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Begründet von Heinrich v. Sybel
Unter Mitwirkung von
Paul Bailleu, Georg von Below, Otto Hintze, Otto Krauske,
Max Lenz, Erich Marcks, Sigmund Riezler, Moriz Ritter
herausgegeben von
Friedrich Meinedce und Frit2 Vigener
Der ganzen Reihe 117. Band
Dritte Folge — 21. Band
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7
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München und Berlin 1917
Druck und Verlag von R. Oldenbourg
/
INHALT.
Aufsätze. Seite
Die Hethiter. Von Walter Otto 189
Römische Klientelstaaten. Vortrag, gehalten in der Historischen Gesellschaft
zu Straßburg i. E. am 11. Januar 1916 von Karl Johannes Neumann I
Der Staatsstreich des Octavianus im Jahre 32 v.Chr. Von Adolf Bauer . II
Perioden römischer Kaisergeschichte. Von K. J. Neumann 377
Eike von Repgow. Ein Versuch. Von Walter Möllenberg 387
Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands durch Heinrich von Staden.
Von Max Bär 229
Frankreich und Ägypten von Leibnitz bis auf Napoleon. Von S. Hellmann 24
Des Kronprinzen Friedrich Consid6rations sur l'etat prteent du corps poli«
tique de l'Europe. Von Friedrich Meinecke 42
Vitam et sanguineml Von Heinrich Marczali 413
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors von Schön nach 1815. Von
Eduard Wilhelm Mayer 432
Miszellen.
Neues zur Hethiterfrage. Von Walter Otto 465
Zur Archäologie des früheren Mittelalters. (Jahresbericht 1914.) Von G.Weise 253
Literaturbericht.
Seite
Allgemeines :
Biographisches 74
Gesammelte Abhandlungen 76. 271
Kunstgeschichte 267
Kapitalismus 275
Schiffahrt 279
Elementarereignisse 282
Alte Geschichte:
Das alte Ägypten 284
Sokrates 473
Mittelalter:
Bibliothekskataloge 286
Kreuzzüge 77
Der Kampf um Sizilien .... 288
Deutsche Hanse 479
Kirchenstaat 481
Zeitalter der Reformation:
Die Fugger 292
18. Jahrhundert:
Shaftesbury 487
Seite
19. Jahrhundert:
Pleners Erinnerungen 89
Rußland und Napoleon III. . . 94
Bismarck 95. 492. 494
Neueste Geschichte seit 1871 :
Fürst Bülow 98
Rußland im Jahre 1905 ... 299
Diplomatie und Bagdadbahn . 301
Kirchengeschichte :
Die visitatio liminum 105
Jesuitenorden 108
Rechts- und Wirtschaftsgeschichte HO
Deutsche Landschaften:
Elsaß 114
Rheinlande 116. 308
Hessen 118. 122
Hannover 123
Sachsen 124
Thüringen 126
IV
Inhalt.
Seite
Deutsche Verfassungsgeschichte . . 310
Deutsche Sprache und Literatur 314. 317
Deutsche Universitäten. .319. 320. 322
Österreich 129. 130. 498
Ostseeländer 325
Frankreich 133. 135
Seite
England:
England und der Krieg .... 327
Angelsachsen 500
Britischer Imperialismus. . 502. 506
Heeresgeschichte . . . 137. 143. 144
Geschichte der Medizin . . . 146. 149
Alphabetisches Verzeichnis der besprochenen
Schriften.
(Enthält auch die in den Aufsätzen und den Notizen und Nachrichten besprochenen
selbständigen Schriften.)
Seite
Acta et epistolae relationum Trans-
sylvaniaeHungariaeauecumMol-
davia et Valachia collegit et edi-
dit Dr. Andreas Veress. Vol. 1.
1468—1540 498
Alliers, Une soclete s6crete au
XVI le siöcle „La Compagnie du
Tr6s-Saint Sacrement de l'Autel
ä Toulouse" 356
Ammon, Nationalgefühl und Staats-
gefühl 337
Bachern, Zur Jahrhundertfeier der
Vereinigung der Rheinlande mit
Preußen 116
Bächtold, Zum Urteil über den
preußisch-deutschen Staat . . . 338
Baltische Studien zur Archäologie
und Geschichte 325
de Bassompierre, La nuit du 2 au
3 aoüt 1914 au Ministöre des Af-
faires Etrangeres de Belgique . 365
Bauch, Zum Begriff der Nation . 336
Baumgarten, Bismarcks Glaube. 494
Becker, Die Wiedererstehung der
Pfalz 547
Beer, Sir Edward Greys Konferenz-
vorschlag und andere Streitfragen
der diplomatischen Polemik . .
B6ret, De Gambetta ä Briand .
Cornelius Bergmann, Die Täufer-
bewegung im Kanton Zürich bis
1660
Ernst Bergmann, Fichte der Er-
zieher zum Deutschtum ....
A. Berr, Die Kirche gegenüber Ge-
walttaten von Laien 348
Bertourieux, La V6rit6. 4. Aufl. 365
Biographisches Jahrbuch und Deut-
scher Nekrolog. Herause. von
A. Bettelheim. Bd. 17'. . .
Bibliographie de Belgique ....
Binder s. Ebner.
Birt, Römische Charakterköpfe.
2. Auf]
Blume, Abbatia
Bochkor,Az Erdelyi Muzeum-Egy-
erület Jog-es Tarsadulem tudo-
mänzyi szakosztälyänak Evkö-
nyve 1913—1914 (Jahrbuch der
Rechts- und Gesellschaftswissen-
schaftlichen Sektion des Sieben
bürger Museum-Vereins)
Beati Petri Canisii societatis Jesu
epistulae et acta — collegit et ad-
notationibus illustravit Otto
539
365
368
154
74
540
343
339
. 515
Seite
Braunsberger. Vol. 6. 1567
bis 1571 108
Breßlau, Handbuch der Urkunden-
lehre für Deutschland und Italien 151
Fr. Brie, Imperialistische Strömun-
gen in der englischen Literatur 506
Bruggerer, Die Wahlkapitulationen
der Bischöfe und Reichsfürsten
von Eichstätt 1259 — 1790 . . . 543
B r ü n i n g , Adamnans Vita Columbae
und ihre Ableitungen 522
Bryan, British rule in India . . 340
Fürst V. Bülow, Deutsche Politik 98
Büß, Die italienische Frage und die
Zentralmächte im letzten Jahr-
hundert bis zur Gegenwart , . 180
Clemenceau, La France devant
l'Allemagne, 1916 367
Curätulo, Francia e Italia . . . 180
Deneke, Sprachverhältnisse und
Sprachgrenze in Belgien und
Nordfrankreich 541
D i 1 1 o n , From the Triple to the Qua-
druple Alliance. Why Italy went
to war 180
Doeberl, Entwickelungsgeschichte
Bayerns. 1. Bd. . 543
Driault, La röpublique et le Rhin 367
Droysen, Aus den Briefen der Her-
zogin Philippine Charlotte von
Braunschweig 1732 — 1801 ... 357
Ebner, Württembergische Münz-
und Medaillenkunde. Bd. 2, Heft
1 u. 2 545
Einkreisung und Durchbruch der
Zentralmächte . 539
Erben, Fichtes Universitätspläne. 156
Erdmannsdörffer und Obser,
Politische Korrespondenz Karl
Friedrichs von Baden. 1783 bis
1806 305
Eppensteiner, Rousseaus Einfluß
auf die vorrevolutionären Flug-
schriften und den Ausbruch der
Revolution 359
Esmonin, La taille en Normandie
au tempsdeColbert(1661— 1683) 133
Faaß, Dresdner Bibliothekenführer 514
Forst, Die Ahnenproben der Main-
zer Domherren 154
Franz, Der Erbfeind im Lichte der
Geschichte und Gegenwart . . 367
Inhalt.
Seite
Fuchs, Der Geist der bürgerlich -
kapitalistischen Gesellschaft . . 275
Genzmer, Das Fischergewerbe und
der Fischhandel in Mecklenburg
vom 12. bis zum 14. Jahrhundert 550
Georg, Emmich 364
Geschiedkundige Atlas van Neder-
land 335
Girard, Avant la guerre .... 541
— Wie ein Belgier das Verhängnis
seines Vaterlandes voraussah. . 541
Goebel, The recognition policy of
the United States 363
Gottlieb, Mittelalterliche Biblio-
thekskataloge. Österreich. 1. Bd. 286
Gutmann, Das französische Geld-
wesen im Kriege (1870 — 1878). 135
Graßhoff, Belgiens Schuld ... 541
Grüner, Der Treubruch Italiens
1916 181
Guglia, Die Geburts-, Sterbe- und
Grabstätten der Römisch-Deut-
schen Kaiser und Könige ... 153
Guyot, La Province Rhenane et la
Westphalie 367
Hagen, Die Entwicklung des Terri-
toriums der Grafen von Hohen-
berg 369
Halko, Richeza, Königin von Polen,
Gemahlin Mieczyslaws II. . . . 524
Härtung, Deutsche Verfassungs-
geschichte vom 15. Jahrhundert
bis zur Gegenwart 310
Hauff, Die unterseeische Schiffahrt 279
Hausenstein, Belgien 540
Hengesbach, Frankreich in seinem
Staats- und Gesellschaftsleben . 365
Hilt, Camille Desmoulins, seine po-
litische Gesinnung und Partei-
stellung 172
B.v. Hindenburg, Paul v. Hinden-
burg 364
Hirsch, Die Klosterimmunität seit
dem Investiturstreit. Unter-
suchungen zur Verfassungsge-
schichte des Deutschen Reiches
und der deutschen Kirche . . 110
Hirschfeld, Kleine Schriften . . 271
Hobbing, Die Begründung der
Erstgeburtsnachfolge im ostfrie-
sischen Grafenhause der Cirkzena 548
Hoernes, Urgeschichte der bilden-
den Kunst in Europa von den
Anfängen bis um 500 v. Chr. . 267
Hofmeister, Die Matrikel der Uni-
versität Rostock 319
Horöiöka, Das älteste Böhmisch-
Kamnitzer Stadtbuch 185
Hörn, Volkscharakter und Kriegs-
politik im Dreiverband .... 179
Hutter, Das Gebiet der Reichsabtei
Ellwangen 369
Jacques, London und Paris im
Kriege 366
Jahn, Die Bewaffnung der Ger-
manen in der älteren Eisenzeit 345
Jorga, Notes et extraits pour servir
ä l'histoire des croisades au
XV« siöcle. Series 4 et 5 . . . 77
Seite
Jpstes, Die Vlamen im Kampfe um
ihre Sprache und ihr Volkstum.
2. Aufl 541
Kaindl, Die Deutschen in Ost-
europa 337
Kirch, Die Fugger und der Schmal-
kaldische Krieg 292
Koebner, Venantius Fortunatus,
seine Persönlichkeit und seine
Stellung in der geistigen Kultur
des merowingischen Reiches . . 523
Kolshorn, Mackensen 364
Kirchhoff, Graf M. v. Spee . . . 364
Krack, Ludendorff 364
Kratz, Landgraf Ernst von Hessen-
Rheinfels und die deutschen
Jesuiten 122
Quellen zur Geschichte der Stadt
Wien. Herausg. von Lampel.
1. Abt., 8. Bd 130
Langhammer, Belgiens Vergangen- ,
heit und Zukunft, eine geogra-
phisch-geschichtliche Bewertung 542
Die Ritter des Ordens pour le merite.
Auf Allerhöchsten Befehl Seiner
Majestät des Kaisers und Königs
bearb. durch G. Lehmann . . 143
Lien, Das Märchen von der fran-
zösischen Kultur 366
Liepmann, Von Kieler Professoren 322
Liman, Der Kronprinz; Gedanken
über Deutschlands Zukunft . . 367
List, Deutschland und Mitteleuropa 365
Lloyd, The making of the Roman
people 343
Loesche, Zur Gegenreformation in
Schlesien 356
Luschin v. Ebengreuth, Öster-
reichs Anfänge in der Adria . . 518
V. Mackay, Italiens Verrat am Drei-
bund 180
H. Maier, Sokrates. Sein Werk und
seine geschichtliche Stellung . . 473
Albany F. Major, Early wars of
Wessex, being studies from Eng-
land'sschool of arms in the West,
edited by the late Chas. W.
Whistler 500
Mann, Das Rolandslied als Ge-
schichtsquelle und die Ent-
stehung der Rolandsäulen . . . 349
Marc, Au seuil du 17 octobre 1905 299
Marcks, Vom Erbe Bismarcks . , 492
— , Otto von Bismprck 492
— , Der Imperialismus und der Welt-
krieg 518
Massart, Comment fies" Beiges r6-
sistent ä la domination allemande 542
Mehring, Badenfahrt 370
— , Urkunden und Akten des Kgl.
Württ. Haus- u. Staatsarchivs 370
Mehrmann, Der diplomatische
Krieg in Vorderasien 301
A. Meyer, Der politische Einfluß
Deutschlands und Frankreichs
auf die Metzer Bischofswahlen
im Mittelalter 547
E. Meyer, England. Seine staat-
liche und politische Entwicklung
und der Krieg gegen Deutschland 327
VI
Inhalt.
Seite
Mever, Reich und Kultur der Che-
titer 189
O. Müller, Die Quellen zur Be-
schreibung des Zürich- und Aar-
gaus in Johannes Stumpfs
Schweizerchronik 543
Fr. V. Müller, Spekulation und My-
stik in der Heilkunde .... 149
O. Müller, Irrung und Abfall Ita-
liens 181
E. Müller-Meiningen, Der Krieg
und der Zusammenbruch des
Völkerrechts. 3. Aufl 179
K. A. V. Müller, Über die Stellung
Deutschlands in der Welt ... 179
Neudegger, Zum Weltkrieg 1914
bis 1916 365
M. Nordau, Französische Staats-
männer 365
Norden, La Belgique neutre et
l'AUemagne 541
— , Das neutrale Belgien und Deutsch-
land im Urteile belgischer Staats-
männer und Juristen 541
Nostradamus, Die Franzosen wie
sie sind 366
Nötzel, Der deutsche und der fran-
zösische Geist 366
de Ombiaux, La r^sistance de la
Belgique neutre 542
Oppel, Das Hohelied Salomonis
und die deutsche religiöse Liebes-
lyrik 338
P. Oßwald, Belgien 540
Otto, Alexander der Große . . . 521
Palamenghi-Crispi, Giolitti. . 180
Pareti, Studi Siciliani e Italioti 521
V. Pastor.l Hötzendorf und Dankl 364
Passe lecq, Le second Livre Blanc
allemand 365
Pater, Die bischöfliche visitatio
liminum ss. apostolorum . . . 105
Patzelt, Von Crispi bis Sonnino,
das Schicksal Italiens . . . .180
Pauen, Die Klostergrundherrschaft
Heisterbach. Studien zur Ge-
schichte ihrer Wirtschaft, Ver-
waltung und Verfassung. . . .110
Paulus, Prosopographie der Beam-
ten des 'A^aivotct]? voudg in der
Zeit von Augustus bis auf Dio-
kletian 159
Petrich, Paul Gerhardt 317
Pfeilschifter, Deutsche Kultur,
Katholizismus und Weltkrieg.
3. Aufl 336
Pingaud, L'Italie depuis 1870. . 180
Pitt, Italy and the Unholy Alliance 180
Planer (Lützen), Verzeichnis der
Gustav-Adolf-Sammlung mit be-
sonderer Rücksicht auf die
Schlacht am 6./16. Nov. 1632 . 167
Erinnerungen von Ernst Freiherrn
V. Plener. 1. Bd. Jugend, Paris
und London bis 1873 89
Prinsen, Handboek tot de Neder-
landsche Letterkundige Geschie-
denis 335
Quelle, Belgien und die französi-
schen Nachbargebiete 542
Seite
M. V. Rauch, Urkundenbuch der
Stadt Heilbronn. III 370
Reincke-Bloch, Fichte und der
deutsche Geist von 1914 . . . 156
Jul. Richter, Das Erziehungswesen
am Hofe der Wettiner Albertini-
schen Hauptlinie 124
V. Richthofen, Die Politik Bis-
marcks und Manteuffels in den
Jahren 1851—1858 362
Rinkefeil, Das Schulwesen der
Stadt Borna bis zum Dreißig-
jährigen Kriege 551
Reeder, Urkunden zur Religion des
alten Ägypten 284
Roemer, Die Baumwollspinnerei in
Schlesien bis zum preußischen
Zollgesetz von 1818 184
Roh de. Der Kampf um Sizilien in
den Jahren 1291— 1302 . . . . 288
Rose, Im römischen Hexenkessel 181
Rothert, Im alten Königreich Han-
nover 1814 — 1866 123
Charles-Roux, Alexandre II, Gor-
tschakoff et Napoleon III . . 94
Rudolf, Italiens Mittelmeerpolitik
und die Dreibundkrise .... 180
Salomon, Der britische Imperialis-
mus. Ein geschichtlicher Über-
blick über den Werdegang des
britischen Reiches vom Mittel-
alter bis zur Gegenwart . . . 502
Vatikanische Quellen zur Geschichte
der päpstlichen Hof- und Finanz-
verwaltung 1316—1376. 2. Bd.:
Die Ausgaben der Apostolischen
Kammer unter Johann XXII.
nebst den Jahresbilanzen von
1316—1375. Herausg. von K- H.
Schäfer 481
Schiff mann, Österreichische Ur-
bare. 3. Abt., 2. Bd., 3. Teil . 186
Schloß, Italien und wir 180
Schnütgen, Das Elsaß und die Er-
neuerung des katholischen Lebens
in Deutschland von 1814 bis 1848 114
Schröder s. Specht.
Schrohe, Mainz in seinen Beziehun-
gen zu den deutschen Königen
und den Erzbischöfen der Stadt
bis zum Untergange der Stadt-
freiheit (1462) 308
Schrörs, Untersuchungen zu dem
Streite Kaiser Friedrichs I. mit
Papst Hadrian IV. (1157—1158) 525
Schuck, Var forste författare, själs-
historia fran medeltiden . . . 531
Schultheiß, Die deutsche Volks-
sage vom Fortleben und der Wie-
derkehr Kaiser Friedrichs II. . 352
Schumacher, Antwerpen, seine
Weltstellung und Bedeutung für
das deutsche Wirtschaftsleben . 542
Schwalbach, Die neueren deutschen
Taler, Doppeltaler und Doppel-
gulden vor Einführung der Reichs-
währung. 8. Aufl 537
Sophie Charlotte v. Seil, Fürst
Bismarcks Frau, Lebensbild . . 95
Severus, Zehn Monate italienischer
Neutralität 181
Inhalt.
VII
Seite
Sieghart, Zolltrennung und Zoll-
einheit. Die Geschichte der
österreichisch-ungarischen Zwi-
schenzollinie 129
Sohm, Territorium und Reforma-
tion in der hessischen Geschichte
1526—1555 118
Spanger-Norton, Englands gua-
rantee to Beigium and Luxem-
burg 541
Specht, Die Matrikel der Univer-
sität Dillingen. 2. Bd., Lief, 3, 4.
Registerband, Lief. 1, 2 Bearb.
von Schröder 320
Speidel, Beiträge zur Geschichte
des Zürichgaus 369
Springer, Die Coccejlsche Justiz-
reform 82
Steffen, Demokratie und Weltkrieg 367
W. Stein, Hansisches Urkunden-
buch. 11. Bd.: 1486—1500 . . 479
Stern, Reden, Vorträge und Ab-
handlungen 76
Stoeven, Der Gewandschnitt in
den deutschen Städten des Mit-
telalters 353
Suchier, Johann Friedrich Joa-
chim. Ein Gedenkblatt . . . 358
Sudhoff, J. L. Pageis Einführung
in die Geschichte der Medizin.
2. Aufl 146
Teuf fei, Geschichte der römischen
Literatur. 1. Bd 519
Teven, Der Deutsche im französi-
schen Roman seit 1870 .... 367
Trietsch, Deutschland. Tatsachen
und Ziffern 365
Uebelhör, Frankreichs finanzteile
Oligarchie 366
V. Unger, Gneisenau 144
Valentin, Belgien und die große
Politik der Neuzeit 540
Seite
Veress, Fontes rerum Hungarica-
rum. I. Matricula et acta Hun-
garorum in Universitate Pata-
vina studentium 339
— , Rerum Transylvanicarum . . . 339
Vogel, Geschichte der deutschen
Hanse 373
Wappler, Die Täuferbewegung in
Thüringen von 1526 bis 1584 . 126
Warschauer, Geschichte der Pro-
vinz Posen in polnischer Zeit . 551
Waxweiler (t), La Belgique neutre
et loyale 541
— , Hat Belgien sein Schicksal ver-
schuldet? 541
Weber, Das neuere Verhältnis von
Österreich und England .... 539
Weib Uli, Liber census Daniae.
Kung Valdemars Jordebok . . 528
Weidner, Studien zur hethitischen
Sprachwissenschaft 465
Weiser, Shaftesbury und das
deutsche Geistesleben 487
Weiß, Elementarereignisse im Ge-
biete Deutschlands 282
Weller, Württembergische Ge-
schichte. 2. Aufl 545
Winkelmann, Zur Entwicklung
der allgemeinen Staats- und Ge-
sellschaftsanschauung Voltaires . 536
Wirth, Der Gang der Weltgeschichte 515
Wolzendorff, Der Gedanke des
Volksheeres im deutschen Staats-
recht 137
Wrede, Deutsche Dialektgeographie 314
Codex diplomaticus Silesiae. Bd. 28:
Die Inventare der r.ichtstaatlichen
Archive Schlesiens. II. Kreis
und Stadt Glogau. Herausg. von
Wutke 373
Ziekursch, Hundert Jahre schle-
sischer Agrargeschichte .... 374
Notizen und Nachrichten.
(Die Namen der ständigen Mitarbeiter sind in Klammern hinzugefügt.)
Seite
Allgemeines (Frischeisen-Köhler). 151.335.514
Alte Geschichte (Brand is) 157. 342. 519
Römisch-germanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250 (Hof-
meister) 160. 345. 522
Späteres Mittelalter (1250—1500) (Kaiser) 166. 352. 531
Reformation und Gegenreformation (1500—1648) (E.W. Mayer) 167. 355. 534
1648—1789 (Michael) 169. 356. 535
Neuere Geschichte von 1789 bis 1871 (Jacob) 172. 361. 536
Neueste Geschichte seit 1871 (Hashagen) 179. 364. 539
Deutsche Landschaften (Windelband) 181. 368. 542
Vermischtes , 375. 553
Römische Klientelstaaten.
Vortrag, gehalten in der Historischen Gesellschaf t zu Straßburg i. E.
am 11. Januar 1916
von
Karl Johannes Neumann.
Der politische Wert des römischen Staatswesens für
alle Zeiten liegt darin, daß es die entscheidende Bedeu-
tung der militärisch -politischen Macht für den Bestand
und die Entwicklung des Staates klar erkannt und auch
in der Verfassung zum Ausdruck gebracht hat. Das rö-
mische Staatsrecht ist die Idealverfassung des militärisch-
politischen Machtstaates. Trotz aller Beweglichkeit der For-
men verliert es diese Hauptsache nie aus dem Auge, darum
ist seine Kenntnis noch heute von praktischem Werte. Es
sind keine Praktiker, welche das römische Staatsrecht für
überwundene Altertümer von nur gelehrtem Interesse aus-
geben. Es ist vielmehr noch heute lebendig und kann noch
heute angewandt werden. Worauf es der römischen Politik
immer ankam, war die wirkliche Macht des Staates, die
militärische und politische. Und wo die Römer diese Macht
fest erstrebten, fanden sie dafür auch die staatsrechtlichen
Formen. Der Staatsmann, der weiß was er will, wird auch
noch heute aus dem römischen Staatsrecht lernen können;
er wird ihm die Formen absehen können, in denen er seine
politischen Absichten verwirklichen kann. Trotz aller Rück-
sicht auf die Formen kommt es den Römern aber immer
auf die Sache an. Die Form ist für sie lediglich ein Mittel,
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 1
By
2 Karl Johannes Neumann,
das politische Ziel zu erreichen, das sie wollen. Formale
Unterschiede ohne sachliche Verschiedenheiten haben für
sie geringes Interesse. Aber wenn sie sich klar sind über
das, was sie wirklich wollen, dann suchen sie im Staats-
recht nach Mitteln und Wegen, die ihnen die Durchführung
ihres Willens ermöglichen und erleichtern sollen.
Unsere Betrachtung der römischen Klientelstaaten
ist durchaus realpolitisch interessiert: Die Formen kommen
für uns nur in Betracht, insofern sie Mittel und Wege zur
Erreichung eines gewollten Zieles boten. So beginnen wir
also mit einer realpolitischen Definition der römischen
Klientelstaaten! Es sind militärisch und politisch von Rom
abhängige Staaten, außerhalb der juristischen Reichsgrenzen.
Die Hauptsache ist ihre militärische und politische Ab-
hängigkeit vom römischen Reiche. Über die Stellung dieser
Staaten außerhalb der juristischen Reichsgrenzen vgl. Osca-
rus Bohn qua condicione iuris reges socii populi Romani
fuerint, von Mommsen angeregte Berl. Diss. vom Jahre 1877,
p. 71 unten, auf Grund von Proculus lib. octavus epistolarum
bei F. P. Bremer, jurisprudentiae antehadrianae quae super-
sunt pars altera Sectio altera p. 127. Lipsiae 1901 : foederati et
liberi nobis externi. Diese Externität der Klientelstaaten
war noch unter Nero geltendes Recht, aber bereits bei dem
gleichzeitigen Juristen Proculus begegnet uns die Theorie,
sie nicht für extern zu betrachten, vgl. Bohn a. a. 0. und
Proculus a. a. 0.; diese Theorie ist in der Folge bei den
germanisch-römischen Reichen der Völkerwanderung zum
Ausdruck gekommen. Am klarsten wird die Abhängigkeit
der Klientelstaaten außerhalb der juristischen Reichsgrenzen
eben durch die Vergleichung mit den germanischen Staaten
der Völkerwanderungszeit innerhalb der Reichsgrenzen. Diese
germanischen Staaten stehen juristisch innerhalb des impe-
rium romanum, ihr Haupt, der germanische Volkskönig, ist
gleichzeitig kaiserlich römischer Beamter. — Aber so sicher
die tatsächliche Abhängigkeit der externen Klientelstaaten
von Rom war, so sehr haperte es mit der wirklichen Ab-
hängigkeit der germanischen Staaten vom Reiche, trotz
ihrer juristischen Zugehörigkeit zum Reiche. Rom verfügte
über sie durchaus nicht so unbedingt, wie über die alten
Römische Klientelstaaten. 3
Klientelstaaten. Der germanische König fügte sich, von der
Macht seines Volkes getragen, dem Imperium nicht immer.
Es begegnet uns also hier jenes Widerspiel von Theorie und
Praxis: die alten Klientelstaaten, unbedingt abhängig, aber
außerhalb des Reiches stehend, und im Gegensatze dazu die
Völkerwanderungsstaaten, theoretisch Teile des Reiches und
ihm Untertan, aber faktisch abhängig nur da, wo sie selber
wollten. Wirkliche Herrschaft gewährt also die Externität
unter Umständen besser, zumal sie den Klientelstaaten kei-
nerlei Einfluß auf die Politik des Reiches gewährt; für
Staaten außerhalb der Reichsgrenzen kommt ja etwas wie
etwa Einführung der Reichsverfassung mit den Rechten, die
sie gibt, natürlich gar nicht in Betracht. Vergegenwärtigen
wir uns aber zunächst den Entwicklungsgang des imperium
Romanum.
Die Besiedlung der Höhen auf dem linken Tiberufer war
dadurch bedingt und gefördert worden, daß die Tiberüber-
schwemmungen, die das Fieber zurücklassen, nicht so hoch
steigen. Schon in alter Zeit gab es auf diesen Höhen Sied-
lungen, wohl latinischen Charakters, aber sie waren weder
eine Stadt noch ein Staat, sie waren kein Roma. Erst der
Vorstoß der Etrusker über den Tiber hat aus diesen Sied-
lungen die Stadt und den Staat Roma begründet, das er-
gibt sich als historische Konsequenz aus den sprachlichen
Untersuchungen Wilhelm Schulzes über die altrömischen
Namen. Bereits der junge Niebuhr hat erkannt, daß Rom
eine etruskische Gründung ist, aber der alternde Niebuhr
hat nicht den Mut besessen, seine Erkenntnis festzuhalten,
und erst seit Wilhelm Schulze ist sie durchgedrungen. Das
latinische Alba Longa hat sich gegen den römischen Etrusker-
könig nicht halten können, Rom wurde die Vormacht La-
tiums und allmählich durchaus latinisiert. Die erste Er-
weiterung des römischen Gebietes ging aber über den Anio
hinaus, wo die große sabinische Grundherrschaft der Klau-
dier sich freiwillig dem römischen Staatswesen anschloß und
einfügte. Die historischen Sabiner der römischen Urgeschichte
sind die Klaudier. Die wechselnden Beziehungen Roms zu
den latinischen Orten schlössen 338 v. Chr. mit der Unter-
werfung Latiums unter Rom ab, Rom beherrschte seitdem
4 Karl Johannes Neumann,
Latium durch Einzelverträge mit den einzelnen latinischen
Gemeinden. Der Anschluß Kampaniens an Rom bedrohte
in der Folge die Samniten und machte eine Auseinander-
setzung mit ihnen unvermeidlich; nach dem großen Sam-
niterkriege geboten die Römer über Unteritalien, und nach
dem etwas späteren Unterliegen der Etrusker war auch
der Norden Mittelitaliens unter ihre Hand gegeben. Kurz
vor dem Beginn der großen Kriege mit Karthago war der
italische Bund vollendet. Er war kein Einheitsstaat und
besaß auch keine einheitliche Verfassung, sondern wurde
durch lauter Sonderverträge zwischen Rom und den ein-
zelnen Staaten zusammengehalten. Die römische Verfas-
sung wurde auf diese Staaten nicht übertragen, sie behielten
vielmehr ihre eigene Verfassung, abgesehen natürlich von
den Punkten, die dem Zwecke des Bundes hätten wider-
sprechen können. Es waren lauter souveräne Staaten, nur
daß ihre Souveränität im Heerwesen und in der auswärtigen
Politik beschränkt war: Das Heereskontingent der Bundes-
genossen stand den Römern zur Verfügung, und wir kennen
die Heeresmatrikel der Bundesgenossen und die Organisation
des Bundesheeres aus dem uns bei Polybius erhaltenen Ver-
zeichnis der italischen Wehrfähigen vom Jahre 225 v. Chr.
Die Einzelverträge mit Rom bedeuteten eine Zentralisierung
zugunsten Roms und damit eine große Steigerung der Macht
des Vorortes. Trotz der großen Zahl der einzelnen Bundes-
staaten war ihre Mannigfaltigkeit doch insofern eine be-
schränkte, als ihre Gesamtheit sich drei verschiedenen Kate-
gorien einordnete, so daß man eine Karte des italischen
Bundes nach seiner politischen Bed-eutung in nur drei
Farben hat entwerfen können, einer Farbe für den ager Ro-
manus; einer zweiten Farbe für die latinischen Gemeinden
und die nach latinischem Recht gegründeten Grenzfestungen,
die latinischen Kolonien, endlich einer dritten Farbe für die
Staaten der Bundesgenossen im engeren Sinne. Ein so buntes
Bild dieser italische Bund auch bietet, so zeigt sich in ihm
doch bereits die charakteristische Eigenschaft der römischen
Politik: sie hat es verstanden, wirklich zu herrschen und
trotz aller Mannigfaltigkeit der Formen den Bestand des
römischen Staates und die führende Stellung des römischen
Römische Kliehtelstaaten. 5
Volkes für die Dauer zu befestigen und zu sichiern. Trotz
aller scheinbaren Lockerheit wurde der italische Bund zu
einem festen Herrschaftsgebiete zusammengeschmiedet, das
bereits nach zwei Generationen im hannibalischen Kriege
die Belastungsprobe aushielt. Wodurch hat man das er-
reicht?
Das direkte römische Staatsgebiet, der ager Romanus,
war keine geographische Einheit, sondern war in unzusam-
menhängenden Stücken über die ganze Halbinsel zerstreut.
Das war aber kein Moment der Schwäche. Für die militä-
rische Sicherheit sorgten schon die Festungen, die Kolonien.
Und die Zerstreuung bedeutete zugleich eine Durchdringung
ganz Italiens mit römischem Gebiete. Heerwesen und aus-
wärtige Politik des Bundes unterstand der einheitlichen Lei-
tung Roms. Auf den Auseinanderfall des Bundes hatte
Hannibal gerechnet, aber seine Hoffnung hat ihn getrogen.
Der Bund hielt Rom im wesentlichen die Treue. Dabei
waren, abgesehen von den Latinern, die Bundesgenossen
dem führenden Volke nicht einmal national verbunden.
Das Oskische Süditaliens und das Umbrische Mittelitaliens
sind dem Lateinischen gegenüber, trotz der Verwandtschaft,
doch geradezu verschiedene Sprachen, der Zusammenhalt
des Bundes ruhte nicht auf der gemeinsamen Nationalität,
sondern auf der Interessengemeinschaft. Handel und
Verkehr beruhten auf dem commercium, dem privat-
rechtlichen Schutze, und wurden erst dadurch ermög-
licht. Alle bundesgenössischen Staaten hatten aber commer-
cium mit Rom. So war hier ein für die damalige Zeit un-
gewöhnlich großes Gebiet sicheren Handelsverkehrs ge-
geben.
In zwei Generationen ununterbrochener Kriege hatten
die Römer, seit der Bezwingung Latiums, die Vormacht in
ganz Italien errungen: es lebten kaum noch Leute, die den
Frieden kannten. Die Römer standen an dem Faro von
Messina und blickten nach Sizilien hinüber. Ihre bloße
Daseinsgewohnheit konnte sie über die Meerenge hinüber-
führen. Mit der anderen großen Macht des Westens, mit
Karthago, war man im Jahre 306 v. Chr. zwar zu einer Ab-
grenzung der Interessensphären gelangt, die Italien den
6 Karl Johannes Naumann,
Römern und Sizilien den Karthagern überwies; aber diese
Abgrenzung hatte ihre Bedeutung geändert, als die Römer
auf der italischen Seite der Meerenge standen, während die
Karthager nach Messina strebten. Und der große Handels-
staat Karthago liebte den Frieden um des bloßen Friedens
willen ebensowenig, wie sonst ein großer Handelsstaat. Es
i<:am zum Kampfe der großen italischen Landmacht mit der
karthagischen Seemacht, in dem die Landmacht erst zur
Seemacht wurde und mit Hilfe einer technischen Erfindung
zur See die Seemacht überwand. Die Weltmachtstellung
Karthagos wurde erschüttert, und nach dem zweiten Puni-
schen Kriege war Karthago aus der Reihe der Mächte ge-
strichen, wenn es sich auch wirtschaftlich bald wieder er-
holte. Die Zerstörung von Karthago war keine Notwendig-
keit. Schon der erste Punische Krieg hatte die Römer zur
Erwerbung ihres ersten überseeischen Gebietes geführt, West-
siziliens, das den Karthagern gehorcht hatte. Hier standen
die Römer vor neuen Problemen,
Über Westsizilien und Sardinien hatten die Karthager
nicht eine Hegemonie ausgeübt, wie die Römer über den
italischen Bund, sondern hier hielten sie kompakte unter-
worfene Gebiete in Untertänigkeit. Die Verschiedenheit
dessen, was die Römer in dem karthagischen Sizilien und
Sardinien vorfanden, gegenüber den Verhältnissen des ita-
lischen Bundes wurde für die Römer der Anlaß zu einem
Systemwechsel nach dem ersten Punischen Kriege. Das
System des italischen Bundes haben die Römer auf ihre
ersten überseeischen Eroberungen nicht mehr übertragen,
sondern der ganz anderen Situation, die sie in diesen Herr-
schaftsgebieten der Karthager vorfanden, damit Rechnung
getragen, daß sie diese den Karthagern untertänigen Ge-
biete einfach in ihre eigene Untertänigkeit übernahmen.
Die von den Karthagern den Römern abgetretenen kartha-
gischen Untertanen wurden jetzt römische Untertanen, aus
dem vormals karthagischen Untertanengebiet wurden die
ersten römischen Provinzen, 241 v. Chr. Sizilien und 238
V. Chr. Sardinien mit Korsika. Der italische Bund hatte
diese Provinzen erobert, nicht allein das römische Heer,
trotzdem wurden diese Provinzen nicht Provinzen des ita-
Römische Klientelstaaten. 7
lischen Bundes, sondern wurden dem führenden Staate
dieses Bundes angegliedert, sie wurden nicht Bundespro-
vinzen, sondern römische Provinzen. Es war das logisch
anfechtbar und entsprach, wie es in der Folge auch emp-
funden wurde, auch nicht der Billigkeit gegenüber den
Bundesgenossen, aber es sicherte am besten Bestand und
Festigkeit der Herrschaft; und darauf verstanden sich die
Römer.
In dem Maße, als die römische Herrschaft sich auf
eine Provinz nach der anderen und auf reiche Länder aus-
dehnte, steigerte sich auch der unmittelbare Nutzen aus der
Verwaltung. Von Verkehr und Handel profitierte auch der
Bundesgenosse, direkten Nutzen von der Verwaltung der
Provinzen zog aber nur der römische Bürger. Hierin liegt
der Hauptgrund für die beginnende Entfremdung der Bundes-
genossen gegenüber dem führenden Staate. Die römischen
Provinzen zu Bundesprovinzen zu machen, daran dachte
aber niemand. Aber die Beteiligung der Bundesgenossen an
der direkten Nutzung der Provinzen ließ sich auch auf an-
derem Wege erreichen: durch die Aufnahme der Latiner
und Bundesgenossen in den römischen Bürgerverband. Der
Ablehnung dieser Forderung folgte die Auflösung des itali-
schen Bundes und der Bundesgenossenkrieg, der die Römer
zwang, nachzugeben. Sie sahen sich jetzt genötigt einzu-
räumen, was, etwas zeitiger bewilligt, die ganze Erhebung
gegenstandslos gemacht hätte. Seit den Jahren 90 und 89
V. Chr. reicht das römische Bürgerrecht vom Faro von Mes-
sina bis zum Po; jetzt erfolgte in gewissem Sinne eine Aus-
dehnung der römischen Stadtverfassung auf Italien; aus den
einzelnen italischen Gemeinden wurden neue Munizipien,
römische Bürgergemeinden mit lokaler Selbstverwaltung.
Jetzt schwand der Gegensatz der Italiker gegen Rom, wie
er sich seit der Gracchenzeit geltend gemacht hatte; es
schwanden die Sprachen und Dialekte, und es bildete sich
die lateinisch-römische Nation. Diese latinisch-italische Na-
tion herrschte über die Provinzen.
Bei der Organisation der Provinzialverwaltung wurde
im Jahre 227 v. Chr. die Zahl der Prätoren erhöht. An die
Spitze einer Provinz trat als Provinzialstatthalter ein Prätor
8 Karl Johannes Neumann,
für Kommando und Jurisdiktion; er vereinigt in seiner Person
die Zivil- und Militärgewalt, die des höchsten Verwaltungs-
beamten mit der des Höchstkommandierenden. Im Süden
Illyriens haben die Römer, 227 v. Chr., Griechenstädte ihrer
Einflußsphäre eingefügt, die für einen Provinzialstatthalter
nicht einmal einen Wirkungskreis geboten hätten; sie traten
als freie Städte in Zusammenhang mit dem Reiche als civi-
tates liberae, frei auch von der Steuerpflicht, civitates liberae
et immunes. Auch in Westsizilien wurden solche freie
Städte von der Gewalt des sizilischen Statthalters eximiert,
und als die Römer im hannibalischen Kriege, 212 v. Chr.,
auch das Gebiet von Syrakus ihrer sizilischen Provinz ein-
verleibten und dem Statthalter unterstellten, erweiterte sich
auch das Gebiet der freien Städte durch die freien Städte,
die mit dem Königreich Syrakus verbündet gewesen waren,
ihre Freiheit wurde römischerseits sogar durch ein Bündnis,
ein foedus, gesichert, es waren die ersten civitates foederatae.
Die Lage der civitates sine foedere liberae et immunes ist von
der der civitates foederatae dem materiellen Inhalte nach
kaum verschieden, aber die Rechtsgrundlage des Zustandes
ist verschieden. Bei den civitates sine foedere liberae et im-
munes kann die Lage jederzeit einseitig von Rom aus geändert
werden, durch Gesetz oder Senatsbeschluß; die Lage der civi-
tates foederatae aber ruhte auf einem Bündnis, einem foedus,
das zu seiner Änderung wenigstens theoretisch der beider-
seitigen Zustimmung bedurfte, ebenso wie Privatkontrakte.
Freilich ist auch bei Privatkontrakten die freie Beiderseitig-
keit tatsächlich vielfach illusorisch, insofern die wirtschaft-
lich stärkere Hand hier vielfach allein, wenn auch nicht
formell, so doch tatsächlich die Entscheidung hat. Außer
durch die freien Städte hat die römische Sphäre in Illyrien
sich aber noch durch den Freundschaftsvertrag mit einem
illyrischen Dynasten erweitert: nach Appian lUyr. 7 wurde
der illyrische König Pinnes, der Sohn des Agron, amicus
p. R. Diese Freundschaft begründete den privatrechtlichen
Schutz, das commercium, und ermöglichte damit Handels-
beziehungen. Durch die Verpflichtung zur Waffenhilfe wurde
Freundschaft zur societas gesteigert, und der erste rex socius
der Römer war, wie es scheint, auch ein illyrischer Dynast,
Römische Klientelstaaten. 9
Demetrios von Pharos. In der Folge haben die Römer
gelegentlich auch große Gebiete, ganze Provinzen, einzelnen
verbündeten Königen überlassen, sie taten das in den Fällen,
wo sie sich mit der direkten Verwaltung des Gebietes aus
bestimmten Gründen nicht belasten wollten. Besonders im
Osten begegnen mehrere solche abhängige verbündete Staaten
und Fürsten; der bekannteste von ihnen ist der jüdische König
Herodes, ein Mann nach dem Herzen des Kaisers Augustus,
den Römern gegenüber durchaus verläßlich; auch vom Kaiser
anerkannt und hochgeehrt erlebte König Herodes den großen
Tag seines Lebens, als der Mitregent des Augustus, der
zweite Kaiser, als Kaiser Agrippa ihn in Jerusalem be-
suchte. Diese verbündeten Staaten der Klientelkönige waren
nicht tributpflichtig, nur gelegentlich wurden von ihnen
größere Zahlungen gefordert, und militärisch waren sie zum
Zuzug verpflichtet. Ganz nach freiem Belieben konnten die
Römer die Klientelkönige in ihrer Stellung belassen oder ihr
Gebiet einziehen und in direkte Verwaltung nehmen, wie sie
es mit dem jüdischen Lande taten, als sie sahen, daß ihre
weitgehende Schonung der religiösen Empfindlichkeiten der
Juden der pharisäischen Demagogie gegenüber doch nichts
half. Im ganzen aber ließ man diese Klientelreiche bestehen,
sie ersparten viele Verlegenheiten, und sie übten ja keinerlei
Einfluß auf die Reichsverwaltung aus. Ohne weiteres aber
entschloß man sich zur Umwandlung des Klientelstaates in
eine Provinz, wo man den Grenzschutz verstärken wollte;
so geschah es mit Kappadokien, das einen kaiserlichen
Konsularlegaten und Legionsbesatzung erhielt. Besondere
Schwierigkeiten bot Armenien, ein Alpenland, dessen direkte
Beherrschung eines unverhältnismäßigen Heeresaufgebotes
bedurft hätte. Und bei Armenien kam es den Römern
nicht sowohl darauf an, daß sie es selbst hatten, als viel-
mehr nur darauf, daß die Parther es nicht hatten und nicht
den maßgebenden Einfluß in Armenien ausübten. Das
suchten sie durch Einsetzung armenischer Vasallenkönige
zu erreichen, es gelang ihnen aber doch nicht, den parthischen
Einfluß auszuschalten. Der Zwist der römischen und der
parthisch-persischen Parteien in Armenien blieb bestehen,
so daß sich Römer und Perser endlich unter Theodosius dem
10 Karl Johannes Naumann, Römische Klientelstaaten.
Großen, um 387 n. Chr., zur Teilung Armeniens entschlossen.
Diese Teilung Armeniens zwischen Römern und Persern war
der Ausgang der armenischen Adelsanarchie.
Kappadokien ist dafür besonders lehrreich, daß bei der
Frage Klientelstaat oder direkte Verwaltung die Frage der
besten Grenzverteidigung für die Römer in erster Linie
stand; sie mußte es in der Tat auch sein. Im Innern ihrer
Gebiete ließen die Römer die Klientelkönige gewähren, so-
lange keine Schwierigkeiten entstanden. Dem Klientel-
könige unterstand das ganze Gebiet, aber mit bemerkens-
werten Ausnahmen. Gewisse Orte von ganz besonderer
Bedeutung entzogen die Römer der Botmäßigkeit des Klientel-
königs und gliederten sie direkt ihrem eigenen Reiche an.
Das bemerkenswerteste Beispiel dafür bietet das Klientel-
königreich Mauretanien mit der durch seine Lage kommer-
ziell hochbedeutsamen Umgebung von Tingi, von Tanger.
Hier hat bereits der Kaiser Augustus die colonia Augusti
Julia Constantia Zulil an der Ozeansküste, südwestlich von
Tanger, als römische Bürgerkolonie begründet. Plinius n. h,
V, 1 p. 361, 5, Mayhoff: in ora oceani colonia Augusti Julia
Constantia Zulil, regum dicioni exempta et iura in Baeticam
petere iussa, s. dazu E. Kornemann, Artikel Coloniae in
Pauly-Wissowas Real-Enzyklopädie Bd. IV, 1901, S. 559,
Z. 11. Dieser handelspolitische hochbedeutsame Ort wurde
also der Botmäßigkeit des Klientelkönigs von Mauretanien
entzogen und, als römische Bürgergemeinde eingerichtet,
mit der Verwaltung der römischen Provinz Baetica in Süd-
spanien verbunden. Die zeitgeschichtlichen Analogien sind
hier nicht gut zu übersehen. Man sieht, die Römer wußten,
was sie wollten und verstanden es, dafür auch die Form zu
finden. Noch heute gilt die horazische Norm rem tene: verba
sequentur. In das Staatsrechtliche übertragen lautet diese
Norm : rem tene: forma sequetur. Diese Norm ist noch heute
in Geltung.
Der Staatsstreich des Octavianus
im Jahre 32 v. Chr.')
Von
Adolf Bauer.
In den Jahren 1873 — 76 wurde ich an dieser Hochschule
von verehrten Lehrern: Ottokar Lorenz, Theodor v, Sickel,
vor allem aber von Max Büdinger in die Geschichtswissen-
schaft eingeführt. Ihrer aller gedenke ich heute in dank-
barer Erinnerung und besonders dessen, wie Büdinger das
geistige Vermächtnis unter seinen Schülern lebendig zu er-
halten wußte, das er von August Boeckh, Leopold v. Ranke
und Heinrich v. Sybel überkommen hatte.
Vieles hat sich seither verändert: ein unermeßliches
neues Material, das nach den philologischen Methoden ver-
arbeitet und zugerichtet sein wollte, ist allen Teilen der Ge-
schichte, das meiste der Geschichte des Altertums zugewach-
sen; auf dem nachbarlichen Gebiete der antiken Philologie
hat der Standpunkt des Klassizismus der historischen Auf-
fassung Platz gemacht; grundsätzliche Fragen über Theorie
und Methodik der Geschichtswissenschaft sind aufgeworfen
und besonders die eine ist mit Leidenschaft erörtert wor-
den, was denn die eigentliche Aufgabe der Geschichte sei;
gebieterisch wird heute von den Historikern aller Zeiten
eingehende Rücksichtnahme auf die sozialen und wirtschaft-
lichen Zustände, ja auf das ganze materielle und geistige
*) Antrittsvorlesung gehalten in Wien, 9. Mai 1916.
12 Adolf Bauer,
Leben der Völker gefordert; dabei muß aber der Staat und
müssen die Träger der staatlichen Gewalt nach wie vor
Rückgrat und Mark der Geschichtsdarstellung bleiben.
Es wäre also Gelegenheit genug geboten, aus diesen
allgemeinen Fragen eine herauszugreifen, durch ihre Be-
antwortung ein Bekenntnis abzulegen und ein Arbeitspro-
gramm zu entwickeln. Ich bescheide mich aber mit einem
Vortrag über einen engbegrenzten Gegenstand, für den ich
eine allgemeinere Teilnahme voraussetzen darf. Vielleicht
gelingt es mir auch so, Ihnen zu zeigen, wie ich meine Auf-
gabe als Vertreter der Geschichte des Altertums auffasse.
Dabei wäre es mir besonders erfreulich, wenn die folgenden
Darlegungen die Zustimmung meines hochverehrten Vorgän-
gers auf diesem Lehrstuhl, E. Bormanns, finden würden. i)
Ich werde die Frage untersuchen und beantworten, ob
die absolute Monarchie, wie sie sich in Rom von Augustus
bis Diokletian entwickelt hat, im letzten Ende auf einer
durch Augustus vollzogenen gesetzlichen Umgestaltung der
republikanischen Verfassung beruht, oder ob sie das Er-
gebnis der Gewalt ist und durch einen Staatsstreich ge-
schaffen wurde.
Die antiken Geschichtschreiber, die uns von diesen Er-
eignissen berichten, sind teils Männer von mäßiger Begabung,
teils sogar recht untergeordneten Ranges, aber wir genießen
den seltenen Vorzug, überdies von Augustus selbst unter-
richtet zjd sein. Er spricht zu uns in dem auf einer klein-
asiatischen Inschrift erhaltenen Rechenschaftsbericht, der
vor seinem Grabe aufgestellt der Mit- und Nachwelt von
seinen Taten Zeugnis gab. Als der Princeps Augustus und
anerkannte Herr des römischen Reiches verfaßte er diese
Urkunde in seinem 76. Lebensjahr und stellte darin seine
politische Laufbahn dar, die er mit 19 Jahren als der Privat-
mann Octavianus und der Erbe Cäsars begonnen hatte.
Gleich in den ersten Sätzen verkündet er, daß er durch
ein aus eigenen Mitteln angeworbenes Heer dem durch die
1) Die Lehrkanzel für Geschichte des Altertums und Epigraphik
wurde nach E, Bormanns Abgang geteilt und mit der Vertretung
der alten Geschichte der Verfasser, mit der Vertretung der Epigraphik
und Altertumskunde J. W. Kubitschek betraut.
Der Staatsstreich des Octavianus im Jahre 32 v. Chr. 13
Herrschaft einer Partei geknechteten Staat die Freiheit
wiedergab. Damit bezieht er sich auf seinen ersten Staats-
streich. Durch Anwerbung eines Heeres und durch den
folgenden Krieg gegen die verfassungsmäßigen Inhaber der
Staatsgewalt tat Octavianus im Jahre 44 dasselbe, was
nicht ganz 20 Jahre früher der bei Pistoja besiegte Um-
sturzmann Catilina getan hatte, als er mit den Waffen
gegen den Konsul Cicero auftrat. Octavianus hatte Erfolg;
er begnügte sich aber damit, sich nun die Ämter in aller Form
übertragen zu lassen, nach denen er seit seinem ersten poli-
tischen Auftreten strebte. Die Verfassung war also bald
wieder hergestellt.
Unter diesen ihm übertragenen Ämtern erwähnt er auch
den Triumvirat mit konstituierender Gewalt, eine in der
Verfassung vorgesehene Ausnahmsgewalt, die anderen vor
ihm, wenn auch unter anderen Namen, schon wiederholt
übertragen worden war, die er mit Lepidus und Antonius
im Jahre 43 übernahm. Nachdrücklich betont er, daß er
dieses Amt ununterbrochen 10 Jahre lang, also bis Ende
33 V. Chr., innegehabt habe.
An einer folgenden von seinen Kriegen handelnden
Stelle bemerkt er: Ganz Italien leistete mir freiwillig den
Treueid und verlangte mich zum Führer in dem Kriege, in
dem ich bei Actium siegte. Denselben Eid leisteten mir
auch die Provinzen Gallien, Spanien, Afrika, Sizilien und
Sardinien. Diese Worte beziehen sich auf die Vorgänge im
Jahre 32, als Octavian an der Spitze des Westens des römi-
schen Reiches gegen Antonius und Kleopatra zu Felde zog.
Endlich am Schlüsse heißt es: Nachdem ich die Bürger-
kriege beendet und durch allgemeine Zustimmung alle Macht
gewonnen hatte, übergab ich freiwillig in meinem 6. und
7, Konsulat die Entscheidung über den Staat in die Hände
des Senats und des römischen Volkes. Diese Worte beziehen
sich auf die Ereignisse der Jahre 28 und 27.
Als Grundlage der in den Jahren 32 — 28 ausgeübten
Macht bezeichnet also Augustus selbst durchaus nicht den
33 erloschenen Triumvirat, sondern eine militärische Aus-
nahmsgewalt, die er während des Bürgerkrieges ausgeübt
und dann beibehalten hatte; diese gab er freiwillig den
14 Adolf Bauer,
regulären Staatsgewalten in den Jahren 28 und 27 zurück
und erhielt dafür als Gegengabe eine neue Stellung amt-
licher Art, den Prinzipat, den er bis an sein Lebensende
innehatte. Über alle Einzelheiten geht der knappe Tat-
sachenbericht naturgemäß hinweg, er läßt aber das Wesent-
liche deutlich erkennen: was in den Jahren 32 — 28 ge-
schehen war, hatte seine Legitimation nur in dem Notstand
des Staates im Jahre 32 und in der damals erteilten Gut-
heißung durch die Bürgerschaft. Darin liegt, soweit man
billigerweise erwarten darf, das Zugeständnis, daß seiner
Stellung während dieser Zeit die rechtliche Grundlage fehlte,
daß sie also nur durch einen zweiten Staatsstreich gewonnen
sein konnte.
Alles scheint nach des Augustus Worten klar, nichts
darin verheimlicht, überall sind in dem Rechenschaftsbericht
die Grenzlinien zwischen verfassungsmäßigem und verfas-
sungswidrigem Tun strenge beobachtet. Octavianus begann
seine Laufbahn im Jahre 44 mit einem ersten Staatsstreich,
auf diesen folgte eine Zeit legitimer Tätigkeit in verschie-
denen Ämtern, am längsten von 43 — 33 als Triumvir, dann
folgte ein zweiter Staatsstreich, durch den er sich von 32
bis 28 eine militärische Ausnahmsgewalt schuf, und schließ-
lich übernimmt er im Jahre 27 den Prinzipat, ein Amt des
neuen, von ihm selbst geschaffenen römischen Staatsrechtes.
Jedoch ist dies nicht die allgemeine Ansicht. Seitdem
trotz zugestandener Bedenken die staatsrechtlich systema-
tische Betrachtungsweise diese Ausnahmsvorgänge in ihr
Bereich gezogen und deren geschichtliche Besonderheiten
in ein juristisches Schema zu zwingen versucht hat, wird
von vielen der Staatsstreich vom Jahre 32 in Abrede ge-
stellt und der Prinzipat als die rechtlich begründete Fort-
setzung des Triumvirats angesehen.
Mommsen hat in der bewundernswerten Schöpfung
seines römischen Staatsrechtes aus den wenigen Fällen, in
denen es im Verlauf der römischen Geschichte zur Ein-
setzung a. 0. konstituierender Gewalten kam, den Satz ab-
geleitet, daß diese Gewalten, gleichviel ob befristet oder
nicht, unbegrenzt waren und rechtlich erst dann erloschen,
wenn ihre Inhaber freiwillig darauf verzichteten. Da von
Der Staatsstreich des Octavianus im Jalire 32 v. Chr. 15
einem Verzicht des Augustus auf den Triumvirat nichts be-
kannt ist, so folgte daraus, daß er bis zur Übernahme des
Prinzipates im Jahre 27 im Besitz des Triumvirats blieb
und daß sich somit seit dem Jahre 43 die Monarchie in Rom
durchaus verfassungsmäßig entwickelt habe.
Der Widerspruch, in dem dieses Ergebnis zu den eigenen
Angaben des Augustus steht, wurde damit erklärt, daß
Augustus später, als er seinen Rechenschaftsbericht abfaßte,
seine Stellung als Prinzeps nicht mehr als eine legitime Fort-
setzung des Triumvirats angesehen wissen wollte, weil sich
mit diesem die grauenhafte Erinnerung an das Blutbad der
Proskriptionen verband. Allein dieser Erklärungsversuch
trifft nicht zu, denn Augustus hat sich schon seit dem
Jahre 32 nicht mehr Triumvir genannt; er hat also nicht
erst später den Triumvirat als Ursprung^ des Prinzipates
verleugnet und einen anderen, revolutionären Ursprung fin-
giert, sondern schon seit dem Jahre 32, mit dem Ende der
zweiten fünfjährigen Frist, den Triumvirat als erloschen be-
trachtet.
Wir haben also zu untersuchen, worauf sich die nn"t
Augustus' eigener Darstellung und mit der zuletzt erwähnten
Tatsache im Widerspruch stehende staatsrechtliche Lehre
Mommsens stützt.
Die Einzelfälle, aus denen die Theorie von der unbe-
grenzten Fortdauer der a. o. konstituierenden Gewalt ab-
geleitet wird, sind folgende: Zum ersten Male wurde durch
ein besonderes Gesetz, die lex Terentilia vom Jahre 451
V. Chr., die Verfassung vorübergehend aufgehoben, eine Kom-
mission von 10 Männern, die Dezemvirn, mit unbeschränkter
Machtvollkommenheit ausgestattet und beauftragt, das
Landrecht aufzuzeichnen. Da sie ihre Aufgabe in einem
Jahr nicht erledigen konnte oder wollte, so setzte sie ihre
Tätigkeit noch ein zweites Jahr fort -und fand ihr Ende
durch Gewalt, weil die Dezemvirn des Jahres 450 ihr Amt
nicht niederlegen wollten.
Dieser Fall, auf den sich Mommsens Theorie vornehm-
lich stützt, muß aber bei der Feststellung des Begriffes der
a. 0. konstituierenden Gewalt ganz ausgeschieden werden.
Die Überlieferung über die römische Geschichte des 5. Jahr-
16 Adolf Bauer,
Hunderts ist viel zu unsicher, um aus ihr verfassungsrecht-
liche Aufschlüsse zu entnehmen. Wir wissen nicht einmal
bestimmt, ob der Auftrag, den die Dezemvirn erhielten,
befristet war oder nicht, oder ob es ihnen überlassen war,
ihr Amt solange zu behalten, bis der Zweck erfüllt war,
zu dem sie eingesetzt worden waren. Wir wissen nicht, ob
die ursprünglich eingesetzten Dezemvirn für das Jahr 450
sich ein zweites Dezemvirnkolleg rechtmäßig als Nachfolger
bestellten, und ob erst dieses sich unrechtmäßig die Gewalt
weiterhin anmaßte, so daß es durch eine Revolution zur
Abdankung gezwungen werden mußte. Die Darstellung des
Diodor spricht dafür, daß schon die Tätigkeit des ersten
Kollegiums auf ein Jahr befristet war, und dafür sprechen
auch Analogien aus der griechischen Geschichte, in der
solche a. o. konstituierende Gewalten in der Regel auf ein
Amtsjahr befristet sind. Die Stellung der Dezemvirn gleicht
überhaupt derjenigen Drakons oder Solons viel mehr als
den a. o. konstituierenden Gewalten der Diktatoren und
Triumvirn, die uns im 1. Jahrhundert in Rom begegnen.
Doch sei dem wie immer. Dieser mangelhaft bezeugte Vor-
gang, über den auch nach Mommsens Ansicht nur ein juri-
stisch-paradigmatischer und keineswegs ein geschichtlicher
Bericht bei Livius vorliegt, blieb vereinzelt. Seine Wieder-
kehr wurde fast 400 Jahre verhindert durch das Gesetz
des Valerius und Horatius, das die Wiederholung des Teren-
tilischen Antrages mit strafloser Tötung des Antragstellers
bedrohte. Der Vorgang bei der Einsetzung der Dezemvirn
konnte also überhaupt keine rechtsbildende Wirkung haben
und er beweist daher für die a. o. konstituierenden Gewalten
des 1. Jahrhunderts nichts.
Erst zwischen den sich rasch wiederholenden Fällen, da
im 1. Jahrhundert a. o. konstituierende Gewalten bestellt
wurden, besteht ein Zusammenhang. Es sind folgende. Im
Jahre 82 wurde durch ein Valerisches Gesetz dem Sulla
die a. o. konstituierende Gewalt als Diktator zur Aufzeich-
nung der Gesetze und zur Ordnung der Verfassung über-
tragen und zwar ohne jede Befristung. Das Erstaunen war
daher allgemein, als er im Glauben, das Werk getan zu haben,
schon im Jahre 79 seine Gewalt freiwillig niederlegte. Im
Der Staatsstreich des Octavianus im Jahre 32 v. Chr. 17
Jahre 48 wurde dem Cäsar eine gleichartige Diktatur erst
ohne Befristung, dann als Jahresamt und schließlich auf
Lebenszeit übertragen, die er bei seiner Ermordung noch
innehatte. Die Wiederkehr solcher Ausnahmsstellungen eines
einzelnen wurde im Jahre 43 durch ein Gesetz des Antonius
verpönt, das wie das Valerisch-Horatische jeden künftigen
Antragsteller außerhalb der Gesetze stellte. Dieses Gesetz,
das die Wiederkehr solcher Diktaturen verhindern sollte,
war aber ebenso wie die gleichartigen, die ihm vorangegangen
waren, theoretisch und praktisch gleich erfolglos, weil der
Souverän, Senat und Volk, es ohne weiteres auch jederzeit
wieder aufheben konnten. So geschah es, daß noch im
selben Jahre 43 durch die lex Titia zwar nicht die Diktatur,
wohl aber der Triumvirat mit a. o. konstituierender Gewalt
dem Lepidus, Antonius und Octavian auf 5 Jahre über-
tragen wurde; durch ein zweites Gesetz vom September
oder Oktober des Jahres 37 wurde er nach Ablauf der ersten
Frist abermals auf 5 Jahre erstreckt. Diese beiden den
Triumvirat schaffenden Gesetze weisen somit ein neues
Merkmal auf. Im Gegensatz zu Sullas und Cäsars nicht
befristeten Diktaturen soll von nun an die a. o. konstituierende
Gewalt zeitlich beschränkt sein. Darin liegt ein Versuch,
anders als bisher durch fruchtlose Prohibitivgesetze der
Ausnahmsgewalt Zügel anzulegen und die Gefahr ihrer be-
liebigen Erstreckung zu bannen. Zu dieser Konzession fan-
den sich die Triumvirn bereit; sie wollten, gewiß in erster
Linie Octavian, dadurch den Verdacht beseitigen, als strebten
sie nach einer dauernden Machtstellung wie Cäsar. Diese
Fristen haben daher selbstverständlich rechtliche Verbind-
lichkeit. Der Souverän im Staate kann zwar sich selbst
nicht für alle Zukunft durch Prohibitivgesetze in seinen
Entschließungen binden, wohl aber kann er seinen Man-
dataren, auch wenn er ihnen die a. o. konstituierende Ge-
walt überträgt, eine rechtskräftige Frist setzen. Somit ist
es unrichtig, daß im römischen Staatsrecht die a. o. konsti-
tuierende Gewalt grundsätzlich erst durch den Tod oder
den freiwilligen Verzicht ihrer Inhaber ein Ende fand.
Auf die nicht befristeten Diktaturen folgen vielmehr die
befristeten Triumvirate. Den Dezemvirn und Sulla wird
Historische Zeltschrift (117. Bd.) ?, Folge 21. Bd. 2
18 Adolf Bauer,
auch der Sonderauftrag erteilt, Gesetze zu geben, der dann
bei Cäsar und den Triumvirn entfällt; bei diesen ist viel-
mehr die a. o. konstituierende Gewalt nur eine äußere Form,
in der eine faktisch uneingeschränkte Macht anerkannt wird.
All dies ergibt das Bild einer geschichtlichen Entwicklung
und die Mannigfaltigkeit, die darin zutage tritt, lehrt, daß
in Rom keineswegs durch alle Zeiten hindurch ein starrer,
festumschriebener Rechtsbegriff der a. o. konstituierenden
Gewalt gegolten hat, den wir als Norm zu rekonstruieren
und in den Ereignissen wirksam anzuerkennen hätten.
Was Octavian seit dem 1. Jänner 32 getan hat, ge-
schah also nicht zum Schutze seiner automatisch fortlaufen-
den und daher legitimen Machtstellung als Triumvir, son-
dern war Gewalt, der die gesetzliche Grundlage fehlte.
Die grundsätzliche Anschauung Mommsens über das
Wesen der a. o. konstituierenden Gewalt blieb bisher fast
vollständig unangefochten. Nur gegen seine Beurteilung der
Vorgänge im Jahre 32 erhob J. Kromayer im Jahre 1888
Einspruch und suchte aus ihnen zu beweisen, daß Octavian,
damals von auswärts nach Rom zurückkehrend, einen
Staatsstreich begangen habe, als er infolge der Überschrei-
tung des Pomöriums den Senat amtslos zusammenberief
und während der Verhandlung mit Soldaten umstellte. Je-
doch war seine Darstellung dieser Ereignisse nicht ganz
richtig, und seine Ansicht fand durchaus nicht allgemeinen
Beifall. Jüngst kehrte W. Kolbe im Hermes 1914 nicht
nur ganz zu Mommsens Theorie zurück, sondern er suchte
auch, und zwar gerade aus den Ereignissen zu Anfang des
Jahres 32, deren Verlauf er mehrfach erst richtig stellte,
eine neue Bestätigung für Mommsens Theorie zu gewinnen.
Wir haben also zu untersuchen, was denn diese Er-
eignisse eigentlich lehren und ob sie so zu deuten sind, wie
Kolbe annimmt. Dazu müssen wir bis auf die Anfänge des
Triumvirates zurückgreifen.
Das private Abkommen, das Lepidus, Antonius und
Octavianus auf einer Insel bei Bologna über die Teilung
ihrer Herrschaft im römischen Reiche abgeschlossen hatten,
wurde am 27. Nov. 43 durch das Gesetz des Volkstribunen
Titius genehmigt und den dreien die a. o. konstituierende
Der Staatsstreich des Octavianus im Jahre 32 v. Chr. 19
Gewalt auf 5 Jahre und zwar, wie die Schriftsteller bezeugen
und eine Inschrift bestätigt, ausdrücklich bis zum 1. Jänner
37 übertragen. Als dieser Termin herankam, war Lepidus
in den Hintergrund gedrängt, Antonius und Octavian waren
verfeindet. Da aber der Krieg gegen Sextus Pompeius be-
vorstand, blieben beide vorläufig an der Spitze ihrer Ar-
meen und amtierten, nach der auch bei anderen Ämtern in
Rom herrschenden Gepflogenheit, als einstweilige Stellver-
treter bis zu einer künftigen neuen Ordnung der Verhält-
nisse weiter. Im September oder Oktober des Jahres 37
kam es in Tarent zur Verständigung zwischen Antonius und
Octavian und sie beschlossen, den Triumvirat weiterzubehal-
ten, ließen sich durch ein der lex Titia entsprechendes Ge-
setz diesen abermals auf 5 Jahre übertragen und Octavian
nennt sich seither Triumvir zum zweiten Male. Der Wort-
laut dieses Gesetzes ist uns zwar nicht bekannt, aber so-
wohl die Titulatur, die durch die Ziffer II ausspricht, daß
der erste Triumvirat mit dem Endtermin der lex Titia er-
loschen war, als auch die Angabe des Augustus in seinem
Rechenschaftsbericht, daß er ununterbrochen 10 Jahre lang
Triumvir gewesen sei, machen es zweifellos, daß dieses Ge-
setz mit rückwirkender Kraft für die Zeit vom 1. Jänner 37
an erlassen worden war. Die zweite Frist für den Trium-
virat lief also vom 1. Jänner 37 bis 1. Jänner 32. Dasselbe
beweist das offizielle, inschriftlich erhaltene Verzeichnis der
Konsuln, in dem der Beginn der zweiten Frist für den Trium-
virat zum 1. Jänner 37 verzeichnet steht.
Wenn also Octavian so großen Wert darauf legte, daß
die Lücke, die zwischen der ersten und zweiten Bekleidung
des Triumvirates tatsächlich bestand, durch eine nachträg-
liche Bestimmung beseitigt wurde, wenn er in den Kon-
sularfasten eine entsprechende Einfragung machen ließ,
wenn er sich ferner seit dem 1. Jänner 32 nicht mehr Trium-
vir nennt und endlich in seinem Rechenschaftsbericht die
ununterbrochene zehnjährige Dauer des Triumvirats beson-
ders betont, so folgt daraus, daß er diese Termine für ver-
bindlich erachtete; Augustus hat also davon nichts gewußt,
daß der Triumvirat rechtlich solange fortbestanden hätte»
bis er freiwillig darauf verzichtete.
2*
20 Adolf Bauer,
Damit sind die Gesichtspunkte festgestellt, nach denen
die Ereignisse zu Anfang des Jahres 32 zu beurteilen sind.
Die beiden am 1. Jänner dieses Jahres das Amt antretenden
Konsuln gehörten zur Partei des Antonius; schon bei ihrer
Wahl müssen also die Gegner des Octavianus darauf gerech-
net haben, daß mit jenem Datum ein Wandel in den poli-
tischen Verhältnissen eintreten werde. In der Tat greifen
sie auch, weil ihnen Octavian nicht mehr als Triumvir über-
geordnet war, sogleich nachdrücklich in den Gang der Staats-
geschäfte ein, die alten verfassungsmäßigen Zustände be-
ginnen wieder aufzuleben. Octavian, der bisher ganz frei
geschaltet hatte, muß jetzt mit den Konsuln über ein Schrei-
ben verhandeln, das kürzlich von Antonius aus dem Orient
eingetroffen war. Darüber, was mit diesem Schreiben ge-
schehen solle, kommt es zwischen den Konsuln und ihm zu
einem Kompromiß: Octavian verzichtete trotz seines leb-
haften Wunsches darauf, daß die darin enthaltenen, Anto-
nius kompromittierenden Schenkungen an Kleopatra im
Senat verlesen werden, die Konsuln verzichteten darauf,
daß die für Antonius rühmlichen Erfolge im Partherkrieg
dem Senat zur Kenntnis gebracht wurden. So wurde ver-
einbart, überhaupt aus diesem Briefe nur das eine mit-
zuteilen, daß Antonius angeboten habe, vom Triumvirat
zurückzutreten. Damit wollte er zwar nur dem Octavian
die Möglichkeit abschneiden, sich für seine Person den
Triumvirat noch ein drittesmal übertragen zu lassen, aber
durch dieses Angebot anerkannte Antonius doch auch seiner-
seits, daß er den 1. Jänner 32 als eine Verfallsfrist für den
Triumvirat ansah. Noch mehr: kurz vor der zweiten Sitzung
des Senates, die am 1. Februar 32 stattfand, verließ Octa-
vian Rom überhaupt und überließ damit den Konsuln das
Feld vollständig.
Er blieb eine Weile abwesend, faßte aber dann den
Entschluß, den Kampf gegen Antonius und seinen Anhang
aufzunehmen, kehrte nach Rom zurück und berief den
Senat. Gewohnt, demjenigen Gehorsam zu leisten, der
10 Jahre lang in der Stadt unumschränkt befohlen hatte,
versammelte sich der Senat. Die Frage, mit welchem Recht
Octavian ihn berief, wurde entweder gar nicht gestellt,
Der Staatsstreich des Octavianus im Jahre 32 v. Chr. 21
oder wenn sie erwogen wurde, blieb dies erfolglos, denn man
Wußte, daß Octavian zur Gewaltanwendung entschlossen sei.
Octavian erschien in der Tat in der Sitzung, von seinen
Freunden begleitet, die versteckte Dolche trugen, der Ver-
sammlungsraum war von seinen Soldaten umstellt. Unter
solchem Druck nahm er zwischen den beiden Konsuln auf
einem kurulischen Stuhle seinen Platz ein und erhob nun
offen Anklagen gegen Antonius, worauf die Konsuln nichts
zu erwidern wagten. Dann vertagte er die Sitzung mit
dem Versprechen, das nächstemal die schriftlichen Beweise
für seine Anklagen vorzulegen.
Darauf hin verließen die Konsuln, begleitet von gleich-
gesinnten Senatoren die Hauptstadt und begaben sich zu
Antonius nach Ephesos; das Schreiben des Antonius, in dem
er um die Genehmigung seiner Schenkungen an Kleopatra
gebeten hatte, nahmen sie mit. So war Octavian des schrift-
lichen Beweises beraubt, den er dem Senat zu geben ver-
sprochen hatte. Seine Lage war sehr übel, er war nicht
mehr Triumvir, hatte auch sonst kein Amt, und das Be-
weismaterial gegen Antonius war ihm entrissen.
Er fuhr zunächst fort, die Regierungsgeschäfte in Rom
zu führen und gegen Antonius Stimmung zu machen,
brauchte aber noch Zeit bis in den Juni, ehe er ans Ziel
kam. Damals trafen bei ihm zwei Überläufer aus dem
Lager des Gegners ein. Sie hatten seinerzeit als Zeugen
das Testament des Antonius unterfertigt und berichteten
ihm nun, daß auch diese bei den Vestalinnen in Rom hinter-
legte Urkunde die Schenkungen an Kleopatra und ihre
Kinder enthalte. Nun hatte Octavian gewonnenes Spiel.
Die Vestalinnen verweigerten zwar die Herausgabe des
Testaments, aber Octavian ließ es mft Gewalt herbeischaffen
und im Senat verlesen. Daraufhin wurde Antonius des ihm
in Aussicht gestellten Konsulates für verlustig und an Kleo-
patra der Krieg erklärt. Nach einer starken Agitation in
Rom, Italien und den Provinzen leistete nun der ganze
Westen des römischen Reiches dem Octavian den militäri-
schen Treueid, durch den sich alle Bürger in dem bevor-
stehenden Krieg zum Gehorsam verpflichteten und in die
Armee eintraten.
22 Adolf Bauer,
Für all dies, was Octavian seit dem 1. Jänner 32 getan
hat, fehlt jede verfassungsmäßige Grundlage. Ohne bru-
tale Anwendung militärischer Gewalt, aber durch ihren
maßvollen Druck und getreu seinem Wahlspruch „Eile mit
Weile", hatte Octavian in zielbewußter politischer Arbeit
seine Absicht dennoch vollständig erreicht. Er hatte die
nationalrömischen Instinkte des lateinischen Westens des
Reiches gegen die griechische Osthälfte und deren pflicht-
vergessenen Herrscher und dessen buhlerisches Weib zu heller
Kriegsbegeisterung entflammt. Dieser Staatsstreich trägt
die Charakterzüge seines kühl berechnenden, aber staats-
männisch einzig begabten Urhebers. Was Octavian in der
schwierigen Lage des Jahres 32 geleistet hatte, war ein
Meisterstück, auf das er zeitlebens stolz war und stolz sein
durfte; die Zustimmung aller, die er in seinem Rechen-
schaftsbericht als einzige Rechtfertigung geltend macht,
war redlich verdient; daß sie einem Staatsstreich galt,
suchte er daher auch gar nicht zu verschleiern.
Weder Mommsens staatsrechtliche Theorie, noch die
Ereignisse des Jahres 32 beweisen also, was viele annehmen,
daß der Prinzipat des Augustus sich auf gesetzlichem Wege
aus der Republik entwickelt hat; er beruht vielmehr auf
zweimaliger gesetzwidriger Gewaltanwendung: im Jahre 44
durch Werbung einer Armee, im Jahre 32 durch Usurpation
einer erloschenen amtlichen Gewalt.
Mit diesem Ergebnis stimmen alle erhaltenen Nach-
richten. Eine Ausnahme macht nur eine beiläufige Bemer-
kung bei Appian (Illyr. 28). Sie enthält eine selbständige
Berechnung der Zeitdauer des zweiten Triumvirats, nach
der es den Anschein hat, als ob diese zweite Frist sich
nicht bis zum 1. Jänner 32, sondern bis zum selben Datum
des Jahres 31 erstreckt hätte. Allein Appian ist, wo er
auf eigenen Füßen steht, unzuverlässig, sein Werk ist voll
von ähnlichen Versehen und Fehlern. Mit dieser Bemerkung
widerspricht er sich selbst; denn an einer anderen Stelle
(b. c. V, 95) gibt auch er unter den Abmachungen von Ta-
rent wie alle anderen Geschichtschreiber an, daß damals ein
zweiter fünfjähriger Zeitraum für den Triumvirat ausgemacht
worden sei. Unvereinbar sind ferner mit diesem Ergebnis
Der Staatsstreich des Octavianus im Jahre 32 v. Chr. 23
die Angaben einer Triester Inschrift, auf der Octavian noch
nach dem 1. Jänner 32 als Triumvir zum zweiten Male be-
zeichnet wird, und die schlecht abgeschriebene und sinnlose
Titulatur des Augustus auf einem Berliner Papyrus, aus der
man, ehe der Schreibfehler festgestellt war, ebenfalls den
Fortgebrauch des Triumvirtitels nach dem 1. Jänner 32 fol-
gern wollte. Wie hier ein irreführender Schreibfehler, so
liegt auch in der Triester Inschrift ein Fehler vor, sei es
dessen, der den Text konzipierte, sei es erst des Steinmet-
zen, der ihn aufzeichnete. Solche Mißgriffe untergeordneter
Beamten und Handwerker kommen aber gegenüber den
Zeugnissen nicht in Betracht, die Augustus selbst, die Ge-
schichtschreiber und die Ereignisse an sich ablegen.
Befreiung des Staates von der Gewaltherrschaft einer
Partei und Berufung auf den suffrage universel sind Phrasen,
die wir am häufigsten aus dem Munde von Usurpatoren zur
Rechtfertigung einer selbstsüchtigen Politik vernehmen. Sie
sind dadurch in Mißkredit gekommen. Augustus aber durfte
sie mit Fug gebrauchen. Er hatte sich zwar in den Jahren
44 und 32 über das formale Recht hinausgesetzt, aber mit
Einsatz seines Vermögens und seiner Person den morschen
und überlebten Bau der römischen Verfassung durch eine
meisterliche Schöpfung erneut. Sie ermöglichte dem römi-
schen Reich den Fortbestand auf Jahrhunderte hinaus.
Augustus ist durch den Staatsstreich zum Wohltäter der
Menschheit geworden. i)
^) Die Abhandlung von O. Th. Schulz: Das Wesen des römischen
Kaisertums, Paderborn 1916 (Stud. zur Gesch. u. Kult des Altert. 8,
Heft 2) habe ich erst später kennen gelernt. Sie stimmt in zwei
wesentlichen Punkten mit meinen Darlegungen überein: I. darin daß
die Theorie Mommsens von der Rechtsunverbindlichkeit der Befristung
der a. o. konstituierenden Gewalt unrichtig sei, und 2. in der daraus
sich ergebenden, im Anschluß an J. Kromayer gezogenen Folgerung,
daß der Triumvirat am 31. Dezember 33 erloschen war.
Auf die Theorie Mommsens und auf die Einzelheiten der Vor-
gänge des Jahres 32 ist der Verfasser jedoch nicht näher eingegangen,
der auch den Aufsatz W. Kolbes unberücksichtigt gelassen hat.
Seine Polemik gegen Mommsens Staatsrecht betrifft im übrigen die
Stellung des Augustus seit dem Jahre 27.
Prankreidi und Ägypten
von Leibnit2 bis auf Napoleon.
Von
S. Hellmann.
Die Geschichte und die Vorgeschichte von Napoleons
Zug nach Ägypten ist oft und eingehend behandelt worden.
Aber die Geschichte der Idee selbst, Ägypten zu einer fran-
zösischen Provinz zu machen, steht noch aus. Eigentlich
nur mit Leibnitz' Consilium Aegyptiacum hat sich die For-
schung eingehender beschäftigt, die mannigfachen Vor-
schläge, die nach ihm auftauchen, und die Ansätze zu ihrer
Durchführung dagegen oft kaum beachtet.^) Auch die fol-
genden Blätter erheben nicht den Anspruch, die Lücke aus-
zufüllen und eine zusammenhängende Darstellung zu geben;
ihr Zweck ist erfüllt, wenn es ihnen gelingt, das an man-
cherlei Orten zerstreute Material zusammenzusuchen und für
spätere Untersuchungen bereitzustellen.
Es war unter dem Einfluß der Pläne des Kurfürsten
Johann Philipp von Mainz, der Deutschland zu einer Föde-
ration zusammenfassen wollte, daß in Leibnitz der Gedanke
auftauchte^), die französischen Offensivabsichten, denen die
1) Kurze Zusammenstellungen bei Jonquiere, L'expedition d' ^gypte
I, 146 ff., A, Fournier, Napoleon I., I, 139 Anm., in der Cambridge
Modern history VIII, 595 (H. G. Rose).
2) Vgl. O. Klopp, Die Werke von Leibniz II, S. XXII ff.; E.
Pfleiderer, Gottfried Wilhelm Leibniz als Patriot, Staatsmann und
Bildungsträger 85 ff. ; B. Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte vom
Westf. Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1, 559ff.
Frankreich und Ägypten von Leibnitz bis auf Napoleon. 25
Verwirklichung der Idee des Kurfürsten, einen Damm ent-
gegensetzen mußte, auf Ägypten abzulenken. Zum ersten
Male gewann er greifbare Gestalt in den 1670 entworfenen
,,Bedencken von der Securität des deutschen Reiches". Das
Jahr darauf, als immer deutlicher wurde, daß Ludwig XIV.
sich mit einem Angriff auf Holland trage, erwuchs die dort
mehr gelegentlich hingeworfene Anregung zu einer eigenen
Schrift, dem sog. Consilium Aegyptiacum. Ausführlich setzte
Leibnitz auseinander, welche politischen, militärischen und
wirtschaftlichen Vorteile Frankreich von einer Besetzung
Ägyptens zu erwarten hätte. • Johann Philipp und Leibnitz'
politischer Freund und Mentor, Johann Christian Boyne-
burg, wurden für seine Anschauungen gewonnen. Einen
Augenblick wandte ihnen auch die französische Politik ihre
Aufmerksamkeit zu. Wenn es geschah, so freilich nur, weil
das seit Franz I. bestehende gute Einvernehmen mit der
Pforte schon seit Jahren unterbrochen war. 1664 hatten
in der Schlacht bei St. Gotthard französische Hilfskräfte
im kaiserlichen Heere gegen die Türken gefochten, und eben
in der Zeit, in der Leibnitz' Plan heranreifte, lag der fran-
zösische Gesandte in Konstantinopel in ernstlichen Diffe-
renzen mit der türkischen Regierung. So forderte das fran-
zösische Kabinett Leibnitz auf, nach Frankreich zu kom-
men. Im März 1672 reiste er nach Paris ab und unter-
breitete den Ministern seine Denkschrift. Der Kurfürst von
Mainz unterstützte seinen Schützling; im Juni 1672 brachte
er seinerseits den Gedanken einer Besetzung Ägyptens durch
die Franzosen vor das Kabinett Ludwigs XIV. Aber es
geschah zu spät. Der holländische Feldzug hatte begonnen;
Johann Philipp mußte, seine Besprechungen im Lager ab-
halten: eben die Unternehmung, die man auf Ägypten ab-
leiten wollte, war ins Rollen gekommen und ließ sich nicht
mehr zurücklenken. Wenn Leibnitz in seinen „Bedencken"
Frankreich den Beruf zugeschrieben hatte, ,,ein führer der
Christlichen waffen in die levante zu seyn und Godefridos,
Balduinos, vor allen Dingen aber Ludovicos Sandos der
Christenheit zu geben" ^), so antwortete Pomponne nüchtern,
0 Werke (Ausg. von O. Klopp) I, 247 f.
26 S. Hellmann,
die Zeiten Ludwigs des Heiligen und Phiilipps des Schönen
seien vorüber. Vollends war jeder Gedanke an die Aus-
führung der Vorschläge des deutschen Publizisten und Philo-
sophen abgetan, als am 3. Juni 1673 ein neues Abkommen
zwischen Frankreich und der Pforte zustande kam.
Der Mißerfolg, den Leibnitz erlitten hatte, war für ihn
nicht der Anlaß, seinen Gedanken aufzugeben; wiederholt,
zuletzt noch 1703, hat er in den großen europäischen Krisen
der nächsten Jahrzehnte von Frankreich und Ägypten ge-
sprochen. Irgendeinen Erfolg hat er nicht erzielt. Seine
Anregung war dem Wunsche entsprungen, den Ehrgeiz einer
europäischen Macht von ihrem augenblicklichen Angriffs-
objekt auf ein anderes Ziel abzulenken, und ebenso war es
eine Frage der aktuellen Politik gewesen, Differenzen mit
der Pforte, welche die französische Regierung veranlaßten,
einen Augenblick darauf einzugehen. Aber der Ursprung
dieses Gedankens lag nicht an der Oberfläche der Gegen-
sätze, welche die europäischen Staaten im Zeitalter Lud-
wigs XIV. trennten, sondern wurzelte tiefer, in einem Ideen-
komplex, der älter war und die europäische Menschheit länger
und stärker gefangen gehalten hat als sie. Leibnitz zitiert
in seinem Consilium Aegyptiacum wiederholt ein Fragment
des großen englischen Denkers und Staatsmannes Francis
Bacon, De hello sacro^): es ist zuletzt die Vorstellung von
einer Solidarität der christlichen Staaten gegenüber dem
Islam, aus welcher Leibnitz' Vorschlag hervorging, ein Ge-
danke, der den Kreuzzügen zugrunde lag und entsprang.
Er hatte sie überdauert und war ein Ideal der abendländi-
schen Menschheit geblieben, trotz der Entschlossenheit, mit
welcher sich die französische Politik seit Franz I. von ihm
abgekehrt hatte.
Der Kreuzzugsgedanke hatte in Frankreich zum letzten
Male die Form eines politischen Programms erhalten, als
Moritz von Sully in seinen Memoiren von dem „großen
Projekt" Heinrichs IV. sprach, einen dauernden Staaten-
bund unter französischer Führung in Europa zu schaffen,
zu dessen Aufgaben nicht nur die Aufrechterhaltung des
1) Werke II, 212, 414.
Frankreich und Ägypten von Leibnitz bis auf Napoleon. 27
Friedens, sondern auch die Vertreibung der Türken aus
Europa gehören sollte. Wir wissen heute, daß es sich bei
diesem angeblichen Plane Heinrichs IV. um eine Fälschung
Sullys handelt, daß der König nie derartige Absichten ge-
hegt hat.i) Aber Sullys Zeitgenossen und den nächsten
Jahrhunderten galten seine Worte als Wahrheit und der
angebliche Plan als eine Realität. Sullys Werke gewannen
namentlich im 18. Jahrhundert steigendes Ansehen in
Frankreich. Vor allem wirkte der ,, große Plan" auf den
Abbe von Saint-Pierre, den Vater der modernen Friedens-
bewegung, und hauptsächlich wohl durch seine Vermittlung
trieb er abermals Blüten bei einem französischen Staats-
manne der Zeit Ludwigs XV. 1738 arbeitete Rene- Louis
d'Argenson ein politisches Programm aus, das die Zertrüm-
merung des türkischen Reiches durch die vereinigten christ-
lichen Mächte und die Errichtung neuer Staaten unter
europäischen Fürsten in den damals türkischen Provinzen
und so auch in Ägypten verlangte.^) Sehr stark wurden
dabei die wirtschaftlichen Fragen betont; d'Argenson träumte
auch von einer Durchstechung der Landenge von Suez,
einem Gedanken, der eigentlich seit dem Altertum nie ganz
verloren gegangen war und auch in Leibnitz' Gutachten eine
Rolle gespielt hatte. Allerdings sprach d'Argenson nicht
geradezu von einer Besetzung Ägyptens durch Frankreich;
er ließ vielmehr die Frage offen, an welche europäische
Dynastien die einzelnen türkischen Provinzen kommen
sollten; immerhin ließe sich denken, daß die Ausführung
seiner Gedanken doch wohl dazu geführ-t hätte. Indessen,
wie Leibnitz und der Kardinal Fleury die Ideen Saint-Pierres
nicht ganz ernst nahmen^), so verfuhr auch d'Argenson mit
seinen eigenen. Der „secretaire d'^tat de la republique de
Piaton", wie man ihn genannt hat*), war ein Theoretiker,
aber als er 1744 die Leitung der auswärtigen Angelegen-
^) Vgl, Th. Kückelhaus, Der Ursprung des Planes vom ewigen
Frieden in den Memoiren des Herzogs von Sully, Berl. 1893.
*) Journal et Mimoires du Marquis d'Argenson I, 361 ff.
3) Vgl. W. Borner, Das Weltstaatsprojekt des Abbe de Saint-
Pierre 64 ff.
*) Biographie universelle XL IV, 146.
28 S. Hellmann,
heiten übernahm, unterließ er jeden Versuch, seine Phanta-
sien durchzuführen.
Fünfundzwanzig Jahre, nachdem d'Argenson sein Pro-
jei<t ausgearbeitet hatte, war Frankreichs Stellung im Nieder-
gehen begriffen. Der Siebenjährige Krieg hatte es nicht nur
sein Ansehen als Militärmacht auf dem Kontinent, sondern
auch den größten Teil seiner überseeischen Besitzungen ge-
kostet. Kanada und die meisten ostindischen Niederlassungen
waren an England gefallen, Louisiana hatte zur Entschädi-
gung für Abtretungen an Spanien gegeben werden müssen,
die es an England zu leisten hatte. Der Kolonialbesitz
Frankreichs bestand nur noch aus wenigen Außenstationen,
von denen bis auf den heutigen Tag keine zu irgendeiner
Bedeutung gelangt ist. Seit 1761 unterstanden die franzö-
sischen Kolonien dem Marineminister Choiseul; 1766 über-
nahm er das Auswärtige Amt, behielt aber noch immer die
tatsächliche Entscheidung auch in anderen wichtigen Res-
sorts. Choiseul wollte Frankreich Ersatz für die verloren
gegangenen Kolonien schaffen; wenn auch ohne Erfolg,
sandte er große Expeditionen nach Guyana und Mada-
gaskar, i) Angeblich soll er nun auch — wenigstens be-
hauptet das Talleyrand^) — schon seit 1769^) vorausgesehen
haben, daß die Engländer ihre amerikanischen Kolonien ein-
büßen und auch Frankreich dadurch beträchtlichen Handels-
verlust erleiden würde; um es schadlos zu halten, habe er
seitdem versucht, durch Verhandlungen Ägypten zu gewin-
nen, i) Es wäre das erstemal gewesen, daß ein französischer
Staatsmann ernsthaft daran gedacht hätte, am Nil festen
Fuß zu fassen. Allein von Dokumenten, die von solchen
Verhandlungen zeugten, ist nichts bekannt geworden. Tal-
leyrands Angabe ist überhaupt unglaubwürdig. Gerade in
den Jahren, in welchen Choiseul jene Unterhandlungen durch-
geführt haben müßte, war in der Türkei in französischem
Auftrage der Baron Franz Tott tätig, der Abkömmling einer
ungarischen Emigrantenfamilie, zuerst, seit 1766, als Konsul
1) E, Daubigny, Choiseul et la France d'outre-mer 31 ff., 130 ff.
2) In dem später zu erwähnenden Vortrag S. 299.
3) In diesem Jahr bestritt Virginien dem englischen Parlament
das Besteuerungsrecht.
Frankreich und Ägypten von Leibnitz bis auf Napoleon. 29
in der Krim, dann als militärischer Berater der Pforte, der
ihre Artillerie und ihr Schiffswesen verbesserte und 1770
die Dardanellen gegen die Angriffe der russischen Flotte
befestigte. 1) Ganz wie Deutschland in den letzten 25 Jahren
die Türkei gegenüber England und Rußland zu stützen und
neu zu beleben suchte, so wünschte Frankreich im 18. Jahr-
hundert ihre Lebenskraft zu erhalten; als das Endglied einer
Staatenkette, die von Schweden über Polen an die untere
Donau und das Schwarze Meer lief, sollte sie ebenso den
Verbündeten von 1756, der sich jeden Augenblick wieder in
einen Feind verwandeln konnte, in Schach halten wie Ruß-
land, dem Frankreich trotz des Siebenjährigen Krieges ein
altes Mißtrauen bewahrte.
Eine fremde Macht war es, welche zum erstenmal fran-
zösische Staatsmänner wieder veranlaßte, sich über Ägypten
zu äußern. Seitdem kaiserliche Heere den Türken von Wien
nach Ungarn und über die Donau gefolgt waren, schien der
Zerfall der Türkei nicht mehr unmöglich zu sein; ihre Wehr-
losigkeit gegenüber Prinz Eugen ließ z. B. d'Argenson, das
Utopische seiner Pläne nicht empfinden. Zugleich aber
schob sich von Nordosten eine andere Macht immer drohen-
der heran; Rußland drängte seit Peter dem Großen ihre
Grenzen zurück und begann unter Katharina, den Kern des
Reiches zu gefährden. Osterreich durfte es nicht darauf an-
kommen lassen, durch Rußland im Norden in Polen und
zugleich im Süden, vom Balkan her, umfaßt zu werden:
1772 war es nahe daran, für die Türkei das Schwert zu
ziehen. Die erste Teilung Polens schob dä'mals einen Augen-
blick die orientalische Frage beiseite; aber früher oder später
mußte eine friedliche oder kriegerische Auseinandersetzung
über den Balkan erfolgen. Kam es dann zu einer Teilung
der Türkei, die unter den russischen Stößen schwankte, so
war die Frage nur, wie die anderen Mächte sich dazu ver-
hielten, vor allem, ob Frankreich ruhig zusehen würde und
mit welchen Konzessionen sein Stillschweigen etwa erkauft
werden sollte.
Im Januar und Februar 1771 berichtete der Groß-
herzog Leopold von Toskana seinem Bruder in Wien über
^) Vgl. Biographie universelle XL II, 6 ff.
30 S. Hellmann,
Besprechungen, die er mit einem Piemontesen gehabt hatte,
dem in russischen Diensten stehenden Chevalier Massin, von
dem man allerdings nicht recht weiß, ob er ein Projekten-
macher war, der auf eigene Verantwortung redete, oder ob
er im Auftrag seiner Regierung sprach. In diesen Unter-
haltungen kam nur die Teilung der europäischen Türkei
zur Sprache und die Frage, welche Stellung die anderen
Mächte einnehmen würden, wurde kaum gestreift; nicht
mehr Beachtung fand sie in einer Anzahl von Teilungs-
plänen, die Kaunitz auf Grund der Berichte des Großherzogs
ausarbeitete. 1) Aber sobald es sich nicht mehr um Ge-
spräche handelte, die nur den Zweck hatten, zu sondieren,
sobald die Teilung der Türkei ernsthaft erwogen wurde,
war sie nicht mehr zu umgehen. Vor allem kam es dabei
auf Frankreich an. Denn Kaunitz' Mißtrauen gegen Preußen
machte das Einvernehmen mit Frankreich zum Eckpfeiler
der äußeren Politik Österreichs; brach es auseinander, so
war jede größere Aktion unterbunden. Als im Juli 1777
der bisherige Internuntius in Konstantinopel, Thugut, zu
Unterhandlungen in Paris erschien, geschah es daher in
doppelter Absicht; er sollte Frankreich zur Unterstützung
der Türkei ermahnen, aber gleichzeitig zu erfahren suchen,
welche Absichten man für den Fall ihres Zusammenbruches
hege. Thugut besprach sich darüber mit dem Minister des
Äußern, Vergennes, und mit dessen Nachfolger auf dem Bot-
schafterposten in Konstantinopel, dem Grafen von Saint-
Priest, der Thugut selbst aus der Zeit seiner dortigen Tätig-
keit bekannt war. Vergennes äußerte sich jedoch, der Zer-
fall der Türkei stehe noch in weiter Ferne; für Frankreich
bedeute er keine Gefahr, da sein Levantehandel dadurch
nicht bedroht werde. Zunächst also sei es Sache Öster-
reichs, an Abwehr zu denken. Lasse sich aber der Sturz
des Osmanenreiches wirklich nicht mehr verhüten, dann
werde Frankreich die Hand auf Kreta, Chios, Cypern, viel-
leicht auch auf Ägypten legen. 2)
1) Volz, Die Massinschen Vorschläge, Historische Vierteljahr-
schrift X (1907) 355 ff.
2) A. Beer, Die orientalische Politik Österreichs seit 1774,.
S. 66 f.
Frankreich und Ägypten von Leibnitz bis auf Napoleon. 31
Es war das erstemal, daß ein französischer Staatsmann
den Namen Ägypten in den Mund nahm. Aber es geschah
nur in hypothetischer Weise, auf eine hypothetische
Anfrage. Liest man dann vollends die Instruktion, in der
Vergennes im April des gleichen Jahres den nach Wien auf
seinen Posten zurückkehrenden Botschafter Baron de Bre-
teuil ermächtigte und anwies, der dortigen Regierung zu
eröffnen, daß Frankreich die Pforte auch mit den nach-
drücklichsten Mitteln zu unterstützen entschlossen sei^), so
sieht man, was jene Zurückhaltung bedeutete und welchen
Gründen sie entsprang. Trotzdem erhob sich erneut und
ernstlicher die Frage, ob Frankreich einen beteiligten oder
unbeteiligten Zuschauer abgeben würde, als nach dem baye-
rischen Erbfolgekrieg Österreich immer ernsthafter sich Ruß-
land näherte, Joseph II. ein persönliches Verhältnis zu
Katharina gewann und lebhaft auf ihre Absichten einer
Teilung der Türkei einging. In der Instruktion, die Kaunitz
für den Grafen Ludwig Cobenzl ausarbeitete, als dieser 1779
als Botschafter nach Petersburg ging, war auch von den
Schwierigkeiten die Rede, die sich bei einer etwaigen Tei-
lung der Türkei einstellen mußten. Kaunitz erwog die Ein-
mischung Englands und anderer Mächte, und ganz beson-
ders schien ihm die Frage des Schicksals Ägyptens Schwie-
rigkeiten zu bergen, da der Handel und die Schiffahrt auf
dem Roten Meere die Aufmerksamkeit der europäischen
Mächte auf sich ziehen würden. 2) Die ägyptische Frage be-
schäftigte auch Cobenzl. In einer undatierten Denkschrift,
die er ausarbeitete, sprach er von einer Ausdehnung Öster-
reichs bis ans Schwarze Meer. Mit Triest und den Donau-
häfen in der Hand würde es eine ähnliche Stellung im öst-
lichen Mittelmeer einnehmen, wie einst Venedig; nur müßte
Ägypten einer ruhigen Macht zugewiesen werden, wenn
Österreich sich dieses Besitzes erfreuen sollte: Cobenzl dachte
daran, es dem Malteserorden einzuräumen. 3) Aber die
ägyptische Frage mündete immer wieder in die andere
1) Recueil des Instructions donnies aux ambassadeurs et ministres^
de France. Autriche 509.
2) Beer 35 ff.
3) Beer 41.
32 S. Hellmann,
größere ein, welche Haltung von Frankreich zu erwarten
und wie dessen Anteil am türkischen Erbe zu bemessen
sei. Durch alle Verhandlungen, welche die beiden Mächte
1782 über die Türkei pflogen, zieht sich dieses Problem
durch. Der Staatssekretär im russischen Kollegium des Aus-
wärtigen, Besborodko, glaubte an die Möglichkeit einer fran-
zösisch-englisch-preußischen Allianz und bezweifelte, daß es
gelingen werde, Frankreich mit Ägypten abzufinden. Die
österreichische Politik dagegen, gebannt durch ihre alte
Gegnerschaft gegen Preußen, hielt den Gedanken einer Be-
teiligung Frankreichs fest und deshalb auch für durchführ-
bar. Nicht nur suchte Cobenzl in St. Petersburg in dieser
Richtung zu wirken^), sondern auch Joseph II. äußerte sich
am 13. November 1782 im gleichen Sinne in einem eigen-
händigen Briefe an Katharina: Friedrich der Große könne
keine einseitige Vergrößerung Österreichs und Rußlands zu-
lassen und werde sie zu vereiteln versuchen; daher sei es
unerläßlich, Frankreich zu gewinnen, was am besten ge-
schehen könne, wenn man ihm Aussicht auf Ägypten mache. 2)
Nicht nur zu der Freundin und Verbündeten äußerte sich
Joseph so: am 1. Februar 1783 berichtet der französische
Botschafter in Wien, der schon genannte Breteuil, über
eine dreistündige Unterredung mit dem Kaiser. Die Be-
ziehungen der beiden Kaiserreiche zur Türkei waren damals
wegen der russischen Förderungen in bezug auf die Krim
gespannt; Joseph sprach davon, wenn die Türken ihren
Widerstand nicht aufgäben, sich der Moldau und Walachei
zu bemächtigen: er erinnerte Breteuil an Ägypten, wo
Frankreich sich schadlos halten könne.*)
Wir sind nicht darüber unterrichtet, wie die französische
Regierung diese Anregung beantwortete. Mindestens äußer-
lich hat sie ihre Politik nicht geändert. Nicht lange vor dem
Ausbruch des Russisch-Türkischen Krieges gingen franzö-
sische Offiziere nach der Türkei ab, um die türkische Armee
zu reorganisieren. Noch besitzen wir eine Karikatur, welche
die zierlichen, gewandten Franzosen zeigt, wie sie, zum Teil
1) Beer 58 f.
*) A. Arneth, Joseph 11. und Katharina von Rußland 176.
3) Beer 68 f.
Frankreich und Ägypten von Leibnitz bis auf Napoleon. 33
unter Anwendung sehr nachdrücklicher Mittel, bemüht sind,
die plumpen, vierschrötigen Türken, deren faltige National-
kleidung und gewaltigen Schnurrbarte einen lustigen Gegen-
satz zu den graziösen Rokokouniformen und Zöpfen der
französischen Instrukteure bilden, mit den Eigentümlich-
keiten des abendländischen Exerzierreglements vertraut zu
machen. 1) Die oberste Leitung der französischen Politik
war also im Hinblick auf die Gesamtlage Europas nach wie
vor bestrebt, die Türkei zu halten und rührte nicht an
Ägypten. Anders die französischen Vertreter im Orient,
welche die Interessen ihres Landes dort und im türkischen
Reiche überhaupt wahrzunehmen hatten. Wie es häufig ge-
schieht, traten für sie die Erfordernisse der Gesamtpolitik
zurück hinter den wirklichen oder vermeintlichen Vorteilen,
welche ihrem Lande, wie sie glaubten, erwachsen mußten,
wenn es gegenüber den ihrer Beobachtung unterstellten
Gebieten eine aktivere Politik einschlug. Daher finden wir
in den nächsten Jahren Anzeichen einer stärker werdenden
Tendenz, die Aufmerksamkeit der Zentralstelle auf die Ge-
biete hinzulenken, die ihrer Tätigkeit zugewiesen waren.
Sie hatten dabei teils wirtschaftliche, teils aber auch weiter-
gehende politische Ziele im Auge.
An der Spitze dieser Männer begegnet uns ein Diplomat,
den wir bereits flüchtig kennen gelernt haben, der Graf von
Saint-Priest, der seit 1769 Frankreich in Konstantinopel
vertrat. Das Archiv des Ministeriums des Äußern in Paris
bewahrt eine Denkschrift von ihm, die wohl überhaupt das
Programm seiner orientalischen Politik enthält, in einen
Satz zusammengefaßt: Saint-Priest stellt der französischen
Politik die Alternative, entweder die zur Selbsterhaltung
unfähige Türkei zu stützen oder sie fallen zu lassen und
zugleich aus dem Schiffbruch die Provinzen zu retten, die
als günstigster Erwerb für Frankreich in Frage kämen;
die Fruchtbarkeit des Landes, die Leichtigkeit, mit der es
sich erobern lasse, endlich der Umstand, daß es den Schlüssel
zum Roten Meer und zum Handelsweg nach Indien be-
sitze, rückte Ägypten unter den dabei für ihn in Frage kom-
^) Vgl. die Nachbildung bei A. Brückner, Katharina IL, 356.
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 3
34 S. Hellmann,
menden Teilen des osmanischen Reiches an die erste Stelle.^)
Und allmählich dringt nun in die Diskussion über Ägypten
ein neuer Gedanke ein, der wie ein leises Präludieren an ein
fernes, glorreiches Zukunftsunternehmen anklingt. So oft
bisher von Ägypten die Rede gewesen war, ob nun der Ge-
danke, sich des Landes zu bemächtigen, von außen an
Frankreich herangetragen worden war, oder, wie bei d'Ar-
genson, auf französischem Boden selbst entsproß, immer
war der Hauptnachdruck auf die französischen Handels-
interessen gelegt worden. Von altersher ansehnlich, müssen
sie durch das Merkantilsystem bedeutend gesteigert gewesen
sein, und der Absatz der französischen Produkte, wie ihn
die südfranzösischen Städte, Marseille voran, vermittelten,
muß sehr namhafte Ziffern aufgewiesen haben. Aber der
französische Handel kreuzte sich auch in Ägypten mit seinem
alten Rivalen, dem englischen, der dort über die Landenge
von Suez den Weg nach Indien nahm. Das stille Ringen
der Handelswelt ging von Zeit zu Zeit in dem allgemeinen
politischen Gegensatz der beiden Staaten auf, wenn diese
in kriegerischen Konflikt gerieten. Schon vor Ausbruch des
amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gab es Reibereien.
Französische Konkurrenten benutzten 1775 die Gelegenheit,
um sich bei indischen Kaufleuten einzuschiffen, die auf der
Rückreise von Ägypten nach Indien begriffen waren. Eng-
land untersagte, der monopolistischen Behandlung der Kolo-
nien jener Zeit entsprechend, ein derartiges Verfahren und
erwirkte 1779, noch weitergehend, von der Pforte ein all-
gemeines Verbot für Europäer, Suez zu betreten. Den Fran-
zosen gelang es, den Streich zu parieren: sie trafen 1785
mit den wirklichen Beherrschern des Landes, denMamelucken-
Beys, ein Abkommen über den Suezhandel. England ant-
wortete sofort mit der Einsetzung eines Generalkonsuls.^)
Es versteht sich von selbst, daß diese Rivalität sich
auch in den Berichten und Vorschlägen der französischen
Vertreter im Orient widerspiegelt. Französische Schrift-
1) Jonquifere a, a. O. 146.
*) Vgl. die später zu besprechende Denkschrift Magallons, Revue
d'^gypte III (1896) 217.
Frankreich und Ägypten von Leibnitz bis auf Napoleon. 35
stücke, welche die österreichische Spionage 1776 auffing,
ließen erkennen, daß Saint-Priest sich mit Vorschlägen zur
Hebung des Suezhandels trug und zugleich auch sich damit
beschäftigte, wie der englische Handel an dieser seiner emp-
findlichsten Stelle getroffen werden könnte, i) Wie weit auch
andere französische Denkschriften sich mit diesem Problem
befaßten, ob auch sie den Gegensatz zu England erörtern
oder sich auf die Besprechung rein wirtschaftlicher Fragen
beschränken, wie z. B. ein Konsularbericht aus dem Jahre
17772), ein anderer Bericht, den 1778 oder wenig später der
vorhin schon genannte Baron Tott als Frucht einer Dienst-
reise nach der Levante und Ägypten erstattete, endlich ein
dritter, den 1781 ein früherer Konsul in Ägypten an den
Marquis de Castries, den damaligen Marineminister, richtete^),
ist unbekannt, da die betreffenden Dokumente der Öffent-
lichkeit nicht vorliegen. Aber trotzdem sie gleichzeitig ihre
Tradition, die Pforte zu stützen und zu schonen, festhielt,
verschloß sich die französische Regierung den militärischen
und politischen Möglichkeiten nicht mehr, welche in der
geographischen Lage Ägyptens beschlossen lagen. Kein offi-
zielles Dokument unterrichtet uns darüber. Aber wir wissen
davon durch einen Vorgang aus der Welt des Geheimnisses,
in der sich die Hälfte aller politischen Arbeit abspielt und
die für die Mitwelt oft gar nicht, für die Nachwelt immer
nur zu einem Teil und auch dann noch oft nur durch einen
glücklichen Zufall aufgedeckt wird. Der Naturforscher Karl
Sigisbert Sonnini, der Ende der 70er Jahre Tott auf jener
Reise begleitete, traf in Kairo einen französischen Offizier,
der die geheime Mission hatte, festzustellen, ob und mit
welchen Mitteln sich von Ägypten aus ein Vorstoß nach
Indien unternehmen lasse, ein Auftrag, dem er freilich, nach
Sonninis Worten zu schließen, in wenig geschickter Weise
nachgekommen zu sein scheint. Zum ersten Male also, wenig-
stens soweit unsere jetzige Kenntnis reicht, hatte eine eurO:-
^) Vgl. Kaunitz' Bemerkungen, Archiv für österreichische Ge-
schichte XLVIII (1872) 93.
*) Zitiert in dem später zu erwähnenden Konsularbericht von
vermutlich 1787, Revue d'^gypte II (1896) 650.
*) Jonquifere a. a. O. 146 Anm. 2.
3*
36 S. Hellmann,
päische Macht, hatte Frankreich den Gedanken gefaßt,
Ägypten als Sprungbrett für Indien zu benutzen. Aber der
Plan und die Absendung jenes Agenten — oder dürfen wir
vielleicht annehmen, daß ihrer mehrere tätig waren? — hat
greifbare Früchte nicht reifen lassen. Nur Denkschriften,
wie uns Sonnini sagt, wurden ausgearbeitet und abgeschickt,
um dann in den Archiven der Versailler Behörden ihre Ruhe-
stätte zu finden. 1)
Gerade aber seit den letzten Jahren des Anden regime
tritt nun immer häufiger der Gedanke einer Besitzergreifung
Ägyptens in den Äußerungen der französischen Agenten her-
vor. Es war wohl die Schwäche der Türkei und die Halt-
losigkeit des Mameluken-Regimentes, die ihn nahelegte. Die
letztere fiel sofort europäischen Reisenden auf, so Volney,
der von 1783 — 87 das Pyramidenland besuchte und eine
Reisebeschreibung veröffentlichte, die seinen Zeitgenossen
als klassisch galt.^) Daß Frankreich diese Verhältnisse be-
nützen und sich Ägyptens bemächtigen müsse, wird zum
ersten Male, soweit wir sehen, mit voller Deutlichkeit in
einer Denkschrift ausgesprochen, die einen ungenannten
Konsul zum Verfasser hat. Veranlaßt ist sie nicht durch
den Gegensatz zu England, den wir eben wirksam fanden,
sondern durch die Spannung, die dazu führte, daß im August
1787 erst Rußland, dann im Februar 1788 Österreich den
Krieg gegen die Türkei begann. Ihr Verfasser sah den west-
lichen Teil der europäischen Türkei mit Griechenland und
dem Archipel durch Österreich bedroht und hielt es für
unvermeidlich, daß diese Macht sofort, wenn sie dieses Ziel
erreichte, ihre Hand nach Ägypten ausstrecken würde, dessen
Eroberung ihr bei der Verwahrlosung der Befestigungen
Alexandriens nicht schwer fallen könnte, sobald ihr, was
der Verfasser gleichfalls für wahrscheinlich hielt, eine vene-
tianische Flotte zur Verfügung stehen würde. Ägypten aber
würde Österreich nicht nur von den Produkten Amerikas
emanzipieren, sondern auch ihm selbst die Ausfuhr von
Kolonialgütern ermöglichen, ihm Anteil am indischen Handel
^) C. S. Sonnini, Voyage dans la Haute et Basse Egypte (Paris,
an VII) 11,265; für die Zeitbestimmung auch 1,237.
«) C. F. Volneys Reise nach Syrien und Ägypten (1788) I, 200f.
Frankreich und Ägypten von Leibnitz bis auf Napoleon. 37
gewähren und endlich gestatten, eine Flotte in Suez zu
unterhalten. Dies aber würde der letzte Schritt sein, um
Österreich ein ausgesprochenes Übergewicht über alle an-
deren europäischen Mächte zu verschaffen. Es sei Pflicht
Frankreichs, dem zuvorzukommen, indem es Ägypten be-
setze, sobald Österreich und Rußland in türkisches Gebiet
einrückten. Der Beleuchtung der Verhältnisse, die das von
ihm angeratene Unternehmen ermöglichten und begünstigten,
widmete der Beamte weiterhin einen großen Teil seiner Aus-
führungen; über die Küstenverhältnisse, die Verkehrswege
und das Klima machte er der französischen Regierung ebenso
eingehende und auf guter Kenntnis des Landes beruhende
Mitteilungen, wie er ihr Ratschläge in bezug auf sanitäre
Fragen und die Haltung erteilte, welche die Okkupations-
armee gegenüber den religiösen Gebräuchen der Bevölkerung
beobachten müsse.
Wir kennen diese Denkschrift, die spätestens im August
1787 abgefaßt sein kann, durch ein Schreiben von Saint-
Priest, der sie an Alancourt sandte, einen Beamten im
Dienste der französischen Gesandtschaft in Konstantinop£l.
Dies geschah im Jahre 1789.^)
Die Schwelle der Revolution ist erreicht und ein paar
Jahre hören wir nun nichts mehr von Ägypten. Allein das
Gespenst des Zusammenbruches der Türkei, das gegen Ende
des Jahrhunderts wieder vor französischen Augen auf-
tauchte, lenkte die Aufmerksamkeit abermals auf den Nil.
Der Geniehauptmann Lazowski, der von der französischen
Regierung mit einer Mission im Orient betraut worden war,
ging in dem Bericht, den er nach seiner Rückkehr am
4. Januar 1798 erstattete, auf die türkisch-ägyptische Frage
ein. Die Türkei ist nicht mehr zu retten — aus dieser Über-
zeugung heraus fordert er Preisgabe des Einvernehmens mit
ihr und, wenn die Katastrophe eintritt, Besetzung des
1) Revue d'^gypte II (1896) 645 ff. Das Dokument setzt noch
den Friedenszustand zwischen Rußland und der Türkei voraus; daraus
ergibt sich der oben angegebene Terminus ad quem. 1789, unter dem
es gewöhnlich zitiert wird, ist das Jahr der Übersendung an d'Alan-
court; er war später als Militärkartograph tätig und starb 1801 in
München (Biogr. univ. I, 19).
38 S. Hellmann,
Archipels und Ägyptens i): wir erinnern uns, wie diese beiden
Gebiete in dem Gutachten von 1787 als zusammengehörig
einer gemeinsamen Bestimmung unterliegend erschienen.
Wichtiger aber als diese gelegentliche Äußerung eines
Offiziers war es, daß gleichzeitig die ägyptische Idee einen
neuen und rührigen Vertreter in einem der besten Kenner
des Landes fand, in Charles Magallon^), einem Kaufmann aus
Marseille, der sich etwa 1760 in Ägypten niedergelassen hatte
und seit 1777 als halboffizieller Agent Frankreichs wirkte,
zum Teil in Verbindung mit dem Botschafter in Konstan-
tinopel. Als die Türkei 1786 gegen die Mamelucken vor-
ging und die Güter der Beys konfiszierte^), wurden seine
sehr bedeutenden Forderungen an diese mit einem Schlage
entwertet. In den allgemeinen Ruin hineingerissen, der über
die französische Kolonie infolge des Zuges des Kapudan-
paschas hereinbrach, kehrte Magallon 1790 nach Frank-
reich zurück. Er geriet in Not, aus der ihn endlich die
Regierung erlöste, indem sie ihn 1793 zum Generalkonsul
in Ägypten machte; dieses Amt versah er bis zum Jahre
1797, kehrte dann nach Frankreich zurück und starb, fast
achtzigjährig, 1820. Da er nicht nur die Schwäche der
ägyptischen Zustände kannte, sondern auch die Gefahren,
die sie dem fremden Handel bereiteten, forderte er die Be-
setzung des Landes durch Frankreich. Schon 1796 muß er
eine dahingehende Denkschrift ausgearbeitet haben, die uns
nur aus der halb ausweichenden Antwort bekannt ist, die
ihr der damalige Minister des Äußern, Delacroix, zuteil
werden ließ.^) Magallon ließ sich nicht abweisen. In zwei
weiteren Denkschriften, von denen die eine freilich nur
bruchstückweise bekannt geworden ist, behandelte er noch
einmal einen Plan, der mit seinen eigenen Erfahrungen und
1) Jonquifere I, 148.
2) Vgl. Biographie universelle XXVI, 23 ff.; Revue d'^gypte III
(1896) 205 sagt er, daß er dreißig Jahre lang in Ägypten als Kauf-
mann tätig gewesen sei.
3) Vgl. J. W. Zinkeisen, Geschichte des osmanischen Reiches in
Europa VI, 56 ff.
*) Biogr. univ. XXVI, 24; ein paar Sätze mehr Jonquifere 1, 150
Anm. 1.
Frankreich und Ägypten von Leibnitz bis auf Napoleon. 39
Erlebnissen unlösbar verknüpft war.^) Als genauer Kenner
des Landes legte er die militärischen und wirtschaftl chen
Vorteile dar, die Frankreich von der Besitzergreifung zu er-
warten hatte. Darüber hinaus reizt namentlich sein jüngstes
Memorandum unser Interesse, weil es zum ersten Male, wie
es wenigstens scheint, alle militärischen Einzelheiten einer
ägyptischen Expedition erwägt. Magallon denkt sich ihren
Verlauf folgendermaßen: Eine Truppenzahl von 12000 bis
15000 Mann genügt, wenigstens zur Eroberung, während die
dauernde Besetzung 20000 bis 25000 erfordert. Diese Streit-
macht wird mit starker Artillerie versehen, die unnützes
Blutvergießen erspart, da ihr die Mamelucken nichts Gleich-
wertiges entgegenzusetzen haben, und führt leichte Schiffe
und Kanonenboote mit sich, die den Nil hinauffahren und
die Ufer bestreichen können. Am 15. Juni geht die Expe-
dition von Toulon oder Korfu ab und erreicht Alexandria
gegen den 5. Juli; dies ist die beste Zeit, da dann die Pest
erloschen zu sein pflegt, die jedes Jahr eine Zeit lang in
Ägypten wütet. Nach der Landung besetzt die Armee sofort
Rosette, um sich den Nachschub zu sichern, und bricht
nach möglichst kurzem Aufenthalt in Alexandria auf dem
Landweg und unter Benutzung der Wasserstraße des Nils
nach Kairo auf, das in fünf bis sechs Tagen erreicht wird.
In der Nähe der Stadt wird es wahrscheinlich zur Schlacht
kommen, deren Ausgang nicht zweifelhaft sein kann, da die
Streitmacht der Beys nur aus 7 — 8000 Streitern besteht,
die zwar gut beritten und ausgerüstet sind, aber abend-
ländische Fechtweise nicht kennen. Geschlagen werden die
Beys nach Oberägypten zu fliehen versuchen. Die Ver-
folgung, die sofort einsetzen muß, geht bis Assuan, wäh-
rend Kairo einstweilen von 5 bis 6000 Mann in Ordnung
gehalten wird.
Magallons Gutachten, vielleicht die Frucht eines Ur-
laubs, den er erhalten hatte, um Material für seine Pläne
beizubringen^), trägt das Datum des 9. Februar 1798. Nach
1) Revue d'J^gypte III (1896) 205 ff. (an XI in an VI zu verbes-
sern); das (undatierte) Bruchstück Jonquifere I, 150.
2) Vgl. die Bemerkung Talleyrands bei G. Pallain, Le ministire
de Talleyrand sous le Directoire 124 f. Anm. Talleyrand erwähnt dort
40 S. Hellmann,
noch nicht acht Tagen, am 14., legte Talleyrand dem Direk-
torium einen ausführlichen Bericht über das geplante ägyp-
tische Unternehmen vor: er folgt im Gedankengang und
zum Teil im Wortlaut durchaus dem Memorandum des
ehemaligen Konsuls^): aus der Sphäre halb privater An-
regungen und Bemühungen war damit die ägyptische Expe-
dition in das Stadium der Vorbereitung und Ausführung
getreten. Ein Vierteljahr später segelte Napoleon von
Toulon ab.
Talleyrand hat sich später, wenn auch nur einen Augen-
blick lang, gerühmt, der Vater des ägyptischen Projektes
gewesen zu sein. 2) Wann sprach er zum erstenmal von Ägyp-
ten? Es geschah, kurz ehe bei Napoleon die ersten An-
zeichen dafür sichtbar wurden, daß er an die Erwerbung
des Landes dachte. Im September 1796 kehrte Talleyrand
aus der freiwilligen Verbannung, in welche ihn die Revo-
lution getrieben hatte, nach Frankreich und Paris zurück.
Das ein Jahr vorher errichtete Institut de France wählte
ihn in die Klasse der Sciences politiques et morales.^) Seinen
Verpflichtungen zu genügen hielt das neue Mitglied zwei
Vorträge, den einen über Amerika, den andern wenig später,
am 15. Messidor V (3. Juli 1797), über die Vorteile von Kolo-
nien und die Notwendigkeit für Frankreich, solche zu be-
sitzen.*) Talleyrand legt dar, wie er in Amerika mit Erstaunen
beobachtete, daß die Arbeit, welche jungfräulicher Boden
schuf, die Leidenschaften einer kaum überstandenen Um-
wälzung zu besänftigen und einzuschläfern imstande war.
Kolonisationstätigkeit also empfahl er auch für Frankreich,
um es von den Leiden der Revolution zu heilen und zu
befreien. Unter den Gebieten, die für diesen Zweck in Be-
tracht kamen, nannte er auch Ägypten. Aber es geschah
nur flüchtig im Vorübergehen. Weder die militärisch-poli-
beaucoup de mimoires relatifs ä une expedition dans ce pays, die Ma-
gallon ausgearbeitet hatte.
^) Jonquiere I, 154 ff.
2) Vgl. Fournier a. a. O. I, 140 und die dort angeführte Literatur.
') Mimoires du Prince de Talleyrand I, 248 f.
*) Mimoires de V Institut national; Sciences morales et politiques II
(an VIJ. = 1799), 288 ff.
Frankreich und Ägypten von Leibnitz bis auf Napoleon. 41
tischen noch die wirtschaftlichen Vorteile einer Besetzung,
die vor ihm schon so oft besprochen worden waren, erörtert
er. Nichts berechtigt oder nötigt uns zu der Annahme,
daß Talleyrand die Denkschriften Magallons und der andern
gekannt hätte, die vor ihm der ägyptischen Frage ihre Auf-
merksamkeit und ihre Tätigkeit gewidmet hatten, und auch
nicht in der Entfernung blitzt bei ihm der große Gedanke
eines Stoßes gegen England auf, der ein Jahr später Napo-
leons Fahrt leitete. Nicht der Staatsmann spricht, der
Meister des diplomatischen Spieles und der Intrigue, der
eben damals vor seinem Ziele stand und zwei Wochen später
die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten übernehmen
sollte, sondern ein Theoretiker, der in eine akademische Be-
trachtung halb dilettantischer Art fast aufs Geratewohl
den Namen Ägypten warf. Talleyrand selbst hat später von
diesem Ausflug auf das Gebiet politischer Spekulation nicht
sehr hoch gedacht und spricht in seinen Memoiren ziemlich
geringschätzig nicht-nur von der höchsten wissenschaftlichen
Körperschaft des Landes, die ihn zu dem Ihren gemacht
hatte, sondern auch von der Art, wie er sich seiner Ver-
pflichtungen gegen sie entledigte.^) In Wirklichkeit aber ist
sie, zugleich mit anderem, auch ein Beweis dafür, daß die
Ehre, den alten Gedanken einer Angliederung Ägyptens an
Frankreich zur Ausführung reif gemacht zu haben, ebenso
einem Größeren als er zukommt, wie der Ruhm seiner vor-
übergehenden Verwirklichung.
^) On avait forme ä Paris un institut national des sciences et des
arts; Vorganisation seule de cet institut suffisait pour faire fuger de
Vesprit qui regnait en France. On Vavait divisi en quatre classes. Celle
des sciences pliysiques tenait le premier rang. Celle des sciences morales
et politiques n'etait qu'au second. On m'avait nomme membre de cette
classe en mon absence. Pour payer mon tribut d'academicien, fe lus ä
deux differentes siances publiques, peu eloignees l'une de l'autre, deux
mimoires qui attirirent assez l'attention a. a. O.
Des Kronprinzen Friedrich
Considerations sur l'etat present du corps
poiitique de l'Europe.
Von
Friedrich Meinecke.
Nicht nur die großen geistigen Leistungen, sondern auch
die schöpferischen Entschlüsse und Taten im Völker- und
Staatenleben gehen hervor aus einem verborgenen, aber ganz
organischen Wachstum in der Seele großer Männer. Oft ist
es nur die Kraft überhaupt, die sich langsam entwickelt
und dann plötzlich, vor große Aufgaben gestellt, sich über
Wege und Ziele des Handelns entscheiden muß. Nicht selten
aber entsteht in diesen stillen Wachstumsperioden auch schon
ein deutHches Bild von neuen Wegen und Zielen, ein fertiger
Feldzugsplan entworfen in Zeiten und Lagen, die zur Aus-
führung dieses Planes noch gar nicht sich schicken und doch
durch die Impulse, die sie geben, diesen Plan mit hervor-
rufen und so dazu mitwirken, sich selbst zu überwinden.
Wie eine absterbende Zeit eine neue aus ihrem Schoß her-
vorbringt und wie sie dazu des Mediums bestimmter Per-
sönlichkeiten bedarf, wie der besondere Mann und die be-
sondere Zeit überall zusammenwirken müssen, um Neues zu
schaffen, das ist ein immer wieder anziehendes und lehr-
reiches Schauspiel.
Alles war vorausgesehen und vorbereitet, schrieb Fried-
rich der Große an Algarotti am 28. Oktober 1740, als er mit
Des Kronprinzen Friedrich Considdrations sur l'ätat etc. 43
seinem Unternehmen auf Schlesien hervorbrach. Nicht jede
Einzelheit dessen, was er nun tat, läßt sich als vorbedacht
nachweisen und wird es wohl auch schwerlich sein. Aber
wer den ersten Band der Politischen Korrespondenz Fried-
richs liest, findet überall Spuren eines lange vorher durch-
dachten Planes. Er hatte den Ehrgeiz, an das europäische
Schachbrett sogleich als Meisterspieler heranzutreten, und
sein Glaube an die Richtigkeit seiner Berechnungen nimmt
zuweilen einen fast doktrinären Charakter an. Ich warte
wie der Schauspieler auf das Stichwort meiner Rolle, schrieb
er am 7. September 1737.i) Er setzte hinzu, daß er des-
halb nnr wenig Aufmerksamkeit für die Rolle der Übrigen
habe. Aber das darf man nicht wörtlich nehmen. Er hat
das Spiel der Übrigen in dieser Wartezeit nicht nur auf-
merksam studiert, sondern leidenschaftlich miterlebt. Wie
man die Frankfurter Erfahrungen Bismarcks kennen muß,
um seine deutsche Politik seit 1862 zu verstehen, so muß
man die besonderen politischen Erlebnisse kennen, die Fried-
rich in dem halben Jahrzehnt vor seiner Thronbesteigung
durchmachte. Dem Bilde, das Meister der Forschung von
diesem Quellboden der friderizianischen Politik und Staats-
kunst entworfen haben, sind wesentlich neue Züge zwar
nicht mehr hinzuzufügen. Wohl aber ist es möglich, einen
bisher etwas matt beleuchteten Punkt in ihm in helleres
Licht zu setzen. Immer schon hat man in der merkwürdigen
poHtischen Jugendschrift des Kronprinzen, den um die
Wende der Jahre 1737/38 entstandenen Considerations sur
Vetat prisent du corps politique de l'Europe eine erste große
Manifestation seines politischen Denkens und Wollens ge-
sehen, ohne doch, wie mir scheint, alles herausgeholt zu
haben, was in ihr steckt. Man hat sie bisher gar zu eng
und ausschließlich aus einem einzelnen Bedürfnisse des poli-
tischen Moments, in dem sie entstand, erklärt und erschöp-
fend zu verstehen geglaubt. Diese Erklärung war richtig,
aber nicht vollständig; sie beleuchtete nur den Vordergrund,
aber nicht den Hintergrund in den Absichten des fürst-
lichen Verfassers. Und doch taucht ein solcher Hintergrund
1) An Prinz Wilhelm von Oranien; Ranke, Sämtl. Werke 24, 201.
44 Friedrich Meinecke,
schon allein bei genauerer Analyse der Schrift auf, zunächst
zwar nur als eine etwas argwöhnische Vermutung, die sich
aber sehr bald stützen läßt durch andere sichere Punkte
aus der politischen Entwicklung des Kronprinzen und vor
allem durch die Kontinuität, die sie in seine Politik vor
und nach dem Regierungsantritt hineinbringt.^)
Vergegenwärtigen wir uns zunächst die europäische Situa-
tion jener Jahre und die damaligen Ziele der preußischen
Politik. Der alte Gegensatz zwischen französischer und kaiser-
licher Macht hatte erst kürzlich wieder einen Waffengang
durchgemacht im Polnischen Erbfolgekriege der Jahre 1733/35.
Frankreich kämpfte für den von den Polen zum König
gewählten Schwiegervater Ludwigs XV., Stanislaus Lesz-
czynski, der Kaiser mit Rußland im Bunde für Friedrich
August von Sachsen. Das russische Bündnis ersetzte dem
Kaiser jetzt die Allianz mit den Seemächten, die er im
Spanischen Erbfolgekriege genossen hatte; die Seemächte
blieben neutral. Frankreich aber hatte jetzt außer Sardi-
nien das ehrgeizige Spanien der Bourbonen an seiner Seite,
denn der Krieg wurde im Grunde weniger um Polen als
um Italien geführt. In Polen kam Frankreichs Einfluß und
Macht nicht an gegen die Vereinigung der beiden großen
^) Die Preußsche Ausgabe der Oeuvres Friedrichs Bd. 8, 1 — 27
gab, da eine Handschrift der Considerations nicht aufzufinden war,
den Text, den die Oeuvres posthumes Bd. 6 S. 1 — 52 1788 gebracht
hatten. Professor Hans Droysen hat nun, wie er mir freundlichst
mitteilt, im Voltaireschen Nachlaß in St. Petersburg ein Manuskript
der Considirations von Friedrichs eigener Hand aufgefunden, das zahl-
reiche stilistische Abweichungen von dem Texte der Oeuvres posthumes
enthält, sich inhaltlich aber mit ihm, von dem fehlenden letzten Blatte
der Handschrift abgesehen, vollständig deckt. Die Vergleichung der
Varianten, die ich vornehmen durfte, ergibt, daß der Petersburger
Text zwar nicht ausnahmslos, aber überwiegend glatter und sorg-
fältiger in der Diktion ist als der Text der Oeuvres posthumes bzw.
Oeuvres. Die Härten des letzteren sind zum Teil so charakteristisch,
daß sie nicht auf Rechnung eines sorglosen Kopisten oder Heraus-
gebers, sondern des Autors zu setzen sind. Der Text der Oeuvres post-
humes beruht demnach, wenn auch vielleicht nicht direkt auf einem
eigenhändigen Manuskripte des Königs, so doch indirekt auf einer
früheren Niederschrift — während das Petersburger Exemplar offenbar
dasjenige ist, das Friedrich im Sommer 1738 an Voltaire sandte (s.
unten S. 69 Anm. 1) und das er für ihn also stilistisch verbesserte.
Der Kronprinzen Friedrich Consid^rations sur l'etat etc. 45
Ostmächte; dafür fielen die Entscheidungen in Italien zu
Ungunsten des Kaisers, und am Rheine fochten seine Heere
trotz der Hilfe des Reiches ebenfalls ohne Glück. Preußen
stand auf Seite des Kaisers, aber mit halber Kraft und ge-
spalten in seinen Interessen. Es sah mit Sorge Sachsen und
Polen wieder miteinander verknüpft und ahnte den schweren
Druck, den es in Zukunft von der neuen Machtkombination
im Osten — Österreich, Rußland, Sachsen-Polen — , wie
es denn auch geschehen ist, zu erleiden haben werde. Trotz-
dem hielt es zum Kaiser, weil die Verträge, die es dazu
verpflichteten, zugleich das stärkste seiner damaligen Zu-
kunftsinteressen, die Aussicht auf eine erhebliche territoriale
Abrundung und Vergrößerung am Niederrheine, zu verbürgen
schienen. Das Haus Pfalz-Neuburg, mit dem es sich in die
Jülicher Erbschaft einst hatte teilen müssen und das in-
zwischen zur Kurwürde gelangt war, stand vor dem
Aussterben; der greise Kurfürst Karl Philipp von der Pfalz
war ohne Söhne und wünschte die Herzogtümer Jülich und
Berg der Linie Pfalz-Sulzbach zu vermachen und die gut
begründeten preußischen Ansprüche auf sie beiseite zu schie-
ben. Die europäische Konstellation war ihm günstig, denn
jede der großen Mächte wünschte ein Wachstum Preußens
am Niederrhein zu verhindern, teils aus Eifersucht gegen
Preußen überhaupt, teils aus dem besonderen Interesse, ge-
rade an den Übergängen des Niederrheins keine stärkere
Macht sich entfalten zu sehen. Friedrich Wilhelm 1. spürte,
daß er das Ganze seiner Ansprüche nicht durchsetzen würde,
verzichtete auf das größere Herzogtum Jülich und konnte
durch die Garantie der pragmatischen Sanktion, die er dem
Kaiser Karl VI. gewährte, in den Verträgen von 1726 und
1728 dessen Zusage davontragen, ihm zum Herzogtum Berg
zu verhelfen. Mancherlei hatte nun inzwischen Preußen
schon gehört und erlebt, was ihm Mißtrauen einflößen
konnte gegen die loyale Ausführung dieser kaiserlichen Zu-
sage. Es steigerte sich zur schmerzlichsten Sorge durch die
Überraschungen, die der Ausgang des Polnischen Erbfolge-
krieges im Wiener Präliminarfrieden vom 3. Oktober 1735
brachte. Frankreich und der Kaiser vertrugen sich in ihm
derart, daß aus der Feindschaft eine Freundschaft wurde.
46 Friedrich Meinecke,
Frankreich gab das Königtum Augusts III. von Polen zu
und trug dafür die Aussicht auf baldigen Gewinn Lothrin-
gens, das zum Altenteil des entthronten Königs Stanislaus
bestimmt wurde, ein; Franz von Lothringen, der Schwieger-
sohn des Kaisers, wurde durch Toskana entschädigt. Dem
Kaiser aber wurde der heiße Wunsch erfüllt, daß sein alter
europäischer Widerpart ihm nun auch die Garantie der
pragmatischen Sanktion versprach. Das mußte ihn trösten
für den Verlust Neapels und Siziliens, die dem spanischen
Infanten Don Carlos zufallen sollten. Dieser Präliminar-
friede konnte zwar erst nach drei Jahren in einen definitiven
Frieden umgewandelt werden, weil Spanien und Sardinien
unzufrieden waren mit dem Anteil an der italienischen
Beute, den Kardinal Fleury ihnen zumaß, und mehr von
ihm verlangten. Um so enger rückte nun die Politik Fleurys,
ohne doch die Fühlung mit Spanien zu verlieren, an den Wiener
Hof heran, ließ ihm auch gönnerhaft freien Lauf, als er
Entschädigungen für das Verlorene in einem neuen Türken-
kriege suchte und im Sommer 1737 an die Seite Rußlands,
das schon im Kampfe gegen die Türkei stand, trat. Dabei
wünschte Fleury im Grunde, daß die Türken siegten, um
das Anschwellen der russischen Macht im Orient zu ver-
hindern, und sah es deshalb zufrieden mit an, daß auch
Österreich nun mit seinen erschöpften Finanzen und seinem
schlechten und schlecht geführten Heere im Osten sich zu
verbluten begann. Österreich hing jetzt an seiner Angel,
angelockt und festgehalten durch mehr als einen Köder,
nicht nur durch die französische Garantie der pragmati-
schen Sanktion, sondern auch durch das Interesse an der
Ausführung des Präliminarfriedens in Italien, durch die
französische Konnivenz zum Türkenkriege und schließlich
nun auch durch ein neues gemeinsames Interesse, das seine
Spitze gegen Preußen kehrte. Die preußische Garantie der
pragmatischen Sanktion war jetzt durch die neuerworbene
französische Garantie derart wertlos und überflüssig ge-
worden, daß der Kaiser nunmehr auch den Preis, den er
für sie einst zu zahlen versprochen hatte, nicht mehr zu
zahlen für nötig hielt. Auch Frankreich wünschte Düssel-
dorf nicht in preußischen Händen. Was lag näher, als daß
Des Kronprinzen Friedrich Considdrations sur l'^tat etc. 47
Frankreich und Österreich gemeinsam jetzt diktierten, was
aus den niederrheinischen Landschaften werden sollte, —
auf Kosten Preußens. Die französisch-österreichische Entente
befestigte also sich an dieser Aufgabe und gewann nun noch
weitere Hilfe für sie gerade bei denjenigen Mächten, die
jene Entente sonst gar nicht gern sahen. Das waren die
Seemächte, England und die Generalstaaten. Sie fürchteten,
durch den neuen französisch-österreichischen Block um ihren
Einfluß in Europa zu kommen. Als aber dieser Block sie ein-
lud, einen gemeinsamen europäischen Areopag zu bilden, der
die jülich-bergische Frage entscheiden und den Keim eines
großen europäischen Krieges damit zertreten sollte, vermoch-
ten sie nicht nein zu sagen, weil die vorgeschlagene anti-
preußische Lösung der Frage auch ihnen gefiel. Sie folgten
der Einladung zwar nicht ohne einiges Zögern und Be-
denken. Aber am 10. Februar 1738 war es soweit, daß
identische Noten der vier großen Mächte in Berlin über-
reicht wurden des Inhalts, daß der König sich die Vermitt-
lung der vier Mächte in der Erbfrage gefallen lassen und
von eigenmächtigem Vorgehen absehen solle; nach dem Tode
des Kurfürsten von der Pfalz aber sollte, falls eine Einigung
noch nicht erzielt sei, der provisionelle Besitz beider strei-
tigen Herzogtümer dem Hause Pfalz-Sulzbach zufallen.
Preußen antwortete ausweichend und begann mit dem
Säbel zu rasseln, um zu zeigen, daß es sich nicht vergewal-
tigen lassen wolle. Aber wie schwer umwölkt waren nun
seine Lage und seine Hoffnungen. Alle diese Wolken waren
aufgestiegen aus dem einen Wetterwinkel des Jahres 1735,
dem Wiener Präliminarfrieden, der französisch-österreichi-
schen Entente. Es zeigte sich damals schon, was später
Friedrich als König und jetzt wiederum wir im größten
Stile erfahren mußten, daß für eine zentrale Macht in
Europa nichts gefährlicher ist, als wenn Ost- und West-
macht einander die Hand reichen.
Das also war das erste gewaltige politische Erlebnis
des Kronprinzen, die erste Schule politischer Erfahrung
und europäischer Staatskunst, die er durchmachte. Mit
heißer Leidenschaft verfolgte er alle Phasen der abschüssigen
Wendung seit 1735. Als er im Januar 1738 das Unwetter,
48 Friedrich Meinecke,
das in den identischen Noten sich entladen sollte, kommen
sah, schrieb er an den Minister Grumbkow^): Will man die
edle Palme niederdrücken, so wird sie stolz ihren Wipfel
emporschnellen. Glauben Sie mir, fuhr er fort, jetzt ist es
Zeit, zu schreiben, um die Geister zu bearbeiten und zu
gewinnen. Die Presse muß jetzt arbeiten, und ich habe
mehr als je Lust, meine Schrift zu veröffentlichen. — Das ist
das erste Zeugnis für die Existenz der Considerations. Sie
stammt, wie auch die zeitgeschichtlichen Anspielungen des
Inhalts zeigen, aus den Wochen um die Wende der Jahre
1737 und 1738. Fassen wir diesen Inhalt zunächst summa-
risch ins Auge.
Friedrich übte den alten Kunstgriff der Publizistik, die
eigenen Interessen in das Gewand gesamteuropäischer Be-
trachtungen zu kleiden und dadurch zu verstecken. Die
geheimen Triebfedern des ganzen europäischen Uhrwerks
will er bloßlegen und zu den Quellen der Dinge aufsteigen.
Und so geht er denn, wie es zu erwarten ist, von dem ver-
hängnisvollen Momente des Wiener Präliminarfriedens von
1735 aus, der die beiden Antagonisten des Kontinents zu-
sammenführte zu einem, wir würden heute sagen, europäi-
schen Länderverteilungssyndikat; er gebraucht dafür das
klassizistische Gleichnis des Triumvirates, das Augustus mit
Antonius und Lepidus bildete. Aber der Augustus dieses
Triumvirates, so heißt es, wird Frankreich sein, und Fleury
setzt das Werk Richelieus, Mazarins und Ludwigs XIV.
fort und erstrebt wie sie die französische Universalmon-
archie. Doch fängt er es geschickter an wie jene; er weiß
seine ehrgeizigen Pläne zu verhüllen unter dem Mantel einer
maßvollen und uneigennützigen Politik. Er versteht es,
Europa einzuschläfern, um dann, wenn die günstigen Augen-
blicke gekommen sind, Zug für Zug seine Gewinne ein-
zustreichen. Ein zweiter Träger expansiver Politik ist
Spanien, dessen Ehrgeiz, auf Italien gerichtet, noch lange
nicht gesättigt ist. Als das dritte Element von maßloser
Ambition erscheint dann der Kaiser, dessen evidentes Ziel
es sei, das deutsche Reich in eine österreichische Erbmon-
^) Koser, Briefwechsel Friedrichs des Gr. mit Grumblcow und
iVlaupertuis S. 174 f.
Des Kronprinzen Friedrich Considdrations sur I'^tat etc. 49
archie zu verwandeln. Dauernd und unveränderlich gilt
der Grundsatz, daß Fürsten sich vergrößern, soviel als ihre
Macht ihnen nur irgend erlaubt. Dies wollen sie alle, aber
sehr charakteristisch unterscheiden sich die Methoden der
verschiedenen Höfe. Die Beispiele, an denen Friedrich diese
individuelle Differenzierung des Geistes der Machtpolitik
zeigt, sind Österreich und Frankreich. Österreich, hochmütig
und brutal, entwickelt durch seine eigene Gewaltsamkeit
und durch den Haß, den sie erregt, ein Gegengift gegen
seine ehrgeizigen Pläne. Es fällt wie ein wilder Löwe auf
seine Beute, während Frankreich wie eine Sirene mit süßen
und schmeichelhaften Tönen die ihm Nahenden bezaubert.
Seine Erfolge sind nicht das Werk des Glücks und Zufalls,
sondern der Penetration und Voraussicht seiner Minister und
der guten Maßregeln, die sie ergreifen. Langsam, Schritt für
Schritt, schiebt es seine Ostgrenze jetzt vorwärts und wartet
auf den einen großen Moment, wo alles in Europa in Fluß
kommen wird: auf den Tod des Kaisers. Seine ganze Politik
gegenüber den Seemächten und den nordeuropäischen Staaten
ist darauf zugeschnitten, in diesem Momente mit Wucht
hineinzutreten in das gespaltene Europa und alles zu
wagen. Dann wird sich das Schicksal, das Griechenland
von Mazedonien erfuhr, mit völliger Konformität wieder-
holen, und dann wird Frankreich seine Maske abwerfen und
auch die vergewaltigen, deren Hilfe es jetzt sucht. Der
Körper Europas also, so schließt die Schrift, ist lebens-
gefährlich erkrankt. Die tiefste Ursache der Krankheit aber
sei, und hier verwickelt er sich in einen Widerspruch mit
sich selbst, eben jenes Prinzip der maßlosen Pleonexie, das
er doch vorher als das dauernde und unveränderliche Prinzip
der politischen Welt erklärt hatte. Möchten die Fürsten
aufhören, auf Eroberungen zu sinnen und an ihre eigent-
liche Bestimmung, an das Glück ihrer Völker denken. Schande
und Schmach ist es, seine Staaten zu verlieren, aber Un-
recht und verbrecherische Raubsucht ist es, Länder zu er-
obern, auf die man kein legitimes Recht hat. Damit klingt
die Schrift schon hinüber in die Gedankengänge des Anti-
macchiavell. Auch der Antimacchiavell wurzelt in den Er-
fahrungen der europäischen Politik, die Friedrich seit 1735
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 4
50 Friedrich Meinecke,
gemacht hatte^); er war ein Aufschrei gewissermaßen gegen
die Bosheit der Machtpolitik, die das kleine Preußen eben
hatte erdulden müssen. Ein und dasselbe Erlebnis also hat
den sittlichen Protest des Philosophen gegen die Staats-
kunst seiner Zeit und den stolzen Entschluß des Staats-
manns, die Feinde Preußens mit eben den Waffen dieser
Staatskunst zu schlagen, hervorgerufen. Kaum sieht man
jemals wieder so deutlich in Zwiespalt und Einheit seines
Wesens hinein. Beide Seiten seines Wesens hart neben-
einander und doch durch gemeinsamen Lebensgrund ver-
bunden, drücken sich in den Considerations mit unvergleich-
licher Energie aus. Deshalb ist diese Schrift vielleicht noch
charakteristischer für ihn als der Antimacchiavell. Was sie
sagt und wie sie es sagt, was sie auswählt aus dem Stoffe
der Zeitgeschichte und was sie verschweigt, ist sichtlich
durchtränkt von Absichten und Berechnungen, und doch ist
sie auch des Unwillkürlichen voll und inmitten alles Kalküls
von jugendlicher Frische. Man kann sie, weil sie so reich
an Inhalt ist, unter den verschiedensten Gesichtspunkten
ausbeuten. Aber vor allen übrigen Fragen, die man an sie
richtet, steht die eine zuerst zu beantwortende Frage: Wel-
chem politischen Zwecke diente sie?
Max Duncker hat darauf in eingehender Untersuchung
eine Antwort gefunden, die bisher allgemein befriedigt hat. 2)
Sie sollte auf die Seemächte wirken und sie vor dem damals
drohenden Zusammengehen mit Frankreich und Österreich
in der jülich-bergischen Erbfrage warnen. Äußere und innere
Anzeichen sprechen in der Tat überwältigend dafür, daß sie
dies tun sollte. Jenes Schreiben Friedrichs an Grumbkow
vom Januar 1738, das die erste Kunde von ihrer Existenz
bringt, fährt fort: Wenn Sie es für angebracht halten, werde
ich die Schrift nach England schicken, wo sie zuerst eng-
^) Koser, Einleitung zum Briefwechsel mit Grumbkow S. XXIV.
2) Eine Flugschrift des Kronprinzen Friedrich, zuerst in der
Zeitschr. f. preußische Geschichte, dann in dem Sammelbande „Aus
der Zeit Friedrichs d. Gr. und Friedrich Wilhelms III." (1876) wieder
abgedruckt. Daselbst S. 24 f. über die Anspielungen auf zeitgeschicht-
liche Ereignisse aus den letzten Wochen des Jahres 1737 und auf die
Interessen der Seemächte.
Des Kronprinzen Friedrich Considerations sur l'etat etc. 51
lisch erscheinen wird; dann wird mein Original in Holland
vertrieben werden wie eine Übersetzung. Am Schlüsse der
Schrift maskiert sich Friedrich in der Tat auch als Eng-
länder, indem er seinen Freimut damit entschuldigt, daß er
als Sohn eines freien Landes mit edler Kühnheit sprechen
dürfe. Es fehlt in der Skizze der diplomatischen Zeit-
geschichte auch nicht an mancherlei Nutzanwendungen für
die Seemächte. Ich wiederhole sie nicht, weil Duncker sie
genügend erläutert hat. Und die Kette der Argumente
schließt sich aufs willkommenste durch den schönen Nach-
weis, den Duncker führt, daß manche Ausführungen der
Schrift eine unmittelbare Kenntnis der preußischen Staats-
akten aus der zweiten Hälfte des Jahres 1737 verraten.
Der Kronprinz erhielt in Rheinsberg, wie wir aus seinem
Briefwechsel mit Grumbkow wissen, von ihm nicht nur
laufende Mitteilungen über den Gang der Politik, sondern
auch ganze Aktenstücke. Und er entnimmt in seiner Schrift
aus der Korrespondenz mit den preußischen Vertretern im
Haag, London und Paris nicht nur eine Reihe charakteri-
stischer Tatsachen und Urteile über zeitgeschichtliche Er-
eignisse, sondern er zieht mit ihnen am gleichen Strange.
Die Seemächte mißtrauisch zu machen vor allem gegen
Frankreich und womöglich auch gegen Österreich und die
drohende ,, Quadrille" der vier Mächte gegen Preußen, um
Friedrich Wilhelms I. Ausdruck zu gebrauchen, auseinander-
zuhalten, war ein Hauptbemühen, eine ganz selbstverständ-
liche Tendenz der damaligen offiziellen preußischen Politik.
Nur fällt es dabei sofort auf, daß Friedrich gerade zwei der
nächstliegenden Argumente, mit denen man auf die See-
mächte wirken konnte, ganz beiseite läßt. Auch im Zeitalter
der Kabinettspolitik schlug die Diplomatie, wenn die Dinge
gerade so gewendet werden konnten, gern auch die konfessio-
nelle Saite an; sie schwang auch von selber noch hier und da
leise mit, im katholischen Lager vielleicht häufiger als im pro-
testantischen.i) Immer wieder wurde Luiscius, der preußische
^) Man denke z. B. an den Einfluß des Jesuitenpaters üuarini auf
die sächsische Politik; Koser, Geschichte Friedrichs d. Gr. 4. Aufl. 1,291 ;
Ranke, Sämtl. Werke 27/28 S. 415 f., vgl. auch daselbst S. 228 über
eine aus der Zeit der Considerations stammende Kardinalsdenkschrift,
4»
52 Friedrich Meinecke,
Vertreter im Haag, angewiesen, dem Ratspensionär, den
Regenten und dem englischen Botschafter im Haag ein-
zureden, daß das evangeHsche Religionswesen bedroht werde
durch die französisch-kaiserliche Entente (Erlasse vom
27. August und 9. November 1737 und 18. Januar 1738).i)
Wenn Fleurys Pläne gelingen, heißt es am 9. November
1737, wenn Bayern mit Österreich, wie damals betrieben
wurde, versöhnt werden sollte, wenn, so können wir aus
anderen Berichten ergänzen, auch Frankreichs Freundschaft
mit Spanien jetzt neu gestärkt werde — dann sei die große
katholische Liga, an der seit dem Badenschen Frieden ge-
arbeitet worden, so gut als formieret, und das erste Un-
gewitter, das daraus entstehe, werde allem Vermuten nach
über die beiden Seepuissancen ausbrechen; es sei unbegreif-
lich, daß sie sich so indolent erwiesen und nun sogar in der
Jülich-Bergischen Erbfolge mit Kaiser und Frankreich gegen
Preußen zusammenzugehen schienen. Die Considerations da-
gegen, obgleich sie doch sonst mit aufrüttelnden Worten für
die Indolenz der Seemächte nicht sparen, berühren auch
nicht mit einer Silbe das konfessionelle Moment. Man wende
nicht ein, daß weltmännische Überlegenheit vielleicht den
jungen Fürsten abhielt, das abgegriffene Motiv zu benutzen.
Als König hat er sich nicht gescheut, es bei Einwirkungen
auf die Seemächte beinahe stereotyp einfließen zu lassen. 2)
Noch auffallender ist ein anderes Schweigen. Seit län-
gerer Zeit gab es Streitigkeiten Spaniens mit den Seemächten,
vor allem England, wegen ihres rücksichtslos betriebenen
Schmuggelhandels in den amerikanischen Gewässern, den
sich Spanien nicht gefallen lassen wollte. Luiscius' Berichte
aus den Jahren 1737 und 1738 sind voll davon^), und sie
die den Nutzen der französisch-österreichischen Allianz für das katho-
lische Interesse erörtert. Auch wenn sie gefälscht sein sollte, wäre
sie doch bezeichnend für die damals noch möglichen Vorstellungen.
1) Vgl. auch Droysen, Gesch. der preuß. Politik IV, 3 S. 317.
2) Vgl. z. B. Politische Korrespondenz 1, 107, 122, 124, 128, 181,
186 u. ö.
3) Vgl. auch Droysen, Gesch. der preußischen Politik IV, 3 S. 318,
324, 345 f. Borcke, der Vertreter Preußens in London, begleitete seine
Meldung von französisch-englischen Differenzen wegen des englischen
Schmuggelhandels nach Martinique am 26. März 1737 mit der charak-
Des Kronprinzen Friedrich Considerations sur l'etat etc. 53
meldeten zugleich, daß Frankreich auf Spaniens Seite stünde,
daß merkantile Verhandlungen zwischen Frankreich, Spanien
und Portugal geführt würden, daß England wegen seines
lukrativen Handels mit Portugal sehr beunruhigt darüber sei
(24. September 1737), daß Spanien ein Unternehmen auf
Gibraltar plane (7. Dezember 1737) usw. Wirklich ist dann
im Jahre 1739 der offene Krieg zwischen England und
Spanien ausgebrochen, und Fleury hat im September 1740
sich entschlossen, den Spaniern eine französische Flotte zur
Hilfe zu senden. Der große englisch-französische Welt-
gegensatz brach also wieder aus. Diese Dinge sind von
unermeßlicher Bedeutung auch für Preußen geworden; sie
schufen die Konstellation, in der Friedrich als König sein
schlesisches Unternehmen wagen konnte, weil er darauf
rechnen konnte, entweder die englische oder die französische
Allianz zu finden. Die Spaltung der Westmächte gab einer
Zentralmacht wie Preußen sofort Luft und Atemraum —
damals wie später. Das hat man auch damals in Berlin
sehr wohl erkannt.^) In einem Erlasse an Luiscius vom
26. April 1738 heißt es: Die englisch-spanischen Differenzen
könnten leicht zum Kriege führen, wo dann Frankreich und
die Generalstaaten hineingezogen werden könnten, was den
europäischen Affären eine neue Gestalt geben und unserem
Interesse vielleicht nicht übel zu statten kommen würde.
Was die Minister Friedrich Wilhelms I. gemerkt haben,
sollte das nicht auch der junge Friedrich gesehen haben?
Er, der in den Considerations doch gerade einen Keil hinein-
treiben will in die drohende Vereinigung Frankreichs und
teristischen Bemerkung: „Die Krone Frankreich hat gegen England
eine JMaxime, so die einzige und beste ist, von der hiesigen Nation
sich Recht zu verschaffen. Denn wenn dergleichen Streitigkeiten vor-
fallen, so beklagen sich die Franzosen niemals, sondern suchen gleich
Repressalien zu gebrauchen und sich in Avantage zu setzen."
^) Aller Welt Augen, heißt es schon in einem Erlasse an Borcke,
den preußischen Vertreter in England, vom 19. Februar 1737, sind
jetzt auf das große Seearmement in Spanien und Frankreich gerichtet;
einige wollen glauben, daß es auf England gemünzt sei oder daß man
zum wenigsten Port JVlahon und Gibraltar den Engländern wieder weg-
zunehmen beabsichtige. Wir sind „curieux" zu wissen, was darüber
gesprochen werde.
54 Friedrich Meinecke,
der Seemächte gegen Preußen ? Wenn er auf englische Leser
wirken wollte, warum warnt er sie nur vor Frankreichs
kontinentalem Ehrgeize, vor Frankreichs Gelüsten auf
Luxemburg und die Rheingrenze, vor Spaniens unruhiger
Politik in Italien, warum nicht vor dem, was den Engländer
in Herz und Nieren traf, vor der maritimen Politik Frank-
reichs und Spaniens ?i) Schon Lavisse hat bemerkt, daß dem
Schreiber der Considerations ,,die Dinge des Meeres ent-
gehen".2) Er erklärt es aus der rein kontinentalen Orien-
tierung der friderizianischen Interessen. Diese muß im all-
gemeinen wohl zugegeben werden, aber Englands Krämer-
politik war schon damals derart Tagesgespräch und die
englisch-spanischen Händel und die Frage, wie Frankreich
in sie eingreifen würde, waren derart frisch und aktuell,
daß das gänzliche Schweigen der Schrift von diesen Dingen
schlechthin rätselhaft berührt — um so rätselhafter, als
die bald darauf niedergeschriebene Refutation du prince de
Machiavell ganz prägnant und scharf die große politische
und wirtschaftliche Bedeutung des merkantilen Gegensatzes
zwischen Frankreich und Spanien auf der einen und den
Seemächten auf der anderen Seite charakterisiert.^)
Man kann sich nur mit einer Erklärung helfen. Die
Tendenz der Schrift, auf die Seemächte zu wirken und an
ihre besonderen Interessen zu appellieren, hat nicht von
Hause aus bestanden, liegt nicht im ursprünglichen Wurfe
des Verfassers, ist vielmehr erst nachträglich und darum
unvcllkcrrmen hineingearbeitet worden. Das Schreiben Fried-
1) Ganz kurz nur und ohne jeden Kommentar werden S. 23
die damaligen Absichten Frankreiciis auf Korsika erwähnt, die in
England, wie eine iVIeldung aus London vom 14. Febr. 1738 zeigte,
als Vorstoß gegen die englischen Levantehandelsinteressen aufgefaßt
wurden; England hielt es mit den korsischen Rebellen. Das Eingreifen
Frankreichs auf Korsika erfolgte auf Grund einer Konvention mit
Genua vom 10. Nov. 1737; im Februar 1738 gingen darauf französische
Truppen nach Korsika ab. Letteron, Pieces et documents divers p. s. ä
Vhist. de la Corse 1737/39 S. 61 ; Journal et memoires du marquis d'Ar-
genson 1, 287; Le Glay, Hist. de la conquite de la Corse par les Fran-
gais S. 4.
2) Le Grand Frediric avant l'avenement S. 197.
3) Oeuvres 8, 269.
Des Kronprinzen Friedrich Considerations sur l'^tat etc. 55
richs an Grumbkow aus dem Januar 1738 läßt sich damit
recht wohl vereinigen. „Ich habe mehr als je Lust," heißt
es ja darin, ,, meine Piece zu veröffentlichen; wenn Sie es
für angebracht halten, werde ich sie nach England schicken
usw." Die Schrift lag damals also in einer bestimmten Re-
daktion bereits fertig vor und war vom Verfasser auch
schon an Grumbkow mitgeteilt worden, denn wie konnte
Grumbkow sonst in der Lage sein, ein Urteil über die
Zweckmäßigkeit der Veröffentlichung abzugeben? Und nun
läßt sich mit Bestimmtheit nachweisen, daß diese Grumbkow
mitgeteilte „piece'' weniger enthalten haben muß als die
uns in den Oeuvres vorliegende Redaktion. Der Brief an
Grumbkow aus dem Januar 1738 beginnt nämlich mit den
Eindrücken, die die Lektüre des von dem französischen
Gesandten Fenelon am 14. Dezember 1737 im Haag über-
reichten Memoires auf den Kronprinzen gemacht haben. i)
Sie müssen ganz frisch sein. Er ist entrüstet über die Un-
verschämtheit dieses Memoires, es erinnert ihn an die inso-
lente Rede, die der Römer Papirius (gemeint ist Popilius
Laenas) dem Könige Antonius (gemeint ist Antiochus) von
Syrien gehalten hat, als dieser einen Krieg gegen Ägypten
plante. Die Considerations in der Redaktion der Oeuvres
enthalten nun ebenfalls und noch ausführlicher diesen Ver-
^) Koser, Briefwechsel S. 174. Mon eher Marechal. En lisant le
memoire presente ä La Haye, il me semblait entendre le discours inso-
lent que Papirius . . . tint ä Antonius etc. In Berlin wurde, wie Koser
feststellte, der Wortlaut des Memoires erst im Januar 1738 bekannt.
Danach hat er, abweichend von Duncker, der den Brief in den März
verlegte, ihn mit Recht in den Januar gesetzt. Im März war der schlimme
Eindruck des Fenelonschen Memoires längst überholt durch den noch
viel schlimmeren Eindruck der identischen Noten vom 10. Febr., die
Friedrich, als er den Brief schrieb, noch nicht gekannt haben kann.
Auch die im Briefe ausgesprochene vorbehaltlose Hoffnung, auf das
seemächtliche Publikum zu wirken, hätte durch die Beteiligung der See-
mächte an den identischen Noten sehr herabgestimmt werden müssen.
— Die Akten ermöglichen es, die Tage des Januars 1738, in denen
der Brief geschrieben sein muß, noch genauer festzulegen. Luiscius
konnte die Abschrift des Fenelonschen Memoires vom 14. Dez. 1737,
die er sich zu verschaffen gewußt hatte, am 7. Januar nach Berlin
absenden; dort traf seine Sendung am 12. Januar ein. Kurz darauf
muß Grumbkow die Abschrift dem Kronprinzen mitgeteilt und dieser
den Brief geschrieben haben.
56 Friedrich Meinecke,
gleich, verweisen ebenfalls dabei auf das Fenelonsche Me-
moire und fügen dieses als Anlage der Schrift bei.^) Es ist
ausgeschlossen, daß die dem Momente entsprungene, auf
eben erfolgter Lektüre beruhende Auslassung des Briefes
über das Fenelonsche Memoire und die dadurch erregte
Reminiszenz an Popilius Laenas sich bereits in demjenigen
Texte der Considerations befunden haben, den Grumbkow
damals schon kannte, Sie müssen also nachträglich hinein-
gearbeitet worden sein. 2) An die Veröffentlichung der Schrift
muß Friedrich, wie die Worte des Briefes an Grumbkow
beweisen, schon vor der Kenntnisnahme des Fenelonschen
Memoires, also doch wohl von vornherein gedacht haben.
Jetzt, nachdem er es gelesen, denkt er erst recht daran
(fai plus envie que Jamals de publler ma pike). Sie gerade
in England erscheinen zu lassen, kann ihm aber vielleicht
^ 1) Preuß hat in der Ausgabe der Oeuvres 8, 28 f., wie Duncker
S. 42 f. nachgewiesen hat, aus Versehen nicht das von Friedrich ge-
meinte Memoire vom 14. Dez. 1737, sondern ein älteres vom 3. Jan.
1737 abdrucken lassen. Irrig ist auch die Vermutung Droysens, Ge-
schichte d. preuß. Politik IV, 3 S. 317, daß Friedrich eine am 18. Mai
1737 im Haag überreichte gemeinsame Note des französischen und
österreichischen Gesandten gemeint habe. Nur auf das Memoire vom
14. Dez. 1737 treffen die beiden Merkmale, die sich aus den Considera-
tions ergeben, zugleich zu, indem es 1. von F^nelon allein gezeichnet
ist, 2. einen drohenden und imperatorischen Ton anschlägt.
2) Eine Textbeobachtung bestätigt dies. Im Briefe an Grumbkow
schreibt er nach ungenauer Erinnerung und in der Hast des Augen-
blicks Papirius für Popilius und Antonius für Antiochus. Sowohl das
eigenhändige Petersburger Manuskript wie der Text der Oeuvres gibt
die richtigen Namen Popilius und Antiochus, die er inzwischen wohl
bei Rollin nachgeschlagen hatte. — Nicht ausgeschlossen ist es, daß
auch einige Sätze des Schlusses nachträglich, und zwar nach dem
19. Februar 1738, dem Tage der preußischen Antwort auf die identi-
schen Noten vom 10. Februar, hinzugefügt sind. Friedrich war höchst
unzufrieden mit dieser Antwort, fand sie Charakter- und würdelos und
gab dies Grumbkow, den er für mitschuldig hielt, am 4. März deut-
lich zu hören (Koser a. a. O. 176). Am Schlüsse der Considirations
aber fordert Friedrich die Fürsten feieriich auf, das Heil ihres Volkes
nicht blindlings der Sorge eines Ministers zu überiassen, qui peut itre
suborni, qui peut manquer de talents, et qui presque toujours est moins
intiressi que le maitre au bien public. Ebenso könnte auch der Schluß-
satz c'est un opprobre et une ignominie de perdre ses Etats ein Reflex
dieser Stimmungen sein.
Des Kronprinzen Friedrich Considärations sur l'etat etc. 57
erst jetzt eingefallen sein {Si vous le jugez ä propos, je Ven-
verrai en Angleterre). Dann muß man aber auch mit der
Möglichkeit rechnen, daß er erst jetzt daran gegangen ist,
sie für das englische, oder allgemeiner gesagt, für das see-
mächtliche Publikum zu aptieren und umzuredigieren. Sehen
wir uns nach weiteren Spuren um, die diese Vermutung
stützen könnten.
Der Kronprinz teilte am 19. April 1738 Voltaire mit,
daß er ihm demnächst seine Considerations schicken werde,
daß er sie in England habe anonym drucken lassen wollen,
aber aus einigen Gründen die Ausführung dieser Absicht
verschoben habe. Im Sommer 1738 ging dann die Schrift
an Voltaire ab.^) Dieser schrieb ihm darüber am 5. August:
„Es herrscht in diesem Werke, das seines Verfassers würdig
ist, ein Stil, der Sie verrät, und ich sehe in ihr so ein ge-
wisses Air eines Reichsstandes, das ein englischer Bürger
nicht hat. Ein Mitglied des Oberhauses oder der Gemeinen
hat nicht soviel Interesse an den deutschen Freiheiten."
Also auch Voltaire fand die Schrift unenglisch gedacht und
für englische Leser nicht geeignet. Nur tadelte er nicht das
Zuwenig an englischem Füllsal, sondern das Zuviel an
deutschem Füllsal in der Schrift. Und in der Tat berührt
es sehr merkwürdig in einer für englische Leser bestimmten
Schrift, eine längere, mit ausführlichen Zitaten belegte Aus-
führung über verschiedene Verstöße des Kaisers gegen seine
Wahlkapitulation zu finden, die er durch die Hineinziehung
des Reiches in den Polnischen Erbfolgekrieg und durch die
Veräußerung eines Reichslehens wie des Herzogtums Lothrin-
gen begangen habe. Voltaire wird ferner auch an den starken
Eifer des Verfassers für die deutsche Libertät oder, wie dieser
sich ausdrückt, für das seit undenklicher Zeit in Deutsch-
land bestehende gouvernement dimocratique gedacht haben,
das von den erbmonarchischen Zielen des Kaisers bedroht
werde. Man könnte über solche binnendeutsche Bestand-
teile der Schrift wohl, wenn weitere Bedenken nicht vor-
lägen, hinwegsehen und dem jungen fürstlichen Verfasser es
zugute halten, daß er den Bannkreis der eigenen Welt nicht
^) Koser und Droysen, Briefwechsel Friedrichs d. Gr. mit Vol-
taire I, 176 u. 196.
58 Friedrich Meinecke,
ganz verlassen und Interesse für reichspolitische Fragen und
Möglichkeiten auch beim englischen und holländischen Leser
vorausgesetzt hat. Aber da einmal der Verdacht geweckt
ist, daß er nicht immer nur an englische und holländische
Leser gedacht hat, muß man sich doch die Frage stellen,
ob etwa, als er die Schrift begann, auch ein binnendeut-
sches, ein reichsständisches Publikum für ihn in Betracht
kommen konnte. Und da bleiben die Augen sofort am Ein-
gang der Schrift haften. Man pflegt gern beim Beginn einer
Schrift, die einen bestimmten Leserkreis sucht, auf ihn
anzuspielen und ihn mobil zu machen. Das tun auch die
Considerations. ,, Niemals," so beginnen sie, ,, haben die
öffentlichen Angelegenheiten mehr die Aufmerksamkeit
Europas verdient als heute." Ganz neue Dinge bereiten
sich, so ist der Sinn des zweiten Satzes, heute vor. Der
dritte Satz aber lautet: ,,Wenn es der Wißbegierde eines
vernünftigen Menschen würdig ist, in die Geheimnisse der
Höfe einzudringen, ihre Abgründe zu erforschen und die
Wirkungen in ihren Ursachen zu entdecken, so muß ein
Fürst, pour peu qu'il figure dans l'Europe, das Auge auf
die Haltung der Höfe richten, sich über die wahren Inter-
essen der Reiche unterrichten" usw. Ich kann mir nicht
vorstellen, daß Friedrich, als er diesen Eingangssatz schrieb,
ausschließlich oder auch nur in erster Linie schon an ein
englisches und holländisches Publikum gedacht hat. Die
Worte wären verständlich, wenn er die Schrift, sei es zur
eigenen Klärung, sei es zum Handgebrauche der preußischen
Minister begonnen hätte. Aber damit wäre wieder die An-
lage der Schrift, die das preußische Interesse unter gesamt-
europäischer Betrachtung verbirgt und also offenbar auf
Leser außerhalb Preußens berechnet ist, nicht zu ver-
einigen. Wir sahen, daß er sie höchst wahrscheinlich von
vornherein zur Veröffentlichung bestimmt hat. So bleibt
denn, wenn wir zugleich an die reichsrechtlichen Ausfüh-
rungen der Schrift denken, nur die Vermutung übrig,
daß er deutsche Reichsfürsten im Auge hatte^), die er be-
1) Man nehme hinzu, daß auch der Schhiß der Schrift sich un-
mittelbar an fürstliche Leser wendet: Si mes reflexions ont le bonheur
de parvenir aiix oreilles de quelques princes etc. S. 25.
Des Kronprinzen Friedrich Consid^rations sur l'etat etc. 59
einflussen wollte, deren Haltung ihm vielleicht Sorge machte,
die — so müssen wir doch nun unsere Vermutung aus
dem Inhalte der Schrift ergänzen — vielleicht gar zu eng
an Frankreich und den Kaiser herangerückt sind, die man
warnen muß vor dem Ehrgeize des einen wie des andern,
denen man klarmachen muß, daß die reichsfürstliche
Libertät von dem einen wie von dem andern bedroht wird.
In dieser Lage waren damals die wittelsbachischen Fürsten,
der alte Kurfürst von der Pfalz, der Pfalzgraf von Sulz-
bach, der Kurfürst Karl Albert von Bayern. Daß Friedrich
an Kurpfalz oder an Sulzbach, die unmittelbaren Gegner
und Rivalen in der jülich-bergischen Frage, gedacht haben
könne, ist freilich kaum anzunehmen. Preußen verhandelte
wohl mit ihnen über eine gütliche Einigung, aber ohne Er-
folg.^) Es bot ihnen finanzielle und territoriale Vorteile;
wenn diese, wie es der Fall war, nicht wirkten, war es
chimärisch, sie mit hochpolitischen Argumenten zu erweichen.
Für die großen politischen Konstellationen kamen diese Klein-
fürsten nicht in Betracht. Wohl aber war Kurbayern berufen,
eine Rolle in ihnen zu spielen, und eben in dem Momente,
den die Schrift als den großen Augenblick nennt, wo die
Pforten aufspringen und Frankreichs Ehrgeiz unverhüllt und
massiv heraustreten werde. Kurbayern hatte 1731 gegen die
Anerkennung der pragmatischen Sanktion durch das Reich
protestiert, weil es eigene Erbansprüche an die habsburgischen
Lande hatte.^) Wenn der Kaiser stirbt, so heißt es in der
Schrift, werden alle Kurfürsten durch die Interessen, die sie
zerteilen, sich veruneinigt finden. Die einen werden in der
Jagd nach Sondervorteilen in die Arme Frankreichs sich
werfen und das gemeinsame Interesse opfern; andere werden
sich um die Kaiserwürde streiten; andere werden sich zer-
reißen für die Sukzession des Kaisers; andere, geschwellt von
Hoffnungen, die ihnen große Allianzen geben, werden überall-
hin die Fackel des Krieges, Unruhe und Verwirrung tragen.
Ohne Frage dachte Friedrich hier in erster Linie mit an
Kurbayern. Am 18. März 1737 hatte ihm Grumbkow ge-
1) Droysen, Gesch. d. preuß. Politik IV, 3, 305.
2) Heigel, Der österreichische Erbfolgestreit und die Kaiserwahl
Karls VII. S. 9.
60 Friedrich Meinecke,
schrieben, daß der eben gestürzte französische Staatsmann
Chauvelin in dem Kurfürsten von Bayern den künftigen Kaiser
gesehen habe.^) Chauvelin war gestürzt von Fleury, und mit
dem Ausscheiden dieses scharf antihabsburgisch gesinnten
Staatsmannes war die letzte Hemmung der französisch-öster-
reichischen Entente gefallen. Und nun arbeitete, wie man
gerade in den Wochen hörte, wo die Considerations entstan-
den, Fleury auch an einer Verständigung zwischen Bayern
und dem Kaiser.^) Brands Depeschen aus Wien vom 19.
und 30. Oktober, 2. und 27. November 1737 berichteten da-
von, wenn auch mit starken Zweifeln, ob die Verständigung
gelingen werde. Am 28. Oktober 1737 meldete Chambrier
aus Paris das Gerücht, daß der Kurfürst von Bayern seine
Lande an den Kaiser oder den Großherzog-Schwiegersohn
Franz von Toskana-Lothringen abtreten und dafür Toskana,
Parma und Piacenza erhalten werde, oder auch, daß Kur-
bayern Augsburg, Ulm und Regensburg erhalten und dafür
die pragmatische Sanktion garantieren werde. Am 1. No-
vember 1737 meldete auch Luiscius aus dem Haag, daß
Frankreich sich um ein Einvernehmen zwischen Österreich
und Kurbayern bemühe — eine unbegreifliche Sache, setzte
er hinzu; da alle die großen Dinge, die der Kardinal tue,
um den Kaiser zu befriedigen, so wenig natürlich für einen
Premierminister von Frankreich seien, so vermehre das den
Argwohn, daß der Kaiser sie bezahlen müsse mit irgend-
einem Platze der Niederlande. In Berlin horchte man hoch
auf bei diesen Meldungen. Man sagte sich zwar, daß es bei
den hohen Ansprüchen Bayerns an das Haus Österreich
sehr schwer sein werde, Bayern zu befriedigen und zur An-
erkennung der pragmatischen Sanktion zu bewegen. Aber
man nahm an, daß Fleury ernstlich darauf ausgehe und
auch hoffe, einen Vergleich zwischen Bayern und Osterreich
^) Schon ein französisch-bayerischer Vertrag von 1714 nahm ein
bayerisches Kaisertum nach dem Tode Karls VI. in Aussicht. Heigel
a. a. 0. S. 4.
2) Über die Tatsachen, die diesen Richtiges und Unrichtiges ver-
mischenden Nachrichten zugrunde lagen, vgl. Heigel S. 17 ff. Anschei-
nend hat aber auch Heigel den ganzen Umfang dieser Verhandlungen
nicht aufgedeckt. Für uns kommt es hier natürlich nur auf das an,
was man in Berlin davon hörte.
Des Kronprinzen Friedrich Considärations sur l'ätat etc. 61
zustandezubringen.i) Und wenn Fleurys Pläne gelängen,
dann sei — wir haben diese Worte aus dem Erlasse an
Luiscius vom 9. November schon kennen gelernt — die
große katholische Liga so gut als formiert.
Wir erinnern uns, daß Friedrich von der konfessionel-
len Seite der französisch-kaiserlichen Verständigungspolitik
schweigt. Eben dies Schweigen läßt sich ungezwungen be-
greifen, wenn Friedrich bei Abfassung der Schrift eine Ein-
wirkung auf Bayern mit im Auge hatte. Eine endgültige
Aussöhnung Bayerns mit dem Kaiser und zwar unter fran-
zösischer Ägide wäre für Preußen schon damals höchst fatal
gewesen, hätte der Einkreisungspolitik, die Preußens Inter-
essen zu ersticken drohte, ein weiteres Glied hinzugefügt.
Und vor allem: Friedrich hätte damit einen der Steine seines
künftigen Brettspieles verloren. Denn auch er sah mit ge-
spannter Erwartung dem großen Augenblicke entgegen, wo
der Kaiser die Augen schließen werde. Schon unter dem
bitteren Eindrucke des französisch-österreichischen Präli-
minarfriedens stellte er in einem Briefe an Grumbkow vom
15. November 1735 die Berechnung an, daß die französische
Garantie der pragmatischen Sanktion doch von sehr zweifel-
hafter Haltbarkeit sei. Wenn der Kaiser stirbt, schrieb er
am 24. März 1737 an Grumbkow, welche Revolutionen würde
man nicht in der Welt sehen. Jeder würde von seiner Nach-
lassenschaft profitieren wollen, und man würde soviel Par-
teien als verschiedene Souveräne sehen. Und ein Jahr darauf,
am 23. Juli 1738: die Nachrichten aus Wien geben ein trau-
riges Prognostikon für die deutschen Dinge, falls der Kaiser
stirbt. Frankreich wird dann das schönste Spiel haben, das
es sich wünschen kann. Nie kann ihm Glücklicheres be-
gegnen, als die Fürsten des Reichs veruneint und Wien
gegen Wien konspirieren zu sehen, um die ehrgeizigen Pläne
zu begünstigen, die die Richelieu und Mazarin nicht haben
ausführen können. Daß nun Friedrich, wenn er als König
den Tod des Kaisers erleben sollte, schon damals nicht stille
zu sitzen gesonnen war, bedarf keines umständlichen Nach-
weises. Er war schon für den Fall, daß er als König den
^) Erlasse an Brand und Luiscius vom 9. Nov. 1757.
62 Friedrich Meinecke,
Tod des Pfälzers erleben sollte, entschlossen, eine Politik zu
treiben, die, so schrieb er an Grumbkow am I.November
1737, seine Interessen nicht fremden Mächten opfern werde.
,,Ich fürchte vielmehr, daß man mir zu viel Verwegenheit
und Lebhaftigkeit vorwerfen wird. . . . Wer weiß, ob die
Vorsehung mich nicht aufspart, um einen ruhmreichen Ge-
brauch der Vorbereitungen, die der König für den Krieg
getroffen hat, zu machen." So verrät denn auch die Stelle
der Considerations, die vom Tode des Kaisers handelt, das
heiße Blut und das schlagende Herz des Schreibers. Man
kann sie ohne Zwang schon dahin interpretieren, daß er
unter den Kurfürsten, die von der Hoffnung auf große
Allianzen geschwellt die Fackel des Krieges erheben würden,
nicht nur den Bayern, sondern auch sich selbst mit er-
blickte. Er ließ wohl etwas moralischen Tadel mit einfließen,
aber der gehörte nun einmal zur üblichen Ausdrucksweise,
die selbst, wie wir eben sahen, in den vertraulichen Briefen
an Grumbkow nicht fehlt. Wie er sich selber in seinen ehr-
geizigen Hoffnungen dadurch nicht gehemmt fühlte, so
brauchte er auch nicht zu besorgen, daß er den bayerischen
Leser verstimmen würde.
Es war, so dürfen wir zusammenfassend sagen, nützlich,
in einem Augenblicke, wo Frankreich, wie es hieß, an einer
österreichisch-bayerischen Verständigung arbeitete, den Bay-
ern daran zu erinnern, daß er die Karte, die er beim Tode
des Kaisers auszuspielen gedachte, nicht vorzeitig aus der
Hand gäbe; es war auch zweckmäßig, ihn nicht nur vor dem
jetzigen Kaiser, sondern auch vor dem künftigen Frank-
reich, das, zur Herrschaft gelangt, seine Verbündeten miß-
handeln werde, zu warnen. In weiterer Arbeit an der Schrift
trat dann die Absicht, auch die Seemächte mit Mißtrauen
und Sorge vor Frankreich zu erfüllen, hinzu, und zwischen
den Zeilen verrät sich zugleich der eigene heimliche Ehrgeiz.
Die Schrift ist also nicht nur auf den Moment, sondern auch
auf die Zukunft eingestellt. Sie will die momentane Ein-
kreisung, die die jülich-bergischen Ansprüche Preußens zu
erdrücken drohte, lockern, indem sie überall Sprengpulver
in die Fugen der drohenden Koalition wirft. Dabei war die
Augenblicksaulgabe, Bayern und die Seemächte von dem
Des Kronprinzen Friedrich Considdrations sur l'^tat etc. 63
französisch -österreichischen Blocke fernzuhalten. Diesen
selbst schon zu spalten, konnte man damals kaum hoffen.
Aber die Schrift konnte immerhin auch schon den lebenden
Kaiser vor der societas leonina mit Frankreich warnen, und
sie zeigt vor allem mit Kraft, daß alles, alles sich wenden
werde, wenn der Kaiser einmal die Augen geschlossen habe.
Tabulae novae für Europa und Morgenluft für Preußen — ,
das ist der geheime Grundgedanke der Schrift, aus ihr selbst
schon herauszulesen und vollauf bestätigt durch andere
gleichzeitige Ergüsse des Verfassers und doch wohl auch
durch das, was er 1740 getan hat. Sie sollte die Situation
mit vorbereiten helfen, die im Anzüge war, und sie so günstig
gestalten, daß Preußen, erlöst vom Alpdrucke der jetzigen
Koalitionen, wieder in die Lage kam, ,, große Allianzen" zu
suchen und zu finden.
An welche europäischen Allianzmöglichkeiten der Zu-
kunft nun hat Friedrich damals gedacht? Am nächsten liegt
es, an die Seemächte zu denken, auf die seine Schrift in
ihrer endgültigen Form ja unmittelbar einwirken sollte. Aber
seine Vernachlässigung der englisch-spanischen Differenzen
und des maritimen Gegensatzes zwischen England und
Frankreich spricht nicht dafür, daß er diese Möglichkeit
damals schon so energisch und scharf erwogen hat, wie er
es später beim Antritt seiner Regierung getan hat. Etwas
mehr über seine damaligen Gedanken erfährt man aus seinen
Briefen an Grumbkow. Am 1. November 1737 empfahl er
ihm, Zwietracht zu säen zwischen Österreich und Rußland.
Dann würde man am Ende zu einer Allianz mit Rußland und
vielleicht auch Sachsen kommen, und vielleicht würden dann
auch Holland, Dänemark und Schweden hinzutreten, und
dann könnte man, meinte er, offensiv auftreten, ,,ohne diese
stolzen Mächte zu fürchten, die sich anmaßen, Europa das
Gesetz zu geben". Das Ziel der Considerations, den franzö-
sisch-österreichischen Block zu bekämpfen, tritt hier wieder
prägnant hervor, aber von diesem Wege zum Ziele ent-
halten die Considerations, soweit ich sehe, nicht die ge-
ringste Spur. Man sieht nur eben, daß Friedrich hin und
her suchte und tastete, um Luft zu schaffen für Preußen.
Er kam auf den russischen Weg im folgenden Jahre noch
64 Friedrich Meinecke,
einmal zurück, als er zu spüren glaubte, daß Fleury auf
Rache gegen Rußland sinne. Dann würde, so folgerte er
am 23. Juli 1738, der Kardinal vielleicht, um Preußen gegen
Rußland zu gewinnen, in der jülich-bergischen Frage mit
sich reden lassen. ,,Man müßte dann erwägen, ob es zweck-
mäßig wäre, sich einem Kriege mit dieser Macht (Rußland)
auszusetzen und sich ihre, Sachsens und Polens, Kräfte auf
den Hals zu ziehen, oder ob es nicht besser wäre, eine Allianz
zu bilden, um sich der größeren Gewalt entgegenzuwerfen,
die jetzt alles verschlingen zu wollen scheint; ob es nicht
besser wäre, das alte System zu suchen und eine Liga gegen
diese verschmitzten Franzosen zu bilden." Er überlegte
also, ob man mit Frankreich gegen Rußland oder mit Ruß-
land gegen Frankreich gehen solle, ließ aber erkennen oder
versetzte wenigstens Grumbkow in den Glauben, daß ihm
das ,,alte System" der Front gegen Frankreich sympathi-
scher sei.
Auch die Considerations scheinen auf den ersten Blick
ganz und gar darauf gestimmt zu sein. Schon Ranke, als
er seinen Aufsatz über die großen Mächte schrieb, hat sie
so verstanden, daß sie die größere Gefahr für Europa nicht
in der zwar gewaltsamen, aber innerlich schwachen Macht
des kaiserlichen Hofes, sondern in der einschläfernden, aber
klugen und lauernden Politik Frankreichs erblickten. Leiden-
schaftliche Worte der Erbitterung über Frankreich fallen
auch in den Briefen an Grumbkow, und selbst Voltaire be-
kam sie am 11. September 1738 zu hören, als er nach der
Lektüre der Schrift die Politik Fleurys zu entschuldigen ver-
sucht hatte. Und doch bleibt der Blick immer wieder haften
auf der merkwürdigen Stelle, wo er die Situation schildert,
die der Tod des Kaisers im Reiche und in Europa schaffen
würde. Er hat doch, darüber kommt man nicht hinweg,
seine eigene Handlungsweise prophezeit, wenn er von Kur-
fürsten spricht, die, geschwellt von der Hoffnung auf große
Allianzen, die Fackel des Krieges erheben würden. Er unter-
scheidet sie höchst bezeichnenderweise von denjenigen Kur-
fürsten, die sich in die Arme Frankreichs werfen würden.
Gewiß, blindlings und vorbehaltlos wollte er das damals
ebensowenig tun, wie er es 1740 und 1741 getan hat. Er
Des Kronprinzen Friedrich Consid^rations sur l'^tat etc. 65
hat im Juni 1740 seine Boten ausgesandt an den französi-
schen wie an den engHschen Hof, um zu fragen, wer ihm
am meisten böte, an den französischen Hof aber acht Tage
früher als an den englisch-hannoverschen Hof. Ich meine,
heißt es in der Weisung für Camas nach Paris vom 11. Juni
1740, daß alle ihre Pläne auf Ausnutzung des Todes des
Kaisers gerichtet sind. Wenn man mich gewänne, könnte
ich Frankreich größere Dienste als einst Gustav Adolf er-
weisen. An Fieury selber schrieb er am 9. September 1740:
Frankreichs und meine Interessen sind dieselben. Sie könnten
keinen festeren und entschlosseneren Bundesgenossen finden
als mich. Gustav Adolf hat einst Frankreich Dienste ge-
leistet. Und Fieury hat es im Jahre 1740 nicht zum ersten
Male gehört, daß Friedrich den neuen Gustav Adolf für
Frankreich zu spielen bereit sei. Lavisse hat den Bericht
des französischen Gesandten La Chetardie in Berlin vom
19. November 1734 über seine Gespräche, die er mit dem
Kronprinzen geführt hatte, veröffentlicht.^) Dieser, der sich
damals auf eine baldige Thronbesteigung gefaßt machte,
sprach seinen Wunsch nach einer Verbindung und Interessen-
gemeinschaft mit Frankreich aus. ,,Hat es nicht, sagte er
ihm, einen Gustav Adolf und Karl XII. gegeben und ist es
unmöglich, daß Ihr Männer wiederfindet, die wie sie denken?"
Er wiederholte, erzählt der Gesandte, mir die Idee von einem
Gustav Adolf und Karl XII. wohl fünf- bis sechsmal. Ein
Jahr darauf kam der französisch-österreichische Präliminar-
friede, den Preußen und auch Friedrich, wie wir sahen, als
ganz schweren Schlag empfanden. Friedrich brach die poli-
tischen Gespräche mit Chetardie nun ab, erinnerte ihn aber
im März 1736 noch einmal mit Bedauern an die unaus-
geführten Ideen, die er ihm in jenen Potsdamer Gesprächen
während der ernsten Krankheit seines Vaters mitgeteilt
habe.2) Die Gesinnung Friedrichs gegen Frankreich kühlte
sich in den folgenden zwei Jahren genau in dem Grade ab,
in dem Frankreich die jülich-bergischen Interessen Preußens
schädigte. Dennoch berichtet Lavisse, leider ohne ganz be-
1) Le Grand Frediric avant l'avinement S. 325ff.
2) Lavisse S. 348.
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 5
66 Friedrich Meinecke,
stimmte Quellen- und Zeitangaben, daß sein Chipotieren
mit Frankreich weiter gegangen sei, daß Chetardie bei einem
Besuche in Rheinsberg, wo Friedrich seit dem Herbste 1736
wohnte, ähnliche Worte zu hören bekam wie im März 1736,
und daß der Prinz ein andermal ganz ausführlich den Nutzen
einer preußisch-französischen Allianz erörtert habe. Wenige
Wochen vor der Niederschrift der Considerations, am 8. Sep-
tember 1737, richtete der Kronprinz an Fleury ein überaus
höfliches Handschreiben. i) Es handelte sich in ihm zwar
nur um die Anwerbung langer Kerle in Frankreich, aber der
geringfügige Anlaß wurde sicherlich nicht ohne politische
Absicht benutzt. Keine Rede kann davon sein — auch
Lavisse macht sich keine Illusion darüber — , daß Friedrich
seine Begeisterung für die französische Kultur je auf die
französische Politik übertragen habe. Schon im Antimac-
chiavell heißt es: „Vorliebe für die eine Nation, Abneigung
gegen die andere . . . dürfen den Blick derer nicht trüben,
welche ganze Völker lenken sollen." Alle irgendwie denk-
baren Allianzmöglichkeiten vielmehr gingen ihm schon in
jenen Jahren, je wie der Wind stand, durch den Kopf, nicht
nur die russische Allianz gegen Frankreich, sondern vorüber-
gehend (im Februar 1737) sogar einmal ein Zusammengehen
mit dem Kaiser. Aber schon die reine Staatsraison erklärt
es, daß er immer wieder die Idee einer französischen Allianz
betastete. Er sah in Frankreich den Gegner, solange die
von Fleury geschaffene französisch-kaiserliche Entente be-
stand. Wir dürfen sogar seine Meinung von Frankreichs
universalistischem Ehrgeize und gemeingefährlicher Macht,
die das ostensible Leitmotiv der Considerations bildet, für
ganz ehrlich halten. Und doch sah er vermutlich, um ein
Wort Cavours zu variieren, die Allianz Preußens mit Frank-
reich im Buche des Schicksals geschrieben. Denn derselbe
Moment, der dem höchsten französischen Ehrgeize die Tore
öffnen mußte, öffnete sie auch dem preußischen. Das hin-
geworfene und doch, wie wir meinen, so mächtig empfundene
Wort von den „großen Allianzen", die ehrgeizige Kurfürsten
beim Tode des Kaisers finden könnten, ist gewiß nicht aus-
1) A. a. O. S. 364, vgl. S. 243.
Des Kronprinzen Friedrich Considdrations sur l'dtat etc. 67
schließlich auf die französische Allianz zu deuten. Auch die
seemächtliche Allianz wäre ihm recht gewesen, wahrscheinlich
sogar noch willkommener, um die Gefahr einer französischen
Übermacht zu vermeiden. Aber die für kontinentale Zwecke
leistungsfähigere Allianz war eben doch die französische.
Und Friedrich fühlte sich, wie seine Handlungsweise im
Jahre 1741 vom Abschlüsse des französischen Bündnisses
bis zur Kleinschnellendorfer Konvention beweist, stark und
geschmeidig genug, um mit Beelzebub gegen den Teufel ein
Stück Arbeit zusammen zu leisten und dann seinen eigenen
Weg zu gehen. Nicht anders hat es Bismarck mit Napo-
leon III, gehalten, nur daß er, mächtiger als Friedrich, auch
noch imstande war, mit Beelzebub, als dieser seinen Lohn
forderte, gründlich abzurechnen.
So muß denn auch noch die Vermutung erwogen wer-
den, ob Friedrich, als er an die Veröffentlichung der Con-
siderations dachte, die ostensible Fehdeansage an Frank-
reich nicht etwa mit einem geheimen Winke an Frankreich
verbinden wollte. Er mußte sich doch wohl darauf gefaßt
machen, daß das Geheimnis der Autorschaft, wie ihm Vol-
taire ins Gesicht sagte, nicht ganz verborgen bleiben würde.
Ein Vogel mit so bunten Federn, wie diese Schrift sie trug,
lief nicht lange unerkannt herum in der argwöhnischen Welt
der Politiker. Einiges spräche schon für eine unterirdische
Absicht. Fleury konnte sich bei der Stelle über den Tod
des Kaisers sofort an die analogen Äußerungen Friedrichs zu
Chetardie erinnern, er konnte aus der stark auftragenden
Schilderung seiner eminenten diplomatischen Begabung,
seiner meisterhaften, immer zugleich den Schein der Mäßi-
gung und möglichst auch die Formen des Rechtes wahren-
den Politik ein ganz massives Kompliment für sich ent-
nehmen. Und das grelle Bild, das Friedrich von der inneren
Schwäche des österreichischen Staatswesens, seinen zerrüt-
teten Finanzen, seinem verwahrlosten Heerwesen entwarf,
könnte Frankreichs Gelüste, die Lage nach dem Tode des
Kaisers rücksichtslos auszunützen, anzureizen bestimmt ge-
wesen sein. Wie es denn überhaupt in der Tendenz der
Schrift mit liegt, Frankreich und den Kaiser gegeneinander
zu hetzen. Dennoch glaube ich nicht, daß Friedrich, solange
68 Friedrich Meinecke,
er an die Veröffentlichung dachte, eine unmittelbare Ein-
wirkung auf Fleury zugunsten Preußens geplant und erhofft
hat. Dazu war die Anklage gegen Frankreichs Ehrgeiz doch
zu stark und heftig. Die französische Allianz war, so ver-
muten wir, sein verborgener Zukunftsgedanke, war eine
Möglichkeit neben anderen, die er, als er die Schrift entwarf,
vielleicht mehr unwillkürlich verriet. Fleury hätte ihm die
Schrift, wenn sie als Brandfackel in die Öffentlichkeit ge-
worfen wurde, doch recht übelnehmen können. Das durfte
Friedrich wagen, wenn es, wie es damals drohte, zum Bruche
zwischen Preußen und Frankreich wegen der Jülicher Frage
kam. Er durfte es nicht mehr wagen, wenn Frankreich ein-
lenkte und Preußens niederrheinischen Wünschen entgegen-
kam. Und dies geschah. Wir kommen damit zur letzten
Phase in der Geschichte der Considerations.
Am 19. April 1738 schrieb Friedrich an Voltaire, wie
wir hörten, daß einige Gründe ihn veranlaßt hätten, die
Veröffentlichung der Schrift aufzuschieben. Diese Gründe
hat schon Duncker aufgedeckt. Kurz vorher hatte Fleury
auf dem Umwege über den Haag dem Berliner Hofe sagen
lassen, daß er aufrichtig einen Ausgleich in der jülich-ber-
gischen Frage wünsche. Am 8. und 19. April wurden darauf
die preußischen Vertreter im Haag und in Paris angewiesen,
die Absichten Fleurys näher zu erforschen. Diese Verhand-
lung zog sich zwar lange hin, aber führte am 5. April 1739
zu einem Vertrage zwischen Preußen und Frankreich, durch
den Preußen Frankreichs Zustimmung zum Gewinne des
besten Teiles von Berg, freilich ohne Düsseldorf, erhielt.
Fleury lenkte schon deswegen ein, um in der Verwicklung
mit England, die aus den englisch-spanischen Händeln drohte,
Preußen nicht auf die Seite Englands zu treiben. Aber er
hat selber ein Jahr später angegeben, daß er auch schon
an den ehrgeizigen Thronfolger und an eine künftige engere
Allianz mit Preußen dabei dachte.^) Man begreift nun voll-
1) Instruktion für Valory vom 1. Juli 1739; Recueil des Instruc-
tions donnies aux ambassadeurs de France XIV, 352 ff. Mit finassieren-
der Kunst bemerkte er, daß er den Vergleich mit Preußen über Jülich-
Berg schon zu Lebzeiten des Vaters geschlossen habe, weil der an-
spruchsvollere Sohn schwerer zu befriedigen gewesen sein würde.
Des Kronprinzen Friedrich Considdrations sur l'etat etc. 69
ständig, daß Friedrich die begonnene Verhandlung nicht
stören durfte durch die Veröffentlichung seiner Schrift. Aber
er hat es für unschädHch gehalten, sie Voltaire vertraulich
mitzuteilen. Es hat noch mehrere Wochen gedauert, bis sie
endlich abging.^) Wir erfahren nicht, warum Friedrich so-
lange zögerte, wissen auch nicht, ob während dieser Zeit
noch weitere Veränderungen im Texte der Schrift erfolgten.
„Ich hoffe, schrieb Friedrich an Voltaire am 17. Juni, daß
sie nicht aus Ihren Händen gehen wird. Sie werden selbst
die Folgen begreifen." Aber es ging damit, wie es in solchen
Fällen oft geht. Aus dem Tagebuche des Marquis d'Argenson
erfahren wir, daß die Freundin Voltaires, die Marquise von
Chätelet, nicht allzu diskret mit dem Manuskript umging.
Sie zeigte es einigen Freunden, diese zeigten es wieder an-
deren. Am 13. Juli 1740 hoffte d'Argenson die Schrift, die
durch die eben erfolgte Thronbesteigung Friedrichs ein fri-
sches Interesse gewonnen hatte, in einigen Tagen in die
Hand zu bekommen. 2) Es regt sich die beinahe banale Ver-
Dieser sollte jetzt durch diesen Vertrag nur eben angelockt und durch
die Hoffnung auf eine spätere engere Allianz mit Frankreich fest-
gehalten, aber noch nicht ganz befriedigt werden. Man müsse sich
vorbehalten, hieß es, die Hauptfrüchte dieses Vertrages unter der
Regierung des jungen Fürsten zu pflücken,
1) Am 17. Juni teilte er Voltaire mit, daß sie beiliege und daß
nur noch ein zugehöriges Memoire (das Fönelonsche vom 14, Dezbr,
1737) fehle; tatsächlich ist die Schrift aber erst nach dem 17, Juni
an Voltaire abgegangen. Vgl. Koser und Droysen, Briefwechsel Fried-
richs d, Gr. mit Voltaire 1, 196 Anm,
2) Journal et mimoires du marquis d'Argenson p.p. Rather y (1861)
3, 138 f. In der Koser-Droysenschen Ausgabe des Briefwechsels Fried-
richs mit Voltaire 1, 188 wird die ältere Ausgabe der Argensonschen
Memoiren, die die Stelle unter dem Datum des 14, Juni 1740 bringt,
benutzt. Rathery vermutet in seiner Ausgabe, daß die Notiz d'Argen-
sons „// a compose des mimoires sur les interits des princes etc." auf
den Antimacchiavell sich bezöge. Das ist ganz ausgeschlossen. Die
Angaben d'Argensons über das, was er aus Hörensagen über den In-
halt der Schrift erfuhr, passen nur auf die Considirations, wenngleich
sie sehr viel Verkehrtes mit einigem Richtigen mischen. Auch das
Zerrbild des Gedankeninhaltes, das ihm durch das Gerücht zugetragen
wurde, zeigt, daß die französischen Leser der Schrift den starken Ehr-
geiz des Verfassers und seine Bereitschaft, mit Frankreich gegen Öster-
reich zusammenzugehen, durchschauten.
70 Friedrich Meineclie,
mutung, daß auch Friedrich, als er die Schrift unter dem
Siegel der Verschwiegenheit an Voltaire sandte, die Menschen
genommen hat, wie sie wirklich sind. Hätte er es für schlecht-
hin gefährlich gehalten, sie in die Hände französischer Staats-
männer gelangen zu lassen, so wäre es ein unverzeihlicher
Leichtsinn gewesen, sie in einem Augenblicke, wo die fran-
zösisch-preußischen Verständigungsverhandlungen eben be-
gonnen hatten, nach Cirey zu schicken. Und doch hat er,
wie wir bemerkten, die Veröffentlichung der Schrift unter-
lassen, um diese Verhandlungen nicht zu stören. Wir denken,
man kann diesen Widerspruch ohne Künstelei erklären.
Die Veröffentlichung der Schrift hätte eine offene Fehde-
erklärung Friedrichs an Fleury bedeutet. Als vertraulich
zirkulierendes Manuskript aber konnte sie merklich anders
auf ihn wirken, Fleury konnte aus ihr dann wohl entnehmen,
daß der Kronprinz schwer ergrimmt gewesen war über
Frankreichs unfreundliche Haltung in der Jülicher Frage,
ihm die Zähne hatte zeigen und Europa alarmieren wollen,
aber erfuhr zugleich, daß er diese Absicht aufgegeben hatte,
als Frankreich einlenkte. Der eitle Kardinal konnte dann
die mit Zorn gewürzten Komplimente für sein diplomati-
sches Genie lächelnd einstreichen, und Friedrich trat ihm
entgegen wie ein ebenbürtiger Spieler, der ihm in die Karten
sah, der ihm sagte: ,,Ich kenne dich, ich kenne deinen Ehr-
geiz, deine Künste, deine Kräfte. Ich weiß, daß ein Moment
kommen wird, wo du die Schleusen aufziehen wirst. Dann
wird es auch deutsche Kurfürsten geben, die für eine große
ambitiöse Politik zu haben sein werden." Das war nichts
weniger als eine unbedingte Liebeserklärung, konnte aber
von Fleury, wenn er sie zusammennahm mit allen übrigen
Botschaften, die er vom Kronprinzen schon erhalten hatte,
recht wohl als eine bedingte Offerte aufgefaßt werden. Der
Kronprinz bot ihm eine von Dornen umwachsene Rose und
sagte ihm unter dieser Rose: Ich gehe mit dem Meist-
bietenden.
Wir tragen mit diesen Vermutungen und Deutungen
keine fremden Züge in Friedrichs Staatskunst hinein, son-
dern versuchen nur, eine etwas verloschene Skizze aus seinem
Skizzenbuche nachzuzeichnen mit Hilfe des fertigen Ge-
Des Kronprinzen Friedrich Considerations sur l'^tat etc. 71
mäldes, das Friedrichs Politik von 1740 bietet. Wir er-
innern noch einmal an die Weisungen, die der Oberst Camas
am 11. Juni 1740 mitbekam für seine Werbung in Paris und
an das Gustav-Adolfmotiv, das in ihnen so kräftig ange-
schlagen wurde. Camas sollte geltend machen, daß jener
preußisch-französische Vertrag vom 5. April 1739, durch den
Preußen mit einem Teile von Berg abgefunden war, ihm
noch nicht genüge, um ihn auf Frankreichs Seite fest-
zuhalten; daß England ihn umwerbe und ihm sicher viel
bieten werde. „Kurz, wenn man will, daß ich guter Fran-
zose sei, muß man mir Bedingungen bieten, die ich ver-
nünftigerweise annehmen kann." Sprechen Sie auch, hieß
es weiter, aus Anlaß der Truppenvermehrung, die während
Ihres Aufenthaltes in Versailles erfolgen wird, von meiner
lebhaften und stürmischen Denkweise. Sagen Sie, man
müsse fürchten, daß diese Heeresvermehrung ein Feuer in
Europa entzünde. Sagen Sie, daß ich von Natur Frankreich
liebe, aber daß, wenn man mich jetzt vernachlässige, dies
vielleicht für immer und unwiderruflich wirken könne.
Friedrich hat mit dieser hitzigen Werbung damals nicht
viel erreicht bei dem greisen und bequem gewordenen Kar-
dinal. Er hat sich, wenn unsere Vermutung über seinen
Hintergedanken bei der Sendung der Schrift an Voltaire
richtig war, auch in der Wirkung der Considerations auf Fleury
wahrscheinlich schon arg verrechnet. Ich habe mich, schrieb
Fleury am 29. November 1741 an Kardinal Tencin, durch
seine schmeichlerischen Briefe nicht täuschen lassen, denn
ich weiß, daß sein Lieblingsgedanke {Systeme favori) ist, daß
Frankreich zu mächtig sei und daß man daran arbeiten
müsse, es niederzudrücken. Schon Koser hat vermutet, daß
diese Äußerung sich auf die Considerations beziehe, die ihm
durch Voltaire zugänglich werden konnten. i) Auch Fried-
richs Versuch, sich Frankreich als zweiter Gustav Adolf zu
empfehlen, prallte bei Fleury ab. Seine Narrheit ist, schrieb
er an Tencin am 24. Januar 1741, ein zweiter Gustav Adolf
zu sein, wie es Karls XII. Narrheit war, Alexander zu ko-
^) Geschichte Friedrichs d. Gr. 4. Aufl. 1, 325, dazu die Briefe
Fleurys an Tencin in den Mimoires du President Hinault (1855) S. 343,
346, 349 f., 353 u. ö.
72 Friedrich Meinecke,
pieren. Ich traue ihm nicht, erklärte er immer wieder, er
ist in allem falsch, er ist ein Fanfaron. Friedrich hat dem
Kardinal, wie die Verhandlungen von 1740 und 1741 zeigen
sollten, mehr realpolitische Entschlossenheit zugetraut, als
dieser besaß. Er rechnete zu sehr auf den Geist der fran-
zösischen Politik, auf ihr ,, permanentes Interesse", zu wenig
mit den persönlichen Eigentümlichkeiten ihres Trägers. Oder
auch, so könnte man es deuten, er schloß von seinem eigenen
aktiven Temperament zu sehr auf die Aktivität seines Mit-
spielers am europäischen Schachbrett. Beides ist bezeich-
nend für den zugleich feurigen und rechnenden und in seinem
Feuer sich auch leicht einmal verrechnenden Geist des jungen
Fürsten. Schließlich hat ihn doch auch seine Rechnung auf
das permanente Interesse Frankreichs nicht getrogen, als
Belleisle im Jahre 1741 den zögernden Fleury mit fortriß
und die Allianz vom 4. Juni mit Friedrich durchsetzte.
Sind unsere Vermutungen nicht irregegangen, so wird
das Urteil Dunckers, daß die Considirations keineswegs, wie
man früher angenommen hatte, eine bloß betrachtende und
objektive Studie seien, nicht nur bestätigt, sondern noch
verschärft zu gelten haben. Das Gewebe der Absichten,
die in ihr walteten, erweist sich als reicher und kompli-
zierter, als er es sah; aber das Bild der politischen Jugend-
entwicklung Friedrichs wird dadurch nicht etwa undurch-
sichtiger, sondern vielmehr einheitlicher, zusammenhängen-
der, kontinuierlicher. Wie es eigentlich immer geschehen
sollte, wenn die feineren Fäden des Lebens sich zeigen.
Dieses Leben aber hat es zugleich an sich, daß, je mehr
Berechnung und Ratio man in ihm aufdeckt, um so stärker
auch das Unberechenbare und Irrationelle, die Lebensfülle
des ganzen Menschen, emporrauscht. Mit dem Nachweis der
Zwecke und Ziele, denen die Considerations entsprangen, ist
die Aufgabe der Forschung erst halb erledigt. Sie sind eine
nicht bloß betrachtende, aber sie sind auch eine in hohem
Grade betrachtende Schrift. Max Posner hat den Einfluß
Montesquieuscher Gedanken auf sie nachgewiesen. Koser und
Lavisse haben sie in den Zusammenhang der geistigen Ent-
wicklung Friedrichs eingereiht. Nun erhebt sich die weitere
Aufgabe, Friedrichs Versuch, das europäische Staatensystem
Des Kronprinzen Friedrich Consid^rations sur l'dtat etc. 73
als eine große, in sich aber mannigfaltig und individuell diffe-
renzierte Lebenseinheit zu sehen, auch noch einzustellen in
die Entwicklungsreihe aller analogen Versuche. Gerade ein
Jahrhundert vor den Considerations widmete der Herzog von
Rohan sein bedeutendes Werk De V Interest des Princes et
Estats de la Chrestiente dem Kardinal Richelieu. Fast ein
Jahrhundert nach den Considerations schrieb Ranke seine
„Großen Mächte", und am Vorabend des heutigen Weltkrieges
hat der Schwede Kjellen diesen Versuch erneuert. Es lockt
die Aufgabe, von so bedeutenden Aussichtspunkten der ver-
schiedenen Jahrhunderte aus dem großen Problem des Ver-
hältnisses von Machtpolitik, Staatskunst und Geschichtsauf-
fassung näherzukommen und in den Wandel der Geschichte
schaffenden und der sie betrachtenden und spiegelnden
Kräfte zugleich einzudringen.
Literaturberidit.
Biographisches Jahrbuch und DeutscherNekrolog. Herausgegeben
von Anton Bettelheim. 17. Bd. Berlin, G. Reimer. 1915.
235 S.
Den Band ziert das Bild von R. v. Liiiencron, der 1820 in
Plön geboren und 1912 in Koblenz gestorben ist, Eduard Schroe-
der schildert das an Arbeit und Erfolgen überreiche Leben dieses
Hauptredakteurs der Allgemeinen Deutschen Biographie, des
„Altmeisters der deutschen Germanisten und des allverehrten
Seniors der deutschen Musikforscher". Er zählte schon mit im
Kreise der Gebrüder Grimm und Dahlmann und er behauptete
sich in den beiden Generationen, die danach folgten. „Er ver-
körperte noch einmal das kostbarste Erbe unserer klassischen
altweimarischen Kultur in staunenswerter Vielseitigkeit: er war
Professor und Hofmann, Philolog und Poet." Noch mancher
Name fordert zum Bericht auf. Wer möchte an FeHx Dahns
reichem, vor allem unendlich arbeitsfreudigem und hingebungs-
vollem Leben vorübergehen, ohne zu gedenken, wie es diesem
Gelehrten gegeben war, durch seine Dichtung auf sein Volk zu
wirken. Sein Volk, dem er sich ganz verpflichtet fühlte, dem er
mit aller Kraft zu dienen suchte.
Die großen Gelehrten, wie Justi, Straßburger, Regelsberger,
Theodor Gomperz, Böhtlingk, Erich Schmidt, der unermüdliche
Forscher über die Geschichte des Posener Landes, dazu zahl-
reiche Künstler und sonst hervorragende Männer haben hier
ihre Biographie gefunden. Der Herausgeber des Biographischen
Jahrbuchs, Anton Bettelheim, hat auch selbst einen Beitrag ge-
liefert in der eingehenden Würdigung von Alfred Freiherr v. Berger,
Allgemeines. 75
„Doktor der Rechte und der Philosophie, Universitätsprofessor,
Dramaturg, zuletzt Direktor des Burgtheaters". Eine merk-
würdige Vielseitigkeit der Begabung war in ihm und eine große
Kraft des Studiums. „Die Kunst zu lernen, war ich nie zu träge,"
durfte er mit vollem Rechte von sich sagen, aber noch seltener
ist wohl die Vereinigung so verschiedenartiger und doch so ener-
gischer Wirksamkeit. Nicht ohne Wehmut ruht das Auge auf so
opferfreudigen und doch sich selbst die Laufbahn erschwerenden
Naturen wie der „Dichter und Bauer" Emil Servatius Götz,
aber es ist doch nicht ohne Stolz und Freude, wenn man ihn sich
zuletzt in gewisser Weise hindurchringen und über des Lebens
Not erheben sieht. So birgt der Band eine Fülle der Schicksale
von Menschen der verschiedensten Kreise, die sich in der einen
oder andern Weise über den Durchschnitt der Begabung oder
Leistung erheben. Zahlreich sind die Künstler vertreten, unter
ihnen auch die Schweizer A. Welti, A. Deucher (fehlt im Ver-
*» zeichnis S. 182 — 185) und Joh. Rud. Rahn. Den Artikel über
Rahn hat Meyer v. Knonau geschrieben und mit so eingehender
liebevoller Kenntnis, wie es nur bei nächster persönlicher Kenntnis
und Freundschaft möglich ist. Die Fülle der Geister verlockt
immer wieder zurückzukehren zu dieser Schar, und vor allem
derer zu gedenken, die mittelbar oder unmittelbar die Gedanken
und die Kräfte vertreten und gestärkt haben, die Deutschland
aus dem Jammer und der Enge der ersten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts zu der Kraft und Blüte der Gegenwart geführt
haben. In eine dieser Gruppen führt uns Frensdorffs Artikel
über Regelsberger vortrefflich ein, eine andere möchte ich durch
Alexander v. Peez vertreten sehen, den Friedjung in einem der
ausführlichsten Artikel als Volkswirt, Politiker und Kultur-
historiker schildert. Er war ursprünglich Vertreter großdeutscher
Ansichten, aber wie nun Deutschland sich ohne Österreich einigte,
da stellte er sich auf den Boden der Tatsachen und übernahm
die Leitung der Augsburger Allgemeinen Zeitung in diesem
Sinne. Mit besonderer Wehmut überschauen wir das Leben der
hochbegabten Jugend, die der Tod aus den Anfängen oder in
der vollen Kraft ihrer Laufbahn fortriß; wie den trefflichen
Theologen Paul Gottfried Drews, den uns Dobschütz mit Liebe
und Wahrheit geschildert hat.
Breslau. Georg Kaufmann.
76 Literaturbericht.
Reden, Vorträge und Abhandlungen. Von Alfred Stern. Stutt-
gart und Berlin 1914. 389 S.
Von den vier Reden waren drei — auf Gabriel Rießer, auf
Leopold Ranke und Georg Waitz und auf Gabriel Monod —
bereits gedruckt, die auf Kaiser Wilhelm l. war noch nicht ver-
öffentlicht; die vier Vorträge über Beaumarchais, Wieland,
Mary Wolstoncraft, die energische Vorläuferin der Bewegung für
die politischen Rechte der Frauen, und über Moltke waren bis-
her noch nicht gedruckt. Die vier Abhandlungen, welche das
letzte Drittel des Buches füllen, — Mirabeau und Lavater, Talley-
rands Memoiren, Gneisenaus Reise nach London 1809 und endlich
„der große Plan des Fürsten von Polignac vom Jahre 1829" —
waren in den Jahren 1900 — 1904 in Zeitschriften erschienen,
erscheinen hier aber nach sorgfältiger Durchsicht und Ergänzung.
Alle diese Aufsätze und Abhandlungen sind Zeugnisse für ein-
dringende Forschungen, die Stern anstellt, ehe er die Dinge in
den großen Zusammenhang seiner Darstellungen einreiht und
auch im besondern dafür, wie sorgfältig er sich mit dem Ausgang
des 18. Jahrhunderts beschäftigt hat, als er es wagte, die Ge-
schichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben. Unter den Reden
hat die im Todesjahre von Ranke und Waitz am 10. August
1886 auf der Versammlung der geschichtsforschenden Gesell-
schaft der Schweiz gehaltene Rede zum Gedächtnis der beiden
großen Geschichtschreiber, seine pietätsvoll verehrten Lehrer,
besondere Bedeutung durch die Bemerkungen, welche St.s Auf-
fassung von den Aufgaben und Mitteln der historischen Forschung
erkennen lassen. Bei aller Verehrung bleibt er in seinem Urteil
selbständig. Unter den Vorträgen möchte ich den über Beau-
marchais hervorheben, diesen mit allen Wassern gewaschenen,
auch in der Anwendung der bedenklichsten Mittel unbedenklichen
Verfasser des Barbier von Sevilla und des Figaro, den Helden
der von Goethe in seinem Clavigo dramatisierten Geschichte.
St. hat es vortrefflich verstanden, in diesem Lebensbilde wichtige
Züge jener schweren, der Revolution zutreibenden Zeit hervor-
treten zu lassen. Aus dieser Verwirrung von Privilegien und
Gewalttaten war schließlich kein anderer Ausweg zu finden,
wenn nicht noch rechtzeitig eine starke Hand mit Gewalt auf-
räumte. Als eine Art Ergänzung des Bildes dienen manche
Abschnitte des Vortrages über Wieland und die französische
Mittelalter. 77
Revolution. St. hat sich gut hineingefühlt in das Wesen und
Denken dieses zeitweise halb vergessenen und doch so einfluß-
reichen Schriftstellers.
Zum Schluß hebe ich noch die gerechte Bewunderung hervor,
die St. der historischen Kunst des großen Feldherrn Moltke widmet.
Er preist die Objektivität der Beobachtung und den „Zauber
der Form, über den Moltke wie kaum ein zweiter zu verfügen
wußte." Nicht bloß den Fachgenossen, auch den Freunden der
Geschichte sei das Buch empfohlen.
Breslau. Georg Kaufmann.
Notes et extraits pour servir ä l'histoire des croisades au XV*^ sihcle
publids par N. Jorga. Quatrikme et cinquibme sdrie. Edi-
tion de V Acaddmie Roumaine (Fonds Alina Stirbey), Bucarest.
1915. VI u. 378, 341 S.
Nach einer mehr als zehnjährigen Unterbrechung nimmt
der Herausgeber die Weiterführung dieser Arbeiten wieder auf.
Man wird sich vielleicht an dem Titel stoßen, denn nicht die
Kreuzzugbewegung in ihrer alten Bedeutung und in ihrem Sinne,
sondern die Unternehmungen gegen die Türken, die Bereit-
stellung der Verteidigungsmittel an den Grenzen, die Abwehr
der unaufhörlichen Einbrüche bilden den vornehmsten Gegen-
stand der mitgeteilten historischen Berichte und Korrespon-
denzen, und nur insofern kann man den Titel noch als gerecht-
fertigt ansehen, als außer den Unternehmungen gegen die Türken
auch noch solche gegen den Islam überhaupt, z. B. in Spanien,
einbezogen sind. Beide Serien enthalten historische Berichte und
Korrespondenzen (teils vollständig teils in Auszügen) aus der
Zeit vor 1453 (30 Nummern), dann zum Jahre 1453 (22 Nummern),
endlich solche bis 1500 (303 Nummern). Die Bedeutung der ganzen
Sammlung ist aber nicht allein wegen der die Türkeneinfälle
als solche betreffenden Stücke hoch zu bewerten, wir finden in
ihr auch mannigfache Ergänzungen zu den Publikationen, die
über diese Zeit auch von anderer Seite erschienen sind, so z, B.
zu Adolf Bachmanns Ausgaben von Briefen und Aktenstücken
zur österreichischen und österreichisch-deutschen Geschichte im
Zeitalter Kaiser Friedrichs III. {Fontes rer. Austriac. 2. Abt.
Bd. 42, 44, 46) zu Palackys Urkundlichen Beiträgen zur Ge-
78 Literaturbericht.
schichte Böhmens im Zeitalter Georgs von Podiebrad (Fontes
Bd. 20) und zu den noch jüngst (Budapest 1914/15) erschienenen
Bänden (39 und 40) der Monumenta Hungariae. Diplomataria.
So zieht nicht bloß die allgemeine deutsche und österreichische,
sondern auch die Geschichte der einzelnen österreichischen
Ländergruppen aus der Sammlung reichen Gewinn, Man muß es
bedauern, daß die von der bist. Landeskommission für Steier-
mark schon vor mehr als zwei Jahrzehnten in Aussicht genommene
Veröffentlichung der in den steiermärkischen Archiven vorhande-
nen reichhaltigen Materialien zur Geschichte des Defensions-
wesens gegen die Türken, die von dem kroatischen Gelehrten
von Boinicic übernommen worden war, nicht zustande gekommen
ist, denn gerade hier wären reiche Ergebnisse zu erzielen gewesen;
dasselbe gilt von dem das Landtagswesen von Steiermark, Kärnten
und Krain im 15. und 16. Jahrhundert betreffenden historischen
Material, dessen Veröffentlichung dringend geboten ist, weil es
die Geschichte der Türkenkriege, vornehmlich in bezug auf die
Kriegshilfen, nach vielen Seiten aufzuhellen vermöchte. Was
in dieser Beziehung bisher geleistet wurde, liegt in den mühe-
vollen Versuchen und Forschungen von F. v. Krones zur Quellen-
kunde und Gesch. des m. a. Landtagswesens in Steiermark (Bei-
träge zur Kunde steierm. Geschichtsquellen, 2. Bd., 1865) vor.
Wie notwendig es aber ist, hier in methodischer und gründlicher
Weise vorzugehen, davon legt ein Vergleich der in den vorliegen-
den beiden Serien enthaltenen Materialien mit den von Krones
veröffentlichten Notizen Zeugnis ab, und wie sehr auch die jüngste
Geschichtsschreibung in den österreichischen Ländern durch
den Mangel methodisch geordneter Quellensammlungen zur Ge-
schichte der Türkenkriege behindert war, entnimmt man den
Darstellungen von F. M. Mayer, F. v. Krones und Alfons Huber,
die für die hier in Betracht kommenden Zeiten sich mit dem be-
gnügen mußten, was sich aus Unrests Chronica gewinnen ließ,
und doch ist selbst die kritische Beurteilung dieser gewiß hervor-
ragenden Quelle erst möglich, wenn auch das entsprechende
Aktenmaterial methodisch gesammelt und gesichtet ist — von
Megiser und den sonstigen Historikern, die sich mit diesem Gegen-
stand beschäftigt haben nicht zu reden. Daß es noch viele, auch
unveröffentlichte Quellen zur Geschichte der Türkenkriege in
den österreichischen Ländern gibt, darüber hat uns schon Ilwof
Mittelalter. 79
in seinen wichtigen, wenn auch nicht immer kritischen Aufsätzen
über die Einfälle der Osmanen in die Steiermark (Mitt. des hist.
Ver. für Steiermark X, 253) belehrt; leider sind sie nicht ge-
sammelt, und so wird man die vielfachen Ergänzungen zu dem
bereits bekannten, die sich in den vorliegenden Serien finden,
willkommen heißen. Sie stammen aus zahlreichen italienischen,
deutschen und österreichischen Archiven, denen von Venedig,
Ferrara, Genua, Ancona, Modena, Rom, Mailand, Florenz, Bologna,
Neapel, Paris, Parma, Wien, Innsbruck, Ragusa, München,
Nürnberg, Königsberg, Leipzig und Dresden. So reich nun der
Gewinn für die Geschichtsschreibung der Türkenkriege aus der
vorliegenden Sammlung ist, man darf nicht unterlassen, auf die
zahlreichen Mängel aufmerksam zu machen, mit denen sie be-
haftet ist. Daß sie trotz des vielen Neuen doch noch recht un-
vollständig ist, wurde bereits angedeutet, aber es finden sich auch
in der Anlage des Ganzen und der Wiedergabe der einzelnen
Stücke Mängel und grobe Verstöße. Die Anlage hätte eine strenger
chronologische sein müssen; daß sie es nicht geworden ist, er-
klärt sich zum Teil aus der ungleichen Behandlung der in den
einzelnen Stücken vorhandenen Datierungen. In vielen Fällen
sind diese nicht auf unsere Datierung reduziert; das erschwert
die Benutzung dieser Ausgabe der Akten, Korrespondenzen und
historischen Berichte, denn es zwingt den Benutzer, sein Calen-
darium medii aevi — etwa seinen Grotefend — stets in der Tasche
zu haben. Wir finden hier historische Berichte, die nach einer
entsprechenden Auflösung der m. a. Datierungen in margine
förmlich rufen. Mehr kommt noch in Betracht, daß die Auf-
lösung, wo sie gegeben ist, oft genug eine falsche ist und den
Beweis liefert, daß der Herausgeber in der m. a. Zeitrechnung
wenig bewandert ist. Er müßte wissen, daß Abend nicht der-
selbe Tag, sondern der Vortag ist (vigiliä), wie man heute noch
Sonnabend — Samstag sagt, oder daß feria = Wochentag ist.
Manche Irrtümer in der Datierung erklären sich wohl auch aus
der geringen Kenntnis der älteren deutschen Sprache (s. z. B.
4, 67, wo in den beiden Fällen die Korrektur ew{ch.) nicht not-
wendig ist, da ew an sich richtig ist), vor allem des österreichisch-
bayerischen Dialektes. Ich will nur einzelne Fälle ausheben:
Heft 4, S. 116: item am gelen (sie) Montag kom wir. Das sie hat
wegzubleiben: es ist der geile Montag (nach Esto mihi) im
80 Literaturbericht.
Jahre 1455 = 17. Februar, die in der folgenden Zeile genannte
Datierung: „Suntag Herren vasnacht" ist der vorangehende
Sonntag. — S. 145 feria quinta ante Augustini ist nicht der
fünfte Tag vor Augustin, sondern der Donnerstag vor Augustin
— also nicht 24. sondern 26. August; daher ist auch S. 148 das
Fragezeichen nach jeudi zu streichen. — S. 248 „an aller heiligen
abent" ist nicht, wie hier aufgelöst ist, der 25. Dezember, sondern
der Abend, d. h. der Tag vor Allerheiligen, also 31. Oktober.
Der Herausgeber hatte offenbar den Hl. Abend im Sinne, aber
auch dieser fällt nicht auf den 25., sondern auf den 24. Dezember.
— S. 250: samedi avant Madeleine 1466 ist nicht der 20. sondern
der 19. Juli. — S. 253: Kiliani ist nicht der 18., sondern der
8. Juli. — S. 256: Sonntag post Jacobi 1467 ist nicht der 30. No-
vember, sondern der 26. Juli. — S. 264: „am Austertags aben(!)
1407" ist nicht der 29. sondern der 28. März. — S. 302: „Montag
nach Viti 1471". Da St. Veit der 15. Juni ist, kann der Montag
darnach nicht der 7. sein. — S. 342: ,,Erchtag vor St. Michels
tag 1473" ist nicht der 14. sondern der 28. September. Nicht
besser als in der vierten ist es in der fünften Serie. S. 52: „Pfinz-
tag nach St. Galli" ist nicht der 16. (denn das ist Galli selbst)
sondern der 21. Oktober. — S. 74: Pfinztag nach Assumpt. (Ma-
riae) 1480 ist nicht der 22. sondern der 17. August. — S. 126:
„Fritag nach dem suntag Trinitatis 1482" ist nicht der 4. sondern
der 7. Juni, dornstag vor S. Margaretentag nicht der 18. sondern
der 11. Juli. S. 186: „an unser lieben frawen abent Assump-
tionis" nicht der 15. sondern der 14. August (ein nochmaliger
Fehler mit abent auch S. 190 und 225). — S. 193: Pfinztag nach
Dionisii 1491 ist nicht der 6. (das wäre vor Dionys) sondern der
13. Oktober. — S. 209: an mittichen nach Margarethe nicht der
24. sondern der 17. Juli. — Doch genug davon. In bezug auf die
deutschen Stücke ist zu bemerken, daß auch sprachliche Irrtümer
zu verzeichnen sind. Man muß z. B. wissen, daß der Steirer
im 15. und 16. Jahrhundert Grätz, Susännä, Johanna, Rägnitz
schreibt und Graz, Susanna usw. spricht; dann wird man nicht,
wie das hier geschieht, aus dem Sanntal einmal ein Sänntal, ein
anderesmal ein Santal machen. Man wird dann zu verhägen
kein Fragezeichen machen und wird nicht (umgekehrt) schreiben :
die Türken wern zu Parisch, Grätz, sondern wird wissen, daß
Parisch = Bairisch, Bairisch-Grätz = Graz ist, im Gegensatz
Mittelalter. 81
ZU Windischgrätz. Man sieht, wie notwendig es gewesen wäre,
dem Text einen Kommentar beizugeben. Der ist aucii da nötig,
wo es sich um verballhornte Orts- oder Familiennamen handelt.
Wiederholt kommt das Geschlecht der Khuenburg in einzelnen
Nummern vor, und zwar ist es Gandolph, der mehrfach erwähnt
wird. Hier finden wir ihn das einemal (5, 18) als Keinburg,
ein andermal (5, 120) als Krenburg angemerkt. Was das in der-
artigen Berichten oft genannte Wort sakman bedeutet, müßte
doch irgendwo gesagt sein; wer wird, wenn er nicht etwa Kenner
steiermärkischer Weine ist, das Wort Rayfler verstehen? Auch
das Wort Kreyd muß trotz der an einer Stelle gegebenen Er-
läuterung: grida, cri de guerre näher erklärt werden; denn da-
mit ist die Stelle: Item bey dem tag ist gewesen die kreyd in
dem Namen Gottes und St. Lassla (hier stimmt es) und in der
nacht ist gewesen ain andere kreyd (hier stimmt es schwerlich).
Man darf hier auf den schönen Aufsatz von Joseph von Zahn
„Kreidfeuer" (Styriaca I, 84) aufmerksam machen. Der 5, 195
genannte Hohenwaiter ist Andre aus dem Hause Hohenwart.
Und so wird man kaum irregehen, wenn wir 5, 127 nicht Grinen
sondern Griven lesen, wie es S. 18 nicht Vitring sondern Victring
lauten muß. Mit dem Loyentag (5, 116/17) wird wohl auch kaum
irgendein Leser etwas anfangen können: es ist der Loitag =
25. Juni. Statt Sirich (4, 311) wird wohl (s. Hammer II, 133)
Sittich, statt Kartenser oder Kortenser: Kartäuser zu lesen sein.
4, 112 scheint ein Mißverständnis oder mindestens eine Undeut-
lichkeit vorzuliegen. Man liest dort: Elle (audience) fut accordee
apres le depart des Aragonais, le 25 (Dienstag in der Karwochen).
Der Dienstag in der Karwoche, 1455 ist der I.April, während
hier der 25. Februar gemeint ist. 4, 143 ist zu lesen an der leng,
nicht aler leng. — S. 147 Hes: Ott Herdeghen; S. 191: Pente-
costes. S. 262 dürfte die Handschrift: Nürnwerg haben. In
Nummer 201, S. 301, bedürfen die Namen bzw. Worte: Laurent
de Saltzbourg und les eveques de Rheinsee einer Erläuterung.
Stücke, die jüngstens an anderen Orten gedruckt wurden, wären
jedenfalls zu vergleichen gewesen; so findet sich 4, 41 (Nr. XXI)
in extenso in Wolkans Ausgabe des Briefwechsels des Eneas
Silvius Piccolomini und von dort konnten einige bessere Les-
arten genommen werden. So heißt es dort an wichtiger Stelle
nicht At hunc Balachus, regionis gnarus usw., sondern At homo
Historische Zeitschrift (117. Bd.» 3. Folge 21. Bd. 6
82 Literaturbericht.
Balachus ... An späterer Stelle nicht: in estate sondern in hac
estate . . , und weiter nicht quam plures cum sondern complu-
res cum ... So wünschenswert es ist, daß diese Serien fortge-
setzt werden: man würde es dem Herausgeber danken, würde
er für die deutschen Stücke Unterstützung von sachkundiger
Seite nachsuchen und die sonstige einschlägige historisch-geo-
graphische Literatur in ausreichendem Maße zu Rate ziehen.
Graz. J. Loserth.
Die Coccejische Justizreform. Von M. Springer. München und
Leipzig, Duncker & Humblot. 1914. XII u. 387 S.
Die Entwicklung des absoluten Militärstaates in Branden-
burg-Preußen von den Tagen des großen Kurfürsten bis zu den
Friedrich Wilhelms I. hat dazu beigetragen, die schon aus anderen
Ursachen im argen liegende Zivilrechtspflege weiter zu schädigen;
das geschah durch die Wegnahme der besten Kräfte aus der
Justiz in die Verwaltung, durch die häufig damit verbundene
Verwendung von Gehältern, die für die Gerichte bestimmt waren,
für jene anderen Zwecke, durch die Anstellung zahlreicher un-
geeigneter Elemente infolge ihrer Zahlungen zur Rekrutenkasse,
durch die Rechtsunklarheit infolge des wachsenden Wider-
spruches zwischen dem alten Recht und den neuen Verordnungen
der Verwaltungsbehörden, durch die Ausdehnung der Gerichts-
barkeit dieser Verwaltungsbehörden, durch häufige Eingriffe des
Herrschers in laufende Prozesse u. a. m. Während so, nament-
lich unter Friedrich Wilhelm I., die Leistungsfähigkeit der Ge-
richte immer weiter in Frage gestellt wurde, setzten zugleich
infolge der allenthalben empfundenen Mißstände dauernd wieder-
holte, lebhafte Versuche zur Reform der Justiz ein; sie leitete
unter Friedrich Wilhelm I. und unter Friedrich dem Großen
bis zum Siebenjährigen Kriege Samuel von Cocceji. Diese Cocceji-
sche Justizreform schildert der Verfasser der vorliegenden Arbeit
auf Grund des umfangreichen Aktenmaterials, das in der Ab-
teilung: Behördenorganisation der Acta Borussica wiedergegeben
ist, wie der weitverzweigten Literatur; im ersten Teil seines
Buches stellt er den Gang der Reform dar, d. h. die mißglückten
Reformversuche unter Friedrich Wilhelm L und dann die Durch-
führung der Reform in allen Teilen des preußischen Staates
Zeitalter Friedrichs des Großen, 83
während des Jahrzehnts zwischen dem Dresdner Frieden und
dem Siebenjährigen Kriege; der zweite Teil behandelt die Ergeb-
nisse der Reform.
Man merkt es dem Buche wohl an, daß es einen Anfänger
zum Verfasser hat; so reicht im dritten Kapitel des ersten Teiles
die Darstellung unter dem Titel: „Die ersten Jahre unter Fried-
rich Wilhelm I." bis 1737/38. Über die Fülle falscher Zitate
und andere Mängel des Buches verweise ich auf die Besprechung
von R. Hübner in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechts-
geschichte, German. Abt. Bd. 36 (1915), S. 498ff. Damit könnten
es der Worte über eine Anfängerarbeit genug sein; ich möchte
aber noch gegen die Beurteilung der Ergebnisse der Reform,
bei der der Verfasser den herrschenden Standpunkt vertritt,
wie ihn Koser, Hintze u. a. einnehmen, einige Einwendungen
erheben.
Den Anstoß und die Richtung für diese Justizreform gab
(Springer S. 28) „die ausdrückliche Forderung Friedrich Wilhelms,
alle Prozesse binnen Jahresfrist zu erledigen. Sie wurde für alle
Folgezeit das Sinnbild für das Verlangen nach Beschleunigung.
Er hielt an ihr sein Leben lang fest, sein Sohn übernahm sie von
ihm." Am 1. Juli 1743 erließ Friedrich der Große an Cocceji
eine Kabinettsorder, in der es hieß: „Ich finde sowohl hiebei als
bei vielen anderen Klagten, daß es noch eine schlechte Frucht
von verbesserter Justiz sei, wenn arme Unterthanen, wenn sie
mit einem größern und reichern Contrapart zu thun haben,
sich 24 Jahre hindurch chicaniren lassen müssen, dergleichen
Exempel gewiß viel mehrere vorhanden".^) Diese Kabinetts-
order brachte die gegen Ausgang der Regierung Friedrich Wil-
helms I. ins Stocken geratene Reform wieder in Fluß. Unter den
sich damals viele Jahre und Jahrzehnte lang hinschleppenden
Prozessen nahmen also die sog. Untertanen- oder Bauernprozesse
einen großen Raum ein^); das heiße Verlangen, dem kleinen
Mann, dem gedrückten Hörigen, schnelles und gerechtes Gericht
zu verschaffen, bildete für Friedrich die Haupttriebfeder bei allen
Neuerungen in der Zivilrechtspflege während seiner langen Re-
^) Acta Borussica, Behördenorganisation, Bd. VI, 2, S. 614.
S. noch S. 772/3, 781/2, 809/10.
») Vgl. noch a. a. 0. Bd. VIII, S. 361.
6*
84 Literaturbericht.
gierung. Wir werden also bei der Beurteilung der Coccejischen
Justizreform stark berücksichtigen müssen, ob jenes Ziel er-
reicht wurde oder nicht; eine Beantwortung dieser Frage er-
schwert freilich der Umstand, daß nach Abschluß der Reform der
Siebenjährige Krieg ausbrach und auf den Gang der Rechtspflege
wie auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse naturgemäß
höchst ungünstig einwirkte, so daß sich nicht immer klar ent-
scheiden läßt, ob die nach der Reform noch zutage tretenden
Mängel der Ziviljustiz der Reform selber oder dem Krieg zur
Last fallen.
Dieser Einwand trifft nun aber nicht auf die Tatsache zu,
daß man sich in den Tagen Coccejis der Reformbedürftigkeit
der Untergerichte, der Stadtgerichte und besonders der Patri-
monialgerichte auf dem Lande und in den Mediatstädten, zwar
wohl bewußt war (Springer S. 47, 56, 348ff.), daß aber trotzdem
die Untergerichte „im wesentlichen unverändert blieben" (Springer
S. 353). Wie wenig die von Cocceji durchgesetzte Forderung,
jeder Unterrichter müsse vor seiner Anstellung eine Prüfung vor
den Obergerichten bestehen, die Rechtspflege auf dem Lande,
wenigstens in Schlesien, hob, dafür verweise ich auf die Aus-
führungen in meinem Buche: „Hundert Jahre schlesischer Agrar-
geschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluß
der Bauernbefreiung", S. 119ff.^) Über die Stadtgerichte s,
mein Buch: „Das Ergebnis der friderizianischen Städteverwaltung
und die Städteordnung Steins", S. 128, und folgenden Bericht
des Präsidenten der Brieger Oberamtsregierung, des Freiherrn
von Zedlitz, vom 12. Oktober 1765 an das Justizdepartement,
in dem er zunächst die Aufhebung der ländlichen Patrimonial-
gerichtsbarkeit und ihren Ersatz durch die Anstellung von Kreis-
justiziaren empfiehlt; dann fährt er fort: „So wie bei den Adeligen
auf ihren Gütern die Gerichtsbarkeit schlecht angewendet wird,
ebenso schlecht wird die Justiz in den Städten administriert.
Sowohl die Mediat- als die immediate unter Eurer Majestät
stehende Magistrate verdienen diesen Vorwurf. Die Oberamts-
regierung ist wahrhaft allemal verlegen, wenn die geringste
1) Um der falschen Annahme vorzubeugen, als ob ich Spr.
aus der Nichtbenutzuug meines Buches indirekt einen Vorwurf
machen wollte, bemerke ich, daß es ein Jahr nach Spr.s Schrift
erschienen ist.
Zeitalter Friedrichs des Großen. 85
gerichtliche Handlung, es sei ein Zeugenverhör oder Eidesabnahme,
auswärts vorgenommen werden soll . . . Die Magistrate machen
bei Anfertigung des Rotuli hundert lächerliche Fehler . . . Kommt
es endlich in einer Stadt zu einem Prozeß und fällt es dem Magistrat
ein, Akten zu machen, so gehören im nachherigen Appellatorio
alle juristische Künste dazu, wenn man zu Ersparung der Zeit
und Kosten das Verfahren primae instantiae nicht gänzlich
kassieren soll. Dergleichen Sachen halten uns immer unbe-
schreiblich auf."^) Da man nun wohl mit Sicherheit annehmen
darf, daß die meisten Prozesse gegen Bürger und Bauern oder
von Bürgern und Bauern untereinander nicht über die erste
Instanz hinauskamen, so gewann also die Coccejische Justiz-
reform für die meisten Prozesse und den größten Teil der die
Gerichte beschäftigenden Bevölkerung Preußens keine Bedeutung.
Der schöne Giebelschmuck, mit dem Cocceji durch seine Reform
den preußischen Themistempel zierte, darf nicht darüber täuschen,
daß seine Fundamente nachher ebenso brüchig blieben wie vor-
her. Diese Tatsache ist bisher noch nicht scharf genug betont
worden, wenn es auch historisch durchaus verständlich bleibt,
daß die Reform zuerst sich nur auf die Obergerichte erstreckte,
und erst später — leider erst 100 Jahre später — zur Verstaat-
lichung der Patrimonialgerichte führte.
Bei den höheren Instanzen, auf die sich Coccejis Reform
also beschränkte, war es zunächst einmal nötig, alle alten Prozesse,
viele hunderte an der Zahl,, kurzerhand abzutun; „es war", so
urteilt Fr. Holtze in seiner Geschichte des Kammergerichts,
T. III, S. 218, „somit nicht eigentlich Justiz, die geübt, nicht
gerade Recht, was gesprochen wurde, sondern ein ganz praktisches
Nummerntöten". Nun erwähnt aber Stölzel, Brandenburg-
Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung, Bd. 2, S. 272,
eine Kabinettsorder „vom 27. November 1779, welche auf Be-
schwerde eines Majors über einen bereits an 70 Jahre in Cleve
schwebenden Prozeß erging", also über einen Prozeß, der 40 Jahre
vor der Coccejischen Reform unter Friedrich dem Großen be-
gonnen und diese überdauert hat. Man wird die Frage auf-
werfen dürfen, ob es sich hier um einen Ausnahmefall handelt
oder ob die Schnelligkeit, mit der man Ende der vierziger, Anfang
1) Breslauer Staatsarchiv Rep. 199. M. R. V, 45e. Vol. 1.
86 Literaturbericht.
der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts unter Coccejis Leitung
mit den alten Prozessen aufräumte, zur Folge hatte, daß ein gut
Teil der alten Prozesse unter Beibringung neuen, von jener eilenden
Justiz nicht beachteten Beweismaterials eine fröhliche Aufer-
stehung feierte; erst wenn wir die Geschichte noch eines höheren
preußischen Provinzialgerichtes als Gegenstück zu Holtzes Ge-
schichte des Kammergerichtes besitzen, wird man in diesem und
manch anderem Punkte klarer sehen.
In meinem oben erwähnten Buche: „Hundert Jahre schlesi-
scher Agrargeschichte" erwähne ich zufällig auf S. 21 Bauern-
prozesse, die auf dem in Frage stehenden Gute ungefähr zu der
Zeit, da Cocceji seine Reform in Schlesien durchführte, einsetzten
und trotz aller von Cocceji zur Beschleunigung der Prozesse durch-
geführten Neuerungen an 40 Jahre dauerten; S. 191 einen Bauern-
prozeß, der etwa mit dem Anfang der preußischen Herrschaft
in Schlesien anhub, 1747 zugunsten der Bauern endete, bald aber,
etwa zur Zeit der Coccejischen Reform, wieder aufgenommen
wurde, 1753 zu dem gleichen Ergebnis wie 1747 führte, ohne daß
aber den Bauern bis zum Jahre 1765 ihr Recht wurde, so daß es
schließlich zum offenen Aufruhr kam. Von 1775 an bis über den
Zusammenbruch des alten Preußens hinaus prozessierten die
Untertanen der Herrschaft Trachenberg mit ihrer Grundherr-
schaft (S. 247). Das sind nur ein paar Beispiele, die ich in meinem
Buche herausgriff; ihre Zahl könnte vermehrt werden. Unter-
tanenprozesse, die viele Jahre und Jahrzehnte dauerten, die mit
der Coccejischen Justizreform für alle Zeiten verschwinden sollten,
hat es also auch nachher gegeben ; das lag zu einem sehr bedeuten-
den Teil an dem Gegenstand der Prozesse, der durch keine Reform
des Prozeßverfahrens und der Gerichtsorganisation aus der Welt
zu schaffenden Unklarheit und Dehnbarkeit der dem Landvolk
obliegenden Verpflichtungen. Man mußte im großen und ganzen
entweder den Hörigen der Willkür oder, was besser klingt, der
patriarchalischen Herrschaft des Gutsherrn überlassen oder aber
die Hörigkeit aufheben; alle Versuche, sie beizubehalten, die aus
ihr fließenden Pflichten aber scharf und deutlich, juristisch faß-
bar, zu umgrenzen, scheiterten schließlich. Deshalb konnte
der Gutsherr gegen seine Untertanen, wenn sie ihm nicht zu
Willen waren, so lange prozessieren, bis sie mürbe wurden und
nachgaben. Das gleiche gilt von dem Verhältnis zwischen Mediat-
Zeitalter Friedrichs des Großen. 87
Städtern und ihrem Grundherrn. Der Versuch, diese Art von
Dauerprozessen durch die Coccejische Justizreform ein für allemal
zu unterbinden, hat jedenfalls sein Ziel nicht voll erreicht.
Kurz ehe Friedrich zur Regierung kam, hat Cocceji ein Ge-
setz verfaßt, das die meisten der gewöhnlich so langwierigen
Untertanenprozesse in etwas eigenartiger Weise aus der Welt
geschafft hätte, wenn jenes Gesetz nicht bald wieder aufgehoben
worden wäre; am 24. Februar 1739 wurde nämlich das sog.
Bagatelledikt veröffentlicht, das zwar auf eine Anregung Friedrich
Wilhelms I, zurückging, aber von Cocceji allein ausgearbeitet
wurde, ohne daß ihm der König hineinredete und dadurch die
Einzelbestimmungen verdarb, so daß Cocceji die moralische Ver-
antwortung für dieses Edikt trägt. „Es bestimmte, daß bei allen
Sachen unter 50 Talern kein ordentlicher Prozeß zu verstatten
sei, sondern solche bei einem mündüchen Verhör ohne alle Kosten
und Verstattung der geringsten Weitläufigkeit auf einmal abzutun
sein. Gegen die Urteile sollte kein Rechtsmittel verstattet
werden." (Springer S. 67.) Springer betont mit Recht, daß
damals bei den Untergerichten ein Streitgegenstand von über
50 Talern zu den Seltenheiten gehörte; die meisten Prozesse
vor den Untergerichten fielen also unter dieses Bagatelledikt.
Wenn demgemäß ein Gutsherr gegen einen seiner Untertanen
klagte und im Notfall seine Forderungen derart zerlegte, daß in
dem jeweiligen Prozeßverfahren das strittige Objekt im Wert
unter 50 Talern blieb, so entschied des Gutsherrn Patrimonial-
richter nach kurzem Verfahren endgültig über seines Brotherrn
Klage. Man muß nun entweder annehmen, daß Cocceji so welt-
fremd war, diese Folge nicht vorauszusehen; solche Annahme
würde aber allem widersprechen, was wir über die Persönlichkeit
Coccejis wissen; dann bleibt nur der Schluß übrig, daß Cocceji
die meisten Prozesse gegen Bauern, Mediatstädter und Acker-
bürger durch eine derartige Kadijustiz abtun wollte, damit die
auf solche Weise entlasteten höheren Gerichte sich mit den vor-
nehmlich die höheren sozialen Schichten berührenden Prozessen
um so besser und gründlicher befassen konnten. Hinsichtlich
dieses letzten Punktes hat dann auch im großen und ganzen die
auf die Obergerichte beschränkte Coccejische Justizreform unter
Friedrich dem Großen eine entsprechende Wirkung gezeitigt.
Was da durch die Zentralisation der Obergerichte, die Regelung
88 Literaturbericht.
und Vereinfachung des Prozeßverfahrens und Instanzenzuges,
die Säuberung des alten Richterstandes, die Erziehung eines
neuen, tüchtigen Richterstandes für die Obergerichte, die Be-
schaffung einer ausreichenden Besoldung für diesen neuen Richter-
stand, die Regelung des Vorbereitungsdienstes usw. geschah,
kam, da es auch auf die Gerichte der größeren Städte zuerst
abfärbte und da die oberen Klassen des Bürgerstandes sich
leichter und öfter zur Appellation an die zweite Instanz entschlossen
als Kleinbürger und Bauern, den rechtsuchenden höheren sozialen
Schichten, dem Adel, den Beamten und dem besseren Bürger-
stand, vornehmlich zugute und trug dadurch dazu bei, bei diesen
Schichten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Vor-
stellung von der unübertreffHchen Güte der Zustände im alten
Preußen zu wecken, während die kleinen Leute unter den furcht-
baren Schäden der Patrimonialgerichte und kleinen Stadtgerichte
nach wie vor litten.
Endlich noch eins. Zu den vielen Vorzügen, die man der
Coccejischen Justizreform nachrühmt, gehört auch die von
Springer im Anschluß an Weißlers Geschichte der Rechtsanwalt-
schaft wiederholte Behauptung, daß damals der bisher mit
Recht so scharf angefeindete Anwaltstand sich gewandelt und
gewaltig gehoben habe. Dieser Auffassung gegenüber verweise
ich darauf, daß der Freiherr vom Stein 1808 den Anwälten das
Wahlrecht zu den Stadtverordnetenversammlungen entziehen
wollte (Lehmann, Stein, Bd. II, S. 465). Mögen bei diesem Ge-
danken auch manche böse Erinnerung an das Treiben der Advo-
katen in der französischen Revolution und die Abneigung Steins
gegen jede Art von Beamten — und dazu zählten damals doch
auch die Justizkommissare, d. h. die Anwälte — eine Rolle ge-
spielt haben, so gehörte doch auch zu dieser Absicht, die dann
Bordellwirten und ähnlichen Leuten gegenüber verwirklicht
wurde, als bedingungslose Voraussetzung eine allgemeine Gering-
schätzung des Anwaltstandes, wie sie uns in den Tagen Friedrich
Wilhelms I. und des von ihm den Advokaten aufgezwungenen
schwarzen Mantels begegnet.
Breslau. Ziekursch.
19. Jahrhundert. 89
Erinnerungen von Ernst Freiherrn von Plener. 1. Bd. Jugend,
Paris und London bis 1873. Stuttgart und Leipzig, Deutsche
Verlagsanstalt. 1911. X u. 392 S.
österreichische Memoiren sind nicht so häufig, als daß man
es nicht dani<bar begrüßen sollte, wenn ein Mann, der etwas
erlebt hat und etwas zu sagen hat wie der langjährige Führer
der Deutschliberalen, Ernst v. Plener, uns seine Lebenserinnerungen
übergibt. Freilich bewegt sich der vorliegende Band (dessen
Anzeige etwas verspätet erfolgt, da ursprünglich das Erscheinen
des zweiten Bandes abgewartet wurde) nur erst in der Peripherie
der österreichischen Verhältnisse. Er bringt gewissermaßen eine
politische Bildungsgeschichte, die der Geschichte einer politischen
Tätigkeit vorausgeschickt wird, und diese politische Bildung
wird überwiegend im Auslande, auf dem Boden der europäischen
Diplomatie und der europäischen Kultur der Zeit erworben.
Den Hauptinhalt des Bandes bildet, nach den Jugendjahren,
die Zeit vom Frühjahr 1865 bis zum Sommer 1873, die P. als diplo-
matischer Attache in Paris (bis zum Februar 1867) und dann
in London verbrachte, und es liegt auch für den Reichsdeutschen
ein besonderer Reiz darin, wenn die für die neudeutsche Ge-
schichte entscheidende Periode nicht von ihrem Zentrum her,
sondern aus einer gewissen Entfernung heraus von einem den
Dingen unbefangen gegenüberstehenden Manne erzählt wird;
die österreichische Geschichte dieser Zeit, die gerade in der großen
Krisis von 1866 auf das intensivste miterlebt wird, schimmert
in der Regel von weitem durch, so eng auch der Memoirenschreiber,
dessen Vater damals als Finanzminister im Ministerium Schmer-
ling und dann als Handelsminister im Bürgerministerium tätig
war, durch diese persönliche Beziehung mit den wichtigsten
Entschließungen verbunden erscheint.
Man kann nicht gerade sagen, daß P. zum Memoirenschrift-
stgller geboren sei. Dazu fehlt es an jener Unmittelbarkeit des
persönlichen Erlebens, die sich auch in der künstlerischen Wieder-
gabe niemals verleugnen wird. Die Fülle der Erscheinungen
wird vielmehr von einem sachlich interessierten Beobachter
angeschaut und mit einem starken Bedürfnis nach Objektivierung
der Dinge historisch dargestellt, unter gewissenhafter Benutzung
der eigenen Aufzeichnungen und Briefe (an den Vater), gelegent-
lich auch der neueren Literatur. Diese Herkunft des Bandes
90 Literaturbericht.
macht sich wohl einmal in einer Überladung der Notizen bemerk-
bar, in denen sich gelegentlich society-life und diplomatische
Noten, große europäische Ereignisse und ernste geistige Arbeit
bunt durcheinanderschieben. Aber der große Zusammenhang
geht darüber nie verloren, er kommt sowohl in der allgemeinen
Geschichtsdarstellung wie in der Entwicklung des eigenen Bildungs-
weges zur Geltung. Auch dieser Entwicklung, die das Intimste
und Persönlichste der Memoiren umfaßt, stellt der Verfasser
sich durchaus objektiv gegenüber. Er nennt sich einmal einen
„strengen, jungen Menschen, der sehr viel auf Tradition, Dis-
kretion und Ordnung auf der Botschaft hielt"; er besaß einen
vom Vater ererbten tätigen Bildungstrieb und ein unermüdliches
Aufnahmevermögen; er erscheint als eine Natur, die bewußt
an sich arbeitet und in ihrer Sachlichkeit mit dem, was man
gemeinhin Österreichertum nennt, wenig gemein hat.
Man merkt ihm eben die festen, von Generationen über-
machten Traditionen des österreichischen Beamtentums an.
E. V. P. ist aufgewachsen in dem Geiste des liberalen Zentralismus
der sechziger Jahre, der jene Traditionen mit neuen Kräften zu
erfüllen suchte und sich zu diesem Zwecke um eine breite geistige
Fundierung bemühte. Von Eger, wo er geboren ward, hat ihn
seine Jugend, der Laufbahn des Vaters folgend, über Prag nach
Ofen und Preßburg, dann nach Lemberg und schließlich nach
Wien geführt: es waren die letzten Jahre des österreichischen
Einheitsstaates. Die Ansicht der Dinge wird nie aus einem pro-
vinziellen Gesichtswinkel oder von dem Sonderinteresse einer
Nationalität gewonnen, sondern von dem Gesamtstaat und
seinen Bedürfnissen her. Der europäische Gesichtspunkt, aus
dem der junge Diplomat naturgemäß auch die österreichischen
Probleme zu beurteilen sich gewöhnte, hat diese Neigung nur
noch verstärken können.
Der historische Gewinn des ersten Memoirenbandes kommt
hauptsächlich der europäischen Geschichte zugute. Die großen
Figuren dieser Jahre, Napoleon III., Gladstone, Disraeli, Beust
(dessen staatsmännische Künste mit Recht einer scharfen Be-
urteilung unterliegen) werden in eindrucksvollen Umrissen vor-
geführt. Die großen Krisen, zumal wenn sie auch die diplo-
matische Mitwirkung des jungen Österreichers berührten, er-
fahren jedesmal sorgsame und aufschlußreiche Erörterung, so
19. Jahrhundert. 91
das Doppelspiel Napoleons zwischen Österreich und Preußen
vor dem Kriege von 1866, der Verlauf des Luxemburger Kon-
flikts im Jahre 1867 und die Frage der Kollektivgarantie der
europäischen Mächte, vor allem die europäischen Rückwirkungen
des deutsch-französischen Krieges. Sie werden von einem uns
zwar gefühlsmäßig nicht fernstehenden, aber doch ausgesprochen
österreichischen Standpunkt beurteilt, der zunächst einen Sieg
Preußens sowohl wie einen Sieg Frankreichs als schädliche Er-
eignisse einschätzte. Man erfährt manches Neue über die Ver-
suche zur Bildung einer „Ligue des neutres", über den deutschen
Streitfall mit Großbritannien in der Frage der Waffenausfuhr,
über die Waffenstillstandsbemühungen der Neutralen im Jahre
1870 und die Sprengung dieser Anläufe durch die russische Kün-
digung des Meerengenvertrages; eingehend wird der Verlauf der
Pontuskonferenz geschildert.
Daneben rückt für die Jahre 1867 bis 1873 die englische
Geschichte in den Vordergrund. So sehr sich auch seit den Neu-
wahlen von 1868 die demokratische Umbildung des Staatswesens
anmeldet, der Stil des politischen Lebens wird noch durch die
alten parlamentarischen Traditionen bestimmt; heute scheint
eine Zeit weit zurückzuliegen, in der aus dem Lager beider Par-
teien dem Ausländer mit Vorliebe versichert ward: „we do not
like a government of lawyers." Die politischen Aktionen dieser
Jahre werden sehr gründlich abgehandelt, die Wahlreform Dis-
raelis von 1867 und dann die großen, mit unendlicher Erwartung
begrüßten Unternehmungen, mit denen Gladstone sich an den
Umbau des Staatswesens machte: allem voran die Entstaat-
lichung der irischen Staatskirche, die irische Landbill, die irische
Universitätsfrage. Wir beobachten das mächtige Ansteigen der
liberal-radikalen Welle, zugleich aber schon die ersten Anzeichen
ihres Nachlassens, die bezeichnenderweise von dem Umschwung
der auswärtigen Situation ausgelöst werden. Schon werden in
der Rede Disraelis im Kristallpalast im Jahre 1872 die ersten
Gegenkräfte des Imperialismus sichtbar, und das Versagen der
auswärtigen Politik Gladstones ist es, das ihnen den Boden be-
reitet. Und zwar ist es nicht, wie man heute drüben wohl hört,
der kriegerische Eintritt des Deutschen Reichs in die Reihe der
Großmächte gewesen, der einer idealen liberalen Auslandspolitik
den entscheidenden Stoß versetzte, sondern eine Reihe von andern
92 Literaturbericht
Umgestaltungen der Weltlage bringt die Ernüchterung: die
Pontuskonferenz, das Vordringen der Russen in Mittelasien, die
doktrinäre Behandlung der Kolonialbeziehungen durch die Libe-
ralen und nicht zuletzt der (von P. lichtvoll analysierte) Ver-
lauf des Alabamakonflikts mit den Vereinigten Staaten. Es ist
bemerkenswert, daß damals die Amerikaner in der maßlosen
Überspannung ihrer sog. indirekten Entschädigungsforderungen
auch die angeblich durch den Kaperkrieg der Alabama ver-
anlaßte „Verlängerung des Krieges" anführten; man mag heute
den Gedanken nicht unterdrücken, wieviel sie durch eine nach
dem Buchstaben des Völkerrechts allerdings zulässige, aber mit
dem Geiste wahrer Neutralität nicht mehr vereinbare Gewäh-
rung industriell-kapitalistischer Kriegshilfe (in einem von dem
bisherigen Völkerrecht nicht vorgesehenen Umfange) zur „Ver-
längerung" des Weltkrieges beigetragen haben.
Auf dem Hintergrunde dieser großen Begebenheiten vollendet
sich die politische Ausbildung P.s, innerhalb deren die Entwick-
lung seiner theoretischen und praktischen nationalökonomischen
Studien am bedeutsamsten erscheint. Seit den ersten Anregungen,
die P. in den Wiener Studienjahren von Lorenz von Stein er-
halten hatte, war er über die herrschende Universitätsökonomie
der Rau und Röscher rasch hinweggeschritten; theoretische
Neigung und warmherzige Anteilnahme führten ihn den sozialen
Problemen des vierten Standes zu. Schon in dem Berhner Stu-
dienjahre war er in Verkehr mit Lassalle getreten, dessen Lebens-
lauf er später in der „Allgemeinen Deutschen Biographie" als
einer der ersten in seiner Bedeutung zu würdigen unternahm.
In Paris wie in London suchte er die persönliche Bekanntschaft
der führenden Nationalökonomen, der herrschenden Schulen
wie der Einspänner, er verfolgte dort die französische Arbeiter-
bewegung und ihre Assoziationsversuche, hier die englischen
Trade Unions an der Hand der Blaubücher und aus lebendiger
Anschauung; neben den älteren Ökonomen studierte er, auch die
mühsameren Wege nicht verschmähend, das Kapital von Marx
gleich nach seinem Erscheinen. Wohl sind seine Bücher über
die englische Fabrikgesetzgebung (Wien 1871) und die englischen
Baugenossenschaften (Wien 1873) zugleich im Hinblick auf spätere
gesetzgeberische Nutzanwendung in seinem Vaterlande geschrieben
worden, aber doch von einem starken ursprünglichen Interesse
19. Jahrhundert. 93
veranlaßt; man mag es bedauern, daß er seinen Plan, ein Buch
über die Lage der arbeitenden Klassen in England zu schreiben,
nicht hat ausführen können. Aus alledem wird deutlich, daß
P. über den wirtschaftlichen Liberalismus seiner Zeit längst
hinausgewachsen war. Sein Artikel von 1872 über „die Krisis
in der deutschen Staatswissenschaft" rückt den jungen Öster-
reicher schon nahe an die Seite der in Deutschland sich bildenden
kathedersozialistischen Gruppe heran, und ein Nachruf, den er
im Mai 1873 John Stuart Mill widmete, erscheint durchaus von
dem Bewußtsein einer mit Mill ablaufenden Geschichtsperiode
und von dem Vorgefühl einer neuen, antiindividualistisch orien-
tierten Periode bestimmt.
War er somit über den wirtschaftlichen Liberalismus längst
hinaus, so hat P. die allgemeinen parlamentarischen Ideale des
westeuropäischen Liberalismus tief in sich aufgenommen. Er war
von der Vorbildlichkeit des englischen parlamentarischen Lebens
unbedingt überzeugt,, und man könnte wenig festländische Liberale
nennen, die so tief durch diese Schulung hindurchgegangen wären
und sie so ernst genommen hätten. Nicht allein in dem Lesesaale
des Britischen Museums, sondern zugleich auf der Lords Gallery
im House of Commons hatte er die ihn bestimmenden Eindrücke
erfahren. Der Reiz der hier miterlebten Aktivität des politischen
Handelns trug zu einem guten Teile dazu bei, ihn im Jahre 1873
zu veranlassen, den diplomatischen Dienst zu verlassen und bei
den Neuwahlen zum österreichischen Reichsrat ein Mandat als
Vertreter der Handelskammer in Eger anzunehmen. Es ist, als
ob schon in diesem Bande ein leiser Zweifel durchklinge, ob die
in England gewonnene Schulung in parlamentarischer Praxis
ihm gerade die richtige Einstellung auf die Besonderheit der
österreichisch-ungarischen Probleme bringen konnte. Das eigent-
liche biographische Problem aber scheint mir darin begriffen
zu sein: auf welche Weise und mit welchem Rechte eine starke
Neigung zur vita contemplativa schließlich doch bewußt die Wen-
dung zur vita activa vollzieht. Das Hinausstreben aus der einen in
die andere Welt gibt den vernehmbaren Unterton ab, der diesen
ersten Band durchzieht. Das allgemein menschliche Entwick-
lungsproblem, das auch den in der Welt der Gedanken lebenden
und einen intensiven Innern Anteil an den Dingen nehmenden
Mann schließlich drängt, das gewonnene Rüstzeug theoretischer
94 Literaturbericht.
Vorbereitung und lebendiger Erfahrung selbst in der Welt des
politischen Handelns zu verwenden, hat ihn in jenen Jahren
dauernd innerlich bewegt und beschäftigt im Grunde noch den
Rückblickenden im Alter, Schon mit 25 Jahren schreibt er
einmal über die ihm innewohnende Neigung, sich mit dem Er-
kennen der Ursachen und der Erklärung des Tatsächlichen zu
begnügen: „Ich weiß recht gut, daß diese vielleicht falsch wissen-
schaftliche Auffassung nicht den ganzen menschlichen Geist aus-
füllen kann, allein vielleicht weil ich mir den Weg absichtlich
schwer machte, habe ich die andere Hälfte der menschlichen
Tätigkeit, das überzeugungsmäßige Wollen und die bewußte
Einseitigkeit in der Richtung auf ein bestimmtes Ziel noch nicht
bei mir produzieren können." Im Laufe der nächsten Jahre
scheint sich ihm der Schwerpunkt seiner Neigungen immer mehr
nach der aktiven Seite zu verschieben, bis im Jahre 1873 der
entscheidende Entschluß vollzogen wird.
Er bedeutet nicht nur den Übergang von außerpolitischer
zu innerpolitischer Tätigkeit, sondern vor allem die innere Um-
stellung vom Erkennen zum Handeln: für den Menschen Plener
die eigentliche Lebensfrage. Die Lösung dieses Problems wird man
erst aus dem zweiten Bande beurteilen können, der österreichische
Memoiren im eigentlichen Sinne bringen wird, österreichische
Geschichte in einem Zeitraum, der von einer höheren Warte aus
noch wenig angeschaut wird, aber von keinem Berufeneren
dem historischen Verständnis erschlossen werden könnte. Man
darf sich von diesem Bande einen Reichtum historisch-politischer
Belehrung und allgemeiner geistiger Anregung versprechen.
Heidelberg, Hermann Oncken.
Alexandre II, Gortschakoff et Napoleon III. Par Franfois
Charles- Roux. Paris, Plon-Nourrlt. 1913.
Auf 560 Seiten schildert der Verfasser die Beziehungen
zwischen Rußland und Frankreich vom Krimkriege bis zum
Jahre 1871 auf dem Hintergrunde der allgemeinen europäischen
Politik. Zahlreiche archivalische Mitteilungen, insbesondere aus
der Korrespondenz zwischen der Pariser Regierung und den
Petersburger Botschaftern, sind in der Darstellung enthalten.
Aber trotzdem enttäuscht die Lektüre, Über die wichtigsten
19. Jahrhundert. 95
Vorgänge, z. B. über die Vorgeschichte des Krieges von 1859,
die polnische Frage, die Ereignisse von 1864, 1866 und 1870,
erfährt man kaum etwas neues; die Geschichte des Jahres 1866
und die Vorgeschichte von 1870 werden auch eben nur gestreift,
während die Geschicke der Donaufürstentümer, Montenegros
und andere orientalische Fragen mit ermüdender Breite be-
handelt werden. — Im allgemeinen bestätigt der Verfasser die
hergebrachte Anschauung, daß nach dem Pariser Kongreß Frank-
reich und Rußland nach einer Verständigung über den Orient
und nach einem engeren Zusammengehen überhaupt strebten,
aber daß sie dabei doch von Intimität noch weit entfernt waren.
Neu ist, daß Napoleon sich zum raschen Abschluß des Friedens
von Villafranca u. a. auch dadurch bestimmen ließ, daß seine
Hoffnung, Rußland werde Preußen durch Drohungen von einer
bewaffneten Intervention abschrecken, nicht in Erfüllung ging.
Allerdings hat Gortschakoff, dessen Selbstgefälligkeit übrigens
deutlich in seinen Gesprächen mit dem französischen Botschafter
hervortritt, später behauptet, einen starken Druck auf Preußen
ausgeübt zu haben, und Charles-Roux scheint die Behauptung
für bare Münze zu nehmen. Aber man darf wohl an der Wahrheit
zweifeln, da Sybel aus den preußischen Akten nichts davon be-
richtet, und Zar Alexander für den revolutionären Krieg in Italien
wenig Sympathie hegte. — Ein recht ungünstiges Licht fällt
abermals auf die französische Politik während der polnisch-russi-
schen Krisis im Jahre 1863. Obgleich man in Paris über die
Stimmung in Petersburg durch die Gesandtschaftsberichte aus-
gezeichnet unterrichtet war, ließ sich Napoleon doch durch den
Druck der öffentlichen Meinung zu dem bekannten Vorgehen gegen
Rußland, das das Tischtuch zwischen den beiden Kaisern auf
lange zerschnitt, verleiten. Die Schwäche seines illegitimen
Regiments ist kaum je deutlicher zutage getreten als in diesem
Moment, der seinem gewaltigen Widersacher in Berlin den ersten
großen Sieg über ihn verschaffte.
Gießen. G. Roloff.
Fürst Bismarcks Frau. Lebensbild von Sophie Charlotte v. SelL
Berlin, Trowitzsch & Sohn. 1914. VIII u. 251 S.
Wir haben hier ein Familienbuch erhalten, das mit voller
warmherziger Hingabe und in fesselnder, lebendiger Darstellung
96 Literaturbericht.
geschrieben ist, in welche die Verfasserin mit Geschick ausgewählte
zahlreiche Briefauszüge hineinverwoben hat. Von diesen bieten
das meiste Interesse mehrere bisher unbekannte Briefe Johanna
von Bismarcks an ihre nahe Freundin aus der Frankfurter Zeit
Frau Marie Meister geb. Becker, besonders die aus den späteren
Lebensjahren, welche bei der Gattin wie beim Fürsten selbst
an brieflichen Mitteilungen erheblich ärmer sind. Zu diesen für
die Schreiberin zum Teil recht charakteristischen Briefen kommen
einige Mitteilungen auf Grund mündlicher Überlieferung in be-
freundeten Familien, die sich freilich, so wie sie geboten werden,
auf ihre Brauchbarkeit nicht prüfen lassen, auch nur Nebendinge
berühren. Sehr wohltuend tritt auch in den hier zum ersten
Male vorgelegten Briefen die treue und hingebende Freundschaft
Johannas zu den Menschen hervor, die sie einmal in ihr Herz ge-
schlossen hatte; in dem starken Empfinden von Liebe und Ab-
neigung kann sie bisweilen an den Gatten erinnern, nur daß bei
ihr beides naiver und unbedingter war. Wie sprudelt es bei ihr
förmlich heraus nach dem Kissinger Attentat Kullmanns auf
den Fürsten, ganz von dem Attentäter selbst abgesehen auch
gegen die anderen, zunächst nur wegen Verdachtes verhafteten
Personen, gegen das „Satansvieh", den sächsischen Bäcker-
gesellen mit dem großen Messer — wozu braucht ein Bäcker-
geselle ein langes Messer?", eine Tatsache, die ihr schon für den
Schuldbeweis zu genügen scheint, und dann gegen den ,, dritten
Teufel", den man auf dem Bahnhof aufgegriffen hatte und der
eine genaue Beschreibung von Bismarck und dessen Haus „in
seiner schmierigen Tasche getragen".
Aber mit dem Gesagten ist auch völlig erschöpft, was uns
das Buch bietet, das sonst nur eine gewandte Arbeit zweiter
Hand ist, für die frühere Zeit nicht über Marcks' ersten Band
seiner Bismarck-Biographie und sonst nicht über Keudells ,, Fürst
und Fürstin Bismarck" hinausgeht. Über das, was für Bismarck
gerade diese Gattin und mit ihr das Familienleben waren, wird
nur Bekanntes wiederholt, dagegen kein Versuch gemacht, diese
Frage neu oder tiefer anzufassen, etwa die Verbindung mit dem
religiösen Leben Bismarcks herzustellen. Wenn die Verfasserin
in den ersten Kapiteln einige Schritte in dieser Richtung tut,
so lehnt sie sich lediglich an Marcks' Vorbild an, aber leider
scheidet sie hier wie sonst gar nicht, wo sie Eigenes und wo sie
19. Jahrhundert. 97
Angeeignetes gibt. Für die ältere Zeit ist neben den Bismarck-
briefen und Marcks' erstem Band auch das Buch von Eleonore
Reuß über Thadden benutzt, und wenn sie auch hier und da
einmal Keudell zitiert, so läßt sie dabei gar nicht erkennen, in
welchem Maße von ihr Keudells Buch ausgeschöpft worden ist,
das geradezu die Hauptgrundlage für ihre ganze Darstellung
bildet, ohne das sie dieses Lebensbild so überhaupt nicht hätte
schreiben können,
Sie liebt es, ihre Mitteilungen mit novellistischem Erzähler-
talent auszuschmücken (eine gelegentliche kleine Probe bieten
S. 102 ihre Ausführungen darüber, daß Johanna in Petersburg
das Reiten aufgegeben hat, denen nur die kurze Notiz des frei-
lich hier nicht genannten Keudell S. 78 zugrundeliegt). Auch war
nicht nötig, daß die Verfasserin Johannas innere Fremdheit
gegenüber der Politik so ganz auch in ihr Buch übernahm, in
welchem eine Zeichnung des geschichtlichen Hintergrundes fehlt,
auf dem sich doch nun einmal auch dies Frauenleben an der
Seite des führenden Staatsmannes abgespielt hat; die gelegent-
lich eingestreuten allgemeinen Wendungen lassen diesen Mangel
nur stärker hervortreten. So vermissen wir, um das Jahr 1865
herauszugreifen, jede Andeutung, worum es sich eigentlich in
Gastein für Bismarck gehandelt hat, der ihm nach der Gasteiner
Konvention von seinem König verliehene Grafentitel schneit hier
ganz unvermittelt in das bismarckische Haus hinein, und noch
auffallender ist das bei der gleich darauffolgenden Biarritzer
Reise, die tatsächlich ganz als schlichte Familienbadereise erscheint.
Es ist gewiß das Bild Johannas mit einfachen Linien zu
zeichnen, aber dem Biographen ist doch hier besonders durch
die Hineinzeichnung in das Lebensbild des Gatten eine lohnende
Aufgabe gestellt, die über eine anmutig plaudernde Erzählung
vom äußeren Leben mit geschickter Verwendung der eigenen
Äußerungen Johannas hinausführt. Freilich wird auch hier wieder
der Wunsch rege, daß uns von den eigenen Briefen der Fürstin
Bismarck mehr mitgeteilt werde, als bisher geschehen ist; zum
Teil ist dieser Wunsch inzwischen durch die Herausgabe weiterer
Briefe der Fürstin von E. Heyck erfüllt worden, aber sie sind
ähnlicher Art wie die von Ch. Seil mitgeteilten; die Briefe an
die nächsten Angehörigen, den Gatten und die Kinder, fehlen
uns noch ganz. Es kann ja sein, daß in diesen ihre schwere
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 7
98 Literaturbericht.
Lebensauffassung und damit das Hemmende, was sie vielfacli
dem Gatten gegenüber gehabt iiaben mag, meiir liervortritt;
aber im ganzen läßt doch jede weitere Probe aus ihrem Brief-
wechsel erkennen, daß sie eine Persönlichkeit auch für sich war,
und daß die uns bekannten herrlichen Briefe des Gatten sich
des weiblichen Echos bei der Gattin nicht werden zu schämen
brauchen. Aber wir müssen diese Bausteine erst besitzen, ehe
sich das biographische Denkmal errichten läßt, das Bismarcks
Frau verdient.
Marburg. W. Busch.
Deutsche Politik. Von Fürst von Bülow. Berlin, Reimar Hob-
bing. 1916. XVI u. 359 S.
Fürst von Bülow hat seinen Beitrag zu dem 1913 erschienenen
Sammelwerke „Deutschland unter Kaiser Wilhelm IL" erheb-
lich erweitert und durch die Erfahrungen des Weltkriegs be-
reichert zu einem Buche umgestaltet, das in der historisch-poli-
tischen Literatur unserer Tage einen besonderen Rang behaupten
wird. Es umfaßt, zuweilen erzählend, häufiger erörternd, äußere
und innere Politik und setzt gewissermaßen die literarische
Gattung der „Politischen Testamente" bedeutender Staats-
männer und Regenten des ancien rigime fort, ähnlich wie die
,, Gedanken und Erinnerungen" seines großen Amtsvorgängers,
doch ohne den memoirenhaften Charakter derselben. Es ist
eine durchaus staatsmännische, nicht historische, aber auch
nicht rein publizistische Hervorbringung. Es will rechtfertigen
und einwirken zugleich. Es ist seinem Kerne nach eine Dar-
legung der Grundgedanken und Leistungen seiner eigenen Amts-
führung, und alle Linien, die aus ihr in die folgende Zeit und in
den Weltkrieg hinein gezogen werden, verlängern eigentlich nur
diejenigen, die er für seine eigene Amtsführung schon zeichnet,
und bleiben sehr viel skizzenhafter wie diese. Man erwarte darum
kein volles und erschöpfendes Bild unserer Gesamtlage vor und
während des Krieges, wohl aber ein höchst interessantes, sehr
überlegtes und zugleich unwillkürlich charakteristisches Bild
dieser Lage vom Standpunkte der Bülowschen Reichskanzler-
schaft aus. Er hält offenbar auch absichtlich mit seinen Urteilen
über die Dinge seit 1909 zurück, und man kann nur an mehreren
Stellen zwischen den Zeilen spüren, daß er kritisch über sie und
Neueste Geschichte seit 1871. 99
über die Leistungen seines Nachfolgers denkt. Etwas deutlicher
wird er wieder in der Angabe seiner Kriegsziele. Man vernimmt
mit höchstem Interesse, daß er die bekannten Forderungen der
sechs großen Wirtschaftsverbände von 1915 „rühmenswert"
nennt (S. 327). Das gibt einen Anhalt für die jetzige Stellung
B.s zu den Parteien und heutigen Gegensätzen unseres öffent-
lichen Lebens. Mehr haben wir an dieser Stelle, wo wir nicht die
tagespolitische, sondern die geschichtliche Bedeutung seines
Buches zu würdigen haben, darüber nicht zu sagen.
Mit warmer Anerkennung aber muß man es hervorheben,
daß gerade die geschichtliche Seite seines Denkens sehr kräftig
entwickelt ist. Er hat sich, Bismarck darin nacheifernd und
vielfach von ihm beeinflußt, ein ganz bestimmtes Bild von den
Grundkräften der deutschen Geschichte und von den politischen
Qualitäten des deutschen Volkes geformt; natürhch nicht aus
eigentlich wissenschaftlichem Erkenntnistriebe, sondern um die
Unterlagen für staatsmännisches Handeln in Deutschland zu
gewinnen. Eine Grundansicht von ihm ist, daß unserem Volke
bei aller Fülle großer Eigenschaften das politische Talent bisher
versagt geblieben sei. Es liege im deutschen Charakter, die Tat-
kraft vorwiegend im besonderen zu üben, das allgemeine Inter-
esse dem einzelnen, dem engeren, unmittelbaren, fühlbaren
nachzustellen, ja unterzuordnen (S. 172). Der partikularistische
Geist des Deutschen habe sich jetzt von den Einzelstaaten auf
die Parteien verlegt, die deutsche Treue zum Parteiführer sei
selbstlos, vorurteilslos und kritiklos. Opposition gegen die Re-
gierung zu organisieren, sei in Deutschland niemals schwer,
aber immer sei es schwer, oppositionelle Bewegungen innerhalb
einer Partei zum Erfolge zu führen (S. 186 f.). So sieht er denn
auch die Ursache für die verbitternde Leidenschaftlichkeit un-
serer neueren wirtschaftlichen Kämpfe nicht in Fehlern der
Wirtschaftspolitik, sondern in der Unvollkommenheit unseres
politischen Lebens. „Deutschland war vielleicht das einzige
Land, in dem die praktischen wirtschaftlichen Fragen peinlich
und kleinlich auf den Leisten der Parteipolitik geschlagen wurden"
(S. 325). Mit diesem partikularistischen Grundzuge hänge der
Mangel an Kontinuität in der ganzen deutschen Geschichte von
Karl dem Großen bis Bismarck zusammen, in dem er unser
Verhängnis sieht (S. 177). Einmaliger großer Leistungen seien
100 * Literaturbericht.
wir wohl fähig, und so sei auch jetzt in diesem Kriege unser Volk
über sich selbst hinausgewachsen; aber nur zu oft erfolgte in
früheren Zeiten auf die durch die Not erzwungene Einigung ein
Auseinanderfallen. Wenn unser Volk trotz alledem politisch in
die Höhe gekommen ist, so liegt das nach B., der sich dabei auf
Goethes und Bismarcks Urteile beruft, an einer anderen Eigen-
schaft des Deutschen, „Der Deutsche, welches Stammes er
immer sei, hat stets unter einer starken, stetigen und festen
Leistung das Größte vermocht, selten ohne eine solche oder im
Gegensatz zu seinen Regierungen und Fürsten." In Deutsch-
land sei wie kaum in einem anderen Lande die Kraft der Re-
gierungen ausschlaggebend (S. 8).
B. rechnet also mit einem einmal gegebenen unveränder-
lichen Nationalcharakter. Aus ihm erklärt er im letzten Grunde
die Besonderheit unseres poHtischen Lebens, aus ihm entnimmt
er die Maximen des Handelns. Man versteht, daß der Staatsmann
nach solchen festen Gegebenheiten strebt. Der Historiker kann
ihm nicht unbedingt darin folgen. Der Staatsmann steht in der
Versuchung, die Fülle seiner zeitgeschichtlichen Erfahrungen
hinein zu projizieren in die Vergangenheit und sie mit ihr zu einer
konstanten Einheit zu verbinden, wo dann die Gefahr, das
Mannigfaltige zu vereinfachen, sehr nahe liegt. Der Historiker
sieht mehr auf den Fluß der Dinge, auf die Entwicklung neuer
Kräfte, auf die Wirkungen singulärer Schicksale und Ereignisse.
Er versteht den Satz von der Kontinuität alles historischen
Geschehens nicht dahin, daß in der Tiefe alles beim Alten bleibt,
sondern daß alles Neue im engsten Konnexe mit dem Alten
emporwächst. Grundeigenschaften der Volkscharaktere erkennen
auch wir an, erkennen auch diejenigen an, die B. uns zuschreibt,
aber können ihm nicht zustimmen darin, daß der ungeheure
Umschwung von 1870 das Wesen des Deutschen unverändert
gelassen habe (S. 353). Wenn aus dem Charakter des Volkes
seine Schicksale, zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich
mit erklärt werden dürfen, so muß auch der Charakter selber
wieder aus den ihn treffenden Schicksalen, gewiß nicht allein,
aber recht wesentlich mit erklärt werden. Die Schicksale schaffen
zwar keine neuen Charakterzüge, aber vermögen die vorhandenen
teils zu fördern, teils zu hemmen, so daß es schließlich doch zu
ganz neuen Dosierungen dieser Züge und damit auch wesentlichen
Neueste Geschichte seit 1871. 101
Veränderungen des Gesamtcharakters kommen kann. Diese
historische Auffassung könnte selbst das staatsmännische Handeln
befruchten. Denn sie befreit von der lähmenden Vorstellung,
daß das deutsche Volk, unpolitisch von Natur, ein für allemal
darauf angewiesen sei, bloßes Instrument irt der Hand starker
Regierungen zu sein. Die politischen Fähigkeiten des deutschen
Volkes haben sich im 19. Jahrhundert ohne Frage gesteigert;
selbst auf den Umwegen, auf die der Deutsche durch seinen
verbissenen Parteipartikularismus geführt wurde, ist er doch
schließlich vorangekommen, und die Erziehung durch die Par-
teien, Vereine, Gewerkschaften usw. kann propädeutisch für den
Staat vorbereiten. Darf sich doch Fürst B. selber als ein Er-
zieher der Parteien zum Staatsbewußtsein fühlen. Seine Block-
politik hat, wie er mit Recht sagen kann, ein weiteres Stück Boden
für den nationalen Gedanken im Volke erobert und hat einen
wesentlichen Anteil daran, daß die Wehrvorlagen, die früher
gegen den Starrsinn der Parteiprogramme zu kämpfen hatten,
fortan glatt durchgingen. Bemerkenswert ist dabei auch sein
Urteil, daß er in der Blockpolitik keine innerpolitische Universal-
medizin gesehen und niemals eine dauernde Ausschaltung des
Zentrums in seine Rechnung gestellt habe (S. 218 ff.).
Die Blockpolitik war ein glücklicher Griff der Bülowschen
Ära, der über die Bismarckschen Traditionen hinausging und sie
doch dabei fruchtbar fortentwickelte. Auf allen übrigen Gebieten
der inneren Politik ist der Zusammenhang der Bülowschen Ten-
denzen mit den Bismarckschen Traditionen noch viel enger. B. be-
kennt sich zu einem Staatskonservatismus und unterscheidet ihn
scharf vom Parteikonservatismus. In den Parteien Deutschlands
sieht er nur sekundäre Bildungen; als die eigentlichen Träger
des Staatslebens erscheinen ihm die monarchischen Regierungen,
und für das parlamentarische System fehlen, meint er, bei uns
die geschichtlichen Voraussetzungen. So dachte auch Bismarck,
aber immerhin spürt man bei B. trotz seiner scharfen Kritik am
deutschen Parteiwesen ein weicheres und nachgiebigeres Ver-
hältnis zu den Parteien als bei Bismarck. Er steht ihnen nicht
so stark und herrisch gegenüber wie dieser; er wünscht ihnen etwas
von der „leichten Versöhnlichkeit" seiner eigenen gewandten
Natur und redet Konservativen und Liberalen gut zu, daß sie
einsehen möchten, wie sie als Parteien immer dann am stärksten
102 Literaturbericht.
gewesen seien, wenn sie zusammengegangen seien (S. 210).
Tiefere Weltanschauungs- und Kulturprobleme sucht er von der
Behandlung politischer Fragen möglichst fern zu halten. Das
tat auch Bismarck, aber bei B. erscheint das alles lässiger und
glatter, und was er über die Sozialdemokratie sagt (S. 235 ff.),
ist trotz einiger guter Bemerkungen etwas unbefriedigend und
oberflächlich.
Am engsten schloß sich B. den Bismarckschen Traditionen
in seiner Wirtschaftspolitik und Ostmarkenpolitik an. Die Re-
gierung, so sagt er gut, darf nicht wie ein Kaufmann nur die
Konjunkturen ausnutzen, sie muß ihre Wirtschaftspolitik der
gesamten nationalen Politik unterordnen. Nicht nur das gegen-
wärtige wirtschaftliche Wohlbefinden, sondern vor allem die
künftige gesunde Entwicklung der Nation sei sicherzustellen.
Daß allein schon die politische Selbstbehauptung uns zwingt,
das System des kombinierten Agrar- und Industriestaats selbst
mit Opfern für die städtische Bevölkerung aufrecht zu halten,
hat wohl der Krieg endgültig gelehrt, und man versteht, wenn
B. mit Genugtuung erklärt, daß der Zolltarif von 1902 aus der
Reihe der Voraussetzungen des Sieges in diesem Kriege nicht
fortzudenken sei (S. 313). Bei der Erörterung der Ostmarken-
fragen wiederholt und unterstreicht er die Bedenken, die Bis-
marck gegen ein autonomes Kongreßpolen oder gegen seine Ver-
bindung mit Österreich geäußert hat. Als Ziel unserer eigenen
Ostmarkenpolitik nennt er die Versöhnung der Staatsange-
hörigen polnischer Nationalität mit dem preußischen Staate und
der deutschen Nation, aber so, daß unter allen Umständen unser
nationaler Besitzstand im Osten, die Einheit und Souveränität
des preußischen Staates sichergestellt werde, was ohne Härten
und Schärfen nun einmal nicht möglich sei. Unzweifelhaft ein
staatsmännisches Ziel; ungeheuer wichtig und schwierig aber
ist die Frage, ob die Wege zu diesem Ziele nach dem Kriege noch
genau dieselben sein können, wie vorher. Im wesentlichen sind
B.s Erörterungen auch hier mehr voraugustlich orientiert.
Bismarcks auswärtige Politik wurde weniger angefochten
als seine innere. Wird es der B. sehen Politik vielleicht einmal
umgekehrt ergehen ? In der inneren Politik konnte er im großen
und ganzen dem sicheren Leitsterne der Bismarckschen Tradition
folgen. In der auswärtigen Politik hatte er über ganz neue Wege
19. Jahrhundert. 103
und Ziele sich zu entscheiden, denn der Eintritt Deutschlands
in die Weltpolitik vollzog sich unter ihm. Die Weltlage, aus der
der Krieg hervorbrach, bildete sich zur Zeit seiner Amtsführung.
Man muß sich gewiß von vornherein hüten, mit einem vorschnellen
post hoc — propter hoc die B.sche Politik dafür verantwortlich zu
machen, daß der russisch-französische Zweibund sich zur Entente
mit England erweiterte und so die gegnerische Koalition die
gefährliche Überlast erhielt, die zur Lawine wurde. Denn, so
sagt er mit Recht, wir sind in die Weltpolitik nicht hineinge-
sprungen, wir sind in sie hineingewachsen. Allein schon durch
den Ausbau der Flotte, den wir seit 1898 vornahmen, traten wir,
um mit ihm zu reden, in eine Gefahrenzone erster Ordnung ein,
und Deutschland mußte dieses Wagnis aus unentrinnbarem
Zwange auf sich nehmen, wenn es nicht auf den Schutz und die
Geltendmachung seiner überseeischen Interessen verzichten
wollte. Mit dem Flottenbau war sogleich auch automatisch der
Gegensatz zu England gegeben. War damit auch der früher
oder später ausbrechende Krieg Englands gegen Deutschland
unentrinnbar und zwangsläufig? B. bestreitet es energisch und
spottet mit Recht über die naive Auffassung, die im Kriege ein
unvermeidliches Naturereignis wie Erdbeben oder Platzregen
sieht (S. 119). Da unsere eigene Weltpolitik anders als die der
früheren großen Rivalen Englands defensiv und nicht offensiv
war (S. 28), so war es nicht aussichtslos für eine behutsame und
feste Staatskunst, den schmalen Weg durch die Klippen der
europäischen Gegnerschaften hindurchzusteuern. Das war B.s
ausgesprochene Absicht, und er deutet es mehr als einmal an,
daß er einen Ruhmestitel seiner Kanzlerschaft darin sieht, diesen
Weg zu seiner Zeit noch gefunden zu haben. Es ist nun heute
noch nicht an der Zeit, in eine eingehende Nachprüfung seiner
Politik und des Bildes, das er von ihr in seinem Buche gibt, ein-
zutreten. Wohl aber darf man ihm schon jetzt eine Reihe ge-
wichtiger Fragen entgegenhalten und feststellen, daß er selber
seinen Lesern nur eine ungenügende Antwort auf diese Fragen
bietet. Die verhängnisvolle Verschlechterung unserer Weltlage
trat dadurch ein, daß sich die englische Gegnerschaft mit der
französisch-russischen Gegnerschaft verknüpfte. Mußte das ge-
schehen? Die Voraussetzung dafür trat doch erst dadurch ein,
daß wir im Oriente eine ganz neue Reibungsfläche gegen Ruß-
104 Literaturbericht.
land erhielten, die zur Zeit Bismarcks noch nicht bestanden hatte.
Dasselbe Jahr 1898, das die erste Flottenvorlage erlebte, brachte
auch die Rede des Kaisers in Damaskus, die das Symbol unserer
neu entstandenen orientalischen Interessen wurde. Schon vorher
aber hat ein weitsichtiger englischer Diplomat unsere ersten
Schritte in der anatolischen Bahnfrage begrüßt und gefördert,
weil nun Deutschland dadurch künftig auch gegen Rußland
engagiert sei! Man wird die ernste und schwere Frage nicht los,
ob der Eintritt in die orientalischen Interessen für uns ebenso
notwendig und unabweislich war, wie der Eintritt in die Flotten-
politik, ob es weise und richtig war, zur selben Zeit die Grund-
lagen für eine künftige englische und künftige russische Gegner-
schaft zu legen. Die B.sche Darstellung gleitet über dies Problem
hinweg.
Die Rede von Damaskus aber und die Beziehungen zum
Islam haben, wie B. selber erzählt (S. 104), auch auf unsere
Marokkopolitik 1905 eingewirkt. „Wir hätten uns um jeden
Kredit in der islamischen Welt gebracht, wenn wir so kurze Zeit
nach diesen Kundgebungen Marokko an die Franzosen verkauft
hätten." Unsere orientalischen Rücksichten hinderten uns also
im Jahre 1905 das zu tun, was im Jahre 1911 dann doch wirklich
geschehen ist. Nun läßt es B. zwar dahingestellt, ob Frankreich
1905 überhaupt geneigt war, uns einen annehmbaren Preis zu
zahlen. Sollten die Akten aber einmal ergeben, daß Frankreich
uns im Jahre 1905 wesentliche und wertvolle Kompensationen
für Marokko zu geben bereit war, so würde die B.sche, im Grunde
wohl von Holstein gemachte Politik, die uns nach Algeciras und
in alle Marokkonöte der folgenden Jahre führte, schweren kriti-
schen Einwänden ausgesetzt werden. B. meint freilich (S. 59),
daß durch die Konferenz von Algeciras und durch ihre wich-
tigsten Beschlüsse die Absichten der deutschen Politik mit Bezug
auf Marokko im wesentlichen erreicht worden sind. Aber diese
Beschlüsse schufen, wie die folgenden Jahre zeigten, eine ganz
zweideutige und unhaltbare Lage. Sie waren ein fatales diplo-
matisches Notwerk und Flickwerk. Die Zufriedenheit B.s mit
ihnen kann seine Leser unzufrieden stimmen.
Begreiflicher ist die Befriedigung, mit der B. den Verlauf der
bosnischen Krise schildert. „Sie wurde," erklärt er sogar (S. 60)^
„tatsächlich das Ende der Einkreisungspolitik Eduards VII."
Kirchengeschichte. 105
Durch sie, so sagt er weiter, wurde weder der Krieg entfesselt,
noch auch unser Verhältnis zu Rußland ernstlich geschädigt,
und die Einkreisung Deutschlands habe sich als ein diploma-
tisches Blendwerk erwiesen, dem die realpolitischen Voraus-
setzungen fehlten. Wir fürchten, daß man diese Aufmachung
der Dinge selber später als Blendwerk bezeichnen wird. Denn
die realpolitischen Voraussetzungen der Einkreisungspolitik waren
mit eherner Notwendigkeit gegeben, seitdem Rußland den Schwer-
punkt seiner Machtpolitik von Ostasien wieder nach dem nahen
Orient verlegte und dort nun auf uns stieß. Der deutsche Erfolg
in der bosnischen Krisis war ein bedeutender Augenblickserfolg,
aber ohne dauernde Wirkungen. Rußland wich, so wird man
doch wohl vermuten dürfen, deswegen damals vor Österreich-
Ungarn und uns zurück, weil es die Nachwirkungen des japani-
schen Krieges und der inneren Revolution noch nicht überwunden
hatte, weil es sich noch nicht stark und gerüstet genug fühlte,
um so wie in den Augusttagen von 1914, auf England und Frank-
reich gestützt, das große Spiel um Konstantinopel wagen zu
können.
Man könnte diese Fragen und Zweifel an der Solidität der
B.schen Politik noch vermehren. Sie treffen aber, um es noch
einmal zu betonen, nicht ihre Ziele, sondern ihre Mittel und Wege,
lassen sich auch erschöpfend heute noch gar nicht disku-
tieren. Und noch weniger denken wir daran, an dieser Stelle
Politik zu treiben und irgendwelche Konsequenzen für unsere
zukünftige Haltung anzudeuten. Nur das historische Urteil
über die nun hinter uns liegende Vorgeschichte des Weltkrieges-
und die Verteilung der Verantwortungen in ihr gilt es zu klären
und die spätere Forschung darüber vorzubereiten durch Auf-
stellung von Fragen, die in der glatten B.schen Darstellung
entweder übergangen oder verwischt sind.
Beriin. Fr. Meinecke.
Die bischöfliche visitatio liminum ss. apostolorum. Eine histo-
risch-kanonistische Studie von Januarius Pater. (19. Heft
der Veröff. der Sektion für Rechts- u. Sozialwiss. der Görres-
Gesellsch.) Paderborn, Schöningh. 1914. XII u. 152 S.
Sägmüllers Studie über die visitatio liminum apostolorum
(Theolog. Quartalschrift 82. Band) erstreckte sich nur bis zur
106 Literaturbericht.
Zeit Bonifaz VIII. und behandelte auch für diese Spanne die
Entwicklung des Instituts keineswegs erschöpfend. Um so mehr
ist es zu begrüßen, daß nun auf Göllers Anregung hin diese ein-
dringende, bis zur Gegenwart geführte Untersuchung Paters vor-
genommen wurde. Den Ursprung der Verpflichtung zum Limina-
besuche erkennt P., indem er sich im wesentlichen Sägmüller
anschließt, mit gutem Grunde nicht in den Wallfahrten zu den
Apostelgräbern, sondern im Besuche der römischen Synoden, die
der Papst kraft seiner Stellung als Metropolitan als Mittel zur
Herbeiführung der Union in der Kirche auch gegenüber unab-
hängigen Kirchenfürsten benutzte; durch diesen Besuch wurde,
wie namentlich das Schicksal Mailands, Aquilejas und Ravennas
zeigt, die Obedienz zum Ausdrucke gebracht; gleichzeitig wurden
die Apostelgräber besucht und wohl auch eine Art von Bericht-
erstattung und Beratung über die kirchlichen Verhältnisse der
einzelnen Diözesen abgehalten. Die Handhabe, auch auswärtige,
außeritalienische Metropoliten in diese enge Verbindung mit Rom
zu bringen, lieferte die seit dem 8. Jahrhundert ausgebildete
Übung, das Pallium nur an persönlich Anwesende zu verleihen.
Dieses Mittel erwies sich als wirksamer für den regelmäßigen Be-
such an der Kurie als die Synoden. Bei der Verleihung des Pal-
liums mußte außer der Ablegung des Glaubensbekenntnisses auch
der Obedienzeid geleistet werden, in dem im 11. Jahrhundert
auch schon die Verpflichtung zur visitatio liminum enthalten ist.
Für Bischöfe erwuchs die gleiche Pflicht wie für die Metropoliten,
seitdem das Papsttum mehr und mehr das Bestätigungsrecht
des Metropolitans durchbrach, die Konfirmation, Provision,
Admission oder Konsekration an sich zog. In diesen Fällen hatte
der Bischof den Eid der römischen Suffragane zu leisten und
damit auch die Pflicht der Romfahrt zu übernehmen. Bei exemten
Stiftern und Klöstern wurde dieser Besuch selbstverständlich ge-
fordert, nicht exemte wurden bei unmittelbarer Besetzung ihrer
Vorstehung durch den Papst, bei Eingreifen desselben in Wahl-
streitigkeiten .... dazu veranlaßt, im 13. Jahrhundert sind nicht
nur alle an der Kurie konsekrierten Bischöfe und Äbte zur visitatio
liminum verpflichtet, auch von den Nichtexemten wird grund-
sätzlich der Besuch in jedem Falle gefordert, wenn auch reichlich
Dispensen erteilt werden. Es scheint doch, daß die Realvisitation
(Besuch mit Liminasteuer im Gegensatze zur steuerlosen Verbal-
Kirchengeschichte. 107
Visitation), die nach der eigenen Angabe P.s eine nicht zu ver-
achtende Steuerquelle war und die seit Bonifaz VIII. weiter aus-
gedehnt wurde und vielfach Widerstand hervorrief, nicht gar so
leicht zu tragen war, wie P, meint, und daß die päpstliche Kammer
denn doch nicht „jede Härte in der Einziehung der Liminagebühren
vermied". Immerhin haben die Realvisitationen keinen allzu
großen Umfang angenommen. Während des „avignonesischen
Exils" blieb die Visitationspflicht ziemlich regelmäßig aufrecht,
d. h. sie wurde zu einer Pflicht des Besuchs an der Kurie, das
Institut, das dann seit dem Schisma sehr in Verfall geriet, wurde
1585 durch Sixtus V. reformiert, Benedikt XIV. kräftigte es von
neuem namentlich durch abermalige Ausdehnung auf die praelati
nullius, seine letzte Regelung erfuhr es durch Pius X. 1910. Es
ist bedauerlich, daß der Verfasser nicht in der Lage war, das
Material des vatikanischen Archivs reichlicher heranzuziehen; eine
seiner Beilagen (Nr. 1 — 3 geben die Eidesformeln wieder, Nr. 4
eine Übersicht über die Dispensen im 13. und 14. Jahrhundert,
Nr. 5 ein Verzeichnis der Verbalvisitationen des 14. Jahrhunderts)
bringt eine Reihe ungedruckter Quittungen von Verbalvisitationen,
die finanzielle Bedeutung des Instituts läßt sich daraus natürlich
nicht erkennen. Störend wirkt in der mit Ausnahme einiger
stilistischer Unebenheiten recht lesbaren Abhandlung ein stark
hervortretender apologetischer Zug, der bis zu Vorwürfen und
Anklagen führt: es hätte wohl schärfer herausgearbeitet werden
können, wie sehr die Ausbildung und Ausweitung dieses Instituts
im engsten Zusammenhange mit der allmählichen Ausbildung
der päpstlichen plenitudo potestatis steht; auf der andern Seite
überschreitet der Verfasser die Grenzen rein geschichtlicher Be-
trachtung, wenn er Gerhoch von Reichersberg einen ,, übertreiben-
den Nörgler" nennt, ,,der einige Mißbräuche gleich dazu ausnutzte,
um die ganze Einrichtung der Romfahrten in Grund und Boden
zu verdammen", oder wenn er meint, zur Zeit des Schismas
„schimpfte man über die Taxen .... und jeder glaubte sich be-
rufen, Kritik daran zu üben, seinem Unwillen Ausdruck zu geben
nicht bloß in ernsten Abhandlungen über die apostolische Armut
des Papstes, sondern auch in seichten Liedern seinen Spott über
die Kurie auszuspeien." „Das Baseler Konzil hatte wie in Glau-
benssachen auch in Angelegenheiten der kirchlichen Disziplin eine
,Hberale' Haltung eingenommen," in der Reformation „kommt
108 Literaturbericht.
der Drang nach zügelloser Freiheit zum Durchbruch", die Emser
Punktatoren und ihre Gesinnungsgenossen werden den „kirch-
lich gesinnten Prälaten" gegenübergestellt usw. Schade, daß die
im übrigen gediegene Arbeit durch solche Ausfälle verunziert ist.
Es wäre ersprießlicher gewesen, wenn P. eine Frage berücksich-
tigt hätte, deren Wesentlichkeit doch auf der Hand liegt, die er
selbst aber gar nicht berührt: die Frage nach dem Verhalten des
Staates zur bischöflichen visitatio liminum im geschichtlichen
Verlaufe.
Graz. Heinrich Ritter v. Srbik.
Beati Petri Canisii societatis Jesu epistulae et acta — collegit et
adnotationibus illustravit Otto Braunsberger, eiusdem
societatis sacerdos. Volumen sex tum 1567 — 1571. Friburgi
Brisgoviae, B. Herder. 1913. LXVI u. 818 S. Br. 30 M.,
geb. 33 M.
Der 6. Band dieses bedeutenden Quellenwerkes umspannt
die Korrespondenz des Canisius in den Jahren 1567 — 1571 und
bringt 161 Briefe und 138 Briefauszüge (Nr. 1470—1768). Von
diesen 161 Briefen werden 105 hier zum erstenmal veröffentlicht,
während 11 nur zum Teil bekannt waren; 101 sind in lateinischer,
57 in italienischer, 3 in deutscher Sprache abgefaßt. Unter den
angeschlossenen 178 Monumenta Canisiene (Nr. 911 — 1088) be-
finden sich 106, die noch nicht und 12, die nur bruchstückweise
gedruckt vorlagen. Außerdem hat der Herausgeber dem Text
an 600 Anmerkungen beigefügt, die auf bisher noch nicht ver-
öffentlichte Quellen zurückgehen. Es ist also ein reiches neues
Material, das durch diesen Band zugänglich gemacht wird; wir
können hinzufügen, daß es in mustergültiger Weise geschieht.
Die bei der Herausgabe der früheren Bände betätigte peinliche
Akribie macht sich auch hier überall wohltätig bemerkbar und
es ist nichts unterlassen, was die wissenschaftliche Ausbeutung
der erschlossenen Quellen erleichtern kann. Die Indices leisten
vortreffliche Führerdienste, so daß eine rasche und zuverlässige
Orientierung über das, was in dem Band zu finden ist, möglich
gemacht wird.
Im Mittelpunkt steht der Briefwechsel zwischen Canisius
mit dem Ordensgeneral Franz Borgia und Johannes Polanco.
Kirchengeschichte. 109
Außerdem erscheinen mehrfach als Empfänger und Schreiber
von Briefen Paul Hoffaeus, der Vizeprovinzial, dann Provinzial
für Oberdeutschland, Leonhard Kessel, der Rektor des Kollegiums
in Köln, Nikolaus Lanoy, der Rektor des Kollegiums in Inns-
bruck, Hieronymus Natalis, der Assistent von Borgia und spä-
tere Generalvikar, Kardinal Truchseß von Waldburg, Bischof
von Augsburg, Antonius Vinck, Proexpositus der rheinischen Pro-
vinz, Friedrich von Wirsberg, Bischof von Würzburg.
Die intensive und vielseitige Tätigkeit des Jesuitenordens
in jener Zeit bringt es mit sich, daß die Publikation dieser in-
timen Briefe für nicht wenige Gebiete des kirchlichen und öffent-
lichen Lebens in Deutschland von erheblicher Wichtigkeit ist.
Auf die wichtigsten Gegenstände, die zur Verhandlung gelangen,
wird von Braunsberger selbst in der Inhaltsübersicht hingewiesen,
die er dem Text vorangeschickt hat. Das bisher bekannte Bild
von der Lage der katholischen Kirche in Deutschland während
des hier in Frage stehenden Abschnitts wird allerdings im wesent-
lichen neu bestätigt, aber die Einzelzüge beleben es und machen
vieles deutlicher. Beachtenswert ist, welche Schwierigkeiten es
machte, die Reformbeschlüsse des Tridentiniums durchzuführen,
Sie wurden nicht publiziert, die vorgeschriebenen Priesterseminare
wurden nicht eingerichtet, es fehlte an Theologen und Kanonisten,
Diözesansynoden fanden nur vereinzelt statt, der apostolische
Stuhl galt wenig, die kirchlichen Strafen wurden nicht beachtet,
das Beichtwesen lag im argen, die Sitten des Klerus besserten
sich nur langsam. Die Urteile des Canisius vertragen zwar wegen
seiner pessimistischen Auffassung der Dinge keine Verallgemeine-
rung, aber sie sind, da sie nicht vereinzelt dastehen, trotzdem
nicht ohne Wert, Auch das Verhalten des Kaisers Maximilian II,
und des Herzogs Albrecht V, von Bayern gab ihm zu Klagen
Anlaß, Schweren Anstoß bereitete ihm das Vorgehen der Pro-
testanten, die er in Steiermark, Kärnten, Krain sich ausbreiten
sah; die Ulmer suchten unter Verletzung des Augsburger Re-
ligionsfriedens die katholische Religion aus ihrer Stadt hinauszu-
drängen; in Augsburg^ nahm die Polemik der protestantischen
Prediger so scharfe Formen an, daß die Stadtobrigkeit eingreifen
mußte. Auch aus anderen Gebieten berichtete er von Übergriffen,
Daneben blieb ihm natürlich nicht verborgen, daß die evangelische
Sache durch die inmitten der Protestanten emporwuchernden
HO Literaturbericht.
Streitigkeiten schwer geschädigt wurde. Kamen diese Verhält-
nisse der katholischen Kirche zustatten, so war für sie doch
noch wichtiger, daß in ihrer Mitte bereits der Prozeß der Restau-
ration des Katholizismus eingesetzt hatte. Für seinen Fortgang
liefert die Korrespondenz des Canisius manchen Beitrag. Sie
zeigt, wie die Veranstaltungen des Papstes Pius V. gewirkt haben,
auch die Bemühungen weltlicher Großen und einzelner geistlicher
Fürsten, wie der Bischöfe von Konstanz, Augsburg und Würz-
burg, und nicht zum wenigsten, wie allmählich das geistige Leben
neu erwacht und die kirchlichen Einrichtungen wieder in An-
spruch genommen werden. Zahlreiche wissenschaftliche Schriften
erscheinen jetzt in Deutschland, auf Befehl Pius V. wird der
Kampf gegen die Magdeburger Zenturien aufgenommen, und
Canisius arbeitet darauf hin, daß der Jesuitenorden mit dieser
literarischen Bestreitung der Ketzer geeignete Kräfte beauftragte.
Unter den Schwierigkeiten, die dabei zu überwinden waren,
werden unter anderem die genannt, die sich aus den Vorschriften
über den Index ergeben. Besonders ergiebig ist die Briefsamm-
lung, wie nicht anders zu erwarten, für die Geschichte des Je-
suitenordens selbst. Aus den zahlreichen interessanten Mittei-
lungen sei besonders hervorgehoben, was über die Beziehungen
des Ordens zu dem Hause Fugger und die Behandlung der hier
auftretenden Fälle von dämonischer Besessenheit berichtet wird.
So enthält auch dieser 6. Band der Briefe des Canisius ein gewal-
tiges Material, nach dem sich viele Hände ausstrecken werden.
Göttingen. Carl Mirbt.
Die Klosterimmunität seit dem Investiturstreit. Untersuchungen
zur Verfassungsgeschichte des deutschen Reiches und der
deutschen Kirche. Von Hans Hirsdi. Weimar, Böhlau.
1913. VIII u. 230 S. 6 M.
Die Klostergrundherrschaft Heisterbach. Studien zur Geschichte
ihrer Wirtschaft, Verwaltung und Verfassung. Von Hein-
rich Pauen. (Beiträge zur Geschichte des alten Mönch-
tums und des Benediktinerordens, herausgegeben von F.
Ildefons Herwegen. Heft 4.) Mit 3 Karten. Münster i. W.,
Aschendorff. 1913. XI u. 219 S. 6, geb. 7,75 M.
Es ist sehr zu begrüßen, daß neuerdings die Diplomatiker
immer mehr das Bedürfnis empfinden, den Reichtum ihrer
Rechts- und Wirtschaftsgeschichte. 111
Einzelkenntnisse und die Genauigi<eit ihrer Methode gerade
auch großenteils notwendig deduktiven Disziplinen wie der Rechts-
und Wirtschaftsgeschichte zuzuwenden. Diesem Bestreben ver-
dankt man Leistungen wie das schöne Werk von Alfons Dopsch
über die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit. Durch die
Vorarbeiten zur Ausgabe der Diplomata Lothars IIL und der
früheren Staufer wurde Hans Hirsch auf die Entwicklung des
Immunitätsrechtes zunächst als Quelle diplomatischer Echt-
heitskriterien aufmerksam. Sein Buch bietet nun trotz der auch
im Titel angegebenen zeitlichen Begrenzung des Hauptthemas
den Versuch einer Geschichte der Immunität nach den seit dem
11. Jahrhundert besonders hervortretenden Momenten, und es
ist gleich zu sagen, daß sich dabei nicht nur eine Fülle neuer
Gedanken und Gesichtspunkte, sondern ein Entwicklungsschema
von größter verfassungsgeschichtlicher Fruchtbarkeit ergibt.
Mit Recht geht das kurze Einleitungskapitel über die Frühzeit
seit dem 9. Jahrhundert von dem Eigenklostertum als der ent-
scheidenden Voraussetzung der späteren Wechselwirkung zwi-
schen Immunität und Vogtei aus. Auch der ungefähr gleichzeitig
erschienene zweite Band des erwähnten Werkes von Dopsch trägt
ja eben dadurch zur Klärung des karolingischen Immunitäts-
begriffs wesentlich bei, daß er die königliche Bevogtung auf die
königlichen Eigenklöster beschränkt. Die beiden großen Be-
wegungen nach klösterlicher Freiheit, die dann in der histori-
schen Mitte von H.s Darstellung stehen, die der Hirsauer Re-
formklöster im 11. und der Zisterzienser vom 12. bis zum 17. Jahr-
hundert, zeigen dann den Emanzipationstrieb der geistlichen
Korporationen in immer wechselnden und nur dem Endzweck
nach immer gleich gerichteten Verhältnissen der Anlehnung an
oder des Kampfes gegen die herrschaftlichen Mächte des Papst-
tums, des Königtums, des Dynastentums und der Territorial-
hoheit. Daß diese Zusammenhänge hier immer in ihrer ganzen
Verwickeltheit überblickt werden, gibt ihrem Bilde hauptsächUch
die Überlegenheit über die bisherigen Vorstellungen. Die zuletzt
von Schreiber so ausführlich behandelte Bedeutung des päpst-
lichen Schutz- und Eigentumsrechts an den Reformklöstern wird
doch erst durch das von Leo IX. begründete Kompromiß der
Kurie mit den dynastischen Erbvögten, die Entstehung einer
zweiten Kategorie von Reichsklöstern unter Königsschutz ebenso
112 Literaturbericht.
erst als königlicher Gegenzug völlig aufgeklärt. Die Untersuchung
der königlichen Vogtei und des daraus vermutlich zuerst in
Österreich entwickelten landesherrlichen Defensorats über die
Zisterzen erschließt dann zuerst das Verständnis der stolzeren
Anfänge wie der bescheideneren Ergebnisse, durch die sich die
zweite große Epoche der Immunität auszeichnete. Endlich er-
öffnet es ganz neue Ausblicke auf die Kontinuität germanischen
Rechtes in diesen reichs- und kirchenrechtlichen Bildungen,
wenn (im Exkurs II für Hirsau und Muri) die Verbindung grund-
herrlicher Immunitätsverleihung mit kommunal gewillkürten
Hofrechten der Klosterfamilie hervorgehoben, vor allem aber
(im Schlußkapitel) in einer schönen Vereinigung der wichtigsten
Teile aus Seeligers und Rietschels streitenden Lehren die „engere
Immunität" der Klosterbezirke eben aus dem deutschen Haus-
und Siedlungsfrieden selbst hergeleitet wird. Verhältnismäßig
am wenigsten ergiebig ist die Forschung des Verfassers da, wo
sie auf den sachlichen Umfang von Immunität und Vogtei als
Gerichtsbarkeiten eingeht. Gewiß wird namentlich auch gegen-
über der Kritik Weitzels die für diese Dinge grundlegende Theorie
Pischeks von „Dieb und Frevel" noch nicht in allen Punkten
als endgültig anzusehen sein. Aber eins dürfte doch wohl dank
ihr feststehen, nämlich daß der Gegensatz von Niedergericht
und vogteilichem Frevelgericht den Umfang der gerichtsherr-
lichen Rechte nicht zu erschöpfen braucht, daß vielmehr überall
mindestens die Möglichkeit einer besonderen Blutgerichtsbarkeit
über beiden offen bleibt. So vorsichtig deshalb H.s Versuch
auftritt, gegen Pischek „Dieb und Frevel" wieder als die ganze
Hochgerichtsbarkeit zu fassen, es verfehlen mindestens alle die-
jenigen Argumente ihr Ziel, die abgesehen von jenem Terminus
nur überhaupt Blutgerichtsbarkeit im Besitze von Vögten auf-
zeigen. Denn dann entsteht aus der Nominalfrage die viel wich-
tigere sachliche nach der Genealogie einer so ausgedehnten hoch-
mittelalterlichen Vogtei, nach der Stellung nicht sowohl von
Vogtei und Immunität zueinander, sondern beider als Erzeug-
nisse privater Rechtsbildung zu einem Dritten, den staatlichen
hochrichterlichen Gewalten, wie sie sich dann ähnlich in den
Territorien über den Zisterzen (doch nicht bloß infolge deren
Entvogtung) behaupteten. Auf diesen viel verheißungsvolleren
Weg ist wiederum ungefähr gleichzeitig mit H., Glitsch in seinen
Rechts- und Wirtschaftsgeschichte. 113
Untersuchungen über mittelalterliche Vogtgerichtsbarkeit ein-
gelenkt, indem er für die Schweiz und Süddeutschland den Ur-
sprung aller vogteilichen Blutgerichtsbarkeit aus der Grafschaft
darzutun unternahm. Wie wenig mit noch so gründlicher Ver-
gleichung der Urkundenterminologie in diesen verfassungs-
geschichtlichen Problemen weiterzukommen ist, beweist viel-
leicht am schlagendsten H.s sonst ungemein lehrreicher dritter
Exkurs über die Benennungen todeswürdiger Verbrecher. Diese
Methode kann aber auch Flüchtigkeiten in der Realinterpretation
2ur Folge haben. So fällt mir als eine in die Rechtsaltertümer
gehörige Kleinigkeit auf, daß H. das „cingulo cinctus" der Be-
stimmungen über Auslieferung von Verbrechern ans Landgericht
(S. 78 N. 1) nicht richtig zu verstehen scheint; wie die von ihm
selbst (S. 129 N. 3 u. 4) ausgeschriebenen österreichischen Ur-
kunden belegen, ist der Ausdruck nicht als Fesselung, sondern
als Bezeichnung der „Kleider auf dem Leibe" zu deuten und
gehört so zu der Gruppe der Bestimmungen, die das Verbrecher-
gut dem Immunitätsherrn sichern und die vom Verfasser so
scharfsinnig in den Zusammenhang der zisterziensischen Steuer-
und Lastenfreiheit eingereiht werden (S. 142 f.).
Sehr zugute gekommen wäre die Kenntnis des Buches von
H. der schon früher abgeschlossenen Abhandlung von Pauen über
Heisterbach. Zwar zeugt es gerade von der Solidität ihrer Ar-
beit, wie gut sich im allgemeinen ihre verfassungsgeschichtlichen
Darlegungen in die Resultate von H.s Zisterzienserkapitel ein-
ordnen lassen, aber an der Hand dieser hätte sich doch wohl
die Schilderung z. B. der ,, klösterlich-privilegierten Ausnahme-
stellung" im einzelnen noch schärfer gestalten lassen: Die drei
Vorrechte des Brüderzeugnisses, des Gerichtsstandes und des
Gerichtsgebietes wären dann wohl nicht als schwer zu verwirk-
lichendes Maximum, sondern gegenüber den süddeutschen Zi-
sterzen als kärgliche Ansätze von Immunität erschienen. Indes
die Absicht des Verfassers ist ja hier wie überall mit Recht zuerst
gewesen, vom Standpunkt einer besonders reichen und gut ver-
öffentlichten Urkundenüberlieferung aus einen möglichst viel-
seitigen und systematisch geordneten Tatsachenstoff für die
Wirtschaftsgeschichte der niederrheinischen Zisterzen überhaupt
zu sammeln, und der hohe Wert eines solchen Unternehmens selbst
wird auch durch einige weitere Einschränkungen nicht berührt.
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 8
114 Literaturbericht.
denen seine Verwertung in der weiteren Forschung zu unter-
werfen wäre. Daß Heisterbach mit Ausnahme seines Tochter-
klosters Marienstatt die jüngste und ärmste der niederrheinischen
Zisterzen war, bedingte bei ihm eine besonders frühe und starke
Abwandlung der neuerdings durch Hoffmann so trefflich heraus-
gearbeiteten sozialen Arbeits- und Freiheitsgrundsätze des Or-
dens. Es verdient aber bemerkt zu werden, weil es im Buche
selbst nicht zum Ausdruck kommt, daß das Quellenmaterial
geeignet ist, den Eindruck dieser Sachlage noch zu steigern.
Das Urkundenbuch von Schmitz enthält außer den Privilegien
des Klosters überwiegend den Niederschlag seiner Einzelgeschäfte,
hingegen wenige und dürftige systematische, urbariale oder sonst
deskriptive Aufzeichnungen von selten der Grundherrschaft selbst.
Daher einerseits die Fülle der Angaben P.s namentlich auch
über die geldwirtschaftlichen Transaktionen, anderseits die Spär-
lichkeit derjenigen über die vorherrschenden Besitz- und Be-
triebsformen auf dem Klosterland, die freilich noch obendrein
in verschiedene Abschnitte über Besitzerwerb und Abgaben ver-
teilt sind. So treten weniger die Stufen der wirtschaftlichen
Entwicklung hervor als ihre schließliche Tendenz: Die Mobili-
sierung des geistlichen Grundbesitzes in einem vornehmlich von
Städten und bäuerlicher Zwergpacht bestimmten Wirtschafts-
system. Überaus bezeichnend ist dabei, wo sich der klösterliche
Eigenbetrieb bis zur Säkularisation in wesentlichem Umfange
allein noch gehalten hat: Es war in der kölnischen Unterherr-
schaft Flerzheim, über die es dem Kloster gelungen war, die landes-
herrlichen Rechte der Vogtei und Niedergerichtsbarkeit zu er-
werben.
Freiburg i. B. Carl Brinkmann.
Das Elsaß und die Erneuerung des katholischen Lebens in
Deutschland von 1814 bis 1848. Von Alex. Sdinfitgen.
(Straßburger Beiträge zur neueren Geschichte. Herausg.
von Martin Spahn. Bd. 6.) Straßburg, Herdersche Buch-
handlung. 1913. 164 S.
Einen doppelten Zusammenbruch hat die katholische Kirche
beim Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert erlebt: die Revo-
lution in Frankreich und die Säkularisationen in Deutschland
beraubten sie ihres weltlichen Besitzes, die Philosophie der Auf-
Deutsche Landschaften. 115
klärung und der Kritizismus Kants entfremdeten ihr die Seelen.
Somit durfte Rani<:e sich berechtigt halten, im Vorwort zu seiner
Geschichte der Päpste die Kirche als historisches, der Geschichte
angehörendes Gebilde anzusehen. Wir wissen heute — und
Ranke hat das selbst noch erkannt — , daß er sich geirrt hat,
daß gerade damals (1824) unter den Trümmern der Kirche neue
Keime trieben, die eine Verinnerlichung des Glaubens herbei-
führten, und aus denen eine neue Kirche erwuchs. Die Arbeit
Schnütgens, aus einer Straßburger Dissertation hervorgegangen,
hat sich zur Aufgabe gesetzt, diese Erneuerung des katholischen
Lebens in Deutschland zurückzuführen auf den Einfluß des
Elsasses, vor allem des Elsässers Andreas Raeß, des späteren
Straßburger Bischofs. Sie fußt auf reichem Quellenmaterial,
Briefen und Akten auch des päpstlichen Geheimarchivs, und ver-
bindet Geschicklichkeit der Darstellung mit besonnenem, ge-
rechtem Urteil. Man fühlt, wie die Sprache wärmer wird, wo
Sehn, das Aufblühen der katholischen Bewegung schildert, doch
wird man nirgends ein von einseitiger Parteinahme be§timmtes Ur-
teil finden. Die Bedeutung von Raeß während seiner Tätigkeit
in Mainz und Straßburg, in untergeordneter und in führender
Stellung, in den Jugendjahren leicht entzündlicher Kampfeslust
und in der ruhigeren Zeit des Mannesalters ist gebührend in den
Vordergrund gestellt, ohne daß die Schwächen des mitunter über-
eifrigen Bekenners verkannt wären.
Die mittleren Abschnitte der Arbeit sind die wichtigsten.
Sie schildern den Einfluß des Elsasses auf das literarische und
auf das Kulturleben der deutschen Katholiken und die Kirchen-
politik dieser Jahre, alles wesentlich von dem Gesichtspunkt,
inwieweit Raeß an ihnen beteiligt ist; die Mitwirkung des Metzers
Nikolaus Weis, des späteren Bischofs von Speyer, tritt daneben
zurück. Es sind die Gedanken des französischen Katholizismus,
von Chateaubriand, Lamennais und de Maistre, die Raeß zu den
seinen macht und weitergibt. Übersetzungen französischer
Werke ins Deutsche, nach ihrem volkstümlichen Charakter auf
einen weiten Leserkreis berechnet, vor allem die Gründung und
Leitung des „Katholik" (1819) sind die Mittel einer umfangreichen
literarischen Wirksamkeit; die Mitarbeit des im Elsaß bis 1826
weilenden Görres ist dabei eine wertvolle Unterstützung. Neben
solch mittelbare Beeinflussung der deutschen Katholiken treten
116 Literaturbericht.
die persönlichen Beziehungen zu den führenden Katholiken des
deutschen Westens. Sie ermöglichen es dem geschickten Elsässer,
in die Politik der Oberrheinischen Kirchenprovinz vor allem
Einblick und auch gelegentlich Einfluß auf sie zu gewinnen.
Ein beweiskräftiges Zeugnis dafür bieten drei Denkschriften
von Raeß über Belgien, die Oberrheinische Kirchenprovinz und
über Preußen, gerichtet an das französische Ministerium (S. 126 ff.).
Die Ausführungen Schn.s, der auch noch der Tätigkeit von
Colmar und Liebermann und der elsässischen Caritas zugunsten
Deutschlands zwei Kapitel gewidmet hat, lassen es als anziehende,
allerdings auch schwierigere Aufgabe erscheinen, für die späteren
Jahre von Raeß eine in gleicher wissenschaftlicher Weise ge-
sicherte Darstellung zu schaffen. Verdienste um den deutschen
Katholizismus nach 1848 hat Raeß kaum mehr; sein Werk führt
weiter der Kardinal v. Geissei, der „kirchenpolitische Organi-
sator des katholischen Lebens in Deutschland" (S. 130). Wohl
aber hat er vor und nach 1870 im Elsaß und für sein Land im
deutschen Reichstag eine bedeutsame Rolle gespielt, wenn auch
nicht mehr wie früher in dem Bewußtsein, Vermittler zu sein
zwischen deutscher und französischer Kultur.
Metz. Otto Wiltberger.
Zur Jahrhundertfeier der Vereinigung der Rheinlande mit Preußen.
Eine Denkschrift herausgegeben im Auftrage eines Kreises
rheinischer Freunde von Dr. Jul. Bachern. Köln, Bachern.
[1915.] 268 S. 3 M.
Die Denkschrift gibt aus der Entwicklung der Rheinlande
eine Reihe der interessantesten Längsschnitte, die allerdings bald
mehr bald weniger von katholischer Warte aus gesehen sind.
Am deutlichsten zeigt sich das natürlich in der kirchlichen Ent-
wicklung, deren erster Teil, die katholische Kirche in den Rhein-
landen, von Lauscher eine von katholischen Idealen warm be-
geisterte Schilderung erfährt, ohne daß man aber beim Lesen
die dankbare Würdigung all der Schwierigkeiten der neupreußi-
schen Akklimatisierung, die ehrliche Anerkennung des guten Wil-
lens zum gegenseitigen Verständnis bei Grenzstreitigkeiten zwi-
schen Kirche und Staat vermissen muß. Recht trefflich charakteri-
sierend ist hier der Abschnitt über kirchliche Wissenschaft und
Kunst.
Deutsche Landschaften. 117
Gegenüber dieser 36 Seiten umfassenden meisterhaften Be-
leuchtung der katholischen Kirche vermißt man in der auf nur
7 Seiten behandelten rheinischen preußischen protestantischen
Landeskirche jenes liebevolle Eingehen, das man, wenn man
sich doch einmal zur Aufnahme entschloß, gern erwartet hätte.
Köhler gibt in seinem sehr skizzenhaft referierenden Aufsatze
kaum die Umrisse der Entwicklung dieser Kirche, so anerkennend
er auch von ihrem Wirken spricht. So tritt auch in der „politi-
schen Entwicklung" von Franz Schmidt der große Anteil jener
Männer in den Vordergrund, die als Vorläufer oder erste Führer
der heutigen katholischen Parteirichtungen angesehen werden,
namentlich Görres' und Reichenspergers. In diesem Abschnitt
geht das Skizzenhafte der Darstellung so weit, daß, wer seine
Orientierung über das rheinische Parteiwesen daraus ent-
nehmen wollte, ein sehr unklares und eigenartig schattiertes Bild
bekommen würde. In der von P. A. Clasen gegebenen , »Wirt-
schaftlichen Entwicklung" staunt man sich hindurch wie vor
einer reichhaltigen kinematographischen Revue, ohne überall ganz
zum Bewußtsein des staunend Erlebten zu kommen. Man sieht
das Wachstum des Handels von Stufe zu Stufe, erlebt die deutsche
Industrie von der kleinen Nähnadel bis zum gewaltigsten Essener
Geschütz. Mit seiner herrlichen, von Rheinlands Bedeutung
durchdrungenen, für Rheinlands Größe begeisternden Aufforde-
rung zum Schutze dieser vom Feinde bedrohten kostbaren Güter
ist dieser Abschnitt vielleicht wissenschaftlich wie stilistisch das
beste Kapitel des Buches.
Wo Fortschritt, muß Wissen, wo Kultur, muß Bildung sein.
Wie das „Unterrichts- und Bildungswesen" nach und nach ge-
regelt, verbessert und zur Blüte gebracht wurde, was einst und
heute für Wissenschaft getan ward, zeigt in knapper aber klarer
Darstellung Schnitzler. Nicht minder verdienstvoll sind die
entworfenen Bilder vom rheinischen „Justizwesen", von rheinischer
Kunst: Kausen führt uns durch die vielen juristischen Wirrsale
eines Landes, das noch fast ein Jahrhundert lang nach Gesetzen
eines fremden Staates lebte, zeigt, wie diese sich zunächst halten
mußten, wie sie dann nach und nach — nicht preußisch, sondern
— deutsch geworden sind. Für die Darstellung der rheinischen
Kunst hätte Hei mann den Rahmen zu einem Monumental-
gemälde gebrauchen können und hat doch bloß ein Medaillon
118 Literaturbericht.
zur Verfügung gehabt. Um so anerkennenswerter, daß dies nied-
liche Medaillon nichts Wesentliches entbehren läßt, in seiner
Kleinheit nicht unklar wird. Etwas summarisch mußte Pieper
in seinem Überblick über die „Soziale Kultur" verfahren, und
was Frhr. v. Steinaecker vora „Heereswesen" sagt, ist viel
mehr der letzten und vorletzten Gegenwart zu Lob gesungen
als entwicklungsgeschichtlich entworfen.
In diesen Aufsätzen ist ein Jahrhundert rheinischer Entwick-
lungsgeschichte behandelt. Die „ältere Geschichte und Kultur
bis zum Ausgang des römischen Reiches deutscher Nation" ist
dem Ganzen als Grundlage in meisterhafter Kürze mit gründ-
licher Sachkenntnis von Huyskens vorausgegeben, und Schell-
berg gibt in den „Rheinlanden zur Zeit der Einverleibung in
Preußen" eine Überleitung, die besonders das nationale Moment
zu betonen sucht. Der Herausgeber selbst hat das einleitende
Programmwort über die rheinische Eigenart, die er mit Partikula-
rismus bezeichnet, und das abschließende Kapitel geschrieben,
den Ausblick, der besondere Erwartungen an die gegenwärtige
große Prüfung unseres Volkes knüpfen möchte zur Erreichung
eines konfessionellen Friedens und bislang vermißter Parität.
Düsseldorf. R. A. Keller.
Territorium und Reformation in der hessischen Geschichte 1526
bis 1555. Von Walter Sohm. Marburg, Elwert. 1915.
XXVIII u. 186 S. 5 M.
Mit lebhaftem Danke und innerer Freude an dem wohl-
gelungenen Erstlingswerke zeigten wir Walter Sohms Werk über
die Straßburger Schule und ihren Rektor J. Sturm in dieser
Zeitschrift (113, 359ff.) an. Wenige Wochen später war der
Verfasser einem Unglücksfall beim Auszuge ins Feld zum Opfer
gefallen, und mit ihm hat die historische Wissenschaft einen
jungen Gelehrten verloren, der, vortrefflich geschult. Bestes
versprach und mit voller Hingebung seiner Persönlichkeit seine
akademische Laufbahn in Marburg mit einer Vorlesung über
Reformationsgeschichte im Wintersemester 1914/15 zu beginnen
gedacht hatte. W. Sohm arbeitete gleichzeitig im Dienste der
historischen Kommission für Hessen und Waldeck; er hatte hier
(vgl. das Vorwort des Vorstandes) die vor zehn Jahren, nament-
lich auf Anregung von K. Varrentrapp beschlossene, von dem
Deutsche Landschaften. 119
Unterzeichneten lange Jahre übernommene und nur sehr ungern
infolge der Berufung nach Zürich aufgegebene Sammlung der
„urkundlichen Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte"
weitergeführt und nahezu zum Abschluß gebracht; die bei der-
artigen Publikationen übliche „Einleitung" bildete S.'s Habili-
tationsschrift und wird nunmehr als opus postumum vorgelegt.
Es ist eine Einführung in die hessische Reformationsgeschichte
ganz eigener Art; wie über der Darstellung der Straßburger Schul-
geschichte haben zwei gütige Sterne über ihr geleuchtet: Friedrich
Meinecke, dem das Buch gewidmet ist, und Rudolf Sohm, der
Vater, der ein ergreifendes Geleitwort vorgesetzt hat. Von jenem
stammt die Großzügigkeit der Auffassung, von diesem ihre in-
haltliche Bestimmtheit; beides zusammen aber schuf ein Meister-
vorbild territorialgeschichtlicher Forschung und Darstellung.
Das historische Recht der Territorialgeschichte kann nur in ihrer
Verflechtung mit dem großen Gang der Weltgeschichte liegen,
sei es daß sie von ihrem Winkel aus in die Weltgeschichte ent-
scheidend eingreift, sei es daß Wellen vom Zentrum an die Peri-
pherie geschleudert werden und die Eigenart ihrer Brechung das
Wesen der Zentralwelle schärfer erkennen lassen. Diese Ver-
flechtung geschickt zu erfassen, ist die Kunst des Historikers.
Nun ist ja freilich der geniale Hesse Philipp ein unvergleichliches
Objekt für jene Aufgabe, aber der geschickte Griff erfordert doch
eine persönlich Tat; die bleibt W. S.s Verdienst. Für die spezielle
hessische Geschichte fällt sehr viel ab, das Quellenmaterial war
ja zum guten Teil neu und bietet in Personalien, Pfarreigeschichte,
Verwertung des Kirchengutes, Kastenordnungen (deren Datierung
ein besonderer Exkurs S. 180 — 186 gilt) u, dgl. eine Fülle des
Neuen, zumal S. bei völliger Literaturbeherrschung vortreffliche
erläuternde Anmerkungen beifügt. Aber das, ich darf sagen:
Geniale des Buches liegt nicht hier, sondern in der Unterordnung
und Gruppierung der Stoffmassen unter einen beherrschenden
großen Gesichtspunjct und in der Weiterbewegung der Ereignisse
durch die innere Logik einer leitenden Idee. Diese formuliert
der Vater Rud. Sohm so (S. XXIV): „Die Reformation brachte
dem Territorium, den Untertanen ebenso wie der Obrigkeit, die
Gewissensfreiheit; aber sie konnte und sollte nicht bringen
die Toleranz." Dementsprechend legt der Sohn den Finger
darauf (S. XXII), „wie sehr die Geschichte der Toleranz und die
120 Literaturbericht.
der Gewissensfreiheit voneinander zu scheiden sind". Hier muß
zunächst das Verständnis des Wortes „Gewissensfreiheit" ge-
sichert werden; ich finde es nicht glückhch, ein Wort zu wählen^
das mißverstanden werden kann. Wir pflegen heute gemeinhin
unter Gewissensfreiheit die staatlich garantierte Freiheit der
persönlichen religiösen Überzeugung zu verstehen. Das ist aber
nicht der Begriffsinhalt bei S. Es wird nicht zufällig sein, daß
der Vater die beiden letzten Silben ( — freiheit) in Sperrdruck
setzt; denn gemeint ist die Gewissensbefreiung, nämlich vom
kanonischen Rechte und seinen Ansprüchen (vgl. S. 7, 15, 19,
33 u. ö.). Der Begriff ist also negativ orientiert und nicht
positiv. Diese Befreiung von der Zwangsgewalt des kanonischen
Rechtes, der als positive Kehrseite der rein religiöse reformatorische
Glaube entsprechen würde, hat mit Toleranz gar nichts zu schaffen ;
der Glaube ist sogar unmittelbar seinem Wesen nach intolerant;
die Toleranz ist etwas Weltliches und fällt darum in das Macht-
gebiet der weltlichen Obrigkeit. Das Problem ist nun dieses,
ob und wie die Gewissensfreiheit (im obigen Sinne) gesellschaft-
bildende Kraft besitzt, bzw. wie sie in bestehende Rechtsordnung
sich einschiebt, sie umformend oder auch von ihr gepreßt. Evan-
gelium und Recht, anders ausgedrückt, in ihren Spannungen
werden an einem konkreten Beispiele vorgeführt — ein echt
Sohmsches (Vater) Thema! Das Endresultat ist die territoriale
Landeskirche, die „Gewissensfreiheit" ihren Angehörigen ge-
lassen hat, aber die ganze Vergesellschaftung einschließlich
Sozialwirksamkeit und Kirchengutsverwaltung an die obrigkeit-
liche Direktive abgetreten hat, die ihrerseits als eine christliche
diesem ganzen Gesellschaftskomplex den religiösen Einheits-
stempel aufdrückt, so daß — nach mittelalterlicher Analogie,
aber in neuer Fassung — eine territoriale Einheitskultur ent-
steht. Eine innerlich zusammengehörige Einheit war nur auf
diesem Wege zu erzielen, erst auf Grund der Einheit des christ-
lichen Territoriums konnte aber der moderne Nationalstaat
entstehen; so formuliert W. S. die fein geschliffene These:
„das Territorium des 16. und 17. Jahrhunderts mußte intolerant
sein, damit der Staat des 18. und 19. Jahrhunderts tolerant wer-
den könne".
Die Aufrollung der einzelnen Etappen dieser Entwicklung
ist außerordentlich interessant; den Glanzpunkt bildet die Vor-
Deutsche Landschaften. 121
führung der theoretischen Deduktion des Juristen Eisermann
(Kap. 8). Unter dem Titel des „gemeinen Nutz" wird hier ein
christliches Staatswesen entwickelt, das nach und nach allerlei
Funktionen und Komplexe wie Predigtamt, Armenpflege u. dgl.,
die ursprünglich lediglich der religiösen Liebesgemeinschaft
(innere Christenheit) angehören, aufsaugt und für sich beansprucht.
Der Einzelne in diesem Territorium kommt in den Konflikt von
Person und Amt, Staatsnotwendigkeiten siegen über die christ-
liche Theorie. Eisermann faßte nur zusammen, was sich teils
schon herangebildet hatte, teils sich heranzubilden im Begriff
war. Es liegt eine tiefe Tragik in dem stufenmäßigen Aufgehen
der aus dem Evangelium entwickelten Betätigungen der christ-
lichen Gemeinde in die obrigkeitliche Leitung. Aber die Tragik
war Notwendigkeit; denn die Gemeinschaft der Gläubigen,
jenes unsichtbar-sichtbare Gebilde, wie Luther es faßte, war
soziologisch unfähig, konnte sich nicht halten ohne Anlehnung
an eine zwingende und gestaltende Gewalt, als die sich die Obrig-
keit anbieten mußte. So führt die hessische Reformationsgeschichte
in der großzügigen Auffassung von Walter S. das praktisch vor,
was die zahlreichen Untersuchungen zu Luthers Kirchenbegriff,
zuletzt Troeltschs „Soziallehren", theoretisch erörtert hatten.
Sie bewegt sich in Luthers Bahnen, aber sehr richtig legt S.
den Finger darauf, daß sie in einem wichtigen Punkte überschritten
und der Neuzeit entgegengeführt werden: in der Duldung des
Zwinglianismus neben dem Luthertum (S. 78f.). Nur hätte ich
hier gerne eine Ergänzung gesehen : die Abstellung des christlich-
religiösen Lebens des Territoriums auf zweierlei Lehre wurde
mit der Wittenberger Konkordie wieder in eine Einheit, den
Buceranismus, umgewandelt, der, wenn ich einmal die aus der
alten Kirchengeschichte wohlbekannte Formel gebrauchen darf,
binitarisch Luthertum und Zwinglianismus umschließen wollte.
Der Konfessionscharakter Hessens bei Philipps Tode war der
Buceranismus; er klaffte aber alsbald auseinander und schuf die
unerquicklichen Streitigkeiten zwischen Luthertum und Calvi-
nismus.
Ein kleiner Schönheitsfehler an dem ausgezeichneten Buche
ist das Fehlen eines Registers.
Zürich. W. Köhler.
122 Literaturbericht.
Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels und die deutschen Jesuiten.
Von Wilhelm Kratz. (117. Ergänzungsheft zu den „Stimmen
aus Maria-Laach".) Freiburg i. Br., Herder. 1914. VI u.
99 S.
Die Konversion des Urenkels Philipps des Großmütigen von
Hessen gehört zu den Fürstenübertritten, die gleich dem der
Tochter Gustav Adolfs Aufsehen erregt haben. Seit den ältesten
Darstellungen von Strieder und Rommel hat Ernst von Hessen-
Rheinfels eine monographische Bearbeitung nicht gefunden; die
vorliegende Arbeit des Jesuiten Kratz will keine Biographie
bieten, vielmehr gerade die Konversion klarlegen und in Ver-
bindung mit ihr die Stellung des Landgrafen zum Jesuitenorden,
Verfasser hat sehr fleißig gearbeitet und namentlich aus den im
Marburger Archive lagernden Akten, darunter auch selbständigen
Abhandlungen des Fürsten, in einem abscheulich verschnörkelten
Stile geschrieben, geschöpft. Daß er sie ausgeschöpft habe, wäre
zuviel gesagt; für sein Thema wäre ein ausgiebigeres Eingehen
auf das religiöse Denken des Landgrafen erwünscht gewesen,
und auch über den Inhalt der Religionsgespräche z. B. hätte
man gerne Näheres gehört. Daß Ernst „vielleicht die geistig
bedeutendste Persönlichkeit unter den Konvertiten fürstlichen
Standes" seiner Zeit gewesen ist, wird richtig sein, aber es gilt
doch eigentlich nur in dem Sinne, in dem unter den Blinden der
Einäugige König ist, eine wirklich hervorragende, führende und
selbständige Natur ist er nicht gewesen, vielseitig interessiert,
ja, aber ziemlich konfus und unklar. Er würde den Anschluß
an die katholische Kirche nicht gesucht und gefunden haben,
wenn er hätte auf sich selbst stehen können; K. zeigt, m. E.
überzeugend, daß die Politik mit seinem Übertritt nichts zu tun
hat, er vielmehr aus dem Motive konvertierte, das bis zur Stunde
seine Werbekraft noch nicht eingebüßt hat: gegenüber der Spal-
tung und Zerrissenheit im Protestantismus die entscheidende
Lehrautorität zu suchen und sie im kirchlichen Lehramte des
Katholizismus zu finden. Wer so denkt, hat die befreiende Tat
von Worms 1521 nicht verstanden. Das von Ernst veranstaltete
Rheinfelser Kolloquium, über dessen Inhalt K. leider rasch hin-
weggeht, blieb „ohne Frucht" und rief nur eine häßliche lite-
rarische Fehde hervor, zwischen Landgraf und Prädikanten bzw.
zwischen Kapuziner und Jesuiten. Persönlich ist der Landgraf
Deutsche Landschaften. 123
kein Fanatiker gewesen, sondern ein Vorkämpfer der Toleranz,
so eng auch seine Beziehungen zu der Gesellschaft Jesu wurden.
Wenn K. laut Vorwort sich um eine „objektive Klarlegung
des Sachverhaltes" bemühen und „vorgekommene Fehler und
Mißgriffe mit derselben Ehrlichkeit buchen will wie Verdienste
und Tugenden", so hat ihn dieser löbliche Grundsatz doch etwas
im Stich gelassen bei Darstellung und Beurteilung des zum Pro-
testantismus konvertierenden Jesuiten Andreas Wigand. Wäh-
rend das Leben des P. Rosenthal „heiligmäßig" sein soll, ist
Wigand ein „unglücklicher Mann", ja, ein „pfUchtvergessener
Mitbruder", und doch kann ihm eigentlich nichts vorgeworfen
werden als eben die Konversion, die Anklagen auf sexuelle Ver-
gehen sind zum mindesten zweifelhaft. Hier mißt Verfasser mit
zweierlei Maß und beeinträchtigt dadurch etwas den Wert seines
verdienstlichen Buches.
Zürich. W. Köhler.
Im alten Königreich Hannover 1814 — 1866. Von Wilhelm Rothert.
(2. Band der Allgemeinen hannoverschen Biographie.) Han-
nover, Ad. Sponholtz. 1914. 599 S.
Der Band enthält 43 Lebensbeschreibungen von Männern,
die in der Geschichte Hannovers von 1814 — 1866 hervorragende
Bedeutung gehabt haben. Die beiden Abeken, die Minister
Bacmeister, Borries, die beiden Schele, Stüve, die Könige Ernst
August und Georg V., die Juristen und sonstigen Gelehrten
Bening, Kohlrausch, Wöhler, v. Siemens, Rehberg u. a. fesseln
uns, denn der Verfasser hat das wichtigste Material bequem
zusammengestellt, hat ein ruhiges und mannigfaltige Verhält-
nisse liebevoll erwägendes Urteil und eine gewisse Behaglichkeit
der Erzählung. Den oft nur in ehrfurchtsvoller Form geschil-
derten Stüve scheut er sich nicht auch prüfend zu betrachten,
obwohl er seine hohen Verdienste anerkennt. Aber an mancher
anderen Stelle ist doch das scharfe, klare Urteil durch unterge-
ordnete Erscheinungen verdunkelt. So ist das Urteil über den
König Ernst August viel zu sehr beherrscht durch die Bewunde-
rung seiner Tätigkeit und Energie, die sich doch in erster Linie
in der Unterdrückung des Rechts und der Männer, die das Recht
vertraten, offenbarte. Das Bedeutendste, was unter ihm ge-
124 Literaturbericht.
schehen, ist, der Ausbau der hannoverschen Verfassung 1848/49^
das ist nicht des Königs Verdienst, sondern das große Werk des
Ministers Stüve, dem Ernst August wieder Knüppel zwischen die
Beine zu schieben begann, sobald die fortschreitende Reaktion
seinen eigentlichen Ansichten und Wünschen wieder günstig war.
Immer aber ist dem Buch ein zahlreicher Leserkreis zu wünschen^
es bietet viel wichtige Tatsachen, die der gegenwärtigen Gene-
ration zu entschwinden drohen und es ist belebt von echter Liebe
der Heimat.
Breslau. G. Kaufmann.
Das Erziehungswesen am Hofe der Wettiner Albertinischen Haupt-
linie. Von Dr. Julius Richter, Schulrat, Kgl. Bezirksschul-
inspektor in Chemnitz. Berlin, Weidmann. 1913. XXIX u.
650 S. (Mon. padagogica Bd. 52.)
Sicher zu den wichtigsten Aufgaben dieses grundlegenden
Werkes der deutschen Bildungsgeschichte gehört die Behand-
lung der Erziehung an fürstlichen Höfen. Nach der Darstellung
der „Jugend und Erziehung des Kurfürsten von Brandenburg
und Königs" von Preußen (bis auf Joachim II.) von Georg Schu-
ster und Friedrich Wagner (XXXIV 1906) folgt jetzt dieses Werk
über die Erziehung am Hofe des sächsischen Herrscherhauses
in dem alten Schullande Sachsen, aufgebaut auf einer ausgie-
bigen Verarbeitung des reichlich vorhandenen Aktenmaterials,
vornehmlich des sächsischen Hauptstaatsarchivs und der um-
fänglichen Literatur, die aber noch keine zusammenfassende
Darstellung aufzuweisen hatte. Das Buch beginnt mit dem Stamm-
vater der Linie, Albrecht dem Beherzten, und schließt mit Fried-
rich August dem Gerechten (f 1827). Immer werden die „Fa-
milien" des jeweiligen Regenten zusammengefaßt und jedesmal
dabei die Hofmeister und Lehrer und die mit den Prinzen zu-
gleich unterrichteten Mitschüler der „Prinzenschule", junge Leute
aus dem höfischen Kreise, und fremde Prinzen, die gern an den
sächsischen Hof geschickt wurden, dazu die Lehrbücher, die
Unterrichtsfächer und die Methode behandelt. Natürlich wächst
die Ausführlichkeit mit der vorschreitenden Zeit. Immer aber
bleibt sich die Sorgfalt in der Erziehung gleich, wobei die fürst-
lichen Damen des Hauses besondern Anteil nehmen. Die Mittel
Deutsche Landschaften. 125
wechseln mit der allgemeinen Entwicklung des Bildungswesens,
obwohl manche Fächer den Bedürfnissen fürstlicher Jugend zwar
charakteristisch sind, so vor allem die körperliche Ausbildung
im Fechten, Reiten u. dgl. und die Schulung zu fürstlichem
Benehmen. Anfangs trägt die Erziehung den humanistisch-
theologischen Charakter, konfessionelle Theologie und das Latein
stehen im Vordergrunde, sorgfältig wird seit Heinrich dem From-
men über die lutherische Glaubensreinheit gewacht, und beson-
ders tritt das bei den Kindern Kurfürst Augusts hervor, aber
auch Rechnen, Mathematik, Geschichte (nach Sleidanus), Erd-
und Naturkunde, Zeichnen werden getrieben. Noch bewahrt die
Königliche öffentliche Bibliothek in Dresden zahlreiche Arbeits-
hefte der Prinzen. Am vollständigsten sind solche Aktenstücke
von der FamiUe Christians IL erhalten, denn an der Erziehung
beteiligten sich nach dem frühen Tode des Vaters Christian L
(1586 — 1591) die Mutter, Kurfürstin Sophie, der Großvater
Johann Georg von Brandenburg und der Administrator Friedrich
Wilhelm von Weimar; es gab also fortwährend Berichte und
Verhandlungen. Im 17. Jahrhundert, das in der allgemeinen
höheren Erziehung als Ziel der Ausbildung den galant' komme,
den homo politus im Auge hat, tritt zuerst bei Johann Georg IL
das Französische als wichtig auf; daran schließt sich schon bei
Johann Georg I. die sog. ,,Cavalierstour" (1601/02) an deutsche
und auswärtige Höfe. Johann Georg IV. lernt auch Italienisch,
denn damals erschienen in Dresden die italienischen Fürsten-
höfe als Muster. Unter Friedrich August (dem Starken) nahm
der Religionsunterricht des Kurprinzen als Vorbereitung für den
vom Vater längst beabsichtigten Übertritt einen konfessionslosen
Charakter an, und die weit ausgedehnten, nach Österreich, Frank-
reich, Italien und Spanien gerichteten ,, Bildungsreisen" des
Vaters und des Sohnes gewannen eine ganz besondere Bedeutung
für ihre wie für des Landes Zukunft. Den Schluß der Erziehung
bildete für die Thronfolge die theoretische und praktische Ein-
führung in die Regierungsgeschäfte. Von einem Universitäts-
studium sah man dagegen ab. Bei Friedrich Christian, dem Nach-
folger Friedrich Augusts IL, der früh leidend war und trotz
mannigfacher Kuren immer blieb, trat das Interesse für Italien
und seine künstlerische Neigung, von der auch mehrere Bände
sorgfältiger Handzeichnungen Zeugnis ablegen, besonders hervor.
1 26 Literaturbericht.
Auf den Bildungsgang seines Sohnes und Nachfolgers Friedrich
Augusts des Gerechten übte seine geistvolle Mutter Maria Antonia
(von Bayern) einen besonderen Einfluß. Ein Blick auf die Er-
ziehung seiner einzigen Tochter Maria, die von dem Vater das
Zeichentalent geerbt hatte und auch als begabte dramatische
Dichterin hervorgetreten ist, bildet den Schluß des darstellen-
den Teils.
Diesem schließt sich ein dokumentarischer Teil von siebzig,
zum Teil umfänglichen „Beilagen" an: Bestallungen der Hof-
meister und „Präzeptoren", Instruktionen, Lehrberichte, Stun-
denpläne, Entwürfe von Erziehungsplänen u. a. m. Ein genaues
Namenregister, Zusätze und Berichtigungen folgen.
Loschwitz. Otto Kaemmel.
Die Täuferbewegung in Thüringen von 1526 bis 1584. Namens
des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertums-
kunde herausgegeben von der Thüringischen historischen
Kommission. Bearbeitet von Paul Wappler. Jena, Gustav
Fischer. 1913. XIII u. 541 S.
Der erste Teil des vorliegenden Werkes (S. 1 — 227) bringt
eine Darstellung, der zweite die Urkunden der Täuferbewegung
Thüringens. Was die Bearbeitung der Urkunden betrifft, konnte
der Referent nur eine Vergleichung mit dem im Staatsarchiv
Marburg befindlichen Material vornehmen.^) (Nr, 30 und 40 der
Urkunden, betreffend Melchior Rink.) Es zeigten sich hierbei
eine große Anzahl zwar nicht sinnstörender, aber doch die Sprach-
form verderbender Lesefehler. (Am auffälligsten: S. 300, Z, 15
und 16 von unten: statt: „Ist das also? Melchior Rinck dicirt:
Ja..." lies: „Ist das also, Melchior? Respondit: Ja...")
Ebensowenig sicher sind die Angaben des archivalischen Befundes.
Nr. 30a — e sind kaum insgesamt als ,, Konzepte" zu bezeichnen,
a, b und e sind Reinschriften von Kanzleihand, die nur spätere
Zusätze erhalten haben; c ist eine eigenhändige Niederschrift
Rincks, aber weshalb Konzept? Die Bezeichnung der Stücke d
und e durch diese Buchstaben ist irrig. Die Originale sind zwar
durchbuchstabiert, aber das von Wappler als d angegebene Stück
^) Referent benutzt hierzu Abschriften der Akten, die seinerzeit
Prof. Kohler in Zürich angefertigt hat und die von neuem mit den
Originalen verglichen wurden.
Deutsche Landschaften. 127
gehört im Original zu c, nur daß die Hand wechselt. Trotzdem
zählen auch die Originale von a bis e. Woher? Weil W. das
wichtige d ausgelassen hat. Warum, ist aus dem Befund nicht
ersichtlich, denn das betreffende Stück ist sauber den anderen
beigeheftet. Wenn W. es für überflüssig hielt, mußte er mindestens
seine Existenz notieren. Dabei ist es aber nach unserer Meinung
ein wichtiges Stück, denn es enthält die Begründung des dogma-
tischen Standpunktes Rincks über die Taufe und ist ausführ-
licher als das von W. unter c wiedergegebene Stück gleichen
Inhaltes. Ebenso schwer wird man es in dem Stück e empfinden,
daß W. die Gegengründe des hessischen Pfarrers Raidt nur durch
die Worte: Folgt Raidts Entgegnung; und: Folgt wieder Raidts
Erwiderung hierauf, andeutet. Wenn Raidts Gründe für die Kin-
dertaufe auch die allgemein kirchlichen sind, so mußte doch
mindestens dieses angegeben werden. (Auch in der Darstellung:
S. 53f. geht W. darauf nicht ein.) Die „Urkunden" lassen uns
damit an zwei der bedeutsamsten Stellen im Stich. Ebenso hat
W. bei Nr. 40 zwei Stück ohne Hinweis fortgelassen, die zwar
nicht von gleicher Wichtigkeit, aber doch auch von Interesse sind.
Wenn man damit der archivalischen Arbeit W.s gegenüber
unsicher wird, so muß doch auf der anderen Seite darauf hin-
gewiesen werden, welche Fülle wertvollsten kulturgeschichtlichen
Stoffes von W. der Forschung dargeboten wird. Neben Marburg
sind die Archive von Dresden, Meiningen, Mühlhausen i. Th.,
Nürnberg und Weimar benutzt. Erst jetzt wird es möglich sein,
der Reformation im Thüringer Land als einer Volksbewegung
näher zu kommen.
W.s Darstellung, die den Urkunden vorangeht, bewegt sich
in diesen Bahnen. Seine schlichte Weise zu erzählen wird an
manchen Stellen dem Schicksal der einfachen Leute, von dem
er zu berichten hat, in schöner Weise gerecht. Und doch müssen
wir uns fragen, ob diese außerordentlich breite Darstellung be-
rechtigt war. Zum großen Teil ist sie doch nur die Nacherzählung
dessen, was in den „Urkunden" nochmals gegeben wird (vgl.
etwa die Anmerkungen S. 44 oder 46). Was sie an Literaturnach-
weisen bringt, hätte sich dort ebensogut einreihen lassen. Jeden-
falls leistet sie das nicht, was ihr Hauptaugenmerk hätte sein
sollen: eine geistige Durchdringung des dargebotenen Stoffes,
ein innerliches Verständlichmachen, ein aus der sozialen und
128 Literaturbericht.
religiösen Kultur der Zeit gewonnenes Begreifen der Dinge. W.s
Standpunkt ist, wie schon früher^), der der heutigen Humanität.
Damit verbaut er sich natürlich ein Verständnis der kirchlichen
und territorialen Kämpfe gegen das Wiedertäufertum, wenngleich
er sich auch nicht mehr zu so schiefen Darstellungen hinreißen
läßt, wie in seinem eben zitierten Buch. (Referent hat hierzu
an einer anderen Stelle anläßlich einer Bearbeitung der hessischen
Reformationsgeschichte Stellung zu nehmen.) Aber auch diesen
Standpunkt hat W. nicht hoch genug gewählt, daß er zu einem
zusammenfassenden Überblick gekommen wäre. Er zeigt sich
mehr in einigen bitteren Urteilen der ,, Vorgeschichte", die im
Sinne Booyes abgegeben sind (z. B. S. 12 und 13) und beweist
seine Unzulänglichkeit in der Stellung W.s zu Justus Manius.
Dessen Werke über die Wiedertäufer erscheinen auf S. 1 neben
den Büchern Bullingers als „ganz einseitige und leidenschaft-
liche Parteischriften", die es zu überholen gilt. Dennoch sollen
sie nicht nur (S. 222) ,,vom gegnerischen Standpunkt aus ein
vortreffliches Bild vom Wesen und der Lehre der Täufer" ent-
werfen, sondern sie bilden auch (S. 58) trotz allerlei Polterns
eine derartige ,, Quelle ersten Ranges, die vortrefflich nach Seiten
des Wesens und der Lehre hin die vorhandenen Täuferakten
ergänzt," daß W. sie seitenlang (S. 59 — 71) wörtlich abdruckt.
Wie kann W. in dieser Weise das Urteil eines Mannes teilen,
der eben von diesem Standpunkt aus zu der von W. verachteten
„Intoleranz" kam? Was heißt es, wenn dieser Manius z. B.
gleich im ersten Satz (S. 59) die Wiedertäufer „Rattengeister"
nennt? Hatte er damit Recht? Stimmt W. ihm zu? Wir er-
halten keine Antwort. Trotz der „Darstellung" reden die „Ur-
kunden" nur ihre nicht übersetzte Sprache; Quellenzeugnis be-
feindet Quellenzeugnis, Anschauung Anschauung, wie einst, als
sie niedergeschrieben wurden, und kein Historiker löst dem
Geiste die Zunge, der den kämpfenden Zeitgenossen stumm sein
mußte, nach dessen Sprache wir aber begehren, da er versöhnt,
verstehen lehrt und wahrhaft belebt.
Marburg a. L, W. Sohm f.
^) Wappler, Die Stellung Kursachsens und des Landgrafen Phi-
lipp von Hessen zur Täuferbewegung. Münster i. W. 1910. (Refor-
mationsgesch. Studien u. Texte, Heft 13 u. 14.) Vgl. H. Z. 111, S. 224.
Österreich. 129
Zolltrennung und Zolleinheit. Die Geschichte der österreichisch-
ungarischen ZwischenzoUinie. Von Dr. Rudolf Sieghart.
Wien, Manz. 1915. VII u. 413 S.
Es ist eine ausgezeichnete Arbeit, mit der uns der jetzige
Gouverneur der österreichischen Bodenkredit-Anstalt in Wien
beschenkt hat. Sie geht auf eine Reihe von Jahren zurück; was
Sieghart als junger Forscher zu einer historischen Arbeit gesam-
melt, das verwertet er nun als reifer Mann mit der ganzen kennt-
nisreichen Gewandtheit, die ihm jahrelange heiße Arbeit in der
Öffentlichkeit seines Vaterlandes gegeben hat.
Wir erfahren zunächst von der feindlichen Richtung, die
unter dem Absolutismus des 18. Jahrhunderts in Österreich gegen
Ungarn geherrscht hat. Vergeblich haben die Ungarn versucht,
nicht mehr nur Ausland für Österreich zu sein. Vergeblich hat
auch Kaiser Josef II. gegen die herrschenden Vorurteile an-
gekämpft. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts der ungarische
Reichstag wieder häufiger zusammentreten kann, fordert er stets
aufs neue die Aufhebung der ZwischenzoUinie. Aber die Wiener
Regierung ist dafür nicht zu haben. Da tritt in Ungarn selbst
ein Umschwung ein, man ist dort auf einmal zufrieden, von Öster-
reich wirtschaftlich getrennt zu sein, ja, man will diese Trennung
noch verstärken, einen reinen Schutzzoll für Ungarn einführen,
um eine neue Industrie hier zu erwecken. Die Bewegung des
Jahres 1848 zerschneidet auch diesen gordischen Knoten. In der
ersten österreichischen Verfassung werden sämtliche Teile Öster-
reichs zu einem gemeinsamen Zollgebiet vereint, und wenige
Jahre später wird dieser Beschluß auch durchgeführt. Schwierig-
keiten, die sich ihm entgegenstellten, wie die österreichischen
Monopole, werden leicht überwunden. Freilich wird man da
bedenken müssen, daß Österreich damals der herrschende und
Ungarn der unfreiwillig gehorchende Teil ist. Interessant ist es
zu sehen, wie die ungarische Industrie und der ungarische Handel
in der Zeit dieser Gemeinsamkeit heranwachsen und sich ent-
wickeln. Diese Verbindung erreicht ihre Krönung im Ausgleich
von 1867.
Es ist unmöglich, neben der Feststellung der Grundlinien
dieses Buches auch auf die reiche Fülle der Detailfragen einzu-
gehen, die S. berührt. So die Geschichte der einzelnen Industrien,
der Monopole, des Schleichhandels. Um bei letzterem Kapitel
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 9
130 Literaturbericht.
einen Augenblick zu verweilen: man hat nachgerechnet, daß im
Jahre 1832 zwei Drittel des ganzen Kaffeekonsums in Österreich
hereingeschmuggelt wurden. Das Pfund heimischen Tabaks kostete
in Ungarn 18 Kreuzer, in Wien aber 1 Gulden 12 Kreuzer, trotz-
dem die Frachtspesen nur 10 Kreuzer auf das Pfund betrugen.
Es gab Städte und Dörfer, die im Schmuggel es zu einer bestimm-
ten Spezialität gebracht hatten, wie Hennersdorf in Böhmen in
englischen Garnen.
S. gibt seinem Buche einen sehr umfangreichen und wert-
vollen Anhang von Staatsakten und statistischen Nachweisen
zur Beleuchtung seiner Schilderung bei. Nur aus kleinen Details
kann man erkennen, daß der einstige Historiker im Drange an-
derer Beschäftigung etwas die Berührung mit den Hilfsmitteln
seiner Wissenschaft verloren hat. So, wenn er den österreichi-
schen Minister Baldacci : Baldani nennt. Jedenfalls ist das Buch
aber dem Inhalte und der Form nach gleich fesselnd und
wertvoll.
Prag. 0. Weber.
Quellen zur Geschichte der Stadt Wien. Herausgegeben mit
Unterstützung des Gemeinderates der k. k. Reichshaupt-
und Residenzstadt vom Altertumsvereine zu Wien. 1. Ab-
teilung, 8. Bd. Redigiert von Dr. Josef Lampel. Wien 1914.
Nach längerem Stillstand ist wieder ein Band der Quellen
zur Geschichte der Stadt Wien (1. Abteilung, 8. Bd.) erschienen.
Josef Lampel, der nun die Redaktion des Quellenwerkes führt,
hat selbst den ersten Teil beigesteuert, der Nachträge zu dem
noch nicht erschienenen und allein den Beständen des k. u. k.
Haus-, Hof- und Staatsarchives gewidmeten 7. Bande bringt.
Darum wird es sich empfehlen, über diesen Teil später gemeinsam
mit Band 7 zu berichten. Nur zwei Dinge möchte ich hervor-
heben. L. zog die Literatur stärker heran, als dies bisher der
Fall war, und veranlaßte auch seine Mitarbeiter dazu. Das ist
eine sehr dankenswerte Neuerung. Ferner erweiterte er die
Grundsätze, nach denen die Aufnahme der einzelnen Stücke
erfolgt, dahin, daß auch alle in Wien ausgestellten Urkunden
in das Quellenwerk gehören. L. betrachtet diese Regestenbände
als eine Vorarbeit für ein Wiener Urkundenbuch. Unter diesem
Österreich. 131
Gesichtspunkte stimme ich der Neuerung bei; es fragt sich nur,
ob man diesem Verfahren nicht eine zeitliche Grenze ziehen sollte.
So wichtig nämlich für den diplomatischen Bearbeiter in der
Frühzeit des Mittelalters die genaue Kenntnis aller gleichzeitigen
und am selben Orte entstandenen Urkunden ist, für die spätere
Zeit verliert sie bald die Bedeutung. Denn die diplomatische
Bearbeitung des spätmittelalterlichen Materiales muß mit anderen
Mitteln durchgeführt werden wie jene der früheren Zeit, wenn
sie nicht an der ungeheueren Masse des Stoffes scheitern will.
Ich kann des näheren auf diese Dinge hier nicht eingehen, ohne
den mir zustehenden Raum weit 2u überschreiten, und möchte
nur im Interesse des Quellenwerkes anregen, des Guten, das in
der Neuerung sicherlich liegt, nicht allzuviel zu tun.
Auf L.s Beitrag folgen Regesten zur Wiener Geschichte
aus oberitahenischen Archiven, die Karl Schalk vornehmlich
aus der Literatur zusammengetragen hat. Trotz ihrer damit
unvermeidlichen Unvollständigkeit sind sie ein dankenswerter
Anfang auf einem bisher wenig gepflegten Gebiete. Sie erstrecken
sich begreiflicher Weise in immer mehr ganz zufälliger Auswahl
auch über die Jahrhunderte der Neuzeit. Ob das überhaupt
angeht, ist eine Frage, zu der wir bei dem Beitrage Thiels Stellung
nehmen werden.
Mit großer Freude geht man Hans Plöckingers Beitrag
(Regesten aus dem Archive der Stadt Krems) durch. Ich will
dem Verfasser übersehene Flüchtigkeiten, wie etwa die irrige
Auflösung marschalcus provintiae statt marschalcus provincialis
u. ä. nicht vorhalten. Daß die Urkunde 15 934 zu 1358 und nicht
zu 1308 gehört und mithin jeder Verdacht an ihrer Echtheit
schwindet, hat Plöckinger indes selbst berichtigt.^) Im ganzen
ist diese Arbeit Plöckingers, wenn man von L.s Nachtrag, der ja
ausscheidet, absieht, die erfreulichste unter den dreien, welche
dieser Band bietet.
Denn der letzte umfangreiche Beitrag von Viktor Thiel
ist trotz der sorgsamen Durcharbeitung, die ich gerne hervorhebe,
eine verfehlte Sache. Es werden Regesten aus dem steiermärki-
*) Berichte und Mitteilungen des Altertumsvereines 1915,
Bd. 48, S. 21 Anm. I. Vgl. auch Kallbrunner in den Archiv-
berichten aus Niederösterreich I, 2, S. 180, Nr. 973.
9*
132 Literaturbericht.
sehen Statthalterarchive geboten, die sich über die Jahre 1565
bis 1740 erstrecken. Die Arbeit ist, wie ich schon betonte, sehr
sorgfältig. Es sind auch die Repertorien herangezogen und so
heute verlorene Akten der Forschung noch mittelbar erschlossen.
In dieser Hinsicht ist der Verfasser sogar etwas zu weit gegangen,
da er Repertorienvermerke zu Akten wiedergibt, welche nach
seiner eigenen Anmerkung heute im Wiener Staatsarchive liegen.
Das ist bei dem einmal für die Quellen bestehenden Grundsatze
der Aufarbeitung des ganzen Stoffes nach einzelnen Archiven
nicht gerechtfertigt. Man kann wissentlich nicht ein Regest
in demselben Werke zweimal geben und diese Akten müßten
naturgemäß in einem dem Wiener Staatsarchiv gewidmeten
Bande wieder erscheinen. War Thiel vielleicht der Meinung, daß
eine Veröffentlichung des Wiener Materials aus dieser Zeit und
in dieser Form nicht zustande kommen könne? Der Gedanke
liegt nahe, denn es erscheint wohl ganz unmöglich, alle auf Wiens
Geschichte bezüglichen Akten in Regestenform zu pubHzieren.
Und wie es unmöglich wäre, wäre es auch gar nicht wünschens-
wert; man muß die Spreu vom Weizen sondern.
Wenn sich der um die Geschichte Wiens so wohlverdiente
Altertumsverein nicht nur die Erschließung der Quellen einer
bestimmten Zeit, sondern aller Quellen zur Aufgabe setzt, ist das
durchaus zu begrüßen. Aber man darf nicht alles über einen
Leisten schlagen. Die Arbeit für das Urkundenbuch der Stadt
Wien, das dem Redakteur des Quellenwerkes als letztes Ziel vor-
schwebt, muß planmäßig von der Erschließung des reichen Akten-
materials der neueren Jahrhunderte getrennt werden. Es trifft
sich bei der Geschichte Wiens zufällig, daß in der Zeit des vollen
Sieges der Akten über das mittelalterliche Urkundenwesen auch
die Geschichte der Stadt selbst eine andere wird. Das Stadt-
recht König Ferdinands von 1526 bedeutet „den vollen Sieg des
Landesfürsten und das Ende der städtischen Autonomie".^)
Man versuche darum bis zu diesem Zeitpunkt einmal alles Ur-
kundenmaterial auf dem schon eingeschlagenen Wege der Auf-
arbeitung nach Archiven zusammenzubringen. Wie Krems
müssen auch die anderen Archive ausgebeutet werden und zwar
womöglich mit Rücksichtnahme auf die Archivberichte des
») V. Voltelini, Die Anfänge der Stadt Wien S. 144.
Frankreich. 133
k. k. Archivrats, die einen Teil der langwierigen Arbeit werden
ersparen helfen. i) Wenn das vielleicht das Erscheinen der Bände
auch erschweren und verlangsamen sollte, würde das nicht schaden.
Man könnte ja einzelne Hefte ausgeben, zu denen die Register
erst später erscheinen. Das sind rein technische Fragen, die sich
leicht werden lösen lassen.
Das neuzeitliche Material aber, die ungeheure Masse von
Akten, kann nicht in gleicher Weise und darum auch nicht nach
Archiven aufgearbeitet werden, sondern nur nach Materien. Es
wird sehr verdienstlich sein, wenn die Quellen zur Geschichte
der Stadt Wien „ausgewählte Akten" zur Geschichte des Handels,
des Gewerbes, der Polizei usw. in den Jahrhunderten der Neu-
zeit bringen. Ein solcher Band kann aber nur nach langen Studien
auf Grund umfassendster Kenntnis erarbeitet werden. Er würde
freilich in viel höherem Maße der Wissenschaft dienen.
Es tut mir leid, daß ich den vorliegenden Band so nicht
durchaus loben konnte. Denn ich schulde den Quellen für manche
Förderung meiner eigenen Arbeiten lebhaften Dank. Aber eben
weil ich weiß, wieviel Gutes sie bieten, halte ich mich für berech-
tigt zu sagen, um wieviel mehr sie noch wirken könnten. Und
ich sage es nur in der Meinung, damit in etwas vielleicht dem
rührigen Vereine auch nutzen zu können, dem wir für seine
reiche Tätigkeit so sehr zu danken haben.
Wien. Otto H. Stowasser.
La taille en Normandie au temps de Colbert (1661 — 1683). Par
Edmond Estnonin. (Etudes sur les institutions financUres
de la France moderne.) Paris, Hachette et Cie. 1913. XXXI
u. 552 S. 7,50 Fr.
Bei der großen Bedeutung, die das französische Steuersystem
für die Geschichte des Ancien regime hat, ist eine ausführliche,
*) Eine der lohnendsten Aufgaben schiene mir, die im Wiener
Staatsarchiv aufbewahrten Bände der landesfürstlichen Register
für die Geschichte Wiens auszunützen. Es wird überhaupt not-
wendig sein, nun auch auf das nur handschriftlich überlieferte
Material einzugehen. So zeitraubend diese Arbeiten sein werden,
ihr Ergebnis wird sicher ein reiches sein.
134 Literaturbericht.
auf umfassenden archivalischen Studien beruhende Untersuchung
über die Taille, die älteste und wichtigste direkte Steuer in Frank-
reich, sehr zu begrüßen. Esmbnin hat sich in dieser Erstlings-
schrift allerdings räumlich und zeitlich beschränkt. Er beschäf-
tigt sich nur mit der Taille in der Normandie; aber die Normandie
war eine der reichsten Provinzen des Königreichs und daher
ein besonders ergiebiges Feld für die Finanzkünste der Regierung.
Er beschäftigt sich ferner nur mit den 23 Jahren der Verwaltung
des Generalkontrolleurs Colbert; aber gerade diese Zeit ist von
großer Bedeutung und lehrreich durch den Versuch einer festen
Steuerorganisation und einer ersten Steuerreform, zudem quellen-
mäßig ausgezeichnet durch ein reiches Aktenmaterial. So vermag
uns der Verfasser in allen Einzelheiten darzulegen die jährliche
Ausschreibung und Höhe der Taille, ihre Verwaltung und Re-
partition (d. h. ihre Verteilung auf die Generalitäten, Elektions-
bezirke und Städte, Pfarreien), die Bestellung der colledeurs
(Einziehungsbeamten) und die Erhebung, die zahlreichen und
je länger je mehr verhängnisvollen Privilegien von Ständen,
Ämtern und Orten sowie die verschiedenen Arten der Taille
(wobei hervorzuheben ist, daß nach S. 276 die sog. taille rielle
keineswegs nur von Immobilien erhoben wurde). Das Gesamt-
bild ist wenig erfreulich. Wohl hat Colbert die beim Sturze des
Oberfinanzintendanten Fouquet 1661 bereits außerordentlich an-
geschwollene Höhe der Taille etwas herabmindern können und
sie während seiner Amtszeit im allgemeinen auch auf dieser Stufe
zu halten vermocht (nur in den letzten Jahren des Holländischen
Kriegs erreichte sie wieder fast die alte Höhe; vgl. die genauen
Zahlen für die pays d'äections bei Esmonin S. 23 Anm. 4 und
für die Normandie in der 5. Beilage S. 545 ff.). Aber tatsächlich
ist damit wenig gebessert worden, da hauptsächlich solche Posten
gestrichen wurden, die schon vorher nicht eingegangen sind.
Colbert hat auch sonst manchen Unsicherheiten ein Ende ge-
macht und eine zuverlässige, die Leitung durch die Zentralgewalt
sichernde Ordnung der Steuer vorgenommen. Aber mit seinen
Reformen bei der Einziehung, die viele Mißstände aufwies, ist
er nur teilweise durchgedrungen, und sie wären zudem auch
nicht geeignet gewesen, die mannigfachen Schäden dieser Steuer
wirklich zu heilen. Dazu hätte es anderer Mittel bedurft, eine
gründliche Änderung bei den Ungerechtigkeiten der Verteilung
Frankreich. 135
und Erhebung und vor allem einen entschlossenen Einbruch in
das System der Privilegien. Das Elend, das nicht zum wenigsten
die Taille in weiten Teilen des Landes hervorgerufen hat, ist
so auch von Colbert nicht gehoben worden. Erst nach ihm frei-
lich haben sich die Zustände rasch weiter verschlimmert, bereits
der Spanische Erbfolgekrieg brachte gar zwei neue direkte Steuern,
und man hat überhaupt daran festzuhalten, daß das Steuer-
system des Ancien rigime die Hauptursache der Revolution ge-
wesen ist.
Gießen. Robert Holtzmann.
Das französische Geldwesen im Kriege (1870 — 1878). Von Dr.
Franz Gutmann, Privatdozent an der Universität Tübingen.
Straßburg, J. Trübner. 1913. X u. 525 S.
Mit engem Anschluß an Knapps „Staatliche Theorie des
Geldes" und an die von Knapp eingeführte Terminologie be-
handelt Gutmann das französische Geldwesen im Kriege von
1870/71 und in den nächstfolgenden Jahren,
Einleitend bespricht er zunächst, wie sich die Geldver-
fassung Frankreichs in der Zeit vor dem Kriege unter dem
Einfluß des lateinischen Münzbundes gestaltet hatte. Dann
kommt er zu der Art, wie die großen Geldmittel für die Füh-
rung des Krieges beschafft wurden: Ansammlung des Goldes
und Silbers bei der Bank, Zwangskurs für deren Noten, An-
leihen. Auswärtige Schulden hatte Frankreich damals nicht,
wohl aber besaß es in ansehnlichem Umfange fremde Werte,
die zu Zahlungen an das Ausland benutzt werden konnten.
Noch deutlicher zeigt sich der Wohlstand Frankreichs in dem
glänzenden Erfolge der beiden inneren Anleihen vom Juni 1871
und September 1872, der es ermöglichte, die Kriegsentschä-
digung sehr viel rascher zu zahlen, als anfangs vorausgesehen
war.
Bald erschien das Metallgold wieder im Verkehr, die Bank
löste ihre Noten ein, noch ehe sie gesetzlich dazu verpflichtet
war, so daß die formelle Aufhebung des Zwangskurses am
L Januar 1878 nahezu unbeachtet blieb. Noch einige Wochen
später verhandelte die sociäi d'economie politique ernstlich über
die Notwendigkeit: „de supprimer le cours force par suite de
136 Literaturbericht.
l'abondance de l'argenV und erst während der Beratung wurde
darauf aufmerksam gemacht, daß die Aufhebung ja bereits tat-
sächlich und gesetzlich erfolgt sei.
Die Akten des französischen Finanzministeriums zu be-
nutzen, ist dem Verfasser nicht gestattet worden, seine sorg-
fältige, wohldurchdachte Untersuchung stützt sich in erster Linie
auf die amtlich veröffentlichten Ausweise und die Kammer-
berichte, außerdem auf die Erörterungen in der Presse und in
der volkswirtschaftlichen Literatur. Leicht und angenehm zu
lesen ist sie nicht, der übermäßige Gebrauch wissenschaftlicher
Fachausdrücke, in denen der Verfasser förmlich zu schwelgen
scheint, erschwert den Genuß der lehrreichen Arbeit.
Berlin. Paul Goldschmidt.
Kolonialgeschichte der Neuzeit. Von Veit Valentin. Tübingen,
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 1915. 226 S. 4,80 M.
Je mehr im letzten Jahrzehnt das Interesse an kolonialen
Problemen bei uns zunahm, desto mehr begann man sich auch
mit der Geschichte der Kolonisation zu beschäftigen. Obwohl
es auf diesem Gebiet noch vielfach an den notwendigen Vor-
arbeiten fehlt, so bestand doch das Bedürfnis nach einer Zu-
sammenfassung des gewaltigen Stoffes. Von den verschiedenen
Büchern, die diese Aufgabe zu erfüllen suchen, ist das Valen-
tinsche wohl das gelungenste. Es geht der Schwierigkeit, die in
der Kompliziertheit des Stoffes gelegen ist, dadurch aus dem
Wege, daß es zunächst in großen Zügen den Verlauf der Kolo-
nialgeschichte darstellt und dann dazu übergeht, die kolonisato-
rische Tätigkeit der einzelnen Völker zu beschreiben. V.s Haupt-
gesichtspunkt, der die ganze Arbeit durchzieht und ihr einen
einheitlichen wenn auch naturgemäß auch einseitigen Charakter
aufprägt, ist der, „den kolonialen Gedanken unter Ablehnung
ökonomischer Auffassungen als einen Ausfluß des Staats- und
Machtgedankens, die Kolonisation als den letzten und strengsten
Gradmesser nationaler Kraft und nationalen Selbstbewußtseins"
zu betrachten. Manche Urteile, wie etwa das über die heutigen
Engländer (S. 167) und die völlig unrichtige Einschätzung Kana-
das (S. 121), mögen in einer neuen Auflage geändert werden, im
ganzen ist das Buch durch seine übersichtliche Anordnung und
Heeresgeschichte. 137
seine i<iare und frische Darstellung eine ausgezeichnete Einfüh-
rung, geeignet, diesem wichtigen und neuen Teil unserer Wissen-
schaft weitere Freunde und Forscher zuzuführen.
Göttingen. Paul Darmstaedter.
Der Gedanke des Volksheeres im deutschen Staatsrecht. Von
Kurt Wol2endorff. Tübingen, J. C. B. Mohr (P. Siebeck).
1914. ^ XII u. 63 S.
Diese Schrift ist vor dem Krieg verfaßt worden, behandelt
aber ein Thema, das uns heute im höchsten Maß beschäftigt.
Wenn man ihm eine ganz umfassende Darstellung wünschte, so
ist doch auch die kürzere Erörterung willkommen zu heißen,
zumal sie gerade die Grundfragen aus der Geschichte der deut-
schen Heeresverfassung zur Diskussion stellt. Angeregt zu seiner
Arbeit ist der Verfasser namentlich durch die Werke von M.
Lehmann und F. Meinecke über die preußische Reformzeit. Er
greift aber in seinem historischen Überblick weit zurück, indem
er mit einer Darlegung der Heeresverfassung in der deutschen
Urzeit beginnt.
In der Schilderung der altern Zeiten gibt Wolzendorff eine
Reihe glücklicher Formulierungen. Der Ernst, mit dem er den
Dingen auf den Grund zu gehen sucht, erweist sich als durchaus
fruchtbar. Freilich vermag ich ihm nicht überall beizustimmen.
Ich will mich, da er meinen ,, Deutschen Staat des Mittelalters",
der etwas später als seine Schrift erschien, noch nicht benutzen
konnte, hier nicht ausführlich über unsere differierenden Ansich-
ten äußern, sondern nur einiges andeuten. So große Verdienste
Gierkes Genossenschaftsrecht zukommen, so ist es doch nicht
möglich, mit der Ausschließlichkeit, mit der er es tut, mit dem
Gegensatz Herrschaft und Genossenschaft zu operieren, und seine
Anschauungen von diesen Verhältnissen bedürfen auch noch im
einzelnen der Korrektur. W. schließt sich ganz Gierkes Theorien
an (vgl. z. B. S. 5 ff.). Ist es richtig (S. 5), daß „die feudale Heeres-
und Staatsverfassung", „den einzelnen immer nur seinem un-
mittelbaren Lehnsherrn unterwarf"? Gibt es keine Einschrän-
kung der Lehnsverfassung im Interesse des Staats? Das Sold-
rittertum hat nicht bloß einen wirtschaftlichen (S. 6), sondern
auch einen politischen Grund. Das Kriegswesen soll von den
138 Literaturbericht.
„kleineren feudalen Herren" „ausschließlich in die Hände der
sich nun bildenden Landesherren übergegangen" sein (ebenda).
Überwiegend ist es vom Reich auf die Landesherren übergegangen.
Die Landfriedensbestrebungen des Mittelalters stellt W. (ebenda)
zu einseitig als eine Aktion der Landesherren gegen private Mächte
dar. Ist es richtig (S. 4), daß die Städte als „Träger des alten
deutschen Genossenschaftsgedankens" die allgemeine Wehrpflicht
als Grundlage des städtischen Kriegswesens „bis in die Neuzeit
hinein" gerettet haben? Höchstens für die Reichsstädte könnte
dies gelten. Aber auch schon im Mittelalter wird die allgemeine
Wehrpflicht in den Städten (in den Reichsstädten besonders)
stark ergänzt, vielleicht sogar überwuchert von dem Söldner-
heer (siehe mein älteres Städtewesen und Bürgertum, 2. Aufl.,
S. 78). Und in der Neuzeit sind die Landstädte, d. h. die
große Masse der Städte, in der Heeresverfassung einfach Glieder
des Territoriums. Wenn der Landesherr einmal ein allgemeines
Aufgebot seiner Untertanen erläßt, so sind die Städter, die
daraufhin erscheinen, militärisch nicht brauchbarer als die
Landbewohner. Die Erneuerung der altgermanischen allge-
meinen Wehrpflicht, wie sie unvollständig im preußischen
Kantonsystem, vollständiger in den Maßnahmen des 19. Jahr-
hunderts uns entgegentritt, vollzieht sich nicht im Anschluß an
erhalten gebliebene alte städtische Einrichtungen (unrichtig W.
S. 12). S. 11 nennt W. den Gedanken der allgemeinen Wehr-
pflicht den „Gedanken der genossenschaftlichen Verpflichtung".
Hier zeigt sich eben, daß man mit der Gierkeschen Kategorie
doch nicht soviel operieren kann. Die allgemeine Wehrpflicht
kann eine öffentliche Pflicht sein, ohne daß sie rechtlich einer
„Genossenschaft" geleistet wird. Ist das Rechtssubjekt bei der
„Landesdefension" (ebenda) immer nur eine „Genossenschaft"?
Der ,, Polizeidienst" (S. 12) ist dem mittelalterlichen Territorium
vertraut.!) S. 13 spricht W. über die Gründe, weshalb das länd-
liche Aufgebot in der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert keine
Rolle spielt: er macht das wirtschaftliche Interesse der Guts-
herren und die politische Furcht vor einer Volksbewaffnung
*) Es mag bei dieser Gelegenheit auf Fehrs Abhandlung über
Landfolge und Gerichtsfolge (1914) in der Festgabe für R. Sohm
hingewiesen werden.
Heeresgeschichte. 139
namhaft. Diese beiden Gründe treten vor dem Umstand, daß
das allgemeine Aufgebot technisch einfach unbrauchbar war,
durchaus zurücl<. Die Furcht vor einer Volksbewaffnung hat
nach Besiegung der aufständischen Bauern im 16. Jahrhundert
wohl eine Rolle gespielt. Im übrigen messen die Quellen diesem
Motiv keine maßgebende Bedeutung zu. Das wirtschaftliche
Interesse der Gutsherren kann schon deshalb nicht ausschlag-
gebend gewirkt haben, weil keineswegs alle Bauern (zumal in den
westdeutschen Territorien) von den Grundherren abhängig sind.
Wir sehen ja auch, wie tatsächlich die Bauern aufgeboten werden
(zu Musterungen und zum Teil auch zum Krieg), aber jedesmal
sich als unbrauchbar erweisen. Und mit dem städtischen Auf-
gebot, für das die von W. genannten Motive nicht in Betracht
kämen, verhält es sich, wie bereits angedeutet, ebenso wie mit
dem ländlichen.
Die Behauptung (S. 16), daß die Männer der Reformzeit
sich von dem „Genossenschaftsgedanken" (im Sinn Gierkes)
leiten ließen, möchte ich doch etwas einschränken. Die Idee des
Vaterlands (S. 22), Heimatsgefühl und Staatsgesinnung (S. 23)
sind eben nicht identisch mit der Genossenschaftsidee. Die Auf-
fassung Wittgensteins von der neuen Heeresorganisation darf
man nicht mit der „des Adels" (S. 26f.) gleichsetzen. Es würde
nicht schwer sein nachzuweisen, daß Wittgensteins Ansicht nicht
an vielen Stellen im Adel vertreten wurde. Bei der Schilderung
der Stimmung des Publikums gegenüber den Heeresfragen im
Lauf des 19. Jahrhunderts hätte W. (S. 32) die aus der Zeit
der Aufklärung ererbte Abneigung gegen das stehende Heer,
gegen die militärische Macht überhaupt (vgl. Vierteljahrschrift
f. Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte 1915, S. 433 f.) berücksichtigen
sollen. Zu der Art, wie W. Stahl in Gegensatz zum ,, konstitu-
tionellen Gedanken" bringt, kann man ihm nicht zustimmen.
Das von König Wilhelm I. geforderte längere Exerzieren der
Truppe führt W. doch zu sehr auf ein politisches Motiv zurück
und übersieht entsprechend die rein technischen Erwägungen,
die dazu führten. Auch den Satz: ,,eine Frucht der Restauration
ist die Umgestaltung des Heeres in der Reorganisation" (S. 37)
möchte ich anfechten. Der Realismus der Zeit war über die
Restaurationsidee hinausgegangen. — Was W. S. 63 über Re-
naissance und Rezeption des römischen Rechts sagt, vermag
140 Literaturbericht.
ich keineswegs zu unterschreiben. Ich glaube in meiner Schrift
über die Ursachen der Rezeption des römischen Rechts genügend
dargelegt zu haben (S. 151 f.), daß dasjenige germanische Recht,
das durch das eindringende römische verdrängt worden ist,
durchaus nicht ein „jede Entwicklung wirtschaftlichen Verkehrs
hemmendes" gewesen ist.
Im vorstehenden habe ich abweichende Ansichten geltend
gemacht. Ich könnte aber auch zu vielem meine Zustimmung
aussprechen und möchte ganz besonders W.s Bestimmung des
Charakters der modernen Heeresverfassung der Aufmerksamkeit
empfehlen. Was er über die Stellung des Offizierkorps (Reserve-
offizierkorps) und der Kriegervereine sagt, liefert eine Bestäti-
gung der in meinem „Deutschen Staat des Mittelalters" vor-
getragenen Auffassung, daß das altgermanische Gefolge die Exi-
stenz eines wahren staatlichen Verbandes nicht ausschließt.
W. selbst hat auch schon die Parallele mit dem Gefolge ge-
zogen.
Da mich hier die Diskussion auf die in meinem genannten
Buch geäußerten Anschauungen geführt hat, so möchte ich die
Gelegenheit wahrnehmen, um einiges zu der eingehenden und
sachlich so ergiebigen Besprechung meiner Schrift von Ed. Rosen-
thal in dieser Ztschr. Bd. 115, S. 372ff., für die ich dem Rezen-
senten lebhaften Dank schulde, zu bemerken.
Zu der Frage, in welchem Umfang K. L. v. Haller die Dar-
stellung der altern deutschen Verfassungsgeschichte beeinflußt^)
hat, sei auf H. v. Sybels Aufsatz „die christlich-germanische
Staatslehre", Kleine historische Schriften, Bd. I, 2. Aufl., S. 361 ff.
hingewiesen. Sybel schildert hier die alte deutsche Verfassung
ganz nach Haller (dessen Anschauungen kein Hindernis dagegen
bildeten, daß er außerdem noch seine eigenen Theorien vom Ur-
sprung des Königtums hineinbrachte). „Der König besaß seine
Herrschaftsrechte ... als privates und persönliches Eigentum wie
seine Gelder und Äcker." „Dem Könige gehörte die Gerichts-
*) Rosenthal (S. 384) beruft sich darauf, daß Jellinek „die
Patrimoniallehre als staatliche Rechtfertigungslehre für eingehen-
dere Widerlegung nicht mehr bedürftig" erkläre. Gewiß, für die
Gegenwart verwirft er sie. Aber in der Darstellung der Ver-
gangenheit verschließt er sich nicht ganz gegen sie. Vgl. meinen
mittelalterlichen Staat I, 8.208 Anm. 1.
Heeresgeschichte. 141
Hoheit ebenso als Eigentum wie ein Stüci< Geld oder Weide"
(S. 377). „Dieser Mangel in der politischen Anschauung hat das
Mittelalter beinahe durchgängig beherrscht; .... er bildet . . .
ein wesentliches Moment in der heutigen Lehre des christlich-
germanischen Staats," Interessant ist es dabei noch, daß Sybel
bei der Schilderung der christlich-germanischen Staatslehre eben
auch viel von der Hallerschen Doktrin zugrunde legt. Vgl. außer
der angeführten Stelle S. 367, wo er die Vertreter jener Lehre
auf die Frage nach der Entstehung der Staaten die Antwort
geben läßt: „Ein Starker erhebt sich auf eigene Hand, und die
andern beugen sich entweder seiner Kraft oder freuen sich seines
Schutzes." Hätte Sybel die „christlich-germanische Staatslehre"
etwa nach Leo und Stahl, klassischen Vertretern derselben, dar-
gestellt, so hätte er bemerkenswerten Widerspruch eben dieser
Autoren gegen Hallers Doktrin in wichtigen. Beziehungen zu ver-
zeichnen gehabt.
Rosenthal (S. 391) glaubt bei mir eine einseitige Überschät-
zung der Vortrefflichkeit mittelalterlicher Einrichtungen zu fin-
den. Ich meine, von einer solchen frei zu sein. Als Beweis führt
R. meine Ansicht an, „daß das Bewußtsein von der verpflich-
tenden Natur des Amts im Mittelalter im wesentlichen ebenso
bestanden hat wie heute." Hier dürfte ein Mißverständnis vor-
liegen. Ich behaupte nur, daß die Idee der Verpflichtung ebenso
vorhanden war wie heute. Natürlich gebe ich einen Gradunter-
schied in der Ausprägung der Idee und in der praktischen Be-
tätigung derselben bereitwillig zu, wie ich ja auch Beispiele für
diese geringere praktische Betätigung im Mittelalter angeführt
habe. Aber die Existenz der Amtsidee an sich glaube ich mit
Bestimmtheit behaupten zu müssen, und darin erfreue ich mich
ja auch der Zustimmung R.s (S. 378). Der Streit kann sich nur
um das Maß drehen, in dem die Amtsidee im Mittelalter verwirk-
licht worden ist. Zur Stärkung meiner? osition möchte ich hier
noch einiges vorbringen. In meinen terminologischen Unter-
suchungen, durch die ich meine Ansicht von dem relativen Zurück-
treten privatrechtlicher Beziehungen in der alten Verfassung zu
stützen suche, habe ich bemerkt, daß der betreffende Sprach-
gebrauch nicht vollkommen ausnahmslos ist. R. (S. 377) zieht
diese Argumente in Zweifel, weil „es sich nicht um feste ein-
deutige Termini handle". Aber es ist doch ein bestimmter über-
142 Literaturbericht.
wiegender Sprachgebrauch zu beobachten. Und das muß genügen;
denn in keiner Zeit wird man einen absolut eindeutigen Sprach-
gebrauch feststellen können.^) Ich halte daran fest (zu R. S. 379),
daß der öffentliche Zweck des Regals, soviel er auch von andern
Gesichtspunkten überwuchert worden ist, doch zu allen Zeiten
noch eine gewisse Bedeutung behalten hat. Im zweiten Band
meines Buchs werde ich Gelegenheit haben dies nachzuweisen.
Zu meiner Feststellung, daß das Mittelalter den staatlichen
Rahmen kannte, meint R. (S. 382), dies werde ernsthaft nicht
bestritten werden können, besage aber nicht so sehr viel. Mir
ist es sehr willkommen, wenn meine Feststellung „ernsthaft nicht
bestritten werden kann". Tatsächlich ist aber diese These doch
sehr oft bestritten worden (Sohm sah sich doch wahrlich auch
nicht ohne Grund genötigt, für sie einzutreten), und eben des-
halb schon scheint es mir etwas zu besagen, wenn sie unbestreit-
bar erwiesen wird. R.s Ansicht (S. 374), daß der von mir zitierte
Aufsatz J. F. V. Schultes nicht sonderlich hoch zu bewerten sei,
trete ich natürlich bei; aber die von Schulte darin vorgetragenen
Anschauungen von dem unstaatlichen Charakter der mittelalter-
lichen Verfassung sind doch sehr verbreitet und nicht bloß in
der populären Literatur, sondern z. B. auch in finanzwissenschaft-
lichen Werken (vgl. Ztschr. f. Sozialwissenschaft 1911, S. 368).
Im übrigen zeigen auch recht gute verfassungsgeschichtliche Ar-
beiten oft starke Verwandtschaften mit Schultes Meinungen.
Daß aber materiell der staatliche Rahmen sehr viel bedeutet,
ersehen wir am deutlichsten wohl aus der Steuergeschichte.
Wenn ich im Gegensatz zu Gierke die Einungen, Zünfte,
Ritterbünde als ein wesentliches Stück des Feudalismus auffasse,
so wendet R. (S. 389) ein, es sei doch zwischen den Bildungen,
die auf dem Herrschaftsprinzip aufgebaut sind, und jenen, für
die der Freiheitsgedanke den bestimmenden Ausgangspunkt bildet,
*) Interessante Beobachtungen auf dem Gebiet dieses Sprach-
gebrauchs neuerdings bei O. Schrader, Vaterland (akad. Rede
zur 100. Wiederkehr des Geburtstages Bismarcks, Breslau 1915).
Ich möchte ihm jedoch nicht beitreten, wenn er das Politische
in das Wort Land, Vaterland durch den Einfluß des klassischen
Altertums kommen läßt. K. v. Amira (s. meine Schrift S. 129 f.)
nimmt an, daß schon die alten Germanen ihr Staatsgebiet Land
nannten.
Heeresgeschichte. 143
eine scharfe Grenzlinie zu ziehen. Allein wie ich die Gierkesche
Kategorie der „Herrschaft" ablehnen zu müssen glaube, weil sie
zuviel umfaßt und Verhältnisse in sich aufnimmt, die vonein-
ander doch stark abweichen, so scheint mir anderseits der „Frei-
heitsgedanke" nicht einen genügenden Gegensatz gegen die „Herr-
schaft" zu bilden. Nach „Freiheit" im mittelalterlichen Sinn,
d. h. nach möglichster Unabhängigkeit vom Staat und Privilegie-
rung, strebten Landesherren und Grundherren wie Einungen,
Zünfte, Ritterbünde in gleicher Art, R. (S, 387) hebt hervor,
man müsse zwischen dem mittelalterlichen Staat und dem Ge-
meinschaftsgebilde, das wir heute Staat nennen, scharf unter-
scheiden. Ich bin vollkommen seiner Ansicht, Aber ich glaube
eben damit eine scharfe Unterscheidung aufzurichten, daß ich
in strengerer Fassung des Begriffs Mittelalter Bildungen, in denen
Gierke schon etwas NeuzeitHches sieht, dem Mittelalter zuweise.
Gegen meine Definition des Begriffs Staat beruft sich R.
(S. 381f.) auf die von Jellinek, Allein dessen Definition kann
nur für den modernen Staat gelten. Es kommt doch aber darauf
an, eine Definition zu finden, die für den mittelalterlichen Staat
ebenso gilt wie für den modernen.^)
Freiburg i. B. G. v. Below.
Die Ritter des Ordens pour le mdrite. Auf Allerhöchsten Befehl
Seiner Majestät des Kaisers und Königs bearbeitet im Kgl.
Kriegsministerium durch G. Lehmann, Wirklicher Geheimer
Kriegsrat und vertrag. Rat im Kriegsministerium. 1. Bd.:
1740—1811. 671 S. 2. Bd.: 1812—1913. 684 S. Berlin, Mittler
<& Sohn. 1913.
Der Verfasser entwirft zunächst eine Geschichte des Ordens
pour le mirite. Bei der Thronbesteigung Friedrichs des Großen
^) Gegen meine Deutung des altgermanischen Gefolges in
dem vorhin erörterten Sinn wendet Rosenthal (S. 385) ein, daß
nicht bloß der König, sondern auch die principes ein Gefolge
haben. Indessen sind sie ja staatliche Personen. — Auf die aus-
führliche Besprechung meines Buches durch Dopsch in den Mit-
teilungen des Instituts 36, S, 1 f., der meiner Darstellung in noch
stärkerm Umfang als Rosenthal beitritt, sei hier auch verwiesen.
Vgl. ferner Vierteljahrschrift f. Sozial- u. WG. 1915, S. 225 ff. und
Zeitschrift „Panther« 1916, S. 52 ff.
144 Literaturbericht.
bestand in Preußen neben dem Schwarzen Adler-Orden nur noch
ein Verdienstorden, der Orden de la ginirositi, später gewöhnlich
„das Gnadenkreuz" genannt, der sich aber keines besonderen
Ansehens erfreute. Tatsächlich war diese Dekoration in den
letzten Jahren König Friedrich Wilhelms 1. fast ausschließlich
für Hilfeleistungen bei der ausländischen Werbung verliehen
worden. Dies ist wohl der Grund, weshalb Friedrich der Große
bald nach seiner Thronbesteigung den Entschluß faßte, einen
neuen, dem Verdienste bestimmten Orden zu stiften. Die Stif-
tung des Ordens pour le merite erfolgte im Juli 1740. Er war
hauptsächlich für im Dienst befindliche Offiziere bestimmt. In
Friedenszeiten hat der König den Orden nur selten verliehen.
Aber auch in der Verleihung während des Krieges für vor dem
Feinde bewiesene Auszeichnung blieb der König maßvoll. Weit
freigebiger war König Friedrich Wilhelm II., namentlich aus
Anlaß der Rheinfeldzüge und der Ereignisse in Polen. Unter
Friedrich Wilhelm III. erreichte die Zahl der Verleihungen sogar
die Höhe von 2454. Unter Friedrich Wilhelm IV. dagegen wurde
die Verleihung auf ausgezeichnete Taten und außerordentliche
Tapferkeit eingeschränkt. Unter Wilhelm I. wurde die Wert-
schätzung des Ordens auf die größte Höhe gehoben. König
Wilhelm II. hat 17 Verleihungen eintreten lassen.
Im einzelnen führt das Lehmannsche Werk sämtliche Ver-
leihungen des Ordens seit seiner Stiftung bis heute unter mög-
lichst genauer Angabe der Persönlichkeit des Beliehenen, der
tatsächlichen Vorgänge und näheren Umstände, der Verleihungs-
urkunden usw. an. Mit einem außerordentlichen Fleiß ist das
große Material zusammengetragen, das als sehr wertvolle hi-
storische Quelle für biographische und kriegsgeschichtliche Zwecke
bezeichnet werden muß. X.
Gneisenau. Von W. v. Unger, Generalleutnant z. D. Mit 4 Bild-
nissen und 17 Skizzen im Text. Berlin, Mittler & Sohn. 1914.
448 S. 9,50 M.
Der als Biograph Blüchers rühmlich bekannte Verfasser
ist vermutlich durch die bei dieser Gelegenheit gemachten Stu-
dien auch zu einer Beschreibung des Lebens Gneisenaus, dieses
„Sternes erster Größe", angeregt worden. Die Arbeit beruht im
Heeresgeschichte. 145
wesentlichen auf dem von Pertz und Delbrück wiedergegebenen
urkundlichen Material. Dazu sind einige bedeutenderen neueren
Veröffentlichungen des Großen Generalstabes („Das preußische
Offizierkorps 1806", „Kolberg 1806—1807", „Das preußische
Heer der Befreiungskriege") sowie eine Anzahl anderer Werke,
Denkwürdigkeiten, Briefe im Privatbesitz u. dgl. getreten. Ob-
wohl somit wesentlich neues, grundlegendes Material nicht beige-
bracht ist, hat das Buch doch seinen besonderen Wert. Er liegt
vornehmlich in der klaren, knappen und übersichtlichen Zu-
sammenstellung, in dem vortrefflichen militärischen Urteil und
in der lebendigen, warmen und von Begeisterung für den Helden
getragenen Darstellung. Von Gneisenau sagt der Feldmarschall
Graf von Schlieffen, daß er die Verkörperung der Gefühle der
Entrüstung, des Hasses und der Rache war, die Napoleon durch
die Unterjochung Preußens hervorgerufen hatte. ,,In Gneisenau,
in keinem anderen, hat Napoleon seinen Überwinder gefunden."
Gneisenau vor allem war es, der von Napoleon die Kunst der
Kriegführung lernte und sie dem Meister gegenüber rücksichtslos
anwandte. Nicht als ob er keine militärischen Fehler gemacht
hätte! Aber seine Energie, die Stärke seines Charakters, seine
glühende Vaterlandsliebe, halfen ihm darüber hinweg und sicherten
ihm den Erfolg. Durch eine Kette von wunderbaren Umständen
wurde der Füsiiierhauptmann aus der Masse herausgezogen
und an hervorragende Stelle gebracht. Die Tat von Kolberg
reihte ihn unter die ersten Männer des Vaterlandes. Scharnhorst
erkor ihn zu seinem Mitarbeiter bei der Neugestaltung des Heer-
wesens. Seine größte organisatorische Leistung war die Bereit-
stellung der schlesischen Landwehr für den Feldgebrauch. In
strategischer Beziehung ist der kühnste seiner Entschlüsse wohl
der Eibübergang 1813 angesichts des Feindes und das dem-
nächstige Ausweichen hinter der Saale gewesen. Als im Feldzuge
von 1814 die Rückschläge bei Champaubert, Montmirail und
Etoges durch Gneisenaus Unvorsichtigkeit eintraten, zeigte er,
daß Charakterstärke die wichtigste Eigenschaft des Feldherrn
ist. Nur bei Laon verließ ihn zeitweise die Klarheit im Entschluß.
1815 war der Entschluß, nach der verlorenen Schlacht bei Ligny
auf Wavre zurückzugehen, der glückliche Griff eines echten
Feldherrngeistes. Die Verfolgung Gneisenaus nach der Schlacht
bei BelleaUiance steht einzig in der Weltgeschichte da.
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 10
146 Literaturbericht.
In einem sehr eingehenden und wertvollen „Rückblick"
wird die Bedeutung Gneisenaus vom militärischen Standpunkt
zusammenfassend gewürdigt. Seine taktischen und strategischen
Ansichten, sein Einfluß auf die Gefechtsführung und auf die
operativen Entschlüsse, sein Verhältnis zum Feldmarschall
Blücher und zum König werden einer kritischen Betrachtung
unterzogen.
Wenn somit vom geschichtlichen Standpunkt aus das Werk
Ungers gegenüber der Bearbeitung von Delbrück nicht als beson-
derer Fortschritt bezeichnet werden kann, so hat es doch durch die
Hervorhebung der militärischen Seite und die eingehende mili-
tärische Bewertung der Tätigkeit Gneisenaus seinen besonderen
Wert und seine Berechtigung erhalten. X.
J. L. Pageis Einführung in die Geschichte der Medizin. In zwei-
ter Auflage herausgegeben von K. Sudhoff. Berlin, S.
Karger. 1915. XXVI u. 616 S. Geb. 22 M.
In der Vorrede zu einer von ihm vor Jahren veranlaßten
Sammlung medizingeschichtlicher Aufsätze verschiedensten In-
haltes schrieb Sudhoff, daß man vielleicht das Programm der
Zeit in der unvermittelten Aneinanderreihung disparater Einzel-
studien erblicken könne. Für ihn selbst durfte man jedenfalls
bis dahin seine eigenen Worte gelten lassen, wenn auch über
der langen Reihe seiner zahlreichen Arbeiten mehrere gemein-
same Gesichtspunkte jeweils gewisse Gruppen bildend darüber-
stehen, wenn auch ferner einige größere und zusammenfassendere
Studien von ihm bereits vorlagen. Und doch bestand wohl nicht
nur bei dem Referenten schon lange der Wunsch, aus Sudhoffs
Feder eine großzügige, einheitliche Darstellung mindestens grö-
ßerer Gesamtabschnitte der Medizingeschichte zu erhalten, wozu
nunmehr ein wichtiger Anfang gemacht ist, der ganz von selbst
weiterführen wird.
Daß Sudhoff bei der unter einem gewissen Zwang übernom-
menen Neubearbeitung des verdienstlichen Buches von Pagel
nicht sofort das Ganze umgestaltete, verstehen wir einesteils aus
dem berechtigten Gefühl der Pietät, andernteils auch aus der
Unmöglichkeit heraus, in der vermutlich nicht unbeschränkt zu-
gebilligten Zeit eine noch weitergehende Neuschöpfung zu voll-
Geschichte der Medizin. 147
bringen. Aber auch ohne die Versicherung des Vorwortes würde
man aus jeder Seite, insbesondere aus den Literaturangaben, die
ergänzende, nachtragende, berichtigende Arbeit ersehen können,
deren Raschheit dem mit Sudhoffs Stil Vertrauten auch manchmal
aus sonst bei ihm ungewohnten Unebenheiten der Darstellung
(wozu auch der doppelte Ich-Stil beiträgt) erkennbar ist. Welchen
Schwung er aber seinen Worten zu verleihen vermag, zeigt z. B.
das geradezu von Begeisterung getragene Kapitel über Paracelsus.
Und noch eines sei hierbei ausdrücklich ausgesprochen; wenn
Sudhoff bei Paracelsus einmal sagt: „ich müßte ein Buch schrei-
ben, wollte ich das weiter ausführen", so wollen wir ihn recht
dringlich hiermit um dieses Buch gebeten haben, das jedenfalls
eines seiner eigensten werden würde. —
Die beiden ersten, fast ganz von Sudhoff umgeschriebenen
Vorlesungen behandeln die älteste Medizin außerhalb des Griechen-
tums. Aus der Heilkunde der heutigen Naturvölker, welche in
vieler Beziehung unser naturgemäß noch viel kleineres Wissen
von der auf dem gleichen Weg entwickelten Medizin der Urbevölke-
rungen, z. B. unseres Kulturkreises, ergänzen muß und kann,
ersehen wir, wie zu einer auf scharfer Beobachtung gegründeten
Empirie alsdann, etwa in den Händen von „Medizinmännern",
bestimmte, z. B. dämonistische Krankheitsvorstellungen und Be-
handlungsriten, hinzutreten. Diese beiden primitiven Stadien
werden kurz aus dem über Kelten und Germanen Bekanntem
belegt. Es folgt eine Betrachtung der bis ins 4. Jahrtausend
V. Chr. hinaufführenden chinesich-japanischen Medizin und des
europäischen Einflusses auf dieselbe; danach ein Streiflicht auf
das, was von der Medizin der Azteken überliefert ist. Etwas
ausführlicher wird auf die indische Heilkunde eingegangen, deren
Beziehungen zur Griechenmedizin — ob sie nur Empfängerin
oder wohl auch Spenderin gewesen — zum Teil noch umstritten
sind, während von der indischen Chirurgie manches geschichtlich
nachwirkte.
Sehr lange geht in Babylonien Kultisches und Ärztliches
ineinander über; daneben gab es wohl einen nicht priesterlichen
Ärztestand, der ja in dem Gesetz Chammurapis in nicht
immer rechtlich beneidenswerter Lage uns entgegentritt. So findet
sich auch in dem, was wir aus den bis ins 3. Jahrtausend zurück-
reichenden Keilschrifttafeln, die aber meist der Assyrerzeit an-
10*
148 Literaturbericht.
gehören, bis jetzt erfahren haben, neben einfacher Registrierung
tatsächUcher Krankheitserscheinungen und erfahrungsgemäßen
Behandlungsvorschriften viel Dämonistisches, Beschwörungs-
medizin, priesterliche Wahrsagung. — Auch in Ägypten lag in
einer ebenso unpersönlichen Weise die Heilkunde in den Händen
der Priesterkaste, die uns aber aus wesentüch früheren Jahr-
hunderten literarische Produkte geliefert hat, die in einer An-
zahl medizinischer Papyri erhalten sind. An ihnen wird, obwohl
sie vielfach in der Art der Aufzeichnung ähnlich sind, doch der
Fortschritt gegenüber der Medizin des Zweistromlandes uns dar-
getan ; aber auch die zunehmende Verknöcherung des Wissensstoffes
und das Überwuchertwerden von magischer Routine, Trotz der so
wichtigen gesundheitlichen Vorschriften der jüdischen Kultgesetze
ist von einer eigentlichen oder gar eigenen Medizin Israels nichts
überliefert, was auch gilt von den anderen semitischen Stämmen
Vorderasiens.
Die nun folgenden Vorlesungen über die griechische Medizin
glaube ich in ihrer Art nicht besser charakterisieren zu können,
als indem ich die Eingangsworte hierher setze, daß wir gerade
an ihr imstande sind zu sehen, wie die Medizin auch mit dem
ganzen Kulturleben eines Volkes aufs innigste verknüpft ist,
wie sie den Bildungsgrad der Nation während der verschiedensten
Entwicklungsphasen widerspiegelt, wie nach und nach Mythe
und Aberglaube verschwinden, reellen Kenntnissen, geistiger Auf-
klärung und exakter experimenteller Feststellung den Platz
räumen, wie mit dem Fortschritt der allgemeinen Bildung auch
der der Heilkunde Hand in Hand geht — aber auch wie mit dem
politischen Zerfall und dem kulturellen Niedergang eine Periode
des Stillstandes eintritt, der schließlich zum Rückschritt führt.
An ihr macht sich in unwiderstehlicher Weise die Tatsache gel-
tend, daß die medizinische Geschichte ein wichtig Stück Kultur-
geschichte ist. Alles dies an unserem Auge vorüberziehen zu
lassen, verstattet besonders das Studium der „griechischen Me-
dizin", in erweitertem Umfange aber, wie hinzugefügt werde,
das Studium des ganzen vorliegenden Buches, das wohl nicht
nur der Referent mit großem Genuß und reicher Belehrung
gelesen hat, sondern welches sicherlich auch den Lesern dieser
Zeitschrift vielen Gewinn zu bringen in der Lage ist.
Karlsruhe. K. Baas.
Geschichte der Medizin. 149
Spekulation und Mystik in der Heilkunde. Rektoratsrede von
Fr. V. Müller. München, J. Lindauersche Univ.-Buchhandlg.
1914. 39 S. 1,60 M.
Mit der Verlegung der Universität Ingolstadt nach Lands-
hut i. J. 1800 traten zu dem alten Lehrkörper eine Anzahl neu
berufener Männer in die medizinische Fakultät ein. In dem neuen
Kreis war Tiedemann (Anatom und Zoologe) der bedeutendste;
seine einer wirklichen Forschung entsprungenen Untersuchungen
konnten in ihrer auch heute noch teilweise als klassisch geltenden
Art weiteren fortschreitenden Arbeiten Späterer als Grundlage
dienen und wirkten so bis in unsere Zeit hinein. Ganz anders
verhielt es sich mit den übrigen Vertretern der Medizin, welche
völlig im Banne der rein spekulativen Lehre des schottischen
Arztes Brown standen, welche die „Erregbarkeit" zum Prinzip
des Lebens machte: Der Arzt brauchte nur fest zustellen, welcher
„sthenische" oder ,, asthenische" Zustand bei dem Kranken vor-
lag, um dann hierauf rein logisch-formal seine Behandlung
aufzubauen. Röschlaub, der das Werk Browns übersetzt hatte,
suchte jene Lehre mit scholastischer Gründlichkeit weiter zu
entwickeln; ihm schlössen sich die übrigen Landshuter Professoren
an. Versuch und Erfahrung wurden gänzlich verworfen zugunsten
einer reinen Konstruktion, die schließlich dann auch nur eine
Art von Behandlung zuließ. Als ein Beispiel, wohin eine derartige
Einseitigkeit führen konnte, mag aus dem Lehrbuch der Physio-
logie Phil. V. Walthers nur das eine angeführt werden, daß dieser
in ausgesprochenem Rückschritt die Blutbewegungslehre Harveys
für irrig und unstatthaft erklärte. Das Verständnis für eine
solche Richtung kann nur gewonnen werden, wenn man den
Einfluß betrachtet, welchen damals die Naturphilosophie auf
Naturforschung und Medizin gewann. Hatte doch Schelling
durch Röschlaub sich in die Brownsche Lehre einweihen lassen;
gab er doch auch, zusammen mit dem Würzburger Mediziner
Marcus, die „Jahrbücher der Medizinischen Wissenschaft"
heraus. Werke der damaligen Landshuter Professoren geben
Schellings Ideen bis in Einzelheiten wieder. So wird es begreif-
lich, daß auch in der Medizin der Übergang von der naturphilo-
sophischen Spekulation zur Mystik sich geltend machte, wie man
bei Röschlaub sieht, des weiteren bei dem Münchener Mediziner
Ringseis, wie eingehender dargelegt wird. Düsterer Aberglaube
150 Literaturbericht.
war der Endausgang dieser Richtung; vollkommener Stillstand
in den Naturwissenschaften ging damit einher. Wie durch das
Wiederauftreten einer aus romanischen Ländern stammenden,
nüchternen Beobachtung auch in Deutschland die Umkehr und
damit der so außerordentliche Fortschritt der Medizin unserer
Zeit zustande kam, möge man aus dem lesenswerten Vortrage
selbst ersehen, der mit einem Ausblick auf die ganz neuerdings
sich wiederum in so verderblicher Weise geltend machenden
mystischen Neigungen mancher Kreise abschließt.
Karlsruhe. K. Baas.
Notizen und Nadiriditen.
Die Herren Verfasser ersuchen wir, Sonderabzüge ihrer
in Zeitschriften erschienenen Aufsätze, welche sie an dieser
Stelle berücksichtigt wünschen, uns freundlichst einzusenden.
Die Redaktion,
Allgemeines.
Walter Goetz, der Nachfolger Lamprechts, gibt in seinem Auf-
satz über „das Institut für Kultur- und Universalgeschichte an der
Universität Leipzig" Aufschluß darüber, wie er dieses Institut weiter-
führen will (Archiv f. Kulturgesch. XII, 3/4). Der allgemeinen Ge-
schichte, die er mit Lamprecht Kulturgeschichte nennt, soll es dienen.
Aber es ergibt sich auch, daß, sobald man von allgemeiner Geschichte,
von Geistesgeschichte, von Geschichtsphilosophie spricht, es sich um
Aufgaben handelt, die nur dem gereiften Historiker zugänglich sind.
Auf den organisatorischen und materiellen Grundlagen, die nach
Lamprecht geschaffen, hat nun der Nachfolger dem bestehenden In-
stitut für Kultur- und Universalgeschichte ein Forschungsinstitut an-
gegliedert, das mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln (die an
die Jahresbedürfnisse unserer landesgeschichtlichen Kommissionen
heranreichen) nicht — zu den vorhandenen — ein weiteres deutsches
Publikationsinstitut werden soll, sondern sich die Aufgabe stellt, zu-
nächst 5, später vielleicht 10 jungen Historikern, die ihre Universitäts-
studien mit Auszeichnung vollendet haben, für je zwei Jahre die sor-
genfreie Möglichkeit zu weiterer wissenschaftlicher Ausbildung und
allgemeiner Entwicklung zu geben. Mit 5 Stipendiaten konnte dieses
Forschungsinstitut am 1. April 1916 eröffnet werden.
Mitten im Kriege ist die erste Abteilung des 2. Bandes des für die
Urkundenwissenschaft grundlegenden „Handbuchs der Urkunden-
lehre für Deutschland und Italien von Harry Breßlau" (2. Auflage,
152 Notizen und Nachrichten.
Leipzig, Veit <& Co., 1915, X u. 392 S.) erschienen. Sie behandelt in
den Kapiteln X — XIV „die Entstehung der Urkunden" und in Ka-
pitel XV „die Urkundensprache". Gegenüber der ersten Auflage ist
die Anordnung des Stoffes etwas verändert. Die Darstellung folgt
dem Gange des Beurkundungsgeschäftes strenger, als es dort geschehen
war (Kap. X: 1. Petitionen und Vorverhandlungen; Kap. XI: 2. Hand-
lung und Beurkundung, Stufen der Beurkundung; Kap. XII: 3. Für-
bitter und Zeugen; Kap. XIII: 4. Die Vorlagen der Urkundenschreiber,
Formulare, Vorurkunden, Akte; Kap. XIV: 5. Das Verhältnis der
Nachbildungen zu den Vorlagen), und unterscheidet diese Kapitel durch
die regelmäßig wiederholte Überschrift: ,,Die Entstehung der Urkun-
den" deutlicher als ein einheitliches und enger zusammengehörendes
Ganze von den übrigen. Im einzelnen haben wie in der 2. Auflage
des 1. Bandes (vgl. die Anzeige in Bd. 112, S. 154 — 156) die Ergebnisse
der eigenen Forschungen Breßlaus und der sonstigen Literatur auf
die Textgestaltung vielfach sehr stark eingewirkt. Das macht sich
namentlich in den Kapiteln X und XI geltend. In Kapitel X sind die
Abschnitte über die Suppliken und Supplikenregister (S. 9 — 25) und
über den Konsens der Kardinäle (S. 55 — 61) völlig neugestaltet, in
Kapitel XI die Ausführungen über die italienischen Notariats- und
deutschen Privaturkunden (S. 81 — 88), über den Beurkundungsbefehl
(S. 95f., 99 — 104), über die Signierung der Suppliken an den Papst
(S. 105—109) und ihre Datierung (S. 110—115), über die Konzepte
und Imbreviaturen (S. 119—134, 145, 150—156, 157—159), über den
Vollziehungsbefehl in den Urkunden des Hofgerichts (S. 180 — 182)
und in fürstlichen Urkunden Italiens (S. 189 f.). In Kapitel XIII sind
neubearbeitet die Abschnitte über den Liber diurnus (S. 243 — 247),
für den Breßlau bereits die in Vorbereitung befindliche Ausgabe des
Codex Ambrosianus durch Ratti benutzen konnte, über französische
Formularbücher des 12. Jahrhunderts (S. 254 — 256), über die italie-
nischen und päpstlichen Lehrbücher der ars didandi (S. 259 — 261,
265 — 267), über Formularbücher aus der päpstlichen Kanzlei (S. 269
bis 271), aus den Kanzleien Rudolfs von Habsburg (S. 273—275)
und Karls IV. (S. 277—281); in Kapitel XV die Abschnitte über die
Redefiguren (S. 359) und über den Cursus (S. 361—365), über das
Italienische in den Urkunden (S. 381 — 383) und über die Ausbreitung
der deutschen Sprache in den Urkunden (S. 387— 389). Kapitel XII
und XIV sind dagegen im wesentlichen unverändert geblieben, ab-
gesehen von den Ergänzungen in den Anmerkungen und wenigen
Änderungen im Text. Der Verfasser kündet den Abschluß des Werkes
für die Zeit nach dem Kriege an. Unsere Wünsche für dieses Ziel
sind daher eingeschlossen in die Wünsche für das große Ganze unseres
Vaterlandes. So wird es auch erst nach dem geschlossenen Frieden
Aligemeines. 153
möglich sein, das Werk in seiner Bedeutung für die Wissenschaft aus-
führlicher zu würdigen.
Königsberg i. Pr. A. Brackmann.
Arthur Mentz veröffentlicht in den Neuen Jahrbüchern für das
klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pä-
dagogik 1916, I, 8 einen Aufsatz über das Fortwirken der römischen
Stenographie, indem er ihren Einfluß in der karolingischen Renaissance
behandelt, sowie ihre Bedeutung für die Zeit des Humanismus und
die Entstehung der englischen Kurzschrift, endlich für den Neu-
humanismus und die Schaffung der deutschen Kurzschrift nachzu-
weisen sucht. — Der gleiche Verfasser hat im Archiv für Urkunden-
forschung 6, 1 neue Beiträge zu den tironischen Noten im Mittelalter
gegeben, die den Aufbau der lateinischen Stenographiesysteme und
namentlich ihre Beziehungen zu den Silbennoten deutlicher heraus-
arbeiten wollen.
Über die dem Archivalienschutz in Württemberg und natürlich
auch den wissenschaftlichen Zwecken im weiteren Sinn dienende In-
ventarisierung der Pfarr- und Gemeinderegistraturen handelt an der
Hand der bis jetzt erschienenen zehn Hefte der Württembergischen
Archivinventare sachkundig G. Mehring im Korrespondenzblatt des
Gesamtvereins der dtsch. Geschichts- und Altertumsvereine 1916,
Juli-August.
E. Guglia, Die Geburts-, Sterbe- und Grabstätten der Römisch-
Deutschen Kaiser und Könige, Wien 1914 (Anton SchroU & Co.), ein
gutgemeintes Buch für anspruchslose Leser. Nicht historischer For-
schung, sondern einem Bedürfnis nationaler Pietät will der Verfasser
in erster Linie dienen. Im einzelnen neben schätzenswerten Mittei-
lungen über die späteren Schicksale der Grabstätten mancherlei Irr-
tümer und Unzulänglichkeiten in dem, was über die Geschichte der
verschiedenen Orte und ihre Denkmäler gebracht wird. Der Verfasser
weiß noch nichts von den neueren Forschungen über die Pfalzen in
Aachen, Ingelheim und Frankfurt, er hält in Lorsch die berühmte
Torhalie für merowingisch, irrt sich in den baugeschichtlichen Angaben
über die Klosterkirche auf der Reichenau, über Quedlinburg und andere
Bauten des früheren Mittelalters. Auf den Versuch historischer Wür-
digung und Charakterisierung der einzelnen Herrschergestalten braucht
hier nicht eingegangen zu werden. Wie sinnig, wenn der Verfasser in
der Einleitung mit gewissenhaftem Bemühen die „Sterbezone" der
deutschen Kaiser ausrechnet und befriedigt feststellt, daß sie sich in
nord-südlicher Richtung ungefähr ebenso weit erstreckt, wie die der
Geburten, in ,,west-östlicher Richtung aber viel weiter: von St. Juste
in Spanien bis zum Flusse Saleph, dem alten Kalykadnus"! Weise.
154 Notizen und Nachrichten.
Otto Forst, Die Ahnenproben der Mainzer Domherren. (Quellen
und Studien zur Genealogie I.) 224 Tafeln, 80 S. (Register.) Wien und
Leipzig, Halm <S Goldmann. — Forst hat aus dem „ungeheuren Quellen-
material", das ihm für seine Studien zur Verfügung steht und das
„wohl eine teilweise Veröffentlichung verdient", die Ahnenproben der
Domherren von iVlainz „zur Publikation bestimmt", wie sie sich aus
den Aufschwörungsurkunden der Stiftsherren im „Münchener Archiv"
ergeben. Er läßt dabei alle die vor 1637, bei denen weniger als vier
Generationen nachgewiesen werden, beiseite, u. a. weil er sie für weniger
wichtig hält, was mindestens in bezug auf rechts- und kirchengeschicht-
liche Untersuchungen, denen er auch dienen will, irrig ist. Er ergänzt
auch nicht aus Archivalien, die ihm leicht erreichbar gewesen wären,
das Material, dessen Lückenhaftigkeit ihm nicht entgehen konnte,
so daß also auch für das spätere 17. und für das 18. Jahrhundert von
Vollständigkeit nicht die Rede sein kann. Er überläßt die Korrektur
von Unrichtigkeiten, die er als solche erkannte, dem Benutzer, weil
er der Meinung ist, daß eine Quellenpublikation eine solche Korrektur
nicht gestatte, und „zu Spezialuntersuchungen" über die vielfach
irrigen Titelangaben „mangelte die Zeit". Die 224 Tafeln, die mit
mehr schönen als übersichtlichen römischen Ziffern bezeichnet sind,
wimmeln derartig von Fehlern, daß Anton Müller, der die Vorlage
einzusehen Gelegenheit hatte, zu der Überzeugung gelangte, Forst
habe die Originalurkunden des Reichsarchivs seiner Publikation über-
haupt nicht zugrunde gelegt (Hist. Jahrb. 35, 152 ff.), und die wenigen
Seiten des Vorwortes, auf denen die Zahl der grammatischen und
anderen Schnitzer fast noch größer ist als die der Absätze, stehen,
wie auch das Register mit seinen unzureichenden Literaturangaben,
auf der Höhe des Hauptteiles. Kann der Verfasser das Verdienst für
sich in Anspruch nehmen, nachdrücklich auf eine wertvolle Quelle
zur Geschichte des west- und süddeutschen Adels aufmerksam gemacht
zu haben — über 500 Familien finden sich angeführt — , so fällt ihm
andererseits zur Last, daß nicht leicht sich ein Zweiter dazu entschließen
wird, das, was hier so völlig mißraten ist, von neuem und nun in wissen-
schaftlichem Sinne auszuführen.
Gießen. Ernst Vogt.
Ernst Bergmann, Fichte der Erzieher zum Deutschtum. Leipzig,
Verlag von Felix Meiner, 1915, 340 S. Preis 5 M. — Ein schönes und
lebendiges Buch! Ein Buch, hervorgegangen aus innerer Wahlver-
wandtschaft des Verfassers mit seinem Helden, geschrieben mit Wärme,
in höchst lebendiger, dramatisch fortschreitender Darstellung und mit
einer fast dichterischen Sprachgewalt. Hinter Fichte, dem Philo-
sophen und Erkenntnistheoretiker, möchte es den Menschen uns sehen
lassen, „den Reformer, Heilslehrer und Messias, den großen Bringer
Allgemeines. 155
eines neuen und doch so uralten Lichtes". Aus dem Dunkel der Ge-
schichte soll wieder auferstehen Fichte der Menschheitserzieher und
Erlösungslehrer, der große Prediger, Träumer und Seher einer ver-
edelten Zukunftshumanität. So beginnt das Werk mit einer Schil-
derung von Fichtes lebendiger geschichtlicher Persönlichkeit als dem
Schlüssel zum Verständnis seiner Lebensarbeit, und zeigt in eindrin-
gendem Umriß, wie Fichte von Kant und Rousseau aus zu einer idea-
listischen Umwertung aller Werte und der Entwicklung ihrer Bedeu-
tung für den Menschheitsfortschritt fortging. Dieser philosophische
Idealismus bildet die Grundlage des Bildungsideals, wie es sich in
Fichtes Vorstellung des Idealmenschen der Zukunft, des Ideals des
Gelehrten und des religiösen Menschen der Zukunft ausprägt, und er
bestimmt auch seine eigentliche Erziehungslehre und die von ihm ge-
forderte Organisation der Volks- und Gelehrtenerziehung, die in dem
Nachweis gipfelt, daß das deutsche Volk berufen sei, in dem welt-
geschichtlichen Akt der Selbsterziehung der Menschheit die Führung
zu übernehmen. Mit Fichtes Beschwörung an alles Deutsche, in der
schwersten Stunde seiner erhabenen Sendung doppelt eingedenk zu
sein, schließt das Buch, indem es den Blick von der Vergangenheit
auf die Gegenwart lenkt. Das gewaltige Ringen, in welchem heute das
deutsche Volk um seine Existenz noch einmal kämpft, möchte den
Tag heraufführen, da der Traum Fichtes sich erfüllt und seine Mission
sich vollendet. In dem Charakter des Buches, das ein Bekenntnis
ist und in unsern Herzen die Glut der heiligen Begeisterung für
das von Fichte erschaute höhere Menschentum und das vollendete
Deutschtum entfachen will, liegt es, daß es ein eigentliches Ge-
schichtswerk nicht ist. Zwar treten Kant und Rousseau als die Vor-
aussetzungen Fichtes hervor, Pestalozzis Einfluß wird gestreift, die
Aufklärung, wie sie Fichte als Hintergrund seiner Lebensarbeit emp-
fand, skizziert, die Frage der inneren Entwicklungsgeschichte Fichtes
hier und da (vor allem bei der Wendung nach dem Atheismus-
streit) berührt. Aber all das nur andeutungsweise, nur so weit, als
es zu dem sachlichen Verständnis der Gedankenwelt Fichtes erfor-
derlich ist. Das Buch teilt mit einem plastischen Kunstwerk die
Eigenart, daß es gleichsam in keiner Zeit und in keinem Räume
ruht, aber dafür uns des inneren Lebens und der Geschlossenheit von
Fichtes Schöpfung in ihrer zeitlosen Bedeutung teilhaftig werden
läßt. Auch kann Bergmanns Auffassung von Fichte wissenschaftlichen
Einwänden unterworfen werden. Vor allem fällt das Zurücktreten der
Wissenschaftslehre, an der Fichte unermüdlich als der Grundlage
seiner gesamten Weltanschauung arbeitete, auf; der Verfasser bezeichnet
sie einmal sogar als „abstrus" (S. 65) und muß doch ein anderes Mal
(S. 253) zugestehen, daß Fichtes Erziehung „Bildung zur Weltan-
156 Notizen und Nachrichten.
schauung der Wissenschaftslehre'^ ist. Dadurch wird das Bild des
Mannes, der ein Reformator und ein Denker, und zwar ein Denker
von unerhörtem Radikalismus war, beträchtlich verkürzt und viel-
leicht auch auf eins der Mittel, die reformatorische Tätigkeit Fichtes
in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen, verzichtet. Aber das ist eine Ange-
legenheit der spezielleren wissenschaftlichen Fichteforschung, die ge-
wiß von dem Verfasser als einem der besten Kenner Fichtes noch
manche Förderung zu erwarten hat. So wie das Buch vorliegt, ist es
jedenfalls eine der schönsten Erscheinungen, welche die durch die Stim-
mung der Zeit stark gehobene Fichteliteratur aufzuweisen hat.
Halle a. S. Max Frischeisen-Köhler.
Hermann Reincke-Bloch, Fichte und der deutsche Geist
von 1914. Verlag von H. Warkentiens Buchhandlung, Rostock i. Meckl.
31 S. Preis 0,70 M. — Die Rede möchte Fichte als den Wegbereiter
für den nationalen Staat schildern. Fichte zuerst, so zeigt der Ver-
fasser, hat die europäische Entwicklung seit dem Untergang der alten
Welt in ihrer Einheit gesehen und die römisch-germanischen Völker
als die Teile einer gemeinsamen Nation und als die Träger der Welt-
bildung vom 5. bis zum 19. Jahrhundert begriffen. Von dieser An-
schauung aus, deren Beziehung zu Rankes Geschichtschreibung bedeut-
sam hervorgehoben wird, bahnt sich Fichte den Weg, um die besondere,
schlechthin überragende Stellung darzutun, die den Deutschen als
dem rein germanischen Hauptvolk für die Geschichte der Menschheit
zukommt. Hierbei ist entscheidend, daß Fichte von dem deutschen
Geist die Brücke zu dem deutschen Staat schlägt und somit das Staats-
bürgertum der neuen Zeit mit dem humanistischen Bildungsideal der
klassischen Dichtung und Philosophie verknüpft.
Halle a. S. Max Frischeisen- Köhler.
Wilhelm Erben, Fichtes Universitätspläne. Innsbruck 1914,
Druck und Verlag der deutschen Buchdruckerei. 73 S. — Ein ausge-
zeichneter Beitrag zur Universitätsgeschichte des schon vielfach um
sie verdienten Verfassers! Es wird in sorgfältiger und überzeugender
Beweisführung gezeigt, daß die uns handschriftlich überlieferte Fassung
von Fichtes „Ideen für die innere Organisation der Universität Er-
langen" entweder der ursprüngliche Text der Altensfein überreichten
Denkschrift ist oder diesem ursprünglichen doch näher kommt als der-
jenige Text, den Fichtes Sohn in den Werken veröffentlichte. Durch
den Rückgang auf die im Anhang der Schrift abgedruckte handschrift-
liche Fassung wird es erst möglich, die Bedeutung des Erlanger Planes
für die Universitätsgeschichte, aber auch für die der politischen An-
schauungen zu bestimmen. Endlich zeigt der Verfasser, daß der 1807
entstandene „Deduzierte Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren
Alte Geschichte. 157
Lehranstalt", der in seinen Einzelheiten bisher zumeist als willkür-
liches Produkt spekulativer Phantasie erschien, wesentliche Gedanken
von Oxford und Cambridge übernommen und mit Wahrnehmungen
aus Tübingen und Pforta vereinigt hat.
Halle a. S. Max Frischeisen-Köhler.
Neue Bücher: Aufsätze zur Kultur- und Sprachgeschichte vor-
nehmlich des Orients. Ernst Kuhn zum 70. Geburtstage am 7. Febr.
1916 gewidmet von Freunden und Schülern. (Breslau, Marcus. 25 M.)
— Israel, Brandenburgisch-preußische Geschichte. 1. Bdch. (Leipzig,
Teubner. 1 M.) — Salomon, Der britische Imperialismus. Ein ge-
schichtlicher Überblick über den Werdegang des britischen Reiches
vom Mittelalter bis zur Gegenwart. (Leipzig, Teubner. 3 M.) —
Hruschewskyj, Geschichte der Ukraine. 1. Tl. (Wien, Frick. 5 M.)
— Garretto, Storia degli Stau Uniti deW America del Nord {1492 — 1914).
{Milano, Hoepli.) — Mc Cabe, Crises in the history of the papacy.
(New York and London, Putnam.) — Ed. Mahler, Handbuch der
jüdischen Chronologie. (Leipzig, Fock. 12 M.)
Alte Geschichte.
In dem erst jetzt ausgegebenen Heft 4 von Kilo 14 ist eine reiche
Zahl von Arbeiten. W. S. Ferguson: The Introduction of the Secre-
tary-Cycle (Nachträge und Verbesserungen zu seinem Buche: Athenian
Secretaries, wobei der Nachweis, daß the secretary-cycle started with
Kekropis in 356/5 B. C. besonders wichtig ist); L. Weniger: Die
monatliche Opferung in Olympia. 2. Die Prozession; J. L. Myres
und K. T. Frost: The historical background of the Trojan war -jT. Walek:
Über das aitolisch-akarnanische Bündnis im 3. Jahrhundert; L. Bor-
chardt: Die diesjährigen deutschen Ausgrabungen in Ägypten (1913/14)
und die diesjährigen (1913/14) Ausgrabungen des Egypt Exploration
Fund in Ägypten; H. Dessau: Zur Stadtverfassung von Tusculum;
E. Kornemann: Die Dreibeamtenzahl in Italien.
In der Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 29, 3/4
sind unter den Joseph v. Karabacek zum 70. Geburtstag gewidmeten
Arbeiten einige Aufsätze, die hier nicht übergangen werden dürfen.
B. Geiger: Zum Postwesen der Perser; Fr. Hrozny: Zum ältesten
sumerischen Ackerbau; H. v. Mzik: Die Gideon-Saullegende und die
Überlieferung der Schlacht bei Badr. Ein Beitrag zur ältesten Ge-
schichte des Islam; N. Reich: Zur neueren Literatur über die heiligen
Tiere des alten Ägyptens; A. Musil: Verkehrswege über Samävar
zwischen al-'Eräk und Syrien. Mit einer Karte.
In The American Journal of Semitic languages and litteratures
32, 4 (Juli 1916) finden sich einige Aufsätze, die förderlich und lesens-
158 Notizen und Nachrichten.
wert sind, und zwar von J. H, Breasted: The physical processes of
writing in the early Orient and their relation to tfie origin of the alpfiabet;
J. H. Price: Some observations on the financial importance of the Temple
in the first dynasty of Babylon.
Im Philologus 73, 4 sind beachtenswerte Arbeiten von A. Stiefen-
hofer: Die Echtheitsfrage der biographischen Synkriseis Plutarchs,
worin für deren Echtheit mit guten Gründen eingetreten wird; W. Sol-
tau, Zur römischen Verfassungsgeschichte, und zwar 1. Epochen der
Verfassungsentwickiung, 2. Die Stiftung der 21 römischen Tribüne,
3. Die Einführung des Konsulartribunats, 4. Comitia tributa; E. Som-
merfeldt: Zur Frage nach der Lebensstellung des Geschichtschreibers
Herodian.
In den Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum 19, 8
veröffentlicht A. Mentz einen Aufsatz: Das Fortwirken der römischen
Stenographie, der auch für die römische Geschichte mancherlei Auf-
schlüsse bietet. Weiter behandelt B. Lembke: Justinians pragmatische
Sanktion über Italien (554).
Namentlich im Hinblick auf Ptolemäus sei auf die sorgfältigen
Untersuchungen von Th. Langenmaier: Alte Kenntnis und Karto-
graphie der zentralafrikanischen Seenregion hingewiesen. Mitteilungen
der Geograph. Ges. zu München 14, 1.
In der Mnemosyne 44, 3 fährt W. Vollgraff fort, die von ihm
gefundenen Inschriften aus Argos zu veröffentlichen, worunter ein
höchst beachtenswertes Decretum in honorem civitatis Rhodiorum ist,
das Vollgraff gut kommentiert.
In den Sitzungsberichten der Kgl. Preußischen Akademie 1916,
39/40 handelte Ed. S ach an vom Christentum in der Persis, dessen
Ursprung besonders im Zusammenhang mit den Kriegen der Perser
unter Sapores I. gegen die Römer und mit der Deportation syrischer
Christen in die Stammprovinz der persischen Könige dargelegt wird.
Im American Journal of archaeology setzt W. A. Oldfather
seine dankenswerten Studies in the history and topography of Locris U
fort. Ebenda veröffentlicht J. C. Rolfe: Latin inscriptions at the Uni-
versity of Pennsylvania und A. L. Frothingham eine mit vielen
Abbildungen versehene Abhandlung: Babylonian origin of Hermes
the snakegod, and of the caduceus.
Aus dem American Journal of Theology 20, 3 notieren wir
E. F. Scott: The Hellenistic mysticism of the fourth gospel.
Nachdrücklich sei hingewiesen auf den Aufsatz von E. Bickel:
Das asketische Ideal bei Ambrosius, Hieronymus und Augustin in Neue
Jahrbücher f. d. klassische Altertum 19, 7.
Alte Geschichte. 1S9
Die griechischen Nachrichten über Indien bis zum Feldzuge
Alexanders des Großen, eine Sammlung der Berichte und ihre Unter-
suchung, Von Wilhelm Reese. Leipzig, Teubner, 1914. 106 S. —
Die Grundlage der griechischen Kenntnisse bildete die Erkundungs-
fahrtj die Skylax von Karyanda auf Befehl des Darius unternahm.
Nach ihm sind die wichtigsten Quellen Hekatäos, Herodot und Ktesias.
Die gediegenen Ausführungen des auch des Sanskrits kundigen Ver-
fassers seien der verdienten Beachtung empfohlen. Geizer.
Prosopographie der Beamten des ''A^aivotrrjs vofiös in der Zeit
von Augustus bis auf Diokletian. Vno Franz Paulus, Greifswalder
Dissertation 1914. 148 S. — Es ist eine sehr wertvolle Arbeit, die hier
von einem Schüler Walter Ottos geboten wird. Derartige statistische
Zusammenstellungen bilden eine Vorbedingung für die wissenschaft-
liche Verwertung der reichen Papyrusschätze Ägyptens. Den Haupt-
teil bildet eine alphabetische Aufzählung sämtlicher Personen, die im
Arsinoitesgau (dem heutigen Fajum) im öffentlichen Dienst gestanden
haben. Dieses Register wird ergänzt durch chronologische Listen für
häufiger begegnende Dienststellen und durch eine alphabetische Ver-
einigung aller Dienststellen, deren Vertreter jeweils chronologisch und
geographisch geordnet sind. Vorausgeschickt hat Paulus eine Zu-
sammenfassung der statistischen Resultate. Hier wie im Titel nennt
er die von ihm behandelten Personen „Beamte". Nicht ganz korrekt
zählt er hierzu auch zum Sicherheitsdienst im Inlande abkommandierte
Offiziere und Unteroffiziere. Mir schiene überhaupt zweckmäßig, den
Ausdruck „Beamte" zu ersetzen durch „öffentlich Bedienstete" oder
„im öffentlichen Dienst stehende Personen". Der „Beamte" erweckt
in uns die Vorstellung eines Mannes, der sich durch seinen Beruf in
geachteter und ökonomisch gesicherter Lage befindet. Diese Vorstel-
lung ist hinsichtlich ägyptischer Gauverwaltung der frühern Kaiser-
zeit nur für die obersten Behörden, die Strategen und „königlichen
Schreiber" zutreffend. Alle andern werden von der Regierung zu ihren
Diensten zwangsmäßig eingezogen, vielfach zu ihrer schweren wirt-
schaftlichen Schädigung, da sie mit ihrem Vermögen für ihre Dienst-
verrichtungen, z. B, Steuererhebung, haften. Mit der Munizipalisierung
der Gauhauptorte im Jahre 202 griff dieser Zustand auch weiter auf
die ursprünglich als Ehrenämter bekleideten städtischen Würden
und neugeschaffenen Ratsherrnstellen, Die Vollendung des Systems
war der spätrömische Staatssozialismus, wobei der Idee nach mit Aus-
nahme einiger Privilegierter die ganze Bevölkerung des Reichs im
Staatsdienste stand oder für den Staat arbeitete. Geizer.
Neue Bücher: Pais, Ricerche sulla storia e sul diritto pubblico
di Roma. Serie seconda: sui fasti consolari. {Roma, Loescfier & Co.
160 Notizen und Nachrichten.
15 L.) — Harr er , Studies in the history of the roman province of Syria.
(Princeton, Princeton Univ. Press. 0,73 Doli.) — Bihlmeyer, Die
„syr." Kaiser zu Rom (211 — 35) und das Christentum. (Rottenburg,
Bader. 3 M.)
Römisch-germanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250.
Das Römisch-germanische Korrespondenzblatt IX, Nr. 3 bringt
Bemerkungen von Johann Schmaus zu Ludwig Schmidts Geschichte
der deutschen Stämme bis zum Ausgange der Völkerwanderung, von
denen namentlich die Gleichsetzung der Chauken, die nicht in den Sach-
sen aufgegangen seien, mit den Franken Beachtung verdient; ist da-
gegen die Herleitung eines bayerisch-dialektischen Ausdrucks „Latinl"
oder „Latirl" aus der Zeit der Unterwerfung der römischen Provinzial-
bevölkerung durch die iVlarkomannen-Bayern mit den daran geknüpf-
ten siedlungsgeschichtlichen Schlüssen überhaupt ernst zu nehmen?
J. B. Keune, Hercules Saxsetanus, bespricht ein durch unsere Krieger
bei Metz zutage gefördertes Denkmal. In kleinen Ausführungen handelt
Quilling über „Neptun mit dem Pelikan" auf dem Obernburger
Votivstein und über das Marsrelief vom Feldbergkastell, G. Behrens
über eine Reibschüssel mit Stempel aus Kreuznach, die ihm einen
Beleg für Bormitomagus als ursprüngliche Namensform von Worms
liefert. Ebenda Nr. 4 versucht Franz Cramer, Mercurius Susurrio
— 'E^fiTjs Tid-vQiaTr,? sich weiter an der Erklärung des von ihm
schon in der Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 37 (s. H. Z.
116, 526) besprochenen Inschriftsteines vom Aachener Münster.
F. Reinecke beschreibt die Reste eines römischen Meierhofes bei
Burgweinting unweit von Regensburg, dessen Zerstörung oder Auf-
lassung er in die 1. Hälfte des 3. Jahrhunderts setzt. O. Tschumi
bespricht eine römische Bronzestatuette mit aufsitzendem Bacchus
oder Amor aus Lugano, Dr. Körber ergänzt römische Inschrift-
fragmente aus Mainz zu einer Erwähnung der leg. XVI, G. Behrens
behandelt „Bronzefigürchen eines trauernden Gefangenen" aus Straß-
burg, Köln und Mainz, Karl Wigand „Genius und Juno" auf gallischen
Denkmälern, besonders aus Autun, und R. Forrer weist auf Spuren
des Mithrakults und einer römischen Sigillatatöpferei in Altenstadt
bei Weißenburg i. E. hin.
Lesenswerte Bemerkungen über „Ostdeutschlands slavische
Namensgebung" von Alexander Brückner bringen die Deutschen
Geschichtsblätter 1916, 4. Heft. Nicht aus slavischen Wörterbüchern,
sondern aus den fertigen, rein slavischen Ortsnamen muß man die
slavisch-deutschen Ortsnamen deuten, die oft schon in der ältesten
Frühes Mittelalter. 161
Überlieferung bis zur Unkenntliclikeit entstellt sind. Fast zwei Drittel
der slavischen Ortsnamen sind aus Personennamen gebildet, können
also nicht weiter übersetzt werden. Die Ableitung erfolgt in verschie-
dener Weise, aber es handelt sich nur um grammatische, nicht um
siedlungsgeschichtlich verwertbare Unterschiede. „Der positive Er-
trag, den diese ganze Namengebung liefert, ist ein minimaler"; zu ihrer
Erforschung sind ausschließlich die Philologen, die sich bisher nur
sehr wenig daran beteiligt haben, Slavisten und ev. auch Germanisten,
wo es sich um fälschlich als slavisch angesprochene deutsche Namen
handelt, berufen. • j^| ,
Das Archiv für Urkundenforschung VI, 1. Heft bringt neben
kleineren „Beiträgen zu den Tironischen Noten im Mittelalter" von
Arthur Mentz, aus denen ein Verzeichnis der Zeichen der Silbentachy-
graphie in Oberitalien und Vorschläge zur Gliederung der lateinischen
Stenographiesysteme erwähnt seien, zwei wichtige Arbeiten von Breß-
lau und Boye, die, beide durch eine nicht gewöhnliche Weite des Blicks
ausgezeichnet, allgemeinen Interesses sicher sein dürfen. H. Breßlau
behandelt mit der sichern Hand des Altmeisters „Internationale Be-
ziehungen im Urkundenwesen des Mittelalters". Er verfolgt zunächst
die wenigen Spuren byzantinischen Einflusses auf das fränkische und
deutsche Urkundenwesen, wobei ich auf die Bemerkungen über den
Kaisertitel besonders hinweise, legt dann ausführlicher die Wechsel-
beziehungen zwischen deutscher Königs- und Papsturkunde dar, nicht
ohne kurz die Einwirkungen der letzteren außerhalb Deutschlands
zu erwähnen, und schildert schließlich, von dem Einfluß der deutschen
Kaiserurkunde auf die engere und weitere Nachbarschaft ausgehend,
nach einem raschen Blick auf Unteritalien und Frankreich und das
zunächst ganz von Deutschland her befruchtete und erst seit dem
Ende des 12. und der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, auch unter Ein-
wirkung der Papsturkunde, etwas selbständiger entwickelte Urkunden-
wesen der Herrscher Ungarns und Polens, eingehend die sich kreuzen-
den deutschen und englischen Einwirkungen auf die Diplomatik der
skandinavischen Reiche. Die Bedeutung der politischen Verhältnisse
und ihrer Verschiebungen für die Bildung und Entwicklung des kul-
turellen Lebens tritt hier an dem Beispiel der wechselnden Formen und
Gebräuche der Königsurkunden aufs lehrreichste zutage. Für Nor-
wegen ist die altenglische Königsurkunde lange das maßgebende Vor-
bild geblieben, auch in dem Gebrauch der heimischen (altnordischen)
Sprache statt des Lateins. In den dänischen und schwedischen Königs-
urkunden ist dagegen ein etwaiger englischer Einfluß, der wohl nur
für Dänemark im früheren 11. Jahrhundert wahrscheinlich ist, be-
reits im 12. Jahrhundert durch den der deutschen Nachbarn und
der päpstlichen Kanzlei verdrängt. Auch der Nachweis des engen,,
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 1 1
162 Notizen und Nachrichten.
ungebrochenen Zusammenhanges zwischen dem angelsächsischen und
dem anglonormannischen Urkundenwesen ist nicht nur von diploma-
tischem Interesse. Bei den Angelsachsen ist zuerst das hängende
Wachssiegel zur Beglaubigung der königlichen Writs gebraucht; von
hier aus ist diese Form der Beglaubigung erst verhältnismäßig spät
nach Frankreich und von dort im Laufe des 12. Jahrhunderts nach
Deutschland übertragen worden. Von Otto von Freising als Ver-
mittler wird freilich meines Erachtens lieber nicht gesprochen, da die
von Striedinger ihm zugewiesene Urkunde mit Hängesiegel ebensogut
seinem zweiten Nachfolger Otto II. (1184 — 1220) angehören kann. Daß
ähnliche Erscheinungen im Urkundenwesen nicht immer notwendig
auf Entlehnung gedeutet werden dürfen und die Möglichkeit selb-
ständiger Entwicklung in gleicher Richtung unter ähnlichen Bedin-
gungen stark in Anschlag zu bringen ist, wird an der Geschichte des
Doppel- oder Münzsiegels gezeigt, das in England von Knut dem Großen
als Symbol seines britisch-dänischen Doppelkönigtums geschaffen
und von dort nach Dänemark und Skandinavien überhaupt übertragen,
anderwärts aber, wie früher in den langobardischen Fürstentümern
Unteritaliens und später in Österreich und Böhmen, unabhängig aus-
gebildet worden sei. Ein Anhang beschäftigt sich mit den fast sämtlich
mehr oder weniger stark verunechteten, zum Teil ganz gefälschten
Urkunden Stephans I. von Ungarn. Breßlaus lehrreiche Untersuchung
ist für den allgemeinen Historiker ebenso wichtig wie für den Diplo-
matiker von Fach. Sie wird sehr wesentlich zur Vertiefung und Ver-
breitung der Erkenntnis beitragen, daß die oft berufene „Einheitlich-
keit" der mittelalterlichen Kultur auf einem sehr realen Untergrunde
regsten und mannigfaltig gegliederten Verkehrs zwischen Völkern
und Staaten erwachsen ist. — Die Arbeit von Fritz Boye „Über die
Pönformeln in den Urkunden des früheren Mittelalters" ist eine Ber-
liner Dissertation aus der Schule von M. Tangl. Sie ließ von ihrem
Verfasser, der seit den schweren Kämpfen in Flandern im November
1914 verschollen ist, für das wichtige und schwierige Grenzgebiet
diplomatischer und rechtsgeschichtlicher Forschung sehr Tüchtiges
erwarten. Er geht im Gegensatz zu früheren juristischen Behand-
lungen des Themas von der Form der Strafklausel in Privat-, Königs-
und Papsturkunden aus, ohne sich aber auf die rein formale Feststellung
ihrer Veränderungen zu beschränken; im Gegenteil tritt überall der
energische Versuch, den Gang der Entwicklung sachlich zu begreifen,
entschieden in den Vordergrund. Mit ihren scharf und klar heraus-
gearbeiteten Sätzen wird seine Arbeit auch dort fruchtbar wirken,
wo sie noch nicht das letzte Wort gesprochen hat. Sie beginnt mit
einem sehr bemerkenswerten Versuch, den Zusammenhang der grie-
chischen mit der spätrömischen und fränkischen Urkunde unter Zu-
Frühes Mittelalter. 163
sammenfassung der Einzelergebnisse der Papyrusforschung in das
rechte Licht zu stellen. Die fränkischen und italischen Pönformeln
des früheren Mittelalters müssen durch Vermittelung der spätrömischen
Urkunde von den griechischen Formeln stark beeinflußt sein. Sie stam-
men, soweit sie Vermögensstrafen androhen, aus der griechischen Fön
und der römischen Eviktionsformel, die sich in spätrömischer Zeit
verbunden haben. Die Einwirkungen der griechischen Urkunde auf
die spätrömische sind überhaupt bedeutend größer gewesen, als dies
seinerzeit in Brunners Darstellung zum Ausdruck gelangen konnte.
Der Wunsch einer systematischen Untersuchung über die gegenseitigen
Beziehungen beider wird gewiß nicht lange auf Erfüllung zu warten
haben; die Spärlichkeit des römischen Materials wird, wie Boyes Vor-
gehen zeigt, durch vorsichtige Heranziehung der frühmittelalterlichen
Urkunden etwas ausgeglichen werden können. Im frühen Mittelalter
spielt die Pönformel ihre Hauptrolle im Privaturkundenwesen, wes-
halb Königsurkunde und Papsturkunde zum Schluß nur kurz gestreift
werden. Die Einwirkungen einer von der römischen abweichenden
germanischen Rechtsanschauung werden neben der außerordentlichen
Starrheit, mit der sich viele Ausdrucksformen der spätrömischen
Strafklauseln in den fränkischen erhielten, nachdrücklich hervorge-
hoben. Androhung geistlicher Strafen findet sich zuerst in den Ur-
kunden der Päpste, Bischöfe usw.; für die Umbildung der spätrömi-
schen Konventionalstrafe zu einer Strafe gegen jeden Dritten, wie
sie nördlich der Alpen und in Spanien eintritt, dürfte dieser geistlichen
Pön keine große Bedeutung zukommen. Boye hat sein Thema fest
in den rechtshistorischen und diplomatischen Zusammenhängen ver-
ankert und in großen Zügen ein wertvolles und anregendes Bild der
Entwicklung von der ausgehenden Antike bis zum Beginn des 10. Jahr-
hunderts entworfen. Möchte eine wünschenswerte Fortsetzung, die
freilich erheblich mehr rein diplomatische Arbeit erfordert, ohne viel-
leicht an gleich grundlegende Fragen sachlicher Natur zu rühren, von
ähnlich berufener Feder gegeben werden! A. Hofmeister.
Das Bullettino dell' Istituto storico Italiano, Nr. 34, Rom 1914,
enthält neben kleinen Mitteilungen von P. Egidi über eine Urkunde
aus Corneto von 976 und über den Liber Fraternitatis S. Spiritus et
S, Mariae in Saxia de Urbe (aus dem 15. Jahrh.) sehr gründliche Erläu-
terungen von L. Schiaparelli zu der von ihm für die Font i per la
storiad'Italia bearbeitete Ausgabe der Urkunden der italienischen Könige
Hugo und Lothar (/ diplomi dei re d'Italia. Ricerche storico-diplomatiche.
Parte V. I diplomi di Ugo e di Lotario). Er behandelt: 1. das Itinerar
Hugos als Königs von Italien; 2. die Kanzlei; 3. das Formular der
Urkunden; 4. die Datierung; 5. einige allgemeine und besondere Cha-
rakteristika (a) äußere Kennzeichen, b) Diktat, namentlich mit Rück-
11*
164 Notizen und Nachrichten.
Sicht auf Vorlagen, c) Erwähnung der Verwandten, d) Privatbesitz);
6. Fälschungen und Interpolationen. Seine Ausführungen dürfen
von keinem übersehen werden, der sich bemüht, das über der Ge-
schichte Italiens und Burgunds im frühen 10. Jahrhundert lastende
Halbdunkel aufzuhellen. Daß seine Annahmen und Schlüsse häufig
Zweifel oder Widerspruch wecken, ist bei der trostlosen Beschaffen-
heit des Materials kaum anders möglich. Es muß freilich davor
gewarnt werden, zu viel indirekt aus den zufällig erhaltenen Ur-
kunden (von Hugo oder Hugo und Lothar 83, von Lothar allein 16)
erschließen zu wollen. Der Bericht der Miracula s. Apollinaris (auch
gedruckt im Catalogus Paris, der Bollandisten II, 93 f.) ist m. E.
trotz Poupardin und Schiaparelli sicher auf Hugos ersten mißglückten
Zug nach Italien zu beziehen, dessen Zeit dadurch (und vielleicht
durch die Urkunde Berengars I. vom 19. September 913) auf 912/13
bestimmt wird. Über den Zeitpunkt der Verschwörung Walperts
von Pavia und seiner Genossen und die Pfalzgrafen Giselbert und
Samson vgl. auch meine Schrift über ,,Die heilige Lanze", S. 19 ff.
Bei der zeitlichen Ansetzung der Züge Hugos gegen Rom wird die
Reihenfolge innerhalb der einzelnen Jahresberichte in Flodoards
Annalen nicht genügend beachtet. Auch bei der Darstellung der Er-
eignisse in Toskana ließe sich wohl manches mit größerer Wahrschein-
lichkeit anders fassen. Starke Bedenken macht er gegen Liudprands
Erzählung von dem Vertrage zwischen Hugo und Rudolf II. von Hoch-
burgund über Südburgund (Provence) geltend. Schiaparelli, der sich
dabei allerdings zu Unrecht auf Koepke bezieht, vermutet eine Ver-
wechslung mit der Überlassung Viennes an Odo von Vermandois und
den gleichzeitigen Besprechungen Hugos mit Rudolf von Frankreich
928, wovon Flodoard berichtet. Er trifft hier mit dem zusammen,
was ich bereits 1912 in den Sitzungsberichten der Berliner historischen
Gesellschaft (Mitteilungen aus der historischen Literatur XL) kurz
skizziert und in meiner gleichzeitig mit oder kurz vor Schiaparellis
Abhandlung erschienenen Schrift über „Deutschland und Burgund
im früheren Mittelalter" des näheren ausgeführt habe; auch in der
Beurteilung von Hugos Stellung zu den südburgundischen Gebieten
nach Ludwigs des Blinden Tode sind wir einig. Für die Chronologie
ist seine Annahme von Interesse, daß nicht selten das Regierungsjahr
zugleich mit der christlichen Jahrzählung umgesetzt sei. Man wird
diese Möglichkeit überhaupt mehr im Auge behalten müssen, bis reich-
lichere Beobachtungen festere Anhaltspunkte für die Beurteilung
geschaffen haben. Hugos Tod setzt Schiaparelli ins Jahr 948, statt
947; das verlangt genaue Nachprüfung, ohne, wie mir ^eint, bereits
bewiesen zu sein. Vor allem fragt es sich, wie weit die herangezogenen
Königskataloge als voneinander unabhängige Zeugnisse gelten können.
Frühes Mittelalter. 165
Wenn Hugo am 10. April 947 in Arles gestorben war, so brauchte man
das in Farfa am 12. JV\ai oder in Lucca am 18. April und auch in der
königlichen Kanzlei in der Lombardei am 24. April noch nicht zu
wissen, und die Deutung von decessus im Catalogus Ambrosianus Os-
celensis, MG. SS. r. Lang. S. 520) als „Fortgang, Abreise" ist eine
ganz böse Entgleisung, zumal dieselbe Quelle einige Zeilen später das
Wort in ganz dem gleichen Zusammenhange für „Abscheiden, Tod"
gebraucht. A. Hofmeister.
In der Zeitschrift für Numismatik 1915, S. 1 ff. beschreibt Her-
mann Heineken den Münzfund von Netzow bei Havelberg, der aus
etwa 17000 ganzen und 40000 halbierten Stücken vom 13. bis 15, Jahr-
hundert (Zeit des Kurfürsten Friedrich 1. von Brandenburg) besteht,
und behandelt im Anschluß daran eindringend „das Münzwesen Salz-
wedels im 14. Jahrhundert" mit seiner Anlehnung an den sog. wendi-
schen Münzverein. Mit Heineken, einem Schüler Dietrich Schäfers,
der am 9. September 1914 bei Beauzde im Südwesten von Verdun
den Heldentod gestorben ist, hat die Wissenschaft einen der begabtesten
jüngeren Numismatiker verloren, der in der Vereinigung gründlicher
historischer und numismatischer Durchbildung von einer nicht immer
gebührend gewürdigten Seite her die mittelalterliche Forschung wesent-
lich zu fördern versprach. Seine Leistungen sind von J. Menadier
in der Zeitschrift für Numismatik 1915, S. 174 ff., D. Schäfer in
den Hansischen Geschichtsblättern 1914, S. XXXIX ff. und K. Reg-
ung in den Mitteilungen aus der Historischen Literatur 43 gewürdigt
worden. A. H.
In der Zeitschrift für den deutschen Unterricht 30. Jahrgang,
5., 6., 7. Heft gibt Karl Helm eine übersichtliche Würdigung der
„Literatur des Deutschen Ordens im Mittelalter", in der auch die
Geschichtschreibung des Ordens, namentlich Nikolaus von Jeroschin
im 14. Jahrhundert, kurz, wenn auch wohl ohne eigene Forschung,
besprochen wird.
Neue Bücher: Prentout, Etüde critique sur Dudon de Saint-
Quentin et son Histoire des pr emiers Ducs Normands. (Paris, Picard.)
— Delisle, Recueil des actes de Henri II, roi d'Angleterre et duc de
Normandie, concernant les provinces frangaises et les affaires de France.
Oeuvre posthume, revue et publice par Elie Berger. Tome Z**". (Paris,
Klincksieck. 31 fr.) — Recueil des actes de Philippe-Auguste, roi de
France, publice par H. FranQois Delaborde.- Tome /*♦". (Paris, Klinck-
sieck. 24 fr.)
166 Notizen und Nachrichten.
Späteres Mittelalter (1250—1500).
Rud. Wolkan veröffentlicht in der Zeitschrift für österreichische
Gymnasien 67, 4 u. 5 einen Aufsatz über den Ursprung des Humanismus.
Seiner Ansicht nach ist „der Kampf, der sich . . . gegen das Streben
der Kirche nach einer Weltherrschaft und nach dauernder Weltver-
neinung der Menschheit erhob, dieses alle in tiefster Seele ergreifende
Ringen, sich von den Fesseln zu befreien, die, täglich drückender,
alles iVlenschtum in seiner Entwicklung behindern wollten, dieser Krieg
um Leben oder Tod der Menschheit . . . das treibende Element und
der Ausgangspunkt für alle großen Bewegungen ... bis hinauf zur
Reformation". Infolgedessen hängt der Humanismus eng zusammen
mit dem Sektenwesen und der Mystik einer- und dem ganz aufs Welt-
liche gerichteten, Italien erobernden provenzalischen Minnegesang
anderseits, wie es denn kein Zufall gewesen ist, daß das Schicksal
den ersten großen Namen unter den Humanisten, Petrarca, gerade in
die Provence geführt hat, die Heimat der Sekten und des Minnegesangs.
„So erscheint uns der Humanismus nur als ein Glied, allerdings das
wichtigste und bedeutungsvollste, und zugleich als der Höhepunkt
und Schlußstein in dem großen Kampfe, der die Menschheit des Mittel-
alters der freien Luft der Neuzeit entgegenführt."
In der Zeitschrift für historische Waffenkunde 7, 1 handeln
B. Rathgen und K. H. Schäfer über Feuer- und Fernwaffen beim
päpstlichen Heere im 14. Jahrhundert, indem sie die in den Introitus
et Exitus zahlreich vorkommenden Bezeichnungen untersuchen und
erklären. Aus ihnen und aus chronikalischen Nachrichten von 1331
und 1334 ziehen sie den Schluß, „daß die Feuerwaffe, die Ausnutzung
der Treibkraft des Pulvers zum Schießen auf große Entfernungen und
damit die ganze neuzeitliche Kriegsentwicklung, ihren Anfang in
Deutschland genommen hat." — Im gleichen Jahrgang, Heft 2/3
findet sich ein Aufsatz von W. Rose über Johann von Böhmen und
die Schlacht bei Cr^cy, in dem am Schluß des Lebensbildes die Be-
deutung der Schlacht unter waffenhistorischem und strategischem
Gesichtspunkt gewürdigt wird. Manche Ausführungen dürften nicht
unwidersprochen bleiben.
Die Zeitschrift für den deutschen Unterricht bringt in Bd. 30,
6 u. 7 Fortsetzung und Schluß der Arbeit von Karl Helm über den
Anteil, den der Deutsche Orden bis zum Ende des 14. Jahrhunderts
an der Entwicklung des deutschen Schrifttums gehabt hat (vgl. 116,
S. 551). Die weltliche Literatur ist fast ganz auf die Geschichtschrei-
bung beschränkt, die bis weit ins 13. Jahrhundert zurückreicht. Von
den aus Ordenskreisen stammenden theologischen Schriften hat „der
Reformation und Gegenreformation. 167
Frankfurter" (um 1370 von einem Kustos des Hauses zu Frankfurt
verfaßt) die stärkste Wirkung ausgeübt: von Luthier unter dem Titel
„Ein Deutsch Thieologia" gedruckt, hat die Schrift bis in die Neuzeit
hinein ihren Platz behauptet.
In knappen Zügen schildert Heinr. Sambethin den Historisch-
politischen Blättern 158,6 Arras auf der Höhe seines Glanzes und seinen
Niedergang (burgundische Herrschaft von 1384 — 1477, Besitzergrei-
fung durch Frankreich und Einnahme durch Maximilian im Novem-
ber 1492).
Die umfangreiche Arbeit von N. Hilling über Römische Rota-
prozesse aus den sächsischen Bistümern, auf die an dieser Stelle wieder-
holt (115, 213 und 449; 116, 346 u. 530) hingewiesen wurde, wird jetzt
im Archiv für katholisches Kirchenrecht 96, 3 mit dem sehr erwünschten
Verzeichnis der in den Prozeßakten genannten Personen zum Ab-
schluß gebracht. i ^'^f]
Paul Lehmann stellt die größtenteils auf Einträge in Studien-
heften zurückgehenden Nachrichten über einen spätmittelalterlichen
nicht unbedeutenden Arzt Johann Fink (geb. um 1440) zusammen,
den das Schicksal von Unterfranken auf italienische Universitäten,
nach Rom (1477 — 79) und in verschiedene bayerische Städte, zuletzt
an den Hof zu Landshut, geführt hat (Historisches Jahrbuch der
Görres-Gesellschaft 37, 2 u. 3).
Neue Bücher: Rieh. Neu mann, Die Colonna und ihre Politik
von der Zeit Nikolaus IV. bis zum Abzüge Ludwigs des Bayern aus
Rom. 1288—1328. (Langensalza, Wendt & Klauwell. 4M.) — Zao/i,
Liberias Bononie e Papa Martino V. (Bologna, Zanichelli.)
Reformation und Gegenreformation (1500 — 1648).
Oskar Planer (Lützen), Verzeichnis der Gustav-Adolf-Samm-
lung mit besonderer Rücksicht auf die Schlacht am 6./16. November
1632. H. Haessel Verlag. Leipzig 1916. 168 S. — Der Verfasser hat
seit 34 Jahren Druckschriften, Autographen, Einblattdrucke, Bildnisse,
Münzen und Waffen gesammelt, soweit sie auf Gustav Adolf und seinen
Tod bei Lützen Bezug haben. Zeitgenössische und moderne Literatur
sind in gleicher Weise berücksichtigt. Eine ganze Reihe von Briefen
werden abgedruckt, die Titel von Flugschriften ausführlich angeführt.
Deshalb mag die liebevoll ausgeführte Arbeit eines Dilettanten auch
dem Forscher unter vielem Bekannten das und jenes Unbekannte
bringen. E. W. M.
Zur Geschichte des kirchlichen Lebens im 16. Jahrhundert seien
zwei Aufsätze aus dem Archiv für Kulturgeschichte Bd. XII, Heft 3/4
168 Notizen und Nachrichten.
angemerkt: Ernst Büttner handelt über das Buch der „Armenkiste
an Unser Lieben Frauen Kirche" zu Bremen (1525 — 1580), seine Be-
deutung und seine mutmaßliche Beziehung zu der Armenordnung in
Ypern; diese letztere Beziehung, die für die Frage nach der Originalität
des reformatorischen Armenwesens nicht ohne Bedeutung ist, glaubt
Büttner in der Person des flandrischen Prädikanten Propst zu finden,
der in Wittenberg studierte, sich dann in seiner Heimat aufhielt und
schließlich nach Bremen kam. — ,, Bilder aus dem Leben der Geist-
lichen der Diözese Eichstätt um die JVlitte des 16, Jahrhunderts" ent-
wirft Adam Hirschmann auf Grund eines Geschäftsbuches des
Generalvikars, der das sittliche Leben der Geistlichen zu über-
wachen hatte.
Gebhard JVlehring, Kardinal Raimund Peraudi als Ablaßkom-
missar in Deutschland 1500 — 1504 und sein Verhältnis zu Maximilian],
(aus: Forschungen und Versuche zur Geschichte des Mittelalters und
der Neuzeit, Festschrift für Dietrich Schäfer). Der Aufsatz ist das
Ergebnis jahrelanger umsichtiger Nachforschung nach dem vielfach
verstreuten unbekannten Material über die Legation Peraudis, die der
Jubiläumspredigt und der Verbreitung des Jubelablasses in Deutsch-
land galt. Der Ertrag dieses Ablasses war ausschließlich für den Tür-
kenkrieg bestimmt und sollte in Deutschland verwahrt bleiben. Der
allzeit geldbedürftige König Maximilian machte fortgesetzt die leb-
haftesten Anstrengungen, sich in den Besitz des Ablaßgeldes zu setzen ;
zum Teil ist ihm dies auch gelungen. Darüber geriet der Kardinal,
dem es um das Zustandekommen des Türkenkrieges ernstlich zu tun
war, in heftige Auseinandersetzung mit dem König und ist ihm auch
in einer Reihe von Streitschriften entgegengetreten. Die vielen Züge,
die Mehring in das bisher bekannte Bild einzufügen vermag, werfen
auf das Verhalten Maximilians und auf die eigenartige Natur des Jubi-
läumsablasses ein neues Licht.
Über Luthers Stellung zum Islam und seine Übersetzung der
Confutatio des Ricoldus unterrichtet Hermann Bärge in einem leider
in zwei Teile zerrissenen Aufsatz in der Allgemeinen Missions-Zeit-
schrift 43, 2 u. 3.
Joseph Schweizer teilt im Historischen Jahrbuch Bd. 37,
Heft 2/3, S. 400 aus den Akten des Archivs von Simancas die kaiser-
liche Instruktion des Kardinals Madruzzo vom 10. Juni 1546 mit, die
für die Geschichte der diplomatischen Vorbereitung des Schmalkal-
dischen Kriegs von Interesse ist.
Neue Bücher: Gnirs, Österreichs Kampf für sein Südland am
Isonzo 1615—1617. (Wien, Seidel & Sohn. 4 M.) — Jelinek, Die
Böhmen im Kampfe um ihre Selbständigkeit 1618 — 1648. (Prag,
1648—1789. 169
Taussig. 7,50 M.) — Lippert, Beiträge zur Politik Ferdinands von
Köln im Dreißigjährigen Kriege bis zum Tage von Schleusingen im
Juli 1624. (Leipzig, Deichert. 2,80 M.)
1648—1789.
Einen Beitrag zur Historiographie des 18. Jahrhunderts liefert
Gustav Sommerfeldt mit seiner Arbeit über die Altertumsforschun-
gen des 1738 gestorbenen Historikers und Linguisten Gottlieb Bayer
in den Altpreußischen Monatsheften 52, 1.
In den Forschungen zur brand. u. preuß. Gesch. 29, 1 behandelt
O. Herrmann die militärische Laufbahn des Grafen Finckenstein,
des Erziehers Friedrich Wilhelms I., wie auch Friedrichs des Großen.
Sie begann 1676 und endete erst 1715 mit der Einnahme von Stralsund.
Bedeutende taktische und strategische Begabung wird Finckenstein
nachgerühmt. Die Wirkung seiner militärischen Erziehung auf den
Kronprinzen Friedrich muß aber mehr erraten werden, als daß sie
sich beweisen ließe. (Graf Albrecht Konrad von Finckenstein als
Soldat.) W. M.
Hans Droysen hat nach allem vorhandenen Material, gedrucktem
wie ungedrucktem, einen Tageskalender Friedrichs des Großen zusam-
mengestellt, von seiner Thronbesteigung an bis zum Ende des Sieben-
jährigen Krieges. Er bietet damit zugleich die Fortsetzung des früher
mitgeteilten Tageskalenders des Kronprinzen Friedrich. (Forschungen
zur brand. u. preuß. Gesch. 29, 1.)
Eine höchst interessante und scharfsinnige Studie veröffentlicht
G. B. Volz in den Forschungen zur brand. u. preuß. Gesch. 29, 1.
Indem wir kurz über dieselbe berichten, wollen wir mit unserer An-
erkennung so wenig zurückhalten, wie mit allerlei kleinen Bedenken,
die gegenüber der Sicherheit, mit welcher der Verfasser seine These
vorträgt, wohl am Platze sein mögen. Es handelt sich um die Schick-
salstage im Leben Friedrichs des Großen, also um die Zeit, da die
Nachricht vom Tode Karls VI. in ihm den Entschluß zum Einmärsche
in Schlesien wachrief. Die Untersuchung betrifft ein einziges, aller-
dings höchst bedeutungsvolles Aktenstück. Wenn der Verfasser es
in der Überschrift schlechthin als „das Rheinsberger Protokoll vom
29. Oktober 1740" bezeichnet, so nimmt er damit freilich schon etwas
von seiner Beweisführung vorweg. Am 28. Oktober hielt der König
zu Rheinsberg eine Konferenz ab mit dem Minister Podewils und dem
Feldmarschall Schwerin. Am 29. soll, wie die Überschrift besagt, das
fragliche Schriftstück entstanden sein, als eine Aufzeichnung von
Podewils, die er mit dem Feldmarschall entworfen und vereinbart hat,
170 Notizen und Nachrichten.
aber auf Befehl des Königs. Seine Entstehungsgeschichte gibt es selbst
mit der Erzählung, Seine Majestät habe geruht, ihnen vertraulich seine
Meinung zu eröffnen in dem Sinne, daß das Ereignis des Hinscheidens
Karls VI. zur Erwerbung Schlesiens führen müsse. Die beiden hohen
Würdenträger haben sodann, fährt das Schriftstück fort, den Befehl
erhalten und befolgt, die Frage sorgfältig miteinander zu prüfen und
sich über den besten Weg, um zu dem ihnen bezeichneten Ziele zu
gelangen, zu äußern. „Voici nos idees", so wird die nun folgende Dar-
legung eingeleitet, die den eigentlichen Inhalt des Schriftstücks bildet.
Will man es nun als ein Protokoll bezeichnen, so ist es nicht, und wohl-
verstanden es gibt sich auch nicht (wie Volz S. 70 behauptet) als ein
Protokoll der von Friedrich mit Podewils und Schwerin gehaltenen
Konferenz, sondern als ein Protokoll der von den beiden Würden-
trägern ohne den König angestellten Beratungen. Zu dem ersten
wird es auch keineswegs dadurch erhoben, daß die in der Polit. Korr.
I, 74 ff. gedruckte Fassung nach der Mitteilung der beiden haupt-
sächlichen Pläne den Zusatz enthält: „Ce sont lä les deux seuls plans
sur lesquels Votre Majeste nous a fait l'honneur de nous entretenir hier."
Und wenn ferner diese Fassung fortfährt: „Nous parlämes encore d'un
troisieme", so läßt vollends diese im Vergleiche zu den vorhergehenden
Worten weniger ehrerbietige Ausdrucksweise deutlich erkennen, daß
der nun mitgeteilte dritte Plan (der ein Abwarten bis zur erfolgten
Schilderhebung Sachsens empfiehlt) nur als ein Gegenstand der Bera-
tung zwischen Podewils und Schwerin bezeichnet werden soll. Nun
liegt aber der springende Punkt der Untersuchung wohl in der wert-
vollen Mitteilung, daß das im Geheimen Staatsarchiv befindliche
Original an den beiden eben mitgeteilten Stellen eine ursprünglichere,
erst nachträglich geänderte Fassung aufweist, die von jeglicher Bezug-
nahme auf die vorangegangene Konferenz mit dem Könige absieht
und es darum vollends unmöglich macht, das ganze Schriftstück als
ein Protokoll dieser Konferenz zu bezeichnen. Das mag nun zwar
als ein äußerlicher Umstand wenig bedeutungsvoll erscheinen, trifft
aber doch des Verfassers ganze Beweisführung ins Herz. Er will näm-
lich in der korrigierten Version eine von Podewils verfaßte Rechtferti-
gungsschrift für den König erblicken, um diesen als einen der gütlichen
Verständigung mit dem Hause Österreich grundsätzlich geneigten
Fürsten erscheinen zu lassen. Wenn dem so wäre, so hätte das Schrift-
stück doch diesen Charakter erst durch die bezeichneten Änderungen
erhalten; in der ursprünglichen Form erscheint Friedrich ja als derjenige,
der nur Schlesien gewinnen will, „ä quelque prix que ce füt". Wäre
also dem mit der Abfassung des Schriftstücks beschäftigten Podewils
der damit verfolgte Zweck unter der Hand ein anderer geworden? Er
hätte als gehorsamer Diener, der dem Könige seine Meinung sagen soll,
1648—1789. 171
die Feder ergriffen, um sie niederzulegen als väterlicher Anwalt
der guten Absichten seines jugendlichen Gebieters? Und noch eine
andere vom Verfasser selbst gekennzeichnete Schwierigkeit bleibt
ungelöst. Zwischen Friedrich und seinem Minister beginnt mit dem
1. November ein neuer, schriftlicher Gedankenaustausch, in dessen
Verlauf das „Protokoll" niemals erwähnt wird. Dieses ist eben, sagt
Volz, weder auf Befehl des Königs entworfen noch auch ihm je vor-
gelegt. Es ist auch nicht am 29. Oktober, sondern erst etwas später,
sagen wir am 3. November, niedergeschrieben. Aber, wenden wir hier
ein, wenn also erst später und wenn als Rechtfertigungsschrift verfaßt,
wieso dann noch zunächst in einer Form, die diesen Charakter gar
nicht besaß und ihn erst durch starke Korrekturen erhalten mußte?
Soweit unsere Bedenken, die uns abhalten, die mitgeteilte Beweis-
führung glatt zu akzeptieren und uns bewegen, bis zu weiterer Klärung
immer noch einer vorsichtigeren Deutung des Tatbestandes, wie sie
etwa Grünhagen, Ranke, Droysen, Koser versucht haben, den Vorzug
zu geben. W. Michael.
Adolf V. Wiedemann-Warnhelm will auf Grund der Hand-
schreiben Josephs II. eine Schilderung der Persönlichkeit des Kaisers
versuchen. Der erste (im Hist. Jahrbuch 37, 2 u. 3 erschienene) Teil
der Abhandlung gibt eine ansprechende, wenn auch nicht gerade tief
erfaßte Schilderung der Tätigkeit Josephs in den ersten dreieinhalb
Jahren seiner Alleinherrschaft. Der große Fleiß, die Vielgeschäftigkeit,
die Sorge für das Kleinste werden recht lebendig. In dem sparsamen,
einfachen, fast kleinbürgerlichen Zuge seines Wesens erkennt man den
Helden der Kaiser- Joseph-Anekdoten wieder. Sein Eingreifen in die
Angelegenheiten der Kirche, der staatlichen Verwaltung, des sozialen
und wirtschaftlichen Lebens zeigt den in einem fest umschlossenen
Vorstellungskreis sich bewegenden Reformer des 18. Jahrhunderts.
W. M.
Wir haben abermals (vgl. H. Z. 116, 351) über eine höchst wert-
volle Untersuchung über den Bündnisvertrag zwischen Frankreich und
Amerika zu berichten. Hatte der früher erwähnte Aufsatz gezeigt,
daß in erster Linie der natürliche Wunsch, das im Siebenjährige Kriege
verlorene Prestige zurückzugewinnen, die Franzosen zu Verbündeten
der Amerikaner gemacht hatte, so lehrt uns die Untersuchung von
C. H. Van Tyne, daß die französische Staatskunst sich im Jahre 1777
der Alternative gegenüber glaubte, entweder gegen England und Ame-
rika zugleich, oder mit Amerika gegen England Krieg führen zu müssen.
Rückblickend hat Vergennes im Jahre 1782 die Lage von 1777 so
umschrieben, und daß diese Auffassung wirklich bestand, zeigt der
Verfasser an der Hand des gleichzeitigen archivalischen Materials.
Zur Erklärung dieser Auffassung dient es, die Meinung des französischen
172 Notizen und Nachrichten.
Ministeriums zu vernehmen, England sei nach der Kapitulation Bur-
goynes bereit gewesen, den Amerikanern die Unabhängigkeit zu ge-
währen, falls sie sich mit England gegen Frankreich verbündeten.
So sehr waren die Beziehungen der Westmächte bereits durch die ins-
geheim den Amerikanern dargebotene französische Hilfe verschärft.
(Influences which determined the French Government to make the Treaty
with America. Amer. Hist. Rev. 21,3.) W. Michael.
Von wirtschaftsgeschichtlichem Interesse ist die kleine Unter-
suchung, die E. R. Turner in der American Hist. Rev. 21, 3 über die
„Keelmen of Newcastle" veröffentlicht. Er sieht mit Recht in den seit
dem 16. Jehrhundert zur Verbesserung ihrer Löhne und Lebenshaltung
geschlossenen Verbindungen dieser „Keelmen" das früheste Beispiel
eines Gewerkvereins, das also viel weiter zurückreicht als irgendein
anderer Fall. Die herrschende (Webb) Anschauung, daß es vor dem
18. Jahrhundert kein Beispiel von Trade LJnions gegeben habe, wäre
danach zu korrigieren. W. M.
Neue Bücher: Ischer, Die Gesandtschaft der protestantischen
Schweiz bei Cromwell und den Generalstaaten der Niederlande. 1652/54.
(Bern, Francke. 2,80 M.) — Schwinkowski, Die Reichsmünzreform-
bestrebungen in den Jahren 1665 — 1670 und der Vertrag von Zinna
1667. (Stuttgart, Kohlhammer. 2,20 M.) — Lettres du Duc de Bour-
gogne au roi d'Espagne, Philippe V et ä la reine, publikes par Alfred
Baudrillart et Lion Lecestre. Tome 2 (lyog — 171 2). (Paris, Laurens.)
— Bernadotte Everly Schmitt, England and Germany 1740 — 1914.
(Princeton, Princeton Univ. Press.)
Neuere Gesdiidite von 1789 bis 1871.
Camille Desmoulins, seine politische Gesinnung und Partei-
stellung von Käthe Hilt, Dr. phil., BerUn, Emil Ebering, 1915 (Hist.
Studien Heft 133). VI u. 137 S. — Eine fleißige und sympathische
Anfängerarbeit — aber auch eine typische Anfängerarbeit! Der
eifrigen Verfasserin fehlt begreiflicherweise die genügende Übersicht
und Literaturkenntnis, um einzusehen, daß der schreibgewandte Ca-
mille in seinen politischen Ansichten fast jeder Selbständigkeit entbehrt
(nebenbei bemerkt, ist es schwer, in der heutigen Zeit Trivialitäten,
wie auch er sie so stark bevorzugt, geduldig zu lesen). So befriedigt
der erste Teil der Arbeit „Camille Desmoulins' politische Gesinnung"
wenig. Wir meinen auch, daß zur eindringenden Charakterisierung
Desmoulins das eine Wort Taines, der ihn „l'enfant terrible de la Ri-
volution" nannte, mehr beitrage, als alle Darlegungen der Verfasserin.
— Sehr hübsch ist dagegen der zweite Teil, der nachweist, daß Camille,
der immer anlehnungsbedürftig war, sich erst JVlirabeau, dann Robes-
Neuere Geschichte. 173
pierre, dann Danton anschloß, nicht aus Wankelmut, sondern weil
er von seinen angebeteten Führern (der „heilige" Mirabeau!) enttäuscht
wurde: von dem ersten, weil er der Revolution untreu wurde, von dem
zweiten, weil er sie durch Blut und Schrecken besudelte. Es ist auch
durchaus erfreulich, daß eine deutsche Verfasserin diesen Mann von
Humor und moralischem Mut mit so viel Mitgefühl behandelt, den
die modernen französischen Jakobiner zugunsten anderer widerlicher
Gesellen stark vernachlässigen, hauptsächlich weil er die Schreckens-
herrschaft so vernichtend beurteilte, welche jenen bei ihrer sadistischen
Phantasie im Grunde sympathisch ist. Die Schreibweise der Verfas-
serin und ihre Übersetzungen (z. B. S. 91: Maitresse!) lassen gelegent-
lich zu wünschen übrig.
Z. Zt. Halicz. Wahl.
Auszüge aus Lebenserinnerungen („Kreutz- und Querzüge") des
Deputy Assistant Commissary General in englischen Diensten A. L. Fr.
Schaumann beginnt sein Enkel C. v. Holleuffer im Oktoberheft
der Deutschen Rundschau zu veröffentlichen: zunächst über die Vor-
fahren und die Knabenjahre, als „kulturgeschichtlich interessante
Bilder aus Hannover am Ende des 18. Jahrhunderts".
Einen Brief Blüchers aus Münster, 30. Sept. 1798 (nur die Unter-
schrift ist eigenhändig) an J. G. Hasenclever in Frankfurt (Anlaß:
Entlassung von dessen Sohn aus Blüchers Regiment; angeknüpft kurze
politische und militärische Bemerkungen) hat A. Hasenclever in den
Forschungen z. brandenb. u. preuß. Gesch. 29,1 veröffentlicht.
Erst in Paris 1798 hat W. v. Humboldt sich näher mit den
Schriften der Frau von Stael beschäftigt, im September sie persönlich
kennen gelernt: was seine Pariser Tagebücher (s. H. Z. 1 16, 540) darüber
bieten, hat A. Leitzmann (Deutsche Rundschau, Okt. 1916) mit-
geteilt; die Tagebücher brechen für uns mit dem 30. Sept. ab; die
Fortsetzung dieser wertvollen Aufzeichnungen ist 1806 infolge der
Plünderung Tegels verstreut, dann, wiedergefunden, von Alexander
V. H. an Ancillon gegeben, in dessen Nachlaß aber nicht mehr aufzu-
finden. An ihre Stelle tritt nun, zunächst bis 1801, für Humboldts
weitere Beziehungen zu Frau von Stael seine ausgedehnte Korrespon-
denz mit verschiedenen Empfängern. Man bewundert auch hier den
glänzenden Briefschreiber mit seinem unbestechlichen Urteil.
J. Lulves, der mit sehr optimistischer Auffassung die verschie-
denen Landungsabsichten der Franzosen gegen England seit dem
14. Jahrhundert aufzählt, ist der Ansicht, daß Napoleon 1. durch recht-
zeitige Kenntnis und Anwendung der Erfindungen des Amerikaners
Fullerton (Dampf- und Tauchboote) die nicht von ihm verschuldete
Schwäche der französischen Seerüstungen überwunden und wahr-
174 Notizen und Nachrichten.
scheinlich die entscheidende Überlegenheit gegenüber der englischen
Flotte erhalten hätte, so daß er vielleicht wirklich den Landungsplan
hätte ausführen können („Warum konnte Napoleon I. England nicht
direkt angreifen?" Deutsche Revue, Sept. 1916).
Hingewiesen sei — ohne übrigens damit Zustimmung auszu-
drücken, vgl. Vergangenheit u. Gegenwart 1916, S. 243 — auf die kri-
tischen Bemerkungen von C. Brinckmann zu G. Hasses Buch über
Theodor von Schön und die Steinsche Wirtschaftsreform (1915) in
Dtsche. Lit.-Ztg. 1916, Nr. 41.
B. Luthers Aufsatz über Heinrich v. Kleists Patriotismus und
Staatsidee (Neue Jahrb. f. d. klass. Altert, usw. 27, 8, S. 518—538)
beschäftigt sich vornehmlich mit dem „Prinzen von Homburg". Er
sucht zu erweisen, daß Kleist — preußischer Patriot im Sinne des alten
Staats und daher im Gegensatz zu Hardenberg für Reformen aus dem
Wesen dieses Staats heraus, zugleich aber Individualist mit neuem,
besonders im Verkehr mit Adam JVlüller erwachsenem, romantisch
gefärbtem Staatsideal — in den Grundgedanken des Dramas vornehm-
lich durch Adam Müller, speziell dessen 1808/09 gehaltene Vorträge
über die Elemente der Staatskunst, beeinflußt sei. — In der „Her-
mannsschlacht" sieht W. Wieber die Darstellung des Kampfes zwi-
schen germanischer und lateinischer Rasse: Kleists Haß gegen die
Franzosen beruht auf instinktivem Rassenhaß (Kons. JVlonatsschr.
1916, Juni u. Juli).
Die Fortsetzungen des zuletzt H. Z. 116, 541 erwähnten Brief-
wechsels zwischen K- Fr. A. Eichhorn und seiner Gattin im Sep-
tember- und Oktoberheft der Deutschen Revue reichen vom 23. August
bis zum 21. September 1813; darunter befindet sich der z.T. im Preußi-
schen Korrespondenten veröffentlichte Brief über die Schlacht an der
Katzbach.
B. Schmeidler wendet sich (Forschungen z. brandenb. u. preuß.
Gesch. 29, 1) gegen die günstige Beurteilung, die Bernadottes Verhalten
und JVlaßnahmen vor Großbeeren bei Friedrich, Die Befreiungskriege
1813/15, II, 1912, z. T. auch bei H. Ulmann, Gesch. d. Befreiungs-
kriege II, 1915 gefunden haben. Schmeidler hält die bekannte Erzäh-
lung von Bülows Auftreten in der Konferenz von Philippsthal (22. VIII.)
keineswegs für Legende; Bernadotte hat nicht am 21. Sept. abends
in seinem Brief an Blücher den Entschluß zur Schlacht ausgedrückt;
sein Schlachtplan vom 22. Aug. und sein weiteres Verhalten lassen
an der Ernsthaftigkeit einer Absicht zur Schlacht auch für den 23. Aug.
(geschweige denn einer Umfassungs- oder Überfallsschlacht) zweifeln:
ja, er hat noch am 23. Aug. nachmittags Bülow den Befehl zu weiterem
Rückzug erteilt.
Neuere Geschichte. 175
Auszüge aus den Polizeiregistern während Friedrich Wil-
helms III. Aufenthalt in Karlsbad und Teplitz 1816 nebst Bemer-
kungen über fürstliche Besuche in den böhmischen Bädern finden sich
in der österr. Rundschau, 15. Sept. 1916.
Im Panther III, 1, 1915 hat F. Rachfahl eine frische, zusammen-
fassende Schilderung von der Entwicklung der „alten Burschenschaft"
gegeben.
In einem glänzenden Vortrage hat Fr. Mein ecke die Entwick-
lung von ,, Landwehr und Landsturm seit 1814" behandelt (gedruckt
in Schmollers Jahrbuch 40, 3) in ihren drei durch die Jahre 1860 und
1888 bezeichneten Epochen und in ihrem Zusammenhange mit den
politischen Strömungen in Preußen und Deutschland, denn „Heeres-
verfassung ist zu allen Zeiten eine politische Frage gewesen". Der
Biograph Boyens erklärt die dunklen Schatten, die die Erfolge des
Linienheeres zu Unrecht auf die Reform von 1814 und 1815 geworfen
haben, zunächst rein militärisch: die Sparsamkeit der Friedenszeit,
die Abneigung der Linienoffiziere gegen die Landwehroffiziere, deren
mangelhafte Ausbildung; Boyen hatte gerade „das Maximum der
Wehrkraft herausholen wollen". Zudem: Boyens Heeresverfassung
war der „integrierende Teil einer liberalen Reformpolitik, die auf Ver-
fassung und Volksvertretung hinaussteuerte, sie aber nicht erreichte
und nun in das Staatsleben ein unorganisches Nebeneinander von
Herrschaftsstaat und Gemeinschaftsstaat brachte". Politische Ab-
neigung gegen die Landwehr, die Forderung einer Verjüngung und
Verstärkung der Feldarmee — aus wirtschaftlichen und militärischen
Gründen — führen mit dem Erwachen von Machtbedürfnissen in Preußen
zur Reform von 1860: hier wird das meist kaum gestreifte Verdienst
des jüngeren Clausewitz mit Recht hervorgehoben. Was damals in
bewußter Absicht geschaffen wurde, war eine zahlenmäßig begrenzte,
auf den Qualitätsgedanken gegründete Feldarmee, und dieser Gedanke
blieb fast zwei Jahrzehnte hindurch im wesentlichen auch im neuen
Reiche maßgebend. Und doch hatte die Erfahrung von 1870 gezeigt,
daß damals schon „Roon persönlich und als Stratege und sein Reor-
ganisationswerk versagten", gegenüber den Aufgaben, die Moltke
stellen mußte. „Mit der Reorganisation," sagt Meinecke mit Recht
(S. 16), „war man aus der Scylla in die Charybdis gekommen." In
der Forderung nach einer bis dahin fehlenden wirklichen Organisation
des Landsturms, wie sie das Gesetz von 1875 brachte, hat sich Eugen
Richter als Handlanger des von ihm so befehdeten Militarismus er-
wiesen. Erst das Wehrgesetz von 1888 bringt in der , .Vereinigung
der Vorzüge, der Vermeidung der Mängel" eine Synthese der Prin-
zipien von Boyen und Roon; es will die ganze Wehrkraft der Nation
176 Notizen und Nachrichten.
herausholen. So „erwies sich Boyens gläubiges Vertrauen als eine
der genialen und schöpferischen Illusionen, deren das geschichtliche
Leben bedarf". Die Grundgedanken des Gesetzes von 1888 mit der
Bewährung jetzt im Weltkrieg eröffnen die Perspektive auf eine neue
politische Synthese von Herrschaftsstaat und Gemeinschaftsstaat.
Darin zeigt sich die ganze Tiefe der staatlichen, sozialen und geistigen
Wandlungen des Jahrhunderts: „Im Geben und Nehmen zwischen
Staat, Heer und Volk hat sich auch eine Wandlung unseres Volks-
schlags vollzogen, die die Wandlungen des Landwehrproblems erst
ganz verständlich macht." K. J.
Eine sehr ansprechende Würdigung seines Großvaters, des Hi-
storikers Wilhelm Heinrich Grauert, gibt H. Ritter v. Srbik in den
Sitzungsberichten der kais. Akademie der Wissenschaften in Wien,
phil.-hist. Klasse 176, 4. Er bezeichnet Grauert als den markantesten
Vertreter der Niebuhrschule im engsten Sinne des Wortes und findet
seine besondere wissenschaftliche Eigenart darin, daß er, der wie
Droysen sowohl die alte wie die neue Geschichte zum Arbeitsfeld
wählte, auf diese letztere die von Niebuhr gelehrten JVIethoden und
Prinzipien der althistorischen Forschung restlos übertrug. So ist die
Skizze in der Tat, wie der Verfasser es beabsichtigte, ein Beitrag zur
Erkenntnis der Verbindung von Geschichte und Philologie im vorigen
Jahrhundert geworden. Im Anhang veröffentlicht Srbik zwei Briefe
Niebuhrs und einen Brief Arndts an Grauert.
Nach Papieren aus dem Nachlaß des Ministers Abel handelt
JVl. Doeberl von dem persönlichen Anteil, den König Ludwig I. von
Bayern an dem Kölner Kirchenstreit nahm: der Übermittelung von
Nachrichten Drostes nach Rom nach dessen Gefangennahme; der
weitgehenden Freiheit der bayerischen Presse in der Besprechung des
Konflikts; der Berufung des Bischofs Geissei zum Koadjutor in Köln;
ein (abgedruckter) Artikel Abels in der Augsb. Allg. Ztg. faßt Ludwigs
Anteil zusammen (Hist.-Pol. Bit. 158, 2: König Ludwig I. und die
kath. Kirche).
Th. Schiemanns Aufsatz über „Kaiser Nikolaus I. in Haus,
Familie und Tagesarbeit" (Deutsche Rundschau, Sept. 1916) ist wohl
ein Ausschnitt aus dem zu erwartenden nächsten Bande der Geschichte
dieses Kaisers.
Weitere Jugendbriefe Kurt v. Schlözers aus Paris vom Februar
bis zum August 1846 reichend, finden sich in der Deutschen Revue,
Sept. 1916.
Die JVIitteilungen aus dem warmherzigen und gemütvollen Brief-
wechsel Gustav Freytags mit Graf und Gräfin Wolf Baudissin
(1856—1862, Deutsche Rundschau, Juli-Sept. 1916) bieten neben dem
Neuere Geschichte. 177
biographischen Interesse auch mancherlei Bemerkungen von poli-
tischem Charakter.
Die zuletzt H. Z. 116, 543 erwähnten Aufzeichnungen aus dem
Kriegstagebuch des sächsischen Hauptmanns (späteren Generals)
Wittich V. Einsiedel von 1866 werden im Septemberheft der Deut-
schen Rundschau zu Ende geführt (vom 18. Juli bis zur Rückkehr
nach Dresden, 8. November).
Im Oktoberheft der Deutschen Revue beginnt Fr. Thimme
mit der Veröffentlichung von Auszügen aus Briefen des bekannten
Parlamentariers W. v. Kardorff (1828 — 1907) an seine Gattin über
seine parlamentarische Tätigkeit (zunächst 1866 — 1869) als Vorläufer
einer größeren Arbeit über Bismarck und Kardorff.
P. Herre („Metternich und Bismarck" in der österr. Rundschau,
1. Sept. 1916) versucht im Anschluß an die Zusammenstellung der
Nachrichten beider Staatsmänner und der Fürstin Pauline Metternich
über ihre wiederholten Begegnungen nachzuweisen, daß die Nach-
wirkung dieser Zwiesprache und besonders von Metternichs Wort
von der Nichtsaturiertheit Preußens sich in Bismarcks Politik und
bis in die Gedanken der letzten Jahre verfolgen lasse. Anschließend
sei hier nachträglich auf drei bereits 1915 im „Panther" III, 1 erschie-
nene Aufsätze hingewiesen: 1. D. Schäfer, Aus Bismarcks Minister-
und Bundeskanzlerzeit (Abschnitt aus der Bismarck-Biographie des
Kaiser- Wilhelm-Dank): Betrachtungen über Bismarcks Persönlichkeit,
Auftreten und Charakter, über die Grundzüge seiner Politik im Kon-
flikt, in der dänischen Frage und bez. des allgemeinen Wahlrechts.
2. Georg Irmer, Bismarck und die deutsche Kolonialpolitik, ein kurzer
sachkundiger Überblick von der völligen Ablehnung bis zur Entsen-
dung Wißmanns. Widersprüche in Bismarcks kolonialem Werdegang
will Irmer nur als „scheinbare" gelten lassen. 3. P. Herre, „Bismarck
und Österreich". Dieser Aufsatz behandelt ein wichtiges Problem
der Bismarckforschung und zeigt in seiner gewundenen Beweisführung,
wie schwer der m. E, vergebliche Versuch ist, im Sinne der in Deutsch-
land überwiegend herrschenden Auffassung Bismarcks Anschauungen
und Verhalten auf diesem Gebiete, insbesondere soweit das Verhältnis
zu Rußland hineinspielt, für die 70er und 80er Jahre als einheitlich und
widerspruchslos darzustellen (s. aber schon Th. v. Sosnosky, Die Balkan-
politik Österreich-Ungarns II, 1915); Deutschlands Verhalten 1914
und seinen Entschluß zum Kriege sieht Herre als durch den Wandel
der Zeiten gegebene Konsequenz Bismarckscher Politik an. — Kri-
tische, zum Teil recht problematische Bemerkungen zur Bismarck-
auffassung und Bismarckliteratur, insbesondere zu Lenz' Beitrag im
Bismarck- Jahrbuch („Bismarck als Diplomat") macht S. S aenger
im Oktoberheft der Neuen Rundschau. K. J.
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 12
178 Notizen und Nachrichten.
Auf die Bd. 116, 358 erwähnte Besprechung der „Genesis der
Emser Depesche" durch L. Rieß hat R. Fester (Forsch, z. branden b.
u. preuß. Gesch. 29, 1) sachlich nur in einem Puni<te (Übersetzung
von amends) geantwortet, in dem Rieß erwidernd bei seiner Deu-
tung bleibt. Auf die Angriffe Festers gegen die Redaktion der For-
schungen erfolgt a. a. O. von dem Herausgeber M. Klinkenborg
eine sehr entschiedene Zurückweisung,
Auf Wunsch des Generalauditeurs Fleck hat Edwin v. Man-
teuffel 1872 den von Fleck herrührenden Entwurf zum Militärstraf-
gesetzbuch eingehender brieflicher Kritik unterzogen: ganz vom preu-
ßisch-militärischen Standpunkt aus; anregend und mit sehr beach-
tenswerten Einzelheiten, unitarisch („diese Pseudoprovinzen"), aber
ganz ablehnend gegen die prinzipiellen und einzelnen Konzessionen
an die Forderungen des Liberalismus (herausgegeben von E. Lennhoff,
Deutsche Revue, Sept. 1916).
In dem Septemberheft der Deutschen Rundschau findet sich ein
Aufsatz von G. v, Graevenitz über die deutsche Militärmission in
der Türkei, insbesondere die Wirksamkeit von Moltke und v. d. Goltz,
Beachtenswert als Ausdruck politischer Stimmungen erscheint
die kritische Besprechung der „deutschen Politik" des Fürsten Bülow
durch M. Spahn (Hochland, Sept. 1916). Sein lebhafter Tadel trifft
doch die Grundgedanken der auswärtigen Politik seit der Jahrhundert-
wende, seine tiefe innere Abneigung die ganze innere Politik (nament-
lich der letzten Jahre) Bülows, von der Spahn eigentlich nur den
Zolltarif von 1902 gelten läßt. Er wirft Bülow vor allem die Verkenn ung
der schöpferischen Kräfte des konservativen Staatsgedankens vor und
stellt ihn mit seiner „liberalen Psyche" und als Vorkämpfer jener
konservativ-liberalen Mittelrichtungen, bei denen alles wahrhaft Kon-
servative verflüchtigt sei, in dunklen Gegensatz zu dem hellen Vorbild
Bismarckscher Staatsanschauung und Staatskunst: denn „Preußen
und das Reich ruhen von Natur und Geschichte und dank Bismarck
auf konservativen Grundlagen", wozu freilich das Bild, das Spahn
selbst in seiner Biographie Bismarcks von der Epoche der Reichs-
gründung (III, 2; IV, 1) entworfen hat, nicht eben stimmt. Stärker
noch als zuvor sieht Spahn das Heil Deutschlands nur in völliger Ab-
kehr vom Liberalismus und alleinigem Aufbau auf konservativen
Grundlagen, wobei die Perspektive auf Paritätsforderungen bis zu
den Reichsstaatssekretären nicht fehlt. K. J.
Neue Bücher: Chuquet, De Fridiric II ä Guillaume IL {Paris,
E. de Boccard. 3,50 fr.) — Otto Brandt, England und die Napo-
leonische Weltpolitik 1800—1803. 2. verb. Aufl. (Heidelberg, Winter.
5 M.) — Roloff, Die Orientpolitik Napoleons I. (Weimar, Kiepen-
Neueste Geschichte seit 1871. 179
heuer. 1,60 M.) — Melden, Zur Geschichte des österreichisch-russi-
schen Gegensatzes. Die Politik der europäischen Großmächte und der
Aachener Konferenzen. (Wien, Seidel & Sohn. 4 JVl.) — Les origines
diplomatiques de la guerre de 1870 — i8yi. Tome 10. 2 juin — 10 juillet
1866. (Paris, Ficker.) — Haller, Bismarcks Friedensschlüsse. (Mün-
chen, Bruckmann. 2 M.)
Neueste Geschichte seit 1871.
In seinem „Weltpolitischen Wanderbuche" legt P. Rohrbach
1916 eine Sammlung von Reiseskizzen seit 1897 vor, in der die neueste
Entwicklung von Weltpolitik und Weltwirtschaft vielfach beleuchtet
wird. Geschichtlich ertragreicher ist die in 2. Auflage erschienene
Schrift: „Der Krieg und die deutsche Politik." Über Rohrbachs son-
stige kriegspublizistische Tätigkeit haben wir hier nicht zu urteilen.
Als völkerrechtlicher Chronist des Weltkrieges betätigt sich neben
andern E. Müller-Meiningen mit seinem stoffreichen Werke: „Der
Krieg und der Zusammenbruch des Völkerrechts" (3. Aufl., 1916).
Polemisch gehalten sind R. W. Horns Ausführungen über Volks-
charakter und Kriegspolitik im Dreiverband (Kriegspolitische Einzel-
schriften 9, 1916). K. A. V. Müllers Vortrag „über die Stellung Deutsch-
lands in der Welt" (1916) ist durch gute geschichtliche Übersicht
ausgezeichnet.
Die höchst lehrreiche, vom Handelsmuseum in Wien heraus-
gegebene österreichische Monatsschrift für den Orient liegt
bis zum 42. Bande vor.
Eine dankenswerte Orientierung über die neuere Türkeiliteratur
veröffentlicht H. Grothe in den von ihm redigierten Beiträgen zur
Kenntnis des Orients 13, 1916.
In der Deutschen Orientbücherei 17, 1916 behandelt C. A.
Schäfer, ein guter Kenner der neuesten Geschichte der deutsch-
türkischen Wirtschaftsbeziehungen, „die Entwicklung der Bagdadbahn-
politik" in breitem weltpolitischen Rahmen. Die Arbeit ist reich
an brauchbaren geschichtlichen Gesichtspunkten. Die günstigen Ur-
teile, die der Verfasser auch über die weltpolitischen Erfolge der
deutschen Maßnahmen ausspricht, sind jedoch sachlich nicht immer
gerechtfertigt.
Italiens Eintritt in den Krieg hat bisher keine Veranlassung
gegeben, die außerordentlich dürftige reichsdeutsche Literatur über
die Geschichte des Königreichs Italien und seine Stellung in der Ge-
12*
180 Notizen und Nachrichten.
schichte der Weltpolitik wesentlich zu ergänzen. Die ältere österrei-
chische Tendenzschrift: „Italiens Mittelmeerpolitik und die Dreibund-
krise" von F. Rudolf (2. Aufl., 1912) bleibt an der Oberfläche, noch
mehr M. Schloß, Italien und wir (Wien 1915). Ähnliches gilt von
Frhr. B. L. v. Mackay, Italiens Verrat am Dreibunde (1915).
Sprunghaft gehalten ist J. P. Büß, Die italienische Frage und
die Zentralmächte im letzten Jahrhundert bis zur Gegenwart (1916)
und der Aufsatz „Bismarck und die italienische Politik" (Grenzboten
35, 1916). Besser gelungen ist J. Patzelts Überblick „Von Crispi
bis Sonnino" (Wien 1915). Die anonyme Schrift „Das Schicksal Ita-
liens" (2. Aufl., 1916) läßt geschichtlich manche Frage offen.
Eine wirkliche Bereicherung der historischen Literatur ist dagegen
A. Pingaud, L'Italie depuis i8yo (344 S., 1915, mit brauchbarer
Bibliographie). Der Verfasser, der kurz vorher zwei tüchtige Arbeiten
über die Geschichte der Napoleonischen Herrschaft in Italien veröffent-
licht und mehrere Jahre in Mailand gelebt hat, gibt einen klaren und
inhaltreichen Überblick besonders über die Entwicklung der äußeren
Politik des Königreichs Italien, wie er in der reichsdeutschen Literatur
noch durchaus fehlt, natürlich mit scharfer französischer Tendenz.
Der deutsche wissenschaftliche Historiker wird jedoch ein gründliches
Buch mit französischer Tendenz einem oberflächlichen mit deutscher
Tendenz immer noch vorziehen. Auch dieses zeitgeschichtliche Hand-
buch eines Franzosen kann wie viele andere ähnliche, an denen die
französische Literatur zur Geschichte der Weltpolitik so reich ist,
den deutschen Historikern nur empfohlen werden. Von Billots auf-
schlußreichen Denkwürdigkeiten (2 Bände, 1905) hat Pingaud übrigens
nicht genügend Gebrauch gemacht.
Weit weniger gehaltvoll und dabei oberflächlicher und gehässiger
ist E. J. Dil Ions Arbeit: From the Triple to the Quadruple Alliance.
Wfiy Italy went to war (1915, 242 S). Seine Beziehungen zu italienischen
und österreichischen Politikern und Journalisten benutzt der sehr
selbstbewußt auftretende Verfasser öfters nur zur Mitteilung von
Diplomatenklatsch und zu empörenden Ausfällen gegen die Mittel-
mächte. Der wirtschaftliche Einfluß Deutschlands (the Cain among
the nations of the earth) in Italien wird in den abschreckendsten Formen
geschichtlich dargestellt. Noch schwächer ist W. O. Pitt, Italy and
the Unholy Alliance (1915, 224 S.).
Wir notieren ferner die schon 1913 erschienene Giolitti-Biogra-
phie von T. Palamenghi-Crispi (270 S.) und G. E. Curätulo,
Francia e Italia .... 1849—1914 (238 S., 1915). Die „innerpoliti-
t^chen Mächte Italiens" behandelt E. W. Mayer, Preußische Jahr-
bücher 160, 1915.
Deutsche Landschaften. 181
Stimmungsbilder aus der letzten Zeit vor dem Bruche zeichnet
E. Rose, im römischen Hexenkessel [1915]. O. Müller, Irrung
und Abfall Italiens (Zwischen Krieg und Frieden 28, 1915) liefert
recht optimistisch gesehene Beiträge zur geschichtlichen Psychologie
des italienischen Verrates. L. Geigers kulturgeschichtliche Aus-
lassungen (Los von Italien? Bibliothek für Volks- und Weltwirtschaft
17, 1916) sind ebenso wie die von W. Weisbach (Neue Rundschau
27, 1916) historisch-politisch wenig befriedigend.
Die nähere Vorgeschichte des Eintritts Italiens in den Krieg
und seine Verhandlungen mit den Bundesgenossen werden von
Severus (Zehn Monate italienischer Neutralität: Perthes' Schriften
zum Weltkrieg 8, 1915) und von W. N. Doerkes-Boppard (H. Z.
Bd. 116, S. 363) sachkundig und gründlich dargestellt, während sich
F. Grüner (Der Treubruch Italiens 1916) damit begnügt, die Bunt-
bücher zu exzerpieren und dazu einen kurzen verbindenden Text zu
liefern. Der Kritik des italienischen Grünbuchs widmet sich auch
Graf F. L. v. Voltolini (Nord und Süd 156, 1916).
Eine treffliche historisch-politische Würdigung des Irredentismus
verdanken wir Ph. Hildebrandt (Deutsche Revue 41,1916). Th.
V. Sosnosky beschäftigt sich in seiner Schrift über Irredentapolitik
(Der deutsche Krieg 55, 1915) ähnlich wie in seinem Werke über
Österreich-Ungarns Balkanpolitik und in seiner Broschüre „Der Traum
vom Dreibund" (Flugschriften für Österreich-Ungarns Erwachen 8.9,
1916) u. a. mit einer geschichtlichen Kritik des Irredentismus und
auch der Ährenthalschen Politik gegenüber Italien. Wir verweisen
ferner auf das kürzlich erschienene Buch von M. Mayr (Innsbruck
1916) und auf den ausgezeichneten älteren Aufsatz von Th. Fischer
(Zeitschrift für Politik 3, 1910). J. Hashagen.
Neue Bücher: Fife, The german empire between two wars. A
study of the political and social development of the nation between i8yi
and 1914. (London, Macmillan. 6 sh. 6 d.) — Fürst v. Bülow,
Deutsche Politik. (Berlin, Hobbing. 6 M.) — E. Daudet, Les
auteurs de la guerre de 1914. I: Bismarck. (Paris, Attinger fr^res.
3,50 fr.) — Hoetzsch, Politik im Weltkrieg. (Bielefeld, Velhagen
& Klasing. 1,50 M.) — Steffen, Demokratie und Weltkrieg. (Aus
dem Schwedischen übersetzt von Margar. Langfeldt.) (Jena, Diede-
richs. 5 M.)
Deutsche Landschaften.
Aus der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N. F. 31, 3:
Christian Roder: Villingen und der obere Schwarzwald im Bauern-
krieg (mit besonderer Berücksichtigung der Schicksale und Leistungen
12**
182 Notizen und Nachrichten.
des dortigen Bauernführers Hans Müller); Joh. Adam: Versuch einer
Bibliographie Kaspar Hedios, des Mitarbeiters von Bucer bei der
Straßburger Reformation; Hans Kaiser: Romfahrten eines elsässi-
schen Johanniters zu Ausgang des 17. Jahrhunderts (aus den Akten
des Straßburger Johanniterhauses).
Aus Anlaß der Jahrhundertfeier der Zugehörigkeit der Pfalz
zum Königreich Bayern stellt Albert Becker in der Monatsschrift
„Pfälzische Heimatskunde" 12, Heft 4 u. 5 eine Liste der aus der Pfalz
hervorgegangenen Männer zusammen, die während dieser 100 Jahre
Bedeutung für das deutsche Geistesleben besessen haben (Pfälzer
Geistesleben im letzten Jahrhundert). Die pfälzische Geschichts-
forschung desselben Zeitraums schildert Hermann Schreibmüller
in den Deutschen Geschichtsblättern 17, Heft 6.
Die Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landes-
kunde N. F. 39 enthält Ausführungen von Georg Wolff über einige
Aufgaben der archäologischen Bodenforschung in Oberhessen, eine
Untersuchung von Ludwig Armbrust über Göttingens Beziehungen
zu hessischen Städten im späteren Mittelalter und die die Zeit von
1375 — 1377 umspannende Fortsetzung der Beiträge zur Geschichte
des Landgrafen Hermann II. von Hessen von Friedrich Küch.
Im Jahrbuch 1915 des Historischen Vereins für Nördlingen und
Umgebung schildert Georg Grupp die Jugendzeit des späteren baye-
rischen Ministers Fürsten Ludwig von Oettingen-Wallerstein und die
Mediatisierung seines Hauses im Jahre 1806.
Ein Bild der Verhältnisse in Bayreuth zur Zeit des Markgrafen
Georg Friedrich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entwirft
auf Grund der Kirchenbücher Franz Herrmann in dem Archiv für
Geschichte und Altertumskunde von Oberfranken 26, 2.
Bilder aus dem Leben der Geistlichen der Diözese Eichstätt ura
die Mitte des 16. Jahrhunderts zeichnet A. Hirschmann in dem Ar-
chiv für Kulturgeschichte 12, Heft 3 u. 4, unter Benutzung des im Eich-
stätter Ordinariatsarchiv erhaltenen Geschäftsbuches, das Tobias
Frankmann unter dem Titel Vicariatus Über führte.
Das langjährige, schließlich doch vergebliche Sträuben des Kölner
Kurfürsten Joseph Klemens aus dem Hause Witteisbach gegen die
Annahme der Weihen wird dargestellt von Heinrich Schrörs in den
Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 98 (Die Berufs-
kämpfe des Kurfürsten Joseph Klemens).
Seinem Bericht über die Arbeiten während des Geschäftsjahres
1915/16 an der Herausgabe des niedersächsischen Städteatlas, Abtei-
lung Braunschweig, fügt P. J. Meier eine Einzeluntersuchung hinzu
Deutsche Landschaften. 183
über die Entstehungsgeschichte von Helmstedt, wobei er sich auf den
Grundriß und die Fkirgestaltung stützt (in dem 6. Jahresbericht der
Historischen Kommission für Hannover, Oldenburg, Braunschweig,
Schaumburg-Lippe und Bremen, S. 15 ff.).
Aufzeichnungen und Briefe zur schleswig-holsteinischen Geschichte
während dreier Jahrhunderte (von 1621 — 1891) veröffentlicht P. v. He-
demann-Heespen in den Quellen und Forschungen zur Geschichte
Schleswig-Holsteins Bd. 3; er entnimmt sie den beiden Archiven von
Deutsch-Nienhof. An derselben Stelle druckt Ch. A. Volquardsen
einen Auszug aus den Denkwürdigkeiten des Majors der schleswig-
holsteinischen Armee Hans Hornemann van Aller ab, die vor allem
auf die Ereignisse nach 1848 einiges Licht werfen.
Die Zeitschrift der Gesellschaft für schleswig-holsteinische Ge-
schichte Bd. 45 enthält eine Reihe größerer Arbeiten: F. Cierpinski
setzt seine an dieser Stelle schon angezeigten Untersuchungen über die
Politik Englands in der schleswig-holsteinischen Frage fort; der dies-
mal veröffentlichte Teil umfaßt die Zeit von Ende Dezember 1863
bis Anfang Februar 1864 und behandelt im wesentlichen die Vorgänge
innerhalb Englands, nicht so sehr die Verhandlungen des Kabinetts
mit den andern Mächten. Ebenfalls mit den Problemen, die das Jahr
1864 der Geschichtsforschung bietet, beschäftigt sich der Vortrag
von Prof. Graef : 1864; Schleswig-Holstein und das Ausland, der sich
auf die bekannte Publikation der französischen Regierung über den
diplomatischen Ursprung des Krieges von 1870/71 stützt. G. Adler
untersucht die Volkssprache in dem vormaligen Herzogtum Schleswig,
Prof. Wegemann stellt die Größenveränderungen zusammen, die
Schleswig- Holstein seit 1230, seit dem Jahre, in dem 673 qkm Marsch-
land der Nordsee zum Opfer fielen, erfahren hat. Paul v. Hedemann-
Heespen erstattet den Literaturbericht über die Jahre 1913 — 1915.
Schließlich gibt Felix Rachfahl die Dissertation eines seiner Schüler,
der im Felde gefallen ist, Richard Heberling, heraus, die Zauberei
und Hexenprozesse in Schleswig-Holstein-Lauenburg zum Gegenstand
hat. Mit demselben Stoff, allerdings beschränkt auf das 17. Jahr-
hundert, beschäftigt sich eine Abhandlung von Emil Allgäuer in dem
Archiv für Geschichte und Landeskunde Vorarlbergs 11, Heft 2 — 4
(Zeugnisse zum Hexenwahn des 17. Jahrhunderts).
An Hand der Arbeiten von J. Freund und Priebatsch stellt
Heinrich Pudor einige Seiten der brandenburgisch-preußischen Juden-
gesetzgebung bis 1730 in den Deutschen Geschichtsblättern 17, Heft 8/9
dar.
Die Wechselwirkung von städtischer und staatlicher Gewalt in
der Geschichte Berlins untersucht E. Kaeber in der Zeitschrift für
184 Notizen und Nachrichten.
Politik Bd. 9, Heft 3 u. 4. Der erste bis zum Kurfürsten Friedrich II.
hinreichende Teil ist auch abgedruckt in den JVIitteilungen des Vereins
für die Geschichte Berlins 1916, 11.
Das 13. Jahrbuch für brandenburgische Kirchengeschichte bringt
den Schluß der Arbeit von Hans Schulze: Zur Geschichte des Grund-
besitzes des Bistums Brandenburg, und den zweiten Teil der von Gustav
Ad. Skalsky mitgeteilten Quellen und Belege zur Geschichte der
böhmischen Emigration nach Preußen. Walter Wen dl and liefert
einen Baustein zur Vorgeschichte der Freiheitskriege in seiner Abhand-
lung über Gottfried August Ludwig Hanstein als patriotischen Prediger
in Berlin. Hingewiesen sei auch auf die Miszelle desselben Verfassers,
in der er die in seinem Buch über L. E. v. Borowski vorgetragenen An-
schauungen von dessen Einfluß auf die Art der Frömmigkeit Friedrich
Wilhelms III. modifiziert.
In der Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und
Altertumskunde, N. F. 23, 1 beginnt N[. Vollert eine Geschichte der
Kuratel der Universität Jena. Die Begründung dieses Amts im Jahre
1819 war eine Folge der Karlsbader Beschlüsse. Der vorliegende Teil
beschäftigt sich mit der Tätigkeit der beiden ersten Kuratoren v. Motz
und v. Ziegesar in der Zeit von 1820 — 1843.
Angeregt durch einen Artikel der Times, der die Angabe der
Preußischen Geschichte von Pierson über Menschenfresserei in Schle-
sien nach dem Dreißigjährigen Kriege gegen das Deutschtum aus-
schlachtet, hat Meinardus sich die Mühe einer aktenmäßigen Unter-
suchung der betreffenden Ereignisse gemacht und dabei festgestellt,
daß von irgendeiner weiteren Verbreitung keine Rede sein kann, son-
dern daß nur in einem einzigen Falle von Seiten eines besonders üblen
Verbrechers derartiges nachweisbar ist. („Schlesische Menschen-
fresserei" — eine Geschichtsfabel, in den Schlesischen Geschichts-
blättern 1916, 3.)
Hans Roemer, Die Baumwollspinnerei in Schlesien bis zum
preußischen Zollgesetz von 1818. Darstellungen und Quellen zur
schlesischen Geschichte Bd. 19. Ferd. Hirt, Breslau 1914. 83 S. —
Nach einem Überblick über die Einbürgerung und Entwicklung der
Baumwollspinnerei, d. h. der Erzeugung von Baumwollengarn, in
Schlesien bis zum Jahr 1740 schildert der Verfasser die weiteren Schick-
sale der Baumwollspinnerei unter der Herrschaft des preußischen
Merkantilismus bis zu dessen endgültigem Fall durch das Zollgesetz
von 1818. Es handelt sich um ein trauriges Kapitel aus der friderizia-
nischen Wirtschaftspolitik; bald fallen die Maßnahmen der Regierung
wirkungslos zu Boden, bald widersprechen sie einander und heben
sich dadurch auf; die Rücksicht auf die schlesische Leinenindustrie
Deutsche Landschaften. 185
führt mehr als einmal zur Schädigung der Baumwoliindustrie. Als
am Ende des 18. Jahrhunderts die Einführung von Spinnmaschinen
in Frage stand, wußte die Staatsverwaltung nicht recht, was sie tun
sollte, da man von der Maschinenspinnerei eine zu starke Schädigung der
im Gebirge angesessenen Handspinner befürchtete. Im zweiten Teil
seiner Darstellung führt der Verfasser — und das ist dankenswert
und höchst nachahmenswert — eine Reihe von typischen Betrieben
der Baumwollweberei und -Spinnerei vor, so daß man die tatsächlichen
wirtschaftlichen Verhältnisse vor Augen hat und sie nicht bloß von dem
einseitigen Standpunkt der Regierung und ihrer Akten ansieht. Gerade
dieser Teil läßt uns bedauern, daß der Verfasser den vergeblichen
Versuch, die Baumwollspinnerei in den Vordergrund zu schieben,
nicht aufgegeben hat, da er doch immer wieder über die Weberei und
ihren Absatz reden muß; es ist schade, daß er nicht die Geschichte des
gesamten Baumwollgewerbes in Schlesien geschrieben hat.
Ziekursch.
Im Selbstverlag des Vereins für Geschichte der Deutschen in
Böhmen erschien ,,Das älteste Böhmisch-Kamnitzer Stadtbuch"
(Prag 1915, Kommissionsverlag von J. C. Calve). Mit der Herausgabe
hatte sich Adalbert Horcicka Jahre hindurch eifrig beschäftigt. Nach
seinem jüngst erfolgten Tode wurden seine Vorarbeiten dem Archiv-
verwalter des Vereins, Joseph Bergl zur Richtigstellung des Textes,
Alois Bernt zur fachmännischen Würdigung des Buches vom sprach-
geschichtlichen und Otto Peterka zu der vom rechtsgeschichtlichen
Standpunkte aus übergeben. So schließen sich an die Ausgabe des
Stadtbuches selbst zwei umfangreiche Aufsätze „über die Sprache des
Stadtbuches" (S. 158 — 221) und „über dessen rechtsgeschichtliche Be-
deutung" (S. 222 — 249) an, die den Gegenstand in erschöpfender Weise
behandeln. Die Aufzeichnungen im Stadtbuche beginnen mit dem
Jahre 1380 und reichen bis an die Wende des 15. Jahrhunderts. Sie
bieten für die Lokal-, Rechts- und Kulturgeschichte wichtige Mate-
rialien. Die volkstümliche Fassung der Eintragungen läßt, wie Peterka
mit Recht anmerkt, das Rechtsleben in einer den deutschen Dorf-
weistümern vergleichbaren Unmittelbarkeit vor uns erstehen. Der
damals noch beschränkte Verkehr, der stete Bürgerkreis und die große
Rolle, welche die Verwandtschaft in dem Stadtbuche spielt, zeigen
ein Bild von seltener Geschlossenheit. Die Ausgabe selbst ist unter
Berücksichtigung der zahlreichen Berichtigungen des Stadtbuchtextes
(S. 251—258) eine gute.
Graz. J. Loserth.
Die in dem neuesten (32.) Band des Archiv cesky (Prag 1915)
befindlichen Materialien enthalten die Fortsetzung der im 7. Bd. be-
gonnenen, in den Bänden 10 — 12, dann zuletzt im 19. Band weiter-
186 Notizen und Nachrichten.
geführten Ausgabe des Registers des Kammergerichtes von 1518 — 1524,
und zwar die Nummern 3011 — 5136 in der Bearbeitung von Jaromir
Celakovsky. Sie sind meist Vorladungen, enthalten Aussagen an
Eidesstatt, Rechtssprüche usw. und haben für die innere Geschichte
Böhmens, für die Rechts- und Familiengeschichte, teilweise auch für
die Wirtschaftsgeschichte Bedeutung. Von den 2125 Nummern sind
nur 16 in deutscher, die übrigen in tschechischer Sprache geschrieben.
Ein besonderes Interesse beansprucht Nr. 4346, da dort — es handelt
sich um ein von den bayerischen Herzögen Wilhelm IV. und Ludwig X.
verlangtes Verhör eines früheren Geistlichen über begangene Fäl-
schungen — schon von der Verbreitung lutherischer Schriften in
Böhmen gesprochen wird. Die Einleitung orientiert über die Über-
lieferung des Materials und das ausführliche Register enthält alles auf
Personen, Orte und Sachen Bezügliche.
Graz. J. Loserth.
Im dritten Bande der mittelalterlichen Stiftsurbare des Erzher-
zogtums Österreich ob der Enns, deren zweiten Teil ich in dieser Zeit-
schrift 3. F. 18, 469 f. angezeigt habe, sind die Urbare von Baum-
gartenberg, St. Florian, Waldhausen und Wilhering wiedergegeben
(hrsg. von Konrad Schiffmann, österreichische Urbare 3. Abt.,
2. Bd., 3. Teil. Wien u. Leipzig, Wilh. Braumüller, 1915. VIII u. 411 S.).
Die Texte sind nun vollständig abgedruckt, es ermangeln nur noch die
Register und Karten, die einen vierten Band füllen sollen. Aus der
Zisterze Baumgartenberg rühren ein kleines Urbar eines einzelnen
Granariums aus dem 13. Jahrhundert und ein Urbar von 1335 her,
das zunächst nach officia geordnet ist, dann die Einkünfte der Infir-
marie, der Kammer, des Pitantiarius, des Siechenamtes und der Ku-
stodie gesondert aufzählt und überdies gewisse spezielle Dienste (Ge-
treidedienste, Käse-, Eier- und Mohndienste, Hand- und Zugroboten)
eigens beschreibt. Das bedeutende, noch heute blühende Augustiner-
chorherrenstift St. Florian lieferte ein Oblaibuch von ca. 1325, ein
Gesamturbar von 1378, dem die Erwerbungen von 1382 — 1436 nach-
getragen sind, endlich drei Register von 1404, 1413 und 1445, deren
beide erste nur Einkünfte der Prälatur angeben, während das dritte
alle Stiftsämter mit Ausnahme der Celleraria berücksichtigt. Das
Urbar von 1375 ist vollständig nach den einzelnen Stiftsämtern (Prä-
latur usw.) eingeteilt und behandelt nur das Burgrecht von den Wein-
bergen in Niederösterreich und die gebräuchlichen Geschenke und
Verpflichtungen besonders. Dem Augustinerchorherrenstift Wald-
hausen gehören ein Gesamturbar von 1451 und drei Teilurbare von
1476, 1489 und 1500 an; das erstere mit einfacher Gliederung in die
beiden großen Amtsbezirke südlich und nördlich der Donau und in
Deutsche Landschaften. 187
Güter, deren Zinse dem Stifte oder einzelnen Klosterämtern zuge-
wiesen sind, während die Teilurbare schon eine Verkleinerung und
Vermehrung der Amtsbezirke und eine Zentralisierung der Einkünfte
des Konvents aufweisen. Der Zisterze Wilhering endlich entstammt
ein Urbar des Stiftsbesitzes im Mühlviertel von 1287 und in Nieder-
österreich aus etwas späterer Zeit, zwei Besitzverzeichnisse von ca.
1343, ein Fragment von ca. 1340, ein Einnahmeregister derselben Zeit
und ein Gelddienstregister von ca. 1354. Ämter werden in diesen
urbarialen Quellen formell nicht geschieden, jedoch die Verwaltungs-
bezirke nach den Flüssen getrennt und jedem Amte steht ein Officialis
vor. — Ich muß mich, da ich die Manuskripte nicht heranziehen kann,
eines eigenen Urteils über Schiffmanns Beschreibung der Handschriften
und Textwiedergabe enthalten; beides scheint nach Mitteilung des
Herausgebers der oberösterreichischen Weistümer Dr. Ignaz Nößlböck
der Kritik nicht geringen Anlaß zu bieten. Die knappen, der Besitz-
lage und der Gliederung der Urbare dienenden Vorbemerkungen sind
dankenswert; aber sie können keineswegs einen Ersatz für die zusammen-
fassende Darlegung der wirtschaftsgeschichtlichen Ergebnisse bieten,
durch die die Urbarausgabe erst recht brauchbar würde, wie die Edi-
tionen von Dopsch und Fuchs zeigen. Selbstverständlich könnte es
sich nur um eine einzige, alle in den Textbänden herausgegebenen Ur-
bare heranziehende Untersuchung handeln; andernfalls ist zu befürch-
ten, daß derartige umfangreiche Editionen eines auf den ersten An-
blick trockenen, farblosen und eintönigen Materials bei bloßem Text-
abdrucke und ohne wirtschaftshistorische Durchdringung halb un-
fruchtbar bleiben. Ein anderes Bedenken: Für die Benutzbarkeit
dieser Urbare wäre es wohl von Nutzen gewesen, wenn die Erklärungen
der geographischen Namen, wie es von Dopsch und Fuchs geschehen
ist, jeweils unter dem Texte gegeben, nicht erst ins Register verwiesen
worden wären, mochten immerhin zahlreiche Wiederholungen dadurch
notwendig werden. Unbedingt aber wäre es m. E. ratsam gewesen,
die urkundlichen Belege für Personen und örtlichkeiten, soweit sie zu
erbringen sind, jedesmal an den zugehörigen Stellen bei den Text-
ausgaben anzuführen; auf diese Art erst gewinnt man ja die Möglich-
keit, das Erwachsen des Besitzstandes der Grundherrschaft zu er-
kennen, den uns die Urbare in einem bestimmten Zeitpunkte als gegeben
darstellen. Allerdings wären zu dieser Arbeit eindringende Archiv-
studien erforderlich gewesen. Nun hat Schiffmann in diesem Bande
nur dem kurzen Oblaibuche von St. Florian aus dem Urkundenbuche
des Landes ob der Enns die urkundlichen Belege beigegeben und dem
Verzeichnisse der Einkünfte Wilherings in Niederösterreich Ortsbe-
stimmungen und Urkundenverweise, die noch Grillnberger lieferte,
beigefügt. Gerade diese letztere Arbeit Grillnbergers aber beweist.
188 Notizen und Nachrichten.
wie wertvoll solche Kommentierung ist, die sich im Register gewiß
nicht nachholen läßt.
Graz. Heinrich Ritter von Srbik.
Neue Bücher: Genealogisches Handbuch zur Schweizer Geschichte.
3. Band. Niederer Adel und Patriziat. (Zürich, Schultheß & Co. 20 JVl.)
— Stolze, Die deutschen Schulen und die Realschulen der AUgäuer
Reichsstädte bis zur Mediatisierung. (Berlin, Weidmann. 6 M.) —
Johs. Jaeger, Kloster Ebrach unter seinem ersten Abt Adam (1126
bis 1166), (Nürnberg, Koch. 1,50 JVl.) — Rode, Das Kreisdirektorium
im westfäl. Kreise von 1522 — 1609. (Münster, Coppenrath. 2,40 M.)
— Geschichtsquellen der Provinz Sachsen. 44. Bd. 1. Tl. Quellen
zur städt. Verwaltungs-, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte von Qued-
linburg vom 15. Jahrh. bis zur Zeit Friedrichs des Großen. 1. Tl.
Bearb. von Herm. Lorenz. (Halle, Hendel. 18 M.) — A. v. Engel-
hard t. Die deutschen Ostseeprovinzen Rußlands. (München, Müller.
3 M.) — V. Jaksch, Die Kärntner Geschichtsquellen. (Klagenfurt,
Kleinmayr. 2,50 M.)
Die Hethiter.
Von
Walter Otto.
Reich und Kultur der Chetiter.^ Von Eduard Meyer. Berlin,
Karl Curtius. 1914. VIII u. 168 S. 122 Abbild, im Text,
16 Lichtdrucktaf. u. 1 Karte. 8 M.
Werke zusammenfassenden Charakters, die als unbedingt
zuverlässige Grundlage für alle weitere Forschung dienen
können, besitzen wir für die ältere Geschichte und Kultur
Vorderasiens abgesehen von einer größeren Reihe derartiger
Arbeiten zur jüdischen Geschichte bisher leider immer noch
sehr wenige. Dies ist kein Zufall, sondern zum großen Teil
durch den heutigen Stand der Forschung bedingt. Hat doch
1) Ich wende anders wie Eduard Meyer im folgenden stets die
früher von deutschen Gelehrten vor allem gebrauchte Namensform
„Hethiter" an, nicht deswegen, weil ich sie für besonders glücklich halte,
sondern weil ich die Prägung einer neuen deutschen Namensform
neben den schon im Gebrauch befindlichen, von ihr wiederum ab-
weichenden französischen und englischen nur dann billigen könnte,
wenn die neue Anspruch darauf erheben könnte, den wirklichen Laut-
bestand des Volksnamens ganz genau wiederzugeben. „Chetiter" wird
nun aber nicht einmal dem Lautbestand, wie er uns in keilschriftlichen
Texten überliefert ist, „Chatti", gerecht. Und selbst gegenüber dieser
Wiedergabe des Namens ist Vorsicht am Platze; denn wenn auch die
Hethiter selbst ihren Namen keilschriftlich auf diese Weise geschrieben
haben (und nicht nur die fremden Völker), so steht doch noch nicht
fest, ob nicht die fremde Schrift und vielleicht vor allem die in
dieser von fremder Seite bereits geprägte Schriftform des Namens der
Genauigkeit der Transkription im Wege gestanden hat.
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 13
By
190 Walter Otto,
diese auf vorderasiatischem Gebiet mit voller Kraft verhält-
nismäßig spät, viel später z. B. als für Ägypten, eingesetzt,
und außerdem hat sie auch erst sehr viel später als die Ägypto-
logie gelernt, Selbstzucht zu üben; so gehen die Ergebnisse
auch noch heutigentags selbst in grundlegenden Fragen weit
auseinander, wenn sich auch gerade etwa in den letzten
20 Jahren unter den beteiligten Forschern, abgesehen von
den unbelehrbaren Panbabylonisten, eine gewisse Einigung
anzubahnen beginnt. Inwieweit diese auch bei der schon
so viel behandelten Hethiterfrage eintreten wird, läßt sich
augenblicklich leider noch nicht voraussehen, obwohl das
letzte Jahrzehnt Entdeckungen gebracht hat, welche die
größte Hoffnung auf eine endgültige Klärung erwecken.
Die wichtigen in den Jahren 1906 und 1907 gemachten
Funde in Boghazköi in Kappadokien, die wir der Tatkraft
Hugo Wincklers verdanken, haben uns nämlich nicht nur
reiches neues archäologisches Material gebracht, sondern sie
haben uns auch aus den Archiven dieses Ortes, der sich
als die Hauptstadt des hethitischen Großreiches erweist,
neben zahlreichen Urkunden in akkadischer (babylonischer)
Schrift und Sprache auf über 20000 Keilschrifttäf eichen eine
geschlossene Masse wenigstens sicher zu lesender Texte in
hethitischer Sprache beschert. Sie alle stammen aus dem
14. und 13. Jahrhundert v. Chr. Der Inhalt ist, soweit schon
jetzt ein Urteil gestattet ist, ungewöhnlich reichhaltig; rein
literarische Texte, unter denen die religiöse Literatur stark
vertreten zu sein scheint, finden sich neben reichem ur-
kundlichen Material: Bruchstücken aus der umfangreichen
diplomatischen Korrespondenz der hethitischen Großkönige
mit den Höfen ihrer Vasallen, mit denen Ägyptens, Baby-
loniens und Assyriens, königlichen Erlassen, Staatsverträgen
mit den auswärtigen Mächten u. dgl. Leider ist bisher nur
ein ganz geringer Teil der Funde veröffentlicht^), und erst
1) S. Puchstein-Kohl: Boghazköi — Die Bauwerke (1912). Die
Bearbeitung der Kleinfunde, welche L. Curtius und S. Loeschke über-
nommen haben, ist dagegen noch nicht erschienen. Einiges wenige von
dem sprachlichen Material ist von H. Winckler, Mitt. Deutsch, Orient-
gesellsch. Nr. 35 (1907), S. 14ff. und in „Vorderasien im 2. Jahr-
tausend" (Mitt. Vorderas. Gesellsch. 1913, Heft 4) vorgelegt worden,
Die Hethiter. 191
in allerletzter Zeit ist durch Fr. Hrozny die Lösung der
neugestellten sprachlichen Probleme energisch in Angriff
genommen worden.^)
So hat denn auch Eduard Meyer in seinem Buche über
„Reich und Kultur der ,Chetiter'", das aus einem in der
Deutschen Orientgesellschaft im Januar 1914 gehaltenen Vor-
trage erwachsen ist, vornehmlich nur die archäologischen Er-
gebnisse der neuen Ausgrabungen verwertet, während das
wichtige neue archivalische Material nur gelegentlich heran-
gezogen werden konnte. Doch hat er inzwischen in einem
besonderen Aufsatz in den Mitt. Deutsch. Orientgesellsch.
Nr. 56 (1915), S. 5 ff. auch zu diesem und zu den von Hrozny
daraus gewonnenen sprachlichen Aufstellungen näher Stel-
lung genommen. Leider hat er in seinem Buche auch noch
nicht das Ergebnis der wichtigen Ausgrabungen von Hogarth
in Karkemisch benützen können, da die einschlägigen Ver-
öffentlichungen erst etwa gleichzeitig mit diesem erschienen
ferner von Fr. Delitzsch, Sumerisch-Akkadisch-Hettitische Vokabular-
fragmente in Abh. Berl. Ak., Phil.-hist. Kl. 1914 und von Hrozn^,
Mitt. Deutsch. Orientgesellsch. Nr. 56 (1915), S. 17ff.; der letztere
bietet auch auf S. 20 A. 2 Angaben über die Veröffentlichung einiger
nicht direkt zu den Boghazköi-Funden gehörender hethitischer Keil-
schrifttexte; schließlich jetzt auch von Bohl, Ausgewählte Keilschrift-
texte aus Boghazköi, Theologisch Tijdschr. L (1916), S. 159 ff. u. 303 ff.,
die Publikation als ungenügend beurteilt von O. Weber, Orient. Lit.-
Ztg. XIX (1916), Sp. 368 ff. (Korrekturzusatz). Das große Werk:
Keilschrifttexte aus Boghazköi von Figulla, Weidner, Otto Weber und
Hrozny (Textautographien und Transkriptionen) ist erst im Erscheinen
begriffen (Korrekturzusatz: Heft 1 u. 2 sind inzwischen, Ende 1916,
erschienen, das erste außer den Delitzschen Vokabularfragmenten
Texte in akkadischer Sprache, das zweite solche in hethitischer Sprache
enthaltend; Transkriptionen sind noch nicht beigegeben).
^) S. seine vorläufigen Mitteilungen a. a. O. und sein im Er-
scheinen begriffenes Buch: Die Sprache der Hethiter, 1. Lieferung,
Ende 1916, (S. 1 — 128, Einleitung, Nomen und Teil des Pronomens,
Korrekturzusatz), dies Buch das erste Heft der Boghazköi-Studien,
die in Ergänzung der Textpublikationen als Hauptsammeistätte für
alle der Erklärung der neuen Texte dienenden Arbeiten gedacht sind.
Hingewiesen sei hier auch auf so wichtige Kritiken der Hrozn^-
schen sprachlichen These, wie die von Bartholomae, Woch. kl. Phil.
1916, Sp. 67 ff. u. 255 ff., sowie von Herbig, D. Lit.-Ztg. 1916,
Sp. 421 ff.
13*
192 Walter Otto,
sind.i) Entsprechend der Entstehung des Buches darf man
ferner nicht erwarten, in ihm eine irgendwie erschöpfende
Behandlung der Geschichte und der Kultur der Hethiter zu
finden; insofern bietet sogar das früher (1910) erschienene,
mehr populär gehaltene Werk von Garstang, The land of
the Hittites, eine gewisse Ergänzung, vor allem auch hinsicht-
lich der bei Eduard Meyer etwas zu kurz gekommenen Ar-
chitektur und der Stadtanlagen. Auch die Gliederung des
Buches ist etwas lose, trotzdem wird man es als eines der
Werke bezeichnen dürfen, mit dem sich zunächst jede weitere
Forschung über die Hethiter wird auseinandersetzen müssen.
Eduard Meyers Darstellung ist vor allem aufgebaut auf
einer Reihe von Denkmälern desselben Stils, deren Haupt-
menge sich im östlichen Kleinasien — Kappadokien und
Taurusgebiet — und in Nordsyrien befinden, während uns
im vorderen Kleinasien nur wenige begegnen. 2) An vielen
Orten sind nun diese Denkmäler mit Inschriften in einer
Hieroglyphenschrift direkt oder wenigstens indirekt verbun-
den aufgefunden worden, mit einer Schrift, als deren Aus-
gangsgebiet schon G. Hirschfeld (s. S. 193 A. 1) auf Grund ein-
zelner Schriftzeichen Kleinasien festgestellt hatte.*) Da
nun die zwei wichtigsten dieser Fundstätten, eine klein-
asiatische und eine syrische — Boghazköi und Karkemisch — ,
ausdrücklich als Hauptsitze der Hethiter bezeugt sind*), so
hat die schon vor einigen Jahrzehnten zuerst von Sayce
1) S. Hogarth, Carchemish (1914) und „Hittite problems and the
excavation of Carchemish" in Proceed. of the Brit. Acad. V (dies mir
nicht zugänglich). Beachte auch die neuerlichen Angaben über die
Ausgrabungen in der Nähe von Karkemisch bei Woolley, Liverpool
Annais of archaeol. VI, S. 87 ff.
2) Eduard Meyer hat auf einer Karte die wichtigsten Fundstellen
„hethitischer" Kultur verzeichnet; einige weitere Namen findet man
z. B. bei Hommel, Grundriß d. Geogr. u. Gesch. d. alt. Orients, S. 47 ff.
erwähnt.
») Die bisher beste Sammlung dieser Inschriften s. bei Messer-
schmidt, Corpus inscriptionum Hettiticarum, Mitteil. Vorderasiat. Ge-
sellsch. 1900, 1904 u. 1906.
*) Die Belege für Boghazköi s. bei Winckler, Mitt. Deutsch.
Orientgesellsch. Nr. 35 (1907) S. 13 ff. aus den neuen Urkunden, für
Karkemisch schon bei Delitzsch, Wo lag das Paradies ? S. 269 ff. aus
assyrischen Inschriften.
Die Hethiter. 193
(Academy XVI [1879]) ausgesprochene Erkenntnis, daß wir
an all diesen Orten Überreste der hethitischen Kultur, und
zwar auch gerade in den Schriftdenkmälern, vor uns haben,
weithin Zustimmung gefunden.^) Dagegen ist jedoch die
Frage, inwieweit all jene Überreste wirklich von dem Einzel-
volke der Hethiter oder nur von verwandten oder von ihnen
beeinflußten Volkselementen herrühren, bisher noch unvoll-
kommen gelöst und auch von Eduard Meyer nicht genügend
beachtet worden.
In den kurzen einleitenden Bemerkungen seines Buches
(S. Iff.; s. auch S. 124 ff.) über die sog. kleinasiatische
Völkergruppe, die sich in ältester Zeit über Kleinasien hin-
aus im Westen bis nach Griechenland und im Osten über
Syrien bis in die Landschaft Assyrien erstreckt hat, hebt
Eduard Meyer zwar mit Recht neben dem Einigenden auch
die trennenden Elemente in dieser Völkergruppe hervor,
deren Einheitlichkeit die fortschreitende Forschung vielleicht
noch stark zerpflücken dürfte^), in den Hethitern sieht er
aber ohne irgendeinen Vorbehalt — anders jetzt in seinem
Aufsatz — nicht nur eines ihrer Glieder, sondern erkennt
sogar der weitverbreiteten Gepflogenheit, die Gesamtheit der
ältesten Bevölkerungsschicht Kleinasiens und der mit ihr in
näherer oder weiterer Verbindung stehenden Völker außer-
halb Kleinasiens mit dem Hethiternamen zu belegen, eine
*) G. Hirschfelds (Die Felsenreliefs in Kleinasien und das Volk
der Hittiter, Abh. Berl. Ak. 1886) und Puchsteins (Pseudohethltische
Kunst 1890) aus archäologischen Gründen gegen diese Zuweisung
erhobener Einspruch darf wohl heute, zumal nach den Funden von
Boghazköi, ebenso als endgültig erledigt angesehen werden wie der
Versuch Jensens (vor allem Zeitschr. Deutsch. Morgenl. Gesellsch.
XLVIII [1894], S. 235 ff., 429ff. und „Hittiter und Armenier" 1898), die
Inschriften als kilikische zu bezeichnen; besonders für die Umtaufung
der Inschriften ist schon seinerzeit kein einziger durchschlagender
Grund angeführt und sie ist wohl auch sofort so ziemlich einmütig
(m. W. ist nur Brockelmann, Gott. Gelehrt. Anz. 1899, S. 50ff. ihr
nicht entgegengetreten) abgelehnt worden. i,;
2) Die Auffassung von Sundwall (Die einheimischen Namen der
Lykier, Klio, 11. Beiheft 1913), die kleinasiatischen Sprachen seien
sämtlich unter sich aufs alleren gste verwandt, erscheint mir nicht
bewiesen; gegen sie spricht sich jetzt auch aus Danielsson, Gott,
Gelehrt. Anz. 1916, S. 527 (Korrekturzusatz).
194 Walter Otto,
gewisse Berechtigung zu.^) Bei dieser Gepflogenheit handelt
es sich jedoch um eine recht willkürliche Handlungsweise;
sind uns doch die Hethiter als ein ganz bestimmtes Einzel-
volk Vorderasiens gerade auch durch die ältere keilinschrift-
liche Überlieferung belegt (s. im folg. S. 2131), und den Namen
eines solchen auf die größere Gemeinschaft der „Klein-
asiaten" zu übertragen, erscheint zum mindesten ebenso
ungerechtfertigt, wie wenn wir etwa die Italiker als Latiner
bezeichnen würden. Die Namenserstreckung läßt sich auch
dann nicht rechtfertigen, wenn wir eine besonders weitgehende
politische und kulturelle Vorherrschaft der Hethiter über das
„kleinasiatische" Element annehmen; belegen wir z. B. doch
auch nicht die vielen Völkerschaften, die einst zum Assyrer-
oder Perserreich gehört haben, mit dem Namen ihrer Ober-
herren. Die Anwendung des Hethiternamens als Gesamt-
bezeichnung würde sich sogar schließlich als direkt wider-
sinnig erweisen, wenn dieser Name, was nicht ganz aus-
geschlossen ist, gar nicht „kleinasiatisch" wäre (s. im folg.
S. 206 u. 214 f.). Inwieweit im übrigen die als Oberbegriff
auch hier angewandte Bezeichnung „Kleinasiaten" wissen-
schaftlich haltbar oder nur ein Notbehelf ist, läßt sich vor-
läufig noch nicht recht entscheiden^), immerhin fehlt aber
») Eduard Meyer S. 4 erkennt zwar das Problematische dieser
Bezeichnung, lehnt sie aber leider nicht energisch genug ab und spricht
daher denn auch von hethitischen Denkmälern im engeren und im
weiteren Sinne (s. S. 59 u. 109). Von Orientalisten wendet z. B. neuer-
dings O. Weber bei Knudtzon, Die El-Amarnatafeln II, S. 1086 jenen
weiteren Begriff an (auch z. B. H. Winckler hat sich ihrer zum Schaden
der Klarheit seiner Ausführungen bedient, s. auch gerade sein „Vorder-
asien"); für die Sprachvergleicher darf immerhin der Titel eines Büch-
leins von A. Fick „Hattiden und Danubier in Griechenland" als cha-
rakteristisch gelten (s. auch Ficks Ausführungen daselbst S. 50f.);
bezüglich der Theologen s. etwa Kittel, Geschichte des Volkes Israel
1«, S. 88.
2) Kretschmer, Einleit. in die Geschichte der griech. Sprache
(1895), S. 288 ff. hat jedenfalls das große Verdienst, für Kleinasien
ein Volkstum sui generis als Grundstock der Bevölkerung vor den
eingewanderten Indogermanen wissenschaftlich einwandfrei erwiesen
zu haben. Die für uns historisch greifbare früheste Bevölkerung eines
Gebietes nach dessen Namen bei dem Fehlen einer altüberlieferten
gemeinsamen Bezeichnung und bei der NichtVerwendung dieses Namens
als Gemeinschaftsbenennung aller jemals hier ansässig gewesenen
Die Hethiter. 195
bei ihr wenigstens die methodisch immer gefährHche Ver-
wendung des Teiles für das Ganze.
Was nun die sog. hethitischen Denkmäler anbelangt, so
haben wir, und zwar vor allem bei den primitiveren, so und
so oft mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sie nicht speziell
von den Hethitern, sondern von dem ,, kleinasiatischen" Be-
völkerungselement herrühren. Gerade die neuen systemati-
schen Ausgrabungen in der wichtigsten Hethiterstadt des
1. Jahrtausends, in Karkemisch, die uns für die Zeit vom
3. bis zum Ausgang des 2. Jahrtausends die Bronzezeit an
diesem Orte als in ihrer Entwicklung einheitlich und an-
scheinend durch keine neuen von außen eindringenden Mo-
mente bestimmt kennen gelehrt haben^), zeigen uns, wie
schwierig es ist, in Gegenden, welche, wie die von Karke-
misch, zu dem Ausdehnungsgebiet der „kleinasiatischen"
Völkergruppe gehören, Kulturüberreste als spezifisch hethi-
tisch oder nur allgemein als „kleinasiatisch" zu bestimmen.
Aber auch dort, wo einem anscheinend speziell hethiti-
sches Kulturgut, und zwar eben auch die Hieroglyphen-
schrift, entgegentritt, hat man auch in diesem Kulturkreis,
zumal bei der somatischen oder sonstigen Verwandtschaft
seiner einzelnen Glieder, die Möglichkeit der Kulturübertra-
gung niemals außer acht zu lassen.^) Für die Zeichnung der
Völker zu benennen, erscheint mir an und für sich nicht zu beanstanden,
doch wissen wir bisher über die Stellung der verschiedenen von uns
angenommenen Volksglieder dieser „Kleinasiaten" zueinander, über
ihre Verwandtschaftsbeziehungen u. dgl. nur sehr wenig, und da sie
sich weit über Kleinasien hinaus erstreckt haben, könnte auch das
von uns als Mittelpunkt betrachtete Gebiet als solches vielleicht zu
Unrecht angenommen sein, was natürlich ein Aufgeben des Namens
zur Folge haben müßte. Wenn manche für „kleinasiatisch" neuerdings
der Bezeichnung „anatolisch" den Vorzug geben, so kann ich hierin
eine Verbesserung der Benennung nicht sehen. Einige neue Bemer-
kungen über die sprachlichen Probleme bieten jetzt Kretschmer bei
Gercke-Norden, Einleit. in die Altertumswiss. F (1912), S. 526 und
Ungnad, Orient. Lit.-Ztg. XVIII (1915), Sp. 241f.; s, auch Eduard
Meyer S. 124 ff.
^) S. hierfür außer Hogarths Carchemish auch Woolley a. a. O.
S. 88 ff., 92 ff.
*) Die Gleichsetzung von hethitischer und „kleinasiatischer"
Kultur, wie sie z. B. besonders scharf H. R. Hall, Journ. Hell. Stud.
196 Walter Otto,
hethitischen Kultur werden zwar die letzteren Erwägungen
nicht zuviel ausmachen, wohl aber können gerade sie die
Verwertung der Denkmäler für historische Rückschlüsse all-
gemeinen Charakters umstürzend beeinflussen.
Bei der Benutzung der hethitisch-,,kleinasiatischen"
Denkmäler, auch der mit Inschriften versehenen, als histo-
rische Quelle ist es alsdann sehr störend, daß die Zeit ihrer
Entstehung noch recht strittig ist, wenn auch Puchsteins
(a. e. a. 0.) prinzipielle Zurückdatierung ins 1. Jahrtausend
unbegründet war, ebenso wie auch Jensen seinen Ansatz
speziell der Schriftdenkmäler in diese späte Zeit in keiner
Weise bewiesen hat.*) Selbst das Altersverhältnis der Über-
reste zueinander, ihre Typologie, ist bisher noch nicht voll-
befriedigend geklärt.^) Erst wenn die auf einigen Denk-
mälern stehenden Königsnamen mit voller Sicherheit gelesen
sein werden, wird hier ein wichtiger Schritt voran erzielt
sein. Hugo Prinz hat zwar in einem Beitrage zu Eduard
Meyers Buch (S. 139 ff.) zwei von ihnen zu lesen versucht,
als Mursil und Chattusil, d. h. als die Namen zweier uns
schon lange bekannter Herrscher des hethitischen Großreiches,
deren Regierungszeit durch ägyptische, babylonische und
assyrische Synchronismen ins 14. und 13. Jahrhundert
festgelegt ist, und sein Deutungsversuch ist bestechend,
aber zunächst ist er leider noch in keiner Weise gesichert.
Immerhin darf man aber schon heute mit gutem Recht
gerade auch einige der mit Inschriften verknüpften Denk-
mäler in die Zeit des hethitischen Großreiches ansetzen,^)
XXIX (1909), S. 19 ff. vertritt, schießt freilich weit über das Ziel
hinaus.
^) Er vertritt diesen Ansatz auch noch jetzt, s. Theol. Lit.-Ztg.
1916, Sp. 362f. Die Neuschöpfung einer Bilderschrift in Kleinasien
im Verlauf des 1. Jahrtausends, wie sie Jensens Ansatz voraussetzt,
ist übrigens schon aus allgemeinen kulturhistorischen Erwägungen
über die Schriftentwicklung im alten Orient so unwahrscheinlich wie
möglich.
*) Auch Eduard Meyer hat auf die Datierungsschwierigkeiten
gelegentlich hingewiesen (s. z. B. S. 109 u. 143), ohne jedoch in der
Darstellung ihnen immer voll Rechnung zu tragen.
») S. Eduard Meyer S. 23, 43 u. 97 ff. ; gerade die Inschriften
aus Boghazköi weisen auf das hohe Alter der Hieroglyphenschrift hin.
Die Hethiter. 197
Ebenso wie bei der Beurteilung der sog. hethitischen
Denkmäler ist auch größte Vorsicht noch vielfach geboten
gegenüber allen bisherigen Feststellungen über den physi-
schen und sprachlichen Charakter des hethitischen Volkes^),
wie über seine Herkunft und seine späteren Wohnsitze.
Mit Recht ist allerdings schon von Max W. Müller (Asien
und Europa nach ägypt. Denkmälern [1893] S. 331) die
Eigenart des physischen Typus der Hethiter hervorgehoben
worden, und man stimmt jetzt wohl so ziemlich allgemein
überein, daß die Hethiter sowohl auf den ägyptischen Denk-
mälern, als auch auf den einheimischen Skulpturen keine
»indogermanischen« und keine semitischen Züge aufweisen*),
sondern mit ihrem hyperbrachykephalen Schädel, ihrer zu-
rücktretenden Stirn und der weitvorspringenden Nase den
sog. kleinasiatisch-armenischen Typus, wie ihn v. Luschan
zuerst nachgewiesen hat, darstellen.*) Es bleibt jedoch noch
zu untersuchen, inwieweit in den Bildern gerade Angehörige
des Einzelvolkes der Hethiter und nicht so und so oft ein-
fach ,, Kleinasiaten", Angehörige des Hethiterreiches, wieder-
gegeben sind; Eduard Meyers (S. 13) Hinweis auf die ver-
schiedene Haartracht hethitischer Krieger scheint mir ein
erster Ansatz zu einer solchen Betrachtung zu sein, der hof-
fentlich bald weiter ausgebaut werden kann, wofür jedoch
eine schärfere Erfassung des ganzen, vor allem auch des
sprachlichen Charakters der Hethiter — sehr viel schärfer,
über das Alter der nicht beschrifteten Denkmäler s. einige Bemerkungen
bei Eduard Meyer S. 11, 16, 46,
^) So hat sich auch neuerdings King, A history of Babylon (1915),
S. 225 ausgesprochen, der sie mit Vorbehalt der „kleinasiatischen"
Rasse zuweist.
*) Bei dem Gebrauch des Begriffes „Indogermanen" muß man
allerdings gerade im Hinblick auf die obige Feststellung sich immer
dessen bewußt bleiben, daß diese nur eine durch die Sprache zusammen-
gehaltene Völkergruppe darstellen und nicht mit einer bestimmten
Rasse gleichzusetzen sind; immerhin begegnet der somatische Typus
der Hethiter bei keinem anderen der indogermanischen Völker, mögen
diese auch in sich noch so wenig rassenrein sein.
») Außer Eduard Meyer S. 12 ff. und Mitt. a. a. O. S. 10 ff.
s. vor ihm etwa Hommel a. a. O. S. 42 und O. Weber bei Knudtzon,
Die El-Amarna-Tafeln II, S. 1086, sowie neuerdings King a. a. O. S. 227.
198 Walter Otto,
als dies bisher möglich war — , eine notwendige Voraus-
setzung ist.
Daß dies demnächst möglich sein wird, ist stark zu
erhoffen. Allerdings scheinen zunächst die sprachlichen Be-
obachtungen den Feststellungen über den Typus der Hethiter
erheblich zu widersprechen. So wird neuerdings sowohl von
Winckler (Vorderasien S. 74 f.) wie von Delitzsch (a. a. 0.
S. 41) und Ungnad (Orient. Lit.-Ztg. XVIII [1915], Sp. 241 f.)
gegenüber früheren Annahmen^) ein verwandtschaftlicher Zu-
sammenhang des Hethitischen mit der Sprache des Landes
Mitanni (im nördlichen Mesopotamien) entschieden geleugnet,
d. h. mit Volkselementen, die wohl allgemein — so auch von
Ungnad — mit den „Kleinasiaten" in engste Verbindung
gebracht werden. Ferner hat schon im Jahre 1902 Knudtzon,
unterstützt von S. Bugge und A. Torp auf Grund zweier
Briefe aus dem ägyptischen Reichsarchivfunde von El
Amarna, deren einer an den König von Arzawa gerichtet ist,
die Sprache dieser Landschaft als indogermanisch gedeutet^),
und da Arzawa — wohl im hinteren Kleinasien, und zwar
jedenfalls nördlich von Kilikien gelegen — ^) mit dem He-
thiterlande aufs engste verbunden erscheint, schien auch für
die eigentliche hethitische Sprache ein Ergebnis gewonnen zu
sein; neuerdings erklären im Anschluß an die neugefundenen
hethitischen Urkunden Delitzsch (a. a. 0. S. 39) und Hrozny
(Mitteil. S. 20), wie übrigens vor ihnen schon andere (z. B.
Eduard Meyer) die Sprache der Briefe sogar für zweifellos
identisch mit dem Hethitischen. Es kommt hinzu, daß auf
Grund ihrer Entzifferungsversuche der hethitischen Hiero-
glypheninschriften sowohl Jensen als auch Thompson, ob-
wohl sie im schärfsten Gegensatze zueinander stehen, die
1) Vom Standpunkt des Sprachforschers ist sie besonders kon-
sequent durchgeführt bei Knut L. Talqvist, Assyrian personal names
(s. den Abschnitt über hethitisch-mitannische Namen). Gustavs, Orient.
Lit.-Ztg. XVIII (1915), S. 298f. (Mitanni-Stämme im Hatti) wagt
zunächst keine Entscheidung zu treffen.
^) S. Knudtzon, Die zwei Arzawabriefe, sowie die „El-Amarna-
tafeln" I, Nr. 31 u. 32, und Weber, ebenda II, S. 1074 ff.
") Über die Lage von Arzawa s. außer E. Meyer S. 131 etwa
noch Hommel a. a. O. S. 47, 1 ; Winckler, Mitteil. S. 40; Weber a. a. O.
II, S. 1074 u. 1082.
Die Hethiter. 199
Sprache dieser Inschriften für indogermanisch halten, wenn
ja auch gerade Jensen irrigerweise diese Inschriften den
Hethitern ganz abspricht^), und daß Delitzsch (a. a. 0.
S. 41) bei seiner Veröffentlichung einiger sumerisch-akka-
disch-hethitischer Vokabularfragmente, in denen für eine
Anzahl hethitischer Worte die für sie in der einheimischen
Keilschrift verwandten sumerisch-akkadischen Ideogramme
angegeben sind, wenigstens verführerische Anklänge zum
Indogermanischen im Hethitischen zugegeben hat, ohne sich
jedoch für dessen indogermanischen Ursprung auszusprechen.
Dies hat im Anschluß an die neuen Keilschrifturkunden, in
deren Sinn er, vor allem unterstützt durch das Vorhanden-
sein jener Wortzeichen, mit großem Scharfsinn einzudringen
versucht hat, erst Hrozny (Mitt. S. 23)^) und zwar mit voller
Schärfe getan. Er stützt sich hierbei vor allem auf eine Reihe
von Konjugations- und Deklinationsformen, auf die Pronomina
und Adverbia, sowie einige weitere Übereinstimmungen im
Wortschatz^); er wagt es sogar, schon den speziellen Cha-
rakter des Hethitischen innerhalb der indogermanischen
Sprachgruppe festzustellen als eine der sog. westindogerma-
nischen Centum-Sprachen, die sich aber in mancher Hin-
sicht auch mit den sog. ostindogermanischen Satem-Sprachen
^) S. Jensen a. a. O., der die Sprache für eine Vorstufe des Arme-
nischen erklärt hat und auch heute noch hieran festhält (Lit. Zentralbl.
1916, Sp. 244, sowie Theol. Lit.-Ztg. 1916, Sp. 362f.); vgl. ferner
Thompson, A new decipherment of the Hittite hieroglyphics (1913),
S. 98 ff.
*) S. jetzt auch sein im Erscheinen begriffenes Buch (Korrektur-
zusatz).
3) E. Meyer, Gesch. d. Altert. I 23, S. 893 ff. hat schon mit Recht
darauf hingewiesen, daß das Anfügungssuffix assäl, das uns im Tocha-
rischen begegnet, mit dem im Hethitischen den gleichen Zweck ver-
tretenden Suffix assiel{assel) identisch sein dürfte; anders als Eduard
Meyer möchte ich jedoch in diesem dem lat. que entsprechenden Suffix
gerade einen altindogermanischen Sprachbestandteil, also ein weiteres
indogermanisches Element im Hethitischen sehen. Vgl. hierzu auch
L. V. Schröder, Wien. Zeitschrift f. Kunde d. Morgenl. XXII (1908),
S. 348 f., der die Suffixe jedoch fälschlich der Charrisprache zuweist.
Neuerdings hat auch Hrozn^, Sprache der Hethiter S. 118 das Pro-
blem gestreift, ohne es jedoch schon endgültig zu lösen (Korrektur-
Zusatz).
200 Walter Otto,
berühre.^) Für die Hroznysche These hat sich so ziemlich
uneingeschränkt Otto Weber (Mitt. Deutsch. Orientgesellsch.
Nr. 56 [1913], S. 4ff.) erklärt, und auch Eduard Meyer, der
früher mit großer Bestimmtheit den indogermanischen Cha-
rakter des Hethitischen abgelehnt hat 2), hat sich, wenn auch
mit gewissen Einschränkungen für Hroznys Aufstellung aus-
gesprochen. Dagegen haben erheblichere Bedenken gegen
sie, und zwar auch gerade solche methodischer Art, Bartho-
lomae (a. a. 0.) und Herbig (a. a. 0.) geäußert^), ohne sie
jedoch in ihren Grundzügen für unmöglich zu erklären.
Dies haben m. W. bisher nur Bork (Orient. Lit.-Ztg. XIX
[1916], Sp. 289ff.) und Jensen, der letztere vorläufig ohne
jede Beweisführung im einzelnen, getan.*)
Bei dem augenblicklichen Stande der Dinge wird der
Historiker gut daran tun, mit einem abschließenden Urteile
recht vorsichtig zu sein. Vor allem heißt es, die Hieroglyphen-
inschriften bei der Beurteilung des sprachlichen Charakters
des Hethitischen zunächst ganz auszuschalten, da deren
^) Diese Einordnung scheint Hrozn;^ zu der geographischen Lage
des Hethitischen zwischen West- und Ostindogermanen gut zu stimmen
(s. auch S. 44) und so diese ihrerseits die Richtigkeit der sprachlichen
Einordnung zu bestätigen. Das letztere ist jedoch ein Trugschluß.
Ist uns doch jetzt z. B. in dem Tocharischen eine Centumsprache mitten
im Gebiet der sog. Ostindogermanen bekannt geworden, und in dem
Thrakisch-Phrygischen hätte sich im Falle der Richtigkeit der Hrozn^-
schen These eine ausgesprochene Satemsprache in das Verbreitungs-
gebiet der Centumsprachen eingeschoben. Der Begriff des geographi-
schen Bindegliedes zwischen den beiden Gruppen wäre daher für das
Hethitische selbst für die Verteilung der indogermanischen Völker in
historischer Zeit nicht recht anwendbar, und daß man diese Verteilung
so ohne weiteres in die Frühzeit übertragen darf, soll noch bewiesen
werden.
*) Vgl. außer in seinem Buche auch Gesch. d. Altert. I 2», S. 695.
') Gegenüber Bartholomae hat Hrozn^, Woch. kl. Phil. 1916,
Sp. 259ff. alle seine Aufstellungen aufrecht erhalten; s. jetzt auch
sein Buch.
*) S. Lit. Zentralbl. 1916, Sp. 244 und Theol. Lit.-Ztg. 1916,
S. 362f. Früher hat er übrigens das „Keilschrift-Hethitische" (Ar-
zawa) infolge seiner fraglosen Verwandtschaft mit dem Mitanni ebenso
wie dieses, aber in gleicher Weise auch etwa das Semitische als eine
entfernte Verwandte der indogermanischen Sprachen bezeichnet
(Zeitschr. f. Assyr. XIV [1899], S. 180 ff.); eine solche Charakteristik
ist für unsere Zwecke natürlich ganz belanglos.
Die Hethiter. 201
Entzifferung bisher noch nicht derartig vorgeschritten ist,
daß man sie zu sprachlichen Folgerungen benutzen könnte^),
und da mir ferner noch nicht bewiesen zu sein scheint, daß
sie alle in hethitischer Sprache verfaßt sind; eigenartiger-
weise ist bisher noch niemals mit aller Schärfe die Möglich-
keit ins Auge gefaßt worden, daß wie etwa die anderen Schrift-
gattungen des Orients so auch diese Hieroglyphenschrift von
anderssprachigen Völkern zur Schreibung der eigenen Sprache
verwandt worden sein könnte.^)
Was nun die hethitischen Keilschrifttexte anbelangt, so
kann erst die Veröffentlichung einer größeren Anzahl und
zwar nicht nur in Transkription, sondern auch möglichst in
Autographien eine sichere Materialgrundlage für die Nach-
prüfung durch andere Forscher bringen. Die Lesung scheint
nach den Angaben von Delitzsch (a. a. 0. S. 3) gar nicht
so einfach zu sein, und außer der Feststellung des genauen
1) Außer den Büchern von Jensen und Thompson seien von Ar-
beiten, die für die Entzifferung von Bedeutung sind, genannt: Messer-
schmidt, Bemerkungen zu den hethitischen Inschriften, Mitt. Vorder-
asiat. Gesellsch. 1898, Heft 5 (wichtige Kritilc der Aufstellungen Jen-
sens; Brockelmann a. a. O. wird Messerschmidt nicht gerecht) und
Sayce, vor allem sehr zahlreiche Aufsätze in Proc. Soc. Bibl. Arch.
Daß jedem der Entzifferer einzelne richtige Kombinationen geglückt
sind, erscheint mir sicher, aber ebenso sicher, daß keiner von ihnen
bisher darüber hinausgelangt ist. Im Interesse der Sache, die ein
Zusammenarbeiten, nicht ein Bekämpfen verlangt, ist die große Selbst-
tiberschätzung lebhaft zu bedauern, mit der Jensen seinen eigenen
scharfsinnigen, aber zum Teil auch phantastischen Versuchen gegen-
übersteht, und seine daraus entspringende unnötig scharfe Polemik
gegen die Mitarbeiter, s. z. B. Lit. Zentralbl. 1916, Sp. 242ff. und
Theol. Lit.-Ztg. 1916, Sp. 361 ff.
2) Nur bei E.Meyer, Gesch. d. Altert. 12», S. 697 f. findet sich
ein Ansatz zu einer derartigen Betrachtungsweise; Jensen, Zeitschr.
Deutsch. Morgenl. Gesellsch. XLVIII (1894), S. 250 hat z. B. dagegen
als Grundlage seiner Entzifferung gerade den entgegengesetzten Stand-
punkt gewählt. Je mehr ich aber, wenn auch als Außenstehender,
die bisherigen Entzifferungsversuche durchprüfe und je öfter ich dabei
darauf stoße, daß der Versuch, der in dem einen Falle manches Wahr-
scheinliche zutage gefördert hat, in einem andern nur zu ganz ge-
zwungenen oder sogar völlig unmöglichen Ergebnissen gelangt, desto
mehr hat sich bei mir die Überzeugung befestigt, daß die Hieroglyphen-
inschriften nicht einsprachig sind. Vgl. vorher auf S. 195 meine Be-
merkungen über Kulturübertragung.
202 Walter Otto,
Lautwertes der verwendeten Keilschriftzeichen, die bei der
Unmöglichkeit in der Keilschrift Verschlußlaute wie d und t,
g und k und andere deutlich zum Ausdruck zu bringen,
oft recht schwierig sein dürfte, heißt es die Umschriften
der gelesenen Zeichen sorgfältig zu prüfen, zumal bei der
Polyphonie der Keilschriftzeichen im Falle ihrer Verwen-
dung zur Schreibung einer ihnen fremden Sprache die
Möglichkeit der irrigen Schriftauffassung besonders groß ist
und noch dadurch erhöht werden kann, daß der auf eine
bestimmte Theorie Eingeschworene ganz unwillkürlich ge-
neigt sein dürfte, sich für Umschriften, die zu dieser
passen, zu entscheiden, i) Liegt außer diesen Textpublika-
tionen alsdann auch das Buch Hroznys mit der eingehenden
Begründung seiner sprachlichen Aufstellungen ganz abge-
schlossen vor, dann wird auch für den Historiker eine end-
gültige Stellungnahme zu seiner These möghch sein. Immer-
hin hat schon, und zwar sofort, Eduard Meyer (Mitt. S. 8 f.)
gegenüber Hroznys Annahme von dem indogermanischen
Grundcharakter der hethitischen Sprache auf ihren vom
indogermanischen Sprachtypus anscheinend abweichenden
Gesamtcharakter und vor allem auf ihren reichen fremd-
artigen Wortschatz verwiesen.*^) Es kommt hinzu, daß
die uns bisher bekant gewordenen hethitischen Namen,
die der Götter, der Könige und anderer Hethiter^), allem
Anschein nach so gut wie alle nicht nur nicht indo-
germanisch sind*), sondern sogar vielmehr, und zwar zum
1) Herbig a. a. O. Sp. 422 scheint sich die Möglichkeit der Mit-
arbeit der „Nichtassyriologen" allein auf Grund der Transkriptionen
zu einfach vorzustellen. Korrekturzusatz: Hrozny, Sprache der He-
thiter S. VIII stellt die Lesungen zwar als völlig gesichert hin, aber
Bohl a. a. O. S. 306 und auch O. Weber, Orient. Lit.-Ztg. XIX (1916),
Sp. 369 weisen, und m. E. zum Teil mit Recht, auf mancherlei Un-
sicherheiten und Schwierigkeiten hin.
*) Selbstverständlich ist sich auch Hrozn]^ der unindogermani-
schen Elemente im Hethitischen bewußt geworden, s. Mitt. S. 39 f.
S. hierzu jetzt auch seine Bemerkungen in seinem Buche S. IX f.
(Korrekturzusatz).
') Für solche Namen s. außer E. Meyer, Mitt. S. 12 auch Hommel
a. a. O. S. 43.
*) Daß die indogermanischen Namen einzelner syrischer Dy-
nasten und einiger Mitannikönige um 1400 v. Chr. (s. Zusammenstellung
Die Hethiter. 203
Teil ganz deutlich, „kleinasiatisches" Gepräge tragen; daß
es sich bei diesen allen um keine spezifisch hethitischen,
sondern nur um von den Hethitern angenommene Namen
handeln sollte, darf man kaum annehmen. Anderseits er-
scheint es mir aber auch jetzt schon nicht mehr möglich, das
Vorhandensein eines starken indogermanischen Einschlags im
Hethitischen zu leugnen. i) So hat der von Eduard Meyer
befürwortete Ausweg, daß es sich bei der hethitischen Sprache
um eine Mischsprache handle^), trotz der prinzipiellen Be-
denken Herbigs (a. a. 0. Sp. 427) gegen eine solche^) gar man-
ches für sich. Zu einer solchen würde auch die schon (S. 198)*)
erwähnte Leugnung einer irgendwie näheren Verwandtschaft
mit der Mitanni-Sprache gut passen. Das indogermanische
Element des Hethitischen würde alsdann als jenes zu fassen
sein, das den Eindruck der Nichtverwandtschaft der beiden
Sprachen hervorgerufen hat. Denn daß die von dem Indo-
germanischen aus zunächst nicht zu erklärenden Bestand-
teile des Hethitischen „kleinasiatischen" Charakter haben
dürften, darf man wohl abgesehen von den Namen auf Grund
des „kleinasiatischen" Typus der Sprachträger und ihrer in
den Grundzügen „kleinasiatischen" Kultur postulieren.
Und dies um so mehr, als Hrozny (Mitt. S. 40 ff.) in
den hethitischen Keilschrifturkunden die gelegentlich, und
zwar vor allem im Ritual begegnende Verwendung eines
nichthethitischen Idioms, der sog. Charri-Sprache, festgestellt
zu haben glaubt, die dem Mitanni, überhaupt der klein-
bei E. Meyer, Zeitschr. f. vgl. Sprachforsch. XL II [1909], S. 17 ff.) irgend-
wie als Namen von bereits in jenen Gegenden zur Herrschaft gelangten
Hethitern aufzufassen seien, ist um so weniger wahrscheinlich, als es
sich um speziell arische bzw. iranische Namen handelt.
^) Bei unserm Urteil über das indogermanische Element im
Hethitischen ist zu beachten, daß die Keilschrift zur Wiedergabe
einer indogermanischen Sprache nicht recht geeignet ist,
*) Für die Annahme einer Mischsprache hat sich jetzt auch
Bohl a. a. O. S. 305 ausgesprochen (Korrekturzusatz).
') Ihnen gegenüber sei hervorgehoben, daß man doch wohl z. B.
auch dem Charakter des Ägyptischen am gerechtesten wird, wenn
man es mit Adolf Erman als eine Mischsprache deutet; E. Meyers
Gesch. d. Altert. I 2», S. 49 Polemik gegen Erman halte ich nicht für
glücklich.
204 Walter Otto,
asiatischen Sprachgruppe sehr nahe stehen soll. Allerdings
handelt es sich hierbei zunächst im wesentlichen um eine
bloße Behauptung Hroznys, für die der Beweis noch zu
erbringen ist.i) \
Ob man nun das Hethitische als eine indogermanische
Sprache mit starker fremder, sie zersetzender Beimischung
aufzufassen hat, wie es gerade nach Hroznys bisherigen
Aufstellungen scheinen könnte (so auch Kretschmer bei
Hrozny, Mitt. S. 40), oder ob man es mit einer durch das
Indogermanische zersetzten „kleinasiatischen" Sprache zu
tun hat, diese Frage läßt sich bei der Unsicherheit all unserer
Grundlagen vorläufig nur aufwerfen, aber noch nicht ent-
scheiden. Jedenfalls ergibt sich aber aus der Betrachtung
1) Von Winckler, Mitt. S. 52, Orient. Lit.-Ztg. XIII (1910),
Sp. 289 ff. und Vorderasien S. 67 ff. ist zwar die Behauptung aufge-
stellt und immer wieder vertreten worden, daß mit dem Namen Charri
die arischen Elemente, d. h. die Herrenbevölkerung in Mitanni be-
zeichnet worden seien, und E. Meyer, Gesch. d. Altert. I 2^, S. 652,
672, 676 hat ihm beigepflichtet, aber bewiesen erscheint mir dies nicht.
Denn einmal sind die arischen Götter, die in den Verträgen zwischen
Chatti und Mitanni unter den Göttern des letzteren Landes genannt
werden, durchaus nicht speziell als Götter der Charri gekennzeichnet,
und ferner lassen sich auch nicht die Mitannikönige mit arischen Namen
als zu den Charri gehörig — eher ist das Gegenteil der Fall, s. Winckler,
Mitt. S. 49 — oder diese als die damalige Herrenbevölkerung erweisen.
Es bleibt zunächst m. E. als einziges Beweisstück ein König Artatama
von Charri; aber aus dem arischen Namen dieses einen Herrschers ist
natürlich auf die Nationalität der Hauptmasse seiner Untertanen
ebensowenig ein sicherer Schluß möglich, wie aus den indogerma-
nischen Namen der Mitannikönige und der nordsyrischen Dynasten.
Wenn bei dem sehr lückenhaften Material überhaupt eine Vermu-
tung am Platze ist, so scheint sie mir, nachdem uns nun Charri
im Hethiterreich, im Mitannilande und, wie Winckler erwiesen zu
haben scheint, auch außerhalb dieser Gegenden in dem Gebiet auf
Kleinasien zu bezeugt sind, nur in der Richtung möglich zu sein,
daß wir in dem Charri-Namen gerade einen Gemeinsamsnamen „klein-
asiatischer" Volkselemente zu sehen haben. Und da wir ja diese auch
in Syrien antreffen, so bedarf die Frage nach der Rasse der alttesta-
mentlichen Choriter, ägypt. Charu, trotz der bei ihnen sich findenden
semitischen Namen noch neuer Prüfung; anders wie E. Meyer, Gesch.
d. Altert. I 2^, S. 675 f. hat denn auch z. B. Kittel a. a. O. P, S. 38
mit der Möglichkeit gerechnet, in ihnen eine nur starl« semitisierte
Schicht der Frühbevölkerung Palästinas zu sehen.
Die Hethiter. 205
der Sprache — anders als aus der des Typus i) und der
Kultur — , daß die Hethiter zur Zeit ihres Großreiches,
seit dem diese Sprache uns bezeugt ist, kein rein „klein-
asiatisches", sondern ein mit Indogermanen gemischtes Volk
gewesen sein müssen. Gerade in Anbetracht unserer noch
recht unzureichenden Kenntnis wird man das bisherige
Fehlen von indogermanischen „Rassen"-, aber auch von
sicheren Kulturmerkmalen wohl ohne Bedenken dadurch
erklären dürfen, daß die Indogermanen geringer an Zahl
gewesen sind, daß sie fremde Frauen genommen haben und
daß so die von ihnen mitgebrachten fremden Rassenmerk-
male für unsere Blicke verschwunden sind; für das übrigens
wohl nur vorläufige Nichtvorhandensein von Kulturmerk-
malen (s. aber S. 218 A. l.)2) wird man wohl ergänzend an-
nehmen dürfen, daß ihre Kultur der ,, kleinasiatischen" unter
legen war. Daß trotz alledem ihre Sprache nicht ganz ge-
schwunden ist, dafür läßt sich durch die Annahme, sie seien
in den ,, kleinasiatischen" Völkerkreis eingedrungene Er-
oberer, eine befriedigende Erklärung finden.^)]
1) Es ist bei dessen Verwertung immer zu beachten, daß uns
für die Hethiter bisher nur Abbildungen, aber noch Iceine anthropo-
logischen Funde vorliegen.
2) Wenn Bohl a. a. O, S. 319 im hethitischen Pantheon einen
Hinweis auf den indogermanischen Himmelsgott zu finden glaubt,
so ist dies noch recht unsicher (Korrekturzusatz).
^) Es sei hier als Parallele auf die Zustände in Nordsyrien und im
nordwestlichen JVlesopotamien verwiesen (s. Eduard Meyer, Zeitschr. f.
vergl. Sprachforsch. XLH [1909], S. 17 ff. u. 24 ff.). Auch dort ver-
mochten wir für die Zeit seit 1400 v. Chr. das Vorhandensein von Indo-
germanen zunächst allein aus sprachlichen Anzeichen zu erschließen,
aus den schon vorher erwähnten Dynastennamen, die uns zugleich das
indogermanische Element als die Herren der alten Bevölkerung zeigten;
erst durch die Funde von Boghazköi ist uns dann als weiteres Anzeichen
für die Anwesenheit von Indogermanen die Verehrung arischer Götter
bei den Mitanni bekannt geworden. Man könnte hierzu auch etwa
daran erinnern, daß auf den ersten Blick das Volkstum der Germanen
in den von ihnen auf römischem Boden gegründeten Reichen im römi-
schen Wesen zumeist schnell untergegangen zu sein scheint, ein Urteil,
das sich allerdings bei eingehenderer Betrachtung mit reichem Material
als recht oberflächlich erweist, und vielleicht veranlaßt uns bessere
Materialkenntnis dereinst auch noch bezüglich des Wesens der Hethiter
zu einer Änderung unseres bisherigen Urteils. Schließlich sei für die
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 14
206 Walter Otto,
So ergibt sich ein anscheinend geschlossenes Bild von
dem Wesen des Hethitervolkes, das jedoch zunächst noch
sehr viel Hypothetisches enthält. Nun ist schon von Eduard
Meyer (Mitt. S. 16) die Frage nach der Herkunft des
indogermanischen Elementes angeschnitten worden. Und
mit ihr erhebt sich die wichtige weitere: Rührt der Name
„Chatti" von ihm oder von dem ,, kleinasiatischen" Bestand-
teile her? Zumal dieser nur in fremder, in keilschriftlicher,
ägyptischer (HtO und hebräischer (nn,D^nn) Umschrift vor-
liegt, ist seine sprachHche Deutung besonders schwierig und
augenblicklich wohl noch unlösbar, aber es scheint prinzipiell
nichts einer Erklärung aus dem Indogermanischen entgegen-
zustehen.i) Würde sich die eine der für die Herkunft mög-
prinzipielle Berechtigung der obigen Schlüsse z. B. auf die allgemeinen,
mit historischen Beispielen belegten Ausführungen über das Verhältnis
von Sprache, Rasse und Kultur von Oberhummer, Geogr. Zeitschr.
XXII (1916), S. 83 hingewiesen.
1) Jensen hat bei seiner Erklärung der Sprache der Hieroglyphen-
inschriften an die armenische Bezeichnung der Armenier als Haikh
erinnert und nimmt an, daß Hai (Sing.) aus *Hatio entstanden sei.
Bewiesen ist dies nun allerdings nicht, immerhin mahnt aber auch
dies, die Deutung des Chatti-Namens aus dem Indogermanischen nicht
prinzipiell abzulehnen. — In diesem Zusammenhange sei auch immerhin
darauf hingewiesen, daß allem Anschein nach nicht ein echt klein-
asiatischer Gott wie Tesub, sondern eine Gottheit uns noch unbe-
kannten Namens der Hauptgott von Chatti zur Zeit des Großreiches
gewesen ist; jedenfalls tritt uns Tesub nicht als der Hauptgott in den
Skulpturen an den Wänden der großen Felsnische Jazylykaja dicht
bei Boghazköi, doch wohl der heiligsten Stätte der Königsstadt, ent-
gegen, und auch in den uns bekannt gewordenen hethitischen Götter-
listen (s. jetzt auch Bohl a. a. O.) erscheint er nicht als solcher.
(E.Meyer S. 85ff.; 157 ff. Seine frühere Behauptung in Gesch. d.
Altert. 1 2», S. 712, 714, Tesub sei der Nationalgott der Hethiter
[ähnlich ist wohl die Auffassung von Winckler, Mitt. S. 13 f.], läßt
sich mit diesen späteren Ausführungen eigentlich nicht recht vereinen;
sie ist auch jedenfalls von ihm seinerzeit nicht bewiesen worden.) Daß
neben diesem Gott der Gott Tesub ganz besondere Verehrung, und
zwar gerade auch in der Chattistadt, genossen hat, ist freilich nach
den uns bekannt gewordenen Götterlisten zweifellos. In dieser Ver-
ehrung hätte man aber nur wieder ein Zeichen des starken Vorherr-
schens „kleinasiatischer" Kulturelemente zusehen; die besondere Ver-
ehrung des Tesub gerade als Herr der Stadt Chatti könnte vielleicht
damit zusammenhängen, daß er an dieser Stätte schon vor dem Er-
scheinen der Chatti verehrt worden ist, aber auch andere Erklärungen
Die Hethiter. 207
liehen Annahmen (s. im folg. S. 214 f.) dereinst als richtig her-
ausstellen, so würde sogar der Name „Chatti" unbedingt
als die von den Eindringlingen mitgebrachte Volksbezeich-
nung und somit als indogermanisch anzusprechen sein.
Bevor ich jedoch auf jene Annahme eingehe, gilt es zu-
nächst, sich über die ältesten uns bezeugten Wohnsitze und
im Zusammenhang damit über die allmähliche Ausdehnung
des Machtbereichs der Hethiter klar zu werden.
Hierfür bieten uns einmal die schon besprochenen hethi-
tischen Kulturüberreste Anhaltspunkte, allerdings sehr viel
schwächere, als man für gewöhnlich — so auch Eduard Meyer
— anzunehmen geneigt ist. Denn, wie schon hervorgehoben,
unterliegt bei manchen ihre Zuweisung an das Einzelvolk
der Hethiter mehr oder weniger erheblichen Bedenken, und
bei anderen ist die Zeit ihrer Entstehung noch wenig ge-
klärt; es ist daher schon deswegen allein auf Grund der
Denkmäler oft kaum zu entscheiden, inwieweit und für wie
lange Zeit an ihren Fundstätten wirklich Hethiter gesessen
haben. So ergibt sich z. B. aus den Überresten kein zwin-
gender Grund dafür, nordsyrische Orte wie etwa Sendschirli
und Saktschegözu als frühzeitige oder dauernde hethiti-
sche Sitze zu fassen; das vollständige Fehlen der Hierogly-
phenschrift auf den hier gefundenen Denkmälern dürfte doch
kaum rein zufällig sein^), und die Gleichheit des Stils ließe
sich immerhin auch durch Kulturübertragung und bei den
zeitlich frühesten durch die zweifellose Zugehörigkeit der
Bewohner, wenn nicht zu den Hethitern, so doch zu der
sind denkbar. Eduard Meyer rechnet nun mit der Möglichkeit, in
der unbekannten Hauptgottheit den Gott Attis, sem. '^rW (oder ähn-
Uch) zu sehen (eingeschränkter früher Gesch. d. Altert. 12^, S. 728),
und Hommel a. a. O. S. 44 hat diesen Namen sogar mit dem Chattu-
namen zusammengebracht, ohne jedoch beides direkt gleichzusetzen
(sehr klar äußert er sich nicht, s. auch S. 47); es erscheint mir dies
alles aber noch viel zu unsicher, um irgendwelche Schlüsse darauf
aufbauen zu können, ganz abgesehen davon, daß hierbei auch noch
sehr strittige religiöse Probleme angeschnitten werden müßten.
^) Das Fehlen erscheint mir um so auffälliger, als uns gerade in
Sendschirli das Verlangen, sich in Schriftdenkmälern zu verewigen,
begegnet; sind uns doch bekanntlich von hier besonders alte semi-
tische Inschriften erhalten.
14*
208 Walter Otto,
„kleinasiatischen" Bevölkerungsgruppe befriedigend erklären.
Bei Verwertung der Denkmäler muß man ferner damit rech-
nen, daß sie an ihre Fundstätten durch den Handel oder
durch Verschleppung gelangt sein können; so scheiden Orte
wie z. B. Babylon aus. Andere Funde wie etwa die Fels-
skulpturen in lonien bei Magnesia und Smyrna beweisen
vielleicht nur, daß bis in diese Gegenden Hethiterkönige auf
ihren Heereszügen gelegentlich gelangt sind und entsprechend
orientalischem Herrscherbrauche im Felsgebirge ihr unver-
gängliches Siegeszeichen angebracht haben; das vereinzelte
Vorkommen, das immer spärlicher Werden der Zeugnisse,
je weiter westlich man in Kleinasien vordringt, könnte man
ebenso für diese Erklärung anführen wie die Auffindung
dieser Überreste gerade an den alten großen Straßen in
jenem Gebiete. Die neuere Forschung, auch Eduard Meyer
(S. 72), scheint mir daher nicht vorsichtig genug zu ver-
fahren, wenn sie vor allem auf Grund dieser Felsskulpturen
von der Ausbreitung des Hethiterreiches bis an die Küsten,
ja sogar bis auf die Inseln der Ägäis als ziemlich gesichert
spricht; denn so allgemeine Erwägungen wie etwa jene, daß
eigentlich nur die Annahme einer derartigen Ausdehnung
der Hethitermacht die späte Ansiedlung von Trägern der
kretisch-mykenischen Kultur an der kleinasiatischen West-
küste gut erkläre, stellen infolge unserer bisherigen Unkennt-
nis der politischen Geschichte der Ägäis und des vorderen
Kleinasiens im 2. Jahrtausend v. Chr. zu viele unbekannte
Größen in Rechnung, als daß durchschlagende Beweiskraft
ihnen zuerkannt werden könnte.^)
Nach alledem würde man bei größerer Vorsicht, als sie
bisher geübt worden ist, über die Wohnsitze und die Aus-
dehnung der politischen Macht der Hethiter in Kleinasien
und darüber hinaus im östlichen Vorderasien nur zu sehr
ungewissen Ergebnissen gelangen können, wenn nicht glück-
licherweise die Anhaltspunkte, die die Denkmäler gewähren,
1) Ganz besonders wenig skeptisch sind die einschlägigen Aus-
führungen von H. R. Hall, Mursil and Myrtilos, Journ. Hell. Stud.
XXIX (1909), S. 19 ff. ; s. aber auch Hogarth, lonia and the East S. 12 ff.
und Lenschan, s. v. Jones in Paulys Realenzykl. d. klass. Altertumsw.*
IX, Sp. 1874.
Die Hethiter. 209
durch die schriftliche Überlieferung ergänzt würden und
zwar ebensowohl durch die keilinschriftliche Tradition —
außer den einheimischen Urkunden Angaben in einer baby-
lonischen Chronik, in den bekannten Briefen aus dem
ägyptischen Reichsarchiv in El Amarna aus der Zeit des
3. und 4. Amenophis (Anfang des 14. Jahrhunderts) und in
den assyrischen Königsinschriften seit Tiglatpilesar I. (vor
1100 V. Chr.) — , als auch durch die ägyptischen Inschriften
aus der Zeit Thutmosis' III. und der 19. Dynastie, sowie
durch das Alte Testament, i) Darnach können wir von etwa
1475 bis zum Jahre 717 v. Chr., dem Jahre der Beseiti-
gung des Hethiterstaates Karkemisch, die Ausbreitung der
Hethiter wenigstens in den großen Zügen mit einiger Sicher-
heit verfolgen; für die frühere Zeit besitzen wir freilich nur
eine einzige und bisher ganz vereinzelte Nachricht.
Einen ganz sicheren Ausgangspunkt für unsere Fest-
stellungen hat uns seit den Funden von Boghazköi der alte
Name dieses Ortes ,,Chatti" d. h. Hethiter geliefert. Stadt-
und Volksname ist also gleich gewesen, und hierzu kommt
als weiteres wichtiges Indizium, daß das Hethiterreich im
Einklang mit einer auch sonst zu beobachtenden Gepflogen-
heit in der einheimischen oder der ihr nahestehenden Tra^
dition als „Land der Stadt Chatti" bezeichnet wird.^) In
diesen Namensgebungen tritt uns einmal die Bedeutung des
Hauptortes als des alles beherrschenden Mittelpunktes für
seinen Bezirk besonders deutlich entgegen, vor allem aber
1) Die verschiedenen Angaben des Alten Testaments sind sehr
übersichtüch zusammengestellt von Eduard Meyer S. 136 f. Wenn die
spätere jüdische Tradition die Hethiter zu einem Teil der Urbevöl-
kerung Palästinas macht, so scheint sie mir einen ähnlichen Fehler
wie die heutige Forschung zu begehen, indem sie den ihr besonders
bekannten Teil einer Völkergruppe, die Hethiter (s. die spätere Be-
zeichnung von Nordsyrien als „Land Chatti"! vgl. S. 227), für jene
d. h. für die „Kleinasiaten" einsetzt; denn daß dereinst ein nicht-
semitisches, und zwar ein „kleinasiatisches" Bevölkerungselement bis
nach Palästina hinein gesiedelt hat, erscheint mir so gut wie gesichert;
Eduard Meyer, Gesch. d. Altert. I 2», S. 378 u. 419 äußert sich leider
nicht scharf genug, fast gegensätzlich hierüber; über nichtsemitische
r^amen in Palästina s. etwa Kittel a. a. O. P, S. 54f.; vgl. auch Bohl,
Kananäer und Hebräer, S. 23 ff.
*) S. Winckler, Mitteil. S. 13 f.
210 Walter Otto,
bezeugen sie, daß etwa ebenso wie das Reich von Akl^ad
von der Stadt gleichen Namens und Assyrien von der Stadt
Assur, so auch das Reich der Hethiter von einem Stadt-
königtum, von der Gegend von Boghazköi, ausgegangen ist.
Allzugroß dürfte das Gebiet dieser Stadtherrschaft, die zu-
dem an einer von der Natur nur als strategische Position
gegenüber den großen Handelsstraßen des hinteren Klein-
asiens begünstigten Stelle, auf der Hochebene östlich des
mittleren Halys, lag^), von Haus nicht gewesen sein; sind
doch selbst noch zur Zeit der großen Macht der Hethiter
z. B. die Landschaften Kizwadna, d. h. etwa das pontische
Kappadokien^), und Arzawa mehr oder weniger selbständig
gewesen^), wie man sich überhaupt das Hethiterreich auch
zur Zeit seiner größten Ausdehnung nicht als Einheitsstaat,
sondern ebenso wie etwa zeitweise Ägypten und Babylonien
in seiner staatlichen Organisation mehr wie das mittelalter-
liche Deutschland vorstellen muß.*)
Durch die neuen Feststellungen, die uns Boghazköi über
den kleinasiatischen Ausgangspunkt des Hethiterreiches ge-
stattet, ist übrigens die schon früher gewonnene Erkenntnis,
daß die Hethiter nicht, wie man ursprünglich annahm, aus
Nordsyrien nach Kleinasien gekommen seien, sondern daß
das Gegenteil der Fall sei, nur bestätigt worden. Zu den
^) S, die treffenden Ausführungen von King a, a. O. S. 230 ff.
*) Herzfelds Erkenntnis, daß wir in Kizwadna die ältere Form
für Kappadokien vor uns haben (s, Eduard Meyer S. 76 u. 156), ist
unbedingt richtig; die Lage hat auch schon Winckler, Vorderasien,
S. 61 richtig bestimmt. Es ist leider allgemein nicht beachtet worden,
daß bereits Hommel a. a. O. S. 42, 4 u. 47, 1 die richtige Gleichung
mit Kappadokien gefunden hat.
3) Für die politische Stellung von Kizwadna s. W. Max Müller
a. a. O. S. 335 und Winckler, Vorderasien, S. 59 ff., für die von Arzawa
Winckler, Mitt. S. 40 und Weber a. a. O. II, S. 1075, deren Gründe
für die völlige Unabhängigkeit des Landes mir jedoch nicht entschei-
dend zu sein scheinen; eine gelegentliche zeitweise Selbständigkeit
ist natürlich nicht ausgeschlossen.
*) Es geht dies deutlich aus den Angaben der ägyptischen In-
schriften und der Boghazköitexte über die den Hethitern untergebenen
Herrscher und Völker hervor; besonders charakteristisch ist auch
z. B. das von Winckler, Mitt. S. 28 erwähnte Edikt des Königs Dud-
chalia.
Die Hethiter. 211
Beobachtungen G. Hirschfelds (a. a. 0.), daß die kappado-
kischen Denkmäler nicht von syrischen Eroberern herrühren
könnten, sondern in ihrer Entstehung mit Kleinasien aufs
engste verwachsen seien, hatten sich ja die Angaben der
El-Amarnabriefe hinzugesellt, denen zufolge erst zur Zeit
ihrer Abfassung bzw. kurz vorher, also etwa seit den aller-
letzten Jahren des 15. Jahrhunderts, die Hethiter als Er-
oberervolk allmählich in Nordsyrien vorgedrungen sind.^)
Daß schon vorher Bruchteile des hethitischen Volkes dort,
überhaupt außerhalb Kleinasiens, gesessen haben, dafür gibt
es kein sicheres Zeugnis.^) Auch die Erwähnung des Hethiter-
landes in den Annalen Thutmosis' HI. neben den syrischen
Ländern und dem angrenzenden Gebiet am oberen Euphrat
weist uns darauf hin, daß die Hethiter in der ersten Hälfte
des 15. Jahrhunderts in den Gegenden diesseits des Taurus-
gebirges noch nicht heimisch gewesen sein können, sondern
eben noch in Kleinasien ihren Machtbereich hatten.^) Zu
0 Bezüglich der Zeit s. Knudtzon a. a. O. I, S. 44. Vgl. auch die
Angaben von Winckler, Vorderasien, S. 83 ff. über die von ihm als
„Aleppovertrag" bezeichnete Urkunde.
2) O. Weber a. a. O. II, S. 1088 f. vertritt z. B. diese Auffassung,
aber das Alte Testament liefert uns ein solches Zeugnis nicht (s. vorher
S. 209 A. 1), und die ganz wenigen „hethitischen" Eigennamen und
Glossen, die uns in den El-Amarnabriefen begegnen, sind m. E. noch
gar nicht sicher als spezifisch hethitisch erwiesen und würden auch
dann kaum wirklich entscheidende Belege darstellen; zunächst hat
man in ihnen einfach „kleinasiatisches" Sprachgut zu sehen, und der
ägyptische Resident von Jerusalem unter Amenophis IV., Abdichiba,
durch den als Träger eines hethitischen Namens die Hethiter auch mit
dieser Stadt in Verbindung gebracht zu sein schienen, ist vorläufig
nur als Hinweis auf das Vorhandensein „kleinasiatisclier" Elemente
zu verwerten (die Lesung des Namens ist noch strittig, s. Weber a. a. O. ;
der zweite Bestandteil ist uns aber bisher gerade nur in Mitanni- und
Kizwadnanamen belegt, s. Winckler, JVlitt. S. 48). Die falsche Auf-
fassung Webers und mancher anderer (E. Brandenburg, Zeitschs. f.
Ethnol. XLIV [1912], S. 23ff.; W. Reimpell, Orient. Lit.-Ztg. XIX
(1916], S. 327 wollen sogar hethitischen Einfluß in den ältesten Denk-
mälern Petras nachweisen) beruht übrigens wohl zum Teil auf der
unglücklichen Weitererstreckung des Hethiternamens; auch Winckler,
Mitt. S. 48 hat sich ihr auch in diesem Zusammenhang nicht zu ent-
ziehen vermocht.
*) S. auch die von W. Max Müller a. a. O. S. 320 f. angeführte
Inschrift aus der Zeit des 3. Thutmosis.
212 Walter Otto,
dieser Zeit muß jener aber bereits schon sehr bedeutend
gewesen sein; sonst würde der Ägypterkönig nicht von dem
,, großen Hethiterlande" sprechen, i)
Es erhebt sich nun die Frage, seit wann wir in Klein-
asien mit einem selbständigen Hethiterreiche zu rechnen
haben. 2) Und ferner die weitere, ob die Sitze der Hethiter im
hinteren Kleinasien als ihre ursprünglichen anzusehen sind.
Einen gewissen, wenn auch noch unsicheren terminus post
quem zur Beantwortung der ersten Frage liefern uns die
bekannten kappadokischen Keilschrifttafeln mit Geschäfts-
urkunden in altakkadischer Sprache, auf denen sich die
Namen eines Beamten eines Königs von Ur und eines alt-
assyrischen Herrschers, sowie die Erwähnung assyrischer
Eponymen, überhaupt viele assyrische Eigennamen finden
(s. E. Meyer S. 51 ff. u. 153 f.). Wenn hier auch noch sehr
vieles unsicher ist, so bezeugen sie uns auf jeden Fall
die politische Oberherrschaft Babyloniens und Assyriens in
den letzten Jahrhunderten des 3. Jahrtausends in Kappa-
dokien, und da der Name der Assyrer an der kappadokischen
Küstenlandschaft bis in die Zeit der älteren griechischen
Geographie haften geblieben ist (Belege bei E. Meyer, Gesch.
d. Altert. 12^ S. 613f.), obwohl die assyrische Herrschaft
damals schon sehr lange beseitigt war, so muß diese Herr-
schaft in älterer Zeit ziemlich fest eingewurzelt gewesen sein.
Wann und wie sie zusammengebrochen ist, darüber wissen
wir nichts Sicheres; sollte der assyrische König Samsiadad
seinen Eroberungszug zum „Großen Meer" tatsächlich in
diese Gegenden unternommen haben (s. über ihn E. Meyer,
a. e. a. 0. I 2^, S. 668 ff.), so würde der Zusammenbruch
1) Siehe die Angaben bei Breasted, Ancient records of Egypt II,
S. 485 u. 525. Man wird wohl in dem Wort „groß" nicht nur ein
schmückendes Beiwort zu sehen haben, zumal dies nicht zu dem Cha-
rakter der sonstigen geographischen Angaben der Annalen passen
würde, sondern darf hierin wohl eine geographisch-politische Be-
zeichnung wie etwa in „Großdeutsch" und „Kleindeutsch" sehen;
in diesem Falle würde besonders deutlich die Ausdehnung des Reiches
über das ursprüngliche Gebiet hinaus auch in dem Namen zutage
treten.
*) Die Ausführungen Wincklers, Vorderasien, S. 67 — 74 sind leider
so schlecht fundiert, daß man sie zunächst ganz beiseite lassen muß.
Die Hethiter. 213
schon vor seiner Regierung, d. h. wohl vor 1800 v. Chr.,
anzusetzen sein (s. hierzu im folg. S. 215 A. 2). Jedenfalls wird
man aber nach alledem das Aufkommen eines selbständigen
Hethiterstaates in Kappadokien, der von irgendwelcher Be-
deutung war, erst für die 1. Hälfte des 2. Jahrtausends
V. Chr. annehmen dürfen.
Wir haben denn auch bisher gar keine zwingenden Be-
lege für das Vorhandensein des Einzelvolkes der Hethiter in
seinen späteren Sitzen aus einer früheren Zeit. Denn die Funde
an Keramik, Siegelzylindern u. dgl. aus Kültepe, das uns
auch die bereits erwähnten kappadokischen Keilschrifttafeln
geschenkt hat (s. E. Meyer S. 152ff.), weisen nichts auf, was
man nicht ebenso gut wie als hethitisch auch einfach als
„kleinasiatisch" bezeichnen könnte. Es wird freilich jetzt
auch von King a. a. 0. S. 210 ohne weiteres behauptet, daß
unter den „Chattü", welche nach einer babylonischen Chronik-
notiz^) zur Zeit des letzten Königs der 1. Dynastie von
Babel, d. h. in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts,
Babylonien angegriffen haben, die kleinasiatischen He-
thiter zu verstehen seien und daß diese von ihren späteren
kleinasiatischen Sitzen aus diesen Angriff unternommen
hätten. Nun erscheint es mir allerdings gesichert, daß diese
Chattü mit den späteren Chatti gleichzusetzen sind. Der
Name ist derselbe^), und die Möglichkeit, mit der Eduard
Meyer (S. 57, s. auch Gesch. d. Altert. I 2», S. 648) daneben
noch rechnet, der Name könnte von der Chronik „verall-
gemeinernd für die verwandten Stämme des Nordwestens"
gebraucht sein, beruht eigentlich allein auf der von mir
schon als verfehlt gekennzeichneten verallgemeinernden
^) Veröffentlicht von King, Chronicles concerning early Babyl.
kings II, S. 22; leider liegt die Notiz in stark verkürzter Form vor.
2) Es begegnet uns allerdings m. W. sonst die hier gebrauchte
Form mat Chattü nicht, sondern nur die Formen mat Chattl, Chatte
und Chatta bzw. ^J^eiu chatte (s. außer den Angaben von Delitzsch,
Wo lag das Paradies? S. 273 auch Knudtzon a. a. O. II, S. 1575); die
andere Endung, die sich vielleicht durch Angleichung an die in
unmittelbarer Nähe gebrauchten Ländernamen: mat Akkadu und
"i^t Elamtu erklärt, ist Jedoch um so weniger ein Argument gegen die
Gleichsetzung, als sich die Form mit u auch in dem bekannten hethi-
tischen Königsnamen Chattusil findet.
214 Walter Otto,
Anwendung des Hethiternamens durch die moderne For-
schung; daß das Gleiche auch schon die gute alte Tradition
der Chronik (die Güte betont auch mit Recht wieder King
a. a. O. S. 210, 2) getan haben sollte, ist aber so unwahr-
scheinlich wie möglich.
Nicht gesichert erscheint mir dagegen der zweite Teil
der Kingschen Behauptung^), da er das Bestehen von Ver-
hältnissen, die wir erst einige Jahrhunderte später wirklich
belegen können, ohne weiteres für die Frühzeit voraussetzt. 2)
Aber selbst die vorsichtigere Formulierung Eduard Meyers
(Gesch. d. Altert. I 2^ S. 648), die Hethiter seien wohl aus
dem Nordwesten gegen Babylonien vorgedrungen, ist augen-
blicklich, wo der streng kleinasiatische Charakter des He-
thitervolkes stark in Zweifel steht, besser fallen zu lassen,
und weitere Feststellungen sind abzuwarten. Denn sollten
wir gerade in dem indogermanischen Volksbestandteil die
ursprünglichen Träger des Chattinamens zu sehen haben,
so könnte das Vordringen der Chattü nach Babylonien auch
sehr wohl von dem Osten bzw. Nordosten aus erfolgt sein.
Ist doch bei der Entscheidung der Frage, von wo und auf
welchem Wege das indogermanische Element des Hethiter-
volkes zu den Kleinasiaten Kappadokiens gelangt ist, auch
sehr wohl an die Möglichkeit eines Eindringens von Osten
aus nach dem Westen zu denken.
Jedenfalls ist eine solche Einwanderungsrichtung für
die im nordwestlichen Mesopotamien und in Nordsyrien an-
zutreffenden Arier (s. vorher S. 205 A. 3) anzunehmen^), und
der indogermanische (arische) Einschlag, der uns bei den
Herren Babyloniens seit dem 18. Jahrhundert v. Chr., bei den
^) Der negative Teil dieser Behauptung Kings: unter „f"^* Chattu"
dürfe in der Chronik nicht etwa Nordsyrien verstanden werden, ist
dagegen wieder richtig, da dieses erst in späterer, in assyrischer
Zeit so genannt worden ist und die in der Chronik vorliegende alte
Tradition diese späte geographische Bezeichnung noch gar nicht ge-
kannt haben kann.
2) Kings Begründung: die hethitische Hauptstadt zu Boghazköi
„must have founded far earlier than the end of the fifteenth Century when
we know that it bore the name of Khatti" ist in keiner Hinsicht zwingend.
") S. meine Ausführungen gegenüber Prasek in der D. Lit.-Ztg.
1909, Sp. 3187f.
Die Hethiter. 215
Kossäern, entgegentritt^), weist uns ferner darauf hin, daß
wir mit dem frühen Vorhandensein von Indogermanen im
iranischen Hochland zu rechnen haben (so ich schon früher
D. Lit.-Ztg. 1909, Sp.3188) und mithin auch die Möglichkeit
eines Einfalls von Indogermanen in Babylonien von jenen
Gegenden aus in der Zeit vor 1900 v. Chr. ohne weiteres in
Betracht ziehen können. Wir hätten dann bei dem Ein-
dringen der Chattü eine ähnliche Völkerbewegung vor uns,
wie sie uns in der babylonischen Geschichte so häufig be-
gegnet; man braucht nur an die Einfälle der Elamiten, Gu-
täer und Kossäer zu denken. Wenn wir auch über den
Ausgang des Hethitereinfalles leider nichts näheres wissen,
so stünde immerhin nichts der Annahme entgegen, daß die
„indogermanischen" Chattü in mehr oder weniger direktem
Zusammenhange mit diesem Vorstoß ins hintere Kleinasien
gelangt sind und sich hier durch die Gründung oder Be-
setzung der „Chatti"-Stadt dauernde Sitze gewonnen haben.
Es wäre schließlich durch die Chroniknotiz nicht nur das
erste bis auf das Jahrzehnt sichere Datum für das Auf-
treten von Indogermanen in der Weltgeschichte gewonnen,
sondern auch zugleich ein gewisser terminus post quem für ihr
Erscheinen im östlichen Kleinasien festgelegt. Denn da im
15. Jahrhundert die indogermanischen Elemente des Hethiter-
volkes mit den „kleinasiatischen" bereits zu einer Einheit
verwachsen gewesen sind, und da eine solche Einheit nur
als das Ergebnis einer langen Entwicklung denkbar erscheint,
so dürfte man jenes Erscheinen kaum zu lange Zeit nach
dem Eindringen in Babylonien ansetzen, jedenfalls nicht
viel später als in das 19. Jahrhundert v. Chr. 2)
^) So sicher wie derVersuch von Scheftelowicz (Zeitschr. f. vergl.
Sprachforsch. XXXVIII [1905], S. 260 ff.), die kossäische Sprache
als indogermanisch zu deuten, mißlungen ist, ebenso sicher erscheint
es mir aber auch, daß die Sprache nicht frei von arischen Bestandteilen
gewesen ist; so schon ich D. Lit.-Ztg. 1909, Sp. 3188 und jetzt etwa
E. iWeyer, Gesch. d. Altert. 12», S. 653f.
*) Es wäre dann die weitere Kombination, daß gerade diese indo-
germanischen Wanderscharen die assyrische Herrschaft in Kleinasien
gestürzt hätten, sehr verführerisch! — Gegen den obigen zeitlichen
Ansatz darf man übrigens nicht etwa die ältesten uns bekannten
Darstellungen von Pferden, die aus Kültepe stammen, verwerten.
216 Walter Otto,
Gegen diese Annahme würde auch nicht eine Kombina-
tion sprechen, die man über die weiteren Schicksale der in
Babylonien eingedrungen gewesenen Hethiter aufgestellt und
die allgemeineren Anklang gefunden hat^). Darnach sollen
sich diese Hethiter in der Landschaft Ghana (= Chani =
Chanigalbat) am Euphrat südlich des Chaboras festgesetzt
haben; ihnen hätte dann um die Mitte des 17. Jahrhunderts
der babylonische König Agum-kakrime einen Teil ihrer
alten babylonischen Beute, Götterbilder des Marduk und
der Sarpanit von Babel, entrissen. Sollte diese Hypothese
zu Recht bestehen, dann könnte es sich sehr wohl um Hethiter
handeln, die in dieser Gegend bei dem Vormarsch zurückge-
blieben wären. In diesem Falle wäre es jedoch trotz unserer
geringen Kenntnis der Geschichte jener Gegenden auffällig,
daß in ihnen von den Hethitern, die Jahrhunderte lang dies
Gebiet beherrscht hätten, sich keinerlei Spuren erhalten
hätten. Nun ist aber die Grundlage dieser Hypothese so
unsicher, daß es besser ist, sie zunächst aus der Geschichte
der Chattü ganz zu streichen; denn die Geschichte Babylo-
niens in den ersten Jahrhunderten des 2. Jahrtausends ist
uns noch viel zu wenig bekannt, als daß nicht die Annahme,
jene Götterbilder seien von nichthethitischen Herren von
Eduard Meyer (S. 54; s. auch Gesch. d. Altert. 12 3, S. 613 u. 796)
neigt dazu, sie sehr hoch hinauf — bis ins 3. Jahrtausend — zu datieren
und dementsprechend den Gebrauch des Pferdes in Kleinasien für älter
als in Babylonien zu halten. Nun habe auch ich mich früher (D.
Lit.-Ztg. 1909, Sp. 3188) dahin ausgesprochen, daß gerade die Indo-
germanen das Pferd in Vorderasien eingeführt haben dürften; wer
ebenso urteilt, könnte also geneigt sein, jene Fundstücke als Beleg
für ein früheres Auftreten der Indogermanen in Kleinasien, als oben
angenommen ist, zu fassen. Aber die Datierung der Funde aus Kül-
tepe erscheint mir bei dem Fehlen systematischer Ausgrabungen an
diesem Orte vorläufig noch so unsicher, daß man sich bei jedem Ansätze
um Jahrhunderte irren kann; gegen einen Ansatz der Pferdedarstel-
lungen etwa in die ersten Jahrhunderte des 2, Jahrtausends ließe sich
deshalb m, E. kaum ein durchschlagender Einwand erheben. Man könnte
daher sehr wohl das Erscheinen des Pferdes in Kleinasien auch erst
mit dem oben als möglich hingestellten Eindringen „indogermanischer"
Chatti aus dem Osten nach 1900 v. Chr. in Verbindung bringen,
') S. etwa E. Meyer, Gesch. d. Altert. 12», S. 648 f., 658, 671,
756 (an den verschiedenen Stellen in verschieden bestimmter Fassung)
und King a. a. 0. S. 210.
Die Hethiter. 217
Ghana bei einem Einfall von diesen in Babylonien geraubt
worden, zum mindesten ebenso gut möglich wäre.
Wie dem nun auch sein mag, auf jeden Fall schwindet
bei der Annahme eines Vorstoßes ,, indogermanischer" Chattü
vom Osten nach dem Westen^) die gewisse Schwierigkeit,
die den bisherigen Lösungen entgegenstand, daß nämlich
die Hethiter nach ihrem Einfall in Babylonien wieder in
ihre alten Sitze zurückgeflutet oder spurlos im Osten ver-
schwunden seien. Immerhin handelt es sich aber bei dieser
Erklärung des Erscheinens von Indogermanen im hinteren
Kleinasien nur um eine der drei für dieses in Betracht zu
ziehenden Möglichkeiten. Eduard Meyer (Mitt. S. 16 f.) hat
bereits mit Vorbehalt die eine von diesen zur Erörterung
gestellt: die Einwanderung über den Kaukasus aus Süd-
rußland, d. h. er nimmt dieselbe Einwanderungsrichtung an,
welche früher Prasek, Gesch. der Meder und Perser I, S. 34ff .
für die Westiranier postuliert hat. 2) Eduard Meyers An-
nahme beruht einmal auf der m. E. durchaus nicht gesicherten
Voraussetzung, daß später auch die Kimmerier diesen Weg
nach Kleinasien gezogen seien, und dann auf ägyptischen
Funden aus der Zeit des neuen Reiches — Birkenbast an
einem Streitwagenrade und Bronzeschwerter — , welche uns
auf damals bestehende Beziehungen zu dem südlichen Europa
hinwiesen. Daß diese jedoch nur auf dem Wege über den
Kaukasus hergestellt sein können, wird nun wohl auch
nicht Eduard Meyer behaupten, und vor allem läßt sich
dies alles durch Bestehen von Handelsverbindungen einwand-
frei erklären^), ohne daß man zu der Annahme von Völker-
1) Hierfür könnte man auch auf das schon erwähnte (S. 199 A. 3)
eigenartige sprachliche Zusammengehen zwischen dem Hethitischen
und dem Tocharischen, d. h. einer dem äußersten Osten des indoger-
manischen Sprachgebiets angehörenden Sprache hinweisen. S. auch
die sehr vorsichtigen Bemerkungen über eine mögHche Verbindung
der Hethiter mit dem Osten, dem zentralasiatischen Hochland, von
Klauber und Landsberger, Chetiter und Xeralot, Zeitschr. f. Assyr.
XXVIH (1914), S. 65ff.
2) S. dagegen meine Ausführungen D. Lit.-Ztg. 1909, Sp. 3188.
^) Nach Eduard Meyer dürfte der in Ägypten gefunden Streit-
wagen vermutlich aus dem Hethiterland importiert sein; sein Rad
hat jedoch nur vier Speichen, während wir gerade für die hethitischen
218 Walter Otto,
Wanderungen, die zudem zeitlich jedenfalls sehr viel früher
erfolgt sein müßten, zu greifen braucht.
So scheint mir diese weitere Möglichkeit zunächst auf
sehr schwachen Füßen zu stehen. Aber auch die dritte und
m. E. letzte, die Einwanderung nach Kleinasien über den
Bosporus, für die Hrozny (Mitt. S. 46) eintritt, und zwar
vor allem deswegen, weil auch später Indogermanen diesen
Weg genommen hätten, muß mit manchen unsicheren oder
wenigstens lebhaft bestrittenen Gesichtspunkten arbeiten. Es
ist schon, wenn auch mit unrichtigen Folgerungen von Ramsay
{Histor. commentary on the epistle to the Galatians S. 19 ff.)
auf Beziehungen zwischen der frühen Kultur in Troja und
der althethitischen in Kappadokien hingewiesen worden, und
Eduard Meyer (Gesch. d. Altert. I 2^, S. 752 u. 755) hat
mit vollem Recht die unbestreitbare Übereinstimmung in
der Technik der Bauten von Boghazköi mit denen von
Troja II: ungebrannte Lehmziegel mit Holzfachwerk auf
Fundamenten von Bruchsteinen hervorgehoben. Solche
Übereinstimmung könnte man an sich geneigt sein, einfach
durch Kulturübertragung zu erklären; immerhin ließe sich
aber in diesem Falle zunächst der Einwand erheben, daß
gerade hierfür reiche vermittelnde Bindeglieder, wie man
sie erwarten müßte, zwischen den beiden Kulturstätten
wenigstens vorläufig nicht zu belegen sind und ferner —
und das ist gewichtiger — , daß wir jene Bauweise über-
haupt nicht als kleinasiatisch nachweisen können.*) Die
Erklärung der Übereinstimmung durch das Vorhandensein
gleicher, besonderer Bevölkerungselemente liegt also nahe.
Nun ist ja die Frage nach dem Charakter der Kultur
von Troja II, die man entgegen neueren Vermutungen nicht zu
Streitwagen nur die Sechszahl für die Speichen der Räder nachweisen
können.
^) Ihr Auftreten in der, wie ich annehme (s. oben im folg.), von
Indogermanen bestimmten Kultur von Troja II gestattet sie gerade
mit diesen in Verbindung zu bringen (Eduard Meyer, Gesch. d. Altert.
I 2^, S. 752 muß seinen Versuch, sie mit Anregungen aus Babylonien
zu erklären, selbst einschränken durch die Worte: „wenngleich die
Ziegel ungebrannt bleiben"). Insofern könnte man in ihr auch das erste
uns bekannte Anzeichen innerhalb der hethitischen Kultur sehen,
das auf das in sie eingedrungene indogermanische Element hinweist,.
Die Hethiter. 219
spät — noch vor 2000 v. Chr. beginnend — anzusetzen hat,
heiß umstritten. Die Behauptung einer engen Verwandt-
schaft mit der sog. Kykladenkultur, wie sie etwa Beloch
(Griech. Gesch. Il^, S. 104 u.1 2^, S. 130), vertritt, ist jedenfalls
ganz unhaltbar — allein eine Betrachtung der Keramik, ihrer
Technik (vor allem die Benutzung der Töpferscheibe, des
Brennofens), wie ihrer Formen, zeigt dies mit voller Sicher-
heiti) — , aber auch die z. B. von Eduard Meyer (Gesch. des
Altertums I 2», S. 748 ff., s. auch S. 693) vertretene These
der vollen Gleichartigkeit der trojanischen und der alten
kyprischen Kultur ist nicht aufrecht zu halten; fehlt eben
doch in älterer Zeit auf Kypern gerade das Hauptcharak-
teristikum von Troja II, die Gesichtsurne, ganz, und bei
näherer Betrachtung ergeben sich noch weitere sehr be-
deutsame Verschiedenheiten zwischen den beiden Kulturen.
Damit fehlt aber auch jede Berechtigung für Eduard
Meyers Vermutung, daß wir ebenso wie für Kypern so auch
für Troja II als Kulturträger die „Kleinasiaten" anzunehmen
hätten.2) Dagegen scheinen mir diejenigen recht zu be-
halten, welche trotz der Berührungspunkte der troischen
Kultur mit der der Ägäis für Troja II auf die starken Fäden
hingewiesen haben, die es mit den Funden aus den thraki-
schen Grabhügeln, überhaupt mit dem Norden verknüpfen,
und welche demgemäß das nordische, nicht das südliche Ele-
ment als das den Charakter von Troja II vor allem bestim-
^) Vgl. hierzu jetzt auch die gut orientierenden Bemerkungen
von Kahrstedt, Zur Kykladenicultur, Athen. Mitt. XXXVIII (1913),
S. 180 ff.
*) Selbstverständlich soll damit nicht jedes kleinasiatische Ele-
ment für Troja II geleugnet sein, und ebensowenig das Vorhandensein
von mancherlei starken Gleichartigkeiten zwischen Troja II und Kypern;
hier kommt es mir aber darauf an, das Abweichende herauszuheben
und die Frage zu entscheiden, inwieweit dieses als bestimmend für den
Charakter der Kultur zu fassen und wie sein Entstehen zu erklären ist.
Das Gleichartige wird man natürlich auf dem schon von Eduard iVleyer
beschrittenen Wege — gleiche Bevölkerungselemente, Wanderungen,
Kulturübertragung durch Handel • — zu erklären haben. Dussaud,
Les civilisations prihelUn. dans le bassin de la Mer Egee^ (1914),
S. 139, der die trojanische Kultur als autochthon faßt, urteilt übri-
gens über ihre Beziehungen zu Kypern sehr viel richtiger als Eduard
iVleyer.
220 Walter Otto,
mende gefaßt haben. i) Nicht nur im Kunsthandwerk scheint
mir dies deutlich hervorzutreten^), sondern, und zwar noch
schärfer, in der Hausanlage, in der man wohl allgemein
die Vorstufe des in der mykenischen Kultur uns begegnen-
den Megaron-Haustypus, d. h. des griechischen und damit
eines nordischen Hauses sieht (s. jetzt auch Dussaud a. a. 0.
S. 126 f.).
Darf man nun, wie es auch schon geschehen ist, die
kulturellen Beobachtungen zu ethnographischen Folgerungen
benützen? Dies scheint mir sehr wohl möglich zu sein, da
es sich bei Troja H um eine Kultur von einer stark indivi-
duellen Note mit bedeutsamen Gegensätzen nach der einen
und grundlegenden Gleichartigkeiten nach der anderen Seite
handelt, bei der man mit der Annahme der Kulturübernahme
durch Volksfremde nicht recht auskommt. Kretschmer, A.
Körte, H. Schmidt und andere haben denn auch bereits als
die Hauptträger der Kultur von Troja H wegen deren Ver-
bindung mit Thrakien und weiter mit dem Norden Indo-
germanen angenommen, und wer gerade auf Grund des
Haustypus der mykenischen Kultur als deren hauptsäch-
^) S. etwa Kretschmer, Einführ. i. d. Gesch. d, grlech. Sprache,
S. 172 ff.; A. Körte, Kieinas. Studien IV. Ein altphryg. Tumulus
bei Bos-üjük, Athen. Mitt. XXIV (1899), S. 1 ff. und Gordion (Jahrb.
arch. Instit, 5. Ergänzungsheft, 1904), S. 6ff. Ferner H. Schmidt
Tordos, Zeitschr. f. Ethnol. XXXV (1903), S. 452 ff.; Troja-Mykene-
Ungarn, ebenda XXXVI (1904), S. 608 ff.; Keramik der makedoni-
schen Tumuli, ebenda XXXVII (1905), S. 91 ff.; zu beachten ist auch
von ihm: Die Ausgrab. 1909/10 in Cucuteni, ebenda XLIII (1911),
S. 597 ff. Schließlich s. etwa auch Pernice, Das Kunstgewerbe im
Altertum, S. 60 f.
2) Ich kann hier, um nicht zu ausführlich zu werden, meine
Auffassung nur klarlegen und sie nicht in den Einzelheiten begründen.
Nur das eine sei bemerkt, da es sich für viele um ein besonders
charakteristisches, aber gerade in letzter Zeit bestrittenes Anzeichen
nördlichen Einflusses handelt, daß die Spirale in Troja nicht aus dem
ägäischen Kulturkreis stammen kann; denn in ihm kann man ihr
Werden nur auf Kreta verfolgen, und von hier ist sie selbst nicht
einmal von der Inselkultur übernommen worden, sondern auch dort
von Norden her eingedrungen (Kahrstedt a. a. O. S. 186 beurteilt dies
sehr viel richtiger als E. Meyer, Altert. 123, s. 783). Die Ansätze
zur Buckelkeramik im älteren Troja läßt man dagegen bei der Be-
sprechung des nördlichen Einflusses besser beiseite.
Die Hethiter. 221
lichste Träger Griechen d. h. also Indogermanen voraus-
setzt, der sollte, da ja der gleiche Grund auch für Troja 11
vorliegt, Indogermanen für dieses nicht leugnen. Die genauere
Feststellung des speziellen Charakters dieser Indogermanen
als thrakische Phryger, wie sie z. B. A. Körte vornimmt^),
oder sonst wie sollte man jedoch zunächst fallen lassen;
denn das Einzelvolk der Phryger dürfte erst in den
letzten Jahrhunderten des 2. Jahrtausends nach Kleinasien
gekommen sein. 2)
So können wir denn schon für das Ende des 3. Jahr-
tausends ein indogermanisches Bevölkerungselement für die
Troas annehmen, und da der Grabhügel von Bos-üjük im
späteren Phrygien aus der Zeit bald nach 2000 v. Chr.
allerlei Funde genau desselben Stils bietet, wie ihn uns die
jüngeren Schichten von Troja II kennen gelehrt haben (s.
A. Körte a. a. 0.), so scheint auch die Ausdehnung der Indo-
germanen von der Einbruchsstelle an ins innere Kleinasien
schon für die Zeit um 2000 v. Chr. ziemlich gesichert zu
sein. Ein weiteres Vordringen indogermanischer Scharen
von hier aus gerade bis in die Gegend von Boghazköi wäre
alsdann als sehr wohl möglich in Betracht zu ziehen; sie
würden sich in diesem Falle nach dem Osten auf der großen
nördlichen nach Siwas-Erzerum führenden Querstraße weiter
vorgeschoben haben, d. h. etwa auf demselben Wege, den
jetzt die anatolische Bahn nach Angora verfolgt. Immer-
hin muß man sich auch bei diesem Versuch, das Erschei-
nen von Indogermanen in Kappadokien zu erklären, der in
ihm enthaltenen hypothetischen Momente stets bewußt
bleiben.
^) S. hierzu jetzt auch Pöhlmann, Griech. Gesch. ^, S. 24. Beachte
auch die Bemerlcungen von H. Schmidt, Zeitschr. f. Elhnol. XXXVI
(1904), S. 608 ff. über Körperschmuclt aus Mykene, bei dem man,
soweit es sich um ältere einfachere Arbeiten handelt (Schachtgräber),
einen typologischen Zusammenhang mit dem trojanischen feststellen
kann; auch bei ihm fühlt man sich ebenso wie bei der mykenischen
Keramik, soweit sie die Tendenz zum Geometrischen zeigt, auf den
Norden hingewiesen.
^) S. Eduard iVleyer, Gesch. d. Altert. I, 2«, S. 691 f. u. 750, der
mit seiner Polemik gegen Körte nur in diesem einen Punkte das Richtige
zu treffen scheint.
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 15
222 Walter Otto,
So heißt es sich denn vorläufig noch zu bescheiden mit
der Erörterung der vorhandenen Möglichkeiten und eine Ent-
scheidung auszusetzen, wie denn überhaupt in der Hethiter-
frage gerade augenblicklich mehr das negative Element,
die kritische Nachprüfung selbst anscheinend sicherer Er-
gebnisse, zu Worte kommen muß und zugleich zunächst vor
allem nur die Wege gewiesen werden können, welche die weitere
Forschung zu beschreiten und auf ihre Gangbarkeit zu er-
proben hat. So etwa z. B. auch hinsichtlich der wichtigen
Frage nach der Entstehung des hethitischen Großstaates
um 1400 V. Chr. und der Beteiligung gerade des indoger-
manischen Elementes an ihm. Eins steht allerdings hier-
für fest: die Dynastie des Subbiluliuma, mit der sich für
uns die große Macht des Hethiterreiches verknüpft und
der dieses wohl auch erst seine Größe zu verdanken hat,
stammt nicht aus der Stadt Chatti, sondern aus dem uns
sonst nicht bekannten Orte Kussar, als dessen König
Subbiluliumas Vater Chattusil erscheint (Winckler, Mitt.
35, S. 17).^) Daß dieser ein zum hethitischen Reichssystem
gehörender und nicht ein außerhalb desselben stehender
Stadtfürst gewesen ist, ergibt sich aus seinem Namen; ob
aber in seinem Herrschaftsgebiet das indogermanische Ele-
ment eine bestimmende Rolle gespielt hat, ob es im beson-
deren in seinem Geschlecht von Bedeutung gewesen ist, das
ist eine andere Frage. Die anscheinend durchweg ,, klein-
asiatischen" Charakter tragenden Namen dieser Dynastie^)
^) In einigen wenigen Fällen soll dieser in späteren Urkunden
auch bereits als „Großkönig von Chatii" bezeichnet sein, s. Winckler,
Vorderasien, S. 84; ob man hieraus, wie Winckler will, den Schluß zu
entnehmen hat, daß er bereits König des Gesamtreiches geworden ist,
oder ob nicht in jenen Fällen nur ungenaue nachträgliche Ausdrucks-
weise vorliegt, wage ich ohne Kenntnis der betreffenden Urkunden
im Originalwortlaut nicht zu entscheiden.
^) Selbst wenn man geneigt ist, den Namen der Chatti als von
dem indogermanischen Volksbestandteil herrührend zu fassen, so würde
doch der Königsname Chattusil keine volleAusnahme bedeuten — schon
seines zweiten Bestandteils wegen; ihm gegenüber darf man dem ersten,
da bei ihm uns nur der Volksname entgegentritt, sprachliche Bedeutung
nicht beilegen, sondern nur politische. Korrekturzusatz: Vgl. zu den
Namen jetzt auch Hrozny, Sprache der Hethiter S. 18 u. 51,3, sowie
überhaupt den ganzen Abschnitt über Nominalstämme auf 1, S. 50 ff.
I
Die Hethiter. 223
könnte man sogar sehr wohl dazu verwerten, diese Dyna-
stie vielmehr als eine Reaktion der „Kleinasiaten" gegen-
über den erobernd eingedrungenen Indogermanen zu fassen^),
aber selbstverständlich könnte eine solche auch schon früher
eingetreten sein. Auf jeden Fall muß man sich aber vor-
läufig hüten, wenn man von Mitgliedern dieser Herrscher-
familie, wie etwa dem hethitischen Anwärter auf den ägyp-
tischen Königsthron in der Zeit der religiösen Wirren nach
dem Tode Amenophis* IV. spricht, sie ohne weiteres als
Indogermanen hinzustellen.^)
Die Zeit der Herrschaft der Dynastie Subbiluliumas, in
dem wir vielleicht einen der großen orientalischen Eroberer
sehen dürfen, ist schon heute die uns am besten bekannte
Epoche der hethitischen Geschichte. Wir können das stete
Anwachsen der Macht der Hethiter gut verfolgen. Einmal
ihr Vordringen in das unter ägyptischer Botmäßigkeit ste-
hende Syrien: den Ägyptern wird allmählich der ganze
nördliche Teil des Landes entrissen, wobei sich die Hethiter
die Unterstützung der hier ansässigen, der ägyptischen Ober-
herrschaft überdrüssigen Amoriter und anderer, erst damals
aus der Wüste gegen das syrische Fruchtland vordringender
Semiten zu gewinnen verstehen, und in den ersten Jahrzehnten
des 13. Jahrhunderts unter Ramses II. müssen die Ägypter so-
gar einen Freundschaftsvertrag mit den Hethitern abschließen,
durch den Ägypten, wenn auch in ihm eine Grenzfestsetzung
in Syrien wohl absichtlich nicht erwähnt ist, wenigstens
stillschweigend die hethitischen Eroberungen in Syrien an-
erkennt.^) Nicht ganz so erfolgreich waren die Anstrengungen
^) Winckler, Vorderasien, S. 74 sieht in der Dynastie eine das
Chattiland überschwemmende neue Erobererschicht; seine Gedanken
nähern sich somit nur der oben angeführten Vermutung und vertreten
auch sonst ganz andere allgemeine Grundsätze.
•) Dies tut z. B. Hrozny a. a. O. S. 45; sehr viel vorsichtiger
äußert sich Eduard Meyer, Mitt. S. 15.
*) Wir haben uns leider gewöhnt, veranlaßt durch das bisherige
Vorliegen von Nachrichten vor allem von ägyptischer Seite, all diese
Vorgänge zu sehr durch die ägyptische Brille zu sehen; so spricht z. B.
sogar noch Eduard Meyer S. 11 von dem „großen Siege" Ramses' II.
über die Hethiter bei Kadesch (ähnlich King a. a. O. S. 235), obwohl
der Ägypterkönig sein strategisches Ziel, die Einnahme dieser Stadt,
15»
224 Walter Otto,
der Hethiter, sich Mesopotamiens zu bemächtigen: die Beu-
gung des mächtigen Mitannireiches unter hethitische Ober-
hoheit ist zwar noch Subbiluliuma gelungen; dagegen hat
Chattusil II. die Einmischung in die inneren Verhältnisse
Babyloniens zwar versucht, aber nicht erfolgreich durch-
führen können. Anders als nach dem Osten können wir
leider die Ausbreitung des Reiches nach dem Westen in
Kleinasien noch nicht genauer feststellen (s. vorher S. 208);
man darf aber wohl annehmen, daß gerade in der Zeit des
Großstaates die zum Reichssystem gehörigen Staaten fester
zusammengefügt sein werden, dieses gewisse Abstreifen des
alten Lehnsstaatcharakters wohl zugleich Anlaß wie Folge
der äußeren Machtausdehnung. Sowohl bei dem Auftreten
der Hethiter in Mesopotamien wie bei dem in Syrien können
wir übrigens beobachten, daß sie ihre großen Erfolge nicht
allein der Waffengewalt, sondern auch vielfach ihrer ge-
schickten Diplomatie zu verdanken gehabt haben. i) Eine Dar-
stellung all dieser Erfolge im einzelnen unterbleibt freilich
gerade in diesem Augenblick besser; können wir doch er-
warten, binnen kurzem durch die Veröffentlichung der Ar-
chivfunde von Boghazköi eingehendste Angaben hierüber zu
erhalten, die vielleicht in vielem unsere bisherigen Auffas-
sungen umstürzend beeinflussen können.^)
Hoffentlich erhalten wir durch jene Urkunden auch
authentisches Material über den Nieder- und den Untergang
des hethitischen Großreiches. Vorläufig sind wir hierfür mehr
oder weniger auf Vermutungen angewiesen; Thronwirren und
nicht erreicht und sich sogar hat zurückziehen müssen (Breasted-
Ranke, Gesch. Ägypt. S. 337 urteilt hier richtiger). Auf jeden Fall
muß man bei dem hethitisch-ägyptischen Freundschaftsvertrage in
Betracht ziehen, daß er allen ägyptischen Hoffnungen auf ein großes
asiatisches Reich endgültig ein Ende gemacht hat, mögen auch viel-
leicht nicht alle hethitischen Erwartungen durch ihn erfüllt worden sein.
^) S. hierüber außer den Angaben Wincklers. Mitt. S. 18 ff.
auch jetzt King a, a. O. S. 233 ff. Korrekturzusatz: Vgl. auch die von
Bohl a. a. O. herausgegebenen Urkunden in akkadischer Sprache.
2) Der Versuch, den King a. a. O. S. 239 f. gemacht hat, schon
jetzt den allgemeinen Charakter dieser hethitischen Urkunden zu be-
stimmen, sie als einen Beleg von „greatcr dignity and self-respect"
gegenüber etwa den ägyptischen hinzustellen, erscheint mir voreilig,
da wir bisher kaum den 1000. Teil von ihnen kennen.
Die Hethiter. 225
Aufstände scheinen auch hier schwächend gewirkt zu haben
(s. z. B. Winckler, Mitt. S. 19 u. 32). Die Wiedererstarkung
Assyriens hat zunächst wohl nur die Aspirationen der He-
thiter auf Mesopotamien zunichte gemacht, aber allmählich
wird sie auch direkt bedrohend gewirkt haben. Den Unter-
gang haben jedoch augenscheinlich die großen Völkerbewe-
gungen herbeigeführt, die die Welt der Ägäis, sowie über-
haupt den Osten des Mittelmeerbeckens in der 2. Hälfte des
2. Jahrtausends v. Chr. gewaltig erschüttert haben. Welches
der damals sich neue Sitze suchenden Wandervölker dem
Hethiterreiche den Todesstoß versetzt hat, wissen wir bisher
nicht. Nilsson (Gott. Gelehrt. Anz. 1914, S. 602) ist neuer-
dings wieder speziell für die Phryger eingetreten; er stützt
sich hierbei auf den von dem Assyrerkönig Tiglatpilesar I.
zurückgeschlagenen Einbruch des Volkes der Muski in
Kommagene, die er im Anschluß an eine vielfach angenom-
mene Hypothese Wincklers^) als Phryger auffaßt und von
denen er annimmt, daß sie am Ende des 12. Jahrhunderts
über Kleinasien bis an den Euphrat vorgedrungen seien.
Der Hypothese Wincklers stehen jedoch sehr viel größere
Bedenken entgegen als Nilsson zu wissen scheint^), und die
alte Deutung der Muski als die Moscher im Süden des
Kaukasus erscheint mir immer noch wahrscheinlicher zu
sein.^) Da wir diese tatsächlich später in dem Gebiet des
alten Hethiterreiches antreffen, könnte man sogar geneigt
sein, in ihnen die Stürzet des Hethiterreiches zu sehen, aber
bei den vielerlei Völkerscharen, die um 1200 Kleinasien
durchzogen haben dürften, kann auch sehr wohl nicht nur
ein Volk, sondern eine ganze Reihe zum Sturz des Hethiter-
reiches beigetragen haben*); gerade der bekannte Ansturm
^) S. Altorient. Forsch., 2. Reihe, I, 3 und bei E. Schrader, Die
Keilinschr. u. d. Alt. Testam.s, S. 68 u. 74.
2) Auf das einzelne vermag ich hier nicht einzugehen; was Körte,
Gordion, S. 9 ff. als Bestätigung der Wincklerschen Hypothese bei-
bringt, ist nicht stichhaltig.
^) Auch King a. a. 0. S. 241 setzt Phryger und Muski nicht
gleich.
*) Es sei hier an die vielen Völkernamen erinnert, die uns in den
ägyptischen Inschriften Merneptahs und Ramses' HI. als vereint
gegen Ägypten anstürmend genannt werden.
226 Walter Otto,
der „Nordvölker" gegen Ägypten in dieser Zeit zeigt uns,
wie viele Völker damals vereint auf die Wanderung gezogen
sind. Das Erscheinen dieser „Nordvölker" in Syrien und
an der Ostgrenze Ägyptens um 1190 v. Chr. bietet uns übri-
gens wenigstens einen ziemlich sicheren terminus ante quem
für den Untergang des hethitischen Großreiches. Denn da
diese Völker trotz der ihre Landwanderung begleitenden
Flotte nicht alle von Übersee gekommen, sondern zum Teil
auch gerade mit Kleinasien in Zusammenhang zu bringen
sind^), so ist ihr Wanderzug von Kleinasien nach Syrien
eigentlich nur ganz verständlich, wenn ihnen kein Hindernis
mehr in dem ja gerade die Eingänge nach Syrien beherr-
schenden Hethiterreiche entgegengestanden hat; daß erst sie
dieses gestürzt hätten, ist damit natürlich nicht gesagt. 2) Auf
die Zeit um 1200 v. Chr. als die Zeit der Vernichtung der
Hethitermacht werden wir übrigens auch dadurch geführt,
daß uns nur etwa bis auf diese Zeit hethitische Großkönige
bekannt geworden sind.
Inwieweit das Einzelvolk der Hethiter zugleich mit dem
Zusammenbruch des großen Reiches aus Kleinasien verdrängt
worden ist, vermögen wir vorläufig noch nicht zu sagen^);
immerhin besitzen wir für die Folgezeit von seinem Fort-
bestehen als politisches Gebilde nur Nachrichten für Syrien.
Hier scheint es als solches — ethnographisch ist alles noch
ganz unsicher*) — sich vielleicht zunächst nur im Nord-
osten, in Karkemisch am Euphrat, als letzter Zufluchtsstätte
1) Dies ist immerhin den Aufstellungen von A. Fick (zuletzt
wieder Zeitschr. f. vergl. Sprachforsch. XLVII [1915], S. 170 ff.) über
diese Nordvölker zuzugeben.
») Nilsson a. a. O. faßt freilich die Seevölker zu sehr als eine Ein-
heit von Haus aus, wenn er behauptet, sie könnten den Weg über
den Halys nicht genommen haben und kämen daher als Stürzer des
Hethiterreiches nicht in Betracht.
8) King a. a. O. S. 210, 2 und S. 241 spricht von einer mit der
Vernichtung des Reiches zusammenhängenden Südwanderung der
Hethiter durch die kleinasiatischen Pässe nach Nordsyrien, aber einen
Beweis erbringt er hierfür nicht.
*) Hier gilt es, die Namen der nordsyrischen Dynasten zu prüfen
und die sich dann ergebenden hethitischen Eigennamen — z. B. auch
der alte Königsname Subbiluliuma begegnet uns hier als Herrscher-
name — mit aller Vorsicht zu verwenden; Jensens (Zeitschr. Deutsch.
Die Hethiter, 227
gehalten zu haben, um dann von hier aus in Syrien allmählich
wieder zu größerer Macht zu gelangen; diese hat es jedoch
gegenüber den nach Westen vordringenden Assyrern nicht zu
behaupten vermocht, sondern ist ihnen erlegen, Karkemisch
am spätesten im Jahre 717 v. Chr. Seit den für ihre Zeit
grundlegenden Zusammenstellungen von Delitzsch (Wo lag
das Paradies? S. 269) über den Gebrauch des Namens des
Landes Chatti in assyrischen Inschriften, welche von Zügen
der Assyrerkönige nach Syrien handeln, Zusammenstellungen,
wonach dieser Name von dem Reiche von Karkemisch aus-
gehend allmählich für ganz Nordsyrien, für das „Westland"
gebraucht worden ist, ist bisher für die Geschichte der
Hethiter in Nordsyrien nicht viel geschehen, sie ist noch
ungeschrieben.
Aber nicht nur für die politische Geschichte der Hethiter
ist noch viel zu tun, sondern trotz des Buches von Eduard
Meyer auch noch viel für die Erforschung ihrer Kultur.
Diese Kultur erweist sich trotz erheblicher Beeinflussung
durch Babylonien und Ägypten immer mehr als ein Gebilde
von starker Eigenart, und sie hat, obwohl sie infolge des
Unterganges des Großreiches nicht voll ausreifen konnte,
eine nicht unbedeutende Höhe erreicht, vor allem auf dem
Gebiete der Architektur.^) Sie ist auch durch den Reichs-
untergang nicht ganz gebrochen worden, vielmehr hat auch
nach ihm ihr Einfluß nach außen noch fortgedauert, was
uns deutlich im assyrischen, aramäischen und sogar im
griechischen Kulturkreise entgegentritt.^) Bei der Erfor-
schung dieser Kultur gilt es jedoch jetzt vor allem anders
als bisher den Versuch zu wagen, das speziell Hethitische
klar von dem allgemein ,, Kleinasiatischen" zu sondern (s.
auch vorher S. 195); dann wird es wohl auch eher möglich
sein, neben der Frage nach den babylonischen und ägypti-
Morgenl. Gesellsch. XLVIII [1894[, S. 237) prinzipielle Zweifel gegen
solche Schlüsse sind zu weitgehend.
^) Die verschiedenen Stadt- und „Königsburg"anlagen, auf die
auch Eduard Meyer des öfteren hinweist, wird man wohl später auch
bei der Feststellung der politischen Entwicklung verwerten dürfen.
«) S. hierfür Angaben bei Eduard Meyer S. 17, 24, 35, 42, 48,
62 ff., 68, 92 ff., 113, 117 ff., 122.
228 Walter Otto, Die Hethiter.
sehen Einflüssen auf die hethitische Kultur, für die bereits
Eduard Meyer Grundlegendes geleistet hat^), auch die nach
eventuellen indogermanischen Einwirkungen zu beant-
worten. Aber auch gerade dieses Problem darf man erst in
Angriff nehmen, wenn wir das neue sprachliche Material gut
zurecht gemacht zur Verfügung und die Frage nach dem
Indogermanentum der Hethiter endgültig gelöst haben.
Überhaupt wird sich ja erst nach dem Erschließen der ein-
heimischen schriftlichen Überlieferung ergeben, inwieweit all
das, was wir bisher aus der schriftlosen Tradition erschlossen
haben, zu Recht besteht. Die hethitische Frage kann also,
da hier einmal eine nachträgliche Nachprüfung der Verwer-
tung der Denkmäler durch beschriftetes Material bald mög-
lich erscheint, auch methodologisch von großer Bedeutung
werden.
*) Eduard Meyer führt auf ägyptischen Einfluß zurück z. B. die
Sitte der Grabstelen, auf denen der Tote beim Mahle sitzend dar-
gestellt ist (S. 36 ff,), ferner die Konzeption religiöser Bilder wie des
Weltbildes (S. 115 ff.), ein religiöses Symbol wie die geflügelte Sonnen-
scheibe (S. 29 f.; bei ihm macht sich auch zugleich der babylonische
Einfluß bemerkbar); die Sphinx (S. 24 ff.), die Verkleidung der Wände
mit Steinplatten, die mit Reliefs geschmückt sind (S. 62); zweifelnd
steht er zunächst dem ägyptischen Einfluß auf die hethitische Hiero-
glyphenschrift gegenüber (S. 42 ff.). Der babylonische Einfluß macht
sich natürlich besonders kennzeichnend in der Annahme der Keilschrift
bemerkbar (S. 24), er tritt uns dann aber auch deutlich entgegen in
der Kunst (Siegel S. 44 ff., 55, 144 ff.) und speziell gerade in Darstel-
lungen religiösen Charakters (s. noch S. 28, 74, 106). Dagegen ist
der Versuch, den Weidner, Studien zum Kalender der Hethiter und
Babylonier {Babyloniaca VI, S. 164 ff.), unternommen hat, auch im
hethitischen Kalender babylonische Einflüsse festzustellen, völlig
mißlungen, da schon die Grundlage, die Zurückführung der verwerteten
Kalenderangaben auf babylonische bzw. hethitische Astronomen, ver-
fehlt ist, s. Klauber und Landsberger a. a. 0. S. 61 ff.
Eine bisher unbekannte Beschreibung
Rußlands durch Heinrich von Staden.
Von
Max Bär.
Im Kgl. Staatsarchive zu Hannover wird eine Hand-
schrift des 16. Jahrhunderts verwahrt, welche eine von einem
gewissen Heinrich von Staden verfaßte Beschreibung
Rußlands zur Zeit des Großfürsten Iwans des Schrecklichen
enthält. Vor nahezu zwei Jahrzehnten habe ich von dieser
überaus wichtigen Quelle Abschrift genommen. Zu einer
Verwertung aber bin ich über anderen Arbeiten nicht ge-
langt. Jetzt aber darf nicht nur ein wissenschaftliches, son-
dern sogar ein allgemeines Interesse für jene Beschreibung
Rußlands, dessen Verhältnisse heute noch vielfach dieselben
sind wie im 16. Jahrhundert, vorausgesetzt werden.
Um im folgenden einen Überblick über den Inhalt der
Beschreibung, über ihren Verfasser und über die für ihre
Niederschrift maßgebende Veranlassung zu geben, werde ich
zunächst den historischen Hintergrund durch eine kurze
Erörterung der Verhältnisse zur Zeit Iwans des Schreck-
lichen zeichnen. Ich werde dann weiter flüchtig die Über-
lieferungen streifen, welche dem Abendlande die Kunde Ruß-
lands vermittelt haben, um der Beschreibung Stadens ihren
wissenschaftlichen Platz anzuweisen. Hierauf wird ein Über-
blick über die Beschreibung selbst und schUeßHch über ihre
politische Bedeutung folgen. ^'^0^
Die Regierung des Großfürsten Iwans IV. Wassiliewitsch,
dem die Geschichte den Namen des Schrecklichen gegeben
230 Max Bär,
hat, füllte die Zeit von 1533 — 1584. Iwan war erst 3 Jahre
alt, als sein Vater Wassili im Jahre 1533 starb. Seine Mutter
Helena Glinski führte zunächst die Regierung unter Bei-
stand eines Bojarenrates, später, nach ihrem Tode, dieser
allein unter wechselndem Einfluß der Fürsten Schuiski und
der Familie Glinski.
f Mit seinem 17. Lebensjahre übernahm Iwan selbst, un-
erzogen und in grausam sich äußernden Leidenschaften auf-
gewachsen, die Regierung und vermählte sich mit Anastasia
Romanowna Sacharin. Aber auch jetzt noch waltete der
Einfluß seiner mütterlichen Verwandten, der Glinski, vor,
bis eine Reihe erschütternder Ereignisse einen Wechsel her-
beiführte. Drei gewaltige Feuersbrünste verwüsteten 1547
Moskau. Der Palast des Zaren verbrannte, er selbst geriet
in äußerste Lebensgefahr. Die Schrecken jener Tage boten
zwei neuen Männern, dem Popen Silvester und Alexei Fedo-
row Adaschew, die Möglichkeit, die Seele des jungen Zaren
ihrem Einfluß zu erschließen. In den 13 Jahren dieses ihres
Einflusses, dessen Fesseln sich Iwan nicht zu entziehen ver-
mochte, war die Regierung Rußlands besser als je vorher:
nach außen glänzende Erfolge (vor allem die Eroberung
Kasans und der Krieg gegen Livland) und die Anfänge einer
Reform im Innern. Da starb im August 1560 die Zarin
Anastasia, und der Gegensatz, in den Silvester und Ada-
schew in den letzten Jahren zu dieser getreten waren, ver-
anlaßte nun den seit lange erbitterten Iwan zur Verbannung
seiner Leiter. Um so schlimmer wurde nach der bisherigen
Zügelung der Rückschlag, als nach Beseitigung der lästigen
Sittenrichter keinerlei Schranken mehr dem bösen Willen
und den noch schlimmeren sinnlichen Trieben des Zaren sich
entgegensetzten. Es gab kein Laster, dem er in der Folge-
zeit nicht gefrönt hätte. Denn nachdem er die Bande ab-
geworfen, die ihn fesselten, traten alle die zurückgehaltenen
bösen Triebe mit einer Gewalt hervor, die ihn als den zeigten,
der er war, als den bösartigsten Tyrannen, der je auf einem
Throne gesessen hat.
Um vollständig frei und sicher seine Grausamkeiten
ausführen zu können, entschloß sich Iwan, eine Maßregel zur
Ausführung zu bringen, die ihresgleichen weder in alter noch
Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands etc. 231
neuer Zeit gefunden hat. Das war die im Februar 1565 er-
folgte Einrichtung einer großen Leibwache, die Gründung
der sog. Opritschnina und Semschtschina oder, wie Heinrich
von Staden sie nennt: der Aprisna und Semsky. Er sonderte
nämlich aus dem Gesamtreich eine Reihe von Städten und
bestimmte Straßen Moskaus aus und erklärte dieses Gebiet
für sein besonderes Eigentum. Das war die Opritschnina,
das Ausgesonderte, während das übrige Rußland unter dem
Namen Semschtschina, d. h. Landschaft, der Verwaltung
des Bojarenrates überlassen blieb. Gleichzeitig richtete er
die Leibwache ein, 6000 Mann mit Weib und Kind wählte
er dazu aus, die mit Gütern ausgestattet wurden, die zur
Opritschnina gehörten. Die früheren Eigentümer, 12000
Familien, wurden von Haus und Hof ohne Urteil und Spruch
vertrieben. Das Schlimmste aber war, daß es, wie sich bald
zeigte, gegen die Opritschniks kein Recht gab. Die ganze
Semschtschina war ihnen zur Plünderung überwiesen; ihre
Abzeichen, Axt, Hundekopf und Besen, setzten alles in
Schrecken. Mit Rauben, Plündern, Martern und Hinrich-
tungen selbst der größten Würdenträger waren die nächsten
Jahre angefüllt. Die Angst vor Verschwörungen ließ den
schrecklichen Fürsten immer neue Opfer seiner Grausamkeit
finden. Das schrecklichste Gericht sollte im Januar 1570
das seit lange von ihm gehaßte mächtige Nowgorod erfahren.
Damit niemand die Stadt verlassen könne, waren rings an
den Ausgängen und Straßen Schlagbäume errichtet. Eine
vorausgeschickte Schar von Opritschniks versiegelte die
Türen von Kirchen und Klöstern, die Geschäftsräume der
vornehmsten Beamten; ein Teil der Bevölkerung wurde in
Ketten gelegt. Am 6. Januar traf der Zar selbst vor Now-
gorod ein. Hier wurden alle die Mönche, welche eine ihnen
auferlegte Schätzung nicht gezahlt, mit Keulen erschlagen.
Dann zog der Zar in Nowgorod ein, ließ die Stadt plündern
und ein 6 Wochen dauerndes Gericht halten, dem fast die
gesamte Bevölkerung der Stadt zum Opfer fiel. Täglich
wurden viele hundert Menschen jedes Alters und Geschlechts
hingerichtet, ersäuft, gepfählt, verbrannt, zu Tode gemartert.
Für 1505 Menschen, die der Zar teils selbst umgebracht,
teils selbst verurteilt hatte, ließ er später Seelenmessen im
232 Max Bär,
Cyrilluskloster zu Bjelosero halten. Der glaubhafte Pleskauer
Chronist spricht von 60000 Menschen, die zu Nowgorod ge-
tötet wurden. Aber die Mordlust Iwans war noch nicht ge-
stillt. Über Pskow, welches wie durch ein Wunder dem
gleichen Schicksal entging, kehrte er nach Moskau zurück
und stellte dort durch eine mehrmonatige Untersuchung und
durch die Folter die Unterlagen zur Verurteilung neuer an-
geblicher Verräter zusammen. Auf dem Marktplatz in Mos-
kau erfolgte dann unter den Augen der zusammengetriebenen
Bevölkerung die martervolle Hinrichtung von 120 Opfern.
Als erster fiel der Kanzler Wiskowatz, nachdem einige frühere
Günstlinge des Zaren bereits auf der Folter gestorben waren.
Die Kunde von den Verhältnissen Rußlands ist dem
Abendlande erst verhältnismäßig spät vermittelt worden,
und man kann wohl sagen, daß Rußland für unsere Kenntnis
eigentlich erst im 16. Jahrhundert entdeckt worden ist, nicht
zum wenigsten aus dem Grunde, weil in ältester Zeit poli-
tische Beziehungen zu jenem Lande überhaupt nicht statt-
fanden. Den Anfang zu Gesandtschaftsbeschickungen und
Verhandlungen zwischen dem russischen und kaiserlichen
Hofe hat erst der Kaiser Friedrich III. in den Jahren 1486
und 1489 gemacht. Die Berichte dieser und anderer Ge-
sandtschaften sind entweder überhaupt nicht mehr vorhan-
den oder enthalten nur das sachlich Wichtige ohne kultur-
geschichtlich bedeutende Nebenausführungen oder doch
solche nur in geringem Maße. Erst der Freiherr Sigmund
von Herberstein, welcher 1517 und 1526 als kaiserlicher
Gesandter in Rußland war, hat daraus Veranlassung zu
einer umfangreichen und klassischen Beschreibung jenes
Landes genommen, die als rerum Moscoviticarum Commen-
tarii im 16. Jahrhundert verschiedene Male gedruckt wor-
den sind. Durch dieses Werk wurde Herberstein nicht nur
für das Ausland, sondern für Rußland selbst die wichtigste
und reichste Quelle zur Kenntnis seiner alten Verfassung,
Lebensart und Gebräuche, ja recht eigentlich der Entdecker
Rußlands. Herbersteins Werk, das 1549 zum erstenmal ge-
druckt wurde, konnte natürlich nur die Zeit unter Iwans
des Schrecklichen Vater Wassili in Betracht ziehen.
Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands etc. 233
Die Schreckenszeit des Sohnes Iwan behandelten dann
in einem Sendschreiben die beiden livländischen Edelleute
Eiert Kruse und Johann Taube. Beide wurden 1560 in der
Schlacht bei Ermes, durch welche Iwan die letzte Kraft des
livländischen Ritterstaates brach, von den Russen gefangen
und nach Moskau geführt, wo beide 1567 in zarische Dienste
traten. Hier blieben sie einige Jahre und spielten eine zweifel-
hafte Rolle, indem sie ihre Landsleute, die Livländer, zur
Unterwerfung unter russische Herrschaft zu bewegen suchten.
Als der Herzog Gotthart Kettler von Kurland sich nicht für
ihre Pläne gewinnen ließ, veranlaßten sie, daß der Großfürst
den Herzog Magnus von Holstein 1570 zum Könige von
Livland erklärte, in dessen Gefolge sie nun eine glänzende
Rolle spielten, bis sie ihn, da sie an der Dauer seines Reiches
zu zweifeln anfingen, verließen und sich 1571 an den König
Sigismund von Polen verkauften. Beide haben dann 1572
sich wegen ihres früheren Verrates gegen Livland bei dem
Herzoge Gotthart Kettler rechtfertigen oder wenigstens ihre
Handlungsweise durch eine Schilderung von der Grausam-
keit des Großfürsten mildern wollen. Dieses Schreiben be-
findet sich im Staatsarchive zu Königsberg unter dem Titel:
Schreiben der beiden 6 Jahre zu Moskau gefangen gehaltenen
livländischen Edelleute Johann Taube und Eiert Kruse an
den Herzog von Kurland Gotthard Kettler, worin sie die
Grausamkeiten des Zaren Iwan Wassiljewitsch schildern.
1572. Das Schriftstück ist 1816 durch Ewers und Engelhard
herausgegeben worden und bietet eine sehr wichtige Quelle
zur Geschichte Iwans des Schrecklichen. Bezeichnenderweise
folgt am Schlüsse des ganzen Schreibens eine Aufforderung
an Iwans Feinde, die gegenwärtige Schwäche seines Reiches
zu benutzen und sich die in diesem Sendschreiben über ihn
gegebenen Nachrichten zunutze zu machen.
Ein sehr bedeutendes Werk über das Rußland des
16. Jahrhunderts verdanken wir endlich dem Jesuiten An-
tonio Possevino, der, 1534 zu Mantua geboren, in den Jahren
1581 und 1582 vom Papste zweimal nach Rußland geschickt
wurde. Die Sendungen hatten außer der Zustandebringung
eines Friedens mit Polen und dem Versuche, den Groß-
fürsten zu einem Kriege gegen die Türken aufzumuntern,
234 Max Bär,
besonders die Bemühung zum Zweck, den Großfürsten zur
Annahme der römisch-katholischen Religion zu vermögen.
Possevinos Werk De rebus Moscoviticis ist 1586 zum ersten-
mal gedruckt worden und erlebte 1587 zwei und später noch
einige Auflagen.
Zwischen die soeben genannten Beschreibungen Ruß-
lands von Herberstein, Kruse-Taube und Possevino schiebt
sich nun die hier behandelte Beschreibung des Heinrich
von Staden ein. An allgemeiner Bedeutung und an Um-
fang steht sie zurück hinter Herberstein und Possevino,
überragt aber nach beiden Richtungen das Sendschreiben
der beiden livländischen Edelleute.
Die Beschreibung Heinrichs von Staden hat, worauf ich
noch weiterhin zu sprechen komme, einen sehr bedeutenden
politischen Hintergrund dadurch, daß der Verfasser sie dem
Kaiser überreicht hat. Es ist daher höchst verwunderlich,
daß die Handschrift Stadens — sie enthält 188 reich be-
schriebene Folioseiten — an einem Orte sich befindet, wo
sie niemand vermuten würde: im Kgl. Staatsarchive zu
Hannover. Nach Hannover aber ist sie aus einem Orte
gekommen, wo man sie noch weniger gesucht haben würde,
aus Stade. So hat die Handschrift gewissermaßen ihre Ge-
schichte. In Stade nämlich wurde bis zum Jahre 1869 außer
den alten bremen-verdenschen Archiven und außer dem
während der schwedischen Herrschaft erwachsenen schwe-
dischen Archive von jener Zeit her und in diesem selbst
eine größere Gruppe von Archivalien aufbewahrt, die man
als das „Stader Reichsarchiv" bezeichnet hat und zwar
deshalb, weil man wohl sah, daß die darin enthaltenen
Akten und Handschriften sich nicht auf das Herzogtum
Bremen-Verden bezogen, sondern auf alle möglichen Orte
und Gegenden und Gegenstände des weiten deutschen
Reiches. Über dieses Stader Reichsarchiv habe ich fest-
stellen können, daß es nichts anderes ist, als das von dem
Schweden Alexander Erskein während des Dreißigjährigen
Krieges in ganz Deutschland, namentlich aber in Erfurt,
Prag und Pommern zusammengebrachte, teilweise zusammen-
geraubte briefschaftliche Material. Alexander Erskein wurde,
Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands etc. 235
als der König Gustav Adolf den deutschen Boden betrat,
Assistenzrat und Kriegskommissar und später Kriegsrat.
Nach dem Frieden wurde er Erbkämmerer des Herzogtums
Bremen und erbaute in dem Dorfe Schwinge ein Schloß,
das er Erskinschwinge nannte. Erskein hatte, wie er selbst
einem Zeitgenossen anvertraute, die Gewohnheit, in jedem
Orte, wohin ihn der Krieg führte, zuerst in das Archiv, in
die Klöster und Jesuitenkollegien zu gehen und dort wich-
tigere Briefschaften einzupacken, um sie in Mußestunden
zu lesen. Auf diese Weise, sagt er selbst, habe er viele den
Schweden gar nützliche Arcana ergründet. Eine andere
Nachricht besagt, daß Erskein namentlich bei der Erstür-
mung der Prager Kleinseite viel wichtiges Material erbeutet
habe, das er in seinem Hause habe aufstellen lassen. Die
Richtigkeit dieser Nachricht wird durch Erskein selbst ver-
bürgt, wenn er sich dahin ausließ: „gestalt er sotane Händel
aus den zu Präge überkommenen Akten ersehen und in
Händen habe". Es ist kein Zweifel, daß Erskein auch die
ihm naturgemäß hochinteressante Beschreibung Stadens über
Rußland aus dem Prager Archive entnommen hat.
Über die Persönlichkeit Heinrich von Stadens, der einer
angesehenen Bürgerfamilie im Städtchen Ahlen in West-
falen entstammte, kann ich keinen besseren sprechen lassen
als Heinrich von Staden selbst. In einem der vier Abschnitte
seiner Niederschrift nämlich, und zwar in dem letzten, be-
handelt er seine persönlichen Erlebnisse in Rußland und
als Einführung dazu seinen Lebensgang. Die Einführung
lautet:
,,Ich Heinrich von Staden bin ein Burgerssohn geboren
in der Stadt Alen, welche ligt im Stift Munster, eine Meilen
von Becken, 3 Meilen von der Stadt Munster, eine Meile
von Hane, 2 Meil von Wahrendorf. In der Stat Alen und
anderen umbligenden Steten wohnen viel meiner Freunt-
schaft, die von Staden. Mein Vater ist gewesen ein schlechter
guter frommer ehrlicher Mann, genant Gide Walter von
Staden, darumb das mein Vetter auch Walter von Staden
der Junger geheissen hat, der ist izunder Burgemeister in
Alen. Es ist aber gedachter mein Vater seliger in Friede,
lachendem Mute und frölichem Angesichte in Gotte dem
236 Max Bär,
Almechtigen entschlafen. Meine Mutter hat geheissen Kata-
rina Ossenbach, die ist in der Feste gestorben. Sie haben
vor der Ostpforten, wan man auf der rechten Hant in Stat
gehet, in dem ersten Hause gewohnet, seind 3 Heuser in
einander gebauwet, darinnen sich meine Eltern seligen, wie
frommen christlichen Eheleuten gezimet, zusteht und ge-
buret, vorhalten. Izo wohnet aber meine Schwester in dem-
selbigen Hause und hat zur Ehe einen von Adel, Johann von
Galen genant. Mein Bruder, Her Bernhardus von Staden,
ist Pastor in Untrop und Vikarius in Alen.
Do ich nun in Alen soweit gestudieret hatte, daß ich
mich zu einem Officio zu begeben in Willens mir ein Prister
zu werden angemasset, so tregt sich gleichermassen ein un-
vorsehnlicher Unfall zu, daß man mich bezuchtigte, ich
solte einem Studenten in der Schule mit einer Pfrime durch
einen Arm gestochen haben, deshalben sich unsere Eltern
mit Rechte kegen einander einlassen. Komt indem mein
Vetter Steffan Hovener aus Liflande, ein Burger aus Riga,
der sprach zu mir: Vetter, reise mit mir nach Liflande, so
bleibestu zufrieden. Da er mit mir aus der Pforten kumpt,
da war mein Schwager Franz Baurman, ein Ratsherr, bei
uns, der nam einen Dornstrauch und sprach: ich muß den
Weg zu egen, daß ihn Heinrich von Staden nicht balde
wiederfinden kann.
Als ich nun gen Lübeck in meines Vettern Hans Höve-
ners Haus kamb, schicket er mich mit einem Schaubkarn
in den Wall; hir muste ich schauben und die gesazten Zei-
chen alle Abende bringen, darmit, wann er Bezahlung for-
dert, daran nichts feilete. Nach 6 Wochen sigelte ich mit
meinem Vettern nach Riga in Liflande. Als ich zu Philips
Glandorf in Dinst komme, der war gestrenge und ein Herre
des Rats, da kam ich wieder an den Wall zu schauben. Hir
wart es mir ganz säur. Der Wall muste des Grosfurschten
halben in der Eile fertig sein, da wart der Zeichengeber
krank. Er vortrauwet mir, die Zeichen zu geben. Da vor-
sorgete ich mich mit so viel Zeichen, das ich von dem Wall-
schauben darnach loß wurde. Da ging ich auf dem Wall
hin und wider spaziren, besach den Wall. Also lernete ich,
wie ein Wall muß gelegt oder gebauwet werden.
Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands etc. 237
Mein Vetter Steffan Hövener sprach zu mir: Du tust
kein gut. Da liff ich hinweg und komme in die Stadt Wol-
mar. Hier komme ich zu dem Amtmann Heinrich Muller
in Dinst; hier muste ich lernen liflendische Hovesgebrauch ;
ich wart oftern mit Ruten gestrichen, laufe derhalben weg
und komme in den Hof Wolgarten. Die Edelfrau fragete
mich: kanstu lesen und schreiben? Ich antwortetet ich kan
latin und deutsch lesen und schreiben. Der Amtman George
Junge war ihr ungetrauwe, sprich derhalben zu mir: ich will
Dir all meine Lantguter vortrauwen, die Vogte werden Dich
underweisen, sei mir getreug, ich wil Dich darnach wohl
Vorsorgen. Ich sprach : ich bin nicht mehr als 1 7 oder 1 8 Jahre
alt. Da wart ich im Hove Wolgarten, im Hove Patkul,
Mellepenn und Udren Amptman. Der Edelmann war ge-
storben, der war im Lande der reichste gewesen, Johan Bo-
korst genant. Da kam George von Hochrosen und freite
diese Witwen, nimmet sie mit sich nach Hochrosen. Da
kam ein Edelman, Johan Bokhorst Vetter aus Deutschlant,
und erbete dieselben Lantguter. Da zog ich hin und wart
ein Kaufman und komme auf das Schloß Karkus, da war
George Welsdorf Heuptman. Karkus, Heimet, Ermis, Tri-
caten, Rugien und Bortmeck gehoreten dar zur Zeit Herzog
Johan in Finlande, dem izigen Koninge in Schweden. Da
kamen vor Karkus Krigsleute mit falschen Brifen auf das
Haus, gagen Georgen Walsdorf vom Hause, hie wurden
meine Guter mir apgenommen.
Da kam ich uf Heimet; hir hilt Haus Graf Johan von
Arz, den hatte der Herzog gesezet, diese 6 Heuser zu regiren.
Dieser machte Vorbuntnis mit dem Grosfursten, wart dar-
über gefangen zu Riga mit heißen Zangen gerissen und ge-
richtet. Wie es hie zuging muste ich auch sehen. Darnach
kam ich in Walmer mit einem Pferde zum Gubernatori
Knese Alexander Bolubensky, der zog stetes mit dem pol-
nischen Krigsvolk in das Stift Dorpt und wir hilten stets
reusche Boiaren sambt ihrem Gelt und Gut gefenglich. Die
Beute ward ungleich geteilet, derowegen wolte ich nicht zu-
legen, was ich überkommen hatte. Da sie mich in die Statt
krigten, da wart ich in den Turmb gelegt und drauweten
mich zu henken. In der Kurze, da ich gesehen hatte und
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 16
238 Max Bär,
vorstund das liflendische Regiment, dardurch Lifland ver-
loren wart und sach, mit wasserlei Praktiken und Arggelistig-
keit der Grosfurschte Leifland einnahm, da maclite ich mich
auf und komme an die Grenze. Hir muste ich mich wiede-
rumb Henkens besorgen. Alle diejenigen, die dem Gros-
furschten abfallen und werden an der Grenze widerkrigen,
die werden sampt ihrer ganzen Freuntschaft umbgebracht
und die aus Liflant damals nach dem Grosfursten zihen
wolten, wurden darüber gekrigen, musten auch gehengt
werden. Izunder zihen die großen Hauß aus Lifland nach
der Moskaw und dienen dem Grosfurschten.
An der Grenze stecke ich eine Schreibfeder auf die Hut-
schnure und neme rein Papir in den Basen und eine Schwarz-
buchse, darmit, wan ich gegriffen wurde, mich konte aus-
reden. Als ich über die Grenze die Encbach komme an einen
gelegenen Orte, da schreib ich hirmit an Joachim Schröter
in der Stat Dorpte, er solte des Grosfurschten Stathalter
fragen, soferne mir der Grosfurschte wurde Underhalt geben,
so were ich gesinnet, ihme zue dienen, wo nicht, so wolte
ich nach Schweden; ich muste aber balde Antwort haben.
Der Stathalter schickete zu mir einen Boiaren Atalick Quas-
sanin mit 8 Pferden, der entpfing mich freuntlich und sprach:
alles was Du von dem Grosfursten bitten wirst, das wirt er
Dir geben. Da ich zum Stathalter Knese Michael Morosow
uf das Schloß zu Dorpte komme, der hilt sich mit Geberden
kegen mich freuntlich und srach: wiltu alhier dem Gros-
fursten dienen, so wollen wir hir Dir von wegen des Gros-
fursten Landguter geben; Du weist Liflandes Gelegenheit
und kanst ihre Sprache. Da sprach ich nein, ich will den
Grosfursten sehen. Da fragete er mich, wo ist izo der Kunig
in Polen? Ich antwortete, in Polen bin ich nie gewesen.
Da waren schon die Postpferde und ein Boiar bereit, da
kam ich in 6 Tagen auf der Post von Dorpte in die Muskaw,
das seind 200 Meilen Weges. Da wart ich auf der Gesanten
Kanzelei gebracht; hir wart ich vom Kanzeler Andre Was-
silowiz nach mancherlei Umbstende gefraget. Solches wart
dem Grosfursten von Stund an zugeschrieben. Mir wart
uf derselbigen Stund ein Pammet oder Memorialzeddel ge-
geben, darmit konte ich alle Tage anderthalb Spann oder
Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands etc. 239
Eimer Met und 4 Dennige Kostgelt auf der Jammen for-
dern und entpfangen. Es wart mir auch also balde seiden
Gewant und Tuch zu Kleidungen gegeben, darbei ein Stucke
Geldes zu Geschenk.
Da der Grosfurste in die Muskaw kam, da wart ich
vor ihn gestellet, indem als er aus der Kirchen kam und
nach dem Säle ging. Der Grosfurste lacht und sprach:
„gleba gest", bat mich mit diesen Worten zu Gaste. Da
wart mir ein Pammet oder Memorialzeddel auf Landkanzelei
gegeben, da krig ich Andre Kolopowa, der war Knese Wo-
lodmers Schazleüter, des Tochter Herzog Magnus hat, den
Hof Fesnino mit allen zugehörigen Dorfern. Da war ich
auf der hohen Schul. Der Grosfurst kante mich und ich
ihn. Da hup ich an zu studiren; ich konte schon die reusche
Sprach zimelicher Maßen."
Staden fährt dann in diesem Abschnitt fort, über die
Ränke von Kruse und Taube zu sprechen und über seine
persönlichen Beziehungen zu Kaspar Elverfeld, der sich
einer unehrlichen Handlungsweise Staden gegenüber schul-
dig machte. Ich muß überhaupt bemerken, daß Staden bei
der Erzählung seiner Geschäfte und seines Lebens in Ruß-
land eine ganze Reihe von Freunden, Bekannten und deut-
schen Dienern nennt, die ihn betrogen haben, so daß es
sich wundersam ausnimmt, daß er an anderen Stellen sich
über die Betrügereien der Russen ergeht, während doch in
seiner Beschreibung viele Deutsche, die er namhaft macht,
nicht besser sind. Die Besten werden es ja auch vielfach
nicht gewesen sein, die in das damalige Rußland gingen,
um ihr Glück zu machen, und der Deutsche wird Grund
gehabt haben, als er das Bibelwort unter seine Sprichwörter
aufnahm: Bleibe im Lande und nähre dich redlich. Weiter
erzählt Staden in diesem letzten Abschnitt, wie er nach
der Einrichtung der oben geschilderten berüchtigten Opri-
tschnina selbst Mitglied der ,,Aprisna" wurde, wie er sie
nennt, und noch weitere Erb- und Lehngüter und Höfe in
Moskau vom Großfürsten erhielt, wie er diese als abgabe-
frei weiß gestrichenen Höfe bewirtschaftete, wie ihm der
Großfürst als Auszeichnung den Namen Andre Wolodmiero-
wicz gab, wie er täglich am Hofe des Großfürsten war, es
16*
240 Max Bär,
aber ablehnte, dauernd in der nächsten gefährlichen Um-
gebung zu bleiben. Er sagt sehr richtig: ,, Welcher nahe
bei dem Großfürsten war, der verbrannte sich, und der
ferne von ihm war, der erfror." Er erzählt weiter verschie-
dene Rechtshändel, die er mit denen hatte, die ihn betrogen,
und wie er schließlich das in Rußland sehr schwierige Werk
vollbrachte, wieder aus dem Lande zu kommen.
Das ist ihm denn auch geglückt. In Deutschland fand
er einige Zeit später Aufnahme beim Pfalzgrafen Georg
Hans^) zu Lützelstein, der ihn zu Sendungen an den König
von Polen, den Deutschmeister und schließlich auch an den
Kaiser benutzte.
Den Hauptteil der Stadenschen Beschreibung, über die
Hälfte der ganzen Handschrift umfassend, bildet die eigent-
liche Beschreibung der russischen Verhältnisse und Ereig-
nisse zur Zeit Iwans und zumal aus der Zeit, als Staden in
Rußland gelebt hat, also aus den Jahren 1558 — 1572.
Staden gibt zunächst einen allerdings nicht erschöpfen-
den Überblick über die Landes- und Kriegsverfassung, dann
genauer über die verschiedenen Behörden in Moskau, wobei
er nicht unterläßt, über die Bestechlichkeit und die Unter-
schleife der Beamten sich zu verbreiten. Nichts war zu er-
reichen, keine Auskunft, kein Bescheid ohne Zahlung von
Geld. Das begann schon an den äußeren Toren der Kanz-
leien, „Auf jeder Kanzeleien oder Gerichtsstuben waren
zwene Torwechter, die machten denjenigen auf, die da Geld
gaben, die nichts zu geben hatten, lissen sie die Tore zu und
welche mit Gewalt sich wollten eindringen, die wurden mit
Gewalt mit einem Stecken einer Ellen lang auf den Kopf
geschlagen." Schlimmer noch war, daß auch die Recht-
sprechung nach Gelde ging:
,,Wann einer im ganzen Lande auch allen Stetten in
der Moskau nicht recht haben kann, so kummet er auf
1) Es ist das der bekannte fürstliche Abenteurer Georg Hans
Graf zu Veldenz, ein Schwiegersohn Gustav Wasas, der in den Jahren
1570 ff. den Plan verfolgte, Reichsadmiral einer zu gründenden Reichs-
flotte zu werden. Vgl. Höhlbaum, Die Admiralsakten des Pfalzgrafen
Georg Hans, Graf zu Veldenz, im Stadtarchiv Köln. Mitteilungen aus
dem Stadtarchiv Köln 18, S. 1—55.
Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands etc. 241
diese und dergleichen Kanzeleien eine. Wan zwene Partei-
ische zusammen kommen und der Rechtfertiger tet einen
Eit und hatte Geld, da hatte der Unrechtfertiger Macht
ohne Gelt den Rechtfertigten auf den getanen Eit zum
Kampfe fordern zu lassen. Es waren viel Kampfschieger
in der Moskau, die einen jedem dieneten mit Kampfschlahen
vor Gelt und ein jeder, der das Recht mit dem Eide gewunnen
und sein Widerpart nicht darmit zufrieden, so muste er mit
•seiner Widerpart eigener Person den Kampf schlahen oder
er hatte Macht, das er der Kampfschieger einen vor Geld
in seine Stete mieten konte. Es war allzeit also gemacht,
daß der so Recht hatte und geschworen, so muste er doch
Unrecht haben, hatte er mehr Gelt als der Gerechte, ob er
schon unrecht war, dennoch muste er Recht haben und
der Rechte Unrecht. Wann der Kampfschieger sich schlug,
so fiel der Kampfschieger, der vom anderen das meiste Gelt
entpfangen hatte, kegen seinen Widerpart in voller Rustunge
nieder zur Erden und sprach: Winouat gosni, das ist: Ich
bin schuldig. Mit diesen Worten hatte der Gerechte ver-
loren und der Ungerechte gewunnen, so der Ungerechte mehr
Geldes zu geben hatte als der Gerechte."
Abhilfe dagegen gab es nicht: „Und so einer dem Groß-
fürsten hat klagen wollen, daruf wart fleißig Acht gegeben,
der wart in den Turmb gesetzt. Hatte er Geld, so konnte
er loskommen. Hatte er keines, so pleib er sitzent, bis ihm
die Har vom Haupt bis an den Nabel wuchsen.**
„Diese Fürsten, große Bojaren im Regiment, Kanzeler,
Underschreiber, Amptleute und alle Befehlshabere, waren
alle aneinandergehangt und ineinandergeflochten, wie die
Ring an einer Ketten. Und so einer von diesen oder der-
gleichen gesundiget hatte so grop, daß er den Tot verschul-
diget, so hat der Papst^) Macht, denselbigen aus der Beutels
Hand zu nehmen und ihn frei und ledig zu lassen, und so
einer geraubet, gemordet gestolen hatte und lif mit dem
Gelt und Gut in ein Kloster, der war im Kloster so frei
als im Himmel, wenn er schone das Gelt dem Grosfurschten
aus dem Schaz gestolen oder auf Wege geraubet hatte, wel-
^) D. h. der Patriarch.
242 Max Bär,
ches in der Grosfurschten Schaz gehorent. Korzlich alle
geistliche und weltliche Herren, die ihr Gut also mit Un-
recht gewunnen, sprachen lecherlich also: Boch dal, id est:
deus dedit, Gott hat es gegeben."
Die Gründung der Opritschnina oder, wie Staden sie
übereinstimmend mit Krause und Taube nennt, der ,,Aprisna"
erzählt er ebenfalls. Nach ihm stammte der Rat dieser Grün-
dung von der Zirkassierin, der zweiten Frau Iwans.
,, Hiermit fing der Grosfurschte Knese Iwan Wassilowiz
an und erwehlet aus allen Reussen und auch aus frembden
nationibus ein sonderlich auserwelet Volk, machet also
Aprisna und Semsky. Aprisna seind gewesen die Seinen,
Semsky aber das gemeine Volk. Also fing der Grosfurschte
an und musterte eine Stadt und Gebiete nach dem andern
und welche nicht gefunden wurden in den Krigsmuster-
registern, das sie nicht gedienet hatten seinen Vorvetern
gegen den Feind von ihren Erpgutern, denen wurden ihre
Gutere apgeschrieben und einem in Aprisnai gegeben."
,, Welche Knesen und Bojaren in Aprisna genomen wor-
den, die wurden nach Geburt, nicht nach Reichtumb in gradus
vorgleichet und teten darnach den Eid, also das sie nicht
mit den Semsken wolten zu schaffen haben noch einge
Freundschaft mit ihnen machen. Es musten auch die in
Aprisna schwarze Kleider und Hute tragen und fureten an
dem Kocher, da die Flischen inne stecketen, an einem Stock
gebunden wie ein Quast oder Besen, darbei wurden die in
Aprisnai erkant."
Das Schlimmste war die Bestimmung, daß ein Mitglied
der Semsky rechtlos war gegen ein Mitglied der Aprisna.
Dann begann das ruchloseste Treiben und Morden, das je
von einem Fürsten gegen sein eigenes Volk begangen worden
ist. Ich habe oben schon die Vernichtung Nowgorods, die
wunderbare Schonung Pskows und die Hinrichtungen in
Moskau erwähnt. Ich führe diese Tatsachen nun mit Sta-
dens Worten vor:
„Es kompt der Grosfurschte wieder vor die Stadt
Großen Nauwgarten, legt sich 3 Veitweges von der Stadt,
schicket einen Krigsobersten in die Stadt mit seinem Volk;
dieser muste sein als ein Vorspeer oder Kuntschafter. Hie
Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands etc. 243
ging das Geschrei, als wolte der Grosfurschte nach Lifland
zihen und der Grosfurschte zoch in die Stadt Grosneuw-
garten in des Bischofs Hof, nimbt dem Bischof alle das
Seine. Es wurden auch die grosten Glokken abgenomen und
was ihm gefiel aus den Kirchen. Also lies der Grosfurschte
die Statt pleiben, befahl den Kaufleuten, sie solten kaufen
und verkaufen und es von seinem Krigsvolk, den Aprisnai,
wohl bezalt nemen. Hebt an und zeucht alle Tage in ein
sonderlich Kloster, treib seinen Mutwillen, liß die Muniche
rechtfertigen, deren auch viel totgeschlagen wurden. Dieser
Kloster in und außer der Stadt seind 300 und ist nicht eines
vorschonet wurden. Darnach wart die Stadt angefangen
zu plünderen und des Morgens, wan der Grosfurschte aus
dem Lager vor die Stadt kam, muste ihme der Oberste in
der Stadt entkegen reiten, darmit konte der Grosfurschte
erfahren, was in der Stat des Nachtes geschähe."
,, Dieser Jammer und Elend wehret in der Stadt 6 Wochen
lang stets aneinander. Alle Kramme und Gemacher, da Gelt
und Gut innen zu vormuten, wart vorsigelt. Der Grosfurschte
liß sich auch eigener Persone auf dem Peinhofe oder -Haus
stets alle Tage finden. In dieser Stat und Klostern muste
nichts überbleiben und alles was das Krigsvolk nicht konte
mit sich fuhren, dasselb muste ins Wasser geworfen werden
oder vorbrante und so einer der Semsken aus dem Wasser
etwas wieder holen wolte, der muste gehenkt werden."
„Darnach wurden tot geschlagen alle gefangene fremde
Nationen, der meiste Teil waren Polen, sampt Weip und
Kinderen, und sein Volk, die sich in fremder Nation Volker
vorheuratet hatten. Es wurden auch alle hohe Gebende
niedergerissen und alle schone Hofpforten sampt Treppen
und Fenstern zerhauwen; auch ezliche tausent der Burgers-
tochter von den Aprisnischen weggefurt. EtHche Semsken
kleideten sich, als gehoreten sie in Aprisna, trieben grossen
Mutwillen und Schaden, denselbigen wart nachgespuret und
totgeschlagen."
„Darnach zoch der Grosfurschte weiter fort in die
Stadt Pleskauw, fing den Handel an gleicherweis und schicket
nach der Narve und schwedischen Grenze Ladenske Ossora
Heuptleute und Krigsvolke und liß seinen Reussen ihre
244 Max Bär,
Guter nehmen und zu nichte machen, wurden ins Wasser
geworfen und ezliche vorbrandt. Es wurden auf diesen Tag
so manch Tausent geistliche und weltHche Menschen umb-
gebracht, das desgleichen in Reusland vorhin nie ist gehöret
worden. Der Grosfurschte liß diese Stat die Helfte plün-
deren, biß das er kam an den Hof da Micula wohnet."
„Dieser Micula ist Kerls, wohnet in der Stadt Pleskaw
alleine im Hofe ohne Weip und Kint, hat viel Viehe, das-
selbige gehet den ganzen Winter im Hofe auf dem Miste
under dem hellen Himmel, geret und gedeiet ihme wohl,
ist darvon reich, prophezeiet den Reussen viel zukünftige
Ding. Der Grosfurschte ging zu diesem in den Hof. Also
fing der Micula an und sprach zu dem Grosfurschten: Es
ist genung, zihe wieder heim. Der Grosfurschte gehorchet
diesem Micula und zoch von der Stat Pleskow wiederumb
nach der Slaboden Alexandri mit allem Gelt und Gut und
viel grossen Glocken und liß von Stund an bauwen in der
Slaboda eine steinerne Kirche, darin liß er, was par Gelt
war, und an die Kirchen wart die Tur gemacht, die er zu
Grossen Neuwgarten von der Kirchen mit ihm nahm. Die
Tur war gegossen mit Historien figurlich und die Glocke
wurden bei die Kirche gehangen. Nach diesem liß der Gros-
furschte Knesen Wolodimar Andrewiz im Trunk offenbar
vorgeben, das Frauwenzimmer nackent auszihen, von den
Hakenschutzen schentlich erschißen. Von seinen Boiaren
oder Knesen ist niemand überblieben."
„Der Grosfurschte zoch wieder aus der Slaboden Alex-
andri in die Muskow und liß fangen alle Befelichshaber
und Gebieter in der Semsky und alle Kanzeler. Iwan Wis-
kowat hat das Sigel in der Semsky gehabt, Mikita Funico
ist Schazherre gewesen, Iwan Bulgakow ist auf der Gelt-
kanzelei gewesen. Hie ermordet der Grosfurschte bei 130
Heupter, die alle zu raten und zu gebieten hatten im ganzen
Lande. Iwan Wiskowat wurden zum ersten Nas und Ohr
apgeschnitten, darnach die Hende apgehauben. Mikita Fu-
nico wart auf dem Markt mit den Armen an Holzer gebun-
den und mit heissem Wasser begossen und also vorbrant."
Im weiteren Verlaufe der Erzählung gibt Staden dann
eine genaue Beschreibung Moskaus vor Begründung der
Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands etc. 245
Aprisna und dann der Gebäude des Hofes Aprisna selbst,
weiterhin verbreitet er sich über die Schogenverfassung auf
dem Lande, über kirchliche und weltliche Gebräuche. Einige
eingehende Berichte gibt er ferner über die Einfälle der Tar-
taren, des krimmischen Kaisers Dewlet Girai und die voll-
ständige Einäscherung Moskaus durch sie; sehr eingehend
behandelt er eine Schlacht mit den Tartaren an der Ocka.
Die Kämpfe mit den Tartaren gaben ihm die Veranlassung,
in einem eigenen Abschnitt ein Ereignis zu erzählen, das
er nicht mit erlebt hat, weil es in die Zeit vor seiner An-
wesenheit in Rußland fiel, die Einnahme Kasans und Astra-
chans durch Iwan. Stadens Darstellung von der Eroberung
Kasans stimmt hier mit den sonstigen russischen Quellen
über diesen gewaltigen Erfolg des Jahres 1547 vollkommen
überein. Gegen den Schluß dieses Abschnitts gibt Staden
eine geographische Beschreibung der Lage und Grenzen
Rußlands, der Lebensmittelpreise und erzählt beiläufig, wie
auf den Kanzleien in Moskau mit Pflaumensteinen gerechnet
wird. Eingehend behandelt er ferner die Behandlung an-
kommender Fremder und der Gesandten.
,,Wan einer kompt an die reusche Grenze, er sei wer
er will, aber kein Jude, alsobalde wirt er gefraget, was er
begeret; spricht dann derselbig, er begere dem Grosfurschten
zu dienen, so wirt er wiederumb nach allerlei Umbstenden
gefraget. Es werden seine Birecht und Rede heimlich uf-
geschrieben vorsigelt. Uf dieselbig Stunde wirt er auf der
Post in 6 oder 7 Tagen nach der Moskau mit einem vom
Adel gefüret. In der Moskaw wirt er nach allen Umbsten-
den heimlich weitleuftig gefraget und so es übereinstimmet
mit dem, was er an der Grenze geret hat, desto mehr wirt
ihme Glauben gegeben und begnadiget. Es wirt nicht an-
gesehen seine Person, Kleider oder Adelschaft, sondern es
wirt ihme vleisig Achtung gegeben uf alle seine Rede. Es
wirt ihme auch alsobalde denselben Tag, wenn der komt,
an der Grenze Gelt gegeben zur Zehrung biß in die Moskau.
In der Moskaw wirt ihme gegeben denselbigen Tag, wenn
er kompt, ein Kostgeltzeddel. Es ist gestiftet in der Moskau
ein sonderlich Hof, in welchem gesotten und ungesotten Met
gebrauwet. Hier entpfingen alle Frembden Nationen ihr
246 Max Bär,
tegelich Kostgelt nach Laut der Zettelen, einer minder,
der ander mehr. Es wirt auch demselbigen ein Zettel ge-
geben auf die Landstuben oder Kanzelei, das der Grosfurste
ihn begnadiget hatt 100, 200, 300, 400 Setwerten Land-
gutes. So mag derselbige sich im Lande umbsehen oder
fragen, wo einer vom Adel ohne Erben gestorben oder im
Krige totgeschlagen; der Frauwen wirt etwas zum Under-
halt gegeben." . . .
,, Kommet ein Gesandter, dem wirt viel Volk entkegen
geschickt an die Grenze, die fuhren ihn einen solchen Weg
umbher, da Bauren wohnen, biß an den Ort, da der Gros-
furscht den Gesandten Audiens geben will, das er nicht
zu sehen krigt den rechten Weg und das sein Land so wüste
ist. Es wirt der Gesandte so genau bewahret sampt seinen
Dienern, das kein Auslender bei ihn kommen kann. Es
kommen oft zwene, drei Gesandten in eine Gegent, da sie
der Grosfurschte hören will, und werden so hart bewahret,
das ein Gesanter von dem anderen nicht weis. Der Gros-
furst vorhoret den einen Gesandten nicht, er weiß schon
was er dem andern, dritten und vierden zur Antwort geben
will. Also kann der Grosfurste aller umbligenden Landes-
herren und ihrer Lande Gelegenheit wissen, aber seine und
seines Landes Gelegenheit kan kein umbligender Landes-
herr recht wissen."
Auch diese letztere Erwähnung von der Täuschung der
Gesandten in Ansehung der Volksmenge stimmt mit den
sonstigen Berichten, namentlich mit Herberstein, überein.
So sehr der Weg denen, die nach Rußland in die Höhle
des Löwen hineingingen, um sich dort niederzulassen, ge-
ebnet wurde — man suchte nämlich das ganze 16. Jahr-
hundert hindurch Fremde, namentlich Gelehrte und Hand-
werker, hinzuziehen — , so schwer wurde es ihnen gemacht,
das Land zu verlassen.
„Ein Auslender kann sich nicht groß versündigen, das
er leichtlich zum Tod verurteilet wurde, alleine wan er ge-
kriget wirt, das er aus dem Lande weg will laufen; als denn
komme ihme Gott zu Hülfe, so gilt seine Kunst nicht mehr
und seine Gelt und Gut kann ihme nichtes helfen. Es ge-
schieht seltene, das sich ein Auslender understehet aus dem
Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands etc. 247
Lande zu laufen, denn der Weg ins Land ist weit und breit,
aus dem Lande aber ist der Weg ganz enge; es sei dann,
das er auf der hoclisten Schule Moskaw ausgestudiret hat,
das doch nicht mugelich ist, einer sei so gelert und geschicket,
als er immer wolle, kompt er in die Moskaw, so wirt ers
erfahren."
„D. Eliseus Bomelius kam zum Grosfurschten aus Enge-
land in der Zeit der grossen Pestilenz, überkam viel Gelt
und Gut und hatte den Beutel wohl gespicket; begerte vom
Grosfursten einen Pas, als wolte er seinen Diener apfertigen
nach Riga, etliche Kreuter holen zu lassen, die er in dem
Schaze nicht finden kunt. Er selbest nimbt den Paß, machet
sich auf in der Gestalt seines Knechtes, hat alle sein Gelt
und Gut gemacht in Golt gewechselt und in die Kleider
lassen neben. Da er in die Stadt Pleskau uf der Post kompt,
wiewohl sein Bart abgeschnitten war, und wolte auf dem
Markt Fische kaufen, wart er doch an der Sprache erkant
und die Reussen klopfeten auf die Gulden und fürten den
guten Docter in Eisern mit Blei zugegossen wieder nach der
Moskau."
Aus den angeführten kurzen Proben wird man den Ein-
druck gewonnen haben, daß wir es hier mit einem vielfach
mit anderen Quellen übereinstimmenden und daher auch
sonst glaubwürdigen Berichte zu tun haben, mit einer Quelle
zur Geschichte Rußlands, deren Veröffentlichung vollständig
oder mit Auslassungen erwünscht wäre.^) Was aber diesem
Berichte eine ganz besondere Bedeutung und auch zugleich
eine erhöhte Glaubwürdigkeit verleiht, ist der Hintergrund,
von dem er sich abhebt und die politische Veranlassung,
aus der heraus er niedergeschrieben worden ist. Denn
Stadens Bericht gehört nicht in die zahlreiche Klasse von
Reisebeschreibungen, die uns aus dem 16. Jahrhundert er-
halten sind, die zur eigenen Erinnerung des Erlebten und als
Lesestoff für die Familie und Freunde niedergeschrieben
sind. Heinrich von Staden hat vielmehr seine Beschreibung
^) Ich bin in diesem Falle bereit, einem mit der russischen Ge-
schichte vertrauten Gelehrten meine Abschrift zur Verfügung zu stellen.
248 Max Bär,
keinem Geringeren überreicht als dem deutschen Kaiser,
in dessen Auftrag er einen Teil von ihr verfaßt hat, verfaßt
zu einem ganz bestimmten politischen Zwecke.
Ich habe oben bereits kurz bemerkt, daß die beiden
livländischen Edelleute Taube und Krause am Schlüsse ihres
Berichtes eine Aufforderung an Iwans Feinde richten, die
damalige Schwäche seines Reiches zu benutzen. Der Ge-
danke war verwandt mit dem andern, den damals die Nach-
barn Rußlands, besonders die Polen hatten, und den übri-
gens auch der Herzog Alba einmal ausgesprochen hat, den
Gedanken, daß die natürlichen und noch unentwickelten
Kräfte Rußlands eine große Gefahr für Westeuropa werden
könnten, und daß man daher Rußland keine Waffen — wie
es schon damals die Engländer taten — und keine Bildungs-
mittel zuführen dürfe. Heinrich von Staden ging einen
Schritt weiter. Um die Begründung einer großen Macht im
Osten, sei es durch die Russen oder die Tariaren, zu verhin-
dern, schlug er dem Kaiser deren rechtzeitige Zertrümme-
rung vor, einen Krieg gegen Rußland und die Eroberung
des Landes.
Nachdem nämlich Staden aus Rußland etwa 1572/73
zurückgekehrt war, hat er Beziehungen zum Könige von
Schweden und dessen Bruder Herzog Karl von Südermann-
land angeknüpft. In des letzteren Auftrage war er auch nach
Holland gereist und mußte sich, um ihm Bericht zu erstatten,
dann nach Lützelstein begeben, wo sich der Herzog bei sei-
nem Schwager, dem Pfalzgrafen Georg Hans von Veldenz,
aufhielt. Dieser war gerade in jenen Jahren eifrig damit
beschäftigt, seinen Plan der Gründung einer Reichsmarine
und seine Bestellung als Reichsadmiral beim Kaiser und
den Ständen zu betreiben.^) Trotz jahrelanger Bemühungen
hatte er damit bekanntlich keinen Erfolg. In Staden aber
mußte er notwendig einen Mann erkennen, dessen Kennt-
nisse der östlichen Verhältnisse ihm nutzbar sein konnten.
Mehrere Monate ist Staden Gast des Pfalzgrafen gewesen.
Von Staden wissen wir ferner, daß ihn der Pfalzgraf an den
^) Vgl. darüber Kunz, Die Politik des Pfalzgrafen Georg Hans
von Veldenz. Bonn (Dissertation) 1912.
Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands etc. 249
König von Polen und an den Deutschmeister gesandt hat.
Der Zweck konnte in Ansehung der Person und der Ver-
gangenheit des Gesandten doch nur die Behandlung des
späteren pfalzgräflichen Planes gegen Rußland und seines
späteren Anschlages auf Livland sein. Und der Zweck der
pfalzgräflichen Sendung Stadens an den Kaiser liegt in dessen
Beschreibung Rußlands selbst klar zu Tage. Im Auftrage,
wie Staden sagt, also wohl mit Genehmigung des Kaisers^),
hat er diesem seine Beschreibung der russischen Verhältnisse
und seiner Erlebnisse überreicht und den Plan einer Bekrie-
gung Rußlands aufgestellt. Durch die Art dieses Planes
aber, durch die Wahl des Seeweges über Norwegen herum,
sollte wiederum das pfalzgräfliche Admiralwerk gestützt
werden. Und es ist mir in hohem Maße wahrscheinlich, daß
der spätere, in die Jahre 1578 und 1579 fallende Plan des
Pfalzgrafen zur Bekriegung des Moskowiters, wie ihn Schie-
mann^) veröffentlicht hat, auf gemeinsamer Arbeit und auf
den Besprechungen mit Staden und dessen Plane beruht,
mit dem er grundsätzlich in der Wahl des Seeweges und
im einzelnen in der Aufzählung der zu besetzenden Orte,
übrigens auch mit einer gewissen Kühnheit unwahrschein-
licher Voraussetzungen und der Betonung gewisser politi-
scher Ziele übereinstimmt. Die erwähnte Kühnheit der
Voraussetzungen, z. B. die Stellung der Schiffe von den ver-
schiedenen an der Sache ganz uninteressierten Reichen, er-
weckt geradezu die Vermutung, daß der Stadensche Plan
unter dem Einfluß des Pfalzgrafen entstanden ist, dessen
sonstige Machenschaften gleichfalls durch die Unwahrschein-
lichkeit seiner Annahmen und Voraussetzungen auffallen.
Auch die anscheinend protestantische Tendenz, wie sie ein-
mal in dem Ausdruck „Prädikanten", den Staden gebraucht,
zum Ausdruck kommt, darf eher auf den Pfalzgrafen zurück-
1) Ich vermute, daß es sich um den Kaiser Maximilian handelt.
Denn in dem Anschreiben an den Kaiser sagt Staden, daß seine ver-
storbenen Eltern unter ihm, dem Kaiser, „ihre Lebenszeit hingebracht".
Das würde aber, wenn man es auf die Person des Kaisers beziehen darf,
nur auf Maximilian passen.
2) Schiemann in der Baltischen Monatschrift 36, S. 21 — 24 und
Mitteilungen aus der livländischen Geschichte 15, S. 117 — 159.
250 Max Bär,
geführt werden, als auf Staden, dessen Bruder katholischer
Pfarrer in Westfalen war. Und die Kenntnis der genauen
geographischen Verhältnisse des nördlichen Rußlands konnte
der Veldenzer wiederum nur von einem Manne wie Staden
erhalten haben. Denn der König von Schweden hatte ganz
recht, wenn er von seinem Schwager sagte, Sibirien liege
weit von Lützelstein und Veldenz.i)
Der Stadensche Plan eines Kriegszuges gegen Rußland
bifdet den zweiten Abschnitt seiner dem Kaiser überreichten
Darstellung. 2) Die Stärke des Eroberungsheeres bemißt er
auf 100000 Mann, weniger zum Kampfe gegen die Russen
— denn diese seien durch die Tartaren und Polen und vor
allem durch das selbstmörderische Wüten des Großfürsten
so geschwächt, daß sie überhaupt keine Feldschlacht mehr
wagen könnten — , sondern zur Besetzung der Städte. Man
solle aber nur solche Mannschaft nehmen, die in Deutschland
nichts zu verlieren habe, also Leute ohne Haus und Hof.
Er gibt ferner die Zahl der Feldgeschütze, die Höhe des An-
gelds und die Zahl der Schiffe an, welche letzteren von
Dänemark, Hamburg, dem Prinzen von Oranien, Frank-
reich oder Spanien gestellt werden könnten. Und das ist
nun, wie schon gesagt, das Charakteristische, daß Staden
nicht etwa den näheren Landweg vorschlägt, sondern einen
Einfall auf dem Seewege, übrigens auch Schiffer namhaft
macht, denen durch vielfache Fahrten der Seeweg geläufig
ist. Diesen Seeweg — die Abfahrt soll von Hamburg, Bre-
men oder Emden erfolgen — beschreibt er nun genau um
das Nordkap und Lappland herum durch das Weiße Meer,
wo in Lappland besonders Kola, dann an der Dwinamündung,
wo, wie er sagt, die „Englischen ihre Fahrt haben", Kolma-
gori, dann die Onegamündung besetzt werden sollen. „An
dieser Seekant müssen Comisseschreiber gehalten werden,
daß sie auch in und aus dem Lande verschaffen uf die
1) Kunz a. a. O. S. 32.
^) In den Wiener Archiven findet sich nach Auskünften vom Jahre
1898 erklärlicherweise — da die Akten aus dem Kaiserlichen Archive
durch Erskein geraubt wurden — keine Nachricht. Überdies werden
sich die Akten bei vorangegangener mündlicher Behandlung eben auf
die Beschreibung selbst beschränkt haben.
Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands etc. 251
Schiffe allerlei Waren und wiederum nach Karkopola — also
die Onega aufwärts — vorschaffen alles was der Feldherr
von Nöten bedarf. Also kann man sich aus der Christen-
heit jährlich genugsam stärken, der Großfürst kann sich
nicht stärken, alleine daß er seine Bauren zum Kriege be-
zwingen kann, die haben keinige Gewehr, wie die Bauren
in der Christenheit, und wissen auch nicht vom Kriege."
Der Seeweg, den Staden eingeschlagen wissen will, war
für die damalige Zeit noch etwas Neues, im Binnenlande
Unbekanntes, kaum ein Vierteljahrhundert kannte man ihn.
Lediglich der Zufall hatte zu seiner Entdeckung geführt da-
durch, daß er den englischen Seefahrer Richard Chancellor
nach Archangelsk verschlug und diesen dadurch im eigent-
lichsten Sinne für das Ausland zum Entdecker eines weiten
Gebietes des nördlichen Rußlands machte. Im Jahre 1553
nämlich ließ der König Eduard VI. von England drei
Schiffe ausrüsten zur Entdeckung eines nordöstlichen See-
weges nach China und Indien durch das Eismeer. Nur
eins dieser Schiffe, von Richard Chancellor geführt, gelangte
nach vielen Gefahren in das Weiße Meer und lief in die
Bucht von St. Nikolai, einem kleinen Kloster an dem west-
lichen Ausflusse der Dwina, ein, wo nachher die Stadt Arch-
angelsk angelegt wurde.
Staden schlägt nun weiter zum Vordringen in das Innere
Rußlands den Weg die Onega aufwärts vor über Kargapola,
Bjelosera, Wologda, Alexandrow nach Moskau. Er nennt
alle zu besetzenden Städte und die Stärke der notwendigen
Besatzungen. Durch vorherige Besetzung aller umliegenden
Punkte könne dann die Stadt Moskau ohne einen Schuß
gewonnen werden.
Ob nun der Stadensche Feldzugsplan zum Glücke aus-
geschlagen wäre, wenn ihn der Kaiser wirklich zur Ausfüh-
rung gebracht hätte, das ist eine andere und nicht zu beant-
wortende Frage. Staden freilich ist des Erfolges gewiß und
verteilt sogar schon die Haut des russischen Bären, seinen
Schatz, den auch der Veldenzer öfter erwähnt, und das
Land. Ihn selbst will er gefangen in die Christenheit geführt
wissen. Auf hohem Berge, da, wo Elbe oder Rhein ent-
springen, soll man die russischen Gefangenen vor seinen
252 Max Bär, Eine bisher unbekannte Beschreibung Rußlands etc.
Augen totschlagen, dem Großfürsten aber eine Grafschaft
geben, ihn dort bewachen und täghch durch zwei oder drei
Prädikanten den Unglückhchen unterrichten lassen, die ihn
Gottes Wort recht lehren sollen.
Staden schließt mit einem weiteren Ausblick. Den
Russen müsse Gottes Wort rechtschaffen gepredigt, stei-
nerne Kirchen müßten erbaut werden statt der russischen
von Holz. Jene würden stehen bleiben, diese zerfallen.
Besiedelung des Landes sei notwendig, namentlich des
fruchtbaren Resamer Landes, das so schön sei, daß er des-
gleichen nicht gesehen habe. Der Kaiser müsse eine be-
stimmte Einnahme aus dem Lande erhalten und auch Schwe-
den, Dänemark und England müßten zahlen für die Erlaub-
nis zum Handel in Rußland. Wenn Rußland eingenommen,
so gehöre Polen zum römischen Reiche, und von den um-
liegenden, zum Teil herrenlosen Ländern könne Besitz er-
griffen werden. Dann werde der türkische Kaiser erkennen,
daß Gott für die streite, die an Christus glauben, dann
werde man an Persien grenzen und Amerika erreichbar
sein.
Miszelle.
Zur Archäologie des früheren Mittelalters.
Jahresbericht 1914.i)
Von
G. Weise.
Zunächst ein Überbiiclc über die neuen Bände der einzelnen
deutschen Denlcmälerinventare. — Von den „Kunstdenkmälern
des Königreichs Bayern" sind sechs stattliche Hefte im Laufe
des Jahres 1914 erschienen. Die beiden unterfränkischen Bezirks-
ämter Brückenau und Gerolzhofen besitzen keine irgendwie
nennenswerten frühmittelalterlichen Denkmäler. Im Bezirksamt
Kissingen wurde die romanische Kirche der Zisterzienserabtei Bild-
hausen leider 1826 vollständig niedergelegt. Nach dem vom Inventar
veröffentlichten Plan von 1788 kommt dem Grundriß dieses Baues
1) Aufgabe dieses Jahresberichtes wird es sein, für den Historiker
und vom Standpunkte des Historikers unter den jährlichen Neu-
erscheinungen auf dem Gebiete der Archäologie des früheren Mittel-
alters, selbständigen Publikationen wie Zeitschriftenaufsätzen, das
Wichtigere anzuzeigen und zur Besprechung zu bringen. Einer Recht-
fertigung bedarf vielleicht die gewählte zeitliche Begrenzung, inner-
halb der die Literatur der einzelnen Jahre berücksichtigt werden soll.
Mittelalterliche Archäologie sollte "sich die Wissenschaft nennen, die
sich mit den künstlerischen Erzeugnissen des früheren Mittelalters als
historischen Quellen befaßt. Ihr werden, im Gegensatz zur Kunst-
geschichte, für die stets die Qualität der Objekte im Vordergrund
stehen wird, alle Denkmäler, einerlei ob von größerem oder geringerem
künstlerischem Wert, gleichmäßig interessant sein; nur der Quellen-
wert bestimmt die Anteilnahme. Die Eigenart des Gebietes könnte
diese Art der Behandlung für die Erzeugnisse der Kunsttätigkeit des
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 17
254 G. Weise,
höchste Bedeutung zu. Er zeigt östlich an das Querhaus sich anschlie-
ßend fünf staffeiförmig angeordnete Apsiden und weist damit unmittel-
bar auf burgundische Vorbilder. Von den kluniazensischen Klöstern
ist dieser Grundrißtypus in der Bourgogne auf die Zisterzienser über-
gegangen und von diesen dann gelegentlich weiter verbreitet worden.
Ob gleichzeitig mit anderen architektonischen Eigentümlichkeiten,
die auf eine eigene Ordensbauhütte schließen lassen könnten, ist immer
noch nicht einwandfrei festgestellt. Bildhausen wurde ungefähr in den
fünfziger Jahren des 12. Jahrhunderts von Ebrach aus gegründet.
Baunachrichten für die Kirche fehlen. Der Verfasser des Inventars
setzt ihre Errichtung mit Recht um die iVlitte des 12. Jahrhunderts
unmittelbar nach der Stiftung des Klosters an. Auf deutschem Boden
gehören bis jetzt nur die etwa gleichzeitigen Zisterzienserkirchen
Georgenthal (Thüringen) und Waldsassen (Oberpfalz), sowie die in
den Jahren 1142 — 1150 errichtete Ostpartie von Thalbürgel bei Jena
dem nämlichen Grundrißtypus an. — In der Kirche des Zisterziense-
rinnenklosters Frauenroth die prachtvollen Grabsteine des Minne-
sängers Graf Otto von Bodenlauben und seiner Gemahlin Beatrix,
von denen das Inventar gute Aufnahmen bringt.
Unter den Denkmälern des Bezirksamtes Lohr darf neben der
romanischen Abteikirche in Neustadt a. JVl. die anscheinend verhältnis-
mäßig frühe Peter- und Paulskirche dortselbst das meiste Interesse
beanspruchen. Es ist im höchsten Grade dankenswert, daß die Inven-
tarisation sich hier nicht auf die Aufnahme der über dem Boden er-
haltenen Reste beschränkt hat, sondern durch Grabungen das Bild
des ursprünglichen Grundrisses zu vervollständigen suchte. Die klöster-
liche Niederlassung in Neustadt geht in karolingische Zeit zurück. In
dem merkwürdigen, fast zentralen, einschiffigen Bau der Peter- und
früheren Mittelalters, etwa bis gegen Mitte des 13. Jahrhunderts, mehr
am Platze erscheinen lassen. Von den Jahrhunderten der germanischen
Wanderungen bis zur Zeit des Auftretens der Gotik bei uns in Deutsch-
land soll der vorliegende wie die künftigen Jahresberichte die Neu-
erscheinungen auf dem Gebiete der mittelalterlichen Archäologie um-
fassen.
Die Redaktion ist bei der Einforderung der zu besprechenden
Literatur dieses Mal zum Teil noch auf Widerstände und Ablehnung
gestoßen. Namentlich von den neuerschienenen Heften der einzelnen
Denkmälerinventarisationen konnten nur in einem Falle Rezensions-
exemplare erhalten werden. Die Redaktion legt mir nahe, auf diese
Tatsache hier hinzuweisen und zugleich der Erwartung Ausdruck zu
geben, daß in Zukunft der Hist. Zeitschr., wie für ihre sonstigen Be-
sprechungen, auch für diesen Jahresbericht Rezensionsexemplare der
in Betracht kommenden Literatur zur Verfügung stehen werden.
Zur Archäologie des früheren Mittelalters. 255
Paulskirche mit dem kräftig ausladenden Querschiff und dem recht-
eckigen Chorquadrum möchte der Inventarisator die älteste Kloster-
kirche sehen und sie in den Anfang des 10. (Erneuerung nach Brand,
bezeugt nur in nachmittelalterlicher Kompilation) ev. noch ins 8. Jahr-
hundert zurückdatieren. Die Frage kann noch nicht als endgültig ent-
schieden gelten. Grundrißtypus und Kämpferprofile scheinen mir
gegen Entstehung in karolingischer Zeit zu sprechen und eher auf das
11. Jahrhundert zu weisen; die angeführten Analogien sind nicht
schlagend. Die älteste Klosterkirche war nachweislich nicht Peter
und Paul geweiht. Ältere Reste an der heutigen spätromanischen
Abteikirche deuten darauf hin, daß auch der ihr vorausgehende Bau
schon an der gleichen Stelle stand. Es dürfte sich bei der Peter- und
Paulskapelle vielleicht doch eher um eine Nebenkirche frühromanischer
Zeit handeln.
Am gewichtigsten ist der die Denkmäler des Bezirksamts Stadt-
amhof in der Oberpfalz behandelnde Band des Inventars, der die
Klosterkirche in Prüfening und die bischöflich regensburgische Pfalz
in Donaustauf enthält. Baunachrichten fehlen leider für die letztere.
Stilistische Anhaltspunkte und die Verwandtschaft mit bestimmten
Regensburger Bauten gestatten, ihre ältesten Teile, den Palas und die
überraschend großartige Kapelle auf Mitte des 11. Jahrhunderts zu
datieren. Die Kapelle liegt hier schon wie später in der staufischen
Pfalz in Gelnhausen über dem innersten Torbau. Die geplante Publi-
kation der Kaiserpfalzen durch den deutschen Verein für Kunstwissen-
schaft wird Donaustauf nicht übersehen dürfen. — Prüfening wurde
1109 von Otto von Bamberg gegründet. Eine erste Weihe der Kirche
ist für 1119 bezeugt, der Bau muß sich aber noch länger hinausgezogen
haben. Jedenfalls ist er für die architekturgeschichtliche Entwicklung
im bayerischen Donautale von bahnbrechender Bedeutung. Er bringt
Neues auf allen Gebieten, wie das Inventar im einzelnen nachweist.
Man wird sagen dürfen, daß mit Prüfening die spätromanische Periode,
die durch das Auftreten bestimmter westlicher Einflüsse charakteri-
siert wird, hier in diesen Gegenden einsetzt. Das Inventar glaubt
nach der heute üblichen Anschauung alle diese Neuerungen auf Konto
der sog. Hirsauer Schule setzen zu können, für deren Existenz der
Beweis immer noch aussteht. Für weit wahrscheinlicher möchte ich
es halten, daß sich hier, wie es sich auch anderwärts beobachten läßt,
seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts Beziehungen zu einer ganz be-
stimmten Gegend Frankreichs geltend machen, Beziehungen, als deren
Vermittler in diesem Falle der Stifter des Klosters selbst, Otto von Bam-
berg, anzusprechen wäre, so wie z. B. am Oberrhein dem Stifter von Mar-
bach, Manegold von Lautenbach, nahezu um die nämliche Zeit die
Rolle zukommt. Die ganze Hirsauer- und Kluniazenserhypothese gleiche
17*
256 G. Weise,
beruht doch nur auf der Tatsache der Übertragung gewisser Grundriß-
dispositionen, für die allerdings die Erklärung in Ordensbeziehungen
gesucht werden mag; hier aber handelt es sich um das unvermittelte
Auftreten technischer Fertigkeiten (Quaderbau) und mannigfacher
Motive des architektonischen Details, als deren Träger nur die aus-
führenden Werkleute in Betracht kommen können. Charakteristisch
bleibt, daß gerade dort, wohin die Ordensbeziehungen und ev. auch die
Grundrißschemata weisen, in der Bourgogne, sich gar kein Anhalt
zur Herleitung jener technischen und stilistischen Eigentümlichkeiten
finden lassen will. — Unter den romanischen Wandgemälden der
Klosterkirche, deren Entstehung zwischen 1130 — 1160 anzusetzen ist,
darf man den Historiker vielleicht auf jene Darstellung der Schwerter-
verleihung (Taf. IX) am nordöstlichen Vierungspfeiler hinweisen, die
„lebendige Illustration zu der im Investiturstreit im Mittelpunkt der
Streitfragen stehenden Schwertertheorie". Der thronende Petrus ver-
leiht einem Bischof und einem weltlichen Fürsten, beide durch Nimben
als heilige Personen charakterisiert, die Schwerter. Schon Endres
(Christliche Kunst II, S. 160 ff.) hat auf die Übereinstimmung mit
einer Stelle in Honorius von Autuns, dessen Schriften in der Kloster-
bibliothek vorhanden waren. Summa Gloria hingewiesen, nach der die
beiden seitlichen Figuren als Konstantin und Papst Silvester zu
deuten wären.
Von den Kunstdenkmälern in Niederbayern schließlich liegt jetzt
das 2. Heft, BezirksamtLandshut, vor. Größere romanische Bauten
fehlen, dagegen haben sich eine stattliche Anzahl Dorfkirchen des
12. und 13. Jahrhunderts ganz oder teilweise erhalten, bei denen sich
zwei verschiedene Grundrißtypen unterscheiden lassen. Das Material
ist durchwegs Backstein, Man bedauert, daß die nur sporadisch in ver-
sprengten Gruppen auftretende spätromanische Backsteinarchitektur
der bayerischen Landschaften noch nicht im gleichen Maße die For-
schung interessiert hat wie die norddeutschen Backsteinbauten. Zum
Teil treten hier die nämlichen Motive auf wie dort und machen auch
hier, wo an holländischen Einfluß nicht gedacht werden kann, den
Import dieser Kunst aus Oberitalien wahrscheinlich.
Die „Kunst- und Altertumsdenkmale im Königreich
Württemberg", Donaukreis, Oberamt Göppingen, bringen neben
der doch wohl schon geraume Zeit vor 1200 anzusetzenden schlichten
romanischen Klosterkirche zu Boll, von der leider kein Grundriß ge-
geben wird, vor allem Faurndau, bekannt durch die reiche Außen-
architektur der Chorpartie. Die Erbauung wird von dem Bearbeiter
in das 3. und 4. Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts angesetzt. Die Be-
ziehungen zu einer Gruppe gleichzeitiger Bauten in jenen Gegenden,
Brenz, Johanniskirche in Gmünd und Walderichskapelle in Murr-
Zur Archäologie des früheren Mittelalters. 257
hardt, sind schon längst erkannt. Fraglich erscheint mir, ob man in
diesen Anlagen das Werk einer autochthonen schwäbischen Schule,
wie die Tendenz besteht, wird sehen dürfen. Unvermittelt und ohne
vorbereitende Vorläufer unter den älteren einheimischen Bauten^)
tritt diese Richtung etwa um 1200 sogleich mit Werken von ausge-
prägter Eigenart und beträchtlicher technischer Vollendung auf. Ver-
mutlich handelt es sich um ausländischen Import, vielleicht um eine
durch die Staufen ins Land gezogene Schule, deren Herkunft freilich
noch ungewiß bleibt. Die ganze Frage verdiente eine eingehende
Untersuchung unter Berücksichtigung des gesamten, in jenen Teilen
Schwabens erhaltenen Denkmälermateriales. — In dem benachbarten
Oberamt Geislingen wäre die von Dehio wohl ohne Grund in ihrer
Echtheit angezweifelte Bauinschrift von 984 an der im übrigen in ihrer
heutigen Gestalt erst späteren Jahrhunderten angehörenden Kirche
zu Gingen zu erwähnen, die deren Errichtung durch Abt Salman von
Lorsch und Weihe durch Gebhard II. von Konstanz meldet, die älteste
bis jetzt bekannte derartige Inschrift an einer deutschen Land-
kirche.
Die von Luthmer bearbeiteten „Bau- und Kunstdenkmäler
des Regierungsbezirks Wiesbaden" liegen mit dem jetzt er-
schienenen 5. Band (Kreise: Unter- Westerwald, St. Goarshausen, Unter-
taunus und Wiesbaden Stadt und Land) abgeschlossen vor. Bleiden-
stadt mit seiner Abtei des hl. Ferrutius müßte vor allem interessieren;
leider wissen wir über die karolingische Klosterkirche, deren Weihe
für 812 bezeugt ist, noch gar nichts, obwohl Nachforschungen vielleicht
möglich wären. Karolingische Reste sind seinerzeit an der kleinen
Kirche zu Bier Stadt bei Wiesbaden zutage getreten, vor allem ein
sehr frühes Portal mit primitivem Schmuck des Türsturzes, doch steht
der ausführliche Bericht über die damals vorgenommenen Grabungen
immer noch aus. Der gleichen Gruppe am JVlittelrhein bereits durch
mehrere Beispiele vertretener vorromanischer Portalskulpturen ist der
aus Geisenheim im Rheingau stammende hochinteressante Türsturz
zuzurechnen, über dessen Auffindung Brenner im gleichen Jahre in
den Annalen des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Ge-
schichtsforschung (Bd. 42, S. 132 ff.) berichten konnte. Dem vermut-
lich karolingischer Zeit angehörenden Stein kommt eine besondere
Bedeutung zu als eines der frühesten Beispiele figürlicher Monumental-
plastik und als älteste bisher bekannt gewordene deutsche Kreuzigungs-
darstellung in Stein.
^) In Werken wie Schwärzloch, Pliezhausen usw., die zum Teil
die gleichen Dekorationsmotive in weit primitiverer, roherer Ausfüh-
rung zeigen, kann ich nur unvollkommene Nachahmungsversuche
durch einheimische, provinziell rückständige Kräfte sehen.
258 G. Weise,
über eine der wichtigsten karolingischen Stätten am JVlittelrliein,
Kloster Lorsch, bietet der Kreis Bensheim der „Kunstdenkmäler
im Großherzogtum Hessen" außer einigen guten Abbildungen
einzelner karolingischer Architekturglieder leider so gut wie nichts
Neues. Der Bearbeiter beschränkt sich auf die Beschreibung der über
dem Boden erhaltenen Gebäudereste, im engsten Anschluß an die seines
Erachtens „in jeder Beziehung ausreichende Arbeit" Adamys. Die
Frage nach den Grundrißdispositionen der 774 geweihten karolingischen
Klosterkirche, nach deren Westpartie und Zusammenhang mit der
Torhalle, nach Lage und Aussehen der als „Varia" bekannten Grab-
kapelle Ludwigs des Deutschen wird auch hier nicht weiter gefördert,
als es durch die verschiedentlich im Laufe der letzten Jahrzehnte im
Klosterbezirk vorgenommenen, wenig befriedigenden Grabungen ge-
schehen war. In Lorsch bleiben dem Spaten noch eine Reihe wichtiger
Probleme zu lösen. Sonstige Baudenkmäler des früheren Mittelalters
bietet der Kreis Bensheim nicht. — Anschließend kann hier gleich
auf den 3. Jahresbericht der Denkmalpflege im Großherzog-
tum Hessen (Darmstadt 1914) eingegangen werden. Er bringt (S. 74ff,)
Einzelheiten über die Auffindung einer Reihe von Grüften im Wormser
Dom, die als die Grabstätten der dort beigesetzten Vorfahren des
salischen Hauses erwiesen werden konnten. Lage und Anordnung
der Gräber genau wie bei den Kaisergräbern im Speyrer Dom. Die
Toten ruhten nicht in einer besonderen Gruft, sondern unter dem
Fußboden der Kirche, im östlichsten Joch des Mittelschiffes, unmittel-
bar vor dem Kreuzaltar, fast alle in Steinsärgen, von denen einer
römisch, zwei mit charakteristischer frühmittelalterlicher Ornamen-
tierung des Sargdeckels, die übrigen unverziert. Beigaben fanden sich
keine mehr; von den teilweise mit Gold gestickten. Gewändern hatten
sich nur geringe Reste erhalten. — Erwähnung verdient in der gleichen
Publikation der Bericht (S. 248 ff.) über die Wiederherstellung der
bis dahin profanen Zwecken dienenden Burgkapelle der Wimpfener
Pfalz, einer einschiffigen, flachgedeckten Anlage mit reicher Gliederung
der dem Burghof zugekehrten Schauseite, Die Entstehung ist um
1200, etwa gleichzeitig mit derjenigen der übrigen Teile der Pfalz an-
zusetzen. Im Gegensatz zu Gelnhausen, wo sie das obere Geschoß
des Torbaues einnimmt, stößt hier die Pfalzkapelle als selbständiger
Bauteil an die eine Schmalseite des Palas, von dessen oberem Stock-
werk aus ihre westliche Emporenanlage zugänglich war: die gleiche
Anordnung von „Saal" und Kirche, wie sie schon über 3 Jahrhunderte
früher der karolingische Königshof zu Ladenburg a. N. zeigt.
Unter den neuerschienenen Bänden der verschiedenen norddeut-
schen Inventarisationsunternehmen könnte der Kreis Höxter der
„Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen" das meiste Interesse
Zur Archäologie des früheren Mittelalters. 259
beanspruchen. Der Kreis besitzt neben den vorromanischen Resten
der Corveyer Klosterkirche noch eine Reihe nicht unbedeutender
Bauten spätromanischer Zeit. Die Art der Bearbeitung vermag freilich
nicht durchaus zu befriedigen. Der richtige Grundsatz, die Beschrei-
bung der einzelnen Denkmäler möglichst knapp zu halten und vor
allem die Abbildungen sprechen zu lassen, ist zu weit getrieben, zumal
da man doch öfters die Reproduktion wichtiger und für die Feststellung
der Schulzusammenhänge bedeutsamer baulicher Details vermissen
muß zugunsten der Wiedergabe von allerhand späteren Kunstgewerb-
lichkeiten. — In Corvey werden Westfassade und innere Vorhalle
wieder einmal auf das 11. Jahrhundert datiert, die bauliche Analyse
des Westbaues kann für ein Denkmal von derartiger Bedeutung als
durchaus ungenügend bezeichnet werden und übersieht wichtigste
Einzelheiten. Daß es sich hier um ein vermutlich von dem nordöst-
lichen Frankreich beeinflußtes Westwerk karolingischer Zeit mit einer
Emporenkirche im oberen Geschoß handelt, deutet schon Effmann
in seinem Buch über St. Ricquier (JVlünster 1912) an und wird die in
Aussicht stehende Publikation desselben Verfassers über Corvey wohl
aufs genaueste dartun. — Bei der Besprechung der in ihren ältesten
Teilen noch aus dem 11. Jahrhundert stammenden Kiüanskirche in
dem benachbarten Höxter vermißt man ein näheres Eingehen auf
die Baugeschichte, vor allem auf die Frage nach der Entstehungszeit
der Gewölbe in den verschiedenen Teilen des Baues. — An Höxter reihen
sich die spätromanischen Anlagen in Lügde, Brakel, JVlarienmün-
ster und Steinheim an, untereinander nahe verwandt und wohl
einer in Paderborn zu lokalisierenden, in einzelnen Ausläufern (Lippolds-
berg, Germerode, Hofgeismar) weiter weseraufwärts und bis in den nörd-
lichen Teil des heutigen Regierungsbezirkes Kassel zu verfolgenden
Schule zuzurechnen. Die oben ausgesprochenen Bedenken hinsichtlich
der Behandlung der Baugeschichte und der Auswahl des Abbildungs-
materiales gelten auch hier. Die Wiedergabe der beiden spätromani-
schen Tympana der Steinheimer Kirche ist durchaus ungenügend.
In Marienmünster wird der Aufstellungsort der beiden S. 166 abge-
bildeten Grabsteine verwechselt. Ziemlich unglaublich ist die Datierung
des einen derselben auf das 11. Jahrhundert, um so mehr, als die Grün-
dung des Klosters erst ins Jahr 1128 fällt.
Von den übrigen 1914 erschienenen Bänden norddeutscher In-
ventare braucht nur noch das 38. Heft der „Beschreibenden Dar-
stellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des König-
reichs Sachsen" wegen der Reste des zwischen IUI — 1119 gegrün-
deten Nonnenklosters Riesa, der ältesten klösteriichen Niederlassung
in der Mark Meißen, erwähnt zu werden. Die Kirche dortselbst ist zwar
in ihrer heutigen Gestalt erst das Werk späterer Umbauten und Er-
260 G. Weise,
neuerungen; von den Klostergebäuden dagegen scheinen beträchtliche
Teile der Zeit der Gründung anzugehören, gehen wenigstens noch ins
12. Jahrhundert zurück.
Der Deutsche Verein für Kunstwissenschaft hat 1914 gleichzeitig
mit seinem „3. Bericht über die Denkmäler deutscher Kunst"
(Berlin, Reimer), der u. a. über den Stand der Vorarbeiten zu dem ge-
planten Pfalzenwerk Rechenschaft gibt, in Eröffnung der Reihe seiner
ordentlichen Publikationen den ersten Band der von A. Goldschmidt
bearbeiteten „Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolin-
gischen und sächsischen Kaiser" (Berlin, Cassirer) erscheinen
lassen. Die Veröffentlichung der einzelnen Stücke erfolgte nach Mög-
lichkeit in Originalgröße. Beabsichtigt ist, weiterer Forschung durch
eine möglichst vollständige Quellenpublikation des gesamten Materials
die gesicherte Grundlage zu geben. Gerade bei den frühmittelalterlichen
Elfenbeinen kann eine derartige Arbeit zur Stunde nur selten über
bloße katalogisierende Aneinanderreihung der einzelnen Werke hinaus-
gehen. Goldschmidt macht in der Einleitung auf die Schwierigkeiten,
mit denen die Bearbeitung zu rechnen hat, aufmerksam. Die Anhalts-
punkte zur Datierung und Lokalisierung der in ihrer Mehrzahl in
öffentlichen und privaten Sammlungen zerstreuten Stücke sind meist
äußerst gering. Dem Forscher stehen nur stilistische Rücksichten zur
Gruppierung zur Verfügung. Erst immer neue Durchdringung des
Materiales kann hoffen, hinsichtlich der Provenienz und Zusammen-
gehörigkeit der verschiedenen Gruppen allmählich klarer zu sehen. —
Neben einer beträchtlichen Anzahl kleinerer Gruppen und Einzelstücke
lassen sich unter den karolingisch-ottonischen Elfenbeinen heute schon
drei große Richtungen von scharfgeprägter Sonderart unterscheiden.
Sie vertreten nach Goldschmidt „nicht zufällig nebeneinander an ver-
schiedenen Orten auftretende Kunstschulen, sondern drei aufeinander-
folgende herrschende Stile ungefähr aus dem Anfang, der Mitte und
dem Ende des 9. Jahrhunderts". Wir sind vorläufig noch genötigt,
sie nach äußeren Anhaltspunkten zu benennen. Nur die jüngste der
drei Richtungen läßt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit in Metz
lokalisieren.
Einen Hinweis wenigstens verdient bei der Unmöglichkeit, den
ganzen Inhalt hier einer kritischen Besprechung zu unterziehen, die
wesentlich umgearbeitete und erweiterte Neuauflage von A. Weeses
„Bamberger Domskulpturen" (Straßburg, Heitz), der ein zahl-
reiches Abbildungsmaterial in besonderer Mappe beigegeben ist. All-
gemein angenommen ist mittlerweile die seinerzeit zuerst von W. auf-
gestellte Datierung des Domes in seiner jetzigen Gestalt auf die Jahre
zwischen 1185 und 1237. Der Grundsatz, daß es unrichtig, bei der
Aufstellung der Baugeschichte eines derartigen Werkes stets von der
Zur Archäologie des früheren Mittelalters. 261
Annahme einer regelmäßigen, in sich abgeschlossenen Entwicklung
auszugehen, dürfte überhaupt überall da zu beherzigen sein, wo mit
der Möglichkeit auswärtigen Einflusses zu rechnen ist. Stilistische
Verschiedenheit einzelner Teile muß nicht notwendig in einer längeren
Unterbrechung der Bautätigkeit ihre Erklärung finden. Bauherren des
spätromanischen Domneubaues waren nach W. vor allem die Bischöfe
Otto II. und Ekbert aus dem Geschlechte der Grafen von Andechs
und Meran. Die Vollendung des figürlichen Schmuckes fällt unter
Berthold von Leiningen. Den verwandtschaftlichen Beziehungen der
Genannten zum französischen Königshaus, den Grafen der Cham-
pagne und anderen westlichen Herrengeschlechtern, wird mit Recht
Bedeutung beigemessen. Unbestreitbarer französischer Einfluß äußert
sich in der Adamspforte und den auf den gleichen Meister zurück-
gehenden Statuen an den Pfeilern des Georgenchores. W. baut die zu-
erst von Dehio festgestellten Beziehungen dieser Werke zu bestimmten
Gruppen der Reimser Kathedralskulpturen weiter aus. In dem Meister
sieht er einen Deutschen, der in Reims gearbeitet haben muß und sich
aus heimischen Traditionen und in der Fremde Gelerntem in glück-
licher Verschmelzung seinen persönlichen Stil geschaffen hat. So wie
W. die betreffenden Reimser Werke datiert, wäre das Auftreten dieses
Jüngeren Meisters in Bamberg frühestens in den fünfziger Jahren des
13. Jahrhunderts anzusetzen. — Lebhaften Widerspruch von verschie-
denster Seite rief seinerzeit bei dem ersten Erscheinen des Buches die
Stellungnahme des Verfassers zu der älteren Bamberger Skulpturen-
gruppe, den Apostel- und Prophetenreliefs am Georgenchor, hervor.
In der Neuauflage berücksichtigt W. zum Teil die damals geäußerten
Bedenken, glaubt aber im wesentlichen an seiner These festhalten zu
müssen. Byzantinischer Geist wirkt in jenen eindrucksvollen Schöp-
fungen zweifellos nach. Es fragt sich nur, ob an unmittelbare Inspi-
ration durch irgendwelche byzantinisch beeinflußten Werke der Klein-
kunst zu denken sein wird. W. lehnt im Gegensatz zu anderen Be-
urteilern diese Möglichkeit ab. Er scheint mir das Richtige zu treffen,
wenn er von der Anschauung ausgeht, daß Werke wie die Bamberger
Apostel- und Prophetenreliefs nur aus einem traditionell ausgebildeten
Betrieb der Großplastik hervorgewachsen sein können, niemals sieh
aus bloßer Nachahmung in den Motiven noch so verwandter Elfenbein-
skulpturen oder Handschriftenillustrationen erklären lassen. Zudem
ist eine plausible Anknüpfung der Bamberger Reliefs an bestimmte
Werke der Kleinplastik bis jetzt noch nicht geglückt. Während es auf
deutschem Boden auch an Monumentalarbeiten fehlt, die sich mit
einiger Berechtigung als Vorläufer der Bamberger Apostel und Pro-
pheten anführen ließen, glaubt W. in bestimmten französischen Schulen
verwandten Geist zu spüren. Allerdings sind die Beziehungen, die er
262 O. Weise,
geltend zu machen weiß, nur sehr vager Natur, und dürften kaum als
definitives Ergebnis befriedigen. Auch mit der Geographie nimmt es
der Verfasser nicht allzu genau. Wiederholt wird auf Toulouse und seine
Schule als die einzig denkbare künstlerische Heimat der Bamberger
Arbeiten hingewiesen, dann plötzlich (S. 193) tritt Burgund um der
politischen Beziehungen willen dafür ein. Statt greifbarer Tatsachen
werden wir mit seitenlangen ästhetisierenden Betrachtungen abgespeist.
Die mögen später vielleicht am Platze sein, wenn einmal der historische
Unterbau der Beziehungen und Abhängigkeiten klargestellt sein wird.
Daran fehlt es für die deutsche spätromanische Architektur und Plastik
zur Stunde noch durchaus. W.s Ausführungen scheinen mir an dem
Übel zu kranken, das fast alle derartigen Untersuchungen heute so
unerquicklich macht. Es mangelt ihnen an tatsächlichen Unterlagen.
Wir arbeiten mit ein paar immer wiederkehrenden französischen Denk-
mälern, die zufällig publiziert sind. Was bei solchen Anknüpfungs-
versuchen herauskommt, geht in den meisten Fällen über allgemeinste
Analogien nicht hinaus. Die Schuld trägt die französische Forschung,
weil sie in allen ihren Veröffentlichungen sich immer nur mit den paar
Hauptwerken befaßt, deren Abbildung wir in jeder Kunstgeschichte
begegnen. Solange dort nicht wenigstens für die wichtigeren Gegenden
einigermaßen das gesamte erhaltene Material in brauchbarer Ver-
öffentlichung vorliegt, werden alle unsere Bemühungen um die An-
knüpfung deutscher Denkmäler an bestimmte westliche Schulen in
gewissem Grade zu unbefriedigender Ergebnislosigkeit verurteilt sein.
Und dies um so mehr, wenn derartige Untersuchungen, wie es hier
geschieht, ausschließlich nur den Resten der Monumentalplastik, die
naturgemäß beiderseits der Grenzen sich nur in beschränkterer Zahl
finden, ihr Augenmerk schenken, statt zu versuchen, an dem viel
reicheren Material der Architektur einen Anhalt zur Lokalisie-
rung der sich geltend machenden Abhängigkeitsverhältnisse zu ge-
winnen.
Ich komme zu einer Reihe von kleineren Publikationen. Als
erstes Bändchen einer Sammlung „Die Kunst am Bodensee", in der
auch Einzelhefte über St. Gallen und die Reichenau in Aussicht ge-
stellt werden, ist eine sehr sorgfältige, reich illustrierte Monographie
„Das Konstanzer Münster" von Gröber bei Stettner in Lindau
erschienen. Die Baugeschichte des Münsters rekapituliert im wesent-
lichen die bisherige Forschung, gibt aber auch einzelne wertvolle Be-
reicherungen. Wichtig ist angesichts der schon von verschiedenen
Seiten betonten Verwandtschaft des Konstanzer Münsters mit dem
Goslarer Dom (Weihe 1050) die Feststellung, daß Bischof Rumold,
auf den jenes in seiner heutigen Gestalt im wesentlichen zurückgehen
muß, vorher Propst in Goslar gewesen war. Mit Recht verwirft Gröber
Zur Archäologie des früheren Mittelalters. 263
alle Phantasien über Kluniazenser oder Hirsauer Einfluß auf den Kon-
stanzer Münsterbau. Dahingestellt möchte ich es noch sein lassen,
ob der für 1128/29 bezeugte Einsturz der Campanorum turris nicht
doch noch einige Veränderungen am Langhaus gebracht haben könnte.
— Auf den bekannten Arbeiten von Haupt, Pastor, Seesselberg u. a.
fußt im wesentlichen das sich an weitere Kreise wendende, gut illu-
strierte Schriftchen „Germanenkunst" von H. Popp (Vereinigung
Heimat und Welt). Eigentümliches, anscheinend nationales Kunst-
wollen offenbaren zweifellos die frühgermanischen Altertümer in Skan-
dinavien wie in Mitteleuropa. Bei uns in Deutschland gehören die
Fundobjekte der alemannischen und fränkischen Reihengräber dieser
Kunstwelt an. Gegenüber der Tendenz zu weitgehender Germani-
sierung der eigentlich mittelalterlichen Kunst wird freilich demjenigen,
<Jer statt von der Prähistorie vom früheren Mittelalter kommt, die
Beobachtung immer bedeutsam bleiben, daß der merovingisch-karo-
lingische Kirchenbau, soweit wir ihn bis jetzt übersehen, von Anfang
an zu dieser frühgermanischen Kunst, die in Skandinavien allerdings
noch länger und auch auf die Architektur ihre Herrschaft ausgeübt
hat, so gut wie keine Beziehungen aufweist, sondern in allen seinen
Formen und Motiven der provinzialrömischen Welt anzugehören
scheint. Der Grund wird doch wohl in der verschiedenen Nationalität
der ausführenden Kräfte zu suchen sein. Goldschmiede und andere
mehr dem häuslichen Bedarf dienende Kunsthandwerker mögen die
germanischen Völker bei ihrer Okkupation der römischen Provinzen
mitgebracht haben, der Steinbau erwächst aus den handwerklichen
Traditionen der unterworfenen Provinzialbevölkerung und hat immer
den Stempel dieser Herkunft beibehalten. — Linder, Die Reste
des römischen Kellmünz (Trier, Lintz 1914) gibt, wenn auch noch
nicht die abschließende Publikation, so doch eine vorläufige zusammen-
fassende Übersicht über die Grabungen des Verfassers an der Stätte
des spätrömischen Kastelies Coelius mons am liier. Der festungsähn-
liche Bau mit seinem unregelmäßigen Grundriß und den starken halb-
runden Mauertürmen hat aller Wahrscheinlichkeit nach den Unter-
gang des weströmischen Reiches überlebt und wurde von den Alahol-
fingern als Herrschaftssitz übernommen (vgl. Baumann, Forschungen
zur schwäbischen Geschichte, S. 277 ff.). Eine sehr frühe Kirchen-
anlage scheint an der Stelle der heutigen Pfarrkirche zu vermuten.
Mit ihr sind die von Linder aufgefundenen merkwürdigen Reste christ-
liches Gepräge tragender Tonreliefs in Verbindung zu bringen, deren
Datierung vorläufig noch manches Rätsel aufgibt. — Mit den Dorf-
kirchen der Uckermark beschäftigen sich zwei Studien von Ohle:
„Die Besiedelung der Uckermark und die Geschichte ihrer Dorfkirchen"
und „Kurze Bau- und Kunstgeschichte der Uckermark" in den Jahr-
264 G. Weise,
gangen 1913 — 1915 der Mitteilungen des Uckermärkischen Museums-
und Geschichts-Vereins zu Prenzlau, sowie eine fast um die gleiche
Zeit erschienene Greifswalder Dissertation „Die Dorfkirchen der Ucker-
mark" von Nagel. Die Uckermark weist eine überraschende Zahl
meist dem 13. Jahrhundert angehörender Feldsteinkirchen auf, wie sie
für die ganzen ostdeutschen Kolonialgebiete charakteristisch. Bei der
durchaus gleichmäßigen Gestaltung der Mehrzahl dieser Anlagen
entbehrt der Gedanke planmäßiger Errichtung im Auftrage eines be-
stimmten Bauherrn nicht der Wahrscheinlichkeit. Nagel stellt drei
verschiedene Grundrißtypen fest; im Grunde handelt es sich doch nur
um Modifikationen ein und desselben Schemas. Nicht recht einleuchten
will, wenn der gleiche Verfasser gerade die am reichsten entwickelte
Plananlage für die frühesten Bauten in Anspruch nehmen will, zumal
er selbst zugeben muß, daß die technische Ausführung bei jenen „Erst-
lingsbauten" durchwegs bedeutend sorgfältiger ist als bei den Anlagen
einfacheren Typs. Also wird wohl eher an mit reicheren Mitteln aus-
geführte, im übrigen aber keineswegs eine besondere Epoche kenn-
zeichnende Gotteshäuser zu denken sein. An gewissen Eigentümlich-
keiten, die auf die Ausführung durch verschiedene Bauhütten zu
deuten scheinen, glaubt Ohle unter den älteren Dorfkirchen der Land-
schaft eine geschlossene südliche Gruppe und eine nördliche um Prenz-
lau unterscheiden zu können. Die Grenze zwischen dem Tätigkeits-
bereich beider Hütten würde sich mit derjenigen der Bistümer Branden-
burg und Cammin oder des weltlichen Herrschaftsgebietes der Branden-
burger Markgrafen und der Herzöge von Pommern decken. Nagel
lehnt diese These in einem nachträglichen Zusatz zu seiner Arbeit
ziemlich kurz ab. Ohne genauere Kenntnis der betreffenden Denkmäler
läßt sich die Frage leider nicht entscheiden. — Paul, Sundische
und lübische Kunst (Berlin 1914) verfolgt einige Ausstrahlungen
französisch beeinflußter Frühgotik in Malerei und Plastik Stralsunds
und der benachbarten Gegenden, Beziehungen, für die Lübeck sich als
das vermittelnde Zentrum erweisen läßt. — Sehr zu begrüßen sind
Gradmanns, des württembergischen Landeskonservators, „Kunst-
wanderungen in Württemberg und Hohenzollern" (Stuttgart,
Meyer- llschen, Illustrierte Kunstreisebücher Bd. 1). Ist auch ihr Ziel
vorwiegend ein mehr ästhetisches, und wird keineswegs absolute Voll-
ständigkeit in der Aufzählung aller und jeder Werke erstrebt, so bringen
sie doch manche wertvolle Ergänzungen zu dem in seinen ersten Bänden
nur sehr dürftigen und vielfach rückständigen offziellen Denkmäler-
inventar, auf dessen Angaben auch Dehios Handbuch sich im wesent-
lichen noch angewiesen sah. Die Angaben über die einzelnen Denk-
mäler des früheren Mittelalters zeigten sich überall, wo ich Stichproben
vornehmen konnte, zuverlässig. Hinsichtlich der Stellungnahme zu
Zur Archäologie des früheren Mittelalters. 265
manchen Problemen wird man natürlich hier und da anderer Mei-
nung sein können.
Zum Schluß ein kurzer Hinweis auf verschiedene Zeitschriften-
aufsätze. In den „Mitteilungen des Vereins für hessische Geschichte
und Landeskunde" (S. 111 ff.) ein Referat über einen Vortrag Rauchs
über den Stand der von ihm geleiteten Grabungen in Ingelheim
nach der Kampagne von 1913. Von dem engeren Pfalzbezirk (Königs-
saal, Kirche und Atrium) heben sich jetzt die nördlich von ihm ge-
legenen Villa regia und die im Süden zu lokalisierenden Wirtschafts-
bauten ab. — Über die noch nicht abgeschlossenen Grabungen am
karolingischen Königshof zu Ladenburg a. N. der vorläufige
Bericht im Korrespondenzblatt des Gesamtvereins (S. 297 ff.). In der
in beträchtlichen Teilen des aufgehenden Mauerwerkes noch ins 9. Jahr-
hundert zurückgehenden Sebastianskapelle hat sich in Ladenburg
die ehemalige Eigenkirche des dortigen Königshofes erhalten. An ihre
westliche Schmalseite schloß sich in gleicher Flucht der seitlichen
Mauern der „Saal" an. Saal und Kirche bildeten den freistehenden
Mittelpunkt des Hofes. Dessen Wirtschaftsgebäude und äußere Um-
grenzung festzustellen, vor allem auch sein Verhältnis zu den Resten
des römischen Lopodunum, innerhalb dessen Mauerbering er sich erhob,
genauer zu bestimmen, muß die Aufgabe künftiger Grabungen sein.
— „Westfalen" (S. 25ff.) bringt im Anschluß an den von dem gleichen
Verfasser herausgegebenen Katalog der Skulpturen des westfälischen
Landesmuseums in Münster (Berlin 1914) eine kurze Untersuchung
B. Meiers über die Reliefplatten an der Mauritiuskirche in
Münster, für die ottonischer Ursprung mit nicht gerade sehr durch-
schlagenden Gründen plädiert wird. — In Fulda wurden im Laufe
der letzten Jahre Grabungen von Vonderau in der unmittelbaren
Umgebung des Domes vorgenommen. In den Fuldaer Geschichts-
blättern (1913, S. 129 ff.) der vorläufige Bericht über die Ergebnisse.
Auf dem freien Platz vor der heutigen Fassade, die den nur noch aus
Hterarischen Nachrichten rekonstruierbaren Ostchor des karolingischen
Baues verdrängt hat, wurden die Fundamente der im 10. Jahrhundert
errichteten Königskapelle und Reste des Paradieses, dessen östlichen
Abschluß jene bildete, festgestellt. Die Grabungen an dieser Stelle
sind noch nicht abgeschlossen. Im Westen des Domes trat vor der
Bonifatiuskrypta eine halbkreisförmige Fundamentmauer zutage. In
ihr die Reste einer einen inneren Chorumgang ummantelnden großen
Apside zu sehen, wird nicht angehen. Die „äußerst mangelhafte"
Fundamentierung, ebenso wie die Tatsache, daß die freien Enden des
halbkreisförmigen Mauerzuges mit den anstoßenden äußeren Grund-
mauern des einstigen Kreuzganges im Verband standen, dürfte eher
darauf deuten, daß der unter Abt Eigil „Romano more" westlich der
266 G. Weise, Zur Archäologie des früheren Mittelalters.
Kirche angelegte Kreuzgang an dieser Stelle in Form eines Halbrundes
um die ehemalige Westapsis herumgeführt war. Beachtenswert bleibt
die Feststellung dieses Mauerzuges im Hinblick auf die nicht unähn-
lichen Angaben des Baurisses von St. Gallen. — In den Mitteilungen
der k. k. Zentralkommission (S. 118 ff.) berichtet Frey, Neue
Untersuchungen und Grabungen in Parenzo, über wichtige Feststel-
lungen gelegentlich der Restaurierungsarbeiten an dem dortigen Epi-
scopium. Bestimmte Anhaltspunkte zur Datierung des merkwürdigen
zweigeschossigen Baues, dessen Grundrißdispositionen an die älteste
Anlage des Trierer Doms erinnern könnten, fehlen. Nach Frey wäre
das 6. Jahrhundert als Entstehungszeit anzunehmen.
Literaturberidit.
Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa von den Anfängen
bis um 500 v. Chr. Von M. Hoernes. 2. durchaus umge-
arbeitete und neu illustrierte Auflage. Mit 1330 Abb. im
Text. Wien, Kunstverlag Anton Schroll & Co. 1915. XIV
u. 661 S. Geh. 20 M., geb. 24 M.
Das bedeutende Werk des Wiener Gelehrten hat in der
vorliegenden zweiten Auflage eine vollständige Umgestaltung
erfahren, die hauptsächlich dem stofflichen Zuwachs, den die letzten
15 Jahre gebracht haben, zuzuschreiben ist. Wenn trotzdem der
Umfang des Buches gegenüber der ersten Auflage, die 1898
erschienen ist, ein geringerer geworden, so ist dies nur von Vorteil.
Viele Einzelheiten und Ausführungen, die heute nicht mehr die
Bedeutung haben wie früher, sind weggefallen; die Darstellung ist
im ganzen straffer gefaßt, der Stoff selbst anders geordnet worden.
Ein erster Teil handelt von primitiver bildender Kunst überhaupt,
ein zweiter von den prähistorischen Altertümern im besonderen
Europas, ein dritter von der Kunst der älteren Steinzeit und ein
vierter von der geometrischen Kunst des Bauerntums. Daran
schließen sich dann Abschnitte über die Kulturkreise und Kunst-
richtungen der jüngeren Steinzeit und der Kupferzeit, der Bronze-
und Eisenzeit, wobei, ihrer Bedeutung entsprechend, die vor-
metallischen Perioden besonders ausführlich behandelt sind.
Das will nicht sagen, daß nicht auch die Metallzeiten eine gewissen-
hafte Durcharbeitung erfahren hätten; im Gegenteil, die Dar-
stellungen der Kulturkreise und Entwicklungen der Eisenzeit
(S. 435 — 574) scheint dem Referenten eine glänzende Leistung.
Einleitend wendet sich der Verfasser gegen die Annahme
eines universalhistorischen Parallelismus zwischen einer onto-
268 Literaturbericht.
genetischen und allgemein phylogenetischen Entwicklung der
bildenden Kunst. Mit Recht hebt er hervor, daß dem heutigen
Kinde die Bedingungen gar nicht mehr geboten werden können,
unter denen der primitive Mensch selbständig zur Kunstübung
gelangt. Man könnte hinzufügen, daß auch die Psyche des Kindes
mit derjenigen des Naturmenschen irgend einer Periode gar nicht
vergleichbar ist. Es wäre zu wünschen, daß die Geisteswissen-
schaften von einer Überschätzung des biogenetischen Grund-
gesetzes, das in den Naturwissenschaften genug Schaden ange-
richtet hat, verschont blieben. Auch die Behauptung, daß sich die
kunstgeschichtliche Entwicklung immer und überall nach einem
und demselben Rhythmus vollziehe und regelmäßig mehrere
analoge Phasen durchlaufe (vgl. z. B. W. Deonna, Les lois et les
rythmes dans Vart. Paris 1914), wird als irrig zurückgewiesen,
denn weder in der paläolithischen noch in der neolithischen Kunst
läßt sich ein solcher rhythmischer Ablauf feststellen.
Hoernes definiert Kunst als „eine Funktion der menschlichen
Natur, wodurch diese ihrem Innenleben auf solche Art Ausdruck
verleiht, daß ihr daraus Befreiung, Genuß und Wohlgefallen
erwächst" (S. 1). Ihrer äußeren Natur nach lassen sich die Künste
in drei Paare gliedern: Das erste Paar bezieht sich auf den Körper
(Leibesschmuck und Tanz), das zweite bildet im Raum für das
Auge (Gerätschmuck und freie Bildnerei), das letzte in der Zeit für
das Gehör (Musik und Poesie). In jedem Paare sind Künste der
abstrakten, ästhetischen Form, des Rhythmus usw. mit solchen der
konkreten Naturnachahmung verbunden; alle drei Paare treten
gleichzeitig auf, spielen aber in der Menschheitsentwicklung in
den einzelnen Zeitperioden nicht immer die gleiche Rolle. Am
frühesten mußten die Künste, welche sich auf den menschlichen
Körper als ihren Träger oder ihr Material beziehen, sich zu einer
bestimmten Höhe entwickeln.
In der bildenden Kunst machen sich von Anfang an zwei
Richtungen geltend: eine seltenere „naturaHstische" und eine
allgemeiner vertretene „schematische" oder „geometrische". Ver-
fasser läßt es dahingestellt, ob die erstere mehr in dem Mitteilungs-
trieb, die letztere mehr in dem Spieltrieb des Menschen ihren
Ursprung hat, aber eine solche Annahme hat große Wahrscheinlich-
keit für sich. Die beiden Richtungen sind im Prinzip diametral
entgegengesetzt; „sie bezeichnen zwei Pole künstlerischer Auf-
Allgemeines. 269
fassung und Darstellung" (S. 9), und erst in der späteren Kunst-
entwicklung nähern sie sich einander und vereinigen sich. In der
ältesten Zeit beschränkt sich die naturalistische Kunst, die als das
eigentliche Problem der prähistorischen Kunstforschung bezeichnet
wird, ausschließlich auf die Darstellung des Menschen und der
Tierwelt, aber schon frühe (vgl. die Felsenmalereien Spaniens)
wird auch diese Formwelt durch allmähliche Abkürzung und Ver-
einfachung gelegentlich in Motive der geometrischen Dekoration
umgewandelt. Daneben besteht aber von Anfang an der Geometris-
mus, der die allgemeinere und leichtere Kunstform darstellt und
für viele Völker überhaupt die einzige Kunstübung geblieben ist.
Daß dabei, wenigstens bei rezenten Wildstämmen, neben den
technischen Bedeutungen auch gewisse Vorstellungen eine Rolle
spielen, glaubt Referent für die Senoi nachgewiesen zu haben
(vgl. R. Martin, Die Inlandstämme der Malayischen Halbinsel.
Jena 1905, S. 801 — 854), obwohl zugegeben werden muß, daß
alle komplizierteren Deutungen einfacher geometrischer Motive
sekundärer Art sind. So einfach, wie Schröter („Die Anfänge der
Kunst im Tierreich und bei den Zwergvölkern", Beiträge zur
Kultur- und Universalgeschichte Bd. 30, Leipzig 1914) sich die
ornamentale Kunstübung bei rezenten Naturvölkern vorstellt,
liegen die Verhältnisse denn doch nicht.
Schon in der Glyptik der älteren Steinzeit sind übrigens die
Grenzen zwischen reinem Bild, abgekürzter Bildfigur und bloßem
Ornament vielfach verwischt. Manche Ornamente sind eben
rein technischen Ursprunges, andere Umbildungen und Verkümme-
rungen figürlicher Darstellungen, die dann aber nicht rhythmisch
oder symetrisch auftreten, sondern meist piktographisch hingesetzt
sind. Die dekorative Kunst der jüngeren Steinzeit leitet Verfasser
nicht von diesen paläolithischen Abbreviaturen ab, wie es H. Breuil
tut, sondern nimmt an, daß in der Änderung der wirtschaftlichen
Kultur, in dem Hervortreten des weiblichen Anteils am Nahrungs-
erwerb neue Bedingungen vorlagen, die der Entwicklung einer
geometrischen Kunst förderlich waren.
Verfasser behandelt eingehend die einzelnen Perioden der
prähistorischen Kunst in Europa, für die ein übersichtliches,
chronologisches System (S. 7 1-73) gegeben wird, überall sich auf ein
reiches Anschauungsmaterial stützend. Er beschränkt sich dabei
auf die freie Bildnerei und die Ornamentik (mit Einschluß des
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 18
270 Literaturbericht.
Körperschmucks), die sich hauptsächlich in der Kleinkunst und der
Kunstindustrie dokumentiert, und läßt mit Recht die prähistorische
Baukunst, so interessant sie für die allgemeine Kultur ist, da sie
als reine Nutzbaukunst auftritt, beiseite. Dabei weist er vor allem
auf die Zusammenhänge zwischen Kunst- und Wirtschaftsformen
hin und begründet auf diese Weise eine „Kunstgeographie der
europäischen Vergangenheit", die ganz neue Einblicke in die
Kulturentwicklung Europas gestattet und auch auf die historischen
Zeiten Licht wirft. Daß dabei Europa als Randbezirk der alten
Welt (S. 96) aufgefaßt wird, ist in den neuen Forschungen und
Entdeckungen im nahen Orient begründet. Unterschieden werden
die drei Perioden des Jägertums, des Bauerntums und des Krieger-
tums, die nicht nur durch die Eigentümlichkeiten der wirtschaft-
lichen Grundlage und des künstlerischen Geistesausdrucks,
sondern auf durch die wechselnde Rolle der Arbeitsstoffe und der
mit diesen geübten Techniken von einander unterschieden sind.
Eine auf diesen Anschauungen basierende „Übersicht der Kunst-
zeitalter Europas" (S. 112 — 114) sei besonderer Beachtung
empfohlen.
Auf die Ausführungen in den einzelnen Kapiteln kann hier
nicht eingegangen werden ; nur einige Anschauungen des Verfassers
seien noch erwähnt. So bezweifelt er die magische oder irgendwie
transzendentale Bedeutung der naturalistischen Bildwerke des
Eiszeitalters (S. 184 u. ff. und 601 u. ff.), und in der Tat haben
manche Auffassungen wie z. B. diejenige der Fratzen von Altamira
als Tänzer mit Tiermasken wenig Wahrscheinlichkeit für sich.
Er hält daher die parietale Kunst des Quartärmenschen mehr für
eine profane Mußebeschäftigung, welcher der Ort und das Material
entgegenkamen. Nach dem Erlöschen dieser paläolithischen Bild-
nerei ging Westeuropa durch die völlig kunstlosen Perioden von
Mas d'Azil undCampigny hindurch und kam erst durch ganz neue
Anregungen aus dem Süden und dem Osten wieder zu einer neuen
Kunstübung. So ist es also auf dem Boden des vorgeschichtlichen
Europa zu zwei hochspezialisierten Kunstperioden gekommen,
einmal zur Zeit der jungpaläolithischen Jägerstämme, und dann
wieder zur Zeit der Bauernvölker der jüngeren Steinzeit, der
Bronze- und ersten Eisenzeit. „Sowohl der Naturalismus der
einen, als der Geometrismus der andern hat sich in voller Einseitig-
keit gründlich ausgelebt und ist als führende Richtung in unfrucht-
Allgeraeines. 271
barer Beschränkung erstarrt und erloschen oder von stärkeren
Mächten verdrängt worden. Diese Richtungen vertreten jedoch die
Elemente, aus deren fruchtbarer Berührung und gegenseitiger
Durchdringung die höhere oder historische Kunst entsteht,
als ein Ergebnis der Domestikation der naturalistischen Wildform
durch die Zucht des geometrischen Stilgrundsatzes (S. 576)."
In mehreren Nachträgen behandelt Verfasser dann noch
eine Reihe von Spezialfragen mehr systematischer Art, die sich in
der chronologisch -historischen Darstellung nicht unterbringen
ließen. Er erhebt bei aller Anerkennung der hohen wissenschaft-
lichen Bedeutung der paläolithischen Kunst berechtigte Bedenken
gegenüber einer Überschätzung ihres geistigen und künstlerischen
Gehaltes (gegen Klaatsch u. A,), indem er besonders auf das
Unvermögen zur einfachsten Gruppenbildung hinweist.
Es steckt viel feine Polemik in dem Buch (besonders über
das Verhältnis von Prähistorie und Ethnologie, über Elementar-
gedanke und Kulturkreislehre, über Kinderkunst und Chrono-
logie und ähnliche Fragen), die, da der Gegner stets ausgiebig
zu Wort kommt, überall klärend und meist sehr erfrischend
wirkt.
Auf das reiche, ausgewählte Bildermaterial, das zum Teil
einer Unterstützung durch die kaiserl. Akademie derWissenschaften
in Wien zu danken ist, muß noch besonders hingewiesen werden.
Bei der umfassenden und vielseitigen Kenntnis der literarischen
Quellen und Musealbestände über die H. verfügt, ist sein
Werk zu einem ausgezeichneten und unentbehrlichen Handbuch
für Prähistoriker, Ethnologen, Archäologen und Kunsthistoriker
geworden. Besonders in die Hände der letzteren möchte man es
legen, damit auch in diesen Kreisen die Prähistorie endlich ihre
richtige Wertschätzung erfahre.
Pasing b. München. Rudolf Martin.
Kleine Schriften. Von Otto Hirsdifeld. Berlin, Weidmannsche
Buchhandlung. 1913. IX u. 1011 S.
Otto Hirschfeld ist ein Schüler Ludwig Friedländers, des
Verfassers der Sittengeschichte der römischen Kaiserzeit, und ist
diesem Lehrer und Freunde bis an dessen Lebensende dauernd eng
verbunden gebheben; von einer historisch gerichteten Philologie ist
18*
272 Literaturbericht.
er ausgegangen und konnte dieser Verbindung treu bleiben,
als er in den Kreis Mommsens eintrat. Er wurde ein Epigraphiker
im Geiste Mommsens, er lernte lateinische Inschriften nicht nur
tadellos herauszugeben sondern auch historisch zu verwerten;
er wurde ein Epigraphiker, den jeder Historiker auch als Historiker
gelten lassen mußte. Er wurde der Genosse und der erfolgreichste
Mitarbeiter Mommsens an Corpus inscriptionum Latinarum und
hat dafür nicht nur mit A. v. Domaszewski die Ergänzungsbände
der Inschriften der Donauländer bearbeitet, sondern vor allem das
Riesenwerk der transalpinischen gallischen Inschriften begründet,
durchgeführt und vollendet. Sie wurden sein epigraphisches Lebens-
werk. Die Wahl des Themas für seine Doktordissertation zeigt H.
zweifellos durch Friedländers Sittengeschichte beeinflußt; und in
den Kreis Mommsens trat er in den Jahren ein, in denen der Meister
den Grund zum römischen Staatsrecht legte; das Jahr 1874 sah
die Magistratur der römischen Republik vollendet, und das Jahr
1875 brachte den großen Wurf des Staatsrechts des Prinzipates, in
dem das Kaisertum des Augustus als Magistratur aufgefaßt war,
ein Gedanke, der zugleich folgerichtig durchgeführt wurde.
Die Stütze für dieses Staatsrecht des Prinzipates bot zwar die
Königin der lateinischen Inschriften im Monumentum Ancyranum,
aber die Tausende kleiner lateinischer Inschriften blieben hierfür
ohne Belang. Dagegen boten eben sie die Grundlage für eine
Erforschung der Reichsverwaltung der Kaiserzeit, eine Aufgabe,
an der die Geschichtsschreibung der Kaiserzeit selber, auch die
eines Tacitus, achtlos vorbeigegangen war. Eben diese Aufgabe
löste H. 1877 in seinen Untersuchungen auf dem Gebiete der
römischen Verwaltungsgeschichte, dem Buche über die kaiserlichen
Verwaltungsbeamten bis auf Diocletian. Referent erinnert
sich noch des tiefen Eindrucks, den dies Werk auf ihn machte,
als er es als Leipziger Student las. Um den Eindruck des
Buches voll zu würdigen, vergegenwärtige man die sich damalige
Stagnation der römischen Kaisergeschichte, in die Mommsen
erst begann, neues Leben zu bringen. H. bot etwas vollkommen
Neues, das volle Bild eines bedeutenden und inhaltreichen
staatlichen Lebens. Und man bedenke, das Corpus inscriptionum
Latinarum steckte damals noch in seinen Anfängen ; was gehörte
1876 dazu, diese Fülle zerstreuter Inschriften zu übersehen und zu
beherrschen ! Es war eine überraschende Ergänzung zu Mommsens
Allgemeines. 273
Staatsrecht des Prinzipats, und zwar eine Ergänzung von er-
leuchtender Wirkung, die über den juristischen Gedanken hinaus zu
konkreter Anschauung führte. Es ist das historische Meisterwerk
0. H.s, das, bei genauester Behandlung des Details, nirgends im
Antiquarischen stecken blieb, sondern die großen Züge der Ent-
wicklung erkannte und zur Anschauung brachte. Wie treten uns
hier die Stufen entgegen, die, zwar nicht durch die Person des
Klaudius, wohl aber durch die Neuerungen seines Regimentes,
und sodann durch Hadrian und Septimius Severus repräsentiert
werden! Damals war neu, was heute zum eisernen Bestand gehört.
Bereits in der 2. Auflage seines Prinzipates würdigte Mommsen
selber die anschauliche Realität des Werkes und begrüßt in ihm
zugleich eine Nach- und Vorarbeit. Mommsens Erwartung, die
jüngeren Arbeitsgenossen würden sich diesem Forschungsgebiete
zuwenden, hat sich erfüllt, vor allem aber blieb 0. H. selber das
hohe Glück, über 30 Jahre selber an der Fortarbeit teilnehmen zu
können, sowohl an der Zurichtung wie an der Verarbeitung vor
allem des inschriftlichen Materials. So konnte im Jahre 1905
eine völlige Neubearbeitung seines Lebenswerkes erscheinen:
DiekaiserlichenVerwaltungsbeamtenbisauf Diocletian.
Berlin, Weidmann, 1905. VIII. 515 S. statt 323 S. Zu einer
Änderung- der Grundlinien war kein Anlaß, aber wieviel Neues
hinzugekommen war, zeigte schon die Steigerung des Umfangs um
mehr als ein volles Drittel. Von Papyri war 1877 noch keine
Rede, wie hatte sich aber bis 1 905 die Lage verändert ! In bewunde-
rungswürdiger Weise hatte sich H. auch in die Papyri eingear-
beitet und sie ausgiebig verwertet, besonders für den neu hin-
zugekommenen Abschnitt über Ägypten und die Provinzen S. 343
bis 409, Dagegen hat die neue Auflage die Beamtenverzeichnisse
der ersten fortgelassen und der Fortführung der prosopographia
imperii Romani vorbehalten; was mancher bei der Unsicherheit
des Zeitpunktes einer solchen Fortführung bedauern wird. Rich-
tiger wäre es vielleicht, erst dann etwas fortzulassen, wenn der
Ersatz bereits da ist.
Im Jahre 1903 haben die Fachgenossen und Freunde den
60. Geburtstag H.s mit einer inhaltreichen Festschrift begrüßt,
und 1905 zeigte der Sechzigjährige seine volle Kraft in der Neu-
bearbeitung seines Hauptwerkes; in zeitlicher und vielleicht
auch in einer gewissen ursächlichen Verbindung mit dem 70. Ge-
274 Literaturbericht.
burtstage von 1913 steht die Sammlung der Kleinen Schriften.
Nicht viele werden bisher diesen Reichtum in seiner Vereinzelung
übersehen haben: um so willi<ommener ist die Sammlung, um die
sich H.s Schüler Hermann Dessau besondere Verdienste
erworben hat. Auch einige Untersuchungen der Verwaltungs-
geschichte, besonders der späteren Kaiserzeit, finden sich in dieser
Sammlung, die in das große Werk nicht aufgegangen sind. Die
Bearbeitung der gallischen Inschriften hat zu den umfang- und
inhaltreichen gallischen Studien, zur Geschichte der provincia
Narbonensis und Aquitaniens und zu der monographischen Be-
handlung von Lugüdunum geführt, dessen Inschriftenmuseum
unter den mir persönlich bekannten das eindrucksvollste ist. In
der Untersuchung über das Ende der gallischen Statthalter-
schaft Caesars berühren sich Provinzial- und Weltgeschichte.
Der allgemeinen Epigraphik gehört die berühmte Untersuchung
über die fasti Capitolini an, der erste Fortschritt über Borghesi
hinaus. Der bedeutendste Beitrag dieser kleinen Schriften zur
Kaisergeschichte ist der Aufsatz zur Geschichte des römischen
Kaiserkultus. Herzliche Worte der Erinnerung sind den Lehrern
und Freunden Friedländer und Mommsen gewidmet. In der
älteren römischen Geschichte vertritt H. den Standpunkt, den
Mommsen in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
erreicht hat. Der neuen kritischen Bewegung, die 1886 B. Niese
einleitete, hat er sich nicht angeschlossen. Dabei wahrte er
sich aber auch Mommsen gegenüber die Selbständigkeit des
Urteils, wie seine von der Mommsens weit abweichende Beur-
teilung der Triumphalfasten zeigt. Seine Schüler erzog H. in
gleicher Weise zur Ehrfurcht vor der Größe Mommsens, wie zu
voller wissenschaftlicher Freiheit: das zeigen u.a. H.Dessau,
L. M. Hartmann und A. Rosenberg; Hartmann bekundet seine
Selbständigkeit sogar gerade in seiner Gratulationsschrift zu
H.s 70. Geburtstag, der gehaltsvollen Untersuchung über den
spätantiken und frühmittelalterlichen Staat, in der er auch die
ältere römische Geschichte berücksichtigt und beurteilt hat.
Es ist der volle Ertrag eines reichen Forscherlebens, der uns
hier vorliegt, in den gallischen Inschriften, in der Neubearbeitung
der Verwaltungsgeschichte und in dieser Sammlung kleiner
Schriften. Mit dem Danke für diese großen Leistungen verbinden
wir den Ausdruck der Hoffnung, es werde der umfassenden
Allgemeines. 275
Gelehrsamkeit H.s, der Schärfe seiner Untersuchung, der Weite
und Tiefe seines Urteils beschieden sein, noch manche schöne
Frucht der Forschung einzubringen. Mögen seine höheren Jahre
denen seiner Freunde Mommsen und Friedländer gleichen!
Straßburg i. E. K. J. Neumann.
Der Geist der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Eine Unter-
suchung über seine Grundlagen und Voraussetzungen von
Bruno Archibald Pudis. München und Berlin, R. Olden-
bourg. 1914. XI u. 438 S. 10 M.
Es ist nicht leicht, dieses Buch zu kennzeichnen. Den Ertrag
einer über zwölfjährigen Arbeit legt Verfasser vor; teilweise vor,
denn das ganze Werk soll noch einen zweiten Teil umfassen und
hat sich, wesentlich aus materiellen Gründen, eine starke Kür-
zung und vielfache Umarbeit gefallen lassen müssen. Daraus er-
klären sich manche Unebenheiten des Buches, die aber nicht
allzuschwer wiegen, da das Ganze sich sehr anregend liest und
vielseitige Belehrung bietet. Verfasser verfügt über ein sehr
ausgebreitetes Wissen, speziell auf dem Gebiete der Antike, und
hat sich gründhch und mit warmer Anteilnahme in die Probleme
eingearbeitet. Wie man auch Stellung nehmen möge, die Lektüre
lohnt, so daß wir das Erscheinen des Schlußbandes dringend
wünschen möchten.
Wer heutzutage über den Geist des Kapitalismus schreiben
will, muß sich mit Max Weber und Troeltsch auseinandersetzen.
Das tut auch Fuchs, dessen Buch mit Troeltschs „Soziallehren"
zu konfrontieren eine interessante Aufgabe ist. Denn F. macht
Weber und Troeltsch Opposition. Er legt eine Gesellschaftslehre
des Christentums bis zu den Zeiten Augustins einschließlich vor,
aber sie soll nur die Grundlage bilden zu einer Darstellung der
protestantischen Ethik und des Geistes des Kapitalismus. Der
bürgerlich-kapitalistische Geist soll „mittels einer möglichst weit
ausgreifenden Untersuchung über die Grundlagen unserer Zeit"
begriffen werden. Sofern nun Weber ihn wesentlich vom Cal-
vinismus her verstanden, Troeltsch sich ihm angeschlossen hatte,
glaubt F. eine Ergänzung durch die tiefere Aufdeckung der
psychologischen Motive der calvinistischen Religion bieten zu
können und will sie durch einen Rückgriff auf die Persönlich-
276 Literaturbericht.
keit Jesu als den Quellpunkt christlicher Wesensart gewinnen.
Indem aber die christliche Idee Gemeinschaft wird, im Gedanken
des Corpus Christi einen Organismus bildet, wird die Frage nahe-
gelegt, ob trotz gewisser und recht tiefgehender Unterschiede die
christliche Gesellschaftsstruktur mit den antiken, in den religiös-
staatlichen Gebilden zumal sich manifestierenden konstitutiven
Ideen wesensgleich ist. Zugleich soll dann die Abhebung des
modern-kapitalistischen Geistes von Mittelalter und Reformation
vollzogen werden. Das letztere soll der zweite Teil bringen, das
große Programm des Übrigen versucht der vorliegende Band zu
lösen.
Die Persönlichkeit Jesu, der das erste Kapitel gilt, wird
unter den Gesichtspunkt eines „Versuches zur Erklärung des
Gegensatzes antiker und christlicher Geistesart" gestellt. In
feiner, lehrreicher Weise wird dabei der Gottesbegriff in den
Mittelpunkt gerückt und als eine Synthese der griechischen und
jüdischen Anschauung begriffen. „Der antike Gottesbegriff und
die an ihm orientierte Liebesidee — f'iow? als Kampf, Agon, Streben
von unten nach oben im Gegensatz zur herablassenden christlichen
aydnri — sind von einer wundervoll erhabenen Schönheit, aber
auch von einer marmornen Kälte, einer starren Geistigkeit, die
eben vom Willen nichts weiß und nichts wissen will, ja, ihn in
die sinnliche triebhafte Seelensphäre verweist." Demgegenüber
der Judengott, der alttestamentliche, der Willensgott, Feuergott,
Gewittergott, Stammes- und Kriegsgott, machtvoller National-
gott — das Vorbild des Calvinistengottes. Sehr gut wird von
hier aus (S. 36ff.) die Ethik aus dem Geiste der Furcht ent-
wickelt. „Für die Masse dieser Gläubigen war die Frage nicht
die: wie komme ich zu Gott, wie werde ich eins mit ihm? viel-
mehr lautete ihr Räsonnement: wie schaffe ich mir die zürnende
Gottheit (denn erzürnt hat man sie in dubio doch wohl immer)
vom Halse?" Von daher datiert der gesetzliche Geist des Juden-
tums. Der Verabsolutierung der Vernunft {yötjoig vorjatMg) tritt
die Verabsolutierung des Willensmomentes in der Gottheit zur
Seite. Das Gottesleben Jesu nun hält die Mitte zwischen Grie-
chentum und Judentum, sofern der Wille Gottes vom Intellekte
gleichsam diszipliniert ist und in der Liebe als vom sittlich be-
stimmten Willen mitbedingtem geistigen Akte seine vornehmste
Äußerung findet. Das kann man als vergegenwärtigende Kon-
Allgemeines. 277
struktion gelten lassen, wenngleich man nicht vergessen darf,
daß der jüdische Willkürgott auch in Jesu religiöser Welt eine
sehr starke Rolle spielt, wie jede neutestamentliche Theologie
zeigt. Umgekehrt ist der Satz, den F. als erschöpfende Quint-
essenz der Lehre Jesu bezeichnet (S. 47): „Du sollst lieben Gott,
deinen Herrn und deinen Nächsten, wie dich selbst" von Haus
aus ein jüdischer Satz (3. Mos. 19, 18). Die Dinge liegen also
nicht so einfach, wie es geschichtsphilosophisch scheint. Die
Darlegung von F. läßt den Erdgeruch, der zur historischen Figur
Jesu gehört, sehr stark vermissen, Jesus wird durch die Brille
Bernhards von' Clairvaux geschaut, der F. besonders lieb ist,
der aber bereits ganz gewaltige Reduktionen am historischen
Bilde Jesu vornahm. Der gewaltige eschatologische Spann-
druck, unter dem Jesus gestanden hat, verschwindet bei F.
vollständig und es wird ein Bild erzeugt, das viel zu harmonisch
ist, um richtig sein zu können. So gewiß, wie F. mit Recht her-
aushebt, von einem Klassenhaß bei Jesus keine Rede sein kann,
Herbheit und Schroffheit gegenüber der Welt und ihren Gütern
fehlen nicht, und eine „fest in sich ruhende Persönlichkeit"
(S. 57) hebt die Spannungen in seinem Leben nahezu auf, die
doch vorhanden waren.
Aber diese harmonisierende Tendenz bei F. hängt damit
zusammen, daß er überhaupt die Stellung des Christentums zur
Welt bzw. die Askese möglichst der Spannung zu entkleiden und
in Harmonie überzuführen sucht. Das ist ein Grundzug katholi-
scher Auffassung, der von F., der wohl selbst Katholik ist, hier
gehuldigt wird. Es sind ganz ähnliche Gedankengänge, wie sie
Schilling in seinem Buche: Naturrecht und Staat nach der Lehre
der alten Kirche entwickelt hat. (Vgl. dazu die Besprechung
von Troeltsch in dieser Zeitschr. Bd. 115 S. 99ff,) Das Christen-
tum erscheint als im ganzen völlig harmonisch und bedeutet
eine volle und runde Billigung aller sozialen Kulturwerte als
von ihm zentral anerkannter und den Aufstieg von der Natur
zur Gnade vermittelnder. Historisch ist diese Auffassung frei-
lich durchaus nicht zu halten, zieht sich aber durch das ganze
Buch von F. hindurch. Was erst ein Produkt des Thomismus
ist, kann nicht von Anfang an da gewesen sein, und man kann
auch nicht Thomas v. Aquino schon bei Bernhard v. Clairvaux
finden, der vita activa und vita contemplativa vereint habe (S. 16).
278 Literaturbericht.
Die Askese scheidet so als bestimmendes Moment bei F. fast
völlig aus, und darum wird auch die innerweltliche Askese des
Kalvinismus ihrer Bedeutung beraubt und der Ursprung des
kapitalistischen Geistes schon im mittelalterlichen Kloster ge-
sucht.
Auch das große Kapitel: die altchristliche Gemeinschafts-
idee, ihr Zusammenhang mit der antiken, sowie ihre Ausgestal-
tung bei Augustin steht unter der Wirkung jenes Gesichtspunktes.
So lehrreich die Entwicklung der antiken Gesellschaftslehre ist,
speziell auch der religiösen Organisationsformen, sie hat mit dem
Thema nicht allzuviel zu tun; denn die Parallele zum altchrist-
lichen Gemeinschaftswesen liegt nicht hier, sondern im Mysterien-
wesen, auf das Verfasser aber kaum eingeht. Das hängt offenbar
auch wieder mit der These vom harmonischen Charakter des
Christentums zusammen. Nicht ausgeschlossen ist dabei natür-
lich, daß das Christentum Ausdrücke aus dem antiken Staats-
leben entlehnt hat, ja, die hierzu von F. S. 153 f. gebrachten Bei-
spiele sind recht lehrreich. Treffend ist auch die Bedeutung des
Organismus als Konstitutividee der paulinischen Gemeinschaft
herausgearbeitet; sie fehlt allerdings den antiken staatlichen
Verbänden, aber auch den Mysterien? Hier war doch in der
allgemeinen Brüderlichkeit etwas von Gleichheit vor dem gött-
lichen Gesetze und Gleichheit in der Liebe zu spüren. Nicht
der politische Gemeinschaftsgedanke der Antike, sondern der
kultische hätte das rechte Vergleichsobjekt mit dem Christen-
tum abgegeben. Wenigstens in seiner paulinischen Gestalt; und
es war dann wieder eine Aufgabe für sich, die Umformung der
christlichen Gemeinschaft in die Staatskirche darzulegen. Jetzt
ist zwar ganz richtig erkannt, daß „die Kirche als die eigent-
liche Erbin der Antike wie des Imperium Romanum zurückbleibt",
aber der Prozeß wird nicht genügend klar gemacht; die Analyse
von Augustins „de civitaie dei" tut es nicht allein, denn Augustin
setzt die wichtigsten Veränderungen schon voraus. Zum Ver-
ständnis der Schrift des großen Afrikaners bringt F., der Troeltschs
neueste Arbeit darüber noch nicht kannte, schätzenswerte Beiträge,
wenn auch hier wieder die stark ästhetische Abtönung an Stelle
der lebhaften Spannung zwischen Christentum und Welt herrscht
(vgl. S. 239 ff.). Es wäre unbillig, F. an diesem Punkte mit
Troeltsch konfrontieren zu wollen, nur ganz allgemein sei ge-
I
Allgemeines. 279
sagt, daß seine Auffassung Augustins ihn an den Anfang des
Mittelalters und seiner Einheitskultur rückt. Es tritt eben immer
wieder die Grundschwäche des F.schen Buches zutage, die Ein-
heitskultur, die ein entscheidendes Kennzeichen des Mittelalters
ist (Troeltsch, Soziallehren S. 179 ff.), schon so früh wie mög-
lich angebahnt zu sehen.
Über 150 Seiten Anmerkungen sind dem Buche beigegeben,
gute Belegstellen aus der Patristik vorab. Wie nun Verfasser
seine These im Schlußbande fortführen wird, müssen wir ab-
warten.
Zürich. U^. Köhler.
Ludwig Hauflf, Die unterseeische Schiffahrt, erfunden und aus-
geführt von Wilhelm Bauer, früher Artillerie-Unteroffi-
zier, später k. russ. Submarine-Ingenieur. Getreue Wieder-
gabe der denkwürdigen ersten Schrift über das erste Unter-
seeboot des Deutschen Wilhelm Bauer, erschienen 1859,
neu herausgegeben: Bamberg, C. Buchners Verlag. 1915.
Es ist ein verdienstvolles Unternehmen, heute im Zeitalter
der U-Boote des Mannes zu gedenken, der bereits vor nahe zwei
Menschenaltern versucht hat, die Wehrkraft unseres Vaterlandes
zu heben. Mit dem Schwäbischen Meere sind zwei Erfindungen
eng verknüpft, die beide Gemeinsames aufweisen, beide Deutsch-
lands Macht stärken wollten. Wie der ZeppeHn uns heute das
Reich der Luft und seine Beherrschung erschlossen, so wollte vor-
dem der schwäbische Artillerie-Unteroffizier Wilhelm Bauer aus
Dillingen, der dem Bodensee ein Wrack entriß, den Feind unter
Wasser angreifen und die damals so mächtige Dänenflotte ver-
nichten. Es ist daher mit Freuden zu begrüßen, daß dieselbe
Buchhandlung, die schon im Jahre 1859 den genialen Mann
unterstützte, sich jetzt der dankbaren Arbeit eines Neudruckes
jener Broschüre unterzogen hat. Man will dem Bahnbrecher der
„submarinen" Schiffahrt in seiner Vaterstadt Dillingen ein
Denkmal errichten und dem „im Leben viel verkannten, erst
heute im großen Weltkriege richtig gewürdigten Manne eine
späte, aber wohlverdiehnte Ehrung bereiten". Dazu soll in
erster Linie die Schrift dienen, die uns wieder in eine Zeit ver-
setzt, in der Deutschland weder reif noch reich genug war, solche
Erfindungen selbst auszunützen. Es war noch die Ära (wie S. 59
280 Literaturbericht.
sagt), „in der Deutschland seine Söhne mit ihren Erfindungen in
das Ausland trieb, und das Ausland sie ausbeutete und die Erfinder
mit Undank lohnte!" Die deutsche Presse erwähnte ihn
(S. IV) nur höchst selten, auch die ausländische ging vornehm
über Bauers Erfindung weg. Allein die „Hamburger Nachrichten"
und „Webers Illustrierte Zeitung zu Leipzig", sowie der englische
„Kentish and Surrey Mercury" bildeten rühmliche Ausnahmen.
Selbst dann, als eine amerikanische „Erfindung" unserm Lands-
manne Bauer seine Erstlingsrechte streitig machen wollte, konnte
er die Unterstützung der vaterländischen Zeitungen nicht finden,
obwohl er sie zum Schutze für seine Ideen anrief. So klagt Ludwig
Hauff in der im Februar 1859 zu München geschriebenen Vorrede.
Um dem bedrängten Landsmanne zu seinem Rechte zu
verhelfen, ergriff Hauff in jener Zeit die Feder und schildert
erst, wie Wilhelm Bauer durch die politischen Verwicklungen im
Jahre 1859 an die Gestade des Sundewitt geriet und dort auf den
Gedanken kam, sich der Dänischen Flotte ungesehen unter
Wasser zu nähern. Aus Mangel an Mitteln wurde er gezwungen,
schwächer zu bauen, als er errechnet hatte, so daß er bei der
Probefahrt am 1. II. 1851 mit seinen beiden freiwilligen Begleitern
fast verunglückt wäre. „Notdürftig nur war das Ganze ausgerüstet,
besondere Vorsichtsmaßregeln von Seite der Marine waren ebenso-
wenig getroffen. Es gehörte großer Mut dazu, bei voraussichtlicher
Lebensgefahr die Fahrt zu wagen, um teilweise die nötigen Beweise
des Gelingens zu geben und Erfahrung für allenfallsige Verbesser-
rungen zu sammeln usw." heißt es S. 8. — Die Marinekommission
erklärte sich mit dem vom Erfinder gemachten Berichte zufrieden
und nahm ein Protokoll über die mißglückte Fahrt auf, dem noch
ein Zeugnis, daß man Bauer als zuverlässigen und höchst ehren-
haften Mann kenne, beigefügt wurde. Der Professor der Physik,
G. Karsten in Kiel, sprach sich ebenfalls schriftlich günstig
über die Erfindung aus, er hege keinen Zweifel, „daß eine will-
kürliche Regelung der Bewegung, sowohl der auf- wie der ab-
steigenden als auch der vorwärtsgehenden möglich sei". Trotzdem
die Nachricht von diesem Ereignis die Runde durch den deutschen
Blätterwald machte, brachte sie Bauer doch keine Mittel zu-
sammen, mit seinen Versuchen fortzufahren.
Wir können Bauer an der Hand der Schrift nach Österreich
begleiten, ohne daß er etwas erreicht. Ebensowenig blüht sein
Allgemeines. 281
Weizen in England, wo er dem Prinzen Albert und der Königin
Viktoria sein Modell zwar vorführen durfte, wo die Regierung
aber die „Hyponautik" zuerst nicht fördern wollte. Später
gelang es, den anfänglichen Widerstand zu überwinden, man
beabsichtigte aber Bauer um die Früchte seiner Mühen zu bringen
und versuchte, sich des Deutschen zu entledigen.
In Frankreich ging's ihm auch nicht gut; erst in Rußland
fand er einen geeigneten Boden, seine Pläne in Wirklichkeit
umzusetzen. Der Großadmiral Konstantin hielt die Erfindung
für ausführbar und gab die nötigen Mittel zum Bau. Jedoch
konnte Bauer, trotz des hohen Gönners, nichts gegen das ver-
rottete Beamtentum ausrichten; der Erfinder zeigte auf mehr als
130 Probefahrten, daß sein „Submarine-Kreuzer" schwimmen und
tauchen, sich bewegen und angreifen könne. Aber Bauer räumte
schließlich, angeekelt von den vielen Intrigen gegen seine Person,
das Feld. Er kehrte arm, aber ehrlich geblieben wieder in sein
Vaterland zurück.
In der Heimat lebte er dann von aller Welt abgeschlossen nur
seinen Erfindungen, die sich nicht bloß auf das submarine Gebiet
beschränkten. Er hat den Telegraphenkabeln, Rettungsbooten und
sogar der Luftschiffahrt seine Aufmerksamkeit zugewendet,
hat aber bis an sein Lebensende sich gegen Angriffe schützen
müssen, die seiner Idee die in Rußland doch bereits genugsam
bewiesene Lebensfähigkeit absprechen wollten.
Den Schilderungen sind noch drei Beilagen angefügt, die
Protokolle von Kommissionen aus Triest, Petersburg und München
bringen. In einem Anhange wird der erwähnte Bericht über die
amerikanische „Erfindung", die Bauer für eine Nachahmung
seiner Pläne ansah, gegeben, dem schließlich noch zwei sehr
gute Illustrationen folgen, die die erste Ausgabe nicht haben
konnte: Wilhelm Bauers Brandtaucher, der heute als kostbare
Reliquie im Hofe des Institutes für Meereskunde in Berlin auf-
bewahrt wird, nachdem der Rumpf bei Hafenerweiterungsbauten
in Kiel wieder an das Tageslicht gefördert wurde. Die zweite
Abbildung zeigt uns das Innere mit dem noch durch „Knochen-
dampf" betriebenen Maschinenwerke.
Lübeck, Dr. Schulze.
282 Literaturbericht.
Elementarereignisse im Gebiete Deutschlands. Systematische
Sammlung der Nachrichten über Elementarereignisse und
physisch-geographische Verhältnisse. Herausgegeben von
dem Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Alter-
tumsvereine. I. Die Elementarereignisse vom Beginn unse-
rer Zeitrechnung bis zum Jahre 900. Gesammelt und mit
Erläuterungen versehen von Dr. Jakob Weiß. Wien, Adolf
Holzhausen. 1914. 92 S.
Das Werk, das auf Anregung von 0. Redlich und A. Swarows-
ky 1907 in Angriff genommen wurde, will alle Nachrichten über
Eiementarereignisse und physisch-geographische Verhältnisse,
die von dem Normalen abweichen und deren wichtigere Folge-
erscheinungen im Umkreise etwa des mittelalterlichen Deutschen
Reiches ohne Italien sammeln. Für die Anfangszeit, wo nur
über die äußersten Grenzgebiete direkte Nachrichten vorliegen,
hat der Bearbeiter dankenswerterweise auch Nachrichten über
auswärtige Gebiete verzeichnet, soweit sich auf eine weitere
Verbreitung der Erscheinung schließen ließ. Freilich wird man
sich nicht genug vor zu bestimmten Schlüssen in dieser Richtung
hüten können. Berücksichtigt werden sollen: 1. kosmische
Erscheinungen (Meteorsteinfälle, aber nicht Sonnen- oder Mond-
finsternisse), 2. tellurische Erscheinungen (Nordlicht, Erdbeben,
Bergstürze), 3. Witterungserscheinungen (sehr große Kälte und
Hitze, strenge, schneereiche Winter, heiße, trockene Sommer,
Mangel an Regen, übermäßige und häufige Regen, ungewöhnlicher
Hagel, ungewöhnliche Stürme, ungewöhnliche Regen, wie Staub-,
Blut-, Steinregen), 4. hydrographische Erscheinungen (Datum des
Zu- und Aufgehens von Gewässern, Eisgänge, Eisstöße von
Flüssen, Überschwemmungen und ungewöhnliche Wasserstände,
Flußverschiebungen, Versiegen und Austrocknen von Flüssen,
Quellen, Seen und Sümpfen; Sturmfluten und ihre Folgen,
wie Veränderungen der Meeresküste; Gletschervorstöße und -rück-
gänge, Eisseeausbrüche, Lawinen), 5. Erscheinungen an Pflanzen
und Tieren (Termin der Weinernte, Blütezeit der Pflanzen,
Eintreffen und Wegzug der Zugvögel, Auftreten von Heuschrecken ;
Einführung neuer Pflanzen und Tiere ; Aussterben von Pflanzen und
Tieren), 6, Folgeerscheinungen in bezug auf Lebens- und wirt-
schaftliche Verhältnisse (reiche Ernten, Mißernten, Teuerung,
Lebensmittelpreise; Epidemien, Viehseuchen, Raupenfraß, Wald-
Allgemeines. 283
Verwüstung; Auflassen von Kulturland, Auflassen von Getreide-
arten, Weinbau). Beabsichtigt ist die Drucklegung zunächst nur
für die Zeit bis etwa 1200 (1250, 1300), wo sich die Arbeit, wie man
hofft, durch einige wenige historisch-geographisch geschulte
Kräfte bewältigen läßt. Für die spätere Zeit sind bei dem An-
schwellen namentlich auch des ungedruckten Materials durch die
einzelnen Geschichtsvereine geeignete Personen zu gewinnen,
die nach gemeinsamen Anweisungen zu sammeln haben und
deren Sammlungen vorläufig handschriftlich an geeigneten
zugänglichen Stellen niederzulegen sind.
Das Unternehmen darf bei seinem weiteren Fortgang, der
hoffentlich durch den Krieg nicht in Frage gestellt ist, auf großes
Interesse rechnen. Für diese Anfangszeit stellte es natürlich an
die Arbeitskraft des Bearbeiters unverhältnismäßig größere
Anforderungen, als äußerlich im Umfange hervortritt. Dessen
Leistung macht im ganzen den Eindruck der Zuverlässigkeit;
er hätte aber seine Auszüge zum Schluß noch gründlicher sichten
sollen. Dann wären nicht zusammengehörige Angaben getrennt
worden. Auch der Wert der Überlieferung wird nicht immer
genügend abgewogen; abgeleitete Zeugnisse haben neben der
Originalquelle keinen Wert. Paul. hist. Lang. IV 31, woraus
eine Seuche in Friaul und Istrien 562 erschlossen wird, geht auf
die bei Paul. hist. Lang. II 4 erzählte große Seuche von 569/70.
Zu 569/70 fehlt für die Hungersnot das Zeugnis des Liber Ponti-
ficalis unter Benedikt I., das Quelle für Paul. III 11 und wohl
auch für die angeführte Stelle II 26 ist. Die Nachricht über
eine Pest 654 hat der späte Egmonder Ergänzer der Xantener
Annalen nicht mit Verdrehung der Hist. tripertita des Anastasius
erfunden, sondern wörtlich aus Sigebert abgeschrieben, ebenso die
über große Kälte und Sternschnuppen 763. Die Ann. Laurissenses
minores sind als Chronicon Laurissense breve im Neuen Archiv
XXXVI neu herausgegeben; ihre Nachricht über die große
Viehseuche steht zum 42. Jahr Karls des Großen und gehört zu
810, nicht zu 809; die Hildesheimer Annalen schreiben diese
Stelle wörtlich aus. Auf diese bekannte Viehseuche von 810 ist
wohl auch die Erzählung des Poeta Saxo und des Chron. Moissia-
cense 809 zu beziehen, wenn man nicht lieber annimmt, sie habe
809 begonnen und sich bis zum nächsten Jahre von Osten weiter
nach Westen verbreitet. Unverständlich ist die Angabe zu 817,
284 Literaturbericht.
daß die Ann. Xantenses aus den Ann. Hersfeldenses schöpfen
sollen. Die Ann. Altahenses maiores berichten zu 819 nach der
verbesserten Ausgabe von E. v. Oefele in MG. SS. rer. Germ. 1891
nicht von einer großen Rinderpest, sondern von einem großen
Feldzug. Daß die alten Kölner Annalen auf dem Wege über
Dijon und die Normandie nach Lund und von da nach Colbatz in
Pommern gekommen sind, ist ein bekanntes Beispiel für die
Verzweigung der Annalistik (was der Verfasser sonst weiß,
S.74A. 1); daß alle von einer Hungersnot zu 822 berichten, beweist
also nichts für deren „größere Verbreitung". Der Verbesserungs-
vorschlag zu Hermann von Reichenau 849 scheitert daran, daß
Hermann regelmäßig die Notizen über die Reichenauer Äbte mit
„Augiae" einleitet. Er gibt also über das Erdbeben nicht mehr als
seine Quelle, die Ann. Alam. cont. Aug. und ihre Sippe, und
brauchte darum überhaupt nicht genannt zu werden.
Berlin. A. Hofmeister.
Urkunden zur Religion des alten Ägypten. Von Günther Reeder.
(Religiöse Stimmen der Völker, herausg. von Walter Otto.)
Jena, Eugen Diedrichs. 1915. LX u. 332 S. Brosch. 7,50 M.,
geb. 9 M.
Das vorliegende Buch enthält die erste größere Sammlung
altägyptischer religiöser Urkunden, die in zuverlässigen Über-
setzungen vorgelegt sind, so gut das zurzeit möglich ist. Denn
gerade bei diesen Texten, die zum Teil als heilige immer wieder
aufs neue abgeschrieben und dabei nicht selten stark verderbt
worden sind, ist das Übersetzen vielfach eine besonders schwie-
rige Aufgabe. In der klaren Erkenntnis dieser Schwierigkeit hat
der Verfasser selbst auf die Unsicherheiten seiner Übertragungen
durch Fragezeichen gewissenhaft hingewiesen und auch daran keinen
Zweifel gelassen, daß manche äußerlich als sicher erscheinende
Stelle sich einmal später als falsch übersetzt oder erklärt aus-
weisen mag. So darf der Religionshistoriker, an den das Buch
sich in erster Linie wendet, diese Quellensammlung vertrauens-
voll in die Hand nehmen. Er darf auch für die gute Auswahl
des Stoffes dankbar sein, der die ägyptische Religion nach allen
Seiten hin beleuchtet. Neben dem offiziellen Tempelkult, dem
„Kirchenglauben", kommt der Volksglaube zu seinem Recht,
Alte Geschichte. 285
neben den Stimmen tiefen religiösen Lebens fehlt auch der Formel-
kram der Rituale und die Magie nicht. Alle Perioden der ägyp-
tischen Geschichte, mehr als drei Jahrtausende, sind mit Proben
vertreten, am wenigsten die jüngste hellenistische Epoche, die
religionsgeschichtlich wegen der vielen Beziehungen zu der helle-
nistischen Religion und dem Christentum vielleicht die bedeut-
samste ist. Nach dieser Seite hin möchte ich für eine neue Auf-
lage eine Erweiterung wünschen, welche die demotische Literatur
und vielleicht auch die griechische (hermetische Texte und Zauber-
papyri) berücksichtigt. Jedenfalls dürfen die von Griffith aus-
gezeichnet übersetzten Leidener magischen Papyri und die Hohen-
priester-Geschichten nicht übergangen werden. Auch sollte die
demotische Übersetzung des 125. Kapitels des Totenbuches an
ihrer Stelle verwertet werden.
Ein ganz besonderes Verdienst hat sich Roeder durch die
Einleitung erworben, in welcher er die Entwicklung der ägyp-
tischen Religion schildert unter stetem Verweis auf die in dem
Hauptteil übersetzten Urkunden, so daß diese Einleitung gleich-
zeitig ein Kommentar zu ihnen ist. Sie ist eine durchaus selb-
ständige Leistung, die in das Chaos der ägyptischen Götterwelt
Ordnung und Sinn zu bringen sucht. Auch da wo man anderer
Ansicht ist^) oder das Hypothetische mancher Konstruktionen
unterstrichen zu sehen wünschte, wird man sich doch des ener-
gischen Versuches eines eigenen Aufbaues freuen. Dadurch ist
dieser Überblick auch im Zusammenhang lesbar geworden, was
sich nur von wenigen Darstellungen ägyptischer Religion sagen
läßt. Ausführliche Register ermöglichen auch für Einzelfragen
eine bequeme Benutzung des Buches, das nicht nur für die Ägypto-
logie, sondern auch für die gesamte Religionsgeschichte eine un-
gewöhnlich wertvolle Bereicherung bedeutet.
Straßburg i. E. Spiegelberg.
*) Als eine Einzelheit möchte ich erwähnen, daß Roeder in-
folge der unrichtigen Datierung des Amonshymnus von Kairo
die Aton-Lehre nicht richtig charakterisiert hat.
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 19
286 Literaturbericht.
Mittelalterliche Bibliothekskataloge. Herausgegeben von der Kgl.
Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, der
Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen, der
Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften in Leip-
zig, der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften in
München und der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften
in Wien. Österreich. 1. Bd. A. u. d.T.: Mittelalterliche
Bibliothekskataloge Österreichs. Herausg. von der Kaiserl.
Akademie der Wissenschaften in Wien. 1. Bd. Niederöster-
reich. Bearbeitet von Theodor Gottlieb. Wien, Adolf Holz-
hausen. 1915. XV u. 615 S. mit 2 Taf. 16 M.
Der Bearbeiter des vorliegenden Bandes, der Kustos der
Wiener Hofbibliothek, Theodor Gottlieb, hat in seinem vor
26 Jahren erschienenen tiefgründigen Werke „Über mittelalterliche
Bibliotheken" (Leipzig 1890) erstmals den weitverstreuten massen-
haften Stoff über Geschichte und Zusammensetzung der mittel-
alterlichen Bibliotheken in mustergiltiger Weise gesammelt und
verarbeitet. Er sah in diesem Werke nur den Vorläufer einer
großen Sammlung sämtlicher mittelalterlicher Bibliothekskataloge,
gab sich aber über die Schwierigkeiten der Ausführung dieses
Planes keinen Täuschungen hin. Die jetzt Lebenden, so äußerte er
sich 1890, würden voraussichtlich das Erscheinen der Sammlung
nicht mehr erleben. Nun ist es seinem rastlosen Eifer und der
kräftigen Unterstützung, die er bei W. v. Hartel, Engelb. Mühl-
bacher und der Wiener Akademie der Wissenschaften gefunden
hatte, doch gelungen, nach Ablauf eines Vierteljahrhunderts den
ersten Band der mittelalterlichen Bücherverzeichnisse erscheinen
zu lassen. Allerdings hatte der Plan einer ganz Europa umspan-
nenden Katalogsammlung aufgegeben werden müssen. Durch das
Zusammenwirken der deutschen Akademien mit der Wiener
Akademie ist aber doch wenigstens die Herausgabe der mittel-
alterlichen Bücherverzeichnisse aus dem Gebiete des heutigen
Deutschen Reiches, Österreichs (ohne Ungarn) und der Schweiz
gesichert worden. Während für die reichsdeutsche Abteilung eine
gemeinsame Arbeitsstelle in München geschaffen wurde, hat G.
die Bearbeitung der österreichischen Bücherverzeichnisse in so
tatkräftiger Weise gefördert, daß mit dem Erscheinen ihrer
ganzen Reihe in kurzer Frist gerechnet werden kann. Der vor-
liegende erste Band umfaßt die mittelalterlichen Kataloge Nieder-
Mittelalter. 287
Österreichs; die Verzeichnisse der übrigen österreichischen Land-
schaften hofft man in zwei weiteren Textbänden unterbringen zu
können. Als zeitliche Grenze wurde das Jahr 1500 gewählt;
ausnahmsweise werden aber auch später entstandene Kataloge
wesentlich mittelalterlicher Büchersammlungen berücksichtigt.
Die Quellenforschung beschränkte sich in der Hauptsache auf die
österreichischen Bibliotheken, so daß künftige archivalische
Studien wohl noch manche Ausbeute liefern dürften. Die augen-
scheinlich äußerst gewissenhaft und sorgsam vorbereitete und
durchgeführte Druckeinrichtung schließt sich an diejenige der
Diplomata in den Monumenta Germaniae fiistorica an, und legt das
größte Gewicht auf die genaueste Wiedergabe der Urgestalt der
Texte. Es wird darin so weit gegangen, daß auch nach Möglich-
keit das Bild der äußeren Überlieferung unter Beibehaltung der
größeren und kleineren Absätze der wiedergegebenen handschrift-
lichen Texte gewahrt wird, ein Verfahren, zu dem meines Erachtens
eine Nötigung nicht vorlag, das aber naturgemäß den Umfang des
Werkes und damit auch die Ansetzung des Verkaufspreises
nicht unerheblich beeinflussen mußte. Von den 76 mitgeteilten
Katalogen, unter ihnen 41 Wiener Bücherverzeichnisse, sind 19
bisher ungedruckt. Von höchster Bedeutung sind u. a. die bisher
unbekannt gebliebenen Kataloge der Kartause von Aggsbach,
des Benediktinerstifts Melk, des Zisterzienserklosters Heiligen-
kreuz, der Wiener Dominikanerbibliothek und der in den Besitz
der Wiener Universität übergegangenen Büchereibestände. Die
Einleitungen zu den einzelnen Abschnitten geben äußerst gründliche
und lehrreiche Übersichten über Entstehung, Entwicklung und
spätere Schicksale der ältesten niederösterreichischen Bibliotheken,
sorgfältige Beschreibungen der handschriftlichen Vorlagen und
Nachweise der zum Teil äußerst reichhaltigen und weit zerstreuten
Literatur. Die Anmerkungen sind mit Recht auf ein möglichst
geringes Maß beschränkt worden. Die genauere Bestimmung des
Titels der in den Vorlagen meist nur in sehr unvollkommener
Weise katalogierten Werke ist einem Registerbande vorbehalten,
der die gesamten Bände der österreichischen Abteilung umfassen
soll. Dieses Gesamtregister wird die kaum hoch genug anzuschla-
gende Bedeutung des neuen Quellenwerkes für die allgemeine
mittelalterliche Bibliotheks- und Literaturkunde, aber auch für
die Geistesgeschichte der österreichischen Lande erst so recht zur
19*
288 Literaturbericht.
Geltung bringen. Schon jetzt aber wird man das großzügige und
entschlossene Vorgehen der Wiener Akademie und die unermüdliche
Hingabe des Bearbeiters an seine große Aufgabe aufs dankbarste
anerkennen. In hohen Grade erfreulich ist die Ankündigung,
daß auch der erste Band der Deutschland und die Schweiz um-
fassenden Abteilung im Vedage der Beckschen Buchhandlung in
München in aller Kürze erscheinen wird. Er wird die von
Paul Lehmann bearbeiteten Kataloge der zum Bereiche der
einstigen Diözese Konstanz gehörigen mittelalterlichen Biblio-
theken enthalten.
Gießen. Herman Haupt.
Der Kampf um Sizilien in den Jahren 1291 — 1302. Von Dr. Hans
E. Rohde. (Abhandlungen zur mittleren und neueren Ge-
schichte, herausg. von G. v. Below, Heinr. Finke, Friedr.
Meinecke. Heft 42.) Berlin und Leipzig, Dr. Wa. Roth-
schild. 1913. 166 S. 5,50 M.
Die Geschichte des zwanzigjährigen Freiheitskampfes der
Sizilianer wider die Herrschaft der Angiovinen von Neapel (1282
bis 1302) ist zugleich ein Stück Geschichte des aregonischen
Königshauses, das aus dem Sonderleben der pyrenäischen Halb-
insel auf die Weltbühne trat, als Peter HL im Sommer 1282 die
sizilianische Krone annahm. Ihren Besitz hat er dann auch auf
heimischem Boden im Kampfe gegen Frankreich, das ihm Aragon
auf Anstiften der Kurie für einen französischen Prinzen rauben
wollte, erfolgreich verteidigt, gleich darauf aber im November
1285 sterbend Aragon an seinen Sohn Alfonso III., Sizilien an
seinen zweiten Sohn Jakob II. hinterlassen. Die Trennung der
beiden Reiche wurde wieder aufgehoben, als Alfonso im Juni 1291
starb und Jakob an seine Stelle trat, sie erneuerte sich, als Jakob
im Frieden von Anagni vom Juni 1295 Verrat an den Sizilianern
übte und, soviel an ihm lag, die Insel an Karl II. von Anjou
zurückgab. Sein jüngerer Bruder Friedrich, bisher Jakobs Statt-
halter, wurde von den Sizilianern als ihr König festgehalten im
Gegensatz zu dem Anjou, zur Kurie und auch zu Jakob II.,
er trug im Frieden von Caltabellotta 1302 die Anerkennung als
König der Insel Sizilien davon. Natürhch verschmilzt der Kampf
um Sizilien in der Zeit der Vereinigung beider Kronen auf einem
Mittelalter. 289
Haupte, im ersten und dritten Zeitabschnitt, besonders eng mit
der äußeren Politilc Aragons, die daneben anzulcämpfen liat
gegen die französisciie Ausdelinungspolitik und gegen Gelüste
Castiliens nach einer überragenden Stellung unter den Mächten der
pyrenäischen Halbinsel. Im Hintergrund steht der gemeinsame
Kampf der beiden christlichen Mächte wider die Mauren und der
Kampf Frankreichs gegen England um den englischen Länder-
besitz auf französischem Boden. Nehmen wir hinzu die ablehnende
Haltung der aragonischen Großen wider die sizilianische Politik
ihrer Herrscher, so bleibt als letztes Glied in dem großen Ringen
noch die Kurie zu nennen, deren Einfluß sich überaus verschieden
gestaltet hat, je nachdem die päpstliche Gewalt an einen schwachen
frommen Mann (Nikolaus IV., Cölestin V.) ausgeliefert war
oder ganz ruhte, weil das Kardinalkolleg zerrissen und zerspalten
durch die Parteiung der Colonnas und der Orsinis siebenund-
zwanzig Monate lang zur Wahl eines rechtsgültigen Papstes
sich unfähig erwies, oder endlich von einem gewaltigen Hierarchen
(BonifazVIII., seit 24. Dez. 1294) tatkräftig verwaltet wurde.
Alle diese Wandlungen erfuhr die Kurie in den vier Jahren vom
Juni 1291 bis Juni 1295, und auf der Darstellung des Einflusses,
den diese Wandlungen auf den Gang der sizilischen Frage gewonnen
haben, beruht nicht am wenigsten der Reiz der Geschichte der
diplomatischen Verhandlungen, die in dem Buche Rohdes auf
Grund neuen reichen Materials aus den Archiven zu Barcelona und
Paris gegeben wird. Wir verdanken ihr eine starke Bereicherung
und Vertiefung unserer Kenntnis gegenüber den Ergebnissen
Michele Amaris. Auch die Zeit von 1295 — 1302 war von R. in
seiner, der Freiburger philosophischen Fakultät eingereihten Dis-
sertation, die ihm den Weg zu einer Biographie Friedrichs III.
bahnen sollte, bearbeitet worden." Das neue Material war ihm vor
allem geboten in den zwei Bänden der Acta Aragonensia seines
Lehrers Finke und in weiteren noch unveröffentlichten Stücken aus
dem Archiv zu Barcelona, die im 3. Band der Acta Aragonensia ans
Licht treten sollen. R. selbst hatte das Pariser Nationalarchiv
ausgenutzt, die abgeschriebenen Urkunden hoffte er zum Teil
später herauszugeben, er hat in stattlichen Nachträgen (S. 153 bis
166) Ergänzungen mitgeteilt, die er auf einer Studienreise in
Barcelona und Valenzia selbst gewonnen hat. Ungefähr alle
Möglichkeiten des diplomatischen Spiels sehen wir in den Verband-
290 Literaturbericht.
lungen zwischen Aragon und Castilien, Aragon und Frankreich,
Aragon und Neapel und in den Gegenspielen erschöpft, der Gesamt-
eindruck ist skrupellose Machtpolitik auf allen Seiten, und er
wirkt um so schärfer, als regelmäßig eine politische Heirat in den
Abmachungen ihre Rolle spielt. Für Jakob, der offiziell ver-
heiratet war (mit dem Kind Isabella von Castilien), werden zwei
andere Bräute in Neapel und Paris bereitgehalten. Während
Alfonso III. willens gewesen war, sich auf eine nur aragonische
Politik zu beschränken und Sizilien seinem Schicksal zu überlassen,
wenn nur der Bruder König Philipps IV. von Frankreich Karl von
Valois seinen Anspruch auf Aragon aufgab, entschädigt durch
Überlassung der Landschaften Anjou und Maine seitens Karls IL
von Neapel, steckte Jakob IL sich das höhere Ziel, in Schutz- und
Trutzbündnis mit Castilien die Errungenschaft seines Vaters
gegen eine Welt von Feinden, gegen das Papsttum, Frankreich und
Neapel zu verteidigen. Aber die Rechnung auf Castilien, das
zwar Aragons Freundschaft im Kampf gegen die Mauren brauchte,
aber sich nicht im Gegensatz gegen Frankreich festlegen lassen
wollte, weil es selbst groß werden wollte, betrog ihn. Das trat
grell zutage, als bei der persönlichen Zusammenkunft zu Logrono
im Juli 1293 Jakob in der Gewalt Sanchos von Castilien von ihm
gezwungen wurde, ihn der vertragsmäßigen Pflichten gegen
Frankreich zu entbinden (vgl. Nachtrag zu S. 61 auf S. 161).
Von da ab trachtete Jakob im Gegensatz zu Castilien zu einer
führenden Stellung auf der pyrenäischen Halbinsel zu gelangen in
Anlehnung an Frankreich, unter Verzicht auf die Insel Sizilien,
für die er seinem Hause Sardinien gewinnen wollte. Daß er
dabei seinen Bruder Friedrich und die Sizilianer verraten mußte,
kümmert ihn nicht. Daß Frankreich seine Hilfe gegen England
wünscht, bietet ihm Aussicht, durch ein sehr enges Bündnis mit
Frankreich seine Machtpläne zu fördern. — Von hohem Interesse
ist es nun, wie in Sizilien die Sorge vor dem Verrat emporsteigt,
aber der Kampfeswille vor allem des Bürgertums keinen Augenblick
schwankt, wie die Verhandlungen durch die lange Leere des
päpstlichen Stuhls aufgehalten werden, dann aber durch die
Schwäche des Einsiedlerpapstes Cölestin I. aufs neue ins Stocken
geraten — seine Abdankung wird geradezu auf den Mißerfolg in
der sizilischen Frage zurückgeführt — wie endlich die starke
Hand des Papstes BonifazVIII. einseitige Sonderabmachungen
Mittelalter. 29!
zwischen Frankreich und Aragon verhindert und den Frieden von
Anagni vorschreibt, ohne freilich das freiheitsstolze Volk der
Sizilianer beugen zu können, so daß der Krieg dann noch weitere
sieben Jahre fortdauert und mit der offensichtlichen Niederlage
des Papsttums endet. — Es ist leider nicht möglich, auf die
neue Würdigung der Verhandlungen und Verträge, die R. über die
älteren Anschauungen hinaus bietet, näher einzugehen. Wie er
die Einzelheiten urkundlicher Forschung und zeitlicher Festlegung
undatierter Stücke mit Sorgfalt und Scharfsinn behandelt,
wie er die treibenden Gedanken der scharf umrissenen politischen
Persönlichkeiten mit ausgezeichnetem politischem Verständnis
erörtert, das ist überaus anerkennenswert, und um so mehr,
je schwieriger es war, in dem Gegenspiel mannigfaltiger Kräfte die
Fäden der Entwicklung lichtvoll zur Erscheinung zu bringen.
Nicht minder ist die kluge Verwertung des literarisch hochstehenden,
aber keineswegs ebenso zuverlässigen chronikalischen Quellen-
stoffes sizilianischen Ursprungs zu loben. Wer irgend sich für die
Geschichte dieser Zeit interessiert, sollte das Buch R.s nicht
ungelesen lassen, wenn auch nur ein hingebungsvolles Studium den
vollen Gewinn bringt. — Auszusetzen habe ich nur Kleinigkeiten,
die Form „aragonesisch" statt „aragonisch", Mandegoth (päpst-
Jicher Notar und später Kardinal) statt Mandagout, das Todes-
datum Alfonsos III. (S. 6): 18. März 1291 statt 18. Juni. —
Mit tief erWehmut gedenke ich des frühen Abbruchs der verheißungs-
vollen Forschertätigkeit des hochbegabten jungen Gelehrten
durch seinen Tod fürs Vaterland am 21 .Februar 1915, vgl. die
Notiz in Hist. Zeitschr. 114, 472, wo auch seiner umfassenden
Arbeit über den großen Seehelden Roger de Loria, den Vorkämpfer
der Könige Peter und Jakob, die 1915 für die Annuari des kata-
lanischen Instituts gedruckt wurde, gedacht ist. Möchte sein
Lehrer Finke, der ihm in der Freiburger Zeitung gegen Ende
Februar 1915 einen schönen Nachruf gewidmet und dann das
Buch zweier Toten „Verwaltungsgeschichte des Königreichs
Aragon zu Ende des 13. Jahrhunderts von Dr. Ludwig Klüpfel,
aus dem Nachlasse herausgegeben von Dr. H. E. Rohde" Berlin,
Kohlhammer 1915 veröffentlicht hat, uns aus den Studien R.s zur
Geschichte Friedrichs III. manches gewähren können!
Marburg (Lahn). K. Wenck.
292 Literaturbericht.
Die Fugger und der Schmalkaldische Krieg. Von Hermann
Joseph Kirch. (Studien zur Fugger-Geschichte, herausg.
von H. Grauert. Heft 5.) München und Leipzig, Duncker
6 Humblot. 1915. XIV u. 305 S.
Daß zum Kriegführen Geld gehört, ist eine alte Wahrheit,
welche zumal in unseren Tagen nicht besonders betont zu wer-
den braucht; interessant bleibt jedoch stets wieder die Erfor-
schung der Mittel und Wege, wie bei früheren Kriegen im ein-
zelnen Falle die finanziellen Bedürfnisse befriedigt worden sind.
Es ist deshalb dankbar zu begrüßen, daß sich ein Forscher die
Aufgabe gestellt hat, auf Grund neuen urkundlichen Materials,
wovon in den Beilagen (S. 197 — 294) in 47 Nummern interessante
Mitteilungen gemacht werden, die Finanzpolitik Kaiser Karls V.
während des Schmalkaldischen Krieges im einzelnen zu unter-
suchen und darzustellen; allerdings in einer gewissen, ganz be-
stimmten Begrenzung und Beschränkung: nicht der Kaiser steht
im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern sein vornehmster
deutscher Bankier, Anton Fugger aus Augsburg, und deshalb
erfahren wir über die rein finanziellen Maßnahmen hinaus im
Interesse der Habsburger noch manches für die Geschichte des
Hauses und der Familie Fugger Interessante und Bedeutsame,
aber am letzten Ende dreht sich doch alles um die Rückwirkung,
welche die Kriegsereignisse auf die Stellungnahme Anton Fuggers
als Geldleiher der Habsburger ausüben.
Klarer als wir bisher wußten, geht aus des Verfassers Dar-
stellung hervor, daß Anton Fugger es gewesen ist, welcher die
großen Rüstungen Karls V. im Sommer 1546 erst ermöglicht hat:
wenn er sich schroff ablehnend verhalten hätte, wäre der Kaiser
nicht imstande gewesen, so rechtzeitig, wie es für ein gutes Ge-
lingen seiner Kriegspläne nötig war, mit seinen Rüstungen zu
beginnen. Freilich, der größte Teil dieser Abmachungen ist noch
heute mit dem Schleier tiefsten Geheimnisses umgeben und wird
es wohl auch stets bleiben; man wird annehmen dürfen, daß
die wichtigsten Verhandlungen mündlich geführt worden sind,
vielleicht durch Vermittlung des Kardinals von Augsburg, der
so tief in die kaiserliche Politik eingeweiht war; auch wüßte
man gerne, ob bereits im Jahre zuvor während des Wormser
Reichstages, als für kurze Zeit der Ausbruch des Krieges un-
mittelbar bevorzustehen schien, den Fuggern Andeutungen gemacht
Zeitalter der Reformation. 293
worden sind, sich für eine umfangreiche Kreditgewährung bereit«»
zuhalten. Es ist sogar nicht einmal ausdrücklich überliefert, ob
Anton Fugger von Anfang an Zweck und Ziel des Unternehmens
bekanntgegeben worden ist; doch wird man dies wohl als sicher
annehmen müssen; andere mochte die kaiserliche Diplomatie
durch falsche, vorgeschobene Kriegsziele, wie die Vertreibung
der Franzosen aus Piemont, wie einen neuen Zug gegen Algier,
täuschen; einen Geschäftsmann, wie Anton Fugger, hätte man
durch solch' kleinliche Mittel niemals dazu zu bestimmen ver-
mocht, derartige Summen den Habsburgern zur Verfügung zu
stellen. Besonders aber war eine derartige vorsichtige Zurück-
haltung in diesem Falle gar nicht erforderlich, denn Anton Fugger
war aus politischer und religiöser Überzeugung, aus Familien-
überlieferung und Geschäftsinteresse ein Parteigänger des Kai-
sers, und wenn er versucht hätte, dem Hause Habsburg untreu
zu werden, so besaß dieses Mittel genug, ihn durch Erschwerung
oder gar Unterbindung jeglichen Geschäftsverkehrs zum Gehor-
sam zu zwingen; die Welser haben es während des Schmalkal-
dischen Krieges erfahren müssen, was es für ein Haus von solch*
internationalen Geschäftsverbindungen bedeutete, sich gegenüber
den finanziellen Bedürfnissen des Kaisers spröde zu erzeigen.
Die Schwierigkeiten für Anton Fugger lagen vornehmlich
in der Tatsache, daß er Bürger, und zwar der reichste und steuer-
kräftigste Bürger, Augsburgs war, mithin einer Stadt, welche poli-
tisch dem Schmalkaldischen Bunde angehörte. Dadurch war für
ihn die Notwendigkeit gegeben — auch wenn sie sonst nicht
bestanden hätte — , alle seine Finanzoperationen mit einem
möglichst dichten Schleier zu umgeben. Und als schließlich
das Geheimnis seines Wirkens für den Kaiser doch nicht ge-
wahrt wurde, als von Seiten des Schmalkaldischen Bundes be-
rechtigte Beschwerden in Augsburg einliefen, man sogar die
Forderung laut werden ließ, die Fugger sollten mit ihrem Gelde
die protestantische Sache unterstützen, da ward die Lösung des
an sich kaum zweifelhaften Problems, ob es zulässig sei, daß
der Bürger einer dem Schmalkaldischen Bunde angehörenden
Stadt den Kaiser erst in den Stand setze, gegen diesen Bund
Krieg zu führen, dem Augsburger Rat zugeschoben, und die
wenig würdige Art und Weise, wie dieser sich aus seiner aller-
dings recht heiklen Lage zu ziehen wußte, verdiente mit Recht
294
Literaturbericht.
die schärfste Verurteilung von Seiten der protestantischen Bundes-
stände. Denn diesen mußte es doch wie Hohn l<lingen, wenn der
Rat versicherte (Beilage Nr. 18 S. 227 f.), daß die Stadt „mit
irn Burgern, die aus der stat gezogen, dern aber wenig seind,
in gepurlicher Handlung" stehe: das Entscheidende war nur,
daß der eine Fugger, der sich für die ganze Dauer des ober-
deutschen Krieges im sicheren Schwaz in Tirol aufhielt, in diesem
Falle, als finanzieller Machtfaktor, der nützen oder schaden
konnte, betrachtet, mehr galt, als alle zurückgebliebenen Bürger
Augsburgs zusammengenommen. Es war, wie der Verfasser mit
Recht hervorhebt, engherzigste Kirchturmpolitik, begründet auf
einer in kleinen Gemeinwesen unvermeidlichen Vetternwirtschaft,
aber diese Politik hat, wenn auch nicht für die gemeinsame Sache
des Protestantismus, so doch für die Stadt Augsburg selbst ihre
guten Früchte getragen. Als die Zeit der Not kam, als es galt,
wieder einen gnädigen Kaiser zu gewinnen, da war der von seinen
heimischen Behörden so sorgsam geschonte Bankier der Habs-
burger der geeignetste Fürsprecher und Vermittler im feindlichen
Lager, und man muß zugestehen, daß Anton Fugger keine Mühe
gescheut hat, seiner Vaterstadt bei dem mit Recht schwer er-
zürnten Kaiser einen günstigen Frieden zu erwirken.
So bedeutsam die Darstellung dieser Verhandlungen für die
Geschichte Augsburgs ist, soviel Neues die sonstigen Mitteilungen
über den Besitz der Fugger, über ihren Geschäftsbetrieb während
des Krieges, über ihre allgemeinen Sicherheitsmaßregeln im Hin-
blick auf die besondere Geschichte der Familie bringen, der dau-
ernde Wert dieser Studie beruht doch in denjenigen Teilen, welche
die finanzpolitischen Maßnahmen Anton Fuggers im Interesse
der Habsburger behandeln. Bei guter Beherrschung des vom
Verfasser herangezogenen Materials, mit scharfsinniger Kom-
binationsgabe, welche aus vereinzelten Angaben treffende und
sichere Schlußfolgerungen für die Gesamtheit der Fuggerschen
Geschäfte zu ziehen weiß, ist es dem Verfasser gelungen, ein im
ganzen unzweifelhaft richtiges Bild der Tätigkeit Anton Fuggers
vor dem Schmalkaldischen Kriege und besonders während des-
selben zu entwerfen. Auf alle weitverstreuten Länder der Habs-
burger erstreckt sich seine Wirksamkeit, in jedem einzelnen weiß
er neue, andersartige Hilfsquellen flüssig zu machen, aber sie
alle wirken doch wieder zusammen zu dem einen großen Ziel,
Zeitalter der Reformation. 295
"den Kaiser im entscheidenden Moment gerüstet dastehen zu
lassen. Es soll keineswegs geleugnet werden, daß die Torheit
und mangelnde Entschlußkraft der Schmalkaldener viel zu
Karls V. endlichem Erfolge beigetragen hat; aber Anton Fuggers
Verdienste werden dadurch nicht geschmälert: durch die welt-
umspannende Organisation seines Geschäftes, zugleich aber durch
seinen festen Willen, durch kühnes Wagnis Großes zu gewinnen,
Wurde er der ebenbürtige Partner dieses Herrschers mit seinen
die Welt umspannenden Plänen und Entwürfen.
Wie erwähnt, hat der Verfasser umfangreiches handschrift-
liches Material, vornehmlich aus dem Fuggerarchiv und aus dem
Archiv zu Simancas — das er jedoch, wie es scheint (vgl. S. 8
Anm, 2), nicht persönlich durchforscht hat, herangezogen ; leider
ist er gegenüber den neuen Schätzen, welche ihm in solch' reicher
Fülle zur Verfügung gestellt wurden, in den Fehler mancher
Anfänger verfallen, das bereits Vorhandene, die gedruckten
Quellen, geringer zu achten, als sie wohl verdient hätten; nicht
als ob er sie ganz beiseite geschoben hätte, aber es muß doch
erwähnt werden, daß er wichtige, für seine Forschungen auf-
-schlußreiche Aktenpublikationen unberücksichtigt gelassen hat,
und gerade in diesen Fragen, wo wir auf Schritt und Tritt noch
so sehr im Dunklen tappen, ist jede neue Notiz von unschätz-
barem Wert — ich meine die in Deutschland m. E. von der For-
schung noch nicht genügend gewürdigten großen englischen Publi-
kationen zur Geschichte König Heinrichs VHI., für des Verfas-
sers Arbeitsgebiet Bd. XXI, 1 u. 2 der Letters and papers, foreign
and domestic of the reign of Henry VIII. (London 1908 und 1910),
sowie Bd. VHI des Calendar of State papers: King
Henry VIII. 1545—1546 Spanish (London 1904). Gerade für die
Geschäftsverbindungen der Fugger in Antwerpen findet sich in
der ersten Publikation ein reiches Material, insbesondere über
eine Anleihe, welche damals mit dem englischen König schwebte,
und die zum Teil im September 1546 zurückgezahlt wurde; die
vom 24. September 1546 datierte Quittung, die „Absolutionis
Schedula" der Fugger, von „Anton Fugger und Neffen", war
bereits mit genauen Zahlenangaben gedruckt bei Rymer: Foe-
4era Bd. VI, pars 3 (1741), S. 133 f. Aus allem geht hervor, daß
die damalige Klage der Statthalterin Königin Maria — bei R.
Häpke: Niederländische Akten und Urkunden Bd. 1 (München
296
Literaturbericht.
und Leipzig 1913), S. 442 Anm. 1: „Qm l'argent est fort estroit
en Anvers, par ce que les Allemans, quelque asseurance que on
leur vuelt donner, se retirent petit ä petit; du moins ceulx qui y de-
meurent, serrent la bourse" — durchaus berechtigt war, ja der
englische Agent Vaughan meldet aus Antwerpen unter dem
24. Juli ausdrücklich: „Merchants here who were wont to emprunt
to tJie Emperor, Hearing that the Protestants' power grows greater
than the Emperor can resist, make their mony from hence to Lyons
and Venyce" {Utters and papers Bd. XXI, p. 1, S. 660, Nr. 1335):
alles Zeugnisse, welche uns die großen Schwierigkeiten erkennen
lassen, mit denen die Fugger in ihrer Antwerpener Filiale bei
der Befriedigung der finanziellen Bedürfnisse der kaiserlichen
Politik zu kämpfen hatten.
Einschneidender noch ist die Nichtberücksichtigung der an
zweiter Stelle genannten englischen Publikation: dadurch ist
es dem Verfasser entgangen, daß eine Anzahl i) der von ihm
im spanischen Original abgedruckten Aktenstücke bereits ver-
öffentlicht worden war, wenn auch in englischer Übersetzung
oder Bearbeitung; aber da die Kenntnis der spanischen
Sprache bei uns noch nicht Gemeingut aller Gebildeten ge-
worden ist, so dürfte es nicht unangebracht sein, wenigstens
auf diese Tatsache kurz hinzuweisen. Wichtiger noch als
dieser Hinweis auf eine Unterlassung sind jedoch die positiven
Aufschlüsse, welche wir durch diesen Band des Calendar of State
papers über die Finanzpolitik der römischen Kurie erhalten, in
welche Anton Fugger in der ersten Hälfte des Juni 1546 un-
mittelbar eingegriffen hat; vgl. die interessanten Mitteilungen
aus seinem Schreiben an die römischen Kaufleute über seine
finanziellen Maßnahmen im Interesse des Kaisers, erwähnt in
de Vegas Bericht vom 28. Juni 1546 {Calendar a. a. 0. S. 417
Nr. 286): Trient solle für das aus Italien nach Deutschland zu
1) I. Kirch : Beilagen Nr. 2, S. 200/1 = Calendar Nr. 197, S. 307,
Zeile 14 von unten bis S. 309. II. Kirch: Beilagen Nr. 4, S. 203 f.
= Calendar Nr. 257, S. 391f. (hier als Antwort auf ein kaiser-
liches Schreiben vom 17. März, nicht, wie Kirch annimmt, vom
16. Februar; der spanische Jurist Galar9a (Kirch S. 204) heißt im
Calendar: „Galea9a«). III. Kirch: Beilagen Nr. 9, S. 213 f. = Ca-
lendar Nr. 270, S. 4001. IV. Kirch: Beilagen Nr. 26, S. 238 ff. =
Calendar Nr. 328, S. 478 f.
Zeitalter der Reformation. 297
überweisende Geld der Bankplatz Karls V. sein, da Venedig zu
ungünstig liege, da Augsburg nicht sicher sei und da — wie wir
an anderer Stelle erfahren — es in Regensburg keinen Bankier
gebe, auf den solch' hohe Wechsel ausgestellt werden könnten.
Noch wichtiger scheinen mir die neuen Mitteilungen zu sein,
welche wir aus den zahlreichen Berichten Juan de Vegas, des
kaiserlichen Botschafters in Rom, über die Politik Papst Pauls III.
erhalten: des Papstes Saumseligkeit in der Erfüllung seiner ver-
tragsmäßig übernommenen finanziellen Verpflichtungen sei ledig-
lich ein Ausfluß seiner steten Furcht, der Kaiser werde sich vor
der Zeit mit seinen Gegnern, den Lutheranern, friedlich verstän-
digen, und dann sei der Papst der Betrogene und Geprellte; be-
sonders aber gewinnen wir durch diese Korrespondenz des Kai-
sers mit seinem Botschafter einen tiefen Einblick in die kaiser-
liche Finanzpolitik, welche doch im damaligen Augenblick mit
der Fuggerschen aufs innigste verknüpft war; alles dreht sich
in erster Linie um die Gestaltung der Auflage, welche mit päpst-
licher Bewilligung dem spanischen Klerus für die Unterdrückung
der Ketzer auferlegt werden sollte: auf der einen Seite scharfe
Forderungen, ja unmittelbare Drohungen wegen Nichterfüllung
der vertragsmäßig vorgesehenen Leistungen, auf der anderen
Seite immer erneute Ausflüchte und Verschleppungen; wenn
auch in erster Linie politische Gründe für die Haltung der Kurie
maßgebend gewesen sind — der Druck der französischen und
vielleicht auch der so unmittelbar betroffenen spanischen Ele-
mente des Kardinalskollegiums, sowie die Furcht des Papstes in
seiner Eigenschaft als weltlicher Herrscher vor einem zu starken
Anwachsen der kaiserlichen Macht — , so bieten diese Noten des
Kaisers sowie die Berichte seines Botschafters auch nach der rein
finanziellen Seite hin soviel neues und interessantes Material,
daß ihre Nichtberücksichtigung lebhaft zu bedauern ist.
Die Tabelle, welche der Verfasser (S. 53) über die finanziellen
Leistungen der protestantischen Stände^) aus Oberdeutschland
^) Ob Herzog Albrecht von Preußen wirklich dem Schmal-
kaldischen Bunde 20000 Gulden bezahlt hat — vgl. Kirch 8.46,
auch Anm. 4, nach Baumgarten: H. Z. Bd. 36 (nicht Bd. 18, wie
p. IX steht), S. 55 ohne Quellenangabe — , möchte ich auf Grund
der jüngst von Bezzenberger herausgegebenen Berichte von
Albrechts Gesandten Ahasverus von Brandt (Heft 2: 1546, 1547,
298
Literaturbericht.
veröffentlicht, stimmt im ganzen überein mit den in der „Ge-
schichte der Stadt Lindau im Bodensee", herausgeg. von K.
Wolfart, Bd. 2 (Lindau 1909) S. 316 f. auf Grund der Akten des
Lindauer Archivs mitgeteilten Zahlen; hier noch (S. 317) einige
interessante Mitteilungen aus Briefen des Fuggerschen Vertreters
im kaiserlichen Hauptquartier, Sebastian Kurz. Über die finan-
ziellen Leistungen der niederdeutschen Städte für den Donau-
feldzug wissen wir noch gar nichts; daß sie nicht groß gewesen
sind, beweist uns eine spätere Klage des Landgrafen^), aber über
die tiefsten Beweggründe zu solcher Haltung von selten dieser
Kommunen wissen wir wenig: soviel steht fest, daß sie für die
Verteidigung des Evangeliums gerne bereit waren, Gut und Blut
zu opfern; das haben sie in den Kämpfen des Jahres 1547, hinter
den Mauern Bremens und bei Drakenburg, heldenmütig bewiesen.
Halle a. S. Adolf Hasenclever.
1548. Königsberg, o. J.) bezweifeln: angeboten liat der Herzog
die Summe (a. a. O. S. 206), das Angebot wurde auch dankbar
angenommen (S. 212), von der Zahlung hören wir aber nichts,
ja aus Andeutungen Brandts möchte ich schließen, daß sie nicht
erfolgt ist.
^) Ich teile (aus meinem Aufsatz : „Kurfürst Johann Friedrich
und die Katastrophe von Mühlberg" diesen Passus nochmals mit,
da er mir recht bezeichnend zu sein scheint für die finanziellen
Verhandlungen innerhalb des Schmalkaldischen Bundes kurz vor
dem Aufbruch von Giengen: Landgraf Philipp an die Stadt Braun-
schweig, 14. Juni 1547: „Sie (die niederdeutschen Städte) wissen
sich aber wohl zu erindern, wie ungleich die erlegung, als man
im obern Landt läge, gevolgt, das viel Stend im obern landt, der
Churfürst zu Sachsen (vgl. Kirch S. 53 Anm. 2) und wir zwantzig,
achtzehn und etlich mehr doppel monat erlegt, aber die fursten
Stedt und Stendt des Sachssischen Kreiß wissen selbst am besten,
was sie über vielfeltigs schreiben und anhalten erlegt. Sie wissen
sich auch wohl zu erindern, das zu Gingen mit denselben pott-
schaften geredt, neben den andern Stenden, die oben, bürg [Bürge]
zu sein vor etlich summe geldts, die Wurttenberg und andere
wolten vorstrecken, das sie solchs abgeschlagen. Aus solcher
ungleicher erlegung und das die Iren nit wolten mit bürg sein
für solch ufgebracht geldt, hat man müssen aus noth abtziehen"
(Neue Mitteilungen des Thüring.-Sächsischen Vereins in Halle a. S.
Bd. 24 [1910], S. 218 Anm. 2).
Neueste Geschichte seit 1871. 299
Au seuit du 17 octobre 1905. Historique du mouvement des esprits
en Russie de 1899 au 17 octobre 1905. Par Pierre Marc,
(Studien zur osteuropäischen Geschichte, herausg. von Prof.
Dr. Uebersberger, Wien, I.) Leipzig, K. F. Koehler. 1914.
146 S.
Der Zeitraum, den der Untertitel nennt, wird nicht gleich-
mäßig behandelt. Plehwes Ermordung am 15. Juli 1904 wird auf
S. 18 berichtet, der Reformukas vom 12. Dez. 1904 auf S. 23.
Also die Schrift beschäftigt sich im wesentlichen mit den ersten
9^2 Monaten des Jahres 1905. Den Übergang zu der eingehenden
Darstellung bildet der Bericht über die versöhnlichen 5 Monate der
Hoffnung unter dem Fürsten Swiatopolk-Mirsky, der am 18. Jan;
1905 das Ministerium des Innern verließ.
Der Verfasser gibt nur Material zur „Bewegung der Geister",
keine zusammenschauende „Geschichte" derselben. Dabei bleibt
die eigentliche revolutionäre Propaganda, insbesondere auch der
westeuropäische Einfluß, vage im Hintergrund, besonders in der
ersten Hälfte der Schrift. Darum kann vor allem die Bewegung der
Geister unter der akademischen Jugend Rußlands nicht ver-
ständlich werden. Auch was die Arbeiter bewog, von ihren wirt-
schaftlichen Gravamina zu revolutionär-politischen hinüberzu-
gleiten, wird nicht recht anschaulich. Dagegen bekommen wir ein
gutes Bild von der geistigen Disposition der Bauern und von dem,
was sie schließlich ins revolutionäre Lager trieb. Auch der Bürger,
der in Provinzversammlungen und Spezialkommissionen hoffnungs-
freudig an Reformprojekten arbeitet, bis die anschwellende
revolutionäre Woge ihn mit sich reißt, wird ganz lebendig vor
unsern Augen. Auf Adel und Büreaukratie, Hof und Kirche dagegen
wirft die Schrift kaum einmal ein Streiflicht. Verbindungsünien
zwischen den einzelnen handelnden Gruppen fehlen fast ganz.
Stark tritt das dankenswerte Bemühen hervor, authentisches
erläuterndes Material zu den einzelnen Geschehnissen, die in der
Regel zunächst fast abrupt als Tatsachen hingestellt werden,
in möglichst reichem Maße zu geben. Dem Verfasser standen
Exzerpte aus zahlreichen offiziellen Berichten von Beamten,
besonders Provinzgouverneuren, aus Eingaben an den Minister des
Innern und den Zaren, dann aus Resolutionen und Manifesten von
Vereinigungen und Kongresen, Äußerungen der Presse, und vieles
einzelne sonst zur Verfügung.
300 Literaturbericht.
Die Universitätsunruhen vom Februar 1899 werden durch
eine Analyse des Rapports Wannowskys beleuchtet. Reiche
Mitteilungen werden aus den Gutachten der 618 Lokalkomitees
gegeben, die von der Spezialkommission zur Untersuchung der
ländlichen wirtschaftlichen Verhältnisse unter den Auspizien
Wittes 1902 eingerichtet worden waren. Die Stimmung in weiteren
Kreisen beleuchten Auszüge aus den Eingaben von 15 Provinzial-
versammlungen an den Zaren oder den Minister des Innern,
im Charakter ganz überwiegend noch vertrauensvoll bittend.
Sie sind fast alle aus den letzten Wochen der Ära Swiatopolk-
Mirsky. Dieser gehören auch noch die ernsten, mit dem Namen
Gapons verknüpften Arbeiterunruhen von Anfang 1905 an,
zu deren (nicht ausreichender) Erläuterung besonders das Regie-
rungscommuniqu6 mitgeteilt wird. Es folgen sehr detaillierte
Angaben über die Verhandlungen im Schöße der Regierung,
die sich bemüht, in engem Anschluß an den Reformukas von 12.Dez.
1904 allgemeine Richtungen für die Zukunft festzulegen. Das
Anwachsen der Bewegung im Bürgertum wird durch Auszüge aus
den an die Regierung gerichteten Denkschriften der neuen Kampf-
organisationen der einzelnen Stände, aus ihren Manifesten und den
Resolutionen ihrer Kongresse erläutert. Besonders gelungen ist,
wie bereits angedeutet, die Behandlung der Agrarunruhen seit
Februar 1905, die durch die Mitteilungen aus den Berichten der
Provinzialgouverneure eine wirkliche Aufhellung finden. Er-
zählend, oft ganz annalistisch die Geschehnisse nur nach den
Daten aufreihend, wird gezeigt, wie sowohl die Verzögerung in
der Berufung des am 18. Februar versprochenen Parlaments,
als auch die am 6. August erfolgte Publikation der Bestimmungen
über Zusammensetzung der Duma und ihren Wahlmodus die
Opposition immer weiter verschärft, und wie die Bewegung vor
allem auch auf das bisher als zuverlässig geltende Heer überspringt.
Das Autonomieedikt für die Universitäten vom 27. August 1905,
das in ihnen Heimstätten für revolutionäre Volkspropaganda
großen Stiles schuf, wird als schwerer Fehler der Regierung
erwiesen. Wie umfassend und gedanklich durchgebildet die
Forderungen der Gesellschaft geworden waren, zeigt eine besonders
eingehende Analyse der Resolutionen des Semstwo- und Städte-
vertreter-Kongresses vom 12. Sept. Annalistisch erzählend wird
wieder Wittes Heimkehr von Portsmouth, dann eingehend der
I
Neueste Geschichte seit 1871. 301
gesteigerte Fortgang der revolutionären Wirren, terroristischen
Akte und besonders der großen Streii<s behandelt.
Recht unvermittelt, weil von den Stimmungen der Regierungs-
und Hofkreise gegenüber der anwachsenden Flut nirgends präzise
die Rede war, wird schließlich das kaiserliche Manifest vom
17. Oktober 1905 eingeführt, das eine Reihe der wesentlichsten
Forderungen der Gesellschaft bewilligt: Unverletzlichkeit der
Person, Freiheit des Gewissens, Versammlungs- und Koalitions-
recht; ferner die Teilnahme derjenigen Volksklassen an der Duma,
die nach den bisherigen Bestimmungen von ihr ausgeschlossen
waren, d. h. der Arbeiter und des geistigen Proletariats, des
Hauptträgers der revolutionären Ideen; endlich eine wirksame
Beteiligung der Duma an der Gesetzgebung und an der Kontrolle
der Regierungsakte.
Mit Zeitungsstimmen über dies Manifest bricht die Schrift
ab. Sie gibt keinen Ausblick auf die nächsten Jahre, wie sie
auch wesentlich ohne Einführung ist. Dieser abgebrochene
Charakter kehrt bei fast jeder behandelten einzelnen Materie
wieder. Dazu ist die Schrift von Anfang bis zu Ende ohne Gliede-
rung. Mit einer oft irritierenden Plötzlichkeit springt irgend
ein Absatz auf eine neue Materie über. Aber die große Fülle gut
gewählter und oft lebensvoller Daten, die hier auf kleinen Raum
zusammendedrängt ist (ich konnte nur das am meisten Hervor-
tredende herausheben) fesselt beim Eindringen mehr und mehr.
Vielleicht hat der Verfasser recht, wemn er, obwohl Augenzeuge
der Ereignisse, mit ausgesprochener Absicht wenig Eigenes
hinzutut. Vielleicht ist ein so außergewöhnlich komplizierter und
oft fast unheimlich launenhafter Vorgang, wie die russische
Revolution es ist, noch nicht reif für eine zusammenschauende
Darstellung.
Beirut, Syrien. Andr. Walther.
Der diplomatische Krieg in Vorderasien, unter besonderer Be-
rücksichtigung der Geschichte der Bagdadbahn. Von Karl
Mehrmann. Dresden, Verlag: Das größere Deutschland
1916. 182 S., 2 Karten. 2,50 M.
Indem Mehrmann die Geschichte der Bagdadbahn in die
große diplomatische Bewegung hineinstellt, deckt er manche
interessante Zusammenhänge auf. Der Chefredakteur der Koblen-
Historische Zeitschrift (U7. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 20
302 Literaturbericht.
zer Zeitung kann „mit einem gewissen Stolz auf das Nachrichten-
material sehen", das er „in vielen Jahren eifrigen Sammeins
zusammengebracht" hat. Der spröde Stoff ist übersichtlich
gegliedert. Der erste der drei Hauptteile handelt von der Ana-
tolischen Bahn, d. h. der Strecke, die noch unsicher tastend in das
Innere Kleinasiens vorgetrieben wurde, zunächst 1892 bis Angora
auf Grund der Konzession, die v. Siemens 1888 erlangt hatte.
M. übergeht die geplante Fortsetzung einer nördlichen Trasse,
direkt östlich nach Siwas und mit dem Blick auf Erzerum zu,
die von den Türken stets gewünscht worden ist, aber erst jetzt im
Kriege, nachdem die Rücksichtnahme auf Rußland fortgefallen ist,
in Angriff genommen werden konnte. Er bespricht nur die zentrale
Trasse, von Angora über Kaisarie, die vor Rußlands Veto auf-
gegeben worden sei, so daß dann die Strecke nach Angora überhaupt
als Stumpf stehen blieb, nachdem in jener Aera der deutsch-eng-
lischen Freundschaft der südliche Weg nach Konia und in die
Nähe der Mittelmeerküsten nicht mehr als bedenklich erschienen
sei. Erst ganz allmählich habe der Bkck sich über die beiden
Gebirgsriegel des Taurus und Amanus hinweg nach dem weiten
Land verschütteten Reichtums, Mesopotamien, und wagemutig
darüber hinaus gerichtet. M. schreibt dem Kaiser selbst die
Priorität des Gedankens zu, „daß die Ausbildung des deutschen
Weltwirtschaftsreiches vom Festlande aus und auf dem Festlande
möglich ist". Gut wird herausgearbeitet, wie günstig für eine
Erfüllung solcher Hoffnungen zunächst die Position der deutschen
Politik war, weil das Frankreich der Faschodazeit sich finanziell an
der Bahn beteiligt hatte, England aber durch Rußlands aus-
gestreckte Fühler nach dem Persischen Golf in Schach gehalten
wurde, bis dann die seit der Jahrhundertwende wachsende deutsch-
englische Spannung, zusammen mit dem noch weiterbestehenden
englisch-russischen Gegensatz „eine Art englische Monroedoktrin
im Persischen Meerbusen" sich verfertigen ließ, an der die
deutschen Bemühungen schließlich ihre Grenzen finden sollten. —
Der mittlere Abschnitt des Buches, über die „Bagdadbahn-
konzession", verfolgt zunächst, wie inmitten des allgemeinen
Wettlaufs um Bahnkonzessionen, die der deutsche Vorvertrag von
Ende 1899 entfesselt hatte, inmitten der französischen Vorstöße von
Syrien, der russischen von Ostanatolien aus, und der englischen
Pläne einer Durchquerung Arabiens, Deutschland aus politischer
Neueste Geschichte seit 1871. 303
und finanzieller Vorsicht über eine Internationalisierung der
Bahn mit England und Frankreich, freilich vergeblich, verhandelte,
bis dann die leichte Fertigstellung der Strecke Konia-Eregli
1904 Deutschlands finanzielle Fähigkeit, aus eigenen Kräften das
Werk zu vollenden, erwiesen habe. Nachdem dann der Rückzug
des gedemütigten und zermürbten Rußlands vom Persischen Golf
1907 England zum entschiedeneren Angriff gegen Deutschland
frei gemacht, nachdem die türkische Revolution und die bosnische
Krisis die deutsch-türkische Freundschaft auf eme so harte Probe
gestellt, sei trotzdem dem „Geiste einer wuchtigen Offensive",
der mit Kiderlen ins Auswärtige Amt eingezogen sei, der Vorstoß
zwar nicht zum Golf, aber in zwei neuen Richtungen gelungen:
Nach der Potsdamer Zusammenkunft November 1910 wird mit
Rußland die Fortführung der Bahn über Chanikin nach Teheran
festgelegt; in Alexandrette wird der Anschluß ans Mittelmeer
gewonnen und damit der englische Plan, in direkter Linie von
Bagdad oder Basra das syrische Mittelmeer zu erreichen, zwar
keineswegs „überholt", wie M, meint (dazu greift die mesopo-
tamische Strecke der Bagdadbahn zu weit nach Norden aus),
aber doch eines guten Teils seiner Überzeugungskraft beraubt. —
Der Schlußabschnitt, „das Ringen um die Endstrecke" über-
schrieben, legt dar, wie England, das nach den Störungen der
Marokkokrisis durch die akut gewordene Balkanfrage mit ihrer
panslavistischen Gefahr zu Verständigungsversuchen mit Deutsch-
land veranlaßt wurde, zu dem Abkommen von Mai 1913 resp.
Februar 1914 sich bereit fand, in dem Deutschland die doch
nicht zu haltende Strecke von Basra bis Koweit (das die Türkei
nach langem Sträuben unter das Schutzrecht Englands hatte
geben müssen) den Engländern gegen allgemeine Handelszu-
geständnisse am Golf auslieferte; wie in demselben Monat, Februar
1914, auch ein Abkommen mit Frankreich gelang, das außer in
Syrien jetzt auch in Ostanatolien, dem Einflußgebiet seines
Bundesgenossen, weithin festen Fuß gefaßt hatte. Der Krieg hat
alles abgebrochen. Die Türkei hat den Betrieb ihrer Bahnen
selbst in die Hand genommen. Das Kriegsministerium hat die
aggressiven Bahnen von Angora gegen Erzerum und von Jerusalem
gegen Ägypten vorgetrieben. Die Bagdadbahn konnte den Taurus
noch nicht, den Amanus nur mit einer Notbahn überwinden,
und in Mesopotamien fehlen zwischen Ras el Ain und Samarra
20*
304
Literaturbericht.
noch 591 km. Den Transporten der Schienen und Brücken ist der
Seeweg in die ägyptische Bucht gesperrt. Die finanziellen Probleme
türmen sich und warten auf die Generalrechnung nach dem
Krieg. —
Die erste Geschichte der Bagdadbahnpolitik, wie die Ankündi-
gung meint, ist M.s Schrift nicht. Ihr letzter Vorgänger ist das
Buch von Alexandre Ilitch, Le chemin de fer de Bagdad, au point de
vue politique, iconomique et financier, Brüssel 1913, 236 Seiten
(mit Bibliographie). Im Gegensatz zu diesem und anderen Werken
tritt bei M. das Wirtschaftliche und Finanzielle mehr zurück,
als der Gegenstand es erlaubt. Er zieht die finanzielle Frage nur als
Gegenstand der diplomatischen Verhandlungen mit der Türkei
heran, deren ständiges Bedürfnis nach Anleihen und Vorschüssen
die Jagd nach Bahnkonzessionen so vielgestaltig erhält. Von
denjenigen Finanzfragen, die speziell die Bahngesellschaften
interessieren, werden nur die Dinge besprochen, die in den Kon-
zessionsverhandlungen öffentlich hervortraten. Kilometergaran-
tien und Bauzuschüsse, nicht aber Fragen der Einnahmen, der
Tarife, der Rentabilität. Ein helles Schlaglicht weithin würde
z. B. die Mitteilung werfen, wie viele MilHonen der Staat jährlich
zur Deckung des Defizits zu zahlen hatte. Fast ganz ausgeschieden
hat M, die wirtschaftsgeographischen Fragen, die doch bei allen
Bahnplänen neben den politischen und strategischen entscheidend
waren. Mehr nur im Vorbeigehen wird von der Bewässerung der
Ebene von Adana und dem großen mesopotamischen Projekt
Willcocks, auch von den Petroleumfeldern längs der persischen
Grenze gesprochen. Dagegen werden z. B. die Bewässerungsan-
lagen der Ebene von Konia nicht erwähnt, noch wird das Verhältnis
von Alexandrette zu Messina und den Flüssen der Ebene von
Adana erörtert, noch eine Erklärung für den weit nach Nordosten
zum Tigris ausholenden Bogen der Bahnstrecke von Aleppo bis
Bagdad gegeben, der jedem Betrachter der Karte auffällt, aber der
Mehrzahl der Leser, für die das Buch bestimmt ist, nicht ohne
weiteres verständlich sein dürfte. Freilich ist ja die Kenntnis,
die ein Schriftsteller ohne Bereisung des Landes von diesen
Verhältnissen zu gewinnen vermag, naturgemäß bisher sehr
lückenhaft. Da ist erst noch viel Arbeit zu leisten von Spezial-
untersuchungen und wissenschaftlichen Unternehmungen wie der
Januar 1916 zuerst erschienenen Vierteljahresschtift: „Archiv für
I
Deutsche Landschaften. 305
Wirtschaftsforschung im (näheren) Orient" (Verlag Riepenheuer,
Weimar). Immerhin wäre aus der vorhandenen Literatur schon
eine reiche Ausbeute zu gewinnen, wie ein Blick in die wertvolle
Bibliographie von 784 Nummern im ersten Heft der genannten
Zeitschrift zeigt. Eine geographische Grundlegung würde auch
über die technischen Fragen, die neben den politischen und
strategischen, wirtschaftlichen und finanziellen die Lagerungen der
Bahnnetze bestimmen, Aufklärungen geben. Eine der interessante-
sten Fragen z.B., die nach der Fortführung der Linie entweder von
Angora oder von Konia aus, wird sofort durchsichtiger, wenn die
größeren technischen Schwierigkeiten der nördlichen Strecke mit in
Rechnung gezogen werden, da alsdann das Zurückweichen vor
Rußlands Druck wesentlich harmloser erscheint.
Daß M. sich auf die Darlegung der diplomatischen Bewegung
beschränkt, ist an sich sein gutes Autorenrecht. Aber auch diese
Darlegung bedarf der berührten Ergänzungen. Die Schwierigkeit
jeder Darstellung der großen politischen Bewegung der jüngsten
Vergangenheit, daß man nämlich trotz offizieller Zeitungs-
artikel und englischer Ministererklärungen doch nirgends recht mit
Sicherheit auf den Grund der Dinge, auf die treibenden Kräfte und
die wirklichen Absichten im Schöße der einzelnen Regierungen
kommt, kann vielfach durch eine Kontrolle jeder Nachricht an
wirtschaftlichen und anderen Realitäten und Wahrscheinlichkeiten
überwunden werden.
Beirut, Andr. Walther.
Politische Korrespondenz Karl Friedrichs von Baden. 1783—1806.
Herausgegeben von der Badischen Historischen Kommission,
bearbeitet von B. Erdtnannsdör£fer und K. Obser. 6. Bd.
Ergänzungsband (1783—1806). Bearbeitet von K. Obser.
Heidelberg, Carl Winter. 1915. 12 M.
Mancherlei archivalische Funde des letzten Jahrzehnts haben
die Herausgabe eines Ergänzungsbandes zu der Korrespondenz
Karl Friedrichs notwendig gemacht. Die wichtigsten stammen
aus nachgelassenen Papieren des Großherzogs Ludwig. Seine
militärische und politische Tätigkeit als badischer Prinz sowie
die vorübergehende Verwaltung der Finanzen spiegeln sich darin
vom Beginn seiner Laufbahn bis zu seinem Sturz. Sein Wesen
306
Literaturbericht.
hat in der Beleuchtung dieser neuen Quellen nicht gewonnen.
Das historische Urteil lautet nach wie vor ungünstig. Andere
Ergänzungen boten sich dar in Briefen der Markgräfin Amalie
an ihre Tochter, Kaiserin Elisabeth von Rußland, die Gemahlin
Zar Alexanders. Rein persönlich gesehen, als Schilderungen von
Hof und fürstlicher Familie, als Beiträge überdies zur Kenntnis
Napoleons, gehören diese Stücke vielleicht zu den reizvollsten
des Werkes. Weitere Aufschlüsse fanden sich in Aufzeichnungen
und Briefwechseln der badischen Minister Dalberg und Secken-
dorff, sowie des Staatsrates und Professors J. L. Klüber. Da wir
eine Nachlese vor uns haben, die einen Zeitraum von mehr als
zwanzig Jahren durchstreift, mußte der Bearbeiter auf eine zu-
sammenfassende Einleitung verzichten, wie sie den früheren
Bänden vorausgeschickt wurde.
Karl Friedrich selber tritt in der Abfolge dieser gesammelten
Schriftstücke immer mehr zurück. Seine persönlichen Schreiben
reichen, wenigstens in dem vorliegenden Bande, über die neun-
ziger Jahre kaum hinaus. Ganz verblaßt seine Erscheinung
auch dann nicht. Aber man sieht weniger den Regenten, der
durch Bauernbefreiung und wohltätige Reformen seinen auf-
geklärten Zeitgenossen verehrungswürdig wurde, als den altern-
den Monarchen, den gebeugten deutschen Fürsten, der von Napo-
leon erhöht und doch so tief verwundet wurde. Auch wo er das
Wort nicht ergreift, schaut sein gütiges und leidvolles Antlitz
zwischen den Zeilen hervor. — Eine eigenhändige Denkschrift
(1783), die von der Gestaltung der orientalischen Frage und einer
möglichen Aufteilung der Türkei ausgeht, eröffnet den Band.
Merkwürdig, wie diese Vorgänge einer entfernten Weltbühne auf
die Berechnungen des oberrheinischen Markgrafen einwirken, und
doch kommt darin eine recht bezeichnende Tatsache zum Aus-
druck: die bis zur Reichsgründung kaum abgeschwächte Ab-
hängigkeit der deutschen Kleinstaaten von den großen Mächten!
In diesem besonderen Fall erhoffte Karl Friedrich durch Ruß-
lands Vermittlung eine Abtretung vorderösterreichischer Be-
sitzungen, falls das Habsburgerreich sich nach Osten ausdehne.
Der Grundton seiner auswärtigen Politik wird damit angeschlagen:
immer wieder, vom Anfang bis zum Ausgang des Monarchen,
dreht sich alles um Erstarkung seines schmächtigen Besitzes, um
Zusammenfassung, Wachstum und Erhöhung auf Kosten an-
Deutsche Landschaften. 307
stoßender oder einschneidender Nachbarn. Die Entstehung eines
deutschen Mittelstaates inmitten des zerfallenden Reiches und
eines sich umbildenden Europas ist ja das Thema der gesamten
politischen Korrespondenz Karl Friedrichs, und so beherrscht es
auch diesen Nachtragsband, der den schicksalsvollsten Abschnitt
einer langen Regierung gleichsam im Fluge durcheilt. Alles, was
sich um diese Lebensfrage gruppiert, kehrt wieder: die ersten
Erschütterungen am Oberrhein infolge der Revolution, es folgt
mit dem Ansturm des revolutionären Frankreich jene Politik
des bedrohten, eingeschüchterten Landes, die zwischen Angst
und Begehrlichkeit hin und her schwankt, dann der Anschluß
an Frankreich mit allem, was er im Gefolge hatte, die Nöte des
ausgepreßten Baden, aber auch die Vergrößerung des Rheinbund-
staates, das Streben nach der Königskrone und die Erbfolge der
Hochbergs, die außerordentlichen inneren Schwierigkeiten, die
Sorge um das Zusammenwachsen der Landesteile, kurz der Auf-
bau des modernen Rechtsstaates.
Der vorliegende Band, nach bewährten Grundsätzen gesam-
melt und herausgegeben, schließt ein Unternehmen ab, das Karl
Obser zusammen mit seinem Lehrer Erdmannsdörffer begonnen
hat. Und schon erntet die jüngere Generation in Forschung und
Darstellung die Früchte ihrer gemeinsamen Arbeit. Als eines
der vornehmsten Denkmale zur süddeutschen Geschichte nicht
allein, sondern der gesamten europäischen Entwicklung, die sich
unter dem Gestirn Napoleons vollzieht, bleibt die Veröffentlichung
der politischen Korrespondenz Karl Friedrichs ein hervorragendes
Verdienst der Badischen Historischen Kommission. Einer jener
Marksteine, von denen aus man gern weitere Ziele ins Auge fassen
möchte, wenn es die Zeitläufte nur irgendwie erlauben! Gerade
unter dem Eindruck der gegenwärtigen epochalen Wandlungen
wenden sich die Blicke von dem Gründer des Großherzogtums
zu dem Enkel, der den alten Rheinbundstaat mit hochgerichtetem
Sinn in die Bahnen unseres nationalen Lebens und des Reichs
hinübergeleitet hat: möchte über der Herausgabe der Quellen
zur Geschichte Großherzog Friedrichs des Ersten dieselbe Weit-
herzigkeit der Regierung und der gleiche Eifer der Gelehrten
walten !
Rostock (z. Zt. im Felde). W. Andreas,
308 Literaturbericht.
Mainz in seinen Beziehungen zu den deutschen Königen und den
Erzbischöfen der Stadt bis zum Untergange der Stadtfrei-
heit (1462). Von Heinreidi Sdirohe. (Beiträge zur Mainzer
Geschichte. Heft 4.) Mainz, in Komm, bei L. Wilckens
1915. 248 S.
So bedeutend die Rolle, welche die Stadt Mainz im Mittelalter
gespielt hat, auch war, so ist ihre Geschichte in der neueren
Historiographie doch arg vernachlässigt. Zwar fehlt es nicht an
brauchbaren Einzeluntersuchungen, für die Gesamtgeschichte aber
sind wir immer noch auf das dilettantische, heute völlig veraltete
Werk von C. A. Schaab (4 Bände 1841 — 51) angewiesen. Schrohes
Absicht ist es, diese Lücke auszufüllen. Er will, wie er in der
Vorbemerkung seines Buches sagt, nicht nur die auf dem Titel-
blatte genannte Aufgabe lösen und die Beziehungen der Stadt zu
den deutschen Königen und den Erzbischöfen darstellen, sondern
eine Geschichte der Stadt selbst schaffen. Die Fülle des gebotenen
Stoffes und der umfangreiche Fußnotenapparat legen ein
rühmliches Zeugnis von dem Sammelfleiße des Verfassers ab.
Jeder, der sich mit der Mainzer Geschichte beschäftigt hat,,
weiß, wie weit das Quellenmaterial zerstreut, wie unvollkommen
der Stand der Vorarbeiten ist. Man wird daher dem Verfasser
mildernde Umstände zubilligen müssen, wenn sein Werk nicht allen
Anforderungen gerecht geworden ist. Seh. ist es nicht gelungen,
den umfangreichen Stoff zu meistern. Schon die Gruppierung ist
keine glückliche. Der Verfasser teilt die Stadtgeschichte in
eine Anzahl Perioden nach den Zeitaltern der fränkischen und
deutschen Königsdynastien ein. Nicht das Emporsteigen neuer
Herrscherhäuser, sondern Ereignisse, wie die Erwerbung der
Stadtherrschaft durch die Erzbischöfe um 950, die Anfänge einer
selbständigen politischen Rolle zu Beginn des 12. Jahrhunderts
und die Verleihung des großen Freiheitsprivilegs im Jahre 1244
bilden Marksteine und Einschnitte in der Mainzer Geschichte.
In der Darstellung stehen die lokalgeschichtlichen Gesichtspunkte
zu stark im Vordergrunde. Ohne Berücksichtigung ihrer größeren
oder geringeren Bedeutung sind alle erreichbaren Nachrichten zu-
sammengetragen und regestenartig aneinandergereiht. Z. B. ist jede
Anwesenheit eines deutschen Königs in der Stadt mit großer Ge-
wissenhaftigkeit registriert. Der Inhalt von Urkunden und Ver-
trägen wird meist Paragraph für Paragraph — vielfach sogar unter
Deutsche Landschaften. 309
Beifügung der Zeugenlisten und Klauseln — wiedergegeben, ohne
daß das Neue und für die Mainzer Geschichte Bedeutungsvolle beson-
ders herausgearbeitet und gewürdigt wäre. Der Verfasser hat, wenn
er auch ungedrucktes Material begreiflicherweise nur im geringen
Umfange heranziehen konnte, sich in anerkennenswerter Weise
bemüht, aus den Quellen zu schöpfen. Freilich wäre hie und da
eine stärkere Heranziehung der darstellenden Literatur und eine
schärfere Kritik der Quellen wünschenswert gewesen. Beispiels-
weise steht die S. 1 benutzte Merovingerurkunde von 627 bei
Pertz unter den „Diplomata spuria". Der angebliche merovingische
Königspalast in Mainz ist somit wohl in das Reich der Legende zu
verweisen. Die auf S. 7 benutzten Königsurkunden sind von
Wibel (Neues Archiv Bd. 35 (1905) S. 165 ff.) als Fälschungen
Schotts nachgewiesen. Für die ältere Zeit der Mainzer Geschichte
hält sich der Verfasser hauptsächlich an das Regestenwerk von
Böhmer-Will, das heute leider weder nach der Seite der Vollständig-
keit noch nach der Seite der Kritik ein zuverlässiger Führer mehr
ist. Leidet die ältere Geschichte der Stadt unter einem empfind-
lichen Mangel an Quellen, so ist für die Zeit vom 13. Jahrhundert an
eher das Gegenteil der Fall. Für diese Abschnitte wäre daher
eine strenge Gliederung des Stoffes nach höheren Gesichtspunkten
besonders wünschenswert gewesen. Vor allem hätten die Richt-
linien der städtischen Politik als Rückgrat der Darstellung schärfer
herausgearbeitet werden müssen. Hauptsächlich waren es zwei
Punkte, um welche sich die Politik der Stadt Mainz drehte;
L Die Erweiterung und Sicherung der politischen Unabhängigkeit
und kommunalen Selbständigkeit. 2. Schutz des Handels und der
Verkehrsstraßen. Um diese Ziele zu erreichen, lavierte die Stadt
vorsichtig zwischen Königen und Erzbischöfen, zwischen Gegen-
königen und Doppelbischöfen hin und her und schloß zu zahl-
reichen Malen mit Fürsten und Städten Schutz- und Friedens-
bündnisse ab. Wenn auch an dem Werke Sch.s noch erhebliche
Ausstellungen zu machen sind, so soll doch nicht verkannt werden,
daß im einzelnen mancherlei Nützliches geleistet und vor allem
einem künftigen Darsteller der Mainzer Stadtgeschichte der Weg
wesentlich geebnet ist.
Breslau. Manfred Stimming.
310
Literaturbericht.
Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur
Gegenwart. Von Fritz Härtung. (Grundriß der Geschichts-
wissenschaft, herausg. von Aloys Meister. Reihe II, Abt. 4.)
Leipzig und Berlin, Teubner. 1914. 174 S.
Es ist eine bemerkenswerte Leistung, die neuere deutsche Ver-
fassungsgeschichte, die durch die selbständige Entwicklung der viel-
gestaltigen deutschen Territorien so unregelmäßig zerspalten und
seit 1806 unter dem Sturmwind neuer Ideen mehrfach gebrochen
worden ist, auf geringem Raum in flotter, lesbarer Darstellung
zusammenzufassen und dabei durch geschickte Kommentierung
der Literaturverzeichnisse, in denen für die neuesten Erscheinungen,
d. h. die noch nicht in der 8. Auflage des Dahlmann-Waitz auf-
geführten Arbeiten eine gewisse Vollständigkeit erreicht worden ist,
dem Leser einen bequemen Anschluß an den gegenwärtigen
Stand der Forschung zu vermitteln. Das Buch ist zugleich der
Niederschlag der Bemühungen einer neuen Schule, welche die
verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichen Studien über die
lange so ganz überwiegenden Interessen an der Verfassungs-
geschichte des Mittelalters in die Neuzeit hinausgeführt hat,
und deren schnelle und reiche Entwicklung dem überall organi-
sierten Interesse für Lokal- und Landesgeschichte, dabei in
besonderem Maße dem Einfluß Schmollers und Hintzes, verdankt
wird. Für die deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit gab es
zusammenfassende Darstellungen bisher nur von juristischen
Interessen aus, die mehr systematische Querschnitte der in
verschiedenen Perioden gültigen Rechtszustände als einen spezifisch
historisch, d. h. am Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung
des staatlichen Lebens orientierten kontinuierlichen Längsschnitt
erstrebten.
Ein Werk aus einem Guß ist diese erste Zusammenfassung
natürlich noch nicht. Schon die Interessen eines kurzgefaßten
Lehrbuches forderten ein Verweilen bei dem, was durch lebhaftere
Bearbeitung in den Gesichtskreis des allgemeinen Interesses
getreten ist. Und die Notwendigkeit einer relativ schnellen
Fertigstellung, vor die sich Härtung gestellt sah, schloß von
vornherein die Möglichkeit aus, durch eigene Spezialuntersuchun-
gen die Lücken auszufüllen, welche die Forschung gelassen hat.
Es schmälert nicht sein Verdienst, daß auch dieser „erste Versuch"
zu methodologischer Besinnung anregt über das, was von einer
Deutsche Verfassungsgeschichte. 311
Verfassungsgeschichte der Neuzeit gemäß den besonderen Be-
dingungen, unter denen diese Entwicklung steht, verlangt werden
könnte.
Unbedingt müßte meines Erachtens für die Neuzeit die
geistige Bewegung hineingezogen werden, etwa nach der Methode,
die Cunningham in seiner englischen Wirtschaftsgeschichte
versucht hat, nämlich am Schluß der Darstellung jeder Periode
herauszuarbeiten, wie die tatsächlichen Verhältnisse auf die
Umbildung der volkswirtschaftlichen Ideen gewirkt haben,
und am Anfang der Darstellung jeder neuen Periode umgekehrt,
wie die Ideen das Tatsächliche umbilden. Für die Reichsreform-
bewegung des 15. und 16. Jahrhunderts hat H. die so nötige
Unterbauung durch die Ideengeschichte des 15. Jahrhunderts
wenigstens berührt, wenn auch eine Durchführung noch nicht
möglich ist, da eine einigermaßen vollständige Sammlung der
einschlägigen Schriften sich noch im Stadium der Vorbereitung
durch die Münchener Historische Kommission befindet. Die
kameralistischen und staatsrechtlichen Schriften der nächsten
Jahrhunderte müssen sich mit Erwähnungen begnügen, auch
noch die große geistige Bewegung des 18, Jahrhunderts und der
Revolution. Für das 19. Jahrhundert, gelegentlich auch schon für
das 18., treten dagegen die geistigen Strömungen gebührlich in
den Vordergrund, und die ausgezeichnet durchsichtige Darstellung
ihrer Wirkungen in den verschiedenen Gruppen der deutschen
Einzelstaaten sowie ihrer Umbildungen bis zur relativen Versöhnung
der Gegensätze im neuen Reich, soll nicht herabgesetzt werden
durch die Feststellung, daß eine Zusammenfassung der staats-
theoretischen und politischen Literatur in einem besonderen
Kapitel immerhin eine bedeutende Verbesserung sein würde.
Die ausgesprochene Tatsache, daß „die Parteibewegung ein
wesentliches Teil der Verfassungsbewegung" ist, veranlaßt zum
Hinweis auf die wichtigste Literatur, aber für die Zeit nach 1866,
die übrigens nur summarisch besprochen wird, nicht zu einer
Darstellung. Eine solche dürfte selbst bei der in Deutschland
fortbestehenden überragenden Bedeutung der Regierung nicht
fehlen, da doch auch bei uns die Parteiorganisationen schon in
das Regierungssystem selbst eindringen, wenn sie auch noch
nicht ein so integrierender Bestandteil derselben geworden
sind wie in England oder den Vereinigten Staaten. Sie aus einer
312
Literaturbericht.
Darstellung der Verfassungsgeschichte auszuscheiden, würde das-
selbe sein, als ob man einen so wesentlichen Vorgang wie die
Ausbildung eines Kabinetts in den neuzeitlichen Staaten nicht
behandeln wollte, weil das Kabinett sich ebenfalls ohne Erlaubnis
der Theorie eingeschlichen hat.
Die Verwaltungsgeschichte hat H. erfreulicherweise in vollem
Umfang, wenn auch für die neueste Zeit nur in allgemeinen
Zügen, in die Darstellung der Verfassungsgeschichte aufgenommen,,
ohne daß der Titel des Buches einen entsprechenden Zusatz
erhält. In der Tat kann eine historische Betrachtung die Scheidung
nicht aufrechterhalten. Wenn ein Abschnitt über das landes-
herrliche Kirchenregiment des 16. und 17. Jahrhunderts eingefügt
worden ist, ohne daß übrigens diese Linie fortgeführt würde,
so hätte man noch eher ein Kapitel über die Rezeption des römi-
schen Rechts und insbesondere über die Städte, die doch auch seit
dem 15. Jahrhundert noch ein wesentlicher Faktor in der Ver-
fassungsentwicklung waren, sowohl politisch wie wegen ihres.
Vorgangs in der Gesetzgebung und ihrer bleibenden finanziellen
Bedeutung erwarten dürfen. Daß eine solche Darlegung, abge-
sehen von Erwägungen, fehlt, wirkt um so ungleichmäßiger,,
als H. die Geschichte der Territorien relativ ausführlich von den
Anfängen der Landeshoheit im 13. Jahrhundert an entwickelt.
Bei der überragenden Bedeutung der Territorien für die deutsche
Verfassungsgeschichte der Neuzeit, die das Buch auch sonst in
seiner Raumökonomie und der auf Charakterisierung der ver-
schiedenen Typen verwendeten ausgezeichneten Sorgfalt zur
Geltung bringt, kann diese Vervollständigung der wesentlichen
Reihe bis zu den ersten Anfängen als berechtigt gelten. Es bliebe
dann nur der ernste Mangel, an dem freilich die Ungleichmäßigkeit
der bisherigen Forschung die Schuld trägt, daß das 15. Jahrhundert
vielfach ausfällt, obwohl gerade damals schon die Grundlagen des
Neuen viel fester gelegt worden sind, als es auch H. ahnen läßt.
Er bespricht den entscheidenden Fortschritt in der Entwicklung der
fürstlichen Gewalt, die damals die Elemente des Staatsgedankens
lernt. Hätte er auch beachtet, wie weit schon im 15. Jahrhundert
die Konsolidierung der landständischen Verfassung mit ihren
kollegialen Ausschüssen und Behörden für Finanzen und Regiment
fortgeschritten war, und wie lebhaft die territoriale Behörden-
organisation eingesetzt hatte, angeregt sowohl durch die ständi-
Deutsche Verfassungsgeschichte. 313
sehen Behörden als auch schon damals durch die außerdeutschen
Beispiele, nachdem die großen Konzilien und die Renaissance-
bewegung den Blick weit über die Grenzen Deutschlands hinaus
geweitet hatten, so würde er schwerlich noch geneigt sein, mit
einer älteren Anschauung für den „entscheidenden Fortschritt in
•der Regierungsverfassung, die Errichtung ständiger kollegialer
Zentralbehörden", den Zufall des Bekanntseins Kaiser Maxi-
milians I. mit burgundischen Einrichtungen als irgendwie epoche-
machend anzusehen. Für die Weiterentwicklung der Forschung
kann es nur wertvoll sein, auch durch H.s Buch darauf hingewiesen
zu werden, wie vielfältig das Verständnis der Anfänge unserer
neuzeitlichen Entwicklung noch unter unserer mangelhaften
Kenntnis des 15. Jahrhunderts leidet.
In der Auffassung H.s tritt im allgemeinen ein starker Glaube
■an die Realpolitik, die ausschlaggebende Bedeutung der Macht,
die Majestät des kräftigen, herrschenden Staates hervor. Der
Gegenstand seines Buches kündet ja auch auf jeder Seite von
unserer deutschen Erfahrung, daß wir aus jahrhundertelanger
Unzulänglichkeit nur durch wirksame Macht und Blut und
Eisen errettet worden sind. Und wir haben in unserer Geschichte,
anders als die Völker in unserem Westen, die sich deshalb in
ihrem politischen Empfinden und Glauben so weit von uns
•entfernten, kaum ein Beispiel dafür, nicht einmal im Zeitalter der
Staatsminister Stein und Hardenberg, daß ein von breiteren
Kreisen des Volkes her aufgestiegenes Staatsideal sich gewaltig
umgestaltend durchgesetzt hätte. So nennen die anderen unseren
politischen Glauben materialistisch, weil er das Zutrauen zur
•wirksamen Kraft des Ideals verloren habe und den Machtstaat als
Selbstzweck verehre. Und die Forschung kann aus diesem Gegen-
satz entnehmen, daß es uns heute nicht leicht fällt, die Auseinander-
setzung zwischen Fürsten und Ständen, den Gegensatz Preußens
und der deutschen Kleinstaaten, das Aufeinandertreffen des
Machtstaates und des „humanen Zeitgeistes" der späteren Auf-
klärung, den Kampf zwischen Regierung und liberaler Opposition
mit gleichmäßiger Verteilung von Licht und Schatten zu schildern,
noch die Tragik der beiden großen idealistischen Bewegungen
unserer Verfassungsgeschichte, der Reichsreformbewegung um
die Wende des 15. Jahrhunderts und des Liberalismus im 19. Jahr-
hundert, zu ihrem Recht kommen zu lassen. Vieles einzelne in
314
Literaturbericht.
H.s Buch, sein Verweilen bei dem zentralisierten Territorialstaat,
sein geringes Interesse für die Städte, seine Stellungnahme in
Kontroversen, wie etwa der über den Anteil des Fürstentums
resp. der Stände an der Ausbildung der landständischen Ver-
fassung, dürfte mit seiner politischen Stimmung zusammenhängen.
Um so mehr aber tritt bei ihm ein bemerkenswerter, für die
Abfassung eines Studentenbuches besonders wesentliches Bemühen
um Unparteilichkeit und eine Beweglichkeit des Urteils hervor,
die auch die gegnerischen Auffassungen verarbeitet. Besonders
deutüch läßt sich das an seiner gegen frühere Äußerungen veränder-
ten Stellungnahme zwischen Kaiser und Ständen zur Zeit der
Reichsreformbewegung und an seiner Behandlung der 1848 er
Bestrebungen verfolgen. Anklage und Spott, die sich in vielen
Darstellungen über jene Perioden häufen, fehlen bei ihm durch-
aus. Es findet sich nur der stark betonte Hinweis, in dem
ein wenig Urteilen ex eventu steckt, daß dort von den Ständen,
hier von den Liberalen, etwas unternommen worden sei, was von
vornherein dazu verurteilt gewesen sei, an den bestehenden Macht-
realitäten zu scheitern.
Beirut. Andr. Walther.
Deutsche Dialektgeographie. Berichte und Studien über
G. Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs, heraus-
gegeben von F. Wrede. Heft 4: Emil Hommer, Studien
zur Dialektgeographie des Westerwaldes. Wilhelm Kr oh,
Beiträge zur Nassauischen Dialektgeographie. Heft 8:
Georg Wen k er, Das rheinische Platt. Otto Lobbes,
Nordbergische Dialektgeographie. Heinrich Neuse, Stu-
dien zur niederrheinischen Dialektgeographie in den Kreisen
Rees, Dinslaken, Hamborn, Mülheim, Duisburg. Albert
Hanenberg, Studien zur niederrheinischen Dialektgeo-
graphie zwischen Nymegen und Ürdingen, Marburg, Elwert.
1915. Vll, 381 S. und 2 Karten; VH, 16*, 276 S. 4 Karten.
13 M. und 11,50 M.
Auf den Karten von Wenkers Sprachatlas baut der Voll-
ender seines großen Werks, F. Wrede, in Arbeiten seiner Schüler
eine Geographie der deutschen Mundarten auf. Die Wenker-
schen Karten haben dabei vor allem heuristischen Wert: sie
lehren die mundartscheidenden Merkmale und ihre Grenzen
Deutsche Sprache und Literatur. 315
finden und zeigen innerhalb des damit vorläufig abgesteckten
Mundartgebiets die bezeichnenden Unterschiede von Gau zu
Gau oder von Ort zu Ort, die etwa geeignet sind, Untermund-
arten abzugrenzen. Sie geben aber zugleich auch stets den
Überblick über die sprachlichen Verhältnisse der Nachbargebiete,
behüten dabei den Bearbeiter vor falscher isolierender Behand-
lung und helfen die sprachlichen Erscheinungen durch Verglei-
chung deuten. Sache des einzelnen Bearbeiters ist es sodann,
die Sprachräume, die er darstellen will, selbst abzuwandern, die
Angaben der Atlaskarten nachprüfend zu erweitern, die Grenz-
linien als Verkehrsscheiden natürlicher oder politischer Art kennen
zu lernen und sie phonetisch und geographisch, nach Ursache
und Alter zu deuten.
Die Darsteller der rheinischen Mundarten in den vorlie-
genden beiden Heften sind in der Lösung dieser Aufgaben durch-
weg sehr weit gelangt, fast überall hat sich ergeben, daß die
Mundartgrenzen ihre allgemeine Richtung im späteren Mittel-
alter erlangt haben. Die stärksten politischen Grenzen sind auch
zu den bedeutendsten Sprachscheiden geworden, sofern sie als
politische Grenzen Dauer hatten. Das zeigt Hommer für den
Westerwald, Kr oh in besonders gründlicher Arbeit für Nassau,
Hanenberg für das linksrheinische Grenzland zwischen Krefeld
und Nijmegen. Es ist hier kein Raum, ihren Ergebnissen im
einzelnen nachzugehen, dagegen mag versucht werden, an einem
zusammenhängenden Gebiet rechts vom Niederrhein Gang und
Ziel der dialektgeographischen Methoden zu veranschaulichen.
Im großen wirken hier die Grenzen der hochdeutschen Laut-
verschiebung als Dialektscheiden. Bei Benrath überschreitet die
Linie den Rhein, die südliches laufen, tief, Zeit, essen, groß,
machen, reich, von nördlichem lopen, dep, tid, eten, grot, maken,
rik trennt. Darüber nach Norden reicht die Lautverschiebung
nur in den Wörtern ich und auch: die ik und ok beginnen erst
nördlich und östlich einer Linie, die den Rhein bei Ürdingen
überschreitet. Die rechtsrheinische Mundart zwischen den beiden
Linien, wie sie in der Nordhälfte des alten Herzogtums Berg
gesprochen wird, untersucht Lobbes. Er weist überzeugend nach,
daß im Nordbergischen die mitteldeutschen Spracherscheinungen
so stark überwiegen, daß wir erst die Ürdinger Linie als mittel-
deutsch-niederdeutsche Grenze betrachten dürfen. Gegen Norden
316 Literaturbericht.
deckt sie sich mit der alten Grenze des Herzogtums Berg ge-
gen das Herzogtum Kleve, die Herrschaft Broich und die Reichs-
abtei Essen, sodaß hier die spätmittelalterliche kleinpolitische
Geschichte die Sprachgrenze verständlich macht. Dagegen ist
im Osten die Ürdinger Linie zugleich die alte Stammesgrenze
zwischen Franken und Sachsen, die seit Chlodewigs Tagen ihren
Lauf nicht geändert hat und als politische Grenze bis in die
neueste Zeit fortbesteht. Neben dem Unterschied von ich und ik
ist hier unterscheidendes Sprachmerkmal die 3. Plur. Präs. Ind., die
im Westfälischen auf -et, in den rheinischen Mundarten auf -en
ausgeht. Natürliche Verkehrsscheide ist die Ürdinger Linie
heute so wenig wie der Rhein oder die Benrather Linie. Den
Mischcharakter, der die nordbergische Mundart auszeichnet und
der bisher ihre Zuweisung zum mitteldeutschen oder nieder-
deutschen Gebiet erschwert hatte, erklärt Lobbes aus der Siede-
lungsgeschichte: noch nach Mitte des 11. Jahrh. war das Land
zwischen Rhein, Ruhr und Dussel ein riesiger Wald ; von ver-
schiedenen Seiten drangen Siedler vor, brachten ihre Mund-
arten mit, die sich nach Bewältigung der natürlichen Hemm-
nisse in Kampf und Ausgleich zu einer Mischmundart vereinig-
ten. Bei einzelnen sprachlichen Erscheinungen springt die Tat-
sache dieses Ausgleichs in die Augen, am besten bei den Formen
für euch: ripuarisch lautet es öch, westfälisch ink. Das Nord-
bergische hat den Vokal des südlichen Nachbars mit dem
Konsonantismus des östlichen zu einer Kompromißform önk
vereinigt. Nachmals wurden Territorien abgegrenzt und zu
Verwaltungszwecken in Kreise geteilt, damit ergaben sich neue
Verkehrsscheiden und der Anstoß zur Ausbildung innerer Mund-
artgrenzen, die nach dieser ihrer Entstehung höchstens bis ins
13. Jahrh. zurückreichen.
Nördlich von der Ürdinger Linie liegt das rechtsrheinische
Gebiet des alten Herzogtums Kleve, das Neuse behandelt, der
Landstreifen von Duisburg im Süden bis Emmerich im Norden.
Nach West und Ost hat das Gebiet in alter Zeit natürliche
Verkehrsgrenzen gehabt: der Rhein hat in wilden Katastrophen
seinen Lauf vielfach verlegt, bei Dämmerwald und Hünxerwald
trennten unwegsame Wälder das Herzogtum Kleve vom Gebiet
des Bistums Münster und von der kurkölnischen Feste Reck-
linghausen. Innerhalb des damit abgegrenzten Gebiets kommen
Deutsche Sprache und Literaratur. 317
weder Flüsse noch Gebirge als Verkehrshindernis In Betracht.
Dem entspricht, daß mindestens ein spezifisches sprachliches
Merkmal im ganzen Gebiet herrscht: der sog, kleverländische
Akzent, der (im Gegensatz zum zirkumflektierten rheinischen
Akzent) die langen Tonvokale in zwei Teile zerlegt, einen
längeren ersten mit musikalischem Hochton und einen kürzeren
zweiten mit Tiefton und Murmelvokal. Die Sprachscheiden im
Innern der Mundart entsprechen im Ganzen treu den Amts-
und Herrlichkeitsgrenzen, die bis 1806 bestanden und die ihrer-
seits mehrfach Schlüsse auf das Alter der Sprachgrenzen er-
möglichen. Wenn Dinslaken ursprünglich Tochterpfarrei von
Hiesfeld ist und noch 1349 eine neue Stadt genannt wird, so
kann eine Grenze, die heute in mehr als 25 wichtigen Sprach-
erscheinungen Dinslaken von Hiesfeld trennt, nicht älter als
das 14. Jahrh. sein. Oder wenn vom Lande Wesel 1498 die Herr-
lichkeit Diersfordt abgetrennt wird, so ist die heute sehr aus-
geprägte Sprachscheide zwischen beiden frühestens im 16. Jahrh.
entstanden. Bis etwa 1650 sind Verschiebungen der Grenzen
erfolgt, eine neue politische Zersplitterung hat dann nochmals
neue Mundartgrenzen gebildet und altbestehende verändert. Seit
Napoleon 1806 die Landkarte vereinfacht hat, sind die Linien
unverrückt geblieben.
Die Arbeiten des 1., 2., 3., 5. und 8. Hefts von Wredes
Sammlung bilden zusammen eine geschlossene niederrheinische
Dialektgeographie und sind die wichtige Vorarbeit für den von
der Berliner Akademie geplanten rheinischen Dialektatlas. Es
wirkt sympathisch, daß beim Abschluß der Vorarbeiten Georg
Wenkers Schriftchen über das rheinische Platt von 1877 er-
neut wird, die unscheinbare Keimzelle des riesigen Gesamtwerks.
Freiburg i. B. Alfred Götze.
Paul Gerhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen
Geistes. Auf Grund neuer Forschungen und Funde von
Hermann Petridi, Dr. theol. h. c. Gütersloh, Bertelsmann.
1914. 358 S.
Dieses Werk gehört zu den erfreulichsten Erscheinungen,
welche die literarhistorische Forschung des letzten Menschenalters
hervorgebracht hat, ja es ist eine der besten Biographien die
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 21
3t8 Literaturbericht*
wir besitzen. Und sie gilt einem Dichter, dem die Literatur-
geschichte, so sicher und einmütig sie in seiner Wertschätzung
ist, bisher so gut wie alle Arbeit schuldig geblieben war.
Die direkten Quellen für die Lebensgeschichte Paul Gerhardts
fließen spärlich, und wenn der Verfasser sich im Vorwort glück-
lich schätzt, sie um ein paar wertvolle Stücke vermehren zu
können, so beruht doch, wie jeder sofort einsieht, darauf zum
allerwenigsten der Wert seines Buches. Aber durch das gründ-
lichste Studium der Orts- und Zeitgeschichte, der Theologie und
der Dichtung des 17. Jahrhunderts hat Petrich überall einen
festen Grund gefunden, auf dem er zunächst das Lebensbild des
Dichters aufbaut, die Geschichte und die Elemente seiner Bil-
dung, sein amtliches Wirken, seine Kämpfe und Leiden schildert,
immer eingefügt in einen mit sicherer Hand gezeichneten lokalen
Rahmen: von der Kindheit in Gräfenhainichen bis zum Lebens-
ausgang in Lübben. Mehrere dieser biographischen Kapitel er-
weitern sich zu kulturgeschichtlichen Schilderungen von selbstän-
digem Werte. — Auf das „Leben" (S. 1—189) folgt als zweiter
Hauptteil die „Dichtung" (S. 191—304), und hier müssen wir
dem Theologen P., der freilich den Germanisten längst kein Un-
bekannter mehr ist, das höchste Lob spenden: durch ihn ist Paul
Gerhardt nicht nur biographisch, sondern auch literargeschicht-
lich der bestversorgte Dichter des 17. Jahrhunderts geworden.
Wie P. die Quellen seiner Dichtung und ihre literarische Abhängig-
keit feststellt, die ihr zugrunde liegende Theologie und die Eigen-
art von Gerhardts Frömmigkeit sachkundig und feinfühlig um-
schreibt und zum Schlüsse (S. 267—304) seine Kunst im Ver-
hältnis zur Kunstlehre des 17. Jahrhunderts charakterisiert,
Naturgefühl und Bildlichkeit, Sprache, Stil und inneren Aufbau
seiner Lieder darlegt, das alles zu lesen ist ein Genuß, der jedem
gebildeten Laien zugänglich ist, dem Fachmann aber Anregung
und Förderung weit über den nächsten Gegenstand hinaus bringt.
Der Verfasser der „Drei Kapitel vom romantischen Stil"
darf gewiß sein: auf die Anerkennung und auf die, so hoffen wir,
nachhaltige Wirkung dieses neuen Buches wird er nicht so lange
zu warten brauchen wie bei seinem Jugendwerke.
Göttingen. Edward Schröder.
Deutsche Universitäten. 319
Die Matrikel der Universität Rostoclc. Herausgegeben von Dr.
Adolf Hofmeister. V. Ostern 1789 bis Juni 1831. Bearbeitet
von Prof. Dr. Ernst Schäfer. Rostock 1912. XIV u. 127 S.
4°. 13,50 M.
Dieser durch den Regierungsbibliothekar zu Schwerin
Dr. Ernst Schäfer bearbeitete Band führt den durch Adolf Hof-
meister im Jahre 1889 begonnenen und bis zu seinem Tode (1904)
emsig geförderten Abdruck der Rostocker Matrikel zu Ende.
Eine Veröffentlichung über das Jahr 1831 hinaus ist nicht mehr
nötig, weil seit dem Sommersemester 1831 gedruckte Personal-
verzeichnisse der Universität erscheinen, die allgemein zugäng-
lich sind.
Der vorliegende Band ist im Umfang schwächer als die
vier vorangegangenen und umspannt auch einen viel kürzeren
Zeitraum, er steht ihnen jedoch an Bedeutung des Gebotenen
nicht nach. In die 42 Jahre, die er behandelt, fällt die beginnende
Anpassung der Rostocker „Akademie" an die Forderungen des
Tages, fallen die trüben Erinnerungen an die Franzosenzeit und an
die nach v. Kotzebues Ermordung immer rücksichtloser einsetzende
Verfolgung aller freiheitlichen Regungen an deutschen Universi-
täten. Obwohl Rostock in diese Bewegung nicht stärker hinein-
gezogen war, so erging doch am 7. April 1819 der Befehl des
Großherzogs Friedrich Franz zu einer „mit Aufmerksamkeit,
Vorsicht und Mäßigung" durchzuführenden Untersuchung der
Gesinnung unter der Rostocker Studentenschaft. Der akademische
Senat berichtete, daß deren „Betragen nicht zu der Vermutumg
berechtige, es habe sich ein herrschender Geist der Gewalttätigkeit
unter ihnen gebildet". Eine Mitwissenschaft hiesiger Studierender
bei der Tat Sands sei unerweislich. Demungeachtet wurde in
Ausführung eines Bundesratbeschlusses auch für Rostock am
15. November 1819 der Geh. Kanzleirat v. Schmidt als ,, außer-
ordentlicher landesfürstlicher Bevollmächtigter zur Oberaufsicht
über die Vorträge der akademischen Lehrer und das sittliche
Benehmen der Studenten" bestellt.
Diese und andere Einblicke in das. akademische Leben kann
man aus der Ausgabe der Rostoker Matrikel gewinnen, weil
sich diese nicht auf den Abdruck der Namenlisten beschränkt,
sondern auch die von Rektoren und Doktoren gemachten Vermerke
berücksichtigt. Neben diesen „Memorabilien", die in der Matrikel
21*
320 Literaturbericht.
bis zum Jahre 1802 mit einiger Ausführliclikeit niedergelegt
wurden, waren die Aufzeichnungen des Professors Johann Christian
Eschenbach (f 12. Aug. 1823) eine reiche Fundgrube akademischer
Nachrichten. Eschenbach veröffentHchte sie in halbmonatHchen
Heften von Ostern 1788 bis Ostern 1807 als „Annalen der Rostocker
Akademie" und setzte sie dann handschriftlich in 10 Bänden
fort, von welchen sich 9 erhalten haben, die bis zum Juli 1821
reichen. Der Schlußband, den der unermüdliche Verfasser noch
kurz vor seinem Tode vollendet hatte, ist leider verloren gegangen.
Graz. Luschin von Ebengreuth.
Die Matrikel der Universität Dillingen. Bearbeitet von Dr.
Thomas Specht. 2. Bd., Lief. 3, 4. Dillingen 1912/13. —
Registerband. Bearbeitet von Dr. Alfred Sdiröder. Lief. 1,2.
Dillingen 1914/15. (Sonderabdrücke aus dem Archiv für die
Geschichte des Hochstifts Augsburg.)
Die Feier des hundertjährigen Bestandes, welche das kgl. baye-
rische Lyzeum zu Dillingen im Jahre 1904 festlich beging, hatte
mancherlei geschichtliche Vorarbeiten veranlaßt, als deren erstes
Ergebnis Prof. Dr. Thomas Specht im Jahre 1902 eine Geschichte
der von den Bischöfen von Augsburg 1549 gegründeten und 1804
aufgehobenen Universität Dillingen veröffentlicht hat. Später
entschloß er sich auch zu einer kritischen Ausgabe der Universitäts-
Matrikel, die in der Bibliothek des bischöflichen Priesterseminars
unter der irreführenden Bezeichnung Matrimla alumnorum
vorgefunden wurde. Erhalten hat sich der erste Band, der aus den
Jahren 1551—1695 nahezu 20000 Namen überUefert. Die Ver-
öffentlichung erfolgte im Archiv für die Geschichte des Hochstifts
Augsburg und mußte darum auf eine Reihe von Jahren verteilt
werden. Erschienen sind bisher der vollständige Matrikeltext in
zwei Bänden (I, S. 1—722; II, S. 723—1188) und die erste Hälfte
des Registerbandes (XXX u. 208 S.).
Die hier zur Besprechung stehenden Schlußlieferungen des
Matrikeltextes bringen zunächst (S. 963—1031) die Matrikel der
Jahre 1683—1695 zum Abdruck, sodann S. 1032—1110 biographi-
sche Nachträge und Ergänzungen zu den Jahren 1551 — 1694,
ein Verzeichnis der benützten Quellen (S. 1110—1113) und von
S. 1115 ab eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse.
Auf eine genaue Beschreibung der Matrikel folgen eine Besprechung
Deutsche Universitäten. 321
.der Vorschriften über die Immatrikulation, Nachrichten über
deren Vollzug und die Rechte der immatrikulierten, Angaben
über Alter, Heimat, Standesangehörigkeit und die Zahl der
Studierenden, endlich eine Darlegung der Grundsätze, nach
welchen die Ausgabe erfolgte. Dr. Specht wollte mehr als
einen bloßen Abdruck des Matrikeltextes bieten, schon darum,
weil dieser keineswegs vollständig ist. Von den 19378 Namen,
die im ganzen geboten werden, ist manch einer aus den Pro-
motionskatalogen oder den Universitätsakten gezogen und mit
entsprechender Bezeichnung versehen an zutreffender Stelle
eingeschoben worden. Die Namen der Inskribierten wurden in
der gedruckten Matrikel, um die Auffindung zu erleichtern, von
Jahr zu Jahr mit fortlaufenden Zahlen versehen. Besonders
lange Zusätze oder Bemerkungen, die namentlich der Studien-
präfekt Zauponius (1604 — 1628) einzelnen Namen von hohem
Klange gern beifügte, wurden in Fußnoten verwiesen, ebendahin
kamen durch liegende Schrift unterschieden die vom Herausgeber
erkundeten Lebensumstände der Studierenden. Andere Fußnoten,
in kleinerer Schrift und durch vorangestellte Buchstaben a, b usw.
gekennzeichnet, enthalten textkritische Bemerkungen. Daß Prof.
Dr. Specht bei der Herausgabe der Matrikel gute und gründliche
Arbeit leisten werde, ließ schon seine früher erschienene „Ge-
schichte der Universität Dillingen" erwarten.
Voll der Benutzung erschlossen wird indessen selbst die
beste Ausgabe einer Matrikel erst durch die Register, die sich
entweder auf die Namen und die Herkunft der Scholaren beschrän-
ken, oder auch noch andere Gesichtspunkte berücksichtigen
können. Die Bearbeitung des Registers zur Dillinger Universitäts-
matrikel hat nun Prof. Dr. Alfred Schröder, Herausgeber des
Archivs für die Geschichte des Hochstifts Augsburg, übernommen.
Schröder berichtet ausführlich über seine Absichten im Vorwort
des erschienenen Halbbandes: sie gehen über das Maß des Nötigsten
hinaus und werden — da außer dem Studenten- und Ortsregister
auch noch andere Übersichten geplant sind — die Ausnützung
der Matrikel nach mancherlei Richtungen erleichtern. Willkommen
vor allem wird das Register für familiengeschichtliche Forschungen
und für Arbeiten über die Besetzung kirchlicher wie weltlicher
Behörden in den katholischen Gebieten Südwestdeutschlands
sein, da die Dillinger Universität einen ausgedehnten Anziehungs-
322
Literaturbericht.
kreis in Bayern, Schwaben, Franken, Österreich usw. besaß.
Die vorliegenden Lieferungen enthalten die Einleitung (I — XXX)
und auf S, 1 — 208 den größten Teil des Studentenregisters von
Abel bis Schenk von Stauffenberg, ich möchte jedoch ein ab-
schließendes Urteil erst nach Vollendung des Ganzen abgeben,
was bisher vorliegt, berechtigt zu schönen Erwartungen. Prof
Schröder hat alle Namen mit den oft schwer lesbaren Vorlagen
nochmals verglichen und bringt daher auch einzelne Berichtigungen,
die unmittelbar in die alphabetische Reihenfolge aufgenommen
wurden, wie Alxinger statt des verlesenen Alfinger. Die S. XXV der
Einleitung bezweifelte Ortsbezeichnung Carnoviensis Silesius
beruht indes nicht auf einem Hörfehler des Schreibers für Tarno-
viensis gleich einem der schlesischen Tarnau, sondern ist auf
Jägerndorf in Schlesien zu beziehen, das Carnovia hieß,
Graz, Luscfiin von Ebengreuth.
Von Kieler Professoren. Briefe aus drei Jahrhunderten zur Ge-
schichte der Universität Kiel (5, Oktober 1915). Von Dr.
M. Liepmann, Professor der Rechte in Kiel. Herausgegeben
zur Erinnerung an das 250jährige Jubiläum der Universität
in ihrem Auftrag.
Urkundenbücher, Biographien einzelner hervorragender Pro-
fessoren, Briefsammlungen, Beiträge zu ihrer Geschichte er-
scheinen jetzt häufiger bei den Jubiläen der Universitäten als
vollständige Darstellungen ihrer Geschichte. Der Grund liegt in
der Schwierigkeit, das vielseitige Wesen der Universität in ein-
heitlicher Darstellung zusammenzufassen. Man sieht sich bald
in der Gefahr, Dinge ausführlich zu behandeln, die nur zu ihrer
Zeit erheblich waren und noch häufiger gleichartige Vorgänge
nacheinander zu erzählen. In meiner Geschichte der Universität
Breslau habe ich diese Schwierigkeiten kennen gelernt und be-
greife, daß man lieber eine Aufgabe wählt, die eine Seite des
Lebens der Universität reicher und lebendiger entwickeln läßt.
Das ist nun auch in Kiel geschehen. Im Auftrag der Universität
hat Professor Liepmann zur Erinnerung an das auf den 5. Oktober
1915 fallende 250jährige Jubiläum der Universität eine Samm-
lung von Briefen Kieler Professoren herausgegeben, die uns
zwar auch in die wichtigsten Schicksale der Universität ein-
führen, die aber ihren Hauptwert haben durch die Blicke, die
Deutsche Universitäten. '323
sie uns in das Leben und Wesen einer großen Zahl bedeutender
Männer gewähren. Vier Briefe gehören dem ausgehenden 17, Jahr-
hundert an, die Nr. 5—49 dem 18., die Nr. 50—289 dem 19. Jahr-
hundert. Der letzte ist ein von Forchhammer an Haussen ge-
schriebener Brief vom 2. Januar 1892. Forchhammer dankt dem
Freunde für den „Glückwunsch zu meinen 90 Jahren" und er-
geht sich dann in einer so lebhaften Kritik der wissenschaft-
lichen und politischen Zustände, als schriebe ein Fünfziger. Von
Haussen sind mehrere Briefe mitgeteilt, und indem ich sie lese,
steigt mir das Bild des ebenso klugen wie liebenswürdigen Mannes
auf, wie er in Göttingen an einem festen Tage der Woche in
einem kleinen Kreise beim Abendschoppen weilte. S. 273 steht
ein Brief von ihm, den er 22. Juni 1851 aus Göttingen in die
alte Heimat sandte und der für die trostlose Stimmung auch
so starker Männer in jenen Tagen bezeichnend ist. „Ich habe
wahrlich all den Jammer, der über unsere unglücklichen Herzog-
tümer hereingebrochen ist, täglich in meiner Seele so mitgefühlt,
als ob ich noch wie vor 10 Jahren mitten in dem herriichen
Land und unter meinen trefflichen Freunden lebte. Bei dem
Kummer und der Besorgnis, die ich über die Gegenwart und die
ganz dunkle Zukunft des Landes und meiner Freunde empfinde,
bin ich kaum auf Minuten fähig, des Lebens froh zu werden.
Und wendet man den Blick auf ganz Deutschland — ist die
geringste Aussicht auf eine gedeihliche Entwicklung der öffent-
lichen Angelegenheiten vorhanden? Binnen 10 Jahren haben
wir bei der jetzigen Wirtschaft die gräulichste Revolution zu
gewärtigen, die dann nicht da stehen bleibt, wo sie 1848 stehen
blieb, und die mit den Schuldigen auch die Unschuldigen ver-
schlingen wird." In dieser Klage geht es weiter, es ist eine
Stimmung, wie sie damals auch Dahlmann beherrschte und zu
den stärksten Ausdrücken und Urteilen veranlaßte.
Von und an Dahlmann finden sich eine große Anzahl Briefe,
und in allen herrscht jener Geist der Verehrung, die Dahlmann
überall umgab, wo immer er auftrat. Ganz besonders trat mir
das entgegen in einem Briefe meines verehrten Lehrers Waitz
vom 16. Januar 1842, denn Waitz war selbst eine gebietende
Gestalt und um so stärker ist der Eindruck seiner Worte. Waitz
hatte einen Ruf nach Kiel erhalten an Michelsens Stelle, und da
gleichzeitig Hanssens Stelle frei wurde, der nach Göttingen be-
Literaturbericht.
rufen war, so regte sich in Kiel der Wunsch, Dahlmann wieder
zu gewinnen, der 1813 — 1829 in Kiel Professor gewesen war.
Waitz gab dieser Hoffnung begeisterten Ausdruck, und auch nach
anderen Seiten ist der Brief für Waitz lehrreich. So die Wen-
dung am Schluß: „Ich lasse mich gern in solchen Dingen von
den Ereignissen selber leiten. Da es nun so ganz ohne mein Zu-
tun an mich kam, schien es mir eine Fügung, der ich mich nicht
entgegenstellen durfte. Gott hat mich bisher wunderbar ge-
leitet. Er wird ja auch dies, wie es gut ist, hinausführen."
Für Waitz sind noch mehrere Briefe von höchstem Interesse.
So ein Brief an Ranke aus Anlaß der Berufung, und die Antwort
Rankes, Nr. 127, ist ein lebendiges Zeugnis von dem innigen Ver-
hältnis des Meisters zu seinem ausgezeichneten Schüler und um-
gekehrt.
Eine besondere Frische zeichnet die Briefe von Droysen aus.
So fern uns auch jetzt die Tatsachen Hegen, die seinen Humor
oder seinen Zorn und Spott reizten, Droysen fesselt uns sofort.
Wir erhalten den Einblick nicht nur in eine von wissenschaft-
lichem Eifer, aber noch stärker fast von patriotischer Sorge oder
Begeisterung erfüllte hochbegabte Persönlichkeit und ihren Kreis,
sondern wir erleben förmlich jene Tage mit, in denen unser Volk
zum politischen Leben erwachte, aber in engen Fesseln gebunden
war. Es war die Zeit, in der gerade die Professorenkreise Mittel-
punkte der patriotischen Wünsche und Hoffnungen unseres Volkes
waren und auch eine große Zahl der einflußreichsten Vorkämpfer
stellte. Das gilt auch noch für die Periode 1864 — 1870. Welch
eine Kraft und welch patriotischen Eifer zeigen da z. B. die
Briefe des Philologen Ribbeck. Am 22. Oktober 1865 schrieb er
an seinen Bruder einen Brief, der so beginnt: „Wir Auswärtigen
haben jetzt um so mehr Grund zusammenzuhalten, so unaus-
stehlicher manche der Autochthonen durch ihre politische Ortho-
doxie auch im Verkehr werden, und es dürfte der Zeitpunkt nicht
fern sein, wo unsere ehrwürdige akademische Körperschaft in
zwei Hälften zerplatzen wird." Dazu nehme man den Brief vom
29. August 1870, in dem er Treitschke für die Übersendung seines
„herrlichen" Aufsatzes „Was fordern wir von Frankreich?" dankt.
„Zwar unsägliche Trauer hat er (der Krieg) schon über unser
Volk gebracht und unberechenbar ist, wie viele Opfer er noch
fordern wird, und doch ist es wie ein neues Leben, zu dem wir
Ostseeländer. 325
«rwacht sind, als hätte ein wunderbares Bad, ein umgekehrter
Peliaskessel unsere Glieder zu einem ungeahnten heroischen Pracht-
bau umgeschaffen und ihnen einen göttlichen Atem eingehaucht."
Doch genug der Beispiele, es ist eine Fülle kräftigen geistigen
und politischen Lebens in diesen Briefen und damit ein Zeugnis
für die große Bedeutung unserer Universitäten für die Entwick-
lung und für das Leben unseres Volkes. Es ist uns in diesem
Bande eine reiche Gabe gegeben.
Breslau. Georg Kaufmann.
Baltische Studien zur Archäologie und Geschichte. Arbeiten des
Baltischen Vorbereitenden Komitees für den XVI. Archäo-
logischen Kongreß in Pleskau 1914. Berlin, G. Reimer.
1914. 415 S. 4°.
In der Entwicklung der baltischen Archäologie bedeutete
der X. Archäologische Kongreß, der zum erstenmal in den bal-
tischen Provinzen tagte, eine Epoche, Damals, im Jahre 1896,
stand das wissenschaftliche Leben der Ostseeprovinzen noch in
voller Blüte: von einem Einfluß der Russifizierungsbestrebungen
auf die Tätigkeit der wissenschaftlichen Vereine war noch wenig
zu spüren; die seit dem Jahr 1834 in Riga bestehende Gesell-
schaft für Geschichte und Altertumskunde, die auf archäologi-
schem Gebiete immer schon Bedeutendes geleistet hatte, ver-
anstaltete eine Ausstellung der vorgeschichtlichen Funde, zu der
ihre Sammlungen die reichsten Bestände hergaben; Professor
Hausmann in Dorpat, der, durch Georg Löschcke gewonnen,
der erste war, der an der Universität ein mit praktischen Übungen
verbundenes Kolleg über baltische Archäologie las und überhaupt
die archäologische Forschung des Ostbaltikums auf sichere wissen-
schaftliche Grundlagen stellte, gab gemeinsam mit dem früh-
verstorbenen Anton Buchholtz einen Katalog jener Ausstellung
heraus, der bleibende Bedeutung gewann. Buchholtz ist auch
noch eine Bibliographie der Archäologie Liv-, Est- und Kurlands
zu danken. Kurz: jener Kongreß und die ihm gewidmeten
Arbeiten und Anregungen, zu denen auch noch bedeutsame
Gräberfunde kamen, brachen der baltisch-archäologischen For-
schung neue Bahnen.
Als im Jahre 1914 kurz vor Kriegsausbruch der Archäo-
logische Kongreß in nächster Nachbarschaft der Ostseeprovinzen,
326 Literaturbericht.
in dem alten Pleskau am Peipussee tagte, beschlossen die bal-
tischen historisch-archäologischen Vereine, in einem literarischen
Sammelwerk ein möglichst vollständiges Bild der wissenschaft-
lichen Interessen und Arbeitsrichtungen ihres Landes auf den
Gebieten zu geben, die Gegenstand der Kongreßverhandlungen
sind. Es ist ein stattlicher, mit Bildern reich geschmückter
Band, der vor uns liegt: die Livländische Ritterschaft und die
Stadt Riga, die von jeher baltische Heimatkunde und geschicht-
liche Studien gefördert, haben den Druck und die vornehme
Ausstattung durch freigebige Bewilligungen unterstützt; eine
Reihe namhafter Gelehrten: Richard Hausmann, Ernst v. Stern,
Oskar Montelius, Hermann Baron Bruiningk, Theodor Schiemann
u. a. haben daran mitgearbeitet. Um die Redaktion des archäo-
logischen Teils hat sich Dr. Max Ewert von den Berliner Museen
verdient gemacht; ihm ist überhaupt die baltische archäologische
Forschung für seine Inventarisierung der vorgeschichtlichen
Sammlungen des Rigaschen Dommuseums und für den im
Druck erschienenen vortrefflichen Führer durch diese reichen
Bestände zu Dank verpflichtet.
Ein Denkmalsschutzgesetz hat Rußland noch nicht und
durch dilettantische Ausgrabungsarbeit ist auch in den Ostsee-
provinzen gesündigt worden, aber die umsichtigen und mit den
Waffen der Wissenschaft gerüsteten Geschichtsvereine des Ost-
baltikums haben dem schädlichen Treiben Unberufener, der
Raubgräberei, ein Ende gemacht.
Die baltische Archäologie steht noch vor einer Reihe un-
gelöster Fragen. Die Probleme der baltischen Steinzeit in größe-
rem Zusammenhange erörtern zu können, bedarf es einer inten-
siveren Bodenforschung. Auch die Frage nach der Nationalität
der Bewohner des Landes in den älteren archäologischen Perioden
ist noch offen. Den altberühmten Warägerweg durch Rußland
hat man erforscht und hat durch Funde schwedische Kolonien
an ihm entlang nachgewiesen; für das Dünatal aber, das als
Einfallstor Bedeutung gehabt hat, fehlen die Untersuchungen.
Was unser Sammelwerk darbietet, sind Einzelstudien, die
manche Frage der Lösung näherbringen. Erwähnt seien: Martin
Bolz' Beschreibung des neolithischen Gräberfeldes von Kiwi-
saare in Livland, Hausmanns Bericht über den Dorpater Depot-
fund, Ewerts Erörterung der Beziehungen der Ostseeprovinzen
England. 327
ZU Skandinavien in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts,
Montelius' Erläuterung der schwedischen Runensteine des Ost-
baltikums. Aber auch Mittelalter und Neuzeit finden Berück-
sichtigung. Eine vorbildliche Untersuchung über den ältesten
livländischen Grabstein gibt H. v. Bruiningk. Harald Cosacks
Arbeit über die auswärtigen Verwicklungen des Ordens in Liv-
land von 1478—1483 führt in eine der unheilvollsten Zeiten des
Ordens. An Schiemanns Mitteilungen über die italienische Reise
des Kaisers Nikolaus I. von 1845 ist besonders interessant, was
der Zar über die Zukunft Österreichs brieflich zu seiner Ge-
mahlin äußert.
Bald nach Erscheinen des Werkes ist der Weltkrieg aus-
gebrochen. Die deutsche Wissenschaft in den Ostseeprovinzen
ist verstummt. Was ihre und des Deutschtums Zukunft in der
ältesten deutschen Kolonie sein wird: wer vermag das heute
vorauszusagen ?
Berlin. A. Buchholtz.
England. Seine staatliche und politische Entwicklung und der
Krieg gegen Deutschland. Von Eduard Meyer, Geheimem
Regierungsrat und ordentlichem Professor der Geschichte
an der Universität Berlin. Volksausgabe 1. — 10. Tausend.
Stuttgart und Berlin, J. G. Cotta Nachf. 1915. XXIV u. 213 S.
Wenn der große Historiker des Altertums die Staatsge-
schichte Englands im letzten Jahrhundert, wenn auch aus nur
bekannten Einzelheiten, zusammenfassen, in Ruhe durchdringen,
sorgfältig beurteilen und in abgewogenen Worten darstellen
würde, so erhielte neben der Geschichtswissenschaft auch Politik
und Literatur eine köstliche dauerhafte Frucht. Dieses Büch-
lein, zuerst 1915 schon am 18. Februar vollendet und in der
vorliegenden Ausgabe am 22, August bevorwortet — mir ging
es erst am 12, Dezember 1916 zu — , müßte den Krieg an die
Spitze des Titels stellen. Denn zu dessen Verständnis will es
jedem allgemein gebildeten Leser verhelfen. Gemessen an solcher
Entstehungseile und Zielbeschränkung, führt es eine erstaunliche
.Fülle von meist bis ins einzelne genauem Stoffe, wohl geordnet,
kurz und deutlich und in dennoch stets anregender Form vor.
Verwickeltes Gewebe diplomatischer Intrige wird ebenso wie der
328 Literaturbericht.
Gegensatz politischer. Anschauungen klargelegt. Zum ernsthaften
Nachdenken über staatliche Fragen allgemein wird das Werk
sicher beitragen. — Hitze und Gefahr unseres Kampfes erklären
die Leidenschaft, die den Ausdruck nicht selten übertreibt; sie
entspringt überall echtem Vaterlandsgefühl und tief ethischem
Sinne, der nur in Kategorien bürgerlicher Moral die Geschicke
der Staaten nicht einzwängen sollte. Wohl nur zu starke Kür-
zung verschuldet es, daß mancher Leser S. 2 so mißverstehen
wird, als trete die Formel von Gottes Gnaden erst gegen die
Stände auf; auch S. 69 Z. 7 v. u. begegnet Unklarheit, S. 152
Z. 6 v. u. ein Schreibfehler. Das Beiwort feminin trifft auf den
Pazifismus nicht zu: dieser staatswidrige Traum heiße lieber
prophetisch-christlich! Zu milde dagegen klingt mir die Ver-
dammung gegen Englands anonyme Presse, die als Einbläserin
wie als Mundstück der öffentlichen Meinung zu bezeichnen war:
kenne ich doch jene Sünder, die halbgebildet, unerfahren, von
Deutschlands Geist und Geschichte wenig unterrichtet, nicht
sowohl der Erkenntnis oder Verkündung der Wahrheit über
unsere Zustände dienen, als Geld und durch prickelnden Stil
Namen verdienen wollten und ihren starken Anteil an der Ver-
hetzung der Völker nie verantworten werden oder können.
Und allerdings läßt sich auch nicht mit einem Anstandswort
verurteilen jener hochangesehene Richter Phillimore, der, zum
Abwägen bestellt, darin geübt, nicht in kampfesheißer Stunde
zu plötzlicher Entscheidung gedrängt, sondern von ruhiger Amts-
stube aus ein Falschurteil fällte, weil es den Bürger eines Fein-
desstaats traf.
Meyer läßt das Mittelalter Britanniens fort, das aber dort
mehr als für andere europäische Staaten die Grundlage zum
Verständnis der Gegenwart bildet, und ebenso jede geographisch-
volkswirtliche Einleitung, die man sich aus Steffen oder Kjellen
ergänze. Mit der Neuzeit beginnend, betrifft das Buch nur zu
einem Zehntel die Zeit vor dem 19. Jahrhundert und zur vollen
Hälfte das letzte Menschenalter allein. Dem Geschichtsforscher
neue Tatsachen zu bringen beabsichtigt es nicht. In den meisten
und wichtigsten Urteilen stimmt es zu den Anschauungen der
führenden Geisteswissenschaftler und Politiker Deutschlands..
Eigentümlich für Edward VII., der sich die Ehre gewiß nicht
träumen ließ, ist der Vergleich mit Agesilaos: ein König lenkt
England. 329
kraft persönlicher Geschicklichkeit den Staat trotz der Beschrän-
kung durch die Verfassung. Wenig stimmt dagegen der alte
Vergleich Englands mit Karthago, der auf Seehandel mit Kolonien
und Söldnerheer blickt. Denn daß letzteres als unwesentlicher
Zug vor der Wehrpflicht bei Britanniens erster Todesgefahr
weichen werde, konnten nur jene zweifeln, die mit Treitschke
ein »Krämervolk« sahen in dieser ehrgeizigen, machtgierigen,
abenteuerlustigen, waghalsigen, kampfesfrohen Nation. Weit
mehr kann jener Vergleich lehren, den die Briten selbst längst
gezogen haben zwischen Rom und ihrem Imperium über weite
Teile der Erde. Wie einst beim Unterliegen des Hellenismus
vor Rom Teile Vorderasiens in Orientalismus zurücksanken,
so werde, meint M., wiederum dieser Krieg die Europäisierung
Asiens hemmen. Allein kann der denn Englands dortigen Ein-
fluß so tief schwächen, oder will sich die Türkei auf alter Grund-
lage erneuern?
Mit Recht wird dem deutschen Freiheitsbegriff der des Eng-
länders gegenübergestellt, der negativ größeren Wert legt auf die
Unabhängigkeit der Volksmehrheit von der Krone und sich
weniger bedrückt fühlt bei der Beschränkung individuellen Sinnes
durch die öffentliche Meinung. Nur in den bloß gesellschaft-
lichen Formen müßte der starre Konventionszwang als jeder
alten Herrschaftsschichtung eigen erkannt werden, ruhe sie
nun auf Geburt, Beruf, Amt, Geld. Seit einem Menschenalter
aber schreitet die Erfüllung des Staatsbegriffs mit positiver
sozialer Forderung auch drüben gewaltig vorwärts; und längst
ist das Wort State aufgenommen für „Staat", dessen Begriff schon
vor einem Jahrtausend zu finden war, meist unter dem freilich
mehrdeutigen rex. Und wie kann man dem Engländer ein Wort
für Vaterland (my country) oder Heimatsgefühl absprechen ! Gewiß
ringen zwar in diesem Kriege auch zwei Staatsformen miteinander.
Aber die durch und für die Feinde erfundene Lüge, er drehe sich
um jene, sollten wir nicht nachsprechen: träten wir nur Kriegs-
flotte, Seehandel, Kolonien und europäische Festlandsvormacht
ab — wir dürften „Potsdam" behalten! Vielmehr genügt, um
Englands Kampfstellung gegen uns zu erklären, dessen Welt-
imperalismus aus unserer Zeit, verbunden mit der von M. im
einzelnen, nicht systematisch, gekennzeichneten Politik schon
des 17. Jahrhunderts, je den nächst stärksten Nebenbuhler zu
330 Literaturbericht.
schwächen und womöglich dann zum Freunde zu gewinnen.
(Letztere Absicht lag wohl auch hinter Greys frechem Abschieds-
wort an Lichnowsky.)
Vor den heuchlerischen Lehren vom europäischen Konzert,
vom Gleichgewicht der Festlandsmächte, vom schrankenlosen
Erwerb in demokratischem Staate, vom unbedingten Freihandel
zu warnen, als vor einem Schwindel zugunsten bzw. der über-
mächtigen Diplomatie, der britischen Außenstellung, der Pluto-
kratie und der beherrschenden Industrie hält M. noch für nötig;
daß seine kräftige Stimme auch in tiefere Kreise dringe, bleibt zu
hoffen.
In Englands Erziehungswesen vermißt auch M. Gymnasien
für den Mittelstand und wissenschaftliche Schulung an der Uni-
versität; daß die Gelehrsamkeit unter Spezialisierung leide, wirft
aber umgekehrt auch der Engländer uns vor. — Eigene Kenntnis
verraten die Seiten über Irland, Dessen Nationalismus übt je-
doch keine so das Reich zerstörende Wirkung, wie dieses Buch
(das doch S. 35 hinter Home rule nur das Ziel provinzialen Eigen-
lebens erblickt) glauben machen möchte, ebenso wie es das
Selbständigkeitsstreben des Islams, der Buren, Indiens als Hem-
mungen des Weltreiches überschätzt. Zur Unabhängigkeit
Irlands treibt u. a. auch eine Deutschlands Freiheit stets be-
fehdende Macht. Die Politik durfte den Traum des persönlich
edlen Casement wohl benutzen, aber nie als Möglichkeit hoch
bewerten. Die Akten, laut deren ein königlicher Gesandter Groß-
britanniens einen Meuchelmörder gegen den Hochverräter auf
neutralem Boden dang, stehen hier abgedruckt; sie belegen,
wie Englands Recht hier wie in manch anderem Stücke rück-
ständig im Mittelalter haften geblieben ist. — Den Irischen
Aufstand sah M. voraus, das jähe Ende nicht.
Besondere Beachtung erheischen auch M.s Bemerkungen
über die Vereinigten Staaten, sowohl die Sezession wie die jetzige
Feindschaft der Anglo-Amerikaner, deren Stimmführer Eliot
er mit gebührender Grobheit behandelt. Wie aber gegen M.s
Meinung Wilsons Wahlsieg 1916 dem Feinde unwillkommen
erschien, so dringt, hoff ich, seine andere Ansicht nicht durch,
daß Amerikas Krieg gegen uns wenig mehr als dessen Schein-
neutralität schaden könne: eine Unterschätzung wie bis 1915
jene der englischen Möglichkeiten!
England. 33i
Über den älteren Pitt freut man sich, auch einmal warmes
Lob ertönen zu hören; Palmerston erfährt verdiente Herabsetzung.
Daß das Zurückweichen in der Dänischen Frage 1864, für das
übrigens Viktorias persönlicher Anteil zu erwähnen war, gegen
Englands Weltherrschaft entschied, scheint überspitzter Aus-
druck. — Wer den Handel in schwarzem Menschenfleisch brand-
markt, muß auch sagen, daß ihn nicht allein England betrieb
und später ihn abschaffte. — „Das Parlament in seiner Blütezeit
bis 1832 war niemals eine , Volksvertretung', sondern die organi-
sierte Herrschaft einer kraftvollen Aristokratie": ein an sich
richtiger Satz, den aber die zumeist doch preußischen Leser
leicht so mißverstehen können, als sei unser Abgeordnetenhaus
„die" Volksvertretung, oder als berge jenes Unterhaus trotz der
Auswüchse nicht den Kern und Gedanken der Vertretung des
Volkes. Irreführend wirkt besonders der Nachsatz, das Recht,
Vertreter zu entsenden, beruhte auf Königsprivileg: er gilt nicht
durchweg und bedeutet nichts mehr fürs 18. Jahrhundert. —
Geriet England mit Beginn des 19, Jahrhunderts „überall" ins
Hintertreffen? Auch in Wirtschaft, Technik, Nationalökonomie?
— Transvaal ward 1881 nicht auch im Auswärtigen unabhängig.
Nach M. steht „die Gestaltung des nationalen und politischen
Lebens unendlich viel höher" in Deutschland als in England, in
solcher Allgemeinheit scheint mir die Bewertung mehr religiöser
Glaube als wissenschaftliches Urteil. — Über den National-
charakter (eine Wirklichkeit, obwohl sie gewiß zeitlich sich ändert,
stellenweise sich selbst widerspricht, nie restlos in Begriffe auf-
geht und auf viele Engländer in keinem Zuge, ja vielleicht auf
keinen in jedem Zuge paßt) stimm ich mit recht vielen deutschen
Beurteilern, u. a. Kant, überein, mit M. nur in längst bekannten
Hauptsachen, z. B. daß der Engländer oft der Systematik und
Kritik ermangle, der öffentlichen Meinung sich zu sehr beuge,
den Schein der Anständigkeit überschätze. Gegen M. leugne
ich, daß er skrupellos gegen Korruption und auch außer gegen-
über dem Feinde zur Falschheit geneigt sei, des Heimatsgefühles
oder Gartensinnes oder der Fähigkeit zur Organisation (im be-
sonderen auch eines Heeres) entbehre, daß Meuchelmord oder
Falschspiel sich mit dem Begriffe des Gentleman vereinen lasse.
Wohl trägt der Offizier die Uniform nicht außer Dienst; er schämt
sich ihrer wahrlich nicht ! — Die anglikanische Kirche, als humani-
332 Literaturbericht.
sierend stets achtbar, übt jetzt auch starke soziale Fürsorge. —
Konfessionelle Duldsamkeit, mindestens unter allen Monotheisten,
ist in Englands Staat und Gesellschaft im ganzen weiter ent-
wickelt als bei uns.
Unverständlich geblieben ist mir die Behauptung: „Ein Staat
wie England kennt eine wirkliche Verantwortlichkeit nicht;
(diese) wird durch die juristische aufgehoben (und) kann nie von
einer Körperschaft getragen werden; (nur) in einer starken
Monarchie liegt die ganze auf der Person des Herrschers". Kann
denn Ein Mensch die Gesetze, Verordnungen, Anstellungen, wie
sie der Monarch täglich zeichnet, die Verhandlungen, die seine
Regierung führt, die Amtshandlungen seiner Beamten ver-
antworten? Und das bloße sittliche Gefühl, das M. zu meinen
scheint, kann dem amerikanischen Präsidenten oder dem Premier
einer Scheinmonarchie genau so gut eignen und wird durch ihr
Volk ebenso notwendig bei ihm vorausgesetzt wie durch uns bei
unserem Kaiser, — An Englands Verfassung rügt M., daß kein
Organ über den beiden Parteien stehe. Allein erstens ist deren
Gegensatz bei weitem nicht so grundsätzlich tief wie bei uns,
zweitens wußte mancher Tory drüben trotz seiner Partei den
Staat fortschrittlich zu lenken, und drittens sucht auch unsere
Monarchie gewohnheitsmäßig ihre Räte nur in Einer Partei.
Überhaupt darf nicht der Parlamentarismus, wie er ist, gegenüber-
treten der Monarchie, wie sie sein sollte (oder dem abstrakten Staats-
gedanken, den sie doch nicht immer verwirklicht). In der Idee
aber weiß natürlich auch Englands Lehre den Staat über die
Partei zu stellen.
Wenn ich im Gesamturteil über die Ursache des Krieges
von M. abweiche, so liegt das teilweise an anderer Weltanschauung.
Jedoch nicht allgemeiner Philosophie entspringt mein Zweifel,
ob dem Tun der einzelnen das Beabsichtigte auch wirklich rein
folge, sondern der Betrachtung gerade der Verfassung und des
Rechts Englands, wie sie der überzeugte Anglikaner Stubbs und
der Agnostiker Maitland mich lehrten. Daß Edward V IL,
gewiß Deutschlands erfolgreichster Feind, den Krieg gewollt
habe, scheint unbewiesen; selbst Grey hätte, laut mangelnder
Vorbereitung, wahrscheinlich lieber durch Diplomatie friedlich
sein Ziel erreicht. Dieses, die Festigung des Universal- Imperialis-
mus, in geographisch wie handelspolitisch weitestem Sinne, mit
England. 333
•der für Deutschland notwendigen Entwicklung vereinbar zu
halten, scheint mir der Fehler jener Politik. War m. E. der
Gegensatz der beiden Reiche eine historische Notwendigkeit,
so brach er in einen Krieg aus doch erst durch die Kugel von
Serajewo, deren Schützen nicht England angestiftet hat.
M, zeigt zwar, daß Grey an die Entente sich genau so ge-
bunden hielt, als wäre sie, was der Diplomat listig leugnen durfte,
ein formaler Vertrag; dennoch mag Grey bis Ende Juli ehrlich
haben vermitteln wollen. — Ein Krachen des Weltreiches seit
August 1914 vernehm ich nicht; das alte Staatswesen versagt
keineswegs in Verwaltung, Heer oder Wirtschaft. Vielmehr
festigt <5ich eher das lockere Imperium, und die Regierung wagt
tief ins innerste Leben der Gesellschaft einzugreifen, nicht bloß
Geld, sondern Blut und Arbeit fordernd. Nicht etwa, um einem
Widerstand gegen den Krieg zu begegnen, koalierte sich Asquith
die Gegenpartei. Vielmehr war der Krieg, wie M. selbst zeigt,
höchst populär; an der Universität, wo die Jugend den National-
geist überall vertritt, schlug die Leidenschaft in starke Flammen.
Wer Alterszeichen im Angesicht des englischen Staats sucht,
mag vielleicht stolz auf das Nachmachen deutscher Ideen, auf
den Mangel eigener neuer Organisationsformen oder technischer
Hilfen deuten. Allein aus der Fremde Gutes sich anzupassen,
hat bei manchem Staate Verjüngung bedeutet. — Brutal er-
scheint dem Deutschen, dessen Sieg es hemmt, das alte Seekriegs-
recht; allein brutal daran ist nur, daß die englische Regierung
einseitig ihren völkerrechtlichen Verzicht auf Teile davon wider-
rief und als Übermacht keinen Einspruch Neutraler erfuhr.
Im Hinblick auf die Zukunft meint M., England müsse sich
fortan einreihen in ein System gleichberechtigter Staaten und
Deutschlands Entwicklungsnotwendigkeiten berücksichtigen. Hier-
mit einverstanden, seh ich in solchem Verzicht auf überstiegenen
Welt- Imperialismus keineswegs notwendig einen Rückgang des
Reichsbundes oder gar innerer Staatskraft: wodurch mir M.s
Forderung dauernder deutscher Rüstung, die fortwährend er-
innert, was ein Krieg gegen unser Reich bedeutet, nur um so
dringlicher erscheint. Mit Recht fordert er, in Englands Wesen
und Sprache sollen wir nur immer tiefer eindringen; wird doch
jenes Volk weiter zu den Leitern menschlicher Kultur zählen.
Nachäfferei des Fremden verfällt sicher künftigem Spott; bis
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 22
334 Literaturbericht.
tief ins 19. Jahrhundert hinein taten aber die Deutschen auf
unendlich vielen Lebensgebieten, darunter Politik, sehr recht,
von England zu lernen. Eine Vereinzelung Deutschlands,
oder auch nur die Absonderung von England, geistig oder wirt-
schaftUch, erschiene mir als schweres Unglück für uns, nicht etwa
bloß für die höheren Stände, sondern auch den vom Weltverkehr
stark abhängigen Fabrikarbeiter. Der beiderseitige Nationalhaß,
dessen Verbreitung (nicht Unüberwindbarkeit) ich zugebe, zählt
m. E. zu den Sentimentalitäten, deren Einfluß auf deutsche
Politik auch M. in der Verfeindung Japans beklagt. Gewiß nicht
unser Auswärtiges Amt, wohl aber die Meinung der Deutschen,
auch der höchst Stehenden, bedarf der Mahnung, die Begriffe
innerstaatlicher Moral nicht zum alleinigen Maßstabe des Völker-
verhältnisses zu setzen. Das Gerechtigkeitsgefühl, richtiger Zorn,
darf hier nicht walten; gäbe es selbst Genugtuung, die unmöglich
bleibt, da der schwerste Verlust doch in unersetzlichen Menschen-
seelen besteht, wir dürften dennoch von keiner Strafe reden,
da ja ein Richter fehlt, und die Gegenpartei ihre Söhne auch
nicht in den Tod geschickt hat für eine andere als eine gerecht
erachtete Sache. Daß der Fehler auf Britanniens Seite lag,
bezweifelt kein Deutscher; „Verbrechen" nennt ihn heute M. als
Politiker, hoffentlich nicht künftig als Historiker.
Berlin, 22. 12. 16. F. Liebermann.
Notizen und Nachriditen.
Die Herren Verfasser ersuchen wir, Sonderabzüge ihrer
in Zeitschriften erschienenen Aufsätze, welche sie an dieser
Stelle berücksichtigt wünschen, uns freundlichst einzusenden.
Die Redaktion.
Allgemeines.
Die „Gesellschaft für Deutsche Erziehungs- und Schulgeschlchte"
hat, um der Forschung wichtiges Arbeitsmaterial in der ursprünglich-
sten Form vorlegen zu können, den Grundstock zu einer „Historisch-
Pädagogischen Handschriftensammiung" gelegt. Sie hat u. a. wichtige
Teile des Nachlasses Friedrich Fröbels als Eigentum überwiesen er-
halten und richtet nun an alle Freunde der historisch-pädagogischen
Forschung die Bitte, die neugeschaffene Sammlung durch weitere
Gaben zu vermehren.
Im Verlage von Martinus Nijhoff im Haag soll eine Serie von
Handbüchern erscheinen, welche die Literatur-, die Kunst- und die
politische Geschichte der Niederlande behandeln werden. Die Literatur-
geschichte {Handboek tot de Nederlandsche Letterkundige Geschiedenes),
verfaßt von I. Prinsen, liegt bereits fertig vor. Von der politischen
Geschichte (Handboek tot de Staatkundige geschiedenis van Nederland),
die von J. H. Gosses und N. Japikse bearbeitet wird, ist die erste
Lieferung, die ungefähr den 80jährigen Krieg gegen Spanien umfaßt,
im September 1916 ausgegeben worden. Die politische Geschichte
soll, in 6 Lieferungen zu je F. 1,25, im Laufe des Jahres 1918 voll-
endet sein.
Im gleichen Veriage erscheint auch in einzelnen Blättern zu je
F. 2, — (für Subskribenten F. 1,50) ein Historischer Atlas der Nieder-
lande {Geschiedkundige Atlas van Nederland), herausgegeben von einer
22*
336 Notizen und Nachrichten.
Kommission, der u. a. P, J. Blök, A. A. Beekman und H. W. Brug-
mans angehören.
A. Hulshof gibt im Zentralblatt für Bibliothekswesen 1916,
September-Oktober einen Überblick über die Entwicklung des Stu-
diums der Paläographie in England seit der Begründung der Palaeo-
graphical Society im Jahre 1873. Der holländische Gelehrte hat gleich-
zeitig den Unterschied hervorgehoben, der zwischen dem Studium der
Paläographie in England und in Deutschland herrscht: während die
englischen Veröffentlichungen vornehmlich vom Britischen Museum
und dessen Beamten veranstaltet werden, gehen sie in Deutschland
meist von einzelnen Gelehrten aus. In England ist das Studium der
Paläographie „eine vornehme Beschäftigung einzelner Bevorzugten,
denen es beliebt, weniger gut Gestellte mit einer Auswahl ihrer Schätze
zu beglücken. In Deutschland bildet es die ernste Lebensarbeit emsiger
Forscher, die . . . sich JVlithelfer zu gewinnen suchen, in dem Bewußtsein,
daß die Ernte groß, der Arbeiter aber wenige sind". Der Stoff selbst
ist von den Engländern bisher nicht genügend verarbeitet worden,
dieser Aufgabe haben sich zum Teil die deutschen Gelehrten unter-
zogen. Zum Schluß wird darauf hingewiesen, daß dem Studium der
Paläographie eine weitere Blüte nur beschieden sein könne, wenn
trotz aller durch den Krieg hervorgerufenen Entfremdung die Ge-
lehrten Englands und Deutschlands als der beiden führenden Länder
auf diesem Gebiete sich zu freundschaftlichem Zusammenarbeiten ver-
einigen würden.
Im Nederlandsch Archievenblad 25, 1 handeln B. JVl. de Jonge
de Ellemeet, van de Meene und P. van Meurs über die holländi-
schen Kirchenarchive, ihre bessere Bewahrung und Ausnützung, S.
JVluller, H. E. van Gelder und R. Fruin über die Aufnahme von
Privatarchiven in die Staatsarchive (die JVleinungen gehen auseinander,
jedenfalls wird man Muller zustimmen müssen, wenn er die von Pri-
vaten zusammengebrachten nichtorganischen Sammlungen den Biblio-
theken zuweist). K. Heeringa sucht für die osteuropäische Ge-
schichte Interesse zu wecken, indem er aufzählt, was anderwärts für
deren Pflege geschehen ist.
Die von G. Pfeilschifter herausgegebene Abwehrschrift „Deutsche
Kultur, Katholizismus und Weltkrieg" (vgl. H. Z. 116 S. 117 ff.), die
bereits in dritter Auflage vorliegt, ist nun auch in französischer, ita-
Henischer und holländischer Übersetzung erschienen. Weitere Über-
setzungen sind vorgesehen.
Aus den zahlreichen und meist nur in Wiederholungen schwelgen-
den Erörterungen über das nationale Problem ragt der Vortrag Bruno
Bauchs, Zum Begriff der Nation (Berlin, Reuther u. Reichard. 32 S.)
I
Allgemeines. 337
hervor durch selbständige und feine Gedanken. Es werden die natur-
haften Grundlagen der Nation, Blutsverwandtschaft und Boden, be-
sonnen untersucht, und von ihren historischen Gegebenheiten wird
gezeigt, daß sie durchweg zugleich „Aufgegebenheiten" sind, daß ,,die
Nation Voraussetzung und Ziel zugleich ist". Er meint dann, daß
ohne den Staat die Nation als Nation, als geschichtliche völkische Ein-
heit gar nicht einmal existieren kann. Das geht u, E. zu weit. Wohl
ist das ideale Ziel jeder höheren nationalen Entwicklung die Bildung
eines nationalen Staates, aber auch ohne diese ideale Vollendung kann
die Nation als Kulturnation sehr wohl leben und gedeihen. Man ver-
mißt darum auch eine Erörterung des nationalen Problems im national
gemischten, dem sog. Nationalitätenstaate. Hier greift dann die Arbeit
von Alfred Ammon, Nationalgefühl und Staatsgefühl (Schriften des
sozialwissenschaftlichen akad. Vereins in Czernowitz. Duncker 6t
Humblot 1915. 46 S.) ein, die mit Recht bemerkt, daß die konse-
quente Durchführung der Nationalstaatsidee immer, namentlich bei
kleineren Nationen, am Widerstände härterer politischer, geschicht-
licher und wirtschaftlicher Realitäten scheitern wird. Im übrigen ist
die A.sche Schrift etwas arm an historischer Anschauung, kann aber
dem Historiker manche Anregung begrifflicher und theoretischer Art
geben. M.
Die neue, von Prof. Dr. W. Kosch in Czernowitz herausgegebene
„Bibliothek des Ostens" wird nicht ungeschickt von dem be-
kannten literarischen und politischen Vorkämpfer des „Karpathen-
deutschtums" Prof. Dr. Raimund Friedrich Kaindl in Graz mit einer
Übersicht über „Die Deutschen in Osteuropa" eröffnet (Leipzig,
Dr. W. Klinkhardt, 1916). Werden hier zunächst in kurzem und so
etwas mechanisch wirkendem Auszug aus dem bekannten dreibändigen
Buch des Verfassers und andern Quellenwerken (warum fehlen in der
„Schriftenübersicht" Werke wie Nistors Handel der JVloldau und Jire-
ceks mittelalterliche Verfassungsgeschichte Serbiens?) die Tatsachen
(und manchmal, wie z. B. die Personennamen, auch schwankendere
Anhaltspunkte) der osteuropäischen Deutschensiedlung von den Goten
bis zur Kolonisation des österreichischen und russischen Polizeistaats
geboten, so wirkt um so wohltuender die Gerechtigkeit, mit der in
Schlußübersichten die Summe von Kulturleistung und Schmarotzer-
tum der Gäste, Undank und Recht der Wirte gezogen wird. Nirgends
stört selbst im Krieg billige Begeisterung und Schlagwortlogik. Die
Bilderbeigaben, mit denen der Verlag die ganze Reihe begleiten zu
wollen scheint, sind m. E. überwiegend nicht gerade glücklich gewählt.
Oder ist das nur der Eindruck dessen, der sich soeben im dritten Bänd-
chen, Josef Strzygowskys wundervoll-abstruser Kunstgeschichte des
Ostens, an der überwältigenden Schönheit der Wiedergaben zum Teil
338 Notizen und Nachrichten.
aus denselben Gebieten erfreute? Gelegentlich des Krakauer Holz-
schnitts gegenüber S. 33 hätte wohl der Wirksamkeit der Stoß mit
einem Wort gedacht werden können. C. Brinkmann.
Die Schrift von Arnold Oppel, „Das Hohelied Salomonis und
die deutsche religiöse Liebeslyrik" ist mir im Rahmen der Abhand-
lungen zur mittleren und neueren Geschichte (H, 32, Berlin und Leipzig
W. Rothschild, 1911) am wenigsten verständlich. Ein vielseitig ge-
bildeter, offenbar im ästhetischen Interesse auch für das psychologisch
anziehende Thema gewonnener Anfänger hat uns eines der schwierig-
sten Gebiete der seelischen Kultur in ein paar Kapitel herausgegriffen
und weiß nun sich und uns vor den zuströmenden Lesefrüchten nicht
zu retten. Literaturgeschichte ist solches Durcheinanderwirbeln von
Namen und Zitaten jedenfalls nicht: wer diese Literatur kennt, erfährt
nichts Neues, wem sie fremd war, der kann durch den Verfasser, dem
es an jeder philologischen Schulung gebricht, unmöglich orientiert
werden. E. S.
Gegenüber der namentlich von welschschweizer Seite aufgestellten
Forderung, alle Schweizer müßten im Namen der liberal-demokrati-
schen Staatsidee ihr Interesse mit einem für Deutschland ungünstigen
Ausgang des Weltkriegs verknüpfen, versucht der Professor der Ge-
schichte in Basel, Dr. Hermann Bächtold, in einer kleinen Schrift
„Zum Urteil über den preußisch-deutschen Staat. Eine politisch-geo-
graphische Studie" (Basel, Kober 1916. 32 S.) das Verständnis für
unseren Staat „aus seinen Lebensbedingungen heraus" zu fördern.
Er tut das grundsätzlich nur von politisch-geographischer Seite her,
ohne damit freilich behaupten zu wollen, daß „für eine vollständige
und allseitige Erklärung dieser eine Faktor genüge" (S. 9 Anm.). Da-
bei geht er von dem theoretischen Satze aus, daß „in einem Staate,
dessen Größe den Ansprüchen seiner Lage nicht entspricht, diese
Spannung gelöst wird durch eine straffere Anspannung der staat-
lichen Gemeinschaft und der JVlachtquellen des Staates" (S. 11). Das
Vorhandensein einer solchen Spannung sucht der Verfasser zunächst
für das Preußen vor der Reichsgründung durch einen Überblick über
seine politisch-geographische Entwicklung im Westen, Osten und an
der Nordküste zu erweisen und daraus die Notwendigkeit einer straffen,
militärisch-politischen Organisierung und Zentralisierung des Staates
zu erklären. JVlit der Reichsgründung habe dann Preußen die Eigenart
seines monarchischen Beamtenstaates dem Reiche einpflanzen müssen,
weil auch nach den Spannungen der politisch-geographischen Lage
des neuentstandenen Reiches ein radikal demokratisch, resp. parla-
mentarisch organisiertes Deutschland eine zu weiche Masse gegenüber
den starken Kräften der politischen Welt gewesen wäre (S. 25). Zum
Schluß verläßt der Verfasser aber doch den bloß politisch-geographi-
Allgemeines. 339
sehen Standpunkt und kann sich einige rein politische Bemerkungen
„nicht versagen" (S. 29). Dabei hebt er besonders das über der harten
Natur des preußisch-deutschen Staates so oft übersehene Verantwort-
Jichkeitsgefühl des deutschen Beamtentums und die eminent sittliche
Auffassung desselben von seinem Amte hervor, — Wir können uns
nur freuen, daß ein deutsch-schweizerischer Gelehrter so die Einseitig-
keit und Voreingenommenheit seiner deutschfeindlichen Staatsgenossen
2u korrigieren unternimmt, müssen aber leider bezweifeln, daß der
Deutschenhaß der letzteren, sei es durch die ruhigen politisch-geogra-
phischen Betrachtungen des Verfassers, sei es auch durch sein warmes
Lob des deutschen Beamtentums, auch nur zu einer vorurteilslosen
Betrachtung des deutschen Staatswesens sich bekehren lassen wird.
H. Rosin.
Prof. Dr. Andreas Veress, Archivar zu Klausenburg (Kolozsvär),
hatte nach langjährigen Vorarbeiten 1911 mit der Ausgabe seiner
Fontes Herum Transylvanicarum begonnen, von welchen bis zum
Jahre 1914 drei Bände mit Berichten von Jesuiten aus Siebenbürgen
<1571 — 1588), darunter Possevinos langgesuchte Transylvania (1584)
und ein Band Akten über die Beziehungen Siebenbürgens mit der
Wallachei (1468 — 1540) schon erschienen sind. Vergangenes Jahr er-
öffnete er eine neue Reihe, Fontes Rerum Hungaricarum betitelt,
mit dem Druck der Matricula ei acta Hungarorum in Universitate Pata-
vina studentium (1264 — 1864). Budapest 1915. Die Vorzüge der frü-
heren Bände: sorgfältige Sammlung des Stoffes, Beigabe von Er-
läuterungen und guten Registern, prächtige Ausstattung unter Verwen-
dung zeitgenössischen Bilderschmucks, kommen dem letzterschienenen
Werk gleichfalls zu, das durch eine Einleitung in lateinischer Sprache
auch Benutzern erschlossen ist, die des Magyarischen nicht mächtig
sind. Der in Rede stehende Band enthält in seiner ersten Hälfte
S. 1 — 149 die Matricula et adnotationes, d.i. ein Verzeichnis von Studie-
renden aus dem Königreich Ungarn, deren Aufenthalt in Padua wäh-
rend der sechs Jahrhunderte 1264 — 1864 nachweisbar ist. Die Quellen-
stellen und Nachweise sind in der Sprache ihrer Aufzeichnung, also
meist lateinisch, die Erläuterungen in magyarischer Sprache geboten.
Die zweite Hälfte des Bandes, Acta et Epistolae, enthält auf S. 150
bis 290 hundert Aktenstücke und Studentenbriefe aus der Zeit von
1508 — 1747, die einen guten Einblick in das Leben und Treiben an
italienischen Universitäten, zumal während des 16. Jahrhunderts, ge-
währen. Den Beschluß machen Verzeichnisse der benützten Literatur,
der Bildbeigaben und ein sehr ausführlicher Index Locor um etNominum.
L. V. E.
Die von Edmund Stengel in Marburg angeregte tüchtige Unter-
suchung von Karl Blume, Abbatia. Ein Beitrag zur Geschichte
340 Notizen und Nachrichten.
der icirchlichen Rechtssprache (Kirchenrechtliche Abhandlungen^
hrsg. von Ulrich Stutz, Heft 83. Stuttgart, Ferd. Enke, 1914, XIV u.
118 S.) kommt zu dem Ergebnis, daß der älteste Beleg des Wortes
„abbatia", das aus dem syrischen abbas = pater entstand, zwar aus
Gallien und aus dem Jahre 651 stammt, seine Heimat aber in Irland
zu suchen ist; dort war „abbas" als Bezeichnung für die höchsten
geistlichen und weltlichen Würdenträger (z. B. den Papst) in Gebrauch
und das Wort „abbatia", wenn auch nur durch Quellen etwas späterer
Zeit bezeugt, entsprach etwa dem abendländischen „episcopatus". Die
weitere Entwicklung der Bedeutung: „Amt des Abtes", „Gesamtheit von
Äbten", „JVlissionsbezirk eines Abtes", „Temporalien und Grundherr-
schaft eines Klosters", „Kloster und Stift" wird in teilweise sehr ein-
gehender, auf Stengels Ausführungen in seiner „Diplomatik der Immu-
nitätsurkunden" beruhender Diktatuntersuchung der einschlägigen
Königsurkunden zutreffend dargelegt und zum Schluß die ansprechende
Vermutung ausgesprochen, daß die Wandlung des Wortes von der rein
persönlichen Bedeutung des Abtsamtes zur dinglichen des gesamten
Klosterbesitzes unter dem Einflüsse des „germanischen Eigenkirchen-
oder vielmehr des Benefizialwesens" erfolgte, das „die kirchlichen
Anstalten als weltlichen Besitz behandelte und den Dienst an ihnen
nicht anders ansah als irgendein weltliches Dienstverhältnis" (S. 85).
Königsberg i. Pr. A. Brackmann.
British rule in India, condemned by the British themselves, publ.
by the Indian National Party, London 1915, 68 S. William Jen-
nings Bryan {Secretary of State of the United States of America), Bri-
tish rule in India, ohne Ort und Jahr, 14 S. — Um die Verbreitung
dieser beiden Propagandaschriften bemüht sich die Indische Gesell-
schaft in Berlin (Charlottenburg, Wielandstr. 38). In deutscher Aus-
gabe sind sie im Verlag von Karl Curtius erschienen. Uns sind durch
die englische und die von ihr beeinflußte Literatur (zu welcher auch
das kürzlich hier besprochene Buch von Konow über Indien gehört)
so einseitig die segensreichen Wirkungen der englischen Herrschaft in
Indien vertraut geworden, daß es nur nützlich sein kann, einmal in
konzentrierter Form die Anklagen der Gegner zu hören. Die Schrift
der Nationalpartei, den indischen IVlärtyrern für die Befreiungsbewegung
gewidmet, stellt in 173 kurzen Absätzen geeignete Aussprüche aus
Schriften und Reden von Engländern zusammen. Für den Historiker
würde eine chronologische Anordnung dieses Anklagematerials einen
wirklichen Quellenwert besitzen. Die in der Schrift versuchte sach-
liche Anordnung stellt für historisches Empfinden alles durcheinander:
monumentale Worte von Salisbury, Clive, Burke, Macaulay, Auszüge
aus Keir Hardies „Impressions", aus einem vertraulichen Bericht Lord
Lyttons, aus einem Manifest der britischen sozialdemokratischen Partei^
Allgemeines. 341
dazu aus zahlreichen sehr unglcichwertigen Schriften und Aufsätzen
von den Zeiten des Siebenjährigen Krieges bis zur Gegenwart. Immer-
hin ist die Lektüre eindrucksvoll. Das Bild eines wehrlosen Volkes tritt
heraus, dem seit Vj^ Jahrhunderten „zur Ader gelassen" (Salisbury>
worden ist, und zwar in zunehmendem IVlaße seiner ländlichen Bevöl-
kerung, so daß nicht nur der schimmernde Reichtum der sozialen
Oberschichten dahingeschwunden ist, sondern Armut, Unterernährung
und Hungersnot ständig zunehmen; eines Volkes, dessen einst blühende
Exportgewerbe systematisch zerstört worden sind, dessen aufstrebende
Industrie gewaltsam niedergehalten wird, dessen Dorfschulmeister durch
die erleuchtete westliche Kultur vertrieben worden sind, ohne daß-
dem Volk ein Ersatz gegeben wurde; denn das indische Geld wird
für das Heer und für Pensionen von englischen Beamten verwendet,
deren Stellen trotz königlicher Versprechungen den Indiern selbst vor-
enthalten werden. Als ein sehnsüchtiges und zürnendes Motto ist
Macaulays Schilderung des glänzenden Großreiches Babers und der
Prosperität des indischen Volkes vor der englischen Eroberung dieser
Anklagesammlung vorangesetzt worden. Der Bryansche Aufsatz bringt
im ganzen dieselben Argumente, die soeben skizziert worden sind. Er
ist 'nicht nur wegen der Persönlichkeit des Verfassers von Interesse.
Er ist ein Ausdruck jener idealistischen Strömung in den Vereinigten
Staaten, die prinzipiell gegen Imperialismus und „Kolonialismus" sich-
wendet, darum auch die Annexion der Philippinen verurteilt und den
Weiterbesitz nur bis zur baldigen Erteilung der vollen Selbstregierung,
zugesteht. In den amerikanischen demokratischen Südstaaten bin ich
dieser Auffassung in weiten Kreisen begegnet. Als nach der Einnahme
von JVlanila in den Vereinigten Staaten für eine koloniale Politik Propa-
ganda gemacht wurde, sagt Bryan, habe sein Interesse sich auf die
britische Herrschaft in Indien als das klassische analoge Beispiel der
Geschichte gerichtet. Die Erfahrungen seiner Bereisung Indiens haben
ihn dann zu dem Schluß gebracht, daß hier der Brite, wie viele Völker
vor ihm, wieder einmal die Unfähigkeit des Menschen bewiesen habe,
mit Weisheit und Gerechtigkeit eine unverantwortliche Gewalt über
wehrlose -Menschen auszuüben. Daß die Inder für Selfgovernment reif
seien, sucht er gegen die englischen Argumente zu erweisen: die Gleich-
wertigkeit ihrer Intelligenz werde nur durch das absichtsvoll aus-
geklügelte Examenssystem, besonders seit der reaktionären Ära Cur-
zons, verdunkelt, und ein Einheitsgefühl über die Gegensätze der
Rassen und Religionen hinweg, das schon in nationalen Kongressen
zur Erscheinung komme, werde sich alsbald mit der Übertragung der
Verantwortung einstellen. Über die Unsicherheit des letzten Arguments
trägt der Idealismus hinweg mit dem Worte Gladstones, daß Freiheit
allein die Menschen reif mache für die Freiheit. Leicht werden solche
342 Notizen und Nachrichten.
Ideen nicht eine Bresche in die Traditionen der anglo-indischen Herren-
menschen legen. Und damit das Volk ihre Verwirklichung nicht etwa
erzwinge, hat Wilson die Ausfuhr dieses Aufsatzes seines impulsiven
Staatssekretärs aus den Vereinigten Staaten verbieten müssen, d. h.
die Verbreitung in Indien durch Vermittlung der revolutionären indi-
schen Patrioten, die in San Francisco ihr Zentrum haben.
Beirut. Andr. Walther.
Neue Bücher: Wilh. Windelband, Geschichtsphilosophie. Frag-
ment aus dem Nachlaß. Hrsg. von Wolfg. Windelband und Bruno
Bauch. (Berlin, Reuther & Reichard. 3 M.) — Wundt, Völkerpsycho-
logie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, iV\y-
thus und Sitte. 7. u. 8. Bd. (Leipzig, Kröner. 20 JVl.) — Sommer-
lad, Zur Geschichte des thüringisch-sächsischen Geschichtsvereins 1865
bis 1886. (Halle, Gebauer-Schwetschke. 2,50 fA.)
Alte Geschichte.
Der verdienstvolle Breslauer Religionshistoriker Rud. Otto hat
in der ersten Hälfte des vorigen Jahres drei indische Schriften über
die Vishnu-Religion in deutscher Übersetzung mit wertvollen Erläute-
rungen an drei verschiedenen Stellen herausgegeben; sie stehen in
engem Zusammenhang und ergänzen sich. Zur Einführung ist pas-
send gewählt: Sakalavaishnaväcäryasamgrahah, „Darstellung (der
Lehre) aller Vishnuitenmeister", die in Kürze die vier Hauptsysteme
<ier Vishnuiten zusammenfaßt. (In der Zeitschrift für JVlissionskunde
und Religionswissenschaft 1916, Heft 3, 4. Der Sanskrittext ist her-
ausgegeben in Benares Sanskrit Series Nr. 132.) In den Perthesschen
„Theolog. Studien und Kritiken" 1916, Heft 2, folgte: Pillai Lokäcä-
ryas Artha Paficaka, „Die 5 Artikel" von Näräyana aus dem Tamil
ins Sanskrit übertragen und daraus übersetzt und erläutert (der Sanskrit-
text ist mit englischer Übersetzung veröffentlicht im Journal of the
Royal Asiatic Society 1910, S. 565—607). Das Schriftchen behandelt
die fünf Hauptdogmen der Südschule (der Tefigalais) der Rämänuja-
Gemeinde und seine Kenntnis, besonders der von Otto gegebenen Er-
läuterungen ist unbedingte Voraussetzung für das Verständnis der
derselben Schule angehörigen Hauptschrift: Yatipati (oder Yatindra)
mata-Dipikä des Niväsa (13./14. Jahrhundert n. Chr.), „Erklärung
der Lehre des Asketenfürsten", d. i. Rämänujas, des berühmten Kom-
mentators der Brahmasütren und der Bhagavadgitä (in: Sammlung
gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der
Theologie und Religionsgeschichte, Tübingen, JVlohr, Nr. 80; der San-
skrittext findet sich in Benares Sanskrit Series Nr. 132, 1907). Die
Dipikä ist eine zusammenfassende Lehrschrift der Südschule der Rämä-
Alte Geschichte. 343
nuja-Gemeinde der Vishnuiten mit besonderer Betonung der Erlösungs-
und Heilslehre. Gediegene Übersetzungen und Bearbeitungen solcher
Texte sind von großem Nutzen für die deutsche Sanskritphilologie
und die Erforschung der indischen Religionsgeschichte. Otto genießt
den unschätzbaren Vorzug des Verkehrs mit einheimischen, in diesen
Gegenständen von Jugend auf wohl bewanderten Gelehrten; während
des Krieges konnte er sich nur des Rates des in Deutschland zurück-
gehaltenen Pandit Ch. T. Roy bedienen. Seinen weiteren Arbeiten auf
diesem Gebiete, namentlich der in Aussicht gestellten Übertragung
und Erläuterung des Siddhänta aus Rämänujas Bhäshya, auf dem
alle diese Schriften beruhen, darf mit Interesse entgegengesehen
werden.
Frei bürg i. Br. Julius Schwab.
Die Mitteilungen der Vorderasiatischen Gesellschaft 20 (1915) 3
enthalten von R. Forrer Untersuchungen zur Chronologie der neu-
assyrischen Zeit, die Neues bringen und nicht unbeachtet bleiben
dürfen, während in dem von derselben Gesellschaft herausgegebenen
Alten Orient 16, 1 W. Schwenzner das geschäftliche Leben im
alten Babylonien nach den Verträgen und Briefen mit Geschick
darstellt.
Die Neuen Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte
und deutsche Literatur und für Pädagogik bringen zwei lesenswerte
Aufsätze von M. Pohlenz: Kronos und die Titanen und von H.
Lamer: Die Dardanellen im Altertum.
Theodor Birt legt sein hübsches und prächtig ausgestattetes
Buch „Römische Charakterköpfe. Ein Weltbild in Biographien" in
einer 2. Auflage vor (Leipzig, Quelle & Meyer, 1913. 363 S.), die ein-
zelne Verbesserungen und Zusätze aufweist. Tiberius ist leider auch
jetzt (vgl. diese Zeitschr. 113, 180) nur im Vorübergehen berücksich-
tigt worden.
The making of the Roman people von Thomas Lloyd (London,
Longmans, Green and Co., 1914. 136 S.). — Der Verfasser dieses
phantastischen Buches tummelt sich in den Jagdgründen der Prä-
historie und der Analogieschlüsse und beweist so, daß das arische
Element im römischen Volke von eingewanderten Kelten herrührt.
Die Patrizier sind Kelten, die Plebejer gehören der vorgeschichtlichen
„braunen Rasse" an, die in der neolithischen Periode die ganze Mittel-
meerwelt besiedelt hatte. Mit derselben Sachkenntnis wird im zweiten
Teil der Schrift die enge Verwandtschaft des Latein mit dem Gaelischen
•dargelegt. Beiläufig erfahren wir auch, daß die Verkennung der gaeli-
schen Grundlage im heutigen Englisch eine Folge der „pangermani-
schen Propaganda" sei. Mit Geschichtswissenschaft hat das Buch
344 Notizen und Nachrichten.
nichts zu tun, dagegen mag es als Zeugnis der schon vor dem Krieg,
weitverbreiteten Keltomanie etwelche Beachtung verdienen.
Greifswald. Matthias Geizer.
Reich an fördernden Untersuchungen ist Hermes 51, Heft 3/4.
H. Dessau: Über die Quellen unseres Wissens vom Zweiten Punischen
Krieg; O. Weinreich: Zur römischen Satire. 1. Die Quellenfragfr
von Livius 7,2; E. v, Stern: Zur Wertung der pseudo-aristoteli-
schen zweiten Ökonomik; Dr. ¥,&\\:nEA0n0NNH2l^K0i: nOAEMOJS'^
Br. Keil: Textkritisches zu den Hellenica Oxyrhynchica; G. Klaffen-
bach: Sisennas Statthalterschaft von Makedonien; Br. Keil: Zur
Tempelchronik von Lindos; A. Rosenberg: Amyntas, der Vater
Philipps H., der geschickt und erfolgreich die Urkunde in Annual of
the British School at Athens XVII, 193 behandelt; W. Kolbe: Die
griechische Politik der ersten Ptolemäer; E. v. Stern: Zum atheni-
schen Volksbechluß über Chalkis.
In der Geografisk Tidskrift 1916, 7 findet sich eine mit gutea
Karten ausgestattete beachtenswerte Arbeit von G. Schütte: Nord-
og Mellemevropa efter den rensede Ptolemaios.
In den Sitzungsberichten der Kgl. Preußischen Akademie der
Wissenschaften 1916, 41 findet sich die Fortsetzung von E. Meyers:
Untersuchungen zur Geschichte des Zweiten Punischen Krieges.
Teil 3 und zwar 6: Ursprung und Entwicklung der Überlieferung über
die Persönlichkeit des Scipio Africanus und die Eroberung von Neu-
karthago.
Die Theologische Quartalschrift 98, 2 enthält Aufsätze von E.
Stolz: St. Cyrill von Alexandrien als Wetterpatron, und A. Steg-
mann: Zur Datierung der „Drei Reden des hl. Athanasius gegen die
Arianer" {Migne Patrol. Graec. XXVI, 9—468), der trotz Weigls Wider-
spruch an seiner Datierung um 357 festhält und mit Gründen zu stützen
sucht.
In der Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und
die Kunde des Urchristentums 17, 3 setzen P. Corssen seine dankens-
werten Untersuchungen über das Martyrium des Bischofs Cyprian und
G. Hölscher: Über die Entstehungszeit der „Himmelfahrt Moses"
fort. Weiter erwähnen wir M. Plath: Warum hat die urchristliche
Gemeinde auf die Überlieferung der Judaserzählungen Wert gelegt?
und H. Koch: Zum Lebensgange Kallists.
Neue Bücher: Drerup, Aus einer alten Advokatenrepublik.
(Demosthenes und seine Zeit.) (Paderborn, Schöningh. 6 M.) —
R aussei, Les cultes igyptiens ä Dilos, du III* au /*'" stiele avant Jisus-
Christ. (Nancy, impr. Berger-Levrault.) — Clerc, Aquae Sextiae.
Histoire d'Aix-en- Provence dans l'antiquitL {Aix-en- Provence, Dragon.y>
Frühes Mittelalter. 345
Römisch-germanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250.
Aus dem Zentralblatt für Bibliothekswesen 33 (1916) sind hier
als allgemeiner interessierend zu nennen: der Reisebericht von Fr.
Mi 1 kau über „Das Kriegsschicksal der belgischen Bibliotheken"
(Heft 1/2), die Erinnerungen von Fr. Ehrle S. J. an die fast 25 Jahre,
in denen wesentlich durch ihn die Vatikanische Bibliothek mit ihren
ebenso liberalen wie praktischen Einrichtungen vorbildlich für die
Erschließung einer Handschriftensammlung zur gelehrten Benutzung
geworden ist („Bibliothektechnisches aus der Vatikana", Heft 7/8; der
Titel ist, vielleicht erst in der Setzerei, barbarisiert worden; „Biblio-
thekstechnisches aus der Vaticana" verdient den Vorzug), und der
Überblick von A. Hulshof über die bahnbrechende Tätigkeit und
Bedeutung der Palaeographical Society 1873 — 1894 und der New Palaeo-
^rapliical Society 1902 — 1915 („Das Studium der Paläographie in Eng-
land seit 1873", Heft 9/10). Hulshof würdigt auch die Bedeutung der
Anregungen, die in neuester Zeit die englische Wissenschaft durch
Ludwig Traubes eindringende Forschungen und Lehrbegabung er-
halten hat. Freilich wird heute wohl allgemein bei uns nicht mehr
alles, was er zu Traubes Lobe vorbringt, als solches empfunden wer-
den. Der deutsche Professor, dessen „kühle Haltung, die er den For-
schern der mittelalterlichen Geschichte und der Urkundenlehre in
seinem Vaterlande gegenüber zur Schau trug", neben seiner großen
Verehrung für den Franzosen Delisle, für die ausländischen Zuhörer
den Reiz seiner Vorlesungen erhöhten, wird hoffentlich für immer
•der Vergangenheit angehören. Wir werden stets gern und dankbar
des Verdienstes fremder Forscher gedenken, von denen wir zu lernen
hatten und zu lernen haben werden. Das ist selbstverständlich, darf
uns aber nicht ungerecht gegen unsere Landsleute werden lassen,
deren Leistungen auf dem Gebiet der mittelalterlichen Geschichte und
Quellenforschung im 19. Jahrhundert in weitestem Umfang für andere
Länder vorbildlich geworden sind. A. H.
JVl. Jahn, Die Bewaffnung der Germanen in der älteren Eisen-
zeit (700 V. Chr. bis 200 n. Chr.). Mit 227 Abb., 1 Taf. und 2 Karten.
(Würzburg, Kabitzsch, 1916. 7 M.) — Das vorliegende 16. Heft der
Mannusbibliothek enthält eine sehr wertvolle Studie aus dem Gebiet
der germanischen Altertumskunde. Auf Grund eines reichen, sorgfältig
gesammelten und gesichteten Fundmaterials (das eigentliche Süd-
deutschland bleibt ausgeschlossen) werden zeitlich zwei große Gruppen
unterschieden : die späte Latfenezeit und die römische Kaiserzeit, inner-
halb deren die Funde nach ihrer Verbreitung und ihrer Eigenart ein-
gehend geschildert werden. Der Verfasser ist durch seine sorgfältigen
Studien, denen vor allem auch Besonnenheit in der Zuweisung der
346 Notizen und Nachrichten.
Funde an die in Frage kommenden Stämme nachzurühmen ist, über
seine Vorgänger hinausgel<ommen. Anthes.
Im Römisch- Germanischen Korrespondenzblatt 9, Nr. 5 gibt
G. Wolff weitere Beiträge „Zur Chronologie der Ziegelstempel der
VIII. Legion" („II. Die Stempel vom Taunus und aus der Wetterau"),
P. Reinecke bespricht „Neue neolithische Siedelungen in Südost-
bayern", F. Wagner einen römischen Grabaltar aus Kay bei Titt-
moning (Oberbayern) und A. Riese steuert eine Bemerkung zu dem
„Rhenus bicornis" Vergils bei. Mit dem Schluß des laufenden Jahr-
gangs wird das Römisch-Germanische Korrespondenzblatt sein Er-
scheinen einstellen, da die Römisch-Germanische Kommission des
Kaiserlichen Archäologischen Instituts beschlossen hat, vom Januar
1917 ab ein eigenes Korrespondenzblatt im doppelten Umfange des
alten, vorläufig auch nur jeden zweiten Monat, erscheinen zu lassen.
„Die Kommission sieht in einem solchen , Korrespondenzblatt' ein
unentbehrliches Hilfsmittel zur Erreichung ihres Hauptzwecks, für alle
auf ihrem Gebiet Arbeitenden mehr und mehr eine Beratungs- und
Sammelstelle, möglichst die Zentralstelle der Forschung zu werden."
Es sollen darin, wie bisher, neben Fundberichten kleine Aufsätze von
allgemeinerem Interesse aus dem ganzen Gebiet der Forschungen der
Kommission, von der neolithischen bis zur merovingischen Zeit, ge-
bracht werden, namentlich auch solche, die durch Belehrung über die
Behandlung von Funden und Einblicke in die Methoden der For-
schung dazu beitragen, den Abstand zwischen Liebhabern und For-
schern zu verringern, das Verständnis beider für einander zu fördern.
Daneben werden Nachrichten aus den größeren Museen und aus den
Vereinen und regelmäßige Verzeichnung der wichtigeren Literatur so-
fort nach dem Erscheinen neben besonderer Besprechung des Bedeu-
tendsten verheißen. Das neue Korrespondenzblatt wird von dem
Direktor der Kommission Koepp unter Mitwirkung der Herren Krüger-
Trier, des Herausgebers des alten Korrespondenzblattes, und Schu-
macher-Mainz herausgegeben werden.
Im Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvereine 64 (1916), Nr. 9/10 setzt sich Fr.
Hertlein in einem Aufsatz „Die Jahreszeitensockel an den Juppiter-
gigantensäulen" mit den Kritikern seiner Ansicht, daß sie mit den
germanischen Irminsäulen zusammenhingen, auseinander. Ludwig
Schmidt, „Zur Stammesverfassung der Sachsen", verteidigt die alte
Ansicht, daß es keine jährlichen Versammlungen aller sächsischen
Gaue und überhaupt kein ständiges, alle Sachsen umfassendes Band
gegeben habe, aber ohne neue Gesichtspunkte vorzubringen und ohne
der grundlegenden Veränderung der Quellenfrage durch die Entdek-
Frühes Mittelalter. 347
kung der älteren Vita Lebuini genügend Rechnung zu tragen. Daß
alle sachlichen Bedenken gegen deren Darstellung nicht durchgreifen^
wird gerade aus seiner Zusammenfassung deutlich. Was wir sonst
erfahren, widerspricht derselben keineswegs oder kann sie vielmehr
bis zu einem gewissen Grade teilweise stützen. Ohne positiven Anhalt
in den Quellen und ihnen gegenüber zum Teil nur gewaltsam aufrecht
zu erhalten, ist dagegen die von Schmidt vertretene negative Ansicht.
Das ist anderwärts näher auszuführen. Bei seiner Auslegung des An-
fangs von c. 34 der Capitulatio de partibus Saxoniae übersieht Schmidt
die unmittelbar folgenden Worte: sed unusquisque comes in suo mini-
sterio placita et iustitias faciat. Danach kann es sich bei den im Gegen-
satz dazu verbotenen conventus publici „aller Sachsen", die nur vom
Königsboten in königlichem Auftrag berufen werden können, nur um
allgemeine Versammlungen des ganzen Stammes handeln.
A. Hofmeister.
In einem 1. Teil „Beiträge zur Interpretation der Kapitularien
zur Lex Salica" erläutert E. Gold mann in den Mitteilungen des In-
stituts für österreichische Geschichtsforschung Bd. 36, 4. Heft mit vor-
sichtigem Scharfsinn und eindringender Sachkenntnis eine Anzahl
schwieriger Ausdrücke {cromaverint, preter evisionem dominicam, ut
rebus concederemus, marias qui nuntiabantur ecclesias, quomodo sie ante
pavido interficiat, ad sorte aut ad plibium promoveatur, ebrius), zum
Teil sehr einleuchtend, wenn auch natürlich nicht in jedem Falle
schon das letzte Wort gesprochen ist.
In den Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissen-
schaften zu Göttingen, philologisch-historische Klasse 1916, Heft 2
handelt Bruno Krusch eindringend und lehrreich über „Ursprung
und Text von Marculfs Formelsammlung". Er weist aus den von
Markulf benutzten Urkunden nach, daß dieser nicht um die Mitte des
7., wie schon Zeumer gezeigt hatte, sondern erst im Anfang des 8. Jahr-
hunderts, und zwar wahrscheinlich in Meaux, das zu Austrasien ge-
hörte, und vermutlich im Heiligen-Kreuz-Kloster (später S. Faron),
nicht in Rebais, schrieb, aber u. a. die Klosterarchive von Rebais^
St. Bertin, Corbie, St. Denis und wohl auch von B^ze in Burgund be-
nutzte. Sein Auftraggeber, Bischof Landerich, ist, was schon für
Zeumer am wahrscheinlichsten war, nach Meaux, nicht nach Paris
oder gar nach Metz zu setzen. Näher bestimmt Kr. die Abfassungs-
zeit zwischen 10. Nov. 721, weil in I 16 die Immunitätsbestätigung
Theuderichs IV. für St. Bertin von diesem Tage zugrunde liege, und
18. Jan. 722, wo bereits Abt Widerad von Flavigny, unweit Bfeze,
II 17 in seinem Testament benutzte. Der genaue Terminus post quem
bleibt etwas unsicher, weil im einzelnen mit der Möglichkeit gerechnet
werden muß, daß nicht gerade die uns erhaltene, sondern eine andere
348 Notizen und Nachrichten.
-verlorene Urkunde gleichen Formulars Markulfs Vorlage bildete. Für
das rasche Bekanntwerden der Sammlung in Flavigny könnte man,
statt an einen Umweg über die Reichskanzlei, vielleicht lieber an einen
Zusammenhang mit den Fäden denken, die von JVlarkulf nach Bfeze
oder in dessen Nähe (Flavigny??) führen. In einer Königsurkunde
ist Benutzung einer Markulfischen Formel erst 744, in einer Urkunde
des Hausmeiers Karl Martell schon 741 nachzuweisen. Die Arbeits-
weise des alten Schulmeisters, der dem praktischen Rechtsleben an-
scheinend fernstand und es liebte, die Formeln mosaikartig zusammen-
zusetzen, wird sehr anschaulich dargelegt. A H.
Im 111. Heft der von E. Ehering veröffentlichten Historischen
Studien untersucht Adolf Berr (Die Kirche gegenüber Gewalttaten von
Laien [Merowinger-, Karolinger- und Ottonenzeit, Berlin 1913]) das
Verhalten der Kirche gegenüber den von Laien an Klerus und Kirchen-
gut in der Zeit der Merowinger, Karolinger und Ottonen verübten
Missetaten. Zu diesem Zwecke durchforscht er mit viel Fleiß und
Mühe die Chroniken, Heiligenleben und sonstigen zeitgenössischen
Quellen, ohne gerade Vollständigkeit zu erreichen, die vielleicht auch
nicht beabsichtigt war. Das Hauptergebnis der Untersuchung, das im
Schlußwort des Buches (S. 125 f.) dargelegt wird, bestätigt im wesent-
lichen die bereits bekannte Tatsache, daß die Kirche seit dem 9. Jahr-
hundert zur Hintanhaltung von Vergehen gegen Kirchendiener und
Kirchenbesitz eigene Normen aufgestellt und diese gegebenenfalls —
wenn auch nicht immer — durchgeführt und durchgesetzt hat. Mit
dieser Feststellung begnügt sich der Verfasser; eine tiefere Begründung
des jeweiligen Verhaltens der Kirche läßt er aber vermissen, ein Mangel,
der in der in Aussicht gestellten Fortsetzung der Arbeit für die Zeit
der Salier und Staufer vermieden werden sollte. — Als Nebenfrucht
liefert die Arbeit einzelne beachtenswerte, quellenkritische Bemer-
kungen. Köstler.
In der Zeitschrift für Kirchengeschichte 36. Bd., 3./4. Heft sucht
P. Rassow, Pippin und Stephan II., von Caspars Darstellung der Er-
eignisse aus zu einer anderen Auffassung des Frankenkönigs zu kom-
men, der in den Verhandlungen durchaus nicht von der Kurie düpiert
worden sei, sondern sich im Gegenteil dabei als ganz ausgezeichneten
Politiker gezeigt habe. Seine Gesichtspunkte sind einleuchtend, aber
sein Beweis ist nicht schlüssig, weil, wie er selber andeutet, sein Aus-
gangspunkt, die mutmaßliche Entwicklung der tatsächlichen Hergänge,
wie Caspar sie gibt, nicht genügend gesichert ist. A H.
In den Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benedik-
tinerordens und seiner Zweige 37 (N. F. 6), 3. Heft behandelt Adalbert
Puchs die 1083 erfolgte Gründung des Stiftes Göttweig durch Bischof
Frühes Mittelalter. 349
Altmann von Passau („Das Benediktinerstift Göttweig. Seine Grün-
dung und Rechtsverhältnisse im Mittelalter I."), F. J. Bendel be-
ginnt eine eingehende Auseinandersetzung mit dem „neuen Fuldaer
Urkundenbuch" von Stengel, auf die nach ihrer Vollendung zurück-
zukommen ist, und M, Buchner sucht seine Annahme, daß Erzbischof
Alderich von Sens mit zwei Briefen der sog. Formelsammlung von
St. Denis zu tun hat, gegen Levison zu verteidigen, dem er in einem
andern Punkte im Historischen Jahrbuch der Görresgesellschaft 37,
S. 221 ff. entgegengetreten ist (vgl. aber H. Z. 114, S. 667); für die
Quellenkunde und die Überlieferungsgeschichte von Interesse sind die
allerdings mageren Studien zum Johann Trithemius- Jubeljahr (1516)
1916 von F. W. E. Roth und der Beginn eines Aufsatzes über „Die
Handschriften des Benediktinerklosters S. Petri zu Erfurt" von Joseph
Theele.
Das Rolandslied als Geschichtsquelle und die Entstehung der
Rolandsäulen. Eine Studie von F. E. Mann. (Leipzig, Dietrich [Wei-
cher] 1912. 173 S.) — Der junge Gaston Paris hat einmal bei Er-
örterung der Namen der Heidenvölker im altfranzösischen Rolands-
liede für Ormaleus das Ermeland herangezogen. Von diesem müßigen
Einfall ist die ganze vorliegende Arbeit mit ihren merkwürdigen Er-
gebnissen ausgegangen. Herr Mann kam bald zu dem Resultate,
daß unter Turs und Pers nicht Türken und Perser zu verstehen seien,
sondern die Einwohner von Thorn und Briesen, daß man bei Puille
und Calabre beileibe nicht an Apulien und Calabrien zu denken habe,
sondern an die Insel Poel und das Land Polabia, daß die Sarazenen
nichts anderes seien als die alten Stettiner, deren Namen erst Beda
und Alcuin auf die spanischen Araber übertragen haben — und so
findet er dann auch Rencesval in Prenzlau wieder, wo Roland seinen
Märtyrertod gefunden hat und somit eine Rolandsäule zu Recht besteht.
— Aber dieser neue, gewiß merkwürdige historisch-geographische
Kommentar zum Rolandsliede geht auch die Geschichtsforschung sehr
ernsthaft an : denn der ganze spanische Feldzug Karls d. Gr. vom Jahre
778 ist eine Fälschung: überall müssen hier für Spanien und die Araber
die Ostmark und die slavischen und litu-preußischen Völker, Land-
schaften und Flüsse eingesetzt werden. Ein deutsch-fränkisches Rolands-
lied (von ca. 820 — 830) hat diese Vorgänge in dichterischer Verklärung,
aber noch mit genauer Festhaltung des ursprünglichen Lokales geschil-
dert, erst die romanische Umarbeitung hat jene spanische Maskerade
bewirkt, die der Verfasser so glücklich war aufzudecken. Im Lande
zwischen Elbe und Weichsel bewahrte man jedoch mit dem deutschen
Gedicht auch die Kenntnis der wirklichen Vorgänge. Die Rolandssäulen
aber, die man dort im Zeitalter des deutschen Ordens zur Erinnerung
an den berühmten „Preußenländer" {Rutland I) errichtete, gehen auf
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21 Bd. 23
350 Notizen und Nachrichten.
das vorbildliche Denkmal zurück, welches wahrscheinlich K. Otto IIL
in Magdeburg errichten ließ, nachdem das ursprüngliche Grabmal ver-
schwunden war. — Die Schrift hat ausschließlich psychologisches Inter-
esse, Der Verfasser glaubt nicht nur felsenfest an seine „unerschütter^
liehen und unwiderleglichen Ergebnisse", sondern ist überzeugt, daß
gerade die Beweisführung mit ihrer „großen Klarheit und Natürlichkeit"
für den Leser ein Genuß sein wird. Und einen solchen Leser hat er
vvirklich gefunden: der ungenannte Rezensent des Literar. Centralblattes
hat das Buch ernst genommen!
Göttingen. Edward Schröder.
Eine Untersuchung über den „Besitz der Zähringer in Ostfranken"
gibt G. Bossert in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 70
(N. F. 31), 4. Heft, Anlaß, Streitfragen der deutschen Fürsten-Gene-
alogie des IL Jahrhunderts unter neuen Gesichtspunkten zu behandeln.
Im Historischen Jahrbuch (der Görres- Gesellschaft) 37. Bd., 2. u.
3. Heft, S. 267—284 beschäftigt sich Heinrich Otto mit Einzelheiten
der Vorgänge in Kanossa („Heinrich IV. in Kanossa"). Beachtens-
wert ist die Beobachtung, daß „stare" bei Donizo, wie überhaupt im
italienischen Sprachgebrauch, nicht immer geradezu „stehen" bedeute.
Heinrich IV. habe sich in einem der Häuser des Fleckens Kanossa
aufgehalten. Hallers Kritik an Gregors Darstellung der Vorgänge wird
als ungerecht und inkonsequent abgelehnt. Hauptsächlich erörtert Otta
die Reihenfolge von Buße und Verhandlungen und setzt sich hierbei
mit Campaninis Kanossa-Führer auseinander, dessen Darstellung Josef
Kohler im „Tag" 1911 Nr, 111 weiter verbreitet hat. Festzuhalten ist,
mit dem Annalisten von St. Blasien, daß der König keineswegs im Ein-
vernehmen mit Gregor nach Kanossa kam, sondern diesen dort über-
raschte. Damit aber ist meines Erachtens Campaninis Annahme, daß
die bei Donizo als Ort der entscheidenden Zusammenkunft genannte
Nikolaus-Kapelle in der Burg Mongiovanni, auf halbem Wege zwischen
Kanossa und Reggio, gelegen habe, ausgeschlossen. Sie ist, was auch
aus Donizos Worten hervorgeht, am Fuße des Burgfelsens von Kanossa
zu suchen. Auch Otto, der Campaninis Annahme nicht ganz abweist,
hält das für ungezwungener. Aus dem „remevit Bibbiamllum" Do-
nizos, Vers 125, läßt sich kaum sicher mit Hampe auf einen früheren
Aufenthalt Heinrichs in Bianello schließen. Otto erkennt die schwere
Niederlage Heinrichs in Kanossa an, bezweifelt aber, ohne zu über-
zeugen, gegen Hampe, daß „auch fernerhin der Name Kanossa das
Symbol der Kapitulation staatlicher Macht vor kirchlichen Herrschafts-
änsprüchen bleiben" werde. A. Hofmeister.
„Der Kampf um Durazzo 1107 — 1108" zwischen Boemund von
jajent und den Byzantinern, für den auch nach ihm Anna Kommenas
Frühes Mittelalter. 351
Darstellung maßgebend bleibt, wird von Anton Jenal im Historischen
Jahrbuch (der Görres-Gesellschaft), 37. Bd., 2. u. 3. Heft geschildert.
Dabei wird das bisher ungedruckte Gedicht des Radulphus Tortarius
„Ad Gualonem" (vermutlich Gualo, Bischof von Paris 1105 — 1116)
nach einer Photographie der vatikanischen Handschrift abgedruckt
und erläutert. Der Dichter, der durch andere Werke bereits bekannt
ist, war Mönch im Kloster Fleury an der Loire. Die Modernisierung
der Orthographie geht auch in Eigennamen zu weit. Druckfehler liegen
anscheinend vor: Vers 81 (exercitus), 125 (Maeander), 142 (Aeolia),
144 (urbibus), 191 {gere), 194 (impetu?), 257 {prae nimio), 453 {eum).
Unverständlich ist mir perudi Vers 287. Sachliche und sprachliche
Anspielungen hätten reichlicher angemerkt werden können; die Ge-
dichte Rudolfs lohnten wohl einmal eine eindringendere, auch sprach-
liche und metrische Bearbeitung und Ausgabe. A. H.
Im letzten Heft des 9. Ergänzungsbandes der Mitteilungen des
Instituts für österreichische Geschichtsforschung behandelt Franz
Martin eingehend und sorgfältig „Das Urkundenwesen der Erzbischöfe
von Salzburg von 1106 — 1246". Er bezeichnet seine Arbeit, die nicht
von der Schrift, sondern vom Diktat ausgeht, als „Vorbemerkungen
zum Salzburger Urkundenbuch", dessen 2. Band (790 — 1199) inzwi-
schen erschienen ist, möchte aber darüber hinaus einen Baustein für
die Geschichte der deutschen Bischofsurkunde und in weiterem Sinne
der Privaturkunde geben.
„Das Verhalten Rainalds von Dassel zum Empfang der höchsten
Weihen" untersucht Karl Schambach in der Zeitschrift des Histo-
rischen Vereins für Niedersachsen 1915, 2. Heft. Er will den langen
Zwischenraum zwischen Wahl und Weihe Reinaids zum Erzbischof
(1159 — 1165) darauf zurückführen, daß der Kanzler die Einkünfte
seiner vier Propsteien in Hildesheim, Goslar und Münster habe fort-
beziehen wollen. Doch die Überlieferung ist viel zu dürftig, als daß
sich mit Sicherheit ein weiteres Verbleiben dieser Pfründen in Reinaids
Hand nachweisen ließe. Aber auch wenn das der Fall wäre — auch ich
halte es für sehr möglich, wenn nicht wahrscheinlich — , reicht es zur
Begründung des Aufschubs der Weihe nicht aus. Mir ist nicht zweifel-
haft, daß der entscheidende Grund dafür in der allgemeinen Lage der
Kirche, dem Schisma, zu suchen ist; Reinald war ja nicht der einzige
Bischof, der sich in diesem Falle befand ; man wird nicht umhin können,
hier die gleiche Erscheinung auf die gleiche allgemeine Ursache zurück-
zuführen. Das Beibehalten der Propsteien ist nicht als Ursache, son-
dern, falls es statthatte, als eine der Folgen der aufgeschobenen Weihe
zu betrachten. Nur dann könnte es, auch dann kaum als der Haupt-
grund, aber doch mit als ein Grund dafür gelten, falls in den Stiftern
23*
352 Notizen und Nachrichten.
die Erhebung eines unsicheren oder alexandrinischen Nachfolgers zu
fürchten gewesen wäre. Aber diese Frage, die auch kaum mit irgend-
welcher Bestimmtheit bejahend zu beantworten wäre, hat Seh. nicht
aufgeworfen. A. Hofmeister.
In den Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichts-
forschung Bd. 36, 4. Heft veröffentlicht Fedor Schneider mit Er-
läuterungen ein interessantes „Schreiben der Ungarn an die Kurie
aus der letzten Zeit des Tatareneinfalls (2. Februar 1242)", das mit
drei anderen nur auszugsweise überlieferten unterwegs in Siena liegen
geblieben zu sein scheint. Es ergänzt unsere Kenntnis von den kriege-
rischen Vorgängen nach dem Donauübergang der Tataren zu Weih-
nachten 1241. — Ebenda bekämpft J. Strnadt („S. Florian und
Rosdorf") K. Schiffmanns Bemerkungen zu oberösterreichischen Orts-
bezeichnungen im früheren Mittelalter.
Philipp Heck, Eine neue Theorie der sächsischen Freidinge,
Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 80, 1915, 4. Heft,
setzt sich mit dem Buch von Eckard Meister über die Ostfälische Ge-
richtsverfassung, das er, über Beyerle (vgl. H.Z. 1 14, S. 445) noch hinaus-
gehend, in allen Hauptteilen für verfehlt erklärt, auseinander. Zu der
vermeintlichen, von Zeumer vermuteten, aber nicht erwiesenen und
mannigfach bedenklichen Identität Eikes von Repgow mit dem Ver-
fasser der Sächsischen Weltchronik vgl. H. Z. 115, S. 207 und Fest-
schrift für Dietrich Schäfer (Forschungen und Versuche zur Geschichte
des Mittelalters und der Neuzeit, Jena 1915) S. 113. A. H.
In der Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 80,
1915, Heft 1 und 4 gibt Friedrich Ber the au eine erwünschte Zusammen-
fassung über „Die Wanderungen des niedersächsischen Adels nach
Mecklenburg und Vorpommern".
Neue Bücher: R. W. and A. J. Carlyle, A history of mediaeval
political theory in the West. Vol. III. Political theory from the tenth
Century to the thirteenth. {London, Blackwood. io,6 sh.) — Forst-
Battaglia, Vom Herrenstande. Rechts- und ständegeschichtliche
Untersuchungen als Ergänzung zu den genealogischen Tabellen zur
Geschichte des Mittelalters. 1. Heft. (Leipzig, Degener. 5 M.)
Späteres Mittelalter (1250—1500).
Die deutsche Volkssage vom Fortleben und der Wiederkehr Kaiser
Friedrichs II. Von Fr. Guntram Schultheiß. Berlin, Ehering 1911
(Historische Studien, H. 94). 133 S. 8». — Schultheiß nimmt die Ar-
beit von Kampers, die ihm natürlich als Basis vor allem auch seiner
Quellenkenntnis diente, wieder auf und ergänzt sie speziell nach der
Späteres Mittelalter. 353
Seite der Volkssage. In den Anfängen der Sage von der Wiederkehr
Kaiser Friedrichs II. erblickt er einen stärkeren waldesischen Einschlag
als sein Vorgänger, und er dürfte hier Recht behalten. Die deutsche
Volkssage, wie sie sich vor allem in der lokalen Kyffhäusersage ge-
staltet hat, löst er von der literarischen und publizistischen Geschichte
dieser Vorstellungen vollständig los und säubert sie ebenso von altem
Götterglauben; in letzterem Punkte stimme ich ihm ganz zu, im ersten
ist er vielleicht zu weit gegangen, obwohl auch hier seine Erfassung
der reinen Lokalsage eine gesunde Reaktion bezeichnet. Auch die
Ausscheidung Friedrichs des Freidigen als Zwischenstufe ist für die
Lokalsage unbedingt das richtige. Eine kleine Sammlung der wich-
tigsten Zeugnisse beschließt das Büchlein. In der zeitlichen Ansetzung
wie in der Wertung der historischen Quellen, in ihrer Wiedergabe und
Übersetzung finden wir allerlei kleine Anstöße, die eine sorgfältige
Revision hätte beseitigen müssen. Daß der Kyffhäuser mit JVlyrten
bewachsen sei, entspricht weder der Wirklichkeit, noch ist es von der
Sage behauptet worden — es sind einfach Heidelbeeren (myrtilli).
Göttingen. Edward Schröder.
JVIercedes Stoeven, Der Gewandschnitt in den deutschen Städten
des JVlittelalters (Freiburger Abhandlungen zur mittleren und neueren
Geschichte, Heft 59. Berlin und Leipzig 1915) erörtert eingehend die
Frage, in welchem Maße die Einheimischen und Fremden am Tuch-
ausschnitt beteiligt sind, wie ihre Rechte sich gegeneinander abgrenzen
und die Gründe dieser Abgrenzung. Die einschlägige Literatur ist in
großem Umfange herangezogen ; nur ist die vorausgeschickte Literatur-
übersicht recht unübersichtlich. n.
Sehr dankenswerte Beiträge zu den Habsburger Regesten des
späteren Mittelalters bringt eine fünf Bogen starke Arbeit von Otto
H. Stowasser in den Mitteilungen des Instituts für österreichische
Geschichtsforschung, Ergänzungsband 10, 1. Er behandelt hier 1. die
Kanzleivermerke auf den Urkunden der Herzoge von Österreich wäh-
rend des 15. Jahrhunderts, indem er frühere Forschungen (vgl. H. Z.
115, 210) erweitert und näher begründet, insbesondere daran festhält,
daß diese Kanzleivermerke sich auf Beurkundungs-, Fertigungs- und
Siegelbefehle beziehen können. Hierauf folgt eine eingehende Unter-
suchung über die Entstehung des alten Wiener Stadtbuchs (Eisen-
buchs): da die Einleitung desselben nach Stowasser als formelle Fäl-
schung zu betrachten ist, verkürzt sich das Alter um drei Jahrzehnte;
immerhin bleibt das — somit um 1350 anzusetzende — Eisenbuch
auch in Zukunft das älteste Stadtbuch im ganzen Rechtskreis der
babenbergisch-österreichischen Städte. Auch Nr. 3 — 5 beschäftigen
sich mit Fälschungen: es handelt sich um eine angebliche Urkunde
354 Notizen und Nachrichten.
König Albrechts von 1304 für das Augsburger Domkapitel und um
Urkundenfälschungen aus dem Karmeliterkloster Voitsberg (15. Jahr-
hundert) und dem steiermärkischen Kloster Neuberg (1497 anzusetzen);
in den beiden letzten Fällen tritt die plumpe Fälschung vermöge der
beigefügten Schrifttafeln besonders gut hervor. Die beiden letzten
Nummern endlich behandeln auf Grund neu herangezogener Quellen
den Übergang von Hardegg in den Besitz der Landesfürsten (1392)
und den Wiener Landtag vom 1. September 1454.
Die urkundlichen Nachrichten über Paza (Beatrix) von Halle,
Tochter eines angesehenen Cölner Bürgerhauses, die etwa von 1318 bis
1322 als Schwester des Deutschordens erscheint, dann aber Zister-
ziensernonne geworden ist, stellt P. Gilbert Wettstein in den Stu-
dien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und
seiner Zweige N. F. 6,3 zusammen; eine Urkunde von 1361, in der
dem Kloster Herchen namhafte Zuwendungen gemacht werden, ist im
Wortlaut wiedergegeben.
Um die Deutung einer Stelle in Dachers Chronik, die auf die
Belagerung von Meersburg durch Ludwig den Bayern sich bezieht
(1334), bemüht sich B. Rathgen in der Zeitschrift für historische
Waffenkunde 7, 8. Er erklärt die dort auf selten der bischöflichen
Gegenpartei erwähnten „Schüsse aus einer Büchse" als Geschosse in
der Art der späteren Kanonenschläge, bei denen durch die feste Ein-
kapselung einer viel Salpeter enthaltenden Sprengmasse eine besonders
starke Knallwirkung erzielt werden mußte. An die Verwendung von
Pulvergeschützen ist nicht zu denken.
H. W. Eppelsheimer sucht im Archiv für Kulturgeschichte
12, 3/4 den Beweis zu führen, daß Petrarcas Religiosität in ihren An-
sätzen schon diejenige des Humanismus überhaupt ist: nicht ignoran-
tistisch, sondern „Bildungsreligion und innerhalb der kirchlichen
Dogmen nicht mehr orthodox, sondern mit antiken Weisheitslehren
durchsetzt; ein christlich-stoizistischer Eudämonismus". Er tritt hier-
mit in Gegensatz zu E. Walsers Untersuchung über Christentum und
Antike in der Auffassung der italienischen Frührenaissance, die wir
H. Z. 112, 436 kurz erwähnt haben.
K. Helm (Alte Wege nach und in Litauen) zeigt auf Grund zahl-
reicher im Königsberger Staatsarchiv beruhenden Wegeberichte aus
den Jahren 1384 — 1402, in welcher Weise der Deutsche Orden die
Vorbereitungen für einen kriegerischen Aufmarsch in den Grenzlanden
zu treffen suchte. Aus der mitgeteilten Probe ist zu ersehen, daß die
Kenntnis der litauischen Topographie bei so unausgesetzter Arbeit
wirklich auf eine ansehnliche Höhe gebracht werden konnte (Frank-
furter Zeitung 1916, Nr. 323, Erstes Morgenblatt).
-
Reformation und Gegenreformation. 355
Angeregt durch die Arbeit von J, Schairer (vgl. H. Z. 116, 157 f.)
macht P. N. Bühler 0. S. B. in den Historisch-politischen Blättern
158, 8 ein paar Bemerkungen über die Erforschung des religiösen Volks-
lebens am Ausgang des Mittelalters, in denen er vor allem gründliche
Spezialuntersuchungen (z. B. in den wichtigsten Reichsstädten) fordert.
J. Kracauer veröffentlicht in der JVlonatsschrift für Geschichte
und Wissenschaft des Judentums 1916, Juli-August das Testament
einer Frankfurter Jüdin aus dem Jahre 1470, das in deutscher Sprache
abgefaßt ist, was bei jüdischen Urkunden des 15. Jahrhunderts zu den
größten Seltenheiten gehört.
Von der wahrscheinlich im Jahre 1489 entstandenen Epistula de
miseria curatorum seu plebanorum (vgl. H. Z. 116, 530) hat Alb. Wer-
minghoff im Archiv für Reformationsgeschichte 13, 3 eine neue Aus-
gabe veranstaltet und hierin außer den bekannten älteren Drucken
auch eine zweite Fassung berücksichtigt, die sich in einer jetzt ver-
schollenen Handschrift des Coblenzer Staatsarchivs befunden hat und
nur noch durch eine — wohl von L. Eltester herrührende — Überr
Setzung bekannt ist.
Neue Bücher: Brunetti, Contributo alla Storia delle relazioni
veneto-genovesi dal 1348 al 1350. (Venezia, R. Deputazione veneta di
Störia patria.) — Andreas Heusler, Rechtsquellen des Kantons Tessin.
13. Heft. Die Gemeindestatuten von Capriasca (1358) und Carona
und Ciona (1470). (Basel, Helbing & Lichtenhahn. 3 M.) — Re-
naudet, Prereforme et humanisme ä Paris pendant les premihes guerres
d'Italie (1494 — J517). {Paris, Champion.)
Reformation und Gegenreformation (1500 — 1648).
Sehr beherzigenswert und durchaus zutreffend sind die Mah-
nungen, die Sebastian Merkle in „Vergangenheit und Gegenwart"
6, 1 an die Geschichtslehrer richtet, zu ihrem Teil darauf hinzuwirken,
daß das gegenseitige Verständnis der beiden Konfessionen ein besseres
werde. Mit Recht weist er auf die große Anregung hin, die sich für
die protestantische Geschichtschreibung der Reformation aus der Be-
schäftigung katholischer Historiker mit Luthers Persönlichkeit ergeben
hat (Die nationale Aufgabe des Geschichtsunterrichts gegenüber der
konfessionellen Spaltung).
In der Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Erm-
lands Bd. 19 S. 329 — 393 findet sich aus der Feder von Kasimir von
Miaskowski ein Aufsatz über die Jugend- und Studienjahre des
ermländlschen Bischofs und Kardinals Stanislaus Hosius, der für die
Geschichte des Humanismus lehrreich ist.
356
Notizen und Nachrichten,
Georg Loesche, Zur Gegenreformation in Schlesien (Troppau,
Jägerndorf, Leobschütz). Neue archivalische Aufschlüsse. Leipzig
1915 und 1916. (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte
Nr. 117/18 und Nr. 123.) Zu Anfang des 17. Jahrhunderts wurde erst
das Fürstentum Troppau, dann das Herzogtum Jägerndorf, dessen
Hauptstadt damals Leobschütz war, dem Hause Liechtenstein verliehen.
In dem Liechtensteinschen Hausarchiv in Wien, das erst kürzlich der
Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, hat Loesche die Akten
über die Schicksale der Protestanten in diesen Gebieten durchgearbeitet
und bietet uns seine Ausbeute in einer lesbaren Darstellung, die eine
Fülle anschaulicher Einzelheiten enthält. Die Geschichte der Gegen-
reformation wird für jeden der drei Orte getrennt erzählt. Ihr Höhe-
punkt ist überall das Religionsstatut von 1630, in dem die Bürger
jener Städte sich verpflichten müssen, keinen in der Stadt aufzunehmen,
der sich nicht als Katholik erklärt. Das JV\artyrium derer, die dennoch
ihrem Glauben treu blieben, wird an vielen Beispielen aus dem 17. Jahr-
hundert veranschaulicht. Auch die Altranstädter Konvention brachte
den Protestanten geringe Erleichterung, da sie zwar nicht formell
umgestoßen, aber doch nur sehr lückenhaft ausgeführt wurde.
Neue Bücher: Wegg, Antwerp i4yy — 1559. From the batik of
Nancy to the treaty of Cateau Cambresis. (London, Methuen.) — Holm-
quist, Martin Luther. Minnesskrift tili Reformationsjubileet 1917.
(Uppsala, Sveriges kristl. Studentrörelses Fori) — Thiel, Die inner-
österreichische Zentralverwaltung 1564 — 1749. 1. (Wien, Holder.
3,85 M.) — Karsten, Karl Gustav Wrangel, hans ungdomstid och första
krigarbana 1613 — 1638. {Stockholm, Norstedt & Söner. 5,50 K.)
1648—1789.
Nachdem 1913 der Abb6 Auguste der Kompanie „du St. Sacre-
ment" in Toulouse eine eingehende Monographie gewidmet hat, sucht
die Schrift R. Alliers, Une societe secrete au XVII' siede „La Com-
pagnie'du Tris-Saint Sacrement de VAutel ä Toulouse" (Paris 1914,
3 Fr.) das Liebeswerk der Brüder auf religiösem, caritativem und
sozialem Gebiet noch schärfer zu umreißen. Indem er handschrift-
liches Material und die Korrespondenzen anderer Bruderschaften heran-
zieht, gelingt es ihm in manchen Punkten, über Auguste hinaus-
zukommen. Eine völlige Klarstellung wird dadurch erschwert, daß
die Kompanie nur selten selbst handelnd auftritt, sondern sich hinter
^einzelnen ihrer Mitglieder verbirgt. Ihre Bedeutung beschränkt sich
nicht auf ihr eigentliches Arbeitsgebiet, einige Brüder haben auch in
<len politischen Kämpfen zwischen Mazarin und der Königin-Mutter
■eine Rolle gespielt. . Walter Platzhoff.
1648—1789. 357
Der Aufsatz von Karl von Peez über die kleineren Angestellten
Kaiser Leopolds I. in der Türkei (Archiv für österr. Gesch. 105, 1) be-
handelt eine Art von Organisation, die vor dem Ausbruch des großen
Türkenkrieges den Interessen des Kaisers im osmanischen Reiche dienen
sollte und im ganzen nützlich gewirkt zu haben scheint. Es sind die
Kuriere, ferner die in Ofen, Belgrad und Sofia festzustellenden Korre-
spondenten, die kaiserlichen Dolmetscher, ein geheimer „Hinterlas-
sener" (wahrscheinlich Vertreter des Residenten) und die „Sprach-
knaben" des Residenten. Von Interesse ist es, daß das Institut der
letzteren erst 1754 aufgehoben wurde und daß an seiner Stelle die
Orientalische Akademie in Wien errichtet wurde. W. M.
Der auf archivalischem Material beruhende Aufsatz von E.
V. Danckelman über „Die kurbrandenburgische Kirchenpolitik und
Kurpfalz im Jahre 1696" wirft auf die Bedeutung der religiösen Frage
in Deutschland gegen Ende des Orleansschen Krieges ein helles Licht.
Der Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten, aber auch
derjenige zwischen Lutheranern und Reformierten geben ein Bild
verworrener kirchlicher und politischer Verhältnisse. Manche katho-
lische Fürsten denken wohl daran, wenn erst der Krieg mit Frankreich
zu Ende sei, alsdann mit Hilfe Ludwigs XIV. den Protestantismus
in Deutschland auszurotten. Ein neuer Religionskrieg scheint nicht
fern. Von solchem Hintergrund heben sich die besonderen hier ge-
schilderten Verhältnisse ab. Kurbrandenburg interessiert sich für die
bedrückten Protestanten in der Pfalz, arbeitet, um ihnen helfen zu
können, an einer Vereinigung der evangelischen Stände in Deutsch-
land, sucht Schweden zu gewinnen oder gar eine große Koalition der
Protestanten in Europa zu erzielen. Umsonst, der Ryswycker Friede
versetzt mit seiner berüchtigten Religionsklausel der evangelischen
Sache in Kurpfalz den Todesstoß. (Zeitschr. f. d. Gesch. des Ober-
rheins. N. F. 31,4.) W. Michael.
Als Bd. 8 der von dem Geschichtsvereine für das Herzogtum
Braunschweig herausgegebenen „Quellen und Forschungen zur Braun-
schweigischen Geschichte" erscheint eine von Hans Droysen mitgeteilte
Auswahl „Aus den Briefen der Herzogin Philippine Charlotte von
Braunschweig 1732 — 1801". Die Schreiberin war die vierte der Schwe-
stern Friedrichs des Großen, ward 1733 mit dem Prinzen Karl von
Bevern vermählt und hat von dieser Zeit an bis zu ihrem Tode einen
regen Briefwechsel mit ihren Angehörigen geführt. Ihre französisch
geschriebenen Briefe befinden sich heute im Königlichen Hausarchiv
zu Charlottenburg. Der vorliegende erste Band (Wolfenbüttel 1916.
222 S.) umfaßt die Zeit von 1732—1768, enthält aber nur die Briefe
4er Prinzessin, nicht die Antworten. Durch Zahl und Inhalt beanspru-
358 Notizen und Nachrichten.
chen die an den Vater Friedrich Wilhelm I., an Friedrich den Großen
und an seine Gattin, die Königin Elisabeth, gerichteten Schreiben das
größte Interesse. Wertvolle Aufschlüsse oder tiefe Einblicke in die
großen Ereignisse der Zeit muß man hier freilich nicht erwarten. Dazu
war schon die Persönlichkeit der Schreiberin, die es an Geist z. B.
mit der Markgräfin Wilhelmine wohl nicht aufnehmen kann, nicht
bedeutend genug. Doch hatte sie vielleicht mehr Gemüt als die be-
rühmtere Schwester. In ihren Briefen erscheint sie wie ein getreues
Echo der Stimmungen am preußischen Hofe. Teilnehmend und be-
wundernd folgen ihre Blicke den Bahnen, die ihr großer Bruder ein-
schlägt, und auch für den Prinzen Heinrich — „auch er gehört zur
Rasse der Helden unseres Hauses" (S. 119) — ist sie voller Bewunde-
rung. Über die Ereignisse des Siebenjährigen Krieges findet man
manche interessante Bemerkung. Nachdem Charlotte, offenbar vom
Könige selbst, gehört hat, daß der Krieg unvermeidlich sei, ist sie
auch voller Zuversicht (112 — 3). Sie ist begeistert über Friedrichs
Siege bei Roßbach und Leuthen und erklärt, der Tag des 5. Dezember
werde ewig denkwürdig sein in den Fasten Brandenburgs (126). Sie
zittert für den Ausgang der Schlacht, die ihr Schwager Ferdinand den
Franzosen bieten wird (bei Crefeld 1758) und die freilich auch über
das Schicksal ihres Landes entscheiden muß (133 — 4). Sie lacht über
die ihrem Gatten wie anderen Fürsten angedrohte Reichsacht (136).
Sie bringt mit rhetorischem Schwung dem königlichen Bruder ihren
Glückwunsch dar zum Friedensschlüsse von Hubertusburg (175). Aber
das sind freilich nur die Höhepunkte ihrer Korrespondenz, denn diese
ist nichts weniger als ein politischer Briefwechsel. Dem Verständnis
der Schreiberin liegen im Grunde die kleinen jedermann interessieren-
den Angelegenheiten der Gesellschaft wohl noch näher, so wenn sie
von musikalischen Genüssen berichtet, von den Sternen in der Ge-
lehrtenrepublik, oder gar von den Wunderdingen, die man auf der
Braunschweiger JVlesse zu sehen bekommt. So erhalten wir hier, im
ganzen genommen, eine Quelle zur Geschichte der friderizianischen
Epoche und darüber hinaus, die neben allem übrigen, das wir be-
sitzen, nun doch auch gelesen zu werden verdient. ^ Michael
Von Johann Friedrich Joachim (1713—1767), dem Verfasser des
ersten in deutscher Sprache geschriebenen Lehrbuchs der Diplomatik,
hat W. Suchier eine gutgemeinte biographische Skizze verfaßt. Er
behandelt lediglich das äußere Leben und Wirken des Mannes, ohne
den Versuch zu machen, seiner wissenschaftlichen Bedeutung gerecht
zu werden. Doch gibt er mit der treuen Aufzählung der Werke und
der vielseitigen Tätigkeit seines Helden, halb ungewollt, ein anschau-
liches Bild vom Leben und der Lehrtätigkeit an deutschen Universi-
1648—1789. 359
täten des 18. Jahrhunderts. (Johann Friedrich Joachim. Ein Gedenk-
blatt von Dr. Wolfram Suchier. Halle 1915.) W. M.
Dr. Hans Goldschmidt, Amtliche Statistik am Niederrhein
im 18. Jahrhundert. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik,
Bd. 107 (Dritte Folge, Bd. 52). Jena 1916. — Ein Zufallsfund im
Archiv eines Adelssitzes, die Entdeckung einer „Tabelle über die Ver-
fassung und den Bestand Amts Blankenberg, wie solche im Junius
1791 bestanden" im Gräflich Nesselrodischen Archiv zu Ereshoven
an der Agger, gibt dem Verfasser Gelegenheit, über die statistischen
Aufnahmen am Niederrhein zu schreiben. Es ist dort eine Masse wert-
vollsten Materials seit der napoleonischen Zeit vernichtet, verschleu-
dert oder zerstreut worden, und das von Goldschmidt veröffentlichte
Bruchstück läßt den Verlust der entsprechenden Arbeiten für die
übrigen Ämter des Herzogtums Berg um so schmerzlicher empfinden,
als diese Tabelle doch schon eine gewisse Höhe der wissenschaftlichen
Interessen zeigt, die sich mit den rein praktischen Zwecken der amt-
lichen Erhebung verbanden. Überhaupt zeigen die statistischen Amts-
beschreibungen, wie sie Widder in seinem Buche für die mittelrheini-
schen kurpfälzischen Lande (Joh. Goswin Widder, Versuch einer voll-
ständigen geographischen historischen Beschreibung der Kurfürstlichen
Pfalz am Rhein, 4 Bände. Frankfurt a. M. und Leipzig 1788) heraus-
gegeben hat, daß in den pfälzischen Teilen des Rheinlandes die Stati-
stik in hervorragendem Maße gepflegt wurde (vgl. Fabricius, Erläute-
rungen zum geschichtlichen Atlas der Rheinprovinz II, S. 219). Für
das dritte pfälzische Gebiet am Rhein, das Herzogtum Jülich, ist
doch nicht „das gesamte amtliche Material (statistischer Erhebungen)
verloren gegangen", wie Goldschmidt meint. Wenigstens eine höchst
wichtige Tabelle über Bevölkerungsstatistik aus dem Jahre 1767 ist
erhalten geblieben. Ich habe darüber in den Atlaserläuterungen II,
S. 257 f. berichtet, und hoffe, diese Tabelle noch veröffentlichen zu
können.
Darmstadt. W. Fabricius.
Dr. F. Eppensteiner, Rousseaus Einfluß auf die vorrevolutio-
nären Flugschriften und den Ausbruch der Revolution. (Beiträge zur
Parteigeschichte, hgg. von Adalbert Wahl. Heft 8. Tübingen, J. C. B.
Mohr (Paul Siebeck) 1914. VIII. 71 S.) — Die Frage nach dem Ein-
fluß Rousseaus auf die Entstehung der Revolution wird hier von einem
Schüler Adalbert Wahls in einer ganz bestimmten, aus dem Titel der
Arbeit ersichtlichen Abgrenzung aufgenommen. Schon die Einschrän-
kung derartiger Untersuchungen auf ein bestimmtes Gebiet ist ein
Verdienst; denn nur so können wir hoffen, allmählich über die un-
bestimmten Allgemeinheiten unserer seitherigen Anschauungen hinaus-
360 Notizen und Nachrichten.
zukommen. Die Hauptergebnisse Eppensteiners sind folgende: Der
Einsatz der Einwirkung der Staatstheorien Rousseaus läßt sich zeit-
lich scharf bestimmen. Seine politischen Werke haben bis dicht vor
der Revolution keinen eigentlichen Leserkreis gehabt und haben da-
her noch nicht oder kaum gewirkt im ersten Stadium des vorrevolutio-
nären Kampfes von 1786 bis Mitte 1788, dem Kampf um die Reformen
und die Freiheit. Dagegen kommen sie zur Geltung vom letzten Viertel
des Jahres 1788 ab, d. h. in der von Wahl als Ständekampf bezeich-
neten Periode des politischen Flugschriftenstreits. Von da ab ist Rous-
seau, der Staatsrechtslehrer, wie mit einem Schlag der führende Meister.
Und zwar wirken seine Gedanken vom Staatsvertrag, vom Gemein-
willen und besonders von der Volkssouveränität, während seine Polemik
gegen das Vertretungssystem verworfen wird und die zahlreichen Ein-
schränkungen und Kautelen im konservativen Sinn, mit denen Rous-
seau auch in der Politik wie sonst seine kühnen Grundsatzthesen ge-
legentlich abschwächt, ganz unter den Tisch fallen. Auffallend ist^
wie nach dieser Darstellung Rousseau solange gar nicht wirkt, um dann
plötzlich und so gewaltig zu wirken. Allein der Nachweis, daß es sich
bei den Flugschriften in der Tat so verhält, dürfte der mit sorgfältiger
Methode und vorzüglicher begrifflicher Klarheit und Schärfe geführten
Untersuchung gelungen sein. Sehr fein ist z. B., wie der Verfasser das
Rousseausche Eigengut von den so leicht damit zu verwechselnden
ähnlichen politischen Ideengebilden, beispielsweise dem Staatsrecht
der französischen Parlamente, zu scheiden weiß. Ergänzungen dieser
Studien unter Ausdehnung auf die Brief- und Memoirenliteratur, wie
sie der Verfasser in Aussicht stellt, wären sehr zu begrüßen. Denn der-
artige exakte und gründliche Untersuchungen über das Maß der von
den Helden der Ideengeschichte ausgehenden Wirkungen sind ebensO'
selten wie verdienstlich.
Stuttgart. P. Sakmann.
D. J. Hill will „ein fehlendes Kapitel franko -amerikanischer
Geschichte" behandeln. Er meint damit die besondere Wirkung,
die die amerikanische Revolution überhaupt und Franklins Auftreten
in Paris im besonderen auf die Erweckung des revolutionären Geistes
in Frankreich geübt hat. Die überschwenglichen französischen Lob-
reden, die Franklin bei seinem Tode nachgerufen wurden, stammen
aber nur von Konstitutionalisten wie Mirabeau, und weder von den
royalistischen noch von den demokratischen Gruppen. Jenen ist er
schlechthin „der Organisator der Freiheit", „der Entdecker der Grund-
lagen der Gesellschaft". Um solche Urteile, wie sie selbst den Ameri-
kanern fernlagen, zu verstehen, muß man, meint Hill, bedenken, daß
die Wirkung der großen Schriftsteller, als Franklin 1776 nach Frank-
reich kam, vorübergegangen war, ohne ein positives Programm - ins.
Neuere Geschichte. 361
Leben zu rufen. Das habe Franklin bewirkt. Freilich sei der ameri-
kanische Einfluß auch gerade dort zu Ende gewesen, wo der Absolutis-
mus der revolutionären Regierung begann. Die Aufgabe der Verfas-
sung, die Rechte des einzelnen gegen die Macht der Souveräns zu
schützen, habe man in Frankreich nur auf den König als Souverän
bezogen. Die amerikanische Idee, daß die Verfassung auch eine Sicher-
heit gegen die Übergriffe einer Volksregierung bieten müsse, sei in
Frankreich nicht verstanden worden. Ein richtiger Gedanke, aber
eine in der Bezugnahme auf Amerika etwas zu scharf konstruierte
Formulierung. (American Hist. Rev. 21, 4.) W. Michael.
Neue Bücher: Cfiapman, The founding of Spanish California.
The northwestward expansion of New Spain, i68y — 1783. (New York,
The Macmillan Co.) — Bolton, Texas in the middle eighteenth Cen-
tury; studies in Spanish colonial history and administration. (Berkely,
Univ. of California. 3,50 Doli.)
Neuere Gesdiidite von 1789 bis 1871.
November- und Dezemberheft der Deutschen Rundschau ent-
halten Fortsetzungen der S. 173 erwähnten „Kreutz- und Querzüge"
von A. L. Fr. Schau mann: Kulturbilder aus der Knabenzeit und
dem Eintritt ins hannoversche Heer als Kadett.
Die prächtigen und umfangreichen Briefe Wilhelm von Hum-
boldts an Frau von Stael vom Juni 1800 bis zu Humboldts
Übersiedelung nach Rom, Oktober 1802 (Deutsche Rundschau, Nov.
und Dez. 1916, s. S. 173), enthalten eine Fülle von persönlichen, lite-
rarischen, philosophischen Betrachtungen, zumeist über die beiden
Persönlichkeiten selbst; als kongenialen Übersetzer weiß Humboldt
der Tochter Neckers nur Gentz zu empfehlen.
Von Königin Luisens Rolle in der „sittlichen Erneuerung"
Preußens hat R. Linder in den Neuen Jahrbb. für das klassische Alter-
tum usw. 37, 9 gehandelt: für sie ist der Kampf gegen Napoleon ein
Kampf um die sittliche Freiheit der Menschheit.
Die weiteren Fortsetzungen des Briefwechsels zwischen K. Fr.
und Amalie Eichhorn (s. S. 174) reichen vom 25. IX. bis 20. X.
1813 (Deutsche Revue, Nov. u. Dez. 1916).
Dem Aufsatz von H. O. Meisner über „Deutschen und west-
europäischen Freiheitsbegriff" (Deutsche Rundschau Okt. u. Nov.
1916) gebührt nachdrückliche Erwähnung: der deutsche Freiheits-
gedanke der Pflicht steht im Gegensatz zum westländischen der Rechte;
im Ruf nach Freiheit vom Staat finden sich englische und französische
Doktrin zusammen ; so beruhen deutscher und westeuropäischer Staats-
362 Notizen und Nachrichten.
begriff in ihrer Verschiedenheit auf der verschiedenen Auffassung de$
Freiheitsbegriffs hüben und drüben.
Eine eingehende und liritische Besprechung von Herrn. Schlü-
ters Buch über die Chartistenbewegung (1916) bringt O. Blum in
Grünbergs Archiv 7, 3.
Grünbergs Archiv für die Geschichte des Sozialismus 7, 3 ent-
hält zunächst ein Kapitel aus einer in Vorbereitung befindlichen Marx-
Biographie von Franz iVlehring: Marx im Brüsseler Exil (1845 ff.):
literarische Tätigkeit und Agitation, insbesondere Beziehung zum
Kommunistenbund. — Gustav Mayer („Karl Marx und der zweite
Teil der Posaune", ebenda) macht sehr wahrscheinlich, daß der von
Br. Bauer und Marx gemeinsam unternommene zweite Teil der „Po-
saune des jüngsten Gerichts über Hegel usw." im Sommer 1842 ano-
nym unter dem Titel „Hegels Lehre von der Religion und Kunst.
Von dem Standpunkt des Glaubens aus beurteilt" erschienen ist: eine
Satire unter der Maske der Orthodoxie, und daß der zweite Teil dieses
seltenen und geistreichen Buches „Hegels Haß gegen die heilige Ge-
schichte und die göttliche Kunst der hl. Geschichtsschreibung" Marx*
Beitrag darstellt.
Der Eingang von E. Lederers Aufsatz „von der Wissenschaft
zur Utopie" (Grünbergs Archiv 7, 3) beschäftigt sich mit der Haltung
des Marxschen Sozialismus zu den Fragen der Handelspolitik.
Sieben Briefe Lassalles an Freiligrath (aus dem Goethe-
Schiller-Archiv in Weimar) zwischen 1849 und 1860 hat mit sorgfäl-
tigem Kommentar Gustav Mayer in Grünbergs Archiv 7, 3 veröffent-
licht: anschließend steht dort ein von N. Rjasanoff mitgeteilter
kurzer Brief von Joh. Jacoby an Marx vom 12. II. 1871.
Das Verhältnis des Frankfurter Bundestagsgesandten zu seinem
Ministerpräsidenten untersucht Günther Freiherr von Richthofen
in einer Berliner Dissertation, betitelt: „Die Politik Bismarcks und
Manteuffels in den Jahren 1851—1858" (Berlin 1915, W. Weber).
Neues fördert der Verfasser in seiner etwas eintönigen Darstellung
nicht zutage. Wir sehen, wie der Gesandte sehr bald in Frankfurt
zur Überzeugung kommt, daß Preußen nur einen Feind hat, Öster-
reich, mit dem es zu einer Auseinandersetzung kommen muß, während
Manteuffel zwar auch über die Rücksichtslosigkeiten des Donau-
staates stöhnt, aber doch mehr für sanfte Aushilfsmittel ist. Jede
Gewalt ist dem Minister unsympathisch, wozu noch kommt, daß er
kein Rückgrat seinem König gegenüber hat, dem er sich als getreuer
Diener leider stets fügt, auch wenn er dabei seine Überzeugung opfert.
So kommt es, daß Bismarcks Ratschläge meistens ungehört verhallen,^
und wenn im Krimkriege Preußen gegen Österreichs Drängen nicht
Neuere Geschichte. 363
eingreift, so liegt das nicht am Nichtwollen Manteuffels, sondern daran,
daß die Friedensverhandlungen den kriegerischen Operationen ein Ende
bereiten. Richthofen behandelt außer dem Verhalten beider Staats-
männer im Krimkriege noch ausführlich ihre Politik in den Fragen
der deutschen Flotte, der Bundesreform, die Beust 1857 anregte, der
Zollvereinswünsche Österreichs, des badischen Kirchenkonflikts, der
Ulm-Rastatter Festungsbauangelegenheit, der schleswig-holsteinschen
Provinzen. H. R.
Die Fortsetzung von Fr. Thimmes Veröffentlichung aus W.
V. Kardorffs Briefen (s. S. 177) umfaßt im November- und Dezember-
heft der Deutschen Revue die Zeit bis zu Bismarcks Sturz. Besondere
Beachtung verdienen neben kurzen Sätzen vom Dezember 1889 (betr.
Verständigungsversuche Bismarcks über das Sozialistengesetz durch
Rottenburg mit Konservativen und Nationalliberalen) die Mitteilungen
vom Frühjahr 1878 über das Ausscheiden Delbrücks und Camphausens
und Bismarcks wirtschaftspolitische Absichten.
Julius Goebel, The recognition policy of the United States. Stu-
dies in history, economics and public law, edited by the Faculty of poli-
tical science of Columbia University LXVI, I (158). (New York 1915.
228 S. Preis 2 Dollar.) — Anläßlich der mexikanischen Politik des
Präsidenten Wilson wurde die Frage wieder vielfach erörtert, nach
welchen Grundsätzen die Vereinigten Staaten bei der Anerkennung
revolutionärer Regierungen und neuer Staaten verfahren sollten, ein
Problem, das bei den unsicheren politischen Zuständen des lateinischen
Amerika eine große Tragweite hat. Julius Goebel hat es sich in einer
wertvollen Abhandlung zur Aufgabe gemacht, die bisherige Praxis der
Vereinigten Staaten diesem Problem gegenüber zu untersuchen. Da
galt es zuerst die grundlegende Tatsache festzustellen, daß die Union
ihren eigenen revolutionären Ursprung nicht verleugnen konnte, wie
es Jefferson in den Worten formulierte: „Wir können sicherlich anderen
Nationen nicht die Anwendung des Grundsatzes versagen, auf dem
unsere eigene Regierung beruht, daß jede Nation das Recht hat, sich
ihre Regierungsform nach Belieben zu wählen und, wenn sie es wünscht,
zu ändern. . . . Das einzige Wesentliche ist der Wille der Nation."
Nach diesen Grundsätzen verfuhren denn auch Jefferson und seine
Nachfolger. Goebel weist das im einzelnen nach am Verhalten der
Vereinigten Staaten gegenüber der französischen Republik, beim Auf-
stand der spanischen Kolonien in Amerika und bei der Losreißung
von Texas. Die glorreichen Grundsätze Jeffersons erschienen aber den
Staatsmännern der Union in ganz anderem Licht, als sich 1861 die
elf von ihr abgefallenen Staaten zu einem neuen Staatswesen zusammen-
schlössen und eben auf Grund der Prinzipien Jeffersons Anerkennung
364 Notizen und Nachrichten.
seitens der Union sowie der europäischen Mächte verlangten. Da
hieß es plötzlich: „Ja Bauer, das ist ganz etwas anderes!" und die
Staatsmänner der Vereinigten Staaten beriefen sich auf legitimistische
Grundsätze. Die Erfahrungen des Bürgerl<rieges haben, wie Göbel
zeigt, auch noch längere Zeit nachgewirkt, bis man allmählich wieder
zur älteren Praxis, der Anerkennung der de-facto-Regierungen, ohne
Rücksicht auf ihren Ursprung, zurückgekehrt ist. Den Gipfel erreichte
diese Praxis in der Anerkennung der Republik Panama durch Roose-
velt im Jahre 1903. Die mexikanische Politik Wilsons, die stark aus
dem Rahmen der in den letzten Jahrzehnten befolgten Übung her-
ausfällt, ist in dem Buche noch nicht besprochen. Goebel ist jedoch
der Ansicht, daß die Anwendung des reinen de-facto-Prinzips Jeffer-
5ons den amerikanischen Traditionen am besten entspricht,
Darmstaedter.
Neue Bücher: Lord, The second partition of Poland. (London,
Milford. 10 sh.) — Ward, Germany 1815—1890. Vol. i. {Cambridge,
University Press.) — Wolfsgruber, Friedrich Kardinal Schwarzen-
berg. 2. Bd. Pragerzeit. (Wien, Mayer & Comp. 10 M.) — Char-
matz, Minister (Karl Ludwig) Freiherr v. Brück, Der Vorkämpfer
Mitteleuropas, (Leipzig, Hirzel. 5 M.) — Kohut, Kaiser Franz Josef L
als König von Ungarn. (Berlin, Schwetschke & Sohn. 5 M.) — Mc
Laren, A political history of Japan during the Meiji era 1867 — igi2.
'{London, Allen & Unwin.)
Neueste Geschichte seit 1S71.
Eine Anzahl bemerkenswerter biographischer Skizzen und Mate-
rialsammlungen, die großen Heer- und Flottenführern Deutschlands
und Österreich-Ungarns gewidmet sind, verdienen auch an dieser
Stelle eine kurze Erwähnung. Paul v, Hindenburg hat in seinem
Bruder B, v. Hindenburg 1915 einen verständnisvollen Biographen
gefunden, General Ludendorff wird von O, Krack (1915), Mackensen
von O, Kolshorn (1916), Emmich von W, Georg (1915) behandelt.
Mit Hilfe ergiebiger Familienpapiere, besonders mit Hilfe von Reise-
briefen, die bis 1884 zurückreichen, ist es H. Kirchhoff gelungen,
dem Grafen M. v. Spee und seinen Söhnen ein umfängliches, aber
schlichtes Denkmal zu errichten (1915, 351 S,),
Besonders gehaltvoll sind Frhr. L, v. Pastors Arbeiten über
Hötzendorf und Dankl (1916), Sie sind ausgezeichnet durch eindring-
liche Verwertung wichtigen authentischen Materials, z. B, Dankischer
Feldpostbriefe, und werfen auch auf die Entwicklung der politischen
Stimmungen in Österreich-Ungarn vor dem Kriege und während des
Krieges interessantes Licht,
Neueste Geschichte seit 1871. 365
„Deutschland. Tatsachen und Ziffern. Eine statistische Herz-
stärkung" nennt sich eine kleine wirkungsvolle Schrift von D. Trietsch
{München, J. F. Lehmann, 1916), die einen elementaren statistischen
Vergleich zwischen Deutschland, Frankreich und England anstellt. Da
aber durchweg nur der europäische Standpunkt eingenommen wird,
so liegt die Gefahr einer allzu optimistischen Verwertung auch durch
Historiker nahe.
JV^. J. Neudeggers formlose Notizensammlung „Zum Weltkrieg
1914 — 16" (München, Ackermann, 1916) bleibt zu sehr an der Ober-
"fläche, als daß sie ein tieferes geschichtliches Verständnis der neuesten
Geschichte und der Vorgeschichte des Krieges zu fördern vermöchte.
Ähnliches wäre von L. Th. List (Deutschland und Mittel-Europa.
Grundzüge und Lehren unserer Politik seit Errichtung des Deutschen
Reiches, 1916) zu sagen. Mehr Beachtung verdient der Beitrag zur
Vorgeschichte des Krieges aus der Feder des deutschfreundlichen Fran-
zosen J. Bertourieux {La Viriti, 4. Aufl., 1916, auch deutsche Über-
setzung).
A. de Bassompierre, La nuit du 2 au 3 aoüt 1914 au MinisUre
des Affaires Etrangtres de Belgique (Paris, Perrin, 1916. 47 S.) ist
als Beamter des belgischen Auswärtigen Amtes befähigt, Ergänzungen
zu den beiden belgischen Graubüchern in Form von kurzen Denk-
würdigkeiten zu bieten. Eine freundliche Beurteilung des deutschen
Ultimatums vom 2. August scheint darnach auch innerhalb des bel-
gischen Gesamtministeriums nirgends hervorgetreten zu sein. Zur
Frage der verschiedenen Fassung des Ultimatums in den amtlichen
deutschen und belgischen Veröffentlichungen verweist Bassompierre
auf F. Passe lecq, Le second Livre Blanc allemand. Essai critique
et notes sur l'altiration officielle des documents beiges. Bassompierres
mit manch überflüssiger Reflexion durchsetzte Ausführungen sind
natürlich mit Vorsicht aufzunehmen, auch soweit sie das Verhalten
des deutschen Gesandten v. Below-Saleske betreffen.
Zur kritischen Ergänzung von F. Fleiners „ Staatsauf fassung
der Franzosen" (Hist. Zeitschr. 115, 436 f.) dienen die weniger ab-
strakt gehaltenen, gleichfalls geschichtlich interessierten und für die
Zeit nach 1871 ergiebigen Ausführungen von J. Hengesbach, Frank-
reich in seinem Staats- und Gesellschaftsleben (Tat-Flugschriften
8, 1915). Auch M. Nordaus Französische Staatsmänner (1916) und
G. B6ret, de Gambetta ä Briand (Paris, Oudin, 1914, vor dem Kriege
erschienen. 461 S.) sind für die in Deutschland arg vernachlässigte
Geschichte der Dritten Republik heranzuziehen.
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 24
366 Notizen und Nachrichten.
Über den Titel „Frankreichs finanzielle Oligarchie" hinausgehend^
Hefert M. Uebelhör (Der Deutsche Krieg 66, 1915) einen wichtigen
Beitrag zur Vorgeschichte des Krieges und des Eintritts Frankreichs
in den Krieg, dem man Sachkunde und lebendige Darstellung nach-
rühmen muß. Auch zur Charakteristik der geistigen Strömungen in
den letzten Jahren vor dem Kriege, beispielsweise des Neoimperialis-
mus und des in Deutschland auch sonst gut analysierten Esprit Nou-
veau findet sich hier manches Beachtenswerte. Der Verfasser hält
sich an greifbare Tatsachen und ist aller „Romantik" abgeneigt, was
man von der zu günstig gefärbten historisch-psychologischen Skizze
von K. Nötzel (Der deutsche und der französische Geist, 1916) nicht
behaupten kann. Nüchterner hatte vor dem Kriege E. Bernhard
im Logos 3 (1912) „die Struktur des französischen Geistes" behandelt.
Wenn diese Darlegungen, soweit sie geschichtlich sind, auch weit vor
1871 zurückgreifen und mit Recht das 18. Jahrhundert in den Mit-
telpunkt rücken, so bieten sie doch auch für die Zeit nach 187L
ideengeschichtliche Gesichtspunkte.
Mit Recht hat sich in Deutschland das auch durch R. Schmidt
(Zeitschrift für Politik 8, 1914) angeregte Interesse der kurz vor dem
Kriege über Frankreich hereingebrochenen Finanzkrise auch sonst
zugewandt. Zu nennen sind M. Ritzenthalers das Thema in brei-
terem geistesgeschichtlichen Rahmen anfassender Aufsatz in der Zeit-
schrift für Politik 9, 1915 (in dem man übrigens einen Hinweis auf
Uebelhör vermißt) und P. Arndts und Seidels allgemeiner gehaltene
Artikel in den Zeitschriften „Deutsche Politik" (1916, I) und „Das
Größere Deutschland" (1915, I; 1916, I).
Seine wertvollen Beiträge zur französischen Parteigeschichte setzt
H. Lagardelle in der Zeitschrift für Politik 8, 1914 fort. Ein neu-
traler Anonymus verbreitet sich über „den Zusammenbruch der fran-
zösischen Linken" (Deutsche Politik 1916, II) und das Anwachsen des
Royalismus in Frankreich während des Krieges, dürfte jedoch mit
seinen allzu bestimmten Angaben Zweifel erwecken.
Mit den letzten französischen Kammerwahlen beschäftigen sich
eine lange Reihe geschichtlich wichtiger Zeitschriftenaufsätze, so u. a.
F. Faure, La fin de la legislature et les äedions prochaines {Revue
politique et parlementaire 80, 1914), G. La Chapelle, Les äedions
generales et la nouvelle chambre {Revue des Deux Mondes 84, VI 21,
1914), W. Hasbach, Die französischen Abgeordnetenwahlen . . . und
der Krieg (Nord und Süd 152, 1915).
Aus der historisch-kritischen Literatur seien hervorgehoben:
N. Jacques, London und Paris im Kriege (1915), A. Lien, Das
Märchen von der französischen Kultur, und Nostradamus, Die
Neueste Geschichte seit 1871. 367
Franzosen wie sie sind (1916), ferner die Frankreichhefte der Süd-
deutschen Monatshefte (1915/6). Weit reicher und giftiger ist die
französische Literatur zur Geschichte des Deutschen Reiches während
des Krieges emporgewachsen. Ein Beispiel für zahllose andere ist
<j. Cl^menceau, La France devant VAllemagne, 1916.
Namhafte französische Autoren widmen sich bereits der ge-
schichtlich-volkswirtschaftlichen Vorbereitung der Wiedervereinigung
des linken Rheinufers mit Frankreich, so Männer wie Y. Guyot,
La Province RMnane et la Westphalie. Etüde iconomique. (Paris,
Attinger, 1915. 142 S.) und E. Driault, La ripublique et le Rhin
(Paris, Tenin, 1916. 160 S.) u. a.
G. Franz' gutgemeinte Broschüre „Der Erbfeind im Lichte der
Geschichte und Gegenwart" (1915) ist geschichtlich unbedeutend.
Die französische Revancheliteratur wird von H. Heiß treffend
beleuchtet (Internationale Monatschrift 9, 1915). Sehr dankenswert
ist auch die eingehende Bonner Dissertation von L. Teven, Der
Deutsche im französischen Roman seit 1870 (1915).
Weitere einschlägige französische Literatur ist von J. Has-
hagen im Kunstwart 28, 1915 und in der Deutschen Revue 41, 1916,
sowie von M. Schwann in der Deutschen Rundschau 42, 1916 be-
sprochen worden. Auch andere deutsche Zeitschriften, wie die Grenz-
boten (1915), enthalten manche Bereicherung. Das neueste Buch des
schwedischen Sozialisten G. F. Steffen, Dernokratie und Weltkrieg,
1916, beschäftigt sich ebenfalls eingehend mit Frankreich. Leider
arten die Veröffentlichungen dieses allzu fruchtbaren Publizisten immer
mehr in formlose, wenn auch kritische (deutschfreundliche) Material-
sammlungen aus. . J. Hashas,en.
Paul Li man. Der Kronprinz; Gedanken über Deutschlands Zu-
kunft. (Minden, Verlag von Wilhelm Köhler, o. J. (1915). 8». 299 S.
3,60 M.) — Der im Jahre 1916 verstorbene Berliner Verfasser, ein
besonders als Bismarckforscher bekannt gewordener Gelehrter, will
hier ein Seitenstück darbieten zu K. Lamprechts bekannter „Bildnis-
studie" über Kaiser Wilhelm II. Ist, wie die Einleitung ergibt, das
Manuskript durch Liman im Frühjahr 1914 fertiggestellt, zu einer
Zeit noch, in der mit dem Verfasser den wenigsten eine Ahnung von
dem beiwohnen mochte, wie in kürzester Zeit Deutschlands Staats-
wesen und Politik den denkbar schwersten Prüfungen ausgesetzt sein
würde, so ist vieles mit Scharfsinn, etliches mit geradezu propheti-
schem Geist geschrieben, z. B. S. 91 die Reflexion, daß mit einem an
Kraft und Willen wachsenden Geschlecht auch die Erkenntnis wieder
erwachen wird, daß ein Volk zu gewissen Zeiten, um nicht zu er-
matten, auch einer stärkenden Eisenkur bedarf. — Ohne über Einzel-
24*
a68
Notizen und Nachrichten.
heiten rechten zu wollen, kann anerkannt werden, daß das Buch zur
Abwehr eines sinnlos verflachenden Pessimismus, wie er vor dem
Krieg vielfach anzutreffen war, wertvolle Dienste zu tun vermochte.
Der Wunsch, der deutschen Nation positiv wertvolle Dienste durch
Erörterung der wichtigsten, besonders in geistiger Beziehung obschwe-
benden Tagesfragen zu leisten, ist der Grundgedanke, der das Ganze
in konsequent durchgeführter Weise durchzieht. Byzantinismus tritt
nirgends hervor. Die Ausstattung ist eine gute.
Königsberg i. Pr. Gustav Sommerfeldt.
Neue Bücher: Michael JV\ayr, Der italienische Irredentismus.
(Innsbruck, Verlagsanstalt „Tyrolia". 3,40 JVl.) — Lanessan, Hi-
stoire de Ventente cordiale franco-anglaise. (Paris, Alcan.) — Janco-
vici, La crise balkanique {1912 — J913). (Paris, Larose.) — PauL
Louis, La guerre d'Orient et la crise europeenne. (Paris, Alcan.) —
Der große Krieg als Erlebnis und Erfahrung, hrsg. von Ernst Jäckh.
1. Bd. (Gotha, Perthes. 10 M.) — Floerke, Deutsch-amerikanische
Randglossen zum Weltkriege. (München, Georg Müller. 3 M.) —
Wheeler, The story of Lord Kitchener. 2. impr. (London, Harrap.}
I
Deutsche Landschaften.
Cornelius Bergmann, Die Täuferbewegung im Kanton Zürich
bis 1660. Quellen und Abhandlungen zur Schweizerischen Reforma-
tionsgeschichte II. Leipzig 1916. Anders als in Deutschland hat in
der Schweiz und ähnlich auch in Holland die Wiedertäuferbewegung
die Zeit der Reformation überdauert und ist erst in der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts unterdrückt worden. Nach Bergmann ist dies
darin begründet, daß die Täufer in jenen beiden reformierten Landen
das Schwärmertum, die staatsgefährlichen Machtgelüste zwar ursprüng-
lich auch betätigt, aber dann in sich überwunden und sich auf rein
religiösem Gebiet gehalten haben. Daß es sich in Holland und in
der Schweiz nicht bloß um Analogien handelt, sondern um eine trotz,
der weiten Entfernung deutlich empfundene geistige Gemeinschaft,
zeigen die wiederholten Versuche, die man von Holland aus anstellte,
um die Täufer in der Schweiz vor der Verfolgung zu schützen, ihnen
vor allem das geraubte Hab und Gut wieder zu verschaffen. Der Ge-
schichte dieser Täuferverfolgung, der Auseinandersetzung des Züricher
Staats und der Züricher Kirche mit der Sekte ist Bergmanns Darstel-
lung vor allem gewidmet; nur in diesem Zusammenhang erfahren wir
auch etwas über ihre Lehre und ihre geistige Entwicklung, die eigent-
liche „Täuferbewegung". Dieser Mangel ist natürlich aus der Beschaffen-
heit der Quellen zu erklären: Die Staats- und Kirchenakten, die Berg-
piann gründlich durchgearbeitet hat, behandeln die Bewegung ganz
Deutsche Landschaften. 369
vorwiegend vom strafrechtlichen und disziplinarischen Standpunkt aus.
Den Versuch, sich von den Quellen zu lösen und die nicht unmittel-
bar ersichtlichen Zusammenhänge zu rekonstruieren, hat Bergmann
nicht gemacht, und m^cher spätere Benutzer mag es ihm auch danken,
daß er das Material chronologisch aneinanderreiht und zu weiterer
Verarbeitung die Möglichkeit bietet, die stark beschränkt wäre, wenn
er selbst den Stoff in höherem Maß systematisch durchdrungen hätte.
Ungemein fesselnde Probleme werden ja hier berührt! Der der Wissen-
schaft viel zu früh entrissene Walter Sohm hat noch jüngst an der
Geschichte der Wiedertäufer in Hessen jene eigentümliche Antinomie
von Gewissensfreiheit und Intoleranz gezeichnet, die den Territorien
der Reformation eigen ist. Ähnliches dürfte auch in Zürich zu beob-
achten sein, wo der leitende Geistliche es ablehnt, sich die „Beherrschung
der Gewissen" anzumaßen und doch sehr energisch für die Vereinheit-
lichung seiner Kirche sorgt. In gleicher Richtung wirken die Not-
wendigkeiten der Staatsbildung: ein Volk — so wird den Holländern
entgegengehalten — , das nicht mit geworbenen Truppen, sondern aus
eigener Kraft Krieg führt, kann eine Glaubensgemeinschaft, die den
Waffendienst verweigert, nicht dulden. Deshalb nimmt auch die
weltliche Macht schließlich den Geistlichen das Heft aus der Hand in
dem Kampf mit der Sekte und gibt ihr den letzten Rest.
Eduard Wilhelm Mayer.
Die Dissertation von Carl Speidel: Beiträge zur Geschichte des
Zürichgaus bespricht Paul Blumer unter demselben Titel auf Grund
eigener Untersuchungen in sachlich fördernder Weise in dem An-
zeiger für Schweizerische Geschichte, N. F. 14, 3.
Rechte und Einkünfte des Bistums Sitten im Anfange des 16. Jahr-
hunderts untersucht D. Imesch in der Zeitschrift für Schweizerische
Kirchengeschichte.
Wieder eine neue, recht bedenkliche Erklärung des Namens
Elsaß versucht W. Schoof in den Deutschen Geschichtsblättern 17
<1916), 6. Heft. Er will in „Elsaß" „eine Zusammensatzung zweier
uralter Gemarkungsnamen" Almend und siaza sehen, die bedeute
„gemeinschaftlichen Besitz an Wald und Weide".
Die von der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte
herausgegebenen Darstellungen aus der württembergischen Geschichte
bringen zu der früher erschienenen Arbeit von Hohenstatt über die
Entwicklung des Territoriums der Reichsstadt Ulm nun zwei weitere
Arbeiten aus dem Gebiet der historischen Geographie: Bd. 12, Das
Gebiet der Reichsabtei Ellwangen von Dr. Otto Hutter, und Bd. 15,
Die Entwicklung des Territoriums der Grafen von Hohenberg 1170
bis 1482 von Dr. Karl Joseph Hagen (Stuttgart, W. Kohlhammer
24**
370 Notizen und Nachrichten
.1914). In beiden Arbeiten werden nicht nur der Grund und Boden,
sondern auch die Rechte und Einkünfte behandelt, wie dies in dem
Begriff des mittelalterlichen Territoriums liegt. Der Besitzstand EU-
wangens ist untersucht bis zu der 1460 erfolgten Umwandlung der
Abtei in ein Chorherrnstift, der der Grafschaft Hohenberg bis zu
ihrem Übergang in die Hände Österreichs. — Gustav Mehring schil-
dert im 13., „Badenfahrt" benannten Band der Darstellungen die
Geschichte der württembergischen IVlineralbäder vom Mittelalter bis
zum Beginn des 19. Jahrhunderts fast durchweg nach ungedruckten
und noch unbenutzten Quellen. K. W.
Eugen Schneider weist im Schwäbischen iVlerkur 1916 Nr. 555
den von Treitschke (Deutsche Geschichte I S. 226) und anderen gegen
König Friedrich von Württemberg erhobenen Vorwurf, daß er poli-
tisch unzuverlässig gewesen sei und nach dem Übertritt zu den Ver-
bündeten verräterischen Verkehr mit Napoleon gepflogen habe, über-
zeugend zurück.
Eine sehr wertvolle Gabe zum Regierungsjubiläum König Wil-
helms II. von Württemberg, die der Historiker freudig begrüßen wird,
stellt die Publikation des Kgl. Haus- und Staatsarchivs in Stuttgart
dar: Urkunden und Akten des Kgl. Württ. Haus- und Staatsarchivs.
Zunächst sollen württembergische Regesten von 1301 — 1500 erscheinen,
die in zwei Abteilungen, Alt- und Neuwürttemberg, zerfallen. Bisher
liegt der erste Teil der altwürttembergischen Regesten vor. Er ist
von Gebhard Mehring besorgt und enthält die Rubriken Hausarchiv
und Kanzlei.
Den dritten Band seines Urkundenbuches der Stadt Heilbronn,
der die Jahre von 1501 — 1524 umfaßt, legt Moritz von Rauch vor
(Württembergische Geschichtsquellen, Bd. 19. Stuttgart, W. Kohl-
hammer, 1916. 782 S.)
Der 10. Ergänzungsband der Mitteilungen des Instituts für öster-
reichische Geschichtsforschung bringt in seinem 1. Heft aus dem Nach-
laß von S. Herzberg-Fränkel das umfangreiche Fragment einer
wertvollen „Wirtschaftsgeschichte des Stiftes Niederaltalch", das als
Anfang eines selbständigen Buches gedacht war. Der 1. Teil, der ein-
gehend die geschichtliche Entwicklung bis zum Anfang des 14. Jahr-
hunderts schildert und in mancher Beziehung mehr bietet als der
Titel unbedingt erwarten läßt (bemerkenswert z. B. die Charakteristik
des Abts Hermann des Geschichtschreibers, S. 162 ff.), ist vollständig
ausgearbeitet; von dem 2. Teil, der die Verwaltung und den Wirt-
schaftsbetrieb auf dem, wie in der Regel bei einer geistlichen Grund-
herrschaft, weitgedehnten Streubesitz von der Regensburger Gegend
Deutsche Landschaften. 371
bis unweit der ungarischen Grenze im 13. Jahrhundert darstellen
wollte, liegt leider nur ein Bruchstück vor,
Beiträge zur Geschichte des mittelalterlichen Donauhandels
liefert A. R. v. Loehr in dem Oberbayerischen Archiv für vater-
ländische Geschichte 60, 2, Er behandelt zunächst die Schiffahrt im
Donaugebiet bis zum Ende des 14. Jahrhunderts, sodann die Donau-
zölle vor dem Jahre 1350, Dasselbe Heft bringt den Abschluß der
sehr ins einzelne gehenden Biographie des Grafen Karl August v. Rei-
sach durch O, Rieder,
Das von Alfred Schröder herausgegebene Register zur Matrikel
der Universität Dillingen findet seinen Abschluß im Archiv für die
Oeschichte des Hochstifts Augsburg, 3, 2, Aus dem 5. Bande der-
selben Zeitschrift seien erwähnt: P, Bernhardin LinsO, F, M,: Ge-
schichte der Wallfahrt und des Franziskanerklosters Lechfeld, Jul.
Mi edel: Augsburgs Namen im Verlauf seiner Geschichte, und die
Würdigung des Vaters des Humanisten Nikolaus Eilenbog, des Arztes
Ulrich Eilenbog durch Friedrich Zoepfl.
Aus Anlaß der 200, Wiederkehr des Todestages von Leibniz
schildert Jos, Weiß im Bayerland 28, 7/8 dessen Beziehungen zu
Bayern und den Witteisbachern, In den Historisch-politischen Blät-
tern 158, 10 gibt derselbe Verfasser einen Überblick über die Stel-
lung Leibniz' zur polnischen Frage,
Das Schema detaillierter Fragen, welches das bayerische Ober-
konsistorium im Jahre 1807 und dann noch einmal 1810 allen evan-
gelischen Pfarrämtern des Königreichs zustellte, um sich auf Grund
der Beantwortungen ein genaues Bild von der Lage der evangelischen
Kirche schaffen zu können, druckt K. Schornbaum in den Bei-
trägen zur bayerischen Kirchengeschichte 23, 1 ab (Aus der ersten
Zeit der bayerischen Landeskirche).
K. H. Schäfer, Kirchen und Christentum in dem spätrömi-
schen und frühmittelalterlichen Köln, in den Annalen des Histori-
schen Vereins für den Niederrhein, 98. Heft, S, 29 — 131, sucht die
älteste kirchliche Geschichte Kölns und zum guten Teil der Rhein-
lande überhaupt in ein wesentlich neues Licht zu rücken. In anregen-
der Kritik gibt er Gesichtspunkte und Material zur Ergänzung und
Berichtigung namentlich der grundlegenden Arbeit von Keußen über
die Kölner Topographie; den weitaus größten Teil der älteren Kölner
Kirchen weist er der römischen, zum Teil noch der vorkonstantini-
schen, und der merowingischen Zeit zu. Doch führen seine Gründe
xecht oft nicht über Möglichkeiten, die er zu rasch als wahrscheinliche
oder erwiesene Tatsachen annimmt, hinaus. Starke Übertreibungen
und manche Gewaltsamkeiten beeinträchtigen die Wirkung seiner
372 Notizen und Nachrichten.
meist lehrreichen Ausführungen, deren Tendenz, römische Grundlagen
der frühmittelalterlichen Verhältnisse zu stärkerer Geltung zu bringen
und einer allzu geringen Bewertung des rheinländischen Christentums
bis auf Konstantin entgegenzuwirken, an sich Beachtung verdient.
Aus der Umbildung lateinischer Bezeichnungen im Volksmunde kann
nicht auf römischen Ursprung der Kirchen geschlossen werden. Frucht-
bar ist der Hinweis auf das in den Kirchenpatrozinien vorliegende
Material, dessen quellenmäßige Durcharbeitung für größere Gebiete
wirklich dringend erwünscht ist, Schäfers Bemerkungen über das
Aposteln-Patrozinium dürfen dabei freilich methodisch nicht als Muster
dienen. Nur genaue, in jedem einzelnen Falle selbständig an der
Hand der letzten Quellen geprüfte Tatsachen, nicht hier und da aus
der Literatur zusammengeraffte Notizen können hier zu brauchbaren
Ergebnissen fühlen. — Eine ältere Hypothese Schäfers, daß Köln
ursprünglich eine „Doppelkathedrale" besessen habe, weist J. Dorn,.
Der älteste Kölner Dom, in derselben Zeitschrift S. 137—154, als nicht
genügend begründet nach. A. H.
Bernhard Duhr S. J. beginnt in den Historisch-politischen Blät-
tern 158, 9 eine Darstellung der Wirksamkeit der Jesuiten am Neu-
burger-Düsseldorfer Fürstenhofe während der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts. Bisher liegen zwei Fortsetzungen vor.
In den Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 99
behandelt Theodor Paas die Schicksale der Prämonstratenserabtet
Steinfeld vom Beginn des 15. Jahrhunderts bis zu ihrer infolge der
Säkularisation im Jahre 1802 erfolgenden Aufhebung. Joseph Greven
veröffentlicht kleinere Studien zu Caesarius von Heisterbach.
In den Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde
von Osnabrück Bd. 39 schildert H. de Ha Valla „Die Benediktine-
rinnenklöster des Bistums Osnabrück", Gertrudenberg, dessen An-
fänge bis in die Zeit Bischof Bennos II. (f 1088) zurückreichen, ösede,
das Hauskloster der Edelherren von ösede seit 1170, und Malgarten^
um 1175 von Grafen Simon von Tecklenburg gestiftet, nach der ver-
fassungs-, wirtschafts- und ständegeschichtlichen Seite. Bemerkt seien
die Ausführungen über Doppelklöster — diese 3 waren keine solchen;,
die fratres sind conversi = dienende Laienbrüder — und Beziehungen
Bischof Bennos II. zu den deutschen Kluniazensern.
Besonders für die Literaturgeschichte von Wert ist die Ver-
öffentlichung der Mitgliederliste eines Vorläufers des Hainbundes, der
Deutschen Gesellschaft zu Göttingen aus den Jahren 1738 bis 1755-
durch Wolfram Suchier in der Zeitschrift des Historischen Vereins,
für Niedersachsen 81, Heft 1/2.
Deutsche Landschaften. 37^
Eine wertvolle Gabe hat der Hansische Geschichtsverein seinen
Mitgliedern im Pfingstblatt XI 1915 geboten: eine kurze, sehr les-
bare Geschichte der deutschen Hanse von Walther Vogel. In fünf
Kapiteln meistert er den umfassenden Stoff: geographische und wirt-
schaftliche Grundlagen, die Entstehung der Hanse, Handel und Schiff-
fahrt in ihrer Blütezeit, den Kampf gegen neue Handelsmächte und
den Untergang der Hanse, Was letzteren angeht, so führt er aus, da&
der Niedergang der Hanse als politischer Einrichtung nicht ohne wei-
teres den Niedergang des Handels der Hansestädte nach sich zog.
Allerdings fielen mit dem gemeinsamen Rechtsbesitz auch die gemein-
samen Interessen, und es blieb zuletzt nur noch ein gewöhnliches
Städtebündnis. n.
Codex diplomaticus Silesiae. Bd. 28: Die Inventare der nicht-
staatlichen Archive Schlesiens. II. Kreis und Stadt Glogau. Heraus-
gegeben von Konrad Wutke, Breslau 1915. — Der 28, Band des
Codex diplomaticus Silesiae enthält die Inventare der nichtstaatlichen
Archive des Kreises und der Stadt Glogau und ist bearbeitet von
Konrad Wutke, der als langjähriger Archivbeamter und erprobter
Kenner der schlesischen Geschichte wie kein anderer für diese Aufgabe
geeignet war. Von den in alphabetischer Anordnung aufgeführten
Archiven enthält nur das Stadtarchiv von Glogau quantitativ und
qualitativ beachtenswerte Bestände. Das Urkundenverzeichnis um-
faßt aus der Zeit von 1253 — 1732 1372 Stücke, von denen eine größere
Anzahl bislang unbekannt und unveröffentlicht war. Wutke hat sich,^
abweichend von der sonst vielfach für Archivinventare geübten Praxis,^
nicht mit einer kurzen Aufzählung der Urkunden begnügt, sondern
er gibt ausführliche Regesten mit allen vorkommenden Orts- und Per-
sonennamen; ferner ist die gesamte gedruckte und ungedruckte Über-
lieferung der Urkunden herangezogen und kritisch verarbeitet, so daß
das Inventar nicht nur einen zuverlässigen Führer durch die Urkunden-
schätze, sondern auch ein wissenschaftlich brauchbares Quellen- und
Nachschlagewerk für die Geschichte der Stadt Glogau darstellt. Dem
Urkundeninventar folgt ein Verzeichnis der Akten mit gegen 2000
Nummern. Die ältesten Bestände des Aktenarchivs reichen bis in das
16, Jahrhundert zurück. Eine sachliche Ordnung wäre erwünscht ge-
wesen; sie ist jedoch nicht vorgenommen, vielmehr sind die Faszikeln
mit Akten über die verschiedenartigsten Gegenstände, wie sie in dem
in Unordnung geratenen Stadtarchiv lagern, im bunten Durcheinander
mit kurzer Inhaltsangabe angeführt. Ein ausführliches und sorgfältig
gearbeitetes Register hilft jedoch einigermaßen über die Schwierigkeit
der Benutzung hinweg.
Breslau. Manfred Stimming.
374 Notizen und Nachrichten.
Als 20. Band der Darstellungen und Quellen zur schlesischen
Geschichte ist eine umfangreiche Arbeit von Johannes Ziekursch
erschienen : Hundert Jahre schlesischer Agrargeschichte. Vom Hubertus-
burger Frieden bis zum Abschluß der Bauernbefreiung. Eine ausführ-
liche Besprechung behalten wir uns vor, zunächst sei nur kurz auf
dieses Werk hingewiesen.
Die Entwicklung der ersten Posener Wollmärkte, die durch den
Oberpräsidenten Flottwell bei seinen Bemühungen zur wirtschaftlichen
Hebung der Provinz ins Leben gerufen worden sind, untersucht Man-
fred Laubert in den Historischen Monatsblättern für die Provinz
Posen 17, Oktober-Novemberheft. J. Kostrzewski stellt hier die
im Jahre 1915 erschienene polnische Literatur aus dem Gebiet der
Posener Provinzialgeschichte zusammen.
Im jüngsten Heft der Sitzungsberichte der kgl, böhmischen
Gesellschaft der Wissenschaften (Jahrgang 1915) bringt F. Bar tos
unter dem Titel NemecMho Husity Petra Turnova spis o rädech a zvy-
clch cirkve vychodn'i (Des deutschen Hussiten Peter Turnow Schrift
von den Einrichtungen und Gewohnheiten der morgenländischen
Kirche = mores et ritus Grecorum) zum Abdruck. In einer lesens-
werten Einleitung handelt der Herausgeber nicht bloß über die Schick-
sale des Peter Turnow (er stammte aus dem preußischen Städtchen
Tolkemit bei Elbing und hatte in Prag studiert), sondern auch über
die in der Hauptsache auf Wiclif zurückzuführenden Beziehungen der
hussitischen Theologie zur griechisch-morgenländischen Kirche, die
Turnow auf seiner Reise nach Griechenland kennen gelernt hatte
{ritüs Grecorum conscripti per Petrum Prutenum qui eos ad oculos sie
fieri conspexit). Turnows Schrift handelt außer von den Sakramenten
von folgenden Gegenständen: De occisione, tractatuum descripciones,
4e sculptilibus, de ieiunio und de hello. In der Einleitung finden sich
einige belangreiche Angaben über die hussitische Propaganda in deut-
schen Ländern und einzelne sympathische Äußerungen in hussitischen
Traktaten über die griechische Kirche, wozu schon Wiclif das Bei-
spiel gegeben hatte.
Graz. J. Loserth.
Neue Bücher: Eggenschwiler, Die territoriale Entwicklung des
Kantons Solothurn. (Solothurn, Buchdr. Gaßmann. 3,60 M.) —
Escher (f) und Schweizer, Urkundenbuch der Stadt und Land-
schaft Zürich. 10. Bd. 1319—1325. (2. Hälfte.) (Zürich, Beer <S Co.
9,25 M.) — Doeberl, Entwickelungsgeschichte Bayerns. 1. Bd. 3. ver-
mehrte und verbesserte Auflage. (München, Oldenbourg. 16 M.) —
Weller, Württembergische Geschichte. 2., neubearbeitete Auflage.
<Berlin, Göschen. 1 M.) — Wilh. Müller, Verzeichnis hess. Weis-
Vermischtes. 375
tümer. (Darmstadt, Histor. Verein f. d. Großh. Hessen. 2 M.) —
Alb. Becker, Die Wiedererstehung der Pfalz. (Kaiserslautern, Kayser.
2,40 M.) — Kley, Geschichte und Verfassung d. Aachener Wollen-
ambachts wie überhaupt der Tuchindustrie der Reichsstadt Aachen.
(Köln, Kratz & Cie. 3,50 M.) — Barlage, Die Lebensmittelpolitik
der Stadt Duisburg bis zum Verlust der städtischen Selbstverwaltung.
1. Teil. (Münster, Coppenrath. 3,50 M.) — Frdr. Voigt, Der Haus-
halt der Stadt Hamburg 1601—1650. (Hamburg, Gräfe & Sillem.
6 M.)
Vermischtes.
Von der Samson-Stiftung bei der Kgl. bayer. Akademie
der Wissenschaften sind im Jahre 1916 zwei Preisaufgaben
ausgeschrieben worden. Die erste wünscht eine Behandlung des The-
mas „Die Ehe im alten Griechenland", wobei die nach Land-
schaften und Zeiten stark variierende rechtliche, religiöse und sitt-
liche Auffassung in ihren verschiedenen Typen herausgearbeitet wer-
den soll. Die hellenistischen, insbesondere alexandrinisch-ägyptischen
Verhältnisse sollen dabei noch nicht berücksichtigt werden. Als Preis
für eine in jeder Hinsicht genügende Lösung sind 4000 Mark und die
Veröffentlichung der Arbeit auf Kosten der Stiftung ausgesetzt. Der
letzte Termin der Einlieferung ist der 31. Dezember 1920. — Das
Thema der zweiten Aufgabe lautet „Die ethischen Gefühle und
Vorstellungen bei den europäischen Völkern während des
Weltkrieges". Es soll sich darum handeln, die noch frischen Be-
obachtungen, die auf dem Gebiete der Massenpsychologie und der
Ethik während des Krieges gemacht sind, zu sammeln, zu beschreiben
und zu analysieren. Dabei werden sogleich eine Reihe von Einzel-
fragen, die zu bearbeiten sein werden, hervorgehoben, wie etwa die
folgenden: Welche Mittel haben die kriegführenden Völker zum Be-
kämpfen ihrer Feinde für erlaubt erachtet? Wie verhielten sich die
Neutralen bei ihrer Beurteilung von Kriegführenden? Inwieweit
glaubten die einen oder anderen, unter dem Deckmantel der Neutra-
lität Kriegführende unterstützen zu dürfen? (Fragen, bei denen uns
allerdings die Beschränkung auf die „europäischen" Völker zu enge
erscheint.) Für die Beschaffung eines möglichst breiten Quellenmate-
rials wird auf den Umstand hingewiesen, daß z. B. in München, Berlin,
Hamburg seit Beginn des Krieges alles derartige irgend erreichbare
Material in öffentlichen Sammlungen aufgespeichert wird. Der für
eine in jeder Hinsicht genügende Lösung ausgesetzte Preis beträgt
6000 Mark und die Veröffentlichung der Arbeit auf Kosten der Stif-
tung. Als spätester Termin der Einlieferung gilt der Ablauf des fünften
Jahres nach dem letzten Friedensschluß.
376 Notizen und Nachrichten.
Am 7. Juli 1916 ist Adolph Wohlwill (geb. in Seesen 10. Mai
1843) in Hamburg gestorben. Seit frühester Jugend hier ansässig,
hat er, nachdem er 1866 bei Waitz promoviert hatte, von 1867 bis
1906 in dieser seiner zweiten Vaterstadt in fast ununterbrochener Folge
geschichtliche und literarhistorische Vorträge gehalten, in der ersten
Zeit als Vertreter von Aegidi und im Anschluß an die Vorlesungen
des „Akademischen Gymnasiums", später als staatlich angestellter
Dozent für Geschichte. Neben dieser seine Kräfte stark in Anspruch
nehmenden Tätigkeit, die dem heutigen ausgedehnten Vorlesungs-
wesen Hamburgs die Bahnen wies, ist Wohlwill auch publizistisch sehr
rührig gewesen. Außer literarhistorischen Arbeiten, wie denen über
Schubart und Georg Kerner, sind zu nennen seine Schriften über
das Verhältnis Norddeutschlands zu Frankreich an der Schwelle des
18. zum 19. Jahrhundert, seine hansestädtischen Forschungen, die in
zahlreichen kleineren Aufsätzen niedergelegt sind und namentlich das
18. Jahrhundert behandeln, endlich aber eine größere Reihe von
Schriften über die Geschichte Hamburgs vorzüglich im 18. und 19. Jahr-
hundert. Letztere Forschungen hat Wohlwill zusammengefaßt in dem
Buche „Neuere Geschichte der Fr. u. Hansestadt Hamburg, insbeson-
dere von 1789 — 1815" (Gotha 1914), das allerdings tatsächlich weit
überwiegend eine Geschichte des genannten engeren Zeitabschnittes
ist. Als Schüler von Wattenbach und Waitz ist Wohlwill ein Ver-
treter strenger, kritischer Geschichtschreibung; alle seine Arbeiten
zeichnen sich durch sorgfältige Quellenforschung und umfassende
Archivstudien aus. Am wertvollsten ist seine Darlegung dort, wo
er sich bemüht, den Gang der Politik mit Geistesströmungen und
kulturellen Anschauungen in Verbindung zu bringen; dagegen ent-
behren seine biographischen Arbeiten, namentlich die über die ham-
burgischen Bürgermeister Kirchenpauer, Petersen, Versmann des
scharfen Urteils, des psychologischen JVloments, wie auch der Wärme
der Darstellung, die man in der Schilderung zeitgenössischer Lebens-
gänge ungern vermißt. In der Zeitschrift d. Vereins f. hamb. Ge-
schichte" Bd. 12 (1908) hat Wohlwill „Rückblicke auf meine Lern-
und Lehrjahre" veröffentlicht, die als Beitrag zur deutschen und ham-
burgischen Gelehrtengeschichte wertvoll sind. Bausch.
Perioden römisdier Kaisergeschichte.
Vortrag in der Historischen Gesellschaft zu Straßburg i. Eis.
gehalten von
Karl Johannes Neumann.
Wenn ich über Perioden römischer Kaisergeschichte hier
in Kürze handeln will, so liegt dem die Auffassung zugrunde,
daß historische Perioden etwas anderes und mehr bedeuten
als bloße Einschnitte und Abschnitte zu leichterer Über-
sicht des Lesers. Mir ist dabei nicht unbekannt, daß auch
die zweite Auffassung von namhaften Geschichtsforschern
vertreten wird. Ein so geistvoller Historiker wie Heinrich
Geizer äußert sich in diesem Sinne im Eingange seines Ab-
risses der byzantinischen Geschichte, die der zweiten Auf-
lage von Krumbachers Geschichte der byzantinischen
Literaturgeschichte von 1897 beigegeben wurde: „Alle
Periodisierungen und Begrenzungen im Verlaufe der Welt-
geschichte sind lediglich konventionell und darum völlig
willkürlich. Die Geschichte selbst, in der jedes Ereignis
mit den vorangehenden und den folgenden in einem ursäch-
lichen Zusammenhang steht, macht keinen Abschnitt; sie
ist ein fortlaufendes Kontinuum."
Dieser Auffassung Geizers gegenüber genügt es, an
Ein- und Abschnitte der Geschichte zu erinnern wie die
französische Revolution, den Sturz Napoleons I., den Krieg
von 1870 und die Begründung des neuen Reiches. Gewiß
stehen auch diese gewaltigen Ereignisse als Glieder in der
Kette von Ursache und Wirkung, aber es besteht eben ein
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 25
By
378 Karl Joh. Neumann,
Unterschied von großen und kleinen Ursachen und Wir-
kungen, von Umgestaltung und Umwälzung. Und auch
bei den langsamen allmählichen Umbildungen der Geschichte
fehlt es nicht an Paßhöhen und Wegescheiden. Die zeit-
liche Ordnung der Geschichte hat gewisse Ähnlichkeiten mit
der Sonderung im Räume. In der Geschichte entspricht
die Sonderung der Perioden in der Zeit der Länderscheidung
im Räume. Was sind Länder? Es sind gut individualisierte
Teile der Erde. Die größten räumlichen Individuen auf
der Erde sind die Erdteile, um deren Scheidung und Ab-
grenzung sich die Griechen bereits seit alter Zeit bemühten,
und auch der Abgrenzung der Länder haben die Griechen
zeitig ihre Aufmerksamkeit zugewandt. Herodot ging da-
bei zunächst von dem Volkstum aus und suchte Kilikien da,
wo Kiliken wohnten. Aber die beste Länderscheidung wird
in allererster Linie von den natürlichen Grenzen ausgehen
und die Berücksichtigung der Volks- und Staatsgrenzen damit
verbinden. Eine solche bewußte Länderscheidung bot unter
Kaiser Tiberius Strabon, in der Länderkunde ein Vorläufer
Alexanders v. Humboldt und Karl Ritters. Dem entsprechend
sind historische Perioden gut individualisierte Zeiträume des
geschichtlichen Lebens, die durch ihren Inhalt und Gehalt
zu einer Einheit verbunden sind und sich eben dadurch von
dem abheben, was ihnen vorausgeht oder folgt. Besonders
deutlich tritt die Einheit der Perioden in den historischen
Ideen zutage, die bestimmte Perioden erfüllen und beherr-
schen: historischen Ideen oder vielmehr Idealen, denn in den
historischen Ideen erscheint die Idee als Ideal, als Ziel
des Strebens. Ein solcher gut individualisierter Zeitraum
der Geschichte ist die wohlabgegrenzte Periode von 1815
bis 1870, die durch die Fragen der deutschen Einheit und
der verfassungsmäßigen Freiheit zusammengehalten und
abgegrenzt wird, eine Periode, die doch etwas ganz anderes
bedeutet als eine bloße Gliederung zu bequemer Übersicht.
Diese Ideen und Ideale, sie stecken in den Köpfen der Men-
schen, und sie liegen auch in der Luft. So empfanden und
wußten wir alle schon vor dem Kriege, daß wir in einer
neuen Periode mitten drin standen, die durch das Schlag-
wort Weltpolitik richtig charakterisiert wurde.
Perioden römischer Kaisergeschichte. 379
Bei der Scheidung der großen Weltperioden kann eine
Subjektivität der Auffassung dadurch hervorgerufen werden,
daß der BHck des einen sich den Keimen des Entstehenden
und Werdenden zuwendet, während der andere festhalten
möchte, was nicht ganz abgestorben und tot ist. Aber
auch diese Verschiedenheit der Betrachtung läßt sich da-
durch überwinden, daß man feststellt, bis zu welchem Zeit-
punkt das Alte noch das bestimmende ist und von wann
an es diesen seinen Einfluß dem Neuen hat abtreten müssen.
Zwar gibt es nach Heinrich Geizer kein keckeres Unternehmen
als die Grenze von Altertum und Mittelalter feststellen zu
wollen, aber Alfred v. Gutschmid hat wohl gewußt, daß
solche Keckheit vielmehr ein Wagemut ist, ohne den es
nicht abgeht. Und auch der Tübinger Kirchenhistoriker
Karl Müller hat geglaubt, es wohl verantworten zu können,
als er in den Spuren Gutschmids der Beantwortung dieser
Frage nachging; seit den Tagen Ferdinand Christian Baurs
ist weltgeschichtliche Betrachtung der Tübinger Wissen-
schaft nicht entschwunden. Wenn ich im wesentlichen
Anschluß an Gutschmid die Grenze zwischen Altertum und
Mittelalter für das Abendland mit dem Einbrüche der Lango-
barden und für den Osten mit Mohammed gegeben finde,
so kommt dabei die Rücksicht auf das die Zeiten bestimmende
und beherrschende zum Ausdruck. Von jenen Daten an
herrscht nicht mehr das Alte sondern das Neue.
Aber nicht über diese Grenze von Altertum und Mittel-
alter, nicht über Justin II. oder Heraklios II. will ich hier
reden, sondern über die ältere römische Kaiser-
geschichte. Freilich ist schon über deren Abgrenzung
keine Einheit mehr vorhanden, eher noch über ihren Anfang
als ihren Ausgang, denn daß sie mit Augustus einsetzt, ist
nicht strittig, fraglich ist nur, ob man Cäsar als Vorspiel
oder Widerspiel behandeln soll. Mommsen hätte seine
Kaisergeschichte da begonnen, wo der dritte Band seiner
römischen Geschichte aufhört, mit dem Jahre 46, mit Thapsus.
Und er hätte sie herabgeführt bis dahin, wo sein Staats-
recht aufhört, bis auf Diokletian exklusive. Gliedert man
die Weltgeschichte nach dem Staatsrecht, so wäre dieser
Einschnitt durchaus richtig, denn auf den Prinzipat des
25»
380 Karl Joh. Neumann,
Augustus folgte seit Diokletian die absolute Monarchie
des Dominates. Aber die weltgeschichtliche Betrachtung
kann nicht zugeben, daß diese Formen der Staatsverfassung
den Hauptinhalt der Zeiten ausmachen und die Perioden
der Weltgeschichte trennen; sie kann das um so weniger,
als die formell konstitutionelle Verfassung des Prinzipates
der Sache nach von Anfang an eine verkappte Herrschaft
des Prinzeps war. Historisch viel wichtiger als die Frage
von Prinzeps und Senat war damals der Kampf der großen
Religionen, die Entscheidung dieses Kampfes entschied
auch über die Weltgeschichte, und in diesem Kampfe steht
Diokletian noch auf der Seite des Alten, während Konstantin
die neue Religion zum Siege führt. Eine neue Weltperiode
beginnt noch nicht mit Diokletian, sondern erst mit Kon-
stantin, mit seiner Alleinherrschaft und dem Konzil von
Nicäa.
Wenn Ausgang und Endpunkt somit bestimmt sind,
so unserliegt die innere Gliederung dieses Zeitraumes er-
heblich größeren Schwierigkeiten. Hier wird der eigene
Versuch von der Auseinandersetzung mit der üblichen
Gliederung auszugehen haben.
Das erste Jahrhundert der Kaisergeschichte, die Zeit
der julisch-klaudischen Dynastie, bildet in der Tat eine Ein-
heit, es sind die drei Generationen, die das republikanische
Leben verlernen und vergessen und sich in dem Prinzipat
eingewöhnen und einleben. Der mit Neros Sturz verbundene
Versuch einer Erneuerung der Republik ist nicht mehr
wiederholt worden. Nach dem Vier- Kaiser- Jahr periodisiert
man herkömmlicher Weise mit der Dynastie der Flavier,
mit Vespasian, Titus und Domitian, 68 — 96, und dann mit
dem Ausgange der Antonine, mit Commodus, dem Sohne
Marc Aureis, der am letzten Dezember 192 getötet wurde.
Der Ausgang der Antonine ist ein sehr beliebter Einschnitt;
mit ihm schließt kein Geringerer als Ludwig Friedländer
seine Darstellung der Sittengeschichte der römischen Kaiser-
zeit. Größere Unsicherheit besteht rücksichtlich des 3. Jahr-
hunderts; hier hat man wohl mit dem Sturz der punisch-
syrischen Dynastie vom Jahre 235 oder aber auch mit
Decius, 249 — 251, einen Einschnitt machen wollen.
Perioden römischer Kaisergeschichte. 381
Der tiefste Denker, der bisher die Kaisergeschichte dar-
gestellt hat, ist Edward Gibbon. Wo läßt er den Nieder-
gang des Reiches beginnen? Mit Commodus. Mit seinem
Regierungsantritt, mit dem Jahre 180, setzt bei Gibbon
die Geschichtserzählung ein; einleitungsweise geben die
ersten drei Kapitel Gibbons eine Charakteristik des Zeit-
alters der Antonine und finden den glückseligen Zustand
der Römer noch unter Antoninus Pius und Marc Aurel;
allmählich sei er unsicher geworden. Dagegen glaubt Korne-
mann den Verfall mit Hadrian einsetzen zu sehen; er findet
ihn in dem Aufgeben der Offensive durch Hadrian. Unter
Trajan noch kräftige Vorstöße und erfolgreicher Angriff,
unter Hadrian der Verzicht.
Wie steht es nun mit der Begründung dieser Periodi-
sierung? Vom rein staatsrechtlichen Standpunkt aus be-
trachtet würde in der Tat Domitian eine Wende der Zeiten
bedeuten, sein Regiment bezeichnet einen Markstein in der
Entwicklung des Prinzipates, in der Stellung des Prinzeps
zum Senate. Domitian hat die Zensur dauernd mit dem
Prinzipat verbunden, und das bedeutet, daß der Prinzeps
die Zusammensetzung des Senates juristisch in seine Hand
bekommt. Dabei bleibt juristisch der Senat souverän,
aber der nicht souveräne Prinzeps hat die Zusammensetzung
der souveränen Körperschaft diskretionär in der Gewalt.
Praktisch darf man die tatsächliche Bedeutung dieses Kaiser-
rechtes nicht überschätzen; der Macht der großen Herren,
etwa solchen Leuten gegenüber, von denen sechs die Hälfte
des gesamten Grund und Bodens der Provinz Afrika be-
saßen, konnte das zensorische Recht des Prinzeps leicht
versagen. Und vor allem, was interessierte die große Menge
der Bevölkerung, die Untertanen, die Provinzialen, die
bessere oder schlechtere Stellung des Senates. Nur senatori-
sche Kreise selber finden mit Nerva und Trajan eine neue
Zeit anbrechen, ein neues Säkulum, einen neuen Kurs.
Sie rühmen die Vereinigung von Prinzipat und Freiheit,
eine Zeit, wo man denken durfte was man wollte, und aus-
sprechen was man dachte. Ein Mittel, zu verhindern, daß
jeder dachte was er wollte, wird Domitian wohl ebenso
wenig wie sonst jemand besessen haben; und größere Frei-
382 Karl Joh. Neumann,
heit brachte der neue Kurs lediglich den Senatoren. Gut-
herzig war Domitian gewiß nicht, aber einer der gedanken-
reichsten unter den Kaisern. Und rücksichtlich der Güte
der Verwaltung steht sein Regiment nicht anders da als
das seiner Vorgänger und Nachfolger auf dem Throne.
Periodisieren könnte man nach Domitian wie nach Decius
die Geschichte von Staat und Kirche. Domitian bringt die
unter Nero noch nicht erfolgte grundsätzliche Stellung-
nahme des römischen Staates gegenüber der christlichen
Religion, und die Christen beantworten die Kriegserklärung
des Kaisers mit ihrer eigenen, mit der Offenbarung des Jo-
hannes; Domitian persönlich ist der Antichrist der Apokalypse
in der Gestalt, die wir besitzen. Mit Decius dagegen wird
die Repression des Christentums zu einem planmäßigen
Kampfe gegen die Kirchenorganisation. So bilden Decius
und Domitian zwei Marksteine für Staat und Kirche, aber
noch nicht für eine Periodisierung der Kaisergeschichte
überhaupt; denn den Hauptinhalt der Geschichte bildet der
Kampf zwischen Staat und Kirche erst seit Diokletian.
Geht also eine einheitliche Entwicklung von Vespasian
und Titus über Domitian zu den Antoninen, so ist zu sagen,
daß auf der anderen Seite auch weder die Ermordung des
Commodus noch auch der Tod Marc Aureis einen tiefen Ein-
schnitt bedeutete. Gewiß war das Orientalentum der punisch-
syrischen Dynastie nicht ohne Belang, aber mehr auf religiösem
Gebiete. Wirklich entscheidend war nicht der Tod Marc
Aureis, sondern sein Leben, genauer was er erlebte und er-
litt: es war der Beginn der Völkerwanderung, es war der
Angriff der Markomannen. Die Stöße, die jetzt beginnen,
erschüttern das Reich, sie machen es wanken und schließ-
lich zerfallen. Jetzt rächte sich die schlechte Grenze, die
Augustus nach der Varus-Katastrophe dem Reiche gegeben
hatte, sein aus Gründen der inneren Politik, da er sich
nicht entschließen konnte, eine vierte Armee, eine Eibarmee
aufzustellen, geborener Verzicht auf die Eibgrenze, auf die
Verbindung der oberen Elbe mit der mittleren Donau. Bei
anderer Politik des Augustus wäre das Land zwischen Elbe,
Rhein und Donau längst romanisiert gewesen, und damit
war eine ganz andere Verteidigungsmöglichkeit gegeben. Sonst
Perioden römischer Kaisergeschichte. 383
hatte Augustus soweit Eroberungspolitik getrieben, als nötig
war, um dem Reiche gute natürliche Grenzen zu geben, er
hat die Alpenländer bis zur Donau und Moesien unterworfen;
und in etwas hatte Domitian die spätere augusteische
schlechte Rhein-Donaugrenze verbessert durch den Beginn
der Limesanlage, die, unter seinen Nachfolgern fortgeführt
und unter Antoninus Pius vollendet, Rhein-Brohl mit Regens-
burg verband. Auch die Eroberung Dakiens durch Trajan
diente der Sicherung der Grenze, und von Trajans unzweck-
mäßiger Einverleibung Mesopotamiens in das Reich behielt
Hadrian das für die Grenzverteidigung brauchbare Nord-
mesopotamien zurück, während er den Mut besaß, auf das
weitere südmesopotamische Gebiet zu verzichten. In der
guten Defensive, in der Anlegung der Limites, in Germanien
und Rätien, in Britannien, im arabischen Ost- Jordanlande,
liegt noch kein Zeichen des Verfalls; die Katastrophe be-
ginnt erst mit dem Angriffe der anderen, mit dem Marko-
mannenkriege. Mit ihm beginnt die Auflösung des Reiches.
Vorbereitet hat sich die Katastrophe freilich längst durch
den Niedergang der italischen Bevölkerung infolge der von
Augustus beibehaltenen Heeresordnung des Marius, die
Jahr für Jahr die kräftigen jungen Leute Italien entzog,
um sie ihm erst als mürbe Veteranen wiederzugeben. Italien
alterte allmählich und wurde müde, den Niedergang der
Bevölkerung hatte man bereits unter Nerva wahrgenommen
und hatte versucht, ihn mit der Palliativmaßregel der
Alimentarinstitutionen beizukommen. Noch aber hielt sich
die Leistung des ganzen auf der Höhe. Noch ganz auf der
Höhe steht Hadrian und seine Zeit. Seit 1891 wissen wir,
daß das Pantheon nicht von Agrippa, sondern erst aus
hadrianischer Zeit stammt; noch besaß diese Zeit die Kraft,
in dieser Rotunde^) eines der Wunder der Welt zu schaffen.
In den Bildnissen des Antinous schafft die Zeit Idealgestalten
mit Porträtähnlichkeit. Und in dem Edictum perpetuum
des Salvius Julianus gab Hadrian die erste Kodifizierung
des Zivilrechts seit den zwölf Tafeln. Freilich war es die
^) über die Orientalisierung der römischen Kunst vgl. das be-
rühmte Werl< von Alois Riegl: Die spätrömische Kunstindustrie nach
den Funden in Österreich-Ungarn, Teil I, Wien 1901.
384 Karl Job. Neumann,
letzte Leistung vor der Ermattung. Die öde Niciitigkeit der
Schriften Frontos hat Mommsen in ihrer symptomatischen
Bedeutung gewürdigt. Geistige Nullen hat es unter den
Literaten wohl zu jeder Zeit gegeben, aber daß diese Null
die gefeierte geistige Größe der Zeit war, das gibt der Zeit
ihre Signatur. Kein Wunder, daß nach Mommsen in der
Folge die Barbarisierung Italiens einsetzt. Unter Antoninus
Pius steht die Welt stille, die Geschichte als Werden und
Geschehen hat aufgehört, sie ist zum reinen Sein geworden.
Und bald darauf wird das Reich unsanft aus seiner Ruhe,
seinem Quietismus aufgestört durch die Markomannen.
Der Markomannenkrieg Marc Aureis ist es demnach,
mit dem die Wende der Zeiten einsetzt und die die Periodi-
sierung der römischen Kaisergeschichte bedingt. Die erste
große Hauptperiode der Kaisergeschichte umfaßt die Zeit
von Augustus bis auf Antoninus Pius; es folgt der Nieder-
gang und der Zusammenbruch und dann die Wiederaufrich-
tung des Reiches. Wie gliedert sich diese zweite Haupt-
periode?
Hier macht weder der Ausgang der orientalischen
Dynastie noch Kaiser Decius einen Einschnitt. Der Zu-
sammenbruch des Reiches erfolgt erst unter Gallienus,
mit der persischen Gefangenschaft Valerians von 260, mit
der Begründung des gallischen Kaisertums in Trier und Bor-
deaux, mit der Herrschaft der Palmyrener im Osten und
den mannigfachen sonstigen Insurrektionen. Durch die
Angriffe der Barbaren und die Sonderbestrebungen der
einzelnen großen Truppenkörper, die durch keine gemein-
samen Interessen und durch keinen einheitlichen gewal-
tigen Willen mehr zusammengehalten werden, bricht das
Reich auseinander. Und der Typus eines Neurasthenikers
wie Gallienus war nicht imstande, es zusammenzuhalten
oder es wieder zusammenzubringen. Gewiß war die Situation
nicht nur äußerlich sehr schwierig, aber sie lag doch nicht
hoffnungslos: hier zeigt sich wieder einmal die Bedeutung
der großen Männer. Kaiser Claudius II. schaffte Ruhe
vor den Barbaren, und Aurelianus stellte die Einheit des
gesamten Reiches wieder her, er ist der Vorläufiger Dio-
kletians, auch als dominus et deus. Mit Claudius und Aurelian
Perioden römischer Kaisergeschiclite. 385-
beginnt die letzte Periode dieser Kaisergeschichte, sie reicht
von ihnen bis auf Konstantin den Großen. Sie vollendet
sich in dem Ausgleich zwischen Staat und Kirche. Ich will
nicht alles das im einzelnen ausführen, was über die zweite
große Hauptperiode und ihren charakteristischen Inhalt zu
sagen wäre, sondern möchte nur noch auf einen Einwand
hinweisen, den man dagegen erheben könnte, diese Periodi-
sierung einer Darstellung der römischen Kaisergeschichte
zugrunde zu legen. Als ich meine Periodisierung Theodor
Nöldeke zuerst mitteilte, fragte er mich: wird man auch
Stoff genug für Ihre zweite große Periode haben, für die
Zeiten des Zusammenbruchs und der Wiederaufrichtung
des Reiches? Gewiß nicht bei dem herkömmlichen Anschlul^
an die antiken Historiker und einer Art von Wiedererzäh-
lung. Dann kommen wie bei Domaszewski wenig mehr als
100 Seiten auf 540 Seiten für die erste Periode. Aber wenn
Hirschfelds Verwaltungsgeschichte und Mommsens Ge-
schichte der Provinzen von Cäsar bis auf Diokletian die
Verwendung der Inschriften für die Darstellung gelehrt
haben, so handelt es sich jetzt um die Herausarbeitung des
dritten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung als einer Periode
allergrößter welthistorischer Bedeutung, als der Periode der
Vorbereitung für die großen Entscheidungen der Zukunft^
wie sie das 4. Jahrhundert brachte. Wir müssen hier gründ-
lich brechen mit der Beschränkung der Geschichte auf den
Staat, die bei anderen Zeiten am Platze sein mag, aber hier
ist auch die Staatsgeschichte nicht mehr zu verstehen ohne
vielseitige Würdigung aller Kräfte, die sich in der Tiefe
regen. Wir haben zu schildern den Niedergang der Volks-
kraft und der Wirtschaft in ihrer ursächlichen Verbindung
mit dem Falle, und weiter die Regeneration durch die un-
verbrauchte körperliche und geistige Kraft der Leute aus
dem illyrischen Dreieck, durch die dem Reiche so notwendige
und heilsame Barbarisierung.i) Wir folgen der wirtschaft-
^) Die Frage nach dem Altern und der Regeneration der Völker
ist eines der allerschwierigsten historischen Probleme, die es überhaupt
gibt; die Geschichte wird hier zur Biologie, und die Frage kann in ihrer
Tiefe nur erfaßt werden bei einem Sichdurchdringen von Geschichte,
Physiologie, Psychologie und sozialer Ethik. Der Vortrag des Stutt-
386 K. J. Neumann, Perioden römischer Kaisergescliichte.
liehen Wiederaufriehtung und den neuen Formen des wirt-
schaftlichen Betriebs und der Organisation der Arbeit. Die
Papyri eröffnen den Einblick in die Rezeption des griechi-
schen Rechts und in die Umbildung des römischen Rechtes
zum Weltrecht, und dann vor allem der Kampf der Geister
in den Weltanschauungen und den Religionen, der Unter-
gang der griechisch-römischen Antike und das Aufkommen
des Synkretismus, der Bruderkampf der Synkretismen und
der Sieg des Christentums. Die Aufgaben, die hier zu stellen
sind, sind mit Sicherheit zu erkennen. Die Schwierigkeiten
liegen in der Ausführung, aber auch hier wird der Satz sich
bewähren, man müsse das Unmögliche versuchen, um das
Mögliche zu leisten. Wer wird davon träumen, das höchste
Ziel voll zu erreichen? Aber ohne den Versuch kommt
man nicht weiter.
garter Arztes Professor E. v. Baelz über das angebliche Altern und
Sterben der Völker (wiedergegeben in den Verhandlungen der Gesell-
schaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, 83. Versammlung zu Karls-
ruhe vom 24. bis 29. September 1911, II, 1, S. 456) hat die Lösung
des Problems dadurch natürlich nicht fördern können, daß er das
Vorhandensein des Problems bestreitet. Ein so scharfer Beobachter
und tiefer Denker aber wie Paul de Lagarde war sich darüber voll-
kommen klar, daß die Völker altern wie die Menschen. Jedermann
wird seine deutschen Schriften, die noch heute so frisch sind wie am
ersten Tage, gern wieder einmal im Zusammenhange lesen und sich
aus dem unerschöpflichen Werke assimilieren, was er sich zu assimilieren
vermag. An dem Altern auch der Völker hat Paul de Lagarde, wie
gesagt, nicht gezweifelt. Und wer könnte sich heute dem verschließen,
— auch wenn er es wollte — daß das französische Volk in das Greisen-
alter eingetreten ist?
Eike von Repgow.
Ein Versuch.^)
Von
Walter Möllenberg.
Über Eike von Repgow ist uns so gut wie nichts über-
liefert. Keine Clironik nennt seinen Namen, nur ein paar
zufällig erhaltene Gerichtsurkunden erwähnen ihn unter den
Zeugen — in einem Atem mit einer Reihe von mehr oder
weniger unbedeutenden Persönlichkeiten — und allein durch
seine Werke, die er geschaffen hat, ist sein Andenken auf
uns gekommen.
Eike von Repgow ist uns vor. allem der Verfasser des
berühmten deutschen Rechtsbuchs, dem er den Namen
„Sachsenspiegel" gegeben hat. Aber wir würden nicht ein-
1) In der Beurteilung Eikes von Repgow läßt sich in neuerer
Zeit ein bemerkenswerter Umschwung zu seinen Gunsten beobachten.
Immer mehr dringt in der Literatur über den Sachsenspiegel die An-
sicht durch, daß es nicht angeht, ihn einfach für unzuverlässig zu er-
klären, wenn seine Darstellung der Rechtsverhältnisse dem Stand der
urkundlichen Überlieferung nicht zu entsprechen scheint. Es ist das
unbestreitbare Verdienst des in seinen sonstigen Ergebnissen allerdings
vielbekämpften Buches von Heck über den Sachsenspiegel und die
Stände der Freien, die seit Schröder und Zallinger üblich gewordene
Skepsis gegenüber dem Spiegier als unberechtigt erwiesen zu haben.
In den Bahnen positiver Kritik wandelt auch Eckard Meister in seiner
jüngsten Veröffentlichung über die ostfälische Gerichtsverfassung im
Mittelalter.
Dazu kommen die anregenden Untersuchungen K. Zeumers, be-
sonders über die Sächsische Weltchronik, in der er ein Werk Eikes
388 Walter MöUenberg,
mal wissen, wer dieser große „Spiegier" ist, wenn er nicht
selber in einer Reimvorrede zum Sachsenspiegel das Visier
ein wenig lüftete und sich zu erkennen gäbe. Er tut es durch
die Worte:
Nu danket al gemeine
dem von Valkensteine,
der greve Hoyer ist genant,
daz an diutisch is gewant
diz buch durch sine bete:
Eyke von Repgowe iz tete.
Nicht ganz so offen tritt er bei seinem anderen Werk
hervor: der Sächsischen Weltchronik. Auch der Weltchronik
schickt er eine gereimte Vorrede voraus, in der er sich an
alle wendet, die später einmal die Chronik fortsetzen werden:
Ich han mich des wol bedacht:
diz buch ne wirt nimmer vollenbracht,
de wile diu werlt stat:
so vile Wirt kunstiger dat —
des müz diu rede nu bliven.
Ich ne kan nicht scriven,
daz noch gescen sol;
mir genügit hiran wol.
Swer so leve vorebaz,
swaz dan gesche, der scrive daz
unde achtbare warheit.
Logene sal uns wesen leit.
Daz ist des van Repegouwe rat.
Es ist eine viel umstrittene Frage, wer dieser van Repe-
gouwe ist, der hier den Rat erteilt, nur achtbare Wahrheit
als Geschichte aufzuzeichnen. Noch der letzte Herausgeber
der Sächsischen Weltchronik in den Monumenta Germaniae
historicä^) hat sich mit gewichtigen Gründen dafür aus-
2U erkennen glaubte. Den überzeugenden Nachweis der Autorschaft
Elkes hat uns vor kurzem die aus Roethes Schule hervorgegangene
Dissertation von H. Ballschmiede gebracht.
So scheint mir der Zeitpunkt gegeben, einmal zusammenzustellen,
was wir über die Persönlichkeit des Verfassers des Sachsenspiegels und
der Sächsischen Weltchronik erschließen können. Natürlich kann es
sich nur um einen Versuch handeln; wer Elkes Bild zu zeichnen unter-
nimmt, wird im allgemeinen über Vermutungen nicht hinauskommen.
1) Deutsche Chroniken II, 1. Hannover 1877 (Weiland).
Eike von Repgow. 389
gesprochen, daß allenfalls die Reimvorrede Eike zugeschrie-
ben werden kann, daß aber die Weltchronik nicht von Eike,
sondern von einem seiner Blutsverwandten, einem Geistlichen,
und vielleicht unter Eikes Auspizien abgefaßt worden ist.
Heute brauchen wir nicht mehr an Eikes Autorschaft zu
zweifeln. Für sie ist als erster K. Zeumer vor sechs Jahren
wieder eingetreten^); und was der feinsinnige Historiker
hier vorgeschaut, das hat dann hinterher die philologische
und germanistische Untersuchung^) glänzend bestätigt. So
sehen wir denn in Eike nicht nur den Verfasser des Sachsen-
spiegels, wir sehen in ihm auch den Autor des ersten größeren
in deutscher Sprache geschriebenen Geschichtswerks, der
Sächsischen Weltchronik.
Zwei Werke also, in ihrer Art bahnbrechend, geben uns
den Begriff von der bedeutenden Persönlichkeit, die hinter
ihnen steht; wir sehen wohl die unvergängliche Spur von
seinen Erdentagen, die wir bewundernd verfolgen; er selber
aber, Eike von Repgow, ist unseren Blicken entschwun-
den wie eine Lichterscheinung, die zu zerfließen droht,
wenn wir sie zu erfassen suchen.
Und doch wird uns das Wagnis vielleicht gelingen,
Eikes Schatten einmal zu bannen, wenn wir seine Werke
aufschlagen und sie durchforschen nach den Selbstzeug-
^) Die Sächsische Weltchronik, ein Werk Eikes v. Repgow. Fest-
schrift, Heinrich Brunner zum siebzigsten Geburtstag dargebracht.
Weimar 1910, S. 135—174.
2) H. Ballschmiede, Die Sächsische Weltchronik. Dissert. Berlin
1914. B. weist mit Erfolg nach, daß die von Weiland seiner Ausgabe
zugrunde gelegte C-Gruppe der Handschriften sich von der Urfassung
am weitesten entfernt. Die C-Fassung stellt eine auf Veranlassung
des Weifenhauses und den Interessen der Dynastie entsprechende Um-
arbeitung dar. Auch die sog. B-Rezension enthält Zusätze, die sich
auf norddeutsche, besonders Bremer und Hamburger Verhältnisse be-
ziehen. Auf sie geht vor allem die bekannte Predigt c. 76 zurück, die
bisher der Autorschaft Eikes am meisten im Wege stand. Die kürzeste
Fassung bieten die Hss. 1 — 12 (A-Gruppe), in denen die Chronik mit
den Jahren 1225 und 1230 schließt. Auch die A-Rezension weist einige
Zusätze auf, besonders die gegen Kaiser Heinrich IV. gerichteten Ver-
leumdungen. Die nicht erhaltene Originalrezension der Sächsischen
Weltchronik Eikes hatte die gereimte Vorrede, ihr fehlten die Predigt
und die Zusätze über Heinrich IV., sowie das Märtyrerverzeichnis
c. 73 und noch einiges andere. Eikes Chronik schloß mit c. 366.
390 Walter Möllenberg,
nissen persönlichster Art, die darin enthalten sein könnten.
Da werden wir freilich die Blätter oftmals hin- und her-
wenden müssen. Es ist nicht Eikes Art, von sich selber
zu reden; hinter allem, was er schreibt über Menschen, Zeiten
und Dinge, tritt er mit seinem eigenen Ich so bescheiden
zurück, daß nur ein geschärftes Ohr den leisen persönlichen
Unterton heraushört.
Wir kennen weder Tag und Jahr von Eikes Geburt,
noch die Zeit und den Ort seines Todes. In den Urkunden
tritt er zuerst im Jahre 1209 auf; als Zeuge einer gericht-
lichen Beurkundung war er damals bereits in seinen Mannes-
jahren. Im Jahre 1233 weilt er noch unter den Lebenden;
es ist die letzte beglaubigte Nachricht, die wir über ihn
besitzen. Stand er in den zwanziger Jahren des Jahrhun-
derts, als er den Sachsenspiegel und die Weltchronik voll-
endete, auf der Höhe seines Schaffens, so werden wir an-
nehmen dürfen, daß er spätestens ums Jahr 1180 geboren
wurde. Gestorben ist er wohl bald nach dem Jahre 1233.
Über Eikes Vorfahren ist wenig bekannt. Die Familie^)
muß, nach der Vorrede des Sachsenspiegels: Von der Herren
Geburt zu schließen, altsächsischen Ursprungs sein. Als die
deutsche Kolonisation die mittlere Elbe und die untere Saale
und Mulde erreichte, ist sie in den wendischen Gau Seri-
munt eingewandert. Hier liegt, unweit von Aken, das Stamm-
gut Reppichau, von dem sie seitdem ihren Geschlechtsnamen
führte. Die ersten Träger dieses Namens begegnen uns in
einer Urkunde vom Jahre 1156: Eyco und Arnolt de Rype-
chowe; neben beiden erscheint im Jahre 1159 noch ein Mar-
quard v. Reppichau; und in einem dieser drei werden wir
den Vater oder Großvater unseres Eike zu sehen haben.
Eike verleugnet sich nirgends als ein Kind seiner Hei-
mat. Daß in einer Weltchronik Orte wie Aken, Calbe,
Lippehne, Gatersleben, Sommerschenburg, Remkersleben,
Zörbig auftauchen können, verstehen wir erst, wenn wir
uns klarmachen, daß Eike, der Verfasser der Sächsischen
Weltchronik, hier auf heimatlichem Boden steht.
^) über die Vorfahren und das Folgende überhaupt vgl. F. Winter,
Eiko von Repgow und der Sachsenspiegel. Forschungen zur Deut-
schen Geschichte, Bd. 14 (1874), S. 305 ff.
Elke von Repgow. 391
Über Elkes Jugend breitet sich noch immer ein Dunkel,
und für Vermutungen ist darum der Spielraum frei. So
steht es z. B. für Zeumer fest, daß Eike in den geistlichen
Stand eingetreten ist und jedenfalls von vornherein zum
Geistlichen bestimmt war. Er schließt dies vor allem aus
der gelehrten Bildung, deren Spuren in Eikes Werken un-
verkennbar sind, eine Bildung, wie sie im allgemeinen da-
mals nur das Kloster oder die Domschule vermitteln konnte.
Dazu gehören die Kenntnis der lateinischen Sprache und die
Vertrautheit mit der biblischen Geschichte und im beson-
deren mit der Vulgata und mit der Historia scholastica des
Petrus Comestor. Die Stelle des Sachsenspiegels (I 25, 2),
daß ein als Kind dem Kloster Geweihter, der nach erlangter
Mündigkeit das Kloster wieder verläßt, sein Lehnrecht und
Landrecht behält, und daß auch dem Erwachsenen nach
dem Novizenjahr der Austritt aus dem Kloster noch offen
steht, wobei die Regel der Graumönche, der Zisterzienser,
zum Beweis herangezogen wird, möchte Zeumer als ein
persönliches Erlebnis Eikes ausdeuten, der vielleicht als
Kind „gemonkt" und zwar in ein Zisterzienserkloster ge-
bracht worden sei, wo er für den geistlichen Beruf vor-
bereitet wurde. Als er mündig geworden, sei er dann wieder
,, ausgefahren" und habe sich dadurch Landrecht und Lehn-
recht gewahrt. In der tiefen Religiosität der Reimvorrede,
in der theologischen Färbung des sog. Prologus zum Sachsen-
spiegel und des Textus Prologi und in der Verdammung der
Unfreiheit durch das göttliche Recht sieht Zeumer eine
Nachwirkung der geistlichen Erziehung, die Eikes Gedanken-
welt beherrschte und seinen Gefühlen die Prägung gab,
auch als er wieder im Weltleben stand.
Um es gleich hier zu sagen: Zeumer kommt aus dieser
Anschauung heraus zu der weiteren Überzeugung, daß Eike
am Ende seines Lebens in das Kloster zurückgekehrt ist,
wo er in seiner stillen Zelle die Sächsische Weltchronik
schrieb und sein Leben beschloß. Es findet sich in der
Weltchronik bei Erwähnung des Kaisers Konstantin ein
predigtartiger Rückblick auf die ersten drei Jahrhunderte
des Christentums, ,,die reine Kindheit der heiligen Christen-
heit", den allerdings nur ein Geistlicher geschrieben haben
392 Walter Möllenberg,
kann. Der Prediger gebraucht selber den Ausdruck: we
geistliken lüde; er spricht hier zu seinen geistlichen Ge-
nossen, denen er einen Spiegel vorhalten will. Diese Predigt
ist es vor allem gewesen, an der man sich stieß, wenn es
galt, die Frage zu untersuchen, ob Eike der Verfasser der
Weltchronik sein könnte. Aber wir wissen heute, daß die
ganze Predigt eine spätere Einschiebung ist; Eike kann gar
nicht der Prediger gewesen sein. Auch ist die Chronik bereits
ums Jahr 1225 von Eike abgeschlossen; da er noch 1233
als Laie bezeugt ist, so kann er die Chronik nicht als Geist-
licher geschrieben haben.
Und wie steht es mit der Erziehung zum geistlichen
Stande? Da ist zuerst die sog. gelehrte Bildung Eikes.
Man kann ihm allerdings die Kenntnis des Lateinischen
nicht absprechen, hat er doch nach seiner eigenen Angabe
den Sachsenspiegel zuerst lateinisch abgefaßt und ihn danach
erst ins Deutsche übertragen. Wir kennen freilich die latei-
nische Urfassung des Sachsenspiegels nicht: wir haben
mehrere hundert Handschriften des deutschen Sachsen-
spiegels, aber seltsamerweise nicht eine einzige, die uns
diese lateinische Urfassung überliefert. Die lateinische Ur-
fassung ist spurlos verschwunden. Das kann nicht reiner
Zufall sein; Eike selber gibt uns den Schlüssel dazu. Ane
helphe und ane lere hatte er das lateinische Rechtsbuch
ausgearbeitet, des ime was vil ungedacht, wie er ehrlich ein-
gesteht. Man hat diese Verse der Reimvorredei) bisher oft
und seltsam mißverstanden^). Eike wollte nichts anderes
damit sagen, als daß die erste lateinische Fassung des
Sachsenspiegels ein öffentlicher Mißerfolg gewesen ist, da
er das Buch ohne eigentliche Gelehrsamkeit im Lateini-
schen und ohne Beihilfe zu schreiben unternommen habe.
Der Mißerfolg veranlaßte ihn, den lateinischen Sachsen-
0 Rvrde. z. Ssp. V. 273—75.
^) So Philippi in seinem Aufsatz: Ist der Sachsenspiegel ur-
sprünglich in lateinischer Sprache verfaßt? MJÖG XXX, S. 401—411.
Gegen den Versuch Philippis, die Existenz eines dem deutschen Sachsen-
spiegel voraufgehenden lateinischen Rechtsbuchs Eikes zu bestreiten,
wendet sich K. Zeumer in der Festschrift für O. Gierke (Weimar 1911,
S. 455—474).
Eike von Repgow. 391
Spiegel völlig zurückzuziehen, vielleicht hat er selber das
Buch aus Verdruß über die nicht ganz unberechtigte Kritik
vernichtet. Uns fehlt infolgedessen die Möglichkeit, Elkes
Kenntnisse im Lateinischen nachzuprüfen. Im deutschen
Sachsenspiegel hat er jede Spur der lateinischen Urfassung
getilgt, und die gerühmte richtige Flexion der lateinischen
Eigennamen in der Weltchronik reicht zu einer Nachprüfung
nicht aus, wenn es überhaupt noch einer besonderen Nach-
prüfung bedarf.
Und wie mit der angeblichen Gelehrsamkeit im Lateini-
schen, so ist es mit Elkes Kenntnis gelehrter Werke, die er
zitiert. Entscheidend ist nicht, daß er sie zitiert, entschei-
dend ist allein, wie er sie benutzt. Da sei nur an die Sachsen-
spiegelstelle (I 3, 1) erinnert, wo aus den origines Isidors ein
Origenes gemacht wird, eine fatale Verwechslung, die wir
dem Spiegier nicht groß ankreiden wollen, die aber ein
Schlaglicht werfen könnte auf seine dilettantischen Kennt-
nisse oder auf seine den Dilettanten verratende Methode,
nicht auf die Werke selber zurückzugehen, sondern sich mit
Zitaten aus zweiter oder dritter Hand zu begnügen.
Es ist richtig, daß im Mittelalter die Geistlichen die
hauptsächlichen Vertreter der gelehrten Bildung waren, aber
soviel sehen wir jetzt, daß Elkes gelehrte Bildung nicht
ausreicht, ihn eben seiner Gelehrsamkeit wegen zum Geist-
lichen zu stempeln. Auch den Laien höherer Kreise man-
gelte in jener Zeit nicht alle Bildung. Lebende Sprachen,
besonders Französisch, Religion, die Kunst, sich höfisch,
d. h. gebildet, zu benehmen, Unterweisung in der Waffen-
führung und Körperübungen, das ist ihr typischer Bildungs-
gang.^) Wie weit er führen konnte, zeigt allein schon das
Beispiel eines Wolfram v. Eschenbach. Die lateinische
Sprache war keineswegs ganz ausgeschlossen. Warum soll
man nicht annehmen dürfen, daß Eike als Knabe, ohne
„gemöncht" worden zu sein, eine Zeitlang am Unterricht
einer Kloster- oder Domschule teilgenommen oder den
Unterricht eines Geistlichen genossen hat? Etwa in Magde-
burg oder in der damals in besonderem Ansehen stehenden
*) Alwin Schulz, Höfisches Leben zur Zeit der Minnesinger, Bd. 1.
Vgl. Philipp! a. a. O.
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 26
394 Walter Möllenberg,
Schule des Paulsstifts in Halberstadt, aus der zwei Magde-
burger Erzbischöfe hervorgegangen sind, Wichmann und
Ludolf, beide ältere Zeitgenossen Eikes?i)
Noch vieles spricht dagegen, in Eike ausgesprochener-
maßen einen verpfuschten Theologen zu sehen. Hinter
seinem Interesse an dem Land- und Lehnrecht tritt das
kanonische Recht völlig in den Hintergrund; die kirchlichen
Dinge können unmöglich im Mittelpunkt seiner Gedanken-
kreise gestanden haben. Ja, er befindet sich geradezu im
Gegensatz zu der kirchlichen Anschauung des Mittelalters.
Eine päpstliche Bulle (Gregor X I. : Salvator generis humani)
hat nicht weniger als 14 Artikel des Sachsenspiegels ver-
dammt und ein Augustinermönch Johannes Kienkok eine
Streitschrift gegen den Sachsenspiegel geschrieben. 2) Lassen
wir den Verfasser der Weltchronik nun noch für sich selber
zeugen. Van sante Petere want an disen paves — so sagt
er einmal — waren mer dan negentich pavese, de waren alle
uterkorene lüde; se helden up der weit vor gode mit erer gude,
mit erer lere. Sider wurden se ettelike wandelbare. Dat gescha
darvan, alse man sprikt: Alse dem manne wasset sin gut, so
wasset oc ime sin mut (c. 131). Oder wenn er sich als Histo-
riker über die angebliche Konstantinische Schenkung äußert:
dat ne wet ich, wo dat mochte sin, wände sin (Konstantins)
sone unde mer dann drittich keisere hadden de stad (Rom)
an des rikes gewalt mer dan dreehundert jar wände an des
koning Pippines tiden (c. 78). Oder wenn er nach der Schil-
derung der Leiden der christlichen Märtyrer den Ausspruch
tut: Wogedan Ion si van godde hebten, dat wet got alene. It
hadde jedoch betere wesen, dat si de afgode angebedet hadden.
Kann ein Mann, der es für erlaubt, ja für vernunftgemäß
erklärt, seinen Christenglauben, wenn auch nur in der höch-
sten Not, zu verleugnen, in einer Gedankenwelt leben, die
durch eine ausgeprägt geistliche Erziehung beeinflußt wor-
den ist?
^) F. Kohlmann, Erzbischof Ludolf von Magdeburg, sein Leben
und seine politische Tätigkeit. Diss. Halle 1885, S. 7.
2) H. Böhlau, Zur Chronologie der Angriffe Kienkoks wider den
Sachsenspiegel. Zschr. d. Savigny-Stift. f. Rechtsgesch., 4. Bd., Germ.
Abt. Weimar 1883, S. 118—129.
Elke von Repgow. 395
Trotz laienmäßiger Bildung erhebt sich Eike von Repgow
weit über die große Masse seiner Standesgenossen. Ein un-
bezähmbarer Wissensdrang mag ihn schon früh zu eigenen
Studien getrieben haben. Preist er doch laut das Hören
guter Lehre und das Lesen in den buken, dar men de war-
heit suchen mach unde bevinden.^) Nicht nur die biblischen
Geschichten, die Geschichtschreiber der deutschen Vergangen-
heit und juristische Bücher zogen ihn an, auch die zeitgenös-
sische Poesie blieb ihm nicht unbekannt. Anklänge an Hart-
manns Erec und Iwein, an Moritz von Craon, an den Tristan
Gottfrieds von Straßburg^) und an ein Lehrgedicht des
Pfaffen Werner von Elmendorf^), die man in den Versen
seiner Reimvorreden herausgefunden hat, geben uns eine
Ahnung davon, wie ausgedehnt die Lektüre war, die er
pflegte. Dazu kommt, wie sich nachweisen läßt, Walther
von der Vogelweide*), neben Wolfram v. Eschenbach der
größte Poet des Mittelalters, zu dem Eike mehrfach in
persönliche Beziehung treten konnte. Eine erste Gelegenheit
dazu mag sich auf dem großen Hoftag gefunden haben, den
König Philipp von Schwaben Weihnachten des Jahres 1199
in Magdeburg abhielt.
1) Rvrde. z. S. Weltchronik.
2) R. Schröder, Bemerkungen zu der Persönlichkeit des Eike v.
Repkow. Zschr. d. Savigny-Stift. f. Rechtsgesch., 1. Bd., Germ. Abt.
Weimar 1880, S. 227.
*) G. Roethe, Die Reimvorreden des Sachsenspiegels. Abhand-
lungen der Kgl. Ges. der Wiss. zu Göttingen. Philolog.-hist. KL,
N. F., Bd. 2, Nr. 8. Berlin 1899.
*) Von der unten erwähnten, an sich allein noch nicht beweis-
kräftigen Stelle in der S. Weltchr. über den Hoftag zu Magdeburg ab-
gesehen, finde ich z. B. eine flagrante Übereinstimmung zwischen
Ssp. III 63, 1: Constantin de koning gaf deme pavese Süvestre . . . und
S. Weltchr, c. 78 (S. 118,36): He gaf oc dem pavese ... und Walter
(Ausgabe K. Lachmann) 25, 11: Künc Constantin der gap so vil . . .
Über die Verwandtschaft der ersten Reimvorrede zum Ssp. zu Wal-
ter 18, 1 — 14 s. u. Walters Aufenthalt bei Markgraf Dietrich von
Meißen und seine Beziehungen zu Landgraf Ludwig von Thüringen
machen ein mehrfaches Zusammentreffen mit Eike immerhin wahr-
scheinlich. Ein direkter Beweis läßt sich dafür natürlich nicht er-
bringen.
26*
396 Walter MöUenberg,
Man kann sich vorstellen, daß dieser Hoftag überhaupt
im Leben des späteren Spieglers und Geschichtschreibers von
tieferer Bedeutung gewesen ist. Hier vielleicht zum ersten
Male tat sich vor ihm die große Welt auf, die Welt der
Könige, die Welt der geistlichen und der Laienfürsten, der
Fahnenlehen und Heerschilde, eine Welt, die ihn seither in
ihrem Banne festgehalten hat. Ein Schaugepränge seltenster
Art bot sich der von Fern und Nah herbeigeströmten Menge
dar, als der König am Weihnachtstage in feierlichem Geleit
zum Dom zog, geschmückt mit dem kaiserlichen Diadem,
das Reichszepter in der Hand. Ihm vorauf schritt der Herzog
Bernhard von Sachsen mit dem Reichsschwert, hinter dem
König die Königin Irene, die liebliche griechische Kaiser-
tochter, geführt von der Quedlinburger Domina, der Äbtissin
Agnes, und von Jutta, der Gemahlin Herzog Bernhards, und
im Gefolge des Herrscherpaares die anwesenden Bischöfe in
großem Ornat, die Fürsten, Grafen, Barone und was sonst
noch zum Hoftag entboten war oder sich eingefunden hatte,
darunter der landfahrende Sänger und Poet Herr Walther,
der das Fest in begeisterten Worten besingt:
Ez gierte eins tages, als unser herre wart geborn
von einer maget, dier im ze muoter hat erkorn,
ze Megdeburc der künec Philip pes schone.
Da gienc eins keisers bruoder und eins keisers kint
in einer wat, swie doch die namen drige sint:
Er truoc des riches zepter und die kröne.
Er trat vil lise, im was niht gach:
im sleich ein hohgeborniu küneginne nach,
ros ane dorn, ein tube sunder galten.
Diu zuht was niener anderswa:
die Düringe und die Sahsen dienten also da,
daz ez den wisen muoste wol gevallen.
Auch Eike hat den Eindruck dieses großen Tages fest-
gehalten, kurz und knapp auf seine Art, und was er in der
Weltchronik erzählt von König Philipp und dem groten hof
to Maideburch, dar he krönet ging mit sinem wive, das scheint
die Worte des Sängers wieder aufzunehmen: es gienc eins
tages . . . und den schönen Spruch, den Herr Walther der
alten Krone und den echten Reichsinsignien weiht, die wie
zu einer ,, Augenweide" mit ihren Trägern vor dem ehr-
furchtsvoll staunenden Volk vorüberzogen. —
Eike von Repgow. 397
Überschauen wir an dieser Stelle, wo wir den jungen
Eike eintreten sehen in die große Arena, die seine Welt wer-
den sollte, einmal den großen geschichtlichen Hintergrund,
auf dem sich sein Leben abspielt. Bis in die Zeiten Friedrich
Barbarossas müssen wir unsere Blicke zurückschweifen lassen.
Was von Kaiser Rotbarts Kriegstaten und Romfahrten und
von seinem Kreuzzug ins heilige Land heimkehrende Ritter
und Knappen zu erzählen wußten, das mag noch das Knaben-
herz Eikes begeistert haben. Die machtvolle Kaiserzeit hat
in der Weltchronik ihre gebührende Würdigung erfahren,
und es klingt wie eine Erinnerung aus der Jugend, wenn
der Chronist den Bericht über den tragischen Tod, den der
Kaiser auf seinem Kreuzzug im Flusse Saleph fand, mit
den Worten begleitet: do ward grot jamer in der cristenheit.
In Eikes reifere Jugendjahre fällt die Regierungszeit Kaiser
Heinrichs VI., eine kurze Glanzperiode des Kaisertums, aber
ohne nachhaltige Bedeutung für Deutschland, voll Unruhe
und Streit. Wie wenig Anklang dieser glänzende Vertreter
der imperialistischen Ideen mit seinen Hoffnungen und Ent-
würfen bei seinen Deutschen gefunden hat, dafür ist Eike
ein beredter Zeuge, der ihn mit unverhohlener Abneigung
behandelt. Den großartigen Plan Heinrichs, das Wahlreich
in eine Erbmonarchie zu verwandeln und den Mißerfolg des
Kaisers kann er nur mit ironischem Beigeschmack erzählen:
Do de keiser sie verevenet hadde mit den vorsten, he bat se,
dat se wolden geloven, dat dat rike erfde, alse andere koning-
rike dot. Dat geloveden se unde gaven ime des hantveste. Do
dit de Sassen vernamen, it versmade in sere unde makeden
grote degeding uppe den keiser e. Do dat de keiser ver-
nam, he hadde angest vor in unde let de vorsten ledich
eres gelovedes unde sande in ere hantveste weder in dat selve
grote degeding. Die Sachsen, das stellt der Chronist hier
triumphierend fest, haben das alte Herkommen gerettet,
das Herkommen, das der Jurist im Sachsenspiegel in dem
Rechtssatz zusammenfaßt: Die düdeschen solen durch recht
den koning kiesen (III 52, 1).
Die nun folgende Zeit des Kampfes zwischen Weifen
und Staufern, die Zeit des Doppelkönigtums, hat Eike, der
inzwischen zu seinen Jahren gekommen war, voll reger
398 Walter Möllenberg,
Anteilnahme miterlebt. Von den beiden Gegenkönigen er-
greift er zunächst die Partei des Staufers Philipp von Schwa-
ben, nach dessen 1208 erfolgter Ermordung erkennt er gern
und willig den Weifen Otto IV. an und bleibt ihm auch
treu, als dem Weifen in Friedrich, dem jungen Sohne Hein-
richs VI., ein Nebenbuhler ersteht. Erst von Ottos Tode
(1218) datiert er die eigentliche Regierung Friedrichs II.,
der nun, wie er nicht ohne Befriedigung verzeichnet, ein
koning ane werren (c. 357) ist.
Das weltgeschichtliche Ringen zwischen den geistlichen
und weltlichen Gewalten, das hundert Jahre vor Eikes Ge-
burt unter Kaiser Heinrich IV. durch Papst Gregor VII.
entfesselt worden war, findet in Eike einen objektiven Histo-
riker (c. 179). Seine Anschauung hierüber hat er, wie be-
kannt, auch im Sachsenspiegel niedergelegt in der Zwei-
schwertertheorie: Tvei swert lit got in ertrike to bescermene
de kristenheit: deme pavese is gesät dat geistlike, deme keisere
dat wertlike (I, 1). In kirchenpolitischen Dingen ist Eike
vorsichtig und zurückhaltend, aber so sehr er bestrebt ist,
die weltlichen und geistlichen Gewalten, beide von Gott
eingesetzt und bestimmt, sich zu ergänzen, gerecht gegen-
einander abzuwägen (Ssp. II u. III 63, 1), so entschieden
denkt und fühlt er im Herzen kaiserlich. Kaum nimmt er
Notiz von dem, der sich damals „als das natürliche Ober-
haupt der Welt" ansah, von dem großen Papst Innocenz,
der in den Wirren dieser Zeit eine so überragende Stellung
einnahm. Er vermerkt wohl, wie beiläufig nur, seine Wahl
in der Weltchronik und seine Parteinahme für Otto und
gegen Philipp, sowie die spätere Bannung auch Kaiser Ott.s,
aber man hört aus dem Chronisten den Spiegier sprechen,
der den Rechtssatz aufstellt: Ban scadet der sele unde ne
nimt doch niemanne den lif, noch ne krenket niemanne an
lantr echte noch an lern echte (III 63,2). Nur der Jurist ist
interessiert, als der Chronist die bedeutsame vierte Lateran-
synode des Jahres 1215 aufzeichnet: aber sein Interesse gilt
nicht einmal ihrem eigentlichen Ergebnis, der Zusammen-
fassung der kirchlichen Ordnungen in 70 Kanones; allein
die Abänderung des kanonischen Verwandtschaftsrechts, die
sich mit der im Sachsenspiegel aufgestellten Theorie über
Eike von Repgow. 399
die Sippezahl (I 3, 3) berührt, vermag seine Aufmerksam-
keit zu erregen.
Die Repgows besaßen, wie sich nachweisen läßt, in der
Stadt Magdeburg ein eigenes Haus.^) Es könnte reizvoll
erscheinen, Eikes Beziehungen zu Magdeburg, die sicher
mannigfach gegeben waren, sich weiter auszumalen. Wir
wissen nichts darüber. Aber das sehen wir doch, daß Eike
weder Stadtkind noch Stadtbürger, sondern ganz und gar
ein Sohn des platten Landes ist. Nicht Stadtrecht will er
im Sachsenspiegel aufzeichnen, nur das Recht, das die
Schöffen im Landding finden, wo an den uralten Stätten
nach der Väter Brauch der Graf unter Königsbann richtet.
Das spezifisch Bäuerliche ist es, das uns im Sachsenspiegel
ins Auge fällt. Ländliche Dinge wie Pflug, word (Hofstatt),
mesgrepe (Mistgabel), swinkove (Schweinestall) u. ä. zeigen
uns das Milieu, dem der Spiegier entstammt^), und was
ihn sonst noch näher kennzeichnet, das ist ritterliches Wesen:
Burgen, Schwert, Schild und Harnisch, Streitroß und Zwei-
kampf. Sicher war es seine Freude, mit Armbrust und
Köcher durch Wald und Feld zu reiten, die Bracken und
Windhunde an der Koppel, und dann in fröhlicher Hatz
das Wild zu jagen und das Hifthorn zu blasen, wovon er
mit waidmännischem Verständnis und mit fast poetischer
Anschaulichkeit mitten im Sachsenspiegel eine Schilderung
gibt (II 61).
Noch fehlt uns ein rechter Begriff von dem Stand,
in dem Eike geboren ist und gelebt hat. Die Antwort hier-
auf ist nicht leicht; die Frage bedingt, daß wir ein, wie
es scheint, fast unlösbares Problem berühren, das der Spiegier
selber bei seiner Darstellung der Standesverhältnisse uns
aufgegeben hat.
In seiner bekannten Heerschildordnung (13) unterscheidet
er sieben Abstufungen: den ersten Heerschild besitzt der
König, dann folgt der Heerschild der Bischöfe, Äbte und
Äbtissinnen, in der dritten Ordnung folgen die Laienfürsten,
1) Urkundenbuch der Stadt Magdeburg Bd. 1, Nr. 88.
2) Vgl. Ballschmiede a. a. O. S. 35.
400 Walter MöUenberg,
die Lehnsmannen der geistlichen Fürsten geworden sind, zu
viert die freien Herren, zu fünft die schöffenbaren Leute
und die Dienstmannen der freien Herren, zu sechst deren
Lehnsmannen und zu siebent alle anderen, von denen, wie
es heißt, man nicht weiß, ob sie Lehenrecht oder Heer-
schild überhaupt besitzen.
Dieser lehenrechtlichen Rangordnung tritt nun eine
Wergeidtafel an die Seite, gegliedert nach Fürsten, freien
Herren und schöffenbaren Leuten, die an Wergeid und
Buße gleich sind, Biergelden und Pfleghaften, Landsassen,
Lateleuten, Tagewerkern, Pfaffenkindern und anderen un-
echt Geborenen usw. (Ssp. HI 45).
Wenn wir einer alten Glosse zum Sachsenspiegel Glauben
schenken dürfen, so war Eike von Repgow ein schöffenbar
Freier. In der Tat ist es mindestens auffällig, daß er sich
im Sachsenspiegel mit besonderer Vorliebe gerade mit dem
Recht der Schöffenbaren, der freien Schöffenbaren, der
schöffenbar Freien, wie er sie in buntem Wechsel nennt,
beschäftigt, ihr Recht vor allem darstellen möchte. Im
Gegensatz zu den niederen Freien, den Pfleghaften, die
dem geistlichen Gericht der Dompröpste und dem welt-
lichen Gericht der Schultheißen und zu den Landsassen,
die dem geistlichen Gericht der Erzpriester und dem welt-
lichen Gericht der Gografen unterstehen, besuchen die
schöffenbaren Leute das bischöfliche Sendgericht und das
Grafending (I 2). Von den Fürsten und freien Herren,
denen sie in der Wergeldtafel äußerlich gleichstehen, sind
sie durch einen feinen Unterschied gesondert: doch eret man
— so heißt es hier — die vorsten und die vrien Herren mit
golde to gevene unde gift in tvelf güldene penninge to bute,
den schöffenbar Freien dagegen gibt man drittich Schillinge
. . . pundiger penninge (Ssp. III 45). Im Heerschild, wo sie
die fünfte Stelle einnehmen, sind sie den Dienstmannen der
freien Herren gleichgestellt, lehnrechtlich stehen sie also
unter den freien Herren, denen sie landrechtlich verwandt
sind. Sie heißen „schöffenbar", weil sie, sei es durch Ge-
burt und Vererbung vom Vater auf den ältesten Sohn oder
den nächsten und ältesten Schwertmagen (Ssp. III 26,3)
oder durch königliche Verleihung (Ssp. III 81, 1) das Recht
Eike von Repgow. 401
und die Pflicht haben, beim Grafending zu erscheinen und
auf der Schöffenbank Platz zu nehmen. Die „Schöffenbar-
keit" ist bedingt durch Grundbesitz und zwar durch ein
Eigengut, ein hantgemal, von mindestens drei Hufen (Ssp.
III 81, 1). Hantgemal, Dingpflicht und Schöffenstuhl ge-
hören zusammen (Ssp. III 26,2). Aber der Schöffenbare
ist auch frei: niemals kann ein Ministerialer, ein Dienstmann,
Schöffe sein. Nur wenn in einer Grafschaft die Schöffen-
geschlechter aussterben, werden aus den Reichsministerialen
vom König neue Schöffen eingesetzt, die zuvor mit ordelen
vom König freigelassen und mit Reichsgut aus der Graf-
schaft begabt worden sind (Ssp. III 81). Nie kann ein
Reichsministerialer über einen schöffenbar freien Mann
Urteil finden oder gegen ihn als Zeuge auftreten, wenn es
um Leib, Ehre oder Erbe geht; Urteil finden oder Urteil
schelten darf in einem solchen Falle nur ein Ebenbürtiger
(Ssp. III 19, 1). Ohne Freiheit also keine Schöffenbarkeit
(Ssp. III 54, 1). Die Freiheit vor allem unterscheidet den
Schöffenbaren von dem Dienstmann, mit dem er den glei-
chen Heerschild hat. Sind alle Vorbedingungen: Hant-
gemal, Schöffenstuhl und Freiheit gegeben, so bedarf es,
um als schöffenbar Freier und als ebenbürtig von den
schöffenbar Freien anerkannt zu werden, noch des Ahnen-
beweises; vier Ahnen sind zum mindesten erforderlich:
Vater, Mutter, zwei Älterväter und zwei Ältermütter (Ssp.
I 51, 3; III 29, 1). Die Ahnenprobe findet jedoch nur statt,
wenn ein schöffenbar Freier von einem ebenbürtigen Ge-
nossen zum Zweikampfe herausgefordert wird und nur in
dem Gerichte, dem der Herausgeforderte durch sein Hant-
gemal zugehört.
Das also ist der Stand des schöffenbar Freien, den der
Spiegier in so eindringlicher Weise nach allen Seiten hin
zu umschreiben sucht, weil er ihm vermutlich selber an-
gehört. Daß wir hier gewissermaßen nur eine juristische
Konstruktion Eikes vor uns haben, die sich nicht ohne wei-
teres mit den tatsächlich überlieferten Verhältnissen in Ein-
klang bringen läßt, wie sie sich in den überlieferten Ur-
kunden widerspiegeln, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
Man braucht sie nicht gleich Erdichtung oder Fälschung zu
402
Walter Möllenberg,
nennen. Das letzte Wort ist darüber noch nicht gesprochen.
Wer Elke kennt, wird ihm bewußte Erfindung nicht zu-
trauen. Zweifellos geht er von Verhältnissen aus, die für
ihn noch gegeben waren, unserem Auge aber nicht mehr
deutlich erkennbar sind, weil wir es mit einer Übergangs-
zeit zu tun haben, in der sich alles im Flusse befindet. Der
Übertritt Freier in die Ministerialität, die Ausbildung eines
neuen Ritterstandes, der, auf einem Gemisch von Geburts-
und Berufsstand beruhend und Edle sowohl als unfreie
Dienstmannen umfassend, manche Grenzen verwischte und
der sich ausbildende Gegensatz zwischen dem Ritterstande
und der nichtritterlichen freien Landbevölkerung haben die
ständische Gliederung des Spätmittelalters in Adel, Stadt-
bürger und Bauern nur vorbereitet; zu Eikes Zeiten bestand
sie in dieser Form noch nicht.
Eike spricht es an einer Stelle offen aus, daß er von
den Leuten nichts hält, die neues Recht aufbringen wollen
(Rvrd. z. Ssp. V. 42); er will allein das Recht aufzeichnen,
das von den Vorfahren überliefert worden ist (Rvrd. v.
151 ff.). Nicht vorwärts, sondern rückwärts hat er den
Blick gewendet. Ist es nicht, als wollte er sich mit Ge-
walt gegen die mächtig hereinbrechende neue Entwicklung
anstemmen? Diese bewußte Tendenz, dieser konservative
Zug hat mit Erdichtung oder Fälschung nichts gemein.
Vielleicht waren es persönliche Erlebnisse, Anfeindungen,
Kränkungen, die ihn veranlaßten, den Stand, dem er sich
zurechnete, in das rechte Licht zu stellen, aus dem guten
alten Recht mit allen ihm zu Gebote stehenden Feinheiten
der juristischen Definition nachzuweisen, wer er war und
was er war: Ein Freier jedenfalls, der stolz war auf sein
Stammgut, sein Hantgemal, und auf den ererbten Schöffen-
stuhl. Daß der Mensch, das Ebenbild Gottes, der Mensch,
dem Gewalt gegeben ist über Fische,Vögel und alles Getier (Ssp.
II 61, 1), unfrei sein könnte, will ihm überhaupt nicht in den
Sinn. Zwar kann er nicht bestreiten, daß Unfreiheit auf
dieser Erde tatsächlich besteht, aber er leitet sie her aus
einem zur Gewohnheit gewordenen Unrecht, das in Zwang,
Gefängnis und unrechtmäßiger Gewalt begründet ist (Ssp.
III 42). Ist es denkbar, daß Eike, der so fühlt und spricht,
Eike von Repgow. 403
selber die Unfreiheit auf sich genommen hat und in die
Ministerialität eingetreten ist? Das Gewicht dieses persön-
lichsten Zeugnisses ist zu groß, als daß sich die landläufige
Meinung aufrecht erhalten ließe, die Eike zum Ministerialen
macht, weil er einmal bei einem gerichtlichen Akt unter
Ministerialen auftritt.
Wir glauben festeren Boden unter den Füßen zu haben,
wenn wir uns den sechs Urkunden zuwenden, in denen
Eikes Name genannt wird. Die erste zeigt uns ihn auf der
Dingstätte zu Mettine (im Gau Serimunt) im Jahre 1209.i) Die
Burggrafen Johann und Walter v. Giebichenstein übereignen
der Nienburger Kirche ihr Schloß Sporen, und Friedrich
V. Krosigk, der an Stelle des Grafen im Gericht den Vorsitz
führt, beurkundet diese Übereignung unter Hinzuziehung
von Zeugen. Es sind: Markgraf Dietrich von Meißen, der
Schultheiß Heinrich gen. Rabil, Werner von Ampfurt, Jo-
hannes und Heinrich von Gneiz, Effo von Dröbel, Eike
von Reppichau, Heinrich von Schkeuditz und dessen
Sohn, Burggraf Dietrich von Kirchberg, Graf Heinrich von
Regenstein, Wolfer von Pezne, Heinrich v. Stechow und
Ludwig von Teuchern.
Im Jahre 1215 weilt Eike beim Fürsten Heinrich von
Anhalt auf dem Schloß Lippehne.^) Heinrich bewidmet
hier mit Zustimmung des Grafen Hoyer von Falkenstein
als Lehnsinhabers das Kollegiatstift Coswig mit einigen
Gütern. In der darüber ausgestellten Urkunde werden als
Zeugen aufgeführt: die nobiles viri Hogerus de Valkensten,
Odelricus de Vredeberge, Johannes de Gniz, Wernerus de Su-
seliz, Conradus Mackecherf, Heico de Repechowe, Bertramus
et Balduinus de Thornowe. Auf die ausdrücklich als nobiles
viri bezeichneten Zeugen, denen Eike, was wohl zu be-
achten ist, zugerechnet wird, folgen eine Anzahl von Mini-
sterialen: Conradus de Waldesere, Albertus de Rozelowe, We-
dego de Richowe, Teodericus de Gatersleve, Sifridus Schelinge,
Theodoricus de Nithlawe, Tymo de Plezege, Arnoldus ei Hu-
goldus de Reder e, Gerardus et Theodoricus fratres eins, Gun-
zelinus de Blanzeke, Luderus et Hartwicus de Scheniz, Bodo
1) Cod. dipl. Anhalt, l, Nr. 779.
2) ibid. II, Nr. 14.
404
Walter Möllenberg,
de Reine, Alexander Unholde, Johannes advocatus de Coz-
wich et Otto prefectus eiusdem loci.
Einige Jahre später, 1218, erscheint Eike im Gefolge
des Markgrafen Dietrich von Meißen, desselben, mit dem er
im Jahre 1209 das Mettiner Grafending besucht hat.^) Zu
Grimma überträgt der Markgraf dem Kloster Altzelle einige
Güter. Die Übertragung wird bezeugt von den folgenden:
Otto praefectus de Donin, Johannes de Lubin, Ekkehardus de
Duchere, Theodericus de Sladebach, Otto de Yleburch, Geve-
hardus de Zurbeke, Fridericus de Turgowe, Albertus de Sten-
bach et Petrus filius eins, Fridehelmus de Rogats, Tymo de
Rogats, Heiko de Ripchowe, Theodericus Filia und Jo-
hannes de Uthusen.
Schon bald darauf, 1219, ist Eike wieder beim Fürsten
Heinrich von Anhalt, als dieser den Stiftsherren von Goslar
eine Vergünstigung gewährt. 2) Als Zeugen treten hierbei auf:
Comes Hoyerus de Valkensten, borchgravius Hermannus de
Wetin, Henricus de Gniz, Conradus Maketserf, Conradus
Slichting, Hugoldus de Reder, Eico de Repechowe, Con-
radus dapifer de Waldeser, Olricus dapifer de Welsleve, Helem-
bertus de Hekelinge, Conradus de Mandere, magister Wal-
therus de Aken, Estwinus vicedominus, Rudolffus canonicus.
In einer ganz veränderten Umgebung begegnet uns Eike
wieder auf dem Landding zu Delitzsch im Jahre 1224 beim
Landgrafen Ludwig von Thüringen.^) Der Landgraf erteilt
hier dem Kloster Altzelle eine Urkunde und zieht bei diesem
Akt folgende Zeugen hinzu : Theodericus praepositus de Monte
Sereno et Jacobus capellanus suus, Wrezlaus filius regis Boe-
miae, Meinherus burchravius Misnensis, Hogerus de Wride-
berg, Wolferus de Pesne, Gevehardus de Zurbeke, Hermannus
de Sconenburg, Eico de Ribecowe, Conradus de Landesberg,
Fridericus de Marus et Wernerus frater eins, Albertus de Bele.
^) V. Posern-Klett, Zur Geschichte der Verf. der Markgrafschaft
Meißen im 13. Jahrhundert. Mitt. d. d. Ges. z. Erforsch, vaterl. Sprache
u. Altert, in Leipzig, Bd. 2, S. 30.
*) Cod. dipl. Anhalt. II, Nr. 32. Urkundenbuch der Stadt Goslar
I, Nr. 400.
^) O. Dobenecker, Regesta diplomatica necnon epistolaria hist.
Thuringiae II, Nr. 2138.
Eike von Repgow. 405
Nur noch einmal, neun Jahre später, 1233, taucht Eike
auf und zwar in Salbke iuxta pontem, als die Markgrafen
Johann und Otto von Brandenburg dem Kloster Berge bei
Magdeburg in Gegenwart des Grafen Bederich von Dorn-
burg und der Schöffen der Grafschaft, zu der die Gerichts-
stätte zu Salbke bei der Brücke gehört, ihr Erb und Eigen
zu Billingsdorf auflassen. i) Eine zahlreiche Zeugenschaft ist
zugegen und wird nach Rang und Stand uns vorgeführt.
Zuerst die illustres viri: consanguinei nostri (d. h. der Mark-
grafen Johann und Otto von Brandenburg) Henricus comes
Ascharie, Henricus et Bernardus filii ipsius, Willebrandus
maioris ecclesie Magdeburgensis prepositus, Theodericus de
Dobin. Sodann die nobiles: Theodoricus de Treban, comes
Conradus de Regensten, Albertus de Arnsten. Darauf die
scabini eiusdem cometie: Hinricus scultetus, Conradus de Co-
thene, Bernardus de Ekkehardestorp, Hinricus Leo, Hinricus
de Bigere, Burchardus et Herdovicus fratres de Wallesleve und
Heidenricus preco (Frohnbote), mit dem die Schöffenbank
also abschließt. Es folgt nun für sich stehend: Eico de
Repchowe. Auf ihn endlich die fideles nostri, die Ministe-
rialen der brandenburgischen Markgrafen: Henricus et filii
ipsius de Stendale Johannes et Henricus, Gozwinus de Boi-
zeneburc, Alvericus de Kerchowe, Herwicus de Wellen, Wille-
kinus de Turnowe, Bertramus de Swaneberch, Burchardus de
Irckesleve, Engilhardus de Hvethorp, Engilboldus et Johannes
filii ipsius de Slevenitz, Liudgerus et Theodoricus et Henricus
de Weddighe, Johannes de Haldegestorp.
Die sechs Urkunden können uns manche Frage beant-
worten, manches neue Rätsel geben auch sie wieder auf.
Daß wir den Verfasser des Sachsenspiegels auf einem Grafen-
ding zu Mettine, auf einem Landding zu Delitzsch und end-
lich auf einer Dingstätte in Salbke finden, hat das allgemeine
Interesse immer in ganz besonderem Maße erregt. Bei den
Gerichtshandlungen, an denen wir ihn teilnehmen sehen,
handelt es sich freilich nicht um Prozesse in Straf- oder
Zivilsachen, sondern lediglich um Akte, die in den Bereich
der freiwilligen Gerichtsbarkeit fallen, um Beurkundungen,
^) Urkundenbuch des Klosters Berge b. Magdeburg, Nr. 88.
406 Walter Möllenberg,
die ZU größerer Bekräftigung sich des Dingzeugnisses be-
dienen. Die Gerichtszeugen brauchen wir dabei nicht not-
wendig auf der Schöffenbank zu suchen. Wir haben kein Recht,
aus den Urkunden mehr herauszulesen, als sie beweisen
können. Man kennt die durch Homeyer, den verdienstlichen
Herausgeber des Sachsenspiegels, populär gewordene An-
schauung, daß Eikes Schöffenstuhl zu Salbke stand, daß
die Dingstätte zu Salbke der Grafschaft Billingshohe an-
gehöre, und daß Graf Hoyer von Falkenstein hier Richter
gewesen sei, , »gewohnt, das Urteil zu fordern", und Eike ein
Schöffe, „berufen es zu weisen". Hieran ist so ziemlich alles
falsch. Die Salbker Urkunde selber verrät uns, in welcher
Grafschaft die Dingstätte zu Salbke liegt und wer hier
Richter ist: es ist nicht Graf Hoyer von Falkenstein und die
Grafschaft Billingshohe, es ist die Grafschaft Bederichs von
Dornburg, die auch als Grafschaft Mühlingen bezeichnet zu
werden pflegt. Den Umfang der Grafschaft wissen wir ziem-
lich genau: die Saale bei Calbe und Nienburg bildet ihre
östliche Grenze, Unseburg, Altenweddigen, Schwaneberg und
Deutsch-Salbke sind ihre westlichsten Punkte, Sülze und
Elbe begrenzen sie im Norden und Osten. Im Besitz der
Grafen von Dornburg ist sie seit dem Ende des 12. Jahr-
hunderts. Die gewöhnliche Dingstätte ist nicht bei Salbke,
sondern bei Mühlingen. i) Das in der Salbker Urkunde ge-
nannte Billingsdorf, heute eine Wüstung südlich von Süll-
dorf und Dodendorf, hat mit der vielgenannten Dingstätte
zum Billingshoch nichts gemein, die man im Felsenberg bei
Ebendorf und Dahlenwarsleben wiederzufinden glaubt. Die
nach dieser Dingstätte benannte Grafschaft zum Billingshoch
berührt mit Sülldorf, Osterweddingen, Dodendorf und Wen-
disch-Salbke die Nordgrenze der Grafschaft Mühlingen, ihre
natürliche Ostgrenze bildet die Elbe bei Fermersleben, Buckau,
Magdeburg und Frohse, ihre Westgrenze verläuft über Langen-
weddingen, Gr.- u. Kl.-Rodensleben, Wellen, Irxleben, Gr.-
u. Kl.-Santersleben, Schackensleben bis über Glüsig und
Wedringen hinaus, im Norden erstreckt sie sich über die
1) über die Grafschaften Mühlingen und Billingshoch vgl. F.
Winter in den Geschichtsblättem für Stadt u. Land Magdeburg, Jgg. 9
(1874), S. 281 ff.
Eike von Repgow. 407
Ohre bis zu der großen Colbitzer und Letzlinger Heide. Als
Inhaber der Grafschaft zum BiUingshoch tritt 1142 Graf
Burchard von Falkenstein auf, dem 1174 sein Sohn Otto
folgt. Von Otto von Falkenstein geht sie auf die Markgrafen
von Brandenburg über, von diesen 1316 auf die Erzbischöfe
von Magdeburg.
Eine Legende haben wir zerstören müssen, und auch der
berühmte Schöffenstuhl Eikes bei Salbke wird der Kritik
nicht standhalten. Wir sahen selber, daß die Salbker Ur-
kunde Eike seinen Platz ausdrücklich außerhalb der Schöffen-
bank hinter dem Frohnboten anweist. Er steht gewisser-
maßen für sich allein auf der Dingstätte: unter all den illu-
stres viri, den nobiles, den Schöffen der Grafschaft und den
brandenburgischen Ministerialen. Weder hier, noch auf dem
Landding zu Delitzsch, noch auf dem Grafending zu Mettine
muß er ausgerechnet als Schöffe erschienen sein. Nicht die
Dingpflicht hat ihn auf die drei Dingstätten geführt; man
müßte sonst annehmen, was fast unmöglich ist, daß er drei
Schöffenstühle besessen hätte. Es liegt wohl näher, daß er
die Dingstätten mehr zufällig besucht, weil er sich gerade
im Gefolge des Fürsten Heinrich von Anhalt, ein andermal
des Landgrafen Ludwig von Thüringen, ein drittes Mal der
brandenburgischen Markgrafen befindet. Stand er vielleicht
zu ihnen nacheinander in einer Art Dienstverhältnis? Das
ist ein Schluß, den die Urkunden sehr wohl zulassen und
sogar wahrscheinlich machen. Nur um ein freieres Dienst-
verhältnis könnte es sich freilich handeln, etwa als Ratgeber
in Rechtsangelegenheiten. Ein eigentliches Amt hätte er
sicher verschmäht, sein Stolz sträubte sich gegen die Min-
derung des ,, Rechts", die mit dem Amt verknüpft sein
konnte (Ssp. III 28, l), und lieber setzte er den Wanderstab
weiter, als daß er sich in Abhängigkeit oder gar in die Mini-
sterialität, in Unfreiheit, begab.
Die mehrfach in den Sachsenspiegel eingestreuten Be-
merkungen über Mark und Markgraf und deren rechtliche
Sonderstellung dürfen wir ohne Bedenken aus persönlicher
Anschauung Eikes herleiten und auf seinen zeitweiligen Auf-
enthalt in den Marken Meißen, Lausitz und Brandenburg
deuten. Lassen doch die Urkunden auf mehrfache Bezie-
408 Walter Möllenberg,
hungen Eikes zu den Markgrafen schließen, besonders zu
dem Markgrafen Dietrich von Meißen. In seiner Kaiser-
treue fand Eike in Dietrich einen Gesinnungsgenossen, von
dem Herr Walter von der Vogelweide rühmt:
der Missenaere
der st iemer iuwer äne wan:
von gote wurde ein enget i verleitet (12, 3).
Wie Eike, so steht Dietrich auf der Seite König Philipps,
und wieder wie Eike tritt er nach Philipps Ermordung ohne
weiteres für den Weifen Otto ein, um erst gegen dessen Ende
zu dem Staufer überzugehen. So mochten Eike mit des
Meißners Hof, an dem neben Herrn Walter der Minnesänger
Heinrich von Morungen ein häufiger Gast war, manche
Fäden verbinden.
Nicht weniger häufig bezeugt sind Eikes Beziehungen
zu Heinrich I. von Anhalt, dem Grafen von Ascharien. Es
mag für Eike freilich nicht leicht gewesen sein, zwischen
Heinrich und Dietrich zu wählen, als der Markgraf im Jahre
1217 als Parteigänger des Staufers Friedrich die Askanier
mit Krieg überzog, Anhalt verwüstete und zweimal die dem
Repgowschen Stammgut benachbarte Stadt Aken belagerte.
In der Weltchronik hallt etwas nach von dem Kampf und
Kriegsgeschrei, doch leidenschaftslos gibt Eike nur ein paar
Hinweise auf diese Ereignisse, ohne zu ihnen Stellung zu
nehmen. Allein aus der Häufung von Nachrichten über
Krieg, Brand, Verheerung und Hungersnot kann man er-
messen, mit wie bekümmertem Herzen Eike sein teures
Sachsenland unter dem Streit der Parteien leiden sah.
Wir können nicht einmal sagen, auf wessen Seite Eike
in dem Streite Graf Heinrichs mit dem Nienburger Abt
Gernot steht. An Gernot, der dem Grafen die Vogteigerecht-
same bestritt, wurde die grausame Strafe vollzogen, die der
Spiegier selber jedem androht, der sich unberechtigt anmaßt,
unter Königsbann zu dingen: desal — so heißt es im Sachsen-
spiegel — , wedden sine fangen. Daß man den der Zunge
beraubten Abt auch noch blendete, konnte Eike unmöglich
billigen. Fast klingt es wie ein Vorwurf gegen Graf Heinrich,
wenn der Chronist die Blendung überhaupt erwähnt, als
Eike von Repgow. 409
wollte er sich gegen die Untat verwahren, die sich auf keine
Weise entschuldigen ließ.
Waren es Unstimmigkeiten solcher Art, die Eike ver-
anlaßten, den Hof des starrsinnigen Askaniers zu verlassen
und den des hochgepriesenen Landgrafen Ludwig von Thü-
ringen aufzusuchen? Die sittenstrenge Zucht, die hier den
heiteren Glanz der Tage Landgraf Hermanns und seiner
fahrenden Sänger abgelöst hatte, die Zucht, bei der Werke
der Liebe wie himmlische Rosen blühten und der Ort, wo
Heilige wandelten: das war es, was Eike eintauschen konnte.
Leider schweigt die Überlieferung, und nur die Phantasie
vermag sich weiter mit diesen Dingen zu beschäftigen.
Was mag alles zwischen diesen Jahren 1224 und 1233
liegen, von dem wir keine Kunde haben: vielleicht die
Höhepunkte in Eikes Leben, Zeiten des Reifens und des
Vollendens, die uns den Sachsenspiegel und die Sächsische
Weltchronik schenkten. Nur in jahrelanger mühevoller
Sammelarbeit können beide Werke entstanden sein. Sie
gingen wohl nebeneinander her, da sie sich gegenseitig er-
gänzen. Eine genauere Datierung wird immer unmöglich
sein. Daß der Sachsenspiegel auf diese Jahre zurückgeht,
zeigt die Erwähnung eines Landfriedens, den die keiserlike
gewalt gestediget hevet dem lande to Sassen, der auf einen
Sächsischen Landfriedenstext des Jahres 1223 (oder früher)
gedeutet wird. Das auf dem Mainzer Reichstag des Jahres
1235 neugegründete Herzogtum Braunschweig nennt der
Sachsenspiegel noch nicht unter den Fahnenlehen im Lande
Sachsen. Die S. Weltchronik, soweit sie auf Eike selbst
zurückgeht und nicht auf seine Fortsetzer, reicht nicht hin-
aus über das Jahr 1225; auch das spricht für diese Zeit.
Geschichtlich beglaubigt ist nur noch eins: Eikes Freund-
schaft mit Graf Hoyer von Falkenstein, dessen Name mit
dem Sachsenspiegel unlöslich verknüpft ist. Wir können die
beiden schon am Hofe Heinrichs von Anhalt nebeneinander
sehen. Graf Hoyer verdiente es wohl, einmal mehr hinein-
gestellt zu werden in das helle Licht der Geschichte. Ein
mächtiger Dynast, reich an ausgedehntem Besitz, beseelt
von großem Ehrgeiz, erfüllt von dem Streben nach Erweite-
rung seiner Macht, fehdelustig: so erscheint er vor allem in
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 27
410 Walter MöUenberg,
seinem rücksichtslosen Kampf mit der Äbtissin Sophia von
Quedlinburg um die Quedlinburger Stiftsvogtei.^) Auch in
ihm verkörpert sich sozusagen die konservative Tendenz
seiner Zeit, die der aufstrebenden Territorialgewalt in den
Weg tritt, als deren Repräsentantin wir die Äbtissin an-
sehen dürfen. Der jahrelange voll Haß und Leidenschaft mit
allen Mitteln geführte Kampf interessiert uns hier nur, so-
weit der Chronist der Sächsischen Weltchronik dabei Partei
ergreift und in der Vertreibung der Äbtissin eine gerechte
Sühne für ihre „Missetat" sieht (c. 364).
Eine gemeinsame Grundstimmung kennzeichnet Eikes
Verhältnis zu Graf Hoyer. Fabelkunst hat es mannigfaltig
ausgeschmückt, Romandichtung sich des Stoffes bemächtigt:
wie Eike auf Hoyers Burg Falkenstein im Selketal sitzt und
den Sachsenspiegel schreibt. Noch heute zeigt man auf der
Burg ein Turmgemach als Eikes Behausung. Wir brauchen
diese Butzenscheibenromantik nicht, uns genügt es, was Eike
selber über die Entstehung des Sachsenspiegels erzählt: von
dem ersten Rechtsbuch, das er ohne Hilfe und Lehre latei-
nisch abgefaßt hatte, von den Angriffen, die der ungelehrte
Autor zu erdulden gehabt, von der tiefen Mutlosigkeit, die
ihn darüber ergriffen, von dem freundlichen Zuspruch Graf
Hoyers und seinem Rat, es einmal mit der deutschen Sprache
zu versuchen, und wie dann schließlich durch die herzlichen
Bitten des Grafen die letzten Bedenken Eikes zerstreut wur-
den und das Rechtsbuch als Sachsenspiegel seine Auferste-
hung fand. Für alles spricht der Autor dem Freunde seinen
Dank aus und setzt den Dank gleichsam als Widmung vor
das Buch in Reimversen.
Die 280 Verse der Reimvorrede zum Sachsenspiegel sind
nicht aus einem Guß geformt; man hat sie schon früh als
zwei selbständige Teile erkannt, die nach Form und Inhalt
deutlich voneinander zu sondern sind. 2) Der zweite Teil
(V. 97—280), in kunstlosen Reimpaaren gedichtet, plan-
^) Grosse, Zur Verfassungsgeschichte Quedlinburgs (1024 — 1237).
Ztschr. d. Harzver. f. Gesch. u. Altert, Jgg. 49 (1916).
2) Vgl. G. Frommhold in der Ztschr. der Savigny-Stift. für
Rechtsgesch., Bd. 13, Germ. Abt. Weimar 1892, S. 125 ff. Roethe
a. a. O.
Eike von Repgow. 411
mäßig durchdacht und disponiert, reicher an Bildern, tiefer
an Gedanken, gilt als das eigentliche Vorwort. Got hat die
Sachsen wol bedacht, sint diz buch ist vorgebracht den täten
al gemeyne — das sind stolze Worte, mit denen Eike sein
Werk einführt. Er möchte wünschen, daß es nicht in un-
rechte Hände gerät, denn die Zahl der gottesfürchtigen und
rechtlichen Menschen ist gering, und dem Verfasser ist die
Unzulänglichkeit seines Buches wohl bewußt. Er hat das
Recht nicht erdichtet, er will nur das gute alte überlieferte
Recht der Vorfahren wiedergeben und zwar vornehmlich
sächsisches Recht.
Spigel der Saxen soll das Buch daher genannt werden,
wende Saxen recht ist hiran bekant,
als an einem spiegele de vrouwen
ire antlize beschouwen.
Zum Schluß gibt er noch genaue Weisungen, wie es
richtig zu benutzen ist, und spricht einen kräftigen Fluch
aus über jeden, der sich unterfangen wird, Zusätze zu
machen oder Verdrehungen vorzunehmen:
de meselsucht müze in bekliben,
und
Sver des tübeles ane ende
wolle wesen, der sende
ime diz orkunde
unde vare zu der helle gründe.
Diese Gedanken nimmt der erste Teil der Reimvorrede
in 12 kunstvollen Strophen zu je 8 Versen noch einmal auf.i)
Im Ton einer Hohnrede, mit der Herr Walter v. d. Vogel-
weide einmal einen neidisch kritisierenden, poetischen Kon-
kurrenten abgefertigt hat (18, 1 — 14), wendet sich Eike gegen
die zahllosen Verleumder und Widersacher, die ihm und seinem
Werke inzwischen erstanden sind. Man muß die ergreifen-
den Worte auf sich wirken lassen, um die Tragik zu ver-
stehen, die dem Leben des Spieglers nicht fremd ist. Wie
ein Wild, daz di hunde buffen an, steht er am Ziele {zu rame),
^) Roethes eindringliche Untersuchungen über die Reimvorreden
wollen den Nachweis erbringen, daß die erste Rvrde. nicht von Eike
stammt. Zwingend ist dieser Beweis nicht, so scharfsinnig er geführt
wird. Daß sich ein anderer so in Eikes Seele versetzt haben könnte,
läßt sich nur schwer vorstellen.
27*
412 Walter Möllenberg, Eike von Repgow.
aber mit unsagbarer Verachtung blickt er herab auf das
Gehudel der offenen und versteckten Gegner und fordert sie
höhnisch heraus zum Wettkampf:
Maniger wanet: ein meister sin
binnen sineme krenge,
de kume bleve ein meisterlin,
liefe er mit mir die lenge.
Wohl durfte er stolz sein und sich einen Meister nennen,
sah er zurück auf das Werk seines Lebens, das größer war,
als er vielleicht selbst ermessen konnte. Hat doch der Sachsen-
spiegel die Rechtsentwicklung in Deutschland und weit über
die deutschen Grenzen hinaus auf Jahrhunderte entscheidend
beeinflußt und ist doch die Sächsische Weltchronik der Aus-
gangspunkt einer deutschen Geschichtschreibung geworden,
der sie Vorbild und Anregung gegeben hat.i)
Wie einen Landfahrer sahen wir Eike von einem Fürsten-
hof zum anderen ziehen, vielfach angefeindet und verkannt,
einsam fast im Bewußtsein seiner sittlichen Größe. Ein
Kämpfer auf seine Art für Wahrheit und Recht — so ist
er eines Tages ins Grab gesunken — irgendwo. Die über-
lebenden Zeitgenossen haben ihn, wie es scheint, vergessen,
aber seine Werke zeugen laut von ihm bis an das Ende
aller Dinge.
1) Zeumer a. a. O.
Vitam et sanguinem!
Von
Heinrich Marczali.
Es gibt kaum eine Szene in der ungarischen Gescliichte,
die nebst ihrem unmittelbaren Effekt eine so nachhaltige
Wirkung auf unseren Staat und auch auf die allgemeinen
politischen Verhältnisse ausgeübt hätte, wie das am 11. Sep-
tember 1741 im Königsschlosse in Pozsony (Preßburg) vor-
gefallene Ereignis. Was noch wichtiger ist: es war eine
Offenbarung der Volksseele und hat in deren Entwicklung
und Erhebung Epoche gemacht. Es ist daher eine wahrhaft
historische Aufgabe, sie in allen Einzelheiten zu erforschen
und in allen ihren Resultaten klarzustellen.
Wir wollen uns mit der psychologischen Seite des Er-
eignisses beschäftigen.
Ist der Entschluß, der Ungarn wieder zu einem maß-
gebenden Faktor der europäischen Politik machte, rein unter
dem Einflüsse der traurigen Worte der Königin, mehr noch
unter dem unwiderstehlichen Zauber ihres betrübten Ge-
sichtes, dem Bilde der verfolgten Unschuld entstanden?
Oder war der Boden dazu schon so gut vorbereitet, daß
die schöne Fürstin in jenem historischen Augenblick nur
die reife Frucht ihrer und ihrer Getreuen Bemühungen zu
pflücken brauchte? Zur Lösung dieser Frage möchte ich
einige Daten vorführen, die bis jetzt der Aufmerksamkeit
der Forscher entgangen sind.
414 Heinrich Marczali,
Den Ausdruck „vitam et sanguinem'' hat, nach Arneth,
zuerst Gr. Johann Pälffy benützt, als er, nach seiner Er-
wählung zum Palatin, am 22. Juni im Thronsaale den her-
kömmlichen Eid in die Hände der Königin ablegte. Der
berühmte österreichische Gelehrte, der sich die Erforschung
und Darstellung der Geschichte Maria Theresias zum Lebens-
ziele setzte, spricht es auch aus, daß ,, dieser Ausdruck hier
zum ersten Male vorkommt", i) Er erwähnt dann dieser Sen-
tenz nicht bis zum 11. September, so daß deren Benützung
bei ihm ganz vereinzelt erscheint.
Wir können den Beweis dafür liefern, daß diese Rede-
wendung auch schon früher gebraucht wurde. Sehen wir
den Seelenzustand, dem sie entsprungen ist.
Es ist bekannt, daß der Reichstag von 1741 stark oppo-
sitionell gesinnt war und daß den Ständen vor allem die
gesetzliche Heilung der Beschwerden (Gravaminä) am Herzen
lag. An Gründen zu diesen Beschwerden mangelte es durch-
aus nicht. Auf dem Reichstage von 1728/9 war es sowohl
in der Frage der Besteuerung von Grund und Boden, als
in der Frage, ob man die Protestanten wegen Verweigerung
eines ihrer Religion widersprechenden Eidschwures aus dem
Reichstage ausschließen könne, zu einem offenen Bruche
zwischen Hof und Ständen gekommen. Diese Fragen waren
seitdem ungelöst geblieben und bildeten eine stete Quelle
der Unzufriedenheit. Seitdem aber, seit zwölf Jahren, war
die Diät gar nicht einberufen worden. Die Würde des Pala-
tins war, gegen das Gesetz, seit zehn Jahren nicht besetzt.
Seit 1732 stand Franz von Lothringen, später Gemahl der
Königin, als Statthalter an der Spitze der Regierung. In
dem 1737 ausgebrochenen Türkenkriege wurden die ungari-
schen Heerführer nicht verwendet. Der allezeit getreue Graf
Johann Pälffy schrieb damals, daß er diese Schmach nie
verwinden, sondern mit sich ins Grab tragen werde. 2) Einer
der Führer der höfischen Partei, der kluge und geschmeidige
Präsident der kön. Tafel und der Ständetafel, Anton von
1) Maria Theresias erste Regierungsjahre, von Alfred Ritter von
Arneth, 1. Bd., S. 273 und S. 402. Die — nicht genannte — Quelle
ist: Gabriel Kolinovics, Nova Hangar iae Periodus S. 184.
*) Brief im Senioratsarchiv in Pozsony.
Vitam et sanguinem! 415
Grassalkovics, schrieb nach dem Frieden von Belgrad 1739
an den Vizekanzler Grafen Ludwig von Batthyäny: „dies ist
die Frucht der Verachtung unserer Nation".^)
Dabei erhöhten sich die Steuern von Jahr zu Jahr; die
Pest forderte Tausende von Opfern; die Verheerungen und
Übergriffe, wie der offizielle Ausdruck lautete: Exzesse, der
kaiserlichen Soldaten verleideten dem Bauer das Leben und
schlugen manche Bresche in die Vorrechte des Adels. Und
jetzt macht die Lage der Dinge in Europa die Opposition,
ja die Herausforderung des Hofes gar leicht. Das Heer der
Königin wurde noch vor dem Reichstage bei Mollwitz von
den Preußen geschlagen, Franzosen und Bayern hatten sich
schon Oberösterreichs bemächtigt und bedrohten Wien und
Prag. Kein Wunder, daß die österreichischen Minister Ungarn
schon in Flammen erblicken. War ja die politische Kon-
stellation für die Dynastie unzweifelhaft noch gefährlicher
als im Jahre 1703, als der Aufstand Räköczis ausbrach,
denn jetzt fehlte es an den verläßlichen Bundesgenossen, die
damals dem Kaiser beistanden. Die Erinnerung an die mehr
als ein Jahrhundert dauernden Aufstände bewirkte, daß die
Räte der Königin noch immer Ungarn als den nächsten und
deshalb gefährlichsten Feind betrachteten.
In den seit der Vereinbarung von Szatmär (1711) ver-
flossenen dreißig Jahren hatte sich die königliche Macht auch
in der Gesetzgebung nicht bloß zur überwiegenden, sondern
sozusagen zur alleinherrschenden Gewalt emporgeschwungen.
Auf dem Reichstage von 1722—23 haben die Stände den
königlichen Vorschlag zur Reform der Gerichtshöfe ver-
worfen. Die persönliche Intervention des Herrschers genügte
zur Annahme und Inartikulation des Vorschlags. Noch be-
zeichnender für das persönliche Regiment ist, daß der König
nach dem Reichstage von 1728—29 dem Komitat Trencs6n
geradezu verbot, seinen Abgeordneten, Herrn von Baerta-
kovics, den Führer der ständischen Opposition, wieder zu
wählen.
Langsam schwand der Zustand der Schwäche, in wel-
chen früher die Kämpfe gegen Türken und Deutsche, dann
*) Brief im Nationalmuseum Qu.-Lat. 168.
416 Heinrich Marczali,
der Aufstand Räköczis die Nation gestürzt hatten. Damals
war sie froii, wie die am meisten gebrauchte Phrase dieser
Epoche sagt, „in den Port eingelaufen zu sein". Jetzt
konnte sie ihre Segel wieder stolz und frei entfalten. Die
durch die Kriege gegen Türken und Franzosen zur schwin-
delnden Höhe emporgewachsene kaiserliche Macht war seit
dem Hinscheiden des Prinzen Eugen in stetem Verfall be-
griffen. Es hatte den Anschein, als ob mit dem Aussterben
des Mannsstammes auch das Reich der Habsburger seiner
Auflösung entgegensehen würde.
Den Mitgliedern und Führern des Reichstages konnte
es nicht verborgen bleiben, daß ein neuer Geist in die Ver-
sammlung eingezogen war. Bei einem Diner des Banus,
Grafen Josef Esterhäzy, an dem auch der Protonotar Niko-
laus von Jankovich zugegen war, sagte der alte Herr zu
seinen Gästen: „Es ist klar, daß diese Versammlung weit
über die früheren emporragt. Es gibt in ihr viel mehr weise,
gelehrte, scharfsinnige Männer. Früher, wenn ein anerkannt
kluger Abgeordneter eine Rede hielt, hörten ihm alle zu
und folgten ihm, wie wenn Apolls Orakel gesprochen hätte.
Jetzt aber leiden die Zungen der Nachbarn an dem Reize
der Rede, so daß sie selbst den klügsten Sätzen nicht folgen,
sondern sie widerlegen wollen. Die Stellen in der Regierung
möchten sie am liebsten mit unerfahrenen Leuten besetzen.
In den Sitzungen wollen sie sich nicht mit der Kenntnis
der Gesetze und guter Gewohnheiten einen Namen machen,
sondern mit Übermut und Selbstlob. Mit solchen Mitteln
wünschen sie ihre unwissenden und in den öffentlichen
Angelegenheiten unerfahrenen Söhne oder Klienten im
Statthaltereirat und in den Gerichtshöfen unterzubrin-
gen."i) -
Diese scherzhafte Rede des Banus liefert zugleich einen
sehr interessanten und lehrreichen Beweis dafür, daß diese
ständischen Reichstage doch nicht so entfernt von dem Be-
streben waren, auf die Besetzung der Regierungsstellen Ein-
fluß auszuüben, als man es nach ihrer Organisation und
ihrer öffentlichen Wirksamkeit voraussetzen sollte.
1) Am 4. Juni, Kolinovics, 1. c. S. 97—98.
Vitam et sanguinem! 417
Auch in Äußerlichkeiten gab sich der zu neuer Kraft
gediehene nationale Geist kund. Die ganze Ständetafel er-
schien in ungarischem Kostüm, schwarz, weil das Trauerjahr
um König Karl III. (Kaiser Karl VI.) noch nicht abgelaufen
war. Auch bei den Magnaten zeigten sich nur wenige im
deutschen Hofkostüm. Ein deutsches Wort konnte hellen
Zorn entfachen. Als ein Graf einige Worte in dieser Sprache
sprach, schrie Adam v. Acsädy, Bischof von Veszprem, ehe-
mals Hofkanzler: ,,wer T.... spricht hier deutsch?" Ein
sehr verbreitetes Pasquill trug den Titel: „Valedictio ünga-
riae ad Germanos" — Abschied Ungarns von den Deutschen.
Dieser neue, stark oppositionelle Geist verursachte auch
in verhältnismäßig unbedeutenden Angelegenheiten Aus-
brüche der Heftigkeit und Leidenschaft. Die wahre parla-
mentarische Schlacht aber wurde um die Feststellung des
königlichen Inauguraldiplomes und des Krönungseides noch
vor der Krönung geschlagen. Der Einzug der Königin war
für den 20., die Krönung für den 25. Juni festgesetzt. Bis
dahin mußte diese wichtige, die ganze Verfassung sichernde
und womöglich mit neuen Garantien verschanzende Arbeit
fertiggebracht werden.
Die Ständetafel beschloß am 2. Juni, auf Vorschlag ihres
Präsidenten Grassalkovics, die Zusammenstellung der Be-
schwerden nach den Distrikten (diesseits und jenseits der
Donau, diesseits und jenseits der Theiß, Kroatien). Diese
Beschwerden sollen dann als Substrat zur Basis der even-
tuellen Änderung und Erweiterung des königlichen Diplomes
dienen. Die Distrikte waren am 12. Juni mit dieser Arbeit
fertig. Zwei Tage später schlägt Grassalkovics die Entsen-
dung einer Regnicolar-Deputation vor, an welcher auch die
Magnatentafel teilnimmt und welche auf Grundlage der
Distriktualarbeiten das neue Diplom entwerfen solle. Die
Stände, später auch die Magnaten, nahmen den Vorschlag
an. Doch erhob sich bei der Oberen Tafel eine Debatte
darüber, ob ein Geistlicher Präsident dieser Deputation sein
kann. Die Frage wurde, nachdem mehrere Bischöfe und der
Banus dafür gesprochen hatten, bejaht. So wurde seinem
Range gemäß Graf Gabriel Patachich, Erzbischof von Ka-
locsa, Präsident der Deputation. Der Kirchenfürst, der in
418 Heinrich Marczali,
seiner Residenzstadt den Gebrauch der serbischen Sprache
bei Stock- oder Geldstrafe verboten hat.^)
Außer dem Erzbischof war der hohe Klerus noch durch
den Bischof von Pecs (Fünfkirchen) und den Großprobst von
Szepes, den späteren Primas Barköczy, repräsentiert, die
Bannerherren durch den kgl. Oberstallmeister Grafen Franz
Esterhäzy, die Grafen durch den General Graf Georg Csäky,
den Obergespan Graf Thomas Berenyi, dann durch die
Grafen Paul Balassa und Leopold Draskovics, die Freiherrn
durch Baron Georg Ghyllänyi und Baron Johann Peterfy.
Auch die Delegierten der Ständetafel wurden der strengen
ständischen Sonderung gemäß gewählt. Die Protonotare
Sigismund von Pecsy, Nikolaus von Jankovich und Johann
von Terstyansky vertreten die königliche Tafel (Ober-
gerichtshof), der kroat.-slavonische Protonotar Adam von
Naissitz diese Länder, Adam Käroly, Domherr von Györ,
(Raab) den Klerus. Die Komitate waren vertreten durch
Ladislaus von Schloßberg (Pozsony) Georg v. Szentivanyi
(Nögräd), Alexander von Czompö (Sopron;Ödenburg), Franz
V. Szegedy (Veszprem), Johann v. Okolicsänyi (Zemplen),
Franz v. Kubinyi (Gömör), Samuel v. Patay (Szabolcs), Sigis-
mund V. Andrässy (Csongrad), die Städte durch die Depu-
tierten von Pozsony, Selmecz und Zägräb. Hierzu kamen
noch die Ablegati Absentium: Gabriel v. Pronay, der einen
ungarischen Herrn, und Nicolaus Bencsik, der einen Indi-
genen vertrat. 2)
Es fällt in die Augen, wie einheitlich ständisch und
oppositionell trotz aller scheinbaren Gegensätze diese Depu-
tation war. Nicht nur ihr Präsident bezeugt dies, mehr
noch die Teilnahme der Abgeordneten von Pozsony, Sopron
und Zemplen, der Führer der Opposition, unter welchen
sich besonders Joh. v. Okolicsänyi durch seine unbeugsame
Energie und seine Rednergabe auszeichnete. Ihr Elaborat
hatte in der Tat eine Verstärkung der Landesrechte und Frei-
heiten zum Ziele, wie sie bis dahin nur in der Wahlkapitula-
1) Historia Metrop. Eccl. Coloc. von Steph. Katona 11.72.
2) Diarium Diaetale. Manuskript des Ungar. Nationalmuseums.
Fol. Lat. 607.
Vitam et sanguinem! 419
tion Wladislaus' II. (1490) und in den königlichen Diplomen
des 17. Jahrhunderts errungen werden konnte. Im ständi-
schen Interesse war die vollständige, für alle Zeiten ver-
bürgte Steuerfreiheit des Adels ihre Hauptforderung, staat-
lich die vollkommene Entfernung jeglichen auswärtigen Ein-
flusses auf die vaterländischen Angelegenheiten, die Inte-
grität des Reichsgebietes, die Einverleibung Siebenbürgens.
Der Entwurf wurde von allen vier Distrikten angenommen.
Schon am 18. Juni konnte Grassalkovics melden, daß das
Elaborat, obgleich noch nicht ganz fertiggestellt, doch, grö-
ßerer Eile halber, verhandelt werden könne. Nachmittags
wird es diktiert — die Reichstagsakten werden erst seit
1790 gedruckt — , dann am 19. von beiden Tafeln verhandelt
und mit einigen Modifikationen auch angenommen.
Dieser in seinem ganzen Wesen und in allen seinen
Sätzen durch und durch oppositionelle Diplomentwurf wird,
durch den Reichstag in Begleitung eines Gesuches (Instantia)
der Königin unterbreitet. In diesem Gesuche begründen die
Stände, ihre Treue betonend, die von ihnen angestrebten
Änderungen des von König Karl III. bei seiner Krönung
1712 gegebenen Diplomes. Das Dokument schließt mit den
Worten: „Wir bitten Eure Majestät unterthänigst auch die
Ihr unterbreitete Modifikation des Krönungseides allergnä-
digst gutheißen zu wollen. Es wird dies ein ewiges An-
denken der Gnade Eurer Majestät zu dieser Ihr erblich unter-
thänigen Nation sein. Für Welche Gut, Leben und Blut
eifrigst zu opfern für uns der allergrößte Gewinn und Ruhm
sein wird. Wir wollen vor aller Welt bezeugen, daß die
Stände dieses Reiches, das unter den Reichen Eurer Maje-
stät das erste ist, was Liebe, Treue und Opferwilligkeit an-
belangt, hinter niemanden zurückbleiben. "i) Unterschrieben
sind: „Eurer Majestät unterthänige Kapläne und Diener,
getreue, erbliche Unterthanen, die in Pozsony versammelten
1) Pro qua fortunas vitam et sanguinem alacriter profundere, in
lucri et gloriae prima polissimaque parte numerabimus, et orbi testatum
facere studebimus, Status et Ordines Regni istius, quod Majestatis Ves-
trae Regnorum primum est, in amore, fidelitate et devotione nulli secundas
futuros. — Coronatio Serenissimae Mariae Tfieresiae in Reginam Hun-
gariae. Schwandtner, Scriptores II. 587 — 588.
420 Heinrich Marczali,
Stände Ungarns und seiner Nebenländer" und in ihrem
Namen „Frater Emericus", der Primas Emerich Esterhäzy,
und Graf Johann Pälffy, Iudex Curiae.
Gewiß ist diese Adresse ein charakteristisches Denkmal
der Gesinnung, nicht bloß des Reichstags, sondern der ganzen
Nation. Neben dem kräftigen Ausdrucke der nationalen
Tradition, der seit Jahrhunderten wiederholten Beschwerden
und Forderungen, und als ihre Ergänzung, findet sich in ihr
eine Wärme der dynastischen Treue, der Anhänglichkeit an
die geheiligte Person des Königs, wie sie seit den Tagen
Ludwigs des Großen, seit bald vierhundert Jahren, wohl
ohne Beispiel war. Da der König von Ungarn nicht mehr
deutsch-römischer Kaiser ist, ist dieses Reich unter seinen
Reichen das erste. Das Recht, sowie die Pflicht, seine Macht
zu erhalten, fällt also in erster Linie dieser Nation zu. Um
diese große Aufgabe lösen zu können, muß die Nation selbst
frei, sicher, mächtig sein.
Wir müssen hervorheben, daß „vitam et sanguinem'' hier
nur ein Teil des Anerbietens ist. Auch das Gut: fortunas
wird angeboten. Eine Beschränkung wie: vitam et sangui-
nem — sed avenam non, wie sie die viel spätere Anekdote
vorspiegelte — lag diesen gesunden, kräftigen Männern
ferne. ^)
Diese Adresse wurde also, wie wir gesehen, am 18. Juni
von den Ständen verhandelt und angenommen. Nachmittags
wurde sie diktiert, so daß auch die Reichstagsjugend, deren
Obliegenheit die Vervielfältigung der Reichstagsakten war,
ihren Inhalt kennen mußte. Am 19. wurde sie bei der Obern
Tafel verhandelt und angenommen. Hier erregte es großen
Anstoß, daß in einer so wichtigen Angelegenheit die Stände
vor den Prälaten und Magnaten schon ihren Beschluß ge-
faßt hatten. Auch hier war der Protonotar Sigismund von
Pecsy Referent, dem als solchen während der Verhand-
lung ein Sitz zwischen den hohen Herren angewiesen wurde
1) Schon die Gesetze des 16. Jahrhunderts enthalten dieses An-
erbieten, So: 1554. 1. Non parcentes rebus, fortunis et vitae etiam pro-
priae. 1556. 1. sese, vitam, fortunasque cor am Status offerunt. 1557.
1. vitam et fortunas profundere paratos. 1566. 3. pro ipsius Majestate
et dulci Patria sanguinem cum vita profundere.
I
Vitam et sanguinem! 421
und zwar ein sehr vornehmer: gleich nach den Reichs-
baronen.
Dem Herkommen gemäß waren die Protonotare (die
rechtsl<undigen Beisitzer der Oberrichter: des Palatins, des
Iudex Curiae und des Personals, d. i. des königlichen Stell-
vertreters in Justizsachen), die Verfasser und Referenten der
Schriften unserer ständischen Versammlungen. Wir müssen
also in erster Linie Sigismund von Pecsy für den Verfasser
des historisch gewordenen Satzes halten. Doch dürfen wir
nicht aus den Augen verlieren, daß Pecsy Protonotar
des Oberstlandesrichters {Iudex Curiae), also des Grafen
Johann Pälffy war, noch auch, daß Grassalkovics an den
Arbeiten der Deputation sehr tätig Anteil genommen
hat. Diese beiden Staatsmänner konnten sehr wohl dafür
sorgen, daß die so oppositionelle Adresse wenigstens in
einer höchst loyalen Hülle erscheine. Es wird also der
wahre Autor sehr schwer zu finden sein, um so weniger,
als über die Verhandlungen in der Deputation nichts
Schriftliches vorliegt, und die Abfassung eines Protokolls
dieser Verhandlungen dem damaligen Usus gar nicht ent-
sprach.
Sobald das Wort geprägt ist, wird es auch gebraucht.
Am 20. Juni erfolgte der königliche Einzug; am 21. die
feierliche Eröffnung des Reichstages im Thronsaale. Nach
der kurzen Rede des Hofkanzlers in ungarischer Sprache
hielt die Königin eine Ansprache, in welcher sie die Stände
begrüßt und erklärt, sie wünsche nicht so sehr ihnen Herrin
als Mutter zu sein. Dann übergibt die Königin, wie es das
Herkommen erheischt, die königlichen Propositionen, d. h.
das vom Hofe gewünschte Arbeitsprogramm des Reichstags,
dem Hofkanzler, der sie, da noch kein Palatin gewählt war,
dem Primas überreicht. So beantwortet nun Frater Eme-
ricus im Namen des Reichstages die königliche Thronrede.
Diese Antwort spricht die Hoffnung aus, daß die ungarische
Nation, durch so viele Schicksalsschläge auf die Probe ge-
stellt und dem Verderben nahe, nun durch die Weisheit
und Güte der Herrscherin zu neuem Leben erblühen werde.
Er erklärt im Namen der Stände, als heiliges Gelöbnis, daß
sie bereit sind, mit eifriger Seele für das Wohl und das
422 Heinrich Marczali,
Glück der königlichen Majestät Leben und Blut zu ver-;^
gießen. 1)
Die Wendung ist also beinahe wörtlich der Adresse ent-
nommen. Nur „fortunas" ist weggeblieben. Die Phrase ist
dadurch kürzer, martialischer geworden. In dieser Umprä-
gung benützt sie, wie schon bemerkt und bekannt, tags
darauf Graf Johann Pälffy, als neugewählter Palatin.
Doch erscheint das Wort nicht nur offiziell im Munde
der großen Herren. Während des Reichstags erschienen
Pasquille in Menge, sowohl in Versen als in Prosa. Ein-
zelne unter ihnen sind gegen Individuen gerichtet, doch die
große Masse will auch auf diese Weise dem nationalen Fühlen
dienen. Die von der Königin gewünschte Wahl ihres Ge-
mahles, des Großherzogs von Toskana, zum Korregenten
begegnete sehr starkem Widerstände und war alles eher als
populär. Es gibt einen Vers, welcher der allgemeinen Ansicht
über diese Neuerung in folgenden Worten Ausdruck verleiht:
„Weh mir elenden, verlassenen Waise, Dem einst so glück-
lichen, schönen Ungarland. Bis jetzt haben nur Deutsche in
ihm geschaltet. Jetzt sollen auch Franzosen in ihm walten^
Herren sein über all' unser Gut."
Doch macht die Opposition vor der Königin Halt: „Ich
weiß, daß Ihre Majestät daran keine Schuld trägt. Möge
also dein Herz Hoffnung zu ihr fassen. Auch menge ich
meine Königin nicht in diese Dinge, sondern preise sie mit
eifrigem Herzen bis zum Tode. So lange ich lebe, stehe
ich für sie in Waffen und bedauere nicht, meinen letzten
Blutstropfen für sie zu vergießen. "2)
Der loyale Auslaut dieses Pasquills wird noch inter-
essanter, wenn wir bedenken, in welchem Zusammenhange
dasselbe Wort fünfzig Jahre früher, noch vor Räköczi, ge-
braucht wurde:
,,Ich vergieße mein Blut für meinen Vater, für meine
Mutter. Ich lasse mich töten für meine schöne, beringte
1) Ita ex parte fidelium Statuum et Ordinum sancta fide promitti,
quod pro felicitate incolumitateque Suae Majestatis Reginae vitam et
sanguinem profundere alacri animo parati sint. Coronatio p. 582 — 583.
2) H. Marczali, Ungarn im Zeitalter Josefs II. 1,32—33.
Vitam et sangainem! 42S
Braut, ich sterbe noch heute für meine ungarische Nation",
lautet ein historisches Volkslied der Kuruczenzeit.
Seit der Hinrichtung Konts und seiner Gefährten durch
König Sigismund zu Ende des 14. Jahrhunderts war die
ungarische Muse, mit seltenen Ausnahmen, königsfeindlich
gewesen. Jetzt begann sie loyal zu werden wie zur Zeit
der nationalen Könige, der Arpäden und der Anjou.
„Worte gelten wie Münzen." Wie hat sich das Gepräge
geändert! Wie ist doch das reine Gold des Gefühles das-
selbe geblieben!
Doch war damit der Geist des Widerstandes nicht er-
storben. Nach der Krönung kam er wieder zur Herrschaft.
Die Königin wollte an dem Inauguraldiplom ihres Vaters
nichts ändern. Wohl war sie bereit, die berechtigten Wünsche
der Stände in besonderen Gesetzen zu erfüllen, doch hielt
sie vieles nicht für berechtigt. Die Unzufriedenheit war all-
gemein. Diese Unzufriedenheit wurde noch genährt durch
die Meinung, die Königin sei wohl geneigt, den Wünschen
der Nation zu willfahren, doch würden ihre guten Vorsätze
durch den Neid, die Mißgunst und die Habsucht ihrer deut-
schen Minister vereitelt.
Jedenfalls zeugt diese Meinung, welche die Person des
Herrschers von seinen Räten scheidet, von gesundem, kon-
stitutionellem Sinn. Auch daran können wir kaum zweifeln,
daß die vertrauten Getreuen Maria Theresias die Nach-
richten von dem Zwiespalte zwischen der Königin und ihren
Ministern verbreiteten und wissentlich wohl noch vergrö-
ßerten, schon deshalb, damit der Sieg, nach so hartem
Kampfe, um so ruhmvoller erscheine. Doch wurde auch
die Person der Königin in diesen Streit verwickelt. Ein
Pasquill klagt sie des Wortbruches an. Sie hat versprochen,
die Mutter der Nation zu sein, und hat sich in diesem Fuchs-
pelz in das Vertrauen der Ungarn hineingestohlen, um sie
dann verderben zu können. Andererseits war die Königin
durch das Mißtrauen beleidigt, durch die Aufzählung der
unter der Regierung ihres Vaters stattgefundenen ungesetz-
lichen Handlungen der Regierung tief gekränkt. Maria
Theresia hatte ritterlichen Gehorsam erwartet und oft trot-
zigen Widerstand gefunden in Angelegenheiten, die ihr am
424
Heinrich Marczali,
meisten am Herzen lagen. Als der Kampf um das Diplom
wogte (24. Juni), vergleicht der Botschafter von Venedig
die Sitzung dem polnischen Reichstag. Der Erzbischof von
Kalocsa fiel in Ungnade, weil er der Mitregentschaft des
Gemahles der Königin heftig opponierte. Später behaup-
teten die Abgeordneten, daß, wenn sich nichts erreichen
ließe, es besser wäre, den Reichstag zu schließen und nach
Hause zu gehen. Sie wären von ihren Absendern bedroht,
wenn sie so wenig mitbrächten. Viele gingen wirklich nach
Hause.
Hiezu kam noch der Vormarsch der Franzosen und
Bayern, der sämtliche nichtungarische Länder Maria There-
sias mit Wien bedrohte. Man muß die günstige Lage aus-
nützen, um möglichst viele und große Konzessionen zu er
langen, so lange diese Lage anhält. Jetzt ist ja die Königin
allein auf Ungarns Treue angewiesen. Joh. von Okolicsänyi
trat mit immer erneuten Forderungen auf.
Dies war die Stimmung der Ständetafel, bevor Maria
Theresia am 11. September den Reichstag zu sich ins Schloß
beschied. Die Eröffnung des Reichstags war im Zeichen
der vollen Loyalität vor sich gegangen, später trat die extrem-
nationale Strömung in den Vordergrund. Die kaum grünende
zarte Pflanze des Vertrauens zwischen König und Nation war
in Gefahr zu erfrieren.
Die Frage: freier Wille oder Determinismus ist eine der
tiefsten und schwierigsten Fragen der Psychologie und somit
auch der Geschichte. Steht Individuen und Nationen die
Freiheit des Entschlusses zu oder herrscht das strenge Gesetz,
der Zwang der notwendigen Folgen der Ursachen über
Massen wie über einzelne?
Auch die Nation hat ihre innere Seelengeschichte wie
das Individuum. Die einzelnen Momente dieser inneren
Geschichte sind nicht aus einem Gusse, selbst bei den ent-
schiedensten Personen fehlt die völlige logische Konsequenz.
Je reicher die Vergangenheit, um so mehr verzweigen sich
ihre Wirkungen, um so mehr Möglichkeiten des Entschlusses.
Hier ist der göttliche Funken: der Entschluß, die Tat, die
Frucht eines plötzlichen Affektes, dort die reflektierende
Wirkung von vergangenen Seelenzuständen. Der freie Wille
Vitam et sanguinem! 425
besteht in der bewußten Wahl des Individuums oder der
Masse, welche Phase ihrer eigenen Vergangenheit sie im
entscheidenden Augenblick für sich als Wegweiser an-
nehmen.
In jenen Tagen kämpfte in der ungarischen Volksseele
die Jahrhunderte alte, auf soviel Leid begründete Tradition
des Mißtrauens ihren Kampf gegen die auf gegenseitiges
Vertrauen fußende Hoffnung einer besseren Zukunft,
Diese erregten, oft erbitterten Kämpfe nahmen das Inter-
esse der Stände stärker in Anspruch als die Verwicklungen
der äußeren Lage. Für diese mangelte es in Ungarn — viel-
leicht zum ersten Male in seiner Geschichte — ganz an Ver-
ständnis. Nach Mohäcs hatte Siebenbürgen als selbständiger
Staat eine hochentwickelte Diplomatie, und auch die ungari-
schen Räte des Habsburger Königs waren in die' Staats-
geheimnisse eingeweiht. Die ein volles Jahrhundert lang
währenden Freiheitskämpfe gaben auch der protestantisch-
ständischen Opposition vollauf Gelegenheit, als Gesandte
oder im Senat in die auswärtigen Angelegenheiten Einblick
zu erhalten. Seit dem Frieden von Szatmär aber hatte
Ungarn ebensowenig eine Armee als eine Diplomatie. Wien
schloß es hermetisch vom Auslande ab. Wie Maria Theresia
später schrieb, waren dort die österreichischen Minister mit
den Böhmen in stetem Zwist und nur darin einig, die Ungarn
fernzuhalten.
Deshalb forderte der Reichstag für Ungarn einen Anteil
im Staatsministerium, welche Forderung auch gewährt
wurde (1741. Gesetzartikel 11). Bei der Beratung über,
diesen Gegenstand erntete Graf Thomas Berenyi den größten
Beifall. Er sagte: Ganz Europa weiß, daß die Minister der
Königin, in der Führung der Geschäfte geübt, auch den
schwierigsten Verhandlungen gewachsen sind. Weshalb?
Weil sie sich stets mit diesen beschäftigen. Die Ungarn
werden aber mit Verachtung von den Staatssachen 'aus-
geschlossen und können sich also diese Geschicklichkeit
nicht erwerben. Besäßen sie sie, so würden sie mit ihrem
Verstand, ihrer Sachkenntnis und ihrer Geschicklichkeit auch
die besten unter jenen nicht nur erreichen, sondern wohl
auch übertreffen. In diesem Punkte dürfen wir nicht schwan-
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 28
426
Heinrich Marczali,
ken, wollen wir nicht die dumme Fabel und Verleumdung
derer bestätigen, daß in Ungarn nur Ochsen und Wild ge-
deihen.
Es handelte sich also darum, Ungarn den ihm gebühren-
den Anteil an der Regierung der Monarchie gesetzlich zu er-
wirken. Nie waren die Voraussetzungen dazu so günstig
als in jenem Augenblick. Jahrhunderte lang waren die
Könige Ungarns zugleich Kaiser des römisch-deutschen
Reiches. Ihre Familientradition zog sie nach Westen; in
ihrer Politik spielte Ungarn selten die führende Rolle; trotz
aller sie dazu einladenden Gesetze kamen sie nur selten und
nie auf längere Zeit in dieses von Türken und Bürgerkriegen
zerfleischte Reich. Mit dem Aussterben des Mannesstammes
der Habsburger, mit der Thronbesteigung einer Frau, mußte
dieser Zusammenhang aufhören. Maria Theresia war vor
aller Welt „Königin von Ungarn und Böhmen", dieses Land
hatte also wohl das Recht, als das erste unter ihren Erb-
ländern zu gelten. War ja Ungarn schon im 15. Jahrhun-
dert, zusammen mit Böhmen und Österreich, unter der Re-
gierung der Habsburger; und galt es doch als selbstver-
ständlich, daß es die Residenz des Königs sein muß. König
Albrecht, der nur mit Einwilligung von Ungarn die römisch-
deutsche Krone erlangen durfte, lebte und starb in Ungarn.
Sein Sohn, Ladislaus V., erklärte bei seiner Großjährigkeits-
erklärung (Ende 1452), „ich bin ein Ungar und werde in
Ungarn wohnen". i) Ja selbst Ferdinand I. hat nach der Er-
oberung Budas (1527) ein ganzes Jahr im Lande verbracht
und nur die Erneuerung des Kampfes mit den Türken und
die daraus folgende Teilung des Reiches bewog ihn und seine
Nachfolger, das weniger bedrohte Wien oder Prag zu ihrer
Residenz zu erheben.
Jetzt war das Reich wieder eins, und waren auch die
Spuren der Jahrhunderte währenden Verheerungen nicht
verwischt, so begann in ihm doch frisches Leben zu sprießen
und das Vertrauen in eine schönere Zukunft konnte empor-
keimen. Hatte ja schon Prinz Eugen Ungarn als den mög-
lichen Schwerpunkt der Monarchie bezeichnet.
*) Aeneas Sylvias. Historia Friderici III.
Vitam et sanguinem! 427
War aber das Reich eins, war es erstarkt und voll Zu-
versicht in seine Kraft, konnte es nicht noch einmal den
Versuch machen, sich der Herrschaft Wiens zu erledigen?
Das war es ja, was die österreichischen Minister erwarteten
und befürchteten. Deshalb rieten sie von der Bewaffnung
Ungarns ab, da diese sich zuerst gegen den Hof kehren
würde.
Noch bei der Einführung der weiblichen Erbfolge hatte
man eine wenn auch stille, doch um so hartnäckigere Oppo-
sition zu bekämpfen. Der Palatin, Graf Nikolaus Pälffy,
der damals die Vorbereitung der Stände auf sich nahm und
sich in dieser Angelegenheit an seinen Protonotar Franz von
Szluha, einem ehemaligen Anhänger Räköczis, wandte, er-
hielt von diesem die Antwort: weder die Politik, noch die
Würde der heiligen ungarischen Krone gestatten es, daß das
größere ein Accidens des kleineren sei; daß das Königreich
sich einem Herzogtum unterordne; es sei also am besten,
das Recht der freien Wahl zu behaupten. Eine damals sehr
verbreitete Schrift sieht in der Union mit Österreich den
Ruin des Vaterlandes. Es wird zur Provinz herabsinken.
„Heute bricht der letzte Tag der Freiheit an."
Doch verhallte die Stimmung der Freiheitskriege immer
mehr. Szluba selbst war es, der im Reichstage, am 30. Juni
1722, die Stände in einer langen Rede aufforderte, die weib-
liche Erbfolge dem König anzubieten. Er mochte daran
denken, was ihm der Palatin am 7. März auf seine Vernei-
nung geantwortet hatte: „sollen wir dann den Moskowiter
oder eine andere Potenz wählen". Das Land bedurfte der
Ruhe, wollte nicht alles aufs neue aufs Spiel setzen und
sah doch im unzertrennlichen Band {perpetua unio) mit
Österreich seine beste Sicherheit. Hatte man ja mit den
alten Verbündeten gegen die Habsburger, Franzosen und
Türken, genug schlechte Erfahrungen gemacht. Mußte ja
mit dem Tode Räköczis auch die persönliche Anhänglichkeit
an den alten Führer aufhören. Ohne Begeisterung, doch mit
Beruhigung unterwarf man sich dem, was unausweichlich
schien. Es war Sache der Konvenienz, nicht des Herzens.
Unter solchen Umständen konnten die nach der Thron-
besteigung Maria Theresias gemachten Versuche ihrer Gegner,
28*
428
Heinrich Marczali,
besonders des französischen Hofes, sich in Ungarn eine Partei
zu schaffen, kaum auf Erfolg rechnen. i) Doch war, trotz
des Krieges, kein tiefer Haß gegen Preußen oder Franzosen
zu verspüren. Nur der Anspruch des Kurfürsten von Bayern
auf die Krone erregte allgemeines Mißfallen.
Auch als verlautete, daß Franzosen und Bayern in Ober-
österreich eingerückt seien, trat keine wesentliche Änderung
ein. Man sah, wie man das schwere Geschütz von Buda
zur Verteidigung Wiens transportierte; man bemerkte, daß
das Regiment Baireuth von Preßburg ebendahin marschierte,
und daß die Königin selbst sich dahin begab, um die Stadt
durch ihre Gegenwart zu begeistern. Die Verhandlungen des
Reichstages bezeugen, daß all dies die Stände ziemlich kalt
ließ und sie keinesfalls zur frischen Tat anspornte.
Die Königin aber war schon entschlossen, nach eigener
Einsicht vorzugehen und sich und ihre Sache Ungarn an-
zuvertrauen. Unter ihren Räten war Bartenstein, der, aus
Straßburg gebürtig, unbefangen sein konnte, und der als
Sohn eines Professors von den hochgeborenen Ministern
scheel angesehen ward, wie es scheint, der einzige, der mit
ihr übereinstimmte. Er schrieb am 4. September an Grassal-
kovics — im Auftrage seiner Herrin — , er möchte mit ihm
unter vier Augen über die Sache sprechen, über welche die
Königin schon mehreremal mit ihm (Grassalkovics) verhan-
delte, und in welcher sie ganz auf ihn vertraue. 2) Es konnte
kaum von etwas anderem die Rede sein als davon: ob die
Königin auf die Treue und Loyalität der Ständetafel bauen
könne. Der Magnaten und Prälaten war man ja sicher.
Dies war also der Beginn der Aktion, welche in der
denkwürdigen Sitzung vom 11. September ihren Abschluß
fand. Seit dem 4. September wiederholte man oft, daß die
Königin geneigt sei, diese ihr so treue Nation zu bewaffnen
und nur durch ihre Minister an der Durchführung ihrer
edlen Absicht gehindert werde. Am 10. September gab der
1) Marschall Graf Bercs6nyi, Sohn des Generals der Räköczischen
Revolution, schrieb damals an Gr. Johann Pälffy. Dieser aber sandte
den Brief an den Hof.
2) Im Archive in H6dervär unter den Grassalkovicsschen
Schriften.
Vitam et sanguinem! 429
Palatin ein großes Gartenfest, an welchem alle anwesenden
Mitglieder des Reichstages — viele waren ja schon abgereist
— teilnahmen. Da trank man begeistert für die Königin
und empfahl ihre Minister der Hölle. Der Ungar hatte für
wen zu schwärmen und wem zu grollen.
Nur der große Staatsmann kann, mit dem Gewichte
seiner Persönlichkeit, im entscheidenden Moment die viel-
köpfige, buntgesinnte, verschieden denkende Menge zu einer
handelnden Einheit zusammenlöten. Diese Szene hat Maria
Theresia in die Reihe der weltgeschichtlich Großen empor-
gehoben. Kaum hätte jemand sonst in derselben Lage den-
selben Erfolg erringen können. Schon der Fürst von Ligne
hat erklärt, daß die Ungarn nie für einen Mann getan hätten,
was sie für ihre Fürstin taten. Die Worte, die Erscheinung
Maria Theresias appellierten nicht an Gehorsam, an Pflicht,
sondern an Recht, Nationalstolz und Ritterlichkeit, Eigen-
schaften, die der Ungar en masse nie von sich weisen kann.
Und so geschah das Wunder. In solchen Momenten
entscheidet nicht die Besonnenheit, nicht der rechnende
politische Sinn, der bei den hohen Würdenträgern gewiß
mit im Spiele war, sondern bloß die Spontaneität und Wärme
des Gefühles, das auch den Kalten mit sich reißt. Und es
war ein Wunder, das dort geschah. In einem Augenblick
zerfloß eine jahrhundertelang im Busen genährte, bittersüße
Tradition und verblaßte die Erinnerung an die nationale
Tragödie. Die Gegenwart und die Zukunft hatten die Ver-
gangenheit besiegt.
Nicht die Erregung, wohl aber der plötzliche und ein-
stimmige Ausdruck dieser Empfindung wurde dadurch wesent-
lich erleichtert, daß schon seit Monaten ein Losungswort im
Schwange war, das alles in sich faßte, was alle unter dem
Eindrucke der Worte der Königin fühlten; ein Losungswort,
das nicht nur die innere Bewegung, sondern auch die Tat
in sich schließt: das „Vitam et sanguinem".
Für einzelne wie für Nationen sind die inneren Beweg-
gründe des Entschlusses entscheidend. In ihrer Rede vom
11. September hat Maria Theresia nur edle moralische Saiten
berührt. Mag der Ungar einzeln wie immer sein, politisch
430
Heinrich Marczali,
oder selbst sittlich, als Nation bleibt stets die Ehre sein
Leitstern.
Es war dies vielleicht der schönste Tag des Adels, der
damals noch die Nation bildete. Dem Ruhme, den er an
diesem Tage gewann, verdankte er die moralische Kraft,
die seine Privilegien noch ein Jahrhundert lang aufrecht
erhielt. Seitdem hieß der Ungar: die Geißel seiner Tyrannen,
die treueste Stütze seines rechtmäßigen Herrschers.
Es ist bekannt, wie der größte politische Schriftsteller
seiner Zeit, Montesquieu, der ja Ungarn auch aus eigener
Anschauung kannte, dieses Ereignis beurteilte. Es spricht
davon im „Esprit des Lois'\ in dem Kapitel: Inwieweit der
Adel geneigt ist, den Thron zu vertheidigen.
„Das Haus von Österreich arbeitete stets an der Unter-
drückung des ungarischen Adels, Es sah nicht ein, welchen
Wert dieser einst für ihn haben werde. Es suchte bei diesem
Volke Geld, das es nicht hatte, und sah nicht die Männer,
die es hatte. Als so viele Fürsten sich in seinen Besitzungen
teilten, fielen die Stücke der Monarchie einzeln, unbewegt,
untätig zusammen. Leben war nur in diesem Adel, der zu
Zorn entfacht Alles vergaß, um zu kämpfen, und dachte,
seine Ehre fordere Verzeihung und Tod."
Dagegen sind die Legenden, welche die welthistorische
Szene umranken, die Anwesenheit des kleinen Erzherzogs
Josef, das „Moriamur" , die Bestätigung der ganzen Goldenen
Bulle usw., auf die Werke Voltaires zurückzuführen. Der
große Rationalist konnte ein Wunder, wie es dort geschah,
nicht begreifen. Er erklärte es auf seine Weise und sicherte
dadurch den schon im Umlaufe befindlichen Mythen eine
nicht verdiente Popularität, i)
Für uns ist der 11. September 1741 ein Wendepunkt
unserer Geschichte. Um es kurz zu sagen, der erste große
Sieg der modernen nationalen Idee über die mittelalter-
liche.
Das ständische Wesen des Mittelalters beruhte auf dem
do ut des. Forderung und Bewilligung werden sorgfältig ab-
1) Histoire de la guerre de 1741. Par M. de Voltaire. A La Haye
J756, S. 52—54 und 65.
Vitam et sanguinem! 431
gewogen. Das Aragonische: wir erkennen Dich als unseren
König an, wenn du unsere Rechte bestätigst und sicherst —
se no— no — ist der schärfste Ausdruck dieses Gedankens.
Die ungarische mittelalterliche Verfassung war in dieser
Hinsicht, schon seit der Goldenen Bulle von 1222, der arago-
nischen nahe verwandt. Die Folge davon war, daß die
Kräfte des Staates im Kampfe gegeneinander sich aufrieben.
Die moderne Nation sagt: Wir sind eins und unteilbar.
Du kannst nicht unser Feind sein, du richtest sonst deine
eigene Macht zugrunde. Führe uns gegen unsere Feinde,
die auch die deinen sind. Wir folgen dir zum Siege bis in
den Tod.
Politische Erfahrungen und Gedanken
Theodors von Schön nach 1815.
Von
Eduard Wilhelm Mayer.
Theodor von Schön (1773 — 1856) hat schon mit vierund-
dreißig Jahren an den Reformen Steins bedeutsamen Anteil
genommen und hat als Greis noch das nachmärzliche Preußen
gesehen, — „der überlebende Mann der Heroenzeit", wie ihn
Bunsen damals nannte. Als Zeuge der großen Tage von
Königsberg und Memel hat er denn auch vor allem die Ge-
schichtsforschung beschäftigt, obgleich keine Rolle diesem
starrsinnig in vorgefaßten Meinungen befangenen Mann weni-
ger angepaßt sein konnte. Seine Aussagen sind im Wechsel
von Anklage und Verteidigung mehrfacher Untersuchung
unterworfen worden. i) Zuletzt ist es ihm aber doch meist
ergangen, wie es nach den Erfahrungen der gerichtlichen
Psychologie solchen Naturen oft geht: die Richter ärgern
sich an dem hochfahrenden und herausfordernden Gebaren
1) Die jüngste Phase der Kritik ist eingeleitet worden durch das
sorgsam untersuchende Buch von M. Baumann, Theodor von Schön.
Seine Geschichtschreibung und seine Glaubwürdigkeit. Berlin 1910.
Vgl. hierzu Friedrich Thimme, Eine Rehabilitierung Theodors von
Schön? (Forsch, z. brandenburg. u. preuß. Gesch. Bd. 23, S. 171 f.>
Auf der kritischen Untersuchung von Baumann fußt auch die zu-
sammenfassende Darstellung von Gustav Hasse, Theodor von Schön
und die Steinsche Wirtschaftsreform. Zugleich ein Beitrag zu einer
Biographie Th. von Schöns (Leipziger Diss. 1915).
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 433
des Zeugen; die Form seiner Worte spricht gegen ihn, mag
ihr Inhalt so oder so bewertet werden; er bleibt eine
mißliebige Persönlichkeit, mit der niemand gerne viel zu
tun hat.
Man kann die Entstehung dieser Stimmung wohl be-
greifen und es doch bedauern, daß unter dem Einfluß solcher
Antipathien die Forschung sich weit mehr mit den Aussagen
Schöns als mit seinem Handeln und Denken befaßt hat.
Zumal für die Geschichte der politischen Ideen müßte eine
Untersuchung seiner Äußerungen lehrreiche Erkenntnisse er-
geben. Nicht etwa deswegen, weil sie stets von einer starken
originalen Kraft zeugten, sondern weil wir daraus ersehen
können, wie im Spiegel einer Staatsanschauung, deren wich-
tigste Bildungselemente dem 18. Jahrhundert entstammen —
vor allem der Aufklärung und dem deutschen Idealismus, der
Freihandelslehre und doch auch der Tradition des frideriziani-
schen Preußens — , die Ereignisse und Gedankenbewegungen
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich darstellen. Schön
hat jene bestimmenden Eindrücke seiner Jugend verhältnis-
mäßig unverfälscht in sich erhalten und sich neuen Ein-
flüssen wenig zugänglich gezeigt. Daß nun ein so fest ge-
prägter Charakter auf die wechselnden Zeitströmungen han-
delnd und beobachtend reagiert hat, ermöglicht uns eine
Art geistesgeschichtlichen Experimentes, wie es uns selten
verstattet ist. Namentlich wird es reizvoll sein, zu schildern,
wie auf diesen Kopf, dessen stärkste geistige Wurzeln im
18. Jahrhundert liegen, die politischen Begebenheiten der
vierziger Jahre wirken. i) Seine Stellungnahme zu diesen
Ereignissen wird aber erst dann verständlich werden, wenn
wir neben seinem Anteil an der preußischen Reform auch
seinem späteren Wirken unsere Aufmerksamkeit schenken
und uns namentlich von seiner Verwaltung der Provinz
Preußen (1824 — bzw. Westpreußens allein 1815 — bis
1) Reiches Material an Tagebüchern und Aufsätzen, namentlich
aus der Zeit nach Schöns Entlassung, liegt noch unverwertet im Nach-
laß (Staatsarchiv Hannover, Depositum von Brünneck). Im folgenden
benutze ich ein paar Auszüge, die ich mir bei einer im wesent-
lichen anderen Zwecken dienenden Durchsicht dieser Papiere angefer-
tigt habe.
434 Eduard Wilhelm Mayer,
1842) ein klareres Bild zu machen vermögen.^) Denn mag
auch seine Denkweise oft stark aprioristisch und unbelehrbar
erscheinen, so kann doch nicht geleugnet werden, daß er sich
mit seinen Erfahrungen auseinandergesetzt und an ihnen
seine Ansichten geklärt hat.
I.
Theodor von Schön selbst ist nicht unschuldig daran,
daß die Geschichtschreibung sich mehr mit seiner Teilnahme
an dem Reform- und Befreiungswerk in den Jahren 1806
bis 1813 als mit seinen Leistungen im reifen Mannesalter
befaßt hat. Er hat in seiner Selbstbiographie und seinen
sonstigen mündlichen und schriftlichen Erzählungen mit
Vorliebe bei jener Heroenzeit verweilt und von dem, was
er weiterhin erlebte, nur kärglich und nicht ohne Mißmut
berichtet. 2) Sein persönliches Leben schien ihm ebenso wie
das allgemeine seit 1815 zu versanden, wenn er es mit den
tief bewegenden Erlebnissen der vorangegangenen Jahre
verglich, und bei der Rückschau kam ihm das Gefühl, als
hätte er schon mit 42 Jahren den Höhepunkt überschritten.
Über die Periode von 1816 — 1839 urteilte er resigniert: ,,Die
Zeit neigte sich einem alten Hauswesen zu, wo man Diener
und Geräte, wenn sie gleich außer der Zeit und unbequem
sind, doch erhält, weil sie einmal da sind. "3) Und nicht
ohne Bitterkeit vergleicht er den Aufschwung der Jahre
nach 1806 mit der rasch einsetzenden Ermattung: ,,Man
sollte glauben, daß alle Lichter der Zeit von 1807/15 die
jetzigen Gräuel zerstörend in Masse aus dem Volke jetzt
hervorbrechen müßten. Aber schon das Bild der Regierung
als Produkt des Standes des Volkes zeigt das Gegenteil. In
der Zeit von 1807 — 1815 konnten Ideen einzelner nur da-
^) Einen Teil von Schöns Verwaltungstätigkeit behandle ich in
der Schrift: Das Retablissement Ost- und Westpreußens unter der
Mitwirkung und Leitung Theodors von Schön. Jena 1916. (Schriften
des Instituts für ostdeutsche Wirtschaft in Königsberg (Pr.). Heft 1.)
2) Nach Äußerungen über seine Tätigkeit als Oberpräsident habe
ich in den ungedruckten Papieren vergebens gefahndet.
') Aus den Papieren des Ministers und Burggrafen Theodor von
Schön Bd. 3, S. 155.
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 435
<iurch sich geltend machen, daß die Gemeinheit durch den
äußeren Druck wertlos gemacht war. Die Erfahrung nach
dem Jahre 1815 zeugte aber deutlich, daß nur allein durch
die gewaltsame Unterdrückung gemeiner Gesinnung in jener
Zeit Ideen hatten einfliegen können, diese aber in dem
Grade wieder wichen, als der Druck sich verringerte. Das
Volk war in den Jahren 1807 — 1815 im Zustande des Rau-
sches und die Zeit war zu kurz, als daß ein Charakter sich
hätte bilden können."^)
Solche harte Worte, die die Kleinheit der Epigonen an
der hohen Gesinnung messen, wie sie aus Not und Gefahr
erwachsen war, hören wir wohl mehrfach aus dem Munde der
Reformer. Schön aber sieht in diesem Kampf des Guten mit
dem Bösen den bewegenden und alles bestimmenden Gegen-
satz der preußischen Geschichte im neuen Jahrhundert. Die
Schlachtrufe Revolution und Legitimität, die Schöns Zeit-
genossen mehr und mehr in zwei Heerlager spalteten, wan-
delten sich ihm zum Widerstreit von Reform und bureau-
kratischer Stagnation. Er hat sich auf Grund dieser An-
schauung die Zeitgeschichte konstruiert: Seit 1805 ringen
,, Geist" und ,, Gemeinheit" miteinander um die Herrschaft
im preußischen Staat. 2) Diese neuen Ariman und Ormuzd
hatten aber, auch wenn er nur abstrakt von ihnen spricht,
in seiner Vorstellung ganz leibhaftige Gestalt. Die Schuck-
mann, Bülow und wie sonst die Berliner Bureaukraten und
Reaktionäre, die er haßte, heißen mochten, — sie waren
jener ,, gemeinen", „ideenlosen" Gesinnung ergeben. Von
dem Tage, an dem diese Richtung sich vordrängte, datiert
er den Sündenfall des preußischen Staates: 1817 ,,feyerte
die Gemeinheit ihren ersten Triumph. Unter dem Vorgeben
des historischen Rechts sollte die Repräsentation aus dem
beinahe in keiner Provinz mehr lebenden ständischen Ver-
hältnisse abgeleitet werden."
Der Vorwurf der „Gemeinheit" traf also nicht allein
jene matte und ängstliche Politik der Reaktion, der auch
^) Stücke aus meinem Glaubensbekenntnis (beendet 12. Januar
1846). Hannover a. a. O. Nr. 62.
2) In einem undatierten Aufsatz (Hannover a, a. O. Nr. 2, fol. 27)
führt Schön diesen Gedanken durch.
436
Eduard Wilhelm Mayer,
wir die Fruchtbarkeit absprechen, sondern er zielte zugleich
in das Herz der damals aufsteigenden Geistesbewegung: der
Romantik mit ihrem Verständnis für das organisch Gewor-
dene, für die Geschichte. Von dieser Zeitströmung hat
sich Schön auch nicht einen Augenblick tragen lassen, son-
dern hat gegen sie zu schwimmen versucht. In der inneren
Gegnerschaft gegen den neuen Geist liegt, wenn wir von
dem Stocken der äußeren Laufbahn absehen, wohl der tiefste
Grund für die Unbefriedigung, die er in den Jahren nach
1815 empfand. Auch für seine Stellung zu den Ereignissen
und Problemen der vierziger Jahre ist es entscheidend ge-
wesen, daß die Gedanken der politischen Romantik völlig
an ihm abgeglitten sind. Er verurteilte auf das schärfste
die Erziehung, die Friedrich Wilhelm IV. zuteil geworden
war: „Ancillon gab ihm Geschichte ohne philosophisches
Leben. Savigny und die märkischen Junker sprachen von
der allein notwendigen, allein heilbringenden historischen
Entwicklung. Notizenkram sollte Philosophie und Religion
ersetzen. "1)
Schön beharrte auf dem philosophischen Standpunkt,
den er als junger Mensch in Königsberg gewonnen hatte, und
entwickelte nicht jenen Sinn für den Reichtum und den
Zusammenhang des geschichtlichen Lebens, den die Romantik
auch vielen, die von Kant ausgegangen waren, erschloß. Dies
deutet schon darauf hin, daß er auch die Philosophie
Kants unter einem bestimmten Gesichtswinkel aufnahm, der
die in ihr enthaltenen irrationalen Elemente ausschaltete und
ihm damit den Weg versperrte, auf dem er ein Verständnis
für den Wert individuellen, geschichtlichen Lebens hätte ge-
winnen können.
Man weiß ja, daß Schön gegen den Freiherrn vom Stein
ganz ähnliche Vorwürfe wie gegen die historische Schule er-
hoben hat.2) Er habe nur eine , »sogenannte historische Bil-
dung" gekannt, „welche ohne Philosophie der Geschichte im
1) Hannover a. a. O. Nr. 62.
*) Dabei möchte ich unentschieden lassen, inwieweit Schön
Steins Historismus schon in der Zeit ihres Zusammenarbeitens miß-
billigt hat, oder ob diese Kritik nicht vielmehr erst nachträglich aus
dem Kampf gegen die historische Schule sich entwickelt hat.
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v- Schön. 437
Staatswesen immer zur Barbarei führt"; er habe deshalb
immer nur nach ,, Beispielen, nicht nach Ideen gehandelt".
Daran sei jene schlechte Göttinger Erziehung schuld, die
nach Pütters Art mit ,, Notizen-Massen, ja! Notizen-Bergen"
den besten Geist zu dämpfen geeignet gewesen sei.^) Daß
in Göttingen Schlözer und Gatterer, später Spittler und
Heeren ihren Hörern eine großzügige Anschauung der Ge-
schichte vermittelten, vermochte Schön nicht zu würdigen,
weil er ganz und gar in den Gedanken jener Aufklärung
befangen war, die nur das logisch verknüpfte System, nicht
den intuitiv erfaßten geschichtlichen Zusammenhang als
wissenschaftliche Wahrheit gelten ließ. Deshalb konnte er
in der Geschichte bestenfalls nur eine in Schubfächern ein-
zuteilende Vorratssammlung von Beispielen sehen, die in
ihrem propädeutischen Wert der begrifflichen Klärung über
die ,,Idee des Staates" weit unterlegen war.
Was aber verstand Schön unter der Idee des Staates,
die er bei Stein so wenig entwickelt fand und die er auch
bei seinen ,, ideenlosen" Zeitgenossen vermißte? Er hat den
Begriff selbst nie klar verdeutlicht, aber die häufig wieder-
kehrende Formel läßt doch gewisse Rückschlüsse auf die
geistige Provenienz dieser Staatsphilosophie zu. Aus einem
als ewig gültig aufgestellten Begriff des Staates will Schön
im dialektischen Prozeß die Grundsätze der Regierung und
Verwaltung ableiten. Er steht im Banne eines rationalisti-
schen Naturrechts. Wie er seine Ideen gewinnt, das hat er
einmal in einem Augenblick, in dem er mit den politischen
Verhältnissen besonders unzufrieden war, drastisch übertrei-
bend folgendermaßen geschildert: „Nun rufe ich mir zu:
Mache Phantasie-Bilder, träume, reiße Ideen vom Himmel,
so viel Du los kriegen kannst, und halt sie fest, damit die
ideenlose Zeit Dich nicht ideenlos (gemein) mache. Man
muß faseln, um vernünftig zu bleiben usw."^) Kant würde
^) Briefwechsel des Ministers und Burggrafen von Marienburg,
Theodor v. Schön mit G. H. Pertz und J. G. Droysen. Herausgegeben
von Franz Rühl, Leipzig 1896 (Publik, d. Vereins f. d. Gesch. v. Ost-
u. Westpreußen). S. 18: Schön an Pertz, S.Jan. 1848; S. 217 f.:
Schön an Droysen, 14. Febr. 1852.
2) Schön an Brünneck, 2. Febr. 1842 (Aus den Papieren III 495).
438 Eduard Wilhelm Mayer,
Über diesen „schwärmenden" Metaphysiker, der so tollkühn
den Himmel stürmt, den Kopf geschüttelt haben. Schön
selbst ist sich dabei des Schwärmens wohl bewußt und sieht
deutlich, daß gegenüber dem Schwelgen in Ideen der prak-
tischen Vernunft dem Verstand, „diesem nothwendigen Haus-
knecht der Vernunft", sein Recht gewahrt bleiben müßte.
Aber er beruft sich auf die Schlechtigkeit der Zeit, auf ihre
„Gemeinheit", um zu zeigen, daß sie den normalen Gebrauch
des Verstandes, die ständige Kontrolle der Gedanken an der
Erfahrung nicht gestatte, weil diese Erfahrung für höher
gestimmte Seelen zu trübe sei. Geistvoll hat er aus den
kantischen Kategorien heraus die Geschichte der Restaura-
tion zu deuten versucht: „Die jetzigen Wirren in den Staaten
entstehen dadurch, daß die Völker Ideen wollen und daß
die Gouvernements sich auf Verstandesbegriffe beschränken.
Daraus entsteht bei den ersten ein maßloses Treiben, denn
Ideen sind unendlich und bei den letzteren eine Hinneigung
zum Vergangenen in dem Grade, daß dabei mehr vom Ge-
biete der Chronik als von philosophischer Aufnahme der
Geschichte die Rede ist."i) Erfahrung und Denken, die
Kant in weiser Begrenzung ihrer Gerechtsame miteinander
ausgeglichen hatte, fallen wieder auseinander. Gerade die
von Schön ganz richtig hervorgehobene „Unendlichkeit" der
Idee, ihr Charakter als regulatives Prinzip führte in die
Philosophie Kants den Entwicklungsbegriff ein und ermög-
lichte auch auf ihrem Boden ein Verständnis der Geschichte.
Schöns Idee aber verliert die Beziehung zur Erfahrung und
wird „maßlos". Er ist deshalb in Gefahr, wieder dem un-
kritischen Rationalismus des 18. Jahrhunderts zu verfallen.
Das Unhistorische des Liberalismus erscheint bei Schön
zum guten Teil als eine Reaktion gegen die Lehre vom
historischen Recht. Wohl ist wie bei so vielen seiner libe-
ralen Zeitgenossen auch bei ihm die naturrechtliche Anlage
unverkennbar, aber er hätte von seinem philosophischen
Standpunkt und von seinen staatsmännischen Erfahrungen
aus doch auch die Möglichkeit gehabt, entwickluitgsgeschicht-
lich zu denken. Daß jene ungleich stärker als diese sich ent-
1) Schön an Kamptz, 6. April 1840 (Aus den Papieren IV 534f.).
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 439
faltet hat, ist wohl nur daraus zu erklären, daß das Schlag-
wort vom historischen Recht als Deckmantel gedankenlosen
Beharrens mißbraucht wurde und damit die geschichtliche
Anschauungsweise in Mißachtung kam. Schön selbst hat
die Versteifung auf Extreme zuweilen bedauert, und ein kon-
servativer Fortschritt würde seinen Idealen mehr entsprochen
haben. Gerade darin sah er die Größe der Reformzeit, daß
damals „Verstand und Vernunft" oder, wie wir wohl inter-
pretieren dürfen, Erhaltung und Bewegung ins rechte Gleich-
maß gesetzt gewesen seien, i)
Die ideengeschichtliche Betrachtung würde demnach nur
ein verzerrtes Bild von Schöns Gedankenwelt gewinnen, wenn
sie sich an seine radikalen Äußerungen hielte. Sie entspringen
vielfach jener Opposition gegen die herrschenden feudal-
romantischen Mächte und sind der Ausdruck einer persön-
lichen Verstimmung und Nörgelsucht, der Schön, je älter er
wurde, desto mehr die Zügel schießen ließ. Nur aus seiner
politischen Praxis können wir erkennen, welches die wirklich
treibenden Gedanken seiner Theorie sind.
II.
Theodor von Schön ist in den vierziger und fünfziger
Jahren von den preußischen Liberalen als ihr Vorkämpfer
auf den Schild erhoben worden. Er verkörperte für sie die
Zeit der Reform, deren Bestrebungen sie wieder aufgenommen
wissen wollten, und das politische Testament Steins, das
Schön im Jahre 1808 verfaßt hat, galt ihnen als ein erstes
Programm ihrer eigenen Richtung. Unter Schöns Einwirkung
hat sich auch jene ständisch-liberale Opposition gebildet, die
Ostpreußen zu einem Herd des entschiedenen Freisinns
machte. Gerade die Radikalen haben sich mit Vorliebe auf
ihn berufen. Inwieweit mit Recht?
Wer den Ursprüngen von Schöns Liberalismus nach-
geht, wird finden, daß die französischen Doktrinen ein viel
geringeres Maß von Einfluß auf ihn haben als auf die Radi-
>) Ebenda S. 536: In den Jahren 1807 — 15 konnte anders als in
Frankreich „bei uns die Idee unmittelbar und allein durch ihre Macht
und Herrlichkeit ins Leben treten, weil dabei dem Verstände die ihm
gebührende Ehre gegeben war."
440
Eduard Wilhelm Mayer,
kalen der vierziger Jahre. Er ist in erster Linie wirtschaft-
lich gerichtet und folgt den Antrieben der freihändleri-
schen Lehren von Adam Smith, die Schön bei seinem
Lehrer Kraus in Königsberg kennen gelernt hatte. Schön
will alle staatlichen Schranken, die dem freien Wettbe-
werb entgegenstehen, aufheben und dem Schaffenstrieb
des einzelnen freien Weg bahnen. Ihn bestimmt zu dieser
Forderung weniger der fröhliche Optimismus des großen
Schotten, der aus dem freien Spiel der Kräfte eine natür-
liche Harmonie hervorgehen sieht, als vielmehr ein sitt-
licher, erzieherischer Gedanke: Die kantische Idee des auto-
nomen, pflichtbewußten Willens hat Schöns liberales Denken
ebenso nachhaltig befruchtet wie die freihändlerische Lehre.
Beide Gedankenkreise verbindet er zu einer ethisch tief be-
gründeten politischen Theorie.^) Er erstrebt die wirtschaft-
liche und politische Freiheit, weil sie die Verwirklichung
seines sittlichen Lebensideals befördert: Nur der ganz auf
sich und seine Kraft gestellte Mensch wird, davon ist er
überzeugt, sein Höchstes leisten und seine Gaben voll ent-
falten. Die Freiheit ist für Schön weniger ein Grundrecht
des Staatsbürgers, wie sie den süddeutschen Liberalen er-
scheint, als vielmehr ein Mittel, die stärksten moralischen
Kräfte aus den Menschen herauszulocken. 2) Sein Liberalis-
mus wurzelt nicht so sehr im Naturrecht als in dem strengen
Geist des kategorischen Imperativs, der lebendigsten Kraft,
die er seinem philosophischen Studium verdankte. Der
innige Zusammenhang, der den älteren ,, ethischen" Libera-
lismus^), wie er sich auch in Ernst Moritz Arndt und in
1) Die Wechselwirkung der kantischen und der nationalökonomi-
schen Bildungselemente in Schöns Entwicklung bis 1807 arbeitet die
Dissertation von Hasse gut heraus. Vgl. meine oben angeführte
Schrift, Das Retablissement usw., S. 39 ff.
2) Im politischen Testament Steins von 1808 bezeichnet es Schön
als das Ziel der Reform: „die Disharmonie, die im Volke stattfindet,
aufzuheben, den Kampf der Stände unter sich, der uns unglücklich
machte, zu vernichten, gesetzlich die JVIöglichkeit aufzustellen, daß
jeder im Volke seine Kräfte frei in moralischer Richtung entwickeln
könne." G. H. Pertz, Das Leben des JVlinisters Frhr. v. Stein, Bd. II,
S. 309. — Faksimile von Schöns Entwurf: Aus den Papieren III 220.
3) Vgl. E. JVlüsebeck, Die ursprünglichen Grundlagen des Libe-
ralismus und Konservatismus in Deutschland. Korrespondenzblatt des
Politische Erfalirungen und Gedanken Theodors v. Schon. 441
Dahlmann verkörpert, mit dem klassischen Idealismus ver-
bindet, ist bei dem Oberpräsidenten, der in der Stadt der
reinen Vernunft regierte, mit Händen zu greifen. Vor jenen
anderen hatte er den großen Vorteil voraus, daß er seine
Gesinnung praktisch werden lassen konnte. Zwar seit 1809
nicht mehr im Mittelpunkt der Staatsregierung, aber doch
im Wirken für die Provinz, in der er fast einen väterlichen
Absolutismus ausübte. Hier hat er jenen Liberalismus zur
Geltung gebracht, dem es noch mehr um die Eigenkraft
als um das Eigenrecht des Individuums zu tun ist. Indem
er die wirtschaftliche und politische Freiheit zu verwirk-
lichen sucht, denkt er ebenso an die Gesamtheit, an den
Staat, wie an den einzelnen. Ethik und Staatsräson weisen
ihn in die gleiche Richtung.
Die Lage Ost- und Westpreußens war nach dem opfer-
reichen Kriege besonders schwierig, und Schön hatte ver-
hältnismäßig nur geringe Mittel zur Verfügung, um der
Provinz aufzuhelfen. Aber seiner Überzeugung nach konnte
auch mit Geldunterstützungen das Übel nicht behoben, son-
dern allenfalls dem Leistungsfähigen ein Ansporn und eine
kleine Erleichterung gegeben werden. Das einzig durchgrei-
fende Heilmittel schien ihm nur darin zu liegen, daß die
Bewohner der Provinz sich selbst wieder emporarbeiteten,
und als die Aufgabe des Staates betrachtete er es, sie dazu
anzureizen und ihnen diesen Weg nicht etwa durch irgend-
welche gesetzliche Hindernisse zu verbauen. Er hielt es
für eine falsche Maßregel, die die Willenskraft des einzelnen
bloß lähme, wenn der Staat in seinen Forderungen an Steuern
und Abgaben zurückging. Er verwarf jene Mittel merkanti-
listischer Wirtschaftspolitik, mit denen Friedrich Wilhelm I,
und Friedrich der Große zerstörte Provinzen wieder auf-
zubauen gewußt hatten: die staatliche Reglementierung des
Getreidehandels, die Züchtung neuer Wirtschaftszweige,
überhaupt die Bevormundung durch den Staat. Schön
suchte durch Notstandsarbeiten Gelegenheit zum Erwerb
und damit zur Selbsthilfe zu schaffen. Das Recht auf Arbeit
wird von ihm anerkannt als eine Gegenleistung des Staates,
Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 1915,
Nr. 1 u. 2, S. 1—26.
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 29
442
Eduard Wilhelm Mayer,
die der Pflicht des Bürgers entspricht, die eigene Kraft aufs
höchste anzuspannen. Ist für jeden die Möglichkeit vor-
handen, sich etwas zu verdienen, dann bleibt es seinem
freien Willen überlassen, wie weit er davon Gebrauch machen
will.
Die so verstandene Freiheit gleicht sicherlich mehr der
sittlichen Autonomie Kants als dem Rechte des Sichauslebens,
das die liberale Phrase so leicht aus ihr machte. In diesem
Geiste hat Schön in der Provinz gewirkt, und es kann nicht
bestritten werden, daß er eine große moralische Macht über
ihre Bewohner ausübte. Wir haben lebendige Zeugnisse da-
für, wie er die besten Kräfte in den Menschen zu wecken
wußte.
Aber wird dieser sittlich und staatsmännisch beherrschte
Liberalismus bei Schön nicht zuweilen überboten von einem
Radikalismus, der bloß zerstört ohne aufzubauen, der vor
allem nicht frei ist von demokratischem Klassenhaß? Nach
einer in manchen Kreisen Ostpreußens fest eingewurzelten
Tradition hat Schön den dortigen Adel systematisch aus
seinem Besitz zu verdrängen sich bemüht. Diese Tradition
knüpft daran an, daß unter seiner Verwaltung in den zwan-
ziger Jahren eine beträchtliche Zahl der größeren Güter, die
seit dem Kriege hoch verschuldet waren, von dem ritter-
schaftlichen Kreditinstitut unter den Hammer gebracht
wurden. Bismarck hat ihr in einer Reichstagssitzung zu
weiterer Verbreitung verholfen, indem er Schön nachsagte,
er habe den Adel als eine unhaltbare Rasse betrachtet und
habe deshalb seine Güter billig in andere Hände bringen
wollen.
Die ruhige historische Forschung wird diese schweren
Vorwürfe nicht als berechtigt anerkennen. Biographisch ge-
sehen liegen die Dinge vielmehr so, daß gerade jener Not-
stand der größeren Grundbesitzer in Ostpreußen
bei Schön den Durchschlag konservativerer Ansich-
ten in der Adelsfrage herbeigeführt hat. Daß seine
Anschauungen in diesem Punkt deutlichen Wandlungen unter-
worfen waren, ergibt sich, wenn wir seine Äußerungen aus
der Zeit der Reform mit späteren aus den vierziger Jahren
vergleichen:
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 443
Zeitlebens hat sich Schön allerdings dagegen gewandt,
daß der Adel als eine „besondere Menschenrasse" behandelt
werde. Im Sinne seiner philosophischen Meister glaubte er
an die unbedingte Überlegenheit des Geistes und der Bil-
dung über alle Vorzüge der Geburt. Außerdem hielt er es
für eine dringende Forderung kluger Volkswirtschaft, daß
der adlige Grundbesitz dem völlig freien Wettbewerb unter-
worfen wurde. Das Oktoberedikt von 1807, an dessen Zu-
standekommen Schön so hervorragenden Anteil hatte, hob
die bisherigen Schranken im Grundstücksverkehr auf und
schlug damit eine Bresche in die wirtschaftlichen Privilegien
des Adels: Diese Privilegien sollten nicht mehr die mög-
lichst nutzbringende Bewirtschaftung des Bodens hindern;
der Adel sollte im wirtschaftlichen Kampf seine Tüchtigkeit
bewähren. ,, Moralisch-politische Realität war die Basis des
Standes, und alles, was nicht zu diesem hohen Bilde poli-
tisch-moralischer Würdigkeit paßte und nicht unbedingt not-
wendig war, sollte von ihm entfernt bleiben, z. B. jedes
Scheinleben. "1) Wie die wirtschaftliche Abschließung des
Adels wollte Schön auch die politische beseitigt wissen. Das
schien ihm damals in der Not des Jahres 1808 um der Staats-
macht willen notwendig: ,, Durch eine Verbindung des Adels
mit den anderen Ständen wird die Nation zu einem Ganzen
verkettet. Sie wird zugleich die allgemeine Pflicht zur Ver-
teidigung des Vaterlandes lebhaft begründen." Offensicht-
lich hat Schön damals die englische gentry mit ihren flüssigen
Grenzen gegenüber den mittleren Ständen als Ideal vor
Augen gehabt. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn er
bei den Beratungen über die neue Verfassung, die dem Adel
zu geben sei, es als seinen letzten Gedanken verrät: ,, Ver-
kettet man ihn allmählich mit den anderen Ständen, so
löset er sich allmählich auf und verschwindet, ohne es selbst
gewahr zu werden. "2) An eine sofortige, völlige Abschaf-
^) Schön an Droysen, März 1851, über das politische Testament
und die Adelskonstitution von 1808. Briefwechsel usw. S. 176. Die
Akten über diese Adelskonstitution sind verschwunden. Vgl. Leh-
mann, Freiherr von Stein II 515, Dazu: Pertz an Schön, 18. August
1849, Briefwechsel usw. S. 23f.
^) Lehmann a. a. 0. II 514.
29*
444
Eduard Wilhelm Mayer,
fung des Adels hat demnach Schön auch damals nicht ge-
dacht.
Wenn er aber im Alter behauptete, er habe im Jahre
1808, weit entfernt von dem Gedanken, den Adel zu be-
seitigen, ihm vielmehr unter veränderten Verhältnissen neues
Leben geben wollen^), so ist doch ein Unterschied des Urteils
deutlich zu bemerken. Er erklärt sich aus der Rückspiege-
lung von Erkenntnissen, die Schön, wie wir sehen werden,
gerade in den übel berufenen zwanziger Jahren gewonnen
hat. Auch den Gedanken, daß bei einem gewissen Kultur-
zustande eines Volkes der Adel notwendig sei, legt er erst nach
Jahren seinen Äußerungen aus der Zeit von 1807/8 unter. 2) Er
ist in der Tat das Produkt einer späten Geschichtskonstruk-
tion und wird erst verständlich, wenn wir folgende Aufzeich-
nung vom 16. März 1846^) zu Hilfe nehmen, die zugleich
ein Beispiel dafür gibt, was Schön sich unter einer ,, philo-
sophischen Geschichte" vorstellte: Im rohen Zustande ver-
trete der Adel im öffentlichen Leben die ,,Consequenz", d. h.
das Gewohnheitsrecht und die politische Tradition, und bilde
damit den ,,Damm gegen Willkür"; er allein entwickle auch
auf dieser Stufe ,,eine gewisse Portion Intelligenz". Sobald
aber die absolute Monarchie oder die ,, Despotie", wie Schön
sagt, errichtet sei, verliere der Adel seine allein bevorzugte
Stellung. ,, Durch Vernichtung des Adels als politischer
Körper entsteht der Despotie gegenüber der Mittelstand.
Eines Theils will der Souverain Gefährten gegen den Adel
durch den Mittelstand sich bilden, anderen Theils werden
die Regeln der Consequenz, deren Vertreter früher der Adel
war, Gemeingut, und so entsteht zwischen dem rohen Haufen
und dem Adel ein Stand, der für das öffentliche Leben
seinem Wesen nach Intelligenz mit sich führt und bei wel-
chem, da die Vorurteile des Adels ihn nicht hemmen, die
1) An Friedrich Wilhelm IV. bei Übersendung eines Faksimiles
des Politischen Testamentes von 1808. Schön wendet sich gegen die
falschen Deutungen, die dieses Dokument gefunden habe: „So hat
man die Vernichtung des Adels darin gesucht, obgleich gerade das
Gegenteil, nämlich die Begründung des Adels, darin enthalten ist"
(Aus den Papieren 111219).
2) An Droysen, 22. März 1851. Briefwechsel usw. S. 176.
^) Hannover a. a. O. Nr. 62.
I
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 445
Intelligenz sich frey entwickeln kann. Je mehr bey diesem
Cultur Stande des Volkes dieWillkühr des Souverains hervor-
tritt, um so mehr bemüht sich das Volk, die frühere Stellung
des Adels einzunehmen. (Tyrannen machen freye Men-
schen!)" ,,So macht im natürlichen Gange der Dinge die
Intelligenz sich im öffentlichen Leben geltend und so ent-
steht und muß notwendig entstehen: die constitutionelle
Monarchie." „Soll nun in dem constitutionellen Staate ein
Adel seyn, wie bey einem tiefen Cultur Stande des Volkes
notwendig seyn dürfte, so kann der Adel nur im öffent-
lichen Leben, aber nicht in Majoraten oder anderen Ein-
richtungen der vordespotisch finsteren Zeit Wurzel und
Basis haben."
Damit erkennt Schön nun doch wieder einen selbstän-
digen Wert des Adels an ,,als Kern des öffentlichen Lebens
und als Bewahrer der Rechte des Throns und der Freiheit
des Volkes".^) Das spezifische Junkertum freilich, als dessen
Charakteristikum Schön die Gleichgültigkeit gegen das
öffentliche Leben betrachtet, scheint ihm zur Vernichtung
verurteilt. Denn der Adel muß sich als lebendige Kraft
im Staate bewähren, wenn er mit der neu aufstrebenden
Klasse Schritt halten will. Die ,, Intelligenz", die Bildung,
soll im Staate herrschen. Darum fordert Schön für den
gebildeten Mittelstand, mit dem er sich in gemeinsamem
geistigen Besitz verbunden weiß, gleiches Recht wie für
den Adel.
Diese Gesinnung hat er vielen seiner Standesgenossen
in der Provinz einzuimpfen verstanden. Die liberalen ost-
preußischen Adeligen von den Auerswalds und Sauckens bis
zu Hoverbeck stehen mehr oder minder unter dem Einfluß
des einstigen Oberpräsidenten. Magnus von Brünneck hat
noch im Jahre 1858 sein politisches Glaubensbekenntnis fol-
gendermaßen abgelegt: ,,Ich glaube mit Schön, daß . . .
nirgend mehr der große Grundbesitz und am allerwenigsten
bei uns in Ermanglung eines jeden wahrhaft aristokratischen
Elementes zu besonderen Ansprüchen berechtigt ist, sondern
daß die Macht der Bildung und des Besitzes, gleich viel
*) Selbstbiographie; Aus den Papieren III 90 — 102.
446
Eduard Wilhelm Mayer,
welcher Art, wenn nicht überwiegend, so doch wenigstens
zum gleichen Theile in dem Mittelstand ruht, der uns auch
vorzugsweise die älteren wahrhaft liberalen, nur das Ge-
meinwohl erstrebenden Beamten geliefert hat."^) Brünnecks
Sohn freilich, an den dieser Brief gerichtet ist, vertritt be-
reits damals wieder mehr ständisch gefärbte Anschauungen.
Jener politische Selbstverzicht, der sich in den Worten
seines Vaters ausspricht, war wohl auch nur möglich auf
dem Boden einer Wirtschaftstheorie, die so stark von frei-
händlerischen Vorstellungen beherrscht war, daß der Ge-
danke an eine Interessenvertretung des größeren Grund-
besitzes noch keinen Raum gewinnen konnte. —
Die starke Gefolgschaft, die Schön im ostpreußischen
Adel für sich gewann, wäre kaum auf seine Seite getreten,
wenn er wirklich jene radikale Adelsfeindschaft betätigt
hätte, die ihm später nachgesagt wurde, oder auch nur,
wenn ihm jene „allmähliche" Auflösung des Adels noch als
wünschenswert erschienen wäre, die er 1808 erhofft hatte.
Fragen wir aber, wann Schöns Gedanken über den Adel
die konservativere Prägung erhalten haben, die uns in den
Äußerungen aus den vierziger Jahren entgegentrat, dann
müssen wir — das ist unser thema probandum — als den
Wendepunkt sein Verhalten angesichts des Notstandes des
größeren Grundbesitzes in Ostpreußen bezeichnen, das doch
gerade Anlaß gegeben hat, ihn des derbsten Radikalismus
zu bezichtigen.
Als Schön im Jahre 1824 die Verwaltung der Provinz
Ostpreußen übernahm, war dort auf den größeren Gütern
ein völliger Besitzwechsel im Gang. Nach der Theorie des
laissez faire, laissez aller hätte er eigentlich einen Eingriff in
diesen wirtschaftlichen Prozeß scheuen müssen. Die staats-
männische Einsicht hat aber schließlich obgesiegt über seinen
nationalökonomischen Doktrinarismus. Daß es ihm einen
gewissen Kampf gekostet hat, ist seinen damaligen Äuße-
rungen anzumerken. Er rang sich aber schließlich zu der
rettenden Formel hindurch: Wirtschaftlich könne es
I
1) Brünneck an seinen Sohn Siegfried, 12. Dezember 1858.
Paul Herre, Von Preußens Befreiungs- und Verfassungskampf. Aus
den Papieren des Oberburggrafen Magnus von Brünneck (1914) S. 457.
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 447
zwar dem Staat gleichgültig sein, ob A oder B ein Gut
besitze, aber politisch sei ein allgemeiner Besitzwechsel be-
denklich und man dürfe ihm nicht tatenlos zusehen. Gerade
jetzt, wo die Möglichkeit bestanden hätte, den Adel seiner
wirtschaftlichen Basis durch ein rein passives Verhalten zu
berauben und ihn so aufs engste mit den anderen Ständen
zu verketten und zum Verschwinden zu bringen, erkannte
Schön seinen Wert: Der ,, wichtigste Stamm der Nation"
müsse erhalten werden.^) Schön hat deshalb an mehr als
sechshundert Gutsbesitzer Unterstützungen ausgeteilt, und
unter ihnen sind sicher viele, die ohne diese Hilfe dem all-
gemeinen Bankrott verfallen wären. Die üble Nachrede
richtete sich deshalb zunächst weniger dagegen, daß Schön
einen Teil des Adels um seinen Besitz gebracht habe, als
dagegen, daß er sich durch die reichlichen Unterstützungen
mit königlichem Gelde bei der grundbesitzenden Aristokratie
beliebt zu machen suche. 2)
Freilich so weit konnte Schön seinen früheren Stand-
punkt nicht verleugnen, daß er jedem, bloß weil er dem
„wichtigsten Stamm der Nation" angehörte, seinen Besitz
verbürgte. Die Ausmerzung der unrettbar Verschuldeten
machte ihm schon die Beschränktheit seiner Mittel zur
Pflicht, und in solchen Fällen wurde auf seine Veranlassung
rasch und summarisch verfahren, weil er überzeugt war,
daß das Hinziehen die Sache nur verschlimmerte und die
Güter, erst wenn sie in andere Hände gekommen seien,
wieder besser bewirtschaftet werden würden. Mehr als zwei-
hundert Güter sind in den Jahren 1824 — 1835 von der ost-
preußischen Landschaft unter den Hammer gebracht worden.
Der leitende Gedanke war dabei für Schön durchaus wirt-
schaftlicher, nicht politischer Art: der Kredit der Provinz
mußte gehoben werden, und ohne jene Eisenkur konnte seiner
Meinung nach denen, die noch zu retten waren, nicht ge-
holfen werden. Er sah es wohl nicht ungern, daß auch viele
Angehörige der bürgerlichen Schichten die Gelegenheit be-
nutzten und sich ankauften; aber davon, daß er systema-
1) Vgl. Das Retablissement usw. S. 43.
2) Schön an Friedrich Wilhelm IV., 25. März 1841. (Aus den
Papieren II 1320.)
448
Eduard Wilhelm Mayer,
tisch die subhastierten Güter an Pächter, Hirten und Pferde-
händler gebracht habe, wie ihm nachgesagt wurde, kann
keine Rede sein.
Daß Schön ganz und gar nicht gewillt war, den leistungs-
fähigen Adeligen in seiner wirtschaftlichen Stellung anzu-
tasten, zeigt seine Haltung bei der Auseinandersetzung zwi-
schen Gutsherrn und Bauern. i) Er hat dabei fast durch-
gängig seinen Einfluß zugunsten des ersteren geltend ge-
macht, mit der Begründung, daß man alles vermeiden
müsse, was den ohnedies schon bedrängten größeren Grund-
besitz noch mehr belaste. Schön hat sich gegen jede Aus-
dehnung der Regulierung auf Klassen, denen das Recht
dazu noch nicht erteilt war, ausgesprochen und hat dafür
gesorgt, daß dem Gutsbesitzer billige Arbeitskräfte zur Ver-
fügung standen. Er, der im Jahre 1808 die Aufhebung der
Gesindeordnung verlangt hatte, hat sich in den dreißiger
Jahren dafür eingesetzt, daß sie auf die Instleute Anwen-
dung zu finden habe! Das Auskaufen der Bauern, das
in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den ost-
preußischen Gutsbesitzern eifrig betrieben wurde, hat er
ruhig geschehen lassen.
So dürfte sich Schöns Stellung zum Adel also um-
schreiben lassen: Er fordert, daß der Adel wirtschaftlich
und politisch mit dem Mittelstand auf gleichem Fuße zu
behandeln sei, gibt ihm aber die unteren Schichten der
Bevölkerung preis und bekehrt sich zu der Ansicht, daß
die Erhaltung eines festen Stammes von Grundbesitzern um
des gemeinen Wohles willen unerläßlich sei. Wenn die libe-
rale Presse laut verkündete, es sei kein Unglück, daß der
Adel bankrott werde^), so hat gerade der drohende Besitz-
wechsel in Ostpreußen Theodor von Schön veranlaßt, sich
auf den politischen Wert einer wurzelfesten Aristokratie zu
besinnen. Von manchen wurde er nun gar als Junker ver-
schrien.3) Solch gegensätzliche Beurteilung traf den, der
zwischen Junker und Adelsfeind vermitteln und ,,sich über
I
1) Vgl. Das Retablissement usw. S. 82—85.
2) Treitschke, Deutsche Geschichte Bd. II, S. 108.
^) Schön an Gervinus, 12. November 1847 (Aus den Papieren
II 317 f.).
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 449
A und Non A (Aristokratie und Demokratie) erheben"
wollte. —
Schön will den Staat liberalisieren, aber nur weil und
soweit er damit dem Staate zu dienen glaubt. Dies gilt
auch von seiner Stellung zur Verfassungsfrage. Das
innerlichste Motiv, das ihn dabei bestimmte, ist jener tiefe
Gedanke, der gerade dem deutschen Liberalismus sein un-
verlierbares Recht gibt und den man schon feinsinnig mit
Luthers Glaubenslehre in Zusammenhang gebracht hat:
daß nämlich der einzelne den Staat nicht nur als äußer-
liche Zwangsgewalt empfinden soll, sondern daß er ihn aus
eigenster Überzeugung und aus freiem Willen bejaht; ge-
schieht dies, dann strömen auch dem Staat gewaltige mora-
lische Energien zu. In diesem Sinne hatte Schön bereits
im Jahre 1808 für Preußen eine Nationalrepräsentation ge-
fordert: man müsse der Monarchie neue Kräfte zuführen,
das Volk dürfe den Staat, für den es sich aufopfern solle,
nicht gleichgültig oder widerwillig betrachten. i)
Die Nationalrepräsentation kam nicht zustande, und die
Errichtung von Provinzialständen im Jahre 1823 hat Schön,
wie wir schon hörten, als ein übles Zugeständnis an die Ver-
teidiger des historischen Rechts verurteilt. Diese Kritik ent-
springt aber mehr dem Unwillen darüber, daß überhaupt
kein Parlament für die ganze Monarchie geschaffen wurde,
als der Ablehnung jeder provinziellen Vertretung. 2) Denn
als Schön im Jahre ISlö^) nach Westpreußen kam, hatte
1) Steins politisches Testament. Pertz a. a. O. S. 311.
2) Schön war der Ansicht, daß die preußischen Provinzen mehr
als bisher verschmolzen werden müßten, aber doch nur allmählich und
unter Schonung berechtigter Eigentümlichkeiten. Deswegen bekämpfte
er im Jahre 1815 sogar die Vereinigung Litauens mit dem Regierungs-
bezirk Königsberg. An Hardenberg, 16. Juli 1815 (Staatsarchiv Kö-
nigsberg, O.-P., V, Nr. 14a): „Ich glaube, daß wir durchaus dahin
arbeiten müssen, den Pommer, den Lithauer, den Märker zu vernichten,
aber ich glaube auch, daß man bey Erhaltung des Guten, das Natio-
nalität giebt, diesen Zweck nur allmählig erreichen und in dieser gei-
stigen Sache durch Befehle wenig, durch Cultur Mittel aber allein und
nur zum Ziele kommen könne."
^) So muß es in meiner Schrift „Das Retablissement Ost- und
Westpreußens usw." Seite 15 Zeile 11 v. u. heißen statt des Druck-
fehlers: 1816.
450 Eduard Wilhelm Mayer,
er es selbst sehr eilig mit der Errichtung eines Landtages in
der Provinz. Er usurpierte diesen Namen einer Versammlung
von Notabein der einzelnen Kreise, die ausschließlich, um
über die Verteilung der Retablissementsgelder zu beraten,
zusammenberufen waren. Die Berliner Behörden waren
nicht wenig darüber erstaunt, daß Schön diese Versamm-
lung als den ,, ersten westpreußischen Landtag" behandelte
und dabei ganz nach den Künsten der liberalen Doktrin
verfuhr. Als einzelne Gutsbesitzer sich über die hier ge-
faßten Beschlüsse beklagten, belehrte er sie: ,,daß gegen
einen von den Deputierten der Stände der Provinz gefaßten
Beschluß keinem einzelnen Gutsbesitzer ein Widerspruch
zustehen könne, weil in dem Beschluß der Generalver-
sammlung jederzeit auch der Wille des einzelnen enthalten
ist."i)
Die Worte: vox populi vox dei gehören zu jenen Kern-
sprüchen von Schöns politischem Glaubensbekenntnis, die
er mit ermüdender Regelmäßigkeit bei jeder irgendwie pas-
senden Gelegenheit vorbringt. Man möchte zuweilen glauben,
daß er die Theorie von der Volkssouveränität vertreten habe,
und es ist auch keine Frage, daß er sich mit der französischen
Staatsphilosophie, namentlich mit Rousseau, auseinander-
gesetzt hat. Gerade Rousseaus Lehre von der volonte gene-
rale hat ihn öfters beschäftigt. Er hat sie sich aber ganz
auf seine Weise zurecht gemacht: ,, Rousseau sagt: der All-
gemeine Wille, nicht der Wille Aller solle im Staate herr-
schen. Er hätte sich klarer ausdrücken können: Mit Ideen
regiert man die Völker und nicht Individuen oder eine
Menge Individuen, sondern Individuen in geistiger Gemein-
schaft, welche das Individuum vernichtet, können Werk-
zeuge von Ideen seyn."^) Bei solchen Spekulationen geriet
Schön auf wunderliche Spielereien, die immerhin zeigen,
daß dieser abstrakte Geist vor keinen Folgerungen zurück-
scheute und daß ihm die Monarchie im Reiche der Idee
nicht als die höchste Staatsform galt:
^) Vgl. Das Retablissement usw. S. 17.
2) Hannover a. a. O. Nr. 60 (Aligemeine Aufsätze aus der Zeit
von 1848 bis 1856).
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 451
,,1. Das vollständige Leben in Gott,
2. Das alleinige Leben der Ideen,
3. Das Moral Prinzip,
4. Die Republik,
5. Der geschlossene Handelsstaat,
6. Der Communismus
sind Ideale, welche die Menschen niemals erreichen können,
aber nach welchen die Menschen unaufhörlich und unaus-
gesetzt streben sollen. Sie stehen in so genauem und engen
Zusammenhange, daß, wenn man das Eine im Leben ge-
stalten will und die Übrigen zurückbleiben, das Resultat
nur eine Mißgeburt seyn kann. Nur ein gleichmäßiges Streben
zu diesen Idealen kann die Menschen dem Himmel näher
führen."!)
So wurde Schön in seinen theoretischen Reflexionen
durch einen gewissen Systemzwang auf einen extremeren
Standpunkt gedrängt, als er in der Praxis je vertreten haben
würde. Für Preußen schwebte ihm als Ideal ein politischer
Zustand vor, der zwar mit dem der üblichen konstitutionellen
Doktrin nicht zusammenfällt, aber durchaus eine verfas-
sungsmäßige Beschränkung des Königtums mit sich führt, 2)
Als das Wesen der konstitutionellen Monarchie hat er es,
wie wir oben sahen, betrachtet, daß der Mittelstand Anteil
am politischen Leben nimmt und bekommt. Auf die Ertei-
lung einer Verfassungsurkunde hat Schön keinen Wert ge-
legt, da ihn das Beispiel Englands lehrte, wie unerheblich
diese äußere Form sei.^) Englische Zustände schwebten ihm
^) Ebenda. Aufzeichnung vom 17. Mai 1849.
2) R. Koser in seinem Aufsatz „Zur Charakteristik des Ver-
einigten Landtags von 1847", Festschrift zu Gustav Schmollers 70. Ge-
burtstag (1908) S. 309f, rückt Schöns Anschauung etwas zu stark
von der konstitutionellen Doktrin ab; die Äußerungen, die er ver-
wertet, sind zum Teil ausdrücklich darauf berechnet, den König Fried-
rich Wilhelm IV. und andere davon zu überzeugen, daß in den von
Schön vertretenen Forderungen die gefürchteten liberalen Giftzähne
ausgebrochen seien. Schön hatte sich gegen den Verdacht des Königs
zu verteidigen, daß er auf die Schulmeinung der Liberalen eingeschworen
sei. Vgl. das Gespräch Schöns mit dem König: Aus den Papieren
JII 137.
') Brief vom 4. Juli 1841, Aus den Papieren III 40L
452 Eduard Wilhelm Mayer,
wohl auch vor, wenn er den Ständen Anteil an der Exeku-
tive und der Gerichtsbarkeit vindizierte. Er hat diese stän-
dische Mitwirkung gefordert als ein Gegengewicht gegen die
Bureaukratie, die er in ihrer souveränen Stellung gegenüber
dem Untertanen mit der katholischen Hierarchie verglich, i)
Allein die konstitutionelle Monarchie schien ihm die Einheit
und Stetigkeit in der Regierung zu verbürgen, deren Mangel
er dem herrschenden Beamtentum zum Vorwurf machte.
Er geht auch hier vom Staat, nicht vom Individuum aus:
„Repräsentation sichert allein gegen unfähige Minister.''^)
III.
Wenn also Schön in seiner praktischen Politik mit den
liberalen Strömungen nur so weit gehen wollte, als sie ihm
dem Kompaß des Staatsinteresses zu. folgen schienen, so
hat er den nationalen Forderungen gegenüber noch
viel stärker den Primat der ,,Idee des Staates" geltend
gemacht. Ihm standen nicht die Wege offen, auf denen
so viele seiner Zeitgenossen sich dem nationalen Gedanken
zu nähern vermochten. Er hatte sich nicht von der roman-
tischen Geschichtsbetrachtung den Sinn für Volkspersön-
lichkeiten erschließen lassen. Er trat aber auch nicht so
weit auf den Boden der Theorie von der Volkssouveränität,
daß ihm der nationale Einheitsstaat als eine demokratische
Forderung hätte geläufig werden können. Schön blieb im
Banne einer unnationalen Staatsauffassung, die man geneigt
wäre, veraltet zu nennen, wenn sie nicht unverwüstliche
Ideen enthielte.
Für seine Stellungnahme ist es entscheidend gewesen,
daß er in Westpreußen und — wenn auch in viel gerin-
gerem Grade — in Ostpreußen Provinzen mit national ge-
mischter Bevölkerung zu verwalten hatte. Ähnlich wie
seinen Landsmann Hermann von Boyen^) haben auch ihn
die Erfahrungen in den östlichen Teilen der preußischen
0 Woher und Wohin? Aus den Papieren III 230—239.
") An Brünneclc, 9. Februar 1842, Aus den Papieren III 501.
^) F. Meinecke, Das Leben des Generalfeldmarschalls H. v.
Boyen II, S. 414 u. 438.
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 453
Monarchie bestimmt, dem nationalstaatlichen Gedanken
jene ausschließliche Geltung zu bestreiten, die ihm der
Zeitgeist mehr und mehr zuwies.
Schöns Polenpolitik ist erst im Laufe der Jahre schärfer
und weniger nachsichtig geworden. Als er 1815 Oberpräsident
von Westpreußen wurde, glaubte er noch durch liberale
Konzessionen und kulturpolitische Maßregeln die Polen ge-
winnen zu können. Jenen ,, ersten westpreußischen Landtag"
hat er stolz ,, seinen polnischen Landtag" genannt und hat
es als einen erfreulichen Erfolg gerühmt, daß sich auch der
Pole fassen ließe, wenn man es nur recht anfinge, i) Als dann
im Jahre 1820 in Posen und in Westpreußen das törichte
Gerücht umging, Rußland wolle Danzig, Bromberg und
Thorn okkupieren, meinte Schön: „Jetzt wäre allerdings
der Zeitpunkt, wo die Ausführung der Königlichen Bekannt-
machung wegen der ständischen Einrichtungen uns alle
deutschen Herzen gewinnen und auch die Polen vollständig
entwaffnen würde."^) Daß bisher noch in Westpreußen ,,die
Neigung für polnische Einrichtungen und polnische Sprache
unbedingt vorherrsche und unser Gouvernement als Insti-
tution der Gewalt betrachtet" werde, schien ihm nur aus
dem tiefen Kulturzustand des Volkes erklärlich, und er
hoffte bestimmt, daß mit der Ausbreitung deutscher Bildung
auch diese Antipathie schwinden würde. Allein durch solche
geistige Waffen, nicht durch militärische, ließen sich seiner
Meinung nach die östlichen Provinzen gegen den ,, Koloß im
Norden und Osten" sichern, in dem Schön auch in der Zeit
der heiligen Allianz stets eine ernste Gefahr für den preußi-
schen Staat sah. Als er im Jahre 1815 von Litauen, diesem
„Vorposten der Kultur", Abschied nahm, meinte er: „Es
ist kein anderes Mittel, als mit dem Lichte in die Finsternis
zu dringen und es hier so helle zu machen, daß jeder sich
des Lichtes freue, den grellen Abstand fühle und selbst der
1) Schön an Stägemann, 7. Februar 1817. Briefe und Akten-
stücke zur Geschichte Preußens unter Friedrich Wilhelm III. aus
dem Nachlaß F. A. v. Stägemanns. Herausgegeben von Franz Rühl.
Bd. II, S. 140.
2) An Hardenberg, 29. Dezember 1820. Geheimes Staatsarchiv,
Rep, 74, H. II, Generalia 19.
454 Eduard Wilhelm Mayer,
Barbar durch Achtung gelähmt werde.''^) Wie in Litauen
hat er dann auch in Westpreußen dem Schulwesen seine
besondere Fürsorge zuteil werden lassen und hat damit ganz
bewußt an die Maßnahmen Friedrichs des Großen angeknüpft;
an vielen Orten wurden auf seine Veranlassung neue Ele-
mentarschulen eingerichtet. 2) Bald wurde Schön auch auf-
merksam auf die besonderen Gefahren, die in den polnischen
Gebieten von der Geistlichkeit drohten. Er erzählt, daß,
noch als er nach Westpreußen kam, am 15. Juli jedes Jahres
in allen katholischen Kirchen zur Erinnerung an die Schlacht
von Tannenberg, also an die Niederlage der deutschen Ritter,
ein Dankfest gefeiert wurde. Mit solchen alten Gewohnheiten
räumte er auf. Auch begann er bereits in den zwanziger
Jahren darauf zu dringen, daß der Staat für eine bessere
Ausbildung der Geistlichen Sorge trage^), — noch immer in
dem Wahne, daß alle polnischen Bestrebungen nur aus der
geistigen Unreife der Bevölkerung erwüchsen. Es war im
eigentlichen Sinne ein Kulturkampf, den es seiner Meinung
nach zu führen galt.
Die zunehmende Verschärfung von Schöns Urteil über
die Polen erreicht den Höhepunkt in einem Verwaltungs-
bericht vom 10. Juli 1833.*) Wiederum beruft er sich auf
die Erfahrungen Friedrichs des Großen, der es auch erst
versucht habe, die Polen durch Güte zu gewinnen, aber
dann zur Überzeugung gekommen sei, daß das fremde Ele-
ment nur durch Einrichtung deutscher Schulen und durch
den Auskauf der polnischen Gutsbesitzer in den preußischen
Staat eingefügt werden könne. Schön gibt zu, daß das
zweite dieser Mittel unter seiner Verwaltung nicht habe in
Anwendung kommen können und empfindet offenbar eine
gewisse Scheu vor dieser radikalen Maßregel. Dabei hätte
gerade der Bankrott eines großen Teils der größeren Güter
1) An Hardenberg, 16. Juli 1815. Königsberg, Staatsarchiv O.-P.
V, Nr. I4a.
2) An Hardenberg, 18, August 1821, Danzig, Staatsarchiv, Rep.
161, 209.
') Schöns Verwaltungsbericht für 1828, erstattet am 20, Juni
1829. Geheimes Staatsarchiv, Rep, 90, 38, Specialia 16, vol, I.
*) Ebenda vol. II.
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 455
in den zwanziger Jahren für den Auskauf polnischen Be-
sitzes eine überaus günstige Konjunktur geboten. Damals
ist eine Gelegenheit versäumt worden, ähnlich wie später
unter Caprivi. Schön hat einen zweifelhaften Trost zur Hand:
,,Mit Beförderung des Schulwesens und mit Einführung
einer durchaus geregelten Administration scheint den Polen
bei uns unheimlich geworden zu sein, denn es haben viel-
leicht mehr als die Hälfte der polnischen Gutsbesitzer in
dieser Zeit freiwillig Westpreußen verlassen." Der Krebs-
schaden liege auf kirchlichem Gebiet: ,,Der übelste Um-
stand, welcher der Germanisierung der Provinz entgegen-
steht, ist der, daß . . . Katholizismus und Polonismus ver-
wechselt und von der großen Menge für gleichbedeutend
gehalten wird. Die polnische katholische Geistlichkeit giebt
sich alle Mühe, diese Täuschung zu erhalten." Die Klöster
seien ,, Fundgruben der Barbarei und des Polonismus", und
ihre Aufhebung müsse endlich strikt durchgeführt werden.
Außerdem sei es nötig, daß das Domkapitel den Polonismus
ablege, daß jeder Geistliche auf einer Universität studiere
und daß die Stadt- und Elementarschulen vom Staat unter-
stützt würden. „Ich bin überzeugt, daß, wenn dieser Plan
gehörig verfolgt wird, die polnischen Gutsbesitzer sich frei-
willig aus Westpreußen herausziehen werden." Wirtschaft-
liche Zwangsmaßregeln schlägt Schön deshalb nicht vor: die
Kulturpolitik, durch die die unteren Schichten gewonnen
werden sollen, wird, so hofft er, die polnische Aristokratie
abschrecken und ihr den Aufenthalt im Lande verleiden.
Erinnern wir uns daran, daß wenige Jahre, bevor Schön
diese Denkschrift abfaßte. Flottwell Oberpräsident der
Provinz Posen geworden war und dort eine entschiedene
Germanisierungspolitik begonnen hatte. Es bedarf noch
genauerer Untersuchung, inwieweit die beiden Männer sich
gegenseitig beeinflußt haben. Flottwell hat von 1812 — 1830
unter Schön gearbeitet, bis 1825 als sein unmittelbarer Ge-
hilfe. Schön hat ihn geradezu als seinen „ehemaligen Schüler"
bezeichnet.^)
*) Aus den Papieren III 152. — Das Verhältnis der beiden zur
Zeit, da sie amtliche Beziehungen hatten, erfährt eine gewisse Be-
leuchtung durch die Vorgänge, die S. 89 f. meiner Schrift: Das Reta-
456 Eduard Wilhelm Mayer,
Der entscheidende Eindruck, der Schön gegen die
streng gestimmt hat, war der Aufstand von 1831
Unkultur des Volkes schien sich ihm in dieser Erhebung
mit voller Deutlichkeit zu offenbaren, und er glaubte auch
zu wissen, woher seine Rückständigkeit komme: noch sei ja
dort der Bauer nicht befreit — wie es, so müssen wir den
Gedanken in Schöns Sinn natürlich ergänzen, in Preußen seit
dem Oktoberedikt glorreichen Angedenkens der Fall ist.^)
Ähnlich hat Schön angesichts der polnischen Bewegung
im Jahre 1848 geurteilt: Das Maß der Freiheit eines Volkes
bestimme sich überall in der Welt nach dem Grade seiner
Gesittung. „Wäre im Königreich Polen jede Spur der Ab-
hängigkeit von einem Mituntertan, insofern sie die Vernich-
tung des freien Willens ist, durch das Volk selbst beseitigt
worden, . . . dann wäre die Unabhängigkeit des Königreichs
Polen von selbst erfolgt." Polen müsse das Recht zu freier
Entwicklung sich selbst ,,in geistiger Weise schaffen". „Sen-
senmänner allein können niemals den kategorischen Imperativ
ersetzen."
1
Polen ■
Die ^
blissement usw. erzählt werden. Männer wie General v. Wrangel,
die von der Notwendigkeit einer schärferen Germanisierungspolitik in
Posen überzeugt waren, hatten bei dem Wechsel, der 1830 im dor-
tigen Oberpräsidium stattfand, Schön auf diesen Posten zu bringen
gewünscht. Vgl. die Briefe des Generals v. Wrangel vom 4. August
und 8, Oktober 1830, herausgegeben von G. v. Below, Deutsche
Revue XXVII 3, S. 329.
^) Die in dem Brief Schöns an Gervinus vom 12. November 1847
<Aus den Papieren II, 8. 316) zitierte Erzählung, die der Herausgeber
nicht beibringen konnte, lautet an der betreffenden Stelle der „Deut-
schen Zeitung" vom 2. November 1847 (Nr. 125, S. 993) wie folgt:
Der polnische Emissär Konarski sei in Königsberg mit Schön zu-
sammengetroffen (nach dem Zusammenhang etwa 1835). „In den
heftigsten Ausdrücken ergoß sich der edle Staatsmann über die Revo-
lution vom Jahre 1831 und über die fürchterliche Verantwortlichkeit,
<iie die Polen durch die Nichtbefreiung der Bauern auf sich gegen-
über der Geschichte genommen, wenn Rußland einst die zivilisierte
Welt bekriegen sollte. Konarski blutete das Herz; aber er theilte die-
selben Ansichten und wagte deshalb nicht zu widersprechen. Schüch-
tern fragte er nur, ob noch Polen geholfen werden könne? ,,Ja," lautete
die Antwort, „wenn der Adel sein Unrecht gegen die Bauern einsieht
und es gut macht." Dieses Wort entschied; der Ausspruch eines so
«dien und erfahrenen Mannes, der selbst Zeuge einer demokratischen
Regeneration eines Volkes gewesen, galt Konarski für ein Orakel."
I
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 457
Diese Äußerungen finden sich in einer Schrift über
„Staat oder Nationalität"^), die Schön unter dem Ein-
druck des polnischen Aufstands von 1848 geschrieben hat,
und die er auch wohl als „Aufsatz gegen die Polen" be-
zeichnet hat. 2) Vom Standpunkt der Polenpolitik aus hat
er die nationalen Probleme jener Zeit beurteilt. Sein Wider-
spruch gegen die polnischen Ansprüche ist für ihn der Anlaß
gewesen, daß er sich über das Verhältnis von Staat und
Nation eine Theorie ausgedacht hat, die die ihm eigene dok-
trinäre Blässe nicht verleugnet, aber doch von tieferer Be-
deutung ist, da sie dem Staatsgedanken zu seinem Herren-
recht verhelfen will.
Wir fassen Schöns Gedanken wohl an ihrer tiefsten
Wurzel, wenn wir die Kultur als eine Schöpfung des Staates
und nicht der Nation bezeichnen. Nach den Urteilen, die wir
eben wiedergaben, könnte es scheinen, als ob er den Staat
selbst als ein Produkt der geistigen Kultur auffaßte, als ob
nach seiner Meinung der selbständige polnische Staat auto-
matisch erstehen würde, wenn nur einmal der kategorische
Imperativ das Volk durchdrungen hätte. In der Tat ist
aber der Satz in dieser Form unvollständig und bedarf einer
Ergänzung, die für national gesinnte Polen trostlos klingen
mußte; der Gedanke steht auf der gleichen Stufe wie der
andere, daß ja doch ein Königreich Polen immer noch be-
stehe — allerdings in Abhängigkeit von Rußland. So folgt
auch auf jenen Vordersatz der Nachsatz: allerdings gedeiht
^) Sie ist als Manuskript gedruckt: Berlin bei 'Sittenfeld 1848.
Ein erster Entwurf der Broschüre findet sich unter Schöns Papieren
(Hannover, Nr. 62) in Gestalt eines Schreibens an Herrn von Morawski
in Breslau vom 9. Juni 1848; dieses trägt aber am Rande den Ver-
merk: „Als zu doktrinär nicht abgegangen." Der Druck weist nur
Änderungen des Tones — allerdings sehr umfangreiche — auf. Ich
benutze im folgenden eine Reihe besonders prägnanter Formulierungen
des Entwurfs.
2) An Droysen, 14. Februar 1852. Briefwechsel usw., S. 218.
Gegen Lehmanns Satz, daß Schön an der Schrift „Staat oder
Nationalität?" für die Rechte der unterdrückten Polen eingetreten
sei (Knesebeck und Schön S. 122), hat schon Treitschke Einspruch
erhoben (Hist. u. polit. Auisätze 4. Bd, S. 328). Er ist einer Be-
merkung von Ludmilla Assing in Bd. 2 der „Gegenwart" (1872)
S. 69 entnommen.
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 30
458 Eduard Wilhelm Mayer,
jene Gesittung des kategorischen Imperativs selbst nur auf
dem Boden und im Rahmen des Staates. Das Volk, das
in Wechselwirkung mit der Staatsleitung diese Gesittung
ausbildet, ist das Staatsvolk und nicht die durch Sprache
und Rasse bestimmte Nation. Schön ist nicht berührt von
dem Gedanken an einen mystisch schaffenden, nationalen
Volksgeist, der wie die Kunst und die Religion auch das
Recht gestaltet. „Die Idee des Staates ist der Grundton
der Cultur, die Nationalitäten sind die Nebentöne, die ihm
folgen." Der Begriff Kulturnation würde für Schön einen
Widerspruch in sich enthalten. Denn nach seiner Geschichts-
konstruktion, die er ja stets mit großer Willkür geübt hat,
steht die Nationalität am Eingang der Staatenentwicklung
und muß mit wachsender Gesittung mehr und mehr über-
wunden werden. ,,Bei den aristokratischen Patrimonial-
staaten, wo der Souverain nur der bedeutendste Landbesitzer
des Stammes ist, war Nationalität entscheidend. Sobald aber
die Idee des Staates sich zu entwickeln und geltend zu
machen beginnt, geht jene in diese auf." Nationalität ist
für Schön ein ,, veralteter, nicht mehr zeitgemäßer Begriff", i)
Sie ,, basiert auf der Beschränkung des physischen Zufalls,
während der Staat allein die Bestimmung hat, den Men-
schen zu einem höheren geistigen Leben fortzubilden."
Denn „die Weltordnung folgt einem höheren Gesichtspunkt
als dem des physischen Zufalls, ihr Ziel ist die Erhebung des
Menschen über die bloßen Naturgesetze". Nach den Wert-
maßstäben der kantischen Ethik fällt also Schön das letzte
Urteil über Staat und Nation: allein der Staat gehört dem
Reich der Freiheit an und hat demnach sittlichen Wert,
die Nation aber ist „bloß" Natur.
Dem Interesse des Staates muß deswegen die Nation,
wenn es sein muß, auch geopfert werden. Das gilt von
anderen Völkern ebenso wie von den Polen: Das Elsaß ist
I
1) So charakterisiert Schöns Anschauung Magnus von Brünneck
(Herre a. a. O. S. 455) 30. Oktober 1858 in einem Brief an seinen
Sohn, in dem er die Frage bespricht, ob J. G. Droysen mit der Ab-
fassung einer Biographie Schöns zu betrauen sei. Das schwerste Hin-
dernis sieht Brünneck gerade in dem Schöns Auffassung diametral
entgegengesetzten Begriff der Nationalität bei Droysen.
Politische Erfahrungen und Gedaniien Theodors v. Schön. 459
seiner Nationalität nach deutsch, mußte aber mit Frank-
reich vereinigt werden, ,,da Sicherheit vor allem Bedingung
der Existenz eines Staates ist". Die Oberherrschaft über
Deutschland, wie sie Napoleon erstrebte, war aber für die
Sicherheit des französischen Staates durchaus nicht not-
wendig. Andererseits bestreitet Schön, daß der Befreiungs-
krieg den Charakter eines Nationalkriegs gehabt habe. ,,Es
handelte sich wahrlich nicht um Erhaltung der Nationalität,
als Russen, Schweden und Czechen mit Deutschen fochten
und Elsaß bei Frankreich blieb!" Die Preisgabe deutschen
Landes, wie sie Schön hier um der Sicherheit Frankreichs
willen vollzieht, wird nur verständlich, wenn wir bedenken,
daß er mit der gleichen Begründung polnisches Land für
Preußen fordert und daß ihn das Schicksal der Süddeutschen
als einer nach seiner Meinung von den Norddeutschen ge-
sonderten Rasse wenig berührt. Wenn er sich auf die Sicher-
heit des Staates als das einzige Kriterium der Grenzziehung
beruft, scheint er auf dem Boden einer rein staatlichen,
realpolitischen Denkweise zu stehen. Aber er vermag diesen
Grundsatz doch nicht durchzuführen, sondern greift immer
wieder zu überstaatlichen Ideen: Die Verschmelzung der
Nationalitäten in Staaten geschieht letzthin nicht um dieser
und ihrer Selbsterhaltung willen, sondern ,,für den abso-
luten Zweck der Menschheit". Schön unternimmt es nicht,
im einzelnen Fall nach dem Sinn der Staatenbildung zu
forschen. Denn: „Der liebe Gott, welcher die Bestimmung
der Grenzen der Staaten sich selbst vorbehalten hat, und
dem Nationalitäten dabei nur wie Tasten bei einem Piano-
forte sind, stellt sich einmal nicht vor einem irdischen Ge-
richtshof."^) Die Berufung auf diesen deus ex machina ver-
hüllt nur das Eingeständnis, daß Schön ein gleich einleuch-
tendes Prinzip der Staatenbildung, wie es das der Nationa-
lität ist, nicht aufzuweisen vermag.
Trotzdem glaubte er in der schleswig-holsteini-
schen Frage die Absichten der Weltordnung völlig über-
zeugend dahin deuten zu können, daß die Idee des däni-
schen Gesamtstaats verwirklicht werden müsse. Die Art
1) An Droysen, 19. Dezember 1850. Briefwechsel usw., S. 151.
30*
460 Eduard Wilhelm Mayer,
und Weise, wie er einer ganz anders gestimmten Umgebung
gegenüber diesen Standpunkt rechtfertigt, zeigt ein merk-
würdiges Ineinanderwirken weltbürgerlicher und realpoliti-
scher Motive: ,,Ist Dänemark im großen Culturgange als
Staat nothwendig, dann muß es eine Basis als Staat haben
und die Inseln allein geben keinen Staat. *'i) Der dänische
Gesamtstaat erscheint ihm als eine in sich notwendige Idee
des Weltplans. Aber er läßt dabei das rein deutsche Inter-
esse, so wie er es versteht, nicht aus dem Auge: Würde
Schleswig-Holstein an Preußen fallen, dann bliebe Dänemark
nichts anderes übrig, als sich in russische oder englische Vor-
mundschaft zu begeben und eines dieser beiden Reiche
,, würde dadurch Culturdespot von halb Deutschland seyn,
während Dänemark als Staat mittlerer Größe sich wenig-
stens nach Hamsterart kraus machen kann". 2)
Hier vermissen wir — ähnlich wie in Schöns Äuße-
rungen über das Elsaß — jenes primitive Nationalgefühl,
dem jede Entfremdung deutschen Bodens innerlich wider-
steht. Er empfindet nicht die Nationen, sondern allein die
gegebenen Staaten als die natürlichen Einheiten des ge-
schichtlichen Lebens, und auch diese werden von ihm nicht
eigentlich als blut- und lebensvolle Persönlichkeiten von
eigener Prägung erfaßt. Schön wirtschaftet mit der „Idee"
des dänischen oder des französischen Staates als mit einem
rein formalen Apriori, dem wir vergeblich irgendwelche in-
haltliche Bestimmung abgewinnen zu können hoffen. Wo
er sie zu definieren sucht, kommt er über Tautologien nicht
hinaus: „Sind die Bedingungen zur Bildung eines Staates
für auf einer gegebenen Fläche lebende Familien oder Ge-
meinden in einem gewissen Cultur-Zustande da, so ist ohne
Rücksicht darauf, ob Menschen außerhalb diesem Kreise
auch Deutsch sprechen, die Nothwendigkeit eines Staates
da."3) So müht er sich ab, aus der hohlen Nuß reiner Be-
griffe die Notwendigkeit der gegebenen Staaten überzeugend
zu deduzieren. Hier hätte es einer tieferen historischen An-
schauung bedurft, und der Historiker mag es bedauern, daß
1) An Droysen, 7. Juli 1850. Briefwechsel usw., S. 147 f.
2) An Droysen, 10. Januar 1851. Briefwechsel usw., S. 156.
^) Aus dem S. 461 Anm. 2 zitierten Aufsatz.
I
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 461
Schöns Abneigung gegen den „Notizenkram" ihm den Weg
zu Rankes Geschichtsclireibung versperrte, die ihm das
Eigenleben und das Eigenrecht des Staates in wärmerem
Lichte gezeigt hätte, als es ihm die blasse Theorie er-
scheinen ließ.
So hat Schön auch kurzab erklärt: „Einheit Deutsch-
lands ist kein Begriff, der eine Notwendigkeit in sich trägt.
Deutschland würde sich zu zwei bis vier deutschen Staaten
gebildet haben, von welchem Jeder seine Aufgabe lösen
konnte." 1) Auch Schön wünscht also eine Vereinfachung
des deutschen Staatensystems, aber er hält allerhöchstens
einen Dualismus für möglich. Als Bewohner des äußersten
Nordostens empfindet er den Gegensatz zu Süddeutschland
so stark, daß ihm die für den staatlichen Zusammenhalt
nötige Einheit des Kulturzustandes zu fehlen scheint; der
„Nordländer" und der „Südländer" erscheinen ihm als ver-
schiedene Rassen.2) Alle Versuche nun gar, die Schwierig-
keiten, die der Einheit Deutschlands entgegenstehen, durch
1) An Droysen, 16. März 1850. Briefwechsel usw., S. 140.
2) Hannover a. a. 0. Nr. 2, fol. 39 (ohne Datum): „Wir sollen
und müssen in einem Staate leben, um die Aufgabe unseres Lebens
erfüllen zu können. Der Staat vor allem! — Nationalität erleichtert
die Bildung eines Staats, sie bestimmt aber nicht den Umfang des-
selben. Jede Masse Menschen, welche den Zweck des Staates zu er-
füllen im Stande ist, hat ein Recht auf Bildung eines besonderen
Staats.
Deutschland liegt als ein Chaos vor uns. Staats- oder Staaten-
bildung aus diesem Chaos ist die erste Aufgabe. Sind die Bedingungen
zur Bildung eines Staats für auf einer gegebenen Fläche lebende Fami-
lien oder Gemeinden in einem gewissen Cultur Zustande da, so ist
ohne Rücksicht darauf, ob Menschen außerhalb diesem Kreise auch
Deutsch sprechen, die Nothwendigkeit eines Staates da. Der Süd-
länder braucht bei seinem wärmeren Klima und bei seinem leich-
teren Blute andere Nahrungs Mittel als der Nordländer; beim Süd-
länder waltet die Phantasie vor, beim Nordländer die Intelligenz, Im
ersten Culturzustande, wo Gewalt vorwaltet, kommt es darauf nicht
an; so bald aber die Menschen sich nicht mehr entwickeln, treten
diese Eigenthümlichkeiten so lebhaft hervor, daß, wie man sie gewalt-
sam vereinigen will, der Fortschritt der Cultur als der Zweck des
Staates dadurch gehemmt wird. Das deutsche Chaos ist hiernach zu
ordnen und so ergibt sich ein Nord- und ein Süddeutschland, und
Jeder von beiden Staaten kann seine Aufgabe lösen."
462
Eduard Wilhelm Mayer,
Teilungen der Souveränität zu überwinden, erregen bei die-
sem Vertreter des reinen Staatsgedankens nur Spott und
Zorn: ,,Die Vernunft-Lästerungen, welche durch deutsche
Einheit, Staatenbund, Bundesstaat, kleiner Fürsten Suverai-
netät p. p. getrieben sind, haben die himmelsreine jung-
fräuliche Idee des Staates dermaßen genothzüchtigt, daß
dies Himmelskind in Deutschland eine vollständige Gassen-
H . . . geworden ist."^)
Den schärfsten Widerspruch aber erregten bei Schön
die Bestrebungen, die den Verband des preußischen Staates
antasteten. Dem Worte, daß Preußen in Deutschland auf-
gehen solle, gibt er eine Deutung, die das genaue Gegenteil
des wirklichen Sinnes enthält: „Die Rheinländer nehmen
die Äußerung, Preußen gehe in Deutschland auf, theils aus
Beschränktheit, theils aus Abneigung gegen Preußen, theils
a,us Servilität wörtlich auf. Unser König will durch seine
Äußerung: Preußen gehe in Deutschland auf, ganz Deutsch-
land in seine Gewalt bekommen. Das übersteigt indessen
die Einsicht der Rheinländer und so geht Camphausen in
seiner Rede (August 1849. Erste Kammer) plump und ge-
wissenlos mit Verläugnung aller Größe Preußens und mit
Hervorkehrung des alten deutschen Unwesens auf die Ver-
nichtung Preußens los. . . . Preußen soll nach dieser Camp-
hausenschen Rede die Grund Töne der Existenz als Staat
von den Schwarzburgern, Lippenern oder Reußen mit be-
stimmen lassen!!! Ein größerer Landes Verrath ist un-
denkbar."2)
Hier tritt inmitten von Schöns Spekulationen einmal
ein Stück wurzelechter Empfindung hervor: das Preußentum
1) An Droysen, 10. Januar 1851. Briefwechsel usw., S. 156.
Etwas ruhiger und geschmackvoller im Brief vom 28. Februar 1850
(S. 135 f.): „Im Begriff des Staates liegt m. E. nothwendig Einheit
der ausübenden Macht."
2) Aufzeichnung vom August 1849. Hannover a. a. 0. Nr. 60.
— Vgl. Schöns Brief an Varnhagen vom 13. September 1848 (Die
Gegenwart, Bd. 2 (1872), S. 69): „Zum ersten Mal wird man in Frank-
furt besorgt, daß Preußen Selbständigkeit aufnehmen könne, zum
ersten Mal richtet man seine Aufmerksamkeit auf Preußens Macht.
Möchte dies nur von unserer Seite festgehalten und weiter entwickelt
und das Aufgehen Preußens in Deutschland mit Sang und Klang oder
besser mit Donner und Blitz zu Grabe getragen werden."
Politische Erfahrungen und Gedanken Theodors v. Schön. 463
in ihm reagiert auf das schärfste gegen alle Versuche, ihm
den Boden zu entziehen. Seine Gegnerschaft gegen die
Ineinssetzung von Staat und Nation ist denn auch zum
guten Teile daraus zu erklären, daß er immer die Bedürf-
nisse Preußens vor Augen hat. Jener hölzerne Begriff der
in sich notwendigen, aller nationalen Grenzen spottenden
Staatsidee gewinnt sofort Leben, wenn wir an die Zu-
sammensetzung der Ostmarken des preußischen Staates
denken. Hier liegt für Schöns Theorie der Angelpunkt,
und wenn man ihr den Vorwurf macht, daß sie eine ein-
zelne Erfahrung zu sehr verallgemeinert, so wird man doch,
um ihr gerecht zu werden, anerkennen müssen, daß sie in-
mitten einer einseitig auf den Nationalstaat gerichteten
Strömung die Autonomie des Staates energisch vertreten
hat. Die Bewegung von 1848 erschien Theodor von Schön
geradezu als ein „Kampf der Nationalitäten gegen die
Staaten".^) Ihr ist er entgegengetreten mit dem Kampfruf:
Der Staat vor allem!
Schön hält fest an den friderizianischen Grundlagen der
preußischen Politik, ohne aber doch jenen Großmachtsehr-
geiz zu empfinden, der Friedrich dem Großen die Richtung
wies. In seinem Widerstand gegen die nationale Idee scheint
er die Konservativen fast noch zu übertrumpfen. Es fehlen
aber bei ihm völlig die eigensüchtigen Motive, die Verteidi-
gung der ererbten Macht im Staat und die Gegnerschaft
gegen die liberalen Ideen. Er hat die Freiheit gewollt, aber
nicht die Einheit. Von der Freiheit erhoffte er eine Steige-
rung der Kräfte des Staates; die Einigungsbestrebungen
aber schienen ihm den Staatsnotwendigkeiten zu wider-
sprechen.
Als ein Eigenbrödler ging Theodor von Schön seinen
Weg für sich, uneinig mit den herrschenden Volksströmungen.
Die lebendige Kraft in ihnen spürte er nicht; er war ein-
gesponnen in das Netz seiner eigenen Gedanken, und viele
seiner Urteile aus der Zeit von 1848 tragen deutlich die
Spuren des Alters. Seine Verständnislosigkeit für geschicht-
liche Anschauung und für die nationale Idee inmitten der
1) Staat oder Nationalität, S. 3.
464 E. W. Mayer, Politische Erfahrungen und Gedanken etc.
romantischen und der nationalen Bestrebungen könnte ihn
als eine Art geistesgeschichtlichen Petrefakts aus den Zeiten
der Aufklärung und des absoluten Machtstaats erscheinen
lassen. Dies Urteil wäre vorschnell, zumal ihm die Folge-
zeit in manchem recht gegeben hat. Das Eigenrecht des
Staats gegenüber der Nationalität ist auch im Laufe des
19. Jahrhunderts wieder mehr zur Anerkennung gekommen,
und heute gar findet die Lehre ,, Staatsverband geht über
Volksverband" willigere Hörer als im Jahre 1848. Schön
hat, um einen seiner Lieblingsausdrücke zu gebrauchen,
„Gedanken gehalten" — Gedanken, die der Zeitrichtung
widersprechen mochten, aber darum doch ihre Geltung
nicht einbüßten.
Miszelle.
Neues zur Hethiterfrage.
Von
Walter Otto.
Studien zur hethitischen Sprachwissenschaft. Von Ernst F.
Weidner. I.Teil. (Leipziger Semitistische Studien VII,
1/2.) Leipzig 1917. 152 S. 7 M.
Der Zufall hat es leider gefügt, daß ich Weidners Beitrag
zur hethitischen Sprachwissenschaft erst erhalten habe, als ich
bereits meinen in dieser Zeitschrift (s. diesen Band S. 189 ff.)
erschienenen Aufsatz über „die Hethiter" für druckfertig erklärt
hatte. Da es sich bei Weidners Abhandlung um eine für die
Entscheidung der Hethiterfrage prinzipiell wichtige Schrift
handelt, so scheint es mir geboten, sofort noch nachträglich zu
ihr Stellung zu nehmen, und dies um so mehr, als grundsätzlich
neue Äußerungen in der nächsten Zeit anscheinend nicht zu
erwarten sind und die Leser dieser Zeitschrift nur so ein voll-
ständiges Bild von dem augenblicklichen Stande des Hethiter-
problems erhalten.
Weidner hat sich schon seit längerer Zeit, seit 1912, mit
den Berliner Boghazköitexten befaßt. Seine Abhandlung, die
aus diesen Studien erwachsen ist, ist schon vor dem Bekannt-
werden der Hroznyschen Hethiterthese fertiggestellt gewesen;
nur der Krieg hatte ihr Erscheinen verzögert. Zu Hroznys Auf-
stellungen nimmt Weidner daher nur in einer nachträglichen
kurzen Einfügung (S. 33 — 35) Stellung, und zwar auch nur zu
seinen vorläufigen Mitteilungen und noch nicht zu dem inzwischen
erschienenen 1. Teile von Hroznys Hethiterbuche. Jedenfalls ist
466 Walter Otto,
Weidners Auffassung um so bemerkenswerter, als sie ganz un-
abhängig von Hrozny gewonnen ist.
Weidner vertritt nun einen Hrozny völlig entgegengesetzten
Standpunkt. Ihm zufolge ist das Hethitische ebenso wie die
Mitannisprache und das Elamitische ein Vertreter der altkau-
kasischen Sprachen^), wenn auch ein gewisser „arischer" Einschlag
auch von ihm nicht geleugnet wird (S. 32/3, 34).2) Weidner hat
unbedingt das Verdienst, als erster die Gründe, die für eine enge
Verwandtschaft des Hethitischen gerade mit der Mitannisprache
zu sprechen scheinen, methodisch erörtert zu haben. Er macht
nämlich den Versuch, die Grundzüge des hethitischen Lautsystems
festzulegen, und da er hierbei dieselben Laute wie im Hethi-
tischen, und zwar nur diese, auch in der Mitannisprache festzu-
stellen glaubt, so scheint ihm sein Beweis gelungen zu sein. Er
beachtet hierbei jedoch nicht genügend, daß er bei seinen Einzel-
beobachtungen immer wieder unsichere Elemente verwertet hat;
einschränkende Ausdrücke wie „vielleicht, anscheinend, wahr-
scheinlich, ziemlich wahrscheinlich" und ähnliche begegnen uns
bei ihm beständig.^) Das errichtete Gebäude ist also noch ziem-
lich unsicher und muß, wenn auch nur wenige Steinchen sich
lösen, d. h. wenn man sich auch nur bezüglich einiger weniger
Laute anders als der Verfasser entscheidet, ganz zusammen-
brechen.*) Ferner ist das Material, das Weidner beibringt, natur-
gemäß nicht erschöpfend; sein an sich sehr dankenswertes hethi-
tisches Glossar (S. 105 ff.) ist auf Grund seiner Lautfestlegungen
aufgestellt, also parteiisch gefärbt. Hierzu kommt, daß er selbst
bezüglich aller Einzelheiten und der weiteren Begründung seines
von Hrozny abweichenden Standpunktes auf kommende Arbeiten,
^) Bork hat sich in dem von mir schon erwähnten, gegen die
Hrozn^sche These gerichteten Aufzatze (Orient. Lit.-Ztg. XIX [1916],
Sp. 296) über diese Verwandtschaft sehr viel vorsichtiger geäußert.
2) Wenn Weidner die Bezeichnung „arisch" gebraucht, so scheint
€r sie mir fast in dem allgemeinen Sinne = indogermanisch und nicht
in ihrem speziellen Sinne zu verwenden, s. auch S. 33 und 34, 4; sehr
präzise drückt er sich allerdings leider nicht aus.
») S. etwa S. 3, 2; 5; 7; 9; 10; 12; 19; 21; 24; 26; 29/30; vgl.
auch die Bemerkungen auf S. 17, 1.
*) Auf Einzelheiten einzugehen, würde dem Charakter dieser
Miszelle widersprechen.
I
Neues zur Hethiterfrage. 467
vor allem auf seine hethitische Grammatik verweist (s. S. VI;
34; 86). Eine endgültige Stellungnahme ist also ebenso wie gegen-
über Hrozny auch Weidner gegenüber sehr schwierig.
Jedenfalls scheint er mir aber die indogermanischen Bestand-
teile innerhalb des Hethitischen in ihrer Bedeutung für den ganzen
Charakter der Sprache unbedingt zu unterschätzen. Seine An-
nahme (S. 32), daß jene einfach die Folge des Aneinanderstoßens
des Hethiterreiches mit dem Herrschaftsgebiet der Charri seien,
beruht einmal auf der unbewiesenen Vermutung, daß die Charri
die Arier seien, sie wird aber auch nicht der Stärke des indoger-
manischen Elements des Hethitischen gerecht; denn durch sie
ließe sich nur das Erscheinen vereinzelter Lehnwörter — um weit
mehr handelt es sich aber auf jeden Fall — erklären. Ganz zurück-
zuweisen ist alsdann eine methodische Bemerkung Weidners
(S. 33), durch die er im Anschluß an eine Behauptung Hüsings
(Orient. Lit.-Ztg. XII [1909], Sp. 102, 1) seine eigene These zu
stützen sucht: da die Hethiter anthropologisch keine Indoger-
manen seien, so könne das Grundgefüge ihrer Sprache unmöglich
indogermanisch sein^); denn Sprachen in ihrer Gesamtheit seien,
wo es sich um ganze Völker handelt, unübertragbar. Weidner
beachtet hierbei ebenso wie Hüsing gar nicht, daß die Indoger-
manen eine durch die Sprache und nicht durch die Rasse zusam-
mengehaltene Völkergruppe darstellen (s. meine Bemerkung in
dieser Ztschr. 117, S. 197, 2), und er ist sich ferner dessen nicht
bewußt geworden, daß die Vorherrschaft der indogermanischen
Sprache im geschichtlichen Europa gerade darauf beruht, daß
ganze Völker, d. h, jene Volkselemente, auf die die indogermanisch
^) Weidner beruft sich bei diesen Feststellungen auch auf die
jedes indogermanische Element für die Hethiter ablehnenden Bemer-
kungen Eduard Meyers in dessen Geschichte des Altertums, verschweigt
aber leider ganz, obwohl er in seiner Literaturübersicht (S. 144 ff.)
den betreffenden Aufsatz Eduard Meyers anführt, daß dieser inzwischen
seine frühere Auffassung aufgegeben hat (s. meinen Hinweis in dieser
Zeitschr. 117, S. 200 und 203). Nach welchem Prinzip Weidners Lite-
raturverzeichnis angelegt ist, ist übrigens nicht ersichtlich; es fehlen
manche grundlegende Arbeiten über das Hethiterproblem, wie die von
Messerschmidt und Jensen, gänzlich, während andere, die nur Einzel-
heiten bieten, und selbst solche, die einen mehr populären Charakter
tragen, genannt sind.
468
Walter Otto,
Sprechenden bei ihrem Vordringen stießen, die indogermanische
Sprache angenommen haben. Es ist eben eine in der Weltge-
schichte sehr oft zu beobachtende Tatsache, daß die Sprache des
Siegers, bzw. desjenigen, der die politische Vorherrschaft ausübt,
in einer stamm- und sprachfremden Bevölkerung, freilich nicht
ohne der Beeinflussung durch diese mehr oder weniger zu erliegen^
herrschend wird, aber auch die entgegengesetzte Entwicklung:
läßt sich gelegentlich nachweisen. i)
Abgesehen von der ungenügenden methodischen Grundlage
ist bei der allgemeinen Schlußfolgerung Hüsings und Weidners
auch ein Tragpfeiler ihres Gebäudes brüchig; sie nehmen nämlich
ohne weiteres an, daß die in den Keilschrifttexten uns begegnende
hethitische Sprache auch wirklich vom ganzen hethitischen Volke
gesprochen worden sei. Sie ziehen die Möglichkeit, daß wir in
dieser vielleicht nur die Staats- und Gesellschaftssprache zu sehen
haben, neben der noch ein anderes Idiom als Volkssprache sich
erhalten hat, d. h. etwa Zustände, wie wir sie besonders deut-
lich in England nach der normannischen Eroberung bis ins 14. Jahr-
hundert n. Chr. hinein beobachten können, gar nicht in Be-
tracht. Und doch hätte wenigstens Weidner gerade auf Grund
der Beobachtungen Hrozn;fs über eine zweite in den hethitischen
Keilschrifturkunden gelegentlich begegnende Sprache dies tun
müssen.
Alles in allem genommen. Weidners These scheint mir von
ihm zunächst nicht bewiesen zu sein, wobei ich ganz davon ab-
sehe, inwieweit er mit seiner Zuteilung des Hethitischen, ebenso
wie des Elamitischen und der Mitannisprache zu der kaukasischen
Sprachgruppe das Richtige trifft. 2) Anderseits mahnen allerdings
auch gerade seine Feststellungen zur Vorsicht gegenüber Hrozn^s
Erklärung des Hethitischen als einer im wesentlichen indoger-
1) Es sei auch hier anstatt besonderer Belege auf die schon im
vorigen Aufsatz (S. 206, 3) erwähnten Ausführungen von Oberhummer^
Geogr. Zeitschr. XXII (1916), S. 82f. verwiesen.
2) Weidner gehört zu jener Gruppe von Sprachforschem, die ge-
neigt sind, möglichst viele antike und moderne Sprachen, so auch
z. B. das Baskische, als Vertreter des kaukasischen Sprachtypus zu
fassen, s. z. B. S. 33, 1 ; 34, 4; 110; 116, 1. Vgl. etwa demgegen-
über die vorsichtige Stellungnahme von Ungnad, Orient. Lit.-Ztg.
XVIII (1915), Sp. 241.
Neues zur Hethiterfrage. 469
manischen Sprache. Meine eigene Deutung des Hethitischen als
einer Mischsprache (s. diese Zeitschr. 117, S. 205) scheint mir
daher gerade durch das Weidnersche Buch stärker gesichert zu
werden, 1)
Außer der sprachlichen These Weidners sind für die von mir
behandelten hethitischen Probleme auch einige seiner Einzel-
bemerkungen von Bedeutung. Ich hatte (diese Zeitschr. 117,
S. 213) mich dahin ausgesprochen, daß wir keinerlei Anzeichen
für das Vorhandensein des Einzelvolkes der Hethiter in seinen
späteren kleinasiatischen Sitzen vor der 1. Hälfte des 2. Jahr-
tausends haben. Eine Feststellung Weidners (S. 36) über den
Schriftduktus der hethitischen Keilschrifturkunden 2) scheint
mir nun sehr wohl hiermit zu vereinen zu sein. Jener Schrift-
duktus ist nämlich nach Weidner, wenn er auch eine Entwick-
lungsform für sich darstelle, dem der altakkadischen Texte aus
der Zeit der ersten Dynastie von Babylon und vielleicht noch
stärker mit jenem der Urkunden aus der Zeit der Dynastie von
Isin nahe verwandt, eine Beobachtung, die in ihren Grundzügen
das Richtige treffen dürfte, zumal auch die Auswahl der von
den Hethitern verwandten Keilschriftzeichen für sie spricht.
Wenn ich Weidner recht verstehe, so glaubt er, daß die
ältesten hethitischen Keilschrifttexte bereits in jener altbaby.
Ionischen Zeit abgefaßt sein dürften. Die Annahme der baby.
Ionischen Keilschrift durch die Hethiter wäre also bereits sehr
1) Auch erst nachträgHch sind mir von Arbeiten über den Cha-
rakter der hethitischen Sprache bekannt geworden: Holma, Stades
sur les vocabulaires sumiriens-accadiens-hittites de Delitzsch (Journal
de la sociiti Finno-ougr lerne XXXIII [1916], Helsinski) und K. Wulff,
Hethitisk, et nyt indo-europaeisk sprog? (Nordisk Tidsskrift for Filologi
1916, S. 81ff,); Holma versucht die indogermanischen Elemente in
den Vokabularen festzustellen, Wulff unterzieht die Hrozn^sche These
einer kurzen kritischen Prüfung, die mir ebenso wie die Arbeit von
Holma gerade für meine Aufstellung zu sprechen scheint, ich möchte
hier noch ausdrücklich bemerken, daß ich die vielen Beiträge zur
Hethiterfrage, die in der letzten Zeit in populären Zeitschriften und in
Tageszeitungen erschienen sind, hier absichtlich beiseite gelassen habe.
2) S. für diesen auch seine Schrifttafel auf S. 150 ff. Es sei hier-
bei bemerkt, daß auch Weidner die gelegentliche Schwierigkeit der
Lesung betont, s. S. 104, 4.
470
Walter Otto,
früh erfolgt. Es wäre alsdann erwiesen, daß die Hethiter be-
reits in dieser frühen Zeit im Bereich des babylonischen Kultur-
kreises gesessen hätten. Aber wo, ob im Osten oder im Westen
desselben, das wäre natürlich fraglich. i) Nun erscheint es
mir aber mögHch, den altertümlichen Schriftduktus der hethi-
tischen Keilschrifturkunden auch noch auf einem anderen
Wege zu erklären. Die in meinem Hethiteraufsatz (S. 212) er-
wähnten kappadokischen Keilschrifttafeln — Weidner schiebt sie
eigenartigerweise beiseite (S. 36, 3) — gehören ja auch der alt-
babylonischen Zeit an; der Gebrauch eines altbabylonischen
Schriftduktus ist uns also durch sie für die Gegenden, wo wir
später die Hethiter antreffen, belegt. An und für sich hätte mit-
hin die Annahme viel für sich, daß die Keilschriftform dieses
Gebietes von den Hethitern angenommen worden ist, als sie seine
Herren geworden waren. Wann die Übernahme erfolgt ist, läßt
sich allerdings vorläufig auf Grund dieser allgemeinen Erwägungen
kaum näher festlegen. Denn wir haben mit der Möglichkeit zu
rechnen, daß in diesen Gegenden, die immerhin von dem Haupt-
verbreitungsgebiet der babylonischen Kultur etwas abgetrennt
lagen und deren Abgetrenntsein durch die politischen Ereignisse
der 1. Hälfte des 2. Jahrtausends noch verstärkt worden sein
dürfte (s. diese Zeitschr. 117, S. 212 f.), sich Altertümliches lange
erhalten hat. Es kommt hinzu, daß uns in den kappadokischen
Keilschrifttafeln ein lokal engbegrenztes Material zur Verfügung
steht, da es im wesentlichen aus einem einzigen Orte, aus Kültepe,
stammt^), so daß paläographische Vergleichungen mit den späteren
hethitischen Urkunden, die uns allein weiter helfen können, mit
ungenügendem Material zu tun haben. Immerhin scheint mir,
wenn wir die Eigenart der hethitischen Keilschriftform auf dem
Wege über die alte Keilschrift Kappadokiens — nicht allein auf
Grund der gerade zufällig erhaltenen wenigen Proben von ihr —
erklären wollen, kein Zwang zu bestehen, die Übernahme der
Schrift noch etwa in die Zeit vor 2000 v. Chr., aus der ja ein-
zelne der kappadokischen Urkunden sicher stammen, anzusetzen.
Während die paläographische Beobachtung Weidners uns
m. E. zunächst nur vor neue Probleme stellt, ohne deren end-
1) Es sei darauf verwiesen, daß bekanntlich auch die Elamiten
sich bereits im 3. Jahrtausend der babylonischen Schrift bedient haben.
2) S. H. Winckler, Orient. Lit.-Ztg. IX (1906), Sp. 622 f.
Neues zur Hethiterfrage. 471
gültige Lösung herbeizuführen, dürfte eine seiner anderen ge-
legentlichen Bemerkungen (s. S. 72, 1) für die wichtige Frage
nach dem Alter der hethitischen Hieroglyphenschrift (s. hierüber
diese Zeitschr. 117, S. 196) sehr förderlich sein. Ich hätte viel-
leicht schon in meinem Aufsatz jenes hethitische Keilschrift-
täfelchen aus Boghazköi erwähnen können, das in der Unter-
schrift hethitische Hieroglyphen trägt, i) Seine genaue Datierung
durch Sayce in die Regierungszeit des letzten uns bekannten
Herrschers des hethitischen Großreiches ist freilich unbegründet,
so daß trotz seiner Herkunft aus Boghazköi die Möglichkeit, es
als ein Dokument aus späterer Zeit als die Masse der dorther
stammenden Urkunden zu fassen, bisher m. E. nicht zwingend
zu widerlegen war. Nun weist Weidner auf eine Reihe von
Boghazköiurkunden hin, welche als Unterschrift den Vermerk
„geschrieben von X." tragen, während bei anderen der Name
des Schreibers nicht genannt, sondern an seiner Statt ein freige-
lassener Raum vorhanden ist; ein Gegenstück, ein Keilschrift-
täfelchen aus El Amarna, bietet in dem freigelassenen Räume,
nach den erhaltenen Spuren zu urteilen, den Schreibernamen
wohl in ägyptischen Hieroglyphen.^) Weidner hat hieraus schon
den m. E. richtigen Schluß gezogen, daß auch jene hethitischen;
Hieroglyphenzeichen^) den Schreibernamen enthalten dürften,*)
Man darf wohl aber des weiteren gerade auf Grund all jener
Gegenstücke nun mit voller Bestimmtheit behaupten, daß das
an sich nicht sicher zu datierende Saycesche Tafelfragment mit
der Unterschrift des Schreibers in Hieroglyphen aus derselben Zeit
wie seine Parallelstücke, also aus dem 14. oder 13. Jahrhundert
^) Veröffentlicht von Sayce, Journ. Royal Asiat. Society 1912,
S. 1029 ff.
*) S. Borchardt und Schröder, Mitt. Deutsch. Orientgesellsch.
Nr. 55 (1914), S. 35 u. 41 ff.
') Ihre Deutung durch Sayce war sehr wenig wahrscheinlich.
*) Weidner möchte übrigens gern in der Sayceschen Urkunde
einen weiteren Beweis für die Identität des Hethitischen der Hiero-
glypheninschriften und der Keilschrifttexte sehen. Daß ein solcher
Schluß jedoch nicht statthaft ist, zeigt klar die angeführte Urkunde
aus El Amarna, bei der sich bei Anwendung derselben Schlußfolgerung
die Gleichheit der Sprache des Keilschrifttextes und der der ägyptischen
Hieroglyphen ergeben würde.
472 Walter Otto, Neues zur Hethiterfrage.
V. Chr. stammen muß, so daß wir in ihm ein immerhin näher
datiertes Zeugnis für die hethitische Hieroglyphenschrift besitzen
würden.
Zum Schluß sei noch auf eine wohl Glauben verdienende
Mitteilung Weidners aus einer hethitischen Chronik über ein
wichtiges Ereignis aus der Geschichte des hethitischen Groß-
reiches verwiesen, eine Nachricht, die wohl allen ganz uner-
wartet kommen dürfte und uns die größte Vorsicht und Zu-
rückhaltung gegenüber der Geschichte des hethitischen Groß-
reiches vor der Veröffentlichung der Archivfunde von Boghaz-
köi von neuem einschärft (s. schon diese Zeitschr. 117, S. 224).
Wir erfahren nämlich von einer zweiten Eroberung Babylons
durch die Hethiter, und zwar zur Zeit ihres Königs Mursil,
des Vaters Chattusils II, also in der 2. Hälfte des 14. Jahr-
hunderts. Eine irgendwie länger dauernde Unterwerfung Ba-
byloniens kann allerdings nicht die Folge dieser Eroberung ge-
wesen sein; war uns doch schon bekannt, worauf ich bereits
früher hingewiesen habe (S. 224), daß Babylonien unter der
Regierung Chattusils II dessen Einmischungsversuche in seine
inneren Verhältnisse erfolgreich abgewehrt hat, und die Form,
in der sich hierbei die Verhandlungen abgespielt haben, spricht
sogar eigentlich direkt dagegen, daß Babylonien in dieser Zeit
jemals den Hethitern direkt Untertan gewesen ist.^) Immerhin
würde uns diese Eroberung Babylons, wenn Weidners Angabe
weiterer Prüfung standhält, wieder besonders deutlich die große
Macht der Hethiter und die Ohnmacht Babyloniens unter den
späteren Kassitenkönigen zeigen.
1) Wincklers (Mitt. Deutsch. Orientgesellsch. Nr. 35 [1907], S. 22)
Übersetzung der vor allem hierfür in Betracht kommenden Stellen
der einschlägigen Urkunde sei hier wiedergegeben, wenn auch wohl
nicht alles ganz korrekt sein dürfte. Nach ihr hat der Babylonier an
den Hethiterkönig geschrieben: „Du schreibst an uns nicht im Tone
der Bruderschaft, sondern kommandierst uns wie Vasallen", und der
Hethiterkönig hat darauf geantwortet: „Wie könnte ich Euch je wie
meine Vasallen kommandieren? Weder die Leute von Kardunias
(= Babylonien) können je die von Chatti, noch diese jene komman-
dieren usw."
Literaturberidit.
Sokrates. Sein Werk und seine geschichtliche Stellung. Von
H. Maier. Tübingen, J. C. B. Mohr. 1913. 638 S.
Es ist eine neue, von der bisher herrschenden Auffassung
durchaus abweichende Anschauung von dem großen athenischen
Weisen, die der Verfasser des vorliegenden Buches durch eine
umfassende Erörterung und Kritik der Überlieferung zu be-
gründen sucht. Das Ergebnis der Untersuchung ist folgendes:
Nicht die Begriffsphilosophie ist auf Sokrates zurückzuführen
— der Entdecker des Allgemeinen ist Piaton — , sondern viel-
mehr ein persönliches Lebensideal individueller Voll-
kommenheit und Autarkie. Die Philosophie des Sokrates
ist nicht Suchen nach einer allgemeingültigen Wissenschaft,
sondern nur Suchen nach persönlich-sittlichem Leben. Das
Wesentliche der sittlichen Idee liegt für ihn nicht in ihrem In-
halt, sondern ist ein formales Moment, das die Freiheit und
Unabhängigkeit, die Autonomie und Autarkie der sittlichen Per-
sönlichkeit begründet. Die Tendenz aller sittlichen Gebote richtet
sich auf die Vollkommenheit der individuellen Seele (S. 316).
In dem individuellen Lebensgebiet sich auszuwirken, den indi-
viduellen Menschenberuf zu erfüllen, ist zunächst die vor-
nehmste sittliche Aufgabe (S. 392). Hierzu ist das wesentlichste
Mittel sachverständiges Wissen. Dieses ist somit die Voraus-
setzung und das Fundament für die Erfüllung der konkreten
Aufgabe, die dem in Welt und Leben stehenden Individuum
durch das Vollkommenheitsideal gestellt ist (S. 398). Das Wissen
ist also nur ein Mittel für die Erreichung dieses konkreten Zweckes.
Die Wissenschaft als solche dagegen bildet für Sokrates keinen
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 31
474
Literaturbericht.'
bestimmenden Lebenszweck. Das Ziel aller individuellen Betäti-
gung ist die Verwirklichung persönlicher Kultur. Maier erkennt
allerdings eine gewisse Bedeutung der Gemeinschaftsidee auch
im sokratischen Denken an. Den platonischen Gedanken, daß
die kulturelle Aufgabe, die dem Menschen durch das Vollkommen-
heitsideal gestellt ist, ihre Lösung nur in der organisierten Ge-
sellschaft im Staate finden könne, sieht er als einen im Kern
sokratischen an (S. 416f.). Der Staat ist die organische Einheit,,
in der die Persönlichkeiten ihre sittliche Aufgabe erfüllen (S. 548).
Aber das sittliche Leben selbst ist dem Sokrates doch eine An-
gelegenheit des Individuums, nicht der Gesellschaft (S. 315, 389).
So wird Sokrates grundsätzlich zu einem Verfechter des Indivi-
dualismus auf sittlichem Gebiete gestempelt.
Wenn wir nun die Grundlagen der M.schen Ansicht prüfen,
so stützt sich seine Hauptthese, die den Zusammenhang zwischen
sokratischem Denken und der Begriffsphilosophie auflöst, vor
allem auf eine Bestreitung der bekannten Bemerkungen des Ari-
stoteles über das philosophische Verfahren des Sokrates. M. er-
kennt diesen Bemerkungen den selbständigen Quellenwert ab,
sieht vielmehr in den angeblichen Zeugnissen des Aristoteles eine
von Xenophons Ausführungen in den „Denkwürdigkeiten" (IV6)
abhängige Darstellung. Und Xenophon wird seiner Bedeutung
als unabhängiger Zeuge durch die Annahme einer weitgehenden
Abhängigkeit von Piaton entkleidet. Weiter sucht M. seine Auf-
fassung des Sokrates durch eine sehr entschiedene Verwertung
der Stellung des Antisthenes und Aristipps zum Meister zu be-
gründen. Er sieht den echten Sokrates gewissermaßen in der
Mitte zwischen Piaton und Antisthenes. Vor allem habe das
Evangelium der Freiheit, das Sokrates vertreten habe, in Anti-
sthenes einen verständnisvollen Verfechter gefunden (vgl. S. 323 f.)
Endlich das letzte Hauptglied in der Kette der Beweisführung:
das Verhältnis Piatons zu Sokrates. So großen Wert M., mit
Recht, den frühplatonischen Dialogen für die geschichtliche Er-
kenntnis des Sokrates beimißt, so entschieden bringt er auf der
anderen Seite den selbständigen und vollendeten Denker Piaton
geradezu in einen Gegensatz gegen den wirklichen Sokrates.
Piaton hat eine ins Wesen eindringende Umbildung des sokrati-
schen Evangeliums durchgeführt. Erst er hat Erkenntnis und
Tugend, wissenschaftliche Betätigung und sittliches Leben ge-
Alte Geschichte. 475
radezu gleichgesetzt. Aus dem sokratischen Satze: Tugend ist
ein Wissen, ist der platonische: Tugend ist das Wissen, gewor-
den (S. 520).
Ich halte die Begründung, die M. für sein Sokratesbild gibt,
nicht für ausreichend, zum großen Teil geradezu für unzutreffend
Die Entwertung der aristotelischen Zeugnisse über Sokrates' be-
grifflich-induktives Verfahren ist nicht gelungen, die Annahme,
daß als der Gewährsmann des Aristoteles Xenophon anzusehen
sei, sehr unwahrscheinlich. Sollten dem Aristoteles wirklich nicht
andere Quellen für seine Auffassung der sokratischen Philosophie
zu Gebote gestanden haben als die Denkwürdigkeiten Xenophons?
Es floß ihm doch vor allem die Quelle der lebendigen Überliefe-
rung in der Akademie. Und die Ableitung der aristotelischen Dar-
stellung aus dem xenophonteischen Berichte ist an sich sehr ge-
zwungen. Weiter muß ich gegen die Schlüsse, die M. aus der
philosophischen Stellung des Antisthenes und Aristipps auf So-
krates selbst zieht, starke Bedenken erheben. Mir scheint hier ein
Entweder-Oder unausweichlich. Entweder hat Piaton mit seinem
Glauben an die Möglichkeit einer Erkenntnis und einer wahren
sittlichen Gemeinschaft an Sokrates angeknüpft oder er ist in
den wesentlichsten Motiven seines philosophischen Denkens und
Forschens von ihm unabhängig, ja steht sogar im Gegensatz zu
ihm. Wie sollen wir uns aber dann psychologisch sein Verhältnis
zum Meister erklären? Man halte dem nicht entgegen, daß für
Piaton der persönliche Eindruck vornehmlich des im Märtyrer-
tode sich selbst vollendenden Weisen entscheidend gewesen sei.
So stark wir dieses persönliche Moment einzuschätzen haben,
Sokrates konnte doch nicht der Idealvertreter wahrer Philosophie
für Piaton werden, wenn dieser nicht der Überzeugung sein durfte,
daß der Meister ihm eben durch sein eigenes philosophisches Suchen
und Denken den Weg zur wahren Philosophie gewiesen habe.
Hätte er wohl diesen Glauben zu gewinnen vermocht, wenn Anti-
sthenes einen so wesentlichen Teil der Wahrheit über Sokrates
vertrat? Wie stark der Einschlag einer spezifisch attischen, in
der Gemeinschaftsidee wurzelnden sittlichen Anschauung bei
Sokrates war, zeigt vor allem der platonische Kriton, dem M.
mit Recht neben der Apologie einen sehr bedeutenden Quellen-
wert beimißt. Zu einer solchen Anschauung steht die des Anti-
sthenes in völligem Gegensatze. Dieser ist sowohl in seiner Be-
31*
476 Literaturbericht.
kämpfung der Gemeinschaftsidee wie in der Bestreitung der
Möglichkeit einer wirklichen Erkenntnis aus der sophistischen
Aufklärung hervorgewachsen. Gerade auch die frühplatonischen
Dialoge lassen uns aber deutlich sehen, wie Sokrates nach einer
begrifflich allgemeinen Grundlegung des ethischen Denkens
suchte. Der tatsächlich einigermaßen skeptische Zug, der dem
Sokrates in diesen Dialogen eignet, gilt in Wahrheit nur dem
vermeintlichen Wissen, nicht der wahrhaften Erkenntnis. Auch
Xenophons Schilderung des dialektischen Verfahrens des Sokrates
darf nicht ohne weiteres über Bord geworfen werden. Sie muß
gewiß mit Vorsicht verwertet werden, aber völlig beseitigen läßt
sich ihr Quellenwert nicht. Die Vermutung einer wesentlichen
Abhängigkeit Xenophons von Piaton, wie sie M. S. 53 ff. ver-
tritt, wird schwerlich viel Zustimmung finden.
Das Bild, das M, von Sokrates gewinnt, ist m. E. ein stark
modernisierendes. Es trägt Züge, die in gewissem Sinne
geradezu an das auf dem Boden der modernen deutschen Kultur
erwachsene Persönlichkeitsideal erinnern. Die Unsicherheit eines
jeden Versuches, eine genauere Zeichnung der Anschauungen und
Bestrebungen des großen athenischen Weisen zu entwerfen, wird
bei dem Stande des Quellenmaterials immer bestehen bleiben.
Aber die Lösung des Problems liegt gewiß nicht in der Rich-
tung, in der sie M. versucht hat. Sokrates ist wohl ein Vertreter
der Autonomie des Individuums gewesen, aber eben doch im
Sinne eines Intellektualismus und Rationalismus, der ein wahr-
haft Allgemeines aus der Vernunft heraus im menschlichen Denken
wie Leben zur Geltung zu bringen trachtet. Natürlich dürfen
wir aber eine so reiche, fruchtbare und lebendige Persönlichkeit
nicht in der schematischen Kategorie allgemeiner Begriffsdialektik
aufgehen lassen und ihr den Charakter des Problematischen neh-
men. Der Gegensatz zwischen dem sokratischen und christlichen
Evangelium, auf den M. am Schlüsse seines Buches hinweist,
stellt sich in Wahrheit, wie mir scheint, auch etwas anders dar
als unter der vom Verfasser gegebenen Beleuchtung, worauf ich
hier nicht weiter eingehen kann.
Wie gegen die Darstellung des Sokrates selbst habe ich auch
gegen die der Sophistik und Piatons Bedenken vorzubringen. M.s
Schilderung der sophistischen Anschauungen läßt — in Einklang
mit einer in der gegenwärtigen Forschung stark verbreiteten Auf-
Alte Geschichte. 477
fassung — hinter den praktischen Bestrebungen der Sophisten
den allgemeinen Einfluß, den sie als wirksamste Vertreter der
individualistischen Aufklärung sowohl auf die philosophische
Theorie wie namentlich auf das sittliche Gemeinschaftsleben aus-
geübt haben, zu stark zurücktreten. Ich habe im ersten Bande
meiner Geschichte des Hellenismus versucht, die Bedeutung dieser
individualistischen Anschauungen gerade auch für das Staatsleben
ausführlich darzulegen und hoffe, in der soeben erschienenen
neuen Auflage diesen inneren Zusammenhang noch deutlicher zum
Ausdruck gebracht zu haben. M. hat meine Darstellung nicht
berücksichtigt. Auch durch die neuen Fragmente des Sophisten
Antiphon (vgl. die Ausgabe von Diels in den S.-B. der Berl.
Akad. 1916 S. 931 ff.) wird — im Gegensatz zu M.s Ausfüh-
rungen S. 231 ff. — die Verbindung der Sophistik mit den in
der Gegenüberstellung von Natur und Satzung gipfelnden ethisch-
politischen Theorien des Aufklärungszeitalters bestätigt.
Die Erörterungen über Piaton dienen dazu, noch einmal von
der in der platonischen Philosophie gegebenen Kontrastwirkung
aus den „sittlichen IndividuaHsmus" des Sokrates zu beleuchten.
Wenn aber M, als den Endzweck des platonischen Staates die
Realisierung vollkommener Wissenschaft bezeichnet, so hat er
hiermit nur eine Seite hervorgehoben. Wir können den platoni-
schen Staat nicht in vollem Maße würdigen, wenn wir ihn nicht
zugleich als ideale Verkörperung der Gemeinschaftsidee der grie-
chischen Polis, als die Verwirklichung wahrer Gerechtigkeit be-
trachten. Dieser Gesichtspunkt kommt in unserem Werk nicht
zur Geltung.
Wenn ich mich zu dem Hauptergebnis des vorliegenden
Buches ablehnend verhalten muß, so hebe ich um so lieber am
Schluß noch besonders hervor, daß die Darstellung M.s nicht
bloß im einzelnen eine Reihe wertvoller Beobachtungen und
Untersuchungen enthält, sondern daß sie auch als Ganzes in
hohem Grade lebendig und wirksam ist und auch da, wo sie
den Widerspruch herausfordert, viel Anregung bietet. Es ist
ihre Stärke, daß sie offenbar auf persönlichem Erlebnis beruht
und somit zugleich zu einem persönlichen Bekenntnis wird.
J. Kaerst.
478 Literaturbericht.
Kulturgeschichte des Mittelalters. Von Georg Grupp. 2., voll-
ständig neue Bearbeitung. 2. bis 4. Bd. Paderborn, Ferd.
Schöningh. 1908. 1912. 1914. 549 S. mit 48 Illustrationen,
503 S. m. 21 Illustr., 524 S. m. 17 Illustr.
Die Neubearbeitung der Gruppschen Kulturgeschichte be-
hält auch im weiteren Fortgang die Vorzüge und Mängel, nach
denen ich den 1. Band H. Z. 102, S. 345 ff . charakterisiert habe.
Obwohl der Verfasser sein Bekenntnis nirgends verleugnet (vgl.
etwa Bd. 4, S. 308 in Anm. 3 die recht wunderliche Erklärung
des Erfolgs der Reformation aus Luthers überlegener Beredsam-
keit), stört die Darstellung durch keine aufdringliche Tendenz,
sie ist stofflich reich und immer sachlich, gelegentlich etwas
trivial, aber nie langweilig: das anekdotische Detail (bei dem
die Kirche durchaus nicht geschont wird) mag sie vielen geradezu
schmackhaft machen. Der Verfasser will nichts bringen, was
nicht die Quellen ergeben, und er strebt danach, die wissenschaft-
liche Literatur bis in Dissertationen und Zeitschriften hinein aus-
zunutzen. Dabei faßt er den Begriff „Kultur" tief und allseitigii'
er sucht sowohl die aufbauenden Elemente zu ermitteln, wie das
Ergebnis und die Erscheinungsformen auf allen Gebieten des
geistigen und wirtschaftlichen, des öffentlichen und privaten
Lebens zu erfassen. Man kann an der Anordnung, die ohne
Perioden auszukommen versucht, wie an der Raumverteilung
manches aussetzen, aber dem Verfasser kaum nachweisen, daß
er irgendeine Seite des mittelalterlichen Wesens und Schaffens
ganz übersehen habe. — Die Illustrationen freilich sind nicht
mehr als das Zugeständnis an eine Zeitmode: von Anfang an
dürftig an Zahl und Ausführung und mit wenig Geschick aus-
gewählt, werden sie beim Fortschreiten des Werkes immer
spärlicher.
Der Verfasser hat längst eingesehen, daß er seinerzeit mit
einer ungenügenden Ausrüstung an die gewaltige Aufgabe einer
Kulturgeschichte des Mittelalters herangetreten ist, und was
man durch Fleiß während der Arbeit nachholen kann, hat er
nachzuholen gesucht. Aber zu einer Neugestaltung seiner wissen-
schaftlichen Fundamente hat das nicht führen können: immer
wieder stoßen wir auf die Erscheinung, daß Einzelheiten aus
modernen Monographien auf eine Darstellung aufgeflickt sind,
die einem früheren Datum entstammt. Der schwerste Mangel aber
Mittelalter. 479
bleibt es dauernd, daß Gr.s sprachliches Verständnis nicht aus-
reicht, ja, was schlimmer ist, daß er offenbar nie gelernt hat,
eine Quellenstelle scharf und präzise aufzufassen. Es ist doch eine
üble Entgleisung, wenn er die Kaiserin Judith eine „sanfte,
blonde (!) Schwäbin" nennt (II 163) und die Quellenstelle bei-
fügt: suavis et blandal Und um mit Proben bei diesem Bande
zu bleiben: S. 283 schenkt König Ludwig III. den Normannen
„bitteres Leid" ein, statt „bitteren Trank" {bitteres lldes), S. 286
werden die weisen Männer (wtsa man) einer Heliandstelle weiß
angezogen, S. 435 hat das angelsächsische Wort ceastre auf einem
Ausschnitt aus dem Teppich von Bayeux das Mißverständnis
„Lager" verschuldet, obwohl doch das lateinische {caste)Uum
dicht dabei steht.
Göttingen. Edward Schröder.
Hansisches Urkundenbuch. 11. Bd.: 1486—1500. Bearbeitet von
Walter Stein. Mit einem Sachregister. München und
Leipzig, Duncker & Humblot. 1916. XXXII u. 900 S.
Der stattHche Band, mit welchem W. Stein nunmehr seinen
Anteil am Hansischen Urkundenbuch abgeschlossen hat, umfaßt
ebenso wie der vorige Band 15 Jahre und ist im Umfang, den
die Urkunden dieser Jahre einnehmen, nicht viel von dem frü-
heren Bande unterschieden, da 50 Seiten des vorHegenden Bandes
auf die Nachträge 1451 — 1500 entfallen. Von der ganzen weit-
schichtigen Publikation fehlen nur noch die Jahre 1436 — 1450,
die in den Arbeitsbereich von Karl Kunze fallen und hoffent-
lich in absehbarer Zeit auch der Forschung erschlossen werden.
Die Gesamtleistung von W. St., der im Jahre 1892 als Mit-
arbeiter beim Hansischen Urkundenbuch eingetreten ist, füllt in
4 Bänden über 3300 Seiten Text neben 100 Seiten Einleitung.
Wer die St.sche Publikation benützt, weiß, daß seine Edition
sauber und zuverlässig gearbeitet ist. Mit sicherem Blicke ist
das minder Wichtige ausgeschieden und in Regestenform ge-
bracht; nur die wichtigeren Stücke gibt er im Wortlaut; durch
Paragrapheneinteilung ist bei weitläufigen Akten eine leichte
Übersicht möglich.
Der Inhalt des 11. Bandes ist ebenso mannigfach wie der
Stoff der vorhergehenden Bände. Eine Reihe von Stücken be-
480
Literaturbericht.
trifft den fernen Südwesten, insbesondere Danzigs Vericehr mit
Lissabon und seine portugiesischen Privilegien, eine viel größere
Zahl dient der Handelsgeschichte Nordosteuropas. Die hansisch-
russischen Beziehungen erfahren mannigfache Beleuchtung;
namentlich wird viel bedeutsames Material für die Aufhebung
des deutschen Hofes in Nowgorod geboten; hierzu gehören
S. 201 ff. die Beschwerden Revals und des Nowgoroder Kon-
tors an den Großfürsten Iwan in Moskau 1489. Wertvolle Auf-
schlüsse bietet der vorliegende Band namentlich auch über den
vorgeschobenen Posten des preußisch-hansischen Handels in
Litauen, das deutsche Kontor in Kowno, das seinen Rückhalt
an Danzig hatte.
Aus dem westlichen Interessenkreise der Hansa treten in
den Vordergrund die gegen Maximilian gerichteten Wirren, die
1488 zu seiner Gefangennahme in Brügge führten, und der diplo-
matische Kampf mit England. Für das Transportwesen brachten
die burgundisch-englischen Streitigkeiten eine wesentliche Ände-
rung mit sich. Köln mußte über Kampen und Hamburg ver-
frachten. Deutlich hebt sich ein bedeutender Kopf aus dem
Stoffe dieses Bandes hervor, Gerhard von Wesel, der geistige
Leiter von Kölns Hansischer Politik, der die Verantwortung für
den Verrat Kölns an der Hanse trägt.
Einige besonders wichtige umfangreiche Aktenstücke sind
hervorzuheben, S. 93 — 119 der eingehende Bericht des Danziger
Ratssendeboten zur Tagfahrt in Lübeck 1487, S. 759 ff. der
Neudruck des Handbuches des Brügger Kontors, den Kopp-
mann schon im Jahre 1875 herausgegeben hatte, n. 1235 die
Zollordnung des Zwin, n. 1236 die Zollrolle von Brabant, n. 1237
die Aufzeichnung Venlos über die Zölle auf Maas, Waal und
Jjssel, S. 299 A. 3 die interessanten Nachrichten über den buch-
händlerischen Vertrieb in der Zeit der Wiegendrucke. Das letzte
Stück des Bandes, ein Schreiben Roermondes an Lübeck und
den dortigen Hansetag, das nur ganz allgemein von St. in die
zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts gesetzt ist, dürfte etwa in
die fünfziger Jahre fallen; denn der Gesandte lic. decr. Joh.
Benedict! wurde im Jahre 1444 bacc. decr. und wird 1461 als
dr. von Siena erwähnt (Kölner Universitäts-Matrikel 1, 209, 21).
Die Register sind diesmal von Otto Held angefertigt ganz
nach dem Muster der älteren Bände, aber leider auch mit den
Mittelalter. 481
Mängeln, die früher schon vom Rezensenten dargelegt wurden
(H. Z. 101, 152/3); es möge auf diese Anstände hier nochmals
hingewiesen werden. Es ist sehr zu bedauern, daß der Heraus-
geber sich nicht entschließen konnte, das hergebrachte Schema
zu verlassen oder wenigstens zu verbessern. Im Ortsregister sind
irrigerweise Tiel und Tyle getrennt. Im Sachregister ist cancri-
fusor mit Steinschneider erklärt; es liegt ein Lesefehler vor; es
handelt sich um einen Kannengießer (cantrifusor).
Köln. Herrn. Keussen.
Vatikanische Quellen zur Geschichte der päpstlichen Hof- und
Finanzverwaltung 1316 — 1376. Herausgegeben von der Gör-
res-Gesellschaft. 2. Bd. : Die Ausgaben der Apostolischen
Kammer unter Johann XXII. nebst den Jahresbilanzen von
1316—1375. Herausgegeben von K. H. Sdiäfer. Paderborn,
Schöningh. 1911. XI u. 151* 8. Einleitung, 911 S. Text
und Register, 42 M.
Der Bearbeiter, Dr. K. H. Schäfer, Assistent am Histori-
schen Institut der Görres-Gesellschaft zu Rom, bietet zu Beginn
seiner umfangreichen Einleitung einen Überblick über den reichen
Quellenstoff, der nur in stark gekürzter Fassung vorgelegt wer-
den konnte, weil sonst die Veröffentlichung unhandsam und
unübersichtlich geworden wäre. Die erste Aufgabe, die er zu
lösen hatte, war, Kürzungen zu finden und durchzuführen, ohne
das inhaltliche Bild zu verändern, ein schweres Stück Arbeit,
da es sich um die Zusammendrängung des handschriftlichen
Stoffes handelte, der in 60 Bänden auf mehreren tausend Blät-
tern zerstreut vorlag. Durch Weglassung formelhaft wieder-
kehrender Redewendungen, Vereinfachung der Datierung, Ver-
wendung leichtfaßlicher Siglen und arabischer Ziffern statt der
römischen Zahlen, vor allem aber durch systematische Vereini-
gung der zerstreuten Angaben nach gewissen Gruppen, ist es dem
Bearbeiter gelungen, den riesigen Stoff auf 820 Druckseiten zu-
sammenzudrängen.
Der Herausgeber wollte aber nicht bloß einen brauchbaren
Text nebst umfangreichen Registern liefern, sondern bemühte
sich auch, dem Benutzer die Erschließung des Stoffes durch
Mitteilung von Ergebnissen eigener Forschung sehr wesentlich
482
Literaturbericht.
zu erleichtern. Deshalb bietet er nach Pontifikaten und ein-
zelnen Jahren geordnete Zusammenstellungen der päpstlichen
Gesamtausgaben von 1316 — 1362 und für die Herrscherzeit Papst
Johanns XX II. (1316 — 1334) außerdem Übersichten der in 16 Ver-
waltungszweigen jährlich bestrittenen Auslagen unter Hinweis
auf die Seitenzahl seiner Ausgabe, welche die Quellenbelege
enthält. Dabei beschränkte er sich nicht auf trockene Wieder-
gabe der Geldsummen, die in den verschiedensten Währungen
nebeneinander genannt sind, sondern versuchte diese Angaben
durch Umrechnung auf eine gemeinsame Größe verständlich und
brauchbar zu machen. Der Erreichung dieses Zieles ist der Ab-
schnitt B der Einleitung gewidmet, der die Wertvergleichung
des Florentiner Goldguldens zu den Edelmetallen und wichtig-
sten europäischen Münzen im 13, und 14. Jahrhundert auf S. 38*
bis 131* behandelt.
In zweierlei Richtungen, meint Seh., hätte er sich diesem
Ziel nähern können, durch Ermittelung des Metallinhalts der in
den Ausgabebüchern erwähnten Gold- und Silbermünzen, oder
durch Wahl einer möglichst verbreiteten und im Feingewicht
unveränderten Münze als Maßstab für die wirtschaftsgeschicht-
liche Wertung aller übrigen Geldarten. Der erste Weg schien
ihm ziemlich aussichtslos zu sein, da viele Münzordnungen fehlen
und der Kreditwert nicht berücksichtigt worden wäre, der kleinen
Silbermünzen im Verkehre über ihren Metallwert hinaus un-
streitig zukam; er entschied sich daher für den zweiten und
erkor zum Maßstab den Florentiner Gulden, dessen Goldwert
einem deutschen Zehnmarkstück sehr nahe kam (9,84 Mark),
was „eine schnelle Wertorientierung auch für die Gegenwart
ermöglicht. Zunächst galt es, den damaligen Wert der beiden
Edelmetalle in Goldgulden festzustellen, sodann den jeweiligen
Kurs der einzelnen Gold-, Silber- und Scheide- (Billon-) Münzen
im Vergleich zum florenus Florentiae zu ermitteln". Eine un-
bedingte Genauigkeit ist freilich auch auf diesem Wege nicht
zu erreichen gewesen, da die Angaben über den Kurswert nach
Zeit und dem Orte des Geldwechsels wie noch heutzutage, so
auch damals aus verschiedenen Gründen schwankend waren;
immerhin hofft er, so zu brauchbaren Näherungswerten gelangt
zu sein. Auf S. 42*, 43* werden Gewichtsangaben der am mei
sten genannten Gewichtsmarken geboten, dann folgen die Be-
Mittelalter. 483
lege für die Preise von Gold und Silber, erst S. 44* ff. für un-
vermünztes Metall, dann S. 47* ff. für den Wert und Kurs der
wichtigsten Gold-, Silber- und Billongepräge im 13. und 14. Jahr-
hundert nebst einigen Beilagen zur Geschichte des Münzkurses
(S. 132* ff.), unter welchen ich die amthche Untersuchung der
Münzgewichte bei den Wechslern zu Avignon und die Bulle des
Papstes Johann XXII. von 1328 gegen unberechtigte Nach-
ahmung und betrügliche Fälschung der Florentiner Gulden be-
sonders hervorheben möchte.
Mit S. 151* schließt der Abschnitt über den Kurs des Floren-
tiner Goldguldens und es beginnt mit neuer Seitenzählung die
Ausgabe der bearbeiteten Quellenstellen. Sie zerfällt in zwei
Bücher von sehr ungleichem Umfang. S. 1 — 44 enthält die Ge-
samtausgaben und Bilanzen der päpstlichen Kammer in den
einzelnen Jahren von 1316 — 1363, S. 45 — 820 die Ausgaben der
päpstlichen Kammer unter Papst Johann XXII. (1316 — 1334).
Dies zweite Buch verzeichnet, wie schon der Umfang andeutet,
den eigentlichen Stoff der Arbeit in 16 fachlichen Gruppen.
Einer kurzen Einführung in die Geschichte des einzelnen Ver-
waltungszweiges für den Benutzer folgen dann Jahr für Jahr
alle Ausgaben der Gruppe teils wortgetreu abgedruckt, teils in
gekürzter Bearbeitung. Eine strenge Scheidung der persönlichen
und Hofausgaben von den Staatsausgaben war jener Zeit noch
durchaus fremd, doch überwiegen erstere in den Abschnitten
1 — 6: Küchen und Kellereiverwaltung, Marstall, Kleidung, Kunst-
gegenstände und Schmuck. Die Abschnitte 9, 10, 12, 13, 14, 16
mit Ausgaben für Besoldungen, Kriegswesen und Auslagen für
Erweiterung des päpstlichen Besitzes betreffen im wesentlichen
Aufgaben der Staatsverwaltung, die übrigen Gruppen zeigen
stark gemischten Inhalt, vor allem Abschnitt 1 1 de cera et que-
dam extraordinaria, der Beleuchtung, Nahrungsmittel, Nach-
richtenwesen, Kriegsausgaben, Geschenke usw. umfaßt. Den
Beschluß machen zwei Register, ein alphabetisches Namen-
verzeichnis S. 821 — 882, dann eine besondere Zusammenstellung
der päpstlichen Beamten, Kaufleute und Handwerker nach ihrem
Stand und endlich ein Anhang von Kurstabellen des Florentiner
Goldguldens (1252—1375).
Dieser Anhang (S. 895— 911 nebst den Seiten 38*— 131*
der Einleitung) erschien auch in besonderer Auflage unter dem
484 Literaturbericht.
Titel: „Der Geldkurs im 13. und 14. Jahrhundert. Kurstafeln
und urkundliche Wertvergleiche des Florentiner Goldguldens
zu den Edelmetallen und den wichtigsten europäischen Gold-,
Silber- und Scheidemünzen. Sonderabdruck aus K. H. Schäfer,
Die Ausgaben der apostolischen Kammer unter Johann XXII.
Paderborn, Schöningh 1911."
Die Absicht des Verfassers, durch diesen Sonderdruck dem
Forscher auf dem Felde der Wirtschaftsgeschichte ein leichter
zugängliches Hilfsbuch an die Hand zu geben, ist jedenfalls
dankbar anzuerkennen, obgleich einige Vorbehalte daran zu
knüpfen sind. Den Grundgedanken halte ich für glücklich. Die
Verwendung des Umlaufwertes einer verbreiteten und in ihrem
Feingewicht unveränderten Münze als Pegel, an welchem andere
Münzen aus der Zeit wirtschaftlich gemessen werden, gewährt
den Zifferangaben einen hohen Grad von Anschaulichkeit. Sehr
willkommen werden ferner dem Benutzer die Zusammenstellungen
der Markgewichte und der Preise für gemünztes wie ungemünztes
Edelmetall sein, doch bedürfen Sch.s Angaben im einzelnen man-
cher Ergänzung und Berichtigung. Der Verfasser hat zwar schon
selbst (S. 39* der Ausgabe, S. 2 SA.) erklärt, daß er im all-
gemeinen die Wertrelationen der Münzen zum Goldgulden für
die Gegend zu bestimmen gesucht habe, „wo die betreffende
Münze im Umlauf war", allein er hätte noch besser getan, wenn
er die Fälle, in welchen er sich an diese Regel gehalten hat,
kennbar hervorgehoben hätte, was durch freigewählte Zeichen
ohne Raumverschwendung durchführbar gewesen wäre. Die
Verwertbarkeit solcher Nachrichten für Zwecke der Preisgeschichte
ist eben in hohem Maße davon abhängig, daß man jede einzelne
Angabe sowohl nach der Zeit, als nach dem Ort, auf den sie
sich bezieht, sofort sicher zu erfassen vermag. Auch bei den
Gewichtsmarken kann der Ort, für welchen sie nachgewiesen
wurden, von Wichtigkeit sein, ich erinnere an die Kölner Mark,
die in sehr vielen Städten vorkommt, dabei aber örtliche Ab-
weichungen aufweist. Vielleicht noch wichtiger ist es, die Zeit
festzuhalten, für welche der Ansatz ermittelt wurde, denn die
Schwere der Gewichte hat sich zuweilen am gleichen Orte im
Laufe der Zeit merklich geändert. Ich greife als Beispiel die
polnische Mark heraus, für welche wir Angaben aus mehreren
Jahrhunderten besitzen. Dieselbe hatte
Mittelalter. 485
um 1250 rund 196 g. Aufzeichnung Albrechts von Beham, Bibl.
d. lit. Ver., Stuttgart XV Ib, S. XXI IL
1311 rund 200 g. Theiner, Mon. Vaticana hist. Hung. I, 2, 457.
1330 195 g. Nach Berechnung Schäfers.
1527 rund 195 g. Herbersteins Tagebuch. Ausgabe von Kara-
jan S. 281.
1722 200,41 g. Muffat nach Schoap, Europäische Gewichts-
vergleichungen.
1851 198,9 g. Noback, Taschenbuch der Münzmaaße usw.
Muffat hat seinen auch von Seh. unter „Warschau" mit-
geteilten Ansatz aus der Angabe Schoaps, daß die Warschauer
Mark 7? der kölnischen betrage, errechnet, indem er wie Seh.
233,812 g als Gewicht der alten kölnischen Mark annahm. Nun
hat schon Grote (Münzstudien III, 22) die Vermutung ausgespro-
chen, daß die Kölner Mark im 16. Jahrhundert 231,156 g ge-
wogen habe, und Guilhiermoz berechnet sie fürs Mittelalter auf
229,456 g. Die Richtigkeit dieser letzten Angabe wird durch
die Stale oder Probgerichte für die zu Frankfurt a. M. seit 1354
zu 66 Stück auf die kölnische Mark gemünzten Goldgulden be-
stätigt, denn ein ins 14. Jahrhundert zurückreichendes Stück,
das Dr. Grotefend 1882 im Stadtarchiv auffand, wiegt 3,482 g,
was auf den Gebrauch einer Kölner Mark von 229,812 g Schwere
zurückführt. Legt man nun der oben mitgeteilten Schoapschen
Vergleichung die Schwere der mittelalterlichen Kölner Mark
= 229,456 g zugrunde, so erhält man als 7? dieser 196,676 g
Schwere für die Warschauer Mark und der ifehlende Einklang
ist hergestellt.
Ein zweites Bedenken, das ich geltend machen muß, ist,
daß der Verfasser das Wertverhältnis der Edelmetalle für weit
beständiger hält, als es tatsächlich gewesen ist. Die zufällige
Übereinstimmung in einigen zeitlich und räumlich entlegenen
Angaben beweist keineswegs, daß das gleiche Verhältnis die
ganze Zeit hindurch geherrscht habe. Seh. erklärt zwar (S. 44*;
S. 7, SA.), ,,daß seit 1330 eine exorbitante Steigerung des Gold-
preises eingetreten sei, ist aus keiner unserer Quellen ersichtlich",
allein bei näherem Eingehen auf die Sache findet man, daß der
Eintritt in den Goldverkehr länderweise von einer vorübergehen-
den Verschiebung des Wertverhältnisses der beiden Edelmetalle
486
Literaturbericht.
begleitet war, die also in Europa nicht gleichzeitig, sondern hier
früher, dort später verlief. Nach einer brieflichen Mitteilung
Desimonis an mich stand beispielsweise in Italien um 1250 das
Gold zum Silber im Verhältnisse von 1 : 814, nach der Auf-
nahme der Florentiner Goldprägung um 1268 wie 1 : 10, um
1275 schon 1:11 und gegen das Ende des 13. Jahrhunderts
auf 1 : 12. Es stieg dann 1303 auf 1 : 13, um 1310 auf 1 : 14
und erreichte den Höhenstand um 1315 mit 1 : 1414 oder 14%,
dann begann es zu sinken. Um 1320 stand es auf 14,3, um 1327
auf 14, im Jahre 1335 schon auf 13, zwei Jahre später auf 12,.
im Jahre 1349 auf \\y2, bis es um 1365 den Stand von 1 : 10^4
bis 10% erreichte, den es dann bis zum Schluß des 14. Jahr-
hunderts einhielt. So Desimoni. Mit den Wertschwankungen
der Edelmetalle in Frankreich haben sich Marcheville, Blancard,
de Vienne beschäftigt, Quellenstoff für Deutschland habe ich in
meinem Vortrag über „das Wertverhältnis der Edelmetalle in
Deutschland während des Mittelalters" zusammengetragen, der
in den Akten des Congris international de Numismatique, Brüssel
1891, veröffentlicht wurde. Ich lasse als einen lapsus calami
gelten, daß Seh. (a. a. 0.) mit Berufung auf D'Avenel das heu-
tige Verhältnis der Edelmetalle „wie 15 : 1" angibt, allein seine
Behauptung, „im 14. Jahrhundert und um 1500 stand Gold und
Silber ungefähr im gleichen Verhältnis wie heute im Deutschen
Reiche", kann man nur mit Kopfschütteln lesen.
Ich bin auf diese Fragen etwas ausführlicher eingegangen,
um den Verfasser, dessen Fleiß und beste Absichten ich hoch-
schätze, auf Schwierigkeiten aufmerksam zu machen, die er zu
gering angeschlagen hat und jedenfalls vor Herausgabe der vor-
bereiteten „Preisgeschichte für die Zeit Papst Johanns XXII."
noch nachprüfen sollte. Eine Sammlung älterer Abhandlungen
über den Florentiner Goldgulden, darunter die auf Veranlassung
des Geschichtschreibers Giov. Villani 1317 gemachte Zusammen-
stellung der Münzbeamten und Zeichen der Florentiner Gulden
bietet Argelati, de monetis Jtaliae IV (Mailand 1752). Hier findet
er auch auf S. 30, 83, 85 . . . Nachrichten über den seit 1182
umlaufenden fiorino d'argento. Dieser war nicht, wie Seh. meint
(S. 55*, SA. 18), ein Silbergulden (welchen zuerst Erzherzog Sigls-
mund in Tirol 1484 als „Guldengroschen" ausmünzen ließ), son-
dern fiel mit dem (S. 89*, SA. 52) genannten florentinus argenti
I
18. Jahrhundert. 487
zusammen, d. h. er war ein grosso, ursprünglich im Werte von
12 Pfennig, also ein Schilling, konnte aber später infolge Ver-
schlechterung der Pfennige auch einen höheren Nennwert haben.
So galten beispielsweise im Jahre 1305 die „floreni de argento,
qui nominati sunt Populitii" zwei Soldi oder Schilling usw. Die
Schwere der Prager Mark hat Inama Sternegg ohne Quellen-
beleg zu 245 g angegeben. Seh. folgt ihm (S. 43*, S. A. 6)
und übernimmt auch Inamas Bemerkung, daß die Prager Mark
fein = 230 g sei. Dieser Satz ist bei Seh. als nicht hierher
gehörig und irreführend zu streichen. Im übrigen bedarf die
Größe der Prager Mark noch eingehender Untersuchungen; da
ihr Gewicht von 250,6 g im 15. Jahrhundert allmählich bis auf
255,738 g (im Jahre 1850) angewachsen ist.
Graz. Luschin v. Ebengreuth.
Shaftesbury und das deutsche Geistesleben. Von Christian
Friedrich Weiser. Leipzig und Berlin, B. G. Teubner. 1916.
XVI u. 564 S. 10 M., geb. 12 M.
Dreifach ist der Inhalt dieses Werkes: es soll ein Bild ent-
worfen werden von Shaftesburys Leben und Denken, es soll ge-
zeigt werden, daß seine Denkungsart, dem deutschen Geiste tief
verwandt, auf die Ausbildung dieses Geistes entscheidend gewirkt
hat, und endlich soll seine Lebensanschauung als Kraftquelle für
uns, die Lebenden, eindringlich gepriesen werden. Es läßt sich
nicht verkennen, daß die Klarheit des Gedankens und des Wortes
unter dem In-Einander dieser drei Absichten leidet; es wäre
wünschenswert gewesen, ihnen deutlich unterschiedene Teile des
Buches zu widmen. Die warme Anteilnahme an dem Gegenstand,
einer der Hauptvorzüge des Werkes, hätte darunter nicht zu
leiden brauchen. Ich will jede der Ansichten, unter denen mir
das Ganze erscheint, kurz für sich betrachten.
Weiser gibt (35 f.) eine Biographie des Philosophen, die vor
allem seine politische Tätigkeit stärker betont als bisher in Deutsch-
land üblich war. Überhaupt wird in sehr dankenswerter Weise
der politische Gehalt seiner Freiheitslehre, der Kampf gegen
Absolutismus, gegen Unterdrückung des Wortes, der Gegensatz
gegen Hobbes herausgearbeitet. In der Freiheitsforderung mit
seinem Lehrer Locke einig, tritt Shaftesbury diesem doch sonst
auf das Entschiedenste entgegen. Der analysierenden, rechnen-
488 Literaturbericht.
den Geistesart Lockes steht seine anschauende, das Ganze enthu-
siastisch erfassende, Hebende Seele gegenüber. Höchst lebendig
tritt das hervor in Shaftesburys Abwehr gegen Lockes Abschieds-
brief an Colins (304 f.). Der sterbende Locke hatte geschrieben:
„Ich weiß, Sie liebten mich, als ich lebte, und werden mein An-
denken wahren, nun ich tot bin. Es kann nur zu der Einsicht
nutzen, daß dies Leben ein Schauplatz der Eitelkeit ist, der
rasch vergeht und keine echte Befriedigung gewährt außer in
dem Bewußtsein das Rechte zu tun und in der Hoffnung auf
ein anderes Leben." Shaftesbury stellt dem die Uneigennützig-
keit eines uninteressierten, edelmütigen und freien Handelns
gegenüber, das seinen Lohn in sich selbst hat. Eitel ist das Leben
nur für die, so es dazu machen. Shaftesbury sagt zum Leben ja,
er steht freudig in ihm. „Laßt uns möglich viel aus dem Leben,
möglichst wenig aus dem Tode machen." „Ich begehre vom
Himmel keinen Lohn für das, was selbst Lohn ist." (307.) Eine
enthusiastische Aktivität ist also sein Grundgefühl — und aus
diesem heraus versteht er Natur und Kunst. Seine Tendenz,
die Betrachtung zu verinnerlichen, alles Äußere dem eigenen
Inneren gleichzustellen, findet Nahrung in Piaton und Plotin
— sie läßt ihn als ein Glied in der Kette neuplatonischer Philo-
sophen erscheinen, die besonders seit der Renaissance nicht mehr
abbrach. Shaftesbury wendet sich nicht mit dem Verstände,
sondern ,,in der ganzen inneren Fülle seiner Kräfte" (S. 96)
der Welt und dem Leben zu, um sie zu erfassen. Diese Fülle
wird oft allzu eng aufgefaßt, wenn man von einer Vorherrschaft
des Moralischen bei Shaftesbury redet. Vielmehr „moral" hat bei
ihm durchaus den allgemeinen Sinn von „mental" (109 f.) oder
da er „mind" und „soul" nicht unterscheidet von „internal"
(seelisch) (113 f.). Mit seinem ganzen Selbst lebt er sich in die
Natur ein, wobei das Ich nicht vom Nicht- Ich verschlungen
wird, vielmehr das Selbst zum Ur-Selbst, zur geistig verstandenen
Natureinheit anschwillt (198). Das Ich erscheint dabei als eine
sich frei auswirkende Formkraft. „Nur in der von innen be-
stimmten Form realisiert sich die Freiheit und damit der Welt-
sinn." (202.) — Shaftesbury steht in der Tradition des Logos-
gedankens: die Natur ist sich auswirkender Logos. Der Logos
nun bekundet sich individuell in den Individuen (334) — die
Welt erscheint Shaftesbury nicht wie Spinoza als eine alles Indi-
18. Jahrhundert. 489
viduelle aufzehrende Einheit, sondern als gegliederter Stufenbau
von Individuen. Als Offenbarung des Ich und somit als per-
sönliche Wiederspiegelung des Logos, der Allnatur versteht er
auch die Kunst, Shaftesbury ist der Urheber des Begriffs „innere
Form", die ihm der im Kunstwerk sich äußernde Widerschein der
schöpferischen Form des Selbst ist (253 f.). Da alle Form Maß
ist, da innere Form zugleich Erfüllung der Freiheit bedeutet, so
ist sein Kunstideal im Gegensatz zu einer rein subjektiven Ro-
mantik einerseits, zu dem das Leben durch äußere Formen ver-
gewaltigenden französischen Klassizismus, andererseits eine Form,
die in ihrem Maß und Rhythmus das Gesetz der Allnatur zu-
gleich frei und gestaltet widergibt: „mikrokosmische Klassik"
(86, 258). Wie das wahre Wesen des Selbst freie Tätigkeit ist,
so ist auch die Natur nicht als abgeschlossenes Sein, sondern als
werdendes Ganzes zu betrachten, das sich in immer selbständi-
geren Formen entfaltet (408). Natur- und Geistesgeschichte wird
Geschichte des sich entfaltenden Gottes (410). Darum gibt es
bei ihm keinen Gegensatz zwischen Natur und Kultur — weder
in dem Sinne von Hobbes: wertwidriger, ungeordneter Natur-
stand — noch in dem Rousseaus: Kultur als Verderbnis der
guten Natur. Vielmehr: Kultur ist Entfaltung der Natur, nicht
Entfernung von ihr (436 f.).
Diese ganze Gedankenwelt zeigt weit größere Verwandt-
schaft zum deutschen als zum englischen Geistesleben. Die Auf-
fassung der Natur als eines lebendigen Ganzen, das aus mikro-
kosmischen Individuen besteht, erinnert an Leibnizens Philo-
sophie — wie denn auch Leibniz selbst diese Übereinstimmung
freudig begrüßte. Auch die Art des Optimismus, die Liebe zum
lebensvollen Kosmos, sowie die dynamische Naturauffassung ver-
bindet Shaftesbury und Leibniz, Daß Shaftesbury diese Ideen
viel mehr ästhetisch-lebendig darstellte als der im begrifflichen
Denken ihm unendlich überlegene Deutsche, machte sie weit
wirksamer. Ja man kann sagen, daß innerste Antriebe des uni-
versalsten Systematikers des 17. Jahrhunderts hier viel leben-
diger wirkten als in der eigentlichen „Schule", die mehr den
Rationalismus des Meisters fortsetzte. Herder besonders ver-
band Anregungen, die von Shaftesbury ausgingen, mit solchen
Leibnizens, während Wieland mehr die anmutige, zugleich
weltmännische und natürliche, zugleich entschieden freigeistige
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 32
490
Literaturbericht.
und freundlich vermittelnde Art des englischen Denkers fort-
setzte. Wie Shaftesbury durch diese beiden und durch andere
Vermittelungen auf das deutsche Geistesleben gewirkt hat, ist
nach Suphans, Hayms, Diltheys Vorgang in neuerer Zeit beson-
ders von Walzel untersucht worden. Gut zusammengefaßt wur-
den diese Forschungen von Walzel in der German. -Roman. Mon.-
Schrift I, 416, 1909. W. liefert hierzu wertvolle Beiträge, indem er
des Theologen Oe tinger Verhältnis zu Shaftesbury darstellt (117)
und indem er eine Bibliographie mit lehrreichen Erläuterungen
im Anhang mitteilt. Aber der Nachdruck liegt nicht auf diesen
historisch-philologischen Interessen, sondern auf dem Nachweis
innerer Gemeinschaft zwischen Shaftesbury und den Führern
des deutschen Geistes. Sie besteht unzweifelhaft — vielleicht
gibt es dafür keinen besseren Beleg, als daß W. die Einheit von
Freiheit und Form, die Auffassung der Freiheit als formbildender
Kraft, der Form als freier Gestaltung des schöpferischen Inneren,
zur Grundlehre Shaftesburys stempelt (z. B. 202), während gleich-
zeitig Ernst Cassirer seine „Studien zur deutschen Geistes-
geschichte" unter dem Titel „Freiheit und Form" vereinigt.
Shaftesburys „Panentheismus", seine dynamische Naturauffas-
sung, sein Evolutionismus, seine Verbindung von positiver Ge-
sinnung mit kritischem Wahrheitswillen, seine kosmisch-symbo-
lische Kunstauffassung — alles das findet sich in der Tat bei
Herder, Goethe, Schelling wieder. Aber es fehlt bei Shaftesbury
doch jene strenge Zucht des Denkens und der Arbeit, die klare
Unterscheidung wissenschaftlicher, künstlerischer, sittlicher Werte,
die Besinnung auf die Voraussetzungen jedes einzelnen der großen
Kulturgebiete, die Auseinandersetzung zwischen Wissen und
Ahnen, kurz der ganze kritizistische Einschlag des deutschen
Geistes, der durch Lessing vorbereitet in Kant kulminiert.
Shaftesburys Vorliebe für das Allegorische in der Kunst ist
unter diesem Gesichtspunkt weit wichtiger, als W. annimmt,
denn sie zeigt, daß die Eigenart der Kunst nicht wirklich erkannt
ist. Ebenso bleibt es bei aller Höhe der Gesinnung und Feinheit
des moralischen Gefühls wahr, daß Shaftesbury den Kern des
Sittlichen nicht rein herausgearbeitet hat. Man kann mit Walzel
in Schillers ästhetischen Briefen von einer Vereinigung kanti-
scher und shaftesburyscher Ethik reden — aber man muß be-
tonen, daß die Grundlage kantisch ist. Goethe wurde durch das
I
18. Jahrhundert. 491
Bedürfnis, die reine Kunst vor heteronomem Urteil zu retten,
in Kants Nähe geführt; in ihm wie in Hegel vollzog sich die
große Synthese der einheitsehenden, evolutionistischen und der
kritischen, die Eigenart jedes Gebietes festhaltenden Geistes-
richtung. Auch den Übergang von einer allgemeinen Liebe zum
Individuellen zur eigentlich historischen Anschauungsweise voll-
zog nicht Shaftesbury, sondern eher Winckelmann.
Überblickt man Shaftesburys Werk, so hat man unbedingt
den Eindruck des Edlen, Vornehmen, Umfassenden, Liebenden,
Freien, aber nicht den des Großen, Ursprünglichen und ebenso-
wenig den des Klaren, Aufbauenden. Er hat das Ewig-Lebendige
einer vom Neuplatonismus herkommenden Strömung der Renais-
sance mit den besten Antrieben der jungen Aufklärung vereinigt,
aber die Spannungen und Gegensätze, die diese Verbindung er-
schweren, hat er nie gesehen und daher erst recht nicht über-
wunden. So wenig er sein ästhetisches und sein politisches Lebens-
ideal wirklich zusammendachte, ebensowenig vermochte er es,
eine Verbindung der mechanischen und der organischen Natur-
auffassung zu finden. Auch Leibniz hat das nicht vermocht
(wie es denn noch für uns Aufgabe bleibt) — , aber bei ihm ist
das Problem ganz anders gesehen und ergriffen. Ein arger Ver-
stoß gegen das Pathos der Distanz bleibt es, wenn (521) das
Auftreten Shaftesburys an Bedeutung über das Piatons gestellt
wird. Es ist kein Zufall, daß nicht nur Wieland, sondern auch
Shaftesburys echterer Schüler Herder von der großen Entwick-
lung des deutschen Geistes beiseite geschoben wurde. Damit
sind, scheint mir, auch der Bedeutung Shaftesburys für die
Gegenwart bestimmte Grenzen gesetzt. Er steht unseren Nöten
viel zu fern (unendlich ferner als Hegel oder Schleiermacher,
Goethe oder Kant), um uns wirklich Führer zu sein, er bietet
viel zu wenig klare Begriffe oder bestimmte Gestalten, als daß
wir uns an ihm orientieren könnten. Aber er bleibt einer der
trostreichen reinen Menschen, die in schwerer Zeit ein zugleich
liebevolles und gestaltetes Leben darstellten, er ist uns lieb
durch die Fülle und Einheit seines Wesens, durch die Wärme
und Helle seiner Humanität, durch das energische Streben,
seinen Idealen auch politische Gestalt zu geben. In diesem
Sinne wünsche ich auch W.s Buche volle Wirkung und bedauere
nur, daß die übergroße Breite mancher Teile die Eindringlichkeit
32*
492 Literaturbericht.
schwächt. Es ist ein Buch, aus dem Liebe, Ernst und Versenkung
in den Gegenstand spricht.
Freiburg i. Br. Jonas Cohn.
Otto von Bismarck. Ein Lebensbild von Erich Marcks. Stutt-
gart, Cotta. 1915. XI u. 256 S.
Vom Erbe Bismarcks. Eine Kriegsrede von Eridi Mardcs. Leip-
zig, Quelle & Meyer. 1916. 54 S.
Marcks hat im kriegerischen Bismarck- Jahr viel über Bis-
marck geschrieben und gesprochen. Sein Wichtigstes aus dieser
Zeit ist das „Lebensbild", der „Bericht" von Bismarck. Ein
Buch, das Anspruch auf höchste Beachtung machen darf; in
ihm ist der Ertrag der Arbeit vorläufig niedergelegt, die der
Verfasser dem Werke und Wesen Bismarcks gewidmet hat. Es
ist eine straff zusammengefaßte Geschichte Bismarcks; die Sätze
und Worte sind aus dem Reichtum der M.schen Ausdrucksweise
und aus der Vielseitigkeit seiner Gedanken sorgsam gewählt;
mit großer Beweglichkeit, oft etwas hastig, folgen sie einander.
Auffallend ist der Unterschied von M.s früherem Stil: in
diesen kurzen, manchmal wirklich lapidaren Sätzen meint man
den Einfluß zu spüren, den die Kriegführung auf unsere Lebens-
art übt (was wohltätig auch, nebenbei bemerkt, von der Sprech-
weise des Vorworts absticht, die' im Buch so kaum wiederkehrt).
Mit solcher Beweglichkeit ändern sonst nur sehr viel jüngere
Schriftsteller ihren Stil.
In wohlabgewogenen knappen Formulierungen ist oft die
ganze Gedankenarbeit an einem geschichtlichen oder biographi-
schen Problem abgeschlossen; als Beispiele aus vielen mögen die
Worte über Bismarcks Verhältnis zum Herzog von Augustenburg
(S. 83) oder über den Plan eines norddeutschen Kaisertums zu
Anfang 1870 (S. 1 12) erwähnt sein. Umfassende und eindringende
Erfahrung und eine gewissenhaft abwägende Vorsicht, die bei M.
im Wesen liegt, geben der Betrachtung eine hohe Zuverlässigkeit.
Wir wissen, daß M. es von sich weist, Bismarck zu „dämonisie-
ren", wie „Gegner und Lobredner" getan haben, ihn in ver-
wegenen Plänen als den gewaltigen Spieler zu sehen. M. sieht
und zeigt bei Bismarck vor allem die Sachlichkeit; von seiner
Genialität sagt er, daß sie im Grunde Einfachheit sei, und hebt
den tiefen Ernst hervor, über den kein Anschein von Frivolität
19. Jahrhundert. 493
täuschen dürfe. (Die Hauptstelle darüber: S. 69f.) Die M.sche
Anschauung darf selbst eine reife Sachlichkeit für sich in An-
spruch nehmen. Sie läßt sich tragen von der bekannten pietät-
vollen und verehrenden Gesinnung, die in Bismarck die Züge
eines Wesens geoffenbart sieht, zu dem wir Deutsche uns durch-
bilden mußten und müssen, und die umgekehrt seine Art doch
auch möglichst mit den Idealen aus unserer großen geistigen
Überlieferung vereinigt finden will.
Auf Einzelheiten in diesem „Bericht" von Bismarck ein-
zugehen, würde zu weit führen. Als bemerkenswert darf viel-
leicht herausgegriffen werden, wie stark die Wichtigkeit der Wen-
dung von 1878/79 (ähnlich wie in dem Buch über Wilhelm I.)
und der darauf folgenden „Spätzeit" als „zweiter staatsmänni-
scher Jugend" betont ist. Dem gegenüber sind auch — über den
Einschnitt von 1870/71 weg — die Jahre von 1866 bis 1878/79
als innerlich zusammengehörig erfaßt. Angesichts der neuer-
dings erst erschienenen hervorragenden Arbeit von Haller über
Bismarcks Friedensschlüsse fällt auf, wie vollkommen das Ein-
verständnis mit dem Frieden von 1871 ist. Sehr interessant
sind die Bemerkungen über den Luxemburger Handel (S. 115 f.).
Ebenso die bestimmt abgewogenen Urteile über die Politik
nach 1871, in der noch so Wichtiges dunkel und umstritten
ist. Mit entschiedener Vorsicht ist namentlich da geurteilt,
wo man Bismarck bei einem verwegenen Spiel zu sehen meint:
bei der russischen Krisis von 1876/77 und beim Rückversiche-
rungsvertrag. Die kurze Darstellung macht ein Hinweggleiten
über manches möglich. Ähnlich ist es wieder bei der Frage,
wie die auswärtige Politik auf den Kampf gegen die katho-
lische Kirche eingewirkt hat, und bei der interessanten Dar-
stellung der Entlassungsgeschichte. Lebendige Kritik fehlt nicht,
besonders wegen des Kampfes gegen die katholische Kirche. An
Reife des Urteils steht diese Übersicht über die Reichskanzler-
zeit sicherlich sehr hoch.
Neben diesem Buche noch erwähnt sei der Vortrag ,,Vom
Erbe Bismarcks", im Dezember 1915 in deutschen Großstädten
gehalten. In seinen Anspielungen auf die Gegenwart ist der
Vortrag sehr zurückhaltend; doch enthalten die Seiten 44 bis 48
nachdrückliche Mahnungen.
Z. Z. Stuttgart, Jan. 1917. Adolf Rapp.
494
Literaturbericht.
Bismarcks Glaube. Von Otto Baumgarten. Tübingen, Mohr
(Siebeck). 1915. 324 S.
Baumgarten hat seine frühere Schrift über den Gegenstand
neu ausgearbeitet, da uns seit dem ersten Erscheinen (1900) viel
tiefere und genauere Einblicke in Bismarcks religiöses Leben
gewährt wurden. Daß Bismarcks Glaube noch immer ein „Pro-
blem" in sich enthält, wird niemand bestreiten, und ebensowenig,
daß ein Verständnis seines Wesens ohne eine befriedigende Ant-
wort auf die Fragen nach seinem rehgiösen Leben unmöglich
ist. Es handelt sich aber noch um mehr: es fragt sich, ob auch
sein staatsmännisches Wirken, wie er selbst gelegenthch gesagt
hat, ohne den Glaubensgrund, den er mit der „Bekehrung" ge-
wonnen hat, nicht zu verstehen ist. Was er als Staatsmann ge-
wagt und mit dem vollen Bewußtsein der Verantwortlichkeit
auf sich genommen hat, und was er im Kampfe, in dem er zu
Zeiten nahezu ganz allein stand, ausgehalten hat, ist das alles
erklärlich aus seiner gewaltigen Natur, dem Drang, sich in seinem
Element zu betätigen, seinem Selbstvertrauen und dem Gefühl
der Überlegenheit, und etwa noch dem preußisch-soldatischen
Pflichtgefühl? oder konnte er endlich doch nur darum seine
großartige Freiheit und Ausdauer wahren, weil er mit Gott ins
reine gekommen war?
Es muß gleich gesagt werden, daß B. diese Hauptfrage nicht
stellt und erörtert (S. 108 ff. vor allem war sie aufzuwerfen!).
Der Sinn seines Buches ist allerdings wohl der, daß die voll-
ständige Erklärung von Bismarcks Wagemut und Ausdauer
nur in seinem Glauben gegeben sei; aber es bleibt dem Leser
überlassen, diesen Schluß zu ziehen.
Sein Problem sieht B. in dem, was objektiv für Bismarcks
Innenleben selbst das Problem war: wie der Selbstherrliche und
Skeptische sich dem Gott Jesu Christi in kindlichem Gehorsam
hat ergeben können. Daß der Geist des Neuen Testaments sich
kräftig mit Bismarcks eigenwüchsiger irdischer Natur auseinander-
zusetzen hatte und daß keineswegs nur, wie bei uns allen, das
Wollen mit dem Vollbringen, der zur Höhe strebende Geist mit
menschlicher Schwäche zu kämpfen hatte, sondern daß seit der
„Bekehrung" selbst in Bismarcks ganzer innerer Stellung zum
Glauben etwas Unaufgelöstes und Unausgeglichenes gewesen ist,
das nimmt B. lebhaft wahr. Es hätte noch schärfer beleuchtet
19. Jahrhundert.. 495
werden können. Sagen wir es nur heraus: es macht oft einen
künstlichen Eindruck und kann fast wie äußerlich aufgetragen
aussehen, wenn Bismarck sich in den Gedanken und der Sprache
des Neuen Testaments bewegt. Gibt er sich dem politischen
Machtkampf mit aller Gewalttätigkeit und List hin, überläßt
er sich seiner Menschenverachtung und seinem realistischen
Sinn, so erscheint er uns wohl natürlicher in seinem Element.
Der Zweifel, den manche an dem vollen Ernst und der vollen
Ehrlichkeit seines Glaubens hatten, ist verständlich. Recht aber
hat dieser Zweifel nicht; denn es ist wahr, daß Bismarck mit
der ,, Bekehrung" einen neuen Grund für sein Leben gelegt und
fortan den Verkehr mit seinem Gott in großem Ernste gepflegt
hat. Nur hat sich auch gegenüber dem christlichen Leben die
eigene Natur und das eigene Urteil immer mit einer gewissen
Naivität behauptet, wie überhaupt die Religion in der Beherr-
schung dieses gewaltigen Mannes sich begrenzt fand. Dies Ver-
hältnis ehrlich darzustellen, darauf vor allem kommt es B. an.
Zur „Bekehrung" gelangt ist Bismarck offenkundig deshalb,
weil seinem klaren und urwüchsigen Geist ein Leben, das ohne
feste Beziehung zum lebendigen Gott war und nicht von Gott
seinen Sinn und Zweck empfing, als tief unbefriedigend, wertlos
und sinnlos erschien, die Seligkeit und Hoheit des Lebens in
Gott aber ihm überwältigend entgegenkam. Unterstützt worden
ist die Wandlung dadurch, daß er mit dem Glauben zugleich
die Frau gewann. Aber entscheidend ist das Erste, und hier ist
etwas Elementares, das mit voller Schärfe herausgestellt werden
muß: Bismarck erscheint hier im Gegensatz zu den vielen, bei
denen ebenfalls die Kritik den Glauben zersetzt hatte, die aber
dann in der Welt unserer Klassiker die geistige Heimat suchten.
Bei ihnen muß der Aufblick zu großen Ideen und das Gestalten
des eigenen Lebens nach Idealen dem Dasein seinen höheren
Inhalt geben; der lebendige Gott des Christentums aber ist mehr
oder weniger aufgelöst in die unpersönliche Welt der Ideale und
in ein unpersönliches „All"; der Glaube an die Fortdauer des
persönlichen Lebens trotz dem Tode ist meistens wehmütig auf-
gegeben, und auf die Frage, zu welchem Endzweck alle Küm-
mernis und Mühsal dieses Daseins getragen werden müsse, wird
geantwortet, daß diese durch ein Leben in der Pflicht und im
Ideal überwunden werden solle und daß der einzelne eben im
496
Literaturbericht.
ganzen aufgehen müsse, das sich (nach überwiegender Ansicht)
doch immer höher entwickele. Mit der tiefen Beseiigung frei-
lich, die zu allen Zeiten Christen empfunden haben, wenn sie
zu der Höhe ihres Glaubens durchdrangen, scheinen die Bekennen
jener anderen Weltanschauung nicht gesegnet zu werden. Bis-
marck hat ja nun in ihrer geistigen Welt gar nicht mit voller
Hingabe seine Nahrung gesucht; mit seinem kräftigen Wirklich-
keitssinn hat er einfach gefühlt, daß ein Leben, das vermutlich
abstirbt und dem nicht von einer objektiv wirklichen Macht
ein überirdischer Zweck gesetzt ist, das tägliche An- und Aus-
kleiden, wie er einmal gesagt hat, nicht wert sei. In dem Gott
des Evangeliums fand er, was er suchte: ein Ziel für das Da-
sein, wie es nie der Mensch sich sichern kann, weil der Mensch
über sein Schicksal nicht verfügt. Dabei suchte Bismarck nicht
einen Halt für seine Weltanschauung, sondern für sein prak-
tisches Leben, was B. mit aller Klarheit S. 8 und 13 her-
vorhebt.
Unser Buch stellt zunächst geschichtlich Bismarcks religiöse
Entwicklung dar, über die es seinen Helden selbst durch breite
Wiedergabe seiner Äußerungen sprechen läßt. Indem dann ge-
funden wird, daß seit der „Bekehrung" das religiöse Leben sich
im wesentlichen doch gleich geblieben sei, wird dieses in mehr
systematischer Weise nach seinen einzelnen Seiten betrachtet.
Da B. Theologe ist, beschäftigt ihn auch stark das Verhältnis
Bismarcks zur Kirche, und da er an der christlich-sozialen Be-
wegung hervorragend beteiligt ist, so ist ihm auch Bismarcks
inneres Verhältnis zu ihr wichtig. B. hat hier in Bismarck einst
einen Gegner finden müssen, und erst allmählich hat sich das
Bild vom Menschen und Christen Bismarck in Wärme und Ver-
ehrung so in ihm geläutert, daß er jetzt, in ehrlicher innerer
Auseinandersetzung, es erreicht hat, Bismarck als treuen Christen
vorführen zu können.
Diese Kapitel, 2 ff., haben ihren Wert, aber auch ihre sonder-
baren Schwächen. Da werden Zeugnisse aus Briefen, Erzählungen
usw. gesammelt, die oft in großer Breite abgedruckt dastehen,
zum Teil aber gar nicht an ihre Stelle passen und ohne Kritik
verwendet sind (auffallend ist das besonders bei dem Brief
an den Kaiser S, 142!), und es wird in manchmal schul-
meisterlicher und plumper Weise Bismarcks innere Stellung er-
I
I
19. Jahrhundert. 497
kündet. Das Buch hat oft geradezu die Art einer Anfänger-
arbeit. Doch begegnet dazwischen auch manch feines und tref-
fendes Wort. Seltsam ist S. 175 ff. die Sammlung von „Spuren"
einer Aneignung dessen, was als wesentlich an der christHchen
Heilslehre bezeichnet ist, und sonderbar ist der Gedanke, Bis-
marck Zug um Zug an der Bergpredigt zu messen (186 ff.), wobei
gleich anfangs gesagt wird, daß allerdings Bismarck — nämlich
in der Examensarbeit über den Eid ! ! ! — die Bergpredigt nicht
als schlechthin gültiges Sittengesetz anerkannt habe. Indem
dann als tiefster Grundgedanke der Bergpredigt der Gedanke
von dem alles übersteigenden Wert der Menschenseele bezeichnet
wird, beginnt die Übersicht damit, daß Bismarcks seelische Fein-
fühligkeit und Tiefe, als Übereinstimmung mit der Bergpredigt,
dargetan wird!! Eher gehörte hierher die andere Feststellung
(die dem Christlich-Sozialen ja naheliegt), daß Bismarck vor dem
seelischen und geistigen Leben der Menschen, in das er von Staats
wegen eingriff, eine geringe Achtung bekundete.
Zum Schluß wird von Bismarcks Kampf gegen die katho-
lische Kirche gehandelt, wobei gezeigt werden soll, einmal, wie
Bismarck innerlich zu ihr stand, sodann, wieweit ihn Überzeu-
gungen im Kampf mit ihr bestimmten. Dabei wird, wie auch sonst,
betont, daß gerade solche Fragen, die andere nach einer grund-
sätzlichen Überzeugung, als Gewissensfragen, entscheiden wollten,
bei Bismarck nach einem außerhalb ihrer selbst liegenden politi-
schen Bedürfnis des Augenblicks entschieden wurden; in dieser
Sache — der rücksichtslosen Behandlung innerlicher Dinge —
ist B.s Gegensatz zu Bismarck scharf (besonders S. 234). B,
hätte aber weitergehen und sich mehr klar machen müssen, daß,
wenn Bismarck Überzeugungen selber aussprach, er da-
mit eben auch wieder sein politisches Augenblicksziel verfolgte;
sein Wort war ein Mittel der Menschenbehandlung. Darum sind
namentlich seine politischen Reden als Beweise für seine innere
Haltung zu den Dingen mit kritischer Vorsicht zu behandeln.
Im übrigen geht der Abschnitt über den Kampf gegen die
katholische Kirche halb schon über den Rahmen des Buches hin-
aus, wie auch der Verfasser damit in ein Gebiet gerät — das der
großen politischen Zusammenhänge — , das ihm fernliegt, dessen
Gesichtskreis nicht der seine ist.
Z.Z.Stuttgart. Adolf Rapp.
498
Literaturbericht.
Acta et epistolae relationum Transylvaniae Hungariaeque cum
Moldavia et Valachia collegit et edidit Dr. Andreas Veress.
Volumen primum 1468 — 1540. (Fontes rerum Transylvani-
carum [Erddlyl törtdnelmi forrdsok] tom. IV.) In Kommission
bei Alfred Holder, Wien. Budapest, typis societatis Stepha-
neum typographicae. 1914. XII u. 342 S.
Auf diese groß angelegte und mit Sorgfalt und Genauigkeit
durchgeführte Sammlung von Akten, Korrespondenzen und histo-
rischen Berichten zur Geschichte Ungarns und seiner Neben-
länder wurde in diesen Blättern schon zweimal aufmerksam ge-
macht (H. Z. 111, 390—392, 113, 672—674). Der vorliegende
Band wird namentlich in diesen Tagen von vielen Seiten höchst
willkommen geheißen werden, denn er bietet zum erstenmal eine
vollständige Übersicht über die Beziehungen Ungarns und seiner
Nebenländer zu den beiden rumänischen Fürstentümern im Zeit-
alter der Corvinen und Ferdinands I. Man entnimmt einer großen
Anzahl der hier mitgeteilten Korrespondenzen, daß sowohl das
moldauische als auch das walachische Fürstentum sich im unga-
rischen Lehensverband befanden, der für die Moldau auch von
Polen zeitweise in Anspruch genommen wurde. Dieses Verhältnis
festzustellen, ist der erste und vornehmste Zweck dieser Samm-
lung, die aus einem ungleich umfangreicheren Schatz von Akten
und Korrespondenzen, als er hier mitgeteilt werden konnte, aus-
gehoben ist. Da dieser Lehensverband von den meisten Bearbei-
tern der österreichischen, ungarischen, ja selbst rumänischen Ge-
schichte entweder gar nicht herausgehoben oder doch nur neben-
her erwähnt wird — von deutschen Büchern sind es nament-
lich die ausgezeichneten Arbeiten Robert Röslers (Rumänische
Studien), die (S. 309ff., 340ff.) die ungarische Oberherrschaft be-
tonen — , so mag hier auf einige Stellen hingewiesen werden.
Anfang April 1468 schreibt König Matthias den polnischen Sena-
toren, welche die Moldau als zu Polen gehörig bezeichnen : Terram
illam nosiri iuris esse antiquissimus . . . regiim Hungariae titu-
lus declarat, non quidem inanis sed possessione nunquam inter-
rupta munitus (Nr. 5, S. 6). In dem Schreiben des Königs an
Sixtus IV. vom 3. November 1475 wird auf den Eifer des Königs
für die Verteidigung der Moldau hingewiesen, zu der er ver-
pflichtet sei: ut non solum Moldavum {Stephan cel Mare), cui
cum Sit mihi subditus, teneor . . . (Nr. 15, S. 16/17) .. . In dem
Österreich. 499
Briefe vom 7. August 1481 (an denselben) wird noch deutlicher
gesagt: ut Stephanus, waivoda Moldavus, qui mihi et coronae
meae subiectus est . . . (Nr. 34, S. 37), desgleichen wird in dem
Schreiben an Berthold von Henneberg vom 18. November 1485
Klage gegen den König von Polen geführt: qui semper dominia
nostra ambit . . . sed de ipso subdito nostro {Stephano Moldaviensi)
ingessit, eum a nobis et oboedientia nostra subduxit . . . contra
iusiurandum quo nobis et regno nostro tarn waivoda praefatus,
quam etiam preedecessores sui semper astricti fuerunt, eidem acceplo
ab ipso perpetuo fidelitatis homagio, quod iure et licite facere neque
potuit neque debuit, investituram sollempniter contulit ... Die
gleichen Rechte nimmt Kaiser Maximilian I. als König von
Ungarn (Nr. 38: Stephanus nobis tamquam domino suo et Hun-
gariae regi adhaeret), nehmen Wladislaus II. (Nr. 40, 53, 55, 78,
79), Ludwig 11. (Nr. 86, 92, 96) und noch Ferdinand 1. (Nr. 118,
S. 157, Nr. 225, S. 270) für sich in Anspruch. Eine Folge dieses
Verbandes ist, daß die Woewoden in ungarischen Ländern selbst
mit festen Plätzen und Besitzungen bedacht wurden; und dies
mit den dazugehörigen Beziehungen festzustellen, ist der zweite
Zweck dieser Sammlung. Der Herausgeber hat hierfür seit einem
Menschenalter in allen wichtigeren Archiven Ungarns, Sieben-
bürgens, Österreichs, Deutschlands, Italiens usw. Forschungen
gemacht. Die Beilage Nr. IV weist nicht weniger als 35 Archive
auf, denen die in diesem Bande enthaltenen Materialien entnom-
men sind. Vieles davon ist allerdings schon in älteren Samm-
lungen enthalten, wie bei Gevay, Katona, Pray u. a., ebenso in
neueren wie in Palackys Urkundlichen Beiträgen zur Geschichte
Böhmens und seiner Nachbarländer im Zeitalter Georgs von
Podiebrad (F. F. rer. Austriac. 2, XX), in Bachmanns Urkund-
lichen Beiträgen zur österr. deutschen Geschichte im Zeitalter
Friedrichs III. (ebenda XLVI), in Hormuzakis Documente privi-
ioare la istoria Romäniior, in Jorgas Acte si fragmente u. s. w.,
Sammlungen, die in den Beilagen IV und V vermerkt sind. Eine
und die andere Nummer daraus hätte immerhin auch hier Platz
finden können, so Jorga, Acte si fragmente III 1, 64, oder S. 73
daselbst, desgleichen S. 103, das schon oben genannte Stück vom
18. November 1485 findet sich auch mit anderen Adressen und
dem Datum vom 17. November 1485 bei Jorga S. 103. Bei
Jorga I, 4 — 12 findet sich aus besserer Vorlage die Nr. 191, auf
500
Literaturbericht.
die unter Aufnahme der besseren Lesarten hätte hingewiesen
werden können. Im ganzen ist die Edition mit jener Gewissen-
haftigkeit gemacht, die wir schon bei den früheren Bänden an-
gemerkt haben. Was die Orthographie betrifft, fallen die Texte
in die Zeit, da die des mittelalterlichen Lateins aufhört und
die klassische der Renaissance Anwendung findet. Der Heraus-
geber hat mit guten Gründen auch für die frühere Gruppe die
spätere Orthographie gewählt. Dem Texte sind fünf Faksi-
miles beigegeben, desgleichen reichhaltige Indices. S. 233 dürfte
in der Zahlangabe 1931 ein Druckfehler vorliegen.
Graz. J. Loserth.
Albany F. Major, Early wars of Wessex, being studies from
England's school of arms in the West, edited by ihe late
Chas. W. Whistler. Cambridge Univ. Press. 1913. XVI u.
238 S. lOVa Shill.
Laut Vorrede und Gedenkblattes war der 1913 verstorbene
Whistler Anreger und Mitarbeiter des Werkes, nicht bloß Heraus-
geber.
Für die Archäologie der Grafschaften Somerset, Devon und
benachbarter Gegenden besitzt das Buch eigenen Wert: dorther
bringt es z. B. zahlreiche Pläne von Erdwerken, In den m. E.
recht seltenen Fällen, wo Kriegsgeschichte 5. — 10. Jahrhunderts
aus militärischer Geographie eindeutige Herstellung auch nur
entfernt verspricht, also wenn die heutige Lage der von den
Alten genannten Orte bereits feststeht, mag dies Werk Nutzen
bringen. (Die Beschreibung im einzelnen nachzuprüfen vermöchte
nur ein Ortsaltertümler.) Aber die strategische Leichtigkeit eines
Eintrittweges, vollends eine nur für die Jetztzeit nachweisbare,,
erlaubt keineswegs den Schluß, gerade auf ihm müsse der Feind
eingedrungen sein: mochte dieser doch gerade dort Sperren fin-
den oder argwöhnen! Der Verfasser sieht das Land mit offenem
Auge, liebt das Altertum, liest viele örtliche Sonderforschung,
wie sie Deutschland nicht liefern kann, urteilt unabhängig sogar
von Freeman, der ebendort lebte und webte, und kombiniert mit
lebhafter Phantasie, nur manchmal traumhaft kühn (S. 77
Ealdbriht). Wenn er, glaub ich, zu kaum einem Punkte angel-
sächsischer Geschichte ein sicheres neues Ergebnis erzielt, so
liegt das am Mangel der Sprachkenntnis, der Quellenkritik und
England. 501
der historischen Methode. — Altnordisch und Angelsächsisch
stellt er viel zu nahe. Das Wort „Heerstraße" braucht nichts
mit Krieg, und gar einem um 500, zu tun zu haben. Buch-
stabenähnlichkeit jetziger und einstiger Ortsnamen, ohne Her-
stellung der Lautwerte aus dem Mittelalter, sollte nicht zu Deu-
tungen verführen, besonders in Widerspruch zu Stevenson, den
Verfasser doch mit Recht so hoch stellt. Alfreds Siegesort Ethan-
dun findet er in Edington on Poldens bei Athelney, indem er so
zu einem planvollen Bilde der Feldzüge 876 ff. gelangt. — Bei
der Benutzung der Angelsächsischen Annalen bedenkt er S. 71
nicht, daß Westseaxe neben dem Lande Wessex auch den West-
sachsenstamm bedeuten kann. Mit richtigerer Übersetzung von
bestelan (bei Toller Dict, Suppl.) fällt die Phantasie von Nacht-
märschen 876 dahin. Der Annalist 787 will mit Angelcynn für
Wessex oder mit des Königsvogts Fremdenpolizei nichts Auf-
fallendes melden. Wieso Nachrichten von Heiden 6. Jahrhunderts
zur Aufzeichnung und Zeitrechnung nach Christus gelangten, fragt
Verfasser nicht einmal. Aus ihrem Schweigen 519 — 552 folgert
er Waffenruhe!
Ungeschulte Ortsaltertümler läßt er ohne zu wägen ab-
stimmen gegen ernste Forscher, und zitiert für früheste Zeiten
Quellen des 12.— 14. Jahrhunderts, auch den stilistisch erfinden-
den Huntingdon, den wild verdrehenden Wallingford, den Ur-
kundenfälscher von Glastonbury. Letzterer schrieb Wilfrid die
Riesenschenkung der Insel Wedmore an Glastonbury vielleicht
nur deshalb zu, weil er in Stephans Biographie las, daß Wilfrid
bei Kentwine, den der Mönch als Neustifter verherrlicht, Zuflucht
fand und über die Insel Wight verfügte.
Daß alle jene Erdwerke ins 6. Jahrhundert hinaufreichen
oder sich an bestimmte Ereignisse knüpfen, daß ein Feld, wo
man Waffen ausgegraben hat, ein Schlachtfeld von 680 darstelle,
daß spätere Gau- oder Reichsgrenze dem Haltpunkte sächsischer
Eroberung entspreche, leidet starken Zweifel. Und der Glaube
an die wilde Jagd in Somerset mag recht wohl sächsisch sein
und beweist jedenfalls nicht, daß dort Skandinaven vor 700
wohnten.
Die Verfassung der Angelsachsen soll sich aus Flottenorgani-
sation erklären: dann gliche sie nicht so der der Festlandsger-
manen und hinge nicht, schon vor Feudalansätzen, am Boden.
502
Literaturbericht.
Daß Ines Gesetz mit dem Walliser nur den von Ine unterwor-
fenen meine oder ihn dem Engländer gleichstelle, ist falsch.
Daß die Wikinger in England vor 900 meist Norweger waren,
daß Guthrum schon um 875 Ostanglien besaß, ist recht unwahr-
scheinlich. Die frühen Thegnas stellt Verfasser im Dänenkriege
dar als umgeben von Hauskerl-Gefolge; aber die meisten waren
dazu zu arm; und der Name gebührt gerade der Dänen-Leibgarde
nur der spätesten Regenten.
Daß die auf schriftliche Dokumente begründete Geschichte
sich durch Ortskunde ergänzen könne und solle, leugnet doch,
wie die Vorrede vorgibt, kein ernster Forscher, sondern nur,
daß jene durch diese ersetzt werden dürfe.
Berlin. F. Liebermann.
I
Der britische Imperialismus. Ein geschichtlicher Überblick über
den Werdegang des britischen Reiches vom Mittelalter bis
zur Gegenwart. Von Felix Salomon, Professor für engl,
u. franz. Gesch. an der Univ. Leipzig. Leipzig, Teubner.
1916. VIII u. 223 S.
Wie Großbritannien unser gefährlichster Feind, so ist sein
Imperialismus in höchster Steigerung gerade diejenige Seite,
neben der Deutschland, oder überhaupt eine unabhängige Groß-
macht, nicht bestehen kann. Der Krieg also hat diesem Buche
„das Thema gestellt; den Fachgenossen im Felde" ist es gewidmet.
Rein historisch jedoch, ohne parteiliche Absicht verzeichnet und
erklärt es die Ereignisse, schildert und beurteilt es die Menschen.
Nach maßvollem Wägen gelangt es wohl zu fester Wertschätzung,
schmäht jedoch den Gegner nie, sondern lehrt uns ihn innerlich zu
verstehen. Politisieren und Prophezeien, auch die Behandlung
der I9I4 noch ganz frischen Probleme, überläßt es der Kriegs-
literatur, deren leitende Erscheinungen es nur anführt. Zugunsten
festländischer Leser hätte sich vielleicht verlohnt, einmal schärfer
zusammenzufassen, was einzeln genügend belegt wird, daß drüben
der Imperialismus ein Anstraffen des einheitlichen Staatszügels
überhaupt bedeutet und auch durch Liberale wie Rosebery be-
fördert, ja (durch Dilke) erfunden und (teilweise nach Beacons-
fields, vollends bei Balfours Rücktritt) tatsächlich übernommen
wurde, wenn auch die systematisch abschließende Reichsgründung
zunächst an den Liberalen gescheitert ist.
England. 503
Wie der Untertitel andeutet, erklärt das Buch nicht bloß
die recht junge theoretische Lehre des Imperialismus, sondern
auch die um Jahrhunderte ältere Entwicklung Englands zum
Weltreiche. Die letztere Seite der Arbeit und, wie nach den
Jahrzehnte langen Vorstudien des Verfassers zu erwarten, beson-
ders die Darstellung des 18./19, Jahrhunderts, scheint mir die
stärkere. Die für die britische Weltmacht epochemachenden
Tatsachen findet man in solcher Kürze nirgendwo sonst so voll-
ständig überblickt und so tief von den Standpunkten des euro-
päischen Staatensystems und der Volkswirtschaft aus beleuchtet.
Freilich verbot die Raumbeschränkung (und im Wunsche, das
Vaterland noch während des Krieges aufzuklären, vielleicht auch
der Zeitmangel), aus der Kolonialgeschichte mehr als bloß die
Ergebnisse zu bringen: nicht auf neue Einzelheiten, sondern aufs
Verständnis des Bekannten legt Salomon Wert. Wohl deshalb
übergeht er manche bedeutenden Vorkommnisse der Reichs-
geschichte mit Stillschweigen: etwa Britanniens Weichen vor
Rußland in Persien 1828 (Peters Testament verdiente ein Stigma),
die Indische Politik 1833, die doch auch kommerzielle Bedeutung
der Quadrupelallianz, die aber vermutlich den Grund abgibt für
die gerechte Schärfe gegen Palmerston (S. 131), das zeitliche Zu-
sammenfallen der Fidji-Händel 1885 mit dem Ausklang rein
freundlicher Töne in Bismarcks Überseeplänen. Besonders wird,
wer sich der Englandpolitik der letzten Jahre vor 1914 nicht
mehr selbst entsinnt, anderswo (bei Oncken, Keutgen, Steffen,
Kjell^n) das Einzelne nachlesen müssen. Bei einer Neuauflage
könnte Verfasser dafür Raum gewinnen durch Kürzung des ersten
„mittelalterlichen" Teiles, der übergründlich vor den Römern be-
ginnt. Denn wenngleich im frühen Mittelalter schon sich eine
großbritannische Strebung regt (unglücklich heißt Eduard I. hier
„kleinbritischer Imperialist"), so scheint mir doch nicht haupt-
sächlich sie, oder gar der Festlandsbesitz der Dynastie, im neu-
zeitlichen Imperialismus fortgesetzt. Und auch nur dessen Vor-
bedingungen ruhen, wie hier klar ausgeführt wird, in der wirt-
schaftlichen Befreiung von fremden Händlern, im eigenen Ge-
werbefleiß, in aktiver Betätigung auf ausländischem Markte kraft
eigener Flotte. (Auch Ansätze zu staatlicher Aufsicht über die
Volkswirtschaft seit dem 13. Jahrhundert gehören hierher.)
Träume englischer Handelswelt von weit ausgreifender Seemacht
504 Literaturbericht.
aus der Literatur um 1200 und 1436 hebt Verfasser hervor. Die
Überlieferung von Cr6cy und Azincourt oder das Schiff auf der
Münze 14. Jahrhunderts kann ebenfalls für den Nationalcharakter
nicht bedeutungslos gewesen sein. Ein solcher läßt sich gewiß nur
schwer in bezeichnende Eigenschaften sauber zerlegen, und fast
jede der Allgemeinheiten auch von manch anderem Volke, nur
gradweise verschieden, aussagen: ich meine doch, der beispiellose
Erfolg britischer Auslandsgeltung erkläre sich teilweise durch be-
stimmte Kräfte des Willens und des Geistes, die insgesamt die
führende Schicht im 17. — 19. Jahrhundert hervorstechend besaß.
Ein Kenner der Neuzeit Englands, wie es der Verfasser ist, sollte
uns also das Wesen des Riesen im Gesamtbild zeichnen, dessen
Taten er meldet, trotz der selbstverständlichen Gefahr, hierin nie
erschöpfen oder nicht nur Beweisbares geben zu können. Aus dieser
wie früheren Schriften von S. ließe sich manche Linie zu sol-
chem Bildnisse ziehen; so hat er den puritanischen Glauben der
Auserwähltheit als eine der Wurzeln des Imperialismus anderswo
aufgegraben. (Nietzschen malt heute der Feind als den uns ver-
führenden Popanz: und doch wem in der Geschichte mehr als
jenem Römer ähnelt er selbst nach unserer und seiner Meinung,
dem eingestandenen Muster des Herrenmenschen!)
Des Buches zweiter Hauptteil ist überschrieben: „Der mer-
kantilistische Imperialismus", und der dritte „der Blütezeit des
Freihandels" gewidmet. Diese Periodisierung nach volkswirt-
schaftlichen Theorien trifft höchstens den Sinn der Londoner
Staatsregierung, die doch aber, wie man gerade hier lernen kann,
abgesehen von den finanzpolitischen Anfängen, nur ausnahms-
weise die zur Ausdehnung treibende Kraft gewesen ist. Zum
Glück wird dieser Leipziger Historiker nicht etwa vom Genius
loci gebannt, sondern bleibt Rankeschüler: orientiert er sich mit
Recht sorgfältiger als die rein politisch denkenden Vorgänger
nach ökonomischen Gesichtspunkten, und spürt er fein in der
Anschauung moderner Parteien den Nachwirkungen der Lehren
von Ad. Smith und Burke nach, so behält ihr Recht doch auch
die Buntheit des einzelnen, Zufall genannt, die von insularen
Forschern nur zu leicht vernachlässigte Stellung der europäischen
Mächte (deren diplomatische Fäden hier aufzudröseln nur der
Raummangel verbot), und die leitende Persönlichkeit, z. B.
Pitt d. J. und Gladstone, die S. früher in Sonderbildern ge-
England. 505
zeichnet hat. Ohne sich durch Kategorien systematisch ein-
zuschnüren, zeigt er, ob die Erwerbung einer Kolonie vom Staat
oder von Privaten ausging, ob vom Händlergeist, vom .Absatz-
wunsch der Industrie, vom lokalen Sicherungsbedürfnis benach-
barter Engländer oder vom Ehrgeiz eines Gouverneurs gegen
Eingeborene oder andere Kolonisatoren. Die Industrie pflegte
nach dem Verfasser nur Absatz zu erstreben; dagegen das Reich
bildete der Handel mit seiner Flotte, die sich früh die Meer-
straßen sicherte.
Eine selbständige Sonderstellung nahmen von Anfang an die
Neu-England-Staaten ein. Einstmals wähnte England übervöl-
kert zu sein ; dann trieb auch eine protestantische Ader gegen den
Wettbewerb katholischer Mächte. Bewog auch im ganzen das
Ergänzungsbedürfnis schon früh zum Kolonisieren, indem das
Mutterland Rohstoff empfangen und Fabrikat abgeben wollte,
so herrschte doch selbst um 1680 der Gedanke der Autarkie noch
nicht. Und sogar nachdem 1713 England das sog. europäische
Gleichgewicht, mit ihm selbst als dem Zünglein an der Wage,
erkämpft hatte, besaß es noch nicht das Übergewicht auch in
der Weltwirtschaft. Die Frage, weshalb Englands letzte Neben-
buhler niedergingen, beantwortet S., bei Holland liege es am
Fehlen der Industrie (wohl auch der Großstaatsmacht), bei
Frankreich an Beschränkung des Verkehrs aufs eigene Gebiet
ohne Zwischenhandel und am Rückstand der Flotte, wie solche
Amerika machtvoll der Mutterinsel verband. Gegen Englands See-
tyrannei bildete sich die erste Liga Neutraler schon 1780. Napo-
leon, der das britische Imperium ertöten wollte, gab zu dessen
Festigung erst recht die Ursache. (Vgl. Napoleon III. gegenüber
Deutschland.) Erst nachdem die Engländer das tatsächliche
Welthandelsmonopol, die alleinige Oberherrschaft zur See, eine
Art Schiedsrichterstellung in Europa, ein ungeheures Reichs-
gebiet erlangt hatten, verkündeten sie das Programm des Impe-
rialismus, wonach sie von Gottes Gnaden das Recht besitzen
auf jedes ihnen, wenn auch vielleicht erst in Zukunft, nützliche
Stück Erde, und Englands Sprache und Kultur den Erdball zu
beherrschen bestimmt sei.
Diese Andeutungen werden genügen, um zu zeigen, daß wer
immer die Entstehung des großbritannischen Strebens zur Ober-
herrschaft über die Erde und des teilweise dadurch verursachten.
Historische Zeitschrift (117.Bd.) 3. Folge 21. Bd. 33
506
Literaturbericht.
Weltkrieges sich vorurteilsfrei erklären will, diesem vorsichtigen
Führer sich anvertrauen darf.
Berlin. F. Liehermann.
Imperialistische Strömungen in der englischen Literatur. Von
Friedrich Brie. Halle a. S., Max Niemeyer. 1916. VI u.
203 S.
Bries Buch ist unzweifelhaft das Bedeutendste, was über
die Ideengeschichte des englischen Imperialismus geschrieben ist.
Es ist während des Krieges entstanden, sein Gegenstand, dem
Verständnis unseres größten Gegners dienend, berührt sich aufs
engste mit der Vorgeschichte des Krieges, und doch hat den
Autor an keiner Stelle seines Buches die wissenschaftliche Ruhe
verlassen. Was er beschreibt, ist der Wandel der Anschauungen
über die Frage, welche Rolle England in der weiten Welt zu
spielen berufen sei, nicht eigentlich in seiner auswärtigen Politik,
d. h. in seinem Verhältnis zu anderen Mächten, sondern in der
unmittelbaren Ausdehnung seines eigenen Bereiches. Er beschreibt
den literarischen Niederschlag jener Tendenzen, die zum Hinaus-
drängen in fremde Weltteile, zur Gründung von Kolonien, zur
Beherrschung der See geführt haben. Er faßt diese ganze mäch-
tige Entwicklung unter dem Namen des Imperialismus zusammen.
Darüber ließe sich freilich streiten. Es handelt sich doch
etwa um dieselbe Entwicklung, für die Seeley das Wort von der
„Expansion of England" gefunden hat, während der Ausdruck
„Imperialism", in England neu geprägt, nur rein technisch ein
bestimmtes System der Kolonialpolitik bezeichnen will, näm-
Hch die Zusammenfassung des Mutterlandes und seiner sämt-
lichen Kolonien zu einer geschlossenen, in allen seinen Teilen
gleichartigen und gleichberechtigten Machtgruppe, dem Impe-
rium oder Empire in seiner prägnantesten Gestalt. In diesem
eigentlich englischen Sinne wäre es also nur der Ausdruck für
die jüngste Phase in der Entwicklung jener Bestrebungen, die
hier insgesamt als Imperialismus bezeichnet werden. Immerhin
hat man sich in Deutschland daran gewöhnt, wie von russischem,
so auch — und etwa gleichbedeutend — von britischem Impe-
rialismus zu reden und den Begriff der Weltpolitik, vielleicht
auch den des Strebens nach Weltherrschaft, damit zu verbinden.
I
England. 507
Der ganze Kreis jener Bestrebungen, die darunter gefaßt und die
auch hier behandelt werden, ließe sich vielleicht am besten mit
den Worten einer anderen kürzlich erschienenen Schrift (Finke,
Weltimperialismus und nationale Regungen im späteren Mittel-
alter) wiedergeben, wo es heißt: „Will man den Begriff ganz
ausschöpfen, so wird man nicht nur das Streben nach Erweite-
rung der Landesgrenzen, Überseebesitz, Meerbesitz, engeren
Kolonialanschluß darunter verstehen, sondern auch das Streben
nach Ausbreitung der Rasse, Sprache, Recht, der Religion, über-
haupt der nationalen Ideen." Übrigens kommt ja auf den Namen
nicht allzuviel an. Der Leser weiß, um was es sich handelt. Und
auch, wer sich auf den oben angedeuteten engeren Sinn des Wortes
beschränkt, wird nicht umhin können, zum Verständnis der von
ihm ins Auge gefaßten historischen Erscheinung auch die ältere
Entwicklung zu berücksichtigen.
Brie gibt auf Grund einer ungeheuren Belesenheit ein ge-
schlossenes Bild einer geistigen Entwicklung, die neben den
historischen Erscheinungen, d. h. den Ergebnissen der prak-
tischen Politik einhergeht, oft ihnen vorauseilt, manchmal auch
ihren Gang hemmt und verzögert, aber immer auf sie von starkem
Einfluß ist und ihr Verständnis darum mächtig fördert. Für den
Historiker besteht darin der Wert des Buches. Es zeigt ihm die
in der Volksseele ruhenden tieferen Ursachen der Ereignisse.
Vom englischen Altertum will der Verfasser nicht reden und
vom Mittelalter nur weniges. Mit vollem Recht, denn hier nach
imperialistischen Ideen in der Literatur zu suchen, wäre ver-
früht. Zwar tritt der Anspruch Englands auf die Seeherrschaft
(wenn auch nur über die Nachbargewässer, the narrow sea oder
the sea of England, die sich aber nach Süden bis über die Insel
Ouessant hinaus erstrecken sollen) schon frühzeitig auf. Er
wird verkündigt in einem merkwürdigen Dokument aus dem
Jahre 1304 und er ward von den Flamländern 1320 anerkannt.
Aber davon schweigt die Dichtung und schweigt darum auch
unser Verfasser. Auch die kurzen Epochen maritimer Erfolge
unter Eduard III. und wieder unter Heinrich V. scheinen in der
Literatur kaum einen Widerhall geweckt zu haben, trotzdem wir
wissen, daß Eduard es als eine persönliche Beleidigung empfand,
als die Spanier sich rühmten, ihm die Herrschaft auf dem Meere
streitig zu machen, Brie hat nur von dem Libell of English Po-
33*
508
Literaturbericht.
Heye zu berichten, einer Dichtung aus dem 15. Jahrhundert, in
der die späte Erinnerung an jene Glanzzeit zu nachträglicher
poetischer Verherrlichung derselben geführt hat.
Erst das 16. Jahrhundert bringt die Erscheinungen hervor,
die, in dem geschilderten weiteren Sinne, als imperialistisch zu
gelten haben, in der Politik und vornehmlich auch in der Lite-
ratur. Hier setzt der Verfasser ein. Sehr wertvoll ist hier beson-
ders sein Hinweis auf gewisse, bald typische Vorstellungen, die
nun oft oder regelmäßig mit dem Imperialismus verbunden er-
scheinen. Schon unter Elisabeth tritt die hebraistische Vorstel-
lung auf von der englischen Nation als dem auserwählten Volke.
Sie wird fortan besonders in puritanischen Kreisen gepflegt und
erzeugt weiterhin die Anschauung, daß aus einer so bevorzugten
Stellung auch Recht und Pflicht zu einer Eroberungspolitik her-
zuleiten seien, eine Anschauung, die, beiläufig bemerkt, ihre Paral-
lele findet etwa in der Erklärung der Franzosen von 1792, wonach
Frankreich, das einzige freie Volk Europas, berufen sei, auch zu
den übrigen Nationen die Freiheit zu bringen, ja sie ihnen aufzu-
nötigen. Dann nennt der Dichter Edmund Waller zuerst das
Weltmeer den Machtbereich Englands. Endlich kommt die Idee der
Freiheit als eines spezifisch englischen Gutes mit dem Bürgerkriege
des 17. Jahrhunderts hinzu, zugleich die Auffassung, daß England
berufen sei, dieses Gut gegen Absolutismus und Gewissenszwang
zu verteidigen. Ein solcher Kreis von Vorstellungen und ins-
besondere der Gedanke, daß das englische Volk das von Gott
auserwählte sei, ist auch, um mit Brie zu reden, das wesentlichste
Element des Miltonschen Imperialismus. Dagegen bezweifle ich,
ob man eigentüch, wie es so oft und auch in dem vorliegenden
Buche geschieht, auch Cromwell selbst diese Anschauung zu-
schreiben darf. Ausdrücke wie God's people fließen freilich oft
genug aus seiner Feder wie aus seinem Munde, aber man wird
kaum eine Stelle finden, wo schlechthin das englische Volk damit
gemeint wäre. Redet er über innere Politik, so ist God's people
der Name für diejenigen, die er auch Saints nennt und die die-
selben religiösen und politischen Ideale haben wie er selbst, es
sind seine Genossen im Bürgerkriege (ein Beispiel Letter LXXXV).
In den großen politischen Reden seiner späteren Jahre aber
sind es etwa die Anhänger eines echten Protestantismus in Eng-
land sowohl wie im Auslande. Das Papsttum und seine Freunde,
I
I
England. 509
heißt es einmal, haben offen und absichtlich Gottes Volk unter
ihre Füße getreten, aus dem einzigen Grunde und Antrieb, weil
sie Protestanten waren". {Speech XVII, Carlyle-Lomas III 165.)
Hier denkt er aber überhaupt nicht an England, sondern zunächst
an die verfolgten Untertanen des Herzogs von Savoyen. Auch
Bemerkungen wie die, daß der Ruhm Gottes und das Interesse
seines Volkes „innerhalb dieser Nation mehr Beschützer und
Bekenner haben als bei allen Nationen der Welt" {Speech V,
Carlyle-Lomas III 510), sollen nur der Gesinnung der mit ihm
selbst in England herrschenden Klasse ein ehrendes Zeugnis
ausstellen. Aber daß die englische Nation selbst das auserwählte
Volk sei, ist auch an dieser Stelle nicht die Meinung. Kurz, das
Volk Gottes ist ihm ein viel weiterer, ein idealer Begriff, an
keine bestimmte Nation gebunden, vielmehr schlechthin alle
Bekenner einer echten Religiosität in Cromwells Sinne umfas-
send. Eine festere Gestalt würde sein Begriff vom Volke Gottes
höchstens in dem Falle gewonnen haben, wenn es dem Pro-
tektor gelungen wäre, den großen Protestantenbund, den er
plante, wirklich ins Leben zu führen. Natürlich hat trotz alle-
dem Cromwells Vorbild auf die imperialistisch gesinnten Schrift-
steller mächtig gewirkt, aber wohlverstanden: die Wirkung ging
von seinen Taten aus, nicht von seinen Worten.
Ein völlig anderer Geist herrscht sodann in England seit
der Restauration der Stuarts, vor allem im 18. Jahrhundert.
Der Verfasser schildert ihn als den neuen, in der Poesie wie in
der Prosa auftretenden, kaufmännisch gefärbten Imperialismus,
eine Umschreibung für die in der Literatur nun aufkommende
Verherrlichung des großen auswärtigen Handels und des Han-
dels mit den Kolonien. Wenn er dabei unter den Prosaisten
Defoe nennt, so ist dieser in der Tat der typische Vertreter einer
solchen Anschauung. Zugleich kommt bei ihm noch ein anderer
Zug hinzu, der noch an die vorangegangene puritanische Epoche
erinnert, nämlich die Denkweise des Dissenters. Defoe gehört
z. B. mit seinem Buche über den idealen englischen Kaufmann
schon jener Geistesrichtung an, die vor Jahren besonders durch
die Arbeiten von Max Weber und Troeltsch unserem Verständnis
nahe gebracht worden ist. Sieht man aber von dem religiösen
Element ab, das mir für diese Seite, die nationalökonomische,
der schriftstellerischen Tätigkeit Defoes, ohnehin nicht wesent-
510
Literaturbericht.
lieh erscheint^), so steht Defoe nur als einer inmitten einer langen
Reihe von Schriftstellern, die ähnliche Gedanken immer wieder
zum Ausdruck bringen. Will man es also kaufmännischen Impe-
rialismus nennen, so gehören sie alle dieser Kategorie an. Jeden-
falls ist ihre Verwandtschaft untereinander eine zu enge, als
daß man einen von ihnen als eine vereinzelte, besondere Erschei-
nung herauszuheben berechtigt wäre. Um deutlicher zu werden:
Die Reihe dieser Schriftsteller, die alle der Ausbreitung des über-
seeischen Handels — Foreign Trade und Plantation Trade sind
ihre wichtigsten Themata — das Wort reden, reicht weit zurück.
Man könnte sie wohl schon mit dem nicht ganz sicher festgestellten
Verfasser der unter dem Namen Sir Walter Raleghs bekannten
Denkschrift aus dem Jahre 1603 beginnen lassen, der so ener-
gisch ein stärkeres Eindringen Englands in die Wege des Welt-
handels fordert. Treten wir ihm einen Augenblick näher. Überall
findet er andere, insbesondere die Holländer, auf dem Platze,
der von Rechts wegen seinen Landsleuten gebühre. Er redet
von den großen Erträgen, den die Heringsfischerei in der Nord-
see jenen bringe und sagt: „Sicherlich müßte der Strom ge-
wendet werden zum Besten dieses Königreiches, vor dessen
Küsten Gott diesen Segen, diesen ungeheuren Reichtum, nur
ausgeschüttet hat, damit wir ihn an uns nehmen." Es folgen
Schriftsteller wie Thomas Mun, der seine Abhandlung über Eng-
lands Schatz durch den Außenhandel mit der begeisterten An-
preisung des Außenhandels also schließt: „Er ist ein großes
Einkommen für den König, eine Ehre für das Land, eine vor-
nehme Beschäftigung für den Kaufmann, eine Schule für alles
Handwerk, eine Befriedigung aller Bedürfnisse, ein Fortschritt
unserer Ländereien, eine Nährquelle für die Marine, ein Schutz-
wall des Reiches, eine Quelle des Reichtums, eine Hilfe im Krieg
und ein Schrecken für unsere Feinde." Bei Josiah Child wird
man ähnHche Gedanken finden, etwas abweichende bei Petty.
Dann aber ist vor allem Charles D'Avenant zu nennen, dessen
Schriften über Handel und Kolonien, über Ostindien und Afrika
die nationalökonomischen Anschauungen von ein paar Genera-
*) Es mag noch bemerkt werden, daß Defoe für den Krieg
gegen Spanien auch 1718—19 eingetreten ist, und zwar mit aus-
drücklicher Ablehnung religiöser Gesichtspunkte. Vgl. die Stellen
bei Lee, Defoe 1,277; II, 79. 92.
England. 511
tiorien so stark beeinflußt haben. „Was anders", schreibt D'Ave-
nant z. B. 1697", hat es England ermöglicht, diesen kostspieligen
Krieg so lange zu führen, als der große Reichtum, der uns 30 Jahre
lang aus unserem Außenhandel zugeströmt ist?" „Reichtümer,"
sagt er ähnlich an anderer Stelle, „die alle unsere Torheiten,
Ausschweifungen und Mißgriffe nicht zunichte machen konnten."
Oder über Indien: „Diejenige Macht, die es in ihrem vollen und
unbestrittenen Besitze hat, wird der ganzen handeltreibenden
Welt das Gesetz diktieren." Und natürlich soll England diese
Macht werden. Doch wichtiger noch als diese herausgegriffenen
Zitate ist der ganze Inhalt der Schriften, mit ihrer Darlegung
der großen Wirkungen des Handels. Diese Vorgänger sind es,
auf deren Spuren auch Defoe sich bewegt. Und wie er nicht
der erste große Anwalt (D'Avenant ist als nationalökonomischer
Schriftsteller auch wohl systematischer und bedeutender als er) der
großen Handels- und Kolonialpolitik ist, so wandelt die Schrift-
stellerei im Zeitalter Walpoles und darüber hinaus auch noch
ferner auf denselben Bahnen fort. Da wären Schriften zu nennen
wie Wood, Survey of Trade (p. 95 heißt es z. B.: „And since the
Wealth and Prosperity of this Kingdom does depend upon the
preserving, encouraging, and enlarging our Foreign Traf f ick . . .")
und Gee, The Trade and Navigation of Great Britain considered
(p. 79: For as this Kingdom is the Head and Seat of the English
Empire, and is supported by its Manufactures, Trade and Navi-
gation, and thereby enabled to give Protection to all her Dominions . . .)
von der Menge kleinerer Flugschriften gar nicht zu reden. Was
nun also mit diesen Andeutungen gesagt sein soll, ist nichts an-
deres, als daß Defoe, so wichtig seine Erwähnung in unserem
Buche war, doch nicht die exklusive Bedeutung besitzt, die ihm
hier zugeschrieben wird.
Der Verfasser folgt nun mit tiefem Verständnis allen wei-
teren Hervorbringungen der imperialistischen Literatur bis auf
die neueste Zeit. Er läßt den Gegensatz zweier seit dem 18. Jahr-
hundert miteinander ringenden Anschauungen klar hervortreten,
der gegenüber Seemacht und Kolonialbesitz gleichgültigen der
Utilitarier und der immer mehr dem modernen Begriffe sich
nähernden imperialistischen Strömung. Er zeigt, wie in dieser,
zuerst in den Äußerungen von Pitt und Burke, der Gedanke einer
Gleichstellung Englands und seiner Kolonien auftritt, der zwar
512 Literaturbericht. ^H^BPiH
durch Utilitarier und Manchesterleute zurückgedrängt, aber nicht
aus der Welt geschafft werden kann, um endlich in Carlyle seinen
großen Anwalt zu finden. Vortrefflich ist die ganze, Carlyle ge-
widmete Darlegung mit dem Hinweis, wie er, die Gedanken
Miltons von neuem verkündend, selbst wieder auf eine Reihe
großer Schriftsteller, auf Ruskin und Kingsley, Froude und Dis-
raeli, entscheidend einwirkt. Wir brauchen dem Verfasser im
einzelnen nicht zu folgen. Es genügt zu sagen, daß wir hier,
besonders für das letzte Jahrhundert, eine meisterhafte Behand-
lung aller bedeutenden literarischen Erzeugnisse des imperialisti-
schen Geistes erhalten haben. Als der Verfasser an die entscheidende
Stelle kommt, wo mit der Gründung der Imperial Federation
League und der Primrose League 1883 der Gedanke des Reichs-
zusammenschlusses praktisch werden soll, gibt er noch einmal
eine Rechtfertigung des von ihm gewählten weitherzigen Ge-
brauchs des Namens Imperialismus mit der Erwägung, daß die
neue Richtung auch die früheren „imperialistischen Gedanken-
gänge" fast sämtlich übernommen habe. Höchst interessant und
vortrefflich gelungen ist der Abschnitt § 8, wo die Entstehung
der heutigen Anschauungen seit dem Jameson-Einfall und dem
Burenkriege dargelegt wird und gezeigt, wie die neue gegen
Deutschland gewendete Richtung zunächst nur von den Poli-
tikern eingeschlagen wird, nicht aber im Kreise der Schriftsteller,
wie aber allmählich die Zahl derer sich mehrt, die hier der Politik
Gefolgschaft leisten und die, nachdem einmal England durch
seine Bündnisse mit Frankreich und Rußland auf die Seite von
Deutschlands Gegnern getreten ist, bereit sind, unter dem Namen
der Verteidigung von Freiheit und Gerechtigkeit gegen Raub und
Unterdrückung, der neuen Politik ihren literarischen Beistand
zu leihen.
So zieht auch noch die Schar der jüngsten imperialistischen
Dichter, der Swinburne und Kipling, an dem Auge des Lesers
vorüber, und mancher, der es nicht schon wußte, wird hier viel-
leicht staunend gewahr werden, daß die haßerfüllte Literatur,
die der Weltkrieg in England ins Leben gerufen hat, nur die
Fortsetzung älterer Gedanken bringt, nur daß dieses Mal wir es
sind, die von dem Abscheu gegen den Feind des auserwählten
Volkes heute getroffen werden und nicht einmal erst heute, da
Namen wie Schwindlerpack, Goten und schamlose Hunnen schon
I
England. 513
vor mehr als einem Jahrzehnt für uns geprägt worden sind.
Imperialistisch sind in der Tat auch diese Schriftsteller trotz all
ihrer patriotischen oder, sage man, jingoistischen Exzesse in
jedem Sinne noch zu nennen, wie denn (der vortrefflich ge-
würdigte) Kipling bei seiner gewaltigen Wirkung auf die Massen
gerade auch wieder ein starker Vertreter des Gedankens der
Einheit von Mutterland und Kolonien ist. Eine Einheit der
Gedankenentwicklung ist es in der Tat, deren Erzeugnisse von
Milton bis auf Carlyle und darüber hinaus der Verfasser uns
schildert und wohl hat er ein Recht, an dem von ihm gewählten
Namen festhaltend, sein Buch als eine Literaturgeschichte des
englischen Imperialismus zu bezeichnen. Aber auch die histo-
rische Wissenschaft hat durch dieses Werk eine wertvolle Be-
reicherung erfahren.
Freiburg i. Br. W. Michael.
Notizen und Nachrichten.
Die Herren Verfasser ersuchen wir, Sonderabzüge ihrer
in Zeitschriften erschienenen Aufsätze, welche sie an dieser
Stelle berücksichtigt wünschen, uns freundlichst einzusenden.
Die Redaktion.
Allgemeines.
Sechsundsechzig Professoren der Leipziger Universität haben sich
zu einer Erklärung vereinigt, in der sie sich gegen die neuerdings her-
vortretenden Bestrebungen wenden, „durch Abschaffung oder wesent-
liche Beschränkung des Unterrichts in einer der klassischen Sprachen
die Eigenart des humanistischen Gymnasiums zu zerstören". Sie be-
trachten das humanistische Gymnasium „nach wie vor als die beste
Vorbereitungsstätte für das Studium der Geisteswissenschaften" und
erblicken in jenen Bestrebungen „eine Gefahr für die Zukunft unseres
deutschen Geisteslebens".
Als willkommenes Seitenstück zu dem „Berliner Bibliotheken-
führer" von Schwenke und Hortzschansky ist ein „Dresdner Biblio-
thekenführer" von Dr. Bruno Faaß im Auftrage der kgl. öffentlichen
Bibliothek zu Dresden herausgegeben worden (Dresden, Heinrich,
1915. V u. 151 S.).
Über „Richtungen und Ziele der Vorgeschichtsforschung der
Gegenwart" gibt H. Mötefindt in den Deutschen Geschichtsblättern
17 (1916), 5, Heft, einen Überblick, der trotz seiner Knappheit man-
chem zur allerersten Orientierung nützlich sein wird. Ein regeres In-
einandergreifen historischer und „prähistorischer" Forschung wäre in
der Tat zum Vorteil beider sehr zu wünschen. Dafür ist vor allem
Voraussetzung, daß in einer Reihe umfassenderer Arbeiten das sichere
Tatsachenmaterial mit klarer Herausstellung der in steter Ent-
Allgemeines. 515
-Wicklung befindlichen Arbeitsmethoden zusammengefaßt und weniger
sogleich an die Zeichnung geschlossener kulturhistorischer Entwick-
lungsgänge Hand gelegt wird. Hypothesen sind nützlich und notwendig
für den Fortschritt der Forschung; ihr Zweck wird aber in sein Gegen-
teil verkehrt, wenn ihr hypothetischer Charakter nicht von allen
Seiten und in jedem Stadium der Erörterung klar im Auge behalten
wird. A. H.
A. Wirth, Der Gang der Weltgeschichte. (Gotha, Perthes. 1913.
474 S.) — Der "kühne Titel des Buches erweckt weitgehende Hoff-
nungen, die aber schon deshalb nicht befriedigt werden können, weil
Wirth etwas Unfertiges vorlegt, wie man schon an der mangelhaften
Gliederung des Stoffes, an Wiederholungen und an dem störenden Ab-
drucke von langen Auszügen aus anderen Büchern sehen kann. Dazu
schwelgt der Verfasser in phantasievollen Kombinationen, besonders
über die vorarischen „Kasvölker" — für deren Nachprüfung eine ganze
Anzahl weiterer Bücher geschrieben werden müßten. Wer soviel ver-
öffentlicht wie Wirth, kann eben unmöglich noch Befriedigendes zu-
tage fördern. Immer mehr muß die Quantität zur Feindin der Quali-
tät werden. Das ist eine ganz unvermeidliche Entwicklung. Trotz-
dem können Historiker und Geschichtsphilosophen, sofern sie über
die übliche mitteleuropäische „Weltgeschichte" hinausstreben, auch
aus der vorliegenden Arbeit trotz der in ihr enthaltenen Irrtümer und
Mißgriffe viel lernen. Das Buch kann auch über die Urzeit hinaus
mehrfach mit Erfolg zur Horizonterweiterung herangezogen werden.
Außerdem bietet es am Schlüsse noch einen Beitrag zur Geschichte
der neueren Weltgeschichtschreibung. Es ist jedoch unmöglich, iii
knappem Rahmen von dem unausgeglichenen Inhalte des Ganzen eine
Vorstellung zu geben.
Bonn. J. Hashagen.
Im Haag hat sich eine „Gesellschaft für die Herausgabe des
Grotius" gebildet. Sie beabsichtigt, die gesamten Werke von Hugo
Grotius neu herauszugeben. Zunächst soll die gesamte Korrespondenz
publiziert werden. Vorsitzender der Gesellschaft ist Prof. Dr. C. van
Vollenhoven, Leiden.
Az Erdelyi Müzeum-Egyerület Jog-is Tarsadulem tudo-
mänzyi szakosztälyänak Evkönyve jgij — 1914. szerkeszti
Bochkor Mihäly Dr. pozsonzyi egyetemi tanär. Budapest.
(Jahrbuch der Rechts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Sektion
des Siebenbürger Museum-Vereins, herausgegeben von Dr. Michael
von Bochkor, Universitätsprofessor in Pozsony.) — Das Jahrbuch
enthält die Geschichte der betreffenden Sektion des Museums- Vereines,
welcher in edlem Wetteifer mit dem seit 1842 wirkenden „Verein für
516 Notizen und Nachrichten.
Siebenbürgische Landeskunde" schon sehr Erhebliches für die Kunde
Siebenbürgens und besonders für die Sammlung und Publikation der
Quellen geleistet hat. Die Idee der Errichtung einer Akademie in
Siebenbürgen hatte schon den Landtag von 1791 beschäftigt, war
aber dann, wie so viel anderes, beiseite gesetzt worden. Erst 1859,
mit dem Ende der absolutistischen Ära, gelang es dem unermüdlichen
Grafen Emerich Mikö, die Organisation des Vereins durchzusetzen,
der die wissenschaftliche Bildung der ungarischen Bevölkerung in
dem Maße befördern sollte, wie es der ältere Verein für die Sachsen
getan hatte. Eigentlich war der Verein bei seiner Entstehung nur
zur Vermehrung und Erhaltung seiner Sammlungen berufen; wissen-
schaftliche Tätigkeit lag ihm, gemäß der Statuten, noch fern. Erst
seit der Errichtung der Universität in Kolozsvär (Klausenburg) konnte
man mit größerer Zuversicht an die Bearbeitung des dort gesam-
melten, sehr wertvollen geschichtlichen und naturgeschichtlichen Mate-
rials denken, da ja die Zahl der Fachmänner bedeutend zugenommen
hatte. Schon 1878 trat die Zeitschrift des „Erdelyi Müzeum" für die
Umgestaltung des Vereins in eine gelehrte Gesellschaft ein. Die Fach-
abteilungen: die historischphilologische und die ärztlich-naturwissen-
schaftliche wirkten seit 1883 mit größerer Selbständigkeit; die Samm-
lungen traten in ein näheres Verhältnis zur Universität und wurden
mit Staatshilfe vermehrt und geordnet. Als Ziel wurde, wie schon in
dem am Landtage von 1843 verhandelten Plan, neben der Aufrecht-
haltung und Entwicklung der Sammlungen auch ihre wissenschaft-
liche Bearbeitung, die Hebung der Landeskunde und im allgemeinen
der ungarischen Wissenschaft gesetzt. In diesem Sinne wurden dann
die Statuten 1905 umgearbeitet. Seitdem entfaltet der Verein eine
ausgebreitete Tätigkeit, über welche die im Jahre 1909 erschienene
Jubiläumsschrift seines Sekretärs, Ludwig v. Kelemen, volle Auskunft
enthält. 1907 begann die neugebildete rechts- und gesellschaftswissen-
schaftliche Sektion, die sich „die wissenschaftliche Arbeit, dann die
Verbreitung und Popularisierung" zur Aufgabe setzte, ihre Wirksam-
keit. Diese verfolgt sowohl theoretische als auch praktische Zwecke.
Neben Vorlesungen und wissenschaftlichen Publikationen war auch
die Gründung eines sozialen „Settlement" in Aussicht genommen.
Dieses schrumpfte aber, in Ermangelung von Mitteln, zu einer freien
Schule für Kaufleute, zu einem Volksamt und zu einem Institut der
Lungenkrankenfürsorge zusammen. Die im vorliegenden Bande publi-
zierten Abhandlungen sind dem Zyklus der Vorlesungen (1913 — 1914)
entnommen. Im Anschlüsse an die vom Verein besorgte Ausgabe
der Gesetze des Hammurabi behandelt Dr. Valamir von Meltal
das altbabylonische Prozeßrecht. Baron Dr. Emil Horväth gibt
eine Zusammenstellung des parlamentarischen Wahlrechtes von Eng-
Allgemeines. 517
land, Frankreich, Deutschland-Preußen, Österreich und Italien. Er
schließt mit dem Le Bonschen Zitat, „daß der Durchschnitt der
Gewählten den Durchschnitt der Rassenseele repräsentiert". In einer
von großer Belesenheit und gesundem Urteil zeugenden Studie be-
handelt Professor Eugen Horvät die Kämpfe des europäischen
Konzertes von 1815 — 1914. In der Studie des Professors Michael
R6z über die staatsrechtliche Lage Bosniens wird die These ver-
fochten, daß die Souveränität Ungarns über Bosnien keine internatio-
nale, wohl aber eine staatsrechtliche Forderung ist. Professor Geza
Kiss bespricht das „receptum nautarum", mit besonderer Berücksich-
tigung der Papyri. Sehr eingehend und gehaltvoll, wenn auch nicht
zu dem Kreise der Historischen Zeitschrift gehörig, ist die Abhand-
lung des Gerichtsrates Dr. Georg von Töth, des Sekretärs der Sektion,
über die Revision in der ungarischen Zivilprozeßordnung. Alle diese
Abhandlungen — die über Bosnien ausgenommen — sind im Aus-
zuge auch deutsch veröffentlicht, „den auswärtigen Freunden unse-
rer Vereinigung gewidmet". Es ist diesen Freunden gewiß ange-
nehm, daß die Entstehung und Entwicklung des verdienstvollen Ver-
eins in deutscher Sprache ausführlicher behandelt ist als im ungari-
schen Original.
Budapest. H. Marczali.
Meineckes Aufsatz über „Die Reform des preußischen Wahl-
rechts" verdient an dieser Stelle erwähnt zu werden, um der historisch-
politischen Erwägungen willen, durch die er die Frage zu klären sucht.
Zum Verständnis der Mängel des preußischen Verfassungswerkes er-
innert er an die Tatsache, daß es fast drei Jahrzehnte zu spät zum
Abschlüsse kam und daß nunmehr „das importierte Gedankengut des
westeuropäischen Liberalismus und die überlieferten Machtbedürfnisse
des Staates in der Verfassung von 1850 nur in einer widerspruchsvollen
Legierung miteinander verschmolzen" wurden. Meinecke sucht sodann
den Wert der verschiedenen Systeme, des rein monarchischen wie des
rein parlamentarischen, historisch zu fassen. Mit dem allgemeinen
Reichstagswahlrecht, dessen Mängel nicht geleugnet werden, habe
Bismarck dennoch das Richtige getroffen, aber das rein parlamen-
tarische Regime lehnt Meinecke entschieden ab. An dem freien Minister-
ernennungsrecht der Krone will er nicht rütteln lassen. Wenn er nach
solchen Betrachtungen und Reminiszenzen dazu kommt, sich eine
Übergangs- und Mittelform zwischen rein monarchischem und rein
parlamentarischem Regime vorzustellen, „derart, daß man schließlich
nicht mehr weiß, ob der verantwortliche Staatsmann mehr der Ver-
trauensmann der Krone gegenüber den Parlamenten oder der Ver-
mittler zwischen Krone und Parlament ist", so wird man die reale
518 Notizen und Nachrichten.
Möglichkeit dieses Bildes um so weniger leugnen dürfen, als es in
der beginnenden Geschichte des Parlamentarismus an Parallelen für
eine solche Erscheinung nicht fehlt. (Annalen für soziale Politik und
Gesetzgebung 5, 1.) W. M.
„Der Imperialismus und der Weltkrieg", ein in der Gehe-Stif-
tung zu Dresden gehaltener Vortrag von Erich Marcks (Vorträge der
Gehe-Stiftung zu Dresden. Bd. 8, Heft 1. Leipzig und Dresden 1916.
26 S.) zeichnet zuerst in feinen Zügen die verschiedenen Charaktere,
in denen bei unseren Gegnern, zumal bei England und Rußland, der
Imperialismus, d. h. ein die Welt umfassendes Streben, auftritt : Eng-
land maritim und universal und darum gegen alle Neukommenden
aggressiv; Rußland kontinental, aber schwer und brutal auf alle seine
Nachbarn drückend und darum nicht minder aggressiv. Weniger
schrankenlos vorwärts drängend findet er Frankreich und Italien.
Jenes will nur Deutschland angreifen, dieses im Mittelmeer wachsen.
Auch Deutschland habe seinen Imperialismus, aber er hat nicht nach
Eroberungen gesucht, sondern nach Absatzgebieten, nach Handels-
gebieten mit offener Tür, er war nicht aggressiv, nicht universal, son-
dern immer nur national. Aber gerade seine Stärke daheim war den
anderen ein Anstoß. Und da durch seine Bündnisse, zur allseitigen
Selbsterhaltung geschlossen, ein Mitteleuropa in die Erscheinung trat,
so gilt nun diesem der Angriff der Gegner und ihres Imperialismus.
So stehen wir in einem Kampfe wie Preußen 1756. Wir erhoffen von
ihm die Bestätigung auch unserer Stellung und Gesinnung als Welt-
volk. Auch die Erhöhung unserer inneren Kraft erhoffen wir von
ihm; es ist, sagt Marcks, unser Perserkrieg. IV. M.
Der Vortrag, den A. Luschin von Ebengreuth am 31. Mai
1916 in der kaiseriichen Akademie der Wissenschaften gehalten und
der nun unter dem Titel „Österreichs Anfänge in der Adria" (Wien
1916. Aus der k. k. Hof- und Staatsdruckerei. 56 S. kl. 8») gedruckt
voriiegt, ruht auf einem ausgebreiteten Studium des gesamten noch
ungedruckten und gedruckten Quellenmaterials und der einschlägigen
älteren und neueren Literatur, über die in den reichen Anmerkungen
des Anhanges alle wünschenswerten Auskünfte geboten werden. So
klein an Umfang das Büchlein ist, so lehrreich ist sein Inhalt, denn
er verbreitet sich über seit den Babenbergern verfolgte Politik Öster-
reichs in der Richtung gegen Friaul, die dann durch die Habsburger
bis auf Rudolf IV. festgehalten wurde, bespricht die Gewinnung der
ersten Stützpunkte an der Adria: Duino, Fiume (1366) und Triest
(1382) und die Erwerbung der istrischen Küste; dabei wird begreif-
licherweise der Bestrebungen und Erwerbungen Venedigs gedacht,
die allmählich bis 1331 die ganze Westküste Istriens gewinnen und
Alte Geschichte. 519
danach trachten, den Freistaat Triest in ihre Gewalt zu bekommen,
weil ihnen dieser ein unerwünschter Teilnehmer am wirtschaftlichen
Wettbewerb in der Adria zu werden drohte. Wie sich die Stadt frei-
willig der österreichischen Herrschaft unterwarf und bereits während
des ersten Jahrhunderts dieser Herrschaft zur Blüte gelangte, die Lei-
stungen der Stadt in der bewegten Zeit der ersten Jahrzehnte des
16. Jahrhunderts, die vielen Kriege und Reibungen zwischen Österreich
und Venedig, die auf die Hebung des Schiffsverkehrs gerichteten Be-
strebungen Österreichs im 17. und 18. Jahrhundert: all das wird in
streng sachgemäßer Weise dargelegt, so daß die kleine Schrift bei
aller Knappheit als die beste Arbeit dieser Art zu bezeichnen ist. Die
Worte, mit denen der Direktor des österreichischen Lloyd, Frank-
furter, über die Zukunft der österreichischen Schiffahrt gesprochen
(österreichische Rundschau, 15, Mai 1916) und mit denen der Ver-
fasser schließt, verdienen auch hier angeführt zu werden: „Die Adria
ist für uns der einzige Weg, der in die Welt führt. Diesen Weg frei
zu halten ist das einzige Ziel unserer Adriapolitik, die vor dem Kriege
ebenso friedlich war, wie sie es nach dem Kriege sein wird. Wir wollen
keine Vorherrschaft, wir wollen keiner Nation das Recht, sich kulturell
und wirtschaftlich zu entwickeln, einschränken, aber wir beanspruchen
auch für uns den freien und ungehinderten Weg in die Welt."
Graz. J. Loserth.
Neue Bücher: Jeudwine, The manufacture of historical material.
An elementary study in the sources of story. {London, Williams and
Norgate. 6 sh.) — Seipel. Nation und Staat. (Wien, Braumüller.
4 M,) — Langer, Intellektualmythologie, Betrachtungen über das
Wesen des Mythus und der mythologischen Methode. (Leipzig, Teub-
ner. 10 M.) — v. Below, Die deutsche Geschichtschreibung von den
Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen. (Leipzig, Quelle & Meyer.
3,50 M.) — Gosses en Japikse, Handboek tot de staatkundige ge-
schiedenis van Nederland. {'sGravenhage, Nijhoff.)
Alte Geschichte.
Wir erwähnen, daß die umgearbeitete 6, Auflage von Teuffels
Geschichte der römischen Literatur (vgl, H, Z. 114, 201) nunmehr ab-
geschlossen vorliegt. Der erst jetzt veröffentlichte 1. Band (Leipzig u.
Berlin, Teubner. 1916. IX u. 540 S. 8 M.) behandelt die Literatur
der Republik und verdankt es fast ausschließlich der Arbeitskraft
W. Krolls, wenn er eine auf der Höhe der Forschung stehende Über-
sicht bis zur augusteischen Zeit gewährt. Es sei daran erinnert, daß
der eigentlichen Geschichtsdarstellung, die mit einer auch die politi-
520 Notizen und Nachrichten.
sehen Verträge und historischen Aufzeichnungen genauer berücksich-
tigenden „Vorgeschichte" (bis 240 v. Chr.) einsetzt, ein „allgemeiner
und sachlicher Teil" vorausgeht; hier findet sich (S. 59 — 70) ein frei-
lich etwas äußerlich gehaltener und weniger an sich als durch die in-
haltreichen Anmerkungen wertvoller Abriß der Geschichte der römi-
schen Geschichtschreibung.
In den Neuen Jahrbüchern 1917, 1 für das klassische Altertum
finden sich höchst lesenswerte Aufsätze von dem verstorbenen P.
Wen dl and: Philologie und Geschichte, und Fr. Boll: Astronomische
Beobachtungen im Altertum.
In der Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 15
<1917) findet sich ein sehr anregender und fruchtbarer Aufsatz von
Ad. Bauer: Alexandrien und die Verbreitung christlicher Weltchro-
niken, worin überzeugend die Abhängigkeit der späten Weltchroniken
der Byzantiner, Armenier, Syrer u. a. von Alexandria dargetan wird.
In der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung 47, 314
ist eine lesenswerte und fördernde Arbeit von G. Her big: Zur Vor-
geschichte der römischen Pontifices.
In den Sitzungsberichten der preußischen Akademie der Wissen-
schaften 1917, 2/4 veröffentlicht O. Hirschfeld einen Bericht über
die Sammlung der lateinischen Inschriften, der eingehender als sonst
wohl derartige Berichte zu sein pflegen, ist und gelesen zu werden
verdient.
Sorgfältige und ersprießliche Untersuchungen über die Familie
des Kaisers Trajan bietet J. Rubel in Zeitschrift für die österrei-
chischen Gymnasien 67, 7.
Für alle, welche W. A. Oldfathers Studien über Lokrische Topo-
graphie gelesen haben, kommt ein neuer Aufsatz desselben Verfassers
in Betracht, worin er Nachträge bietet: Addendato LarymnaandCyrtom
in American Journal of archaeology. N. S. 20, 3.
In den Rendiconti des /?. Istituto Lombardo di scienze e lettere
1916,11/12 ist beachtenswert der Aufsatz von G. Oberziner: La
Naumachia d'Alalia e le tradizioni storiche de' Focei d'Occidente.
In der Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und
die Kunde des Urchristentums 17, 4 ist ein Aufsatz von G. Krüger:
Zur Frage nach der Entstehung des Märtyrertitels, der die in letzter
Zeit vielfach erörterte Frage zu fördern wohl imstande ist.
Aus der Theologischen Quartalschrift 98,3 merken wir an P.
Rießler: Zur Lage des Gottesgartens bei den Alten, wobei hier be-
sonders der Abschnitt über den Alexanderroman in Betracht kommt;
W. Koch: Der authentische Charakter der Vulgata im Lichte der
Alte Geschichte. 521
Trienter Konzilsverhandlungen (Schluß) und A. Eberharter: Der
Brudermord Kains im Lichte der ethnologischen und religionsgeschicht-
lichen Forschung,
Alexander der Große, ein Kriegsvortrag von Walter Otto.
(Marburger Akademische Reden Nr. 34. Marburg, Elwertsche Verlags-
buchhandlung. 1916. 42 S. 80 Pf.) — Die hier gebotene Würdigung
Alexanders verbindet in glücklichster Weise Gemeinverständlichkeit
mit wissenschaftlicher Gediegenheit. Ausgehend von der Gegenwart
weist sie an Alexanders Verschmelzungspolitik den auch damals be-
stehenden Kampf zwischen Staatsidee und Nationalitätsprinzip nach
und behandelt im Anschluß daran die Leistungen für die innere Aus-
gestaltung des Weltreichs, wobei Alexander als „ein wahrhaft großer
Volkswirt" erscheint. Dagegen bezeichnet Otto die Weltherrschafts-
pläne als staatsmännische Fehler. Doch der Feldherrnruhm bleibt be-
stehen. Der Vortrag schließt mit einer Betrachtung des Menschen:
„Es muß ein ganz eigenartiger Zauber von Alexander auf die Mitwelt
ausgegangen sein, der vor allem aus der Bewunderung seiner über-
menschlichen Größe zu erklären ist. Es schaudert uns Nachlebende
jedoch auch ein wenig, wenn wir an die denken, die unter dem Schatten
des Titanen gelebt haben. Jedenfalls aber gibt es wenige große Männer
in der Geschichte, bei denen uns der Wert überragender Führer für
das Geschick der Menschheit so deutlich zum Bewußtsein kommt wie
bei ihm." Geizer.
L. Pareti, Studi Siciliani e Italioti, Florenz, Libreria inter-
nazionale, B. Seeber. 1914. (Leipzig, Otto Harrassowitz. 356 S.
3 Tafeln. 12 L.) — Die hier vereinigten Abhandlungen bilden zusam-
men den 1. Band eines von De Sanctis und Pareti geplanten Sammel-
werks „Contributi alla Scienza deU'Antichitä". Pareti ergreift das Wort
zu einer Reihe von Fragen aus der älteren Geschichte des griechischen
Siziliens. Wenn auch infolge der mangelhaften Überlieferung eine
sichere Entscheidung meist nicht gefunden werden kann, so gewähren
diese Aufsätze dank dem besonnenen Scharfsinn des Verfassers und
ihrer klaren Argumentation doch mannigfache Belehrung und An-
regung. Abhandlung I hat die Geschichte des spartanischen Prinzen
Dorieus, der in den Jahrzehnten vor und nach 500 sich auf Sizilien
eine Herrschaft zu gewinnen versuchte, zum Gegenstand. Pareti tritt
mit guten Gründen für eine längere Dauer dieser Unternehmungen
ein als sie seinerzeit Niese angenommen hatte. II: Die Chronologie
der Tyrannen Hippokrates und Gelon in Gela und Syrakus am An-
fang des 5. Jahrhunderts. III handelt über den Zeitpunkt, da Zankle
in Messene umgenannt wurde. IV gibt auf Grund der gewonnenen
Ergebnisse die Vorgeschichte der Schlacht von Himera, V behandelt
Historische Zeitschrift (117. Bd.) i. Folge 21. Bd. 34
522 Notizen und Nachrichten.
die Lebenszeit des Theognis (im Sinne des späteren Ansatzes im 5. Jahr-
hundert), VI die Schlacht von Himera (479), VII die Weihgeschenke
der Deinomeniden in Delphi, VIII die Geschichte und Topographie
von Gela. IX zeigt am Beispiel von Selinus, wie eine Geschichte der
Kulte auf Sizilien anzulegen wäre. In X wird (polemisch gegen Pais)
die Stelle Strabos über die Etymologie von Rhegion interpretiert.
XI behandelt die Chronologie der Koloniegründungen und XII die
sizilischen Ortschaften, in deren Namen Hyble vorkommt. Geizer.
Neue Bücher: Preisigke, Antikes Leben nach d. ägypt. Papyri.
(Leipzig, Teubner. 1,20 M.) — Woodward, Christianity and natio-
nalism in the later Roman empire. {London, Longmans, Green & Co.)
Römisch-germanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250.
Im Römisch-germanischen Korrespondenzblatt, 9. Jahrg., Nr. 6,
das mit diesem Hefte sein Erscheinen einstellt (vgl. H, Z. 117, S. 346),
berichten F. Wagner über ein „frühhallstättisches Umengrabfeld" bei
Englschalking (B.-A. iVlünchen), und P. Rein ecke über einen römi-
schen Scherbenfund in der Altstadt Passau. A. Günther bespricht
ein römisches Bronzegewicht in Form einer kleinen Büste, das bei
Baggerarbeiten in der JVlosel an der Stelle der alten Römerbrücke bei
Coblenz gefunden wurde. E. Krüger macht Mitteilungen von einem
kirchlichen Bau aus spätrömischer oder frühfränkischer Zeit am Platz
des abgebrochenen Maximinklosters in Trier, und A. Riese steuert
einige Bemerkungen zur Entwicklung der Namensform Worms aus
Bormitomagus bei. Außerdem wird ein Bericht von P. Goeßler über
die Reste eines anscheinend der Zeit von 120 — 140 n. Chr. zuzuwei-
senden Mosaikfußbodens aus dem altrömischen Rottweil abgedruckt.
In der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 37,
Kanonistische Abteilung 6, verwertet W. Levison eine von G. Morin
veröffentlichte Predigt Augustins, in der dessen Auffassung deutlich
und unmittelbar ausgesprochen wird, „zur Vorgeschichte der Bezeich-
nung Servus servorum Dei". Derselbe macht ebenda Mitteilungen aus
einer Aufzeichnung über Kölner Kirchen auf dem Vorsatzblatt einer
Handschrift des British Museum in London, die nach Schrift und In-
halt dem Ende des 11. Jahrhunderts angehören dürfte. Es handelt
sich anscheinend um das Fragment eines Verbrüderungsbuches.
Gertrud Brüning, Adamnans Vita Columbae und ihre Ablei-
tungen. Zeitschr. f. Celt. Philol. 11, 213—304, auch Bonner Diss.
(Halle 1916). — Die Vita des Piklenapostels, die neben der Lebens-
beschreibung des h. Patricius durch Muirchu Maccu-Machtheni an
der Spitze der irischen Hagiographie steht, wird genau nach Quellen
Frühes Mittelalter. 523
und späterer Benützung untersucht, am Stil Adamnans nachgewiesen,
welche lateinische Schriften er gekannt hat, und gezeigt, daß sich die
Zeit der Entstehung nicht enger als auf 688 — 704 bestimmen läßt.
Wichtig ist der Nachweis, daß alle anderen Berichte über Columba
(außer etwa der irischen Amra) auf diese Vita zurückgehen, nament-
lich daß Cummene(us), auf den sich wohl nicht Adamnan selber, son-
dern sein Nachfolger Dorbbene(us), der Schreiber der Schaff hauser
Hs., beruft (S, 260 A. 1), nicht erhalten ist und Traktate, die ihm hie
und da zugeschrieben worden sind, nur Auszüge aus Adamnan dar-
steilen. Einer derselben, der bisher mangelhaft herausgegeben war,
ist als Anhang gedruckt.
jBonn. /?. Thurneysen.
Richard Koebner, Venantius Fortunatus, seine Persönlichkeit
und seine Stellung in der geistigen Kultur des merowingischen Reiches.
(Beiträge zur Kulturgeschichte des JVlittelalters und der Renaissance,
herausgegeben von Walter Goetz.) (Berlin und Leipzig 1915.) —
Der Wert des Buches liegt darin, daß eine mit den Gesetzen des dich-
terischen Schaffens vertraute Persönlichkeit den Versuch macht, über
die einzelnen Tatsachen, welche die Forschung zu dem Leben und
Wirken des Fortunatus erschlossen hat, zu einem Bilde der Gesamt-
persönlichkeit vorzudringen. Wo wir über den JVlenschen nur den
Dichter befragen können, wird es immer sehr schwer oder vielmehr
unmöglich sein, ganz sicher zwischen dem Ausdruck echter, starker,
langanhaltender Leidenschaft und den Tönen augenblicklicher Auf-
wallung des Gefühls zu unterscheiden, und die Schwierigkeiten wachsen
noch, wenn wir, wie dies bei Fortunat der Fall ist, eine sehr alte und
starke literarische Tradition in Anschlag bringen müssen, welche zu-
gleich die Diktion in Fesseln schlägt und der Routine das Handwerk
erleichtert (davon zu schweigen, daß die Verbindung von Rhetorik
und echtem Gefühl, wie sie sich in der Literatur der romanischen
Völker von der römischen Kaiserzeit bis auf d'Annunzio immer wieder
findet, dem Deutschen restlos wahrscheinlich niemals zugänglich sein
wird). Der Gefahr, Worte des Poeten manchmal allzu wörtlich zu
nehmen, ist denn auch Koebner so wenig entgangen, wie dies Wilhelm
Meyer stets möglich war. Nicht jedes seiner Urteile möchte ich unter-
schreiben und nicht jede seiner Folgerungen mir zu eigen machen.
Aber als Ganzes genommen ist das Buch mehr als nur eine anerken-
nenswerte Erscheinung: Fortunatus ist einer der wenigen lateinischen
Dichter des Mittelalters, bei denen die manchmal spröde Hülle nicht
verhindert hat, daß ein wirklich geschlossenes und lebensvolles Bild
ihrer Persönlichkeit entworfen werden konnte. Je länger die Geschichte
der lateinischen Literatur noch auf Einzelforschung und Behandlung
34*
524 Notizen und Nachrichten.
einzelner Persönlichkeiten angewiesen sein wird, und je öfter sie glaubt,
dieser Aufgabe schon durch die kritische Feststellung von Tatsachen
im äußerlichen Sinne nachgekommen zu sein, desto größer ist das
Verdienst von Büchern wie das vorliegende. S. Hellmann.
Im Historischen Jahrbuch (der Görres- Gesellschaft), 37. Bd.,
4. Heft weist W. Levison, Noch einmal Ermoldus Nigellus und das
Formularbuch von Saint-Denis, die unmethodischen und ohne genügende
Sachkenntnis vorgebrachten Vermutungen von JVI. Buchner (vgl. H. Z.
114, S. 667 und 117, S. 349) mit durchschlagenden Gründen zurück.
Die (Schweiz-) Freiburger Dissertation Stanislaus' von Halko,
,,Richeza, Königin von Polen, Gemahlin Mieczyslaws II,"
(Freiburg, Schweiz, Kommissionsverlag der Universitäts-Buchhandlung
O. Gschwend. 1914), gibt nach einer zum Teil überflüssigen Übersicht
über die wichtigsten Quellen in acht Kapiteln eine ausführliche Dar-
stellung des Lebens Richezas und eine Zeichnung ihres Charakters.
Bei dem geringfügigen Quellenstoff sucht sich der Verfasser durch
Heranziehung unsicherer Kombinationen zu helfen und verwendet sie
als Grundlagen für neue Schlüsse, was besonders bei Besprechung des
Ehelebens der Königin, ihrer Geschicke während der Vertreibung Mieczys-
laws und der Zeichnung ihres Charakterbildes zutage tritt. Die Arbeit
>väre auf ein geringeres Maß unter dem Hinweis, daß die uns bekannten
Quellen eine Einsicht in die Dinge versagen, zu beschränken gewesen.
Da wo er politische und kriegerische Vorgänge schildert, begnügt er
sich mit einer ziemlich kritiklosen Zusammenstellung der Quellen,
ohne die einschlägige Hilfsschriftenliteratur genügend zu Rate zu
ziehen. Das gilt nicht bloß von deutschen, sondern auch von Werken
französischer Herkunft wie von R, Parisot, Les origines de la Haute-
Lorraine. Paris 1909. Die Stellung Ezzos am Hofe Theophanus ist
u, E. überschätzt, da die Belege hierfür einem Lobredner der Familie
entstammen. Die Angaben über das Alter und die Heirat Mathildens,
der Tochter Ottos IL, und Theophanus dürften der Richtigstellung
bedürfen ; die Angabe der Fundatio monasterii Brunwilarensis ist nicht
dahin zu deuten, daß die Eheschließung noch bei Lebzeiten Theophailus
stattfand. Der Ausdruck matre volente sagt nur, daß Theophanu dem
Vermählungsplan geneigt und bei der Verlobung noch am Leben war.
Einige andere Irrtümer wollen wir übergehen. Besser sind die Kapitel
VI und VIII, sowie die vier Exkurse des Anhangs geraten; hier konnte
der Verfasser sich auf eine reichlicher fließende Überlieferung stützen,
auch leistete ihm die Kenntnis der polnischen Hilfsschriften gute
Dienste. Störend wirken mehrfache Wiederholungen, die durch ein
strafferes Zusammenfassen der Sache hätten vermieden werden können.
Graz. J. Loserth.
Frühes Mittelalter. 525
In der Historischen Viertel jahrschrift 18, 1. und 2. Heft kommt
R Holtzmann noch einmal auf „die treuen Weiber von Weinsberg"
zurück und geißelt mit Recht die methodischen Verirrungen und man-
gelnde Sachkenntnis pseudokritischer Phantastik, die sich in den
letzten Jahren mit dieser Frage beschäftigt hat. Er stützt hier den
schon früher von ihm im Anschluß an Scheffer-Boichorst versuchten
Nachweis, daß die Erzählung der Kölner Königschronik aus den Pader-
borner Annalen stammt und macht das soweit wahrscheinlich, wie es
möglich ist. Zu absoluter Sicherheit läßt sich freilich mit unseren
Mitteln nicht gelangen. Da aber sachlich gegen die Geschichte keinerlei
begründete Einwendungen zu erheben sind, sie vielmehr durchaus
dem Geist der Zeit und der beteiligten Personen entspricht, hat die
gesunde methodische Kritik keinen Anlaß, ihre Glaubwürdigkeit zu
bezweifeln, zumal mit der Möglichkeit einer stärkeren quellenmäßigen
Beglaubigung so sehr zu rechnen ist. Geschichtliches Wissen ist nun
einmal von der Überlieferung abhängig. Gewiß ist an dieser scharfe
und eindringende Kritik zu üben, aber nicht mit unfruchtbarem Kriti-
kastern gerade das, worin uns das warme Leben der Vergangenheit
unmittelbar und greifbar entgegentritt, schon deshalb zu streichen,
weil es von der Schablone nicht erfaßt wird. Wer gesunde Quellen-
kritik üben will, darf nicht mit dem leeren Schema einer starren Me-
thode arbeiten, sondern muß sich vor allem in das Wesen der Ver-
hältnisse und Personen hineinfühlen, um aus der inneren geistigen
Gemeinschaft selbst die Maßstäbe sich erwachsen zu lassen, mit denen
der Gegenstand zu messen ist. Wer nicht in den Dingen lebt, die er
zu behandeln unternimmt, mit ihnen innerlich eins wird, wird nie
das, was wirklich gewesen, der Gegenwart neu zu wahrem Leben er-
wecken können. Holtzmanns Klage, daß die strenge Schule einer
gewissenhaften und methodischen Quellenbehandlung als unerläßlicher
Vorbedingung jeder historischen Arbeit sich zu lockern beginne, ist
nur zu berechtigt. Seine umsichtige und solide Arbeit wird hoffentlich
das Gefühl für den Unterschied zwischen den Ergebnissen wissen-
schaftlicher Arbeit und den Spottgeburten willkürlich schaltender
Phantastik neu schärfen und dazu beitragen, den Wagen, der zum
Abgrund rollt, aufzuhalten, ehe es zu spät ist. ^ ///
Heinrich Schrörs, Untersuchungen zu dem Streite Kaiser
Friedrichs L mit Papst Hadrian IV. (1157—1158), Freiburg i. B.
1916, 72 S., 4°, 3 M. (zuerst als Bonner Universitätsprogramm zum
3. August 1915 gedruckt). — Eine sehr bemerkenswerte Arbeit, die
das Verständnis der von Rahewin Gesta Fr id. III, 1 — 24 erzählten
Vorgänge wesentlich fördert, wenn sie schließlich auch die Tragweite
ihrer neugewonnenen Erkenntnis etwas überschätzt und das hoch-
526 Notizen und Nachrichten.
politische Vorgehen Hadrians IV., das zu dem Konflikt in Besangon
1 157 führte, zu sehr rein kirchlichbegründet und von dem Folgenden
isoliert. Schrörs berichtigt zunächst die Erklärung Zeumers von
paria litterarum dahin, daß es sich um Schreiben handelt, die irgend-
wie untereinander zusammenhängen und, wenn nicht gleichlautend
sind, ein oder mehrere gemeinsame Merkmale haben; durch die rich-
tige Deutung der bisher nie scharf und zum Teil unrichtig aufge-
faßten Ausdrücke altaria denudare, vasa domus Dei asportare, cruces
excoriare auf die Verhängung des örtlichen Interdikts gewinnt er
Aufschluß über den Inhalt der scedulae sigillatae ad arbitrium eorum
(der Legaten) adhuc scribendae und der die gleichen Angelegenheiten
betreffenden paria litterarum: es handelt sich um eine Kirchenvisi-
tation größeren Stils, die der Papst in Deutschland nötigenfalls mit
dem vollen ihm zu Gebote stehenden Strafapparat durchführen
wollte, um ,,die Ausrottung der Simonie, die sittliche Besserung des
Klerus und die Vernichtung einer der Wurzeln dieser beiden Übel
durch besseren Schutz für die niederen Benefizien". Indem Schrörs
diese päpstlichen Bestrebungen nach rückwärts verfolgt, wird durch
ihn eine wichtige Seite des kirchenpolitischen Charakters der Mitte
des 12. Jahrhunderts, besonders auch der Legation von 1153, klarer
und schärfer als früher, wo man mehr die nach vorwärts weisenden
Spuren hervorhob, herausgearbeitet und in sorgsamer Einzelprüfung
manche Berichtigung älterer Darstellungen beigesteuert, mitunter
freilich auch entschiedener Widerspruch herausgefordert. Die Pläne
der kirchlichen Reformpartei und des in ihrem Sinne einschreitenden
Papsttums, sagt Schrörs, richteten sich nicht direkt gegen das poli-
tische Ziel des Kaisers, durchkreuzten aber tatsächlich seine Absichten,
die, auf „Freiheit der Kirchen und Wiederherstellung dieser Freiheit'*
gerichtet, für Bistümer und Klöster größere Selbständigkeit gegen-
über dem Papste wünschten. Der Kaiser war sich hierin mit den
Männern seines Vertrauens völlig eins. Man habe auch damals an
dem großen Plan gearbeitet, das Papsttum unter die kaiserliche Hoheit
zu beugen — wofür Schrörs freilich kaum den Beweis erbringen
könnte — , und deshalb für den Augenblick keine politischen Ver-
handlungen mit den Legaten über Italien gewünscht; daher sei man
von vornherein darauf ausgegangen, der unerwünschten Gesandtschaft
ein rasches Ende zu bereiten. Das verhängnisvolle Wort beneficia
sei von Hadrian, der auf den deutschen Episkopat rechnete, wirklich
als „Lehen" gemeint gewesen, um durch die Proklamierung des
Prinzips der päpstlichen Oberherrlichkeit über den Kaiser eine gün-
stige Position für den zu erwartenden Kampf um die Durchführung
der Kirchenverbesserung zu gewinnen, ebenso wie die Gefangennahme
Eskils von Lund nur aufgegriffen sei, um den Kaiser ins Unrecht
IFrühes Mittelalter. 527
zu setzen und gegen ihn Stimmung zu machen. „Das päpstliche
Schreiben war mit raffinierter diplomatischer Kunst entworfen, was
beweist, daß es sich um einen wichtigen Vorstoß handelte." Diesen
Hieb hat Reinald von Dassel offensiv pariert. Aber es war nur ein
wohlberechneter, vernichtender Schlag gegen die päpstliche Kirchen-
reform in Deutschland, kein beabsichtigter allgemeiner Bruch mit der
Kurie. So sieht Schrörs in dem Tage von Besangon, dessen Be-
deutung durch ihn noch verstärkt erscheint, wesentlich einen Ab-
schluß. Das ist er gewiß auch gewesen; daß er aber auch sachlich
zugleich als Vorspiel des kommenden großen Kampfes gewürdigt
werden muß, erhellt ohne weiteres, sobald man nicht mit Schrörs
die politische Seite der Legation von 1157 ungerechtfertigt zurück-
treten läßt. Daß diese Politik der Kurie spottschlecht war, da sie
sich über die wirklichen Verhältnisse völlig täuschte, ändert daran
nichts. A. Hofmeister.
Fr. Heyer stellt in der Zeitschrift der Savigny-Stiftungfür Rechts-
geschichte 37, Kanonistische Abteilung 6, die Nachrichten über den
Kanonisten Petrus Collivaccinus von Benevent, den Verfasser der
Compilatio tertia vom Jahre 1210, zusammen, über den in der Lite-
ratur manche unzutreffende Angaben verbreitet sind. Er war als
Kardinaldiakon von S. Maria in Aquiro Legat für das Albigenser-
gebiet 1214 und 1215, wurde dann Kardinalpriester von S. Laurentius
in Damaso und starb am 21. September 1219 oder 1220 als Kardinal-
bischof der Sabina.
In der Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens Bd. 50
(1916) weist Fr. Lambert Schulte O. F. M. („Ist die Namensform
Mieszko berechtigt?") in Ergänzung von Ausführungen Zeißbergs
gegen Balzer und andere polnische Forscher nach, daß der Name des
ersten christlichen Polenfürsten ursprünglich Misica, Misico, Miseco
lautete. Daneben findet sich bald ebenfalls dreisilbig Mesico, Meseco.
Daraus entwickelte sich allmählich das zweisilbige Mesco, in Urkunden
und auf Siegeln mindestens seit Mitte des 13. Jahrhunderts; Miesco
ist erst aus dem 15. Jahrhundert zu belegen. Der angeschlossene Ver-
such, mit Hilfe der Namensformen über Echtheit und Unechtheit einer
Reihe von Urkunden, besonders des Herzogs Meseko von Oppeln
(1239 — 1246), zu entscheiden, darf noch nicht als abschließend gelten.
In der Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens Bd. 50
(1916) weist Ernst Maetschke, „Die deutsche Besiedlung des Glatzer
Landes (eine Nachprüfung)", wohl mit Recht die Anschauung von
Bretholz zurück, daß es sich unter Ottokar II. nicht um eine plan-
mäßige Kolonisation in größerem Umfang durch Berufung Deutscher
aus der Fremde, sondern nur um eine zeitweilige, aus politischen Ver-
528 Notizen und Nachrichten.
hältnissen erklärliche Begünstigung wahrscheinlich adliger Zuwande-
rung von nur vorübergehender Bedeutung handle,
Lauritz Weibull, Liber census Daniae. Kung Valdemars Jorde-
bok. H. Hager up's Forlag, Köbenhavn (1916). 168 S. — In dieser
scharfsinnigen und scharf polemisierenden Untersuchung sind von
bleibendem Wert neben manchen Hinweisen auf spätere schwedische
Verwaltungspraxis und -Akten die Bemerkungen über den Codex Hol-
miensis A 41 aus dem späteren 13. Jahrhundert, in der Kgl. Bibliothek
in Stockholm, in dem uns die als „König Waidemars (II.) Landbuch"
bezeichneten, für die wirtschaftlichen Verhältnisse Dänemarks im
früheren Mittelalter grundlegenden Aufzeichnungen vorliegen. Weibull
zeigt, von einer älteren Beobachtung Oluf Nielsens ausgehend, daß
die heutige Reihenfolge der Stücke in der Handschrift nicht die ur-
sprüngliche ist. Vielmehr gehören die Lagen 2 — 5, 18, 6 — 7 in dieser
Reihenfolge zusammen, d. h. das sog. „Hauptstück, Krongutliste,
Inselliste, Winternachtquartierliste, Hallandliste mit ihren Zusätzen,
Häkon Palnesens Liste, Falsterliste, Lälandliste, Fehmarnliste, Ein-
künfteliste, kleinere und größere Estlandsliste". Das „Landbuch" ist
also nicht als Teil einer Handschrift, sondern als eine Handschrift
für sich auf uns gekommen. Auch in dem Rest findet er nach dem
Zusammentreffen von Beginn einer neuen Lage und eines neuen Stückes
mehrere ursprünglich selbständige Teile. Doch sei alles in derselben
Schreibstube, der dänischen Reichskanzlei, entstanden, und zwar aus
rein praktischem Interesse. Leider hat Weibull anscheinend die Hand-
schrift selber nicht benützen können, und wenn ihm auch die in Kopen-
hagen davon hergestellten Photographien zu Gebote standen, so wird
doch nur eine genaue Prüfung der Handschrift selber den Boden im ein-
zelnen völlig sichern und vielleicht zu weiteren, neuen Beobachtungen
und Schlüssen führen. Die kritische Untersuchung, zu der Weibull
von dieser Grundlage aus vorschreitet, will vor allem das Verhältnis
der beiden eingehenderen Sonderverzeichnisse für Hailand und Feh-
marn und besonders des ersteren, zu den entsprechenden Partien des
„Hauptstückes" und den Charakter des „Hauptstückes" als Ganzen
erklären, da alle früheren Versuche unbefriedigend seien. Aber die
neue Ansicht, die Weibull zu diesem Zwecke entwickelt, bleibt eine
Hypothese, für die ein Beweis trotz der scheinbar genauen Rechnungs-
aufstellungen nicht erbracht ist und die vor den verschiedenen älteren
Versuchen nichts voraus hat. Nach Weibull ist das „Hauptstück" eine
1231 für den praktischen Gebrauch der obersten dänischen Finanz-
verwaltung aufgestellte summarische Übersicht der königlichen Ein-
künfte während des Sommerhalbjahres, während die Hallandliste eine
mehr ins einzelne gehende Übersicht derselben Einkünfte für das
Frühes Mittelalter. 529
ganze Jahr gibt, deren einzelne Posten Weibull mit völliger Sicher-
heit auf Sommer- und Winterhalbjahr verteilen zu können glaubt.
Die so von Weibull für das Sommerhalbjahr errechneten Summen
stimmen in der Mehrzahl der Fälle ziemlich genau zu den summari-
schen Angaben des „Hauptstücks". Leider müssen die Berechnungen
Weibulls mit soviel unsicheren und willkürlichen Annahmen operieren,
daß ihnen jede Beweiskraft fehlt. Mit guten Gründen hat deshalb
Kr. Erslev, „Valdemars Jordebog: Hallandslistan og ,Hovedstykket'",
in der dänischen Historisk Tidsskrift, 8. Reihe, 6. Bd., 3./4. Heft (1916)
Weibulls Aufstellungen in diesem Hauptpunkt rundweg abgelehnt und
diese seine Ablehnung gegenüber einer Entgegnung Weibulls voll auf-
recht erhalten. Es ist in der Tat eine Neigung, alles anders zu sehen
als die Vorgänger, die, wenn ich nicht irre, nicht zum erstenmal in dieser
Schrift, des Verfassers Gelehrsamkeit und Scharfsinn um die besten
Früchte ihrer Mühe betrügt. Die Forschung wird sich mit seinen
Aufstellungen im einzelnen immer ernstlich auseinanderzusetzen
haben und vielleicht manche einzelne Bemerkung und Beobachtung,
hier oder zur Fehmarnliste, bei deren Besprechung aber auch
gerade grundlegende Aufstellungen den stärksten Bedenken unter-
liegen, und zu den anderen Teilen des „Landbuches", als Gewinn
buchen können; wieweit das aber geschehen kann, muß in jedem
einzelnen Falle erst durch selbständige Prüfung von Grund aus
entschieden werden. So können auch die Ausführungen des Anhangs
über die Höhe der königlichen Einkünfte in Hailand und im
ganzen dänischen Reiche im Jahre 1232 mit den von den früheren
sehr stark abweichenden Berechnungen über die Einwohnerzahl in
Hailand und die Höhe der Besteuerung zunächst nur als Material für
die Forschung, nicht als Teil unserer Erkenntnis gelten. Weibulls
Schrift rückt die Schwierigkeiten des Problems ins Licht und läßt an
den Schwächen früherer Erklärungsversuche deutlich werden, daß
das letzte Wort hier noch nicht gesprochen ist. Einstweilen aber wird
man im ganzen, ohne sich für Einzelheiten einzusetzen, Erslevs Auf-
fassung dem neuen Versuch gegenüber durchaus den Vorzug geben
"Füssen. ^ Hofmeister.
In seinem Beitrage „Königsrecht, Kirchenrecht und
Stadtrecht beim Aufbau des Inquisitionsprozesses" zur
Festschrift für Rudolf Sohm sucht Richard Schmidt seine in der
1902 erschienenen Arbeit über die Herkunft des Inquisitionsprozesses
aufgestellte Behauptung von dem Einfluß der sizilisch-normannischen
Gesetzgebung auf die Dekretalen des Papstes Innocenz III., die den
Inquisitionsprozeß ins Kirchenrecht einführen, in wenn auch abge-
schwächter Form neuerdings zu stützen. Innocenz III. als Vormünder
530 Notizen und Nachrichtea
Friedrichs II. in Kenntnis der normannisch-sizilischen Gesetzgebung
habe ihr den Gedanken des Verfahrens von Amts wegen unter der
Voraussetzung des Vorhandenseins eines Gerüchtes oder bösen Leu-
mundes entlehnt. Da Schmidt, und darin wird man ihm sicher zu-
stimmen und in der Aufdeclcung der Zusammenhänge den Hauptwert
der beiden Arbeiten sehen, das Verfahren in Sizilien gleich dem eng-
lischen auf das fränkische zurückführt, so wäre dieses auch als Wurzel
der kirchlichen Inquisition zu betrachten. Der Unterzeichnete hat
sich erlaubt, in der Zeitschrift der Savigny- Stiftung für Rechts-
geschichte, Germ. Abt. 25, 348 die Ansicht zu bezweifeln. Dafür wird
er von Schmidt S. 41 f. n. 3 nach Gebühr abgekanzelt. Doch wie er
glaubt nicht ganz mit Recht. Einmal hat er in der angezogenen Stelle,
wie sich bei nicht ganz flüchtiger Lesung deutlich ergibt, gar nicht
behauptet, daß der Inquisitionsprozeß Innocenz' III. aus der pur-
gatio canonica erwachsen sei, sondern ausdrücklich erklärt, daß er im
Kirchenrecht etwas Neues darstellt und die purgatio canonica verdrängt
hat. Wohl aber hat er dort die Ansicht vertreten, daß die Voraus-
setzung des bösen Leumundes aus dem älteren Kirchenrechte stamme
und an eine Beeinflussung des Papstes Innocenz III. durch die sizi-
lische Gesetzgebung in diesem Punkt nicht zu denken sei. Die Gründe
für seine Ansicht hat er auch angegeben. Das Sic volo sie iubeo ist
nicht auf österreichischem Boden gewachsen und liegt auch dem Öster-
reicher gänzlich ferne. Und der Grund ist, daß eben das sizilische
Verfahren ganz anders geordnet war wie der kirchliche Inquisitions-
prozeß. Nach sizilischem Rechte erfolgt die Vernehmung geschwo-
rener Zeugen, um die Verbrechen zur Kenntnis des Richters zu bringen.
Sind diese Zeugenaussagen beweisend, so führen sie zur Verurteilung,
wenn nicht, bieten sie die Grundlage zu einer weiteren Untersuchung.
Der Papst ordnet keine derartige allgemeine Inquisition an. Er be-
stimmt nur, daß eine amtliche Untersuchung dann eintrete, wenn
das Gerücht eines Verbrechens vorliege. Das ältere kanonische Recht
kannte ebenfalls ein Einschreiten beim Vorhandensein des bösen Leu-
mundes. Es schrieb dann die purgatio canonica, das ist den Reini-
gungseid des germanischen Rechtes vor. Anstatt die Ablegung dieses
Eides von dem Bezichtigten zu fordern, sollte der Richter nach den
Dekretalen Innocenz' III. eine Untersuchung vornehmen, wie sie dem
römischen und nach ihm dem Rechte der italienischen Städte auf
Grund einer Anzeige oder auch nur eines Verdachtes geläufig war.
Durch den Inquisitionsprozeß des römischen und des italienischen
Stadtrechts also hat Innocenz III. die alte purgatio ersetzt. Wie die
Dinge liegen, zeigen ja die Dekretalen selber. Wenn die Untersuchung
den Beweis der Schuld erbringt, soll Verurteilung eintreten; wenn
nicht, soll es noch beim Reinigungseide bleiben, damit jeder Verdacht
Späteres Mittelalter. 531
ausgeschlossen sei (c. 10 X de purgatione canonica 5, 34 von 1199, also
gerade die älteste Stelle, das Mandat an den Erzbischof von Sens,
auf das Schmidt so großes Gewicht legt, und c. 21 X De accus. 5, I
von 1212). Ob Innocenz III. die gesetzlichen Bestimmungen kannte,
die im Königreich Sizilien den Inquisitionsprozeß regelten, wird sich
ebensowenig erweisen lassen als das Gegenteil. Die neueste Forschung
zeigt, daß er die Vormundschaft nur vom Standpunkte des Vorteils
für die Kirche geführt hat (Baethgen Friedrich, Die Regentschaft
Papst Innocenz' III. im Königreich Sizilien. Heidelberger Abhand-
lungen zur mittleren und neueren Geschichte, Heft 44). Das aber ist
bei unbefangener Prüfung der Quellen sicher, daß er bei seiner Ge-
setzgebung über den kirchlichen Inquisitionsprozeß jene Gesetze nicht
vor Augen hatte; denn wenn er das Vorhandensein eines Gerüchtes
forderte, so knüpfte er an die alte purgatio canonica an, für das Ver-
fahren selber aber gaben ihm italienische Stadtrechte das Muster.
Wien. Hans von Voltelini.
Petrus de Dacia, ein Dominikaner von der Insel Gothland, ist
der erste schwedische Schriftsteller, über dessen Persönlichkeit und
Seelenleben sich Genaueres erkennen läßt. Seine Biographie der be-
kannten Christine von Stommeln (bei Köln) und seine und seiner Um-
gebung Briefe an sie bilden die Quelle für eine fesselnd geschriebene
Studie des Stockholmer Professors Henrik Schuck, Vär forste författare,
själshistoria frhn medeltiden (Stockholm, Hugo Geber, 1916); sie ist
auch von Wert für die deutsche Kulturgeschichte des 13. Jahrhunderts.
n.
Neue Bücher: Vernier, Charles de l'abbaye de Jumieges (V. 825
a 1204) conservies aux archives de la Seine- Infirieure, publikes avec
introduction et notes. Tome I'^. (Paris, Picard.) — Adolf Arndt, Zur
Geschichte und Theorie des Bergregals und der Bergbaufreiheit.
2. verb. u. verm. Aufl. (Freiburg i. B., Bielefeld. 10 M.) — Haskins,
The Normans in European history. {London, Constable. 8,6 sh.)
Späteres Mittelalter (1250—1500).
Ein Aufsatz von M. Grabmann in der Zeitschrift: Das neue
Osterreich 1, 2 sucht namentlich am Beispiel Alberts des Großen,
Ulrichs und Hugos von Straßburg sowie der deutschen Mystiker des
14. Jahrhunderts nachzuweisen, daß die Hochscholastik und Mystik
keineswegs nationale Färbung ausgeschlossen habe, daß man vielmehr
mit gutem Grund von einer deutschen Eigenart im mittelalterlichen
Denken reden könne.
Joh. Hof er handelt in den Franziskanischen Studien 4 (1917), 1
•über den Verfasser und die Entstehungszeit des für die Geschichte des
532 Notizen und Nachrichten.
Armutstreits beachtenswerten Traktats „Responsiones ad oppositiones
eorum, qui dicunt, quod Joannes papa XXII. sententialiter definivit in
constitutione ,Cum inter nonnullos' (12. Nov. 1323) haereticum fore cen-
sendum asser er e illud, quod in Decretali ,Exiit, qui seminat' (14. Aug.
1279), § Porro, continetur". Die Entstehung wird in der ersten Hälfte
des Jahres 1324 anzunehmen sein, Bonagratia dürfte als Verfasser
in Frage kommen. — An der gleichen Stelle berichtet J. B. Kaiser
über die Anfänge der durch mancherlei Schwierigkeiten gehemmtea
Observanz in Metz (1418—1435).
Ein ungedrucktes Zollprivileg Kaiser Karls IV. (für Valentin
von Sayn, Grafen von Wittgenstein; 1374, November 19) veröffentlicht
nach dem Original im Fürstlichen Archiv zu Berleburg Manfr. Stim-
ming in den Mitteilungen des Instituts für österreichische Gesch. 37, 1.
Aus der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte,.
Kanonist. Abteilung, Bd. 6 verzeichnen wir die gut unterrichtende
Arbeit von J. Hashagen: Zur Charakteristik der geistlichen Ge-
richtsbarkeit vornehmlich im späteren Mittelalter, die in erster Linie
die deutschen Verhältnisse, diese aber sehr gründlich, behandelt.
Weiter bespricht dort P. Haas das Salvatorium Eugens IV. vom
5. Februar 1447 („Decet Romani pontificis") in seiner Bedeutung als
politische Urkunde und als Gewissensvorbehalt, den der seinem Ende
entgegengehende Papst den neuerdings sog. Fürstenkonkordaten vom
gleichen Tage gegenüber gemacht hat. Ulr. Stutz hebt aus der Epi-
stula de miseria curatorum seu plebanorum und aus der Reformation
Kaiser Sigmunds die Stellen aus, die erkennen lassen, daß das Eigen-
kirchenrecht im Widerstand gegen die Gesetzgebung Papst .'\lexan-
ders III. sich in Deutschland doch noch bis ins 15. Jahrhundert hinein
behauptet hat.
W. Ziesemer veröffentlicht in der Altpreußischen Monatschrift
53, 1 und 2 ein Rechnungsbuch des Königsberger Deutschordenshauses
aus den Jahren 1433/35, das freilich nur die vom Hauskomtur gebuchten
allgemeinen Ausgaben enthält, nicht die Ausgabeposten der einzelnen
mit Ämtern betrauten Ordensritter, und so eine sehr empfindlich sich
geltend machende Lücke nur in geringem Maße schließt.
In der Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 16, I
veröffentlicht K. Es eher das Testament des Kardinals Johann von
Ragusa nebst dem Nachweis der dem Predigerkloster zu Basel ver-
machten, heute in der dortigen Universitätsbibliothek befindlichen
griechischen Handschriften, die der Kardinal als Abgesandter des Kon-
zils 1435/37 in Konstantinopel zusammengebracht hatte.
An einigen vornehmlich dem 15. Jahrhundert angehörenden Bei-
spielen erläutert W. Müller im Archiv für Kulturgeschichte 13, 1/2
Späteres Mittelalter. 533
den mittelalterlichen Brauch, den unwillkommene schriftliche Nach-
richten überbringenden Boten zum Essen des Briefes zu zwingen. —
Fr. Arnecke veröffentlicht an der gleichen Stelle eine Diätregel aus
dem Ende des Mittelalters, die sich unter den Aufzeichnungen des
bekannten Humanisten Hartman Schedel findet.
Eug. Meiler veröffentlicht in der Zeitschrift: Deutsche Kultur
in der Welt 2, 3 Quellenforschungen über die in der zweiten Hälfte
des 15. Jahrhunderts bestehenden künstlerischen Beziehungen zwi-
schen Nürnberg und Krakau. Letzterer Stadt wird neben ihrer Wich-
tigkeit für die Gewerbegeschichte des ausgehenden Mittelalters eine
besondere Bedeutung für den Nachweis der zunftmäßig geregelten
Kunsttätigkeit zugesprochen.
Im Beifried 1,6 handelt Arth. Lindner über die ehemals im
Besitz des schlesischen Humanisten Thomas Rhediger befindliche,
heute zu Breslau bewahrte Froissart-Handschrift, die im Auftrage
Antons von Burgund, des 1421 geborenen natürlichen Sohnes Philipps
des Guten, abgeschrieben und von Philipp von MazeroUes (f um 1508)
mit zahlreichen Miniaturen geschmückt worden ist.
Als Vorläufer einer größeren Arbeit bringt H. Van der Linden
einen Aufsatz über Alexander VI. und die für Spanien und Portugal
festgesetzte Teilung der maritimen und kolonialen Machtsphären von
1493—1494 {The American historical review 1916, Oktober). — Vgl.
auch den kleinen Aufsatz von Wilh. Foerster: Zur Geschichte der
Entdeckung Amerikas in der Deutschen Revue 1917, Januar mit
seinem Hinweis auf den Bericht von Berth. Cohn über Forschungen,
die ein portugiesischer Gelehrter, J. Bensaude, über den Anteil der
wissenschaftlichen Leistungen Portugals an der Entwicklung der nau-
tischen Astronomie des 14. und 15. Jahrhunderts veröffentlicht hat.
Neue Bücher: Schöpp, Papst Hadrian V. (Kardinal Ottobuono
Fieschi.) (Heidelberg, Winter. 11,60 M.) — Birckman, Die ver-
meintliche und die wirkliche Reformschrift des Dominikanergenerals
Humbert de Romanis. (Berlin, Rothschild. 2,20 M.) — Herm. Knapp,
Das Rechtsbuch Ruprechts v. Freising (1328). (Leipzig, Voigtländer.
3 M.) — GöUer, Verzeichnis der in den Registern und Kameral-
akten Clemens' VII. von Avignon vorkommenden Personen, Kirchen
und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Teritorien 1378
bis 1394. (Berlin, Weidmann. 18 M.) — Koebner, Der Widerstand
Breslaus gegen Georg v. Podiebrad. (Breslau, Hirt. 4,50 M.) —
Mack, Die kirchliche Steuerfreiheit in Deutschland seit der Dekretal-
gesetzgebung. (Stuttgart, Enke. 11,40 M.)
534 Notizen und Nachrichten.
Reformation und Gegenreformation (1500 — 1648).
In der Zeitschrift für Kirchengeschichte Bd. 36, 3./4. Heft,.
S. 507 macht H. Degering auf eine Briefsammlung aus dem Eisen-
acher und Erfurter Lutherkreise aufmerksam, die sich in der Kgl.
Bibliothek zu Berlin befindet und 24 Briefe aus der Zeit von 1497
bis 1510 umfaßt, darunter drei bisher unbekannte Briefe Luthers.
In einem Schreiben vom 5. September 1501 ist ein Schriftzeugnis des
Reformators gewonnen, das um fast sechs Jahre älter ist als das-
jenige, das bisher an erster Stelle stand.
Zwei unbekannte Briefe Johann Ecks an Johann Cuspinian ver-
öffentlicht aus den Vorarbeiten zu einer Cuspinianbiographie Hans
v. Ankwicz in den Mitteilungen des Instituts für österreichische Ge-
schichtsforschung Bd. 37, H. 1, S. 69 — 77. Die Briefe erwecken vor
allem wegen der Beurteilung Luthers Interesse. In dem ersten Schrei-
ben, das zur Zeit von Ecks Zusammenkunft mit Luther in Augsburg
abgefaßt ist (13. Oktober 1518), erkennt Eck die schweren Mißstände
im Ablaßwesen an und geht sogar so weit, zu sagen, daß er in dieser
Hinsicht Luther loben müsse. In dem zweiten Briefe aus dem Februar
1520 lautet das Urteil viel schärfer. I
Im Anzeiger für schweizerische Geschichte 1916 Nr. 3, S. 133 ff.
findet sich aus der Feder von E. Tappolet eine interessante Studie
zur Etymologie von Huguenot. Tappolt hält die Herleitung aus „Eid-
genosse" für die einzig mögliche und sucht nachzuweisen, daß Genf
der Ursprungsort dieser Bezeichnung ist. Der anfänglich rein politische
Parteiname Eiguenots gewinnt dort in den kirchlichen Kämpfen bald
eine konfessionelle Bedeutung und findet, da Genf der Mittelpunkt
der reformatorischen Bewegung ist, auch in Frankreich in diesem
Sinne Verbreitung. Dafür gibt es schon aus dem Jahre 1528 einen
Beleg. Darüber, wie die Umwandlung von „eiguenot" in „huguenot"
sich vollzogen hat, kann Tappolet nur eine neue Vermutung bei-
bringen. Er macht darauf aufmerksam, daß an der Spitze jener ur-
sprünglich rein politischen Partei der Eiguenots bis 1532 Besan9on
hugues stand, und sucht wahrscheinlich zu machen, daß der Name
seiner Partei im Anschluß an seinen eigenen Namen in den Spitz-
namen „Huguenot" umgewandelt worden sei. Als schweres Bedenken
bleibt bestehen, daß der Ausdruck von 1553 nicht nachzuweisen ist
und auch dann nur für Frankreich.
In einem kurzen Aufsatz in der Deutschen Revue, Dez, 1916,
behandelt E. v. Danckelman „Wallenstein und die Besetzung Meck-
lenburgs im Jahre 1628". Er sucht darzutun, daß die beiden mecklen-
burgischen Herzöge 1627 einen schweren Fehler — er redet von der
1648—1789. 535
Schuldfrage der Herzöge — begingen, als sie noch zu Christian IX.
hielten, während die politisch klügeren Stände ihrer Länder das Bünd-
nis mit dem Kaiser befürworteten. |
Neue Bücher: Kaulfuß-Diesch, Das Buch der Reformation,
geschrieben von Mitlebenden. (Leipzig, Voigtländer. 5 M.) — W.
Köhler, Martin Luther und die deutsche Reformation. (Leipzig,
Teubner. 1,20 M.) — Schmieder, Der deutsche Reformator D.
Martin Luther in seinen Schriften, Reden, Dichtungen, Aussprüchen,
in Berichten von Zeitgenossen, im Urteil der Mit- und Nachwelt.
(Leipzig, Wunderlich. 2,40 M.) — Schreckenbach u. Neubert,
Martin Luther. (Leipzig, Weber. 10 M.) — Walther, Luthers Cha-
rakter. (Leipzig, Deichert. 3,80 M.) ■
1648— 1789.fe;
Als ein kleiner Beitrag für eine künftige Biographie Hermann
Conrings, des berühmten Verfassers des Werkes „De origine juris Ger-
mania" sollen die Mitteilungen F. Dahls: „Zu den Beziehungen Con-
rings zu Dänemark" angesehen werden. (Zeitschr. der Savigny-Stif-
tung für Rechtsgesch. 37, Germ. Abt.)
Die Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen widmet
das dritte Heft ihres Jahrgangs 1916 ganz der Feier des 200. Todes-
tages von Leibniz. Ein Gesamtbild seiner universellen Bedeutung
für das deutsche Geistesleben sucht Paul Ritter zu entwerfen in
seinem Vortrag: Leibniz und die deutsche Kultur. Außerdem ver-
öffentlicht er den Bericht eines Augenzeugen über Leibnizens Tod und
Begräbnis. Die Förderungen, die dem Philosophen die Gebiete der
Naturwissenschaft und der Medizin zu verdanken haben, stellt Her-
mann Peters dar (Leibniz in Naturwissenschaft und Heilkunde).
In die dem ,Ryswycker Friedensschlüsse vorangehenden Ver-
handlungen über die> religiöse Frage in Deutschland (vgl. auch S. 357)
führt die kleine Arbeit von E. v. Danckelman über die Rheinberger
Religionskonferenz von 1697. (Zeitschr. des Berg. Geschichtsvereins).
Diese Konferenz ward zwischen den Kommissaren der Kurfürsten von
Brandenburg und Pfalz abgehalten (daß den Kommissaren des Pfäl-
zers das selbständige Handeln durch ihre Instruktion verboten wird,
ist nicht gerade eine „merkwürdige Bestimmung") und betraf die
Stellung der Konfessionen in Jülich und Berg einer-, in Kleve, Mark
und Ravensberg anderseits. Was von den zur Verhandlung kommen-
den Beschwerden hier mitgeteilt wird, gewährt einen guten Einblick
in die religiösen Verhältnisse der genannten Lande. W. M.
536 Notizen und Nachrichten.
In der Altpreußischen Monatschrift 53, 1 u. 2, veröffentlicht Kr.
die nachgelassene Arbeit des 1914 in Polen gefallenen Majors Berthold
Wagner unter dem Titel: „Militärisches Friedensleben unter König
Friedrich Wilhelm I." Die darin enthaltenen Schilderungen sind nach
Materialien des Schlobitter Archivs zusammengestellt. Sie geben ein
anschauliches Bild von den Zuständen innerhalb eines einzelnen Regi-
ments, von Werbungen, Kantonwesen, „langen Kerls" und können
wohl in allen wesentlichen Zügen schlechthin für die Armee des Sol-
datenkönigs verallgemeinert werden. W. M.
Dr. phil. Therese Winkel mann: Zur Entwicklung der allgemeinen
Staats- und Gesellschaftsanschauung Voltaires. (Staats- und sozial-
wissenschaftliche Forschungen, herausgeg. von Gustav Schmoller und
Max Sering. Heft 188. Duncker und Humblot, München und Leipzig.
1916. XII, 72 S.) — Die Verfasserin hat sich eine wenig dankbare
Aufgabe gestellt. Der Begriff Entwicklung ist nicht ein Hauptschlüssel,
der alles erschließt. Bei der Anwendung auf Voltaires Staats- und
Gesellschaftsanschauungen jedenfalls muß er versagen. Gewiß war
Voltaire auch in der Politik nie starr und unbeweglich, sondern höchst
erregbar und wandlungsfähig. Und gewiß sind diese Wandlungen nicht
Eingebungen reiner Willkür und sprunghafter Laune. Aber nach einem
inneren Bildungsgesetz — und ein solches verlangt der Begriff der
Entwicklung ■ — verlaufen sie nicht. Zum mindesten hat die Verfas-
serin ein solches nicht entdeckt. Sie begnügt sich daher auch im wesent-
lichen damit, Äußerungen Voltaires über die hier in Betracht kommen-
<ien Fragen zusammenzustellen, in einem ersten Teil die des jüngeren,
in einem zweiten Teil die des älteren Voltaire. Und der Eindruck,
den ihre Zusammenstellung erweckt, ist, daß der junge Voltaire dem
alten zum Verwechseln ähnlich sah, was in diesem Grade nicht ein-
mal der Fall war.
Stuttgart. P. Sakmann.
Neue Bücher: Bagwell, Ireland under the Stuarts and dwing
ihe Interregnum. Vol. 3. {London, Longmans, Green & Co.) — v. Frant-
zius. Die Okkupation Ostpreußens durch die Russen im Siebenjährigen
Kriege mit besonderer Berücksichtigung der russischen Quellen. (Berlin,
Ehering. 2,80 M.) — Bruel, Marichaux de France. Chronologie mili-
iaire. jy68 — 1870. {Paris, Fournier. 12 fr.)
Neuere Gesdiidite von 1789 bis 1S71.
Die Fortsetzung der Schaumannschen Kreuz- und Querzüge
<s. S. 361) gibt anschauliche und drastische Bilder aus dem Garnison-
leben von Ratzeburg und Lüneburg um 1790 und von der Mobil-
Neuere Geschichte. 537
machung und dem kurzen Ausmarsch bis an die holländische Grenze
1795 bis zum Frieden von Basel (Deutsche Rundschau, Januar).
Den weiteren Briefen Wilhelm von Humboldts an Frau von
Stael (s. S. 361) im Januarheft der Deutschen Rundschau (November
1803 bis Mai 1805, mit der durch Frau v. Steins Anwesenheit in Rom
gegebenen Unterbrechung) hat A. Leitzmann Erläuterungen aus an-
deren Briefen Humboldts, namentlich über sein inneres Verhältnis
zu Frau von Stael beigefügt: „Der Briefwechsel mit ihr hat nichts
sehr Befriedigendes"; ihn stört begreiflicherweise das Unruhige, Un-
harmonische, Unausgeglichene ihres Wesens; erst 1805 (5. V. an Goethe)
schreibt er: „Sie ist mir hier sehr viel werter geworden. Sie hatte
hier mehr Ruhe und Stille, war nicht so umgetrieben von den Gei-
stern, die auch sie plagen und irre leiten."
Im Januarheft der Deutschen Revue leitet W. Windelband
die vom 30. Okt. bis 23. Nov. reichende Fortsetzung des Eichhorn-
schen Briefwechsels (s. S. 361) mit Ausführungen über E.s Tätigkeit
als Generalsekretär Steins im Zentralverwaltungsrat der Verbündeten
ein; die Briefe im Februarheft aus Frankfurt a. M. bis zum 19. Dez.
enthalten nichts Wesentliches über die Tätigkeit der Kommission oder
die Friedensverhandlungen.
Eine kurze Zusammenstellung der Hauptphasen des Kampfes um
„Die polnische Frage auf dem Wiener Kongreß" gibt Freiherr von
Jettel im Januarheft der Deutschen Revue.
Ein kleines Stück Berliner Universitätsgeschichte wird lebendig
in der Miszelle „Nordische Stimmen über Savigny und Gans", die
F. Dahl in der Zeitschr. der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte
37, Germ. Abt. veröffentlicht. Er teilt u. a. eine höchst anschauliche
Beschreibung der zwei berühmten, im Titel genannten Gelehrten mit,
die den Erinnerungen des dänischen Juristen Orla Lehmann ent-
nommen ist. W. M.
Schwalbachs „die neueren deutschen Taler, Doppeltaler und
Doppelgulden vor Einführung der Reichswährung" ist 1915 zu Mün-
chen im Verlag der Otto Helbings Nachfolger in 8. vermehrter und
verbesserter Auflage erschienen. (Preis 4 M.) Das Werkchen bietet
gegen früher einige Abänderungen und Zusätze. Kleine Stempelver-
schiedenheiten, darunter solche, die nur unter der Lupe erkennbar
waren, wurden gestrichen, ebenso mehrere Jahrgangsangaben, die sich
als irrig herausgestellt hatten. Schwalbach verzeichnet nun mit den
unter a, aa, b usw. eingeteilten Nachträgen an 400 Prägestempel aus
den Jahren 1823 — 1872, von welchen einzelne durch 10 und mehr
Jahre benützt erscheinen. Es ist eine sehr vollständige und sorg-
fältige Zusammenstellung der größeren deutschen Silbermünzen des
Historische ZeiUchrift (117. Bd.) .1. Folge 21. Bd. 35
538 Notizen und Nachrichten.
14- und 30-Talerfußes, des entsprechenden 24^- und 52%-fl.- und
des österreichischen 45- Guldenfußes. L. v. E.
In den „Stimmen der Zeit" (den früheren „Stimmen aus Maria
Laach") B. 90. 91 u, 92 hat R, v. Nostitz-Rienecl< eine Anzahl von
Aufsätzen über die italienische und römische Politik Cavours und
seiner Nachfolger bis zur Besetzung Roms veröffentlicht, die eine
heftige Anklage gegen Treu und Glauben dieser Politik darstellen:
„Der italienische Einheitsstaat" (die Etappen bis zur Einverleibung
Neapels); „der Römischen Frage Ende und Anfang" (beide B. 90);
„Wie Neuitalien Verträge schließt und hält: I. Abschluß der Sep-
temberkonvention, II. Bruch der Septemberkonvention" (B. 91);
„das Grünbuch vom Dezember 1870 über die Einnahme Roms" (mit
Ausführungen über den Quellenwert der Buntbücher, B. 92).
In den Grenzboten 1917 n. 1 analysiert und kritisiert JUajor a. D.
Dr. M. V. Sczcepanski die 1865 in jener Zeitschrift auf G. Freytags
Veranlassung erschienenen (hie und da wohl mit Freytagschen Formu-
lierungen durchsetzten) Aufsätze von Albrecht von Stosch über Gnei-
senau: Gneisenau sei für Stosch in allen inneren Fragen der liberale
Parteiheld, aber Stoschs Preußentum habe dabei seinem Liberalismus
allezeit die Wage gehalten.
Die Fortsetzung von Fr. Thimmes „Bismarck und Kar-
dorf f "-Veröffentlichung (s, S. 363) bringt im Januarheft einige wert-
volle Briefe aus den Tagen nach Bismarcks Entlassung und einen
Briefwechsel mit Bismarck über die von Bismarck abgelehnte Reichs-
tagskandidatur an Miquels Stelle in Kaiserslautern 1890; im Februar-
heft Briefe an die Gattin von Januar 1891 bis April 1892: viele poli-
tische Einzelheiten, Urteile über Persönlichkeiten (u, a. Miquel!), poli-
tische Diners, auch mit dem Kaiser; Landgemeindeordnung, Bismarcks
Reichstagskandidatur in Hannover 19, sein eventuelles Auftreten im
Reichstag gegen den österreichischen Handelsvertrag; dieser steht
Ende 1891 im Mittelpunkt der Briefe, dazu die Herrfurthsche Land-
gemeindeordnung und weiterhin der Zedlitzsche Volksschulgesetzent-
wurf, Thimmes einleitende Erläuterungen kritisieren die Politik der
Caprivischen Zeit und Caprivi selbst zum Teil scharf.
Neue Bücher: Carl Bertuchs Tagebuch vom Wiener Kongreß.
Hrsg, von Herm. Frhrn, d. Egloffstein, (Berlin, Gebr, Paetel, 6 M.)
— Morris, Europe in the XIX Century {1815 — i8y8). {Cambridge,
University Press.) — Ludo M. Hartmann, 100 Jahre italienischer
Geschichte, 1815—1915. (München, Georg Müller. 3 M,) — Karl
Marx und Frdr. Engels, Gesammelte Schriften 1852 bis 1862. Hrsg.
von N. Rjasanoff. 2 Bde. (Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf, 16 M,)
— Rankin, Personal recoUections of Abraham Lincoln. {New York &
Neueste Geschichte seit 1871. 539
London, Putnam.) — Schunke, Die preußischen Freihändler und die
Entstehung der nationalliberalen Partei. (Leipzig, Quelle & JVleyer.
3 JVI.) — Äugst, Bismarcks Stellung zum parlamentarischen Wahl-
recht. (Leipzig, Brandstetter. 3,50 M.)
Neueste Geschichte seit 1871.
Lose aneinandergereihte Untersuchungen zur Vorgeschichte des
Weltkrieges unter besonderer Berücksichtigung der englischen und
der serbischen Gefahr finden sich in einer anonymen Schrift: ,, Ein-
kreisung und Durchbruch der Zentralmächte" (Flugschriften für
Österreich-Ungarns Erwachen 15/16, 1916). Im zweiten Hefte perselben
Serie hatte O. Weber das neuere Verhältnis von Österreich und Eng-
land geschichtlich behandelt.
Unter dem Titel „Zur Vorgeschichte des Weltkrieges" schreibt
Eduard JVleyer in den Süddeutschen Monatsheften (1916) eine Anti-
kritik gegen die von V. Valentin am Grafen Reventlow im Augusthefte
der Preußischen Jahrbücher geübte Kritik. Das Januarheft der Süd-
deutschen Monatshefte (1917) ist der äußeren Politik und ihrer Ge-
schichte gewidmet, beginnt mit einer kritischen Würdigung der Bülow-
schen Politik aus der Feder von J. Haller und enthält auch sonst
historisch ertragreiche Aufsätze.
„Unser Wissen vom Dreibunde" legt H. F. Helmolt in der
Zeitschrift für Völkerrecht 10 (1916) dar. Der Verfasser, der sich
jetzt nachträglich mit Recht zu einer Anerkennung des gn-ndlegen-
den Friedjungschen Greifaufsatzes vom Okt. 1913 entschlossen hat,
sucht wahrscheinlich zu machen, daß die noch immer nicht veröffent-
lichten Artikel des Dreibundvertrages u. a. Bestimmungen über das
Verhältnis zu Serbien und zu Frankreich enthalten haben. Darüber
hinaus enthält der lehrreiche Aufsatz zur Auslegung des gesamten
Vertrages beachtenswerte neue Gesichtspunkte.
M. Beer, Sir Edward Greys Konferenzvorschlag und andere
Streitfragen der diplomatischen Polemik (1916) unterzieht den eng-
lischen Konferenzvorschlag nach Vorgeschichte und Wesen und damit
die ganze sog. Vermittlungspolitik Englands und seiner Verbands-
freunde einer durchaus berechtigten scharfen Kritik, die außerordent-
lich klar vorgetragen wird. Außerdem entnimmt Beer dem in Deutsch-
land viel zu wenig bekannten zweiten belgischen Graubuche eine An-
zahl wichtiger neuer Argumente zur Stütze des deutschen Standpunkts.
Es wäre zu wünschen, daß dieser treffliche Erforscher der Kriegsver-
handlungen auch durch andere Spezialuntersuchungen zur Klärung
weiterer, bisher ungelöster geschichtlicher Streitfragen beitrüge.
35"
540 Notizen und Nachrichten,
Über das vor dem Kriege in Deutschland historisch-literarisch
stark vernachlässigte Belgien sind während des Krieges eine statt-
liche Anzahl Arbeiten von verschiedenem Werte erschienen. Eine
gute erste Einführung in ihr Studium vermittelt Franz Fromme,
neue deutsche Schriften über Belgien (Deutsche Rundschau 42, 1915).
Das über Pirennes Geschichte Belgiens ausgesprochene abfällige Urteil
dürfte jedoch zu scharf ausgefallen sein. Eingehendes Studium ver-
dient die seit 1898 erschienene Bibliographie de Belgique.
Arbeiten zur Geschichte des Königreichs Belgien und seiner
internationalen Politik seit 1871 sind auch jetzt nur spärlich vor-
handen. Auch Hampe und Schulte, deren aufschlußreiche Werke eine
besondere Würdigung verdienen, behandeln die neueste Zeit weniger
eingehend. Ebenso sind ihr in dem Büchlein von P. Oßwald, Belgien
(Aus Natur und Geisteswelt 501, 1915) nur wenige Seiten gewidmet.
Endlich liegt auch bei dem von Pirenne stark beeinflußten V. Valentin,
Belgien und die große Politik der Neuzeit (Weltkultur und Weltpolitik
1, 1915) der Schwerpunkt mehr auf der älteren Zeit.
Seit Juli 1916 erscheint der auch durch gute Literaturübersichten
ausgezeichnete Beifried, „eine JVlonatsschrift für Gegenwart und Ge-
schichte der belgischen Lande". Doch werden auch in diesem Organ
sowohl die neueste wie überhaupt die internationale Geschichte Bel-
giens noch nicht in den Vordergrund geschoben. Zur neuesten Ge-
staltung der Scheidefrage äußert sich K. Hampe, „die Scheide, Bel-
giens Schicksalsstrom". JVlehr Beachtung finden in dieser prächtig
ausgestatteten Zeitschrift die verschiedenen Seiten der neuesten inner-
belgischen Entwicklung z. B. in den Artikeln von Pius Dirr, R. A.
Schröder, K. Haenisch, H. Dorn, H. Gehrig, G. Dehn-Schmid
L. Quessel u. a.
Die anschaulichen und lebendig geschriebenen Skizzen, die W.
Hausenstein unter dem Titel „Belgien" 1915 veröffentlicht hat, ver-
folgen zwar mehr Gegenwartszwecke, kommen aber auch der Ver-
tiefung des historischen Verständnisses für die neueste innerbelgische
Geschichte zugute. Ähnliches gilt von W. Andreas (Südd. Monats-
hefte 1915), von W. Michael, Aus Belgiens Vergangenheit (Illu-
strierte Zeitung 1916, Juni 22) sowie von manchem wichtigen Auf-
satze der Tagespresse. Hervorzuheben sind aus der Frankfurter
Zeitung der Artikel von L. H. in Nr. 41 I vom 11. und die Korre-
spondenz in Nr. 481 vom 18. Febr. 1917.
Dankenswert ist G. Mayers parteigeschichtlicher Beitrag (Zeit-
schrift für Politik 9, 1916). Der Verfasser wendet sich mit Recht gegen
die weitverbreitete Vorstellung, als wenn die Sprachenfrage alle an-
deren innerbelgischen Fragen in den letzten Jahrzehnten vor dem
Neueste Geschichte seit 1871. 541
Kriege in den Schatten gestellt habe. In seinen lichtvollen, auf reichem
belgischen Material beruhenden Ausführungen stellt er jedoch selbst
Belege dafür zusammen, daß der Rassen- und Sprachengegensatz
auch auf die Gestaltung des neuesten belgischen Parteiwesens einge-
wirkt hat.
Auf die vielseitige Literatur zur Geschichte der flämischen Be-
wegung kann hier nur im allgemeinen verwiesen werden. Recht geeignet
zur Einführung ist neben den Aufsätzen von P. Oßwald (Preußische
Jahrbücher 1914, Sonderausgabe 1915) und von H. Gmelin (Zeit-
schrift für Politik 8, 1915) und der Schrift von Th. Deneke, Sprach-
verhältnisse und Sprachgrenze in Belgien und Nordfrankreich (1915)
das Buch von F. Jostes, die Vlamen im Kampfe um ihre Sprache
und ihr Volkstum (2. Aufl. 1916, 296 S.), bei dem man nur Beseiti-
gung gewisser formaler JVlängel und sachlicher Einseitigkeiten wün-
schen möchte. Über die Flamen auf französischem Boden handelt
F. Behrend in seinen Altdeutschen Stimmen (1916), über die fran-
zösische Agitation O. Bouglanger (1915).
Zur Geschichte der belgischen Neutralität und ihres Bruches ist
eine der umfassendsten Veröffentlichungen von feindlicher Seite die
von E, Waxweiler (f), la Belgique neutre et loyale, deutsch: Hat
Belgien sein Schicksal verschuldet? (1915). Mit ihrer Kritik beschäf-
tigt sich außer Schulte u. a. H. Graßhoff , Belgiens Schuld (1915).
Brauchbare Zusammenstellungen einschlägigen geschichtlichen Mate-
rials legt M. Norden vor: la Belgique neutre et l'Allemagne (1915),
deutsch: Das neutrale Belgien und Deutschland im Urteile belgischer
Staatsmänner und Juristen (1916). Eine zusammenfassende Edition
der Quellen erscheint darnach nicht nur als ein politisches, sondern
auch als ein geschichtliches Bedürfnis. Geschichtlich wenig ergiebig
ist die völkerrechtliche Darstellung von Spanger-Norton, Eng-
land's guarantee to Belgium and Luxemburg (1915).
Lebhafte Beachtung verdient die neue Auflage zweier kriegs-
politischer Arbeiten des belgischen Majors Girard von 1889 und
1912: Avant la guerre, deutsch: Wie ein Belgier das Verhängnis seines
Vaterlandes voraussah.^) (Vgl. dazu den Aufsatz von F. Rachfahl
im Beifried.) Wie hier ein ausgezeichneter belgischer Militär das aus
der falsch verstandenen und falsch gehandhabten belgischen Neutra-
lität erwachsene und drohende Unheil beurteilt, ist auch geschichtlich
von hohem Interesse. Mit Girard berührt sich O. Dax (Pseudonym
für De Wet), la Situation de la Belgique en privision d'un conflit franco-
1) Eine ausführliche Besprechung des Buches wird in einem unserer
nächsten Hefte folgen. D. Red.
542 Notizen und Nachrichten.
germain 1911, eine Broschüre, die in einer dritten Auflage, die aber nur
Exzerpte und Paraphrasen enthält, 1916 erschienen ist.
Die neueste internationale Wirtschaftsgeschichte Belgiens kommt
in dem Buche von H. Schumacher über „Antwerpen, seine Welt-
stellung und Bedeutung für das deutsche Wirtschaftsleben" (1916)
zu ihrem Rechte. Die geographischen Grundlagen werden von O.
Quelle, Belgien und die französischen Nachbargebiete (1916) deut-
lich aufgezeigt. Dagegen kann J. Langhammer „Belgiens Vergangen-
heit und Zukunft, eine geographisch-geschichtliche Bewertung" auch
durch eine ausschweifende Reklame nicht gerettet werden.
Auch über die provisorische deutsche Verwaltung des besetzten
Belgiens liegt bereits eine umfassende deutsche Literatur vor. Wir
notieren dazu von feindlicher Seite: M. de Ombiaux, la risistance
de la Belgique neutre (1916), und J. Massart, Comment les Beiges
resistent ä la domination allemande, englisch : Belgians ander tfie German
Eagle, 1916. J. Hashagen.
Neue Bücher: Hashagen, Umrisse der Weltpolitik. 1. II.
(1871—1914.) (Leipzig, Teubner. 2,40 M.) — Heinr. Thdr. List,
Deutschland und Mittel- Europa. (Beriin, Reimer. 2,80 M.) — Jan-
covici, Essai sur la crise balkanique {1912 — 1913). (Paris, Larose.) —
Der Krieg 1914/16. Werden und Wesen des Weltkriegs, dargestellt
in- umfassenderen Abhandlungen und kleineren Sonderartikeln. Hrsg.
von Dietr. Schäfer. 1. Tl. (Leipzig, Bibliograph. Institut. 10 M.)
— Alazard, L'Italie et le conflit europien (191 4 — 191 6). (Paris, Alcan.)
— Gustav Eichhorn, Deutsche Kriegspoiitik und England. (Zürich,
Gebr. Leemann & Co. 5 M.) — Morf , Demokratie und Krieg in Frank-
reich. (Zürich, Rascher <S Cie. 3 M.) — Stier-Somlo, Grund- und
Zukunftsfragen deutscher Politik. (Bonn, Marcus & Weber. 6 M.) —
Protheroe, Lord Kitchener. (London, Kelly.)
Deutsche Landschaften.
In der Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 10, 4
liefert A. Scheiwiler einen interessanten Beitrag zur Geschichte der
Gegenreformation in der Schweiz mit seiner Biographie des P. Ludwig
von Sachsen. Dieser aus dem Geschlecht der Freiherren von Einsied 1
abstammende Kapuziner hat eine äußerst erfolgreiche agitatorische
Tätigkeit vor allem in Appenzell und Toggenburg ausgeübt. Anton
Habermacher druckt zwei Rheinauer Schulordnungen ab, die eine
aus dem Jahre 1644 von Abt Bernhard I., die andere von 1714 von
Abt Gerold II.
Deutsche Landschaften. 543
Die Quellen zur Beschreibung des Zürich- und Aargaus in Johannes
Stumpfs Schweizerchronik. Von Dr. phil. Gust. Müller. Hrsg. durch
die Stiftung von Schnyder von Wartensee. (Zürich, Beer <S Cie. 1916.)
— Die sorgfältige, auf umfassender Benützung handschriftlichen Mate-
rials beruhende Arbeit bestätigt durch genaue Einzeluntersuchung den
Allgemeineindruck, den man schon bisher von der Arbeitsweise des
Chronisten Stumpf gewonnen hatte: es handelt sich um keine origi-
nelle wissenschaftliche Persönlichkeit, aber um einen fleißigen und
gewissenhaften Sammler und Verarbeiter, der in engem Kontakt mit
den bedeutenderen Mitstrebenden — Vadian, Tschudi, Bullinger u. a.
— vielfach die Fundamente zu der Kenntnis schweizerischer Geschichte
und schweizerischen Landes legte, die zum Teil erst im 19. Jahrhun-
dert wieder revidiert wurden. Die Arbeit Müllers, die nur einen Ab-
schnitt von Stumpfs 1548 bei Froschauer in Zürich erschienenem
Hauptwerk analysiert, läßt aufs neue den Wunsch nach einer Bio-
graphie Stumpfs lebendig werden, für die reiches Briefmaterial vor-
handen wäre. In ihrer Methode und Technik schließt sie sich der
Untersuchung E. Dürrs über die ,, Quellen des Aeg. Tschudi in der
Darstellung des alten Zürichkrieges" an (Basel 1908). Ein hübsches
Nebenergebnis ist die Auffindung der seither im Abschlußband der
„Basler Chroniken" gedruckten „Chronik der Bischöfe von Basel"
des Niki. Briefer.
Zürich. E. Gagliardi.
Von dem trefflichen Handbuch, das M. Doeberl über die „Ent-
wickelungsgeschichte Bayerns" geschrieben hat, liegt der 1. Band
(vgl. Uhlirz in dieser Zeitschrift 98 (1907), 599—603) nunmehr in der
dritten Auflage vor (München, Oldenbourg. 1916. X u. 637 S. 16 M.),
die mit zahlreichen Änderungen und Erweiterungen einzelner Stellen
gegenüber der stärker vermehrten 2. Auflage noch um 12 Seiten ange-
wachsen ist. Leider fehlt auch dieser Auflage ein Register.
Wie die Geschichte der deutschen Domkapitel in den letzten
beiden Jahrzehnten den Stoff für zahlreiche Dissertationen lieferte,
so hat die Dissertation von Joseph Friedrich Abert über ,,die Wahl-
kapitulationen der Würzburger Bischöfe bis zum Ende des XVII. Jahr-
hunderts" (Würzburg 1905) den Anlaß gegeben für eine Reihe von
Untersuchungen über die Wahlkapitulationen der deutschen Bistümer,
nachdem schon vorher Brunner die Wahlkapitulationen des Bistums
Konstanz kurz zusammengestellt hatte (Mitteil, der Badischen Histor.
Kommission Nr. 20, S. 1—16, Karlsruhe 1898). Auf Würzburg folgten
Bamberg (Weigel 1909, Dissert. Würzburg), Mainz (Stimming, Göttin-
gen 1909), Trier (Kremer in der Westdeutschen Zeitschrift, Ergänzungs-
heft 16, 1911) und nunmehr Eichstätt (Ludwig Bruggeier, Die
544 Notizen und Nachrichten.
Wahlkapitulationen der Bischöfe und Reichsfürsten von
Eichstätt 1259 — 1790. Eine historisch-kanonistische Studie in den
Freiburger Theologischen Studien, Heft 18, Freiburg i. B., Herder.
1915. XVI u. 130 S.). Da es sich bei diesen Kapitulationen in den
behandelten wie in den meisten übrigen deutschen Hochstiften fast
immer wieder um dieselben Ansprüche der Domkapitel handelt, so
sind die Grundzüge der Entwicklung nicht sehr verschieden. Es fragt
sich daher sowohl für den Kanonisten wie ganz besonders für den
Historiker, ob es ratsam ist, in dieser Weise weiterzuarbeiten, da man
sonst wie in den Arbeiten über die Domkapitel immer wieder die-
selben Dispositionen und zum Teil dieselben Worte zu lesen bekommen
würde. Sicherlich wäre eine Untersuchung über Osnabrück wie über
Köln und Münster noch lohnend, da an den dortigen Wahlkapitula-
tionen, wenigstens zeitweise, auch die übrigen Stände des Bistums
beteiligt waren. Für die anderen deutschen Hochstifte aber sollte es,
falls man sich nicht zu einer vollständigen Verfassungsgeschichte des
Bistums entschließen kann, m. E. genügen, 1. zu vergleichen und nur
das Abweichende in der Entwicklung hervorzuheben; 2. eingehender,
als es bisher geschehen ist, die Frage zu behandeln, inwieweit die
Bischöfe sich an diese Kapitulationen gehalten und wie sie sie um-
gangen haben; dazu müßten aber nicht nur die Wahlkapitulationen,
sondern auch die übrigen Quellen zur Geschichte des Bistums heran-
gezogen werden. Jedenfalls dürfte es sich kaum empfehlen, in der
gleichen Weise weiterzuarbeiten, wie es in diesen an sich verdienst-
vollen Untersuchungen geschehen ist. Das wäre Kräfteverschwendung,
und wenigstens die Geschichtswissenschaft hat gerade jetzt allen
Grund, Kräfte zu sparen und sich an die großen Aufgaben zu wenden,
die ihr die allgemeine Geschichte stellt.
Königsberg i. Pr. A Brackmann.
\ Die Württembergische Kommission für Landesgeschichte hat im
Jahre 1916 die Feier ihres fünfundzwanzigjährigen Bestehens begehen
können. Den 25. Jahrgang ihrer Zeitschrift, der Neuen Folge der
Württembergischen Vierteljahrshefte für Landesgeschichte, legt sie,
anstatt ihn wie sonst in einzelnen Heften erscheinen zu lassen, als
Festband vor; er ist König Wilhelm II. gewidmet, der ja gleichzeitig
sein fünfundzwanzigjähriges Regentenjubiläum begeht. Sie will in
diesem Bande Rechenschaft ablegen über den Stand der heutigen
Geschichtsforschung des Landes, und trotz der durch den Krieg be-
dingten Erschwerungen stellt er sich als eine wahrhaft stattliche Gabe
für die wissenschaftliche Welt dar. Er schließt sich der langen Reihe
vortrefflicher Veröffentlichungen würdig an, die wir der Arbeitsfreudig-
keit und dem Unternehmungsgeist der Kommission verdanken. Der
Deutsche Landschaften. 545
uns zur Verfügung stehende Raum erlaubt es nicht, den inhaltlichen
Reichtum des Bandes auszuschöpfen; wir müssen uns auf die Er-
wähnung von einigen der wichtigsten Abhandlungen beschränken.
Von den äußere Geschichtsdenkmäler Württembergs behandelnden
Aufsätzen verdient besondere Hervorhebung der aus der Feder Eugen
Gradmanns über die Krypta im Pfarrhause zu Unterregenbach
(Das Rätsel von Regenbach). Der Quellenkunde sind gewidmet:
Gebhard Mehring: Beiträge zur Geschichte der Kanzlei der Grafen
von Wirtemberg, Johannes Greiner: Das Archivwesen Ulms in
seiner geschichtlichen Entwicklung, und Otto Leuze: Die Wiegendrucke
der Bibliothek der evangelischen Nikolauskirche in Isny. Stoffe aus
der mittelalterlichen Geschichte von mehr als landeskundlicher Be-
deutung bearbeiten: Karl Otto Müller: Das Bürgerrecht in den ober-
schwäbischen Reichsstädten, und Karl Weller: Markgröningen und
die Reichssturmfahne. Mit der für das innere Leben Württembergs
grundlegenden Frage der ständischen Verhältnisse und der Verfassung
beschäftigen sich: Albert Eugen Adam: Herzog Friedrich I. und die
Landschaft, Theodor Knapp: Die schwäbisch-österreichischen Stände,
Eugen Schneider: König Wilhelm l. und die Entstehung der würt-
tembergischen Verfassung. Wirtschaftsgeschichtlich von Interesse ist
die Mitteilung eines Rhein-Neckar-Donau-Verkehrplans aus dem
18. Jahrhundert durch Moriz v. Rauch. Kirchliches Prüfungs- und
Anstellungswesen im Zeitalter der Orthodoxie schildert auf Grund der
Zeugnisbücher des herzoglichen Konsistoriums Karl Müller. Einen
geistesgeschichtlichen Beitrag liefert Hermann Fischer: Die Halli-
schen Jahrbücher und die Schwaben. Der neueren politischen Ge-
schichte Württembergs entnommen sind die Aufsätze von Albrecht
List: Zur Geschichte der revolutionären Bewegung in Schwaben im
Frühjahr 1799, von Adolf Rapp: Württembergische Politiker von 1848.
im Kampf um die deutsche Frage, und schließlich der von Gottlob
Egelhaaf: Die Regierungszeit König Wilhelms II.
Karl Weller legt seine kleine „Württembergische Geschichte",
die namentlich für die Zeit bis zum 19. Jahrhundert eine inhaltvolle
Übersicht bietet und neben der Geschichte der Grafschaft und des
Herzogtums Württemberg auch die der übrigen heute württembergi-
schen Lande berücksichtigt, in zweiter, neu bearbeiteter Auflage vor
(Berlin und Leipzig, Göschen. 1916. 182 S. Geb. 1 M. — Sammlung
Göschen Nr. 462).
Von der Neubearbeitung der Württembergischen Münz- und
Medaillenkunde Chr. Binders durch Julius Ebner sind inzwischen
Heft 1 und 2 des 2. Bandes erschienen (Stuttgart, Kohlhammer. 1912.
15). Sie umfassen die Nebenlinien des regierenden Hauses, sowie die
546 Notizen und Nachrichten.
geistlichen und weltlichen Herren, und das Werk gewinnt hier noch
mehr den Charakter des „Münzkabinetts", wenn z. B. die gesamte
Prägung des Kölner Erzbischofs Gebhard Truchseß von Waldburg
einbezogen wird, weil er ein Württemberger war. Man darf dem Be-
arbeiter, der seine Aufgabe andauernd sehr ernst nimmt, Glück wün-
schen, daß so wenige Württemberger die Mitra getragen haben.
jE. S.
In zwei Heften der Forschungen zur deutschen Landes- und
Volkskunde (Bd. 21, Heft 1 und 2, 1914. Stuttgart, J. Engelhorns
Nachf.), enthaltend ,,Das ländliche Siedlungswesen des Königreichs
Württemberg" und ,,Die städtischen Siedlungen des Königreichs
Württemberg", kommt Robert Gradmann auf Fragen der Sied-
lungsgeschichte in einer auch für den Historiker fruchtbaren Weise zu
sprechen. Die Siedlungsgeographie hat nach ihm die historische Er-
klärung bis jetzt allzusehr vernachlässigt; man redete von ewigen
Gesetzen, die zu allen Zeiten das Siedlungswesen in gleicher Weise
beherrscht haben sollten. Die Entstehung der Siedlungen ist aber
nur aus der Zeit heraus zu verstehen, in der sie tatsächlich entstanden
sind, nicht aus den Bedingungen der Gegenwart; die Siedlungsgeogra-
phie kann sich der Pflicht nicht entziehen, selber auf die geschicht-
lichen Quellen zurückzugreifen. Manche Beobachtungen Gradmanns
dürfen als sichere Forschungsergebnisse aufgenommen werden. Die
mitteleuropäische Landschaft durchzieht ein tiefer, früher gänzlich
übersehener Gegensatz zwischen Waldgebieten und offener Land-
schaft; die ersten Siedler haben die Siedlungsflächen nicht im Zu-
stand dichten Urwalds angetroffen, in die ausgesprochenen Wald-
gebiete haben sie nicht einzudringen vermocht (S. 80 ff.). Erst in
deutscher Zeit begann man die alten, früher unbewohnten Waldgebiete
in Angriff zu nehmen (S. 102). Auch auf die Ortsnamen geht Grad-
mann ein und weist insbesondere mit vollem Recht die Auffassung
Behaghels (Die deutschen Weiler-Orte 1910) u. a. zurück, daß die Orte
mit der Endung -weiler auf Römersiedlung zurückgehen; die Endung
ist vielmehr erst vom 7. Jahrhundert an aus dem westlichen Franken-
reich ins deutsche Sprachgebiet herübergedrungen und zwar nicht
sehr tief hinein, wahrscheinlich in Verbindung mit der vom west-
lichen Teil des Reiches ausgehenden Verbreitung der grundherrschaft-
lichen Siedlungen (S. 115). Die mittelalterlichen Städte sind nicht
Erzeugnisse ungewollter Entwicklung, da aufgekommen, wo der Ver-
kehr die Bedingungen dafür geschaffen hat, wie dies die herrschende
geographische Theorie annimmt, vielmehr sind sie das Werk eines
schöpferischen Einzelwillens, der mit klugem Vorbedacht ihre Lage
ausgewählt hat. Auch die Stadtanlagen Württembergs sind keines-
wegs durch bereits vorhandene Wege des Fernverkehrs vorgezeichnet
Deutsche Landschaften. 547
gewesen; ihre wirtschaftliche Grundlage ist weder im Großhandel
noch im Zwischenhandel, sondern im Nahverkehr, im Kleinhandel
und Handwerk, zu suchen. Es sind durchweg Gründungsstädte, an-
gelegt, wo man auf eine städtische Entwicklung aus guten Gründen
hoffen konnte (S. 158 ff.). Die meist im 14. und 15. Jahrhundert ent-
standenen Zwergstädte, deren große Zahl in Württemberg auffällt,
sind als verfehlte Spekulationen von Grundherren anzusehen, die sich
die königliche Verleihung des Stadtrechts zu verschaffen wußten.
Karl Weller.
Aus der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Nr. 31, 4:
Gustav Boss er t ergänzt die Mitteilungen über den Besitz der Zäh-
ringer in Ostfranken, die er in den Blättern für württembergische Kir-
chengeschichte 1915 gemacht hatte. Karl Stenzel stellt die elsässische,
Hermann Baier die badische Geschichtsliteratur des Jahres 1915 zu-
sammen. Von Hans Lehmann erscheint der erste Teil einer Abhand-
lung über das Zisterzienserkloster Wettingen und seine Beziehungen
zu Salem bis zum Tode des Abtes Peter II. 1633. Karl Obs er druckt
Urkunden zur Geschichte des Frauenhauses in Überlingen ab, die wert-
volle Einblicke in die reichsstädtische Gesetzgebung tifti lassen.
Es ist eine äußerst interessante und hochbedeutsame Frage, die
sich August Meyer zum Gegenstande seines Buches genommen hat:
Der politische Einfluß Deutschlands und Frankreichs auf die Metzer
Bischofswahlen im Mittelalter (Metz, P. Müller. 1916. 132 S.). Die
Bearbeitung dieses Themas hätte angesichts der Stellung des Bistums
zwischen den beiden Staaten einen sehr wichtigen Beitrag zur mittel-
alterlichen Geschichte des europäischen Staatensystems ergeben können.
Aber leider kommt der Verfasser über eine zwar fleißige und zuver-
lässige, aber am rein Formalen haftenbleibende Aneinanderreihung
der äußeren Geschehnisse nicht heraus. In chronologischer Reihenfolge
läßt er sämtliche Metzer Bischofswahlen bis 1551 an uns vorüber-
ziehen und untersucht bei jeder einzelnen ihre politischen Gründe und
Veranlassungen. Die eigentliche Durchdringung und Verarbeitung des
auf diese Weise gewonnenen Stoffes bleibt er schuldig, der Versuch
einer größeren Linienführung ist in den allerersten Anfängen stecken
geblieben. So kann sein Buch nur als bequeme Materialsammlung
für weitere Forschung anerkannt werden.
Der schon erwähnten, durch die Feier der hundertjährigen Zu-
gehörigkeit der Pfalz zu Bayern hervorgerufenen Literatur sei noch
nachgetragen die Schrift von Albert Becker: Die Wiedererstehung
■der Pfalz, Kaiserslautern 1916, die sich besonders mit der Persönlich-
keit und den Leistungen des Präsidenten der bayerischen „Landes-
administration auf dem linken Rheinufer", Freiherrn v. Zwackh, be-
-schäftigt.
548 Notizen und Nachrichten.
Lebenslauf und Persönlichkeit des in der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts verdienstvollen hessischen Kammerpräsidenten und
Oberhofmeisters Carl Magnus Freiherrn v. Frankenberg und Proschlitz
werden von A. V. v. Frankenberg und Ludwigsdorff skizziert in
der Hessischen Chronik 1916, 12.
Gegenüber der Annahme, daß in der Gegend von Remscheid erst
unter dem Einfluß von aus den Niederlanden vertriebenen Protestanten
zur Anlage von Hammerwerken geschritten worden sei, führt Schmer-
tosch V. Riesenthal in der Zeitschrift des Bergischen Geschichts-
vereins 49 den urkundlichen Nachweis, daß dort, speziell im Amte
Beyenburg, schon im 16. Jahrhundert Hammerwerke im Betrieb waren
(Alte Schleifkotten und Klopfhämmer im früheren bergischen Amte
Beyenburg).
Die wirtschaftlichen Leiden Deutschlands während der Fran-
zosenherrschaft bis zu den Freiheitskriegen finden eine gute Illustra-
tion in der Untersuchung Jordans über die erzwungenen Anleihen
des Königreichs Westfalen und die Kriegssteuern von 1813 nebst den
Lieferungen für die westfälischen Truppen 1813 in den Mühlhäuser
Geschichtsblättern 15, Derselbe Verfasser berichtet an derselben
Stelle (auf Grund des Buches von Wappler: Die Täuferbewegung in
Thüringen von 1526' — 1584) über die Wiedertäufer in Mühlhausen.
Emil Kettner gibt eine Geschichte des Mühlhäuser Rathauses und
erzählt von den Beziehungen Goethes zu Mühlhausen.
Dr. Hans Heinrich Hobbing: Die Begründung der Erstgeburts-
nachfolge im ostfriesischen Grafenhause der Cirksena. Heft 19 der
Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands. (Aurich,.
D. Friemann. 1915. 88 S.) — Im alten deutschen Reiche wurden die
anfänglich unteilbaren Lehen mehr und mehr als Familienbesitz an-
gesehen, was eine Teilung unter mehrere, oft unter alle Söhne der
bisherigen Inhaber zur Folge hatte. Damit war ein großer Teil der
werdenden Territorialfürstentümer zur Ohnmacht verurteilt. Sollten
sich aus ihnen lebensfähige Staaten entwickeln, so mußte man zur
Unteilbarkeit der einzelnen Landesgebiete zurückkehren. Die Be-
stimmungen der Goldenen Bulle über die Unteilbarkeit der Kurfürsten-
tümer brechen diesem Gedanken Bahn. Das 15. Jahrhundert zeitigt
vereinzelte Ansätze zu Unteilbarkeits- und Erstgeburtsordnungen.
Bayern hat 1506 die erste eigentliche Primogeniturordnung auf-
zuweisen. Einer der ersten, die diesem Vorgange folgen, ist Edzard I.
der Große von Ostfriesland. Wie sich die beiden von ihm erhaltenen
Verfügungen von angeblich 1512 und 1527 ihrer Entstehungszeit nach
zueinander verhalten, ist auch durch die Hobbingsche Schrift noch
nicht endgültig geklärt. Eine urkundenkritische Prüfung der beidea
Deutsche Landschaften. 549
siegellosen Originale im Staatsarchiv zu Aurich wäre dazu unumgäng-
lich. Daß jedenfalls beide Stücke von Edzard eigenhändig unter-
schrieben sind, würde ein Vergleich mit der einzigen sonst erhal-
tenen Unterschrift dieses Grafen im Hauptstaatsarchiv zu Dresden
(Friesländische Sachen 8182, 1498—1500, fol. 114) bestätigen. Eine
endgültige Feststellung des Erstgeburtsrechtes für Ostfriesland konnte
durch kaiserliche Bestätigung erst im Jahre 1595 erfolgen. Die
Jahrzehnte vorher sind von heftigen Kämpfen zwischen den
Brüdern Edzard II. und Johann erfüllt, in denen sich alle die-
jenigen Schwierigkeiten widerspiegeln, die sich einer solchen im
Sinne einer gesunden Familienpolitik wie einer kräftigen Territorial-
entwicklung gleich wertvollen Ordnung innerhalb der deutschen Für-
stenhäuser entgegensetzten. Das hier für Ostfriesland durchgeführte
Beispiel gewinnt dadurch noch eine besondere Färbung, daß außer
der Reichsgewalt und den deutschen Reichsfürsten auch noch ein
ausländischer Herrscher, der König von Schweden, Edzards 11.
Schwager, sich in den Streit einmischt und daß die Stände, die eigent-
lichen Herren des Landes, eine bedeutsame Rolle spielen. Kleinliche
Sorge um die eigenen Machtbefugnisse hindert sie an nachdrücklichem
Vorgehen zugunsten einer Ordnung, die im wahren Interesse des von
ihnen vertretenen Landes gelegen hätte und die nach den Richtlinien,
die ein weitblickender Landesherr gab, dem so günstig gelegenen
Küstenland an der Nordsee beizeiten das verschafft hätte, was bei-
spielsweise für die braunschweigisch-lüneburgischen Lande erst ein paar
Jahrhunderte später erreicht wurde und dann dort mit der Bildung
eines Kurstaates für den Nordwesten des Reiches seinen Abschluß
fand. Es ist dem Verfasser nicht vergönnt gewesen, an seine Arbeit
die letzte Hand legen zu können. Am 20. Nov. 1914 ist er im Kampfe
fürs Vaterland gefallen. Die einschlägigen Akten des Staatsarchivs zu
Aurich sind von ihm fleißig benutzt. Ihr Inhalt ist in übersichtlicher
Form zur Darstellung gebracht. Einige Ergänzungen hätte noch das
Reichsarchiv in Stockholm zu bieten vermocht. (E. VII Förhandlingar
med Ost-Friesland; Faszikel : Förh. m. O.-F. under Gustaf I och Erik XIV
und besonders: Förh. m. O.-F. under Johann III; übrigens handelt es
sich bei dem von Hobbing S. 64 erwähnten Herzog Karl von Schweden,
der einen Teil der Verhandlungen geführt hat, um den Herzog Karl
von Södermanland.) Aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien
sind nur die „Ostfr. Akten betr. den Reichstag zu Speier 1570" heran-
gezogen. Auch die anderweitigen Akten über die Beteiligung der
Reichsgewalt bei der ostfriesischen Primogeniturangelegenheit hätten
noch Ergänzungen bieten können, ebenso die Akten des Reichshof-
rats. Immerhin gewinnt man auch so von dem Gange der oft recht
umständlichen Verhandlungen ein anschauliches Bild. H. Reimers.
550 Notizen und Nachrichten.
Die Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Alter-
tumskunde 18,2 enthält eine Untersuchung von Johannes Becker
über die Einführung der öffentlichen Konfirmation in Lübeck, sowie
den ersten Teil einer größeren Arbeit von Artur Witt über die Ver-
lehnten in Lübeck; dieser erste Teil behandelt die Gruppen der Ar-
beiterbevölkerung, die sich nach dem Muster der Zünfte allmählich
zu besonderen Brüderschaften unter dem gemeinsamen Namen „Träger"
herausbildeten.
Die Freiburger (i. B.) Dissertation von Martha Genzmer, Das
Fischergewerbe und der Fischhandel in Mecklenburg vom 12. bis
zum 14. Jahrhundert (Merseburg 1915) gibt in klar gegliederter, nüch-
terner Darstellung eine nützliche Übersicht der einschlägigen Ver-
hältnisse, deren Erforschung in anderen Gegenden in den letzten
Jahren tüchtig angepackt worden ist und in dem Archiv für Fischerei-
geschichte einen Mittelpunkt erhalten hat; sie sucht eine, freilich wohl
zu ergänzende und zu vertiefende Verbindung zwischen den Ergeb-
nissen lokaler und allgemeinerer Forschung herzustellen. Nicht be-
nutzt ist die vollständige Ausgabe des ältesten Wismarschen Stadt-
buches von etwa 1250 bis 1272 von F. Techen, Wismar, Hinstorff 1912
(Festschrift für die Jahresversammlung des Hansischen Geschichts-
vereins und des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung, Pfingsten
1912), aus der sich wohl noch einiges hätte entnehmen lassen. Die
Rostocker Nikolai-Kirche wird irrtümlich in die Mittelstadt verlegt;
in einer Art Vorstadt entstanden, wurde sie in der Folge vielmehr in
die Altstadt einbezogen. — Von derselben Verfasserin wird in ähn-
licher Weise in den Jahrbüchern des Vereins für mecklenburgische
Geschichte und Altertumskunde LXXX (1915), S. 191—216 das Flei-
schergewerbe in Mecklenburg vom 12. bis zum 14. Jahrhundert be-
handelt; daß bei weniger enger örtlicher und zeitlicher Begrenzung
mehr Ergebnisse zu gewinnen waren, bemerkt F. Techen in der Zeit-
schrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde
18, S. 222. A H.
Das Heft 53, 1 u. 2, der Altpreußischen Monatschrift bringt den
Schluß des hier schon erwähnten, von L. Stieda veröffentlichten
Tagebuches des Prof. K. Morgenstern über eine Reise von Danzig
nach Dorpat im Jahre 1802 und eine Abhandlung von W. Ziesemer
über ein Königsberger Rechnungsbuch aus den Jahren 1433 — 1435.
Eine königliche Entscheidung über die Aufnahme von Juden in
die Zünfte zu Berlin aus dem Jahre 1803 veröffentlicht Oskar Sud er
in den Mitteilungen des Vereins für die Geschichte BerUns 1917, 1.
Mehrere Beiträge zur Geschichte der Freiheitskriege bringen die
neuesten Schriften des Vereins für Geschichte der Neumark. In
Deutsche Landschaften. 551
Heft 32 veröffentlicht Koppel Tagebuch und Briefe seines Vaters^
der als freiwilliger Jäger an dem Kriege 1813/14 teilgenommen hat;
in der Hauptsache haben sie den holländischen Feldzug zum Gegen-
stand. Mit der inneren Geschichte Preußens von 1811 — 1813 be-
schäftigen sich die Briefe des Thaer-Schülers L. Schoetz, die Arthur
Kern mitteilt (Briefe aus der Zeit der Reform und der Befreiung
1811 — 1813). Bis in alle Einzelheiten hinein schildert in Heft 33
Maximilian Schnitze die kriegerische Betätigung des 1. und 2. Neu-
märkischen Landwehr-Kavallerie-Regiments 1813 — 1815. Außerdem
sei erwähnt die von Oskar Seeliger bearbeitete Geschichte des Kirch-
spiels Schmarse (Heft 32), die Charakteristik Brenkenhoffs, der rechten
Hand Friedrichs des Großen bei der Kolonisation der Neumark, durch
Reh mann (Heft 34) und schließlich die Darstellung desselben Ver-
fassers von dem Kampfe, den die Gräfin Lichtenau, die Maitresse Fried-
rich Wilhelms II., im Jahre 1816 erfolgreich um ihre Stellung als Gräfin
und um die ihr verliehenen Güter Lichtenow und Breitenwerder
führte.
Die für das deutsche Wirtschaftsleben bedeutungsvolle Krisis
des mansfeldischen Kupferhandels im 16. Jahrhundert behandelt
Walter Möllenberg in der Thüringisch-Sächsischen Zeitschrift für
Geschichte und Kunst 6, 1. An derselben Stelle erscheint ein vor allen
Dingen vom kulturhistorischen Standpunkt aus interessanter und
wertvoller Aufsatz von Otto Bölke: Wie vor zweihundert Jahren die
Bibliothek eines Fläminger Erb-Lehn- und Gerichtsschulzen aussah.
Mit einem Vorwort von Eduard Spranger erscheint die nach-
gelassene Arbeit über das Schulwesen der Stadt Borna bis zum Dreißig-
jährigen Kriege von dem vor dem Feinde gefallenen Johannes Rinke-
feil, Dresden 1916. Der Verfasser war mit Geschick und Erfolg be-
müht, seine durch gründliche Einzelforschung gewonnenen Ergebnisse
unter höhere Gesichtspunkte zu stellen und so aus seiner lokalhistori-
schen Arbeit einen wertvollen Beitrag zu der allgemeinen Geschichte
des deutschen Erziehungswesens zu machen.
Eine Überschau über das evangelische religiöse und kirchliche
Leben Dresdens unter besonderer Berücksichtigung der Kriegszeiten
seit der Einführung des Protestantismus im Jahre 1539 bis auf unsere
Tage gibt in anregender Weise Georg Hermann Müller in den Dres-
dener Geschichtsblättern 1916, 2 u, 3.
In schlicht populärer Weise schildert Adolf Warschauer in
seinem knapp gefaßten Büchlein „Geschichte der Provinz. Posen in
polnischer Zeit", das als Beilage zu den Historischen Monatsblättern
für die Provinz Posen (1914, Verlag der Histor. Gesellschaft zu Posen.
171 S. kl. 8") erschienen ist, das Wichtigste aus der Geschichte dieses
552 Notizen und Nachrichten.
Teiles von Polen; zunächst die sagenhafte Vorgeschichte, dann die
des Posener Landes als Mittelpunkt des entstehenden polnischen Reiches
<bis 1138), wobei auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, Staatsverfas-
sung und Gerichtsbarkeit und auf die materielle Kultur näher ein-
gegangen wird. Im weiteren Verlauf wird auf die Zeit der politischen
Selbständigkeit des Landes und der ersten deutschen Kolonisation
<1138 — 1296) eingegangen, die in ihren wichtigsten Erscheinungen
dargelegt wird. Das folgende Kapitel umfaßt das Zeitalter des Kampfes
um die polnische Krone und der Entwicklung des nationalen Gegen-
satzes, dann die Friedenszeit unter Kasimir dem Großen (1296 — 1386).
Die Darstellung der vielfach verwickelten Verhältnisse in diesem
Kapitel ist eine durchaus sachgemäße. Die Schilderung der Regie-
rung Kasimirs gibt Gelegenheit, auf die inneren Verhältnisse einzugehen:
die Gerichtsorganisation, das Städtewesen und die Kolonisation ein-
gehender vorzutragen. Die nächsten Kapitel schildern die Zeit der
mittelalterlichen Jagiellonen und das Zeitalter der Reformation und
Gegenreformation, des Schwedenkriegs, endlich der Auflösung Polens
und des Überganges der Provinz in den preußischen Staat. Auch in
diesen Kapiteln wird neben der politischen Geschichte das Wesent-
liche aus der inneren Geschichte, der Entwicklung von Handel und
Gewerbe, den bäuerlichen Verhältnissen, der kirchlichen Opposition
in der Zeit des Hussitismus und im 16. Jahrhundert behandelt. Recht
ansprechend ist die sog. zweite deutsche Einwanderung in der Zeit
der Gegenreformation dargelegt und ebenso sachgemäß Ursachen und
Verlauf der Teilungen. Ohne auf Einzelnheiten näher einzugehen,
darf gesagt werden, daß bei der gedrängten Kürze der Darstellung
vieles nur angedeutet, manches ganz beiseite gelassen werden mußte.
Wünschenswert wäre eine Karte und eine Stammtafel gewesen.
Graz. J. Loserth.
Sowohl für die Salzburger lokalgeschichtliche Forschung wie
für die allgemeine Geschichtschreibung der zweiten Hälfte des Mittel-
alters von Wert ist die Zusammenstellung der Personal- und Amtsdaten
der Erzbischöfe von Salzburg 798 — 1519, die Wilhelm Fischer als
Greifswalder Dissertation vorlegt (Anklam 1916. XXII u. 103 S.).
Neue Bücher: Rufer, Der Freistaat der 3 Bünde und die Frage
■des Veitlins. Korrespondenzen und Aktenstücke aus den Jahren 1796
und 1797. (Basel, Basler Buch- und Antiquariatshandl. 21 M.) —
Wilms, Die Kaufleute von Freiburg im Breisgau 1120—1520. (Frei-
burg i. B., Herder. 4 M.) — Wolfg. Windelband, Die Verwaltung
der Markgrafschaft Baden z. Z. Karl Friedrichs. (Leipzig, Quelle &
Meyer. 10,20 M.)— Urkunden und Akten des Kgl. württ. Haus-
und Staatsarchivs. 1. Abt. Württemberg. Regesten von 1301 bis
Vermischtes. 553
1500. I. Altwürttemberg. 1. Tl. (Stuttgart, Kohlhammer. 9 M.) —
Mummenhoff, Altnürnberg in Krieg und Kriegsnot. 2. (Nürnberg,
Schräg. 3 M.) — Scholler, Der Reichsstadt Nürnberg Geld- und
Münzwesen in älterer und neuerer Zeit. Hrsg. von Carl Frdr. Gerbert-
Nürnberg. (Nürnberg, Koch. 7,50 M.) — Bechtolsheimer, Die-
terich u. Strecker, Beiträge zur rhein-hess. Geschichte. (Mainz,
Diemer. 4,50 M.) — F. Bot he u. B(ernard) Müller, Geschichte der
Stadt Frankfurt am Main in Wort und Bild. Bd. 2a. (Frankfurt a. M.,
Diesterweg. 8 M.) — Ley, Kölnische Kirchengeschichte von der
Einführung des Christentums bis zur Gegenwart. 2. umgearb. Aufl.
(Essen, Baedeker. 12 M.) — Die Stadt Cöln im ersten Jahrhundert
unter preußischer Herrschaft. 1815 bis 1915. 1. Bd. 2 Tle. u. 2. Bd.
(Cöln, Neubner. 25 M.) — Franz Fischer, Die Wirtschaftsgeschichte
des Prämonstratenserinnen- Klosters ölinghausen. (Münster, Coppen-
rath. 2,60 M.)
Vermischtes.
Dem Jahresberichte über die Herausgabe der Monumenta Ger-
maniae historica, den M. Tan gl in den Sitzungsberichten der Ber-
liner Akademie 1916, 55 veröffentlicht, entnehmen wir das Folgende:
An Brunners Stelle ist Hintze von der Kgl. Akademie der Wissen-
schaften in die Zentraldirektion entsendet worden. In dem Berichts-
jahr 1915 sind erschienen Epistolae selectae. Tom. I. Sancti Bonifatii
et Lullii epistolae ed. M. Tan gl. Vom Neuen Archiv Bd. 40, Heft 2.
Im Druck befinden sich 6 Quartbände und 2 Oktavbände. — Für
den 7. Band der Scriptores rerum Merovingicarum ist Kr u seh mit
der Vorrede für die Vita Germani episcopi Parisiaci von Fortunat
beschäftigt. Levison hat den Druck der Vita des Bischofs Hermann
von Auxerre erledigt. In der Abteilung Scriptores hat Bai st die Be-
arbeitung des Textes der Normannengeschichte des Amatus von Monte
Cassino vollendet. In der Serie der Scriptores rerum Germanicarum
hat Breßlau die von v. Simson druckfertig hinterlassene Neuaus-
gabe des Chronicon Urspergense zum Abschluß gebracht, so daß ihr
Erscheinen unmittelbar bevorsteht. Br et holz wird den Druck des
Cosmas von Prag demnächst beginnen. Er wird auch die durch
Uhlirz' Tod verwaiste Edition der österreichischen Annalen über-
nehmen. In der Bearbeitung der Geschichtschreiber des 14. Jahr-
hunderts hat Leidinger die Ausgabe der Vita Ludowici quarti impe-
ratoris, der Chronik des Mönches von Fürstenfeld und des Chronicon
de ducibus Bawariae im Manuskript abgeschlossen. Breßlau hat die
Bearbeitung der Chronik des Heinrich Taube von Seibach fortgesetzt'
Levison hat die Arbeiten am Liber Pontificalis, v. Schwind den
Historische Zeitschrift (117. Bd.) 3. Folge 21. Bd. 36
554 Notizen und Nachrichten.
Druck der Lex Baiwariorum weiter gefördert. Über die von Kr u seh
und V. Schwerin gegen die Zuverlässigl<eit der Grundlagen der Neu-
ausgabe der Lex Salica erhobenen Einwendungen werden Gutachten
eingeholt, worauf eine Kommission über das Schicksal der Ausgabe
entscheiden wird. Bastgen hat den Druck der Libri Carolini wieder
aufgenommen. Für die Fortführung der Ausgabe der Constitutiones
König Ludwigs des Bayern ist Rieh. Scholz gewonnen. Vom 8. Band
der Constitutiones, des ersten König Karls IV., steht die Ausgabe der
ersten Lieferung des Textes durch Salomon unmittelbar bevor. Die
Vorarbeiten des 9. Bandes hat Demeter weitergeführt. Die Fort-
setzungen der Karolingischen Konzilien vom Jahre 843 ab hat Hans
Brinkmann (an Stelle des gefallenen*Th. Hirschfeld) übernommen.
Für die Bearbeitung der Diplome der Salischen Kaiser in der Serie
Diplomata saec. XI. hat der Abteilungsleiter Breßlau eine Reise
nach Belgien, Nordfrankreich und Holland unternommen; Für die
Serie Diplomata ^aec. XII. hat der Abteilungsleiter v. Ottenthai
seine Arbeiten auf die Urkunden Lothars III. konzentriert. Die in
der Abteilung £p/s/o/ae erfolgte Publikation ist schon erwähnt. Pereis
hat an der Drucklegung des Liber de Vita Christiana des Bonizo und
an der Ausgabe der Briefe und Vorreden des Anastasius bibliothecarius
gearbeitet. In der Abteilung Antiquitates hat Fastlinger den Druck
des 4. Bandes der Necrologia beendet. Für die Auetores Antiquissimi
wird Ehwald die Bearbeitung des Glossars als Abschluß seiner Ald-
helm-Ausgabe zu Ende führen. In der Schriftleitung des Neuen Ar-
chivs (dessen Abhandlungen zur Vorbereitung neuer Ausgaben in dem
Berichte mehrfach erwähnt werden) wird Tangl durch Pereis unter-
stützt.
Wie wir dem Jahresbericht der Kgl. Sächsischen Kommission
für Geschichte entnehmen, haben die wissenschaftlichen Arbeiten der
Kommission auch in dem verflossenen Jahr 1916 nicht in dem Maße
gefördert werden können, wie dies früher in friedlichen Zeiten mög-
lich gewesen war; noch jetzt sind die Mitarbeiter der Kommission
entweder zum Heeresdienst einberufen oder mittelbar in der Kriegszeit
an der raschen Förderung ihrer Arbeiten behindert worden. Dennoch
ist es möglich gewesen, auch unter den erschwerten Verhältnissen
eine Anzahl der Unternehmungen der Kommission in erfreulicher
Weise vorwärts zu bringen. Vor allem liegt Band II der Akten und
Briefe Herzog Georgs, welche Geß herausgibt, nunmehr abgeschlossen
vor, so daß diese Veröffentlichung gegen Ende dieses Jahres aus-
gegeben werden kann. Im Druck gefördert ist der von dem Prinzen
Johann Georg herausgegebene Briefwechsel zwischen dem König
Johann und dem amerikanischen Historiker Ticknor, ferner die von
Bemmann bearbeitete Bibliographie zur Sächsischen Geschichte, sowie
Vermischtes. 555
der von Schmidt bearbeitete Briefwechsel zwischen dem Grafen Brühl
und Heinrich von Heinecken. An Stelle des verstorbenen Professor
Wustmann ist Professor Dr. Schering in Leipzig mit der Fortführung
der Leipziger Musikgeschichte beauftragt worden. Eine neue Ver-
öffentlichung hat die Kommission mit Rücksicht auf die gegenwärtige
Kriegszeit nicht in ihren Arbeitsplan aufgenommen.
Aus dem 6. Bericht des Schweizerischen Wirtschafts-
Archivs in Basel erfahren wir, daß das Archiv eifrig benutzt worden
ist und daß einige auf seinem Material beruhende Arbeiten erschienen
sind, insbesondere über das schweizerische Bank- und Finanzwesen
und über verschiedene Industrien.
Mit Charlotte Lady Blennerhassett, geb. Gräfin von Leyden,
die, fast 74 Jahre alt, am 11. Februar in München, ihrer Vaterstadt,
gestorben ist, ist eine deutsche Schriftstellerin dahingegangen, deren
Name auch in der Welt der Historiker einen guten Klang besaß. Durch
ihre Herkunft wie durch ihre Heirat mit einem irischen Edelmann,
einem Mitgliede des Parlaments von Westminster, ward die durch
Geist und Wissen ausgezeichnete Frau in der vornehmen Welt beider
Länder gleich heimisch. Eduard VII. und der Prinz-Regent Luitpold,
Gladstone und Döllinger und Lord Acton und so viele andere politische
und geistige Größen lebten in ihrer Erinnerung. Aber bedeutsamer
für ihr Wesen war der Verkehr, den sie ihr Leben lang mit allen großen
Geistern der Weltliteratur unterhielt. Mit feinem Verständnis das Wesen
und die Absichten der Dichter und Schriftsteller aufzufassen und
wiederzugeben, war ihre Art. Ihre eigene Schriftstellerei beruht auf
dem Grunde einer ungeheuren Belesenheit und der leichten, edlen
Form des Ausdrucks, So ist sie auch historischen Stoffen nahegetreten
und hat eine Reihe von Werken geschaffen, die vom geschichtslesenden
Publikum freudig begrüßt, von der fachmännischen Historie mit Hoch-
achtung empfangen wurden und ihr zuletzt die ehrende Anerkennung
der Verleihung der Doktorwürde durch die Münchener philosophische
Fakultät eingetragen haben. Unter diesen Werken steht die drei-
bändige Biographie der Frau von Stael an erster Stelle. Wie in diesem
Buche die historische Behandlung politischer Fragen mit derjenigen
der Geistesgeschichte in ihren Äußerungen bei verschiedenen Völkern
verbunden ist, wie über dem Ganzen das Bild einer Frau, in warmen
sympathischen Farben gemalt, erscheint, so erblickt man hier in voller
Entfaltung Jene biographische Kunst, die Lady Blennerhassett noch
in einer Reihe weiterer Schriften ähnlich geübt hat. Nicht in tief ein-
dringender Forschung lag ihre Stärke, sondern in dem echt weiblichen
Mitempfinden von Menschenschicksalen, vor allem dann, wenn es sich
um die Figuren hochstehender Frauen wie Marie Antoinette und Maria
36*
Notizen und Nachrichten.
Stuart handelt, die sie mitfühlend geschildert und, ohne viel beschö-
nigen oder entschuldigen zu wollen, uns in ihrer ganzen Würde und
Tragik lebendig vor Augen gestellt hat. Das künstlerisch abgerundete
Bild einer bedeutenden Persönlichkeit gibt die Biographie Talleyrands.
Wohlbekannt sind atich ihre Bücher über Kardinal Newman und
Chateaubriand. Sie hat sich ferner in zahlreichen Aufsätzen mit be-
deutenden literarischen Erscheinungen der Neuzeit auseinandergesetzt;
bis an das Ende ihres Lebens ist sie von der gleichen warmen Teil-
nahme für alles beseelt geblieben, was bevorzugte Geister gedacht
und geschrieben haben. Dem Leben der Zeit mit empfänglicher und
verstehender Seele folgend, der historischen Wissenschaft eine wohl-
wollende Verwandte und freudige Mitarbeiterin, so wird das Bild
der feinsinnigen und liebenswürdigen Frau bei allen, die sie kannten,
unvergessen sein. IV. Michael.
Einen schönen und inhaltreichen Nachruf auf Bernhard von
Simson hat H. Breßlau im Neuen Archiv der Gesellschaft für ältere
Deutsche Geschichtskunde 40, 3 veröffentlicht.
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Ifed
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H74
Bd. 117
Historische Zeitschrift
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