägt  aber  am  Rande  den  Ver- 
merk: „Als  zu  doktrinär  nicht  abgegangen."  Der  Druck  weist  nur 
Änderungen  des  Tones  —  allerdings  sehr  umfangreiche  —  auf.  Ich 
benutze  im  folgenden  eine  Reihe  besonders  prägnanter  Formulierungen 
des  Entwurfs. 

2)  An  Droysen,  14.  Februar  1852.  Briefwechsel  usw.,  S.  218. 
Gegen  Lehmanns  Satz,  daß  Schön  an  der  Schrift  „Staat  oder 
Nationalität?"  für  die  Rechte  der  unterdrückten  Polen  eingetreten 
sei  (Knesebeck  und  Schön  S.  122),  hat  schon  Treitschke  Einspruch 
erhoben  (Hist.  u.  polit.  Auisätze  4.  Bd,  S.  328).  Er  ist  einer  Be- 
merkung von  Ludmilla  Assing  in  Bd.  2  der  „Gegenwart"  (1872) 
S.  69  entnommen. 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  30 


458  Eduard  Wilhelm  Mayer, 

jene  Gesittung  des  kategorischen  Imperativs  selbst  nur  auf 
dem  Boden  und  im  Rahmen  des  Staates.  Das  Volk,  das 
in  Wechselwirkung  mit  der  Staatsleitung  diese  Gesittung 
ausbildet,  ist  das  Staatsvolk  und  nicht  die  durch  Sprache 
und  Rasse  bestimmte  Nation.  Schön  ist  nicht  berührt  von 
dem  Gedanken  an  einen  mystisch  schaffenden,  nationalen 
Volksgeist,  der  wie  die  Kunst  und  die  Religion  auch  das 
Recht  gestaltet.  „Die  Idee  des  Staates  ist  der  Grundton 
der  Cultur,  die  Nationalitäten  sind  die  Nebentöne,  die  ihm 
folgen."  Der  Begriff  Kulturnation  würde  für  Schön  einen 
Widerspruch  in  sich  enthalten.  Denn  nach  seiner  Geschichts- 
konstruktion, die  er  ja  stets  mit  großer  Willkür  geübt  hat, 
steht  die  Nationalität  am  Eingang  der  Staatenentwicklung 
und  muß  mit  wachsender  Gesittung  mehr  und  mehr  über- 
wunden werden.  ,,Bei  den  aristokratischen  Patrimonial- 
staaten,  wo  der  Souverain  nur  der  bedeutendste  Landbesitzer 
des  Stammes  ist,  war  Nationalität  entscheidend.  Sobald  aber 
die  Idee  des  Staates  sich  zu  entwickeln  und  geltend  zu 
machen  beginnt,  geht  jene  in  diese  auf."  Nationalität  ist 
für  Schön  ein  ,, veralteter,  nicht  mehr  zeitgemäßer  Begriff",  i) 
Sie  ,, basiert  auf  der  Beschränkung  des  physischen  Zufalls, 
während  der  Staat  allein  die  Bestimmung  hat,  den  Men- 
schen zu  einem  höheren  geistigen  Leben  fortzubilden." 
Denn  „die  Weltordnung  folgt  einem  höheren  Gesichtspunkt 
als  dem  des  physischen  Zufalls,  ihr  Ziel  ist  die  Erhebung  des 
Menschen  über  die  bloßen  Naturgesetze".  Nach  den  Wert- 
maßstäben der  kantischen  Ethik  fällt  also  Schön  das  letzte 
Urteil  über  Staat  und  Nation:  allein  der  Staat  gehört  dem 
Reich  der  Freiheit  an  und  hat  demnach  sittlichen  Wert, 
die  Nation  aber  ist  „bloß"  Natur. 

Dem  Interesse  des  Staates  muß  deswegen  die  Nation, 
wenn  es  sein  muß,  auch  geopfert  werden.  Das  gilt  von 
anderen  Völkern  ebenso  wie  von  den  Polen:  Das  Elsaß  ist 


I 


1)  So  charakterisiert  Schöns  Anschauung  Magnus  von  Brünneck 
(Herre  a.  a.  O.  S.  455)  30.  Oktober  1858  in  einem  Brief  an  seinen 
Sohn,  in  dem  er  die  Frage  bespricht,  ob  J.  G.  Droysen  mit  der  Ab- 
fassung einer  Biographie  Schöns  zu  betrauen  sei.  Das  schwerste  Hin- 
dernis sieht  Brünneck  gerade  in  dem  Schöns  Auffassung  diametral 
entgegengesetzten  Begriff  der  Nationalität  bei  Droysen. 


Politische  Erfahrungen  und  Gedaniien  Theodors  v.  Schön.    459 

seiner  Nationalität  nach  deutsch,  mußte  aber  mit  Frank- 
reich vereinigt  werden,  ,,da  Sicherheit  vor  allem  Bedingung 
der  Existenz  eines  Staates  ist".  Die  Oberherrschaft  über 
Deutschland,  wie  sie  Napoleon  erstrebte,  war  aber  für  die 
Sicherheit  des  französischen  Staates  durchaus  nicht  not- 
wendig. Andererseits  bestreitet  Schön,  daß  der  Befreiungs- 
krieg den  Charakter  eines  Nationalkriegs  gehabt  habe.  ,,Es 
handelte  sich  wahrlich  nicht  um  Erhaltung  der  Nationalität, 
als  Russen,  Schweden  und  Czechen  mit  Deutschen  fochten 
und  Elsaß  bei  Frankreich  blieb!"  Die  Preisgabe  deutschen 
Landes,  wie  sie  Schön  hier  um  der  Sicherheit  Frankreichs 
willen  vollzieht,  wird  nur  verständlich,  wenn  wir  bedenken, 
daß  er  mit  der  gleichen  Begründung  polnisches  Land  für 
Preußen  fordert  und  daß  ihn  das  Schicksal  der  Süddeutschen 
als  einer  nach  seiner  Meinung  von  den  Norddeutschen  ge- 
sonderten Rasse  wenig  berührt.  Wenn  er  sich  auf  die  Sicher- 
heit des  Staates  als  das  einzige  Kriterium  der  Grenzziehung 
beruft,  scheint  er  auf  dem  Boden  einer  rein  staatlichen, 
realpolitischen  Denkweise  zu  stehen.  Aber  er  vermag  diesen 
Grundsatz  doch  nicht  durchzuführen,  sondern  greift  immer 
wieder  zu  überstaatlichen  Ideen:  Die  Verschmelzung  der 
Nationalitäten  in  Staaten  geschieht  letzthin  nicht  um  dieser 
und  ihrer  Selbsterhaltung  willen,  sondern  ,,für  den  abso- 
luten Zweck  der  Menschheit".  Schön  unternimmt  es  nicht, 
im  einzelnen  Fall  nach  dem  Sinn  der  Staatenbildung  zu 
forschen.  Denn:  „Der  liebe  Gott,  welcher  die  Bestimmung 
der  Grenzen  der  Staaten  sich  selbst  vorbehalten  hat,  und 
dem  Nationalitäten  dabei  nur  wie  Tasten  bei  einem  Piano- 
forte  sind,  stellt  sich  einmal  nicht  vor  einem  irdischen  Ge- 
richtshof."^)  Die  Berufung  auf  diesen  deus  ex  machina  ver- 
hüllt nur  das  Eingeständnis,  daß  Schön  ein  gleich  einleuch- 
tendes Prinzip  der  Staatenbildung,  wie  es  das  der  Nationa- 
lität ist,  nicht  aufzuweisen  vermag. 

Trotzdem  glaubte  er  in  der  schleswig-holsteini- 
schen Frage  die  Absichten  der  Weltordnung  völlig  über- 
zeugend dahin  deuten  zu  können,  daß  die  Idee  des  däni- 
schen  Gesamtstaats  verwirklicht  werden   müsse.    Die  Art 


1)  An  Droysen,  19.  Dezember  1850.    Briefwechsel  usw.,  S.  151. 

30* 


460  Eduard  Wilhelm  Mayer, 

und  Weise,  wie  er  einer  ganz  anders  gestimmten  Umgebung 
gegenüber  diesen  Standpunkt  rechtfertigt,  zeigt  ein  merk- 
würdiges Ineinanderwirken  weltbürgerlicher  und  realpoliti- 
scher Motive:  ,,Ist  Dänemark  im  großen  Culturgange  als 
Staat  nothwendig,  dann  muß  es  eine  Basis  als  Staat  haben 
und  die  Inseln  allein  geben  keinen  Staat. *'i)  Der  dänische 
Gesamtstaat  erscheint  ihm  als  eine  in  sich  notwendige  Idee 
des  Weltplans.  Aber  er  läßt  dabei  das  rein  deutsche  Inter- 
esse, so  wie  er  es  versteht,  nicht  aus  dem  Auge:  Würde 
Schleswig-Holstein  an  Preußen  fallen,  dann  bliebe  Dänemark 
nichts  anderes  übrig,  als  sich  in  russische  oder  englische  Vor- 
mundschaft zu  begeben  und  eines  dieser  beiden  Reiche 
,, würde  dadurch  Culturdespot  von  halb  Deutschland  seyn, 
während  Dänemark  als  Staat  mittlerer  Größe  sich  wenig- 
stens nach  Hamsterart  kraus  machen  kann". 2) 

Hier  vermissen  wir  —  ähnlich  wie  in  Schöns  Äuße- 
rungen über  das  Elsaß  —  jenes  primitive  Nationalgefühl, 
dem  jede  Entfremdung  deutschen  Bodens  innerlich  wider- 
steht. Er  empfindet  nicht  die  Nationen,  sondern  allein  die 
gegebenen  Staaten  als  die  natürlichen  Einheiten  des  ge- 
schichtlichen Lebens,  und  auch  diese  werden  von  ihm  nicht 
eigentlich  als  blut-  und  lebensvolle  Persönlichkeiten  von 
eigener  Prägung  erfaßt.  Schön  wirtschaftet  mit  der  „Idee" 
des  dänischen  oder  des  französischen  Staates  als  mit  einem 
rein  formalen  Apriori,  dem  wir  vergeblich  irgendwelche  in- 
haltliche Bestimmung  abgewinnen  zu  können  hoffen.  Wo 
er  sie  zu  definieren  sucht,  kommt  er  über  Tautologien  nicht 
hinaus:  „Sind  die  Bedingungen  zur  Bildung  eines  Staates 
für  auf  einer  gegebenen  Fläche  lebende  Familien  oder  Ge- 
meinden in  einem  gewissen  Cultur-Zustande  da,  so  ist  ohne 
Rücksicht  darauf,  ob  Menschen  außerhalb  diesem  Kreise 
auch  Deutsch  sprechen,  die  Nothwendigkeit  eines  Staates 
da."3)  So  müht  er  sich  ab,  aus  der  hohlen  Nuß  reiner  Be- 
griffe die  Notwendigkeit  der  gegebenen  Staaten  überzeugend 
zu  deduzieren.  Hier  hätte  es  einer  tieferen  historischen  An- 
schauung bedurft,  und  der  Historiker  mag  es  bedauern,  daß 

1)  An  Droysen,  7.  Juli  1850.    Briefwechsel  usw.,  S.  147  f. 

2)  An  Droysen,  10.  Januar  1851.    Briefwechsel  usw.,  S.  156. 
^)  Aus  dem  S.  461  Anm.  2  zitierten  Aufsatz. 


I 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    461 

Schöns  Abneigung  gegen  den  „Notizenkram"  ihm  den  Weg 
zu  Rankes  Geschichtsclireibung  versperrte,  die  ihm  das 
Eigenleben  und  das  Eigenrecht  des  Staates  in  wärmerem 
Lichte  gezeigt  hätte,  als  es  ihm  die  blasse  Theorie  er- 
scheinen ließ. 

So  hat  Schön  auch  kurzab  erklärt:  „Einheit  Deutsch- 
lands ist  kein  Begriff,  der  eine  Notwendigkeit  in  sich  trägt. 
Deutschland  würde  sich  zu  zwei  bis  vier  deutschen  Staaten 
gebildet  haben,  von  welchem  Jeder  seine  Aufgabe  lösen 
konnte."  1)  Auch  Schön  wünscht  also  eine  Vereinfachung 
des  deutschen  Staatensystems,  aber  er  hält  allerhöchstens 
einen  Dualismus  für  möglich.  Als  Bewohner  des  äußersten 
Nordostens  empfindet  er  den  Gegensatz  zu  Süddeutschland 
so  stark,  daß  ihm  die  für  den  staatlichen  Zusammenhalt 
nötige  Einheit  des  Kulturzustandes  zu  fehlen  scheint;  der 
„Nordländer"  und  der  „Südländer"  erscheinen  ihm  als  ver- 
schiedene Rassen.2)  Alle  Versuche  nun  gar,  die  Schwierig- 
keiten, die  der  Einheit  Deutschlands  entgegenstehen,  durch 


1)  An  Droysen,  16.  März  1850.    Briefwechsel  usw.,  S.  140. 

2)  Hannover  a.  a.  0.  Nr.  2,  fol.  39  (ohne  Datum):  „Wir  sollen 
und  müssen  in  einem  Staate  leben,  um  die  Aufgabe  unseres  Lebens 
erfüllen  zu  können.  Der  Staat  vor  allem!  —  Nationalität  erleichtert 
die  Bildung  eines  Staats,  sie  bestimmt  aber  nicht  den  Umfang  des- 
selben. Jede  Masse  Menschen,  welche  den  Zweck  des  Staates  zu  er- 
füllen im  Stande  ist,  hat  ein  Recht  auf  Bildung  eines  besonderen 
Staats. 

Deutschland  liegt  als  ein  Chaos  vor  uns.  Staats-  oder  Staaten- 
bildung aus  diesem  Chaos  ist  die  erste  Aufgabe.  Sind  die  Bedingungen 
zur  Bildung  eines  Staats  für  auf  einer  gegebenen  Fläche  lebende  Fami- 
lien oder  Gemeinden  in  einem  gewissen  Cultur  Zustande  da,  so  ist 
ohne  Rücksicht  darauf,  ob  Menschen  außerhalb  diesem  Kreise  auch 
Deutsch  sprechen,  die  Nothwendigkeit  eines  Staates  da.  Der  Süd- 
länder braucht  bei  seinem  wärmeren  Klima  und  bei  seinem  leich- 
teren Blute  andere  Nahrungs  Mittel  als  der  Nordländer;  beim  Süd- 
länder waltet  die  Phantasie  vor,  beim  Nordländer  die  Intelligenz,  Im 
ersten  Culturzustande,  wo  Gewalt  vorwaltet,  kommt  es  darauf  nicht 
an;  so  bald  aber  die  Menschen  sich  nicht  mehr  entwickeln,  treten 
diese  Eigenthümlichkeiten  so  lebhaft  hervor,  daß,  wie  man  sie  gewalt- 
sam vereinigen  will,  der  Fortschritt  der  Cultur  als  der  Zweck  des 
Staates  dadurch  gehemmt  wird.  Das  deutsche  Chaos  ist  hiernach  zu 
ordnen  und  so  ergibt  sich  ein  Nord-  und  ein  Süddeutschland,  und 
Jeder  von  beiden  Staaten  kann  seine  Aufgabe  lösen." 


462 


Eduard  Wilhelm  Mayer, 


Teilungen  der  Souveränität  zu  überwinden,  erregen  bei  die- 
sem Vertreter  des  reinen  Staatsgedankens  nur  Spott  und 
Zorn:  ,,Die  Vernunft-Lästerungen,  welche  durch  deutsche 
Einheit,  Staatenbund,  Bundesstaat,  kleiner  Fürsten  Suverai- 
netät  p.  p.  getrieben  sind,  haben  die  himmelsreine  jung- 
fräuliche Idee  des  Staates  dermaßen  genothzüchtigt,  daß 
dies  Himmelskind  in  Deutschland  eine  vollständige  Gassen- 
H  . . .  geworden  ist."^) 

Den  schärfsten  Widerspruch  aber  erregten  bei  Schön 
die  Bestrebungen,  die  den  Verband  des  preußischen  Staates 
antasteten.  Dem  Worte,  daß  Preußen  in  Deutschland  auf- 
gehen solle,  gibt  er  eine  Deutung,  die  das  genaue  Gegenteil 
des  wirklichen  Sinnes  enthält:  „Die  Rheinländer  nehmen 
die  Äußerung,  Preußen  gehe  in  Deutschland  auf,  theils  aus 
Beschränktheit,  theils  aus  Abneigung  gegen  Preußen,  theils 
a,us  Servilität  wörtlich  auf.  Unser  König  will  durch  seine 
Äußerung:  Preußen  gehe  in  Deutschland  auf,  ganz  Deutsch- 
land in  seine  Gewalt  bekommen.  Das  übersteigt  indessen 
die  Einsicht  der  Rheinländer  und  so  geht  Camphausen  in 
seiner  Rede  (August  1849.  Erste  Kammer)  plump  und  ge- 
wissenlos mit  Verläugnung  aller  Größe  Preußens  und  mit 
Hervorkehrung  des  alten  deutschen  Unwesens  auf  die  Ver- 
nichtung Preußens  los.  . . .  Preußen  soll  nach  dieser  Camp- 
hausenschen  Rede  die  Grund  Töne  der  Existenz  als  Staat 
von  den  Schwarzburgern,  Lippenern  oder  Reußen  mit  be- 
stimmen lassen!!!  Ein  größerer  Landes  Verrath  ist  un- 
denkbar."2) 

Hier  tritt  inmitten  von  Schöns  Spekulationen  einmal 
ein  Stück  wurzelechter  Empfindung  hervor:  das  Preußentum 

1)  An  Droysen,  10.  Januar  1851.  Briefwechsel  usw.,  S.  156. 
Etwas  ruhiger  und  geschmackvoller  im  Brief  vom  28.  Februar  1850 
(S.  135 f.):  „Im  Begriff  des  Staates  liegt  m.  E.  nothwendig  Einheit 
der  ausübenden  Macht." 

2)  Aufzeichnung  vom  August  1849.  Hannover  a.  a.  0.  Nr.  60. 
—  Vgl.  Schöns  Brief  an  Varnhagen  vom  13.  September  1848  (Die 
Gegenwart,  Bd.  2  (1872),  S.  69):  „Zum  ersten  Mal  wird  man  in  Frank- 
furt besorgt,  daß  Preußen  Selbständigkeit  aufnehmen  könne,  zum 
ersten  Mal  richtet  man  seine  Aufmerksamkeit  auf  Preußens  Macht. 
Möchte  dies  nur  von  unserer  Seite  festgehalten  und  weiter  entwickelt 
und  das  Aufgehen  Preußens  in  Deutschland  mit  Sang  und  Klang  oder 
besser  mit  Donner  und  Blitz  zu  Grabe  getragen  werden." 


Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  Theodors  v.  Schön.    463 

in  ihm  reagiert  auf  das  schärfste  gegen  alle  Versuche,  ihm 
den  Boden  zu  entziehen.  Seine  Gegnerschaft  gegen  die 
Ineinssetzung  von  Staat  und  Nation  ist  denn  auch  zum 
guten  Teile  daraus  zu  erklären,  daß  er  immer  die  Bedürf- 
nisse Preußens  vor  Augen  hat.  Jener  hölzerne  Begriff  der 
in  sich  notwendigen,  aller  nationalen  Grenzen  spottenden 
Staatsidee  gewinnt  sofort  Leben,  wenn  wir  an  die  Zu- 
sammensetzung der  Ostmarken  des  preußischen  Staates 
denken.  Hier  liegt  für  Schöns  Theorie  der  Angelpunkt, 
und  wenn  man  ihr  den  Vorwurf  macht,  daß  sie  eine  ein- 
zelne Erfahrung  zu  sehr  verallgemeinert,  so  wird  man  doch, 
um  ihr  gerecht  zu  werden,  anerkennen  müssen,  daß  sie  in- 
mitten einer  einseitig  auf  den  Nationalstaat  gerichteten 
Strömung  die  Autonomie  des  Staates  energisch  vertreten 
hat.  Die  Bewegung  von  1848  erschien  Theodor  von  Schön 
geradezu  als  ein  „Kampf  der  Nationalitäten  gegen  die 
Staaten".^)  Ihr  ist  er  entgegengetreten  mit  dem  Kampfruf: 
Der  Staat  vor  allem! 

Schön  hält  fest  an  den  friderizianischen  Grundlagen  der 
preußischen  Politik,  ohne  aber  doch  jenen  Großmachtsehr- 
geiz zu  empfinden,  der  Friedrich  dem  Großen  die  Richtung 
wies.  In  seinem  Widerstand  gegen  die  nationale  Idee  scheint 
er  die  Konservativen  fast  noch  zu  übertrumpfen.  Es  fehlen 
aber  bei  ihm  völlig  die  eigensüchtigen  Motive,  die  Verteidi- 
gung der  ererbten  Macht  im  Staat  und  die  Gegnerschaft 
gegen  die  liberalen  Ideen.  Er  hat  die  Freiheit  gewollt,  aber 
nicht  die  Einheit.  Von  der  Freiheit  erhoffte  er  eine  Steige- 
rung der  Kräfte  des  Staates;  die  Einigungsbestrebungen 
aber  schienen  ihm  den  Staatsnotwendigkeiten  zu  wider- 
sprechen. 

Als  ein  Eigenbrödler  ging  Theodor  von  Schön  seinen 
Weg  für  sich,  uneinig  mit  den  herrschenden  Volksströmungen. 
Die  lebendige  Kraft  in  ihnen  spürte  er  nicht;  er  war  ein- 
gesponnen in  das  Netz  seiner  eigenen  Gedanken,  und  viele 
seiner  Urteile  aus  der  Zeit  von  1848  tragen  deutlich  die 
Spuren  des  Alters.  Seine  Verständnislosigkeit  für  geschicht- 
liche Anschauung  und  für  die  nationale  Idee  inmitten  der 


1)  Staat  oder  Nationalität,  S.  3. 


464     E.  W.  Mayer,  Politische  Erfahrungen  und  Gedanken  etc. 


romantischen  und  der  nationalen  Bestrebungen  könnte  ihn 
als  eine  Art  geistesgeschichtlichen  Petrefakts  aus  den  Zeiten 
der  Aufklärung  und  des  absoluten  Machtstaats  erscheinen 
lassen.  Dies  Urteil  wäre  vorschnell,  zumal  ihm  die  Folge- 
zeit in  manchem  recht  gegeben  hat.  Das  Eigenrecht  des 
Staats  gegenüber  der  Nationalität  ist  auch  im  Laufe  des 
19.  Jahrhunderts  wieder  mehr  zur  Anerkennung  gekommen, 
und  heute  gar  findet  die  Lehre  ,,  Staatsverband  geht  über 
Volksverband"  willigere  Hörer  als  im  Jahre  1848.  Schön 
hat,  um  einen  seiner  Lieblingsausdrücke  zu  gebrauchen, 
„Gedanken  gehalten"  —  Gedanken,  die  der  Zeitrichtung 
widersprechen  mochten,  aber  darum  doch  ihre  Geltung 
nicht  einbüßten. 


Miszelle. 

Neues  zur  Hethiterfrage. 

Von 

Walter  Otto. 

Studien  zur  hethitischen  Sprachwissenschaft.  Von  Ernst  F. 
Weidner.  I.Teil.  (Leipziger  Semitistische  Studien  VII, 
1/2.)     Leipzig  1917.     152  S.    7  M. 

Der  Zufall  hat  es  leider  gefügt,  daß  ich  Weidners  Beitrag 
zur  hethitischen  Sprachwissenschaft  erst  erhalten  habe,  als  ich 
bereits  meinen  in  dieser  Zeitschrift  (s.  diesen  Band  S.  189  ff.) 
erschienenen  Aufsatz  über  „die  Hethiter"  für  druckfertig  erklärt 
hatte.  Da  es  sich  bei  Weidners  Abhandlung  um  eine  für  die 
Entscheidung  der  Hethiterfrage  prinzipiell  wichtige  Schrift 
handelt,  so  scheint  es  mir  geboten,  sofort  noch  nachträglich  zu 
ihr  Stellung  zu  nehmen,  und  dies  um  so  mehr,  als  grundsätzlich 
neue  Äußerungen  in  der  nächsten  Zeit  anscheinend  nicht  zu 
erwarten  sind  und  die  Leser  dieser  Zeitschrift  nur  so  ein  voll- 
ständiges Bild  von  dem  augenblicklichen  Stande  des  Hethiter- 
problems erhalten. 

Weidner  hat  sich  schon  seit  längerer  Zeit,  seit  1912,  mit 
den  Berliner  Boghazköitexten  befaßt.  Seine  Abhandlung,  die 
aus  diesen  Studien  erwachsen  ist,  ist  schon  vor  dem  Bekannt- 
werden der  Hroznyschen  Hethiterthese  fertiggestellt  gewesen; 
nur  der  Krieg  hatte  ihr  Erscheinen  verzögert.  Zu  Hroznys  Auf- 
stellungen nimmt  Weidner  daher  nur  in  einer  nachträglichen 
kurzen  Einfügung  (S.  33 — 35)  Stellung,  und  zwar  auch  nur  zu 
seinen  vorläufigen  Mitteilungen  und  noch  nicht  zu  dem  inzwischen 
erschienenen  1.  Teile  von  Hroznys  Hethiterbuche.   Jedenfalls  ist 


466  Walter  Otto, 

Weidners  Auffassung  um  so  bemerkenswerter,  als  sie  ganz  un- 
abhängig von  Hrozny  gewonnen  ist. 

Weidner  vertritt  nun  einen  Hrozny  völlig  entgegengesetzten 
Standpunkt.  Ihm  zufolge  ist  das  Hethitische  ebenso  wie  die 
Mitannisprache  und  das  Elamitische  ein  Vertreter  der  altkau- 
kasischen Sprachen^),  wenn  auch  ein  gewisser  „arischer"  Einschlag 
auch  von  ihm  nicht  geleugnet  wird  (S.  32/3,  34).2)  Weidner  hat 
unbedingt  das  Verdienst,  als  erster  die  Gründe,  die  für  eine  enge 
Verwandtschaft  des  Hethitischen  gerade  mit  der  Mitannisprache 
zu  sprechen  scheinen,  methodisch  erörtert  zu  haben.  Er  macht 
nämlich  den  Versuch,  die  Grundzüge  des  hethitischen  Lautsystems 
festzulegen,  und  da  er  hierbei  dieselben  Laute  wie  im  Hethi- 
tischen, und  zwar  nur  diese,  auch  in  der  Mitannisprache  festzu- 
stellen glaubt,  so  scheint  ihm  sein  Beweis  gelungen  zu  sein.  Er 
beachtet  hierbei  jedoch  nicht  genügend,  daß  er  bei  seinen  Einzel- 
beobachtungen immer  wieder  unsichere  Elemente  verwertet  hat; 
einschränkende  Ausdrücke  wie  „vielleicht,  anscheinend,  wahr- 
scheinlich, ziemlich  wahrscheinlich"  und  ähnliche  begegnen  uns 
bei  ihm  beständig.^)  Das  errichtete  Gebäude  ist  also  noch  ziem- 
lich unsicher  und  muß,  wenn  auch  nur  wenige  Steinchen  sich 
lösen,  d.  h.  wenn  man  sich  auch  nur  bezüglich  einiger  weniger 
Laute  anders  als  der  Verfasser  entscheidet,  ganz  zusammen- 
brechen.*) Ferner  ist  das  Material,  das  Weidner  beibringt,  natur- 
gemäß nicht  erschöpfend;  sein  an  sich  sehr  dankenswertes  hethi- 
tisches  Glossar  (S.  105  ff.)  ist  auf  Grund  seiner  Lautfestlegungen 
aufgestellt,  also  parteiisch  gefärbt.  Hierzu  kommt,  daß  er  selbst 
bezüglich  aller  Einzelheiten  und  der  weiteren  Begründung  seines 
von  Hrozny  abweichenden  Standpunktes  auf  kommende  Arbeiten, 


^)  Bork  hat  sich  in  dem  von  mir  schon  erwähnten,  gegen  die 
Hrozn^sche  These  gerichteten  Aufzatze  (Orient.  Lit.-Ztg.  XIX  [1916], 
Sp.  296)  über  diese  Verwandtschaft  sehr  viel  vorsichtiger  geäußert. 

2)  Wenn  Weidner  die  Bezeichnung  „arisch"  gebraucht,  so  scheint 
€r  sie  mir  fast  in  dem  allgemeinen  Sinne  =  indogermanisch  und  nicht 
in  ihrem  speziellen  Sinne  zu  verwenden,  s.  auch  S.  33  und  34,  4;  sehr 
präzise  drückt  er  sich  allerdings  leider  nicht  aus. 

»)  S.  etwa  S.  3,  2;  5;  7;  9;  10;  12;  19;  21;  24;  26;  29/30;  vgl. 
auch  die  Bemerkungen  auf  S.  17,  1. 

*)  Auf  Einzelheiten  einzugehen,  würde  dem  Charakter  dieser 
Miszelle  widersprechen. 


I 


Neues  zur  Hethiterfrage.  467 

vor  allem  auf  seine  hethitische  Grammatik  verweist  (s.  S.  VI; 
34;  86).  Eine  endgültige  Stellungnahme  ist  also  ebenso  wie  gegen- 
über Hrozny  auch  Weidner  gegenüber  sehr  schwierig. 

Jedenfalls  scheint  er  mir  aber  die  indogermanischen  Bestand- 
teile innerhalb  des  Hethitischen  in  ihrer  Bedeutung  für  den  ganzen 
Charakter  der  Sprache  unbedingt  zu  unterschätzen.  Seine  An- 
nahme (S.  32),  daß  jene  einfach  die  Folge  des  Aneinanderstoßens 
des  Hethiterreiches  mit  dem  Herrschaftsgebiet  der  Charri  seien, 
beruht  einmal  auf  der  unbewiesenen  Vermutung,  daß  die  Charri 
die  Arier  seien,  sie  wird  aber  auch  nicht  der  Stärke  des  indoger- 
manischen Elements  des  Hethitischen  gerecht;  denn  durch  sie 
ließe  sich  nur  das  Erscheinen  vereinzelter  Lehnwörter  —  um  weit 
mehr  handelt  es  sich  aber  auf  jeden  Fall  —  erklären.  Ganz  zurück- 
zuweisen ist  alsdann  eine  methodische  Bemerkung  Weidners 
(S.  33),  durch  die  er  im  Anschluß  an  eine  Behauptung  Hüsings 
(Orient.  Lit.-Ztg.  XII  [1909],  Sp.  102,  1)  seine  eigene  These  zu 
stützen  sucht:  da  die  Hethiter  anthropologisch  keine  Indoger- 
manen  seien,  so  könne  das  Grundgefüge  ihrer  Sprache  unmöglich 
indogermanisch  sein^);  denn  Sprachen  in  ihrer  Gesamtheit  seien, 
wo  es  sich  um  ganze  Völker  handelt,  unübertragbar.  Weidner 
beachtet  hierbei  ebenso  wie  Hüsing  gar  nicht,  daß  die  Indoger- 
manen  eine  durch  die  Sprache  und  nicht  durch  die  Rasse  zusam- 
mengehaltene Völkergruppe  darstellen  (s.  meine  Bemerkung  in 
dieser  Ztschr.  117,  S.  197,  2),  und  er  ist  sich  ferner  dessen  nicht 
bewußt  geworden,  daß  die  Vorherrschaft  der  indogermanischen 
Sprache  im  geschichtlichen  Europa  gerade  darauf  beruht,  daß 
ganze  Völker,  d.  h,  jene  Volkselemente,  auf  die  die  indogermanisch 


^)  Weidner  beruft  sich  bei  diesen  Feststellungen  auch  auf  die 
jedes  indogermanische  Element  für  die  Hethiter  ablehnenden  Bemer- 
kungen Eduard  Meyers  in  dessen  Geschichte  des  Altertums,  verschweigt 
aber  leider  ganz,  obwohl  er  in  seiner  Literaturübersicht  (S.  144  ff.) 
den  betreffenden  Aufsatz  Eduard  Meyers  anführt,  daß  dieser  inzwischen 
seine  frühere  Auffassung  aufgegeben  hat  (s.  meinen  Hinweis  in  dieser 
Zeitschr.  117,  S.  200  und  203).  Nach  welchem  Prinzip  Weidners  Lite- 
raturverzeichnis angelegt  ist,  ist  übrigens  nicht  ersichtlich;  es  fehlen 
manche  grundlegende  Arbeiten  über  das  Hethiterproblem,  wie  die  von 
Messerschmidt  und  Jensen,  gänzlich,  während  andere,  die  nur  Einzel- 
heiten bieten,  und  selbst  solche,  die  einen  mehr  populären  Charakter 
tragen,  genannt  sind. 


468 


Walter  Otto, 


Sprechenden  bei  ihrem  Vordringen  stießen,  die  indogermanische 
Sprache  angenommen  haben.  Es  ist  eben  eine  in  der  Weltge- 
schichte sehr  oft  zu  beobachtende  Tatsache,  daß  die  Sprache  des 
Siegers,  bzw.  desjenigen,  der  die  politische  Vorherrschaft  ausübt, 
in  einer  stamm-  und  sprachfremden  Bevölkerung,  freilich  nicht 
ohne  der  Beeinflussung  durch  diese  mehr  oder  weniger  zu  erliegen^ 
herrschend  wird,  aber  auch  die  entgegengesetzte  Entwicklung: 
läßt  sich  gelegentlich  nachweisen. i) 

Abgesehen  von  der  ungenügenden  methodischen  Grundlage 
ist  bei  der  allgemeinen  Schlußfolgerung  Hüsings  und  Weidners 
auch  ein  Tragpfeiler  ihres  Gebäudes  brüchig;  sie  nehmen  nämlich 
ohne  weiteres  an,  daß  die  in  den  Keilschrifttexten  uns  begegnende 
hethitische  Sprache  auch  wirklich  vom  ganzen  hethitischen  Volke 
gesprochen  worden  sei.  Sie  ziehen  die  Möglichkeit,  daß  wir  in 
dieser  vielleicht  nur  die  Staats-  und  Gesellschaftssprache  zu  sehen 
haben,  neben  der  noch  ein  anderes  Idiom  als  Volkssprache  sich 
erhalten  hat,  d.  h.  etwa  Zustände,  wie  wir  sie  besonders  deut- 
lich in  England  nach  der  normannischen  Eroberung  bis  ins  14.  Jahr- 
hundert n.  Chr.  hinein  beobachten  können,  gar  nicht  in  Be- 
tracht. Und  doch  hätte  wenigstens  Weidner  gerade  auf  Grund 
der  Beobachtungen  Hrozn;fs  über  eine  zweite  in  den  hethitischen 
Keilschrifturkunden  gelegentlich  begegnende  Sprache  dies  tun 
müssen. 

Alles  in  allem  genommen.  Weidners  These  scheint  mir  von 
ihm  zunächst  nicht  bewiesen  zu  sein,  wobei  ich  ganz  davon  ab- 
sehe, inwieweit  er  mit  seiner  Zuteilung  des  Hethitischen,  ebenso 
wie  des  Elamitischen  und  der  Mitannisprache  zu  der  kaukasischen 
Sprachgruppe  das  Richtige  trifft.  2)  Anderseits  mahnen  allerdings 
auch  gerade  seine  Feststellungen  zur  Vorsicht  gegenüber  Hrozn^s 
Erklärung  des  Hethitischen   als  einer  im  wesentlichen  indoger- 


1)  Es  sei  auch  hier  anstatt  besonderer  Belege  auf  die  schon  im 
vorigen  Aufsatz  (S.  206,  3)  erwähnten  Ausführungen  von  Oberhummer^ 
Geogr.  Zeitschr.  XXII  (1916),  S.  82f.  verwiesen. 

2)  Weidner  gehört  zu  jener  Gruppe  von  Sprachforschem,  die  ge- 
neigt sind,  möglichst  viele  antike  und  moderne  Sprachen,  so  auch 
z.  B.  das  Baskische,  als  Vertreter  des  kaukasischen  Sprachtypus  zu 
fassen,  s.  z.  B.  S.  33,  1 ;  34,  4;  110;  116,  1.  Vgl.  etwa  demgegen- 
über die  vorsichtige  Stellungnahme  von  Ungnad,  Orient.  Lit.-Ztg. 
XVIII  (1915),  Sp.  241. 


Neues  zur  Hethiterfrage.  469 

manischen  Sprache.  Meine  eigene  Deutung  des  Hethitischen  als 
einer  Mischsprache  (s.  diese  Zeitschr.  117,  S.  205)  scheint  mir 
daher  gerade  durch  das  Weidnersche  Buch  stärker  gesichert  zu 
werden, 1) 

Außer  der  sprachlichen  These  Weidners  sind  für  die  von  mir 
behandelten  hethitischen  Probleme  auch  einige  seiner  Einzel- 
bemerkungen von  Bedeutung.  Ich  hatte  (diese  Zeitschr.  117, 
S.  213)  mich  dahin  ausgesprochen,  daß  wir  keinerlei  Anzeichen 
für  das  Vorhandensein  des  Einzelvolkes  der  Hethiter  in  seinen 
späteren  kleinasiatischen  Sitzen  vor  der  1.  Hälfte  des  2.  Jahr- 
tausends haben.  Eine  Feststellung  Weidners  (S.  36)  über  den 
Schriftduktus  der  hethitischen  Keilschrifturkunden  2)  scheint 
mir  nun  sehr  wohl  hiermit  zu  vereinen  zu  sein.  Jener  Schrift- 
duktus ist  nämlich  nach  Weidner,  wenn  er  auch  eine  Entwick- 
lungsform für  sich  darstelle,  dem  der  altakkadischen  Texte  aus 
der  Zeit  der  ersten  Dynastie  von  Babylon  und  vielleicht  noch 
stärker  mit  jenem  der  Urkunden  aus  der  Zeit  der  Dynastie  von 
Isin  nahe  verwandt,  eine  Beobachtung,  die  in  ihren  Grundzügen 
das  Richtige  treffen  dürfte,  zumal  auch  die  Auswahl  der  von 
den  Hethitern  verwandten  Keilschriftzeichen  für  sie  spricht. 
Wenn  ich  Weidner  recht  verstehe,  so  glaubt  er,  daß  die 
ältesten  hethitischen  Keilschrifttexte  bereits  in  jener  altbaby. 
Ionischen  Zeit  abgefaßt  sein  dürften.  Die  Annahme  der  baby. 
Ionischen    Keilschrift  durch  die  Hethiter  wäre  also  bereits  sehr 


1)  Auch  erst  nachträgHch  sind  mir  von  Arbeiten  über  den  Cha- 
rakter der  hethitischen  Sprache  bekannt  geworden:  Holma,  Stades 
sur  les  vocabulaires  sumiriens-accadiens-hittites  de  Delitzsch  (Journal 
de  la  sociiti  Finno-ougr lerne  XXXIII  [1916],  Helsinski)  und  K.  Wulff, 
Hethitisk,  et  nyt  indo-europaeisk  sprog?  (Nordisk  Tidsskrift  for  Filologi 
1916,  S.  81ff,);  Holma  versucht  die  indogermanischen  Elemente  in 
den  Vokabularen  festzustellen,  Wulff  unterzieht  die  Hrozn^sche  These 
einer  kurzen  kritischen  Prüfung,  die  mir  ebenso  wie  die  Arbeit  von 
Holma  gerade  für  meine  Aufstellung  zu  sprechen  scheint,  ich  möchte 
hier  noch  ausdrücklich  bemerken,  daß  ich  die  vielen  Beiträge  zur 
Hethiterfrage,  die  in  der  letzten  Zeit  in  populären  Zeitschriften  und  in 
Tageszeitungen  erschienen  sind,  hier  absichtlich  beiseite  gelassen  habe. 

2)  S.  für  diesen  auch  seine  Schrifttafel  auf  S.  150  ff.  Es  sei  hier- 
bei bemerkt,  daß  auch  Weidner  die  gelegentliche  Schwierigkeit  der 
Lesung  betont,  s.  S.  104,  4. 


470 


Walter  Otto, 


früh  erfolgt.  Es  wäre  alsdann  erwiesen,  daß  die  Hethiter  be- 
reits in  dieser  frühen  Zeit  im  Bereich  des  babylonischen  Kultur- 
kreises gesessen  hätten.  Aber  wo,  ob  im  Osten  oder  im  Westen 
desselben,  das  wäre  natürlich  fraglich. i)  Nun  erscheint  es 
mir  aber  mögHch,  den  altertümlichen  Schriftduktus  der  hethi- 
tischen  Keilschrifturkunden  auch  noch  auf  einem  anderen 
Wege  zu  erklären.  Die  in  meinem  Hethiteraufsatz  (S.  212)  er- 
wähnten kappadokischen  Keilschrifttafeln  —  Weidner  schiebt  sie 
eigenartigerweise  beiseite  (S.  36,  3)  —  gehören  ja  auch  der  alt- 
babylonischen Zeit  an;  der  Gebrauch  eines  altbabylonischen 
Schriftduktus  ist  uns  also  durch  sie  für  die  Gegenden,  wo  wir 
später  die  Hethiter  antreffen,  belegt.  An  und  für  sich  hätte  mit- 
hin die  Annahme  viel  für  sich,  daß  die  Keilschriftform  dieses 
Gebietes  von  den  Hethitern  angenommen  worden  ist,  als  sie  seine 
Herren  geworden  waren.  Wann  die  Übernahme  erfolgt  ist,  läßt 
sich  allerdings  vorläufig  auf  Grund  dieser  allgemeinen  Erwägungen 
kaum  näher  festlegen.  Denn  wir  haben  mit  der  Möglichkeit  zu 
rechnen,  daß  in  diesen  Gegenden,  die  immerhin  von  dem  Haupt- 
verbreitungsgebiet der  babylonischen  Kultur  etwas  abgetrennt 
lagen  und  deren  Abgetrenntsein  durch  die  politischen  Ereignisse 
der  1.  Hälfte  des  2.  Jahrtausends  noch  verstärkt  worden  sein 
dürfte  (s.  diese  Zeitschr.  117,  S.  212  f.),  sich  Altertümliches  lange 
erhalten  hat.  Es  kommt  hinzu,  daß  uns  in  den  kappadokischen 
Keilschrifttafeln  ein  lokal  engbegrenztes  Material  zur  Verfügung 
steht,  da  es  im  wesentlichen  aus  einem  einzigen  Orte,  aus  Kültepe, 
stammt^),  so  daß  paläographische  Vergleichungen  mit  den  späteren 
hethitischen  Urkunden,  die  uns  allein  weiter  helfen  können,  mit 
ungenügendem  Material  zu  tun  haben.  Immerhin  scheint  mir, 
wenn  wir  die  Eigenart  der  hethitischen  Keilschriftform  auf  dem 
Wege  über  die  alte  Keilschrift  Kappadokiens  —  nicht  allein  auf 
Grund  der  gerade  zufällig  erhaltenen  wenigen  Proben  von  ihr  — 
erklären  wollen,  kein  Zwang  zu  bestehen,  die  Übernahme  der 
Schrift  noch  etwa  in  die  Zeit  vor  2000  v.  Chr.,  aus  der  ja  ein- 
zelne der  kappadokischen  Urkunden  sicher  stammen,  anzusetzen. 
Während  die  paläographische  Beobachtung  Weidners  uns 
m.  E.  zunächst  nur  vor  neue  Probleme  stellt,  ohne  deren  end- 

1)  Es  sei  darauf  verwiesen,  daß  bekanntlich  auch  die  Elamiten 
sich  bereits  im  3.  Jahrtausend  der  babylonischen  Schrift  bedient  haben. 

2)  S.  H.  Winckler,  Orient.  Lit.-Ztg.  IX  (1906),  Sp.  622  f. 


Neues  zur  Hethiterfrage.  471 

gültige  Lösung  herbeizuführen,  dürfte  eine  seiner  anderen  ge- 
legentlichen Bemerkungen  (s.  S.  72,  1)  für  die  wichtige  Frage 
nach  dem  Alter  der  hethitischen  Hieroglyphenschrift  (s.  hierüber 
diese  Zeitschr.  117,  S.  196)  sehr  förderlich  sein.  Ich  hätte  viel- 
leicht schon  in  meinem  Aufsatz  jenes  hethitische  Keilschrift- 
täfelchen aus  Boghazköi  erwähnen  können,  das  in  der  Unter- 
schrift hethitische  Hieroglyphen  trägt,  i)  Seine  genaue  Datierung 
durch  Sayce  in  die  Regierungszeit  des  letzten  uns  bekannten 
Herrschers  des  hethitischen  Großreiches  ist  freilich  unbegründet, 
so  daß  trotz  seiner  Herkunft  aus  Boghazköi  die  Möglichkeit,  es 
als  ein  Dokument  aus  späterer  Zeit  als  die  Masse  der  dorther 
stammenden  Urkunden  zu  fassen,  bisher  m.  E.  nicht  zwingend 
zu  widerlegen  war.  Nun  weist  Weidner  auf  eine  Reihe  von 
Boghazköiurkunden  hin,  welche  als  Unterschrift  den  Vermerk 
„geschrieben  von  X."  tragen,  während  bei  anderen  der  Name 
des  Schreibers  nicht  genannt,  sondern  an  seiner  Statt  ein  freige- 
lassener Raum  vorhanden  ist;  ein  Gegenstück,  ein  Keilschrift- 
täfelchen aus  El  Amarna,  bietet  in  dem  freigelassenen  Räume, 
nach  den  erhaltenen  Spuren  zu  urteilen,  den  Schreibernamen 
wohl  in  ägyptischen  Hieroglyphen.^)  Weidner  hat  hieraus  schon 
den  m.  E.  richtigen  Schluß  gezogen,  daß  auch  jene  hethitischen; 
Hieroglyphenzeichen^)  den  Schreibernamen  enthalten  dürften,*) 
Man  darf  wohl  aber  des  weiteren  gerade  auf  Grund  all  jener 
Gegenstücke  nun  mit  voller  Bestimmtheit  behaupten,  daß  das 
an  sich  nicht  sicher  zu  datierende  Saycesche  Tafelfragment  mit 
der  Unterschrift  des  Schreibers  in  Hieroglyphen  aus  derselben  Zeit 
wie  seine  Parallelstücke,  also  aus  dem  14.  oder  13.  Jahrhundert 


^)  Veröffentlicht  von  Sayce,  Journ.  Royal  Asiat.  Society  1912, 
S.  1029  ff. 

*)  S.  Borchardt  und  Schröder,  Mitt.  Deutsch.  Orientgesellsch. 
Nr.  55  (1914),  S.  35  u.  41  ff. 

')  Ihre  Deutung  durch  Sayce  war  sehr  wenig  wahrscheinlich. 

*)  Weidner  möchte  übrigens  gern  in  der  Sayceschen  Urkunde 
einen  weiteren  Beweis  für  die  Identität  des  Hethitischen  der  Hiero- 
glypheninschriften und  der  Keilschrifttexte  sehen.  Daß  ein  solcher 
Schluß  jedoch  nicht  statthaft  ist,  zeigt  klar  die  angeführte  Urkunde 
aus  El  Amarna,  bei  der  sich  bei  Anwendung  derselben  Schlußfolgerung 
die  Gleichheit  der  Sprache  des  Keilschrifttextes  und  der  der  ägyptischen 
Hieroglyphen  ergeben  würde. 


472  Walter  Otto,  Neues  zur  Hethiterfrage. 

V.  Chr.  stammen  muß,  so  daß  wir  in  ihm  ein  immerhin  näher 
datiertes  Zeugnis  für  die  hethitische  Hieroglyphenschrift  besitzen 
würden. 

Zum  Schluß  sei  noch  auf  eine  wohl  Glauben  verdienende 
Mitteilung  Weidners  aus  einer  hethitischen  Chronik  über  ein 
wichtiges  Ereignis  aus  der  Geschichte  des  hethitischen  Groß- 
reiches verwiesen,  eine  Nachricht,  die  wohl  allen  ganz  uner- 
wartet kommen  dürfte  und  uns  die  größte  Vorsicht  und  Zu- 
rückhaltung gegenüber  der  Geschichte  des  hethitischen  Groß- 
reiches vor  der  Veröffentlichung  der  Archivfunde  von  Boghaz- 
köi  von  neuem  einschärft  (s.  schon  diese  Zeitschr.  117,  S.  224). 
Wir  erfahren  nämlich  von  einer  zweiten  Eroberung  Babylons 
durch  die  Hethiter,  und  zwar  zur  Zeit  ihres  Königs  Mursil, 
des  Vaters  Chattusils  II,  also  in  der  2.  Hälfte  des  14.  Jahr- 
hunderts. Eine  irgendwie  länger  dauernde  Unterwerfung  Ba- 
byloniens  kann  allerdings  nicht  die  Folge  dieser  Eroberung  ge- 
wesen sein;  war  uns  doch  schon  bekannt,  worauf  ich  bereits 
früher  hingewiesen  habe  (S.  224),  daß  Babylonien  unter  der 
Regierung  Chattusils  II  dessen  Einmischungsversuche  in  seine 
inneren  Verhältnisse  erfolgreich  abgewehrt  hat,  und  die  Form, 
in  der  sich  hierbei  die  Verhandlungen  abgespielt  haben,  spricht 
sogar  eigentlich  direkt  dagegen,  daß  Babylonien  in  dieser  Zeit 
jemals  den  Hethitern  direkt  Untertan  gewesen  ist.^)  Immerhin 
würde  uns  diese  Eroberung  Babylons,  wenn  Weidners  Angabe 
weiterer  Prüfung  standhält,  wieder  besonders  deutlich  die  große 
Macht  der  Hethiter  und  die  Ohnmacht  Babyloniens  unter  den 
späteren  Kassitenkönigen  zeigen. 


1)  Wincklers  (Mitt.  Deutsch.  Orientgesellsch.  Nr.  35  [1907],  S.  22) 
Übersetzung  der  vor  allem  hierfür  in  Betracht  kommenden  Stellen 
der  einschlägigen  Urkunde  sei  hier  wiedergegeben,  wenn  auch  wohl 
nicht  alles  ganz  korrekt  sein  dürfte.  Nach  ihr  hat  der  Babylonier  an 
den  Hethiterkönig  geschrieben:  „Du  schreibst  an  uns  nicht  im  Tone 
der  Bruderschaft,  sondern  kommandierst  uns  wie  Vasallen",  und  der 
Hethiterkönig  hat  darauf  geantwortet:  „Wie  könnte  ich  Euch  je  wie 
meine  Vasallen  kommandieren?  Weder  die  Leute  von  Kardunias 
(=  Babylonien)  können  je  die  von  Chatti,  noch  diese  jene  komman- 
dieren usw." 


Literaturberidit. 


Sokrates.    Sein  Werk   und   seine    geschichtliche    Stellung.    Von 
H.  Maier.    Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr.    1913.    638  S. 

Es  ist  eine  neue,  von  der  bisher  herrschenden  Auffassung 
durchaus  abweichende  Anschauung  von  dem  großen  athenischen 
Weisen,  die  der  Verfasser  des  vorliegenden  Buches  durch  eine 
umfassende  Erörterung  und  Kritik  der  Überlieferung  zu  be- 
gründen sucht.  Das  Ergebnis  der  Untersuchung  ist  folgendes: 
Nicht  die  Begriffsphilosophie  ist  auf  Sokrates  zurückzuführen 
—  der  Entdecker  des  Allgemeinen  ist  Piaton  — ,  sondern  viel- 
mehr ein  persönliches  Lebensideal  individueller  Voll- 
kommenheit und  Autarkie.  Die  Philosophie  des  Sokrates 
ist  nicht  Suchen  nach  einer  allgemeingültigen  Wissenschaft, 
sondern  nur  Suchen  nach  persönlich-sittlichem  Leben.  Das 
Wesentliche  der  sittlichen  Idee  liegt  für  ihn  nicht  in  ihrem  In- 
halt, sondern  ist  ein  formales  Moment,  das  die  Freiheit  und 
Unabhängigkeit,  die  Autonomie  und  Autarkie  der  sittlichen  Per- 
sönlichkeit begründet.  Die  Tendenz  aller  sittlichen  Gebote  richtet 
sich  auf  die  Vollkommenheit  der  individuellen  Seele  (S.  316). 
In  dem  individuellen  Lebensgebiet  sich  auszuwirken,  den  indi- 
viduellen Menschenberuf  zu  erfüllen,  ist  zunächst  die  vor- 
nehmste sittliche  Aufgabe  (S.  392).  Hierzu  ist  das  wesentlichste 
Mittel  sachverständiges  Wissen.  Dieses  ist  somit  die  Voraus- 
setzung und  das  Fundament  für  die  Erfüllung  der  konkreten 
Aufgabe,  die  dem  in  Welt  und  Leben  stehenden  Individuum 
durch  das  Vollkommenheitsideal  gestellt  ist  (S.  398).  Das  Wissen 
ist  also  nur  ein  Mittel  für  die  Erreichung  dieses  konkreten  Zweckes. 
Die  Wissenschaft  als  solche  dagegen  bildet  für  Sokrates  keinen 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  31 


474 


Literaturbericht.' 


bestimmenden  Lebenszweck.  Das  Ziel  aller  individuellen  Betäti- 
gung ist  die  Verwirklichung  persönlicher  Kultur.  Maier  erkennt 
allerdings  eine  gewisse  Bedeutung  der  Gemeinschaftsidee  auch 
im  sokratischen  Denken  an.  Den  platonischen  Gedanken,  daß 
die  kulturelle  Aufgabe,  die  dem  Menschen  durch  das  Vollkommen- 
heitsideal gestellt  ist,  ihre  Lösung  nur  in  der  organisierten  Ge- 
sellschaft im  Staate  finden  könne,  sieht  er  als  einen  im  Kern 
sokratischen  an  (S.  416f.).  Der  Staat  ist  die  organische  Einheit,, 
in  der  die  Persönlichkeiten  ihre  sittliche  Aufgabe  erfüllen  (S.  548). 
Aber  das  sittliche  Leben  selbst  ist  dem  Sokrates  doch  eine  An- 
gelegenheit des  Individuums,  nicht  der  Gesellschaft  (S.  315,  389). 
So  wird  Sokrates  grundsätzlich  zu  einem  Verfechter  des  Indivi- 
dualismus auf  sittlichem  Gebiete  gestempelt. 

Wenn  wir  nun  die  Grundlagen  der  M.schen  Ansicht  prüfen, 
so  stützt  sich  seine  Hauptthese,  die  den  Zusammenhang  zwischen 
sokratischem  Denken  und  der  Begriffsphilosophie  auflöst,  vor 
allem  auf  eine  Bestreitung  der  bekannten  Bemerkungen  des  Ari- 
stoteles über  das  philosophische  Verfahren  des  Sokrates.  M.  er- 
kennt diesen  Bemerkungen  den  selbständigen  Quellenwert  ab, 
sieht  vielmehr  in  den  angeblichen  Zeugnissen  des  Aristoteles  eine 
von  Xenophons  Ausführungen  in  den  „Denkwürdigkeiten"  (IV6) 
abhängige  Darstellung.  Und  Xenophon  wird  seiner  Bedeutung 
als  unabhängiger  Zeuge  durch  die  Annahme  einer  weitgehenden 
Abhängigkeit  von  Piaton  entkleidet.  Weiter  sucht  M.  seine  Auf- 
fassung des  Sokrates  durch  eine  sehr  entschiedene  Verwertung 
der  Stellung  des  Antisthenes  und  Aristipps  zum  Meister  zu  be- 
gründen. Er  sieht  den  echten  Sokrates  gewissermaßen  in  der 
Mitte  zwischen  Piaton  und  Antisthenes.  Vor  allem  habe  das 
Evangelium  der  Freiheit,  das  Sokrates  vertreten  habe,  in  Anti- 
sthenes einen  verständnisvollen  Verfechter  gefunden  (vgl.  S.  323 f.) 
Endlich  das  letzte  Hauptglied  in  der  Kette  der  Beweisführung: 
das  Verhältnis  Piatons  zu  Sokrates.  So  großen  Wert  M.,  mit 
Recht,  den  frühplatonischen  Dialogen  für  die  geschichtliche  Er- 
kenntnis des  Sokrates  beimißt,  so  entschieden  bringt  er  auf  der 
anderen  Seite  den  selbständigen  und  vollendeten  Denker  Piaton 
geradezu  in  einen  Gegensatz  gegen  den  wirklichen  Sokrates. 
Piaton  hat  eine  ins  Wesen  eindringende  Umbildung  des  sokrati- 
schen Evangeliums  durchgeführt.  Erst  er  hat  Erkenntnis  und 
Tugend,  wissenschaftliche  Betätigung   und  sittliches  Leben  ge- 


Alte  Geschichte.  475 

radezu  gleichgesetzt.  Aus  dem  sokratischen  Satze:  Tugend  ist 
ein  Wissen,  ist  der  platonische:  Tugend  ist  das  Wissen,  gewor- 
den (S.  520). 

Ich  halte  die  Begründung,  die  M.  für  sein  Sokratesbild  gibt, 
nicht  für  ausreichend,  zum  großen  Teil  geradezu  für  unzutreffend 
Die  Entwertung  der  aristotelischen  Zeugnisse  über  Sokrates'  be- 
grifflich-induktives Verfahren  ist  nicht  gelungen,  die  Annahme, 
daß  als  der  Gewährsmann  des  Aristoteles  Xenophon  anzusehen 
sei,  sehr  unwahrscheinlich.  Sollten  dem  Aristoteles  wirklich  nicht 
andere  Quellen  für  seine  Auffassung  der  sokratischen  Philosophie 
zu  Gebote  gestanden  haben  als  die  Denkwürdigkeiten  Xenophons? 
Es  floß  ihm  doch  vor  allem  die  Quelle  der  lebendigen  Überliefe- 
rung in  der  Akademie.  Und  die  Ableitung  der  aristotelischen  Dar- 
stellung aus  dem  xenophonteischen  Berichte  ist  an  sich  sehr  ge- 
zwungen. Weiter  muß  ich  gegen  die  Schlüsse,  die  M.  aus  der 
philosophischen  Stellung  des  Antisthenes  und  Aristipps  auf  So- 
krates selbst  zieht,  starke  Bedenken  erheben.  Mir  scheint  hier  ein 
Entweder-Oder  unausweichlich.  Entweder  hat  Piaton  mit  seinem 
Glauben  an  die  Möglichkeit  einer  Erkenntnis  und  einer  wahren 
sittlichen  Gemeinschaft  an  Sokrates  angeknüpft  oder  er  ist  in 
den  wesentlichsten  Motiven  seines  philosophischen  Denkens  und 
Forschens  von  ihm  unabhängig,  ja  steht  sogar  im  Gegensatz  zu 
ihm.  Wie  sollen  wir  uns  aber  dann  psychologisch  sein  Verhältnis 
zum  Meister  erklären?  Man  halte  dem  nicht  entgegen,  daß  für 
Piaton  der  persönliche  Eindruck  vornehmlich  des  im  Märtyrer- 
tode sich  selbst  vollendenden  Weisen  entscheidend  gewesen  sei. 
So  stark  wir  dieses  persönliche  Moment  einzuschätzen  haben, 
Sokrates  konnte  doch  nicht  der  Idealvertreter  wahrer  Philosophie 
für  Piaton  werden,  wenn  dieser  nicht  der  Überzeugung  sein  durfte, 
daß  der  Meister  ihm  eben  durch  sein  eigenes  philosophisches  Suchen 
und  Denken  den  Weg  zur  wahren  Philosophie  gewiesen  habe. 
Hätte  er  wohl  diesen  Glauben  zu  gewinnen  vermocht,  wenn  Anti- 
sthenes einen  so  wesentlichen  Teil  der  Wahrheit  über  Sokrates 
vertrat?  Wie  stark  der  Einschlag  einer  spezifisch  attischen,  in 
der  Gemeinschaftsidee  wurzelnden  sittlichen  Anschauung  bei 
Sokrates  war,  zeigt  vor  allem  der  platonische  Kriton,  dem  M. 
mit  Recht  neben  der  Apologie  einen  sehr  bedeutenden  Quellen- 
wert beimißt.  Zu  einer  solchen  Anschauung  steht  die  des  Anti- 
sthenes in  völligem  Gegensatze.    Dieser  ist  sowohl  in  seiner  Be- 

31* 


476  Literaturbericht. 

kämpfung  der  Gemeinschaftsidee  wie  in  der  Bestreitung  der 
Möglichkeit  einer  wirklichen  Erkenntnis  aus  der  sophistischen 
Aufklärung  hervorgewachsen.  Gerade  auch  die  frühplatonischen 
Dialoge  lassen  uns  aber  deutlich  sehen,  wie  Sokrates  nach  einer 
begrifflich  allgemeinen  Grundlegung  des  ethischen  Denkens 
suchte.  Der  tatsächlich  einigermaßen  skeptische  Zug,  der  dem 
Sokrates  in  diesen  Dialogen  eignet,  gilt  in  Wahrheit  nur  dem 
vermeintlichen  Wissen,  nicht  der  wahrhaften  Erkenntnis.  Auch 
Xenophons  Schilderung  des  dialektischen  Verfahrens  des  Sokrates 
darf  nicht  ohne  weiteres  über  Bord  geworfen  werden.  Sie  muß 
gewiß  mit  Vorsicht  verwertet  werden,  aber  völlig  beseitigen  läßt 
sich  ihr  Quellenwert  nicht.  Die  Vermutung  einer  wesentlichen 
Abhängigkeit  Xenophons  von  Piaton,  wie  sie  M.  S.  53  ff.  ver- 
tritt, wird  schwerlich  viel  Zustimmung  finden. 

Das  Bild,  das  M,  von  Sokrates  gewinnt,  ist  m.  E.  ein  stark 
modernisierendes.  Es  trägt  Züge,  die  in  gewissem  Sinne 
geradezu  an  das  auf  dem  Boden  der  modernen  deutschen  Kultur 
erwachsene  Persönlichkeitsideal  erinnern.  Die  Unsicherheit  eines 
jeden  Versuches,  eine  genauere  Zeichnung  der  Anschauungen  und 
Bestrebungen  des  großen  athenischen  Weisen  zu  entwerfen,  wird 
bei  dem  Stande  des  Quellenmaterials  immer  bestehen  bleiben. 
Aber  die  Lösung  des  Problems  liegt  gewiß  nicht  in  der  Rich- 
tung, in  der  sie  M.  versucht  hat.  Sokrates  ist  wohl  ein  Vertreter 
der  Autonomie  des  Individuums  gewesen,  aber  eben  doch  im 
Sinne  eines  Intellektualismus  und  Rationalismus,  der  ein  wahr- 
haft Allgemeines  aus  der  Vernunft  heraus  im  menschlichen  Denken 
wie  Leben  zur  Geltung  zu  bringen  trachtet.  Natürlich  dürfen 
wir  aber  eine  so  reiche,  fruchtbare  und  lebendige  Persönlichkeit 
nicht  in  der  schematischen  Kategorie  allgemeiner  Begriffsdialektik 
aufgehen  lassen  und  ihr  den  Charakter  des  Problematischen  neh- 
men. Der  Gegensatz  zwischen  dem  sokratischen  und  christlichen 
Evangelium,  auf  den  M.  am  Schlüsse  seines  Buches  hinweist, 
stellt  sich  in  Wahrheit,  wie  mir  scheint,  auch  etwas  anders  dar 
als  unter  der  vom  Verfasser  gegebenen  Beleuchtung,  worauf  ich 
hier  nicht  weiter  eingehen  kann. 

Wie  gegen  die  Darstellung  des  Sokrates  selbst  habe  ich  auch 
gegen  die  der  Sophistik  und  Piatons  Bedenken  vorzubringen.  M.s 
Schilderung  der  sophistischen  Anschauungen  läßt  —  in  Einklang 
mit  einer  in  der  gegenwärtigen  Forschung  stark  verbreiteten  Auf- 


Alte  Geschichte.  477 

fassung  —  hinter  den  praktischen  Bestrebungen  der  Sophisten 
den  allgemeinen  Einfluß,  den  sie  als  wirksamste  Vertreter  der 
individualistischen  Aufklärung  sowohl  auf  die  philosophische 
Theorie  wie  namentlich  auf  das  sittliche  Gemeinschaftsleben  aus- 
geübt haben,  zu  stark  zurücktreten.  Ich  habe  im  ersten  Bande 
meiner  Geschichte  des  Hellenismus  versucht,  die  Bedeutung  dieser 
individualistischen  Anschauungen  gerade  auch  für  das  Staatsleben 
ausführlich  darzulegen  und  hoffe,  in  der  soeben  erschienenen 
neuen  Auflage  diesen  inneren  Zusammenhang  noch  deutlicher  zum 
Ausdruck  gebracht  zu  haben.  M.  hat  meine  Darstellung  nicht 
berücksichtigt.  Auch  durch  die  neuen  Fragmente  des  Sophisten 
Antiphon  (vgl.  die  Ausgabe  von  Diels  in  den  S.-B.  der  Berl. 
Akad.  1916  S.  931  ff.)  wird  —  im  Gegensatz  zu  M.s  Ausfüh- 
rungen S.  231  ff.  —  die  Verbindung  der  Sophistik  mit  den  in 
der  Gegenüberstellung  von  Natur  und  Satzung  gipfelnden  ethisch- 
politischen Theorien  des  Aufklärungszeitalters  bestätigt. 

Die  Erörterungen  über  Piaton  dienen  dazu,  noch  einmal  von 
der  in  der  platonischen  Philosophie  gegebenen  Kontrastwirkung 
aus  den  „sittlichen  IndividuaHsmus"  des  Sokrates  zu  beleuchten. 
Wenn  aber  M,  als  den  Endzweck  des  platonischen  Staates  die 
Realisierung  vollkommener  Wissenschaft  bezeichnet,  so  hat  er 
hiermit  nur  eine  Seite  hervorgehoben.  Wir  können  den  platoni- 
schen Staat  nicht  in  vollem  Maße  würdigen,  wenn  wir  ihn  nicht 
zugleich  als  ideale  Verkörperung  der  Gemeinschaftsidee  der  grie- 
chischen Polis,  als  die  Verwirklichung  wahrer  Gerechtigkeit  be- 
trachten. Dieser  Gesichtspunkt  kommt  in  unserem  Werk  nicht 
zur  Geltung. 

Wenn  ich  mich  zu  dem  Hauptergebnis  des  vorliegenden 
Buches  ablehnend  verhalten  muß,  so  hebe  ich  um  so  lieber  am 
Schluß  noch  besonders  hervor,  daß  die  Darstellung  M.s  nicht 
bloß  im  einzelnen  eine  Reihe  wertvoller  Beobachtungen  und 
Untersuchungen  enthält,  sondern  daß  sie  auch  als  Ganzes  in 
hohem  Grade  lebendig  und  wirksam  ist  und  auch  da,  wo  sie 
den  Widerspruch  herausfordert,  viel  Anregung  bietet.  Es  ist 
ihre  Stärke,  daß  sie  offenbar  auf  persönlichem  Erlebnis  beruht 
und  somit  zugleich  zu  einem  persönlichen  Bekenntnis  wird. 

J.  Kaerst. 


478  Literaturbericht. 

Kulturgeschichte  des  Mittelalters.  Von  Georg  Grupp.  2.,  voll- 
ständig neue  Bearbeitung.  2.  bis  4.  Bd.  Paderborn,  Ferd. 
Schöningh.  1908.  1912.  1914.  549  S.  mit  48  Illustrationen, 
503  S.  m.  21  Illustr.,  524  S.  m.  17  Illustr. 

Die  Neubearbeitung  der  Gruppschen  Kulturgeschichte  be- 
hält auch  im  weiteren  Fortgang  die  Vorzüge  und  Mängel,  nach 
denen  ich  den  1.  Band  H.  Z.  102,  S.  345  ff .  charakterisiert  habe. 
Obwohl  der  Verfasser  sein  Bekenntnis  nirgends  verleugnet  (vgl. 
etwa  Bd.  4,  S.  308  in  Anm.  3  die  recht  wunderliche  Erklärung 
des  Erfolgs  der  Reformation  aus  Luthers  überlegener  Beredsam- 
keit), stört  die  Darstellung  durch  keine  aufdringliche  Tendenz, 
sie  ist  stofflich  reich  und  immer  sachlich,  gelegentlich  etwas 
trivial,  aber  nie  langweilig:  das  anekdotische  Detail  (bei  dem 
die  Kirche  durchaus  nicht  geschont  wird)  mag  sie  vielen  geradezu 
schmackhaft  machen.  Der  Verfasser  will  nichts  bringen,  was 
nicht  die  Quellen  ergeben,  und  er  strebt  danach,  die  wissenschaft- 
liche Literatur  bis  in  Dissertationen  und  Zeitschriften  hinein  aus- 
zunutzen. Dabei  faßt  er  den  Begriff  „Kultur"  tief  und  allseitigii' 
er  sucht  sowohl  die  aufbauenden  Elemente  zu  ermitteln,  wie  das 
Ergebnis  und  die  Erscheinungsformen  auf  allen  Gebieten  des 
geistigen  und  wirtschaftlichen,  des  öffentlichen  und  privaten 
Lebens  zu  erfassen.  Man  kann  an  der  Anordnung,  die  ohne 
Perioden  auszukommen  versucht,  wie  an  der  Raumverteilung 
manches  aussetzen,  aber  dem  Verfasser  kaum  nachweisen,  daß 
er  irgendeine  Seite  des  mittelalterlichen  Wesens  und  Schaffens 
ganz  übersehen  habe.  —  Die  Illustrationen  freilich  sind  nicht 
mehr  als  das  Zugeständnis  an  eine  Zeitmode:  von  Anfang  an 
dürftig  an  Zahl  und  Ausführung  und  mit  wenig  Geschick  aus- 
gewählt, werden  sie  beim  Fortschreiten  des  Werkes  immer 
spärlicher. 

Der  Verfasser  hat  längst  eingesehen,  daß  er  seinerzeit  mit 
einer  ungenügenden  Ausrüstung  an  die  gewaltige  Aufgabe  einer 
Kulturgeschichte  des  Mittelalters  herangetreten  ist,  und  was 
man  durch  Fleiß  während  der  Arbeit  nachholen  kann,  hat  er 
nachzuholen  gesucht.  Aber  zu  einer  Neugestaltung  seiner  wissen- 
schaftlichen Fundamente  hat  das  nicht  führen  können:  immer 
wieder  stoßen  wir  auf  die  Erscheinung,  daß  Einzelheiten  aus 
modernen  Monographien  auf  eine  Darstellung  aufgeflickt  sind, 
die  einem  früheren  Datum  entstammt.  Der  schwerste  Mangel  aber 


Mittelalter.  479 

bleibt  es  dauernd,  daß  Gr.s  sprachliches  Verständnis  nicht  aus- 
reicht, ja,  was  schlimmer  ist,  daß  er  offenbar  nie  gelernt  hat, 
eine  Quellenstelle  scharf  und  präzise  aufzufassen.  Es  ist  doch  eine 
üble  Entgleisung,  wenn  er  die  Kaiserin  Judith  eine  „sanfte, 
blonde  (!)  Schwäbin"  nennt  (II  163)  und  die  Quellenstelle  bei- 
fügt: suavis  et  blandal  Und  um  mit  Proben  bei  diesem  Bande 
zu  bleiben:  S.  283  schenkt  König  Ludwig  III.  den  Normannen 
„bitteres  Leid"  ein,  statt  „bitteren  Trank"  {bitteres  lldes),  S.  286 
werden  die  weisen  Männer  (wtsa  man)  einer  Heliandstelle  weiß 
angezogen,  S.  435  hat  das  angelsächsische  Wort  ceastre  auf  einem 
Ausschnitt  aus  dem  Teppich  von  Bayeux  das  Mißverständnis 
„Lager"  verschuldet,  obwohl  doch  das  lateinische  {caste)Uum 
dicht  dabei  steht. 

Göttingen.  Edward  Schröder. 


Hansisches  Urkundenbuch.  11.  Bd.:  1486—1500.  Bearbeitet  von 
Walter  Stein.  Mit  einem  Sachregister.  München  und 
Leipzig,  Duncker  &  Humblot.     1916.    XXXII  u.  900  S. 

Der  stattHche  Band,  mit  welchem  W.  Stein  nunmehr  seinen 
Anteil  am  Hansischen  Urkundenbuch  abgeschlossen  hat,  umfaßt 
ebenso  wie  der  vorige  Band  15  Jahre  und  ist  im  Umfang,  den 
die  Urkunden  dieser  Jahre  einnehmen,  nicht  viel  von  dem  frü- 
heren Bande  unterschieden,  da  50  Seiten  des  vorHegenden  Bandes 
auf  die  Nachträge  1451 — 1500  entfallen.  Von  der  ganzen  weit- 
schichtigen Publikation  fehlen  nur  noch  die  Jahre  1436 — 1450, 
die  in  den  Arbeitsbereich  von  Karl  Kunze  fallen  und  hoffent- 
lich in  absehbarer  Zeit  auch  der  Forschung  erschlossen  werden. 
Die  Gesamtleistung  von  W.  St.,  der  im  Jahre  1892  als  Mit- 
arbeiter beim  Hansischen  Urkundenbuch  eingetreten  ist,  füllt  in 
4  Bänden  über  3300  Seiten  Text  neben  100  Seiten  Einleitung. 
Wer  die  St.sche  Publikation  benützt,  weiß,  daß  seine  Edition 
sauber  und  zuverlässig  gearbeitet  ist.  Mit  sicherem  Blicke  ist 
das  minder  Wichtige  ausgeschieden  und  in  Regestenform  ge- 
bracht; nur  die  wichtigeren  Stücke  gibt  er  im  Wortlaut;  durch 
Paragrapheneinteilung  ist  bei  weitläufigen  Akten  eine  leichte 
Übersicht  möglich. 

Der  Inhalt  des  11.  Bandes  ist  ebenso  mannigfach  wie  der 
Stoff  der  vorhergehenden  Bände.    Eine  Reihe  von  Stücken  be- 


480 


Literaturbericht. 


trifft  den  fernen  Südwesten,  insbesondere  Danzigs  Vericehr  mit 
Lissabon  und  seine  portugiesischen  Privilegien,  eine  viel  größere 
Zahl  dient  der  Handelsgeschichte  Nordosteuropas.  Die  hansisch- 
russischen Beziehungen  erfahren  mannigfache  Beleuchtung; 
namentlich  wird  viel  bedeutsames  Material  für  die  Aufhebung 
des  deutschen  Hofes  in  Nowgorod  geboten;  hierzu  gehören 
S.  201  ff.  die  Beschwerden  Revals  und  des  Nowgoroder  Kon- 
tors an  den  Großfürsten  Iwan  in  Moskau  1489.  Wertvolle  Auf- 
schlüsse bietet  der  vorliegende  Band  namentlich  auch  über  den 
vorgeschobenen  Posten  des  preußisch-hansischen  Handels  in 
Litauen,  das  deutsche  Kontor  in  Kowno,  das  seinen  Rückhalt 
an  Danzig  hatte. 

Aus  dem  westlichen  Interessenkreise  der  Hansa  treten  in 
den  Vordergrund  die  gegen  Maximilian  gerichteten  Wirren,  die 
1488  zu  seiner  Gefangennahme  in  Brügge  führten,  und  der  diplo- 
matische Kampf  mit  England.  Für  das  Transportwesen  brachten 
die  burgundisch-englischen  Streitigkeiten  eine  wesentliche  Ände- 
rung mit  sich.  Köln  mußte  über  Kampen  und  Hamburg  ver- 
frachten. Deutlich  hebt  sich  ein  bedeutender  Kopf  aus  dem 
Stoffe  dieses  Bandes  hervor,  Gerhard  von  Wesel,  der  geistige 
Leiter  von  Kölns  Hansischer  Politik,  der  die  Verantwortung  für 
den  Verrat  Kölns  an  der  Hanse  trägt. 

Einige  besonders  wichtige  umfangreiche  Aktenstücke  sind 
hervorzuheben,  S.  93 — 119  der  eingehende  Bericht  des  Danziger 
Ratssendeboten  zur  Tagfahrt  in  Lübeck  1487,  S.  759  ff.  der 
Neudruck  des  Handbuches  des  Brügger  Kontors,  den  Kopp- 
mann schon  im  Jahre  1875  herausgegeben  hatte,  n.  1235  die 
Zollordnung  des  Zwin,  n.  1236  die  Zollrolle  von  Brabant,  n.  1237 
die  Aufzeichnung  Venlos  über  die  Zölle  auf  Maas,  Waal  und 
Jjssel,  S.  299  A.  3  die  interessanten  Nachrichten  über  den  buch- 
händlerischen  Vertrieb  in  der  Zeit  der  Wiegendrucke.  Das  letzte 
Stück  des  Bandes,  ein  Schreiben  Roermondes  an  Lübeck  und 
den  dortigen  Hansetag,  das  nur  ganz  allgemein  von  St.  in  die 
zweite  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  gesetzt  ist,  dürfte  etwa  in 
die  fünfziger  Jahre  fallen;  denn  der  Gesandte  lic.  decr.  Joh. 
Benedict!  wurde  im  Jahre  1444  bacc.  decr.  und  wird  1461  als 
dr.  von  Siena  erwähnt  (Kölner  Universitäts-Matrikel  1,  209,  21). 

Die  Register  sind  diesmal  von  Otto  Held  angefertigt  ganz 
nach  dem  Muster  der  älteren  Bände,  aber  leider  auch  mit  den 


Mittelalter.  481 

Mängeln,  die  früher  schon  vom  Rezensenten  dargelegt  wurden 
(H.  Z.  101,  152/3);  es  möge  auf  diese  Anstände  hier  nochmals 
hingewiesen  werden.  Es  ist  sehr  zu  bedauern,  daß  der  Heraus- 
geber sich  nicht  entschließen  konnte,  das  hergebrachte  Schema 
zu  verlassen  oder  wenigstens  zu  verbessern.  Im  Ortsregister  sind 
irrigerweise  Tiel  und  Tyle  getrennt.  Im  Sachregister  ist  cancri- 
fusor  mit  Steinschneider  erklärt;  es  liegt  ein  Lesefehler  vor;  es 
handelt  sich  um  einen  Kannengießer  (cantrifusor). 

Köln.  Herrn.  Keussen. 


Vatikanische  Quellen  zur  Geschichte  der  päpstlichen  Hof-  und 
Finanzverwaltung  1316 — 1376.  Herausgegeben  von  der  Gör- 
res-Gesellschaft.  2.  Bd. :  Die  Ausgaben  der  Apostolischen 
Kammer  unter  Johann  XXII.  nebst  den  Jahresbilanzen  von 
1316—1375.  Herausgegeben  von  K.  H.  Sdiäfer.  Paderborn, 
Schöningh.  1911.  XI  u.  151*  8.  Einleitung,  911  S.  Text 
und  Register,    42  M. 

Der  Bearbeiter,  Dr.  K.  H.  Schäfer,  Assistent  am  Histori- 
schen Institut  der  Görres-Gesellschaft  zu  Rom,  bietet  zu  Beginn 
seiner  umfangreichen  Einleitung  einen  Überblick  über  den  reichen 
Quellenstoff,  der  nur  in  stark  gekürzter  Fassung  vorgelegt  wer- 
den konnte,  weil  sonst  die  Veröffentlichung  unhandsam  und 
unübersichtlich  geworden  wäre.  Die  erste  Aufgabe,  die  er  zu 
lösen  hatte,  war,  Kürzungen  zu  finden  und  durchzuführen,  ohne 
das  inhaltliche  Bild  zu  verändern,  ein  schweres  Stück  Arbeit, 
da  es  sich  um  die  Zusammendrängung  des  handschriftlichen 
Stoffes  handelte,  der  in  60  Bänden  auf  mehreren  tausend  Blät- 
tern zerstreut  vorlag.  Durch  Weglassung  formelhaft  wieder- 
kehrender Redewendungen,  Vereinfachung  der  Datierung,  Ver- 
wendung leichtfaßlicher  Siglen  und  arabischer  Ziffern  statt  der 
römischen  Zahlen,  vor  allem  aber  durch  systematische  Vereini- 
gung der  zerstreuten  Angaben  nach  gewissen  Gruppen,  ist  es  dem 
Bearbeiter  gelungen,  den  riesigen  Stoff  auf  820  Druckseiten  zu- 
sammenzudrängen. 

Der  Herausgeber  wollte  aber  nicht  bloß  einen  brauchbaren 
Text  nebst  umfangreichen  Registern  liefern,  sondern  bemühte 
sich  auch,  dem  Benutzer  die  Erschließung  des  Stoffes  durch 
Mitteilung  von   Ergebnissen  eigener  Forschung  sehr  wesentlich 


482 


Literaturbericht. 


zu  erleichtern.  Deshalb  bietet  er  nach  Pontifikaten  und  ein- 
zelnen Jahren  geordnete  Zusammenstellungen  der  päpstlichen 
Gesamtausgaben  von  1316 — 1362  und  für  die  Herrscherzeit  Papst 
Johanns  XX II.  (1316 — 1334)  außerdem  Übersichten  der  in  16  Ver- 
waltungszweigen jährlich  bestrittenen  Auslagen  unter  Hinweis 
auf  die  Seitenzahl  seiner  Ausgabe,  welche  die  Quellenbelege 
enthält.  Dabei  beschränkte  er  sich  nicht  auf  trockene  Wieder- 
gabe der  Geldsummen,  die  in  den  verschiedensten  Währungen 
nebeneinander  genannt  sind,  sondern  versuchte  diese  Angaben 
durch  Umrechnung  auf  eine  gemeinsame  Größe  verständlich  und 
brauchbar  zu  machen.  Der  Erreichung  dieses  Zieles  ist  der  Ab- 
schnitt B  der  Einleitung  gewidmet,  der  die  Wertvergleichung 
des  Florentiner  Goldguldens  zu  den  Edelmetallen  und  wichtig- 
sten europäischen  Münzen  im  13,  und  14.  Jahrhundert  auf  S.  38* 
bis  131*  behandelt. 

In  zweierlei  Richtungen,  meint  Seh.,  hätte  er  sich  diesem 
Ziel  nähern  können,  durch  Ermittelung  des  Metallinhalts  der  in 
den  Ausgabebüchern  erwähnten  Gold-  und  Silbermünzen,  oder 
durch  Wahl  einer  möglichst  verbreiteten  und  im  Feingewicht 
unveränderten  Münze  als  Maßstab  für  die  wirtschaftsgeschicht- 
liche Wertung  aller  übrigen  Geldarten.  Der  erste  Weg  schien 
ihm  ziemlich  aussichtslos  zu  sein,  da  viele  Münzordnungen  fehlen 
und  der  Kreditwert  nicht  berücksichtigt  worden  wäre,  der  kleinen 
Silbermünzen  im  Verkehre  über  ihren  Metallwert  hinaus  un- 
streitig zukam;  er  entschied  sich  daher  für  den  zweiten  und 
erkor  zum  Maßstab  den  Florentiner  Gulden,  dessen  Goldwert 
einem  deutschen  Zehnmarkstück  sehr  nahe  kam  (9,84  Mark), 
was  „eine  schnelle  Wertorientierung  auch  für  die  Gegenwart 
ermöglicht.  Zunächst  galt  es,  den  damaligen  Wert  der  beiden 
Edelmetalle  in  Goldgulden  festzustellen,  sodann  den  jeweiligen 
Kurs  der  einzelnen  Gold-,  Silber-  und  Scheide- (Billon-)  Münzen 
im  Vergleich  zum  florenus  Florentiae  zu  ermitteln".  Eine  un- 
bedingte Genauigkeit  ist  freilich  auch  auf  diesem  Wege  nicht 
zu  erreichen  gewesen,  da  die  Angaben  über  den  Kurswert  nach 
Zeit  und  dem  Orte  des  Geldwechsels  wie  noch  heutzutage,  so 
auch  damals  aus  verschiedenen  Gründen  schwankend  waren; 
immerhin  hofft  er,  so  zu  brauchbaren  Näherungswerten  gelangt 
zu  sein.  Auf  S.  42*,  43*  werden  Gewichtsangaben  der  am  mei 
sten  genannten  Gewichtsmarken  geboten,  dann  folgen  die  Be- 


Mittelalter.  483 

lege  für  die  Preise  von  Gold  und  Silber,  erst  S.  44*  ff.  für  un- 
vermünztes  Metall,  dann  S.  47*  ff.  für  den  Wert  und  Kurs  der 
wichtigsten  Gold-,  Silber-  und  Billongepräge  im  13.  und  14.  Jahr- 
hundert nebst  einigen  Beilagen  zur  Geschichte  des  Münzkurses 
(S.  132*  ff.),  unter  welchen  ich  die  amthche  Untersuchung  der 
Münzgewichte  bei  den  Wechslern  zu  Avignon  und  die  Bulle  des 
Papstes  Johann  XXII.  von  1328  gegen  unberechtigte  Nach- 
ahmung und  betrügliche  Fälschung  der  Florentiner  Gulden  be- 
sonders hervorheben  möchte. 

Mit  S.  151*  schließt  der  Abschnitt  über  den  Kurs  des  Floren- 
tiner Goldguldens  und  es  beginnt  mit  neuer  Seitenzählung  die 
Ausgabe  der  bearbeiteten  Quellenstellen.  Sie  zerfällt  in  zwei 
Bücher  von  sehr  ungleichem  Umfang.  S.  1 — 44  enthält  die  Ge- 
samtausgaben und  Bilanzen  der  päpstlichen  Kammer  in  den 
einzelnen  Jahren  von  1316 — 1363,  S.  45 — 820  die  Ausgaben  der 
päpstlichen  Kammer  unter  Papst  Johann  XXII.  (1316 — 1334). 
Dies  zweite  Buch  verzeichnet,  wie  schon  der  Umfang  andeutet, 
den  eigentlichen  Stoff  der  Arbeit  in  16  fachlichen  Gruppen. 
Einer  kurzen  Einführung  in  die  Geschichte  des  einzelnen  Ver- 
waltungszweiges für  den  Benutzer  folgen  dann  Jahr  für  Jahr 
alle  Ausgaben  der  Gruppe  teils  wortgetreu  abgedruckt,  teils  in 
gekürzter  Bearbeitung.  Eine  strenge  Scheidung  der  persönlichen 
und  Hofausgaben  von  den  Staatsausgaben  war  jener  Zeit  noch 
durchaus  fremd,  doch  überwiegen  erstere  in  den  Abschnitten 
1 — 6:  Küchen  und  Kellereiverwaltung,  Marstall,  Kleidung,  Kunst- 
gegenstände und  Schmuck.  Die  Abschnitte  9,  10,  12,  13,  14,  16 
mit  Ausgaben  für  Besoldungen,  Kriegswesen  und  Auslagen  für 
Erweiterung  des  päpstlichen  Besitzes  betreffen  im  wesentlichen 
Aufgaben  der  Staatsverwaltung,  die  übrigen  Gruppen  zeigen 
stark  gemischten  Inhalt,  vor  allem  Abschnitt  1 1  de  cera  et  que- 
dam  extraordinaria,  der  Beleuchtung,  Nahrungsmittel,  Nach- 
richtenwesen, Kriegsausgaben,  Geschenke  usw.  umfaßt.  Den 
Beschluß  machen  zwei  Register,  ein  alphabetisches  Namen- 
verzeichnis S.  821 — 882,  dann  eine  besondere  Zusammenstellung 
der  päpstlichen  Beamten,  Kaufleute  und  Handwerker  nach  ihrem 
Stand  und  endlich  ein  Anhang  von  Kurstabellen  des  Florentiner 
Goldguldens  (1252—1375). 

Dieser  Anhang  (S.  895— 911  nebst  den  Seiten  38*— 131* 
der  Einleitung)  erschien  auch  in  besonderer  Auflage  unter  dem 


484  Literaturbericht. 


Titel:  „Der  Geldkurs  im  13.  und  14.  Jahrhundert.  Kurstafeln 
und  urkundliche  Wertvergleiche  des  Florentiner  Goldguldens 
zu  den  Edelmetallen  und  den  wichtigsten  europäischen  Gold-, 
Silber-  und  Scheidemünzen.  Sonderabdruck  aus  K.  H.  Schäfer, 
Die  Ausgaben  der  apostolischen  Kammer  unter  Johann  XXII. 
Paderborn,  Schöningh  1911." 

Die  Absicht  des  Verfassers,  durch  diesen  Sonderdruck  dem 
Forscher  auf  dem  Felde  der  Wirtschaftsgeschichte  ein  leichter 
zugängliches  Hilfsbuch  an  die  Hand  zu  geben,  ist  jedenfalls 
dankbar  anzuerkennen,  obgleich  einige  Vorbehalte  daran  zu 
knüpfen  sind.  Den  Grundgedanken  halte  ich  für  glücklich.  Die 
Verwendung  des  Umlaufwertes  einer  verbreiteten  und  in  ihrem 
Feingewicht  unveränderten  Münze  als  Pegel,  an  welchem  andere 
Münzen  aus  der  Zeit  wirtschaftlich  gemessen  werden,  gewährt 
den  Zifferangaben  einen  hohen  Grad  von  Anschaulichkeit.  Sehr 
willkommen  werden  ferner  dem  Benutzer  die  Zusammenstellungen 
der  Markgewichte  und  der  Preise  für  gemünztes  wie  ungemünztes 
Edelmetall  sein,  doch  bedürfen  Sch.s  Angaben  im  einzelnen  man- 
cher Ergänzung  und  Berichtigung.  Der  Verfasser  hat  zwar  schon 
selbst  (S.  39*  der  Ausgabe,  S.  2  SA.)  erklärt,  daß  er  im  all- 
gemeinen die  Wertrelationen  der  Münzen  zum  Goldgulden  für 
die  Gegend  zu  bestimmen  gesucht  habe,  „wo  die  betreffende 
Münze  im  Umlauf  war",  allein  er  hätte  noch  besser  getan,  wenn 
er  die  Fälle,  in  welchen  er  sich  an  diese  Regel  gehalten  hat, 
kennbar  hervorgehoben  hätte,  was  durch  freigewählte  Zeichen 
ohne  Raumverschwendung  durchführbar  gewesen  wäre.  Die 
Verwertbarkeit  solcher  Nachrichten  für  Zwecke  der  Preisgeschichte 
ist  eben  in  hohem  Maße  davon  abhängig,  daß  man  jede  einzelne 
Angabe  sowohl  nach  der  Zeit,  als  nach  dem  Ort,  auf  den  sie 
sich  bezieht,  sofort  sicher  zu  erfassen  vermag.  Auch  bei  den 
Gewichtsmarken  kann  der  Ort,  für  welchen  sie  nachgewiesen 
wurden,  von  Wichtigkeit  sein,  ich  erinnere  an  die  Kölner  Mark, 
die  in  sehr  vielen  Städten  vorkommt,  dabei  aber  örtliche  Ab- 
weichungen aufweist.  Vielleicht  noch  wichtiger  ist  es,  die  Zeit 
festzuhalten,  für  welche  der  Ansatz  ermittelt  wurde,  denn  die 
Schwere  der  Gewichte  hat  sich  zuweilen  am  gleichen  Orte  im 
Laufe  der  Zeit  merklich  geändert.  Ich  greife  als  Beispiel  die 
polnische  Mark  heraus,  für  welche  wir  Angaben  aus  mehreren 
Jahrhunderten  besitzen.    Dieselbe  hatte 


Mittelalter.  485 

um  1250  rund  196  g.  Aufzeichnung  Albrechts  von  Beham,  Bibl. 
d.  lit.  Ver.,  Stuttgart  XV Ib,  S.  XXI IL 

1311  rund  200  g.  Theiner,  Mon.  Vaticana  hist.  Hung.  I,  2,  457. 

1330  195  g.  Nach  Berechnung  Schäfers. 

1527  rund  195  g.  Herbersteins  Tagebuch.  Ausgabe  von  Kara- 
jan  S.  281. 

1722  200,41  g.  Muffat  nach  Schoap,  Europäische  Gewichts- 
vergleichungen. 

1851       198,9  g.  Noback,  Taschenbuch  der  Münzmaaße  usw. 

Muffat  hat  seinen  auch  von  Seh.  unter  „Warschau"  mit- 
geteilten Ansatz  aus  der  Angabe  Schoaps,  daß  die  Warschauer 
Mark  7?  der  kölnischen  betrage,  errechnet,  indem  er  wie  Seh. 
233,812  g  als  Gewicht  der  alten  kölnischen  Mark  annahm.  Nun 
hat  schon  Grote  (Münzstudien  III,  22)  die  Vermutung  ausgespro- 
chen, daß  die  Kölner  Mark  im  16.  Jahrhundert  231,156  g  ge- 
wogen habe,  und  Guilhiermoz  berechnet  sie  fürs  Mittelalter  auf 
229,456  g.  Die  Richtigkeit  dieser  letzten  Angabe  wird  durch 
die  Stale  oder  Probgerichte  für  die  zu  Frankfurt  a.  M.  seit  1354 
zu  66  Stück  auf  die  kölnische  Mark  gemünzten  Goldgulden  be- 
stätigt, denn  ein  ins  14.  Jahrhundert  zurückreichendes  Stück, 
das  Dr.  Grotefend  1882  im  Stadtarchiv  auffand,  wiegt  3,482  g, 
was  auf  den  Gebrauch  einer  Kölner  Mark  von  229,812  g  Schwere 
zurückführt.  Legt  man  nun  der  oben  mitgeteilten  Schoapschen 
Vergleichung  die  Schwere  der  mittelalterlichen  Kölner  Mark 
=  229,456  g  zugrunde,  so  erhält  man  als  7?  dieser  196,676  g 
Schwere  für  die  Warschauer  Mark  und  der  ifehlende  Einklang 
ist  hergestellt. 

Ein  zweites  Bedenken,  das  ich  geltend  machen  muß,  ist, 
daß  der  Verfasser  das  Wertverhältnis  der  Edelmetalle  für  weit 
beständiger  hält,  als  es  tatsächlich  gewesen  ist.  Die  zufällige 
Übereinstimmung  in  einigen  zeitlich  und  räumlich  entlegenen 
Angaben  beweist  keineswegs,  daß  das  gleiche  Verhältnis  die 
ganze  Zeit  hindurch  geherrscht  habe.  Seh.  erklärt  zwar  (S.  44*; 
S.  7,  SA.),  ,,daß  seit  1330  eine  exorbitante  Steigerung  des  Gold- 
preises eingetreten  sei,  ist  aus  keiner  unserer  Quellen  ersichtlich", 
allein  bei  näherem  Eingehen  auf  die  Sache  findet  man,  daß  der 
Eintritt  in  den  Goldverkehr  länderweise  von  einer  vorübergehen- 
den Verschiebung  des  Wertverhältnisses  der  beiden  Edelmetalle 


486 


Literaturbericht. 


begleitet  war,  die  also  in  Europa  nicht  gleichzeitig,  sondern  hier 
früher,  dort  später  verlief.  Nach  einer  brieflichen  Mitteilung 
Desimonis  an  mich  stand  beispielsweise  in  Italien  um  1250  das 
Gold  zum  Silber  im  Verhältnisse  von  1  :  814,  nach  der  Auf- 
nahme der  Florentiner  Goldprägung  um  1268  wie  1  :  10,  um 
1275  schon  1:11  und  gegen  das  Ende  des  13.  Jahrhunderts 
auf  1  :  12.  Es  stieg  dann  1303  auf  1  :  13,  um  1310  auf  1  :  14 
und  erreichte  den  Höhenstand  um  1315  mit  1  :  1414  oder  14%, 
dann  begann  es  zu  sinken.  Um  1320  stand  es  auf  14,3,  um  1327 
auf  14,  im  Jahre  1335  schon  auf  13,  zwei  Jahre  später  auf  12,. 
im  Jahre  1349  auf  \\y2,  bis  es  um  1365  den  Stand  von  1  :  10^4 
bis  10%  erreichte,  den  es  dann  bis  zum  Schluß  des  14.  Jahr- 
hunderts einhielt.  So  Desimoni.  Mit  den  Wertschwankungen 
der  Edelmetalle  in  Frankreich  haben  sich  Marcheville,  Blancard, 
de  Vienne  beschäftigt,  Quellenstoff  für  Deutschland  habe  ich  in 
meinem  Vortrag  über  „das  Wertverhältnis  der  Edelmetalle  in 
Deutschland  während  des  Mittelalters"  zusammengetragen,  der 
in  den  Akten  des  Congris  international  de  Numismatique,  Brüssel 
1891,  veröffentlicht  wurde.  Ich  lasse  als  einen  lapsus  calami 
gelten,  daß  Seh.  (a.  a.  0.)  mit  Berufung  auf  D'Avenel  das  heu- 
tige Verhältnis  der  Edelmetalle  „wie  15  :  1"  angibt,  allein  seine 
Behauptung,  „im  14.  Jahrhundert  und  um  1500  stand  Gold  und 
Silber  ungefähr  im  gleichen  Verhältnis  wie  heute  im  Deutschen 
Reiche",  kann  man  nur  mit  Kopfschütteln  lesen. 

Ich  bin  auf  diese  Fragen  etwas  ausführlicher  eingegangen, 
um  den  Verfasser,  dessen  Fleiß  und  beste  Absichten  ich  hoch- 
schätze, auf  Schwierigkeiten  aufmerksam  zu  machen,  die  er  zu 
gering  angeschlagen  hat  und  jedenfalls  vor  Herausgabe  der  vor- 
bereiteten „Preisgeschichte  für  die  Zeit  Papst  Johanns  XXII." 
noch  nachprüfen  sollte.  Eine  Sammlung  älterer  Abhandlungen 
über  den  Florentiner  Goldgulden,  darunter  die  auf  Veranlassung 
des  Geschichtschreibers  Giov.  Villani  1317  gemachte  Zusammen- 
stellung der  Münzbeamten  und  Zeichen  der  Florentiner  Gulden 
bietet  Argelati,  de  monetis  Jtaliae  IV  (Mailand  1752).  Hier  findet 
er  auch  auf  S.  30,  83,  85  . . .  Nachrichten  über  den  seit  1182 
umlaufenden  fiorino  d'argento.  Dieser  war  nicht,  wie  Seh.  meint 
(S.  55*,  SA.  18),  ein  Silbergulden  (welchen  zuerst  Erzherzog  Sigls- 
mund  in  Tirol  1484  als  „Guldengroschen"  ausmünzen  ließ),  son- 
dern fiel  mit  dem  (S.  89*,  SA.  52)   genannten  florentinus  argenti 


I 


18.  Jahrhundert.  487 

zusammen,  d.  h.  er  war  ein  grosso,  ursprünglich  im  Werte  von 
12  Pfennig,  also  ein  Schilling,  konnte  aber  später  infolge  Ver- 
schlechterung der  Pfennige  auch  einen  höheren  Nennwert  haben. 
So  galten  beispielsweise  im  Jahre  1305  die  „floreni  de  argento, 
qui  nominati  sunt  Populitii"  zwei  Soldi  oder  Schilling  usw.  Die 
Schwere  der  Prager  Mark  hat  Inama  Sternegg  ohne  Quellen- 
beleg zu  245  g  angegeben.  Seh.  folgt  ihm  (S.  43*,  S.  A.  6) 
und  übernimmt  auch  Inamas  Bemerkung,  daß  die  Prager  Mark 
fein  =  230  g  sei.  Dieser  Satz  ist  bei  Seh.  als  nicht  hierher 
gehörig  und  irreführend  zu  streichen.  Im  übrigen  bedarf  die 
Größe  der  Prager  Mark  noch  eingehender  Untersuchungen;  da 
ihr  Gewicht  von  250,6  g  im  15.  Jahrhundert  allmählich  bis  auf 
255,738  g  (im  Jahre  1850)  angewachsen  ist. 

Graz.  Luschin  v.  Ebengreuth. 

Shaftesbury  und  das  deutsche  Geistesleben.  Von  Christian 
Friedrich  Weiser.  Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner.  1916. 
XVI  u.  564  S.     10  M.,  geb.  12  M. 

Dreifach  ist  der  Inhalt  dieses  Werkes:  es  soll  ein  Bild  ent- 
worfen werden  von  Shaftesburys  Leben  und  Denken,  es  soll  ge- 
zeigt werden,  daß  seine  Denkungsart,  dem  deutschen  Geiste  tief 
verwandt,  auf  die  Ausbildung  dieses  Geistes  entscheidend  gewirkt 
hat,  und  endlich  soll  seine  Lebensanschauung  als  Kraftquelle  für 
uns,  die  Lebenden,  eindringlich  gepriesen  werden.  Es  läßt  sich 
nicht  verkennen,  daß  die  Klarheit  des  Gedankens  und  des  Wortes 
unter  dem  In-Einander  dieser  drei  Absichten  leidet;  es  wäre 
wünschenswert  gewesen,  ihnen  deutlich  unterschiedene  Teile  des 
Buches  zu  widmen.  Die  warme  Anteilnahme  an  dem  Gegenstand, 
einer  der  Hauptvorzüge  des  Werkes,  hätte  darunter  nicht  zu 
leiden  brauchen.  Ich  will  jede  der  Ansichten,  unter  denen  mir 
das  Ganze  erscheint,  kurz  für  sich  betrachten. 

Weiser  gibt  (35  f.)  eine  Biographie  des  Philosophen,  die  vor 
allem  seine  politische  Tätigkeit  stärker  betont  als  bisher  in  Deutsch- 
land üblich  war.  Überhaupt  wird  in  sehr  dankenswerter  Weise 
der  politische  Gehalt  seiner  Freiheitslehre,  der  Kampf  gegen 
Absolutismus,  gegen  Unterdrückung  des  Wortes,  der  Gegensatz 
gegen  Hobbes  herausgearbeitet.  In  der  Freiheitsforderung  mit 
seinem  Lehrer  Locke  einig,  tritt  Shaftesbury  diesem  doch  sonst 
auf  das  Entschiedenste  entgegen.    Der  analysierenden,  rechnen- 


488  Literaturbericht. 

den  Geistesart  Lockes  steht  seine  anschauende,  das  Ganze  enthu- 
siastisch erfassende,  Hebende  Seele  gegenüber.  Höchst  lebendig 
tritt  das  hervor  in  Shaftesburys  Abwehr  gegen  Lockes  Abschieds- 
brief an  Colins  (304 f.).  Der  sterbende  Locke  hatte  geschrieben: 
„Ich  weiß,  Sie  liebten  mich,  als  ich  lebte,  und  werden  mein  An- 
denken wahren,  nun  ich  tot  bin.  Es  kann  nur  zu  der  Einsicht 
nutzen,  daß  dies  Leben  ein  Schauplatz  der  Eitelkeit  ist,  der 
rasch  vergeht  und  keine  echte  Befriedigung  gewährt  außer  in 
dem  Bewußtsein  das  Rechte  zu  tun  und  in  der  Hoffnung  auf 
ein  anderes  Leben."  Shaftesbury  stellt  dem  die  Uneigennützig- 
keit  eines  uninteressierten,  edelmütigen  und  freien  Handelns 
gegenüber,  das  seinen  Lohn  in  sich  selbst  hat.  Eitel  ist  das  Leben 
nur  für  die,  so  es  dazu  machen.  Shaftesbury  sagt  zum  Leben  ja, 
er  steht  freudig  in  ihm.  „Laßt  uns  möglich  viel  aus  dem  Leben, 
möglichst  wenig  aus  dem  Tode  machen."  „Ich  begehre  vom 
Himmel  keinen  Lohn  für  das,  was  selbst  Lohn  ist."  (307.)  Eine 
enthusiastische  Aktivität  ist  also  sein  Grundgefühl  —  und  aus 
diesem  heraus  versteht  er  Natur  und  Kunst.  Seine  Tendenz, 
die  Betrachtung  zu  verinnerlichen,  alles  Äußere  dem  eigenen 
Inneren  gleichzustellen,  findet  Nahrung  in  Piaton  und  Plotin 
—  sie  läßt  ihn  als  ein  Glied  in  der  Kette  neuplatonischer  Philo- 
sophen erscheinen,  die  besonders  seit  der  Renaissance  nicht  mehr 
abbrach.  Shaftesbury  wendet  sich  nicht  mit  dem  Verstände, 
sondern  ,,in  der  ganzen  inneren  Fülle  seiner  Kräfte"  (S.  96) 
der  Welt  und  dem  Leben  zu,  um  sie  zu  erfassen.  Diese  Fülle 
wird  oft  allzu  eng  aufgefaßt,  wenn  man  von  einer  Vorherrschaft 
des  Moralischen  bei  Shaftesbury  redet.  Vielmehr  „moral"  hat  bei 
ihm  durchaus  den  allgemeinen  Sinn  von  „mental"  (109  f.)  oder 
da  er  „mind"  und  „soul"  nicht  unterscheidet  von  „internal" 
(seelisch)  (113  f.).  Mit  seinem  ganzen  Selbst  lebt  er  sich  in  die 
Natur  ein,  wobei  das  Ich  nicht  vom  Nicht- Ich  verschlungen 
wird,  vielmehr  das  Selbst  zum  Ur-Selbst,  zur  geistig  verstandenen 
Natureinheit  anschwillt  (198).  Das  Ich  erscheint  dabei  als  eine 
sich  frei  auswirkende  Formkraft.  „Nur  in  der  von  innen  be- 
stimmten Form  realisiert  sich  die  Freiheit  und  damit  der  Welt- 
sinn." (202.)  —  Shaftesbury  steht  in  der  Tradition  des  Logos- 
gedankens: die  Natur  ist  sich  auswirkender  Logos.  Der  Logos 
nun  bekundet  sich  individuell  in  den  Individuen  (334)  —  die 
Welt  erscheint  Shaftesbury  nicht  wie  Spinoza  als  eine  alles  Indi- 


18.  Jahrhundert.  489 

viduelle  aufzehrende  Einheit,  sondern  als  gegliederter  Stufenbau 
von  Individuen.  Als  Offenbarung  des  Ich  und  somit  als  per- 
sönliche Wiederspiegelung  des  Logos,  der  Allnatur  versteht  er 
auch  die  Kunst,  Shaftesbury  ist  der  Urheber  des  Begriffs  „innere 
Form",  die  ihm  der  im  Kunstwerk  sich  äußernde  Widerschein  der 
schöpferischen  Form  des  Selbst  ist  (253  f.).  Da  alle  Form  Maß 
ist,  da  innere  Form  zugleich  Erfüllung  der  Freiheit  bedeutet,  so 
ist  sein  Kunstideal  im  Gegensatz  zu  einer  rein  subjektiven  Ro- 
mantik einerseits,  zu  dem  das  Leben  durch  äußere  Formen  ver- 
gewaltigenden französischen  Klassizismus,  andererseits  eine  Form, 
die  in  ihrem  Maß  und  Rhythmus  das  Gesetz  der  Allnatur  zu- 
gleich frei  und  gestaltet  widergibt:  „mikrokosmische  Klassik" 
(86,  258).  Wie  das  wahre  Wesen  des  Selbst  freie  Tätigkeit  ist, 
so  ist  auch  die  Natur  nicht  als  abgeschlossenes  Sein,  sondern  als 
werdendes  Ganzes  zu  betrachten,  das  sich  in  immer  selbständi- 
geren Formen  entfaltet  (408).  Natur-  und  Geistesgeschichte  wird 
Geschichte  des  sich  entfaltenden  Gottes  (410).  Darum  gibt  es 
bei  ihm  keinen  Gegensatz  zwischen  Natur  und  Kultur  —  weder 
in  dem  Sinne  von  Hobbes:  wertwidriger,  ungeordneter  Natur- 
stand —  noch  in  dem  Rousseaus:  Kultur  als  Verderbnis  der 
guten  Natur.  Vielmehr:  Kultur  ist  Entfaltung  der  Natur,  nicht 
Entfernung  von  ihr  (436  f.). 

Diese  ganze  Gedankenwelt  zeigt  weit  größere  Verwandt- 
schaft zum  deutschen  als  zum  englischen  Geistesleben.  Die  Auf- 
fassung der  Natur  als  eines  lebendigen  Ganzen,  das  aus  mikro- 
kosmischen Individuen  besteht,  erinnert  an  Leibnizens  Philo- 
sophie —  wie  denn  auch  Leibniz  selbst  diese  Übereinstimmung 
freudig  begrüßte.  Auch  die  Art  des  Optimismus,  die  Liebe  zum 
lebensvollen  Kosmos,  sowie  die  dynamische  Naturauffassung  ver- 
bindet Shaftesbury  und  Leibniz,  Daß  Shaftesbury  diese  Ideen 
viel  mehr  ästhetisch-lebendig  darstellte  als  der  im  begrifflichen 
Denken  ihm  unendlich  überlegene  Deutsche,  machte  sie  weit 
wirksamer.  Ja  man  kann  sagen,  daß  innerste  Antriebe  des  uni- 
versalsten Systematikers  des  17.  Jahrhunderts  hier  viel  leben- 
diger wirkten  als  in  der  eigentlichen  „Schule",  die  mehr  den 
Rationalismus  des  Meisters  fortsetzte.  Herder  besonders  ver- 
band Anregungen,  die  von  Shaftesbury  ausgingen,  mit  solchen 
Leibnizens,  während  Wieland  mehr  die  anmutige,  zugleich 
weltmännische  und  natürliche,  zugleich  entschieden  freigeistige 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  32 


490 


Literaturbericht. 


und  freundlich  vermittelnde  Art  des  englischen  Denkers  fort- 
setzte. Wie  Shaftesbury  durch  diese  beiden  und  durch  andere 
Vermittelungen  auf  das  deutsche  Geistesleben  gewirkt  hat,  ist 
nach  Suphans,  Hayms,  Diltheys  Vorgang  in  neuerer  Zeit  beson- 
ders von  Walzel  untersucht  worden.  Gut  zusammengefaßt  wur- 
den diese  Forschungen  von  Walzel  in  der  German. -Roman.  Mon.- 
Schrift  I,  416,  1909.  W.  liefert  hierzu  wertvolle  Beiträge,  indem  er 
des  Theologen  Oe tinger  Verhältnis  zu  Shaftesbury  darstellt  (117) 
und  indem  er  eine  Bibliographie  mit  lehrreichen  Erläuterungen 
im  Anhang  mitteilt.  Aber  der  Nachdruck  liegt  nicht  auf  diesen 
historisch-philologischen  Interessen,  sondern  auf  dem  Nachweis 
innerer  Gemeinschaft  zwischen  Shaftesbury  und  den  Führern 
des  deutschen  Geistes.  Sie  besteht  unzweifelhaft  —  vielleicht 
gibt  es  dafür  keinen  besseren  Beleg,  als  daß  W.  die  Einheit  von 
Freiheit  und  Form,  die  Auffassung  der  Freiheit  als  formbildender 
Kraft,  der  Form  als  freier  Gestaltung  des  schöpferischen  Inneren, 
zur  Grundlehre  Shaftesburys  stempelt  (z.  B.  202),  während  gleich- 
zeitig Ernst  Cassirer  seine  „Studien  zur  deutschen  Geistes- 
geschichte" unter  dem  Titel  „Freiheit  und  Form"  vereinigt. 
Shaftesburys  „Panentheismus",  seine  dynamische  Naturauffas- 
sung, sein  Evolutionismus,  seine  Verbindung  von  positiver  Ge- 
sinnung mit  kritischem  Wahrheitswillen,  seine  kosmisch-symbo- 
lische Kunstauffassung  —  alles  das  findet  sich  in  der  Tat  bei 
Herder,  Goethe,  Schelling  wieder.  Aber  es  fehlt  bei  Shaftesbury 
doch  jene  strenge  Zucht  des  Denkens  und  der  Arbeit,  die  klare 
Unterscheidung  wissenschaftlicher,  künstlerischer,  sittlicher  Werte, 
die  Besinnung  auf  die  Voraussetzungen  jedes  einzelnen  der  großen 
Kulturgebiete,  die  Auseinandersetzung  zwischen  Wissen  und 
Ahnen,  kurz  der  ganze  kritizistische  Einschlag  des  deutschen 
Geistes,  der  durch  Lessing  vorbereitet  in  Kant  kulminiert. 

Shaftesburys  Vorliebe  für  das  Allegorische  in  der  Kunst  ist 
unter  diesem  Gesichtspunkt  weit  wichtiger,  als  W.  annimmt, 
denn  sie  zeigt,  daß  die  Eigenart  der  Kunst  nicht  wirklich  erkannt 
ist.  Ebenso  bleibt  es  bei  aller  Höhe  der  Gesinnung  und  Feinheit 
des  moralischen  Gefühls  wahr,  daß  Shaftesbury  den  Kern  des 
Sittlichen  nicht  rein  herausgearbeitet  hat.  Man  kann  mit  Walzel 
in  Schillers  ästhetischen  Briefen  von  einer  Vereinigung  kanti- 
scher und  shaftesburyscher  Ethik  reden  —  aber  man  muß  be- 
tonen, daß  die  Grundlage  kantisch  ist.   Goethe  wurde  durch  das 


I 


18.  Jahrhundert.  491 

Bedürfnis,  die  reine  Kunst  vor  heteronomem  Urteil  zu  retten, 
in  Kants  Nähe  geführt;  in  ihm  wie  in  Hegel  vollzog  sich  die 
große  Synthese  der  einheitsehenden,  evolutionistischen  und  der 
kritischen,  die  Eigenart  jedes  Gebietes  festhaltenden  Geistes- 
richtung. Auch  den  Übergang  von  einer  allgemeinen  Liebe  zum 
Individuellen  zur  eigentlich  historischen  Anschauungsweise  voll- 
zog nicht  Shaftesbury,  sondern  eher  Winckelmann. 

Überblickt  man  Shaftesburys  Werk,  so  hat  man  unbedingt 
den  Eindruck  des  Edlen,  Vornehmen,  Umfassenden,  Liebenden, 
Freien,  aber  nicht  den  des  Großen,  Ursprünglichen  und  ebenso- 
wenig den  des  Klaren,  Aufbauenden.  Er  hat  das  Ewig-Lebendige 
einer  vom  Neuplatonismus  herkommenden  Strömung  der  Renais- 
sance mit  den  besten  Antrieben  der  jungen  Aufklärung  vereinigt, 
aber  die  Spannungen  und  Gegensätze,  die  diese  Verbindung  er- 
schweren, hat  er  nie  gesehen  und  daher  erst  recht  nicht  über- 
wunden. So  wenig  er  sein  ästhetisches  und  sein  politisches  Lebens- 
ideal wirklich  zusammendachte,  ebensowenig  vermochte  er  es, 
eine  Verbindung  der  mechanischen  und  der  organischen  Natur- 
auffassung zu  finden.  Auch  Leibniz  hat  das  nicht  vermocht 
(wie  es  denn  noch  für  uns  Aufgabe  bleibt)  — ,  aber  bei  ihm  ist 
das  Problem  ganz  anders  gesehen  und  ergriffen.  Ein  arger  Ver- 
stoß gegen  das  Pathos  der  Distanz  bleibt  es,  wenn  (521)  das 
Auftreten  Shaftesburys  an  Bedeutung  über  das  Piatons  gestellt 
wird.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  nicht  nur  Wieland,  sondern  auch 
Shaftesburys  echterer  Schüler  Herder  von  der  großen  Entwick- 
lung des  deutschen  Geistes  beiseite  geschoben  wurde.  Damit 
sind,  scheint  mir,  auch  der  Bedeutung  Shaftesburys  für  die 
Gegenwart  bestimmte  Grenzen  gesetzt.  Er  steht  unseren  Nöten 
viel  zu  fern  (unendlich  ferner  als  Hegel  oder  Schleiermacher, 
Goethe  oder  Kant),  um  uns  wirklich  Führer  zu  sein,  er  bietet 
viel  zu  wenig  klare  Begriffe  oder  bestimmte  Gestalten,  als  daß 
wir  uns  an  ihm  orientieren  könnten.  Aber  er  bleibt  einer  der 
trostreichen  reinen  Menschen,  die  in  schwerer  Zeit  ein  zugleich 
liebevolles  und  gestaltetes  Leben  darstellten,  er  ist  uns  lieb 
durch  die  Fülle  und  Einheit  seines  Wesens,  durch  die  Wärme 
und  Helle  seiner  Humanität,  durch  das  energische  Streben, 
seinen  Idealen  auch  politische  Gestalt  zu  geben.  In  diesem 
Sinne  wünsche  ich  auch  W.s  Buche  volle  Wirkung  und  bedauere 
nur,  daß  die  übergroße  Breite  mancher  Teile  die  Eindringlichkeit 

32* 


492  Literaturbericht. 

schwächt.  Es  ist  ein  Buch,  aus  dem  Liebe,  Ernst  und  Versenkung 
in  den  Gegenstand  spricht. 

Freiburg  i.  Br.  Jonas  Cohn. 

Otto  von  Bismarck.    Ein  Lebensbild  von   Erich  Marcks.    Stutt- 
gart, Cotta.     1915.     XI  u.  256  S. 

Vom  Erbe  Bismarcks.    Eine  Kriegsrede  von  Eridi  Mardcs.    Leip- 
zig, Quelle  &  Meyer.     1916.    54  S. 

Marcks  hat  im  kriegerischen  Bismarck- Jahr  viel  über  Bis- 
marck geschrieben  und  gesprochen.  Sein  Wichtigstes  aus  dieser 
Zeit  ist  das  „Lebensbild",  der  „Bericht"  von  Bismarck.  Ein 
Buch,  das  Anspruch  auf  höchste  Beachtung  machen  darf;  in 
ihm  ist  der  Ertrag  der  Arbeit  vorläufig  niedergelegt,  die  der 
Verfasser  dem  Werke  und  Wesen  Bismarcks  gewidmet  hat.  Es 
ist  eine  straff  zusammengefaßte  Geschichte  Bismarcks;  die  Sätze 
und  Worte  sind  aus  dem  Reichtum  der  M.schen  Ausdrucksweise 
und  aus  der  Vielseitigkeit  seiner  Gedanken  sorgsam  gewählt; 
mit  großer  Beweglichkeit,  oft  etwas  hastig,  folgen  sie  einander. 

Auffallend  ist  der  Unterschied  von  M.s  früherem  Stil:  in 
diesen  kurzen,  manchmal  wirklich  lapidaren  Sätzen  meint  man 
den  Einfluß  zu  spüren,  den  die  Kriegführung  auf  unsere  Lebens- 
art übt  (was  wohltätig  auch,  nebenbei  bemerkt,  von  der  Sprech- 
weise des  Vorworts  absticht,  die' im  Buch  so  kaum  wiederkehrt). 
Mit  solcher  Beweglichkeit  ändern  sonst  nur  sehr  viel  jüngere 
Schriftsteller  ihren  Stil. 

In  wohlabgewogenen  knappen  Formulierungen  ist  oft  die 
ganze  Gedankenarbeit  an  einem  geschichtlichen  oder  biographi- 
schen Problem  abgeschlossen;  als  Beispiele  aus  vielen  mögen  die 
Worte  über  Bismarcks  Verhältnis  zum  Herzog  von  Augustenburg 
(S.  83)  oder  über  den  Plan  eines  norddeutschen  Kaisertums  zu 
Anfang  1870  (S.  1 12)  erwähnt  sein.  Umfassende  und  eindringende 
Erfahrung  und  eine  gewissenhaft  abwägende  Vorsicht,  die  bei  M. 
im  Wesen  liegt,  geben  der  Betrachtung  eine  hohe  Zuverlässigkeit. 
Wir  wissen,  daß  M.  es  von  sich  weist,  Bismarck  zu  „dämonisie- 
ren",  wie  „Gegner  und  Lobredner"  getan  haben,  ihn  in  ver- 
wegenen Plänen  als  den  gewaltigen  Spieler  zu  sehen.  M.  sieht 
und  zeigt  bei  Bismarck  vor  allem  die  Sachlichkeit;  von  seiner 
Genialität  sagt  er,  daß  sie  im  Grunde  Einfachheit  sei,  und  hebt 
den  tiefen  Ernst  hervor,  über  den  kein  Anschein  von  Frivolität 


19.  Jahrhundert.  493 

täuschen  dürfe.  (Die  Hauptstelle  darüber:  S.  69f.)  Die  M.sche 
Anschauung  darf  selbst  eine  reife  Sachlichkeit  für  sich  in  An- 
spruch nehmen.  Sie  läßt  sich  tragen  von  der  bekannten  pietät- 
vollen und  verehrenden  Gesinnung,  die  in  Bismarck  die  Züge 
eines  Wesens  geoffenbart  sieht,  zu  dem  wir  Deutsche  uns  durch- 
bilden mußten  und  müssen,  und  die  umgekehrt  seine  Art  doch 
auch  möglichst  mit  den  Idealen  aus  unserer  großen  geistigen 
Überlieferung  vereinigt  finden  will. 

Auf  Einzelheiten  in  diesem  „Bericht"  von  Bismarck  ein- 
zugehen, würde  zu  weit  führen.  Als  bemerkenswert  darf  viel- 
leicht herausgegriffen  werden,  wie  stark  die  Wichtigkeit  der  Wen- 
dung von  1878/79  (ähnlich  wie  in  dem  Buch  über  Wilhelm  I.) 
und  der  darauf  folgenden  „Spätzeit"  als  „zweiter  staatsmänni- 
scher Jugend"  betont  ist.  Dem  gegenüber  sind  auch  —  über  den 
Einschnitt  von  1870/71  weg  —  die  Jahre  von  1866  bis  1878/79 
als  innerlich  zusammengehörig  erfaßt.  Angesichts  der  neuer- 
dings erst  erschienenen  hervorragenden  Arbeit  von  Haller  über 
Bismarcks  Friedensschlüsse  fällt  auf,  wie  vollkommen  das  Ein- 
verständnis mit  dem  Frieden  von  1871  ist.  Sehr  interessant 
sind  die  Bemerkungen  über  den  Luxemburger  Handel  (S.  115  f.). 
Ebenso  die  bestimmt  abgewogenen  Urteile  über  die  Politik 
nach  1871,  in  der  noch  so  Wichtiges  dunkel  und  umstritten 
ist.  Mit  entschiedener  Vorsicht  ist  namentlich  da  geurteilt, 
wo  man  Bismarck  bei  einem  verwegenen  Spiel  zu  sehen  meint: 
bei  der  russischen  Krisis  von  1876/77  und  beim  Rückversiche- 
rungsvertrag. Die  kurze  Darstellung  macht  ein  Hinweggleiten 
über  manches  möglich.  Ähnlich  ist  es  wieder  bei  der  Frage, 
wie  die  auswärtige  Politik  auf  den  Kampf  gegen  die  katho- 
lische Kirche  eingewirkt  hat,  und  bei  der  interessanten  Dar- 
stellung der  Entlassungsgeschichte.  Lebendige  Kritik  fehlt  nicht, 
besonders  wegen  des  Kampfes  gegen  die  katholische  Kirche.  An 
Reife  des  Urteils  steht  diese  Übersicht  über  die  Reichskanzler- 
zeit sicherlich  sehr  hoch. 

Neben  diesem  Buche  noch  erwähnt  sei  der  Vortrag  ,,Vom 
Erbe  Bismarcks",  im  Dezember  1915  in  deutschen  Großstädten 
gehalten.  In  seinen  Anspielungen  auf  die  Gegenwart  ist  der 
Vortrag  sehr  zurückhaltend;  doch  enthalten  die  Seiten  44  bis  48 
nachdrückliche  Mahnungen. 

Z.  Z.  Stuttgart,  Jan.  1917.  Adolf  Rapp. 


494 


Literaturbericht. 


Bismarcks    Glaube.     Von    Otto   Baumgarten.    Tübingen,    Mohr 
(Siebeck).     1915.    324  S. 

Baumgarten  hat  seine  frühere  Schrift  über  den  Gegenstand 
neu  ausgearbeitet,  da  uns  seit  dem  ersten  Erscheinen  (1900)  viel 
tiefere  und  genauere  Einblicke  in  Bismarcks  religiöses  Leben 
gewährt  wurden.  Daß  Bismarcks  Glaube  noch  immer  ein  „Pro- 
blem" in  sich  enthält,  wird  niemand  bestreiten,  und  ebensowenig, 
daß  ein  Verständnis  seines  Wesens  ohne  eine  befriedigende  Ant- 
wort auf  die  Fragen  nach  seinem  rehgiösen  Leben  unmöglich 
ist.  Es  handelt  sich  aber  noch  um  mehr:  es  fragt  sich,  ob  auch 
sein  staatsmännisches  Wirken,  wie  er  selbst  gelegenthch  gesagt 
hat,  ohne  den  Glaubensgrund,  den  er  mit  der  „Bekehrung"  ge- 
wonnen hat,  nicht  zu  verstehen  ist.  Was  er  als  Staatsmann  ge- 
wagt und  mit  dem  vollen  Bewußtsein  der  Verantwortlichkeit 
auf  sich  genommen  hat,  und  was  er  im  Kampfe,  in  dem  er  zu 
Zeiten  nahezu  ganz  allein  stand,  ausgehalten  hat,  ist  das  alles 
erklärlich  aus  seiner  gewaltigen  Natur,  dem  Drang,  sich  in  seinem 
Element  zu  betätigen,  seinem  Selbstvertrauen  und  dem  Gefühl 
der  Überlegenheit,  und  etwa  noch  dem  preußisch-soldatischen 
Pflichtgefühl?  oder  konnte  er  endlich  doch  nur  darum  seine 
großartige  Freiheit  und  Ausdauer  wahren,  weil  er  mit  Gott  ins 
reine  gekommen  war? 

Es  muß  gleich  gesagt  werden,  daß  B.  diese  Hauptfrage  nicht 
stellt  und  erörtert  (S.  108 ff.  vor  allem  war  sie  aufzuwerfen!). 
Der  Sinn  seines  Buches  ist  allerdings  wohl  der,  daß  die  voll- 
ständige Erklärung  von  Bismarcks  Wagemut  und  Ausdauer 
nur  in  seinem  Glauben  gegeben  sei;  aber  es  bleibt  dem  Leser 
überlassen,  diesen  Schluß  zu  ziehen. 

Sein  Problem  sieht  B.  in  dem,  was  objektiv  für  Bismarcks 
Innenleben  selbst  das  Problem  war:  wie  der  Selbstherrliche  und 
Skeptische  sich  dem  Gott  Jesu  Christi  in  kindlichem  Gehorsam 
hat  ergeben  können.  Daß  der  Geist  des  Neuen  Testaments  sich 
kräftig  mit  Bismarcks  eigenwüchsiger  irdischer  Natur  auseinander- 
zusetzen hatte  und  daß  keineswegs  nur,  wie  bei  uns  allen,  das 
Wollen  mit  dem  Vollbringen,  der  zur  Höhe  strebende  Geist  mit 
menschlicher  Schwäche  zu  kämpfen  hatte,  sondern  daß  seit  der 
„Bekehrung"  selbst  in  Bismarcks  ganzer  innerer  Stellung  zum 
Glauben  etwas  Unaufgelöstes  und  Unausgeglichenes  gewesen  ist, 
das  nimmt  B.  lebhaft  wahr.    Es  hätte  noch  schärfer  beleuchtet 


19.  Jahrhundert..  495 

werden  können.  Sagen  wir  es  nur  heraus:  es  macht  oft  einen 
künstlichen  Eindruck  und  kann  fast  wie  äußerlich  aufgetragen 
aussehen,  wenn  Bismarck  sich  in  den  Gedanken  und  der  Sprache 
des  Neuen  Testaments  bewegt.  Gibt  er  sich  dem  politischen 
Machtkampf  mit  aller  Gewalttätigkeit  und  List  hin,  überläßt 
er  sich  seiner  Menschenverachtung  und  seinem  realistischen 
Sinn,  so  erscheint  er  uns  wohl  natürlicher  in  seinem  Element. 
Der  Zweifel,  den  manche  an  dem  vollen  Ernst  und  der  vollen 
Ehrlichkeit  seines  Glaubens  hatten,  ist  verständlich.  Recht  aber 
hat  dieser  Zweifel  nicht;  denn  es  ist  wahr,  daß  Bismarck  mit 
der  ,, Bekehrung"  einen  neuen  Grund  für  sein  Leben  gelegt  und 
fortan  den  Verkehr  mit  seinem  Gott  in  großem  Ernste  gepflegt 
hat.  Nur  hat  sich  auch  gegenüber  dem  christlichen  Leben  die 
eigene  Natur  und  das  eigene  Urteil  immer  mit  einer  gewissen 
Naivität  behauptet,  wie  überhaupt  die  Religion  in  der  Beherr- 
schung dieses  gewaltigen  Mannes  sich  begrenzt  fand.  Dies  Ver- 
hältnis ehrlich  darzustellen,  darauf  vor  allem  kommt  es  B.  an. 
Zur  „Bekehrung"  gelangt  ist  Bismarck  offenkundig  deshalb, 
weil  seinem  klaren  und  urwüchsigen  Geist  ein  Leben,  das  ohne 
feste  Beziehung  zum  lebendigen  Gott  war  und  nicht  von  Gott 
seinen  Sinn  und  Zweck  empfing,  als  tief  unbefriedigend,  wertlos 
und  sinnlos  erschien,  die  Seligkeit  und  Hoheit  des  Lebens  in 
Gott  aber  ihm  überwältigend  entgegenkam.  Unterstützt  worden 
ist  die  Wandlung  dadurch,  daß  er  mit  dem  Glauben  zugleich 
die  Frau  gewann.  Aber  entscheidend  ist  das  Erste,  und  hier  ist 
etwas  Elementares,  das  mit  voller  Schärfe  herausgestellt  werden 
muß:  Bismarck  erscheint  hier  im  Gegensatz  zu  den  vielen,  bei 
denen  ebenfalls  die  Kritik  den  Glauben  zersetzt  hatte,  die  aber 
dann  in  der  Welt  unserer  Klassiker  die  geistige  Heimat  suchten. 
Bei  ihnen  muß  der  Aufblick  zu  großen  Ideen  und  das  Gestalten 
des  eigenen  Lebens  nach  Idealen  dem  Dasein  seinen  höheren 
Inhalt  geben;  der  lebendige  Gott  des  Christentums  aber  ist  mehr 
oder  weniger  aufgelöst  in  die  unpersönliche  Welt  der  Ideale  und 
in  ein  unpersönliches  „All";  der  Glaube  an  die  Fortdauer  des 
persönlichen  Lebens  trotz  dem  Tode  ist  meistens  wehmütig  auf- 
gegeben, und  auf  die  Frage,  zu  welchem  Endzweck  alle  Küm- 
mernis und  Mühsal  dieses  Daseins  getragen  werden  müsse,  wird 
geantwortet,  daß  diese  durch  ein  Leben  in  der  Pflicht  und  im 
Ideal  überwunden  werden  solle  und  daß  der  einzelne  eben  im 


496 


Literaturbericht. 


ganzen  aufgehen  müsse,  das  sich  (nach  überwiegender  Ansicht) 
doch  immer  höher  entwickele.  Mit  der  tiefen  Beseiigung  frei- 
lich, die  zu  allen  Zeiten  Christen  empfunden  haben,  wenn  sie 
zu  der  Höhe  ihres  Glaubens  durchdrangen,  scheinen  die  Bekennen 
jener  anderen  Weltanschauung  nicht  gesegnet  zu  werden.  Bis- 
marck  hat  ja  nun  in  ihrer  geistigen  Welt  gar  nicht  mit  voller 
Hingabe  seine  Nahrung  gesucht;  mit  seinem  kräftigen  Wirklich- 
keitssinn hat  er  einfach  gefühlt,  daß  ein  Leben,  das  vermutlich 
abstirbt  und  dem  nicht  von  einer  objektiv  wirklichen  Macht 
ein  überirdischer  Zweck  gesetzt  ist,  das  tägliche  An-  und  Aus- 
kleiden, wie  er  einmal  gesagt  hat,  nicht  wert  sei.  In  dem  Gott 
des  Evangeliums  fand  er,  was  er  suchte:  ein  Ziel  für  das  Da- 
sein, wie  es  nie  der  Mensch  sich  sichern  kann,  weil  der  Mensch 
über  sein  Schicksal  nicht  verfügt.  Dabei  suchte  Bismarck  nicht 
einen  Halt  für  seine  Weltanschauung,  sondern  für  sein  prak- 
tisches Leben,  was  B.  mit  aller  Klarheit  S.  8  und  13  her- 
vorhebt. 

Unser  Buch  stellt  zunächst  geschichtlich  Bismarcks  religiöse 
Entwicklung  dar,  über  die  es  seinen  Helden  selbst  durch  breite 
Wiedergabe  seiner  Äußerungen  sprechen  läßt.  Indem  dann  ge- 
funden wird,  daß  seit  der  „Bekehrung"  das  religiöse  Leben  sich 
im  wesentlichen  doch  gleich  geblieben  sei,  wird  dieses  in  mehr 
systematischer  Weise  nach  seinen  einzelnen  Seiten  betrachtet. 
Da  B.  Theologe  ist,  beschäftigt  ihn  auch  stark  das  Verhältnis 
Bismarcks  zur  Kirche,  und  da  er  an  der  christlich-sozialen  Be- 
wegung hervorragend  beteiligt  ist,  so  ist  ihm  auch  Bismarcks 
inneres  Verhältnis  zu  ihr  wichtig.  B.  hat  hier  in  Bismarck  einst 
einen  Gegner  finden  müssen,  und  erst  allmählich  hat  sich  das 
Bild  vom  Menschen  und  Christen  Bismarck  in  Wärme  und  Ver- 
ehrung so  in  ihm  geläutert,  daß  er  jetzt,  in  ehrlicher  innerer 
Auseinandersetzung,  es  erreicht  hat,  Bismarck  als  treuen  Christen 
vorführen  zu  können. 

Diese  Kapitel,  2  ff.,  haben  ihren  Wert,  aber  auch  ihre  sonder- 
baren Schwächen.  Da  werden  Zeugnisse  aus  Briefen,  Erzählungen 
usw.  gesammelt,  die  oft  in  großer  Breite  abgedruckt  dastehen, 
zum  Teil  aber  gar  nicht  an  ihre  Stelle  passen  und  ohne  Kritik 
verwendet  sind  (auffallend  ist  das  besonders  bei  dem  Brief 
an  den  Kaiser  S,  142!),  und  es  wird  in  manchmal  schul- 
meisterlicher und  plumper  Weise  Bismarcks  innere  Stellung  er- 


I 


I 


19.  Jahrhundert.  497 

kündet.  Das  Buch  hat  oft  geradezu  die  Art  einer  Anfänger- 
arbeit. Doch  begegnet  dazwischen  auch  manch  feines  und  tref- 
fendes Wort.  Seltsam  ist  S.  175  ff.  die  Sammlung  von  „Spuren" 
einer  Aneignung  dessen,  was  als  wesentlich  an  der  christHchen 
Heilslehre  bezeichnet  ist,  und  sonderbar  ist  der  Gedanke,  Bis- 
marck  Zug  um  Zug  an  der  Bergpredigt  zu  messen  (186  ff.),  wobei 
gleich  anfangs  gesagt  wird,  daß  allerdings  Bismarck  —  nämlich 
in  der  Examensarbeit  über  den  Eid ! ! !  —  die  Bergpredigt  nicht 
als  schlechthin  gültiges  Sittengesetz  anerkannt  habe.  Indem 
dann  als  tiefster  Grundgedanke  der  Bergpredigt  der  Gedanke 
von  dem  alles  übersteigenden  Wert  der  Menschenseele  bezeichnet 
wird,  beginnt  die  Übersicht  damit,  daß  Bismarcks  seelische  Fein- 
fühligkeit und  Tiefe,  als  Übereinstimmung  mit  der  Bergpredigt, 
dargetan  wird!!  Eher  gehörte  hierher  die  andere  Feststellung 
(die  dem  Christlich-Sozialen  ja  naheliegt),  daß  Bismarck  vor  dem 
seelischen  und  geistigen  Leben  der  Menschen,  in  das  er  von  Staats 
wegen  eingriff,  eine  geringe  Achtung  bekundete. 

Zum  Schluß  wird  von  Bismarcks  Kampf  gegen  die  katho- 
lische Kirche  gehandelt,  wobei  gezeigt  werden  soll,  einmal,  wie 
Bismarck  innerlich  zu  ihr  stand,  sodann,  wieweit  ihn  Überzeu- 
gungen im  Kampf  mit  ihr  bestimmten.  Dabei  wird,  wie  auch  sonst, 
betont,  daß  gerade  solche  Fragen,  die  andere  nach  einer  grund- 
sätzlichen Überzeugung,  als  Gewissensfragen,  entscheiden  wollten, 
bei  Bismarck  nach  einem  außerhalb  ihrer  selbst  liegenden  politi- 
schen Bedürfnis  des  Augenblicks  entschieden  wurden;  in  dieser 
Sache  —  der  rücksichtslosen  Behandlung  innerlicher  Dinge  — 
ist  B.s  Gegensatz  zu  Bismarck  scharf  (besonders  S.  234).  B, 
hätte  aber  weitergehen  und  sich  mehr  klar  machen  müssen,  daß, 
wenn  Bismarck  Überzeugungen  selber  aussprach,  er  da- 
mit eben  auch  wieder  sein  politisches  Augenblicksziel  verfolgte; 
sein  Wort  war  ein  Mittel  der  Menschenbehandlung.  Darum  sind 
namentlich  seine  politischen  Reden  als  Beweise  für  seine  innere 
Haltung  zu  den  Dingen  mit  kritischer  Vorsicht  zu  behandeln. 

Im  übrigen  geht  der  Abschnitt  über  den  Kampf  gegen  die 
katholische  Kirche  halb  schon  über  den  Rahmen  des  Buches  hin- 
aus, wie  auch  der  Verfasser  damit  in  ein  Gebiet  gerät  —  das  der 
großen  politischen  Zusammenhänge  — ,  das  ihm  fernliegt,  dessen 
Gesichtskreis  nicht  der  seine  ist. 

Z.Z.Stuttgart.  Adolf  Rapp. 


498 


Literaturbericht. 


Acta  et  epistolae  relationum  Transylvaniae  Hungariaeque  cum 
Moldavia  et  Valachia  collegit  et  edidit  Dr.  Andreas  Veress. 
Volumen  primum  1468 — 1540.  (Fontes  rerum  Transylvani- 
carum  [Erddlyl  törtdnelmi  forrdsok]  tom.  IV.)  In  Kommission 
bei  Alfred  Holder,  Wien.  Budapest,  typis  societatis  Stepha- 
neum  typographicae.     1914.    XII  u.  342  S. 

Auf  diese  groß  angelegte  und  mit  Sorgfalt  und  Genauigkeit 
durchgeführte  Sammlung  von  Akten,  Korrespondenzen  und  histo- 
rischen Berichten  zur  Geschichte  Ungarns  und  seiner  Neben- 
länder wurde  in  diesen  Blättern  schon  zweimal  aufmerksam  ge- 
macht (H.  Z.  111,  390—392,  113,  672—674).  Der  vorliegende 
Band  wird  namentlich  in  diesen  Tagen  von  vielen  Seiten  höchst 
willkommen  geheißen  werden,  denn  er  bietet  zum  erstenmal  eine 
vollständige  Übersicht  über  die  Beziehungen  Ungarns  und  seiner 
Nebenländer  zu  den  beiden  rumänischen  Fürstentümern  im  Zeit- 
alter der  Corvinen  und  Ferdinands  I.  Man  entnimmt  einer  großen 
Anzahl  der  hier  mitgeteilten  Korrespondenzen,  daß  sowohl  das 
moldauische  als  auch  das  walachische  Fürstentum  sich  im  unga- 
rischen Lehensverband  befanden,  der  für  die  Moldau  auch  von 
Polen  zeitweise  in  Anspruch  genommen  wurde.  Dieses  Verhältnis 
festzustellen,  ist  der  erste  und  vornehmste  Zweck  dieser  Samm- 
lung, die  aus  einem  ungleich  umfangreicheren  Schatz  von  Akten 
und  Korrespondenzen,  als  er  hier  mitgeteilt  werden  konnte,  aus- 
gehoben ist.  Da  dieser  Lehensverband  von  den  meisten  Bearbei- 
tern der  österreichischen,  ungarischen,  ja  selbst  rumänischen  Ge- 
schichte entweder  gar  nicht  herausgehoben  oder  doch  nur  neben- 
her erwähnt  wird  —  von  deutschen  Büchern  sind  es  nament- 
lich die  ausgezeichneten  Arbeiten  Robert  Röslers  (Rumänische 
Studien),  die  (S.  309ff.,  340ff.)  die  ungarische  Oberherrschaft  be- 
tonen — ,  so  mag  hier  auf  einige  Stellen  hingewiesen  werden. 
Anfang  April  1468  schreibt  König  Matthias  den  polnischen  Sena- 
toren, welche  die  Moldau  als  zu  Polen  gehörig  bezeichnen :  Terram 
illam  nosiri  iuris  esse  antiquissimus  .  .  .  regiim  Hungariae  titu- 
lus  declarat,  non  quidem  inanis  sed  possessione  nunquam  inter- 
rupta  munitus  (Nr.  5,  S.  6).  In  dem  Schreiben  des  Königs  an 
Sixtus  IV.  vom  3.  November  1475  wird  auf  den  Eifer  des  Königs 
für  die  Verteidigung  der  Moldau  hingewiesen,  zu  der  er  ver- 
pflichtet sei:  ut  non  solum  Moldavum  {Stephan  cel  Mare),  cui 
cum  Sit  mihi  subditus,  teneor  .  . .  (Nr.  15,  S.  16/17)  ..  .    In  dem 


Österreich.  499 

Briefe  vom  7.  August  1481  (an  denselben)  wird  noch  deutlicher 
gesagt:  ut  Stephanus,  waivoda  Moldavus,  qui  mihi  et  coronae 
meae  subiectus  est  .  .  .  (Nr.  34,  S.  37),  desgleichen  wird  in  dem 
Schreiben  an  Berthold  von  Henneberg  vom  18.  November  1485 
Klage  gegen  den  König  von  Polen  geführt:  qui  semper  dominia 
nostra  ambit  .  .  .  sed  de  ipso  subdito  nostro  {Stephano  Moldaviensi) 
ingessit,  eum  a  nobis  et  oboedientia  nostra  subduxit  .  .  .  contra 
iusiurandum  quo  nobis  et  regno  nostro  tarn  waivoda  praefatus, 
quam  etiam  preedecessores  sui  semper  astricti  fuerunt,  eidem  acceplo 
ab  ipso  perpetuo  fidelitatis  homagio,  quod  iure  et  licite  facere  neque 
potuit  neque  debuit,  investituram  sollempniter  contulit  ...  Die 
gleichen  Rechte  nimmt  Kaiser  Maximilian  I.  als  König  von 
Ungarn  (Nr.  38:  Stephanus  nobis  tamquam  domino  suo  et  Hun- 
gariae  regi  adhaeret),  nehmen  Wladislaus  II.  (Nr.  40,  53,  55,  78, 
79),  Ludwig  11.  (Nr.  86,  92,  96)  und  noch  Ferdinand  1.  (Nr.  118, 
S.  157,  Nr.  225,  S.  270)  für  sich  in  Anspruch.  Eine  Folge  dieses 
Verbandes  ist,  daß  die  Woewoden  in  ungarischen  Ländern  selbst 
mit  festen  Plätzen  und  Besitzungen  bedacht  wurden;  und  dies 
mit  den  dazugehörigen  Beziehungen  festzustellen,  ist  der  zweite 
Zweck  dieser  Sammlung.  Der  Herausgeber  hat  hierfür  seit  einem 
Menschenalter  in  allen  wichtigeren  Archiven  Ungarns,  Sieben- 
bürgens, Österreichs,  Deutschlands,  Italiens  usw.  Forschungen 
gemacht.  Die  Beilage  Nr.  IV  weist  nicht  weniger  als  35  Archive 
auf,  denen  die  in  diesem  Bande  enthaltenen  Materialien  entnom- 
men sind.  Vieles  davon  ist  allerdings  schon  in  älteren  Samm- 
lungen enthalten,  wie  bei  Gevay,  Katona,  Pray  u.  a.,  ebenso  in 
neueren  wie  in  Palackys  Urkundlichen  Beiträgen  zur  Geschichte 
Böhmens  und  seiner  Nachbarländer  im  Zeitalter  Georgs  von 
Podiebrad  (F.  F.  rer.  Austriac.  2,  XX),  in  Bachmanns  Urkund- 
lichen Beiträgen  zur  österr.  deutschen  Geschichte  im  Zeitalter 
Friedrichs  III.  (ebenda  XLVI),  in  Hormuzakis  Documente  privi- 
ioare  la  istoria  Romäniior,  in  Jorgas  Acte  si  fragmente  u.  s.  w., 
Sammlungen,  die  in  den  Beilagen  IV  und  V  vermerkt  sind.  Eine 
und  die  andere  Nummer  daraus  hätte  immerhin  auch  hier  Platz 
finden  können,  so  Jorga,  Acte  si  fragmente  III  1,  64,  oder  S.  73 
daselbst,  desgleichen  S.  103,  das  schon  oben  genannte  Stück  vom 
18.  November  1485  findet  sich  auch  mit  anderen  Adressen  und 
dem  Datum  vom  17.  November  1485  bei  Jorga  S.  103.  Bei 
Jorga  I,  4 — 12  findet  sich  aus  besserer  Vorlage  die  Nr.  191,  auf 


500 


Literaturbericht. 


die  unter  Aufnahme  der  besseren  Lesarten  hätte  hingewiesen 
werden  können.  Im  ganzen  ist  die  Edition  mit  jener  Gewissen- 
haftigkeit gemacht,  die  wir  schon  bei  den  früheren  Bänden  an- 
gemerkt haben.  Was  die  Orthographie  betrifft,  fallen  die  Texte 
in  die  Zeit,  da  die  des  mittelalterlichen  Lateins  aufhört  und 
die  klassische  der  Renaissance  Anwendung  findet.  Der  Heraus- 
geber hat  mit  guten  Gründen  auch  für  die  frühere  Gruppe  die 
spätere  Orthographie  gewählt.  Dem  Texte  sind  fünf  Faksi- 
miles beigegeben,  desgleichen  reichhaltige  Indices.  S.  233  dürfte 
in  der  Zahlangabe  1931  ein  Druckfehler  vorliegen. 

Graz.  J.  Loserth. 


Albany  F.  Major,  Early  wars  of  Wessex,  being  studies  from 
England's  school  of  arms  in  the  West,  edited  by  ihe  late 
Chas.  W.  Whistler.  Cambridge  Univ.  Press.  1913.  XVI  u. 
238  S.     lOVa  Shill. 

Laut  Vorrede  und  Gedenkblattes  war  der  1913  verstorbene 
Whistler  Anreger  und  Mitarbeiter  des  Werkes,  nicht  bloß  Heraus- 
geber. 

Für  die  Archäologie  der  Grafschaften  Somerset,  Devon  und 
benachbarter  Gegenden  besitzt  das  Buch  eigenen  Wert:  dorther 
bringt  es  z.  B.  zahlreiche  Pläne  von  Erdwerken,  In  den  m.  E. 
recht  seltenen  Fällen,  wo  Kriegsgeschichte  5. — 10.  Jahrhunderts 
aus  militärischer  Geographie  eindeutige  Herstellung  auch  nur 
entfernt  verspricht,  also  wenn  die  heutige  Lage  der  von  den 
Alten  genannten  Orte  bereits  feststeht,  mag  dies  Werk  Nutzen 
bringen.  (Die  Beschreibung  im  einzelnen  nachzuprüfen  vermöchte 
nur  ein  Ortsaltertümler.)  Aber  die  strategische  Leichtigkeit  eines 
Eintrittweges,  vollends  eine  nur  für  die  Jetztzeit  nachweisbare,, 
erlaubt  keineswegs  den  Schluß,  gerade  auf  ihm  müsse  der  Feind 
eingedrungen  sein:  mochte  dieser  doch  gerade  dort  Sperren  fin- 
den oder  argwöhnen!  Der  Verfasser  sieht  das  Land  mit  offenem 
Auge,  liebt  das  Altertum,  liest  viele  örtliche  Sonderforschung, 
wie  sie  Deutschland  nicht  liefern  kann,  urteilt  unabhängig  sogar 
von  Freeman,  der  ebendort  lebte  und  webte,  und  kombiniert  mit 
lebhafter  Phantasie,  nur  manchmal  traumhaft  kühn  (S.  77 
Ealdbriht).  Wenn  er,  glaub  ich,  zu  kaum  einem  Punkte  angel- 
sächsischer Geschichte  ein  sicheres  neues  Ergebnis  erzielt,  so 
liegt  das  am  Mangel  der  Sprachkenntnis,  der  Quellenkritik  und 


England.  501 

der  historischen  Methode.  —  Altnordisch  und  Angelsächsisch 
stellt  er  viel  zu  nahe.  Das  Wort  „Heerstraße"  braucht  nichts 
mit  Krieg,  und  gar  einem  um  500,  zu  tun  zu  haben.  Buch- 
stabenähnlichkeit jetziger  und  einstiger  Ortsnamen,  ohne  Her- 
stellung der  Lautwerte  aus  dem  Mittelalter,  sollte  nicht  zu  Deu- 
tungen verführen,  besonders  in  Widerspruch  zu  Stevenson,  den 
Verfasser  doch  mit  Recht  so  hoch  stellt.  Alfreds  Siegesort  Ethan- 
dun  findet  er  in  Edington  on  Poldens  bei  Athelney,  indem  er  so 
zu  einem  planvollen  Bilde  der  Feldzüge  876  ff.  gelangt.  —  Bei 
der  Benutzung  der  Angelsächsischen  Annalen  bedenkt  er  S.  71 
nicht,  daß  Westseaxe  neben  dem  Lande  Wessex  auch  den  West- 
sachsenstamm bedeuten  kann.  Mit  richtigerer  Übersetzung  von 
bestelan  (bei  Toller  Dict,  Suppl.)  fällt  die  Phantasie  von  Nacht- 
märschen 876  dahin.  Der  Annalist  787  will  mit  Angelcynn  für 
Wessex  oder  mit  des  Königsvogts  Fremdenpolizei  nichts  Auf- 
fallendes melden.  Wieso  Nachrichten  von  Heiden  6.  Jahrhunderts 
zur  Aufzeichnung  und  Zeitrechnung  nach  Christus  gelangten,  fragt 
Verfasser  nicht  einmal.  Aus  ihrem  Schweigen  519 — 552  folgert 
er  Waffenruhe! 

Ungeschulte  Ortsaltertümler  läßt  er  ohne  zu  wägen  ab- 
stimmen gegen  ernste  Forscher,  und  zitiert  für  früheste  Zeiten 
Quellen  des  12.— 14.  Jahrhunderts,  auch  den  stilistisch  erfinden- 
den Huntingdon,  den  wild  verdrehenden  Wallingford,  den  Ur- 
kundenfälscher von  Glastonbury.  Letzterer  schrieb  Wilfrid  die 
Riesenschenkung  der  Insel  Wedmore  an  Glastonbury  vielleicht 
nur  deshalb  zu,  weil  er  in  Stephans  Biographie  las,  daß  Wilfrid 
bei  Kentwine,  den  der  Mönch  als  Neustifter  verherrlicht,  Zuflucht 
fand  und  über  die  Insel  Wight  verfügte. 

Daß  alle  jene  Erdwerke  ins  6.  Jahrhundert  hinaufreichen 
oder  sich  an  bestimmte  Ereignisse  knüpfen,  daß  ein  Feld,  wo 
man  Waffen  ausgegraben  hat,  ein  Schlachtfeld  von  680  darstelle, 
daß  spätere  Gau-  oder  Reichsgrenze  dem  Haltpunkte  sächsischer 
Eroberung  entspreche,  leidet  starken  Zweifel.  Und  der  Glaube 
an  die  wilde  Jagd  in  Somerset  mag  recht  wohl  sächsisch  sein 
und  beweist  jedenfalls  nicht,  daß  dort  Skandinaven  vor  700 
wohnten. 

Die  Verfassung  der  Angelsachsen  soll  sich  aus  Flottenorgani- 
sation erklären:  dann  gliche  sie  nicht  so  der  der  Festlandsger- 
manen und  hinge  nicht,  schon  vor  Feudalansätzen,  am  Boden. 


502 


Literaturbericht. 


Daß  Ines  Gesetz  mit  dem  Walliser  nur  den  von  Ine  unterwor- 
fenen meine  oder  ihn  dem  Engländer  gleichstelle,  ist  falsch. 
Daß  die  Wikinger  in  England  vor  900  meist  Norweger  waren, 
daß  Guthrum  schon  um  875  Ostanglien  besaß,  ist  recht  unwahr- 
scheinlich. Die  frühen  Thegnas  stellt  Verfasser  im  Dänenkriege 
dar  als  umgeben  von  Hauskerl-Gefolge;  aber  die  meisten  waren 
dazu  zu  arm;  und  der  Name  gebührt  gerade  der  Dänen-Leibgarde 
nur  der  spätesten  Regenten. 

Daß  die  auf  schriftliche  Dokumente  begründete  Geschichte 
sich  durch  Ortskunde  ergänzen  könne  und  solle,  leugnet  doch, 
wie  die  Vorrede  vorgibt,  kein  ernster  Forscher,  sondern  nur, 
daß  jene  durch  diese  ersetzt  werden  dürfe. 

Berlin.  F.  Liebermann. 


I 


Der  britische  Imperialismus.  Ein  geschichtlicher  Überblick  über 
den  Werdegang  des  britischen  Reiches  vom  Mittelalter  bis 
zur  Gegenwart.  Von  Felix  Salomon,  Professor  für  engl, 
u.  franz.  Gesch.  an  der  Univ.  Leipzig.  Leipzig,  Teubner. 
1916.    VIII  u.  223  S. 

Wie  Großbritannien  unser  gefährlichster  Feind,  so  ist  sein 
Imperialismus  in  höchster  Steigerung  gerade  diejenige  Seite, 
neben  der  Deutschland,  oder  überhaupt  eine  unabhängige  Groß- 
macht, nicht  bestehen  kann.  Der  Krieg  also  hat  diesem  Buche 
„das Thema  gestellt;  den  Fachgenossen  im  Felde"  ist  es  gewidmet. 
Rein  historisch  jedoch,  ohne  parteiliche  Absicht  verzeichnet  und 
erklärt  es  die  Ereignisse,  schildert  und  beurteilt  es  die  Menschen. 
Nach  maßvollem  Wägen  gelangt  es  wohl  zu  fester  Wertschätzung, 
schmäht  jedoch  den  Gegner  nie,  sondern  lehrt  uns  ihn  innerlich  zu 
verstehen.  Politisieren  und  Prophezeien,  auch  die  Behandlung 
der  I9I4  noch  ganz  frischen  Probleme,  überläßt  es  der  Kriegs- 
literatur, deren  leitende  Erscheinungen  es  nur  anführt.  Zugunsten 
festländischer  Leser  hätte  sich  vielleicht  verlohnt,  einmal  schärfer 
zusammenzufassen,  was  einzeln  genügend  belegt  wird,  daß  drüben 
der  Imperialismus  ein  Anstraffen  des  einheitlichen  Staatszügels 
überhaupt  bedeutet  und  auch  durch  Liberale  wie  Rosebery  be- 
fördert, ja  (durch  Dilke)  erfunden  und  (teilweise  nach  Beacons- 
fields,  vollends  bei  Balfours  Rücktritt)  tatsächlich  übernommen 
wurde,  wenn  auch  die  systematisch  abschließende  Reichsgründung 
zunächst  an  den  Liberalen  gescheitert  ist. 


England.  503 

Wie  der  Untertitel  andeutet,  erklärt  das  Buch  nicht  bloß 
die  recht  junge  theoretische  Lehre  des  Imperialismus,  sondern 
auch  die  um  Jahrhunderte  ältere  Entwicklung  Englands  zum 
Weltreiche.  Die  letztere  Seite  der  Arbeit  und,  wie  nach  den 
Jahrzehnte  langen  Vorstudien  des  Verfassers  zu  erwarten,  beson- 
ders die  Darstellung  des  18./19,  Jahrhunderts,  scheint  mir  die 
stärkere.  Die  für  die  britische  Weltmacht  epochemachenden 
Tatsachen  findet  man  in  solcher  Kürze  nirgendwo  sonst  so  voll- 
ständig überblickt  und  so  tief  von  den  Standpunkten  des  euro- 
päischen Staatensystems  und  der  Volkswirtschaft  aus  beleuchtet. 
Freilich  verbot  die  Raumbeschränkung  (und  im  Wunsche,  das 
Vaterland  noch  während  des  Krieges  aufzuklären,  vielleicht  auch 
der  Zeitmangel),  aus  der  Kolonialgeschichte  mehr  als  bloß  die 
Ergebnisse  zu  bringen:  nicht  auf  neue  Einzelheiten,  sondern  aufs 
Verständnis  des  Bekannten  legt  Salomon  Wert.  Wohl  deshalb 
übergeht  er  manche  bedeutenden  Vorkommnisse  der  Reichs- 
geschichte mit  Stillschweigen:  etwa  Britanniens  Weichen  vor 
Rußland  in  Persien  1828  (Peters  Testament  verdiente  ein  Stigma), 
die  Indische  Politik  1833,  die  doch  auch  kommerzielle  Bedeutung 
der  Quadrupelallianz,  die  aber  vermutlich  den  Grund  abgibt  für 
die  gerechte  Schärfe  gegen  Palmerston  (S.  131),  das  zeitliche  Zu- 
sammenfallen der  Fidji-Händel  1885  mit  dem  Ausklang  rein 
freundlicher  Töne  in  Bismarcks  Überseeplänen.  Besonders  wird, 
wer  sich  der  Englandpolitik  der  letzten  Jahre  vor  1914  nicht 
mehr  selbst  entsinnt,  anderswo  (bei  Oncken,  Keutgen,  Steffen, 
Kjell^n)  das  Einzelne  nachlesen  müssen.  Bei  einer  Neuauflage 
könnte  Verfasser  dafür  Raum  gewinnen  durch  Kürzung  des  ersten 
„mittelalterlichen"  Teiles,  der  übergründlich  vor  den  Römern  be- 
ginnt. Denn  wenngleich  im  frühen  Mittelalter  schon  sich  eine 
großbritannische  Strebung  regt  (unglücklich  heißt  Eduard  I.  hier 
„kleinbritischer  Imperialist"),  so  scheint  mir  doch  nicht  haupt- 
sächlich sie,  oder  gar  der  Festlandsbesitz  der  Dynastie,  im  neu- 
zeitlichen Imperialismus  fortgesetzt.  Und  auch  nur  dessen  Vor- 
bedingungen ruhen,  wie  hier  klar  ausgeführt  wird,  in  der  wirt- 
schaftlichen Befreiung  von  fremden  Händlern,  im  eigenen  Ge- 
werbefleiß, in  aktiver  Betätigung  auf  ausländischem  Markte  kraft 
eigener  Flotte.  (Auch  Ansätze  zu  staatlicher  Aufsicht  über  die 
Volkswirtschaft  seit  dem  13.  Jahrhundert  gehören  hierher.) 
Träume  englischer  Handelswelt  von  weit  ausgreifender  Seemacht 


504  Literaturbericht. 

aus  der  Literatur  um  1200  und  1436  hebt  Verfasser  hervor.  Die 
Überlieferung  von  Cr6cy  und  Azincourt  oder  das  Schiff  auf  der 
Münze  14.  Jahrhunderts  kann  ebenfalls  für  den  Nationalcharakter 
nicht  bedeutungslos  gewesen  sein.  Ein  solcher  läßt  sich  gewiß  nur 
schwer  in  bezeichnende  Eigenschaften  sauber  zerlegen,  und  fast 
jede  der  Allgemeinheiten  auch  von  manch  anderem  Volke,  nur 
gradweise  verschieden,  aussagen:  ich  meine  doch,  der  beispiellose 
Erfolg  britischer  Auslandsgeltung  erkläre  sich  teilweise  durch  be- 
stimmte Kräfte  des  Willens  und  des  Geistes,  die  insgesamt  die 
führende  Schicht  im  17. — 19.  Jahrhundert  hervorstechend  besaß. 
Ein  Kenner  der  Neuzeit  Englands,  wie  es  der  Verfasser  ist,  sollte 
uns  also  das  Wesen  des  Riesen  im  Gesamtbild  zeichnen,  dessen 
Taten  er  meldet,  trotz  der  selbstverständlichen  Gefahr,  hierin  nie 
erschöpfen  oder  nicht  nur  Beweisbares  geben  zu  können.  Aus  dieser 
wie  früheren  Schriften  von  S.  ließe  sich  manche  Linie  zu  sol- 
chem Bildnisse  ziehen;  so  hat  er  den  puritanischen  Glauben  der 
Auserwähltheit  als  eine  der  Wurzeln  des  Imperialismus  anderswo 
aufgegraben.  (Nietzschen  malt  heute  der  Feind  als  den  uns  ver- 
führenden Popanz:  und  doch  wem  in  der  Geschichte  mehr  als 
jenem  Römer  ähnelt  er  selbst  nach  unserer  und  seiner  Meinung, 
dem  eingestandenen  Muster  des  Herrenmenschen!) 

Des  Buches  zweiter  Hauptteil  ist  überschrieben:  „Der  mer- 
kantilistische  Imperialismus",  und  der  dritte  „der  Blütezeit  des 
Freihandels"  gewidmet.  Diese  Periodisierung  nach  volkswirt- 
schaftlichen Theorien  trifft  höchstens  den  Sinn  der  Londoner 
Staatsregierung,  die  doch  aber,  wie  man  gerade  hier  lernen  kann, 
abgesehen  von  den  finanzpolitischen  Anfängen,  nur  ausnahms- 
weise  die  zur  Ausdehnung  treibende  Kraft  gewesen  ist.  Zum 
Glück  wird  dieser  Leipziger  Historiker  nicht  etwa  vom  Genius 
loci  gebannt,  sondern  bleibt  Rankeschüler:  orientiert  er  sich  mit 
Recht  sorgfältiger  als  die  rein  politisch  denkenden  Vorgänger 
nach  ökonomischen  Gesichtspunkten,  und  spürt  er  fein  in  der 
Anschauung  moderner  Parteien  den  Nachwirkungen  der  Lehren 
von  Ad.  Smith  und  Burke  nach,  so  behält  ihr  Recht  doch  auch 
die  Buntheit  des  einzelnen,  Zufall  genannt,  die  von  insularen 
Forschern  nur  zu  leicht  vernachlässigte  Stellung  der  europäischen 
Mächte  (deren  diplomatische  Fäden  hier  aufzudröseln  nur  der 
Raummangel  verbot),  und  die  leitende  Persönlichkeit,  z.  B. 
Pitt  d.  J.  und   Gladstone,  die   S.  früher  in   Sonderbildern  ge- 


England.  505 

zeichnet  hat.  Ohne  sich  durch  Kategorien  systematisch  ein- 
zuschnüren, zeigt  er,  ob  die  Erwerbung  einer  Kolonie  vom  Staat 
oder  von  Privaten  ausging,  ob  vom  Händlergeist,  vom  .Absatz- 
wunsch der  Industrie,  vom  lokalen  Sicherungsbedürfnis  benach- 
barter Engländer  oder  vom  Ehrgeiz  eines  Gouverneurs  gegen 
Eingeborene  oder  andere  Kolonisatoren.  Die  Industrie  pflegte 
nach  dem  Verfasser  nur  Absatz  zu  erstreben;  dagegen  das  Reich 
bildete  der  Handel  mit  seiner  Flotte,  die  sich  früh  die  Meer- 
straßen sicherte. 

Eine  selbständige  Sonderstellung  nahmen  von  Anfang  an  die 
Neu-England-Staaten  ein.  Einstmals  wähnte  England  übervöl- 
kert zu  sein ;  dann  trieb  auch  eine  protestantische  Ader  gegen  den 
Wettbewerb  katholischer  Mächte.  Bewog  auch  im  ganzen  das 
Ergänzungsbedürfnis  schon  früh  zum  Kolonisieren,  indem  das 
Mutterland  Rohstoff  empfangen  und  Fabrikat  abgeben  wollte, 
so  herrschte  doch  selbst  um  1680  der  Gedanke  der  Autarkie  noch 
nicht.  Und  sogar  nachdem  1713  England  das  sog.  europäische 
Gleichgewicht,  mit  ihm  selbst  als  dem  Zünglein  an  der  Wage, 
erkämpft  hatte,  besaß  es  noch  nicht  das  Übergewicht  auch  in 
der  Weltwirtschaft.  Die  Frage,  weshalb  Englands  letzte  Neben- 
buhler niedergingen,  beantwortet  S.,  bei  Holland  liege  es  am 
Fehlen  der  Industrie  (wohl  auch  der  Großstaatsmacht),  bei 
Frankreich  an  Beschränkung  des  Verkehrs  aufs  eigene  Gebiet 
ohne  Zwischenhandel  und  am  Rückstand  der  Flotte,  wie  solche 
Amerika  machtvoll  der  Mutterinsel  verband.  Gegen  Englands  See- 
tyrannei bildete  sich  die  erste  Liga  Neutraler  schon  1780.  Napo- 
leon, der  das  britische  Imperium  ertöten  wollte,  gab  zu  dessen 
Festigung  erst  recht  die  Ursache.  (Vgl.  Napoleon  III.  gegenüber 
Deutschland.)  Erst  nachdem  die  Engländer  das  tatsächliche 
Welthandelsmonopol,  die  alleinige  Oberherrschaft  zur  See,  eine 
Art  Schiedsrichterstellung  in  Europa,  ein  ungeheures  Reichs- 
gebiet erlangt  hatten,  verkündeten  sie  das  Programm  des  Impe- 
rialismus, wonach  sie  von  Gottes  Gnaden  das  Recht  besitzen 
auf  jedes  ihnen,  wenn  auch  vielleicht  erst  in  Zukunft,  nützliche 
Stück  Erde,  und  Englands  Sprache  und  Kultur  den  Erdball  zu 
beherrschen  bestimmt  sei. 

Diese  Andeutungen  werden  genügen,  um  zu  zeigen,  daß  wer 
immer  die  Entstehung  des  großbritannischen  Strebens  zur  Ober- 
herrschaft über  die  Erde  und  des  teilweise  dadurch  verursachten. 

Historische  Zeitschrift  (117.Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  33 


506 


Literaturbericht. 


Weltkrieges  sich  vorurteilsfrei  erklären  will,  diesem  vorsichtigen 
Führer  sich  anvertrauen  darf. 

Berlin.  F.  Liehermann. 


Imperialistische  Strömungen  in  der  englischen  Literatur.  Von 
Friedrich  Brie.  Halle  a.  S.,  Max  Niemeyer.  1916.  VI  u. 
203  S. 

Bries  Buch  ist  unzweifelhaft  das  Bedeutendste,  was  über 
die  Ideengeschichte  des  englischen  Imperialismus  geschrieben  ist. 
Es  ist  während  des  Krieges  entstanden,  sein  Gegenstand,  dem 
Verständnis  unseres  größten  Gegners  dienend,  berührt  sich  aufs 
engste  mit  der  Vorgeschichte  des  Krieges,  und  doch  hat  den 
Autor  an  keiner  Stelle  seines  Buches  die  wissenschaftliche  Ruhe 
verlassen.  Was  er  beschreibt,  ist  der  Wandel  der  Anschauungen 
über  die  Frage,  welche  Rolle  England  in  der  weiten  Welt  zu 
spielen  berufen  sei,  nicht  eigentlich  in  seiner  auswärtigen  Politik, 
d.  h.  in  seinem  Verhältnis  zu  anderen  Mächten,  sondern  in  der 
unmittelbaren  Ausdehnung  seines  eigenen  Bereiches.  Er  beschreibt 
den  literarischen  Niederschlag  jener  Tendenzen,  die  zum  Hinaus- 
drängen in  fremde  Weltteile,  zur  Gründung  von  Kolonien,  zur 
Beherrschung  der  See  geführt  haben.  Er  faßt  diese  ganze  mäch- 
tige Entwicklung  unter  dem  Namen  des  Imperialismus  zusammen. 

Darüber  ließe  sich  freilich  streiten.  Es  handelt  sich  doch 
etwa  um  dieselbe  Entwicklung,  für  die  Seeley  das  Wort  von  der 
„Expansion  of  England"  gefunden  hat,  während  der  Ausdruck 
„Imperialism",  in  England  neu  geprägt,  nur  rein  technisch  ein 
bestimmtes  System  der  Kolonialpolitik  bezeichnen  will,  näm- 
Hch  die  Zusammenfassung  des  Mutterlandes  und  seiner  sämt- 
lichen Kolonien  zu  einer  geschlossenen,  in  allen  seinen  Teilen 
gleichartigen  und  gleichberechtigten  Machtgruppe,  dem  Impe- 
rium  oder  Empire  in  seiner  prägnantesten  Gestalt.  In  diesem 
eigentlich  englischen  Sinne  wäre  es  also  nur  der  Ausdruck  für 
die  jüngste  Phase  in  der  Entwicklung  jener  Bestrebungen,  die 
hier  insgesamt  als  Imperialismus  bezeichnet  werden.  Immerhin 
hat  man  sich  in  Deutschland  daran  gewöhnt,  wie  von  russischem, 
so  auch  —  und  etwa  gleichbedeutend  —  von  britischem  Impe- 
rialismus zu  reden  und  den  Begriff  der  Weltpolitik,  vielleicht 
auch  den  des  Strebens  nach  Weltherrschaft,  damit  zu  verbinden. 


I 


England.  507 

Der  ganze  Kreis  jener  Bestrebungen,  die  darunter  gefaßt  und  die 
auch  hier  behandelt  werden,  ließe  sich  vielleicht  am  besten  mit 
den  Worten  einer  anderen  kürzlich  erschienenen  Schrift  (Finke, 
Weltimperialismus  und  nationale  Regungen  im  späteren  Mittel- 
alter) wiedergeben,  wo  es  heißt:  „Will  man  den  Begriff  ganz 
ausschöpfen,  so  wird  man  nicht  nur  das  Streben  nach  Erweite- 
rung der  Landesgrenzen,  Überseebesitz,  Meerbesitz,  engeren 
Kolonialanschluß  darunter  verstehen,  sondern  auch  das  Streben 
nach  Ausbreitung  der  Rasse,  Sprache,  Recht,  der  Religion,  über- 
haupt der  nationalen  Ideen."  Übrigens  kommt  ja  auf  den  Namen 
nicht  allzuviel  an.  Der  Leser  weiß,  um  was  es  sich  handelt.  Und 
auch,  wer  sich  auf  den  oben  angedeuteten  engeren  Sinn  des  Wortes 
beschränkt,  wird  nicht  umhin  können,  zum  Verständnis  der  von 
ihm  ins  Auge  gefaßten  historischen  Erscheinung  auch  die  ältere 
Entwicklung  zu  berücksichtigen. 

Brie  gibt  auf  Grund  einer  ungeheuren  Belesenheit  ein  ge- 
schlossenes Bild  einer  geistigen  Entwicklung,  die  neben  den 
historischen  Erscheinungen,  d.  h.  den  Ergebnissen  der  prak- 
tischen Politik  einhergeht,  oft  ihnen  vorauseilt,  manchmal  auch 
ihren  Gang  hemmt  und  verzögert,  aber  immer  auf  sie  von  starkem 
Einfluß  ist  und  ihr  Verständnis  darum  mächtig  fördert.  Für  den 
Historiker  besteht  darin  der  Wert  des  Buches.  Es  zeigt  ihm  die 
in  der  Volksseele  ruhenden  tieferen  Ursachen  der  Ereignisse. 

Vom  englischen  Altertum  will  der  Verfasser  nicht  reden  und 
vom  Mittelalter  nur  weniges.  Mit  vollem  Recht,  denn  hier  nach 
imperialistischen  Ideen  in  der  Literatur  zu  suchen,  wäre  ver- 
früht. Zwar  tritt  der  Anspruch  Englands  auf  die  Seeherrschaft 
(wenn  auch  nur  über  die  Nachbargewässer,  the  narrow  sea  oder 
the  sea  of  England,  die  sich  aber  nach  Süden  bis  über  die  Insel 
Ouessant  hinaus  erstrecken  sollen)  schon  frühzeitig  auf.  Er 
wird  verkündigt  in  einem  merkwürdigen  Dokument  aus  dem 
Jahre  1304  und  er  ward  von  den  Flamländern  1320  anerkannt. 
Aber  davon  schweigt  die  Dichtung  und  schweigt  darum  auch 
unser  Verfasser.  Auch  die  kurzen  Epochen  maritimer  Erfolge 
unter  Eduard  III.  und  wieder  unter  Heinrich  V.  scheinen  in  der 
Literatur  kaum  einen  Widerhall  geweckt  zu  haben,  trotzdem  wir 
wissen,  daß  Eduard  es  als  eine  persönliche  Beleidigung  empfand, 
als  die  Spanier  sich  rühmten,  ihm  die  Herrschaft  auf  dem  Meere 
streitig  zu  machen,    Brie  hat  nur  von  dem  Libell  of  English  Po- 

33* 


508 


Literaturbericht. 


Heye  zu  berichten,  einer  Dichtung  aus  dem  15.  Jahrhundert,  in 
der  die  späte  Erinnerung  an  jene  Glanzzeit  zu  nachträglicher 
poetischer  Verherrlichung  derselben  geführt  hat. 

Erst  das  16.  Jahrhundert  bringt  die  Erscheinungen  hervor, 
die,  in  dem  geschilderten  weiteren  Sinne,  als  imperialistisch  zu 
gelten  haben,  in  der  Politik  und  vornehmlich  auch  in  der  Lite- 
ratur. Hier  setzt  der  Verfasser  ein.  Sehr  wertvoll  ist  hier  beson- 
ders sein  Hinweis  auf  gewisse,  bald  typische  Vorstellungen,  die 
nun  oft  oder  regelmäßig  mit  dem  Imperialismus  verbunden  er- 
scheinen. Schon  unter  Elisabeth  tritt  die  hebraistische  Vorstel- 
lung auf  von  der  englischen  Nation  als  dem  auserwählten  Volke. 
Sie  wird  fortan  besonders  in  puritanischen  Kreisen  gepflegt  und 
erzeugt  weiterhin  die  Anschauung,  daß  aus  einer  so  bevorzugten 
Stellung  auch  Recht  und  Pflicht  zu  einer  Eroberungspolitik  her- 
zuleiten seien,  eine  Anschauung,  die,  beiläufig  bemerkt,  ihre  Paral- 
lele findet  etwa  in  der  Erklärung  der  Franzosen  von  1792,  wonach 
Frankreich,  das  einzige  freie  Volk  Europas,  berufen  sei,  auch  zu 
den  übrigen  Nationen  die  Freiheit  zu  bringen,  ja  sie  ihnen  aufzu- 
nötigen. Dann  nennt  der  Dichter  Edmund  Waller  zuerst  das 
Weltmeer  den  Machtbereich  Englands.  Endlich  kommt  die  Idee  der 
Freiheit  als  eines  spezifisch  englischen  Gutes  mit  dem  Bürgerkriege 
des  17.  Jahrhunderts  hinzu,  zugleich  die  Auffassung,  daß  England 
berufen  sei,  dieses  Gut  gegen  Absolutismus  und  Gewissenszwang 
zu  verteidigen.  Ein  solcher  Kreis  von  Vorstellungen  und  ins- 
besondere der  Gedanke,  daß  das  englische  Volk  das  von  Gott 
auserwählte  sei,  ist  auch,  um  mit  Brie  zu  reden,  das  wesentlichste 
Element  des  Miltonschen  Imperialismus.  Dagegen  bezweifle  ich, 
ob  man  eigentüch,  wie  es  so  oft  und  auch  in  dem  vorliegenden 
Buche  geschieht,  auch  Cromwell  selbst  diese  Anschauung  zu- 
schreiben darf.  Ausdrücke  wie  God's  people  fließen  freilich  oft 
genug  aus  seiner  Feder  wie  aus  seinem  Munde,  aber  man  wird 
kaum  eine  Stelle  finden,  wo  schlechthin  das  englische  Volk  damit 
gemeint  wäre.  Redet  er  über  innere  Politik,  so  ist  God's  people 
der  Name  für  diejenigen,  die  er  auch  Saints  nennt  und  die  die- 
selben religiösen  und  politischen  Ideale  haben  wie  er  selbst,  es 
sind  seine  Genossen  im  Bürgerkriege  (ein  Beispiel  Letter  LXXXV). 
In  den  großen  politischen  Reden  seiner  späteren  Jahre  aber 
sind  es  etwa  die  Anhänger  eines  echten  Protestantismus  in  Eng- 
land sowohl  wie  im  Auslande.    Das  Papsttum  und  seine  Freunde, 


I 


I 


England.  509 

heißt  es  einmal,  haben  offen  und  absichtlich  Gottes  Volk  unter 
ihre  Füße  getreten,  aus  dem  einzigen  Grunde  und  Antrieb,  weil 
sie  Protestanten  waren".  {Speech  XVII,  Carlyle-Lomas  III  165.) 
Hier  denkt  er  aber  überhaupt  nicht  an  England,  sondern  zunächst 
an  die  verfolgten  Untertanen  des  Herzogs  von  Savoyen.  Auch 
Bemerkungen  wie  die,  daß  der  Ruhm  Gottes  und  das  Interesse 
seines  Volkes  „innerhalb  dieser  Nation  mehr  Beschützer  und 
Bekenner  haben  als  bei  allen  Nationen  der  Welt"  {Speech  V, 
Carlyle-Lomas  III  510),  sollen  nur  der  Gesinnung  der  mit  ihm 
selbst  in  England  herrschenden  Klasse  ein  ehrendes  Zeugnis 
ausstellen.  Aber  daß  die  englische  Nation  selbst  das  auserwählte 
Volk  sei,  ist  auch  an  dieser  Stelle  nicht  die  Meinung.  Kurz,  das 
Volk  Gottes  ist  ihm  ein  viel  weiterer,  ein  idealer  Begriff,  an 
keine  bestimmte  Nation  gebunden,  vielmehr  schlechthin  alle 
Bekenner  einer  echten  Religiosität  in  Cromwells  Sinne  umfas- 
send. Eine  festere  Gestalt  würde  sein  Begriff  vom  Volke  Gottes 
höchstens  in  dem  Falle  gewonnen  haben,  wenn  es  dem  Pro- 
tektor gelungen  wäre,  den  großen  Protestantenbund,  den  er 
plante,  wirklich  ins  Leben  zu  führen.  Natürlich  hat  trotz  alle- 
dem Cromwells  Vorbild  auf  die  imperialistisch  gesinnten  Schrift- 
steller mächtig  gewirkt,  aber  wohlverstanden:  die  Wirkung  ging 
von  seinen  Taten  aus,  nicht  von  seinen  Worten. 

Ein  völlig  anderer  Geist  herrscht  sodann  in  England  seit 
der  Restauration  der  Stuarts,  vor  allem  im  18.  Jahrhundert. 
Der  Verfasser  schildert  ihn  als  den  neuen,  in  der  Poesie  wie  in 
der  Prosa  auftretenden,  kaufmännisch  gefärbten  Imperialismus, 
eine  Umschreibung  für  die  in  der  Literatur  nun  aufkommende 
Verherrlichung  des  großen  auswärtigen  Handels  und  des  Han- 
dels mit  den  Kolonien.  Wenn  er  dabei  unter  den  Prosaisten 
Defoe  nennt,  so  ist  dieser  in  der  Tat  der  typische  Vertreter  einer 
solchen  Anschauung.  Zugleich  kommt  bei  ihm  noch  ein  anderer 
Zug  hinzu,  der  noch  an  die  vorangegangene  puritanische  Epoche 
erinnert,  nämlich  die  Denkweise  des  Dissenters.  Defoe  gehört 
z.  B.  mit  seinem  Buche  über  den  idealen  englischen  Kaufmann 
schon  jener  Geistesrichtung  an,  die  vor  Jahren  besonders  durch 
die  Arbeiten  von  Max  Weber  und  Troeltsch  unserem  Verständnis 
nahe  gebracht  worden  ist.  Sieht  man  aber  von  dem  religiösen 
Element  ab,  das  mir  für  diese  Seite,  die  nationalökonomische, 
der  schriftstellerischen  Tätigkeit  Defoes,  ohnehin  nicht  wesent- 


510 


Literaturbericht. 


lieh  erscheint^),  so  steht  Defoe  nur  als  einer  inmitten  einer  langen 
Reihe  von  Schriftstellern,  die  ähnliche  Gedanken  immer  wieder 
zum  Ausdruck  bringen.  Will  man  es  also  kaufmännischen  Impe- 
rialismus nennen,  so  gehören  sie  alle  dieser  Kategorie  an.  Jeden- 
falls ist  ihre  Verwandtschaft  untereinander  eine  zu  enge,  als 
daß  man  einen  von  ihnen  als  eine  vereinzelte,  besondere  Erschei- 
nung herauszuheben  berechtigt  wäre.  Um  deutlicher  zu  werden: 
Die  Reihe  dieser  Schriftsteller,  die  alle  der  Ausbreitung  des  über- 
seeischen Handels  —  Foreign  Trade  und  Plantation  Trade  sind 
ihre  wichtigsten  Themata  —  das  Wort  reden,  reicht  weit  zurück. 
Man  könnte  sie  wohl  schon  mit  dem  nicht  ganz  sicher  festgestellten 
Verfasser  der  unter  dem  Namen  Sir  Walter  Raleghs  bekannten 
Denkschrift  aus  dem  Jahre  1603  beginnen  lassen,  der  so  ener- 
gisch ein  stärkeres  Eindringen  Englands  in  die  Wege  des  Welt- 
handels fordert.  Treten  wir  ihm  einen  Augenblick  näher.  Überall 
findet  er  andere,  insbesondere  die  Holländer,  auf  dem  Platze, 
der  von  Rechts  wegen  seinen  Landsleuten  gebühre.  Er  redet 
von  den  großen  Erträgen,  den  die  Heringsfischerei  in  der  Nord- 
see jenen  bringe  und  sagt:  „Sicherlich  müßte  der  Strom  ge- 
wendet werden  zum  Besten  dieses  Königreiches,  vor  dessen 
Küsten  Gott  diesen  Segen,  diesen  ungeheuren  Reichtum,  nur 
ausgeschüttet  hat,  damit  wir  ihn  an  uns  nehmen."  Es  folgen 
Schriftsteller  wie  Thomas  Mun,  der  seine  Abhandlung  über  Eng- 
lands Schatz  durch  den  Außenhandel  mit  der  begeisterten  An- 
preisung des  Außenhandels  also  schließt:  „Er  ist  ein  großes 
Einkommen  für  den  König,  eine  Ehre  für  das  Land,  eine  vor- 
nehme Beschäftigung  für  den  Kaufmann,  eine  Schule  für  alles 
Handwerk,  eine  Befriedigung  aller  Bedürfnisse,  ein  Fortschritt 
unserer  Ländereien,  eine  Nährquelle  für  die  Marine,  ein  Schutz- 
wall des  Reiches,  eine  Quelle  des  Reichtums,  eine  Hilfe  im  Krieg 
und  ein  Schrecken  für  unsere  Feinde."  Bei  Josiah  Child  wird 
man  ähnHche  Gedanken  finden,  etwas  abweichende  bei  Petty. 
Dann  aber  ist  vor  allem  Charles  D'Avenant  zu  nennen,  dessen 
Schriften  über  Handel  und  Kolonien,  über  Ostindien  und  Afrika 
die  nationalökonomischen  Anschauungen  von  ein  paar  Genera- 

*)  Es  mag  noch  bemerkt  werden,  daß  Defoe  für  den  Krieg 
gegen  Spanien  auch  1718—19  eingetreten  ist,  und  zwar  mit  aus- 
drücklicher Ablehnung  religiöser  Gesichtspunkte.  Vgl.  die  Stellen 
bei  Lee,  Defoe  1,277;  II,  79.  92. 


England.  511 

tiorien  so  stark  beeinflußt  haben.  „Was  anders",  schreibt  D'Ave- 
nant  z.  B.  1697",  hat  es  England  ermöglicht,  diesen  kostspieligen 
Krieg  so  lange  zu  führen,  als  der  große  Reichtum,  der  uns  30  Jahre 
lang  aus  unserem  Außenhandel  zugeströmt  ist?"  „Reichtümer," 
sagt  er  ähnlich  an  anderer  Stelle,  „die  alle  unsere  Torheiten, 
Ausschweifungen  und  Mißgriffe  nicht  zunichte  machen  konnten." 
Oder  über  Indien:  „Diejenige  Macht,  die  es  in  ihrem  vollen  und 
unbestrittenen  Besitze  hat,  wird  der  ganzen  handeltreibenden 
Welt  das  Gesetz  diktieren."  Und  natürlich  soll  England  diese 
Macht  werden.  Doch  wichtiger  noch  als  diese  herausgegriffenen 
Zitate  ist  der  ganze  Inhalt  der  Schriften,  mit  ihrer  Darlegung 
der  großen  Wirkungen  des  Handels.  Diese  Vorgänger  sind  es, 
auf  deren  Spuren  auch  Defoe  sich  bewegt.  Und  wie  er  nicht 
der  erste  große  Anwalt  (D'Avenant  ist  als  nationalökonomischer 
Schriftsteller  auch  wohl  systematischer  und  bedeutender  als  er)  der 
großen  Handels-  und  Kolonialpolitik  ist,  so  wandelt  die  Schrift- 
stellerei  im  Zeitalter  Walpoles  und  darüber  hinaus  auch  noch 
ferner  auf  denselben  Bahnen  fort.  Da  wären  Schriften  zu  nennen 
wie  Wood,  Survey  of  Trade  (p.  95  heißt  es  z.  B.:  „And  since  the 
Wealth  and  Prosperity  of  this  Kingdom  does  depend  upon  the 
preserving,  encouraging,  and  enlarging  our  Foreign  Traf f ick  . . .") 
und  Gee,  The  Trade  and  Navigation  of  Great  Britain  considered 
(p.  79:  For  as  this  Kingdom  is  the  Head  and  Seat  of  the  English 
Empire,  and  is  supported  by  its  Manufactures,  Trade  and  Navi- 
gation, and  thereby  enabled  to  give  Protection  to  all  her  Dominions  . . .) 
von  der  Menge  kleinerer  Flugschriften  gar  nicht  zu  reden.  Was 
nun  also  mit  diesen  Andeutungen  gesagt  sein  soll,  ist  nichts  an- 
deres, als  daß  Defoe,  so  wichtig  seine  Erwähnung  in  unserem 
Buche  war,  doch  nicht  die  exklusive  Bedeutung  besitzt,  die  ihm 
hier  zugeschrieben  wird. 

Der  Verfasser  folgt  nun  mit  tiefem  Verständnis  allen  wei- 
teren Hervorbringungen  der  imperialistischen  Literatur  bis  auf 
die  neueste  Zeit.  Er  läßt  den  Gegensatz  zweier  seit  dem  18.  Jahr- 
hundert miteinander  ringenden  Anschauungen  klar  hervortreten, 
der  gegenüber  Seemacht  und  Kolonialbesitz  gleichgültigen  der 
Utilitarier  und  der  immer  mehr  dem  modernen  Begriffe  sich 
nähernden  imperialistischen  Strömung.  Er  zeigt,  wie  in  dieser, 
zuerst  in  den  Äußerungen  von  Pitt  und  Burke,  der  Gedanke  einer 
Gleichstellung  Englands  und  seiner  Kolonien  auftritt,  der  zwar 


512  Literaturbericht.  ^H^BPiH 

durch  Utilitarier  und  Manchesterleute  zurückgedrängt,  aber  nicht 
aus  der  Welt  geschafft  werden  kann,  um  endlich  in  Carlyle  seinen 
großen  Anwalt  zu  finden.  Vortrefflich  ist  die  ganze,  Carlyle  ge- 
widmete Darlegung  mit  dem  Hinweis,  wie  er,  die  Gedanken 
Miltons  von  neuem  verkündend,  selbst  wieder  auf  eine  Reihe 
großer  Schriftsteller,  auf  Ruskin  und  Kingsley,  Froude  und  Dis- 
raeli,  entscheidend  einwirkt.  Wir  brauchen  dem  Verfasser  im 
einzelnen  nicht  zu  folgen.  Es  genügt  zu  sagen,  daß  wir  hier, 
besonders  für  das  letzte  Jahrhundert,  eine  meisterhafte  Behand- 
lung aller  bedeutenden  literarischen  Erzeugnisse  des  imperialisti- 
schen Geistes  erhalten  haben.  Als  der  Verfasser  an  die  entscheidende 
Stelle  kommt,  wo  mit  der  Gründung  der  Imperial  Federation 
League  und  der  Primrose  League  1883  der  Gedanke  des  Reichs- 
zusammenschlusses praktisch  werden  soll,  gibt  er  noch  einmal 
eine  Rechtfertigung  des  von  ihm  gewählten  weitherzigen  Ge- 
brauchs des  Namens  Imperialismus  mit  der  Erwägung,  daß  die 
neue  Richtung  auch  die  früheren  „imperialistischen  Gedanken- 
gänge" fast  sämtlich  übernommen  habe.  Höchst  interessant  und 
vortrefflich  gelungen  ist  der  Abschnitt  §  8,  wo  die  Entstehung 
der  heutigen  Anschauungen  seit  dem  Jameson-Einfall  und  dem 
Burenkriege  dargelegt  wird  und  gezeigt,  wie  die  neue  gegen 
Deutschland  gewendete  Richtung  zunächst  nur  von  den  Poli- 
tikern eingeschlagen  wird,  nicht  aber  im  Kreise  der  Schriftsteller, 
wie  aber  allmählich  die  Zahl  derer  sich  mehrt,  die  hier  der  Politik 
Gefolgschaft  leisten  und  die,  nachdem  einmal  England  durch 
seine  Bündnisse  mit  Frankreich  und  Rußland  auf  die  Seite  von 
Deutschlands  Gegnern  getreten  ist,  bereit  sind,  unter  dem  Namen 
der  Verteidigung  von  Freiheit  und  Gerechtigkeit  gegen  Raub  und 
Unterdrückung,  der  neuen  Politik  ihren  literarischen  Beistand 
zu  leihen. 

So  zieht  auch  noch  die  Schar  der  jüngsten  imperialistischen 
Dichter,  der  Swinburne  und  Kipling,  an  dem  Auge  des  Lesers 
vorüber,  und  mancher,  der  es  nicht  schon  wußte,  wird  hier  viel- 
leicht staunend  gewahr  werden,  daß  die  haßerfüllte  Literatur, 
die  der  Weltkrieg  in  England  ins  Leben  gerufen  hat,  nur  die 
Fortsetzung  älterer  Gedanken  bringt,  nur  daß  dieses  Mal  wir  es 
sind,  die  von  dem  Abscheu  gegen  den  Feind  des  auserwählten 
Volkes  heute  getroffen  werden  und  nicht  einmal  erst  heute,  da 
Namen  wie  Schwindlerpack,  Goten  und  schamlose  Hunnen  schon 


I 


England.  513 

vor  mehr  als  einem  Jahrzehnt  für  uns  geprägt  worden  sind. 
Imperialistisch  sind  in  der  Tat  auch  diese  Schriftsteller  trotz  all 
ihrer  patriotischen  oder,  sage  man,  jingoistischen  Exzesse  in 
jedem  Sinne  noch  zu  nennen,  wie  denn  (der  vortrefflich  ge- 
würdigte) Kipling  bei  seiner  gewaltigen  Wirkung  auf  die  Massen 
gerade  auch  wieder  ein  starker  Vertreter  des  Gedankens  der 
Einheit  von  Mutterland  und  Kolonien  ist.  Eine  Einheit  der 
Gedankenentwicklung  ist  es  in  der  Tat,  deren  Erzeugnisse  von 
Milton  bis  auf  Carlyle  und  darüber  hinaus  der  Verfasser  uns 
schildert  und  wohl  hat  er  ein  Recht,  an  dem  von  ihm  gewählten 
Namen  festhaltend,  sein  Buch  als  eine  Literaturgeschichte  des 
englischen  Imperialismus  zu  bezeichnen.  Aber  auch  die  histo- 
rische Wissenschaft  hat  durch  dieses  Werk  eine  wertvolle  Be- 
reicherung erfahren. 

Freiburg  i.  Br.  W.  Michael. 


Notizen  und  Nachrichten. 

Die  Herren  Verfasser  ersuchen  wir,  Sonderabzüge  ihrer 
in  Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze,  welche  sie  an  dieser 
Stelle  berücksichtigt  wünschen,  uns  freundlichst  einzusenden. 

Die  Redaktion. 

Allgemeines. 

Sechsundsechzig  Professoren  der  Leipziger  Universität  haben  sich 
zu  einer  Erklärung  vereinigt,  in  der  sie  sich  gegen  die  neuerdings  her- 
vortretenden Bestrebungen  wenden,  „durch  Abschaffung  oder  wesent- 
liche Beschränkung  des  Unterrichts  in  einer  der  klassischen  Sprachen 
die  Eigenart  des  humanistischen  Gymnasiums  zu  zerstören".  Sie  be- 
trachten das  humanistische  Gymnasium  „nach  wie  vor  als  die  beste 
Vorbereitungsstätte  für  das  Studium  der  Geisteswissenschaften"  und 
erblicken  in  jenen  Bestrebungen  „eine  Gefahr  für  die  Zukunft  unseres 
deutschen  Geisteslebens". 

Als  willkommenes  Seitenstück  zu  dem  „Berliner  Bibliotheken- 
führer" von  Schwenke  und  Hortzschansky  ist  ein  „Dresdner  Biblio- 
thekenführer" von  Dr.  Bruno  Faaß  im  Auftrage  der  kgl.  öffentlichen 
Bibliothek  zu  Dresden  herausgegeben  worden  (Dresden,  Heinrich, 
1915.    V  u.  151  S.). 

Über  „Richtungen  und  Ziele  der  Vorgeschichtsforschung  der 
Gegenwart"  gibt  H.  Mötefindt  in  den  Deutschen  Geschichtsblättern 
17  (1916),  5,  Heft,  einen  Überblick,  der  trotz  seiner  Knappheit  man- 
chem zur  allerersten  Orientierung  nützlich  sein  wird.  Ein  regeres  In- 
einandergreifen historischer  und  „prähistorischer"  Forschung  wäre  in 
der  Tat  zum  Vorteil  beider  sehr  zu  wünschen.  Dafür  ist  vor  allem 
Voraussetzung,  daß  in  einer  Reihe  umfassenderer  Arbeiten  das  sichere 
Tatsachenmaterial  mit  klarer  Herausstellung  der  in  steter  Ent- 


Allgemeines.  515 

-Wicklung  befindlichen  Arbeitsmethoden  zusammengefaßt  und  weniger 
sogleich  an  die  Zeichnung  geschlossener  kulturhistorischer  Entwick- 
lungsgänge Hand  gelegt  wird.  Hypothesen  sind  nützlich  und  notwendig 
für  den  Fortschritt  der  Forschung;  ihr  Zweck  wird  aber  in  sein  Gegen- 
teil verkehrt,  wenn  ihr  hypothetischer  Charakter  nicht  von  allen 
Seiten  und  in  jedem  Stadium  der  Erörterung  klar  im  Auge  behalten 
wird.  A.  H. 

A.  Wirth,  Der  Gang  der  Weltgeschichte.  (Gotha,  Perthes.  1913. 
474  S.)  —  Der  "kühne  Titel  des  Buches  erweckt  weitgehende  Hoff- 
nungen, die  aber  schon  deshalb  nicht  befriedigt  werden  können,  weil 
Wirth  etwas  Unfertiges  vorlegt,  wie  man  schon  an  der  mangelhaften 
Gliederung  des  Stoffes,  an  Wiederholungen  und  an  dem  störenden  Ab- 
drucke von  langen  Auszügen  aus  anderen  Büchern  sehen  kann.  Dazu 
schwelgt  der  Verfasser  in  phantasievollen  Kombinationen,  besonders 
über  die  vorarischen  „Kasvölker"  — für  deren  Nachprüfung  eine  ganze 
Anzahl  weiterer  Bücher  geschrieben  werden  müßten.  Wer  soviel  ver- 
öffentlicht wie  Wirth,  kann  eben  unmöglich  noch  Befriedigendes  zu- 
tage fördern.  Immer  mehr  muß  die  Quantität  zur  Feindin  der  Quali- 
tät werden.  Das  ist  eine  ganz  unvermeidliche  Entwicklung.  Trotz- 
dem können  Historiker  und  Geschichtsphilosophen,  sofern  sie  über 
die  übliche  mitteleuropäische  „Weltgeschichte"  hinausstreben,  auch 
aus  der  vorliegenden  Arbeit  trotz  der  in  ihr  enthaltenen  Irrtümer  und 
Mißgriffe  viel  lernen.  Das  Buch  kann  auch  über  die  Urzeit  hinaus 
mehrfach  mit  Erfolg  zur  Horizonterweiterung  herangezogen  werden. 
Außerdem  bietet  es  am  Schlüsse  noch  einen  Beitrag  zur  Geschichte 
der  neueren  Weltgeschichtschreibung.  Es  ist  jedoch  unmöglich,  iii 
knappem  Rahmen  von  dem  unausgeglichenen  Inhalte  des  Ganzen  eine 
Vorstellung  zu  geben. 

Bonn.  J.  Hashagen. 

Im  Haag  hat  sich  eine  „Gesellschaft  für  die  Herausgabe  des 
Grotius"  gebildet.  Sie  beabsichtigt,  die  gesamten  Werke  von  Hugo 
Grotius  neu  herauszugeben.  Zunächst  soll  die  gesamte  Korrespondenz 
publiziert  werden.  Vorsitzender  der  Gesellschaft  ist  Prof.  Dr.  C.  van 
Vollenhoven,  Leiden. 

Az  Erdelyi  Müzeum-Egyerület  Jog-is  Tarsadulem  tudo- 
mänzyi  szakosztälyänak  Evkönyve  jgij — 1914.  szerkeszti 
Bochkor  Mihäly  Dr.  pozsonzyi  egyetemi  tanär.  Budapest. 
(Jahrbuch  der  Rechts-  und  Gesellschaftswissenschaftlichen  Sektion 
des  Siebenbürger  Museum-Vereins,  herausgegeben  von  Dr.  Michael 
von  Bochkor,  Universitätsprofessor  in  Pozsony.)  —  Das  Jahrbuch 
enthält  die  Geschichte  der  betreffenden  Sektion  des  Museums- Vereines, 
welcher  in  edlem  Wetteifer  mit  dem  seit  1842  wirkenden  „Verein  für 


516  Notizen  und  Nachrichten. 

Siebenbürgische  Landeskunde"  schon  sehr  Erhebliches  für  die  Kunde 
Siebenbürgens  und  besonders  für  die  Sammlung  und  Publikation  der 
Quellen  geleistet  hat.  Die  Idee  der  Errichtung  einer  Akademie  in 
Siebenbürgen  hatte  schon  den  Landtag  von  1791  beschäftigt,  war 
aber  dann,  wie  so  viel  anderes,  beiseite  gesetzt  worden.  Erst  1859, 
mit  dem  Ende  der  absolutistischen  Ära,  gelang  es  dem  unermüdlichen 
Grafen  Emerich  Mikö,  die  Organisation  des  Vereins  durchzusetzen, 
der  die  wissenschaftliche  Bildung  der  ungarischen  Bevölkerung  in 
dem  Maße  befördern  sollte,  wie  es  der  ältere  Verein  für  die  Sachsen 
getan  hatte.  Eigentlich  war  der  Verein  bei  seiner  Entstehung  nur 
zur  Vermehrung  und  Erhaltung  seiner  Sammlungen  berufen;  wissen- 
schaftliche Tätigkeit  lag  ihm,  gemäß  der  Statuten,  noch  fern.  Erst 
seit  der  Errichtung  der  Universität  in  Kolozsvär  (Klausenburg)  konnte 
man  mit  größerer  Zuversicht  an  die  Bearbeitung  des  dort  gesam- 
melten, sehr  wertvollen  geschichtlichen  und  naturgeschichtlichen  Mate- 
rials denken,  da  ja  die  Zahl  der  Fachmänner  bedeutend  zugenommen 
hatte.  Schon  1878  trat  die  Zeitschrift  des  „Erdelyi  Müzeum"  für  die 
Umgestaltung  des  Vereins  in  eine  gelehrte  Gesellschaft  ein.  Die  Fach- 
abteilungen: die  historischphilologische  und  die  ärztlich-naturwissen- 
schaftliche wirkten  seit  1883  mit  größerer  Selbständigkeit;  die  Samm- 
lungen traten  in  ein  näheres  Verhältnis  zur  Universität  und  wurden 
mit  Staatshilfe  vermehrt  und  geordnet.  Als  Ziel  wurde,  wie  schon  in 
dem  am  Landtage  von  1843  verhandelten  Plan,  neben  der  Aufrecht- 
haltung  und  Entwicklung  der  Sammlungen  auch  ihre  wissenschaft- 
liche Bearbeitung,  die  Hebung  der  Landeskunde  und  im  allgemeinen 
der  ungarischen  Wissenschaft  gesetzt.  In  diesem  Sinne  wurden  dann 
die  Statuten  1905  umgearbeitet.  Seitdem  entfaltet  der  Verein  eine 
ausgebreitete  Tätigkeit,  über  welche  die  im  Jahre  1909  erschienene 
Jubiläumsschrift  seines  Sekretärs,  Ludwig  v.  Kelemen,  volle  Auskunft 
enthält.  1907  begann  die  neugebildete  rechts-  und  gesellschaftswissen- 
schaftliche Sektion,  die  sich  „die  wissenschaftliche  Arbeit,  dann  die 
Verbreitung  und  Popularisierung"  zur  Aufgabe  setzte,  ihre  Wirksam- 
keit. Diese  verfolgt  sowohl  theoretische  als  auch  praktische  Zwecke. 
Neben  Vorlesungen  und  wissenschaftlichen  Publikationen  war  auch 
die  Gründung  eines  sozialen  „Settlement"  in  Aussicht  genommen. 
Dieses  schrumpfte  aber,  in  Ermangelung  von  Mitteln,  zu  einer  freien 
Schule  für  Kaufleute,  zu  einem  Volksamt  und  zu  einem  Institut  der 
Lungenkrankenfürsorge  zusammen.  Die  im  vorliegenden  Bande  publi- 
zierten Abhandlungen  sind  dem  Zyklus  der  Vorlesungen  (1913 — 1914) 
entnommen.  Im  Anschlüsse  an  die  vom  Verein  besorgte  Ausgabe 
der  Gesetze  des  Hammurabi  behandelt  Dr.  Valamir  von  Meltal 
das  altbabylonische  Prozeßrecht.  Baron  Dr.  Emil  Horväth  gibt 
eine  Zusammenstellung  des  parlamentarischen  Wahlrechtes  von  Eng- 


Allgemeines.  517 

land,  Frankreich,  Deutschland-Preußen,  Österreich  und  Italien.  Er 
schließt  mit  dem  Le  Bonschen  Zitat,  „daß  der  Durchschnitt  der 
Gewählten  den  Durchschnitt  der  Rassenseele  repräsentiert".  In  einer 
von  großer  Belesenheit  und  gesundem  Urteil  zeugenden  Studie  be- 
handelt Professor  Eugen  Horvät  die  Kämpfe  des  europäischen 
Konzertes  von  1815 — 1914.  In  der  Studie  des  Professors  Michael 
R6z  über  die  staatsrechtliche  Lage  Bosniens  wird  die  These  ver- 
fochten, daß  die  Souveränität  Ungarns  über  Bosnien  keine  internatio- 
nale, wohl  aber  eine  staatsrechtliche  Forderung  ist.  Professor  Geza 
Kiss  bespricht  das  „receptum  nautarum",  mit  besonderer  Berücksich- 
tigung der  Papyri.  Sehr  eingehend  und  gehaltvoll,  wenn  auch  nicht 
zu  dem  Kreise  der  Historischen  Zeitschrift  gehörig,  ist  die  Abhand- 
lung des  Gerichtsrates  Dr.  Georg  von  Töth,  des  Sekretärs  der  Sektion, 
über  die  Revision  in  der  ungarischen  Zivilprozeßordnung.  Alle  diese 
Abhandlungen  —  die  über  Bosnien  ausgenommen  —  sind  im  Aus- 
zuge auch  deutsch  veröffentlicht,  „den  auswärtigen  Freunden  unse- 
rer Vereinigung  gewidmet".  Es  ist  diesen  Freunden  gewiß  ange- 
nehm, daß  die  Entstehung  und  Entwicklung  des  verdienstvollen  Ver- 
eins in  deutscher  Sprache  ausführlicher  behandelt  ist  als  im  ungari- 
schen Original. 

Budapest.  H.  Marczali. 

Meineckes  Aufsatz  über  „Die  Reform  des  preußischen  Wahl- 
rechts" verdient  an  dieser  Stelle  erwähnt  zu  werden,  um  der  historisch- 
politischen Erwägungen  willen,  durch  die  er  die  Frage  zu  klären  sucht. 
Zum  Verständnis  der  Mängel  des  preußischen  Verfassungswerkes  er- 
innert er  an  die  Tatsache,  daß  es  fast  drei  Jahrzehnte  zu  spät  zum 
Abschlüsse  kam  und  daß  nunmehr  „das  importierte  Gedankengut  des 
westeuropäischen  Liberalismus  und  die  überlieferten  Machtbedürfnisse 
des  Staates  in  der  Verfassung  von  1850  nur  in  einer  widerspruchsvollen 
Legierung  miteinander  verschmolzen"  wurden.  Meinecke  sucht  sodann 
den  Wert  der  verschiedenen  Systeme,  des  rein  monarchischen  wie  des 
rein  parlamentarischen,  historisch  zu  fassen.  Mit  dem  allgemeinen 
Reichstagswahlrecht,  dessen  Mängel  nicht  geleugnet  werden,  habe 
Bismarck  dennoch  das  Richtige  getroffen,  aber  das  rein  parlamen- 
tarische Regime  lehnt  Meinecke  entschieden  ab.  An  dem  freien  Minister- 
ernennungsrecht der  Krone  will  er  nicht  rütteln  lassen.  Wenn  er  nach 
solchen  Betrachtungen  und  Reminiszenzen  dazu  kommt,  sich  eine 
Übergangs-  und  Mittelform  zwischen  rein  monarchischem  und  rein 
parlamentarischem  Regime  vorzustellen,  „derart,  daß  man  schließlich 
nicht  mehr  weiß,  ob  der  verantwortliche  Staatsmann  mehr  der  Ver- 
trauensmann der  Krone  gegenüber  den  Parlamenten  oder  der  Ver- 
mittler zwischen  Krone  und  Parlament  ist",  so  wird  man  die  reale 


518  Notizen  und  Nachrichten. 

Möglichkeit  dieses  Bildes  um  so  weniger  leugnen  dürfen,  als  es  in 
der  beginnenden  Geschichte  des  Parlamentarismus  an  Parallelen  für 
eine  solche  Erscheinung  nicht  fehlt.  (Annalen  für  soziale  Politik  und 
Gesetzgebung  5,  1.)  W.  M. 

„Der  Imperialismus  und  der  Weltkrieg",  ein  in  der  Gehe-Stif- 
tung  zu  Dresden  gehaltener  Vortrag  von  Erich  Marcks  (Vorträge  der 
Gehe-Stiftung  zu  Dresden.  Bd.  8,  Heft  1.  Leipzig  und  Dresden  1916. 
26  S.)  zeichnet  zuerst  in  feinen  Zügen  die  verschiedenen  Charaktere, 
in  denen  bei  unseren  Gegnern,  zumal  bei  England  und  Rußland,  der 
Imperialismus,  d.  h.  ein  die  Welt  umfassendes  Streben,  auftritt :  Eng- 
land maritim  und  universal  und  darum  gegen  alle  Neukommenden 
aggressiv;  Rußland  kontinental,  aber  schwer  und  brutal  auf  alle  seine 
Nachbarn  drückend  und  darum  nicht  minder  aggressiv.  Weniger 
schrankenlos  vorwärts  drängend  findet  er  Frankreich  und  Italien. 
Jenes  will  nur  Deutschland  angreifen,  dieses  im  Mittelmeer  wachsen. 
Auch  Deutschland  habe  seinen  Imperialismus,  aber  er  hat  nicht  nach 
Eroberungen  gesucht,  sondern  nach  Absatzgebieten,  nach  Handels- 
gebieten mit  offener  Tür,  er  war  nicht  aggressiv,  nicht  universal,  son- 
dern immer  nur  national.  Aber  gerade  seine  Stärke  daheim  war  den 
anderen  ein  Anstoß.  Und  da  durch  seine  Bündnisse,  zur  allseitigen 
Selbsterhaltung  geschlossen,  ein  Mitteleuropa  in  die  Erscheinung  trat, 
so  gilt  nun  diesem  der  Angriff  der  Gegner  und  ihres  Imperialismus. 
So  stehen  wir  in  einem  Kampfe  wie  Preußen  1756.  Wir  erhoffen  von 
ihm  die  Bestätigung  auch  unserer  Stellung  und  Gesinnung  als  Welt- 
volk. Auch  die  Erhöhung  unserer  inneren  Kraft  erhoffen  wir  von 
ihm;  es  ist,  sagt  Marcks,  unser  Perserkrieg.  IV.  M. 

Der  Vortrag,  den  A.  Luschin  von  Ebengreuth  am  31.  Mai 
1916  in  der  kaiseriichen  Akademie  der  Wissenschaften  gehalten  und 
der  nun  unter  dem  Titel  „Österreichs  Anfänge  in  der  Adria"  (Wien 
1916.  Aus  der  k.  k.  Hof-  und  Staatsdruckerei.  56  S.  kl.  8»)  gedruckt 
voriiegt,  ruht  auf  einem  ausgebreiteten  Studium  des  gesamten  noch 
ungedruckten  und  gedruckten  Quellenmaterials  und  der  einschlägigen 
älteren  und  neueren  Literatur,  über  die  in  den  reichen  Anmerkungen 
des  Anhanges  alle  wünschenswerten  Auskünfte  geboten  werden.  So 
klein  an  Umfang  das  Büchlein  ist,  so  lehrreich  ist  sein  Inhalt,  denn 
er  verbreitet  sich  über  seit  den  Babenbergern  verfolgte  Politik  Öster- 
reichs in  der  Richtung  gegen  Friaul,  die  dann  durch  die  Habsburger 
bis  auf  Rudolf  IV.  festgehalten  wurde,  bespricht  die  Gewinnung  der 
ersten  Stützpunkte  an  der  Adria:  Duino,  Fiume  (1366)  und  Triest 
(1382)  und  die  Erwerbung  der  istrischen  Küste;  dabei  wird  begreif- 
licherweise der  Bestrebungen  und  Erwerbungen  Venedigs  gedacht, 
die  allmählich  bis  1331  die  ganze  Westküste   Istriens  gewinnen  und 


Alte  Geschichte.  519 

danach  trachten,  den  Freistaat  Triest  in  ihre  Gewalt  zu  bekommen, 
weil  ihnen  dieser  ein  unerwünschter  Teilnehmer  am  wirtschaftlichen 
Wettbewerb  in  der  Adria  zu  werden  drohte.  Wie  sich  die  Stadt  frei- 
willig der  österreichischen  Herrschaft  unterwarf  und  bereits  während 
des  ersten  Jahrhunderts  dieser  Herrschaft  zur  Blüte  gelangte,  die  Lei- 
stungen der  Stadt  in  der  bewegten  Zeit  der  ersten  Jahrzehnte  des 
16.  Jahrhunderts,  die  vielen  Kriege  und  Reibungen  zwischen  Österreich 
und  Venedig,  die  auf  die  Hebung  des  Schiffsverkehrs  gerichteten  Be- 
strebungen Österreichs  im  17.  und  18.  Jahrhundert:  all  das  wird  in 
streng  sachgemäßer  Weise  dargelegt,  so  daß  die  kleine  Schrift  bei 
aller  Knappheit  als  die  beste  Arbeit  dieser  Art  zu  bezeichnen  ist.  Die 
Worte,  mit  denen  der  Direktor  des  österreichischen  Lloyd,  Frank- 
furter, über  die  Zukunft  der  österreichischen  Schiffahrt  gesprochen 
(österreichische  Rundschau,  15,  Mai  1916)  und  mit  denen  der  Ver- 
fasser schließt,  verdienen  auch  hier  angeführt  zu  werden:  „Die  Adria 
ist  für  uns  der  einzige  Weg,  der  in  die  Welt  führt.  Diesen  Weg  frei 
zu  halten  ist  das  einzige  Ziel  unserer  Adriapolitik,  die  vor  dem  Kriege 
ebenso  friedlich  war,  wie  sie  es  nach  dem  Kriege  sein  wird.  Wir  wollen 
keine  Vorherrschaft,  wir  wollen  keiner  Nation  das  Recht,  sich  kulturell 
und  wirtschaftlich  zu  entwickeln,  einschränken,  aber  wir  beanspruchen 
auch  für  uns  den  freien  und  ungehinderten  Weg  in  die  Welt." 

Graz.  J.  Loserth. 

Neue  Bücher:  Jeudwine,  The  manufacture  of  historical  material. 
An  elementary  study  in  the  sources  of  story.  {London,  Williams  and 
Norgate.  6  sh.)  —  Seipel.  Nation  und  Staat.  (Wien,  Braumüller. 
4  M,)  —  Langer,  Intellektualmythologie,  Betrachtungen  über  das 
Wesen  des  Mythus  und  der  mythologischen  Methode.  (Leipzig,  Teub- 
ner.  10  M.)  —  v.  Below,  Die  deutsche  Geschichtschreibung  von  den 
Befreiungskriegen  bis  zu  unseren  Tagen.  (Leipzig,  Quelle  &  Meyer. 
3,50  M.)  —  Gosses  en  Japikse,  Handboek  tot  de  staatkundige  ge- 
schiedenis  van  Nederland.    {'sGravenhage,  Nijhoff.) 


Alte  Geschichte. 

Wir  erwähnen,  daß  die  umgearbeitete  6,  Auflage  von  Teuffels 
Geschichte  der  römischen  Literatur  (vgl,  H,  Z.  114,  201)  nunmehr  ab- 
geschlossen vorliegt.  Der  erst  jetzt  veröffentlichte  1.  Band  (Leipzig  u. 
Berlin,  Teubner.  1916.  IX  u.  540  S.  8  M.)  behandelt  die  Literatur 
der  Republik  und  verdankt  es  fast  ausschließlich  der  Arbeitskraft 
W.  Krolls,  wenn  er  eine  auf  der  Höhe  der  Forschung  stehende  Über- 
sicht bis  zur  augusteischen  Zeit  gewährt.  Es  sei  daran  erinnert,  daß 
der  eigentlichen  Geschichtsdarstellung,  die  mit  einer  auch  die  politi- 


520  Notizen  und  Nachrichten. 

sehen  Verträge  und  historischen  Aufzeichnungen  genauer  berücksich- 
tigenden „Vorgeschichte"  (bis  240  v.  Chr.)  einsetzt,  ein  „allgemeiner 
und  sachlicher  Teil"  vorausgeht;  hier  findet  sich  (S.  59 — 70)  ein  frei- 
lich etwas  äußerlich  gehaltener  und  weniger  an  sich  als  durch  die  in- 
haltreichen Anmerkungen  wertvoller  Abriß  der  Geschichte  der  römi- 
schen Geschichtschreibung. 

In  den  Neuen  Jahrbüchern  1917,  1  für  das  klassische  Altertum 
finden  sich  höchst  lesenswerte  Aufsätze  von  dem  verstorbenen  P. 
Wen  dl  and:  Philologie  und  Geschichte,  und  Fr.  Boll:  Astronomische 
Beobachtungen  im  Altertum. 

In  der  Zeitschrift  des  Historischen  Vereines  für  Steiermark  15 
<1917)  findet  sich  ein  sehr  anregender  und  fruchtbarer  Aufsatz  von 
Ad.  Bauer:  Alexandrien  und  die  Verbreitung  christlicher  Weltchro- 
niken, worin  überzeugend  die  Abhängigkeit  der  späten  Weltchroniken 
der  Byzantiner,  Armenier,  Syrer  u.  a.  von  Alexandria  dargetan  wird. 

In  der  Zeitschrift  für  vergleichende  Sprachforschung  47,  314 
ist  eine  lesenswerte  und  fördernde  Arbeit  von  G.  Her  big:  Zur  Vor- 
geschichte der  römischen  Pontifices. 

In  den  Sitzungsberichten  der  preußischen  Akademie  der  Wissen- 
schaften 1917,  2/4  veröffentlicht  O.  Hirschfeld  einen  Bericht  über 
die  Sammlung  der  lateinischen  Inschriften,  der  eingehender  als  sonst 
wohl  derartige  Berichte  zu  sein  pflegen,  ist  und  gelesen  zu  werden 
verdient. 

Sorgfältige  und  ersprießliche  Untersuchungen  über  die  Familie 
des  Kaisers  Trajan  bietet  J.  Rubel  in  Zeitschrift  für  die  österrei- 
chischen Gymnasien  67,  7. 

Für  alle,  welche  W.  A.  Oldfathers  Studien  über  Lokrische  Topo- 
graphie gelesen  haben,  kommt  ein  neuer  Aufsatz  desselben  Verfassers 
in  Betracht,  worin  er  Nachträge  bietet:  Addendato LarymnaandCyrtom 
in  American  Journal  of  archaeology.    N.  S.  20,  3. 

In  den  Rendiconti  des  /?.  Istituto  Lombardo  di  scienze  e  lettere 
1916,11/12  ist  beachtenswert  der  Aufsatz  von  G.  Oberziner:  La 
Naumachia  d'Alalia  e  le  tradizioni  storiche  de' Focei  d'Occidente. 

In  der  Zeitschrift  für  die  neutestamentliche  Wissenschaft  und 
die  Kunde  des  Urchristentums  17,  4  ist  ein  Aufsatz  von  G.  Krüger: 
Zur  Frage  nach  der  Entstehung  des  Märtyrertitels,  der  die  in  letzter 
Zeit  vielfach  erörterte  Frage  zu  fördern  wohl  imstande  ist. 

Aus  der  Theologischen  Quartalschrift  98,3  merken  wir  an  P. 
Rießler:  Zur  Lage  des  Gottesgartens  bei  den  Alten,  wobei  hier  be- 
sonders der  Abschnitt  über  den  Alexanderroman  in  Betracht  kommt; 
W.   Koch:  Der  authentische  Charakter  der  Vulgata  im   Lichte  der 


Alte  Geschichte.  521 

Trienter  Konzilsverhandlungen  (Schluß)  und  A.  Eberharter:  Der 
Brudermord  Kains  im  Lichte  der  ethnologischen  und  religionsgeschicht- 
lichen Forschung, 

Alexander  der  Große,  ein  Kriegsvortrag  von  Walter  Otto. 
(Marburger  Akademische  Reden  Nr.  34.  Marburg,  Elwertsche  Verlags- 
buchhandlung. 1916.  42  S.  80  Pf.)  —  Die  hier  gebotene  Würdigung 
Alexanders  verbindet  in  glücklichster  Weise  Gemeinverständlichkeit 
mit  wissenschaftlicher  Gediegenheit.  Ausgehend  von  der  Gegenwart 
weist  sie  an  Alexanders  Verschmelzungspolitik  den  auch  damals  be- 
stehenden Kampf  zwischen  Staatsidee  und  Nationalitätsprinzip  nach 
und  behandelt  im  Anschluß  daran  die  Leistungen  für  die  innere  Aus- 
gestaltung des  Weltreichs,  wobei  Alexander  als  „ein  wahrhaft  großer 
Volkswirt"  erscheint.  Dagegen  bezeichnet  Otto  die  Weltherrschafts- 
pläne als  staatsmännische  Fehler.  Doch  der  Feldherrnruhm  bleibt  be- 
stehen. Der  Vortrag  schließt  mit  einer  Betrachtung  des  Menschen: 
„Es  muß  ein  ganz  eigenartiger  Zauber  von  Alexander  auf  die  Mitwelt 
ausgegangen  sein,  der  vor  allem  aus  der  Bewunderung  seiner  über- 
menschlichen Größe  zu  erklären  ist.  Es  schaudert  uns  Nachlebende 
jedoch  auch  ein  wenig,  wenn  wir  an  die  denken,  die  unter  dem  Schatten 
des  Titanen  gelebt  haben.  Jedenfalls  aber  gibt  es  wenige  große  Männer 
in  der  Geschichte,  bei  denen  uns  der  Wert  überragender  Führer  für 
das  Geschick  der  Menschheit  so  deutlich  zum  Bewußtsein  kommt  wie 
bei  ihm."  Geizer. 

L.  Pareti,  Studi  Siciliani  e  Italioti,  Florenz,  Libreria  inter- 
nazionale,  B.  Seeber.  1914.  (Leipzig,  Otto  Harrassowitz.  356  S. 
3  Tafeln.  12  L.)  —  Die  hier  vereinigten  Abhandlungen  bilden  zusam- 
men den  1.  Band  eines  von  De  Sanctis  und  Pareti  geplanten  Sammel- 
werks „Contributi  alla  Scienza  deU'Antichitä".  Pareti  ergreift  das  Wort 
zu  einer  Reihe  von  Fragen  aus  der  älteren  Geschichte  des  griechischen 
Siziliens.  Wenn  auch  infolge  der  mangelhaften  Überlieferung  eine 
sichere  Entscheidung  meist  nicht  gefunden  werden  kann,  so  gewähren 
diese  Aufsätze  dank  dem  besonnenen  Scharfsinn  des  Verfassers  und 
ihrer  klaren  Argumentation  doch  mannigfache  Belehrung  und  An- 
regung. Abhandlung  I  hat  die  Geschichte  des  spartanischen  Prinzen 
Dorieus,  der  in  den  Jahrzehnten  vor  und  nach  500  sich  auf  Sizilien 
eine  Herrschaft  zu  gewinnen  versuchte,  zum  Gegenstand.  Pareti  tritt 
mit  guten  Gründen  für  eine  längere  Dauer  dieser  Unternehmungen 
ein  als  sie  seinerzeit  Niese  angenommen  hatte.  II:  Die  Chronologie 
der  Tyrannen  Hippokrates  und  Gelon  in  Gela  und  Syrakus  am  An- 
fang des  5.  Jahrhunderts.  III  handelt  über  den  Zeitpunkt,  da  Zankle 
in  Messene  umgenannt  wurde.  IV  gibt  auf  Grund  der  gewonnenen 
Ergebnisse  die  Vorgeschichte  der  Schlacht  von  Himera,  V  behandelt 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  i.  Folge  21.  Bd.  34 


522  Notizen  und  Nachrichten. 

die  Lebenszeit  des  Theognis  (im  Sinne  des  späteren  Ansatzes  im  5.  Jahr- 
hundert), VI  die  Schlacht  von  Himera  (479),  VII  die  Weihgeschenke 
der  Deinomeniden  in  Delphi,  VIII  die  Geschichte  und  Topographie 
von  Gela.  IX  zeigt  am  Beispiel  von  Selinus,  wie  eine  Geschichte  der 
Kulte  auf  Sizilien  anzulegen  wäre.  In  X  wird  (polemisch  gegen  Pais) 
die  Stelle  Strabos  über  die  Etymologie  von  Rhegion  interpretiert. 
XI  behandelt  die  Chronologie  der  Koloniegründungen  und  XII  die 
sizilischen  Ortschaften,  in  deren  Namen  Hyble  vorkommt.     Geizer. 

Neue  Bücher:  Preisigke,  Antikes  Leben  nach  d.  ägypt.  Papyri. 
(Leipzig,  Teubner.  1,20  M.)  —  Woodward,  Christianity  and  natio- 
nalism  in  the  later  Roman  empire.   {London,  Longmans,  Green  &  Co.) 

Römisch-germanische  Zeit  und  frühes  Mittelalter  bis  1250. 

Im  Römisch-germanischen  Korrespondenzblatt,  9.  Jahrg.,  Nr.  6, 
das  mit  diesem  Hefte  sein  Erscheinen  einstellt  (vgl.  H,  Z.  117,  S.  346), 
berichten  F.  Wagner  über  ein  „frühhallstättisches  Umengrabfeld"  bei 
Englschalking  (B.-A.  iVlünchen),  und  P.  Rein  ecke  über  einen  römi- 
schen Scherbenfund  in  der  Altstadt  Passau.  A.  Günther  bespricht 
ein  römisches  Bronzegewicht  in  Form  einer  kleinen  Büste,  das  bei 
Baggerarbeiten  in  der  JVlosel  an  der  Stelle  der  alten  Römerbrücke  bei 
Coblenz  gefunden  wurde.  E.  Krüger  macht  Mitteilungen  von  einem 
kirchlichen  Bau  aus  spätrömischer  oder  frühfränkischer  Zeit  am  Platz 
des  abgebrochenen  Maximinklosters  in  Trier,  und  A.  Riese  steuert 
einige  Bemerkungen  zur  Entwicklung  der  Namensform  Worms  aus 
Bormitomagus  bei.  Außerdem  wird  ein  Bericht  von  P.  Goeßler  über 
die  Reste  eines  anscheinend  der  Zeit  von  120 — 140  n.  Chr.  zuzuwei- 
senden Mosaikfußbodens  aus  dem  altrömischen  Rottweil  abgedruckt. 

In  der  Zeitschrift  der  Savigny-Stiftung  für  Rechtsgeschichte  37, 
Kanonistische  Abteilung  6,  verwertet  W.  Levison  eine  von  G.  Morin 
veröffentlichte  Predigt  Augustins,  in  der  dessen  Auffassung  deutlich 
und  unmittelbar  ausgesprochen  wird,  „zur  Vorgeschichte  der  Bezeich- 
nung Servus  servorum  Dei".  Derselbe  macht  ebenda  Mitteilungen  aus 
einer  Aufzeichnung  über  Kölner  Kirchen  auf  dem  Vorsatzblatt  einer 
Handschrift  des  British  Museum  in  London,  die  nach  Schrift  und  In- 
halt dem  Ende  des  11.  Jahrhunderts  angehören  dürfte.  Es  handelt 
sich  anscheinend  um  das  Fragment  eines  Verbrüderungsbuches. 

Gertrud  Brüning,  Adamnans  Vita  Columbae  und  ihre  Ablei- 
tungen. Zeitschr.  f.  Celt.  Philol.  11,  213—304,  auch  Bonner  Diss. 
(Halle  1916).  —  Die  Vita  des  Piklenapostels,  die  neben  der  Lebens- 
beschreibung des  h.  Patricius  durch  Muirchu  Maccu-Machtheni  an 
der  Spitze  der  irischen  Hagiographie  steht,  wird  genau  nach  Quellen 


Frühes  Mittelalter.  523 

und  späterer  Benützung  untersucht,  am  Stil  Adamnans  nachgewiesen, 
welche  lateinische  Schriften  er  gekannt  hat,  und  gezeigt,  daß  sich  die 
Zeit  der  Entstehung  nicht  enger  als  auf  688 — 704  bestimmen  läßt. 
Wichtig  ist  der  Nachweis,  daß  alle  anderen  Berichte  über  Columba 
(außer  etwa  der  irischen  Amra)  auf  diese  Vita  zurückgehen,  nament- 
lich daß  Cummene(us),  auf  den  sich  wohl  nicht  Adamnan  selber,  son- 
dern sein  Nachfolger  Dorbbene(us),  der  Schreiber  der  Schaff  hauser 
Hs.,  beruft  (S,  260  A.  1),  nicht  erhalten  ist  und  Traktate,  die  ihm  hie 
und  da  zugeschrieben  worden  sind,  nur  Auszüge  aus  Adamnan  dar- 
steilen. Einer  derselben,  der  bisher  mangelhaft  herausgegeben  war, 
ist  als  Anhang  gedruckt. 

jBonn.  /?.   Thurneysen. 

Richard  Koebner,  Venantius  Fortunatus,  seine  Persönlichkeit 
und  seine  Stellung  in  der  geistigen  Kultur  des  merowingischen  Reiches. 
(Beiträge  zur  Kulturgeschichte  des  JVlittelalters  und  der  Renaissance, 
herausgegeben  von  Walter  Goetz.)  (Berlin  und  Leipzig  1915.)  — 
Der  Wert  des  Buches  liegt  darin,  daß  eine  mit  den  Gesetzen  des  dich- 
terischen Schaffens  vertraute  Persönlichkeit  den  Versuch  macht,  über 
die  einzelnen  Tatsachen,  welche  die  Forschung  zu  dem  Leben  und 
Wirken  des  Fortunatus  erschlossen  hat,  zu  einem  Bilde  der  Gesamt- 
persönlichkeit vorzudringen.  Wo  wir  über  den  JVlenschen  nur  den 
Dichter  befragen  können,  wird  es  immer  sehr  schwer  oder  vielmehr 
unmöglich  sein,  ganz  sicher  zwischen  dem  Ausdruck  echter,  starker, 
langanhaltender  Leidenschaft  und  den  Tönen  augenblicklicher  Auf- 
wallung des  Gefühls  zu  unterscheiden,  und  die  Schwierigkeiten  wachsen 
noch,  wenn  wir,  wie  dies  bei  Fortunat  der  Fall  ist,  eine  sehr  alte  und 
starke  literarische  Tradition  in  Anschlag  bringen  müssen,  welche  zu- 
gleich die  Diktion  in  Fesseln  schlägt  und  der  Routine  das  Handwerk 
erleichtert  (davon  zu  schweigen,  daß  die  Verbindung  von  Rhetorik 
und  echtem  Gefühl,  wie  sie  sich  in  der  Literatur  der  romanischen 
Völker  von  der  römischen  Kaiserzeit  bis  auf  d'Annunzio  immer  wieder 
findet,  dem  Deutschen  restlos  wahrscheinlich  niemals  zugänglich  sein 
wird).  Der  Gefahr,  Worte  des  Poeten  manchmal  allzu  wörtlich  zu 
nehmen,  ist  denn  auch  Koebner  so  wenig  entgangen,  wie  dies  Wilhelm 
Meyer  stets  möglich  war.  Nicht  jedes  seiner  Urteile  möchte  ich  unter- 
schreiben und  nicht  jede  seiner  Folgerungen  mir  zu  eigen  machen. 
Aber  als  Ganzes  genommen  ist  das  Buch  mehr  als  nur  eine  anerken- 
nenswerte Erscheinung:  Fortunatus  ist  einer  der  wenigen  lateinischen 
Dichter  des  Mittelalters,  bei  denen  die  manchmal  spröde  Hülle  nicht 
verhindert  hat,  daß  ein  wirklich  geschlossenes  und  lebensvolles  Bild 
ihrer  Persönlichkeit  entworfen  werden  konnte.  Je  länger  die  Geschichte 
der  lateinischen  Literatur  noch  auf  Einzelforschung  und  Behandlung 

34* 


524  Notizen  und  Nachrichten. 

einzelner  Persönlichkeiten  angewiesen  sein  wird,  und  je  öfter  sie  glaubt, 
dieser  Aufgabe  schon  durch  die  kritische  Feststellung  von  Tatsachen 
im  äußerlichen  Sinne  nachgekommen  zu  sein,  desto  größer  ist  das 
Verdienst  von  Büchern  wie  das  vorliegende.  S.  Hellmann. 

Im  Historischen  Jahrbuch  (der  Görres- Gesellschaft),  37.  Bd., 
4.  Heft  weist  W.  Levison,  Noch  einmal  Ermoldus  Nigellus  und  das 
Formularbuch  von  Saint-Denis,  die  unmethodischen  und  ohne  genügende 
Sachkenntnis  vorgebrachten  Vermutungen  von  JVI.  Buchner  (vgl.  H.  Z. 
114,  S.  667  und  117,  S.  349)  mit  durchschlagenden  Gründen  zurück. 

Die  (Schweiz-) Freiburger  Dissertation  Stanislaus'  von  Halko, 
,,Richeza,  Königin  von  Polen,  Gemahlin  Mieczyslaws  II," 
(Freiburg,  Schweiz,  Kommissionsverlag  der  Universitäts-Buchhandlung 
O.  Gschwend.  1914),  gibt  nach  einer  zum  Teil  überflüssigen  Übersicht 
über  die  wichtigsten  Quellen  in  acht  Kapiteln  eine  ausführliche  Dar- 
stellung des  Lebens  Richezas  und  eine  Zeichnung  ihres  Charakters. 
Bei  dem  geringfügigen  Quellenstoff  sucht  sich  der  Verfasser  durch 
Heranziehung  unsicherer  Kombinationen  zu  helfen  und  verwendet  sie 
als  Grundlagen  für  neue  Schlüsse,  was  besonders  bei  Besprechung  des 
Ehelebens  der  Königin,  ihrer  Geschicke  während  der  Vertreibung  Mieczys- 
laws und  der  Zeichnung  ihres  Charakterbildes  zutage  tritt.  Die  Arbeit 
>väre  auf  ein  geringeres  Maß  unter  dem  Hinweis,  daß  die  uns  bekannten 
Quellen  eine  Einsicht  in  die  Dinge  versagen,  zu  beschränken  gewesen. 
Da  wo  er  politische  und  kriegerische  Vorgänge  schildert,  begnügt  er 
sich  mit  einer  ziemlich  kritiklosen  Zusammenstellung  der  Quellen, 
ohne  die  einschlägige  Hilfsschriftenliteratur  genügend  zu  Rate  zu 
ziehen.  Das  gilt  nicht  bloß  von  deutschen,  sondern  auch  von  Werken 
französischer  Herkunft  wie  von  R,  Parisot,  Les  origines  de  la  Haute- 
Lorraine.  Paris  1909.  Die  Stellung  Ezzos  am  Hofe  Theophanus  ist 
u,  E.  überschätzt,  da  die  Belege  hierfür  einem  Lobredner  der  Familie 
entstammen.  Die  Angaben  über  das  Alter  und  die  Heirat  Mathildens, 
der  Tochter  Ottos  IL,  und  Theophanus  dürften  der  Richtigstellung 
bedürfen ;  die  Angabe  der  Fundatio  monasterii  Brunwilarensis  ist  nicht 
dahin  zu  deuten,  daß  die  Eheschließung  noch  bei  Lebzeiten  Theophailus 
stattfand.  Der  Ausdruck  matre  volente  sagt  nur,  daß  Theophanu  dem 
Vermählungsplan  geneigt  und  bei  der  Verlobung  noch  am  Leben  war. 
Einige  andere  Irrtümer  wollen  wir  übergehen.  Besser  sind  die  Kapitel 
VI  und  VIII,  sowie  die  vier  Exkurse  des  Anhangs  geraten;  hier  konnte 
der  Verfasser  sich  auf  eine  reichlicher  fließende  Überlieferung  stützen, 
auch  leistete  ihm  die  Kenntnis  der  polnischen  Hilfsschriften  gute 
Dienste.  Störend  wirken  mehrfache  Wiederholungen,  die  durch  ein 
strafferes  Zusammenfassen  der  Sache  hätten  vermieden  werden  können. 

Graz.  J.  Loserth. 


Frühes  Mittelalter.  525 

In  der  Historischen  Viertel jahrschrift  18, 1.  und  2.  Heft  kommt 
R  Holtzmann  noch  einmal  auf  „die  treuen  Weiber  von  Weinsberg" 
zurück  und  geißelt  mit  Recht  die  methodischen  Verirrungen  und  man- 
gelnde Sachkenntnis  pseudokritischer  Phantastik,  die  sich  in  den 
letzten  Jahren  mit  dieser  Frage  beschäftigt  hat.  Er  stützt  hier  den 
schon  früher  von  ihm  im  Anschluß  an  Scheffer-Boichorst  versuchten 
Nachweis,  daß  die  Erzählung  der  Kölner  Königschronik  aus  den  Pader- 
borner Annalen  stammt  und  macht  das  soweit  wahrscheinlich,  wie  es 
möglich  ist.  Zu  absoluter  Sicherheit  läßt  sich  freilich  mit  unseren 
Mitteln  nicht  gelangen.  Da  aber  sachlich  gegen  die  Geschichte  keinerlei 
begründete  Einwendungen  zu  erheben  sind,  sie  vielmehr  durchaus 
dem  Geist  der  Zeit  und  der  beteiligten  Personen  entspricht,  hat  die 
gesunde  methodische  Kritik  keinen  Anlaß,  ihre  Glaubwürdigkeit  zu 
bezweifeln,  zumal  mit  der  Möglichkeit  einer  stärkeren  quellenmäßigen 
Beglaubigung  so  sehr  zu  rechnen  ist.  Geschichtliches  Wissen  ist  nun 
einmal  von  der  Überlieferung  abhängig.  Gewiß  ist  an  dieser  scharfe 
und  eindringende  Kritik  zu  üben,  aber  nicht  mit  unfruchtbarem  Kriti- 
kastern gerade  das,  worin  uns  das  warme  Leben  der  Vergangenheit 
unmittelbar  und  greifbar  entgegentritt,  schon  deshalb  zu  streichen, 
weil  es  von  der  Schablone  nicht  erfaßt  wird.  Wer  gesunde  Quellen- 
kritik üben  will,  darf  nicht  mit  dem  leeren  Schema  einer  starren  Me- 
thode arbeiten,  sondern  muß  sich  vor  allem  in  das  Wesen  der  Ver- 
hältnisse und  Personen  hineinfühlen,  um  aus  der  inneren  geistigen 
Gemeinschaft  selbst  die  Maßstäbe  sich  erwachsen  zu  lassen,  mit  denen 
der  Gegenstand  zu  messen  ist.  Wer  nicht  in  den  Dingen  lebt,  die  er 
zu  behandeln  unternimmt,  mit  ihnen  innerlich  eins  wird,  wird  nie 
das,  was  wirklich  gewesen,  der  Gegenwart  neu  zu  wahrem  Leben  er- 
wecken können.  Holtzmanns  Klage,  daß  die  strenge  Schule  einer 
gewissenhaften  und  methodischen  Quellenbehandlung  als  unerläßlicher 
Vorbedingung  jeder  historischen  Arbeit  sich  zu  lockern  beginne,  ist 
nur  zu  berechtigt.  Seine  umsichtige  und  solide  Arbeit  wird  hoffentlich 
das  Gefühl  für  den  Unterschied  zwischen  den  Ergebnissen  wissen- 
schaftlicher Arbeit  und  den  Spottgeburten  willkürlich  schaltender 
Phantastik  neu  schärfen  und  dazu  beitragen,  den  Wagen,  der  zum 
Abgrund  rollt,  aufzuhalten,  ehe  es  zu  spät  ist.  ^   /// 

Heinrich  Schrörs,  Untersuchungen  zu  dem  Streite  Kaiser 
Friedrichs  L  mit  Papst  Hadrian  IV.  (1157—1158),  Freiburg  i.  B. 
1916,  72  S.,  4°,  3  M.  (zuerst  als  Bonner  Universitätsprogramm  zum 
3.  August  1915  gedruckt).  —  Eine  sehr  bemerkenswerte  Arbeit,  die 
das  Verständnis  der  von  Rahewin  Gesta  Fr  id.  III,  1 — 24  erzählten 
Vorgänge  wesentlich  fördert,  wenn  sie  schließlich  auch  die  Tragweite 
ihrer  neugewonnenen  Erkenntnis  etwas   überschätzt  und   das  hoch- 


526  Notizen  und  Nachrichten. 

politische  Vorgehen  Hadrians  IV.,  das  zu  dem  Konflikt  in  Besangon 
1 157  führte,  zu  sehr  rein  kirchlichbegründet  und  von  dem  Folgenden 
isoliert.  Schrörs  berichtigt  zunächst  die  Erklärung  Zeumers  von 
paria  litterarum  dahin,  daß  es  sich  um  Schreiben  handelt,  die  irgend- 
wie untereinander  zusammenhängen  und,  wenn  nicht  gleichlautend 
sind,  ein  oder  mehrere  gemeinsame  Merkmale  haben;  durch  die  rich- 
tige Deutung  der  bisher  nie  scharf  und  zum  Teil  unrichtig  aufge- 
faßten Ausdrücke  altaria  denudare,  vasa  domus  Dei  asportare,  cruces 
excoriare  auf  die  Verhängung  des  örtlichen  Interdikts  gewinnt  er 
Aufschluß  über  den  Inhalt  der  scedulae  sigillatae  ad  arbitrium  eorum 
(der  Legaten)  adhuc  scribendae  und  der  die  gleichen  Angelegenheiten 
betreffenden  paria  litterarum:  es  handelt  sich  um  eine  Kirchenvisi- 
tation größeren  Stils,  die  der  Papst  in  Deutschland  nötigenfalls  mit 
dem  vollen  ihm  zu  Gebote  stehenden  Strafapparat  durchführen 
wollte,  um  ,,die  Ausrottung  der  Simonie,  die  sittliche  Besserung  des 
Klerus  und  die  Vernichtung  einer  der  Wurzeln  dieser  beiden  Übel 
durch  besseren  Schutz  für  die  niederen  Benefizien".  Indem  Schrörs 
diese  päpstlichen  Bestrebungen  nach  rückwärts  verfolgt,  wird  durch 
ihn  eine  wichtige  Seite  des  kirchenpolitischen  Charakters  der  Mitte 
des  12.  Jahrhunderts,  besonders  auch  der  Legation  von  1153,  klarer 
und  schärfer  als  früher,  wo  man  mehr  die  nach  vorwärts  weisenden 
Spuren  hervorhob,  herausgearbeitet  und  in  sorgsamer  Einzelprüfung 
manche  Berichtigung  älterer  Darstellungen  beigesteuert,  mitunter 
freilich  auch  entschiedener  Widerspruch  herausgefordert.  Die  Pläne 
der  kirchlichen  Reformpartei  und  des  in  ihrem  Sinne  einschreitenden 
Papsttums,  sagt  Schrörs,  richteten  sich  nicht  direkt  gegen  das  poli- 
tische Ziel  des  Kaisers,  durchkreuzten  aber  tatsächlich  seine  Absichten, 
die,  auf  „Freiheit  der  Kirchen  und  Wiederherstellung  dieser  Freiheit'* 
gerichtet,  für  Bistümer  und  Klöster  größere  Selbständigkeit  gegen- 
über dem  Papste  wünschten.  Der  Kaiser  war  sich  hierin  mit  den 
Männern  seines  Vertrauens  völlig  eins.  Man  habe  auch  damals  an 
dem  großen  Plan  gearbeitet,  das  Papsttum  unter  die  kaiserliche  Hoheit 
zu  beugen  —  wofür  Schrörs  freilich  kaum  den  Beweis  erbringen 
könnte  — ,  und  deshalb  für  den  Augenblick  keine  politischen  Ver- 
handlungen mit  den  Legaten  über  Italien  gewünscht;  daher  sei  man 
von  vornherein  darauf  ausgegangen,  der  unerwünschten  Gesandtschaft 
ein  rasches  Ende  zu  bereiten.  Das  verhängnisvolle  Wort  beneficia 
sei  von  Hadrian,  der  auf  den  deutschen  Episkopat  rechnete,  wirklich 
als  „Lehen"  gemeint  gewesen,  um  durch  die  Proklamierung  des 
Prinzips  der  päpstlichen  Oberherrlichkeit  über  den  Kaiser  eine  gün- 
stige Position  für  den  zu  erwartenden  Kampf  um  die  Durchführung 
der  Kirchenverbesserung  zu  gewinnen,  ebenso  wie  die  Gefangennahme 
Eskils  von  Lund  nur  aufgegriffen  sei,  um  den  Kaiser  ins  Unrecht 


IFrühes  Mittelalter.  527 

zu  setzen  und  gegen  ihn  Stimmung  zu  machen.  „Das  päpstliche 
Schreiben  war  mit  raffinierter  diplomatischer  Kunst  entworfen,  was 
beweist,  daß  es  sich  um  einen  wichtigen  Vorstoß  handelte."  Diesen 
Hieb  hat  Reinald  von  Dassel  offensiv  pariert.  Aber  es  war  nur  ein 
wohlberechneter,  vernichtender  Schlag  gegen  die  päpstliche  Kirchen- 
reform in  Deutschland,  kein  beabsichtigter  allgemeiner  Bruch  mit  der 
Kurie.  So  sieht  Schrörs  in  dem  Tage  von  Besangon,  dessen  Be- 
deutung durch  ihn  noch  verstärkt  erscheint,  wesentlich  einen  Ab- 
schluß. Das  ist  er  gewiß  auch  gewesen;  daß  er  aber  auch  sachlich 
zugleich  als  Vorspiel  des  kommenden  großen  Kampfes  gewürdigt 
werden  muß,  erhellt  ohne  weiteres,  sobald  man  nicht  mit  Schrörs 
die  politische  Seite  der  Legation  von  1157  ungerechtfertigt  zurück- 
treten läßt.  Daß  diese  Politik  der  Kurie  spottschlecht  war,  da  sie 
sich  über  die  wirklichen  Verhältnisse  völlig  täuschte,  ändert  daran 
nichts.  A.  Hofmeister. 

Fr.  Heyer  stellt  in  der  Zeitschrift  der  Savigny-Stiftungfür  Rechts- 
geschichte 37,  Kanonistische  Abteilung  6,  die  Nachrichten  über  den 
Kanonisten  Petrus  Collivaccinus  von  Benevent,  den  Verfasser  der 
Compilatio  tertia  vom  Jahre  1210,  zusammen,  über  den  in  der  Lite- 
ratur manche  unzutreffende  Angaben  verbreitet  sind.  Er  war  als 
Kardinaldiakon  von  S.  Maria  in  Aquiro  Legat  für  das  Albigenser- 
gebiet  1214  und  1215,  wurde  dann  Kardinalpriester  von  S.  Laurentius 
in  Damaso  und  starb  am  21.  September  1219  oder  1220  als  Kardinal- 
bischof der  Sabina. 

In  der  Zeitschrift  des  Vereins  für  Geschichte  Schlesiens  Bd.  50 
(1916)  weist  Fr.  Lambert  Schulte  O.  F.  M.  („Ist  die  Namensform 
Mieszko  berechtigt?")  in  Ergänzung  von  Ausführungen  Zeißbergs 
gegen  Balzer  und  andere  polnische  Forscher  nach,  daß  der  Name  des 
ersten  christlichen  Polenfürsten  ursprünglich  Misica,  Misico,  Miseco 
lautete.  Daneben  findet  sich  bald  ebenfalls  dreisilbig  Mesico,  Meseco. 
Daraus  entwickelte  sich  allmählich  das  zweisilbige  Mesco,  in  Urkunden 
und  auf  Siegeln  mindestens  seit  Mitte  des  13.  Jahrhunderts;  Miesco 
ist  erst  aus  dem  15.  Jahrhundert  zu  belegen.  Der  angeschlossene  Ver- 
such, mit  Hilfe  der  Namensformen  über  Echtheit  und  Unechtheit  einer 
Reihe  von  Urkunden,  besonders  des  Herzogs  Meseko  von  Oppeln 
(1239 — 1246),  zu  entscheiden,  darf  noch  nicht  als  abschließend  gelten. 

In  der  Zeitschrift  des  Vereins  für  Geschichte  Schlesiens  Bd.  50 
(1916)  weist  Ernst  Maetschke,  „Die  deutsche  Besiedlung  des  Glatzer 
Landes  (eine  Nachprüfung)",  wohl  mit  Recht  die  Anschauung  von 
Bretholz  zurück,  daß  es  sich  unter  Ottokar  II.  nicht  um  eine  plan- 
mäßige Kolonisation  in  größerem  Umfang  durch  Berufung  Deutscher 
aus  der  Fremde,  sondern  nur  um  eine  zeitweilige,  aus  politischen  Ver- 


528  Notizen  und  Nachrichten. 

hältnissen  erklärliche  Begünstigung  wahrscheinlich  adliger  Zuwande- 
rung von  nur  vorübergehender  Bedeutung  handle, 

Lauritz  Weibull,  Liber  census  Daniae.  Kung  Valdemars  Jorde- 
bok.  H.  Hager up's  Forlag,  Köbenhavn  (1916).  168  S.  —  In  dieser 
scharfsinnigen  und  scharf  polemisierenden  Untersuchung  sind  von 
bleibendem  Wert  neben  manchen  Hinweisen  auf  spätere  schwedische 
Verwaltungspraxis  und  -Akten  die  Bemerkungen  über  den  Codex  Hol- 
miensis  A  41  aus  dem  späteren  13.  Jahrhundert,  in  der  Kgl.  Bibliothek 
in  Stockholm,  in  dem  uns  die  als  „König  Waidemars  (II.)  Landbuch" 
bezeichneten,  für  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  Dänemarks  im 
früheren  Mittelalter  grundlegenden  Aufzeichnungen  vorliegen.  Weibull 
zeigt,  von  einer  älteren  Beobachtung  Oluf  Nielsens  ausgehend,  daß 
die  heutige  Reihenfolge  der  Stücke  in  der  Handschrift  nicht  die  ur- 
sprüngliche ist.  Vielmehr  gehören  die  Lagen  2 — 5,  18,  6 — 7  in  dieser 
Reihenfolge  zusammen,  d.  h.  das  sog.  „Hauptstück,  Krongutliste, 
Inselliste,  Winternachtquartierliste,  Hallandliste  mit  ihren  Zusätzen, 
Häkon  Palnesens  Liste,  Falsterliste,  Lälandliste,  Fehmarnliste,  Ein- 
künfteliste, kleinere  und  größere  Estlandsliste".  Das  „Landbuch"  ist 
also  nicht  als  Teil  einer  Handschrift,  sondern  als  eine  Handschrift 
für  sich  auf  uns  gekommen.  Auch  in  dem  Rest  findet  er  nach  dem 
Zusammentreffen  von  Beginn  einer  neuen  Lage  und  eines  neuen  Stückes 
mehrere  ursprünglich  selbständige  Teile.  Doch  sei  alles  in  derselben 
Schreibstube,  der  dänischen  Reichskanzlei,  entstanden,  und  zwar  aus 
rein  praktischem  Interesse.  Leider  hat  Weibull  anscheinend  die  Hand- 
schrift selber  nicht  benützen  können,  und  wenn  ihm  auch  die  in  Kopen- 
hagen davon  hergestellten  Photographien  zu  Gebote  standen,  so  wird 
doch  nur  eine  genaue  Prüfung  der  Handschrift  selber  den  Boden  im  ein- 
zelnen völlig  sichern  und  vielleicht  zu  weiteren,  neuen  Beobachtungen 
und  Schlüssen  führen.  Die  kritische  Untersuchung,  zu  der  Weibull 
von  dieser  Grundlage  aus  vorschreitet,  will  vor  allem  das  Verhältnis 
der  beiden  eingehenderen  Sonderverzeichnisse  für  Hailand  und  Feh- 
marn  und  besonders  des  ersteren,  zu  den  entsprechenden  Partien  des 
„Hauptstückes"  und  den  Charakter  des  „Hauptstückes"  als  Ganzen 
erklären,  da  alle  früheren  Versuche  unbefriedigend  seien.  Aber  die 
neue  Ansicht,  die  Weibull  zu  diesem  Zwecke  entwickelt,  bleibt  eine 
Hypothese,  für  die  ein  Beweis  trotz  der  scheinbar  genauen  Rechnungs- 
aufstellungen nicht  erbracht  ist  und  die  vor  den  verschiedenen  älteren 
Versuchen  nichts  voraus  hat.  Nach  Weibull  ist  das  „Hauptstück"  eine 
1231  für  den  praktischen  Gebrauch  der  obersten  dänischen  Finanz- 
verwaltung aufgestellte  summarische  Übersicht  der  königlichen  Ein- 
künfte während  des  Sommerhalbjahres,  während  die  Hallandliste  eine 
mehr  ins  einzelne  gehende   Übersicht  derselben   Einkünfte  für  das 


Frühes  Mittelalter.  529 

ganze  Jahr  gibt,  deren  einzelne  Posten  Weibull  mit  völliger  Sicher- 
heit auf  Sommer-  und  Winterhalbjahr  verteilen  zu  können  glaubt. 
Die  so  von  Weibull  für  das  Sommerhalbjahr  errechneten  Summen 
stimmen  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  ziemlich  genau  zu  den  summari- 
schen Angaben  des  „Hauptstücks".  Leider  müssen  die  Berechnungen 
Weibulls  mit  soviel  unsicheren  und  willkürlichen  Annahmen  operieren, 
daß  ihnen  jede  Beweiskraft  fehlt.  Mit  guten  Gründen  hat  deshalb 
Kr.  Erslev,  „Valdemars  Jordebog:  Hallandslistan  og  ,Hovedstykket'", 
in  der  dänischen  Historisk  Tidsskrift,  8.  Reihe,  6.  Bd.,  3./4.  Heft  (1916) 
Weibulls  Aufstellungen  in  diesem  Hauptpunkt  rundweg  abgelehnt  und 
diese  seine  Ablehnung  gegenüber  einer  Entgegnung  Weibulls  voll  auf- 
recht erhalten.  Es  ist  in  der  Tat  eine  Neigung,  alles  anders  zu  sehen 
als  die  Vorgänger,  die,  wenn  ich  nicht  irre,  nicht  zum  erstenmal  in  dieser 
Schrift,  des  Verfassers  Gelehrsamkeit  und  Scharfsinn  um  die  besten 
Früchte  ihrer  Mühe  betrügt.  Die  Forschung  wird  sich  mit  seinen 
Aufstellungen  im  einzelnen  immer  ernstlich  auseinanderzusetzen 
haben  und  vielleicht  manche  einzelne  Bemerkung  und  Beobachtung, 
hier  oder  zur  Fehmarnliste,  bei  deren  Besprechung  aber  auch 
gerade  grundlegende  Aufstellungen  den  stärksten  Bedenken  unter- 
liegen, und  zu  den  anderen  Teilen  des  „Landbuches",  als  Gewinn 
buchen  können;  wieweit  das  aber  geschehen  kann,  muß  in  jedem 
einzelnen  Falle  erst  durch  selbständige  Prüfung  von  Grund  aus 
entschieden  werden.  So  können  auch  die  Ausführungen  des  Anhangs 
über  die  Höhe  der  königlichen  Einkünfte  in  Hailand  und  im 
ganzen  dänischen  Reiche  im  Jahre  1232  mit  den  von  den  früheren 
sehr  stark  abweichenden  Berechnungen  über  die  Einwohnerzahl  in 
Hailand  und  die  Höhe  der  Besteuerung  zunächst  nur  als  Material  für 
die  Forschung,  nicht  als  Teil  unserer  Erkenntnis  gelten.  Weibulls 
Schrift  rückt  die  Schwierigkeiten  des  Problems  ins  Licht  und  läßt  an 
den  Schwächen  früherer  Erklärungsversuche  deutlich  werden,  daß 
das  letzte  Wort  hier  noch  nicht  gesprochen  ist.  Einstweilen  aber  wird 
man  im  ganzen,  ohne  sich  für  Einzelheiten  einzusetzen,  Erslevs  Auf- 
fassung dem  neuen  Versuch  gegenüber  durchaus  den  Vorzug  geben 
"Füssen.  ^    Hofmeister. 

In  seinem  Beitrage  „Königsrecht,  Kirchenrecht  und 
Stadtrecht  beim  Aufbau  des  Inquisitionsprozesses"  zur 
Festschrift  für  Rudolf  Sohm  sucht  Richard  Schmidt  seine  in  der 
1902  erschienenen  Arbeit  über  die  Herkunft  des  Inquisitionsprozesses 
aufgestellte  Behauptung  von  dem  Einfluß  der  sizilisch-normannischen 
Gesetzgebung  auf  die  Dekretalen  des  Papstes  Innocenz  III.,  die  den 
Inquisitionsprozeß  ins  Kirchenrecht  einführen,  in  wenn  auch  abge- 
schwächter Form  neuerdings  zu  stützen.    Innocenz  III.  als  Vormünder 


530  Notizen  und  Nachrichtea 

Friedrichs  II.  in  Kenntnis  der  normannisch-sizilischen  Gesetzgebung 
habe  ihr  den  Gedanken  des  Verfahrens  von  Amts  wegen  unter  der 
Voraussetzung  des  Vorhandenseins  eines  Gerüchtes  oder  bösen  Leu- 
mundes entlehnt.  Da  Schmidt,  und  darin  wird  man  ihm  sicher  zu- 
stimmen und  in  der  Aufdeclcung  der  Zusammenhänge  den  Hauptwert 
der  beiden  Arbeiten  sehen,  das  Verfahren  in  Sizilien  gleich  dem  eng- 
lischen auf  das  fränkische  zurückführt,  so  wäre  dieses  auch  als  Wurzel 
der  kirchlichen  Inquisition  zu  betrachten.  Der  Unterzeichnete  hat 
sich  erlaubt,  in  der  Zeitschrift  der  Savigny- Stiftung  für  Rechts- 
geschichte, Germ.  Abt.  25,  348  die  Ansicht  zu  bezweifeln.  Dafür  wird 
er  von  Schmidt  S.  41  f.  n.  3  nach  Gebühr  abgekanzelt.  Doch  wie  er 
glaubt  nicht  ganz  mit  Recht.  Einmal  hat  er  in  der  angezogenen  Stelle, 
wie  sich  bei  nicht  ganz  flüchtiger  Lesung  deutlich  ergibt,  gar  nicht 
behauptet,  daß  der  Inquisitionsprozeß  Innocenz'  III.  aus  der  pur- 
gatio  canonica  erwachsen  sei,  sondern  ausdrücklich  erklärt,  daß  er  im 
Kirchenrecht  etwas  Neues  darstellt  und  die  purgatio  canonica  verdrängt 
hat.  Wohl  aber  hat  er  dort  die  Ansicht  vertreten,  daß  die  Voraus- 
setzung des  bösen  Leumundes  aus  dem  älteren  Kirchenrechte  stamme 
und  an  eine  Beeinflussung  des  Papstes  Innocenz  III.  durch  die  sizi- 
lische  Gesetzgebung  in  diesem  Punkt  nicht  zu  denken  sei.  Die  Gründe 
für  seine  Ansicht  hat  er  auch  angegeben.  Das  Sic  volo  sie  iubeo  ist 
nicht  auf  österreichischem  Boden  gewachsen  und  liegt  auch  dem  Öster- 
reicher gänzlich  ferne.  Und  der  Grund  ist,  daß  eben  das  sizilische 
Verfahren  ganz  anders  geordnet  war  wie  der  kirchliche  Inquisitions- 
prozeß. Nach  sizilischem  Rechte  erfolgt  die  Vernehmung  geschwo- 
rener Zeugen,  um  die  Verbrechen  zur  Kenntnis  des  Richters  zu  bringen. 
Sind  diese  Zeugenaussagen  beweisend,  so  führen  sie  zur  Verurteilung, 
wenn  nicht,  bieten  sie  die  Grundlage  zu  einer  weiteren  Untersuchung. 
Der  Papst  ordnet  keine  derartige  allgemeine  Inquisition  an.  Er  be- 
stimmt nur,  daß  eine  amtliche  Untersuchung  dann  eintrete,  wenn 
das  Gerücht  eines  Verbrechens  vorliege.  Das  ältere  kanonische  Recht 
kannte  ebenfalls  ein  Einschreiten  beim  Vorhandensein  des  bösen  Leu- 
mundes. Es  schrieb  dann  die  purgatio  canonica,  das  ist  den  Reini- 
gungseid des  germanischen  Rechtes  vor.  Anstatt  die  Ablegung  dieses 
Eides  von  dem  Bezichtigten  zu  fordern,  sollte  der  Richter  nach  den 
Dekretalen  Innocenz'  III.  eine  Untersuchung  vornehmen,  wie  sie  dem 
römischen  und  nach  ihm  dem  Rechte  der  italienischen  Städte  auf 
Grund  einer  Anzeige  oder  auch  nur  eines  Verdachtes  geläufig  war. 
Durch  den  Inquisitionsprozeß  des  römischen  und  des  italienischen 
Stadtrechts  also  hat  Innocenz  III.  die  alte  purgatio  ersetzt.  Wie  die 
Dinge  liegen,  zeigen  ja  die  Dekretalen  selber.  Wenn  die  Untersuchung 
den  Beweis  der  Schuld  erbringt,  soll  Verurteilung  eintreten;  wenn 
nicht,  soll  es  noch  beim  Reinigungseide  bleiben,  damit  jeder  Verdacht 


Späteres  Mittelalter.  531 

ausgeschlossen  sei  (c.  10  X  de  purgatione  canonica  5,  34  von  1199,  also 
gerade  die  älteste  Stelle,  das  Mandat  an  den  Erzbischof  von  Sens, 
auf  das  Schmidt  so  großes  Gewicht  legt,  und  c.  21  X  De  accus.  5,  I 
von  1212).  Ob  Innocenz  III.  die  gesetzlichen  Bestimmungen  kannte, 
die  im  Königreich  Sizilien  den  Inquisitionsprozeß  regelten,  wird  sich 
ebensowenig  erweisen  lassen  als  das  Gegenteil.  Die  neueste  Forschung 
zeigt,  daß  er  die  Vormundschaft  nur  vom  Standpunkte  des  Vorteils 
für  die  Kirche  geführt  hat  (Baethgen  Friedrich,  Die  Regentschaft 
Papst  Innocenz'  III.  im  Königreich  Sizilien.  Heidelberger  Abhand- 
lungen zur  mittleren  und  neueren  Geschichte,  Heft  44).  Das  aber  ist 
bei  unbefangener  Prüfung  der  Quellen  sicher,  daß  er  bei  seiner  Ge- 
setzgebung über  den  kirchlichen  Inquisitionsprozeß  jene  Gesetze  nicht 
vor  Augen  hatte;  denn  wenn  er  das  Vorhandensein  eines  Gerüchtes 
forderte,  so  knüpfte  er  an  die  alte  purgatio  canonica  an,  für  das  Ver- 
fahren selber  aber  gaben  ihm  italienische  Stadtrechte  das  Muster. 

Wien.  Hans  von  Voltelini. 

Petrus  de  Dacia,  ein  Dominikaner  von  der  Insel  Gothland,  ist 
der  erste  schwedische  Schriftsteller,  über  dessen  Persönlichkeit  und 
Seelenleben  sich  Genaueres  erkennen  läßt.  Seine  Biographie  der  be- 
kannten Christine  von  Stommeln  (bei  Köln)  und  seine  und  seiner  Um- 
gebung Briefe  an  sie  bilden  die  Quelle  für  eine  fesselnd  geschriebene 
Studie  des  Stockholmer  Professors  Henrik  Schuck,  Vär  forste  författare, 
själshistoria  frhn  medeltiden  (Stockholm,  Hugo  Geber,  1916);  sie  ist 
auch  von  Wert  für  die  deutsche  Kulturgeschichte  des  13.  Jahrhunderts. 

n. 

Neue  Bücher:  Vernier,  Charles  de  l'abbaye  de  Jumieges  (V.  825 
a  1204)  conservies  aux  archives  de  la  Seine- Infirieure,  publikes  avec 
introduction  et  notes.  Tome  I'^.  (Paris,  Picard.)  —  Adolf  Arndt,  Zur 
Geschichte  und  Theorie  des  Bergregals  und  der  Bergbaufreiheit. 
2.  verb.  u.  verm.  Aufl.  (Freiburg  i.  B.,  Bielefeld.  10  M.)  —  Haskins, 
The  Normans  in  European  history.    {London,  Constable.    8,6  sh.) 

Späteres  Mittelalter  (1250—1500). 

Ein  Aufsatz  von  M.  Grabmann  in  der  Zeitschrift:  Das  neue 
Osterreich  1, 2  sucht  namentlich  am  Beispiel  Alberts  des  Großen, 
Ulrichs  und  Hugos  von  Straßburg  sowie  der  deutschen  Mystiker  des 
14.  Jahrhunderts  nachzuweisen,  daß  die  Hochscholastik  und  Mystik 
keineswegs  nationale  Färbung  ausgeschlossen  habe,  daß  man  vielmehr 
mit  gutem  Grund  von  einer  deutschen  Eigenart  im  mittelalterlichen 
Denken  reden  könne. 

Joh.  Hof  er  handelt  in  den  Franziskanischen  Studien  4  (1917),  1 
•über  den  Verfasser  und  die  Entstehungszeit  des  für  die  Geschichte  des 


532  Notizen  und  Nachrichten. 

Armutstreits  beachtenswerten  Traktats  „Responsiones  ad  oppositiones 
eorum,  qui  dicunt,  quod  Joannes  papa  XXII.  sententialiter  definivit  in 
constitutione  ,Cum  inter  nonnullos'  (12.  Nov.  1323)  haereticum  fore  cen- 
sendum  asser  er  e  illud,  quod  in  Decretali  ,Exiit,  qui  seminat'  (14.  Aug. 
1279),  §  Porro,  continetur".  Die  Entstehung  wird  in  der  ersten  Hälfte 
des  Jahres  1324  anzunehmen  sein,  Bonagratia  dürfte  als  Verfasser 
in  Frage  kommen.  —  An  der  gleichen  Stelle  berichtet  J.  B.  Kaiser 
über  die  Anfänge  der  durch  mancherlei  Schwierigkeiten  gehemmtea 
Observanz  in  Metz  (1418—1435). 

Ein  ungedrucktes  Zollprivileg  Kaiser  Karls  IV.  (für  Valentin 
von  Sayn,  Grafen  von  Wittgenstein;  1374,  November  19)  veröffentlicht 
nach  dem  Original  im  Fürstlichen  Archiv  zu  Berleburg  Manfr.  Stim- 
ming  in  den  Mitteilungen  des  Instituts  für  österreichische  Gesch.  37,  1. 

Aus  der  Zeitschrift  der  Savigny-Stiftung  für  Rechtsgeschichte,. 
Kanonist.  Abteilung,  Bd.  6  verzeichnen  wir  die  gut  unterrichtende 
Arbeit  von  J.  Hashagen:  Zur  Charakteristik  der  geistlichen  Ge- 
richtsbarkeit vornehmlich  im  späteren  Mittelalter,  die  in  erster  Linie 
die  deutschen  Verhältnisse,  diese  aber  sehr  gründlich,  behandelt. 
Weiter  bespricht  dort  P.  Haas  das  Salvatorium  Eugens  IV.  vom 
5.  Februar  1447  („Decet  Romani  pontificis")  in  seiner  Bedeutung  als 
politische  Urkunde  und  als  Gewissensvorbehalt,  den  der  seinem  Ende 
entgegengehende  Papst  den  neuerdings  sog.  Fürstenkonkordaten  vom 
gleichen  Tage  gegenüber  gemacht  hat.  Ulr.  Stutz  hebt  aus  der  Epi- 
stula  de  miseria  curatorum  seu  plebanorum  und  aus  der  Reformation 
Kaiser  Sigmunds  die  Stellen  aus,  die  erkennen  lassen,  daß  das  Eigen- 
kirchenrecht  im  Widerstand  gegen  die  Gesetzgebung  Papst  .'\lexan- 
ders  III.  sich  in  Deutschland  doch  noch  bis  ins  15.  Jahrhundert  hinein 
behauptet  hat. 

W.  Ziesemer  veröffentlicht  in  der  Altpreußischen  Monatschrift 
53,  1  und  2  ein  Rechnungsbuch  des  Königsberger  Deutschordenshauses 
aus  den  Jahren  1433/35,  das  freilich  nur  die  vom  Hauskomtur  gebuchten 
allgemeinen  Ausgaben  enthält,  nicht  die  Ausgabeposten  der  einzelnen 
mit  Ämtern  betrauten  Ordensritter,  und  so  eine  sehr  empfindlich  sich 
geltend  machende  Lücke  nur  in  geringem  Maße  schließt. 

In  der  Basler  Zeitschrift  für  Geschichte  und  Altertumskunde  16,  I 
veröffentlicht  K.  Es  eher  das  Testament  des  Kardinals  Johann  von 
Ragusa  nebst  dem  Nachweis  der  dem  Predigerkloster  zu  Basel  ver- 
machten, heute  in  der  dortigen  Universitätsbibliothek  befindlichen 
griechischen  Handschriften,  die  der  Kardinal  als  Abgesandter  des  Kon- 
zils 1435/37  in  Konstantinopel  zusammengebracht  hatte. 

An  einigen  vornehmlich  dem  15.  Jahrhundert  angehörenden  Bei- 
spielen erläutert  W.  Müller  im  Archiv  für  Kulturgeschichte  13,  1/2 


Späteres  Mittelalter.  533 

den  mittelalterlichen  Brauch,  den  unwillkommene  schriftliche  Nach- 
richten überbringenden  Boten  zum  Essen  des  Briefes  zu  zwingen.  — 
Fr.  Arnecke  veröffentlicht  an  der  gleichen  Stelle  eine  Diätregel  aus 
dem  Ende  des  Mittelalters,  die  sich  unter  den  Aufzeichnungen  des 
bekannten  Humanisten  Hartman  Schedel  findet. 

Eug.  Meiler  veröffentlicht  in  der  Zeitschrift:  Deutsche  Kultur 
in  der  Welt  2,  3  Quellenforschungen  über  die  in  der  zweiten  Hälfte 
des  15.  Jahrhunderts  bestehenden  künstlerischen  Beziehungen  zwi- 
schen Nürnberg  und  Krakau.  Letzterer  Stadt  wird  neben  ihrer  Wich- 
tigkeit für  die  Gewerbegeschichte  des  ausgehenden  Mittelalters  eine 
besondere  Bedeutung  für  den  Nachweis  der  zunftmäßig  geregelten 
Kunsttätigkeit  zugesprochen. 

Im  Beifried  1,6  handelt  Arth.  Lindner  über  die  ehemals  im 
Besitz  des  schlesischen  Humanisten  Thomas  Rhediger  befindliche, 
heute  zu  Breslau  bewahrte  Froissart-Handschrift,  die  im  Auftrage 
Antons  von  Burgund,  des  1421  geborenen  natürlichen  Sohnes  Philipps 
des  Guten,  abgeschrieben  und  von  Philipp  von  MazeroUes  (f  um  1508) 
mit  zahlreichen  Miniaturen  geschmückt  worden  ist. 

Als  Vorläufer  einer  größeren  Arbeit  bringt  H.  Van  der  Linden 
einen  Aufsatz  über  Alexander  VI.  und  die  für  Spanien  und  Portugal 
festgesetzte  Teilung  der  maritimen  und  kolonialen  Machtsphären  von 
1493—1494  {The  American  historical  review  1916,  Oktober).  —  Vgl. 
auch  den  kleinen  Aufsatz  von  Wilh.  Foerster:  Zur  Geschichte  der 
Entdeckung  Amerikas  in  der  Deutschen  Revue  1917,  Januar  mit 
seinem  Hinweis  auf  den  Bericht  von  Berth.  Cohn  über  Forschungen, 
die  ein  portugiesischer  Gelehrter,  J.  Bensaude,  über  den  Anteil  der 
wissenschaftlichen  Leistungen  Portugals  an  der  Entwicklung  der  nau- 
tischen Astronomie  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  veröffentlicht  hat. 

Neue  Bücher:  Schöpp,  Papst  Hadrian  V.  (Kardinal  Ottobuono 
Fieschi.)  (Heidelberg,  Winter.  11,60  M.)  —  Birckman,  Die  ver- 
meintliche und  die  wirkliche  Reformschrift  des  Dominikanergenerals 
Humbert  de  Romanis.  (Berlin,  Rothschild.  2,20  M.)  —  Herm.  Knapp, 
Das  Rechtsbuch  Ruprechts  v.  Freising  (1328).  (Leipzig,  Voigtländer. 
3  M.)  —  GöUer,  Verzeichnis  der  in  den  Registern  und  Kameral- 
akten  Clemens'  VII.  von  Avignon  vorkommenden  Personen,  Kirchen 
und  Orte  des  Deutschen  Reiches,  seiner  Diözesen  und  Teritorien  1378 
bis  1394.  (Berlin,  Weidmann.  18  M.)  —  Koebner,  Der  Widerstand 
Breslaus  gegen  Georg  v.  Podiebrad.  (Breslau,  Hirt.  4,50  M.)  — 
Mack,  Die  kirchliche  Steuerfreiheit  in  Deutschland  seit  der  Dekretal- 
gesetzgebung.     (Stuttgart,  Enke.    11,40  M.) 


534  Notizen  und  Nachrichten. 


Reformation  und  Gegenreformation  (1500 — 1648). 

In  der  Zeitschrift  für  Kirchengeschichte  Bd.  36,  3./4.  Heft,. 
S.  507  macht  H.  Degering  auf  eine  Briefsammlung  aus  dem  Eisen- 
acher  und  Erfurter  Lutherkreise  aufmerksam,  die  sich  in  der  Kgl. 
Bibliothek  zu  Berlin  befindet  und  24  Briefe  aus  der  Zeit  von  1497 
bis  1510  umfaßt,  darunter  drei  bisher  unbekannte  Briefe  Luthers. 
In  einem  Schreiben  vom  5.  September  1501  ist  ein  Schriftzeugnis  des 
Reformators  gewonnen,  das  um  fast  sechs  Jahre  älter  ist  als  das- 
jenige, das  bisher  an  erster  Stelle  stand. 

Zwei  unbekannte  Briefe  Johann  Ecks  an  Johann  Cuspinian  ver- 
öffentlicht aus  den  Vorarbeiten  zu  einer  Cuspinianbiographie  Hans 
v.  Ankwicz  in  den  Mitteilungen  des  Instituts  für  österreichische  Ge- 
schichtsforschung Bd.  37,  H.  1,  S.  69 — 77.  Die  Briefe  erwecken  vor 
allem  wegen  der  Beurteilung  Luthers  Interesse.  In  dem  ersten  Schrei- 
ben, das  zur  Zeit  von  Ecks  Zusammenkunft  mit  Luther  in  Augsburg 
abgefaßt  ist  (13.  Oktober  1518),  erkennt  Eck  die  schweren  Mißstände 
im  Ablaßwesen  an  und  geht  sogar  so  weit,  zu  sagen,  daß  er  in  dieser 
Hinsicht  Luther  loben  müsse.  In  dem  zweiten  Briefe  aus  dem  Februar 
1520  lautet  das  Urteil  viel  schärfer.  I 

Im  Anzeiger  für  schweizerische  Geschichte  1916  Nr.  3,  S.  133  ff. 
findet  sich  aus  der  Feder  von  E.  Tappolet  eine  interessante  Studie 
zur  Etymologie  von  Huguenot.  Tappolt  hält  die  Herleitung  aus  „Eid- 
genosse" für  die  einzig  mögliche  und  sucht  nachzuweisen,  daß  Genf 
der  Ursprungsort  dieser  Bezeichnung  ist.  Der  anfänglich  rein  politische 
Parteiname  Eiguenots  gewinnt  dort  in  den  kirchlichen  Kämpfen  bald 
eine  konfessionelle  Bedeutung  und  findet,  da  Genf  der  Mittelpunkt 
der  reformatorischen  Bewegung  ist,  auch  in  Frankreich  in  diesem 
Sinne  Verbreitung.  Dafür  gibt  es  schon  aus  dem  Jahre  1528  einen 
Beleg.  Darüber,  wie  die  Umwandlung  von  „eiguenot"  in  „huguenot" 
sich  vollzogen  hat,  kann  Tappolet  nur  eine  neue  Vermutung  bei- 
bringen. Er  macht  darauf  aufmerksam,  daß  an  der  Spitze  jener  ur- 
sprünglich rein  politischen  Partei  der  Eiguenots  bis  1532  Besan9on 
hugues  stand,  und  sucht  wahrscheinlich  zu  machen,  daß  der  Name 
seiner  Partei  im  Anschluß  an  seinen  eigenen  Namen  in  den  Spitz- 
namen „Huguenot"  umgewandelt  worden  sei.  Als  schweres  Bedenken 
bleibt  bestehen,  daß  der  Ausdruck  von  1553  nicht  nachzuweisen  ist 
und  auch  dann  nur  für  Frankreich. 

In  einem  kurzen  Aufsatz  in  der  Deutschen  Revue,  Dez,  1916, 
behandelt  E.  v.  Danckelman  „Wallenstein  und  die  Besetzung  Meck- 
lenburgs im  Jahre  1628".  Er  sucht  darzutun,  daß  die  beiden  mecklen- 
burgischen Herzöge  1627  einen  schweren  Fehler  —  er  redet  von  der 


1648—1789.  535 

Schuldfrage  der  Herzöge  —  begingen,  als  sie  noch  zu  Christian  IX. 
hielten,  während  die  politisch  klügeren  Stände  ihrer  Länder  das  Bünd- 
nis mit  dem  Kaiser  befürworteten.    | 

Neue  Bücher:  Kaulfuß-Diesch,  Das  Buch  der  Reformation, 
geschrieben  von  Mitlebenden.  (Leipzig,  Voigtländer.  5  M.)  —  W. 
Köhler,  Martin  Luther  und  die  deutsche  Reformation.  (Leipzig, 
Teubner.  1,20  M.)  —  Schmieder,  Der  deutsche  Reformator  D. 
Martin  Luther  in  seinen  Schriften,  Reden,  Dichtungen,  Aussprüchen, 
in  Berichten  von  Zeitgenossen,  im  Urteil  der  Mit-  und  Nachwelt. 
(Leipzig,  Wunderlich.  2,40  M.)  —  Schreckenbach  u.  Neubert, 
Martin  Luther.  (Leipzig,  Weber.  10  M.)  —  Walther,  Luthers  Cha- 
rakter.   (Leipzig,  Deichert.    3,80  M.)    ■ 


1648— 1789.fe; 

Als  ein  kleiner  Beitrag  für  eine  künftige  Biographie  Hermann 
Conrings,  des  berühmten  Verfassers  des  Werkes  „De  origine  juris  Ger- 
mania" sollen  die  Mitteilungen  F.  Dahls:  „Zu  den  Beziehungen  Con- 
rings zu  Dänemark"  angesehen  werden.  (Zeitschr.  der  Savigny-Stif- 
tung  für  Rechtsgesch.  37,  Germ.  Abt.) 

Die  Zeitschrift  des  Historischen  Vereins  für  Niedersachsen  widmet 
das  dritte  Heft  ihres  Jahrgangs  1916  ganz  der  Feier  des  200.  Todes- 
tages von  Leibniz.  Ein  Gesamtbild  seiner  universellen  Bedeutung 
für  das  deutsche  Geistesleben  sucht  Paul  Ritter  zu  entwerfen  in 
seinem  Vortrag:  Leibniz  und  die  deutsche  Kultur.  Außerdem  ver- 
öffentlicht er  den  Bericht  eines  Augenzeugen  über  Leibnizens  Tod  und 
Begräbnis.  Die  Förderungen,  die  dem  Philosophen  die  Gebiete  der 
Naturwissenschaft  und  der  Medizin  zu  verdanken  haben,  stellt  Her- 
mann Peters  dar  (Leibniz  in  Naturwissenschaft  und  Heilkunde). 

In  die  dem  ,Ryswycker  Friedensschlüsse  vorangehenden  Ver- 
handlungen über  die>  religiöse  Frage  in  Deutschland  (vgl.  auch  S.  357) 
führt  die  kleine  Arbeit  von  E.  v.  Danckelman  über  die  Rheinberger 
Religionskonferenz  von  1697.  (Zeitschr.  des  Berg.  Geschichtsvereins). 
Diese  Konferenz  ward  zwischen  den  Kommissaren  der  Kurfürsten  von 
Brandenburg  und  Pfalz  abgehalten  (daß  den  Kommissaren  des  Pfäl- 
zers  das  selbständige  Handeln  durch  ihre  Instruktion  verboten  wird, 
ist  nicht  gerade  eine  „merkwürdige  Bestimmung")  und  betraf  die 
Stellung  der  Konfessionen  in  Jülich  und  Berg  einer-,  in  Kleve,  Mark 
und  Ravensberg  anderseits.  Was  von  den  zur  Verhandlung  kommen- 
den Beschwerden  hier  mitgeteilt  wird,  gewährt  einen  guten  Einblick 
in  die  religiösen  Verhältnisse  der  genannten  Lande.  W.  M. 


536  Notizen  und  Nachrichten. 

In  der  Altpreußischen  Monatschrift  53,  1  u.  2,  veröffentlicht  Kr. 
die  nachgelassene  Arbeit  des  1914  in  Polen  gefallenen  Majors  Berthold 
Wagner  unter  dem  Titel:  „Militärisches  Friedensleben  unter  König 
Friedrich  Wilhelm  I."  Die  darin  enthaltenen  Schilderungen  sind  nach 
Materialien  des  Schlobitter  Archivs  zusammengestellt.  Sie  geben  ein 
anschauliches  Bild  von  den  Zuständen  innerhalb  eines  einzelnen  Regi- 
ments, von  Werbungen,  Kantonwesen,  „langen  Kerls"  und  können 
wohl  in  allen  wesentlichen  Zügen  schlechthin  für  die  Armee  des  Sol- 
datenkönigs verallgemeinert  werden.  W.  M. 

Dr.  phil.  Therese  Winkel  mann:  Zur  Entwicklung  der  allgemeinen 
Staats-  und  Gesellschaftsanschauung  Voltaires.  (Staats-  und  sozial- 
wissenschaftliche Forschungen,  herausgeg.  von  Gustav  Schmoller  und 
Max  Sering.  Heft  188.  Duncker  und  Humblot,  München  und  Leipzig. 
1916.  XII,  72  S.)  —  Die  Verfasserin  hat  sich  eine  wenig  dankbare 
Aufgabe  gestellt.  Der  Begriff  Entwicklung  ist  nicht  ein  Hauptschlüssel, 
der  alles  erschließt.  Bei  der  Anwendung  auf  Voltaires  Staats-  und 
Gesellschaftsanschauungen  jedenfalls  muß  er  versagen.  Gewiß  war 
Voltaire  auch  in  der  Politik  nie  starr  und  unbeweglich,  sondern  höchst 
erregbar  und  wandlungsfähig.  Und  gewiß  sind  diese  Wandlungen  nicht 
Eingebungen  reiner  Willkür  und  sprunghafter  Laune.  Aber  nach  einem 
inneren  Bildungsgesetz  —  und  ein  solches  verlangt  der  Begriff  der 
Entwicklung  ■ —  verlaufen  sie  nicht.  Zum  mindesten  hat  die  Verfas- 
serin ein  solches  nicht  entdeckt.  Sie  begnügt  sich  daher  auch  im  wesent- 
lichen damit,  Äußerungen  Voltaires  über  die  hier  in  Betracht  kommen- 
<ien  Fragen  zusammenzustellen,  in  einem  ersten  Teil  die  des  jüngeren, 
in  einem  zweiten  Teil  die  des  älteren  Voltaire.  Und  der  Eindruck, 
den  ihre  Zusammenstellung  erweckt,  ist,  daß  der  junge  Voltaire  dem 
alten  zum  Verwechseln  ähnlich  sah,  was  in  diesem  Grade  nicht  ein- 
mal der  Fall  war. 

Stuttgart.  P.  Sakmann. 

Neue  Bücher:  Bagwell,  Ireland  under  the  Stuarts  and  dwing 
ihe  Interregnum.  Vol.  3.  {London,  Longmans,  Green  &  Co.)  —  v.  Frant- 
zius.  Die  Okkupation  Ostpreußens  durch  die  Russen  im  Siebenjährigen 
Kriege  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  russischen  Quellen.  (Berlin, 
Ehering.  2,80  M.)  —  Bruel,  Marichaux  de  France.  Chronologie  mili- 
iaire.    jy68 — 1870.    {Paris,  Fournier.    12  fr.) 


Neuere  Gesdiidite  von  1789  bis  1S71. 

Die  Fortsetzung  der  Schaumannschen  Kreuz-  und  Querzüge 
<s.  S.  361)  gibt  anschauliche  und  drastische  Bilder  aus  dem  Garnison- 
leben von  Ratzeburg  und   Lüneburg  um   1790  und  von  der  Mobil- 


Neuere  Geschichte.  537 

machung  und  dem  kurzen  Ausmarsch  bis  an  die  holländische  Grenze 
1795  bis  zum  Frieden  von  Basel  (Deutsche  Rundschau,  Januar). 

Den  weiteren  Briefen  Wilhelm  von  Humboldts  an  Frau  von 
Stael  (s.  S.  361)  im  Januarheft  der  Deutschen  Rundschau  (November 
1803  bis  Mai  1805,  mit  der  durch  Frau  v.  Steins  Anwesenheit  in  Rom 
gegebenen  Unterbrechung)  hat  A.  Leitzmann  Erläuterungen  aus  an- 
deren Briefen  Humboldts,  namentlich  über  sein  inneres  Verhältnis 
zu  Frau  von  Stael  beigefügt:  „Der  Briefwechsel  mit  ihr  hat  nichts 
sehr  Befriedigendes";  ihn  stört  begreiflicherweise  das  Unruhige,  Un- 
harmonische, Unausgeglichene  ihres  Wesens;  erst  1805  (5.  V.  an  Goethe) 
schreibt  er:  „Sie  ist  mir  hier  sehr  viel  werter  geworden.  Sie  hatte 
hier  mehr  Ruhe  und  Stille,  war  nicht  so  umgetrieben  von  den  Gei- 
stern, die  auch  sie  plagen  und  irre  leiten." 

Im  Januarheft  der  Deutschen  Revue  leitet  W.  Windelband 
die  vom  30.  Okt.  bis  23.  Nov.  reichende  Fortsetzung  des  Eichhorn- 
schen  Briefwechsels  (s.  S.  361)  mit  Ausführungen  über  E.s  Tätigkeit 
als  Generalsekretär  Steins  im  Zentralverwaltungsrat  der  Verbündeten 
ein;  die  Briefe  im  Februarheft  aus  Frankfurt  a.  M.  bis  zum  19.  Dez. 
enthalten  nichts  Wesentliches  über  die  Tätigkeit  der  Kommission  oder 
die  Friedensverhandlungen. 

Eine  kurze  Zusammenstellung  der  Hauptphasen  des  Kampfes  um 
„Die  polnische  Frage  auf  dem  Wiener  Kongreß"  gibt  Freiherr  von 
Jettel  im  Januarheft  der  Deutschen  Revue. 

Ein  kleines  Stück  Berliner  Universitätsgeschichte  wird  lebendig 
in  der  Miszelle  „Nordische  Stimmen  über  Savigny  und  Gans",  die 
F.  Dahl  in  der  Zeitschr.  der  Savigny-Stiftung  für  Rechtsgeschichte 
37,  Germ.  Abt.  veröffentlicht.  Er  teilt  u.  a.  eine  höchst  anschauliche 
Beschreibung  der  zwei  berühmten,  im  Titel  genannten  Gelehrten  mit, 
die  den  Erinnerungen  des  dänischen  Juristen  Orla  Lehmann  ent- 
nommen ist.  W.  M. 

Schwalbachs  „die  neueren  deutschen  Taler,  Doppeltaler  und 
Doppelgulden  vor  Einführung  der  Reichswährung"  ist  1915  zu  Mün- 
chen im  Verlag  der  Otto  Helbings  Nachfolger  in  8.  vermehrter  und 
verbesserter  Auflage  erschienen.  (Preis  4  M.)  Das  Werkchen  bietet 
gegen  früher  einige  Abänderungen  und  Zusätze.  Kleine  Stempelver- 
schiedenheiten, darunter  solche,  die  nur  unter  der  Lupe  erkennbar 
waren,  wurden  gestrichen,  ebenso  mehrere  Jahrgangsangaben,  die  sich 
als  irrig  herausgestellt  hatten.  Schwalbach  verzeichnet  nun  mit  den 
unter  a,  aa,  b  usw.  eingeteilten  Nachträgen  an  400  Prägestempel  aus 
den  Jahren  1823 — 1872,  von  welchen  einzelne  durch  10  und  mehr 
Jahre  benützt  erscheinen.  Es  ist  eine  sehr  vollständige  und  sorg- 
fältige Zusammenstellung  der  größeren  deutschen  Silbermünzen  des 
Historische  ZeiUchrift  (117.  Bd.)  .1.  Folge  21.  Bd.  35 


538  Notizen  und  Nachrichten. 

14-  und  30-Talerfußes,  des  entsprechenden  24^-  und  52%-fl.-  und 
des  österreichischen  45- Guldenfußes.  L.  v.  E. 

In  den  „Stimmen  der  Zeit"  (den  früheren  „Stimmen  aus  Maria 
Laach")  B.  90.  91  u,  92  hat  R,  v.  Nostitz-Rienecl<  eine  Anzahl  von 
Aufsätzen  über  die  italienische  und  römische  Politik  Cavours  und 
seiner  Nachfolger  bis  zur  Besetzung  Roms  veröffentlicht,  die  eine 
heftige  Anklage  gegen  Treu  und  Glauben  dieser  Politik  darstellen: 
„Der  italienische  Einheitsstaat"  (die  Etappen  bis  zur  Einverleibung 
Neapels);  „der  Römischen  Frage  Ende  und  Anfang"  (beide  B.  90); 
„Wie  Neuitalien  Verträge  schließt  und  hält:  I.  Abschluß  der  Sep- 
temberkonvention, II.  Bruch  der  Septemberkonvention"  (B.  91); 
„das  Grünbuch  vom  Dezember  1870  über  die  Einnahme  Roms"  (mit 
Ausführungen  über  den  Quellenwert  der  Buntbücher,  B.  92). 

In  den  Grenzboten  1917  n.  1  analysiert  und  kritisiert  JUajor  a.  D. 
Dr.  M.  V.  Sczcepanski  die  1865  in  jener  Zeitschrift  auf  G.  Freytags 
Veranlassung  erschienenen  (hie  und  da  wohl  mit  Freytagschen  Formu- 
lierungen durchsetzten)  Aufsätze  von  Albrecht  von  Stosch  über  Gnei- 
senau:  Gneisenau  sei  für  Stosch  in  allen  inneren  Fragen  der  liberale 
Parteiheld,  aber  Stoschs  Preußentum  habe  dabei  seinem  Liberalismus 
allezeit  die  Wage  gehalten. 

Die  Fortsetzung  von  Fr.  Thimmes  „Bismarck  und  Kar- 
dorf f  "-Veröffentlichung  (s,  S.  363)  bringt  im  Januarheft  einige  wert- 
volle Briefe  aus  den  Tagen  nach  Bismarcks  Entlassung  und  einen 
Briefwechsel  mit  Bismarck  über  die  von  Bismarck  abgelehnte  Reichs- 
tagskandidatur an  Miquels  Stelle  in  Kaiserslautern  1890;  im  Februar- 
heft Briefe  an  die  Gattin  von  Januar  1891  bis  April  1892:  viele  poli- 
tische Einzelheiten,  Urteile  über  Persönlichkeiten  (u,  a.  Miquel!),  poli- 
tische Diners,  auch  mit  dem  Kaiser;  Landgemeindeordnung,  Bismarcks 
Reichstagskandidatur  in  Hannover  19,  sein  eventuelles  Auftreten  im 
Reichstag  gegen  den  österreichischen  Handelsvertrag;  dieser  steht 
Ende  1891  im  Mittelpunkt  der  Briefe,  dazu  die  Herrfurthsche  Land- 
gemeindeordnung und  weiterhin  der  Zedlitzsche  Volksschulgesetzent- 
wurf, Thimmes  einleitende  Erläuterungen  kritisieren  die  Politik  der 
Caprivischen  Zeit  und  Caprivi  selbst  zum  Teil  scharf. 

Neue  Bücher:  Carl  Bertuchs  Tagebuch  vom  Wiener  Kongreß. 
Hrsg,  von  Herm.  Frhrn,  d.  Egloffstein,    (Berlin,  Gebr,  Paetel,    6  M.) 

—  Morris,  Europe  in  the  XIX  Century  {1815 — i8y8).  {Cambridge, 
University  Press.)  —  Ludo  M.  Hartmann,  100  Jahre  italienischer 
Geschichte,  1815—1915.  (München,  Georg  Müller.  3  M,)  —  Karl 
Marx  und  Frdr.  Engels,  Gesammelte  Schriften  1852  bis  1862.  Hrsg. 
von  N.  Rjasanoff.   2  Bde.   (Stuttgart,  J.  H.  W.  Dietz  Nachf,    16  M,) 

—  Rankin,  Personal  recoUections  of  Abraham  Lincoln.  {New  York  & 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  539 

London,  Putnam.)  —  Schunke,  Die  preußischen  Freihändler  und  die 
Entstehung  der  nationalliberalen  Partei.  (Leipzig,  Quelle  &  JVleyer. 
3  JVI.)  —  Äugst,  Bismarcks  Stellung  zum  parlamentarischen  Wahl- 
recht.   (Leipzig,  Brandstetter.    3,50  M.) 

Neueste  Geschichte  seit  1871. 

Lose  aneinandergereihte  Untersuchungen  zur  Vorgeschichte  des 
Weltkrieges  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  englischen  und 
der  serbischen  Gefahr  finden  sich  in  einer  anonymen  Schrift:  ,, Ein- 
kreisung und  Durchbruch  der  Zentralmächte"  (Flugschriften  für 
Österreich-Ungarns  Erwachen  15/16,  1916).  Im  zweiten  Hefte  perselben 
Serie  hatte  O.  Weber  das  neuere  Verhältnis  von  Österreich  und  Eng- 
land geschichtlich  behandelt. 

Unter  dem  Titel  „Zur  Vorgeschichte  des  Weltkrieges"  schreibt 
Eduard  JVleyer  in  den  Süddeutschen  Monatsheften  (1916)  eine  Anti- 
kritik gegen  die  von  V.  Valentin  am  Grafen  Reventlow  im  Augusthefte 
der  Preußischen  Jahrbücher  geübte  Kritik.  Das  Januarheft  der  Süd- 
deutschen Monatshefte  (1917)  ist  der  äußeren  Politik  und  ihrer  Ge- 
schichte gewidmet,  beginnt  mit  einer  kritischen  Würdigung  der  Bülow- 
schen  Politik  aus  der  Feder  von  J.  Haller  und  enthält  auch  sonst 
historisch  ertragreiche  Aufsätze. 

„Unser  Wissen  vom  Dreibunde"  legt  H.  F.  Helmolt  in  der 
Zeitschrift  für  Völkerrecht  10  (1916)  dar.  Der  Verfasser,  der  sich 
jetzt  nachträglich  mit  Recht  zu  einer  Anerkennung  des  gn-ndlegen- 
den  Friedjungschen  Greifaufsatzes  vom  Okt.  1913  entschlossen  hat, 
sucht  wahrscheinlich  zu  machen,  daß  die  noch  immer  nicht  veröffent- 
lichten Artikel  des  Dreibundvertrages  u.  a.  Bestimmungen  über  das 
Verhältnis  zu  Serbien  und  zu  Frankreich  enthalten  haben.  Darüber 
hinaus  enthält  der  lehrreiche  Aufsatz  zur  Auslegung  des  gesamten 
Vertrages  beachtenswerte  neue  Gesichtspunkte. 

M.  Beer,  Sir  Edward  Greys  Konferenzvorschlag  und  andere 
Streitfragen  der  diplomatischen  Polemik  (1916)  unterzieht  den  eng- 
lischen Konferenzvorschlag  nach  Vorgeschichte  und  Wesen  und  damit 
die  ganze  sog.  Vermittlungspolitik  Englands  und  seiner  Verbands- 
freunde einer  durchaus  berechtigten  scharfen  Kritik,  die  außerordent- 
lich klar  vorgetragen  wird.  Außerdem  entnimmt  Beer  dem  in  Deutsch- 
land viel  zu  wenig  bekannten  zweiten  belgischen  Graubuche  eine  An- 
zahl wichtiger  neuer  Argumente  zur  Stütze  des  deutschen  Standpunkts. 
Es  wäre  zu  wünschen,  daß  dieser  treffliche  Erforscher  der  Kriegsver- 
handlungen auch  durch  andere  Spezialuntersuchungen  zur  Klärung 
weiterer,  bisher  ungelöster  geschichtlicher  Streitfragen  beitrüge. 


35" 


540  Notizen  und  Nachrichten, 

Über  das  vor  dem  Kriege  in  Deutschland  historisch-literarisch 
stark  vernachlässigte  Belgien  sind  während  des  Krieges  eine  statt- 
liche Anzahl  Arbeiten  von  verschiedenem  Werte  erschienen.  Eine 
gute  erste  Einführung  in  ihr  Studium  vermittelt  Franz  Fromme, 
neue  deutsche  Schriften  über  Belgien  (Deutsche  Rundschau  42,  1915). 
Das  über  Pirennes  Geschichte  Belgiens  ausgesprochene  abfällige  Urteil 
dürfte  jedoch  zu  scharf  ausgefallen  sein.  Eingehendes  Studium  ver- 
dient die  seit  1898  erschienene  Bibliographie  de  Belgique. 

Arbeiten  zur  Geschichte  des  Königreichs  Belgien  und  seiner 
internationalen  Politik  seit  1871  sind  auch  jetzt  nur  spärlich  vor- 
handen. Auch  Hampe  und  Schulte,  deren  aufschlußreiche  Werke  eine 
besondere  Würdigung  verdienen,  behandeln  die  neueste  Zeit  weniger 
eingehend.  Ebenso  sind  ihr  in  dem  Büchlein  von  P.  Oßwald,  Belgien 
(Aus  Natur  und  Geisteswelt  501,  1915)  nur  wenige  Seiten  gewidmet. 
Endlich  liegt  auch  bei  dem  von  Pirenne  stark  beeinflußten  V.  Valentin, 
Belgien  und  die  große  Politik  der  Neuzeit  (Weltkultur  und  Weltpolitik 
1,  1915)  der  Schwerpunkt  mehr  auf  der  älteren  Zeit. 

Seit  Juli  1916  erscheint  der  auch  durch  gute  Literaturübersichten 
ausgezeichnete  Beifried,  „eine  JVlonatsschrift  für  Gegenwart  und  Ge- 
schichte der  belgischen  Lande".  Doch  werden  auch  in  diesem  Organ 
sowohl  die  neueste  wie  überhaupt  die  internationale  Geschichte  Bel- 
giens noch  nicht  in  den  Vordergrund  geschoben.  Zur  neuesten  Ge- 
staltung der  Scheidefrage  äußert  sich  K.  Hampe,  „die  Scheide,  Bel- 
giens Schicksalsstrom".  JVlehr  Beachtung  finden  in  dieser  prächtig 
ausgestatteten  Zeitschrift  die  verschiedenen  Seiten  der  neuesten  inner- 
belgischen Entwicklung  z.  B.  in  den  Artikeln  von  Pius  Dirr,  R.  A. 
Schröder,  K.  Haenisch,  H.  Dorn,  H.  Gehrig,  G.  Dehn-Schmid 
L.   Quessel  u.  a. 

Die  anschaulichen  und  lebendig  geschriebenen  Skizzen,  die  W. 
Hausenstein  unter  dem  Titel  „Belgien"  1915  veröffentlicht  hat,  ver- 
folgen zwar  mehr  Gegenwartszwecke,  kommen  aber  auch  der  Ver- 
tiefung des  historischen  Verständnisses  für  die  neueste  innerbelgische 
Geschichte  zugute.  Ähnliches  gilt  von  W.  Andreas  (Südd.  Monats- 
hefte 1915),  von  W.  Michael,  Aus  Belgiens  Vergangenheit  (Illu- 
strierte Zeitung  1916,  Juni  22)  sowie  von  manchem  wichtigen  Auf- 
satze der  Tagespresse.  Hervorzuheben  sind  aus  der  Frankfurter 
Zeitung  der  Artikel  von  L.  H.  in  Nr.  41  I  vom  11.  und  die  Korre- 
spondenz in  Nr.  481  vom  18.  Febr.  1917. 

Dankenswert  ist  G.  Mayers  parteigeschichtlicher  Beitrag  (Zeit- 
schrift für  Politik  9,  1916).  Der  Verfasser  wendet  sich  mit  Recht  gegen 
die  weitverbreitete  Vorstellung,  als  wenn  die  Sprachenfrage  alle  an- 
deren innerbelgischen   Fragen  in   den   letzten   Jahrzehnten  vor  dem 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  541 

Kriege  in  den  Schatten  gestellt  habe.  In  seinen  lichtvollen,  auf  reichem 
belgischen  Material  beruhenden  Ausführungen  stellt  er  jedoch  selbst 
Belege  dafür  zusammen,  daß  der  Rassen-  und  Sprachengegensatz 
auch  auf  die  Gestaltung  des  neuesten  belgischen  Parteiwesens  einge- 
wirkt hat. 

Auf  die  vielseitige  Literatur  zur  Geschichte  der  flämischen  Be- 
wegung kann  hier  nur  im  allgemeinen  verwiesen  werden.  Recht  geeignet 
zur  Einführung  ist  neben  den  Aufsätzen  von  P.  Oßwald  (Preußische 
Jahrbücher  1914,  Sonderausgabe  1915)  und  von  H.  Gmelin  (Zeit- 
schrift für  Politik  8,  1915)  und  der  Schrift  von  Th.  Deneke,  Sprach- 
verhältnisse und  Sprachgrenze  in  Belgien  und  Nordfrankreich  (1915) 
das  Buch  von  F.  Jostes,  die  Vlamen  im  Kampfe  um  ihre  Sprache 
und  ihr  Volkstum  (2.  Aufl.  1916,  296  S.),  bei  dem  man  nur  Beseiti- 
gung gewisser  formaler  JVlängel  und  sachlicher  Einseitigkeiten  wün- 
schen möchte.  Über  die  Flamen  auf  französischem  Boden  handelt 
F.  Behrend  in  seinen  Altdeutschen  Stimmen  (1916),  über  die  fran- 
zösische Agitation  O.   Bouglanger  (1915). 

Zur  Geschichte  der  belgischen  Neutralität  und  ihres  Bruches  ist 
eine  der  umfassendsten  Veröffentlichungen  von  feindlicher  Seite  die 
von  E,  Waxweiler  (f),  la  Belgique  neutre  et  loyale,  deutsch:  Hat 
Belgien  sein  Schicksal  verschuldet?  (1915).  Mit  ihrer  Kritik  beschäf- 
tigt sich  außer  Schulte  u.  a.  H.  Graßhoff ,  Belgiens  Schuld  (1915). 
Brauchbare  Zusammenstellungen  einschlägigen  geschichtlichen  Mate- 
rials legt  M.  Norden  vor:  la  Belgique  neutre  et  l'Allemagne  (1915), 
deutsch:  Das  neutrale  Belgien  und  Deutschland  im  Urteile  belgischer 
Staatsmänner  und  Juristen  (1916).  Eine  zusammenfassende  Edition 
der  Quellen  erscheint  darnach  nicht  nur  als  ein  politisches,  sondern 
auch  als  ein  geschichtliches  Bedürfnis.  Geschichtlich  wenig  ergiebig 
ist  die  völkerrechtliche  Darstellung  von  Spanger-Norton,  Eng- 
land's  guarantee  to  Belgium  and  Luxemburg  (1915). 

Lebhafte  Beachtung  verdient  die  neue  Auflage  zweier  kriegs- 
politischer Arbeiten  des  belgischen  Majors  Girard  von  1889  und 
1912:  Avant  la  guerre,  deutsch:  Wie  ein  Belgier  das  Verhängnis  seines 
Vaterlandes  voraussah.^)  (Vgl.  dazu  den  Aufsatz  von  F.  Rachfahl 
im  Beifried.)  Wie  hier  ein  ausgezeichneter  belgischer  Militär  das  aus 
der  falsch  verstandenen  und  falsch  gehandhabten  belgischen  Neutra- 
lität erwachsene  und  drohende  Unheil  beurteilt,  ist  auch  geschichtlich 
von  hohem  Interesse.  Mit  Girard  berührt  sich  O.  Dax  (Pseudonym 
für  De  Wet),  la  Situation  de  la  Belgique  en  privision  d'un  conflit  franco- 


1)  Eine  ausführliche  Besprechung  des  Buches  wird  in  einem  unserer 
nächsten  Hefte  folgen.  D.  Red. 


542  Notizen  und  Nachrichten. 

germain  1911,   eine  Broschüre,  die  in  einer  dritten  Auflage,  die  aber  nur 
Exzerpte  und  Paraphrasen  enthält,  1916  erschienen  ist. 

Die  neueste  internationale  Wirtschaftsgeschichte  Belgiens  kommt 
in  dem  Buche  von  H.  Schumacher  über  „Antwerpen,  seine  Welt- 
stellung und  Bedeutung  für  das  deutsche  Wirtschaftsleben"  (1916) 
zu  ihrem  Rechte.  Die  geographischen  Grundlagen  werden  von  O. 
Quelle,  Belgien  und  die  französischen  Nachbargebiete  (1916)  deut- 
lich aufgezeigt.  Dagegen  kann  J.  Langhammer  „Belgiens  Vergangen- 
heit und  Zukunft,  eine  geographisch-geschichtliche  Bewertung"  auch 
durch  eine  ausschweifende  Reklame  nicht  gerettet  werden. 

Auch  über  die  provisorische  deutsche  Verwaltung  des  besetzten 
Belgiens  liegt  bereits  eine  umfassende  deutsche  Literatur  vor.  Wir 
notieren  dazu  von  feindlicher  Seite:  M.  de  Ombiaux,  la  risistance 
de  la  Belgique  neutre  (1916),  und  J.  Massart,  Comment  les  Beiges 
resistent  ä  la  domination  allemande,  englisch :  Belgians  ander  tfie  German 
Eagle,  1916.  J.  Hashagen. 

Neue  Bücher:  Hashagen,  Umrisse  der  Weltpolitik.  1.  II. 
(1871—1914.)  (Leipzig,  Teubner.  2,40  M.)  —  Heinr.  Thdr.  List, 
Deutschland  und  Mittel- Europa.  (Beriin,  Reimer.  2,80  M.)  —  Jan- 
covici,  Essai  sur  la  crise  balkanique  {1912 — 1913).  (Paris,  Larose.)  — 
Der  Krieg  1914/16.  Werden  und  Wesen  des  Weltkriegs,  dargestellt 
in-  umfassenderen  Abhandlungen  und  kleineren  Sonderartikeln.  Hrsg. 
von  Dietr.  Schäfer.    1.  Tl.    (Leipzig,  Bibliograph.   Institut.    10  M.) 

—  Alazard,  L'Italie  et  le  conflit  europien  (191 4 — 191 6).  (Paris,  Alcan.) 

—  Gustav  Eichhorn,  Deutsche  Kriegspoiitik  und  England.  (Zürich, 
Gebr.  Leemann  &  Co.  5  M.)  —  Morf ,  Demokratie  und  Krieg  in  Frank- 
reich. (Zürich,  Rascher  <S  Cie.  3  M.)  —  Stier-Somlo,  Grund-  und 
Zukunftsfragen  deutscher  Politik.  (Bonn,  Marcus  &  Weber.  6  M.)  — 
Protheroe,  Lord  Kitchener.   (London,  Kelly.) 


Deutsche  Landschaften. 

In  der  Zeitschrift  für  Schweizerische  Kirchengeschichte  10,  4 
liefert  A.  Scheiwiler  einen  interessanten  Beitrag  zur  Geschichte  der 
Gegenreformation  in  der  Schweiz  mit  seiner  Biographie  des  P.  Ludwig 
von  Sachsen.  Dieser  aus  dem  Geschlecht  der  Freiherren  von  Einsied  1 
abstammende  Kapuziner  hat  eine  äußerst  erfolgreiche  agitatorische 
Tätigkeit  vor  allem  in  Appenzell  und  Toggenburg  ausgeübt.  Anton 
Habermacher  druckt  zwei  Rheinauer  Schulordnungen  ab,  die  eine 
aus  dem  Jahre  1644  von  Abt  Bernhard  I.,  die  andere  von  1714  von 
Abt  Gerold  II. 


Deutsche  Landschaften.  543 

Die  Quellen  zur  Beschreibung  des  Zürich-  und  Aargaus  in  Johannes 
Stumpfs  Schweizerchronik.  Von  Dr.  phil.  Gust.  Müller.  Hrsg.  durch 
die  Stiftung  von  Schnyder  von  Wartensee.  (Zürich,  Beer  <S  Cie.   1916.) 

—  Die  sorgfältige,  auf  umfassender  Benützung  handschriftlichen  Mate- 
rials beruhende  Arbeit  bestätigt  durch  genaue  Einzeluntersuchung  den 
Allgemeineindruck,  den  man  schon  bisher  von  der  Arbeitsweise  des 
Chronisten  Stumpf  gewonnen  hatte:  es  handelt  sich  um  keine  origi- 
nelle wissenschaftliche  Persönlichkeit,  aber  um  einen  fleißigen  und 
gewissenhaften  Sammler  und  Verarbeiter,  der  in  engem  Kontakt  mit 
den  bedeutenderen  Mitstrebenden  —  Vadian,  Tschudi,  Bullinger  u.  a. 

—  vielfach  die  Fundamente  zu  der  Kenntnis  schweizerischer  Geschichte 
und  schweizerischen  Landes  legte,  die  zum  Teil  erst  im  19.  Jahrhun- 
dert wieder  revidiert  wurden.  Die  Arbeit  Müllers,  die  nur  einen  Ab- 
schnitt von  Stumpfs  1548  bei  Froschauer  in  Zürich  erschienenem 
Hauptwerk  analysiert,  läßt  aufs  neue  den  Wunsch  nach  einer  Bio- 
graphie Stumpfs  lebendig  werden,  für  die  reiches  Briefmaterial  vor- 
handen wäre.  In  ihrer  Methode  und  Technik  schließt  sie  sich  der 
Untersuchung  E.  Dürrs  über  die  ,,  Quellen  des  Aeg.  Tschudi  in  der 
Darstellung  des  alten  Zürichkrieges"  an  (Basel  1908).  Ein  hübsches 
Nebenergebnis  ist  die  Auffindung  der  seither  im  Abschlußband  der 
„Basler  Chroniken"  gedruckten  „Chronik  der  Bischöfe  von  Basel" 
des  Niki.  Briefer. 

Zürich.  E.  Gagliardi. 

Von  dem  trefflichen  Handbuch,  das  M.  Doeberl  über  die  „Ent- 
wickelungsgeschichte  Bayerns"  geschrieben  hat,  liegt  der  1.  Band 
(vgl.  Uhlirz  in  dieser  Zeitschrift  98  (1907),  599—603)  nunmehr  in  der 
dritten  Auflage  vor  (München,  Oldenbourg.  1916.  X  u.  637  S.  16  M.), 
die  mit  zahlreichen  Änderungen  und  Erweiterungen  einzelner  Stellen 
gegenüber  der  stärker  vermehrten  2.  Auflage  noch  um  12  Seiten  ange- 
wachsen ist.    Leider  fehlt  auch  dieser  Auflage  ein  Register. 

Wie  die  Geschichte  der  deutschen  Domkapitel  in  den  letzten 
beiden  Jahrzehnten  den  Stoff  für  zahlreiche  Dissertationen  lieferte, 
so  hat  die  Dissertation  von  Joseph  Friedrich  Abert  über  ,,die  Wahl- 
kapitulationen der  Würzburger  Bischöfe  bis  zum  Ende  des  XVII.  Jahr- 
hunderts" (Würzburg  1905)  den  Anlaß  gegeben  für  eine  Reihe  von 
Untersuchungen  über  die  Wahlkapitulationen  der  deutschen  Bistümer, 
nachdem  schon  vorher  Brunner  die  Wahlkapitulationen  des  Bistums 
Konstanz  kurz  zusammengestellt  hatte  (Mitteil,  der  Badischen  Histor. 
Kommission  Nr.  20,  S.  1—16,  Karlsruhe  1898).  Auf  Würzburg  folgten 
Bamberg  (Weigel  1909,  Dissert.  Würzburg),  Mainz  (Stimming,  Göttin- 
gen 1909),  Trier  (Kremer  in  der  Westdeutschen  Zeitschrift,  Ergänzungs- 
heft 16,   1911)    und    nunmehr  Eichstätt    (Ludwig  Bruggeier,    Die 


544  Notizen  und  Nachrichten. 

Wahlkapitulationen  der  Bischöfe  und  Reichsfürsten  von 
Eichstätt  1259 — 1790.  Eine  historisch-kanonistische  Studie  in  den 
Freiburger  Theologischen  Studien,  Heft  18,  Freiburg  i.  B.,  Herder. 
1915.  XVI  u.  130  S.).  Da  es  sich  bei  diesen  Kapitulationen  in  den 
behandelten  wie  in  den  meisten  übrigen  deutschen  Hochstiften  fast 
immer  wieder  um  dieselben  Ansprüche  der  Domkapitel  handelt,  so 
sind  die  Grundzüge  der  Entwicklung  nicht  sehr  verschieden.  Es  fragt 
sich  daher  sowohl  für  den  Kanonisten  wie  ganz  besonders  für  den 
Historiker,  ob  es  ratsam  ist,  in  dieser  Weise  weiterzuarbeiten,  da  man 
sonst  wie  in  den  Arbeiten  über  die  Domkapitel  immer  wieder  die- 
selben Dispositionen  und  zum  Teil  dieselben  Worte  zu  lesen  bekommen 
würde.  Sicherlich  wäre  eine  Untersuchung  über  Osnabrück  wie  über 
Köln  und  Münster  noch  lohnend,  da  an  den  dortigen  Wahlkapitula- 
tionen, wenigstens  zeitweise,  auch  die  übrigen  Stände  des  Bistums 
beteiligt  waren.  Für  die  anderen  deutschen  Hochstifte  aber  sollte  es, 
falls  man  sich  nicht  zu  einer  vollständigen  Verfassungsgeschichte  des 
Bistums  entschließen  kann,  m.  E.  genügen,  1.  zu  vergleichen  und  nur 
das  Abweichende  in  der  Entwicklung  hervorzuheben;  2.  eingehender, 
als  es  bisher  geschehen  ist,  die  Frage  zu  behandeln,  inwieweit  die 
Bischöfe  sich  an  diese  Kapitulationen  gehalten  und  wie  sie  sie  um- 
gangen haben;  dazu  müßten  aber  nicht  nur  die  Wahlkapitulationen, 
sondern  auch  die  übrigen  Quellen  zur  Geschichte  des  Bistums  heran- 
gezogen werden.  Jedenfalls  dürfte  es  sich  kaum  empfehlen,  in  der 
gleichen  Weise  weiterzuarbeiten,  wie  es  in  diesen  an  sich  verdienst- 
vollen Untersuchungen  geschehen  ist.  Das  wäre  Kräfteverschwendung, 
und  wenigstens  die  Geschichtswissenschaft  hat  gerade  jetzt  allen 
Grund,  Kräfte  zu  sparen  und  sich  an  die  großen  Aufgaben  zu  wenden, 
die  ihr  die  allgemeine  Geschichte  stellt. 

Königsberg  i.  Pr.  A  Brackmann. 

\  Die  Württembergische  Kommission  für  Landesgeschichte  hat  im 
Jahre  1916  die  Feier  ihres  fünfundzwanzigjährigen  Bestehens  begehen 
können.  Den  25.  Jahrgang  ihrer  Zeitschrift,  der  Neuen  Folge  der 
Württembergischen  Vierteljahrshefte  für  Landesgeschichte,  legt  sie, 
anstatt  ihn  wie  sonst  in  einzelnen  Heften  erscheinen  zu  lassen,  als 
Festband  vor;  er  ist  König  Wilhelm  II.  gewidmet,  der  ja  gleichzeitig 
sein  fünfundzwanzigjähriges  Regentenjubiläum  begeht.  Sie  will  in 
diesem  Bande  Rechenschaft  ablegen  über  den  Stand  der  heutigen 
Geschichtsforschung  des  Landes,  und  trotz  der  durch  den  Krieg  be- 
dingten Erschwerungen  stellt  er  sich  als  eine  wahrhaft  stattliche  Gabe 
für  die  wissenschaftliche  Welt  dar.  Er  schließt  sich  der  langen  Reihe 
vortrefflicher  Veröffentlichungen  würdig  an,  die  wir  der  Arbeitsfreudig- 
keit und  dem  Unternehmungsgeist  der  Kommission  verdanken.    Der 


Deutsche  Landschaften.  545 

uns  zur  Verfügung  stehende  Raum  erlaubt  es  nicht,  den  inhaltlichen 
Reichtum  des  Bandes  auszuschöpfen;  wir  müssen  uns  auf  die  Er- 
wähnung von  einigen  der  wichtigsten  Abhandlungen  beschränken. 
Von  den  äußere  Geschichtsdenkmäler  Württembergs  behandelnden 
Aufsätzen  verdient  besondere  Hervorhebung  der  aus  der  Feder  Eugen 
Gradmanns  über  die  Krypta  im  Pfarrhause  zu  Unterregenbach 
(Das  Rätsel  von  Regenbach).  Der  Quellenkunde  sind  gewidmet: 
Gebhard  Mehring:  Beiträge  zur  Geschichte  der  Kanzlei  der  Grafen 
von  Wirtemberg,  Johannes  Greiner:  Das  Archivwesen  Ulms  in 
seiner  geschichtlichen  Entwicklung,  und  Otto  Leuze:  Die  Wiegendrucke 
der  Bibliothek  der  evangelischen  Nikolauskirche  in  Isny.  Stoffe  aus 
der  mittelalterlichen  Geschichte  von  mehr  als  landeskundlicher  Be- 
deutung bearbeiten:  Karl  Otto  Müller:  Das  Bürgerrecht  in  den  ober- 
schwäbischen Reichsstädten,  und  Karl  Weller:  Markgröningen  und 
die  Reichssturmfahne.  Mit  der  für  das  innere  Leben  Württembergs 
grundlegenden  Frage  der  ständischen  Verhältnisse  und  der  Verfassung 
beschäftigen  sich:  Albert  Eugen  Adam:  Herzog  Friedrich  I.  und  die 
Landschaft,  Theodor  Knapp:  Die  schwäbisch-österreichischen  Stände, 
Eugen  Schneider:  König  Wilhelm  l.  und  die  Entstehung  der  würt- 
tembergischen Verfassung.  Wirtschaftsgeschichtlich  von  Interesse  ist 
die  Mitteilung  eines  Rhein-Neckar-Donau-Verkehrplans  aus  dem 
18.  Jahrhundert  durch  Moriz  v.  Rauch.  Kirchliches  Prüfungs-  und 
Anstellungswesen  im  Zeitalter  der  Orthodoxie  schildert  auf  Grund  der 
Zeugnisbücher  des  herzoglichen  Konsistoriums  Karl  Müller.  Einen 
geistesgeschichtlichen  Beitrag  liefert  Hermann  Fischer:  Die  Halli- 
schen Jahrbücher  und  die  Schwaben.  Der  neueren  politischen  Ge- 
schichte Württembergs  entnommen  sind  die  Aufsätze  von  Albrecht 
List:  Zur  Geschichte  der  revolutionären  Bewegung  in  Schwaben  im 
Frühjahr  1799,  von  Adolf  Rapp:  Württembergische  Politiker  von  1848. 
im  Kampf  um  die  deutsche  Frage,  und  schließlich  der  von  Gottlob 
Egelhaaf:  Die  Regierungszeit  König  Wilhelms  II. 

Karl  Weller  legt  seine  kleine  „Württembergische  Geschichte", 
die  namentlich  für  die  Zeit  bis  zum  19.  Jahrhundert  eine  inhaltvolle 
Übersicht  bietet  und  neben  der  Geschichte  der  Grafschaft  und  des 
Herzogtums  Württemberg  auch  die  der  übrigen  heute  württembergi- 
schen Lande  berücksichtigt,  in  zweiter,  neu  bearbeiteter  Auflage  vor 
(Berlin  und  Leipzig,  Göschen.  1916.  182  S.  Geb.  1  M.  —  Sammlung 
Göschen  Nr.  462). 

Von  der  Neubearbeitung  der  Württembergischen  Münz-  und 
Medaillenkunde  Chr.  Binders  durch  Julius  Ebner  sind  inzwischen 
Heft  1  und  2  des  2.  Bandes  erschienen  (Stuttgart,  Kohlhammer.  1912. 
15).    Sie  umfassen  die  Nebenlinien  des  regierenden  Hauses,  sowie  die 


546  Notizen  und  Nachrichten. 

geistlichen  und  weltlichen  Herren,  und  das  Werk  gewinnt  hier  noch 
mehr  den  Charakter  des  „Münzkabinetts",  wenn  z.  B.  die  gesamte 
Prägung  des  Kölner  Erzbischofs  Gebhard  Truchseß  von  Waldburg 
einbezogen  wird,  weil  er  ein  Württemberger  war.  Man  darf  dem  Be- 
arbeiter, der  seine  Aufgabe  andauernd  sehr  ernst  nimmt,  Glück  wün- 
schen, daß  so  wenige  Württemberger  die  Mitra  getragen  haben. 

jE.  S. 
In  zwei  Heften  der  Forschungen  zur  deutschen  Landes-  und 
Volkskunde  (Bd.  21,  Heft  1  und  2,  1914.  Stuttgart,  J.  Engelhorns 
Nachf.),  enthaltend  ,,Das  ländliche  Siedlungswesen  des  Königreichs 
Württemberg"  und  ,,Die  städtischen  Siedlungen  des  Königreichs 
Württemberg",  kommt  Robert  Gradmann  auf  Fragen  der  Sied- 
lungsgeschichte in  einer  auch  für  den  Historiker  fruchtbaren  Weise  zu 
sprechen.  Die  Siedlungsgeographie  hat  nach  ihm  die  historische  Er- 
klärung bis  jetzt  allzusehr  vernachlässigt;  man  redete  von  ewigen 
Gesetzen,  die  zu  allen  Zeiten  das  Siedlungswesen  in  gleicher  Weise 
beherrscht  haben  sollten.  Die  Entstehung  der  Siedlungen  ist  aber 
nur  aus  der  Zeit  heraus  zu  verstehen,  in  der  sie  tatsächlich  entstanden 
sind,  nicht  aus  den  Bedingungen  der  Gegenwart;  die  Siedlungsgeogra- 
phie kann  sich  der  Pflicht  nicht  entziehen,  selber  auf  die  geschicht- 
lichen Quellen  zurückzugreifen.  Manche  Beobachtungen  Gradmanns 
dürfen  als  sichere  Forschungsergebnisse  aufgenommen  werden.  Die 
mitteleuropäische  Landschaft  durchzieht  ein  tiefer,  früher  gänzlich 
übersehener  Gegensatz  zwischen  Waldgebieten  und  offener  Land- 
schaft; die  ersten  Siedler  haben  die  Siedlungsflächen  nicht  im  Zu- 
stand dichten  Urwalds  angetroffen,  in  die  ausgesprochenen  Wald- 
gebiete haben  sie  nicht  einzudringen  vermocht  (S.  80  ff.).  Erst  in 
deutscher  Zeit  begann  man  die  alten,  früher  unbewohnten  Waldgebiete 
in  Angriff  zu  nehmen  (S.  102).  Auch  auf  die  Ortsnamen  geht  Grad- 
mann ein  und  weist  insbesondere  mit  vollem  Recht  die  Auffassung 
Behaghels  (Die  deutschen  Weiler-Orte  1910)  u.  a.  zurück,  daß  die  Orte 
mit  der  Endung  -weiler  auf  Römersiedlung  zurückgehen;  die  Endung 
ist  vielmehr  erst  vom  7.  Jahrhundert  an  aus  dem  westlichen  Franken- 
reich ins  deutsche  Sprachgebiet  herübergedrungen  und  zwar  nicht 
sehr  tief  hinein,  wahrscheinlich  in  Verbindung  mit  der  vom  west- 
lichen Teil  des  Reiches  ausgehenden  Verbreitung  der  grundherrschaft- 
lichen Siedlungen  (S.  115).  Die  mittelalterlichen  Städte  sind  nicht 
Erzeugnisse  ungewollter  Entwicklung,  da  aufgekommen,  wo  der  Ver- 
kehr die  Bedingungen  dafür  geschaffen  hat,  wie  dies  die  herrschende 
geographische  Theorie  annimmt,  vielmehr  sind  sie  das  Werk  eines 
schöpferischen  Einzelwillens,  der  mit  klugem  Vorbedacht  ihre  Lage 
ausgewählt  hat.  Auch  die  Stadtanlagen  Württembergs  sind  keines- 
wegs durch  bereits  vorhandene  Wege  des  Fernverkehrs  vorgezeichnet 


Deutsche  Landschaften.  547 

gewesen;  ihre  wirtschaftliche  Grundlage  ist  weder  im  Großhandel 
noch  im  Zwischenhandel,  sondern  im  Nahverkehr,  im  Kleinhandel 
und  Handwerk,  zu  suchen.  Es  sind  durchweg  Gründungsstädte,  an- 
gelegt, wo  man  auf  eine  städtische  Entwicklung  aus  guten  Gründen 
hoffen  konnte  (S.  158  ff.).  Die  meist  im  14.  und  15.  Jahrhundert  ent- 
standenen Zwergstädte,  deren  große  Zahl  in  Württemberg  auffällt, 
sind  als  verfehlte  Spekulationen  von  Grundherren  anzusehen,  die  sich 
die  königliche  Verleihung  des  Stadtrechts  zu  verschaffen  wußten. 

Karl  Weller. 

Aus  der  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins,  Nr.  31,  4: 
Gustav  Boss  er  t  ergänzt  die  Mitteilungen  über  den  Besitz  der  Zäh- 
ringer in  Ostfranken,  die  er  in  den  Blättern  für  württembergische  Kir- 
chengeschichte 1915  gemacht  hatte.  Karl  Stenzel  stellt  die  elsässische, 
Hermann  Baier  die  badische  Geschichtsliteratur  des  Jahres  1915  zu- 
sammen. Von  Hans  Lehmann  erscheint  der  erste  Teil  einer  Abhand- 
lung über  das  Zisterzienserkloster  Wettingen  und  seine  Beziehungen 
zu  Salem  bis  zum  Tode  des  Abtes  Peter  II.  1633.  Karl  Obs  er  druckt 
Urkunden  zur  Geschichte  des  Frauenhauses  in  Überlingen  ab,  die  wert- 
volle Einblicke  in  die  reichsstädtische  Gesetzgebung  tifti  lassen. 

Es  ist  eine  äußerst  interessante  und  hochbedeutsame  Frage,  die 
sich  August  Meyer  zum  Gegenstande  seines  Buches  genommen  hat: 
Der  politische  Einfluß  Deutschlands  und  Frankreichs  auf  die  Metzer 
Bischofswahlen  im  Mittelalter  (Metz,  P.  Müller.  1916.  132  S.).  Die 
Bearbeitung  dieses  Themas  hätte  angesichts  der  Stellung  des  Bistums 
zwischen  den  beiden  Staaten  einen  sehr  wichtigen  Beitrag  zur  mittel- 
alterlichen Geschichte  des  europäischen  Staatensystems  ergeben  können. 
Aber  leider  kommt  der  Verfasser  über  eine  zwar  fleißige  und  zuver- 
lässige, aber  am  rein  Formalen  haftenbleibende  Aneinanderreihung 
der  äußeren  Geschehnisse  nicht  heraus.  In  chronologischer  Reihenfolge 
läßt  er  sämtliche  Metzer  Bischofswahlen  bis  1551  an  uns  vorüber- 
ziehen und  untersucht  bei  jeder  einzelnen  ihre  politischen  Gründe  und 
Veranlassungen.  Die  eigentliche  Durchdringung  und  Verarbeitung  des 
auf  diese  Weise  gewonnenen  Stoffes  bleibt  er  schuldig,  der  Versuch 
einer  größeren  Linienführung  ist  in  den  allerersten  Anfängen  stecken 
geblieben.  So  kann  sein  Buch  nur  als  bequeme  Materialsammlung 
für  weitere  Forschung  anerkannt  werden. 

Der  schon  erwähnten,  durch  die  Feier  der  hundertjährigen  Zu- 
gehörigkeit der  Pfalz  zu  Bayern  hervorgerufenen  Literatur  sei  noch 
nachgetragen  die  Schrift  von  Albert  Becker:  Die  Wiedererstehung 
■der  Pfalz,  Kaiserslautern  1916,  die  sich  besonders  mit  der  Persönlich- 
keit und  den  Leistungen  des  Präsidenten  der  bayerischen  „Landes- 
administration auf  dem  linken  Rheinufer",  Freiherrn  v.  Zwackh,  be- 
-schäftigt. 


548  Notizen  und  Nachrichten. 

Lebenslauf  und  Persönlichkeit  des  in  der  ersten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  verdienstvollen  hessischen  Kammerpräsidenten  und 
Oberhofmeisters  Carl  Magnus  Freiherrn  v.  Frankenberg  und  Proschlitz 
werden  von  A.  V.  v.  Frankenberg  und  Ludwigsdorff  skizziert  in 
der  Hessischen  Chronik  1916,  12. 

Gegenüber  der  Annahme,  daß  in  der  Gegend  von  Remscheid  erst 
unter  dem  Einfluß  von  aus  den  Niederlanden  vertriebenen  Protestanten 
zur  Anlage  von  Hammerwerken  geschritten  worden  sei,  führt  Schmer- 
tosch  V.  Riesenthal  in  der  Zeitschrift  des  Bergischen  Geschichts- 
vereins 49  den  urkundlichen  Nachweis,  daß  dort,  speziell  im  Amte 
Beyenburg,  schon  im  16.  Jahrhundert  Hammerwerke  im  Betrieb  waren 
(Alte  Schleifkotten  und  Klopfhämmer  im  früheren  bergischen  Amte 
Beyenburg). 

Die  wirtschaftlichen  Leiden  Deutschlands  während  der  Fran- 
zosenherrschaft bis  zu  den  Freiheitskriegen  finden  eine  gute  Illustra- 
tion in  der  Untersuchung  Jordans  über  die  erzwungenen  Anleihen 
des  Königreichs  Westfalen  und  die  Kriegssteuern  von  1813  nebst  den 
Lieferungen  für  die  westfälischen  Truppen  1813  in  den  Mühlhäuser 
Geschichtsblättern  15,  Derselbe  Verfasser  berichtet  an  derselben 
Stelle  (auf  Grund  des  Buches  von  Wappler:  Die  Täuferbewegung  in 
Thüringen  von  1526' — 1584)  über  die  Wiedertäufer  in  Mühlhausen. 
Emil  Kettner  gibt  eine  Geschichte  des  Mühlhäuser  Rathauses  und 
erzählt  von  den  Beziehungen  Goethes  zu  Mühlhausen. 

Dr.  Hans  Heinrich  Hobbing:  Die  Begründung  der  Erstgeburts- 
nachfolge im  ostfriesischen  Grafenhause  der  Cirksena.  Heft  19  der 
Abhandlungen  und  Vorträge  zur  Geschichte  Ostfrieslands.  (Aurich,. 
D.  Friemann.  1915.  88  S.)  —  Im  alten  deutschen  Reiche  wurden  die 
anfänglich  unteilbaren  Lehen  mehr  und  mehr  als  Familienbesitz  an- 
gesehen, was  eine  Teilung  unter  mehrere,  oft  unter  alle  Söhne  der 
bisherigen  Inhaber  zur  Folge  hatte.  Damit  war  ein  großer  Teil  der 
werdenden  Territorialfürstentümer  zur  Ohnmacht  verurteilt.  Sollten 
sich  aus  ihnen  lebensfähige  Staaten  entwickeln,  so  mußte  man  zur 
Unteilbarkeit  der  einzelnen  Landesgebiete  zurückkehren.  Die  Be- 
stimmungen der  Goldenen  Bulle  über  die  Unteilbarkeit  der  Kurfürsten- 
tümer brechen  diesem  Gedanken  Bahn.  Das  15.  Jahrhundert  zeitigt 
vereinzelte  Ansätze  zu  Unteilbarkeits-  und  Erstgeburtsordnungen. 
Bayern  hat  1506  die  erste  eigentliche  Primogeniturordnung  auf- 
zuweisen. Einer  der  ersten,  die  diesem  Vorgange  folgen,  ist  Edzard  I. 
der  Große  von  Ostfriesland.  Wie  sich  die  beiden  von  ihm  erhaltenen 
Verfügungen  von  angeblich  1512  und  1527  ihrer  Entstehungszeit  nach 
zueinander  verhalten,  ist  auch  durch  die  Hobbingsche  Schrift  noch 
nicht  endgültig  geklärt.    Eine  urkundenkritische  Prüfung  der  beidea 


Deutsche  Landschaften.  549 

siegellosen  Originale  im  Staatsarchiv  zu  Aurich  wäre  dazu  unumgäng- 
lich. Daß  jedenfalls  beide  Stücke  von  Edzard  eigenhändig  unter- 
schrieben sind,  würde  ein  Vergleich  mit  der  einzigen  sonst  erhal- 
tenen Unterschrift  dieses  Grafen  im  Hauptstaatsarchiv  zu  Dresden 
(Friesländische  Sachen  8182,  1498—1500,  fol.  114)  bestätigen.  Eine 
endgültige  Feststellung  des  Erstgeburtsrechtes  für  Ostfriesland  konnte 
durch  kaiserliche  Bestätigung  erst  im  Jahre  1595  erfolgen.  Die 
Jahrzehnte  vorher  sind  von  heftigen  Kämpfen  zwischen  den 
Brüdern  Edzard  II.  und  Johann  erfüllt,  in  denen  sich  alle  die- 
jenigen Schwierigkeiten  widerspiegeln,  die  sich  einer  solchen  im 
Sinne  einer  gesunden  Familienpolitik  wie  einer  kräftigen  Territorial- 
entwicklung gleich  wertvollen  Ordnung  innerhalb  der  deutschen  Für- 
stenhäuser entgegensetzten.  Das  hier  für  Ostfriesland  durchgeführte 
Beispiel  gewinnt  dadurch  noch  eine  besondere  Färbung,  daß  außer 
der  Reichsgewalt  und  den  deutschen  Reichsfürsten  auch  noch  ein 
ausländischer  Herrscher,  der  König  von  Schweden,  Edzards  11. 
Schwager,  sich  in  den  Streit  einmischt  und  daß  die  Stände,  die  eigent- 
lichen Herren  des  Landes,  eine  bedeutsame  Rolle  spielen.  Kleinliche 
Sorge  um  die  eigenen  Machtbefugnisse  hindert  sie  an  nachdrücklichem 
Vorgehen  zugunsten  einer  Ordnung,  die  im  wahren  Interesse  des  von 
ihnen  vertretenen  Landes  gelegen  hätte  und  die  nach  den  Richtlinien, 
die  ein  weitblickender  Landesherr  gab,  dem  so  günstig  gelegenen 
Küstenland  an  der  Nordsee  beizeiten  das  verschafft  hätte,  was  bei- 
spielsweise für  die  braunschweigisch-lüneburgischen  Lande  erst  ein  paar 
Jahrhunderte  später  erreicht  wurde  und  dann  dort  mit  der  Bildung 
eines  Kurstaates  für  den  Nordwesten  des  Reiches  seinen  Abschluß 
fand.  Es  ist  dem  Verfasser  nicht  vergönnt  gewesen,  an  seine  Arbeit 
die  letzte  Hand  legen  zu  können.  Am  20.  Nov.  1914  ist  er  im  Kampfe 
fürs  Vaterland  gefallen.  Die  einschlägigen  Akten  des  Staatsarchivs  zu 
Aurich  sind  von  ihm  fleißig  benutzt.  Ihr  Inhalt  ist  in  übersichtlicher 
Form  zur  Darstellung  gebracht.  Einige  Ergänzungen  hätte  noch  das 
Reichsarchiv  in  Stockholm  zu  bieten  vermocht.  (E.  VII  Förhandlingar 
med  Ost-Friesland;  Faszikel :  Förh.  m.  O.-F.  under  Gustaf  I  och  Erik  XIV 
und  besonders:  Förh.  m.  O.-F.  under  Johann  III;  übrigens  handelt  es 
sich  bei  dem  von  Hobbing  S.  64  erwähnten  Herzog  Karl  von  Schweden, 
der  einen  Teil  der  Verhandlungen  geführt  hat,  um  den  Herzog  Karl 
von  Södermanland.)  Aus  dem  Haus-,  Hof-  und  Staatsarchiv  in  Wien 
sind  nur  die  „Ostfr.  Akten  betr.  den  Reichstag  zu  Speier  1570"  heran- 
gezogen. Auch  die  anderweitigen  Akten  über  die  Beteiligung  der 
Reichsgewalt  bei  der  ostfriesischen  Primogeniturangelegenheit  hätten 
noch  Ergänzungen  bieten  können,  ebenso  die  Akten  des  Reichshof- 
rats. Immerhin  gewinnt  man  auch  so  von  dem  Gange  der  oft  recht 
umständlichen  Verhandlungen  ein  anschauliches  Bild.     H.  Reimers. 


550  Notizen  und  Nachrichten. 

Die  Zeitschrift  des  Vereins  für  Lübeckische  Geschichte  und  Alter- 
tumskunde 18,2  enthält  eine  Untersuchung  von  Johannes  Becker 
über  die  Einführung  der  öffentlichen  Konfirmation  in  Lübeck,  sowie 
den  ersten  Teil  einer  größeren  Arbeit  von  Artur  Witt  über  die  Ver- 
lehnten in  Lübeck;  dieser  erste  Teil  behandelt  die  Gruppen  der  Ar- 
beiterbevölkerung, die  sich  nach  dem  Muster  der  Zünfte  allmählich 
zu  besonderen  Brüderschaften  unter  dem  gemeinsamen  Namen  „Träger" 
herausbildeten. 

Die  Freiburger  (i.  B.)  Dissertation  von  Martha  Genzmer,  Das 
Fischergewerbe  und  der  Fischhandel  in  Mecklenburg  vom  12.  bis 
zum  14.  Jahrhundert  (Merseburg  1915)  gibt  in  klar  gegliederter,  nüch- 
terner Darstellung  eine  nützliche  Übersicht  der  einschlägigen  Ver- 
hältnisse, deren  Erforschung  in  anderen  Gegenden  in  den  letzten 
Jahren  tüchtig  angepackt  worden  ist  und  in  dem  Archiv  für  Fischerei- 
geschichte einen  Mittelpunkt  erhalten  hat;  sie  sucht  eine,  freilich  wohl 
zu  ergänzende  und  zu  vertiefende  Verbindung  zwischen  den  Ergeb- 
nissen lokaler  und  allgemeinerer  Forschung  herzustellen.  Nicht  be- 
nutzt ist  die  vollständige  Ausgabe  des  ältesten  Wismarschen  Stadt- 
buches von  etwa  1250  bis  1272  von  F.  Techen,  Wismar,  Hinstorff  1912 
(Festschrift  für  die  Jahresversammlung  des  Hansischen  Geschichts- 
vereins und  des  Vereins  für  Niederdeutsche  Sprachforschung,  Pfingsten 
1912),  aus  der  sich  wohl  noch  einiges  hätte  entnehmen  lassen.  Die 
Rostocker  Nikolai-Kirche  wird  irrtümlich  in  die  Mittelstadt  verlegt; 
in  einer  Art  Vorstadt  entstanden,  wurde  sie  in  der  Folge  vielmehr  in 
die  Altstadt  einbezogen.  —  Von  derselben  Verfasserin  wird  in  ähn- 
licher Weise  in  den  Jahrbüchern  des  Vereins  für  mecklenburgische 
Geschichte  und  Altertumskunde  LXXX  (1915),  S.  191—216  das  Flei- 
schergewerbe in  Mecklenburg  vom  12.  bis  zum  14.  Jahrhundert  be- 
handelt; daß  bei  weniger  enger  örtlicher  und  zeitlicher  Begrenzung 
mehr  Ergebnisse  zu  gewinnen  waren,  bemerkt  F.  Techen  in  der  Zeit- 
schrift des  Vereins  für  Lübeckische  Geschichte  und  Altertumskunde 
18,  S.  222.  A  H. 

Das  Heft  53,  1  u.  2,  der  Altpreußischen  Monatschrift  bringt  den 
Schluß  des  hier  schon  erwähnten,  von  L.  Stieda  veröffentlichten 
Tagebuches  des  Prof.  K.  Morgenstern  über  eine  Reise  von  Danzig 
nach  Dorpat  im  Jahre  1802  und  eine  Abhandlung  von  W.  Ziesemer 
über  ein  Königsberger  Rechnungsbuch  aus  den  Jahren   1433 — 1435. 

Eine  königliche  Entscheidung  über  die  Aufnahme  von  Juden  in 
die  Zünfte  zu  Berlin  aus  dem  Jahre  1803  veröffentlicht  Oskar  Sud  er 
in  den  Mitteilungen  des  Vereins  für  die  Geschichte  BerUns  1917,  1. 

Mehrere  Beiträge  zur  Geschichte  der  Freiheitskriege  bringen  die 
neuesten    Schriften   des   Vereins   für    Geschichte   der   Neumark.     In 


Deutsche  Landschaften.  551 

Heft  32  veröffentlicht  Koppel  Tagebuch  und  Briefe  seines  Vaters^ 
der  als  freiwilliger  Jäger  an  dem  Kriege  1813/14  teilgenommen  hat; 
in  der  Hauptsache  haben  sie  den  holländischen  Feldzug  zum  Gegen- 
stand. Mit  der  inneren  Geschichte  Preußens  von  1811 — 1813  be- 
schäftigen sich  die  Briefe  des  Thaer-Schülers  L.  Schoetz,  die  Arthur 
Kern  mitteilt  (Briefe  aus  der  Zeit  der  Reform  und  der  Befreiung 
1811 — 1813).  Bis  in  alle  Einzelheiten  hinein  schildert  in  Heft  33 
Maximilian  Schnitze  die  kriegerische  Betätigung  des  1.  und  2.  Neu- 
märkischen Landwehr-Kavallerie-Regiments  1813 — 1815.  Außerdem 
sei  erwähnt  die  von  Oskar  Seeliger  bearbeitete  Geschichte  des  Kirch- 
spiels Schmarse  (Heft  32),  die  Charakteristik  Brenkenhoffs,  der  rechten 
Hand  Friedrichs  des  Großen  bei  der  Kolonisation  der  Neumark,  durch 
Reh  mann  (Heft  34)  und  schließlich  die  Darstellung  desselben  Ver- 
fassers von  dem  Kampfe,  den  die  Gräfin  Lichtenau,  die  Maitresse  Fried- 
rich Wilhelms  II.,  im  Jahre  1816  erfolgreich  um  ihre  Stellung  als  Gräfin 
und  um  die  ihr  verliehenen  Güter  Lichtenow  und  Breitenwerder 
führte. 

Die  für  das  deutsche  Wirtschaftsleben  bedeutungsvolle  Krisis 
des  mansfeldischen  Kupferhandels  im  16.  Jahrhundert  behandelt 
Walter  Möllenberg  in  der  Thüringisch-Sächsischen  Zeitschrift  für 
Geschichte  und  Kunst  6,  1.  An  derselben  Stelle  erscheint  ein  vor  allen 
Dingen  vom  kulturhistorischen  Standpunkt  aus  interessanter  und 
wertvoller  Aufsatz  von  Otto  Bölke:  Wie  vor  zweihundert  Jahren  die 
Bibliothek  eines  Fläminger  Erb-Lehn-  und  Gerichtsschulzen  aussah. 

Mit  einem  Vorwort  von  Eduard  Spranger  erscheint  die  nach- 
gelassene Arbeit  über  das  Schulwesen  der  Stadt  Borna  bis  zum  Dreißig- 
jährigen Kriege  von  dem  vor  dem  Feinde  gefallenen  Johannes  Rinke- 
feil,  Dresden  1916.  Der  Verfasser  war  mit  Geschick  und  Erfolg  be- 
müht, seine  durch  gründliche  Einzelforschung  gewonnenen  Ergebnisse 
unter  höhere  Gesichtspunkte  zu  stellen  und  so  aus  seiner  lokalhistori- 
schen Arbeit  einen  wertvollen  Beitrag  zu  der  allgemeinen  Geschichte 
des  deutschen  Erziehungswesens  zu  machen. 

Eine  Überschau  über  das  evangelische  religiöse  und  kirchliche 
Leben  Dresdens  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Kriegszeiten 
seit  der  Einführung  des  Protestantismus  im  Jahre  1539  bis  auf  unsere 
Tage  gibt  in  anregender  Weise  Georg  Hermann  Müller  in  den  Dres- 
dener Geschichtsblättern  1916,  2  u,  3. 

In  schlicht  populärer  Weise  schildert  Adolf  Warschauer  in 
seinem  knapp  gefaßten  Büchlein  „Geschichte  der  Provinz.  Posen  in 
polnischer  Zeit",  das  als  Beilage  zu  den  Historischen  Monatsblättern 
für  die  Provinz  Posen  (1914,  Verlag  der  Histor.  Gesellschaft  zu  Posen. 
171  S.   kl.  8")  erschienen  ist,  das  Wichtigste  aus  der  Geschichte  dieses 


552  Notizen  und  Nachrichten. 

Teiles  von  Polen;  zunächst  die  sagenhafte  Vorgeschichte,  dann  die 
des  Posener  Landes  als  Mittelpunkt  des  entstehenden  polnischen  Reiches 
<bis  1138),  wobei  auf  die  gesellschaftlichen  Verhältnisse,  Staatsverfas- 
sung und  Gerichtsbarkeit  und  auf  die  materielle  Kultur  näher  ein- 
gegangen wird.  Im  weiteren  Verlauf  wird  auf  die  Zeit  der  politischen 
Selbständigkeit  des  Landes  und  der  ersten  deutschen  Kolonisation 
<1138 — 1296)  eingegangen,  die  in  ihren  wichtigsten  Erscheinungen 
dargelegt  wird.  Das  folgende  Kapitel  umfaßt  das  Zeitalter  des  Kampfes 
um  die  polnische  Krone  und  der  Entwicklung  des  nationalen  Gegen- 
satzes, dann  die  Friedenszeit  unter  Kasimir  dem  Großen  (1296 — 1386). 
Die  Darstellung  der  vielfach  verwickelten  Verhältnisse  in  diesem 
Kapitel  ist  eine  durchaus  sachgemäße.  Die  Schilderung  der  Regie- 
rung Kasimirs  gibt  Gelegenheit,  auf  die  inneren  Verhältnisse  einzugehen: 
die  Gerichtsorganisation,  das  Städtewesen  und  die  Kolonisation  ein- 
gehender vorzutragen.  Die  nächsten  Kapitel  schildern  die  Zeit  der 
mittelalterlichen  Jagiellonen  und  das  Zeitalter  der  Reformation  und 
Gegenreformation,  des  Schwedenkriegs,  endlich  der  Auflösung  Polens 
und  des  Überganges  der  Provinz  in  den  preußischen  Staat.  Auch  in 
diesen  Kapiteln  wird  neben  der  politischen  Geschichte  das  Wesent- 
liche aus  der  inneren  Geschichte,  der  Entwicklung  von  Handel  und 
Gewerbe,  den  bäuerlichen  Verhältnissen,  der  kirchlichen  Opposition 
in  der  Zeit  des  Hussitismus  und  im  16.  Jahrhundert  behandelt.  Recht 
ansprechend  ist  die  sog.  zweite  deutsche  Einwanderung  in  der  Zeit 
der  Gegenreformation  dargelegt  und  ebenso  sachgemäß  Ursachen  und 
Verlauf  der  Teilungen.  Ohne  auf  Einzelnheiten  näher  einzugehen, 
darf  gesagt  werden,  daß  bei  der  gedrängten  Kürze  der  Darstellung 
vieles  nur  angedeutet,  manches  ganz  beiseite  gelassen  werden  mußte. 
Wünschenswert  wäre  eine  Karte  und  eine  Stammtafel  gewesen. 
Graz.  J.  Loserth. 

Sowohl  für  die  Salzburger  lokalgeschichtliche  Forschung  wie 
für  die  allgemeine  Geschichtschreibung  der  zweiten  Hälfte  des  Mittel- 
alters von  Wert  ist  die  Zusammenstellung  der  Personal-  und  Amtsdaten 
der  Erzbischöfe  von  Salzburg  798 — 1519,  die  Wilhelm  Fischer  als 
Greifswalder  Dissertation  vorlegt  (Anklam  1916.    XXII  u.  103  S.). 

Neue  Bücher:  Rufer,  Der  Freistaat  der  3  Bünde  und  die  Frage 
■des  Veitlins.  Korrespondenzen  und  Aktenstücke  aus  den  Jahren  1796 
und  1797.  (Basel,  Basler  Buch-  und  Antiquariatshandl.  21  M.)  — 
Wilms,  Die  Kaufleute  von  Freiburg  im  Breisgau  1120—1520.  (Frei- 
burg i.  B.,  Herder.  4  M.)  —  Wolfg.  Windelband,  Die  Verwaltung 
der  Markgrafschaft  Baden  z.  Z.  Karl  Friedrichs.  (Leipzig,  Quelle  & 
Meyer.  10,20  M.)—  Urkunden  und  Akten  des  Kgl.  württ.  Haus- 
und  Staatsarchivs.    1.  Abt.    Württemberg.    Regesten  von   1301   bis 


Vermischtes.  553 

1500.  I.  Altwürttemberg.  1.  Tl.  (Stuttgart,  Kohlhammer.  9  M.)  — 
Mummenhoff,  Altnürnberg  in  Krieg  und  Kriegsnot.  2.  (Nürnberg, 
Schräg.  3  M.)  —  Scholler,  Der  Reichsstadt  Nürnberg  Geld-  und 
Münzwesen  in  älterer  und  neuerer  Zeit.  Hrsg.  von  Carl  Frdr.  Gerbert- 
Nürnberg.  (Nürnberg,  Koch.  7,50  M.)  —  Bechtolsheimer,  Die- 
terich u.  Strecker,  Beiträge  zur  rhein-hess.  Geschichte.  (Mainz, 
Diemer.  4,50  M.)  —  F.  Bot  he  u.  B(ernard)  Müller,  Geschichte  der 
Stadt  Frankfurt  am  Main  in  Wort  und  Bild.  Bd.  2a.  (Frankfurt  a.  M., 
Diesterweg.  8  M.)  —  Ley,  Kölnische  Kirchengeschichte  von  der 
Einführung  des  Christentums  bis  zur  Gegenwart.  2.  umgearb.  Aufl. 
(Essen,  Baedeker.  12  M.)  —  Die  Stadt  Cöln  im  ersten  Jahrhundert 
unter  preußischer  Herrschaft.  1815  bis  1915.  1.  Bd.  2  Tle.  u.  2.  Bd. 
(Cöln,  Neubner.  25  M.)  —  Franz  Fischer,  Die  Wirtschaftsgeschichte 
des  Prämonstratenserinnen- Klosters  ölinghausen.  (Münster,  Coppen- 
rath.    2,60  M.) 

Vermischtes. 

Dem  Jahresberichte  über  die  Herausgabe  der  Monumenta  Ger- 
maniae  historica,  den  M.  Tan  gl  in  den  Sitzungsberichten  der  Ber- 
liner Akademie  1916,  55  veröffentlicht,  entnehmen  wir  das  Folgende: 
An  Brunners  Stelle  ist  Hintze  von  der  Kgl.  Akademie  der  Wissen- 
schaften in  die  Zentraldirektion  entsendet  worden.  In  dem  Berichts- 
jahr 1915  sind  erschienen  Epistolae  selectae.  Tom.  I.  Sancti  Bonifatii 
et  Lullii  epistolae  ed.  M.  Tan  gl.  Vom  Neuen  Archiv  Bd.  40,  Heft  2. 
Im  Druck  befinden  sich  6  Quartbände  und  2  Oktavbände.  —  Für 
den  7.  Band  der  Scriptores  rerum  Merovingicarum  ist  Kr u seh  mit 
der  Vorrede  für  die  Vita  Germani  episcopi  Parisiaci  von  Fortunat 
beschäftigt.  Levison  hat  den  Druck  der  Vita  des  Bischofs  Hermann 
von  Auxerre  erledigt.  In  der  Abteilung  Scriptores  hat  Bai  st  die  Be- 
arbeitung des  Textes  der  Normannengeschichte  des  Amatus  von  Monte 
Cassino  vollendet.  In  der  Serie  der  Scriptores  rerum  Germanicarum 
hat  Breßlau  die  von  v.  Simson  druckfertig  hinterlassene  Neuaus- 
gabe des  Chronicon  Urspergense  zum  Abschluß  gebracht,  so  daß  ihr 
Erscheinen  unmittelbar  bevorsteht.  Br  et  holz  wird  den  Druck  des 
Cosmas  von  Prag  demnächst  beginnen.  Er  wird  auch  die  durch 
Uhlirz'  Tod  verwaiste  Edition  der  österreichischen  Annalen  über- 
nehmen. In  der  Bearbeitung  der  Geschichtschreiber  des  14.  Jahr- 
hunderts hat  Leidinger  die  Ausgabe  der  Vita  Ludowici  quarti  impe- 
ratoris,  der  Chronik  des  Mönches  von  Fürstenfeld  und  des  Chronicon 
de  ducibus  Bawariae  im  Manuskript  abgeschlossen.  Breßlau  hat  die 
Bearbeitung  der  Chronik  des  Heinrich  Taube  von  Seibach  fortgesetzt' 
Levison  hat  die  Arbeiten  am  Liber  Pontificalis,  v.  Schwind  den 

Historische  Zeitschrift  (117.  Bd.)  3.  Folge  21.  Bd.  36 


554  Notizen  und  Nachrichten. 

Druck  der  Lex  Baiwariorum  weiter  gefördert.  Über  die  von  Kr u seh 
und  V.  Schwerin  gegen  die  Zuverlässigl<eit  der  Grundlagen  der  Neu- 
ausgabe der  Lex  Salica  erhobenen  Einwendungen  werden  Gutachten 
eingeholt,  worauf  eine  Kommission  über  das  Schicksal  der  Ausgabe 
entscheiden  wird.  Bastgen  hat  den  Druck  der  Libri  Carolini  wieder 
aufgenommen.  Für  die  Fortführung  der  Ausgabe  der  Constitutiones 
König  Ludwigs  des  Bayern  ist  Rieh.  Scholz  gewonnen.  Vom  8.  Band 
der  Constitutiones,  des  ersten  König  Karls  IV.,  steht  die  Ausgabe  der 
ersten  Lieferung  des  Textes  durch  Salomon  unmittelbar  bevor.  Die 
Vorarbeiten  des  9.  Bandes  hat  Demeter  weitergeführt.  Die  Fort- 
setzungen der  Karolingischen  Konzilien  vom  Jahre  843  ab  hat  Hans 
Brinkmann  (an  Stelle  des  gefallenen*Th.  Hirschfeld)  übernommen. 
Für  die  Bearbeitung  der  Diplome  der  Salischen  Kaiser  in  der  Serie 
Diplomata  saec.  XI.  hat  der  Abteilungsleiter  Breßlau  eine  Reise 
nach  Belgien,  Nordfrankreich  und  Holland  unternommen;  Für  die 
Serie  Diplomata  ^aec.  XII.  hat  der  Abteilungsleiter  v.  Ottenthai 
seine  Arbeiten  auf  die  Urkunden  Lothars  III.  konzentriert.  Die  in 
der  Abteilung  £p/s/o/ae  erfolgte  Publikation  ist  schon  erwähnt.  Pereis 
hat  an  der  Drucklegung  des  Liber  de  Vita  Christiana  des  Bonizo  und 
an  der  Ausgabe  der  Briefe  und  Vorreden  des  Anastasius  bibliothecarius 
gearbeitet.  In  der  Abteilung  Antiquitates  hat  Fastlinger  den  Druck 
des  4.  Bandes  der  Necrologia  beendet.  Für  die  Auetores  Antiquissimi 
wird  Ehwald  die  Bearbeitung  des  Glossars  als  Abschluß  seiner  Ald- 
helm-Ausgabe  zu  Ende  führen.  In  der  Schriftleitung  des  Neuen  Ar- 
chivs (dessen  Abhandlungen  zur  Vorbereitung  neuer  Ausgaben  in  dem 
Berichte  mehrfach  erwähnt  werden)  wird  Tangl  durch  Pereis  unter- 
stützt. 

Wie  wir  dem  Jahresbericht  der  Kgl.  Sächsischen  Kommission 
für  Geschichte  entnehmen,  haben  die  wissenschaftlichen  Arbeiten  der 
Kommission  auch  in  dem  verflossenen  Jahr  1916  nicht  in  dem  Maße 
gefördert  werden  können,  wie  dies  früher  in  friedlichen  Zeiten  mög- 
lich gewesen  war;  noch  jetzt  sind  die  Mitarbeiter  der  Kommission 
entweder  zum  Heeresdienst  einberufen  oder  mittelbar  in  der  Kriegszeit 
an  der  raschen  Förderung  ihrer  Arbeiten  behindert  worden.  Dennoch 
ist  es  möglich  gewesen,  auch  unter  den  erschwerten  Verhältnissen 
eine  Anzahl  der  Unternehmungen  der  Kommission  in  erfreulicher 
Weise  vorwärts  zu  bringen.  Vor  allem  liegt  Band  II  der  Akten  und 
Briefe  Herzog  Georgs,  welche  Geß  herausgibt,  nunmehr  abgeschlossen 
vor,  so  daß  diese  Veröffentlichung  gegen  Ende  dieses  Jahres  aus- 
gegeben werden  kann.  Im  Druck  gefördert  ist  der  von  dem  Prinzen 
Johann  Georg  herausgegebene  Briefwechsel  zwischen  dem  König 
Johann  und  dem  amerikanischen  Historiker  Ticknor,  ferner  die  von 
Bemmann  bearbeitete  Bibliographie  zur  Sächsischen  Geschichte,  sowie 


Vermischtes.  555 

der  von  Schmidt  bearbeitete  Briefwechsel  zwischen  dem  Grafen  Brühl 
und  Heinrich  von  Heinecken.  An  Stelle  des  verstorbenen  Professor 
Wustmann  ist  Professor  Dr.  Schering  in  Leipzig  mit  der  Fortführung 
der  Leipziger  Musikgeschichte  beauftragt  worden.  Eine  neue  Ver- 
öffentlichung hat  die  Kommission  mit  Rücksicht  auf  die  gegenwärtige 
Kriegszeit  nicht  in  ihren  Arbeitsplan  aufgenommen. 

Aus  dem  6.  Bericht  des  Schweizerischen  Wirtschafts- 
Archivs  in  Basel  erfahren  wir,  daß  das  Archiv  eifrig  benutzt  worden 
ist  und  daß  einige  auf  seinem  Material  beruhende  Arbeiten  erschienen 
sind,  insbesondere  über  das  schweizerische  Bank-  und  Finanzwesen 
und  über  verschiedene  Industrien. 

Mit  Charlotte  Lady  Blennerhassett,  geb.  Gräfin  von  Leyden, 
die,  fast  74  Jahre  alt,  am  11.  Februar  in  München,  ihrer  Vaterstadt, 
gestorben  ist,  ist  eine  deutsche  Schriftstellerin  dahingegangen,  deren 
Name  auch  in  der  Welt  der  Historiker  einen  guten  Klang  besaß.  Durch 
ihre  Herkunft  wie  durch  ihre  Heirat  mit  einem  irischen  Edelmann, 
einem  Mitgliede  des  Parlaments  von  Westminster,  ward  die  durch 
Geist  und  Wissen  ausgezeichnete  Frau  in  der  vornehmen  Welt  beider 
Länder  gleich  heimisch.  Eduard  VII.  und  der  Prinz-Regent  Luitpold, 
Gladstone  und  Döllinger  und  Lord  Acton  und  so  viele  andere  politische 
und  geistige  Größen  lebten  in  ihrer  Erinnerung.  Aber  bedeutsamer 
für  ihr  Wesen  war  der  Verkehr,  den  sie  ihr  Leben  lang  mit  allen  großen 
Geistern  der  Weltliteratur  unterhielt.  Mit  feinem  Verständnis  das  Wesen 
und  die  Absichten  der  Dichter  und  Schriftsteller  aufzufassen  und 
wiederzugeben,  war  ihre  Art.  Ihre  eigene  Schriftstellerei  beruht  auf 
dem  Grunde  einer  ungeheuren  Belesenheit  und  der  leichten,  edlen 
Form  des  Ausdrucks,  So  ist  sie  auch  historischen  Stoffen  nahegetreten 
und  hat  eine  Reihe  von  Werken  geschaffen,  die  vom  geschichtslesenden 
Publikum  freudig  begrüßt,  von  der  fachmännischen  Historie  mit  Hoch- 
achtung empfangen  wurden  und  ihr  zuletzt  die  ehrende  Anerkennung 
der  Verleihung  der  Doktorwürde  durch  die  Münchener  philosophische 
Fakultät  eingetragen  haben.  Unter  diesen  Werken  steht  die  drei- 
bändige Biographie  der  Frau  von  Stael  an  erster  Stelle.  Wie  in  diesem 
Buche  die  historische  Behandlung  politischer  Fragen  mit  derjenigen 
der  Geistesgeschichte  in  ihren  Äußerungen  bei  verschiedenen  Völkern 
verbunden  ist,  wie  über  dem  Ganzen  das  Bild  einer  Frau,  in  warmen 
sympathischen  Farben  gemalt,  erscheint,  so  erblickt  man  hier  in  voller 
Entfaltung  Jene  biographische  Kunst,  die  Lady  Blennerhassett  noch 
in  einer  Reihe  weiterer  Schriften  ähnlich  geübt  hat.  Nicht  in  tief  ein- 
dringender Forschung  lag  ihre  Stärke,  sondern  in  dem  echt  weiblichen 
Mitempfinden  von  Menschenschicksalen,  vor  allem  dann,  wenn  es  sich 
um  die  Figuren  hochstehender  Frauen  wie  Marie  Antoinette  und  Maria 

36* 


Notizen  und  Nachrichten. 


Stuart  handelt,  die  sie  mitfühlend  geschildert  und,  ohne  viel  beschö- 
nigen oder  entschuldigen  zu  wollen,  uns  in  ihrer  ganzen  Würde  und 
Tragik  lebendig  vor  Augen  gestellt  hat.  Das  künstlerisch  abgerundete 
Bild  einer  bedeutenden  Persönlichkeit  gibt  die  Biographie  Talleyrands. 
Wohlbekannt  sind  atich  ihre  Bücher  über  Kardinal  Newman  und 
Chateaubriand.  Sie  hat  sich  ferner  in  zahlreichen  Aufsätzen  mit  be- 
deutenden literarischen  Erscheinungen  der  Neuzeit  auseinandergesetzt; 
bis  an  das  Ende  ihres  Lebens  ist  sie  von  der  gleichen  warmen  Teil- 
nahme für  alles  beseelt  geblieben,  was  bevorzugte  Geister  gedacht 
und  geschrieben  haben.  Dem  Leben  der  Zeit  mit  empfänglicher  und 
verstehender  Seele  folgend,  der  historischen  Wissenschaft  eine  wohl- 
wollende Verwandte  und  freudige  Mitarbeiterin,  so  wird  das  Bild 
der  feinsinnigen  und  liebenswürdigen  Frau  bei  allen,  die  sie  kannten, 
unvergessen  sein.  IV.  Michael. 

Einen  schönen  und  inhaltreichen  Nachruf  auf  Bernhard  von 
Simson  hat  H.  Breßlau  im  Neuen  Archiv  der  Gesellschaft  für  ältere 
Deutsche  Geschichtskunde  40,  3  veröffentlicht. 


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Bd. 117 


Historische  Zeitschrift 


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