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Dr. LOUI5 ARONSON
Djr. EMMA ARONS ON
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Httinfrßttg of Mtarottßüt
Lehrbuch
der
forensischen Psychiatrie
Von
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Prof. Dr. A. H. Hübner
Oberarzt der psychiatrischen und Nervenklinik in Bonn
Bonn 1914
A, Marcus & E. Webers Verlag
Dr. jur. Albert Ahn
Druck: Otto Wigand in. b. H., Leipzig.
563877
\
Vorwort.
Die deutsch - österreichische Literatur hat in den letzten
zwanzig Jahren eine ganze Reihe hervorragender Lehrbücher
der gerichtlichen Psychiatrie gebracht, von denen jedes seine
Eigenart besitzt. Das eine sucht an der Hand reichhaltiger und
sorgfältig ausgewählter Kasuistik dem Leser die Schwierigkeiten
des Einzelfalles vor Augen zu führen, das andere räumt den
juristischen Erörterungen mehr Platz ein und will auch der künf¬
tigen Gesetzgebung die Wege weisen helfen, ein drittes und
viertes soll mehr praktischen Zwecken dienen und bringt in aus¬
führlicherer Darstellung vorwiegend das, was häufiger vorkommt.
Fast alle haben Eins gemeinsam. Sie berücksichtigen nur
bestimmte Rechtsgebiete, in erster Linie das Strafrecht, in zweiter
Linie gewisse Teile des bürgerlichen Rechts. Begründet ist diese
Beschränkung wohl durch die Tatsache, daß hauptsächlich straf¬
rechtliche und Entmündigungsgutachten vom Sachverständigen
verlangt werden. Erheblich seltener sind schon solche über Fragen
des Ehe- und Testamentsrechts, sowie der Geschäftsfähigkeit.
Der Kreis der psychiatrischen Sachverständigentätigkeit er¬
fährt aber von Jahr zu Jahr eine Erweiterung. Das Disziplinar-
recht, die Militärstrafgesetzgebung und namentlich die Versiche¬
rungsgesetze haben den Psychiater und die Behörden vor Pro¬
bleme gestellt, zu deren Lösung die Kenntnis der Rechtsprechung
ebenso notwendig ist, wie klinische Erfahrungen. Es gibt nun
nicht viel kurze Darstellungen, welche die wichtigsten Tatsachen
über alle diese Fragen in einem Bande vereinigen. Deshalb glaubte
ich den Versuch einer solchen Zusammenfassung wagen zu dürfen.
Aus diesem Gesichtspunkte heraus sind neben dem Strafrecht
auch einige Kapitel des Bürgerlichen Rechtes, welche in anderen
Lehrbüchern nur gestreift wurden, berücksichtigt, ferner das
Preußische und Deutsche Disziplinarrecht, die Beamten-Pensions-
und Unfallfürsorgegesetzgebung, das Militärstrafrecht, die Ge¬
werbeordnung, die Reichsversicherungsordnung und das Inter-
IV
Vorwort.
nationale Straf- und Privatrecht. Vom österreichischen Recht
habe ich gleichfalls das Wichtigste hinzugefügt.
Bezüglich der Darstellung habe ich mich an die Kommentare
und namentlich an die Rechtsprechung gehalten. Die Letztere
glaube ich in den wichtigsten Kapiteln vollständig berücksichtigt
zu haben. Ich hielt es auch für notwendig, eine Reihe von Ent¬
scheidungen wörtlich zu zitieren, weil ich aus eigener Erfahrung
weiß, daß dem Richter, Verwaltungsbeamten und Anwalt zur Be¬
urteilung mancher Fragen eine möglichst genaue Wiedergabe der¬
selben erwünscht istÖ-
In einzelnen Kapiteln habe ich mich bemüht, scheinbare oder
wirkliche Widersprüche der Rechtsprechung unserer obersten Ge¬
richte aufzuklären. Ich habe mich dabei nicht immer des Eindrucks
erwehren können, daß die Entscheidungen zum Teil nur deshalb
widerspruchsvoll lauteten, weil sie zu kurz referiert waren.
Wenn ich auch über die wichtigsten Bestimmungen des
Beamtenrechtes eine kurze Übersicht hinzugefügt habe, so geschah
es, um dem Verwaltungsbeamten wenigstens einige Anhaltspunkte
für die Beurteilung schwieriger Fälle, und dem ärztlichen Sach¬
verständigen eine Präzisierung der vorkommenden Fragestellungen
zu geben.
Vom Internationalen Straf- und Privatrecht glaubte ich für
die in den Grenzprovinzen tätigen Sachverständigen soviel an¬
führen zu müssen, als notwendig ist, um das für den Einzelfall
geltende Recht zu finden.
Schließlich habe ich die Beziehungen zwischen Unfall und
Geistesstörungen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des
Reichsversicherungsamts kurz gestreift. Ich habe nach den hier
niedergelegten Grundsätzen ein mehrere Hundert Fälle umfassen¬
des Material beurteilt und bin bei anderen Sachverständigen und
bei den Versicherungsbehörden kaum jemals auf Widerspruch ge¬
stoßen.
Auf die zukünftige Gesetzgebung einzugehen, habe ich mir
nicht ganz versagen können. Um das Buch nicht zu umfangreich
werden zu lassen, habe ich aber Vieles, was ich gern ausführlich
Zu den wichtigeren Fragen habe ich, soweit ich das konnte,
mehrere Entscheidungen angegeben. Beim Aufsuchen und bei der Nach¬
prüfung derselben hat mich Herr Dr. jur. Olbertz in dankenswerter
Weise unterstützt. Er war auch so liebenswürdig, den juristischen Teil
des Manuskripts zu kontrollieren.
Vorwort.
V
besprochen hätte, nur kurz gestreift. Anderes mußte ich sogar
vollständig übergehen.
Das Hauptinteresse nimmt gegenwärtig die Frage der geistig
Minderwertigen und ihre strafrechtliche Behandlung in Anspruch.
Die Strafgesetzentwürfe enthalten eine ganze Reihe von Bestim¬
mungen darüber. Es schien mir nun notwendig, bei aller An¬
erkennung des gesetzgeberischen Fortschritts, der in der be¬
sonderen Berücksichtigung dieser Menschenkategorie liegt, doch
scharf zu betonen, daß man von den geplanten gesetzgeberischen
Maßnahmen nicht alles Heil erwarten darf und daß bei ihrer
praktischen Durchführung große Schwierigkeiten finanzieller und
verwaltungstechnischer Natur zu überwinden sein werden. —
Das Material, welches diesem Buche zugrunde liegt, habe ich
zum größeren Teil in der Bonner psychiatrischen Klinik und Pro¬
vinzialheilanstalt mitbeobachten oder selbst begutachten können.
Daneben war ich aber auch in der Lage im Königlichen Polizei¬
präsidium zu Berlin, teils durch Aktenstudium, teils durch persön¬
liche Exploration der Vorgeführten die in der Anstaltspraxis ge¬
wonnenen Erfahrungen zu ergänzen. Dem Herrn Polizeipräsiden
ten Dr. von Jagow und Herrn Oberregierungsrat Hoppe, sowie
meinem verehrten Chef, Herrn Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. West-
phal, bin ich für die bereitwillige Förderung meiner Bestrebungen
und für die Überlassung des Materials zu besonderem Danke ver¬
pflichtet. —
Wo ich Beispiele gebracht habe, war ich bemüht, mich kurz
zu fassen. Nur wenige Male bin ich von diesem Grundsätze ab¬
gewichen und habe einige Gutachten ausführlicher mitgeteilt, um
demjenigen, der sich in die Sachverständigentätigkeit erst hinein¬
arbeiten will, das zu erleichtern. Am Schluß des ausführlich
gehaltenen alphabetischen Registers sind die breiter wieder¬
gegebenen Beobachtungen bezeichnet.
Bonn, im Oktober 1913.
A. H. Hübner.
InhaltsYerzeicImis.
Seite
1. Psychologische Einleitung. 1
2. Allgemeine Symptomatologie.16
Störungen des Gefühlslebens. 16
Störungen des Handelns. 19
Instinkte, Triebe und impulsive Handlungen.25
Störungen des Bewußtseins.35
Störungen des Qedankenablaufes.43
Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen.55
Störungen der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses .... 60
Störungen der Urteilsbildung.65
3. KörperlicheSymptome.69
4. DieObduktionundihreErgebnisse.75
5. Die Bedeutung der erblichen Belastung . . . 78
6. Simulation und Dissimulation.85
7. Krankheitsbedingungen .95
Strafrecht.101
1. Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit.104
2. Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit.151
3. Die Zurechnungsfähigkeit Taubstummer.175
4. Mittäterschaft, Anstiftung, Beihilfe.178
5. Notwehr .181
6. Antragsmündigkeit.181
7. Antragsfrist.182
8. Verbrechen an Geisteskranken.183
9. Unzucht unter Verletzung eines Autoritätsverhältnisses . . . 183
10. Schändung.184
11. Verfall in Lähmung, Siechtum, Geisteskrankheit.193
12. Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers . . 204
13. Das Recht zu chirurgischen Eingriffen an Geisteskranken . . 232
14. Das ärztliche Berufsgeheimnis.240
15. Verleitung zum Meineid.249
16. Fahrlässiger Falscheid.250
StrafprozeBordnung .254
1. Die Zeugnisfähigkeit Geistesgesunder und Kranker.255
2. Der Geisteskranke als Angeschuldigter, Angeklagter und Ver¬
urteilter .268
VIII
Inhaltsverzeichnis.
SeitG
3. Die ärztliche Sachverständigentätigkeit in Strafsachen . . . 278
4. Über ärztliche Gutachten. .... 300
Milltärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichtsordnung.304
Die preuBlsche Dlszlplinargesetzgebung.318
Deutsches Diszipllnarrecht.344
österreichisches Strafgesetz.345
österreichische Strafprozeßordnung.354
Internationales Strafrecht.366
Zivilrecht.369
Bürgerliches Gesetzbuch.369
Die Geschäftsfähigkeit .374
a) Lebensalter und Geschäftsfähigkeit.374
b) Geschäftsfähigkeit und geistige Störungen.380
I. Akute Geistesstörungen.380
II. Chronische Geistesstörungen.392
Annahme von Willenserklärungen.399
Internationales Privatrecht.400
österreichisches Recht.402
Rechtsfähigkeit.402
Handlungsfähigkeit Minderjähriger.402
Handlungsfähigkeit Geistesgestörter .405
DieCntmUndigung .405
Verschwendung als Entmündigungsgrund.407
Geisteskrankheit und Geistesschwäche als Entmündigungsgrund 408
Inkrafttreten und Wirkungen der Entmündigung.423
Das Entmündigungsverfahren.426
Anfechtung der Entmündigung.440
Das Entmündigungsgutachten.449
Wiederaufhebung der Entmündigung.455
Entmündigung wegen Trunksucht.464
Das Verfahren bei der Entmündigung wegen Trunksucht . . . 477
Wiederaufhebung der Entmündigung wegen Trunksucht . . . 475
Wirkung der Entmündigung wegen Trunksucht.477
Vorläufige Vormundschaft .479
Internationales Privatrecht betr. die Entmündigung.482
österreichisches Entmündigungsrecht.484
Anhang.486
Pflegschaft.487
Familienrecht der Geistesgestörten .495
Das Verlöbnis.496
Eingehung der Ehe.498
Nichtigkeit der Ehe 501
Anfechtung der Ehe.504
Ehescheidung.516
Ehescheidung wegen Geisteskrankheit.530
Wirkung der Ehescheidung.542
Itihaltsverzeichnis.
IX
Seitp
Internatioiials F^rivatreclit betr. ühcsclilicCuiiK und hihesclieidiing 542
Östereichisches Hherecht.546
T e s t i e r f ä ti i K k e i t.548
\\ iderraf des Testaments.561
Internationales Privatrecht.561
Österreichisches Recht.562
Begründung des Wo hn Sitzes .56,i
Treu und Glauben iin Geschäftsverkehr . . . 564
Schadenersatz.567
Unerlaubte Handlungen.576
Dienstvertrag .58.1
Internationales Gbligationenrecht.58,3
Österreichisches Recht.584
Die Sach verständigen tätigkeit in Zivilsachen 585
Österreichischer ZivilprozeÜ.593
Latente Geistesstörung bei Prozellbeteiligten.,599
Reichsverslcherungs-Ordnung.600
Spezielle Psychiatrie.604
Die Manie.605
Die Melancholie.617
Zirkuläres Irresein.623
Die Neurasthenie.6,32
Die Hypochondrie.636
Die Hysterie.638
Nervöse und psychische Störungen bei Kntarteten.674
Die Hpilcpsie.698
Der Schwachsinn.7.33
Alkoholpsychosen.752
Der Morphinismus.791
Der Kokainismus .798
Progressive Paralyse.SOI
Gehirnsyphilis .S24
Psychosen bei organischeti Gchirnkranklieitcn.828
Multiple Sklerose.828
Huntingtonsche Chorea.831
Chorea minor (Veitstanz) . . . 8.33
Basedowsche Krankheit.8,33
Gehirngeschwülste.833
Die Gehirnarteriosklerose.8,34
Der Altersschwachsinn.845
Dementia praecox.882
Hebephrenie.883
Katatonie.S87
Dementia paranoides.593
Amentia.910
Infektions- und autotoxische Psychosen.913
Die Paranoia acuta .914
X
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Die Paranoia chronica.922
Der Querulantenwahn .947
Der Tropenkoller.979
(lefängnispsychosen.987
Die sexuellen Perversitäten.997
Unfallnenrosen und Psychosen.1016
Sachregister.1039
Namenregister. 1057
PHychologische Einleitung’).
Der Jurist hört in der Verhandlung und in den forensisch-
ps 3 'chiatrischen Vorlesungen eine Reihe von Fachausdrücken, die
für den Arzt zu den Grundbegriffen seiner Wissenschaft gehören,
während sie dem Rechtskundigen weniger geläufig sind. Und
doch bedarf.auch er ihrer, weil er nur so ein gewisses Ver¬
ständnis für das Gutachten des Sachverständigen und, was noch
wichtiger ist, nur mit Hilfe dieser Grundbegriffe eine wirkliche
Vorstellung von der psychischen Krankheit des Begutachteten
und von ihren sozialen Folgen erhält. Es ist deshalb nötig, den
eigentlichen forensisch-psychiatrischen Erörterungen einige Worte
über die Bedeutung der wichtigsten psychologischen und psychia¬
trischen Termini voranzustellen. —
Geisteskrankheiten sind Erkrankungen des
Gehirns. Daß dieser Satz richtig ist, geht aus einer Reihe
von vergleichend-anatomischen Tatsachen hervor; er wird aber
auch durch die klinische Erfahrung und durch neuere Forschungen
auf dem Gebiete der mikroskopischen Anatomie bestätigt. Wir
können z. B. mit Hilfe des Mikroskopes bereits gewisse Folge-
krankheiten der Syphilis (u. a. die Gehirnerweichung), ferner die
Altersveränderungen und die Gefäßverkalkung des Gehirns, sowie
manche Entwickelungsstörungen (einzelne Idiotieformen) dia
B Ausführliche Darstellungen: Ziehen, Physiologische Psychologie
Jena. G. Fischer. Wundt, Psychologie. 5. Aufl. Leipzig 1903. W. Engel
mann. Ebbinghaus, Abriß der Psychologie. Leipzig 1908. Veit & Co
JodI, Psychologie. Stuttgart 1908. J. Q. Cotta. James, Psychologie
Leipzig 1909. Quelle & Meyer. Isserlin, Psychol. Wien 1913.
’) Flatau-Jacobsohn, Handbuch der path. Anat. d. Nervensystems.
Berlin. S. Karger. Eine kürzere, zusammenfassende Darstellung bei
E. Meyer, Die pathol. Anatomie der Psychosen. Festschrift für J. Ohrt.
Hübner, Forensische Psychiatric. 1
2
Psychologische Einleitung.
gnostizieren. Das Studium des Mechanismus der Sprache
hat ferner gelehrt, daß nur derjenige korrekt sprechen kann, bei
dem bestimmte Stellen des Gehirns (das Brocasche im Stirnhim
und das Wernickesche im Schläfenlappen gelegene Zentrum)
normal funktionieren.
Haben wir durch die Forschungen der letzten fünfzig Jahre
somit ein großes Tatsachenmaterial zugunsten der Richtigkeit
unseres oben aufgestellten Satzes: „Geisteskrankheiten sind Ge¬
hirnkrankheiten“ gewonnen, so sind wir aber auch andererseits
noch sehr weit davon entfernt, bestimmte seelische Elementar¬
funktionen in bestimmte Gehirnpartien zu lokalisieren “). Wir
müssen deshalb, um überhaupt eine Seelenstörung zergliedern zu
können, eine Reihe psychischer Normalfunktionen kennen lernen
und dann sehen, in welcher Weise diese bei den verschiedenen
Geisteskrankheiten verändert sind.
Zum Verständnis einiger forensischer Begriffe ist es dabei
zweckmäßig, in unsere psychologischen Erörterungen
auch den geistigen Entwickelungsgang eines Kindes mit ein¬
zuschließen ’).
I. Voraussetzung für eine dem Durchschnitt entsprechende
geistige Entwickelung ist nicht nur ein gesundes Gehirn, e s
müssen vielme brauch die Sinnesorgane gesund
sein. Wo das nicht der Fall ist (Blinde, Taubstumme), da
müssen entweder die gesunden Sinne für den kranken mit ein-
trcten (Blindenschrift, Taubstummensprache*), oder das mit
diesen Defekten behaftete Individuum kann nicht zum vollwerti¬
gen Menschen ausgebildet werden. Infolgedessen aber muß es
naturgemäß auch vor dem Gesetz eine Ausnahmestellung cin-
nehmen “). Da das Fehlen des Gehörsinnes die geistige Ent-
') Vergl. Liepmann. Aphasie in „Die Deutsche Klinik“. Wien 1901.
Urban & Schwarzenberg.
“) S. Ooldstein, Prinzipielle Bemerkungen zur Lokalisation psychi¬
scher Vorgänge. Mediz. Klinik 1912.
“) Ein feinsinniges Buch über die ersten Lebensjahre hat A.Dyroff
geschrieben. „Über das Seelenleben des Kindes.“ Bonn 1911. Peter
Hanstein. S. auch Qaupp, Psychol. d. Kindes. Leipzig 1907. B. Q.
Teubner. Claparfide, Psychologie de l’Enfant. Genf 1909. Kündig. Bühler,
Psych. d. Kindes in Weygandts Handb. d. Schwachsiniiigenfürsorge.
*) Vergl. die Literatur über Helen Keller.
“) Vergl. strafrechtl. Teil § 58.
PsycholoKische Einleitung.
3
Wickelung besonders hindert, namentlich dann, wenn cs sich mit
der Unfähigkeit zu sprechen verbindet, so ist es verständlich,
wenn unser Strafgesetzbuch für die Beurteilung der Handlungen
Taubstummer besondere Grundsätze aufstellt. —
II. Sehen wir nun aber einmal von diesen Ausnahmefällen
ab, und setzen wir voraus, daß ein Neugeborener, dessen Ent¬
wickelung wir verfolgen wollen, gut funktionierende Sinnes¬
organe besitzt. Wie gestaltet sich dann — in ganz groben Zügen
betrachtet — diese Entwickelung?
Vom Moment der Geburt an wirken auf das Kind fortwäh¬
rend Sinnesreize') ein. Auf seine Netzhaut fällt das
Licht. Sein Trommelfell wird von Schallreizen getroffen; das
Bad reizt die Hautnerven. Jeder dieser Reize wird auf bestimm¬
ten Bahnen zur Hirnrinde geleitet und löst dort — wie wir an¬
nehmen — in bestimmten Ganglienzellen eine Empfindung
aus. „Eine Empfindung ist das Bewußtwerden eines äußeren
Reizes“ (Gramer).
Wird eine bestimmte Ganglienzelle mehrfach erregt, so
hinterlassen diese wiederholten Reize, psychologisch gesprochen,
ein Erinnerungsbild oder eine Vorstellung. Die
Summe aller Erinnerungsbilder bildet unser Wissen.
Die Fähigkeit, Erinnerungsbilder zu sammeln (M erk-
f ä h i g k e i t) ist schon bei normalen Menschen sehr verschieden
entwickelt. Bei angeboren Schwachsinnigen ist sie erheblich ge¬
ringer als bei Gesunden. Daher kommt es, daß solche Kranken
in der Schule gar nicht oder schlechter mitkommen als Normale
und auch im praktischen Leben nur einfache Berufe erlernen,
wenn sie überhaupt diese Stufe geistiger Entwickelung noch er¬
reichen.
Unter Gedächtnis“) verstehen wir die Fähigkeit, die
mit Hilfe der Merkfähigkeit gewonnenen Erinnerungsbilder
auch zu reproduzieren und sie als frühere Erfahrungen wieder
zu erkennen.
*) „Jeder Reiz ist eine VeränderunK in den bestehenden Lebens-
bedingungen.“ (Verworn, Zeitschr. f. allg. Physiologie 1911, Bd. 12.)
“) Über die zellularphysiologische Grundlage des Gedächtnisses.
Verworn, Zeitschr. für allg. Physiologie 1906, Bd. 6.
1
4 Psychologische Einleitung.
Jede Empfindung, jede Vorstellung ist von einom Gc-
f ü h 1 s t o n *) begleitet.
Die Gefühle werden im allgemeinen in Lust- (positive)
und Unlustgefühle (negative) eingeteilt.
Stimmung ist die Färbung unseres jeweiligen Bewußt¬
seinszustandes durch ein Gefühl oder eine Summe von Gefühlen.
Von Affekten spricht man, wenn Gefühle das Denken
und Handeln eines Menschen beeinflussen. Diese sind demnach
für das Verhalten des Individuums von hoher Bedeutung. Das
Kind z. B. läßt sich in seinen Handlungen sehr stark durch
Affekte leiten. Gegenstände, deren Anblick bei ihm von einem
Lustgefühl begleitet ist, nimmt es an sich, ohne Rücksicht darauf,
ob sie ihm gehören oder nicht (kindliche Diebstähle!). Auch
bei Erwachsenen (namentlich Frauen) ist der das Denken be¬
gleitende Affekt oft ausschlaggebend für die Reaktion des Be¬
treffenden (Eifersuchtszenen). —
Die Schulzeit und das spätere Leben bringen dem Menschen
weiter das Verständnis für eine mehr oder minder große Zahl
ethischer Gefühle und abstrakter Begriffe, und
er lernt ferner kompliziertere Gedankengänge verstehen und
selbständig anstcllen (kombinieren, abstrahieren
und urteilen). Der Mensch lernt in dieser Zeit seine
Umgebung kritisch zu betrachten, seine Handlungen werden nicht
allein von positiven und negativen Gefühlstönen beeinflußt, son¬
dern er erwägt das Für und Wider seines Tuns, er unterscheidet
feiner, es entwickelt sich bei ihm die Kritik und das Ur¬
teilsvermögen. Je besser das Letztere ausgebildet ist,
desto zweckmäßiger handelt er.
Wir haben mit den vorstehenden Ausführungen das not¬
wendigste Material zur Definition des vielgebrauchten Begriffes
,.Intelligenz“ ^) gewonnen. Die Intelligenz eines Menschen setzt
sich im wesentlichen zusammen aus dem Erfahrungsmaterial,
welches er sich erworben hat, und der Fähigkeit, dasselbe jeder¬
zeit mit Hilfe eines wohl entwickelten Urteilsvermögens, guter
’) Serog. Problem des Wesens und der Entstehung des Gefühls¬
lebens. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. 1911.
Ist die Intelligenz eines Menschen infolge erworbener Geistes¬
störung erheblich geschädigt, so ist er „dement“ geworden. Das Wort
Demenz ist gleichfalls ein Sammelbegriff. Vergl. Kap. Schwachsinn.
Psychologische Einleitung.
5
Kombinationsfähigkeit usw. zu verwerten. Der Begriff Intelli¬
genz ist demnach ein Sammelbegriff. Er umschließt fast alle
seelischen Funktionen, welche nicht zur Gefühlssphäre gehören.
Wenn wir also eine Intelligenzprüfung vornehmen wollen, so
müssen wir alle in Betracht kommenden Einzelfunktionen prüfen
(Merkfähigkeit, Gedächtnis, Komhinationsgahe, Urteilsfähigkeit
usw.). In welcher Weise dies geschieht, soll weiter unten erörtert
werden. Hier sei nur auf ein einfaches Mittel hingewiesen, das
fast stets brauchbares Material zur Beurteilung der zu unter¬
suchenden Persönlichkeit liefert, nämlich die sorgfältige und
möglichst eingehende Betrachtung des gesamten Eehensganges des
Exploranden (autobiographische Methode*). Der Befähigte nimmt
einen anderen Weg als der Minderbegabte. Die Intelligenz-
schwäche des Letzteren muß im Laufe des Lebens öfters zutage
treten. Das wissen wir aus tausendfacher Erfahrung. Darum
ist das Studium des Lebenslaufes unter Umständen ein hervor¬
ragendes Hilfsmittel zur Beurteilung der Intelligenz eines
Menschen. Notwendig ist allerdings, daß der Sachverständige
die nachprüfbaren Tatsachen auch wirklich nachprüft. —
Eine weitere Voraussetzung für das normale Funktionieren
unserer Psyche ist die Unversehrtheit des Bewußtseins.
Mit diesem Worte bezeichnen wir „die tatsächliche Erfahrung,
daß wir in uns ein Kommen und Gehen wechselnder Zustände
von Vorstellungen, Gefühlen, Impulsen und dgl. wahrnehmen“
(Hoche). ,,Wo wir Bew'ußtsein finden, da grenzt ein in sich ge¬
schlossenes organisches Wesen sich gegen Fremdes ab“ (Jodl).
Das Bewußtsein ist in drei Unterabteilungen geteilt worden,
nämlich das Bewußtsein der Außenwelt (allopsychisches), des
eigenen Körpers (somatopsychisches) und der eigenen Persön¬
lichkeit (autopsychisches)“). Für forensische Zwecke kommen in
erster Linie die letzteren beiden in Betracht. Man faßt sie zweck¬
mäßigerweise unter dem Begriff „S e 1 b s t b e w u ß t s e i n“ zu¬
sammen. Ein intaktes Selbstbew'ußtsein hat ein Mensch, der
weiß, daß er im Rahmen seiner Umgebung eine körperliche und
geistige Einlieit seit Geburt gebildet hat, noch gegenwärtig dar¬
stellt, und auch in Zukunft bleiben w'ird. Anders ausgedrückt,
*) Vergl. zu diesem Punkte die Ausführungen von O. Külpe, Psy¬
chologie und Medizin. Leipzig 1912. W. Engelmann.
“) Vergl. Hoche, Die Freiheit des Willens vom Standpunkte der
Psychopathologie. Wiesbaden 1902. J. F. Bergmann.
6
Psychologische Einleitung.
weiß ein solcher Mensch, daß er ein „Individuum“, d. h. ein
unteilbares, selbständiges Ganze gegenüber der Außenwelt dar¬
stellt und bis zum Tode bleibt. —
Die Ausführungen dieses Buches gehen von der Voraus¬
setzung aus, daß es einen freien Willen’) im Sinne einer
außerhalb der Naturgesetze stehenden seelischen Eigenschaft
nicht gibt.
Jede Handlung, die wir begehen, ist eine Willenshandlung.
Als willkürlich erscheint sie uns, weil ,,uns die Vorstellung
der Handlung vorschweljt“ (Münsterberg, Die Willenshandlung,
Freiburg 1898 ). Im naturwissenschaftlichen Sinne versteht man
unter einer Handlung „eine durch Vorstellungen und deren Ge¬
fühlstöne beeinflußte Reaktion auf äußere Reize“. —
Die R e a k t i o n s w e i s e eines Menschen ist bedingt
durch seine Veranlagung und die Wirkung aller Reize auf
seine Psyche, welche ihn vom Moment seiner Geburt ab getroffen
haben.
In dem Begriff „Veranlagung“ fassen wir alle guten und
schlechten körperlichen und psychischen Eigenschaften zusam¬
men, welche das Individuum von seinen Vorfahren mitbekommen
hat, z. B. ererbte Krankheiten (Syphilis, Tuberkulose, Bluterkrank¬
heit, Neigung zu Stoffwechselanomalien), Degenerationszeichen
(As\'mmetrien der Gesichtsbildung und Fazialisinnervation, steiler
Gaumen, Anomalien der Stellung, Größe und Form der Zähne,
abnorme Pigmentierungen der Haut und Regenbogenhaut, Bil-
dungs- und Stellungsfehler der Ohren, abnorme Haar- und Bart¬
entwickelung, überzählige oder fehlende F'inger und Zehen,
Schwimmhautbildung, W'achstumsanomalien [Wolfsrachen, Bla¬
senspalte, Kryptorchismus — Zurückbleiben der Hoden im Leisten¬
kanal]). In psychischer Beziehung kommt in erster Linie die Art,
auf bestimmte Geschehnisse in bestimmter Weise zu reagieren,
das Temperament usw. in Betracht’).
’) JodI, Psychologie. Stuttgart 1908. J. Q. Cotta.
“) Genaueres über Degenerationszeichen in den Arbeiten von
Naecke, Arch. f. Psychiatrie 1906; Monatsschr. f. Kriminalanthr., Bd. 1,
S. 108 u. 216. Ferner: Knecht, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 40. Baer, Der
Verbrecher. Leipzig 1893. Q. Thienie. Kurella, Naturgesch. d. Verbr.
Stuttgart 1893. F. Enke.
“) S.: W ernicke, Psychiatrie.
*) S. Kap.: Bedeutung der crbl. Belastung.
Psychologische Einleitung. 7
Die Gesamtheit der Eigenschaften, welche der Mensch in¬
folge ererbter Anlage besitzt, insbesondere seine individuelle Art
auf äußere Reize zu reagieren, bezeichnen wir als Charakter.
Wir haben die Willenshandlung soeben als eine durch Vor¬
stellungen und deren Gefühlstöne beeinflußte Reaktion auf äußere
Reize kennen gelernt. Es ist nun notwendig hinzuzufügen, daß
es noch andere Reaktionen auf äußere Reize gibt. Außer der
W'illenshandlung unterscheiden wir noch zwei weitere, nämlich
die Reflexbewegungen und die automatischen Akte.
Die Refle.xbewegung besteht darin, daß ein peripherer Reiz
(etwa ein Nadelstich in die Fußsohle) eine bestimmte Bewegung
auslöst (das Zurückziehen des getroffenen Gliedes). Zum Be¬
wußtsein kommt uns der Vorgang frühestens, wenn er bereits ab¬
gelaufen ist, und auch das geschieht nicht bei allen Reflexen
(z. B. nicht bei der Verengerung der Pupillen auf Lichteinfall).
Wichtig ist, daß der Reiz nach verschiedener Richtung hin vari¬
iert werden kann (er muß nur „adäquat“ bleiben), der motorische
Effekt — die Bewegung — bleibt immer derselbe, er kann durch
Vorstellungen oder andere Reize nicht beeinflußt werden^).
Der automatische Akt (automatische Reaktion)
unterscheidet sich von der Reflexbewegung gerade dadurch. Inter¬
kurrente Reize beeinflussen hier den Ablauf der Bewegung. Zum
Bewußtsein kommt auch dieser Vorgang dem Individuum nicht.
Im Hinblick auf die einleitenden Ausführungen sei übrigens
hier auf die Tierexperimente von Goltz hingewiesen, der fand,
daß Reflexbewegungen beim Frosch auch dann noch zustande
kamen, wenn das Großhirn m i t dem Sehhügel entfernt war; um
automatische Akte hervorrufen zu können, bedurfte es der Intakt¬
heit der Sehhügel. Die Hirnrinde konnte fehlen.
Die sog. Triebe und Instinkte der Tiere sind zum Teil
Reflexe, zum Teil Handlungen (A. Pütter) ’).
HI. Sowohl im Hinblick auf die Psychologie der Zeugen¬
aussage, wie zum Verständnis mancher krimineller Handlungen
muß schließlich auf die psychologischen Unter¬
schiede der Geschlechter®) eingegangen werden.
Vergl. auch Baglioni, Zur Analyse der Reflexfunktion. Wies¬
baden 1907. J. F. Bergmann.
®) Vergleichende Physiologie. Jena 1911. Gustav Fischer.
®) Ellis, Mann und Weib. Leipzig 1894. Q. Wigand.
8
PsycholoKische Einleitung.
Möbius *) hatte nicht ganz unrecht, als er sagte, das Weib
müsse im Strafrecht anders beurteilt werden wie der Mann. Dies
trifft z. B. für eines der häufigsten Vergehen, den Diebstahl, zu.
Bei den Frauen ist er ein exquisites Vergehen der Begehrlichkeit,
die beim weiblichen Geschlecht erheblich stärker ausgebildet ist
als beim Manne.
Bei einer umfangreichen Untersuchung^) fand ich, daß wirtschaft¬
liche Not als Diebstahlsmotiv bei Erauen nur in etwa 25 der Fälle
wahrscheinlich war. In allen übrigen Fällen stand im Vordergründe die
Begehrlichkeit, oder es handelte sich um Anomalien des Geschlechts¬
lebens (s. u.). Diese Auffassung vom weiblichen Diebstahl wurde bei
Betrachtung der gestohlenen Gegenstände bestätigt. (Nur in 10 “/o der
Fälle wurde das gestohlene oder unterschlagene Gut zur Bestreitung des
Lebensunterhaltes oder als Ersatz für defekte eigene Kleidung verwandt.)
Weitere Unterschiede in der Kriminalität der Geschlechter^)
ergeben sich aus der vom Verf. berechneten Tabelle I, die sich
auf die Jahrgänge 1904—08 der Reichskriminalstatistik er¬
streckt. —
Das deutlichst erkennbare ps3'chologische Unterscheidungs¬
merkmal zwischen Mann und Weib ist wohl die größere Leb¬
haftigkeit des Gefühlslebens der Frau. Dieselbe beeinträchtigt
sehr oft die Objektivität der Wahrnehmung und des Urteils.
Einer erregten Frau ist mit Vernunftgründen schwerer beizu¬
kommen als einem Manne. In einen Vorgang, den sie beobachtet
hat, deutet sie auch nicht selten allerlei hinein, wenn ihr Gefühls¬
leben durch denselben erregt wird. Geschieht letzteres nicht, und
*) Möbius, Physiol. Schwachsinn d. Weibes. Halle 1903. C. Mar-
hold. H. Groß, Kriminalpsychologie. Leipzig 1905. F. C. W. Vogel.
Die Beobachtungen, auf Grund deren die obigen Zahlen berechnet
wurde, stammen aus den letzten zehn Jahren. Allg. Zeitschr. f. Psych.
1912.
“) S. auch Jassny, Arch. f. Kriminalanthrop., Bd. 42 und Hoegel ibid.,
Bd. 5 S. 231.
■*) Näheres s. Ellis, Mann und Weib. Bärwald, Zeitschr. f. Psycho-
therap. 1911, Bd. 13 S. 185. Möbius, über den physiologischen Schwach¬
sinn des Weibes. Halle 1903. C. Marhold. Heymans, Die Psycho¬
logie der Frauen. Heidelberg. C. Winter. Weiter kommen die Ar¬
beiten von Möbius. Geschlecht und Entartung. Geschlecht und Krank¬
heit in Betracht. Bei Ellis sind die körperlichen Unterschiede genau
beschrieben. Die psychologische Literatur ist zusammengestellt bei
W. Stern, Psychol. der indiv. Differenzen 1911, 2. Aufl. Ferner Schur,
Psychol. der Geschlechter. Neue Generation, Bd. VI.
Psychologische Einleitung.
9
Tabelle I.
Auf lOüoo Einwohner desselben Geschlechtes berechnet:
Delikte
190
M.
4
F.
190
M.
5
F.
190
M.
6
F.
190
M.
7
F.
19(
M.
)8
F.
Widerstand . . .
91,7
5,05
90,06
4,64
93,5
5,1
86,06
4,89
84,5
4,81
Hausfriedens-
bnich.
111,83
10,85
110,73
10,43
114,14
10,7
110,4
9,86
102,3
9,88
V'erletzung der
Eidespflicht .
4,4
1,5
3,93
1,2C
3,9
1,1
3,94
1,24
3,3
1,24
FaischeAnschui-
digung ....
Doppelehe . . .
1,93
0,57
1,79
0,64
1,6
0,65
1,54
0,57
1,03
0,56
0,26
0,03
0,27
0,01
0,21
0,03
0,27
0,002
0,21
0,02
Blutschande . .
1,5
0,87
1,5
0,86
1,09
0,8
1,48
0,69
1,42
0,71
Unzucht, Not-
Zucht .
26,8
0,15
26,23
0,16
26,33
0,18
24,88
0,17
23,26
0,10
Kuppelei, Zu-
9,09
7,32
hälterei ....
8,57
9,9
8,02
9,48
8,11
0,7
7,55
9,27
Erregungöffentl.
11,78
Ärgernisses. .
12,1
1,26
11,55
1,45
11,6
1,3
11,58
1,11
1,38
Beleidigung . .
223,8
74,8
215,45
1,42
61,5
219,6
73,3
214,36
72,51
195,4
71,63
Mord, Totschlag
1,2
0,16
0,19
1,12
0,14
1,11
0,16
1,16
0,13
Tötung auf Ver-
0,01
langen ....
0,001
—
0,01
—
0,02
—
0,ooi
—
—
Körperverletzg.:
108,85
leichte ....
120,73
12,03
122,65
12,28
125,94
12,4
118,55
11,74
11,35
gefährliche . .
457,6
32,9
445,86
32,21
444,14
32,8
418,61
31,09
404,7
39,21
schwere. . . .
2,8
0,04
2,60
0,08
2,4
0,09
2,37
0,05
2,35
0,05
Diebstahl:
einfacher . . .
einfacher im
267,11
90,72
266,75
88,42
278,86
87,8
279,79
84,92
281,71
92,03
Rückfalle .
50,6
10,15
50,66
11,93
51,35
11,4
52,23
10,86
53,4
11,33
schwerer . . .
45,5
4,64
47,03
4,51
52,75
2,63
52,98
4,37
58,8
4,61
schwerer im
Rückfalle .
14,3
0,96
13,83
0,83
14,25
0,91
14,20
0,74
16,37
0,82
Unterschlagung
92,9
18,2
95,63
18,29
101,5
18,4
103,46
18,29
103,92
20,25
Raub.
2,8
0,05
2,66
0,06
2,7
0,07
2,72
0,06
0,37
3,07
0,10
Erpressung . . .
2,9
0,49
3,14
0,44
2,96
0,4
2,41
2,65
0,42
Begünstigung .
2,75
1,13
2,72
1,17
2,8
1,05
3,12
1,09
3,12
1,07
Hehlerei:
einfache . . .
24,3
11,09
24,82
10,33
26,7
10,4
26,73
9,87
27,37
10,87
gewerbsmäßig.
0,52
0,23
0,64
0,14
0,72
0,2
0,84
0,26
0,60
1,19
im Rückfalle.
0,13
0,04
0,13
0,03
0,16
0,04
0,18
0,04
0,21
0,04
Betrug.
90,33
17,9
89,02
17,19
71,1
16,2
83,21
16,25
82,84
16,14
Betrug im Rück-
falle.
16,7
2,4
16,71
2,55
17,5
2,4
17,73
2,14
17,58
2,19
Urkundenfäl-
schung ....
25,6
4,9
24,03
3,95
26,5
4,8
26,18
4,85
25,46
4,78
Sachbeschädi-
gung.
92,08
5,04
93,71
4,60
94,7
4,6
90,39
4,58
84,83
2,45
Brandstiftung. .
5,8
1,007
5,43
1,13
3,3
1,1
5,31
1,15
4,60
0,99
Kindesmord . .
—
0,64
—
0,62
—
0,65
—
0,58
—
0,52
Verbrechen und
Vergehen. . .
12177,2
377
bl65,10
469,23
12209,3
373,6
[ 2149,95
361,88
[ 2077,20
373,44
IO Psychologische Einleitung.
ist die Aufmerksamkeit auf den Vorgang gut eingestellt, so kann
das Weib andererseits sehr zuverlässige Beobachtungen machen.
Das lebhaftere Affektleben der Durchschnittsfrau zeigt sich
ferner in vielen sozialen Erscheinungen. Das junge Mädchen
wechselt die „politische Überzeugung“ häufig mit dem Geliebten.
Bei Massendelikten gehören die Frauen aus dem Volke nicht oft
zu denjenigen, die zur Ruhe und Ordnung malmen. Sie fachen
im Gegenteil die Leidenschaften bei sich und ihren Männern noch
mehr an und exponieren häufig sich selbst und sogar ihre Kinder.
Der Gedanke, daß eine große Menschenmenge Gefahr läuft,
körperlichen Schaden zu erleiden, oder schweren Strafen zu ver¬
fallen, kommt bei wenigen auf. Auch mit aufreizenden Reden
sind sie leichter bei der Hand als der Mann. Das Gefühl der
Überlegenheit, welches einer großen Menschenansammlung innc-
wohnt, beherrscht sie ganz besonders. Während beim Manne die
Ausschreitungen bei Ansammlung großer Menschenmassen in er¬
regten Zeiten großenteils erst durch Alkoholgenuß ausgelöst
werden, bedarf das Weib dieses Bindemittels nicht ’).
Mit der starken Affekterregbarkeit in engem Zusammenhang
steht ferner das verhältnismäßig häufige Vorkommen von Be¬
leidigungen. Auch manche falsche Anschuldigung ist darauf
zurückzuführen.
Lombroso und Ferrero betonen weiter die Grausamkeit
des Weibes. In der Tat tritt diese Eigenschaft bei Mörderinnen
mitunter sehr deutlich zutage. Ebenso wird die grenzenlose
Rachsucht mancher Frauen erwähnt. Bei uns in Deutschland
handelt es sich nach meinen Erfahrungen in extremen Fällen fast
immer um Degenerierte und Hysterische. Die romanischen und
slawischen Frauen sind in dieser Beziehung anders zu beurteilen.
Die Entwickelung der Verstandestätigkeit der Frau unter¬
scheidet sich gleichfalls wesentlich von der des Mannes. Das
Gedächtnis ist — sofern es sich um Schulwissen und Studium
handelt — besser wie das des Mannes. Dagegen überragt der
Mann die Frau im abstrakten Denken, in der praktischen An¬
wendung des Gelernten, in der Gewinnung großer Gesichtspunkte.
Daß das weibliche Urteil durch Gefühlsmomente häufiger be-
*) S. auch Shigele, Psychologie des Auflaufes. Dresden 1897.
C. Reißner.
“) Das Weib als Verbrecherin. Hamburg 1894. Verlagsanstalt-A.-Q.
Psychologische Einleitung.
11
einflußt wird, als das des Mannes, ist oben schon gesagt. Die
Stärke des Weibes liegt im Leben, wie in der Kunst im
Reproduzieren.
IV. ln jedes Menschen Leben lassen sich auch bezüglich der
psychischen Funktionen gewisse Schwankungen *) nachweisen, die
man mit Recht zu einigen sozialen Erscheinungen [Selbstmord -),
Geburtenziffer, Sittlichkeitsverbrechen “)] in Beziehung gesetzt
hat. Für die Geschlechtssphäre konnte ich sic bei einer Anzahl
Männer im Alter von 25—35 Jahren nachweisen.
Außer dieser Jahreskurve, die auch das Weib mitmacht,
kommen bei ihm aber nun noch weitere Faktoren hinzu, die als
physiologisch bezeichnet werden müssen und trotzdem von ein¬
schneidendster Bedeutung für das körperliche und geistige Be¬
finden der Frau sind — nämlich die Alenstruation, die Schwanger¬
schaft und das Klimakterium.
Es gibt nur wenige Frauen, bei denen diese Erscheinungen
ohne subjektiv oder objektiv deutlich hervortretende —• selbst¬
redend noch in der Breite des Normalen liegende — psychische
Schwankungen ablaufen. Bei der rheinischen Bevölkerung kann
ich auf Grund des bisher gesammelten Materials, welches an
anderer Stelle genauer veröffentlicht werden wird, angeben, daß
noch nicht lo'/o aller menstruierenden oder graviden Frauen
psychisch durch ihren Zustand unbeeinflußt bleiben. Ich bin
sicher, daß sich diese Zahlen noch verringern würden, wenn man
experimentell-psychologisch an die Frage herantreten würde.
Die Menstruation*) geht bei vielen Frauen mit aus¬
gesprochenem Krankheitsgefühl “) einher. Oft setzt das letztere
schon einige Tage vorher ein. Der Gesichtsausdruck ist traurig.
’) Finzi, Die normalen Schwankungen der Seelentätigkeiten. Wies¬
baden 1900. J. F. Bergmann. Mugdan, Periodizität. HaJIe 1911. Martiold.
*) Vergl. Aschaffenburg, Das Verbrechen u. seine Bekämpfung.
2. Aufl. Heidelberg 1906. Winter. Qaupp, Selbstmord. 2. Aufl. Mün¬
chen 1911. O. Qmelin.
*) Q. Voß, Soziale Lage, Nerven- u. Geisteskrankheit, Selbstmord
u. Verbreclien. München 1912. J. F. Lehmann.
*) Sellheim, Physiologie der weiblichen Genitalien in Nagels Hand¬
buch. Braunschweig 1905. Vieweg. Jaw'orski, Wien. Klin. Wochenschr.
1910, S. 1641.
*) Von 36 geistesgesunden Mädchen und Frauen waren bei der
Menstruation; 2 ohne Beschwerden, 14 reizbarer als sonst, 7 deprimiert,
12 Psychologische Einleitung.
Erblassen und Erröten des Gesichtes folgen in raschem Wechsel.
Die Stimmung wird scheu, deprimiert, mitunter gereizt, es kommt
zu Reibereien mit der Umgebung (Dienstboten!). Die Begelir-
lichkeit nach allen möglichen Dingen ist oft gesteigert und auch
auf geschlechtlichem Gebiete wird bisweilen eine erhöhte Libido
beobachtet. Individuelle Verschiedenheiten bestehen insofern, als
bei der einen Frau diese Symptome nur w'ährend der Periode, bei
anderen auch vor oder nach derselben bestehen.
Die Folgen dieser Veränderungen, die sich bei Degenerierten
und Hysterischen häufig ganz besonders stark geltend machen,
sind mitunter sehr schwerwiegende. Die gesteigerte Reizbarkeit
führt zu Beleidigungen und Körperverletzungen, die erhöhte Be¬
gehrlichkeit verleitet gelegentlich sogar wohlsituierte Frauen zu
Ladendiebstählen (vergl. Zola, Au paradis des dames). Sie
nehmen dabei auch Sachen an sich, für die sie keinerlei Verwen¬
dung haben ^).
In einer Reihe von Fällen werden sich die Frauen dieser
ps3chischen Schwankungen nicht bewußt.
Bei pathologischen Individuen können die mit dem Men-
slruationsvorgang v^erbundenen psvchischen Veränderungen so
ausgesprochen sein, daß man von Menstrualpsychosen^) gesprochen
hat. Auf diese Fälle und ihre forensische Bedeutung soll später
näher cingegangen werden. —
Während der Schwangerschaft®) erfährt der mütter- ^
liehe Organismus Veränderungen, die einmal bedingt sind durch
die Frucht mit ihren Anhängen (plazentare Autointoxikation),
zum anderen aber wirken auch allerlei psychische Momente mit,
die im Verein mit den Stoffw'echseländerungen einen nachhaltigen
Einfluß auf das körperliche und seelische Befinden des Weibes
5 zerfahren und unaufmerksam bei gewohnter Arbeit, 4 klagten allein
oder neben anderen Beschwerden auch über Müdigkeitsgefühl, bei
4 standen Schmerzen im Vordergründe. Alle waren längere Zeit be¬
obachtet worden.
’) Durch persönliche Exploration einer bisher allerdings nur kleinen
Anzahl von Diebinnen, bin ich zu der Vermutung gekommen, daß die
Beziehungen zwischen Gelegenheitsdiebstahl und Menstruation viel
engere sind, als wir gegenwärtig glauben.
') Wollenberg, Monatsschr. f. Kriminalpsych. 1904, S. 36. Wolter,
In.-Diss. Kiel 1911. Elpermann, In.-Diss. Kiel 1910.
®) Koßmann in Senator und Kaminers Handbuch: Krankheiten und
Ehe. München 1904. J. F. Lehmann.
Psychologische Einleitung.
13
ausüben. Die Arbeitskraft ist herabgesetzt. Es besteht zeit¬
weiliges Herzklopfen, Übelkeit, Erbrechen, das sich über Wochen
erstrecken kann; der Schlaf ist gestört. Auf psychischem Gebiete
ist ein starker Stimmungswechsel hervortretend, oft verbunden
mit ungewöhnlicher Reizbarkeit, die gleichfalls zu Konflikten mit
der Umgebung führen kann. Bekannt sind ferner die eigentüm¬
lichen Speisegelüste der Schwangeren. In seltenen Fällen sah ich
Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen auftreten. Alles in
allem sind es ähnliche Erscheinungen, wie wir sie bei der Men¬
struation kennen gelernt haben, nur halten sie hier länger an.
Auch Psychosen werden beobachtet^).
Was die sozialen Folgen anlangt, so kommen Selbstmorde
vor“). Ferner sind die Diebstähle der Schwangeren bekannt“). Ich
habe einige Frauen gesehen, die sich ihre sämtlichen Strafen wegen
Diebstahls in der Schwangerschaft zugezogen haben. Auch Be¬
leidigungen und Körperverletzungen (Mißhandlungen der eigenen
Kinder!) sind nicht selten. —
Am wenigsten wichtig ist vom forensischen Standpunkte aus
das Klimakterium. Es ist gekennzeichnet durch Neigung
zu traurigen Verstimmungen, Abnahme der körperlichen und
geistigen Leistungsfähigkeit, Reizbarkeit, Gedächtnisschwäche,
gelegentlich auch durch unbegründetes Mißtrauen. Auf körper¬
lichem Gebiete kommen Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, bis¬
weilen Neigung zu Ohnmächten, Herzklopfen, Rauschen in den
Ohren und ähnliches hinzu.
Hervorzuheben ist, daß im Klimakterium nicht selten Geistes¬
krankheiten (insbesondere die Melancholie) zum Ausbruch
kommen.
Da die Frau um diese Zeit ihres Lebens bereits weniger Ge¬
legenheit hat, anderer Leute Interessen zu verletzen, ist ihre
Kriminalität erheblich geringer als in den jüngeren Jahren.
V. Außer den bisher besprochenen, zum Teil periodisch
auftretenden Schwankungen des Seelenlebens, haben wir
jetzt noch zweier Lebensphasen zu gedenken, die Grenzsteine auf
dem langen Wege der Entwickelung des Menschen darstellen, bei
') E. Meyer, Klinisch-therap. Wochenschr. 1910, Nr. 1.
“) Heller, Münch, ined. Wschr. 1911; Pfeifer, Selbstmord. Jena 1912.
“) M. Fischer, Allg. Zeitschrift für Psych., Bd. 61.
14 Psychologische Einleitung.
beiden Gcsclilechtern eintreten und körperliche und geistige Ände¬
rungen zur Folge haben. Ich meine die Pubertät und das
Greisenalter.
Die Pubertät^) ist die Zeit, in der das Kind sich zum
geschlechtsreifen Menschen entwickelt. In unseren Breiten ge¬
schieht das etwa zwischen dem lo. und 20. Lebensjahre. Auf
körperlichem Gebiete kommt es zur Ausbildung der Brüste,
des Beckens und Fettpolsters beim Mädchen; der Muskulatur, der
Stimme und des Bartes beim Jüngling. Die Menstruation tritt
ein und der Geschlechtstrieb erwacht “).
Auf psychischem Gebiete ist wichtig die starke Ab-
lenkbarkcit, der Mangel an Beharrlichkeit bei geistiger Arbeit,
rasches Ermüden bei leichter Tätigkeit und die Änderung der
Merkfähigkeit und des Gedächtnisses. Beide sind weniger gut als
früher. Durch alle diese Erscheinungen bekommen die geistigen
I.eistungen etwas Unausgeglichenes, Schwankendes.
Noch deutlicher werden nun diese Schwankungen auf dem
Gebiete des Gefühlslebens. Lebhafte Zuneigung und unmotivierte
Abneigung gegen Menschen und Dinge treten stärker hervor als
zu anderen Zeiten. Eine übergroße Empfindlichkeit führt zu un¬
gewöhnlichen Reaktionen auf geringfügige Veranlassungen. Ge¬
fühle beeinflussen das Handeln stärker als beim Erwachsenen, in¬
folgedessen sind auch Übergriffe in die Interessensphären anderer
nichts Seltenes.
Ein weiteres bedeutsames Moment stellt die Pubertät noch
insofern dar, als sie auch geistige Abweichungen stärker in Er¬
scheinung treten läßt oder direkt auslöst. Wie weiter unten näher
auszuführen sein wird, verläuft die Pubertät der Schwachsinnigen,
Degenerierten, Hysterischen usw. stürmi.scher, als die der nor¬
malen Kinder. Ferner stehen manche geistige Störungen, wie das
manisch-depressive Irresein und die Dementia praecox (Jugend¬
irresein) in einem Teil der Fälle zu den EntwickelungsVorgängen
allem Anschein nach in enger Beziehung.
Auf sozialem Gebiete sind die oben kurz beschriebenen
Schwankungen des Seelenlebens gleichfalls deutlich zu erkennen.
Sie spielen in der Kriminalität der Jugendlichen im allgemeinen
’) Hans Ciudden, Pubertät und Schule. München 1911. O. Omelin.
Gramer, Pubertät und Schule. Leipzig 1910. B. Q. Teubner.
“) Kohl, Pubertät u. Sexualität. Würzburg 1911.
Psychologische Einleitung. 15
eine große Rolle'), darüber hinaus aber findet in der Pubertät auch
l)creits eine gewisse Auslese der unsozialen Elemente statt. Es
ist gewiß kein Zufall, daß von den rückfälligen Kriminellen der
größte Teil bereits in der Zeit der Entwickelung zum ersten Male
mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Zum Beweise seien die folgen¬
den Zahlen hinzugefügt ’):
Tabelle II.
Ich habe an der Hand von 300 Strafverzeichnissen den Beginn
der Kriminalität von je 150 Qelegenheit.s- und Qewohnheitsver-
brecherinnen festzustellen gesucht. Um statistisch einen Anhaltspunkt
für die Unterscheidung dieser beiden Gruppen zu erhalten, habe ich in
Anlehnung an den Vorentwurf zum St.Q.B. als Qewohnheitsverbreche-
rinnen solche Frauen bezeichnet, die mindestens 5 Strafen sich zuge¬
zogen hatten.
Der Beginn der Kriminalität beider Gruppen ist aus der nach¬
stehenden Tabelle ersichtlich:
im Alter von 12—14
15—18
19—22
23—26
27—30
31—34
35—40
41—45
46—50
51—55
56-60
Gelegenheitsverbr.
3
35
35
16
1.8
11
16
10
9
2
Gewohnheitsverbr.
18
49
37
21
11
9
2
2
1
Man sieht aus dieser Tabelle, daß etwa zwei Drittel aller
Gewohnheitsverbrecherinnen und die Hälfte der Gelegenhcits-
verbrecherinncn die erste Strafe in der Pubertät erleiden. —
Das Greisenalter des normalen Menschen, während¬
dessen es zu einer gewissen Rückbildung körperlicher und geistiger
Funktionen kommt, ist kriminalpsychologisch weniger wichtig.
Bedeutungsvoll ist dagegen der Umstand, daß geistige Störungen
in dieser Zeit einsetzen können, die zum Verbrechen führen“).
') Vergl. die Ausführungen zum § 56 Str.G.B.
“) Hübner, Kriminalpsychologisches über das weibliche Geschlecht.
Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 69.
“) Vergl. Bresler, Greisenalter und Kriminalität. Halle a. S. C. Mar-
hold. Aschaffenburg, Münchn. med. Wochenschr. 1908. Genaueres s.
unter Dementia senilis.
i6
Allgemeine Symptomatologie.
Allgemeine Symptomatologie*).
Wir haben schon beim Studium einiger Normalfunktionen
gelernt, daß in unserer Psyche zwei Komponenten untrennbar mit¬
einander verbunden sind, nämlich die Verstandestätigkeit und das
Gemüts- oder Gefühlsleben. Beide können nun erkranken. Die
hauptsächlichsten Symptome, welche wir dabei unterscheiden,
sollen im folgenden kurz skizziert werden. Wenn wir hierzu das
Gemütsleben und die Verstandestätigkeit gesondert betrachten, so
geschieht das lediglich zur Erleichterung des Verständnisses. Daß
sie im Eeben untrennbar miteinander verbunden sind, sei noch¬
mals ausdrücklich betont.
Störungen des Gefühlslebens.
Beim normalen Menschen lösen angenehme Eindrücke und
Geschehnisse heitere, freudige Gefühlstöne aus, unangenehme Er¬
eignisse lassen negative, traurige Gefühle entstehen. Mit anderen
Worten; Beim geistig gesunden Menschen hat
jede Vorstellung auch ihren entsprechenden
G e f ü h 1 s t o n.
Die Summe aller in einer bestimmten Zeit in uns entstehen¬
den Gefühlstöne spiegelt sich in unserer Stimmung wieder. Sind
überwiegend heitere Gefühlstöne in uns entstanden, dann sind
wir fröhlicher Stimmung, umgekehrten Falles sind wir traurig.
Es gibt nun Menschen, bei denen sich für kürzere oder längere
Zeit ohne Rücksicht auf die äußeren Gescheh¬
nissedestäglichen Lebens eine bestimmte Stimmungs¬
lage einstellt. Wenn z. B. ein Mensch, der in günstiger sozialer
Lage lebt und ein glückliches Familienleben führt, für Monate
oder Jahre traurig verstimmt wird, ohne daß sich in seinen Lebens¬
verhältnissen etwas geändert hätte, so ist er gemütskrank ge¬
worden. Er leidet an einer Depression (Dysthymie)-).
Wenn umgekehrt ein Mensch, der jahrzehntelang still dahingelebt
hat, für längere Zeit heiter gestimmt und viel geschäftig wird, in
’) Raecke, Diagnostik. Berlin 1912. Hirschwald. Hoche, Allge-
‘ meine gerichtliche Psychopathologie ini Handbuch der gerichtlichen
Psych. 19118. Jaspers, Psychopathologie. Berlin 1913.
“) Kölpin, Arch. f. Psych. 1905. Hübner, Arch. f. Psych. 1907. Heil-
bronner, Reichs-Med.-Anz. 1910, S. 289.
Störungen des Gefühlslebens. 17
dieser Stimmung sich allerlei Ungelegenheiten bereitet und trotz¬
dem heiter bleibt, so hat ihn eine heitere Verstimmung (Exal¬
tation, Hyperthymi e) ergriffen.
Mit den eben besprochenen Stimmungsanomalien können sich
nun noch andere Erscheinungen von seiten der Gefühlssphäre
verbinden.
In erster Linie ist die Angst*) zu nennen, die in die Herz¬
gegend (Präkordialangst), den Kopf, bisweilen auch in den ganzen
Körper lokalisiert wird. In den leichteren Graden wird sie als
Druck auf der Brust beschrieben. In schweren Fällen führt sie
zu starken Verzweiflungsausbrüchen. Diese Angst kombiniert
sich mit der Depression").
Weiterhin kommt die Reizbarkeit in Betracht, die sich
sowohl mit heiterer (Manie), \Yie mit depressiver Verstimmung
(Hypochondrie) verbinden kann.
Mitunter tritt zur Depression noch Mißtrauen (z. B. bei
manchen Geistesstörungen des höheren Lebensalters, dem Eifer¬
suchtswahn der Alkoholiker und bei Epileptikern).
Alle diese Stimmungsanomalien sind praktisch
außerordentlich wichtig. Depression und Angst (bei Melancholie)
kann zu Selbstmordversuchen und Delikten gegen das Leben
anderer führen. In heiterer Verstimmung werden Aufläufe in¬
szeniert, grober Unfug verübt, Diebstähle und Sexualdelikte
kommen vor, ferner Zechprellereien, Körperverletzungen, Wider¬
stand, Betrügereien. Besonders hervorzuheben sind die Ver¬
stimmungszustände der Epileptiker (Depression und Reizbarkeit),
in denen mitunter die brutalsten Gewalttaten ausgeführt werden.
Krankhafte Gemütsverstimmungen von verschiedener Inten¬
sität werden — mehr oder minder häufig und lange andauernd —
l>ei allen Geisteskrankheiten beobachtet. Besonders wichtig sind
sie bei der Melancholie, Manie, im Beginn der progressiven Para-
*) S. auch Kraepelin, Allgemeine Psychiatrie. Leipzig 1911. J.A. Barth.
Binswanger in Lehrbuch der Psychiatrie. Jena 1911. Gustav Fischer.
Ziehen. Psychiatrie. 4. Aufl. Leipzig. S. Hirzel. A. Westphal, Kap.
Melancholie und Manie in Binswanger-Siemerlings Lehrbuch der Psych.
Jena 1911. Gustav Fischer.
*) S. auch Förster, Klin. Stellung der Angstpsychose. Berlin 1910.
S. Karger. Marcinowski, Angstzustände. Übersichtsreferat. Monats-
schr. f. physikal.-diätet. Heilmethoden 1910, Nr. 1. Gaupp, Zcntralbl. f.
Nervenheilkde. 1904, S. 441.
Hübner, Forensische Psychiatrie.
2
i8
AllKemeine Symptomatologie.
lyse, der Dementia praecox und bei der Epilepsie. Auch bei der
chronischen Paranoia (Verrücktheit) spielen sie eine große Rolle.
Man erkennt die Stimmungsanomalien an der Körper¬
haltung, den Bewegungen, dem Gesichtsausdruck und der Sprache.
Der Deprimierte zeigt eine zusammengesunkene Haltung,
seine Bewegungen und die sprachlichen Äußerungen erfolgen lang¬
sam, letztere mit leiser Stimme. Der Gesichtsausdruck ist traurig,
der Bück verschleiert, die Mundwinkel sind herahgezogen. Jede
Betätigung, auch das Denken, macht dem Kranken Mühe. In
hohen Graden der Angst sind die Pupillen auffallend weit.
Plmgekehrt ist heim Erregten die Haltung aufrecht, stolz.
Die Bewegungen erfolgen rasch, haben mitunter etwas Theatra¬
lisches an sich. Der Kranke spricht viel und laut. Der heitere
Gesichtsausdruck und das lebhafte Mienenspiel lassen seine Grund¬
stimmung deutlich erkennen. Reden und Handeln erfolgt hei ihm
leichter und müheloser als in gesunden Tagen').
Mit der Exaltation verbindet sich nicht selten eine gesteigerte
Erotik, die sich entweder nur in Gesten (Händedruck, Neigung
zum Anschmiegen usw.) oder in obszönen Reden und grohsinn-
lichen Handlungen zeigen kann.
Außer den beiden eben beschriebenen Extremen, der De¬
pression und Exaltation, kommt noch eine dritte Anomalie des
Gefühlslebens vor, die besonders zivilrechtlich (Entmündigung)
sehr wichtig ist, die Apathie. Bei derartigen Kranken lösen
weder angenehme noch unangenehme Erlebnisse eine erkennbare
Reaktion aus.
Die Apathie kann dauernd (bei angetorenen oder erworbenen
geistigen Schwächezuständen) oder vorübergehend (z. B. nach
erschöpfenden Krankheiten, nach schweren Geburten und heftigen
l)sychischen Erregungen) bestehen. —
Neben den bisher erwähnten Störungen gibt es nun noch
andere, die nur in bestimmten Situationen hervortreten. Hierher
gehören manche bei Entarteten (Degenerierten, Psychopatben) zu
findenden Abweichungen. Man beobachtet z. B. einen sehr stark
ausgeprägten Egoismus, während altruistische Regungen
auch gegenüber den nächsten Verwandten fehlen.
Bei Entarteten und Hysterischen beobachtet man ferner oft
eine krankhafte Beeinflußbarkeit des Gefühls-
’) Anton, Über den Ausdruck der Oemiitsbewegungeii beim ge¬
sunden und kranken Menschen. Berlin 1911. S. Karger.
Störungen des Handelns.
19
lebens. Jeder neue Eindruck, namentlich wenn er unan¬
genehmer Natur ist, vermag einen starken Einfluß auf die
Stimmung, das Denken und Handeln auszuüben. Daher kommt
es, daß diese Kranken mitunter vor Gericht ganz plötzlich und
nur für kurze Zeit (Stunden oder Tage) verhandlungsunfähig
werden ’).
Im allgemeinen neigen die Psychopathen mehr zu depressiver
Stimmung. Dies zeigt sich schon bei den kleinen Zwischenfällen
des täglichen Lebens.
Bei Altersschwachsinnigen findet sich eine „ego¬
zentrische Einengung“ (Ziehen)-) des Gefühlslebens^). Alles,
was sich auf die eigene Person bezieht, ist noch gefühlsbetont,
andere Vorstellungskomplexe weniger oder gar nicht mehr. Der
Übergang vom Normalen zum Pathologischen ist hier ein
fließender.
Bei der Gehirnerweichung tritt frühzeitig ein Ver¬
lust der ethischen Gefühle (Neigung zu Obszönitäten) auf, der
sich mit gesteigerter Beeinflußbarkeit verbinden kann. —
Der Nachweis erworbener Störungen des Gefühlslebens ist
durch Vergleich des Verhaltens in gesunden und kranken Tagen
zu erbringen. Forensisch wichtig ist, daß die erworbenen Ano¬
malien der Gefühlssphäre bei Paralytikern und im Beginn der
senilen Demenz (Sittlichkeitsverbrechen!) der Beeinträchtigung
der intellektuellen Fähigkeiten lange voraufgehen können. Ihr Ein¬
tritt leitet also öfters den Verfall der geistigen Persönlichkeit ein.
Lassen sie sich sicher nachweisen, so kann man mit Bestimmtheit
sagen, daß der Betroffene geistig nicht mehr ganz intakt ist, auch
dann, wenn gröbere intellektuelle Störungen noch fehlen.
Störungen des Handelns.
Wir haben oben die Willenshandlung psychologisch als eine
durch Vorstellungen beeinflußte Reaktion auf äußere Reize kennen
gelernt. Der letzte Teil derselben, die Reaktion, erfährt nun bei
manchen Krankheiten Veränderungen. Diese kommen vorwiegend
im äußeren Verhalten des Patienten zum Ausdruck.
*) Vergl. E. Mayer u. Puppe, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1912.
-) Ziehen, Psychiatric. Leipzig. S. Hirzel.
’) Hübner, Psychologie und Psychopathologie des Qreisenalters.
Medizin. Klinik 1910 (dort viel Literatur).
2
20
Allgemeine Symptomatologie.
I. Die Hemmung, meist mit Depression verbumlen, ist
gekennzeichnet durch V'erlangsamung und Verminderung der Be¬
wegungen. Ein Gehemmter macht also seltener Bewegungen als
ein Gesunder unter gleichen Umständen, und W'enn er sie aus¬
führt, so geschehen sie lang.samer. Bei den stärksten Graden der
Hemmung kann vollkommene Regungslosigkeit (Stupor) hestehen.
Ist die Störung w'eniger ausgesprochen, so setzt der Patient zu
einer verlangten Bewegung zwar an, vollendet sie ahor entweder
gar nicht, oder erst nach immer erneuten Aufforderungen, zum
mindesten aher sehr lang.sam und zögernd.
Auf sprachlichem Gebiete macht sich die Hemmung
dadurch geltend, daß der Patient zum Sprechen ansetzt, d. h. die
Lippen bewegt, ohne einen Ton vorzubringen (bei starker Hem¬
mung) oder er antwortet langsam und mit leiser Stimme.
Bei den leichteren Graden der Plemmung zeigt sich die¬
selbe W’eniger in dem motorischen Verhalten als durch Ent-
schlußlosigkeit und Unfähigkeit zur Erledigung der gewohnten
Geschäfte (z. B. im Beginn der Melancholie). Die Störung wird
von dem Kranken selbst früh erkannt (subjektives Insuffizienz¬
gefühl). —
Unter A b u 1 i e (Willensschwäche) verstehen wir die vor¬
wiegend bei Neurasthenikern, Erschöpften, Hypochondern und
Degenerierten vorkommende Unfähigkeit, im gegebenen Moment
einen Entschluß zu fassen und durchzuführen. Der Begriff deckt
sich ungefähr mit dem einer leichten Plemmung.
Der Stupor') stellt eine so starke Hemmung dar, daß
aktive (freiwillige) Bewegungen überhaupt nicht oder äußerst
selten ausgeführt werden. Die Kranken sprechen meist gar nicht
mehr (Mutazismus), häufig wird auch die Nahrung freiwillig
nicht genommen; der Patient muß entw’eder mit der Sonde künst¬
lich ernährt werden oder er nimmt die Speisen nur, wenn sie ihm
löffehveise in den Mund geschüttet werden. Außerhalb der Mahl¬
zeiten liegt er wie schlafend da oder steht in den Ecken herum,
dabei die bizarrsten und unbequemsten Stellungen innehaltend.
Anreden und mechanische Reize lösen selten eine Reaktion aus.
In manchen Fällen lassen die Kranken PJrin und Kot unter sich
') Pfersdorff, Analyse der Stuporzustände. Neurol. Zentralbl. 1910,
S. 665.
Störungen des Handelns.
21
gehen. Auffallend ist mitunter die starke Speichelabsonderung.
Derselbe fließt den Kranken dauernd aus den Mundwinkeln
l’.eraus.
Zu prüfen ist bei Stuporüsen stets das Verhalten bei passiv’on
(unfreiwilligen) Bew^egungen der Glieder. Hebt man einen Arm
oder ein Bein, so bleiben dieselben in den schweren Fällen für mehr
oder minder lange Zeit (mitunter ’/j Stunde) in gleicher Stellung,
um dann ganz allmählich herabzusinken (Katalepsie), ln
anderen Fällen folgen die erhobenen Glie<lmaßen einfach dem
Gesetz der Schwere. Macht man mit den Armen und Beinen
(am besten im Ellenbogen- und Kniegelenk) passive (unfrei¬
willige) Bewegungen, so spürt man in allen Gliedmaßen einen
deutlichen Widerstand (F 1 c x i b i 1 i t as ccrea).
Zu bemerken ist noch, daß manche Kranke trotz des Stujwrs
für ihre leiblichen Bedürfnisse sorgen, mitunter sogar einfachen
Aufforderungen langsam und unter grotesken Bewegungen ent¬
sprechen. Ferner kommt es vor, daß ein solcher Kranker aus
seinem Stupor heraus ,,impulsive“ Handlungen begeht, um dann
wieder in die alte Regungslosigkeit zurückzusinken.
Das als Negativismus bczeichnete Symptom kann
gleichfalls im Stupor zur Beobachtung kommen. Unter Negativis¬
mus versteht man die Eigenschaft mancher Kranken (vorzugs¬
weise Katakoniker), das Gegenteil von dem zu tun, was man von
ihnen verlangt. Sie wdderstreben in jeder Weise. Reicht man
ihnen die Hand, so ziehen sie die ihre zurück, statt sie entgegen¬
zustrecken. Ergreift man ihren Arm, so suchen sie sich loszu¬
reißen. Fordert man sie auf, den Untersucher anzublicken, so
schließen sie die Augen krampfhaft. Hebt man die Decke von
dem bis über die Ohren zugedeckten Krdnken, so wendet er sich
von dem Untersucher ab, kneift die Augen zu, versteckt das Ge¬
sicht in die Kissen, kurz, er tut meist das Gegenteil von dem,
was man von ihm verlangt oder erwartet.
Der Negativismus gibt sich nicht nur auf dem Gebiete der
Körperbewegungen zu erkennen, sondern auch auf dem der
Sprache. Der Patient gibt dann, scheinbar absichtlich, falsche
Antworten (V o r b e i r e d e n).
Beispiel: Wie alt? Wasser. Welches Jahr schreiben wir?
22. Ist jetzt Sommer oder W’inter? 8. 2 + 2 = 5; 6X5 = 31.
Wie geht es Ihnen? Kastanie. Es wdrd dem Patienten ein
Schlüssel gezeigt mit der Frage, was das sei? Eine Hose. —
22 Allgemeine Symptomatologie.
Die Kranken grimassieren häufig bei derartigen Versuchen.
Manchmal zeigt ihr Gesicht einen Ausdruck, als ob sie sich über
ihre falschen Antworten selbst freuten. Vorbeireden kommt vor
bei Katatonikem, im hysterischen Dämmerzustand ') und in Ver¬
wirrtheitszuständen. Bei den letzteren erweckt es wohl kaum
jemals den Eindruck des Absichtlichen“).
Regungsloses Verhalten sieht man nicht nur bei
Gehemmten, es kann auch durch Sinnestäuschungen bedingt sein.
Die Kranken sind dann durch ihre Halluzinationen derart in An¬
spruch genommen, daß sie sich kaum bewegen (Pscudostupor).
Derartige l’atienten zeichnen sich aber gegenüber dem echten
Stupor durch gespannten Blick und entsprechende Haltung aus.
Meist horchen und blicken sie nach der Richtung, aus der ihre
Sinnestäuschungen kommen.
2. Im Gegensatz zur Hemmung steht die Erregung oder
motorische Unruhe. Sie kommt bei den verschiedensten
I’sychosen vor. Vorübergehend finden wir sie z. B. bei Para¬
lytikern, wo sie wochenlang anhalten und sowohl mit Depression
wie mit Exaltation vergesellschaftet sein kann. Zu erwähnen sind
ferner die Erregungszustände der Epileptiker, die infolge ihrer
Neigung zu brutalen Gewalttaten besonders gefährlich sind (Tot¬
schlag, gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung).
Harmloser ist meist die motorische Unruhe der Alkoholdeli-
ranten, welche nachts gewöhnlich stärker auftritt als am Tage,
r.'ie Patienten kramen entweder fortwährend im Bett herum. Sie
suchen Tiere, die sie massenhaft halluzinieren (Flöhe, Spinnen,
Mäuse, kleine Schlangen u. ä.). Oder sie glauben unter Ver¬
kennung ihrer Umgebung in ihrer gewolmten Tätigkeit zu sein
(Beschäftigungsdelirium).
Beim Katatoniker steht das Sinnlose, Bizarre im Vorder¬
grund. Ein solcher Kranker kann Tag und Nacht einen starken
Bewegungsdrang aufweisen, der aber in keiner Beziehung zur
Umgebung steht und durch dieselbe auch wenig beeinflußt wird.
Hinzu kommt oft, daß die Bewegungen selbst etwas Unnatürliches,
Verschrobenes an sich haben. Auch vielfache Wiederholungen
der gleichen Bewegungen kommen vor (Bewegungsstereotypien),
so daß die Unruhe etwas Monotones, Gedankenarmes aufweist.
“) Troscliin, Neurol. Zentralbl. 1911, S. 173.
“) Vergl. auch das Kapitel Simulation.
Störungen des Handelns.
23
Im Gegensatz hierzu sehen wir bei der manischen Erregung
den Kranken fast dauernd in engem Konnex mit seiner Um¬
gebung. Er flicht Eindrücke, welche er aus derselben empfängt,
in seine Reden ein, beobachtet alles, was geschieht, scharf, greift
mitunter selbst ein, redet fortwährend, schläft wenig oder gar
nicht, begleitet seine Reden mit lebhaften aber sinngemäßen
Gesten, ist zu Witzen und Neckereien geneigt; ihm fehlt aber
selbst dann, wenn er sich theatralisch geberdet, das Verscbrobene,
Groteske des Katatonikers. Bei den Manischen sind die aus¬
geführten Handlungen leicht als Ausfluß der heiteren Verstim¬
mung zu erkennen, während beim Katatoniker der Affekt ent¬
weder ganz fehlt oder nur eine untergeordnete Rolle spielt. —
Wie schon aus den letzten Ausführungen hervorgeht, be¬
schränkt sich die Erregung nicht allein auf den Bewegungsapparat,
sie erstreckt sich vielmehr meist auch auf die Sprache. Wir unter¬
scheiden dabei:
a) die Ideenflucht oder den ideenflüchtigen Rede¬
drang. Er kommt hauptsächlich bei der Manie, mitunter auch bei
der Paral3'sc, ganz selten bei der Epilepsie vor. Von manchen
Autoren wird eine Beschleunigung des Gedankenablaufes und das
\’orhandensein eines besonderen Gedankenreichtums angenommen,
die aber nicht immer vorhanden sind ').
Wesentlich an dem Symptom der Ideeflucht ist die Flüchtig¬
keit jeder einzelnen Idee, die verhindert, daß die Zielvorstellung
erreicht wird und es ermöglicht, daß jeder während des Sprechens
auf den Patienten einwirkende Reiz oder Einfall die Gedanken¬
richtung des Kranken ändert (Ablenkbarkeit). Infolge dieser
beiden Eigenschaften stehen in den Reden und Schriftstücken der
Ideenflüchtigen Reime, Wortwitze, Alliterationen, Zitate, Ähnlich¬
keitsassoziationen usw. nebeneinander.
Beispiel: ,,Bis heute bin icb noch nicht dazu gekommen. Ihnen
den polnischen Abschied von den lieben Meinigen zu schildern,
denn Dr. U. und Konsorten, was ich damit für Narren meine,
werden Sie wissen (die Fischerinnen)'“). Fischerin du kleine,
fahr mir in die Beine, fahre nicht bei Sturmgebraus mit dem Dr. U.
hinaus und steige nicht beim Mondcnschein, bei den Polinnen zum
’) Liepmann, Über Ideenflucht. Altsche Sammlung. Halle a. S.
C. Marhold. Külpe, Zeitschr. f. Pathopsychologie. 1. Jahrg.
Name einer Pflegerin.
24
AllKemeine Symptomatologie.
Fenster liinein. Wag es nicht, wag es nicht, denn hier sitzt der
Vogel, der verrät die Geschieht. Werft auch nicht das Bier zum
Fenster hinaus, denn anstatt des Wärters steht der U. draus.“
b) Im Gegensatz zur Ideenflucht handelt es sich bei der
Sprachverwirrtheit*) um ein sinnloses Aneinander¬
reihen von Worten oder Sätzen. Mitunter wird die Satzform
dabei innegchalten. In einem Teile der Fälle geschieht aber auch
das nicht einmal (W’ortsalat). Obwohl der Kranke lebhaft gesti¬
kuliert und einzelne Worte scharf betont, fehlt meist ein tieferer
Affekt. Dagegen beobachtet man häufig Verschrobenheit im Ton¬
fall und Ausdruck.
Beispiel: Ein Maler mit Dementia paranoides antwortet auf
die Frage: Wie geht’s? folgendermaßen:
„Die laufen doch da noch runter. Das ist ja natürlich. Ich
gehe ja nicht rum. Das ist ja nicht möglich. Ich muß sehen, daß
ich mich ranhalte und an meine Malerei komme. Ich muß halt
den Kleriker in Anspruch nehmen. Ich gehe hier auf und ab.
Das ist natürlich eine traurige Geschichte. Ich muß das Leben
nehmen wie es ist. Das geht nicht anders.“
c) Unter Verbigeration versteht man die besonders
bei Katatonikern vorkommende Neigung ein oder mehrere be¬
stimmte Worte längere Zeit hindurch (bis zu mebreren Stunden)
zu wiederholen. Außer bei der Katatonie kommt das Symptom
noch bei der Idiotie, Epilepsie (im Dämmerzustand) und der
Amentia vor.
d) Zu erwähnen ist schließlich noch die Neigung zu W o r t -
neubildungen (Neologismen), welche bei der Dementia
praeco.x und Paranoia beobachtet wird.
Beispiele: Besuchsbeehrung, Gallopskronsreichsstaatsassisen-
gericht, Suggestionskaninchen, Gleichgewichtsgedanken, Kopf¬
kohlschwindsucht, das Gebietszeug, Zustandsbetriebspannungen,
Raubmordschlachtgesellschaft, Selbstansichten, die studierenden
Sludentenzeugen, Heiratsveranstaltungcn, Ehrenwünsche, Ge¬
burtszehre, Zimmermannsgehirn, Veridiotisierung der Zeit.
Mitunter bilden die Kranken sich eine neue Sprache, die nur
ihnen selbst verständlich ist. (Gelegentlich bei Epilepsie, Paralyse,
Dementia paranoides und Paranoia.)
') Stransky, über Sprachverwirrtheit. Altsche Sammlung. Halle a. S.
C. Marhold.
Instinkte, Triebe und impulsive Handlungen.
25
e) Als Manieren bezeichnet man Anomalien der Hal¬
tung, der Bewegungen und des Sprechens, welche durch die ge¬
zierte, groteske, bizarre, verschrobene Art, häufig aucli durch die
stereotype Wiederholung der gleichen Handlung gekennzeichnet
sind. Die Kranken nehmen alle möglichen unbequemen Stellun¬
gen ein und behalten dieselbe längere Zeit bei, oder sie gri-
massieren, machen allerlei eckige, ruckartige und unmoti¬
vierte Handbewegungen, sprechen unter Betonung solclier Silben,
die .sonst nicht betont werden usw.
Man unterscheidet Haltungs- und Bewegungs¬
stereotypien. Eine unserer Kranken lief tagsüber minde¬
stens 50 Mal in alle Ecken des Saales und bekreuzigte sich. Ein
anderer Kranker stellte sich mit gefurchter Stirn, grinsend, die
Augen und das Gesicht nach einem bestimmten Punkte der Decke
gerichtet minutenlang hin, ging darauf einmal durch den Saal und
nahm dann seine alte Position von neuem ein. —
Zu den Störungen des Handelns gehört ferner auch die Be-
fehlsautomatie. Kranke, welches dieses Symptom zeigen,
wiederholen Worte und Bewegungen, welche ihnen vorgesprochen
oder vorgemacht werden in automatenhaftcr Wei.se. Man spricht
von Echopraxie, wenn es sich um das Nachahmen von Hand¬
lungen, von E c h o I a 1 i e , wenn es sich um das Nachsprechen von
Worten handelt. Meist grimassieren die Kranken dabei stark.
Beispiel: Man mache vor dem Patienten bestimmte Be¬
wegungen (berühre die Nase, klatsche in die Hände, rufe be¬
stimmte Worte aus, rolle die Hände umeinander). Alles wird,
wenn die Störung deutlich ausgeprägt ist, wiederholt. Eine
unserer Kranken mit Echolalie reagierte folgendermaßen: Guten
Tag, Anna! (Pat.) Guten Tag, guten Tag, guten Tag. — Wie
gehts? (Pat.): Wie gehts, wie gehts, wie gehts. Es geht gut,
geht gut, geht gut usw.
Alle sub c) angeführten Symptome kommen fast ausschlie߬
lich bei Katatonikern vor.
Instinkte, Triebe und impulsive Handlungen.
Zu den Störungen des Plandelns gehören außer den bisher
bespr(Khenen Symptomen auch die Anomalien des Instinktlcbens,
der Triebe und die impulsiven Handlungen. Da sie in der foren-
26 Allgemeine Symptomatologie.
sischen Psychiatrie eine große Rolle gespielt haben und z. T. noch
spielen, ist es nötig, hier etwas ausführlicher darauf einzugehen.
Wer die Literatur über diese Frage studiert, dem fällt zu¬
nächst auf, daß die Begriffe Trieb und Instinkt einerseits, Trieb
und impulsive Handlung anderseits nicht einheitlich angewandt
werden. Die Psychologen (Wundt*), JodP), G. H. Schneider")
u. a.) und Psychiater (Hoche) erblicken das Gemeinsame in allen
drei Begriffen:
I. in dem Vorhandensein einer Gefühls- oder Affekianlage,
2. in der Tendenz zur motorischen Entladung, 3. dem Fehlen
eines Kampfes der Motive und 4. der bewußten oder unbewußten
Erreichung eines bestimmten Zweckes.
Hierzu kommen im Laufe des Lebens (James *) noch einige
weitere Eigenschaften. Die Triebe werden nämlich durch Er¬
fahrungen moclifizierbar, in bestimmten Lebensphasen können sie
schwinden und durch Gewohnheiten gehemmt werden. Die
I'sychologeu sagen, daß auf diesem Wege die Triebe Willenshand¬
lungen werden, ein Ausdruck, der insofern nicht ganz korrekt
ist, als der Trieb psychologisch stets als einfache Willens¬
handlung angesprochen wurde. Der Unterschied, der angedeutet
werden soll, liegt in dem angeblich anfangs fehlenden, später hin¬
zutretenden ,,Kampf der Motive“.
Die Abgrenzung der Triebhandlungen von anderen Be¬
wegungsformen ist von den Psychologen folgendermaßen an¬
gegeben :
Vom Refle.K unterscheidet sich der Trieb dadurch, daß dem
Ersteren jedes psychische Korrelat meist fehlt. Bei den Aus¬
drucksbewegungen verliert die äußere Bewegung den Zweck, in¬
dem sie durch keinen direkten Erfolg eine Befriedigung des mit
dem Affekt verbundenen Lust- und Lhilustgefühls herbeiführt
(Ziehen).
Was wird nun als Trieb beschrieben?")
’) und -) Psychologie s. psychol. Kinleitung dieses Buches.
“) Q. H. Schneider, Der tierische Wille. Leipzig 1880. A. Abel. —
Groos, Spiele der Tiere. Jena 1896. 0. Fischer. Bei letzterem eine
Geschichte des Instinktbegriffes.
*) Siehe bei 1. Ferner: Wundt, Vorles. über die Menschen- und
Tierseele. 4. Aufl. Leipzig 1906.
") Es bedarf keiner besonderen Betonung, daß in jeder Gruppe nur
Beispiele erwähnt werden.
Instinkte, Triebe und impulsive Handlungen. 27
a) Vollkommene Übereinstimmung herrscht darin, daß als
Trielx: par excellence der aus dem Hunger- und Durstgefühl’)
resultierende Nahrungstrieb und der Geschlcchtstrieb gelten*).
b) Als zweite Gruppe wäre dann der Brultrieb, der Trieb
zur Pflege der Neugeborenen, zum Nestbauen, der Kampftrieb
l)ei der Wahl des WeÜKhcns und andere zum Fortpflanzungs¬
geschäft in Beziehung stehende Phänomene zu nennen. Es han¬
delt sich dabei zum Teil um Erscheinungen, die auch beim Men-
•schen in modifizierter Form Vorkommen.
c) In einer dritten Gruppe sind die sogenannten „Schutz-
Iricbe“ zusammenzufassen. Das sind Handlungen, welche das
Individuum ausführt, um sich vor Nachteilen zu schützen. Der
frierende junge Plund z. B. verkriecht sich unter dem Muttertier.
Der Mensch, welcher angegriffen wird, hebt den Arm, um den
Schlag zu parieren usw.
Alles das geschieht „instinktiv“, d. h. zweckmäßig, häufig
auch rasch und ohne daß es dem Handelnden vor Ausführung
flcr Bewegung zum Bewußtsein zu kommen braucht®).
Die in der zweiten und dritten Gruppe erwähnten Triebe
werden von vielen Autoren als vererbt bezeichnet, weil die in
Betracht kommenden Handlungen auch vom jungen Tier schon
l)eim ersten Mal geschickt und zweckentsprechend ausgeführt
werden (Wundt).
d) Eine vierte Gruppe umfaßt Triebe, die in dem Charakter
des Menschen wurzeln und ihn zu einer immer wiederkehrenden
Betätigung im Sinne eines hervorstechenden Charakterzuges ver¬
anlassen. Hierher gehören die ethischen und ästhetischen Triebe,
der Wissensdurst, der Mitteilungstrieb usw.
Anders ausgedrückt sind die hier erwähnten Handlungen
Äußerungen einer bestimmten Anlage (z. B. zur Musik) oder um
die affektive Komponente hervorzuheben, einer Neigung, die
immer wieder Befriedigung heischt.
e) Prinzipiell von der eben besprochenen Gruppe nur inso¬
fern verschieden, als die Abhängigkeit von äußeren (c.xogenen)
Faktoren eine größere ist, bleibt eine fünfte Gru])pe zu er-
’) In Zusammenhang damit steht z. B. der Saugtrieb des neu¬
geborenen Kindes.
*) Hoche, Handbuch. 1909.
®) Hierher gehört wohl auch der Trieb, in warme Länder zu ziehen
und ähnliches.
28
Allgemeine Symptomatologie.
wähnen, hei der die Handlung ,,vom Augenblicke geboren'* ist
und sich nur auf entsprecliende äutäere Veranlassung wiederholt,
..rcflcxoid * (,H. Groß; erfolgt, dahei aber einer individuellen
Komponente nicht ganz zu entbehren braucht. Ein Beispiel wird
am ehesten deutlich machen, was gemeint ist. H. Groß be¬
lichtet über folgenden Vorgang:
Er ging auf der Straße spazieren. Plötzlich wurde aus einer
Wirtschaft ein Betrunkener herausgeworfen, der im Fallen den
Spaziergänger zu treffen drohte. Dieser gab dem Fallenden, ohne
zu überlegen, eine Ohrfeige.
Ein zufälliges, unvermutet einsetzendes und rasch ablaufcn-
des Geschehnis löste hier eine Reaktion aus, die weder sachlich
begründet noch zweckmäßig war, noch auch bei ruhiger Über¬
legung geschehen wäre. G. selbst erklärt die Blandlung so, daß
er aus einem Gefühl lebhafter Unlust, welches ihn ergriffen
hatte, handelte.
Diese letzte Grup])e *) von Handlungen hat übrigens nicht
mehr alle oben angegebenen Kriterien des Triebes. Ihr fehlt die
Zweckmäßigkeit.
Wenn wir die vorstehend beschriebenen Triebe nicht vom
psychologischen, sondern vom physiologischen Stand¬
punkte betrachten, so ergibt sich eine Differenzierung, die ich
für nicht unwesentlich halte.
Die in der i. und 2. Gruppe aufgeführten Triebe stehen zu
bestimmten Stoffwechsel Vorgängen im normalen Tierkörper in
engster Beziehung. Bezüglich des Hungers und Durstes kennen
wir die physiologischen Grundlagen noch nicht, dagegen sind be¬
züglich des Geschlechtstriebes neuerdings Experimente gemacht
worden, die eine prinzipielle Bedeutung besitzen.
Steinach“) hat für den Umklammerungsreflex des
Froschmännchens gezeigt, daß derselbe auftritt, sobald die im
Kleinhirn und den Corpora bigemina gelegenen Hemmungszen¬
tren ausgeschaltet sind. Dies geschieht normaler Weise in der
Brunstzeit. Außerhalb derselben gelang es, durch Einspritzung
von Hodensubstanz, die vor oder in der Brunst stehenden
Tieren entstammte, die Reflexe auszulösen. Andererseits konnte
*) Der Vorgang braucht sich übrigens nicht immer rasch abzuspielen
(s. unten).
“) Zentralblatt f. Physiologie 1910, S. .551—556.
Instinkte, Triebe und impulsi%’e Handlungen.
29
er durch Kastration der Tiere den Reflex zum Schwinden brin¬
gen. Schließlich machte er die Erfahrung, daß Hodensubstanz von
Tieren, die nach dem Ablaichen kastriert waren, die erregende
Wirkung auf das Hemmungszentrum des Umklammerungsreflexes
nicht hatten.
Wenn wir mit Pütter') diesen Fall verallgemeinern, so
ergibt sich nach den sonstigen Erfahrungen, daß wir bei den
Ernährungstrieben und weiter auch den Brutpflegetrieben die
gleichen Verhältnisse wie beim Begattungstrieb vermuten dürfen.
A 1 1 e n g e m e i n s a m ist, daß sie nur dann in
AVirksamkeit treten, wenn das entsprechende
Kervenzentrum des Tieres sich in einem be¬
stimmten Zustande der Erregbarkeit befin-
d e t. Es handelt sich dabei um komplizierte Reflexe.
Wenn einzelne Psychologen behaupten, daß diese „Triebe'“
mfxlifizierbar seien, so trifft das nur bezüglich unwesentlicher
Einzelheiten zu. Die Wirkung des adäquaten Reizes auf die be¬
stimmte Bahn bleibt immer die gleiche. Das lumgrige Tier
nimmt Nabrung, der erotisierte Frosch umklammert das Weib¬
chen usw. Das prinzipiell Wichtige bleibt unverändert.
ln den bisher besprochenen Trieben werden wir also die
Wirkung der ,,inneren Sekretion“ bestimmter Drüsen zu sehen
haben.
Was die Schutztriebc usw. anlangt, so wissen wir durch die
Untersuchungen von Loeb^), Baglioni u. a., daß cs sich auch
dabei um Reflexe handelt. Ich brauche nur an die alten Golz-
schen Versuche zu erinnern, die das deutlich erkennen lassen.
Anders verhält es sich nun mit den übrigen Trieben. Sie
sind „psychologiscbe“ und setzen größtenteils eine höhere geistige
Ausbildung voraus.
Eine Beziehung zur inneren Sekretion findet sich bei ihnen
nicht. Als Reflexe sind sie gleichfalls nicht anzusehen, weil sie
keine typisch ablaufenden Leistungen des Nervensystems dar¬
stellen.
Berücksichtigt man diese Tatsachen, so ergibt sich das
Bedürfnis zu differenzieren. Ich möchte deshalb vorschlagen,
*) Vergleichende Physiologie S. 672. Jena 1911. Q. Fischer.
“) Loeb, Einleitung in die vergl. Qehirnphysiol. und vergl. Psychol.
Leipzig 1899. J. A. Barth.
’) Baglioni, Analyse d. Reflexfunktion. Wiesbaden 1910. Bergmann.
30
Allgemeine Symptomatologie.
in Aiilelinung an die Zoologen und vergleichenden Ph3'siologcn
bei den mit der Krnährung und P'ortpflanzung usw. zu.sammcn-
hängenden und den zum Schutz der Tiere dienenden Reaktionen
von Instinkten zu sprechen.
Aber auch die dann nocli übrig bleibenden „psychologischen“
Triebe sind nicht gleichartig.
Bei den unter d) erwähnten Trieben handelt es sich um die
Konsequenz einer bestimmten Charakteranlage, die sich
immer von neuem bemerkbar macht. Die unter e) er¬
wähnten Handlungen wiederum lassen das Zufällige der
Reaktion stärker hervortreten. Wenn derselbe Mensch vor der
gleichen Situation noch einmal oder öfters stände, würde er
wahrscheinlich nicht mehr so handeln wie beim ersten Male. Im
letzteren Falle ist die Einzelhandlung als solche zu betrachten, im
ersteren ist das wesentliche der endogene Faktor. Für diese
Gruppe nun möchte ich die Bezeichnung ,,Trieb“^), für jene
den Ausdruck impulsive oder r e f 1 e x f) i d e Handhuig Vor¬
schlägen.
Diese Einteilung trägt, wie ich glaube, dem gegenwärtigen
Stande unseres Wissens Rechnung; sie läßt allerdings auch deut¬
lich erkennen, daß wir noch nicht imstande sind, e i n Prinzip
auf die Klassifikation alter Handlungen anzuwenden.
Wenn ich oben sagte, daß die hier besprochenen Reaktionen
in der Psychopathologie und forensischen Psychiatrie eine ge¬
wisse Rolle gespielt haben und zum Teil noch spielen, so wir'd
das nun noch zu beweisen sein. Es gibt pathologische Äuße¬
rungen sow'ohl der Instinkte als der Triebe und impulsiven Hand¬
lungen. Auch das mögen Beispiele beweisen.
Einer der bekanntesten Instinkte (im obigen Sinne) ist das
Saugen des Kindes in den ersten Lebensmonaten ^). Es ist von
verschiedenen F'orschern gezeigt worden, daß dieser Instinkt mit
zunehmender geistiger Entwickelung ,,schwindet“. Physiologisch
gesprochen wird man sagen müssen, daß er durch das Großhirn
gehemmt wird. Ganz schwindet er nicht; das zeigt sich unter
’) In den weiteren Ausführungen wird die hier vorgeschlagene Ein¬
teilung zur Nomenklatur benutzt werden.
Vergl. Stransky, Monatsschr. f. Psych., Bd. 13; Jahrb. f. Psych.,
Bd. 25 . Oppenheim, Monatsschr. f. Psych., Bd. 14, S. 24. Dobrschanski,
Jahrb. f. Psych. 19ü6, S. 144. Roller, In.-Diss. Bonn 1908.
Instinkte, Triebe und impulsive Mandiungen. 31
pathologischen Bedingungen. Bei tief verblödeten Paralytikern,
Senildementen usw. finden wir ihn wieder.
Haben wir hier ein Beispiel gesehen, in dem durch Fortfall
der Hemmungen von seiten des Großhirns ein in der Kindheit
vorhandener und dann geschwundener Instinkt im späteren Leben
wieder in Erscheinung tritt, so lehrt uns das Studium der
Dämmerzustände und der akuten Alkoholvergiftung noch wei¬
teres.
Bekannt ist, daß im Rausch und namentlich im epileptischen
Dämmerzustände oft brutale Sexualdelikte begangen werden.
Wenn wir zunächst einmal die Notzuchtsversuche, welche
frei von perversen Beimischungen sind, betrachten, so ergibt sich
zu ihrer Erklärung aus unseren bisherigen Erwägungen und bei
Berücksichtigung der Alkoholwirkung, wie sie aus den Arbeiten
von Kraepelin') und seinen Schülern bekannt ist, daß derartige
Handlungen einmal die Folge einer Vergiftung, ferner aber einer
Verringerung des hemmenden Einflusses der Hirnrinde sind.
Daß die Zentren für die geschlechtlichen Funktionen durch Alko¬
holgenuß in einen Zustand gesteigerter Erregbarkeit versetzt
werden, ist eine bekannte Tatsache. Insofern erinnert seine Wir¬
kung sehr an die Experimente von Steinach. Bei der Alkohol¬
intoxikation kommt nun noch hinzu, daß sie gleichzeitig die sonst
bestehenden Hemmungen verringert; auf diese Weise kommt es
dann zu elementaren Ausbrüchen des Geschlechtstriebes“).
Diejenigen, welche im epileptischen Anfall und Dämmer¬
zustand den sichtbaren Ausdruck einer Vergiftung“) oder Stoff¬
wechselstörung erblicken, werden die für den Rausch angcstellten
Erwägungen auch für die Notzuchtsversuche im Dämmerzustand
gelten lassen.
Nicht gleichwertig mit den oben be.sprochenen Handlungen
sind sexuelle Angriffe, die von geschlechtlich leicht erregbaren
I’sychopathen ausgehen, ohne daß man immer (Straßmann)'*) eine
tiefere Bewußtseinstrübung nachzuweisen vermag. Die Fran-
') Kraepelin, Lehrbuch. 8. Aufl. Bd. 2. Abt. 1. Leipzig 1910. J. A.
Barth.
“) S. Kap. Epilepsie.
“) Vergl. Gramer in Binswanger-Siemerlings Lehrbuch d. Psych.
Jena. Q. Fischer.
*) Straßmann, Ärztl. Sachverst.-Ztg. 1911, S. 493.
32
Allgemeine Symptomatologie.
zoscn (Fere) ^), welche die Erscheinung „coup de foudre“ nann¬
ten, fanden sie besonders oft bei Epileptikern und Psychopathen.
Weitere Störungen des Instinktlebens stellen die sog. ge¬
schlechtlichen Perversitäten dar. Sie sind dadurch gekennzeich¬
net, daß entweder quantitative Änderungen der geschlechtlichen
Instinkte (Frigidität oder Nymphomanie bei der Frau, Satyriasis
I)eim Manne)“) bestehen, oder daß nicht der adäquate Reiz (d h.
für den Mann das Weib und umgekehrt für Letzteres der Mann)
geschlechtliche Regungen auslöst, sondern andere Reize, z. B.
der Anblick oder die Berührung des gleichen Geschlechtes oder
Schmerzreize, welche dem eigenen Körper oder dem des Opfers
zugefügt werden.
Daß auch das T i i e h 1 c b e n pathologische Erscheinungen
aufweist und zwar bei krankhaft Veranlagten besonders lebhafte,
ist gleichfalls bekannt. So gehören z. B. eine ganze Reihe .ano¬
nymer Briefschreiber hierher. Ferner kommen serienweise Dieb¬
stähle vor, die keine direkten Beziehungen zum Geschlechtsleben
haben (manche Warenhausdiebstähle!), sondern nur von einem
bestimmten, sehr lebhaften Gefühl ausgelöst werden. Auch des
Selbstmordtriebes, der sich in immer neuen Versuchen zeigt
[V'urpas“), Stelzner*)], ist hier zu gedenken.
Wir kommen damit zu den impulsiven Hand¬
lungen.
Wenn man auf pathologischem Gebiete von solchen spricht,
so hat man zunächst zu prüfen, ob die motorische Reaktion, die
mit diesem Namen belegt werden soll, ihn auch wirklich verdient,
ob nicht bei näherem Zusehen Wahnideen oder Sinnestäuschun¬
gen das treibende Moment sind. Besonders groß ist die Gefahr
einer falschen Deutung bei Handlungen, die im Dämmerzustand
I)egangen wurden, deren letzte Ursachen dem Beobachter wohl
immer unbekannt bleiben.
Selbst wenn man solche unklaren Fälle aber ausscheidet, gibt
es auch noch impulsive Handlungen bei geistig Abnormen. Man
B Fere, Le coup de foudre. Revue de Mdd. 1900, S. 581.
“) S. spez. Teil.
’) Vurpas, Soc. de psych. 17. Xll. 1908. Dort viel Diskussions¬
bemerkungen.
*) Stelzner, Analyse von 200 Selbstniordfällen. Berlin 1906.
S. Karger.
Instinkte, Triebe und impulsive Handlungen.
33
hat deshalb noch in den letzten Jahren wieder von einer beson¬
deren Krankheitsform, dem impulsiven Irresein ge¬
sprochen (Wilmanns) *). Als t3-pisch galten Brandstiftungen und
Giftmordversuche Jugendlicher.
Ich habe an einem Material von 8 Fällen (Mädchen) die
Frage nachzuprüfen gesucht. Dabei ergab sich, daß bei 6 von
den 8 erbliche Belastung nachzuweisen war; 5 von ihnen waren
vom Gerichtsarzte als imbezill, 3 als Iwsterisch bezeichnet wor¬
den. In 2 Fällen lag Brandstiftung, in den übrigen Giftmordver¬
such vor; letzterer war zweimal mit untauglichen Mitteln ans¬
geführt. Die Tat selbst war teils aus Rache, teils aus „Heim¬
weh“ ’) — besser gesagt Unfähigkeit, sich in ein bestimmtes
Dienstverhältnis zu schicken, und dadurch bedingtes lebhaftes
Unlustgefühl — begangen. Der Affekt fand mit der Tat seine
Entladung. Meist war in den letzten Tagen oder direkt vor Aus¬
führung des Deliktes eine Zurechtweisung erfolgt, die den Affekt
noch steigerte.
Die Handlung wurde übrigens keineswegs regelmäßig blind¬
lings unternommen, es kam vielmehr in der Mehrzahl der Fälle
zu einem wirklichen „Kampf der Motive“.
In Übereinstimmung mit Aschaffenburg®), R. Förster ü.
Banschke“) u. a. kann ich mich auf Grund unserer Erfahrungen
nicht entschließen, ein selbständiges Krankheitsbild, das als im¬
pulsives Irresein zu bezeichnen wäre, anzuerkennen. In einem
Teil der hierher gerechneten Fälle bandelt es sich sogar nicht
einmal um impulsive Handlungen. —
Zum Schluß dieses Kapitels sei noch hinzugefügt, daß auch
die „Suchten“, der Alkoholismus, Morphinismus, Kokainismus
nsw., als Anomalien des Instinktlebens aufgefaßt worden sind
(Hochc). Ich w'eiß nicht, ob das ganz berechtigt ist, denn es
handelt sich dabei doch um Vergiftungen, die ein ganzes
’) S.; Wilmanns, Heimweh oder impuls. Irresein. Monatssclir. f.
Kriminalpsych., Bd. 3, S. 136. Ferner: Jaspers.
®) Jaspers, Verbrechen aus Heimweh. Heidelberg 1909. In.-Diss.
Auch Groß' Arch. 1909.
’) Aschaffenburg, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1907.
R. Foerster, Ibid.
Rauschke, Charite-Annalen 1906.
Hübner, Forensische Psychiatrie.
3
34
Allgemeine Symptomatologie.
K r a n k li e i t s h i 1 d schaffen und die Gesamtpersönliclikeit in
ganz hcstiininter Weise verändern').
Daß bei den Suclitcn bestimmte Analogien zum normalen
Instinktleben bestehen, kann nicht geleugnet werden; die wich¬
tigste ist wohl die, daß bei plötzlicher Ahstinenz das Nerven¬
system in einen Zustand veränderter Erregbarkeit gerät, der
durch adäcpiatcn Reiz erst wieder beseitigt werden muß.
W'ie sind nun die Handlungen, welche wir soeben be¬
sprochen haben, forensisch zu beurteilen?
Wenn wir die gesamten Erörterungen zusammenfas.sen, so
ergibt sich, daß auch bei Gesunden Instinkt-, Trieb- und impul¬
sive Handlungen Vorkommen. Dieselben sind aber verhältnis¬
mäßig selten kriminelle. Es lag auch nicht in der Absicht des
Gesetzgebers, sie als Schuldausschließungsgründc i. S. des § 51
Str.G.B. anzusehen.
Anders liegt die Frage, wenn das Individuum, welches die
impulsive Handlung begangen hat, Zeichen geistiger Erkrankung
bietet. Dann sind jedesmal die näheren Umstände des Falles
sorgfältig in Betracht zu ziehen. Insbesondere ist zu forschen,
ob nicht eine Bewußtseinstrübung") Vorgelegen hat. Eine solche
würde auch die Zurechnungsfähigkeit für die impulsive Hand¬
lung aufheben.
Ist ein Dämmerzustand oder pathologischer Rausch auszu-
schlicßen, dann hängt die Beurteilung des Falles von dem Zu¬
stande der Gcsaintijcrsönlichkeit ab. Schwere I’sychopathen
werden aber auch da wohl an der Grenze der Unzurechnungs¬
fähigkeit stehen. Die impulsive Handlung allein
kann kaum jemals genügen, eine E r e i s p r e c h u n g
zu begründen.
Dasselbe gilt für die Anomtdien des Instinktlebens '), von
denen die geschlechtlichen Perversitäten in einem besonderen Ab¬
schnitt behandelt werden sollen. Nur die Betrachtung der ge
') Bei dem auch die Gewöhnung eine große Rolle spielt. Vergl.
Heilbronner, Gewöhnung. Wiesbaden 1912. Bergmann.
") Vergl. Straßmann I. c.
") H. Griif, Gerichtsärztl. Beurteilung perverser Gesehlechtstriebe.
Groß' Arch., Bd. 34, S. 45.
■“l Weitere Literatur: Diehl, Schreckreaklion. Groß’ Arch. 1903,
Bd. 11. I'ritsch, Jahrb. f. Psych., Bd. 7, S. 196. li. Groß. Arch. f. Kriniinal-
Anthr., Bd. 2. S. 14(i. Pohl, Jahrb. f. Psych., Bd. 4, S. 18.
Störungen des Bewußtseins. 35
samten psyeliisclien Persönlichkeit {gestattet ein Urteil über die
Zurechnungsfähigkeit des Täters. Ist die Tendenz zu perverser
Betätigung sehr stark ausgesprochen, so zeigt das Individuum
auch noch andere Krankheitszeichen, und diese in ihrer Gesamt¬
heit lassen erkennen, ob und wieweit der Kranke unfrei handelt.
Störungen des Bewußtseins.
Das Wesentliche am Bewußtsein ist, daß es einmal dem In¬
dividuum die Erkenntnis der eigenen Persönlichkeit und deren
richtige Einordnung in die Außenwelt vermittelt, ferner aber
auch im gegebenen Moment eine Reihe früher gemachter Erfah¬
rungen und Vorstellungen auftauchen läßt, die geeignet sind,
das Handeln des Menschen zu beeinflussen.
Eine richtige Einordnung ist nur dann möglich, wenn die
Umgebung so vvahrgenommen und gedeutet wird, wie sie dem
normalen Menschen erscheint. Wahrnehmung und Auffassung
müssen deshalb neben den anderen psychischen Funktionen in
erster Linie intakt sein.
Bei den Trübungen des Bewußtseins sind die Be¬
ziehungen des Patienten zur Außenwelt dadurch verändert, daß
eine oder mehrere der eben genannten Teile des Bewußtseins sei
es ganz ausfallen, sei es beeinträchtigt sind. Die Störung kann
verschiedene Grade haben.
I. In den schwersten P'ällen, die man als K o m a bezeichnet,
ist das Bewußtsein vollständig aufgehoben.
Der Kranke nimmt nichts mehr wahr, die stärksten Reize lösen
keinerlei Reaktion aus, nur vegetative Funktionen (Herztätig¬
keit, Atmung) sind noch einigermaßen in Tätigkeit. Vielfach
läßt der Patient PIrin und Kot unter sich. Die Glieder sind
schlaff und fallen, wenn man sie von der Unterlage erhebt, so¬
fort auf dieselbe zurück. Der Hornhaut-, Sohlen- und andere
Hautrefle.xe fehlen.
Etwas weniger tiefe Benommenheit wird als Sopor
bezeichnet. In diesen Zuständen reagieren die Kranken auf starke
Reize noch mit Abwehr- oder Fluchtbewegungen, oder sie stöhnen,
öffnen für einen Augenblick die Augen, um aber sofort wieder
in die Regungslosigkeit zurückzufallen.
Die Somnolenz gleicht etwa dem Schlaf eines sehr Er¬
müdeten. Es gelingt, den Patienten vorübergehend zu erwecken.
3
3^
Allgemeine Symptomatologie.
ilin zur Erteilung einer kurzen Antwort oder Ausführung
einfacher Aufforderungen zu bringen. Nacli Erledigung
derselben schläft er aber wieder ein.
Diese schweren Grade von Bewußtseinstrübungen kommen
bei Vergiftungen (Kohlenoxydgas, Leuchtgas, Morphium, Vero-
nal, Hyoszin usw.), ferner in den letzten Stadien der Zucker¬
krankheit (Como diabeticum), bei Nierenaffektionen (Urämie),
den meisten Infektionskrankheiten (Typhus, Hirnhautentzün¬
dung!), nach schweren Hirnerschütterungen, bei Gehirn¬
geschwülsten und paralytischen Anfällen vor. Außerdem w'erden
sie nach epileptischen Anfällen und bei der Eklampsie (vgl.
Kapitel Kindesmord) beobachtet.
Der Polizeiarzt stelle sofort fest; 1. Temperatur; 2. Verhalten des
Pulses (Verlangsamung?); 3. Pupillenw'eite und Reaktion (enge und licht-
starre Pupillen bei Morphinisten und Paralytikern, weite, schlecht oder
gar nicht reagierende Pupillen bei Hyoszinvergiftung); 4 . Zungenbisse
(hpilepsie, Oehirngeschwülste); 5. sonstige Verletzungen (Strangula¬
tionen); 6. Verhalten der Reflexe (Babinski? — nach epileptischen An¬
fällen); 7. Hirnnervenlähmungen, soweit möglich; 8. Geruch der Atemluft
(Azetongeruch bei Diabetikern).
2. Dämmerzustände:
Der Kranke fällt äußerlich entweder gar nicht auf oder
macht den Eindruck eines Betrunkenen. Letzterenfalls ist der
Gang schwankend und unsicher, das Gesicht gerötet (seltener auf¬
fallend blaß), der Blick stier oder verträumt, die Bindehäute ge¬
rötet. Bisweilen ist auch die Sprache lallend. Dabei erfolgen
die Antworten langsam, mitunter in gereiztem Ton. In einer
Reihe von Fällen würd dazu noch eine gewisse innere Unruhe
beobachtet, die sich in \ crlegcnhcitsbcw'egungcn mit den Händen
oder unmotiviertem Aufstchen und Umherlaufen im Zimmer zu
erkennen gibt. Dazu kommt öfters Händezittern. Mitunter
sprechen die Patienten auch leise vor sich hin.
Die Handlungen der im Dämmerzustand Befindlichen
können durchaus korrekt erscheinen. Es kommt vor, daß
länger dauernde Reisen, geschickt eingeleitcte Betrügereien,
an.scheinend ])lanmäßig vorbereitete Morde im Dämmerzustand
ausgeführt w'erden. Andererseits fällt mitunter gerade auch die
Sinnlosigkeit einzelner Handlungen auf.
Im hysterischen Dämmerzustand W'erden seltener Straftaten
begangen, als in epileptiscber Bewußtseinstrübung.
Störungen des Bewußtseins.
37
Beispiel: Der Epileptiker T.^), 34 Jahre alt, beging während
einiger, mehrere Stunden anhaltender Dämmerzustände 4 Morde,
einen N'otzuchtsversuch und schlachtete ferner mit einem
Taschenmesser eine Herde Schafe von 6 Köpfen ab. Seine Opfer
zerstückelte er stets und verstreute die Leichenteile im Lhnkreise
des Tatortes. Einzelne Stücke hatte er mehr als i km weit ge¬
tragen. Die Kleider der ermordeten Kinder hatte er z. T. an
Bäumen aufgehängi.
Bei den sprachlichen Äußerungen der im Dämmerzustand
i^ifindlichen Patienten fällt auf, daß die Auffassung gestört ist;
die Umgebung wird falsch gedeutet, die Aufmerksamkeit wech¬
selt stark, cs werden bekannte Gebrauchsgegenstände zeitweise
nicht richtig bezeichnet, die Merkfähigkeil ist herabgesetzt usw.
Die wichtigsten Formen des Dämmerzustandes sind der
epileptische, der hysterische und der alkoholische“).
Bei den erstgenannten ist das Denken unzusammenliängend
(Inkohärenz), während bei den hysterischen Dämmerzuständen
eine Einengung des Bewußtseins sich mit einer eigentümlichen
Art verbindet, auf einfachste Fragen falsche Antworten zu
geben “), die aber doch erkennen lassen, daß der Patient den Sinn
der Frage erfaßt hat (Vorbeireden). Bei der alkoholischen Be¬
wußtseinstrübung ist das forensisch Wichtige die falsche Deu¬
tung einzelner Vorgänge in der Außenwelt. (Im übrigen vergl.
si)ez. TeiU).
Wichtig ist die Frage: Wie wird der Dämmerzu¬
stand nachgewiesen?
I. Befindet sich der Kranke bei der Unter¬
suchung durch den Arzt noch im Dämmerzu¬
stände, so verfahre man folgendermaßen: Man
prüfe zunächst die Orientierung über die Person des Patienten,
ferner über Ort und Zeit, lasse sich z. B. den letzten Aufent-
') Vergl. Knecht, Monatsschr. f. Kriminalgesch., Bd. 3, S. 712.
“) Seltener sind sogen, neurasthenisclie Dämmerzustände. S. a.
Ziehen, Psychiatrie. Verwiesen sei ferner auf die Arbeiten von Raecke
(s. Kapitel Epilepsie).
*) Ganser, Arch. f. Psych. 1898 u. 1904.
*) Praktisch wichtig sind auch noch die Bewußtseinstrübungen nach
Kopfverletzungen (traumatische Dämmerzustände). In denselben haben
wir einmal eine schwere Selbstbeschädigung beobachtet. Wegen der
nachfolgenden Amnesie sind die Zeugenaussagen der Verletzten oft un¬
brauchbar!
Allgemeine Symptomatologie.
38
haltsrauni genau beschreiben, in dem der Patient unmittelbar vor
der Untersuchung war, lege ihm dann bekannte Gebrauchs¬
gegenstände, Münzen, Bilder (einfacherer und schwererer Art)
v'or und lasse ihn dieselben bezeichnen. Ferner lasse man ein-
gelernte Reihen (Al[)habet, Zahlen) vor- und rückwärts aufsagen,
Rechenaufgaben (Subtraktionen!) lösen, kurze Geschichten und
aufgegebene vier- bis fünfstellige Zahlen wiederholen.
Zum Schluß lasse man sich den wesentlichen Inhalt der
Unterredung wiedergeben. Es wird stets gelingen, auf diese
Weise deutliche Ausfälle nachzuweisen.
11 . Ist der Uämmerzustand um die Zeit, wo der .Arzt sich
mit dem Falle zu beschäftigen hat, bereits abgelaufen, so sind
folgende Gesichtspunkte zu beachten:
a) Notwendig ist in erster Linie die Feststellung
des Grundleidens (Epilepsie, Flysterie, Alkoholisnms,
Kopfverletzungen). Daß Dämmerzustände außerhalb dieser Er¬
krankungen Vorkommen, ist sehr selten. Beschrieben siiul sie bei
Gebärenden als Folge der Geburtsschmerzen, nach schmerzhaften
C)])erationen (C. Wcstj)hal, y\rch. f. Psych. 12, 529), ferner bei
Neuralgien (besonders der Trigeminusneuralgie)') und bei der
Migräne. Ferner soll es eine idioi)athische passagere Bewußt¬
seinstrübung (Placzek) geben, deren \'orkonmien aber an-
gezweifelt wird. In einem hier beobachteten Falle, der anfangs
so gedeutet worden war, konnte mehrere Monate später die Zu¬
gehörigkeit zur Epilepsie doch noch nachgewiesen werden.
b) Der zweite Weg, auf dem man mitunter zur Klarheit
kommt, ist der der Zeugenvernehmung'') über das Aussehen und
Verhalten des Ange.schuldigten zur Zeit der Tat und über die
Letztere selbst. Gang, Haltung, ev. .Anfälle, einzelne .Äußerungen
des Kranken, Nichtbeachtung der Umgebung und die .Art der
Ausführung des Delikts können Anhaltspunkte für weitere Nach¬
forschungen geben (s. a. oben). Ferner ist das Wrhalten des
.Ange.schuldigten beim erstmaligen Wiederbetreten des Tatortes,
beim erstmaligem Konfrontieren mit dem Geschädigten, bei Mit¬
teilung der Beschuldigung, wenn ein Delikt überhaupt geleugnet
') Laqiicr, Cher HirnersclieinunKen bei lieftiKcn Sclinierzanfällen.
Arcli. f. Psych., Bd. 26. Wagner, Jahrb. f. Psych., Bd. 8, S 287. Straß-
n;ann. Ärztl. isachverst.-Zcitg. 1911.
") Vergl. Kap. Unzurechnungsfähigkeit.
Störungen des Bewußtseins.
3 ?
wird, von Wichtigkeit. (Man protokolliere möglichst w’örtlich!)
Fcstziilegen sind nicht allein die Angaben des Verletzten, son¬
dern sein sonstiges Verhalten (Gesichtsfarbe, Ausdriicksbcwegun-
gen, spricht er langsam und sicher oder überlegt er, korrigiert er
sich?). Bei mehrmaliger Erzählung des gleichen Vorganges ist
jedesmal zu protokollieren. Widersprüche können Anhalls-
jjunkte für die Simulationsfrage geben ’).
c) Besondere Beachtung verdient das Verhalten der Erinne¬
rung. Bei den epileptischen Dämmerzuständen ist dieselbe nur
in ganz seltenen Ausnahmefällen vollständig erhalten. Fast stets
sind Erinnerungslücken nachzuweisen (retrograde Amnesie).
Die Erinnerung -) für die Zeit des Dämmerzustandes, ev.
auch noch für eine Spanne vor- und nachher, kann ganz fehlen
(absolute) oder 2. es können Erinnerungsinseln bestehen, d. h.
der I’aticnt weiß sich einzelner Vorgänge zu erinnern, anderer
nicht, oder 3. es können ihm durch Mitteilung einzelner Tatum¬
stände, Konfrontationen von Personen und Sachen Erinnerungen
an die Geschehnisse während des Dämmerzustandes wieder er¬
weckt werden.
Wichtig ist es, die eventuell vorhandenen Erinnerungs¬
lücken“) zeitlich möglichst genau zu umschreiben. Wenn die¬
selben sich nur auf die kurze Zeit der Tat beziehen, so sind sic
verdächtig, ebenso sind sie mit Vorsicht zu verwerten, wenn der
Angescbuldigte sich nur der belastenden Momente nicht er¬
innern will, alle entlastenden Punkte aber parat hat.
Beispiel; J. Z., 25 Jahre alt, wegen Mißhandlung und Körper¬
verletzung vorbestraft. Das 2. Delikt war in der Trunkenheit begangen.
Z. hatte bei der unmittelbar danach stattfindenden Vernehmung keine
klare Erinnerung an den Vorgang.
Am 22. XII. 10 trifft er am Bahnhof B. den 68 Jahre alten Invaliden
N., der sich verlaufen hatte. Z. erbat sich, ihm auf den Weg zu helfen.
Vorher besorgte er jedoch noch seine Pferde — er war Knecht.
Dann ging er mit N. in eine Wirtschaft. Dort tranken beide Schnaps.
Z. erhielt etwa 5 Gläser, N. 2 bis 3.
Beide verließen Arm in Arm das Gasthaus, da Z. den N. begleiten
wollte (‘/ 3 II Uhr abends). Nachdem sie eine kurze Strecke gegangen
D Man sieht aus diesen Ausführungen, wie wichtig die Mitarbeit
des Untersuchungsrichters und der Polizei für die Aufklärung des Sach¬
verhaltes ist.
“) S.: Förster, Charite-Annalen 1911. Ferner: Hochgeschurz, In.-Diss.
Bonn 1911. Hcnne.s, In.-Diss. Bonn 1909.
40 Allgemeine Symptomatologie.
waren, warf Z. den N., ohne daß ein Wortwechsel voraufgegangen war,
zu Boden, stach ihn mehrfach mit einem Messer und entfernte sich dann
schimpfend. (Zeuge.) Kurze Zeit danach erschien er wieder bei dem,
an einer Straßenkreuzung liegenden Wirtshause. Er wollte eine falsche
Straße gehen, kehrte aber auf Anruf taumelnd um und stürzte zu Boden.
Eine Laterne, die er mitgenommen hatte, war nicht mehr da. Z. wußte
über ihren Verbleib auch nichts anzugeben. Er machte den Eindruck
eines Betrunkenen und hatte bei der Rückkehr Blut an den Kleidern.
Zwischen dem Verlassen des Qasthofes und der Rückkehr lag eine halbe
Stunde.
Am anderen Morgen wußte er weder über den Verbleib der Laterne,
noch über die Herkunft einer Verletzung der Hand, die schon am Abend
bei seiner Rückkehr bemerkt worden war, Auskunft zu geben. Zur
Arbeit ging er an diesem Morgen nicht, sondern legte sich ins Bett.
Dem Gendarmen, der ihn dann verhaftete, gab er an, er könne sich
der Vorgänge vom Verlassen der Wirtschaft bis zum nächsten Morgen
nicht erinnern.
Von seinem Brotherrn wurde er als nüchtern, zuverlässig und
schweigsam bezeichnet.
Die Beobachtung in der Anstalt ergab: Viel Degenerations¬
zeichen. Stimmung und Qesichtsausdruck leicht gedrückt. Dürftige
Schulkenntnisse, ln Dingen des praktischen Lebens zum Teil erstaunlich
unwissend.
Ober das Delikt und den Umfang der Amnesie stets die gleichen
Angaben. Es ließen sich ferner zwei Vorkommnisse ermitteln, bei denen
er gleichfalls unter Alkohol Bekannte mißhandelt hatte, ohne sich dessen
erinnern zu können.
Es wurde nun ein Alkoholversuch mit Z. gemacht. Anfangs
trank er langsam, später immer rascher (im ganzen '/j 1 Bier und 1
Schnaps). Bald wurde er reizbar, fing an zu krakehlen, verkannte die
Umgebung, glaubte in einer Wirtschaft zu sein, verlangte ständig Bier
und wurde ungeduldig, als er keines bekam. Dabei Bewegungsunruhe.
Zog Schuhe und Strümpfe aus, warf dieselben in den Saal, riß sein
Taschentuch in Streifen, band sich die Hosen unten damit zu, wollte mit
den Füßen Ziehharmonika spielen.
Gegen Patienten und Pfleger grob. Mehrfach wurde er auch tätlich
gegen dieselben. Zu einem Kranken, der auf derselben Bank saß. ging
er plötzlich hin und sagte: „Du mußt mir aber aus der Tasche bleiben.
So mußt du aber nicht anfangen.“
Er erkannte niemanden mehr, wurde schließlich unter lebhaftem
Widerstand in sein Bett gebracht und versank in tiefen Schlaf.
Auf körperlichem Gebiet: gerötetes Gesicht und beschleunigte Herz¬
tätigkeit.
Am folgenden Morgen unruhig, mürrisch. Zittern der gespreizten
Finger. Für das Verhalten am Tage vorher keine Er¬
innerung.
Die weitere Beobachtung und die Vorgeschichte ergaben:
Störungen des Bewußtseins. 41
Starke erbliche Belastung (Geisteskrankheiten, Schwachsinn) in der
Aszendenz des Vaters. Patient selbst schwächlich und schwer von Be¬
griff. Beim Zahnen Krämpfe. In der Schule schlecht.
Später oft nach mäßigem Schiiapsgenuß „kribbelig“. Vater auch
alkoholintolerant.
Keine Krämpfe, oder Schwindelanfälle.
Sciiarf betont werden muß, daß es vorkommt, daß ein Delin¬
quent sich bei der Verhaftung noch im Dämmerzustand befindet,
die Tat eingesteht, Flucht- und Bestechungsversuche macht und
am nächsten Tage nichts davon weiß.
d) Liegt die Annahme eines Dämmerzustandes nahe, ohne
daß es gelingt, den Fall mit den oben angegebenen Mitteln zu
klären, so ist die sechswöchige Anstaltsbeobachtung sorgfältig aus¬
zunutzen, das Verhalten im Gefängnis besonders genau zu regi¬
strieren (Reizbarkeit, Verstimmungen!). Außerdem ist der Alko¬
holversuch vorzunehmen, der bisweilen noch neue Gesichtspunkte
für die Beurteilung des Falles bringen kann. Er kann allerdings
auch negativ ausfallen').
Man sieht aus den vorstehenden Ausführungen, daß die
Glaubwürdigkeit des Angeschuldigten unter Umständen beim
Nachweis eines Dämmerzustandes eine große Rolle spielen kann.
Bekannt ist, daß vom Täter oft die Behauptung aufgestellt wird,
er könne sich der ihm zur Last gelegten Vorgänge nicht mehr er¬
innern. Daß derartigen Angaben gegenüber Mißtrauen wohl am
Platze ist, ist selbstverständlich. Es wäre aber falsch, daraus
allein auf Simulation zu schließen. Erst dann, wenn die Durch¬
forschung der Vorgeschichte und längere sorgfältige Beobachtung
des Angeschuldigten ein negatives Resultat ergeben haben, ist
dieser Schluß berechtigt.
III. Anhangsweise sind bei den Dämmerzuständen noch
die kurzen Absenzen zu erwähnen. Sie treten anfallsweise
*) Von wichtigen Arbeiten über Bewußtseinstrübungen seien noch
genannt: Moeli, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1900, S. 169. Raecke, Die tran¬
sitorischen Bewußtseinstrübungen der Epileptiker. Halle 1903. Qruhle,
Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Bd. 2, Ref. S. 1. Hinrichsen, Allg.
Zeitschr. f. Psych., Bd. 68, S. 22. Polet, In.-Diss. Utrecht 1911. Vurpas
u. Polack, Revue neurol. 1911, S. 589. M. Qudden, Groß’ Arch. 1907,
S. 346. Im übrigen vergl. auch Kapitel: Epilepsie und Hysterie.
Einen ähnlichen Fall beschreibt Wassermeyer, Friedr. Blätter f.
gerichtl. Medizin 1913.
“) Vergl. Kapitel Untersuchungsmethoden.
Allgemeine Symptomatologie.
42
auf, dauern meist nur wenige Sekunden, höchstens Minuten
und sind gleichfalls mit einer mehr oder minder tiefen
Bewußtseinstrübung verbunden. (Über die Einzelheiten dieses
Symptoms vergl. das Kapitel Epilepsie.)
IV. Zu den Trübungen des Bewußtseins gehören nun noch
a) die Delirien und b) die V'erwirrtheitszustände.
a) D a s D e 1 i r i u m ist gekennzeichnet durch Unorientiert-
heit für Ort und Zeit, eventuell auch für die eigene Person,
ferner durch massenhafte Sinnestäuschungen (häufig ängstlichen
Inhaltes) und lebhafte, fast ununterbrochen bestehende Unruhe.
Beim Alkoholdelirium verkennt der Patient seine Umgebung nicht
selten im Sinne seiner gewohnten Beschäftigung.
b) Verwirrtheitszustände zeigen als wcseTitliches
Symptom die Desorientierung, ferner eine ungenaue Auffassung
der Umgebung, die in wahnliafter Weise umgedeutet wird. Dazu
kommt Ratlosigkeit (starke Beunruhigung infolge mangelhafter
Beurteilung der Umgebung). Auch Sinnestäuschungen spielen
eine große Rolle.
V. Zu erwähnen ist schließlich noch, daß es eine Reihe von
Zuständen bei nicht Geisteskranken gibt, die gleichfalls Bewußt¬
seinstrübungen darstellen. In erster Linie ist der normale tiefe
Schlaf anzuführen, in dem jedes bewußte psychische Geschehen
aufgehoben ist, ferner der Traum. Weiter kommt die Hyp¬
nose') in Betracht, in der durch den Einfluß des Plypnotiseurs
das Bewußtsein des Patienten so eingeengt wird, daß nur be¬
stimmte, suggerierte Vorstellungen darin Platz haben. Nach Ab¬
schluß der hypnotischen Sitzung kann Amnesie bestehen. Wichtig
ist auch, daß mit Hilfe der hypnotischen Suggestion das Urteil
über die Außenwelt weitgehend beeinflußt werden kann.
Man hat auf Grund der Erfahrungen in der Hypnose auch
von dem doppelten Bewußtsein oder Dfippel - Ich ge¬
sprochen und damit die Tatsache gemeint, daß die in einem hypno¬
tischen Zustande erweckten Vorstellungen bei normalem Bewußt¬
sein vergessen sein, während sie in der nächsten Hypnose wieder
auftreten können.
Schließlich ist noch die Schlaftrunkenheit und das Nacht¬
wandeln zu erwähnen.
’) Ausführlich ist das Kapitel Hypnose bei den Erörterungen über
den § 51 Str.G.B. abgehandelt. Dort auch Literatur.
StörutiRen des Qedankenablaufes.
43
Unter Schlaftrunkenheit') versteht man den Zu¬
stand, in welchem sich die Menschen bei langsamem Er¬
wachen befinden. Sie sind für kurze Zeit über die Umgebung
noch nicht richtig orientiert und mißdeuten dieselbe infolgedessen
gelegentlich. Es können in diesem Moment auch affektbetonte
\'orstellungen aus früherer Zeit oder Teile eines Traumes wirk¬
sam werden und dadurch kriminelle Handlungen auslösen.
Das Nachtwandeln“) bei epileptischen, hysterischen
und psychopathischen, vielleicht auch gelegentlich bei gesunden
Persönlichkeiten vorkommend (namentlich bei Kindern), besteht
darin, daß die Betreffenden im Schlaf das Bett verlassen, umher¬
gehen, eventuell auch komplizierte Handlungen ausführen, in das
Bett zurückkehren und am nächsten Morgen nichts davon wissen.
Störungen des Gedankenablaufes.
Der Gedankenablauf kann formal und inhaltlich gestört sein.
a) Pormale Störidigen sind entweder durch Änderung der
Geschwindigkeit des Vorstellungsablaufes gekennzeichnet oder
durch Unfähigkeit die einzelnen Vorstellungen und Gedanken¬
reihen aneinanderzufügen.
So gibt es eine Verlangsamung des Denkens (D e n k h e m -
mung). Sie ist meist eine Teilerscheinung einer depressiven
X'erstimmung und dort mit ihren sonstigen Begleiterscheinungen
bereits Ireschrieben.
Umgekehrt kommt (z. B. bei der Manie) eine Beschleunigung
des Ablaufes der Vorstellungen — ,,I d e e n f 1 u c h t“ — vor.
Die dritte Form stellt die sog. Inkohaerenz dar. Das
zusammenhängende Denken ist aufgehoben. Es tritt Desorien¬
tiertheit ein, die sich mit Ratlosigkeit verbindet. Mitunter werden
einzelne Worte oder Sätze öfters wiederholt (Perseveration).
') Krafft-Cbing, Die transitorischen Störunsen des Selbstbewußt¬
seins. Erlangen 1868. Spitta, Schlafzustünde. Tübingen 1882. H. Groß,
Handbuch f. Untersuchungsrichter, S. 204. München 1908. Naecke, Groß'
Arch., Bd. .8, S. 114. v. Mackowitz, Groß’ Arch., Bd. 13, S. 161. H. Groß,
Groß' Arch., Bd. 14, S. 189. Siefert, ibid., Bd. 16, S. 242. R. Sieber, ibid.,
Bd. 21, S. 110. H. Groß, ibid., Bd. 22, S. 278 . H. Gudden, Arch. f. Fsych.,
Bd. 40, Heft 3. F. Leppinann, Ärztl. Sachverst. - Zeitg. 1906, Nr. 12.
Przeworski, Groß’ Arch., Bd. 25," S. 99. Mayer, Jahrb. f. Psych., Bd. II,
S. 236.
-) \V. Steinbiß, Seltener Fall von transitorischer Bewußtseins¬
trübung. Groß’ Arch., Bd. 15, S. 309.
Allgemeine Symptomatologie.
44
b) Inhaltliche Störungen des Gedankenablaufes. Es handelt
sich um Fälschungen des Vorstellungsinhaltes, die nicht selten zu
Handlungen führen, welche straf- oder zivilrechtliche Bedeutung
liesitzen. Man unterscheidet Sinnestäuschungen und Wahnideen.
I. Sinnestäuschungen. Dieselben werden eingeteilt in Hallu¬
zinationen'), Pseudohalluzinationen und Illusionen.
PI a 11 u z i n a t i o n e n sind subjektive Wahrnehmungen,
denen kein äußeres Objekt entspricht, d. h. der halluzinierende
Mensch, sieht, hört, riecht, schmeckt oder fühlt etwas, was in
Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Er ist aber von dem Vor¬
handensein seiner subjektiven Wahrnehmung fest überzeugt. Die
Halluzination hat für ihn dieselbe sinnlicbe Deutlichkeit, wie ein
wirklich vorhandener Gegenstand. Der Kranke betrachtet des¬
halb auch seine Halluzinationen als real existierend.
Pseudo h all uzinationen entstehen gleichfalls itn
Gehirn des Kranken, ohne daß ihnen ein Objekt in der Außenwelt
entspräche. Sie können die gleiche sinnliche Deutlichkeit, wie
wirklich vorhandene Gegenstände haben. Das Individuum, welches
die Pscudohalluzinationen ’) wahrnimmt, bleibt sich aber im
Gegensatz zum Plalluzinanten dessen bewußt, daß eine krankhafte
Störung des Gedankenablaufes vorliegt.
Illusionen sind dadurch ausgezeichnet, daß sie durch
einen Sinnesreiz ausgelöst werden, also an ein wirklich vorhan¬
denes Objekt anknüpfen, dieses aber umdeuten. Begünstigt wird
die illusionäre Verkennung von Gegenständen, wenn die W'ahr-
nehmung derselben erschwert ist.
Beispiel: Einer unserer Deliranten trat in der Vorlesung fort¬
während Wanzen tot, die er auf dem Fußboden zu sehen glaubte.
Wenn man ihn aufforderte, ein solches Tiei aufzuheben, griff
er nach kleinen Unebenheiten am Fußtoden, die er in dem an¬
gegebenen Sinne umdeutete.
Ooldstein, Theorie der Halluzinationen. Arcli f. Psych., Bd. 44.
Grenzfragen. Wiesbaden 1912. J. F. Bergmann. Zeitschr. f. d. ges.
Neurol. 1913. Jaspers, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. 1911. Berze, Arch. f.
Psych., Bd. 46. Fauser, Neurol. Zentralbl. 1911, S. 699. Heveroch. Zeit¬
schr. f. d. ges. Neurol. 1911.
-) Kaindl, Physiol. Grenzen der Gesichtshalluzinationen. Psychol.
Studien, H. 1—l. Jaspers, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. 1911. Ref.
Stransky, Neurol. Zentralbl. 1911. Hübner, Allg. Zeitschr. f. Psych.
1912. Klieneberger, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1912. Vorkastner, Deutsche
med. Wüchenschr. 1912, S. 292.
Störungen des Gedankenablaufes.
45
Einteilung der Halluzinationen; a) Optische
(=^ V’isionen). Es kommen elementare Halluzinationen (Punkte,
Funken, Kreise, Farben, Blut und Feuer [Epilepsie]) und kompli¬
ziertere \'isionen vor (Gestalten, Szenen, Landschaften). Mit¬
unter werden die V'isionen als blaß und schattenhaft beschrieben,
haben also nicht ganz die sinnliche Deutlichkeit realer Objekte;
meist ist letzteres allerdings der Fall.
Sic kommen vor bei Alkoholdcliranten (Tiere, Jahrmarkts¬
und ähnlichen Szenen, drohende Gestalten), im epileptischen Deli¬
rium (religiöse Szenen), bei den Infektionspsychosen (ängstlicher
Inhalt), bei der Amentia usw.
Beim Alkoholdelirium kann man durch Druck auf die Augen
(Licpmannschcs Symptom) Visionen auslösen. Ebenso gelingt
es, den Patienten von einem unbeschriebenen Papier allerlei ab¬
lesen zu lassen (Reichardt). Ferner hört er, ans Telefon gestellt,
aus demselben lange Gespräche (Aschaffenburg). Zum Teil
handelt es sich dabei wohl auch um Illusionen.
Gesichtshalluzinationen sind nicht selten aus der Haltung und
den sprachlichen Äußerungen des Patienten zu erkennen (die
Kianken blicken nach der Richtung, in der sie Gestalten zu sehen
glauben). Sehr oft berichten sie selbst über ihre Erlebnisse.
Eventuell muß man sie aber auch danach fragen.
b) AkustischeHalluzinationen sind häufiger als
optische. Die elementaren Formen (Schießen, Donner, Sausen)
werden als Akoasmen bezeichnet. Hört der Patient ,,Stim¬
men“, so spricht man von Phonemen. Die letzteren können
dem Kranken so laut erscheinen, wie wirkliche menschliche Stim¬
men. Nicht selten hört er aber nur Flüstern, versteht sogar nicht
alles, was die Stimmen sagen, und ergänzt deshalb das nicht Ver¬
standene durch Wahnvorstellungen. Die Stimmen können so
deutlich sein, daß der Patient eine bestimmte Person daraus zu
erkennen glaubt. Sie kommen aus einer Zimmerecke, dem Fuß-
lx)den, von der Decke herab, aus den Heizröhren, „durch die
Wand“ usw. Nicht selten gibt der Patient die Richtung an, aus
der die Phoneme kommen. Bisweilen sprechen die Kranken von
sog. „inneren Stimmen“, d. h. die Stimmen werden in den eigenen
Körper lokalisiert.
Inhaltlich handelt es sich meist um unangenehme Dinge.
Es sind Bedrohungen, höhnische Bemerkungen und Beschimpfun¬
gen, die vernommen werden. In anderen Fällen erhält der
46
Allgemeine Symptomatologie.
Kranke von den Stimmen Anweisungen Gottes, in welcher
Weise er eine hohe Mission, zu der er ausersehen, auf Erden er¬
füllen könne und Ähnliches.
Eine eigenartige Form der Akoasmen stellt das Gedanken-
lau t w e r d e n dar. Alles, was der Kranke denkt oder spricht,
wird ihm von den Stimmen entweder vor- oder nacligesprochen.
Forensisch besonders wiclitig sind die sogen, imperativen
Stimme n. Der Kranke erhält durch die Stimmen Befehle, die
er meist auch dann ausführt, wenn er damit ein schweres Ver¬
brechen begeht. Es ist auf diesem Wege mehrfach zu Mordtaten
gekommen (z. B. von Irrenärzten in der Anstalt). Die Patienten
sträuben sich selbst mitunter stark dagegen, den halluzinierten
Auftrag auszuführen. Schließlich erliegen sie der Macht der
Stimmen doch.
c) Geschmacks- und G e r u c h s h a 11 u z i n a t i o -
n e n. Die Kranken verspüren heim Essen einen bitteren, salzigen
usw. Geschmack, der ihnen verdächtig erscheint. Oder sie
glauhen einen besonderen Geruch im Zimmer wahrzunehmen, den
sie auf giftige Gase zurückführen, welche von ihren Feinden in
die Wohnung geleitet werden. Andere gehen an, das Essen habe
einen besonderen Geruch an sich und schließen daraus auf V'^er-
giftungsversuche.
Auch diese Form der Halluzinationen ist von großer sozialer
Bedeutung. Sie führt unter PJmständen zu Denunziationen, Ab¬
wehrmaßnahmen, Nahrungsverweigerung, häufigem Wohnungs¬
wechsel, ruhelosem Umherziehen, Selbstverstümmelung und
Selbstmord.
d) Halluzinationen des G e f ü h 1 s s i n n e s. Die
bekannteste Art ist die des physikali.schen Verfolgungswahnes.
Die Kranken glauben sich Tag und Nacht von elektrischen
Strahlen gepeinigt. Sie fühlen, daß ihnen Bazillen mittelst Elek¬
trizität oder Telepathie in die Haut eingerieben werden. Sie
werden nachts gezwickt und gestochen, man belästigt sie an den
Geschlechtsteilen, zieht ihnen ,,die Natur ab“, um sie zu
schwächen, und zieht ihnen am After, um die Stuhlentleerung
zu erschweren, t^’orwiegend hei chronischen paranoiden Geistes¬
störungen.)
') Gramer, Arcli. f. Psycli., Bd. 30.
Störungen des Qedankenablaufes.
47
Den Alkoholdcliranten wiederum kann man einen imaginären
Gegenstand in die Hand drücken mit der Aufforderung, damit
zu hantieren. Sie tun es auf der Höhe des Deliriums prompt.
Von kinästhetischen Halluzinationen spricht man dann,
wenn entweder Teile des eigenen Körpers oder der Außenwelt,
infolge von Täuschungen des Lagegefühls eine abnorme Stel¬
lung erhalten oder in ihrer Beweglichkeit beeinflußt werden.
Einer unserer Kranken ging z. B. wochenlang ganz schief, weil
er von seinen Feinden gezwungen wurde, diese Haltung beizu¬
behalten. Ein Alkoholdelirant lief schreiend im Saal umher und
suchte die Wände zu stützen, weil er glaubte, dieselbea stürz¬
ten ein.
Die Erkennung des Halluzinanten macht selten Schwierig¬
keiten, am wenigsten dann, wenn er, wie das meist geschieht,
selbst von seinen Erlebnissen spricht.
Wird dissimuliert, d. h. verschweigt der Patient ab¬
sichtlich seine Krankheitserscheinungen, dann kann man aus
seinem Verhalten bei längerer Beobachtung noch
Schlüsse ziehen. So flicht er in die Unterhaltung mitunter
Sachen ein, die eine Antwort auf die Äußerungen der Stimmen,
nicht aber auf die Frage des Untersuchers darstellen. Er horcht,
wenn er sich unbeobachtet glaubt, gesi)annt nach einer bestimm¬
ten Richtung, macht heimliche Zeichen, spricht vor sich hin,
geht in stolzer Haltung umher, läßt in der Kleidung Besonder¬
heiten erkennen, oder er verhält sich, ohne das näher zu moti¬
vieren, bestimmten Personen gegenüber ablehnend und ähnliches.
Auch sein I.,eben in der Außenwelt (zurückgezogenes Vege¬
tieren Ijei ungenügender Nahrung, nächtliche Skandalszenen in
der allein bewohnten Wohnung, häufiger Domizilwechsel, Denun¬
ziationen an Behörden, gerichtet gegen die vermeintlichen Ver¬
folger, Selbstmordversuche usw.) geben Anhaltspunkte.
Eine wichtige und bekannte Form der Illusionen ist die
1’ c r s o n e n v e r k e n n u n g. Fußend auf einer vermeintlichen,
mitunter auch wohl wirklich vorhandenen ganz geringfügigen
Ähnlichkeit mit einem der angenommenen Feinde erklärt der
Patient eine Person seiner Umgebung für diesen anderen.
Da Sinnestäuschungen ebenso wie die sogleich zu bespre¬
chenden Wahnvorstellungen sehr leicht zu antisozialen Hand¬
lungen führen können, ist es nötig, sich klar zu machen, daß
alle diese Handlungen von krankhaften Motiven diktiert sind
48
Allgemeine Symptomatologie.
und daß die Motive eine zwingende Macht über den Patienten
besitzen.
2. Wahnideen^) sind krankhaft gefälschte, unkorrigier¬
bare Vorstellungen (Hoche). Vom Irrtum unterscheidet sich die
Wahnvorstellung durch die Unkorrigierbarkeit und die Art der
Entstehung.
Weder das Experiment noch die stärkste Logik sind im¬
stande, einen Kranken von einer Wahnidee abzubringen, wäh¬
rend ein Irrtum erkannt und korrigiert wird, wenn die erforder¬
lichen Beweismittel beigebracht sind. Hinderlich ist der Kor¬
rektur einer Wahnidee die lebhafte Gefühlsbetonung und die Ver¬
fälschung des Urteils.
Wahnideen entstehen entweder aus Sinnestäuschungen (Er¬
klärungswahn) oder aus einer krankhaft veränderten Stimmung
heraus (z. B. der Größen- und Kleinheitswahn s. u.), oder drit¬
tens sie entstehen autochthon, d. h. plötzlich und ohne erkennbare
äußere Ursachen.
Der Irrtum entsteht aus ungenauer Wahrnehmung, mangel¬
hafter Auffassung oder Zufälligkeiten, mit deren Vervollständi¬
gung er korrigiert wird.
Wenn man den Unterschied zwischen Irrtum und Wahnvor¬
stellungen anders ausdrücken will, kann man auch sagen: Ein
Irrtum baut sich auf der Kenntnis eines bestimmten unvollstän¬
digen Tatsachenmaterials auf. Aus dem Letzteren würden auch
andere Personen, als die im Irrtum befangenen, den gleichen
Schluß ziehen. Bei einer Wahnidee gelangt zu der pathologischen
Schlußfolgerung aber nur der Kranke selbst, kaum jemals ein
Gesunder, weil sie auf einer Urteilsfälschung beruht.
Wahnideen stehen fast immer zu der eigenen Persönlich¬
keit des Kranken in Beziehung.
Nahe verwandt mit der Wahnvorstellung ist der Aber¬
glauben-), der ebenso, wie Sinnestäu.schungcn und Wahn¬
ideen das Handeln der Menschen weitgehendst beeinflußt.
’) Friedmann, Monatsschr. f. Psych. 1897. Heveroch, Zeitsclir. f. d.
gcs. Neiirol. u. Psych., Bd. 7.
*) R. Qaupp, Arch. f. Kriminalanthrop. 1907, S. 20. HelKvig. Groß'
Arch., Bd. 28. S. 358 u. 369. Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht.
Berlin 1897. Ferner: H. Groß, Handb. f. Untersuchungsrichter, Bd. 1,
S. 464. München 1908 bei Schweitzer. Dort viel Literatur. Horst-
49
StörunRcn des Qedankenablaufes.
^^an teilt die Wahnvorstellungen in zwei große Gruppen:
a) Die expansiven Wahnideen (Größenwahn)
äußern sich dadurch, daß der Kranke sich selbst und seine Fähig¬
keiten überschätzt. Ein einfacher Schuhmacher hält sich für
Christus, Gott, einen Fürsten, Zeppelin und ähnliches. Er besitzt
loooo Automobile, war bereits auf dem Mond, ist mit 30 Prin¬
zessinnen verheiratet, kann täglich 10 Millionen verschenken, will
die Welt von allen Steuern befreien, hat ein Mittel gegen das
Sterben erfunden, kann hundertmal hintereinander koitieren, hat
soviel Geld, daß er bei Aschinger schon zum i. Frühstück für
I Mark belegte Brötchen essen kann. (Größenideen bei pro¬
gressiver Paralyse.)
Bei manischen Kranken ist es uns mehrfach begegnet, daß
sie vage Erbschaften oder Adelsansprüche aufgriffen und in der
Zeit der Krankheit durchzufechten suchten. Auch andere Größen¬
ideen (großer Dichter und Künstler usw.) kommen bei der Manie
vor, werden aber nicht dauernd festgehalten und sind mehr der
•Ausfluß der Neigung solcher Kranker zum Posieren und zu
Scherzen.
Wichtiger ist der Größenwahn bei der Paranoia chronica.
Der Kranke hält sich für einen Propheten, Weltbeglücker, großen
Künstler, Erfinder oder einen in seinem Beruf besonders tüch¬
tigen Mann, der wegen seiner Mission oder hohen Begabung von
Berufsgenossen und anderen Menschen beneidet und infolge¬
dessen .schikaniert und verfolgt wird, während verständnisvollere,
höher gestellte Personen ihn fördern. Eine Prinzessin wird ihn
heiraten. Er soll in hohe Staatsämter hineingebracht werden.
Alles das suchen nun seine Feinde mit den niedrigsten Mitteln zu
verhindern und deshalb muß er kämpfen usw.
Aus diesem Beispiel ist auch zu ersehen, wie sich mit den
Größenideen der Verfolgungswahn verbindet, — eine Kombina¬
tion, die gerade bei der chronischen Paranoia vorkommt.
Größenvorstellungen kommen außer bei den schon erwähnten
Psychosen noch bei der Katatonie, der Epilepsie, Hysterie (in
Dämmerzuständen) und Altersdemenz vor. Eine dem Größen¬
wahn zum mindesten sehr nahestehende Beurteilung der eigenen
mann, Zeitschr. f. d. ges. Neurol., Bd. 2, S. 216. Meyerhof, In.-Diss.
Heidelberg 1910.
Hübner) Forensische Psychiatrie.
4
50
AllKemeine Symptoinatologie.
Persönlichkeit und ihrer Leistungen zeigen auch manche Queru¬
lanten (vgl. dieses Kapitel).
Die forensische Bedeutung des Größenwahnes
liegt in dem Mißverhältnis zwischen Wahn und Wirklichkeit. Da
die Kranken mehr zu sein glauben, als sie sind, setzen sie sich
über bestehende Gesetze hinweg, suchen die Aufmerksamkeit eines
größeren Kreises zu erregen, weil sie auf diese Weise für ihre
Ziele am ehesten Propaganda zu machen hoffen. So kommt es
zu Beleidigungen, Erregung von Aufläufen, Schlägereien. Oder
sie verfügen über Wertgegenstände, die ihnen nicht gehören,
machen Einkäufe, die über ihre wirkliche Kaufkraft weit hinaus¬
gehen; auch Zechprellereien kommen vor, so daß Anklagen wegen
Unterschlagung, Betrug usw. die Folge sind.
In zivilrechtlicher Beziehung kommt es auf diese Weise
zu großen Geldausgaben, unzweckmäßigen Heiraten, Ausbeu¬
tungsversuchen durch Dirnen und Kuppler sowie kostspieligen
Prozessen.
b) Die depressiven Wahnideen.
Sie werden eingeteilt in solche, die sich auf die eigene Per¬
sönlichkeit und solche, die sich auf die Außenwelt beziehen. Zu
der ersteren Gruppe gehören die melancholischen Wahn¬
vorstellungen. Die Kranken suchen ein belangloses, wirklich
erlebtes oder eingebildetes Vorkommnis aus ihrer Vergangenheit
heraus und machen sich über ihr damaliges Verhalten Vorwürfe
(Selbstvorwürfe!). Häufig kommt die Vorstellung, Selbst-
bcfleckung getrieben, unwürdig kommuniziert, die Familie durch
schlechte Geschäftsführung ins Unglück gebracht zu haben und
ähnliches vor (Versündigungswahn). Damit verbindet sich ge¬
wöhnlich „Klcinheitswahn“, d. h. die Kranken halten sich für
unwürdige, verdammenswerte Geschöpfe, die nicht in eine
Krankenanstalt, sondern ins Zuchthaus gehören usw. (vgl. Kapitel
Melancholie). Von der Zukunft erwarten sie nichts Gutes mehr.
Sie halten sich für ewig verloren, unheilbar, dem Tode und der
Hölle verfallen, glauben das Essen und den Aufenthalt in der
Anstalt nicht bezahlen zu können (Verarmungsvvahn) usw.
Die sozialen Konsequenzen dieser Wahnideen sind i. Selbst¬
mordversuche, die von dem gleichen Kranken unter Umständen
mit größter Zähigkeit wiederholt werden. 2. Von strafrecht¬
licher Bedeutung ist die Tatsache, daß mit diesen Selbstmord-
52 Allgemeine Symptomatologie.
führen sie zu vielen ülicrflüssigen Ausgaben für ärztlielie Be¬
handlung, Medikamente, Kuren aller Arten, Ankauf von Geheiin-
initteln, Bezahlung von Kurpfuschern und ähnlichem. Man sagt
nicht zuviel mit der Behauptung, daß es keinen therapeutischen
Schwindel, und sei er auch noch so plump, gibt, auf den nicht
Hypochonder in Massen hereinfallen.
Der Verfolgungswahn ist forensisch die wichtigste
I'orm der Wahnbildung. Häufig werden von ihm Menschen
befallen, die von Jugend auf zu Mißtrauen neigen. In anderen
Fällen wird er für längere oder kürzere Zeit durch erschöpfende
Krankheiten (Tuberkulose), Kokain- und Alkoholmißbrauch
sowie hohes Alter ausgelöst. Besonders gefährlich sind die
Kokainisten’). Bei den meisten Kranken dieser zweiten Gruppe
muß man wohl auch eine gewisse Disposition voraussetzen.
Der Entstehung des \'crfolgungswahnes geht für gewöhnlich
eine Änderung des Gesamtbefindens des Kranken voraus. Die
Patienten fühlen sich anders, wie früher. Meist ist ihre Stim¬
mung gehoben. Sie sehen die Welt mit anderen Augen an. Sie
betrachten infolgedessen ihre Umgebung genauer und entdecken
zunächst unklare, nicht sicher zu deutende Dinge, bis ihnen all¬
mählich die Gewißheit kommt, daß man gegen sic intrigiert,
ein Komplott gegen sie geschmiedet hat usw.
Beispiel: Ein 21 jähriger Sattler glaubte zu beobachten, daß
die Offiziere, welche auf der Straße an ihm vorbei gingen,
stramme Haltung annahmen und die Hand an den Säbel legten,
,,nicht sehr auffällig, aber doch deutlich erkennbar“. Sie trugen
auch alle hochgekämmte Schnurrbärte und bissen sich auf die
I.ippen, wenn sie ihn sahen. Nach längerem Nnchdenken kam
Patient auf die Idee, er sei ein Prinz von Schaumburg-Lil)pe.
Die Haltungsätiderung der Offiziere sollte ihm seine hohe StcK
hing andeuten, der hochgekämmte Schnurrhart die Verwandt¬
schaft mit dem Kaiser und die Eippenbewegungen das Herrscher¬
haus, dem er selbst angchöre. Schon frühzeitig bemerkte er
aber auch, daß einzelne Personen, die ihm begegneten, ihm
weniger gut gesinnt waren. Sie belästigten ihn auf der Straße,
rempelten ihn gelegentlich an, streckten ihm die Zunge heraus,
machten Feuer unter seinem Sitz im Straßenbahnwagen. Im
*) Erlenmcyer, BeliaiidliiiiK des Morpliiiiismiis und Kokainismus in
Penzüldt-Stintziiiss Handbuch der inneren Medizin. Jena. ü. Fischer.
Störungen des Gedankenablaufes.
53
W’artesaal zu C. fixierte ihn ein Italiener so stark, daß er den¬
selben totgeschossen hätte, wenn er damals im Besitz eines Revol¬
vers gewesen wäre. Bald merkte er denn auch, daß es eine
„warme Gesellschaft“ war, die ihn verfolgte. Es wurden ihm
Obszönitäten homosexuellen Inhalts zugerufen usw.
Bevor er diese Wahrnehmungen machte, hatte er sich etwa
ein Jahr krank gefühlt. Er konnte in dieser Zeit nicht klar
denken und hatte auch viel Kopfschmerzen.
Das eben kurz wiedergegebene Beispiel ist insofern sehr in¬
struktiv, als es uns das Vorstadium (Kopfschmerzen, Unfähig¬
keit, klar zu denken) zeigt, ferner den Beginn der eigentlichen
Geistesstörung mit Beziehungsvorstellungen. In
diesem Stadium bezog der Patient belanglose V'orgänge in seiner
Umgebung auf sich. Bald kam Größenwahn hinzu (er war
I’rinz), an den sich schließlich auch der eigentliche Verfolgungs¬
wahn anschloß. Der Kranke deutete also zunächst einzelne Wahr¬
nehmungen wahnhaft und faßte dieselben schließlich durch Kom¬
bination zu einem System zusammen.
Erleichtert wird die Bildung des letzteren, wenn noch
Sinnestäuschungen hinzukommen, was in der Mehrzahl der Fälle
wohl geschieht.
Sinnestäuschungen spielen auch bei dem sogenannten phy¬
sikalischen Verfolgungswahn eine große Rolle.
Die Kranken haben dabei Halluzinationen des Gefühlssinns, deren
Entstehung sie sich so denken, daß ihre Verfolger besondere
Maschinen, Instrumente oder Strahlen gegen sie richten und auf
diese Weise aus der Ferne ihnen die unangenehmen Empfin¬
dungen, welche sie haben, erzeugen.
Spezialfälle von Beeinträchtigungswahn stellen der Eifer-
s u c h t s - ‘) und Q u e r u 1 a n t e n w a h n “) dar. Ersterer kommt
hauptsächlich bei Trinkern, dann auch bei Altersschwachsinnigen
und Degenerierten vor und führt öfter zu Körperverletzungen und
sogar Mordversuchen. Der sog. Querulantenwahn beruht auf der
Annahme einer rechtlichen Benachteiligung, von der ausgehend
der Patient zu prozessieren beginnt. Im Verlauf der verschie¬
denen Rechtsstreitigkeiten kommt es dann zu Beamtenbeleidi¬
gungen und ähnlichen Straftaten. —
’) E. Meyer, Arch. f. Psycli. 1910. Jaspers, Zeitschr. f. d. ges. Neurol.
1910, S. 567.
') S. dieses Kapitel.
54
Allgemeine Symptomatologie,
Es ist oben der Ausdruck Wahnsystem gebraucht
worden. Man versteht darunter das Bestreben mancher Kranken,
alle wahnhaften Vorstellungen in einheitlicher Weise zu erklären
und neu gemachte Erfahrungen dem bisherigen Bestände an
Wahnideen einzuordnen, bezw. anzupassen. Da neue Wahrneh¬
mungen nicht ausbleiben, baut ein solcher Kranker dauernd an
seinem System.
Die Zahl und Art der Wahnvorstellungen richtet sich nach
dem Stande der Intelligenz des Individuums. Imbezille können
keine so vollständigen Wahnsysteme bilden, wie geistig hoch¬
stehende Menschen. Auch der Inhalt ihrer krankhaften Vor¬
stellungen wird durch die Urteilsschwäche und Enge des Ge¬
dankenkreises beeinflußt. Am deutlichsten tritt die psychische
Schwäche bei dem Größenwahn der Paralytiker und bei manchen
Wahnvorstellungen der Dementia praecox-Gruppe hervor.
Es ist bereits oben erwähnt worden, daß der Nachweis
von Wahnvorstellungen schwer sein kann. Dies trifft
besonders dann zu, wenn Sinnestäuschungen, sei es vollkommen
fehlen, sei es wenig zahlreich und schwer erkennbar sind. Bei
diesen Fällen ist deshalb in der Sprechstunde und bei kurzen
Untersuchungen größte Vorsicht geboten. Wie schwer es manch¬
mal ist, auch bei mehrfachen Untersuchungen ohne klinische
Beobachtung eine solche Erkrankung zu erkennen, bewies uns ein
Sensationsfall, in dem eine Dame mit jahrzehntelang bestehender
chronischer Paranoia sich von 6 anerkannten Psychiatern auf
Grund von Sprechstundenuntersuchungen hatte Atteste besorgen
können, in denen sie als strafrechtlich verantwortlich und voll ge¬
schäftsfähig bezeichnet war.
Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen.
In den letzten Kapiteln haben wir Störungen des Handelns
und des Vorstellungsablaufcs kennen gelernt. Wir müssen unsere
Betrachtungen über diese Symptome noch nach einer Richtung
ergänzen, nämlich bezüglich der Zwangsvorgänge.
In Anlehnung an C. Westphal und Bunike “) wollen wir
darunter Vorstellungen und Handlungen verstehen, die „bei
*) C. Westphal, Arcli. f. Psych., Bd. 3.
“) Bumke, Was sind Zwangsvorgäiiice? Halle a. S. 1906. C. Marhold.
Fauser, Zeiitralbl. f. Nerveiilikde. 1905. Warda, Arch. f. Psych. 1905.
Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen.
55
übrigens intakter Intelligenz und ohne durch einen Gefühls-
odcr affektartigen Zustand bedingt zu sein, gegen und wider den
Willen des betreffenden Menschen in den Vordergrund des Be¬
wußtseins treten, sich nicht verscheuchen lassen, den normalen
Ablauf der Vorstellungen hindern und durchkreuzen, welche der
Befallene stets als abnorm, ihm fremdartig anerkennt und denen
er mit seinem gesunden Bewußtsein gegenübersteht“.
Das Wesentliche aus der oben zitierten Definition ist i. das
subjektive Gefühl des Zwanges, welches den Kranken be¬
herrscht und 2. die Einsicht, daß die Vorstellungen oder Hand¬
lungen krankhaft sind (,,P'remdkörper im Bewußtsein“).
Auch der Umstand, daß Störungen des Gefühlslebens bei der
Entstehung von Zwangsvorstellungen keine erhebliche Rolle
spielen, ist hervorzuheben, denn dadurch, sowie durch das Fehlen
des subjektiven Zwangsgefühls unterscheiden sie sich von den
„Trieben“ und „Instinkten“.
Es ist also keine inhaltliche Verfälschung des Vor¬
stellungslebens, welche wir vor uns haben, sondern nur eine
Störung des Ablaufes der Vorstellungen, die von dem
Kranken selbst richtig beurteilt und als krankhaft empfunden
wird. Der Patient sträubt sich innerlich dagegen, daß sich diese
Vorstellung so stark in den Vordergrund seines Bewußtseins
drängt, er vermag aber nichts dagegen zu tun.
ln den eben angeführten Merkmalen ist auch der wesent¬
liche Unterschied gegenüber der Wahnvorstellung enthalten. Bei
letzterer handelt es sich nicht um eine formale, sondern um eine
inhaltliche Störung, die in dem Bewußtseinsinhalt des
Kranken keine besonders hervorragende Stelle einzunehmen
braucht; die Wahnvorstellung beruht auf einer Störung des Ur¬
teils und oft auch auf einer solchen des Gefühlslebens (s. o.);
sic wird kaum jemals als etwas Lästiges empfunden, sie bildet
im Gegenteil sehr bald einen wesentlichen und für den Kranken
unentbehrlichen Teil des Bewußtseinsinhaltes.
Es gibt nun einige Spezialfälle, in denen die eben zitierten
Unterschiede sich, sei es vorübergehend, sei es für längere Zeit
verwischen.
Hasche-Klünder, Zeitschr. i. d. ges. Ncurol. 1910, Bd. 1, Heft 1. Thomsen,
Arcli. f. Psych., Bd. 44. Schilling, In.-Diss. Tübingen 1910. Maxim.
Lemke, In.-Diss. Greifswald 1902.
Allgemeine Symptomatologie,
5^.
a) Elienso, wie für die sogenannten Pseudohalluzinationcn,
welche oben bereits erwähnt worden sind, kann auch für die
Zwangsvorstellungen vorübergehend die Krankheitseinsicht ver¬
loren gehen, so daß der Patient Pseudohalluzinationen und
Zwangsvorstellungen nicht mehr als etwas Abnormes ansieht; sie
nehmen in seiner Psyche vielmehr die Stellung von Wahnideen
ein. Dies geschieht in erster Linie dann, wenn das erkrankte
Individuum sich in lebhafter psychischer Erregung befindet,
namentlich depressive Verstimmungen (Melancholie und Hysterie)
wirken vorübergehend in diesem Sinne.
Daß die Verfälschung des Urteils sehr lange anhält, kommt
nicht oft vor.
Umgekehrt können Wahnvorstellungen, namentlich im Be¬
ginn paranoischer Erkrankungen als etwas dem Bewußtseins¬
inhalt Fremdes, aber nicht Abzuschüttelndes empfunden werden,
bis schließlich eines Tages die Kritik verstummt, das Gefühl des
subjektiven Zwanges schwindet und die Wahnidee alle Kenn¬
zeichen einer solchen an sich trägt.
c) Ist der Möglichkeit zu gedenken, welche von Heilbronner,
Hasche-Klünder u. a. in den letzten Jahren erörtert worden ist,
daß sich aus den Zwangsvorstellungen chronische Psychosen ent¬
wickeln. —
Fragen wir mm, wo Zwangsvorstellungen Vorkommen, so
sind in erster Linie die sogenannten endogenen Psychosen (z. B.
die Melancholie) zu nennen, daneben die Entartungszustände.
Bei anderen Erkrankungen kommen sie verhältnismäßig selten
zur Beobachtung. Zu erwähnen wären höchstens noch die Er¬
schöpfungszustände und die Gravidität, während der gelegentlich
auch Zwangsvorstellungen in Erscheinung treten.
Bei Leuten, die zur Nervosität an sich disix>niert sind,
tauchen bisweilen Zwangsvorstellungen bei der physiologischen
Ermüdung auf. —
Wenn wir die Zwangsvorgänge einteilen wollen, so ist es am
zweckmäßigsten, Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen zu
unterscheiden. Die ersteren sind forensisch insofern wenig von
Bedeutung, als sie zwar dem Individuum sehr lästig sind, aber
nicht zu motorischen Entladungen führen. Erwähnt sei die
Zweifelsucht.
Beispiel. Ein solcher Kranker steckt sich in seiner Wohnung eine
Zigarre an, loscht das Zündholz vorsichtig aus und wirft es auf den
Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen.
57
Boden. Er verläßt das Haus, fährt mit der Bahn fort und kann nun den
Gedanken nicht los werden, ob er auch das Zündholz gut ausgelöscht
hat. Dauernd beseelt ihn die mit einem unbehaglichen Gefühl ver¬
bundene Befürchtung, daß im Hause ein Feuer entstehen könnte.
Weiterhin sind zu nennen die Zwangsbefürchtungen (Pho¬
bien). Wenn auch durch sie der Kranke wohl kaum jemals zu
ungesetzlichen Handlungen getrieben wird, so beeinflussen sie
doch sein Handeln in hohem Maße. Hierher gehört die Be¬
schmutzungsfurcht (Mysophobie), ferner die Agoraphobie (durch
Zwangsvorstellungen bedingte Unfähigkeit, über freie Plätze zu
gehen), die Erythrophobie (Furcht, in Gegenwart von Fremden
zu erröten) und ähnliches mehr.
Diese Phobien sind insofern bedeutungsvoller, als sie die
Kranken zu merkwürdigen Handlungen veranlassen. Patienten
mit Agoraphobie vermeiden es, selbst wenn sie dadurch große
Umwege machen müssen, über einen Platz zu schreiten. Einer
unserer Kranken fuhr, wenn sich das nicht vermeiden ließ, mit
einem Wagen über den Platz oder schlich sich an den Pläusern
entlang. Ein anderer Patient unserer Klinik wollte durch enge
Straßen nicht gehen, weil er die Zwangsvorstellung hatte, die
Häuser würden Umfallen und ihn töten. Diese Zwangsvorstellung
trat nicht auf, wenn er dieselbe Straße in einer Trambahn
durchfuhr. Das Gefühl, ein Dach über sich zu haben, genügte,
sie zurückzudrängen.
Bei allen diesen Kranken zeigt sich ein lebhaftes Angstgefühl,
wenn sie wissen, daß sie in die ihnen so unangenehme Situation
gelangen oder davorstehen; es folgt ein Gefühl der Erleichte¬
rung, wenn sie aus der unangenehmen Lage heraus sind. Ganz
bedeutungslos sind die Zwangsvorstellungen deshalb nicht, weil
sie unter Umständen für den Kranken selbst sehr unangenehme
Konsequenzen haben können.
So mußte in unserer Klinik lange eine Hystcrika mit Be¬
schmutzungsfurcht gegen ihren Willen festgehalten werden, weil
sie zu Hause ihre Umgebung mit den gröbsten Schimpfworten
belegte und auch vielfach tätlich wurde, wenn man auf ihre
Zwangsvorstellungen keine Rücksicht nahm. Auch während
des Aufenthaltes in der Klinik hat sie mehrfach die Pflege¬
rinnen angegriffen. Die Krankheitsgeschichte ist nach dieser
Richtung hin so charakteristisch, daß sie kurz hier wieder¬
gegeben sei.
58
Allgemeine Symptomatologie,
Bei der Dame waren die Zwangsvorstellungen entstanden, nachdem
sie einen eitriger Ausfluß aus den Genitalien bekommen hatte. Es trat
zunächst bei ihr die Befürchtung auf, daß das Sekret in die Wäsche
dringen und aut diese W'eise an ihrem Körper haften bleiben müsse, daß
sie daher dauernd schmutzig sei. Schon deshalb allein fing sie an, die
Hände fortwährend zu waschen bis die Haut durchgerieben war. Später
dehnte sich der Kreis etwas weiter aus. Sie konnte keine Türklinke mehr
berühren, sondern öffnete sich die Tür mit dem Ellenbogen. W'enn sie
aufs Klosett gehen mußte, wusch sie sich hinterher mehrere Male die
Hände usw. Von den Personen ihrer Umgebung, insbesondere von den
Dienstmädchen, welche ihr das Essen servierten, verlangte sie das
Gleiche. Wenn dieselben beim Betreten des Zimmers mit der Hand die
Türklinke anfaßten und ihr dann Teller und Schüsseln servieren wollten,
geriet sic in so heftige Erregung, daß sie sich der gemeinsten Schinipf-
worte bediente und die Mädchen mit Ohrfeigen traktierte.
Da sie sich den nächsten Verwandten und den Dienstboten des
Hauses gegenüber ähnlich verhalten hatte, w'ar es nicht möglich, sie
zu Hause zu halten.
So stark ausgeprägte Fälle wie der eben beschriebene sind
wohl selten. Iin allgemeinen sind die Konsequenzen, die die
Kranken aus ihren Vorsiellungen ziehen, nicht so weitgehende.
Sie leiden wohl selbst darunter, belästigen aber andere Personen
verhältnismäßig selten, kommen infolgedessen auch kaum jemals
zu kriminellen Handlungen. Man findet sogar häufig, daß die
Kranken mit den Jahren — derartige Zwangsvorstellungen sind
äußerst hartnäckig — mit ihren Ideen paktieren, irgendeinen
Modus finden, wie sie dieselben umgehen oder vermeiden können
und auf diese Weise kommen sie trotz der Zwangsvorstellungen
zu einem ganz erträglichen Dasein. —
Bei den eben erwähnten Fällen lagen nicht mehr reine
Zwangsvorstellungen vor, sondern man mußte schon von Zvvangs-
h a n d 1 u n g e n sprechen, insofern als aus der Vorstellung der Be¬
schmutzung bereits die Konsequenz des sehr häufigen Waschens
gezogen wurde.
Am wichtigsten sind wohl die sogenannten Zwangsantriebc.
Killen derartigen T'all haben wir vor etwa zwei Jahren in der
Klinik behandelt.
Er betraf eine 61 jährige Frau, die von jeher hysterisch-hypochon¬
drisch veranlagt war und allerlei Sensationen im Kopf und Leib hatte.
Dazu kamen folgende Zwangsantriebe:
Sie wohnte bei ihrer Tochter, der sie ini Haushalt half. Sowie sie
nun die Küche betrat und sich an der Zubereitung des Essens be-
Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen.
59
teiligte, hatte sie den Zwangsantrieb, Gift in das Essen zu tun. Beim
Anblick von Kuchenmessern spürte sie „ein Zucken in der Hand, dieses
Messer zu ergreifen und der Tochter in den Leib zu stoßen“. Sie be¬
schrieb in bewegten Worten die Kämpfe, die sie mit sich selbst führen
mußte, um dem Drang nicht zu unterliegen.
Um all dem zu entgehen, ließ sie sich in die Klinik aufnehmen.
Auch hier traten nach einiger Zeit die Antriebe gegenüber den Mit¬
kranken auf. Die Pat. klagte, daß sie manchmal den Drang verspürte,
die Etauen, mit denen sic das Zimtner teilte, zu schlagen.
Im Laufe der weiteren Behandlung trat dann eine ausgesprochene
Melancholie auf, die sich bis zum Stupor steigerte, und mit vollkom¬
mener Nahrungsverweigerung einherging. Wegen dieses Leidens wurde
die Kranke längere Zeit behandelt.
Es sind Fälle bekannt, namentlich in der französischen
Literatur sind solche beschrieben, in denen schließlich der
Kranke seiner Zwangsvorstellung eines Tages doch unter¬
lag und tatsächlich einen Mord ausführte. Diese Fälle sind aber
außerordentlich selten. Darin stimmen sämtliche Autoren über¬
ein. Für gewöhnlich wissen die Kranken einen andern Ausweg
zu finden, sei es, daß sie ihren Aufenthalt w'echscln, sei es, daß
sie sich in ein Krankenhaus aufnehmen lassen, sei es aber auch,
daß sie unter der Depression, welche sie angesichts ihrer Krank¬
heit ergreift, die Waffe gegen sich selbst richten.
Für die foresische Beurteilung*) der Zwangs¬
vorstellungen und Zwangsantriebc ergibt sich, daß sie im all¬
gemeinen, so quälend sie subjektiv genommen auch sein mögen,
nur selten zu einer W'irklichen motorischen Entladung führen.
Für die Beurteilung des Einzelfalles wird also auch hier
nicht das Symptom, sondern die ganze Persönlichkeit heran¬
gezogen werden müssen.
In dieser Beziehung ist nun allerdings von Bedeutung, daß
diese Zwangsantriebe besonders häufig bei schwer Degenerierten,
nicht selten sogar bei ausgesprochen Melancholischen zur Be¬
obachtung kommen, daß also eine wirkliche geistige Erkrankung
neben den Zwangsantrieben besteht, die allein ausreicht, die Zu¬
rechnungsfähigkeit der Person in Frage zu ziehen.
Bestehen solche ausgesprochene Psychosen neben den
Zwang.santrieben nicht, dann wdrd die Zahl und Qualität der
degenerativen und sonstigen Symptome zu berücksichtigen sein
’) Die forensische Literatur über Zwangsvorstellungen findet sich
im Kap.; Psych. und nervöse Störungen bei Degenerierten.
6 o AllKemeine Symptomatologie.
und außerdem die Stärke des die Handlung begleitenden Angst¬
gefühls.
Findet sich daneben z. B. eine schwere Hysterie oder eine
traumatische Neurcjpsychose, so wird die Zurechnungsfähigkeit
stark beeinträchtigt, u. U. sogar aufgehoben sein.
Die Angst wird festgestellt durch genaue Exploration des
Kranken über den Zustand zur Zeit der Tat. Die Kranken
kennen für gewöhnlich ihr Angstgefühl selbst sehr genau, und
können es auch gut beschreiben. Es ist weiter bekannt, daß bei
allen in hochgradiger Angst begangenen Handlungen die Erinne¬
rung lückenhaft ist. Darauf kann man ein gewisses Gewicht
legen. Drittens sind die körperlichen Begleiterscheinungen der
Angst (Gesichtsausdruck, Schweißausbruch und Zittern eventuell
auch Durchfälle) zu berücksichtigen, die wenigstens teilweise
durch Zeugenaussagen nachzuweisen sind.
Störungen der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses.
Wie oben bereits ausgeführt wurde, unterscheiden wir
zwischen der AI e r k f ä h i g k e i t und dem Gedächtnis’).
Die erstere ist die Fähigkeit, neue Erinnerungsliilder aufzu¬
nehmen. Unter Gedächtnis verstehen wir die Fähigkeit, die ge¬
sammelten Erinnerungsbilder zu reproduzieren und als frühere
Erfahrungen wieder zu erkennen.
Beide Funktionen können gestört sein*).
Was die Alcrkfähigkeit anlangt, so ist auf ihre Be¬
deutung für die Größe des geistigen Besitzstandes der Imbezillen
und Idioten bereits im normal-psychologischen Teil hingewiesen.
Weiter kommen Störungen der Alcrkfähigkeit vor bei der pro¬
gressiven Paralyse, der senilen Demenz, der Korsakowschen Psy¬
chose, dem Rausch, manchen Fällen von Eklampsie, Kolilcn-
oxydvergiftung und traumatischen Psychosen. Alan kann sich
die Genese der Erscheinung etwa folgendermaßen denken;
’) Vcrgl. Ziehen, Das nedäclitiiis. Berlin 1908. A. Hirschwald.
A. V. Sybel. In.-Diss. Qöttingen 1910.. üregor, Leitfaden d. exp. Psycho-
pathol. Berlin 1910. S. Karger. Gregor, Miinchn. med. Wochenschr. 1911,
S. 594. Hennig, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane 1910,
Bd. 55, S. 332. Kleist, Monatsschr. f. Kriminalpsych. 1910, S. 175. Kramer,
Psychol. Arb., Bd. 5, S. 258.
*) Auch ungewöhnlich gute Ausbildung des Gedächtnisses ist mehr¬
fach beschrieben. S.: Heiinig 1. c.
Störungen der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses.
6i
Ein Erinnerungsbild entsteht in den Ganglienzellen durch
einen dissimilatorischen Vorgang (Vervvorn) '), der, wie manche
klinische Erscheinungen uns lehren, ziemlich langsam abläuft.
Durch verschiedene Schädigungen “) kann nun dieser Prozeß ge¬
stört werden. Psychologisch gesprochen werden dann die wäh¬
rend dieser Zeit auf den Kranken einwirkenden Sinneseindrücke
nicht in Erinnerungsbilder umgewandelt; der Patient kann über
die Erlebnisse aus der Zeit des Bestehens der Störung überhaupt
keine oder nur unvollständige Auskunft geben.
Wirkt die das Symptom auslösende Schädlichkeit nur wäh¬
rend einer umschriebenen Zeit, so resultiert eine ziemlich scharf
abgrenzbare „Erinnerungslücke“. Dies ist bei der retrograden
Amnesie nach epileptischen Dämmerzuständen, ferner — nicht so
genau abgrenzbar und weniger vollständig — bei der Amentia
und anderen Infektions- und Intoxikationspsychosen der Fall
(summarische Erinnerung).
Eine dauernde Einwirkung der Noxe bedingt ein Fehlen
des Gedächtnisses für die „jüngste Vergangenheit“, d. h. einige
Zeit nach dem Einsetzen der Schädlichkeit kann der Patient über
die letzte Zeit wenig oder gar keine Auskunft erteilen, während
über die vorher liegenden Jahre anfangs noch ausreichende Mit¬
teilungen zu erhalten sind. Später können auch diese älteren Er¬
innerungen abblassen (Ziehen).
Der Nachweis einer Merkfähigkeitsstörung
zur Zeit ihres Bestehens ist leicht erbracht. Man verlange von
dem Patienten, daß er sich 4—6 einstellige oder eine 5—östellige
Zahl merken soll, prüfe seine Orientierung zur Zeit der Exj)lora-
tion, lese ihm eine kurze Geschichte vor und lasse sich dieselbe
wiedererzählen, lasse ihn am Ende der Unterredung deren wesent¬
lichsten Inhalt wiederholen, und man wird sehr bald deutliche
Ausfälle finden Nachträglich kann man sie an dem Ausfall
an Erinnerungsbildern für die Zeit der Krankheit erkennen.
’) Verworn, Die physiologischen Grundlagen des Gedächtnisses.
Zeitschr. f. allg. Psychologie 1912.
“) Schon bei der normalen Ermüdung, vergl. z. B. Verworn, Erreg¬
barkeit. Zeitschr. f. allg. Psychologie 1911, S. 15.
Auch Ziehens Wortpaarmethode ist brauchbar. „Man nennt dem
Kranken paarweise Worte zusammen, welche in Beziehung zueinander
stehen. Die Worte müssen so gew'ählt sein, daß einzelne nicht nur in ein
Paar, sondern in mehrere Paare passen. Z. B.: Garten — groß, Haus —
Allgemeine Symptomatologie.
62
Die Störungen des Gedächtnisses können zwei¬
facher Art sein. Entweder es handelt sich um eine Verringerung
der Zahl der früher vorhandenen Erinnerungs¬
bilder oder es tritt eine inhaltliche Fälschung einzelner Vor¬
stellungsgruppen ein.
Eine vorübergehende quantitative Herabsetzung findet
sich bei den Neurasthenikern, nach Erschöpfungszuständen, Un¬
fallneurosen und bei der normalen Ermüdung. Dauernde Ver¬
ringerung des Gedächtnisschatzes kommt u. a. bei der Alters¬
demenz, der Gehirnerweichung, der Gehirnsyphilis, manchen Ge¬
hirngeschwülsten, bei Herderkrankungen an bestimmten Stellen
des Gehirns vor.
Von den inhaltlichen Störungen des Gedächtnisses sind
mehrere von großer praktischer Wichtigkeit.
Die weitgehendsten stellen wohl die ,,H al 1 u z i n a t i o n e n
der Erinnerung“ dar. Es handelt sich dabei um schein¬
bare Reminiszenzen, denen kein wirkliches Erlebnis in der Ver¬
gangenheit entspricht’). Notwendig ist allerdings, daß die
Vorstellungen wenigstens sonst irgendwie Gegenstand der Denk¬
tätigkeit (Lektüre, Phantasie) gewesen sind. Solche Fäl¬
schungen des Gedächtnisses können durch Hypnose, bei genügend
beeinflußbaren Personen wohl auch durch mehrfache Wach¬
suggestion künstlich erzeugt werden. Sie spielen ferner bei den
W'ahnbildungen mancher Paranoiker und vieler Fälle von De¬
mentia paranoides eine Rolle.
Nahe verwandt hiermit ist das sogenannte ,,K o n fabu¬
liere n“. Die Kranken füllen Erinnerungslücken durch Be¬
richte über angelilich selbst erlebte Vorgänge aus. Sie selbst
glauben an die Richtigkeit ihrer Erzählungen. Die letzteren ent¬
sprechen auch häufig der sonstigen Gedankenrichtung des Patien¬
ten und nehmen nur in einem Teile der Fälle abenteuerliche
Formen an. Alan findet das Fabulieren bei Alkoholpsychosen
(Korsakowscher Symptomenkomplex), ferner bei der Gehirn¬
erweichung, epileptischen und hysterischen Psychosen. Die fabu¬
lierten Erzählungen werden in die Zeit veilegt, zu der das Ge¬
dächtnis versagte.
klein, Blume — gelb, Bild — schön, Kleid — rot. Nach einer Pause nennt
man ein Wort des Paares und laßt sich das dazugehörige sagen.“ (Ziehen,
Psychiatrie S. 229 . 3. Aufl. Leipzig. S. Hirzel.)
’) Vergl. Kraepelin, Arcli. f. F’sych., Bd. 17 11 , 18,
Störungen der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses.
63
Unabhängig von der zeitlichen Einordnung des Vorstellungs¬
inhaltes ist eine andere Erscheinung, die Pseudologia
phantastica. Hier handelt es sich nicht darum, eine Er¬
innerungslücke auszufüllen, sondern das phantastische Lügen wird
ohne Beziehung zu dem früheren psychischen Zustande des Patien¬
ten zu einem, meist durch die augenblickliche Lage bedingten,
Zweck au.sgeführt. Während beim Fabulieren die Erzählungen
fast stets im Glauben an die Richtigkeit des Gesagten vorgebracht
werden, setzt sich der Inhalt des bei der Pseudologie Vorgebrach¬
ten nur zum Teil aus vorübergehenden ') oder dauernden Er¬
innerungsfälschungen zusammen. Einen anderen Teil bilden freie
Erfindungen, deren Unrichtigkeit der Patient sich meist bewußt
bleibt. Ein krankhafter Affekt treibt ihn aber, sie trotzdem vor¬
zubringen. Es handelt sich also um pathologisches
Lügen ^). Meist wird der Kranke durch Renommiersucht, die
.\eigung zu Posieren, vermeintliche besondere Fähigkeiten zu
zeigen und ähnliche egoistische Motive zu seinen phantastischen
Erzählungen veranlaßt. Dazu kommt ferner gesteigerte Affekt¬
erregbarkeit und eine lebhafte, bewußt arbeitende Phantasie. Es
handelt sich vorwiegend um degenerierte und namentlich um
hysterische Personen, seltener um leicht Schwachsinnige.
Während das Kon fabulieren nicht oft zu kriminellen Hand¬
lungen führt, kommt es um so öfter zu solchen bei ])athol(j-
gischen Lügnern. Ein Teil der Hochstapler und Betrüger ge¬
hört in diese Kategorie („pathologische Schwindler“), auch falsche
.Anschuldigungen (besonders sexueller Natur) werden von der¬
artigen — übrigens deshalb keineswegs ohne weiteres unzurech¬
nungsfähigen — Personen vorgebracht’).
Beispiel: Ein IPjähr. Dienstmädchen, A. Z., bei der die Diagnose
Hysterie sichergestellt war, schrieb kurz nachdem in einer größeren
Stadt ein Lustmord an einer Prostituierten, L. O., passiert war, über
den in den Zeitungen sehr eingehend berichtet wurde, an ihre Dienst¬
herrschaft und sich selbst zahlreiche Briefe und Postkarten, in denen
’) Moeli (Zeitschr. f. Psych., Bd. 42) weist mit Recht darauf hin, daß
hier in diesen Fällen ein einfacher Widerspruch die falschen Vorstellungen
oft umwirft.
’) Delbrück, Patholog. Lüge, 1891.
’) Auch die neuerdings sich häufenden „fingierten“ Überfälle gehören
großenteils hierher, soweit sie nicht zur Verdeckung eigener oder fremder
Verbrechen inszeniert werden.
64
Allgemeine Symptomatologie.
Alle mit dem Tode bedroht wurden. In den Briefen führte sie aus, daß
die L. Q. nicht das richtige Opfer, sie vielmehr gemeint gewesen sei.
und ihr deshalb der Tod drohe. Sie selbst wandte sich an die Polizei
um Hilfe, bezichtigte auch zwei Knechte der Täterschaft mit der Be¬
gründung, sie habe deren Liebesanträge abgewiesen. Die Geheimpolizei,
der sie immer neue Mitteilungen machte, war mehrere Wochen in Be¬
wegung, um das Mädchen vor ihren angeblichen Verfolgern zu schützen
und deren Festnahme zu bewirken, bis durch Schriftvergleichungen
usw. ermittelt wurde, daß das Ganze von der A. Z. frei erfunden war.
Das Urteil lautete auf sechs Monate Gefängnis.
Zu erwähnen sind schließlich noch zwei Kranklieitserschei-
nungen.
Bei der ersten ist das Gedeächtnis an sich intakt, ein Teil des
Gedächtnis i n h a 1 1 e s wird aber in krankhafter Weise u m -
gedeutet. Dies geschieht entweder unter dem Einfluß einer
Stimmungsanomalic, z. B. bei der Melancholie, Manie, bisweilen
itn expansiven Stadium der Paralyse oder auf Grund von Wahn¬
ideen (Paranoia). Beispiele werden hei den entsprechenden
Kapiteln gebracht werden.
Die zweite Störung — die identifizierende Er-
i n n e r u n g s t ä u s c h u n g — ist dadurch gekennzeichnet, daß
das Individuum „mitten im gewöhnlichen Verlauf des Denkens
und Handelns plötzlich und nur für kurze Zeit den Eindruck er¬
hält, daß es dieselbe Situation, in der es sich eben befindet, schon
einmal erlebt hätte“ ’). Die Erscheinung wird schon bei normalen
Menschen, namentlich im Traum — beobachtet. Häufiger ist sie
bei Psychopathen und Hysterischen.
Forensische Bedeutung haben beide Symptome nicht.
Die Untersuchung des Gedächtnisses^) ge¬
schieht I. durch genaue Aufnahme des Lebenslaufes (insbesondere
soweit er nachprüfbar ist). Ferner prüfe man die Schulkenntnisse.
(Gegenstände bezeichnen. Rechnen mit ein- und mehrstelligen
Zahlen, mit Brüchen, leichte Zinsrechnungen.) Drittens sind
Kenntnisse einfachster historischer Tatsachen (Krieg 1870; Name
der Kaiser; w'er war Moltke? Bismark? usw.), der Geographie der
Heimat und Deutschlands (je nach der Vorbildung des Patienten
zu prüfen) zu fordern. Hinzu kommen Fragen über religiöse
Dinge und schließlich Erfahrungen, die der Kranke im bürger-
’) Sander, Arch. f. Psych., Bd. 4 .
Über die experimentelle Erforschung des Gedächtnisses s. A. Gre¬
gor, Zeitschr. f. d. ges. Neurol., Ref., Bd. 7, H. 2. Dort neue Literatur.
Störungen der Urteilsbildung.
65
liehen Leben und in seinem speziellen Beruf gewinnen mußte.
(Kosten von Lebensmitteln und anderen Bedürfnissen, Bedeutung
des Gerichtes, des Reichstages, Portokosten, Steuern, Lohnfragen
usw.)
Bei richtiger Ausnutzung der eben angegebenen LJnter-
suchungsmethoden gewinnt man häufig auch Material zur Beurtei¬
lung der Kombinations- und Urteilsfähigkeit des Kranken. Dies
ist z. B. bei Substraktionsaufgaben der Fall. Nur bei ein-, selten
noch lx!i zweistelligen Zahlen vermag der einfache Mann das
Resultat allein mit Hilfe des Gedächtnisses zu liefern. Meist muß
er kombinieren.
Störangen der Urteilsbildung.
Die meisten Sinneseindrücke, welche der Mensch im Laufe
seines Lebens empfängt, sind zusammengesetzte. Die Tätigkeit
des Kindes besteht nicht allein darin, sie festzuhalten, sondern
es muß auch lernen, sie zu differenzieren. Es begimit daher schon
im ersten Lehensjahre, wesentliche Eigenschaften eines Gegen¬
standes von zufälligen zu unterscheiden. Gleichartige Dinge lernt
es in gleicher Weise zu gebrauchen und mit demselben Namen zu
belegen. Neue, unbekannte Eindrücke sucht es in den gewonnenen
Erfahrungsschatz einzuordnen. Diesen psychologischen Vorgang
der Zergliederung zusammengesetzter Sinneseindrücke nennt man
Abstraktion^).
Umgekehrt wird als Kombination die Fähigkeit be¬
zeichnet, zusammengehörige Vorstellungsgruppen oder Sinnes¬
eindrücke unter Zuhilfenahme früherer Erfahrungen miteinander
zu verbinden.
Beide Funktionen sind für die ITrteilsbildung von großer
Wichtigkeit. Je besser sie entwickelt sind, desto rascher, sicherer
und treffender ist das Urteil des Menschen. Umgekehrt sind die
beiden genannten Funktionen und damit auch die Urteilsfähigkeit
bei Schwachsinnigen weniger gut entwickelt.
Außer der Abstraktion und Kombination gibt es noch eine
ganze Reihe von Funktionen, die den normalen Ablauf der Ur¬
teilsbildung beeinflussen. Einen der wichtigsten stellt das Ge¬
fühlsleben dar. Es ist eine bekannte Tatsache, daß schon
’) Wundt, Physiol. Psychologie, Bd. I, S. 343. Leipzig 1902. Engel-
munn.
Hübner, Forensische Psychiatrie.
5
CG
Allftemeine Symptomatologie.
der normale Mensch sich von Stimmungen weitgehendst beein¬
flussen läßt (die Misanthropen!). Mindestens ebenso sehr wie
beim Gesunden, geschieht das bei solchen Kranken, die an längere
Zeit bestehenden Stimmungsanomalien leiden. Daher
kommt es, daß die Patienten ihr Vorleben ganz oder teilweise im
Sinne ihrer krankhaften Stimmungslage entweder zu günstig oder
umgekehrt zu ungünstig beurteilen (vergl. Manie, Melancholie).
Weiterhin ist bekannt, daß auch der normale Mensch, wenn
momentane lebhafte Affekte ihn beherrschen, gehindert ist,
alle diejenigen Erwägungen auf sein Handeln einwirken zu lassen,
denen er in ruhigen Zeiten unbedingten Einfluß gewähren würde.
So kommt es zu den sogen. Affekthandlungen (Ziehen), die
weniger verstandesmäßigen Erwägungen, als einem für kurze Zeit
dominierenden Affekt entspringen.
Die eben erwähnte Art des Handelns ist die für das weibliche
Geschlecht typische. Sie spielt auch bei den Verbrechen der
Masse ^) eine -große Rolle. Ein nicht geringer Prozentsatz der
Selbstmorde") kommt auf diese Weise zustande und manches
Affektverbrechen ’) (vergl. Spezieller Teil) verdankt ihr seine Ent¬
stehung (Beleidigungen, Körperverletzungen) namentlich dann,
wenn der die Auslösung von Affekten und Willensantrieben er¬
leichternde Alkohol hinzukommt.
Bei Geisteskranken kann sowohl die dauernde Stim-
mungsänderung (s. o.), wie auch eine momentane krankhafte Ge¬
fühlswallung zu Affekthandlungen führen. Bekannt ist z. B. in
dieser Beziehung das Verhalten mancher reizbarer Imbeziller und
Epileptiker, die sich im Augenblick zu schlimmen Gewalttaten
hinreißen lassen. Zu erwähnen sind ferner die im Rausch von
Schwachsinnigen begangenen Affekthandlungen. —
Weiterhin ist für die Urteilsbildung auch die Auffassung
von Bedeutung. Ein gestörtes Auffassungsvermögen, wie es bei
Kranken im Dämmerzustände, ferner bei schweren Räuschen und
bei der Schlaftrunkenheit besteht, führt häufig zu falscher Beur¬
teilung einer bestimmten Situation und damit eventuell zu sehr
schwerwiegenden Konsequenzen (vergl. das Kapitel strafrecht¬
liche Zurechnungsfähigkeit).
^) Sighele, Psychologie des Auflaufes. Dresden 1897. Reißner.
-) Hübner, Selbstmord. Jena 1911. Q. Fischer.
Stransky, Affektdelikt. Allgem. österr. Cierichtszeitg. 1911.
Störungen der Urteilsbildung.
67
Mitbestimmend für die Qualität einer Urteilsreaktion ist
ferner die Größe des Gedächtnisinhaltes. Wer nicht
viel Erfahrungen gesammelt hat, besitzt wenig Vergleichs¬
material. Ihm muß natugemäß die richtige Einordnung neuer
Eindrücke schwerer fallen, als einem Menschen mit einem großen
Gedächtnisschatz.
Daß Halluzinationen und Wahnideen unter Um¬
ständen die Urteilsbildung beeinträchtigen können, bedarf keiner
weiteren Begründung. —
Fast überall da, wo es zu Störungen des Urteils kommt,
sind mehrere der angeführten Faktoren wirksam. Dies trifft
besonders für die Schwachsinnigen zu.
Die Prüfung der Fähigkeit zu kombinieren und abstrahieren,
sowie der Urteilsbildung geschieht mit folgenden Methoden*):
Voranstellen möchte ich auch hier, daß der Lebenslauf be¬
sonders gut dazu zu gebrauchen ist, wenn der Untersucher den
Patienten veranlaßt, ihm die Beweggründe seines jeweiligen Han¬
delns mitzuteilen, ihn nötigt, zu schildern, wie er sich in be¬
stimmten Situationen verhalten hat, ob er Einsicht für getanes
Unrecht hatte, wie er auf erlittenes Unrecht reagierte, ob und
aus welchen Gründen der Beruf und die Stellungen häufig ge¬
wechselt wurden, wie der Kranke mit seiner Familie und seiner
sonstigen Umgebung auskam, ob er im Trinken exzedierte und
wie er über diese Exzesse denkt, wie die Verhaftung, die Anklage
und Aussicht auf eine lange Freiheitsstrafe wirken, wie er frühere
Straftaten begründet und ähnliches mehr.
Ich glaube, daß man auf alle diese Dinge für forensische
Zwecke mehr Gewicht legen soll, als auf das Ergebnis der rein
psychologischen Untersuchungsmethoden. Denn die ersteren
zeigen uns, wie der Angeschuldigte im Leben zu einer Zeit rea¬
giert hat, wo er keinen Grund hatte zu simulieren oder dissimu¬
lieren. Im Lebenslauf des Menschen prägen sich seine psychischen
') Ziehen, Methoden der Intelligenzpriifung. Berlin 1908. Jaspers,
Methoden der hitelligenzprüfung. Zeitschr. f. d. ges. Neurol., Bd. 1, H. 6.
Rieger, Veröffentl. der Wiirzb. phys.-med. Qesellsch., Bd. 22. Sioli, Arch.
f. Psych. 1899. Neue Literatur bei Jaspers. Ferner: Feststellung regel¬
widriger Geisteszustände bei Heerespflichtigen. Berlin 1905. A. Hirsch¬
wald. Schultze u. RUß, Deutsche med. Wochenschr. 1906, S. 1273. Rode-
waldt, Groß’ Arch., Bd. 235 und Monatsschr. f. Psych. 1905. Erg.-Bd.
5»
AllKemcine Symptomatologie.
68
Besonderheiten für den, der ilin richtig zu deuten versteht, aufs
schärfste aus.
\'on den im Gebrauch befindlichen psychologischen Metho¬
den zur Prüfung der erwähnten Funktionen seien die folgenden
angeführt:
1. Man lasse den Patienten abstrakte Begriffe definieren
(Dankbarkeit, Lüge, Geiz, Sparsamkeit, Tapferkeit).
2. Man stelle Unterschiedsfragen (Unterschied zwischen
Berg und Tal, Korb und Kiste, Fluß und Teich, Irrtum und Lüge,
Borgen und Schenken, Hand und Fuß, Tür und Fenster).
Bei der ersten Methode muß man bei ungebildeten Personen
die Aufgabe als gelöst betrachten, wenn der Explorand in seiner
Antwort den Begriff einigermaßen geschickt umschreibt, ein Bei¬
spiel bringt oder sonst eine wesentliche Eigenschaft des Wortes
andeutet.
Die LInterschiedsfragen werden im allgemeinen von normalen
Menschen mit Volksschulbildung richtig beantwortet.
3. Es sind ferner eine Reihe von Methoden angegeben worden,
die von dem Patienten die Auffindung einer bestimmten Pointe
verlangen. Hierher gehören: a) die Sprichwörtermethode von
Finkh '), b) die Witzmethode von Ganter *) und c) die Fabcl-
methode von El)binghaus. Die Untersuchung erfolgt in der Weise,
daß die Fabel usw. dem Kranken erzählt wird. Er hat sie dann
zu wiederholen und die Nutzanwendung zu ziehen, eventuell durch
Beispiele zu erläutern.
Selbstredend dürfen bei Leuten mit geringer Schulbildung
auch nur einfache Beispiele gewählt werden.
4. Die Masselonsche Methode verlangt, daß der Patient aus
drei Worten (z. B. Jäger, Hase, Gewehr) einen Satz bildet.
5. Schließlich ist die Ebbinghaussche Ergänzungsmethode “)
zu nennen. Der Kranke hat dabei in einem unvollständigen Satz
die fehlenden Silben innerhalb einer bestimmten Zeit zu ergänzen
Beispiel:
Als meine Eltern vorigen Monat verreist waren, wurde mein
jüngerer Bruder plötzlich sehr krank. Ich schickte daher sofort zum —
B Einkh. Zentralbl. f. Nervenheilkde., Bd. 17, Jahrg. 29, S. 945.
Ganter, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 64. Vergl. hierzu auch
Becker. Klinik f. psych. u. nerv. Krankh., Bd. 5, H. 1. Halle a. S. Marhold.
•’) Ebbinghaus, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. der Sinnesorgane,
Bd. 13. S. 401.
Körperliche Symptome.
69
und ließ ihn sorgfältig pflegen. Nach zwei Tagen kamen die Eltern
zurück. Als sie von der Erkrankung meines Bruders hörten, waren sie
sehr-. Als sie aber sahen, daß ich für seine Pflege gesorgt hatte,
haben sie sich bald wieder-und haben mich deswegen — —.
Es stellte sich übrigens heraus, daß mein Bruder kurz vorher eine größere
Menge unreifes Obst gegessen hatte. Damit hatte er sich natürlich-
-. Die Eltern sagten daher zu ihm: „Sei in Zukunft nicht so —
-.“ Ich hoffe, er wird den Eltern-.
Die erliallencn Resultate bei 3, 4, 5 müssen mit Vorsicht be¬
wertet werden. Ks darf nicht vergessen werden, daß Kranke mit
\’olksschulbildung vielfach vorher keine Gelegenheit hatten, der¬
artige Aufgaben zu lösen. Übung erleichtert aber zweifellos die
Lösung erheblich. Verf. hat jedenfalls unter seinen Versuchs¬
personen mehrere Frauen gefunden, die im Beruf vollwertig waren
und trotzdem eine leichte Ebbinghaussche Ergänzungsaufgabe
nicht vollständig zu lösen vermochten'). Werden die gestellten
Bedingungen erfüllt, so spricht das gegen eine Beeinträchtigung
der Fähigkeit zu kombinieren. Auch aus der Art, wie sich
Patient bei der Bearbeitung der Aufgabe benimmt, kann man
gewisse Schlüsse auf seine Kombinations- und Abstraktions¬
vermögen, daneben auch auf die Auffassungsgabe zieben. Gelingt
es bei wiederholten Versuchen (insbesondere mit der gleichen
Aufgabe) nicht, die Lösung zu erhalten, so spricht das für einen
Defekt. Im allgemeinen beweisen jedenfalls die richtigen
Lösungen mehr .als eine unvollständige. Denn bei den letzteren
müssen erst die Gründe des Versagens (Mangel an Übung, Auf¬
merksamkeitsstörung usw.) ermittelt werden, ehe ein Schluß auf
die Art der psychischen Störung gezogen werden kann.
Körperliche Symptome.
Die folgenden Ausführungen sind in erster Linie für den
Juristen bestimmt. Sie sollen ihm die Bedeutung einiger be¬
sonders wichtiger körperlicher Symptome’) zeigen.
Man unterscheidet angeborene und erworbene Symptome.
Die ersteren — die Degencrationszeichen — sind bereits auf S. 6
’) Ähiilicli Aschaffenburg. Vergl. Verhandlgn. d. Naturf.-Versamnilg.
in Köln 1908, Sitzg. d. psych. Sektion, Diskussion zum Vortrag Stransky.
“) Für Ärzte sei auf Raecke, Diagnostik (Berlin, liirscliwald) und
Cimbal, Taschenbuch (Berlin, J. Springer) verwiesen.
70 Körperliche Symptome.
erwähnt, so daß eine nochmalige Besprechung sich hier er¬
übrigt.
Wichtiger ist auch die zweite Gruppe der erworbenen
körperlichen Krankheitszeichen.
Pupillenstörungen’): Eine der wichtigsten ist die
Aufhebung des Lichtrefle.xes. Belichtet man das Auge eines ge¬
sunden Menschen, so erfolgt eine mit bloßem Auge deutlich er¬
kennbare V'erengung der Pupille (Sehloch). Dasselbe geschieht,
wenn man einen Gegenstand, den der Patient fixieren muß, dem
Auge des Kranken nähert (Konvergenzreaktion).
Fehlt die Pupillenverengerung auf Licht, so spricht man von
„Lichtstarre“ oder „reflektorischer Starre der Pupillen“. Fehlt
daneben auch die Konvergenzreaktion, so bezeichnet man die Er¬
scheinung als „absolute Pupillenstarre“. Ehe der Lichtreflex ganz
aufgehoben ist, pflegt er erst ,,träge“ zu werden, d. h. die Ver¬
engerung auf Belichtung erfolgt langsamer und meist auch weniger
ausgiebig.
Vorkommen: Reflektorische Starre bei Tabes (Rückenmark¬
schwindsucht) und progressiver i’aralyse. Absolute Starre vor¬
wiegend bei der Gehirnsyphilis. Träge Pupillenreaktion bei allen
drei Erkrankungen, daneben bei chronischen Alkoholislcn, manch¬
mal auch im iiathologischen Rausch. Vorübergehende abso¬
lute Starre kommt sehr häufig im epileptischen, ganz selten im
hysterischen Anfall vor (A. Westphal, Karplus). Bei Morphi¬
nisten sind die Pupillen eng und reaktionslos, solange das Mor¬
phium stark wirkt, (über die Pupillenstörungen bei der Demen¬
tia praecox s. u.)
Gesunde Pupillen sind auf beiden Augen ungefähr gleich
weit. Erhebliche Unterschiede in der Weite am rechten und
linken Auge sind krankhaft.
Sehr enge Pupillen finden sich bei der Tabes, dem Morphi¬
nismus, bisweilen bei Paralyse, bei Greisen, im Schlaf. Sehr
weite Pupillen bei psychischer Erregung und Angst, nach
Atropin und Ilyoscin, im epileptischen und hysterischen Anfalle.
Einseitiges Fehlen des Hornhautreflexes (Korneal-
rcflex) ist meist durch organische Erkrankung des Gehirns be¬
dingt. Doppelseitiges Fehlen kommt bisweilen bei Hysterie vor.
’) Buinke, Die Pupillenstorungen bei Geistes- und Nervenkrank¬
heiten. 2. Aufl. Jena. Weiler, Zeitschr. f. d. ges. Neurologie, Bd. 2, S. 102.
Körperliche Symptome.
71
Gesichtsfeldeinschränkungen^) ohne Schä¬
digung der Orientierung bei Hysterie, mit ürientierungsstörun-
gen bei organischen Erkrankungen, insbesondere bei Affektionen
der Hinterhauptslappen des Gehirns.
Frische Bißwunden und Narben von solchen am
Zungenrande, mitunter auch an den Lippen, kommen vorwiegend
bei Epilepsie vor.
Der Rachenreflexist bei Alkoholisten öfters ge¬
steigert, bei Hysterischen fehlt er nicht selten.
Sprachstörungen: Stottern“) und Stammeln
kommt vorwiegend bei Nervösen und Schwachsinnigen vor.
Psychische Erregung steigert die Symptome.
Wichtig ist das Silbenstolpern*), gekennzeichnet
durch Auslassungen und Umstellungen von Buchstaben und Silben.
Ferner ist dabei die Sprache oft undeutlich, verwaschen (Para¬
lyse).
Tonlosigkeit der Sprache (Aphonie) bei Stimmbandläh¬
mung und bisweilen bei Flysterie.
Motorische Aphasie“): Der Patient versteht, was
man zu ihm spricht, kann aber selbst nicht reden (Erkrankung der
3. linken Stirnwand), d. h. weder spontan sprechen noch nach¬
sprechen.
Sensorische Aphasie: Der Kranke kann selbst
sprechen, versteht aber nicht, was man zu ihm redet
(Herd im linken Schläfenlappen).
Paraphasie: Einschieben unrichtiger Silber oder Worte
und Verwechseln von Worten.
Agnosie: Unfähigkeit, infolge Störung des rezeptiven
Zentrums mit den entsprechenden Organen (Auge, Ohr usw.)
die Dinge der Außenwelt zu erkennen.
Agr ap hie: Durch Hirnherd bedingte Unfähigkeit zu
schreiben.
*) Unter Gesichtsfeld versteht man die Summe aller optischen Wahr¬
nehmungen, die das Auge in einer bestimmten Stellung machen kann.
“) W'ird hervorgerufen durch Berührung der hinteren Rachenwand.
“) Hopfner, Stottern als assoziative Aphasie. Zeitschr. f. Patho-
psychol., Bd. 1, S. 448.
*) Wird geprüft durch Nachsprechenlassen von schweren Worten,
z. B.: Dritte reitende Artilleriebrigade, zwitschernder Schwalbenzwilling.
°) Einige Beispiele im spez. Teil.
Körperliche Symptome.
72
Alexie: Unfähigkeit zu lesen aus gleicher Ursache.
Apraxie; Unfähigkeit, aufgetragene Handlungen trotz
erhaltenen \’erständnisses für den Auftrag richtig auszuführen.
Störungen der Schrift^): Zitterig beim Alterschwach¬
sinn, chronischen Alkoholisnius, manchen Unfallneurosen, Zitter¬
lähmung (Paralysis agitans), Gehirnerweichung. Auslassungen
von Buchstaben und Silben bei Paralyse. Bei Manie und Melan¬
cholie wird bisweilen entsprechend der Stimmung sehr groß oder
auffallend klein geschrieben. Dies Symptom kommt gelegentlich
auch bei Hysterie vor.
Lähmungen der Gliedmaßen sind entweder
psychisch bedingt (Hysterie) oder auf Herderkrankungen im Ge-
iiirn oder Rückenmark zurückzuführen’“).
Bei Rückenmarkserkrankungen ist die Lähmung schlaff, d. h.
unfreiwillige (passive, fremdtätige) Bewegungen stoßen auf keinen
Widerstand. Bei spastischen Lähmungen sind fremdtätige Be¬
wegungen entweder aufgehoben oder beeinträchtigt (Sitz im Ge¬
hirn).
Störungen der Reflextätigkeit: Der Knie¬
sehnenreflex (Patellarreflex) wird durch Beklopfen der Sehne
unterhalb der Kniescheibe hervorgerufen. Er äußert sich durch
eine Zuckung des Muse, quadriceps des Oberschenkels. Fehlen
des Patellarreflexes bei Rückenmarkschwindsucht und Gehirn¬
erweichung“). Steigerung desselben bei spastischen Zuständen der
Beine, mitunter auch bei Degenerierten und Hysterischen. Beim
Beklopfen der oberhalb der Ferse gelegenen Achillessehne, erfolgt
eine nach der Sohle gerichtete Bewegung des Fußes (Achilles¬
reflex). Der Refle.x fehlt oft bei Tabes und Paralyse. Er ist
gesteigert bei spastischen Lähmungen der Beine. Fußzittern
(Fußklonus) bedeutet eine stark ausgeprägte Steigerung des
Achillessehnenreflexes.
Beim Bestreichen der Fußsohle mit dem Stiel des Klopf¬
hammers erfolgt eine nach der Sohle gerichtete Bewegung der
Zehen und des Fußes. Bei Erkrankungen der Pyramidenbahn,
“) S.: Bechterew, Funktionen der Nervenzentren. 3 Bde. Jena.
Q. Fischer. Ferner: Obersteiner, Anleitung zum Studium des Baues der
nervösen Zentralorgane. Wien 1912. F. Deuticke.
“) S.: Rosenfeld im Handbuch der Psych. Wien 1913. Deuticke.
“) Der Reflex ist auch unter dem Namen: „Westphalsches Zeichen“
bekannt.
Körperliche Symptome.
73
d. Ii. der Leitungsbahn für die Bewegiiiigsimpulse der Gliedmaßen,
erfolgt beim Bestreichen der Sohle eine Beugung der großen Zehe
zum Fußrücken hin (Dorsalflexion). Die übrigen Zehen machen
diese Bewegung nicht mit (Babinskisches Zeichen).
Fußklonus und Babinskisches Zeichen beweisen eine orga¬
nische Erkrankung des Gehirns.
Von K r a m p f e r s c h e i n u n g e n spricht man, wenn
einzelne Muskelgruppen, ganze Gliedmaßen oder die gesamte
Körpermuskulatur unwillkürliche Zuckungen aufweisen. Man
unterscheidet klonische und tonische Krämpfe. Bei ersteren folgen
die Zuckungen sehr schnell (i—3 Zuckungen pro Sekunde) auf¬
einander, bei letzteren handelt es sich um längerdauernde Span¬
nungen, die nur hie und da einmal durch eine kurze Zuckung
unterbrochen werden.
Störungen des Gefühlssinns (Sensibilität): Man
unterscheidet eine Berührungs-, Schmerz- und Temperaturempfin¬
dung. Ferner wird die Fähigkeit, Hautreize richtig zu lokali¬
sieren, die Lage der einzelnen Glieder zu bestimmen und lediglich
mit Hilfe des Tastsinnes die Formen von Gegenständen zu er¬
kennen, geprüft.
Die Schwere der Störung bei den beiden genannten Gefühls-
Cjualitäten wird folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: Auf¬
hebung der Berührungs- und Schmerzempfindlichkeit = Anästhe¬
sie bzw. Analgesie. Herabsetzung der beiden Empfindungscpiali-
täten (Hypästhesie bzw. Hypalgesie), Überempfindlichkeit für
Berührungs- und Schmerzreize (Hyperästhesie und -algesie).
Sensibilitätsstörimgen können organisch bedingt sein, d. h.
vom Gehirn, Rückenmark und den peripheren Nerven ausgehen.
Sie können ferner psychisch entstehen. Im ersteren Falle erstreckt
sich die Störung auf das von den zerstörten Nervenzentren oder
Bahnen versorgte Hautgebiet. Die psychisch bedingten Gefühls¬
störungen erstrecken sich auf einzelne Glieder, Gliedabschnitte,
Körperhälften, mitunter sogar über den ganzen Körper. —
Neuerdings hat durch die Forschungen von Wassermann,
Plaut, Nonne ^) u. a. die Untersuchung des Blutes und der
Rückenmarksflüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) eine solche Be-
B S.: Nonne, Syphilis und Nervensystem. Berlin 1909. Plaut, Alle.
Zcitschr. f. Psych. 1909 und die .MonoKräphie: Die Wassermannsche Sero-
diaKnostik usw. Jena 1909. O. Fischer. Außerdem: Plaut, Zeitschr. f. d.
ges. Neurol. u. Psych. 1910. Dort Literatur.
74
Körperliche Symptome.
deutung gewonnen, daß sie auch dem Richter bekannt sein muß.
Speziell für die Diagnose einer voraufgegangenen Syphilis sind
die gleich zu erwähnenden Reaktionen von großer Wichtigkeit.
Man untersucht Blut und Liquor nach der Methode von Wasser¬
mann. Der positive Ausfall der Reaktion beweist, daß der
Patient syphilitisch ist.
Der Liquor cerebrospinalis wird außerdem noch auf seinen
Zellgehalt und auf Globuline untersucht*). Die Erfahrung hat
nämlich gelehrt, daß bei bestimmten organischen Erkrankungen
(besonders Tabes, Paralyse, Gehirnsyphilis, Hirnhautentzündung
iisw.) die zelligen Elemente in der Rückenmarksflüssigkeit er¬
heblich vermehrt sind (Lymphozytose). Schließlich ist auch
nachgewiesen worden (Nonne), daß gesättigte neutrale Ammo¬
niumsulfatlösung und Liquor zu gleichen Teilen kalt zusammen¬
gegossen besonders häufig bei den oben erwälmten Krankheiten
eine Opaleszenz, nicht selten sogar eine ausgesprochene Trübung
ergeben.
Positive Wassermannsche Reaktion in Blut und Liquor, posi¬
tive Ammoniumsulfatprobe und Zellvermehrung im Liquor
sprechen bei verdächtigen Fällen mit großer Wahrscheinlichkeit
für das Bestehen einer Paralyse.
In den letzten Jahren ist die forensische Bedeutung -) der
Wassermannschen Reaktion mehrfach diskutiert worden, ln der
Tat kann sie in strafrechtlichen Fällen (Körperverletzungen durch
Ansteckung mit Syphilis, kriminelle Abtreibung, Sittlichkeits¬
delikte) ebenso wie bei Zivilklagen (Schadenersatzansprüche,
Eheanfechtung, Ehescheidung, Alimentationsklagen), ferner bei
falschen Anschuldigungen und beim Rentenverfahren (Feststel¬
lung, ob eine Tabes oder Paralyse syphilitischen Ursprungs ist)
von Bedeutung sein (Leers).
Plaut hat außerdem die Frage aufgeworfen, welche Bedeu¬
tung die ererbte Syphilis und ihr Nachweis durch die Wasser¬
mannsche Reaktion bei einem Angeschuldigtcn hat. Ich möchte
die von ihm gestellten Fragen folgendermaßen beantworten:
*) Noniie-Apeltsche Qlobulin-Reaktion. Näheres bei Nonne, Syphilis
und Nervensystem. Berlin 1909.
“) Hoffmann: Wassermann und Keiitenzahlung. Zeitschr. f. Med.-
Beamte 1911, Nr. 5. Leers, Groß’ Arch., Bd. 47, S. 324. Placzek, Med.
Klinik 1911. Plaut, Zeitschr. f. d. ges. Neurol., Bd. 11, S. 639. Bohne,
Vierteljahrssehr. f. gerichtl. Med., Bd. 45, 1. Suppl.-Bd., S. 34.
Die Obduktion und ihre Ergebnisse.
75
1. Bei geistig Minderwertigen, bei denen bezüglich der Zu¬
rechnungsfähigkeit (§ 51 Str.G.B.) oder Einsicht (§ 56 Str.G.B.)
gewisse Zweifel bestehen, kann der Nachweis der kongenitalen
Lues namentlich dann zugunsten der Unzurechnungsfähigkeit
sprechen, wenn aus dem klinischen Verlauf und dem Ausfall der
oben erwähnten Reaktionen der Schluß berechtigt ist, daß es
sich um einen noch nicht zum Stillstand gekommenen Prozeß
handelt. Sind gleichzeitig neurologische Symptome vorhanden,
dann ist wohl auch ihr Vorhandensein zugunsten des Angekl. zu
verwerten.
2. Personen, die an kongenitaler oder erworbener syphili¬
tischer Epilepsie leiden, sind für Straftaten, die sie nicht in einem
Ausnahmezustand begangen haben, nicht anders zu beurteilen,
wie genuine Epileptiker, denn auch bei Letzteren liegt ein pro¬
gredienter Prozeß vor.
3. Die pathologischen Affektzustände der kongenital Lue¬
tischen möchte ich mit den Stimmungsschwankungen der Epi¬
leptiker nicht auf eine Stufe stellen.
4. Bei zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit spricht der posi¬
tive Ausfall der vier Reaktionen zugunsten der Exkulpierung.
5. Jugendliche Psychopathen mit kongenitaler Lues von den
Strafanstalten grundsätzlich fernzuhalten liegt kein Grund vor._
Die ärztliche Behandlung derselben ist erwünscht, kann aber
weder nach geltendem noch nach künftigem Recht vom Straf¬
richter verfügt werden.
Die Obduktion und ihre Ergebnisse.
Zwei Fragen, die kurz gestreift werden müssen, sind die
folgenden: Was kann man bezüglich des Geisteszustandes eines
Verstorbenen durch die Obduktion feststellen und wie lange nach
dem Tode ist der Nachweis pathologischer Veränderungen noch
möglich?
Was zunächst die letztere Frage angeht, so ist es möglich,
Veränderungen am knöchernen Schädel noch nach Jahren zu er¬
kennen.
Es ist auch ein Fall beschrieben, in dem eine große Ge¬
hirnblutung i’/2 Jahre nach dem Ableben festzustellen war. Der-
') Thomalla, Zeitschr. f. Med.-Beamte.
76
Die Obduktion und ihre Ergebnisse,
artiges gehört aber zu den größten Seltenheiten, so daß praktisch
damit niclit gerechnet werden kann.
Im allgemeinen ist das Gehirn schon nach 4—5 Tagen so
verändert, daß es zu Brei zerfällt. Dagegen sind solche Fälle,
wie der von H. Meyer beschriebene, in dem noch 76 Stunden
nach dem Tode die mikroskopische Diagnose möglich war, wohl
öfters anzutreffen.
Auf meine Veranlassung hat an unserer Klinik HerrDr. Spieß
systematische Untersuchungen über diese Frage begonnen. Die¬
selben sind zwar noch nicht beendet, das bisherige Ergebnis kann
man aber dahin zusammenfassen, daß sich bei einem ausgesprochenen
Fall von Paralyse die Diagnose auf Grund des mikroskopischen
Befundes allein mit einiger Sicherheit nur dann stellen läßt,
wenn das Material höchstens 40—48 Stunden gelegen hat*).
Auch nach 64—72 Stunden waren noch einzelne histologische
Charakteristika vorhanden. Ohne Zuhilfenahme der klinischen
Krankheitsgeschichte hätten sie aber eine Diagnose nicht stellen
lassen.
Wahrscheinlich ist, daß in der kühlen Jahreszeit auch
noch nach 72 Stunden häufiger mikroskopische Diagnosen zu
stellen sein werden.
Was kann nun durch die Sektion festgcstellt werden’)?
Zunächst kann die Besichtigung des herausgenommenen Ge¬
hirns und seiner Hüllen gröbere Störungen erkennen lassen.
Als solche nenne ich: Vermehrung des Liquor cerebrospinalis
(Hydrozephalus), Entzündungen der Hirnhäute, Blutungen in die
Gehirnsubstanz oder die Hirnhäute, Erweichungsherde, Ge¬
schwülste, Eiterherde, Gchirngefäßvcrkalkung, Narben, Ver¬
schmälerung der Hirnwindungen bei gleichzeitigem Klaffen der
Hirnfurchen (bei Gehirnerweichung und Altersblödsinn). Auch
die Wägung des Gehirns (Mittenzweig) ’) kann mitunter An-
’) E. Meyer, Ärztl. Sachverst.-Zcitg. 1907, S. 133.
“) Die Versuche wurden bei warmer Außentemperatur gemacht. Die
Versuchsbedingungen waren auch insofern ungünstig, als das Qehirn erst
8 Stunden nach dem Tode herausgenommen und dann in einem nicht
sterilen Oefaß aufbewahrt wurde.
’) Vergl. Elatau-Jacobsohn cit. S. 1. E. Meyer, ibid. L. W. Weber,
Ergebnisse der allg. Pathol. u. pathol. Anatomie, 13. Jahrg., S. 623—666.
Hübner, Selbstmord. Jena 1911. Q. bischer. Binswanger im Lehrbuch,
Allg. Teil. L. W. Weber, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1912, S. 61.
Die Obduktion und ihre Ergebnisse.
77
Iinltcpunkte für die VVahrscheinliclikeitsdiagnosc, daß ein Ver-
Mödiingsprozeß vorliegt, bieten. Ferner ist auf die Weite der
Hirnkammern (V^entrikel) zu achten. Sind dieselben erweitert,
so spricht das für Hydrozephalus (= Vermehrung des Gehirn¬
wassers).
Noch wichtiger als die oben beschriebenen Tatsachen ist
die mikroskopische Untersuchung des Gehirns, die sich auf die
Nervensubstanz selbst, sowie auf das Zwischengewebc, die Blut¬
gefäße und Hüllen des Gehirns erstrecken muß.
Zu diagnostizieren sind: i. die Gehirnerweichung, 2. die
syphilitischen Erkrankungen des Gehirns, 3. Tuberkulose und
Geschwülste des Gehirns und seiner Hüllen, 4. Hirnhautentzün¬
dungen, 5. der Altersblödsinn, 6. einzelne Idiotieformen und
7. manche Fälle von Epilepsie.
Bei einzelnen akuten Psychosen sowie bei der Dementia
praecox ’) sind auch bereits Befunde erhoben, doch reichen die¬
selben wohl nur lx;i der letztgenannten Geistesstörung und auch
da nur ausnahmsweise zur mikroskopischen Diagno.se aus.
L. W. Weber hat noch eine Frage aufgeworfen:
Kann durch makroskopische und mikroskopische Unter¬
suchung des Gehirns ein Hirntod, d. h. eine Veränderung des
Gehirns festgestellt werden, welche mangels sonstiger Todes¬
ursachen und bei Berücksichtigung des klinischen Krankheits¬
verlaufes geeignet ist, das Ableben des Patienten zu erklären?
Weber bejaht die Frage für einzelne Fälle und führt zum
Beweise folgende Möglichkeiten an: i. Wenn eine starke Hyper¬
ämie mit zahlreichen kleinen Blutungen in wichtige Partien der
Hirnrinde, der Brücke und des verlängerten Markes nachzu-
weisen sind; 2. beim Hirnödem; 3. der Hirnschwellung (Rei-
chardt) und 4. der Gehirnerschütterung. 5. Schließlich erwähnt
er in Anlehnung an .Mzheimer, daß massenhaftes Vorkommen
von Ahbauprodukten ein Zeichen dafür ist, daß ein akuter, zur
Ein.schmelzung nervöser Substanz führender Hirnprozeß statt-
gefunden hat.
Alzheimer, Pathol. Anatomie der Psychosen. Wien. Deuticke. Mitten-
zweig. Oehirngewicht. Allg. Zcitschr. f. Psych., Bd. 1905. Behr, Gerichts-
ärztl. Diagnostik am Kopf usw. Arbeiten aus d. psych. Klinik Wiirzburg,
H. 3. Jena 1908. Reichardt, Untersuch, iib. d. Gehirn. Jena. G. Fischer.
’) Vergl. .Alzheimer, Vortr. auf der Jahresversammlg. des Deutschen
Vereins f. Psych. 1913 zu Breslau. Allg. Zeitschr. 1913.
Die Bedeutung der erblichen Belastung.
78
Aus diesen Ausführungen ergeben sich für den Juristen
folgende Regeln:
1. Immer muß die beschlagnahmte Leiche möglichst kühl
gelagert werden.
2. Termin zur Sektion ist so rasch wie möglich anzusetzen,
denn 3 Tage nach dem Tode ist das Obduktionsergebnis oft
schon wertlos.
3. Wo nur die entfernte Möglichkeit besteht, daß ein un¬
klarer Tatbestand weiter geklärt werden könnte, ist die Obduk¬
tion zu m .eben. Eventuell wird zweckmäßigerweise ein Sach¬
verständiger vorher befragt, ob eine Sektion noch lohnt.
4. Zur mikroskopischen Untersuchung schicke man Gehirne *)
nur an Spezialinstitute, da die Technik sehr schwierig ist.
Die Bedeutuii;^ der erblichen Belastung.
Die Tatsache, daß in der Verwandtschaft eines Menschen
Geistes- oder Nervenkrankheiten vorkamen, wird besonders in
Strafsachen so oft zur Entlastung des Angeschuldigten ange¬
führt, daß es notwendig ist, auf die Bedeutung der „erblichen
Belastung“ (Heredität) näher einzugehen.
Unter erblicher Belastung im weitesten Sinne versteht man
für unsere Zwecke das Vorkommen solcher geistiger, nervöser
oder konstitutioneller Erkrankungen bei den Vorfahren
oder Geschwistern eines Menschen, die geeignet sind, eine an¬
geborene Minderwertigkeit des Nervensystems bei den Deszen¬
denten zu begründen.
Die Ansichten darüber, was als belastend angesehen werden
darf, gehen nach verschiedenen Richtungen hin weit auseinander.
So bestanden z. B. lange Meinungsverschiedenheiten darüber, ob
neben der direkten (von Eltern, Großeltern usw. ausgehen¬
den) Belastung, auch die indirekte (die Seitenlinien be¬
treffende) mitberücksichtigt werden dürfe. Die Frage ist in¬
zwischen dahin entschieden, daß da, wo die Heredität überhaupt
Bedeutung hat, direkte Belastung schwerwiegender ist.
Weiter ist Gegenstand lebhafter Erörterungen die Frage
gewesen, welche Erkrankungen man als belastend ansehen darf.
') Die sofort nach der Herausnahme zur Hälfte in 96proz. Alkohol,
zur anderen Hälfte in lOproz. Formalinlösung konserviert werden müssen!
Die Bedeutung der erblichen Belastung.
79
Genannt wurden in erster Linie Geistesstörungen, ferner die
Trunksucht, abnorme Charaktere, Selbstmorde, Nervenkrank¬
heiten, Tuberkulose, Syphilis und einige Stoffwechselerkrankun¬
gen (z. B. die Zuckerkrankheit).
Diese Zusammenfassung der belastenden Momente hatte
eine gewisse Berechtigung für statistische Zwecke. Wir haben
auf diese Weise gelernt, daß etwa 75 “/o Geisteskranken
„belastet“ sind. Es hat sich dabei aber auch die bemerkenswerte
Tatsache ergeben, daß ungefähr 50®/o aller gesunden Menschen
in diesem weitgehenden Sinne belastet sind.
Für unsere Zwecke muß eine viel weitergehende Differen¬
zierung erfolgen, denn es kann als sicher gelten, daß die verschie¬
denen Geistesstörungen bezüglich ihrer belastenden Wirkung
keineswegs gleichwertig sind. So ist z. B. die Erkrankung eines
direkten Aszendenten an Altersschwachsinn erheblich geringer
zu veranschlagen, als das Vorkommen von manisch-depressivem
Irresein.
I. Diese letzterwähnte Erkrankung im Verein mit den dc-
generativen Charakteren und der Hysterie bilden die Gruppe der
sogenannten endogenen Affektionen. Sie vererben sich relativ
häufig weiter. Wer sich gewöhnt hat, die Kinder derartiger
Kranker in psychischer Beziehung mit den Eltern zu vergleichen,
der weiß, daß die Abkömmlinge Degenerierter, Hysterischer und
auch Manisch-Depressiver außerordentlich häufig degenerative
und hysterische Züge darbieten.
Das manisch-depressive Irresein vererbt sich außerdem nicht
ganz .selten gleichartig, das heißt bei den Deszendenten
*) Literatur: Bratz, Neurol. Zentralbl. 1910. Adler, Miinchn. med.
Wochenschr. 1901. Oraßmann, Zeitschr. f. Psycli., Bd. 52. Martins, Berl.
klin. Wochenschr. 1901. Rieger, Zentralbl. f. Nervenheilkde., Bd. 15.
Sommer, Familienforschung und Vererbungslehre. Leipzig 1907. J. A.
Barth. E. Sioli, Arch. f. Psych. 1899. Pilcz, Arbeiten aus dem Wiener
Neurol. Institut 1907. Damköhler, Zeitschr. f. Psych., Bd. 67, S. 643.
Rybakow, Alkohol, u. Vererbung, Korsakowsches Journal 1910. Max
Sichel, Alkohol, u. Vererbung. Neurol. Zentralbl. 1910, S. 738. O. Voß,
Deutsche med. Wochenschr. 1910, S. 25. Weinberg, Statistik u. Vererbung
in der Psychiatrie. Klinik f. psych. u. nervöse Krankh., Bd. 5, S. 34—43.
Halle a. S. C. Marhold. Schuppius, Zeitschr. f. d. ges. Psych. 1913, S. 217.
Bayerthal, Erblichkeit und Erziehung. Wiesbaden 1911. J. F. Bergmann.
Bonsmann, In.-Diss. Bonn 1911. Haecker, Allg. Vererbungslehre. Braun¬
schweig 1911. Vieweg. Rüdin, Zeitschr. f. die ges. Neurol. 1911, Bd. ",
S. 487. Sommer, Deutsche med. Wochenschr. 1911, S. 1733.
8 o
Die Bedeutung der erblichen Belastung.
tritt nicht allein eine degenerative Charakterveranlagung hervor,
sondern es werden in einem Teil der Fälle auch manische und
melancholische Phasen hei den Deszendenten beobachtet.
2. Eine zweite Gruppe von Störungen, die eine aus¬
gesprochene Neigung zur /Vererbung erkennen läßt, wird vom
chronischen Alkoholismus und der Epilepsie gebildet; außerdem
gehört hierher wohl auch der angeborene Schwachsinn.
Wenn beim Alkoholismus') die Gefahr für die Nach¬
kommen eine besonders große ist, so hat das zwei Gründe: Ein¬
mal kommt es daher, daß ein großer Teil der chronischen Alko-
holisten zu den von jeher minderwertigen Menschen gehört.
Hierzu kommt zweitens die Wirkung des Giftes.
Kinder von Alkoholisten sind häufig schwachsinnig und
epileptisch, nicht selten werden sie selbst schon in jungen Jahren
Alkoholisten. Bei ihnen werden ferner oft und frühzeitig un¬
soziale Neigungen beobachtet, die z. T. auf eine abnorme An¬
lage, daneben aber auch wohl auf Rechnung des Milieus zu
setzen sind, in dem diese Kinder aufwachsen. Ein gewisser
Prozentsatz der kindlichen Diebstähle findet in dieser Vereini¬
gung von minderwertiger Anlage und ungünstigen Erziehungs-
vcr'hältnissen seine Erklärung.
Nachkommen von Epileptikern erkranken öfters, ebenso
wie der Aszendent, an Epilepsie. Tn anderen Fällen fehlen zwar
ausgesprochene epileptische Symptome, der Deszendent ist aber
imbezill.
3. Im allgemeinen vererben sich Geistesstörungen häufiger
gleichartig, als ungleichartig. Dies gilt namentlich vom manisch-
depressiven Irresein und der Dementia praecox.
4. Erheblich geringere belastende Bedeutung haben die¬
jenigen Geistesstörungen, welche auf mehr exogene Ursachen
zurückzuführen sind. Ich nenne als solche die Gehirnerweichung,
ferner die Gchirnsyphilis. Vielleicht gehört auch der Alters¬
schwachsinn und jener Teil der Arteriosklerotiker hierher, deren
Gefäßverkalkung auf übermäßiger Inanspruchnahme durch
äußere Schädlichkeiten beruht.
5. Noch strittiger wie das bisher Angeführte ist die Bedeu¬
tung gewisser körperlicher Erkrankungen, in erster
') Besonders verwiesen sei hier noch auf die Tferexperimente von
Pförtner und P. Schroeder, s. .411g. Zeitschr. f. Psych. 1912.
Die Bedeutung der erblichen Belastung. 8 t
Linie der Tuberkulose und Syphilis. Ich habe mich bezüglich
dieser beiden Erkrankungen nicht immer des Eindrucks er¬
wehren können, daß sie etwas überschätzt werden. Bezüglich der
Syphilis konnte ich jedenfalls in einer Reihe von Fällen den
Nachweis erbringen, daß sie nicht notwendig zur Erklärung von
psychopathischen Zügen bei den Deszendenten herangezogen zu
werden brauchte, da die Vorfahren bereits die gleichen psycho¬
pathischen Symptome dargeboten hatten '). Noch größere Vor¬
sicht ist bei der Bewertung der Tuberkulose angebracht, die doch
in erster Linie eine Lokalerkrankung ist.
Aus den vorstehenden Ausführungen, die nur einige wenige
Tatsachen der Erblichkeitslehre bringen wollen, ergibt sich, daß
ein erblich Belasteter nicht ohne weiteres
minderwertig zu sein braucht. Für forensische
Zwecke besagt demnach die erbliche Belastung eines Angeschul¬
digten nicht sehr viel “). Auf Grund der bisher in der Literatur
niedergelegten Erfahrungen kann man etwa sagen, daß ,,ge¬
häufte“ (mehrfache) direkte Belastung namentlich mit endo¬
genen Erkrankungen, Epilepsie oder Alkoholismus Anlaß zu be¬
sonders gründlicher Betrachtung des Angeschuldigten geben
sollte. Der Schluß, daß hereditär schwer Be¬
lastete eo ipso in ihrer Zurechnungsfähig¬
keit beeinträchtigt sein müssen, ist falsch.
Die breite Aufzählung der verschiedenen geistig abnormen
Familienmitglieder eines Angeschuldigten im Gutachten kann
deshalb auch für den Richter nur bedingten Wert haben, ins¬
besondere dann, wenn die Diagnosen der bei den Aszen¬
denten behaupteten Erkrankungen fehlen. Der Richter muß
unter allen Umständen verlangen, daß ihm die straf- und zivil-
rechtliche Unzurechnungsfähigkeit des Delinquenten in erster
Linie durch eine geistige Erkrankung dieses letzteren selbst be¬
wiesen wird.
Diejenigen, die kritiklos an den Wert der erblichen Be¬
lastung glauben, vernachlässigen noch ein anderes sehr wesent¬
liches Moment, nämlich die Möglichkeit der Regene-
') S.: Hübner, Deutsche med. Wocheiischr. 1913, Pathologie der
Degeneration.
In ganz seltenen Fällen liegen die Verhältnisse so günstig wie in
den von Leppniann berichteten (Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1898).
Hübner, Forensische Psychiatrie. 6
82
Die Bedeutung der erblichen Belastung.
r a t i o n degenerierter Familien. Durch Verheiratung mit
einem aus gesunder Familie stammenden Partner können psycho¬
pathische Züge bei den Nachkommen gemildert und die Rasse,
um einen terminus technicus aus der Tierzucht heranzuziehen,
aufgefrischt werden. —
Eine Frage'), die viel erörtert worden ist und auch für die
forensische Psychiatrie von hoher Bedeutung ist, lautet:
Können sich verbrecherische Neigungen ver¬
erben?
Lombroso und seine engeren Schüler bejahen diese Frage.
Die Mehrzahl der Autoren steht dagegen auf dem Standpunkte,
daß nicht die verbrecherischen Neigungen an sich vererbt wer¬
den, sondern eine psychopathische Minderwertigkeit, die dann
den Betreffenden in dem sozialen Milieu, in dem er zu leben
gezwungen ist, zum Verbrechen führt.
Woran erkennt man nun die Wirkung der
erblichen Belastung? Das geschieht einmal durch
Feststellung der oben (S. 6) erwähnten körperlichen Dcgcnc-
rationszeichen, zweitens aber durch den Nachweis bestimmter
psychischer Abweichungen. Die Letzteren können entweder
ausgesprochene Psychosen sein, oder es handelt sich um die¬
jenige P'orm, welche wir als psychische Entartung (Degeneration,
p.sychopathische Konstitution “) bezeichnen.
Diese Entartung zeigt sich schon in der Kindheit durch
ver.schiedene Symptome. Ein sehr wichtiges ist die Störung des
Schlafes. Der Patient schläft schlecht ein oder wacht früher
auf, er träumt außerordentlich lebhaft; ängstliche Träume be¬
unruhigen ihn, oder es kommt zu nächtlichen Angstanfällen im
Wachzustände.
Zu erwähnen ist ferner, daß bei fieberhaften Erkrankungen
das psychopathische Kind meist mit psychischen Störungen (Be¬
wußtseinstrübungen und Sinnestäuschungen) reagiert.
Hat es die Schulzeit erreicht, so kommen neue Symptome
hinzu. Zunächst fällt nicht selten schon früh, mitunter auch erst
in den mittleren Klassen eine gewisse Ungleichheit der Schul-
') Vergl. hierzu: Aschaffenburg, Bekämpfung des Verbrechens, S. 109.
2 . Aufl. Heidelberg 1906. Dort weitere Literatur.
Helene Friederike Stelzner, Die Psychopath. Konstitutionen. Berlin
1911. S. Karger. Hübner, Deutsche med. Wochenschr. 1913, ferner die
Arbeiten von Birnbaum.
Die Bedeutung der erblichen Belastung. 83
Icistungen auf. Einzelne Fächer werden leicht bewältigt, in
anderen bleiben die Erfolge mitunter sogar weit hinter dem
Durchschnitt zurück. Ferner kommt es gelegentlich zu Schul¬
schwänzen. Drittens fällt das Kind durch Neigung zum Lügen,
Unbeständigkeit in der Arbeit, leichteres Versagen bei ab¬
straktem Denken und lebhafte Phantasie auf. Sein zügelloses
Gefühlsleben bringt es dazu, sowohl in der Familie wie auch in
der Schule Anstoß zu erregen. Kleine äußere Veranlassungen
treiben es zu sehr lebhaften Reaktionen, so daß auch das Be¬
ilagen in der Schule nicht selten zum Tadel Anlaß gibt. —
Hat das Kind die Pubertät erreicht (etwa das 13. bis
14. Lebensjahr) so zeigt sich, daß auch diese Entwicklungsphase
beim Psychopathen stürmischer verläuft, wie beim normalen Men¬
schen. Die Schwankungen des Gefühlslebens, die schon in der
frühen Kindheit beobachtet worden waren, erfahren eine Ver¬
stärkung und es kommt noch leichter zu Differenzen mit der
Umgebung. Zuneigungen und Abneigungen spielen eine außer¬
ordentlich große Rolle; die Sexualsphäre, welche sich häufig be¬
reits vorher bemerkbar gemacht hat, tritt noch stärker hervor
und nimmt in ausgesprochenen Fällen das ganze Denken und
Trachten des Individuums in Anspruch.
Schon in dieser Zeit pflegen manche Psychopathen (Wunder¬
kinder) gänzlich zu versagen, so daß es notwendig wird, sie von
der Schule zu entfernen und einem praktischen Beruf zuzuführen.
Besonders betont werden muß noch, daß die Pubertät bei
den Psychopathen mitunter länger dauert als bei normalen Durch¬
schnittsmenschen, so daß ihr Abschluß erst in der Mitte der
zwanziger Jahre erfolgt. —
Bei dem erwachsenen Psychopathen kommen zu den eben
genannten Symptomen lebhafte Schwankungen des Gefühlslebens
sowie eine auffällige Ungleichheit der Leistungsfähigkeit hinzu.
Ferner fällt ein ausgesprochener Egoismus auf. In allen Dingen,
die den Patienten selbst angehen, ist er maßlos in seinen An¬
sprüchen. Berechtigte Forderungen anderer Menschen erkennt
er nicht an, sofern sie ihm unbequem sind. Ethische Gesichts¬
punkte spielen bei der Beurteilung seiner eigenen Handlungs¬
weise eine untergeordnete Rolle. Während er für eigene
schlechte Handlungen nicht genug Entschuldigungsgründe finden
kann, verurteilt er bedingungslos die Handlungen anderer, wenn
dieselben mit eigenen Wünschen kollidieren.
ü*
84 Die Bedeutung der erblichen Belastung.
Die eigenen Leistungen schätzt er sehr hoch ein; bei der
Bewertung der Leistungen anderer verfährt er äußerst kritisch.
Er ist freundlich und entgegenkommend, wenn es ihm opportun
erscheint und er etwas dadurch erreichen will. Sobald der Zweck
erreicht ist, ändert sich auch sein Verhalten.
Es wird ohne weiteres einleuchten, daß alle die erwähnten
Eigenschaften von großem Einfluß auf die äußere Lebensführung
sein müssen. Es kann daher auch nicht wundernehmen, daß
der Lebensgang eines Psychopathen sehr viel mehr Schwankungen
aufweist, als der des normalen Durchschnittsmenschen. Wieder¬
holter Berufs- oder Stellenwechsel sind an der Tagesordnung.
Differenzen mit Mitarbeitern und Vorgesetzten werden häufig
beobachtet. Auch in der Ehe geht es nicht gut. Der anfäng¬
lichen übertriebenen Liebe folgt sehr bald eine Erkaltung der
Gefühle, die zu häuslichen Szenen, Tätlichkeiten und sogar zur
Scheidung führt. Daß ein Mensch, der von seinen Stimmungen
so abhängig ist, auch kein geeigneter Erzieher von Kindern
sein kann, bedarf keiner besonderen Begründung. So macht sich
die Unstetheit des Gefühlslebens, des ganzen Denkens und der
gesamten Leistungsfähigkeit auch im sozialen Leben ständig be¬
merkbar.
Ein Teil der Entarteten pflegt nun noch auf einem anderen
Gebiete aufzufallcn, nämlich auf dem des Geschlechtslebens. Aus
dieser Gruppe von Menschen rekrutiert sich eine nicht geringe
Zahl der sexuell Perversen. In der großen Mehrzahl der Fälle
entsteht die geschlechtliche Abnormität durch äußere Beein¬
flussung von seiten anderer abnorm Veranlagter; es gibt aber,
wie ich glauben möchte, doch eine kleine Zahl von Fällen, in
denen die abnorme geschlechtliche Veranlagung angeboren ist^).
Was wir bisher besprochen haben, sind Charakter¬
eigenschaften. Sie gehören zum Fundament des betreffen¬
den Individuums und begleiten es, wenigstens in den wichtigsten
Zügen, fast durch das ganze Leben. Auf diesem Baugrund
können sich nun weitere, schwerere Störungen aufbauen. Ge¬
schieht dies, so sind für gewöhnlich unangenehme Erlebnisse
daran schuld. So bewirkt z. B. nicht selten die Haft, daß ein
psychopathisches Individuum geistig erkrankt. Ebenso können
’) S. aber Aschaffenburg, Sitzung d. Psyeb. Vereins d. Rheinprovinz.
Allg. Zeitschr. f. Psych. 1908.
Simulation und Dissimulation. 85
leichte Unfälle sein Seelenleben ungünstig beeinflussen. Eine
unglückliche Liebesgeschichte oder ähnliches (Vermögensver¬
luste) führen unüberlegte Selbstmordversuche herbei, an die sich
dann noch Depressions- oder Erregungszustände anschließen.
Besonders hervorzuheben ist ferner noch, daß die periodi¬
schen Schwankungen der psychischen Funktionen, die auch beim
normalen Menschen gelegentlich hervortreten, beim Psychopathen
noch leichter zu erkennen sind.
Alles in allem steht der Psychopath als ein Mensch vor uns,
der durch eine auffallende Unausgeglichenheit des Gefühls- und
Vorstellungslebens, des Handelns und der Leistungsfähigkeit ge¬
kennzeichnet ist. Als geisteskrank im engeren Sinne kann er nur
episodisch, während des Bestehens ausgesprochener psychischer
Störungen, angesehen werden; für gewöhnlich steht er zwi¬
schen dem normalen Menschen und dem ausgesprochenen
Geisteskranken. Seine eigenartige Veranlagung ist ihm häufig
nachteilig, nur selten gereicht sie ihm zum Vorteil. Wo letzteres
der Fall ist, liegen die äußeren Umstände meist besonders
günstig.
Simulation und DiHsiiuulatiou^).
Unter Simulation versteht man das von Gesunden
unternommene bewußte Vortäuschen von Krank heits-
symptomen. Umgekehrt stellt die Dissimulation das von
Geisteskranken absichtlich versuchte Verheimlichen von vorhan¬
denen Krankheitserscheinungen dar. Wenn auch feststeht, daß
in strafrechtlichen Fällen der Angeschuldigte großes Interesse
daran hat, geisteskrank zu erscheinen, so muß doch vorangestellt
werden, daß mit dem Begriff Simulation sehr
viel häufiger operiert wird, als es berechtigt
ist. Es kann nicht scharf genug hervorgehoben werden, daß
man eigentlich nur dann den Vorwurf der Simulation erheben
sollte, wenn man ihn auch begründen kann. In Laienkreisen ist
’) Literatur: Peretti, Med. Klinik 1911. Ermisch, In.-Diss. Greifs¬
wald 1910. Joedicke, Monatsschr. f. Kriminalpsychol. 1912, S. 46 . Leroy,
Bull. Soc. clin. de med. ment. 1910, S. 22—27. Hoppe, Vierteljahrsclir. f.
ger. Med. 1908, S. 38. Bresler, Simulation von Qeisteskr. u. Epilepsie.
Malle a. S. C. Marhold. Siemerling, Streitige geistige Krankheit im
Handbuch d. gerichtl. Med.
86
Simulation und Dissimulation.
man für gewöhnlich sehr leicht geneigt, Simulation anzunehmen,
und es herrscht auch da im allgemeinen die Ansicht, daß sehr
viel simuliert wird und daß das Simulieren sehr leicht sei.
Beides ist nicht richtig.
Daß Simulation ohne gleichzeitig bestehende nervöse oder
psychische Störungen sehr selten ist, beweist am besten die Tat¬
sache, daß noch heute fast jeder einwandfreie Fall von Simu¬
lation, der in Kliniken oder Anstalten zur Beobachtung kommt,
veröffentlicht wird. Von der Schwierigkeit, Geistesstörungen zu
simulieren, kann sich jeder Laie leicht selbst überzeugen. Ich
habe nach dieser Richtung hin verschiedene Experimente an¬
gestellt, habe selbst versucht, einfache Krankheitszustände nach¬
zumachen, ebenso wie ich andere gebildete Leute veranlaßte,
einen Kranken längere Zeit zu beobachten und dann die wesent¬
lichsten Symptome des Zustandsbildes zu imitieren. Selbst wenn
ich nicht gewußt hätte, daß es sich dabei um Experimente han¬
delte, die ich selbst veranlaßt hatte, würde ich unschwer erkannt
haben, daß das keine Geisteskranken waren, die mir gegenüber¬
standen. Ich habe ferner den Versuch gemacht, gebildete Leute
auf ein bestimmtes Symptom einzuüben. So habe ich z. B. ver¬
sucht, die Vortäuschung einer manschettenförmigen Gefühls¬
störung (vergl. körperliche Symptome bei Plysterie) erlernen zu
lassen. Bei sachkundiger Prüfung war es mir leicht möglich,
zu zeigen, daß der obere Rand der fingierten Störung auch nicht
annäliernd in derselben Weise angegeben werden konnte,, wie
von wirklich Kranken. Daß in der Öffentlichkeit die Simula¬
tionsfrage falsch beurteilt wird, ist wohl durch 2 Punkte be¬
dingt '). Einmal ist sich der Laie nicht klar darüljer, daß es
nicht darauf ankommt, ein oder einige wenige Symptome
vorzutäuschen, sondern daß er ein ganzes K r a n k h e i t s b i 1 d
darstellen muß, in dem die psychischen Störungen vorwiegen,
sonst hat der ganze Versuch für den Simulanten gar keinen
Zweck; ferner aber kommt es auch nicht darauf an, dieses Krank¬
heitsbild für einige wenige Minuten oder Stunden vorzutäuschen,
sondern in den meisten und zwar gerade in den zweifelhaften
Fällen pflegt die Anstaltsbeobachtung angeordnet zu werden, und
Erwähnt sei hier, daß im Anfang dieses Jahres gelegentlich einer
Konferenz von Vertretern verschiedener Berufsgenossenschaften usw. im
Reichs-Vers.-Amt allgemein anerkannt wurde, daß Simulation nicht sehr
häufig vorkomme.
Simulation und Dissimulation.
87
es ist dann notwendig, 6 Wochen lang zu simulieren. Daß damit
eine ungeheure Schwierigkeit gegeben ist, wird leider immer
übersehen.
Simuliert wird, um sich vor Nachteilen zu bewahren
oder um sich Vorteile zu verschaffen. Letzteres geschieht am
häufigsten in der Unfallversicherung.
Fast alle Simulanten, die bisher entlarvt worden sind, haben
auch gewisse Vorbilder gehabt, d. h. sie waren durch Krankeir¬
und Irrenanstalten hindurchgegangen und hatten sich auf diese
Weise die zum Simulieren erforderlichen Kenntnisse verschafft.
Einige Male handelte es sich um ehemalige Kranken- und Irrcn-
pfleger. Verhältnismäßig selten werden Simulationsversuche
von Neulingen auf dem Gebiete des Verbrechens unternommen.
Meistens sind es alte, gewiegte Kriminelle, die wissen, was sie
damit erreichen können.
Was die Verteilung der Simulanten auf die einzelnen Ver¬
brecherkategorien anlangt, so stehen an erster Stelle die Eigen¬
tumsverbrecher. Dann folgen die Sittlichkeitsverbrecher, die¬
jenigen gegen das Leben (bzw. die Gesundheit) und die Brand¬
stifter. Auch bei kleinen Delikten wird simuliert, z. B. von
Bettlern, die neben der Haftstrafe die Überweisung in die Ar¬
beitsanstalt zu fürchten haben.
Eine weitere Frage lautet: „W ann wird simulier t?“
In einem der mir bekannten Fälle simulierte eine Prosti¬
tuierte wiederholt epileptische Anfälle auf der Straße ^), gerade
dann, wenn sie von einem Sittenschutzmann verhaftet werden
sollte. Es sammelte sich dann sofort um sie eine größere Menge
Menschen, ihre Zuhälter kamen hinzu, umkreisten den Schutz¬
mann, während sie selbst sich durch die Menge schleunigst hin¬
durchschlug und auf diese Weise das Weite suchen konnte.
Häufiger sind die F'älle, wo der frisch Verhaftete unmittelbar
nach seiner Einlieferung in das Gefängnis den „wilden Mann"
zu spielen sucht, d. h. in einen heftigen Erregungszustand zu
geraten scheint. Wohl ebenso oft kommt die dritte Möglichkeit
vor, daß der Patient im Laufe der Untersuchungshaft plötzlich
psychische Symptome darzubieten scheint, die dann seine Ver¬
bringung in die Irrenanstalt nötig machen. Sehr viel seltener
Siemerling berichtet über einen Fall, wo epileptische Anfälle beim
Betteln vorgetäuscht wurden (Streitige geistige Krankheit S. 55).
Simulation und Dissimulation.
88
sind aber zweifellos die Fälle, wo nach der Aburteilung, in der
Strafhaft eine Psycliose simuliert wird, in der Absicht, aus der
Haft heraus in eine Kranken- oder Irrenanstalt zu kommen.
Was wird nun simuliert?')
Am leichtesten ist es wohl, epileptische Anfälle
vorzutäuschen. Der Nachweis, daß es sich dabei um Simulation
handelt, ist schwer zu erbringen, da das einzige .Symptom, wel¬
ches sich bei kurz dauernden Anfällen rasch prüfen läßt, nämlich
die Pupillenstarre, auch bei echten epileptischen Anfällen oft
nur ganz vorübergehend vorhanden ist und sich deshalb der Fest¬
stellung leicht entzieht. Die V'ortäuschung epileptischer Anfälle
ist nun aber nicht sehr bedeutungsvoll, da das Bestehen von An¬
fällen noch nicht beweist, daß der Patient auch geisteskrank im
Sinne des § 51 Str.G.B. ist.
Weniger oft werden zwei andere Symptome, nämlich die
Stummheit oder Taubstummheit simuliert. Krafft-
Ebing z. B. beschreibt einen Fall, in dem ein Mann ein halbes
Jahr in einer Irrenanstalt war und Taubstummheit vortäuschte,
ohne daß sie in Wirklichkeit bestand oder die Simulation dort
bemerkt worden wäre.
Häufiger wird ein Zustand von Regungslosigkeit,
bei dem der Patient nicht spricht, die Nahrung entweder ganz
verweigert oder nur teilweise nimmt, mitunter auch unrein mit
Kot und Urin ist, vorgetäuscht. Die Unterscheidung eines sol¬
chen simulierten von einem wirklich vorhandenen Stupor ist mit¬
unter sehr schwer.^ Doch gelingt es auch da Klarheit zu schaffen.
Ich möchte besonders auf eine Methode hinweisen, die manch¬
mal sehr gute Resultate ergibt, nämlich folgende: Man beobachte
den Patienten, ohne von Simulation zu sprechen, mehrere Tage,
wiege ihn so in Sicherheit, wecke ihn dann eines Nachts aus dem
Schlaf und fange sofort an, auf ihn einzureden und Fragen zu
stellen. Es wird dann leicht gelingen, Antworten von ihm zu er¬
halten, und wenn man ihn erst einmal soweit hat, daß er spricht,
gelingt es auch, weitere Erklärungen von ihm zu erlangen.
') Fälle derart, wie sie Rixen beschreibt (Psycli.-Neurol. Wochenschr.
1909/10, Nr. 10, referiert im Arch. f. Kriminalanthrop., Bd. 39, S. 1), daß ein
Krimineller ein vollständiges Gutachten fälscht, sind selten. Der Wort¬
laut des Gutachtens urtd sein Inhalt lassen die Fälschung übrigens leicht
erkennen.
Simulation und Dissimulation.
89
Man darf dabei allerdings nicht vergessen, daß bei der
Hysterie Stuporzustände Vorkommen, die auf dieses energische
Verfahren hin gleichfalls aufhören. Deshalb wird man gut tun,
während des Bestehens des Stupors sowie nach Ablauf desselben
eine sorgfältige körperliche Untersuchung vorzunehmen, die
eventuell brauchbares Material zur Unterscheidung des simulier¬
ten vom hysterischen Stupor bringt (Cornealreflexe, Rachen¬
reflexe, Verhalten der Gefühlsempfindung!).
Es kommt in diesen, wie in manchen anderen Zustandsbil¬
dern, die simuliert werden, nicht selten vor, daß die Patienten
Kot und Urin unter sich lassen und sogar ihre Exkremente oder
ihren eigenen Auswurf herunterschlucken. So merkwürdig diese
Handlungen auch sein mögen, muß besonders betont werden, daß
sie nicht etwa ein sicheres Zeichen für Geisteskrankheit sind; es
sind vielmehr einige Fälle bekannt, in denen Simulanten tage-
und wochenlang ihren eigenen Kot genossen haben ohne krank
zu sein.
Die N ahrungsver Weigerung kann selbstverständ¬
lich nicht längere Zeit durchgeführt werden. Es sind Fälle be¬
kannt, wo infolge von Hunger der Patient seine Simulation auf¬
gab. In einem derselben war der Kranke im Gefängnis auf
schmale Kost gesetzt worden (Suppendiät), die ihn dann schlie߬
lich nach einigen Tagen veranlaßte, den Wärter zu rufen und
diesem mitzuteilen, daß er über seine vermeintliche Krankheit
gern Aufschluß geben wollte, wenn man ihn dafür anders be¬
köstige und vor allen Dingen seinen Hunger stille (zit. bei
Bresler).
Ein weiteres Symptom, welches zwar einige Tage, aber
auch nicht länger simuliert werden kann, ist die Schlaf¬
losigkeit. Auch hier ist wieder zu bedenken, daß sie auch
von Hysterischen oft behauptet wird und diese dann wie die
Simulanten alle möglichen Tricks anwenden, um die Tatsache
zu verschleiern, daß sie, sei es auch nur stundenweise, in der
Nacht schlafen. Bei sorgfältiger Beobachtung durch das Personal
muß aber auch dieser Simulationsversuch aufzuklären sein.
Außer den Zuständen, die bisher besprochen worden sind,
gibt es nun noch eine ganze Reihe weiterer, die vorgetäuscht
werden.
In erster Linie ist der Schwachsinn zu nennen. Die
Patienten suchen durch den Gesichtsausdruck, ihre Bewegungen
go Simulation und Dissimulation.
und Handlungen einen Intelligenzdefekt glaubhaft zu machen. Bei
der Prüfung mit den weiter oben besprochenen Methoden, ins¬
besondere bei Prüfung des Schulwissens werden verhältnismäßig
einfache Fragen entweder gar nicht oder falsch beantwortet.
Gerade diesen Fällen gegenüber zeigt sich die Unzulänglichkeit
unserer Intelligenzprüfungsmethoden. Trotzdem ist es aber
möglich bei mehrwöchiger Beobachtung, die Situation klarzu-
stcllen. Zunächst wird eine genaue Erhebung und Nachprüfung
der Vorgeschichte (Schulzeugnisse, Berufserfolge!) zeigen, ob
dort irgendwelche Anhaltspunkte für Schwachsinn vorhanden
sind. Ferner wird durch die Beobachtung selbst ein Urteil über
das Verhalten des Gefühlslebens zu erlangen sein. Daß Schwach¬
sinnige sich in dieser Beziehung anders verhalten als Normale,
soll weiter unten noch ausgeführt werden. Schließlich kann
auch der am Ende dieses Kapitels beschriebene Alkoholversuch
ausgeführt werden, durch den schon wiederholt derartige Simu¬
lanten zum Bekenntnis der Wahrheit gebracht wurden.
Nicht selten werden von Angeschuldigten Bewußt¬
seinstrübungen mit nachfolgender Amnesie für die Zeit
der Tat behauptet und im Anfang der Beobachtung vorgetäuscht.
Mangelt es an hysterischen oder epileptischen Symptomep,
so sind derartige Angaben von vornherein wenig glaubwürdig,
denn es kommt sehr selten vor, daß die ersten Äußerungen einer
Epilepsie gleich zu kriminellen Handlungen führen’).
Glaubhafter ist die Behauptung einer mehr oder minder
vollständigen Amnesie bei Trunkenheitsdelikten. In diesen Fällen
beweist sie aber nichts, da bei schweren Räuschen die Erinnerung
sehr häufig getrübt ist.
Die vielfach behauptete Gedächtnisschwäche
kommt als Einzelsymptom ohne vorauf gegangene (Eklampsie)
oder gleichzeitig bestehende andere Krankheitszeichen auch nicht
vor. Sie kann Teilerscheinung einer Neurasthenie sein, sie kann
aber auch bei organischen Gehirnerkrankungen Vorkommen.
Daraus ergibt sich, daß meist auch die Möglichkeit besteht, ihr
Vorhandensein festzustellen, zum mindesten aber wahrscheinlich
zu machen. Findet sich ein vollständiges K r a n k h c i t s b i 1 d ,
so spricht dies gegen Simulation. Zu beachten bleibt dabei
’) Wir haben unter unserem großen Material in 9 Jahren nur
2 Fälle gehabt.
Simulation und Dissimulation.
91
übrigens noch, daß eine Gedächtnisschwäche neurasthenischer
Natur wohl niemals Anlaß zur Exkulpierung geben wird.
Schließlich sind noch die Fälle zu erwähnen, wo entweder
Zustände trauriger Verstimmung oder Sinnes¬
täuschungen und Wahnideen simuliert werden. Auch
diese Symptome kommen nie isoliert vor. Um solche Fälle zu
entlarven, wird der Sachverständige die Wirkung der angeblich
vorhandenen Krankheitserscheinungen auf das Handeln der
Person genau beobachten müssen.
Wie wird Simulation nun nachgewiesen?
Voranzustellen ist da, daß das Geständnis eines Inhaftierten,
er habe simuliert, nicht ohne weiteres ausreicht, ihn für gesund
oder strafrechtlich zurechnungsfähig zu erklären. Es gibt Kranke,
die sich zunächst in einem Strafverfahren selbst mit Krankheit
entschuldigen und sich später als Simulanten hinstellen, wenn sie
merken, daß der Freisprechung ein längerer Anstaltsaufenthalt
oder die Entmündigung folgen soll.
Siemerling') hebt deshalb mit Recht hervor, daß auch bei
vorhandenem Geständnis des Angeschuldigten der Sachverstän¬
dige die Behauptung der Simulation medizinisch begründen
müsse. —
Wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, kann in
erster Linie durch eine möglichst eingehende klinische Beobach¬
tung die Situation geklärt werden. Besonderes Gewicht ist da¬
bei auch auf das Verhalten des Kranken während der Zeit zu
legen, wo er sich selbst überlassen ist, nicht vor dem Arzt oder
Richter steht.
Wie schon wiederholt betont wurde, nützt dem Angeschul¬
digten ein einzelnes Symptom selten; es muß ein Krankheitsbild
naclizuweisen sein. Auch die Simulation einer Symptomengruppe
genügt noch nicht, Geisteskrankheit glaubhaft zu machen. Denn
auch da gilt das Wort: ,,C’est le ton, qui fait la musique.“ Es
kommt nicht darauf an, daß überhaupt Symptome simuliert
werden, sondern auch darauf, w i e dies geschieht. Allzu¬
starkes Unterstreichen einzelner Symptome, das Vorbringen von
Erscheinungen, die zum Krankheitsbilde nicht gehören, mit¬
unter auch ein Mißverhältnis zwischen Stimmung und Wahnvor-
') Siemerling I. c.
92 Simulation und Dissimulation.
Stellungen werden dem Sachverständigen leicht Mißtrauen ein-
flüßcn.
Auf die hohe Bedeutung einer exakten körperlichen Unter¬
suchung ist bereits an verschiedenen Stellen hingewiesen worden. —
Es gibt nun noch drei Methoden, die mitunter da angewandt
werden können, wo man auf anderem Wege nicht zum Ziel kommt.
a) Die erste besteht darin, daß man mit einem anderen Arzt
am Krankenbette die Diagnose des Betreffenden diskutiert und
dabei absichtlich betont, daß dieses oder jenes Symptom, das für
gcwölmlich nicht zu fehlen pflegt, in dem vorliegenden Falle nicht
vorlianden sei. Einen Simulanten (allerdings nicht selten auch
einen Hysterischen) wird das häufig veranlassen, die fehlenden
Symptome noch nachzuliefern.
b) Ein weiteres Mittel zur Aufklärung besteht darin, daß
man dem Patienten die Chancen einer Verurteilung und Frei¬
sprechung wegen Geisteskrankheit auseinandersetzt. Insbeson¬
dere in denjenigen Fällen, wo eine Verurteilung nur eine ver¬
hältnismäßig kurze Freiheitsstrafe nach sich ziehen würde, weist
man mit Nutzen darauf hin, daß der Aufenthalt in einer Anstalt
nach erfolgter Freisprechung wegen Geisteskrankheit ein unbe¬
grenzter sein kann. Hat sich der Angeschuldigtc diese Gedanken¬
gänge erst einmal zu eigen gemacht, so gibt er das Simulieren
unter Umständen sehr schnell auf, während bei den meisten
Kranken auch das keinen Eindruck macht.
c) Schließlich ist auch noch die Demonstration im Kolleg
oder vor der Ärztekonferenz besonders empfehlenswert. Man
betone in Gegenwart des Patienten, daß der Fall der Simulation
verdächtig sei und fordere die Anwesenden zu besonders sorg¬
fältiger Beobachtung auf. Es gibt Simulanten, die sich durch
diese, von so vielen Seiten erfolgenden Beobachtung derartig
belästigt fühlen, daß sie ihr Simulieren aufgeben '). —
In der größeren Mehrzahl der Fälle, welche in Anstalten
gemäß § 8 t Str.P.O. zur Beobachtung kommen, handelt es sich
nicht um vollständig geistig Gesunde, die ein ganzes Krankheits¬
bild Vortäuschen, sondern um geistig Abnorme, die einzelne
Symptome oder Symptomenkomplexe simulieren. —
Einen sehr lehrreichen Fall dieser Art beschreibt Hoche in
seinem Handbuch.
Simulation und Dissimulation.
93
Dissimulationsversuche werden unternommen
von Kranken mit Wahnvorstellungen und von Melancholischen.
Erreicht werden soll damit entweder die Entlassung aus der An¬
stalt, die Verheimlichung von Selbstmordgedanken, die Ver¬
meidung der drohenden Entmündigung oder sonstiger zivilrecht¬
licher Nachteile.
Ist schon das Simulieren schwer, so ist das Dissimulieren
noch viel schwerer. Die meisten Zustandsbilder, welche Vor¬
kommen, lassen sich überhaupt nicht dissimulieren, es gibt nur
einige wenige. Am häufigsten pflegen Melancholiker ihre de¬
pressiven Vorstellungen und Selbstmordgedanken zu verheim¬
lichen. Sie tun das oft in einer so raffinierten Weise, daß bis¬
weilen sogar der Arzt dadurch getäuscht werden kann. Ebenso
kommt es bei Melancholikern vor, daß sie Vorbereitungen zu
einem geplanten Selbstmord in so geschickter Weise zu verheim¬
lichen verstehen, daß es nur bei allersorgfältigster Bewachung
möglich ist, ihre Versuche zu vereiteln.
Von den an Wahnbildungen leidenden Kranken sind nament¬
lich die Paranoiker zu nennen, die es selbst in stundenlangen
Unterredungen verstehen, ihre Wahnvorstellungen zu unter¬
drücken und zu verbergen.
In beiden Fällen kann nur die genaueste Beobachtung des
Patienten im Wachsaal weitere Aufklärung bringen. Bei den
Paranoikern kommt eventuell auch heimliche Beobachtung in
Betracht. Man bringe den Kranken dazu in einem besonderen
Zimmer unter. Glaubt er allein und unbeobachtet zu sein, dann
wird er sich mit seinen Stimmen unterhalten, leise vor sich hin¬
sprechen, nach der Richtung, aus der er Stimmen hört, hin-
blickcn u. a. (vergl. die Ausführungen über Sinnestäuschungen).
ln den bisherigen Erörterungen ist wiederholt des Alko¬
hol v e r s u c h c s gedacht worden. Es ist erforderlich auf dieses
E.xperiment noch kurz einzugehen’).
Es gibt Fälle, in denen während der Beobachtung selbst
gar nicht simuliert wird, sondern der I’atient nur behauptet,
daß er zur Zeit der Tat an alkoholischer Geisteskrankheit
gelitten habe. Wenn dann keine glaubwürdigen Zeugen vorhanden
’) Tomaschny. Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 63, S. 691. Sinz,
In.-Diss. Bonn 1913. Gramer, Qerichtl. Psych. Jena 1908. Weber,
Klinik für psych. u. nerv. Krankh., Bd. 4. Landsberger. Arztl. Sach-
verst.-Ztg. 1909. Dannemann, Klinik f. psych. u. nerv. Krankheiten 1906.
94
Simulation und Dissimulation.
sind, die die Richtigkeit der Angaben des Eingelieferten be¬
stätigen, so ist die Beurteilung des Falles naturgemäß für den
Sachverständigen außerordentlich schwer.
In diesen Fällen ist es nun angezeigt, die Behauptungen des
E^'ploranden durch den sogenannten Alkoholversuch nachzu¬
prüfen.
Es ist über die Berechtigung, diesen Versuch überhaupt vor-
zunchmen, viel gestritten worden, speziell in solchen Fällen, wo
man, medizinisch gedacht, sagen muß, daß jede Zuführung von
Alkohol dem Patienten schädlich ist.
Ich glaube, daß man aber in einem strafrechtlichen Falle diese
Bedenken ruhig zurückstellen kann, schon aus dem Grunde, weil
eine längere Freiheitsstrafe dem Patienten zum mindesten ebenso
schädlich ist, als eine einmalige, wenn auch ziemlich beträchtliche
Alkoholmenge. Der positive Ausfall des Alkoholexperimentes ist
außerdem von so hoher Bedeutung für die ganze Auffassung des
Falles und damit für den Angeschuldigten selbst, daß das rein
medizinische Bedenken zweifellos zurücktreten kann. —
Was die Beurteilung der Ergebnisse des Experimentes an¬
langt, so muß scharf betont werden, daß allein der positive Aus¬
fall zu gewissen vorsichtigen Schlüssen berechtigt. Ein negatives
Ergebnis bedeutet für gewöhnlich nichts. Positiv reagieren aber
nach unseren Erfahrungen nur 20 Proz. aller Untersuchten.
Was kann nun durch das Alkoholexperi-
ment klargestellt werden?
Tomaschny, der planmäßige Untersuchungen über diese Frage
angestellt hat, konnte zeigen, daß der Alkoholversuch in erster
Linie zur Hervorrufung von pathologischen Rauschzuständen sehr
geeignet ist. Wenn auch nicht alle diejenigen, die im Leben
auf Alkohol pathologisch reagieren, beim Versuch in der An¬
stalt das gleiche Verhalten zeigen, so erhält man bei dieser
Gruppe von Kranken doch in einem nicht geringen Prozentsatz
der Fälle positive Resultate. Es tritt z. B. vielfach die krankhafte
Reizbarkeit und Erregbarkeit, die in der Außenwelt zu Körper¬
verletzungen geführt hat, auf; bei unseren Bonner Fällen kam
cs gelegentlich zu Angriffen auf Pfleger und Kranke. Auch
Verwirrtheitszustände wurden beobachtet, kurz, es war zu er¬
weisen, daß die Reaktion des Patienten auf verhältnismäßig ge¬
ringe Alkoholdosen eine pathologische war. Wenn das nun schon
in der Anstalt darzutun ist, so geht man wohl mit der Annahme
KrankheitsbedinRungen.
95
nicht fehl, daß der Patient iin Leben, wo er viel größeren Reibungs-
möglichkeiten ausgesetzt ist als im ruhigen Anstaltsbetrieb, unter
Alkohol noch viel leichter entgleisen muß.
Zweitens kann man mit Hilfe des Alkohols oft epileptische
Krämpfe, in Fällen, wo sie sonst nur selten auftreten, zur Aus¬
lösung bringen. Man stützt sich dabei auf die bekannte Tatsache,
daß Alkoholgenuß bei Epileptikern häufig eine Vermehrung der
Krampfanfälle bewirkt. Auch epileptische Erregungszustände
können auf diese Weise ausgelöst werden. Weiterhin ist wichtig,
daß nach den Alkoholversuchen bei Epileptikern und Alkohol¬
intoleranten oft auch Amnesie auftritt.
Daß die Alkoholversuche eventuell auch zur Entlarvung eines
simulierenden Schwachsinnigen führen können, ist oben bereits
angedeutet. Derartige Patienten pflegen zum Renommieren zu
neigen und plaudern infolgedessen in der Betrunkenbeit allerlei
aus, worüber sic im nüchternen Zustande schweigen würden.
Krankheitsbedlngunsen.
So groß das Bedürfnis ist, die Faktoren kennen zu lernen,
welche eine Geisteskrankheit hervorrufen, so schwierig ist es, sie
zu erforschen. Sowohl die Öffentlichkeit, wie auch die wissen-
■schaftliche Medizin haben bei Erörterungen über die Ätiologie
bestimmter Geistesstörungen immer von einzelnen Krankbeits-
ursachen gesprochen. Erst neuerdings wird wieder mehr
und mehr die Tatsache betont, daß es keine einzige Psychose gibt,
die nur auf eine einzelne Ursache zurückzuführen wäre.
Man sollte deshalb besser nicht von Ursachen, sondern von
K r a n k h e i t s b e d i n g u n g e n sprechen, wie das übrigens
in anderen Disziplinen (z. B. der Physiologie) längst geschieht.
Die Kenntnis dieser Tatsache ist praktisch von großer Wich¬
tigkeit. Wie wir im speziellen Teil sehen werden, ist z. B. beim
V'crfall in Lähmung, Siechtum, Geisteskrankheit, infolge von
Körperv'erlctzung (§ 224, 225 St.G.B.) jedesmal die Frage zu er¬
örtern, welche Ursachen das Siechtum, die Geisteskrankheit oder
Lähmung bedingt haben. Die allzu hohe Bewertung einer ein¬
zelnen Ursache kann da dem Angeschuldigten unter Umständen
’) S. Tuczek, Korperl. Grundlagen der Geisteskrankheiten. Zeitschr.
i. prakt. Ärzte 1898. E. Meyer: Ursachen der Geisteskrankheiten. Jena.
G. Eischer.
9 ^ KrankheitsbedinKungen.
von großem Nachteil sein. Auch im Versicherungsrecht, speziell
in der Unfallfürsorgegesetzgebimg spielen die Ursachen eine große
Rolle. Man muß sich hüten, gerade in diesen Fällen dem Grund¬
satz ,,post hoc, ergo propter hoc“ allzu sehr zu huldigen. Es ist
vielmehr bei Psychosen stets sorgfältig zu erwägen:
a) Welche Geistesstörung ist entstanden?
b) Welche äußere Ursache wird dafür verantwortlich ge¬
macht?
c) Ist diese äußere Ursache bei dem Vorhandensein der
sonstigen Vorbedingungen geeignet, die Geistesstörung
hervorzurufen ?
Unter der Voraussetzung, daß die sofort zu besprechenden
Ursachen nur eines der hervorstechendsten ätiologischen Momente
der Geisteskrankheit darstellen, wollen wir nunmehr auf die wich¬
tigsten derselben näher eingehen.
Man unterscheidet sogen, exogene (d. h. außerhalb des Indi¬
viduums gelegene) und endogene (in dem Individum selbst ge¬
legene) Ursachen.
Schon vor der Geburt kann der Fötus Schäden erleiden, die
auf seine weitere Entwickelung von Einfluß sind. Als solche
Schädigungen sind anzusehen: körperliche Erkrankungen der
Mutter, speziell solche, die die Mutter außerordentlich schwächen
(Tuberkulose, Nierenaffektionen, große Blutverluste, Unfälle der
Mutter, namentlich Schädigungen des Unterleibes). Ferner wird
in einzelnen Fällen die Geburt selbst eine Schädigung für den
Neugeborenenen darstellen, besonders dann, wenn es sich um
eine Zangengeburt handelt. Von den in der Kindheit wirksamen
Ursachen sei in erster Linie der körperlichen Züchtigung ge¬
dacht, weil dieselbe bei nervös disponierten Kindern außerordent¬
lich ungünstig wirken kann. Es ist bekannt, daß der Lehrer,
ohne sein Züchtigungsrecht zu überschreiten, bei solchen dis¬
ponierten Individuen schwere nervöse Störungen auslösen kann,
die, wie ich mich überzeugt habe, mehrere Jahre das Wohl¬
befinden des Kindes zu beeinträchtigen vermögen ').
Erheblich zu hoch bewertet wird für gewöhnlich die Onanie.
Sie ist häufiger das erste Zeichen einer nervösen Erkrankung, als
eine Krankheits Ursache. Letzteres wird sie nur in den
') Hübner, Trauma und Neurosen im Kindesalter. Reichs-Med.-
Anzeiger 1910.
Krankheitsbedingiingen.
97
seltenen Fällen, wo sie in ganz ungewöhnlich hohem Maße be¬
trieben wird.
Daß die Entwickelungsphasen des menschlichen
Körpers, welche wir als Pubertät, Schwangerschaft'), Geburt,
Laktation und Klimakterium zusammen fassen, und die wohl sämt¬
lich durch eine wesentliche Änderung der Sekretion verschiedener
großer Körperdrüsen oder sonstige Stoffwech.selvorgänge gekenn¬
zeichnet sind, als Krankheitsursachen in Betracht kommen, ist
bereits oben ausgeführt. Besonders ist die Geburt geeignet, die
verschiedensten Geistesstörungen hervorzurufen.
.\uch der Beruf bringt zahlreiche Schädigungen mit sich.
Einmal in der Form, daß ein Mißverhältnis zwischen Leistungs¬
fähigkeit und Anforderungen besteht, dann aber infolge direkter
Schädigung, sei es, daß das betreffende Individuum mit Gift¬
stoffen in Berührung kommt, wie das in gewerblichen Betrieben
vielfach der Fall ist, sei es, daß die gewählte Beschäftigung ihn
zwingt, übermäßig viel Alkohol zu genießen. Auch unregel¬
mäßige Lebensweise, insbesondere zu wenig Schlaf und unzu¬
reichende Ernährung sind wichtige Krankheitsursachen.
Alle diese Momente können bei jahrelanger Einwirkung eine
schwere Schädigung der geistigen Gesundheit bedingen"). Sie
sind imstande, die Gefäßverkalkung (Arteriosklerose) hervor¬
zurufen, sie werden häufig auch für vorzeitiges Altern und für
den Eintritt schwerer Neurasthenien verantwortlich gemacht. Sie
sind drittens geeignet, Erschöpfungszustände auszulösen.
Von den gewerblichen Vergiftungen seien in
erster Linie die Kohlenoxydvergiftung, welche z. B. bei
Sprengungen und bei Arbeiten an Gasöfen entsteht, ferner die
Schwefelkohlenstoffvergiftung, diejenige mit Blei, Quecksilber,
Arsenik, Mangan und Anilin erwähnt. Sofern diese Gifte chro¬
nisch einwirken, kann es zu Geistes- und Nervenkrankheiten
kommen, die zum Teil unheilbar sind.
Durch Mißbrauch von Alkohol und Medikamen¬
ten kann es gleichfalls zu akuten und chronischen Krankheits¬
zuständen kommen. Die bekanntesten sind außer den Alkohnl-
') Vergl. Siemerling, Qraviditäts- u. Laktationspsychosen in Bins-
wanger-Siemerlings Lehrbuch d. Psych. Jena. Q. Fischer. Dort weitere
Literatur.
") Rumpf, Die Hygiene 1912.
Hübner, Forensische Psychiatrie.
7
Krankheitsbedingiingen.
98
psycliosen der Morphinismus, Kokainismus, der gewohnheits¬
mäßige Mißbrauch von Opium, ferner kann das Jodoform und
Atropin, sei es infolge längeren Gebrauches, sei es infolge einer
bestehenden Idiosynkrasie psychische Störungen hervorrufen. —
Eine weitere Gruppe von Ursachen stellen die Infektions¬
krankheiten dar. Genannt seien Syphilis, Tuberkulose, Typhus
und Malaria. Praktisch besonders wichtig ist von diesen dreien
die Syphilis, insofern sie die hervorstechendste Ursache der Ge¬
hirnerweichung, der Gehirnsyphilis und der Rückenmarkschwind¬
sucht ist’).
Die Malaria“) verbindet sich in den Tropen häufig
mit psychischen Störungen.
Eine weitere Krankheitsursache, die wichtig und interessant
ist, liegt in der Verschiedenartigkeit der Rassen. So ist es
z. B. eine bekannte Tatsache, daß die Europäer auf Syphilis viel
häufiger mit Paralyse reagieren, wie etwa die Araber und eine
ganze Reihe von Balkanvölkern, hei denen die Syphilis wesent¬
lich mehr verbreitet ist, wie bei uns in Deutschland, ohne daß man
die Paralyse in einer auch nur annähernd entsprechenden Häufig¬
keit dort fände.
Außer allen bisher besprochenen Ursachen gibt es nun noch
psychische Momente, die gleichfalls in sehr hohem Maße
geeignet sind, nervöse und psychische Störungen auszulösen, die
auch oft in der gerichtlichen Praxis Gegenstand von Erörterungen
sind.
Hierhin gehören nicht allein diejenigen psychischen Schä¬
digungen, welche wir unter dem Namen Schreckwirkung oder
Schok zusammenfassen, sondern es ist auch ein nicht geringer
Teil der körperlichen Verletzungen hinzuzurechnen, deshalb,
weil nicht die Verletzung der Integrität des Körpers das wesent¬
liche an diesen Ursachen ist, sondern die Art, wie das Unfall¬
ereignis psychisch verarbeitet wird. Dabei muß besonders hervor¬
gehoben werden, daß keine Veranlassung so geringfügig ist, daß
sie nicht unter besonderen Umständen nervöse oder psychische
Störungen nach sich ziehen könnte. Die Schwere der Ver¬
letzung gibt also keinen Maßstab für die Schwere der Folgen ab.
’) Von ino Syphilitischen erkranken etwa 3—5“/„ an progr. Paralyse.
“) Schellong, Akklimatisation u. Tropenhygiene in Weyls liandb.
der Hygiene, Bd. 1. Ferner Plehn, Tropenhygiene 1902.
Krankheitsbedingungen.
99
Daß in dieser Beziehung kein Parallelismus besteht, hat seinen
Grund in Umständen, die oben bereits näher erörtert worden sind.
Beim Zustandekommen einer Nerven- und Geistesstörung ist eben
nicht ein einzelnes ursächliches Moment wirksam, sondern
mehrere’). Es kommt darauf an, wer von einer bestimmten
Schädigung betroffen wird. Handelt es sich um einen aus körper¬
lichen oder psychischen Gründen stark disponierten Menschen, .so
genügt unter Umständen eine ganz kleine äußere Veranlassung,
schwere nervöse Störungen hervorzurufen.
Zum Beweise, daß dies tatsächlich zutrifft, seien folgende
drei Fälle, die durch Gerichtsurteil erledigt wurden, zitiert:
1. Ein zur Hysterie disponiertes junges Mädchen geht durch ein
Zimmer, in dem auf dem Fußboden eine Kleisterschiissel steht. Sie tritt
in dieselbe hinein, fällt aufs Gesäß, steht im Moment auf, ohne irgend¬
welche W'eitere Schädigung als einen großen Schreck zu verspüren, kann
noch einen halben Tag herumgehen, dann stellt sich eine schwere
Hysterie mit Krampfanfällen ein, die mehrjährige völlige Erwerbsunfähig¬
keit zur Folge hatte.
2. Ein Schreiner bekommt in der Qemeinderatssitzung Diiferenzen
mit einem Angestellten der Gemeinde; letzterer gibt ihm eine Ohr¬
feige, im Anschluß daran eine nun schon 4 Jahre bestehende Unfallneu¬
rose. In den ersten 6 Wochen nach dem Unfall hat der Patient über
20 Pfund abgenommen und sieht heute noch schlecht und krank aus.
Gegenwärtig ist der Mann noch erwerbsvermindert.
3. Ein Schutzmann, der zur Karnevalszeit auf der Straße Posten¬
dienst hatte, bekommt mit einigen Masken Differenzen; dieselben drohen
ihm, sie würden „ihn bei nächster Gelegenheit schon kriegen“. Un¬
mittelbar nach diesem Geschehnis explodiert neben dem Schutzmann
eine Knallerbse. Der .Mann glaubte, man habe auf ihn geschossen, und
erschrak aufs heftigste. Die Folge war eine schwere Unfallneurose mit
Zwangsvorstellungen, die ihn völlig unfähig machte, seinen Schutzmanns¬
dienst w'eiter zu versehen. Er hat drei Jahre gar nicht gearbeitet und
kann jetzt nur im Bureau beschäftigt werden.
Neben diesen nur durch ihre psycliiscbe Verarbeitung scha¬
denden Verletzungen gibt es nun auch noch andere, namentlich
solche des Kopfes, welche Gehirnerschütterungen oder sonstige
gröbere Störungen der Gehirnfunktionen bewirken können. Die
auftretenden Ausfallerscheinungen hängen von dem Sitze der Ver¬
letzung ab. Auch auf diese Weise kann es sowohl zu Geistes-
’) Über den Standpunkt des R.O. vergl. die Entscheid, am Schluß
des Kapitels „Verfall in Geisteskrankheit, Lähmung und Siechtum“.
lOO
KrankheitsbedinKungen.
krankheit, als auch zu schweren Schädigungen der Erwerbsfähig¬
keit kommen.
Zum Schlüsse sei noch auf einen Faktor hingewiesen, der
jetzt, zurzeit des Aufblühens unserer Kolonien, besondere Be¬
deutung gewonnen hat, nämlich die Wirkung des Aufenthaltes in
tropischen Ländern für Angehörige unserer gemäßigten Zone. Ein
Moment, das auf die Psyche ungünstig einwirkt, hat Hellpach ’)
gewürdigt, nämlich das Klima. Er ist es aber auch, der ebenso
wie Schütte -) darauf hinweist, daß der Europäer in den Tropen
noch anderen Schädigungen freiwillig oder unfreiwillig ausgesetzt
ist. Als .solche sind zu nennen: Unzweckmäßige Ernährung
(Fleischgenuß), Alkoholmißbrauch, häufig ungenügende Ver¬
sorgung mit Trinkwasser, dessen Qualität überdies eine minder¬
wertige ist, Malaria, Dysenterie und körperliche Überanstrengun¬
gen. Dazu kommen zahlreiche weitere Momente, die Hellpach
sehr treffend als ,.Entlastung von sozialen Selbstherrschungs-
pflichten“ bezeichnet. Gemeint ist damit die gehobene, oft iso¬
lierte und mächtige Stellung, die der Weiße dem Farbigen gegen¬
über einnimmt.
Alle diese Umstände vereinigen sich und bewirken, daß eine
verborgene Disposition zutage tritt.
Die bekannteste Psychose dieser Art ist der Tropenkoller,
eine chronische Form der Neurasthenie, gekennzeichnet durch
große Reizbarkeit und Erregung*), die beim Hinzutreten von
Alkoholmißbrauch oder anderen besonderen Umständen zu
sebweren Gewalttaten führt.. —
Ehe wir das Kapitel Krankheitsbedingungen mit seiner Über¬
sicht über einige wesentliche ätiologische Momente abschließen,
ist noch eines Punktes zu gedenken, nämlich der sogen, psy¬
chischen Infektion.
Unter psychischer Infektion versteht man die Tat¬
sache, daß von zwei mehr oder minder eng zusammenhängenden
Individuen, das zweite infolge psychischer Beeinflussung durch
das erste erkrankt und zwar an genau denselben Vorstellungen wie
das erste Indivifluum, d. h. die Psychosen beider sind gleichartig.
’) Die geopsycliischen Erscheinungen. Leipzig 1911. W. Engelmann.
*) Sitzungsbericht des deutsch. Vereins t. Psych. 1909: Köln-Bonner
Tagung.
*) Die häufig sexueller Beimischungen nicht ganz entbehrt.
Strafgesetzbuch.
lOI
Meist handelt es sich dabei um chronisch Verrückte oder
Querulanten. Nicht selten ist der zu zweit Erkrankte leicht
schwachsinnig.
Die Kenntnis dieser, auch „induziertes Irresein ‘ oder „P'olie
ä deux“ genannten Erkrankung ist deshalb von Wichtigkeit, weil
derartige Patienten die Gerichte sehr häufig mit Schriftstücken
querulatorischen Inhaltes belästigen. Es kommt auch vor, daß
die Kranken sich von aller Welt zurückzichen, allmählich ver¬
kommen und schließlich für sich selbst nicht mehr sorgen können.
Strafgesetzbuch.
Das Strafgesetzbuch und die Strafprozeßordnung enthalten
eine Reihe von Bestimmungen, welche den Geisteskranken vor
Nachteilen schützen sollen. Ihre zweckmäßige Anwendung ist
ohne Befragen eines ärztlichen Sachverständigen nicht möglich.
Wer nun wirklich sachverständigen Rat erteilen will, für den
ist unerläßliche Vorbedingung, daß er sich mit den in Frage kom¬
menden juristischen Begriffen und gesetzlichen Bestimmungen
vertraut macht. Tut er dies, so wird ihm rasch die Erkenntnis
kommen, daß die Voraussetzungen, auf denen sich unser heute
gültiges Strafgesetzbuch aufbaut, in einem gewissen Gegensatz zu
unseren naturwissenschaftlichen Erfahrungen und Anschauungen
stehen.
Der Gesetzgeber ist von der Annahme ausgegangen, ,,daß
der gereifte und geistig gesunde Mensch ausreichende Willens¬
kraft habe, um die Antriebe zu strafbaren Handlungen niederzu
halten und dem allgemeinen Rechtsbewußtsein gemäß zu handeln“.
Wenn diese Voraussetzung auch nur unter dem ausdrück¬
lichen Vorbehalte ausgesprochen wurde“), daß damit zu dem
metaphysischen Problem der Willensfreiheit nicht Stellung ge¬
nommen werden sollte, so hat es doch seit dem Inkrafttreten des
Gesetzes nie an Stimmen gefehlt, welche den Begriff der Willens¬
freiheit im teleologischen Sinne aufgefaßt wissen wollten.
“) S. Motive zum Entwurf eines Str.O.B. für den Norddeutschen
Bund und Motive zum Vorentw. von 1909.
“) üraf Dohna, Monatsschr. f. Kriminalpsych., Bd. 3, S. 513. v. Liszt,
Strafrecht, 18. Aufl., S. 168.
102
Strafgesetzbuch.
,,In dem mit Vernunft bcgal)ten Wesen — Mensch genannt —
ist eine wirklich geistige Macht, der Wille, die Ursache mensch¬
lichen Handelns.“
„Der Mensch kann, was er will.“ „Der Wille ist frei und
das Individuum kann frei entscheiden, was es tun will“ '). Diese
und manche andere Aussprüche beweisen, daß der im Gesetz ge¬
brauchte Ausdruck „freie Willensbestimmung“ entgegen der Ab¬
sicht des Gesetzgebers vielfach doch so gedeutet worden ist, als
ob dadurch die Existenz eines schrankenlos waltenden, über den
Naturgesetzen stehenden freien Willens zum Ausdruck gebracht
werden sollte.
Es wurde infolgedessen sehr bald die Forderung erhoben,
man möge den Begriff der freien Willensbestimmung durch einen
anderen, präziseren Ausdruck ersetzen. Denn je mehr man sich
mit den menschlichen Willenshandlungen beschäftigte, desto deut¬
licher zeigte sich, daß sowohl der einzelne Mensch wie auch die
einzelnen Völker und die ganze Menschheit in ihrem Handeln
bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegen -).
Der oft geäußerte Wunsch nach einer präziseren Fassung des
Zurechnungsfähigkeitsparagraphen ist bis heute nicht in Erfüllung
gegangen, und so muß sich denn der Sachverständige bis auf
weiteres mit dem Mißverhältnis, welches zwischen dem Wortlaut
des Gesetzes und seinem naturwissenschaftlichen Denken besteht,
abfinden und sein Gutachten den Anschauungen, welche den Ge¬
setzgeber bei Schaffung der in Frage kommenden Paragraphen
geleitet haben, anpassen.
Die Zeit ist aber, wie wir hoffen dürfen, nicht mehr fern,
wo der Wunsch nach einer Änderung in Erfüllung gehen wird.
Es ist in den letzten Wochen bekannt geworden, daß die Straf¬
rechtskommission, welche mit der Ausarbeitung eines dem
Piundesrat vorzulcgenden zweiten Entwurfes für ein neues Straf¬
gesetzbuch beschäftigt ist, dem Zurechnungsfähigkeitsparagraphen
eine Fassung gegeben hat, welche weniger mißverständlich ist, als
das gegenwärtig geltende Recht"). —
’) Horn, Gerichtssaal, Bd. 51, S. 2.
") V. OettiiiKcn, Moralstatistik 1882. v. Mayr, Moralstatistik 1912.
AschaffeiibiirK, Verbrechen 1906.
") Ks wird weiter unten auf diese Fräse noch näher eiiiKegangen
werden.
Strafgesetzbuch. 103
Die im Strafgesetzbuch und der Strafprozeßordnung mit
Geisteskranken sich beschäftigenden Bestimmungen sind unter
folgende Gesichtspunkte zu ordnen;
1. war es notwendig, festzulegen, unter welchen Um¬
ständen ein Geisteskranker, der selbst eine strafbare Handlung
begangen hatte, straffrei bleiben durfte,
2. mußte der Kranke für solche Fälle, in denen er sich
selbst nicht genügend schützen konnte, durch das Gesetz ge¬
schützt werden,
3. war der Möglichkeit zu gedenken, daß durch eine
Körperverletzung bei dem Verletzten eine Geisteskrankheit
hervorgerufen wurde,
4 waren die Beziehungen zwischen Irrenarzt und Geistes¬
kranken zu regeln.
5. bedurfte es besonderer Bestimmungen über die Durch¬
führung eines Strafprozesses gegen geisteskranke Personen und
über die Zeugnisfähigkeit dieser letzteren.
6. weiterhin war auch der Fall zu berücksichtigen, daß die
Strafverbüßung infolge Ausbruchs einer Geisteskrankheit ver¬
hindert wurde, bzw. daß durch Vollstreckung der Strafe dem
Verurteilten ein außerhalb des Strafzweckes liegender Schaden
erwuchs,
7. da diese Fragen die Zuziehung eines ärztlichen Sach¬
verständigen häufig notwendig machten, bedurfte cs besonderer
Bestimmungen auch hierfür.
Auf alle die erwähnten gesetzlichen Bestimmungen muß nun
in diesem Teil des Buches eingegangen werden. Es wird sich dabei
nicht umgehen lassen, auch die Frage der Strafunmündigkeit und
relativen Strafunmündigkeit mit in den Kreis der Betrachtungen
einzubcziehen, einmal deshalb, weil die Beantwortung der in den
§§ 55 bis 58 Str.G.B. gestellten Fragen m. E. ohne Zuziehung des
ärztlichen Sachverständigen schwer möglich sein dürfte, dann
aber auch, weil die Erfahrung gelehrt hat, daß die Jugendlichen,
deren „Einsicht“ vor Gericht in Zweifel gezogen wird, nicht selten
direkte psychische Anomalien aufweisen, welche nur vom gut vor¬
gebildeten Arzt entdeckt und in ihrer ganzen Tragweite richtig
gewürdigt werden können. Gerade hier zeigt sich, daß der Über¬
gang von geistiger Gesundheit zu geistiger Krankheit ein ganz
allmählicher ist. Deshalb ist es unmöglich, bestimmte Grenzen
zu ziehen, an denen die Tätigkeit des Arztes Halt machen muß.
Strafgesetzbuch.
104
Wenn der Arzt in zweifelhaften Fällen bei der Verhandlung
initwirkt, so wird die Rechtsprechung selbst damit dem Richter
nicht aus der Hand genommen. Ihm bleibt das Recht der freien
Beweiswürdigung uneingeschränkt, aber er sollte sich die Ge¬
legenheit, genauere Aufschlüsse über die Person des Angeklagten
und dessen Verschulden zu erhalten, nicht entgehen lassen.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit.
§ 51 Str.G.B.
„Eine strafbare Handlung ist nicht vor¬
handen, wenn der T äter zur Zeit der Begehung
der Handlung sich in einem Zustande von
Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung
der Geistestätigkeit*) befand, durch welchen
seine freie Willensbestimmung ausgeschlos¬
sen w a r.“
Da wir den wichtigsten Begriff, welcher in dem vorstehenden
wiedergegebenen Gesetzesparagraphen enthalten ist, medizinisch
nicht definieren können (Mendel), erhebt sich die Frage, wer nach
Ansicht des Gesetzgebers die freie Willensbestimmung “) besitzt
oder nicht besitzt und w’ie man diesen Mangel der freien Willens-
bcstinmiung erkennen kann.
Wenn wir in Anlehnung an die bekannten medizinischen
und juristischen Autoren, welche sich hierzu geäußert haben
diese Frage beantworten wollen, so ist etwa folgendes zu sagen:
Der Durchschnittsmensch w'ird von den geschriebenen und
ungeschriebenen Gesetzen seiner Rasse, seines Volkes und seiner
Zeit so beeinflußt, daß er im allgemeinen sein Handeln diesen
Anschauungen entsprechend einrichtet. Verstößt er gegen die
Gesetze, so ist er strafbar. Er hat, wie der Jurist sagt, aus Vor¬
satz oder Fahrlässigkeit gehandelt.
Der geistig Abnorme wird nun von Motiven geleitet, die
als Ausfluß seiner psychischen Erkrankung anzusehen sind. Hat
*) „Krankhafte Störung der Qeistestätigkeit“ ist ein weiterer Be¬
griff als Geisteskrankheit i. S. des § 104 B.O.B. E. des R.Mil.Q. v.
20. 7. 10. Entsch. 15, 97, XXX. Spruchs, der D.J.Z. 1913. S. auch Euchs-
berger. Entsch. d. R.Q. 1887. Suppl. z. 111. Teil, S. 71 und R.Q. VII. 426
und 427.
') V. Liszt, Zeitschr. für Strafrechtswiss., Bd. 18, S. 265. Weiter
V. Hippel, Zeitschr., Bd. 2, S. 32, 99.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit.
105
die geistige Abweichung einen so hohen Grad erreicht, daß sie
das gesamte Handeln des Kranken diktiert, oder tritt bei einer
bestimmten Tat die Wirkung pathologischer Erscheinungen so
stark zu Tage, daß man annehmen muß, der Täter würde die
Handlung beim Fehlen jener Symptome nicht ausgeführt haben,
so ist sie ihm nicht zuzurechnen.
Zwischen beiden Extremen stehen die als vermindert zu¬
rechnungsfähig oder geistig minderwertig bezeichneten Fälle.
Bei ihren Handlungen können Motive, die in der seelischen
Abnormität gelegen sind, wirksam sein. Diese Motive besitzen
aber nicht die überwältigende Macht wie bei dem ünzurechnungs-
fähigen.
Das Vorhandensein dieser Zwischenglieder beweist, daß
die Grenze zwischen Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungs¬
fähigkeit keine scharfe ist. Es ist deshalb in nicht wenigen
Fällen auch unmöglich, ein bestimmtes Urteil zu fällen.
Das Reichsgericht hat diese außerordentliche Schwierigkeit
etwas gemildert, indem es entschied, daß schon bei begründeten
Literatur: Qretener, Zurechnungsfähigkeit. Stuttgart 1899. Ferd.
Fnke. Bescheren, Freie Willensbest, und Rechtspflege. Med. Klinik 1911.
V. Uippel, Begriffsbestimmung der Zurechnungsfähigkeit. Zeitschr. f. d.
ges. Strafrechtswissenschaft. Bd. 32. Kirberg, Unzulänglichkeit aller
Versuche, einen Begriff der Zurechnungsfähigkeit festzustellen. Monats-
schr. f. Kriminalpsych. 8. Jahrg. Kraus, Strafrechtl. Zurechnungsfähig¬
keit. 4. Kongr. f. experim. Psychologie. Schaefer, Vierteljahrsschr. f.
gerichtl. Med., Bd. 42 u. 45. Wollenberg, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1889.
Mendel, Bert. klin. Wochenschr., Bd. 44, S. 19. Pollitz, Zeitschr. f. Med.-
Beamte 1898. Aschaffenburg, Geminderte Zurechnungsfähigkeit. Arztl.
Sachverst.-Zeitg., Bd. 5, S. 397. v. Hippel, Willensfreiheit und Strafrecht.
Berlin 1903. Guttentag. Aschaffenburg, Vermind. Zurechnungsfähigkeit.
Deutsche med. Wochenschr. 1904. Finger, Gerichtssaal, Bd. 44. v. Bar,
Gesetz und Schuld im Strafrecht 1907. v. Calker, Geistig Minderwertige.
Deutsche Jur.-Zeitg. 1904. Pelman, Verminderte Zurechnungsfähigkeit.
75. Jahresber. der rhein.-westfäl. Gefängnisgesellsch. 1902. Moeli, Arch.
f. Psych., Bd. 39. Bänger, Zeitschr. f. Strafrechtswissensch., Bd. 7. Graf
Dohna, Willensfreiheit u. Verantwortlichkeit. Monatsschr. f. Kriminal¬
psych., Bd. 3. Horn, Gerichtssaal, Bd. 51.
V. Liszt, Strafrecht, v. Liszt und Delaquis, Strafgesetzbuch 1912.
Daude, Strafgesetzbuch. Berlin 1913. Frank, Strafgesetzbuch. Leipzig.
Olshausen, Kommentar. Berlin 1912. Oppenhof, Strafgesetzbuch. Berlin.
Berner, Strafrecht. Gramer, Forens. Psych. Jena 1908. Fischer. Aschaf¬
fenburg in Hohes Handbuch 1908. Liepmann, Strafrecht.
Strafgesetzbuch.
106
Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit eines Angcschuldigten
letzterem die Wohltat des § 51 zugebilligt werden müsse. Der
Wortlaut der Entscheidung, soweit sie hier von Bedeutung ist,
ist folgender:
„Entstehen daher nach dem Ergebnis der Beweisnaufnahme
begründete Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten, so
hat der Richter zu prüfen, ob er gleichwohl noch Überzeugung von
dem Erwiesensein jenes Schuldmerkmals erlangt hat, oder ob er
wegen Nichterwiesenseins freisprechen muß.“ (E. 23. 10. 90, E. 21, 31.)
Noch weiter geht wohl die folgende Entscheidung (vom
4. März 1910):
Für das Vorhandensein der Zurechnungsfähigkeit des Täters
besteht keine gesetzliche Vermutung. Der Richter hat die Über¬
zeugung von dem Vorhandensein dieser Schuldvoraussetzung ebenso
in freier Beweiswürdigung aus dem Ergebnisse der Hauptverhand¬
lung zu schöpfen, wie die von dem Vorhandensein eines jeden anderen
Tatbestandmerkmals. Es genügt nicht, daß ihm der Beweis der Un¬
zurechnungsfähigkeit mißlungen scheint, sondern er darf nur dann
verurteilen, wenn er an der Zurechnungsfähigkeit keinen Zweifel hat.
(R.Q. V. 4. 3. 10.) Das Recht 1910, Entsch. Nr. 1303.
In den oben zitierten Entscheidungen ist noch ein anderer
wichtiger I'unkt enthalten, der hervorgehoben werden muß. Das
oberste Gericht hat nämlich gleichzeitig festgestellt, daß die Zu¬
rechnungsfähigkeit die Voraussetzung jeder Schuld bilde und
daher, wie jedes andere Tatbestandsmerkmal, dem Angeklagten
nachgewiesen ’) werden müsse ^).
Huber, Hemmnisse der Willensfreiheit. Münster 1908. Juliusburger,
Med. Klinik 1910, Nr. 14. Kahl und Leppmann, Verminderte Zurechnungs¬
fähigkeit. Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1910, S. 89. Moeli, Neurol. Zentralbl.
1910, S. 331.
Siemerling, Forens. Psychiatrie. Berlin 1906. Hirschwald. Sommer,
Kriminalpsychologie und Klinik f. psych. und nervöse Krankheiten, Bd. 5,
S. 309. F. Straßmann, Neurol. Zentralblatt 1910, S. 425.
*) hii bürgerlichen Recht ist das umgekehrt.
■) Auch eine Entsch. vom 23. 7. 09 spricht dies deutlich aus: „Die
Feststellung, daß eine die freie Willensbestimmung ausschließende
geistige Erkrankung nicht nachgewiesen sei, reicht nicht aus, um dem
Angekl. den Schutz des § 51 Str.Q.B. zu versagen. Vielmehr ist die
positive Feststellung erforderlich, daß ein die Voraussetzung des § 51
bildender Zustand nicht vorhanden war. R.M.Q. 111, 23. 7. 09. Jahrb. 12,
S. 13. Psych. Woch. 1913, S. 4.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit.
107
In den Motiven zu dem jetzt geltenden Strafgesetze und in
einer Entscheidung des Reichs-Militär-Gericlits') ist zum Aus¬
druck gebracht worden, daß die Schlußfolgerung selbst, nach
welcher die freie Willensbestimmung in Beziehung auf die Hand¬
lung ausgeschlossen war, die Aufgabe des Richters ist. Streng
genommen hätte danach der ärztliche Sachverständige weder das
Recht noch die Pflicht, sich zu dieser Frage zu äußern; er müßte
sich eigentlich nur damit begnügen, die Geisteskrankheit mit ihren
wesentlichen Symptomen festzustellen. Es gibt Sachverständige,
die sich auch streng an diese Anweisung halten und es grund¬
sätzlich a b 1 e h n e n , sich über die Fragen der freien Willens-
bcstimmung zu äußern. Ich halte diesen Standpunkt nicht für
richtig. Praktisch spielt sich heutzutage fast stets die Sache so ab,
daß der zugezogene Arzt auch über das Vorliegen der freien
Willensbestimmung befragt wird^), und er soll sich m. E. die
Gelegenheit, den Richter möglichst sorgfältig über die vorliegende
Geistesstörung und ihre sozialen Konsequenzen aufzuklären, nicht
entgehen lassen. Denn schon mit der Tatsache allein, daß der
Richter überhaupt danach fragt, bringt er doch zum Ausdruck,
daß ihm medizinische Angaben über den Einfluß der Geistesstörung
auf das Handeln des betr. Kranken erwünscht sind. Das Recht
der freien Beweiswürdigung seitens des Richters wird dadurch in
keiner Weise beeinträchtigt. —
Wie oben bereits angedeutet wurde, braucht die freie
Willensbestimmung nur in bezug auf die konkrete Handlung auf¬
gehoben zu sein. Hierüber hat sich das Reichsgericht folgender¬
maßen ausgesprochen:
Zur Anwendung des § 51 bedarf es nur der Feststellung eines
Zustandes der Willensunfreiheit gegenüber dem konkreten strafbaren
Handeln des Täters. Die Auffassung, daß die Feststellung einer völ¬
ligen und allgemeinen, Uber die Beziehung der vorliegenden straf-
*) Der medizinische Sachverständige hat bei der Frage, ob eine
krankhafte Störung der Geistestätigkeit vorliegt, nur zu untersuchen, ob
der Geisteszustand zur Zeit der Tat ein krankhafter war oder nicht.
Die Frage, ob die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war, ist eine
rein rechtliche und allein vom Richter zu entscheiden. (R.M.G. 111,
20. 9. 07.) Jahrb. 1909, S. 16.
“) V. Liszt (Strafrecht 1911, Guttentag) sagt mit Recht, daß sich das
Gutachten des Arztes auf den gesamten Wortlaut des § 51 zu beziehen
habe.
Strafgesetzbuch.
io8
baren Handlung hinausgehenden Unzurechnungsfähigkeit erforderlich
sei, ist rechtsirrtüinlich. (R.Q. III, 31. 1. 10.)
Jahrb. des St.R. 1910, S. 13.
§ 51 fordert nicht einen Zustand, in welchen jede freie Willens¬
bestimmung fehlt, er verlangt nur, daß dem Täter in Beziehung auf
die konkrete Handlung das Bewußtsein von ihrem Charakter im all¬
gemeinen und von ihrer Wirkung auf das Rechtsgebiet eines anderen
sowie von dem Schutze dieses Rechtsguts gefehlt hat. (R.M.Q. I.
30. 3. 05.) Jahrb. 1907, S. 31.
Durch die Zusammenfassung verschiedener Einzelhandlungen zu
einer Deliktseinheit wird das Gericht nicht der Pflicht enthoben, be¬
züglich jeder Einzelhandlung zu prüfen, ob zur Zeit ihrer Begehung
der Strafausschließungsgrund des § 51 vorhanden war, da jede der
Einzelhandlungen, aus denen sich die Deliktseinheit zusammensetzt,
für sich allein alle Merkmale eines selbständigen Delikts an sich tragen
muß und deshalb auch als Bestandteil einer Deliktseinheit dem An¬
geklagten nicht zugerechnet werden darf, wenn zur Zeit der Begehung
es an der wesentlichen Voraussetzung für die Strafbarkeit, der Zu¬
rechnungsfähigkeit, fehlt. (R.Q. IV, 6. 3. 03.)
Das Recht 1903, S. 216, Entsch. Nr. 1210.
Woran erkennt man nun den Alangel der freien Willens¬
bestimmung bei Geisteskranken?
Die Aufgabe des ärztlichen Sachverständigen bei Ermittelung
der Unzureclinungsfäliigkeit zerfällt in drei Teile; i. ist zu unter¬
suchen, ob der Patient gegenwärtig Zeichen von Geisteskrankheit
bietet, 2. ob die Geisteskrankheit zur Zeit der inkriminierten
Handlung bereits bestand und 3) wie weit sie von Einfluß auf
die Tat selbst gewesen ist.
Wenn der Sachverständige den ersten Teil präzise er¬
ledigen will, so darf er sich nicht damit begnügen, eine
Reihe von krankhaften Symptomen zur Zeit der Beobachtung
nachzuweisen, sondern er muß, wenn es ihm die Umstände irgend
gestatten, zu einer bestimmten Diagnose kommen. Bei sorg¬
fältiger Verwendung der Anamnese und gründlicher klinischer
Untersuchung und Beobachtung wird ihm das in der großen Mehr¬
zahl der Fälle auch gelingen. Die Ermittelung der Diagnose ist
insofern von Bedeutung, als schon dadurch in manchen Fällen ein
vorsichtiger Rückschluß auf das psychische Verhalten des Patien¬
ten zur Zeit der Tat gezogen werden kann. Plaben wir z. B. durch
die Beobachtung einen ausgeprägten Fall von angeborenem
Schwachsinn festgestellt, durch den die Zurechnungsfähigkeit auf¬
gehoben ist, so können wir mitunter schon, ohne die näheren Um¬
stände der strafbaren Handlung zu kennen, den Schluß ziehen.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Oeisteskrankheit.
109
daß der Angeschuldigte zur Zeit der Begehung dieser Handlung
auch schwachsinnig und wahrscheinlich unzurechnungsfähig war.
Uie Feststellung, ob und in welchem Umfange Geisteskrank¬
heit zur Zeit der Tat bestand, ist für den Richter die wich¬
tigste. Sie wird auch in dem Gesetzesparagraphen selbst be¬
sonders verlangt. Denn nur derjenige soll die Wohltat des § 51
genießen, der zur Zeit der Tat geistig bereits erkrankt war.
Es ist nicht leicht, dieser Forderung strikte zu genügen, denn
einzelne forensisch bedeutungsvolle Krankheitszustände setzen
plötzlich ein und sitid zum Teil von kurzer Dauer (z. B. das Deli¬
rium, manche epileptische Dämmerzustände). Häufig kommt es
vor, daß dem eigentlichen Ausbruch der schweren psychischen
Störungen eine Reihe von mehr unbestimmten Symptomen
(Prodromalerscheinungen) vorausgehen, und der Sachverständige
hat dann zu entscheiden, ob das Vorhandensein dieser Erschei¬
nungen tatsächlich schon eine Geisteskrankheit im Sinne des § 5r
beweist. Es darf ferner nicht vergessen werden, daß es Fälle
gibt, in denen die Verhaftung mit ihren Aufregungen sehr rasch
eine Geistesstörung auszulösen vermag, während vorher, d. h. zur
Zeit der Tat, eine solche sicher nicht Vorgelegen hat.
Aus allen diesen Gründen verlangt Sommer ’) ganz mit
Recht, daß der Sachverständige bemüht sein muß, die „Chrono¬
logie der Geschehnisse“ möglichst genau festzustellen und in diese
Reihenfolge der Ereignisse auch die zur Verhandlung stehende
Straftat mit einzurücken. Denn nur unter dieser Voraussetzung
kann ein richtiger Schluß auf den Kausalzusammenhang der
Handlung mit einem bestimmten Geisteszustand gezogen werden.
Erst nachdem so die Persönlichkeit und der zeitliche Ablauf
der eventuell vorhandenen geistigen Erkrankungen festgestellt
worden ist, kann der Sachverständige auch daran gehen, die Hand¬
lung als solche zu analysieren.
Im Hinblick auf einige ältere .\utoren (Morel “) muß hier
festgestellt werden, daß es eine Straftat, die ohne weiteres als
spezifisch für eine bestimmte Geistesstörung gilt, nicht gibt.
Wohl aber kann man sagen, daß sich manche Strafhandlungen bei
einzelnen Psychosen häufiger wiederholen. So ist es z. B. durch
’) Sommer, Kriminalpsycholngie. Leipzig 1904.
“) Zit. bei Siemerling, Streitige geistige Krankheit. 1908.
HO
Strafgesetzbuch.
die Untersuchungen von Moeli *) bekannt, daß Diebstähle“) sehr
oft von Schwachsinnigen begangen werden. Es ist ferner bekannt,
daß Brandstiftungen und Sexualdelikte bei Epileptikern ziemlich
oft Vorkommen. Aber man muß demgegenüber immer w’ieder
betonen, daß dieselben Straftaten auch von anderen Kranken und
Normalen begangen werden.
Die Analyse der Tat hat nach zwei Richtungen hin zu er¬
folgen.
Einmal ist zu ermitteln, und zwar durch Zeugen¬
aussagen und möglichst genaue kriminalisti.sche Unter¬
suchung, w i e die strafbare Handlung sich abgespielt hat, w^as dei
Täter vorher getan hat, wie er sich bei der Handlung selbst be¬
nommen hat, welche objektiven Gründe für die Handlung
vorhanden waren, was er nach Begehung der Tat gesprochen und
gemacht, ob und eventuell wie sich der Täter zu anderen über die
Tat ausgesprochen hat.
Ferner ist es erforderlich, eine genaue Exploration
des Angeschuldigten selbst über die Motive, welche ihn
zur Tat gebracht, vorzunehmen (subjektive Gründe). Je sorg¬
fältiger man das macht, desto mehr Material wird man zur Be¬
urteilung des psychischen Zustandes des Angcschuldigten erhalten.
Eventuell vorhandene Sinnestäuschungen und Wahnideen werden
auf diese Weise ermittelt w'erden. Die Rolle, welche ein krank¬
haftes Gefühlsleben bei einer solchen Handlung spielt, wird auf¬
gedeckt. Auch Dämmerzustände werden so nicht selten ermittelt.
Zeigt sich z. B., daß die Tat in dem gewöhnlichen Verhalten des
Betreffenden eine ausreichende Erklärung nicht findet (das ist
bei den auf Alkohol pathologisch reagierenden Individuen nicht
selten der Fall), daß die Tat, wie Siemerling“) cs nennt, iso¬
liert dasteht, so wird schon allein dieser Umstand dem Richter
und Sachverständigen den Verdacht nahe legen, daß pathologische
Momente sie ausgelöst haben.
Was das Verhalten des Kranken vor und nach der Tat an¬
langt, so muß hervorgehoben werden, daß es Fälle gibt, in denen
auch notorisch Geisteskranke eine strafbare Handlung, die sie zu
begehen beabsichtigen, langer Hand vorbereitet und daß sie sogar
') Über irre Verbrecher. Berlin 1889.
-) S. auch die Kap. Hysterie. Degeneration, Epilepsie.
’) Siemerling, Streitige geistige Krankheit. Berlin. Hirschwald.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit. 111
in einem veränderten Bewußlseinszustande (z. B. epileptischen
Dämmerzustände) Handlungen begehen, deren Ausführung sie
früher beabsichtigt haben ’); für die Handlung selbst kann trotz¬
dem Amnesie bestehen. Wenn solche Kranke also das Delikt be¬
sonders geschickt und planmäßig durchführen, vor und nach der
Tat Äußerungen oder Handlungen begehen, die darauf schließen
lassen, daß sie die Spuren derselben verwischen wollen, so be¬
weist das nicht unbedingt etwas für geistige Gesundheit. Ins¬
besondere sei in dieser Beziehung hervorgehoben, daß es in patho¬
logischen Bewußtseinstrübungen nach Begehung einer Straftat
vorkommt, daß der betreffende Kranke über die Tat spricht (sie
also eingestellt!), ja sogar Fluchtversuche macht oder eine Be¬
stechung des ihn verhaftenden Beamten versucht und am nächsten
Tage nach Aufhören des Dämmerzustandes oder der Bewußtseins¬
trübung von allen diesen Dingen nichts zu wissen braucht. Es
sind uns wiederholt Akten begegnet, in denen dieses Verhalten
als grobe Simulation angesprochen worden ist, ohne daß es in
Wirklichkeit Simulation war.
Bezüglich des Verhaltens der Erinnerung sei noch besonders
betont, daß im allgemeinen bei Bewußtseinstrübungen epi¬
leptischer Natur die Erinnerungslücke sich abgrenzen läßt “) und
daß in diesen Zuständen für gewöhnlich die Erinnerung w-eit-
gehende Lücken aufweist. Es sind aber von Siemerling *), Hoch¬
geschürzt), Salgo“), Bonhoeffer “) Fälle beschrieben worden, die
zeigen, daß trotz des Vorhandenseins eines Dämmerzustandes
nachher deutliche Erinnerung an sämtliche wesentlichen Vor¬
gänge bestehen kann.
Wichtig ist cs in nicht wenigen Fällen, außer dem Täter und
seiner Tat auch noch eventuelle schriftliche Aufzeichnungen aus
der fraglichen Zeit zu berücksichtigen, und zwar besonders solche,
die nicht ad hoc angefertigt sind^). Es gelingt auf diese Weise
') Vergl. Moeli, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 57.
^) Förster, Charite-Annalen, Bd. 34.
”) Siemerling, Berl. klin. Wochenschr. 1905.
t) Die epileptische Amnesie in klinischer u. forensischer Bedeutung.
In.-Diss. Bonn 1909. Dort weitere Literatur.
“) Salgö, Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 56.
®) Zentralbl. f. Nervenheilkde. 1900.
') Schriftliche Aufzeichnungen waren mir in einem Falle von be¬
sonderem Wert. Es handelte sich um einen 22jähr. cand. med., der an
epileptoiden Zuständen litt und dabei auch poriomanische Attaquen hatte.
I 12
Strafgesetzbuch.
oft noch, wertvolles Material für die Untersuchung zu beschaffen.
Die Form des Schreibens, die Art der Schrift, inhaltliche und for¬
male Störungen können von großer Bedeutung sein.
Haben die klinischen Untersuchungen schließlich ergeben,
daß zur Zeit der Tat eine geistige Abnormität vorlag, so ist weiter
zu prüfen, inwiefern die Krankheit das Handeln des Patienten
beeinflußte. Die Beziehungen zwischen der strafbaren Handlung
einerseits und den psychischen Störungen andererseits sind nicht
immer gleichmäßig durchsichtige. Die Fälle, in denen man ein
oder einige bestimmte Symptome für die Entstehung der Hand¬
lung verantwortlich machen kann, sind seltener als diejenigen, in
denen man den Allgemeinzustand des betreffenden Patienten bei
Beurteilung der Handlung mit berücksichtigen muß.
Zu der ersten Gruppe gehören z. B. Fälle, in denen ein
Kranker durch imperative Stimme (vgl. allgemeiner Teil) be¬
wogen wird, eine schwere Körpen’^erletzung zu begehen, oder,
wenn der Patient auf Grund von Verfolgungsideen einen
bestimmten Menschen angreift und diesen körperlich schwer ver¬
letzt, wird der Zusammenhang zwischen der geistigen Störung
und der strafbaren Handlung ein deutlicher sein.
Schwieriger sind die Beziehungen schon da, wo es sich um
eine Anomalie der Stimmung handelt. (Bei den Delikten Mani¬
scher und Melancholischer. Daneben kommen gelegentlich auch
beginnende Paralytiker in Frage.) Wenn da die Stimmungs¬
änderung noch keine offensichtige ist, wird es nicht leicht sein,
dem Richter klar zu machen, daß sie mit ihren Begleiterschei¬
nungen hier einen so weitgehenden Einfluß auf das soziale Han¬
deln des Kranken ausüben konnte.
In einer dritten Gruppe schließlich sind die Fälle zu¬
sammenzufassen, bei denen intellektuelle Störungen in Gemein¬
schaft mit zeitweiligen Gefühlsschwankungen zur Entstehung
einer strafbaren Handlung beitragen. Diese Fälle sind es auch,
bei denen die Urteile der Richter und Sachverständigen am häu¬
figsten auseinandergehen, bei denen sogar die Sachverständigen
Derselbe gelangte auf diese Weise zweimal in die Fremdenlegion und
einmal zur holländischen Kolonialarmee. Aus der Veränderung der
Handschrift, gewissen formalen und inhaltlichen Störungen in seinen
Briefen, wurde im Verein mit der Anamnese, das Vorliegen eines
psychischen Ausnahmezustandes zur Zeit der Anwerbung wahrschein¬
lich gemacht.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit. 113
untereinander nicht selten differieren. Wenn das verliältnismäßig
oft geschieht, so liegt das nicht so sehr an der Qualität des Sach¬
verständigen als vielmehr an der Unmöglichkeit, alle diese Funk¬
tionen objektiv zu messen.
Der hierdurch bedingten Schwierigkeit hat das Gesetz auch
insofern Rechnung getragen, als es nach der Fassung des § 51
nur das zeitliche Zusammenfallen’) einer Handlung
mit einer schweren Geistesstörung verlangt').
Ziehen ’) hat im Gegensatz zu dieser — allgemein ge¬
teilten — Auffassung vor einigen Jahren hei Erörterung mehrerer
Arbeiten ül>er die pathologische Unzurechnungsfähigkeit unter
Hinweis auf die chronische Paranoia sich dahin ausgesprochen,
es seien Fälle denkbar, in denen ein Mensch unabhängig von
seinen paranoischen Vorstellungen eine strafbare Handlung be¬
gehe. Für diese habe offenbar die Paranoia keine exkulpierende
Kraft. Er propagierte damit den Begriff der partiellen
Zurechnungsfähigkeit.
An seinen Deduktionen ist richtig, daß ein Paranoiker auch
strafbare Handlungen begehen kann, die in keinem erkennbaren
Zusammenhänge zu den paranoischen Vorstellungen zu stehen
brauchen. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß der Kranke für
die Tat auch zurechnungsfähig ist, denn die Wahnvorstellungen
und Sinnestäuschungen sind nicht die einzigen Symptome der
Paranoia*). Es sei nur auf die hohe Bedeutung hingewiesen,
welche viele Autoren dem Affekt bei der Paranoia beimessen.
Eine Veränderung der Stimmungslage bewirkt aber, daß manche
Hemmungsvorstellungen, die der Patient sonst einschalten würde
und könnte, auch bei solchen Handlungen, die nicht in direkter
Beziehung zu seinen Wahnideen stehen, nicht eingeschaltet wer¬
den. Aschaffenburg hat durchaus recht, wenn er sagt, es mag
schwierig sein, in einzelnen Fällen den Nachweis des Zusammen-
') Diese Auffassung steht nicht im Widerspruch zu den von Qrashey
wiedergegebenen Entscheidungen des R.Q. Vergl. Orashey, Sitzungber.
d. Deutschen Ver. f. Psych. v. J. 1888. Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 45.
“) Vergl. auch die Ausführungen Wollenbergs in Allg. Zeitschr. f.
Psych. 1899, Bd. 56, S. 695 u. ff.
*) Monatsschr. f. Kriminalpsych., Bd. 5, S. 52.
*) S. auch Heilbronner, Vierteljahresschr. f. gerichtl. Med., 111. Folge,
Bd. 19.
Hübnery Forensische Psychiatrie.
8
Strafgesetzbuch.
114
banges zwischen Psychose und Delikt zu führen. Unmöglich ist
es, den Nachweis des Nichtzusammenhanges zu erbringen.
Fassen wir das bisher Gesagte kurz zusammen, so ergibt sich
für die Beantwortung der eingangs gestellten Frage folgendes dar¬
aus : Wenn eine ausgesprochene Geisteskrankheit
bei einem Angeschuldigten zur Zeit der Tat
bestanden hat, wenn insbesondere mit dieser
Krankheit Bewußtseinsstörungen, Wahnideen
und Sinnestäuschungen oder schwere Ver¬
änderungen der Stimmung, schwere Störungen
der Urteilsbildung, des Gedächtnisses, der
Auffassungsfähigkeit und sonstiger wich¬
tiger psychischer Funktionen verbunden
waren, so ist der Nachweis der Unzurech¬
nungsfähigkeit im Sinne des Gesetzes im all¬
gemeinen als erbracht anzusehen*). —
Für einen weiteren Teil, insbesondere für viele Schwach¬
sinnszustände, für manche Formen der Degeneration, der
Hysterie und Epilepsie wird man zu einem bestimmten Urteil
deshalb nicht kommen können, weil eine sichere Grenze zwischen
Unzurechnungsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit zu ziehen
nicht möglich ist. Immerhin hat auch da der Sachverständige die
Pflicht, zu prüfen, ob begründete Zweifel an der Zurechnungs¬
fähigkeit des Patienten bestehen. Es wird nicht wenige Fälle
geben, wo der Arzt solche Zweifel vorzubringen haben wird. In
dieser Beziehung bietet oft der Lebensgang des Patienten weitere
Anhaltspunkte. Wenn die anamnestischen Erhebungen ergeben,
daß der Kranke sich auch sonst bei vielen Gelegenheiten, in
denen Verstöße gegen das Gesetz nicht in Frage kamen, als
willen- und haltlos gezeigt hat, so gestattet dieses Verhalten
selbstredend auch gewisse Schlüsse auf seine freie Willensbestim¬
mung in bezug auf die strafbare Handlung.
Voraussetzung bei diesen Ausführungen über die Schwach¬
sinnigen, Hysterischen, Psychopathen usw. war, daß die straf¬
bare Handlung in einer Zeit begangen wurde, wo besondere
Schädigungen auf den Patienten nicht einwirkten. Das ganze
Verhalten derartiger Kranker — und damit auch seine Beurteilung
*) Jolly, Allg. Zeitschr. f. ^’sych. 1888.
UnzurechnungsfShiekeit wegen Geisteskrankheit. 115
für strafrechtliche Zwecke — ändert sich jedoch, sobald solche
schädigende Faktoren auf das Individuum einwirken.
Von Nachteil sind plötzliche lebhafte Geinütserregungen, der
Alkohol, schwere körperliche Anstrengungen, plötzlicher Klima¬
wechsel ’) und ähnliches mehr. Unter der Einwirkung derartiger
Noxen kann nun ein Mensch, der im gewöhnlichen Leben als
minderwertig, aber nicht als geisteskrank im Sinne des § 51 zu
bezeichnen wäre, tatsächlich vorübergehend unzurechnungsfähig
werden (temporäre Unzurechnungsfähigkeit
nach Aschaffenburg).
Wenn man diese Zustände als Strafausschließungsgründe an¬
erkennt, so sanktioniert man damit die allbekannte Tatsache,
daß minderwertige Menschen auf alle besonderen Ereignisse auch
in besonderer Weise zu reagieren pflegen. Es sind nicht sachliche
Gründe, die dann ihr Handeln diktieren, es besteht auch zur Zeit
der Tat keine normale Bestimmbarkeit durch normale Motive,
sondern in erster Linie sind krankhafte Gefühlsmomente in Ver¬
bindung mit mangelhafter Überlegung oder Bewußtseinstrübungen
bei Entstehung der in diesen Zuständen begangenen Handlungen
wirksam. —
Wir haben nunmehr die Frage zu erörtern: ,,W a s ist Be¬
wußtlosigkeit?“
Das Reichsgericht hat in seinen Entscheidungen an ver¬
schiedenen Stellen eine Definition des Begriffes „Bewußtlosig¬
keit“ gegeben. Es spricht sich z. B. in einer Entscheidung vom
21. Juni 1907 darüber folgendermaßen aus;
Die Bestimmung im § 51 Str.O.B. verlangt nicht einen Zustand
von Bewußtlosigkeit, der jede freie Willensbestimmung ausschlösse,
sondern nur so viel, daß in Beziehung auf die konkrete Handlung das
Bewußtsein von ihrem Charakter im allgemeinen und von ihrer Wir¬
kung auf das Rechtsgut eines anderen sowie zum Schutze dieses
Rechtsguts gefehlt hat. Der Ausdruck „Bewußtlosigkeit“ ist nicht im
gewöhnlichen Sprachgebrauch als ein Zustand von völligem Schwin¬
den des Bewußtseins der Außenwelt und von einer Einstellung der
Tätigkeit der Sinne aufzufassen, sondern als ein solcher Zustand, in
dem, ungeachtet der nicht beeinträchtigten physischen Fähigkeit
äußeren Handelns, das Selbsthewußtsein in der temporären Sinnes¬
aufregung soweit untergegangen ist, daß dem Gerichte die Erkenntnis
’) Klima und Alkohol ist in den Tropen für Europäer besonders ge¬
fährlich.
8
Strafgesetzbuch.
1 16
des Inhalts und Wesens vorgenomniener Handlungen, sei es überhaupt,
sei es in einer bestimmten Richtung, mangelt. (R.Q. 21. b. 07.)
Das Recht 1907, S. 995 , Entsch. Nr. 24.59.
Wichtig sind auch die heiden folgenden Entscheidungen:
Die vom Gesetz verlangte Bewußtlosigkeit besteht nicht in einem
Zustande völligen Schwindens des Bewußtseins, sondern in einem
derartigen Zustande von Bewußtlosigkeit, durch welchen die freie
Willensbestimminig ausgeschlossen ist. Im Falle von Bewußtlosigkeit
infolge Trunkenheit ist daher .,sinnlose“ Trunkenheit nicht erforderlich.
Der Zustand eines schwer Betrunkenen, in welchem derselbe noch die
nicht beeinträchtigte physische Fähigkeit äußeren Handelns besitzt,
ist nicht als Beweis gegen das Vorhandensein des Zustandes einer
derartigen Bewußtlosigkeit anzusehen. (R.M.O. II. 13. 1. 09.)
Jahrb. 1910, S. 14.
Neben einem derartigen, beispielsweise durch die sogen. Voll¬
trunkenheit herbeigeführten Zustande hegt auch der Fall, wo ein
Mensch, wie dies ebenfalls durch übermäßigen Genuß von Spiri¬
tuosen hervorgerufen werden kann, in eine Verfassung gerät, bei
welcher, ungeachtet der nicht beeinträchtigten physischen Fähigkeit
äußerlichen Handelns, das Selbstbewußtsein in der temporären Sinnes¬
aufregung soweit untergegangen ist, daß dem Geiste die Erkenntnis
des Inhalts und Wesens vorgenommener Handlungen, sei es überhaupt,
sei es in einer bestimmten Richtung mangelt. Entsch. 29. 1. 94.
(Goltd. Arch., Bd. 42, S. 45.)
In den weiteren Aiisfülirungen desselben Urteils fügt da.-
Gericlit noch hinzu, daß der Vorderricliter in dem fraglichen Falle
gar nicht erörtert habe, oh der Angeklagte sich bewußt gewesen
sei, daß er durch das, was er tat, nicht nur gegen den Anstand
verstieß, sondern auch den Tatbestand eines bestimmten Gesetzcs-
j)aragraphen erfüllte. Auf diesen Punkt aber komme es in der
Hauptsache an. —
Wir kommen damit zu der medizinischen Frage: ,,W e 1 c h e
Zustände werden unter den Begriff der Bewust-
losigkeit gerechnet?“
In den Gutachten, welche vor Schaffung des § 51 Str.G.B.
über die Frage der Zurechnungsfähigkeit von verschiedenen
wissenschaftlichen Körperschaften und einz.elnen hervorragenden
Psychiatern erstattet worden sind, wurden ,.gewisse Grade der
Trunkenheit, des Fieherdeliriums, der Schlaftrunkenheit, ferner
das Nachtwandeln, der ps\'chische Zustand nach einem epilep¬
tischen Anfall und andere Zustände“, denen das psychologische
Merkmal der transitorischen Störungen des Bewußtseins gemein¬
sam sei, unter dem Begriffe der Bewußtlosigkeit zusammengefaßt.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit. 117
Die praktische Erfahrung hat gelehrt, daß von den zur Be¬
wußtlosigkeit gerechneten Zuständen in erster Linie die Dämmer¬
zustände, ferner der schwere Rausch (Volltrunkcnheit), der Zu¬
stand der Gebärenden und in einigen seltenen Fällen auch die
Hypnose als Schuldausschließungsgründe angegeben wurden.
Über die Dämmerzustände ist bereits im allgemeinen
Teil das Notwendigste gesagt. Bei dem Kapitel Epilepsie und
Hysterie wird darauf noch einmal zurückzukommen sein. —
Wichtig ist auch die Angetrunkenheit, weil sie
gleichfalls verhältnismäßig häufig als Schuldausschließungsgrund*)
vorgebracht wird. Wie oft das geschieht, mögen folgende Tat¬
sachen lehren:
Ich habe kürzlich eine Zusammenstellung über die Krimi¬
nalität der Studenten gemacht, die sich auf Aktenangaben stützte.
Dal)ei ergab sich, daß 8 ^'/c aller von den Studierenden begangenen
Delikte in der akuten Trunkenheit ausgeführt worden waren und
fast regelmäßig wurde von den Angeschuldigten auch der Ein¬
wand erhoben, sie seien so betrunken gewesen, daß sie sich der
L’rsachen und Einzelheiten des fraglichen Vorganges nicht ent¬
sinnen könnten. —
Es ist darüber gestritten worden, ob der Arzt überhaupt
die Berechtigung habe, vor Gericht zur Frage des „normalen
Rausches“ Stellung zu nehmen. Ich halte es für selbstverständ¬
lich, daß er antwortet, wenn er danach gefragt wird. Denn um die
Wirkung des Alkohols auf eine bestimmte Persönlichkeit ab¬
schätzen zu können, ist eine sorgfältige Untersuchung dieser Per¬
sönlichkeit erforderlich und cs bedarf keiner besonderen Begrün¬
dung, daß eine solche Untersuchung allein von einem Arzte sach¬
gemäß vorgenommen werden kann.
Rein medizinisch genommen ist jeder Rausch eine Bewußt¬
seinstrübung, ebenso wde etwa der nach dem Genuß von Opium
oder Haschisch oder ähnlichen Giften entstehende Zustand.
Lediglich aus kriminalpolitischen Gründen sind wir nicht in der
I^age und hat der Gesetzgeber auch nicht beabsichtigt^), jede im
Rausch begangene Handlung unter den § 51 zu stellen. Die
Praxis hat auch gelehrt, daß F'reisprechungen wegen sinnloser
Trunkenheit äußerst selten Vorkommen. Sie müßten m. E.
*) R.Q. 19. 9. 06, Jahrb., p. 16. Psych. Wochcnsclir. 1909, 5. 2.
*) Gaupp, Zentralbl. f. Nervenheilk. 1906.
ii8
Strafgesetzbuch.
häufiger sein, wenn der Gesichtspunkt, den das Reichsgericht in
der oben angeführten Entscheidung besonders hervorgehoben hat,
verallgemeinert würde. —
Welche Kriterien gibt es nun, aus denen auf sinnlose
Trunkenheit im Sinne des § 51 geschlossen werden kann?')
Vor Gericht werden gewöhnlich aus der Haltung, dem Gang,
der Gesichtsfarbe, der Art zu reden und der genossenen Alkohol¬
menge Schlüsse auf den Grad der Bewußtseinstrübung gezogen.
Daß mitunter auf diesem Wege der Einzelfall aufzuklären ist,
Süll nicht geleugnet werden. Im allgemeinen aber muß man sagen,
daß keines dieser Kriterien ausschlaggebende Bedeutung hat.
Was zunächst die äußere Haltung anlangt, so ist auf zwei
Punkte hinzuweisen. Einmal gibt es Menschen, die dfirch den
Alkohol in w'eitgehendstem Maße in ihrem Bewußtsein getrübt
sein können, ohne daß man an ihrer äußeren Haltung oder an
ihrer Art, sich zu bewegen, nur das Geringste von der bestehen¬
den Störung merken kann. Zweitens ist hervorzuheben, daß
manche Menschen wohl vorübergehend durch Schwanken
und ähnliches auffallen, es ist aber keinesw'cgs bewiesen, daß mit
dem Auf hören dieser Erscheinung auch das Bewußtsein soweit
aufgehellt ist, daß die Bewußtseinstrübung als geschwunden an¬
gesehen werden könnte. —
Bezüglich der Alkoholmenge ist zu betonen, daß es Menschen
gibt, insbesondere trifft dies für geistig Minderwertige zu, die
auf eine verhältnismäßig kleine Dosis sehr lebhaft reagieren.
Es ist ferner darauf hinzuweisen, daß auch solche Menschen,
die für gewöhnlich größere Mengen ohne nennensw-erten Schaden
zu trinken vermögen, unter bestimmten Umständen aber, z. B. bei
großer Hitze oder nachdem sic eine Kopfverletzung erlitten haben
und aus ähnlichen Gründen, alkoholinterolant werden und dann
auf einen Bruchteil derjenigen Quantitäten, die sie früher bequem
vertragen konnten, mit schweren Bewußtseinstrübungen oder leb¬
haften Erregungszuständen reagieren. Namentlich bei Unfall-
') Auch in jedem Falle von Trunkenheit ist zu prüfen: a) War der
Rausch als krankhafte Störung der Geistestätigkeit anzusehen?
b) War dadurch die freie Willensbestimmung ausgeschlossen? R.Q.E.
V. 20. 1. 08. Psych. Wochenschr. 1909, S. 2. Jur. Wochenschr. 1908, S. 377.
“) Unfähigkeit zu freier Selbstbestimmung kann vorliegen, ohne daß
ein Rausch bis zur Bewußtlosigkeit fortgeschritten zu sein braucht.
R.Q.E. V. 30. 1. 08. Jur. Wochenschr. 1908, S. 377.
__ Unzure chnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit. iig
verletzten ist mir diese Tatsache wiederholt begegnet und ein Teil
der Kriminalität Unfallverletzter ist auf diesen Umstand zurück¬
zuführen.
Für ganz wertlos möchte ich andererseits die Erforschung
der genossenen Alkoholmenge trotzdem nicht halten, denn wenn
sich der Nachweis erbringen läßt, daß vor Begehung eines Deliktes
ganz ungewöhnlich große Quantitäten getrunken wurden, und
wenn sich weiterhin ergibt, daß besonders schwere Alkoholsorten
und Mischungen verschiedener alkoholischer Getränke durch¬
einander genossen worden sind, so erhöht dies die Wahrschein¬
lichkeit der sinnlosen Betrunkenheit auch beim gewöhnlichen
Durchschnittsmenschen ganz beträchtlich. —
Was das Verhalten der Erinnerung^) anlangt, so kommt
eine Beeinträchtigung derselben anscheinend auch bei den ge¬
wöhnlichen unkomplizierten Räuschen außerordentlich häufig vor.
Von 200 Fällen, deren Akten ich durcharbeiten konnte, wurde
fast bei allen 159, die Alkoholdelikte begangen hatten, behauptet,
daß sie für die Vorgänge der vergangenen Nacht eine entweder
nur sehr lückenhafte, oder gar keine Erinnerung hatten. Nur in
einigen wenigen Fällen hatte der Angeschuldigte von sich selbst
die Überzeugung, daß er die Situation richtig wiedergeben konnte.
Beeinträchtigungen der Erinnerung kommen nach meinen Er¬
fahrungen besonders oft bei chronischen Trinkern vor, bei denen
das Gedächtnis ja an sich schon mehr oder minder stark ge¬
litten hat.
Das Verhalten der Erinnerung kann nur in den schweren
Fällen, wo der Angeschuldigte über die gesamten Vorgänge bei
der Tat in Unkenntnis ist und diese seine Angabe auch glaub¬
haft erscheint, ein vorsichtig zu verwertendes Merkmal dafür
sein, daß die Wirkung des Alkohols bei ihm eine ungewöhnlich
starke war. —
Bei den in unserer Klinik beobachteten Fällen und aus den
Delikten, welche in den von mir studierten Akten beschrieben
waren, ist mir nun noch folgendes aufgefallen:
In einigen Fällen, in denen die Annahme eines schweren
Rausches äußerst wahrscheinlich war, kam es zu einer falschen
Einschränkung des Erinnerungsvermögens rechtfertigt den Schluß
einer sinnlosen Betrunkenheit zur Zeit der Tat nicht. Urteil des R.Q. vom
20. 1. 08. Jur. Wochenschr. 1908, S. 377 u. Psych. Wochenschr. 1909. S. 2.
120 Strafgesetzbuch.
Beurteilung der Situation. So war es z. B. wiederholt geschehen,
daß die Betreffenden irgend eine harmlose Äußerung oder Be¬
wegung eines zufälligen Passanten falsch deuteten, auf sich be¬
zogen und infolgedessen außerordentlich heftig reagierten ').
Ein zweites Moment, das häufiger hervortrat, war das Ver¬
halten des Delinquenten nach der Tat. Vielfach,
wenn durch die Vermittlung eines Polizeibeamten die entstan¬
denen Differenzen in irgendeiner Weise geschlichtet schienen,
kam es zu rohen Exzessen gegen den Beamten, die dann auf der
Polizei fortgesetzt wurden und in einem Teil der Fälle die An¬
ordnung der Schutzhaft notwendig machten. Selbst in der Zelle
fanden die Ausschreitungen aber noch kein Ende. Wiederholt be¬
ruhigte sich der Festgenommene auch dort nicht gleich, zer¬
trümmerte vielmehr einen Teil des Mobiliars; zu einem ter¬
minalen Scblaf kam es nicht immer. Die Erinnerung war am
nächsten Tage fast stets lückenhaft.
Das Mißverhältnis zwischen der Schwere der Reaktion und
der äußeren Veranlassung erscheint mir hier Iremerkenswert. —
Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen erkennen läßt,
ist cs nicht selten unmöglich, den „normalen“ Rausch vom patho¬
logischen zu trennen. Ich glaube aber, daß alle diejenigen Fälle,
in denen es heutzutage zu einer Freisprechung gemäß § 51
Str.G.B. kommt, sicher den pathologischen Räuschen zuzu-
lechnen sind. Häufig sind die Freisprechungen wegen schwerer
Alkoholvergiftung übrigens nicht.
Hinzugefügt sei schließlich noch, daß in einer Reihe von
Fällen, in denen zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlung
sinnlose Betrunkenheit im Sinne des § 51 vorlag, die Frage auf¬
geworfen worden ist, ob der Betreffende niebt dadurch, daß er
sich in diesen Zustand von sinnloser Betrunkenheit versetzte,
schuldhaft gehandelt habe. In Betracht kamen Fälle, in denen die
Straftat selbst in unzurechnungsfähigem, die Vorbereitungen
dazu oder eine Ursache der Tat aber in zurechnungsfähigem Zu¬
stande „gesetzt“ wurden. Das Reichsgericht steht in diesen Fällen
auf dem Standpunkte, daß je nach den Umständen Vorsatz oder
’) Heilbronner, Patliol. Rauschzustände. Münch, med. Wochenschr.
1901 und Die strafrechtliche Degutachtuns: der Trinker. Halte 1905.
Marhold.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit. I 2 i
Fahrlässigkeit angenommen werden muß (actio libera in causa)')
(vergl. Entsch. Bd. 22 , S. 413). —
Wesentlich in ihrer Bedeutung überschätzt, theoretisch aber
äußerst interessant ist ein anderer Zustand von Bewußtlosigkeit,
nämlich die Hypnose*).
Die Hypnose ist ein veränderter Seelenzustand, der durch
\'orstellungen und Gefühle erzeugt wird und durch eine beträcht¬
liche Einengung des Bewußtseins, erhöhte Suggestibilität, sowie
eine daraus resultierende weitgehende Abhängigkeit der körper¬
lichen und seelischen Funktionen des Hypnotisierten von den
Eingebungen des Hypnotiseurs gekennzeichnet ist.
Wirk.sam bei der Entstehung des hypnotischen Zustandes
sind nicht übernatürliche Kräfte, sondern lediglich die Suggestion,
d. h. die Fähigkeit des Hypnotiseurs, durch persönliche Ein¬
wirkung bestimmte Gefühle und Vorstellungen in der Versuclis-
person zu erwecken und entgegenwirkende Vorstellungen abzu¬
schwächen, so daß der Hypnotisierte entsprechend diesen Vor¬
stellungen handelt.
Jeder geistig gesunde Mensch ist mehr oder weniger hypno¬
tisierbar ; wenn die Hypnose nicht immer gelingt, so liegt
es entweder an der mangelhaften Technik des Hypnotiseurs oder
an der Unfähigkeit des zu Hypnotisierenden, seine Aufmerksam¬
keit auf die Wünsche des Hypnotiseurs zu konzentrieren, oder
drittens an dem bewußten Widerstand des zu Hypnotisierenden.
Ob eine Hypnose gelingt oder nicht, hängt also mindestens
von zwei Faktoren ab, nämlich von der persönlichen Geschick¬
lichkeit des Hypnotisierenden und von der größeren oder ge¬
ringeren Eignung der Versuchsperson. Ein geschickter Hyp¬
notiseur wird gelegentlich auch solche Menschen, die zunächst
zu widerstreben beabsichtigen, durch Anwendung einiger ge¬
eigneter Tricks in den Schlafzustand versetzen können.
') Ebenso sprechen sich Frank und v. Liszt aus. Dagegen Katzen¬
stein, Die Straflosigkeit der actio libera in causa 1901. — Vergl. auch
§ 64 des Vorentwurfes, ferner Fuchsberger, Entscheidungen 1887, S. 71.
") Forel, Der Hypnotismus. Stuttgart 1911. F. Enke. Rämisch,
Arch. f. Strafrecht, Bd. 41, S. 96. v. Schrenck-Notzing, Die gerichtlich¬
medizinische Bedeutung der Suggestion. Arch. f. Kriminal-Anthropologie
1900. (Dort viel Literatur.) Oberndorfer und Steinharter, Friedreichs
Blätter f. gerichtl. Med. 1904.
122
Strafgesetzbuch.
Die beiden eben angeführten Momente erklären es auch, daß
die Angaben der verschiedenen Autoren über die Hypnotisierbar-
keit gesunder Menschen innerhalb weiter Grenzen schwanken.
Bernheim z. B. meint, daß man 8 ofc aller Gesunden hypnotisieren
könne. Forel hält diese Zahl für zu niedrig. Oskar Vogt hatte
unter 119 Fällen, bei denen er die Hypnose anwandte, keinen
einzigen, der sich absolut refraktär erwiesen hätte ^). —
Es ist bisher nur von der Einwirkung einer zweiten Person
auf den Hypnotisierten die Rede gewesen. In allen Lehrbüchern
des Hypnotismus findet man aber noch eine zweite Erscheinung,
nämlich die sog. Autosuggestion. In diesen Fällen kann das
Individuum durch Konzentration der Gedanken, sei es auf einen
bestimmten Gegenstand, sei es auf eine bestimmte Vorstellungs¬
gruppe, die Rolle des Zweiten selbst übernehmen. Aschaffen¬
burg und mit ihm mehrere andere Autoren glauben wenigstens
für forensische Zwecke diese Autosuggestion von der Hypnose
abgrenzen zu sollen, da die meisten Individuen, bei denen eine
weitgehende Autosuggestion möglich ist, als hysterisch anzu¬
sprechen seien. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß diese
Auffassung richtig ist.
Was die verschiedenen Grade der Hypnose anlangt, so er¬
scheint mir die Einteilung Forels am zweckmäßigsten, welcher
drei Grade unterscheidet, nämlich erstens die Somnolenz (der
nur leicht Beeinflußte kann noch mit Anwendung seiner Energie
der Suggestion widerstehen und die Augen öffnen), zweitens der
leichte Schlaf, die Hypotaxie oder Charme (der
Beeinflußte kann die Augen nicht mehr aufmachen, muß über¬
haupt einem Teil oder allen Suggestionen gehorchen, mit Aus¬
nahme der, er wird nicht amnetisch). Drittens der tiefe
Schlaf oder Somnambulismus. Er ist durch Amnesie
nach dem Erwachen charakterisiert.
Zu beachten bleibt, daß bei dieser wie bei jeder anderen Ein¬
teilung zwischen den einzelnen Formen der Hypnose keine
scharfen Grenzen zu ziehen sind; zwischen allen drei Graden gibt
es fließende Übergänge.
Bei den gewöhnlichen Versuchen erreicht man meist einen
Zustand, der dem unter 2 geschilderten sehr ähnelt, d. h. der
Zit. nach Forel, Hypnotismus.
*) lin Handbuch.
_ Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit. 123
Hypnotisierte folgt den meisten ihm erteilten Anweisungen ohne
nennenswerten Widerstand; seine Kritik ist erheblich ein¬
geschränkt, er befindet sich in einem schlafähnlichen Zustande,
der auch das Wahrnehmungsvermögen wesentlich beeinträchtigt.
Vollkommene Amnesie für den suggerierten Zustand braucht
hinterher nicht zu bestehen. Scharf betont sei aber
auch schon hier, daß es in diesen Zuständen
keineswegs gelingt, den Hypnotisierten für
alle ihm erteilten Aufträge gefügig zu machen.
Im Gegenteil findet man oft, daß das Medium gerade da versagt,
wo man kriminelle oder gegen seine Erziehung verstoßende Hand¬
lungen von ihm verlangt. Es wird darauf unten nochmals zurück¬
zukommen sein.
Für unsere Zwecke ist es nun wichtig, die Frage aufzuwerfen,
welche hypnotischen Erscheinungen als Bewußtlosigkeit im Sinne
des Gesetzes anzusehen sind. Schrenck-Notzing ^), wohl einer der
besten Kenner des Hypnotismus, meint, die Aufgabe des gericht¬
lichen Sachverständigen bestehe darin, je nach dem Vorwiegen
der Merkmale des Wachseins oder des Schlafens eine Entschei¬
dung zu treffen, d. h.: Kann der Sachverständige bei dem Patien¬
ten während der von ihm oder an ihm begangenen Tat schlaf-
artige Symptome nachweisen, so hat ein Zustand der Bewußt¬
losigkeit bestanden. Fehlen solche schlafartigen Symptome, so
kann seiner Ansicht nach höchstens ein suggestiver Wachzustand
vorhanden gewesen sein. Den letzteren aber darf man meines
Erachtens nicht mehr zu denjenigen Zuständen rechnen, welche
unter den Begriff der Bewußtlosigkeit fallen.
Forensisch wichtiger sind die sogen, posthypnotischen Auf¬
träge’). Löwenfeld’) definiert dieselben als „eine derartige
Formulierung der hypnotischen Eingebung, daß deren Wirkung
die Hypnose überdauert oder deren Realisierung überhaupt erst
im wachen Zustand eintritt“.
Bei einigermaßen geeigneten Medien kann man sich sehr
leicht davon überzeugen, daß posthypnotische Aufträge in der
Tat möglich ‘) sind. Oberndörfer und Steinharter ’) betonen mit
’) Arch. f. Kriminalanthrop. 1900.
’) Oberndörfer und Steinharter, Friedreichs Blätter f. ger. Med. 1904.
’) Löwenfeld, Hypnotismus. Wiesbaden 1901. J. F. Bergmann.
*) Sie gelingen aber seltener, als hypnotische Aufträge.
124
Strafgesetzbuch.
Recht, daß auch dieser Suggestion, ebenso wie der intrahypno¬
tischen ein gewisser Zwangscharakter anhaftet. „Sie drängen sich
mit besonderer Gewalt in den Ablauf der psychischen Prozesse
und kommen darin zur Geltung unter Verdrängung anderer, sonst
das Individuum beherrschender Gedanken, selbst gegen den Willen
des suggerierten Individuums.“ (S. 2 des S.A.)
Die posthypnotischen Erscheinungen werden in zwei Gruppen
cingeteilt. Die ,,kontinuierlichen“ sind dadurch gekennzeichnet,
daß ein in der Hypnose hervorgerufenes Phänomen nach dem Er¬
wachen noch einige Zeit fortdauert (Löwenfeld).
Die zweite Gruppe betrifft die Suggestionen auf Verfalls¬
zeit (Suggestion ä echeance). In diesen Fällen wird dem Patienten
in der Plypnose ein Auftrag, den er zu einer bestimmten Zeit
ausführen soll, erteilt. Die Hypnose wird dann beendet und die
Realisierung des Auftrages erfolgt mitten aus dem Wachzustände
heraus. Es kann zur Zeit der Realisierung des Auftrages eine
erneute Hypnose spontan einsetzen; ob dies aber immer der Fall
ist, erscheint zweifelhaft. Unter Umständen kann auch für die
ausgeführte Handlung Amnesie bestehen (P'orel). Liegeois')
und Bernheim -) haben posthypnotische Aufträge erteilt, die erst
nach mehreren Tagen, Monaten, sogar Jahren zur Ausführung
gelangten.
Wichtig aus der Lehre vom Hypnotismus sind noch zwei
J’unktc, nämlich i. daß besonders disponierte Individuen, speziell
manche Hysterische, durch wiederholtes Hypnotisieren tatsächlich
in eine Art Hörigkeitszustand zu dem Plypnotiseur geraten
können, so daß dieser seinen Willen auch schließlich ohne Hypnose
durchsetzen kann; 2. ist zu erwähnen, daß die sogen. Dressur,
d. h. das wiederholte Erteilen ein und desselben Auftrages,
schließlich den Widerstand allmählich verringern kann und die
hypnotisierte Person bei späteren Sitzungen auch solchen Auf¬
forderungen folgt, zu deren Ausführung sie in den ersten
Sitzungen noch nicht zu bewegen war. ICs muß aber scharf be¬
tont werden, daß fortgesetzte Dressur nicht unter allen l-mständen
dahin führt, daß der Patient alle Handlungen, welche ihm auf-
getragen werden, schließlich ausführt. Immerhin aber erleichteit
die Dressur zweifellos dem Hypnotiseur das Gelingen auch kom-
B Liegeois, La qiicstioii des suKgestioiis criminelles.
-) Bernheini, De la siigKcstion etc. Paris 1891. O. Doin.
Unzurechnungsfähigkeit wegen (ieisteskrankheit.
125
plizicrterer Experimente und es steht wohl außer Zweifel, daß
die von Charcot und anderen vorgenommenen, zum Teil sehr ver¬
blüffenden Versuche nur deshalb gelangen, weil eine längere
IJressur angewandt worden war und weil es sich ferner um be¬
sonders geeignete Medien handelte.
Die vorstehenden klinischen Tatsachen mußten voraus¬
geschickt werden, weil sie zum Verständnis der Beziehungen
zwischen Kriminalität und Hypnose notwendig waren.
Welche strafbaren Handlungen können nun
von und an Hypnotisierten vorgenommen wer¬
den? 1)
Schrenck-Notzing ( 1 . c.) unterscheidet da drei Klassen:
I. Verbrechen an Hypnotisierten, wozu im weiteren Sinne
der fahrlässige Mißbrauch hypnotisierter Personen gerechnet
werden kann; 2. Verbrechen, welche mit Hilfe hypnotisierter
Personen ausgeführt werden; 3. kriminelle Handlungen, herbei¬
geführt durch Suggestion im wachen Zustande.
I. Was die an Hypnotisierten begangenen
strafbaren Handlungen anlangt, so handelt es sich
entweder um Schädigungen, die ein hypnotisierter Mensch durch
die Hypnose, insbesondere durch hypnotische Schaustellungen
und ähnliches erfahren kann, oder — und das ist in der krimi
nalistischen Literatur am häufigsten erwähnt worden —, es
werden Sittlichkeitsverbrechen an hypnotisierten Personen be¬
gangen-). Praktisch weniger wichtig sind dann die Eigentums¬
vergehen an Hypnotisierten und die Kindesunterschiebung.
Erleidet ein Hypnotisierter durch die Hypnose Schaden, so
dürfte sich die Handlung als eine vorsätzliche oder fahrlässige
Körperverletzung darstellen. Die in der Literatur niedergelegten
Fälle dieser Art betreffen alle Schaustellungen, die durch
Schwindelhypnotiseure, Kurpfuscher und ähnliche fragwürdige
Existenzen unternommen wurden.
Schrenck-Notzing erwähnt außerdem noch, daß Hypnoti-
sierung ohne Wissen und Willen der Versuchsperson oder gegen
deren ausgesprochenen Willen nach deutschem Gesetz wegen
‘) S. auch V. Lilienthal, Zcitschr. f. Strafrechtswissensch., Bd. 7,
S. 281.
“) V. Schrenck-Notzing, Der Fall Mainone. Arch. f. Kriminalanthrop.,
Bd. 7. Derselbe, Das angebliche Sittlichkeitsverbrechen des Dr. K.
Zeitschr. f. Hypnotismus, Bd. 8, Heft 4 . Ders., Groß. Arch. Bd. 43.
120 Strafgesetzbuch.
Freiheitsberaubung (§ 239 St.G.B.) bestraft werden könne und
daß auch selten Fälle denkbar wären, wo jemand eine vorsätz¬
liche Körperverletzung durch die Hypnose gegen den Hypnoti¬
sierten begeht, indem er ihm z. B. eine Krankheit suggeriert, um
ihn vom Militärdienst zu befreien oder ähnliches (§ 223 St.G.B.).
Die Schädigungen, welche eine Person durch die Hypnose er¬
leiden kann, bestehen in erster Linie darin, daß sich eine hysterische
Disposition durch die Aufregung vor, während und nach der
Hypnose in eine ausgesprochene Hysterie auswächst. Im letzten
Grunde wirkt die Hypnose dabei wie ein psychisches Trauma.
(Vergl. allgemeiner Teil.)
Über die Sexualdelikte, welche an Hypnotisierten begangen
werden können, soll im Anschluß an den § 176 ausführlicher
gesprochen werden.
2. Wir kommen nunmehr zu den strafbaren Handlungen,
die durch hypnotisierte Personen auf Veranlassung eines Zweiten
ausgeführt werden können.
Es ist notwendig, zu betonen, daß einige Autoren die Mög¬
lichkeit derartiger Handlungen überhaupt bestreiten. Ich glaul)e
nicht, daß dieser Standpunkt ganz zutreffend ist. Es gibt zweifellos
Fälle, in denen die Hypnose in diesem Sinne mißbraucht werden
kann, andererseits glaube ich aber doch auch, daß sie außerordent¬
lich selten sind. Denn jeder, der wirklich etwas von der Hypno.se
versteht, weiß auch, daß bei hypnotischen Verbrechen die Fest¬
stellung des Urhebers auch dann möglich ist, wenn der Hypnoti¬
sierte den striktesten Befehl von dem Hypnotiseur erhalten hat,
über die Person, welche die verbrecherischen Aufträge erteilte,
nichts auszusagen. Man muß immer mit der Möglichkeit rechnen,
daß ein anderer Hypnotiseur noch mehr Einfluß auf das Medium
erlangt, und auf diese Weise der wirkliche Tatbestand nachträglich
ermittelt werden kann. In Wirklichkeit sind auch Fälle bekannt,
wo durch die Hypnose Vorkommnisse, die vorher den meisten
Beteiligten völlig unerklärlich waren, ihre Aufklärung fanden.
Der weiter unten kurz mitgeteilte Fall kann als Beispiel dafür
dienen.
Der Frage nach der Möglichkeit, die hypnotisierten Personen
zu kriminellen Handlungen auszunutzen, sind verschiedene For¬
scher experimentell nachgegangen. Die meisten von diesen Ver¬
suchen, das ist schon von vielen Autoren gesagt worden, sind
wertlos, weil sie Laboratoriumsprodukte darstellen, die sich in
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit. 127
ihrer ganzen Versuchsanorclnung so wesentlich von den Ereig¬
nissen in der Wirklichkeit unterscheiden, daß sie als einwandfreies
Beweismaterial nicht gelten können. Da, wo die künstlich ge¬
schaffene Situation in dem Medium den Eindruck erweckte, daß
von ihm die Begehung eines ernstlichen Deliktes verlangt wurde,
hat sich auch fast regelmäßig gezeigt, daß die Hypnose in ihrer
Wirksamkeit sehr begrenzt ist. Insbesondere da, wo die erteilten
Befehle der Erziehung und den ethischen Anschauungen des be¬
treffenden Individuums widersprechen, wird es nicht leicht ge¬
lingen, den Hypnotisierten zur Ausführung der Tat zu bringen.
Umgekehrt gelingt die Tat leicht, wenn sie in der Wunschrichtung
des Patienten liegt. So ist es zu erklären, daß die Hypnosen zu
Heilzwecken verhältnismäßig leicht auszuführen sind, und so ist
cs gewiß für manche Fälle auch zu erklären, daß den in der Hyp¬
nose unternommenen Notzuchtsversuchen kein Widerstand ent¬
gegengesetzt wird.
Als Beweis dafür, daß ethische Gefühle durch Dressur in dem
oben angegebenen Sinne eine allmähliche Abschwächung erfahren
können, wird für gewöhnlich ein Fall von Liebault *) angeführt,
in dem ein iSjähriger Mensch, der mehreren Ärzten als Ver¬
suchsobjekt für die Ausführung krimineller Suggestionen, speziell
für solche von kleinen Diebstählen, gedient hatte, später diese
Diebereien fortsetzte und gerichtlich bestraft wurde. Auffällig
war an seinen ohne Hypnose begangenen Diebstählen, daß sie
zum Teil ganz zwecklos waren, sich z. B. auf die Wegnahme von
Visitenkarten und ähnlichem bezogen. —
Mit Rücksicht auf einige Ausführungen dieses zweiten Ab¬
schnittes ist es notwendig, noch kurz eine Frage zu streifen, näm¬
lich die: „Welchen Wert hat das Zeugnis eines
Hypnotisierten?“
In dieser Beziehung muß vorangestellt werden, daß auch
in der Hypnose gelogen werden kann. Besonders
vorsichtig muß man in der Bewertung derartiger Zeugenaussagen
auch weiter deshalb sein, weil es sich vielfach um psychopathische.
’) Denn es ist wohl kein Zufall, daß fast alle die Personen, welche
in der Hypnose geschlechtlich oder zu sonstigen gesetzwidrigen Zwecken
mißbraucht wurden, entweder hysterisch oder schwachsinnig waren.
(Fall Czynski, Mainone usw.)
*) Confession d’un medecin hypnotiseur. Revue de l’hypnotisme,
Bd. 1. Zit. nach Schrenck-Notzing.
128
Strafgesetzbuch.
liysterisclie und ähnliche Individuen handelt, die auch ohne
Hypnose schon einen beträchtlichen Mangel an Objektivität an
den Tag legen können *). Immerhin aber bleibt zu bedenken, daß
unter Umständen die in der Hypnose gemachten Aussagen wert¬
volle Anhaltspunkte geben können, wenn man Gelegenheit hat, sie
objektiv nachzuprüfen. Dies war z. B. zweifelsohne in dem fol¬
genden Fall zutreffend, den Strakosch und ich beobachten
konnten “).
Ein erblicli schwer belasteter, psychopathischer junger Kaufmann,
lernt im Alter von 20 Jahren eine Abenteuerin kennen, die hypnotisieren
konnte. Es kommt zwischen beiden rasch zu geschlechtlichem Verkehr.
Eines Tages ließ sich Patient auch von seiner Geliebten hypnotisieren.
Dies geschah später öfter. Sie bekam ihn dadurch derartig in die Ge¬
walt, daß sie ihn nur anzusehen brauchte, dann wußte er nicht mehr, was
mit ihm geschah, konnte auch nie sagen, was man während der Hypnose
mit ihm angefangen hatte. Bereits nach kurzer Bekanntschaft begann
das Mädchen Geld von ihrem Geliebten zu fordern und fing an, ihn
regulär zu bedrohen und zu erpressen. Trotzdem vermochte sie den
Patienten soweit zu beeinflussen, daß er sie als seine Braut in das elter¬
liche Haus einführte und sich mit ihr verlobte. Sie kaufte die Ringe,
gab ihm dieselben, hypnotisierte ihn dann und veranlaßte ihn, ihr vor
den Angehörigen den Verlobungsring anzustecken. Die Verlobung wurde
auf Veranlassung des Vaters, der inzwischen Erkundigungen über die
Person eingezogen hatte, aufgelöst. Von diesem Zeitpunkt an begann
das Mädchen größere Summen von dem Pat. zu erpressen. Sie schrieb
mehrere Male um Geld. Als sie zunächst keins erhielt, erschien sie eines
Abends in dem Heimatsorte des Pat. und erwartete ihn in der Nacht vor
dem elterlichen Hause. Um eine Szene zu vermeiden, wurde sie in das
Haus hineingenommen und für die Nacht dort behalten. Es fand eine
Unterredung zwischen dem Pat. und dem Mädchen statt, von der der
Kranke hinterher nichts angeben konnte. Zwei Tage später reiste er
ihr nach, obwohl er sich in der Zwischenzeit äußerst abfällig über sie
ausgesprochen hatte. Die Abreise erfolgte in der Weise, daß der Pat.,
der gerade mit Briefschreiben beschäftigt war, mitten im Satze ab¬
brach und 20 Minuten vor Abgang des Zuges von Hause fortlief, ohne
die Angehörigen zu benachrichtigen. Er brachte ihr erst Geld, blieb
einige Tage bei ihr und kehrte dann nach Hause zurück. Derartige Reisen
unternahm er in Zukunft, ohne daß er vorher mit dem Mädchen zu¬
sammengetroffen war, öfter; innerlich sträubte er sich jedesmal gegen
die Reise, er mußte sie aber ausführen und tat das auch, indem er
manchmal seine Angehörigen geradezu täuschte. Sobald das .Mädchen
ihn antelefonierte, reiste er ab. Sie hat auch öfters zu ihm gesagt:
*) Vergl. die Ausführungen in den Kap. Hysterie und Der Geistes¬
kranke als Zeuge.
Hübner und Strakosch, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1911.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit.
129
„Wenn ich will, daß du reisest, mußt du fahren.“ Der Kranke hat ihr
mehrere Male nicht nur sein gesamtes bares Geld, sondern auch seine
Wertsachen hingebracht. Einmal brachte er ihr auf diese Weise auch
Geld, das er von seinem zukünftigen Schwiegervater zum Ankauf einer
Zimmereinrichtung bekommen hatte. Durch die fortwährenden Auf¬
regungen stellten sich bei dem Pat. Zittererscheinungen, anfallartige Zu¬
stände, Herzklopfen, heftige Schweißausbrüche und ähnliches mehr ein.
Nachdem die Richtigkeit einiger wesentlicher Angaben des
Patienten durch Dokumente und Bescheinigungen der Mutter des
Kranken bewiesen war, veranlaßten Dr. Strakosch und ich die ge¬
richtliche Verfolgung des Mädchens wegen Erpressung, eventuell
auch wegen Körperverletzung. Nach ihrer ersten polizeilichen Ver¬
nehmung flüchtete sie ins Ausland und ist bisher nicht zurückgekehrt,
so daß das Verfahren gegenwärtig ruht (August 1913).
Die Bedeutung des Falles für die uns hier interessierenden
Fragen liegt zunächst darin, daß es nur mit Hilfe der Hypnose
möglich war, hinter den ganzen Sachverhalt zu kommen, denn
der Patient selbst hatte seinen Angehörigen die Ursache seiner
verschiedenen Reisen und der großen Geldausgaben stets ver¬
schwiegen.
Wir haben dem Kranken dann hier in der Hypnose die
groben Einzelheiten entlockt und ihn später im Wachzustände
genauer exploriert.
Was die strafrechtliche Bedeutung der Hypnose in dem vor¬
liegenden Fall anlangt, so steht wohl außer Zweifel, daß die An¬
geschuldigte zum mindesten im Anfang der Bekanntschaft die
Hypnose dazu benutzt hat, von dem Patienten Geld zu erhalten.
Ob wir das spätere Verhalten des Kranken als posthypnotische
Aufträge ansehen sollen, erscheint zweifelhaft. Dafür sprechen
allerdings die Angaben des Patienten. Er selbst hat diese Reisen
wie unter einem Bann getan. Wenn sie befahl, folgte er blindlings,
hatte vor und nachher unangenehme Empfindungen dabei, die ihn
aber nicht hinderten, trotzdem zu tun, was das Mädchen wollte.
Für diejenigen, die die Reisen, welche der Patient unternahm, für
posthypnotische Aufträge halten, bleibt allerdings zu bedenken,
daß auch unter normalen Umständen bei suggestiven Menschen,
der Umweg über die Flypnose nicht unbedingt erforderlich ist, um
ihr Handeln zu erklären. Wie man im übrigen den Fall im ein¬
zelnen auch deuten will, man wird zugeben müssen, daß er dem
berühmten Fall Czynski, in dem ein Hypnotiseur mit Hilfe der
Hypnose eine Frau veranlaßte, sich ihm hinzugeben, nahe ver-
Hübner^ Forermische Psychiatrie. 9
130
Strafgesetzbuch.
wandt ist^). Von verschiedenen damals vernommenen Sach¬
verständigen wurde besonders hervorgehoben, daß ohne An¬
wendung der Hypnose es dem Hypnotiseur nicht gelungen
wäre, einen so weitgehenden Einfluß auf die Patientin zu er¬
langen. Erleichtert wurde beide Male dem Verbrecher seine Arbeit
durch die nervöse Disjxjsition der Opfer, welche in dem Falle
Czynski ebenso bestand, wie in dem eben berichteten Falle.
3. Mit den vorstehenden Erörterungen haben wir bereits das
Gebiet der posthypnotischen Suggestionen be¬
treten. Neben dem Falle Czynski und dem unserigen wird der
Prozeß Bompard-d’Eyraud in der Literatur erwähnt, in dem eine
Dirne einen Gerichtsvollzieher ermordete. Die Angeschuldigte
behauptete bei ihren Vernehmungen, ganz unter dem Einfluß ihres
Geliebten gehandelt zu haben.
Selbst wenn man sich auf den Standpunkt stellt, daß diese
Beobachtungen in das Gebiet der posthypnotischen Suggestionen
hineingehören, wird man zugeben müssen, daß ein Mißbrauch der
Hypnose in dieser Form selten ist.
Häufiger kommt es wohl vor, daß geistig Minderwertige
unter dem Einfluß raffinierter Verbrecher zu Handlungen ver¬
anlaßt werden, die sie ohne diesen Einfluß nicht begehen würden.
In einem solchen Fall (Sauter) ist Freisprechung erfolgt'). Die
Angeklagte war beschuldigt, den Versuch der Tötung ihres Ehe¬
mannes dadurch gemacht zu haben, daß sie ihm ein ihrer Meinung
nach geeigntes Mittel (Enzianpulver) in die Socken streute. Die
Verhandlung zeigte, daß die S. unter dem Einfluß einer Karten¬
legerin gestanden hatte. Dies betonte einer der Sachverständigen
in seinem Gutachten mit dem Erfolge, daß die Angeklagte frei-
gesprochen wurde. —
Zu den Zuständen von Bewußtlosigkeit wird neben den bisher
besprochenen auch die Schlaftrunkenheit gerechnet. Sie
ist dadurch gekennzeichnet, daß der erwachende Mensch über die
Umgebung für kurze Zeit noch nicht richtig orientiert ist und die¬
selbe infolgedessen mißdeutet. Meist kommen affektbetonte Vor¬
stellungen aus früherer Zeit oder Teile eines Traumes hinzu und
*) Der Prozeß Czynski und die Faszination. Beilage zur .■Mlg. Zeitg.
1S95, Nr. 52.
“) V. Schrenck-Notzing, Fall Sanier, Zeitschr. f. Hypnotismus, Bd. 9,
Heft 6.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit. 131
bewirken so die Störungen des Bewußtseins, lösen namentlich aber
auch die kriminelle Handlung aus.
Es sind verschiedene Formen der Schlaftrunkenheit unter¬
schieden worden.
Hans Gudden^), der sich mit dem Problem eingehend be¬
schäftigt hat, unterscheidet eine ph3'siologische, eine affektive
Schlaftrunkenheit, eine Traumtrunkenheit und eine alkoholische
Schlaftrunkenheit. Bei der ersten Gruppe handelt es sich um eine
Dissoziation zwischen Besonnenheit und Aktionsfähigkeit, die
bewirkt wird durch fremde Umgebung, unbequeme Lage, un¬
gewohntes Zusammenschlafen mit zweiten Personen oder Ge¬
räusche. Bei der zweiten Gruppe bestand eine ängstliche, durch
frühere Erfahrungen beeinflußte Verstimmung, welche den Schlaf
überdauerte und bei Unterbrechung des Schlafes die lebhafte
Reaktion bewirkte.
Bei der dritten Gruppe handelt es sich um mehr oder weniger
belastete Individuen mit dauernder gemütlicher Reizbarkeit und
habitueller Neigung zu schreckhaften und ängstlichen Träumen.
Hier kam es jedesmal zu schweren kriminellen Handlungen (Mord
von Angehörigen).
Bei der vierten Gruppe ist die alkoholische Basis beachtens¬
wert. An die Schlaftrunkenheit kann sich in solchen Fällen ein
pathologischer Rausch anschließen.
Die Straftaten, welche begangen werden, sind zweifacher Art.
Entweder es handelt sich um Unterlassungen; in diesen Fällen
kann man mit Gudden annehmen, daß die Aktionsfähigkeit später
als die Besonnenheit zurückkehrte (Beispiel: Der in der weiter
unten zitierten Reichsgerichtsentscheidung erwähnte Bahnwärter),
oder es kommt zu tätlichen Angriffen, ja sogar Tötungen von Per¬
sonen. In diesen Fällen ist die Aktionsfähigkeit vor Rückkehr
der Besonnenheit wieder aufgetreten.
Daß der Einwand der Schlaftrunkenheit sich als ein Schuld¬
ausschließungsgrund im Sinne des § 51 Str.G.B. darstellt, geht
aus einem Urteil des ersten Senates des Reichsgerichts vom
23. Oktober 1893 hervor^). In jenem Falle war durch die Un¬
achtsamkeit eines Betriebsbeamten ein Betriebsunfall entstanden;
') H. Gudden, Arch. f. Psych., Bd. 40. Dort weitere Literatur. Außer¬
dem Groß: Handbuch f. Untersuchungsrichter. München 1908. Vergl.
auch S. 42.
2) Ähnlich R.G.E. vom 18. 3. 09; Jahrb. 1909, S. 119.
9*
132
Strafgesetzbuch.
der Angeklagte hatte sich im Widerspruch mit seiner Dienst¬
pflicht nicht überzeugt, daß das betreffende Geleise frei war und
hatte trotzdem das Signal zur Einfahrt des Zuges gegeben. Er
entschuldigte sich mit Schlaftrunkenheit. —
Im allgemeinen wird die Schlaftrunkenheit zu kriminellen
Handlungen keinen Anlaß geben. Ehe man aber die Diagnose
Schlaftrunkenheit stellt, empfiehlt es sich, sorgfältig zu prüfen,
ob nicht etwa eine larvierte Epilepsie oder Hysterie vorliegt; denn
wie von Emst Schnitze mit Recht hervorgehoben wurde, betrifft
ein Teil der früher zur Schlaftrunkenheit gerechneten Fälle Epi¬
leptiker oder Hysteriker. —
Zum Teil zu den Bewußtseinsstörungen gehörend, zum Teil
krankhafte Störungen der Geistestätigkeit darstellend, kommen
bei Frauen in und unmittelbar nach der Geburt
bisweilen Krankheitszustände vor, die zur
Tötung des eben geborenen Kindes führen.
Ehe auf diese Zustandsbilder näher eingegangen werden
kann, muß vorangestellt werden, daß der Geburtsakt solche psy¬
chische Abweichungen, die erheblicheren Grades sind, nur ganz
selten hervorruft. —
In Anerkennung der Tatsache, daß das Weib während und
unmittelbar nach dem Geburtsakte unter allen Umständen unter
der Einwirkung von schweren Schmerzen steht, die unehelich
Gebärende außerdem häufig noch von materiellen Sorgen heim¬
gesucht ist, hat der Gesetzgeber die uneheliche Mutter milder be¬
handeln zu müssen geglaubt, als andere Verbrecher, die vorsätz¬
liche Tötungen begehen. Die im § 217 St.G.B. vorgesehene Straf¬
bestimmung lautet folgendermaßen:
Eine Mutter, welche ihr uneheliches Kind')
iiU) oder gleich nach der Geburt vorsätzlich*)
tötet, wird mit Zuchthaus nicht unter drei
Jahren bestraft.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so
tritt Gefängnisstrafe nicht unter zwei Jahren
e i n.
') Dasselbe braucht nicht lebensfähig zu sein.
*) .,ln oder gleich nach der Geburt“ bedeutet die Zeit von Beginn der
natürlichen Ausstoßung bis zum Abschluß des Qeburtserregungszustandes.
Vergl. Entsch. des R.Q. 9, 131 und 2, 154. S. auch: v. Liszt, Strafrecht.
*) Auf die Überlegung kommt es dabei nicht an.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit.
133
Mit Rücksicht darauf, daß alljährlich ungefähr 120 bis
130 Mädchen wegen Kindesmordes in oder unmittelbar nach der
Geburt verurteilt werden, scheint es angebracht, auch auf dieses
Kapitel etwas näher einzugehen. Die Frage ist in den letzten
Jahren w'iederholt und zum Teil sehr eingehend erörtert worden,
ohne daß sie deshalb vom medizinischen Standpunkte aus als
völlig geklärt anzusehen wäre. Ich habe mich bemüht, zu unserem
eigenen Material durch eine Umfrage bei verschiedenen Heb¬
ammenlehranstalten noch weitere Fälle zu erhalten und verfüge
im ganzen über 16 Beobachtungen. —
Es sei gestattet, auf die Wirkung des Geburtsaktes bei der
normalen und pathologisch veranlagten Frau etwas näher einzu¬
gehen.
Das Verhalten der einzelnen Frau in und unmittelbar nach
der Geburt hängt ab einmal von ihrer persönlichen Disposition zu
psychischen und nervösen Erkrankungen, zweitens von dem
Milieu, in dem sie gebiert und drittens von der Schwere der Ent¬
bindung selbst. Die normale Durchschnittsfrau, welche nicht
belastet ist, die erforderliche Hilfe zur Verfügung hat und auch
keine zu schwere Geburt zu befürchten hat, wird während der
Geburt in mehr oder minder ausgesprochene Erregung geraten,
die größtenteils durch die Schmerzen bedingt ist; verliert sie
dabei viel Blut, so wird es auch Vorkommen, daß sich vorzeitige
Schwäche einstellt und unter Umständen die Kreißende vor¬
übergehend in Ohnmacht fällt. Letzteres geschieht aber nur
selten.
Bei belasteten Individuen ist die Reaktion schon schwerer.
Es kommt unter dem Einfluß der Schmerzen zu lebhaften Aus¬
brüchen der Erregung. In einzelnen Fällen sind Selbstmord¬
versuche ’) gemacht worden und es sind auch Beobachtungen be¬
schrieben, wo im Beisein von Hebamme und Arzt der Versuch
gemacht wurde, dem neugeborenen Kinde ein Leid anzutun’“). In
diesen Fällen bin ich persönlich geneigt, eine pathologische
Steigerung des .Affektes anzunehmen, welche durch die Schmerzen
bei der Geburt hervorgerufen ist. Als unzurechnungsfähig würden
solche Mädchen nicht ohne weiteres anzusehen sein. Unter ihnen
Arch. f. Psych. 1907, Bd. A2, S. 249. Literatur:
Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 69, S. 279
Strafgesetzbuch.
134
befinden sich, wie Bischof') mit Recht hervorgehoben hat, viel¬
fach schwachsinnige, epileptische und hysterische Personen.
Zum psychologischen Verständnis des Zustandekommens der
kriminellen Handlung gemäß § 217 ist es aber vielleicht auch
zweckmäßig, noch auf folgende Punkte hinzuw'eisen:
Bei den meisten Kindesmörderinnen handelt es sich um Erst¬
gebärende, also um Mädchen, die über den Verlauf des Geburts¬
aktes, über die Schmerzen, welche sie dabei auszustehen haben,
wie auch drittens über das Verhalten dem neugeborenen Kinde
gegenüber ungenügend unterrichtet sind. (Bei meinen 16 Fällen
waren 14 Erstgebärende, i Zweit- und i Drittgebärende.) Es
kommt weiter hinzu, daß die Mädchen, sei es aus Furcht vor dem
Verlust ihrer Stellung, sei es aus Kritiklosigkeit, aus Rücksicht
auf die Angehörigen oder durch sonstige Umstände größtenteils
genötigt sind, die Schwangerschaft zu verheimlichen, und des¬
halb treffen sie nicht selten auch keinerlei Vorbereitungen für
die zu erwartende Entbindung.
Drittens geschieht es auch außerordentlich häufig, daß die
Mädchen die Geburt selbst, sei es absichtlich, sei es, weil die
Wehen unvermutet einsetzten, ohne irgendwelche Hilfe durch¬
machen. Von meinen Fällen haben 8 heimlich, 5 weitere zufällig
allein und nur 3 unter Assistenz von anderen Personen ent¬
bunden ^).
Viertens ist hinzuzufügen, daß es sich vielfach um außer¬
ordentlich junge Geschöpfe handelt und daß sie aus Berufen
stammen, die keine große Intelligenz erfordern. Meist wissen
auch die Mädchen von den gesundheitlichen und ethischen Pflich¬
ten, welche die Schwangerschaft ihnen auferlegt, so gut wie nichts.
Zur Begründung der vorstehenden Punkte seien die folgenden
Zahlen hinzugefügt:
Von meinen 16 Fällen betrafen 13 Dienstmädchen. Daß
diese in der Tat ein großes Kontingent zu den Kindesmörderinnen
’) Weitere Literatur: Amschi, Arch. f. Kriminalanthrop., Bd. 30, S. 71.
Bischof, ibid., Bd. 29. Graf Oleispach, ibid., Bd. 27. Plempel, Viertel-
jahrsschr. f. gerichtl. Med., Bd. 37, Suppl. H. Groß, Vortr. in d forens.-
psych. Vereinig, zu Heidelberg 1906. Straßmann, Zeitschr. f. Med.-
Beamte 1911. Aschaffenburg, Monatsschr. f. Kriminalpsychol. 1912.
Drei Mädchen entbanden auf der Straße! — Daß im übrigen
Frauen aus dem Volke öfters von der Geburt überrascht w'erden, ist
ganz bekannt.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit. 135
stellen, beweist die Reichs-Kriminalstatistik. So sind in den
Jahren 1904 bis 1908 im ganzen 671 Mädchen nach § 217 St.G.B.
verurteilt worden, darunter waren 498 teils in der Landwirtschaft
beschäftigte, teils im Haushalt tätige Dienstmädchen.
Ferner wird die relative Jugend der Delinquentinnen von
verschiedenen Autoren hervorgehoben. Von meinen 16 Fällen
waren nur 4 über 20 Jahre alt, die anderen standen zwischen
15 und 20. Ähnliches ergibt wiederum die Reichs-Kriminal¬
statistik. So haben z. B. von 132 im Jahre 1907 verurteilten
Kindesmörderinnen 96 im Alter von 15—25 Jahren gestanden.
Faßt man alle diese Tatsachen zusammen, so ergibt sich, daß
es sich um besonders junge, unerfahrene, wirtschaftlich unselb¬
ständige und unter ungünstigen Umständen gebärende Mädchen
handelt, deren Geburt nebenbei auch öfters noch abnorm ver¬
läuft. Es kommt nämlich verhältnismäßig häufig zu Sturz¬
geburten (unter meinen 14 Fällen 3 mal) und Dammrissen.
Manche Mädchen werden von der Geburt so überrascht, daß ihnen
tatsächlich wenig Zeit zur Überlegung bleibt. —
Was die Art der Ausführung anlangt, möchte ich drei Typen
unterscheiden. Die eine Gruppe umfaßt alle diejenigen Fälle, in
denen die Mutter das Kind nach der Geburt einfach unter der
Decke liegen läßt, ohne sich darum zu kümmern, und das Neu¬
geborene infolgedessen stirbt, ohne daß aktive Versuche, es zu
töten, gemacht werden. In diesen Fällen wird auch gar kein
Kindesmord, sondern fahrlässige Tötung angenommen.
Die zweite Gruppe umfaßt Fälle, in denen die Mutter das
neugeborene Kind entweder würgt, durch Einwickeln in Tücher
zu ersticken sucht, auf die Erde wirft oder ihm den Schädel zu
zertrümmern sucht und ähnliches mehr. In diesen Fällen ist eine
aktive Betätigung der Mutter das Wesentliche. Bei dem Studium
der Akten hatte ich keinesw'egs immer den Eindruck, daß diese
Gruppe von Frauen ihre Tat langer Hand vorbereitet hatte. Viel¬
mehr glaube ich mit Bischof, daß die Tat häufiger die Folge
momentaner Erregung und Ratlosigkeit ist.
In einer dritten Gruppe, die aber sehr klein ist, möchte ich
schließlich die wenigen Fälle zusammenfassen, in denen raffinierte
Frauenspersonen (mitunter mit Hilfe ihres Schwängerers) heim¬
lich gebären, alle Vorbereitungen für die Beiseiteschaffung des
Kindes treffen, und das Neugeborene dann nach einem vor¬
gefaßten Plan töten und beiseite schaffen.
136
Strafgesetzbuch
Wenn vielfach bei der Ausführung des Kindesmordes oder
bei der Verbergung der Leiche nicht geschickt verfahren wird, so
beweist auch das, daß eben in der ganzen Situation, in der sich
die Mutter befindet, für vernünftige Überlegungen wenig Raum
ist; vielleicht spricht auch dieser Umstand dafür, daß die größere
Mehrzahl aller Kindesmorde Augenblickshandlungen darstellen,
und nur selten planmäßig vorbereitet wird.
Haben wir im Vorstehenden diejenigen Fälle besprochen,
welche meist noch innerhalb der Grenzen der Zurechnungsfähig¬
keit zu liegen pflegen, wo nach meinen Erfahrungen höchstens
die Frage aufgeworfen wird, ob die junge Mutter, die zur Er¬
kenntnis der Strafbarkeit ihrer Handlung erforderliche Einsicht
besaß, so haben wir jetzt eine Reihe von Zuständen zu besprechen,
bei denen der § 51 St.G.B. in Frage kommt; mit anderen Worten
gesagt, wir haben zu erörtern, welche schwereren psy¬
chischen Störungen in und unmittelbar nach
der Geburt auftreten können.
Solche Zustände sind selten, aber sie kommen gelegent¬
lich vor.
Praktisch am wichtigsten ist die Eklampsie. Wenn im
Verlauf des Geburtsaktes eklamptische Anfälle einsetzeii, die
Patientin bewußtlos ist, ist es selbstverständlich, daß sie für ihr
Kind nicht zu sorgen vermag. In der Tat sind sowohl in der
Literatur wie unter meinen eigenen Fällen einige, in denen die
Wöchnerinnen in tiefer Benommenheit gefunden wurden, das Kind
noch zwischen den Beinen liegend. Die Frage der Zurechnungs¬
fähigkeit ist in diesen Fällen leicht zu beantworten und die nach¬
trägliche Feststellung des Zustandes macht für gewöhnlich auch
keine Schwierigkeit, denn erstens sind regelmäßig Zeugen vor¬
handen und zweitens wird durch die Untersuchung des Urins und
event. Feststellung weiterer eklamptischer Anfälle über die
Diagnose Klarheit geschaffen.
In zweiter Linie sind zu erwähnen Dämmerzustände.
Es gibt Fälle, in denen auf der Basis einer hysterischen oder
epileptischen Anlage durch den Geburtsakt ein kürzer oder länger
dauernder Dämmerzustand ausgelöst wird, der für das Kind ge¬
fährlich werden kann, wenn die Mutter allein gebiert. In solchen
Fällen ist die Feststellung des Grundleidens von Wichtigkeit,
denn durch den Nachweis einer schweren Hysterie oder Epilepsie
werden selbst beim Fehlen von glaubwürdigen Zeugen die An-
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit. 137
gaben der Patientin an Wahrscheinlichkeit gewinnen, daß sie sich
zur Zeit des Geburtsaktes im Dämmerzustände befunden habe.
Unter den mir bekannten Fällen von Kindesmord sind mehrere
Freisprechungen wegen derartiger Zustände zu verzeichnen ge¬
wesen.
Ähnlich wie die Dämmerzustände sind auch die Delirien
zu bewerten, die auf der Basis der Eklampsie, Hysterie und Epi¬
lepsie bei Kreißenden zur Beobachtung gelangt sind.
Die psychische Störung hält hier für gewöhnlich so lange an,
daß sie von einwandfreien Zeugen und dem herbeigenifenen
Arzte beobachtet wird, daher ist ihr Nachweis auch nicht
schwierig. Da es sich um Zustände ausgesprochener Geistes¬
krankheit handelt, ist auch die Annahme der Unzurechnungs¬
fähigkeit begründet. —
Schw^angerschaft und Geburt haben die weitere Eigentüm¬
lichkeit, daß sie endogene psychische Störungen auslösen. So
kann es nicht wundemehmen, daß unter Umständen schon wäh¬
rend der Geburt manische oder melancholische Zustandsbilder zu
beobachten sind. Die manischen können von verhältnismäßig
kurzer Dauer sein. Sie erstrecken sich oft nur auf 2—3 Tage.
Die melancholischen pflegen für gewöhnlich länger anzuhalten.
In beiden kann es unter Umständen zum Kindesmord kommen.
Ebenso kann eine Dementia praecox manifest w'erden und dadurch
zum Kindesmord führen.
Zu erwähnen habe ich ferner noch, daß ich in einem Falle bei
intakter Nierenfunktion eigentümliche Gedächtnisstörungen be¬
obachten konnte, die die Patienten gegenüber den Anforderungen
ihres Zustandes ganz hilflos machten. Es scheint sich um eine
ganz seltene Störung zu handeln, denn ich habe in der mir zu¬
gänglichen Literatur Ähnliches nicht gefunden. Ich erwähne den
Fall auch nur deshalb, weil bei der ganzen Lage der Sache man
sich wohl denken kann, daß ein solches Individuum, wenn es
von der Geburt überrascht wird und allein ist, außerstande
ist, für das Neugeborene zu sorgen. —
Fassen wir die Ausführungen zu dem Kapitel „Geisteszu¬
stand der Gebärenden“ nunmehr zusammen, so ergibt sich fol¬
gendes:
I. Die normale Frau übersteht eine Geburt, auch wenn die¬
selbe schwer ist, ohne psychisch gestört zu werden.
138
Strafgesetzbuch.
2. In einer kleinen Zahl von Fällen werden schwere
psychische Störungen durch die Geburt ausgelöst (z. B. Dämmei-
zustände, oder eine Eklampsie). Meist läßt sich das Grundleiden
dann aber noch nach Ablauf der Geburt nachweisen.
3. Schwierigkeiten in der forensischen Beurteilung machen
nur diejenigen Fälle, in denen geistig minderwertige Individuen
unter besonders ungünstigen äußeren Umständen niederkommen.
Für solche Frauen ist vielfach schon eine normale Geburt,
namentlich wenn sie ohne Hilfe erfolgt, mit einem schweren
seelischen Chok verbunden. Bei Beurteilung der Zurechnungs¬
fähigkeit ist zu berücksichtigen a) die nervöse Anlage, b) die
näheren Umstände bei der Geburt’), c) die soziale Lage des
Mädchens. —
Haben wir bisher die wesentlichsten Zustände besprochen,
welche unter den Begriff der Bewußtlosigkeit fallen, so haben
wir nunmehr den Ausdruck ,,krankhafte Störung der
Geistestätigkeit“ näher zu umgrenzen.
Wie schon oben gesagt wurde, geht aus den Motiven und
der Rechtsprechung hervor, daß darunter nicht allein die Geistes¬
krankheiten im engeren Sinne einzureihen sind, sondern auch
die Schw-achsinnszustände (Imbezillität und Idiotie).
Es sollen demnach als krankhafte Störungen der Geistes¬
tätigkeit i. S. des § 51 St.G.B. alle geistigen Erkrankungen an¬
gesehen werden, welche den Patienten für längere oder kürzerf*
Zeit erheblich von der Norm abweichen lassen”). Dazu ge¬
hören z. B. die Manie, Melancholie, die volleritwickelte Paralyse
und Altersdemenz, die Gehirnsyphilis, sofern sie mit schweren
psychischen Störungen einhergeht, ausgesprochene Fälle von
Dementia praeco.x, die akute und chronische Paranoia, die Idiotie
und die schwereren Formen der Imbezillität.
Außerdem können die sog. Grenzzustände, d. h. die
leichteren Fälle von Epilepsie, Hysterie, Imbezillität, Degenera¬
tion usw’. als krankhafte Störungen der Geistestätigkeit i. S. des
§ 51 St.G.B. angesehen werden, wenn der Kranke zur
Zeit der Tat unter der Einwirkung besonderer
und zwar schw'erer Schädigungen stand.
’) Blutverluste? Ob ohne Hilfe geboren? Wo fand die Geburt statt?
Ernährungszustand der Mutter z. Z. der Geburt usw.
”) Wie Jolly es ausdriiekt, alle schweren Geisteskrankheiten.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit. 139
Der Gesetzgeber hat damit den Grundsatz aussprechen
wollen, daß kein schwer Geisteskranker für seine Handlungen
verantwortlich zu machen sei. —
Für die nicht Unzurechnungsfähigen, aber doch geistig Min¬
derwertigen ist im geltenden Recht keine besondere Bestimmung
vorgesehen, es ist aber in den Reichstagsdebatten und in den
Motiven vielfach ausgesprochen worden, daß solchen Delinquenten
mildernde Umstände zugebilligt werden könnten. —
Wie bereits in der Einleitung ausgeführt worden ist. herrscht
darüber, daß die geltenden gesetzlichen Bestimmungen unzurei¬
chend sind, völlige Übereinstimmung. Es ist deshalb auch darauf
Bedacht genommen worden, in den Entwürfen eines neuen Straf¬
gesetzbuches, unter Berücksichtigung der gemachten Erfahrungen,
zweckdienlichere Vorschriften zu schaffen. Diese letzteren be¬
ziehen sich I. auf Unzurechnungsfähige, 2. auf verminderte Zu¬
rechnungsfähige und 3. auf die Alkoholdelinquenten.
I. Was die unter i. genannten Unzurechnungs¬
fähigen anlangt, so ist von der im Reichs-Justizamt tagenden
Kommission folgende Fassung beschlossen worden;
§ 63. „Nicht strafbar ist, wer zur Zeit
der Handlung wegen krankhafter Störung
der Geistestätigkeit oder Bewußtseinsstörung
nicht die Fähigkeit besaß, das Ungesetzliche
seiner Tat einzusehen oder seinen Willen die¬
ser Einsicht gemäß zu bestimmen.“'
Die Kommission hat sich bezüglich des Wortlautes der Be¬
stimmung dem österreichischen Entwurf ’) angeschlossen. Ich
glaube, daß die im Gegenentwurf “) gegebene Fassung des letzten
Satzes „die Strafbarkeit seiner Tat cinzusehen und dieser Ein¬
sicht gemäß zu handeln“ noch besser wäre, als die oben mitgeteilte.
Können die Unzurechnungsfähigen demnach auch nach dem
künftigen Recht nicht bestraft werden, so soll andererseits ver¬
mieden werden, daß sie ihre verbrecherischen Neigungen un¬
gehindert weiter betätigen. Aus diesem Grunde wurde eine neue
Bestimmung geschaffen, welche folgendermaßen lautet:
') Vergl. Qoering, Zeitschr. f. die ges. Neurol. 1911. Referatenteil
S. 113. Dort gute Zusammenstellung der wichtigen Fragen und der Lite¬
ratur.
*) Herausgegeben von v. Liszt, Kahl, v. Lilienthal und Qoldschmidt
140
Strafgesetzbuch.
„Wird jemand auf Grund des § 63 Abs. i freigesprochen
oder außer Verfolgung gesetzt, so hat das Gericht, wenn es die
öffentliche Sicherheit erfordert, seine Verwahrung in einer öffent¬
lichen Heil- oder Pflegeanstalt anzuordnen.“
Diese Bestimmung stellt einen großen Fortschritt dar. Trotz¬
dem wird zu erwägen sein, ob nicht die Verwahrung') auch schon
dann eintreten soll, wenn zwar nicht die öffentliche Sicher¬
heit, wohl aber die bestimmter einzelner Personen oder
Sachen gefährdet ist.
Ferner erscheint es mir zweifelhaft, ob alle wegen Un¬
zurechnungsfähigkeit Freigesprochenen in einer Irren anstalt
richtig untergebracht sind.
Von den gemäß § 51 St.G.B. Exkulpierten befindet sich nur
ein gewisser Bruchteil zur Zeit der V'erurteilung in dem gleichen
psj’chischen Zustande wie bei der Tat. Von 50 w^ahllos aus meinem
Material herausgesuchten Fällen traf das z. B. bei 13 zu. Als
Beispiele nenne ich Schwachsinnige und Hysterische, die sich zur
Zeit der Tat in einem Ausnahmezustand befunden haben. Im all¬
gemeinen sind diese Patienten nur geistig minderwertig. Sie
sollten deshalb auch nicht in einer Irrenanstalt verwahrt werden,
sondern in einer besonderen Anstalt, die Abteilungen mit Arbeits ¬
zwang enthalten müßte. Ich glaube sogar, daß es einzelne Fälle
gibt, in denen ein Arbeitshaus der richtige Ort zur Verwahrung
wäre. —
Aus diesen Ausführungen folgt, daß verschiedene Verwah¬
rungsmöglichkeiten geschaffen werden müßten. Das erkennende
Gericht könnte dann entscheiden, ob Irrenanstaltsaufenthalt oder
welche andere Form der Verwahrung zu verhängen wäre.
Da, wo Irrenanstaltsunterbringung beschlossen w'ird, sollte
die Möglichkeit, den Kranken in einer Privatanstalt zu halten
(Moeli-), Aschaffenburg’), gegeben werden. Ein Schaden kann
dadurch nicht geschehen, denn auch die Privatanstalten werden ja
von Staats wegen beaufsichtigt. —
H. Völlig neu, aber durchaus notwendig, sind die Bestim¬
mungen über die verminderte Zurechnungsfähig¬
keit.
') A. Leppmann, Ärztl. Sachverst.-Zeite. 1910. S. 96.
*) Neurol. Zentralbl. 1910.
*) Deutsche med. Wochenschr. 1909.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit. 141
„War die freie Willensbestimmung durch einen der vor-
i'-ezcichneten Zustände zwar nicht ausgeschlossen, jedoch in hohem
Grade vermindert, so finden hinsichtlich der Bestrafung die Vor¬
schriften über den Versuch Anwendung. Zustände selbstverschul¬
deter Trunkenheit sind hiervon ausgenommen.
Wie groß die Zahl der vermindert Zurechnungsfähigen unter
den Rechtsbrechern ist, wissen wir bis jetzt nicht einmal an¬
nähernd. Anfangs hat man sie für sehr klein gehalten, allmählich
bricht sich die gegenteilige Ansicht Bahn‘).
Bedeutungsvoll ist die Frage in erster Linie für die Gewohn¬
heitsverbrecher. Unter ihnen ist meines Erachtens die Zahl der
Minderwertigen besonders groß. Um mir selbst ein ungefähres
Bild von dem Umfange der verminderten Zurechnungsfähigkeit
zu machen, habe ich folgenden Weg eingeschlagen: Ich habe aus
dem Verbrecheralbum des Königl. Polizeipräsidiums Berlin und
aus einem dort geführten Zeitungsarchiv wahllos 150 Personen
herausgesucht, die größtenteils gewerbsmäßige Diebinnen oder
Hochstaplerinnen waren, außerdem befinden sich darunter 6 Brand¬
stifterinnen, 8 wegen Mordes und 3 wegen falscher Anschuldigung
angeklagte Frauen. Sämtliche Fälle waren zu der Zeit, als ich
die Akten einforderte, bereits abgeurteilt; zwei von ihnen waren
gemäß § 51 St.G.B. freigesprochen worden, in 29 Fällen war
außerdem im Gerichtsurteil die Tatsache anerkannt, daß es sich
um geistig minderwertige Personen handelte. Wenn man bedenkt,
daß dieses Material nicht aus einer Irrenanstalt stammt und
sich auf Personen bezieht, die entweder durch die Art oder Schwere
ihres Verbrechens die Gesellschaft besonders geschädigt haben, so
wird man sich nicht verhehlen können, daß die vermindert Zu¬
rechnungsfähigen unter den Gewohnheits- und Schwerverbrechern
äußerst zahlreich sind. —
Die Bestrafung dieser Kategorie nacli den Vorschriften für
den Versuch betrachte ich als keine ideale Lösung, glaube viel¬
mehr, daß gerade in diesen Fällen dem Richter möglichste Freiheit
gewährt werden sollte. Ich kann mir denken, daß mitunter die
Strafe für den Versuch noch zu hoch, gelegentlich aber auch einmal
zu niedrig sein könnte. —
Daß die geistig Minderwertigen im regulären Stiafvollzug
die größten Schwierigkeiten machen, hat Pollitz erst kürzlich
') Wilmanns, Moiiatssclir. f. Kriminalpsychol., 8 . Jahrg., S. 136.
’) Pollitz, Deutsche Juristen-Zeitg. 1913.
142
Strafgesetzbuch,
wieder mit Recht betont. Wenn deshalb der V'orentwurf be¬
stimmt, daß Freiheitsstrafen von den vermindert Zurechnungs¬
fähigen in besonderen, ausschließlich für sie bestimmten Anstalten
oder Abteilungen zu vollstrecken seien, so wird damit nur einer
täglich zu machenden Erfahrung Rechnung getragen Für diese
Strafanstalten wird eine besondere Hausordnung^), ein psychia¬
trisches Lazarett, besonders vorgebildetes Personal und ein psy¬
chiatrisch ausgebildeter Lehrer unbedingt notwendig sein. —
Praktisch wird, wie ich glaube, diese Frage am leichtesten
durch Schaffung von besonderen Abteilungen im Anschluß an
schon vorhandene Gefängnisse und Zuchthäuser zu lösen sein.
Auf diese Weise hat man schon unter dem geltenden Recht den
Strafvollzug zu reformieren versucht"). —
Außer der Strafmilderung und der Bestimmung, daß Frei¬
heitsstrafen in besonderen Anstalten zu verbüßen seien, sieht der
Vorentwurf auch in der von der Strafrechtskommission über¬
nommenen Fassung ") die Möglichkeit vor, die gemeingefährlichen
vermindert Zurechnungsfähigen nach Verbüßung der Strafe zu
verwahren und zwar soll das in einer öffentlichen Heil- und Pflege¬
anstalt geschehen.
Es wird unter den zu dieser Gruppe von Kranken gehörigen
Fällen zweifellos eine Anzahl geben, die durchaus in eine Irren¬
anstalt gehören, z. B. solche, die besonders leicht auf ein un¬
günstiges Milieu mit episodischen Psychosen reagieren. Das Gros
aller vermindert Zurechnungsfähigen sollte aber konsequenter¬
weise in Anstalten untergebracht werden, die bezüglich ihrer
inneren Einrichtung nicht wesentlich von den Strafabteilungen
für geistig Minderwertige abweichen. Ich halte es schon allein
vom erzieherischen Standpunkte aus für bedenklich, einen solchen
Menschen für vielleicht nur kurze Zeit in einer Strafanstalt, in
der die Möglichkeit der Disziplinierung besteht, zu halten, um
ihn dann in eine Irrenanstalt zu überführen, wo seine P'esthaltung
schwieriger ist als an der ersten Stelle, ohne daß ihm selbst aus
dieser Art der Unterbringung ein V'orteil erwächst. Ganz ab-
') ln der Disziplinarstrafen zwar nicht ganz werden fehlen, aber
doch nicht in demselben Maße werden Anwendung finden dürfen (hartes
lager! Dunkelarrest!), wie in den Zuchthäusern und Qefängni.ssen.
In dem neuen Zuchthause zu Rheinbacli z. B. haben wir bereits
eine Abteilung von 80 Plätzen für geistig Minderwertige.
Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1913, S. 247.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit.
143
gesehen davon, kann z. B. auch seine Arbeitskraft in einer Irren¬
anstalt nicht in dem Maße ausgenutzt werden, wie in einer Straf¬
anstalt. Das aber ist nicht allein im öffentlichen Interesse zu be¬
dauern, sondern auch in seinem eigenen, denn Arbeits zwang ist
vielen von diesen Kranken sehr heilsam.
Mit dieser Verwahrung *) ist das Problem der vermindert
Zurechnungsfähigen aber noch nicht gelöst.
Die Verwahrung kann keine unbegrenzte sein. Der Gefangene
muß also eines Tages wieder ins Leben zurück. Damit aber ist
die Öffentlichkeit und er selbst oft neuen Gefahren ausgesetzt.
Wie kann man diese nun vermindern?
M. E. ist hierzu die Schutzaufsicht *) (siehe Gegenentwurf
§ 60) geeignet. Allerdings verspreche ich mir von einer der¬
artigen Institution nur dann etwas, wenn sie vorwiegend von
Beamten im Hauptberuf ausgeübt wird, ähnlich wie die Berufs¬
vormundschaft. Der Kranke und die Öffentlichkeit sollen dabei
nicht das Gefühl haben, daß ein Polizist sie dauernd überwacht,
sondern der die Schutzaufsicht Führende muß ein verständiger
Berater und Helfer sein. Er darf sich aber auch nicht auf Worte
und Ermahnungen beschränken, sondern muß beim Stellensuchen,
bei der Besorgung von Unterkunft usw. praktisch mit angreifen.
Fürsorgevereine sollten nur dann mit herangezogen werden
dürfen, wenn ihre Organisation und die dabei tätigen Helfer per¬
sönlich die Gewähr bieten, daß sie in dem obigen Sinne ar¬
beiten. —
Beachtenswert sind nach meiner Überzeugung noch bezüglich
der vermindert Zurchnungsfähigen folgende Punkte:
1. Da, wo Verwahrung oder Schutzaufsicht angeordnet wird,
geschieht das am zweckmäßigsten durch den Strafrichter bei der
Urteilsfällung nach Anhörung des zugezogenen Sachverständigen
auch über diesen Punkt.
2. Die Entlassung aus Irren anstalten sollte dem Arzte ganz
überlassen bleiben. W^ird aber auch da ein Verfahren gewünscht,
’) Nach dem Vorentwuri wird die Verwahrung vom Gericht aus¬
gesprochen. Ihre Dauer bestimmt die Landespolizeibehörde, ebenso
verfügt die letztere die Entlassung. Gegen die Bestimmung der Landes¬
polizeibehörde kann richterliche Entscheidung angerufen werden.
*) S. Jahresbericht d. Ministerium des Innern über die Strafanstalten.
Psych. Wochenschr., Bd. II. S. 103 und Verhandlungen des 27. deutschen
Juristentages.
144
Strafgesetzbuch.
dann ist die im Vorentwurf vorgesehene Form am zweckmäßig¬
sten, um so mehr, als sie auch auf die Entlassung aus anderen
\^erwahrungsanstalten Anwendung finden könnte. Es wäre die
von Aschaffenburg, Schultze und Wilmanns vorgeschlagene ,,be¬
dingte Entlassung“" noch hinzuzufügen.
Die bezüglichen Bestimmungen im Vorentwurf, die von der
Kommission übernommen sind, lauten folgendermaßen:
„Auf Grund der gerichtlichen Entscheidung hat die Landes¬
polizeibehörde für die Unterbringung zu sorgen. Sie bestimmt
auch über die Dauer der Verwahrung und über die Entlassung.
Gegen ihre Bestimmung ist gerichtliche Entscheidung zulässig.
Die erforderlichen Ausführungsvorschriften werden vom
Bundesrat erlassen.“
Für viele von den geistig Minderwertigen, wie auch für
einen Teil der Trinker ist m. E. die Rückfälligkeit von dem
Milieu abhängig, in das sie zurückkehren. Dieses also muß, so¬
weit es beeinflußbar ist, möglichst günstig gestaltet werden.
Daß die Milieufrage mit die größte Rolle spielt, haben mich
verschiedene Fälle gelehrt, die ich teils persönlich untersuchen,
teils aktenmäßig verfolgen konnte. Bei Frauen z. B., die bereits
eine größere Anzahl von Strafen (wegen Diebstahl, Raub usw.)
sich zugezogen hatten und dann zufällig eine verhältnismäßig
günstige Ehe schlossen, fiel die Kriminalität bis zum Ableben, in
anderen Fällen wenigstens für viele Jahre fort. Erst der Eintritt
besonders günstiger Umstände führte einige von ihnen wieder
vor die Schranken des Gerichtes. Bei Männern, war es ent¬
weder auch eine günstige Eheschließung *) oder die Erlangung
einer festen, gut bezahlten Stellung, die einen Teil dieser geistig
Minderwertigen sozial machte. Diejenigen psychischen Eigen¬
schaften, derentwegen alle diese Fälle als minderwertig bezeichnet
werden mußten, hatten sie sowohl während ihrer kriminellen
Zeit, wie auch während der sozialen Lebensführung. Das,
was sich geändert hatte, war im wesentlichen das Milieu. Daraus
folgt aber, wie icb schon oben gesagt habe, daß der Schwer¬
punkt aller Maßnahmen gegen die geistig Min¬
derwertigen darin bestehen muß, daß man sie
nach der Entlassung aus der Strafhaft und
aus der Verwahrungsanstalt nicht einfach
Die bewirkte, daß sie regelmäßig arbeiteten.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit.
145
wieder dem Leben preisgibt, sondern sicli
ihrer noch mehr an nimmt, als man das schon
mit entlassenen Strafgefangenen und aus der
Anstalt entlassenen Geisteskranken heutzu¬
tage fast überall tut. Die Ausgestaltung der Schutz¬
aufsicht und der Fürsorgemaünahmen nach Ver¬
büßung der Strafe und nach Beendigung des Verwahrungs- bzw.
Heilanstaltsaufenthaltes, erscheint mir das Wesentliche an der
Behandlung der geistig Minderw'ertigen und Trinker überhaupt’).
3. Eine Maßnahme, welche zw'ar für geistig Minderwertige
nicht gedacht ist, aber manchen von ihnen treffen wird, ist die
von der Strafrechtskommission im .-knschluß an den Gegenentwurf
aufgenommene Verwahrung von gewerbs - und ge¬
wohnheitsmäßigen, für die Rechtssicherheit
gefährlichen Verbrechern ohne zeitliche Beschrän¬
kung, aber mit gewissen Möglichkeiten, die gerichtliche Entschei¬
dung anzurufen.
Ich halte die Schaffung einer derartigen Institution für sehr
wesentlich, denn es gibt eine, w'ie ich glaube, nicht geringe Zahl
von Gewohnheitsverbrechern, die jede kurze Spanne der Freiheit
dazu benutzen, neue \"erbrechen zu begehen. Gegen sie sollte sich
die Gesellschaft mit allen zu Gebote stehenden Mitteln schützen. —
III. Neu sind in den Vorentwürfen auch die Bestimmungen
über die T runkenheit und Trunksucht. In der neuesten
Fassung handelt es sich um folgende Vorschriften;
1. Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit können keine ge¬
minderte Zurechnungsfähigkeit begründen.
2. Die Trunkenheit soll bestraft werden:
a) mit Gefängnis bis zu 6 Monaten oder mit Geldstrafe bis
zu 1000 Mark, wenn der Täter in unzurechnungsfähigem Zustande
ein \'erbrechen oder Vergehen begangen hat. In besonders leichten
Fällen kann von Strafe abgesehen werden;
bl mit Geldstrafe bis zu 300 Mark, w^er sich durch eigenes
Verschulden in einen Zustand von Trunkenheit versetzt, in dem
er eine grobe Störung der öffentlichen Ordnung oder eine persön¬
liche Gefahr für andere verursacht.
’) S. auch Ooebel, Monatssclir. f. Kriniinalpsych., Bd. 9, S. 347 und
Rotschild, ibidem, S. 283. Ferner v. Jagemann, ibid. 1913, S. 1.
Hül>ner, Forensische Psychiatrie. 10
146
Strafgesetzbuch.
3. S i ch e r u n gs m a ß r ege 1 n’).
A. bei Trunksüchtigen.
a) Fakultative Unterbringung in Trinkerheilanstalten, wenn
eine Handlung in Trunkenheit begangen ist. Mindeststrafe wird
nicht verlangt, doch ist Voraussetzung, daß die Unterbringung
notwendig erscheinen muß, um den Verurteilten an ein gesetz¬
mäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen. Das Gericht ordnet
keine bestimmte Dauer an, die Höchstdauer beträgt 2 Jahre. Die
Landespolizeibehörde bewirkt die L^nterbringung und entscheidet
über die Entlassung, die innerhalb des zweijährigen Zeitraumes
von der Landespolizeibehörde widerrufen werden kann. Dem
Entlassenen können bei der Entlassung bestimmte Verpflichtungen
(z. B. der Anschluß an einen Abstinenz- oder Mäßigkeitsverein
usw.) auferlegt und er kann unter Schutzaufsicht gestellt
werden.
b) Fakultative Einweisung ins Arbeitshaus bis zur Dauer von
drei Jahren bei gewissen Handlungen, wenn die Tat auf Liederlich¬
keit und Arbeitsscheu zurückzuführen, der Täter besserungsfähig,
und zu einer Mindeststrafe von einem Monat, einer Höchststrafe
von einem Jahr Gefängnis verurteilt ist.
c) Obligatorische Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder
Pflegeanstalt, wenn der Täter unzurechnungsfähig oder vermindert
zurechnungsfähig war und die öffentliche Sicherheit die Ver¬
wahrung erfordert.
d) Fakultative Stellung unter Schutzaufsicht, wenn der Täter
unzurechnungsfähig oder v'ermindert zurechnungsfähig war und
Verwahrung oder Unterbringung unterbleibt.
B. Bei Gelege nheitstrinkern.
a) Wirtshausverbot von dreimonal lieber bis einjähriger
Dauer, wenn eine Tat in selbstverschuldeter Trunkenheit begangen
ist und der Täter auch so schon Neigung zu Ausschreitungen im
Trunk gezeigt hat.
b) Einweisung ins Arbeitshaus wie bei A. b).
c) Verwahrung in öffentlicher Heil- oder Pflegeanstalt wie
bei A. c).
d) Stellung unter Schutzaufsicht wie bei A. d).
B Nach einer mir freundlichst zur Verfügung gestellten, noch un¬
veröffentlichten Kreisarztarbeit des Herrn Dr. F. Sioli-Bonn.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit.
147
4. Strafdrohung bei vorsätzlicher Überschreitung des Wirts¬
hausverbotes, vorsätzlicher verbotener Bewirtung, Überschreitung
der Polizeistunde.
Diese Bestimmungen werden im allgemeinen genügen, die
besserungsfähigen Trinker der Heilbehandlung zuzuführen und
die besserungsunfähigen nach Möglichkeit unschädlich zu machen.
Bei den in gelegentlicher Trunkenheit Straffälligen kommt
die bedingte Strafaussetzung und die Schutzaufsicht, in Verbin¬
dung mit einem Enthaltsamkeitsgebot, in Betracht’).
Es sei gestattet, zu allen diesen projektierten gesetzlichen
Bestimmungen noch einige allgemeine Bemerkungen hinzuzu¬
fügen.
Die Wünsche, welche in den letzten dreißig Jahren für die
Ausgestaltung des Strafrechts und Strafvollzuges geäußert worden
sind, hat die Strafrechtskommission in weitgehendem Maße er¬
füllt. Welche Folgen werden nun die gesetz¬
lichen Bestimmungen bei ihrem Inkraft t re Pen
nach sich ziehen?
1. Als eine der wichtigsten betrachte ich die Unschädlich¬
machung einer Reihe von Gewohnheitsverbrechern.
2. Auch die Festhaltung geisteskranker Krimineller wird
weniger Schwierigkeiten bereiten wie bisher. Wünschenswert
wäre es allerdings, daß die Zahl der festen Häuser in manchen
Provinzen für diese Patienten vermehrt würde, damit Ent¬
weichungen besser verhindert werden können als gegenwärtig.
3. Die Einweisung vermindert Zurechnungsfähiger in Irren¬
anstalten zur Verwahrung stört den Anstaltsbetrieb außer¬
ordentlich und nützt den Patienten selbst meist nichts.
4. Wer die vermindert Zurechnungsfähigen als Zurechnungs¬
fähige mit pathologischen Zügen betrachtet, der wird in ihrer
\’ei wahrung keine medizinische Maßnahme, sondern lediglich eine
Fortsetzung des Strafvollzuges zum Zwecke der Besserung er¬
blicken dürfen.
5. Am wichtigsten ist die Frage der Besserung.
a) Durch Anstaltsbehandlung wird man einen ge¬
wissen Prozentsatz der Trinker heilen oder für einige Zeit bessern
können.
’) Bei den Trunksüchtigen usw. wäre ferner die Frage zu erwägen,
wieweit sie als zuverlässig ini Beruf anzusehen sind. Die Öffentlichkeit
muß auch nach dieser Richtung hin vor Schaden bewahrt werden.
10 *
148
Strafgesetzbuch.
Geringer wird die Zahl der durch Verwahrung in
Irrenanstalten oder Verwahrungshäusern zu
bessernden vermindert Zurechnungsfähigen sein. Unter den
letzteren finden sich sogar viele, bei denen die Möglichkeit der Er¬
ziehung von vornherein ausgeschlossen ist. Um nur einige Typen
von solchen anzuführen, seien erstens die Psychopathen mit krank¬
hafter Reizbarkeit genannt. (Aus ihnen rekrutieren sich viele
rückfällige Roheitsverbrecher.) Weiterhin sind die leicht schwach¬
sinnigen Haltlosen zu erwähnen, die, solange sie sich in der An¬
stalt befinden, sich sehr gut einfügen können, sobald sie aber den
Anforderungen des Lebens ausgesetzt sind, sowohl im Beruf wie
auch bezüglich der Lebensführung versagen. (Aus ihren Reihen
stammen viel gewerbsmäßige Diebe und Betrüger.) Drittens
kommen die Fälle mit endogenen Stimmimgsschwankungen in Be¬
tracht (Alkoholdelikte, Diebstahl!).
Ein Teil der sexuellen Perversen und der leicht epileptischen
Exhibitonisten gehört auch hierher, kurz, es gibt eine nicht ge¬
ringe Zahl von Menschen, bei denen durch V'erwahrung eine
Besserung nicht erzielt werden kann*). —
Bei den besserungsfähigen vermindert Zurechnungsfähigen
erhebt sich eine weitere Frage. Wann kann man sie
als gebessert betrachten?
Man darf bei Beantwortung dieser Frage nicht vergessen,
daß es sich dabei ja nicht um eine Besserung im medizinischen
Sinne, d. h. ein Zurücktreten von Krankheitserscheinungen han¬
deln kann, sondern um eine Besserung im sozialen Sinne, und die
ist bei den engen Verhältnissen des Anstaltslebens kaum jemals
erkennbar. Keinesfalls aber wird man sagen können, daß Wohl¬
verhalten in der Anstalt auch eine Garantie für Wohlverhalten
in der Freilieit biete.
Daraus ergibt sich, daß der richtige Zeitpunkt für die Ent¬
lassung nicht immer wird gefunden werden können. Schon allein
deshalb bleibt die Einführung der Entlassung auf Widerruf zu
erwägen.
Weiter ist daraus für die Organisation des ganzen Systems
die Konsequenz zu ziehen, daß Verwahrung und Schutzaufsicht
*)Nur nebenbei sei auf jene weitere Gruppe vermindert Zurechnungs¬
fähiger hingewiesen, bei denen die Durchführung des Strafvollzuges auch
in der neuen Form unmöglich sein wird, weil sie auf jede Form des
Zwanges mit psychischen Störungen reagieren.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit.
149
Hand in Hand arbeiten müssen, damit gerade der Übergang des
Delinquenten in die Freiheit besonders sorgfältig vorbereitet und
überwacht wird. —
b) Die Ausgestaltung der Schutzaufsicht halte ich,
wie schon oben mehrfach gesagt wurde, für sehr wünschenswert.
Ich stütze diese Ansicht auf die Erfahrungen, welche man schon
heute in der praktischen Trinkerfürsorge gemacht hat. Bis zu
einem gewissen Grade können auch die Erfolge der an vielen
Stellen in Deutschland eingeführten Familienpflege für Geistes¬
kranke und Schwachsinnige als Beweismaterial herangezogen
werden. Last not least ist auch der Fürsorgebestrebimgen für ent¬
lassene Strafgefangene zu gedenken.
Alle diese Institutionen zeigen, daß der Minderwertige ge¬
halten werden kann, wenn er in die richtigen Hände kommt.
Der Fürsorger muß aber für ihn denken und teilweise auch für
ihn handeln.
Ist nun aber, wie wir bereits wissen, durch Ausgestaltung der
Schutzaufsicht viel zu erreichen, dann muß man gerade diese Ein¬
richtung besonders gut ausgestalten, weil sie i. die billigste Form
der Fürsorge ist, 2. die Freiheit des Betroffenen am wenigsten
einschränkt, 3. seine Arbeitskraft am besten auszunutzen gestattet
und 4. ihn in die Gesellschaft wieder einzuordnen versucht. —
c) Hinzuzufügen ist schließlich noch, daß sich unter den In¬
sassen unserer Arbeitshäuser gegenwärtig etwa 60% vermindert
Zurechnungsfähiger befinden. Diese würden nach dem geplanten
Gesetz größtenteils anderweitig untergebracht werden müssen. —
Anhangsweise haben wir noch zweier Punkte zu gedenken.
Wenn in einer Strafsache der Einwand erhoben wird, ein
Angeklagter sei geisteskrank i. S. des § 51 St.G.B. gewesen, dann
wird für gewöhnlich die Schuldfrage nicht erst erörtert, es erfolgt
vielmehr Freisprechung, sobald die nötigen medizinischen Unter¬
lagen für eine solche erbracht sind.
.•\us diesem Verfahren erwachsen dem Kranken selbst oft er¬
hebliche Nachteile. Er gilt z. B. vom Zeitpunkt der Freisprechung
ab mitunter als gemeingefährlicher Geisteskranker. Die Ent¬
lassung aus der Irrenanstalt ist erschwert. In manchen Gegenden
kann auch eine Wiedereinweisung in eine Anstalt leichter erfolgen,
als l)ei sonstigen Kranken.
150
Strafeesetzbuch.
Der Freigesprochene hat deshalb ein gewisses Interesse
daran, die Schuldfrage erörtert zu sehen. Wie sich aus der
folgenden Entscheidung aber ergibt, kann der Kranke gegen das
freisprechende Urteil keine Berufung einlegen.
Daß „das Revisionsinteresse sich bis in die Entscheidungsgründe
erstrecke“, ist in dem Urteil des Reichsgerichts vom 11. Juni 1881
(Entsch. Bd. IV, S. 355 ff.) nicht ausgesprochen; anerkannt wird darin
allerdings, daß eine Freisprechung durch die Art ihrer Motivierung die
Interessen des Angeklagten auch außerhalb des Bereiches des an¬
hängig gewordenen Strafverfahrens berühren könne; derartigen
„anderweitigen Beziehungen“ wird jedoch jeder Einfluß auf die An¬
fechtbarkeit einer Freisprechung versagt, sofern letztere eine voll¬
ständige Verneinung der strafrechtlichen Schuld des Angeklagten be¬
deute (a. a. 0. S. 357, 358). Letzteres trifft zwar nicht im Falle der
Freisprechung wegen Verjährung der Strafverfolgung, wohl aber im
gegenwärtigen Falle zu, in welchem die Freisprechung auf der Fest¬
stellung beruht, daß der Angeklagte zur Zeit der Tat sich in einem
Zustande krankhafter Störung der „Geisteskräfte“ — soll heißen
Qeistestätigkeit — befunden habe, durch welchen seine freie Willens¬
bestimmung ausgeschlossen war. Die von der Revision behaupteten
„nachteiligsten juridischen und polizeilichen Folgen“ der Freisprechung
aus § 51 Str.QB. sind deshalb nicht geeignet, die Revision gegen letz-
' tere zu begründen (vergl. Rechtsprechung des R.Q. Bd. 6, S. 545 ff.,
Entsch. Bd. 13, S. 326 bis 327). Ebensowenig kann diese Wirkung
dadurch herbeigeführt werden, daß neben der Freisprechung auf Un¬
brauchbarmachung aller Exemplare der inkriminierten Druckschrift
nebst Platten und Formen (mit den in § 41 Abs. 2 des Str.Q.B. vor¬
gesehenen Einschränkungen) erkannt worden ist. Durch diese in seine
Vermögensrechtsphäre eingreifende Entscheidung wird der Angeklagte
allerdings beschwert und er muß deshalb auch in dem gegen ihn ge¬
richteten Verfahren für befugt erachtet werden, dieselbe im Wege der
Revision anzufechten, auch wenn man davon ausgeht, daß die Un¬
brauchbarmachung an sich den Charakter einer polizeilichen Präven¬
tivmaßregel trägt (vergl. Entsch. des R.Q. Bd. 14, S. 169 und S. 384
oben). Aus dem Rechte zur Anfechtung des Urteils folgt indessen
nicht das Recht zur Anfechtung der erfolgten Freisprechung, da beide
Entscheidungen sich rechtlich in keiner Weise bedingen, die Un¬
brauchbarmachung der Druckschrift vielmehr völlig außerhalb der
Verneinung der Schuldfrage wegen Unzurechnungsfähigkeit des An¬
geklagten liegt. Von einer gleichzeitigen Qualifizierung derselben
Handlung als erlaubt und unerlaubt kann hierbei keine Rede sein.
Die Revision mußte demnach, soweit sie gegen die Freisprechung
des Angeklagten gerichtet ist, als unzulässig verworfen werden. Hin¬
sichtlich der im Urteil ausgesprochenen Unbrauchbarmachung der
Druckschrift dagegen war dem Rechtsmittel der Erfolg nicht zu ver¬
sagen. (Urteil des RQ. 11 13. 10. 1903.)
Jur. Wochenschr. 1904, S. 13 und Psych. Wochenschr. 1905. S. 1.
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit. 151
I
Eine sehr unangenehme Konsequenz der jetzigen Fassung
des § 51 Str.G.B. hat Aschaffenburg') besprochen.
Die beschlagnahmten Werkzeuge, mit denen Einbrüche,
Körperverletzungen usw. begangen wurden, müssen dem nach
§51 Str.G.B. Freigesprochenen zurückgegeben werden, da eine
strafbare Handlung nicht vorhanden war.
Daß dieser Zustand unhaltbar ist, bedarf keiner weiteren Be¬
gründung. Im Entwurf ist dafür gesorgt, daß er beseitigt wird.
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit.
Wie schon in der psychologischen Einleitung gesagt wurde,
entwickelt sich das Individuum allmählich. Zwischen dem neu-
gelwrenen Kinde, das nur Sinneseindrücke aufnimmt, und dem
strafmündigen erwachsenen Menschen, der nach ethischen Mo¬
tiven handelt, liegt ein langer Weg, der sich, wie der Gesetzgeber
annimmt, über 18 Lebensjahre erstreckt.
Wenn wir das Wesentliche dieser geistigen Entwicklung,
soweit sie nicht schon im allgemeinen Teil gestreift worden ist,
kurz zusammenfassen wollen, so lernt das Kind, wenn es über die
ersten Anfänge der geistigen Entwicklung hinaus ist, zunächst
erkennen, wie unangenehm die Schädigung eigener Interessen
durch andere ist. In Schule und Haus geht das Bestreben Aller
außerdem dahin, ihm zu zeigen, daß und wie es sich in seine
L^mgebung einfügen muß, ohne selbst Schaden zu erleiden und
ohne andere zu schädigen. So kommt es verhältnismäßig früh
<lazu, rein verstandesmäßig zu wissen, daß es bestimmte Dinge
tun darf, andere unterlassen muß. Und trotzdem gibt es wohl
kaum ein Kind, das nicht von Zeit zu Zeit gegen die guten
Lehren, welche ihm erteilt werden, verstößt.
Die Ursache dieser fast regelmäßigen Erscheinung liegt
darin, daß das Gefühlsleben des Kindes ein sehr viel lebhafteres
ist. Mögen verstandesmäßige Erwägungen noch so sehr gegen
die Ausführung einer Handlung sprechen, wenn sie dem Heran¬
wachsenden begehrenswert erscheint, dann wird sie trotzdem aus¬
geführt. Durch diese Ungebundenheit des Gefühlslebens, wie ich
es nennen möchte, unterscheidet sich das Kind noch zu einer
Zeit, wo es längst weiß: Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht
töten usw. wesentlich von Erwachsenen.
’) Aschaffenburg, Monatsschr. f. Kriminalpsychol., Bd. 7, S. 506.
152
Strafgesetzbuch.
Ebensosehr, wie sich das im Umgang mit den Kameraden,
mit der Familie und in der Schule zeigt, so tritt es auch in der
Kriminalität der Jugendlichen hervor. Um das
deutlich zu machen, habe ich in der folgenden Tabelle die
prozentuale Beteiligung der Altersstufen von 12—15 und
15—18 Jahren an verschiedenen Verbrechen aus den Jahrgängen
1904—1908 der Reichskriminalstatistik') berechnet. Zum \''er-
gleich füge ich hinzu, daß nach der Volkszählung von 1905 der
Anteil der in dem erwähnten Alter stehenden Personen an der
Gesamtbevölkerung folgender war:
Im Alter von i2—15 Jahren standen 16^
ft ft ft 18 ,, ,,
sowohl der männlichen, wie der weiblichen Bevölkerung“).
Delikt
0
12-15
Mäi
0
15-18
ner
in Z
12-15
ahlen
15-18
Fra
Ol
lO
12-15|l5-18
uen
in Zahlen
12-15|l5-18
Widerstand . . .
0,13
2,24
24,4
421,6
0,2
3,0
2,2
33
Hausfriedensbruch.
0,77
4,44
177
1013,4
0,1
2,9
2,4
05
Beleidigung . . .
0,35
2,13
157
752
0,29
1,7
46,6
277,6
Sachbeschädigung.
5,55
11,03
1050
2087
2,5
6,1
25,6
63,6
Leichte Körperverl.
0,7
3,07
192
761,2
0,5
2,6
16
72
Oefährl. „
0,1
6,7
1054
6088,6
1,6
3,3
76
239
Schwere „
1,6
6,7
8,8
352
2,7
4,0
0,4
0,6
Einf. Diebst. . . .
13,55
14,65
7739,2
8366,8
9,3
16,4
1837
3293
,, „ i. Rflckf.
Schw. Diebst. . .
0,5
3,3
54,4
356
0,23
3,55
6
90,8
17,62
25,66
1889,2
2751
11,3
20,6
565
1028
„ „ i. Rückf.
0,65
5,37
20
164,6
—
6,7
—
12,8
Betrug.
1,6
5,5
306,6
1018,4
3,08
12,08
13,46
467,4
„ i. Rückf. . .
0,03
0,4
1,2
17,4
0,11
2,7
0,6
14
Unterschla^ng
2,61
7,56
542,2
1565,6
2,5
6,83
105
284,2
Urkundenfälschung
3,0
9,3
158,4
482,8
3,4
8,86
34,2
88,6
Werfen wir einen Blick auf diese Tabelle, so ergibt sich,
daß bei den männlichen Verbrechern ungefähr 17 ”der \’er-
urteilungen wegen Sachbeschädigung Personen zwischen 12 und
18 Jahren betrafen. Über 18 "aller einfachen Diebstähle, welche
’) Vergl. auch Pesclike, Kriminalität d. Jugendl. unter 14 Jahren.
Monatsschr. f. Kriminalpsych., 6. Jahrg., S. 678 und Rupprecht. Münch,
med. Wochenschr. 1910, S. 1592. Qruhle, Monatsschr. f. Kriniinal-
psychol. 1911, S. 17.
“) Berechnet nach dem Statist. Jahrbuch.
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit.
153
von Männern begangen waren, io®/o aller Unterschlagungen, i2“/o
der Urkundenfälschungen, 43‘’/o der schweren Diebstähle waren
von Jugendlichen verübt worden. Bei Frauen ist in erster Linie
die Sachbeschädigung, ferner der einfache und schwere Diebstahl,
drittens der Betrug, die Unterschlagung und Urkundenfälschung
zu erwähnen.
Daß bei dem Zustandekommen aller dieser Delikte die Zügel¬
losigkeit des Gefühlslebens *) der Jugendlichen wirklich eine
große Rolle spielt, davon kann man sich in den Gerichtssälen sehr
leicht überzeugen. Um nur eins herauszugreifen, ist es mir per¬
sönlich außerordentlich häufig gerade bei den Diebstählen der
Jugendlichen aufgefallen, wie die Erreichung eines begehrten
Gegenstandes sie zu Ungesetzlichkeiten führt, deren letzte Kon¬
sequenzen sie sich keinen Augenblick überlegen, weil das Be¬
gehren nach dem ersehnten Gegenstand zu lebhaft ist. In beson¬
ders deutlicher Erinnerung ist mir eine Verhandlung, der ich
zufällig beiwohnte, wo eine „Bande“ von 5 im Alter von 13 bis
16 Jahren stehender junger Burschen wegen Einbruchsdiebstahls
angeklagt war. Sie war bei dem Einbruch tatsächlich ganz
zunftmäßig vorgegangen. Der eine hatte Schmiere gestanden,
zwei stellten sich an die Mauer und nahmen zwei andere auf die
Schultern. Die letzteren drückten mit Glaserkitt kunstgerecht
eine Scheibe ein und kletterten durch das Fenster, öffneten das¬
selbe, drangen in die Wohnung ein und durchsuchten dieselbe,
und zwar in erster Linie nach einer Guitarre. Sie fanden außer¬
dem Eßwaren und Kleidungsstücke. Die Kleidungsstücke woll
ten sie mitnehmen, an das Verzehren der Eßwaren machten sie
sich sofort. In erster Linie aber bemächtigten sie sich der be¬
sonders erstrebten Guitarre. Nachdem sie in deren Besitz ge¬
langt waren, verließ sie ihre Verbrecherschlauheit aber voll¬
kommen. Einige von ihnen beschäftigten sich damit, die E߬
waren zu verzehren, einer aber begann sofort im Kreise
der anderen die Guitarre zu probieren und versuchte
darauf zu spielen. Der Erfolg war die Entdeckung und Ver¬
haftung.
‘) Die leichte Ansprechbarkeit der Jugendlichen wird vielfach noch
genährt durch die sog. Schundliteratur (vergl. Pick, Verhandl. d. Internat.
Kongr. f. Psych. in Berlin 1910) und durch schlechte kinematographische
Vorführungen (Hellwig, Monatsschr. f. Kriminalpsych. 1912, 9. Jahrg.,
S. 711). Umhauer, Monatsschr. f. Kriminalpsych., Bd. 7, S. 585.
154
Strafgesetzbuch.
Wenn das eben erwähnte Beispiel auch nicht absolut typisch
ist, so zeigt es doch sehr deutlich, wie eine anscheinend raffiniert
eingefädelte und durchgeführte Handlung im letzten Grunde
nichts anderes zu sein braucht, als der Ausfluß jugendlicher Un¬
besonnenheit und allzu großer Begehrlichkeit.
Was ich in der Einleitung über die Diebstähle der P'rauen im
allgemeinen sagte, trifft im besonderen für die Diebstähle jugend¬
licher weiblicher Delinquenten zu. Der lebhafte Wunsch, ein
Schmuckstück, ein Kleidungsstück oder ähnliches zu besitzen, ist
der Vater der ungesetzlichen Handlung.
Neben dem bisher Ausgeführten ist noch ein Zweites zu
bedenken. Die Zeit von 12—18 Jahren ist in unserem Klima
auch diejenige, in der die geschlechtliche Entwickelung des
Menschen erfolgt^). Es ist allgemein bekannt, daß diese Zeit
unseres Lebens mit besonders lebhaften Schwankungen der Ge¬
fühlssphäre einhergeht, und daß die ersten erotischen Regungen
das Tun und Lassen des Heranwachsenden besonders stark be¬
einflussen. So mancher Fall von Blutschande unter Geschwistern
oder von Unzucht mit Kindern, begangen von Dienstboten an
den Kindern der Herrschaft findet durch die elementare Art des
Ausbruches der ersten erotischen Regungen seine Erklärung.
\\’ie groß die Macht des erwachenden Geschlechtslebens ist, zeigt
auch die folgende kleine Tabelle:
Männer
■1
Delikt
0
/o
in Zahlen
■1
12-15
15-18
12-15!
15-18
H
Blutschande . . .
0,5
3,3
1,4
10
3,4
10,8
6
19
Unzucht, Notzucht
4
15,3
209
814
18,5
26,3
7
10
Fast die Hälfte aller wegen Unzucht und Notzucht ver¬
urteilten weiblichen Delinquenten stammt aus der Altersklasse
von 12—18 Jahren. Ebenso fällt der fünfte Teil der gleichen
V'erbrechen bei Männern in die Zeit der relativen Strafmündig¬
keit. Und das sind Ergebnisse, die an der Oberfläche liegen!
Ich bin sicher, daß man auch bezüglich anderer Delikte wie Be-
*) S.; Moll, Oeschlechtsleben des Kindes. Leipzig. F. C. W. Vogel.
Ferner M. Lückerath in Pharus, kath.-pädag. Monatsschr. 1912, Heft 4.
Auch bei Wulffen, Sexualverbrecher (Berlin, P. Langenscheidt). ist nach¬
zulesen.
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit. 155
leidigungen, Körperverletzungen dieselben Verhältnisse würde
nachweisen können, wenn man statistische Erhebungen auf Grund
von Aktenstudien und eigenen Ermittelungen machte. —
Prüfen wir nun, wie weit der Gesetzgeber den vorstehenden
kriminalpsychologischen Tatsachen Rechnung getragen hat. Die
gegenwärtig gültigen Bestimmungen lauten folgendermaßen:
§ 55 - Wer bei Begehung der Handlung das
zwölfte Lebensjahr nicht vollendet hat,
kann wegen derselben nicht strafrechtlich
verfolgt werden. Gegen denselben können
jedoch nach Maßgabe der landesgesetzlichen
Vorschriften die zur Besserung und Beauf¬
sichtigung geeigneten Maßregeln getroffen
werden. Die Unterbringung in eine Familie,
Erziehungsanstalt oder Besserungsanstalt
kann nur erfolgen, nachdem durch Beschluß
des Vormundschaftsgerichts die Begehung
der Handlung festgestellt und die Unter¬
bringung für zulässig erklärt ist.
Der oben wiedergegebene Paragraph ist entstanden in An¬
lehnung an ein Gutachten, welches die wissenschaftliche Deputa¬
tion für das Medizinalwesen in Preußen erstattet hatte. In dem¬
selben war ausgeführt, daß von einer Berücksichtigung anderer,
von wahrer Überlegung und deshalb von Gründen, die über per¬
sönliche Empfindungen hinausgehen, und von einer freien Wil¬
lensbestimmung sich vor der Geschlechtsentwickelung kaum die
ersten Spuren zeigen.
Schon hier möchte ich einfügen, daß ich die im „Vorent-
wurf“ empfohlene Heraufsetzung der Grenze relativer Straf¬
mündigkeit von 12 auf 14 Jahre') für richtig halte“'). Für die
') Die gegenteilige Ansicht von Sonntag (Kattowitz 1911 bei Böhm)
halte ich nicht für genügend begründet. Abgesehen davon, daß die von
ihm zitierten Fälle keine häufig vorkommenden Typen darstellen, kann
man mit Erziehungsmaßregeln doch auch gegen sie Vorgehen, die wich¬
tiger sind, als eine kurze Gefängnisstrafe. Es kommt hinzu, daß sich
unter diesen frühreifen Qroßstadtkindern eine nicht geringe Zahl von
leicht Schwachsinnigen und Psychopathen befindet.
-) Der gegenwärtig dem Reichstag vorliegende Entwurf eines
Jugendgerichtsgesetzes hat das 12. Lebensjahr als untere Grenze der
Strafmündigkeit gelassen. S.: Monatsschr. f. Kriminalpsych., 10 . Jahrg.,
S. 45; s. auch: ebenda, 9. Jahrg., S. 715.
Strafgesetzbuch.
156
meisten Menschen stellt der letztgenannte Zeitpunkt auch den
Eintritt ins Berufsleben dar. Der Schulentlassene erhält mehr
Rechte und mehr Pflichten als das Schulkind, in Übereinstim¬
mung damit kann man ihm auch im Strafgesetz eine andere
Stellung verleihen.
Ein sehr lehrreicher Fall, der vielleicht auch dafür spricht,
daß gerade im Hinblick auf das weibliche Geschlecht die Er¬
höhung der Altersgrenze von 12 auf 14 Jahre angezeigt erscheint,
ist der folgende:
Die 12 Jahre und 2 Monate alte M. S. machte sich auf der Straße
an die vierjährige D. M. heran und forderte sie auf, mit ihr zu spielen.
Das Kind folgte der S. in ein Haus. Dort merkte die letztere, daß das
Kind sehr schöne Ohrringe trug. Sie versuchte dieselben herauszunehmen,
da die Kleine aber schrie, sagte sie zu ihr: „Wenn du nicht ruhig bist,
werfe ich dich aus dem Fenster!“ Sie trat an das Fenster, öffnete das¬
selbe und setzte das Kind auf das Fensterbrett. Dann löste sie die Ohr¬
ringe, steckte sie in die Tasche und stieß das Kind rücklings in den Hof
hinab. Sie holte darauf für ihre Mutter ein. Die Ohrringe warf sie fort.
Bei ihrer Vernehmung gab sie an, sie habe die Ohrringe verkaufen und
sich dafür „Kuchen oder so etwas“ kaufen wollen. Da sie gefürchtet
habe, daß das Kind seiner Mutter von dem Diebstahl erzählen würde,
habe sie dasselbe aus dem Fenster geworfen. Daß man so etwas nicht
tun dürfe, wisse sie; es sei Sünde.
Über die Tat keine Reue. Bei der Sektion des getöteten Kindes
keine Aufregung.
Urteil des Lehrers: Geistig schwaches Kind; nach zweijährigem
Aufenthalt in derselben Klasse keine Aussicht auf Versetzung. Neigt zum
Spielen, stiehlt bunte Bilder und sonstigen Tand, weiß hinteiher nichts
damit anzufangen. Ist flüchtig und zerfahren, ließ sich öfters Schwinde¬
leien zuschulden kommen. Den Hausbewohnern beschmierte sie mehr¬
fach Türen, Klingeln, einmal auch ein Kleid mit eigenem. Kot.
Mehrere Sachverständige sprachen sich dahin aus, daß die Angc-
schuldigte die zur Erkenntnis der Strafbarkeit ihrer Tat erforderliche
Einsicht nicht besessen habe. Die Geschworenen waren entgegen¬
gesetzter Ansicht, weil in der Hauptverhandlung die Angeklagte ruhig
und sicher auftrat und „augenscheinlich das volle Verständnis für ihre
Tat hatte“. Das Urteil lautete auf 8 Jahre Gefängnis. Nach der Ent¬
lassung Dienstmädchen. Wird nur noch einmal wegen eines kleinen
Diebstahls bestraft. Sonst, soweit zu ermitteln war, ordentlich. Heiratet
später einen Schreinergesellen. Stirbt im Alter von 31 Jahren an Lungen¬
tuberkulose.
Die Vorgescliichte der S. bietet eine Unmenge krankhafter
Züge. Vom Lehrer wird sie als ,,schwach begabt“ und sehr be¬
gehrlich bezeichnet. Das Motiv ihrer Handlung ist gleichfalls
Begehrlichkeit. Eine dem Ernst der Lage entsprechende gemüt-
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit.
157
liehe Reaktion wird nach der Tat vermißt. Trotz allem erfolgt
eine Verurteilung des '2 Monate über die Grenze der Straf¬
unmündigkeit hinausgekommenen Mädchens zu einer schweren
Strafe! Im Gefängnis ist sie anfangs auch noch unbotmäßig und
ohne jede Reue. Später sagt sie selber, sie würde eine solche
Tat nie wieder begehen können. Nach der Entlassung aus dem
Gefängnis, die mit etwa 20 Jahren erfolgte, kommt abgesehen
v'on einem kleinen Diebstahl keine weitere Straftat vor.
Überblickt man diese Zusammenfassung des Falles, so wird
mau nachträglich gewisse Bedenken gegen das Urteil des Ge¬
schworenengerichtes nicht unterdrücken können. Hat dieses Mäd¬
chen die zur Erkenntnis der Strafbarkeit ihrer Handlung er¬
forderliche Einsicht damals wirklich besessen?
Wir wollen diese Frage offen lassen und hier nur feststellen,
daß die Entscheidung derselben für die Geschworenen sehr schwer
war. Praktisch wäre jedenfalls ebensoviel erreicht worden, wenn
man das Mädchen statt ins Gefängnis bis zu ihrem 20. Lebens¬
jahre in Fürsorgeerziehung gebracht hätte ^).
Wenn die Grenze der Strafunmündigkeit nicht 12, sondern
14 Jahre betragen hätte, würde die sachgemäße Behandlung dieses
Falles geradezu erleichtert worden sein und es hätte keiner lang¬
wierigen Vernehmungen, keiner Schwurgerichtsverhandlung und
keiner Sachverständigen bedurft, um das Verfahren rasch und
zweckmäßig zum Abschluß zu bringen. —
Wir haben bei Betrachtung des vorstehenden Falles bereits
das Gebiet der relativen Strafmündigkeit betreten und wollen nun
näher auf dieses Kapitel eingehen. Was zunächst die gesetz¬
lichen Bestimmungen anlangt, so lauten dieselben folgendermaßen:
§ 56. Ein Angeschuldigter, welcher zu einer
Zeit, als er das zwölfte, aber nicht das acht¬
zehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine straf¬
bare Handlung begangen hat, ist freizu-
sprechen, tvenn er bei Begehung derselben die
zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforder¬
liche Einsicht nicht besaß.
In dem Urteile ist zu bestimmen, ob der An¬
geschuldigte seiner Familie überwiesen oder
*) Nur nebenbei sei auch in diesem Falle darauf hingewiesen, wne
stark bei dem Kinde Qefühlsmomente das Handeln beeinflußten.
Strafgesetzbuch.
158
in eine Erzieh ungs- oder Besserungsanstalt
gebracht werden soll. In der Anstalt ist er so¬
lange zu behalten, als die der Anstalt Vorge¬
setzte Verwaltungsbehörde solches für erfor¬
derlich erachtet, jedoch nicht über das voll¬
endete zwanzigste Lebensjahr.
§ 57 - Wenn ein Angeschuldigter, welcher
zu einer Zeit, als er das zwölfte, aber nicht das
achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine
strafbare Handlung begangen hat, bei Be¬
gehung derselben die zur Erkenntnis ihrer
Strafbarkeit erforderliche Einsicht besaß, so
kommen gegen ihn folgende Bestimmungen zur
Anwendung;
1. ist die Handlung mit dem Tode oder mit
lebenslänglichem Zuchthaus bedroht, so ist auf
Gefängnis von drei bis zu fünfzehn Jahren zu
erkennen;
2. ist die Handlung mit lebenslänglicher
Festungshaft bedroht, so ist auf Festungshaft
von drei bis zu fünfzehn Jahren zu erkennen;
3. ist die Handlung mit Zuchthaus oder mit
einer anderen Strafart bedroht, so ist die
Strafe zwischen dem gesetzlichen Mindest¬
betrage tier an gedrohten Strafart und der
Hälfte des Höchstbetrages der angedrohten
Strafe zu bestimmen.
Ist die so bestimmte Strafe Zuchthaus, so
tritt Gefängnisstrafe von gleicher Dauer an
ihre Stelle;
4. ist die Handlung ein Vergehen oder eine
Übertretung, so kann in besonders leichten
Fällen auf Verweis erkannt werden;
5. auf \’'erlust der bürgerlichen Ehren¬
rechte überhaupt oder einzelner bürgerlicher
Ehrenrechte, sowie auf Zulässigkeit von Poli¬
zeiaufsicht ist nicht zu erkennen.
Die Freiheitsstrafe ist in besonderen, zur
e r b ü ß u n g von Strafen jugendlicher Personen
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit. 159
bestimmten Anstalten oder Räumen zu voll¬
ziehen.
In dem § 56 ist der wichtigste Begriff „die zur Erkenntnis
der Strafbarkeit einer Handlung erforderliche Einsicht“. Eine
Definition dieses Begriffes gibt eine Reichsgerichtsentscheidung,
die sich folgendermaßen ausspricht *) ’) *):
„Nicht Oesetzeskenntnis, d. h. die Einsicht für die Erkenntnis,
unter welches Strafgesetz die Handlung falle, wird verlangt, sondern
nur, daß der Jugendliche (Taubstumme) die Einsicht besitze, zu er¬
kennen, daß sein unkorrektes Handeln kriminell strafbar sei. Es ist
weiter nicht Erfordernis, daß er die Strafbarkeit erkannt hat, sondern
nur, daß er sie erkennen konnte. Das Vermögen zum Erkennen, ein
bestimmter Qrad von Verstandesentwickelung, wird gefordert. Dieses
Vermögen ist dann vorhanden, wenn der Täter imstande gewesen ist,
zu erkennen, daß seine Pflicht die Unterlassung der speziellen Hand¬
lung forderte und er durch Begehung derselben einer Kriminalstrafe
sich aussetzte. Eine Erkenntnisfähigkeit in Ansehung der Qualifika¬
tionsmomente, der größeren oder geringeren Strafbarkeit der Tat wird
nicht gefordert.
Etwas ganz anderes ist es dagegen, wenn der Jugendliche (Taub¬
stumme) zwar die Strafbarkeit einer Handlung in der gewöhnlichsten
und einfachsten Gestalt einzusehen imstande wäre, nicht aber die
Strafbarkeit der nämlichen Handlung in einer durch das Hinzutreten
eines besonderen Merkmals modifizierten Gestalt (E. 5, 395).
Weiter besagt eine Entscheidung vom 17. 12. 10 (Jahrb. 12,
S. 15. Psych. Wochenschr. 1913, S. 4);
Belehrungsfähigkeit reicht für das Erfordernis des Erkennungs¬
vermögens nicht aus. Vorausgesetzt wird die Einsicht als eine dem
Täter z. Z. der Tat innewohnende, ihn zur eigenen Erkenntnis be¬
fähigende Verstandesreife.
Dasselbe besagl E.R.G. 16. 9. 12 s. XXX. Spruch-Sammlg. der
Deutschen Jur.-Zeitg. 1913, S. 7.
') S. auch die Entsch. d. R.G. v. 18. 9. 08; Das Recht 1908, E. 3189
und 27. Mai 1907; Jahrb. f. Strafrecht 1908, S. 19. Beide in Psych.
Wochenschr. 1909.
*) Bei fortgesetzter Handlung, während der das 18. Lebensjahr voll¬
endet wird, ist zu entscheiden, ob der Angeklagte in Ansehung derjenigen
Einzelakte, welche vor die Vollendung des 18. Jahres fallen, die erforder¬
liche Einsicht hatte. Entsch. d. R.G. 7. 4. 08, Das Recht 1908 E. 1920.
”) Anders als die vorige Entscheidung lautet eine weitere vom
30. 10. 08, Das Recht 1908 E. 3719, in der es heißt, bei Bestrafung einer
teils vor, teils nach Vollendung des 18. Lebensjahres begangenen fort¬
gesetzten Handlung ist § 57 Str.G.B. unanwendbar. „Wenn schon durch
Einzelhandlungen, die in das vollstrafmündige Alter fallen, die ordent-
i6o
Strafgesetzbuch.
Hinzugefügt sei auch noch die folgende Entscheidung,
welche besonders betont, daß das Unterscheidungsvermögen bei
verschiedenen Deliktgruppen ein verschiedenes sein kann:
Nach den Gründen des angefochtenen Urteils soll die im Sinne
des § 57 St.Q.B. erforderliche Einsicht der Angeklagten bei der Art
des Delikts und bei dem Umstand, daß die Tat nur wenige Tage vor
Vollendung des 18. Lebenslahres begangen wurde, keinem Zweifel
unterliegen. Diese Feststellung kann nicht für genügend erachtet
werden, um die Voraussetzungen der erwähnten Vorschrift als zu¬
treffend bejaht erscheinen zu lassen. Die Art des Delikts begründet
an sich für die Zurechnungsfähigkeit der relativ Strafmündigen keinen
Unterschied. Allerdings wird die Frage ihres Unterscheidungsver¬
mögens bei den verschiedenen Deliktsgruppen und Delikten verschie¬
den zu beantworten sein; bei einzelnen kann sie vorliegen, bei anderen
fehlen. Vielleicht wollte der erste Richter von diesem Standpunkte
ausgehend sagen, daß ein nahezu ISjähriges Mädchen, wie die An¬
geklagte, die fragliche Einsicht im Sinne des § 57 St.Q.B. in die vor¬
liegende konkrete Tat nach dem Grade ihrer geistigen Entwickelung
besessen habe. Aber dieser Gedanke ist nicht zu genügend klarem
Ausdruck gelangt. Jedenfalls erscheint der andere Beweisgrund für
die angenommene Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten als verfehlt.
Das Gesetz verlangt die Feststellung der erforderlichen Einsicht jedem
Angeklagten unter 18 Jahren gegenüber; der erste Richter entnimmt
der Tatsache, daß die Angeklagte die inkriminierte Handlung wenige
Tage vor Vollendung des 18. Lebensjahres begangen habe, den Be¬
weis der Strafmündigkeit. Dadurch verletzte er den § 56 St.Q.B. wie
das R.Q. mit Urteil vom 3. Oktober 1896 — R.O. St. 29, 98 — aus¬
geführt hat. (R.Q. I. 29. 1. 06.) Jur. Wochenschr. 1906, S. 487.
Nach dem Wortlaut des Gesetzes und nach diesen Reichs-
gerichtsentscheidungen sind es also wesentlich verstandes¬
mäßige Erwägungen, zu denen der Delinquent fähig sein muß,
um bestraft werden zu können. Die in der Einleitung dieses Ab¬
schnitts hervorgehobene Wirkung des Gefühlslebens wird dabei
vernachlässigt. Mit dieser Tatsache muß sich auch der Sachver¬
ständige abfinden, wenn er zur Beantwortung der Frage nach dem
Vorhandensein der Einsicht veranlaßt wird. Daß er diese Frage
beantworten muß, wenn sie an ihn gestellt wird, halte ich für
selbstverständlich. Ich stehe sogar durchaus auf dem Stand¬
punkte von Ernst Schnitze, der meint, man sollte auch bei Ab¬
urteilungen gemäß § 56 den Psychiater öfter zuziehen, wie das
liehe Strafe verwirkt hat, ist nicht milde zu beurteilen, weil seine fort¬
gesetzte Straftat einen größeren, in das frühere Lebensaltei sich er»
streckenden Umfang gehabt hat.“ Psych. Wochenschr. 1909, S. 3, Bd. 11.
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit. i6i
gegenwärtig geschieht. Die Mitwirkung des ärztlichen Sachver¬
ständigen ist schon aus dem Grunde erwünscht, weil gerade bei
schwachbefähigten Kindern, deren Imbezillität nicht leicht zu er¬
kennen ist, der Richter zu Fehlschlüssen kommen kann, die ihm
bei Zuziehung eines ärztlichen Sachverständigen erspart bleiben^).
Wie wird nun das Vorhandensein der Einsicht vor Gericht
festgestellt?
Besondere Vorschriften über die Art, wie diese Feststellung
geschehen soll, gibt es nicht. Die Absicht des Gesetzgebers ging
vielmehr dahin, dem Richter möglichste Bewegungsfreiheit zu
lassen. Das ergibt sich aus der folgenden Entscheidung:
Bei der Prüfung der geistigen Reife des Angeklagten handelt es
sich nicht um die Erweisbarkeit einzelner, der Vergangenheit an-
gehöriger Tatsachen, deren Wahrheit oder Unwahrheit nach Ma߬
gabe der Vorschriften über den Zeugenbeweis festzustellen ist, son¬
dern es hat ausschließlich eine sachverständige, begutachtende Tätig¬
keit des Gerichts zu erfolgen. Demgemäß muß der Richter auch be¬
fugt sein, nach seinem Ermessen zu bestimmen, welche Unterlage er
für seine Würdigung für erforderlich und ausreichend erachten will.
(R.Q. I. 26. 1. 11; Das Recht 1911, Nr. 926.)
Nach den Erfahrungen, die ich persönlich gemacht habe, und
die stimmen mit denen von Ernst Schnitze“), Raecke “) u. a.
gemachten offenbar überein, wird dabei mit sehr verschiedener
Gründlichkeit vorgegangen. Ich habe Fälle gesehen, in denen
z. B. bei Diebstahlsdelikten der Richter sich einfach damit be¬
gnügte, den betreffenden Jungen zu fragen; ,,Du weißt doch, daß
du nicht stehlen darfst?“ Die Bejahung dieser Frage genügte
ihm, das Vorhandensein der Einsicht anzunehmen. Anderer¬
seits habe ich wiederholt gefunden, daß der Richter, ohne vom
\'erteidiger dazu veranlaßt worden zu sein, eine sehr genaue
Durchforschung des ganzen Vorlebens in der Verhandlung vor¬
nahm und auf diese Weise eine ganze Reihe von Tatsachen ans
Licht brachte, die zur Beurteilung des Falles von Bedeutung
hätten sein können. Sie wurden allerdings nicht immer so be-
') Schubart: Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 67, S. 812 und Monatsschr.
f. Kriminalpsych., Bd. 7, S. 54.^.
“) E. Schultze, Die Jugendlichen usw. Wiesbaden 1910. J. F. Berg¬
mann.
') Monatsschr. f. Kriminalpsych. 1904, S. 304.
Häbner, Forensische Psychiatrie.
11
102
Strafgesetzbuch.
wertet, wie es nach den klinischen Erfalirungen hätte geschehen
müssen.
Zunächst wird bei dieser Art des Vorgehens, wie E. Schnitze
sehr richtig bemerkt, nicht die Einsicht zur Zeit der Begehung
der Tat, sondern zur Zeit der Gerichtsverhandlung fest-
gestellt^). Das ist aber ein großer Unterschied, weil, wie auch
ich beobachten konnte, durch die zahlreichen \'ernehmungen dem
jugendlichen Delinquenten oft erst klargemacht wird, daß er
etwas Unrechtes begangen hat und wie schwer das ist, was er
getan hat. Auch hier kommt es doch lediglich auf den Zustand
der Psyche zur Zeit der Tat an.
In einigen Fällen ist die Strafbarkeit damit begründet
worden, daß im Laufe der Verhandlungen der Täter verschiedene
Details seiner Tat in einer Weise zu Protokoll gegeben habe,
die erkennen ließ, daß er die erforderliche Einsicht hatte. Daß
auch das nicht ohne weiteres richtig ist, hat mich ein besonders
krasser Fall gelehrt, in dem ich den jugendlichen Übeltäter vor
einer schweren Strafe wegen einer homosexuellen Handlung da¬
durch bewahren konnte, daß ich ihn genauer explorierte.
Es bandelte sich um folgenden Fall.
Ein ISjähriger Metzgerbursche A. brennt seinem Meister mit ein¬
kassiertem Geld im Betrage von 30 Mk. durch und treibt sich mit dem
Bäckerlehrling B. 2 Tage umher. Sie trinken in verschiedenen Wirt¬
schaften Bier und das gemeinsame Zusammensein benutzt der Bäcker¬
lehrling, um seinen neu gewonnenen Freund über sexuelle Dinge aufzu¬
klären. B. informierte den A. dahin, daß „man es bei Mädchen vorn,
bei Jungen hinten machen müsse“. A., neugierig geworden, lockte in
einer Wirtschaft, in der er schlafen wollte, den Sohn des Wirtes, einen
djährigen Knaben in sein Zimmer, zog ihn dort nackt aus und betastete
mit den Händen dessen Gesäß. Zu einer Verletzung des Afters
des kleinen Knaben war es nicht gekommen, wie ärztlich festgestellt
worden war.
Da der Knabe zu schreien anfing, kam die Mutter hinzu. Ihr und
mehreren anderen Personen gab A. an, daß er „Schweinerei“ mit dem
Kleinen habe treiben wollen. Es erschien nun ein Polizeibeamter, der
ein ausführliches Protokoll mit A. aufnahm, in dem sämtliche Details
eines homosexuellen Aktes gröbster Art enthalten waren. Auch das
vierjährige Opfer der sexuellen Handlung sollte vernommen werden, gab
aber zu Protokoll, daß es „sich der Einzelheiten“ des Aktes „nicht mehr
entsinnen könne“. Der Verteidiger des Angeschuldigten machte später
Vergl. Entsch. des R.G. 33, 108. „Es genügt danach nicht, daß
man dem Jugendlichen hinterher die Strafbarkeit klar machen könne.“
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit. 163
Zweifel an dessen Zurechnungsfähigkeit im Sinne des § 56 und 51 geltend
und aus diesem Grunde wurde A. in unsere Klinik überführt. Hier
konnte festgestellt werden, daß es sich um einen Psychopathen handelte,
der für die Unterschlagung die erforderliche Einsicht im Sinne des Ge¬
setzes besaß. Bei genauerem Explorieren konnte ich nun feststellen,
daß der Junge von den bei gröberer homosexueller Betätigung üblichen
Handlungen nur eine ganz vage Vorstellung hatte. So wußte er z. B.
nicht, daß dabei eine Vereinigung der entsprechenden Körpei teile vor¬
genommen würde. Trotzdem gab er auf Befragen stets zu. er hätte
unsittliche Handlungen mit dem Betreffenden vorgenommen.
Mit einem Wort, er hatte zwar auf die Suggestivfragen des
Polizeibeamten hin ein ausführliches Protokoll unterschrieben, in
Wirklichkeit aber wußte er von wesentlichen Tatbestandsmerk¬
malen des Deliktes, das er selbst zugegeben hatte, nichts. Man
darf eben nicht vergessen, wie derartige Protokolle Zustande¬
kommen, wenn ein energischer Beamter fragt, und ein vielleicht
schon durch Schläge von seiten der Geschädigten verschüchterter
Junge antw'ortet. —
Weiterhin ist mir aufgefallen, daß auch das verhältnismäßig
sichere Auftreten des Angeschuldigten vor Gericht
als Bew'eis angesehen wird, daß die erforderliche Einsicht bestehe.
Abgesehen davon, daß gegen dieses Argument dasselbe geltend ge¬
macht werden kann, w’as E. Schnitze für die früheren gesagt hat,
sollte meiner Ansicht nach das sichere Auftreten vor Gericht bei
Jugendlichen eher bedenklich stimmen. Denn das normale Durch¬
schnittskind wird durch die ganze Eigenart der Situation eher
eingeschüchtert als ermutigt. Man sollte deshalb in solchen
Fällen eher daran denken, daß beim Angeklagten ein psychischer
Defekt vorliegt, als umgekehrt, daß dieses V'erhalten ein sicheres
Zeichen der Strafmündigkeit darstelle. Denn daß in der Tat
Defekte bei den vor Gericht kommenden Jugendlichen gar nicht
selten nachzuw'eisen sind, das ist von autoritativer . juristischer
Seite erst kürzlich ausgesprochen w'orden^).
Aus unseren bisherigen Betrachtungen ergil)t sich, daß der
Begriff ,,Einsicht“, wenn man von den naturwissenschaftlichen
Bedenken gegen die Fassung des ganzen Paragraphen auch ab¬
sieht. ein außerordentlich unbestimmter ist, so • daß der Be¬
urteilung des einzelnen Falles sehr viel Subjektives -) anhaften
’) Rupprecht, Müiichn. med. W'ochenschr. 1910, Nr. .10, S. 1,592.
*) S. auch Seelig u. Jaeger, Jugendliche im Vorentwurf. Neurol.
Zentralbl. 1910. S. 783. Aschaffenburg, Ein Jugendstrafgesetz. Monats-
11 *
164
Strafgesetzbuch.
muß. Wenn es eines Beweises für diese Behauptung überhaupt
noch bedürfte, so liefert ihn die Statistik. Den angestellten Er¬
mittlungen zufolge schwankte die Zahl der gemäß § 56 frei¬
gesprochenen, im Alter von 12—18 Jahren stehenden jugend¬
lichen Uberführten in den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken
ganz erheblich. Der höchste Prozentsatz von Freigesprochenen
betrug 57,1, der niedrigste ü,5®/o. Daß man so weitgehende
Unterschiede nicht mit Eigentümlichkeiten der Bevölkerung er¬
klären kann, ist selbstverständlich. Es bleibt also nichts anderes
übrig, als sie auf die verschiedene Auffassung des Begriffes
„Einsicht“ zurückzuführen.
Wie soll man den Begriff nun aber deuten,
um möglichst wenig Schaden anzurichten?
Nach dem starren Buchstaben des Gesetzes ist eine Be¬
wertung der Gefühlskomponente bei diesen Handlungen nicht
möglich. Das würde meines Erachtens den oben zitierten Reichs¬
gei ichtsentscheidungen widersprechen. Trotzdem wird man aber
vielen Fällen immerhin noch gerecht werden können, wenn man
speziell auf einen Satz einer der Entscheidungen besonderen
Nachdruck legt, nämlich den, ob der Täter imstande gewesen
ist, zu erkennen, daß er durch Begehung der Handlung einer
Kriminalstrafe sich aussetzt. Ich glaube, daß es viele und zum
Teil recht schwer zu bestrafende Handlungen gibt (vergl. z. B.
den oben angeführten Fall), in denen der Täter sich vollkommen
darüber klar ist, daß im Falle der Entdeckung eine Tracht Prügel
oder ähnliches die Folge seiner Handlung ist, ohne daß ihm auch
nur einen Augenblick einfiele, daß die Handlung auch gesetzlich
bestraft werden kann. An diese letzterwähnte Möglichkeit werden
jugendliche Übeltäter wohl überhaupt nur in seltenen Fällen
denken. Das schließt aber nicht aus, daß ein Teil von ihnen
wenigstens bei bekannteren Delikten weiß, daß sie gesetzlich
strafbar sind.
Der mehr und mehr sich bahnbrechenden Erkenntnis, daß
die Behandlung der Jugendlichen den psychologischen Erfahrun¬
gen nicht entspricht und daß durch Strafen oft mehr Schaden
als Nutzen gestiftet wird, ist auf anderem Wege Rechnung ge-
schr. f. Kriminalpsych, 1912, S. 234. v. Lilienthal, Deutsche Jur.-Zeitg.
XVll, 529.
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit. 165
tragen worden, nämlich durch die bedingte Begnadi-
gung‘).
Durch Allerhöchsten Erlaß des Königs v^on Preußen “) vom
23. Oktober 1895 ist eine bedingte Begnadigung für jugendliche
Verbrecher innerhalb gewisser Grenzen möglich.
Auf Ihren Bericht vom 15. Oktober ermächtige ich Sie, solchen zu
Freiheitsstrafen verurteilten Personen, hinsichtlich derer bei längerer
guter Führung eine Begnadigung in Aussicht genommen werden kann,
nach Ihrem Ermessen Aussetzung der Strafvollstreckung zu bewilligen,
indem ich in den dazu geeigneten Fällen demnächst Ihrem Bericht wegen
Erlasses oder Milderung der Strafen entgegensehe. Von dieser Er¬
mächtigung soll vornehmlich nur zugunsten solcher erstmalig ver¬
urteilten Personen Gebrauch gemacht werden, welche zur Zeit der Be¬
gehung der Tat das 18. Lebensjahr nicht vollendet hatten und gegen
welche nicht auf eine längere als sechsmonatliche Strafe erkannt ist
(veröffentlicht im preußischen M.-Bl. 1895, Seite 348).
Der vorstehend wiedergegebene Erlaß hat eine Ergänzung
erfahren durch den Allerhöchsten Erlaß vom 6. November 1912
und eine allgemeine Verfügung des Herrn Justizministers vom
II. November 1912.
Nach denselben sind die Oberstaatsanwälte ermächtigt, eine von
dem erkennenden Gerichte befürwortete Strafaussetzung zu bewilligen,
wenn es sich bei Verurteilten, die wegen Verbrechens oder Vergehens
noch keine Freiheitsstrafe verbüßt haben, um Freiheitsstrafen bis zu
einer Woche handelt. Zur Ablehnung einer, von dem erkennenden
Gericht und von der Strafvollstreckungsbehörde befürworteten Straf¬
aussetzung sind die Oberstaatsanwälte nicht befugt. Dagegen sind Ab-
w'eichungen von den Vorschlägen der Strafvollstreckungsbehörde über
die Dauer der Bewährung zulässig. Bei Strafen von der erwähnten
Dauer sind die Oberstaatsanwälte auch ermächtigt, eine von ihnen oder
von dem Justizminister bewilligte Strafaussetzung auf Vorschlag der
Strafvollstreckungsbehörde zu widerrufen.
Die Bestimmungen über die Handhabung der bedingten Strafaus¬
setzung erhalten damit folgende Fassung®):
B Einer Mitteilung im „Tag“ entnehme ich über die Erfolge der
bedingten Begnadigung in Württemberg folgendes: Von den Verurteilten,
welche der bedingten Begnadigung nicht teilhaftig wurden, sind 40,42®/o
rückfällig geworden. Von den bedingt Begnadigten sind 27,66—33®/„
rückfällig geworden.
®) Verschiedene andere Bundesstaaten sind in gleichem Sinne vor¬
gegangen.
®) Nur zum Teil wörtlich wiedergegeben.
i 66
Strafgesetzbuch.
§ 1. Die bedingte Strafaussetzung findet auf Freiheitsstrafen An¬
wendung, die durch richterliche Entscheidung (Urteil, Strafbefehl) an
erster Stelle oder für den ünvermögensfall erkannt sind.
Vorzugsweise kommen nicht vorbestrafte Personen in Betracht,
die zur Zeit der Tat das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten und
nicht länger als zu sechsmonatlicher Freiheitsstrafe verurteilt sind.
Altere, oder zu längerer Strafe verurteilte Personen sind zu berücksich¬
tigen, wenn besondere Milderungsgründe vorliegen.
§ 2. Die Strafaussetzung ist in der Regel nur anzuregen, wenn die
begangene Verfehlung nicht durch Verdorbenheit und verbrecherische
Neigung, sondern durch Leichtsinn, Unbesonnenheit, Unerfahrenheit, Ver¬
führung oder Not veranlaßt ist, und wenn erwartet werden kann, daß
der Verurteilte durch gute Führung während der Bewährungszeit eines
künftigen ünadenerweises sich als würdig erzeigen werde. Für die
Entscheidung dieser Frage ist neben den Umständen der Tat vor allem
das Vorleben des Verurteilten von Bedeutung. Auch der Tat nach¬
folgende Umstände können in Betracht kommen — insbesondere wenn
der Verurteilte den ernsten Willen zeigt, nach Kräften den verursachten
Schaden wieder gut zu machen. Bei Ersatzfreiheitsstrafe ist die Straf¬
aussetzung in der Regel nur anzuwenden, wenn der Verurteilte auch bei
gutem Willen zur Abtragung der Geldstrafe selbst zu Teilzahlungen nicht
imstande ist.
Auch die Verhältnisse, in denen der Verurteilte während der Be¬
währungsfrist voraussichtlich zu leben haben wird, sind in Betracht zu
ziehen, ln geeigneten Fällen ist auf besondere Vorkehrungen hinzu¬
wirken: Unterbringung in einer geeigneten Lehre. Dienststelle, Fürsorge¬
erziehung, oder sonstige Maßnahmen des Vormundschaftsgerichts.
Die Hoffnungen auf Bewährung können auch dadurch begründet
werden, daß der Verurteilte sich der Schutzaufsicht eines Fürsorge¬
vereins oder einer Fürsorgestelle usw. freiwillig unterstellt.
§ 3. Die erforderlichen Erkundigungen sind schonend einzuziehen.
Als Auskunftsstellen kommen abgesehen von den Gemeinden und Polizei¬
verwaltungen insbesondere Waisenräte, Geistliche, Lehrer, Fürsorge¬
vereine und unter Umständen auch Arbeitgeber, Lehr- und Dienstherren
in Betracht. Auf eine vertrauliche Behandlung der Anfrage ist hin¬
zuwirken.
§ 5. Mit der Aufklärung der Umstände, welche für die spätere
Strafaussetzung erheblich sind, ist schon im Vorverfahren zu beginnen.
§ 6. Bei Erlaß eines verurteilenden Erkenntnisses gegen eine
Person, die zur Zeit der Tat das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet
hatte, hat das Gericht sich darüber zu äußern, ob die Erwirkung der
bedingten Strafaussetzung in Anspruch zu nehmen ist oder nicht.
§ 7. Die Äußerung des Gerichtes wird von dem Vorsitzenden
schriftlich abgegeben und kurz begründet. Sie ist zu den Akten zu
nehmen.
Aus dem Verfahren der Strafvollstreckungsbehörde ist wichtig,
daß gemäß § 12 gegen einen Minderjährigen, der sich in Fürsorge¬
erziehung oder aus einer anderen Veranlassung in einer Besserungs-
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit. 167
oder Erziehungsanstalt befindet, die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe
nur mit Zustimmung des Vorstandes des zur Fürsorgeerziehung ver¬
pflichteten Kommunalverbandes oder der Erziehungs- oder Besserungs¬
anstalt eingeleitet werden darf. Entsprechend ist zu verfahren, wenn
der Verurteilte sich zwar noch nicht in Fürsorgeerziehung befindet, die
Unterbringung aber bereits rechtskräftig beschlossen ist oder wenn die
vorläufige Unterbringung angeordnet ist. Nach § 17 beträgt die Be¬
währungsfrist in der Regel 2, in schweren Fällen, sowie bei einem Ver¬
urteilten der sich voraussichtlich länger in Fürsorgeerziehung oder aus
anderer Veranlassung in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt be¬
findet 3 Jahre vom Schlüsse des Monats bemessen, in welchem das Ver¬
zeichnis für die Erwirkung der Strafaussetzung aufgestellt wird. Als
Endpunkt der Frist ist der letzte Tag eines Monats anzusehen.
Gemäß § 21 sind jugendliche Verurteilte unter Zuziehung ihres ge¬
setzlichen Vertreters, von der Bewilligung der Strafaussetzung und der
Dauer der Bewährungsfrist zu benachrichtigen und in geeigneter Weise
zu belehren und zu ermahnen. Insbesondere sind sie darauf hinzu¬
weisen, daß für die Frage ihrer demnächstigen Begnadigung es von Be¬
deutung sein werde, ob sie den durch ihre Straftat verursachten Schaden
während der Bewährungsfrist nach Kräften wieder gut gemacht hätten.
Während der Bewährungsfrist findet nach § 23 eine besondere amt¬
liche Überwachung des Verurteilten nicht statt. Sobald jedoch beson¬
dere Umstände bekannt werden, die nach dem Ermessen der Strafvoll¬
streckungsbehörde den Widerruf der Bewährungsfrist angezeigt er¬
scheinen lassen, so ist unverzüglich die Zurücknahme der Strafaus¬
setzung anzuregen. Bei dem in Fürsorgeerziehung Befindlichen ge¬
schieht dies im Einvernehmen mit dem Vorstande und der betreffenden
Anstalt oder dem zuständigen Kommunalverband.
Gegen Ablauf der Bewährungsfrist zieht die Strafvollstreckungs¬
behörde in schonender Weise Erkundigungen über die Führung des Ver¬
urteilten in der Zwischenzeit ein. Ergeben diese, daß der Verurteilte
sich gut geführt hat, so ist die Begnadigung zu beantragen. Zum Nach¬
weis einer guten Führung ist nicht genügend, daß über den Verurteilten
nichts Nachteiliges bekannt geworden ist, sondern ein positives zu¬
friedenstellendes Verhalten erforderlich. Insbesondere ist zu prüfen, ob
der Verurteilte, den bei Erwirkung der Strafaussetzung in diesem Erlaß
vorgesehenen Erwartungen (Leistung von Schadenersatz, Enthaltung
von geistigen Getränken usw.) entsprochen hat. Weitere Bestrafung
schließt die Annahme einer guten Führung nicht aus.
In dem Gnadenantrag ist in der Regel aut völligen Erlaß der Strafe
anzutragen.
Ist dank dem Bestellen dieser Vorschriften die Möglichkeit
gegeben, den jugendlichen Übeltäter, der vielleicht noch besse¬
rungsfähig ist, vor dem Gefängnis zu bewahren, so hat die Justiz¬
verwaltung außerdem auch noch Sorge dafür getragen, daß die
i68
Strafgesetzbuch.
jugendlichen Beschuldigten auch während des Verfahrens selbst
nach Möglichkeit geschont werden.
Möglichste Klarstellung der persönlichen Verhältnisse ist den Be¬
amten der Staatsanwaltschaft zur Pflicht gemacht. Bei der Hauptver-
handiung solien die Jugendlichen vor der Berührung mit verbreche¬
rischen Eiementen nach Möglichkeit bewahrt werden. Es finden ent¬
weder besondere Jugendgerichtstage statt, oder die Jugendsachen soilen
in den Anfang einer Sitzung geiegt werden. Nach Möglichkeit soii auch
eine bestirnte Abteilung oder ein bestimmter Richter, sich dauernd mit
Jugendsachen beschäftigen. Enge Fühlungnahme mit allen Behörden, die
ev. Auskunft erteilen können, und mit dem Vormundschaftsgericht wird
besonders empfohlen. (Vergl. allgemeine Verfügung des Preuß. Justiz¬
ministeriums vom 1. Juni 1908 und 22. September 1909.) —
Die Frage des Jugendrechtes ist gegenwärtig insofern doppelt
aktuell, als neben dem „Vorentwurf“, der eine ganze Reihe neuer Be¬
stimmungen über Jugendliche enthält, auch noch ein Jugendnotgesetz zur
Diskussion steht, weiches dem Reichstag augenblicklich vorliegt, aber in
dieser Session wohl nicht mehr zur Verabschiedung gelangen wird.
Die wesentlichsten Bestimmungen dieses Letzteren sind foigende““):
1. Jugendiich ist, wer noch nicht 18 Jahre alt ist.
2. Es können an den Amtsgerichten besondere Jugendgerichte nach
dem Ermessen der Justizverwaltung gebildet werden. Bei den kleineren
Amtsgerichten wird die Einrichtung sich meist erübrigen. Bei den Land¬
gerichten ist eine Jugendabteilung nicht vorgesehen. Bei den Schöffen
ist auf besondere Eignung zu sehen (Lehrer!).
3. öffentliche Kiage soll gegen Jugendliche nicht erhoben werden,
wenn Erziehungs- und Besserungsmaßregeln einer Bestrafung vorzu¬
ziehen sind. Dabei sind namentlich die Beschaffenheit der Tat, sowie
der Charakter und die bisherige Führung des Jugendlichen zu berück¬
sichtigen. Ergibt sich nach Erhebung einer Klage, daß Erziehungs- und
Besserungsmaßregeln einer Bestrafung vorzuziehen sind, so kann das
Gericht das Verfahren gegen Jugendliche einstellen. Der Beschluß
kann nicht angefochten werden. Außerhaib der Hauptverhandlung darf
das Verfahren nur eingestellt werden, wenn die Staatsanwaitschaft zu¬
stimmt.
4. Wird keine Kiage erhoben, oder das Verfahren eingestellt, so
ist die Sache an die Vormundschaftsbehörde abzugeben.
5. Erachtet die Vormundschaftsbehörde den Jugendlichen schuldig,
so hat sie ihn zu vermahnen oder der Zucht des gesetzlichen Vertreters
oder der Schulbehörde zu überantworten, oder sie hat auf Grund der
reichsgesetzlichen oder bundesgesetzlichen Vorschriften die Fürsorge¬
erziehung (Zwangserziehung) anzuordnen oder, wenn der Jugendliche
schon unter Fürsorgeerziehung steht, ihn der Zucht der Erziehungs-
’) S. Verh. des li. Jugendgerichstages. Leipzig 1911. B. G. Teubner.
“) S. Monatsschr. f. Kriminalpsych. 10. Jahrg., 1. Heft und Zeitschr.
f. die ges. Strafrechtswissenschaft 1912, S. 119.
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit.
169
behörde zu übergeben. Die Vormundschaftsbehörde kann zunächst den
Jugendlichen für eine bestimmte Frist unter die Aufsicht eines Für¬
sorgers stellen und sich die Auswahl unter den Maßregeln Vorbehalten.
Als Fürsorger sind Personen zu wählen, die in der Jugenderziehung be¬
sonders erfahren sind, auch Frauen können gewählt werden. Die Ent¬
scheidungen der Vormundschaftsbehörde sind der Staatsanwaltschaft
mitzuteilen. Diese kann die Rechtsmittel einlegen, die einem Beteiligten
zustehen.
6 . Bei Eröffnung der Voruntersuchung oder des Hauptverfahrens
vor der Strafkammer ist dem Jugendlichen ein Verteidiger von Amts
wegen zu stellen.
7. Für den Jugendlichen, der keinen Verteidiger hat, soll ein Bei¬
stand zur Hauptverhandlung zugezogen werden. Der Beistand hat die
Rechte eines Verteidigers.
.8. Als Beistand soll in der Regel der gesetzliche Vertreter zu¬
gezogen werden; doch kann statt dessen der Vorsitzende einen be¬
sonderen Beistand bestellen (in" erster Linie Angehörige oder geeignete
andere Personen). Er kann selbständig Rechtsmittel einlegen, wie ein
gesetzlicher Vertreter.
9. Dem gesetzlichen Vertreter sollen Ort und Zeit der Hauptverhand¬
lung rechtzeitig mitgeteilt werden, ferner der Beschluß über die Er¬
öffnung des Hauptverfahrens, Urteile, Strafbefehle, Strafbescheide usw.,
sowie Einstellungsbeschlüsse gemäß § 3. Die Vorschriften des § 149
St.P.O. bleiben unberührt, auch wenn ein besonderer Beistand bestellt ist.
10. Untersuchungshaft soll, wenn möglich, durch andere Maßregeln
(vorläufige Unterbringung in einer Erziehungsanstalt) ersetzt werden.
Der gesetzliche Vertreter, der Beistand und das Vormundschaftsgericht
sind zu benachrichtigen. Jugendliche Untersuchungsgefangene sollen mit
erwachsenen Gefangenen nur vorübergehend und nur dann untergebracht
weiden, wenn es ihr körperlicher oder geistiger Zustand erfordert.
11. Die Hauptverhandlung soll derart gelegt werden, daß eine
Berührung mit erwachsenen Angeklagten vermieden wird. Verfahren,
die sich gegen Jugendliche und Erwachsene richten, sollen tunlichst ge¬
trennt werden. Die Öffentlichkeit kann ganz oder teilweise ausgeschlossen
werden. Das Urteil wird öffentlich verkündet. War jedoch bei der Ver¬
handlung die Öffentlichkeit ausgeschlossen, dann kann das Gericht be¬
schließen, daß die Begründung des Urteils in nicht öffentlicher Sitzung
verkündet wird. Jugendlichen, die bei der Sache nicht beteiligt sind, ist
der Zutritt auch zur öffentlichen Verhandlung zu versagen. Mit Zustim¬
mung des Verteidigers oder Beistandes kann das Gericht anordnen, daß
der Angeklagte bei einzelnen Erörterungen, von denen ein nachteiliger
Einfluß auf ihn zu befürchten ist, für die Dauer der Erörterungen das
Sitzungszimmer verläßt.
12. Ein Strafbefehl darf gegen einen Jugendlichen nur wegen Über¬
tretung erlassen werden.
13. Hat der Beschuldigte das achtzehnte Lebensjahr vollendet, die
Tat aber vorher begangen, so kann die Staatsanwaltschaft von der Klage
absehen, wenn die Verschuldung und die Folgen der Tat geringfügig sind,
170
Strafgesetzbuch.
oder wenn besondere Umstände anderer Art es rechtfertigen. Unter den
gleichen Voraussetzungen kann nach Erhebung der öffentlichen Klage das
Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen.
14. Im § 75 Abs. 1 des Qerichtsverfassungsgesetzes wird die Vor¬
schrift unter Nr. 14a durch folgende Vorschrift ersetzt: „Wegen der Ver¬
brechen und Vergehen der Personen, die zur Zeit der Tat noch nicht
achtzehn Jahre alt waren.“')
15. Im § 140 Abs. 2 Nr. 1 St.P.O. werden die Worte „oder das sech¬
zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat“ gestrichen ^). § 268 St.P.O.
wird aufgehoben ^).
Wie bereits von verschiedenen Autoren (Anna Schultz *),
Kerwer“) hervorgehoben worden ist, läßt dieser Entwurf viel
vermissen, was man nach den Diskussionen der letzten Jahre in
einem Jugendgesetz hätte erwarten dürfen.
Es wäre aber wohl falsch, wollte man ihn deshalb ganz ver¬
werfen.
Ich persönlich vermisse am meisten die bedingte Verurteilung
und die besonderen Bestimmungen über den Strafvollzug der
Jugendlichen. —
Der Vorentwurf®) und Entwurf geht in vieler Beziehung
weiter. Zunächst setzt er die Grenze der Strafmündigkeit von
12 auf 14 Jahre herauf.
’) Betrifft die Überweisung von der Strafkammer an das Schöffen¬
gericht. Sie kann auf Antrag der Staatsanwaltschaft erfolgen, wenn nach
den Umständen des Falles anzunehmen ist, daß wegen des Vergehens auf
keine andere und höhere Strafe als 3 Monate Gefängnis und auf keine
höhere Buße als 600 Mk. (eventuell mit Haft oder Gefängnis verbunden)
zu erkennen sein werde.
“) Es ist dann für die Jugendlichen ein Verteidiger vor dem Land¬
gericht in erster Instanz nicht mehr notwendig.
®) Derselbe lautet: „Urteile, durch welche die Unterbringung des
Angeklagten in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt angeordnet
wird, sind auch dessen gesetzlichem Vertreter zuzustellen, sofern nicht
der letztere in der Hauptverhandlung als Beistand des Angeklagten auf¬
getreten und bei der Verkündigung des Urteils gegenwärtig gewesen ist.“
*) Monatsschr. f. Kriminalpsych., 10. Jahrg., S. 45.
“) Die Reform des materiellen und prozessualen Jugendstrafrechts,
Borna 1912. R. Noske.
®) Heimberger, Vortrag, gehalten auf dem Fürsorgeerziehungskurs
in Bonn 1911. Brauweiler. Verlag der Arbeitsanstalt. Qoering, Zeitschr.
f. d. ges. Neurol. 1911. Referatenteil (Literatur!). Oetker, Gerichtssaal,
2. Beil, zu Bd. 74. Das Recht 1911, S. 758. v. Lilienthal, Deutsche Jur.-
Zeitg., 17. Jahrg.
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit.
171
Nach den Beschlüssen der Kommission sind 14—18jährige straflos,
wenn der Täter wegen zurückgebliebener Entwickelung oder mangels
der erforderlichen geistigen oder sittlichen Reife nicht die Fähigkeit be¬
saß, das Ungesetzliche seiner Tat einzusehen oder seinen Willen dieser
Einsicht gemäß zu bestimmen.
Erfolgt Verurteilung, so erfolgt Bestrafung nach den Grundsätzen
des Versuchs.
Die neben oder an Stelle von Strafe tretenden Erziehungsmaßregeln
sind, wie im Entwurf der St.P.O., näher bezeichnet worden (Ermahnung,
Überweisung an die Familie oder Schule, Fürsorgeerziehung). Die Aus¬
führung obliegt der nach Landesgesetz zuständigen Behörde, doch soll
sie der Strafrichter auch anordnen dürfen.
Schutzaufsicht ist über Jugendliche bis zur Dauer von 2 Jahren,
jedoch nicht über das 20. Lebensjahr hinaus, vorgesehen.
Strafverschärfungen (hartes Lager, Kostschmälerung) sind gegen
Jugendliche ebensowenig wie gegen vermindert Zurechnungsfähige zu¬
lässig.
Ausgeschlossen sind gegenüber Jugendlichen ferner Arbeitshaus,
Ehrverlust, Aufenthaltsbeschränkung.
Freiheitsstrafen brauchen bei Jugendlichen nicht unbedingt voll¬
streckt zu werden (bedingte Strafaussetzung).
Bei der Strafvollstreckung ist für vollständige Trennung der Jugend¬
lichen von den Erwachsenen und der zurechnungsfähigen von den ver¬
mindert zurechnungsfähigen Jugendlichen Sorge zu tragea Letztere
sollen ihre Strafe in staatlich überwachten Erziehungs-, Heil- oder Pflege¬
anstalten verbüßen.
Ich glaube, daß diese Bestimmungen im allgemeinen aus¬
reichen werden. Zu überlegen bliebe allenfalls noch, ob nicht im
Hinblick darauf, daß die Erziehbarkeit des einzelnen sehr von
seiner individuellen Veranlagung abhängt, eine Bestimmung im
Sinne Oetkers ( 1 . c. S. 36 II) aufzunehmen wäre, nach der im Vor¬
verfahren sorgfältige Erhebungen über Vorleben und psychische
Eigentümlichkeiten des Angeschuldigten durch Befragung von
Angehörigen, Vormündern, Lehrern usw. angestellt werden
müßten').
Scharf betont w-erden muß am Schlüsse dieses Abschnittes
noch, daß der § 56 Str.G.B. etwas anderes bezw'cckt, wüe der § 51.
Zicmke -) hat ganz mit Recht darauf hingewüesen, daß diese beiden
Begriffe von ärztlicher Seite außerordentlich häufig zusammen-
D Vergl. auch den oben zit. Erlaß des preuß. Justizministeriums vom
22. Juli 1908.
“) Monatsschr. f. Kriminalpsych. 1911.
172
Strafgesetzbuch.
geworfen werden, daß es z. B. Schwachsinnige gibt, die im Sinne
des § 56 zurechnungsfähig wären, während ihre strafrechtliche
Verantwortlichkeit im Sinne des § 51 zum mindesten fraglich ist.
Da hierin eine besondere Schwierigkeit liegt, sollte das Gericht
sich die Möglichkeit sachverständiger Beratung in allen auch nur
entfernt zweifelhaften Fällen nicht entgehen lassen.
Schon wiederholt im Laufe der bisherigen Ausführungen und
auch vom Gesetzgeber selbst ist die Notwendigkeit erzieherischer
Maßnahmen gegenüber den Jugendlichen anerkannt worden. Diese
Maßnahmen können nach § 56 Str.G.B. entweder in Über¬
weisung an die Familie oder an eine Erziehungs- oder Besserungs¬
anstalt bestehen. Soweit Anstaltsunterbringung in Frage kommt,
bestimmt das Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger
vom 2. Juli 1900, welches am i. April 1901 in Kraft trat, das
Nähere.
Nach § I können Minderjährige, welche das achtzehnte
Lebensjahr noch nicht vollendet haben ^), der Fürsorgeerziehung
überwiesen werden:
1. wenn die Voraussetzungen des § 1666 oder des § 1838
BGB. vorliegen und die Fürsorgeerziehung erforderlich ist, um
die Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten;
2. wenn der Minderjährige eine strafbare Handlung begangen
hat, wegen der er in Anbetracht seines jugendlichen Alters straf¬
rechtlich nicht verfolgt werden kann und die Fürsorgeerziehung
mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, die Persön¬
lichkeit der Eltern oder sonstigen Erzieher oder die übrigen
Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahr¬
losung des Minderjährigen erforderlich ist;
3. wenn die Fürsorgeerziehung außer diesen Fällen wegen
Unzulänglichkeit der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder
sonstigen Erzieher oder der Schule, zur Verhütung des völligen
sittlichen Verderbens des Minderjährigen notwendig ist.
Wenn Gefahr im Verzüge ist, kann nach § 5 desselben Ge¬
setzes das Vormundschaftsgericht eine vorläufige Unterbringung
des Minderjährigen anordnen.
§ 9. Die Ausführung der Fürsorgeerziehung
liegt dem verpflichteten Kommunal verbände ob.
') In Sachsen das 16. Lebensjahr.
Strafunmündigkeit und relative Strafmündigkeit.
173
Über die Erfolge der Fürsorgeerziehung sind sehr viele ab¬
sprechende Urteile gefällt worden. Ich glaube mit vielen anderen,
daß bei richtiger Auswahl der Zöglinge sie unbedingt Gutes leisten
muß, und wenn im Anfang die Erfolge weniger günstig waren,
so lag das wohl zum Teil daran, daß man die Besonderheiten
dieses Menschenmaterials damals noch nicht kannte. Es hat sich
sehr bald herausgestellt, daß gerade unter den Fürsorgezöglingen
eine große Menge von teils leicht Schwachsinnigen, teils psycho¬
pathisch veranlagten Individuen sich befinden*), deren Eigenart
besonders berücksichtigt werden muß. Ein Teil ist für die strenge
Disziplin, welche in den Fürsorgeerziehungsanstalten herrschen
muß, nicht geeignet; er gehört mehr in ärztlich geleitete „Zwischen¬
anstalten“ *). Ein anderer Teil wird sogar in die Irrenanstalt aus¬
gesondert. Der noch verbleibende Rest ist innerhalb gewisser
Grenzen erziehbar.
Daß der Aufenthalt in Fürsorgeerziehungsanstalten für manche
labilen Elemente eine Vorschule zum Verbrecher bildet, soll nicht
geleugnet werden. Diese Nebenerscheinung läßt sich aber nicht
vermeiden; sie trifft für die Gefängnisse gerade so gut zu, wie
für die Fürsorgeerziehungsanstalten.
Aus § 13: Die Fürsorgeerziehung endigt mit
der Minderjährigkeit. Durch Beschluß des Kom-
munalVerbandes oder auf Antrag kann sie früher
beendet werden, wenn der Zweck der Fürsorge¬
erziehung erreicht oder die Erreichung des
Zweckes anderweit sichergestellt ist.
Aus der Rechtsprechung in Fürsorgeerziehungsangelegen¬
heiten seien die folgenden Entscheidungen angeführt:
Das Gericht hat nur die Wahl zwischen der Überweisung des
Angeklagten an seine Familie einerseits und der Anordnung seiner
Unterbringung in einer Erziehungs- oder in einer Besserungsanstalt
andererseits; ob im letzteren Falle die Unterbringung des Angeklagten
in einer Erziehungs- oder in einer Besserungsanstalt angemessen sei,
unterliegt der Entscheidung der Verwaltungsbehörde, der in dem Ur¬
teile nicht vorgegriffen werden darf. (R.O. IV, 22. 1. 09.)
Das Recht 1909, Entsch. Nr. 770.
*) P. Schroeder, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., 3. Bd., S. 705.
Gramer, Bericht über die Untersuchung der schulentlassenen Fürsorge¬
zöglinge. Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 67, S. 493 ff. Kluge, Psych.-Neurol.
Wochenschr. 1910, Nr. .53 und Fels, ibid. Nr. 26.
*) Lückerath in Pharus, Kathol.-pädagog. Monatsschr. 1912, H. 7.
1/4
Strafgesetzbuch.
Das Vormundschaftsgericht ist zur Anordnung der Fürsorge¬
erziehung gegen einen minderjährigen Reichsdeutschen auch dann be¬
fugt, wenn dieser staatsrechtlich nicht dem Bundesstaat angehört, in
dem das Vormundschaftsgericht seinen Sitz hat. Auch in diesem Falle
hat das Vormundschaftsgericht das an seinem Sitze geltende Für-
sorgeerziehungsgesetz anzuwenden. (KQ. 25. 2. 10. X, 1049/10.)
Das Recht 1911, S. 43.
Bei unehelichen Kindern ist dasjenige Amtsgericht als Vormund¬
schaftsgericht zuständig, in dessen Bezirk die uneheliche Mutter ihren
Wohnsitz und in Ermangelung eines solchen ihren Aufenthaltsort ge¬
habt hat, ohne Rücksicht darauf, ob nach der Geburt ein Vormund
bestellt ist oder nicht. (K,Q. 6. 1. 11. X, 1142/10.)
Gegen einen Minderjährigen, welcher weder unter elterlicher
Gewalt steht, noch einen gesetzlichen Vertreter in Gestalt des Vor¬
mundes hat, darf das Fürsorgeerziehungsverfahren nicht durchgeführt
werden. Der Durchführung muß die Bestellung eines Vormundes
voraufgehen. (K.G. 6. 1. 11. X, 1142/10.)
Die Fürsorgeerziehung des sächsischen Rechtes ist wie diejenige
des preußischen Rechtes die schärfste Maßnahme zur Verhütung der
Verwahrlosung eines Menschen. Die milderen Maßregeln (Schutzzucht,
kirchliche Einwirkung usw.) brauchen ihr aber nicht notwendig voraus¬
zugehen. (O.L.G. Dresden 28. 12. 09, Annalen, Bd. 31, S. 24.)
Das Recht 1910, S. 456.
Auch eine Ehefrau kann der Fürsorgeerziehung überwiesen
werden. Doch sind vorher die Verhältnisse des Mannes (Persönlich¬
keit und wirtschaftliche) zu prüfen. (K.G. 8. 2. 09.)
Die Fürsorgeerziehung eines hochgradig idiotischen Kindes ist un¬
zulässig. Wenn die Voraussetzungen des § 1666 B.G.B. vorliegen, so
kann der Minderjährige auch gegen den Willen des Vaters in einer
Idiotenanstalt untergebracht werden. Die Kosten sind vom Vater in
dem Umfange, der seiner Unterhaltungspflicht entspricht, beizutreiben.
(K.G. 18. 2. 10.) Das Recht 1910, S. 820.
Uber das Züchtigungsreclit gegenüber Zöglingen
spricht sicli eine Reichsgerichts-Entscheidung aus:
„So wird allgemein die aus dem Erziehungsrechte fließende Be¬
fugnis zur körperlichen Züchtigung innerhalb der durch den Er¬
ziehungszweck gezogenen Grenzen anerkannt. Zu den angemessenen
Zuchtmitteln, die nach § 1631 Abs. 2 B.G.B. dem Vater, nach § 1686,
1800 das. auch der Mutter und dem Vormunde zustehen, gehört des¬
halb auch die Vornahme körperlicher Züchtigung. In der Regel bleibt
dieses Recht dem Gewaltinhaber während der Dauer des Gewalt¬
verhältnisses erhalten, das Erziehungsrecht kann ihm jedoch aus Grün¬
den des leiblichen oder geistigen Wohles des Kindes, sei es nach § 1666
und 1838 B.G.B., sei es nach Maßgabe des auf Grund des Art. 135 des
Einf.-Ges. erlassenen Preuß. Gesetzes entzogen und zur Abwendung
der dem Kinde drohenden Gefahr einem anderen Organe übertragen
werden. Das erwähnte Gesetz läßt diese Folge unter den Voraus-
Die Zurechnungsfähigkeit der Taubstummen.
175
Setzungen des § 1 eintreten und überträgt im § 9 das Erziehungsrecht
zunächst demjenigen verpflichteten Kommunalverbande, der darüber zu
befinden hat, ob der vom Gesetze angestrebte Erziehungszweck im
Wege der Familien- oder Anstaltserziehung zu verwirklichen ist. Im
ersteren Falle geht die Erziehungsgewalt, soweit nicht anders fest¬
gesetzt wird, auf den Familienvorstand, im zweiten Falle auf den An¬
staltsleiter über.
Grundsätzlich kann daher dem Anstaltsleiter, soweit es sich um
Fürsorgezöglinge nach Maßgabe des Gesetzes vom 2. Juli 1900 handelt,
die Befugnis zur Vornahme körperlicher Züchtigung nicht abgesprochen
werden, und die Dauer der Schulpflicht zieht diesem Recht, das nicht
auf der Schulzucht beruht, keine Grenze.“
(Entnommen aus: Schmidt, Rechts- und Verwaltungsfragen*.)
Das Recht der Zustininuing zur Vornahme von Ope¬
rationen geht nach der allgemeinen Anschauung auf den zu¬
ständigen Kommunalverhand über.
Die Zurechnungsfähigkeit der Taubstummen.
Außer den Jugendlichen genießen auch die Taubstummen das
X'orrecht, nicht ohne weiteres als zurechnungsfähig angesehen zu
werden. Nach § 298 der St.P.Ü. ist den Geschworenen ausdrück¬
lich die Nehcnfrage im Sinne des § 58 St.G.B. vorzulegen. Dieser
lautet:
Ein Taubstummer, welcher die zur Erkennt¬
nis der Strafbarkeit einer von ihm begangenen
Handlung erforderliche Einsicht nicht besaß,
ist freizusprechen.
Die Bestimmung des Begriffes „taubstumm“ ist in den ein¬
zelnen Kommentaren eine sehr verschiedene. Gemeint hat der
Gesetzgeber alle diejenigen P'älle, in denen das Gehör und die
Sprache infolge angeborener oder früh erworbener Anomalien des
Gehirns oder der betreffenden Sinnesorgane derart wenig aus¬
gebildet ist, daß infolgedessen auch die geistige Ausbildung des
Kranken verlangsamt wird oder unvollständig bleibt').
Es gibt Taubstumme, die durch Anwendung mühevoller Lehr¬
methoden soweit gefördert werden können, daß sie einen Beruf
*) Vorträge, gehalten auf dem Fürsorgeerziehungs-Kursus 1911 in
Bonn. Bonn 1911. Brauweiler.
*) Frank sagt: Taubstumm ist, wer die Fähigkeit, artikulierte Laute
zu hören und die Fähigkeit zu sprechen entweder niemals besessen oder
im frühesten Kindesalter verloren hat.
176
Strafgesetzbuch.
auszuüben und sich auch im Leben zurechtzufinden vermögen.
Sie können sich mit ihrer Umgebung verständigen, beurteilen die¬
selbe richtig, kürz, sie erlangen einen Erfahrungsschatz, der dem
vielen Durchschnittsmenschen aus einfachen Verhältnissen nicht
nachsteht.
Neben diesen günstig liegenden Fällen, in denen es sich mehr
um eine Erschwerung der geistigen Ausbildung handelt, gibt es
nun andere Kranke, und zwar sind die letzteren häufiger, bei
denen die geistige Entwickelung mehr oder minder unvollkommen
bleibt, so daß in jedem einzelnen Falle die Frage der Zurechnungs¬
fähigkeit besonders geprüft werden muß.
Wie groß die Zahl der Taubstummen ist, mögen die folgenden
Angaben beweisen.
Nach von Mayrs umfangreichen Untersuchungen kommen
auf 10000 Menschen 8—10 Taubstumme. Das Verhältnis der
Männer zu den Frauen beträgt 10 : 7,9.
Das Leiden ist etwas häufiger angeboren als erworben
(57:48,5% nach einer norwegischen Statistik).
Das Verhältnis der Beruf treibenden zu den Beruflosen beträgt
bei Männern 43,9% Beruftreibende auf 56,1% Beruflose, bei
Frauen kommen 24% Werktätige auf 76% Beruflose.
Bedauerlich ist, daß von den im bildungsfähigen Alter stehen¬
den Personen nur ein Teil Unterricht genießt. Nach Hartmann
kommen auf 5193 in diesem Alter befindliche Taubstumme nur
3156 unterrichtete, d. h. etwa 61%.
Wie oft die Taubstummheit vom Publikum vernachlässigt
wird, ergeben die folgenden Zahlen, welche-ich einer Arbeit von
Voß entnehme“).
Lemcke fand unter 251 Fällen erworbener Taubstummheit
145, d. h. 57,5% die einem Arzte vorgestellt, 39% die gelegent¬
lich einer allgemeinen ärztlichen Konsultation auch wegen des
Ohrenleidens beraten worden waren. —
Aus allen diesen Zahlen ergibt sich i. daß die Taubstummheit
eine relativ häufige Erscheinung ist und daß 2. die geistige Aus¬
bildung der Taubstummen je nach der Eigenart des Falles und je
nach Ausnutzung der Bildungsmöglichkeiten eine sehr verschie¬
dene sein muß (vergl. auch die Einleitung des allgemeinen Teiles).
B Zit. nach Eulenburgs Realenzyklopädie. 3. Aufl. 24. Bd., S. 149 ff.
“) Voß, Die deutsche Klinik. Abschnitt: Ohrkrankheiten. Berlin.
Urban & Schwarzenberg.
Die Zurechnungsfähigkeit der Taubstummen.
177
Diesen Tatsachen hat der Gesetzgeber Rechnung getragen,
indem er die Forderung aufstellte, die Strafmündigkeit müsse dem
Taubstummen erst nachgewiesen werden.
Der letztere wird demnach als geistig gesundes Individuum
angesehen, dessen geistige Ausbildung nur durch besondere Um¬
stände hintangehalten ist.
Da nun aber häufig die Ursache der Taubstummheit in Ge¬
hirnherden zu suchen ist, so ist die Bildungsfähigkeit vieler Taub¬
stummer eine geringere als die des Durchschnittsmenschen. Dem
entspricht die Tatsache, daß ein Teil von ihnen psychische Eigen¬
schaften zeigt, wie sie bei Schwachsinnigen Vorkommen. Erwähnt
seien Jähzorn, Egoismus, Mißtrauen und Eigenwilligkeit (Aschaf¬
fenburg). Es kommt auch vor, daß Taubstumme halluzinieren.
Alle diese Umstände beweisen, daß in zweifelhaften Fällen
ein Psychiater zugezogen werden sollte, der dann, unterstützt von
einem Taubstummenlehrer, die Gesamtpersönlichkeit des Täters
ärztlich zu beurteilen hat, denn es kommt nicht selten vor, daß
auch die Voraussetzungen des § 51 St.G.B. vorliegen.
Die Aufgabe des Taubstummenlehrers besteht darin, objektiv
festzustellen, in welchem Umfange der Kranke den genossenen
Unterricht verarbeitet hat. Im übrigen ist er Vermittler zwischen
Richter, ärztlichem Sachverständigen und dem Angeschuldigten.
Was die Kriminalität der Taubstummen anlangt, so
habe ich selbst einige Diebe und Betrüger, einen rückfälligen Sitt¬
lichkeitsverbrecher, mehrere der Körperverletzung Beschuldigte,
einige Vagabunden, Bettler und niedere Prostituierte gesehen. —
Die Feststellung, ob die erforderliche Einsicht vorhanden
war, muß nach folgenden Gesichtspunkten vorgenommen werden
(Aschaffenburg):
I. Ermittelung der Ursache der Taubstummheit (Gehirn¬
herde?); 2. Vorleben; 3. Hat eine Ausbildung stattgefunden und
welchen Erfolg zeitigte dieselbe? 4. Wird ein Beruf ausgeübt,
welcher Art? mit welchem Erfolge? 5. Ist der Angeschuldigte
sonst im sozialen Leben selbständig? 6. Wie äußert er sich über
die Straftat?
Vor einseitiger Überschätzung der Schulerfolge glaube ich
in Übereinstimmung mit Gramer warnen zu müssen.
Wenn ich oben empfahl, sorgfältig zu erwägen, ob im ge¬
gebenen Falle der § 58 oder 51 St.G.B. auf einen Taubstummen
anzuwenden sei, so leitete mich dabei ein bestimmtes Motiv. Der
Hübner, Forensische Psychiatrie.
12
1/8 Strafgesetzbuch.
nach § 58 St.G.B. freigesprochene Kranke wird einfach in die
Freiheit entlassen, auch dann, wenn zu befürchten steht, daß er
bald wieder kriminell wird. Der nach § 51 St.G.B. freigesprochene
geisteskranke Taubstumme dagegen kann in einer Anstalt
untergebracht und dadurch w'cnigstens eine Zeit lang vor weiteren
Schädigungen der Gesellschaft bewahrt werden. —
In dem von der Strafrechtskommission angenommenen Ent¬
würfe sind die Taubstummen für straflos erklärt, wenn sie wegen
zurückgebliebener Entwickelung oder mangels der erforderlichen
geistigen und sittlichen Reife nicht die Fähigkeit besaßen, das
Ungesetzliche ihres Tuns einzusehen oder ihren Willen dieser Ein¬
sicht gemäß zu bestimmen.
Mittäterschaft, Anstiftung, Beihilfe.
§ 47 (Mittäterschaft):
Wenn Mehrere eine strafbare Handlung ge¬
meinschaftlich ausführen, so wird jeder als
Täter bestraft.
§ 48 (Anstiftung);
Als Anstifter wird bestraft, wer einen An¬
deren zu der von demselben begangenen straf¬
baren Handlung durch Geschenke oder Ver¬
sprechen, durch Drohung, durch Mißbrauch des
Ansehens oder der Gewalt, durch absichtliche
Herbeiführung oder Beförderung eines Irr¬
tums oder durch andere Mittel vorsätzlich be¬
stimmt hat.
§ 49 (Beihilfe):
Als Gehilfe wird bestraft, wer dem Täter
zur Begehung des Verbrechens oder Vergehens
durch Rat oder Tat wissentlich Hilfe geleistet
hat. —•
Da Beihilfe usw. auch bei strafbaren Handlungen Jugend¬
licher und Geistesgestörter geleistet werden kann, hatten die
obersten Gerichte mehrfach Gelegenheit, sich zu dieser Frage
auszusprechen. Aus der großen Zahl der Entscheidungen seien
die folgenden hier wiedergegeben;
a) Jugendliche.
Die persönliche Straflosigkeit eines jugendlichen Täters, weil er
die zur Erkenntnis der Strafbarkeit seiner Handlung erforderliche Ein-
Mittäterschaft, Anstiftung, Beihilfe.
179
sicht nicht besessen hatte, berührt die strafgesetzliche Verantwortlich¬
keit der Teilnehmer, namentlich auch des Anstifters, an der bestehen¬
den strafbaren Handlung nicht. R.Q. St., Bd. 25, S. 397 steht nicht
entgegen. (R.Q. III. 16. 3. 08.) Das Recht 1908, Nr. 1715.
Die in § 55 ausgesprochene Unverfolgbarkeit von Kindern, welche
bei Begehung einer strafbaren Handlung das zwölfte Lebensjahr noch
nicht vollendet haben, enthält nur einen persönlichen Strafausschlies-
sungsgrund, es wird aber dadurch nicht das Vorhandensein der Straf¬
tat an sich beseitigt. Im Falle des Zusammenwirkens eines Kindes
unter zwölf Jahren in den äußeren Formen strafbarer Teilnahme mit
einer strafmündigen Person ist daher die Auffassung, das Kind ledig¬
lich als Werkzeug in den Händen des Anderen zu behandeln, keines¬
wegs mit rechtlicher Notwendigkeit geboten, sondern die Annahme
strafbarer Teilnahme an der Straftat des Strafunmündigen (Mittäter¬
schaft, Anführung, Beihilfe) rechtlich denkbar. Ob das Kind als bloßes
Werkzeug in Betracht zu kommen hat oder eine Teilnahme an der
Tat des Kindes anzunehmen ist, hängt von dem Maße der individuellen
Entwickelung des Kindes ab und kann letzteres nur angenommen
werden, wenn das Kind mit dem verbrecherischen Bewußtsein handelt.
Wird das Kind nur als strafloses Werkzeug benutzt, um durch das¬
selbe einen Diebstahl mittels Einsteigen ausführen zu lassen, so kann
der Erschwerungsgrund des Einsteigens dem in diesem Falle als Allein¬
täter in Betracht kommenden Strafmündigen nicht zugerechnet werden.
R.Q. III. 15. 2. 04.) Das Recht 1904, S. 172. Entsch. Nr. 860.
Die Beihilfe im Sinne des § 49 St.Q.B. muß zur Begehung eines
Deliktes erfolgt sein, sie kann also nicht nach der Begehung geleistet
werden. Handelt cs sich jedoch um ein Dauerdelikt (z. B. Freiheits¬
beraubung) und ist dies, wenn auch juristisch vollendet, so doch nicht
völlig abgeschlossen, so ist Beihilfe dazu möglich, sofern nur durch
die Tat des Qeliilfen die Fortdauer des vom Täter geschaffenen rechts¬
widrigen Zustandes gefördert wird. (R.Q. 1. 8. 3. 06.)
Das Recht 1907,. Nr. 1391.
Ob eine Person unter 18 Jahren, der die zur Erkenntnis der Straf¬
barkeit erforderliche Einsicht fehlt, als Qehilfe oder als Werkzeug ge¬
dient hat, hängt allein davon ab, ob die regelmäßigen Voraussetzungen
der Beihilfe oder der mittleren Täterschaft gegeben sind, während
grundsätzlich sowohl das eine wie das andere möglich ist. (R.Q. 111.
10. 12. 08.) Psych. Wochenschr. 13, 1.
Die Annahme, daß der Qegenstand von dem 11 Jahre alten Sohn
des Angeklagten durch eine strafbare Handlung, nämlich durch Dieb¬
stahl, erlangt war, unterliegt keinem rechtlichen Bedenken. Die Un¬
verfolgbarkeit des Strafunmündigen bildet einen persönlichen Straf-
ausschliessungsgrund. Damit ist die Anahme vereinbar, daß er eine
im Sinne des Qesetzes strafbare Handlung wohl begehen kann. Das
trifft nur dann nicht zu, wenn er nach dem Stande seiner natürlichen
Entwickelung einen Willen überhaupt nicht hat oder gewisse Tat¬
umstände, die an sich als Tatbcstandsmerkmale in Betracht zu kommen
hätten, gänzlich außerhalb seines Vors^ellungsbereichs liegen, so daß
12 *
i8o
Strafgesetzbuch.
er mit Bezug auf die Verwirklichung des äußeren Tatbestandes einer
strafbaren Handlung höchstens als Werkzeug eines Anderen erscheinen
würde. (R.Q. 16. 12. 10. 849/10.)
Das Recht 1911, Nr. 424 und Jahrb. f. Strafr. 6, 77.
b) Unzurechnungsfähige.
§ 49 St.Q.B. setzt als begrifflich für die Beihilfe voraus, daß dem
Täter zur Begehung des Verbrechens oder Vergehens durch Rat oder
Tat wissentlich Hilfe geleistet, daß also ein Verbrechen oder Vergehen
vom Haupttäter begangen oder mindestens versucht worden ist. Der
hieraus folgende akzessorische Charakter der Beihilfe erfordert nun
allerdings für die Bestrafung des Gehilfen nicht die Verurteilung des
Haupttäters, es steht vielmehr das Vorhandensein von Gründen, welche
die persönliche Straflosigkeit des letzteren zur Folge haben, der Ver¬
urteilung des Gehilfen nicht entgegen. In keinem Falle kann aber
eine Verurteilung des Gehilfen eintreten, wenn gegen den Haupttäter
entweder der objektive oder subjektive Tatbestand der in Betracht
kommenden strafbaren Handlung nicht dargetan oder bezüglich des¬
selben Schuldausschliessungsgründe, wie die in §§ 51—54 St.G.B. er¬
wähnten, als vorliegend erachtet sind. (R.G. IV. 10. 3. 05.)
Jur. Wochenschr. 1905, S. 547.
Mittäterschaft mit einem Unzurechnungsfähigen ist allerdings aus¬
geschlossen, möglich aber die Annahme einer mittelbaren Täterschaft
des Zurechnungsfähigen, auch wenn ihm der Geisteszustand des andern
nicht bekannt gewesen ist. Wesentlich ist nur, ob der Angeklagte
mit dem Willen handelte, durch das Tun des andern zugleich seine
eigene Tat zu vollenden, und diesen Willen kann er auch gehabt haben,
wenn er den andern für zurechnungsfähig hielt. Die Verantwortlich¬
keit für eine Tat, die er von vornherein als seine eigene wollte und
die in seiner Anwesenheit sowie mit seinem Will^ zur Ausführung
gebracht wurde, kann der Angeklagte unmöglich bloß aus dem Grunde
ablehnen, weil ihm die Zurechnungsfähigkeit der zur Ausführung be¬
nutzten Person nicht bekannt gewesen sei. Wenn der Angeklagte den
Vorsatz des Mittäters hatte, so reicht dieser auch zur Annahme der
Alleintäterschaft aus. (R.G. III. 5. 11. 08.) Das Recht 1908, Nr. 3914.
Hierher gehören weiter die die Begünstigung (§ 257
Str.G.B.), die Hehlerei (§ 258) und den Einbruchsdiebstahl
(§ 243, 3) betreffenden folgenden Entscheidungen:
Begünstigung i. S. des § 257 Str.G.B. liegt nie vor, wenn
der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung geisteskrank oder be¬
wußtlos i. S. des § 51 Str.G.B. war. (16. 2. 04.) Jur. Wochenschr.
1904, S. 303; ebenso Das Recht 1910, Nr. 1859 und Jahrb. 6, 87.
Hehlerei: Der Angeklagte hat einen Becher, den ein Zoll¬
aufseher im Zustande der Geisteskrankheit und Unzurechnungsfähig¬
keit widerrechtlich aus einem Eilgutpaket entnahm und ihm gab, in
Kenntnis der unredlichen Herkunft angenommen und nach Hause ge¬
tragen. Wenn er hiernach wegen Hehlerei nicht bestraft werden
Notwehr. — Antragsmündigkeit. i8i
konnte, weil es an einer strafbaren Handlung als Vordelikt mangelt,
so war doch zu prüfen, ob er sich durch seine Handlung nicht des
Diebstahls oder der Unterschlagung schuldig gemacht habe. (R.Q.
18. 7. 09.) Psych. Wochenschr. 13, 3.
Einbruch sd^ebstahl; Das Tatbestandsmerkmal des Ein¬
steigens verlangt begrifflich, daß der Täter in eigener Person sich in
das Gebäude oder den umschlossenen Raum begibt, entfällt dagegen,
wenn das Entfernen der gestohlenen Sache aus dem umschlossenen
Raum nur mittels Werkzeug erfolgt. Als bloße Werkzeuge sind aber
auch Personen zu betrachten, welche nicht im Verhältnis eines Teil¬
nehmers stehen, z. B. Geisteskranke, die der Täter zum Einsteigen
und Wegnehmen der Sache veranlaßt hat. (R.G. I. 27. 10. 06.)
Das Recht 1906, Nr. 3380.
Notwehr.
§ 53. EinestrafbareHandlungistnichtvor-
handen, wenn die Handlung durch Notwehr ge¬
boten war.
Notwehr ist diejenige Verteidigung, welche
erforderlich ist, um einen gegenwärtigen,
rechtswidrigen Angriff von sich oder einem
anderen abzuwenden.
Die Überschreitung der Notwehr ist nicht
strafbar, wenn der Täter in Bestürzung, Furcht
oder Schrecken über die Grenzen der Vertei¬
digung hinausgegangen ist.
Da namentlich „Nervöse“ leicht in Bestürzung geraten, wenn
sie angegriffen werden und auch eher die Notwehr überschreiten
als ein Gesunder, ist die folgende Entscheidung bedeutungsvoll:
Ist der Angeklagte ein nervenkranker Mensch, der sich zu seiner
Verteidigung auf nervöses Herzklopfen berufen hat, so muß, auch wenn
der Verteidiger nicht die Straflosigkeit des Exzesses geltend macht,
das Gericht ausdrücklich zu der Frage Stellung nehmen, ob die Voraus¬
setzung des § 53 Abs. 3 St.G.B. gegeben ist oder nicht. (R.G. V. 8.10.07.)
Jahrb. 1909. S. 17.
Antragsmündigkeit.
Anhangsweise sei hier noch § 65 St.G.B. erwähnt. Derselbe
lautet:
Der Verletzte, welcher das achtzehnte Le¬
bensjahr vollendet hat, ist selbständig zu dem
Anträge auf Bestrafung berechtigt. Solange
er minderjährig ist, hat, unabhängig von seiner
i 82
Strafgesetzbuch.
eigenen Befugnis auch sein gesetzlicher Ver¬
treter das Recht, den Antrag zu stellen.
Ist der Verletzte geschäftsunfähig oder hat
er das achtzehnte Lebensjahr noch nicht voll¬
endet, so ist sein gesetzlicher Vertreter‘) der
zur Stellung des Antrags Berechtigte.
Der gesetzliche Vertreter eines noch nicht achtzehn Jahre alten
Minderjährigen hat nur das Recht, als gesetzlicher Vertreter des Ver¬
letzten, nicht in seinem eigenen Namen Strafantrag zu stellen. (Bayr.
O.L.Q. 8. 10. 03.) Jahrb. f. Strafr. 1908, S. 19^).
Der an Stelle des Vormundes, welcher sich weigert, Strafantrag
für sein Mündel zu stellen, zur Stellung des Strafantrages ad hoc be¬
stellte Pfleger, ist zur Stellung des Strafantrages legitimiert, wenn
auch die Befugnisse des Vormundes im übrigen in keiner Weise be¬
rührt werden. (R.Q. 7. 2. 07.) Jahrb. f. Strafr. 1908, S. 26“).
Daß für Geisteskranke die gleichen Grundsätze gelten, geht
aus folgender Entscheidung hervor (RG. 17. ii. ii; Das Recht
1911, Nr. 333; Psych. Wochenschr. IQ13, S. 4).
Der Mutter des Angeklagten, die von diesem bestohlen worden
war, konnte, auch wenn sie geisteskrank und entmündigungsreif war,
ein Pfleger bestellt werden, wenn das Vormundschaftsgericht einen
solchen zur Stellung des Strafantrages für erforderlich, die Ent¬
mündigung aber und die Bestellung eines Vormundes für nicht an¬
gezeigt erachtete. Ob das Vormundschaftsgericht mit Recht die tat¬
sächlichen Voraussetzungen für dieses Verfahren als vorliegend an¬
genommen hat, ist für die Wirksamkeit des Strafantrages des einmal
bestellten Pflegers ohne Belang und kann vom Strafrichter nicht nach¬
geprüft werden.
Antragsfrist.
§ 61. Eine Handlung, deren Verfolgung nur
auf Antrag eintritt, ist nicht zu verfolgen, wenn
der zum Anträge Berechtigte es unterläßt, den
Antrag binnen drei Monaten zu stellen. Diese
Frist beginnt mit dem Tage, seit welchem der
zum Anträge Berechtigte von der Handlung und
von der Person des Täters Kenntnis gehabt hat.
.Auf Geistesgestörte, die Strafanträge zu stellen haben, be¬
ziehen sich die folgenden beiden Entscheidungen:
“) Psych. Wochenschr. 1909, S. 3.
“) Vergl. Einf.Q. zum B.Q.B. Art. 34, 111 u. R.Q. in Strafs. v. 18. 1. 01.
Entsch. in Strafsach. Bd. 34, S. 98.
Unzucht unter Verletzung eines Autoritätsverhältnisses. 183
Geistesschwache Personen bleiben, solange sie nicht entmündigt
oder unter vorläufige Vormundschaft gestellt sind, geschäftsfähig, auch
wenn sie gemäß § 1910 B.Q.B. unter Pflegschaft gestellt werden. Hier¬
nach ist eine geistesschwache Person sowohl selbst wie ihr Pfleger
zur Stellung eines Strafantrages binnen der dreimonatlichen Frist be¬
rechtigt, der Pfleger aber nicht als gesetzlicher Vertreter einer ge¬
schäftsunfähigen Person gemäß § 65 Abs. 2 St.Q.B., sondern als gesetz¬
licher Vertreter einer geschäftsfähigen Person für diese und deren
Recht. Daraus folgt, daß die im § 61 St.Q.B. bestimmte Frist in der
Person des Pflegers nicht von dessen im Laufe der Frist erfolgten
Bestellung an von neuem zu laufen beginnt, sondern nur weiter laufen
kann. (R.Q. IV. 18. 3. 10.) Das Recht, Bd. 14, Nr. 1461.
Gegenüber einer geschäftsunfähigen Person läuft überhaupt keine
Antragfrist. Wird ihr zur Antragstellung ein Pfleger bestellt, so hat
also zur Zeit der Bestellung jene Frist noch nicht zu laufen begonnen.
Die Frist beginnt vielmehr erst mit der Bestellung des Pflegers, auch
wenn seit Begehung der Tat mehr als 3 Monate bis zu dieser Bestel¬
lung verflossen sind. (R.Q. 31 5. 10.)
Bayr. Z. 6 , 315; Jahrb. 1910, S. 18.
Verbrechen an Geisteskranken.
Die in diesem Kapitel zu behandelnden Gesetzesparagraplien
haben das eine gemeinsam, daß der Geisteskranke Gegen¬
stand eines Verbrechens ist. In der Mehrzahl der Fälle
handelt es sich um geschlechtliche Vergehen.
Unzucht unter Verletzung eines Autoritätsverhältnisses.
§ 174, 3. „M i t Z u c h t h a u s b i s z u 5 J a h r e n w e r -
den bestraft:
Beamte, Ärzte oder andere Medizinalper¬
sonen, welche in Gefängnissen oder in öffent¬
lichen, zur Pflege von Kranken, Armen oder an¬
deren Hilflosen bestimmten Anstalten beschäf¬
tigt oder angestellt sind, wenn sie mit den in
das Gefängnis oder in die Anstalt aufgenom¬
menen Personen unzüchtige Handlungen vor¬
nehmen.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so
tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Mona¬
te n e i n.“
Wenn dieser Paragraph hier überhaupt Erwähnung findet,
so geschieht das aus zwei Gründen, einmal weil gegenwärtig die
Bestrafung von Angestellten von Privat heilanstalten nicht
184
Verbrechen an Geisteskranken.
möglich ist, zweitens gibt es eine Reichsgerichtsentscheidung vom
24. August 1898 (Entsch. Bd. 31,8. 246), wonach ein provinzial¬
ständischer Irrenwärter nicht ohne weiteres als „Medizinalperson“
im Sinne des Paragraphen anzusehen ist.
Der Vorentwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch hat dieser
Lücke im geltenden Gesetz bereits gedacht. § 247,2 des V.-Entw.
enthält eine entsprechende Erweiterung der Strafbestimmungen,
die auch von der Kommission übernommen worden ist.
Schändung.
§ 176. ,,Mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren wird
bestraft, wer
2. eine in einem willenlosen oder bewußt¬
losen Zustande befindliche oder eine geistes-
krankeFrauenspersonzum außerehelichen Bei¬
schlaf mißbraucht.
. . . . Sind mildernde Umstände vorhanden,
so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs
Monaten ein.“
Durch den eben zitierten Paragraphen hat der Gesetzgeber
die Absicht zum Ausdruck gebracht, solche Frauenspersonen, die
sich in einem geistig abnormen Zustande befinden, vor ge¬
schlechtlichen Angriffen zu schützen. Der Schutz soll sich er¬
strecken auf willenlose, bewußtlose und geisteskranke Frauen.
Wir werden deshalb zunächst zu erörtern haben, was diese drei
Begriffe besagen.
Willenlos') ist nach Frank eine Frauensperson, die
„zwar bei Bewußtsein und geistig gesund, aber doch nicht im¬
stande ist, einen Willen zu haben (z. B. wegen gänzlicher Er¬
schöpfung) oder zu äußern“ (wegen Lähmung der Zunge oder
der Glieder).
Der Ausdruck bewußtlos soll nicht besagen, daß das Be¬
wußtsein völlig aufgehoben war; gemeint ist vielmehr, daß die
Geschändete, während das Verbrechen an ihr vorgenommen wurde,
infolge Trübung des Bewußtseins nicht in der Lage war, gültig
zuzustimmen oder den Angriff auf ihre Geschlechtsehre abzu¬
wehren. Außer den Dämmerzuständen, Delirien und Infektions-
') Becker, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 53. Ferner Aschaffenburg
in Hoches Handbuch und Gramer im Lehrbuch.
Schändung.
Psychosen gehört hierher m. E. auch die sinnlose Betrunkenheit,
d. h. derjenige Grad von Alkoholvergiftung, in dem der Gebrauch
der Glieder fast aufgehoben und das Individuum zu psychischen
Reaktionen auf äußere Reize nicht mehr zu bewegen ist, kurz
gesagt, das Lähmungsstadium des schwersten Rausches. Daß
diese Zustände gelegentlich ausgenutzt werden, beweist folgen¬
der Fall:
XY., ca. 30jährige schwere Alkoholistin, hatte abends größere
Mengen Schnaps getrunken. Sie kam auf dem Heimwege bis zu
einem Park, in dessen Anlagen sie am Wege niederfiel und einschlief.
Kurze Zeit darauf passierten jene Stelle fünf angetrunkene Arbeiter, die
das Mädchen liegen sahen. Sie rüttelten sie und als sie merkten, daß
sie betrunken war, schleppten sie sie in ein Qebüsch, mißbrauchten sie
dort und fügten ihr danach noch eine Körperverletzung zu, indem sie ihr
Zweige, Zigarrenstummel und ähnliches in die Geschlechtsteile steckten.
So ließen sie sie liegen nud so wurde das Mädchen auch aufgefunden.
Durch die letzterwähnten Manipulationen hatte sie einen nennenswerten
Schaden nicht erlitten, es waren nur einige Hautabschürfungen an den
betreffenden Stellen nachzuweisen
Zu einer gerichtlichen Aburteilung ist der Fall nicht gekommen,
er ist mir zufällig bekannt geworden. Ich zweifle aber keinen Augen¬
blick, daß die Voraussetzungen des § 176, 2 gegeben waren, ebenso
wie die des § 223 a.
Ausdrücklich zu betonen ist im Hinblick auf den eben
erwähnten Fall, daß man nur dann von einer willenlosen und be¬
wußtlosen Person im Sinne des obigen Paragraphen wird sprechen
dürfen, wenn die Alkoholvergiftung so weitgehende Konsequen¬
zen nach sich gezogen hat wie hier. Ein einfacher Rausch ist
m. E. nicht unter den § 176, 2 zu rechnen.
Von sonstigen unter den Begriff Bewußtlosigkeit fallenden
Zuständen sind zu erwähnen, erstens die Narkose, zw^eitens die
Hypnose.
Die meisten kriminellen Handlungen, welche innerhalb oder
am Ende der Narkose vorgenommen werden, pflegen bei sol¬
chen Narkosen begangen zu werden, die zum Zwecke von Zahn¬
extraktionen und zu inneren Untersuchungen erforderlich sind.
Die erstere Form überwiegt dabei. Was die Hypnose an¬
langt, so ist dem in den früheren Abschnitten Gesagten noch
hinzuzufügen, daß es zur Vollziehung des Beischlafes in der
Hypnose nicht etwa der tiefsten Form derselben bedarf. Das
Wesentliche scheint auch da die Beeinflussung des Willens zu
sein, so daß auch schon das zweite Stadium genügt.
i86
Verbrechen an Geisteskranken,
Bemerkenswert ist übrigens, daß bei denjenigen Fällen, die
gerichtsbekannt geworden sind (Fall Czynski und Mainone), es
sich um geistig minderwertige Individuen handelte. Das eine
Mal bestand eine Hysterie, das andere Mal Schwachsinn. Ich
möchte dieser Tatsache besonderes Gewicht beilegen. Im übrigen
ergibt sich aus der äußerst spärlichen Kasuistik, daß derartige
Delikte nicht sehr häufig zu sein scheinen, wenn auch zuzugeben
ist, daß nicht alles, was nach dieser Richtung hin passiert, vor
den Strafrichter kommt. —
Die geistig Minderwertigen sind es auch in den meisten
Fällen, welche nach Narkosen und Hypnosen mit sexuellen
Anschuldigungen hervortreten. Es wird dabei für den
Juristen wertvoll sein, zu erfahren, daß diese Anschuldigungen
keineswegs wissentlich falsch zu sein brauchen, sondern
durchaus in gutem Glauben vorgebracht werden können, und zwar
mit allen Einzelheiten, ohne daß auch nur ein Wort daran wahr ist.
Zum Beweise seien die beiden folgenden Fälle kurz angeführt.
1. ln meiner Behandlung befand sich vor einigen Jahren eine etwa
25 Jahre alte Hysterische, die außerordentlich schlechte Zähne hatte. Da
sie viel über Zahnschmerzen zu klagen hatte, wurde beschlossen, ihr durch
einen Zahnarzt mehrere Wurzeln ziehen zu lassen. Zu diesem Zwecke
begab sie sich mit einer Pflegerin und einem Volontärarzt in die Wohnung
des Zahnarztes und wurde dort chloroformiert. Es erfolgte dann die
Zahnextraktion. Die Patientin wurde nach derselben auf eine Chaise¬
longue gelegt und blieb dort in dem Operationszimmer allein etwa eine
halbe Stunde liegen. Die begleitende Pflegerin wartete in einem nebenan
gelegenen Zimmer. Die Assistentin des Zahnarztes hatte das Opera¬
tionszimmer nicht betreten. Man konnte ferner feststellen, daß auch
sonst niemand dort eingelassen worden war. Der Zahnarzt selbst hatte
die Wohnung mit dem Volontärarzt gemeinsam verlassen und mit ihm
einen längeren Weg gemacht, so daß er innerhalb der in Betracht kom¬
menden Zeit sein Haus nicht mehr zu erreichen vermochte. Am Nach¬
mittage desselben Tages meldete sich die Patientin bei mir und schil¬
derte mir in detaillierter Weise eine Szene, die sich nach dem Fort¬
gange des Volontärarztes abgespielt haben sollte, und zwar folgender¬
maßen ;
Sie habe im Halbschlummer nach der Narkose auf dem Sopha ge¬
legen, da sei der Zahnarzt nochmals erschienen, habe ihre Geschlechts¬
teile entblößt, dieselben berührt und sich längere Zeit besehen, dann
habe er sie wieder zugedeckt. Nach kurzer Zeit sei er wiederum er¬
schienen, habe ihr ein Tuch über das Gesicht gedeckt, dann ihre Ge¬
schlechtsteile von neuem entblößt, sich auf sie gelegt und mit ihr den
Beischlaf vollzogen. Sie habe dabei bemerkt, daß sie unten auch naß
geworden sei.
Schändung.
187
Da es sich um eine schwere Hysterika handelte, erschien mir die
ganze Erzählung von vornherein nicht glaubwürdig. Wir stellten aber
trotzdem Erhebungen an, die bezüglich des Zahnarztes das bereits oben
erwähnte Resuftat hatten. Die Patientin ist dann auch noch von einem
Gynäkologen untersucht worden, der keine frischen Verletzungen fest¬
stellen konnte, so daß an der ganzen Erzählung nichts Wahres sein konnte.
Daß es sich um eine böswillige Erfindung einer Hysterischen
handelt, glaube ich in dem vorliegenden Fall nicht, denn die
Patientin ist vorher bei vielen Ärzten gewesen, ohne gegen irgend¬
einen von ihnen auch nur ähnliche Beschuldigungen erhoben zu
haben. Ich bin vielmehr geneigt, mit anderen Forschern, denen
ähnliche Fälle begegnet sind, anzunehmen, daß irgendwelche
lokale Sensationen am Ende der Narkose von der Patientin im
Sinne ihrer Erzählung gedeutet worden waren').
2. Einer 28iährigen, verheirateten Hysterischen, die sehr erotisch
ist, wird eines Tages in Gegenwart einer Schwester leiser Schlaf sugge¬
riert. Sie kommt dadurch in einen Halbschlaf und wird in demselben
mehrere Minuten gelassen. Währenddessen verlassen Arzt und Schwester
das Zimmer, das abseits von der Abteilung gelegen ist und um diese Zeit
von niemand betreten wird. Nach einigen Minuten erscheinen beide, um
die Patientin wieder aufzuwecken. Nachdem dies geschehen, entfernt
sich die Schwester. Die Patientin wendet sich nun an den Arzt mit der
Frage, ob, während sie in der Hypnose gelegen, jemand das Zimmer be¬
treten habe. Da dies verneint wird, was die Patientin ohne weiteres
glaubt, berichtet sie folgendes; Sie habe nicht fest geschlafen, vielmehr
nur in einer Art Halbschlummer dagelegen. Da habe sie die Empfindung
gehabt, als ob jemand im Zimmer gewesen sei (sie hatte nicht gehört,
daß er das Zimmer erst betrat!), dort ein- oder zweimal auf- und abging
und sich ihr langsam näherte. Sie habe deutlich fühlen können, wie er
näher und näher kam. Die Berührung seines Körpers habe sie nicht ge¬
spürt, sondern nur das entsprechende Gefühl an den Geschlechtsteilen
empfunden. Nachdem ihr aber versichert worden sei, daß niemand das
Zimmer betreten konnte, glaube sie selber geträumt zu haben. Ihr Traum
sei jedenfalls von einer außerordentlichen sinnlichen Lebhaftigkeit ge¬
wesen.
Ausdrücklich hinzugefügt sei noch, daß, soweit nachträglich
durch Befragen festgestellt werden konnte, die Patientin während
der ganzen Hypnose ungefähr in gleicher Stellung gelegen haben
mußte. Jedenfalls hatte sie die gleiche Lage wie bei Beginn der
Hypnose noch zu jener Zeit, als Arzt und Schwester das Zimmer
wieder betraten. In dieser Haltung aber war die Durchführung
eines Geschlechtsaktes nicht möglich.
*) Im gewöhnlichen Halbschlaf und Traum haben Hysterische und
Degenerierte ähnliche Erlebnisse.
i88
Verbrechen an Geisteskranken.
Beide Beispiele lehren, daß bei diesen Einengungen des Be¬
wußtseins vielfach Vorstellungen die Oberhand gewinnen können,
die auch sonst im Denken des Individuums eine hervorragende
Stelle einnehmen. Sie beweisen weiter, wie vorsichtig der Richter
gegenüber den Aussagen derartiger geistig Minderwertiger sein
muß, sobald es sich um Sexualdelikte handelt. Auch dann, wenn
die Klägerin sehr viele Details vorbringt, kann das Ganze unwahr
sein, ohne daß sie sich selbst dessen bewußt zu sein braucht. —
Gewisse Schwierigkeiten bietet die Definition des Begriffes
„geisteskrank“. Nach verschiedenen juristischen Autoren deckt
sich der Begriff ungefähr mit dem des § 51 (z. B. Frank).
Becker bezeichnet als geisteskrank denjenigen, bei dem der
Zustand krankhafter die freie Willensbestimmung völlig aus¬
schließender Störung der Geistestätigkeit durch wirkliche Geistes¬
krankheit hervorgerufen worden ist. Eine Reichsgerichtsent¬
scheidung vom 30. November 1881 legt auf die intellektuelle
Seite insofern besonderes Gewicht, als sie betont, daß in
dem vorliegenden Falle die Frauensperson infolge ihrer Geistes¬
krankheit nicht in der Lage war, zwischen einer dem Sittengesetz
entsprechenden und einer demselben widerstreitenden Befriedi¬
gung des Geschlechtstriebes zu unterscheiden (es handelte sich
in diesem Falle um eine Schwachsinnige) ^). Ich selbst möchte
in Anlehnung an Aschaffenburg als Geisteskrankheit im Sinne
des § 176 jeden Zustand erheblicher geistiger Abweichun¬
gen (d. h. also auch die Schwachsinnszustände) ansehen, der im
gegebenen Moment bewirkt, daß die Patientin einen geschlecht¬
lichen Angriff nicht abwehrt. Wert lege ich besonders darauf,
daß die geistige Erkrankung einen gewissen höheren Grad er¬
reicht haben muß-), denn es ist selbstverständlich, daß wir die
meisten geistig Minderwertigen nicht unter den § 176 zu rechnen
haben werden, ebensowenig wie wir sie ohne weiteres als unzu¬
rechnungsfähig i. S. des §51 ansehen. Wenn man in dieser Be-
*) Vergl. auch Mittermaier, Vergl. Darstellung.
“) Daß ich mich mit dieser Auffassung in Übereinstimmung mit der
Ansicht des R.O. befinde, geht indirekt auch aus einer Entscheidung
hervor, auf die ich hier verweisen möchte (Jur. Wochenschr. 1907, S. 473).
Aus derselben ergibt sich, daß eine wegen Geistesschwäche entmün¬
digte Frau geschlechtlich „zügellos“ handeln und sich des Ehebruchs
„schuldig" machen konnte.
Schändung. i8g
Ziehung zu weit geht, erhöht man die Straffälligkeit gemäß
§ 176, 2 ins Ungemessene und öffnet dem jetzt schon üppig
wuchernden Erpressertum Tor und Tür.
Die praktisch wichtigsten Krankheitsformen, welche dabei in
Betracht kommen, sind erstens der hochgradige Schwachsinn und
zweitens die hypomanische Erregung. Gramer fügt außerdem die
leicht schwachsinnigen Degenerierten mit starker moralischer
Depravation hinzu. Von den letzteren glaube ich, daß nur ein
geringer Teil unter den § 176 fällt, daß dagegen nicht wenige
von ihnen derartige Szenen, wie sie hier in Betracht kommen, ab¬
sichtlich entrieren, um später Erpressungen daran zu schließen. —
Eher in Frage kommen meiner Ansicht nach gewisse De¬
generierte und leicht schwachsinnige Mädchen, bei denen zu dem
moralischen Defekt auch ein krankhaft gesteigerter Geschlechts¬
trieb hinzutritt. Immerhin kann man aber auch bei diesen
sehr zweifelhaft sein. Im allgemeinen urteilt das Gericht in
zweifelhaften Fällen auch zugunsten des Angeschuldigten und
zwar, wie ich glaube, mit Recht, denn einmal ist die Erkennung
abnormer Geisteszustände für Laien schon an sich mit Schwierig¬
keiten verbunden. Diese Schwierigkeit wird noch erhöht, wenn
man bedenkt, in welcher Situation der betreffende Mann den ab¬
normen Geisteszustand erkennen soll. Daß nur die schwer
Geisteskranken gemeint sein können, geht indirekt auch noch
aus anderen Umständen hervor.
So befinden sich z. B. unter den Prostituierten nach den
oben mehrfach zitierten Untersuchungen eine ganze Reihe
schwachsinniger, hysterischer und mehr oder minder degene¬
rierter Individuen, bei deren Frequentierung ihren Besuchern,
selbst wenn dieselben juristisch und medizinisch vorgebildet sind,
keinen Augenblick der Gedanke auftauchen würde, daß sie sich
durch das Zusammensein mit derartigen Mädchen strafbar im
Sinne des § 176 machen würden. Es entspricht also auch den
Volksanschauungen, wenn nur solche Fälle zur Abstrafung
kommen, in denen es sich um gröbere geistige Störungen handelt.
In denjenigen Fällen, in denen das nun zutrifft, wird vielfach
der Einwand erhoben, daß der Betreffende den Zustand nicht
erkannt habe und nicht erkennen konnte. Es kommt deshalb
') Hübner, Monatsschr. f. Kriminalpsych., Bd. 3. Bonhoefier, Zeitschr.
i. Strafrechtswiss. Müller, Bericht d. Natiirforschervers. in Köln 1908.
IQO Verbrechen an Geisteskranken.
vor, daß der Sachverständige über die Möglichkeit des
Erkennens befragt wird.
Ich persönlich würde auch in solchen Fällen zu weitgehend¬
ster Milde neigen, denn die Anschauungen darüber, was als
geisteskrank anzusehen ist, sind im Publikum ganz andere, als
in ärztlichen Kreisen. Es kommt ferner, wie ich schon oben aiis-
geführt habe, hinzu, daß die ganze Situation nicht geeignet ist,
psychische Störungen festzustellen. In keinem Falle aber möchte
ich der Annahme von Olshausen zustimmen, daß schon ein Wissen
von dem abnormen Geisteszustand, das den Täter an die Möglich¬
keit einer Erkrankung wohl denken läßt, genügt, ihn straffällig
zu machen. Es muß vielmehr bei der „Mißbrauchten“ der vom
Gesetz geforderte Zustand nachgewiesen werden. Ist das nicht
der Fall, so trifft m. E. der § 59 des St.G.B. mit Recht zu.
In der bereits zitierten Reichsgerichtsentscheidung vom
17. November i88i ist auch der Begriff des Mißbrauchs einer
geisteskranken Person etwas genauer präzisiert. Es ist dort be¬
sonders darauf hingewiesen, daß ein äußerlich als Einwilligung
erscheinendes Verhalten der geisteskranken Frauensperson nicht
als freie Einwilligung, sondern als Ausfluß des geisteskranken
Zustandes zu betrachten ist. In den Lehrbüchern des Strafrechts
wird deshalb auch die Möglichkeit angeführt, daß ein ,,Mi߬
brauch“ dann fehlt, wenn die Frauensperson in willensfähigem
Zustande die Einwilligung für einen später zu vollziehenden
Beischlaf gegeben hat. Insbesondere wird dabei auf den Bei¬
schlaf mit der sinnlos betrunkenen Zuhälterin exemplifiziert.
Ich habe nun zwei Fälle beobachtet, in denen die Verhältnisse
nicht so klar liegen und die ich deshalb kurz mitteilen möchte.
Im Prinzip sind sie beide gleichartig.
Es handelte sich um Frauenspersonen, die längere Zeit mit einem
Mann in geschlechtlichem Verkehr gestanden hatten, dann eine plötz¬
lich ausbrechetide Paralyse bekamen, deswegen in die Irrenanstalt auf¬
genommen wurden, verhältnismäßig rasch verblödeten, dann aber so
ruhig waren, daß eine weitere Behandlung in der Anstalt nicht mehr
erforderlich erschien. Die eine hatte gar keine Verwandten, die andere
hatte eine Mutter, die aber auch von dem Geliebten der Tochter unter¬
halten wurde. Beide Male waren es die Geliebten, welche die Ent¬
lassung der Kranken aus der Anstalt verlangten, da Anstaltpflegebedürftig¬
keit nicht mehr vorlag. Es wurde beiden gesagt, daß die Patientinnen
schwer geisteskrank seien und trotzdem haben die beiden Männer mit
den Mädchen weiter geschlechtlich verkehrt.
Schändung.
.^91
Fraglich ist, mit Rücksicht auf die oben zitierte Ausnahme,
ob in unseren Fällen ein Mißbrauch im Sinne des Gesetzes v'or-
gelegen hat^). Meiner persönlichen Ansicht nach ist der Tat¬
bestand des § 176 erfüllt, wenngleich ich nicht verkennen möchte,
daß in einer Bestrafung dieser beiden Männer eine große Härte
liegen würde. Beide haben gewußt, daß die Mädchen bei
der Entlassung noch in einem solchen Grade geisteskrank waren,
daß ihre Zustimmung zu dem Geschlechtsverkehr keine rechtliche
Gültigkeit beanspruchen konnte. Daß letzteres tatsächlich der
Fall war, ist bei der Art und dem Stadium der Erkrankung fast
selbstverständlich. Es handelte sich um Gehirnerweichung. —
Interessant ist auch der folgende Fall, über dessen Ausgang
ich leider nicht unterrichtet bin.
In meiner Behandlung befand sich vor einigen Jahren ein IQiähriges
Mädchen, das an Katatonie litt. Die Eltern desselben, Qastwirtsleute,
hegten die in vielen Gegenden Deutschlands verbreitete Ansicht, daß
durch geschlechtlichen Verkehr die Krankheit ihrer Tochter behoben wer¬
den könnte. In diesem Sinne sprach sich die Mutter eines Tages zu einem
in ihrer Wirtschaft verkehrenden Gaste, den sie gut kannte, aus, und
legte diesem, ohne ihn direkt dazu aufzufordern, doch sehr nahe, mit
ihrer Tochter geschlechtlich zu verkehren. Der Gast tat dieses mit dem
unerwünschten Erfolge, daß das Mädchen schwanger wurde. In diesem
Zustand kam sie in meine Behandlung.
Bei Gelegenheit der Alimentenklage kam die ganze Sache vor Ge¬
richt. über ihren Ausgang vermag ich nichts zu sagen.
Wie ein erfahrener Rechtsgelehrter, dem ich den Fall vor¬
trug, meinte, sei die Sache juristisch insofern schwierig, als
der Täter nach den Mitteilungen der Mutter unter Umständen in
gutem Glauben handeln konnte, daß er den Angehörigen und dem
Mädchen einen Gefallen mit seiner Handlung tat, indem er ihren
Zustand besserte.
Daß im übrigen aber der Tatbestand des § 176 vorliegt,
steht außer Zweifel. Das Mädchen war geisteskrank, und zwar
in einem Grade, der zweifellos auch für jeden Laien erkennbar
war. Abgesehen davon, hatte die Mutter ja auch dem Manne ge¬
nügend Aufklärung über diesen Punkt gegeben. Daß es zum
wirklichen Beischlaf gekommen war, geht aus der Tatsache der
späteren Schwangerschaft hervor. —
Anhangsweise ist noch die Möglichkeit zu erwähnen, daß eine
Bctäu bung des Opfers zum Zwecke der Erreichung des Bei-
’) Einige Staatsanwälte, die ich befragte, verneinten den Mißbrauch.
192
Verbrechen an Geisteskranken.
Schlafs stattfindet. Die Ausführung geschieht für gewöhnlich in
der Weise, daß entweder dem Mädchen in ein Getränk (Bier, Wein)
narkotische Mittel hineingetan werden oder auch die Narkose
direkt zum Zwecke der Beseitigung etwa vorhandenen Wider¬
standes eingeleitet wird^). Auf diese Fälle findet der § 177
Anwendung, dessen Wortlaut folgender ist:
„Mit Zuchthaus wird bestraft, wer durch
Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger
Gefahr für Leib oder Leben eine Frauensper¬
son zur Duldung des außerehelichen Bei¬
schlafs nötigt, oder wer eine Frauensperson
zum außerehelichen Beischlafe mißbraucht,
nachdem er sie zu diesem Zwecke in einen
willenlosen oder bewußtlosen Zustand ver¬
setzt hat.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so
tritt Gefängnisstrafe nicht unter einem Jahre
e i n.“
Hat die Narkose oder die Vergiftung den Tod des Opfers
zur Folge, was gelegentlich wohl denkbar wäre, so würde der
§ 178 anzuwenden sein.
Ist durch eine der in den §§ 176 und 177 be-
zeichneten Handlungen der Tod der verletzten
Person verursacht worden, so tritt Zuchthaus¬
strafe nicht unter 10 Jahren oder lebensläng¬
liche Zuchthausstrafe ein.
Als geeignete Mittel zur Hervorrufung einer Betäubung
kommen in erster Linie die Schlafmittel, z. B. das Chloral, Vero-
nal, Veronalnatrium, Trional usw., ferner Opium und Morphium,
ev. auch das Chloroform in Betracht.
Die bekannteste Methode, die sexuelle Willfährigkeit eines
Mädchens zu erhöhen, ist die der Zuführung von Alkohol.
Aschaffenburg betont in dieser Beziehung ganz mit Recht, daß,
abgesehen von den Fällen, die ich oben schon erwähnte, d. h. wenn
eine sinnlos betrunkene Frauensperson mißbraucht wird. Vor¬
sicht bei der Annahme eines Zustandes von Willenlosigkeit usw.
am Platze ist. Meiner persönlichen Überzeugung nach fällt die
Handlung eines Mannes, der absichtlich ein Mädchen sinnlos be-
) Letzteres kommt wohl kaum jemals vor.
Verfall in Lähmung, Siechtum, Geisteskrankheit usw. 193
trunken macht und die zur Abwehr Unfähige dann mißbraucht,
unter Umständen unter den § 177, andererseits ist nicht zu
leugnen, daß das erwachsene Mädchen aus dem Volke sich über
die Wirkung des Alkohols klar ist. Sie weiß deshalb auch in den
meisten Fällen, aus welchem Grunde sie zu reichlichem Alkohol¬
genuß animiert wird und kann ihr Verhalten dementsprechend
einrichten.
Daß die oben empfohlene Vorsicht nicht unangebracht ist,
hat die Erfahrung oft gelehrt. So sind mir z. B. Fälle bekannt,
wo Mädchen sich erst an Trinkgelagen beteiligten und sich dann
hingaben, in der Hoffnung, geheiratet zu werden. Wurden sie
in diesem Punkte enttäuscht, so behaupteten sie später plötzlich,
sie seien betrunken gemacht und dann mißbraucht worden.
Verfall in Lähmung, Siechtum, Geisteskrankheit infolge von
Körperverletzung ‘).
Die in diesem Kapitel zu besprechenden Krankheitszustände
sind für gewöhnlich die F'olgen von Roheitsdelikten. In ganz
seltenen Fällen kann auch wohl einmal ein medizinischer Eingriff
sie auslösen. So sah ich z. B. im Anschluß an eine nach dem
l.'rteil mehrerer Sachverständiger als fahrlässige Körperver¬
letzung anzusehende unsachgemäße zahnärztliche Behandlung
eine schwere Hysterie entstehen. In einem anderen Fall sah ich
durch Fahrlässigkeit eines Kindermädchens, das das ihr anver¬
traute Kind vom Schoß auf eine vor ihr stehende Fußbank fallen
ließ, eine direkte Schädel- und Gehirnverletzung mit sensorischer
Aphasie entstehen. Ferner können schon im Kindesalter durch
Züchtigungen des Lehrers hysterische oder epileptische Symptome
•ausgelöst werden. Einen besonders schweren Fall dieser Art, der,
wie ich glauben möchte, unter den Begriff, des Siechtums gehört
und auf meine Veranlassung in einer Anstalt untergebracht
worden ist, haben wir hier in Bonn beobachtet“). Schließlich
habe ich auch noch einen Fall gesehen, in dem auf einen 15jäh¬
rigen Jungen ein homosexueller Angriff derartig wirkte, daß der
Patient hysterische Schlafzustände bekam, zu denen sich auch
“) Aschaffenburg im Handbuch. Gramer, forens. Psych. Skrzeczka,
Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., N. F., Bd. 17, S. 249.
“) Hübner, Unfall und Neurosen im Kindesalter. Reichsmedizinal¬
anzeiger 1909.
Hübnerf Forensische Psychiatrie. J3
194
Verbrechen an Geisteskranken.
sehr bald andere Zeichen der Hysterie gesellten, so daß der
Kranke monatelang völlig erwerbsunfähig war. —
Der Gesetzgeber versteht unter Körperverletzung ent¬
weder die Mißhandlung oder die Beschädigung der Gesundheit
eines Menschen. Erforderlich ist bei der Mißhandlung die
Einwirkung auf den Körper. Erregung von geistigem oder see¬
lischem Unbehagen gelten nicht als Mißhandlung^), wohl aber
als Gesundheitsbeschädigung-). Dies lehrt die folgende Ent¬
scheidung:
Im vorliegenden Falle hat durch das Ausreißen der Haare und
das Anstreifen der Revolverkugel eine Einwirkung auf den Körper
des Mädchens stattgefunden, die durch plötzliche heftige Reizung der
Empfindungsnerven sie in Schreck versetzt und ihr körperliches Mi߬
behagen erzeugt hat. Es hat aber nicht bloß eine davon unabhängige
Erschütterung des seelischen Zustandes, bedingt durch die nachträg¬
liche Vorstellung der durch den Schuß hervorgerufenen Gefahr, Vor¬
gelegen.
Damit ist aber das lätbestandsmerkmal der körperlichen Mi߬
handlung erfüllt. (R.G. IV, Str.S. 2. 5 . 1902.)
Goldtammers Archiv, Jahrg. 49, S. 268.
Daß zu den Gesundheitsschädigungen auch die fahrlässige
Ansteckung mit Syphilis gerechnet wird, ist nicht mehr als be¬
rechtigt. (O.L.G. Dresden 8. i. 87; Rudeck, Med. und Recht.
Jena 1899.)
Was die gesetzlichen Bestimmungen anlangt, die Gegenstand
unserer Erörterungen sein sollen, so handelt es sich um folgende:
§ 22 .[. ,,Hat die Körperverletzung zur Folge,
daß der Verletzte . . . in Siechtum, Lähmung
oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf
Zuchthaus nicht unter fünf Jahren oder Gefäng¬
nis nicht unter einem Jahr zu erkennen.“'
§ 225. ,, W a r eine der v o r b e z e i c h n e t e n Fol¬
gen beabsichtigt und ein getreten, so ist auf
Zuchthaus von 2 bis zu 10 Jahren zu erkennen.“
§ 226. „Ist durch die Körperverletzung der
Tod des Verletzten verursacht worden, so ist
auf Zuchthaus nicht unter 3 Jahren und Ge¬
fängnis nicht unter 3 Jahren zu erkennen.“
') R.G.E. 29, 58 und 32. 113. Nach der ersten Entscheidung ist Ab¬
schneiden des Bartes u. U. keine Körperverletzung.
Olshausen; anderer Meinung ist Frank.
Verfall in Lähmung, Siechtum, Geisteskrankheit usw.
195
Wir haben zunächst zu erörtern, was unter Siechtum, Läh¬
mung und Geisteskrankheit zu verstehen ist.
Der Begriff des „Verfallens in Siechtum“ erfordert „einen
chronischen Krankheitszustand, welcher den gesamten Organis¬
mus des Verletzten ergreifend, eine erhebliche Beeinträchtigung
des Allgemeinbefindens, ein Schwinden der Körperkräfte, Hin¬
fälligkeit zur Folge hat; welcher nicht unlieilbar zu sein braucht,
dessen Heilung aber überhaupt oder der Zeit nach sich nicht
bestimmen läßt“. (R.G. Entsch. Bd. 12, S. 127.)
Die vorstehende Definition stützt sich auf gutachtliche
Äußerungen der preußischen wissenschaftlichen Deputation für
das Medizinalwesen und des sächsischen Landesmedizinalkolle¬
giums.
Von den Autoren, welche sich später mit der gleichen Frage
beschäftigt haben, seien insbesondere IMendel') und E. Schnitze *)
erwähnt, welche beide noch eine andere, in obiger Entscheidung
nicht berührte, aber praktisch sehr wichtige Eigenschaft des
Siechtums hervorheben, nämlich den Einfluß desselben auf die
Erwerbsfähigkeit ^).
Der Sieche im engeren Sinne pflegt wenig oder gar nichts
Nutzbringendes arbeiten zu können.
Diese praktische Konsequenz des Siechtums ist insofern
nicht ohne Bedeutung, als damit zum Ausdruck gebracht ist,
daß man nicht jede verhältnismäßig geringfügige, aber „dauernd“
verbleibende Gesundheitsschädigung als Siechtum ansehen darf,
sondern daß neben den anderen oben erwähnten Merkmalen auch
eine gewisse Schwere der Erkrankung V’oraussetzung ist.
Praktiscli wichtig ist dieses Aloment deshalb, weil die An¬
erkennung der Hysterie als eines Leidens, das ein Siechtum im
Sinne des Gesetzes unter Umständen darstellen kann, es not¬
wendig macht, auch graduell irgendwie festzulegen, daß nicht
jede leicht traumatische Hysterie, die nach einer Körperver¬
letzung entsteht, auch als Siechtum im Sinne des Gesetzes an¬
gesehen werden kann.
Mendel, Ärztl. Sachverständigen-Zeitung 1898.
E. Schnitze, Ärztl. Sachverständigen-Zeitung 1898, ferner V\ ickel,
Friedreichs Bl. f. ger. Med. 1900 und A. Leppmann, Ärztl. Sachverstän¬
digen-Zeitung 1900, S. 298.
Auf die übrigens schon von der wissenschaftlichen Dogmatik
hingewieseii war. Vergl. Olshausen, Kommentar.
13
Verbrechen an Geisteskranken,
196
Dieser Standpunkt ist in einer neueren Entscheidung an¬
erkannt :
Die Krankheit muh eine solche sein, daß sie den ganzen
Menschen schwer benachteiligt, und daß die Erwerbsfähigkeit
des Erkrankten oder doch dessen allgemeine Leistungsfähigkeit
hierdurch in erheblicher Weise beeinflußt ist. (R.G. I, 14. 4. 1910.)
Das Recht 14, 1866 und Jahrb. 1910, S. 74.
Mendel war es auch, der auf einen anderen Punkt hinwies,
indem er betonte, daß das Verfallen in Geisteskrankheit den Be¬
griff „Siechtum“ nicht ohne weiteres in sich schließe, mit
anderen Worten, daß nach Körperverletzungen auch ganz kurz¬
dauernde geistige Störungen entstehen könnten.
Nach den juristischen Kommentaren (s. z. B. Olshausen)
fallen solche nicht unter den § 224, ebensowenig Bewußtlosig¬
keitszustände, Ohnmächten, momentane Betäubungen usw. Frank,
V. Liszt u. a. führen besonders aus, daß in dem Begriffe des
X’erfallcns einmal liege, daß der Zustand längere Zeit hindurch
anhalten, sodann, daß er den ganzen Organismus ergreifen müsse.
Auch der Ausdruck ..Lähmung“ ist vom Reichsgericht ge¬
nauer definiert worden*). Angeführt sei die folgende Ent¬
scheidung *):
Der Begriff des Verfallens in Lähmung erfordert die Un¬
fähigkeit, einen bestimmten Bewegungsapparat des Körpers zu den¬
jenigen Bewegungen zu gebrauchen, für welche er von der Natur
eingerichtet ist. Diese Unfähigkeit braucht aber gar keine totale
zu sein, es muß nur eine wesentliche, erhebliche Beeinflussung der
Bewegungsfähigkeit vorliegen. Die Krankheitserscheinung muß ferner
eine dauernde sein, es ist aber nicht erforderlich, daß die Krankheit
unheilbar und die Möglichkeit der Besserung ausgeschlossen ist. Es
genügt ein langandauernder Krankheitszustand, dessen Beseitigung
sich entweder überhaupt oder doch der Zeit nach nicht bestimmen
läßt. (R.M.G. 1. 21. 12. 06.) Jahrb. 1908, S. 93.
Nicht jede Lähmung eines einzelnen Körperteils erfüllt den
Tatbestand des § 224, notwendig ist vielmehr, daß dadurch,
*) E. 21, 223, s. ferner E. 6, 65, s. auch E. 6, 346, Das Recht Bd. 15,
9.35 zit. nach Daude, 12. Aufl.
-) Wichtig ist auch folgendes Urteil;
Wenn ein Mißhandelter bei dem Bestreben, sich aus den Händen
des Täters zu befreien, um weiteren Mißhandlungen zu entgehen,
stürzt und durch den Sturz in Lähmung und Siechtum verfällt, so
ist der zur Anwendung des § 224 Str.G.B. erforderliche ursächliche Zu¬
sammenhang zwischen der vorsätzlichen Mißhandlung und dem Siech¬
tum und der Lähmung nachgewiesen. (R.G. 1, Urteil vom 12. 7. 1905.)
Das Recht 1905, S. 535, Entsch. Nr. 2233.
Verfall in Lähmung, Siechtum, Geisteskrankheit usw.
197
wenigstens mittelbar, der ganze Mensch betroffen wird (v. Liszt,
Daude, Olshausen, Binding, RG. Entsch. 21, 223, E. 6, 4 und
6, 364). Meist erachtet man die Lähmung eines wichtigen
Gliedes für ausreichend (Arm, Bein). Dies geht aus folgender
Entscheidung hervor;
Darin, daß der Verletzte infolge eines Schenkelbruchs der
linken Hüfte dauernd derartig in seiner Bewegungsfähigket be¬
schränkt ist, daß er sich nur mühsam mit Hilfe zweier Krücken
wenige Schritte zu bewegen vermag, konnte ohne Rechtsirrtum an¬
genommen werden, daß er in Lähmung verfallen ist. Denn durch
die Qebrauchsunfähigkeit des verletzten Gliedes hat seine Be¬
wegungsfähigkeit eine wesentliche, sehr erhebliche Beeinträchtigung
erlitten. R.G. v. 21. 1. 11. 1156/10. Das Recht 1911, Nr. 935.
Unter Geisteskrankheit wird man jede geistige
Störung verstehen dürfen, die entweder unheilbar ist oder nur
.spät zur Genesung führt.
Das RG. spricht sich folgendermaßen aus:
Der Begriff des „in Geisteskrankheit verfallen“ im Sinne des
§ 224 St.G.B. setzt lediglich voraus, daß innerhalb eines längeren
Zeitraums nach der Tat die Ungewißheit bestanden hat, ob und wann
Heilung möglich sei, wird daher nicht dadurch ausgeschieden, daß
zur Zeit der Aburteilung bereits Heilung erfolgt ist, wohl aber da¬
durch, daß von vornherein feststand, daß die Störung des Geistes nur
vorübergehend sein werde. (U. d. R.G. v. 16. 9. 10. E. 44, 59.) Siehe
auch E. 12. 127 und Rechtsprech, des R.G. 10, 32.
In diesem letzten Punkte, der längere Zeit bestehenden Un¬
gewißheit der Heilung, liegt insofern eine große Schwierigkeit,
als erfahrungsgemäß die Prognose geistiger Störungen eine
außerordentlich unsichere ist. Man kann es bei Erkrankungen,
die als heilbar gelten, z. B. der Manie und Melancholie, erleben,
daß sich der einzelne Anfall über viele Jahre erstreckt, oder
daß ein Anfall dem anderen so schnell folgt, daß luzide Inter¬
valle (Zeiten geistiger Gesundheit) nur von ganz kurzer Dauer
sind. Wird eine derartige Erkrankung durch eine Körperver¬
letzung ausgelöst, so fällt sie zweifellos auch unter den Begriff
„Geisteskrankheit“ im Sinne des § 224.
Es kommt weiter hinzu, daß bei manchen Fällen, die für
gewöhnlich als unheilbar angesehen werden, wenigstens eine
Heilung im sozialen Sinne erzielt werden kann’). Doch ver-
’) Über die Schwierigkeiten der Prognose s. auch; Becker, Spe¬
zielle Prognose der Geisteskrankheiten. Halle a. S. 1913. Thomsen,
Praktische Prognose der Geisteskrankheiten. Medizin. Klinik 1909.
198
Verbrechen an Geisteskranken.
mag man nicht vorauszusagen, wann diese eintritt und ob es
überhaupt geschieht, daher ist die Prognosenstellung im Einzel¬
falle z. Z. der Gerichtsverhandlung außerordentlich schwierig.
Auch dieser Umstand wird dem Sachverständigen größtmög¬
lichste Reserve bei seinen ärztlichen Äußerungen vor Gericht
auferlegen. Erleichtert wird ihm sein Amt insofern etwas, als
es weniger auf die Unheilbarkeit ankommt, als darauf, daß das
Eeiden längere Zeit bestehen wird, und das läßt sich auch
eher angeben.
Daß kurzdauernde Psjehosen unter den § 224 nicht fallen,
ist oben schon ausgeführt.
Eine zweite Schwierigkeit, der weder das Gericht noch der
Sachverständige ausweichen kann, liegt darin, daß zum Zu¬
standekommen einer geistigen Erkrankung nicht eine einzige Ur¬
sache, sondern eine Reihe von Entstehungsbedingungen not¬
wendig ist. Die ev. Körperverletztung kann also in den meisten
Fällen nur eine der vielen Ursachen sein, welche den bestimmten
Zustand herbeigeführt haben.
Als Ursache im Sinne des Gesetzes gilt nun jeder Zustand
und jedes Ereignis, der, oder das nicht hinweggedacht werden
kann, ohne daß gleichzeitig der Erfolg entfiele =) (Frank).
Juristisch wird eine Kausalität des positiven Tuns und eine
solche der Unterlassung unterschieden. Eine menschliche Hand¬
lung wird als Ursache angesehen, sobald sie zu dem Eintritte
eines bestimmten Ereignisses auch nur das geringste beigetragen
hat. Eine Einschränkung erfährt dieser Satz nach zwei Rich¬
tungen. Verursachung im Sinne des Strafgesetzbuches liegt
dann nicht vor, wenn der Enderfolg einer Handlung durch
psychische Verarbeitung derselben seitens eines zweiten Indivi¬
duums, gleichgültig, ob es sich um einen Mitschuldigen oder das
Opfer selbst handelt, zustande kommt. So liegt z. B., wenn
M Ob die Geisteskrankheit unheilbar ist oder noch zur Zeit der
Verurteilung besteht, ist gleichgültig. Entscheidend ist, daß der Krank¬
heitszustand längere Zeit hindurch bestanden hat und seine Heilung
sich überhaupt nicht oder doch der Zeit nach nicht hat bestimmen lassen.
(R.G.E. IV. 16. 9. 10.) Jahrb. 1911, S. 61.
') Ähnlich Oppenhoff und R.O.E.. Bd. 5, S. 29: Mitwirkung von
Zwischenursachen hebt den Kausalzusammenhang nur auf, wenn fest¬
steht, daß durch letztere der Erfolg selbständig, auch ohne jene Tat
herbeigeführt worden wäre, der Erfolg also in keiner Weise durch die
Tat, sondern ausschließlich durch andere Umstände verursacht sei.
Verfall in Lähmung. Siechtum, Geisteskrankheit usw.
199
eine genotzüchtigle Frauensperson aus Verzweiflung über die
Schande sich das Leben nimmt, kein Anwendungsfall des
§ 178 vor.
Bei den durch den Erfolg cjualifizierten Delikten gilt der
schwerere Erfolg nur dann als durch die körperliche Tätigkeit
verursacht, wenn die Entwicklung der Kausalität dem Wesen
des Grunddeliktes (adäquate Verursachung) entspricht.
Beispiel; X. schlägt den Y. mit einem Stock über den Kopf. Y. be¬
kommt infolgedessen eine Gehirnblutung, an der er stirbt. X. hat zwar
eine Züchtigung des Y. beabsichtigt, nicht aber seine Tötung. Trotzdem
wird ihm der schwerere Erfolg zugerechnet werden müssen.
Zweites Beispiel: Ein Mann infiziert vorsätzlich oder fahrlässig
eTn Mädchen mit Syphilis. Die Angesteckte erkrankt nach einiger Zeit
an einer Gehirnsyphilis, die zum Tode führt.
Erwägt man. daß von 100 Syphilitischen im ganzen etwa 10—15 an
Qehirnsyphilis, Rückenmarkschwindsucht und Gehirnerweichung zu-
s.'immen erkranken, so wird man sagen müssen, daß es sich um einen
ganz ausnahmsweisen Erfolg der Körperverletzung handelt, wenn etwas
derartiges eintrifft. Man wird deshalb diese schlimmeren Folgen dem
ursprünglichen Täter wohl nicht anrechnen dürfen.
Aschaffenburg hat meiner Ansicht nach recht, wenn er
betont, daß alle zufälligen oder durch sonstige hinzukommende
Einflüsse entstehenden Konsequenzen einer Körperverletzung
dem Täter nicht strafverschärfend zugerechnet werden könnten.
Diesen Standpunkt möchte ich besonders gegenüber den Körper¬
verletzungen mit Todeserfolg empfehlen.
Bei Unterlassungen begründet nur eine rechtswidrige
Unteilassung die strafrechtliche Verantwortlichkeit.
Beispiel: In einer offenen, für Geisteskranke nicht konzessionier¬
ten Kuranstalt hält der Besitzer eine selbstmordsüchtige Melancholische,
die nach den allgemeinen medizinischen Anschauungen unter allen Um¬
ständen in eine geschlossene Anstalt gehört, und überläßt ihr sogar noch
eine große Flasche mit Morphiumlösung. Im Raptus melanchollcus er-
gieift die Frau die Flasche und trinkt den größten Teil des Inhaltes.
Anstatt sofort eine Magenspülung vorzunehmen, veranlaßt der Besitzer
die Überführung in ein Krankenhaus, wo bald der Tod erfolgt. Die
Unterlassung liegt darin, daß einmal nicht für genügende Bewachung
gesorgt und außerdem das Morphium nicht vorschriftsmäßig verwahrt
worden war. Für beides war der Besitzer durch Übernahme der Be¬
handlung vermöge seines Berufes verantwortlich.
Vom medizinischen Standpunkte aus ist nun diese U^rsachen-
lehre noch zu ergänzen.
Zunächst muß besonders betont werden, daß die Schwere
der Körperverletzung keinen Maßstab für die Schwere der
200
Verbrechen an Geisteskranken.
Folgen abgibt. Eine minimale Veranlassung kann die heftig¬
sten Krankheitserscheinungen nach sich ziehen. Es kommt bei
allen Fällen nicht allein darauf an, welche Gewalt eingewirkt
hat, sondern mindestens ebensosehr darauf, wen die Körperver¬
letzung traf. Ein disponierter Mensch reagiert schwerer als
ein ganz gesunder. So ist es auch zu erklären, daß viele Körper¬
verletzungen ohne nennenswerte Folgen verlaufen, und nur in
verhältnismäßig seltenen Fällen nervöse und psychische Störun¬
gen dadurch ausgelöst werden.
Für den Verfall in Siechtum ist es ferner öfters von Be¬
deutung, unter welchen äußeren Bedingungen der Verletzte nach
dem Eintritt der Erkrankung lebt. Gerade bei den Unfall-
neurosen, wie sie nach Körperv'erletzungen nicht selten auftreten,
kann die Umgebung eine unheilvolle Rolle spielen. Ich verweise
in dieser Beziehung auf den oben beschriebenen Fall, in dem ein
Schreiner in der Gemeinderatssitzung eine Ohrfeige erhielt.
Das Geschehnis rief im ganzen Dorf große Erregung hervor. Die
Anhänger des Geschlagenen besprachen das Ereignis mit ihm viel
und diskutierten besonders auch die möglichen Folgen. Die Kon¬
sequenz alles dessen war, daß sich eine schwere Unfallhysterie
entwickelte, welche mehrmonatige klinische Behandlung erforder¬
lich machte und noch heute, d. h. 4 Jahre nach dem Geschehnis,
eine teilweise Erwerbsunfähigkeit bedingt^).
So wenig diese Momente bei der Beurteilung von Ent¬
schädigungsansprüchen auszuschalten sind, so sehr
müssen sie aber vom Strafrichter berücksichtigt werden.
Eine Deutung derartiger Fälle im Sinne des § 224 ist deshalb
wohl nur selten gerechtfertigt (vergl. Schnitze 1 . c.).
Der medizinische Nachweis des ursächlichen Zu¬
sammenhangs einer Geistesstörung mit einer Körperverletzung
wird für gewöhnlich dadurch erbracht, daß ein enger zeitlicher
Zusammenhang dargetan und geprüft wird, ob der vorhandene
Symptomenkornplex nach Körperverletzungen beobachtet wird.
Besonders zu erwägen ist aber jedesmal, welche weiteren Ur¬
sachen ev. noch in Frage kommen (Alkohol, Syphilis usw.).
Ferner ist die Schwere der Störung zu besprechen, ihr Einfluß
') Bei angeblichen Mißhandlungen von Kindern durch den Lehrer
spielt ungünstige Beeinflussung durch übermäßig besorgte Eltern oft eine
unheilvolle Rolle. — über das Züchtigungsrecht der Lehrer s. E. 5. 131.
Verfall in Lähmung, Siechtum, Geisteskrankheit usw.
201
auf die Erwerbsfähigkeit (vergl. oben bei Siechtum) und die
voraussichtliche Dauer der Erkrankung. —
Zu den häufigsten Unfallfolgen, welche nach Körperver¬
letzungen beobachtet werden, gehört die Epilepsie und Hysterie.
Gerade bei diesen beiden Krankheiten ist aber die Gruppierung
der Symptome eine so verschiedenartige, daß bei günstiger Kon¬
stellation der Nachteil für den Verletzten kein nennenswerter zu
sein braucht, während das Hinzutreten schlimmerer Krankheits¬
erscheinungen ein Siechtum im Sinne des Gesetzes bedingen kann.
Der juristische Nachweis des ursächlichen Zusammen¬
hanges zwischen einer Körperverletzung und einer nervösen Er¬
krankung ist aus den nachfolgenden Entscheidungen herzuleiten:
Der Verletzte braucht nur zu beweisen, daß der Unfall nicht
als alleinige, wohl aber als mitwirkende Ursache des Schadens zu
gelten hat. Er braucht nicht zu beweisen, daß ohne diese mit¬
wirkende Ursache der Schaden nicht eingetreten sein würde.
(Urteii vom 7. 1. f)9; ausfiihrl. s. Jur. Wochenschr. 1909, S. 136.)
Wenn mehrere Ursachen, die jede für sich allein oder auch im
Zusammenhänge den Unfali verursachten, mitwirkten und man nicht
feststellen kann, welche einzelne Ursache im Einzelfall für den Unfall
kausal geworden ist, so entspricht es der Sachlage, einen Zusammen¬
hang aller anzunehmen. (E.R.G. 211/08 v. 26. 4. 09.)
Ausführlicher s. Jur. Wochenschr. 1909, S. 361.
Würde der mit einer krankhaften Anlage behaftete Verletzte
ohne die Verletzung nicht krank geworden sein, so muß die Verletzung
als die alleinige Ursache des Krankheitszustandes gelten, und es geht
nicht an, die Folgen als zum Teil durch die krankhafte Anlage ver¬
ursacht anzusehen, auch wenn die Verletzung ohne diese Anlage einen
schädlichen Erfolg nicht gehabt hätte. (R.G. VI. 29. 5. 11.)
Das Recht 1911, Entsch. Nr. 3423.
Angefügt seien hier noch einige Entscheidungen, welche die
ärztliche Tätigkeit betreffen, sich z. T. auch auf Kurpfuscher,
Hypnotiseure usw. beziehen und zeigen, wann sich der Heil¬
kundige strafbar macht.
Jeder, der die Heilkunde gewerbsmäßig betreibt, ist verpflichtet,
sich die zu deren Ausübung erforderlichen Fähigkeiten anzueignen.
Versäumt er dies und übernimmt er trotzdem die Behandlung einer
Krankheit, die er nach dem Stande seiner Kenntnisse und seiner Aus¬
bildung entweder nicht richtig zu erkennen oder nicht richtig zu be¬
handeln versteht, so kann er im einzelnen Falle schon dadurch fahr¬
lässig handeln, daß er trotz seiner mangelnden Ausbildung die Be¬
handlung übernimmt, ohne sorgfältig zu prüfen, wie weit er nach
seinen individuelien Fähigkeiten sachgemäße Hilfe leisten kann. (R.G.
202
Verbrechen an Geisteskranken.
III. 15. 10. 06; Das Recht 1906, S. 1328, Entsch. Nr. 3248; ebenso R.Q. III.
14. 3. 11; Das Recht 1911, Entsch. Nr. 1743.)
Das Merkmal des Beriiies besteht darin, daß der Ausübende eine
Tätigkeit, welche eine besondere Sachkenntnis oder Aufmerksamkeit
erfordert, als eine dauernde, über eine einmalige oder vereinzelte
Leistung hitiausgehende derart sich vorgesetzt hat, daß sie sein
Schaffen und Wirken, wenn auch nicht vollständig und allein, so doch
in einem erheblichen Maße ausfüllt und W'enn auch nicht den einzigen
so doch immerhin einen Lebenszweck für ihn bildet. R.Q.E. 21. 11. 04.
Jur. Wochenschr. 1905, S. 243.
Das Moment der Vorhersehbarkeit des rechtsverletzcnden Er¬
folges darf bei den Fahrlässigkeitsvergehen nicht nach dem Maßstabe
gemessen werden, welche Einsicht jemand besitzen müßte, sondern
nur danach, welche Fähigkeiten und Kenntnisse der Handelnde in
Wirklichkeit besitzt. (R.Q. iV. 10. 10. 05.)
Das Recht 1905, S. 597, Entsch. Nr. 2512.
Eine für das Strafrecht in Betracht kommende Fahrlässigkeit
kann auch dann vorliegen, w'cnn die vom Täter aus den Augen ge¬
setzte Pflicht zur Aufmerksamkeit durch das bürgerliche Recht, sei
es durch eine dem Reichs- oder Landesrechte angehörende Vorschrift
desselben, oder durch Vertrag begründet worden ist. (R.Q. II. 26.1.05.)
Das Recht 190.5, S. 112, Entsch. Nr. 529.
Von einem schuldhaften Verhalten kann nicht die Rede sein,
wenn der Handelnde infolge des seelischen Zustandes, in dem er sich
befand, sein Tun für richtig hielt und er ohne sein Verschulden in den
seelischen Zustand, der ihn verhindert, ruhig zu überlegen, geraten
war. (R.Q. IV. 6. 11. 06.) Das Recht 1906, S. 1444, Entsch. Nr. 34.59.
Der körperliche und geistige Zustand der Frau S. ist dadurch
verschlimmert worden, daß sie ungeheure Mengen der zur Hälfte aus
Opiumtinktur bestehenden Arznei eingenommen hat. Sie hat diese
Arznei durch den angeklagten Apotheker erhalten. Der Wille der
Frau S., ihre Gesundheit zu beschädigen, ist verneint, weil sie sich
der bösen Folgen des Opiumgenusses nicht mehr bewußt war. Sie
hat also durch den Verbrauch der Arznei keine vorsätzliche Selbst¬
beschädigung vorgenommen und dies begründet den Schluß, daß die
Abgabe des Opiums die durch den Genuß herbeigeführte Qesundheits-
beschädigung der Frau S. trotz deren eigener Mitwirkung verursacht
hat. (R.Q. II. 12. 7. 02.)
Die Feststellung, daß der Täter durch seine, an einer Person
vorgenommenen hypnotischen Experimente nicht nur psychisch, son¬
dern auch physisch in einer deren körperliches Wohlbefinden erheb¬
lich störenden Weise auf dieselbe eingewirkt und dadurch eine Be¬
schädigung ihrer Gesundheit als Folgeerscheinung herbeigeführt hat,
genügt für den objektiven Tatbestand des § 230 Str.Q.B. (R.Q. 111.
18. 12. 03.) Das Recht, S. 194. Entsch. Nr. 380.
Verfehlt ist der Einwand, daß der Angeklagte die Erfolge nicht
verursacht habe. Er habe — so wird ausgeführt — den Kranken nur
einen Rat erteilt, dessen Befolgung ihnen völlig freigestanden habe.
Verfall in Lähmung, Siechtum, Geisteskrankheit usw.
203
indem diese freiwillig und selbständig die empfohlenen Mittel am
eigenen Körper angew’endet hätten, hätten sie, wenn überhaupt von
Qesundheitsbeschüdigung zu sprechen wäre, solche selbst verursacht.
Gewiß kann nicht allgemein und ohne w^eiteres von Demjenigen,
welcher einem anderen Rat erteilt, gesagt werden, er habe den durch
Befolgung des Rats von dem Anderen herbeigeführten Erfolg ver¬
ursacht. Allein, wenn die Strafkammer auf Grund der Verhältnisse
des vorliegenden Falles eine entsprechende Feststellung getroffen hat,
so ist sie vom Vorwurfe eines Rechtsirrtumes frei. Wer im Mangel
eigener Sachkunde, aber im Vertrauen darauf, daß ein anderer, besser
Kundiger, ihn von Leiden zu befreien imstande sei, sich dessen Be¬
handlung unterwirft, begibt sich freiwillig in dessen Botmäßigkeit in¬
soweit, als er bei Aiuvendung der ihm verordneten Kurmittel, deren
Wirksamkeit er nicht übersieht, nicht kraft eigenen Urteils und auf
Grund selbständiger, die Folgen abw'ägender Willensentschließung zu
handeln pflegt. Unter solchen Umständen kann er bei Befolgung der
Anordnungen Jenes recht wohl als allein von dessen Willen ab¬
hängiges Werkzeug dergestalt betrachtet w'erdeti, daß betreffs der
Verantw'ortlichkeit für die Folgen ein rechtlicher Unterschied zwischen
dem Falle, wo der Behandelnde in eigener Person die Kurmittel am
Leibe des Kranken in Wirksamkeit setzt und dem Falle, wo es der
Kranke dem Willen Jenes entsprechend tut, nicht zu machen ist,
(R.G.E. V. 24. 10. 02.) Jur. Wochenschr. 1903, S. 79, Nr. 22.
Besonders interessant dürfte schließlich noch die folgende
Entscheidung sein, w'elche gegen eine vielfach herrschende Un¬
sitte auf dem Gebiete des Alkoholmißbrauches Front
macht.
Die Feststellungen des Urteils tragen die Anwendung des § 222
St.G.B. Insbesondere ist die Verursachung des Todes und die Ver¬
antwortung hierfür mit Recht dem Angeklagten zur Last gelegt
worden. Daß L. an Alkoholvergiftung gestorben ist und diese eine
Folge des Genusses der Mengen Alkohol war, die der Angeklagte ihm
zu trinken gab, ist festgestellt. Der ursächliche Zusammenhang
zwischen der Hingabe des Alkohols durch den Angeklagten und dem
Genüsse durch L. wird aber nicht dadurch ausgeschaltet, daß der
Genuß auf einer eigenen Tätigkeit des L. beruhte und dieser hierbei
noch nicht völlig unzurechnungsfähig war — denn ohne die Hingabe
des Alkohols seitens des Angeklagten würde vorliegendenfalls L. diese
die Vergiftung herbeiführenden Mengen nicht zu sich genommen haben.
Ohne den Angeklagten würde er überhaupt weder die Schankwirt¬
schaft betreten, noch den Alkohol erhalten haben. Nachdem er aber
durch den vom Angeklagten erhaltenen Alkohol bereits angetrunken
war, benutzte dieser die von ihm erst erregte Gier nach w^eiterem
Alkoholgenuß, die nunmehr bei L., als früher dem Trunk Ergebenen
erwachte. Dann ist ihm diese Befriedigung unter bewußter Be¬
nutzung dieser Leidenschaft auch anzurechnen, selbst wenn L. noch
204 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
nicht völlig unzurechnungsfähig geworden war und auch ihm die
durch die Leidenschaft bewirkte Annahme des dargebotenen Alkohols
noch zugerechnet werden müßte. Daß der Angeklagte die Folgen
seines mit Recht als leichtsinnig gewürdigten Tuns voraussehen
konnte und mußte, weil ihm die Kenntnis der Schädlichkeit über¬
mäßigen Alkoholgenusses innewohnte, hat das Gericht ebenfalls an¬
genommen, und das ist eine Feststellung, die auf tatsächlichem Ge¬
biete liegt. (R.G. 17. 12. 12.)
Sächs. Arch. f. Rechtspflege 1913, S. 106, entn. der Psych. Wochen-
schr. 1913, S. 76.
Die reclitliche Stellung des Irrenarztes und Irren¬
pflegers.
Wenngleich in der Einleitung zu diesem Buch mit Recht
hervorgehoben worden ist, daß Geisteskrankheiten Erkrankungen
des Gehirns sind und als solche den gleichen Gesetzen unterliegen,
wie andere körperliche Erkrankungen, so muß andererseits doch
zugegeben werden, daß sie nach verschiedenen Richtungen hin,
sowohl was die medizinische, wie auch was die soziale Behand¬
lung anlangt, eine Reihe von Besonderheiten bieten, die das Amt
des Irrenarztes schwieriger gestalten, als das des somatischen
Mediziners.
Schon beim Aufnahmeverfahren kann sich das ge¬
gebenen Falles zeigen. Während sich beim körperlich Kranken die
Aufnahme in das Krankenhaus ohne weitere Formalitäten vollzieht,
kann der Irrenarzt Gefahr laufen, der Freiheitsberaubung be¬
zichtigt zu werden, weil der Kranke selbst, oder seine Ange¬
hörigen und Freunde ihn nicht für krank halten. Daß der Arzt
keinerlei persönliches Interesse an der Aufnahme eines bestimm¬
ten Menschen hat, wird bei dem Urteilen über diese Dinge fast
regelmäßig vergessen.
Die Furcht vor unbegründeter Internierung’) in die Irren¬
anstalten hat es auch bewirkt, daß in den einzelnen Landesteilen
ein äußerst umständliches Aufnahmeverfahren eingeführt ist,
dessen bedauerliche Folgen leider im Publikum nicht bekannt
werden. Nur dadurch, daß die Aufnahmeformalitäten sich oft
’) Irrenanstalt und Strafrecht. Oppermann, Monatschr. f. Kriminal-
psych. 1912, S. 211. Zitelmann, Arch. f. ziv. Praxis 1899. E. Schultze,
Monatsschr. f. Kriminalpsych., 8. Jahrg. Graf zu Dohna, Die Rechts¬
widrigkeit zit. bei Oppermann.
’) Schlager, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1884.
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 205
über mehrere Tage, ja über Wochen erstrecken, ist es möglich,
daß kurz dauernde psychische Störungen (z. B. Alkoholdelirien)
in der Isolierzelle eines ungenügend eingerichteten kleinen
Krankenhauses') oder gar im Spritzenhause eines Dorfes absol¬
viert werden, während sie in den gut eingerichteten Wachsaal
einer Irrenanstalt gehören. Ich könnte auch über Fälle berichten,
in denen dadurch, daß die Aufnahme vor Erfüllung der vor¬
geschriebenen Formalitäten nicht geschehen konnte, der Kranke
länger in Freiheit blieb als gut war und auf diese Weise zu
Selbstmord- und Mordversuchen getrieben wurde. Andererseits
kann ich mich in einer nunmehr fast iijährigen psychiatrischen
Tätigkeit keines einzigen Falles entsinnen, in dem ein absolut
Geistesgesunder zu Unrecht in eine Irrenanstalt aufgenommen
worden wäre^), abgesehen selbstverständlich von solchen Fällen,
die auf Veranlassung des Gerichtes zur Beobachtung gemäß
§ 81 Str.P.Ü. in die Irrenanstalt eingewiesen worden waren.
Es ist vielleicht auch zweckmäßig, bei dieser Gelegenheit darauf
hinzuweisen, daß in einem Bundesstaat zur Prüfung der Klagen
über unberechtigte Internierung eine besondere Kommission,
zusammengesetzt aus Laien und Ärzten, vor längerer Zeit ge¬
schaffen worden war, die nach mehrjährigem Bestehen auf¬
gehoben wurde, weil sie nie in die Lage gekommen war, irgend¬
eine Widerrechtlichkeit festzustellen, ferner weil man die Er¬
fahrung machte, daß gerade diejenigen, welche sich am meisten
über ihre Internierung beschwert hatten, zu den Schwerkranken
gehörten und weil die Kommission durch ihr Bestehen das Queru¬
lieren und Beschweren künstlich steigerte.
Ist der Patient in die Anstalt aufgenommen, so zerfällt die
Tätigkeit des Arztes in zwei Teile. Einmal hat er diejenigen
therapeutischen Maßnahmen zu treffen, welche zur Hebung
des Leidens notwendig sind, dann hat er für angemessene V e r -
’) Vergl. Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1900, S. 403.
“) Gerade diejenigen, welche das ihnen widerfahrene „Unrecht“ in
Broschüren einem größeren Leserkreise beweisen wollen, liefern meist
nur mehr oder minder gute Krankheitsgeschichten ihrer eigenen
Psychose. Bedauerlich ist aber in allen diesen Fällen, daß die Presse
und die Öffentlichkeit fast stets, ohne die Gegenseite gehört zu haben,
für den „zu Unrecht" Internierten Partei ergreift. Literatur: Psych.
Wochenschr. 1909, S. 143, 335, 355. Guttenberger, Irrenanstalten. Beyer,
Bestrebungen zur Reform des Irrenwesens. Halle a. S. 1912.
2 o 6 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
Wahrung des Kranken zu sorgen, d. h. er muß verhindern,
daß der Kranke Anderen Schaden antut, sich selbst beschädigt,
oder sonst Nachteile erleidet. Daneben muß er beobachten, wie
der Geisteszustand des Patienten sich durch die Behandlung
ändert, damit er rechtzeitig für Entlassung Sorge trägt, sobald
• weitere .Anstaltsbehandlung nicht mehr nötig ist, denn die Begriffe
„Heilung“ und ,,Anstaltspflegebedürftigkeit“ decken sich keines¬
wegs, es gibt eine ganze Reihe von Kranken, die nichts weniger
als geheilt sind, trotzdem aber der Anstaltspflege nicht weiter be¬
dürfen, also in die Freiheit entlassen werden können.
Bei jeder dieser Maßnahmen besteht nun die Möglichkeit für
den Irrenarzt mit dem Strafgesetz in Konflikt zu kommen.
Die in Frage kommenden Paragraphen sind folgende;
§ 222 . Wer durch Fahrlässigkeit den Tod
eines Menschen verursacht, wird mit Gefäng¬
nis bis zu 3 Jahren bestraft.
W^enn der Täter zu der Aufmerksamkeit,
welche er aus den .Augen setzte, vermöge seines
Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders ver¬
pflichtet war, so kann die Strafe bis auf fünf
Jahre Gefängnis erhöht werden.
§ 230. Wer durch Fahrlässigkeit die Kör¬
perverletzung eines anderen verursacht, wird
mit Geldstrafe 1) i s zu neunhundert Mark oder
m itGefä n g II isstrafebiszu dreijahrengestraft.
War der Täter zu der Aufmerksamkeit’),
welche er aus den Augen setzte, vermöge seines
Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders ver-
’) Eine nähere Erläuterung erfährt der .Abs. 2 durch folgende Ent¬
scheidung:
Abs. 2 spricht von einer besonderen Verpflichtung zur Aufmerk¬
samkeit und nicht etwa von einer besonderen Aufmerksamkeit. Er
stellt somit keine der Art nach von den allgemeinen Grundsätzen ver¬
schiedene Fahrlässigkeit auf, verlangt also auch von einem Lehrer
keine größere Sorgfalt als von jedem anderen Menschen. Es wird
nur eine erhöhte Strafbarkeit begründet für solche Handlungen, die
zur Ausübung eines Amts oder Berufs gehören und zu deren sorg¬
samer Betätigung das Amt oder der Beruf noch besonders verpflichtet
im Gegensatz zu den allgemeinen Pflichten eines jeden. (R.G. III.
4. I. 12.) Das Recht 1912, Entsch. Nr. 524.
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 207
pflichtet, so kann die Strafe auf 3 Jahre Ge¬
fängnis erhöht werden.
Von den eben beschriebenen Pflichten des Irrenarztes gegen¬
über seinen Patienten ist die am leichtesten zu erfüllende die
medizinische Behandlung. Um so schwerer ist dafür die Frage
zu entscheiden, wie weit die persönliche Freiheit innerhalb der
Anstalt beschränkt werden muß. Bedarf der Patient noch dauern¬
der Bewahrung, kann man ihn sich selbst überlassen, ist es mög¬
lich, ihn ev. in den Anlagen der Anstalt spazieren gehen zu
lassen oder ihn in einer der Werkstätten zu beschäftigen? Diese
und ähnliche Fragen sind außerordentlich schwer zu beant¬
worten, weil man trotz bester psychiatrischer Kenntnisse im
Einzelfalle nicht immer Voraussagen kann, ob die Gewährung
größerer Bewegungsfreiheit den Patienten nicht zu irgend¬
welchen Exzessen veranlaßt. Und trotzdem ist es absolut not¬
wendig, daß die anfangs strenge Absonderung von der Außen¬
welt allmählich gemildert wird, denn nur so kann der Kranke
in zweckmäßiger Weise auf die Rückkehr in das tägliche Leben
vorbereitet werden. Wenn unser ganzer Anstaltsbetrieb dem¬
nach darauf zugeschnitten ist, mit einem möglichst geringen
Maß von Freiheitsbeschränkung auszukommen, so geschieht das
lediglich im Interesse des Kranken selbst. Er soll auf diese
Weise sobald als möglich soweit gefördert werden, daß er in die
Freiheit zurück kann.
Verfährt man nach diesen Prinzipien, so lassen sich zwei
Dinge nicht vermeiden, erstens daß ein in der Anstalt noch be¬
handelter Kranker gelegentlich einen Exzeß begeht, und zweitens
daß Entweichungen stattfinden. Für beides kann unter Um¬
ständen sowohl der Irrenarzt, als das Pflegepersonal verantwort¬
lich gemacht werden*).
’) Vergl. Aschaffenburg, Die Verantwortlichkeit des Irrenarztes.
Allg. Zcitschr. f. Psych., Bd. 57. Dort weitere Literatur. Auch auf die
folgende Entscheidung sei verwiesen:
Wohl kann derjenige, der sich in zulässiger Weise eines ihm als
zuverlässig bekannten Vertreters bedient, nicht ohne weiteres straf¬
rechtlich verantwortlich gemacht werden, wenn der Vertreter in .Aus¬
führung der ihm übertragenen Geschäfte durch pflicht- und ordnungs¬
widriges Verhalten das Strafgesetz verletzt. Wenn jedoch der Auf¬
traggeber nicht nur das gefahrdrohende, pflicht- und ordnungswidrige
Verhalten seines Beauftragten kennt, sondern es mehr oder weniger
billigt und selbst an der Ordnungswidrigkeit teilnimmt, so kann er sein
2o8 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
Weiterhin hat der Irrenarzt den Besonderheiten einiger
Krankheitszustände auch durch die Art der Unterbringung Rech¬
nung zu tragen, so z. B. sind die Selbstmordverdächtigen ’) unter
ständiger Bewachung zu halten und alle Gegenstände, mit denen
sie sich irgendwie Schaden antun können, von ihnen fernzuhalten.
Insbesotidere ist das Pflegepersonal auch bezüglich dieser
Kranken gut zu instruieren. Die Fallsüchtigen wiederum müssen
so untergebracht werden, daß die Möglichkeit einer Verletzung bei
einem Anfall auf ein Minimum reduziert wird.
Daß es äußerst schwierig ist, alle diese Maßnahmen sach¬
gemäß zu treffen, wird nach dem Vorstehenden ohne weiteres
einleuchten.
Wenn trotz sorgfältiger Überwachung Entweichungen und
auch kriminelle Handlungen von noch nicht genesenen Kranken
Vorkommen, so darf das eigentlich Niemanden wundernehmen.
Derartiges ganz zu verhindern, gelingt auch den bestgeleiteten
.Anstalten nicht immer. Es ist aber vielleicht nicht überflüssig
darauf hinzuweisen, daß auch in anderen Instituten, in denen das
Prinzip der Verwahrung noch viel mehr im Vordergründe steht,
als in den Irrenanstalten, Entweichungen nichts Allzuseltenes
sind. Es ist z. B. eine bekannte Tatsache, daß weder der mit
geladenem Gewehr patroullierende Soldat, noch die zahlreichen
hohen Mauern und Gitter eines Zuchthauses gelegentliche Ent¬
weichungen verhindern können.
Noch ein weiteres Moment ist zu erwähnen, das dem Irren¬
arzt seine Tätigkeit nach der Seite der Sicherung hin erschwert,
das ist die A r b e i t s b e h a n d 1 u n g. Die Erfahrung hat uns
gelehrt, daß Beschäftigung bei den meisten psychischen Er¬
krankungen den Zustand außerordentlich günstig beeinflußt. Sei
es, daß sie die Heilung beschleunigt und fördert, sei es aber,
daß, wie Gramer es ausdrückt, sie das Krankheitsbild so ändert,
daß der Betreffende allmählich zu sozialer Lebensführung zu-
lückgeführt wird. Diese Beschäftigungstherapie in den .An¬
stalten ist also mitunter mehr wert, als viele Medikamente. Sie
eigenes Verhalten nicht mit seinem Vertrauen darauf entschuldigen,
daß es dem Beauftragten gelingen werde, sein gefährliches ordnungs¬
widriges Unternehmen durch geeignete Maßregeln so durchzuführen,
daß „nichts passieren“, d. h. die drohende Gefahr sich nicht verwirk¬
lichen werde. (R.G. 1. 9. 12. 09.) Das Recht 14, 247; Jahrb. 1910, S. 7L
Edel, Allg. Zeitschr. f. Fsych. 1S91, Bd. 47. S. 422.
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 209
muß deshalb mit allen zu Gebote stehenden Mitteln gepflegt
werden, und das Bestreben des Anstaltsarztes geht mit Recht
dahin, möglichst viele Kranke zu nutzbringender Betätigung
heranzuziehen.
Zur Beschäftigung sind nun aber allerlei Werkzeuge nötig
und es ist ebenso selbst\-erständlich, daß trotz größtmöglichster
Sorgfalt bei der Beaufsichtigung der Kranken und des Arbeits¬
materials es gelegentlich vorkommt, daß sich einer der Patienten
eines Werkzeugs bemächtigt und damit irgendwelchen Schaden
stiftet'). Auch dieses Moment erschwert die Tätigkeit des Irren¬
arztes, es darf aber nicht dazu führen, das Behandlungsprinzip
hinter dem der V'erw'ahrung zurücktreten zu lassen.
Was mit all diesen Ausführungen gesagt werden soll, ist,
daß es in der Arbeit des Irrenarztes so außerordentlich viel
Klippen gibt, zu deren Umschiffung es nicht allein gewisser
Spezialkenntnisse und großer Gewissenhaftigkeit bedarf, sondern
auch, wie Gramer gleichfalls mit Recht gesagt hat, ,,gewisses
Glück“. Denn bei aller \'orsicht läßt es sich nicht vermeiden,
daß gelegentlich ein Unglücksfall passiert.
Es muß nun ausdrücklich hervorgehoben werden, daß trotz
der großen Schwierigkeiten, von denen hier nur ein kleiner Teil
angeführt W'erden konnte, nur in ganz seltenen Ausnahmefällen
den Ärzten oder dem Wartepersonal eine Fahrlässigkeit im Sinne
des Str.G.B. nachgewiesen w'crden konnte“).
.\m ehesten versucht wurde das bei gelungenen Selbst¬
mordversuchen von Kranken in der .\nstalt. Mir sind
einige Fälle bekannt, in denen die Klage, sei es gegen die An¬
stalt, sei es gegen den einzelnen Arzt gerichtet war. Verurtei¬
lungen von Ärzten sind mir bis jetzt nicht bekannt geworden.
Wohl aber weiß icli, daß zivilrechtliche Ansprüche in einem Falle
im \’ergleichswege von einer Anstalt anerkannt worden sind, wo
') Wie die Erfahrung leider mehrfach gelehrt hat, werden diese
Werkzeuge bisweilen auch gegen Ärzte und Pfleger gerichtet.
“) Strafrechtlich und zivilrechtlich haftbar für diese Unglücksfälle
und die Folgen von Entweichungen ist der Fiskus oder die Anstalt bzw.
deren Leiter (O.L.G. Colmar 30. 9. 09; Das Recht 1910, Nr. 1522; R.Q.
25. 1 . 07; Das Recht 1907, Nr. 582; O.L.G. Stuttgart 15. 4 . 04; Das Recht
1905, Nr. 2251). Die Haftung für Arzte und Personal erfolgt nur gegenüber
dem Vertragsgegner, bei Kassenpatienten ist nicht der Kranke, sondern
die Kasse Vertragsgegner (O.L.G. Eraunschweig. 23. 11. 06; Das Recht
1907, Nr. 988), s. auch Abschnitt Haftpflicht.
Hübner, Forensische Psychiatrie. 14
210 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
die Sache selbst juristisch zweifelhaft lag (Selbstmord einer
Frau)‘).
Beim Pflegepersonal ist es einige Male zu Bestrafungen gekommen.
So z. B. in dem folgenden Falle;
Eine selbstmordverdächtige Kranke ist dem Pflegepersonal als
besonders bewachungsbedürftig bezeichnet worden. Trotzdem ver¬
läßt die mit ihrer Bewachung beauftragte Wärterin B. das Zimmer
und unterläßt es, die Tür zu schließen. Auf diese Weise kommt die
Kranke auf den Korridor und von dort in ein vorschriftswidrig von
der Pflegerin W. nicht verschlossenes Badezimmer. Dort steckt die
Pat. den Kopf in die Badewanne, nachdem sie vorher den Warm¬
wasserhahn geöffnet hat, und ertrinkt. Das Urteil des R.Q. sprach
sich dahin aus, daß der Tod der Pat. als Folge der Dienstwidrigkeiten
der B. und W. anzuschen sei, „da er ohne solche nicht eingetreten
wäre und darin seine eigentliche Ursache habe“.
Ausführlich s. Entsch. des R.Q. in Strafsachen, Bd. 7, 332--335.
Weiterhin bekannt sind einige Fälle, in denen Pfleger ver¬
urteilt worden sind, weil sie, entgegen den bestehenden Vorschrif¬
ten, die Kranken beim Nachfüllen von heißem Wasser zu den
Dauerbädern nicht aus der Wanne genommen hatten oder sich
sonst bei Zubereitung von Bädern eine Fahrlässigkeit zu Schulden
kommen ließen“).
Die Verurteilungen erfolgten wegen fahrlässiger Tötung und
fahrlässiger Körperverletzung.
Mißhandlungen”), begangen von Pflegern an Kranken,
waren gleichfalls mehrfach Gegenstand gerichtlicher Bestrafung.
Bemerkenswert ist dabei, daß auch das weibliche Pflegepersonal
daran nicht unwesentlich beteiligt ist.
In einem Falle, in dem der Pfleger einem tiefstehenden Idioten einen
Becher mit Urin zu trinken gegeben hatte, erstattete die Anstaltsdirektion
Anzeige. Die Staatsanwaltschaft schlug aber das Verfahren nieder mit
der Begründung, wenn überhaupt als strafbare Handlung, dann könne die
Tat nur als Körperverletzung angesehen werden, dies aber auch nur
dann, wenn durch Einflößen des Urins das körperliche Wohlbefinden des
Idioten gestört worden sei. Da sich eine solche Störung des körperlichen
Wohlbefindens nicht habe feststellen lassen, liege eine strafbare Hand¬
lung nicht vor *).
*) Ich verdanke den Fall einer privaten Mitteilung. Die Frau hatte
Suizid in der Melancholie begangen. Der Mann wollte auf Ersatz des
durch den Fortfall der Frau als Arbeitskraft bedingten Schadens klagen.
“) Psych. Wochenschr. Bd. 8, S. 71; Bd. 9, S. 112; Bd. 15, S. 76.
Psych. Wochenschr. Bd. 11, S. 117, 141 (Zusammenstellung über
mehrere Anstalten).
■*) Psych. Wochenschr. Bd. 11, S. 353 und 354.
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 211
Hinzugefügt werden muß hier für den Juristen, daß Kranke
das Pflegepersonal häufig der Mißhandlung beschuldigen. Meist
sind derartige Anzeigen aber lediglich der Ausfluß von Wahn¬
ideen und Sinnestäuschungen‘). —
In einem mir bekannten Falle, in dem ein Unfallverletzter, ent¬
weder durch einen anderen Kranken, oder durch einen Wärter *), mi߬
handelt wurde und starb, hat das Reichsversicherungsamt den Tod als
mittelbare Unfallsfolge angesehen. —
Wenn bei Isolierungen ohne Anordnung des Arztes
dem Kranken ein Schaden geschieht, kann der Pfleger verant¬
wortlich gemacht werden. In den meisten Irrenanstalten wird
seit Jahren, wenn überhaupt, dann nur in ganz seltenen Aus¬
nahmefällen isoliert. Dagegen wird in Krankenhäusern, die vor¬
übergehend Geisteskranke aufnehmen müssen, von der Isolierung
häufiger Gebrauch gemacht. Ein Fall, in dem ein Delirant sich
auf diese Weise eine tödliche Krankheit zuzog, kam zur Ab¬
urteilung“). \’erurteilt wurde die Oberin des Krankenhauses.
In einem Falle führte auch ungenügende Beaufsich¬
tigung in einem Krankenhause dazu, daß ein Delirant aus dem Fenster
sprang und auf diese Weise schwere Verletzungen erlitt. Die Pflegerin
hatte entgegen der Vorschrift den Kranken für kurze Zeit allein ge¬
lassen *).
Schließlich ist noch zu erwähnen, daß einmal in einer (nicht psy¬
chiatrischen) Klinik ein Kranker in benommenem Zustande aus dem Bett
fiel. Dadurch wurde eine bereits vorhandene Fraktur verschlimmert.
Das Pflegepersonal verschwieg den Ärzten den Vorfall. Als es
später zur Schadenersatzklage “) kam, wurde die Klinik haftbar gemacht.
Wir kommen nun zu einer Reihe von Entscheidungen, welche
nicht das Pflegepersonal, sondern die Anstaltsdirektion
oder einzelne Ärzte betreffen.
Einmal wurden an eine Anstalt Entschädigungsansprüche
gestellt, weil zwei entwichene Schwachsinnige, die sich in der
Stadt betrunken hatten, gemeinschaftlich eine Körperverletzung
begingen, die eine mehrwöchige Arbeitsunfähigkeit des Ver¬
letzten zur Folge hatte").
Auf uneheliche Schwängerung von Anstaltsinsassen
bezieht sich die folgende Entscheidung;
‘) Psych. \\ ochenschr., Bd. 11. S. 226.
“) Das Verfahren gegen letzteren wurde später eingestellt.
*) Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1900, S. 403.
*) Ibid. 1903, S. 278.
») Ibid. 1907, S. 108.
•) Private Mitteilung.
14 *
212
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
Die Kaufniannstocher H. von N. mußte im April 1900 wegen Oe-
meingefährlichkeit auf Anordnung des Bezirksamtes K. in die Kreis¬
irrenanstalt W. aufgenommen werden; die H. war hochgradig hyste¬
risch und sexuell leicht erregbar. In der ersten Zeit, solange sie noch
Anfälle hatte, war sie auf der Abteilung isoliert untergebracht, als sich
aber im Juli 1900 ihr Zustand bedeutend besserte, wurde sie ent¬
sprechend ihren eigenen Wünschen und ihren Kenntnissen in der An¬
staltsküche und deren Nebenräumen beschäftigt. Sie unterstand dabei
der Aufsicht des Küchenpersonals und wurde morgens und abends
vom Pflegepersonal von der Anstalt zur Küche geführt bzw. von dort
wieder abgeholt. Auch war das Personal angewiesen, der Anstalts¬
leitung sofort Mitteilung zu machen, wenn sich die H. einmal längere
Zeit aus der Küche entfernen würde, z. B. um in den Park zu gehen;
es wurden auch tatsächlich mehrere solche Anzeigen erstattet, und
die H. wurde dann jedesmal für einige Zeit wieder aus der Küche
weggenommen und auf der Abteilung behalten. Trotz dieser Vor¬
sichtsmaßregeln suchte und fand die H. aber während der Zeit, in der
sie in der Küche beschäftigt war, Gelegenheit, sich dem Anstaltsheizer
S. zu nähern und ihn zum geschlechtlichen Verkehr mit ihr zu veran¬
lassen. Das Kesselhaus, in dem S. arbeitete, war nämlich nur durch
einen Gang von der Küche bzw. von deren Nebenräumen getrennt,
ferner war die Türe zum Kesselhaus nicht immer verschlossen, so
daß die H. das Kesselhaus unbehindert betreten konnte. Das Küchen¬
personal bemerkte von diesen Exkursionen der H. nichts, da letztere
immer jene Mittags- bzw. Abendstunden wählte, in denen das Personal
mit der Zubereitung der Mahlzeiten vollauf beschäftigt war. Wie die
Untersuchung ergab, verhielt sich S. gegen die Annäherungsversuche
der H. anfänglich ablehnend, später ließ er sich aber wiederholt mit
ihr ein, und die Eolge war, daß die H. nach ihrer Entlassung aus der
Irrenanstalt Mutter wurde. S. wurde inzwischen wegen Sittlichkeits¬
verbrechen nach § 176 Ziff. 2 R.St.Q.B. (Mißbrauch einer Geistes¬
kranken) vom Schwurgericht zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt.
Nun will aber der Vater der H., Kaufmann A. H. in N., den Fiskus
für den Schaden haftbar machen, der seiner Tochter durch das ver¬
brecherische Verhalten des S. erwuchs, und er beantragte zu diesem
Zwecke bei dem Verwaltungsgerichtshof gegen den Direktor Dr. K.
der Kreisirrenanstalt Vorentscheidung nach Art. 7 Abs. 2 des V.G.G.
dahin zu treffen, daß sich Dr. K. der Unterlassung einer ihm obliegen¬
den Amtshandlung schuldig gemacht habe. Diese Unterlassung er¬
blickt H. darin, daß es die Anstaltsleitung der Irrenanstalt W. an der
nötigen Verwahrung und Beaufsichtigung seiner Tochter habe fehlen
lassen, und auch nicht für strikte Durchführung des § 44 der Haus¬
ordnung der genannten Anstalt gesorgt habe, inhaltlich dessen die
Küchen- und Maschinenräume nicht allgemein zugänglich sein dürfen,
also die Türen immer geschlossen sein müssen; wäre diese Vorschrift
befolgt worden, so hätte nach Ansicht des H. der folgenschwere Ver¬
kehr zwischen seiner Tochter und des S. nicht stattfinden können.
Direktor Dr. K. bestreitet entschieden, daß er sich irgendeine
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 213
Unterlassung habe zu schulden kommen lassen, und auch die gut¬
achtlich gehörte Regierung sowie der Obermedizinalrat sprachen sich
dahin aus, daß sich Dr. K. der ihm zur Last gelegten Unterlassung
nicht schuldig gemacht habe. Ebenso entschied der Verwaltungs¬
gerichtshot nach durchgeführter Verhandlung unter Uberbürdung der
Kosten auf den Antragsteller H., daß sich Direktor Dr. K. bei Ver¬
wahrung und Beaufsichtigung der H. der Unterlassung einer ihm ob¬
liegenden Amtshandlung im Sinne des Vorentscheidungsantrages nicht
schuldig gemacht hat. In den Entscheidimgsgründen wird zunächst
in formeller Hinsicht dargelegt, daß Dr. K. als Direktor der Kreis¬
irrenanstalt W. die Eigenschaft eines Beamten im Sinne des Art. 7
des V.G.Q. besitzt und eine Tätigkeit ausübt, die als Ausübung der
ihm anvertrauten öffentlichen Gewalt erscheint.
Der Vorentscheidungsantrag sei daher formell zulässig. Was
dagegen die materielle Seite anlange, so habe die Würdigung des
Gutachtens des Obermedizinalrates, sowie die Prüfung der gesamten
Sachlage dahin geführt, daß irgendein Verschulden des Anstaltsleiters
nicht als gegeben erachtet werden könne. Bei der Aufnahme der
H. in die Anstalt W. sei die isolierte Unterbringung dieser Kranken
notwendig gewesen und auch tatsächlich erfolgt. Dagegen war es
nach eingetretener Besserung mit Rücksicht auf den Heilzweck
durchaus geboten und zulässig, die H. ihrem Wunsch entsprechend
in der Küche zu beschäftigen, und die Überwachung durch das
Küchenpersonal genügte vollständig, da die H. damals nicht mehr
gefährlich war. Ferner war seitens der Anstaltsleitung mit Rück¬
sicht auf die hohe sexuelle Erregbarkeit der H. Vorsorge getroffen,
daß dieselbe nicht mit männlichen Geisteskranken in Berührung kam,
es wurde ihr zu diesem Zweck auf den Weg von der Abteilung zur
Küche und umgekehrt stets eine Wärterin beigegeben und außerdem
war das Küchenpersonal angewiesen, länger dauernde Entfernungen
der H. aus der Küche der Anstaltsleitung sofort anzuzeigen, was auch
wiederholt geschah und stets die zeitweilige Rückversetzung der H.
in die Abteilung zur Folge hatte. Hinsichtlich der Überwachung der
H. in der Küche fand sohin keinerlei Nachlässigkeit statt. Dagegen
bestand für die Anstaltsleitung kein Grund die Nähe des Heizers S.
als für die H. gefährlich zu erachten. S. war seinerzeit als Heizer
in der Anstalt W. angestellt w'orden auf Grund sehr guter Emp¬
fehlungen seitens einer Lehranstalt in T., woselbst er seine Er¬
ziehung genossen hatte und er W'ar bei seiner Anstellung ausdrück¬
lich aufmerksam gemacht worden, daß er sich gegenüber den w'eib-
lichen Kranken der Anstalt ja nicht das Geringste zuschulden kommen
lassen dürfe. Bei dieser Sachlage konnte die Anstaltsleitung nicht
annehmen, daß S. ein solches Verbrechen begehen w'erde. Wenn der
Antragsteller sagt, man hätte die H. so intensiv beaufsichtigen sollen,
daß sie überhaupt mit keiner Mannsperson in Berührung hätte
kommen können, so wäre dies in dieser Allgemeinheit gar nicht
durchführbar gewesen, schon mit Rücksicht auf die räumlichen Ver¬
hältnisse. Denn die Anstaltsküche befindet sich in unmittelbarer
214 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
Nähe des Kesselhauses, der Heizer mußte täglich zweimal in der
Küche selbst den Dampf regulieren und hatte zu diesem Zweck
den Schlüssel zu der Verbindungstüre in seinem Besitze, so
daß ein Verkehr zwischen S. und der H. auch dann nicht hätte ver¬
hindert werden können, wenn diese Tür stets verschlossen gewesen
wäre. Übrigens war die Bestimmung des § 44 der Hausordnung zu¬
nächst nicht zu dem Zwecke erlassen, die Kranken vor den Anstalts¬
bediensteten zu schützen, sondern vor einer Beschädigung infolge
allenfallsiger Annäherung an den Dampfkessel. Das bedauerliche
Vorkommnis mit der H. war also nicht die Folge eines pflichtwidrigen
Verhaltens des Anstaltsleiters, sondern eines Verbrechens, das nicht
verhindert werden konnte, weil es nicht vorauszusehen war. Psych.
Wochenschr., Bd. 6, 286.
Daß der Anstaltsdirektor und seine Arzte wegen wider¬
rechtlicher Freiheitsberaubung belangt werden könn¬
ten, wenn sie einen Geistesgesunden in der Anstalt festhielten,
ergibt sich aus dem § 239.
Wer vorsätzlich und widerrechtlich einen
Menschen einsperrt, oder auf andere Weise des
Gebrauches der persönlichen Freiheit beraubt,
wird mit Gefängnis oder mit Geldstrafe bis zu
2000 M k. bestraft.
Wenn die Freiheitsentziehung über eine
Woche gedauert hat, oder wenn eine schwere
Körperverletzung des der Freiheit Beraubten
durch die Freiheitsentziehung oder die ihm
während derselben widerfahrende Behandlung
verursacht worden ist, so ist auf Zuchthaus bis
zu zehn Jahren zu erkennen. Sind mildernde
Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe
nicht u n ter einem Monat ein.
Ist der Tod des der Freiheit Beraubten
durch die Freiheitsentziehung oder die ihm
während derselben widerfahrene Behandlung
verursacht worden, so ist auf Zuchthaus nicht
unter drei Jahren zu erkennen. Sind mildernde
Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe
nicht unter drei Monaten ein.
Das Reichsgericht hat sich in zwei Entscheidungen zur Frage
der Freiheitsberaubung ausgesprochen, insbesondere sind in einer
derselben die Gründe angegeben, welche dem Handeln des An¬
staltsdirektors die Widerrechtlichkeit nehmen.
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenptlegers. 215
Die Witwe des San.-Rats Dr. B. in F. war am 30. Juni 1904
auf Veranlassung des Nervenarztes Dr. D. in die städtische Irren¬
anstalt zu F. verbracht worden und hatte sich von diesem Tage bis
zum 18. Oktober 1904 daselbst befunden. Sie behauptete nun, aau
Dr. D., sowie der Direktor der Anstalt Dr. S. und der Anstalts-Ober¬
arzt Dr. W. sich gegen sie durch diese Internierung einer vorsätz¬
lichen oder mindestens fahrlässigen Freiheitsberaubung schuldig ge¬
macht hätten. Sie forderte deshalb, nachdem sie als geheilt entlassen
worden war, im Klagewege Schadenersatz in, Höhe von 3000 Mk.
unter Vorbehalt weiterer Ansprüche. Alle drei Instanzen gelangten
zur Klageabweisung. Das Reichsgericht führte aus:
Dem .Arzte als solchen kann ein besonderes Berufsrecht zu
Eingriffen in die körperliche Integrität oder in die Freiheit eines
Kranken bez. Geisteskranken nicht zuerkannt werden. An sich muG
daher die gegen den Willen des Kranken oder bei dessen Willens¬
unfähigkeit die ohne Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters vor¬
genommene Entziehung oder Beschränkung der Freiheit als wider¬
rechtlich gelten. Jedoch muß auch die Berufs- und Amtsstellung des
Arztes in Rücksicht genommen werden. Hat der ärztliche Vorstand
einer öffentlichen Irrenanstalt eine gegen ihren Willen der Anstalt
als geisteskrank zugeführte Person in die Anstalt aufgenommen und
dort zurückbehalten, so wird er einer Schadenersatzklage gegenüber
zunächst nicht mehr als darzutun haben, daß die durch Gesetz oder
Verwaltungsvorschrift auigestellten Voraussetzungen für die zwangs¬
weise Internierung eines Geisteskranken formell erfüllt waren. Dies
gilt nun zwar nicht in gleichem Maße von jedem anderen staatlich
approbierten Arzte, der einen Patienten einer Irrenanstalt überweist,
diesen gewaltsam dorthin verbringt oder verbringen läßt. Immer¬
hin ist auch diesem Arzte zur Rechtfertigung seines Eingreifens die
Berufung darauf zu verstatten, daß triftige Gründe für ihn Vorlagen,
die ein solches Vorgehen als erforderlich erscheinen ließen, und daß
er bei Beachtung der bestehenden Vorschrften eine — selbst gewalt¬
same — Unterbringung der Kranken in die Irrenanstalt für zulässig
und geboten erachten durfte; wobei es dann freilich noch auf die
Zustimmung des gesetzlichen Vertreters oder der .Angehörigen des
Kranken ankommt. — Nach der Verwaltungsordnung der städtischen
Irrenanstalt zu F. ist die Aufnahme der widerstrebenden Kranken und
ihre Zurückbehaltung auch mit Gewalt zulässig, wenn nach dem Ur¬
teile des Arztes der Anstalt dringende Gefahr für die Kranken oder
andere vorliegt. Mit diesem „Urteile“ ist ein eigenes, aus der vor¬
läufigen Beobachtung des Anstaltsarztes selbst gewonnenes Urteil
gemeint, wobei er aber auch Mitteilungen Dritter, namentlich ver¬
trauenswürdiger Sachkundiger in Betracht ziehen darf. Jedenfalls
ist nach der festgestellten Sachlage das Verfahren der Anstaltsärzte
nicht als widerrechtlich zu bezeichnen. Aber auch der Nervenarzt
Dr. D. ist nach Lage der Sache vermöge seiner ärztlichen Berufs¬
pflicht und seiner daraus erwachsenen Beziehungen zu der Klägerin
berechtigt, wenn nicht sogar verpflichtet gewesen, bei Gefahr im
2 i 6 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
Verzüge sofort einzugreifen (sie hatte Mitte Mai bereits einen Selbst¬
mordversuch begangen und später schwere Drohungen gegen ihren
Gatten ausgestoßen, den sie erschießen wollte). Die weiteren Ent¬
schließungen konnte er dann ruhig den Anstaltsärzten überlassen.
Keinesfalls kann auch ihm vorsätzliche, rechtswidrige oder fahr¬
lässige Freiheitsberaubung zur Last gelegt werden. Urteil des R.O.
(VI. Z.-S.) vom 26. 5. 10. Psych. Wochenschr., Bd. 13, S. 3 und
Zeitschr. f. Med.-Beamte 1910.
Hat jemand, wenn auch ohne jedes Verschulden, den Anlaß
dazu gegeben, daß ein anderer des Gebrauchs der persönlichen Frei¬
heit beraubt wird, so erwächst ihm hieraus die rechtliche Verpflich¬
tung, sobald er den Ungrund der Freiheitsberaubung erkennt, für
deren Aufhebung tätig zu werden. (R.G.E. 16. 12. 02.)
Das Recht 1903, S. 47, Eiitsch. Nr. 276.
Ich kann nicht umhin, bei dieser Gelegenheit nochmals zu
bedauern, daß sowohl das I’ublikum, wie auch leider gelegentlich
Ärzte, die mit mehr Temperament als psychiatrischen Erfahrungen
ausgestattet sind, ohne genaue Kenntnis eines Falles gegen Polizei
und Anstalt Partei nehmen. Wir haben es z. B. erlebt, daß ein
praktischer Arzt einem Plypomanisehen, der einer öffentlichen
Anstalt auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses und einer polizei¬
lichen Zustimmung wegen Gemeingefährlichkeit zugeführt wurde,
am gleichen Tage ein Gesundheitsattest zum Zwecke der Ver¬
öffentlichung in den Lokalblättern, ausstellte. Der Kranke hatte
seine Frau und andere Personen mit Totschlag bedroht und queru¬
lierte bei den verschiedensten Behörden. Er hatte früher bereits
einige Manien und Melancholien durchgemacht, so daß an der
Diagnose ebensowenig Zweifel bestehen konnten, wie an der
zeitweiligen Anstaltspflegebedürftigkeit. —
Alle die Fälle, welche die Öffentlichkeit in den letzten Jahren
in Deutschland beschäftigt haben, sind ausnahmslos als krank be¬
zeichnet worden. Wer erwägt, daß bei der Unterbringung in
einer Irrenanstalt stets mehrere Behörden mitwirken, der wird
es als selbstverständlich ansehen, daß ungerechtfertigte Internie¬
rungen nicht Vorkommen. Insbesondere werden solche dann ver¬
mieden werden, wenn die ärztlichen Atteste, auf Grund deren die
Aufnahme erfolgt, sorgfältig und ausführlich sind. Welche An¬
forderungen in dieser Beziehung zu stellen sind, hat das Über¬
verwaltungsgericht in einer Entscheidung vom 9. November 1912
angegeben ').
^) Entnommen der Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1913, S. 242; s. auch
Zeitschr. f. Med.-Beamte.
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 217
Gegen die Zulässigkeit des Konflikts sind Bedenken nicht zu
erheben, da der Beklagte das angefochtene Gutachten auf Grund
eines Ersuchens des zuständigen Polizeireviers in seiner amtlichen
Eigenschaft als Kreisarzt abgegeben hat *).
Der Konflikt war aber auch für begründet zu erklären. Es
handelt sich in dem jetzigen Verfahren weder um eine Entscheidung
darüber, ob die Klägerin zur Zeit der Abgabe des Gutachtens tat¬
sächlich geisteskrank gewesen ist oder nur an einem schweren
neurasthenischen Anfall gelitten hat, noch darüber, ob und welchen
Schaden die Klägerin durch die Internierung in der Irrenanstalt an
ihrer Gesundheit und damit an ihrer Erwerbsfähigkeit erlitten hat.
Vielmehr hat sich die Prüfung des Konfliktsrichters lediglich darauf zu
beschränken, ob dem Beklagten bei der Erstattung seines Gutachtens
eine Überschreitung seiner Amtsbefugnisse oder die Unterlassung einer
ihm obliegenden Amtshandlung zur Last zu legen ist? Von einer
Überschreitung der Amtsbefugnisse kann unter den obwaltenden Um¬
ständen nicht die Rede sein, da es zu den dienstlichen Obliegen¬
heiten des Kreisarztes gehört, auf Ansuchen der Polizei ein Gut¬
achten über die Gemeingefährlichkeit eines Geisteskranken und seine
Unterbringung in einer Anstalt abzugeben. Es kann daher nur in
Frage kommen, ob der Beklagte bei der Untersuchung und Begut-
') Das Gutachten hatte folgenden Wortlaut:
„Auf dem 13. Revier habe ich heute die unverehelichte A. v. P.,
16. 5. 1858 in W. geboren. B.-Straße 10 hier wohnhaft, auf ihren Ge¬
sundheitszustand untersucht.
Dieselbe soll zuerst auf dem 1. Revier mehrere Personen eines
Einbruchs beschuldigt haben; nachdem die Unrichtigkeit der Be¬
hauptung der Denunziantin festgestellt, scheint man letztere entlassen
zu haben. Um 12 Uhr kam sie in das 13. Revier geeilt und bat um
Hilfe gegen Einbrecher, die unten bei der Arbeit wären. Sehr bald
wurde die Denunziation wieder als falsch festgestellt. Da aber zu¬
gleich an der geistigen Gesundheit der p. v. P. gezweifelt wurde,
wurde die Untersuchung derselben durch mich veranlaßt. Trotz
Feststellung der Tatsachen behauptet sie mit Bestimmtheit, daß bei
einer gewissen N. eingebrochen sei und daß man zu Unrecht die
Gauner entlassen habe. Über ihr Vorleben gibt sie an, daß sie seit
dem 16. Jahre sehr nervös' sei und verschiedene Ärzte, auch Pro¬
fessor J., konsultiert habe. Sie will in P. Psychopathologie studiert
haben und hier physiologische Kollegien besuchen. Während der
Untersuchungshaft ist sie sehr erregt, bittet, daß man sie entlasse,
damit sie ihren Papagei versorge. Ein von ihr verfaßtes Schreiben,
welches die Namen aller Gauner B.s enthalten soll, liegt bei.
Nach meinem Gutachten ist die Untersuchte geistesgestört und
vvegen ihres unruhigen Verhaltens und ihrer falschen Denunziationen
gemeingefährlich. Dieselbe muß deshalb nach D. überführt werden.
B., den 15. Januar 1902.“
i8 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
achtung die ihm durch seine Amtspflicht gebotene Sorgfalt angewendet
hat oder nicht? ln dieser Beziehung hat die Klägerin gerügt, daß der
Beklagte sie überhaupt nicht ärztlich untersucht, sondern sie nur auf
Grund einer flüchtigen Besprechung für gemeingefährlich geisteskrank
erklärt habe. Der Beklagte hat dies in Abrede gestellt und behauptet,
eine gründliche Untersuchung vorgenommen zu haben.
über die Form und den Inhalt des Gutachtens sowie über die
Art und Weise der Untersuchung bestehen, sow'eit die Aufnahme
einer geisteskranken Person in eine öffentliche Irrenanstalt in Frage
kommt, für die Medizinalbeamten keine besonderen behördlichen
Anordnungen. Derartige Vorschriften sind lediglich für die Unter¬
bringung solcher Personen in Privatanstalten durch ministerielle Ver¬
fügung vom 26. März 1901 (Min.-Bl. d. inn. Verw.; Jahrgang 1901,
S. 104) aufgestellt worden. Da es sich im vorliegenden Falle aber
nicht um eine Unterbringung in einer Privatanstalt, sondern in einer
öffentlichen Anstalt handelte, so waren die darin gegebenen Vor¬
schriften für den Beklagten an sich nicht maßgebend. Aber auch
selbst bei Anwendung dieser Vorschriften gibt das Zeugnis des Be¬
klagten zu Bemängelungen wesentlicher Art keinen Anlaß.
Nach § 2 des Ministerialerlasses vom 26. März 1901 soll das
Zeugnis des Kreisarztes enthalten:
a) die Veranlassung und Zweck seiner Ausstellung,
b) Zeit und Ort der Untersuchung,
c) die dem Untersuchenden gemachten Mitteilungen.
d) die eigenen Wahrnehmungen des Arztes.
Endlich muß das Zeugnis die Krankheitszeichen genau angeben
und begründen, weshalb der Kranke der Aufnahme in die Anstalt
bedarf.
Diesen Erfordernissen ist das Gutachten des Beklagten im
wesentlichen gerecht geworden.
Die Angaben über Veranlassung und Zweck sowie über Zeit
und Ort der Untersuchung sind in dem Zeugnis enthalten. Dasselbe
führt ferner im Eingänge eingehend die Mitteilungen der Beamten
des 13. Polizeireviers über diejenigen Vorgänge auf, welche zu dem
Verdacht der Geistesgestörtheit der Klägerin und zu der Herbei-
holung des Kreisarztes geführt haben. Getrennt davon hat sodann
der Beklagte seine eigenen Wahrnehmungen in ausreichender Weise
niedergelegt. Er hat sich von der Klägerin den Inhalt ihrer Ver¬
folgungsvorstellungen erzählen lassen, hat sie über ihr Vorleben be¬
fragt und ihre Angaben notiert, hat von ihr ein auf ihre Ideen be¬
zügliches Schriftstück entgegengenommen und auch erwähnt, daß
mitten in ihrer Erregtheit eine gewisse Tierliebe zum Ausdruck ge¬
kommen sei, indem sie an die Versorgung ihres Papageis gedacht
habe. Er hebt auch ihr erregtes Verhalten bei der Untersuchung
hervor.
Eine genaue Aufzählung der Krankheitszeichen, wie sie der
Erlaß fordert, läßt allerdings das Zeugnis vermissen, dadurch wird
aber die Brauchbarkeit des Zeugnisses nicht beeinträchtigt, da sich
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 219
die Krankheifssymptome aus der vorangegangenen Schilderung des
objektiven Befundes von selbst ergeben. Dagegen hat der Beklagte
die Notwendigkeit der Aufnahme in eine Irrenanstalt mit der Un¬
ruhe und der Denunziersucht der Klägerin ausreichend begründet.
Die Behauptung der Klägerin, daß der Beklagte eine llnter-
suchung überhaupt nicht vorgenommen habe, muß durch den vor¬
stehend dargelegten Inhalt des Zeugnisses als widerlegt gelten, wobei
der Gerichtshof auch in Berücksichtigung gezogen hat, daß sich die
Klägerin bei dem Vorfälle in einem Zustande schwerer seelischer
Erregung befunden hat, wodurch ihr Vorstellungskreis und damit
auch ihr Erinnerungsvermögen in krankhafter Weise beeinflußt ge¬
wesen ist.
In Übereinstimmung mit den eingehend motivierten Gutachten
des Kgl. Medizinalkollegiums zu B. und der Wissenschaftlichen Depu¬
tation für das Medizinalwesen ist daher der Gerichtshof zu der Über¬
zeugung gelangt, daß der Beklagte bei der Untersuchung und Be¬
gutachtung des Geisteszustandes der Klägerin mit der vom ärzt¬
lichen Standpunkt aus gebotenen Gewissenhaftigkeit zu Werke ge¬
gangen ist. Die seitens der Klägerin gegen die Gbjektivität der ge¬
nannten Behörden gerichteten Angiffe sind als unberechtigt zurück¬
zuweisen. Die Tatsache, daß ein Mitglied der Wissenschaftlichen
Deputation, Direktor der städtischen Irrenanstalt H. ist, vermag den
Einwand der Befangenheit der Deputation nicht zu rechtfertigen.
Ist somit nach vorstehenden Darlegungen dem Beklagten aus
der Art und Weise der Untersuchung ein Vorwurf nicht zu machen,
so kann es sich nur noch fragen, ob er sich bei der Schlußfolgerung,
welche er aus dieser Untersuchung auf den Charakter der Krankheit
der Klägerin gezogen hat, eines Verstoßes gegen seine dienstlichen
Pflichten schuldig gemacht hat. Hierbei ist davon auszugehen, daß
nach der ständigen Rechtsprechung des Gberverwaltungsgerichts
eine bloß irrtümliche Feststellung oder Beurteilung der tatsächlichen
Verhältnisse sich noch nicht als eine Verletzung der Amtspflichten
darstellt. Selbst wenn der Beklagte sich geirrt hätte und seine
Diagnose auf Geisteskrankheit objektiv unrichtig gewesen wäre,
kann ihm daraus kein Vorwurf gemacht werden, wenn nach ärzt¬
lichen Grundsätzen die Möglichkeit einer derartigen Diagnose auf
Grund des tatsächlichen Ergebnisses der Untersuchung nicht aus¬
geschlossen war. Wie aber von der Wissenschaftlichen Deputation
nachgewiesen, konnten nach den Ergebnissen der Untersuchung
über das Vorliegen einer Geisteskrankheit zu jener Zeit Zweifel nicht
bestehen. Der Beklagte hat sich allerdings in seinem Gutachten nicht
darauf beschränkt, dasVorhandensein von Geisteskrankheit anzunehmen,
sondern weiter noch ausdrücklich festgestellt, daß die Klägerin ge¬
meingefährlich und deshalb nach D. zu überführen sei. Eine Gemein¬
gefährlichkeit eines Geisteskranken ist im allgemeinen nur dann
anzunehmen, wenn ein öffentliches Interesse an der Unterbringung
des Geisteskranken in einer Anstalt obwaltet. Das Vorliegen eines
solchen wird in allen denjenigen Fällen anzuerkennen sein, wenn
220 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
von dem Kranken eine Störung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit
und Ordnung zu befürchten ist. Auch nach dieser Richtung hin ist
kein Anhalt dafür gegeben, daß dem Beklagten bei dem von ihm
abgegebenen Urteil eine Pflichtversäumnis zur Last gelegt werden
kann. Der Beklagte hat in seinem Atteste die Qemeingefährlichkeit
der Klägerin mit ihrem unruhigen Verhalten und den falschen Denun¬
ziationen begründet. Was die letzteren anbetrifft, so war der Be¬
klagte berechtigt, die ihm hierüber gemachten Angaben der Polizei¬
beamten als wahr zu unterstellen. Er hatte keine Verpflichtung,
diese Angaben seinerseits nachzuprüfen, zumai dieselben, wie aus
dem Inhalt des Attestes hervorgeht, mit seinen persönlichen Wahr¬
nehmungen im wesentlichen übereinstimmten. Daß aber die vor¬
gebrachten Tatsachen zum Nachweise der Qemeingefährlichkeit ge¬
nügten, hat sowohl das Medizinalkollegium, als auch die Wissen¬
schaftliche Deputation anerkannt. Das Medizinalkollegium hat dabei
insbesondere erwogen, daß bei dem Fortbestehen ihrer Verfolgungs¬
vorstellungen die Klägerin ieden Augenblick wieder ähnliche schäd¬
liche Handlungen auszuüben in der Lage gewesen wäre. Damit
waren die Voraussetzungen für eine Störung der öffentlichen Sicher¬
heit gegeben. W ar aber die Möglichkeit einer derartigen Annahme
nach den Grundsätzen der ärztlichen W'issenschaft nicht aus¬
geschlossen, so verstieß der Beklagte nicht gegen seine Amtspflichten,
wenn er in seinem Gutachten die Gemeingefährlichkeit der Klägerin
bezeugte.
Hiernach kann dem Beklagten aus der Ausstellung des Gut¬
achtens vom 15. Januar 1902 der Vorwurf einer Dienstpflichtver¬
letzung nicht gemacht werden und war somit der Konflikt für be¬
gründet zu erklären.
Nachdem in den letzten Jahren wiederholt Differenzen
zwischen Anstaltsleitern und Rechtsheiständen
vorgekommen ‘) sind, hat das Badische Ministerium zur Frage
der Zulassung von Anwälten zu den Kranken Stellung genom¬
men *).
Der Verkehr von in Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten
Kranken, soweit dieselben nicht geschäftsunfähig sind (vergl. § 104
B.Q.B.), mit auf ihre Veranlassung und ihren Wunsch hin sie be¬
suchenden Rechtsanwälten findet unseres Erachtens nur in den Vor¬
schriften der Hausordnung und dem Gesundheitszustand der Kranken
selbst, sofern dieser etwa einen Verkehr mit dritten Personen als
für sie schädlich erscheinen läßt, eine Schranke. Abgesehen davon,
daß diese Kranken unter Umständen zur Besorgung der verschieden-
B V. der Helm, Zwei Fälle von Meinungsverschiedenheit zwischen
Psychiater und Rechtsanwalt. Sitzungsbericht des Psych. Vereins der
Rheinprov. Juni 1911. Allg. Zeitschr. f. Psych. 1911 und Neurol. Zen-
tralbl. 1911. Weiler-Werthauer, Sitzg. d. psych. Vereins Berlin 1911.
*) Psych. Wochenschr., Bd. 14. S. 43.
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 221
artigsten Rechtsangelegenheiten eines juristischen Beistandes be¬
dürfen, steht ihnen nach §§ 4 , 5, 9 des Irrenfürsorgegesetzes auch ein
Recht auf Klage bez. Einspruch gegen ihre Unterbringung bez.
Zurückbehaltung in der Anstalt zu, und, soweit sie auch zur Geltend¬
machung dieser Rechte der Zuziehung eines Rechtsanwaltes nicht
unbedingt bedürfen sollten, so kann ihnen doch die Zuziehung eines
solchen nicht versagt werden.
Anders wird die Frage bei Geschäftsunfähigen, insbesondere also
bei entmündigten Personen sich gestalten, da diese im allgemeinen
keine Rechtshandlungen ohne ihren gesetzlichen Vertreter vornehmen
können, ein Verkehr des Rechtsanwalts mit ihnen daher in der Regel
nicht nötig fallen, sondern der Verkehr zwischen dem Rechtsanwalt
und dem gesetzlichen Vertreter des Entmündigten genügen wird.
Aber auch hier kommt in Betracht, daß insoweit der Entmün¬
digte seine Entmündigung bekämpfen will, die Zivilprozeßordnung
ihm hierfür verschiedene Rechtsbehelfe an die Hand gegeben hat
(vergl. §§ 664, 675, 679 Abs. 3 Z.P.O.), deren er sich in eigener Person
ohne Zuziehung seines gesetzlichen Vertreters bedienen kann, und
daß, sofern er behufs Geltendmachung dieser Rechte sich eines
Rechtsanwalts bedienen will, ihm dies nicht versagt werden kann.
Es wird daher auch der Verkehr entmündigter Geisteskranker mit
Rechtsanwälten nur insoweit gehindert werden können, als es sich
dabei nicht um die Aufhebung der Entmündigung handelt, sondern um
die Wahrnehmung anderer Rechte, welche der Entmündigte über¬
haupt nicht selbständig, sondern nur durch seinen gesetzlichen Ver¬
treter geltend machen kann.
Auf den A’erkelir zwischen Anstaltsarzt und
Angehörigen beziehen sich die folgenden Entscheidungen
bzw. Erlasse;
Der bewußt wider den Willen des zum Verbote des Eintretens
befugten Hausverwalters in ein Gemeindekrankenhaus eintretende
Angehörige eines dort untergebrachten Kranken macht sich des Haus¬
friedensbruchs schuldig. (Dresden, 11. 8. 09.) Sächs. R. Arch., Bd. 5,
S. 219 und Jahrbuch 1910, S. 39.
Der Leiter einer Irrenanstalt handelt schuldhaft, wenn er den
einem eingebrachten Kranken abgenommenen Geldschrankschlüssel
ohne weiteres der Frau des Kranken aushändigt.
„Es liegt den Leitern von Irrenanstalten ob, sich jedes unberech¬
tigten Eingriffs in die Vermögensrechte der aufgenommenen Kranken
zu enthalten. Wollen sie die dem Kranken abgenommenen Sachen
anderen herausgeben, so darf dies nur nach gewissenhafter Prüfung
der Sachlage geschehen. Daß die Sachen des Kranken nicht schlecht¬
hin den Angehörigen, insbesondere der Ehefrau, herausgegeben
werden dürfen, darüber müssen die Leiter solcher Anstalten unter¬
richtet sein. Gerade sie müssen auch notwendig mit der Möglichkeit
rechnen, daß die Verhältnisse in der Familie des Geisteskranken
222 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
zerrüttet sind und die Gefahr eines Mißbrauchs gegeben ist. (R.Q. III.
1. 4. 10.) Das Recht 1910, Entsch. Nr. 1921.
Erlaß vom 14. Mai 1904 betreffend Behandlung
geisteskranker Personen in Anstalten mit mehreren
Verpflegungsklassen. (Psych. Wochenschr., Bd. 6, S. 152.)
Für den Fall, daß in Provinzialanstalten für geisteskranke Per¬
sonen, welche in die erste oder zweite Klasse aufgenommen sind,
vorübergehend — wenn auch unter Aufrechterhaltung der Ver¬
pflegung — wegen Unruhe auf Abteilungen für Kranke sogenannter
Dritter oder vierter Klasse behandelt werden müssen, empfiehlt es
sich, alsbald den Angehörigen oder dem gesetzlichen Vertreter hier¬
von Mitteilung zu machen. An einzelnen Stellen wird schon bei
der Aufnahme eines Kranken in eine höhere Verpflegungsklasse der
Vorbehalt einer Versetzung auf eine für Kranke mit geringerem Ver¬
pflegungssätze bestimmte Abteilung für den Fall besonderer Erregung
oder sehr störenden Verhaltens des Kranken gemacht ....
Die Entlassung harmloser Geisteskranker regelt sich nach
rein medizinischen Gesichtspunkten’). Für gefährliche Kranke
gellen die folgenden Ministerialerlasse:
Aus dem Erlaß vom 15. 6. 01. M. d. g., A. M. 6368.
Ew. Exzellenz ersuchen wir ergebenst, zu veranlassen, daß in
der dortigen Provinz,
1. geisteskranke, auf Grund des § 51 Str.G.B. freigesprochene
oder auf Grund des § 203 Str.P.O. außer Verfolgung gesetzte Per¬
sonen und geisteskranke Verbrecher, bei denen der Strafvollzug aus¬
gesetzt ist, — sofern diesen Personen ein Verbrechen oder ein nicht
ganz geringfügiges Vergehen zur Last gelegt ist —,
2. diejenigen auf Veranlassung der Polizeibehörde aufgenom¬
menen Geisteskranken, bei denen die Polizeibehörde ausdrücklich das
Ersuchen um Mitteilung von der beabsichtigten Entlassung gestellt hat,
3. sonstige nach Ansicht des Anstaltsleiters gefährliche Geistes¬
kranke, aus den öffentlichen Irrenanstalten nicht entlassen werden,
bevor dem Landrat, in Stadtkreisen der Ortspolizeibehörde des
künftigen Aufenthaltsortes — und, wenn dieser außerhalb Preußens
liegt, der gleichen für den Ort der Anstalt zuständigen Behörde —
Gelegenheit zur Äußerung gegeben ist. Die Leiter der Anstalten
werden den genannten Behörden unter Mitteilung des Materials zur
Beurteilung des Kranken, insbesondere eines eingehenden ärztlichen
Gutachtens, die beabsichtigte Entlassung mitzuteilen haben und wer¬
den über sie erst nach Eingang der Äußerung der Behörden oder
nach Ablauf einer Frist von drei Wochen seit deren Benachrichtigung
Entscheidung treffen dürfen. Auch werden sie diese Behörden von
der Entlassung sofort zu benachrichtigen haben.
’) Moeli, Bestimmungen über die Entlassung Geisteskranker. Halle
a. S. 1906. Burger, Aufnahmebestimmungen. Tübingen 1905.
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 223
Aus dem Erlaß des Justizministeriums vom 6 . 1. 02. J. M. I.
Nr. 8450. Nimmt Bezug auf den vorhergehnden Erlaß und fährt dann fort:
An der Benachrichtigung über eine bevorstehende Entlassung
der hier bezeichneten Personen haben die Justizbehörden insofern ein
unmittelbares Interesse, als eine alsbaldige oder spätere Wiederauf¬
nahme der vorläufig eingestellten Untersuchung oder des ausgesetz¬
ten Strafvollzuges in Frage kommen kann, und es den Justizbehörden
erwünscht sein muß, sowohl den gegenwärtigen Gesundheitszustand,
als auch den Verbleib des Beschuldigten oder des Verurteilten zu er¬
fahren. Es entspricht aber auch der Stellung der Staatsanwaltschaft,
die ihr etw^a bekannten Umstände, welche die Bedenken gegen die
Entlassung eines ungeheilten Geisteskranken wegen seiner Gemein¬
gefährlichkeit zu begründen geeignet sein könnten, zur Kenntnis der
zuständigen Polizeibehörde zu bringen.
Der in einem Abdrucke beiliegende Runderlaß der Herren
Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten
und des Innern vom 16. Dezember 1901, welcher im Einvernehmen
mit mir erlassen worden ist, sichert der Staatsanwaltschaft eine
Mitwirkung bei der Entlassung geisteskranker Verbrecher aus öffent¬
lichen Irrenanstalten, soweit ein Interesse der Rechtspflege an dieser
Mitwirkung besteht, und zwar auch, soweit es sich um Strafsachen
handelt, in welchen die Strafvollstreckung den Amtsgerichten obliegt.
Die nach dem Runderlasse von der Staatsanwaltschaft abzugebenden
Erklärungen, für welche die oben hervorgehobenen Gesichtspunkte
maßgebend sein müssen, sind, soweit tunlich, umgehend zu erstatten,
in jedem Fall aber so zu beschleunigen, daß die Antwort mit den
wieder angeschlossenen Anlagen bei der anfragenden Polizeibehörde
innerhalb einer Woche wieder eingeht.
Aus dem Erlaß des Min. d. geistl. pp. Ang. und des Min. d. Innern
vom 20. 5. 04. M. d. G. A. M. 9696.
In dem Erlasse vom 15. 6 . 1901 — M. d. g. A. M. 6368, M. d. I,
Ila 9209 II — ist bestimmt, daß Geisteskranke auf Grund des § 51
des Str.G.B. oder § 203 der Str.P.O. außer Verfolgung gesetzte Per¬
sonen, welche polizeilicherseits öffentlichen Anstalten für Geistes¬
kranke überwiesen worden sind, sofern ihnen ein Verbrechen oder
ein nicht ganz geringfügiges Vergehen zur Last gelegt ist, nicht
entlassen werden sollen, bevor dem Landrat, in Stadtkreisen der
Ortspolizeibehörde des künftigen Aufenthaltsortes Gelegenheit zur
Äußerung gegeben ist.
Zugleich ist weiter angeordnet, daß die Leiter der Anstalten
über die beabsichtigte Entlassung erst nach Eingang oder nach Ab¬
lauf einer Frist von 3 Wochen seit deren Benachrichtigung Entschei¬
dung treffen können. Im Anschluß hieran bestimmt sodann der Er¬
laß vom 16. 12. 1901 M. d. g. A. M. 8224, M. d. I, Ila 8708 — daß.
in Fällen von besonderer Wichtigkeit und Schwierigkeit von der
Polizeibehörde zur Abgabe ihrer Äußerung die Entscheidung des Re¬
gierungspräsidenten nachzusuchen ist.
224 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
Wir bestimmen hiermit, daß fortan in gleicher Weise alle Fälle
der vorgedachten Art zu behandeln sind, in denen ein richterliches
Mittel über die Täterschaft eines Angeschuldigten, welcher erheb¬
liche Vorstrafen nicht erlitten hat, wohl verträgt, weil der § 51
Str.Q.B. oder der § 203 Str.P.O. zur Anwendung gekommen ist.
Für Entweichungen v-on Geisteskranken und deren straf-
und zivilrechtliche Folgen kann die Anstaltsvervvaltung als solche
nicht verantwortlich gemacht werden, wenn sie bei der Auswahl
des Ärzte- und Pflegeper.sonals die erforderliche Sorgfalt hat
walten lassen. Unter Umständen könnte aber wohl der einzelne
Arzt herangezogen werden, z. B. dann, wenn er das Pflegepersonal
auf einen fluchtverdächtigcn „Gefangenen“ nicht besonders auf¬
merksam gemacht hat und dieser dann entweicht.
Eine besondere Gefahr für den Irrenarzt und Pfleger stellen
die Untersuchungsgefangenen dar, welche gemäß § 8i der Straf¬
prozeßordnung zur Beobachtung ihres Geisteszustandes in die
Irrenanstalt eingewiesen werden. \’ielfach handelt es sich dabei
um schwer Kriminelle, von denen ein Teil auch schon gewisse
Kenntnisse der Ausbruchstechnik besitzt. Es kommt noch hinzu,
daß diese Patienten gar nicht so selten gerissener sind, als manche
Pfleger. Alles das macht ihre Verwahrung besonders schwierig,
denn diese Kranken gelten als Untersuchungsgefangene auch wäh¬
rend ihres Aufenthaltes in der Irrenanstalt. Wenn sie also durch
die Fahrlässigkeit eines Arztes oder Pflegers Gelegenheit finden
zu entweichen, so kann auch da unter Umständen eine Bestrafung
des Beschuldigten erfolgen. Notwendig ist es allerdings, daß dem
Schuldigen die Beaufsichtigung über die Person des Gefangenen
anvertraut war.
Wir sind damit an einem der schwierigsten Kapitel der
ganzen irrenärztlichen Tätigkeit angelangt, nämlich die Unter¬
bringung der geisteskranken Verbrecher.
Nach der geltenden Rechtsprechung*) werden sie auch wäh¬
rend ihres Aufenthaltes in der Irrenanstalt als Gefangene an-
*) Nach künftigem Strafrecht sollen verbrecherische Geisteskranke
für eine vom Gericht festzusetzende Reihe von Jahren in besonderen
festen Irrenanstalten untergebracht werden können (Psych. Wochenschr.»
Dd. 15, S. H). Eine r e i c h s gesetzliche Regelung des gesamten Irien-
wesens haben die Bundesregierungen abgelehnt (Psych. Wochenschr.,
Bd. 15, S. 68), dagegen sind Vorarbeiten für ein Preußisches Irrengesetz
im Gange (Psych. Wochenschr., Bd. 15, S. 77).
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 225
gesehen. Ihre vorsätzliche oder fahrlässige Befreiung') gilt also
als Gefangenenbefreiung i. S. der §§ 120, 121 -).
Gefangener ist jeder, dem in gesetzlicher Form die persönliche
Freiheit entzogen ist und der sich infolgedessen in der Gewalt der
zuständigen Behörde befindet. (R.G. I. 5. 12. 10, Entsch. 44, 171.)
Gemeingefährliche Geisteskranke, die in Preußen von der Polizei¬
behörde in einer Irrenanstalt untergebracht sind, sind als Gefangene
im Sinne der Strafvorschriften der §§ 120, 121 St.G.B. zu erachten.
(R.G. 5. 12. 10.) Entsch., Bd. 44, S. 171.
Ein nach § 3, 1 der Badischen Landes-Verordnung vom 3. Okt.
1895 als „Seelengestörter, der für sich und andere gefährlich“, vom
Bezirksamte in eine öffentliche Irrenanstalt verbrachter Geistes¬
kranker, ist ein Gefangener im Sinn der §§ 120, 347 St.G.B. (R.G.
1. Urteil V. 5. 10. 08.) Das Recht 1908, S. 607. Entsch. Nr. 3356.
Auf Anordnung der Polizeibehörde war ein Kranker als gemein¬
gefährlicher Geisteskranker in der Landesheilanstalt untergebracht.
Auf einem unter Aufsicht des Pflegers Ki. unternommenen Spazier¬
gange begegnete er einer ihm bekannten Wäscherin K. und beschloß
zu fliehen. Nach kurzem Widerstande gab der Pfleger nach und begab
sich mit den beiden zunächst nach Frankfurt a. M. und dann nach
Mainz. Daraufhin wurde Ki. wegen vorsätzlicher Gefangenenbefreiung
vom Landgericht Wiesbaden zu einem Monat Gefängnis verurteilt.
Den Einwand des Ki., er habe nicht gewußt, daß G. als gemeingefähr¬
licher Geisteskranker auf polizeiliche Anordnung in der Anstalt imter-
gebracht sei, erachtete das Gericht für unbeachtlich, da er, wenn er
vielleicht auch keine direkte Kenntnis davon habe, doch infolge der
warnenden Äußerungen der Ärzte, den Kranken auf das schärfste zu
bewachen, mit der naheliegenden Möglichkeit hätte rechnen müssen.
Ki. legte Revision beim Reichsgericht ein, aber ohne Erfolg. Der
höchste Gerichtshof bejahte die Frage, ob G. als Gefangener an¬
zusehen sei. Gefangene seien alle die Personen, welche in gesetzlich
gebilligter Form aus Gründen der öffentlichen Sicherheit als gemein¬
gefährlich ihrer persönlichen Freiheit beraubt seien. Das Rechts¬
mittel wurde verworfen. (Sächsische Korrespondenz.) R.G. 5. 12. 10.
Psych. Wcchenschr., Bd. 13, S. 2 u. Zeitschr. f. Med.-Beamte 1910,
S. 241.
Nach den Feststellungen wurde Sch. nach Antritt der ihm zu¬
erkannten dreijährigen Zuchthausstrafe aus der Strafanstalt auf Ver¬
anlassung des Anstaltsarztes unter einstweiliger Gewährung von
Strafunterbrechung als Geisteskranker nach der
staatlichen Irrenanstalt verbracht und dort bis auf weiteres interniert.
Hieraus folgt, daß Sch. während der Zeit, in welche die Begünstigung
seiner Flucht durch M. fällt, nicht mehr Strafgefangener war,
*) Betr. Beihilfe bei Entweichungen. Psych. Wochenschr. Bd. 12,
S. 368.
*) S. auch Vocke, Psych. Wochenschr. Bd. 12, S. 450. L. W. \\ eher,
Monatsschr. f. Kriminalpsych., 8 . Jahrg., S. 158.
Höbner* Forensische Psychiatric.
15
226 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
und kann hieran auch der Umstand nichts ändern, daß Sch. in der
sogenannten Zellenabteilung, in der sich hauptsächlich die aus
der Untersuchungshaft oder Strafhaft der Irrenanstalt überwiesenen
Personen befinden, untergebracht und hier einer besonders auf¬
merksamen Bewachung und Beaufsichtigung durch das Wärter-
personal unterstellt war. Zwar ist damit nicht ausgeschlossen,
daß er gleichwohl auch in dieser Zeit ein Gefangener war,
da unter einem solchen im Sinne der §§ 12 üff. des St.O.B. jeder zu
verstehen ist, welchem durch ein Organ der Staatsgewalt in formell
gesetzlich gebilligter Weise aus Gründen des öffentlichen Interesses
die persönliche Freiheit entzogen wurde und welcher sich infolge¬
dessen während der Dauer der Freiheitsentziehung in der Gewalt der
zuständigen Behörde befindet. (Rechtsprechung des R.G. in Straf¬
sachen, Bd. IV, S. 356, Bd. VII, S. 273; Entsch. des R.G. in Strafsachen,
Bd. XII, S. 426, Bd. XV, S. 39, Bd. XIX, S. 330.) Das erste Urteil läßt
aber in dieser Hinsicht jegliche nähere Feststellung vermissen, wer
die Unterbringung des Sch. als Geisteskranker in der Irrenanstalt an¬
geordnet hat, ob diese namentlich durch eine staatliche Behörde ge¬
schah, ob dieselbe zu einer derartigen Anordnung gesetzlich zuständig
war, ob die Anordnung aus Gründen des öffentlichen Interesses ge¬
schah und Sch. auch während seiner Detention in der Gewalt der
dieselbe anordnenden Behörde verblieb. Das vorige Urteil spricht
auch hier nur ganz im allgemeinen davon, daß Sch. zur Zeit seiner
Flucht auf Anordnung der zuständigen Behörde sich dortselbst befand
und aus Gründen des öffentlichen Interesses als Geisteskranker und
gemeingefährlicher Verbrecher hier seiner persönlichen
Freiheit beraubt war. Irgendeine nähere Begründung hat aber auch
diese erstrichterliche Annahme nicht gefunden und bleibt insbesondere
völlig unaufgeklärt, welche Behörde der Vorderrichter hierbei im Auge
hatte, die Strafvollstreckungsbehörde, welche infolge der gewährten
Strafunterbrechung mit dem einstweilen aus der Strafhaft entlassenen
Sch. zunächst nicht weiter befaßt war, den Gefängnisarzt, welcher
ersichtlich nur die Überführung des Sch. aus der Strafanstalt in die
Irrenanstalt anregte, aber nicht anordnete und füglich auch nicht wohl
anordnen konnte, die Polizeibehörde oder irgendeine andere Behörde.
(R.G. III. 19. 10. 02 .) Jur. Wochenschr. 1903, S. 74.
Für die Pfleger staatlicher Anstalten kommen auch noch die
folgenden Entscheidungen in Betracht :
War der Angeklagte als Krankenwärter einer Irrenanstalt im
Staatsdienst angestellt, so kommt es für die Anwendung des § 347
St.G.B. nicht darauf an, daß die Beaufsichtigung und Bewachung von
Gefangenen nicht zu seinen regelmäßigen Amtsgeschäften gehörten,
sondern nur darauf, ob ihm in seiner Eigenschaft als Wärter der Irren-
^) Sie beziehen sich auf das Entweichenlassen von Gefangenen
(§ 347) und den Begriff des Beamten (§ 359), s. hierzu auch S. 320.
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 227
anstalt der Gefangene zur Beaufsichtigung und Bewachung über¬
geben worden war. (R.Q. III. 2. 10. 11.)
Das Recht 1911, Entsch. Nr. 3589.
Ein Krankenwärter, dessen ihm zugewiesene Dienstleistungen
sich auf die An- und Abmeldung und Pflege der Kranken und die
Reinigung und Heizung der Räume beschränken, ist kein Beamter im
Sinne des § 359 (und des § 174, Nr. 3) St.Q.B., da er hiernach nicht
berufen ist, als Organ der Staatsgewalt unter öffentlicher Autorität
für Staatszwecke tätig zu sein. (R.Q. IV. 28. 1. 08.)
Das Recht 1908, Entsch. Nr. 910.
Wie die Verhältnisse gegenwärtig liegen, werden die ver¬
brecherischen Geisteskranken fast überall in den Irrenanstalten
unter den übrigen Patienten gehalten. Besondere Verbrecher¬
häuser für die Gefährlichen bestehen nur bei einigen Anstalten,
und man muß gestehen, daß auch sie nicht immer verhindern
können, daß Entweichungen erfolgen, denn der gewiegte Gro߬
stadtverbrecher arbeitet bei seiner Befreiung mit so vielen gro߬
zügigen Mitteln, hat außerdem stets von außen her Hilfskräfte,
welche ihm die Flucht erleichtern, so daß es kaum möglich ist,
die Entweichungen ganz zu verhindern.
Da nun die Zahl der geisteskranken Verbrecher größer ist
wie die der vorhandenen Plätze in den Verwahrungshäusern, so
ergibt sich ohne weiteres die Notwendigkeit, diese Kranken mit
den anderen gemeinsam zu verpflegen. Darin liegt aber eine
außerordentlich große Schwierigkeit. Die Kriminellen in nicht
gesicherten Abteilungen gemeinsam unterzubringen, ist unmög¬
lich, weil die notwendige Konsequenz eines derartigen Versuchs
binnen kurzem eine Revolte wäre^), bei der ein großer Teil der
Internierten fliehen würde, nachdem ein bedeutender Material¬
schaden angerichtet wäre. Es bleibt also nichts anderes übrig,
wie diese gemeingefährlichen Kranken unter die anderen möglichst
zu verteilen, denn nur dadurch, daß sie in der Menge der übrigen
aufgehen, gelingt es, einigermaßen mit ihnen fertig zu werden.
Daß das für die übrigen Kranken nicht immer angenehm ist, soll
nicht verkannt werden. Für diese Unzulänglichkeit kann aber
nicht der Irrenarzt als solcher verantwortlich gemacht werden,
sondern nur die Verhältnisse*).
*) Flügge, Monatsschr. f. Kriminalpsych. 1904.
*) Nach einer Entsch. v. 9. 11 . 11 des Bundesamtes für das Heimats¬
wesen (Psych. Wochenschr„ Bd. 13, S. 457) ist der zuständige Land¬
armenverband verpflichtet, die Kosten der Entw'eichung zu tragen.
15*
228 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
Ich habe soeben ein Wort gebraucht, das in der Polizei¬
sprache eine große Rolle spielt. Der Ausdruck ,.gerne in¬
gefährlich“ ist weder ein medizinischer noch ein juristischer.
Eine Definition des Wortes ist von vielen Autoren versucht
worden, die Anschauungen darüber, was als „gemeingefährlich“
anzusehen ist, gehen aber sehr weit auseinander.
Gemeint sind damit in erster Linie wohl Personen, die bereits
gezeigt haben, daß sie infolge ihrer Krankheit zur Verübung von
schweren Verbrechen neigen, andererseits keine Gewähr bieten,
daß diese verbrecherischen Neigungen in Zukunft nicht wieder
hervortreten’). Die ungünstige Prognose für die Zukunft ist
wohl das wesentlichste an dem Begriff. Wie schon oben aus¬
geführt wurde, ist das Wort auf die verschiedensten Verbrecher¬
kategorien und geisteskranke Kriminelle angewandt worden. Der
kleine rückfällige Dieb ist ebenso oft als gemeingefährlich be¬
zeichnet worden, wie der epileptische Mädchenstecher.
Eine neuere Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts be¬
sagt z. B. folgendes darüber -):
Das Oberverwaltungsgericht hatte in einem Rechtsstreit des
Viehhändlers B. gegen den Oberpräsidenten von S. darüber Entschei¬
dung zu treffen, ob und wann eine Person in die Irrenanstalt gebracht
werden darf. Als die Staatsanwaltschaft gegen B. w'egen Konkurs¬
verbrechens vorging, erklärten einige angesehene Ärzte, daß B.
geisteskrank sei und in eine Irrenanstalt gebracht werden müßte.
B. wurde alsdann entmündigt. B. wurde aber nicht interniert, sondern
half seinem Sohne im Viehhandel und unternahm häufig kleine Reisen
nach Hamburg, um Vieh zu kaufen. Wiederholt w'ar B. mit ver¬
schiedenen Personen heftig zusammengeraten; insbesondere mit einem
Gutsbesitzer, einem Tierarzt einem Viehhändler und einem Eisenbahn¬
beamten. B. war in seiner Ausdrucksweise nicht wählerisch; er nannte
seine Gegner Spitzbuben, Mordbrenner usw., auch schreckte er nicht
davor zurück, tätlich zu W'erden. Er verbreitete bisweilen sogar
Schmähschriften, w'elche die schlimmsten Beleidigungen enthielten.
Wurde gegen B. bei der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet, so
mußte schließlich das Verfahren immer wieder eingestellt w^erden, w'eil
B. von angesehenen Ärzten für geisteskrank erklärt worden war.
Nachdem aber B. den Kreistierarzt und einen Eisenbahnbeamten wegen
eines Viehtransportes mit argen Schmähungen überhäuft hatte, w'urde
die Staatsanw'altschaft beim Regierungspräsidenten in E. vorstellig
und betonte, B. sei ein gemeingefährlicher Geisteskranker, welcher
in eine Irrenanstalt gebracht werden müsse.
Die gleiche Auffassung bei Hurwicz, Monatsschr. f. Kriminalpsych.
1912, S. 399. Dort Literatur.
Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1913. S. 68 .
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 229
Die Polizeibehörde erließ alsdann auf Veranlassung des Regie¬
rungspräsidenten, nachdem noch ein amtlicher Arzt B. für einen ge¬
meingefährlichen Geisteskranken erklärt hatte, eine Verfügung, nach
welcher B. in sicherheitspolizeilichem Interesse in eine Irrenanstalt
gebracht werden sollte. Diese Verfügung wurde nach fruchtloser Be¬
schwerde im Verwaltungsstreitverfahren angefochten. Es wurden
noch verschiedene Gutachten erstattet. Professor E. kam zu dem
Ergebnis, daß B. nicht zu den gemeingefährlichen Geisteskranken
gehöre und nicht in eine Irrenanstalt befördert zu werden brauche.
Das Medizinalkollegium für die Provinz S. erklärte hingegen, B. sei
geisteskrank und müsse in N. und Umgegend, wo er mit verschiedenen
Personen in heftigen Konflikt geraten sei, als gemeingefährlich an¬
gesehen werden. Dementsprechend hätte auch der Oberpräsident die
polizeiliche Verfügung dahin abgeändert, daß B. in eine Irrenanstalt
zu bringen sei, sobald er sich in N. und Umgegend aufhalte. Die Klage
gegen den Bescheid des Oberpräsidenten wurde vom Oberverwaltungs¬
gericht abgewiesen und unter anderem ausgeführt, B. sei als eine ge¬
meingefährliche Person anzusehen, welche in einer Anstalt interniert
werden müsse. Nach § 10, II, 17 des Allgemeinen Landrechts, welcher
nach wie vor in der ganzen Monarchie gelte, gehöre es zu den Auf¬
gaben der Polizeibehörde, unmittelbar drohende Gefahren vom
Publikum abzuwenden.
Nach dieser Entscheidung ist also schon derjenige gemein¬
gefährlich und anstaltspflegebedürftig, welcher auf Grund seiner
Geisteskrankheit durch lärmendes Auftreten, beleidigende Worte
und Verbreitung von Schmähschriften die öffentliche Ord¬
nung stört.
In welcher Weise die Entlassung solcher gemeingefährlicher
Kranker zu erfolgen hat, ist oben bereits ausgeführt. Hier ist
nur noch zu erörtern, inwieweit die Unterbringung^) derselben
Sache der Landespolizeibehörde ist.
Das Bundesamt für das Heimatswesen hat sich folgender¬
maßen ausgesprochen;
Durch das erwähnte Gesetz (vom 11. Juli 1891) ist nach den all¬
gemeinen Grundsätzen des preußischen Armenrechts den Landarmen¬
verbänden keine über die öffentliche Armenpflege hinausgehende Auf¬
gabe zugewiesen worden. Die Verpflichtung der Landarmenverbände
zur Gewährung der Anstaltspflege tritt daher nur ein, wenn der
Geisteskranke oder Schwachsinnige ihrer zu seinem Schutze gegen
Gefahren oder zu seiner Heilung bedarf, aber nicht schon dann, wenn
der Schutz anderer Personen gegen Ausschreitungen des Geistes-
*) Über Unterbringung und Zurückhaltung s. Deutscher Juristentag
1900 in Bamberg. Vortrag Vierhaus. Ref. .iirztl. Sachverst.-Zeitg. 1900,
S. 424.
230 Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers.
kranken oder Schwachsinnigen seine Unterbringung erfordert. (Aus
einer E. vom 29. 10. 03.) Psych. Wochenschr., Bd. 6 , S. 499.
.Anders hat das Oberverwaltungsgericht entschieden, welches
sich auf eine Klage der Stadt Breslau dahin äußerte, daß gemein¬
gefährliche Geisteskranke als eine Unterart der hilflos aufgefun¬
denen Personen anzusehen seien. Die entstehenden Kosten seien
demnach mittelbare Polizeikosten. (Psych. Wochenschr., Bd. 6,
S. 65.)
Düring^) meint, die Justiz- oder Polizeibehörde habe für die
Verpflegungskosten aufzukommen: i. wenn sie die Krankenhaus¬
verwaltung ersucht hat, den Kranken nach Genesung wieder zur
Haft einzuliefern; 2. wenn sie ersucht hat, vor der Entlassung des
Kranken Nachricht zu geben; 3. die Gefangenschaft gilt nur dann
als aufgehoben, wenn der Kranke selbst freie Entschließung
darüber hat, ob er nach Hause zurückkehren oder in einem selbst¬
gewählten Krankenhause seine Heilung erwarten will; er darf nicht
verhindert gewesen sein, nach seiner Heilung sich als freier Mann
nach jedem ihm beliebigen Orte zu begeben; 4. die Armenpflege
ist nicht zu den Kosten verpflichtet, wenn die Polizeibehörde er¬
sucht hat, den Kranken nicht ohne Genehmigung des Polizeipräsi¬
diums zu entlassen.
In den Verhandlungen im Abgeordnetenhause (21. März
1904)’) wurde die Ansicht des Bundesamtes für das Heimats¬
wesen als zutreffend anerkannt. Die Regierung stellte sich auf
den Standpunkt, daß die Landarmenverbände die Verpflichtung
hätten, auch die verbrecherischen Geisteskranken aufzunehmen.
Denn ,,ein Geisteskranker, welchem die freie Bewegung in der
menschlichen Gesellschaft nicht gestattet werden kann, und der aus
diesem Grunde in einer Anstalt bewahrt werden muß, bedarf
dieser Bewahrung auch in seinem eigenen Interesse, nieht nur des¬
halb, weil er sich selbst ebenfalls gefährlich ist, sondern auch, weil
sein eigenes gesundheitliches Interesse es verbietet, ihn der freien
Betätigung seiner auf Geisteskrankheit beruhenden gefährlichen
Neigungen in der Außenwelt zu überlassen“.
Meine eigene Ansicht zu dieser Frage ist folgende:
I. Wenn die gemeingefährlichen Geisteskranken aus unseren
Heilanstalten entfernt werden könnten, so wäre das sehr er-
*) Düring, Preuß. Verwalt.-Blatt 1904, Bd. 25, Nr. 25; s. Psych.
Wochenschr. 6 , 247.
’) Psych. Wochenschr., Bd. 6 , S. 475.
Die rechtliche Stellung des Irrenarztes und Irrenpflegers. 231
wünscht, weil ihre Anwesenheit die Behandlung anderer Kranker
unter Umständen beeinträchtigt.
2. Die gefährlichen Kranken würden besser in besonderen
Anstalten untergebracht, in denen für ihre gute Verwahrung
durch besondere Sicherheitsvorrichtungen Sorge zu tragen wäre.
3. Die Zahl derjenigen Kranken, die lediglich aus Rück¬
sicht auf die Öffentlichkeit längerdauernder Internierung
bedürfen, ist meines Erachtens kleiner als man gegenwärtig
annimnit.
4. Meist liegt es sowohl im Interesse des Kranken wie in dem
der Öffentlichkeit, daß der Patient interniert wird. Es gibt außer¬
dem viele Fälle, in denen das Befinden des Patienten derart
schwankt, daß die Unterscheidung, wie lange die Verwahrung in
der Anstalt aus medizinischen, wie lange aus Gründen der öffent¬
lichen Sicherheit erforderlich ist, unmöglich wird.
5. Wenn man lediglich nach den vom Bundesamt für
das Heimatswesen aufgestellten Grundsätzen verfährt, wird die
Entscheidung über die Kostenfrage sehr oft zuungunsten der
Provinzverbände ausfallen müssen.
6. Die ganze Kostenfrage sollte deshalb für die Zukunft nach
anderen Grundsätzen (Entlastung kleiner Gemeinden, Kosten¬
beitrag des Staats) geregelt werden.
7. Wünschenswert wäre es, wenn das gesamte Irren wesen
auch in Zukunft eine einheitliche Verwaltung behielte, weil da¬
durch die gleichartige Fortentwickelung des deutschen Anstalts¬
wesens gewährleistet wäre*). —
Daß die Zurückhaltung geisteskranker Verbrecher in den An¬
stalten lediglich wegen Gemeingefährlichkeit unter Umständen
auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte, ent¬
nehme ich einem Schreiben eines Landesdirektors an das zu¬
ständige Oberpräsidium, aus dem hervorgeht, daß in einem Falle,
in dem die Landesverwaltung auf den Einspruch einer Polizei¬
behörde hin einen Kranken entgegen dem Gutachten der Ärzte in
der Anstalt zurückhielt, die Königl. Staatsanwaltschaft gegen den
Landesdirektor eine Untersuchung wegen Freiheitsberaubung ein-
*) Literatur: Heilbronner, Moiiatsschr. f. Krimiiialpsych. 1904, H. 5.
Naecke, Psych. Wochenschr. 1905, S. 421 u. 453. v. Kunowski, Psych.
Wochenschr. 1905, S. 421. Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1900, S. 424. Weber,
Mon. f. Kriminalpsych. 1910. E. Schultze, Arch. f. Psych., Bd. 48. Aschaffen¬
burg, Z. f. d. ges. Rechtsw. 32, 735. Rusack, Psych. Wochenschr. 5, 389.
232 Das Recht zu chirurgischen Eingriffen an Geisteskranken.
leiten wollte. Das Verfahren wurde von der Oberstaatsanwalt¬
schaft nur deshalb nicht fortgeführt, weil angenommen wurde,
daß in subjektiver Hinsicht die Voraussetzungen einer Straftat
nicht gegeben waren. —
Zum Schluß dieses Kapitels ist noch eine Frage zu streifen:
Darf ein geistig abnormer Arzt Leiter einer
Krankenanstalt sein')?
Das Oberverwaltungsgericht entschied in einem Falle dahin,
daß die erforderliche Zuverlässigkeit im Gewerbe vorhanden sein
müsse. Sei dies der Fall, dann beständen keine Bedenken.
Es handelte sich um einen morphiumsüchtigen Arzt, der
infolge von Geisteskrankheit wiederholt Beleidigungsklagen
gegen Nachbarn anstrengte, die sich als haltlos erwiesen. Wegen
seines Geisteszustandes lehnte die Staatsanwaltschaft ein Vor¬
gehen gegen ilin ab.
Das O.V.G. stützte sich in seiner Entscheidung auf die Tat¬
sache, daß bei den Revisionen in der Anstalt festgestellt worden
sei, daß die krankhafte Neigung ohne Einfluß auf den Betrieb der
Anstalt sei.
Dan Keclit zu chirurgischen Eingriffen an Geistes¬
kranken.
§ 223. Wer vorsätzlich einen anderen körper¬
lich mißhandelt oder an der Gesundheit beschä¬
digt, wird wegen Körperverletzung mit Gefäng¬
nis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafen bis
zu tausend Mark bestraft . . . .
Nach verschiedenen Reichsgerichtsentscheidungen“) umfaßt der
Ausdruck ,,körperlich mißhandeln“ im weitesten und allgemeinsten
Sinne alle unmittelbar und physisch dem körperlichen Organismus
zugefügten Verletzungen. Danach sind auch die chirurgischen
Operationen strafbar. Trotzdem werden sie nicht bestraft. Es
sind verschiedene Theorien, welche die Straflosigkeit begründen
sollen, aufgestellt worden. Zwei Gesichtspunkte erscheinen mir
dabei von Bedeutung, einmal der, daß der geistig gesunde Mensch,
wenn er mündig ist, in der Lage ist, seine Einwilligung zur
') Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1907, S. 305.
“) E. 25. 375; 29, 58. Rechtsspr. i. Strafs. 10, 407. E. 32, 113.
Recht 6 , 156 und 10, 869.
Das Recht zu chirurgischen Eingriffen an Geisteskranken. 233
Operation zu erteilen. Damit kommt das Prinzip zu Recht,
volenti non fit injuria.
Zweitens aber kann man bei einer Operation, wie Heim¬
berger *) und Andere hervorheben, doch nicht von einer M i ß -
handlung oder einer Gesundheitsschädigung sprechen, ebensowenig
wie man bei einer Frauensperson von einem M i ß brauch spricht,
wenn dieselbe eine rechtsgültige Zustimmung zum Beischlaf er¬
teilt. —
Wenn wir von der theoretischen Schwierigkeit, welche in der
Begründung der Straflosigkeit liegt, absehen, so wird der Arzt am
zweckmäßigsten nach dem Grundsätze handeln, daß er bei jeder
Operation die Zustimmung des Patienten selber, oder wenn dieser
minderjährig ist, seines gesetzlichen Vertreters einholt. Letzteres
gilt auch bezüglich Geisterkranker, die in ihrer Geschäftsfähigkeit
beschränkt sind.
Voraussetzung dabei ist selbstv'erständlich, daß die Befragung
des Kranken selbst oder seines gesetzlichen Vertreters noch mög¬
lich ist, ohne daß durch die hiermit verbundene Verzögerung des
ärztlichen Eingriffs der Patient in Lebensgefahr gerät.
Ungefähr diesen Standpunkt vertritt eine Entscheidung des
Reichsgerichtes vom 31. Mai 1894, welche auszugsweise“) wieder¬
gegeben sei.
Für das Verhältnis zwischen Arzt und Patienten wird innerhalb der
Sphäre des bürgerlichen wie des peinlichen Rechtes an der zwischen
beiden Personen bestehenden Willensübereinstimmung unter allen Um¬
ständen als dem leitenden und entscheidenden Gesichtspunkte festzuhalten
sein. Mag man es Auftrag, Vollmacht, Dienstmiete, Werkverdingung oder
wie sonst nennen, in jedem Falle ist es der Wille des Kranken bzw. seiner
Angehörigen und gesetzlichen Vertreter, welcher überhaupt gerade diesen
Arzt beruft, die Behandlung dieses Kranken zu übernehmen. Solange
solcher Wille nicht tätig geworden ist, besteht der Regel nach zwischen
beiden Kategorien von Personen keinerlei rechtliche Beziehung. Hält
man dieses fest, dann ergibt sich die weitere Folgerung auch von selbst,
daß Inhalt und Umfang der dem Arzte solchergestalt eingeräumten Be¬
fugnisse in Anwendung aller Mittel seiner Kunst sich nicht minder regeln
muß durch den Rechtswillen des Kranken. Gewiß ist der Arzt zu der
Annahme befugt, daß der Kranke oder dessen Willensvertreter, die im
Vertrauen auf seine Kunst ihm die Behandlung der Krankheit übertragen
haben, sich folgeweise auch seinem Rate unterordnen, seine Weisungen
befolgen, sich seine Heilmittel gefallen lassen werden, ihm daher bei
*) Strafrecht und Medizin. München 1899. Beck.
“) Vollständig wiedergegeben bei Joachim & Korn: Ärzterecht.
Berlin 1911, S. 89. Siehe auch R.G.Str. 25, 375 und E. in Zivils. 68 , 431.
234 Das Recht zu chirurgischen Eingriffen an Geisteskranken.
allen seinen Eingriffen in den Organismus des zu Heilenden die Zustim¬
mung jener zur Seite steht. Auf dem Boden solcher tatsächlichen Ver¬
mutungen wird dann allerdings für die Auslegung des vernünftigen
Willens der Beteiligten der staatlich anerkannte oder sonst bewährte
Beruf des Arztes zweifellos von erheblicher Bedeutung werden. So
werden sich unbedenklich für die viel erörterten Ausnahmefälle, in denen
wegen Bewußtlosigkeit, Geisteskrankheit, Unzurechnungsfähigkeit des
Patienten oder bei Gefahr im Verzüge wegen Abwesenheit der Vertreter
des Kranken sich eine ausdrückliche Willensentschließung der hierfür
zuständigen Personen nicht erzielen läßt oder die Willensäußerungen des
Kranken oder seiner Angehörigen unklar, unsicher, schwankend lauten,
wertvolle praktische Folgerungen zugunsten des guten Glaubens und der
berechtigten Voraussetzungen des behandelnden Arztes im Sinne eines
ihm aktuell zur Seite stehenden Konsenses der Beteiligten ergeben. So
gewiß aber der verfügungsfähige Kranke durch Berufung des Arztes
zwecks Heilung seines Leidens dem Arzte nicht eine unbeschränkte
Gewaltherrschaft über seine Person eingeräumt hat, so gewiß der Auftrag
zum Heilverfahren iederzeit von ihm widerrufen, der eine Arzt durch
einen anderen ersetzt werden kann, so gewiß ist derselbe auch befugt,
der Anwendung jedes einzelnen Heilmittels, seien es innerlich wirkende
Medikamente, seien es äußere operative Eingriffe, rechtswirksam
W'eigerung entgegenzusetzen. Und mit dem Moment solcher Weigerung
des zurechnungsfähigen Kranken oder seiner gesetzlichen Willensver¬
treter erlischt auch die Befugnis des Arztes zur Behandlung und Mi߬
handlung einer bestimmten Person für Heilzwecke. Folgeweise handelt
derjenige Arzt, welcher vorsätzlich für Heilzwecke Körperverletzungen
verübt, ohne sein Recht hierfür aus einem bestehenden Vertragsverhältnis
oder der präsumptiven Zustimmung, dem vermuteten Auftrag hierfür
legitimierter Personen herleiten zu können, überhaupt unberechtigt, d. i.
rechtswidrig, und unterliegt der solche Delikte verbietenden Norm des
§ 223 Str.G.B. Noch zweifelloser tritt solche Rechtswidrigkeit hervor,
wenn der Arzt gegen den erklärten Willen jener Person handelt ‘).
Bei Geisteskranken, Unzurechnungsfähigen und Bewußtlosen
kann der Irrenarzt somit nur dann ohne rechtsgültige Zustimmung
operieren, wenn dem Kranken aus der Unterlassung ein erheb¬
licher Schaden erwächst. Dieser Fall wird in der Anstaltspraxis
oft Vorkommen. Nehmen wir z. B. einen selbstmordsüchtigen
Melancholiker, der im Raptus melancholicus sich Verletzungen
an den Handgelenken beibringt. Es ist selbstverständlich, daß
hier sofort die blutenden Gefäße unterbunden, die Wunden ver¬
näht und zweckentsprechende Verbände angelegt werden müssen.
Weitere Entscheidungen s. Soergel, Med. Klinik 1908, Nr. 30.
Hahn, Med. Klinik 1910, Nr. 18. Unabhängig hiervon ist die Behandlungs¬
und Operationspflicht bei gewissen Unfallkranken; vergl. z. B. Fuld,
Zeitschr. f. d. ges. Vers.-Wissenschaft, Bd. 9, Heft 3.
Das Recht zu chirurgischen Eingriffen an Geisteskranken. 235
ohne daß man erst die gesetzlichen Vertreter befragt. (Der
Kranke selbst ist für diese Frage nicht als geschäftsfähig an¬
zusehen.) Ein Irrenarzt, der erst alle Formalitäten erfüllen
wollte und dann operierte, würde seinem Patienten unter Um¬
ständen großen Schaden zufügen (s. auch S. 215 unten).
In der Frage, ob der gesetzliche Vertreter überhaupt be¬
rechtigt ist, seine Zustimmung zu einer \"erletzung der körper¬
lichen Integrität seines Mündels zu erteilen, möchte ich mich
auf den Standpunkt obiger Entscheidung und der in der Für¬
sorgeerziehung geltenden Praxis stellen und dem Vormund oder
sonstigen gesetzlichen Vertreter dieses Recht zuerkennen.
Auch dann, wenn eine rechtsgültige Einwilligung vorliegt,
kann der Arzt unter Umständen noch wegen Körperverletzung
bestraft und haftpflichtig gemacht werden. Dies ist dann mög¬
lich, wenn vorsätzlich oder fahrlässig (d. h. unter Außeracht¬
lassung der Regel ärztlicher Kunst) die Operation ausgeführt
wurde und diese infolgedessen dem Kranken körperlichen Schaden
gebracht hat. Wurde eine Operation entgegen den Regeln der
ärztlichen Kunst ausgeführt, ohne daß dieser Schaden eintrat, so
ist der Arzt weder strafbar, noch kann er haftpflichtig gemacht
werden. —
Hat der Arzt sorgfältig gehandelt und ist trotzdem ein un¬
erwünschter Erfolg nach der Operation eingetreten, so kann er
wegen desselben nicht haftpflichtig gemacht werden. —
Wie sich aus der oben zitierten Reichsgerichtsentscheidung
ergibt, kann der Patient der Anwendung jedes einzelnen Heil¬
mittels, welcher Art dasselbe auch sei, eine rechtswirksame
Weigerung entgegenstellen. Daraus folgt streng genommen, daß
der Arzt zu jeder therapeutischen Maßnahme die rechtsgültige
Zustimmung des Patienten *) einholen muß. Da der Kranke nun
seine Zustimmung meistenteils von einer Aufklärung über die
Natur des Leidens und die Wirksamkeit und möglichen Folgen
der beabsichtigten therapeutischen Maßnahmen abhängig machen
wird, erhebt sich für den Arzt die zweite Frage, wie weit er
den Kranken über sein Leiden und das Risiko, welches er mit
der Operation übernimmt, aufklären soll. Der Psychiater und
Neurologe wird nicht selten vor diesem Problem stehen, z. B.
Welche auch stillschweigend erfolgen kann; vergl. E. des R.Q. in
Jur. Wochenschr. 1907, S. 505.
236 Das Recht zu chirurgischen Eingriffen an Geisteskranken.
dann, wenn es sich um die Operation einer Gehimgeschwulst,
eines Abszesses und ähnlicher organischer Gehirnkrankheiten
handelt.
Das Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg hat in
einem Urteil vom 27. März 1913 zu dieser Frage Stellung ge¬
nommen und sich dahin ausgesprochen, daß der Arzt einen
Kranken nicht etwa auf alle nachteiligen Folgen aufmerksam zu
machen braucht, die aus der Operation möglicherweise entstehen
können, er braucht dem Patienten auch über die Gefährlichkeit
des Leidens, wegen dessen er die Operation anregt, nicht ganz
ins einzelne gehende Aufklärungen zu geben. Er muß sich aber
wenigstens im allgemeinen seines Einverständnisses zuvor ver¬
sichern und darf ihn ,,über wesentliche Umstände nicht im Un¬
klaren lassen“^).
Ähnlich wie dieses Urteil haben sich Zitelmann und andere
Autoren ausgesprochen. Es muß im letzten Grunde dem Takt¬
gefühl des Arztes überlassen bleiben, in welcher Form und wie
weit er den Patienten über sein Leiden, über die Operation und
deren mögliche Folgen aufzuklären für gut hält. Der Jurist muß
sich jedenfalls darüber klar sein, daß ein großer Teil aller lebens¬
rettenden Operationen, welche mit Erfolg ausgeführt werden,
sicher unterbleiben würden, wenn man den Patienten vorher ganz
genau und mit allen Einzelheiten über die Art seines Leidens und
alle in Betracht kommenden Möglichkeiten, wie die Operation
auslaufen kann, aufklären wollte.
Um bei dem oben zitierten Beispiel mit den Gehirn¬
geschwülsten zu bleiben, liegt die Sache in vielen Fällen so, daß
das Ableben eines Kranken mit Gehirngeschwulst, wenn nicht
operiert wird, nur eine Frage der Zeit ist. Sobald sich einmal be-
bedrohliche Symptome eingestellt haben, pflegt sich das Leiden
auch innerhalb weniger Monate oder Jahre so zu verschlimmern,
daß entweder Erblindung eintritt oder Lähmungserscheinungen
hinzukommen, oder sogar ül)er kurz oder lang das Ableben erfolgt.
Andererseits ist die Operation eine schwere, und selbst da,
wo eine genaue Lokalisierung der Geschwulst im Gehirn vor der
Operation möglich ist, ist der Patient großen Gefahren ausgesetzt.
Der Arzt wird in allen einigermaßen sicheren Fällen trotzdem
*) Das Urteil ist vollständig abgedruckt in der Ärztl. Sachverst.-
Zeitg. 1913, S. 265.
Das Recht zu chirurgischen Eingriffen an Geisteskranken. 237
die Operation anraten dürfen, denn da, wo sie gelingt, rettet sie
dem Patienten das Leben, oder verlängert es zum mindesten so
erheblich, daß man ihm mit gutem Gewissen raten kann, sich den
Gefahren einer Operation auszusetzen. Wenn man dem Patienten
nun die Aussichten mit so dürren Worten, wie das eben geschehen
ist, auseinandersetzen wollte, so würde er sich zu einer Operation
nur in seltenen Ausnahmefällen entschließen, und es würde ein
großer Teil derjenigen Leute, die heute durch die Operation ge¬
rettet werden, dem Tode verfallen. Schon deshalb allein ist es
notwendig, diplomatisch zu verfahren, und das kann der Arzt,
ohne von der Wahrheit abzuweichen.
Wir haben bis jetzt bloß den Fall betrachtet, daß eine rechts¬
wirksame Einwilligung zur Operation von seiten des Patienten
oder seines gesetzlichen Vertreters vorlag. Zu erörtern bleibt nun
die weit wichtigere Frage: Wie weit macht sich der Arzt dadurch,
daß er ohne gültige Einwilligung des Patienten die Behandlung
übernimmt, strafbar und schadenersatzpflichtig.
Es gibt auch da, wie Zitelmann ’) ausführt, verschiedene
Möglichkeiten:
1. Der Arzt operiert in dem Bewußtsein, daß eine gültige
Einwilligung fehlt und nicht erteilt werden würde oder deshalb
nicht erteilt werden kann,- weil dem Patienten von der Operation
nichts gesagt wurde.
In diesem Falle handelt der Arzt subjektiv rechtswidrig.
Nach der Rechtssprechung des Reichsgerichts liegt aber auch ob¬
jektiv eine vorsätzliche Körperverletzung vor. Der Arzt ist also
strafbar und gemäß § 823 Abs. i B.G.B. auch schadenersatz¬
pflichtig.
2. Der Operateur hat in dem Glauben gehandelt, eine wirk¬
same Einwilligung zu besitzen, während eine solche in Wirklich¬
keit fehlte.
Hier handelt der Arzt zwar objektiv, kaum jemals aber
subjektiv rechtswidrig. Wenn er die „im Verkehr erforder¬
liche Sorgfalt“ “) § 276 B.G.B.) angewandt hat. ist sein Irrtum
’) Zitelmann, Deutsche med. Wochenschr. 1908; derselbe, Arch. f. d.
zivil. Praxis, Bd. 99; derselbe, Haftung d. Arztes. Leipzig 1908. Der¬
selbe im Handbuch der Krankenanstalten. Jena 1911.
*) Das Reichsgericht hat in einem Falle (Schieioperation bei einem
minderjährigen Dienstmädchen, das auf Grund der Dienstbotenversiche¬
rung aufgenommen war) angenommen, daß der Arzt sich in entschuld-
238 Das Recht zu chirurgischen Eingriffen an Geisteskranken.
über das Fehlen der rechtsgültigen Einwilligung entschuldbar.
Er ist dann weder strafbar, noch schadenersatzpflichtig.
3. Der Arzt weiß, daß keine gültige Einwilligung vorliegt,
er nimmt aber mit Recht an, daß der Patient die Zustimmung
erteilt hätte, wenn man ihn hätte fragen können.
Hier handelt der Arzt in unbeauftragter Geschäftsführung *)
(negotiorum gestio), d. h. er tut das, was der Patient bei
Kenntnis der vorliegenden Verhältnisse vermutlich verlangt hätte.
Er ist weder strafbar, noch schadenersatzpflichtig.
4. Der Arzt glaubt, im Sinne des Kranken zu handeln. Später
stellt sich aber wider Erwarten heraus, daß der Patient die Ope¬
ration nicht billigte.
Hier fehlt die subjektive Rechtswidrigkeit, sofern der Irrtum
entschuldbar ist. Der Operateur ist nicht schadenersatzpflichtig.
Er kann auch nur dann bestraft werden, wenn sein Irrtum auf
Fahrlässigkeit beruhte.
5. Als fraglich bezeichnet Zitelmann schließlich noch die
Möglichkeit, daß ein Arzt bewußt und gegen den erfolgten Wider¬
spruch des Patienten operiert und trotzdem nicht widerrechtlich
handelt. Der zitierte Autor stützt sich dabei auf § 679 B.G.B. ^).
Für den Psychiater kommt diese Möglichkeit gelegentlich
auch in Betracht, wie folgendes Beispiel zeigen mag. Es wird
ein Selbstmörder eingeliefert, der kurz vorher aus dem Fenster
gesprungen war und sich bei dieser Gelegenheit einen kompli¬
zierten Oberschenkelbruch und viele Hautwunden zugezogen
hatte. Geschäftsfähigkeit fraglich. Psychiatrische Diagnose:
Psychopathie. Patient erklärt, er verbiete jede Operation. Wird
nichts gemacht, ist Infektion der Wunde, eventuell Tod durch
barem Irrtum über die rechtsgültige Zustimmung befand, weil der gesetz¬
liche Vertreter dem Mädchen die Annahme eines Dienstes gestattet hatte
(§ 113 B.Q.B.). Eine Schuld traf ihn auch deshalb nicht, weil der ursäch¬
liche Zusammenhang zwischen dem erwachsenen Schaden (Panophthal-
mie) und dem etwaigen Verschulden des Arztes fehlte. Vergl. Jur.
Wochenschr. 1907, S. 505 und Arztl. Sachverst.-Zeitg. 1907, S. 475.
0 Über den Ersatz von Transportkosten, welche bei auftragloser
Geschäftsführung dieser Art entstehen, vergl. U. 10. 1. 10, 44/09 VI; Jur.
Wochenschr. 1910, S. 186, 9.
-) „Ein der Geschäftsführung entgegenstehender Wille des Geschäfts¬
herrn kommt nicht in Betracht, wenn ohne die Geschäftsführung eine
Pflicht des Geschäftsherrn, deren Erfüllung im öffentlichen Interesse liegt,
oder eine gesetzliche Unterhaltungspflicht des Geschäftsherrn nicht recht¬
zeitig erfüllt werden würde."
Das Recht zu chirurgischen Eingriffen an Geisteskranken. 239
Verbluten zu erwarten. Durch den Tod würde die Familie ihren
einzigen Ernährer verlieren. Hier käme § 679 B.G.B. in Be¬
tracht. —
Für das künftige Strafrecht ist eine Verbesserung des Vor¬
entwurfes durch die Kommissionsbeschlüsse nur insofern vor¬
gesehen, als ,,in besonders leichten Fällen“ (§ 227 V.E.) von
Strafe abgesehen werden kann“). Ein Berufsrecht der Ärzte ist
auch diesmal nicht anerkannt worden. —
Für ausreichend “) halte ich diese Bestimmungen nicht.
Meines Erachtens sind verschiedene Unterscheidungen zu machen.
1. Ein Arzt, der mit rechtsgültiger Zustimmung des dazu
Berechtigten die Behandlung eines Menschen lege a r t i s durch¬
führt, begeht keine strafbare Handlung, gleichgültig, welchen
Erfolg die Behandlung hat.
2. Strafbar macht sich der Arzt, der einen ,,Kunstfehler“
begeht. Daß er eine Körperverletzung begeht und demgemäß
auch Strafe erleiden muß, bedarf keiner besonderen Begründung.
3. Strafbar ist, wer einen Menschen gegen dessen Willen oder
ohne Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters, falls er einen
solchen hat, ärztlich behandelt, es sei denn, daß die Behandlung
zur Abwendung einer unmittelbaren Lebensgefahr oder einer
schweren und dauernden Schädigung *) erfolgt.
4. Eine medizinische Behandlung, die zwar ohne rechts¬
gültige Einwilligung erfolgt, aber dem wirklichen oder mutma߬
lichen Willen des Behandelten oder seines gesetzlichen Vertreters
entspricht und zur Abwendung gegenwärtiger Lebensgefahr oder
schw’erer und dauernder Schädigung sofort erfolgen muß, ist nicht
strafbar “).
“) Siehe Recht 1912, S. 584 u. 585.
“) In Betracht kommen § 227 und 240 des V. E.
“) Siehe auch Zitelmann, Deutsche med. Wochenschr. 1908. Heim¬
berger, Deutsche med. Wochenschr. 1910 und vergl. Darstellung d.
deutschen usw. Strafrechtes, Allg. Teil, Bd. 4. Aschaffenburg in Hoches
Handbuch.
*) Gedacht ist dabei z. B. an Muskel- oder Nervennähte, Einrenkung
und Schienen von (komplizierten) Knochenbrüchen, Naht von Hautlappen,
die später nicht mehr verheilen würden.
“) Sonstige Literatur über die Frage: Hamm, Deutsche Jur.-Zeitg.
1907. Hamm und F. Schnitze, Sitzungsbericht der Ärztekammer der
Rheinprov. v. 3. Sept. 1906. v. Lilienthal, Pflichtgemäße ärztl. Handlung
u. Strafrecht. Berlin 1899. Rapmund-Dietrich, Ärztl. Rechts- u. Gesetzes¬
kunde. Leipzig. G. Thieme. Schmidt, Strafrechtliche Verantwortung d.
240
Das ärztliche Berufsgeheimnis,
Das äirztliche Berufsgeheimnis.
§ 300. Rechtsanwälte Advokaten, Notare,
\’erteidiger in Strafsachen, Ärzte, Wundärzte,
Hebammen, Apotheker sowie die Gehilfen dieser
Personen werden, wenn sie unbefugt Privat¬
geheimnisse offenbaren, die ihnen kraft ihres
Amtes, Standes oder Gewerbes anvertraut
sind, mit Geldstrafe bis zu eintausendfünf¬
hundert Mark oder mit Gefängnis bis zu drei
Monaten bestraft.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein*).
Arztes f. chir. Eingriffe. Jena 1900. Q. Fischer. Stenglein, Münchn. med.
Wochenschr. 1899, S. 526. Stooß, Chir. Operationen. Berlin 1898. O. Lieb-
mann. v. Bar, Gesetz u. Schuld im Strafrecht. 1907. Oppenheim, Zeit-
schr. f. Schweiz. Strafr., Bd. 6. Beling, Lehre vom Verbrechen. 1906.
*) Literatur: Mittermeyer, Zeitschr. f. Strafr.-Wissensch., Bd.21,
S. 229. Moll, Ärztliche Ethik. 1902. Flügge, Deutsche med. Wochenschr.
1906 und Medizinalarchiv 1911. Heimberger, Deutsche med. Wochenschr.
1910. Placzek, Berufsgeh. d. Arztes. 1898. 2. Aufl. J. Köhler, Monats-
schr. f. Kriminalpsych., Bd. 6, S. 593 u. Bd. 5, S. 387. Biberfeld, Zeitschr.
f. Med.-Beamte 1902. Lochte, Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1911, S. 329.
Schlegtendal, Deutsche med. Wochenschr. 1895. Joachim u. Korn, Ärzte¬
recht. Berlin 1911. Wolff, Schutz des Berufsgeh. Berlin. 1908.
■Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1906, S. 251 (hausärztl. Atteste f. Vers.-Qes.).
Aschaffenburg, Psych. Wochenschr. 1901, S. 337. Mainzer u. Krauß, Psj'ch.
Wochenschr. 1904. S. 47. Friedländer, Psych. Wochenschr. 1908, S. 286.
Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1910, S. 87 (Äuss. d. Ärztes über Infektion im
Ehesch.-Prozeß). Ibid. S. 192 (Diagnosentafeln über dem Krankenbett).
Mayer, Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1899, S. 33 (Berufsgeh. in d. Unfallpraxis).
Prinzing, Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1902, S. 35 (Todesursachenstatistik).
Ibid. S. 84 (Krankenkassen u. Berufsgeh.). Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1903,
S. 279 (Syph. Inf. zweier Personen vom Ärzt mit Zustimmung nur des
einen offenbart); s. auch ibid. S. 324. Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1909, S. 380
(Verl. d. Berufsgeh. ehrenger, strafbar). Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1912,
S. 492 (Honorarforderung).
Pallaske, Deutsche Jur.-Zeitg. 1906, S. 293. Jaeger, Deutsche Jur.-
Zeitg. 1906, S. 800. Kahl, Zeitschr. f. Strafr.-Wiss., Bd. 29, S. 351. Med.
Klinik 1906, S. 978 u. S. 100 (Entsch.).
Hauberg, Monatsschr. f. Kriminalpsych., Bd. 3. Liebmann, Pflichten
d. Ärztes zur Wahrung anvertrauter Geheimnisse. Berlin 1890. Hippe,
Ärch. f. Strafrecht 1898. Ä. Graf zu Dohna, Rechtswidrigkeit usw. Halle
1905. Heimberger, Vers. d. deutsch. Med.-Beamten-Vereins Danzig 1904.
Heißer, Flesch u. Beckstein in Sitzung d. Deutschen Oes. zur Bek. der
Qesehlechtskr. München 1905. Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1905, S. 459 u.
1909, S. 380.
Das ärztliche Beruisgeheimnis.
241
Durch den § 300 St.G.B. soll dem ärztliche Hilfe suchenden
Kranken die Sicherheit gegeben werden, daß seine Angaben über
Vorgeschichte, Lebensführung, frühere und jetzige Krankheiten,
Erwerbstätigkeit usw., die er dem Arzte macht, sowie der Unter¬
suchungsbefund von letzterem als unverbrüchliches Geheimnis be¬
trachtet werden, als wären sie einem Beichtvater anvertraut.
Der Arzt kann für diese gesetzliche Bestimmung im Inter¬
esse seiner Patienten nur dankbar sein, denn wenn die Schweige¬
pflicht nicht bestände, würde Mancher davon abgehalten werden,
ärztlichen Rat einzuholen.
Es ist nun eine bekannte Tatsache, daß die Schweigepflicht
den Arzt unter Umständen auch in eine moralische Zwangslage
bringen kann; deshalb ist der Wunsch laut geworden, die Be¬
dingungen genauer festzulegen, unter denen Privatgeheimnisse
befugt offenbart werden dürfen.
Bevor ich hierauf eingehe, glaube ich sagen zu müssen,
daß meiner Ansicht nach bei genügendem diplomatischen Geschick
auch in schwierigen Fällen ohne Offenbarung des Anvertrauten
sehr oft das Dilemma gelöst werden kann. Regeln lassen sich
dafür nicht aufstellen; immerhin tut der Arzt gut, sich vor Augen
zu halten, daß es bei dieser wie bei vielen anderen ärztlichen
Maßnahmen nicht allein darauf ankommt, eine momentane
Gefahr zu verhüten, daß vielmehr meist zahlreichere und höhere
Interessen auf dem Spiele stehen.
Der vielzitierte Fall des syphilitischen Kindermädchens,
das Gefahr läuft, die Kinder der Herrschaft zu infizieren, ist
vielleicht besonders geeignet, das, was ich sagen will, näher zu
erläutern.
Das Ziel des Arztes muß dahin gehen: i. dem Mädchen die
Heilung zu ermöglichen, 2. es davor zu bewahren, daß andere von
seinem Leiden erfahren, 3. dafür zu sorgen, daß niemand durch
die Krankheit angesteckt und 4. daß das Vertrauen des Patienten
zum Arzt nicht untergraben wird. Ein Arzt, der lediglich den
dritten Gesichtspunkt in den Vordergrund seines Handelns stellt,
überblickt meiner Ansicht nach den Fall nicht vollkommen. Ver¬
liert das Mädchen durch die Mitteilungen des Arztes ihre Stelle,
sc ist die notwendige Konsequenz, daß sie ärztliche Hilfe nicht
mehr in Anspruch nimmt und sich nicht weiter behandeln läßt.
Da sie leben muß, so sucht sie sich anderswo eine neue Stelle.
Die Ansteckungsgefahr für die Umgebung braucht sich inzwischen
Hübner, Forensische Psychiatrie. 10
242
Das ärztliche Berufsgeheimnis.
nicht verringert zu haben. Oder aber, wenn ihr Leiden auch
dort bekannt wird und sie schließlich deswegen keine neuen Stellen
mehr findet, so läuft sie Gefahr, völlig zu verkommen. Wird sie
aber einmal Prostituierte, so infiziert sie mit ihrer frischen Lues
ganze Serien von Männern, und das ist sicher nicht der Zweck der
„Offenbarung des Geheimnisses“ gewesen.
Ich brauche nicht besonders zu betonen, daß ich sehr wohl
weiß, daß alle diese Dinge nicht einzutreten brauchen, aber
der Arzt wird sich zweckmäßigerweise sagen müssen, daß er den
Enderfolg nicht in der Hand hat; er weiß eben nicht, wie die
Sache weiter auslaufen wird. Das muß er berücksichtigen, wenn
er richtig handeln will.
Bei Geisteskranken liegen die Verhältnisse im allgemeinen
nicht allzu schwierig. Man muß sich nur darüber klar sein, daß
es bestimmte Dinge gibt, die man nicht verheimlichen kann. So
hat es meiner Ansicht nach im allgemeinen wenig Wert, die Auf¬
nahme eines Menschen in die Anstalt verschweigen zu wollen. Der
Kranke kann an den Fenstern gesehen werden. Bei seiner Ver¬
bringung in die Anstalt sind eine ganze Reihe Personen tätig, von
seiner Aufnahme wird die Polizei und die Staatsanwaltschaft be¬
nachrichtigt, kurz und gut, es gibt so viele Quellen, die nicht
durch den § 300 Str.G.B. gebunden sind und andererseits von
der Tatsache der Anstaltsverbrin^ung Kenntnis haben, daß es
unmöglich ist, sie einem Menschen, der das erfahren will, auf
die Dauer zu verheimlichen^). —
Es ist nun notwendig, die technischen Ausdrücke des § 300
einer kurzen Besprechung zu unterziehen und das möchte ich jetzt,
damit der Arzt einen Begriff davon bekommt, unter welchen Um¬
ständen er eventuell von der Schweigepflicht entbunden ist.
Wenn er genötigt ist, Privatgeheimnisse zu offenbaren,
mache er sich zum Prinzip, möglichst wenig Personen einzuweihen
und diesen nur das zu sagen, was unumgänglich zur Erreichung
des beabsichtigten Zweckes notwendig ist.
Ein Privatgeheimnis ist nach den Entscheidungen des
Reichsgerichts (E.G. 13,60 und 26,5) jede Mitteilung, die noch
nicht offenkundig ist und entweder unter der ausdrücklichen Auf¬
lage der Geheimhaltung oder unter Umständen gemacht wird,
’) Daß ich mit dieser Anschauung nicht allein dastehe, siehe Ärztl.
Sachverst.-Zeitg. 1907, S. 68; 1903, S. 279 u. 324.
Das ärztliche Berufsgeheimnis.
243
welche ein Interesse des Mitteilenden an der Geheimhaltung er¬
kennen lassen.
Es ist an dieser Definition insofern Kritik geübt worden, als
man gesagt hat, der Begriff „Geheimnis“ sei unabhängig von dem
Begriffe „Mitteilung“. Daß diese Kritik berechtigt ist, wird der
Arzt nur bestätigen können. Wenn nur das ,,Mitgeteilte“ unter
den § 300 fiele, so würde es dem Arzte leicht möglich sein, ohne
Verletzung des Gesetzes einfach durch Erzählung des objektiven
Befundes oder der Therapie in einer großen Zahl von Fällen die
Art der Krankheit zum mindesten einem gewissen Teil von Per¬
sonen deutlich zu machen. Das soll ja aber gerade vermieden
werden. Es setzen sich die Privatgeheimnisse, die der Arzt er¬
fährt, demnach aus zwei Gruppen von Tatsachen zusammen, näm¬
lich erstens aus dem, was der Patient über sein Vorleben, frühere
Erkrankungen usw. selbst berichtet, soweit es nicht der All¬
gemeinheit bekannt ist, und zweitens aus dem, was der Arzt durch
objektive Untersuchung findet^). Das letztere ist sogar in vielen
Fällen wichtiger als alle Angaben über die \’^orgeschichte, denn
die ist fast in jedem Falle bis auf einige besondere Momente einer
mehr oder minder großen Reihe von Personen bekannt.
Daß die eben geäußerte Auffassung des Begriffes ,,FTivat-
geheimnis“ zutreffend ist, geht meines Erachtens auch daraus
hervor^), daß der Gesetzgeber den Begriff „anvertraut“®) in den
Paragraphen hineingebracht hat. Nach mehreren Entscheidungen
des Reichsgerichts (E. 13,60 und 26,5) ist ein Geheimnis dann
anvertraut, „wenn es unter der ausdrücklichen oder aus den Um¬
ständen zu entnehmenden Auflage der Verschwiegenheit dem
Wissen einer Person zugeführt wird“.
D Auch die Schlüsse, welche er aus dem gesamten Befund zieht,
insbesondere die Diagnose sind „Privatgeheimnis“. Der Arzt kann des¬
halb auch die Aussage verweigern, wenn er als Zeuge aussagen soll, er
habe zu dem Patienten X. selbst oder zu einem anderen gesagt, X. leide
an (z. B.) Hysterie; s. auch Psych. Wochenschr., Bd. 10, S. 60 und
Das Recht 1907, S. 256, Nr. 498.
Vergl. auch Moll, Berliner Ärzte-Korrespondenz 1903 zit. in d.
Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1903, S. 324.
®) Der Begriff „anvertraut“ kommt auch noch im § 246, 1 Str.Q.B.
vor. Dort definiert ihn Frank: „Wenn dem Täter die Sache mit der Ver¬
pflichtung der Rückgabe oder der Verwendung zu bestimmtem Zweck
übertragen ist.“ Die Verwendung zu einem bestimmten Zweck, nämlich
dem der Heilbehandlung ist es auch, die den Kranken veranlaßt, seine
Vorgeschichte anzugeben und sich untersuchen zu lassen.
16
244
Das ärztliche Berufsgeheimnis.
Ferner spricht für meine obige Auffassung die Anwen¬
dung des Begriffes „offenbaren“. Mit diesem Ausdruck soll
dargetan werden, daß nicht allein die direkte Mitteilung, son¬
dern auch die Umschreibung oder jede anderweitige Form, durch
die das Geheimnis dem Wissenskreise eines anderen zugeführt
wird, strafbar ist. Wenn mich z. B. ein Unbefugter danach fragt,
ob einer meiner Patienten Syphilis gehabt hätte, und ich ver¬
weigere ihm zwar formell die Auskunft, lasse aber (sei es ab¬
sichtlich, sei es aus Versehen) auf dem Tische die Krankheits¬
geschichte des Patienten liegen, aus der er ersehen kann, daß der
Betreffende Syphilis zugegeben hat, und daß außerdem die von
mir angestellte Wassermannsche Reaktion positiv ausgefallen ist,
dann habe ich dem Frager die zu verschweigende Tatsache der
Syphilis meines Patienten vorsätzlich oder fahrlässig offenbart.
Ich kann noch ein weiteres Argument zugunsten der obigen
.\nsicht beibringen, nämlich eine R.G.E., die in Hinblick auf
§52 St.P.O. ergangen ist. Sie lautet:
Ärzte dürfen ihre Aussage nicht nur in Ansehung dessen ver¬
weigern, was ihnen bei Ausübung ihres Berufs mündlich oder schrift¬
lich von Person zu Person anvertraut war, sondern auch bezüglich
anderer Wahrnehmungen, die sie bei der in Frage kommenden Ge¬
legenheit infolge ihrer Zuziehung als Ärzte gemacht haben. Hinsichtlich
der Verteidiger (§ 52 Nr. 2 Str.P.O.) sagen die Motive ausdrücklich,
zur Verweigerung des Zeugnisses genüge es, daß der Zeuge in seiner
Eigenschaft als Verteidiger von der betreffenden Tatsache Kenntnis
genommen hat. Nach dem Zwecke des Gesetzes muß das Gleiche
auch für Ärzte gelten. (R.G. V. 8. 10. 09.)
Jahrb. 1910, S. 169, Deutsche Jur.-Zeitg. 15, 81.
Am schwierigsten ist die Frage, wann eine Offenbarung
befugt erfolgt. Dies geschieht für psychiatrische Fälle meiner
Ansicht nach z. B. unter folgenden Bedingungen:
Erstens wenn der Kranke selbst oder im Falle der Geschäfts¬
unfähigkeit des Patienten derjenige seiner Angehörigen, welcher
an dessen Stelle rechtsgültig handeln darf (Vater, Ehefrau),
die Zustimmung zur Offenbarung des Geheimnisses an einen
Dritten erteilt.
Zweitens wenn der Kranke geschäftsunfähig ist, eine rechts¬
gültige Zustimmung vom gesetzlichen Vertreter nicht zu er¬
reichen ist, andererseits der Zustand des Patienten sofort solche
Maßnahmen erforderlich macht, die eine Offenbarung des Ge¬
heimnisses bedingen.
Das ärztliche Berufsgeheimnis.
245
Ein Beispiel mag das erläutern:
In meine Sprechstunde kommt ein schwer melancholischer
Kranker, der sich besonders auch mit Selbstmordgedanken trägt.
Er hält sich nicht für geisteskrank, sondern nur für schlecht, ver¬
worfen usw. und glaubt, daß der Tod die einzig gerechte Strafe
für seine zahlreichen Sünden ist. Wenn man diesen Patienten
um die Genehmigung zur Offenbarung seines Zustandes an An¬
gehörige oder Wirtsleute fragt, so wird es nicht selten Vor¬
kommen, daß er diese Genehmigung verweigert. Andererseits
aber ist Gefahr im Verzüge, denn wenn man den Patienten noch
längere Zeit sich selbst überläßt, so kann es geschehen, daß er
seine Selbstmordgedanken in die Tat umsetzt. Ein Arzt, der in
solchen Fällen nicht sofort den nächsten berechtigten, eventuell
nicht sogar den nächsten erreichbaren Angehörigen benach¬
richtigt und die umgehende Überführung des Kranken in die An¬
stalt bewirkt, macht sich meiner Ansicht nach u. U. einer fahr¬
lässigen Körperverletzung oder Tötung schuldig, wenn von dem
Kranken ein Selbstmordversuch ausgeführt wird.
Die Zustimmung des Geisteskranken selbst ist in diesen
Fällen fast immer rechtlich ungültig, da die meisten Patienten
dieser Art nicht geschäftsfähig sind. Infolgedessen muß kon¬
sequenterweise die Zustimmung von demjenigen eingeholt werden,
der nächst dem Kranken selbst zur Erteilung derselben berechtigt
ist. Ist ein solcher nicht zu erreichen, dann kann meines Erachtens
der Arzt in auftragloser Geschäftsführung auch geeigneten an¬
deren Personen, wenn Gefahr im Verzüge ist, Mitteilung machen.
Weiterhin muß der Arzt das Privatgeheimnis offenbaren,
wenn eine Rechtspflicht dazu besteht^) (Meldepflicht bei an¬
steckenden Krankheiten)*), oder wenn das zur Durchführung
der Behandlung erforderlich ist (Fragebogen zur Aufnahme in die
Provinzialheilanstalt oder Ausfüllung der Diagnose auf dem
Kassenschein oder drittens bei Unfall- und Invaliditätsgut¬
achten) *). In allen diesen Fällen geschieht die Offenbarung
*) E. d. R.Q. Bd. 38, 62; über weitere Pflichten zur Offenbarung
vergl. Lochte, Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1911, S. 325.
*) Z. B. eine Typliuspsychose.
*) Dagegen sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ein Arzt, der
die genaue Diagnose unter Hinweis auf § 300 Str.Q.B. nicht auf dem
Totenschein angeben wollte, freigesprochen worden ist (Ärztl. Sach¬
verst.-Zeitg. 1902, S. 35 in der Arbeit von Prinzing.)
246 Das ärztliche Berufsgeheimnis.
lediglich zum Wohle des Kranken, denn es wird ihm entweder die
Möglichkeit der Behandlung auf diese Weise verschafft oder ein
pekuniärer Vorteil (Krankengeld, Invalidenrente), der ohne die
Offenbarung nicht zu erlangen wäre. Außerdem hat er sich in
gesunden Tagen — also rechtsgültig — den Bedingungen der
Kasse usw. beim Eintritt unterworfen.
4 . Wenn aus der Geisteskrankheit eines Menschen der Öffent¬
lichkeit oder bestimmten Personen eine schwere momentane
Gefahr für das Leben erwächst, die anders nicht zu beseitigen ist.
Mir sind 2 derartige Fälle vorgekommen, die aber beide auch
ohne direkte Offenbarung der Diagnose erledigt werden konnten.
a) In dem einen handelte es sich um einen Lokomotivführer, der
halluzinierte. Er sah neben der fahrenden Maschine den Teufel her¬
laufen, hörte dessen Stimme, die ihn bedrohte usw.
Zuerst offenbarte der Kranke sich seinem Beichtvater. Dieser
kannte zufällig den Bahnhofsvorsteher, sprach den auf dem Bahnsteig
an und brachte das Gespräch unauffällig auf den Kranken. Als ihm der
Vorsteher sagte, X. benehme sich merkwürdig, riet der Geistliche, ihn
untersuchen zu lassen. Dies geschah und es konnte dadurch die Krank¬
heit festgestellt werden.
b) Der zweite Fall betraf einen Arbeiter in einer Pulverfabrik. Der
Vorgesetzte des Mannes kam, teilte mir mit, die Frau des Kranken habe
ihm erzählt, derselbe sei Trinker und fragte mich, ob das zutreffe.
Bejahendenfalls müsse er ihn entlassen oder könne ihn nur noch als
Bureaudiener außerhalb des Betriebes beschäftigen. Ich lehnte eine
direkte Auskunft ab, empfahl aber auf dem Entlassungsschein leichtere
Beschäftigung für den Patienten. Der Erfolg war, daß er als Bureau¬
diener mit ungefähr dem gleichen Einkommen beschäftigt wurde, wo er
keinen Schaden anrichten konnte.
Wenn in diesen Fällen die Verhältnisse weniger günstig ge¬
legen hätten, würde ich eine Offenbarung des Geheimnisses ge¬
billigt haben. Ein wirkliches Geheimnis war es eigentlich nur in
dem ersten Falle, denn wenn ein Mensch trinkt, entgeht das seiner
L’mgebung auf die Dauer kaum jemals, ist also auch ohne den
Arzt nachzuweisen. —
5. Die meisten Anfragen vor Eheschließungen er¬
ledigen sich einfacher, als man gewöhnlich meint.
Wenn die Angehörigen der Braut wissen, daß ich einen Mann
untersucht habe und sie wollen das Resultat erfahren, so erkläre
ich, daß ich bereit sei, es ihnen mitzuteilen, sofern der Kranke
seine Zustimmung dazu erteilt. Geschieht letzteres, so ist meine
Offenbarung keine unbefugte; wird die Zustimmung verweigert,
dann können die Fragenden auch ihre Schlüsse daraus ziehen.
Das ärztliche Berufsgeheimnis. 247
Liegt dagegen einer der Fälle vor, daß der Arzt eine Geistes¬
krankheit feststellt, den Patienten darauf aufmerksam macht, daß
er nicht heiraten dürfe, und dieser weigert sich, vom Verlöbnis
zurückzutreten, dann wird allerdings der Arzt eingreifen müssen.
Ich persönlich würde in einem derartigen Falle zunächst
erwägen, ob der Kranke nicht anstaltspflegebedürftig oder ge¬
schäftsunfähig ist, und nicht allein der ärztlichen Fürsorge be¬
züglich der Heirat bedarf, sondern der Behandlung und Unter¬
bringung in einer Anstalt im allgemeinen, um ihn und andere vor
Schaden zu bewahren.
Ist das nicht erforderlich, so würde ich das Geheimnis der
Krankheit auch noch nicht gleich der Braut und ihren Eltern, son¬
dern eher demjenigen Angehörigen, dem im Falle der Geschäfts¬
unfähigkeit des Kranken die Sorge für die Person zustände,
offenbaren.
Im übrigen würde aber die direkte Offenbarung an die Braut
unter Umständen straflos sein, wenn die Voraussetzungen der fol¬
genden Entscheidung zutreffen;
Die ärztliche Schweigepflicht des § 300 Str.G.B. „ist nicht, wie
der Vorderrichter meint, eine .absolute“; das Gesetz behält vielmehr,
indem es eine unbefugte Offenbarung von Privatgeheimnissen erfordert,
das Bestehen einer Befugnis zur Offenbarung ausdrücklich vor, ohne
diese Befugnis nach irgendeiner Richtung hin einzuschränken. Sie kann
mithin auch durch anderweite Berufspflichten des Arztes gegeben sein,
auch wenn die Verletzung derselben nicht wie diejenige der Schweige¬
pflicht mit krimineller Strafe bedroht ist. Das Bestehen solcher Berufs-
pflichten erkennt das preußische Gesetz betreffend die ärztlichen
Ehrengerichte usw. vom 25. November 1899 ausdrücklich an, indem es
dem Arzt die Verpflichtung, seine Berufstätigkeit gewissenhaft aus¬
zuüben, auferlegt und die Verletzung dieser Verpflichtung mit ehren¬
gerichtlicher Strafe bedroht. Hiernach ist zu erwägen, ob es zur
gewissenhaften Ausübung der Berufstätigkeit nicht auch gehört,
Patienten, denen die Gefahr einer Ansteckung durch Personen droht,
mit denen sie in nähere Beziehungen kommen, vor dieser Gefahr zu
warnen. Mit der Unterlassung einer solchen Warnung ist auch die
Möglichkeit einer Bestrafung aus § 2.30 Abs. 1 und 2 Str.G.B. gegeben.
War aber die erforderliche Warnung nur unter Verletzung der einem
anderen Patienten gegenüber begründeten Schweigepflicht möglich, so
kann der Angeklagte in Ausübung einer Befugnis“ gehandelt haben,
wenn er der Warnungspflicht nachkam. (R.O. II. S.S. 16. 5. 05.)
E. Bd. 38, 62; s. auch Jur. Wochenschr. 1906, S. 754.
6 . Auch zur Eintreibung von Honorarforderungen
ist der Arzt berechtigt, die Tatsache zu offenbaren, daß er einen
248
Das ärztliche Berufsgeheimnis.
Kranken behandelt hat. Die Krankheitsgeschichte des Falles
braucht er deshalb nicht mitzuteilen (siehe Ärztl. Sachverst.-Zeitg.
1912, S. 492). Dies wird sich nur dann nicht umgehen lassen,
wenn der Patient die Höhe der Gebührenforderung bestreitet.
7. Auch dann, wenn der Arzt sich wegen der Behandlung
eines Kranken, sei es vor dem ärztlichen Ehrengericht, sei es vor
dem ordentlichen Gericht, zu verantworten hat, wird er die Krank¬
heitsgeschichte mitteilen müssen. —
Wer ist zur Entbindung von der Schweige¬
pflicht befugt? Erstens der Patient selbst, wenn er ge¬
schäftsfähig ist. Sonst sein gesetzlicher Vertreter.
Die Erben des Kranken oder Auftraggebers können den
Arzt von der Schweigepflicht nicht entbinden (Urteil des O.L.G.
Dresden vom 16. März 1906 und R.G. vom 23. April 1906, siebe
Sächs. Aich., Bd. i, S. 204 und 244) ®). Entgegen dieser Be¬
stimmung werden aber in Testaments- und sonstigen Zivil¬
prozessen öfters von Ärzten Gutachten erstattet. Einer Gefahr
setzen sich dieselben dadurch nur in seltenen Fällen aus, denn zum
Strafantrag berechtigt ist nicht jeder Dritte, dessen Interessen
verletzt wurden, sondern nur der Patient selbst oder derjenige,
welcher den Auftrag zur Untersuchung erteilt hatte’).
Das Recht zur Stellung des Strafantrags erlischt drei Monate,
nachdem der Antragberechtigte Kenntnis davon erhalten hat, daß
der Arzt das Geheimnis offenbarte (§ 61 Str.G.B.). Antrags¬
berechtigt ist nur der Geschädigte oder sein gesetzlicher Ver¬
treter (E. 13, 6u).
Der einmal gestellte Strafantrag kann (§ 64 St.G.B.) nicht
zurückgenommen werden^). —
') Wenn dieser eine Kasse, Berufsgenossenschaft usw. ist, kann er
nach dem Tode des Patienten wohl nur für seine bestimmten Zwecke
Auskunft verlangen (Todesattest bei Vers.-Qesellschaften).
“) Entgegengesetzt lautet die folgende Entscheidung:
Der Arzt kann sein Zeugnis nicht verweigern auf die Frage nach
der Zurechnungsfähigkeit eines von ihm behandelten Verstorbenen,
welcher während der Zeit der Behandlung letztwillige Verfügungen
getroffen hat. (Dresden, 20. 10. 10.) Sächs. A. R. 6, 33 und Das Recht
1911, Nr. 802.
“) Vergl. Olshausen, Kommentar; ferner Joachim-Korn S. 105 und
R.Q. 13, 60.
*) Literatur: Köhler, Monatsschr. f. Kriminalpsychol., Bd. 6. Bauch¬
witz, Zeitschr. f. d. ges. Vers.-Wissensch., Bd. 12. Friedländer, Allg.
Zeitschr. f. Psych., Bd. 65. Aschaffenburg im Handbuch. Jellineck,
Verleitung zum Meineid.
249
Im künftigen Recht ist der Kreis der zum Schweigen
verpflichteten Personen erweitert, es sind auch alle die Privat¬
geheimnisse in den Bereich der Schweigepflicht einbezogen
worden, die dem Arzt (usw.) kraft seines Berufes zugänglich ge¬
worden sind. Die Bestimmungen in der Fassung der Kommission
lautet;
„Personen, die zur Ausübung der Heilkunde, Geburtshilfe,
Krankenpflege, des Apothekergewerbes oder zur Beratung oder
Vertretung in Rechtsangelegenheiten oder zur Beurkundung von
Rechtsgeschäften öffentlich bestellt oder zugelassen sind, sowie
die Gehilfen dieser Personen werden mit Geldstrafe bis zu zwei¬
tausend Mark oder mit Haft oder Gefängnis bis zu sechs Monaten
bestraft, wenn sie unbefugt Privatgeheimnisse offenbaren, die
ihnen kraft ihres Berufes anvertraut oder zugänglich geworden
sind.“
Die Kommission hat dem Kreise der zum Stillschweigen
verpflichteten Personen noch die berufsmäßigen Krankenpfleger,
auch soweit sie nicht öffentlich bestellt oder zugelassen sind,
hinzugefügt. Die Gehilfen der oben genannten Personen sind
nur einbezogen, soweit sie berufsmäßig tätig sind.
Verleitung? zum Meineid.
§ 159. Wer es unternimmt, einen anderen
zur Begehung eines Meineides zu verleiten,
wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, und
wer es unternimmt, einen anderen zur wissent¬
lichen Abgabe einer falschen Versicherung an
Eidesstatt zu verleiten, mit Gefängnis bis zu
einem Jahr bestraft.
Daß unter Umständen auch der Versuch strafbar ist, einen
Sachverständigen zur Abgabe eines falschen Gutachtens zu ver¬
leiten, das vor Gericht beschworen werden muß, geht aus nach¬
folgender Entscheidung hervor:
Monatsschr. f. Kriminalpsychol., Bd. 3. Krauß, Monatsschr. f. Kriminal-
psychol., Bd. 1, S. 151. Litten, Monatsschr. f. Kriminalpsychol., Bd. 1.
Mittermeyer, Zeitschr. f. Strafrechtsw\, Bd. 21. Heimberger, Deutsche
Med.-Wochenschr. 1910 und vergl. Darstellung. Placzeck, Berufsgeheim¬
nis d. Arztes. 1898. Q. Thieme.
’) Vergl. Recht 1912, S. 731.
250
Fahrlässiger Falscheid.
Für den Tatbestand des § 159 Str.Q.B. kommt es darauf an, ob
das Gutachten, dessen Erstattung der Angeklagte dem Sachverstän¬
digen zugemutet hat, von dessen Standpunkte aus wissentlich falsch
gewesen sein würde und ob dem Angeklagten dies bewußt gewesen
ist. Einer Feststellung, daß das nach dem Verlangen des Angeklagten
abzugebende Gutachten auch obiektiv falsch gewesen sein würde,
bedarf es nicht. (R.G. IV. 3. 1. 08.) Das Recht 1908, Entsch. Nr. 666.
Fahrlässiger Falscheid.
§ 163. Wenn eine der in den §§ 153—156*) be-
zeichneten Handlungen aus Fahrlässigkeit be¬
gangen worden ist, so tritt Gefängnisstrafe bis
zu einem Jahre ein.
Straflosigkeit tritt ein, wenn der Täter,
bevor eine Anzeige gegen ihn erfolgt oder eine
Untersuchung gegen ihn eingeleitet und bevor
ein Rechtsnachtei 1 für einen anderen aus der
falschen Aussage entstanden ist, diese bei der¬
jenigen Behörde, bei welcher er sie abgegeben
hat, widerruft.
Voraussetzung für eine Bestrafung gemäß § 163 ist: i. die
Unwahrheit des Beschworenen und 2. die Erfüllung des äußeren
Tatbestandes im Sinne eines der erwähnten Paragraphen
(153—156), d. h. es muß ein Eid oder eine eidesstattliche Ver¬
sicherung vor einer dazu berechtigten Behörde unter Inne¬
haltung der dafür vorgeschriebenen Formen geleistet sein.
Außerdem muß die Aussage fahrlässig falsch sein. Das Be¬
wußtsein des Schwörenden von der Unwahrheit der Aussage kann
ihm nicht nachgewiesen werden. Deshalb darf aber nicht eine
fahrlässige Verletzung der Eidespflicht bloß deshalb angenommen
werden, weil die vorsätzliche nicht nachweisbar ist (RG. vom
24. Juni 1880; E. Bd. 2, 45 und Olshausen).
Es muß vielmehr hinzukommen, daß die unwissentlich
falsche Aussage des Schwörenden durch seine Fahrlässigkeit zu¬
stande kommt.
') § 153. Wer einen Eid wissentlich falsch schwört. § 154. Wer
einer zur Abnahme von Eiden zuständigen Behörde wissentlich ein
falsches Zeugnis oder ein falsches Gutachten mit einem Eide bekräf¬
tigt usw. § 156 betrifft Versicherungen an Eidesstatt. § 155 betrifft die
Eidesleistung einzelner Religionsgemeinschaften und Aussagen, die unter
Berufung auf frühere Eide erfolgten.
Fahrlässiger Falscheid.
251
Wann kann nun Fahrlässigkeit angenommen werden? Nach
einem Urteil des R.G. vom 2. Februar 1909 (1067/08 siehe
Recht 13, Nr. 930) „sind die Voraussetztungen für die Annahme
der Fahrlässigkeit hier die gleichen, wie bei anderen Deliktarten“.
Sie liegt demnach vor, „wenn der Schwörende bei gehöriger Auf¬
merksamkeit oder Vorsicht, sei es bei Erinnerung an tatsächliche
Verhältnisse oder bei Würdigung rechtlicher Verhältnisse einsehen
konnte oder mußte, daß die von ihm beschworene Tatsache den
unterliegenden tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht
entsprach“ (Daude und Recht 10, Nr. 210).
Wer eine eidliche Aussage zu machen hat, muß demnach be¬
strebt sein, sich über das, was er bekunden soll, vorher nach jeder
Richtung hin Klarheit zu verschaffen. Einige Entscheidungen
präzisieren das genauer.
Wer unter Eid über eine der Vergangenheit angehörende Wahr¬
nehmung oder Tatsache Auskunft zu geben hat, handelt pflichtwidrig,
mithin fahrlässig, wenn er, ohne weiter nachzudenken, mittelbar ein¬
schlagende Erinnerungsbilder zu benutzen und zusammenhängende
Einzelheiten sich möglichst scharf zu vergegenwärtigen, mit einem
W'ort, „sich zu besinnen“, vorschnell und leichtfertig seine Aussagen
macht. (R.Q. I. 8. 3. 1909.) D.R. 1909, Nr. ,3249, s. auch E. 42, 236.
Auch derjenige macht sich einer Fahrlässigkeit schuldig, der an
Eidesstatt erklärt, die angegebenen Tatsachen seien wahr, während er
dies nicht bestimmt weiß, sondern nur glaubt, und zu diesem Glauben
auf Grund von Vermutungen gelangt ist, deren Unrichtigkeit er bei
gehöriger Überlegung erkennen konnte, unter Außerachtlassung der
gebotenen Aufmerksamkeit aber nicht erkannt hat. RG. FV, 11. 10. 10.
710/10. Das Recht, Bd. 14, E. 3861.
Nur wenn für den Angeklagten die Möglichkeit bestand, die Un¬
richtigkeit seiner Erklärung einzusehen, war sein Irrtum ein vermeid¬
licher, auf Fahrlässigkeit beruhender, ln der Verabsäumung von
Nachforschungen kann deshalb eine Fahrlässigkeit nur dann erblickt
werden, wenn die konkreten Umstände zur Anstellung von Nach¬
forschungen genötigt haben, und bei Prüfung dieser Voraussetzungen
ist auf die Persönlichkeit des Angeklagten und seiner Gewährsmänner,
sowie auf die sonstigen obwaltenden Verhältnisse das ausschlag¬
gebende Gewicht zu legen. R.G. 111. 14. 2. 10. 1044/09. Das Recht 14,
Nr. 1181.
Von einem Zeugen kann nur gefordert werden, daß er die gegen
die Zuverlässigkeit seiner W'ahrnehmungen etwa sprechenden Um¬
stände ernstlich prüfe; daß er auf Grund seiner Prüfung objektiv
richtige Schlüsse ziehe, kann nicht gefordert werden. Hat der An¬
geklagte sich ernstlich die Frage vorgelegt, ob seine Wahrnehmungen
wegen der Entfernung von 130 Schritten unsicher und unbestimmt sein
könnten, so hat er die von ihm zu fordernde Sorgfalt angewendet.
252
Fahrlässiger Falscheid.
Ob er durch die von ihm vorgenommene Prüfung in seiner Über¬
zeugung von dem, was er zu sehen geglaubt hat, wankend gemacht
werden konnte, hing nicht von seinem Willen, sondern von dem Grade
seiner Einsicht und der Beschaffenheit der vorliegenden Sinnestäu¬
schung, also von Umständen ab, die er nicht zu vertreten hat. (RQ.
II. 21. 1. 10.) Das Recht 14, Nr. 811; Arch. f. Strafr. 57, 230 und Jahrb.
1910, S. 44.
Das Reichsgericht hatte sich nun auch gelegentlich mit
solchen Fällen zu beschäftigen, die an der Grenze des Patho¬
logischen standen. Ich lasse einige Entscheidungen dieser .\rt
folgen:
a) Es bestand Gemütserregung zur Zeit der Wahr¬
nehmung des fraglichen Vorgangs.
Als einzigen Umstand, aus dem nach der Auffassung der Straf¬
kammer flem Angeklagten die von ihm vernachlässigte Pflicht er¬
wuchs, mit der Möglichkeit eines anderen Verlaufs des Vorfalls, als er
ihn im Gedächtnis hatte, zu rechnen, führt das Urteil an, daß der An¬
geklagte bei dem Vorfall so erregt gewesen war, woraus geschlossen
wird, der Angeklagte habe sich mit Rücksicht auf diese Gemüts¬
erregung sagen müssen, daß er den Vorfall nicht mehr genau in Er¬
innerung habe. Dann mußte aber auch festgestellt werden, daß der
Angeklagte sich im Augenblick seiner Vernehmung als Zeuge dieser
seiner gemütlichen Aufwallung beim Vorfall auch bewußt war. (R.G. I,
14. 2. 10.) Das Recht 1910, Entsch. Nr. 1182.
b) Der Zeuge war angetrunken^), als der fragliche Vor¬
gang sich abspielte.
Ein pfiichtwidriges Verhalten eines Zeugen kann darin erblickt
werden, daß er seine Aussage bestimmt erstattet hat, obwohl bei Auf¬
wendung der von ihm zu erfordernden Sorgfalt die Erwägung des ihm
bekannten Umstandes, daß er zu der kritischen Zeit angetrunken war
und sich in einem Zustande der Erregung befand, ihn zur Erkenntnis
der Unsicherheit seiner Erinnerung und davon, daß er danach zur
Abgabe einer derartigen bestimmten Aussage außer Stande war, hätte
führen müssen. (R.G. IV. 12. 2. 07.) Das Recht 1907, S. 322, Entsch.
Nr. 678.
c) Es besteht eine dem Zeugen bekannte Gedächtnis¬
schwäche.
Ohne Rechtsirrtum kann ein fahrlässiges Verschulden eines
Zeugen darin gefunden werden, daß er seine ihm bekannte Gedächtnis¬
schwäche nicht entsprechend berücksichtigt hat, indem er bei der ge-
^) Über das Verfahren bei Angetrunkenheit eines Zeugen bei der
Vernehmung siehe Entsch. vom 10. 6. 01. Jur. W ochenschr. 1901, S. 687;
Zeitschr. f. Med.-Beamte 1902, Beil. Nr. 3, 1, II, S. 18; Psych. Wochen¬
schi. 3, 4.
Fahrlässiger Falscheid.
253
botenen sorgiältigen Prüfung der Zuverlässigkeit seines Wissens zur
Überzeugung gekommen wäre, daß sein mangelhaftes Gedächtnis als
einzige Grundlage seines Wissens ihm nicht gestatte, die von ihm be¬
kundeten Tatsachen mit der Bestimmtheit zu behaupten, wie er es ge¬
tan hat. (Urteil v. 3. 1. 08, 967/07.) Das Recht, Bd. 12, Entsch. Nr. 667.
Im allgemeinen ist erfahrungsgemäß das Gedächtnis durch bloße
Anstrengungen des W'illens und der Aufmerksamkeit nicht stets dahin
zu bringen, richtig zu funktionieren. Dies wird in noch höherem Grade
gelten müssen, wenn es sich wie hier um das nach der eigenen Fest¬
stellung des L.G. schlechte Gedächtnis eines körperlich und geistig
minderwertigen, 65 Jahre alten Menschen handelt, man wird deshalb
namentlich in einem solchen Falle nicht sagen dürfen, daß der An¬
geklagte, wenn er „alles aufgeboten hätte, um sich die Ereignisse der
fraglichen Nacht möglichst getreu ins Gedächtnis zurückzu-
r u f e n“, sich den Vorgang gewiß und wieder genau so, wie er sich in
Wahrheit abgespielt hatte, vergegenwärtigt haben würde. Eine andere
Beurteilung würde nur Platz greifen, wenn dem Angeklagten irgend¬
welche tatsächliche Anhaltspunkte oder auch äußere Hilfsmittel zu
Gebote gestanden hätten, die, wenn er sie benutzt hätte, sein Ge¬
dächtnis aufgefrischt und die Erinnerung an den richtigen Sachverhalt
wieder wachgerufen haben .würden. (R.G. Urt. d. V. Sen. 13. 12. 07.)
Jur. Wochenschr. 1908, S. 158.
d) Es besteht eine Beschränkung der Geistes¬
tätigkeit.
Die Handlungsfähigkeit, die Fähigkeit seiner Willensbestimmung
bildet die unumgängliche und selbstverständliche Voraussetzung für
das Vorhandensein irgendeiner strafbaren Handlung (§ 51 R.Str.G.B.).
Mit dem Bejahen der Handlungsfähigkeit, dem Verneinen des Vor¬
handenseins eines die Möglichkeit freier Willensbestimmung völlig
ausschließenden krankhaften Geisteszustandes ist aber nur das äußerste
und allgemeinste Erfordernis konstatiert, welches das Gesetz für die
Zurechenbarkeit einer Handlung zur Schuld voraussetzt und ohne
welches von dem Dasein eines Vorsatzes oder einer strafbaren Fahr¬
lässigkeit überhaupt keine Rede sein kann. Das Vorhandensein der
Handlungsfähigkeit bedingt dagegen keineswegs ohne weiteres auch
das Vorhandensein des vom Gesetz bei den. einzelnen Reaten voraus¬
gesetzten subjektiven Tatbestandserfordernisses schuldhafter Willens¬
richtung, sei es des Vorsatzes, sei es der Fahrlässigkeit. In dem vor¬
liegenden Falle handelt es sich darum, ob vom Angeklagten ein Eid
fahrlässigerweise wider die Wahrheit geschworen worden sei, und
für die Frage, ob die von § 163 R.Str.G.B. erforderte Fahrlässigkeit
vorliege, ist die Vermeidlichkeit des Irrtums und die Vorhersehbarkeit
des Erfolges für den Schwörenden entscheidend. Hierbei aber ist
nicht, wie dies von der Vorinstanz augenscheinlich geschehen, ein ab¬
strakter Maßstab anzule&en, sondern es sind die konkreten Verhält¬
nisse des Falles zu berücksichtigen, und es wird für die bezeichnet«
Frage der Vermeidlichkeit und Vorhersehbarkeit ganz wesentlich der
Strafprozeßordnung.
254
geistige Zustand des Täters vor und bei der Eidesleistung in Betracht
zu gelangen haben. Liegt der Grund der Strafbarkeit der Fahrlässig¬
keit in der pflichtwidrigen Nichtanwendung der bei pflichtmäßigem
Verhalten gebotenen Sorgfalt und Aufmerksamkeit, so muß auch die
Entscheidung, ob pflichtmäßiges, ob pflichtwidriges Verhalten vorliegt,
wesentlich abhängig sein von dem Maße der geistigen Kräfte und
Fähigkeiten des Handelnden und den Anforderungen, welche danach
an denselben gestellt werden können; diese Anforderungen werden
höher sein müssen gegenüber einem normal entwickelten, als gegen¬
über einem zwar nicht handlungsunfähigen, aber doch in dem normalen
Gebrauche der Geisteskräfte behinderten Menschen, und es wird dies
ganz besonders zu gelten haben bei dem Reate des fahrlässigen
Falscheides und der dabei maßgebenden Frage, welche Anforderungen
an Gedächtnisvermögen, Überlegung und Urteilsfähigkeit des Schwö¬
renden zu stellen waren. Indem die Vorinstanz diese Gesichtspunkte
nicht gewürdigt, vielmehr angenommen hat, daß die Frage wegen des
Geisteszustandes des Angeklagten nur vom Gesichtspunkte des Straf¬
ausschließungsgrundes des § 51 R.Str.G.B. aus in Betracht gelangen
könne, hat sie das Gesetz rechtsirrtiimlich angewendet, namentlich die
Erfordernisse strafbarer Fahrlässigkeit verkannt.
Annalen des Reichsgerichts 8, S. 284, Nr. 64.
Fassen wir zusammen, so ergibt sich i. daß der gewissenhafte
Zeuge vor der Verhandlung sich auf jede Weise vorzubereiten
hat, soweit er durch Revision seines Gedächtnisses, Befragung
von anderen Teilnehmern (Daude)’), Studium von eigenen Auf¬
zeichnungen usw. dazu in der Lage ist. Selbständige Ermitte¬
lungen anzustellen, ist der Zeuge nicht verpflichtet (Olshausen).
2. Derjenige, welcher sich zur Zeit der Wahrnehmung des
fraglichen Vorganges in einem Zustande befand, der ihn ver¬
hinderte, das Geschehnis richtig wahrzunehmen oder zu behalten,
sollte nur ausnahmsweise vorbehaltlose Bekundungen machen, da
er sonst leicht Gefahr läuft, mit dem § 163 zu kollidieren.
3. Geistige Abnormität kann — auch ohne daß der § 51
St.G.B. vorliegt — die Annahme strafbarer Fahrlässigkeit aus¬
schließen.
Uber die klinischen Erfahrungen, welche diesen juristischen
Ausführungen hinzuzufügen sind, vergl. das nächste Kapitel.
Strafprozeßordiiung.
Haben wir bisher diejenigen Rechtsnormen kennen gelerpt,
nach denen die Handlungen Geisteskranker oder die Verbrechen,
) Eine wenig empfehlenswerte Art der Information.
Die Zeugnisfähigkeit Qeistesgesunder und Kranker.
255
welche an Geisteskranken begangen werden können strafrechtlich
beurteilt rverden, so ist es nunmehr unsere Aufgabe, die Stellung
des geistig Abnormen im Strafprozeß genauer zu studieren. Wie
jeder andere Mensch, so kann der Kranke sowohl als Zeuge wie
als Angeschuldigter, Angeklagter und Verurteilter Gegenstand
besonderer Maßnahmen werden. Welche Bestimmungen dabei in
Frage kommen, soll in den folgenden Blättern erörtert werden.
Die Zeugnisfähigkeit Geistesgesunder und Kranker.
Zum besseren V'erständnis derjenigen Tatsachen, welche
nachher bezüglich der Geisteskranken angeführt werden sollen, ist
es notwendig, auf einige Eigentümlichkeiten, die auch der
normale Mensch bei Zeugenaussagen erkennen läßt, einzu¬
gehen. Einiges davon ist bereits in dem ersten Teil des Buches
erwähnt worden.
W'enn auch die Ziele, die der Richter und Sachverständige
bei ihren Vernehmungen im Auge haben müssen, ganz verschie¬
dene sind, indem der Jurist den Tatbestand festlegen will,
während es dem Sachverständigen um Material zur Beurteilung
der i’ersönlichkeit zu tun ist, so sollten doch beide Teile,
bestrebt sein, über die Tatbestandsmerkmale hinaus psychologisch
Wichtiges festzulegen. Nun leidet das ganze Verfahren unserer
\'emehmung, insbesondere mancher polizeilicher Verhöre in
kleineren Orten, erheblich daran, daß das Protokoll nicht die
Wiedergabe der ursprünglichen Vernehmung darstellt, sondern
nur eine Reproduktion der letzteren, w'ie sie sich dem diktieren¬
den Beamten darstellt ^).
Damit ist ihr ein Teil ihrer Ursprünglichkeit genommen und
sie kann deshalb auch zur Beurteilung der Persönlichkeit des Ver¬
nommenen nur mit Vorsicht herangezogen werden.
Unser Hauptstreben müßte besonders bei ernsteren krimi¬
nellen Handlungen dahin gehen, das Frage- und Antwortspiel der
Vernehmung objektiver darzustellen. Ich habe nach dieser Rich¬
tung hin Versuche angestellt und glaube, daß wir heute bereits
soweit sind, mit geeigneten Apparaten eine ganze Unterredung
auf der Walze fixieren zu können’). Ich habe das z. B. mit dem
’) Stern, Zeugenvernehmung vom Standpunkte der Psychologie.
Deutsche Jur.-Zeitg. 1909, 1. April; Boden, Monatsschr. f. Kriminalpsychol.
9. Jahrg., S. 668. Groß, Zeugenprüfung. Ebenda Bd. 3.
’) Vergl. A. \\'estphal und Hübner. Die Objektivierung von Be-
256 Strafprozeßordnung.
Diktaphon bewirkt, an das ein Doppelschlauch angesetzt war.
In den einen Schalltrichter spricht der Gefragte, in den anderen
der Frager. Auf diese Weise wird Frage und Antwort objektiv
festgelegt und man kann noch nachträglich sehen, wie jede ein¬
zelne Antwort zustande kam (Suggestivfragen, Tonfall!). Vor
allen Dingen aber nimmt man dem Angeschuldigten dadurch die
Möglichkeit, eine einmal gemachte Aussage abzustreiten, indem
man sie ihm jederzeit reproduzieren kann. Ich glaube, daß diese
Methode mehr Anspruch auf Beachtung hat, als es bis jetzt ge¬
schehen ist und daß sie auch der stenographischen Festlegung von
Aussagen vorzuziehen ist, da ja auch bei dieser gelegentlich Irr-
tümer Vorkommen.
Wie schon in der psychologischen Einleitung gesagt worden
ist, entwickelt sich der Mensch allmählich, indem er einesteils neue
Erfahrungen zu den bereits gewonnenen hinzusammelt und diese
neuen mit seinem alten Erfahrungsschatz verknüpft. Schon
daraus allein folgt, daß das Kind') mit seinem erheblich ge¬
ringeren Erfahrungsschatz nicht alle Vorgänge, die es objektiv
wahrnimmt, auch richtig deutet“). Es ist daher auch selbstver¬
ständlich, daß es verhältnismäßig einfache Vorgänge gelegentlich
falsch deutet. Lag das, worüber das Kind auszusagen hatte, inner¬
halb seines Gesichtskreises, dann können seine Beobachtungen
richtig sein. Trifft das nicht zu, so müssen sie notgedrungen falsch
sein. Die Deutung des Vorganges, und sei er noch so einfach, sollte
man von einem Kinde nur ausnahmsweise verlangen, denn sie
hängt von außerordentlich vielen Faktoren ab. Einmal von den
positiven Kenntnissen des Kindes, ferner von seiner Lektüre, von
wegungsstörungen und sprachlichen Äußerungen zu klinischen und foren¬
sischen Zwecken. Allg. Zeitschr. f. Psych. 1913.
') Die Berechtigung, Kinder als Zeugen zu vernehmen, ist neuer¬
dings unter Hinweis auf die Zeugenpflichten bestritten worden. Dem¬
gegenüber hat das R.Q. am 14. Februar 1911 (2 D 94. 11) entschieden,
daß dies zulässig sei. „Das Gesetz erklärt niemanden für unfähig als
Zeuge vernommen zu werden. Insbesondere zieht es keine Alters¬
grenze.“ Monatsschr. f. Kriminalpsychol. 1912, S. 174; Psych. Wochen-
schr. 1913, S. 5; Jahrb. f. Strafr. 1912, S. 149.
“) H. Haymann, Kinderaussagen. Halle a. S. 1909. Marhold. Lob-
sien, Aussage und Wirklichkeit bei Schulkindern. Beitr. z. Psych. d.
Aussage, 2. Folge, 2. Heft. Groß, Handbuch für Dntersuchungsrichter,
Bd. 1, S. 107. 5. Aufl. Bernstein und Bogdanoff, Merkfähigkeit bei
Schulkindern. Beitr. z. Psych. d. Aussage, 2. Folge, 3 Heft, S. 115.
Die Zeugnisfähigkeit Qeistesgesunder und Kranker.
257
den Gesprächen, die es ül)er denselben Gegenstand mit angehört
hat, von seiner Siiggestihilität, die im allgemeinen hei dem Kinde
viel größer ist als bei Erwachsenen.
Besonders gefährlich in dieser Beziehung ist das, was ich
die Suggestion des Zeugenzimmers nennen möchte. Bei jedem
größeren Prozeß, bei dem eine Reihe von Zeugen anwesend sind,
pflegt sich das Gespräch derselben um den zur Anklage stehenden
\'orfall zu drehen. Ich halte es für fast unmöglich, daß ein
Kind, wenn es diesen Gesprächen längere Zeit beigewohnt hat
und affektiv an dem Vorfall beteiligt ist, das gesprächsweise
Gehörte von dem wirklich Gesehenen richtig unterscheiden
kann. Insbesondere wird das dann unmöglich sein, wenn es sich
um kompliziertere Vorgänge handelt.
Hinzu kommt, daß das V^erantwortlichkeitsgefühl des Kindes
gegenüber dem Gericht und dem Angeklagten ein viel geringeres
ist, als das des cnwachsenen Zeugen. Deshalb kann es leicht ge¬
schehen, daß, wenn einmal in dem kindlichen Zeugen eine Ab¬
neigung gegen den Angeschuldigten erweckt worden ist, bewußt
oder unbewußt, der Wunsch, dem letzteren zu schaden, die Objek¬
tivität der Aussage ungünstig beeinflußt.
Noch ein Punkt ist zu erwähnen. Wenn das Kind selbst
etwas Unrechtes begangen hat, was gar nicht strafbar zu sein
braucht, was ihm aber einen Tadel oder körperliche Züchtigung
von seiten der Eltern einbringen könnte, und diese Handlung
wird zum Gegenstand einer gerichtlichen Vernehmung gemacht,
so ist auch da die größte Vorsicht bei der Bewertung der Zeugen¬
aussagen gelxtten, denn es gibt eine große Zahl von Kindern, die in
solchen Fällen kein Bedenken tragen, auch bewußt die Wahrheit
zu entstellen, um so mehr dann, wenn schon ein anderer in den
\'erdacht der Täterschaft gekommen ist. —
Für den Vernehmenden folgt aus den bisherigen Ausfüh¬
rungen :
1. Daß er Kinder am besten nur über einfache, dem Gesichts¬
kreis des Zeugen entsprechende Vorgänge befragt.
2. Daß er Urteile über die zur Erörterung stehenden Ge¬
schehnisse von kindlichen Zeugen nicht verlangt.
3. Daß die ersten Vernehmungen von Kindern bald nach
der Tat vom Untersuchungsrichter selbst, nicht von Lehrern,
Geistlichen oder unteren Polizeiorganen gemacht werden sollten.
Hübner, B'orensische Psychiatrie. 17
258
St rafprozeßordnung.
4. Daß festgestellt wird, wem der Zeuge zuerst seine
Wissenschaft anvertraut, mit wem er bis zur Vernehmung über
die Sache gesprochen hat usw.
5. Daß der Vernehmende Suggestivfragen nach Möglichkeit
vermeidet.
6. Daß durch Geduld und Freundlichkeit der Wahrheit mehr
gedient ist, als durch Schroffheit.
7. Scliließlich ist auch festzustellen, wie weit der kindliche
Zeuge an der Sache selbst interessiert ist.
Es wäre durchaus falsch, wollte man Kinderaussagen generell
ablehnend gegenüberstehen. Ich habe Verhandlungen erlebt, in
denen einzelne Aussagen über einfache Vorgänge so detailliert
und präzise lauteten, daß ich sie unbedenklich verwertet hätte,
wenn ich selbst Richter gewesen wäre.
Der im Pubertätsalter stehende Knabe ist ein guter
Zeuge. Er beobachtet gut, nimmt nicht so leicht Partei und lügt
auch seltener bewußt. V'or allen Dingen ist er aber weniger
suggestibel als das Kind.
Bei Mädchen ist mir besonders aufgefallen, daß, wenn sie
als Zeuginnen in Angelegenheiten, welche die Sexualsphäre be¬
trafen, vernommen wurden, womöglich auch noch selbst an der
Sache beteiligt waren, zum mindesten die Deutung aller Vor¬
gänge, die sie miterlebt hatten, durch die verschiedenen Be¬
sprechungenen und Vernehmungen sich änderte.
Ich entsinne mich dabei speziell eines Falles. Ein acht¬
zehnjähriges Kindermädchen traf am Rhein einen jungen Men¬
schen. Sie ließ sich mit ihm in ein längeres Gespräch ein, brachte
ihm offenbar bei seinen Annäherungsversuchen nicht das ge¬
ringste Mißtrauen entgegen, erklärte sich sogar zu einem Spazier¬
gang in die Gebüsche am Ufer des Rheins bereit. Im Gebü.sch
sagte ihr der Angeklagte, was er wollte, umarmte sie und wollte
sich mit ihr ins Gras legen. Sie schrie auf und wehrte
sich, worauf er sofort von ihr abließ, ohne daß es zu einer
unzüchtigen Berührung gekommen wäre. Sie lief dann nicht
etwa fort, sondern blieb ruhig da, bis Leute hinzukamen.
Offenbar hatte sie zur Zeit des Deliktes dem ganzen Vorfall
keine allzuhohe Bedeutung beigelegt. Sie diente nun l)ei einem
Ingenieur, der sich der Sache mit Feuereifer annahm, sie aufs
genaueste über das, was geschehen war, befragte, während der
Inquisition seiner Entrüstung fortwäbrend .\usdruck verlieh und
Die Zeugnisfühigkeit Oeistesgesunder und Kranker. 259
ihr die Bedeutung der einzelnen Handlungen des Täters erklärte.
Der Erfolg war, daß schon die ersten Aussagen des Mädchen vor
dem Untersuchungsrichter in ganz anderem Sinne ausfielen, als
hei der polizeilichen Vernehmung, und vor Gericht unterstrich sie
später alle diejenigen Geschehnisse, die für die Annahme eines
Xotzuchtsversuches sprachen, ganz besonders. Auf die Bedeu¬
tung derselben war sie offenbar erst durch die vielen Fragen
ihres Brotherrn aufmerksam gemacht worden. Was dieses Mäd¬
chen aussagte, war also nicht der objektive Tatbestand, sondern
die -Auffassung, die ihr Brotherr von der ganzen Sache gehabt
hatte, und doch kam es gerade in diesem Falle auf objektive Dar¬
stellung besonders an, denn die hätte vielleicht dem Angeklagten,
einem gutmütigen Bauernjungen, die Freisprechung gebracht. —
H. Groß hat mit Recht weiterhin darauf aufmerksam ge¬
macht, daß der Erfahrungsschatz des heranwachsenden Mädchens
ein geringerer ist, als der des gleichalterigen Knaben.
Hinzu kommt noch, daß das Mädchen nur solche Dinge scharf
beobachtet, die in seiner Interessensphäre liegen. Gerade da aber
ist sic bei der Wiedergabe des Beobachteten insofern unzuver¬
lässig, als sie sich durch Zu- und Abneigungen, Stimmungen, be¬
wußte oder unbewußte Suggestion, mitunter auch durch Lektüre
usw. beeinflussen läßt. —
Von den Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen
erwachsenen Zeugen ist bereits in der Einleitung gesprochen
(vergl. S. 8 u. ff.). Das Überwiegen des Gefühlslebens bei der
Frau, die Differenz in der Größe des Erfahrungsschatzes zu¬
ungunsten des Weibes, die Beeinflussung der Wahrnehmung und
Auffassung durch die Menstruation, der Mangel an Übung beim
.Auffassen und Beurteilen einzelner Tatbestände macht die Frau
in vielen Dingen zu einer weniger zuverlässigen Zeugin, als den
Mann. Bei letzterem wiederum kann Alkoholmißbrauch, Über¬
müdung, ein momentaner Affekt u. a. die Qualität der Wahr¬
nehmung und der -Aussage beeinträchtigen. —
Es gibt nun aber noch eine ganze Reihe von Gesichtspunkten,
welche bei der Bewertung von Zeugenaussagen zu berücksichtigen
sind.
ln erster Linie der eine, daß der Zeuge Grund hat, die Un¬
wahrheit zu sagen. Entweder er ist an dem Delikt selbst be¬
teiligt oder er will die Gelegenheit benutzen, dem .Angeschuldigten
zu schaden u. a. m. Wo der Richter glaubt, an der Wahrhaftig-
17*
26 o
Strafprozeßordiiunü.
keit eines Zeugen zweifeln zu müssen, da muß er besonders genau
fragen, sorgfältig i)rotokollieren lassen und die \’ernehmung
eventuell mehrfach wiederholen. —
Von diesen Dingen soll aber hier weniger die Rede sein.
Wesentlicher für unsere Zwecke ist etwas anderes.
Voranzustellen ist, daß die Wahrnehmung jedes, auch
des klügsten und geübtesten Menschen unvollkommen ist. Man
kann sich davon sehr leicht durch einfache Versuche überzeugen.
So habe ich z. B. im verflossenen Semester mit 12 Studenten
folgendes Experiment gemacht.
Es wurde den Versuchspersonen ein farbiges Bild aus den Lustigen
Blättern 15 Sekunden lang gezeigt mit der Aufgabe, sich möglichst viel
Einzelheiten zu merken. (Das Bild stellt 5 Personen beiderlei Geschlechts
beim Billardspiel dar.) Es wurde dann gefragt: Wie viel Personen waren
auf dem Bild? (50% falsche .Antworten.) Wie war die Verteilung nach
Geschlechtern? (5 richtige, 7 falsche Antworten.) Welche Farbe hatte
das Haar der Hauptperson? (11 richtige, 1 falsche Antwort.) Farbe des
Kleides der daneben stehenden Dame (6 richtige, 6 falsche Antworten;
2mal war bestritten worden, daß auf dem Bilde 2 Damen nebeneinander
gestanden hatten).
Dieser Wrsuch lehrt, daß selbst Gebildete bei leicht zu deu¬
tenden Wirgängen bezüglich der einfachsten Dinge irren können.
Wir müssen daraus den Schluß ziehen, daß das, was wir wahr¬
nehmen, unvollkommen bleil)t, selbst wenn wir unsere Aufmerk¬
samkeit noch so sehr anspannen.
W a s der einzelne w a h r n 1 m m t, hängt von individueller
\'eranlagung, Übung’) und Erfahrung ab. Der Musikalische wird
kleine Besonderheiten der Sprache oder eigentümliche Geräusche
besser auffassen, als der Unmusikalische. Ein anderer, der seine
Wahrnehmungen vorwiegend mit dem Gesichtssinn macht, liefert
gute Personenbeschreibungen usw.
Praktisch wichtig ist nun, daß wir gewöhnt sind, aus unseren
unvollständigen Wahrnelmumgen weitgehende Schlüsse zu zielien.
Daher kommen die mitunter geradezu ungeheuerlichen Diffe¬
renzen zwischen den Angaben verschiedener Zeugen über die
gleiche Frage *).
') Namentlich bei Abschätzungen von Entfernungen und Zeiten.
-) Z. B.: Ein Kutscher, dessen Pferde Schaden angerichtet hatten,
war wegen fahrlässiger Körperverletzung angeklagt, ln der Verhandlung
war schließlich die Hauptfrage, wo er z. Z. des Unfalles gestanden hatte.
Zwei Zeugen beschworen, daß sie ihn neben den Pferden gesehen hatten.
201
Die Zeugnisfähigkeit Qeistesgesiinder und Kranker.
Das, was wir l)e halten, hängt ab von unserer Aufmerk¬
samkeit bei der Wahrnehmung, von unserer Stimmung davon,
ob es sich gut oder schlecht in den bisherigen Erfahrungsschatz
einfügt, ob wir in späterer Zeit noch öfter daran erinnert werden,
ob es uns besonders interessiert, kurz, es hängt von einer ganzen
Reihe von Faktoren ab.
Daraus ergibt sich, daß dieselbe Person nicht zu allen
Zeiten gleich gut behält. Die Erfahrung hat weiter gelehrt, daß
die Fähigkeit, neue Eindrücke zu behalten, bei verschie¬
denen Menschen gleichfalls sehr ver.schieden ist.
Hinzu kommt, daß auch bei Erwachsenen — namentlich bei
Frauen — die Suggestion eine große Rolle spielt. Gerade nach
dieser Richtung hin hat uns die Literatur der letzten Jahre viel
Beispiele gebracht'). Schließlich ist für die Zeugenaussage auch
noch der Zustand des Zeugen bei der \'ernehmung in Betracht zu
ziehen. —
Um nun das Gewissen des Zeugen zu schärfen und ihn zu
sorgfältigster Überlegung jedes einzelnen Wortes zu veranlassen,
ist in der Strafprozeßordnung (§ 6i, 64) die e r e i d i g u n g
vorgesehen.
Nach § 59 hat außerdem der Richter den Zeugen in ange¬
messener Weise auf die Bedeutung des Eides aufmerksam zu
machen. Dies geschieht für gewöhnlich dadurch, daß er die
strafrechtlichen Konsequenzen des Meineides hervorhebt und
gleichzeitig den Zeugen zur Aus.sage der Wahrheit ermahnt.
In bestimmten Fällen nun, in denen entweder die richtige
Vorstellung von der Bedeutung des Eides fehlt oder die erforder¬
liche Wahrheitsliebe nicht vorausgesetzt werden kann, muß die
V'crnehmung unl>eeidet erfolgen (§ 56).
L' n b e e i d i g t sind zu v' e r n e h m e n:
I. Personen, welche zur Zeit der X'erneh-
m u n g das sechzehnte Lebensjahr noch nicht
vollendet, oder wegen mangelnder \’erstandes-
reife, oder wegen VM- r s t a n d e s s c h w ä c h e von dem
einer behauptete, er sei 11 ni hinter dem WaKen ReKanscen, die übrigen
bekundeten, er sei 2—6 m neben oder hinter den Pferden zu sehen ge¬
wesen.
') Marx, Monatsschr. f. Kriminalpsychol., 9. Jahrg., Heft 9.
V. Schrenck-Notzing, Suggestion und Einnerungstäuschungen im Berch-
hold-Prozeß. Leipzig 1897. Henneberg, Charite-Annalen, Bd. 26.
202
Strafprozeßordnung.
Wesen und der Bedeutung des Eides keine ge¬
nügende Vorstellung haben.
2. Personen, welche hinsichtlich der den
Gegenstand der Untersuchung bildenden Tat
als Teilnehmer, Begünstiger oder Hehler ver¬
dächtig oder bereits verurteilt sind.
Wichtig ist aus diesem Paragrai)hen, daß bei der Vereidigung
von Jugendlichen nicht die geistige Reife zur Zeit der Wahr¬
nehmung der zu bekundenden Tatsachen, sondern die zur Zeit
der Vereidigung in Betracht kommt, ein Moment, das aber an
sich keine allzu große Bedeutung hat, da dem Richter trotz der
\'ereidigung die Bewertung der Zeugenaussagen ganz überlassen
bleibt. —
Daß das i6. Lebensjahr kein zu früher Zeitpunkt für die
Voraussetzung der Eidesfähigkeit ist, scheint mir ziemlich sicher.
Gewöhnlich geht aus dem ganzen äußeren X'erhalten der jugend¬
lichen Zeugen schon hervor, daß sie sich darüber klar sind, welche
Folgen ihnen aus einem Falscheid erwachsen können.
Geisteskranke’) werden von der Vereidigung nur dann
ausgeschlossen, wenn sie wegen mangelnder Verstandesreife oder
wegen Verstandesscbwäche keine genügende Vorstellung von dem
Wesen und der Bedeutung des Eides haben. Das Reichsgericht
hat diesen Paragraphen noch weiter dahin interpretiert, daß nicht
jede Geistesschwäche oder Geisteskrankheit “) die Beeidigung hin¬
dert, sondern eben nur solche Verstandesschwäche, welche die
\'orstellung von dem Wesen und der Bedeutung des Eides be¬
einträchtigt. Es muß demnach auch ein Schwachsinniger be¬
eidigt werden, wenn er die verlangte „Vorstellung“ hat, obwohl
seine Aussage an sich objektiv falsch sein kann.
Wenn diese .Auslegung des Gesetzes auch vom psychiatrischen
’) bür die Zulässigkeit der Vernehmung Geisteskranker als Zeugen
hat sich das R.Q. in einem Urteil vom 9. Oktober 1900 (E. in Str.-Sachen.
Bd. 33, S. 393) ausgesprochen. Vergl. auch Monatsschr. f. Kriminal-
psychol. 1912, S. 174: Jahrb. 1909, S. 170; s. auch Seuff. Arch. 74. 175;
Das Recht 1911, E. Nr. 1246; Jahrb. 1908, S. 204.
■) Die Tatsache, daß ein Zeuge wegen Geisteskrankheit entmündigt
ist, steht seiner Beeidigung rechtlich nicht entgegen, wenn das Gericht
sie für ungeeignet erachtet, die Annahme einer Verstandesschwäche des
Zeugen zu rechtfertigen, durch welche die Anwendung des § 56 Nr. 1
Str.P.O. begründet werden könnte. (R.G. II. 13. 6. 11.) Jahrb. 1912,
S. 149 und Das Recht 1911, Nr. 2689.
Die Zeugnisfähigkeit Qeistesgesunder und Kranker.
263
Standpunkte aus nicht bedenkenfrei ist, so kann praktisch ein
Schaden insofern vermieden werden, als es dem Gericht ja trotz¬
dem überlassen bleibt, die beeidigte Aussage des Kranken ent¬
sprechend einzuschätzen und das wird vom Berufsrichter auch
fast ausnahmslos geschehen. Daß gelegentlich aber dem An¬
geklagten vor dem Geschworenengericht aus der Tatsache, daß
eine an sich nicht zuverlässige .‘\ussage beeidigt ist, Nachteile
erwachsen können, halte ich für sicher. —
Die Behauptung, daß die Bestimmungen über die Vereidigung
geistig Abnormer vom psychiatrischen Standpunkt aus nicht un¬
bedenklich sind, ist leicht zu beweisen.
Ein Manischer oder Melancholischer hat meist die er¬
forderliche Verstandesreife, um von dem Wesen und der Be¬
deutung des Eides eine genügende Vorstellung zu besitzen. Der
Manische wird aus seiner heiteren Verstimmung heraus aber
leicht Dinge beschwören, die nicht der Wahrheit entsprechen, um¬
gekehrt wird der Melancholiker auch bei einem Eid über einfache
Wahrnehmnungen mehr Bedenken hegen, als nötig ist, oder seine
Aussage im Sinne seiner Depression färben.
Paranoiker mit Sinnestäuschungen können die vom Gesetz
geforderten Eigenschaften gleichfalls besitzen und würden ohne
Zögern den Inhalt ihrer Halluzinationen beschwören, weil sie an
die Wirklichkeit derselben glauben.
Querulanten erbieten sich direkt dazu, ihre Angaben über das
Wrhalten ihrer Feinde zu beeidigen. Auch sie glauben felsenfest
an die Richtigkeit ihrer Wahnideen.
Die Fälle, in denen die erforderliche Verstandesreife vor¬
handen ist, bei denen aber trotzdem die Aussage durch die Krank¬
heit beeinflußt sein würde, ließen sich leicht vermehren. Hin¬
gewiesen sei nur noch auf manche Epileptiker, bei denen wegen
mangelhafter Auffassung, Erschwerung der Reproduktion, wegen
Beziehungsvorstellungen und Neigung zum Lügen die Wreidigung
gleichfalls nicht unbedenklich ist'). —
Eine Sonderstellung nehmen die früher Geisteskranken')
') Gottlob, Zeugnisfähigkeit der Epileptiker. Allg. Zeitschr. f. Psych.,
Bd. 53, S. 695. Ferner die Arbeiten von Gregor, Zur Psychologie der
Aussagen Geisteskranker, vergl. Leitfaden 1910, S. Karger.
“) Aschaffenburg, Monatsschr. f. Kriniinalpsychol., Bd. 3, S. 416 und
Monatsschr. f. Kriniinalpsychol., Bd. 1, S. 435. Beling, Zeitschr. f. d. ges.
Strafrechtswiss., Bd. 26, S. 709.
264
Strafprozeßordnung.
ein. Sic über \’orgänge zu vereidigen, die sie während ihrer
Krankheit wahrgenommen haben, ist u. U. gefährlich. Nach dem
geltenden Recht muß das aber geschehen, wenn sic zur Zeit der
Verhandlung die Bedingungen des § 56 Str.P.O. erfüllen. Bei
riiesen Fällen kann aber nicht dringend genug emi)fohlen werden,
die Aussagen besonders kritisch — eventuell unter Zuziehung
eines Sachverständigen — zu würdigen, ehe sie als Beweismittel
verwandt werden.
Schon im vorhergehenden Kapitel ist darauf hingewiesen
worden, daß Gedächtnisstörungen die Zeugnis- und
Eidesfähigkeit eines Kranken erheblich zu beeinträchtigen ver¬
mögen. Es erhebt sich nun die Frage, bei welchen geistigen Er¬
krankungen das der Fall ist.
Bekannt sind die Fälle, in denen nach Kopfverletzungen')
Gedächtnisstörungen auftreten. Der Kranke wird überfallen, er¬
hält einige Schläge über den Kopf, ist eine Zeitlang bewußtlos
und macht später bei seiner Vernehmung Aussagen, die der Wirk¬
lichkeit nicht ents])rechen. Entweder fehlt die Erinnerung an
einen Teil des Vorganges ganz, oder es treten direkte Erinnerungs¬
fälschungen auf. Bekannt ist der Fall, in dem eine verletzte Frau
das aufgenommene Protokoll mit dem Namen dessen, der sie
überfallen hatte, statt mit ihrem eigenen Namen Unterzeichnete.
Bei Patienten mit Herderkrankungen des Gehirns, ins-
l)csonderc solchen mit Schlaganfällen*) stellen sich gleich¬
falls oft Gedächtnisstörungen ein. Diese Kranken sind bisweilen
.schon beim Wahrnehmen einfacher Vorgänge unzuverlässig, sie
behalten auch das Erlebte schlccbter und sind vor allen Dingen so
suggestibel, daß es öfters gelingt, ihre .\nsicht über einen X'orfall
umzustimmen, ohne daß sic cs merken.
I lervorzuheben ist, daß sich die Kranken der beiden eben er¬
wähnten Gru[)pen keineswegs immer ihrer Unzulänglichkeit be¬
wußt werden, so daß sie in bestem Glauben Dinge beeidigen, die
falsch sind, ohne tlaß man ihnen deshalb eine Fahrlässigkeit vor¬
werfen darf. Dieser Punkt ist in.sufern von Wichtigkeit, als er
') Bauer, Arch. f. Kriininalanthrop., Bd. 25, S. 85. Hahn. Arch. f.
Kriniinalantlirop., Bd. 17, S. 204. Ziehen. Vierteljahrsschr. f. RericlUl.
.Med., Bd. 14, 1897. Kmniert. Kriedreichs Bl. f. Kcrichtl. Med. 1884.
-) Schmidt-Qiiisan, ZeuKiiisfühiKkeit einer 59jähriKen Frau nach
Hirnblutungen. Monatsschr. f. Krirninalpsychol. 1912, S. .59,1.
Die Zeugnisfähigkeit Qeistesgesunder und Kranker. 265
zur Vorsicht bei der Annahme eines fahrlässigen Falscheides
mahnt (vergl. S. 252).
Bekannt ist ferner, daß in der Betrunkenheit das Wahr¬
nehmungsvermögen erheblich beeinträchtigt sein kann und daß
namentlich auch die Deutung dessen, was der Trunkene gesehen
hat, eine falsche ist. Ebenso ist die Erinnerung an den Trink¬
exzeß oft eine unvollständige, ein Punkt, der in gerichtlichen \T*r-
handlungen gleichfalls eine große Rolle spielt.
Die Trunkenheit hat bei Zeugenaussagen noch eine weitere
Bedeutung. Der Zeuge kann zur Zeit der Vernehmung
trunken sein. Dann ist nach folgender Entscheidung zu verfahren;
Der Mangel einer genügenden Vorstellung von dem Wesen und
der Bedeutung des Eides, welcher nach dieser Vorschrift die Unter¬
lassung der Beeidigung rechtfertigt, muß auf mangelnder Verstandes¬
reife oder auf Verstandesschwäche beruhen. Eine Ausdehnung auf
andere üriinde ist unstatthaft. Verhindert Trunkenheit den Zeugen,
die Aussage wahrheitsgetreu und im Bewußtsein der mit der Eides¬
leistung zu übernehmenden Verantwortlichkeit zu machen, so hat das
Gericht die Vernehmung und Beeidigung bis zur Hebung des Hinder¬
nisses zu verschieben, also in einen späteren Abschnitt der nötigen¬
falls zu unterbrechenden Hauptverhandlung zu verlegen oder Aus¬
setzung der Verhandlung anzuordnen. (Urteil des 111. Senats vom
10. Juni 1901, 1925/1901.) Jur. Wochenschr. 1901. S. 687').
Hinzuzufügeii ist ferner, daß in hochgradiger Er¬
regung das Wahrnehmungsvermögen schwer gestört sein kann.
Es werden dann mitunter wichtige Dinge gar nicht lieobaclitet,
während sich unbedeutende Einzelheiten dem Gedächtnis gut ein¬
prägen können. Vor allen Dingen wird wirklich Wahrgenom¬
menes und Kombiniertes nicht genügend auseinandergehalten-).
Noch ein Punkt ist bei dem Kapitel der geisteskranken
Zeugen zu erwähnen. Es gibt Kranke, die aus ihren Wahnideen
heraus oder, was viel gefährlicher ist, aus krankhafter Rachsucht
und sonstigen pathologischen Überlegungen gegen dritte Personen
Anschuldigungen erheben.
Diese Fälle sind insofern schwierig, als die Geisteskrankheit,
') Genauer ist die Entscheidung in der Zeitschr. f. Medizinal-
Beamte 1902, Beil. Nr. 3, S. 18 wiedergegeben. Weitere Entscheidungen:
vom 30. 11 . 09; Recht 1910, E. Nr. 251 und vom 13. 7. 03; Arztl. Sach-
verst.-Zeitg. 1904, S. 104, betreffend einen wegen Trunksucht Entmün¬
digten; s. auch Deutsche Jur.-Zeitg. 1903.
^) Beispiele siehe bei Groß. Handbuch für Untersuchungsrichter.
5. Aufl. S. 93.
Strafprozeßordnung.
266
besser gesagt die pathologischen Motive, welche den Anzeigenden
zu seiner Anschuldigung veranlaßt haben, nicht ohne weiteres
erkennbar sind. Hinzu kommt, daß der angeblich Geschädigte
unter Umständen so außerordentlich viele Details vorbringt und
so überzeugend die inkriminierten Vorgänge darzustellen ver¬
mag, daß sie auf den ersten Blick glaubhaft erscheinen. Gegen¬
stand der Anschuldigung sind für gewöhnlich sexuelle Delikte,
schwere Raubanfälle, gelegentlich auch Einbruchsdiebstähle und
Körperverletzungen.
Nach dem geltenden Recht besteht in solchen Fällen keine
Möglichkeit, die Glaubwürdigkeit des Zeugen objektiv festzu-
stcllen.
Es ist heutzutage dann nur möglich, andere Zeugen über
seine Glaubwürdigkeit zu vernehmen. .'\m besten werden nur
solche geladen, die bestimmte, für oder gegen ihn sprechende
Tatsachen bekunden können. Mit Schlußfolgerungen kann
tlas Gericht nichts anfangen.
Ablehnung derartiger Beweisanträge kann einen Revisions¬
grund abgeben (vergl. R.G.E. 967/06 und 108/07 Wochen-
schr. 1907, Bd. 36, S. 559).
Dagegen ist es möglich, durch den zur Entscheidung der Tat¬
frage berufenen Richter \'ersuche mit dem Zeugen ’) anstellen zu
lassen, wie folgende Entscheidung beweist:
Die Str.P.O. enthält keine Vorschriften über Versuche, die Fähig¬
keit von Zeugen zu Sinneswahrnehmiingen zu erforschen. Solche
Versuche sind zulässig. Aber ob sie auf gestellten Antrag vorzu¬
nehmen sind, hängt lediglich von dem Ermessen des erkennenden
Gerichts ab. Die Frage, ob spätere mögliche Fehler in der Auf¬
fassung, Unterscheidung und Zusammenfassung den Wert des ab¬
gelegten Zeugnisses zu ändern vermögen, steht mit der Beurteilung
des Zeugnisses in so engem Zusammenhänge, daß sie sachgemäß nur
von dem zur Entscheidung der Tatfrage berufenen Richter gelöst
werden kann. Wie der Angeklagte kein Recht darauf hat, daß ein
mit der Prüfung der geistigen Fähigkeiten einer Person beauftragter
Sachverständiger gerade die vom Angeklagten gewollten Arten der
Untersuchung anwendet, so hat er kein Recht darauf, daß das Gericht
bei seiner eigenen Prüfung diejenigen Prüfungsmittel anwendet, welche
er benutzt haben will. (R.G. 26. 2. 07.) Jur. Wochenschr. 1907, S. 559.
Nach meinen Erfahrungen ist es in solchen Fällen, in denen
der Hanptbelastungszeuge der Unzuverlässigkeit verdächtig ist.
) S. auch Fi. Groß. Deutsche Jur.-Zeitg. 1913.
Die Zeugnisfiihigkcit Geistesgesunder und Kranker. 267
noch möglich, durch genaue Durchforscliung seiner \'ergangenheit
und wiederholte, in längeren Zwischenräumen auszuführende Ver¬
nehmungen Aufklärung zu bringen. (Sorgfältige Protokolle!)
In einem solchen Falle, in dem eine PVau behauptete, von einem
Manne geschlagen wf)rden zu sein, wurde durch Befragen ehe¬
maliger Hausgenossen festgestellt, daß die Zeugin früher mehr¬
fach ähnliche falsche Anschuldigungen gegen Personen erhoben
hatte, denen sie Ungelegenheiten bereiten wollte.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben leider gezeigt, daß
es Fälle gibt, in denen eine genauere Prüfung des Zeugen dringend
erwünscht ist.
Dieser Umstand hat zu der Forderung geführt, daß auch die
Möglichkeit der sachverständigen Beobachtung von Zeugen
in der zu schaffenden Strafprozeßordnung vorgesehen werden
möge.
Ül)er die Berechtigung dieser Forderung für einzelne Fälle
ist wohl kein Wort zu verlieren. Zu liedenken bleibt dabei aber,
daß damit ein schwerer Eingriff in die persönliche Freiheit des
Betroffenen vorgenommen wird. Man denke sich den folgenden
Fall:
Ein psychopathischer Mensch ist zufällig Zeuge eines be¬
stimmten Vorganges. Seine Aussage ist, wie sich nachher heraus¬
stellt, von großer Wichtigkeit, andererseits wird von ihm bekannt,
daß er wegen schwerer psychischer Symptome früher bereits be¬
handelt worden ist. Es wird nicht wenig Fälle geben, wo der Ver¬
teidiger des Angeklagten — und zwar mit einem gewissen Recht —
von eventuell bestehenden gesetzlichen Bestimmungen Gebrauch
machen und die psychiatrische Beobachtung des Mannes be¬
antragen würde. Würde nun dem Antrag des \’erteidigers statt¬
gegeben, so bedeutete das für den Zeugen eine mehrwöchige un¬
freiwillige Entfernung aus dem Berufe und der Familie.
Wenn Heimberger u. a. deshalb nur diejenigen Zeugen,
welche selbst Anzeige erstattet oder den Antrag zur Strafver¬
folgung gestellt haben, einer Untersuchung unterzogen wissen
will, so hat diese Einschränkung aus sozialen Gründen ihre volle
Berechtigung.
*) Heimberger, Qerichtsärztlichc Wünsche. Verh. d. Deutsch. Med.-
Beamten-Vereins 1905. Vergl. auch die Diskussion des Deutschen Vereins
i. Psych. 1909 bei der Jahresvers. in Köln-Bonn.
268
Strafprozeßordnung.
Der Geisteskranke als Angeschuldigter, Angeklagter und Ver¬
urteilter.
§ )68 Str.P.O. Bieten die an gestellten Er¬
mittelungen genügenden Anlaß zur Erhebung
der öffentlichen Klage, so erhebt die Staats¬
anwaltschaft dieselbe entweder durch einen
Antrag auf gerichtliche Voruntersuchung oder
durch Einreichung einer Anklageschrift hei
d c ni Gerichte.
Anderenfalls verfügt die Staatsanwaltschaft
die Einstellung des Verfahrens und setzt hier¬
von den Beschuldigten in Kenntnis, wenn er als
solcher vom Richter vernommen oder ein Haft-
1) e f e h 1 g e g e n ihn erlassen war.
Zu den Gründen, welche zur Einstellung des Verfahrens
führen können, gehört unter anderen auch der, wenn ein Straf¬
aufhebungsgrund vorliegt, ferner, wenn es für die Tat oder doch
für einen zu den wesentlichen Merkmalen gehörigen Tatumstand
für die Täterschaft an genügenden Beweisen mangelt. Weiterhin,
wenn ein Schuld ausschließungsgrund, z. B. Notwehr oder Un¬
zurechnungsfähigkeit, zweifelsfrei festgestellt ist. Dieses letzte
Moment trifft für die von Geisteskranken begangenen Hand¬
lungen oft zu.
Die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens liegt
in diesem Falle noch bei der Staatsanwaltschaft. Ist einmal der
.Antrag auf Voruntersuchung oder Eröffnung des Hauptver¬
fahrens gestellt, so hat das Gericht zu entscheiden. Sobald Schuld¬
ausschließungsgründe im Sinne des § 51 Str.G.B. geltend gemacht
worden sind, ist das Gericht genötigt, dieses Moment im Urteil
zu berücksichtigen.
§ 266, 2. W a r e n in der Verhandlung so! che
vom Strafgesetze b e s (t n d e r s vorgesehene Um¬
stände behauptet worden, welche die Straf¬
barkeit a u s s c h 1 i e ß e n , vermindern oder erhöh.en,
so müssen die U r t e i 1 s g r ü n d e sich darüber aus-
s ]) r e c h c n , ob diese Umstände für f e s t g e s t e 111
oder für nicht f e s t g e s t e 111 erachtet werden
ln der Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht ist nach
§ 293 zu verfahren;
Der Geisteskranke als Angeschuldigter, Angeklagter ii. Verurteilter. 269
Die Hauptfrage beginnt mit den Worten;
„Ist der .Angeklagte schuldig?“ Sie muß die dem
Angeklagten zur Last gelegte Tat nach ihren
gesetzlichen Merkmalen und unter Hervor¬
hebung der zu ihrer Unterscheidung erforder¬
lichen L'mstände bezeichnen.
ln allen denjenigen Fällen, in denen der Angeklagte den Schuld¬
ausschließungsgrund des § 51 zu seiner Verteidigung vorgebracht
hat, belehrt deshalb der Vorsitzende des Schwurgerichts die Ge¬
schworenen darüber, daß sie mit der Frage: „Ist der .Angeklagte
schuldig“ gleichzeitig auch die nach dem Vorliegen des § 51
Str.G.B. zu beantworten haben^).
Anders liegen die Verhältnisse, sobald es sich um einen noch
nicht Strafmündigen oder Taubstummen handelt. Dann ist nach
§ 298 zu verfahren:
Hatte ein Angeklagter zur Zeit der Tat noch
nicht das 18. Lebensjahr vollendet, so muß die
X e b e n f r a g e gestellt werden, ob er bei Begehung
der Tat die zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit
erforderliche Einsicht besessen habe.
Dasselbe gilt, wenn ein Angeklagter taub¬
stumm ist').
Die Verschiedenheit der Behandlung von Geisteskranken,
Strafunmündigen und Taubstummen ist darauf zurückzuführen,
daß nach dem Wortlaut des § 51 Str.G.B. bei dem Geisteskranken
eine strafbare Handlung ,,nicht vorhanden“ ist. —
') Dabei ist aber zu beachten, daß die Frage, ob dem Angeklagten
der Schutz des § 51 Str.G.B. zuzubilligen sei, weder eine „Hilfsfrage“ im
Sinne des § 294 Str.P.O. (über eine von dem Eröffnungsbeschluß ab¬
weichende Beurteilung der Straftat), noch eine „Nebenfrage“ im Sinne
des § 295 Str.P.O. (nach Umständen, welche die Strafbarkeit vermindern
oder erhöhen), sondern ohne weiteres in der Hauptfrage; „Schuldig oder
nicht?“ enthalten ist. Dies folgt sowohl aus dem Wortlaut der er¬
wähnten Gesetzesstellen als auch daraus, daß sich bei einer getrennten
Fragestellung unter Umständen aus der Bejahung der Hauptfrage mit
„schuldig!“ die Zurechnungsfähigkeit, aus der Bejahung einer etwa nach
Zubilligung des § 51 Str.G.B. gestellten Nebenfrage aber die Unzurech¬
nungsfähigkeit des Angeklagten ergeben würde. (Urteil des R.Q. I vom
27. Juni 1881, Entsch. Bd. 4, S. 400.)
’) Die Unterlassung der Stellung dieser Nebenfrage hat die Auf¬
hebung des Urteils zur Folge. (Urteil des R.Q. vom 5. Juli 1898. Entsch.
Bd. 31, S. 232.)
Strafprozeßordnung.
Wir kommen damit zu der dritten Möglichkeit, die darin
l)esteiit, daß ein Angeklagter verurteilt ist und vor oder während
der \'ollstreckung der Strafe geistig erkrankt.
Diesen Möglichkeiten ist im Gesetz durch folgende Restim¬
mungen Rechnung getragen.
§ 485, 2. An schwangeren oder geisteskranken
Personen darf ein Todesurteil nicht vollstreckt
werde n.
§ 487. Die Vollstreckung einer Freiheits¬
strafe ist aufz uschieben, wenn der V'^erurteilte
in Geisteskrankheit verfällt.
Dasselbe gilt bei anderen Krankheiten, wenn
von der \' o 11 s t r e c k u n g eine nahe Lebensgefahr
für den \’ e r u r t e i 11 e n zu besorgen steht.
Die Strafvollstreckung kann auch dann auf-
g e s c h o b en werden, wenn sich der Verurteilte
in einem körperlichen Zustande befindet, bei
welchem eine sofortige \G) listreck ung mit der
E i n r i c h t u n g der Strafanstalt unverträglich ist.
Soweit die vorstehenden Bestimmungen Geistes- oder Nerven¬
kranke betreffen, sind sie wohl aus dem Gesichtspunkt heraus er¬
lassen, daß es dem Zweck einer Strafanstalt ’) nicht entspricht,
wenn derartige Kranke dort untergebracht sind. Strafen soll man
nur solche Menschen verbüßen lassen, die durch den Strafvollzug
keinen Schaden leiden, das erforderliche Verständnis für den
Strafzweck haben, den Strafvollzug im allgemeinen nicht stören
und wenn sie krank sind, so behandelt werden können, wie es bei
ihrem Zustande erforderlich ist. Vermieden werden soll durch
diese, wie durch jede in das künftige Recht aufzunehmende Be¬
stimmung: I. daß der Kranke Schaden leidet, der außerhalh des
Strafzweckes liegt, und 2. daß dem Staat die Durchführung des
geordneten Strafvollzuges durch die .Anwesenheit des Patienten
in der Strafanstalt grundlos erschwert wird.
B Über die Grundsätze für den Strafvollzug für das Deutsche Reich
siehe Arztl. Sachverst.-Zeitg. 1898. S. 44. Literatur: Aschaffenburg, Arztl.
Sachverst.-Zeitg. 190,3, S. 4.33. Marx, Haftfähigkeit, Arztl. Sachverst.-
Zeitg. 1909, S. 45. Derselbe, Vierteliahrsschr. f. gerichtl. Med. 1906.
Moeli, Monatsschr. f. Kriininalpsychol. 1908. F. Leppinann, Arztl. Sach¬
verst.-Zeitg. 1905. Heimberger, Verhandl. d. Deutschen Med.-Beaniten-
vereins 1905. R. V. Müller, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1909, S. 694.
Der Geisteskranke als Angeschuldigter, Angeklagter u. Verurteilter. 271
Wenn man die Frage aufwirft, wer unter diesen Gesichts¬
punkten als strafvollzugsunfähig anzusehen ist, so ist die
Antwort beim Bestehen schwerer Erregungs- oder Verwirrtheits¬
zustände nicht schwer. Auch ausgesprochene Paralytiker und Senil-
dcmente, die schwereren Formen der Manie, Amentia und Melan¬
cholie gehören nicht in den Strafvollzug. Schwierigkeiten be¬
reitet nur die Beurteilung der Grenzzustände, insbesondere der
F'pileptiker, Hysterischen, Degenerierten usw. Diese kommen
nun aber ungleich häufiger vor, als die ersterwähnten Kranken.
Bei ihnen wird man Marx zustimmen müssen, wenn er sagt, daß
nicht die Art, sondern der Grad der bestehenden Erkrankung von
Wichtigkeit ist. Ich glaube auch, daß selbst bei solchen Fällen,
die an der Grenze der Strafvollzugsunfähigkeit stehen, es oppor¬
tuner (und zwar vom medizinischen, wie juristischen Stand¬
punkte aus) ist, den Verurteilten einen kurzen Strafrest im Ge¬
fängnis absolvieren zu lassen, als durch Unterbrechung der Strafe
und spätere Rückversetzung in den Strafvollzug die Leidenszeit
des Patienten erheblich zu verlängern. —
Es sind also nicht rein medizinische Kriterien, welche bei der
Beurteilung der Strafvollzugsfähigkeit eines Menschen in An¬
wendung kommen, sondern auch die rechtliche und verwaltungs¬
technische Seite der Frage muß im Interesse des Verurteilten Be¬
rücksichtigung finden. —
Der einmal verfügte Strafaufschub fällt fort, sobald der
Kranke wieder strafvollzugsfähig wird. Es bedarf dazu nicht
immer der Genesung. Die Änderung des Zustandes braucht unter
Umständen nur eine quantitative zu sein. —
Hat ein Verurteilter die Strafe angetreten und verfällt dann
in Geisteskrankheit, so wird er zunächst einer Irrenabteilung
für die Dauer von längstens 6 Monaten überwiesen. Ist die Be¬
obachtung während dieser Zeit noch nicht abgeschlossen, dann
kann ausnahmsweise der Aufenthalt um weitere 6 Monate ver¬
längert werden. Ist der psychotische ZusUind früher abge¬
laufen, so erfolgt Rückversetzung in den regulären Strafvollzug.
Bleibt er bestehen oder ist eine länger als 6 resp. 12 Monate an¬
haltende Geistesstörung festgestcllt, so erfolgt die Überführung
in eine öffentliche Irrenanstalt. Die Entlassung kann aus der
') In Preußen gibt es sechs: Halle, Münster, Köln, Berlin, Breslau,
Graudenz. Dieselben sind nur für männliche Gefangene bestimmt.
272 Strafprozeßordnung.
Irrenabteilung nur erfolgen, wenn das Strafende in die Zeit des
Aufentlialtes in dieser Abteilung fällt.
Erfolgt die Überführung in die Irrenanstalt, so wird der
Kranke aus dem Strafvollzug in Preußen gemäß Erl. d. Min. des-
Innern und rler Justiz vom 28. März 1903, bzw. 5. Dezember 1901
entlassen. Strittig ist nur die Anrechnung der in der Irrenanstalt
\ erbrachten Zeit auf die Strafhaft. Der § 493 Str.P.O. besagt
darüber fügendes:
Ist der \’er urteilte nach Beginn der Straf¬
vollstreckung wegen Krankheit in eine von
der Strafanstalt getrennte Krankenanstalt ge¬
bracht worden, so ist die Dauer des .Aufenthalts
in der Krankenanstalt in die Strafzeit einzu¬
rechnen, wenn nicht der \’ e r u r t e i 11 e mit fl e r .Ab¬
sicht, die Strafvollstreckung zu unterbrechen,
die Krankheit h e r b e i g c f ü h r t hat.
Die Staatsanwaltschaft hat im letzteren
Kalle eine Entscheidung des Gerichts herbei-
z u f ü h r e n.
Über diese Frage geht die Rechtssprechung der verschiedenen
Gerichte weit auseinander. Ich entnehme den Arbeiten ’) von
Ri.xen folgende Entscheidungen;
Nach § 493 Str.P.O. ist dem Verurteilten, der nach Beginn der
Strafvollstreckung wegen Krankheit in eine von der Strafanstalt ge¬
trennte Krankenanstalt gebracht worden ist, die Dauer dieses Auf¬
enthaltes in die Strafzeit einzurechnen, wenn er nicht in der Absicht,
die Strafvollstreckung zu unterbrechen, die Krankheit herbei¬
geführt hat.
Der Verurteilte W. hat die fragliche Zeit in verschiedenen von
der Strafanstalt getrennten Irrenanstalten verbracht. Der Verdacht,
daß er die Krankheit herbeigeführt habe, in der Absicht, die Straf¬
vollstreckung zu unterbrechen, ist nach Lage der Sache aus¬
geschlossen. Die von der Königl. Staatsanwaltschaft vertretene .An¬
schauung, es sei durch die auf Grund des Erlasses des Ministers des
Innern vom 29. Juni 1887 erfolgte Entlassung des W. aus der Straf¬
anstalt eine Unterbrechung der Strafvollstreckung eingetreten, er¬
scheint nicht begründet. Eine solche Unterbrechung der Strafvoll-
') Literatur: Rixen, Psych. Wochenschr. 1907 (2 Arbeiten). Spliedt,
Psych. Wochenschr. 1907, S. 272. Aschaffenburg und Heimberger, Verh.
d. Deutschen Med.-Bcamtenvereins 19n.S. Wittich. Deutsche Jur.-Zeitg.,
Bd. 7, S. 318. Litten, Monatsschr. f. Kriminalpsych., Bd. 1.
Der Geisteskranke als Angescliuldigter, Angeklagter u. Verurteilter. 273
Streckung im Falle der Erkrankung des Verurteilten ist zwar an sich
nicht ausgeschlossen.
Zur Entscheidung hierüber ist aber schon nach der allgemeinen
Bestimmung des § 483 Str.P.O. lediglich die Staatsanwaltschaft be¬
rufen. Derselben ist durch die Verfügung des Justizministers vofn
14. August 1879 auch ausdrücklich die Bewilligung von Strafunter¬
brechungen übertragen.
Im vorliegenden Falle ist aber eine derartige Entschließung der
Staatsanwaltschaft nicht erfolgt. Die Akten ergeben vielmehr nur,
daß ihr von der Entlassung des Verurteilten aus dem Zuchthause
Kenntnis gegeben ist und sie sich hierbei beruhigt hat. Um eine
Unterbrechung der Strafvollstreckung im Sinne des Gesetzes herbei¬
zuführen, wäre es erforderlich gewesen, daß die Staatsanwaltschaft
die dazu notwendige förmliche Entschließung getroffen und diese dem
Verurteilten in der vorgeschriebenen Form bekannt gemacht hätte.
Daß der Verurteilte in der in Frage stehenden Zeit sich tatsächlich aus
einem ihm nicht zuzurechnenden Grunde außerhalb der Strafanstalt
befunden hat, stellt für sich allein eine Unterbrechung der Strafvoll¬
streckung nicht dar, ebensowenig wie ein zwar stattgefundener, aber
nicht angeordneter Vollzug der Strafe als eine „Strafvollstreckung“
betrachtet werden kann. (Vergl. Entsch. des R.G., Bd. 5, S. 332.)
E. des L.G. Cleve 23. 5. 98^).
Die Anwendbarkeit dieser Bestimmung (§ 493 Str.P.O.) ist aus¬
geschlossen, wenn der Verurteilte, um in die Krankenanstalt überführt
zu werden, aus der Haft entlassen ist. Eine solche Haftentlassung
und damit Strafunterbrechung liegt hier nicht vor. Sch. ist zwar durch
die Verfügungen der Herren Minister der Justiz und des Innern vom
5. Dezember 1901 und vom 28. März 1903 aus der Haft entlassen
worden, diese Entlassung hat aber nur formellen Charakter. Ab¬
gesehen davon, daß Sch. selbst ausweislich der Akten diese Haft¬
entlassung nicht mitgeteilt worden ist und nach einer Entscheidung des
Kammergerichts vom 15. November 1888 angezogen in der Justiz-
ministerial-Verfiigung vom 3. Dezember 1902 schon deshalb die An¬
rechnung der in der Anstalt verbrachten Zeit zu erfolgen hat, ist eine
Entlassung materiell gar nicht eingetreten. Von einer solchen kann
(vergl. Entscheidung des Oberlandesgerichts in Colmar vom 2. Juli
1891, enthalten in Ooldtammers Archiv, Bd. 39, S. 189) nur dann die
Rede sein, wenn der Gefangene seine freie Willensbestimmung wieder
erhält, d. h. vor allem sich dorthin begeben kann, wohin er will.
(L.G. Düsseldorf 26. 11. 04.) Psych. Wochenschr. 1907, S. 207.
Der Beschwerdeführer ist, nachdem der Minister des Innern und
der Justizminister sich am 8. Dezember 1906 mit seiner Entlassung aus
der Haft einverstanden erklärt hatten, am 21. Dezember 1906 aus der
Strafhaft entlassen und in die Provinzial-lrrenanstalt in Mariental und
später in Bonn überführt worden. Am 10. Mai 1907 ist er in die Straf¬
anstalt wieder eingeliefert worden. Die Entlassung aus der Strafhaft
’) Zitiert bei Rixen, Psych. Wochenschr. 1907, S. 206.
Hübner, Forensische Psychiatrie.
18
Strafprozeßordnung.
geschah ohne jeden Vorbehalt. Die Vollstreckungsbehörde, die Königl.
Staatsanwaltschaft in Bonn, hat auch bei der Unterbringung in die
Irrenanstalt in keiner Weise mitgewirkt. Während des Aufenthaltes
des K. in den Irrenanstalten hat also kein Strafvollzug stattgefunden.
Bei einer solchen Unterbrechung der Strafvollstreckung findet § 493
Str.P.O. keine Anwendung, so daß die Dauer dieses Aufenthaltes in die
Strafzeit nicht eingerechnet werden kann. Dies entspricht der fest¬
stehenden Rechtssprechung des Strafsenates (vergl. die Beschlüsse
W. 320/03, 142/04 und 13/07) und deckt sich auch mit der Ansicht des
Beschlusses des Oberlandesgerichts in Colmar (Goldtammers Archiv,
Bd. 39, S. 189), auf den sich der Beschwerdeführer bezieht und aus
dem er irrig herleitet, daß die Verfügung der Minister des Innern und
der Justiz vom 8. Dezember 1906 nur formellen Charakter habe; in
Wirklichkeit sei durch seine Überführung in die Irrenanstalt die Straf¬
haft nicht unterbrochen worden, da er nicht in Freiheit entlassen sei,
sondern stets unter sicherer Bewachung gestanden habe; da auch
seine Überführung in die Irrenanstalt unter dem stillschweigenden
Vorbehalt erfolgt sei, daß er nach seiner Genesung wieder in die Straf¬
anstalt zurückgebracht werde, so habe materiell eine Entlassung aus
der Haft nicht stattgefunden. Mit diesen Ausführungen kann die Tat¬
sache, daß K. aus der Strafanstalt entlassen worden ist, nicht wider¬
legt werden. Wenn er nicht die Freiheit erhielt, sondern in die Obhut
der Irrenanstalt gebracht wurde, so geschah dies nicht unter Mit¬
wirkung der Staatsanwaltschaft zur Sicherung des Strafvollzugs, son¬
dern seitens der Verwaltungsbehörde in Ausübung der Fürsorge für die
Geisteskranken. Von einem stillschweigenden Vorbehalt, daß K. nach
seiner Genesung der Strafanstalt zur weiteren Strafverbüßung über¬
wiesen werde, kann nicht die Rede sein. Ein solcher Vorbehalt folgt
namentlich nicht daraus, daß die Staatsanwaltschaft nach der Genesung
des K. seine Überführung aus der Heilanstalt in die Strafanstalt ver-
anlaßte. Denn es war ihre Pflicht, den Rest der Strafe zu volt¬
strecken, sobald K. fähig war, die Strafe zu verbüßen. (O.L.G. Köln
11. 6. 07.) Psych. Wochenschr. 1907, S. 208.
Man sieht aus den vorstehenden Entscheidungen, daß die An¬
sichten der verschiedenen Gerichte weit au.seinandergehen. Im
allgemeinen wird aber wohl nach dem Grundsätze verfahren, den
Aufenthalt in Irrenanstalten auf die Strafzeit nicht anzu¬
rechnen ^).
Von verschiedenen Autoren ist für das künftige Recht emp¬
fohlen worden, grundsätzlich den Anstaltsaufenthalt als Fort-
^) Verläßt der Gefangene die Heilanstalt, in die er von Amts wegen
überführt wurde, und läßt sich anderswo behandeln, dann wird ihm der
Aufenthalt in dem selbstgewählten Institut in die Zeit der Strafvoll¬
streckung nicht eingerechnet. (O.L.G. Dresden 25. 8. 09.) Jahrb. 1910.
S. 223 und Sächs. R. Arch. 5, 491.
Der Geisteskranke als Angeschuldigter, Angeklagter u. Verurteilter. 275
Setzung der Strafhaft anzusehen und dementsprechend anzu-
rtchnen. Ganz unbedenklich ist das nicht (Moeli, Spliedt). Es
muß wohl mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß bei den
psychogenen Geistesstörungen die Besserung in einzelnen Fällen
später eintreten wird, als jetzt.
Wie Litten ( 1 . c.) ausgeführt hat, wird auch den körperlich
Kranken im allgemeinen die Zeit der Krankheit nicht auf die
Strafhaft angerechnet. Es könnte deshalb unbillig erscheinen,
für die Geisteskranken eine Ausnahmestellung zu beanspruchen.
Wenn das trotzdem geschieht, so hat es auch besondere Gründe:
Geisteskrankheiten dauern meist erheblich länger als körper¬
liche. Es kommt hinzu, daß ein Teil der in der Strafhaft auf¬
tretenden Psychosen durch das Milieu des Strafvollzuges mit
verursacht oder in seinem Verlauf beeinflußt wird. Die Rück¬
versetzung in den Strafvollzug läßt nicht selten die Psychose von
neuem e.xazerbieren, kurz, es gibt hier eine ganze Anzahl von
Gründen, die den Wunsch nach Sonderv'orschriften für geistig
erkrankte Strafgefangene verständlich machen. —
Noch ein Punkt muß besprochen werden. Die Str.P.O. sieht
nämlich auch die Möglichkeit vor, solchen Verurteilten, denen aus
der sofortigen Vollstreckung der Strafe erhebliche, außerhalb des
Strafzweckes liegende Nachteile erwachsen, Strafaufschub zu ge¬
währen. Diese Möglichkeit ist im § 488 erwähnt, welcher fol¬
gendermaßen lautet:
Auf Antrag des Verurteilten kann die Voll¬
streckung aufgeschoben werden, sofern durch
die sofortige Vollstreckung dem Verurteilten
oder der Familie desselben erhebliche, außer¬
halb des Strafzwecks liegende Nachteile er¬
wachsen.
Der Strafaufschub darf den Zeitraum von
vier Monaten nicht übersteigen.
Die Bewilligung desselben kann an eine
Sicherheitsleistung oder andere Bedingungen
geknüpft werden^).
Verhältnismäßig oft treten Verurteilte an den Arzt mit der
') Zuständig ist in Preußen die Staatsanwaltschaft. Gegen ihre
Entscheidung ist Beschwerde im Instanzenwege zulässig. Jiist.-Min.-Bl.
1879, S. 237.)
18
Strafprozeßordnung.
276
Bitte Hin ein Attest heran, daß ihnen aus der Verbüßung der Frei¬
heitsstrafe gesundlieitlicher Schaden erwachsen könne.
Handelt es sich um einen ausgcsi)rüchenen Geisteskranken,
so ist es selbstverständlich, daß der Arzt sich für einen Strafauf¬
schub verwendet. Die Meisten derjenigen aber, welche sich an
ihn wenden, sind nicht geisteskrank im engeren Sinne, sondern
es sind mehr oder minder schwere Neurastheniker, Hypochonder
usw., die von dieser Vergünstigung Gebrauch machen wollen.
Ich habe mich in fast allen Fällen, welche mir vorgekommen
sind, ablehnend verhalten und zwar, wie ich glaube, nicht zum
Schaden der Kranken.
Für gewöhnlich liegt die Sache praktisch so, daß selbst durch
eine mehrmonatliche Behandlung bei diesen Pat. eine wesentliche
Besserung nicht erzielt wird, solange das drohende Gespenst der
Strafe ihnen vorschwebt. Es kommt hinzu, daß in unseren Straf¬
anstalten die Möglichkeit besteht, auf leicht Kranke gewisse Rück¬
sichten in der Dosierung der .'\rbeit usw. zu nehmen, so daß ihnen
ein Nachteil aus der Strafverbüßung kaum jemals erwächst. An¬
dererseits wird das schwere psychische Trauma einer Strafe am
leichtesten überwunden, wenn sie absolviert ist. Infolgedessen
habe ich es fast immer durch gutes Zureden dahin zu bringen
versucht, daß die \’erurteilten ihre Strafe antraten. \'iele von
ihnen waren später dankbar, daß ihnen dieser ärztliche Rat er¬
teilt worden war. —
Es kommt gelegentlich vor, daß bei der Wrurteilung des .\n-
gcklagten eine Reihe von Tatsachen aus irgendeinem Grunde nicht
bekannt werden, die für die Beurteilung seiner Zurechnungsfähig¬
keit besondere Bedeutung hätten. Es katin z. B. ein Kranker eine
bestimmte strafbare Flandlung unter so ungewöhnlichen äußeren
Umständen (Alkohol, körperliche Anstrengungen usw.) begangen
haben, daß infolge dieser letzteren seine freie Willcnsbestimmung
ausgeschlossen war; er selbst braucht sich dessen nicht bewußt
zu werden, kann die Tatsache demgemäß auch nicht als Ent¬
schuldigungsgrund Vorbringen und wird zunächst verurteilt.
Werden später diese bedeutungsvollen Momente bekannt, so
besteht die Möglichkeit, das Verfahren wieder aufzunehmen und
dem zur Zeit der Tat Kranken, sei es einen Teil der Strafe zu er-
s])aren, sei es, ihn wenigstens von der bürgerlichen Schande zu
befreien. Die gesetzlichen Bestimmungen, welche das ermög¬
lichen, lauten folgendermaßen:
Der Geisteskranke als Angeschuldigter, Angeklagter u. Verurteilter. 277
§ 399 > 5 - Die Wiederaufnahme eines durcli
rechtskräftiges Urteil geschlossenen Verfah¬
rens zugunsten des Verurteilten findet statt:
5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel b e i -
gebracht sind, welche allein oder in Verbindung
mit den früher erhobenen Beweisen die Frei¬
sprechung des Angeklagten oder in Anwendung
eines milderen Strafgesetzes eine geringere
Bestrafung zu begründen geeignet sind. In den
v'or den Schöffengerichten verhandelten Sachen
können nur solche Tatsachen oder Beweis¬
mittel beigebracht werden, welche der Verur¬
teilte in dem früheren Verfahren einschlie߬
lich der Berufungsinstanz nicht gekannt hatte
oder ohne Verschulden nicht geltend machen
konnte.
Häufig sind die Fälle, in denen ein Wiederaufnahme¬
verfahren stattfindet, nicht, das Gericht ist im allgemeinen
wenig geneigt, derartigen Anträgen zu entsprechen. Immerhin
haben wir hier einige Fälle erlebt, in denen .sogar nachträglich
noch Freisprechung gemäß § 51 Str.G.B. erfolgte.
Für den Anstaltsarzt ist noch die Frage wichtig: Soll er
einem Verurteilten, der später wegen einer Psychose in die An¬
stalt aufgenommen worden ist, raten, das Wiederaufnahme¬
verfahren zu beantragen?-) Diese Frage ist vor einigen
Jahren Gegenstand eingehender Erörterungen gewesen. Ich
glaube, man kann sie nicht generell beantworten, sondern
sich nur von Fall zu Fall entscheiden. Immerhin kann ich
mir Fälle denken, in denen eine Freisprechung auch nach¬
träglich für den Patienten von so großer Bedeutung ist, daß
man zur Wiederaufnahme des \Trfahrens raten darf. In der
Mehrzahl der Fälle wird der Arzt den betreffenden Patienten
an einen Rechtsanwalt verweisen müssen, der ihm über die juristi¬
schen Möglichkeiten besser Auskunft erteilen kann. Ich halte
Nach § 411 Str.P.O. kann das Gericht, „wenn dazu genügende
Beweise bereits vorliegen“, ohne Hauptverhandlung sofort freisprechen,
bei öffentlichen Klagen nur mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft.
Für den Fall der Geisteskrankheit vergl. K. des O.L.G. Cassel 19. 2. fi 6 .
Jahrb. 1907, S. 310.
’) Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1903, S. 199—203.
2/8 Die Sachverständigentätigkeit in Strafsachen.
dieses Verfahren deshalb für das zweckmäßigere, weil gerade
der behandelnde Arzt doch daran denken muß, daß er später als
Sachverständiger in Betracht kommt und da ist es dem Gericht
und der Öffentlichkeit gegenüber richtiger, wenn er nicht schon
vorher offenkundig Partei für den Verurteilten genommen hat.
Eine solche Parteinahme ist im allgemeinen um so weniger an¬
gezeigt, als ja zu der Zeit, wo die Frage ventiliert wird, dem
Sachverständigen meist das gesamte Aktenmaterial noch gar
nicht bekannt ist. Es besteht also die Möglichkeit, daß er nachher
seine Anschauungen ändern muß. Und es ist immer peinlich, zu¬
geben zu müssen, daß man eine bestimmte Ansicht auf Grund
unzureichender Informationen ausgesprochen hat*). —
Die Sachver8tändl;2:eiitätigkeit'^) in Strafsachen.
Der siebente Abschnitt des ersten Buches der Strafprozeß-
crdnung beschäftigt sich mit den Rechten und Pflichten eines
Sachverständigen.
Unter Sachverständigen werden diejenigen Personen
verstanden, welche auf Grund besonderer Fachkenntnisse, deren
Besitz nur durch eine spezialwissenschaftliche Tätigkeit oder
durch eine künstlerische oder gewerbliche Übung erlangt werden
kann, ein Gutachten abgeben, oder welche vom Richter be¬
hufs Ermittelung solcher Tatsachen oder Zustände zugezogen
werden, für deren Wahrnehmung derartige Fachkenntnisse
erforderlich sind (Löwe).
*) Anhangsweise sei erwähnt, daß das Gesetz vom 14. Juli 1904, be¬
treffend die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft
(R.Q.Bl. 1904, Nr. 35) unter Umständen auch auf solche Personen An¬
wendung finden kann, die gemäß § 51 Str.Q.B. freigesprochen wurden.
Ein Fall dieser Art. in dem hochgradiger, die freie Wlllensbestimmung
ausschließender Schwachsinn vorlag, ist vom erkennenden Gericht zu¬
gunsten des Angeklagten entschieden, „weil Gründe für Ausschließung
seines Entschädigungsanspruches nicht Vorlagen“.
Aus den im Gesetz aufgeführten Gründen, welche den Anspruch
ausschließen, ist für den Psychiater nur einer wichtig, nämlich; „wenn
die zur Untersuchung gezogene Tat in einem die freie Willensbestimmung
ausschließenden Trunkenheitszustande begangen worden ist“ (§ 2,2 des
Gesetzes).
“) Aschaffenburg, Zeitschr. f. ärztl. Fortb. 1911, S. 253.
Die Sachverständigeiitätigkeit in Strafsachen.
279
Über die Aufgaben des ärztlichen Sachverständigen spricht
sich die R.M.G.E. v. 23. 7. 09 (Jahrb. f. Strafe, ii, S. 12) aus:
„Die Aufgabe des ärztlichen Sachverständigen erschöpft sich mit
der Abgabe und Begründung des Gutachtens über die geistige Er¬
krankung“; s. auch R.M.Q. 14, 107.
Aber auch das Gutachten ist für den Richter nicht bindend.
Die wichtigsten Bestimmungen über die Sachverständigen¬
tätigkeit sind folgende:
§ 72. Auf Sachverständige finden die Vor¬
schriften des sechsten Abschnitts über Zeugen
entsprechende Anwendung, insoweit nicht in
den nachfolgenden Paragraphen abweichende
Bestimmungen getroffen sind.
Gemäß einer R.G.E. vom 8. Mai 1880 (II, 153) gilt § 58
Str.P.O.-) für Sachverständige .nicht, da es meist sogar von
Nutzen ist, wenn die Vernehmung mehrerer Sachverständiger
gleichzeitig erfolgt oder einer der Vernehmung des anderen bei¬
wohnt ').
Ist einer der geladenen Sachverständigen gleichzeitig als
Zeuge zu vernehmen, so entscheidet das Gericht oder der Vor¬
sitzende, ob er die Sitzung verlassen muß oder nicht (R.G.E.
XXII, 434 und Arch. für Strafrecht, Bd. 38, S. 354 und Bd. 47,
S. 156, s. auch Recht 02 E. Nr. 1537 und 1652 und Jahrb. 1908,
I, S. 205 und Sächs. Arch. 3, 249, sowie R.G.Str. 22, 434).
§ 73. Die Auswahl der zuzuziehenden Sach¬
verständigen und die Bestimmung ihrer Anzahl
erfolgt durch den Richter.
Sind für gew'isse Arten von Gutachten
Sachverständige öffentlich bestellt, so sollen
andere Personen nur dann gewählt werden,
wenn besondere Umstände es erfordern.
Nach den Motiven zur Str.P.O. ist die Ausw'ahl der Sach¬
verständigen durchaus in das Ermessen des Richters gestellt. Es
kann deshalb, insbesondere auch im Hinblick auf § 73 jeder appro¬
bierte Arzt als Sachverständiger in psychiatrischen Fragen er-
Psych. Wochenschr. 1913, S. 4.
Danach sollen die Zeugen einzeln und in Abwesenheit der später
abzuhörenden Zeugen vernommen werden.
') Ober schw'erhörige Sachverständige und ihre Vernehmung vergl.
Jur. Wochenschr. 1901, S. 496. Mündlichkeit des Verfahrens darf nicht
verletzt werden. Entsch. v. 11. 3 01.
28 o
Die Sachverständigentätigkeit in Strafsachen.
naniit werden’). Dies sollte der Richter aber im allgemeinen
vermeiden, da selbst nach Einführung der Psychiatrie als Prii-
fungsgegenstand die Kenntnisse des Durchschnittsarztes nicht so
vollständige sind, daß er schwierige Fälle richtig beurteilen
könnte. Das wird nicht einmal jedem Kreisärzte möglich sein.
Gemäß Min.-Erlaß vom 15. August 1902 sollen Mitglieder
der Preuß. Wissensch. Deputation im allgemeinen nicht als Sach¬
verständige herangezogen werden, da sie in erster Linie als Ober¬
gutachter in Betracht kommen.
Als für gewisse Arten von Gutachten öffentlich bestellter
Sachverständiger gilt in erster Linie der Gerichtsarzt, dann der
Kreisarzt“). Bei Kranken, die in einer Anstalt untergebracht
sind, kommen in erster Linie die Anstaltsärzte in Betracht, da
deren genaue Kenntnisse des Krankheitsv^erlaufes als ,,besondere
Umstände“ anzusehen ist. (J.-M. Erl. v. 24. 4. 04.) ®).
§ 74. Ein Sachverständiger kann aus den¬
selben Gründen, welche zur Ablehnung eines
Richters berechtigen, a b g e 1 e h n t werden. Ein
Ablehnungsgrund kann jedoch nicht daraus
entnommen werden, daß der Sachverständige
als Zeuge vernommen worden ist.
Das Ablehnungsrecht steht der Staatsan¬
waltschaft, dem Privatkläger und dem Beschul¬
digten zu. Die ernannten Sachverständigen
sind den zur Ablehnung Berechtigten namhaft
zu machen, wenn nicht besondere Umstände
e n t g e g e n s t e h e n.
Der A b 1 e b n u n g s g r u n d ist glaubhaft zu
machen; der Eid ist als Mittel der Glaubhaft¬
machung ausgeschlossen.
’) Wichtig ist aucli die foigende Entscheidung:
Es besteht keine Vorschrift, die den Strafrichter an das Gut¬
achten eines Sachverständigen bindet. Auch rein chemische Fragen
konnte das Gericht aus eigener Sachkunde entscheiden. Es hätte nur
eine gewissenhafte Selbstprüfung vorzunehrnen, ob es hierzu aus
eigener Erfahrung, Bildung und Wissenschaft imstande war. (RG. 111.
16. 3. 11.) Das Recht, Bd. 15, Nr. 1684 und Jahrb. 1911, S. 150.
“) Erl. des J.-M. vom 1. 10. 02 s. auch die Dienstanweisung des
Medizinalbeamten.
■’) Nur im Entmündigungsverfahren erlassen. Es wird aber all¬
gemein danach verfahren.
Die Sachverständigentätigkeit in Strafsachen. 281
Die Ablehnung eines Sachverständigen im Hauptverfahren
darf deshalb nicht erfolgen, weil er im Vorverfahren gehört
worden ist. (R.G.E. v. 6 . 2. 00.) ') Befangenheit kann dann nicht
angenommen werden, wenn der Sachverständige sich vorher schon
rein wissenschaftlich mit der in Betracht kommenden Frage be¬
schäftigt und damit eine bestimmte Stellung eingenommen hat.
(Entsch. des Kammergerichts) ■), wohl aber, wenn er bereits ein
Privatgutachten für eine Partei abgegeben hat. (R.G.E. I. v.
I. IO. 02.)
Der für das Gebiet der Z.P.O. in dem Beschluß des R.Q. vom
6 . Juni 1910 ausgesprochene Grundsatz, daß die Ablehnung eines Sach¬
verständigen auch dann zulässig ist, wenn nur ein subjektives Mi߬
trauen gegen dessen Unparteilichkeit bei der Partei als gerechtfertigt
erscheint, kann auch für das Gebiet des Strafverfahrens als richtig
anerkannt werden. Dabei ist jedoch hervorzuheben, daß nicht etwa
die bloße Meinung des Angeklagten, der Sachverständige sei be¬
fangen, genügen kann, vielmehr erforderlich ist, daß seine Meinung
gerechtfertigt erscheint, der Besorgnisgrund also, der vom subjektiven
Standpunkt des Angeklagten aus geltend gemacht wird, von diesem
Standpunkt aus wirklich vorliegt, (R.G. IV, 16, 4. 12.)
Das Recht 1912, Entsch. Nr. 1411.
War der Sachverständige in der Sache Hilfsbeamter der Staats¬
anwaltschaft, so muß dem Antrag, ihn nicht als Sachverständigen zu
vernehmen, entsprochen werden, (Urt, v, 30, 10. 12. 541/12.)
Das Gesetz bestimmt nicht, daß ein Sachverständiger, gegen
welchen Gründe vorliegen, die nach § 22 Str.P.O. einen Richter von
der .Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausschließen würden,
vom Gericht nicht ernannt werden dürfe. Vielmehr bedarf es stets
der Ablehnung durch einen Prozeßbeteiligten. (R.G.E. 18. 6 . 07.)
Jahrb. 1908, S. 222 und Das Recht, Bd. 11, Entsch. Nr. 996.
Ein im Vorverfahren als Sachverständiger vernommener Arzt
kann auch für das Hauptverfahren als Sachverständiger nicht ab¬
gelehnt werden. (R.G. II. 6 . 3. 00 .) Entsch. Bd. 33, S, 198.
§ 75. Der zum Sachverständigen Ernannte
hat der Ernennung Folge zu leisten, wenn er zur
Erstattung von Gutachten der erforderten Art
öffentlich bestellt ist, oder wenn er die Wissen¬
schaft, die Kunst oder das Gewerbe, deren
Kenntnis Voraussetzung der Begutachtung
ist, öffentlich zum Erwerbe a u s ü b t, oder wenn
') Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1901, S, 16.
^) Zit. nach Gramer, 4. Aufl., S. 116.
®) Zeitschr. f. Med.-Beamte 1902, S. 797 und 1903. Rechtspr. S. 1.
282
Die Sachverständigentätigkeit in Strafsachen.
er zur Ausübung derselben öffentlich bestellt
oder ermächtigt ist.
Zur Erstattung des Gutachtens ist auch
derjenige verpflichtet, welcher sich zu der¬
selben vor Gericht bereit erklärt hat.
§48. Die Ladung der Zeugen^) (und Sach¬
verständigen) geschieht unter Hinweis auf die
gesetzlichen Folgen des Ausbleibens.
Die Ladung einer dem aktiven Heere oder
der aktiven Marine angehörenden Person des
S o 1 d a t e n s t a n d e s als Zeugen erfolgt durch Er¬
suchen der Militärbehörde.
Militärärzte sind Personen des Soldatenstandes.
§ 219. Abs. i: Lehnt der Vorsitzende den An¬
trag auf Ladung einer Person (als Zeugen oder
Sachverständigen) ab, so kann der Angeklagte
die letztere unmittelbar laden lassen. Hierzu
ist er auch ohne vorgängigen Antrag befugt.
Absatz 2: Eine unmittelbar geladene Person
ist nur dann zum Erscheinen verpflichtet, wenn
ihr bei der Ladung die gesetzliche Entschädi¬
gung für Reisekosten und Versäumnis bar dar¬
geboten oder deren Hinterlegung bei dem Ge¬
richtsschreiber nachgewiesen wird.
§ 77. Im Falle des Nichterscheinens oder
der Weigerung eines zur Erstattung des Gut¬
achtens verpflichteten Sachverständigen wird
dieser zum Ersätze der Kosten und zu einer
Geldstrafe bis zu 300 Mk. verurteilt. Im Falle
wiederholten Ungehorsams kann noch einmal
eine Geldstrafe bis zu 600 Mk. erkannt werden.
Die Festsetzung und die Vollstreckung der
Strafe gegen eine dem aktiven Heere oder der
aktiven Marine angehörende Militärperson er¬
folgt auf Ersuchen durch das Militärgericht.
’) ,Auskunftspersonen“ i. S. der Bekanntmachung des Bayr. Justiz¬
ministeriums vom 22. 7. 08 kennt die Str.P.O. nicht. (R.Q. I. 1. 3. 09.)
R.Q.St. 42, 219; Bay. Z. .5, 169; J. W. 39. 867; Jahrb. 1910, S. 346.
Die Sachverständigentätigkeit in Strafsachen.
283
§ 50. Absatz 2: Die Verurteilung in Strafe
und Kosten unterbleibt, wenn das Ausbleiben
des Zeugen genügend entschuldigt ist. Erfolgt
nachträglich genügende Entschuldigung, so
werden die gegen den Zeugen getroffenen An¬
ordnungen wieder aufgehoben.
Absatz 3: Die Befugnis zu diesen Maßregeln
steht auch dem Untersuchungsrichter, dem
Amtsrichter im Vorverfahren, sowie dem be¬
auftragten und ersuchten Richter zu.
Was als genügende Entschuldigung angesehen wird, liegt im
Ermessen des Richters. Besonders dringende Krankenbesuche
und Operationen zur Beseitigung von momentaner Gefahr für den
Kranken gehören wohl zu den genügenden Entschuldigungen. Un¬
wahre Angaben werden nach § 138 Str.G.B. bestraft:
Wer als Zeuge, Geschworener oder Schöffe
berufen, eine unwahre Tatsache als Entschul¬
digung vorschützt, wird mit Gefängnis bis zu
2 Monaten bestraft.
Dasselbe gilt von einem Sachverständigen,
welcher zum Erscheinen gesetzlich verpflich¬
tet ist.
Die auf das N ichterscheinen gesetzten Ord¬
nungsstrafen werden durch vorstehende Straf¬
bestimmung nicht ausgeschlossen.
§ 76. Dieselben Gründe, welche einen Zeu¬
gen berechtigen, das Zeugnis zu verweigern,
berechtigen einen Sachverständigen zur Ver¬
weigerung des Gutachtens. Auch aus anderen
Gründen kann ein Sachverständiger von der
Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens
entbunden werden.
Die Vernehmung eines öffentlichen Be¬
amten als Sachverständigen findet nicht statt,
wenn die Vorgesetzte Behörde des Beamten er¬
klärt, daß die Vernehmung den dienstlichen
Interessen Nachteil bereiten würde.
Durch den § 76 soll solchen Anstaltsärzten, deren Haupt¬
tätigkeit durch eine umfangreiche Gutachterpraxis beeinträchtigt
würde, die Möglichkeit gegeben werden, sich zu entlasten.
284
Die Sachverständigentätigkeit in Strafsachen.
Als Beamte im Sinne des Gesetzes können u. U. auch
Privatdozenten und Assistenten von staatlichen Kliniken an¬
gesehen werden.
§ 51. Zur Verweigerung des Ze u g n i s s e s sind
berechtigt:
1. der Verlobte des Beschuldigten;
2. der Ehegatte des Beschuldigten, auch
wenn die Ehe nicht mehr besteht;
3. diejenigen, welche mit dem Beschuldig¬
ten in gerader Linie verwandt, verschwägert
oder durch Adoption verbunden, oder in der
Seitenlinie bis zum dritten Grade verwandt
oder bis zum zweiten Grade verschwägert sind,
auch wenn die Ehe, durch welche die Schwäger-
schaft begründet ist, nicht mehr besteht.
Die bezcichneten Personen sind vor jeder
Vernehmung^) über ihr Recht zur er Weige¬
rung des Zeugnisses zu belehren. Sie können
den Verzicht auf dieses Recht auch während
der Vernehmung widerrufen.
§ 52, Absatz I, Ziffer 3. Zur Verweigerung des
Zeugnisses sind fern er berechtigt Rechtsan¬
wälte und Arzte in Ansehung desjenigen, was
ihnen bei Ausübung ihres Berufs a n ver¬
traut ist.
Absatz 2: Die unter Nummer 2, 3 bezeichneten
Personen dürfen das Zeugnis nicht verweigern,
wenn sie o n der e r ]) f 1 i c h t u n g zur e r s c h wie¬
ge n h e i t entbunden sind.
Ein Zeugnisverweigerungsrecht der im Auslande approbier-
') Wenn das Verfahren gegen den Täter gemäll § 203 Str.P.O. vor¬
läufig eingestellt wird, gegen die initangeklagten Teilnehmer aber seinen
Fortgang nimmt, so sind die in der Haiiptverhandlung gegen die
letzteren zu vernehmenden Zeugen, wenn sie auch nur zu dem Täter in
einem Angehörigkeitsverhältnis im Sinne der Ziffer 1—3 des § 51 a. a. O.
stehen, gleichwohl über das ihnen in diesem Falle gleichfalls zustehende
Zeugnisverweigerungsrecht zu belehren. (R.Q. IV. 21. 10. 04.)
Das Recht 1904, S. 609, Entsch. Nr. 2683.
Die Sachverständigentätigkeit in Strafsachen. 285
teil Ärzte und Ärztinnen im Sinne des § 52 besteht nicht
(Entsch. des L.G. Frankfurt a. Alain) ’).
§ 53 . Öffentliche Beamte, auch wenn sie
nicht mehr im Dienst sind, dürfen*) über Um¬
stände, auf welche sich ihre Pflicht zur Amts¬
verschwiegenheit bezieht, als Zeugen nur mit
Genehmigung ihrer Vorgesetzten Dienstbe¬
hörde oder der ihnen zuletzt vorgesetzt ge¬
wesenen Dienstbehörde vernommen werden...
Die Genehmigung darf nur versagt werden,
wenn die b 1 e g u n g des Zeugnisses dem \V o h 1 e
des Reichs oder eines Bundesstaates Nachteil
bereiten w ü r d e.
§ 54 . Jeder Zeuge kann die Auskunft auf
solche Fragen verweigern, deren Beantwor-
tung ihm selbst oder einem der im §51 Nr. 1—3
bezeichneten Angehörigen die Gefahr straf¬
gerichtlicher \’ e r f o 1 g u n g z u z i e h e n w ü r d e ^).
§ 55. Die Tatsache, auf welche der Zeuge
die A'er Weigerung des Zeugnisses in den Fällen
der §§ 51, 52, 54 stützt, ist auf er langen glaub¬
haft zu machen. Es genügt die eidliche \' e r -
Sicherung des Zeugen.
§ 79 . Der Sachverständige hat vor Erstat¬
tung des Gutachtens einen Eid dahin zu leisten;
daß er das von ihm erforderte Gutachten
unparteiisch und nach bestem AV i s s e n und Ge¬
wissen erstatten werde.
B Ärztl. Sachverst.-Zeitg. I9f)2, S. 336. Sie werden auch darin den
Kurpfuschern gleichgestellt. Vergl. auch Ooltdatnmers Arch., Bd. 45,
S. 418 und Jur. Wochenschr., Bd. 31, Nr. 48—51.
^) Wenn der Beamte aiissagen will, besteht für das Gericht kein
Anlaß, sich mit der Frage zu beschäftigen. (R.Q.E. 19. 3. 07.) Das Recht
Bd. 11, Entsch. Nr. 588; Psych. Wochenschr. 1909, S. 4; Jahrb. 1908, 11,
S. 218.
^) Die strafrechtliche Verfolgung eines Zeugen, der das zwölfte
Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist nach § 55 Str.O.B. schlechthin
ausgeschlossen; es können daher an ihn solche Fragen, durch deren Be¬
antwortung er sich der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzen
würde, gar nicht gestellt werden. Belehrung i. S. des § 54 Str.P.O. bei
derartigen Zeugen ist Revisionsgrund (Urt. v. 25. 6 . 09). Das Recht 1909,
Entsch. Nr. 2761.
286
Die Sachverständigentätigkeit in Strafsachen.
Ist der Sachverständige für die Erstat¬
tung von Gutachten der betreffenden Art ini
allgemeinen beeidigt, so genügt die Berufung
auf den geleisteten Eid. —
Zu dieser Bestimmung sind noch folgende Entscheidungen
von Bedeutung.
Zunächst ist bezüglich der allgemeinen Beeidigung zu
bemerken, daß in Preußen bei Gerichts- und Kreisärzten (RQ. V.
18. 6. 09; Das Recht 1910, Entsch. Nr. 1189; Urt. v. 1. 2. 07; Das
Recht 1907, Entsch. Nr. 551; R.Q. III. 10. 2. 10; Jahrb. 1910, S. 17-1)
der im allgemeinen geleistete Sachverständigeneid genügt, wenn der
Sachverständige für den Bezirk des vernehmenden Gerichtes
beeidigt ist (s. auch Just.-Minist.-Erl. vom 5. 2. 1900), und zwar auch
dann, wenn das Gutachten von einem anderen Landgericht ver¬
wendet wird (R.G. 9. 1. 11; Jahrb. 1912, S. 152).
Im übrigen hat das Reichsgericht über die Anwendung des
§ 79 folgende Grundsätze aufgestellt').
In Preußen erstreckt sich der Diensteid der (früheren)
Kreisphysiker und Kreiswundärzte (d. s. die heutigen Kreisärzte) auch
auf die sachverständigen Gutachten, die sie innerhalb ihres Amts¬
kreises, besonders also behufs einer im Interesse der Rechtspflege
notwendigen Tatbestandsfeststellung, unter Berufung auf den Dienst¬
eid abgeben. Eine besondere Form für den allgemeinen Sachver¬
ständigeneid aber schreibt § 79 nicht vor, ebensowenig enthält er
eine Anordnung darüber, vor welcher Behörde dieser Eid abzu¬
leisten ist. Er kann daher ebensowohl vor einer Verwaltungsbehörde
wie vor einem Gericht geleistet werden (Entsch. Bd. 3, S. 326;
Bd. 8, S. 357; Bd. 45, S. 373; Bd. 42, S. 369).
Ist der allgemeine Sachverständigeneid vor der am 1. Oktober
1879 eingetretenen Gerichtsorganisation vor einem der damals be¬
stehenden Gerichte geleistet worden, so hat der vor dem damaligen
Kreisgericht geleistete Eid nicht ohne weiteres auch Gültigkeit für
den ganzen Bezirk des heutigen Landgerichts, das den Bezirk des
früheren Kreisgerichts mit umfaßt, sondern nur in den Teilen des
heutigen Landgerichtsbezirks, die schon zu dem früheren Kreis¬
gericht gehörten (Goltdammers Arch. f. Strafr., Bd. 41, S. 142).
Die Berufung eines Sachverständigen auf eine in derselben
Sache abgegebenen Versicherung, die er schon auf seinen ein für
allemal geleisteten Sachverständigeneid abgegeben hat, ist nicht statt¬
haft (Erk. vom 17. Nov. 93, Goltdammers Arch. f. Strafr., Bd. 41, S. 407).
In Bayern umfaßt der Diensteid der Landgerichtsärzte den all¬
gemeinen Sachverständigeneid i. S. des § 79, 2 Str.P.O. (9. I. 11;
Jahrb. 1912. S. 152). In Mecklenburg-Schwerin gilt der Diensteid
') Vergl. hierzu auch die Zusammenstellung in Goltdammers Arch. f.
Strafr., Bd. 43, S. 46.
Die Sachverständigentätigkeit in Strafsachen.
287
für die Gerichte innerhalb des Landes für gerichtliche Gutachter, die
in den Kreis der Dienstgeschäfte fallen. (R.G. III. 22. 12. 09; Jahrb.
1910, S. 174). Ähnliche Bestimmungen gibt es in den übrigen Bundes¬
staaten.
Auch wenn die Vereidigung ausnahmsweise nach Erstattung
des Gutachtens erfolgt, ist das kein Revisionsgrund (Urt. d. R.G.
V. 4. 6. 83; Rechtspr. d. R.G. in Strafs., Bd. 5, S. 401; desgl. Entsch.
d. R.G., Bd. 1, S. 394 und Bd. 8, S. 359. Ferner Urt. v. 13. 8. 06;
Jahrb. 1907, S. 251 und Entsch. v. 7. 4. 10; Jahrb. 1910, S. 173).
Der Sachverständigeneid umfaßt auch die ganze tatsächliche
Grundlage des Gutachtens. Insoweit darf daher der Sachverständige
auch Tatsachen bekunden, ohne zugleich als Zeuge beeidigt zu sein.
(R.G. V. 24. 6. 10.) Das Recht 1911, Entsch. Nr. 1685 und Urt. d. R.G. v.
10. 6. 10; Entsch. Bd. 43, S. 437; ferner Urt. v. 24. 6. 10 Entsch.
Bd. 44, S. 11.
Der Sachverständigeneid bezieht sich, wie in der neueren
Rechtsprechung des Reichsgerichts stets angenommen worden ist,
nicht auf den Inhalt der sog. Personal- und Generalfragen. (R.G. V.
16. 2. 09.) Das Recht 1909, Entsch. Nr. 1083.
§ 85. Insoweit zum Beweise vergangener
Tatsachen oder Zustände, zu deren Wahrneh¬
mung eine besondere Sachkunde erforderlich
war, sachkundige Personen zu vernehmen sind,
kommen die Vorschriften über den Zeugen¬
beweis zur Anwendung.
Der sachverständige Zeuge leistet den Zeugeneid '). Wird er
außerdem auch als Sachverständiger vernommen, so hat er auch
den Sachverständigeneid zu leisten (Entsch. I. 402). Nach einer
späteren Entscheidung deckt der Zeugeneid den Sachverständigeneid
(Entsch. III, 100 und VI, 154) und umgekehrt der Sachverständigeneid.
den Zeugeneid, wenn es sich um Bekundungen über Wahrnehmungen
tatsächlicher Vorgänge handelt, so namentlich dann, wenn diese
Wahrnehmungen bei Gelegenheit und aus Anlaß der sachverständigen
Untersuchung gemacht sind (Entsch. 2, S. 153 (157), 389; Entsch. 4,
S. 231, 232 u. Entsch. v. 8. 12. 08; Jur. Wochenschr. 1909, S. 330, Nr. 64);
ferner; Entsch. Bd. 43, S. 437 und Bd. 44, S. 11. Dagegen s. auch
folgende Entscheidung;
Wenn die nur infolge besonderer Sachkunde möglichen Wahr¬
nehmungen eines Sachverständigen, z. B. der Befund eines Arztes
bei der Untersuchung und seine Wahrnehmungen und Anordnungen
bei der Behandlung eines Verletzten, unmittelbar Gegenstand seiner
Aussage sind, sei es ausschließlich, sei es selbständig und unabhängig
*) Am häufigsten gibt zu Differenzen die Frage Anlaß, was ein
Arzt als sachverständiger Zeuge aussagcn kann (vergl. z. B. Rixen,
Monatsschr. f. Kriminalpsychol. 1911, S. 305). M. E. ist fast mit jeder
Aussage ein Sachverständigenurteil verbunden.
288
Die SachverständiKentätigkeit in Strafsachen.
vom Gutachten neben diesem, so deckt der Sachverständigeneid
diese Aussagen nicht, denn die Vernehmung eines sachverständigen
Zeugen erfolgt nach § 85 Str.P.O. unter dem Zeugeneid. (R.Q. I.
2. 3. 11.) Das Recht, Bd. 15, Nr. 1457; Jahrb. 1911, S. 151.
Für die Entlohnung des sachv. Zeugen ist lediglich der sach¬
liche Inhalt der Aussage maßgebend, nicht die Form der Ladung.
Hat der Arzt also im Verlaufe seiner Aussage Sachverständigen¬
urteile abgegeben, so hat er auch die Gebühren dafür zu bean¬
spruchen (vergl. Jur. Wochenschr. 1898, S. 41). Der sachverständige
Zeuge erhält Zeugengebühren.
Sachverständige Zeugen können als solche wegen Besorgnis
der Befangenheit nicht abgelehnt werden. Oldenburg, 11. 12. 07.
Old. Z. 35, 103. Jahrb. 1908, Bd. 1, S. 206.
§ 82. Im Vorverfahren hängt es von der An¬
ordnung des Richters ab, ob die Sachverstän¬
digen ihr Gutachten schriftlich oder mündlich
zu e r s t a 11 cn habe n.
§ 80. Dem Sachverständigen kann auch auf
sein Verlangen zur Vorbereitung des Gutach¬
tens durch Vernehmung von Zeugen oder des
Beschuldigten weitere Aufklärung verschafft
werden.
Zn demselben Zwecke kann ihm gestattet
werden, die Akten e i n z u s e h e n , der \’erneh-
mung von Zeugen oder des Beschuldigten bei-
z u woh n en und an dieselben unmittelbar Fra¬
gen zu stellen.
§ 81. Zur Vorbereitung eines Gutachtens
über den Geisteszustand des A n g e s c h u 1 d i g t e n
kann das Gericht auf Antrag eines Sachver¬
ständigen nach Anhörung des Verteidigers an-
ordnen, daß der A n g e s c h u 1 dig t e in eine öffent¬
liche Irrenanstalt') gebracht und dort be¬
obachtet werde.
Dem A n g e s c h u 1 d i g t e n , welcher einen e r -
teidiger nicht hat, ist ein solcher zu bestellen.
Gegen den Beschluß findet sofortige Be¬
schwerde statt. Dieselbe hat a u f s c h i e b c n d e
Wirk u n g.
') Ober die Entstehungsgeschichte des Paragraphen s. John, Str.P.O.
Die ärztliche Sachverständigentätigkeit. 289
Die Verwahrung in der Anstalt darf die
Dauer von 6 Wochen nicht übersteigen').
Der Antrag kann sowohl während des Vorverfahrens, wie
auch nach Eröffnung des Hauptverfahrens gestellt werden. Die Be¬
fugnis, dem Anträge stattzugeben, hat jedoch weder der Unter¬
suchungsrichter, noch der Vorsitzende im vorbereitenden Verfahren,
sondern nur das Gericht. (Beschl. d. Ob.-Landes-Oer. Darmstadt v.
3. 2. 1891 in Qoltdammers Arch. f. Strafr., Bd. 39, S. 84.
Der Beschluß auf Unterbringung kann angefochten
werden, wenn er in der Hauptverhandlung erfolgte (Bayr. O.L.Q.
16. 2. 11; Jahrb. 1911, S. 152; ferner Qoltd. Arch. 41, 156; Bd. 48, 456;
Bd. 51, 70). Entgegengesetzter Ansicht; Qoltd. Arch., Bd. 39, 361;
Bd. 52, 266; Bd. 54, S. 102. Auch das Reichsgericht (R.G.Str. Bd. 20,
S. 378) erkennt die Anfechtungsmöglichkeit nicht an.
Gegen die Abweisung des Unterbringungsantra¬
ges ist eine sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft nicht
zugelassen (O.L.Q. Colmar 2. 9. 10; Jahrb. 1911, S. 152), ebenso¬
wenig hat der Sachverständige dagegen ein Beschwerderecht.
Besonders wichtig erscheint mir die folgende Entscheidung,
weil sie einem von psychiatrischer Seite oft ausgesprochenen
Wunsche entgegenkommt:
Die Anwendung des § 81 Str.P.O. ist so lange ausgeschlossen,
als die Möglichkeit besteht, daß abgesehen von dem Vorliegen eines
Strafausschließungsgrundes nach § 51 Str.Q.B. durch die Erhebung
angebotener Beweise die Beschränkung der Voruntersuchung nach
§ 188 Str.P.O. deshalb sich ergibt, weil eine Entscheidung dahin
begründet ist, daß der Angeklagte schon wegen des Fehlens eines
zum Tatbestände der ihm zur Last gelegten Straftat erforderlichen
objektiven Merkmals außer Verfolgung zu setzen ist. (Bayer. OLG.,
14. 1. 09.) Jahrb. f. Str. 1909, S. 174 u. Seuff. Bl. 74. 394.
Nach dieser Entscheidung muß dem Beschluß auf Beobach¬
tung der Versuch einer Erörterung der Tatfrage in zweifelhaften
Fällen vorausgehen. —
Wenn der Sachverständige nicht den bestimmten Antrag
auf Beobachtung stellt, kann eine solche nicht beschlossen werden
(L.G. Karlsruhe). Ist die Beobachtung angeordnet, dann hat die
Staatsanwaltschaft sie zur Ausführung zu bringen (Jahrb. 1911,
S. 152 u. Goltd. Arch. 58, 257).
Im Privatklageverfahren ist der § 81 Str.P.O. nicht an¬
wendbar, ebensowenig während der Strafvollstreckung (\’oß)‘).
^) Siehe Rasch, Die Unterbringung . . . gern. § 81 Str.P.O. Das
Recht 1912, S. 510.
=) Voß, Qoltd. Arch. 55, S. 205.
Hübner, Forensische Psychiatrie.
10
290
Die ärztliche Sachverständigentätigkeit.
Dagegen ist die Schwere des Deliktes ohne Einfluß auf die Ent¬
schließung des Gerichtes’).
Der Wortlaut des § 81 Str.P.O. ergibt ferner, daß eine
Beobachtung •) nicht allein zur Feststellung des Geisteszustandes
z. Z. der Tat möglich ist, sondern auch zur Ermittelung der
prozessualen Handlungsfähigkeit (R.G.St. Bd. 20, S. 378).
Durch die vorstehenden gesetzlichen Bestimmungen soll
einesteils vermieden werden, daß die Beweisaufnahme allzusehr
ausgedehnt wird. Der Richter muß dazu die Möglichkeit haben,
unerhebliche Beweisanträge von seiten des Angeklagten abzu¬
lehnen. Andererseits ist es selbstverständlich, daß er alle Dm-
stände, deren der Sachverständige zur Abgabe seines Gutachtens
bedarf, auch zum Gegenstand der Beweisaufnahme macht. Es ist
mir noch nie begegnet, daß das Gericht in dieser Beziehung
Schwierigkeiten gemacht hätte.
Wichtig ist noch ein Punkt. Der Sachverständige hat häufig
Gelegenheit, Angehörige und Bekannte des Angeklagten in der
Anstalt bei Besuchen usw. zu sprechen und es kommt dabei nicht
selten vor, daß gerade durch diese Unterredungen wertvolles
Material gewonnen wird. Die auf diesem Wege gewonnenen
Tatsachen dürfen rechtlich aber nicht verwandt werden, es sei
denn, daß sie auch in der Hauptverhandlung von Zeugen be¬
kundet werden. Der Sachverständige muß ihre Ladung deshalb
eventuell beantragen.
Die Akteneinsicht und genaueste Untersuchung, auch wenn
dieselbe mehr Zeit, wie die in Preußen üblichen drei Vorbesuche
in Anspruch nimmt, .soll der Sachverständige nie unterlassen.
’) Landsberg, D. Jur.-Zeitg. 1908, S. 129: s. aber auch Jahrb. 1911.
S. 152.
') Eine Irrenabteilung an einer Strafanstalt ist, insofern sie, als ein
Teil dieser Strafanstalt vorwiegend den Zwecken des Strafvollzugs
dient, nicht aber dazu bestimmt ist, geisteskranke Personen zu ihrer
Beobachtung, Pflege, Heilung oder dauernder Verwahrung aufzunehmen
und eine ausschließliche Heil- und Krankenanstalt für geisteskranke
Personen zu sein, keine Irrenanstalt also auch keine öffentliche Irren¬
anstalt (Kammer-Qer.-Entsch. 15. 6. 05; Psych. Wochenschr. 1909; Jahrb.
f. Strafr. 1908, Bd. 2, S. 223; s. auch Posener Monatsschr. 1907, S. 57.
Die psychiatr. Kliniken sind selbstverständlich öffentliche Irrenanstalten
i. S. § 81 Str.P.O.
Vergl. zu § 81 auch die Allgem. Verf. vom 20. 10. 1908 über
die Unterbringung von Angeschuldigten zur Beobachtung auf ihren
Geisteszustand in Provinzial-Irrenanstalten (Just.-Min.-Bl. 1908, S. 368).
Die ärztliche Sachverständigentätigkeit.
291
W enn er die Mehrleistung auch nicht bezahlt bekommt, so soll
ihn schon allein die Rücksicht auf seine persönliche Stellung
und sein Ansehen als Sachverständiger dazu veranlassen, seine
Untersuchungen solange fortzusetzen, bis er wirklich nach bestem
Wissen und Gewissen sein Gutachten abgeben kann.
Insbesondere hüte er sich, sofern ihm auch nur die ge¬
ringsten Zweifel kommen, ein Gutachten über die strafrechtliche
Zurechnungsfähigkeit lediglich auf Grund von einigen Sprech¬
stundenuntersuchungen oder Besuchen im Gefängnis abzugeben.
Wenn auch nicht zu leugnen ist, daß man in einer Reihe von
Fällen damit bei der nötigen Erfahrung zurecht kommen kann,
so sei man ganz besonders vorsichtig bei allen Grenzzuständen.
Denn bei ihnen kann gerade erst der tägliche Umgang mit dem
Kranken die wichtigsten Symptome in Erscheinung treten lassen,
während die letzteren sich bei einigen mehr oder minder langen
Vorbesuchen der Beobachtung leicht entziehen.
Daß der Anstaltsarzt sein Augenmerk auch darauf zu rich¬
ten hat, daß der gemäß § 81 Str.P.O. zur Beobachtung einge¬
wiesene Kranke keine Gelegenheit zum Entweichen findet, ist
bereits oben ausgeführt worden. Handelt es sich um einen
gefährlichen Verbrecher, so wird in den Anstalten fast regel¬
mäßig für ihn ein besonderer Pfleger eingestellt*).
Bezüglich der Korrespondenz und der Besuche durch An¬
gehörige halten wir es persönlich im allgemeinen so, daß wir zu
allen diesen Dingen die Zustimmung des Untersuchungsrichters
oder der sonst zuständigen Behörde einholen.
§ 83. Der Richter kann eine neue Begutach¬
tung durch dieselben oder durch andere Sach¬
verständige anordnen, wenn er das Gutachten
für ungenügend erachtet.
Der Richter kann die Begutachtung durch
*) Die Landesverwaltuiig der Prov. Westpreußen stellt dem Justiz¬
fiskus vor Übernahme der Beobachtungskranken eine Reihe von Be¬
dingungen, welche sich auf Pflegekosten, Form des Gutachtens (münd¬
lich oder schriftlich?), Überschreitung der üblichen Zahl von Vor¬
besuchen, Ernennung zweier Anstaltsärzte als Sachverständige, Ab¬
lehnung anderer Ärzte als Mitbeobachter beziehen (Psych. Wochenschr.
1907, S. 261). Rechtlich bindend sind dieselben wohl nur bezüglich der
Kostenfrage für das Gericht, s. auch Just.-Min.-Erl. vom 14. 4. 1908.
Die Kosten werden von der Staatsanwaltschaft stets angeboten (Just.-
Min.-Bl. 08, 368).
19
Die ärztliche Sachverständigentätigkeit.
292
einen anderen Sachverständigen anordnen,
wenn ein Sachverständiger nach Erstattung
des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt ist.
In wichtigeren Fällen kann das Gutachten
einer Fachbehörde ein geholt werden.
Von den in die Irrenanstalt gemäß § 81 Str.P.O. Einge¬
wiesenen fällt ein nicht geringer Teil unter die sog. „Grenz¬
zustände“. Ihre Beurteilung ist vielfach besonders schwierig,
trotzdem wird durch die Beobachtung im allgemeinen genügend
Material zur Beantwortung der gestellten Beweisfragen gewonnen.
Nur ausnahmsweise stellt sich das Bedürfnis einer Nach¬
prüfung der Ausführungen des gehörten Sachverständigen durch
einen anderen heraus. Es werden dann, namentlich wenn es sich
um besondere Fälle handelt, weitere Sachverständige zugezogen
oder Fachbehörden (in Preußen das Medizinalkollegium und die
wissenschaftliche Deputation)^) mit der Begutachtung betraut.
Wurde der Angeklagte in der Anstalt bereits sechs Wochen
beobachtet, so besteht für das Medizinalkollegium keine Mög¬
lichkeit mehr, ihn in einer Irrenanstalt nochmals zu beobachten “).
Bei Fortdauer der IMtersuchungshaft geht das allerdings im Ge¬
fängnis (R.E. IV. V. 2. 7. 01, Zeitschr. f. Med.-Beamte 1902,
Beil. 3, S. 19); diese Art der Beobachtung ist aber weniger genau,
als die sonst im Gesetz vorgesehene.
Diejenige Behörde also, welche das O b e r gutachten abgeben
soll, ist bezüglich der Materialsammlung viel mehr beschränkt, als
der Vorgutachter. Der zuständige Arzt des Medizinalkollegiums
kann dann nur durch einige Voruntersuchungen im Gefängnis®)
oder in seiner Wohnung sich einen persönlichen Eindruck von dem
-Angeklagten verschaffen. Die vielen Details aber, die gerade eine
Das Gutachten einer Fachbehörde wird in der Hauptverhandlung
durch eines ihrer Mitglieder vertreten. Die Behörde bezeichnet dem
Gericht den beauftragten Vertreter, § 25S, 2 Str.P.O. Dieser kann
dann, ohne daß das schriftliche Gutachten verlesen zu werden braucht,
mündlich ein umfassendes Gutachten erstatten. Entsch. 39, 140.
®) Ist in der ersten Instanz die sechswöchige Beobachtungszeit
nicht ganz ausgeniitzt worden, so kann das Med.-Kollegium den Rest zu
nochmaliger Beobachtung in einer Anstalt verwenden. (Vergl. weiter
Kammer-Ger.-Entsch. v. 15. 6. 05; Jahrb. f. Strafr. 1908, S. 223.) Wieder¬
holte Verwahrung über 6 Wochen hinaus ist unzulässig (Entsch 23, 203).
®) Die wissenschatfliche Deputation hat bei Inhaftierten noch die
Möglichkeit, sie in der Irrenabteilung Moabit zu beobachten.
Die ärztliche Sachverständigentätigkeit.
293
weitere Beobachtung noch bringen könnte, stehen ihm nicht zu
Gebote. Wenn aus diesen Verhältnissen dem Angeklagten in der
Praxis nur selten Nachteile erwachsen, so liegt das daran, daß
die Mitglieder des Medizinalkollegiums durchweg besonders er¬
fahrene Ärzte sind. Die Möglichkeit, daß das Gutachten der
ersten Instanz das besser begründete ist, läßt sich bei dieser
Sachlage aber nicht von der Hand weisen. —
Wie mehrfach in der Presse berichtet wurde, besteht in
Preußen die Absicht, die Medizinalkollegien aufzuheben und ihre
Funktionen, namentlich ihre Gutachtertätigkeit, den medizinischen
Fakultäten zu übertragen^). Für die psychiatrischen Fälle
würde ich darin eine ebenso zweckmäßige, als billige Neuerung
erblicken. Die Ärzte, welche dann als Sachverständige in Be¬
tracht kämen, könnten, soweit das rechtlich noch angängig wäre,
in den klinischen Instituten die Beobachtung durchführen, den
Kliniken würde interessantes Material zugeführt und dem Staat
würden Kosten erspart. —
Über die Möglichkeit, gegen Anordnungen des
Vorsitzenden einen Gerichtsbeschluß herbeizuführen, spricht
sich folgende R.G.E. aus:
(Befugnisse des Vorsitzenden in der Hauptverhandliing.) Die
Sachleitung (Abs. 2) bildet nur einen Teil der dem Vorsitzenden in
Abs. 1 zugewiesenen Qesamtleitung. Die Anrufung des Gerichts ist
ausgeschlossen, wenn die beanstandete Maßnahme des Vorsitzenden
keine sachliche, d. h. die Sache selbst betreffende ist, sondern
ausschließlich die formelle Behandlung zum Gegenstände hat.
oder wenn es sich um die Vernehmung des Angeklagten oder die
Aufnahme des Beweises, insbesondere Abhörung der Zeugen und
Sachverständigen handelt. Das Fragerecht des Vorsitzenden unter¬
liegt ebenso wie das der beisitzenden Richter keiner Einschränkung.
§ 241 bezieht sich nur auf Parteifragen. Jedoch haben die
Prozeßbeteiligten, falls eine solche Frag^ unzulässig erscheint, ein
Recht auf Protokollierung des Vorgangs (§ 273 Abs. 3 Str.P.O.).
Wird bei solcher Gelegenheit ausnahmsweise ein Teil der Aussagen
mitprotokolliert, so hat das Sitzungsprotokoll auch für deren Inhalt
volle Beweiskraft. Urt. III. v. 28. 1. 09 (15/09); ausführlicher in
R.G.Str. 42, 157; aus Jur. Wochenschr. 1909, S. 332.
Von zeitweiliger Entfernung“) der Sachverstän-
') Vergl. hierzu Pistor, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1912.
“) Nach § 247 dürfen die vernommenen Sachverständigen sich nur
mit Genehmigung und auf Anweisung des Vorsitzenden von der Ge¬
richtsstelle entfernen. Die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte sind
vorher zu hören.
294 Die ärztliche Sachverständißentätigkeit.
digen und Zeugen von der „Gerichtsstelle“ handelt die folgende
Entscheidung:
§ 247 Str.P.O. bezieht sich nur auf die Entfernung der Zeugen
und Sachverständigen von der „Oerichtsstelle“ und versteht dar¬
unter nicht das Sitzungszimmer, sondern das Qerichtsgebäude. Die
Str.P.O. enthält in betreff der zeitweiligen Entfernung der erwähn¬
ten Personen aus dem Sitzungssaal überhaupt keine Vorschriften;
darüber zu befinden, ist vielmehr dem Ermessen des Vorsitzenden
überlassen, wie ihm anheimgegeben ist, ob und welche Maßregeln
zu treffen sind, um einen Verkehr des Zeugen mit andern Personen zu
verhüten. (R.Q. IV. 21. 11. 11.) Jahrb. 1912, 160 u. Recht 16, Nr. 155.
Glaubt ein Sachverständiger sich durch eine Anordnung
des Gerichts in seinen Rechten beeinträchtigt, so steht ihm ge¬
mäß § 346 das Recht der Beschwerde zu. D i e B e s c h w e r d e
ist gegen alle von den Gerichten in erster Instanz
oder in der Berufungsinstanz erlassenen Be¬
schlüsse und gegen die Verfügungen des Vor¬
sitzenden, des Untersuchungsrichters, des Amts¬
richters und eines beauftragten oder ersuchten
Richters zulässig, soweit das Gesetz dieselben
nicht ausdrücklich einer Anfechtung entzieht.
Auch Zeugen, Sachverständige und andere
Personen können gegen Beschlüsse und Ver¬
fügungen^), durch welche sie betroffen werden,
Beschwerde erheben.
Gegen Beschlüsse und Verfügungen der Ober¬
landesgerichte und des Reichsgerichtes findet
eine Beschwerde nicht statt“). —
Ich möchte alle diese Erörterungen nicht schließen, ohne
noch eins hinzuzufügen. Damit, daß der Sachverständige zum
Gutachter ernannt worden ist, ist ihm auch die Pflicht auferlegt,
diejenigen Untersuchungen vorzunehmen, deren er zur Abgabe
des Gutachtens bedarf. Wie ich schon oben ausführte, kann der
Arzt darin nicht gewissenhaft genug sein. Ist es ihm nun aber
trotz redlichen Bemühens nicht gelungen, soviel Material zu-
.sammenzufinden, daß er sich bestimmt nach der einen oder an¬
deren Seite entscheiden kann, so habe er den Mut, das offen aus¬
zusprechen. Es gibt so schwere Fälle, daß selbst eine sechs-
') Gegen Urteile nur Berufung bzw. Revision.
“) Auch wenn das O.L.Q. unzuständig war. Entsch. 32, 89.
Die ärztliche Sachverständigentätigkeit.
295
wöchige Beobachtung zu einem bestimmten Ergebnis nicht zu
führen braucht. Jedenfalls ist es richtiger und des Sachverstän¬
digen auch würdiger, wenn er sich in zweifelhaften Fällen damit
begnügt, die medizinischen Gründe, welche für und gegen das
Vorliegen einer die freie Willensbestimmung ausschließenden
geistigen Störung sprechen, aufzuführen und dem Gerichte im
übrigen anheimstellt zu entscheiden, wie es diese Gründe be¬
werten wilP), als bestimmte, aber ungenügend begründete Be¬
hauptungen aufzustellen.
Schließlich ist auch noch zu erwähnen, daß der Sachverstän¬
dige für seine Mühewaltung Anspruch auf Vergütung hat.
§ 84. Der Sachverständige hat nach Ma߬
gabe der Gebührenordnung Anspruch auf Ent¬
schädigung für Z e i t V e r s ä u m n i s, auf Erstat¬
tung der ihm verursachten Kosten und außer¬
dem auf angemessene Vergütung für seine
Mühewaltung.
Die Entlohnung erfolgt nicht ohne weiteres, sondern auf
Antrag. In Preußen kommt gegenwärtig das Gesetz von 14. Juni
1909 in Betracht.
Daß die in dieser Gebührenordnung enthaltenen Sätze auch
nicht entfernt derjenigen Mühe entsprechen, die ein zuverlässiger
Sachverständiger auf ein Gutachten verwenden muß, ist eine all¬
gemein bekannte Tatsache“). Es ist trotzdem bisher nicht ge¬
lungen, eine angemessene Bezahlung zu erreichen. Das ist um so
bedauerlicher, als wohl ein nicht geringer Teil der ärztlichen Sach¬
verständigen, der keinerlei festes Gehalt bezieht, durch gerichts¬
ärztliche Tätigkeit unter Umständen geradezu verhindert wird,
an anderer Stelle mehr zu verdienen.
Es wäre deshalb dringend erwünscht, daß die von Zeit zu Zeit
durch die Zeitung gehende Nachricht, es sei eine wesentliche Er¬
höhung der Gebühren geplant, sich recht bald bestätigen möge. —
über die körperliche Untersuchung und die Mög¬
lichkeit ihrer Durchführung (§ 102 u. 103 Str.P.O.) besagt eine
Entscheidung folgendes:
“) S. auch Lindenberg, Strafrichter u. Irrenärzte. Deutsche Jur.-
Ztg. 1908, S. 559.
“) Es war mir interessant, von einem norwegischen Kollegen zu er¬
fahren, daß er in schwierigen Fällen für ein Gutachten bis zu 1000 Kronen
habp liquidieren können.
296
Die ärztliche Sachverständigentätigkeit.
Dem mit der Besichtigung beauftragten Sachverständigen stehen
zu der Durchführung des Auftrags keine weiteren Zwangsmittel zur
Seite als seinem Auftraggeber, dem Richter. Die Pflicht zur Dul¬
dung einer ärztlichen Besichtigung geht daher über die Grenzen der
Verpflichtung, den richterlichen Augenschein über sich ergehen zu
lassen, nicht hinaus. R.Q. III. 18. 9. 02. Das Recht 1902, Entsch.
Nr. 2443, S. 514; s. auch Rosenmeyer, Qerichtssaal 63, S. 1.
Hinzugefügt seien noch die folgenden Bestimmungen, welche
die Stellung des vom .Angeschuldigten geladenen Sachverständigen
betreffen.
§ 193. Findet die Einnahme eines Augen¬
scheins unter Zuziehung von Sachv'erständigen
statt, so kann der Angeschuldigte beantragen,
daß die von ihm für die Hauptverhandlung in
Vorschlag zu bringenden Sachverständigen zu
dem Termin geladen werden und, wenn der
Richter den Antrag ah lehnt, sie selbst laden
lassen.
Den von dem Angeschuldigten benannten
Sachverständigen ist die Teilnahme am Augen¬
schein und an den erforderlichen Untersuchun¬
gen insoweit zu gestatten, als dadurch die
Tätigkeit der vom Richter bestellten Sachver¬
ständigen nicht behindert wird.
Der Angeschuldigte ist zur Ladung von Sachverständigen
seinerseits aber nur berechtigt, wenn vom Richter eine Zuziehung
von Sachverständigen zu der Augenscheinsnahme vom Richter
beschlossen ist.
Die vom Angeschuldigten geladenen Sachverständigen kann
der Richter von der V'erhandlung ausschließen, wenn er es für
zweifellos erachtet, daß denselben die Eigenschaft von Sach¬
verständigen für die vorliegende Begutachtung nicht beiwohnt.
Unter „Teilnahme — gestatten“ ist folgendes zu verstehen:
Die Sachverständigen des Angeschuldigten dürfen den Befund des
gerichtlichen Sachverständigen in Augenschein nehmen und auf
dasjenige aufmerksam machen, worauf es ihrer Ansicht nach an¬
kommt. Ihrem Verlangen, gewisse Erscheinungen durch das
Protokoll zu konstatieren, wird in der Regel zu entsprechen sein.
Auf mehr haben die Sachverständigen des Angeschuldigten keinen
Anspruch, insbesondere steht es ihnen nicht zu, in die Tätigkeit
des gerichtlichen Sachverständigen irgendwie einzugreifen.
Die ärztliche Sachverständigentätigkeit. 297
§ 218. Verlangt der Angeklagte die Ladung
von Zeugen oder Sachverständigen oder die
Herbeischaffung anderer Beweismittel zur
Hauptverhandlung, so hat er unter Angabe der
Tatsachen, über welche der Beweis erhoben
werden soll, seine Anträge bei dem Vorsitzen¬
den des Gerichts zu stellen. Die hierauf er¬
gehende Verfügung ist ihm bekanntzumachen.
Beweisanträge des Angeklagten sind, so¬
weit ihnen stattgegeben ist, der Staatsanwalt¬
schaft mitzuteilen.
Bis zum Beginn der Hauptverhandlung entscheidet der Vor¬
sitzende über die Anträge nach Prüfung der Erheblichkeit der zu
beweisenden Tatsachen und der Beschaffenheit der Beweismittel.
Die Gebühren, welche im Falle der Ladung durch den An¬
geschuldigten dem Sachverständigen zustehen, sind die gesetz¬
lichen. Wird weniger hinterlegt, braucht der Geladene nicht zu
erscheinen, es sei denn, daß er den geringeren Betrag angenommen
hat. Das Ausbleiben hat dann dieselben Folgen, wie beim amtlich
geladenen Sachverständigen.
Aus der Staatskasse erhält der Sachverständige die Ge¬
bühren nur dann, gemäß § 219 Abs. 3, wenn er sie nicht bereits
vom Angeschuldigten erhalten hat.
Davon ob der Angeklagte verurteilt oder freigesprochen ist,
ist der Anspruch nicht abhängig, sondern nur von der Sachdien-
lichkeit. Die Entscheidung darüber hat das Gericht. Die Dien¬
lichkeit kann auch verneint werden, wenn mit Rücksicht auf
bereits vorhandene Beweismittel die Ladung überflüssig war.
Der Antrag auf Entschädigung aus der Staatskasse kann
vom Angeschuldigten und vom Sachverständigen gestellt werden.
§ 220. Der Vorsitzende des Gerichts kann
auch von Amts wegen die Ladung von Zeugen
und Sachverständigen sowie die Herbeischaf¬
fung anderer Beweismittel anordnen.
Der Vorsitzende ist nicht befugt, Sachverständige einst¬
weilen abzuhören oder abhören zu lassen, um sich zu informieren,
ob die Ladung zur Hauptverhandlung nötig ist.
§ 221. Der Angeklagte hat die von ihm un¬
mittelbar geladenen oder zur Hauptverhand-
1 u ng zu stellenden Zeugen und Sac h ver st än d i -
298
Die ärztliche Sachverständigentätigkeit.
gen rechtzeitig der Staatsanwaltschaft nam¬
haft zu machen und ihren Wohn- oder Aufent¬
haltsort anzu geben.
Dieselbe Verpflichtung hat die Staatsan¬
waltschaft gegenüber dem Angeklagten, wenn
sie außer den in der Anklageschrift benannten
oder auf Antrag des Angeklagten geladenen
Zeugen oder Sachverständigen die Ladung
noch anderer Personen, sei es auf Anordnung
des Vorsitzenden (§ 220) oder aus eigener Ent¬
schließung, bewirkt.
§ 238. Die Vernehmung der von der Staats¬
anwaltschaft und dem Angeklagten benannten
Zeugen und Sachverständigen ist der Staats¬
anwaltschaft und dem Verteidiger auf deren
übereinstimmenden Antrag von dem Vor¬
sitzenden zu überlassen. Bei den von der
Staatsanwraltschaft benannten Zeugen und
Sachverständigen hat diese, bei den von dem
Angeklagten benannten der Verteidiger in
erster Reihe das Recht zur Vernehmung.
Der Vorsitzende hat auch nach dieser Ver¬
nehmung die ihm zur weiteren Aufklärung der
Sache erforderlich scheinenden Fragen an die
Zeugen und Sachverständigen zu richten.
Der § 238 bezieht sich auf das sog. Kreuzverhör. Es er¬
streckt sich nur auf Zeugen, die von der Staatsanwaltschaft oder
dem Angeklagten benannt sind, und erfolgt auf übereinstimmen¬
den Antrag des Staatsanwalts und Verteidigers. Der Antrag
dazu muß vor Beginn der Beweisaufnahme gestellt sein. Der
Vorsitzende kann das Kreuzverhör nicht selbständig schließen.
§ 239. Der Vorsitzende hat den beisitzenden
Richtern auf Verlangen zu gestatten, Fragen
an die Zeugen und Sachverständigen zu stellen.
Dasselbe hat der Vorsitzende der Staats¬
anwaltschaft, dem Angeklagten und dem Ver¬
teidiger sowie den Geschworenen und den
Schöffen zu gestatten.
§ 240. Demjenigen, welcher im Falle des
§ 238 Abs. I die Befugnis der Vernehmung miß-
Die ärztliche Sachverständigentätigkeit.
299
braucht, kann dieselbe von dem Vorsitzenden
entzogen werden.
In den Fällen des § 238 Abs. 1 und des § 239
Abs. 2 kann der Vorsitzende ungeeignete oder
nicht zur Sache gehörige Fragen zurückweisen.
Die beiden eben angeführten Bestimmungen begrenzen das
Fragerecht sämtlicher Prozeßbeteiligten gegenüber Sachverstän¬
digen und Zeugen.
Es ist selbstverständlich, daß dieses Recht im Interesse der
Sache in ausgedehntestem Maße zur Anwendung kommen muß.
Nicht erwünscht ist es aber, wenn von dem Angeklagten oder
seinem Verteidiger, um ein ihm ungünstiges Gutachten mangels
sachlicher Gründe zu entkräften, die Frage der spezialistischen
Vorbildung des Sachverständigen aufgeworfen wird. Abgesehen
davon, daß vor dem Gesetz jeder Arzt in jeder medizinischen
Frage als sachverständig gilt, ist es besonders bei Anstaltsärzten
selbstverständlich, daß die Direktion nur solchen Ärzten gericht¬
liche Gutachten überträgt, die denselben auch wissenschaftlich ge¬
wachsen sind.
§ 243. Nach der Vernehmung des Angeklag¬
ten folgt die Beweisaufnahme.
Es bedarf eines Gerichtsbeschlusses, wenn
ein Beweisantrag abgelehnt werden soll, oder
wenn die Vornahme einer Beweishandlung eine
Aussetzung der Flauptverhandlung erforder¬
lich macht.
Das Gericht kann auf Antrag und von Amts
wegen die Ladung von Zeugen und Sachverstän¬
digen sowie die Herbeischaffung anderer Be¬
weismittel anordnen.
§ 244. Die Beweisaufnahme ist auf die sämt¬
lichen vorgeladenen Zeugen und Sachverstän¬
digen sowie auf die anderen herbeigeschafften
Beweismittel zu erstrecken. Von der Erhebung
einzelner Beweise kann jedoch abgesehen wer¬
den, wenn die Staatsanwaltschaft und der An¬
geklagte hiermit einverstanden sind.
In den Verhandlungen vor den Schöffen¬
gerichten und vor den Landgerichten in der
Berufungsinstanz, sofern die Verhandlung vor
über ärztliche Gutachten.
letzteren eine Übertretung betrifft oder auf
erhobene Privatklage erfolgt, bestimmt das
Gericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne
hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere
Beschlüsse gebunden zu sein.
Über ärztliche Outacliteii.
Es ist nicht die Absicht des Verfassers, in den folgenden
Zeilen einen vollkommenen psychischen Status, ein Schema für
die genaue Vorgeschichte usw. zu geben; es sollen vielmehr unter
Plinweis auf den allgemeinen Teil und die Erörterungen in den
Kapiteln „Unzurechnungsfähigkeit“ und ,,bedingte Strafmündig¬
keit“ einige wenige allgemeine Gesichtspunkte erörtert werden,
welche für die Gutachtertätigkeit') von Bedeutung sind.
Voranstellen möchte ich dabei die Frage; Soll der Arzt
Gutachten zu gerichtlichen Zwecken an Privat¬
leute abgeben? Ich möchte diese Frage bejahen, und zwar
gerade für denjenigen Arzt, der besondere Fachkenntnisse be¬
sitzt. Es muß für den Interessenten die Möglichkeit bestehen,
sich ohne Gerichtsbeschlüsse ärztliche Zeugnisse zu besorgen.
Der Sachverständige selbst kann sich nach verschiedenen Rich¬
tungen hin vor Mißbrauch schützen. In erster Linie hat er ja die
Möglichkeit, sich über die Person des Gesuchsstellers genauer
zu erkundigen. Er kann unter Umständen mit dem zu Unter¬
suchenden abmachen, daß das Gutachten nicht diesem persönlich,
sondern derjenigen Behörde direkt zugestellt wird, bei welcher
es Verwendung finden soll. Schließlich kann er auch den Patien¬
ten darauf aufmerksam machen, daß die Schlußfolgerungen des
Gutachtens im wesentlichen auf den Angaben des Kranken selbst
beruhen, wenn sonstige Beweismittel nicht vorhanden sind, und
') Literatur: Schmidtmann, Handb. der gerichtl. Med., Bd. 1.
Berlin 1905. Hirschwald. Gramer, Gerichtl. Psychiatrie. Jena 1905.
G. Fischer. Hoche, im Handbuch.
über das Verhalten des Sachverständigen vor Gericht, auf das hier
nicht näher eingegangen wird, insbesondere über sein Verhalten dem
Angeklagten, Verteidiger, Staatsanwalt usw. gegenüber s. Dannemann.
Ärztl. Sachverst.-Ztg. 1907, S. 457 und Straßmann, Ärztl. Sachverst.-
Ztg. 1908. M. R. lassen sich generelle Regeln darüber kaum aufstelien,
weil der Sachverständige vorher nie wissen kann, in welche Situationen
er kommt.
Uber ärztliche Gutachten.
301
somit das Attest dem Kranken nichts nützen würde, sobald die
Voraussetzungen, auf denen es basiert, sich als hinfällig er¬
wiesen. Bedient der Sachverständige sich dieser Vorsichtsma߬
regeln, so kann das Gutachten wohl kaum jemals mißbraucht
werden').
Daß es im übrigen Pflicht des Sachverständigen ist, jedes
mögliche Mittel zur Klärung des Sachverhaltes zu benutzen,
braucht nicht besonders betont zu werden.
Dem schriftlichen Gutachten geben wir für gewöhnlich fol¬
gende Anordnung -):
1. Angabe der ersuchenden Behörde und Zweck des Gut¬
achtens ;
2. Angabe der genauen Personalien des zu Begutachtenden;
3. Fragestellung;
4. Mitteilung der Unterlagen, auf die sich das Gutachten
stützt und Zeit der Untersuchungen;
5. Vorgeschichte des Untersuchten, soweit sie sich aus dem
Akteninhalte ergibt;
6. Eigene Untersuchung: a) körperlich; b) psychisch; c) An¬
gaben des Patienten über seine Vorgeschichte; d) eigene
Ermittelungen des Sachverständigen durch Befragen an¬
derer Personen"), Pfleger usw.;
7. Gutachtenteil: a) Kritische Sichtung des vorliegenden
Materials, b) Ist X. geisteskrank und woran leidet er?
c) Wie weit beeinflußt seine Geisteskrankheit seine freie
Willensbestimmung im allgemeinen und in bezug auf die
Tat oder seine Geschäftsfähigkeit usw. Zusammenfassung.
Zur Erläuterung des vorstehenden Gerippes eines Gutachtens
sei folgendes hinzugefügt:
Die Nummern i—4 stellen den Kopf desselben dar, der
ausgeführt etwa folgendermaßen lauten würde:
Auf Ersuchen des Königlichen Landgerichtes X. erstattet in der
Strafsache gegen den A. B., geh. am .... zu ... . zurzeit wohnhaft
in D., kath., vorbestraft, Ersatzreservist, der Unterzeichnete das ge¬
forderte Gutachten darüber, „ob der Genannte zur Zeit der ihm zur
") Vergl. auch Rumpf: Über ärztl. Zeugnisse und Gutachten. Bei¬
heft zur Med. Klinik 1909.
") S. Rund.-Verf. des Preuß. Min. der Med.-Angel, v. 20. 1. 1853.
ferner § 41 der Dienstanweis. f. Kreisärzte v. 23. 3. 1901.
") Uber die Verwendbarkeit dieser Ermittelungen s. ärztl. Sach¬
verständigentätigkeit, S. 290.
302 über ärztliche Gutachten.
Last gelegten strafbaren Handlung, d. h. am . . . . sich in einem Zustand
krankhafter Störung der üeistestätigkeit befand, durch welchen seine
freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“.
Das Gutachten stützt sich auf den Inhalt der Akten des Königl. . . .
(hier werden die Akten einzeln mit Aktenzeichen aufgeführt) ferner auf
die in dem Termin am . . . gemachten eigenen Wahrnehmungen, sowie
auf eine Beobachtung, welche in der Zeit vom .... bis .... von
dem Unterzeichneten in der Psychiatrischen Klinik zu B. durchgeführt
wurde. ■ ' t
Die Vorgeschichte des Patienten, soweit der Akten¬
inhalt sie ergibt, pflege ich in zwei Teile zu teilen, nämlich: i. stelle
ich alles auf die Tat Bezügliche zusammen und in einem 2. Teile
wird alles dasjenige gruppiert, was auf das Vorleben (ohne Rück¬
sicht auf die Straftat) Bezug hat.
Was den Untersuchungsbefund anbelangt, so sehe
ich davon ab, darüber ein genaues Schema zu bringen, weil ein
solches in allen Lehrbüchern der klinischen Psychiatrie enthalten
ist, im übrigen sei auf den allgemeinen Teil verwiesen, in dem
wenigstens Einiges davon erwähnt ist.
Auch für die Erhebung der Vorgeschichte vom
Patienten selbst und ev. von Angehörigen lassen sich bestimmte
Regeln nicht geben.
Immerhin sei hier kurz auf die Kapitel Entartung, Imbezil¬
lität, Epilepsie, Hysterie verwiesen.
In dem Gutachtenteil darf die Zusammenfassung am
Schluß nicht vergessen werden, weil dieselbe dem Juristen die
Orientierung über den ganzen Fall außerordentlich erleichtert.
Am zweckmäßigsten gibt man derselben z. B. folgende Form:
Ich fasse die vorstehenden Ausführungen dahin zusammen, daß der
A. B. am . . . . bei Begehung der ihm zur Last gelegten Handlung
an einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit litt, durch welche
seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war (§ 51 Str.G.B.)^). —
Bei einem mündlichen Gutachten vor Gericht kürze
man das obige Schema insofern, als man bei der Einleitung nur
das Tatsachenmaterial angibt, auf das man sich stützt, den Akten-
Medizinalbeamte müssen ferner die diensteidliche Versicherung
hinzufügen, daß die Mitteilungen des Kranken oder seiner Angehörigen
richtig in das Attest aufgenommen sind, daß die eigenen Wahrnehmungen
des Ausstellers überall der Wahrheit gemäß wiedergegeben sind, und
daß das Gutachten auf Grund der eigenen Wahrnehmungen des Aus¬
stellers nach dessen bestem Wissen abgegeben ist. Darunter kommt
vollständiges Datum. Namensunterschrift. Amtscharakter, Dienstsiegel.
über ärztliche Gutachten. 303
Inhalt nur kurz und nach Bedarf resümiert, den psychischen
Befund genau, den körperlichen nur soweit er von Bedeutung ist,
bringt und sich dann zusammenfaßt:
1. Es sind demnach vorhanden (folgt die Aufzählung der
wichtigsten Symptome).
2. Auf Grund derselben stelle ich die Diagnose auf . . . .
3. Von Einfluß auf das Handeln des X im vorliegenden
Falle waren folgende Krankheitserscheinungen (es folgt Auf¬
zählung derselben . . . .)
4. Ich komme deshalb zu dem Schluß, daß der Patient X ....
Erst bei der Erstattung des mündlichen Gutachtens erkennt
man m. E. den wirklich geschickten Sachverständigen. Man ver¬
meide es, Dinge lang und breit vorzubringen, die unwesentlich
sind. Wenn z. B. ein Epileptiker im Dämmerzustand mit dem
Messer eine schwere Körperverletzung begangen hat, so ist es
für das mündliche Gutachten gleichgültig, ob die Lungen gut
verschieblich sind, ob irgendwo eine leichte Dämpfung besteht
und ähnliches mehr. ■ Diese Dinge müssen festgestcllt sein, sie
brauchen aber nicht in epischer Breite im Gerichtssaal vorgetragen
zu werden, denn einmal versteht nur ein geringer Teil der Rich¬
ter, was damit gemeint ist und zweitens haben sie für die Be¬
weisfrage, die gestellt ist, in den allermeisten Fällen gar keine
Bedeutung. Es genügt, wenn der Sachverständige diesen Teil des
Befundes zusammenfaßt, indem er das sagt, was für die Sache
wesentlich ist.
Ist der Sachverständige weniger geschickt, so daß es ihm
nicht leicht gelingt das Wesentliche kurz zusammenzufassen, so
sei er lieber etwas ausführlicher. Denn begründen muß er seine
Ansicht in jedem Falle, es sei denn, daß der Richter ihm von
vorneherein zu verstehen gibt, daß bei Lage des Falles auf aus¬
führliche Begründung kein besonderer Wert gelegt wird. —
Da das Gutachten des Arztes von hoher Bedeutung für den
Ausgang eines Rechtsstreites sein kann, so hat der Gesetzgeber
auf die Ausstellung unrichtiger Zeugnisse') Strafe gesetzt. Die
bezügliche Bestimmung findet sich im § 278 Str.G.B.:
Ärzte und andere approbierte Medizinal¬
personen, welche ein unrichtiges Zeugnis über
den Gesundheitszustand eines Menschen zum
Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1900, S. 252 und Straßniann, Viertel), f.
ger. Med. 1900, S. 19.
304 Militärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichtsordnung.
Gebrauche bei einer Behörde oder Versiche¬
rungsgesellschaft wider besseres Wissen aus¬
stellen, werden mit Gefängnis von Einem Monat
bis zu zwei Jahren bestraft.
Eine weitere Strafbestimmung, die sich vorwiegend auf die
gerichtliche Tätigkeit bezieht, enthält der § 154 Str.G.B.:
Gleiche Strafe*) trifft denjenigen, welcher
vor einer zur Abnahme von Eiden zuständigen
Behörde wissentlich ein falsches Zeugnis oder
ein falsches Gutachten mit einem Eide bekräf¬
tigt oder den vor seiner Vernehmung geleiste¬
ten Eid wissentlich durch ein falsches Zeugnis
oder ein falsches Gutachten verletzt.
Ist das falsche Zeugnis oder Gutachten in
einer Strafsache zum Nachteile eines An ge¬
schuldigten abgegeben und dieser zum Tode,
zu Zuchthaus oder zu einer anderen mehr als
fünf Jahre betragenden Freiheitsstrafe ver¬
urteilt worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht
unter drei Jahren ein.
Schließlich sei erwähnt, daß nach verschiedenen Erlassen
des Preußischen Justizministeriums (5. 2. 00; 19. 3. 00 und
18. 7. 07) ein für allemal vereidigte Sachverständige aus den
Listen gestrichen werden können, wenn ihre Tätigkeit für un¬
sachgemäß gehalten wird“). Bei Ärzten ist dieser Erlaß bisher
nicht angewandt worden.
Militärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichts-
orduiing.
Das Militärstrafgesetzbuch und die Militärstrafgerichts¬
ordnung enthalten eine Reihe von Sondervorschriften, welche auf
die zu dem deutschen Heer und der kaiserlichen Marine gehören¬
den Militärpersonen Anwendung finden.
Wer als Militärperson anzusehen ist, ergibt sich aus § i der
Militärstrafgerichtsordnung und dem als Anlage zum M.Str.G.B.
herausgegebenen Verzeichnis „der zum deutschen Heere und der
kaiserl. Marine gehörenden Militärpersonen“.
’) Zuchthaus bis zu 10 Jahren.
“) Deutsche Jur.-Zeitg. 1911.
MilitärstraSgesetzbuch und Militürstrafgerichtsordnung. 305
§ I M.Str.G.Ü. Der Militärstrafgerichtsbar¬
keit sind, soweit nicht die folgenden Para¬
graphen ein Anderes bestimmen, wegen aller
strafbaren Handlungen unterstellt:
1. die Militärpersonen des aktiven Heeres und
der aktiven Marine*);
2. die zur Disposition gestellten Offiziere,
Sanitätsoffiziere und Ingenieure des Sol¬
daten stau des;
3. die Studierenden der Kaiser -Wilhelms-Aka¬
demie für das militärärztliche Bildungs-
wesen -);
4 . die Schiffsjungen, solange sie eingeschifft
sind;
5. die in militärischen Anstalten versorgten
invaliden Offiziere und Mannschaften;
6. die nicht zum Soldaten stände gehörigen
Offiziere ä la suite und Sanitätsoffiziere
ä la suite, wenn und solange sie zu vorüber¬
gehender Dienstleistung zugelassen sind;
7. die verabschiedeten Offiziere, Sanitäts¬
offiziere und Ingenieure des Soldatenstan¬
des, wenn und solange sie als solche oder als
Militärbeamte im aktiven Heere oder in der
aktiven Marine vorübergehend wieder Ver¬
wendung finden;
8. die in den §§ 155, 157, 158, 166 des Militärstraf¬
gesetzbuchs bezeichneten Personen“), so¬
lange sie den Militärstrafgesetzen unter¬
worfen sind.
Alle die eben genannten Personen unterstehen in erster Linie
dem Militärstrafrecht. Nur insoweit, als dies keine besonderen
*) Die zu Kontrollversammlungen Einberufenen gehören für den
ganzen Tag zum aktiven Heere (R.Q. 12, 319; 14, 328; R.M.Q. 1, 20; 8 , 114;
13, 254). Fahnenflüchtige bleiben Militärpersonen (R.Q. 27, 143).
“) Dieselben unterstehen der Militärstrafgerichtsbarkeit, doch findet
das Militärstrafgesetz auf sie keine Anwendung.
“) Personen,.die sich während eines gegen das Deutsche Reich aus¬
gebrochenen Krieges in irgendeinem Dienst- oder Vertragsverhältnisse
bei dem kriegführenden Heere befinden, oder sonst sich bei ihm auf-
Hübner, Forensische Psychiatrie, 20
3 o 6 Militärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichtsordnung.
Bestimmungen für einzelne Delikte enthält, gilt das allgemeine
Strafgesetzbuch und die übrigen allgemeinen Strafgesetze, und
zwar gemäß § lo Str.G.B., welcher lautet;
Auf deutsche Militärpersonen finden die
allgemeinen Strafgesetze des Reichs insoweit
Anwendung, als nicht die Militärgesetze ein
anderes bestimmen.
Kraft dieses Paragraphen findet z. B. der § 51 Str.G.B. auch
auf Militärpersonen Anwendung, wenn seine Voraussetzungen er¬
füllt sind. Das M.Str.G.B. enthält unter den „Gründen, welche die
Strafe ausschließen“ (I. Th, Abschn. 5) keine analogen Bestim¬
mungen.
Im folgenden soll nun das, was den Psychiater interessiert,
kurz zusammengestellt werden. —
Im Strafgesetzbuch haben wir die relative Strafmündigkeit
(§ 56 Str.G.B.) kennen gelernt. Da die Möglichkeit, in das
stehende Heer einzutreten, vom vollendeten 17. Lebensjahre ab
gegeben ist, und außerdem in Kriegszeiten Zivilpersonen unter
18 Jahren gemäß § 155 M.Str.G.B. unter das Militärstrafgesetz¬
buch fallen können, bedurfte es besonderer Bestimmungen. Diese
letzteren bringt der § 50 M.Str.G.B. Er lautet:
•Bei Bestrafung militärischer Verbrechen
oder Vergehen ist die Erkennung der angedroh¬
ten Strafe unabhängig von dem Alter des Täters.
Danach kann bestraft werden, unabhängig von der nach den
§§ 56, 57 Str.G.B. erforderlichen „Einsicht“, ein nach vollendetem
17. Lebensjahr in das aktive Heer Eingestellter oder eine während
eines gegen das Deutsclie Reich ausgebrochenen Krieges gemäß
§ 155 M.Str.G.B. bei dem kriegführenden Heere befindliche,
weniger als i8 Jahre alte Person, so lange sie sich dort aufhält.
Die Strafe kann nur für militärische Verbrechen oder Vergehen
verhängt werden. Im übrigen gilt das allgemeine Strafgesetz
(§ 3 M.Str.G.B.).
Der erwähnte § 50 M.Str.G.B. schließt die Anwendung der
Bestimmungen der §§ 56, 57 Str.G.B. auf Militärpersonen natür-
halten oder ihm folRcn, für die Dauer des VertraKSverhältnisses (§ 155
M.Str.G.B.), ferner ausländische Offiziere nebst Gefolge, die zum krieg-
führenden Heere zugelasscn sind (§ 157 M.Str.G.B.), Kriegsgefangene
(§ 1.58 M.Str.G.B.). Schiffsangestellte (§ 166 M.Str.G.B.).
Militärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichtsordnung.
307
lieh nicht grundsätzlich aus. Diese kommen vielmehr zur An¬
wendung insoweit, als es sich nicht um „militärische“ Ver¬
brechen oder Vergehen handelt.
Hat eine Militärperson vor Vollendung ihres achtzehnten Lebens¬
jahres eine nach gemeinem Strafrechte strafbare Handlung begangen,
so ist eine Bestrafung nur möglich, wenn festgestellt wird, daß der
Täter die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der begangenen Handlung
erforderliche Einsicht zur Zeit der Tat hatte. (R.M.Q. I. 6. 7. 08.)
R.M.Q. 13, 1 und Jahrb. 1910, S. 143.
Daß für die Militärpersonen der § 51 Str.G.B.
gilt, wenn sie dessen Voraussetzungen erfüllen, ist oben schon
gesagt. Es ist dabei gleichgültig, ob der Angeklagte militärische
Verbrechen oder solche begangen hat, die nach den allgemeinen
Strafgesetzen abgeurteilt werden. —
§ 49 M.Str.G.B. Die Verletzung einer Dienst¬
pflicht aus Furcht vor persönlicher Gefahr ist
ebenso zu bestrafen, wie die Verletzung der
Dienstpflicht aus Vorsatz.
Bei strafbaren Handlungen gegen die Pflich¬
ten der militärischen Unterordnung, sowie bei
allen in Ausübung des Dienstes begangenen
strafbaren Handlungen bildet die selbstver¬
schuldete Trunkenheit des Täters keinen Straf-
m ilderungsgrund.
Mit dieser Bestimmung soll nicht gesagt sein, daß beim Vor¬
liegen eines pathologischen Rausches oder sinnloser Trunkenheit
die Anwendung des § 51 Str.G.B. ausgeschlossen ist. Die An¬
sicht des Gesetzgebers war vielmehr folgende;
Literatur: Romen - Rissom, Militärstrafgesetzbuch 1912 und
Militärstrafgerichtsordnung 1910. M. E. Mayer, Deutsches Militärstraf¬
recht, 2 Teile, 1907 (Qöschen). Stier, Psych. Gutachten. Arch. f. Mil.
Recht, Bd. 3, S. 17. Derselbe, Die akute Trunkenheit. Q. Fischer. Jena.
V. Kern, Grenzen des gerichtsärztl. Urteils. Festschr. f. v. Leuthold, Bd. 2.
Gramer, Gerichtl. Psychiatrie. Becker, Forens. Psychiatrie in der Armee.
Deutsche med. Wochenschr. 1910, Nr. 16. Biaus6, Annales mäd.-psychol.
XII. p. 48. Chavigny, Ou6rulant. L’Encephale 1910, p. 438. Gramer,
Deutsche militärärztl. Zeitschr. 1910, Heft 7. E. Schnitze, Psychosen bei
Militärgefangenen. G. Fischer. Jena. v. Heuß, Zwangsvorstellungen.
In.-Diss. Berlin 1910. Meitzer, Abnorme Geisteszustände beim Soldaten.
München 1910. Raecke, Arch. f. Psych., Bd. 45. E. Meyer, Arch. f.
Psych., Bd. .39. Stier, Berl. klin. Wochenschr. 1910, Nr. 24. Podesta,
Arch. f. Psych., Bd. 40, S. 651. Illberg. Halle 1903.
20
3 o8 Militärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichtsordnung.
Selbstverschuldete Trunkenheit schließt nur die Annahme eines
minderschweren Falles oder mildernder Umstände aus, ist aber im
übrigen in bezug auf ihre sonstigen Wirkungen hinsichtlich der Schuld¬
frage und Strafzumessung als Strafminderungsgrund zu berück¬
sichtigen. (R.M.Q. II. 16. 5. 05.) R.M.Q. 8, 259 und Jahrb. 1907, S. 220.
Eine weitere, die Trunkenheit betreffende Bestimmung findet
sich im § 151 M.Str.G.B.:
Wer im Dienste oder, nachdem er zum
Dienste befehligt worden, sich durch Trunken¬
heit zur Ausführung seiner Dienst Verrichtung
untauglich macht, wird mit mittlerem oder
strengem Arrest oder mit Gefängnis oder
Festungshaft bis zu Einem Jahr bestraft; zu¬
gleich kann auf Dienstentlassung erkannt
werden.
Unter Trunkenheit ist ein durch Aufnahme geistiger Ge¬
tränke (nicht anderer ähnlich wirkender Stoffe) hervorgerufener
Zustand vorübergehender Beeinträchtigung der geistigen Tätig¬
keit zu verstehen. Dieser Zustand muß den Soldaten untauglich
zur Ausführung seiner Dienstverrichtungen machen, d. h. die
Militärperson muß durch die Trunkenheit in einen solchen Zu¬
stand gekommen sein, daß die zuverlässige Ausführung des
Dienstes nicht mehr erwartet werden kann. Ob das Sichbetrinken
(R.M.G. 13, 212) vorsätzlich oder fahrlässig erfolgt ist, ist
gleichgültig.
Durch die Disziplinarbestrafung wegen Trunkenheit werden
nicht auch die in diesem Zustande von dem Bestraften begangenen
strafbaren Handlungen betroffen und erledigt (R.M.G. 13. i. 09;
Jahrb. 1910, S. 153).
Hat der Soldat sich so betrunken, daß für die strafbaren
Handlungen, welche er während dieses Zustandes l)eging, der § 51
Str.G.B. Anwendung finden mußte, so kann eine Verurteilung aus
§ 151 M.Str.G.B. nur eintreten, wenn das Sichbetrinken be¬
reits in die Anklageverfügung aufgenommen war, oder wenn
unter Erfüllung der \’oraussetzungen des § 319 M.Str.G.B. in
der Hauptverhandlung noch nachträglich Anklage erhoben wird.—
Die Zahl der alljährlich im deutschen Heer erfolgenden
Bestrafungen ist nicht groß. Im Jahre 1905 betrug sie z. B. nur
3278. Die höchsten Zahlen weisen neben einigen militärischen
Vergehen die gefährliche Körperverletzung, Beleidigung und die
Militärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichtsordnung.
309
leichte Körperverletzung auf. Erst dann folgen die auf gemeiner
Gesinnung beruhenden Verbrechen. Sie sind erheblich seltener,
manche von ihnen fehlen in der Statistik sogar ganz. —
Die Kriminalität der geistig abnormen Soldaten unter¬
scheidet sich nicht wesentlich von der der anderen. In Betracht
kommen in erster Linie: Fahnenflucht und unerlaubte Entfer¬
nung, Ungehorsam, Achtungsverletzung, Widerstand. Seltener
sind Zerstörung von Diensteigentum, Diebstähle, Unterschlagun¬
gen und ähnliches. —
Um eine gewisse Übersicht über Das zu bieten, was uns in
den letzten Jahren an Begutachtungsmaterial in dieser Richtung
zugeflossen ist, habe ich 47 Fälle heraussuchen lassen, und die¬
selben zusammengestellt.
Zunächst war an diesen Patienten eins auffällig, was auch
schon von andererer Seite hervorgehoben worden ist, nämlich,
daß sich unter ihnen ungewöhnlich viel im Zivilleben
Vorbestrafte befanden. Von den 47 waren 26 vorbestraft,
und zwar zum Teil ganz erheblich. Vier von ihnen hatten Ar¬
beitshaus gehabt, mehrere waren wiederholt teils wegen Roheits¬
verbrechen, teils wegen mehrfacher Diebstähle und Betrügereien
bestraft.
Die Straftaten, welche sie während der Dienstzeit begangen
hatten, ergeben sich aus nachstehender Tabelle:
Eigentumsdelikte ... .4 Trunkenheit im Dienst . . . 1
Fahnenflucht und unerlaubte Tätlicher Angriff.2
Entfernung.17 Ungehorsam.7
Widerstand.5 Achtungsverletzung .... 4
Schlägerei.2 Zerstörung v. Diensteigentum 1
Aufruhr.3 Straßenraub.1
Erläuternd hinzuzufügen ist derselben, daß vielfach mit der
Fahnenflucht Preisgabe von Dienstgegenständen, mit dem Unge¬
horsam Achtungsv'erletzung oder auch Widerstand und Selbst¬
befreiung verbunden waren, was sich in der Tabelle nicht zum
Ausdruck bringen ließ. Auch hier sieht man übrigens wieder, daß
die gemein-strafrechtlichen \’erbrechen nur selten Vorkommen.
Was die Krankheitszustände anlangt, welche bei
unseren Patienten festgestellt wurden, so fanden sich unter den
47 Fällen 2, die als „nicht geisteskrank“ bezeichnet wurden. .Aus¬
gesprochene Haftpsychosen hatten 6 gehabt, an Epilepsie litten 14,
an Hysterie 6. Von beiden Krankheiten waren die schwereren
Symptome in der Mehrzahl der Fälle erst in der Haft aufgetreten,
Militärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichtsordnung. 311
Daß bei einem der uns zugeführten Kranken die Psychose
später erkannt worden wäre, als es für den Patienten selbst gut
war, haben wir nicht feststellen können. Im Gegenteil konnten
wir überall das Bemühen konstatieren, das sonderbare Benehmen
des Kranken aufzuklären, und nach Feststellung der patholo¬
gischen Motive für seine geeignete Unterbringung zu sorgen. —
Das Vorherrschen der Grenzzustände unter den
zur Begutachtung eingewiesenen Kranken macht zunächst die
Art der häufiger vorkommenden Delikte erklärlich.
Ein Teil der Kranken (die Schwachsinnigen, Hysterischen
und Degenerierten) vermag sich in die strenge Disziplin des Sol¬
datenlebens nicht hineinzupassen. Bei ihm löst die Einschränkung
der persönlichen Freiheit ähnliche Unlustgefühle aus, wie sie
bei Jugendlichen, die sich in ein Dienstverhältnis nicht hinein¬
finden können (s. S. 33), Vorkommen. Bei beiden Gruppen
macht sich der Affekt durch planloses Fortlaufen oder durch
Tätlichkeiten gegen Vorgesetzte Luft.
Bei den epileptoid Veranlagten, bei denen sich oft Neigung
zur Renitenz mit krankhafter Affekterregbarkeit verbindet,
kommt es vorwiegend zu Widersetzlichkeiten und Fahnenflucht.
Stehen sie unter dem Einfluß von Alkohol, so werden u. U. auch
schwerere Verbrechen begangen.
Daß es sich bei den Meisten um erhebliche Grade geistiger
Minderwertigkeit handelte, geht am besten daraus hervor, daß bei
einigen Kranken bereits vor der Verhandlung die Frage der Zu¬
rechnungsfähigkeit aufgeworfen worden war. Die Beobachtung
im Lazarett oder in einer Klinik hatte aber nicht die erforder¬
lichen Anhaltepunkte für das Vorliegen des § 51 ergeben. Erst
auf die Strafhaft reagierten sie dann mit einer Haftpsychose.
Dieser Umstand wird, wenn es sich um geistig minder¬
wertige Militärgefangene handelt, und solche scheinen keine
Seltenheit zu sein, die militärischen Vorgesetzten bei der Ver¬
hängung und Auswahl von Disziplinarstrafen vorsichtig machen.—
Was den A'I ilitärstrafprozeß anlangt, so sind fol¬
gende Bestimmungen der M.Str.G.O. von Wichtigkeit:
Der Sachverständige wird wie beim Zivilgericht vereidigt.
Der nach § 197 M.Str.G.U. geleistete Zeugeneid deckt den Sach¬
verständigeneid (R..M.G. I. 4. 08; R.M.G. 12, 164; Jahrb. 1909,
S. 229).
312 Militärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichtsordnung.
§ 217. Zur \'orbereitung eines Gutachtens
über den Geisteszustand eines Beschuldigten,
gegen welchen die Anklage erhoben ist, kann
der Gerichtsherr auf Antrag eines Sachv'er-
ständigen nach Anhörung des Verteidigers an¬
ordnen, daß der Angeklagte in eine öffentliche
Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet
werde.
Hat der Angeklagte keinen \'erteidiger, so
ist ihm ein solcher zu bestellen.
Die im Absatz i bezeichnete Anordnung ist
dem Angeklagten und dem Verteidiger bekannt
zu machen. Gegen die Anordnung findet binnen
der Frist von einer Wo che die Rechtsbeschwerde
an den höheren Gerichts herrn statt. Dieselbe
hat aufschiebende Wirkung.
Die Verwahrung in der Anstalt darf die
Dauer von sechs Wochen nicht übersteigen’).
Die Beobachtung ist im Gegensatz zu § 81 Str.P.O. nur
nach erhobener Anklage zulässig und nicht vom Gericht, son¬
dern vom Gerichtsherrn anzuordnen.
Gegenstand des Gutachtens kann sowohl der Geisteszustand
zur Zeit der Tat, wie zur Zeit der gerichtlichen Verhandlung
sein (R.G. 20, 378).
Es muß ein Antrag des Sachverständigen vorliegen, der
Verteidiger muß außerdem gehört sein. In Betracht kommt nur
eine öffentliche Irrenanstalt, die vom Gerichtsherrn zu be¬
zeichnen ist. Die Beobachtung im Lazarett gilt nicht als Verbrin¬
gung in die Irrenanstalt (Prüfungsergebnisse des R.W.G. 6, 29).
Wichtig sind zu dieser Bestimmung noch die beiden folgen¬
den Entscheidungen:
Eine Anordnung im Sinne des § 217 M.Str.Q.O. ist im Wieder¬
aufnahmeverfahren unzulässig, selbst wenn der Verurteilte der An¬
ordnung zustimmt. Will daher der Antragsteller im Wiederaufnahme¬
verfahren den Beweis erbringen, daß der Angeklagte bei Begehung
der Tat unzurechnungsfähig war, so ist es seine Sache, eine etwa nach
Ansicht der Sachverständigen erforderliche Beobachtung des An¬
geklagten auf den Geisteszustand in einer öffentlichen Irrenanstalt zu
') Wenn das erkennende Gericht die Unterbringung beschließt,
so gilt nach verschiedenen Autoren die sechswöchige Zeitgrenze nicht.
(Vergl. Komm.-Ber. S. 98 zu § 286 d. Entw.)
Militärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichtsordnung.
313
ermöglichen. (R.M.Q. II. 24. 3. 06.) R.M.Q. 10, 43 u. Jahrb. 1908,
Bd. 11, S. 298.
Die Bestimmungen des § 217 M.Str.Q.O. haben auch auf die
Hauptverhandlung vor den erkennenden Gerichten Anwendung zu fin¬
den. Das Gericht ist hierbei an die in § 217 aufgestellten Voraus¬
setzungen, wie an die dort gesteckten Grenzen gebunden. Ein even¬
tueller, die Beobachtung des Angeklagten in einer Irrenanstalt an¬
ordnender Gerichtsbeschluß ist vom Gerichtsherrn zur Ausführung zu
bringen. Der Verteidiger aber kann, da die Voraussetzungen des § 217
vorliegen müssen, einen dahingehenden Antrag unabhängig von einem
Antrag oder der Zustimmung der Sachverständigen, nicht stellen. Es
braucht daher ein ohne diese Voraussetzung gestellter Antrag des
Verteidigers weder durch Beschluß, noch in den Urteilsgründen be-
schieden zu werden, da er kein eigentlicher Beweisantrag im Sinne
von § 298 Abs. 2 M.Str.G.O. ist. (R.M.G. II. 19. 9. 08.)
R.M.G. 13, 75 u. Jahrb. 1910, S. 236.
§ 218. Wird ein Gutachten als ungenügend
befunden, so kann eine neue Begutachtung
durch dieselben oder durch andere Sachver¬
ständige angeordnet werden.
Auch kann die Begutachtung durch einen
anderen Sachverständigen angeordnet werden,
wenn ein Sachverständiger nach Erstattung
des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt ist.
In wichtigeren Fällen kann das Gutachten
einer Fachbehörde eingeholt werden.
Ungenügend können Gutachten auch wegen Widerspruchs
untereinander sein. Die Entscheidung über die Einholung wei¬
terer Gutachten hat der Untersuchungsführer oder Gerichtsherr,
in der Hauptverhandlung das Gericht.
Als Fachbehörde gilt der Kreisarzt, das Sanitätsamt (d. h.
der Korpsgeneralarzt), sowie laut A.K.Ü. vom 26. 3. 01 der
wissenschaftliche Senat der Kaiser-Wilhelms-Akademie.
Die Beobachtung in einer öffentlichen Irrenanstalt darf
durch nochmalige Begutachtung nicht über sechs Wochen hinaus
verlängert werden.
§ 289. Die Aufrechterhaltung der Ordnung
in der Sitzung liegt dem Vorsitzenden ob.
Die Sachleitung aber steht lediglich dem Verhandlungs¬
führer zu; der Vorsitzende darf den Angeklagten nur mit Zu¬
stimmung des \’erhandlungsführers fragen (R.M.G. i, 22).
314 Militärstraigesetzbuch und Militärstraigerichtsordnung.
§ 290, Abs. I. Angeklagte, Zeugen, Sachver¬
ständige oder bei der Verhandlung nicht be¬
teiligte Personen, welche den zur Aufrecht¬
erhaltung der Ordnung erlassenen Befehlen
nicht gehorchen, können auf Beschluß des Ge¬
richts von der Gerichtsstelle entfernt werden.
Zivilpersonen können vom Gericht zu einer Ordnungsstrafe
bis zu 100 Mark oder Haft bis zu drei Tagen verurteilt werden,
die gleich vollstreckt werden kann. Die erforderlichen Anord¬
nungen trifft der Vorsitzende. Gegen die Entscheidung des Ge¬
richts findet binnen einer Woche Rechtsbeschwerde an das Ober¬
kriegsgericht statt (§ 290 Abs. 2—5).
Die Sachleitung beim Kriegsgericht erfolgt durch den
Verhandlungsführer (Kriegsgerichtsrat). Uber Beanstandungen
der auf die Sachleitung bezüglichen Anordnungen entscheidet das
Gericht. Dem Verhandlungsführer stehen dieselben Befugnisse
zu, wie dem Vorsitzenden der Strafkammern. Insbesondere kann
er ungeeignete oder nicht zur Sache gehörige Fragen, welche an
Sachverständige gestellt wurden, zurückweisen (§ 293).
§ 298. Nach der Vernehmung des Angeklag¬
ten erfolgt die Beweisaufnahme.
Es bedarf eines Gerichtsbeschlusses, wenn
ein Beweisantrag abgelehnt werden soll, oder
wenn die Vornahme einer B e w e i s h a n d 1 u n g eine
.•Aussetzung der Hauptverhandlung erforder¬
lich macht.
Das Gericht kann auf Antrag und von Amts
wegen die Ladung von Zeugen*) und Sachver¬
ständigen“), sowie die Herbeischaffung an¬
derer Beweismittel an ordnen.
Die Bestimmungen der §§ 270, 271 finden ent¬
sprechende Anwendung.
Die Bedeutung dieser Vorschrift liegt darin, daß das Ge¬
richt zu jedem Beweisantrag Stellung nehmen und seine Ableh-
') Zeugen dürfen nicht beeidigt werden, wenn sie wegen mangelnder
Verstandesreife oder Verstandesschwäche von dem Wesen und der Be¬
deutung des Eides keine genügende Vorstellung haben (§ 199 Ziff. 1).
') Für den Sachverständigen gelten im übrigen dieselben Regeln
wie im bürgerlichen Strafprozeß, insbesondere hat der sachkundige Zeuge
auch das Zeugnisverweigerungsrecht (§ 188 Ziff. 3).
Militärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichtsordnung. 315
nung unter Eingehung auf die Sache (R.M.G. 10, 118) begrün¬
den muß, so daß der Antragsteller (P.E. 2, 416) und die Revi¬
sionsinstanz (R.M.G. 6, 281; II, 66; s. a. Jahrb. 1908, I, S. 294)
in der Lage sind, den Gedankengang des Gerichts zu erkennen.
Anträgen auf Sachverständigenvernehmung braucht nicht statt¬
gegeben zu werden. Ihre Ablehnung ist nur unter besonderen
Umständen Revisionsgrund. So kann z. B. der Beweisantrag, der
Angeklagte sei sinnlos betrunken gewesen, nicht mit der Be¬
gründung abgelehnt werden, daß hochgradige Trunkenheit als
wahr unterstellt werde. (R.M.G. 16. 3. 07; Jahrb. 1907, S. 294.)
§ 436. Die Wiederaufnahme eines durch
rechtskräftiges Urteil geschlossenen Ver¬
fahrens zu Gunsten des Verurteilten findet
statt:
4. wenn ein zivilgerichtliches Urteil, auf wel¬
ches das Strafurteil begründet ist, durch ein
anderes rechtskräftig gewordenes Urteil
aufgehoben ist;
5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bei¬
gebracht sind, aus denen allein oder in \'^er-
bindung mit den früher erhobenen Beweisen
sich die Unschuld des Verurteilten, sei es
bezüglich der ihm zur Last gelegten Tat
überhaupt, sei es bezüglich eines die An¬
wendung eines härteren Strafgesetzes be¬
gründenden Umstandes, ergibt oder doch
dargetan wird, daß ein begründeter Verdacht
gegen den Angeklagten nicht mehr vorliegt.
Über die Zulassung des Antrags auf Wiederaufnahme ent¬
scheidet das Reichsmilitärgericht (§ 443). Der Antrag muß den
ge.«etzlichen Grund der Wiederaufnahme und die Beweismittel
enthalten (§ 442). Antragsberechtigt ist in erster Linie der
Verurteilte selbst, im Fall seines Todes der Ehegatte, die Ver¬
wandten auf- und absteigender Linie, sowie die Geschwister
(§§ 442, 437 Abs. 2). Außerdem kann der Gerichtsherr auch
zugunsten des Angeklagten und der Verteidiger des letzteren die
Wiederaufnahme beantragen (§§ 441, 367, 369 Abs. 5).
Im Gegensatz zur Strafprozeßordnung ist die Wieder¬
aufnahme nach § 436 Ziff. 5 nur möglich, wenn die Unschuld,
nicht etwa nur die Freisprechung sich ergibt.
3 i6 Militärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichtsordnung.
In psychiatrischen Fällen darf ein Antrag nicht bloß auf die
tlieoretische Möglichkeit, daß der Angeklagte die ihm zur Last
gelegten Straftaten in einem dem § 51 Str.G.B. entsprechenden
Zustande begangen habe, gestützt werden (R.M.G. 24. ii. 06;
Jahrb. 1908, Rd. 2, S. 306 u. R.M.G. 10, 275): es ist vielmehr
seine Pflicht, seinen Antrag durch ärztliche Bescheinigungen, Be¬
hauptung von Tatsachen und Benennung von Zeugen, oder durch
andere geeignete Beweismittel zu stützen (R.M.G. 3. 2. 06; Jahrb.
1908, Bd. 2, S. 315 u. R.M.G. 9, 267). Die Beweise müssen sich
auf die Zeit der Tat beziehen und Unzurechnungsfähigkeit zu
jener Zeit dartun (R.M.G. 28. 5. 06; Jahrb. 1908, Bd. 2, S. 315
und R.M.G. 10, 106).
Hat der Gerichtsherr zugunsten des geisteskranken Ver¬
urteilten die Wiederaufnahme beantragt, so kann er allein einen
Verteidiger beantragen (R.M.G. 5. 5. 09; Jahrb. 1909, S. 210).
§ 445. Wird der Antrag an sich für zulässig
befunden, so veranlaßt das Reichsmilitär¬
gericht die Aufnahme der an getretenen Be¬
weise, soweit diese erforderlich ist, mittelst
Ersuchens an einen Gerichtsherrn oder an einen
Amtsrichter. '
Die Vernehmung der Zeugen und Sachver¬
ständigen erfolgt eidlich, soweit die Beeidigung
zulässig ist.
Hinsichtlich der Berechtigung der Beteilig¬
ten zur Anwesenheit bei der Beweisaufnahme
finden die Vorschriften der §§ 165 bis 167 ent¬
sprechende Anwendung.
Nach Schluß der Beweisaufnahme sind die
M i 1 i t ä r a n w a 11 s c h a f t und der -Angeklagte unter
Bestimmung einer Frist zur ferneren Erklä¬
rung au fzu fordern.
Da im Wiederaufnahmeverfahren die Unterbringung des
Verurteilten in eine öffentliche Irrenanstalt zum Zwecke der
Beobachtung durch Gerichtsbeschluß nicht angeordnet werden
kann, so ist nach folgenden Entscheidungen zu verfahren:
Ist in einem vom Qerichtsherrn zugunsten eines wegen Dienst¬
untauglichkeit in die Heimat entlassenen Verurteilten eingeleiteten
und auf § 51 Str.Q.B. gestützten Wiederaufnahmeverfahrens die Er¬
stattung eines psj’chiatrischen Gutachtens angeordnet, welches die
Militärstrafgesetzbuch und Militärstrafgerichtsordnung. 317
vorhergehende Beobachtung des Angeklagten in einer Irrenanstalt er¬
forderlich macht, so hängt der Erfolg des Wiederaufnahmeverfahrens
davon ab, daß der Angeklagte freiwillig diese Beobachtung ermöglicht.
(R.M.Q. n. 7. 12. 07.) R.M.Q. 12, 7 u. Jahrb. f. Strafr. 1909, S. 239.
Macht der Verurteilte durch eigenes Verhalten, z. B. dadurch,
daß er sich der angeordneten Beobachtung seines Geisteszustandes
entzieht, die Erbringung des vom Qerichtsherrn zu seinen gunsten an¬
getretenen Beweises seiner Unzurechnungsfähigkeit bei Begehung der
Straftaten unmöglich, so ist der Wiederaufnahmeantrag als unbegründet
zu verwerfen. (R.M.G. II. 7. 12. 07: R.M.G. 12. 7 u. Jahrb. 1909,
S. 240.)
§ 446. Das Reichsmilitärgericht entscheidet
über den zugelassenen Antrag auf Wiederauf¬
nahme des erfahre ns nach Maßgabe des § 443
A b s. 2.
Der Antrag wird als unbegründet verworfen,
wenn die darin aufgestellten Beliauptungen
keine genügende Bestätigung gefunden haben,
oder wenn in den Fällen des § 436') N r. i und 2 o d e r
des § 438 Nr. i und 2*) nach Lage der Sache die An¬
nahme ausgeschlossen ist, daß die in diesen Be¬
stimmungen bezeichnete Handlung auf die Ent¬
scheidung Einfluß gehabt hat.
Anderenfalls verordnet das Reichsmilitär¬
gericht die Wiederaufnahme des Verfahrens,
sowie die Erneuerung der Haupt Verhandlung,
unter Bezeichnung des Gerichts, bei welchem
die letztere stattfinden soll.
§ 447. Ist der Verurteilte bereits verstorben
oder in eine unheilbare Geisteskrankheit ver¬
fallen, so findet eine Erneuerung der Haupt¬
verhandlung nicht statt. Das Reichsmilitär¬
gericht hat vielmehr auf Grund der neuen Er¬
mittelungen ohne mündliche Verhandlung auf
Freisprechung zu erkennen oder den Antrag
auf Wiederaufnahme abzulehnen.
Mit der Freisprechung ist die Aufhebung
des früheren Urteils zu verbinden.
*) Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten s. S. 315.
’) Betrifft Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten.
3i 8 Militärstrafgesetzbuch und Miltärstrafgerichtsordnung.
Der § 447 findet nur dann Anwendung, w'enn der Verurteilte
zur Zeit der Entscheidung über den Antrag für unheil¬
bar geisteskrank erachtet wird (R.M.G. 7, 227).
War das Verfahren vorher gemäß § 446, 3 einem anderen
Gericht zur Erneuerung der Hauptverhandlung überwiesen, so
darf dieses die Sache nicht deshalb dem R.M.G. wieder vorlegen,
weil der Täter in unheilbare Geisteskrankheit verfallen ist, son¬
dern muß endgültig entscheiden. —
Die Strafvollstreckung ist gemäß § 455 Abs. i auf¬
zuschieben, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt. Ist
er nach Beginn der Strafvollstreckung, ohne daß eine Unter¬
brechung derselben angeordnet wird, wegen Krankheit in eine
von der Strafanstalt getrennte Krankenanstalt gebracht w'orden,
so ist die Dauer des Aufenthalts in der Krankenanstalt in die
Strafzeit einzurechnen, sofern der Verurteilte nicht mit der Ab¬
sicht, die Strafvollstreckung zu unterbrechen, die Krankheit
herbeigeführt oder verlängert hat (§ 460).
Nach § 456 kann dem Verurteilten, mit Ausnahme der
aktiven Militärpersonen, Strafaufschub bis zur Höhe von
vier Monaten gewährt werden, wenn durch die sofortige Voll¬
streckung dem Verurteilten oder der Familie desselben erhebliche,
außerhalb des Strafzwecks liegende Nachteile erwachsen. —
Der Sachverständige wird demnach vor dem Militärgericht
sich über folgende Fragen auszusprechen haben:
1. Die Frage der Zurechnungsfähigkeit im Sinne des § 51,
insbesondere auch, ob Trunkenheit (= normaler Rausch) oder
pathologischer Rausch (= Unzurechnungsfähigkeit) Vorge¬
legen hat.
2. Seltener wird die Frage zu erörtern sein, ob der An¬
geklagte die zur Erkenntnis der Strafbarkeit seiner Handlung
erforderliche Einsicht besessen habe.
3. Er wird im Wiederaufnahmverfahren u. U. darüber zu
hören sein, ob der Verurteilte in unheilbare Geisteskrankheit ver¬
fallen ist.
4. Gelegentlich kommt auch die Frage der Verhandlungs¬
fähigkeit in Betracht.
A. Preußisches Recht,
319
Das Beainten-Diszipliiia rreclit ^).
A. Preußisches Recht.
1 . Nichtrichterliche Beamte.
Nach § I des Gesetzes betreffend die Dienst¬
vergehen der nichtrichterlichen Beamten usw.
(vom 21. Juli 1852) findet dieses Gesetz auf alle in mittelbarem
oder unmittelbarem Staatsdienste stehenden Beamten Anwendung,
die nicht unter die Bestimmungen des die Richter betreffenden
Gesetzes vom 7. Mai 1851 fallen.
Staatsbeamte sind Personen, die auf Grund staatlicher Berufung ein
Amt bekleiden, d. h. einen durch das öffentliche Recht begrenzten Kreis
staatlicher Geschäfte unter öffentlicher Autorität besorgen (Rheinbaben).
Den Beamten-Disziplinargesetzen unterstehen in erster Linie und in
allen Stücken die B e r u f s b e a m t e n, d. h. die Beamten, deren Staats¬
dienerverhältnis ihren eigentlichen Lebensinhalt, ihren Lebensberuf bildet,
aber zum Teil auch einzelne Ehrenbeamte der Selbstverwaltung,
z. B. Amtsvorsteher, Gutsvorsteher, unbesoldete Magistratsmitglieder,
Kreisdeputierte, soweit sie eben als mittelbare Staatsbeamte anerkannt
sind. Für den Begriff des Beamten wesentlich sind folgende Merkmale:
1. ein umgrenzter Kreis obrigkeitlicher Aufgaben oder
Obliegenheiten, deren Erfüllung auf Grund abgeleiteter Staats¬
gewalt und für den Staat erfolgt; 2. ein öffentlich-rechtliches
Anstellungsverhältnis, das nach der herrschenden Meinung-)
einen öffentlich-rechtlichen Vertrag zur Grundlage hat (Laband, Stier-
Somlo), kraft dessen der Staat einen Anteil seiner Staatsgewalt auf den
Beamten überträgt, während dieser eine potenzierte Dienst-, Treu- und
Gehorsamspflicht dem Staate gegenüber auf sich nimmt; 3. die frei¬
willige Übernahme dieser besonderen Pflichten seitens des Be¬
amten im Gegensatz zu den vom Staate erzwungenen Verpflichtungen,
z. B. als Schöffe, als Geschworener für ihn tätig zu sein.
L i t e r a t u r : P. v. Rheinbaben, Die preußischen Disziplinar-
gesetze. Berlin 1911. L. v. Rönne, Das Staatsrecht der Preußischen
Monarchie. 5. Aufl., bearb. von Ph. Zorn. 1899/1906. P. Laband, Das
Staatsrecht des Deutschen Reiches. 4. Aufl. 1901. M. v. Brauchitsch,
Die neuen preußischen Verwaltungsgesetze. 17. Aufl., herausgegeben von
Studt und V. Braunbehrens. Berlin 1901. F. Seydel, Gesetz vom 21. Juli
1852 betr. die Dienstvergehen der nichtrichterlichen Beamten. Berlin 1883.
C. Pfafferoth, Preußische Beamten-Gesetzgebung. Berlin 1905. A. Arndt,
Das Reichsbeamtengesetz. Berlin 1908. Fr. Ketzschmar, Das Irren¬
prozeßrecht im preußischen Disziplinarstrafrecht (Archiv für Strafrecht.
Bd. 48, S. 409) 1901. A. Gramer, Gerichtl. Psychiatrie. Jena.
“) Bestritten wird diese Ansicht von Rönne und Zorn, die die An¬
stellung des Beamten nicht als einen Vertrag, sondern als einen einseitigen
Hoheitsakt des Staates ansehen.
320
Das Beamten-Disziplinarrecht.
Es gibt unmittelbare und mittelbare Staatsbeamte. Erstere erhalten
ihr Amt unmittelbar und allein vom Staat, letztere von Gemeinden,
Kollegien und Korporationen, die organisch in die Verfassung des Staates
eingegliedert sind und staatliche Aufgaben erfüllen, denen sie sich an
Stelle des Staates, kraft eines ausdrücklich oder stillschweigend erteilten
Auftrages widmen (R.O. Ziv. 19. 12. 05; 62, 233. O.V.Q. 2. 1. 03. Pr.
Verw.-Bl. 24, 465). Zu den mittelbaren Staatsdienern gehören die Be¬
amten der engeren und weiteren Kommunalverbände, der bezirks- und
kommunalständischen Verbände, der landschaftlichen und ritterschaft-
lichen Kreditinstitute, der Invalidenversicherungsanstalten *), der öffent¬
lichen Feuerversicherungsanstalten, der kaufmännischen Korporationen,
Handelskammern, Handwerkskammern, Landwirtschaftskammern, die Qe-
richtsschreiber der Oewerbegerichte, die Volksschullehrer, die Lehrer an
den Mittelschulen und den nichtstaatlichen höheren Unterrichtsanstalten;
außerdem die Verwalter und Vorsteher der mit Korporationsrechten aus¬
gestatteten milden Stiftungen, soweit sie als dem Organismus des Staates
eingegliedert zu betrachten sind.
Der Begriff Beamter im Sinne des Strafgesetzbuches ist ein weiterer.
Jeder, der öffentlich-rechtliche Funktionen nach Berufung durch die zu¬
ständige Organe ausübt, ist Beamter im strafrechtlichen Sinne. Er hat
nur eine Amtspflicht, keine Dienstpflicht.
§ 2. Ein Beamter, welcher
1. die Pflichten verletzt, die ihm sein Amt
auferlegt, oder
2. sich durch sein Verhalten in oder außer
dem Amte der Achtung, des Ansehens oder des
Vertrauens, die sein Beruf erfordert, unwür¬
dig zeigt, unterliegt den Vorschriften dieses
Gesetzes.
Dieser Paragraph spricht sich über die Dienstvergehen
aus. Danach setzt also das Gesetz für die Einleitung eines Dis¬
ziplinarverfahrens stets ein Verschulden des Beamten vor¬
aus, während später (siehe weiter unten) auch solche Fälle in
das Gesetz einbezogen sind, in denen ein Beamter auch ohne
sein Verschulden aus dem Amte entfernt wird, durch eine
,,\’erfügung im Interesse des Dienstes, die nicht Gegenstand
eines Disziplinarverfahrens ist".
Eine genauere Präzisierung der Dienstvergehen ist wegen
der Verschiedenheit der Einzelfälle nicht möglich. Es werden
zwei Gruppen unterschieden, nämlich i. die Verfehlungen gegen
Nicht der Unfallberufsgenossenschaften. Letztere haben Selbst¬
verwaltung.
A. Preußisches Recht.
321
die Dienstvorschriften und 2. die Verfehlungen, welche der Be¬
amte sich als Privatmann zuschulden kommen läßt.
Auch im Privatleben ist der Beamte durch Standespflichten
gebunden; ferner gibt es eine Reihe von Erlassen und Allerhöch¬
sten Kabinettsordres, welche seine persönliche Bewegungsfrei¬
heit im Privatleben einschränken. Als solche seien z. B.
die A.K.O. vom 12. 5, 1841 betr. das leichtfertige Schulden¬
machen, die A.K.O. vom 24. 12. 1836 betr. die Trunksucht in
und außer Dienst erwähnt.
Dienstliche Verfehlungen werden z. B. in folgenden Be¬
stimmungen erwähnt:
Versetzt sich ein Beamter durch eigenes Verschulden, d. i. ohne eine
krankhafte körperliche oder geistige Veranlagung, in einen solchen Zu¬
stand von chronischem Alkoholismus, daß er unfähig wird, sein Amt
ordnungsmäßig zu führen, so ist er wegen Verletzung der Amtspflicht
disziplinarisch zu bestrafen. Für die Bestrafung ist es gleichgültig, ob er
wegen einzelner Fälle der Dienstvernachlässigung zur Verantwortung ge¬
zogen werden kann, oder ob dies deshalb auszuschließen ist, weil er dabei
durch Alkoholgenuß seiner Zurechnungsfähigkeit beraubt war (O.V.Q.
E. 17. 11. 08, Bd. 53, 436).
Ein trunkfälliger Lokomotivbeamter ist sofort aus dem Be¬
triebsdienste zurückzuziehen (Min. d. öffentl. Arb. 20. ii. 05,
Eis.-Nachr.-Bl. 1905, S. 403).
Von einzelnen Pflichten, die für unsere Zwecke von Be¬
deutung sind, seien folgende genannt:
Die Pflicht zur Amtsführung, zur Amtsverschwiegenheit
(A.K.O. 21. II. 35), zur Wahrhaftigkeit, zu sittlichem Lebens¬
wandel), zu Gehorsam und Unterordnung, die Residenzpflicht,
*) Der Kaiserl. Disziplinarhof in Leipzig hat hierüber folgende Grund¬
sätze aufgestellt: Der einfache außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen
einem unverheirateten Manne und einer volljährigen selbständigen
Frauensperson ist Privatsache und enthält keine Verletzung der Dienst¬
pflicht. Nur soweit die Sache in die Öffentlichkeit tritt und Anstoß erregt
wird, geht sie über den Rahmen einer Privatangelegenheit hinaus. Sie
wird ein Dienstvergehen, wenn die öffentliche Sittlichkeit darunter leidet,
oder der betr. Beamte dadurch selbst in der allgemeinen Achtung sinkt
und infolgedessen das Ansehen, dessen er im Interesse seines Amtes be¬
darf, gefährdet wird (Kaiserl. Disz.-H. 1. 6. 08; F. 2. 08).
Ein verheirateter Beamter, der durch dauernde Unterhaltung eines
Liebesverhältnisses sich fortgesetzt des Ehebruchs schuldig gemacht hat,
auch dadurch sich den allgemeinen Unwillen zuzieht, kann nicht im Amte
bleiben (O.V.G. 22. 10. 07. D. S. 12. 06). Für Lehrer besonders aus-
Hübner, Foreniiische Psychiatrie. 21
Das Beamten-Disziplinarrecht.
3^2
endlich die Pflichten bei der Ausübung staatsbürgerlicher
Rechte *).
Die in den einstweiligen Ruhestand versetzten Beamten
bleiben gemäß § 97 des Gesetzes dem Disziplinarrecht unterstellt,
die in den dauernden Ruhestand versetzten nicht.
Eine Verjährung gibt es im preußischen Disziplinar¬
recht nicht").
Von den bei geistig abnormen Beamten am häufig¬
sten vorkommenden außerdienstlichen und dienstlichen Ver¬
fehlungen sind zu nennen: Schuldenmachen, geschlechtliche Aus¬
schweifungen, unmotiviertes Fernbleiben vom Dienst, Insubordi¬
nationen, Beleidigungen und Bedrohungen von Vorgesetzten.
Selten sind tätliche Angriffe auf Vorgesetzte.
Die dienstlichen Verfehlungen wurden am häufigsten von
Alkoholisten oder Degenerierten begangen, die sich der strengen
Disziplin, welche vom Beamten verlangt werden muß, nicht unter¬
werfen konnten. Die Leistungen dieser Kranken waren minder¬
wertig, ihr Selbstbewußtsein trotzdem sehr groß, ihre leichte Er¬
regbarkeit bewirkte außerdem, daß sie auch da widersprachen,
wo sie mit Recht belehrt wurden. Wenn ihnen dann aus ihrem
Verhalten kleine Strafen erwuchsen, so beschwerten sie sich, es
kam zu Beleidigungen, Denunziationen usw.
Da es sich in allen diesen Fällen fast ausschließlich um
Grenzzustände handelt, kann man im allgemeinen annehmen, daß
zwar Minderwertigkeit, aber nicht völlige Unzurechnungsfähig¬
gesprochen (Entsch. d. Staats-Min. v. 27. 2. 07. H. 367). Bei der Be¬
urteilung des Einzelfalles sind Milderungsgründe nicht ausgeschlossen,
z. B. geschlechtliche Bescholtenheit und Verführungsversuche von seiten
des weiblichen Teils, aufrichtige Reue des Angeschuldigten (Entsch. d.
Staats-Min. v. 23. 4 . 09. D. 182).
^) Der Beitritt zur sozialdemokratischen Partei (O.V.Q. 4. 6. 07; D.
S. 33. 06) ebenso zur national-polnischen Partei (Qr. Disz. S. 30. 11. 06,
Y. 18. 06) stellt eine Pflichtverletzung dar.
Auch bezüglich des Rechtes der freien Meinungsäußerung muß sich
der Beamte Reserve auferlegen. Wenn er z. B. objektiv wahre Dinge
in einer Form veröffentlicht, die geeignet ist, das Ansehen der Ver¬
waltung zu untergraben, handelt er disziplinwidrig (R. Disziplinarhof.
4. 7. 10. Z.P.V.B. Bd. 10, S. 446. Das Recht 1910, Nr. 3680).
Auch nicht im Reichsdisziplinarrecht. „Denn das Interesse an der
Reinhaltung des Beamtenstandes erfordert es, daß die Möglichkeit der
Ausschließung unwürdiger Elemente jederzeit gegeben sei.'* (Rheinbaben,
Kommentar S. 99 und 255.)
A. Preußisches Recht.
323
keit vorliegt. Man wird daher in der Regel den Geisteszustand
des Beamten nicht als Schuldausschließungsgrund, wohl aber als
Milderungsgrund ansehen dürfen.
Nur wenn eine Manie, wie wir das einmal erlebt haben, oder
eine ausgesprochene paranoide Psychose Ursache der Insubordi¬
nation ist, kann von einer Schuld des Kranken keine Rede sein.—
Hinzuzufügen ist noch, daß man bei älteren Beamten gar
nicht so selten ein dem Außenstehenden schwer verständliches
und zweifellos ungerechtfertigtes Mißtrauen gegenüber der Be¬
hörde und den eigenen Mitarbeitern findet, das bei der hypo¬
chondrischen Veranlagung, die meist damit verbunden ist, zu
Reibereien im Dienst und querulatorischen Eingaben Anlaß
gibt. —
Hie und da kommen dienstliche Verfehlungen auch im Be¬
ginn der Paralyse vor. Es gibt Fälle von Gehirnerweichung, die
so schleichend einsetzen, daß erst durch einen Vergleich des
früheren Verhaltens mit dem jetzigen den Angehörigen und Vor¬
gesetzten die psychische Veränderung des Patienten zum Bewußt¬
sein kommt. Disziplinwidrigkeiten werden zunächst als schuld¬
hafte Verfehlungen bestraft, wahrend sie in Wirklichkeit die
Folge einer unheilbaren organischen Gehirnerkrankung sind.
Die frühzeitige Erkennung solcher Fälle ist sehr schwer,
mitunter auch dem Arzt nicht möglich. Die Behörde kann zu
ihrer Aufklärung insofern beitragen, als sie jeden Beamten*),
der sich nach jahrelanger einwandsfreier Dienstzeit plötzlich
eine Reihe von dienstlichen Verstößen zuschulden kommen läßt,
zu einem sachverständigen Arzte zur Begutachtung
schicken sollte.
Wenn ich dabei das Wort „sachverständigen“ besonders unter¬
streiche, so geschieht es deshalb, weil man im allgemeinen vom
praktischen Arzt doch wohl nicht verlangen kann, daß er in allen
diesen Dingen vollkommen versiert ist. Das Bestreben unserer
Verwaltungen geht zwar in den letzten Jahren mehr und mehr
dahin, möglichst viel psychiatrisch ausgebildete Ärzte für Ver¬
trauensstellungen zu gewinnen. Ich glaube aber, daß damit das
Ideal doch noch nicht erreicht ist. Ich würde es für zweckmäßig
halten, wenn für jeden größeren Bezirk ein Spezialist gewonnen
*) Wenn die Beschäftigung eines solchen Beamten anderen Men¬
schen und sich selbst Gefahr bringen kann, so ist seine Entfernung
aus dem Dienst unbedingt erforderlich.
21
324 Das Beainten-Disziplinarrecht.
würde, der die psychiatrischen und neurologischen Fälle, die von
den anderen Vertrauensärzten voruntersucht sein müßten, nach¬
untersucht.
Daß das kein unbegründeter Wunsch ist, vermag ich leicht
zu beweisen. Wenn ich das Material, welches uns von den größeren
Verwaltungen in den letzten drei Jahren zugeflossen ist, über¬
schaue, so handelt es sich im ganzen um ungefähr 150 Fälle, von
denen der größte Teil Unfallkranke betraf. Es sind aber doch
ca. 30 darunter, die lediglich wegen ihrer Dienstfähigkeit begut¬
achtet wurden.
Unter den 150 Menschen befanden sich etwa 8 bei denen
die Behörde ihre Vertrauensärzte in Anspruch genommen hatte,
aber wegen der Besonderheiten des Falles nicht ganz richtig
beraten war.
Daß es infolgedessen zu großen Schwierigkeiten kommen
kann, mögen drei zufällig herausgesuchte Fälle beweisen.
1. In dem einen, es handelte sich um einen Weichensteller,
hatte die Behörde den Bahnarzt gefragt. Dieser bezeichnete
das Leiden als Unfallneurose und bezog es auf einen 25 Jahre
vorher stattgehabten Unfall (in der Zwischenzeit war der Patient
ganz gesund gewesen). Die Begutachtung war dadurch veranlaßt,
daß der Mann mehrere Male eine Schranke, die er zu be¬
dienen hatte, und die an einer Hauptstraße mit großem Wagen¬
verkehr lag, nicht geschlossen hatte. Da er in seinen Leistungen
überhaupt nachließ, kam er zu uns, und es wurde festgestellt, daß
eine Paralyse vorlag, die mindestens schon i‘/j bis 2 Jahre
bestand.
2. Konnten wir auf diese Weise ermitteln, daß ein in fester
Stellung befindlicher Arzt mit einer ausgesprochenen progressiven
Paralyse ein Jahr lang eine innere Abteilung geleitet hatte.
3. Bei einem querulatorisch veranlagten Hypochonder, mit
dem schließlich nicht mehr auszukommen war, sollte die Zwangs¬
pensionierung durchgeführt werden. Pat. machte auf alle Weise
Schwierigkeiten, man schickte ihn zum Vertrauensarzt. Dieser
stellte die Diagnose „progressive Paralyse“ und empfahl, um allen
Schwierigkeiten zu begegnen, den Mann entmündigen zu lassen.
Die Behörde reichte das ausgestellte Attest der Staatsanwaltschaft
ein. Diese betrieb das Entmündigungsverfahren. Beim Ent-
') Wenn die Beobachtung in einem zweckentsprechend eingerich¬
teten Krankenhause erfoigen könnte, wäre das noch besser.
A. Preußisches Recht.
325
mündigungstermin wunderten sich sämtliche Anwesenden darüber,
daß der zu Entmündigende geisteskrank sein sollte. Inzwischen
sind vier Jahre vergangen. Er hat auch heute noch nicht ein
einziges Zeichen der progressiven Paralyse, ist sogar gesünder
als früher. Die Diagnose lautet „querulatorische und hysterische
Züge bei einem im übrigen hypochondrisch veranlagten Men¬
schen“. Die Entmündigung wurde glatt abgelehnt. Der Patient
klagt seit jener Zeit gegen seine Behörde und wird möglicher¬
weise auch Recht bekommen. Er verlangt 26000 Mk. Schaden¬
ersatz.
Den Behörden kann man selbstverständlich aus solchen Fällen
keinen Vorwurf machen, denn sie haben alles getan, was sie tun
konnten. Derartige Vorkommnisse lehren aber doch, daß
schwierige Begutachtungen nur von Spezialisten ausgeführt wer¬
den sollten.
Daß auch das Umgekehrte vorkommt und mehr gefunden
wird, als da ist, bewies uns ein Fall, in dem ein Beamter auf
Grund eines vertrauensärztlichen Attestes nach einem leichten
Unfall wegen traumatischer Tabes gegen seinen Willen pensioniert
wurde. Er gründete unmittelbar nach seiner Pensonierung eine
gutgehende Sauerkrautfabrik, die ihm neben seiner Pension einen
durchschnittlichen Reingewinn von zehntausend Mark einbrachte.
Er hat inzwischen wieder einen Unfall erlitten und klagt zur
Zeit gegen eine Privatunfallversicherung auf fünfzigtausend Mark
Entschädigung. Eine Tabes hat er nicht.
§ 8. Ein Beamter, welcher sich ohne den
vorschriftsmäßigen Urlaub von seinem Amte
entfernt hält, oder den erteilten Urlaub über¬
schreitet, ist, wenn ihm nicht besondere Ent¬
schuldigungsgründe zur Seite stehen, für die
Zeit der unerlaubten Entfernung seines Dienst¬
einkommens verlustig.
Urlaub ist nicht erforderlich: a) wenn der Beamte staats¬
bürgerliche Pflichten zu erfüllen hat (z. B. militärische Dienst¬
leistungen, Tätigkeit als Sachverständiger vor Gericht); b) in
Erkrankungsfällen. (Der Behörde steht aber das Recht zu, sich
durch einen beamteten Arzt von dem Zustande eines angeblich
kranken Beamten zu überzeugen. Weigert sich der Beamte, sich
vom Kreisarzt untersuchen zu lassen, so begeht er eine schwere
326
Das Beamten-Disziplinarrecht.
Verletzung seiner Dienstpflichten [O.V.G. 13. i. 05, D. S. 8, 04]);
c) zur Ausübung eines Reichstags- oder Landtagsmandats.
Wie schon eben ausgeführt wurde, kann der Beamte in Krank¬
heitsfällen dem Dienst ohne Urlaub fern bleiben. Hierzu reicht
jedoch nicht jede Krankheit aus, sondern nur eine solche, die die
Fähigkeit zur Erfüllung der Amtspflichten entweder geradezu
aufhebt, oder nur unter gleichzeitig vorhandener dringender Ge¬
fahr einer Verschlimmerung des Leidens fortbestehen läßt. Wenn
es sich um ausgesprochene Geisteskrankheiten handelt, wird die
Beurteilung des Falles auch dem Personaldezementen nicht
schwer fallen. Von den Nervösen machen in erster Linie die
Neurastheniker, Hysterischen und Hypochonder, sowie die mit
Unfallneurosen behafteten Kranken Schwierigkeiten. Atteste,
welche bei solchen Beamten Dienstunfähigkeit bescheinigen, soll¬
ten grundsätzlich ausführlich gehalten sein, insbesondere auch
die festgestellten Symptome aufzählen.
Zu beachten bleibt für den Juristen, daß selbst dann, wenn
objektive Krankheitszeichen ganz fehlen, und der Patient nur
subjektive Beschwerden vorbringt, wirkliche Krankheit und nicht
etwa Simulation bestehen kann. Für den Arzt wird in solchen
Fällen die Frage von Bedeutung sein, ob der Patient nur wenige
Einzelsymptome oder ein ganzes Krankheitsbild klagt, denn
es ist im allgemeinen nicht anzunehmen, daß ein Nichtmediziner
die Symptomatologie der erwähnten Krankheiten so genau kennt,
daß er darauf einen Simulationsversuch zu stützen vermöchte.
Es kommt auch auf die Art an, wie geklagt wird.
Gerade bei solchen Beamten, die im Dienste Schwierigkeiten
machen, kommt es bisweilen vor, daß sie nach einer Vernehmung
oder einer sonstigen dienstlichen Differenz wegen angeblicher
Nervosität dem Dienst fernbleiben. So sehr dieses Verhalten
den Verdacht der Simulation erweckt, so vorsichtig muß man
in der Beurteilung des Einzelfalles sein. Es gibt tatsächlich
Neurastheniker, die durch eine unangenehme Auseinandersetzung
mit einem Vorgesetzten für einige Tage so mitgenommen sein
können, daß man sie als dienstunfähig betrachten muß. Wenn
allerdings ein Beamter vorher nie die geringsten Zeichen von
Nervosität gelxjten hat, und dann plötzlich behauptet, nach einer
dienstlichen Auseinandersetzung neurasthenisch und dienstunfähig
geworden zu sein, so hat diese Angabe wenig Wahrscheinlichkeit
für sich.
A. Preußisches Recht.
127
Wann ein Beamter wegen der genannten nervösen Erkran¬
kungen vorübergehend dienstunfähig ist, läßt sich nicht leicht
sagen. Das hängt zum Teil auch von der Art seiner Tätigkeit ab.
Kann er sich dieselbe einteilen, so wird er eher als dienstfähig zu
bezeichnen sein, als ein anderer, der mit dem Publikum zu tun hat
oder zu bestimmten Zeiten bestimmte Arbeiten fertig haben muß
(z. B. Schalterbeamte bei der Post und Eisenbahn). Zu berück¬
sichtigen bleibt ferner, daß einzelne Beschäftigungsarten mehr
Aufmerksamkeit erfordern (Kassen- und Rechnungsdienst,
Weichensteller, Lokomotivdienst), als andere. Hinzuzufügen ist
drittens, daß einzelne Berufsarten zur Nervosität zu disponieren
scheinen (z. B. Lehrfach, Telephonbedienung, Telegraphie)
Wird die Dienstunfähigkeit anerkannt, so bleibt zu berück¬
sichtigen, daß bei Nervösen durch eine acht- bis vierzehntägige
Behandlung nicht immer viel erreicht werden kann.
Große Zurückhaltung ist gegenüber Anträgen auf Gewährung
\on Badekuren auf Kosten der Verwaltung geboten. Bei Unfall¬
verletzten nützen sie fast nie, mehr schon bei nicht entschädigungs¬
pflichtigen nervösen Leiden. —
Bei Beamten, die im Betriebsdienst stehen, und infolge von
Nervosität über Gedächtnisschwäche klagen, außerdem ein un¬
sicheres Wesen zeigen, ist Vorsicht am Platze. Es empfiehlt sich,
sie zum mindesten sofort aus dem Betriebsdienste zurückzuziehen.
In allen irgendwie zweifelhaften Fällen, das sei nochmals
wiederholt, ist dringend die Beobachtung im Krankenhause an¬
zuraten, zum Mindesten aber die Untersuchung durch einen er¬
fahrenen Spezialisten, namentlich dann, wenn die Pensionierung
erfolgen soll. —
Meldet sich der Beamte krank, ergibt aber die Untersuchung
beim Kreisarzt, daß er trotzdem dienstfähig ist, so kann man in
der Mehrzahl der Fälle wohl annehmen, daß er dem Dienst ab¬
sichtlich fern bleiben will. Immer ist das aber auch nicht der Fall.
Zunächst bleibt zu bedenken, daß er in der Annahme dienstunfähig
zu sein, durch seinen behandelnden Arzt bestärkt wird, der ihm
anstandslos ein Attest in diesem Sinne ausgestellt hat. In manchen
Fällen wird man dem Beamten den guten Glauben also nicht ab¬
sprechen können. Es kommt weiter hinzu, daß nicht immer durch
Sprechstundenuntersuchungen, auf die ja auch der Medizinal¬
beamte angewiesen ist, ein sicheres L'rteil über den Fall zu ge¬
winnen ist. Eine gewisse Vorsicht ist also auch deswegen am
328
Das Beamten-Disziplinarrecht.
Platze. Zu berücksichtigen bleibt schließlich noch, daß man in
manchen Fällen über die Frage der Dienstfähigkeit verschie¬
dener Meinung sein kann.
§ 9. Dauert die unerlaubte Entfernung
länger als acht Wochen, so hat der Beamte die
Dienstentlassung verwirkt.
Ist der Beamte dienstlich aufgefordert
worden, sein Amt anzutreten oder zu demselben
zurückzukehren, so tritt die Strafe der Dienst¬
entlassung schon nach fruchtlosem Ablauf von
vier Wochen seit der ergangenen Aufforde¬
rung ein.
§ II. Die Dienstentlassung kann nur im
Wege des förmlichen Disziplin arverfahrens
ausgesprochen werden. Sie wird nicht ver¬
hängt, wenn sich ergibt, daß der Beamte ohne
seine Schuld von seinem Amte fern gewesen ist.
§ 12. D i e E i n 1 e i t u n g d e s D i s z i p 1 i n a r V e r f a h-
rens wegen unerlaubter Entfernung vom Amte
und die Dienstentlassung vor Ablauf der
Fristen (§ 9) ist nicht ausgeschlossen, wenn
sie durch besonders erschwerende Umstände
als gerechtfertigt erscheint. —
§ 14 führt die Disziplinarstrafen auf. Er nennt Ord¬
nungsstrafen (Warnung, Verweis, Geldbuße und gegen be¬
stimmte untere Beamte auch Arreststrafe bis zur Dauer von
höchstens acht Tagen, § 15) und Entfernung aus dem
Amte.
§ 16. Die Entfernung aus dem Amte kann
bestehen:
1. In Versetzung in ein anderes Amt von
gleichem Range, jedoch mit Verminde¬
rung des Diensteinkommens und Verlust
des Anspruches auf Umzugskosten, oder
mit einem von beiden Nachteilen.
Diese Strafe findet nur auf Beamte im un¬
mittelbaren Staatsdienste Anwendung;
2 . I n D i e n s t e n 1 1 a s s u n g;
Diese Strafe zieht den Verlust des Titels
und Pensionsanspruchs von selbst nach sich;
329
A. Preußisches Recht.
es wird darauf nicht besonders erkannt, es sei
denn, daß vor Beendigung des Disziplinarver¬
fahrens aus irgendeinem von dessen Ergebnis
unabhängigen Grunde das Amts Verhältnis be¬
reits aufgehört hat und daher auf Dienstent¬
lassung nicht mehr zu erkennen ist.
Gehört der Angeschuldigte zu den Beamten,
welche einen Anspruch auf Pension haben, und
lassen besondere Umstände eine mildere Beur-
teilungzu, so ist die Disziplinarbehörde er¬
mächtigt, in ihrer Entscheidung zugleich fest¬
zusetzen, daß dem Angeschuldigten ein Teil
des gesetzlichen oder reglementsmäßigen Pen¬
sionsbetrages auf Lebenszeit oder auf gewisse
Jahre als Unterstützung zu verabreichen sei.
Nach § II darf die Dienstentlassung nicht ausgesprochen
werden, wenn sich ergibt, daß der Beamte ohne seine Schuld von
seinem Amte entfernt gewesen ist. Es fragt sich, was ist unter
,.ohne seine Schuld“ zu verstehen. Nach einer Entscheidung des
Überverwaltungsgerichts vom 29. Sept. 1908 (Bd. 53, S. 444)
genügt zur Annahme der Schuldlosigkeit schon, daß der Beamte
sich irrtümlicherweise zur Fortsetzung des Dienstes nicht
für verpflichtet hielt. Das Staatsministerium steht nicht auf diesem
Standpunkt (Entsch. d. Staatsministr. 9. 4. 10, A. iio). Es meint
vielmehr, daß einem nach den subjektiven Verhältnissen und
Auffassungen des Beamten verzeihlich erscheinenden Irrtum keine
Bedeutung beizumessen sei; es will Schuldlosigkeit im Sinne des
§ 11 nur da angenommen wissen, wo der Fernhaltung vom Amte
objektiv zutreffende Gründe, wie z. B. tatsächliche Dienst¬
unfähigkeit oder disziplinargerichtlich anerkannte Unrechtmäßig¬
keit einer im Interesse des Dienstes erfolgten Versetzung ent¬
gegen standen.
Für unsere medizinischen Zwecke sind die Verschiedenheiten
der Auffassung des Staatsministeriums und des Oberverwal¬
tungsgerichts nicht ohne Bedeutung.
Von den mir zur Verfügung stehenden Kommentaren (Seydel,
Illing, Studt und Braunbehrens, von Rheinbaben, Pfafferoth) spricht sich
über diese Frage nur von Rheinbaben aus. Er steht auf dem Standpunkt,
daß die strengere Auslegung des § 11 wie sie das Staatsministerium aus¬
gesprochen hat, auch aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes zu
Das Beamten-Disziplinarrecht.
330
Handelt es sich um eine ausgesprochene Geisteskrankheit, so
muß man selbstverständlich annehmen, daß Schuldlosigkeit im
Sinne des § ii vorliegt. Meist wird dann der Kranke auch tat¬
sächlich dienstunfähig sein. Jedenfalls aber liegt wohl ein ob¬
jektiver Grund vor, denn für seine Krankheit kann er nicht, und
wenn er aus krankhaften Vorstellungen heraus dem Dienste fem-
bleibt, so ist für die Vorstellung und die daraus resultierende
Handlung seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen, und von
einer Schuld kann demnach keine Rede sein.
Etwas anders liegt die Sache in den Fällen, die ich vorhin
schon erwähnte. Ein zur Gruppe der Nervösen oder Grenz¬
zustände im Sinne dieses Buches gehöriger Mann bekommt von
seinem Arzt attestiert, daß er dienstunfähig ist. Nicht selten
wird ihm auch gesagt, daß aus der Fortsetzung des Dienstes ihm
möglicherweise Schaden erwachsen könnte. Die gegenteilige An¬
sicht des Medizinalbeamten überzeugt den Kranken nicht. Er
ist an sich infolge seines Leidens reizbar und mißtrauisch,
sieht infolgedessen in dem Medizinalbeamten zu Unrecht lediglich
den staatlich angestellten Arzt und zweifelt dessen Objektivität
an. Daß ein solcher Kranker —■ natürlich nur, wenn eine Neur¬
asthenie, Hysterie oder Ähnliches nachgewiesen ist — sich unter
Umständen in einem Irrtume im Sinne der oben zitierten Ober¬
verwaltungsgerichtsentscheidung befinden kann, wird man zu¬
geben müssen.
In der Praxis wird übrigens, soweit meine Erfahrungen
reichen, in solchen Fällen das Disziplinarverfahren nicht oft ein¬
geleitet. —
Das förmliche . D i s z i p 1 i n a r V e r f a h r e n bei Dienst¬
unwürdigkeit regelt sich nach den im zweiten Abschnitt auf¬
gestellten Grundsätzen (§§ 22—47).
Es bezweckt die Entfernung des Beamten aus dem Amte und
ist nur einzuleiten, wenn sich nach den vorläufigen Verhand¬
lungen annehmen läßt, daß der Disziplinarrichter auf diese Strafe
erkennen werde. Voraussetzung für die Einleitung ist, daß ein
bestimmter Angeschuldigter bereits vorhanden ist. Solange das
begründen sei. Für den, der sich diese Anschauung zu eigen macht,
würden demnach die Orenzzustände schuldhaft handeln, es sei denn,
daß sie sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zu¬
stande krankhafter Störung der Qeistestätigkeit zur Zeit der Widersetz¬
lichkeit gegen die Verfügung der Vorgesetzten Behörde befänden.
A. Preußisches Recht.
331
nicht zutrifft, hat der Vorsteher der entscheidenden Disziplinar¬
behörde ein Ermittelnngs - oder Vorverfahren einzu¬
leiten. Eidliche Zeugenvernehmungen, Beschlagnahme, Durch¬
suchungen usw. muß er durch das zuständige Amtsgericht vor¬
nehmen lassen.
Wird aber ein förmliches Disziplinarverfahren eingeleitet'),
so muß ein Untersuchungskommissar“) ernannt werden (§ 23).
Dieser muß die Voruntersuchung führen, während der¬
selben weitere Ermittelungen anstellen, nach Bedarf Zeugen und
Sachverständige“) vernehmen. Er muß dieselben vereidigen (§ 32).
Die zuständige Disziplinarbehörde kann abgelehnt werden,
wenn objektive Gründe vorliegen. Persönliche Vorurteile
und „Rücksichten dienstlicher Delikatesse“ (v. Rheinbaben) sind
als ausreichende Gründe nicht anzusehen (vergl. auch Disz.-Hof
f. d. nichtr. B., B. v. 17. ii. 55; St. M. K. 116 und 14. 10. 54;
St. M. S. 151). Die Entscheidung über den Ablehnungsantrag
steht dem Disziplinarhof zu. Einzelne Mitglieder des Disziplinar¬
gerichtes können nach den Bestimmungen der Str.P.O. (§ 22 ff.)
abgelehnt werden (§ 27).
Die V'ernehmung des Angeschuldigten in der Vorunter¬
suchung braucht sich nicht notwendig auf die Anklagepunkte
allein zu beschränken. Sie soll das tatsächliche Material ja erst
bringen. Der Angeschuldigte kann die Aussage verweigern.
Ist er nicht vernehmungsfähig, so muß das Verfahren aus¬
gesetzt werden. —
Nach Abschluß der Voruntersuchung wird der „Beamte der
Staatsanwaltschaft“ ernannt. Der Untersuchungskommissar soll
hierzu im allgemeinen nicht bestellt werden.
Nach § 33 kann nur der Vorgesetzte Minister ein einmal
eingeleitetes Disziplinarverfahren einstellen. Dem Angeschul¬
digten ist der bezügliche Beschluß mit Begründung auszufertigen.
Wird das Verfahren nicht eingestellt, so wird der Angeschul¬
digte nach Eingang einer vom Beamten der Staatsanwaltschaft
') Der Einleitungsbeschluß, welcher dem Angeschuldigten mitzuteilen
ist, muß die Aiischuldigungspunkte enthalten.
“) Der Untersuchungskommissar hat richterliche Funktionen und muß
die für den Untersuchungsrichter in der Str.P.O. gegebenen Bestimmungen
.beachten.
“) Bezüglich Zeugnispflicht und Zeugniszwang gelten die Vorschriften
der Str.P.O.
332
Das Beamten-Disziplinarrecht.
anzufertigenden Anschuldigungsschrift unter abschriftlicher Mit¬
teilung dieser Anschuldigungsschrift zu einer von dem Vorsitzen¬
den der Disziplinarbehörde zu bestimmenden Sitzung zur münd¬
lichen Verhandlung vorgeladen (§ 34). Der Angeschul¬
digte ist rechtzeitig zu laden, er kann sich einen Rechtsanwalt als
Verteidiger (§ 37) mitbringen. Von Amts wegen wird derselbe
nicht geladen.
In der mündlichen Verhandlung wird der Inhalt der An¬
schuldigungsschrift zum Gegenstand der Verhandlung gemacht.
Sind weitere Ermittelungen nötig, dann kann vertagt werden
(§ 36).
Der Angeschuldigte braucht nicht persönlich zu er¬
scheinen. Dem Verteidiger kann Einsicht in die Akten — mit
Ausnahme der Personalakten — gestattet werden.
Für die Entscheidung der Disziplinarbehörde gilt der Grund¬
satz der freien Beweiswürdigung (§ 38). Die Überzeugung der
Disziplinarbehörde soll sich nur auf Beweise stützen, die gesetz¬
lich als solche zugelassen und in gesetzmäßiger Form er¬
hoben sind.
Voraussetzung für disziplinäre Strafbarkeit
ist die Zurechnungsfähigkeit, welche im Zweifelsfalle
dem Angeschuldigten nachzuweisen ist (Ksl. Disz.-Hof 7. 12. 08;
F. 13. 07) ^).
Verfällt der Angeschuldigte während des Verfahrens in
Geisteskrankheit, so ist das Verfahren nach Analogie des § 203
Str.P.O. einzustellen. Er muß außer Stande sein, ,,in der Ver¬
handlung seine Interessen vernünftig zu vertreten, sein Recht zu
wahren und seine Verteidigung in verständiger und verständlicher
Weise zu führen“. (R.G. i. Strafs. 17. i. 80; Bd. i, S. 149ff-
und 8. I. 97; Bd. 29, S. 324.)
Das Urteil erhält Rechtskraft vier Wochen nach dem Ablaufe
des Tages, an welchem die Entscheidung verkündet wurde; für
') Darüber, ob der § 81 der Str.P.O. in Anwendung gebracht werden
kann, haben längere Zeit Zweifel geherrscht. Im allgemeinen steht man
jetzt auf dem Standpunkt, daß eine sechswöchige Beobachtung im Dis¬
ziplinarverfahren nicht möglich ist. Daß sie vom medizinischen Stand¬
punkte aus erwünscht erschiene, bedarf keiner besonderen Begründung.
Praktisch wird ein Teil der entstehenden Schwierigkeiten aber
wohl dadurch gelöst, daß der Patient, da es in seinem eigenen Interesse
liegt, sich selbst zur Beobachtung in einem geeigneten Institut bereit
erklärt. S. auch Peters: Arch. f. Strafr., Bd. 44.
A. Preußisches Recht.
333
den Angeschuldigten, welcher hierbei nicht zugegen war, mit dem
Ablauf des Tages, an welchem ihm die Entscheidung zugestellt
worden ist (§ 42).
Ein Wiederaufnahmeverfahren nach erfolgter rechtskräftiger
Verurteilung ist gegenwärtig nicht möglich, wird aber ver¬
schiedenen Zeitungsnotizen zufolge demnächst wieder eingeführt
werden.
Berufung (§ 41) kann gegen eine Entscheidung innerhalb
von 4 Wochen nach Verkündung bzw. Zustellung eingelegt werden.
Das Staatsministerium entscheidet definitiv. —
Daß im Disziplinarverfahren hinsichtlich einer besonderen
Prüfung der Schuldfrage die Neurastheniker, Degenerierten,
Hysterischen und Unfallverletzten in erster Linie in Betracht
kommen, ist bereits oben angedeutet worden.
Weiter anzuführen sind sodann die Alkoholisten. Die Un¬
regelmäßigkeit der Lebensweise, welche mit der chronischen
Trunksucht meist verbunden ist, führt dazu, daß die Patienten
den Dienst nachlässig versehen oder ganz fortbleiben, bis ein¬
geschritten werden muß.
Die Schuldfrage wird auch bei ihnen, je nach Lage der Sache,
gewisse Schwierigkeiten machen. Es gibt aber, das sei besonders
betont, zweifellos Alkoholisten, die infolge von krankhafter Ein¬
sichtslosigkeit oder von Intelligenzstörungen glauben werden, im
Recht zu sein, wenn sie trotz Aufforderung der Vorgesetzten
Behörde dem Dienst fernbleiben. —
In dem Kapitel manisch-depressives Irresein habe ich einen
Fall erwähnt, bei dem die ersten Erscheinungen der Manie be¬
wirkten, daß der Patient sich unstet umhertrieb, dem Dienst fem-
blieb und allen Aufforderungen zurückzukehren, nicht entsprach.
Die Erkrankung, die, wie sich aus dem weiteren Lebenslauf des
Patienten ergibt, ihn später vollständig unsozial gemacht hat, war
so schwer, daß von einer Schuld im Sinne des Gesetzes keine
Rede sein konnte.
Dasselbe wird für einzelne Paralytiker, die im Beginne der
Erkrankung sich ihren dienstlichen Verpflichtungen entziehen,
zutreffen.
Besondere Schwierigkeiten werden chronisch Verrückte und
Querulanten machen. Die ersteren deshalb, weil die Erkennung
des Leidens auch dann, wenn dasselbe jahrelang besteht, häufig
nicht ganz leicht ist; die letzteren, weil sie sich nicht krank
334
Das Beamten-Disziplinarrecht.
fühlen und ihr Verlialten mit allen möglichen juristischen Spitz¬
findigkeiten zu motivieren suchen. Ist die Diagnose „chronische
Paranoia“ gestellt, so ist die Schuldfrage auch entschieden. Ein
solcher Patient ist schwer geisteskrank und damit nicht schuldig
im Sinne des Gesetzes. Bei den Querulanten muß man die Schuld¬
frage in jedem einzelnen Falle besonders erwägen. Was hierüber
zu sagen ist, steht in dem Kapitel „Querulantenwahn“, auf das
der Kürze wegen verwiesen sei. —
Von den sonstigen Bestimmungen, welche das Preußische
Disziplinargesetz für nicht richterliche Beamte enthält, inter¬
essieren den Psychiater nur noch diejenigen über die Pensio¬
nierung. Wie Kretzschmar, möchte ich dabei gleichzeitig auch
den § 30 des Beamtenpensionierungsgesetzes vom 27. März 1872
mit berücksichtigen.
Wenn in den bisher besprochenen Fällen stets ein Dienst¬
vergehen, also ein Verschulden des Beamten die Voraus¬
setzung für die disziplinarische Ahndung war, so handelt es sich
bei den nunmehr zu erörternden Bestimmungen nach einem Aus¬
druck des Gesetzes um „Verfügungen im Interesse des Dienstes,
welche nicht Gegenstand eines Disziplinarverfahrens sind“. Diesen
liegt, wie schon der Wortlaut andeutet, kein Verschulden
des Beamten, sondern eine andere Ursache zugrunde.
§ 88. Ein Beamter, welcher durch Blind¬
heit, Taubheit oder ein sonstiges körperliches
Gebrechen oder wegen Schwäche seiner körper¬
lichen oder geistigen Kräfte zu der Erfüllung
seiner Amtspflichten dauernd unfähig ist, soll
in den Ruhestand versetzt werden.
§ 89. Sucht der Beamte in einem solchen
Falle seine Versetzung in den Ruhestand nicht
nach, so wird ihm oder seinem nötigenfalls
hierzu besonders zu bestellenden Kurator von
der vorgestzten Dienstbehörde unter Angabe
des zu gewährenden Pensionsbetrages und der
Gründe der Pensionierung eröffnet, daß der
Fall seiner Versetzung in den Ruhestand vor¬
liege.
§ 93. Ist ein Beamter vor dem Zeitpunkte,
mit welchem die Pensionsberechtigung für ihn
A. Preußisches Recht.
335
eingetreten sein würde‘), dienstunfähig ge¬
worden, so kann er gegen seinen Willen nur
unter Beobachtung derjenigen Formen, welche
für die Disziplinaruntersuchung vorgeschrie¬
ben sind, in den Ruhestand versetzt werden.
Wird es jedoch für angemessen befunden,
dem Beamten eine Pension zu dem Betrage zu
bewilligen, welcher ihm bei der Erreichung des
vorgedachten Zeitpunktes zustehen würde, so
kann die Pensionierung desselben nach den
Vorschriften der §§ 88 bis 92 erfolgen.
§ 30 (des Beamten-Pens.-Ges.). Sucht ein nicht
richterlicher Beamter, welcher das fünfund¬
sechzigste Lebensjahr vollendet hat, seine
Versetzung in den Ruhestand nicht nach, so
kann diese nach Anhörung des Beamten unter
Beobachtung der Vorschriften der §§ 20 ff.
dieses Gesetzes in der nämlichen Weise ver¬
fügt werden, wie wenn der Beamte seine Pen¬
sionierung selbst beantragt hätte.
Im Übrigen behält es in Ansehung der un¬
freiwilligen Versetzung in den Ruhestand und
des dabei sta11findenden Verfahrens bei den
Bestimmungen in den §§ 56 bis 64 des Gesetzes,
betreffend die Dienstvergehen der Richter
und die unfreiwillige Versetzung derselben
auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand,
vom 7. Mai 1851 (G. S. S. 218) undinden §§ 88 bis 93
des Gesetzes, betreffend die Dienstvergehen
der nicht richterlichen Beamten, die Ver¬
setzung derselben auf eine andere Stelle oder
in den Ruhestand, vom 21. Juli 1852 (G. S. S. 465)
sein Bewenden.
Wird hiernach gemäß § 90 des letzterwähn¬
ten Gesetzes von dem Rechtsmittel des Rekurses
an das Staats minister! um Gebrauch gemacht,
so läuft die sechsmonatliche Frist zur An¬
stellung der Klage wegen unrichtiger Fest-
‘)D. h, regelmäßig nach einer Dienstzeit von wenigstens zehn Jahren
(§ 1 d. Beamten-Pens.-Qes.).
336
Das Beamteii-Disziplinarrecht.
Setzung des Pensionsbetrages (§ 2 des Ge¬
setzes, betreffend die Erweiterung des Rechts¬
weges, vom 24. Mai 1861, G. S. S. 241) erst von dem
Tage, an welchem dem Beamten die Entscheidung
des Staatsministeriums bekannt gemacht ist.
Die Zwangspensionierung eines Beamten kann also aus drei
Gründen erfolgen:
1. Wenn der nichtrichterliche Beamte das 65. Lebensjahr vol¬
lendet hat, und seine Versetzung in den Ruhestand nicht selbst
nachsucht. (§ 30 des Beamten-Pens.-Ges.)
2. Wenn der Beamte endgültig angestellt ist und in Folge von
Blindheit, Taubheit oder sonstigen körperlichen Gebrechen, oder
wegen Schwäche seiner geistigen und körperlichen Kräfte dienst¬
unfähig ist. (§ 88 des Disz.-Ges. für nichtrichterliche Beamte;
ebenso § 56 des Disz.-Ges. für Richter, siehe unten.)
3. Wenn ein noch nicht pensionsberechtigter Beamter dienst¬
unfähig geworden ist. (§93 des Disz.-Ges. für nichtrichterliche
Beamte.)
1. In dem unter i genanntem Falle hat die Vorgesetzte Dienst¬
behörde die Erklärung abzugeben, daß sie nach pflichtmäßigem
Ermessen den Beamten für unfähig halte, seine Amtspflichten
ferner zu erfüllen.
Im übrigen regelt sich das Verfahren nach § 20 ff. des
Beamten-Pens.-Gesetzes.
2. Wenn ein geistig gebrechlicher nichtrichterlicher
Beamter*) seine Versetzung in den Ruhestand nicht selbst nach¬
sucht, kann ihm hierzu ein besonderer Kurator von der Vor¬
gesetzten Dienstbehörde gestellt werden. Es bedarf dazu nicht
der Mitwirkung des Gerichtes. Die Vorgesetzte Behörde pflegt
sich aber durch Einholung ärztlicher Atteste vorher zu verge¬
wissern, daß der Beamte dienstunfähig ist, und daß eine Ver¬
ständigung mit ihm in der Frage der Pensionierung in Folge
seines psychischen Zustandes nicht möglich ist. Der § 1910
B.G.B. findet auf diese Form der Pflegschaft keine Anwendung,
insbesondere bedarf es dazu nicht der Einwilligung des Kranken
selbst. Hat er einen Vormund oder Pfleger, der vom Gericht
bestellt wurde, so bedarf es keines Kurators, wenn er schon so
ausreichend vertreten ist.
*) AnaloKe Bestimmungen gelten auch für Richter (siehe weiter
unten).
337
A. Preußisches Recht.
Der Beamte oder sein Kurator können bei der Vorgesetzten
Dienstbehörde gegen die Pensionierung, die ihnen besonders er¬
öffnet werden muß (§ 89), innerhalb 6 Wochen Einwendungen
erheben. Die Vorgesetzte Dienstbehörde reicht die Verhandlungen
an den zuständigen Minister weiter, welcher, sofern nicht der
Beamte von dem König ernannt ist, über die Pensionierung ent¬
scheidet. Gegen diese Entscheidung steht dem Beamten der
Rekurs an das Staatsministerium binnen einer Frist von 4 Wochen
nach Empfang der Entscheidung zu.
Ist der Beamte von dem Könige ernannt, so erfolgt die Ent¬
scheidung von diesem auf Antrag des Staatsministeriums (§ 90).
Wenn der Beamte gegen die ihm gemachte Eröffnung inner¬
halb 6 Wochen keine Einwendung erhoben hat, so wird in der¬
selben Weise verfügt, als wenn er seine Pensionierung selbst nach-
gcsucht hätte (§ 92).
3. Wird ein noch nicht pensionsberechtigter nichtrichter¬
lich e r ’) Beamter infolge eines geistigen Gebrechens dienst¬
unfähig und sucht er seine Versetzung in den Ruhestand nicht
selbst nach, so kann er nur durch ein Verfahren, das sich in den
Formen der Disziplinaruntersuchung bewegt, aber kein eigentliches
Disziplinarverfahren ist, in den Ruhestand versetzt werden.
Gegenstand dieses Verfahrens ist nur die Feststellung der Dienst¬
unfähigkeit des Beamten, nicht auch die Frage, ob der Beamte
pensionsberechtigt ist oder nicht. Letztere ist zwar für die Zu¬
lässigkeit und Notwendigkeit des Verfahrens von Bedeutung,
nicht aber Gegenstand der zu erlassenden Entscheidung“). Wird
alsdann eine Pensionierung für angemessen erachtet, so erfolgt sie
gemäß § 93 Abs. 2 unter den Voraussetzungen und in den Formen
der §§ 88—92 besonders. Auch in diesem Verfahren kann dem
Beamten ein Kurator bestellt werden.
Die unter i—3 erörterten Bestimmungen über die Zwangs¬
pensionierung finden nur auf unmittelbare Staatsbeamte An¬
wendung (§ 94)“).
“) Eine analoge Bestimmung fehlt im Disziplinargesetz für Richter.
“) O.V.Q. 28, 12. 95 D. 228; 8. 7. 98 D. 140; 31. 3. 08 D. 192.
“) Für mittelbare Staatsbeamte gelten besondere Vorschriften (§ 96,
vergl. hierzu die von Rheinbaben S. 395 gegebene Übersicht). Auch auf
Universitätsprofessoren finden nach § 96 weder die Bestimmungen der
§§ 87—95 dieses Gesetzes, noch gemäß § 6 Abs. 1 des Beamten-Pens.-Qes.
die Vorschriften des letzteren Anwendung (vergl. Rheinbaben S. 402).
Häbner, Forensische Psychiatrie. 22
33«
Das Beamten-Disziplinarrecht.
Vom medizinischen Standpunkt aus werden wir zu erörtern
haben, was unter Schwäche der geistigen Kräfte zu verstehen sei.
Ebenso wie in den übrigen Gesetzen kommt es auch in
diesem für den Staat nicht darauf an, daß überhaupt eine
geistige Abweichung nachgewiesen wird; es ist vielmehr auch hier
eine bestimmte Bedingung über den Grad der geistigen Ab¬
weichung hinzugefügt. Dieselbe muß bewirken, daß der Kranke
zur Erfüllung seiner Amtspflichten dauernd unfähig ist.
Wenn man zunächst den Begriff dauernd kurz erörtern
will, so ist er in demselben Sinne zu verstehen, wie im bürgerlichen
Gesetzbuch, das heißt, es darf kein naher Zeitpunkt abgesehen
werden können, in dem die Krankheit ausheilt. Prakti.sch spielt
sich bei der Pensionierung die Sache für gewöhnlich so ab, daß in
zweifelhaften Fällen die Vorgesetzte Behörde bis etwa zur Dauer
eines Jahres, gelegentlich wohl auch noch etwas länger abwartet.
Ist bis dahin die Wiederherstellung der Dienstfähigkeit nicht
erreicht, und kann auch nicht erwartet werden, daß sie inner¬
halb der nächsten Monate erreicht wird, dann erfolgt die Pen¬
sionierung.
Ein geistiges Gebrechen im Sinne des § 88 des Disz.-
Ges. für nichtrichterliche Beamte (und des § 56 des Disz.-Ges. für
Richter) kann jede Psychose und Neurose sein. Es ist nicht nötig,
daß dieselbe den Kranken geschäftsunfähig macht oder sonst im
bürgerlichen Leben hindert. Es kommt vielmehr lediglich darauf
an, daß sie ihn unfähig macht, den ihm kraft Amtes übertragenen
Pflichten gerecht zu werden.
Da dieser Pflichtenkreis bei jeder Dienststellung ein anderer
ist, muß in jedem einzelnen Falle erwogen werden, ob die Psy¬
chose, die hei diesem Kranken vorliegt, gerade die Wirkung hat,
welche das Gesetz vorschreibt.
Es ist dabei wichtig, zu betonen, daß nicht allein die korrekte
Erledigung des dem Beamten übertragenen Pensums als Erfüllung
seiner Amts])flicht angesehen werden darf, sondern es gehört zu
den Amtspflichten zweifellos auch, wie das ja oben schon aus¬
geführt ist, die Einordnung des Beamten in den Beamtenkörper,
dem der Kranke angehört. Das heißt, der Patient muß, wenn er
seine Amtspflichten vollkommen erfüllen will, den Vorgesetzten
gehorchen, auf die Mitarbeiter die gebührende Rücksicht nehmen
und er darf der Behörde keine unnützen Schwierigkeiten machen.
Wenn ich diesen Punkt besonders betone, so geschieht es.
A. Preußisches Recht.
339
weil ich selbst Fälle begutachtet habe, in denen einzelne Beamte
die ihnen übertragenen dienstlichen Verrichtungen vollkommen
korrekt erledigten, andererseits aber infolge geistigen Gebrechens
mit ihren Kollegen und Untergebenen nicht auskamen und so
die Disziplin untergruben, ein gedeihliches Zusammenarbeiten
unmöglich machten und der Behörde so viel unnütze Arbeit
verursachten, daß aus diesen Gründen ihr weiteres Verbleiben
im Dienste unmöglich war. Zu den Kranken dieser Art gehören
in erster Linie die Querulanten, manche chronisch Verrückte und
manche Psychopathen mit krankhaftem Mißtrauen. —
Kretzschmar hat in einer Arbeit *) die Frage erörtert,
welchen Einfluß gewisse zivilrechtliche Maßregeln, nämlich die
Entmündigung wegen Geisteskrankheit und wegen Geistes¬
schwäche, die vorläufige Vormundschaft, die Pflegschaft, die
Konstatierung der Geschäftsunfähigkeit und Verwahrungsma߬
regeln von seiten der Polizeibehörde, insbesondere Unterbringung
in einer Irrenanstalt, auf die Dienstfähigkeit eines Beamten haben
können.
Wenn auch der maßgebende Gesichtspunkt, der meines Er¬
achtens einzig und allein in dieser Frage anzuwenden ist, bereits
erörtert wurde, so möchte ich doch noch kurz auf die Ausführun¬
gen Kretzschmars eingehen, um zu prüfen, wie weit seine Theo¬
rien mit der praktischen Erfahrung übereinstimmen.
Der genannte Autor steht auf dem Standpunkt, daß keine der
oben erwähnten Maßregeln unbedingt den Verlust des Amtes nach
sich zu ziehen braucht. In dieser Beziehung, glaube ich, ist eine
Einschränkung insofern erforderlich, als meines Erachtens ein
Mensch, der wegen Geisteskrankheit entmündigt ist, wohl kaum
jemals Beamter bleiben darf. Ich kann mir wenigstens keine
Dienststellung denken, in der er nicht Willenserklärungen abzu¬
geben hätte. Abgesehen davon bleibt zu erwägen, daß die Behörde
einem derartigen Menschen gegenüber praktisch völlig machtlos
wäre. Nehmen wir einen verhältnismäßig einfachen Fall als
Beispiel:
Ein Bürodiener wäre wegen Geisteskrankheit entmündigt.
Um einem seiner vermeintlichen Feinde oder seiner Behörde Unge¬
legenheiten zu bereiten, nimmt er eines Tages ein Bündel wich¬
tiger Akten, die ihm übergeben worden sind, um sie von einem
*) Über das Irrenprozeßrecht im preußischen Disziplinarstrafrecht
(Archiv für Strafrecht Bd. 48, S. 409 ff.).
22
340
Das Beamten-Disziplinarrecht.
Dezernenten zum andern zu bringen, steckt sie in den Ofen
und verbrennt sie. Die Behörde könnte disziplinarisch gegen ihn
kaum Vorgehen; denn da er wegen Geisteskrankheit entmündigt
ist, würde man sich schwer entschließen, ihm dieses Verhalten
schuldhaft anzurechnen’). Meines Erachtens bietet nun jedes Amt
Gelegenheit zu solchen Handlungen, gleichgültig, ob es sich um
den Vorstand einer großen Behörde oder den Portier irgendeines
Dienstgebäudes handelt. Jeder kann Störungen im Dienstbetrieb
hervorrufen, und würde, wenn er wegen Geisteskrankheit ent¬
mündigt wäre, nicht einmal disziplinarisch zur Rechenschaft ge¬
zogen werden können.
Schon aus diesem Grunde allein kann meiner Ansicht nach
ein wegen Geisteskrankheit Entmündigter nicht im Dienst
bleiben. Dies wird auch kaum jemals geschehen, denn solche
Patienten, die als geisteskrank im Sinne des § 6 B.G.B. ange¬
sehen werden, pflegen meistenteils dienstlich und außerdienstlich
so sehr aufzufallen, daß sie im Amte nicht gehalten werden können.
Einer unserer Kranken z. B. erzählte in der Stadt die un¬
glaublichsten Dinge über Vorgänge in dem Institut, in dem
er angestellt war. Selbstverständlich war kein wahres Wort
daran. Seine Erzählungen stellten vielmehr Größenideen im Be¬
ginn einer Paralyse dar. Diejenigen aber, denen er sie zum
besten gab, verbreiteten seine Berichte nach Kräften. Es be¬
mächtigte sich infolgedessen gewisser Kreise der Bevölkerung
eine beträchtliche Aufregung”). —
Was hier über die wegen Geisteskrankheit Entmündigten ge¬
sagt wurde, gilt mit gewissen Einschränkungen auch für die
’) Auch die Pensionierung würde sich u. U. schwieriger gestalten,
da nur mit dem Vormund, nicht mit dem Beamten selbst verhandelt
werden dürfte.
Auf die Schwierigkeiten bei der Gehaltszahlung, Versetzungen, Ge¬
suchen aller Art sei nur nebenbei hingewiesen.
’) Zu welchen Mißständen es führen kann, wenn geisteskranke
Beamte nicht rasch aus dem Dienst entfernt werden, bewies vor
einigen Jahren der Fall eines höheren Beamten, der im Beginn der
Gehirnerweichung eine reitende Bauerngarde organisierte, welche sozial¬
demokratische Aufstände unterdrücken sollte. Er lanzierte auch be¬
unruhigende Artikel in die Zeitungen.
Harmloser, aber doch unerwünscht, sind solche Fälle wie der
eines Amtsvorstandes, bei dem plötzlich eine Paralyse mit GröBenideen
einsetzte, aus denen heraus er verfügte, die Bäume dürften nur noch an
den Wurzeln Blätter tragen.
A. Preußisches Recht.
341
wegen Geistesschwäche Bevormundeten. Auch sie werden nur
ausnahmsweise im Dienst bleiben können.
Schon diese kurzen Ausführungen werden genügen, zu be¬
weisen, daß in der Praxis eine zivilrechtliche Maßnahme der
ordentlichen Gerichte, nämlich die Entmündigung, nur selten ohne
Einfluß auf die Dienstfähigkeit sein wird.
Ausschlaggebend für die Beurteilung der letzteren muß trotz¬
dem lediglich die Frage bleiben, ob der Patient allen Anforde¬
rungen des Dienstes infolge seines Geisteszustandes gerecht zu
werden vermag. Ist das nicht der Fall, so ist er als dienstunfähig
anzusehen. Dies trifft insbesondere auch dann zu, wenn er wegen
Gemeingefährlichkeit in die Anstalt gebracht worden ist und dort
auf Veranlassung der zuständigen Behörde festgehalten wird. Ab¬
gesehen davon, daß man anderen Beamten nicht zumuten kann, mit
einem gemeingefährlichen Menschen zusammen zu arbeiten, be¬
wirkt in diesem Falle die durch das geistige Gebrechen bedingte
räumliche Behinderung an der Ausübung seiner Amtspflichten
allein schon, daß der Kranke als dienstunfähig anzusehen ist. —
Schwierig ist die Frage, ob ein Beamter, der wegen einer die
freie Willensbestimmung ausschließenden krankhaften Störung
der Geistestätigkeit gemäß § 51 Str.G.B. freigesprochen wurde,
unter allen Umständen aus dem Amte entfernt oder pensioniert
werden muß. Meine persönliche Ansicht darüber ist folgende;
Soweit es sich um eine ausgesprochene Geisteskrankheit handelt,
wird dieselbe sich nicht nur in der einen strafbaren Handlung,
sondern auch sonst im Leben und damit auch im Dienst bemerkbar
machen. Ist letzteres aber der Fall, so wird die Pensionierung des
Beamten sich nicht umgehen lassen.
Schwieriger sind die Fälle, in denen es sich um vorüber¬
gehende Störungen der Geistestätigkeit, welche die freie
Willensbestimmung ausschließen, handelt. In erster Linie kommt
wohl der sogenannte sinnlose Rausch in Betracht.
Strafbare Handlungen, die in diesem Zustand von Beamten
begangen werden, pflegen in der Öffentlichkeit für gewöhnlich
außerordentliches Aufsehen zu erregen, ein Punkt, der bei der
Behandlung des Falles unter Umständen Berücksichtigung zu
finden haben wird.
Daneben aber wird man sich meines Erachtens die Frage
vorlegen müssen, wie weit aus dem einen Vorkommnis Schlüsse
342
Das Beamten-Disziplinarrecht.
zu ziehen sind auf das dienstliche und außerdienstliche Verhalten
des Patienten im allgemeinen.
Aus der Antwort auf diese Frage ergeben sich auch die
Schlüsse für das weitere Handeln. Es wird dann mit Rücksicht
auf § 5 des Disziplinargesetzes zwar nicht die Entfernung aus
dem Amt gemäß § i6 in Betracht kommen, wohl aber unter Um¬
ständen die Zwangspensionierung. —
Von den Krankheiten, welche Grund zur Pensionierung
geben, sind in erster Linie die Paralyse, die Dementia praecox
und der Alkoholismus, die chronische Paranoia und der Queru¬
lantenwahn zu nennen. —
II. Richterliche Beamte.
Die Richter nehmen bei der großen Bedeutung, die ihr so ver¬
antwortungsvolles Amt für das gesamte öffentliche Leben hat, in
unserem öffentlichen Recht eine Sonderstellung ein. Diese ist
schon in der preußischen Verfassung festgelegt durch folgende
Bestimmung:
Artikel 87: Die Richter werden vom Könige
oder in dessen Namen auf Lebenszeit ernannt.
Sie können nur durch Richterspruch aus
Gründen, welche die Gesetze vorgesehen haben,
ihres Amtes entsetzt oder zeitweise enthoben
werden. Die vorläufige Amtssuspension,
welchenichtkraftdesGesetzesein tritt,unddie
unfreiwillige Versetzung an eine andere Stelle
oder in den Ruhestand können nur aus den Ur¬
sachen und unter den Formen, welche im Gesetze
angegeben sind, und nur auf Grund eines
richterlichen Beschlusses erfolgen.
Auf die e r s e t z u n g e n , welche durch Ver¬
änderungen in der Organisation der Gerichte
oder ihrer Bezirke nötig weiden, finden diese
Bestimmungen keine Anwendung.
In Übereinstimmung mit diesen Vorschriften wird durch § 8
des Deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes bestimmt:
Richter können wider ihren Willen nur kraft
richterlicher Entscheidung und nur aus den
Gründen und unter den Formen, welche die Ge¬
setze bestimmen, dauernd oder zeitweise ihres
A. Preußisches Recht. 343
Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder
in den Ruhestand versetzt werden.
Die vorläufige Amtsenthebung, welche
kraft Gesetzes eintritt, wird hierdurch nicht
berührt.
Bei einer Veränderung in der Organisation
der Gerichte oder ihrer Bezirke können unfrei¬
willige Versetzungen an ein anderes Gericht
oder Entfernungen vom Amte unter Belassung
des vollen Gehalts durch die Landesjustizver¬
waltung verfügt werden.
Die wichtigsten der in diesen Paragraphen erwähnten ge¬
setzlichen Vorschriften werden eingehend geregelt durch das Ge¬
setz, betreffend die Dienstvergehen der Richter und die unfrei¬
willige Versetzung derselben auf eine andere Stelle oder in den
Ruhestand, vom 7. Mai 1851.
Dieses Gesetz findet Anwendung nicht nur auf die fest an-
gestellten Richter (einschließlich der Handelsrichter), sondern
auch auf Gerichtsassessoren, auf Mitglieder der Bezirksausschüsse,
Auseinandersetzungsbehörden und Oberrechnungskammern, sowie
auf Notare').
Die oben erörterten Bestimmungen der §§ 2, 8, 9, ii und 12,
ebenso die eingehend besprochenen Voraussetzungen der §§ 88,
89 des Disziplinargesetzes für nichtrichterliche Beamte über
Dienstvergehen, unerlaubte Entfernung vom Amte und Dienst¬
entlassung finden sich fast wörtlich im Disziplinargesetz für
Richter wieder. Es genügt daher, auf die näheren Ausführungen
zu den erwähnten §§ zu verweisen.
Auch dieses Gesetz unterscheidet zwischen Dienstentlassung
wegen eines Dienstvergehens, also einer schuldhaften Hand¬
lung des richterlichen Beamten und unfreiwilliger, also schuld¬
loser Versetzung in den Ruhestand.
Wesentliche Abweichungen von den oben dargelegten Grund¬
sätzen finden sich in dem Disziplinargesetz für Richter nur hin-
') Für Notare Kelten nach § 66 des Disziplinar-Qesetzes für nicht¬
richterliche Beamte die §§ 2—7 und 77 dieses Gesetzes, im übrigen die
für unsere Darstellung wichtigen §§ 60, 61 des Disziplinargesetzes für
Richter. Das Disziplinarrecht für Rechtsanwälte, die freilich nicht Beamte
sind, ist heute durch Reichsgesetz, nämlich durch die Rechtsanwalts¬
ordnung vom 1. Juli 1878 geregelt.
344
Das Beamten-Disziplinarrecht.
sichtlich des Disziplinarverfahrens. Nach dem erwähnten Ver¬
fassungsgrundsatz über die Amtsentsetzung und zeitweilige
Amtsenthebung von Richtern wird die Disziplinargewalt
über diese nur von Richtern aus geübt. Dasselbe gilt
von dem Verfahren der unfreiwilligen Versetzung in den Ruhe¬
stand wegen eines körperlichen oder geistigen Gebrechens.
Zuständige Disziplinargerichte sind gemäß § i8;
1. Die Disziplinarsenate für die Mitglieder der
Oberlandesgerichte, bei denen sie gebildet sind, mit Ausschluß
der Präsidenten und Senatspräsidenten, und für alle übrigen
Richter des betreffenden Oberlandesgerichtsbezirks.
2. Der beim Kammergericht gebildete Große Diszipli-
narsenat für die Präsidenten und Senatspräsidenten der Ober¬
landesgerichte, sowie als Berufungsinstanz (§ 36) gegen die Ur¬
teile der Disziplinarsenate.
Die unfreiwillige Versetzung in den Ruhe¬
stand findet gemäß § 64 bei Richtern, denen gesetzmäßig eine
Pension zu bewilligen ist, nur unter Gewährung der gesetzlichen
Pension statt, d. h. nach § i des Beamten-Pens.-Gesetzes von Voll¬
endung des zehnten Dienstjahres ab^).
Eine Zwangspensionierung, wie sie gemäß § 30 Abs. i des
Beamten-Pens.-Gesetzes für nichtrichterliche Beamte möglich ist,
die das 65. Lebensjahr überschritten haben und ihre Versetzung
in den Ruhestand nicht selbst nachsuchen, ist dem Richter gegen¬
über ausgeschlossen.
B. Reichsrecht.
Das Disziplinarrecht für Reichsbeamte ist seinem wesent¬
lichen Inhalte nach im Reichsbeamtengesetz vom 3t. März 1873
(in der Fassung vom 17. Mai 1907) geregelt.
Auch die Disziplinarvorschriften des Reichsbeamtengesetzes
machen den oben behandelten Unterschied zwischen schuld-
hafter Verletzung (§ 72) und schuldloser, auf körper¬
lichen oder geistigen Gebrechen beruhender Nichterfüllung
(§ 61) der Amtspflichten, zwischen Entfernung aus dem
Amte (Strafversetzung oder Dienstentlassung) zur Ahndung
von Dienstvergehen (§ 75), die nur nach vorhergegangenem förm-
Wie schon oben erwähnt, kennt das Disziplinargesetz für
Richter keine dem § 93 Abs. 2 des Disziplinargesetzes für nichtrichterliche
Beamte analoge Bestimmung.
Zurechnungsfähigkeit. 345
liehen Disziplinarverfahren verhängt werden kann (§ 84), und
Zwangspensionierung wegen körperlicher oder geistiger
Gebrechen (§ 61), die sich in einfacherem Verfahren abspielt
(§ 62 ff.). Auch hier hat der Beamte regelmäßig erst von der
Vollendung des zehnten Dienstjahres ab Anspruch auf Pension
(§ 34, Ausnahmen in-den §§ 35, 36, 39, 68 Abs. 2) und kann,
wenn er das 65. Lebensjahr vollendet hat und seine Versetzung
in den Ruhestand nicht selbst nachsucht, ohne weiteres zwangs¬
weise pensioniert werden (§ 60a).
Besondere Bestimmungen über die Versetzung in ein anderes
Amt, die einstweilige und die zwangsweise Versetzung in den
Ruhestand, über Disziplinarbestrafung und vorläufige Dienstent¬
hebung') sind gemäß § 158 wiederum für die Mitglieder des
Reichsgerichts, des Bundesamts für das Heimatwesen, des Rech¬
nungshofs des Deutschen Reichs und für richterliche Militär-
Justizbeamte getroffen. Nach Art. IV d. Ges. vom 23. 12. 73
gelten die Bestimmungen des § 158 entsprechend für die richter¬
lichen Beamten in Elsaß-Lothringen“).
Es mag auch hier genügen, auf die Ausführungen über das
preußische Disziplinarrecht zu verweisen.
Österreichisches Strafgesetz
vom 27. Mai 1852, Nr. 1T7 R.G.Bl.
Im Anschluß an die Erörterung der deutschen Straf- und
Disziplinargesetze seien kurz die wichtigsten Bestimmungen aus
dem österreichischen Strafrecht hinzugefügt“).
Zurechnungsfähigkeit.
§ 1. „Zu einem Verbrechen wird böser Vorsatz erfordert. Böser
Vorsatz aber fällt nicht nur dann zur Schuld, wenn vor, oder bei der
Unternehmung oder Unterlassung das Übel, welches mit dem Verbrechen
verbunden ist, geradezu bedacht und beschlossen; sondern auch, wenn
aus einer anderen bösen Absicht etwas unternommen, oder unterlassen
*) Für Mitglieder des Reichsgerichts auch über die Pensionierung
und den Verlust der Pension.
“) Ebenso für die Professoren der Universität Straßburg gemäß § 2
des Gesetzes vom 18. 6. 90.
*) Literatur: Löffler u. Lorenz, Strafgesetz. Wien 1912. Bumke,
Qerichtl. Psychiatrie. Wien 1912. Deuticke. Stooß, Strafrecht. Wien 1913.
A. Löffler, Üsterr. Qer.-Zeitg. 1906, Nr. 47. Bischoff, Ger. Psych. 1912.
346
österreichisches Strafgesetz.
worden, woraus das Übel, welches dadurch entstanden ist, gemeinig¬
lich erfolgt, oder doch leicht erfolgen kann.“
§ 2. „Daher wird die ffandlung oder Unterlassung nicht als Ver¬
brechen zugerechnet:
a) wenn der Täter des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt ist,
b) wenn die Tat bei abwechselnder Sinnesverrückung zu der Zeit,
da die Verrückung dauerte; oder
c) in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen
Berauschung (§ 236 u. 523) oder einer anderen Sinnesverwirrung, in
welcher der Täter sich seiner Handlung nicht bewußt war, begangen
worden;
d) wenn der Täter das 14. Jahr noch nicht zurückgelegt hat (§ 237
und 269);
g) wenn die Tat durch unwiderstehlichen Zwang oder in Ausübung
gerechter Notwehr erfolgte.“
Die beiden eben aufgefiihrten Bestimmungen regeln die Schuldfrage.
Im § 2 sind unter a) alle Geisteskrankheiten zu verstehen, die unver¬
änderliche Dauerzustände darstellen, und vollständige Vernunftlosigkeit
bedingen (E. 1. 5. 03, Z. 15 320, Sg. Nr. 2840; E. 12. 10. 03, Z. 1084;
11. 4. 04, Z. 18 003). Deshalb reicht konträrsexuelles Geschlechtsemp¬
finden nicht aus (s. die eben zit. Entsch.), ebensowenig geistige Minder¬
wertigkeit (E. 7. 1. 05, Z. 18 103, Sg. Nr. 3039; ferner 8. 11. 09, Kr. III 96/9,
Ö.R. Nr. 3).
Gemeint sind z. B. die Paranoia, der Schwachsinn, die Idiotie und
die „Wildheit“ (Jenull).
Als Sinnes v e r r ü c k u n g ^) sind vorübergehende psychische
Störungen des gesamten seelischen Lebens (E. 13. 7. 08, Sg. Nr. 3458),
als Sinnes V e r w i r r u n g Bewußtseinsstörungen und sinnlose Trunken¬
heit anzusehen.
Als Strafausschließungsgründe kommen nicht in Betracht: Affekte,
die nicht bis zur Bewußtseinsstörung gesteigert sind (E. 28. 1. 07,
Z. 20506, Sg. Nr. 3305). Ebensowenig kann sexuelle Neurasthenie, welche
sich nicht bis zur Aufhebung des Bewußtseins steigert, bei sexuellen Delik¬
ten die Zurechnungsfähigkeit ausschließen (E. 25. 6. 09, Sg. Nr. 3601).
Unter den Begriff des unwiderstehlichen Zwanges sind
nur „von außen kommende“ Nötigungen, nicht etwa durch Wahnvor¬
stellungen oder sonstige in der Person des Täters liegende psychische
Eigenschaften zu fassen (E. 20. 11. 97, Z. 12 388. Sg. Nr. 2138). Psycho¬
pathische Zustände (E. 16. 1. 05, Z. 15 648, Sg. Nr. 3031), perverser Ge¬
schlechtstrieb (E. 10. 2. 11, Sg. Nr. 3788), andauernd hochgradiger Affekt
(E. 21. 11. 96, Z. 11 189, Sg. Nr. 2019), Leidenschaft (E. 29. 1. 92, Z. 15 482,
Sg. Nr. 1551), Blutrache (E. 30. 6. 94, Z. 5659, Sg. Nr. 1799) reichen
nicht aus.
üb die Tat durch unwiderstehlichen Zwang erfolgte, beurteilt der
Richter, nicht der Arzt (E. 20. 9. 01, Z. 11 430 u. E. 27. 2. 01, Z. 2271,
Sg. Nr. 2569).
‘) Z. B. das manisch-depressive Irresein.
Zurechnungsfähigkeit.
347
Affekte, die bis zu einer das Bewußtsein beseitigenden Sinnesver¬
wirrung oder bis zur Vernichtung der Willensfreiheit sich nicht erheben,
können Unzurechnungsfähigkeit nicht bewirken (E. 29 . 1. 92, Z. 15 482,
Sg. Nr. 1551). —
Die Trunkenheit ist in folgenden Bestimmungen besonders
erwähnt:
§ 236. „Obgleich Handlungen, die sonst Verbrechen sind, in einer
zufälligen Trunkenheit verübt, nicht als Verbrechen angesehen werden
können (§ 2, lit. c), so wird in diesem Falle dennoch die Trunkenheit als
eine Übertretung bestraft.“
Das Delikt muß sich als ein Verbrechen darstellen (E. 25. 4. 95;
Z. 1995, E. 16.2.07, Z. 13975, Sg. Nr. 3307). Ein kulposes Delikt ist strafbar,
wenn der Umstand» daß sich der Täter die Trunkenheit zuzog, die ge¬
setzlich vorausgesetzte Schuld schon an sich darstellt (E. 17. 5. 90,
Z. 3730, Sg. Nr. 1348). Bei Tötung eines Menschen genügt nicht, daß der
Täter die Trunkenheit verschuldet hat; er muß auch der Einsicht fähig
gewesen sein, daß er die im Gesetz bezeichnete Gefahr herbeiführen
oder vergrößern könne, falls er sich in den Zustand der Trunkenheit
versetzt (E. 3. 10. 90, Z. 5070, Sg. Nr. 1362).
§ 523. „Trunkenheit ist an demjenigen als Übertretung zu be¬
strafen, der in der Berauschung eine Handlung ausgeübt hat, die ihm
außer diesem Zustande als Verbrechen zugerechnet würde (§ 236). Die
Strafe ist Arrest von einem bis zu 3 Monaten. War dem Trunkenen aus
Erfahrung bewußt, daß er in der Berauschung heftigen Gemütsbewegungen
ausgesetzt sei, so soll der Arrest verschärft, bei größeren Übeltaten aber
auf strengen Arrest bis zu 6 Monaten erkannt werden.“
Notwendig ist, daß eine Tat vorhanden ist, die äußerlich die Er¬
scheinungsformen eines bestimmten Verbrechens an sich trägt (E.
27. 12. 10, Kr. I 281/10; Ö.R. Nr. 177). Die kriminelle Verantwortlichkeit
des Täters für die Tat ist für Anwendung des § 523 ohne Belang (E.
11. 2. 10, Kr. VII 84/9, Sg. Nr. 3701, Ö.R. Nr. 47). Dagegen muß die
Trunkenheit selbst verschuldet sein (E. 12. 3. 83, Z. 13 331, Sg. Nr. 526;
E. 20. 6. 85, Z. 3821, Sg. Nr. 798). Das Verschulden liegt schon im bewußten
Genuß berauschender Getränke (1. 24. 1. 10, Sg. Nr. 3725). Auch ein patho¬
logischer Rausch kann Verschulden i. S. des § 523 sein, wenn der Täter
seine geringe Widerstandskraft gegen Alkohol kennt (E. 13. 1. 08,
Z. 10 490 und E. 10. 2. 08, Z. 13 857, Sg. Nr. 3434). Im Schwurgerichts¬
verfahren muß die auf den Tatbestand des § 523 Str.G.B. gerichtete
Schuldfrage auch das auf die Trunkenheit bezügliche Schuldmoment
umfassen (E 24. 1. 10, Sg. Nr. 3725). Verurteilung im Schwurgerichts-
Verfahren nur auf Grund einer den Tatbestand i. S. der §§ 318 u. 320
Str.P.O. ausdrücklich feststellenden Schuldfrage möglich (E. 12. 3. 83,
Z. 13 331, Sg. Nr. 526; E. 4. 1. 11. Ö.R. Nr 180). Die Bejahung der Haupt¬
frage wegen Verbrechens und der auf den Zustand voller Berauschung
lautenden Zusatzfrage genügt nicht zur Anwendung des § 523 (E.
23. 10. 01, Z. 14 341, Sg. Nr. 2665).
§ 524. „Eingealterte Trunkenheit ist bei Handwerkern und Tage¬
löhnern, welche auf Dächern und Gerüsten arbeiten oder die mit feuer-
348
österreichisches Strafgesetz.
gefährlichen Gegenständen umzugehen haben, sowie bei derjenigen
Klasse von Dienstpersonen, durch deren Fahrlässigkeit leicht Feuer ent¬
stehen kann, als Übertretung mit Arrest.zu bestrafen.“
Bemerkt sei zu allen diesen Paragraphen noch, daß dieselben auch
auf Militärpersonen Anwendung finden (Mattauschek) ^).
Mitschuld und Teilnahme.
Über Mitschuld und Teilnahme bei den Handlungen Geisteskranker
besagt § 5 Abs. 2 des Gesetzes;
„Entschuldigungsumstände, welche die Strafbarkeit eines Ver¬
brechens für den Täter oder für einen der Mitschuldigen oder Teil¬
nehmer nur vermöge persönlicher Verhältnisse desselben aufheben,
sind auf die übrigen Mitschuldigen und Teilnehmer nicht auszudehnen."
Hierzu besagt eine E. v. 19. 12. 95 (Z. 12 382) Mangel der Zurech¬
nungsfähigkeit beim Täter bewirkt nicht Straflosigkeit des Anstifters
oder Gehilfen (s. auch E. 12. 10. 83, Z. 5593, Sg. Nr. 573).
Jugendliche.
§ 237. „Die strafbaren Handlungen, die von Kindern bis zu dem
vollendeten zehnten Jahre begangen werden, sind bloß der häuslichen
Züchtigung zu überlassen; aber von dem angehenden elften bis zu dem
vollendeten vierzehnten Jahre werden Handlungen, die nur wegen Un¬
mündigkeit des Täters nicht als Verbrechen zugerechnet werden (§ 2
lit. d), als Übertretungen bestraft (§§ 269 und 270).“
§ 269. „Unmündige können auf zweifache Art schuldig werden:
a) durch strafbare Handlungen, welche nach ihrer Eigenschaft Ver¬
brechen wären, aber wenn sie Unmündige begehen, nach § 237 nur als
Übertretungen bestraft werden;
b) durch solche strafbare Handlungen, welche schon an sich nur
Vergehen oder Übertretungen sind.“
§ 270. „Die von Unmündigen begangenen strafbaren Handlungen
der ersten Art sind mit Verschließung an einem abgesonderten Verwah¬
rungsorte nach Beschaffenheit der Umstände von einem Tage bis zu
sechs Monaten zu bestrafen . . .“
Auch in Österreich besteht die Möglichkeit, Jugendliche zu be¬
gnadigen. Antragsberechtigt ist das Gericht “). Die in diesem Para¬
graphen erwähnte Verschließungsstrafe kann auch in einer Besserungs¬
anstalt verbüßt werden (J.M.V. 23. 1. 99, Z. 30 430 ex 98; J.M.V. Bl. Nr. 6).
Die Art der Behandlung dort soll aber erkennen lassen, daß es sich um
Strafe, nicht nur um eine Besserungsmaßregel handelt. Die Justiz¬
behörde muß die Strafvollstreckung auch kontrollieren können.
§ 271. „Die Umstände, worauf bei Bestimmung der Strafzeit und
der Verschärfung Rücksicht zu nehmen ist, sind;
*) Nach Bumke, Gerichtl. Psychiatrie. Wien 1912. F. Deuticke.
“) Über das Verfahren usw. s. S. 363 u. ff.
Milderungsgründe (verminderte Zurechnungsfähigkeit).
349
a) die Größe und Eigenschaft der strafbaren Handlung;
b) das Alter der Schuldigen, je nachdem sich dasselbe mehr der
Mündigkeit nähert;
c) seine Gemütsart, nach der sowohl aus der gegenwärtigen Hand¬
lung als aus dem vorhergehenden Betragen sich äußernden Selbst¬
bestimmung, schädlichere Neigungen, Bosheit oder Unverbesserlichkeit.“
§ 272. „Mit dieser Bestrafung der Unmündigen ist nebst einer ihren
Kräften angemessenen Arbeit stets ein zweckmäßiger Unterricht des
Seelsorgers oder Katecheten zu verbinden.“
§ 273. „Die von Unmündigen begangenen strafbaren Handlungen
der zweiten Art werden insgemein der häuslichen Züchtigung, in Er¬
mangelung dieser aber oder nach dabei sich zeigenden besonderen Um¬
ständen der Ahndung und Vorkehrung der Sicherheitsbehörde über¬
lassen.“
Einen Begriff, wie den der „Einsicht" i. S. des § 56 Str.G.B. kennt
das österreichische Recht nicht. Mit der Feststellung des Alters ist
die Frage der Strafmündigkeit ohne weiteres beantwortet.
Den bisher mitgeteilten Bestimmungen ist noch eine weitere hin-
zuzufiigen:
Milderungsgründe (verminderte Zurechnungsfähigkeit).
§ 46. ..Milderungsgründe ^), welche auf die Person des Täters Be¬
ziehung haben, sind;
a) wenn der Täter in einem Alter unter 20 Jahren, wenn er
schwach an Verstand oder seine Erziehung sehr vernachlässiget wor¬
den ist;
b) wenn er in einer aus dem gewöhnlichen Menschengefühle ent¬
standenen heftigen Gemütsbewegung sich zu dem Verbrechen hat hin¬
reißen lassen.“
Als mildernde Umstände sind auch bei den Vergehen und Über¬
tretungen wieder (§ 264):
a) ein der Unmündigkeit nahes Alter, schwächerer Verstand oder
eine sehr vernachlässigte Erziehung;
b) eine heftige Gemütserregung angeführt.
Die Milderungsgründe haben zur Folge:
§ 52. „Wenn bei Verbrechen, worauf Todesstrafe verhängt ist.
Milderungsumstände eintreten, so wird zwar der Richter das Urteil nach
dem Gesetze schöpfen, sich aber weiters nach den über das Verfahren
erlassenen Vorschriften zu benehmen haben. — Wenn jedoch der Ver¬
brecher zur Zeit des begangenen Verbrechens das Alter von zwanzig
Jahren noch nicht zurückgelegt hat, so ist anstatt der Todes- oder
') Stooß nennt als solche: Jugend und Greisenalter, die physiolo¬
gischen Geschlechtsperioden des Weibes, Schwachsinn, Taubstummheit,
Hysterie, Hypochondrie, Epilepsie, Somnambulismus, Hypnose, Alko¬
holismus, Traumatismus, Fieber, Morphinismus, erbliche Belastung,
überstandene Geisteskrankheit.
350
österreichisches Strafgesetz.
lebenslangen Kerkerstrafe auf schweren Kerker zwischen zehn und
zwanzig Jahren zu erkennen.“
§ 53. „In allen anderen Fällen wird zur Regel festgestellt, daß
wegen Milderungsumständen weder die Art der Strafe, noch die gesetz¬
liche Dauer verändert werden kann, sondern die Strafzeit nur inner¬
halb des Raumes, den die Gesetze gestatten, zu verkürzen ist.“
§ 54. „Bei Verbrechen, für welche die Strafzeit nicht über fünf
Jahre bestimmt ist, kann sowohl der Kerker in einen gelinderen Grad
verändert, als die gesetzliche Dauer selbst unter sechs Monate verkürzt
werden, in dem Falle, daß mehrere und zwar solche Milderungsumstände
Zusammentreffen, welche mit Grund die Besserung des Verbrechers er¬
warten lassen.“
Durch J.M.E. vom 17. Mai 02, Z. 296 wurde den Gerichten streng¬
stens eingeschärft, daß die Bestimmungen des § 54 nur ausnahmsweise
und bei dem Eintreffen jener außergewöhnlichen Voraus¬
setzungen angewandt werden dürfen, die nach dem Gesetz Vorbedin¬
gung sind. Dasselbe gilt auch für die § 260 (Verringerung von Geld¬
strafen und Arrest aus Rücksicht auf die Familie) und § 266 (stellt ein
Analogon zu § 54 bezüglich des Arrestes dar).
Nach § 55 kann hei Strafen von nicht mehr als 5 Jahren aus
Rücksicht auf die Familie die Strafdauer abgekürzt werden, doch nur
dann, wenn die Verkürzung „durch eine oder mehrere der im § 19 auf¬
gezählten Verschärfugen ersetzt wird“ (das sind: hartes Lager, Einzel¬
haft, einsame Absperrung in dunkler Zelle, Landesverweisung nach aus¬
gestandener Strafe. Früher kam auch die körperliche Züchtigung in
Betracht.)
Geisteszustand der Gebärenden
Wie in Deutschland, so ist auch in Österreich auf den Geistes¬
zustand derGebärenden besonders Rücksicht genommen worden.
§ 139. „Gegen eine Mutter, die ihr Kind bei der Geburt tötet, oder
durch absichtliche Unterlassung des bei der Geburt nötigen Beistandes
umkommen läßt, ist, wenn der Mord an einem ehelichen Kinde geschehen,
lebenslanger schwerer Kerker zu verhängen. War das Kind unehelich,
so hat im Falle der Tötung 10- bis 20iährige. wenn aber das Kind durch
Unterlassung des nötigen Beistandes umkam, 5- bis 10jährige schwere
Kerkerstrafe statt.“
Hinzugefügt sei zu dieser Bestimmung noch, daß § 339 Str.G. be¬
stimmt, eine unverehelichte schwangere Frauensperson muß bei der
Niederkunft eine Hebamme, einen Geburtshelfer oder sonst eine ehrbare
Frau zum Beistand rufen. Kann sie das nicht oder ist ein Abort ein¬
getreten oder das Kind binnen 24 Stunden gestorben, dann muß sie einem
Geburtshelfer oder einer obrigkeitlichen Person Anzeige machen und ihr
den Abort oder das tote Kind vorzeigen. Verheimlichung der Geburt
wird mit strengem Arrest von 3—6 Monaten bestraft (§ 340).
) Literatur s. bei Besprechung des deutschen Rechtes.
Sittlichkeitsverbrechen und Vergehen.
351
Sittlichkeitsverbrechen und Vergehen.
§ 125. „Wer eine Frauensperson durch gefährliche Bedrohung, wirk¬
lich ausgeübte Gewalttätigkeit oder durch arglistige Betäubung ihrer
Sinne außerstand setzt, ihm Widerstand zu tun, und sie in diesem Zu¬
stande zu außerehelichem Beischlafe mißbraucht, begeht das Verbrechen
der Notzucht.“
§ 126. „Die Strafe der Notzucht ist schwerer Kerker zwischen fünf
und zehn Jahren. Hat die Gewalttätigkeit einen wichtigen Nachteil der
Beleidigten an ihrer Gesundheit, oder gar am Leben zur Folge gehabt, so
soll die Strafe auf eine Dauer zwischen zehn und zwanzig Jahren ver¬
längert werden. Hat das Verbrechen den Tod der Beleidigten verursacht,
so tritt lebenslanger schwerer Kerker ein.“
§ 127. „Der an einer Frauensperson, die sich ohne Zutun des Täters
im Zustande der Wehr- oder Bewußtlosigkeit befindet, oder die noch nicht
das 14. Lebensjahr zurUckgelegt hat, unternommene außereheliche Bei¬
schlaf ist gleichfalls als Notzucht anzusehen und nach § 126 zu bestrafen.“
§ 128. „Wer einen Knaben oder ein Mädchen unter 14 Jahren oder
eine im Zustande der Wehr- oder Bewußtlosigkeit befindliche Person zur
Befriedigung seiner Lüste auf eine andere als die im § 127 bezeichnete
Weise geschiechtlich mißbraucht, begeht . . . das Verbrechen der Schän¬
dung und soll mit schwerem Kerker von 1 bis zu 5 Jahren, bei sehr er¬
schwerenden Umständen bis zu 10, und wenn eine der im § 126 erwähnten
Folgen eintritt, bis zu zwanzig Jahren bestraft werden.“
§ 129. „Als Verbrechen werden auch nachstehende Arten der Un¬
zucht bestraft:
1. Unzucht wider die Natur, das ist a) mit Tieren; b) mit Personen
desselben Geschlechts.“
§ 130. Die Strafe ist schwerer Kerker von einem bis fünf Jahren.
Wenn sich aber im Falle des lit. b) eines der im § 125 erwähnten
Mittel bedient wurde, so ist die Strafe von fünf bis zu zehn Jahren und
wenn einer der Umstände des § 126 eintritt, auch die dort bestimmte
Strafe zu verhängen.
§ 516. „ Wer . . . durch unzüchtige Handlungen die Sittlichkeit oder
Schamhaftigkeit gröblich und auf eine öffentliches Ärgernis erregende Art
verletzt, macht sich einer Übertretung schuldig, und soll zu strengem
Arreste von 8 Tagen bis zu 6 Monaten verurteilt werden . . . . “
Die vorstehenden Bestimmungen bedürfen nach Besprechung des
deutschen Rechtes kaum einer Erläuterung.
Im § 125 ist zur Erfüllung des Tatbestandes die Überwältigung, d. h.
gänzliche Verdrängung des eigenen Willens der angegriffenen Person er¬
forderlich (E. 5. 5. 82, Z. 14 271, Sg. Nr. 447). Zur Vollendung dieses Ver¬
brechens wird die physiologische, die Befruchtungsmöglichkeit bedingende
Konsumation des Beischlafsaktes nicht erfordert (E. 22. 3. 86, Z. 389).
Tritt der Täter freiwillig vom Notzuchtsversuch zurück, so kann er
sich trotzdem z. B. der Einschränkung der persönlichen Freiheit seines
Opfers schuldig gemacht haben.
Der im § 126 erwähnte wichtige Nachteil braucht kein bleibender
352
österreichisches Strafgesetz,
Nachteil zu sein (E. 13. 10. 82, Z. 8947, Sg. Nr. 489). Ist die Verletzte
infolge des erlittenen Angriffes das Opfer einer Sinnenverwirrung ge¬
worden und hat sie sich den Tod gegeben, ohne daß ihrerseits eine freie
Willensbestimmung auf diesen Entschluß eingewirkt hätte, so ist der vom
Gesetz (§ 134) geforderte ursächliche Zusammenhang gegeben (E. 8. 11.
90, Z. 9753, Sg. Nr. 1368). Nach dieser Entscheidung läge alsdann ein
Mord bzw. Totschlag vor.
Als Wehrlosigkeit im Sinne des § 127 und 128 soll jener Grad der
Widerstandsunfähigkeit bezeichnet werden, der die Verdrängung des
eigenen Willens der Person zur Folge hat (E. 5. 5. 82, Z. 14 271, Sg.
Nr. 447).
Bewußtlosigkeit bedeutet hier nicht, wie im deutschen Strafrecht,
eine Bewußtseinstrübung, sondern jede Art von Störung der Willens- und
Intellektsphäre, die das Sichhingeben zum Geschlechtsakt als nicht frei
gewollt erscheinen läßt. An einer blödsinnigen Frauensperson unter¬
nommener Beischlaf ist daher nach dieser Gesetzesstelle zu beurteilen
(E. 23. 11. 01, Z. 13 574, Sg. Nr. 2659). Der Beischlaf braucht nicht voll¬
endet gewesen zu sein (E. 16. 7. 75, Z. 5511).
Zum geschlechtlichen Mißbrauch im Sinne des § 128 gehört jede
widerrechtliche Benutzung des Körpers einer Person anderen Geschlechts
zur Vornahme von Akten des Geschlechtstriebes. Eine Beschränkung
der Begriffsbestimmung auf vorzugsweise Inanspruchnahme der Ge¬
schlechtsteile ist nicht statthaft (E. 17. 1. 81, Z. 10 689). Es braucht auch
kein beischlafähnlicher Akt zu sein (E. 21. 4. 83, Z. 2389, Sg. Nr. 539).
Beischlaf einer Frauensperson mit einem unmündigen Knaben begründet
nicht den Tatbestand der Schändung (E. 13. 10. 93, Z. 8599, Sg. Nr. 1669).
Bei § 129 bedarf es nicht der Vereinigung der Geschlechtsteile,
sondern es genügt jeder Akt, durch den geschlechtliche Befriedigung von
dem Körper einer Person gleichen Geschlechts gesucht oder gefunden
wird. Bloße Berührung der Geschlechtsteile ohne masturbatorische Ab¬
sicht genügt nicht (E. 13. 7. 08, Sg. Nr. 3458).
Die Perversion des Geschlechtstriebes wirkt nur als Folge eines
psychopathischen Zustandes strafausschließend (E. 27. 2. 01, Z. 2271, Sg.
Nr. 2569).
Schwere körperliche Beschädigung.
§ 152. „Wer gegen einen Menschen, zwar nicht in der Absicht, ihn
zu töten, aber doch in anderer feindseliger Absicht auf eine solche Art
handelt, daß daraus (§ 134) eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähig¬
keit von mindestens zwanzigtägiger Dauer, eine Geisteszerrüttung oder
eine schwere Verletzung desselben erfolgte, macht sich des Verbrechens
der schweren körperlichen Beschädigung schuldig.“
§ 156. „Hat aber das Verbrechen
a) für den Beschädigten den Verlust oder eine bleibende
Schwächung der Sprache, des Gesichtes oder Gehörs, den
Verlust der Zeugungsfähigkeit, eines Auges, Armes oder einer
Hand, oder eine andere auffallende Verstümmelung oder Ver¬
unstaltung; — oder
Ärztliche Tätigkeit, Hypnotiseure. Kurpfuscher.
353
b) immerwährendes Siechtum, eine unheilbare Krankheit oder eine
Qeisteszerrüttung ohne Wahrscheinlichkeit der Wiederherstel¬
lung; — oder
c) eine immerwährende Berufsunfähigkeit des Verletzten
nach sich gezogen, so ist die Strafe des schweren Kerkers zwischen
fünf und zehn Jahren auszumessen.“
Psychische Einwirkungen erfüllen den Tatbestand des § 152 nicht
(E. 11. 2. 10, Sg. Nr. 3719).
Dem Deliktsmerkmal der Qeisteszerrüttung genügt eine den übrigen
im § 152 Str.Q.B. bezeichneten Folgen an Erheblichkeit gleichkommende
Geistesstörung auch dann, wenn sie nur vorübergehend ist (E. 26. 9. 01,
Z.3581, Sg.2666). Einzelne Krampfanfälle, keine Qeisteszerrüttung (Bischoff).
Was den Kausalzusammenhang anlangt, so hat der Täter auch für
die die Handlung begleitenden zufälligen Umstände (z. B. zufällige Ver¬
unreinigung der Wunde mit nachfolgender Sepsis (E. 27. 3. 97, Z. 1790,
Sg. Nr. 2060) zu haften. —
Im übrigen gibt die Frage des Kausalnexus wohl am kürzesten und
im Sinne des Deutschen Rechtes die folgende Entscheidung wieder:
Eine Handlung ist für einen bestimmten Erfolg dann kausal, wenn
bei ihrem Wegfalle der Erfolg entweder überhaupt nicht oder doch nicht
auf dem Wege hätte eintreten können, wie er tatsächlich eingetreten ist
(E. 28. 12. 11, Kr. II. 335/11).
Ärztliche Tätigkeit, Hypnotiseure, Kurpfuscher.
§ 343. Wer, ohne einen ärztlichen Unterricht erhalten zu haben,
und ohne gesetzliche Berechtigung zur Behandlung von Kranken als Heil¬
oder Wundarzt, diese gewerbsmäßig ausübt, oder insbesondere sich mit
der Anwendung von animalischem oder Lebensmagnetismus oder von
Ätherdümpfen (Narkotisierungen) befaßt, macht sich dadurch einer Über¬
tretung schuldig, und soll mit Arrest nach der Länge der Zeit, in welcher
er dieses unerlaubte Geschäft getrieben, und nach der Größe des Schadens,
den er dadurch zugefügt hat, mit strengem Arreste von einem bis zu
sechs Monaten; im Falle des aus seinem Verschulden erfolgten Todes
eines Menschen aber wegen Vergehens nach § 335 bestraft werden.
§ 356. Ein Heilarzt, der bei Behandlung eines Kranken solche Fehler
begangen hat, aus welchen Unwissenheit am Tage liegt, macht sich, in-
soferne daraus eine schwere körperliche Beschädigung entstanden ist,
einer Übertretung, und wenn der Tod des Kranken erfolgte, eines Ver¬
gehens schuldig, und es ist ihm deshalb die Ausübung der Heilkunde
solange zu untersagen, bis er in einer neuen Prüfung die Nachholung der
mangelnden Kenntnisse dargetan hat.
§ 357. Dieselbe Bestrafung soll auch gegen einen Wundarzt An¬
wendung finden, der die im vorhergehenden Paragraphen erwähnten
Folgen durch ungeschickte Operationen eines Kranken herbeigeführt hat.
§ 335. „Jede Handlung oder Unterlassung, von welcher der Han¬
delnde schon nach ihren natürlichen für jedermann leicht erkennbaren
Folgen, oder vermöge besonders bekannt gemachter Vorschriften, oder
nach seinem Stande, Amte, Berufe, Gewerbe, seiner Beschäftigung, oder
Hübner, Forensische Psychiatrie. 23
354
österreichische StrafprozeBordnung.
überhaupt nach seinen besonderen Verhältnissen einzusehen vermag, daß
sie eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder körperliche Sicher¬
heit von Menschen herbeizuführen, oder zu vergrößern geeignet sei, soll,
wenn hieraus eine schwere körperliche Beschädigung (§ 152) eines Men¬
schen erfolgte, an jedem Schuldtragenden als Übertretung mit Arrest von
einem bis zu sechs Monaten; dann aber, wenn hieraus der Tod eines
Menschen erfolgte, als Vergehen mit strengem Arreste von sechs Monaten
bis zu einem Jahre geahndet werden.“
Vorbedingung zur Bestrafung nach § 343 ist die Gewerbsmäßigkeit
der Ausübung ärztlicher Verrichtungen. Die Tätigkeit muß eine, wenn
auch nicht regelmäßig und dauernd fließende Einnahmequelle sein (PI.
E. 3. 5. 98, Z. 6100, Sg. Nr. 2209). Ein Schaden braucht durch die Aus¬
übung der Tätigkeit nicht eingetreten zu sein.
Die im Ausland approbierten Ärzte fallen gleichfalls unter den § 343,
wenn sie nicht nostrifiziert sind.
Der Paragraph ist insofern für uns interessant, als er die Möglich¬
keit bietet, Magnetiseure und Hypnotiseure, welche ihre Kunst gewerbs¬
mäßig betreiben, zur Rechenschaft zu ziehen.
Die Ausübung der Heilkunde soll besonders auch dann untersagt
werden, wenn der Arzt die Folgen des § 335 (s. unten) durch eine un¬
geschickte Operation hervorrief (E. 4. 11. 87, Z. 6857, Sg. Nr. 1108). Der
Arzt darf sich nicht darauf berufen, daß der Kunstfehler ein Spezialfach
betraf, das den obligaten ärztlichen Studien nicht beigezählt ist (E. 1. 5.
91, Z. 13 958, Sg. Nr. 1441).
Der § 357 soll speziell auch die Kunstfehler bei Operationen be¬
strafen. —
Bezüglich des § 335 ist über den Begriff der Kausalität nichts Neues
hinzuzufügen.
Zur Anwendung desselben wird nicht gefordert, daß die schwere
körperliche Beschädigung oder der Tod eines Menschen als Erfolg voraus¬
gesehen werden kann (E. 11. 10. 95, Z. 6179, Sg. Nr. 1880).
Wer zum Schutze des Lebens oder der körperlichen Sicherheit von
Menschen erlassene Dienstvorschriften verletzt, kann sich auf die Un¬
vorhersehbarkeit der damit verbundenen Gefahren nicht berufen (E.
9. 9. 09, Sg. Nr. 3616). Wer die besondere zur Hintanhaltung einer Gefahr
erteilte Vorschrift nach seinen Verhältnissen zu kennen und zu befolgen
verpflichtet ist, kann die in der Nichtbeachtung der Vorschrift be¬
gründete Haftung nicht deshalb ablehnen, weil er durch andere von ihm
getroffene oder beibehaltene Vorkehrungen die Gefahr abwenden zu
können vermeinte (E. 8. 1. 98, Z. 14110, Sg. Nr. 2159).
ÖsteiTeicliisclie Htrafprozeßordniina:
(vom 23. Mai 1873 Nr. 119 R.G.B.).
Sachverständigentätigkeit.
§ 116. „Der Augenschein ist vorzunehmen, so oft dies zur Auf¬
klärung eines für die Untersuchung erheblichen Umstandes notwendig
Österreichische Strafprozeßordnung. 355
erscheint. Es sind stets zwei Qerichtszeugen, und wenn sich dies wegen
Anerkennung der zu untersuchenden Gegenstände oder zur Erlangung
von Aufklärungen als zweckdienlich darstellt, ist auch der Beschuldigte
zuzuziehen. Dem Verteidiger des Beschuldigten kann die Beteiligung
bei der Vornahme des Augenscheines nicht versagt werden; auch ist ein
bereits bestellter Verteidiger, wenn kein besonderes Bedenken dagegen
obwaltet, von der Vornahme des Augenscheines in Kenntnis zu setzen.“
§ 118. „Sind bei einem Augenscheine Sachverständige erforderlich,
so soll der Untersuchungsrichter in der Regel deren zwei beiziehen.
Die Beiziehung eines Sachverständigen genügt, wenn der Fall von
geringerer Wichtigkeit ist, oder das Warten bis zum Eintreffen eines
zweiten Sachverständigen für den Zweck der Untersuchung bedenklich
erscheint.“
§ 119. „Die Wahl der Sachverständigen steht dem Untersuchungs¬
richter zu. Sind solche für ein bestimmtes Fach bei dem Gerichte bleibend
angestellt, so soll er andere nur dann zuziehen, wenn Gefahr am Ver¬
züge haftet, oder wenn jene durch besondere Verhältnisse abgehalten
sind, oder in dem einzelnen Falle als bedenklich erscheinen.
Wenn ein Sachverständiger der an ihn ergangenen Vorladung nicht
Folge leistet oder seine Mitwirkung bei der Vornahme des Augenscheines
verweigert, so kann der Untersuchungsrichter eine Geldstrafe von 5 bis
100 Gulden gegen ihn verhängen.“
Professoren der medizinischen Fakultäten sollen nur bei besonderer
Wichtigkeit des Falles als Sachverständige zu strafgerichtlichen Unter¬
suchungen verwendet werden (M.Vdg. v. 21. 10. 53). Die Inanspruch¬
nahme des Obersten Sanitätsrates behufs Erstattung eines Gutachtens
von den Gerichten ist nur im Wege des Ministeriums des Innern möglich
(J.M.Vdg. V. 1. 6. 95, Z. 11 450, J.V.B. Nr. 10).
Zur Wahl des Sachverständigen ist unbeschadet der legalen Mitwir¬
kung der Parteien in letzter Linie das Gericht berufen (E. 12. 6. 76, Z. 655).
§ 120. „Personen, welche in einem Untersuchungfalle als Zeugen
nicht vernommen oder nicht beeidet werden dürfen, oder welche zu dem
Beschuldigten oder dem Verletzten in einem der im § 152, Ziff. 1 be-
zeichneten Verhältnisse stehen, sind bei sonstiger Nichtigkeit des Aktes
als Sachverständige nicht beizuziehen. Von der Wahl der Sachverstän¬
digen sind in der Regel sowohl der Ankläger, als der Beschuldigte vor
der Vornahme des Augenscheines in Kenntnis zu setzen; werden erheb¬
liche Einwendungen vorgebracht und haftet nicht Gefahr am Verzüge, so
sind andere Sachverständige beizuziehen.“
In § 152 Ziff. 1 sind genannt: Verwandte und Verschwägerte des
Beschuldigten in auf- und absteigender Linie, sein Ehegatte und dessen
Geschwister und deren Ehegatten, die Geschwister seiner Eltern und
Großeltern, seine Neffen, Nichten, Geschwisterkinder, Adoptiv- und Pflege¬
kinder, sein Vormund. Sie sind nicht zeugnispflichtig.
§ 121. „Diejenigen Sachverständigen, welche vermöge ihrer bleiben¬
den Anstellung schon im allgemeinen beeidigt sind, hat der Unter¬
suchungsrichter vor dem Beginne der Amtshandlung an die Heiligkeit des
von ihnen abgelegten Eides zu erinnern.
23
356
österreichische Strafprozeßordnung.
Andere Sachverständige müssen vor der Vornahme des Augen¬
scheines eidlich verpflichtet werden, daß sie den Gegenstand desselben
sorgfältig untersuchen, die gemachten Wahrnehmungen treu und voll¬
ständig angeben und den Befund, sowie ihr Gutachten nach bestem
Wissen und Gewissen und nach den Regeln ihrer Wissenschaft oder
Kunst abgeben wollen.“
§ 122, 1. „Die Gegenstände des Augenscheines sind von den Sach¬
verständigen in Gegenwart der Gerichtspersonen zu besichtigen und zu
untersuchen, außer wenn letztere aus Rücksichten des sittlichen An¬
standes für angemessen erachten, sich zu entfernen oder, wenn die
erforderlichen Wahrnehmungen, wie bei der Untersuchung von Giften,
nur durch fortgesetzte Beobachtung oder länger dauernde Versuche ge¬
macht werden können.“
§ 123. ,.Der Untersuchungsrichter leitet den Augenschein. Er be¬
zeichnet mit möglichster Berücksichtigung der von dem Ankläger und
dem Beschuldigten oder dessen Verteidiger gestellten Anträge die Gegen¬
stände, auf welche die Sachverständigen ihre Beobachtung zu richten
haben, und stellt die Fragen, deren Beantwortung er für erforderlich hält.
Die Sachverständigen können verlangen, daß ihnen aus den Akten oder
durch Vernehmung von Zeugen jene Aufklärungen über von ihnen be¬
stimmt zu bezeichnende Punkte gegeben werden, welche sie für das ab¬
zugebende Gutachten für erforderlich erachten.
Wenn den Sachverständigen zur Abgabe eines gründlichen Gut¬
achtens die Einsicht der Untersuchungsakten unerläßlich erscheint,
können ihnen, soweit nicht besondere Bedenken dagegen obwalten, auch
die Akten selbst mitgeteilt werden.“
Die Sachverständigen sollen sich in den Grenzen der ihnen mög¬
lichst genau vorzuzeichnenden Aufgabe halten (J.M.V. 26. ,3. 86; Z. 1917,
J.V.BI. Nr. 12).
§ 124. „Die Angaben der Sachverständigen über die von ihnen
gemachten Wahrnehmungen (Befund) sind von dem Protokollführer so¬
gleich aufzuzeichnen. Das Gutachten samt dessen Gründen können sie
entweder sofort zu Protokoll geben oder sich die Abgabe eines schrift¬
lichen Gutachtens Vorbehalten, wofür eine angemessene Frist zu be¬
stimmen ist.“
§ 125. „Weichen die Angaben der Sachverständigen über die von
ihnen wahrgenommenen Tatsachen erheblich voneinander ab, oder ist
ihr Befund dunkel, unbestimmt, im Widerspruche mit sich selbst, oder
mit erhobenen Tatumstünden, und lassen sich die Bedenken nicht durch
eine nochmalige Vernehmung der Sachverständigen beseitigen, so ist
der .Augenschein, sofern es möglich ist, mit Zuziehung derselben oder
anderer Sachverständigen zu wiederholen.“
§ 126. „Ergeben sich solche Widersprüche oder Mängel in bezug
auf das Gutachten oder zeigt sich, daß es Schlüsse enthält, welche aus
den angegebenen Vordersätzen nicht folgerichtig gezogen sind, und lassen
sich die Bedenken nicht durch eine nochmalige Vernehmung der Sach¬
verständigen beseitigen, so ist das Gutachten eines anderen oder mehrerer
anderen Sachverständigen einzuholen.“
österreichische Strafprozeßordnung.
357
Sind die Sachverständigen Ärzte oder Chemiker, so kann in solchen
Fällen das Gutachten einer medizinischen Fakultät der im Reichsrate
vertretenen Länder eingeholt werden. Dasselbe geschieht, wenn die
Ratskammer die Einholung eines Fakultätsgutachtens wegen der Wichtig¬
keit oder Schwierigkeit des Falles nötig findet.
Fakultätsgutachten sollen nur bei wichtigen und schwierigen Fällen
eingeholt werden ( J.M.E. v. 18. 5. 74, Z. 6488).
Weichen die vernommenen Ärzte bei der Hauptverhandlung von
ihrem in der Voruntersuchung abgegebenen Gutachten ab, so reicht dies
nicht aus, die Einholung weiterer Gutachten zu begründen (E. 17. 11. 77,
Z. 10 187, Sg. Nr. 162). Voraussetzung für die Einholung von Fakultäts¬
gutachten und Gutachten anderer Ärzte bilden Widersprüche und Mängel
im Gutachten des erstgehörten Sachverständigen (E. 30. 4. 81, Z. 1117 und
5. 9. 87, Z. 4598, Sg. Nr. 1092). Eine Überprüfung des Fakultätsgutachtens
durch die zur Hauptverhandlung zugezogenen Ärzte ist unstatthaft
(E 5. 10. 06, Z. 13 293).
§ 134. „Entstehen Zweifel darüber, ob der Beschuldigte den Ge¬
brauch seiner Vernunft besitze, oder ob er an einer Geistesstörung leide,
wodurch die Zurechnungfähigkeit desselben-aufgehoben sein könnte, so
ist die Untersuchung des Geistes- und Gemütszustandes des Beschuldigten
jederzeit durch zwei Ärzte zu veranlassen.
Dieselben haben über das Ergebnis ihrer Beobachtungen Bericht
zu erstatten, alle für die Beurteilung des Geistes- und Gemütszustandes
des Beschuldigten einflußreichen Tatsachen zusammenzustellen, sie nach
ihrer Bedeutung sowohl einzeln, als im Zusammenhänge zu prüfen und,
falls sie eine Geistesstörung als vorhanden betrachten, die Natur der
Krankheit, die Art und den Grad derselben zu bestimmen, und sich so¬
wohl nach den Akten, als nach ihrer eigenen Beobachtung über den
Einfluß auszusprechen, welchen die Krankheit auf die Vorstellungen.
Triebe und Handlungen des Beschuldigten geäußert habe und noch
äußere, und ob und in welchem Maße dieser getrübte Geisteszustand
zur Zeit der begangenen Tat bestanden habe.“
Nach einer Verfügung des Just.-Minist. vom 6. Äug. 1902 J.V.B.
Nr. 37 hat das Gericht zu prüfen, ob der Beschuldigte in der Haft zweck¬
mäßig beobachtet weiden kann. Verneinenden Falls muß er in ein ent¬
sprechend eingerichtetes Gerichtsgefängnis gebracht werden. Die Ab¬
gabe an eine Irrenanstalt ist im § 134 nicht vorgesehen, diese Maßregel
ist nur dann zulässig, wenn geradezu zwingende Erwägungen, insbeson¬
dere die Art der Geisteskrankheit und die Unmöglichkeit einer zweck¬
entsprechenden Verwahrung und Behandlung im Gefängnisse einen
anderen Weg verschließen.
Nach erfolgter Freisprechung oder Einstellung des Verfahrens in¬
folge erwiesener Geisteskrankheit, obliegt die Anordnung der Abgabe
in eine Irrenanstalt infolge Gemeingefährlichkeit oder aus anderen
Gründen nicht den Strafgerichten, sondern den Verwaltungsbehörden.
Auch die zuständige Kuratelsbehörde ist unter Anschluß der Akten oder
im Falle diese nicht entbehrt werden können, unter Anschluß einer Ab¬
schrift des Gutachtens zu verständigen.
358 österreichische Strafprozeßordnung.
Die Hauptverhandlung.
§ 241. „Hierauf werden die vorgeladenen Zeugen und Sachverstän¬
digen aufgerufen und der Vorsitzende weiset sie an, nachdem er sie an
die Heiligkeit des von ihnen abzulegenden Eides erinnert hat, sich in das
für sie bestimmte Zimmer zu begeben. Nach Umständen kann auch der
Privatankläger oder Privatbeteiligte, wenn er als Zeuge zu vernehmen
ist, unbeschadet seines Rechtes, sich durch einen anderen bei der Ver¬
handlung vertreten zu lassen, zur Entfernung aus dem Sitzungssaale an¬
gewiesen werden.
Der Vorsitzende ordnet auch nach Befinden Maßregeln an, um Ver¬
abredungen oder Besprechungen der Zeugen zu verhindern.
Rücksichtlich der Sachverständigen kann der Vorsitzende in allen
Fällen, in welchen er es für die Erforschung der Wahrheit zweckdienlich
findet, verfügen, daß dieselben sowohl während der Vernehmung des
Angeklagten als der Zeugen im Sitzungssaal bleiben.“
§ 242. „Wenn Zeugen oder Sachverständige, der an sie ergangenen
Vorladung ungeachtet, bei der Hauptverhandlung nicht erscheinen, so
kann der Gerichtshof deren ungesäumte Vorführung verfügen.“ . . .
„Der Ausgebliebene ist zu einer Geldstrafe von 5 bis 50 Gulden zu
verurteilen').“ . . .
§ 243. „Gegen die in Gemäßheit des vorstehenden Paragraphen aus¬
gesprochene Verurteilung kann der Zeuge oder Sachverständige binnen
acht Tagen nach Zustellung des gegen ihn ergangenen Erkenntnisses
bei dem erkennenden Gerichtshöfe Einspruch erheben.
Wenn er nachzuweisen vermag, daß ihm die Vorladung nicht ge¬
hörig zugestellt worden, oder daß ihn ein unvorhergesehenes und unab¬
wendbares Hindernis vom Erscheinen abgehalten habe, wird er von der
wider ihn ausgesprochenen Strafe losgezählt.
Eine Minderung der verhängten Strafe oder des ihm auferlegten
Kostenbetrages kann ausgesprochen werden, wenn er darzutun imstande
ist, daß die Strafe oder Kostenverurteilung nicht im richtigen Verhält¬
nisse zu seinem Verschulden oder zu den Folgen seines Ausbleibens
steht.
Wird der Einspruch erst nach dem Schlüße der Hauptverhandlung
erhoben, so entscheidet darüber der Gerichtshof erster Instanz in nicht
öffentlicher Sitzung, in einer Versammlung von drei Richtern, von denen
einer den Vorsitz führt.
Gegen das über den Einspruch ergehende Erkenntnis ist kein Rechts¬
mittel zulässig.“
§ 247. ..Zeugen und Sachverständige werden einzeln vorgerufen
und in Anwesenheit des Angeklagten abgehört. Sie sind vor ihrer Ver¬
nehmung zur Angabe der Wahrheit zu ermahnen. Sachverständige,
welche den Eid bereits abgelegt haben, und Zeugen, welche im Vor-
’) Außerdem eventuell in die Kosten des Verfahrens. Auch kann
Vorführungsbefehl wider ihn erlassen werden (§ 242).
österreichische StrafprozeBordnung. 359
verfahren beeidigt wurden, sind an die Heiligkeit des abgelegten Eides
zu erinnern.
Außer diesem Falle ist jeder derselben, bei sonstiger Nichtigkeit,
nach Beantwortung der allgemeinen Fragen und vor seiner weiteren
Vernehmung unter Beobachtung des Gesetzes vom 3. Mai 1868, R.Q.B.
Nr. 33, zu beeidigen, soferne nicht einer der im § 170 unter 1 bis 6 be-
zeichneten Gründe entgegensteht.
Die Beeidigung kann unterbleiben oder bis nach erfolgter Abhörung
der Zeugen ausgesetzt werden, wenn Ankläger und Angeklagter darüber
einverstanden sind.“
§ 248. „Der Vorsitzende hat bei der Abhörung der Zeugen und
Sachverständigen die für den Untersuchungsrichter in der Vorunter¬
suchung erteilten Vorschriften, soweit dieselben nicht ihrer Natur nach
als in der Hauptverhandlung unausführbar erscheinen, zu beobachten.
Er hat dafür zu sorgen, daß ein noch nicht vernommener Zeuge nicht bei
der Beweisaufnahme überhaupt, ein nicht vernommener Sachverständiger
nicht bei der Vernehmung anderer Sachverständigen über denselben
Gegenstand zugegen sei.
Zeugen, deren Aussagen voneinander abweichen, kann der Vor¬
sitzende einander gegenüberstellen.
Zeugen und Sachverständige haben nach ihrer Vernehmung solange
in der Sitzung anwesend zu bleiben, als der Vorsitzende sie nicht ent¬
läßt oder ihr Abtreten verordnet. Die einzelnen Zeugen dürfen einander
über ihre Aussagen nicht zur Rede stellen.
Der Angeklagte muß nach der Abhörung eines jeden Zeugen, Sach¬
verständigen oder Mitangeklagten befragt werden, ob er auf die eben
vernommene Aussage etwas zu entgegnen habe.“
§ 249. „Außer dem Vorsitzenden sind auch die übrigen Mitglieder
des Gerichtshofes, der Ankläger, der Angeklagte und der Privatbeteiligte,
sowie deren Vertreter befugt, an jede zu vernehmende Person, nachdem
sie das Wort hiezu von dem Vorsitzenden erhalten haben, Fragen zu
stellen. Der Vorsitzende ist berechtigt, Fragen, die ihm unangemessen
erscheinen, zurückzuweisen.
§ 252. „Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten und
Zeugen, dann die Gutachten der Sachverständigen dürfen nur in folgenden
Fällen vorgelesen werden;
1. W’enn die Vernommenen in der Zwischenzeit gestorben sind;
wenn ihr Aufenthalt unbekannt oder ihr persönliches Erscheinen wegen
ihres Alters, wiegen Krankheit oder Gebrechlichkeit oder wegen entfernten
Aufenthaltes oder aus anderen erheblichen Gründen füglich nicht bewerk¬
stelligt werden konnte;
2. Wenn die in der Hauptverhandlung Vernommenen in wesentlichen
Punkten von ihren früher abgelegten Aussagen abw'eichen;
Die Zurückverweisung einer Frage durch den Vorsitzenden ist
kein Gegenstand der Nichtigkeitsbeschw'erde. Es ist der Partei frei¬
gestellt, gemäß § 238 Str.P.O. die Entscheidung des Gerichts zu ver¬
langen. (23. 11. 77, Z. 9052.)
360 österreichische Strafprozeßordnung.
4 . Wenn über die Vorlesung Ankläger und Angeklagter ein¬
verstanden sind.
Augenscheins- und Befundaufnahnien, gegen den Angeklagten früher
ergangene Straferkenntnisse, sowie Urkunden und Schriftstücke anderer
Art, welche für die Sache von Bedeutung sind, müssen vorgelesen
werden, wenn nicht beide Teile darauf verzichten.“
Wurde in der Hauptverhandlung das Gutachten anderer Sachver¬
ständigen eingeholt, als im Vorverfahren, so ist die Verlesung des Gut¬
achtens der im Vorverfahren vernommenen Sachverständigen nur mit
Einwilligung beider Parteien möglich. (E. 3. 5. 01., Z. 17 503, Sg. Nr. 2597.)
Dies gilt auch von Privatgutachten (20. 9. 07, Z. 8091). Fakultätsgut¬
achten (§ 126 Str.P.O.) sind in der Hauptverhandlung zu verlesen (E.
5. 10. 06, Z. 13 293).
§ 253. „Im Laufe oder am Schlüsse des Beweisverfahrens läßt der
Vorsitzende dem Angeklagten und soweit es nötig ist, den Zeugen und
Sachverständigen diejenigen Gegenstände, welche zur Aufklärung des
Sachverhaltes dienen können, vorlegen, und fordert sie auf, sich zu er¬
klären, ob sie dieselben anerkennen."
§ 254. „Der Vorsitzende ist ermächtigt, ohne Antrag des Anklägers
oder Angeklagten Zeugen und Sachverständige, von welchen nach dem
Gange der Verhandlung Aufklärung über erhebliche Tatsachen zu er¬
warten ist, im Laufe des Verfahrens vorladen und nötigenfalls vorführen
zu lassen und zu vernehmen.
Ob eine Beeidigung solcher neuen Zeugen oder Sachverständigen
stattfinde, darüber hat nach deren Abhörung und nach Vernehmung der
Parteien der Gerichtshof zu entscheiden.
Der Vorsitzende kann auch neue Gutachten abfordern oder andere
Beweismittel herbeischaffen lassen, mit dem Gerichte einen Augenschein
vornehmen oder hiezu ein Mitglied des Gerichtes abordnen, welches
darüber Bericht zu erstatten hat.“
Der Richter ist an das Gutachten des Sachverständigen nicht ge¬
bunden (E. 2. 10. 80, Z. 6952), es muß von ihm aber, wie jede andere Er¬
kenntnisquelle, eingehend und sorgsam gewürdigt werden; glaubt er das¬
selbe sich nicht aneignen zu können, so hat er die Gründe, welche ihn
zur Ablehnung bestimmen, anzugeben (E. 16. 11. 95, Z. 12 684 Sg.
Nr. 1910).
Ob die im § 335 Str.G.B.*) vorausgesetzte Einsicht in die mit einer
Handlung oder Unterlassung verbundene Gefahr durch körperliche Über¬
müdung ausgeschlossen werde, zu beurteilen, ist Sache des Richters. (E.
13. 9. 02, Z. 1314, Sg. Nr. 2751).
Verfahren hei den Bezirksgerichten.
§ 452. „Bei allen Vorerhebungen hat der Bezirksrichter im all¬
gemeinen die für die Untersuchungsrichter erteilten Vorschriften zu be¬
obachten, jedoch unter nachstehenden Beschränkungen:
) S. weiter oben.
österreichische Strafprozeßordnung. 361
1. Die vorläufige Festnehmung des Beschuldigten zum Behufe der
Vorführung kann außer den im § 175, Z. 2 und 3, erwähnten Fällen nur
dann stattfinden, wenn der ausdrücklich zum persönlichen Erscheinen
aufgeforderte Beschuldigte dieser Aufforderung nicht nachkommt. Rei¬
senden ist die Fortsetzung der Reise zu gestatten, insoferne nicht zu
besorgen ist, daß dadurch die Untersuchung oder die Vollstreckung des
Urteils vereitelt werde.
6. Bei einem Augenscheine, sowie bei Einholung eines Gutachtens
genügt die Beiziehung eines Sachverständigen.“
§ 471. „Liegt keiner der im § 469 ’) und § 470, Abs. 3, erwähnten
Fälle vor, so ist ein Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die
Berufung, und zwar auch soweit sie gegen den Ausspruch über die
Strafe und die privatrechtlichen Ansprüche gerichtet ist, anzuordnen,
und es sind dazu der Ankläger, der Angeklagte und jene Zeugen und
Sachverständigen, deren Vorladung nach § 470 beschlossen wurde, recht¬
zeitig vorzuladen.“
§ 470. ..Bei dieser nicht öffentlichen Beratung hat der Gerichtshof
erster Instanz auch zu prüfen, ob die nach § 467 angezeigten neuen Tat¬
sachen und Beweismittel erheblich seien. Die Vernehmung neuer Zeugen
und Sachverständigen ist nur dann zulässig, wenn dieselbe geeignet er¬
scheint, die vom ersten Richter als erwiesen angenommenen erheblichen
Tatsachen als unrichtig darzustellen.
Der Gerichtshof kann die neuen Beweise, sowie die Tatsachen,
woraus ein Nichtigkeitsgrund abgeleitet wird, nach Umständen auch
durch einen dazu abgeordneten Richter erheben lassen.
Die nochmalige Abhörung solcher Zeugen und Sachverständigen,
welche bereits in der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgerichte ver¬
nommen worden sind, findet nur dann statt, wenn der Gerichtshof die-
seibe wegen wesentlicher Bedenken gegen die Richtigkeit der im Urteile
erster Instanz enthaltenen Feststellung der Tatsachen erforderlich findet.
Außer diesem Falle hat der Gerichtshof die in erster Instanz aufgenom¬
menen Protokolle seiner Entscheidung zugrunde zu legen.
Zeigt sich schon bei der nichtöffentlichen Vorberatung die Not¬
wendigkeit einer W'iederholung, der Hauptverhandlung in erster Instanz,
so hat der Gerichtshof sofort darauf zu erkennen.“
Bestrafung Sachverständiger-).
§ 301. „Ärzte und andere approbierte Medizinalpersonen, welche ein
unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum
Gebrauche bei einer Behörde oder Versicherungsunternehmung wider
besseres Wissen ausstellen, werden mit Gefängnis von einem Monat
bis zu zwei Jahren, oder an Geld von 100 bis 500 fl. bestraft.“
M Mangel des Berufungsrechtes (§ 469).
*) Entnommen dem Handbuch der gerichtl. Medizin von Schmidt¬
mann. Berlin 1905. A. Hirschwald. S. 66.
362
österreichische Strafprozeßordnung.
Entlohnung der Sachverständigen.
§ .384. „Sachverständige, welche bei einem Gerichte bleibend als
solche bestellt sind und dafür eine Entlohnung beziehen, haben nur den
Ersatz der zur Erstattung eines Gutachtens nötig gewesenen und gehörig
nachgewiesenen Vorauslagen anzusprechen. Andere Sachverständige
erhalten außerdem eine von dem Gerichte mit Erwägung aller Umstände
zu bemessende Gebühr. Soweit hierüber in den bestehenden Vor¬
schriften nichts Besonderes bestimmt ist, wird die Gebühr zwischen
einem und fünf Gulden, und in dem Falle, wenn zu dem Gutachten be¬
sondere wissenschaftliche, technische oder künstlerische Kenntnisse oder
Fertigkeiten erforderlich sind, zwischen zwei Gulden und zwanzig Gulden
bemessen. Zur Bewilligung einer diesen Betrag übersteigenden Ent¬
lohnung ist die Genehmigung des Gerichtshofes zweiter Instanz ein¬
zuholen.“
§ 386. „Dagegen haben Sachverständige und Dolmetsche, wenn sie
die vorstehenden Amtshandlungen außer dem Orte ihres gewöhnlichen
Aufenthaltes zu verrichten haben, auch Reise- und Zehrungskosten, und
zwar die in öffentlichen Diensten angestellten nach Vorschrift der hierfür
bestehenden allgemeinen Verordnungen, die übrigen aber nach Maßgabe
der im § 383 gegebenen Bestimmungen, jedoch allerdings auch bei einer
geringeren, als der dort angegebenen Entfernung anzusprechen.
Alle vorerwähnten Gebühren sind übrigens den Sachverständigen
und Dolmetschen, womöglich sogleich nach ihrer Verwendung aus¬
zuzahlen oder kostenfrei zuzumitteln.
In der schriftlichen Vorladung ist ihnen zu bedeuten, daß sie ihre
Forderung bei Verlust des Anspruches längstens binnen vierzehn Tagen
nach Abgabe ihres Gutachtens anzubringen haben.“
Eideshindernisse.
§ 170. „Folgende Personen dürfen bei sonstiger Nichtigkeit des
Eides nicht beeidet werden;
4. Die zur Zeit ihrer Abhörung das vierzehnte Lebensjahr noch nicht
zurückgelegt haben;
5. welche an einer erheblichen Schwäche des Wahrnehmungs¬
oder Erinnerungsvermögens leiden.“
Zweifel über das eidesfähige Alter sind durch geeignete Erhebungen
aufzuklären (E. 10. 3. 77, Z. 11 048). Bleibt ungewiß, ob der Zeuge das
14. Jahr bereits zurückgelegt hat, so ist die Beeidigung zu unterlassen
(E. 17. 9. 77, Z. 8692). Die Aussage kann sich auf Vorkommnisse er¬
strecken, die sich vor dem 14. Lebensjahr zutrugen. (E. 30. 1. 07, Z. 891).
Die Anordnung sub 5 besagt, daß die Schwäche zur Zeit der Be¬
eidigung, nicht der Wahrnehmung bestehen muß. Die Störung muß
eine dauernde sein (E. 29. 5. 86, Z. 4160, Sg. Nr. 931). Rausch zur Zeit
der Wahrnehmung ist kein Eideshindernis (E. 22. 10. 06, Z. 8538).
Das Eideshindernis muß vor der Eidesabnahme geltend gemacht
werden (14. 2. 76, Z. 11231). Entsinnt sich der Zeuge gewisser Neben¬
umstände nicht, so kann der Angeklagte der Beeidigung noch nicht ent-
österreichische Strafprozeßordnung.
363
gegentreten (19. 8. 75, Z. 6541). Auch bei hochgradiger Schwerhörigkeit
kann das Eideshindernis des § 170, 5 angenommen werden. (30. 4 . 77,
Z. 12 250).
Wiederaufnahmeverfahren.
§ 353. „Der rechtskräftig Verurteilte kann die Wiederaufnahme des
Strafverfahrens selbst nach vollzogener Strafe verlangen:
2. Wenn er neue Tatsachen oder Beweismittel beibringt, welche
allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet
erscheinen, seine Freisprechung oder die Verurteilung wegen einer unter
ein milderes Strafgesetz fallenden Handlung zu begründen.“
§ 410. „Wenn nach eingetretener Rechtskraft eines Strafurteiles
Milderungsgründe hervorkommen, welche zur Zeit der Urteilsfällung noch
nicht vorhanden oder doch nicht bekannt waren, und welche zwar nicht
die Anwendung eines anderen Strafsatzes, aber doch offenbar eine
mildere Bemessung der Strafe herbeigeführt haben würden, so hat der
Gerichtshof erster Instanz (§ 401), sobald er sich von dem Vorhandensein
dieser Milderungsgründe überzeugt, einen Antrag auf angemessene Mil¬
derung der Strafe an den Gerichtshof zweiter Instanz zu stellen, welcher
über den Antrag nach Anhörung des Oberstaatsanwaltes entscheidet.“
Verfahren gegen Jugendliche.
Das Verfahren gegen Jugendliche ist durch eine ganze Reihe von
Verordnungen des Justizministeriums geregelt.
Wichtig ist die Verordnung vom 21. 10. 08. Danach gibt es auch in
Österreich Jugendgerichte. Übertretungen urteilt der Vormundschafts¬
richter ab. Das Verfahren gegen Jugendliche soll von dem gegen Er¬
wachsene, wenn irgend möglich, abgesondert werden. Für Jugendsachen
sind abgesonderte Verhandlungsräume zu bestimmen.
J.M. E. V. 30. 3. 09, Z. 7811, J.V.Bl. S. 115. Strafverfügungen sollen
von der Staatsanwaltschaft nicht beantragt werden.
V.D.J.M. v. 10. 7. 03, J.V.Bl. Nr. 22. Von allen Schritten, welche
im Strafverfahren gegen Jugendliche unternommen werden, soll der
gesetzliche Vertreter benachrichtigt werden.
Nach § 282 und 465 Str.P.O. steht dem gesetzlichen Vertreter das
Recht der Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung selbst gegen den Willen
des Minderjährigen, nach § 354 und 480 Str.P.O. das Recht, die Wieder¬
aufnahme zu beantragen, zu.
Verordnung des Justizministeriums v. 23. 5. 05, Nr. 9 J.V.Bl. Dort
wird anerkannt, daß der Jugendliche im Alter von 10—14 Jahren kaum
jemals ein Verständnis für die Wichtigkeit eines gegen ihn eingeleiteten
Strafverfahrens besitzt. Deshalb muß zur Hauptverhandlung stets der
gesetzliche Vertreter geladen werden. Er soll Auskünfte erteilen. Tat¬
sächliches Vorbringen, Aufnahme von Beweisen anregen. Fehlt ein ge¬
setzlicher Vertreter, so ist möglichst ein rechtskundiger oder doch
lebenserfahrener Mann zu betrauen. Bei Jugendlichen über 14 Jahren
soll ein Schutzbedürfnis je nach Reife und Charakterentwicklung und
nach der Beschaffenheit der Tat und der Verantwortung beurteilt
364
österreichische StrafprozeBordnung.
werden. Danach ist zu entscheiden, ob ein Verteidiger nötig ist oder
der gesetzliche Vertreter genügt. Untersuchungshaft soll nur im Not¬
fall verhängt werden.
Verordnung des J.M. vom 23. 5. 04, J.M.V.Bl. Nr. 13. Die Pfleg¬
schaftsgerichte sollen von Verurteilungen Jugendlicher in Kenntnis gesetzt
werden. Ist die Verwahrlosung auf Mißbrauch der elterlichen Gewalt
(Bettel, Diebstahl) zurückzufiihren, so soll die Entziehung derselben ins
Auge gefaßt, und das Kind in einer anderen Familie oder geeigneten
Anstalt, allenfalls auch Besserungsanstalt (§ 178 A.B.Q.B.) untergebracht
werden. Auch vorläufige Fürsorge ist möglich (dabei Heranziehung der
privaten organisierten Wohltätigkeit). Bei schuldhafter Vernachlässigung
der Erziehungspflicht (§ 178 A.B.Q.B.) die gleichen Maßnahmen wie oben.
Bei fehlendem Verschulden der Eltern bedarf es der Zustimmung des
gesetzlichen Vertreters zur Einleitung der Fürsorgeerziehung.
Aus der Strafhaft oder Besserungsanstalt zu entlassende Minder¬
jährige sollen dem Pflegschaftsgericht spätestens einen Monat vor dem
Strafende bekannt gegeben werden. Dies soll auch bei jugendlichen .Aus¬
ländern geschehen (J.M. E. v. 13. 10. 04, Z. 23 450 J.V.B. S. 286).
Der Strafvollzug V. d. J.M. v. 30. 9. 05, Nr. 15 J.V.B.) soll das
Besserungs- und Erziehungsziel fördern. Deshalb ist Absonderung von
den Erwachsenen und den auf ihre Altersgenossen verderblichen Einfluß
Ausübenden angeordnet. Für jeden Jugendlichen ist nachts ein geson¬
derter Schlafraum vorgeschrieben. Wöchentlich sind acht Stunden Unter¬
richt zu erteilen. (Volksschulkenntnisse, aber auch Förderung beruflicher
Kenntnisse, wie Zeichnen.)
Jugendliche Untersuchungsgefangene sind stets einzeln zu ver¬
wahren.
Der Lektüre, dem körperlichen Befinden soll Aufmerksamkeit ge¬
schenkt, der Rücktritt ins Leben unter Zuhilfenahme der Pflegschafts¬
gerichte und privaten Vereine vorbereitet werden.
§ 411. „Eine in dem Gesetze nicht vorbedachte Nachsicht oder
Milderung der Strafe steht nur dem Kaiser zu.
Gnadengesuche haben keine aufschiebende Wirkung. Sie sind, so-
ferne nicht in einzelnen Fällen besondere höhere Aufträge ergehen, nach
den folgenden Bestimmungen zu behandeln:
Bringt ein Verurteilter nach Antritt der Strafe bei dem Vorsteher
der Strafanstalt oder bei dem zur Visitation derselben abgesandten Be¬
amten ein Gnadengesuch an, so ist dasselbe mit der Äußerung des Vor¬
stehers über das Betragen und den Gesundheitszustand des Sträflings
dem Gerichte, welches in erster Instanz erkannt hat (§ 401), zu über¬
mitteln.
Dieses Gericht, an welches auch alle anderen Gnadengesuche zu
leiten sind, hat das Gesuch zu prüfen und dasselbe zurückzuweisen, wenn
es nicht findet, daß wichtige Gründe für die Milderung oder Nachsicht
der Strafe sprechen. Im entgegengesetzten Falle legt es dasselbe mit
seinem Anträge dem Gerichtshöfe zweiter Instanz vor, welcher darüber
nach .Anhörung des Oberstaatsanwaltes Beschluß faßt und das Gesuch
entweder zurückweist oder dasselbe mit seinem Anträge dem Justiz-
österreichische Strafprozeßordnunp;.
365
minister vorlegt. Hat Uber das Urteil der Kassationshof auf Qrund des
§ 288, Z. 3 oder des § 350, Abs. 1, entschieden, so ist der das Gnaden¬
gesuch befürwortende Antrag des Gerichtshofes zweiter Instanz an den
Kassationshof zu richten, welcher nach Anhörung des Generalprokurators
entscheidet, ob das Gesuch zurückzuweisen oder bei dem Justizminister
zu befürworten sei.
Gegen die Zurückweisung eines Gnadengesuches durch eines der
genannten Gerichte findet keine Beschwerde statt.“
Für die Begnadigung Jugendlicher hat das Justizministerium in einer
Verordnung vom 25. 11. 02 (J.V.B. Nr. 51) noch folgende Grundsätze auf¬
gestellt:
1. Vorwiegende Berücksichtigung der Unmündigen.
2. Von den zwischen 14 und 16 Jahren Stehenden sollen in der
Regel die nicht Vorbestraften in Betracht kommen, sofern die Freiheits¬
strafe drei Monate, die Geldstrafe 500 Gulden nicht überschreitet. Ab¬
weichungen von dieser Regel sind nur gestattet, wenn das Gericht der
Überzeugung ist, daß es „im gegebenen Falle des Strafvollzuges nicht
bedarf“.
3. Die zwischen 16 und 18 Jahren Stehenden können unter den
sub 2 erwähnten Voraussetzungen zur Strafnachsicht empfohlen werden,
wenn sie in bezug auf die Entwicklung des Verstandes und Willens der
erwähnten Altersstufe gleichzuachten sind.
4. Gnadengesuche des Verurteilten sind nicht abzuwarten, das Ge¬
richt soll selbständig das Erforderliche veranlassen. Der Strafvollzug
ist eventuell auszusetzen.
5. Die Urteilskarte an das Strafregisteramt ist erst nach Erledigung
des Gnadenantrages abzusenden.
Auch jugendliche Sträflinge können noch begnadigt werden, wenn
sie zur Zeit der Einlieferung in die Strafanstalt das 20., zur Zeit der
Stellung des Gnadenantrages das 24. Lebensjahr noch nicht vollendet,
den größten Teil der Strafe bereits abgebüßt und überzeugende Proben
von Reue und Besserung gegeben haben, zugleich durch ihre Erwerbs¬
fähigkeit und Arbeitsamkeit die Beruhigung gewähren, daß sie nach ihrer
Entlassung aus der Strafe nicht etwa die Gesellschaft aufs neue mit Ver¬
brechen bedrohen werden. Ausnahmsweise können Gnadenanträge auch
ohne Rücksicht auf die bereits verbüßte Strafdauer gestellt werden.
(J.V.B. 03, S. 21).
Sträflinge, die an einer unheilbaren oder das Leben bedrohenden
Krankheit leiden, können auch begnadigt werden. (J.M. E. v. 29. 5. 96,
Z. 10 904).
Krankheit der Angeklagten und Verurteilten.
§ 226. „Weiset der Angeklagte nach, daß er wegen Krankheit oder
einer sonstigen unabwendbaren Verhinderung bei der Hauptverhandlung
nicht erscheinen kann, oder trägt der Ankläger oder der Angeklagte aus
anderen erheblichen Gründen darauf an, daß die Hauptverhandlung ver¬
tagt werde, so entscheidet hierüber die Ratskammer. Wegen einer Ver¬
hinderung des Verteidigers findet eine Vertagung nur dann statt, wenn
Internationales Strafrecht.
366
das Hindernis dem Angeklagten oder dem Gerichte so spät bekannt
wurde, daß ein anderer Verteidiger nicht mehr aufgestellt werden
konnte.“
§ 275. „Erkrankt der Angeklagte während der Hauptverhandlung
in dem Maße, daß er derselben nicht weiter beiwohnen kann, und willigt
er nicht selbst ein, daß die Verhandlung in seiner Abwesenheit fortgesetzt
und seine in der Voruntersuchung abgegebene Erklärung vorgelesen
werde, so ist die Verhandlung zu vertagen.“
§ 398. „Wenn der zum Tode oder zu einer Freiheitsstrafe Verurteilte
zur Zeit, wo das Strafurteil in Vollzug gesetzt werden soll, geisteskrank
oder körperlich schwer krank, oder die Verurteilte schwanger ist, hat
die Vollziehung so lange zu unterbleiben, bis dieser Zustand aufgehört
hat. Nur dann kann der Vollzug einer Freiheitsstrafe auch gegen eine
Schwangere eingeleitet werden, wenn die bis zu ihrer Entbindung fort¬
dauernde Haft für sie härter sein würde, als die zuerkannte Strafe.“
Iiiteriiatiouales Strafrecht.
Im Folgenden sollen diejenigen Bestimmungen kurz zusammen¬
gestellt werden, welche auf die strafbaren Handlungen von Ausländern
und die Straftaten der Inländer im Auslande Bezug haben.
Berücksichtigt werden nur die deutschen und österreichischen Ge¬
setze. Für denjenigen, der sich ausführlicher über die in Betracht
kommenden Verhältnisse orientieren will, sei das Buch von Meili be¬
sonders erwähnt. In demselben findet er eine zusammenfassende Dar¬
stellung.
Das deutsche Recht bestimmt folgendes:
§ 3 Str.G.B. Die Strafgesetze des Deutschen Reichs
finden Anwendung auf alle im Gebiete desselben
begangenen strafbaren Handlungen, auch wenn
der Täter ein Ausländer ist.
§ 4. Wegen der im Auslande begangenen Ver¬
brechen und Vergehen findet in der Regel keine
Verfolgung statt.
Jedoch kann nach den Strafgesetzen des
Deutschen Reichs verfolgt werden:
1. ein Deutscher oder ein Ausländer, welcher
im Auslande eine hochverräterische Hand¬
lung gegen das Deutsche Reich oder einen
Bundesstaat, oder ein Münzverbrechen,
oder als Beamter des Deutschen Reichs oder
eines Bundesstaats eine Handlung begangen
hat, die nach den Gesetzen des Deutschen
Reichs als Verbrechen oder Vergehen im Amte
a n z u s e h e n ist;
*) Meili, Internationales Strafrecht. Zürich 1910. v. Bar, Internatio¬
nales Strafrecht, v. Liszt, Strafrecht.
Internationales Strafrecht.
367
2. ein Deutscher, welclier im Auslande eine
1andesVerräte r i sche Handlung gegen das
Deutsche Reich oder einen Bundesstaat, oder
eine Beleidigung gegen einen B u n d e s f U r s t e n
begangen hat;
3. ein Deutscher, welcher im Auslande eine
Handlung begangen hat, die nach den Gesetzen
des Deutschen Reichs als Verbrechen oder
Vergehen anzusehen und durch die Gesetze
des Orts, an welchem sie begangen wurde,
mit Strafe bedroht ist.
Die Verfolgung ist auch zulässig, wenn der
Täter bei Begehung der Handlung noch nicht Deutscher
war. ln diesem Falle bedarf es jedoch eines An¬
trages der zuständigen Behörde des Landes, in
weichem die strafbare Handlung begangen worden,
und das ausländische Strafgesetz ist anzu wenden,
soweit dieses milder ist.
§ 5. Im Falle des § 4 Nr. 3 bleibt die Verfolgung
ausgeschlossen, wenn
1. von den Gerichten des Auslandes über die
Handlung rechtskräftig erkannt und ent¬
weder eine Freisprechung erfolgt oder die
ausgesprochene Strafe vollzogen;
2. die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung
nach den Gesetzen des Auslandes verjährt
oder die Strafe erlassen, oder
3. der nach den Gesetzen des Auslandes zur Ver¬
folgbarkeit der Handlung erforderliche An¬
trag des Verletzten nicht gestellt worden ist.
§ 6. Im Auslande begangene Übertretungen sind
nur dann zu bestrafen, wenn dies durch besondere
Gesetze oder durch Verträge angeordnet ist.
§ 7. Eine im Auslande vollzogene Strafe ist,
wenn wegen derselben Handlung im Gebiete des
Deutschen Reichs abermals eine Verurteilung er¬
folgt, auf die zu erkennende Strafe in Anrechnung
zu bringen.
§ 8. Ausland im Sinne dieses Strafgesetzes ist
jedes nicht zum Deutschen Reich gehörige Gebiet.
§9. Ein Deutscher darf ein er ausländischen
Regierung zur Verfolgung oder Bestrafung nicht
überliefert werden.
Als Ausland i. S. des Gesetzes gilt das nicht zum Deutschen Reiche
gehörige Gebiet. „Gemeinschaftliche Gebiete“ (z. B. Neutral-Moresnet —
ein neutrales Gebiet zwischen Preußen und Belgien) gilt als Inland. (R.G.
F. S. 10. 8. 98; E. 31, 259.) Darüber hinaus wird als Inland auch das¬
jenige Gebiet betrachtet, das nach dem Staats- und Völkerrecht als
368
Zivilrecht.
deutsch anerkannt wird (z. B. Küstengewässer, Schiffe auf offener See,
Staatsschiffe, wo immer sie sich aufhalten, der Luftraum, soweit er von
unten aus beherrscht werden kann) ’).
Außer den bisher erwähnten Bestimmungen kommen noch folgende
aus dem Militärstrafrecht in Betracht: die erschwerte Beteiligug am
militärischen Aufruhr (§ 110 M.Str.Q.B.); der Hochverrat und Landes¬
verrat (§ 56); der Kriegsverrat (§ 57); die kriegsverräterisehe Be¬
günstigung (§ 58) und die Verabredung eines Kriegsverrates (§ 59).
Schließlich gehört hierher auch die Beraubung Gefallener und Verwun¬
deter im Kriege (§ 134).
Die Bestrafung erfolgt gemäß § 160.
Der § 161 bestimmt außerdem, daß ein Ausländer oder Deutscher,
der in einem von deutschen Truppen besetzten ausländischen Gebiete
gegen deutsche Truppen oder deren Angehörige, oder gegen eine auf
Anordnung des Kaisers eingesetzte Behörde eine nach den Gesetzen des
Deutschen Reiches strafbare Handlung begeht, ebenso zu bestrafen ist,
als wenn diese Handlung im Bundesgebiet begangen wäre.
Das österreichische Recht bestraft Verbrechen, die ein
Untertan im Auslande begangen hat, nach eigenem Recht (§ 36 d. österr.
Strafgesetzes). Er darf deshalb nicht an das Ausland ausgeliefert werden.
Urteile ausländischer Strafbehörden werden im Inlande nicht voll¬
zogen.
Ausländer werden wegen im österreichischen Staatsgebiet be¬
gangener Verbrechen (§ 37) und auch wegen im Auslande begangenen
Hochverrats (§ 58) und Münzverbrechens (§ 106 bis 121) nach Österreich.
Recht behandelt (§ .38).
Nach § 39 und 40 werden Ausländer, die andere Verbrechen im Aus¬
lande begangen haben, verhaftet und ausgeliefert. Übernimmt sie der
auswärtige Staat nicht, so werden sie in Österreich nach dortigem Recht,
und wenn die Strafe nach dem Recht des Ortes, wo die Tat begangen
wurde, gelinder ausfiele, nach diesem Gesetz behandelt.
Vergehen und Übertretungen, von Ausländern im Ausland begangen,
werden weder bestraft, noch führen sie zur Auslieferung.
Inländer, welche Vergehen und Übertretungen itn Auslande be¬
gingen, werden nie ausgeliefert, können aber im Inlande nach Österreich.
Recht bestraft werden.
Zivilrecht.
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich in erster Linie
mit dem Bürgerlichen Recht. Daneben wird auch das Ver-
sicherungs- und Beamtenrecht an geeigneten Stellen berück¬
sichtigt werden (z. T. bei den Unfallpsychosen).
Der Gewerbeordnung ist, soweit sie hier interessiert, in
dem Kapitel ,,Ouerulantenwahn“ gedacht.
0 Siehe Frank, Strafrecht.
Bürgerliches Gesetzbuch.
369
Bürgerliches Gesetzbuch.
Einleitung.
Ebenso wie das Strafgesetzbuch trägt auch unsere Zivilgesetz¬
gebung, insbesondere das Bürgerliche Gesetzbuch der Tatsaclie
Rechnung, daß es Geistesstörungen von verscliieden langer
Dauer gibt, und daß diese psychischen Abweichungen auf das
Tun und Lassen des Erkrankten von Einfluß sind.
Die Handlungen, welche Geisteskranke begehen, werden im
bürgerlichen Gesetzbuch unter verschiedenen Gesichtspunkten be¬
trachtet. Einmal wird präzisiert, unter welchen Voraussetzungen
sie als rechtsgültig anzusehen sind. Zweitens ist die Möglich¬
keit vorgesehen, daß für einen Menschen, der selbst nicht in der
Lage ist, Rechtsgeschäfte zu erledigen, eine andere geistig ge¬
sunde Person eintritt, die in größerem oder geringerem LImfange
die Geschäfte des Kranken besorgt. Drittens mußten Spezial¬
fälle berücksichtigt und ein Eherecht für Geisteskranke geschaffen
werden. Viertens war von nicht geringer Bedeutung die Frage,
unter welchen Umständen ein Geisteskranker berechtigt ist, ein
Testament zu errichten und schließlich bedurfte es besonderer Be¬
stimmungen über die Haftung für unerlaubte Handlungen
Geistesgestörter, die Haftpflicht bei Unfällen usw.
Alle diese Probleme sollen nunmehr besprochen werden.
Vorangestellt werden muß den eigentlichen Erörterungen
die Definition einiger Rechtsbegriffe, deren Kenntnis auch dem
Mediziner unentbehrlich ist, wenn er diejenigen Paragraphen
verstehen will, welche sich mit Geisteskranken beschäftigen. Ich
beschränke mich dabei auf das Notwendigste.
Der weiteste Begriff, den das bürgerliche Gesetzbuch kennt,
ist der der Rechtsfähigkeit. Man versteht darunter die
„Fähigkeit, Träger von Rechten und Verbindlichkeiten zu sein“,
(Staudinger) oder, einfacher ausgedrückt, die ,,Fähigkeit, Rechte
und Pflichten zu haben“ (Fischer-Henle).
Literatur; Planck, Kommentar z. B.Q.B. Staudinger, Kommentar
z. B.Q.B. Heilfron, B.Q.B. Cosack, B.Q.B. Crome, B.Q.B. Landsberg,
B.Q.B. Handausgaben von Fischer-Henle und Keidel. Kublenbeck, Zen-
tralbl. f. freiw. Qerichtsbark., Bd. 7. Mendel, Allg. Zeitschr. f. Psych.,
Bd. 53, S. 830. Moeli in Dietrichs Handb. der Sachverständigentätig¬
keit. Siemerling in Schmidtmanns Handbuch. Straßmann, üerichtl.
Medizin. E. Schuitze in Hoches Handbuch.
Hübner, Forensische Psychiatric.
24
370
Zivilrecht.
§ I. Die Rechtsfähigkeit des Menschen be¬
ginnt mit der Vollendung der Geburt.
Von der Rechtsfähigkeit zu unterscheiden ist die Hand¬
lungsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, Handlungen mit recht¬
licher Wirksamkeit vorzunehmen.
Rechtshandlungen sind Handlungen, an welche die
Rechtsordnung rechtliche Wirkungen anschließt, ohne Rücksicht
darauf, ob diese Wirkungen gewollt sind oder nicht (Staudinger).
Handlungsfähigkeit bedeutet, daß Willen und
Wissen einer Person von der Rechtsordnung selbstständig be¬
achtet wird (Crome).
Die Handlungsfähigkeit umfaßt die Geschäfts¬
fähigkeit und die Deliktsfähigkeit (Verantwortlichkeit
für Schadenszufügung, Zurechnungsfähigkeit).
Geschäftsfähigkeit ist die Fähigkeit, rechtsgeschäft¬
liche Willenserklärungen abzugeben ^).
Die Zurechnungsfähigkeit (Deliktfähigkeit) be¬
fähigt zur verantwortlichen Vornahme unerlaubter Handlungen
(Cosack).
Ein Rechtsgeschäft ist ein die Rechtswirkung begrün¬
dender, eine Willensäußerung als wesentliches Moment enthalten¬
der Tatbestand in seiner Gesamtheit. Wesentliche Bestandteile
des Rechtsgeschäftes sind:
1. ein geschäftsfähiges Subjekt,
2. ein Wille,
3. eine Erklärung,
4. ein Erklärungsinhalt,
5. Verfügungsmacht,
6. unter Umständen Zustimmung eines Dritten.
Willenserklärungen sind ,,solche Handlungen, d. h.
irgendwie wahrnehmbare Betätigungen des menschlichen Willens,
welche nach der Lebenserfahrung einen Schluß darauf zulassen,
daß durch sie der Handelnde eine Gestaltung oder X'eränderung
privater Rechtsverhältnisse vornehmen will“. Das Reichsgericht
hat die Willenserklärung folgendermaßen definiert:
') Über den Unterschied zwischen QeschäftsunfähiKkeit und krank¬
hafter Störung der Qeistestätigkeit s. Jur. Wochenschr. 1909, S. -411.
Der letztere Ausdruck ist der weitere.
BürKcrliches Gesetzbuch. 371
„Willenserklärungen sind Erklärungen, die eine ihrem Inhalt
kongruente Rechtsfolge vermöge der die Wirksamkeit des Partei¬
willens in gewissen Grenzen anerkennenden Gesetzesmacht hervor¬
zubringen bestimmt sind.“ (R.G.Z. 58, 346.)
Daraus ergibt sich, daß die Willenserklärung nur ein Teil
eines Rechtsgeschäftes ist.
Die Einteilung der Rechtsgeschäfte erfolgt nach
verschiedenen Gesichtspunkten. So unterscheidet man zwischen
Rechtsgeschäften unter Lebenden und den \"er-
fügu Ilgen von Todes wegen. Ferner spricht man von
Verträgen, in denen eine Wolienseinigung der gegenüber-
stehenden Parteien durch einen Antrag und dessen Annahme er¬
folgt und von einseitigen Rechtsgeschäften, bei denen die
Willenserklärung eines einzelnen Menschen zur Erzielung der
beabsichtigten Rechtsfolge genügt.
Empfangsbedürftige Willenserklärungen sind solche,
die, um wirksam zu sein, an einen anderen Beteiligten gerichtet
und ihm zugegangen sein müssen. Die nicht empfangsbedürftigen
Willenserklärungen brauchen an einen anderen Beteiligten weder
gerichtet zu sein, noch ihm zuzugehen. —
§ 125. Ein Rechtsgeschäft, welches der
durch Gesetz v o r g e s c h r i e ben e n Form ermangelt,
ist nichtig. Der Mangel der durch Rechts¬
geschäft bestimmten Form hat im Zweifel
gleichfalls Nichtigkeit zur Folge.
§ 139. Ist ein Teil eines Rechtsgeschäfts
nichtig, so ist das ganze Rechtsgeschäft nich¬
tig, wenn nicht a n z u n e h m e n ist, daß cs auch
ohne den nichtigen Teil v o r g e n o m m e n sein
würde.
§ 134. Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein
gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn
sich nicht aus dem Gesetz ein Anderes ergibt.
§ 138. Ein Rechtsgeschäft, das gegen die
guten Sitten verstößt, ist nichtig.
Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft,
durch das Jemand unter Ausbeutung der Not¬
lage, des Leichtsinns oder der 11 n e r f a h r e n h e i t
eines Anderen sich oder einem Dritten für eine
Leistung Vermögensvorteile versprechen oder
24*
372
Zivilrecht.
gewähren läßt, welche den Wert der Leistung
dergestalt übersteigen, daß den Umständen
nach die Vermögens vorteile in auffälligem
Mißverhältnisse zu der Leistung stehen').
§ 119. Wer bei der Abgabe einer Willens¬
erklärung über deren Inhalt im Irrtu me war
oder eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt
nicht ab geben wollte, kann die Erklärung an¬
fechten, wenn anzunehmen ist, daß er sie bei
Kenntnis der Sachlage und bei verständiger
WUirdigung des Falles nicht abgegeben haben
w ü r d e.
Als Irrtum über den Inhalt der Erklärung
gilt auch der Irrtum über solche Eigenschaften
der Person oder der Sache, die im Verkehr als
wesentlich angesehen werden.
§ 142. Wird ein an f ec h t ba r e s R ec h t s ge s ch ä f t
a n g c f o c h t e n , so ist es als von Anfang an nichtig
a n z u s e h e n.
Wer die Anfechtbarkeit kannte oder kennen
mußte, wird, wenn die Anfechtung erfolgt, so
behandelt, wie wenn er die Nichtigkeit des
Rechtsgeschäfts gekannt hätte oder hätte
k e n n e n müsse n.
§ 143. D i e A n f e c h t u n g e r f o 1 g t d u r c h E r k 1 ä -
r u n g gegenüber dem A n f e c h t u n g s g e g n c r.
A n f e c h t u n g s g e g n e r ist bei einem Vertrage
der andere Teil, im Falle des § 123 Abs. 2 Satz 2
’) Ein Vertrag der einem geistig Geschwächten zu großem Nach¬
teil gereicht, ist nicht schon aus diesem Grunde gegen die guten Sitten.
Zur Erfüllung des Tatbestandes des § 138 Abs. 2 muß ein weiteres,
nämlich das Ausbeuten der erkannten Geistesschwäche zur Erlangung
außergewöhnlicher Vorteile, hinzukommen. Wenn das Gesetz einen
Verstoß gegen die guten Sitten schon in der Ausbeutung der bloßen
Unerfahrenheit erblickt, so enthält die Ausbeutung der geistigen Min¬
derwertigkeit eines Menschen einen Verstoß gegen die guten Sitten noch
in weit höherem Maße. (R.G.Z., Bd. 67, S. 393; Das Recht 1908,
Nr. 3218; R.G. 11. 19. lU. 09; Das Recht 1909, Nr. 2522; ebenso R.G.
II. 26. 11. 07; Das Recht 1908, Nr. 6; R.G. V. 12. 2, 08; Das Recht
1908, 3218.)
Bürgerliches Gesetzbuch.
373
derjenige, welcher aus dem Vertrag unmittel¬
bar ein Recht erworben li a t.
Bei einem einseitigen Rechtsgeschäfte, das
einem Anderen gegenüber vorzu nehmen war,
ist der Andere der Anfechtungsgegner. Das
Gleiche gilt bei einem Rechtsgeschäfte, das
einem Anderen oder einer Behörde gegenüber
vorzu nehmen war, auch dann, wenn das Rechts¬
geschäft der Behörde gegenüber vorgenommen
worden ist.
Bei einem einseitigen Rechtsgeschäfte an-
dererArtistAnfechtungsgegnerJeder,derauf
Grund des Rechtsgeschäfts unmittelbar einen
rechtlichen Vorteil erlangt hat. Die Anfech¬
tung kann jedoch, wenn die Willenserklärung
einer Behörde gegenüber abzugeben war, durch
Erklärung gegenüber der Behörde erfolgen; die
Behörde soll die Anfechtung demjenigen mit-
leilen, welcher durch das Rechtsgeschäft un¬
mittelbar betroffen worden ist.
Aus diesen Paragraphen des B.G.B. ergibt sich zusammen¬
gefaßt folgendes:
Ein Rechtsgeschäft ist gültig, wenn bei seiner Vollziehung
die vorgeschriebenen Formen innegehalten wurden. Geschah das
nicht, so ist es mangelhaft. Ein mangelhaftes Rechtsgeschäft
kann entweder angefocluen werden oder nichtig sein. Nichtig
ist es, wenn es überhaupt keiner rechtlichen Wirkung fähig ist.
Beim anfechtbaren Rechtsgeschäft besteht die Wirk¬
samkeit solange, bis die Anfechtung erfolgt ist. Erst mit der
Anfechtungserklärung verliert es seine Wirksamkeit. Die An¬
fechtung hat dann rückwirkende Kraft.
Ein weiterer Unterschied zwischen Nichtigkeit und Anfecht¬
barkeit liegt auch darin, daß die Nichtigkeitsklage von jedem er¬
hoben werden, während die Anfechtungsklage nur von dem An¬
fechtungsberechtigten geltend gemacht w-erden kann. Soll ein
nichtiges Rechtsgeschäft wirksam gemacht werden, so bedarf es
einer neuen Vornahme des Rechtsgeschäftes (§ 141).
Wird ein anfechtbares Rechtsgeschäft von dem Anfechtungs¬
berechtigten bestätigt, so ist später die Anfechtung ausgeschlossen
(§ 144 )-
374
Die Geschäftsfähigkeit.
Nichtige Rechtsgeschäfte sind z. B. solche, die gegen ein
gesetzliclies Verbot, oder gegen die guten Sitten verstoßen. An¬
fechtbare Reclitsgeschäfte sind beispielsweise solche, bei denen
sich der die Willenserklärung Abgebende über deren Inhalt im
Irrtum befand.
Die Geschäftsfähigkeit.
Im Gegensatz zum Strafrecht setzt das bürgerliche Recht
ohne weiteres voraus, daß derjenige, der ein Rechtsgeschäft voll¬
zieht, zur Zeit der Vornahme desselben keinerlei Beschrän¬
kungen der Geschäftsfähigkeit unterliegt. Wird von einer Partei
das Gegenteil behauptet, so ist diese beweispflichtig.
Es gibt nun verschiedene Gründe, aus denen die Geschäfts¬
fähigkeit eines Menschen beschränkt sein kann, nämlich, erstens
werden bestimmte Lebensalter von der Geschäftsfähigkeit aus¬
geschlossen und zweitens können vorübergehend oder dauemd
bestehende geistige Störungen sie beschränken oder aufheben.
a) Lebensalter und Geschäftsfähigkeit.
Wie schon in der allgemeinen Einleitung und im strafrecht¬
lichen Teil ausgeführt ist, erwirbt das einzelne Individuum in
der Kindheit seine Erfahrungen allmählich. Diesem Lhnstande
i.st auch im Bürgerlichen Recht Rechnung getragen und zwar in
folgender Weise;
§ 104, I. Geschäftsunfähig ist: 1. wer nicht
das siebente Lebensjahr vollendet hat.
§ Iob. Ein Minderjähriger, der das siebente
Lebensjahr vollendet hat, ist nach Maßgabe der
§§ 107 bis 113 in der Gcschäftsfähigkeitbe-
schränkt.
Mit der \Mllendung des siebenten Lebensjahres beginnt dem¬
nach die beschränkte Geschäftsfähigkeit und, wie gleich hinzu¬
gefügt sei, die bedingte Deliktfähigkeit, mit dem achtzehnten die
uneingeschränkte Verantwortlichkeit für unerlaubte Handlungen,
mit dem vollendeten einundzwanzigsten Jahre wird der Mensch
voll geschäftsfähig.
Für unsere Zwecke weniger bedeutungsvoll sind noch folgende
Bestimmungen *):
*) Literatur: Qoering. Recht d. Minderjährigen 1899. Süßheim,
Qruchots Beitr., 6. Folge, 5. Jalirg.
a) Lebensalter und Geschäftsfähigkeit.
375
Mit 14 Jahren muß ein Minderjähriger einen Vertrag über
Annahme an Kindesstatt persönlich abschließen (§ 1750 B.O.B.),
und zwar m i t Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters und m i t
Genehmigung des Vormundschaftsgerichts (§ 1751 B.Ü.B.). Dagegen
kann der Vertrag nur für ein Kind unter 14 Jahren, aber nicht mehr
für einen Vierzehnjährigen durch den gesetzlichen Vertreter unter
Genehmigung des Vormundschaftsgerichts abgeschlossen werden. Ebenso
ist zur Ehelichkeitserklärung die Einwilligung des Kindes
selbst (bei Minderjährigen außerdem die Einwilligung der Mutter)
erforderlich (§ 1726 B.G.B.). Diese Einwilligung des Kindes kann nur
dann durch seinen gesetzlichen Vertreter und die Genehmigung des
Vormundschaftsgerichts ersetzt werden, wenn das Kind noch keine
14 Jahre alt oder geschäftsunfähig ist (§ 1728 B.G.B.). Gehört werden
soll ein Mündel vom Vormundschaftsgericht, wenn er 14 Jahre alt ist,
über die Entlassung aus dem Staatenverbande (§ 1827, 1).
Mit vollendetem 16. Lebensjahr erlangen Frauen die
Ehemündigkeit D (§ 1303). Beide Geschlechter sind von diesem Zeit¬
punkt ab testierfähig (§ 2229, 2) und eidesfähig, letzteres nur für Zeu¬
gen-, nicht für Parteieide (§ 393, 1 Z.P.O); für den Parteieid gilt
§ 473 Z.P.O.
Mit 18 Jahren soll der Mündel nach § 1827, 2 B.G.B. vom
Vormundschaftsgericht, soweit tunlich, gehört werden über Grund-
stücksan- und Verkäufe usw. (§ 1821), ferner über Verträge, die auf
entgeltlichen Erwerb oder Veräußerung eines Erwerbsgeschäftes ge¬
richtet sind, sowie zu einem Gesellschaftsvertrage, der zum Betriebe
eines Erwerbsgeschäftes eingegangen wird (§ 1822, 3).
Bis zum 21. Jahre bedarf ein eheliches Kind zur Eingehung
einer Ehe der Einwilligung des Vaters, ein uneheliches derjenigen der
Mutter “) (§ 1305). Der gleichen Einwilligung bedürfen Minderjährige
zur Annahme an Kindesstatt (§ 1747).
Die wichtigste Bestimmung, welche an die Vollendung fies
21. Lebensjahres geknüpft ist, enthält der § 2 B.G.B.
Die Volljährigkeit tritt mit der Vollendung
des einundzwanzigsten Lebensjahrs ein.
Ausnahmsweise kann die Volljährigkeit auch schon früher
eintreten. Dies geschieht unter folgenden Voraussetzungen:
§ 3. Ein Minderjähriger, der das achtzehnte
Lebensjahr vollendet hat, kann durch Beschluß
des Vormundschaftsgerichts für volljährig er¬
klärt werden.
0 Einer Frau kann die Eheschließung u. U. noch früher gestattet
werden (§ 1303, Abs. 2).
*) Es sei denn, daß die genannten Personen dazu dauernd außer¬
stande wären (§ 1305, 2 und 1746, 2).
376
Die Geschäftsfähigkeit.
Durch die V o 11 j ä h r i g k e i t s e r k 1 ä r u n g erlangt
der Minderjährige die rechtliche Stellung eines
o 11 j ä h r i g e n.
§ 4- Die Volljährigkeitserklärung ist nur
zulässig, wenn der Minderjährige seine Ein¬
willigung erteilt.
Steht der Minderjährige unter elterlicher
Gewalt, so ist auch die Einwilligung des Ge¬
walthabers erforderlich, es sei denn, daß diesem
weder die Sorge für die Person noch die Sorge
für das Vermögen des Kindes zusteht. Für eine
minderjährige Witwe ist die Einwilligung des
Gewalthabers nicht erforderlich.
§ 5. Die V'olljährigkeitserklärung soll nur
erfolgen, wenn sie das Beste des Minderjährigen
befördert. —
Das B.G.B. unterscheidet, wie aus den §§ 104 und 106
hervorgeht, zwei Grade der Beeinträchtigung der Geschäftsfähig¬
keit, nämlich die Geschäftsunfähigkeit und die beschränkte Ge¬
schäftsfähigkeit.
Geschäftsunfähig ist der Mensch bis zur Vollendung des
7. Lebensjahres: § 104, Ziff. 1 B.G.B. Vom 7. bis 21. Lebensjahr
ist er beschränkt geschäftsfähig: § 106 B.G.B.
Die rechtliche Bedeutung der Geschäftsun¬
fähigkeit ergibt sich aus den folgenden Bestimmungen:
§ 105, 1. Die Willenserklärung eines Ge¬
schäftsunfähigen ist nichtig.
Ferner wird nach § 131, i eine Willenserklärung, welche
einem Geschäftsunfähigen gegenüber abgegeben wird, erst wirk¬
sam, wenn sie dem gesetzlichen Vertreter zugeht (s. S. 399).
Der beschränkt Geschäftsfähige hingegen kann
mit und ohne Zustimmung seines Vormundes die verschieden¬
sten Rechtsgeschäfte ausführen. Welcher Art dieselben sind, geht
aus den folgenden Bestimmungen hervor:
/. Uigcßie Angelegenheiten.
§ 107. Der Minderjährige bedarf zu einer
Willenserklärung, durch die er nicht lediglich
einen rechtlichen Vorteil erlangt, der Einwil¬
ligung seines gesetzlichen Vertreters.
a) Lebensalter und Geschäftsfähigkeit.
377
Der Minderjährige soll nach dieser Bestimmung in der Lage
sein, solche Rechtsgeschäfte, die ihm keinen Nachteil, wohl aber
Vorteil bringen, wirksam zu erledigen (z. B. Annahme einer
Schenkung).
Bemerkenswert ist auch, daß der gesetzliche Vertreter nicht
an Stelle des Minderjährigen handelt, sondern zu dessen Handeln
nur die Zustimmung erteilt.
§ HO. Ein von dem Minderjährigen ohne Zu¬
stimmung des gesetzlichen Vertreters ge¬
schlossener Vertrag gilt als von Anfang an
wirksam, wenn der Minderjährige die vertrags¬
mäßige Leistung mit Mitteln bewirkt, die ihm
zu diesem Zwecke oder zu freier Verfügung von
dem Vertreter oder mit dessen Zustimmung von
einem Dritten überlassen worden sind.
Beispiel: Der Monatswechsel. Uber die mit diesen Mitteln
erworbenen Gegenstände kann der Minderjährige frei verfügen.
Die Überlassung stellt eine stillschweigende Zustimmung zu den
mit Hilfe dieser Mittel abzuschließenden Rechtsgeschäften dar.
Der Vertrag wird wirksam durch Erfüllung der eingegangenen
Verpflichtung ^).
§ 131, I. Wird die Willenserklärung einem
Geschäftsunfähigen gegenüber abgegeben, so
^) § 110 B.Ü.B. enthält keine Ausnahme von dem Grundsätze des
§ 107, wonach der Minderjährige zu einer Willenserklärung, durch die
er nicht lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangt, der Einwilligung
seines gesetzlichen Vertreters bedarf. Er gestattet nur, der Sitte und
dem Verkehrsbedürfnis Rechnung tragend (Begründung zu § 69 des
1. Entwurfes), daß diese Einwilligung durch Überlassung gewisser Mittel
an den Minderjährigen vom Vertreter im allgemeinen erklärt wird und
läßt das vom Minderjährigen geschlossene Geschäft auch ohne beson¬
dere Zustimmung sowohl nach der dinglichen wie nach schuldrechtlichen
Seite von Anfang an wirksam werden, wenn es demnächst vom Min¬
derjährigen aus den überlassenen Mitteln erfüllt wird. Das wesentliche
bleibt also auch in den Fällen des § 110 die Einwilligung des gesetz¬
lichen Vertreters. Dafür, wie weit diese Einwilligung reicht, ist einmal
maßgebend das Gesetz, das ihr in den §§ 1644, 1824 verbunden mit
§§ 1821, 1822 von vornherein bestimmte Grenzen zieht, zum anderen
aber auch der Inhalt der Einwilligungserklärung selbst, die, wie jede
Willenserklärung, eine, sei es auch nur stillschweigend ausgedrückte,
mehr oder minder weitgehende Beschränkung in sich tragen kann.
(Wird ausgeführt.) S. c. V., Urt. v. 29. 9. 10. Jur. Wochenschr. 1910,
S. 933.
378
Die Geschäftsfähigkeit.
wird sie nicht wirksam, bevor sie dem gesetz¬
lichen Vertreter zugeht.
Das Gleiche gilt, wenn die Willenserklärung
einer in der Geschäftsfähigkeit beschränkten
Person gegenüber abgegeben wird. Bringt die
Erklärung jedoch der in der Geschäftsfähig¬
keit beschränkten Person lediglich einen recht¬
lichen Vorteil oder hat der gesetzliche Ver¬
treter seine Einwilligung erteilt, so wird die
Erklärung in dem Zeitpunkte wirksam, in welchem
sie ihr z u g e h t.
Hier handelt es sich im Gegensatz zum § iio um die An¬
nahme einer Willenserklärung.
§ II 2. Ermächtigt der gesetzliche Vertreter
mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts
den Minderjährigen zum selbständigen Be¬
trieb eines Erwerbsgeschäfts, so ist der Min¬
derjährige für solche Rechtsgeschäfte unbe¬
schränkt geschäftsfähig, welche der Geschäfts¬
betrieb mit sich bringt. Ausgenommen sind
Rechtsgeschäfte, zu denen der Vertreter der
Genehmigung des Vormundschaftsgerichts be¬
darf.
Die Ermächtigung kann von dem Vertreter
nur mit Genehmigung des V o r m u n d s c h a f t s -
gerichts zurückgenommen werden.
Sobald der Vertreter dem Minderjährigen eine ausdrückliche
Ermächtigung zum Betriebe eines Erwerbsgeschäftes, d. h. einer
berufsmäßig ausgeübten, auf selbständigen Erwerb gerichteten,
aber nicht auf Handel und Gewerbe liescliränkten Tätigkeit ge¬
geben hat, verliert er insoweit die Vertretungsbefugnis und der
Minderjährige kann selbst entscheiden. Die Erklärung kann
formfrei geschehen.
§ 113. Ermächtigt der gesetzlicheV'^ertreter
den Minderjährigen, in Dienst oder in Arbeit
zu treten, so ist der Minderjährige für solche
Rechtsgeschäfte unbeschränkt geschäftsfähig,
welche die Eingehung oder .Aufhebung eines
Dienst - oder Arbeitsverhältnisses der gestat-
a) Lebensalter und Geschäftsfähigkeit. 379
teten Art oder die Erfüllung der sich aus einem
solchen Verhältnis ergebenden Verpflichtun¬
gen betreffen. Ausgenommen sind Verträge,
zu denen der Vertreter der Genehmigung des
Vormundschaftsgerichts bedarf.
Die Ermächtigung kann von dem Vertreter
z u r ü c k g e n o m m e n oder eingeschränkt werden.
Ist der gesetzliche Vertreter ein Vormund,
so kann die Ermächtigung, wenn sie von ihm ver¬
weigert wird, auf Antrag des Minderjährigen
durch das V ormundschaftsgericht ersetzt wer¬
den. Das \’ormundschaftsgericht hat die Er¬
mächtigung zu ersetzen, wenn sie im Interesse
des Mündels liegt.
Die für einen einzelnen Fall erteilte Er¬
mächtigung gilt im Zweifel als allgemeine Er¬
mächtigung zur Eingehung von Verhältnissen
derselben Art.
Im § 113 ist die Möglichkeit vorgesehen, daß der Minder¬
jährige zur Erlangung einer gewinnbringenden Tätigkeit') selb¬
ständig handeln darf, sofern der gesetzliche Vertreter seine Zu¬
stimmung erteilt hat. Gegenüber dem § 112 unterscheidet sich
diese Bestimmung insofern, als die Einwilligung des gesetzlichen
Vertreters zurückgenommen werden kann, ohne daß es der Zu¬
stimmung des Vormundschaftsgerichts bedarf. Im § 112 kann
die Ermächtigung nur mit Genehmigung des Vormundschafts-
gerichts zurückgenommen werden. Im Falle des § 113 ist aucli
eine Einschränkung der Ermächtigung möglich.
2. fremde Angelegenheiten.
§ 165. Die Wirksamkeit einer von oder
gegenüber einem Vertreter abgegebenen Wil¬
lenserklärung wird nicht dadurch beeinträch¬
tigt, daß der Vertreter in der Geschäftsfähig¬
keit beschränkt ist.
*) Wenn der Minderjährige durch seine Berufstätigkeit der Kranken¬
versicherung unterliegt, bedürfen Operationen trotzdem der Zustimmung
des gesetzlichen Vertreters (s. S. 238).
b) Geschäftsfähigkeit und geistige Störungen. 381
Von juristischer Seite aus (Cosack) ist diese Ansicht be¬
kämpft worden unter Hinweis darauf, daß ursprünglich der Ge¬
setzgeber offenbar beabsichtigt hatte, einen entsprecl’.enden Zu¬
satz zu machen (vergl. E. Schultze im Handbuch)*).
Die obersten Gerichte haben die Frage dahin entschieden,
flaß im Gesetz nur die die freie Willensbestimmung ausschließen¬
den geistigen Störungen gemeint seien ^).
Auch ich möchte diese Ansicht für die richtige halten. Ein¬
mal entspricht sie den sonstigen Anschauungen unserer Gesetz¬
gebung, ferner al)er würde bei Annahme der weiteren Fassung
jedes Rechtsgeschäft, bei dem eine Partei nervös und aufgeregt
wäre, unter Umständen schon für ungültig zu erklären sein. Das
war zweifellos nicht die Absicht des Gesetzgebers, weil es zu
ganz unhaltbaren Zuständen führen würde. —
Der Begriff vorübergehend ist absichtlich nicht näher
definiert, weil es sich um Zustände handeln kann, die nur wenige
Minuten oder Stunden dauern, ebenso wie um Geisteskrank¬
heiten, die sich über mehrere Wochen erstrecken.
E. Schultze betont mit Recht, daß auch die vorübergehende
Verschlimmerung einer chronischen Psychose unter den
§ 105, 2 fallen kann. —
/. Bewußtlosigkeit.
Was das Reichsgericht unter Bewußtlosigkeit versteht, ist
im strafrechtlichen Teil (s. S. 115) bereits angegeben.
Die vom medizinischen Standpunkte unter den Begriff
fallenden Krankheitszustände sind in den Kapiteln Zurechnungs¬
fähigkeit, Epilepsie, Hysterie sowie im allgemeinen Teil bei den
Störungen des Bewußtseins abgehandelt worden.
Daß diese Zustände von Laien oft verkannt werden und mit¬
unter auch wirklich schwer zu erkennen sind, sei nochmals wieder¬
holt. Das wird auch niemanden wundernehmen, der bedenkt.
*) Auch Staudinger meint, daß nur solche Zustände in Betracht
kommen, welche die freie Willensbestimmung ausschließen, ebenso
Crome.
R.O. 8 . 10. 07 zit. bei E. Schultze im Handbuch; ferner R.Q. VI.
17. 6 . 12; Das Recht 1912, Nr. 2502; O.L.O. Karlsruhe 20. 6 . 08; Das Recht
1909, Nr. 196, Posen 14. 8 . 07; Das Recht 1908, Nr. 1126. Bei mehreren
zeitlich auseinanderfallenden Rechtsgeschäften muß für Jedes Einzelne die
vorübergehende Störung der Qeistestätigkeit erwiesen werden. (R.O.E.
Bd. 68 , S. 100.) R.Q. 19. 10. 09; Das Recht 1909, Nr. 3520.
382
Die Geschäftsfähigkeit.
daß nur ein gewisser Teil der im Dämmerzustände ausgeführten
Handlungen auffällig ist. Es sei gestattet, einige Beispiele an¬
zuführen, die das näher erläutern.
Einer unserer Kranken, der wiederholt in mehrtägigen epileptischen
Dämmerzuständen große Reisen gemacht hatte, stahl während eines sol¬
chen eine größere Summe Oeldes. Er bezahlte sein Billet richtig, aß in
mehreren Wirtschaften, bezahlte auch dort richtig, ließ sich die ent¬
sprechende Summe herausgeben, wenn er größere Geldstücke hinlegte,
mietete sich eine W'ohnung, lebte in derselben einige Tage, erwachte
dann und wußte nicht, wie er an jenen Ort gekommen war und was sich
inzwischen ereignet hatte. An einer Stelle wurde er für leicht betrunken
gehalten B; im übrigen ist er nicht besonders aufgefallen. Trotzdem
kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es sich hier um einen Zustand
von Bewußtlosigkeit im Sinne des § 105,2 gehandelt hat.
Ein zweites Beispiel ist folgendes:
Einer unserer Kranken in der Anstalt, der von Zeit zu Zeit epilep¬
tische Dämmerzustände bekam, wurde von mir wiederholt zu psycho¬
logischen Experimenten herangezogen. Auch er gehört zu denjenigen,
deren Bewußtseinstrübungen dem Laien nicht ohne weiteres als solche
aufgefallen wären. iVtan hätte ihn wohl für einen merkwürdigen JVlenschen
gehalten, der einen unsteten Blick zeigte, eine oder einige Antworten
schuldig blieb, aber im übrigen bei einfachen Fragen doch sachgemäß,
wenn auch in gereiztem Ton, Antwort gab. Zu einer besonders ge¬
eigneten Zeit legte ich diesem Mann einen Schuldschein über 100 Mk.
vor und sagte zu ihm: „Sie haben von mir gestern 100 Mk. geliehen,
wollen Sie mir bitte diesen Schein darüber geben.“
Der Kranke nahm das Blatt in die Hand, sah es an, als wenn er es
durchlesen wollte. Ich zeigte ihm dann die Stelle, wo er seinen Namen
hinzuschreiben hätte, und er tat dies ohne weiteres.
Man siebt an diesem Experiment, daß es unter Umständen
möglich ist, solche Kranke in ungesetzlicher Weise auszubeuten.
Ein anderer unserer Patienten hatte, wie sich später nachweisen
ließ, während eines Dämmerzustandes fast seine ganze Garderobe und
Wäsche an verschiedene Personen verschenkt und war auch sein ge¬
samtes Geld los geworden, ohne daß man ihn für mehr als leicht an¬
getrunken gehalten hätte.
Alle diese Fälle haben Eins gemeinsam. Die Patienten
sind sämtlich von den Laien, mit denen sie während des Dämmer¬
zustandes zu.sammenkamcn, nicht als geisteskrank angesehen
worden.
’) Dieser Fall .scheint, wie das nicht selten vorkommt, im Aussehen
utid Verhalten während desselben Dämmerzustandes gewechselt zu
haben.
b) Qeschäftsfähigkeit und geistige Störungen. 383
Weiter ist auffällig, daß jeder von ihnen eine entweder
ungesetzliche oder wenigstens für sich selbst nachteilige Handlung
begangen hatte. Daneben hatten sie aber zahllose Rechts¬
geschäfte genau so erledigt, wie jeder gesunde Mensch.
Ich lege auf diese Tatsache insofern Gewicht, als sie be¬
weist, daß solche Geschäfte u. U. auch wirklich in gutem Glau¬
ben abgeschlossen sein können. Die von der beklagten Partei
und deren Zeugen aufgestellte Behauptung, sie habe von einer
Bewußtseinstrübung bei dem anderen Kontrahenten nichts ge¬
merkt, braucht also nicht immer falsch zu sein. Daß man bei
unsauberen Geschäften aber derartigen Aussagen ein ge¬
wisses Mißtrauen wird entgegenbringen müssen, ist selbstver¬
ständlich'). —
Wird nun von einer Partei behauptet, ein Rechtsgeschäft
sei von ihr in einem Zustande von Bewußtlosigkeit getätigt
w'orden, so sind für den Sachverständigen folgende Gesichts¬
punkte wichtig;
1. Eine Bewußtseinstrübung ist ein Symptom, aber keine
Krankheit. Sie ist nur ein Glied in der Kette aller der Erschei¬
nungen, aus denen die Diagnose gewonnen wird. Da nun die
Fälle, in denen eine Epilepsie, Hysterie usw. sich zuerst durch
einen — dazu noch forensisch bedeutungsvollen — Dämmerzu¬
stand manifestiert, sehr selten sind, kann man praktisch fast stets
darauf rechnen, entweder durch Untersuchung des Kranken
selbst oder durch Erhebung einer sorgfältigen V'orgeschichte
weiteres Material zur Klärung der Diagnose zu erhalten.
2. Dämmerzustände pflegen meist, wenn auch nicht regel¬
mäßig, mehr oder minder ausgesprochene Erinnerungslücken zu
hinterlassen.
Allein aus der Tatsache aber, daß ein Hysteriker, Epilep¬
tiker oder Degenerierter sich der Einzelheiten bei Tätigung eines
Rechtsgescbäftes nicht entsinnen kann, darf man nicht schließen,
daß beim Abschluß des Geschäfts ein Dämmerzustand vorhanden
war. Schon der normale Mensch kann sich nicht aller Vorgänge
entsinnen, die er in hochgradiger Erregung miterlebt hat.
Die Erinnerungslücken der Epileptiker unterscheiden sich
') Auf die Hypnose wird an dieser Stelle nicht weiter eiiiKegangen.
Was darüber zu sagen ist, steht bereits im strafrechtlichen Teil.
384
Die Geschäftsfähigkeit.
von den Gcdächtnismängeln der Gesunden und der Grenzzustände
auch insofern, als sie schärfer umschrieben sind und sich kaum
jemals allein auf den zur Diskussion stehenden Vorgang be¬
ziehen.
Erschwert wird der nachträgliche Nachweis derartiger
Amnesien durch verschiedene Umstände:
Der das Rechtsgeschäft Anfechtende hat ein Interesse
daran, krank zu erscheinen. Seine Angaben wird man nur
nach sorgfältigster Prüfung der Gesamtpersönlichkeit verwerten
dürfen. In vielen Fällen wird es ganz auf die Glaubwürdig¬
keit des Kranken ankommen; deren Beurteilung aber ist bei Epi¬
leptikern und Hysterikern doppelt schwierig. Einmal neigen
diese Kranken leicht zu bewußter Entstellung der Wahrheit,
zweitens kommen Erinnerungsfälschungen bei ihnen häufig vor,
schließlich bleibt auch zu bedenken, daß im Laufe des Gerichts¬
verfahrens, bei Besprechungen mit Zeugen und Anwälten, bei
Erörterungen des Prozesses in der Familie die Erinnerungslücke
mehr oder minder vollständig wieder ausgefüllt werden kann.
Auch wechselnde Angaben des Patienten können dadurch ihre
Erklärung finden.
Bisweilen werden die Art des Rechtsgeschäftes, der
Ort und die Zeit des Abschlusses vorsichtig zu verwertende
Anhaltepunkte dafür bieten, daß es einer seelischen Verändenmg
seine Entstehung verdankt. Dies wird namentlich dann der Fall
sein, wenn es dem gewöhnlichen Tätigkeits- und Gedankenkreise
des Patienten ferner liegt.
Daß letzteres nicht immer zuzutreffen braucht, daß vielmehr
die im Dämmerzustände ausgeführte Handlung in der Richtung
lange gehegter Vorstellungen liegen und eine Realisierung oft
ausgesprochener Absichten darstellen kann, haben verschiedene
Autoren betont.
Eine weitere Möglichkeit zur Klärung des Tatbestandes
bietet schließlich die Vernehmung von Zeugen über das Verhalten
des Kranken vor, während und nach der Tat. Da das Gebahren
der in einer Bewußtseinstrübung befindlichen Kranken rasch
wechseln kann, muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß
vor oder nach Abgabe der Willenserklärung — vielleicht an
eitlem anderen Orte — der Patient Symptome geboten hat. die
im Sinne einer Bewußtseinstrübung zu verwerten sind. Sorg-
b) Geschäftsfähigkeit und geistige Störungen. 385
faltigste Ermittelung') aller Einzelheiten liegt da im Interesse
der Sache.
In seiner Bedeutung wesentlich unterschätzt wird ein an¬
deres ursächliches Moment, welches Bewußtseinstrübungen aus¬
zulösen vermag, nämlich der Alkohol.
Auch dadurch können Zustände entstehen, die unter den
§ 105, 2 fallen. Es gibt dabei verschiedene Möglichkeiten,
die wir unter Anführung von Beispielen nunmehr erörtern
wollen.
Eine Gruppe von Kranken wird von Quartalssäufern (Dipso-
manen) gebildet. Was für unsere Zwecke wesentlich an diesen
Fällen ist, ist, daß die Patienten aus krankhafter Ursache
heraus periodisch trinken und w'ährend dieser Zeit zur Be¬
friedigung ihres Alkoholhungers alles verkaufen und versetzen,
was ihnen erreichbar ist.
Wir haben z. B. in unserer Poliklinik einen 3.‘)iähr. Damenschneider
beobachtet, bei dem sich diese dipsomanischen Anfälle an eine schwere
Kopfverletzung angeschlossen hatten. Während der Zeit der Erkrankung
vergeudete der Patient seinen gesamten Hausrat, wesentliche Bestand¬
teile seiner Kleidung, und schließlich ging er auch dazu über, Stoffe, die
er in Kommission hafte oder die ihm von seinen Kundinnen zur Ver¬
arbeitung übergeben worden waren, zu verkaufen und zu versetzen.
Wenn der Zustand vorüber war, machte er sich selbst die heftigsten
Vorwürfe, war voller Einsicht für das Unzulässige seines Handelns und
suchte dasselbe auch, soweit es ging, gut zu machen.
Eine zweite Gruppe von Fällen betrifft solche Kranke, die
auf Grund psychopathischer Symptome, insbesondere aus innerer
Angst, Zw'angsvorstellungen usw. dauernd trinken.
Aus dieser Krankheitsgruppe haben wir eine 28)ähr. Artistin beob¬
achtet. welche infolge häufiger degenerativer Angstzustände täglich
ungeheure Quantitäten Alkohol in jeder Form, insbesondere auch Liköre
zu sich nahm. Sie benutzte, um trinken zu können, jede Gelegenheit,
Leute unter den bestimmtesten Versprechungen anzuborgen, machte
Zechschulden in den Hotels und namentlich in den Varietös, in denen sie
auftrat. Nichts konnte sie nachher zurückerstatten, so daß schließlich
ihre Garderobe fast dauernd verpfändet war. Sie prostituierte sich, kam
mehrere Male in Schlägereien und hatte sich schließlich auf diese W'eise
eine ganze Reihe von Straf- und Zivilprozessen zugezogen, die erst durch
ihre Aufnahme in die Klinik ein Ende fanden.
') Welche Gesichtspunkte in Betracht kommen, ist im strafrecht¬
lichen Teil bei dem Kapitel Unzurechnungsfähigkeit nachzulesen.
Hübner, ForeoBiacho Psychiatrie. 2.J
386 Die Qeschäftsfähigkeit.
In einer dritten Gruppe möchte ich jene Personen zu¬
sammenfassen, die, degenerativ veranlagt, auf Alkohol sehr leb¬
haft reagieren.
So habe ich einen Studenten beobachtet, der auf einige Gläser Bier
stets psychisch schwer verändert war, dann für gewöhnlich sehr erotisch
wurde, Prostituierte aufsuchte und diesen alles schenkte, was sie ver¬
langten. Am nächsten Tage wuBte er öfters gar nicht, wo er gewesen
war. Einige Male gelang es ihm. die verschenkten Sachen zurück¬
zuerhalten (z. B. seine Taschenuhr). Das Verhalten war bei seinen
Freunden so bekannt, daß sie ihm die Wertsachen abnahmen, wenn er
betrunken war, um ihn vor Schädigungen zu bewahren ^).
Schließlich kommt es bei einer vierten Gruppe nicht selten
auch im schweren Rausch zu allerlei Rechtsgeschäften, die der
Betreffende ohne Alkohol nie machen würde. Diese Gruppe von
Fällen ist deshalb besonders gefährdet, weil in manchen Gegen¬
den der Abschluß eines größeren Geschäftes ohne reichlichen
Alkoholgenuß gar nicht denkbar ist (Viehhandel!). Daß auf
diese Weise der Ausbeutung Tor und Tür geöffnet ist, leuchtet
ohne weiteres ein.
So bin ich erst vor kurzem Sachverständiger in einem Prozeß
gewesen, der der Tätigkeit einiger gefährlicher Darlehnsschwindler
und Schieber ein Ende machte. Die Leute hatten sich wiederholt an
Studenten herangemacht, mit ihnen tage- und wochenlang herumgesumpft,
so daß die jungen Leute kaum nüchtern wurden. Wenn ihnen dann das
Geld ausging, erschien ein anderes Mitglied der Schiebergesellschaft auf
der Bildfläche und machte ihnen Anerbietungen von Darlehen auf künf¬
tige Erbschaften usw. hin, die dann auch meist angenommen wurden.
Auf diese Weise wurden größere Erbschaften gegen ganz minimale
Summen verkauft oder verpfändet. Oft erhielten die Geprellten über¬
haupt nichts, sondern wurden um die im Voraus zu zahlenden Provisionen
betrogen.
Was die forensische Beurteilung dieser Fälle anlangt, so
macht die größten Schwierigkeiten die letzte Gruppe.
Die Nichtigkeitsklage wegen der getätigten Verträge ist
ausnahmslos auf § 138, 2 B.G.B. gestützt worden. Wenn man
sich aber weiter die Frage vorlegt, ob nicht in einzelnen Fällen
auch der § 105, 2 B.G.B. anwendbar ist, so muß ich sagen, daß
bei mehreren auch diese Möglichkeit ernstlich zu erwägen wäre.
Einige von den Vertragsparteien waren leicht schwachsinnig und
haltlos. Wochenlangcr intensiver Alkoholgenuß hatte ihre Wil¬
lenskraft noch weiter geschwächt und schließlich wurde die
') Der Kranke bekam später mehrere Melancholien, ln einer der¬
selben beging er Selbstmord.
b) Geschäftsfähigkeit und geistige Störungen.
387
V^ersclireibung selbst fast stets nach einem mehrstündigen Früh-
schoppen vorgenommen. Wer die Minderwertigkeit der Be¬
trogenen einerseits, die Wirkung des Alkohols andererseits, die
Bedeutung der eingegangenen Verpflichtungen für die Geschädig¬
ten und schließlich die ungewöhnliche Art der Vollziehung so
wichtiger Rechtsgeschäfte berücksichtigt, der wird verstehen, daß
ich die Geschäftsfähigkeit der in Betracht kommenden Personen
zur Zeit des Vertragsschlusses anzweifele. —
Wir haben damit einige wesentliche Gesichtspunkte kennen
gelernt, welche für die Beurteilung von Rechtsgeschäften, die in
der Trunkenheit getätigt wurden, in der Regel Geltung haben
werden.
Im allgemeinen wird man die Trunkenheit nicht zu den
Gründen rechnen dürfen, welche ohne weiteres die Nichtigkeit
eines Rechtsgeschäftes zur Folge haben. Es kommt vielmehr
auf die Persönlichkeit des Trunkenen, die Absichten des Gegners,
den Zustand des Geschädigten zur Zeit der Vollziehung des
Rechtsgeschäftes, die Art, den Ort und die Zeit der Tätigkeit des¬
selben und ähnliche Umstände an^).
Prinzipiell kommt es auf zwei Punkte an: i. ist zu ermitteln,
ob der Geschädigte sich über den wesentlichen Inhalt des Rechts¬
geschäftes klar war und 2. ob das, was er erklärte, auch wirklich
„gewollt“ war, d. h. ob der Patient das Für und Wider ab¬
schätzen konnte und abgeschätzt hat, ob er nicht durch krankhafte
Affekte, Wahnvorstellungen usw. zur Einwilligung bestimmt
worden war.
Die bisher angeführten Fälle von Bewußtseinstrübung sind
Wühl die praktisch wichtigsten. Gelegentlich kann es aber auch
Vorkommen, daß noch andere Gifte“) (Kokain, Opium, Haschisch
usw.) Zustände von Bewußtseinstrübung auslösen, deren richtige
Würdigung aber viel weniger Schwierigkeiten machen wird, als
der Alkohol. Bei uns in Deutschland kommen dieselben wohl
kaum jemals in Frage.
Zu erwähnen sind schließlich noch kurzdauernde Dämmer¬
zustände, wie sie nach Kopfverletzungen bisweilen auftreten.
’) Ist der üeschädiRte betrunken gemacht worden und hat er einen
nachweisbaren Schaden erlitten, dann kann auch § 823 B.O.B. Anwendung
finden.
“) Lewin, Deutsche Jur.-Zeitg. 1908.
2 . 0 »
388
Die Geschäftsfähigkeit.
2 . Vorüher^chcmic Störungen der Ccistcsliili^kcit.
Wie bereits in dem Kapitel Bewußtlosigkeit angedeutet
worden ist, läßt sich eine scharfe Grenze zwischen den dort ab¬
gehandelten und den hier zu erörternden Krankheitszuständen
nicht ziehen. So befinden sich z. R. bei den unter dem Kapitel
,,Alkohol“ abgehandelten Fällen des vorigen .Abschnittes einige,
bei denen man ebensogut von krankhafter Störung der Geistes¬
tätigkeit wie von Bewußtseinstrübung sprechen könnte.
\’on sonstigen Störungen der Geistestätigkeit’), die hier in
Betracht kommen, seien zunächst die Verstimmungen er¬
wähnt. Soweit sie hierher gehören, kommen sic z. B. zur Zeit
der Menstruation, bei der Geburt, auch während der Laktation
vor und können Willenserklärungen auslösen, die vor F.insetzen
oder nach Abklingen des Zustandes nicht abgegeben worden
wären. Meist handelt es sich dabei um Degenerierte, Hysterische
oder leicht schwachsinnige Frauen.
Praktisch wichtiger sind die Verstimmungen, wie sie bei
Unfallneurasthenikern beobachtet werden. Daß bei der Unfallneu-
rose die Stimmung oft eine Veränderung erfährt, ist bekannt. F,s
kann nun gelegentlich bei schwierigen Unterhandlungen zwischen
dem Versicherungsträger und dem X’erletzten Vorkommen, daß
letzterer aus einer krankhaften Reizbarkeit oder Depression
heraus plötzlich erklärt, er wolle mit der Sache überhaupt nichts
mehr zu tun haben und verzichte auf jede Rente; man solle ihn
in Ruhe lassen usw. Derartige Fälle sind uns wiederholt bc-
gegnet.
Die Organe der staatlichen Arbeitervcrsicherung pflegen
von solchen Rrklärungen im allgemeinen keine Notiz zu nehmen,
ln der Privatversichcrung wäre es aber wohl möglich, daß unter
dem Einfluß der VerstinitTumg der Verletzte gegenüber einem
.Angestellten der Gesellschaft eine entsprechende Erklärung ab¬
gibt und damit seiner gesamten Recht.sansprüche verlustig geht.
Tch glaube, daß der Sachverständige in solchen Fällen, wenn
es sich um schwere Neurosen handelt, die Voraussetzungen
des § 105, 2 als gegeben wird anseben können.
’) Literatur: WevKandt, Münchn. nied. Wochenschr. 1900. Biber¬
feld, Deutsche med. Wochenschr. 1900, S. 570. Quddeii, Friedr. Bl. f.
ger. Med. 1912. Marx, Berl. klin. Wochenschr. 1912, S. 585.
b) Geschäftsfähigkeit und geistige Störungen. 389
Besonderer Beachtung empfehlen niöclite ich ferner die Fälle
von leichter Melancholie und Manie. Einen derartigen
hatte ich zu begutachten. Leider war von dem behandelnden
Arzte der Zustand ursprünglich verkannt worden. Dem Kranken
ist dadurch ein beträchtlicher Schaden erwachsen.
Es handelte sich um einen schwer psychopathischen Menschen, der
nebenbei auch eine alte Lues hatte und eines Tages mit einem melancho¬
lischen Depressionszustand erkrankte. Der Patient war leicht gehemmt,
fühlte sich unfähig zu denken und äußerte die Wahnidee, daß er ganz
arm geworden sei. Der Zustand dauerte im ganzen etwa 8 W'ochen an.
Er war nun Besitzer eines größeren Vermögens und, da er sich
selber außer Stande fühlte, dasselbe zu verwalten, so erteilte er im
Anfang seiner Erkrankung seiner Schwester Vollmacht zur Erledigung
einiger Rechtsgeschäfte und zwar mit Zustimmung des Arztes, der ihn
für dispositionsfähig erklärte. Kaum war dies geschehen, so erschien
sein Schwager, bestärkte ihn in der Wahnvorstellung, daß er sein ganzes
Vermögen verloren habe und ließ sich von ihm gegen Auszahlung von
25 000 Mk. seinen gesamten Besitz übertragen, der einen Wert von etwa
200 000 Mk. hatte. Nach der Genesung focht der Patient das Rechts¬
geschäft an.
Durch Zeugen und Sachverständige wurde das Bestehen der Ver¬
stimmung und der Verarmungsidee in der Zeit vor und nach der Tätigung
des fraglichen Vertrages festgestellt. Daß der Patient an dem Tage der
Tätigung des Aktes selbst den Verarmungswahn gehabt hatte, ließ sich
nicht mehr nachweisen. Der Anfechtungsgegner bezog sich darauf, daß
der behandelnde Arzt keinen Augenblick gezögert hatte, der Schwester
gegenüber kurz vorher den Patienten als geschäftsfähig zu bezeichnen.
Bei der Gerichtsverhandlung stellte sich allerdings heraus, daß der be¬
treffende Sachverständige den Begriff Geschäftsfähigkeit nur dem Namen
nach kannte und sich infolgedessen über die Tragweite seiner Zustim¬
mung auch nicht entfernt klar gewesen war.
Das Gericht entschied, daß der Patient zur Zeit der Tätigung des
Vertrages geschäftsfähig gewesen sei, weil sich nicht habe nachweisen
lassen, daß er auch an dem Tage der Tätigung unter dem Einfluß der
W'ahnidee von seiner Verarmung gestanden habe. Mein Hinweis darauf,
daß eine umschriebene Krankheit Vorgelegen habe und deshalb auf das
Vorhandensein oder Fehlen eines Einzelsymptomes nicht allzuviel Wert
gelegt werden dürfe, konnten das Urteil nicht beeinflussen. Allgemein
anerkannt wurde allerdings, daß die Handlung als solche vom Stand¬
punkt des Klägers sehr merkwürdig war. —
Daß der Beziehungswabn unter Umständen von Einfluß
auf die Geschäftsfähigkeit sein kann, ist gleichfalls hier zu er¬
wähnen.
Schließlich ist auch hier wieder der Tatsache zu gedenken,
daß hysterische, neurasthenische und degenerativ veranlagte
390
Die Geschäftsfähigkeit.
Menschen auf äußere Geschehnisse, die sie selbst lietreffen, in
krankhafter Weise reagieren und so zu Handlungen veranlaßt
werden können, die sic sonst nicht begehen würden. Ein Beispiel,
das, wie ich glaube, recht lehrreich ist, wird dies gut veran¬
schaulichen.
Es handelte sich um einen SOjähr. Qroßkaufmann H., der infolge
verschiedener unglücklicher Spekulationen sein gesamtes Vermögen ver¬
loren hatte. Der Kranke hatte in jungen Jahren Syphilis gehabt. Er
war ein schwer degenerativer Mensch, und dafür bekannt, daß jede
kleinste Unannehmlichkeit ihn ganz kopflos machte.
Diese Wirkung hatten nun, wie durch eine ganze Reihe von Zeugen¬
aussagen bewiesen werden konnte, auch die schwierigen Verhandiungen
bei der Liquidation seines umfangreichen, aus mehreren Teilen bestehen¬
den Geschäftes, die sich im Ganzen über etwa 3 Jahre hinzog.
Alle die aufregenden Besprechungen bewirkten sehr rasch, daß
der Kranke für mehr als ein Vierteljahr in einem Sanatorium unter¬
gebracht werden mußte, da er vollkommen zusaramengebrochen war.
Er erholte sich soweit, daß er dort wieder entlassen werden konnte. Bei
jeder Gelegenheit zeigte sich aber, daß sein ganzes Gefühls- und Gemüts¬
leben durch die über ihn hereingebrochenen Unglücksfälle schwer ver¬
ändert war. Er drohte wiederholt mit Selbstmord, wurde auch einmal
am Rande eines Sees gefunden und in sein Haus zurückgebracht, lief
planlos umher, beschimpfte seine Angestellten und seine Familie in gröb¬
lichster Weise, wenn er in gereizter Stimmung W'ar, und schloß sich
öfters für halbe Tage in seinem Kontor ein, ohne einen Menschen zu
sich zu lassen.
Auch in geschäftlichen Dingen schwankte sein Verhalten außer¬
ordentlich. Es gab Zeiten, in denen er für das Geschäft überhaupt nicht
zu interessieren war und es geradezu ablehnte, sich über die ein-
gegaiigeneii Briefe usw. berichten zu lassen. Anderseits geschah es
mehrfach, daß er sich seinen Gläubigern gegenüber außerordentlich ge¬
schickt benahm, so daß er wiederholt große Vergünstigungen bei der
Liquidation seines Geschäftes erreichte.
Im Laufe der Verhandlungen verabredete er nun mit einem seiner
Geschäftsfreunde, dem C. Otto (]., daß dieser ihm gegen Verschreibung
zw'eier Häuser eine bestimmte Summe Geldes zur Verfügung stellen
sollte, mit der die Liquidation abgeschlossen werden konnte. Zwischen
den beiden Kontrahenten war außerdem abgemacht worden, daß H. die
Häuser zurückkaufen sollte, und zwar zu dem Verkaufspreise, sobald
ihm dies möglich war.
C. Otto 0. war nun nicht in der Lage, den Vertrag selber zu tätigen,
erteilte vielmehr, da er verreisen mußte, seinem Sohne C. Oskar O.
Vollmacht in dieser Sache, und Letzterer beauftragte wiederum seinen
Prokuristen, den Vertrag abzuschließen. Der Prokurist ging zum Notar
und dort wurden mm die Grundstücke statt an C. 0 11 o G. an C. O s k a r
G. überschrieben. Der Vertrag wurde von allen Parteien unterzeichnet,
ohne daß eine Beanstandung stattfand. Erst später wurde der Irrtum
b) Geschäftsfähigkeit und geistige Störungen. 391
bemerkt, als inzwischen die beiden Häuser im Werte auf das Doppelte
gestiegen waren, und der Patient dieselben Zurückkäufen wollte.
C. Oskar Q. wollte sich an den von seinem Vater vereinbarten
Kaufpreis nicht halten, sondern verlangte nun das Doppelte. Infolge¬
dessen kam es zu einer Nichtigkeitsklage, indem H. geltend machte, daß
er zu jener Zeit derartig erregt und nervös gewesen sei, daß ihm die in
dem Vertrag geschehene Namensverwechselung gar nicht zum Bewußt¬
sein gekommen sei. Der Notar, welcher den H. nicht näher kannte, be¬
kundete, daß ihm an demselben nichts aufgefallen sei. Anders der
Nütariatsgehilfe, weicher sich dahin aussprach, daß seines Erachtens der
Kläger weder zugehört, noch seinem ganzen Verhalten nach in der Lage
gewesen sei, der Verhandlung zu folgen. Er habe einen sehr aufgeregten
Eindruck gemacht. Das Gericht in erster Instanz sprach sich dahin aus,
daß das Rechtsgeschäft gültig sei. Es wurden dann eine Reihe von Gut¬
achten extrahiert. Drei Sachverständige, darunter der Verfasser, er¬
klärten, es sei sehr wohl möglich, daß die intensive Aufregung, in der H.
in jener Zeit lebte, den Patienten verhinderte, dem Tätigungsakt in allen
Teilen zu folgen, mit anderen Worten, daß es ihm seine Krankheit un¬
möglich gemacht habe, seine Interessen richtig wahrzunehmen.
Zu dieser Überzeugung gelangten die Sachverständigen auf Grund
der Zeugenaussagen über die Zeit des Vertragsabschlusses. Bei dem¬
selben hatte H. dem einen Zeugen einen geistesabwesenden Eindruck
gemacht, indem „er nicht recht folgen konnte“. So w'ar er z. B. einmal
gefragt worden, ob er das, was der Notar ihm vortrug und die Form des
Vertrages auch begriffen habe. Erst nach mehrfacher Wiederholung der
Frage erklärte er, daß er es begriffen habe. Er saß während des größten
Teiles der Schließung teilnahmslos da und starrte vor sich hin.
Ob das Gericht sich der Ansicht der drei Sachverständigen an¬
geschlossen hat, konnte ich nicht ermitteln.
Ich erwähne diesen Fall, weil er zeigt, daß unter ganz be¬
sonderen Umständen wohl auch einmal ein Neurastheniker oder
Hysteriker in Zustände geraten kann, wo seine Geschäftsfähig¬
keit zum mindesten als zweifelhaft zu bezeichnen ist. —
Schließlich möchte ich noch erwähnen, daß vorübergehende
Sinnestäuschungen, unter Umständen auch Zwangsvorstellungen
und Störungen des Gedächtnisses gelegentlich einmal zur Nichtig¬
keitserklärung von zivilrechtlichen Handlungen führen können. —
Schließlich ist noch hinzuzufügen, daß eine motorische
Aphasie und sehr ausgesprochene Paraphasie die rechtsgültige
Abgabe einer Willenserklärung hindern kann. Immer braucht
dies aber nicht der Falle zu sein, da ja das Wortverständnis er¬
halten ist, der Patient also unter Umständen durch Zeichen und
Gebärden seine Zustimmung oder Ablehnung zu dem, was vor¬
getragen wird, zu geben vermag. —
392
Die Geschäftsfähigkeit.
II. Chronische Geistesstörungen.
§ 104, Ziff. 2: „Geschäftsunfähig ist
2. wer sich in einem, die freie Willens-
bestinimung ausschließenden Zustande krank¬
hafter Störung der Geistestätigkeit befindet,
sofern nicht der Zustand.seiner Natur nach ein
vorübergehender is t."
Mit dem Ausdruck Geschäftsunfähigkeit wollte der Gesetz¬
geber nur solche Geistesstörungen belegen, die „dauernd“ be¬
stellen, d. h. deren Besserung oder Heilung in absehbarer Zeit
nicht zu erwarten ist (Planck, Crome, Staudinger). Es soll
damit aber nicht gesagt werden, daß alle Rechtshandlungen,
welche der Geschäftsunfähige besorgt, nichtig sind (vergl.
O.L.G. Stuttgart 7. ii. n ; Das Recht 1912, Nr. 2140 und Württ.
J., Bd. 24, S. I u. ff.).
Der Annahme der Geschäftsunfähigkeit steht auch der Um¬
stand nicht entgegen, daß die in Frage kommende Person „trotz
festgestellter krankhafter Störung der Geistestätigkeit noch zu
wirtschaftlichen Besorgungen, wie sie in einem Hausstande fort¬
gesetzt vorzunehmen sind", fähig ist (Das Recht 1908, Entsch.
Nr. 3527 u. Seuff. Arch., Bd. 51, Nr. 89; Bd. 55, Nr. 129) “). —
Die Geschäftsunfähigkeit des nicht Entmündigten besteht
solange, als durch die krankhafte Störung der Geistestätigkeit
die freie VVillensbestimmung aufgehoben ist, d. h. der Patient
braucht nicht geheilt zu sein. Wenn eine weitgehende Besserung
eingetreten ist, so kann er wieder geschäftsfähig sein, sofern die
Besserung den Grad erreicht hat, daß seine freie Willensbestim¬
mung durch die noch vorhandenen psychischen Symptome nicht
mehr aufgehoben ist (Crome).
Soll ein bestimmtes Rechtsgeschäft auf Grund des § 104,
Ziff. 2 B.G.B. für nichtig erklärt werden, so muß nachgewiesen
werden, daß gerade „im Zeitpunkte der Erklärung“ (R.G. IV.
28. IO. 07; Das Recht 1907, Nr. 3756) die freie W'illensbestim-
mung durch krankhafte Störung der Geistestätigkeit ausge-
Er kann z. B. in auftragloser Geschäftsführung handeln, finden
(§ 96.5), Schütze entdecken (§ 984), durch Spezifikation Eigentum er¬
werben (§ 9.50) usw.; vergl. Staudinger, Kommentar, § 10.5, Allgem. Teil.
-) E. Schnitze sagt aber mit Recht, daß mit der Annahme, § 104, 2
habe Vorgelegen, ein Sammcigutachten abgegeben wird.
b) Geschäftsfähigkeit und geistige Störungen.
393
schlossen war'). Die Beweislast obliegt demjenigen, der die
Nichtigkeit eines Rechtsgeschäftes behauptet (.Heilfron u. O.L.G.
Stuttgart 27. IO. 05).
Uber die Beziehungen zwischen Geistesschwäche und
Geschäftsunfähigkeit spricht sich folgende Entsch. des Bayr.
O.L.G. aus:
Das O.L.G. hat nicht verkannt, daß das Vorhandensein von
Geistesschwäche für sich allein eine Beschränkung der Geschäfts¬
fähigkeit insolange nicht begründet, als der Geistesschwache nicht
unter Vormundschaft gestellt oder entmündigt ist. Es ist aber anderer¬
seits mit Recht davon ausgegangeii, daß Willenserklärungen eines
Geistesschwachen, auch wenn er nicht entmündigt oder bevormundet
ist. rechtsunwirksam sind, sofern durch die Geistesschwäche die freie
Willensbestimmung dauernd ausgeschlossen war. (Bayer. O.L.G.
8 . 4. 10.) Das Recht 1910, Entsch. Nr. 1905.
(Ebenso Posen 10. 12. 10; Jur. Wochenschr. 1911, S. 179, an¬
geborenen Schwachsinn betreffend.)
Die Rechtswirkung des § 104, Ziff. 2 tritt ein, gleichgültig
ob die geistige Störung des einen Kontrahenten erkannt wurde
oder nicht. Sie tritt auch dann ein, wenn der Kranke sich selbst
als gesund bezeichnet hatte. Ebensowenig ändert die notarielle
Beurkundung (Cosack) ^), daß beide Vertragsparteien geschäfts¬
fähig waren, daran etwas.
Diese Konsequenzen aus dem § 104 sind, wie von ver¬
schiedenen kaufmännischen Korporationen mit Recht beklagt
worden ist’), hart. Ob sie aber Anlaß zu einer Änderung des
geltenden Rechtes geben dürfen, ist mir zweifelhaft. Jeden¬
falls erscheinen mir die bis jetzt vorliegenden Vorschläge nicht
geeignet, dem Kranken den Schutz zu gewähren, den er bean¬
spruchen kann.
V'orgeschlagen ist i. die Einbeziehung heimlicher Geistes¬
kranker unter den § 122 B.G.B.; 2. ein Zusatz zum § 829 B.G.B.
Sowohl das eine wie das andere hat seine Bedenken, denn man
kann nicht verhindern, daß auch solche „Geschäftsleute“, die in
voller Kenntnis der vorliegenden Verhältnisse den Kranken aus-
’) Der Nachweis, daß die geistige Störung gerade auf das konkrete
Rechtsgeschäft von Einfluß war, ist nicht erforderlich. Hierfür gelten
die im strafrechtlichen Teil gemachten Ausführungen.
’) Lehrbuch des B.G.B., Bd. 1, S. 158.
’) Bank-Arch. 1906, Nr. 13. Heß, Psych. Wochenschr., Bd. 8, S. 325.
E. Schnitze im Handbuch; Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1913, S. 247.
394 Die Geschäftsfähigkeit.
zubeuten suchten, sich derartiger Bestimmungen zu ihrem Vor¬
teil bedienen würden *).
Ich kann mir im übrigen auch nicht denken, daß der von
den Kranken angerichtete Schaden so erheblich ist, ja ich glaube
sogar behaupten zu dürfen, daß unsere Patienten viel häufiger
betrogen werden, als sie selbst zu betrügen versuchen. —
Das Gesetz macht die Geschäftsunfähigkeit in dem eben
zitierten Paragraphen von zwei Bedingungen abhängig, nämlich
I. muß ein Zustand krankhafter Störung der Geistesstörung be¬
stehen, der die freie Willensbestimmung ausschlicßt, und 2 . darf
dieser Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit seiner
Natur nach kein vorübergehender sein“).
Was unter freier Willensbestimmung im Sinne des § 104
verstanden wird, haben die obersten Gerichte in verschiedenen
Entscheidungen zum Ausdruck gebracht. Ang(führt sei der
folgende Auszug aus einer Entsch. des O.L.G. Hamburg v.
30. 3. 08:
Die freie Wiliensbestimmuiig setzt voraus, daß gegenüber den
verschiedenen Vorstellungen und Empfindungen und gegenüber den
Einflüssen dritter Personen, welche bestimmend auf den Willen ein-
wMrken, eine vernünftige Überlegung und freie Selbstentschließung
darüber, W'as im gegebenen Falle als das richtige zu tun ist, statt¬
findet. An der freien Willensbestimmung fehlt es, wenn infolge krank¬
hafter Störung der Qeistesttätigkeit bestimmte Vorstellungen oder
Empfindungen oder Einflüsse dritter Personen derart übermächtig den
Willen beherrschen, daß eine Bestimmbarkeit des Wüllens durch ver¬
nünftige Erwägungen ausgeschlossen ist.
Jur. Wochenschr. 1908, S. 323.
“) Von Fieß und E. Schnitze ist auf die Neigung mancher Geschäfts¬
leute hingewiesen worden, den Insassen von Privatanstalten und sonstigen
zweifelhaften Kunden Kredit zu gewähren in der Erwartung, daß die
Familie aus Furcht vor dem Skandal später alles bezahlt.
Wir haben hier den Fall erlebt, daß eine Firma sich einer Lieferung,
zu der sie sich einem anderen Geschäft gegenüber kontraktlich ver¬
pflichtet hatte, eines Tages entziehen wollte (nachdem ein Teil schon ge¬
liefert w'ar und sich die Preise zu ungunsten der ersten Firma geändert
hatten!) mit der Begründung, das Rechtsgeschäft sei nichtig gewesen,
denn der Teilhaber, welcher es abschloß, litt an Paralyse.
“) Erwähnt sei hier, daß nach einer Entscheidung des Kammer¬
gerichts der Aufenthalt eines Menschen in einer Irrenanstalt den Richter
II. U. zu der Annahme berechtigt, daß der Kranke geschäftsunfähig sei.
Für alle Fälle trifft letzteres aber nicht zu.
b) Geschäftsfähigkeit und geistige Störungen.
395
Dem Verlangen verschiedener Juristen, die Voraussetzungen
des § 104, Ziff. 2 nur dann als gegeben auzusehen, wenn die
freie VVillensbestimmung nach jeder Richtung hin ausgeschlossen
ist, kann m. E. niemand entsprechen. Man würde damit die \V ir-
kungen des § 104, Ziff. 2 illusorisch machen; denn es gibt
Xiemanden, der beweisen könnte, daß ein bestimmter Mensch,
und sei er noch so krank, an der vernünftigen Besorgung aller
seiner Angelegenheiten ausnahmslos verhindert sei. Daß diese
Auffassung auch zweifellos nicht zu Recht besteht, dafür spricht
die bekannte, in dem Kapitel „Entmündigung" noch zu er¬
wähnende Reichsgerichtsentscheidung, welche besagt, daß die
Besorgung einzelner Angelegenheiten der Entmündigung nicht
entgegenstehe. —
Wir haben nun zu erörtern, welche Störungen der Geistes¬
tätigkeit unter den Ausdruck „seiner Natur nach nicht vorüber¬
gehend" zu subsummieren sind.
Es wird nicht immer leicht sein, zwischen den im § 104
und 105 gemeinten geistigen Störungen eine scharfe Grenze zu
ziehen.
Zu den vorübergehenden Störungen im Sinne des § 105
gehören außer den oben bereits genannten auch noch das Deli¬
rium und manche Eormen der Alkoholhalluzinose. Beim Eifer¬
suchtswahn der Trinker wird man schon vorsichtiger sein müssen.
Es gibt zwar auch da Fälle, die sehr rasch abklingen. Die
meisten erstrecken sich jedoch zum mindesten über mehrere
Wochen und gehören deshalb wohl schon zu den im § 104 ge¬
meinten Psjxhosen.
Bei der Bestimmung, ob § 104 oder 105 anzuwenden sei,
lasse ich mich in zweifelhaften Fällen lediglich von praktischen,
nicht von medizinischen Gesichtspunkten leiten. Bin ich der
Meinung, daß durch Feststellung der Geschäftsunfähigkeit dem
Kranken gedient ist, indem er unter Umständen vor weiteren
Schädigungen liewahrt bleibt, so prüfe ich, ob sich der § 104 an¬
wenden läßt und spreche mich ev. für diesen aus. Handelte es
sich dagegen um ein einzelnes V'orkommnis, das womöglich auch
noch weit zurückliegt und sind weitere Nachteile für den Patienten
nicht zu besorgen, so genügt meiner Ansicht nach die Anwendung
des § 105.
So schematisch dieser Gesichtspunkt auf den ersten Blick
auch zu sein scheint, so zweckmäßig ist er in. E. für viele Fälle;
396 Die Geschäftsfähigkeit.
denn es ist Manchem, speziell Kaufleuten, nicht sehr erwünscht,
für geschäftsunfähig erklärt zu werden. Abgesehen davon, daß
eine derartige Maßnahme sie in ihren geschäftlichen Manipula¬
tionen hindert, ist sie auch nicht geeignet, das kaufmännische
Renommee zu heben.
Der Gedanke, in zweifelhaften Fällen die sozialen Konse¬
quenzen für den Kranken als Leitmotiv für die Beurteilung des
Falles zu nehmen, entbehrt also nicht ganz der Berechtigung —
Wir haben bisher nur von den zweifelhaften Fällen ge¬
sprochen. Es ist notwendig, einige Worte über die sicher unter
den § 104 fallenden Krankheitsbilder zu sprechen.
Zu den häufigst vorkommenden Krankheitsformen, bei denen
die Frage der Geschäftsunfähigkeit aufgeworfen wird, gehört
der Schwachsinn. Bald, nachdem der junge Mensch in die
Welt hinausgetreten ist, sich selbst mehr überlassen bleiben muß,
beginnt er durch eine Reihe unzweckmäßiger Handlungen aufzu¬
fallen. Die Unfähigkeit, mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung
stehen, hauszuhalten, bringt ihn in Geldverlegenheit und treibt
ihn Wucherern in die Hände. Neigung zu üppigem Lebensgenuß
und sexuellem Verkehr bewirken, daß er auch von zweifelhaften
Frauenspersonen ausgebeutet wird. Hinzu kommt die Neigung
zum Alkohol, die deshalb oft kostspielig wird, weil sich an den
Schwachsinnigen gern Schmarotzer aller Art anschließen, die
seiner Großmannssucht schmeicheln, um dafür gratis mitgenießen
zu können.
Die Familie macht für gewöhnlich mehrere Versuche, durch
Versetzung in ein anderes Milieu Rat zu schaffen. Der Erfolg
derartiger Unternehmungen ist aber zweifelhaft, weil sich jene
dunklen Existenzen, die von der direkten oder indirekten Aus¬
beutung der Haltlosen und Schwachsinnigen leben, fast überall
finden. Es kommt deshalb häufig leider erst zu großen Ver¬
mögensverlusten, ehe dem Treiben des jungen Mannes durch An¬
zweiflung seiner Geschäftsfähigkeit ein Ende bereitet wird.
Eine zweite Gruppe von Fällen betrifft die beginnenden
Paralytiker.
Wie weiter unten noch näher auszuführen sein wird, beginnt
die Paralyse ’) in einem Teil der Fälle mit heiterer Verstim-
') Eine hierauf bezügliche Entscheidung findet sich itn Recht 1912,
Entsch. Nr. 1427.
b) Geschäftsfähigkeit und geistige Störungen. 397
muiig, Größenideen, Neigung zu unsinnigen Einkäufen usvv. Es
kommt nicht selten vor, daß in diesem Stadium innerhalb weniger
Wochen ein großes Vermögen verschleudert wird. Eine meiner
Patientinnen z. B., eine einfache Haushälterin, die ein."; Erbschaft
von 25 000 Mk. gemacht hatte, nahm im Beginn der Paraly.se
einen Tischlergesellen, den sie irgendwo auf der Straße auf-
gclesen hatte, zu sich, machte mit ihm mehrere Reisen und
brachte es fertig, innerhalb eines Vierteljahres ihr ganzes Ver-
niögen durchzubringen.
Ein anderer unserer Paralytiker fing Liebschaften an, kaufte
Eheringe in größerer Menge, wollte den medizinischen Doktor
machen, schaffte sich zu diesem Zweck sieben Konversations¬
lexika an und ähnliches mehr.
Ein Bahnhofsgastwirt, der v'on jeher starker Raucher ge¬
wesen war, bestellte im Beginn der Paralyse für 8000 Mk. von
den teuersten Zigarrensorten, die zum großen Teil auch geliefert
wurden und die er an das untere Bahnhofspersonal größtenteils
verschenkte.
Die Feststellung, daß hier ein Kranker gehandelt hat, ist
leicht, wenn der Patient noch lebt und sich in ärztlicher Behand¬
lung befindet. Durch sachgemäße körperliche und psychische
Untersuchung wird die Diagnose der Paralyse in den meisten
Fällen leicht gestellt werden können und so auch die Handlung
il’.re Erklärung finden.
Ist der Kranke aber rasch gestorben, wie das bei einzelnen
Formen der Paralyse (galoppierende Paralyse) vorkommt, dann
ist der Nachweis erheblich erschwert. Es gibt dann außer den
Zeugenaussagen nur zwei Möglichkeiten, nämlich i. die mikro¬
skopische Untersuchung des Gehirns^), und 2. das .sorgfältige
Studium des gesamten handschriftlichen Nachlasses. —
An dritter Stelle sind die manischen Erregungen zu
nennen, in denen die Kranken auch gelegentlich, aber bei weitem
nicht so oft wie bei der Paralyse, zivilrechtliche Handlungen be¬
gehen, die für sie von Nachteil sind.
So mietete ein junger Student im Beginn der Manie in einem
der feinsten Hotels der Stadt eine ganze Flucht von Zimmern für
seine Geliebte, die er sich aus Paris kommen lassen wollte, ob-
’) Hierüber vergl. die Kapitel: Ergebnisse der Obduktion und pro¬
gressive Paralyse.
Die Geschäftsfähigkeit.
wohl sein fj^anzer Monatswechsel kaum dazu ausgereicht hätte, die
Zimmer für länger als 3—4 Tage zu bezahlen.
Ein anderer unserer Kranken nahm jedesmal, sowie die
Manie von neuem bei ihm ausbrach, eine alte Erbschafts-
geschichte, aus der nie und nimmer ein Vorteil für ihn resultieren
konnte, wieder auf, machte deswegen Reisen, schrieb lange Be¬
richte, gründete einen Verein der Erbberechtigten, ließ sich die
Angelegenheit jedesmal viel Geld kosten, ohne daß er irgend
etwas hätte erreichen können. Wenn die Manie abgeklungen war,
sah er das auch vollkommen ein. Mit dem Einsetzen des näch-
■sten Anfalles schwand seine Einsicht aber wieder und er begann
in derselben Weise wie bei den früheren Anfällen zu verfahren. —
Als ein weiteres Krankheitsbild, bei dem die Geschäfts¬
fähigkeit mitunter ausgeschlossen werden muß, ist der Alters¬
schwachsinn zu nennen. Derartige Kranke werden in nicht
ganz seltenen Fällen entweder von Erbschleichern oder von
zweifelhaften Frauenspersonen ausgebeutet, zu großen Schen¬
kungen oder Testamentsänderungen veranlaßt, die dann leider
meistenteils erst nach dem Tode der Erblasser bekannt werden,
so daß der Nachweis des Bestehens einer Erkrankung, welche
die Voraussetzungen des § 104, Ziff. 2 erfüllt, mitunter außer¬
ordentlich schwer wird. Liegt das Ableben nicht allzulange
nach Tätigung des in Betracht kommenden Aktes und wird durch
mikroskopische Untersuchung des Gehirns eine schwere Rinden¬
verödung gefunden, ergibt außerdem die sorgfältige, unter Zu¬
ziehung von Sachverständigen auszuführende Vernehmung der
Zeugen, daß, sei es vor, sei es zur Zeit der Tätigung des Rechts¬
geschäftes bereits psychische Krankheitserscheinungen vorhanden
gewesen sind, so kann man zum mindesten mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit behaupten, daß eine Geistesstörung i. S. des
obigen Paragraphen Vorgelegen habe. Auch die Korrespondenz
kann sowohl inhaltlich, wie auch, was die Form der Hand.schrift
anlangt (Zitterschrift), .Anhaltspunkte geben.
Lag eine krankhaft gesteigerte Erotik vor, so läßt sich für
gewöhnlich auch erweisen, daß dieselbe sich nicht nur an der
einen Stelle geltend gemacht hat, sondern auch an anderen. Sel¬
tener gelingt es schon, den Nachweis zu führen, daß die krank¬
hafte Beeinflußbarkeit des Altersschwachsinnigen von einem Erb¬
schleicher ausgenutzt worden sei. Für gewöhnlich ist das un¬
möglich, es sei denn, daß es aus der handschriftlichen Hinter-
Annahme von Willenserklärungen.
399
lassenschaft oder durch einwandfreie Zeugen bewiesen werden
Icann. Der Sachverständige wird sich infolgedessen in allen diesen
Fällen darauf beschränken müssen, lediglich aus den Angaben über
die Person des Erblassers Schlüsse zu ziehen.
I
Annahme von Willenserkläning[en.
Der Geschäftsunfähige ist nicht fähig, bei empfangsbedürf¬
tigen Rechtsgeschäften die Willenserklärung eines anderen ent¬
gegenzunehmen. Hierüber besagt § 131, i
Wird die Willenserklärung einem Geschäfts¬
unfähigen gegenüber abgegeben, so wird sic
nicht wirksam, bevor sie dem gesetzlichen Ver¬
trete r z u g e h t. —
Für die unter § 105, 2 genannten Zustände gilt diese Be¬
stimmung nicht. In diesen Fällen ist nach Lage der Sache zu
entscheiden.
Es muß verlangt werden, daß der Bewußtlose oder vor¬
übergehend Geistesgestörte die ihm mündlich oder schriftlich
zugehende Willenserklärung verstehen kann, d. h. er muß sie
hören oder lesen und auch ihren Inhalt begreifen können.
Über die Annahme von Willenserklärungen bei beschränkter
Geschäftsfähigkeit s. S. 378.
Besondere Wirkungen der Geschäftsunfähig¬
keit:
Ein Qeschäftsunfähiger kann nicht;
Vormund (§ 1780), Oegenvormund (§ 1792), Pfleger (§ 1915), Bei¬
stand (§ 1694), Mitglied eines Familienrates (§ 1865), Testamentsvoll¬
strecker (§ 2201) weiden.
Die elterliche Gewalt einschließlich der Sorge für die Person des
Kindes ruht (§ 1676).
Er kann als Erblasser keinen Erbvertrag (§ 2275). auch keinen Erb¬
verzicht eingehen, sondern nur durch seinen gesetzlichen Vertreter
schließen lassen (§ 2347).
Zur Ehelichkeitserklärung eines geschäftsunfähigen Kindes ist die
Einwilligung des gesetzlichen Vertreters und die Genehmigung des Vor¬
mundschaftsgerichts nötig (§ 1728).
Zur Anfechtung der Ehe eines Geschätfsunfähigen ist der gesetzliche
Vertreter mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts berechtigt
(§ 1336).
Besondere Wirkungen der beschränkten Ge¬
schäftsfähigkeit:
400
Die Geschäftsfähigkeit.
1. Ein beschränkt Geschäftsfähiger kann nicht;
Vormund (§ 1780), Gegenvonnund (§ 1792), Pfleger (§ 1915), Bei¬
stand (§ 1694), Mitglied eines Familienrates (§ 1865), Testamentsvoll¬
strecker (§ 2201) werden.
2. Er kann ausnahmsweise ohne Zustimmung des
gesetzlichen Vertreters:
Die Ehe anfechten (§ 1336), Verfügungen über die fortgesetzte
Gütergemeinschaft treffen (§ 1516), die Ehelichkeit eines Kindes an¬
fechten (§ 1.59.5), die Ehelichkeit eines Kindes anerkennen (§ 1598). Die
Mutter des unehelichen Kindes oder die Frau des Vaters kann den An¬
trag auf Legitimation eines unehelichen Kindes selbst stellen (§ 1729, 3)
seine Einwilligung zur Annahme an Kindesstatt selbst geben (§ 1748),
einen Erbvertrag anfechten (§ 2282), einen Erbvertrag aufheben (§ 2290),
von einem solchen zurücktreten (S 2296), einen Erbverzicht annehmen
(§ 2347), einen Erbverzicht aufheben (§ 2351), unbeschränkt testieren
(§ 2229).
3. Er kann mit Zustimmung des gesetzlichen Ver¬
treters:
Einen Erbvertrag schließen (§ 2275), einen Ehevertrag schließen,
durch den allgemeine Gütergemeinschaft vereinbart oder aufgehoben
wird (§ 1437), eine gültige Ehe eingehen (§ 1304).
4. Er bedarf der Zustimmung des gesetzlichen
Vertreters und des Vormundschaftsgerichts;
Zum Antrag auf Ehelichkeitserklärung ebenso wie das geschäfts¬
beschränkte Kind (§ 1729), zur Annahme von Kindesstatt (§ 1751). Ist
das Kind auch geschäftsbeschränkt, gilt für dasselbe die gleiche Regel.
5. Schließt ein beschränkt Geschäftsfähiger eine
Ehe ohne Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters, so kann nur
dieser Letztere wegen der fehlenden Einwilligung die Ehe anfechten
(§ 1336 s. a. § 1.331).
6 . Die elterliche Gewalt eines beschränkt Ge¬
schäftsfähigen ruht, doch steht ihm die Sorge für die Person
des Kindes neben dem gesetzlichen Vertreter des Kindes zu. Bei
Meinungsverschiedenheiten geht die Meinung des gesetzlichen Vertreters
vor (§ 1676).
7. Die Verwaltung und Nutznießung des Mannes
tritt nicht ein, wenn er die Ehe mit einer in der Geschäftfähigkeit be¬
schränkten Frau ohne Einwilligung ihres gesetzlichen Vertreters ein¬
geht (§ 1364).
Internationales Privatrecht.
Art. 7 E.G. B.G.B. Die Geschäftsfähigkeit
einer Person wird nach den Gesetzen des
Staates beurteilt, dem die Person an gehört.
Erwirbt ein Ausländer, der volljährig ist
oder die rechtliche Stellung eines Voll jährigen
Internationales Privatrecht.
401
hat, die Reichsangehörigkeit, so behält er die
rechtliche Stellung eines Volljährigen, auch
wenn er nach den deutschen Gesetzen nicht
volljährig ist.
Nimmt ein Ausländer im Inland ein Rechts¬
geschäft vor, für das er geschäftsunfähig oder
in der Geschäftsfähigkeit beschränkt ist, so
gilt er für dieses Rechtsgeschäft insoweit als
geschäftsfähig, als er nach den deutschen Ge¬
setzen geschäftsfähig sein würde. Auf fami-
1 i en r ec h1 1 i c h e und erbrechtliche Rechtsgeschäfte
sowie auf Rechtsgeschäfte, durch die über ein
ausländisches Grundstück verfügt wird, findet
diese Vorschrift keine Anwendung.
Die Geschäftsfähigkeit eines Menschen wird demnach nach
der Staatsangehörigkeit des Betreffenden beurteilt’). Bezüg¬
lich der Rechtsfähigkeit gelten die Gesetze des Ortes, denen das
in Frage kommende Rechtsverhältnis überhaupt unterworfen ist.—
Von dem Grundsatz, daß hinsichtlich der Geschäftsfähigkeit
das Recht des Heimatstaates gilt, wird in folgenden Fällen ab¬
gewichen :
1 . wenn auf Anordnung des Reichskanzlers gegen einen aus¬
ländischen Staat und dessen Angehörige ein Vergeltungsrecht
zur Anwendung gebracht wird (Art. 31. E. B.Q.B.);
2. sind nach dem Rechte eines fremden Staates, dessen Gesetze im
Art. 7 Abs. 1 für maßgebend erklärt sind, die deutschen Gesetze
anzuwenden, so findendiese Gesetze Anwendung (Art.27E.B.G.B.);
3. wenn ein Ausländer, der nach den Gesetzen seines Jleimats-
staates die Volljährigkeit erlangt hat, vor dem 21. Lebensahr die
deutsche Reichsangehörigkeit erwirbt, so gilt er auch im
Deutschen Reiche als volljährig (Art. 7 Abs. 2 B.G.B);
4. ein Ausländer, der nach § 104 bis 115 B.G.B. geschäftsfähig ist,
während er nach dem Recht des Heimatsstaates geschäftsunfähig
oder in der Geschäftsfähigkeit beschränkt ist, wird hinsichtlich
der von ihm im 1 n 1 a n d e vorgenommenen Rechtsgeschäfte in
bezug auf die Geschäftsfähigkeit nach deutschem Recht beurteilt
(Art. 7 Abs. 3 B.G;B.).
Es ist dabei nicht erforderiieh, daß auch für das den Gegenstand
des Rechtsgeschäfts bildende Rechtsverhältnis die deutschen Gesetze
maßgebend sind.
’) Literatur: Zitelmann. Internat. Privatrecht. München und Leipzig.
Dunker & Humblot. Staudinger, Bürgerl. Gesetzbuch. Planck, Bürgerl.
Gesetzbuch. Meili, Internat. Privatrecht.
Hübner, Forensische Psychiatrie.
26
402
österreichisches Recht.
Österreichisches Recht').
Rechtsfähigkeit.
§ 15. „Die Personenrechte beziehen sich teils auf persönliche Eigen¬
schaften und Verhältnisse; teils gründen sie sich in dem Familienverhält¬
nisse.“
§ 16. „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft
einleuchtende Rechte und ist daher als eine Person zu betrachten.
Sklaverei oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich be¬
ziehenden Macht wird in diesen Lösungen nicht gestattet.“
§ 17. „Was den angebornen natürlichen Rechten angemessen ist.
dieses wird so lange als bestehend angenommen, als die gesetzmäßige
Beschränkung dieser Rechte nicht bewiesen wird.“’
§ 18. „Jedermann ist unter den von den Gesetzen vorgeschriebenen
Bedingungen fähig. Rechte zu erwerben.“
Jedes menschliche Wesen (auch eine Mißgeburt) ist eine Person und
kann Subjekt von Rechten sein.
Die Rechtsfähigkeit auf dem Gebiete des Privatrechts wird be¬
schränkt; a) Durch Ablegung des feierlichen Gelübdes in einem vom
Papst approbierten Orden in bezug auf die Ehefähigkeit (§ 63), die
Fähigkeit zur Adoption (§ 179), zur Übernahme der Vormundschaft (§ 192),
zum Eigentums- und Besitzerwerb (siehe bei §§ 355 und 356), ferner
in eibrechtlicher Beziehung (§§ 538, 573, 591, 597); b) bei Personen,
welche der Militärgerichtsbarkeit unterstehen, durch strafgerichtliche
Verurteilung in bezug auf Eheschließung (§ 61), Übernahme einer Vor¬
mundschaft (§ 191). Ein zum Tode oder zu schwerstem and schwerem
Kerker Verurteilter, kann vom Tage des angekündigten Urteils bzw.
während der Strafzeit nicht rechtsgültig testieren. Für die von den
Zivilstrafgerichten Verurteilten gelten diese Einschränkungen nicht. Sie
sind durch Gesetz v. 15. Nov. 1867 R.G.BI. Nr. 131 aufgehoben, c) Durch
Desertion (§ 544).
Ungeborene Kinder haben von dem Zeitpunkte ihrer Empfängnis an
einen Anspruch auf den Schutz der Gesetze (§ 22).
Der Anfang der Rechtsfähigkeit tritt erst mit der Geburt des Kindes
ein. Totgeborene Kinder gelten als nie vorhanden gewesen. Bei Zweifeln
darüber, ob das Kind gelebt hat, wird letzteres angenommen. Die gegen¬
teilige Behauptung muß bewiesen werden.
Handlungsfähigkeit Minderjähriger.
§ 21. „Diejenigen, welche wegen Mangels an Jahren, Gebrechen
desGeiste.s, oder anderer Verhältnisse wegen, ihre Angelegenheiten selbst
Ü Literatur: Stubenrauch, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch.
Wien. Manzsche Buchhandlung. Fürstl, Zivilprozeß. Wien 1898. Meili,
Internat. Zivilrecht, Bd. 1, S. 217. Schey, Bürgerliches Gesetzbuch. Wien.
Manzsche Biichhdlg. Schauer, Zivilprozeßordnung. Wien 1913. Manzsche
Buchlidlg.
Handlungsfähigkeit Minderiäliiger.
403
gehörig zu besorgen unfähig sind, stehen unter dem besonderen Schutze
der Gesetze. Dahin gehören: Kinder, die das siebente; Unmündige, die
das vierzehnte; Minderjährige, die das vierundzwanzigste Jahr ihres
Lebens noch nicht zurückgelegt haben; dann: Rasende, Wahnsinnige und
Blödsinnige, welche des Gebrauches ihrer Vernunft entweder gänzlich
beraubt oder wenigstens unvermögend sind, die Folgen ihrer Handlungen
einzusehen; ferner; diejenigen, welchen der Richter als erklärten Ver¬
schwendern die fernere Verwaltung ihres Vermögens untersagt hat;
endlich Abwesende und Gemeinden.“
Die Handlungsfähigkeit eines Menschen ist nach österreichischem
Recht bis zum 24. Lebensjahr eingeschränkt. Während dieser Zeit ist
dem Jugendlichen ein gesetzlicher Vertreter beigegeben; außerdem greift
die Verjährung entweder gar nicht oder nur unter gewissen Beschrän¬
kungen gegen ihn Platz (§§ 1472, 1475, 1485, 1494, 1495 und 1496). Das
Gesetz unterscheidet 4 Altersstufen:
1. Die Kindheit. Während derselben kann der Mensch für sich
allein weder von einer Sache Besitz nehmen (§ 310), noch Versprechen
machen und annehmen (§ 865). Er ist auch nicht deliktfähig (§ 1308 bis
1310).
2. Vom 8. bis vollendeten 14. Lebensjahr gelten die Menschen als
unmündig. In diesem Stadium können sie ein zu ihrem Vorteile ge¬
machtes Versprechen annehmen (§ 865), sind auch bereits deliktfähig,
dagegen noch nicht ehefähig (§ 48) und testierfähig (§ 569).
3. Die Zeit der Minderjährigkeit beginnt mit dem 15. Jahre,
sie endet mit dem zurückgeiegten 24. Jahre. Die Minderjährigen können
ohne ausdrückliche oder stillschweigende Einwilligung des Vaters keine
gültigen Verpflichtungen eingehen (§ 152), dürfen ohne Zustimmung des
Vaters oder gesetzlichen Vertreters nicht heiraten (§ 49 bis 52). Sie
können durch erlaubte Handlungen ohne Mitwirkung des Vormundes
etwas für sich erwerben, aber ihr Eigentum nicht veräußern. Verpflich¬
tungen dürfen sie nicht auf sich nehmen (§ 244). Über die Annahme von
Diensten besagt § 246:
„Hat der Minderjährige auch ohne Einwilligung seines Vormundes
sich zu Diensten verdungen, so kann ihn der Vormund ohne wichtige
Ursache vor der gesetz- oder vertragsmäßigen Frist nicht zurückrufen;
was er auf diese oder auf eine andere Art durch seinen Fleiß erwirbt,
darüber kann er, sowie mit jenen Sachen, die ihm nach erreichter
Mündigkeit zu seinem Gebrauche eingehändigt worden sind, frei verfügen
und sich verpflichten.“
Ähnliches besagt § 151 beziigl. des Selbsterworbenen der Minder¬
jährigen.
4. Die Altersstufe vom 20. bis 24. Jahre ist in folgetiden
Bestimmungen berücksichtigt:
Dem mehr als Zwanzigjährigen kann von der Obervormundschaft
der reine Überschuß seiner Einkünfte (§ 247) zur eigenen freien Verwal¬
tung überlassen werden. Er ist für allen Schaden verantwortlich, den
er durch verbotene Handlungen verursacht (§ 248).
26
österreichisches Recht,
404
Versprechen, durch die er eine Last übernimmt, sind in der Regel
nur mit Zustimmung des Vertreters oder zugleich des Gerichts gültig.
Der andere Teil kann vor erfolgter Einwilligung nicht zurücktreten, aber
eine angemessene Frist zur Erklärung verlangen (§ 865).
§ 174. „Kinder können auch vor Zurücklegung des 24. Jahres aus
der väterlichen Gewalt treten, wenn der Vater mit Genehmhaltung des
Gerichtes sie ausdrücklich entläßt, oder, wenn er einem zwanzigjährigen
Sohne die Führung einer eigenen Haushaltung gestattet.“
§ 175. „Wenn eine minderjährige Tochter sich verehelicht, so
kommt sie zwar, in Rücksicht ihrer Person unter die Gewalt des JWannes
(§§ 91 und 92); in Hinsicht auf das Vermögen aber hat der Vater bis zu
ihrer Großjährigkeit die Rechte und Pflichten eines Kurators. Stirbt der
Mann während ihrer Minderjährigkeit, so kommt sie wieder unter die
väterliche Gewalt.“
Weitere Beschränkungen der Minderjährigen;
.§ 243. Er kann weder als Kläger noch Geklagter auftreten; § 591;
bei einer Testamentserrichtung nicht Zeuge sein, abgesehen von letzten
Anordnungen, die auf Schiffen oder in verseuchten Orten erfolgen (§ 597).
Die Beschränkung der Handlungsfähigkeit er¬
lischt;
§ 251. „Die Vormundschaft erlischt auch sogleich, als der Pflege¬
befohlene die Großjährigkeit erreicht hat; doch kann das vormundschaft¬
liche Gericht auf Ansuchen oder nach Vernehmung des Vormundes, und
der Verwandten wegen Leibes- oder Gemütsgebrechen des Pflege¬
befohlenen, wegen Verschwendung oder aus andern wichtigen Gründen
die Fortdauer der Vormundschaft auf eine längere und unbestimmte Zeit
anordnen. Diese Verordnung muß aber in einem angemessenem Zeit¬
räume vor dem Eintritte der Volljährigkeit öffentlich bekannt gemacht
werden.“
§ 252. „Einem Minderjährigen, welcher das zwanzigste Jahr
zurückgelegt hat, kann das vormundschaftliche Gericht nach eingeholtem
Gutachten des Vormundes und allenfalls auch der nächsten Verwandten,
die Nachsicht des Alters verwilligen und ihn volljährig erklären. Wird
einem Minderjährigen der Betrieb einer Handlung oder eines Gewerbes
von der Behörde verstattet, so wird er dadurch zugleich für volljährig
erkläret. Die Erklärung der Volljährigkeit hat ganz gleiche rechtliche
Wirkung mit der wirklich erreichten Volljährigkeit.“
Handlungsfähigkeit Geistesgestörter.
Wie aus dem oben zitierten § 21 hervorgeht, werden auch geistige
Störungen als Hindernis der Handlungsfähigkeit angesehen. Das Gesetz
unterscheidet: 1. Blödsinn (ein Zustand, in welchem der Mensch un-
vermögend ist, die Folgen seiner Handlungen einzusehen); 2. Wahnsinn,
welcher sich hauptsächlich in verkehrten Vorstellungen und fixen Ideen
äußert; 3. Raserei, die mit heftigen Ausbrüchen, tobenden Anfällen ver¬
bunden ist. Die hier in Frage stehenden Personen können keine gütige
Ehe eingehen (§ 48), keinen Besitz erwerben (§ 310), keine letztwillige
Handlungsfähigkeit Geistesgestörter. 405
Anordnung errichten (§ 566), keine Verträge abschließen (§ 865), keine
Zeugenschaft abgeben (§ 591 B.G.B. und § 320 der neuen Z.P.O. v. 1. Aug.
1895, R.G.Bl. Nr. 113), keine Vormundschaft oder Kuratel führen (§§ 191
und 281); sie verlieren die väterliche Gewalt (§ 176); für den Ersatz des
von ihnen angerichteten Schadens gelten besondere, von den allgemeinen
abweichende Grundsätze (§§ 1308—1310) und die Verjährung unterliegt
in Ansehung ihrer eigentümlichen Modifikationen (§ 1494).
Nicht besonders genannt ist die Sinnesverwirrung, das heißt die
Zustände vorübergehender Störung der Geistestätigkeit. Nach §§ 869,
565, 566, 309 müssen Rechtsgeschäfte, die in solchen Zuständen vollzogen
wurden, gleichfalls als ungültig angesehen werden.
Das Vorhandensein von Raserei, Blödsinn oder Wahnsinn hat nach¬
stehende Folgen:
§ 48: Es ist Ehehindernis. § 270: Dem Kranken muß ein Kurator
gestellt werden. § 176: Die väterliche Gewalt ruht. § 191: Der Kranke
ist unfähig, Vormund zu werden. § 281: Er kann keine Kuratel über¬
nehmen; § 310: keinen Besitz erlangen; § 566: kein Testament errichten:
§§ 591: nicht Zeuge bei letzten Anordnungen sein; § 865: kein Versprechen
machen und annehmen; § 616: eine fideikommissarische Substitution
{§§ 608—609) verliert u. U. ihre Kraft, wenn sie einem Sinnlosen gemacht
wurde (Stubenrauch).
Nach § 1494 kann gegen die hier besprochenen Personen die Er-
sitzungs- und Verjährungsfrist, sofern ihnen kein gesetzlicher Vertreter
bestellt ist, nicht anfangen. Hat die Frist einmal angefangen, so endet
sie nie früher, als binnen zwei Jahren nach den gehobenen Hindernissen.
Hinzugefügt sei noch, daß die gesetzlichen Bestimmungen nicht
immer die gleichen technischen Ausdrücke gebrauchen. Oder es sind
nicht alle Begriffe erwähnt. Gemeint sind sie trotzdem immer alle.
Die EntinttndiÄiiiii:^).
Wir haben bisher gesehen, daß der Gesetzgeber die Mög¬
lichkeit geschaffen hat, vorübergehend Geistesgestörte be¬
züglich einzelner Rechtsgeschäfte, die sie unternahmen, vor
Schaden zu bewahren (§105, 2 B.G.B.). Wir haben ferner er-
B Literatur: Die oben zitierten Lehrbücher usw. des B.G.B., ferner:
Daude, Entmündigung. Sternberg, Entmündigungsrecht. Wien 1910.
Freudenthal, Recht, Bd. 8, S. 572. Tuczeck, Psych. Wochenschr., Bd. 2,
S. 317. Vocke, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 60, S. 724. Mendel, Ärztl.
Sachverst.-Zeitg. 1900. Levis, Entmündig. Geisteskranker. Leipzig 1901.
E. Schnitze, Stellungnahme des Reichsgerichts. Jur.-psych. Grenzfragen.
Halle. Marhold. Landsberg, Bürgerl. Gesetzbuch. Köhler, Bürgerl. Ge¬
setzbuch. Hölder, Bürgerl. Gesetzbuch. Rehbein, Bürgerl. Gesetzbuch.
Neumann, Bürgerl. Gesetzbuch. Dernburg, Bürgerl. Gesetzbuch. Scherer,
Rechtsprechung und Theorie 1905—1913. Leipzig. Otto Wigand.
4o6
Die Entmündigung.
fahren, daß einem Menschen die Fähigkeit, Rechtsgeschäfte zu
vollziehen, für die Zeit des Bestehens eines die freie Willens-
bestiinmung ausschließenden Zustandes krankhafter Störung der
Geistestätigkeit in allgemeiner Form abgesprochen weiden kann
(104, 2 B.G.B.).
Diese beiden Eventualitäten werden aber immer erst in
Betiacht gezogen, wenn ein nicht entmündigter Patient eine
Handlung begehen will oder begangen hat, die ihm Schaden
bringt.
Nun gibt es zahlreiche psychisch Kranke, bei denen man
Voraussagen kann, daß sie infolge ihrer geistigen Störung den an
sie herantretenden Anforderungen des praktischen Lebens nicht
gewachsen sind. Um sie in Zukunft vor Schaden zu schützen')
wurde in der Form der Entmündigung die Möglichkeit geschaffen,
sie aus dem Rechtsleben ganz oder teilweise auszuschalten. —
Wenn wir nun an die Besprechung der die Entmündigung
betreffenden Fragen herantreten, so ist unsere Aufgabe eine
fünffache: i. haben wir zu erörtern, an welche Voraussetzungen
die Entmündigung gebunden ist, 2. welche Wirkungen sie hat,
3. in welcher Weise sich das Entmündigungsverfahren abspielt,
4. wann sie aufgehoben werden kann und 5. unter welchen Formen
dies geschieht. —
§ 6 B.G.B. Entmündigt kann werden:
1. wer infolge von Geisteskrankheit oder
von (jcistesschwäche seine Angelegenheiten
nicht zu besorgen vermag;
2. wer durch \ ersch Wendung sich oder seine
Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt;
3. wer infolge von Trunksucht seine An¬
gelegenheiten nicht zu besorgen vermag oder
sich oder seine Familie der Gefahr des Not¬
standes aussetzt oder die Sicherheit Anderer
gefährdet.
Die Entmündigung ist wieder aufzuheben,
wenn der Grund der Entmündigung w e g f ä 111.
Nach dem Wortlaut des vorstehenden Paragraphen kann
ein Mensch, der bestimmte Vorbedingungen erfüllt, entmündigt
‘) Als S c h u t z maßregel ist die Entmündigung gedacht (vergl. Stau¬
dinger, Bd. 1, Entstehungsgeschichte des § 6 B.O.B.).
Verschwendung als Entmündigungsgrund.
407
werden, dies braucht jedoch nicht zu geschehen. Das Wort
,,kann“ soll besagen, daß der Antragsberechtigte (§ 646, i Z.P.O.)
nicht verpflichtet ist, den Antrag zu stellen. Hat er dies aber
getan, dann hat der Richter die Pflicht zu prüfen, ob und welche
materiellen Voraussetzungen für eine Entmündigung vorhanden
sind (§ 653 Z.P.O.). Ist der Antrag genügend begründet, dann
muß ihm auch stattgegeben werden^). —
Verschwendung als Entmündigungsgrund.
V'on den drei Gründen, welche das Gesetz als Voraussetzung
jeder Entmündigung kennt, bedarf der unter i und 3 genannte
eingehenderer Besprechung.
Forensisch-psychiatrisch am wenigsten wichtig ist der
zweite, die Verschwendung. Die Motive zum B.G.B. und
das Reichsgericht verstehen darunter den ,,Hang'‘ (R.G.E. XXI,
167 und Urt. d. R.G. IV. 20. 5. 01, Jur. Wochenschr. 1901,
S. 475) ,, 7 .u übermäßigen, zum Vermögen in keinem Verhältnis
stehenden Ausgaben — zur Führung einer Lebensweise, deren
Fortsetzung“) die Gefahr des Notstandes für ihn oder seine
Familie begründet“ (E. VII, 350; vergl. auch Urt. v. 18. 2. 09,
261/08; Jur. Wochenschr. 1909, S. 189/190). Es ist nicht er¬
forderlich, daß bereits ein bedeutender Teil des Vermögens durch¬
gebracht ist (R.G. IV. 6. 5. II ; Das Recht 1911, Nr. 3046).
Wenn auf die Verschwendung hier überhaupt eingegangen
wird, so geschieht es deswegen, weil, wie Kraepelin “) mit Recht
betont* hat, die Verschwender häufig psychopathische Züge an
sich tragen, die ihre Entmündigung wegen Geistesschwäche ebenso
rechtfertigen würden. Meist handelt es sich um leicht Imbezille
und Degenerierte.
Einmal hat ein Anwalt hier bei einem Epileptiker den Antrag
auf Entmündigung wegen Verschwendung oder Trunksucht ge¬
stellt. Die Entmündigung erfolgte später schließlich wegen
Geistesschwäche (vergl. auch R.G. IV. 30. i. 05; Jur. Wochenschr.
1905, S. 166 und II. 20. II. 00; Jur. Wochenschr. 1900, S. 867).
“) Daß sorgfältige Prüfung jedes Antrags angezeigt ist, beweisen
Fälle, wie die von Thomalla (Zeitschr. f. Med.-Beamte 1911, S. 490) und
Raecke, (Friedreichs Blätter f. gerichtl. Medizin 1911) veröffentlichten.
“) Die Fortsetzung braucht nicht besonders begründet zu werden.
Staudinger, Kommentar.
“) Zit. bei Staudinger.
4 o8
Die Entmündigung.
Es handelte sich um einen epileptischen Trinker mit seltenen An¬
fällen. Er besaß 5000 Mk. Vermögen. Gearbeitet hatte er früher regel¬
mäßig. Erst im letzten Jahr vor Einleitung der Entmündigung begann
er, sich herumzutreiben, verbrauchte 1500 Mk. seines Vermögens, ver¬
kaufte Wirtschaftsgegenstände und vertrank den Erlös. Die Familie ließ
er hungern. Bald kam er auch mit dem Gesetz in Konflikt, beging Zech¬
prellereien und Beleidigungen. Im Verhandlungstermin sagte er, von
Verschwendung könne keine Rede sein, denn er habe ja nur einen kleinen
Teil seines Vermögens verbraucht. Seine Familie hätte auch nicht nötig
gehabt zu hungern. Es sei ja Geld dagewesen. Gearbeitet habe er nicht,
weil ihn wegen seiner Anfälle niemand habe beschäftigen wollen. Ge¬
trunken habe er nicht, wohl aber einige Male einen Rausch gehabt. Die
Verschwendung war nicht sicher bewiesen, bei der Trunksucht bestand
die Möglichkeit der Besserung, infolgedessen wurde das Verfahren aus¬
gesetzt. mit dem Erfolge, daß der Mann in der Zwischenzeit den Rest
seines Vermögens durchbrachte und sich selbst geistig so schädigte, daß
er schließlich das Bild einer Korsakowschen Psychose bot. Es erfolgte
nun die Entmündigung wegen Geistesschwäche.
Daraus folgt für den Antragsberechtigten, daß er sich ini
konkreten Falle genau zu überlegen haben wird, welchen von
mehreren Gründen er im Anträge angibt. Gerade der letzter¬
wähnte Fall lehrt, daß das nicht ohne Bedeutung ist*).
Geisteskrankheit und Geistesschwäche als Entmündigungsgrund.
Nach der Absicht des Gesetzgebers ist die Entmündigung
eine Zweckmäßigkeitsmaßregel. Infolgedessen wird der Antrags¬
berechtigte zu erwägen haben, ob trotz des Bestehens einer
geistigen Abweichung eine Entmündigung überhaupt angebracht
ist. Dies wird nicht immer der Fall sein. Wenn z. B. baldige
Genesung des Patienten zu erwarten steht oder der Kranke in
einer Irrenanstalt untergebracht ist (§ 4 der Allgem. Verfüg, v.
28. II. 99, Wortlaut s. u.); auch dann, wenn der Kreis der An¬
gelegenheiten ein sehr kleiner ist und der Kranke sich in einer
Anstalt befindet, wird die Entmündigung nicht erforderlich
sein. —
Gegen wen kann nun der Antrag gestellt
werden?
*) Die Entmündigung kann nicht gleichzeitig wegen Geisteskrankheit
und wegen Verschwendung oder Trunksucht beantragt werden (O.L.G.
Rostock. 31. 1. 05.) Das Recht 1906, S. 177, Entsch. Nr. 271.
Den entgegengesetzten Standpunkt siehe Waldow, Jur. Zeitschr.
1906, S. 1090—1091; zit. bei Scherer 1906. S. 51; ferner O.L.G. Kolmar
9. 7. 12; Das Recht 1912, Nr. 2975.
Geisteskrankheit u. Geistesschwäche als Entmündigungsgrund. 409
In der Regel handelt es sich um Volljährige, gegen die das
Verfahren eingeleitet wird. Es können aber auch Minderjährige
entmündigt werden *), wenn verhütet werden soll, daß ein geistig
Abnormer die volle Geschäftsfähigkeit überhaupt jemals erlangt.
Daß das nicht immer wünschenswert ist, lehrt die Erfahrung täg¬
lich^). Wie aus den Motiven hervorgeht, hat der Gesetzgeber
diese Möglichkeit auch im Auge gehabt. —
Der nach § 6 B.G.B. zu Entmündigende braucht nicht In¬
länder zu sein. Art. 8 E.G. zum B.G.B. sieht auch die Mög¬
lichkeit vor, daß Ausländer, die im Inlande ihren Wohnsitz oder,
wenn sie einen Wohnsitz nicht begründet haben, ihren Aufent¬
haltsort haben, nach deutschem Recht entmündigt werden können.
Weitere Bestimmungen enthält das weiter unten mitgeteilte
Haager Abkommen.
Wann kann ein Geisteskranker oder Geistesschwacher ent¬
mündigt werden?
Hierüber besagt eine Entscheidung vom 25. und 30. Juni
sowie vom 4. Juli 1910 (Das Recht 1910, Nr. 2770) folgendes:
Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit setzt nicht voraus,
daß der zu Entmündigende infolge seines krankhaften Zustandes bei
der Besorgung seiner Angelegenheiten bereits zu Schaden ge¬
kommen ist.
Das Gesetz fordert in § 6 Nr. I B.G.B. nicht mein, als daß das
Unvermögen zur Besorgung seiner Angelegenheiten zur Zeit der Ent¬
mündigung vorhanden sei, setzt mithin keineswegs voraus, daß der zu
Entmündigende infolge seiner Geisteskrankheit seine Angelegenheiten
bereits in einen solchen Grad von Unordnung gebracht habe, daß des¬
halb erst die Entmündigung geboten sei.
Daraus folgt:
1. Es muß Unv'ermögen zur Besorgung der eigenen An¬
gelegenheiten bestehen
2. und zwar z. Z. der Entmündigung*);
3. der Kranke braucht aber noch keinen materiellen Schaden
infolge seiner Geistesverfassung erlitten zu haben;
*) Ergibt sich aus § 646 Z.P.O. s. Entmündigungsverfahren.
Ein besonders beklagenswertes Beispiel bringt die Ärztl. Sach-
verst.-Zeitg. 1913, S. 158.
®) Für Geistesschwäche gilt dasselbe.
*) Bessert sich der psychische Zustand später, so bleibt die Wirkung
der Entmündigung so lange bestehen, bis sie rechtskräftig wieder auf¬
gehoben ist. Der Ausdruck „vermag“ besagt gleichfalls, daß nur der
gegenwärtige Zustand in Betracht kommt.
410
Die Entmündigung.
4. nicht jeder Geisteskranke oder -schwache ist entmün¬
digungsreif, sondern nur derjenige, bei dem sich gewisse soziale
Folgen gezeigt haben (vergl. auch R.G. IV. 17. 10. 04; Das Recht
1905, Nr. 2250 und Gruchots Beitr. 49, 611).
Fragen wir zunächst was unter Angelegenheiten zu
verstehen ist, so gibt uns das Gesetz selbst zwar keine
Antw'ort. In der bereits zitierten Justizministerialverfügung
vom 28. II. 99*) ist gesagt, daß dazu nicht allein die Vermögens¬
angelegenheiten, sondern die gesamten Lebensverhältnisse ge¬
hören, und daß z. B. auch die Sorge für die eigene Person oder
für die Angehörigen, die Erziehung der Kinder und dgl. gemeint
sei. In demselben Sinne sprechen sich auch andere Definitionen
aus (Planck, Staudinger). Die kürzeste und einfachste ist viel¬
leicht die von E. Schnitze gegebene, welche besagt, daß An¬
gelegenheiten „alle Rechte und Pflichten sind, deren Ausübung
oder Erfüllung von dem Patienten geregelt wird“ (s. auch S. 412).
Von juristischer Seite wird dabei besonders betont, daß es
sich nicht allein um solche Dinge handelt, die durch bestimmte
Gesetze geboten und verboten sind, sondern daß Beziehungen
jeder Art, z. B. des Geschäfts, Berufs oder der Familie darunter
verstanden werden-).
Die Rechte und Pflichten, welche die verschiedenen Men¬
schen haben, sind an Umfang und Bedeutung je nach der Lebens¬
stellung, den Landessitten, der Vermögenslage usw. außerordent¬
lich verschieden. Die Zahl der von dem einfachen Arbeiter zu
erledigenden Rechtsgeschäfte ist wesentlich kleiner, als diejenige
eines Großgrundbesitzers; die des Vermögenslosen ist geringer,
als diejenige des reichen Mannes. Für den Unverheirateten fallen
eine ganze Reihe rechtlicher Verpflichtungen fort, die der Vater
einer kinderreichen Familie zu erledigen hat; kurz, es bestehen
nach den verschiedensten Richtungen hin die weitgehendsten
L'nterschiede.
Daraus ergibt sich für den Begriff ,.Angelegenheiten“, daß
ihm etwas Individuelles anhaften muß, das im Gesetz übrigens
auch durch das Wort „seine“ zum Ausdruck gebracht ist').
’) Just.-Min.-Blatt 1899, S. 388.
-) Fischer-Henle, Anm. 5 zu § 6.
') Als ...Aiißelegeiiheiten" im Sinne des Gesetzes kommt nicht bloß
der Abschluß von Rechtsgeschäften, sondern alles in Betracht, was in
rechtlich erheblicher Weise das Wohl des Kranken angeht (z. B. die Aus-
Geisteskrankheit u. Geistesschwäche als üntinUndigungsgrund. 411
Wenn man diesem persönlichen Moment in der Definition
Rechnung tragen will, so wird man sagen können, daß Angelegen¬
heiten diejenigen Rechte und Pflichten sind, welche der Einzelne
vermöge seiner persönlichen Verhältnisse gegen sich selbst, in
seiner Familie, in seinem Geschäft und in der Öffentlichkeit aus¬
zuüben hat.
Wenn einzelne Angelegenheiten z. B. die Vermögensange¬
legenheiten von jeher in den Vordergrund gestellt worden sind,
so geschah das deshalb, weil sie besonders oft die Veranlassung
zur Stellung des Antrags auf Entmündigung geben. Daneben gibt
es aber eine Unzahl anderer Angelegenheiten, deren Besorgung
ebenso wichtig sein kann, wie die der vermögensrechtlichen.
Außer dem bisher Genannten (s. o.) seien die vorschriftsmäßige
Ausübung des Berufes, die Wahrung der Ehre der Familie, und
eine verständige, den materiellen Verhältnissen entsprechende
I^ebensführung hinzugefügt.
Selbst bei den einfachsten äußeren Verhältnissen ist die Zahl
der vom Einzelnen zu besorgenden Angelegenheiten groß. Es
erhebt sich infolgedessen die Frage, in welchem Umfange
die Besorgung der Angelegenheiten beeinträch¬
tigt sein muß, damit die Voraussetzungen der Entmündigung
gegeben sind.
Das Reichsgericht hat diese Frage in mehreren Entscheidun¬
gen unzweideutig beantwortet. Ich entnehme einer derselben
(B. 51, 07 IV vom 21. 2. 07) folgendes (Jur. Wochenschr. 1907,
S. 198);
Nach § 6 Nr. 1 B.G.B. kann eine Entmündigung nur erfolgen, wenn
der Geisteskranke oder der Geistesschwache die Gesamtheit seiner
Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag (vergl. die Entsch. d. R.G.
V. 29. 10. 00, Jur. Wochenschr. S. 848; 13. 2. 02, Bd. 50, S. 203; 23. 1. 05,
sicht auf Heilung der Geisteskrankheit, Schutz des Kranken gegen Aus¬
beutung, Rücksicht auf die Sicherung seiner Angehörigen, etwaige Ge¬
meingefährlichkeit). Die Betonung „seine“ Angelegenheiten erheischt
eine Prüfung der Frage der Entmündigung nach den individuellen Inter¬
essen des Kranken und schließt die Entmündigung aus, falls der Kranke
nur zeitweilig oder nur für einzelne seiner Angelegenheiten zu deren
Besorgung unfähig ist. Insbesondere rechtfertigt das Unvermögen zur Be¬
sorgung einzelner Angelegenheiten oder eines bestimmten Kreises seiner
Angelegenheiten lediglich die Anordnung einer Pflegschaft gemäß § 1910
Abs. 2 B.G.B. (O.L.G. Dresden, 5. 12. 01. 128/01.)
Psych. Wochenschr. 5, 5 u. Das Recht 1902, Nr. 243, S. 71.
412
Uie Entmündigung.
Jur. Wochenschr. S. 133, Nr. 4). Hindert das geistige Gebrechen lediglich
die Besorgung einzelner Angelegenheiten oder eines bestimmten
Kreises der Angelegenheiten, so darf nicht Entmündigung eintreten,
sondern es kann nur eine Pflegschaft eingeleitet werden (§ 1910
Abs. 2); ebenso R.Q. IV. 23. 1. 05; Jur. W. 1905, S. 133; O.L.Q. Karls¬
ruhe 1. 7. 03; Das Recht 1904, Nr. 139; R.G. 17. 10. 04; Das Recht
1905, Nr. 2250; R.G. 29. 10. 00; Das Recht 1900, S. 516, Nr. 793.
Die eben zitierte Stelle bedarf noch einer kurzen Erläuterung.
Es ist in den meisten Fällen weder dem medizinischen Sachver¬
ständigen noch dem Richter möglich, den Beweis zu erbringen,
daß der zu Entmündigende wirklich alle Angelegenheiten nicht zu
besorgen vermag. Der in der Entscheidung gebrauchte Ausdruck;
„Gesamtheit der Angelegenheiten“ muß deshalb, wie gleichfalls
das Reichsgericht ausgesprochen hat, in dem Sinne aufgefaßt
werden, daß der zu Entmündigende die eine oder andere An¬
gelegenheit wohl zu besorgen imstande sein kann.
„Das Unvermögen zur Besorgung der Angelegenheiten im Sinne
des Gesetzes ist nicht deshalb zu verneinen, weil der zu Entmün¬
digende die Fähigkeit behalten hat, auf gewissen einzelnen Gebieten
noch mit hinlänglich vernünftiger Überlegung tätig zu sein (Das Recht
1907, Nr. 980 u. 3752; 1908, Nr. 449; R.G. IV. 25. und 30. Juni, 4. Juli 10,
156/10; Da^ Recht 1910, Nr. 2771).
Wichtig ist ferner die folgende Entscheidung:
Das als vorhanden festzustellende Unvermögen des zu Entmün¬
digenden, seine Angelegenheiten in ihrer Gesamtheit zu besorgen,
setzt begrifflich nicht voraus, daß der Geisteskranke keine einzige
seiner Angelegenheiten zu besorgen vermöge. Bleibt ihm trotz seiner
geistigen Erkrankung die Fähigung erhalten, gewisse Angelegenheiten
— sei es wegen ihrer Einfachheit, sei es infolge der erlangten Übung
oder aus anderen Gründen — zu besorgen, so schließt dieser Umstand
allein die Entmündigung nicht aus, z. B. nicht der Umstand, daß die
Klägerin imstande ist, ihr Hauswesen zu besorgen, schöne Hand¬
arbeiten zu fertigen, ihre Zinsen einzuheimsen, unter Beratung eines
Sachverständigen verloste Papiere umzutauschen, neue Papiere ein¬
zukaufen und in althergebrachter Weise ihre Bücher zu führen.
Dessen ungeachtet ist die Entmündigung gerechtfertigt, wenn durch
die Krankheit alle diejenigen Dinge der Klägerin geschädigt werden,
also mangelhaft besorgt bleiben, die die eigentliche Gesamtheit eines
Menschen ausmachen: ihre Gesundheit, ihr Vermögen, ihre bürger¬
lichen Rechte und das Ansehen ihrer Person und der mit ihr in
nächster Verwandtschaft stehenden Personen (R.G. IV. 23. 12. 07).
Das Recht 1908, Sp. 77, Entsch. Nr. 449.
Die Feststellung, daß der Kranke seine Angelegenheiten nicht zu
besorgen vermag, darf nicht nur mit der Erwägung begründet werden,
„daß nach dem Standpunkte der Wissenschaft die nur auf einem be-
Geisteskrankheit u. Geistesschwäche als Entmündigungsgrund. 413
schränkten Gebiete der Geistestätigkeit sich äußernde Erkrankung
immer das Zeichen einer allgemeinen Geisteserkrankung sei“. (R.G.
28. 10. 07.) (Das Recht 1907, S. 1526, Nr. 3752.
Wir haben nun noch zu erörtern, was mit dem Begriff be¬
sorgen gemeint ist. Es soll damit nicht gesagt sein, daß der
Einzelne alle notwendigen Maßnahmen auch selbst trifft und
durchführt, welche zu sachgemäßer Abwickelung der eigenen An¬
gelegenheiten notwendig sind, es genügt vielmehr, wenn er ver¬
anlaßt, daß der beabsichtigte Zweck ohne Anwendung ungewöhn¬
licher Mittel erreicht wird^j. —
Nach den Motiven des B.G.B. soll die Entmündigung einen
bestimmten D a u e r z u s t a n d schaffenj daraus folgt, daß bei
vorübergehenden Psychosen im allgemeinen der.Antrag auf Ent¬
mündigung nicht gestellt werden soll, es sei denn, daß mit einiger
Wahrscheinlichkeit vorauszusagen ist, daß sich der Zustand zum
mindesten über mehrere Jahre erstrecken wird").
Man wird deshalb nicht so weit gehen dürfen, zu sagen,
daß nur unheilbare Psychosen* Anlaß zur Entmündigung geben
sollen, es kann auch bei an sich heilbaren Psychosen der Antrag
auf Entmündigung gestellt werden (Motive). Die Voraussetzung
muß nur ein längeres Bestehen der Krankheit sein. Unter diesen
Umständen kann auch in Fällen von zirkulärem Irresein (einer
als heilbar geltenden Psychose) der Entmündigungsantrag be¬
rechtigt sein, entweder wenn die einzelnen Phasen der Erkran¬
kung sehr lange dauern, oder die freien Intervalle so kurz sind,
daß sie gegenüber den Krankheitsphasen nicht in Betracht kom¬
men. Hervorzuheben ist dabei, daß es Fälle von zirkulärem Irre¬
sein gibt, die erst nach 8 , 10, 12 Jahren, ja noch später zur
Heilung gelangen. Andererseits findet man in jeder größeren An¬
stalt eine Reihe von Manisch-depressiven, bei denen die einzelnen
Krankheitsphasen ein bis zw'ei Jahre od*er noch länger dauern,
während die freien Intervalle sich nur über wenige Tage oder
Wochen erstrecken. In allen diesen Fällen ist der Kranke er¬
heblich länger krank, als gesund und praktisch infolgedessen als
dauernd krank anzusehen.
Da, wo Zweifel über die Entmündigungsfähigkeit eines Men¬
schen bestehen, kann im übrigen nach der Verfügung vom
*) Vergl. C. Schultze, Monatsschr. f. Psych., Bd. 2.
“) ln gleichem Sinne die Verf. der Min. der Justiz in Bayern
(26. 3. 95) und Württemberg (14. 4. 96).
414
Die Entmündigung.
r 8 . II. 99 verfahren werden, die besagt, daß der Antrag auf Ent¬
mündigung ausgesetzt werden kann, wenn der Geisteskranke
oder -schwache noch nicht als unheilbar erkannt ist. Besonders
bei Kranken, die in Anstalten untergebracht sind, auf die die
Verfügung auch im übrigen Bezug nimmt, wird sich dieses Ver¬
fahren empfehlen, wenn nicht eine größere Anzahl dringender
Rechtsgeschäfte die baldige Entmündigung des Patienten wün¬
schenswert erscheinen läßt. —
Wir kommen damit zu der Frage, wie weit sicherheitspolizei¬
liche Maßregeln (G e m e i n g e f ä h r 1 i c h k e i t) zur Entmün¬
digung Anlaß geben können. Das Reichsgericht hat sich hierzu
folgendermaßen ausgesprochen:
„So wenig Qemeiiigefährlichkeit an sich ein Qrund der Ent¬
mündigung ist, so wenig kann sie selbst in Verbindung mit einer
krankhaften Störung der Geistestätigkeit für sich allein die Entmün¬
digung rechtfertigen. Voraussetzung für letztere bleibt immer, daß
die Störung die selbständige zweckentsprechende Besorgung der
eigenen Angelegenheiten ausschließt oder doch wesentlich beeinträch¬
tigt. So lange daher trotz Störungen der Qeistestätigkeit Handlungs¬
fähigkeit besteht, ist eine Entmündigung nicht zulässig, selbst w'enn
der den Störungen Unterliegende eine Gefahr für die öffentliche Ord¬
nung sein sollte.
Steht somit fest, daß Gemeingefährlichkeit allein kein Ent-
mündigung.sgrund ist, so hat Moeli ’) andererseits recht, w'enn er
sagt, „daß in der sehr großen Mehrzahl der Fälle Gew'alttätigkeit
gegen die Umgebung oder die eigene Person, wiederholter Rechts¬
bruch und ähnliche Handlungen, die auf krankhafter Basis ent¬
standen oder ermöglicht sind, als Mangel zweckmäßiger Besor¬
gung der eigenen Angelegenheiten angesprochen werden können“.
Anders ausgedrückt kann die Gemeingefährlichkeit wohl ein ein¬
zelnes soziales Krankheitssymptom sein, sie genügt aber noch
nicht, die Entmündigung zu begründen.
Praktisch liegt nun die Sache meist so, daß bei unseren
gemeingefährlichen Kranken die unsozialen Eigenschaften in den
allermeisten Fällen nicht das einzige Symptom darstellen. Die
Mehrzahl der Gemeingefährlichen versagt auch im Beruf, in der
Familie, in der Öffentlichkeit, kurz überall da, wo wichtige An-
*) Eiitscli. in Zivils., Bd. 38, S. 191—194; s. auch Allg. Zeitschr. f.
Psych., Bd. 54, S. 728.
-) Vierteljahresschrift f. ger. Med. 1899, Bd. 18. S. 24.
Geisteskrankheit u. Geistesschwäche als Entmündigungsgrund. 415
gelegenheiten von ihnen zu besorgen sind. Solche Fälle, wie
der von E. Schnitze erwähnte, sind doch wohl selten.
Es handelte sich um einen mit chronischem Eifersuchtswahn
behafteten Kranken, der seinen vermeintlichen Nebenbuhler durch einen
Schuß verletzte und nach der Anstaltsinternierung drohte, er werde den
Mann bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit wieder angreifen.
Deshalb mußte er als gemeingefährlicher Kranker festgehalten werden,
obwohl er sich sonst nichts hatte zuschulden kommen lassen. Er hatte
sogar Geld gespart und disponierte über alles sehr verständig. Er
wurde später entmündigt und zwar mit folgender Begründung:
Wenn das Gesetz die Entmündigung von der Unfähigkeit, seine
Angelegenheiten zu besorgen, abhängig macht, so hat es diese An¬
gelegenheiten keinesw'egs auf die vermögensrechtlichen beschränken
w'ollen, vielmehr will es den Kranken auch gegen die nachteiligen Folgen
schützen, die aus der Unfähigkeit der Sorge für die eigene Person, ins¬
besondere auch aus der Unfähigkeit, die Betätigung unbewußt ver¬
brecherischer Neigungen zu unterdrücken, entstehen. Daß letzteres bei
X. — w^enigstens noch für eine längere Zeitdauer — der Fall ist, muß
mit dem Sachverständigen angenommen werden.
E. Schnitze hat mit einem gewissen Recht im Hinblick auf
diesen Fall gesagt, daß die Entmündigung an sich die Wieder¬
holung der verbrecherischen Handlung nicht zu hindern vermag.
Das ist nur durch Anstaltsverwahrung zu erreichen und die kann
ohne Entmündigung mit Hilfe der Polizei durchgeführt werden.
Wie richtig diese Betrachtungen sind, zeigt der oben (in dem
Kapitel: Rechtliche Stellung der Irrenärzte usw.) zitierte Fall des
Viehhändlers B. ^). Letzterer war entmündigt worden, er setzte
aber sein Treiben (gröbste Beleidigungen von Beamten durch
Schimpf reden und Schmähschriften) unvermindert fort. Schlie߬
lich wandte sich die Staatsanwaltschaft selbst an die zuständige
Polizeibehörde, welche B. internieren ließ. Eine Klage hiergegen
wurde unter Hinweis auf § 10, II, 17 des Allgem. Landvechtes ab¬
gewiesen.
In diesem Falle hatte die Entmündigung vollkommen ver¬
sagt. —
Was die Beziehungen zwischen Anstaltspflegebediirftigkeit
und Entmündigung anlangt, so haben Moeli, E. Schultze, Gramer
u. A. sich mit Recht dahin ausgesprochen, daß diese beiden Be¬
griffe nichts miteinander zu tun haben.
') Im Handbuch, S. 240 der 2 . Aufl.
“) Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1913. S. 68 .
4i6
Die Entmündigung.
Der Anstaltspflege bedürftig ist ein Patient solange, als er
infolge seines Zustandes spezialistischer Behandlung und beson¬
derer Verwahrung bedarf. Diese Gründe liegen häufig bei den
akuten heilbaren Psychosen vor, die den Kranken zwar eine
zeitlang (aber nicht dauernd!) hindern, seine Angelegenheiten zu
besorgen. Sie treffen aber auch für viele solche Geistesstörungen
zu, die zwar chronisch sind, aber den Patienten nicht an der
Besorgung seiner Angelegenheiten hindern. Sowohl die akuten,
wie die beschriebenen chronischen Fälle sind anstaltspflcgebedürf-
tig, jedem von ihnen fehlt aber ein wichtiges Erfordernis zur Ent¬
mündigung. Daraus ergibt sich, daß die beiden besprochenen Be¬
griffe sich nicht decken und das wird auch niemanden Wunder
nehmen, der bedenkt, daß die Internierung in der Anstalt eine fast
rein medizinische, ohne Hilfe der Gerichte durchzuführende, die
Entmündigung hingegen eine soziale Maßnahme ist, deren Beginn
und Aufhebung an bestimmte gesetzliche Vorschriften gebunden
ist und nur vom Gericht beschlossen werden kann. —
Daß die Anstaltspflegebedürftigkeit — ebenso wie die Ge¬
meingefährlichkeit — ein Symptom dafür sein kann, daß der
Kranke seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag, ist zuzu¬
geben. Weitere Beziehungen zwischen beiden Begriffen sollten
aber nicht bestehen. —•
In Wirklichkeit gibt es in Preußen noch zwei Bestimmungen,
durch welche Beziehungen zwischen dem Entmündigungsverfahren
und der Anstaltsinternierung hergestellt werden.
Die eine steht im § 4 der Allg. Verfügung vom 29. Nov. 1899
und besagt, daß bei Anstaltsinsassen die Stellung des Antrages
auf Entmündigung nicht ausgesetzt werden soll, wenn die Be¬
sorgnis einer sachlich nicht gerechtfertigten Beschränkung der
persönlichen Freiheit durch Unterbringung in einer Anstalt ob¬
waltet.
Dieser Fall wird verhältnismäßig selten vorliegen. Tritt er
ein, dann kann es dem Anstalstarzt nur angenehm sein, wenn die
Rechtslage geklärt wird.
Die andere ist in dem Erlaß vom 26. März 1901 enthalten*),
und besagt, daß die Entlassung eines Kranken aus einer Privat¬
anstalt für Geisteskranke, Epileptische und Idioten erfolgen muß.
') Vergl. Psycli. Wochcnschr. 1901, S. 39 u. ff. und Reichsanzeiger,
1901, 1. Beil, zu Nr. 82 vom 6. 4. 1901.
Geisteskrankheit und Geistesschwäche,
417
„wenn die Entmündigung der Kranken durch rechtskräftigen
gerichtlichen Beschluß abgelehnt (§§ 662—663 Z.P.O.) oder wenn
die ausgesprochene Entmündigung auf Grund durchgeführter An¬
fechtungsklage (durch Urteil, § 672 Z.P.O.) oder durch rechts¬
kräftigen gerichtlichen Beschluß (§ 675 Z.P.O. wieder aufge¬
hoben ist“.
Wenn ich auch mit Bresler nicht glaube, daß diese Vorschrift
oft zu Unträglichkeiten Anlaß geben kann, so halte ich es doch
für nicht zweckmäßig, die Entmündigung zur Anstaltsentlassung
in Beziehung zu bringen. Denn durch die Ablehnung der Ent¬
mündigung wird nur eins festgestellt: Dem Gericht ist der Beweis
nicht erbracht worden, daß der Kranke die Gesamtheit seiner
Angelegenheiten dauernd nicht zu besorgen vermochte. Für
seinen Gesundheitszustand und zahlreiche andere Fragen beweist
diese Feststellung aber nichts. —
Was ist nun Geisteskrankheit und Geistes¬
schwäche ?
Wie schon an verschiedenen Stellen hervorgehoben worden
ist, wie sich auch aus allen juristischen Kommentaren') ergibt,
soll mit diesen beiden Worten keine klinische Differenzierung aus¬
gesprochen werden, etwa in dem Sinne, daß der Ausdruck Geistes¬
krankheit alle schweren Psychosen umfaßte, während der Aus¬
druck Geistesschwäche mehr für die angeborenen Schwachsinns¬
zustände reserviert wäre. Die Art der Erkrankung war dem Ge¬
setzgeber gleichgültig. Mit den beiden eben genannten Begriffen
sollten vielmehr nur zwei verschiedene rechtliche Folgezustände
geistiger Störungen gekennzeichnet werden. Das ergibt sich auch
aus dem Gesetz selbst.
§ 104 Ziff. 3 besagt, daß derjenige, der wegen Geisteskrank¬
heit entmündigt ist, geschäftsun fähig ist.
Aus § 114 geht hervor: Wer wegen Geistesschwäche, wegen
Verschwendung oder Trunksucht entmündigt, oder wer nach
§ 1906 unter vorläufige Vormundschaft gestellt ist, steht in An¬
sehung der Geschäftsfähigkeit einem Minderjährigen gleich, der
das siebente Lebensjahr vollendet hat. —
') Vergl. Planck. Staiidinger, Cosack, Landsberg. S. ferner auch
die Entstehungsgeschichte des § 6 B.G.B. bei Staudinger, Planck und
Moeli (Vicrteljahresschr. f. ger. Med. 1899).
Ilnbner, Forensische Psychiatrie. 27
4 i8
Die Entmündigung.
Der Gesetzgeber wollte also mit dem Ausdruck Geisteskrank¬
heit dartun, daß der davon Befallene als geschäfts«H/ä/n‘g im
Sinne des § 104 B.G.B., der mit Geistesschwäche Behaftete als
beschränkt geschäftsfähig im Sinne des § 106 B.G.B. an¬
zusehen sei. Der Geisteskranke ist demnach einem Kinde unter
7 Jahren, der Geistesschzvache einem Minderjährigen, d. h. einem
Menschen im Alter von 7—21 Jahren in bezug auf die Geschäfts¬
fähigkeit gleichzusetzen*).
Das Reichgericht drückt das folgendermaßen aus:
.Fehlt es auch an jedem zuverlässigen Merkmal eines
wxsentlichen Unterschiedes zwischen Geisteskrankheit und Geistes¬
schwäche, so ergibt sich mit Sicherheit doch so viel, daß jene die
schwerere und diese die leichtere Form ist. Bei der Feststellung,
ob die erstere oder die letztere im Sinne des § 6 Nr. 1 B.G.B. vor¬
liegt, ist man im wesentlichen darauf angewiesen, aus der Stärke der
Wirkung auf die Stärke der Ursache zu schließen, und nach diesem
Maßstabe zu bestimmen, ob das Denken, Wollen und Mandeln des
Kranken durch die Störung seiner Geisteskräfte in einem solchen
Grade regelwidrig beeinflußt wird, daß er entweder, wie ein Kind,
gänzlich geschäftsunfähig, oder nach Art eines Minderjährigen, der
das siebente Lebensjahr vollendet hat, nur in beschränkter Weise
geschäftsfähig erscheint, ln dem ersteren Falle entspricht es der Ab¬
sicht des Gesetzes, wie sie aus den entsprechend normierten Rechts¬
folgen erkennbar wird, die Entmündigung wegen Geistesk r a n k h e i t.
in dem zweiten, sie wegen Geistes schwäche eintreten zu lassen.“
R.G. IV. 13. 2. 02; R.G.Z. 1902, Bd. 50, S. 207.
Dasselbe besagt die folgende Entscheidung (20. ii. 00, Das
Recht 1901, Nr. i):
Geistesstörung") und Geistesschwäche unterscheiden sich nur dem
Grade nach und noch, daß in dem einen Falle der geistig Erkrankte
seine Angelegenheiten absolut nicht zu besorgen vermag, während
ihm im anderen Falle nur die Fähigkeit zur selbständigen Besorgung,
nicht diejenige zur Mitwirkung, dabei fehlt.
Geht aus dem bisher Gesagten zur Evidenz hervor, daß die
Ausdrücke ,,Geistesschwäche“ und ,,Geisteskrankheit“ keine medi¬
zinischen Diagnosen darstellen sollen, so wird es auch veiständlich,
daß ein hochgradig Schwachsinniger „geisteskrank“ i. S. des Ge¬
setzes sein kann.
Personen, bei welchen eine vernunftgemäße, bewußte Willens¬
bestimmung ausgeschlossen ist, insbesondere verblödete Idioten, sind
*) Selbstverständlich weniger in psychiatrischer, als in sozialer Be¬
ziehung.
-) Soll heißen Geisteskrankheit.
Geisteskrankheit und Geistesschwäche,
419
den Geisteskranken zuzuzählen, Personen dagegen, die vernünftiger
Einsicht und Erwägung und dementsprechender Willensbestimmung
nicht völlig unfähig sind, wenn sie auch in dieser Beziehung nicht
unerheblich unter dem gewöhnlichen Durchschnittsmaße stehen, den
Geistesschwachen (O.L,G. Celle, 20. 10. 00 und 20. 12. 01.)
R. d. O.L.G., Bd. 5, S. 12 und Das Recht 1902, S. 394, Entsch. 1846.
Für Richter und Sachverständige ergibt sich daraus, daß
zweierlei festzustellen ist, nämlich erstens das Vorhandensein einer
psychischen Abweichung und zweitens, ob die dem Patienten ver¬
bliebenen geistigen’) Fähigkeiten ausreichen, die sozialen Aufgaben,
welche ihm aus seiner Krankheit, seiner Stellung zur Familie,
im Beruf und in der Öffentlichkeit erwachsen, zu bewältigen. Ist
der Kreis der Angelegenheiten groß und ihre Besorgung schwierig,
so wird er bei dem Vorhandensein einer relativ leichten geistigen
Störung als geisteskrank angesehen werden müssen, während ein
anderer mit den gleichen klinischen Krankheitszeichen deshalb
nur als geistesschwach zu bezeichnen wäre, weil die sozialen Auf¬
gaben, welche er zu erfüllen hat, wesentlich einfacher und weniger
zahlreich sind. Anders ausgedrückt, kann das gleiche Krankheits¬
bild einmal als Geisteskrankheit, ein andermal als Geistesschwäche
angesehen werden, weil die Angelegenheiten verschieden bedeu¬
tungsvoll und groß sind; umgekehrt kann unter der Voraussetzung
gleicher sozialer V'erhältnisse ein Kranker zu verschiedenen Zeiten
einmal als geisteskrank, ein andermal als geistesschwach bezeichnet
werden, wenn in seinem Zustand eine entsprechende Änderung
eingetreten ist. Um hierfür ein Beispiel zu geben, sei folgendes
hinzugefügt:
In unserer Klinik befindet sich ein Unfallverletzter, der nach einem
leichten Unfälle geisteskrank wurde. Anfangs mit lebhaften Wahnideen
behaftet, verfiel er sehr bald in einen Zustand von Stupor, der ungefähr
10 Monate anhielt. Nach dieser Zeit löste sich der Stupor. Der Patient
begann sich wieder zu regen, Willensäußerungen von sich zu geben,
schrieb geläufige Berichte über seinen Krankheitszustand, verhandelte
auch in durchaus sachgemäßer Weise mit seiner Berufsgenossenschaft,
was er während des Stuporzustandes nicht getan hatte, schrieb an seine
frühere Behörde, wandte sich an das Gericht wegen Aufhebung der in¬
zwischen eingesetzten Pflegschaft, kurz, er nahm seine Interessen nach
verschiedener Richtung hin wahr.
Auch nach Aufhören des Stuporzustandes bestanden aber zahl¬
reiche Wahnideen, der Patient benahm sich nach anderer Richtung hin
verschroben, belästigte alle möglichen Behörden mit Bitt- und Be¬
schwerdegesuchen, machte seinen Angehörigen sehr viel Arbeit, zog
’) D. h. intellektuellen und affektiven.
27*
420
Die Eiitmündizuiie.
zeitweise unstet umher, schrieb Liebesbriefe an eine Prinzessin, deren
Gemahl er zu sein glaubte, so daß seine Festhaltung in der Klinik not¬
wendig war.
Betrachtet man diesen Fall vom Gesichtspunkte der Ent¬
mündigung, so steht außer Zw’eifel, daß der Patient während des
Zustandes absoluter Regungslosigkeit als geisteskrank i. S.
des Gesetzes anzusehen war, denn er hat de facto während dieser
Zeit keine seiner zahlreichen Angelegenheiten besorgt und besorgen
können. Nach der Lösung des schweren Krankheitszustandes, d. h.
nach eingetretener Besserung, hat er wenigstens einen Teil seiner
Angelegenheiten zu besorgen vermocht. Die Diagnose hat sich nicht
geändert, man kann auch im medizinischen Sinne kaum von Besse¬
rung sprechen; es hat nur ein Zustandsbild einer chronischen Er¬
krankung ein anderes abgelüst. Unheilbar geisteskrank ist der
Mann trotzdem geblieben. Geändert hat sich der Einfluß der
Krankheit auf die Besorgung der .Angelegenheiten. Wenn der
Patient heute entmündigt werden sollte, so würde, besonders da er
in der Klinik verwahrt ist, eine Entmündigung wegen Geistes-
sch wache überhaupt nur noch in Frage kommen und auch die
wäre schwer zu begründen. —
Wer die Entstehungsgeschichte der Bestimmungen über die
Entmündigung kennt, der weiß, daß die Institution zw'ar dem
Kranken Schutz gew'ähren soll, daß aber dieser Schutz mit mög¬
lichst geringer Beschränkung der sozialen Bewegungsfreiheit er¬
reicht werden muß. Daraus folgt, daß in jedem Falle zu erwägen
ist, ob nicht die Annahme der Geistesschwäche ausreicht, den
Patienten vor Nachteilen zu bewahren. Bei der großen Mehrzahl
der Kranken wird sie genügen. Sie hat vor der Geisteskrankheit
den großen Vorzug, daß sie es dem Vormund erleichtert, seinen
Mündel im Berufsleben zu halten. Dadurch, daß er ihm außer¬
dem in bezug auf einzelne Geldausgaben, Beschäftigung usw’.
eine gewisse Freiheit gewähren kann, wirkt er bei manchen
Kranken (Psychopathen, Hysterischen, Imbezillen usw^) mitunter
geradezu erzieherisclU). Diejenige Form der Entmündigung ist
also im Einzelfalle die richtige, die es gestattet, die brauchbaren
Eigenschaften des zu Entmündigenden auch in Zukunft aus¬
zunutzen, gleichzeitig aber verhindert, daß der Kranke infolge
seiner psychischen Unzulänglichkeit Schaden erleidet. Ist er un-
') Siehe: A. Homburger, Tagung der Ges. f. ger. Med. Vierteljahrs-
schr. f. ger. Med. 1912 und Heß, Allg. Zeitsclir. f. Psych. 1913.
Geisteskrankheit und Geistesschwäche. 421
fähig einen Beruf auszuüben, kann er mit Geld überhaupt nicht
mehr umgehen, kann man ihn aus irgendwelchen Gründen in der
Öffentlichkeit sich nicht selbst überlassen usw., dann ist er
zweifelsohne geisteskrank im Sinne des Gesetzes. Hat er
anderseits bisher seinen Beruf ausgeübt, dann wäre es hart, ihm
das durch die Entmündigung unmöglich zu machen. —
Es ist oben bereits ausgeführt worden, inwiefern sich die be¬
schränkte Geschäftsfähigkeit von der Geschäftsunfähigkeit unter¬
scheidet. Von den Unterschieden, die zwischen beiden bestehen,
sind zwei für die hier zu erörternde Frage von besonderer Be¬
deutung, das ist die Ehefähigkeit und die Testierfähigkeit.
Schon seit längerer Zeit sind Bestrebungen im Gange, die
darauf abzielen, geistig Abnormen die Schließung einer
Ehe unmöglich zu machen. So berechtigt diese Bestrebungen an
sich sind, so darf doch dabei nicht vergessen werden, daß mit der
Verhinderung der hiheschließung noch nicht die Möglichkeit der
Fortpflanzung verhindert ist. Ferner bleibt zu berücksichtigen,
daß nicht alle Geisteskrankheiten für die Nachkommenschaft gleich
gefährlich sind. Es muß deshalb mit ganz besonderer Auswahl
verfahren werden.
Lediglich um eine Eheschließung zu verhindern, den schweren
Grad der Entmündigung zu empfehlen, halte ich für falsch. Für
gewöhnlich liegt praktisch die Sache aber auch so, daß man seine
Schlußfolgerung kaum auf dieses eine Moment wird zu stützen
brauchen.
Ist die Entmündigung aber wirklich nur wegen Geistes¬
schwäche ausgesprochen, und will ein beschränkt Geschäftsfähiger
eine ihm offenbar ungünstige Ehe schließen, so hat der Vormund
oder das Vormundschaftsgericht (§ 1304 B.G.B.) ja immerhin
noch eine ganze Reihe von Mitteln, um die Eheschließung zu ver¬
hindern. Zunächst ist im Inlande die Zustimmung des Vor¬
mundes erforderlich. Diese kann er verweigern. Steht zu be¬
fürchten, wie ich das auch erlebt habe, daß der beschränkt Ge¬
schäftsfähige mit seiner zukünftigen Gattin ins Ausland geht
und dort die Trauung vornehmen läßt, so wird der gesetzliche
Vertreter in manchen Fällen durch rechtzeitige .\nstaltsinternie-
rung den Kranken besser vor Schaden bewahren können, wie
durch die Entmündigung wegen Geisteskrankheit.
Bezüglich der Testier Unfähigkeit liegen die V'erhält-
nisse ähnlich. Sie allein zur Begründung einer Entmündigung
422
Die Entmündigung.
wegen Geisteskrankheit anzufüliren, ist rechtlich meines Er¬
achtens unmöglich. Für viel zweckmäßiger halte ich die Ma߬
regel, auf die E. Schnitze hingewiesen hat, daß nämlich das Ver¬
mögen des Kranken durch seine Eltern in einer Weise festgelegt
wird, die ihn verhindert, nach dem Ableben der Erblasser dar¬
über frei zu verfügen. —
Zum Schluß noch ein Zusatz zu den Beziehungen zwischen
Geschäftsunfähigkeit, beschränkter Geschäftsfähigkeit, Geistes¬
krankheit und Geistesschwäche.
Ein wegen Geisteskrankheit Entmündigter ist geschäfts¬
unfähig (§ 104 Ziff. 3).
Ein Geschäftsunfähiger braucht aber nicht auch die Voraus¬
setzungen der Entmündigung wegen Geisteskrankheit zu erfüllen.
Dies geht sowohl aus der Gegenüberstellung von § 104 Ziff. 2 und
Ziff. 3, als auch aus folgender Ent.scheidung hervor:
Das B.Q. bringt die Prüfung der Frage, ob sich der Erb¬
lasser bei Errichtung des Nachtragstestaments im Sinne des § 104
Nr. 2 B.Q.B. in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden
Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat, in
Verbindung mit der Erörterung, ob der Fall seiner Entmündigung
wegen Geisteskrankheit nach § 6 Nr. 1 B.G.B. gegeben und das
geistige Vermögen des Erblassers dem eines Kindes unter sieben
Jahren gleichzusetzen war. Dies wird von der Revision zutreffend
als rechtsirrtümlich gerügt. Die Geisteskrankheit in § 6 deckt sich
nicht mit dem Tatbestände des § 104 Nr. 2. Der Begriff der krank¬
haften Störung der Geistestätigkeit im Sinne des § 104 ist, wie der
erkennende Senat schon in seinem Urteil vom ,30. März 1908 Rep. IV
364/07 ausgesprochen hat. ein weiterer als der Begriff der Geistes¬
krankheit in § 6 . Er kann sowohl Fälle der Geisteskrankheit als auch
der Geistesschwäche umfassen. Der Auffassung des B.G. steht die
Entstehungsgeschichte des Gesetzes entgegen. (Wird ausgeführt.) Die
Tatbestandsmerkmale der Geschäftsunfähigkeit nach § 104 Nr. 2 sind
demnach lediglich aus dieser Gesetzesbestimmung selbst und nicht
im Anschluß an § 6 Nr. 1 zu gewinnen. Die Erforschung des Geistes¬
zustandes auf der Grundlage des § 104 Nr. 2 wie die Unterscheidung
zw'ischen Geisteskrankheit und Geistesschwäche im Falle des § 6
(vergl. R.G. 50, 203 ff.) hat durch das Gericht unter pflichtmäßiger Be¬
rücksichtigung der Ergebnisse der Verhandlung und Beweisaufnahme
insbesondere auch der eingeholten Gutachten der Sachverständigen zu
geschehen. (L. c. L. Urt. v. 4. 6 . 09.) Ebenso; Posen, 10. 12. 10;
377/10; Jur. Wochenschr. 1911, S. 179; Jur. Wochenschr. 1909, S. 411.
Es kann jemand geisteskrank und infolgedessen geschäftsunfähig
sein, ohne daß er deshalb entmündigt werden müßte. (O.L.G. Dresden,
25. 1. 04. Das Recht 1904, S. 574, Entsch. Nr. 2442.)
Inkrafttreten und Wirkungen der Entmündigung.
423
Das Prozeßgericht ist auch durch den dispositiven Teil des Ent¬
mündigungsbeschlusses nicht gebunden und kann daher annehmen, daß
jemand gemäß § 104 Nr. 2 B.ü.B. geschäftsunfähig ist, auch wenn
derselbe lediglich wegen Geistesschwäche entmündigt worden ist.
Urt. d. O.L.Q. München, 27. 2. 01 ^); Das Recht 1901, Nr. 1311.
Beschränkt geschäftsfähig kann ein Volljähriger lediglich
durch die Entmündigung wegen Geistesschwäche werden.
Inkrafttreten und Wirkungen der Entmündigung.
Ist über einen Kranken die Entmündigung ausgesprochen
worden, so tritt sie nach folgenden Bestimmungen in Kraft:
§ 661 Z.P.O. Die Entmündigung wegen Geistes¬
krankheit tritt, wenn der Entmündigte unter
elterlicher Gewalt oder unter Vormundschaft
steht, mit der Zustellung des Beschlusses an
denjenigen gesetzlichen Vertreter, welchem
die Sorge für die Person zusteht, andernfalls
mit der Bestellung des Vormundes in Wirk¬
samkeit.
Die Entmündigung wegen Geistesschwäche
tritt mit der Zustellung des Beschlusses an den
Entmündigten in Wirksamkeit“). —
Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit kann ihre Wir¬
kungen nicht eher äußern, als bis der Entmündigte einen gesetz¬
lichen Vertreter hat “) (Motive 140).
Die Wirksamkeit der Entmündigung hält solange an, als sie
formell besteht. Ist somit ein Alensch einmal entmündigt, so
kommt es nicht darauf an, daß seine äußeren Verhältnisse sich
“) Ebenso R.Q. IV'. 21. 10. 07; Jur. Wochenschr. 1907, S. 737. Auch
wenn aus praktischen Gründen nur eine Pflegschaft eingeleitet war, so
hindert dies nicht, gelegentlich der Erörterung der Zuständigkeit, Geistes¬
krankheit festzustellen. Bayr. O.L.G. 12. 2. 12; Das Recht 1912, Nr. 1124.
“) Nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Breslau vom
13. Nov. 1908 (O.L.G. 19, 145) kann die Zustellung bei Anstaltsinsassen an
den Direktor erfolgen. Zustellung an den Pförtner genügt nicht.
*) Handlungen, die ein wegen Geisteskrankheit entmündigter Ehe¬
gatte begeht, die an sich einen Scheidungsgrund darstellen, dürfen ihm
nicht angerechnet werden (E.R.G. 43, 276). War die Entmündigung nur
wegen Geistesschwäche erfolgt, so ist bei Ehebruch die Schuldfrage
(§ 1565 B.G.B.) besonders unter dem Gesichtspunkt des § 51 Str.G.B. zu
prüfen. (E.R.G. 501/06. IV. v. 27. 5. 07; Jur. W ochenschr. 1907, S. 473.)
424
Die Entmündigung.
günstig geändert haben, seine geistige Störung sich gebessert hat.
Die Beschränkung seiner Geschäftsfähigkeit dauert vielmehr so¬
lange an, als die Entmündigung nicht aufgehoben worden ist.
Erst mit Aufhebung derselben tritt er wieder in seine alten
Rechte ein.
Hat der Entmündigte v'or dem Inkrafttreten der Entmündi¬
gung anfechtbare Rechtsgeschäfte vollzogen, so sind dieselben
nicht deshalb unwirksam, weil der Patient später entmündigt
worden ist; es muß vielmehr für diese Rechtsgeschäfte die Ge¬
schäftsunfähigkeit in jedem einzelnen Falle besonders erwiesen
werden.
Im Hinblick auf manche Fälle von manisch-depressivem
Irresein und auf die Tatsache, daß einzelne Psychosen vorüber¬
gehende Remissionen (Besserungen) zeigen können, sei auch noch
ausdrücklich betont, daß diese nach einer Reichsgerichtsentschei¬
dung vom 8. 3. 06 (Das Recht 1906, S. 501, Nr. 1144) nicht be¬
rücksichtigt werden. Auch diejenigen Rechtsgeschäfte, welche in
Zeiten der Besserung abgeschlossen werden, gelten als von einem
Geschäftsunfähigen bzw. beschränkt Geschäftsfähigen geschlossen,
solange die Entmündigung besteht.
Besondere Wirkungen der Entmündigung;
a) zvcgen Geisteskrankheit.
1. Der Entmündigte kann nicht:
Vormund (§ 1780), Oegenvormund (§ 1792), Pfleger (§ 1915), Beistand
(§ 1694), Mitglied eines Familienrates (§ 1865), Testamentsvollstrecker
(§ 2201) werden.
2. Er kann kein Testament errichten (§ 2229), keinen Erbvertrag als
Erblasser schließen (§ 2275).
3. Er ist geschäftsunfähig (§ 104).
4. Die elterliche Gewalt ruht (einschließlich der Sorge für die Person
des Kindes).
5. Die Frau kann auf Aufhebung der Verwaltung und Nutz¬
nießung (§ 1418 Ziff. 3) und auf Aufhebung der Errungenschaftsgemein¬
schaft {§ 1542) klagen, außerdem im Falle der Gütertrennung den zur
Bestreitung des Unterhalts erforderlichen Beitrag zurückbehalten
(§ 1428).
6 . Der Entmündigte kann durch den gesetzlichen
Vertreter einen Erbverzicht (§ 2347) annehmen.
7. Der Vormund vertritt den entmündigten Mann bezüglich
der Verwaltung und Nutznießung des eingebrachten Guts (§ 1409) und
der Verwaltung des Gesamtguts (§ 1457).
Inkrafttreten und Wirkungen der Entmündigung.
425
8 . Das Amt eines Vormunds endigt mit seiner Entmündigung (§ 1885).
9. Ist der Erbe entmündigt, so soll das Nachlaßgericht dem Vor¬
mundschaftsgerichte von der Bestimmung der Inventurfrist Mitteilung
machen (§ 1999).
b) wegen Geistesschwäche.
1. Wie 1. bei Entmündigung wegen Geisteskrankheit.
2 . Der Geistesschwache kann kein Testament er¬
richten (§ 2229 Abs. 3).
3. Er bedarf zur Eheschließung der Einwilligung seines gesetzlichen
Vertreters (§ 1304).
4. Er kann mit Zustimmung des Vormundes und Genehmigung des
Vormundschaftsgerichtes mit seinem Ehegatten einen Erbvertrag (§ 2275),
einen Ehevertrag, durch den die allgemeine Gütergemeinschaft vereinbart
oder aufgehoben wird (§ 1437) schließen, einen Andern an Kindesstatt
annehmen (§ 1751), einen Erbvertrag schließen (§ 2275).
5. Es bedarf nicht der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters bei
Verfügungen über die fortgesetzte Gütergemeinschaft (§ 1516), bei An¬
fechtung (§ 1595) und Anerkennung (§ 1598) der ehelichen Abstammung
eines Kindes, bei Anfechtung des Erbvertrages (§ 2282), bei Verzicht auf
eine Erbschaft (§ 2347), bei Einwilligung zur Annahme an Kindesstatt
(§ 1748).
6 . Die Frau kann auf Aufhebung der Verwaltung und Nutz¬
nießung klagen (§ 1418), im Falle der Gütertrennung den zur Bestreitung
des Unterhaltes erforderlichen Beitrag zurückbehalten (§ 1428), auf Auf¬
hebung der Errungenschaftsgemeinschaft klagen (§ 1542).
7. Die Verwaltung und Nutznießung des Mannes tritt nicht ein, wenn
er die Ehe mit einer in der Geschäftsfähigkeit beschränkten Frau ohne
Einwilligung ihres gesetzlichen Vertreters eingeht (§ 1364).
8 . Ist der Erbe entmündigt, so soll das Nachlaßgericht dem Vor¬
mundschaftsgerichte von der Bestimmung der Inventurfrist Mitteilung
machen (§ 1999).
9. Den unter Vormundschaft stehenden Mann vertritt der Vormund
in der Verwaltung des Gesamtgutes (§ 1457) und in der Verwaltung und
Nutznießung des eingebrachten Gutes (§ 1409).
10. Bei Eheschließung ohne Einwilligung des gesetzlichen Vertreters
kann nur dieser Letztere wegen der fehlenden Einwilligung die Ehe an¬
fechten (§ 1336, vergl. auch § 1331).
11. Die elterliche Gewalt ruht, doch steht dem Kranken die Sorge
für die Person des Kindes neben dem gesetzlichen Vertreter des Kindes
zu. Bei Meinungsverschiedenheiten geht die Meinung des gesetzlichen
Vertreters vor (§ 1676).
12. Das Amt des Vormunds endigt mit seiner Entmündigung (§ 1885).
13. Bei beschränkter Geschäftsfähigkeit der Mutter des Kindes oder
der Fran des Vaters bedarf es zu dem Antrag auf Ehelichkeitserklärung
der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters nicht (§ 1729).
14. Zur Aufhebung des Erbvertrags bedarf der dem Erblasser gegen¬
überstehende Vertragsteil, wenn er unter Vormundschaft steht, der Ge¬
nehmigung des Vormundschaftsgerichts (§ 2290 ).
426
Die Entmündigung.
Das Entmündigungsverfahren').
§ 645. „Die Entmündigung wegen Geistes*
krank heit oder wegen Geistesschwäche erfolgt
durch Beschluß des Amtsgerichts.“
Der Beschluß wird nur auf Antrag erlassen.
Zuständig ist das Amtsgericht des Wohnsitzes (§7
B.G.B. §§ 648, I Z.P.O.). Für Kranke, die in Anstalten unter¬
gebracht sind, kommt ev. das Amtsgericht des letzten Wohn¬
sitzes in Betracht. Hatte der Patient keinen Wohnsitz begründet,
so ist das A.G., in dem die Anstalt liegt, zuständig (R.G.
26. 9. 92; Seuff. Arch., Bd. 48, Nr. 133 und 3. 5. 1897; Jur.
\\’ochenschr. 1897, S. 302). Das Gericht muß seine Zuständig¬
keit prüfen.
Der Antrag muß von einem dazu Berechtigten gestellt sein und
kann jederzeit zurückgenommen werden (O.L.Q. Bd. 5, 448). Verliert
der Antragsteller im Laufe des Verfahrens die Eigenschaft, die ihn zum
Antrag berechtigte, oder stirbt er, so ist das Verfahren einzustellen.
(Jur. Wochenschr. 1907, Nr. 21, S. 748; O.L.Q. Karlsruhe 7. 11. 01; Das
Recht 1902, Nr. 73; O.L.Q. Rostock, 11. 6.08; Das Recht 1908, Nr. 3877.)=)
§ 646. ,,Der Antrag kann von dem Ehegatten,
einem Verwandten oder demjenigen gesetz¬
lichen \'ertreter des zu Entmündigenden ge¬
stellt werden, welchem die Sorge für die Person
zusteht. Gegen eine Person, die unter elter¬
licher Gewalt oder unter Vormundschaft steht,
kann der Antrag von einem Verwandten nicht
gestellt werden. Gegen eine Ehefrau kann der
Antrag von einem V e r w’ a n d t e n nur gestellt
werden, wenn auf Aufhebung der ehelichen Ge¬
meinschaft erkannt ist oder w’ e n n der Ehemann
die Ehefrau verlassen hat, oder wenn der Ehe¬
mann zur Stellung des Antrags dauernd außer¬
stande oder sein Aufenthalt dauernd unbe¬
kannt ist.
D Qaupp-Stein, Zivilprozeßordnung. Kohlrausch, Zivilprozeßordnung
in der Quttentagschen Sammlung.
=) Der nach Erlaß des Entmündigungsbeschlusses eintretende Fort¬
fall der Legitimation des Antragstellers ist unbeachtlich.
Jur. Wochenschr. 1907, Nr. 748.
Das Entmündigungsverfahren.
427
In allen Fällen ist auch der Staatsanwalt
bei dem Vorgesetzten Landgerichte zur Stel¬
lung des Antrags befugt.“
Antragsberechtigt ist also immer die Staatsanwaltschaft.
Als Verwandte gelten nicht die Verschwägerten (O.L.Q. Bd. 15,
157). Im übrigen ist der Grad der Verwandtschaft belanglos. Die
Mutter eines unehelichen Kindes und deren Verwandte sind auch an¬
tragsberechtigt (§§ 1589, 1705 B.Q.B.). Gesetzliche Vertreter sind; Der
Vormund (§ 1793 B.G.B.), der Vater oder die Mutter als Inhaber der
elterlichen Gewalt (§§ 1627—1637, 1676, 1684—1686, 1696—1698, 1738,
1765 B.G.B.), der Pfleger, sofern ihm die Sorge über die Person über¬
tragen ist (§ 1909, 1915 B.G.B. und R.G.E. Bd. 45, S. 179).
Stirbt der Antragsberechtigte oder verliert er die Berechtigung,
bevor der Entmündigungsbeschluß erlassen ist, so ist das Verfahren
einzustellen. Dies trifft z. B. in dem Falle zu, wenn gegen eine un¬
verheiratete Frauensperson von Verwandten ein EntmUndigungsantrag
gestellt wird und die Kranke heiratet vor Abschluß des Verfahrens.
Mit der Verehelichung verliert der von Verwandten gestellte Antrag
seine Wirksamkeit. (O.L.G. Karlsruhe 7. 11. 01; Das Recht 1902, Nr. 73.)
Die Nichtigkeitserklärung einer Ehe wegen Geisteskrankheit eines
Ehegatten zur Zeit der Eheschließung vernichtet die auf Antrag des
anderen Ehegatten erfolgte Entmündigung. (Rostock, 11. 6. 08.)
Das Recht 1908, Entsch. Nr. 3877.
§ 647. ,,Der Antrag kann bei dem Gerichte
schriftlich eingereicht oder zum Protokolle
des Gerichtsschreibers angebracht werden. Er
soll eine Angabe der ihn begründenden Tat¬
sachen und die Bezeichnung der Beweismittel
enthalte n.“
Nach einer O.L.G.-Entscheidung muß der Antrag bestimmt er¬
kennen lassen, auf welche Art der Entmündigung (ob Geisteskrankheit,
Verschwendung usw.) erkannt werden soll. (O.L.G. Bd. 12, 1). Dies
ist deshalb erforderlich, weil die Verfahrensarten bei der Entmündigung
wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche einerseits und wegen
Verschwendung oder Trunksucht anderseits in der Z.P.O. verschieden
geregelt sind ^).
Der Antrag kann jederzeit zurückgezogen werden.
§ 648. ,,Für die Einleitung des Verfahrens
ist das Amtsgericht, bei welchem der zuEnt-
’) Bei Änderung des Antrages können Geisteskrankheit und Geistes¬
schwäche einerseits, Trunksucht und Verschwendung andererseits sub¬
stituiert werden (Gaupp-Stein).
Siehe aber auch S. 408.
Die Entmündigung.
428
mündigende seinen allgemeinen Gerichtsstand
hat, ausschließlich zuständig.
Gegen einen Deutschen, welcher im Inlande
keinen allgemeinen Gerichtsstand hat, kann der
Antrag bei dem Amtsgerichte gestellt werden, in
dessen Bezirke der zu Entmündigende den letz¬
ten Wohnsitz im Inlande hatte; in Ermangelung
eines solchen Wohnsitzes finden die Vorschrif¬
ten des § 15 Abs. t Satz 2, 3 entsprechende An-
w e n d u n g.“
Die ausschließliche Zuständigkeit ist nur für die Einleitung
des Verfahrens begründet. Die Überweisung und weitere Überweisung
nach Einleitung des Verfahrens ist nach §§ 650, 651 möglich.
Die Zuständigkeit ist in jedem Stadium des Verfahrens von Amts
wegen zu prüfen. Sobald sich im Laufe desselben herausstellt, daß
dem Gericht die anfänglich als vorhanden angenommene Zuständigkeit
nach § 648 mangelt, ist aus diesem Grunde der Antrag auf Entmün¬
digung lediglich zurückzuweisen.
Zulässig ist eine Überweisung nur, wenn sie von dem nach § 648
Abs. 2 zuständigen Gericht ausgeht. (O.L.G. Celle 9. 2. 00.)
Seufferts Arch. 55. 246/474.
Abs. 2 betrifft Deutsche, die im Inlande keinen allgemeinen Gerichts¬
stand haben. Für sie kommt entweder das A.G. des letzten Wohnsitzes,
oder falls ein solcher im Inlande nie bestanden hat, das Gericht der Haupt¬
stadt des Heimatstaates, für Deutsche, die keinem Bundesstaate ange¬
hören, das Berliner Gericht, in Betracht.
Ein Ausländer kann nach Art. 8 E.G. B.G.B. im Inlande
nach den deutschen Gesetzen nur dann entmündigt werden, wenn
er seinen Wohnsitz oder wenigstens .seinen Aufenthalt im In¬
lande hat.
§ 649. ,,D a s Gericht kann vor der Einleitung
des Verfahrens die Beibringung eines ärzt¬
lichen Zeugnisses anordnen.“
Die Einholung eines ärztlichen Zeugnisses liegt im freien
Ermessen des Gerichtes. Der Antrag auf Einleitung der Ent¬
mündigung kann auch ohnedem abgelehnt werden. Das beige¬
brachte Zeugnis erspart niclit die Vernehmung gemäß § 655 Z.P.Ü.
Will eine Privatperson den Entmündigungsantrag stellen, so
tut sie gut, im Hinblick auf die Bestimmung des § 649 Z.P.O.
vom behandelnden Arzte ein kurzes Attest ausstellen zu lassen
und dies dem Antrag beizufügen.
Das Entmündigungsverfahren. 429
Als Schema für dieses kurze Attest empfehle ich folgendes:
„Auf Ersuchen des .... wird zwecks Begründung eines An¬
trages auf Entmündigung über den (Stand) Herrn (Vor- und
Zuname) geh. am .... zu.wohnhaft zu .... nach¬
stehendes ärztlich bescheinigt:
Der Genannte leidet an einer mit [Wahnideen, Sinnes¬
täuschungen, krankhafter Reizbarkeit und Neigung zum Queru¬
lieren] einhergehenden geistigen Störung. [Besserung oder]
Heilung ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Infolge seines
Leidens vermag X. seine Angelegenheiten nicht zu be.sorgen und
ist als geistesschwach i. S. des § 6 B.G.B. zu erachten“’).
Nach einer V’erfügung des Freuß. Justiz-Min. von 1896 soll
ein ärztliches Zeugnis regelmäßig gefordert werden. Ev. sollen
auch bei Anstaltsinsassen die Krankenakten eingesehen werden.
Die Anstaltsdirektionen werden von Fall zu Fall entscheiden
müssen, wie weit sie dem Verlangen der Gerichte nach Einsicht¬
nahme der Akten im Hinblick auf § 300 Str.G.B. werden statt¬
geben können.
Der Staatsanwaltschaft ist die Stellung des Antrages da¬
durch erleichtert, daß sie von den Leitern der Privat- (Anweisung
V. 26. März 1901) und Provinzialanstalten (Erlaß v. 24. Sept.
1880) Anzeigen“) über die Aufnahme Geisteskranker, oft sogar
die Anregung zur Stellung des Entmündigungsantrages erhalten.
Die Staatsanwaltschaften pflegen sich durch regelmäßige An¬
fragen über den Zustand des Kranken zu informieren. Die Fragen
erstrecken sich i. auf die Dauer der Geistesstörung, 2. den
Einfluß der Erkrankung auf die Besorgung der Angelegenheiten.
Zweckmäßigerweise wird 3. die Frage hinzugefügt, ob der Anstalt
Gründe bekannt sind, die die Einleitung der Entmündigung not¬
wendig oder wünschenswert machen (E. Schnitze).
§ 650. „D as Gericht kann nach der Einlei¬
tung des \’erfahrens, wenn es mit Rücksicht auf
die Verhältnisse des zu Entmündigenden er¬
forderlich erscheint, die erhandln ng und Ent¬
scheidung dem Amtsgericht überweisen, in
’) Der letzte Teil des Satzes „und . . . erachten" wird zweck¬
mäßigerweise nur in klaren Pallen hinzugefUgt.
“) Für die psych. Universitäts-Kliniken besteht ein Anzeigepflicht
nicht. Praktisch wird aber so verfahren, als ob sie vorhanden wäre.
Die Entmündigung.
430
dessen Bezirke der zu Entmündigende sich auf¬
hält.
Die Überweisung ist nicht mehr zulässig,
wenn das Gericht den zu Entmündigenden ver¬
nommenhat. (§ 654 Abs. I.)
Wird die Übernahme a b g e 1 e h n t, so ent¬
scheidet das im In stanzenzuge zunächst höhere
G e r i c h t.“
Von der Vorschrift des § 650 Z.P.O. soll nur „ausnahmsweise“
Gebrauch gemacht werden, wenn es mit Rücksicht auf die Verhält¬
nisse des zu Entmündigenden erforderlich erscheint. „Vorausgesetzt
wird hierbei insbesondere, daß der persönlichen Vernehmung des zu
Entmündigenden eine irgendwie ausschlaggebende Bedeutung für die
schließiiche Entscheidung beigemessen werden kann. Es genügt somit
keineswegs, daß der zu Entmündigende sich außerhalb des Amts¬
bezirks des mit der Entmündigung befaßten Gerichts, insbesondere in
einer auswärtigen Irrenanstalt aufhält und dort zu vernehmen ist;
vielmehr müssen besondere Umstände hinzukommen, die gerade im
einzelnen Falle es erforderlich erscheinen lassen, daß der zu Ent¬
mündigende durch den erkennenden Richter unmittelbar vernommen
wird.“ (Colmar, 23. 12. 10.) Das Recht 1911, Entsch. Nr. 380.
Der leitende Gesichtspunkt für die Überweisung *) soll der sein,
daß die Entscheidung von demjenigen Richter gefällt wird, der den
zu Entmündigenden vor Augen gehabt und vernommen hat (Motive).
Deshalb ist noch die nachträgliche Überweisung des Entmündigungs¬
verfahrens an das Amtsgericht, das den zu Entmündigenden bereits
auf Ersuchen des zur Einleitung des Verfahrens zuständigen Amts¬
gerichts vernommen hat, zulässig. (O.L.G. Dresden, 8. 10. 00.)
Das Recht 1901, Entsch. Nr. 1656.
Die Überweisung entfällt, wenn das Verfahren nach § 167 G.V.G.
(Vernehmung im fremden Bezirk mit Zustimmung des betreffenden
Gerichts) nach der Sachlage anwendbar ist. (Bayr. O.L.G. 26. 4 . 09.)
Das Recht 1909, Entsch. Nr. 1914.
’) Überweisung ist möglich, wenn bei großer Entfernung des über¬
weisenden Gerichtes die Vernehmung des Kranken in der Anstalt selbst
erfolgen muß. (O.L.G. Bayern 23. 4. 02; Seuff. Arch. 1904, 4. Bd.. S. 852,
Nr. 48.) Der Umstand, daß der Kranke in einer Irrenanstalt ist, recht¬
fertigt für sich allein noch nicht die Überweisung. (O.L.G. Colmar, 12. 4.
05; Das Recht 1905, Entsch. Nr. 1502.) Unzulässig ist die Überweisung
auch, wenn die Vernehmung des zu Entmündigenden durch den ersuchten
Richter voraussichtlich zu demselben Ergebnis, wie die Vernehmung
durch den erkennenden Richter führen würde.
Die Übernahme der Verhandlung und Entscheidung kann nicht wegen
mangelnder Angabe der Gründe, aus welchen die Verbringung des zu
Entmündigenden in die Irrenanstalt erfolgte, abgelehnt werden.
Das Entmündigungsverfahren.
431
Dem Einwand, daß das Amtsgericht wegen der an seinem Sitze
befindlichen Irrenanstalt in Folge der Überweisungen eine übergroße
Zahl von Entmündigungsverfahren durchführen mußte, konnte ein Ein¬
fluß auf die Entscheidung nicht eingeräumt werden. (O.L.Q. Bayern
10. 3. 00.) Seuff. Arch. 56. 39/70.
Lehnt das Gericht, dem die Entmündigung durch Beschluß
überwiesen wurde, die Übernahme ab, so entscheidet das im In¬
stanzenzuge zunächst höhere Gericht, d. h. das gemein¬
schaftliche obere Gericht. Gegen dessen Entscheidung gibt
es keine Beschwerde (K.G. 30. 3. 00; Das Recht 1900, Nr. 220
u. O.L.G. Dresden 13. 12. 00; Das Recht 1901, Nr. 1432).
§ 651. „Wenn nach der Übernahme des Ver¬
fahrens durch das Gericht, an welches die Über¬
weisung erfolgt ist, ein Wechsel im Aufent¬
haltsorte des zu Entmündigenden eintritt, so
ist dieses Gericht zu einer weiteren Überwei¬
sungbefugt.
Die Vorschriften des § 650 finden ent¬
sprechende Anwendun g.“
Die Übernahme muß erfolgt sein, sonst ist eine weitere Über¬
weisung nicht möglich. Die Voraussetzungen einer Überweisung
müssen außerdem noch vorliegen.
§ 652. „Der Staatsanwalt kann in allen Fällen
das Verfahren durch Stellung von Anträgen
betreiben und den Terminen beiwohnen. Er ist
von der Einleitung des Verfahrens, sowie von
einer nach den §§ 650, 651 erfolgten Überweisung
und von allen Terminen in Kenntnis zu setzen.“
Über die Tätigkeit des Staatsanwaltes beim Entmündigungs¬
verfahren spricht sich § i—18 des Preuß. Erlasses vom 28. Nov.
1899 aus (s. auch § 25 Nr. 22 d. Gesch.-Ordg. f. d. Gerichtsschr.
d. Amtsger.).
§ 653. ,,Das Gericht hat unter Benutzung
der in dem Antrag angegebenen Tatsachen und
Be w'eismittel von Amts wegen die zur Fest¬
stellung des Geisteszustandes erforderlichen
Ermittelungen zu veranstalten und die erheb¬
lich erscheinenden Beweise aufzunehmen. Zu¬
vor ist dem zu Entmündigenden Gelegenheit
zur Bezeichnung von Beweismitteln zu geben,
43 ^
Die Entmündigung.
desgleichen demjenigen gesetzlichen \'^ertreter
des zu Entmündigenden, welchem die Sorge für
die Person zusteht, sofern er nicht die Ent¬
mündigung beantragt hat.
Für die Vernehmung und Beeidigung der
Zeugen und Sachverständigen kommen die Be¬
stimmungen im siebenten und achten Titel des
ersten Abschnitts des zweiten Buchs zur An¬
wendung. Die Anordnung der Haft im Falle
des § 390 kann von Amts wegen erfolge n.“
Das amtsgerichtliche Entmündigungsverfahren ist kein Par¬
teienstreit im engeren Sinne. In demselben kann der Antrag¬
steller auch als Zeuge vernommen werden (R.G. 3. 12. 03; Das
Recht 1904, Nr. 375). Er muß, ebenso, wie der zur Entmün¬
digende, dessen ev. gesetzlicher Vertreter (namentlich der vor¬
läufige Vormund), und der Staatsanwalt mündlich oder schrif¬
tlich gehört werden. Allen diesen Personen steht auch das Recht
zu, an den Terminen zur Beweisaufnahme teilzunehmen. Das
Nichterscheinen in denselben ist auf den Fortgang des Verfahrens
ohne Einfluß.
Der Einfluß des Antragstellers *) auf das Verfahren ist aus
folgender Entscheidung ersichtlich.
Der Antragsteller -) hat kein besonderes Rechtsmittel gegen die
einzelnen Verfügungen des Gerichts, wie gegen die Ablehnung von
Beweisanträgen; es steht ihm lediglich die Beschwerde gegen den
Beschluß zu, durch welchen die Entmündigung abgelehnt wird. (Z.P.O.
§ 663.) Mit der Beschwerde gegen einen solchen Beschluß kann der
Antragsteller auch insbesondere geltend machen, daß behufs ordnungs¬
mäßiger Erledigung der Angelegenheit noch weitere Ermittelungen
anzustellen und noch andere Beweise zu erheben gewesen seien,
vorher aber ist in dieser Beziehung eine Beschwerde nicht gegeben.
(O.L.Q. Dresden, 28. 9. 03.)
Seuff. Arch. 1904, Bd. 4, S. 421, Entsch. Nr. 243.
„Die Tätigkeit des Gerichts hat die erschöpfende Klarstellung
des Entmündigungsgrundes zum Ziel. Im Sinne des Gesetzes
liegt die Ausdehnung, nicht die Beschränkung der Ermittelungen.“
(Gaupp-Stein.) Die Ermittelungen erfolgen durch Vernehmung
der Zeugen, Sachverständigen und des zu Entmündigenden,
’) Die Angehörigen des Antragstellers haben kein Zeugnis¬
verweigerungsrecht, wohl aber die Angehörigen des zu Entmündigenden.
“) Der Antragsteller und der zu Entmündigende haben das Recht
Zeugen und Sachverständige abzulehnen. (§ 406 Z.P.O.)
Das Entmündigungsverfahren.
433
ferner kann Beweis durch Urkunden (Briefe usw.) erhoben wer¬
den, doch fehlt dem Gericht jedes Machtmittel, die Vorlegung
derselben zu erzwingen.
Das Gericht darf nur solche Tatsachen berücksichtigen, die
von ihm selbst fcstgestellt wurden. Die Vorgeschichte
des Sachverständigengutachtens ohne eigene
Nachprüfung zu berücksichtigen, widerstrebt
demGesetz^).
Für die Auswahl der Sachverständigen gilt in Preußen die
Verf. vom i. Okt. 1902 (J. M. Bl. 246) und 21. März 1904. Da¬
nach sind regelmäßig die Gerichtsärzte zuzuziehen, andere Per¬
sonen nur, wenn besondere Umstände es erfordern. Als ,.be¬
sondere Umstände“ gilt die bessere Kenntnis des Falles, welche
der Anstaltsarzt besitzt.
§ 654. „Der zu Entmündigende ist persön¬
lich unter Zuziehung eines oder mehrerer Sach¬
verständigen zu vernehmen. Zu diesem Zwecke
kann die Vorführung des zu Entmündigenden
an geordnet werden.
Die Vernehmung kann auch durch einen er¬
suchten Richter erfolgen.
Die Vernehmung darf nur unterbleiben,
wenn sie mit besonderen Schwierigkeiten ver¬
bunden oder nicht ohne Nachteil für den Ge¬
sundheitszustand des zu Entmündigenden aus¬
führbar is t.“
Die persönliche Vernehmung ist ein wesentlicher Bestand¬
teil des Entmündigungsverfahrens. Sie darf nur aus zwei Grün¬
den unterbleiben, nämlich i. wenn sie nicht ohne Nachteil für den
Gesundheitszustand des zu Entmündigenden ausführbar ist und
2. wenn sie mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist").
Letzteres wird in erster Linie bei erregten Kranken der
Fall sein. Was die Verschlimmerung anlangt, so ist darunter
') Samter, Qruchots BeitrüKC 45, 4 und Daude, Entmündigung.
“) Sie darf nicht unterbleiben, weil sie als unerheblich erachtet
wird. (L.Q. Elberfeld 20. 9. 01; Das Recht 1901, Entsch. Nr. 215.4.) Aus¬
bleiben und Weigerung des zu Entmündigten ist nicht als besondere
Schwierigkeit anzusehen. (R.Q. IV. 12. 10. 00; Das Recht 1901, Entsch.
Nr. 851.) Negativismus und Mutazismus schließen die Vernehtnung nicht
aus. (O.L.Q. Bayern 10. 3. 00; Seuff. Arch., Bd. 56, 3970.)
Hübner, Foreniische Psychiatrie.
2.S
434
Die Entmündigung.
keine vorübergehende Änderung des Zustandes zu verstehen, son¬
dern eine länger anhaltende. Nur in ganz seltenen Ausnahme¬
fällen wird eine solche infolge des Entmündigungstermins aus¬
gelöst werden. Muß die Vernehmung unterbleiben, dann ist der
Grund in den Akten anzugeben (Preuß. J.-Min.-Verf. v. lo. Mai
1887').
Die Vernehmung kann durch Vorführung erzwungen werden.
Sie muß auch in der Berufungsinstanz erfolgen (U. 15. 12. 10;
Jur. Wochenschr. 1911, S. 190)“).
W o die Vemehmung stattfindet, entscheidet der Richter.
Wenn dem Kranken Nachteile aus einer Vernehmung vor Gericht
erwachsen könnten oder der Transport dorthin Schwierigkeiten
macht, empfiehlt sich die Vernehmung in der Anstalt. Bei An-
slaltsinsassen erfolgt die.selbe auch fast stets im Anstaltsgebäude.
Nach § 172 G.V.G. wird die Öffentlichkeit bei der Ver¬
nehmung ausgeschlossen. Nichtbeachtung dieser Vorschrift ist
.Anfechtungsgrund (vergl. Gruchots Beitr. 48, 642 und 49, 611
[Jur. Wochenschr. 1904, 209, 23 u. 1905, 53, 28]).
t'ber das richterliche Protokoll spricht sich eine neuere Ent¬
scheidung folgendermaßen aus;
Das richterliche Protokoll über die persönliche Vernehmung des
zu Entmündigenden muß erkennen lassen, welche Fragen an ihn
gesteint, welche Antworten von ihm gegeben worden sind, ob
namentlich die gestellten Fragen auch denjenigen Kreis berührt
haben, in welchem sich die Wahnideen des zu Entmündigenden be¬
wegen, und ob solche Fragen mit Unterstützung des Sachverständigen,
d. h. nach vorheriger Verständigung mit diesem durch den Richter
oder auf Ersuchen des Richters durch den Sachverständigen gestellt
worden sind. (Colmar, 30. 6. 09.) Das Recht 1909, Entsch. Nr. 2824.
Bei der Vemehmung muß nun mindestens ein Sachverstän¬
diger zugegen sein. Über seine Tätigkeit gibt die folgende Ent¬
scheidung Auskunft:
Das Gesetz hat selbstverständlich eine Mitwirkung des Sach¬
verständigen, eine Unterstützung der Richter durch ihn, nicht aber
eine passive Assistenz verordnen wollen. — Beschl. d. O.L.Q. Dresden,
I. 6. 12. 98. Seuff. Arch. Bd. 55.
Wenn der Sachverständige diesen Anforderungen genügen
soll, ist es erforderlich, daß er sich für den Termin vor-
B In Bonn ist die persönliche Vernehmung in den letzten 7 Jahren
niemals unterblieben, einige Male allerdings wegen Erregung des Kranken
sehr kurz ausgefallen.
■) Ebenso R.O. IV. 17. 10. 04; Jur. Wochenschr. 1905, S. 53.
Das Entmündigungsverfahren. 435
bereitet. Um ihm dies zu ermöglichen, soll er frühzeitig ge¬
laden werden (§ 14 d. Verf. vom 28. Febr. 1899). Es muß ihm
auch Einsicht in die Akten — so weit angängig — gewährt wer¬
den. Er kann sich ferner durch Vorbesuche über den Zustand
des zu Entmündigenden informieren. Auch Rücksprache mit den
Angehörigen und dem behandelnden Arzte kann er nehmen.
(Verf. vom 28. April 1887.)
Wenn der Richter im Termin wirklich ein Bild von der
psychischen Krankheit des zu Entmündigenden erhalten soll,
dann wird es zweckmäßig sein, wenn er — wenigstens in den
.schwierigen Fällen — dem Sachverständigen vorwiegend die
Stellung der Fragen überläßt. Das hat zwei Vorteile; i. werden
die wesentlichen Symptome des Krankheitsbildes schärfer zur
Darstellung gebracht und 2. wird viel Zeit gespart. Ein ge¬
schickter Sachverständiger wird den Richter auch mit wenigen
Andeutungen gesprächsweise auf die wichtigsten Punkte der
folgenden Exploration vorbereiten können, oder, wenn sich hierzu
keine passende Gelegenheit bietet, seine Fragen so einzurichten
wissen, daß das Pathologische an dem Verhalten und den Ant¬
worten des Kranken genügend hervortritt und vom Richter er¬
kannt wird. Es entspricht dabei dem Zwecke der Entmündigung,
wenn weniger auf die Ausarbeitung feinerer klinischer Details
als darauf Wert gelegt wird, daß die sozialen Folgen der
l)sychischen Erkrankung deutlich gemacht werden.
§ 655. ,,D i e Entmündigung darf nicht aus¬
gesprochen werden, bevor das Gericht einen
oder mehrere Sachverständige über den Geistes¬
zustand des zu Entmündigenden gehört hat“
Die Zurückweisung eines Entmündigungsantrages kann ohne
vorhergehende Anhörung eines Sachverständigen erfolgen. Soll
dagegen die Entmündigung ausgesiirochen werden, dann ist ein
Sachverständiger zu „hören“. Dies kann mündlich oder schrift¬
lich geschehen.
*) Er kann Vorbesiiche machen, soviel er will. Liquidieren darf er
ini ailgemeinen nur drei. (Entsch. v. 14. 11. 11.) Hat er die weiteren Vor¬
besuche auf ausdrückliches Verlangen des Oerichts gemacht, dann kann
er sie auch liquidieren. (Verf. v. 28. 4. 87.) — „Vereitelte“ Vorbesuche
sind vom Gericht zu bezahien. (K.Q.E. 30. 4. 07. Ärztl. Sachverst.-Zeitg.
1907, S. 384.)
436
Die Entmündigung.
Mündliche Gutachten zu fordern, empfiehlt sich nur in
den einfachsten Fällen (z. B. verblödete Paralytiker, Idioten,
Stuporöse Katatoniker). Sie müssen genau protokolliert werden
und sollen trotz möglichster Kürze alles Wesentliche enthalten.
Schriftliche Gutachten sind später einzureichen. Sie
werden am besten nach dem Entmündigungstermin abgegeben und
haben das gesamte Aktenmaterial und Untersuchungsergebnis
(einschl. des Termins) zu berücksichtigen.
Der Richter ist an das Gutachten nicht gebunden. Nach den
im Rheinland gemachten Erfahrungen scheinen aber Differenzen
zwischen Gericht und Sachverständigen zu den größten Selten¬
heiten zu gehören. —
In Preußen werden die Entmündigungsgutachten und das
Terminsprotokoll in Abschrift an die Regierungspräsidenten ge¬
sandt und dort vom zuständigen Medizinalrat, sowie dem Medi¬
zinalkollegium nachgeprüft. Auch das Benehmen des Kranken
soll im Protokoll geschildert sein (Min.-Erl. vom 28. April 1887)^
Uber die Disposition des Gutachtens s. u.
§ 656. „Mit Zustimmung des Antragstellers
kann das Gericht anordnen, daß der zu Ent¬
mündigende auf die Dauer von höchstens sechs
Wochen in eine Heilanstalt gebracht werde,
wenn dies nach ärztlichem Gutachten zur Fest¬
stellung des Geisteszustandes geboten er¬
scheint und ohne Nachteil für den Gesundheits¬
zustand des zu Entmündigenden ausführbar ist.
Vor der Entscheidung sind die im § 646 b e z e i c h -
neten Personen soweit tunlich, zu hören.
Gegen den Beschluß, durch welchen die
Unterbringung an ge ordnet wird, steht dem zu
Entmündigenden, dem Staatsanwalt und binnen
der für den zu Entmündigenden laufenden Frist
den sonstigen im § 646 bezeichneten Personen
die sofortige Beschwerde zu.“
Für schwierige Fälle ist mit § 656 die Möglichkeit der
Anstaltsbeobachtung des zu Entmündigenden gegeben.
Eines Antrages dazu bedarf es nicht, doch muß ein ärztliches
Gutachten vorliegen, welches diese Maßnahmen als geboten
bezeichnet. Die Anordnung erfolgt nach freiem Ermessen des
Gerichtes.
Das Entmündigungsverfahren.
437
Außer dem ärztlichen Gutachten müssen folgende Be¬
dingungen erfüllt werden, um die Anstaltsbeobachtung zu er¬
möglichen :
1. Der oder die Antragsteller müssen gehört sein und zu¬
gestimmt haben.
2. Die Verbringung muß ohne Nachteil für die Gesundheit
der zu Entmündigenden ausführbar sein. Die Entscheidung hier¬
über hat das Gericht. Es kann Sachverständige hören.
3. Die übrigen Antrags be r ech t ig ten müssen, „soweit
tunlich“, gehört werden. Ihr Widerspruch ist frei zu würdigen.
4. Als selbstverständlich sieht Gaupp-Stein außerdem unter
Bezugnahme auf die Kommissionsberichte zur Novelle zur Z.P.O.
(S. 167) die Anhörung des Entmündigten selbst oder seines ge¬
setzlichen Vertreters bezw. Prozeßbevollmächtigten an.
Die Auswahl der Anstalt steht im freien Ermessen des
Gerichtes. Es kommen nicht nur öffentliche, sondern Privat¬
anstalten in Betracht. Da das Gesetz nur von Heilanstalten
spricht, kann u. U. auch eine Nervenabteilung eines Kranken¬
hauses zur Beobachtung herangezogen werden. Ob das Gericht
verpflichtet ist, den Kranken in einer besseren, als der Normal-
klasse verpflegen zu lassen, erscheint mir zweifelhaft. —
Ein Nachteil wird dem zu Entmündigenden aus der Unter-
br'ingung kaum jemals erwachsen, allenfalls dann, wenn eine
schwere Herzaffektion oder die Neigung zu Schlaganfällen
(Gramer) besteht.
Gegen den die Unterbringung anordnenden Beschluß
kann sofortige Beschwerde mit aufschiebender Wirkung statt¬
finden. Gegen die Ablehnung gibt cs keine Beschwerde.
§ 657. „Sobald das Gericht die Anordnung
einer Fürsorge für die Person oder das Ver¬
mögen des zu Entmündigenden für erforder¬
lich hält, ist der Vormundschaftsbehörde zum
Zwecke dieser Anordnung Mitteilung zu
m achen.“
Die Fürsorge besteht entweder in einer vorläufigen Vor¬
mundschaft oder Pflegschaft.
Die Vormundschaftsbehörde entscheidet selbständig.
Hat der Entmündigungsrichter dem Vormundschaftsrichter Mit¬
teilung von der Einleitung eines Entmündigungsverfahrens behufs An¬
ordnung der Fürsorge für die Person oder das Vermögen des zu Ent-
438
Die Entmündigung.
mündigenden gemacht, so hat der Vormundschaftsrichter nicht zu
prüfen, ob das Verfahren zu Recht eingeleitet ist bzw. fortgeführt wird.
(K.Q. 25. 2. 01.) Das Recht 1901, Entsch. Nr. 1657.
Die vorläufige Vormundschaft kann auch unabhängig vom
Entmündigungsrichter, lediglich auf Grund eines Beschlusses der
Vormundschaftsbehörde angeordnet werden.
§ 658. „Die Kosten des Verfahrens sind,
wenn die Entmündigung erfolgt, von dem Ent¬
mündigten, anderenfalls von der Staatskasse
zu tragen.
Insoweit einen der im § 646 Abs. i bezeich-
neten Antragsteller bei Stellung des Antrags
nach dem Ermessen des Gerichts ein Verschul¬
den trifft, können demselben die Kosten ganz
oder teilweise zur Last gelegt werden.“
§ 659. „Der über die Entmündigung zu er¬
lassende Beschluß ist dem Antragsteller und
dem Staatsanwalte von Amts wegen zuzustel¬
len.“
§ 660. Der die Entmündigung ausspre¬
chende Beschluß ist von Amts wegen der Vor¬
mundschaftsbehörde mitzuteilen und, wenn
der Entmündigte unter elterlicher Gewalt oder
unter Vormundschaft steht, auch demjenigen
gesetzlichen Vertreter zuzustellen, welchem
die Sorge für die Person des Entmündigten zu¬
steht. Im Falle der Entmündigung wegen
Geistesschwäche ist der Beschluß außerdem
dem Entmündigten selbst zuzustelle n.“
Für die Mitteilung ist keine Form vorgeschrieben.
Nach der Verf. v. 28. ii. 99 ist auch der Vorsteher der An¬
stalt, in der der Entmündigte untergebracht ist, zu benach¬
richtigen.
§ 661. „Die Entmündigung wege^i Geistes¬
krankheit tritt, wenn der Entmündigte unter
elterlicher Gewalt oder unter Vormundschaft
steht, mit der Zustellung des Beschlusses an
denjenigen gesetzlichen Vertreter, welchem
die Sorge für die Person zu steht, anderenfalls
Das Entmündigungsverfahren.
439
mit der Bestellung des Vormundes in Wirksam¬
keit.
Die Entmündigung wegen Geistesschwäche
tritt mit der Zustellung des Beschlusses an den
Entmündigten in Wirksamkeit.“
§ 662. ,,Der die Entmündigung ablehnende
Beschluß ist von Amts wegen auch demjenigen
zuzustellen, dessen Entmündigung beantragt
w a r.“
Außerdem erhält auch der Vorsteher der in Frage kommenden
Irrenanstalt (V. 28. ii. 99) Nachricht.
§ 663. „Gegen den Beschluß, durch welchen
die Entmündigung abgelehnt wird, steht dem
Antragsteller und dem Staatsanwalte die so¬
fortige Beschwerde zu.
In dem Verfahren vor dem Beschwerdegerichte
finden die Vorschriften der §§ 652, 653 entspre¬
chende Anwendun g.“
Wichtig ist die Wahl eines geeigneten Vormundes.
Vom psychiatrischen Standpunkt möchte ich an einen solchen
etwa folgende Anforderungen stellen;
1. muß er Verständnis für die geistige Abweichung des
Kranken haben, d. h. er darf nicht Krankheitssymptome für
Schlechtigkeit halten oder kritiklos auf alles eingehen, was der
Patient ihm vorschlägt.
2. Muß er auch Neigung und Zeit haben, die Angelegen¬
heiten seines Mündels zu besorgen. Wenn z. B. der Vormund
eines querulierenden Paranoikers sämtliche Eingaben usw. seines
Mündels ohne einen Blick hineinzuwerfen, einfach in ein neues
Kuvert steckt, adressiert und sich im übrigen um nichts küm¬
mert, so macht ein solches Verfahren die Entmündigung geradezu
illusorisch. Auch die Haltlosen bedürfen einer festen Hand, die
sie leitet.
3. Muß er dazu befähigt sein. Wie im speziellen Teil er¬
wähnt ist, haben wir es erlebt, daß ein wegen Querulantenwahn
gemäß § 51 Str.G.B. freigesprochener Rechtskonsulent vom
Waisenrat dem Amtsgericht als Vormund vorgeschlagen wor¬
den war.
4. Darf der Kranke infolge von Beziehungswahn oder aus
ähnlichen Gründen an der Person des Vormunds keinen Anstoß
440
Die Entmündigung.
nelimen, sonst wird die sachgemäße Besorgung der Angelegen¬
heiten zweifellos erheblich erschwert. Es wird nicht immer leicht
sein, im konkreten Fall einen geeigneten Vormund zu finden.
Ich glaube, daß der Sachverständige da, wo es nötig ist, dem
Richter seine .Aufgabe erleichtern kann, indem er im Entmündi¬
gungsgutachten diejenigen Gesichtspunkte hervorhebt, welche für
die Auswahl des Vormundes in Betracht kommen (Dannemann)*).
Seit die Institution der Berufsvormundschaft mehr und
mehr an Boden gewinnt, verringert sich auch die Schwierigkeit,
geeignete Kräfte zu finden. —
Was die Zustellung des Entmündigungsbeschlusses an den
Geistesschwachen anlangt, so muß dieselbe ohne Rücksicht auf
den Zustand sofort erfolgen, weil erst dadurch die Entmündigung
in Wirksamkeit tritt. Der Beschluß muß auch die Gründe ent¬
halten, auf die er sich stützt, weil der Kranke die Möglichkeit
hat, ihn anzufechten.
Die Frage, ob ein Entmündigungsbeschluß dem Kranken
persönlich zuzustellen sei oder nicht, ist in der Theorie und
Praxis strittig. Das L.G. Breslau hat folgendermaßen entschieden:
Die Zustellung an einen Angestellten der Anstalt, in der der
Geistesschwache untergebracht ist, ist unzulässig. (Breslau, 13. 11. 08.)
Das Recht 1909, Entsch. Nr. 3136.
Im Gegensatz hierzu meint Blachian’), daß nach § i8i
Z.P.Ü. verfahren werden könne und eine Ersatzzustellung mög¬
lich sei. Er stützt sich dabei auf eine Gefangene betreffende
Entscheidung (Seuff. Arch. Bd. 52, Nr. 52), in der das Gefängnis
als Wohnung bezeichnet und ausgeführt wird, daß ein Gefangener
für den Zustellungsbeamten nicht ohne weiteres anzutreffen sei.
Der Anstaltsvorstand sei außerdem als Hauswirt i. S. des § i8i
Z.P.O. anzusehen. Somit sei Ersatzzustcllung möglich. In diesem
Sinne wird in den meisten Anstalten auch verfahren.
Anfechtung der Entmündigung.
§ 664. ,,DerdieEntmündigungaussprechende
Beschluß kann im Wege der Klage binnen der
Frist eines Monats a n g e f o c h t e n werden.
’) Friedreichs Blätter f. gerichtl. Medizin 1906.
“) Kluniker, Zcntralbl. f. Vornuindschaftswesen 19L0; ibid. Kraus.
.Allg. Zeitschr. f. Psych. 1906, S. 894. Dort Literatur und Bd. 64,
S. 656.
Anfechtung der Entmündigung.
441
Zur Erhebung der Klage sind der Entmün¬
digte selbst, derjenige gesetzliche Vertreter
des Entmündigten, welchem die Sorge für die
Person zu steht, und die übrigen im § 646 b e -
zeichneten Personen befugt.
Die Frist beginnt im Falle der Entmündi¬
gung wegen Geisteskrankheit für den Entmün¬
digten mit dem Zeitpunkt, in welchem er von
der Entmündigung Kenntnis erlangt, für die
übrigen Personen mit dem Zeitpunkt, in wel¬
chem die Entmündigung in Wirksamkeit tritt.
Im Falle der Entmündigung wegen Geistes¬
schwäche beginnt die Frist für den gesetz¬
lichen Vertreter des unter elterlicher Gewalt
oder unter Vormundschaft stehenden Entmün¬
digten mit dem Zeitpunkt, in welchem ihm der
Beschluß zugestellt wird, für den Entmündig¬
ten selbst und die übrigen Personen mit der Zu¬
stellung des Beschlusses an den Entmündig¬
ten.“
Im Prozeß über die Anfechtungsklage ist nur darüber zu ent¬
scheiden, ob die Entmündigung zu der Zeit, zu der sie ausgesprochen
wurde, zu Recht erfolgt ist. (O.L.Q Hamburg 18. 3. 01; Das Recht
1901, Nr. 1538), s. a. R.Q. 27. 10. 02; Das Recht 1903, S. 107, Nr. 555.
Glaubt der Entmündigte, inzwischen wieder gesund gewor¬
den zu sein, so darf er nicht die Anfechtungsklage, sondern die
Klage auf Wiederaufhebung der Entmündigung einreichen (s.
Jur. Wochenschr. 1895, 328*“; 1896, 372; 1901, 70J 1902, 280 B;
Gruchot? Beitr. 39, 1149).
Die erfolgte Entmündigung schließt die Prozeßfähigkeit des
Entmündigten für dies Verfahren nicht aus. (R.G. 35, 352 und
68, 404.)
Was versteht nun das Gesetz unter dem Ausdruck „Kenntnis
erlangen“ ?
Das R.Q. hat sich über diese Fragen inzwischen in der
Bd. 68 S. 402 abgedruckten Entscheidung vom 21. Mai 1908, der ein
gleicher Fall zugrunde lag, ausgelassen. Danach hängt der Beginn der
in § 664 Abs. 3 Z.P.O. vorgeschriebenen Klagefrist für den Entmün¬
digten davon ab, daß er nicht nur die Entmündigung erfährt, sondern
auch von dem Entmündigungsgrunde Kenntnis erlangt. Zu dieser
442
Die Entmündigung.
Kenntnis gehört aber nicht, daß der Entmündigte von dem ganzen In¬
halte des Entmündigungsbeschlusses Kenntnis erhält.
Jur. Wochenschr. 1909, S. 665.
§ 665. „Für die Klage ist das Landgericht
ausschließlich zuständig, in dessen Bezirke
das Amtsgericht, welches über die Entmündi¬
gung entschieden hat, seinen Sitz hat.“
§ 666. „D ie Klage ist gegen den Staatsan¬
walt zu richten.
Wird die Klage von dem Staatsanwalt
erhoben, so ist sie gegen denjenigen ge¬
setzlichen Vertreter des Entmündigten zu
richten, welchem die Sorge für die Person zu¬
steh t.“
Hat eine der im § 646 Abs. i bezeichneten
Personen die Entmündigung beantragt, so ist
dieselbe unter Mitteilung der Klage zum Ter¬
mine zur mündlichen Verhandlung zu laden.
Dieselbe gilt im Falle des Beitritts im Sinne
des § 62 als Streitgenosse der Hauptpartei.
§ 667. Mit der die Entmündigung anfech¬
tenden Klage kann eine andere Klage nicht ver¬
bunden werden.
Eine Widerklage ist unzulässig.
§ 668. Will der Entmündigte die Klage er¬
heben, so ist ihm auf seinen Antrag von dem
Vorsitzenden des Prozeßgerichts ein Rechts¬
anwalt als Vertreter beizuordnen.
Dies ist auch dann erforderlich, wenn die Partei arm ist, die
Anfechtung aussichtslos erscheint und deshalb die Bewilligung
des Armenrechtes abgclehnt wurde (Das Recht 1907, Nr 2355).
Die Beiordnung des Anwaltes erfolgt formlos.
§ 669. Bei der mündlichen Verhandlung haben
die Parteien die Ergebnisse der bei dem Amts¬
gerichte stattgehabten Sachuntersuchung, so¬
weit es zur Prüfung der Richtigkeit des ange¬
fochtenen Beschlusses erforderlich ist, voll-
ständig vorzutragen.
Im Falle der Unrichtigkeit oder Unvoll¬
ständigkeit des Vortrags hat der Vorsitzende
Anfechtung der Entmündigung.
443
dessen Berichtigung oder Vervollständigung,
nötigenfalls unter Wiedereröffnung der Ver¬
handlung, zu veranlassen.
§ 670. Die Vorschriften des § 617 Abs. 1, 3
und der §§ 618, 622 finden entsprechende An¬
wendung.
Der Parteieid ist ausgeschlossen.
§ 671. Die Bestimmungen der §§ 654, 655 fin¬
den in dem Verfahren über die Anfechtungs¬
klage entsprechende Anwendung.
Von der Vernehmung Sachverständiger darf
das Gericht Abstand nehmen, wenn es das vor
dem Amtsgericht abgegebene Gutachten für
genügend erachtet.
Unter Vernehmung der Sachverständigen ist die Einholung
eines mündlichen oder schriftlichen Gutachtens zu verstehen.
Des Letzteren bedarf es nicht unbedingt.
Von der persönlichen Vernehmung des Entmündigten unter
Zuziehung des Sachverständigen darf das Gericht nicht Abstand
nehmen (Das Recht 1907, Nr. 3352; Jur. Wochenschr. 1904,
S. 262; Das Recht 1911, Nr. 809, dort ausführliche Entschei¬
dung). Die Vernehmung ist nicht öffentlich (Jur. Wochenschr.
1904, S. 210). Die Unterbringung des Entmündigten in einer
Irrenanstalt nach § 656 ist in diesem Stadium des Verfahrens
nicht möglich.
§ 672. Wird die Anfechtungsklage für be¬
gründet erachtet, so ist der die Entmündigung
aussprechende Beschluß aufzuheben. Die Auf¬
hebung tritt erst mit der Rechtskraft des Ur¬
teils in Wirksamkeit. Auf Antrag können
jedoch zum Schutze der Person oder des Ver¬
mögens des Entmündigten einstweilige Ver¬
fügungen nach Maßgabe der §§ 936—944 getrof¬
fen werden.
Wird die Anfechtungsklage für l>egründet erachtet, so tritt
§ 115 B.G.B. in Wirksamkeit.
Wird ein die Entmündigung aussprechen¬
der Beschluß infolge einer Anfechtungsklage
aufgehoben, so kann die Wirksamkeit der von
444
Die Entmündigung.
oder gegenüber dem Entmündigten vorgenom¬
menen Rechtsgeschäfte nicht auf Grund des Be¬
schlusses in Frage gestellt werden.
Auf die Wirksamkeit der von oder gegen¬
über dem gesetzlichen Vertreter vorgenom¬
menen Rechtsgeschäfte hat die Aufhebung
keinen Einfluß.
Diese Vorschriften finden entsprechende
Anwendung, wenn im Falle einer vorläufigen
Vormundschaft der Antrag auf Entmündigung
zurückgenommen oder rechtskräftig abgewie¬
sen oder der die Entmündigung aussprechende
Beschluß infolge einer Anfechtungsklage auf¬
gehoben wird.
Die von dem zu Entmündigten oder ihm gegenüber vor¬
genommenen Rechtsgeschäfte werden, wenn der. die Entmün¬
digung aussprechende Beschluß im Wege der Anfechtungsklage
aufgehoben wird, so behandelt, wie wenn die Entmündigung nicht
erfolgt wäre (Planck). Handlungen, die der bisherige gesetzliche
Vertreter vorgenommen hatte, sind aber auch rechtswirksam.
Haben sowohl der Entmündigte, wie der gesetzliche Vertreter in
der gleichen Sache verschiedene Willenserklärungen abgegel^en,
so gilt die zuerst abgegebene. Waren sie gleichzeitig abgegeben,
ist keine als wirksam anzusehen (Planck, Staudinger).
§ 673. Unterliegt der Staatsanwalt, so ist
die Staatskasse zur Erstattung der dem ob¬
siegenden Gegner erwachsenen Kosten in Ge¬
mäßheit der Bestimmungen des fünften Titels
des zweiten Abschnitts des ersten Buchs zu
verurteilen.
Ist die Klage von dem Staatsanwalt erhoben,
sohatdie Staatskasse in allen Fällen die Kosten
des Rechtsstreits zu tragen.
§ 674. Das Prozeßgericht hat der Vormund¬
schaftsbehörde und dem Amtsgerichte von
jedem in der Sache erlassenen End urteile Mit¬
teilung zu machen.
^) Über die Kritik des Entmündigungsverfahrens s. E. Schultze im
Handbuch und A. Leppmann, Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1913.
Preußische Ausführungsbesfimmungen.
445
PreuOische Ausfuhrungsbestimmungen.
Für Preußen ist die nachstehende Justizniinisterial-Ver-
fügung ergangen.
I. Tätigkeit der Staatsanwaltschaft.
§ 1. Die Staatsanwaltschaft hat darüber zu wachen, daß beim
Vorhandensein der gesetzlichen Voraussetzungen (§ 2) die Entmündigung
eines der Fürsorge bedürftigen Geisteskranken oder Geistesschwachen
erfolgt, und daß Personen, bezüglich deren die bezeichneten Voraus¬
setzungen nicht gegeben sind, nicht entmündigt werden, daß auch eine
Entmündigung beim Wegfall ihres Grundes wieder aufgehoben wird.
Zu diesem Zwecke hat die Staatsanwaltschaft selbständig die ge¬
eigneten Anträge zu stellen und von einem auf Antrag eines anderen
Berechtigten eingeleiteten Verfahren fortlaufend Kenntnis zu nehmen.
§ 2. Entmündigt kann werden, wer infolge von Geisteskrankheit
oder von Geistesschwäche seine Angelegenheiten nicht zu besorgen ver¬
mag. (B.G.B. § 6 Nr. 1.) Unter Angelegenheiten sind nicht nur Ver¬
mögensangelegenheiten, sondern die gesamten Lebensverhältnisse, z. B.
auch die Sorge für die eigene Person, die Sorge für Angehörige, die Er¬
ziehung der Kinder und dergl. zu verstehen. Aus einem anderen als dem
bezeichneten Grunde darf die Entmündigung nicht erfolgen, insbesondere
nicht lediglich aus polizeilichen Rücksichten oder im ausschließlichen
Interesse anderer Personen.
§ 3. Die von den Vorstehern öffentlicher und privater Irrenanstalten
eingehenden Anzeigen über die Aufnahme Geisteskranker und Geistes¬
schwacher sind einer sorgfältigeren Prüfung zu unterziehen. Auch ohne
eine solche Anzeige hat die Staatsanwaltschaft in den etwa zu ihrer
Kenntnis gelangenden Fällen von Geisteskrankheit und Geistesschwäche
zu erwägen, ob Anlaß zu einer Entmündigung vorliegt.
Sämtliche Justizbehörden werden angewiesen, in den zu ihrer
Kenntnis gelangenden Fällen von Geisteskrankheit oder von Geistes¬
schwäche, in W'elchen sie den Anlaß zu einer Entmündigung als gegeben
erachten, dem zuständigen Ersten Staatsanwalte Mitteilung zu machen.
Die Staatsanwaltschaft hat nötigenfalls die zur Entschließung über
die Stellung des EntmUndigungsantrags erforderlichen Ermittlungen
ihrerseits anzustellen.
§ 4. Die Stellung des Antrags auf Entmündigung kann ausgesetzt
werden, wenn der Geisteskranke oder Geistesschwache noch nicht als
unheilbar erkannt ist, insbesondere wenn eine baldige Genesung zu er¬
warten ist. Dies gilt auch von den in Irrenanstalten untergebrachten
Personen. Jedoch darf der Antrag nicht verzögert werden, wenn die
Besorgnis einer sachlich nicht gerechtfertigten Beschränkung der persön¬
lichen Freiheit durch Unterbringung in einer Anstalt obwaltet.
§ 5. Sind andere Antrag.sberechtigte (Z.P.O. § 646 Abs. 1) im In¬
lande vorhanden, so hat die Staatsanwaltschaft, wenn nicht Gefahr im
446
Die Entmündigung.
Verziige obwaltet, zunächst zu ermitteln, ob einer von diesen zur Stel¬
lung des Antrages bereit ist, und nur, wenn dies nicht der Falt ist oder
die Antragsstellung ungebührlich verzögert wird, selbst den Antrag zu
stellen.
§ 6. Ist die Entmündigung von der Staatsanwaltschaft beantragt,
so hat diese das Verfahren zu betreiben, sich fortlaufend von dem Gange
der Sache in Kenntnis zu erhalten, die der Sachlage entsprechenden
Anträge zu stellen und nötigenfalls von den zulässigen Rechtsmitteln
Gebrauch zu machen. Sie hat auch tunlichst den Terminen, insbesondere
dem Termine zur Vernehmung des zu Entmündigenden beizuwohnen,
sofern es sich nicht um die Entmündigung einer in einer öffentlichen
Anstalt untergebrachten Person handelt, deren Geisteskrankheit oder
Geistesschwäche unbedenklich als vorhanden angenommen werden kann.
§ 7. Ist die Entmündigung von einem anderen Berechtigten bean¬
tragt, so hat die Staatsanwaltschaft, sobald sie davon, sei es durch Mit-
teiiung des Gerichts (§ 11), sei es auf andere Weise, Kenntnis erhält, die
Sachlage, nötigenfalls unter Einsicht der Akten, zu prüfen und sachdien¬
liche Anträge, insbesondere über Art und Umfang der Beweisaufnahme,
zu stellen, wenn dies nach ihrer im § 1 bezeichneten Aufgabe angemessen
erscheint.
Ob es zweckmäßig ist, daß ein Vertreter der Staatsanwaltschaft
den Terminen beiwohnt, ist nach Lage des Einzelfalles und unter Rück¬
sichtnahme auf die etwa dadurch den Parteien zur Last fallenden Reise¬
kosten zu entscheiden.
Vor der Beschlußfassung des Gerichts über die Entmündigung hat
die Staatsanwaltschaft sich in jedem Falie gutachtiich zu äußern; die
Äußerung ist binnen einer Woche nach Vorlegung der Akten {§ 13) zu
erstatten.
Wird der Antrag zurückgenommen, so hat die Staatsanwaltschaft
nötigenfalls durch Stellung eines neuen Antrages dem Verfahren Fort¬
gang zu geben, falls sie die Voraussetzungen der Entmündigung als ge¬
geben erachtet.
§ 8. Erachtet die Staatsanwaltschaft die Anordnung einer vor¬
läufigen Vormundschaft (B.G.B. § 1906) im Interesse des zu Entmündigen¬
den für geboten, so hat sie diese bei dem Vormundschaftsgericht in
Anregung zu bringen und im Falle einer ablehnenden Entscheidung ge-
eignetenfalls die Beschwerde einzulegen (Reichsgesetz über die An¬
gelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit § 57 Nr. 2).
§ 9. Von jedem über eine Entmündigung ergehenden Beschlüsse
hat die Staatsanwaltschaft sofort nach der Zustellung (Z.P.O. § 659) dem
Vorsteher der Anstalt, in welcher der zu Entmündigende untergebracht
ist, Nachricht zu geben und ihm den Namen des etwa bestellten vor¬
läufigen Vormundes zu bezeichnen.
§ 10. Erfolgt in einer Entmündigungssache die Überweisung der
Verhandlung und Entscheidung an ein Amtsgericht, dessen Sitz in einem
anderen Laiidgerichtsbezirke liegt (§§ 650, 651), so sind die Akten an die
zuständige Staatsanwaltschaft abzugeben.
Preußische Ausführungsbestimmungen. 447
II. Tätigkeit des Gerichts.
g 11. Das Gericht hat der Staatsanwaltschaft Mitteilung zu machen:
1. von der Einleitung des Entmündigungsverfahrens;
2. von einer nach g§ 650, 651 der Z.P.O. erfolgten Überweisung
der Verhandlung und Entscheidung an ein anderes Gericht;
3. von allen Terminen und zwar so zeitig, daß die Teilnahme eines
Vertreters der Staatsanwaltschaft in dem Termine möglich ist.
Auch von wichtigen Vorkommnissen im Laufe eines Entmündigungs¬
verfahrens ist der Staatsanw'altschaft Kenntnis zu geben.
Außerdem muß nach § 656 Abs. 1 der Z.P.O. die Staatsanwaltschaft
gehört werden, bevor über die Unterbringung des zu Entmündigenden
in einer Heilanstalt Entscheidung getroffen wird.
§ 12. Die Mitteilungen (§ 11) erfolgen, wenn die Staatsanwaltschaft
sich am Sitze des Amtsgerichts befindet, in allen Fällen, im übrigen,
soweit es ohne Verzögerung der Sache möglich ist, durch Vorlegung der
Akten, sonst durch Benachrichtigungsschreiben des Richters.
Die Staatsanwaltschaft kann auch in anderen als den im § 11 be-
zeichneten Füllen von den Akten Einsicht nehmen und aus ihnen Ab¬
schriften sich erteilen lassen.
§ 13. Erachtet das Gericht die Ermittelungen für abgeschlossen,
so hat es vor der Beschlußfassung über den Antrag auf Entmündigung
die Akten der Staatsanwaltschaft zur Äußerung (§ 7 Abs. 3) vorzulegen.
§ 14. Bei den Ermittelungen in Entmündigungssachen wird den
Amtsgerichten die Beachtung nachstehender Punkte empfohlen:
1. Mündlich von Sachverständigen abgegebene Gutachten sind voll¬
ständig, nicht bloß ihrem Ergebnisse nach und nicht bloß insoweit, als
der Richter dies für die Erlangung seiner persönlichen Überzeugung er¬
forderlich hält, zu den Akten festzustellen.
2. *) Als Sachverständiger ist gemäß § 653 Abs. 2 in Verbindung mit
§ 404 Abs. 2 der Z.P.O. regelmäßig der Oerichtsarzt (§ 9 des Gesetzes,
betreffend die Dienststellung des Kreisarztes usw. vom 16. Sept. 1890 —
Gesetzsammlung S. 172) als der für medizinische Angelegenheiten öffent¬
lich bestellte Sachverständige, erforderlichenfalls sein Assistent (§ 5 des
angeführten Gesetzes) zuzuziehen. Andere Personen sollen nach dem
angeführten § 404 Abs. 2 als Sachverständige nur dann gewählt werden,
wenn besondere Umstände es erfordern.
3. Den Sachverständigen ist die Ladung zu dem Termin so zeitig
zuzustellen, daß sie sich, wenn nötig, schon vorher durch Besuche,
Nachfragen oder sonst über den Geisteszustand des zu Entmündigenden
ein sicheres Urteil bilden können. Eine Frist von 6 Wochen wird in den
meisten Fällen hierzu reichen. Zu demselben Zwecke ist den Sach-
’) Die unter § 14, 2 gegebene Bestimmung lautete ursprünglich
anders; sie wurde durch Erlaß vom 1. Okt. 1902 in dem oben wieder¬
gegebenen Sinne geändert. Durch Verfg. vom 21. März 1904 wieder ge¬
mildert. Für Anstaltskranke w'ird fast immer der Anstaltsarzt zugezogen.
448
Die EntmündiKung.
verständigen auch, soweit dies angängig, Einsicht zu den Akten zu ge¬
statten.
4 . Die Vernehmung des zu Entmündigenden erfolgt in der Regel an
seinem Wohnort oder seinem Aufenthaltsorte, gegebenenfalls in der
Wohnung oder in der Anstalt.
5. Unterbleibt die gerichtliche Vernehmung des zu Entmündigenden
(Z.P.O. § 654 Abs. 3), so ist der Qrund hierfür aktenkundig zu machen.
§ 15. Abschrift eines jeden in einer Entmündigungssache erstatteten
schriftlichen oder mündlich abgegebenen und zu den Akten festgestellten
Gutachtens, ist mit möglichster Beschleunigung dem Regierungspräsiden¬
ten einzusenden. Dem Gutachten ist eine Abschrift des Protokolls über
die persönliche Vernehmung des zu Entmündigenden oder Vermerkes
über die Gründe, aus denen die Vernehmung unterblieben ist (§ 14 Nr. 5),
beizufügen.
§ 16. Wegen der Teilnahme eines Abgeordneten oder Bevoll¬
mächtigten der Russischen Botschaft oder eines Russischen Konsulats
an den Terminen in Sachen, welche die Entmündigung russischer Staats¬
angehöriger betreffen, bewendet es bei der Allgemeinen Verfügung vom
11. Dez. 1860 (Just.-Minist.-Bl. S. 4.59).
§ 17. In dem Verfahren wegen Entmündigung einer Militärpersoii
des aktiven Dienststandes, ist der Vorgesetzten Militärbehörde des zu
Entmündigenden von der Einleitung des Verfahrens und von der Ent¬
scheidung Uber den Antrag auf Entmündigung Mitteilung zu machen.
III. Allgemeine Vorschriften.
§ 18. Auf schleunige Erledigung der Anträge auf Entmündigung ist
tunlichst Bedacht zu nehmen.
§ 19. Die §§ 1, 2, 3 Abs. 3, die §§ 5—7, 9—18 finden in dem Ver¬
fahren, betreffend Wiederaufhebung einer Entmündigung, entsprechende
Anwendung.
§ 20. Wegen Behandlung der in Entmündigungssachen der Staats¬
kasse zur Last fallenden Kosten bewendet es bei der Allgemeinen
Verfügung vom 18. Nov. 1893 (Just.-Minist.-Bl. S. 330).
§ 21. Die Verfügung vom 16. Okt. 1826 (v. Kamptz. Jahrb., Bd. 28,
S. 296), sowie die Allgemeinen Verfügungen vom 4. März 1839 (Just.-
Minist.-Bl. S. 102), 3. Febr. 1840 (Just.-Minist.-Bl. S. 69), 10. Febr. 1880
(Just.-Minist.-Bl. S. 28), 27. Nov. 1882 (Just.-Minist.-Bl. S. 372), 10. Mai
1887 (Just.-Minist.-Bl. S. 129) und 8 Aug. 1894 (Just.-Minist-Bl. S. 241)
werden aufgehoben.
§ 22. Diese Verfügung tritt am 1. Januar 1900 in Kraft. —
Hinzugefügt sei schließlich noch eine Preuß. Just.-Minist.-
\'erfüg. vom gleichen Tage:
In Ergänzung der Allgemeinen Verfügung vom heutigen Tage über
das Verfahren bei Entmündigungen wegen Geisteskrankheit und Geistes¬
schwäche wird folgendes bestimmt:
1. Die von der Staatsanwaltschaft in Entmündigungssachen zu
stellenden Anträge und abzugebenden Äußerungen treten denjenigen
Das Entniündigungsgutachten.
449
Scliriftstiicken hinzu, welche nach Nr. I, 1 des Runderlasses vom .S. April
18S3 (I. 947) von dem Ersten Staatsanw'alte zu unterzeichnen sind.
2. Die Vorsclirift der Nr. I, 3 des angeführten Runderlasses, wonach
zui Wahrnehmung von Lokalterminen außerhalb des Sitzes der Staats¬
anwaltschaft, wie überhaupt zu allen auswärtigen Geschäften, die Ge¬
nehmigung des Ersten Staatsanwalts erforderlich ist, findet auch in Ent¬
mündigungssachen Anwendung.
3. Die von den Vorstehern (in Hannover wird diese .Anzeige von
der Behörde erstattet, welche den Aufnahmeantrag stellt) öffentlicher
und privater Irrenanstalten eingehenden Anzeigen über die Aufnahme
Geisteskranker und Qeistesschw'acher sind, soweit ein Entmündigungs¬
verfahren nicht eingeleitet wird, dem zuständigen Vormundschafts¬
gerichte mit dem Anheimstellen einer Prüfung in der Richtung zu über¬
senden, ob ein Bedürfnis zur Anordnung einer Pflegschaft gemäß § 1910
Abs. 2, 3 des Bürgerl. Gesetzbuches vorliegt.
Das Entmündigungsgutachten >).
Wir haben nunmehr zu erörtern, welche Gesichtspunkte sich
für die Disposition des Entmündigungsgutachtens aus den vor¬
stehenden Betrachtungen ergeben.
Da der § 6 Nr. i die Bestimmungen über die Entmündigung
geistig abnormer Personen enthält, ist es selbstverständ¬
lich, daß der gutachtliche Teil mit der Erörterung der Frage,
ob überhaupt eine geistige Störung vorliegt, zu
beginnen hat. Ergibt sich, daß das nicht der Fall ist, so ist damit
die Tätigkeit des Sachverständigen abgeschlossen und cs kann
eine Entmündigung gemäß § 6 Abs. i nicht erfolgen. Es ist
dann auch nicht möglich, weitere Schlußfolgerungen im Sinne des
genannten Paragraphen zu ziehen. Zu fragen ist also zunächst;
Ist X. überhaupt geistesgestört?
Ist der Sachverständige zu dem Ergebnis gekommen, daß
eine geistige Erkrankung vorliegt, so besteht die weitere Aufgabe
darin, die klinische Form der Psychose genauer zu präzisieren.
Das ist notwendig, weil der Arzt eine Prognose des Falles stellen
muß. Denn, wie oben ausgeführt worden ist, kommen für die
Entmündigung nur Psychosen von längerer Dauer in Betracht.
*) Ich sehe davon ab. dasjenige, was über die Form, insbesondere
den Kopf des Gutachtens, die Vorgeschichte und den Untersuchungs¬
befund zu sagen wäre, zu wiederholen und verweise in dieser Beziehung
auf den strafrechtlichen Teil. W'cnn hier von Gutachten die Rede ist,
so ist der dritte Abschnitt des dort Erörterten gemeint, d. h. der gut¬
achtliche Teil im engeren Sinne.
niiliner. Forensische Psychiatrie.
2[i
450
Die Entniündigung.
Frage 2 des Gutachtens hat also zu lauten:
Welche Diagnose ist bei X. gestellt und was
ergibt sich aus derselben für den Verlauf der
Erkrankung?
Auch in diesem Stadium der Erwägungen kann die Tätig¬
keit des Richters sowohl, wie des Sachverständigen ein Ende
finden. Hat der Sachverständige z. B. festgestellt, es handelt
sich um eine Manie, die bei dem Kranken in Abständen von etwa
4 bis 5 Jahren auftritt und bis jetzt jedesmal nur 3 bis 4 Monate
gedauert hat, so sind die Voraussetzungen des § 6 Abs. i nicht
gegeben. Der Richter muß die Entmündigung ahlehnen. In Be¬
tracht kommen nur solche Geistesstörungen, bei denen entweder
die allgemeine klinische Erfahrung oder die Erfahrung in dem
speziellen Falle gelehrt hat, daß mit einer längeren Dauer der
l’sychose (von mindestens einem oder einigen Jahren) nach
menschlicher Voraussicht zu rechnen ist.
Haben wir so den Krankheitsfall klinisch geklärt, so müssen
wir an die Betrachtung der sozialen Folgen der Psychose heran¬
treten, mit anderen Worten gesagt, wir haben zu erörtern:
„H indert die Geistesstörung den X. überhaupt
an der Besorgung seiner Angelegenheiten?“
Es gibt eine ganze Reihe von Fällen, in denen das nicht zu¬
trifft. Nehmen wir z. B. einen mäßig schwachsinnigen Menschen,
der allmonatlich für \'errichtung bestimmter Arbeiten so viel ver¬
dient, als er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse braucht, der in
ländlicher Umgebung lebt und sonst keinerlei Ansprüche an das
Leben stellt. Es wäre nicht einzusehen, warum ein solcher Mensch
entmündigt werden sollte. Das, was man von ihm verlangt, tut
er. Er seihst stellt auch an niemanden besondere Ansprüche, er
versieht seinen Dienst, nimmt sein Geld richtig ein, verwendet
dasselbe zweckmäßig, lebt mit seiner Familie und seiner Unt-
gebung im besten Einvernehmen. Es besteht also nicht der ge¬
ringste Grund, ihn zu entmündigen.
Auch bei chronisch Verrückten (Paranoikern) treffen ähn¬
liche Erwägungen gar nicht so selten zu, namentlich in den ersten
Jahren der Erkrankung. Diese Patienten leiden zwar an Wahn¬
ideen und Sinnestäuschungen, sie bringen dieselben aber selten
vor und ziehen, was das Wesentliche ist, zunächst keinerlei Konse-
(lucnzen für ihr Handeln daraus. Das ge.schicht bei manchen
«
Das EntmUndigungsgutachten. 451
Paranoikern erst verhältnismäßig spät. So kommt es, daß sie
jahrelang mit einer schweren Geistesstörung umhergehen, ohne
daß überhaupt jemand daran denkt, die Frage aufzuwerfen, ob
sie entmündigt werden müssen oder nicht.
Häufiger kommt es allerdings vor, namentlich bei den
schweren Geistesstörungen, daß die Psychose auch die Besorgung
der Angelegenheiten beeinflußt. In diesem Falle ist weiter zu er¬
örtern : In welchem Grade ist X. an der Besorgung
seiner Angelegenheiten durch seine geistige
Erkrankung gehindert? Es bestehen da verschiedene
Möglichkeiten. Die Behinderung kann sich z. B. nur auf einen
bestimmten Kreis von Angelegenheiten beziehen, wie das bei
manchen Querulanten der Fall ist. Auch dann sind die Voraus¬
setzungen einer Entmündigung, wie sich aus den oben gemachten
.-\usführungen ohne weiteres ergibt, nicht vorhanden. Es kommt
dann vielmehr die Einsetzung einer Pflegschaft gemäß § 1910
B.G.B. in Betracht.
Zeigen unsere Überlegungen, daß der Patient den wesent¬
lichen Teil seiner Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag,
dann sind die Voraussetzungen für eine Entmündigung zwar ge¬
geben, es ist aber auch dann noch nicht unbedingt notwendig, daß
sie erfolgt. Unter Umständen (so z. B. bei bald zu erwartendem
Ableben oder baldiger Besserung) wird sie sich erübrigen.
Fehlen solche Gesichtspunkte, die es dem Sachverständigen
angezeigt erscheinen lassen könnten, von der Durchführung des
Entmündigungsverfahrens abzuraten, dann bleibt die Schlu߬
frage zu erörtern: Ist der Zustand des X. ein solcher,
daß er unter Aufsicht eines Vormundes imstande
wäre, an der Besorgung seiner Angelegenheiten
mitzu wirken, oder macht ihn die geistige Stö¬
rung vollständig unfähig, seine Angelegenheiten
zu besorgen?
Trifft Ersteres zu, so ist der Fall der Geistesschwäche
gegeben, kommt es nicht in Betracht, dann liegt Geisteskrank¬
heit vor.
Ist das Gutachten bis zu diesem Punkte gediehen, dann hat
der Schlußsatz zu lauten;
’) Siehe Z.P.O. von Sydow-Busch 1913; Quttentag S. 708, Anm. 1 zu
§ 645.
29
452
Die Entmündigung.
Ich fasse meine Ausführungen dahin zusammen, daß der
p. X. geisteskrank im Sinne des § 6 Abs. i B.G.B. ist').
In Übereinstimmung mit E. Schnitze-) möchte ich nochmals
ausdrücklich betonen, daß die hier angegebene Reihenfolge der
Fragen die einzig konsequente und logische ist. Der Sach¬
verständige vermeide es, die .Ausdrücke Geisteskrankheit und
Geistesschwäche im Entmündigungsgutachten anders zu ge¬
brauchen, als im Sinne des Gesetzes. Durch derartige Ungenauig¬
keiten kann der Zweck des ganzen Verfahrens erheblich beein¬
trächtigt werden. —
Es ist oben an verschiedenen Stellen auf die Bedeutung
der Vorgeschichte hingewiesen worden. Auch hier muß
es von neuem geschehen. Es ist selbstverständlich, daß eine
geistige Störung nicht allein auf das Wohlbefinden, sondern auch
auf die Lebensführung eines Kranken von Einfluß ist. Der Sach¬
verständige wird deshalb, besonders bei angeborenen Störungen,
durch sorgfältige Erhebung der Vorgeschichte sehr viel brauch¬
bares Material gewinnen. Er wird unter Umständen dadurch klar
beweisen können, wie die Geistesstörung des Kranken sich schon
seit vielen Jahren im Llmgang mit Angehörigen und Freunden
bemerkbar machte, den Patienten zu unzweckmäßigen Hand¬
lungen bewog, ihn zu häufigem Stellenwechsel veranlaßte usw.
Bei manchem Imbezillen wird es möglich sein, schon allein aus
der Vorgeschichte das wichtigste Material zur Begründung einer
Entmündigung zu entnehmen.
Aber auch bei den erworbenen Störungen ist die Vor¬
geschichte insofern von Bedeutung, als bei Psychosen, die dem
Laien weniger deutlich erkennbar sind, gerade der Unterschied
im sozialen Handeln in gesunden und kranken Tagen zeigen kann,
daß in dem vorliegenden Fall die Entmündigung nicht über¬
flüssig ist. Besonders bei Zirkulären kann dieses Moment von
hervorragender Bedeutung sein.
Ferner kommt es in Betracht bei beginnender Paralyse, ge¬
legentlich auch bei der Dementia praecox.
') Beziiclich der FraKC, ob der Sachverständige sich überhaupt über
das Vorliegen von Geisteskrankheit oder Geistesschwäche aussprechen
soll, verweise ich auf den strafrechtlichen Teil. Ich halte das für selbst¬
verständlich.
-) Itn Handbuch.
Das Entniündigungsgutachten.
453
Am leichtesten ist die Beweisführung für den Sachverstän¬
digen dann, wenn es sich entweder um katatonische Stuix)ren,
hochgradig verblödete Paralytiker, zerfahrene Paranoide und ähn¬
liche Fälle handelt. Das Ausbleiben oder die Mangelhaftigkeit
der Antworten im Entmündigungstermin überzeugen den Richter
rasch von dem Vorhandensein einer schweren geistigen Er¬
krankung.
Die meisten Schwierigkeiten bereiten beginnende Fälle von
progressiver Paralyse und Altersdcincnz, ferner die leichteren
Schwachsinnsformen, die Degenerierten, leichte Fälle zirkulären
Irreseins, manche chronische Paranoiker und Querulanten.
Diese Tatsache ist um so wichtiger, als die meisten der ge¬
nannten Kranken gerade besonderen Schutzes bedürftig sind. Sie
sind es, die sj^ch in allerlei gewagte geschäftliche Spekulationen
einlassen. An sic drängen sich auch gewisse Sorten dunkler
Ehrenmänner und Kokotten besonders gern heran. Sie sind Ein¬
flüsterungen Anderer leichter zugänglich, als Gesunde, mangels
genügender Überlegung merken die meisten von ihnen nicht, daß
sie betrogen werden. Infolge ihrer veränderten Stellung zur
Außenwelt sind sie in der Anwendung ihrer Mittel vielfach wenig
wählerisch. Wahnideen treiben sie, Menschen zu schädigen, die
ihnen gar nichts getan haben. Sie erscheinen nicht anstalts¬
pflegebedürftig, man kann dem Eaien nicht einmal klarmachen,
daß es sich um ausgesi)rochene Geistesstörungen handelt.
Denn bei den Schwachsinnigen, Degenerierten, Paranoikern
und Querulanten findet man häufig neben großer Sicherheit des
Auftretens, auch noch eine gewisse formale Gewandtheit, welche
beträchtliche Defekte des Urteils verdecken kann.
Bei der progressiven Paralyse und Altcrsdemenz zeigt sich
die Intclligcnzschwäche zu Beginn des Leidens auch nicht immer
gleich in so großer Deutlichkeit, daß sie dem Lhigcübtcn erkenn¬
bar wäre.
Es brauclit wohl kaum betont zu werden, daß der Sachver¬
ständige im Entmündigungsverfahren bei der überaus großen Be¬
deutung, die sein b’rteil für die Entscheidung des Richters hat,
sein Gutachten mit peinlichster Gewissenhaftigkeit erstatten muß.
Der geringste Verstoß gegen diese Pflicht macht ihn schadens¬
ersatzpflichtig. Über die Haftpflicht eines Arztes, der fahrlässig
jemand für geisteskrank erklärt hat (§ 826 B.G.B.) spricht sich
454
Die Entmündigung.
ein Urteil des R.G. 25. 11 . 09 (Zeitschr. f. Med.-Beamte 1910,
Nr. 6) folgendermaßen aus:
Kläger nimmt den Verklagten (seinen Hausarzt) wegen des Schadens
in Anspruch, der ihm durch den Versuch seiner Frau und deren Ver¬
wandter, ihn als geisteskrank entmündigen zu lassen, entstanden ist.
Er behauptet, daß der Verklagte wußte, daß zwischen ihm und der Ehe¬
frau, die versucht habe, ihren Ehemann, den Kläger, wegen Geisteskrank¬
heit zu entmündigen, Familienzwistigkeiten bestanden.
Die Annahme des Berufungsgerichts, daß, wenn der Verklagte die
behauptete Äußerung getan habe, hierin höchstens ein grob fahrlässiges
Verhalten zu erblicken sei, steht mit der eigenen Auffassung und dem
Vorbringen des Verklagten in Widerspruch. Außerdem wird § 826 B.Q.B.
durch die Annahme verletzt, daß das Gesetz nicht anwendbar sei, wenn
die Äußerung nur grob fahrlässig wider die Wahrheit verstoßen habe.
Das Gesetz erfordert vorsätzliche Schadenszufügung in einer gegen die
guten Sitten verstoßenden Weise. Was die guten Sitten erheischen, ist
aus dem herrschenden Volksbewußtsein, dem Anstandsgefühl aller billig
und gerecht Denkenden unter Berücksichtigung der Eigenart des Einzel¬
falles zu entnehmen. Daher kann ein solcher Verstoß nicht schon deshalb
verneint werden, weil die Handlung selbst keine arglistige, der Handelnde
der Sittenwidrigkeit seiner Handlungsweise sich nicht bewußt sei. Auch
die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt kann in
besonders gearteten Füllen einen Verstoß gegen die guten Sitten ent¬
halten, und auch hierbei kann sich der Handelnde ebenso gut der Mög¬
lichkeit des Eintritts einer Vermögensbeschädigung bewußt sein, wie in
dem Falle arglistigen Handelns; damit ist die Anwendbarkeit des § 826
B.G.B. gegeben. Die hier vorliegenden Umstände müssen die behauptete
Äußerung als einen Verstoß gegen die guten Sitten erscheinen lassen.
Ein Arzt, der über den Geisteszustand eines Anderen befragt wird, muß
sich der schw'eren Verantwortung bewußt sein, die er übernimmt, wxnn
er ihn für geisteskrank und seine Entmündigung für erforderlich erklärt.
Gibt er sein Gutachten ohne genügende Unterlagen ab, dann liegt in
diesem fahrlässigen Verhalten zugleich ein Verstoß gegen die guten
Sitten. Kläger behauptet, daß der Beklagte ihn nie auf seinen Geistes¬
zustand untersucht habe und nicht imstande sei, auch nur die nach
seiner Behauptung wirklich getane Äußerung zu begründen. Wenn der
Beklagte aber wußte, daß seine Äußerung gegen den Kläger von seiner
Flau und deren Verwandten ausgenutzt werden würde, so mußte er sein
Urteil mit peinlicher Gewissenhaftigkeit abgeben.
Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1910, S. 110; Das Recht 1910, Nr. 70;
Ärzti. Vereinsblatt 1911, Nr. 752; Deutsche Jur.-Zeitg. 1910.
Wiederaufhebung der Entmündigung.
455
Wiederaufhebung der Entmündigung')*
§ 6 Abs. 2 B.G.B. D i e E n t m ü n d i g u n g ist wieder
aufzuheben, wenn der Grund der Entniündigiing
w e g f ä 111.
Wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, sind bei
der Entmündigung eines Menschen zwei Dinge zu berücksich¬
tigen, erstens der Geisteszustand des Kranken und zweitens seine
äußeren Verhältnisse. Jedes dieser beiden Momente kann an sich
auch Veranlassung zur Aufhebung der Entmündigung geben. Der
Begriff „Angelegenheiten“ kann sich so vereinfachen, daß trotz
des Bestehens gewisser geistiger Mängel der Patient eines Tages
imstande ist, seine Angelegenheiten zu besorgen, oder aber es
kann eine so weitgehende Besserung seines Zustarldes eintreten,
daß er seine Angelegenheiten auch dann, wenn sie verhältnis¬
mäßig umfangreich sind, wieder zu besorgen vermag. —
Sobald dies zutrifft, „ist“ die Entmündigung wieder auf¬
zuheben. Die Staatsanwaltschaft hat nach der Min.-Verf. vom
28. Nov. 1899 darauf zu achten, daß dann die Wiederaufhebimg
betrieben wird.
Was das Gesetz unter „Wegfallen“ versteht, geht aus fol¬
gender Entscheidung hervor:
Wenn der § 6 B.Q.B. von einem „Wegfallen“ des Entmündigungs¬
grundes spricht, so ist damit ein „Nichtvorliegen“ gemeint. Daher
ist der Richter nicht gehindert, das frühere Verhalten des Entmün¬
digten anders zu würdigen, als dies in dem Entmündigungsbeschlüsse
geschehen ist. Gelangt der Richter bei Würdigung des Sachverhalts
zu dem Ergebnisse, daß die Voraussetzungen der Entmündigung nie¬
mals (ungeachtet des rechtskräftigen Entmündigungsbeschlusses) Vor¬
lagen, so ist die Entmündigung ebensowenig aufrecht zu erhalten, wie
in dem Falle, wenn die Voraussetzungen der Entmündigung zwar zur
Zeit des Entmündigungsbeschlusses gegeben waren, aber hinterher
infolge veränderter Umstände, etwa infolge eingetretener Besserung
im Vergleiche zu dem früheren Verhalten, weggefallen sind. Wäre der
mit der Entscheidung über die Wiederaufnahme befaßte Richter darauf
beschränkt, nur Tatsachen seit dem Entmündigungsbeschlüsse zu be¬
rücksichtigen, so wäre unter Umständen die rechtliche Möglichkeit
ausgeschlossen, eine unter unzutreffender Würdigung des Sachver-
Literatur: Daude, Entmündigungsverfahren. Berlin. Müller. Pel-
man, Irrenfreund. Becker, Zeitschr. f. Med.-Beamte 1905. Bresler,
Psych. Wochenschr., Bd. 3. Mittenzweig, Zeitschr. f. Med.-Beamte 188.5.
Schlager, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 33. Schott, Friedreichs Bl. f. ger.
Med. 1904; 05.
456 Die Entmündigung.
Iialts ausgesprocliene Entmündigung im Wiederaufhebungsverfahrcn
zu beseitigen. Daß eine derartige Folge der gesetzgeberischen Ab¬
sicht zuwidcrläuft, bedarf nach dem Gesagten weiter keiner Ausfüh¬
rung. Vcrgl. das Urt. d. R.ü. v. 20. 5. 01 in Jur. W ochenschr. 1901, *175.
(Frankfurt, 24. 2. 08.) Jur. Wochenschr. 1908, S. 234.
Nfx'h ausführlicher sind die rechtlichen Verhältnisse in einer
Entscheidung vom 20. Mai 1901 wiedergegeben:
Mit Recht maclit hiergegen die Revision geltend, daß zur Be¬
gründung der auf Wiederaufhebung der Entmündigung gerichteten
Klage nur gehört, daß nach der jetzigen Sachlage die Voraussetzungen
der Entmündigung nicht vorliegen, nicht aber, daß auch eine Besse¬
rung des Entmündigten eingetreten ist. Liegen nach der jetzigen
Sachlage die Voraussetzungen der Entmündigung nicht vor, so ist der
Grund der Entmündigung weggefallen und deshalb die Entmündigung
aufzuhebeti. ^ Das Erfordernis einer „Besserung“ als Voraussetzung
der W iederauihebung der Entmündigung bedingt die Heranziehung
des früheren Zustandes zur Vergleichung mit dem jetzigen Zustatide
als entscheidenden Maßstab auch für die Wiederaufhebung der Ent¬
mündigung; damit wird aber dem früheren Zustande eine Tragweite
bcigelegt, die er nicht haben kann und auch nicht haben darf. Denn
bei der W'iedcraufhebung kommt ausschließlich der gegenwärtige Zu¬
stand in Frage; ist danach der Entmündigte frei von dem Mangel, auf
dem seine Entmündigung beruht, der wegen Verschwendung Entmün¬
digte also insbesondere mit dem Hange zu sinnloser Vermögensver¬
geudung nicht behaftet, so besteht kein Grund für die Aufrechterhal-
tung der Entmündigung und ist diese aufzuheben, ohne daß zu prüfen
ist. ob eine „Besserung“ im Vergleich zu dem früheren Zustande ein¬
getreten ist. Es ist nicht nur kein Grund ersichtlich, weshalb gegen¬
über dem Nachweise, daß der Entmündigte jetzt mit dem für seine
Entmündigung erforderlichen Mangel nicht behaftet ist, die Wieder¬
aufhebung noch von dem Nachweise einer Besserung im Verhältnis
zu dem früheren Zustande abhängig gemacht werden sollte; es steht
ein solches Verlangen auch geradezu mit dem Gesetze in W iderspruch,
nach welchem die Entmündigung bei dem Wegfälle ihres Grundes
ohne weiteres atifzuhebeit ist. Mit liecht weist die Revision auf die
mit dem Verlangen einer „Besserung“ als Voraussetzung der Wieder-
anfhebung der Entmündigung verbundetie unannehmbare Folge hin,
daß danach ein infolge unzutreffender Würdigung des früheren Zu¬
standes unzutrefiend für geisteskrank oder für einen Verschwender
erklärter Entmündigter, der in Wirklichkeit gar nicht geisteskrank
oder gar kein Verschwender war, die Wiederaufhcbting der Entmün¬
digung niemals würde erreichen können, da seiner Klage stets der
Einwand entgegenstände, daß er so gesund, so haushälterisch, wie
jetzt, schon zur Zeit der Entmündigung gewiesen, also eine Änderung
zum Besseren nicht eingctreten sei. Jur. Wochenschr. 1901, S. 476.
Zu prüfen ist also, ob die Voraitssetzungeti der Entnuindigung
zur Zeit des Antrages auf WTederaufbebung noch bestehen.
Wiederaufhebung der Entmündigung.
457
Wie oft die Änderung der äußeren Verhältnisse zu einer
Entmündigung führt, entzielit sich meiner Kenntnis. Häufiger
wird es wohl Vorkommen, daß eine günstige Wendung in dem
Zustande des Kranken die Frage der Wiederaufhebung der Ent¬
mündigung rechtfertigt.
Es muß dabei wieder besonders betont werden, daß nicht
etwa nur bei genesenen Kranken der Antrag gestellt werden darf,
sondern es können auch gebesserte Kranke in Frage kommen.
Denn ebenso wie bei der Entmündigung sind auch bei Aufhebung
derselben nicht die klinische Geistesstörung als solche, sondern
ihre rechtlichen Folgen zu beachten.
W ichtig ist noch zweierlei. Die Entmündigung muß nach
dem Wortlaute des Gesetzes aufgehoben werden, sobald die Vor¬
aussetzungen dafür fortfallen (vergl. auch Minist.-Verf. vom
28. Nov. 1899)'. Maßgebend für die Beurteilung des Falles ist
nur der Zustand zur Zeit der Einreichung des Antrages.
(R.G.E. V. 20. 5. 01). Die Mitwirkung bei der W^iederaufhebung
einer Entmündigung wird zu den schwierigsten Aufgaben ge¬
hören, welche dem ärztlichen Sachverständigen erwachsen.
Eine wirklich sachgemäße Beurteilung eines solchen F'alles
ist nur möglich, wen der Arzt sämtliche Vorgänge kennt, welche
zur Entmündigung des Kranken geführt haben (und zw’ar nicht
nur von ihm selbst, sondern aus den Gerichtsakten), ferner wenn er
sich durch gründliche Beobachtung des Kranken und sorgfältige
Durchforschung des Lebensganges des Entmündigten vom Zeit¬
punkt der Entmündigung ab die Gewißheit verschafft hat, daß
in der Tat die Voraussetzungen für das Fortbestehen der Ent¬
mündigung fortgefallen sind.
Daß derartige Ermittelungen nur in den seltensten Fällen in
einer oder mahreren Sprechstundenuntersuchungen angestellt
werden können, ergibt sich von selbst. Daraus folgt aber für
den Arzt, daß es zu derartigen Zwecken Atteste, die lediglich
auf Grund von Beobachtungen in der Sprechstunde zustande
kommen können, überhaupt nicht geben sollte, da sie auf ein¬
seitiger Information und unzulängliclKy Beobachtung beruhen.
E. Schnitze hat Recht, wenn er behauptet, daß in dieser Beziehung
viele Mißständc bestehen. Auch uns sind hier Fälle begegnet, in
denen Angehörige der besseren Stände, die zweifellos chronisch
geistesgestört waren (z. B. ein Fall von chronischer Paranoia),
bis zu sechs Attesten aufweisen konnten, in denen ihre voll-
458 Die Entmündigung.
ständige Geschäftsfähigkeit bescheinigt war, und zwar handelte
es sich bei den ausstellenden Ärzten nicht etwa um Praktiker,
denen besondere Erfahrung in der psychiatrischen Begutachtung
mangelte, sondern in einem Falle waren unter den Ausstellern
sogar engere Fachgenossen zu finden.
Für besonders ratsam halte ich es auch und habe mir das
selbst zum Prinzip gemacht, derartige Atteste nur an das zu¬
ständige Gericht gehen zu lassen. Oder ich sage dem Patienten,
daß eine Untersuchung und Beobachtung stattfinden könne. Die
Erstattung des Gutachtens müsse aber von einem Ersuchen des
zuständigen Gerichtes abhängig gemacht werden. Wenn man
nach diesem Prinzip verfährt, wird man vor Überraschungen im
allgemeinen gesichert sein.
Hält man sich auf Grund eingehender Untersuchungen und
Ermittelungen für berechtigt, die Aufhebung der. Entmündigung
zu empfehlen, so tue man das nie in einem nur wenige Sätze um¬
fassenden Atteste, sondern füge seinen Ausführungen, wenn auch
nur ganz kurz, die wichtigsten Gründe hinzu, auf die man sich da¬
bei stützt'). Kranke, die wegen einer Geistesstörung entmündigt
worden waren, sollten im allgemeinen nicht wieder bemündigt
werden, bevor sie nicht innerhalb der durch das Gesetz gesteckten
*) Man vermeide es grundsätzlich, das Wort Geisteskrankheit zu
gebrauchen. Als Schema für ein kürzeres Attest empfehle ich folgendes:
Zwecks Stellung eines Antrages auf Wiederaufhebung der Entmündigung
wird dem (folgen die Personalien) nachstehendes ärztlich bescheinigt:
Herr X. ist von mir in der Zeit vom .... bis .... beobachtet
worden. Außer dem Ergebnis meiner Untersuchungen standen mir die
Akten des Rechtsanwaltes Herrn .... zur Verfügung. Aus den letzteren
ergibt sich, daß Herr X. am ... . von dem Königl. Amtsgericht zu ... .
wegen üeistesschw'äche entmündigt worden ist. Die in dem damaligen
von dem Sachverständigen eingeholten Gutachten gestellte Diagnose
lautete auf ... .
Die wesentlichsten Symptome waren damals folgende .... Die
jetzige Beobachtung hat nun ergeben (es folgt Aufzählung der wichtig¬
sten Symptome).
Ein Vergleich des jetzigen mit dem früheren Zustande ergibt, daß
eine wesentliche Besserung« inzwischen eingetreten ist. Diese Besserung
hat sich auch auf sozialem Gebiete bemerkbar gemacht; nach den mir
gemachten Angaben der Ehefrau (es folgen event. noch weitere ver-
noininene Angehörige und Zeugen) ist der p. X. mit den ihm zur Ver¬
fügung gestellten Barmitteln regelmäßig ausgekommen, hat keine Schul¬
den gemacht. Er hat mehrfach versucht, durch Übernahme von be¬
stimmten Arbeiten selbständig Geld zu verdienen.
Wiederaufhebung der Entmündigung.
459
Grenzen bewiesen oder wenigstens wahrscheinlich gemacht haben,
daß sie auch ohne einen ^’^onnund zurecht kommen werden.
Hat die Entmündigung auf Geisteskrankheit gelautet, so sei
man mit der sofortigen Bemündigung doppelt vorsichtig.
Unter Umständen rate man, die Entmündigung wegen
Geisteskrankheit zunächst in eine solche wegen Geistesschwäche
umzuwandeln und gebe dann dem Kranken Gelegenheit, sich
wieder unter Aufsicht eines Vormundes zu betätigen. (Prol>e-
weise Anstaltsentlassung! Bresler.) Wenn er sich dabei bewährt,
kann auch die Wiederaufhebung der Entmündigung wegen
Geistesschwäche in Frage kommen.
Wie ich schon oben ausführte, wird man auf diese Weise
unter Umständen auf manche Psychopathen und mäßig Schwach¬
sinnige geradezu erzieherisch einwirken können.
Am einfachsten wird die Beurteilung derjenigen Psychosen
sein, die heilbar sind. In erster Linie kommt das manisch-
depressive Irresein in Betracht. Schwieriger sind die Fälle, in
denen es sich um angeborene Krankheitszustände handelt (Im¬
bezillität, Degeneration, Plysterie).
Wir haben hier Kranke dieser Art gesehen, deren Entmün¬
digung vor Erreichung des 21. Lebensjahres beantragt worden
war, nachdem der Patient durch sein ganzes Verhalten bewiesen
hatte, daß er nicht imstande war, seine Angelegenheiten zu be¬
sorgen.
Die Berufsfrage hatte Schwierigkeiten gemacht, es waren
mehrmals größere Schulden der Patienten bezahlt worden, die
Kranken waren auch gewerbsmäßigen Wucherern in die Plände
gefallen usw.
Durch eine günstige Eheschließung und durch andere Um¬
stände begünstigt, trat nach Ablauf der Pubertätszeit
eine soziale Besserung der Patienten ein. Die psychopathische
Veranlagung war selbstredend nicht geschwunden, die Kranken
waren aber zweifellos ruhiger geworden und hatten z. T. durch
mehrjährige einwandfreie Führung bewiesen, daß sie ihre An¬
gelegenheiten besorgen konnten.
.Aus alledem fulgt, daß der klinischen Besserung auch eine auf
sozialem Uebietc entspricht, daß der Patient somit bewiesen hat, daß
er zur Besorgung seiner Angelegenheit wieder fähig ist.
Vom ärztlichen Standpunkte aus ist unter diesen Umständen der
Antrag zur Aufhebung der Entmündigung zu unterstützen.
460 Die CntmUndigune.
Bei den clironisclien Psychosen wird in den seltensten Fällen
ein Grund zur \\ iederbeinündigung vorliegen. Handelt es sich
z. B. um einen Fall von Dementia praecox, der im Anfang der
Erkrankung schwere psychische Storungen darbot und deshalb
entmündigt wurde, bei dem.aber nach längerer Anstaltsbehandlung
schließlich Beruhigung eintrat und als einziges wesentliches
Symptom nur die gemütliche Verblödung zurückblieb, so wird
man im Hinblick auf die letztere ganz besonders sorgfältig
piüfen müssen, ob es nicht zweckmäßiger ist, die Entmündigung
bestehen zu lassen. Gerade wenn man bedenkt, daß das Gemüts¬
leben auch auf unser Handeln von weitgehendstem Einfluß ist,
wird man die Stellung und die sozialen Verpflichtungen gegen
sich selbst, gegen seine F'amilie und gegen die Üffentlichkeit,
welche für den Patienten bestehen, kritisch zu mustern haben,
ehe man sich für die Wiederaufhebung der Entmündigung aus¬
spricht. Auch die Möglichkeit des Wiederauftretcns schwererer
Störungen darf dabei nicht übersehen werden.
Bei allen Zuständen, in denen Wahnideen und Sinnes¬
täuschungen eine große Rolle spielen, bleibt ferner zu berück¬
sichtigen, daß die Kranken unter besonderen Umständen, und ein
solcher ist zweifellos die Hoffnung auf Wiederbemündigung,
durchaus in der Lage sind, monatelang und noch länger mil ihren
krankhaften \'orstellungen so zurückzuhalten, daß es nur bei
längerer sorgfältiger Beobachtung gelingt, noch Krankheits¬
zeichen an ihnen zu entdecken.
Ungewöhnliche Schwierigkeiten bereiten mitunter auch die
Querulanten. Ich habe Fälle gesehen, die nach mehrjährigem sehr
intensivem Querulieren gleichfalls unter dem Einfluß einer be¬
stimmten Vorstellung, z. B. um die drohende Dienstentlassung zu
vermeiden usw., sowohl mit ihren Beziehungsvorstellungen sehr
zurückhielten, als auch mit dem Querulieren aufhörten, ohne daß
sic deshalb als geheilt zu betrachten gewesen wäien. Es ließ sich
vielmehr regelmäßig nachweisen, daß sie im geheimen an ihren
alten Vorstellungen durchaus fcsthielten; nur betätigten sie die¬
selben seit einiger Zeit nicht. In solchen Fällen würde ich mich
für Aufhebung der Entmündigung kaum jemals aussprechen. Es
müßten zum mindesten einige Jahre fies Wohlverhaltens ver¬
gangen sein, che ich mich dazu entschließen könnte.
Bei denjenigen chronischen P,sychosen, bei denen auch länger
tlauernde Remissionen möglich sind — ich denke in erster Linie
Wiederaufhebung der Entmündigung. 461
an die Paraljse — wird man im allgemeinen besser von der
Wiederhemündigung abseben. Wenn auch durcli die Unter-
suebungen von Tuczeck, Krell, Friedrich Schnitze^) und Andere
vereinzelte Fälle bekannt geworden sind, in denen eine einmal
ausgebrochenc Paralyse es dem Erkrankten gestattete, in seinen
Beruf zurückzukehren, und denselben mehrere Jahre lang aus¬
zuüben, so handelt es sich dabei doch um so seltene Ausnahme¬
fälle, daß man mit ihnen praktisch nicht zu rechnen braucht. Im
allgemeinen sind die Remissionen bei der Paralyse doch nur von
so kurzer Dauer und der Zustand der in der Remission Befind¬
lichen unterliegt außerdem noch gewissen Schwankungen, .so daß
es schon aus diesem Grunde allein vorsichtiger ist, den Kranken
entmündigt zu lassen.
Auf drei Punkte ist noch kurz einzugehen'
Wie schon oben angedeutet wurde, dürfen Störungen
des Gefühlslebens, insbesondere eine Abstumpfung der
Gefühle, nicht unterschätzt werden. Wo sie bestehen, da ist auch
das Handeln des Kranken verändert. Das braucht sich nicht
immer in ganz grober Weise zu zeigen, es tritt namentlich dann
wenig hervor, wenn der Patient aus dem Rechtsleben ganz oder
teilweise ausgeschaltet ist. Sobald aber ein großer Kreis von
.Angelegenheiten selbständig besorgt werden muß, zeigt sich auch
wieder, wie sehr die Krankheit die korrekte I'.rledigung derselben
hindert. —
Von verschiedenen Autoren (Heilbronner-), E. Scbultze“),
Arndt*) ist ferner auf das S>unptom der Krankheitsein¬
sicht besonders hingewiesen worden.
Zunächst bleibt zu bedenken, daß die Krankheitseinsicht vor-
gctäuscht sein kann; weiterhin ist ein Mensch, der sie wirklich
hat, deshalb noch nicht ohne weiteres gesund und drittens braucht
der, der sie nicht hat, deshalb noch nicht entniündigungsreif zu
sein. Es ist daher sehr wohl denkbar, daß ein chronischer
') Krell, In.-Di.ss. Bonn 19118. Fr. Scliultze, Vers. d. siidwestd. Irren¬
ärzte 191.^. Tuczeck, Neurol, Zentralbl. 1888. Alzheimer, Die allRem.
progr. Paralyse. 1906. A. Westphal, Beiträge zur Diff.-Diagnose usw.
Med. Klinik 1909 u. 1910.
-) Münch. Med Wbchenschr. 190,3.
Im Handbuch S. 295.
*) (icisteskrank. Unzurechnungsfähig. Kutmündigt. Greifswald 1897.
Abel. S. 71/72.
402
Die Entmündigung.
Paranoiker, der entmündigt wurde, spcätcr, trotz fehlender Krank¬
heitseinsicht, wieder bemündigt werden kann.
Bei Wahnvorstellungen kommt noch eine weitere Möglich¬
keit in Betracht. Es gibt Fälle, in denen sich der Wahn nicht
vollständig zurückbildet, wo vielmehr Wahnreste (Res i dual-
wahn) noch längere Zeit nach dem Abklingen der übrigen
Symptome fortbestehen können. Bei Alkoholdelirantcn scheint
das z. B. ziemlich oft vorzukommen (Stertz) '). Auch bei chro¬
nischen Geistestörungen wird es gelegentlich beobachtet, nament¬
lich aber bei Haftpsychosen (s. u.). Ein solcher Kranker ist im
klinischen Sinne nicht ausgeheilt. Trotzdem kann aber u. Ib
seine Bemündigung wieder erfolgen, sofern eine Einwirkung
dieser Wahnreste auf das Handeln mit einiger Siclierhcit aus¬
geschlossen werden kann. —
Nach unseren Erfahrungen ist es im allgemeinen nicht so
sehr die Beurteilung der chronischen Psychosen, welche Schwierig¬
keiten bei der Wiederbemündigung macht, als vielmehr derjenigen
Fälle, bei denen man schon zur Zeit der Entmündigung im Zweifel
sein konnte, ob diese Maßnahme überhaupt angebracht war. ln
erster Linie kommen in Frage die Schwachsinnigen, die Psycho¬
pathen und Hysterischen. Ihre soziale Brauchbarkeit ist ebenso¬
sehr abhängig von dem Milieu, in dem sie leben, wie von ihrem
psychischen Zustande. —
Das Verfahren bei Wiederaufhebung der Entmündigung
regelt sich nach folgenden Bestimmungen;
§ 675. Die W i e d e r a u f h e b u n g der Entmün¬
digung erfolgt auf Antrag des Entmündigten
oder desjenigen gesetzlichen Vertreters des
Entmündigten, welchem die Sorge für die
Person zusteht, oder des Staatsanwalts durch
Beschluß des Amtsgerichts.
Die Wiederaufhebung erfolgt auf Antrag. Derselbe kann
vom Entmündigten, dessen mit der Sorge für die Person Ire-
trauten gesetzlichen Vertreter und dem Staatsanwalt gestellt
werden. Die übrigen im § 646 Z.P.O. genannten Personen sind
nicht antragsberechtigt.
§ 676. Für die Wiederaufhebung der Ent¬
mündigung ist das Amtsgericht ausschließlich
’) Allg. Zeitsclir. f. Psycli. 1910.
Wiederaufhebung der Entmündigung. 463
zuständig, Ij e i welchem der Entmündigte seinen
allgemeinen Gerichtsstand hat. .
Ist der Entmündigte ein Deutscher, und hat
er im In lande keinen allgemeinen Gerichts¬
stand, so kann der Antrag bei dem Amtsgerichte
gestellt werden, welches über die Entmün¬
digung entschieden hat. Das Gleiche gilt, wenn
ein Ausländer, welcher im Inland entmündigt
worden ist, im in lande keinen allgemeinen
Gerichtsstand hat.
Die Bestimmungen des § 647 und der § § 649
bis 655 f i n d c n entsprechende Anwendung.
Was die persönliche Vernehmung anlangt, so glaube ich be¬
sonders davor warnen zu müssen, sie allein als Maßstab für die
Beurteilung zweifelhafter Fälle zu nehmen. Ebensooft, wie sie
bei den Grenzzuständen fast ergebnislos verläuft, kann sie auch
den Exploranden kränker erscheinen lassen, als es in Wirklichkeit
ist. Man darf nie vergessen, daß der Termin nur ein Augen¬
blicksbild liefert.
Die Heranziehung aller sonst vorhandenen Beweismittel ist
deshalb unbedingt erforderlich.
Die Vernehmung des Entmündigten muß gleichfalls unter
Ausschluß der Öffentlichkeit erfolgen. Ein Sachverständiger ist
zuzuziehen, der oder die Sachverständigen müssen auch gehört
werden, d. h. sich gutachtlich äußern.
§ 677. Die Kosten des Verfahrens sind von
dem Entmündigten, wenn das Verfahren von
dem Staatsanwalt ohne Erfolg beantragt ist,
von der Staatskasse zu tragen.
§ 678. Der ü 1 ) e r die W i e d c r a u f h e b u n g der
Entmündiguiig zu erlassende Beschluß ist dem
.Antragsteller und im Falle der Wiederaufhe¬
bung dem Entmündigten sowie dem Staats-
an walte von Amts wegen zuzustellen.
Gegen den Beschluß, durch welchen die Ent-
mündigung aufgehoben wird, steht dem Staats-
an walte die sofortige Beschwerde zu.
Die rechtskräftig erfolgte Wiederaufhe¬
bung ist der Vormundschaftsbehörde mitzu-
teilen.
464
Die Entmündiguns:.
Gegen den Beschluß, der die VViedcraufliebnng einer Ent¬
mündigung ablehnt, findet einfache Beschwerde (§ 567) statt.
(O.L.G. Jena; Seuff. Arch. 46, 148.) Wird der Antrag aus
sachlichen Gründen abgelehnt, findet keine Beschwerde statt.
Gegen die W i e d e r a u f he bu n g der Entmündigung hat nur
der Staatsanwalt das Recht der sofortigen Beschwerde und zwar
auch dann, wenn er die Wiederaufhebung selbst beantragt hatte.
Durch die Wiederaufhebung werden die Wirkungen des Ent¬
mündigungsbeschlusses und des rechtskräftigen Urteils, durch
welches dieser Beschltiß im Anfechtungsverfahren bestätigt
worden ist, für die Zukunft beseitigt und zwar von dem
Moment ab, wo der Beschluß auf Wiederaufhebung rechtskräftig
geworden ist.
§ 679. W i r d der Antrag auf W i e d c 1 a u f -
hebung von dem Amtsgericht abgelehnt, so
kann dieselbe im Wege der K1 a sr e beantragt
werden.
Zur Erhebung der Klage ist derjenige ge¬
setzliche Vertreter des Entmündigten, wel¬
chem die Sorge für die Person zu steht, und der
Staatsanwalt befugt.
Will der gesetzliche Vertreter die Klage
nicht erheben, so kann der Vorsitzende des
P r o z e ß g e r i c h t s dem Entmündigter einen Rechts-
a n w a 11 als Vertreter beiordnen.
Auf das Verfahren finden die Vorschriften
der § § 6(15—667, 669—674 entsprechende .\ n w e n -
düng.
Die Klaffe ist an eine bestimmte Frist niclit ffebtinden. Der Ent-
miindiffte hat in diesem Falle kein Klagerecht. Er kann daher auch
einen Anwalt nicht rechtsffiiltig bevollmächtiffen.
Entmündigung wegen Trunksucht.
§ 6 Ziff. 3 B.G.B. Entmündigt kann werden:
wer infolge von Trunksucht seine Angelegen¬
heiten nicht zu besorgen vermag oder sich oder
seine Familie der Gefahr des Notstandes aus¬
setzt, oder die Sicherheit anderer gefährdet.
Das Reichsgericht (27. 10. 02) versteht unter einem Trunk¬
süchtigen einen Menschen, dessen ,,ITang zum übermäßigen
EntmiindiKung wegen Trunksucht.
4^>5
Trinken in dem Grade ein krankhafter geworden, daß er die Kraft
verloren hat, dem Anreiz zu übermäßigem Genuß geistiger Ge¬
tränke zu widerstehen’*. (Jur. Wochenschr. 1902, 280 B.)
In dieser Definition ist der Schwerpunkt auf die krank¬
hafte VS'iderstandslosigkeit zu legen. Es kommt nicht darauf
an, ob der Betreffende ein oder mehrere Male oder häufig be¬
trunken ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob bei dem
Kranken eine alkoholische Geisteskrankheit ausgebrochen ist oder
ob die Alkoholexzesse sich nur in bestimmten Zeitabschnitten
wiederholen (Dipsomanie), sondern lediglich darauf, daß eine
,,Sucht“, d. h. ein krankhafter Drang nach Alkohol besteht, der
chronisch ist (Endemann) ’).
Es ist viel darüber gestritten worden, welche Arten von Ge¬
tränken ■*) unter den Begriff der Trunksucht fallen. Über die
alkoholhaltigen kann wohl kaum ein Zweifel bestehen. Ich glaube
auch, daß man den Äther unbedenklich hierunter wird subsumieren
können und zwar deshalb, weil er erstens auch getrunken wird,
zweitens dem Alkohol chemisch nahe verwandt ist und drittens
im wesentlichen dieselben Wirkungen hat, wie der Alkohol. Einen
Äthertrinker zu entmündigen, wird schon deshalb nicht schwierig
sein, weil derartige Kranke neben dem Äther meist auch Alkohol
zu sich nehmen.
Dagegen glaube ich nicht, daß es berechtigt ist, den chro¬
nischen Mißbrauch der arzneilichen Gifte, insbesondere von Mor¬
phium, Kokain, Opium, Chloral, Veronal, Heroin, Kodein und
Trional unter den Begriff der Trunksucht fallen zu lassen.
*) Vergl. Verh. des 19. Deutschen Jur.-Tages, Bd. 2, S. 91, ferner
Planck, Kommentar; Staudingcr, Kommentar.
“) Trunksucht i. S. des § 6, 3 B.ü.B. „liegt nur dann vor, wenn der
Leidende die Kraft, dem Anreize zu übermüBigem Genuß geistiger Ge¬
tränke zu widerstehen, wirklich verloren hat.
.... Die Möglichkeit aber, daß für die Zurückhaltung des Klägers
die von ihm gehegte Besoignis einer Entmündigung bestimmend ge¬
wesen sei, kann nicht dazu führen, daß bei Prüfung der Frage, ob Trunk¬
sucht vorlicge, die vom Kläger an den Tag gelegte Widerstandskraft
völlig unberücksichtigt zu lassen wäre.“ (E.R.G. 12. 10. 12; Das Recht
1913, Nr. 23 und Bl. f. prakt. Trinkerfürsorge 1913, H. 3.)
’) Einführung in das Studium des B.G.B.
*) Staudinger nennt nur die alkoholhaltigen, Planck spricht von
„geistigen Getränken“. Crome führt berauschende Getränke aller Art
(z. B. Äther, Eau de Cologne) an. Beer nennt den Alkohol allein.
Hübner, Forensische Psychiatrie. 3Q
466
Die Entmündigung.
Die oben zitierten juristischen Autoren stimmen hiermit
sämtlich überein, indem sie die medikamentösen Reizmittel be¬
sonders ausnehmen. Die Hervorhebung des Umstandes, daß das
mißbräuchlich verwandte Gift „getrunken“ werden muß, reicht
zur xVbgrenzung nicht aus, denn getrunken wird auch Veronal,
Chloral usw. Es gibt sogar einzelne Morphinisten, die Morphium
nicht einspritzen, sondern trinken.
Darin, daß diese „Suchten“ *) nicht unter den Begriff Trunk¬
sucht fallen, erblicke ich keine große Lücke im Gesetz; denn ich
glaube, daß die entmündigungsreifen Morphinisten usw. soviel
weitere pathologische Züge aufweisen, daß ihre Entmündigung
W'egen Geistesschwäche nicht schwierig sein dürfte. —
Ebensowenig wie eine geistige Störung an sich genügt, die
Entmündigung zu begründen, so wenig genügt die Feststellung der
Trunksucht an sich dazu. Auch da müssen sich vielmehr erst ge¬
wisse soziale Folgen gezeigt haben, ehe die vom Gesetz vor¬
geschriebenen Bedingungen für die Entmündigung erfüllt sind.
Der § 6 Abs. 3 B.G.B. sieht deren drei vor, nämlich i. wenn
der Trinker seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag,
2. wenn er sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aus¬
setzt oder 3. wenn er die Sicherheit Anderer gefährdet*).
über die Frage, wde w'eit die erwähnten Bedingungen zur Zeit
der Einreichung des Entmündigungsantrages erfüllt sein müssen,
spricht sich eine Reichsgerichtsentscheidung folgendermaßen aus:
Der Ber.-R. stellt fest, daß Kläger zwar der in wiederkehrenden
Zeitabschnitten sich äußernden Trunksucht ergeben ist, verneint aber,
daß er infolgedessen seine Angelegenheiten nicht zu besorgen ver¬
möge, und hat, da die sonstigen Voraussetzungen des § 6 Nr. 3 B.G.B.
nicht in Betracht kommen, aus diesem Grund den Entmündigungs-
beschiuß aufgehoben. Dabei ist mit Recht angenommen, daß jenes
*) Daß die übrigen Suchten klinisch mit dem Alkoholismus nahe
verwandt sind, wird allseitig betont. Die eine löst die andere häufig
sogar ab (vergl. z. B. F. Hoppe, Deutsche Med. Wochenschr. 1905, S. 971).
*) D. h. es soll für ihn, seine Familie und die Öffentlichkeit Fürsorge
getroffen werden (Planck).
Literatur: Diehl, Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1904. Brenner, In.-Diss.
Bonn 1913. Gramer u. Endemann, Entm. wegen Trunksucht. Ref. auf d.
4. Intern. Kongr. für Alkoholismus. Wehmer, Prakt. Erf. Ärztl. Sach¬
verst.-Zeitg. 1905. Burgl, 2. Jahresv. des Bayr. Med.-Beamten-Vereins
1905. Beer, Voraussetzungen und Wirkung der E. wegen Tr. Ärztl.
Sachverst.-Zeitg. 1898, S. 501.
Entmündigung wegen Trunksucht. 467
Unvermögen schon zur Zeit der Entmündigung vorhanden sein müsse.
Das ergibt die vom Gesetze gebrauchte Präsensform („zu besorgen
vermag“), während nur bej der zweiten und dritten Alternative eine
erst für die Zukunft zu besorgende Sachlage („Gefahr des Notstandes,
Gefährdung der Sicherheit anderer“) für ausreichend erklärt wird. Ob
das Unvermögen des Klägers zur Besorgung seiner Angelegenheiten
erwiesen sei, ist im übrigen Tatfrage. Zutreffend und in Überein¬
stimmung mit der Rechtssprechung des R.G. hebt der Ber.-R. hervor,
daß es hierbei auf die Gesamtheit der Angelegenheiten und auf das
Gesamtergebnis der wirtschaftlichen Tätigkeit des Klägers ankommt.
Deshalb ist dem Umstande, daß Kläger während des Zustandes der
Trunkenheit tagelang unfähig war, einzelne Geschäfte zu besorgen,
mit Recht keine entscheidende Bedeutung beigelegt, da er im ganzen
in seiner Wirtschaft nicht nur nicht zurückgegangen, sondern sogar
vorwärts gekommen sei. Endlich ist nicht abzusehen, wie daraus das
Unvermögen des Klägers zur Besorgung seiner Angelegenheiten sich
ergeben soll, daß während seiner Trunkenheit einzelne unaufschieb-
liche Geschäfte von seiner Frau oder seinem Sohne erledigt worden
sind. (K. c. B. R.G. IV. 16. 9. 09.) Jur. Wochenschr. 1909, S. 654.
Die drei erwähnten Folgen der Trunksucht stellen gleichwertige
Alternativen dar, von denen die eine der anderen substituiert werden
darf, ohne daß dadurch der Tatbestand der Trunksucht als Grund der
Entmündigung eine Änderung erleidet. (R.G. 27. 10. 02, Nr. 197/02 IV;
Jur. Wochenschr. 1902, S. 280.)
Der Nachweis einer der angegebenen Folgen genügt zur Ent¬
mündigung (Jur. Wochenschr. 1902, S. 280).
Was zunächst die Unfähigkeit zur Besorgung der
Angelegenheiten anbetrifft, so zeigt' sich, daß der chronische
Trinker gerade diejenigen Angelegenheiten, welche als besonders
wichtig bezeichnet werden, am ehesten vernachlässigt.
Er schädigt durch das starke Trinken seine körperliche und
geistige Gesundheit, er schädigt durch häufige Betrunkenheit
seinen guten Ruf. Bekannt ist, daß chronische Trinker im Rausch
Frau und Kinder in gröbster Weise beleidigen und mißhandeln.
Daß die Kindererziehung in Trinkerfamilien Schaden leidet, ist
eine alltägliche Erfahrung. Daß auch für das leibliche Wohl der
Familie nur schlecht gesorgt sein kann, ergibt sich von selbst,
wenn man bedenkt, daß der chronische Trinker den größten Teil
seines an sich schon unregelmäßigen Verdienstes in Alkohol um¬
setzt.
„Beruf, Familienleben, Kindererziehung und guter Leumund,
kurz alles, was zusammen den wichtigsten Teil des Begriffes An¬
gelegenheiten darstellt, wird infolge von Willensschwäche, Ein-
30*
468
Die Entmündigung.
sichtslosigkeit, krankhafter Reizbarkeit und ähnlichen Symptomen
nicht besorgt.“
Noch schlimmer werden die Verhältnisse, wenn auch das
Gedächtnis nachläßt und der Trinker körperlich in das kachek-
tische Stadium kommt. Er besitzt dann nicht genügend Körper¬
kräfte, um nennenswerte Arbeit zu leisten, und seine Gedächtnis¬
schwäche kann ihn hilflos wie ein Kind machen. Es gibt Trinker,
die schließlich zwischen Irrenanstalt’), Krankenhaus, Armenhaus
und Gefängnis mit nur kurzen Zeiten der Freiheit hin- und hcr-
geschoben werden.
Bei kaum einer geistigen Erkrankung sind gerade die sozialen
Folgen so weitgehende und offensichtige, wie beim chronischen
Alkoholismus.
Wenn unter den Gründen, welche die Entmündigung eines
Trunksüchtigen rechtfertigen, auch der genannt ist, daß er sich
und seine Familie der Gefahr des Notstandes aus¬
setzt, so ist dieser Grund vorwiegend für solche Personen ge¬
dacht, die ein vorhandenes Vermögen nutzlos verschleudern, oder
infolge ihrer Trunksucht mehr ausgeben als sie einnehmen, so daß
zu besorgen steht, daß sie eines Tages mittellos werden (Motive,
Bd. i), und die Familie der öffentlichen Armenpflege zur Last
fällt.
In Fällen dieser Art ist es nicht immer leicht, die Entmün¬
digung zu erreichen, denn^von dem Kranken selbst wird häufig
eingewandt, man könne doch einen Menschen, der eine Zeit lang
über seine Verhältnisse lebe, nicht ohne weiteres entmündigen.
Ich habe mich deshalb auch stets bemüht, ausführlich darzu¬
tun, daß hier nicht die Gefahr des zu besorgenden Notstandes
allein die Entmündigung rechtfertige, sondern der Einfluß der
Trunksucht auf die gesamte Lebensführung.
Als dritter Entmündigungsgrund ist bei Trunksüchtigen die
Gefährdung“) der Sicherheit anderer angegeben, und
zwar mit vollem Recht, denn, wie schon olien ausgeführt wurde,
kommt es außerordentlich häufig vor, daß der Trinker Frau und
Kinder in brutalster Weise mißhandelt, und mit Totschlag be-
’) Mir sind Fälle bekannt, die wegen Trunksucht 25 mal und mehr
in Irrenanstalten aufgcnonimen werden muGten.
“) Wassermann, Beifr. zur Lehre von den Beziehungen zwischen
Alkohol und Verbrechen. Der Qerichtssaal 1911, S. 48 u. 145; s. auch
Landsberg im Lehrbuch.
Entmündigung wegen Trunksucht.
469
droht. Der durch chronischen Alkoholmißbrauch schon an sich
verrohte Trinker ist im Rausch sehr leicht dazu geneigt, seine
Drohungen in die Tat umzusetzen. Da er in der Wirtschaft und
auf der Straße besonders viel Gelegenheit zu Reibereien mit
Anderen hat, ist es kein Wunder, wenn gerade die alten Trinker
besonders häufig wegen Körperverletzung, Beleidigung, Haus¬
friedensbruch und ähnlicher Delikte vorbestraft sind. —
Mit der eben besprochenen Bestimmung ist das Prinzip durch¬
brochen, daß Gemeingefährlichkeit allein keinen Entmündigungs¬
grund abgibt. Es ist über die Berechtigung zu diesem Schritt viel
diskutiert worden. Daß er wirklich nötig ist, das beweisen meiner
Ansicht nach besser, als theoretische Gründe unserer Kriminalsta¬
tistiken und unsere Gefängnisinsassen. 85% der Kriminalität
unserer Studenten^) sind rein alkoholischer Natur. Von hundert
Körperverletzungen, die begangen werden, sind 50—70^ Folgen
des Alkohols“). Es sei auch auf die Statistik von Hotter“) hin¬
gewiesen, der für die Totschläge und Körperverletzungen mit
Todesfolge, welche im Landgerichtsbezirk Straubing von 1900 bis
1909 vorgekommen sind, den exakten Nachweis erbringt, daß
QO'/(i Folgen des Alkohols sind.
Es kann deshalb keinem Zweifel unterliegen, daß die auf
Alkoholmißbrauch beruhende Gemeingefährlichkeit besonders
groß ist und deshalb einen Grund für die Entmündigung mit
Recht abgibt. Nur ist damit allein aber noch nicht sehr viel ge¬
schehen. Wichtiger ist es, den Trunksüchtigen am weiteren
Alkoholgenuß zu verhindern, d. h. entweder den Versuch einer
Heilung mit ihm zu machen, oder, wo derartige Versuche mi߬
lungen sind, ihn so unterzubringen, daß er von der Straße fort¬
kommt, nicht mehr den Reibungen des täglichen Lebens aus¬
gesetzt ist und vor allen Dingen vom Trinken abgehalten wird.
Daß der Vormund rechtlich die Möglichkeit dazu hat, steht
nach einer Entscheidung des Bayerischen Obcrlandesgerichts vom
13. Aug. 1902 außer Zweifel. Emst Schultze zitiert außerdem
noch den § 6 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit
vom 12. Febr. 1850, welches gestattet, Personen in polizeiliche
V^erwahrtmg zu nehmen, wenn der eigene Schutz dieser Person
“) Eigene Berechnung, s. auch die Berechnungen des Kais. Statist.
Amtes.
“) Aschaffenburg, Bekämpfung des Verbrechens, 2. Aufl., S. 66.
•’) Monatsschr. f. Kriminalpsychol., 9. Jahrg., S. 228.
470
Die Entmündigung.
oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sittlichkeit, Sicher¬
heit und Ruhe diese Maßregeln dringend erfordern.
Meiner Ansicht nach hat eine Entmündigung wegen Trunk¬
sucht überhaupt nur dann Zweck, wenn auf diese Weise ent¬
weder die Unterbringung des Patienten in einer Heilanstalt zum
Zwecke der Besserung oder zur Vermeidung weiterer Alkohol¬
exzesse und Schädigung Dritter bewirkt werden soll. Eine .solche
Unterbringung wird besonders dann geboten sein, wenn der
Kranke infolge seines Zustandes Anderen Schaden zufügt (vergl.
§§ 827, 829, 832 B.G.B.).
Denn in diesen Fällen kann unter bestimmten Voraussetzungen
der Kranke selbst zum Ersatz herangezogen werden, unter Um¬
ständen kann sogar der Vormund dafür haftbar gemacht werden.
Gegen eine derartige Inanspruchnahme muß er aber sowohl seinen
Mündel, wie sie sich selbst schützen.
Daß die Entmündigung der Trinker in erster Linie auch zum
Zwecke der Heilbehandlung durchzuführen ist, geht aus einem
Runderlaß des Preuß. Ministeriums der geistlichen, Unterrichts¬
und Medizinal-Angelegenheiten, des Innern und der Justiz vom
27. Juni 1900 hervor, der mit einer Äußerung des sächsischen
Ministers des Innern übereinstimmt. In der letzteren ist ganz
präzise ausgesprochen, daß ein entmündigter Trinker in einer An¬
stalt gegen seinen Willen solange zurückgehalten werden kann,
als der Vormund dies gestattet. Danach ist der Vormund allein
berechtigt die Anstaltsbehandlung anzuordnen; er braucht dazu die
Zustimmung des Vormundschaftsgerichtes nicht. Das Vormund¬
schaftsgericht selbst ist nicht berechtigt, die Anstaltsbehandlung
zu verfügen, wie gleichfalls aus dem sächsischen Ministerialcrlaß
hervorgeht.
In letzter Zeit hat sich auch das Kammergericht zu dieser
Frage ausgesprochen ; danach bedarf der Vormund zur zwangs¬
weisen Unterbringung seines trunksüchtigen Mündels nicht der
gerichtlichen Ermächtigung. Das Gericht ist (gemäß §§ 1800,
1897, 1901, 1731 Abt. 2 Satz 2 B.G.B.) sogar auf Antrag des
Vormundes verpflichtet, diesen bei Durchführung der Unter-
’) Siehe Bratz, Psychiatrische Wochenschrift 1901, S. 189.
-) Bd. .39 des Jahrbuches für E. des K.Q. zit. nach Blätter für prakt.
Trinkerfürsorge I, S. 10.
EntmündigunK wegen Trunksucht. 471
bringung nötigenfalls durch Anordnung von Zwangsmaßregeln zu
unterstützen.
Leider macht die Durchführung der Entmündigung wegen
Trunksucht oft erhebliche Schwierigkeiten. Es gibt Alkoholisten,
die, wenn Gefahr im Verzüge ist, für kurze Zeit den Alkoholgenuß
etwas einschränken (vcrgl. die Entsch. auf S. 465), sich vorüber¬
gehend mit milderen Getränken begnügen (vergl. Entsch. vom
27. IO. 02, Jur. Wochenschr. 1902, S. 280) oder sogar für einige
Wochen Arbeit annehmen, um auf diese Weise die unbequeme
Entmündigung hinauszuschieben oder ganz zu vermeiden.
Wer in einem derartigen Verhalten eine Besserung erblickt,
erlebt über kurz oder lang eine herbe Enttäuschung. Diese Besse¬
rung hält nicht länger an, als das Verfahren schwebt. Der Kranke
hat damit auch keineswegs bewie.sen, daß er dem Anreize zum
übermäßigen Genuß geistiger Getränke besser zu widerstehen ver¬
mag, als früher. Meist liegt die Sache vielmehr lediglich so, daß
der Patient etwas weniger trinkt und, wenn er betrunken ist, die
Öffentlichkeit vorsichtiger meidet, als vorher.
Der erstrebte Zweck, die Heilung, ist jedenfalls dadurch
kaum jemals der Verwirklichung näher gerückt worden.
Da aber mancher Trinker es verstanden hat, durch derartige
Manipulationen die Anstaltsintemierung lange zu vermeiden und
auf Kosten der Armenverbände zu leben, so ist man in Preußen
dazu übergegangen, ohne Rücksicht auf die Entmündigung durch
das Gesetz vom 25. Juli 1912 den Arbeitszwang mit oder
ohne Unterbringung in einem Arbeitshause oder einer Trinker¬
heilanstalt einzuführen. Die hier interessierenden Bestimmungen
sind folgende:
„Wer selbst oder in der Person seiner Ehefrau oder seiner noch
nicht 16 Jahre alten Kinder aus öffentlichen Armenmitteln unterstützt
wird, kann auch gegen seinen Willen auf Antrag des Unterstützenden
oder des erstattungspflichtigen Armenverbandes durch Beschluß des
Kreis-(Stadt-)Ausschusses für die Dauer der Unterstützungsbedürftig-
keit in einer öffentlichen Arbeitsanstalt oder in einer staatlich als ge¬
eignet anerkannten Privatanstalt untergebracht werden. Der Unter¬
gebrachte ist verpflichtet, für Rechnung des Armenverbandes die ihm
angewiesenen Arbeiten nach dem Maße seiner Kräfte zu verrichten. Als
B Die Landesverwaltung der Rheinprovinz hat neuerdings eine
Abteilung für entmündigte Trinker in Brauweiler im Anschluß an das
.Arbeitshaus geschaffen. .
472
Die Entmündigung.
unterstützt gilt der Ehemann oder der unterhaltungspflichtige Elternteil
oder — bei unehelichen Kindern — die Mutter auch dann, wenn die
Unterstützung der Ehefrau oder Kinder ohne oder gegen den Willen
dieser Untcrhaltpflichtigen gewährt ist.
Die Unterbringung erfolgt nicht:
1 . wenn die Unterstützungsbedürftigkeit nur durch vorübergehende
Umstände verursacht ist;
2 . wenn der Unterzubringende nicht arbeits- oder erwerbsfähig ist;
3. wenn er entsprechend seiner Arbeits- oder Erwerbsfähigkeit zu
seinem und seiner Familie Unterhalt beitrügt;
4. wenn die Unterbringung mit erheblichen, den Umständen nach
nicht gerechtfertigten Härten oder Nachteilen für das Fortkommen des
Unterzubringenden verbunden sein würde.
Anstatt der Unterbringung in eine Arbeitsanstalt kann auch die Ein¬
weisung in eine Erziehungsanstalt oder Heilanstalt (insbesondere auch
Trinkerheilanstalt) angeordnet werden, in der Gelegenheit gegeben ist,
den Eingewiesenen mit angemessener Arbeit zu beschäftigen. Der
Armenverband ist auch berechtigt, den einer Arbeitsanstalt überwiesenen
Personen ohne Aufnahme in eine geschlossene Arbeitsanstalt Arbeiten
anzuweisen.“
Das Verfahren bei der Entmündigung wegen Trunksucht.
§ 68o. Die Entmündigung wegen Verschwen¬
dung oder wegen Trunksucht erfolgt durch Be¬
schluß des Amtsgerichts.
Der Re Schluß wird nur auf Antrag erlassen.
.^uf das Verfahren finden die Vorschriften
des § 646 Abs. i und der §§ 647, 648, 653, 657, 663 ent¬
sprechende Anwendung.
Eine Mitwirkung der Staatsanwaltschaft
findet nicht statt.
Die landesgesetzlichen Vorschriften, nach
welchen eine Gemeinde oder ein der Gemeinde
gleich stehender Verband oder ein Armen¬
verband berechtigt ist, die Entmündigung
wegen Verschwendung oder wegen Trunksucht
zu beantragen, bleiben unberührt.
In Preußen*) sind die Orts- und Landarmenverhände zur
Antragstellung berechtigt, denen die Fürsorge für den zu Ent¬
mündigenden im Falle seiner Hilfshedürftigkeit obliegen würde.
*) Ebenso in Bayern (Ges. v. 29. 4. 69), Wüittemberg (Ges. v.
31. 7. 99), Sachsen (G.-V.-Bl. 322), Baden, Elsaß-Lothringen (Qes.-Bl. 157),
Hamburg.
Das Verfahren bei der RntmiindiKung wegen Trunksucht. 473
(§3 des Prcuß. Ausf.-Ges. zur Z.P.O., Ges. S. 388, s. auch
Gruchots Beitr. 52, 159.)
Bedauerlicherweise ist die Mitwirkung der Staatsanwalt¬
schaft, die den zu Entmüntligenden häufig sehr gut kennt, nicht
vorgesehen. —
Eine Vernehmnng des Trunksüchtigen ist nicht obligatorisch,
ebensowenig die Anhörung eines Sachverständigen’).
Die Wiederaufhebung ist unanfechtbar.
§ 681. Ist die Entmündigung wegen Trunk¬
sucht beantragt, so kann das Gericht die Be¬
schlußfassung über die Entmündigung aus¬
setzen, wenn Aussicht besteht, daß der zu Ent¬
mündigende sich bessern werde.
Zu den anfechtbarsten Bestimmungen, welche über die Ent¬
mündigung wegen Trunkenheit erlassen sind, gehört wohl die die
Aussetzung der Beschlußfassung betreffende und zwar deshalb,
weil sie von der Annahme ausgeht, daß durch Aussetzung des Ver¬
fahrens der zu Entmündigende sich bessern werde.
Wie ich schon oben andeutete — und meine Erfahrungen
stützen sich nicht allein auf Irrenanstaltsmaterial, sondern auf die
Mitarlx'it an einer Trinker'fürsorgestelle — ist das kaum in
einem Falle zu erwarten. Einer Besserung stehen bei den meisten
Trinkern sogar unzählige Hinderungsgründe entgegen. So bleibt
z. B. der Patient in demselben Milieu. Seine Zechgenossen üben
den gleichen Einfluß auf ihn aus. wie früher. Auch die Familien,
namentlich die Frauen, haben mir in seltenen Fällen Verständnis
dafür, daß es sich um eine Krankheit handelt, die nur durch völlige
Abstinenz geheilt werden kann. Wie oft setzt der Arzt den An¬
gehörigen auseinander, daß Alkohol in jeder P'orm dem Patienten
schädlich sei und wie oft erlebt er es, daß dieselben Verwandten
den Schnapstrinker zum Biergenuß geradezu animieren, weil Bier
kein Alkohol sei und der Kranke „doch etwas haben müsse“.
Dazu kommt, daß der der Arbeit Entwöhnte sich nicht so leicht
wieder an regelmäßige Beschäftigung gewöhnen kann.
Die Aussetzung des Verfahrens hat bei den Heilbaren m. E.
nur unter einer von Colla und E. Schnitze erwähnten Bedingung
Zweck, nämlich dann, wenn man den Kranken vor die .‘Mternative
') Bezügl. der BcnachrichtigunK bei EntmUndigunK wegen Trunk¬
sucht vergl. Preuß. Verf. 19. 6 . 12 (Just. Min.-Bl. 207).
474
Die EntmündiRung.
stellt: Entweder freiwillige Behandlung in einer Trinkerheilanstalt
oder Entmündigung und nachfolgende unfreiwillige Behandlung. ■—
Die bisherigen Ausführungen gingen von der Voraussetzung
aus, daß die vor den Entmündigungsrichter kommenden Fälle
sämtlich heilbar und für Trinkcranstalten geeignet sind. Diese
Voraussetzung bedarf einer erheblichen Einschränkung. Wie schon
aus der oben zitierten Arbeit von Wehmer hervorgeht, ist ein nicht
geringer Teil der Alkoholisten, gegen die der Entmündigiings-
antrag gestellt wird, nicht heilbar. Wird bei ihnen das V'erfahren
ausgesetzt, so bedeutet das nur, daß sie ihr altes Leben fortsetzen
können. Also auch da ist die Aussetzung des Verfahrens eher
schädlich, als nützlich.
Es kommt noch ein drittes Moment hinzu. Der Antrag auf
Entmündigung wird meist schon sehr spät, häufig sogar zu spät
gestellt. Ist das aber nun schließlich geschehen, dann sollte
wenigstens möglichst rasch vorgegangen werden, um noch zu
retten, was zu retten ist'). —
Noch eins ergibt sich aus dem eben Gesagten:
Wir haben gesehen, daß es heilbare und unheilbare Trinker
gibt. Die Unterbringung der Ersteren kann nun aber in ver¬
schiedenen Anstalten erfolgen. Die einen gehören in die Irren¬
anstalt, die anderen in die Trinkerheilstätte“), in besonders
günstigen Fällen wird die Behandlung in einem ländlichen Asyl
schon genügen.
Die Antwort auf die Frage der Heilbarkeit, der Art der
Unterbringung, der Zweckmäßigkeit der Aussetzung des V'er-
fahrens usw. kann nur der Arzt geben. Er sollte deshalb auch
vom Gericht stets befragt werden. Daß oft .sogar seine Mit¬
wirkung bei Entscheidung der Frage, ob Trunksucht überhaupt
vorliegt, zweckmäßig ist, sei nur nebenbei erwähnt.
§ 682. Die Kosten des amtsgerichtlichen
Verfahrens sind, wenn die Entmündigung er¬
folgt, von dem Entmündigten, andernfalls von
dem Antragsteller zu tragen.
') Sehr erwägenswert ist auch der Vorschlag von Colla, es müGte
bei vorzeitigem Austritt aus der Trinkeranstalt das Entmündigungsver¬
fahren sogleich seinen Fortgang nehmen.
“) Nur nebenbei sei erwähnt, daß die Zahl der vorhandenen Trinker¬
heilstätten nicht ausreichen würde, die in Betracht kommenden Trinker
aufzunehmen.
WiederaufhebutiK der Entmündigung wegen Trunksucht. 475
§ 683. Der über die Entmündigung zu er¬
lassende Beschluß ist dem Antragsteller und
dem zu Entmündigentlen von Amts wegen zuzu¬
stellen.
Der die Entmündigung aussprechen de Be¬
schluß tritt mit der Zustellung an den Ent¬
mündigten in Wirksamkeit. Der Vormund¬
schaftsbehörde ist ein solcher Beschluß von
Amts wegen mitzuteilen.
§ 684. Der die Entmündigung aussprechende
Beschluß kann binnen der Frist eines Monats
von dem Entmündigten im Wege der Klage an-
gefochten werden.
Die Frist beginnt mit der Zustellung des Be¬
schlusses an den Entmündigten.
Die Klage ist gegen denjenigen, welcher die
Entmündigung beantragt hatte, falls aber
dieser verstorben, oder sein Aufenthalt un-
bekanntoder im Aus lande ist, gegen den Staats¬
anwalt zu richten.
Auf das Verfahren finden die Vorschriften
der §§ 665, 667, 669, 672—674 entsprechende An¬
wendung.
Bei der Anfechttingsklage hat das Gericht nur zu prüfen, ob
der Entmündigungsbeschluß zur Zeit der Erlassung gerecht¬
fertigt war.
Wiederaufhebung der Entmündigung wegen Trunksucht.
Die Wiederaufhebung der Entmündigung wegen Trunksucht
kann erfolgen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen, auf Grund
deren die Entmündigung seiner Zeit au.sgesprochen war, hinfällig
geworden sind, d. h., der Kranke muß entweder seine Angelegen¬
heiten wieder besorgen können, sich selbst und seine Familie nicht
mehr in die Gefahr des Notstandes bringen und er darf auch
anderen nicht mehr gefährlich sein.
Die praktische Erfahrung hat nun gelehrt, daß diese Voraus¬
setzungen für gewöhnlich nur dann fortfallen, wenn der Kranke
völlig abstinent geworden ist, und zwar nicht nur während seines
Aufenthaltes in der Heilanstalt, sondern darüber hinaus. Er muß
476
Die RntmiindigunK.
sirh also zum mindesten in der Freiheit bewährt haben. Es wird
ferner gut sein, wenn der Vormund ihn vor der Wiederbemün-
digung zum Anschluß an einen der am Ort vorhandenen Absti¬
nentenvereine veranlaßt, damit nach wie vor ein guter Einfluß
und scharfe Kontrolle ül)er ihn ausgeübt wird.
Wer auf die Bewährung in der Freiheit verzichtet, und sofort
nach der Entlassung aus der Trinkeranstalt die Wiederbemün-
digung betreibt, darf sich nicht wundern, wenn er einen Mißerfolg
erlebt. Denn die Erfahrung lehrt hundertfach, daß Alkoholisten
in Anstalten abstinent leben, brauchbare und tüchtige Arbeits¬
kräfte und willige Menschen sind, die sich außerordentlich leicht
lenken lassen. Gerade diese leichte Lenkbarkeit aber ist es, die
ihnen in der Freiheit gefährlich wird, und die sie dazu bringt,
den ersten Verlockungen, die an sie herantreten, wieder zum Opfer
zu fallen. Man hüte sich deshalb, zu früh eine Wiederbemündigung
zu beantragen.
Man darf nie vergessen, daß außer dem Trinker bei einem
mißglückenden Ueilversuche auch immer die Familie geschädigt
ist, denn wenn der Patient wieder zu trinken anfängt, dezimieren
sich seine Einnahmen sehr rasch und die fast unausbleibliche Folge
ist, daß die Familie in Not gerät. Schon um dieser die notwendigen
Subsistenzmittel zu garantieren, wird manchmal die Entmündigung
wegen Trunksucht angezeigt erscheinen und ihre zu frühe Wieder¬
aufhebung auf Bedenken stoßen.
Hinzu kommt noch eins.
Alle Maßnahmen, welche man zur Heilung des Trinkers trifft,
stoßen bei ihm selbst auf lebhaften Widerstand, der durch die
Familie oft noch bestärkt wird. Der Patient hält sich nicht für
krank und lehnt sich gegen jede Freiheitsentziehung infolgedessen
energisch auf. Ebenso empfindet er die Bevormundung als
lästig und sucht von ihr so bald als möglich wieder los zu
kommen. Sein Drängen nach Wiederaufhebung der Entmündigung
entspricht also nicht dem Gefühl der Scham über die Einschrän¬
kung seiner Rechte und dem Wunsche, zu zeigen, daß er imstande
ist, wie jeder gesunde Mensch, für sich und die Seinen zu sorgen,
sondern seiner krankhaften Einsichtslosigkeit, welche ihn hindert,
die Berechtigung und den guten Zweck der getroffenen Ma߬
nahmen anzuerkennen. —
Die Zivilprozeßordnung bestimmt über das Verfahren bei der
Wiederaufhebung folgendes:
Wirkung der Entmündigung wegen Trunksucht. 477
§ 685. Die Wiederaufhebung der Entmün¬
digung erfolgt auf Antrag des Entmündigten
oder desjenigen gesetzlichen Vertreters des
Entmündigten, welchem die Sorge für die
Person zu steht, durch Beschluß des Amts¬
gerichts unter entsprechender Anwendung der
§ § 647, 653, des § 676 A b s. 1, 2, d e s § 677 u n d d e s § 678
Abs. I, 3.
Zu prüfen ist lediglich, ob nach der gegenwärtigen Sachlage
die Voraussetzungen der Entmündigung nicht mehr vorliegen.
§ 686. Wird der Antrag auf W i e d e r a u f h e
bung von dem Amtsgericht abgelehnt, so kann
dieselbe im Wege der Klage beantragt werden.
Zur Erhebung der Klage ist derjenige ge¬
setzliche \’ertreter des Entmündigten t)efugl,
welchem die Sorge für die Person zu steht. Will
dieser die Klage nicht erheben, so kann der Vor¬
sitz e n d e d e s P r o z c ß g e r i c h t s d e m E n t m ü n d i g t e n
einen Rechtsanwalt als Vertreter beiordnen.
Die Klage ist gegen denjenigen, welcher
die Entmündigung beantragt hatte, falls aber
dieser verstorben, oder sein Aufenthalt un¬
bekannt oder im Auslande ist, gegenden Staats¬
anwalt zurichten.
Auf das erfahren finden die Vorschriften
der § § 665, 667, 669, 670, 672—674 entsprechende An-
w e n d u n g.
Eine Anfechtung des Beschlusses auf Wiederaufhehung der
Entmündigung findet nicht statt.
§ 687. Die Entmündigung einer Person
wegen V e r s c h w e n d u n g o d e r wegen Trunksucht,
sowie die W i e d e r a u f h e b u n g einer solchen Ent
m ü n d i g u n g ist von dem Amtsgericht öffent¬
lich bekannt zu machen.
Wirkung der Entmündigung wegen Trunksucht.
Nach § 114 B.G.B. steht der wegen Trunksucht Entmün¬
digte in Ansehung der Geschäftsfähigkeit einem Minderjährigen
gleich, der das siebente Lebensjahr vollendet hat.
Die Entmündigung.
478
Diese Beschränkung der Geschäftsfähigkeit tritt ein in dem
Zeitpunkt, in welchem der die Entmündigung aussprechende Be¬
schluß in Wirksamkeit tritt (§ 683 Z.P.O.), d. h. mit Zustellung
an den Entmündigten. Sie endet mit der Wiederaufhebung der
Entmündigung. —
Nochmals betont sei, daß die Entmündigung wegen Trunk¬
sucht nichts weiter bedeutet, als eine Klärung der Rechtslage.
Es werden dadurch einem anderen Menschen Rechte über die
Person und das Vermögen des Trinkers eingeräumt, die dazu
benutzt werden sollen, den Kranken entweder zu heilen oder vor
den sozialen Folgen seines Leidens zu schützen. Die eigentliche
Arbeit, durch die der vom Gesetzgeber beabsichtigte Zweck er¬
füllt werden soll, beginnt also erst, wenn die Entmündigung
ausge.sprochen ist.
Noch ein Punkt sei für den r m u n d s c h a f t s r i c h t e r
hinzugefügt.
Sehr bald nachdem es gelungen ist, den Kranken in An-
staltsbehandlung zu bringen, wird von verschiedenen Seiten auf
Entlassung des Patienten gedrängt. Er selbst verlangt dieselbe,
die Frau hat das frühere Elend auch sehr rasch vergessen und
läßt sich durch die vagen Versprechungen des Trinkers selbst
blenden. Entferntere Angehörige bestreiten die Notwendigkeit
einer Anstaltsbehandlung überhaupt, kurz, der Vormund kann
u. U. in eine unangenehme Lage kommen.
Dem Vormundschaftsrichter kann in solchen Fällen nur ge¬
raten werden, den Vormund, die Fürsorgevereine und die Heil¬
anstalt nach Kräften zu unterstützen. Kurze Anstaltsbehandlung
(d. h. solche von 3—4 Monaten) ist fast immer zwecklos. Selbst
6 Monate der Behandlung genügen meist noch nicht. Im all¬
gemeinen kann man sagen, daß die Garantie für eine nachhaltige
Besserung um so größer ist, je länger die Behandlung dauerte.
Daß außerdem der Übergang aus dem Anstaltsleben in die Frei¬
heit besonders sorgfältig vorbereitet werden muß (Beschaffung
von Arbeit, Anschluß an Abstinenzvereine, möglichst gute Beauf¬
sichtigung durch die Trinkerfürsorge!), ist oben bereits an¬
gedeutet worden. —
Vorläufige Vormundschaft.
479
Vorläufige Vormundschaft.
§ 1906. Ein Volljähriger'), dessen Entmün¬
digung beantragt ist, kann unter vorläufige
Vormundschaft gestellt werden, wenn das Vor¬
mund s c h a f t s g e r i c h t es zur Abwendung einer
erheblichen Gefährdung der Pers(.)n oder des
Vermögens des Volljährigen für erfortlerlich
erachtet.
Mit dem vorstehenden Paragraphen soll die Möglichkeit ge¬
geben werden, die Person und das Vermögen eines Geistes¬
kianken, Geistesschwachen, Trunksüchtigen oder Verschwenders,
dessen Entmündigung zu erwarten steht, bis zum Abschluß des
Entmündigungsverfahrens zu schützen.
Voraussetzung für die vorläufige Vormundschaft ist, daß
ein rechtswirksamer Antrag“) auf Entmündigung gestellt ist.
Das Verfahren braucht noch nicht eingeleitet zu sein; der An¬
trag muß nur von einem Antragberechtigten und beim zustän¬
digen Gericht gestellt sein. Wird der Entmündigungsantrag
rechtskräftig abgewiesen, dann kann ein Antrag auf vorläufige
Vormundschaft nicht mehr gestellt werden. Das Vormimdschafts-
gericht, welches zuständig für den Antrag auf vorläufige Vor¬
mundschaft ist, hat nicht zu prüfen, ob die vorher beantragte
Entmündigung berechtigt ist oder nicht (E. K.G. 21 A. 209)“).
Zur Stellung des Antrages auf vorläufige Vormundschaft ist
das Amtsgericht, welches mit der Entmündigung betraut ist, nach
§§ 657 t’So Z.P.O. verpflichtet, die übrigen in § 646 Z.P.O.
genannten Personen berechtigt (Bayer. O.L.G. 22. 7. 07; Recht
1907, Nr. 2754), wenn besondere Gründe vorliegen. In Preußen
kann außerdem nach § 8 der Just.-Minist.-Verf. v. 28. ii. 99 die
Staatsanwaltschaft eine vorläufige Vormundschaft anregen. Die
wichtigste V'oraussetzung für die Einsetzung einer vorläufigen
Vormundschaft ist eine erhebliche Gefährdung der Person oder des
Vermögens des Volljährigen. Diese Gefährdung muß ausreichend
') Minderjährige können überhaupt nicht unter vorläufige Vormund¬
schaft gestellt werden.
“) Liegt ein rechtswirksamer Antrag nicht vor, dann kommt nur eine
Pflegschaft (§ 1910 B.Q.B.) in Betracht.
“) Die vorläufige Vormundschaft wird nicht ins Grundbuch ein¬
getragen. Entsch. d. Bayer. O.L.Q. 5, 185.
480
Die Rntmiindigiing.
nachgewiesen werden. Der Richter muß auch angeben, wie weit
er die Gefahr als vorhanden ansieht (K.G. 24. 10. 04; Psych.
Wochenschr., Bd. 7. S. 21). Die erforderlichen Gründe können
u. U. aus einem ärztlichen Gutachten entnommen werden (Bayer.
O.D.G. 26. 4. 07; Das Recht 1907, Nr. 1451). Ist die Ent¬
mündigung wegen Verschwendung beantragt, so kann die vor¬
läufige Vormundschaft trotzdem wegen Verdachts des Geistes¬
schwäche erfolgen (R.G. 30. i. 05; Das Recht 1911, Nr. 762).
Wird der Antrag auf Entmündigung wegen Unzuständigkeit
des Gerichts (K.G. 25. 5. 03: Das Recht 1903, Nr. 2089) oder
wegen unterbliebener Beibringung eines ärztlichen Attestes
(Psych. Wochenschr. 7, 22) abgelehnt, dann darf auch die vor¬
läufige Vormundschaft nicht angeordnet werden.
Eine Gefährdung des Vermögens liegt z. B. vor, ,,wenn die
Wirtschaftsführung derart ist, daß sie einen wirtschaftlich nicht
zu rechtfertigenden Vermögensverlust zur Folge haben kann“
(Entsch. Bayer. O.L.G., Bd. 12, 283). Auch Ausbeutung durch
Dritte kann als Grund in Betracht kommen (Bayer. O.L.G.
5. I. 11; Das Recht 1911, Nr. 761).
üb dem Antrag auf vorläufige Vormundschaft statt¬
gegeben *) werden kann, liegt im Ermessen des Vormundschafts¬
gerichts (F.G.G. § 35 ff.). Es bedarf dazu weder einer Zu¬
stimmung von seiten des zu Entmündigenden, wie bei der Pfleg¬
schaft, noch auch einer Anhörung desselben oder der Zuziehung
von Sachverständigen. Doch wird je nach Lage der Sache ent¬
weder der Kranke gehört oder ein ärztliches Attest vorgelegt
(Ü.L.G. Karlsruhe, ii. 4. 08; Das Recht 1908, Nr. 2575).
Wird die vorläufige \'ormundschaft abgelehnt, steht dem
Antragsteller das Beschwerderecht zu (§ 57 Ziff. 2 F.G.G.). Wird
die vorläufige \"ormundschaft eingesetzt, so findet sofortige Be¬
schwerde statt (§ 60 Ziff. 5 F.G.G.).
Die vorläufige V'ormundschaft tritt in Kraft, sofern die Ent¬
mündigung wegen Geistes k r a n k h e i t beantragt war, mit der
Bestellung des vorläufigen Vormundes; war die Entmündigung
wegen Geistesschwäche, Trunksucht oder Verschwendung be¬
antragt, mit der durch das Gericht erfolgenden Bekanntmachung
*) Die Einsetzung der vorläufigen Vormundschaft darf nicht davon
abhängig gemacht werden, daß ein ausreichender Entmündigungsgrund
vorliegt. (Entsch. d. Bayr. O.L.G. 8, 86 und 8, 185, sowie 12, 61.)
Vorläufige Vormundschaft,
481
des Beschlusses an den zu Entmündigenden (§ 52 F.G.G.; K.G.
13. 12. 06; Das Recht 1907, Nr. 81).
Der zu Entmündigende gilt als in der Geschäftsfähigkeit
beschränkt im Sinne des § 114 B.G.Bd).
Der vorläufige Vormund hat zwar alle Rechte eines Vor¬
mundes (O.L.G. 24, 50; Das Recht 16, 1029), er soll sich aber,
da seine Tätigkeit nur vorübergehend ist, eingreifender Ände¬
rungen tunlichst enthalten (Motive IV, S. 1247). Er ist stets
vom Vormundschaftsgericht zu wählen (ev. nach Anhörung des
Waisenrates). § 1907 B.G.B. —
Kommt es nach Ernennung des vorläufigen Vormundes nicht
zur Entmündigung, so sind die Rechtshandlungen des Vormundes,
die in der Zwischenzeit vorgenommen wurden, nicht aus diesem
Grunde anfechtbar.
Wird die vorläufige Vormundschaft durch das Beschwerde¬
gericht aufgehoben, so kann die Wirksamkeit der von oder
gegenüber dem Volljährigen vorgenommenen Rechtsgeschäfte
nicht auf Grund der aufgehobenen Verfügung in Frage gestellt
werden. Auf die von und gegenüber dem Vormunde vorgenom¬
menen Rechtsgeschäfte hat die Aufhebung der vorläufigen Vor¬
mundschaft durch das Beschwerdegericht keinen Einfluß (§ 115).
Eine Verfügung, durch die eine vorläufige Vormundschaft
aufgehoben wird, tritt mit der Bekanntmachung an den Mündel
in Wirksamkeit.
Die vorläufige Vormundschaft wird öffentlich nicht be¬
kannt gemacht.
§ 1908. Die vorläufige V ormundschaft endigt
mit der Rücknahme oder der rechtskräftigen
■Abweisung des Antrags auf Entmündigung.
Erfolgt die Entmündigung, so endigt die
vorläufige Vormundschaft, wenn auf Grund
der Entmündigung ein Vormund bestellt wird.
B Bezüglich der Bekleidung vormundschaftlicher Ämter, der Eides¬
fähigkeit und Prozeßfähigkeit wird er einem Entmündigten gleichgesetzt.
Prozeßfähig ist er nur für die Anfechtungsklage (§ 664 Z.P.O.) s. Hamburg
22. 5. 03; Das Recht 1903, Nr. 2372 und R.Q. 21. 5. 08; Jur. W. 1908, 457).
Die von einem unter vorläufiger Vormundschaft stehenden Reichs¬
angehörigen ohne Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters im Aus¬
lande geschlossene Ehe ist ungültig. (R.Q. IV. 29. 10. 03.)
Das Recht 1904, S. 164, Entsch. Nr. 719.
Hübner, Forensische Psychiatrie. 31
482 Die Entmündigung.
Die vorläufige Vormundschaft ist von dem
Vormundschaftsgericht aufzuheben, wenn der
Mündel des vorläufigen vormundschaftlichen
Schutzes nicht mehr bedürftig ist.
Die vorläufige Vormundschaft endet also u. U. kraft Ge¬
setzes, so daß es einer formellen Aufhebung durch das Vor¬
mundschaftsgericht nicht in allen Fällen bedarf.
Internationales Privatrecht 0*
Über die Entmündigung von Ausländern im Inland spriclit
sicli Art. 8 des Einf.-Ges. zum B.G.B. aus.
Ein Ausländer kann im Inlande nach den deutschen Gesetzen ent¬
mündigt werden, wenn er seinen Wohnsitz oder, falls er keinen Wohn¬
sitz hat, seinen Aufenthalt im Inlande hat.
Seit dem 17. 7. 1905 gibt es ein Internationales Abkommen
ül)er die Entmündigung, das hier angefügt sei.
Haager Abkommen geschlossen zwischen dem Deutschen Reich,
Frankreich, Italien, den Niederlanden, Portugal, Rumänien, Schweden
und Norwegen.
Art. 1. Für die Entmündigung ist das Gesetz des Staates, dem
der zu Entmündigende angehört (Gesetz des Heimatstaates) maßgebend,
unbeschadet der in den folgenden Artikeln enthaltenen Abweichungen.
Art. 2 . Die Entmündigung kann nur durch die zuständigen Behör¬
den des Staates, dem der zu Entmündigende angehört, ausgesprochen
und die Vormundschaft wird gemäß dem Gesetze dieses Staates an¬
geordnet werden, abgesehen von den in den folgenden Artikeln vorher¬
gesehenen Fällen.
Art. 3. Befindet sich in einem Vertragsstaate der Angehörige eines
anderen Vertragsstaates in einem Zustande, für den das Gesetz seines
Heimatstaates die Entmündigung vorsieht, so können alle erforderlichen
vorläufigen Maßregeln zum Schutze seiner Person und seines Vermögens
durch die örtlich zuständigen Behörden getroffen werden.
Hiervon ist der Regierung des Staates, dem er angehört, Mitteilung
zu machen.
Die Maßregeln fallen weg, sobald die örtlich zuständigen Behörden
von den Behörden des Heimatstaates die Mitteilung erhalten, daß vor¬
läufige Maßregeln getroffen seien, daß die Rechtslage der Person, um
die es sich handelt, durch eine Entscheidung geregelt sei.
Art. 4 . Die Behörden des Staates, in dessen Gebiet ein zu ent¬
mündigender Ausländer seinen gew'öhnlichen Aufenthalt hat, haben von
diesem Sachverhalte, sobald er ihnen bekannt geworden ist, den Be-
*)Literatur: Zitelmami, Internat.Privatrecht. München. Levis, Inter¬
nation. Entmündigungsrecht. Leipzig 1906. Meili, Internation. Privat¬
recht. V. Bar, Privatrecht.
i
Internationales Privatrecht,
4«3
hörden des Staates, dem der Ausländer angehört, Nachricht zu geben;
hierbei haben sie den Antrag auf lintmiindigung, falls sie mit einem
solchen Antrag befaßt worden sind, und die etwa getroffenen vorläufi¬
gen Maßregeln mitzuteilen.
Art. 5. Die in den Art. 3, 4 vorgesehenen Mitteilungen werden auf
diplomatischem Wege bewirkt, sofern nicht der unmittelbare Verkehr
zwischen den beiderseitigen Behörden zugelassen ist.
Art. 6. Solange nicht die Behörden des Heimatstaates auf die im
Art. 4 vorgesehene Mitteilung geantwortet haben, ist in dem Lande des
gewöhnlichen Aufenthalts von jeder endgültigen Maßregel Abstand zu
nehmen. Erklären die Behörden des Heimatstaats, daß sie nicht ein-
schreiten wollen oder antworten sie nicht innerhalb einer Frist von
6 Monaten, so haben die Behörden des gewöhnlichen Aufenthalts über
die EntmüTidigung zu befinden: sie haben hierbei die Hindernisse zu
berücksichtigen, die nach der Antwort der Behörden des Heimatstaates
eine Entmündigimg im Heimatland ausschließen würden.
Art. 7. Falls die Behörden des gewöhnlichen Aufenthalts auf Orund
des vorstehenden Artikels zuständig sind, kann der Antrag auf Ent¬
mündigung von den Personen und aus den Gründen gestellt werden, die
zugleich nach dem Gesetze des Heiniatstaats und dem Gesetz des Auf¬
enthalts des Ausländers zugelassen sind.
Art. 8. Ist die Entmündigung durch die Behörden des gewöhnlichen
Aufenthalts ausgesprochen, so wird die Verwaltung in Ansehung der
Person und des Vermögens des Entmündigten gemäß dem Gesetze des
Ortes angeordnet; für die Wirkungen der Entmündigung ist dasselbe
Gesetz maßgebend.
Schreibt jedoch das Gesetz des Heiniatstaats des Entmündigten vor,
daß die Fürsorge von Rechts wegen einer bestimmten Person zukommt,
so ist diese Vor.schrift tunlichst zu beachten.
Art. 9. Eine Entmündigung, die nach vorstehenden Bestimmungen
von den zuständigen Behörden ausgesprochen wird, ist, soweit es sich
um die Geschäftsfähigkeit des Entmündigten und die Vormundschaft über
ihn handelt, in allen Vertrag-sstaaten wirksam, ohne daß es einer Voll¬
streckbarkeitserklärung bedarf.
Jedoch können Maßregeln zum Zwecke der Veröffentlichung, die das
Gesetz des Ortes für eine durch die Behörden des Landes ausgesprochene
Entmündigung vorschreibt, von diesem Gesetz gleicherweise auf die durch
eine ausländische Behörde etwa ausgesprochene Entmündigung für an¬
wendbar erklärt oder durch gleichartige Maßregeln ersetzt werden. Die
Vertragsstaaten haben sich gegenseitig durch Vermittlung der nieder¬
ländischen Regierung die Vorschriften mitzuteilen, die sie in dieser Hin¬
sicht erlassen haben.
Art. U). Ist eine Vormundschaft gemäß Art. 8 eingeleitet, so steht
dies der Anordnung einer neuen Vormundschaft gemäß dem Gesetze des
Heimatstaats nicht entgegen.
Von dieser Anordnung ist sobald wie möglich den Behörden des
Staates Mitteilung zu machen, in dessen Gebiete die Entmündigung aus¬
gesprochen w'orden ist.
31 »
484
Die Entmündigung.
Das Gesetz dieses Staates entscheidet darüber, in welchem Zeit¬
punkt die Vormundschaft, die dort eingeleitet ist, endet. Von diesem
Zeitpunkt an ist für die Wirkungen der durch die ausländischen Behörden
ausgesprochenen Entmündigung das Gesetz des Heimatstaats des Ent¬
mündigten maßgebend.
Art. 11. Eine Enttnündigung. die durch die Behörden des gewöhn¬
lichen Aufenthalts ausgesprochen ist. kann von den Behörden des Heimat¬
staats gemäß ihren Gesetzen aufgehoben werden.
Die örtlich zuständigen Behörden, welche die Entmündigung aus¬
gesprochen haben, können sie ebenfalls aufheben, und zwar aus allen
den Gründen, die in dem Gesetze des Heimatstaats oder in dem Gesetze
des Orts vorgesehen sind. Der Antrag kann von jedem gestellt werden,
der hiezu nach dem einen oder dem anderen dieser Gesetze er¬
mächtigt ist.
Die Entscheidungen, welche eine Entmündigung aufheben, sind ohne
weiteres und ohne daß es einer Vollstreckbarkeitserklärung bedarf, in
allen Vertragsstaaten wirksam.
Art. 12. Die vorstehenden Bestimmungen finden Anwendung, ohne
daß zwischen beweglichem und unbeweglichem Vermögen des Ent¬
mündigten zu unterscheiden ist; ausgenommen sind Grundstücke, die
nach dem Gesetz der belegenen Sache einer besonderen Giiterordnung
unterliegen.
Art. 13. Die in diesem Abkommen enthaltenen Regeln gelten in
gleicher Weise für die Entmündigung im eigentlichen Sinne, für die An¬
ordnung einer Kuraiel, für die Bestellung eines gerichtlichen Beistandes,
sowie für alle anderen Maßregeln gleicher Art, soweit sie eine Beschrän¬
kung der Geschäftsfähigkeit zur Folge haben.
Art. 14. Dieses Abkommen findet nur Anwendung auf die Ent-
miindigung von solchen Angehörigen eines Vertragsstaats, welche ihren
gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiete eines der Vertragsstaaten haben.
Jedoch findet der Art. 3 dieses Abkommens auf alle Angehörigen
der Vertragsstaaten Anwendung.
Österreichisches Enfmündigungsrecht
§ 187 B.G.B. „Personen, denen die Sorge eines Vaters nicht zu
Statten kommt, und die noch minderjährig oder aus einem andern Grunde
ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen unfähig sind, gewähren die Ge¬
setze durch einen Vormund oder durch einen Kurator besondern Schutz.“
S 188. „Ein Vormund hat vorzüglich für die Person des Minder¬
jährigen zu sorgen, zugleich aber dessen Vermögen zu verwalten. Ein
Kurator wird zur Besorgung der Angelegenheiten derjenigen gebraucht,
welche dieselben aus einem andern Grunde, als jenem der Minderjährig¬
keit selbst zu besorgen unfähig sind.“
') Literatur; Stubenrauch, Bürgerl. Gesetzbuch, v. Schey, Bürgerl.
Gesetzbuch. Wien 1906. Manz. v. Schauer, Zivilprozeßordn. Wien 1913.
österreichisches Entinüncligungsrecht. 485
§ 269. „Für Personen, welche ihre Angelegenheiten nicht selbst
besorgen, und ihre Rechte nicht selbst verwahren können, hat das Ge¬
richt, wenn die väterliche oder vormundschaftliche Gewalt nicht Platz
findet, einen Kurator oder Sachwalter zu bestellen.“
Nur eine geistige Anomalie, welche die Einsicht der Folgen der
eigenen Handlungen verhindert und den Schutz der Interessen des Be¬
treffenden fordert, nicht aber die Besorgnis der Behelligung Anderer, ist
ein Grund zur Kuratel (E. 26. 11. 89; Z. 13 241, Sg. 13 017). Dazu kann
auch Geistesschwäche, die kein Blödsinn ist, gehören (E. 13. 12. 87;
Z. 13 7.S4. Sg. 11 878).
Nach § 270 kann u. a. eine Kuratel eingesetzt werden „bei Voll¬
jährigen, die in Wahn- oder Blödsinn verfallen“ und „bei erklärten Ver¬
schwendern“, „zuweilen auch bei Taubstummen“.
§ 273. „Für wahn- oder blödsinnig kann nur derjenige gehalten
werden, welcher nach genauer Erforschung seines Betragens und nach
Einvernehmung der von dem Gerichte ebenfalls dazu verordneten Ärzte
gerichtlich dafür erkläret wird. Als Verschwender aber muß das Gericht
denjenigen erklären, von welchem nach der vorgekommenen Anzeige
und der hierüber gepflogenen Untersuchung offenbar wird, daß er sein
Vermögen auf eine unbesonnene Art durchbringt, und sich oder seine
Familie durch mutwillige oder unter verderblichen Bedingungen ge¬
schlossene Borgverträge künftigem Notstände preisgibt. In beiden Fällen
muß die gerichtliche Erklärung öffentlich bekannt gemacht werden.“
§ 275. „Taubstumme, wenn sie zugleich blödsinnig sind, bleiben
beständig unter Vormundschaft; sind sie aber nach Antritt des 25. Jahres
ihre Geschäfte zu verwalten fähig, so darf ihnen wider ihren \\ illen kein
Kurator gesetzt werden; nur sollen sie vor Gericht nie ohne einen Sach¬
walter erscheinen.“
Zuständig für die Bestellung des Kurators ist in der Regel das
Gericht, welchem die Ernennung eines Vormundes zusteht; ist es aber
um die Verwaltung einer Sache oder eines Geschäftes zu tun, welche zu
einem anderen Gerichtsstände gehören, so hat dieser Gerichtsstand auch
den Kurator zu ernennen (§ 280).
Kuratoren werden ernannt, entweder nur zur Verwaltung des Ver¬
mögens oder zugleich für die Person ihres Pflegebefohlenen (§ 282).
§ 283. „Die Kuratel hört auf, wenn die dem Kurator anvertrauten
Geschäfte geendigt sind, oder, wenn die Gründe aufhören, die den Pflege¬
befohlenen an der Verwaltung seiner Angelegenheiten verhindert haben.
Ob ein Wahn- oder Blödsinniger den Gebrauch der Vernunft erhalten
habe; oder, ob der Wille eines Verschwenders gründlich und dauerhaft
gebessert sei; muß nach einer genauen Erforschung der Umstände, aus
einer anhaltenden Erfahrung, und im ersten Falle zugleich aus den Zeug¬
nissen der zur Untersuchung von dem Gerichte bestellten Ärzte ent¬
schieden werden.“ —
Probeweise Überlassung der selbständigen Wirtschaftsführung unter
Äufsicht des Kurators an den Entmündigten ist unstatthaft (E. I. 2. 05;
Z. 1520, Z. Bl. 1905, 41). —
486
Die Entmündigung.
Aiitragsbereclitigt sind die Verwandten oder andere mit ihm in
nahem Verhältnisse stehende Personen, die politischen Obrigkeiten, die
weltlichen und geistlichen Vorsteher der Gemeinden (§ 189).
Über die Zuständigkeit des Gerichtes s. o. und ferner die Juris¬
diktionsnorm vom 1. Aug. 1895 §§ 109—112. Es kommen in Betracht die
Kreis- und Landgerichte, w'elchen die Entscheidung über die Beschlüsse
der Bezirksgerichte Vorbehalten ist.
über Rekurse gegen Beschlüsse über die Kuratel entscheiden die
Oberlandesgerichte und der Oberste Gerichtshof (§ 1, 2 und 2, 2 des Ges.
vom 2. Eebr. 1907).
Sachverständige müssen sow'ohl bei Einsetzung (§ 273), wde bei
Erlöschung der Kuratel zugezogen werden (§ 283).
Die Wirkungen der Kuratel sind im w-esentlichen bereits in dem
Abschnitt Handlungsfähigkeit erwähnt. Hinzugefügt sei noch folgendes:
§ 1210. „Ein unter Kuratel Gesetzter kann von einer Gesellschaft
ausgeschlossen werden.“
§ 1250. „Ein Pflegebefohlener Ehegatte kann eine ihm versprochene
unnachteilige Verlassenschaft annehmen.“
Das Verfahren in Kuratelsachen ist durch § 181 u. ff. des Patentes
vom 9. 8. 54 R.G.Bl. Nr. 208 geordnet.
Es sei gestattet, nur diese kurzen Bemerkungen über das öster¬
reichische Entmündigungsrecht hier anzuführen. Dieselben werden eine
Orientierung ermöglichen. Eine ausführlichere Darstellung erübrigt sich,
weil binnen Kurzem ein neues Gesetz an die Stelle des bisherigen
treten wird.
Anhang.
Angefügt seien schließlich noch die Ühergangsbcstimmiingen
für Personen, die vor dein Jahre lyoo entmündigt w-arcn.
Art. 155. Wer zur Zeit des Inkrafttretens des Bürgerlichen Gesetz¬
buchs wegen Geisteskrankheit entmündigt ist, steht von dieser Zeit an
einem nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs wegen
Geisteskrankheit Entmündigten gleich.
Art. 210 Abs. 1. Auf eine zur Zeit des Inkraftretens des Bürgerlichen
Gesetzbuchs bestehende Vormundschaft oder F^flegschaft finden von
dieser Zeit an die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs Anw'endung.
Ist die Vormundschaft wegen eines körperlichen Gebrechens angeordnet,
so gilt sie als eine nach § 1910 Abs. 1 des Bürgerlichen Gsetzbuchs an¬
geordnete Pflegschaft.
Abs. 2. Ist die Vormundschaft w'egen Geistesschwäche angeordnet,
ohne daß eine Entmündigung erfolgt ist, so gilt sie als eine nach § 1910
Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs für die Vermügensangelegen-
heiten des Geistesschwachen angeordnete I’ilegschaft.
Art. 211. Die nach den französischen oder den badischen Gesetzen
für einen Geistessclnvachen angeordiiete Bestellung eines Beistandes ver¬
liert mit dem Ablaufe von sechs Monaten nach dem Inkrafttreten des
Bürgerlichen Gesetzbuchs ihre Wirkung.
Pflegschaft.
487
Bezüglich des Artikels 155 ist folgende Entscheidung von
Wichtigkeit:
Eine nach altem Recht ausgesprochene Entmündigung wegen
Geisteskrankheit, die durch Anfechtungsklage angefochten ist, kann,
wenn zwar nicht die Voraussetzungen der Geisteskrankheit, wohl aber
die der Geistesschwäche vorliegen, auf die Klage hin in eine Ent¬
mündigung wegen Geistesschwäche umgewandelt werden. (R.G. IV.
23. 10. 02.) Das Recht 1905, S. 105, Entsch. Nr. 376; ebenso Das Recht
1903, Nr. 3051.
Pflegschaft.
§ 1910 B.G.B. Ein Volljähriger, der nicht
unter Vormundschaft steht, kann einen Pfleger
für seine Person und sein Vermögen erhalten,
wenn er in Folge körperlicher Gebrechen, ins-
b e s o n d e r e w e i 1 e r t au b, blind oder stumm ist,
seine Angelegenheiten nicht zu besorgen ver¬
mag.
Vermag ein Volljähriger, der nicht unter
Vormundschaft steht, infolge geistiger oder
körperlicher Gebrechen einzelne seiner An¬
gelegenheiten oder einen bestimmten Kreis
seiner Angelegenheiten, insbesondere seine
V'ermögensangelegenheiten, nicht zu besor¬
gen, so kann er für diese Angelegenheiten einen
Pfleger erhalten.
Die Pflegschaft darf nur mit Einwilligung
des Gebrechlichen an geordnet werden, es sei
denn, daß eine Verständigung mit ihm nicht
möglich ist.
§ 1920. Eine nach § 1910 angeordnete Pfleg¬
schaft ist von dem Vormundschaftsgericht
aufzuheben, wenn der Pflegebefohlene die
Aufhebung beantragt.
§ 1909. Wer unter elterlicher Gewalt oder
unter Vormundschaft steht, erhält für Ange¬
legenheiten, an deren Besorgung der Gewalt¬
haber oder der Vormund verhindert ist, einen
Pfleger. Er erhält insbesondere einen Pfleger
zur Verwaltung des Vermögens, das er von
Todes wegen erwirbt oder das ihm unter Leben-
Die Entmündigung.
488
den von einem Dritten unentgeltlich zugewen¬
det wird, wenn der Erblasser durch letztwil¬
lige X'erfügung^), der Dritte bei der Zuwen¬
dung bestimmt hat, daß dem Gewalthaber
oder dem Vormunde die Verwaltung nicht zu¬
stehen soll.
Tritt das Bedürfnis einer Pflegschaft ein,
so hat der Gewalthaber oder der Vormund dem
Vormundschaftsgericht unverzüglich Anzeige
z u m a c h e n.
Die Pflegschaft ist auch dann anzuordnen,
wenn die Voraussetzungen für die Anordnung
einer Vormundschaft vorliegen, ein Vormund
aber noch nicht bestellt ist.
Die vorstehenden Paragraphen zeigen, daß es eine Pfleg¬
schaft sowohl für Minderjährige als auch für Volljährige gibt. Bei
letzteren wird sie eingesetzt, wenn besondere Gebrechen körper¬
licher oder geistiger Art vorhanden sind — mögen die Patienten
entmündigt sein und einen Vormund haben, der nur an der Be¬
sorgung bestimmter Angelegenheiten verhindert ist (§ 1909)
oder mögen sie nicht unter Vormundschaft stehen (§ 1910) —;
bei den Minderjährigen wird ein Pfleger bestellt, wenn der Ge¬
walthaber oder der Vormund verhindert ist, bestimmte Angelegen¬
heiten zu regeln, besonders dann, wenn dem Minderjährigen Ver¬
mögen zufällt, das bestimmungsgemäß von dem Vormund oder
Gewalthaber nicht verwaltet werden soll.
Pflegschaft und Vormundschaft haben das eine gemeinsam,
daß sie keine vorläufigen Maßregeln darstellen (K.G. 7. 12. 03;
Das Recht 1904, Nr. 1846).
Der wesentlichste Unterschied der Pflegschaft gegenüber
der Vormundschaft besteht darin, daß die Pflegschaft, mit Aus¬
nahme der Bestimmung des § 1910 Abs. i, immer nur für einen
ganz bestimmten, umschriebenen Interessenkreis eingesetzt
wird“). Innerhalb dieses Kreises vertritt der Pfleger seine
*) Die formelle und materielle Gültigkeit des Testaments ist zu
prüfen. (K.O.E. 22 A. 25 und K.G. 22. 4. 01; Das Recht 1901, Nr. 2203.)
“) Der Geschäftskreis des Pflegers bestimmt sich ausschließlich nach
der über seine Verpflichtung aufgenommenen Verhandlung, auch wenn
sein Geschäftskreis in der Bestallung anders beschrieben ist. (K.G. 29. 9.
11; Das Recht 1912, Entsch. Nr. 2287; ebenso Seuff. Arch. 1904, 3, S. 7.)
Pflegschaft.
489
Pflegebefohlenen'), während der letztere im übrigen, falls er die
Geschäftsfähigkeit überhaupt besitzt, völlig geschäftsfähig bleibt.
Von den Vorbedingungen, welche für die Einsetzung einer
Pflegschaft gegeben sind, interessiert hier nur eine, nämlich die
Pflegschaft wegen geistiger Gebrechen.
Unter geistigen Gebrechen versteht das Reichsgericht nach
einer Entscheidung vom 10. 5. 06 (Jur. Wochenschr. 1906, 377)
jede geistige Störung. Es kommt nicht auf die Art der geistigen
Erkrankung, es kommt auch nicht auf den Grad an, den dieselbe
erlangt hat. Es kann z. B. auch bei Geisteskrankheit und Geistes¬
schwäche i. S. des § 6 B.G.B. eine Pflegschaft eingesetzt werden
(K.G. 15. 2. 05; Das Recht 1906, Nr. 2325; R.G. 10. 5. 06; Das
Recht 1907, Nr. 1115; Ü.E.G. Posen 14. 8. 07; Das Recht 1908,
Nr. 1820).
Auf Grund des § 1910 Abs. 2 kann einem Geisteskranken
oder Geistesschwachen auch dann ein Pfleger bestellt werden,
wenn der Pflegebedürftige seine Angelegenheiten in ihrer
Gesamtheit nicht zu besorgen vermag, aber nur für einzelne
Angelegenheiten die Notwendigkeit der Fürsorge, ev. möglichst
schleuniger Fürsorge gegeben ist. Dieser Fall wird insbesondere
dann leicht eintreten, wenn der Entmündigungsantrag gestellt
ist, aber die Bestellung des gesetzlichen V'ertreters sich noch
verzögert, oder häufig auch dann, wenn gar kein Entmündigungs¬
antrag gestellt wird, weil es sich um geistige Gebrechen handelt,
die in absehbarer Zeit Heilung versprechen. (Vergl. hierzu die
auch über die Entstehungsgeschichte des § 1910 sich ausspre¬
chende sehr interessante Entscheidung des R.G. IV. 6. 10. 02
Entsch. d. R.G., Bd. 52, S. 240.)
Es muß vielmehr nur ein geistiges Gebrechen bestehen und
den Patienten verhindern, einzelne seiner Angelegenheiten oder
einen bestimmten Kreis derselben zu besorgen.
Ist eine Verständigung mit dem Patienten möglich, so muß
er seine Zustimmung zur Pflegschaft geben; ist eine solche nicht
möglich, so kann die Pflegschaft auch ohne dem eingesetzt werden.
Dagegen ist die bloße Schwierigkeit einer Verständigung kein
hinreichender Grund für die Anordnung einer Pflegschaft ohne
') Spezialfälle s. R.Q. 18. 2 . 07; Das Recht 1907, Nr. 899 (betr. § 1667
und 1670 B.O.B.), sowie R.Q. 5. 5. 03; Jur. Wochenschr. 1903, S. 64 (hefr.
§§ 1793, 1915 B.Q.B. und §§ 56, 473, 477, 612 Z.P.O.).
490
Die Entmündigung.
Einwilligung des Gebrechlichen. In solchen Fällen wird es ratsam
sein, einen Sachverständigen zu Rate zu ziehen.
Bei dieser Sachlage erhebt sich die Frage: „Was ist unter
.Verständigung' zu verstehen?“ Die Antwort darauf
geben einige Entscheidungen höchster Gerichtshöfe, die hier wegen
ihrer Wichtigkeit teilweise zitiert seien.
Danach ist eine Verständigung mit dem Gebrechlichen im Sinne
des § 1910 dann möglich, wenn ihm die Absicht und Bedeutung
der Pflegschaftsanordnung verständlich gemacht werden kann und
der Gebrechliche seinerseits imstande ist, sich in einer dem Gericht
verständlichen Weise über sein Einverständnis mit der beabsichtigten
Maßregel zu äußern. Auch bei dieser Auffassung kann selbstverständ¬
lich Geisteskrankheit nach ihrer besonderen Beschaffenheit eine Ver¬
ständigung mit dem Kranken als nicht möglich erscheinen lassen; aber
es kann nicht zugegeben werden, daß jede Geisteskrankheit im Sinne
des § 104, 2 B.G.B. ohne weiteres die Möglichkeit einer Verständigung
ausschließt; es wird dies vielmehr in jedem einzelnen Falle besonderer
Prüfung und Feststellung bedürfen. Das Recht 1905, Nr. 1905.
Ähnlich spricht sich folgende Entscheidung aus:
Die im § 1910 Abs. 3 B.G.B. erforderte Einwilligung des Ge¬
brechlichen in die Anordnung der Pflegschaft hat nicht die Bedeutung,
daß ohne sie das die Fürsorge erforderlich machende geistige Ge¬
brechen nicht festgestellt werden könnte, sondern kommferst in Frage,
wenn das Gebrechen festgestellt ist. Die Pflegschaft soll dem Ge¬
brechlichen nicht aufgedrängt werden.
Die Vergleichung mit dem Anfechtungsrecht, das im Entmün¬
digungsverfahren nach § 664 Z.P.O. auch dem Geisteskranken zusteht,
trifft daher nicht zu. Der Beschwerdeführer ist über die Anordnung
der Pflegschaft gehört worden, sein Widerspruch ist aber deshalb nicht
für maßgebend erachtet worden, weil angenommen wurde, daß in
dieser mit seinen Beziehungen zu X. zusammenhängenden Angelegen¬
heit seine freie Willensbestimmung durch die krankhaften Verfolgungs¬
vorstellungen ausgeschlossen sei.
Darin ist eine irrige Auffassung der Vorschriften des § 1910 Abs. 3,
des § 104 Nr. 2, des § 105 B.G.B. nicht zu finden. Wenn der Be¬
schwerdeführer in der Frage, ob er der Anordnung einer Pflegschaft
zustimmen solle, unter der Herrschaft von Wahnvorstellungen stand,
die seine freie Willensbestimmung ausschlossen, so war in dieser An¬
gelegenheit eine Verständigung mit ihm nicht möglich, sein Widerspruch
erschien nicht als das Ergebnis einer Verständigung, sondern als ein
Einfluß seiner krankhaften Vorstellungen und vermochte deshalb die
Anordnung der Pflegschaft nicht zu hindern. (Bayr. O.L.G. 6. 5. 05.)
Das Recht 1905, Nr. 1479.
Ähnlich sprechen sich noch folgende Entscheidungen aus:
K.G. 9. 3. 05; Das Recht 1906, Nr. 318. Bayr. O.L.G. 20. 10. 06;
Pflegschaft.
491
Das Recht 1906, Nr. 3207. K.G. 4. 4. ü 8; Das Recht 1908,
Nr. 2576. Bayr. O.L.G. 26. i. 07; Das Recht 1907, Nr. 471.
R.G. 21. 2. 07; Das Recht 1907; Nr. 900.
Daraus ergibt sich, daß eine Verständigung mit einem Men¬
schen nur dann möglich ist, wenn seine Erwägungen über die
Einsetzung einer Pflegschaft nicht von krankhaften Motiven be¬
einflußt werden und wenn er in der Lage ist, seinen Entschluß in
verständlicher Form vorzubringen.
Am häufigsten werden einer X’erständigung wohl Wahn¬
vorstellungen hinderlich sein ; weiterhin werden krankhafte Ver¬
stimmungen (z. B. bei der Manie und Paralyse) in Frage kommen,
event. auch der Schwachsinn.
Für nicht richtig halte ich es, wenn bei der letzterwähnten
Gruppe von Kranken, den entweder angeborenen Schwachsinnigen
oder infolge erworbener Geistesstörung Verblödeten die Frage der
Zustimmung einfach dadurch erledigt wird, daß man dem Kranken
ein bezügliches Schriftstück, dessen Inhalt er nicht vollkommen
verstanden hat, unterschreiben läßt.
Leppmann hat außerdem den Stand]ninkt vertreten, daß die
Möglichkeit einer \'erständigung mit dem Kranken auch dann als
ausgeschlossen anzusehen sei, wenn die Besprechung der Ange¬
legenheit von unabsehbarem Schaden für seinen Zustand werden
kann.
Daß der Gesetzgeber an diesen Fall gedacht hat, glaube ich
nicht. Es ist aber jedenfalls wertvoll, hier zu erwähnen, daß es
Leppmann, Gramer u. a. ‘) in einer Reihe von Fällen gelungen ist,
diesem Standpunkte Anerkennung zu verschaffen.
Daß übrigens solche Fälle häufig sind, in denen aus der Er¬
örterung der Angelegenheiten ein erheblicher Nachteil für den
Zustand des Patienten zu befürchten wäre, glaube ich nicht“).
Beachtenswert sind die Deduktionen von Schäfer“), der das
Recht zur Einleitung einer Pflegschaft für solche Fälle aus § 1911
herleitet ^).
') Sachverst.-Zeitg. 19Ui).
“) Im Gegensatz zu Leppmann.
“) Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medizin. Bd. 20, S. 86 u. ff.
■*) § 1911. Lin abwesender Volljähriger, dessen Aufenthalt unbekannt
ist. erhält für seine Vermögensangelegenheiten, soweit sie der Fürsorge
bedürfen, einen Abwesenheitspfleger. Lin solcher Pfleger ist ihm ins¬
besondere auch dann zu bestellen, wenn er durch Lrteilung eines Auf-
492
Die Entmündigung.
Daß ein Insasse einer Irrenanstalt unter Umständen die Be¬
dingungen der Abwesenheit im Sinne des § 1911, 2 erfüllen kann,
ist leicht einzusehen. Es sei in dieser Beziehung nur auf die Aus¬
führungen bezüglich der Ersatzzustelluiig verwiesen.
Auf die Pflegschaft finden gemäß § 1915 B.G.B. die für die
Vormundschaft geltenden Vorschriften Anwendung mit folgenden
Ausnahmen: a) Die Bestellung eines Gegenvormundes ist nicht
erforderlich (§ 1915, 2); b) die Vorschriften über die Berufung
zum Vormund gelten nicht (§ 1916). Das Vormundschaftsgericht
hat sie von Amts wegen anzuordnen. Jeder deutsche Rcichs-
angeiiörige ist zur Übernahme einer Pflegschaft im gleichen Um¬
fange verpflichtet, wie zur Übernahme einer Vormundschaft. Wer
nicht Vormund werden kann, kann auch nicht Pfleger werden usw.
Vor der Auswahl des Pflegers ist der Gemeindewaisenrat zu
hören. Der Gebrechliche braucht über die Person des Pflegers
nicht gehört zu werden, doch empfiehlt es sich, seinen Wün¬
schen namentlich dann Rechnung zu tragen, wenn er geistig
abnorm ist^).
Der Pfleger erhält eine Bestallung, in der sein Wirkungskreis
genau auszusprechen ist (s. Planck). In dem ihm zugewiesenen
Wirkungskreis ist der Pfleger gesetzlicher Vertreter des Pflege¬
befohlenen. Es können aber, soweit er in der Geschäftsfähigkeit
nicht beschränkt“) ist, von und gegenüber dem Pflegebefohlenen
Rechtsgeschäfte vorgenommen werden. Da, wo der Pfleger und
der Pflegebefohlene in gleicher Sache gehandelt haben, gilt die
zuerst vorgenommene Handlung. Haben beide gleichzeitig und
sich widersprechend gehandelt, .so muß die Nichtigkeit beider
Handlungen angenommen werden.
Der in einem Rechtsstreite durch einen Pfleger V'ertretene
steht für diesen Rechtsstreit einem nicht Prozeßfähigen gleich
(§ 53 Z.P.O.; vergl. auch § 473 Z.P.O.).
träges oder einer Vollmacht Eiirsorge getroffen hat, aber Umstände ein¬
getreten sind, die zum Widerrufe des Auftrags oder der Vollmacht Anlaß
geben.
Das Gleiche gilt von einem Abwesenden, dessen Aufenthalt bekannt,
der aber an der Rückkehr und der Besorgung seiner Vermögens¬
angelegenheiten veriiindert ist.
D In dieser Hinsicht sei auf die Ausführungen zur Vormundschaft
verwiesen. (Vergl. S. 439.)
“) Ein Eall. der hei geistig Gebrechlichen kaum je eintreten wird.
Pflegschaft.
493
Von den sonstigen rechtlichen Wirkungen der Pfleg¬
schaft seien folgende genannt: a) die dem Pflegebefohlenen zn-
stehende elterliche Gewalt ruht (§§ 1676, 2; 1686). Nach
§§ 1781, 2; 1792, 4; 1694, i; 1866, 2; 1915 soll nicht zum Vor¬
mund, Gegenvormund, Beistand, Familienratsmitglied oder Pfleger
bestellt werden, wer nach § 1910 zur Besorgung seiner Ver¬
mögensangelegenheiten einen Pfleger erhalten hat. Eine Ehefrau,
deren Mann nach § 1910 (Abs. i u. 2) zur Besorgung seiner Ver-
mögensangelegenheiten einen Pfleger erhalten hat, kann beim ge¬
setzlichen Güterstand auf Aufhebung der \'erwaltung und Nutz¬
nießung, bei Errungenschaftsgemeinschaft auf Aufhebung der¬
selben Klagen (§§ 1418 Abs. i Nr. 4; 1542; s. auch 1425:
1547, 2: 1548), bei Gütertrennung den von ihr zur Bestreitung
des ehelichen Aufwands zu leistenden Beitrag insoweit zur eigenen
\'erwendung zurückbehalten, als er zum Unterhalt für sie und
die gemeinschaftlichen Abkömmlinge erforderlich ist (§ 1428, 2).
Endlich ist gemäß § 2201 die Ernennung eines Testamentsvoll¬
streckers unwirksam, wenn er zu der Zeit, zu w’elcher er das Amt
anzutreten hat, nach § 1910 Abs. i u. 2 zur Besorgung seiner
Vermögensangelegenheiten einen Pfleger erhalten hat (s. auch
§ 2225). (Staudinger.)
Auch bei der Pflegschaft wegen geistiger Gebrechen findet
fast regelmäßig eine — gesetzlich zwar niclit vorgeschriebene —
Mitwirkung von Sachverständigen statt, namentlich dann, wenn
es sich um Anstaltskranke handelt. Gefragt wdrd, ob die Möglich¬
keit einer Verständigung vorliegt’). —
§ 1918 Abs. 3. Die Pflegschaft zur Besorgung
einer einzelnen Angelegenheit endigt mit deren
Erledigung.
Was die Aufhebung der Pflegschaft anlangt, so
muß dieselbe durch das Vormundschaftsgericht erfolgen, wenn
der Grund für ihre Anordnung weggefallen ist (§ 1919). Eine
’) Dem Pflegschaftsattest gaben wir folgende Form:
Zwecks Antrags auf Einleitung einer Pflegschaft wird über den (es
folgen genaue Personalien) Nachstehendes ärztlich bescheinigt:
Herr X. leidet an einer (es folgen die wichtigsten Symptome) ein¬
hergehenden geistigen Störung. Er vermag seine Vermögensangelegen¬
heiten nicht zu besorgen. Die Möglichkeit einer Verständigung mit ihm
im Sinne des § 1910 B.O.B. ist gegenwärtig nicht als vorliegend an¬
zusehen.
494
Die Entmiindigiing.
wej'en körperlicher oder geistiger Oel)rechlichkeit angeordnete
l’flegscliaft ist gleichfalls vom Vürminulschaftsgericht aufzuheben,
wenn der Pflegebefohlene die Aufhebung beantragt (§ 1920).
Jedoch brauclit die Aufhebung in diesem Falle auf den Antrag
des Pflegebefohlenen nicht ohne weiteres zu erfolgen. Der An¬
trag muß vielmehr von dem Pflegebefohlenen „mit voller Erkennt¬
nis der Sachlage gestellt sein“. (K.G. v. 26. 9. 04; Entsch. d. K.G.
Ud. 28 A, S. 176 u. Das Recht 1905, Nr. 131.)
Ausführlich spricht sich über diese Frage eine Reichsgerichts¬
entscheidung vom 21. Febr. 1907 (Jur. Wochenschr., Bd. 36,
S. 198) aus.
Darin heißt es folgendermaßen:
Gemäß § 1910 Abs. 3 darf die Pflegschaft nur mit Einwilligung
des Gebrechlichen angeordnet werden, es sei denn, daß eine Ver¬
ständigung mit ihm nicht möglich ist. Die Willenserklärung einer
Person, die sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden
Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, ist recht¬
lich unwirksam, gleichgültig, ob die Störung der Geistestätigkeit
dauernd oder vorübergehend sei. (§ 105 Abs. 1 und § 104 Nr. 2 und
§ 105 Abs. 2 B.G.B.)
Von der Willenserklärung einer solchen Person läßt sich die An¬
ordnung der Pflegschaft nicht abhängig machen. In einem derartigen
Falle greift die Ausnahme Platz. § 1910 Abs. 3.
Der Einwilligung bedarf es nicht, weil eine Verständigung mit
dem Gebrechlichen nicht möglich ist. ln Übereinstimmung mit den
Beschlüssen des Kammergerichts vom 22. Jan. 1900 (Deutsche Jur.-
Zeitg. S. 142, 4. Sept. 1900 (R.J.A. 1, 133) und vom 21. Jan. 1901
(O.L.G.R.Str. 2. 234), sowie dem Beschlüsse des Bayerischen Ober¬
landesgerichtes vom 6. Mai 1905, hat de.shalb das Reichsgericht in
dem Beschlüsse vom 10. Mai 1906 (J.W.S.*376 Nr. 2) — allerdings im
Gegensätze zu dem Beschlüsse des Kammergerichts vom 9. Mürz 1905
(R.J.A. 6, 2) — ausgesprochen, daß, wenn der Gebrechliche im Sinne
des § 104 Nr. 2 keinen freien Willen hat, seine Einwilligung für die
Anordnung der Pflegschaft nicht erforderlich ist.
Im Zusammenhang mit der Bestimmung des § 1910 Abs. 3 steht
die Vorschrift des § 1920, wonach die nach § 1910 angeordnete Pfleg¬
schaft aufzuheben ist, wenn der Pflegebefohlene die Aufhebung bean¬
tragt. Daß der Aufhebungsantrag nicht zu beachten ist, wenn eine
Verständigung mit dem Pflegebefohlenen nicht möglich ist, bestimmt
§ 1920 nicht.
Einer solchen Bestimmung bedurfte es nicht, im § 1910 war die
Ausnahmebestimmung erforderlich, weil eine Willenserklärung des
Gebrechlichen für die Anordnung der Pflegschaft verlangt ist; im
S 1920 war sie entbehrlich, weil die Pflegschaft bestehen bleibt, wenn
kein wirksamer Antrag besteht. Bei der Anwendung der
Familienrecht der Geistesgestörten.
495
Vorschrift des § 1920 kommt es also nicht sowohl
darauf an, ob eine Verständigung mit dem Gebrech¬
lichen möglich ist, sondern vielmehr darauf, ob
dem von ihm erklärten Willen, es möge die Pfleg¬
schaft aufgehoben werden, rechtliche Bedeutung
z u k 0 m m t. Ist die Willenserklärung des Gebrechlichen des § 105
Abs. 1 0 . 2 nichtig, so kann sie keine Beachtung finden. Diese Auf¬
fassung hat auch das Kammergericht in den Beschlüssen vom 23. Jan.
1900 und 4. Sept. 1900 vertreten.
Aus dem weiteren Inhalt dieser Entscheidung ist noch
folgendes wichtig:
„Allerdings bedarf es, wenn der Pflegebefohlene die Aufhebung
der Pflegschaft beantragt, keines Nachweises, daß die Sachlage sich
verändert habe, der Pflegebefohlene wieder imstande sei, seine An¬
gelegenheiten wieder selbst besorgen, allein die Prüfung ist er¬
forderlich, ob die Willenserklärung des Pflegebefohlenen rechtlich
wirksam ist.“
Hinzugefügt sei noch, daß durch den Justizministerialerlaß
vom 28. Nov. 1899 die Staatsanwaltschaften durch Erlaß des
preußischen Ministers der geistigen Angelegenheiten vom 5. März
1900 die Vorsteher von Privatirrenanstalten, durch Erlaß vom
22. Juli 1903 die Besuchskommission für Privatanstalten an¬
gewiesen worden sind, solche Fälle, in denen eine Pfegschaft an¬
gezeigt erscheint, dem Vormundschaftsgericht zur Kenntnis zu
bringen. Die Besuchskommission soll wiederum in dem Be¬
sichtigungsbericht etwaige Mängel, die in dieser Hinsicht hervor¬
treten, der Vorgesetzten Behörde mitteilen.
Familienrecht der Geistesgestörten.
Das Bürgerliche Gesetzbuch enthält im ersten Abschnitt des
vierten Buches die Bestimmungen über die bürgerliche Ehe. Von
ihnen soll im folgenden die Rede sein, soweit sie die Beziehungen
zwischen geistigen Störungen und Ehe betreffen.
In Betracht kommen dabei in erster Linie die Titel: I. Ver¬
löbnis, II. Eingehung der Ehe, HI. Nichtigkeit und Anfechtbar¬
keit der Ehe, IV. Scheidung der Ehe. Daneben wird aber auch
auf das eheliche Güterecht einzugehen sein. —
Die Ehe ist ein Vertrag zwischen Mann und Weib zur Her¬
stellung völliger Lebensgemeinschaft. (Cosack, Fischer-Henle.)
Sie begründet aber nicht allein ein rechtliches Vertragsverhältnis,
sondern auch sittliche Rechte und Pflichten, die aber bei Be-
496
Familieiirecht der Geistesgestörten.
urteilung der Rechtslage gleichfalls in Betracht korninen (R.G.
14. I. 04).
Das Verlöbnis.
Der Ehe geht ein Verlöbnis vorauf, das gleichfalls bereits
familienrechtliche Verhältnisse begründet.
Was unter Verlöbnis zu verstehen ist, ergibt sich aus dem
Gesetz direkt nicht. Planck definiert es als das gegenseitige Ver¬
sprechen der Ehe. Die Parteien müssen sich darüber einig sein,
daß sie sich ehelichen wollen. Dies braucht nicht ausdrücklich er¬
klärt zu sein, es muß aber aus den Umständen hervorgehen, daß
ein gegenseitiges Elieversprechen gegeben worden ist').
Ein Minderjähriger oder beschränkt geschäftsfähiger’) Voll¬
jähriger bedarf zur Eingehung eines Verlöbnisses der Einwilligung
seines gesetzlichen Vertreters (R.G. 21. 9. 05; Das Recht 1906,
Nr. 708).
§ 1297, I. Aus einem Verlöbnisse kann nicht
auf Eingehung der Ehe geklagt werden.
Das Versprechen einer Strafe für den Fall,
daß die Eingehung der Ehe unterbleibt, ist
nichtig.
§ 1298. Tritt ein Verlobter von dem Ver¬
löbnisse zurück, so hat er dem anderen Ver¬
lobten und dessen Eltern sowie dritten Per¬
sonen, welche an Stelle der Eltern gehandelt
haben, den Schaden zu ersetzen, der daraus
entstanden ist, daß sie in Erwartung,der Ehe
Aufwendungen gemacht haben oder V'e r b i n d -
lichkeiten ein gegangen sind. Dem a'»» deren
Verlobten hat er auch den Schaden zu ersetzen,
den dieser dadurch erleidet, daß er in Erwar¬
tung der Ehe sonstige sein Vermögen oder seine
Erwerbsstellung berührende Maßnahmen ge¬
troffen hat.
') Das R.G. spricht von „wechselseitig gegebenen und angenommenen
Versprechen“. (R.G. 21. 9. 05; Das Recht 1906, Nr. 708.)
’) Ein Geschäftsunfähiger kann überhaupt kein rechtsgültiges Ver¬
löbnis eingehen. (Planck.) ^
(
/
/
/
t
}
/
Das Verlöbnis.
497
Der Schaden ist nur insoweit zu ersetzen,
als die Aufwendungen, die Eingehung der Ver¬
bindlichkeiten und die sonstigen Maßnahmen
den Umständen nach angemessen waren.
Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn ein
wichtiger Grund für den Rücktritt vorliegt.
Es fragt sich zunächst, was im Rahmen dieses Buches als
wichtiger Grund für den Rücktritt anzusehen ist. Hierüber be¬
sagt eine R.G.-Entscheidung folgendes:
Die Parteien waren verlobt; die Beklagte trat von dem Ver¬
löbnis zurück. Mit Rücksicht auf diesen Rücktritt beantragte der
Kläger auf Grund des § 1298 B.Q.B., die Beklagte zur Zahlung von
8010,30 M. nebst 4"/o Zinsen seit dem 29. Nov. 1904 zu verurteilen.
Die Beklagte machte geltend, daß sie aus wichtigen Gründen zurück¬
getreten sei. Sie behauptete, der Kläger sei, wie sie erst nach der
Verlobung erfahren habe, morphiumsüchtig, er sei ferner ein gewalt¬
tätiger Mensch, er habe sie als verrückt hingestellt, er habe ihr falsche
Angaben über sein Einkommen gemacht, sein Bruder sei geisteskrank
gewesen. Klage, Berufung und Revision wurden zurückgewiesen. Die
Angriffe der Revision sind nicht begründet; das Berufungsgericht hat
es mit Recht abgelehnt, bei Prüfung der Frage, ob ein wuchtiger Grund
zum Rücktritt von einem rechtsgültig geschlossenen Verlöbnisse im
Sinne des § 1298 B.G.B. gegeben ist, die Grundsätze des B.G.B. über
Ehescheidung entsprechend in Anwendung zu bringen. Auch die
weitere Annahme ist nicht zu beanstanden, daß unter Umständen sach¬
lich berechtigte, erhebliche Bedenken eines Verlobten gegen wesent¬
liche Eigenschaften des anderen Teils, die nachträglich entstanden,
aber nicht frivol hervorgesucht sind, einen wichtigen Grund zur Ab¬
lehnung der Eheschließung bilden können. Dagegen ist daran fest¬
zuhalten, daß die gedachten Bedenken sich auf erhebliche Tatsachen
stützen müssen, die nach der in den Gesellschaftskreisen der Ver¬
lobten herrschenden Auffassung bei einer sachlichen, die Umstünde
des einzelnen Falles berücksichtigenden Würdigung geeignet gewesen
wären, den zurücktretenden Verlobten von der Eingehung des Ver¬
löbnisses abzuhalten. Eine solche tatsächliche Grundlage ist von dem
Berufungsgericht in bedenkenfreier Weise festgestellt worden. (R.G.
IV. 24. 1. 07.) Jur. Wochenschr. 1907, S. 178.
Nervöse Leiden *) geben, wenn die Heilung für absehbare
Zeit ausgeschlossen ist oder das Leiden einen solchen Grad er¬
reicht hat, daß dem Verlobten nicht nur für jetzt, sondern auch
für später die Eheschließung nicht zuzumuten ist, einen gerecht-
') Die in einzelnen Kommentaren erwähnten „Gewissensbedenken“
werden häufig auch nichts anderes sein, als der Andruck einer nervösen
Depression.
Hübner, Foreneische Psychiatrie. 32
498 Familienrecht der Geistesgestörten.
fertigten Grund’), sich für immer von dem Verlöbnis frei zu
machen (R.G. 18. 4. 07; Das Recht 1907, Nr. 1447).
Ausdrücklich bemerkt sei, daß die Beweislast für das Vor¬
liegen eines wichtigen Grundes den Zurücktretenden trifft.
Eingehung der Ehe.
Heiraten darf nur derjenige, der ehemündig ist. Die Ehe-
unmündigkeit bildet ein Ehehindernis.
Die Ehemündigkeit des normalen Menschen regelt sich
nach § 1303 B.G.B.
Ein Mann darf nicht vor dem Eintritte der
Volljährigkeit, eine Frau darf nicht vor der
Vollendung des 16. Lebensjahrs eine Ehe ein¬
geh en. ‘
Einer Frau kann Befreiung von dieser Vor¬
schrift bewilligt werden.
Mann und Frau sind bezüglich der Ehefähigkeit verschieden
behandelt. Beim Mann ist die Möglichkeit, eine Ehe zu schließen,
an den Eintritt der Volljährigkeit geknüpft, d. h., der Mann muß
entweder das 21. Lebensjahr vollendet haben, oder er kann unter
Umständen auch zwischen dem 18. und 21. Lebensjahre heiraten,
wenn er vorher für volljährig erklärt worden ist (vergl. § 3
B.G.B.).
Die Frau kann im allgemeinen nach Vollendung des
16. Lebensjahres heiraten, unter Umständen sogar (z. B. bei un¬
ehelicher Gravidität) noch früher, doch muß sie in diesem Falle
von der V'orschrift des § 1303 B.G.B. befreit werden. Die Be¬
freiung ist bei dem Bundesstaate nachzusuchen, dem die Frau an-
gehört. Handelt es sich um eine Deutsche, die keinem Bundes¬
staate angehört, so steht die Bewilligung dem Reichskanzler zu
(§ 1322 B.G.B.).
Bei Frauen, die das 16., aber noch nicht das 21. Lebensjahr
vollendet haben, sowie bei allen nach § 114 B.G.B. beschränkt
Geschäftsfähigen, bedarf es zur Eheschließung der Zustimmung
des gesetzlichen Vertreters. Ist der gesetzliche Vertreter ein Vor¬
mund, so kann die Einwilligung, wenn sie von ihm verweigert
’) Weitere Beispiele von wichtigen Gründen s. E.R.G. 52, 46; 58,
254; Jur. Wochenschr. 1906, S. 65; E.R.G. Recht 1908, Nr. 3275; Seuff.
Arch. 56, Nr. 153; 58, Nr. 100; Ü.L.G. 11, 278.
Eingehung der Ehe.
499
wird, auf Antrag de.s Mündels durch das Vormundschaftsgericht’)
ersetzt werden. Das Vormundschaft-sgericht hat die Einwilligung
zu ersetzen, wenn die Eingehung der Ehe im Interesse des Mün¬
dels liegt (§ 1304 B.G.B).
Bei der hohen Bedeutung, welche die ganze Menschheit der
Institution der Ehe beilegt, war es natürlich, daß auch der Fall,
daß geistig Gestörte heiraten wollen, im Gesetz vorgesehen wurde.
Um die Eheschließung derartiger Kranker zu er¬
schweren, enthält das Gesetz über die Beurkundung des Personen¬
standes und die Eheschließung, vom 6. Febr. 1875 folgende Be¬
stimmung:
§ 48. Kommen E h e lii n d e r n i s s e zur Kennt¬
nis des Standesbeamten, so hat er die Ehe¬
schließung a b z u 1 c h n e u.
Ein solches Ehehindernis ist außer der erwähnten mangelnden
Ehemündigkeit auch nach § 1304 B.G.B. die beschränkte
Geschäftsfähigkeit.
Hält der Standesbeamte den Kranken für geschäfts¬
unfähig, .so muß er die Eheschließung ablehnen-), denn die
Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist in jedem Falle
nichtig ^).
Ist die Ehe geschlossen, ohne daß der geistige Zu¬
stand des kranken Gatten richtig erkannt wurde, so bestehen zwei
Möglichkeiten: die Ehe kann für nichtig erklärt oder angefochten
werden.
Wird ein Arzt von den .'\ngehörigen, dem Vormund oder
X'ormundschaftsgericht befragt, ob die Eheschließung im Inter¬
esse des beschränkt Geschäftsfähigen liegt, so wird er sich fast
stets ablehnend verhalten müssen, gleichgültig aus welchem
’) Bei PriifiiMK der Qriiiide zur Erteilung der Oenehniigung sind niciit
allein die wirtschaftlichen, sondern auch die ethischen Verhältnisse zu
prüfen. (Bayr. O.L.G. H). 2. 11; Das Recht 1911. Nr. 1.147.)
“) Besonders genau sollte der Standesbeamte bei Eheschließungen
kurz vor dem Tode prüfen, ob der Zustand des Patienten kein Ehehinder-
nis darstellt, namentlich dann, wenn Schmerzen den Kranken, im Verein
mit Fieber und narkotischen Mitteln den Wünschen einer geschickten
Frau gefügig gemacht haben (E. Schnitze).
Hat der Standesbeamte eine Eheschließung wegen Geisteskrank¬
heit des einen Verlobten abgelehnt, so kann letzterer das Beschwerde¬
recht nur durch einen Vormund ausüben, falls das Beschwerdegericht die
Ansicht des Standesbeamten teilt. Das Recht 1912, Nr. 282.
32»
500 Faxnilienrecht der Oeistesgestörten.
Grunde die Entmündigung stattgefunden hat, ob es sich um Ver¬
schwendung, Trunksucht oder Geistesschwäche handelte.
Bezüglich der Verschwender ist ja oben bereits ausgeführt
worden, daß es sich oft um geistig minderwertige Menschen
handelt und solche bieten im allgemeinen nicht die Gewähr, daß
sie gute Ehegatten abgeben, abgesehen davon sind sie es gerade,
deren Fortpflanzung am wenigsten wünschenswert ist. Dasselbe
gilt für die Trinker; bei Letzteren ist daran zu denken, daß die
Nachkommenschaft durch das Leiden des Vaters äußerst ge¬
fährdet ist.
Bei Geistesschwachen wird man am ehesten, namentlich bei
ruhigen, harmlosen, leicht schwachsinnigen Menschen eine Ehe-
.schließung befürworten können, insbesondere dann, wenn in der
Familie des Partners keinerlei erbliche Belastung oder Degene¬
ration nachzuweisen ist. Wo in der Familie des anderen Teiles
erbliche Belastung vorhanden ist, da sind die Gefahren für die
Nachkommen so groß, daß der Arzt eine Eheschließung wohl
kaum jemals wird befürworten können.
Daß im übrigen derartigen m e d i z i n i s c h en Erwägungen
gegenüber die beteiligten Kreise sich sehr refraktär verhalten, ist
eine bekannte Tatsache. Gramer hat nicht mit Unrecht darauf
hingewiesen, daß bei den Eheschließungen geistig Minderwertiger
weniger moralische Erwägungen, als materielle Gesichtspunkte
in Betracht kommen und so dominieren, daß für gesundheitliche
Bedenken kein Raum mehr ist.
Soll der weibliche Teil ärztlich beraten werden, —- auch da
handelt es sich um Schw'achsinnige, Hysterische usw., — dann
bleibt zu bedenken, daß die im Volke weit verbreitete Ansicht,
der Zustand eines solchen Mädchens könne sich durch eine Ehe¬
schließung bessern, durchaus irrig ist. Man darf nicht vergessen,
daß an eine Frau in körperlicher und geistiger Beziehung viel
höhere Anforderungen in der Ehe herantreten wie an einen ^^ann.
Die Frau ist gesundheitlich auch mehr gefährdet, und zwar gerade
belastete Frauen. Bekannt ist, daß schon die Eheschließung mit
ihren ersten körperlichen Folgen mitunter Psychosen auslöst. Man
hat früher von einem sogenannten ,,nuptialen Irresein“ gesprochen.
Hinzu kommt dann die schwächende Wirkung von Entbindungen
und Laktationen. Daß auch diese Phasen im Leben des Weibes
zur Auslösung von Geisteskrankheiten geeignet sind, ist weiter
oben bereits angeführt. Ich lasse es dabei ganz dahingestellt, ob
Nichtigkeit der Ehe.
5?^
im Wochenbett Frauen häufiger geistig erkranken, als in anderen
Lebensphasen (Bischof). Unleugbar ist jedenfalls die Tatsache,
daß eine an sich geistig nicht vollkommen gesunde Frau durch ein
Wochenbett mehr gefährdet ist als eine normale Durchschnittsfrau.
Bedauerlich ist, daß auf die schweren Gefahren, denen die
„geistesschwachen“ Frauen in der Ehe entgegengehen, von ärzt¬
licher Seite nicht häufiger hingewiesen wird. Wenn das geschähe,
dann würde mancher Skandalprozeß, wie ihn uns die letzten
Jahre gebracht haben, und manche sensationelle Ehescheidung
vermieden werden.
Nichtigkeit der Ehe.
§ 1323 B.G.B. Eine Ehe ist nur in den Fällen
der §§ 1324 bis 1328 nichtig.
Dies ist z. B. der Fall, wenn bei der Eheschließung die ini
§ 1317 vorgeschriebene Form nicht beobachtet worden ist (§ 1324),
wenn einer der Ehegatten zur Zeit der Eheschließung mit einem
Dritten in rechtsgültiger Ehe lebte (§ 1326), wenn die Ehe wegen
Ehebruchs nach § 1312 verboten war (§ 1328), wenn sie zwischen
Verwandten oder Verschwägerten dem Verbot des § 1310 Abs. i
zuwider geschlossen worden ist (§ 1327).
Wichtiger als diese Bestimmungen, ist für uns der § 1325
B.G.B.;
Eine Ehe ist nichtig, wenn einer der Ehe¬
gatten zur Zeit der Eheschließung geschäfts¬
unfähig war oder sich im Z u s t a n de der Bewußt¬
losigkeit oder vorübergehender Störung der
Geistestätigkeit befand.
Die Ehe ist als von Anfang an gültig anzu-
sehen, wenn der Ehegatte sie nach dem Wegfalle
der Geschäftsunfähigkeit, der Bewußtlosig¬
keitoder der Störung der Geistestätigkeit be¬
stätigt, bevor sie für nichtig erklärt oder auf¬
gelöst worden ist. Die Bestätigung bedarf
nicht der für die Eheschließung vorgeschrie¬
benen Form.
Der Paragraph sieht drei Möglichkeiten für die Nichtigkeits¬
erklärung einer Ehe vor, nämlich: i. Geschäftsunfähigkeit, 2. das
Vorliegen eines Zustandes von Bewußtlosigkeit und 3. einer vor-
502 Faniilienrecht der Geistesgestörten.
übergehenden Störung der Geistestätigkeit zur Zeit der Ehe¬
schließung*). Wir finden hier die gleichen Gründe wieder, die
eine Willenserklärung gemäß §§ 104 u. 105 B.G.B. nichtig machen.
Uber die drei Rechtsbegriffe ist das Erforderliche in dem
Kapitel ,,Geschäftsfähigkeit“ bereits gesagt. Es sei auf die
dortigen Ausführungen der Kürze halber verwiesen. —
Am häufigsten wird die hier erörterte Möglichkeit bei Alters¬
schwachsinnigen und I’aralytikern in Betracht kommen. Die
Ersteren zeigen mitunter eine krankhafte Steigerung des Gc-
schlechtstriebes, die sie auf jede Weise unter Hintansetzung aller
sonstigen Rücksichten zu befriedigen suchen.
Wie stark dieser Trieb sein kann, lehrt z. B. folgender Fall:
*) Siehe hierzu die folgende Entscheidung:
•Nach § 1325 Abs. 1 B.G.B. ist eine Ehe nichtig, wenn einer der
Ehegatten zur Zeit der Eheschließung geschäftsunfähig war oder sich
ini Zustande der Bewußtlosigkeit oder vorübergehender Störung der
Geistestätigkeit befand. Von den Fällen der Geschäftsunfähigkeit kam
für die Klage der in § 104 Nr. 2 bezeichnete in Betracht. Schon in
erster Instanz hatte der Kläger ferner geltend gemacht, er habe sich
im Zeitpunkte der Eheschließung in einem Zustande vorübergehender
Störung der Geistestätigkeit befunden. Die Ehe der Parteien war mit¬
hin für nichtig zu erklären: 1. wenn der Kläger zur Zeit der Ehe¬
schließung sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden
Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, der seiner
Natur nach kein vorübergehender war (§ 104 Nr. 2), oder 2. wenn der
Kläger zur Zeit der Eheschließung sich im Zustande vorübergehender
Störung der Geistestätigkeit befand (§ 1325 Abs. 1). Wäre die Fassung
des Gesetzes genau, so müßte nach diesen Bestimmungen der Nach¬
weis, daß einer der Ehegatten zur Zeit der Eheschließung in einem Zu¬
stande der Störung der Geistestätigkeit sich befunden habe, zur Nichtig¬
erklärung der Ehe genügen, falls die Störung der Geistestätigkeit
vorübergehend war, dagegen müßte, wenn die Störung krankhaft und
der Zustand kein vorübergehender war, der Zustand ein die freie
Willensbestimmung ausschließender gewesen sein. Daß dies nicht
der Sinn des Gesetzes sein kann, unterliegt keinem Zweifel. Die
vorübergehende Störung der Oeistestätigkeit ist der leichtere Mangel;
es ist undenkbar, daß, wenn der Zustand der Störung der Geistes¬
tätigkeit seiner Natur nach dauernd, die Störung der Geistestätigkeit
krankhaft ist, das Erfordernis des Ausschlusses der freien Willens-
l)estimmung hinzutreten muß, dieses Moment dagegen fehlen dürfte,
wenn die Störung nicht dauernd ist. Vielmehr ist anzunehmen, daß
in jedem der beiden Fälle der Zustand ein die freie Willensbesfimmung
ausschließender sein muß. (V\ ird ausgeführt.) (Urteil v. 7. 8. 10.)
Jur. Wochenschr. 1910, S. 817.
Nichtigkeit der Ehe.
503
Ein angesehener Kommerzienrat mit einwandsfreier Vergangen¬
heit, wurde mit etwa 65 Jahren altersschwachsinnig. Er begann mit
seinen eigenen Dienstboten Liebschaften, hielt sich gleichzeitig Verhält¬
nisse und wollte eines derselben heiraten. Um dies zu verhindern, wurde
er in eine offene Kuranstalt gebracht. Hier stellte er den Dienstmädchen
nach, wo er sie sah (Klosett usw.), winkte aus dem Fenster mit Hundert¬
markscheinen, um die vorübergehenden Frauen anzulocken, wollte einen
2 m hohen Zaun überklettern, um zu einer alten Landstreicherin zu ge¬
langen und konnte nur durch sorgfältigste Bewachung gehindert werden,
nach England durchzubrennen, wo er eine alte Prostituierte heiraten
wollte.
Ähnliches kommt auch im Beginn der Paralyse und bei
Manischen vor (s. die entsprechenden Kapitel).
Gelegentlich werden in den Anfangsstadien der Dementia
praecox unüberlegte Heiraten ausgeführt (E. Schnitze), doch
geschieht das wohl seltener, als bei den anderen, hier genannten
Krankheiten. —
Die Nichtigkeit einer derartigen Ehe ist übrigens nur eine
relative (Staudinger), d. h. sie muß im Wege der Nichtigkeits¬
klage geltend gemacht werden. Ist durch Urteil die Nichtigkeit
ausgesprochen, so ist die Ehe als nie geschlossen anzusehen, bis
dahin aber als rechtsgültig zu behandeln (§ 13.29).
Die Wirkungen der Nichtigkeitserklärung ergeben sich aus dem
§ 1344 Abs. 1 (betr. Rechtsgeschäfte zwischen einem Dritten und
einem Ehegatten), § 1345 (betr. vermögensrechtlicher Beziehungen und
Unterhaltspflicht der Ehegatten, § 1699 (Ehelichkeit des Kindes), § 1700
(Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kind), § 1701 (Verlust der Vater¬
schaftsrechte des in bösem Glauben befindlichen Vaters), § 1702 (Rechte
der in bösem Glauben befindlichen Mutter), § 1703 (Unterhaltspflicht
des Vaters bei bösem Glauben beider Eltern).
W'eiterhin seien angeführt § 1721 (Legitimation von Kindern, die
infolge Nichtigkeit der Ehe unehelich sind) und § 1313 (Wartezeit der
Frau vor Eingehung einer neuen Ehe), § 1590 (keine Begründung der
Schwägerschaft), § 2077, 1 (Unwirksamkeit letztwilliger Verfügungen),
§ 2268 (Begrenzung der Wirksamkeit gemeinschaftlicher Testamente),
§ 2279 (vertragsmäßige Zuwendungen und Auflagen), § 1931 (Erbfolge
des überlebenden Ehegatten). § 1771 (Eheschließung von Personen, die
durch Annahme an Kindesstatt verbunden sind), § 1899 (Berufung zur
Vormundschaft bei Nichtigkeit der Ehe). —
Die relative Nichtigkeit der gemäß § 1325 R.G.R. nichtigen
Ehe ist heilbar und zwar durch nachträgliche Bestätigung, die
nicht in den Formen der Eheschließung zu erfolgen braucht.
504
Familienrecht der Geistesgestörten.
Anfechtung der Ehe^).
§ 1331 ß.G.B. Eine Ehe kann von dem Ehe¬
gatten angefochten werden, der zur Zeit der
Eheschließung oder im Falle des § 1325 zur
Zeit der Bestätigung in der Geschäftsfähig¬
keit beschränkt war, wenn die Eheschließung
oder die Bestätigung ohne Einwilligung seines
gesetzlichen Vertreters erfolgt ist.
§ 1332. Eine Ehe kann von dem Ehegatten
angefochten werden, der bei der Eheschließung
nicht gewußt hat, daß es sich um eine Ehe¬
schließung handle, oder dies zwar gewußt hat,
aber eine Erklärung, die Ehe eingehen zu
wollen, nicht hat a b g e b e n wollen*).
§ 1333 - Eine Ehe kann von dem Ehegatten
angefochten werden, der sich bei der Ehe¬
schließung in der Person des anderen Ehegatten
oder über solche persönliche Eigenschaften
des anderen Ehegatten geirrt hat, die ihn bei
Kenntnis der Sachlage und bei verständiger
Würdigung des Wesens der Ehe von der Ein¬
gehung der Ehe ab gehalten haben würden.
§ 1334. Eine Ehe kann von dem Ehegatten
angefochten werden, der zur Eingehung der
Ehe durch arglistige Täuschung über solche
Umstände bestimmt worden ist, die ihn bei
Kenntnis der Sachlage und bei verständiger
Würdigung des Wesens der Ehe von der Ein¬
gehung der Ehe abgehalten haben würden. Ist
rlieTäuschungnichtvon dem anderen Ehegatten
verübt worden, so ist die Ehe nur dann anfecht¬
bar, wenn dieser die Täuschung bei der Ehe¬
schließung gekannt hat.
*) Der Unterschied zwischen Nichtigkeit und Anfechtbarkeit besteht
darin, daß ein nichtiges Rechtsgeschäft niemals wirksam wird, während
der Mangel eines anfechtbaren nur dann berücksichtigt wird, wenn er
von demjenigen gebend gemacht wird, welchem das Gesetz das Recht
dazu einräumt. (Planck.)
*) Z. B. ein Geistesschwacher.
Anfechtung der Ehe.
505
Auf Grund einer Täuschung über Ver-
inögensverhältnisse findet die Anfechtung
nicht statt.
§ 1336. Die Anfechtung der Ehe kann nicht
durch einen Vertreter erfolgen. Ist der an¬
fechtungsberechtigte Ehegatte in der Ge¬
schäftsfähigkeit beschränkt, so bedarf er nicht
der Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters.
Für einen geschäftsunfähigen Ehegatten
kann sein gesetzlicher Vertreter mit Geneh¬
migung des Vormundschaftsgerichts die Ehe
anfechten. In den Fällen des § 1331 kann, so¬
lange der a n f e c h t u n g s be r ec h t i g t e Ehegatte in
der Geschäftsfähigkeit beschränkt ist, nur sein
gesetzlicher Vertreter die Ehe anfechten.
§ 1337. Die Anfechtung der Ehe ist in den
Fällen des § 1331 ausgeschlossen, wenn der ge¬
setzliche Vertreter die Ehe genehmigt oder der
a n f e c h t u n gs be r ec h t i g t e Ehegatte, nachdem er
unbeschränkt geschäftsfähig geworden ist, die
Ehe bestätigt. Ist der gesetzliche Vertreter
ein Vormund, so kann die Genehmigung, wenn
sie von ihm verweigert wird, auf Antrag des Ehe¬
gatten durch das Vormundschaftsgericht er¬
setzt werden; das Vormundschaftsgericht hat
die Genehmigung zu ersetzen, wenn die Auf¬
rechterhaltung der Ehe im Interesse des Ehe¬
gatten liegt.
In den Fällen der §§ 1332 bis 1335 ist die An¬
fechtung ausgeschlossen, wenn der anfech-
t u n g s b e r e c h t i g t e Ehegatte nach der Entdeckung
des Irrtums oder der Täuschung oder nach dem
Aufhören der Zwangslage die Ehe bestätigt.
Die Vorschriften des § 1336 Abs. i gelten
auch für die Bestätigung.
Von den eben angeführten Bestimmungen sieht der § 1331
zwei Anfechtungsgründe vor: a) den Mangel der Einwilligung des
gesetzlichen Vertreters eines beschränkt Geschäftsfähigen, b) den
seltenen Fall, daß ein wegen Geschäftsunfähigkeit zur Ehe¬
schließung Unfähiger später beschränkt geschäftsfähig wird,
5 o6 Familienrecht der Geistesgestörten.
während dieser Zeit die nichtige Ehe zwar bestätigt, aber dazu die
Zustimmung des gesetzlichen Vertreters nicht einholt. Dadurch
ist die Ehe zwar nicht mehr nichtig, aber noch anfechtbar (Stau¬
dinger, Cosack).
.\nfechtungsberechtigt ist in diesen beiden Fällen während
der Dauer der beschränkten Geschäftsfähigkeit nur der gesetz¬
liche Vertreter (§ 1336 Abs. 2 Satz 2). Die Anfechtungsfrist
(6 Monate) beginnt mit dem Zeitpunkt, in welchem die Eingehung
oder Bestätigung der Ehe dem gesetzlichen Vertreter bekannt wird
oder der Ehegatte die unbeschränkte Geschäftsfähigkeit erlangt
(§ 1339. 2).
Wichtiger als die eben besprochene Bestimmung sind für den
Psychiater und Neurologen die §§ 1333 und 1334B.G.B. In ihnen
ist der Fall vorgesehen, daß ein Ehegatte wegen „Irrtums“ oder
,,arglistiger Täuschung“ die Ehe anfechten kann.
Unter Irrtum ist im § 1333 ein Nichtwissen (ignorantia)
oder Falschwissen (error i. e. S.) zu verstehen, anders ausgedrückt
besteht ein unbewußter Zwie.spalt zwischen Willen und Er¬
klärung'). Der Irrtum muß erheblich sein“).
Als „arglistige Täuschung“ bezeichnet man die ab¬
sichtliche Erregung eines Irrtums beider eine Willenserklärung ab¬
gebenden Person oder, wie das Reichsgericht cs ausdrückt, „die vor¬
sätzliche Benutzung eines vom Täuschenden selbst hervorgerufenen
oder als vorhanden erkannten Irrtums zu dem Zweck, die Willens¬
entschließung und damit die Willenserklärung des Irrenden zu be¬
einflussen“ (V. 3. 4. 09; 48/09; Jur. Wochenschr. 1909, S. 308).
Nach einer weiteren Entscheidung kommt es dabei nicht
darauf an, daß der Täuschende auch die Absicht gehabt hat, den
Getäuschten zu schädigen (R.G. II. 10. 11. 11, 192/11; Jur.
Wochenschr. 1912, Nr. 69).
Wir haben nun folgende drei Begriffe zu definieren:
1. Was ist „verständige Würdigung des Wesens der Ehe“?
2. Was sind ,,persönliche Eigenschaften“?
3. Was ist unter „Umständen“ zu verstehen ?
') Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, s. auch Heilfron, Biirgerl.
Gesetzbuch.
“) Die Erheblichkeit des Irrtums bemißt sich nach dem Zeitpunkte
der Eheschließung, nicht nacli späteren Vorgängen. (R.G. IV. 7. 3. 12;
Das Recht, Entsch. Nr. 14S.S.)
Anfechtung der Khe.
507
I. Über das, was als „verständige Würdigung der Ehe“ an¬
zusehen ist, haben sich verschiedene Reichsgerichtsentscheidungen
ausgesprochen.
Der § 1333 aus welchem der Kläger seinen Anfechtungs¬
anspruch herleitet, regelt den Einfluß, welchen der Irrtum im Beweg¬
gründe auf die Gültigkeit der Ehe schließlich äußert. Die Voraus¬
setzung für die Anwendbarkeit dieser Vorschrift ist hiernach, soweit
es sich nicht um einen bloßen Irrtum über die Personenidentität handelt,
eine zweifache. Es wird einmal verlangt, daß der Anfechtende über
solche persönliche Eigenschaften des anderen Ehegatten geirrt hat,
deren Mangel bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe, also
an sich objektiv geeignet war, den Eheschließungswillen aufzuheben.
Es ist aber noch weiterhin zweitens erforderlich, daß auch von dem
subjektiven Standpunkte des Irrenden aus das Fehlen der fraglichen
Eigenschaften dergestalt erheblich war, daß eine Kenntnis von diesem
Fehlen ihn vor Schließung der Ehe voraussichtlich abgehalteu hätte.
Das Gesetz geht von der Annahme aus, daß jeder, der eine Ehe
eingehen will, sich \\ esen und Bedeutung der Ehe klar macht. Er soll
erwägen, daß die Ehe eine sittliche Lebensgemeinschaft, und zwar,
wegen der dabei in Betracht kommenden leiblichen und geistigen Be¬
ziehungen eine solche der engsten und innigsten Art ist. (R.Q. 14. 04.)
Jur. Wochenschr. 1904, S. 114.
Die „verständige Würdigung des Wesens der Ehe“ verlangt
nach dieser Entscheidung also eine Prüfung nach zwei Richtungen.
Einmal ist objektiv (d. h. nach dem allgemeinen Volksempfinden)
zu prüfen, ob die Eigenschaft oder der Umstand geeignet war, den
einen Ehepartner von der Eingehung der Ehe abzuhalten. Ferner
aber ist auch das ,,subjektive Empfinden des einen Eheteils“ zu
berücksichtigen, inwieweit, das ergibt sich aus der nachstehenden
Entscheidung;
Auch ist für die Frage der Anwendbarkeit des § 1333 B.G.B. in
erster Linie nicht das subjektive Empfinden der Klägerin maßgebend,
sondern der objektive, der allgemein sittlichen Kultur entsprechende,
aus verständiger Würdigung des Wesens der Ehe zu entnehmende Ma߬
stab. Das besondere subjektive Empfinden eines Eheteils kann das
Anfechtungsrecht wohl unter Umständen einschränken (Jur. Wochen¬
schr. 1904, S. 114), nicht aber über das bei objektiver Betrachtung aus
der verständigen Würdigung des Wesens der Ehe sich ergebende Maß
hinaus ausdehnen. (R.G. 12. 4. 11.) Jur. Wochenschr. 1911, S. 543.
Mit anderen Worten: Wenn die augenblickliche Lage oder die
sittlichen Anschauungen eines Menschen es ihm gestatten oder es
nötig machen, ein ATädchen zu heiraten, das andere Leute seines
Standes und seiner Erziehung nicht heiraten würden, dann kann
5 o 8 Familienrecht der Geistesgestörten.
unter Umständen der Anfechtungsgrund fortfallen‘). Ein Bei¬
spiel dieser Art gibt uns die R.G.E. vom 15. April 1907 (Recht
1907, Nr. 2564):
Die Schuhmachernieisterstochter X. heiratete den Epileptiker Y.,
nachdem er sie geschwängert hatte. Später merkte sie die Krankheit
des Y. und focht die Ehe an. Das Gericht führte als Hauptgrund für
die Abweisung der Anfechtungsklage an; In den Kreisen, denen die
Klägerin angehöre, sei die Furcht vor dem mit einer unehelichen Ge¬
burt verbundenen Makel sehr groß. Es sei deshalb anzuerkennen, daß
die X. den Y. auch bei voller Kenntnis seines Leidens geheiratet haben
würde, nachdem sie einmal von ihm geschwängert worden war.
Wir kommen damit zu der zweiten Frage; Was sind persön¬
liche Eigenschaften?
Nach einer Entscheidung vom 14. März 1907 (Jur. Wochen-
schr. 1907, S. 258) ist die Annahme einer persönlichen Eigen¬
schaft im Sinne des § 1333 B.G.B. nur dann begründet, wenn es
sich um eine Erscheinung handelt, „welche der Person als etwas
Bleibendes anhaftet“, und ,,als Ausfluß ihres inneren Wesens sich
darstellt“.
Planck weist darauf hin, daß in erster Einie alle Umstände,
welche die sittliche Persönlichkeit beeinflussen, in Betracht
kommen. Keidel definiert den Begriff dahin, daß nur solche
Umstände darunter zu rechnen seien, welche eine Person, los¬
gelöst von ihren Beziehungen zur Außenwelt, in ihrem Wesen
bestimmen.
In den in den letzten Jahren ergangenen Entscheidungen des
R.G. wird gleichfalls übereinstimmend betont, daß es sich um eine
der Person anhaftende Beschaffenheit von längerer Dauer handeln
müsse. Aber nicht das allein, sondern es bedarf auch einer ge¬
wissen Erheblichkeit.
.... Wenn die „persönliche Eigenschaft“, um deren Nichtkennt¬
nis es sich nach § 40 Tit. I TI. II A.L.R. und nach § 1333 B.G.B. handelt,
') Ähnlich spricht sich auch die folgende Entscheidung aus;
Das Wesen der Ehe ist, vom Standpunkt des Gesetzes betrachtet,
für jedermann gleich und unwandelbar. Da es aber verschieden ge¬
würdigt werden kann, verlangt das Gesetz ausdrücklich eine ver¬
ständige Würdigung. Damit sollen alle willkürlichen, der persön¬
lichen Laune und Stimmung entsprungenen Anfechtungsgelüste ab¬
gewehrt und die Anfechtungsansprüche auf das durch die Ehe als einer
vorwiegend sittlichen Einrichtung gebotene Maß zurUckgefUhrt werden.
(R.G. 10. 6. 09.) Das Recht 1909, Nr. 2272.
“) Ebenso R.G. 52, 310.
Anfechtung der Ehe.
509
in einer körperlichen Unvollkommenheit, dem Vorhandensein eines sich
erst in der Folge entwickelnden Krankheitskeimes besteht, so ergibt
schon die bloße Natur der Sache, daß ein derartiger Mangel der ver¬
schiedensten Grade fähig ist. Leiden, welche nur einmal auftreten
und voriibergehen, stehen bezüglich ihrer Erheblichkeit nicht auf
gleicher Stufe mit solchen, welche in gewissen Zwischenräumen sich
erneuern und wiederkehren. Je nachdem sie heilbar oder unheilbar
sind, ist zwischen ihnen sogar der Art nach ein ganz wesentlicher und
durchgreifender Unterschied _ (R.Q. 11. 4. 04.)
Jur. Wochenschr. 1904, S. 284.
Aus der Rechtsprechung seien noch folgende Beispiele an¬
geführt;
Als Eigenschaft im Sinne des Gesetzes kann eine chronische
Geisteskrankheit gelten, eine heilbare nur dann, wenn die Gefahr einer
neuerlichen Erkrankung und die der Vererbung der krankhaften An¬
lage auf die Kinder besteht, und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu er¬
warten ist'). (R.G. 9. 5. 12.) Das Recht 1912, Nr. 2255.
Gemeint sind hier offenbar die schwereren Fälle von manisch-
depressivem Irresein, bei denen auch während der freien Zeiten
eine psychopathische Konstitution besteht.
Anlage zur Geisteskrankheit gilt auch dann als Eigenschaft,
wenn sie nach der gewöhnlichen Entwickelung der Dinge zur Krank¬
heit führen muß. (R.G. 24. 11. 10.) Das Recht 1911, Nr. 3657.
Bloße Veranlagung zur Geisteskrankheit ohne diese nahe Mög¬
lichkeit. ist keine Eigenschaft im Sinne des Gesetzes. Auch wenn sich
daraus in der Ehe eine Geisteskrankheit entwickelt hat. (K.G. 24. 4. 08.)
Das Recht 1909, Nr. 2270.
Über die Grenzzustände scheinen auf den ersten Blick die
Entscheidungen der obersten Gerichte nicht übereinzustimmen.
Dies liegt aber vielleicht mehr daran, daß sie in den Zeitschriften
zu kurz wiedergegeben sind. Der Grundton, der durch alle diese
Urteile hindurchklingt, ist doch wohl der, daß zwar nicht jede
Form der Grenzzustände als Eigenschaft angesehen wird, wohl
aber solche, die entweder für das eheliche Leben im besonderen,
oder für die bürgerliche Existenz im allgemeinen von Bedeutung
sind. Darum wird der Hang zur fortgesetzten Begehung von Be¬
trügereien (R.G. 3. 7. 05; Jur. Wochenschr. 1905, S. 532), darum
ferner frühere päderastische Betätigung (6. 10. 02; Jur. Wochen¬
schr. 1902, S. 278) als Eigenschaft angesehen, während das t'ber-
stehen einer Geisteskrankheit (R.G. 13. 2. 08; Das Recht 1908,
') Nur dem Sinne nach zitiert.
510 Familienrecht der Geistesgestörten.
Nr. 1212) nicht also solche gilt. Von den uns hier interessieren¬
den weiteren Fällen seien noch folgende erwähnt:
Ein körperlicher Zustand, der die Ansteckung mit einer ekel¬
erregenden und gefährlichen Krankheit befürchten läßt, gilt als
„Eigenschaft“ (R.G. 2. 2. 05; Das Recht 1905, Nr. 1143).
Beischlafsunfähigkeit, und zwar dauernde (O.L.G. Zwei¬
brücken 8. 10. 05; Das Recht 1906, Nr. 2242) und ausschließlich
in der Per.son des Beklagten gelegene, selbst wenn sie nur gegen¬
über der Klägerin besteht, ist eine solche ,,Eigenschaft“ (R.G.
12. 4. II ; Jur. Wochenschr. ii, 543).
Ebenso wird der Vaginismus, weil dadurch die Beiwohnungs-
fähigkeit aufgehoben ist, als ,,Eigenschaft“ angesehen. (R.G.
7. II. 07: Jur. Wochenschr. 1907, S. 835; ferner Das Recht
1911, 3094.)
Beim Vaginismus und der Impotenz bleibt allerdings zu
berücksichtigen, daß mitunter durch zweckmäßige Behandlung
eine Besserung, ja sogar Heilung erzielt werden kann. E. Schnitze
meint deshalb, daß erst dann, wenn die Behandlung erfolglos war,
diese Symptome Anspruch auf rechtliche Würdigung haben.
Bezüglich der bisher nicht erwähnten geistigen Störungen
wird dasselbe zu gelten haben, wie für die bereits besprochenen.
Diejenigen I’sychosen, welche auf das eheliche Leben oder die
soziale Stellung von Einfluß sind, werden als ,,Eigenschaften"
angesehen werden können. Zu nennen sind in erster Linie der
■Mkoholismus, ferner der Mor])hinismus und Kokainismus (O.L.G.
Jena in Rechtsprechung der O.L.G. 5, 394) ^), weil alle drei zu
ehelichen Zerwürfnissen, Eifersuchtsszenen und zu wirtschaft¬
lichem Niedergang der Familie zu führen pflegen“).
Das Jugendirresein gehört in der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle hierher; nur ausnahmsweise, nämlich dann, wenn eine
Heilung im sozialen Sinne erfolgt ist (vergl. das Kapitel: Dem.
praecox), werden Zweifel überhaupt bestehen können.
Wir kommen damit zu der dritten Frage, was versteht § 1334
unter ,,solchen Lmiständen"? Im Gegensatz zum § 1333 sollen hier
vorwiegend diejenigen Wrhältnisse getroffen werden, welche
nicht mit persönlichen Eigenschaften des andern Ehegatten
') Siehe Litten, Die Wirkung geistiger Störungen usw. Mon.-Sclir.
f. Kriminalpsych., Bd. 1, S. 812.
“) Heilung von diesen Leiden durch die Ehe kommt selten vor.
Anfechtung der Ehe.
5 J I.
Zusammenhängen. Als Umstände können nicht allein die Ver¬
hältnisse des andern Ehegatten selbst, sondern auch die seiner An¬
gehörigen in Betracht kommen (vergl. Staudinger, Planck,
Fischer-Henle).
Bei der Anfechtung wegen arglistiger Täuschung ist noch
eines Punktes zu gedenken:
Die Täuschung kann von dem anderen Ehegatten oder von
einem Dritten mit oder ohne Wissen des Beklagten ausgegangen
sein. Sofern der andere Gatte beteiligt ist, ist bei geistig Ab¬
normen die Frage zu erörtern, ob der Kranke überhaupt in der
Lage war, zu erkennen, daß es sich um eine arglistige Täuschung
handelte. Dies wird nicht immer der Falle sein. Ein Patient
z. B., der keine Krankheitseinsicht hat (manche Alkoholistcn,
Schwachsinnige, Epileptiker, Hebephrenen und Paranoiker), wird
nicht einsehen, daß er gegen den § 1334 verstoßen hat.
In den meisten dieser Fälle wird aber der Nachweis, daß eine
schuldfrcie Täuschung ausgeführt worden ist, schwer oder über¬
haupt nicht gelingen. —
Bei der praktischen Behandlung der Anfechtung gemäß
§ >333 und 1334, insbesondere aber bei der Anfechtung wegen
Irrtums in bezug auf persönliche Eigenschaften, sind die Schwie¬
rigkeiten für gewöhnlich deshalb sehr groß, weil in verhältnis¬
mäßig seltenen Fällen dem anfechtenden Ehegatten die persön¬
liche Eigenschaft ganz unbekannt war. Praktisch liegt die Frage
in den meisten Fällen so, daß die Eltern der Braut unter der Hand
dem Bräutigam wohl mitteilen, daß das junge Mädchen ein sehr
zartes Ge.schöpf sei und gewisse Rücksichten verlange, auch wohl
einige Male ohnmächtig geworden sei, aber man könne doch
hoffen, daß sich durch die Ehe alles das ausgleiche.
In dieser Hoffnung wird die Ehe geschlossen und der Ehe¬
mann merkt erst hinterher, daß die Zartheit nichts anderes ist,
als eine schwere Hysterie und die verschiedenen Ohnmächten
hysterische Anfälle.
Die Hysterie und Epilepsie sind wohl in erster Linie die¬
jenigen ,,persönlichen Eigenschaften“, die dem Ehemann das
Leben sauer machen können.
Über diese beiden Erkrankungen herrschen auch im Publikum
sehr wenig zutreffende Anschauungen. Abgesehen davon, daß
vielfach die Meinung besteht, daß diese beiden Neurosen
512
Familienrecht der Geistesgestörten,
durch die Ehe gebessert werden ’), ja zum Schwinden gebracht
werden könnten, gelten sie in manchen Volksschichten, und zwar
nicht nur in den unteren, vielfach gar nicht als Krankheit im
engeren Sinne, und der Hausarzt begegnet deshalb oft lebhaftem
Widerspruch, wenn er sagt, die Tochter oder der Sohn dürfte
nicht heiraten. Kompliziert wird das Problem oft dadurch, daß
in der Tat die Zahl der Psychopathen und Hysterischen verhält¬
nismäßig groß ist, — wie ich glaube sogar so groß, daß der Staat
auf ihre Mitwirkung bei der Volksvermehrung, wenn ich es einmal
so ausdrücken darf, nicht ganz verzichten kann.
Wichtig ist ferner, daß bei zweckmäßiger Wahl, nämlich bei
einer Heirat mit einem besonders gesunden und robusten Partner,
die degenerative Anlage des einen Ehegatten sich so weit aus-
gleichen kann, daß trotzdem brauchbare Menschen der Ehe ent¬
springen können.
Eine weitere, praktisch wichtige persönliche Eigenschaft ist
die der stattgehabten Infektion mit Lues. Die Frage, ob ein alter
Luetiker heiraten darf oder nicht, ist neuerdings wieder insofern
komplizierter, als die Forschungen der letzten Jahre ergeben
haben, daß auch die tertiäre Syphilis unter Umständen noch an¬
steckungsfähig ist.
Wenn nun auch der negative Ausfall der Wassermannschen
Reaktion gewisse Anhaltepunkte für die Ehefähigkeit gibt, so be¬
steht trotzdem noch die Möglichkeit des Wiederaufflackems der
Lues und damit die der Infektion des anderen Teils“).
Weiterhin ist zu den persönlichen Eigenschaften im Sinne
des Gesetzes die Homosexualität zu rechnen.
Auch da gibt es Menschen, die die Hoffnung hegen, von diesem
Leiden durch die Ehe befreit zu werden. Nach den allerdings nicht
sehr umfangreichen Erfahrungen, die ich auf diesem Gebiete selber
machen konnte, kann ich das nicht bestätigen. Im Gegenteil muß
gesagt werden, daß die Ehe eines ausgesprochen Homosexuellen
ebenso unglücklich wird, wie die eines Trinkers. Das mag paradox
klingen, ich kann diese Anschauung aber auf eine Reihe von selbst-
’) Auch Oppenheim sagt in der letzten Auflage (1913) seines Lehr¬
buches, daß eine glückliche Ehe die Hysterie günstig beeinflußt.
Meist liegt nun aber die Sache so, daß gerade wegen der Hysterie die
Ehe nicht glücklich wird.
“) Siehe: Kürbitz, Zeitschr. f. Med.-Beamte 1910. Ferner die Lite¬
ratur auf S. 74.
Anfechtung der Ehe.
513
l'eof)achteten Fällen stützen’). Der Hoinose.xuelle sieht in der
Frau nicht nur ein minderwertiges Geschöpf, sie ist in seinen
Augen unschön und für ihn infolge ihres Körperbaues unappetit¬
lich. Diese ihre Anschauungen sprechen die Homosexuellen gar
nicht so selten dem anderen Ehegatten gegenüber aus.
§ 1339. Die Anfechtung kann nur binnen
sechs Monaten erfolgen.
DieFristbeginntindenFällendes§ 1331 mit
dem Zeitpunkt, in welchem die Eingehung oder
die Bestätigung der Ehe dem gesetzlichen \"er-
treter bekannt wird oder der Ehegatte die un¬
beschränkte Geschäftsfähigkeit erlangt, in
den Fällen der §§ 1332 bis 1334 mit dem Zeitpunkt,
in welchem der Ehegatte den Irrtum oder die
Täuschung entdeckt, in dem Falle des § 1335 mit
dem Zeitpunkt, in welchem die Zwangslage
a u f h ö r t.
Auf die Frist finden die für die Verjährung
geltenden Vorschriften der §§ 203, 206 ent¬
sprechende Anwendung.
Die vorstehenden Bestimmungen bedürfen nur in einem
Punkte der Erläuterungen; Wann hat nach dem Gesetz der andere
Ehegatte den Irrtum oder die Täuschung entdeckt?
Die Rechtsprechung besagt darüber folgendes;
Ein bloßes Gerücht steht der Entdeckung des Irrtums nicht gleich.
Daß der Berufungsrichter an das Erfordernis der die Frist in Lauf
setzenden Entdeckung des Irrtums zu weitgehende Anforderungen ge¬
stellt habe, kann der Revision nicht zugegeben werden. Die allein
■ festgestellte Tatsache, daß dem Beklagten vor dem 11. Oktober 1906
ein Gerücht zu Ohren gekommen sei, kommt rechtlich einer Ent¬
deckung des Irrtums nicht gleich. Diese erfordert, daß der Beklagte
das. was er gehört, auch für wahr gehalten hat. (Urt. IV. 181/05 vom
12. 10. 05.) Früher kann ihm die Unrichtigkeit seiner gegenteiligen
Meinung nicht zum Bewußtsein gekommen, er also seines Irrtums nicht
gewahr geworden sein. (R.G. IV. 4. 10. 09.) Das Recht 1909, Nr. 3777.
Eine „Entdeckung“ des Irrtums des anfechtungsberechtigten Ehe¬
gatten über die im § 1333 B.O.B. näher bezeichneten persönlichen
Eigenschaften des anderen Ehegatten, liegt nicht schon bei einer bloßen
unbestimmten Vermutung des Anfechtungsberechtigten, sondern erst
dann vor, wenn er von seinem Irrtum überzeugt ist und (da er seinen
’) Vergl. auch das im Kapitel; Sexuelle Perversitäten gebrachte
Beispiel.
Hübner, ForonBiHcbo Psychiatrie.
33
514
Familienrecht der Geistesgestörten.
Irrtum im Bestreitungsfalle nachweisen muß), sich im Besitz so triftiger
Gründe und Beweismittel für seine Überzeugung befindet, daß er auf
sie mit Aussicht auf Erfolg die Anfechtungsklage stützen kann. (O.L.G.
Colmar, 22. 12. 05.) Das Recht 1906, Nr. 44 .
Die Tätigkeit des Sachverständigen bei der Anfechtung einer
Ehe erstreckt sich auf folgende Punkte:
7 . Bei Anfechtung zvegen Irrtums.
1. Sind die in der Anfechtungsklage als Anfechtungsgründe
vorgebrachten psychischen Symptome als „Eigenschaften“
im Sinne des Gesetzes anzusehen, d. h., stellen sie
dauernde wesentliche und erhebliche Krankheitszeichen
dar?
2. Bestanden die „Eigenschaften“ zur Zeit der Eheschließung
und bestehen sie noch?
3. Unter Umständen wird auch zu erörtern sein, ob der
Kläger zur Zeit der Eheschließung die Eigenschaften
„kannte“ ?
4. Würden die Eigenschaften den Kläger bei Kenntnis der
Sachlage und bei verständiger Würdigung des Wesens
der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben?
II. Bei Anfechtung zvegen arglistiger Täuschung.
1. Ist von medizinischem Standpunkte aus anzunehmen, daß
der Kläger arglistig getäuscht wurde?
2. Sind die in der Klage angegebenen medizinischen An¬
fechtungsgründe ,,Umstände“ i. S. d. G. ?
3. War der beklagte Ehegatte infolge seines psychischen Zu¬
standes in der Lage, die Täuschung selbst auszuführen,
oder die von anderen ausgeführte Täuschung zu erkennen?
4. Sind die Umstände derartig, daß sie den Kläger bei
Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung
des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe ab¬
gehalten hätten?
5. In manchen Fällen wird der Arzt auch noch darüber be¬
befragt werden, ob der Kläger die Umstände nicht trotz
des Täuschungsversuches der Gegenpartei hätte erkennen
können.
Daß auch die Mitteilung eines Arztes die Frist des § 1339
B.G.B. noch nicht ohne weiteres in Lauf zu setzen braucht, lehrt
die folgende Entscheidung.
Anfechtung der Ehe.
51S
Bei der beklagten Ehefrau lag Hysterie vor:
Die Entdeckung des Irrtums im Sinne des § 1339 B.Q.B. setzt
begrifflich voraus, daß der Entdeckende die bisher unzutreffend be¬
urteilte Sachlage nunmehr auch seinerseits richtig erkannt hat. Er¬
fahrungsgemäß ist nicht jede fachmännische, namentlich nicht jede ärzt¬
liche Belehrung für jeden Laien überzeugend. Hierzu kommt, daß die
Hysterie der Beklagten nicht schlechthin, sondern nur um deswillen
einen Anfechtungsgrund im Sinne des § 1333 B.Q.B. bildet, weil auch
Klüger neurasthenisch herzleidend ist und weil erst das Zusammen¬
treffen beider Umstände die Sachlage ergibt, die bei verständiger
Würdigung des Wesens der Ehe den Kläger von der Eingehung der
Ehe abgehalten haben würde. Daraus folgt, daß im Streitfälle von
einer Entdeckung des Irrtums nicht gesprochen werden kann, solange
Kläger nicht auch über seinen eigenen Gesundheitszustand und die
gerade hierdurch geschaffene Unmöglichkeit des ehelichen Zusammen¬
lebens mit der Beklagten aufgeklärt war. (R.Q. IV. 26. 1. 10.)
Das Recht 1910, Nr. 1104.
Ob die Eheanfechtungsklage rechtzeitig erhoben ist, ist von
Amtswegen zu prüfen. (R.G. 2. 4. 06; Das Recht 1906,
Nr. 1936.)
Über das Verfahren bei der Nichtigkeits- und
Anfechtungsklage sei folgendes hinzugefügt:
Zuständig ist das Landgericht, bei dem der Ehemann den all¬
gemeinen Gerichtsstand hat (§ 606 Z.P.O.). Der Staatsanwalt ist zur
JVtitwirkung befugt (§ 607). Ein in der Geschäftsfähigkeit beschränkter
Ehegatte ist prozeßfähig in Ehesachen’(Ausnahme § 1336 Abs. 2 Satz 2);
für einen geschäftsunfähigen Ehegatten wird der Rechtsstreit durch
den gesetzlichen Vertreter geführt (§ 612). Das Urteil, durch welches
auf Nichtigkeit der Ehe erkannt ist, muß von Amts wegen zugestellt
werden (§ 625). Das Gericht kann einstweilige Verfügungen erlassen
betr. Unterhaltspflicht, Qetrenntlebens, Sorge für die Person der
minderjährigen Kinder, Unterhaltspflicht der Ehegatten gegenüber den
Kindern (§ 627). Stirbt ein Ehegatte vor der Rechtskraft des Urteils,
so ist der Rechtsstreit in Ansehung der Hauptsache als erledigt an¬
zusehen (§ 628). Das Urteil wirkt für und gegen alle (§ 629).
Für die Nichtigkeitsklage gelten noch folgende Sondervorschrif¬
ten: Jeder Ehegatte und der Staatsanwalt (nach § 1326 B.Q.B. auch
der Dritte, mit dem die frühere Ehe geschlossen war), kann die Klage
erheben (§ 632). Ein Dritter sonst nur, wenn für ihn von der Nichtig¬
keit ein Recht, von der Gültigkeit eine Verpflichtung abhängt (§ 632).
JVlit der Nichtigkeitsklage kann nur eine Klage auf Feststellung des
Bestehens oder Nichtbestehens der Ehe verbunden werden (§ 6,33).
Der Staatsanwalt kann immer den Rechtsstreit betreiben, selbständig
Anträge stellen und Rechtsmittel einlegen (§ 634). Das Versäumnis¬
urteil gegen den im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht er¬
schienenem Kläger ist dahin zu erlassen, daß die Klage als zurück-
33»
5i 6 Familienrecht der Geistesgestörten.
genommen gelte (§ 635). Wird ein Rechtsmittel von dem Staats¬
anwalt oder einer F^rivatpartei eingelegt, so sind im ersteren Falle die
Privatparteien, im letzteren Falle die iilirigen Privatparteien und der
Staatsanwalt, sofern derselbe Partei ist, für das Rechtsmittelverfahren
als die Gegner anzusehen (§ 636). Unterliegt der als Partei auftretende
Staatsanwalt, dann ist die Staatskasse zur Erstattung der dem ob¬
siegenden Gegner erwachsenden Kosten zu verurteilen (s. Tit. 5
Abschn. 2 des I. Buches der Z.P.O.) (§ 637). —
Daß l)escliränkt Geschäftsfähige und Geschäftsunfällige niclit
immer gehindert werden können, zu heiraten, ist liekannt. Da,
wo die Kranken im Inlande auf Schw'ierigkeiten stoßen, wählen
die Begüterten unter ihnen den Weg ins Ausland.
Ist die Ehe einmal geschlossen — und mit dieser Tatsache
rechnen die Parteien —, dann macht die Nichtigkeitsklage so
viel Schwierigkeiten, namentlich, w-enn die Neuvermählten eine
Zeitlang im Auslande bleiben, daß sich die Angehörigen meist mit
den bestehenden Tatsachen abfinden. —
Die Tätigkeit des Sachverständigen ergibt sich aus den
Fragestellungen, die nach § 1325 B.G.B. möglich sind. ()ber die
dabei zu beachtenden Gesichtspunkte ist in dem Kap. Geschäfts¬
fähigkeit das Wesentliche gesagt.
Wirkungen der Ehe.
§ ' 353 - D i e Eh e ga 11 e n s i n d e i n a n d e r zur ehe¬
lich e n Lebensgemeinschaft verpflichtet.
Stellt sich das Verlangen eines Ehegatten
nach Herstellung der Gemeinschaft als Mi߬
brauch seines Rechtes dar, so ist der andere
Ehegatte nicht verpflichtet, dem Verlangen
Folge zu leisten. Das Gleiche gilt, wenn der
andere Ehegatte berechtigt ist, auf Scheidung
zu klagen.
Unter ehelicher Lebensgemeinschaft sind ,,alle
dem sittlichen Wesen der Ehe entsprechenden Pflichten, nament¬
lich die Pflichten zum Zusammenleben, zum Geschlechtsverkehr,
zur Treue und zum gegenseitigen Beistände (Mot. 4, 104) zu
verstehen“. (R.G. 433/09. 23. 6. 10; Jur. Wochenschr. 1910,
S. 817.) Ferner ist auch die Pflicht zur Beseitigung von
*) Vergl. auch Jur. Wochenschr. 1911, S. 812; Das Recht 1908,
Nr. 3429, 3430.
WirkunEcn der Ehe.
517
Hindernissen, die der Herstellung der Gemeinschaft entgegen¬
stehen, mit einhegriffcn. (R.G. i. 12. 04; Jur. Wochenschr. 1905,
S. 49.) Als solche kommt Krankheit, insbesondere Nervosität in
Form der Neurasthenie, Hysterie usvv. in Betracht. Besteht
solche, so hat der Ehemann die Pflicht (§ 1360 B.G.B.), der Frau
die erforderliche ärztliche Behandlung zu Teil werden zu lassen
(Ü.L.G. Colmar, 25. 3. 04; Das Recht 1904, Nr. 1402)'). An¬
dererseits hat der kranke Teil die moralische Verpflichtung (er¬
zwingen läßt sich das nicht, § 888, 2 Z.P.O.), sich in eine Kranken¬
anstalt aufnehmen zu lassen und darin solange zu verbleiben, bis
er ohne Gefährdung seiner Gesundheit die häusliche Gemeinschaft
wieder aufnehmen kann. (R.G. 1. 12. 04: Jur. Wochenschr. 1905,
S. 49; ebenso R.G. in Zivils. 51, 182; 59, 256.)
Zur ehelichen Lebensgemeinschaft sind beide Ehegatten
verpflichtet. Auf Herstellung derselben kann geklagt wer¬
den. Das Verfahren regelt sich nach § 606 u ff. Z.P.O. Zwangs¬
vollstreckung und polizeiliches Eingreifen ist ausgeschlossen. —
Ein Mißbrauch des Rechtes kann auch ohne Ver¬
schulden erfolgen, wenn der Ehegatte, welcher sein Recht miß-
Inaucht, geisteskrank ist. (K.G. 30. ii. 01 ; Recht 1902, Nr. 1442.)
Was als Mißbrauch anzusehen ist, entscheidet nach freiem Er¬
messen der Richter. Entscheidend ist dabei, ob dem anderen Ehe¬
gatten im Hinblick auf das Wesen der Ehe und die persönlichen
Verhältnisse der Ehegatten die Herstellung der ehelichen Gemein¬
schaft zugemutet werden kann (Keidel).
Aus der Rechtsprechung entnehme ich folgende Beispiele.
Danach ist ein Mißbrauch anzunehmen:
wenn der Mann in der 'J'runkenheit die Frau in roher Weise
mißhandelt (Jur. Wix'henschr. 1902, S. 204) : wenn durch Wieder¬
herstellung der ehelichen Gemeinschaft die Verschlimmerung eines
bestehenden Leidens und damit eine \’erkürzung der Lebenszeit
bewirkt würde (R.G. 6. 7. 08; Das Recht 1908, Nr. 3136) ; wenn
dem gesunden Ehegatten die gebotene Geduld und Nachsiebt fehlt,
den kranken Ehegatten (in jenem Falle handelte es sich um
Hysterie), so zu behandeln, wie es sein Gesundheitsszustand ge-
bietet (R.G. i. 6. 08: Das Recht 1908, Nr. 2676); wenn ein Ehe¬
gatte einen unverhältnismäßig großen Teil seines Verdienstes ver-
*) Der zugezogene Arzt handelt ev. als üeschäftsführer ohne Auf¬
trag (s. die oben zit. O.L.Ci.E.).
5 i 8 Familienrecht der Geistesgestörten.
trinkt, ohne für Frau und Kinder eine geeignete Wohnung zu
beschaffen für die Dauer dieses Zustandes (O.L.G. Jena i. 7. 05;
Das Recht 1905, Nr. 1863).
Dagegen kann ein Mißbrauch nicht darin erblickt werden,
daß für einen Ehegatten aus dem beiderseits gewollten ehelichen
Umgang eine gesundheitliche Gefahr erwächst (R.G. 21. 6. 04;
Das Recht 1904, Nr. 2005).
Für den Psychiater sind diese Entscheidungen um so inter¬
essanter, als sie sich fast ausschließlich auf zwei Krankheiten be¬
ziehen. Soweit es sich um Frauen handelte, lag Hysterie vor,
bei den Männern Trunksucht.
Während nun die Rechtsprechung bezüglich der Alkoholisten
durchaus die Grundsätze vertritt, welche von medizinischer Seite
stets verfochten worden sind, legt sie den Hysterischen gegenüber
eine ungewöhnliche Milde an den Tag. Wie im speziellen Teil
noch weiter auszuführen sein wird, kann die Ehe mit einer hyste¬
rischen Frau für den Mann eine mindestens ebensogroße Qual be¬
deuten, wie die Trunksucht des Mannes für eine Frau. Es sei
zum Beweise nur an die Sensationsprozesse der letzten 10 Jahre
erinnert, die deutlich zeigen, daß schwer hysterische Frauen ihre
Männer wirtschaftlich und sozial direkt zu Grunde richten, ja
sogar ums Leben bringen können'). Und trotzdem verlangt das
Gesetz, unter Hinweis auf die sittlichen Grundlagen der Ehe, daß
der Mann bei der kranken Frau ausharrt, obwohl, wie besonders
hervorgehoben werden muß, die Krankheit nicht etwa die Folge
der Ehe ist, sondern meist schon in die Ehe mitgebracht wird.
Daß wirklich ein schwer zu lösender Widerspruch zwischen
unseren Anschauungen über den Alkoholismus und die Hysterie
besteht, soweit sie den hier allein in Frage kommenden Einfluß
auf das Eheleben anlangt, geht vielleicht am deutlichsten aus fol¬
gender Entscheidung hervor;
Der Umstand, daß die Ehefrau an schwerer Nervosität mit stark
hysterischem Einschlag leidet und daß sie deshalb in gereiztem Zu¬
stande zu Ausschreitungen gegenüber ihrem Ehemann neigt, läßt ihr
') Unter 7 Fällen von Qattenmord bezw. Totschlag, in denen die
Frau Täterin oder Anstifterin war, befanden sich 5 Hysterische, eine
geistig Beschränkte und eine Frau, bei der in psychischer Beziehung
nichts Krankhaftes festgestellt worden war. Die Fälle stammen sämt¬
lich aus den letzten Jahren.
Ehescheidung.
519
Verlangen nach Herstellung der Gemeinschaft noch nicht als .Mi߬
brauch ihres Rechtes erscheinen. Daß es dem Beklagten nicht gerade
leicht sein werde, mit seiner kranken Ehefrau zusammenzuleben, ver¬
kennt das Berufungsgericht nicht. Es weist aber darauf hin, es
entspreche nicht der rechten ehelichen Gesinnung, die Frau in ihrer
Krankheit zu verlassen, es liege vielmehr dem Beklagten, der an den
bisherigen Zwistigkeiten nicht frei von Schuid gewesen und in einem
Falle gegen die kranke Frau tätlich geworden sei, ob, das seinige dazu
zu tun, um das Zusammenleben für beide Ehegatten erträglich zu
machen und die durch die Krankheit gebotene Geduld und Nachsicht
zu üben. Eine rechtsirrtümliche Auffassung des § 1333 B.G.B. tritt in
diesen Ausführungen des Berufungsgerichts nicht zutage (R.G. IV.
17. 6. 11). Das Recht 1911, Nr. 3481.
Ehescheidung.
Die beiden bisher besprochenen Formen der Trennung einer
Ehe bewirkten, daß dieselbe von vornherein als nichtig anzusehen
war. Wir haben nun noch der dritten Möglichkeit zu gedenken,
welche das Gesetz vorsieht, nämlich der Ehescheidung.
Das Gesetz unterscheidet außer der weiter unten zu behan¬
delnden Geisteskrankheit (§ 1569 B.G.B) absolute und relative
Scheidungsgründe. Zu den absoluten gehören Ehebruch,
widernatürliche Betätigung im Sinne des § 175 Str.G.B., sowie
Doppelehe nach § 171 Str.G.B. (§ 1565 B.G.B.).
Zu diesen Bestimmungen ist vom psychiatrischen Stand¬
punkte hinzuzufügen, daß der Tatbestand des Ehebruchs nicht
gegeben ist, wenn die Beischlafsvollziehung in bewußtlosem Zu¬
stande erfolgte (O.L.G. Hamburg, Das Recht 1901, Nr. 158),
oder wenn dem geistig abnormen Ehegatten der Ehebruch nicht
als Schuld angerechnet werden kann. Dies ist z. B. der Fall,
bei einem wegen Geisteskrankheit Entmündigten. Ist die Ent¬
mündigung nur wegen Geistesschwäche erfolgt, so ist die Frage
besonders zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 51 Str.G.B.
für den Ehebruch vorliegen (R.G. 27. 5. 07; Das Recht 1907,
Nr. 1664).
2. Ein zweiter Scheidungsgrund besteht dann, wenn ein
Ehegatte dem anderen nach dem Leben trachtet (§ 1566 B.G.B.).
3. Ist bösliches Verlassen Scheidungsgrund.
§ 1567 B.G.B. Ein Ehegatte kann auf Schei¬
dung klagen, wenn der andere Ehegatte ihn bös¬
lich verlassen hat.
Bösliche Verlasst! ng liegt nur vor;
520
Familienrecht der Geistesgestörten,
1. wenn ein Ehegatte, nachdem er zur Her¬
stellung der häuslichen Gemeinschaft rechts¬
kräftig verurteilt worden ist, ein Jahr lang
gegen den Willen des anderen Ehegatten in
böslicher Absicht dem Urteile nicht Folge
geleistet hat;
2. wenn ein Ehegatte sich ein Jahr lang gegen
den Willen des anderen Ehegatten in bös¬
licher Absicht von der häuslichen Gemein¬
schaft fern gehalten hat und die Voraus¬
setzungen für die öffentliche Zustellung
seit Jahresfrist gegen ihn bestanden haben.
Die Scheidung ist im Falle des Abs. 2 Nr. 2
unzulässig, wenn die Voraussetzungen für die
öffentlicbe Zustellung am Schlüsse der münd¬
lichen Verhandlung, auf die das Urteil ergeht,
nicht mehr bestehen.
Was unter böslichem Verlassen zu verstehen ist, besagt fol¬
gende Entscheidung:
Die Motive zum Kntwurf des B.G.B. Bd. 4 , S. 590 kennzeichnen
die bösliche Absicht als die „aus bösem Willen hervorgegangene Zer¬
reißung der häuslichen Gemeinschaft“. Die bloße Entfernung des
einen Ehegatten gegen den Willen des anderen aus der häuslichen
Gemeinschaft und die ein Jahr lang dauernde Fernhaltung ohne lede
Nachricht über den Aufenthalt und ohne jede Fürsorge für den Unter¬
halt des zurückgebliebenen Ehegatten reichen nicht ohne weiteres
aus, um eine bösliche Absicht als gegeben anzusehen. Die Entfernung
des einen Ehegatten und die dadurch herbeigeführte Aufhebung der
häuslichen Gemeinschaft muß die Merkmale einer widerrechtlichen
Handlung an sich tragen und der betreffende Ehegatte muß sich der
Rechtswidrigkeit bewußt sein. Die Klage findet auch in § 1568 B.G.B.
keine Stütze, weil die schwere Verletzung der durch die Ehe begrün¬
deten Pflichten auch das subjektive Verschulden erfordert und dieses
wegen des Geisteszustandes des Ehemannes zu verneinen ist. Des¬
halb kann dahingestellt bleiben, ob die bösliche Verlassung, wenn sie
als absoluter Scheidungsgrutid versagt, als relativer nach § 1568
B.G.B. verwertet werden kann (O.L.G. Karlsruhe. 6. 12. 06).
Das Recht 1907, Nr. 310.
Daraus ergibt sieb, daß geistige Erkrankung unter Um¬
ständen der Entfernung aus der häuslicben Gemeinsebaft die
Widerrecbtlicbkeit und damit die böslicbe Absiebt nebmen kann.
Nacb einer Entsebeidung vom 20. 3. 05 (Jur. Woebensebr.
1905, S. 232) kann aueb der beklagte Gatte dureb Krankbeit ver-
Ehescheidung. 521
hindert sein, in die häusliche Gemeinschaft zurückzukehren. In
diesem Falle läuft die Frist des § 1567 erst vom Aufhören des
Hindernisses ab.
Zu den relativen Scheidungsgründen gehören die nun¬
mehr zu besprechenden Fälle.
§ 1568 B.G.B. Ein Ehegatte kann auf Schei¬
dungklagen, wenn der andere Ehegatte durch
schwere X'erletzung der durch die Ehe begrün¬
deten Pflichten oder durch ehrloses oder un¬
sittliches Verhalten eine so tiefe Zerrüttung
des ehelichen Verhältnisses verschuldet hat,
daß dem Ehegatten die Fortsetzung der Ehe
nicht zu gemutet werden kann. Als schwere Ver¬
letzung der Pflichten gilt auch grobe Mi߬
handlung.
Der § 1568 ist bei der Ehescheidung^) praktisch einer der
wichtigsten. Obwohl er die geistigen Abweichungen mit keinem
Wort erwähnt, ergibt sich aus der Rechtsprechung ohne weiteres,
daß es gerade die Grenzzustände sind, welche hier Schwierig¬
keiten machen. Es ist deshalb notwendig, auch auf diese Bestim¬
mung einzugehen. Wir werden folgende Fragen zu erörtern
haben:
1. Was ist unter schwerer Verletzung der durch die Ehe be¬
gründeten Pflichten zu verstehen?
2. Wann liegt ehrloses oder unsittliches Verhalten vor?
3. Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit eine
so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses angenommen
werden kann, daß dem Ehegatten die Fortsetzung der Ehe nicht
zugemutet werden kann?
Schließlich wird 4. auch kurz zu erörtern sein, unter wel¬
chen Voraussetzungen eine Mißhandlung nicht vorliegt, sofern sie
von einem geistig Abnormen begangen worden ist.
I. Wir kommen zur ersten Frage. Was ist als schwere Ver¬
letzung der durch die Ehe begründeten Pflichten anzusehen?
Immer liegt eine solche vor, wenn die \'erfehlung an und für
sich, auch abgesehen von den Umständen des besonderen Falles,
geeignet war, die eheliche Zuneigung eines von rechter ehelicher
) Ebbecke, Scheidungsklage aus § 1568. Das Recht 1913, S. 381.
522 Familienrecht der Geistesgestörten.
Gesinnung erfüllten Gatten unwiederbringlich zu zerstören (Jur.
Wochenschr. ii, 369). Es ist nicht erforderlich, daß nur ein
Ehegatte derartige Verfehlungen begangen hat, es können auch
beide sich solcher schuldig gemacht haben (R.G. 2. 7. 01; Das
Recht 1902, Nr. 281). Unter Umständen können mehrere leichte
Pflichtverletzungen zusammen als schwere angesehen werden.
Es kommt dann auf das Gesamtverhalten an (Jur. Wochen¬
schr. 1902, B, 267). In solchen Fällen muß der Richter nicht
nur jede Einzelhandlung prüfen, sondern auch das Gesamtver¬
halten berücksichtigen (R.G. 9. 6. 10; Jur. Wochenschr. 1910,
750). Unter besonderen Umständen, z. B. in Verbindung
mit früheren Verfehlungen, können auch leichte Verletzungen als
schwere erscheinen und umgekehrt (R.G. 17. 12. 06 • Jur.
Wochenschr. 1907, S. 108).
Die grobe Mißhandlung ist immer als schwere Verletzung
der durch die Ehe begründeten Pflichten anzusehen; während bei
allen anderen Verfehlungen das subjektive Moment, die persön¬
liche Lage des Täters Berücksichtigung findet, ist das bei der
Mißhandlung so gut wie gar nicht der Fall. Das Reichsgericht
spricht von einem ,,äußerst geringen Spielraum für die Berück¬
sichtigung subjektiver Momente hierbei“. (R.G. 9. 12. 07; Das
Recht 1908, Nr. 1999.)
2. Als ehrloses oder unsittliches Verhalten kann unter Um¬
ständen auch eine Einzelhandlung angesehen werden (R.G.
22. 6. 00; Das Recht 1900, Nr. 1493 [die Begehung eines Ver¬
brechens, die Erstattung einer Strafanzeige]; Jur. Wochenschr.
1911, S. 145)-
Ehrlos und unsittlich ist nicht nur das, was unter die Para¬
graphen des Strafgesetzbuchs fällt, sondern auch da ist das sub¬
jektive Moment, das hpißt, Lebensstellung, Erziehung, persön¬
liches Empfinden der beiden Ehegatten besonders zu berücksich¬
tigen. Unter Umständen können schon grobe Entgleisungen in
gesellschaftlicher Beziehung (Jur. Wochenschr. 1903, B. 36) als
solche aufgefaßt werden. Weitere Beispiele siehe unten.
3. Wann ist eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhält¬
nisses anzunehmen, daß dem Ehegatten die Fortsetzung der Ehe
nicht zugemutet werden kann?
Auch hier sind subjektive und objektive Momente besonders
zu würdigen (R.G. 2. i. 08; Das Recht 1908, Nr. 542). Er¬
forderlich ist zur Annahme einer Ehezerrüttung beiderseitiges
Ehescheidung.
5 ^
Erlöschen der ehelichen Gesinnung (R.G. 4. 5. 05; Jur. Wochen-
schr. 1905, S. 393). Nicht nötig ist, daß durch das vorgebrachte
Verhalten allein die Ehe zerrüttet wird, es genügt, wenn sich er¬
gibt, daß unter den gegebenen Umständen eine, wenn auch aus
anderen Gründen vorhandene Zerrüttung vertieft und auf den die
Scheidung bedingenden Grad gebracht wird (O.L.G. Jena,
15 - 3 - 05; Das Recht 1905, Nr. 1147).
Der Begriff „zumuten“ wird folgendermaßen definiert: Es
ist zu prüfen, ,,ob an den Kläger die Anforderung noch zu stellen
sei, daß er unter Hinnahme ihm widerfahrenen Unrechts die Ehe
fortsetze“, oder „ob nach Lage des Falles es dem Wesen der
Ehe nicht mehr entspricht, diese Zumutung an ihn zu stellen und
ob vielmehr die Schwere der Verfehlungen des Beklagten so groß,
die darauf beruhende subjektive Entfremdung des Klägers so un¬
überwindlich ist, daß Kläger einem derartigen Ansinnen über¬
hoben ist“ (R.G. IV. 5. IO. 05; Jur. Wochenschr. 1905, S. 693).
4. Wie schon oben ausgeführt wurde, sind grobe Mißhand¬
lungen stets schwere Pflichtverletzungen, gleichgültig ob sie den
Tatbestand des § 324 Str.G.B. erfüllen, ob sie lebensgefährlich
oder gesundheitsschädlich sind, Folgen zurücklassen oder nicht.
Auch die soziale Stellung der Gatten ist bedeutungslos. Die Mi߬
handlungen brauchen nicht wiedeiholt worden zu sein, eine
einmalige grobe Mißhandlung genügt (Jur. Wochenschr. 1911,
S. 717). Mißhandlungen, die nicht als grobe anzusehen sind,
können unter Umständen eine Pflichtverletzung darstellen, z. B.
bei Angehörigen gebildeter Stände. Das R.G. sagt darüber:
„Auch kommt die weitere Erwägung des Berufungsgerichts be¬
treffs der Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses in Betracht, daß in
gebildeten Ständen Mißhandlungen der Frau durch den Mann regel¬
mäßig als nicht wieder gutzumachende Kränkungen angesehen werden,
daß der Beklagte aus dem früheren Verhalten der Klägerin, nament-
iieh vom Juni 1901, wußte, wie schwer sie die von ihrem Ehemann
zugefügten Mißhandlungen empfand. Hieraus ergibt sich zugleich, daß
die Frage der Zerrüttung nicht ausschließlich von dem subjektiven
Standpunkte der Klägerin aus, sondern auch von dem objektiven in
gebildeten Kreisen geltenden Standpunkte, geprüft worden (R.Q.E.
17. 3. 07; Jur. Wochenschr. 1907, S. 142).
Wie bereits oben ausgeführt wurde, ist für die Bewertung
subjektiver Momente, wie Aufregung, psychopathische Veran¬
lagung und ähnliches, bei Beurteilung der groben Mißhandlung
wenig oder gar kein Spielraum. Diese gilt als Ehezerrüttung
524
Familienreclit der Geistesgestörten.
also in jedem Falle, in dem sie nicht durch eine schwere, die
freie Willensbestimmung ausschließende Geisteskrankheit bedingt
ist. —
Von den Ehescheidungsgründen, welche der § 1568
enthält, interessieren die meisten auch den Psychiater insofern,
als die Personen, welche als Kläger und Beklagte in Frage
kommen, vielfach zu den Grenzzuständen gehören. Auch das er¬
gibt sich einwandfrei aus der Rechtsprechung. In Betracht
kommen vorwiegend folgende Gruppen; i. die geschlechtlich
Perversen ^), 2. die Alkoholisten, 3. die Hysterischen und Degene¬
rierten und 4. die Schwachsinnigen.
Voranstellen möchte ich für den Richter, daß es sich emp¬
fiehlt, in allen Fällen, in denen die Ehescheidung wegen Zerrüttung
auf geschlechtlichem Gebiete beantragt ist, möglichst weitherzig
zu sein; denn es steht außer Zweifel, daß das Geschlechtsleben in
den meisten Ehen eine dominierende Stellung einnimmt, die
Zerrüttung auf diesem Gebiete also die Beziehungen der
Ehegatten zueinander auch in ethischer Flinsicht stark beein¬
flussen muß. Dies ist z. B. schon dann der Fall, wenn die Ehe¬
gatten in ihrem geschlechtlichen Begehren nicht übereinstimmen,
d. h., wenn der eine Ehegatte sehr viel sinnlicher veranlagt ist, als
der andere.
Das Reichsgericht steht iin allgemeinen auf dem Standpunkt,
daß nur hartnäckige Beischlafs Verweigerung (R.G.
31. I. 07 und 8. 10. 10. jur. Wochenschr. 1910, S. 1005^ als
Ehescheidungsgrund gilt “).
Ebenso werden übertriebene geschlechtliche Anforderungen
nicht ohne weiteres Ehescheidungsgrund, sondern erst dadurch.
') Zum Verständnis der vorliegenden Verhältnisse seien folgende
Ausdrücke kurz erklärt: Nymphomanie = geschlechtliche Übererreg¬
barkeit bei der Frau; Satyriasis — geschlechtliche Überregbarkeit beim
Manne; Frigidität = geschlechtliche Unempfindlichkeit; Impotenz = Un¬
fähigkeit zur Beiwohnung. Letztere kann verschieden bedingt sein, z. B.
rein psychisch (durch krankhafte Vorstellungen) oder durch ein orga¬
nisches Rückenmarksleiden (z. B. bei der Rückenmarksschwindsucht),
oder durch Verbildung der Geschlechtsorgane (z. B. bei Zwitterbildung).
^) Zwei- bis dreimonatliche Weigerung des Geschlechtsverkehrs
berechtigt den Mann nicht, die Scheidung zu verlangen, wenn er oft
angetrunken gewesen ist, mit der Frau Streit angefangen und sie mi߬
handelt hat (Hamburg, 27. 9. 10; Das Recht 1911, Nr. 92).
Ehescheidung.
525
daß sic den anderen Teil körperlich oder seelisch schädigen, besser
gesagt, krank machen.
Daß der andere Ehegatte sowohl unter der Frigidität,
wie auch unter der ge.schlechtlichen Überempfindlichkeit des Ehe¬
partners leidet, wird zum mindesten in vielen Fällen zutreffen.
Die Behauptung, daß der normale Mensch die geschlechtliche Be¬
tätigung entbehren könne, ist in der allgemeinen Fassung, wie sie
für gewöhnlich ausgesprochen wird, nicht richtig. Es kommt
dabei immer auf die Individualität des einzelnen und auf die be¬
sonderen Umstände an, unter denen er lel)t. Fs gibt jedenfalls
nicht wenige Menschen, die unter plötzlich notwendig werdender
geschlechtlicher Enthaltsamkeit, nachdem eine längere Zeit regel¬
mäßiger geschlechtlicher Betätigung vorauf gegangen ist, zweifellos
leiden ^).
Noch schlimmer ist meist nach meinen ärztlichen Erfahrungen
das Gegenteil. Werden an einen nicht sehr sinnlichen Menschen
hohe geschlechtliche Anforderungen gestellt, so beeinflußt das
die Beziehungen zu dem anderen Ehepartner außerordent¬
lich ungünstig. Es tritt unter Umständen sehr rasch eine aus¬
gesprochene Abneigung gegen denselben ein. Daneben aber auch
stellen sich allerlei neurasthenische Erscheinungen, wie Müdig¬
keit, Schlaflosigkeit, trübe Stimmung, b’nfähigkeit zur Arbeit und
ähnliches bei dem auf diese Weise Überanstrengten ein. Es er¬
wachsen daraus in den seltensten Fällen lebensgefährliche Krank¬
heiten. Aber gerade jene Gefühlsmomente, die der Gesetzgeber
in allen Ehefragen besonders gewürdigt wissen will, leiden durch
geschlechtliche Übererregbarkeit des einen Ehegatten erheblich
(R.G. 13. I. 02; Jur. Wochenschr. 1902, B. 205).
Bezüglich der Homosexualität habe ich mich in dem
speziellen Teil, der nachzulesen sein wird, ausführlicher aus¬
gesprochen. Hinzuzufügen habe ich an dieser Stelle nur, daß
zwischen weiblicher und männlicher Homosexualität kein l’nter-
schied besteht. Auch dann, wenn die Ehefrauen gleichgeschlecht-
*) Ist der Mann zur V'ollziehung des Qesclileclitsaktes fähig, unter¬
läßt er aber hartnäckig und andauernd die Beiwohnung, damit das Recht
der Frau auf Geschlechtsverkehr verletzend, und ist er weder durch
geschlechtliche Unfähigkeit noch durch Widerwillen gegen die Frau ent¬
schuldigt, so liegt darin eine, auf rücksichtsloser Eigensucht beruhende
Verletzung der ehelichen Pflichten (R.Q. IV. .31. I. 07; Das Recht 1907,
Nr. 604).
526 Familienrecht der Geistesgestörten.
lieh veranlagt sind, entstehen meist dieselben Unstimmigkeiten,
welche weiter unten beschrieben sind. Es kommt ziemlich selten
vor, daß eine homosexuelle Frau, wenigstens äußerlich und
rein passiv, dem Manne die Möglichkeit der geschlechtlichen Be¬
friedigung gibt, und selbst wenn sie das tut, so kann sie ihr ver¬
ändertes Empfinden doch nicht so weit unterdrücken, daß es
nicht auch das Eheleben beeinflußte. Verhältnismäßig geringfügig
sind in diesen Fällen die Störungen dann, wenn jeder der beiden
Ehegatten auf seine Fagon selig zu werden versucht und dem
anderen Teil grundsätzlich möglichst wenig ins Gehege kommt.
Solchen Psychopathenehen begegnet man in der Großstadt in allen
Gesellschaftstkreisen.
Was schließlich die Onanie anlangt, so spielen, wenn sie
von einem Ehegatten betrieben wird, für gewöhnlich auch irgend¬
welche besonderen Verhältnisse eine Rolle. Sei es, daß die
Gründe in dem anatomischen Bau der Geschlechtsorgane zu suchen
sind, sei es, daß der nach dieser Richtung hin exzedierende Ehe¬
gatte infolge nervöser Veranlagung auf dem gewöhnlichen Wege
keine geschlechtliche Befriedigung erlangt. Die gewohnheits¬
mäßige Onanie stellt jedenfalls, „auch wenn sie unter einem un¬
widerstehlichen psychologischen Zwange“ erfolgt, ein unsittliches
Verhalten dar (R.G. 28. 6. 09; Das Recht 1909, Nr. 2428).
Über die sexuelle Impotenz als Scheidungs¬
grund spricht sich noch folgende Entscheidung aus:
Wenn auch das Unvermögen zur Leistung der ehelichen Pflicht
für sich und als solches keinen Scheidungsgrund bildet, so ist es doch
nicht ausgeschlossen, daß die Herbeiführung des Unvermögens durch
schuldvolles unsittliches Verhalten den andern Ehegatten berechtigt,
auf Grund § 1568 die Scheidung zu verlangen (R.G. IV. 13. 12. 00).
Das Recht 1901, Nr. 476.
Wenn man entsprechend den Gepflogenheiten des Reichs¬
gerichtes in allen diesen Fällen das objektive und subjektive
Moment bei Würdigung der Frage, ob Ehescheidung angebracht
ist oder nicht, berücksichtigt, dann wird man, wie ich glaube,
häufiger dazu gelangen, die Ehescheidung auszusprechen, als um¬
gekehrt.
2. Wir kommen damit zum Alkoholismus.
Da der Begriff Trunksucht an sich ein sehr flüssiger, nicht
scharf abzugrenzender ist, wird es niemanden wundernehmen,
wenn das Reichsgericht noch weitere einschränkende Voraus-
Ehescheidung.
527
Setzungen für die Anwendung der Trunksucht als Ehescheidungs¬
grund angibt.
Das oberste Gericht fordert zwei Merkmale, nämlich erstens
muß die Trunksucht beharrlich sein, und zweitens muß da¬
durch die Ehe zerrüttet werden. Nicht notwendig ist, daß
auch die Unverbesserlichkeit des Trinkers einwandfrei nach¬
gewiesen wird (20. 2. 07; Das Recht 1907, Nr. 3107). Es ist
sogar möglich, daß der trunksüchtige Ehegatte während des
Scheidungsprozesses eine Besserung zeigt. Notwendig ist nur,
daß zur Zeit der Klageerhebung die beharrliche Trunksucht be¬
stand (O.L.G. Kassel 7. i. 07; Das Recht 1907, Nr. 466) ^).
Die Scheidung kann auf Trunksucht nicht gegründet werden,
wenn der Ehegatte in den letzten sechs Monaten für sein über¬
mäßiges Trinken (wegen krankhaften Dranges nach alkoholischen
Getränken) nicht mehr sittlich verantwortlich gemacht werden kann
(R.Q. IV. 19. 12. 07; Das Recht, Sp. 94 , Entsch. Nr. 543; Rostock,
4. 3. 08; Das Recht 1909, Nr. 1524).
Ist die Trunksucht weder ausschweifend noch beharrlich, so
liegt darin keine schwere Verletzung der durch die Ehe begründeten
Pflichten. Um so weniger als die Trunksucht, selbst wenn sie vor¬
übergehend zum Ausbruch des Säuferwahnsinns geführt hat, für sich
allein als gesetzlicher Scheiduiigsgrund nicht anerkannt ist (R.Q. FV.
10 . 5. 09; Das Recht 1909, Nr. 2964; ebenso; R.Q. 11. 2. 11; Jur.
Wochenschr. 1911, S. 369).
Wie muß nun das Verhalten des Trunksüchtigen sein, damit
es die Ehe zerrüttet? i. Wenn Arbeitsscheu und Streitsucht,
sowie Neigung zu kriminellen Handlungen durch den Alkoholis¬
mus bewirkt wird, sind die Voraussetzungen des § 1568 gegeben
(O.L.G. Rostock 20. IO. 00; Das Recht 1901, Nr. 1340). 2. Das¬
selbe ist der Fall, wenn der Beweis der auf böslicher Absicht be¬
ruhenden hartnäckigen Versagung des Unterhaltes erbracht wird
(R.G. 27. 6. 04; Das Recht 1904, Nr. 2253). 3. Können auch
grobe Mißhandlungen, wenn sie im Rausch begangen sind, einen
Scheidungsgrund darstellen (O.L.G. Dresden i. 3. 02; Das Recht
1902, Nr.. 983).
Anhangsweise sei zu dem Kapitel Trunksucht noch hinzu¬
gefügt, daß nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts
’) Beharrlich ist ein Trinker, wenn er sich jahrelang als Trinker
gezeigt hat und keine Gewähr dafür besteht, daß die Besserung eine
endgültige ist (Das Recht 1907, Nr. 466).
“) Dasselbe ist bei geistiger Minderwertigkeit der Fall (O.L.G.
Rostock, 4. 3. 08; Das Recht 1909, Nr. 1524).
528 Familienrecht der Geistesgestörten.
Kiel vom 27. 10. 1910 (Das Recht 1911, Nr. 89) Morphinis¬
mus kein S c h e i d u n g s g r u n d ist ^).
3. Im Verlaufe der Erörterungen über die Anfechtbarkeit
und Scheidung der Ehe ist bereits wiederholt der Hysterie ge¬
dacht worden. .\uch das Reichsgericht hat sich mit ihr wiederholt
beschäftigt. Der Charakter der Erkrankung bringt es mit sich,
daß jeder Fall für sich betrachtet werden muß.
Im allgemeinen steht das Reichsgericht auf dem Standpunkt,
daß die Hysterie die Verantwortlichkeit für Beschimpfungen
gröl)lichstcr Art nicht ausschließe, wohl aber einzelne Symptome,
wie leichte Reizbarkeit, erklären könne (R.G. 29. 4. 12; Das
Recht 1912, Nr. 1806). Die Wirkung der Erkrankung wird
sogar noch weiter eingeschränkt. Wenn z. B. bei einer Hyste¬
rischen Vergiftungsideen gegen den Mann bestehen, und sie diese
anderen Personen gegenüber äußert, so können diese Aussprüche
nicht als schwere, auf einem Verschulden beruhende Ehever¬
fehlungen angesehen werden (R.G. i. 6. 08; Das Recht Nr. 2678).
Bei Hysterischen wird es nicht selten Vorkommen^ daß sie
grundlose Eifersuchtsideen äußern, von deren Berechtigung sie
selbst aber durchaus überzeugt sind. In solchen Fällen ist eine
schwere Pflichtverletzung im Sinne des Gesetzes nicht anzii-
nehmen (R.G. 27. ii. ii; Das Recht 1912, Nr. 226).
Mit der Hysterie nahe verwandt und für die Ehe in
schweren Fällen ebenso bedeutungsvoll wie diese, ist die Hypo¬
chondrie.
Die ständige Krankheitsfurcht, welche diese Patienten be¬
seelt, ihre Neigung zur Selbstbeobachtung und Quacksalberei, die
dadurch bedingte \’erschrobenheit der Lebensführung, der meist
damit verbundene Egoismus, die Reizbarkeit, Launenhaftigkeit,
Neigung zum Tyrannisieren, mit der sich bisweilen noch ein aus¬
gesprochener Hang zur Bigotterie verbinden kann, machen solche
Menschen zu einer wahren Plage für den anderen Ehegatten.
Trotzdem stellt dieses Verhalten keinen Ehescheidungsgrund dar,
wie die folgende Entscheidung ergibt;
Hypochondrisches, von steter Krankheitsfurcht beeinflußtes
Wesen und übertriebene Frömmelei des Mannes bilden keinen Schei-
*) Ich glaube nicht, daß das Gericht den Morphinismus generell als
Scheidungsgrund hat ausschließen wollen, glaube vielmehr, daß auch
diese Erkrankung der Trunksucht gleichzusetzen ist.
Ehescheidung.
529
dungsgrund, auch wenn er durch seine Versuche, die Frau zu seinen
Anschauungen zu bekehren, sie erheblich belästigt hat.
Es kann keine Rede davon sein, daß dies als ein unsittliches Ver¬
halten angesehen werden könnte. Aber auch eine schwere Ver¬
letzung der Ehepflichten gemäß § 1568 B.O.B. kann darin nicht er¬
blickt werden. § 1568 setzt ein Verschulden voraus, und an einem
solchen fehlt es hier. Der Beklagte war bei den Versuchen, seine
Frau zu seinen religiösen Anschauungen zu bekehren, unverkennbar
von dem Bestreben geleitet, zu ihrem Besten zu handeln, ihr Wohl¬
ergehen zu fördern; das gleiche war der Fall, wenn er ihr Ratschläge
zur Erhaltung der Gesundheit gab. Bei der übertriebenen Sorge für
seine Gesundheit handelte er zwar in erster Linie in seinem eigenen
Interesse; aber es fehlte ihm das Bewußtsein, daß die von ihm für
begründet gehaltene Sorge gegenüber seiner Frau ehezerrüttend
wirken könne. Wenn nun auch seine gut gemeinten Bestrebungen
ihn tatsächlich zu einem Verhalten führten, welches von seiner Frau
mit Fug als erhebliche Belästigung empfunden wurde, so kann das
doch kein Verschulden begründen. Das Verschulden im Sinne des
§ 1568 muß im Willen und im Bewußtsein des Handelnden gesucht
werden, nicht in der ungewollten Wirkung seiner Handlungen. Es
läßt sich auch nicht, wie die Klägerin will, eine schuldhafte Ver¬
letzung der Ehepflichten darin finden, daß Beklagter es unterlassen
habe, gegen seine vorerwähnten Neigungen anzukämpfen, da er doch
einmal des guten Glaubens war, daß sein Verhalten seiner Familie
förderlich sei (R.G. IV. 20. 10. 10). Das Recht 1910, Nr. 4100.
Was die Schwachsinnigen anlangt, so ist es die Nei¬
gung zur Selbstüberschätzung, die Rücksichtslosigkeit, der Egois¬
mus, die Launenhaftigkeit und Unbeständigkeit neben der Un¬
fähigkeit im Beruf, die das eheliche Verhältnis auf die Dauer
trüben. Ist der Patient daneben noch dem Alkohol ergeben, dann
mißhandelt er für gewöhnlich auch seine Familie.
Anzuschließen haben wir endlich einige Worte über die Be¬
deutung der normalen Affekte für das schuldhafte Handeln.
Grundlegend für die Auffassung des Reichsgerichts ist eine
Entscheidung vom 21. März 1901, welche besagt, daß
zur Feststellung des schuldhaften Verhaltens i. S. des § 1568
nicht erforderlich ist, daß der Wille der Beklagten unmittelbar auf
den nachteiligen Erfolg abzielte, es genügt das Bewußtsein, daß mit
ihrer Handlungsweise der Erfolg eintreten könne.
Das Recht 1902, Nr. 281.
Aufgeregtes Wesen, Zorn, seelische Erregung können bei
Entscheidung der Frage, ob schwere Pflichtverletzung vorliegt,
berücksichtigt werden, wenn infolge des Affektes die böse Absicht
fehlte, oder wenn die Beleidigungen später nicht aufrecht erhalten
Hübner, ITorensiacbe Psychiatrie. 34
530
Familienrecht der Geistesgestörten.
werden; dann enthalten sie keinen Sclieidungsgrund (R.G.
14. 3. 10; Das Recht kjio , Xr. 1980). R.G. 13. 12. 00; Das
Recht 1901, Xr. 673. Ü.L.G. München 21. 4. 03; Das Recht 04,
Xr. 643. R.G. 23. 12. 01 ; Jur. Wochenschr. 1902, S. 205).
Ehescheidung wegen Geisteskrankheit.
§ i5f)9 R.G.B. Ein Ehegatte kann auf Schei¬
dung klagen, wenn der andere Ehegatte in
Geisteskrankheit verfallen ist, die Krankheit
während der Ehe mindestens drei Jahre gedauert
und einen solchen Grad erreicht hat, daß
die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehe¬
gatten aufgehoben, auch jede Aussicht auf
W'iederherstellung dieser Gemeinschaft aus¬
geschlossen ist.
Kür die auf Geisteskrankheit gestützte Ehescheidungsklage
müssen also gemäß § r569 folgende Voraussetzungen vorliegen;
1. daß der andere Ehegatte in Geisteskrankheit ver¬
fallen ist,
2. daß die Krankheit während der Ehe mindestens 3 Jahre
gedauert und
3. einen solchen Grad erreicht hat, daß die geistige Gemein¬
schaft zwischen den Ehegatten aufgehoben,
4. auch jede -Aussicht auf Wiederherstellung der Gemein¬
schaft ausgeschlossen ist.
Wir wf)llen nun diese 4 Eunkte gesondert betrachten.
I. Was bedeutet der Ausdruck Geisteskrankheit?
Ich zitiere in dieser Beziehung folgende Ent.schcidungen:
Ebensowenig wie bei der Frage der Entmündigung, soll bei der
Ehescheidung mit dem Ausdruck Geisteskrankheit eine klinische
Diagnose gegeben werden.
Es soll damit aber auch nicht gesagt sein, daß der Begriff
Geisteskrankheit sich mit dem im § 6 B.G.B. angewandten, und somit
mit dem der völligen Geschäftsunfähigkeit unter allen Umständen
vollständig deckt.
Im allgemeinen steht das Reichsgericht, und zwar wohl ent¬
sprechend den tatsächlichen Verhältnissen, auf dem Standpunkt, daß
die geistige Gemeinschaft nur dann aufgehoben sein wird, wenn auch
') Bei Geistesschwäche nimmt das R.G. die Möglichkeit eines
Verschuldens bei Ehebruch an (vergl. Entsch. 27. 5. 07; Jur. Wochenschr.
1907, 473).
Ehescheidung.
531
Geistes k r a n k h e i t iin Sinne des § 6 B.Q.B. vorliegt, während das
bei Geistesschwäche“) nicht der Fall ist (R.Q. 5. 5. fl2; Jur.
W ochenschr. 1902, S. 244).
Das oberste Gericht hat diesen Standpunkt in der el)en
zitierten Entscheidung auch begründet. Es führt aus, daß der
Geistes.scliwache in seiner Handlungsfäliigkcit erheljlich weniger
beschränkt sei, als der Geisteskranke, und verweist dabei auf die
Taragraphen 104, Nr. 3, 114, 1304, 1729, 1751 und 2253 B.G.B.
Es ist zuzugeben, daß derjenige, w'elcher bei Reclitsgeschäftcn,
die die genannten Paragraphen betreffen, mitwirken kann, kaum
als geisteskrank im Sinne des § 1569 anzuseheii sein wird. Denn
ihm ist ein gewisses Verständnis für verschiedene wichtige, das
Eheleben betreffende Fragen zweifellos geblieben. Andererseits
muß das Reichsgericht selbst zugeben, daß es Fälle gibt, in denen
der Kranke einzelne Angelegenheiten selbst zu erledigen oder an
ihrer Erledigung mitzuwirken vermag, und daß trotzdem die
X’oraussetzungen des § 1569 gegeben sein können. Nach einer
Entscheidung des R.G. vom 8. Mai 1905 (Jur. Wöjchenschr.
1905, S. 395) ist die Anwendung des § 1569 auch bei nur par¬
tiellem Wahnsinn nicht ausgeschlossen, und selbst dann nicht,
wenn dem geisteskranken Ehegatten noch die Fähigkeit verblieben
ist, die meisten bürgerlichen und Vermögensangelegenheiten zu
besorgen.
Nach einer weiteren Entscheidung des O.L.G. Nürnberg
(6. 3. 11 ; Das Recht 1911, Nr. 3191) kann auch einige Epilepsie,
wenn sie mit zahlreichen epilejitischen Anfällen und deren Begleit¬
erscheinungen (Dämmerzustände, Delirien usw.) einhergeht, so
daß die anfallsfreien Zwischenräume nur eine Ausnahme bilden,
Anlaß zur Ehescheidung gemäß § 1569 geben, ohne daß man den¬
selben Patienten, wie ich hinzufügen möchte, unter allen Um¬
ständen wird wegen Geisteskrankheit entmündigen müssen.
Es gibt also Fälle, in denen auch bei Geistesschwäche die Voraus¬
setzungen des § 1569 unter Umständen gegeben sein könnten.
Doch wird dies nur in seltenen Ausnahmefällen zutreffen.
]m allgemeinen wird man sich auf den .Standpunkt des
Reichsgerichts stellen können, daß Geisteskrankheit ein Eheschei¬
dungsgrund ist, Geistesschwäche jedoch nicht ohne weiteres.
Selbstverständlich ist, daß der geisteskranke Ehegatte nicht
entmündigt zu sein braucht.
34
532
Familienrecht der Geistesgestörten.
2. Die Geisteskrankheit muß nun während der Ehe drei
Jahre gedauert haben.
Sie kann vor der Eheschließung begonnen haben; in diesem
Falle ist aber die Ehescheidung wegen Geisteskrankheit erst mög¬
lich, wenn sie während der Ehe drei Jahre bestanden hat.
Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß manche Geistes¬
störungen nicht sofort in ausgeprägter Form einsetzen, sondern,
wie man es medizinisch ausdrückt, schleichend beginnen. An¬
gesichts dessen erhebt sich die Frage, von welchem Zeitpunkte
die dreijährige Frist zu berechnen ist. Das O.L.G. Jena hat in
einer Entscheidung vom 20. November 1902 sich dahin aus¬
gesprochen, daß die Frist von dem Zeitpunkte ab zu rechnen sei,
in dem zuerst das Bestehen von Geisteskrankheit fest¬
gestellt wurde, nicht etwa schon von da ab, wo Symptome hervor¬
getreten sind, von denen sich später herausgestellt hat, daß sie
durch geistige Erkrankung zu erklären seien (Das Recht 1903,
Nr. 2453).
Ein Beispiel wird dem Juristen leicht verständlich machen,
was gemeint ist.
In meiner Behandlung befindet sich gegenwärtig ein Qroßkauf-
mann von 53 Jahren, der im letzten Jahr dadurch aufgefallen ist, daß
er sehr viel schlief, über Müdigkeit klagte, bisweilen auch gereizt
war, in der Familie und im Geschäft mehr nörgelte als früher, so daß
man ihn für „etwas nervös“ hielt. Vor ungefähr vier Wochen, im An¬
schluß an eine Magenaffektion, über die nichts Näheres zu ermitteln
war, trat eine merkwürdige Veränderung mit ihm ein. Er wurde
auffallend heiter und gesprächig, lobte seine pekuniären Verhältnisse,
prahlte in plumper Weise vor Fremden von seiner Frau, seinem Be¬
sitztum, seinem Geschäft, wurde sehr freigebig mit Trinkgeldern.
Während er früher nie ein Glas Wein trank, hegte er jetzt häufig
den Wunsch, Alkohol zu sich zu nehmen. Er beging auch in Ge¬
sellschaften öfters Taktlosigkeiten, so daß die Frau schließlich einen
Arzt befragte, der nach Untersuchung des Patienten den Verdacht
der Paralyse aussprach. Die Lumbalpunktion und die Untersuchung
des Blutes bestärkte diesen Verdacht. Der Patient entwickelt sich
gegenwärtig mehr und mehr im Sinne einer agitierten Paralyse.
Wenn in diesem Falle später die Frage der Ehescheidung
jemals aufgeworfen werden sollte, ich glaube nicht, daß das ge¬
schehen wird, so würde der Zeitpunkt der dreijährigen Dauer
während der Ehe nicht etwa schon mit den Erscheinungen vor
einem Jahr beginnen, sondern erst mit der vor wenigen Wochen
einsetzenden Veränderung. Denn nach der oben erwähnten Ent-
Ehescheidung.
533
Scheidung ist erst um diese Zeit das Bestehen der Geisteskrank¬
heit festgestellt worden. Daß die vorhergehenden Symptome die
ersten Anzeichen der Erkrankung waren, ist sicher, es kommt
aber nach der oben zitierten Entscheidung nicht allein darauf an,
sondern vielmehr darauf, wann zuerst das Bestehen der Geistes¬
krankheit festgestellt wurde. Und das ist erst vor wenigen
Wochen geschehen.
Haben wir soeben erörtert, wann die dreijährige Frist zu
laufen beginnt, so erhebt sich die weitere Frage, ob zur Zeit der
Einreichung der Klage oder zur Zeit der Urteilsfällung die drei
Jahre verstrichen sein müssen. Für gewöhnlich wird eine Klage
nicht eher eingereicht werden, als bis die drei Jahre vollendet
sind. Ich glaube aber mit E. Schultze*), daß unter Umständen auch
dann, wenn erst zur Zeit der Urteilsfällung die dreijährige Frist
vollendet ist, dem Gesetz Genüge geschehen ist (vergl. auch
Neumann, Jahrb. d. deutschen Rechts, i. Jahrg., Bd. 2, Anm. 4
zu § 1569).
Gleichgültig ist, ob die Erkrankung während ihres drei¬
jährigen Bestehens gewissen Schwankungen unterworfen ist, wie
das z. B. bei der Paralyse, aber auch bei anderen chronischen Er¬
krankungen, wie der Dementia praecox, der Epilepsie, leicht der
Fall ist. Erforderlich ist nur, daß die Geisteskrankheit als solche
drei Jahre ununterbrochen besteht. Sie kann von verein¬
zelten oder wiederholten „lichten Augenblicken“, selbst wenn die
geistige Gemeinschaft während dieser „lucida intervalla“ vorüber¬
gehend wiederhergestellt ist (Staudinger, Anm. 3 c und d zu
§ 1569), unterbrochen sein.
3. Wir kommen damit zu dem wichtigsten Punkte aus der
Lehre von der Ehescheidung wegen Geisteskrankheit, nämlich zu
der Frage; Wann hat die Geisteskrankheit einen
solchen Grad erreicht, daß die geistige Gemein¬
schaft zwischen den Ehegatten aufgehoben ist?
Es hat längerer Zeit bedurft, ehe durch die Rechtssprechung
gewisse Anhaltspunkte dafür gewonnen waren, was man unter
Aufhebung der geistigen Gemeinschaft zu verstehen habe.
Wenn die Ansichten ursprünglich darüber etwas differierten,
so lag das wohl an der Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung.
*) E. Schultze im Handbuch. Hubrich, Arch. f. zivil. Praxis 1896.
Schmidt-Qreßner, l'estsclir. f. Dernburic 1900.
Familienrecht der Geistesgestörten.
534
IJrsprünglicIi hatte man nur den „geistigen Ti)d‘‘ als Ehesehei-
<linigsgrund anerkennen wollen. Erst im \'crlauf der Reiclistags-
dehattcn machte sich dann eine mildere Auffassung geltend.
Wenn man auf ('iiund der Rechtsprechung zu einer einheit¬
lichen Auffassung des Begriffes kommen will, so tut man gut,
die vorhandenen Entscheidungen chronologisch zu betrachten.
Man kann dann sehr deutlich verfolgen, wie in den luitschei-
dungen, welche aus dem ersten Jahre nach Inkrafttreten des Bür¬
gerlichen Gesetzbuches ergangen sind, der Begriff des geistigen
Todes'noch eine groLle Rolle spielt, während später die mildere
Auffassung mehr und mehr an Boden gewinnt. Zum Beweise er¬
wähne ich die folgenden Entscheidungen'). Für geistigen Tod:
O.L.G. Karlsruhe, 2. 5. 01; Das Recht 1901, Nr. 1496, wo auf
die Entstehungsgeschichte des § 15(>9 direkt hingewiesen ist.
Ebenso O.L.G. Köln, 23. 3. 01; Das Recht 1901, Nr. 1181 ; R.G.
18. 12. 02; Jur. Wochenschr. 1903, S. 28.
Die Mehrzahl der späteren Entscheidungen stellt sich dann,
wie schon gesagt, auf einen erheblich milderen Standpunkt. Da¬
nach ist die geistige Gemeinschaft z. B. dann aufgehoben, wenn
infolge von Wahnvorstellungen das zum Zusammenleben un¬
bedingt notwendige gegenseitige \’ertrauen und \’erständnis aus¬
geschlossen und ein gemeinsames Fühlen und Denken unmöglich
gemacht ist, so daU eine tiefinnerliche luitfrerndung der Ehe¬
gatten eingetreten ist (R.G. if>. 2. 11 ; Jur. Wochenschr. 1911,
3 / 0 ).
Eine Entscheidung aus dem Jahre 1906 (Psychiatr. W'oehen-
■schr., S. 198) betont weiter, dall cs nicht darauf ankommt, daß
der Beklagte sich noch dessen bewußt ist, verheiratet zu sein,
wohl aber kann man die geistige Gemeinschaft, ,,dann nicht für
aufgehoben erachten, wenn der Beklagte noch in Liebe an seiner
I'rau utul seinen Kindern hängt und deshalb bei dem Gedanken
einer ihm drohenden Scheidung in sichtliche Erregung gerät."
Ist der kranke Teil infolge seiner Geisteskrankheit nicht
mehr imstande, an dem Lebens- und Gedankenkreis des andern
Ehegatten irgendwie leilzunehmcn, so kann von einer geistigen
Gemeinschaft zwischen den Ehegatten keine Rede sein (O.L.G.
Hamburg, 22. i. 01 : Das Recht 1901, Nr. 571).
’) Das hanseatische Dberlaiulesiiericht in Hariiburß hat sich schon
in einer FntschcidniiK vom 22 . 1. 01 (Das Recht 1901 , Nr. Fi 7 \) auf den
milderen Standpunkt Kcstellt.
Ehescheidung. 535
Selbstverständlich ist, daß nicht die räumliche Trennung der
Ehegatten ausreicht, die geistige Gemeinschaft aufzuhehen, es
muß vielmehr der Gedankenkreis des einen Ehegatten infolge
seiner geistigen Erkrankung sich soweit von demjenigen des an¬
dern Ehegatten entfremdet haben, daß er mit diesem nicht mehr
zum Erreichen jenes Zweckes Zusammenwirken kann.
Etwas ausführlicher spricht sich eine in der Psych. Wochen-
schr., Bd. 10, S. 147 abgedruckte Entscheidung aus, welche sagt,
daß das Reichsgericht als Voraussetzung der geistigen Gemein¬
schaft, einmal das Bewußtsein der durch die Ehe auferlegten, auf
dem Wesen der Ehe beruhenden Rechte und Pflichten*), und
ferner auch die geistige Fähigkeit, die durch die Ehe auferlegten
Pflichten zu erfüllen, fordert.
Aus einer ganzen Reihe weiterer Entscheidungen geht nun
hervor, daß auch bei Prüfung der Frage der geistigen Gemeinschaft
in erster Linie der objektive, daneben aber auch der subjektive
Standpunkt des gesunden Ehegatten geprüft werden muß, d. h.
es muß festgestellt werden, ob nach den allgemeinen sittlichen
Anschauungen des Volkes die geistige Gemeinschaft aufgehoben
ist, daneben können die besonderen Verhältnisse des Einzelfalles,
insbesondere die Anschauungen des gesunden Ehegatten Berück¬
sichtigung finden (R.G. 8. 5. 05; Jur. Wochenschr. 1905, S. 395)-
Dieser Entscheidung sei noch folgendes entnommen:
Mit Recht hat deshalb der Berufungsrichter auf die konkre¬
ten L e b e n s V e r h ä 11 n i s s e der Streitteile gesehen,
sich auch über die Anschauungen und Empfindun¬
gen des die Sch ei düng begehrenden üatten ver¬
gewissert und hieraus ohne Rechtsirrtum die
Überzeugung geschöpft, daß die geistige Gemein¬
schaft zwischen den Ehegatten aufgehoben ist und
auf Seiten des Mannes als nicht mehr vorhanden
empfunden wird. Daß die gleiche Empfindung auch von dem
geisteskranken Ehegatten geteilt werde, ist nicht, wie die Revision
glaubt, Erfordernis des Gesetzes. In zahlreichen Eallen der Geistes¬
krankheit ist auf seiner Seite jede Vorstellung hiervon der Natur der
Sache nach ausgeschlossen. Umgekehrt ist aber auch das Fort¬
bestehen der geistigen Gemeinschaft nicht schon damit dargetan, daß
die geisteskranke Frau noch weiß, sie stehe in der Ehe und aus dem
Ehebande kommen ihr gewisse, z. B. Unterhaltsrechte zu. Im Streit¬
fälle hat der Berufungsrichter in Übereinstimmung mit dem Gutachten
') Diese beiden Worte nicht im juristischen, sondern moralischen
Sinne genommen.
536 Familienrecht der Geistesgestörten.
der gehörten Sachverständigen das entscheidende Gewicht darauf
gelegt, daß infolge des krankhaften Zustandes der Frau gerade die
Hauptgrundlagen der Fhe, Vertrauen und Neigung gänzlich und ohne
Aussicht auf Widerherstellung zerstört sind, daß sie sich vielmehr
unter dem Einfluß ihrer Wahnideen ohne allen Grund in beständiges
tiefes Mißtrauen und offenbare Feindseligkeit gegen den Mann ver¬
wandelt haben. Unter dieser Begründung konnte der Berufungs¬
richter die geistige Gemeinschaft der Parteien ohne Rechtsirrtum als
aufgehoben bezeichnen.
Es ist nun aber nicht nur erforderlich, daß die Geistes¬
krankheit das Verständnis für die aus der Ehe erwachsenden
Rechte und Pflichten ’) aufhebt, sondern es muß auch die nor¬
male Betätigung fehlen. Umgekehrt muß eine Partei, welche
behauptet, die geistige Gemeinschaft sei noch nicht aufgehoben,
„reale Anhaltepunkte“ dafür geben, daß eine Betätigung noch
erfolgt (Jur. Wochenschr. 1901, S. 29).
Eine Betätigung kann nun nicht darin erblickt werden, daß
ein Kranker pathologische Eifersuchtsideen vorbringt und infolge
seines psychischen Leidens — also aus pathologischen Motiven —
der Ehescheidung widerspricht, wie das z. B. bei alkoholischen
Geistesstörungen vorkommt (Jur. Wochenschr. 1901, S. 29).
Fassen wir zusammen, so ergibt sich, daß der Begriff ,,gei¬
stige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten“ sich aus zwei
Gruppen von Erscheinungen zusammensetzt. Vorbedingung
für das Fortbestehen der geistigen Gemeinschaft ist das Ver¬
ständnis und die Mitarbeit an der Förderung der gemeinsamen
wirtscbaftlichen, sozialen und persönlichen Interessen (Nahrung,
Wohnung, Kleidung, Kindererziehung, Sorge bei Krankheit,
Geschlechtsverkehr und ähnliches). Dieses Fundament muß wohl
bei den primitivsten Ehen unseres Volkes vorausgesetzt werden.
Dazu kommt dann die zweite Gruppe von Erscheinungen,
die mehr seelischer Natur sind. Das wechselseitige Ein¬
gehen auf Wünsche, Stimmungen und Denkweise, die Gestaltung
der äußeren Lebensführung entsprechend der seelischen Veran¬
lagung beider Ehegatten, gemeinsame Betätigung gleicher gei¬
stiger Interessen, Dokumentierung engster Zusammengehörigkeit
gegenüber Dritten, die Gemeinsamkeit in Freud und Leid, das ist
') Die geistige Gemeinschaft braucht nicht während der ganzen
drei Jahre ausgeschlossen zu sein, „diesen Grad muß die Erkrankung
aber vor Erlaß des Urteils erreicht haben“ (Psychiatr. Wochenschr. 1908,
S. 297).
Ehescheidung.
537
es, was Moeli mit dem Ausdruck „das spezifisch Eheliche“, Brcsler
mit den Worten „gleicher Gedankeninhalt“ bezeichnen wollte.
Es gibt nicht wenige Ehen, in denen fast nur das, was ich
„Vorbedingungen“ nannte, vorhanden ist und zwar nicht nur bei
einfachen Menschen, sondern auch in den gebildeten Ständen.
Wenn man diese Tatsache berücksichtigt, so ergibt sieb, daß
man in objektiver Beziehung zu hohe Anforderungen an den Be¬
griff der geistigen Gemeinschaft nicht wird stellen dürfen und
daß das Reichsgericht mit Recht den subjektiven Empfindungen
des geistesgesunden Ehegatten bei Beurteilung der Frage, ob die
geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben ist,
gewisse Bedeutung beilegt.
Wenn man nach den vorstehenden Überlegungen den Begriff
in ein Schlagwort fassen will, so kann man vielleicht folgender¬
maßen sagen: Die Erkenntnis, daß gemeinsame so¬
ziale und ethische Interessen bestehen, und die
Mitarbeit beider Ehegatten an der Förderung
dieser Interessen ist die geistige Gemein¬
schaft'). —
Fragen wir weiter, welche Krankheitszustände zur Auf¬
hebung der geistigen Gemeinschaft führen, so sind an erster
Stelle die Verblödungsprozesse zu nennen, d. h. in erster Linie
weit vorgeschrittene Fälle von Paralyse und alte Katatonien.
Wir haben auch in einem Fall von Demenz bei Huntingtonscher
Chorea die Aufhebung der geistigen Gemeinschaft angenommen’),
und das Gericht hat sich unserer Ansicht angeschlossen. Ebenso
') Literatur: v. Mach, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1911, 229.
E. Schultze im Handbuch. Gramer im Lehrbuch. Moeli, Vierteljahrs¬
schr. f. gerichtl. Med. 1899. Bresler, Rechtspraxis d. Entscheidung.
Halle a. S. 1903. Rietschel, Arch. f. ziv. Praxis, 104. Qaupp, Arch.
f. ziv. Praxis, 104. Staudinger, Kommentar, Planck, Kommentar, Bern¬
stein, Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1896. A. Leppmann, Allg. Zeitschr. f.
Psych. 44, 659. Pollitz, Zeitschr. f. Med.-Beamte 1896. Litten, Monats-
schr. f. Kriminalpsych., Bd. 1, S. 397. Burgl, Friedreichs Bl. f. gerichtl.
Med. 1900. Kalmus, Arch. f. Psychol., Bd. 35. F. Leppmann, Alkohol u.
Ehescheidung. Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1905, S. 19. Schiffer, Deutsche
Jur.-Zeitg. 1905. Straßmann, Alkohol u. Ehescheidung. Ärztl. Sach¬
verst.-Zeitg. 1905, S. 65. Artmann, In.-Diss. Erlangen 1910. Lucien-
Qraux: Le divorce des aliSnes. Paris 1912. Inquelier et Filassier,
Journal de Neurol. 1910.
’) Derselbe Mann ist später wegen Geistesschwäche entmündigt
worden.
538
Fanlilienrecht der OeistesRestörten.
haben wir uns in einem Fall von schwerer Korsakowscher
Psychose für die Ehescheidung im Sinne des § 1569 vom ärzt¬
lichen Standpunkte ausgesprochen.
Allen diesen Fällen gemeinsam ist ein Rückgang der
geistigen Fähigkeiten, der dem Patienten das Verständnis
für die Pflichten der Ehe unmöglich macht. Da fast regelmäßig
mit diesem intellektuellen Rückgang auch eine Beeinträchtigung
des Gefühlslebens verbunden ist, so ist die notwendige Folge, daß
gerade alle die Gefühlsmomente, die wesentliche Bestandteile des
Begriffes ,,geistige Gemeinschaft“ darstellen, verloren gegangen
sein müssen.
Außer den Verblödungsprozessen kommen solche Krank¬
heitszustände in Betracht, durch welche die persönliche Stellung
des Erkrankten zur Außenwelt wesentlich verändert wird.
Dies geschieht in erster Linie durch Wahnideen. Wenn z. B.
ein Kranker sich jjlötzlich zu Höherem berufen glaubt, Prophet
werden will oder durch seine Stimmen hört, daß er eine Prin¬
zessin heiraten soll, müssen derartige Wahnvorstellungen die gei¬
stige Gemeinschaft zwischen den beiden Ehegatten äußerst un¬
günstig beeinflussen.
Noch bedeutungsvoller ist der Verfolgungs- und Eifersuchts¬
wahn für die Ehe, weil er den kranken Ehegatten zum Feinde
des gesunden macht. Wenn in solchen Fällen der Kranke mit
einer Ehescheidung nicht einverstanden ist, wie das beim alko¬
holischen Eifersuchtswahn öfters vorkommt, dann ist es nicht
etwa die Liebe und Anhänglichkeit an die Frau, welche ihn dabei
leitet, sondern der Wunsch, ihr hinderlich zu sein, ihr zu schaden,
sie zu beunruhigen und zu quälen. —
Schließlich ist auch noch der Möglichkeit zu gedenken, daß
weniger eine intellektuelle, als eine affektive ,,\’ e r b 1 ö -
d u n g“ eintritt, wie das bei manchen Hebephrenen der Fall ist.
Wenn man flie befragt, was ein guter Ehemann zu tun habe,
so können sie u. 1". durchaus sachgemäß antworten, so daß sie,
rein verstandesmäßig genommen, wohl wissen, wie sie zu han¬
deln hätten. F)ie gemütliche Verblödung hindert sie aber, das,
was sie wissen, in die Tat umzusetzen.
4. Außer der Aufhebung der geistigen Gemeinschaft setzt der
§ 1569 schließlich noch voraus, daß jede Aussicht auf
Wiederherstellung dieser Gemeinschaft ausgeschlossen ist.
^Vas mit diesem .Ausdruck gesagt werdeti soll, geht aus einer
Ehescheidung.
539
Entscheidung des Königliclien Oherlandcsgerichtes Hannover
liervor (I'sydiiatr. Wocliensclir., Bd. 5, S. 425). Dort lieißt es:
„Der § 1569 B.Q.B. verlangt keineswegs die Feststellung, daß
die Möglichkeit der Wiederherstellung der geistigen Qemeinschaft
ausgeschlossen sein müsse, sondern spricht nur von ejner Aussicht
auf Wiederherstellung.“
Aussicht bedeutet, wie Lenel mit Recht betont, eine
zurzeit wissenschaftlich begründbare Aussicht. Es müssen also
Umstände in ,,Sicht“ sein, aus denen die Wissenschaft zu folgern
imstande ist, daß eine Besserung eintreten kann. Sind 'der¬
artige Umstände nicht in ,,Sicht", dann ist die leiseste Hoffnung
und also jede ,,Aussicht“ auf Wiederherstellung ausgeschlossen.
Daß unter „Aussicht auf Wiederherstellung" nicht vorüber¬
gehende Besserung zu verstehen ist, besagt eine ETitscheidung des
Oberlandesgericht Colmar (vom 14. 4. 05; Das Recht 1905,
S. 314, Nr. 14()8).
Es handelte sich um einen Fall von Dipsomanie, in dem der
Sachverständige die Aufhebung der geistigen Oemeinschaft verneinte
mit der Begründung, daß in den freien Intervallen, welche doch die
hei weitem größte Zeit ausinachten, der Geisteszustand der Beklagten
derartig sei, daß von der Aufhebung der geistigen Qemeinschaft über¬
haupt keine Rede sein könne.
Dieser Annahme widersprach allerdings die Beweisaufnahme,
die ergab, daß die dipsomanischen Anfälle manchmal w’ochenlang ge¬
dauert hatten. Das Gericht führte dann aus:
Außerdem ist die durch das anstößige öffentliche Treiben der
Beklagten bewirkte Aufhebung der Gemeinschaft eine so intensive,
daß sie durch in den Zwischenräumen eintretende Rückkehr zu an¬
gemessener Führung nicht rückgängig gemacht werden kann. Da
vielmehr infolge der Unheilbarkeit der Dipsomanie die Trunksuchts¬
anfälle sich in ziemlich regelmäßig wiederkehrenden Zwischenräumen
wiederholen, jede die zwischen den Parteien bestehende Kluft er¬
weitert, ist an eine Wiederaufnahme ihrer Qemeinschaft nicht zu
denken.
Die ])rinzipielle Bedeutung dieser Entscheidung erblicke ich
nicht allein darin, daß es auf diese Weise möglich ist, schwere
Zirkuläre, deren einzelne .Attaquen verhältnismäßig lange dauern,
während die freien Intervalle von ganz kurzer Dauer sind, unter
besonderen Umständen wegen Geisteskrankheit zu scheiden. Es
müßte sogar rn. E. mit Hilfe dieser .Auffassung gelingen, bei
schwer Degenerativen und Hysterischen eine Ehescheidung zu
begründen, wenn das sittliche \^erhalten des Patienten ein sehr
anstößiges wäre.
540
Familienrecht der Geistesgestörten.
Die Antwort auf die Frage nach der Aussicht auf Wieder¬
herstellung der geistigen Gemeinschaft fällt mehr oder minder
zusammen mit der f’rognose der geistigen Störungen überhaupt.
Es ist nun eine bekannte Tatsache, daß die Prognosenstellung
im konkreten Falle zu den schwierigsten Problemen, die dem
Psychiater begegnen, gehören kann. Man muß aber doch sagen,
daß bei sorgfältiger Feststellung der Diagnose und bei Berück¬
sichtigung sämtlicher vorhandener Symptome und des bisherigen
Krankheitsverlaufs in der größeren Mehrzahl der Fälle eine
Prognose zu stellen ist.
Richtig ist, daß gelegentlich unerwartete Genesungen auch
nach langer Zeit Vorkommen (Spätgenesungen). Man darf aber
bei Hervorhebung dieser Tatsache eines nicht vergessen, daß
nämlich diese Genesungen nicht sehr zahlreich sind und daß
sie vielfach bei Krankheitsbildern Vorkommen, die an sich schon
unklar sind, diagnostisch schwer rubriziert werden können und
schon aus diesem Grunde allein zur Vorsicht bei der Prognosen¬
stellung mahnen.
Bei den für die Ehescheidung am häufigsten in Frage kom¬
menden Verblödungsprozessen ist im allgemeinen die Prognose
nicht unsicher. Die Schwierigkeiten für den Sachverständigen
verringern sich übrigens mit dem Moment, wo er die oben zitierte
Ansicht Lenels im Auge behält, daß Umstände, die eine Besse¬
rung wahrscheinlich machen, in „Sicht“ sein müssen. Das ist bei
den Verblödungsprozessen nicht sehr häufig der Fall. Bei der
Paralyse z. B. sind Fälle, bei denen weitgehende Besserungen
längere Zeit angehalten haben, außerordentlich selten. Sie
können deshalb die allgemeine Prognosenstellung in keiner Weise
beeinflußen.
Wir haben unter dem ungeheuer großen Material von Para¬
lyse, das unserer Anstalt und Klinik zufließt, bisher etwa 2
bis 3 Fälle gehabt, bei denen nach dem Auftreten der ersten
klassischen Symptome der Paralyse eine so weitgehende Remis¬
sion eintrat, daß der Kranke in seinen Beruf zurückkehren konnte
und denselben jahrelang ausgeübt hat. Einer unserer Kranken
heiratete sogar während einer Remission. Der Wiederausbruch
der paralytischen Symptome erfolgte dann 8 Jahre später. Zu
einer Ehescheidung ist es in diesem Falle nicht gekommen.
Bei der Gehirnsyphilis wird man im allgemeinen vorsichtiger
sein müssen, wenngleich man auch da sagen kann, daß eine einmal
Ehescheidung,
541
eingetretene, erhebliche, 2—3 Jahre bestehende Verblödung
kaum jemals restlos ausheilt oder sich auch nur soweit bessert,
daß die Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft für längere
Zeit angenommen werden kann.
Schwieriger ist die Prognose bei den Fällen von Demen¬
tia praecox. Hier sind die Aussichten nicht auf Heilung, je¬
doch auf Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft schon
wieder größer und man wird nach Lage des Falles entscheiden
müssen *).
Der Alkoholismus wird wohl selten zu Eheschei¬
dung s z w e c k e n als Psychose aufgefaßt werden, wenn nicht
gleichzeitig schwerere psychische Störungen, so z. B. der Korsa¬
kowsche Symptomenkomplex bestehen.
Als seltene Ehescheidungsgründe kommen ferner das
manisch-depressive Irresein, die degenerative
C h a r a k t e r V e r an 1 a g u n g, die Hysterie, der Schwach¬
sinn und die Epilepsie in Frage. Hier wird die Sache
meistenteils so liegen, daß im Laufe der Ehe durch irgendwelche
Zustandsänderungen sich die Psychose des betr. Kranken so ver¬
schlimmert, daß dadurch die geistige Gemeinschaft aufgehoben
wird. Bei der Epilepsie können es zunehmende Verblödung,
Häufung der Anfälle und namentlich Dämmerzustände sein. Bei
der Imbezillität kommen unsoziale Handlungen, insbesondere
selche, welche gegen die sittlichen Grundsätze der Ehe verstoßen
(sexuelle Exzesse) in Frage. Dasselbe gilt für das zirkuläre
Irresein (hier neben den oben bereits erwähnten Bedingungen)
und auch für die Hysterie und Psychopathie.
Hinzukommen kann weiter eine pathologisch begründete
Eifersucht“) gegen den geistesgesunden Ehegatten, die be¬
sonders geeignet ist, die geistige Gemeinschaft ungünstig zu be¬
einflussen.
Ist in den Fällen von Imbezillität und Epilepsie erst einmal
die geistige Gemeinschaft aufgehoben, so kann man auf Wieder¬
herstellung kaum rechnen.
Zu dieser Ansicht wird man auch bei den sonst zweifelhaften
“) Zu beachten bleibt aber auch da das bei „Aufhebung der geistigen
Gemeinschaft“ Gesagte. Wenn nur eine gemütliche Verblödung zurück¬
bleibt, kann die geistige Gemeinschaft schon für immer aufgehoben sein.
“) Vergl. Friedmann, Psychologie der Eifersucht. Wiesbaden 1911.
Bergmann.
54-2 Familienrecht der Geistesgestörten.
Fällen von Hysterie mul Degeneration öfter kommen, wenn man
den Stand])unkt des gesunden Gatten berücksichtigt. Nur die
wenigsten Menschen können die vielen Enttäuschungen, Beleidi¬
gungen und Kränkutigen vergessen, die ein hysterisch oder de-
generativ veranlagter Ehegatte seinem Ehepartner zuteil werden
läßt. Wenn in solchen Fällen wirklich — bisweilen nur unter
dem Druck der Ehescheidungsklage — eine gewisse Besserung
hei dem Kranken cintritt, so hält dieselbe im allgemeinen nicht
länger vor, als die Scheidungsklage schwebt.
Wirkungen der Ehescheidung.
§ 1478. Sind die Ehegatten geschieden und
ist einer von ihnen allein für schuldig erklärt,
so kann der andere verlangen, daß jedem von
ihnen der Wert desjenigen z u r ü c k e r s t a 11 e t
wird, was er in die Gütergemeinschaft e i n ge¬
hr a c h t hat; reicht der Wert des G e s a m t g u t s zur
Rückerstattung nicht aus, so hat jeder Ehe¬
gatte die Hälfte des Fehlbetrags zu tragen.
Als eingebracht ist an zu sehen, was ein ge¬
bracht cs Gut gewesen sein würde, wenn Er-
r u n g e n s c h a f t s g e m c i n s c h a f t bestanden hätte.
Der Wert des Eingebrachten bestimmt sich
nach der Zeit der Einbringung.
D a s i m Abs. 1 b e s t i m m t e Recht steht auch
d e m E li e g a 11 e n zu, dessen Ehe wegen seiner
Geisteskrankheit geschieden worden ist.
§ 1583. Ist die Ehe wegen Geisteskrankheit
eines Ehegatten geschieden, so hat ihm der
andere E begatte Unterhalt in gleicher Weise
zu ge w .ähren wie ein allein für schuldig er¬
klärter Ehegatte.
Internationales Privatrecht.
Eingehung der Ehe.
Art. 13 E.G. B.G.B. Die Eingehung der P'he
wird, sofern auch nur einer der e r 1 o b t e n ein
Deutscher ist, i n .'\ n s c h u n g eines jeden der
e r 1 o 1) t e n nach den Gesetzen des Staates b e -
Internationales Privatrecht.
543
u r t e i 1 1, (1 e rii e r a 11 g e h ö r t. D a s g 1 e i c !i e gilt für
Ausländer, die i in Inland eine K li e e i n g e li e n.
In Anseil 11 ng der Ehefrau eines nach Art. 9
.'\I)s. 3 für tot erklärten Ausländers wird die
Eingehung der Ehe nach den deutschen Ge¬
setzen beurteilt.
Die Form einer Ehe, die im I n 1 a n d e ge¬
schlossen wird, bestimmt sich ausschließlich
nach den deutschen Gesetzen.
Ilaagcr Konvention vom 13 . Juni igo2.
Art. 1. Das Recht zur Eingehung der Ehe bestimmt sich in An¬
sehung eines jeden der Verlobten nach dem Gesetze des Staates, dem
er angehört (Gesetz des Heiniatstaats). soweit nicht eine Vorschrift
dieses Gesetzes ausdrücklich auf ein anderes Gesetz verweist.
Art. 2. Das Gesetz des Ortes der Eheschließung kann die Ehe von
Ausländern untersagen, wenn sie verstoßen würde gegen seine Vor¬
schriften über
1. die Grade der Verwandtschaft und Schwägerschaft, für die ein
absolutes Eheverbot besteht;
2. das absolute Verbot der Eheschließung zwischen den des Ehe¬
bruchs Schuldigen, w^erin auf Grund dieses Ehebruchs die Ehe eines von
ihnen aufgelöst worden ist;
3. das absolute Verbot der Eheschließung zwischen Personen, die
wegen gemeinsamer Nachstellung nach dem Leben des Ehegatten eines
von ihnen verurteilt worden sind.
Ist die Ehe ungeachtet einer der vorstehend aufgeführten Verbote
geschlossen, so kann sie nicht als nichtig behandelt wxrden, falls sie
nach dem im Art. 1 bezeichneten Gesetze gültig ist.
Unbeschadet der Bestimmungen des Art. 6 Abs. 1 dieses Ab¬
kommens ist kein Vertragsstaat verpflichtet, eine Ehe schließen zu
lassen, die mit Rücksicht auf eine vormalige Ehe oder auf ein Hindernis
leiigiöser Natur gegen seine Gesetze verstoßen w'iirde. Die Verletzung
eines derartigen Ehehindernisses kann jedoch die Nichtigkeit der Ehe in
einem anderen Lande als in dem, wo die Ehe geschlossen w'urde, nicht
zur Folge haben.
Art. Das Gesetz des Ortes der Eheschließung kann ungeachtet
der Verbote des in Art. I bezeichneten Gesetzes die Ehe von Auslän¬
dern gestatten, wxnn diese Verbote ausschließlich auf Gründen religiöser
Natur beruhen.
Die anderen Staaten sind berechtigt, einer unter solchen Umständen
geschlossenen Ehe die Anerkennung als einer gültigen Ehe zu versagen.
Art. 4. Die Ausländer müssen zum Zwecke ihrer Eheschließung
nachweisen, daß sie den Bedingungen genügen, die nach dem im Art. 1
bezeichneten Gesetze erforderlich sind.
544
Ehescheidung.
Dieser Nachweis kann durch ein Zeugnis der diplomatischen oder
konsularischen Vertreter des Staates, dem die Verlobten angehören,
oder durch irgendein anderes Beweismittel geführt werden, je nachdem
die Staatsverträge oder die Behörden des Landes, in welchem die Ehe
geschlossen wird, den Nachweis als genügend anerkennen.
Art. 5. In Ansehung der Form ist die Ehe überall als gültig an¬
zuerkennen, wenn die Eheschließung dem Gesetze des Landes, in wel¬
chem sie erfolgt ist, entspricht.
Doch brauchen die Länder, deren Gesetzgebung eine religiöse
Trauung vorschreibt, die von ihren Angehörigen unter Nichtbeachtung
dieser Vorschrift im Ausland eingegangenen Ehen nicht als gültig an¬
zuerkennen.
Die Vorschriften des Gesetzes des Heimatstaates über das Aufgebot
müssen beachtet werden; doch kann das Unterlassen dieses Aufgebots
die Nichtigkeit der Ehe nur in dem Lande zur Folge haben, dessen Ge¬
setz übertreten worden ist.
Eine beglaubigte Abschrift der Eheschließungsurkunde ist den Be¬
hörden des Heimatlandes eines jeden der Ehegatten zu übersenden.
Art. 6. In Ansehung der Form ist die Ehe überall als gültig anzu¬
erkennen, wenn sie vor einem diplomatischen oder konsularischen Ver¬
treter gemäß seiner Gesetzgebung geschlossen wird, vorausgesetzt, daß
keiner der Verlobten dem Staate, wo die Ehe geschlossen wird, an¬
gehört und dieser Staat der Eheschließung nicht widerspricht. Ein solcher
Widerspruch kann nicht erhoben werden, wenn es sich um eine Ehe
handelt, die mit Rücksicht auf eine vormalige Ehe oder ein Hindernis
religiöser Natur gegen seine Gesetze verstoßen würde.
Der Vorbehalt des Art. 5 Abs. 2 findet auf die diplomatischen oder
konsularischen Eheschließungen Anwendung.
Art. 7. Eine Ehe, die in dem Lande, in welchem sie geschlossen
wurde, in Ansehung der Form nichtig ist, kann gleichwohl in den anderen
Ländern als gültig anerkannt werden, wenn die durch das Gesetz des
Heimatstaats eines jeden der Verlobten vorgeschriebene Form beob¬
achtet w’orden ist.
Art. 8. Diese Abkommen finden nur auf solche Ehen Anwendung,
welche im Gebiet der Vertragsstaaten zwischen Personen geschlossen
sind, von denen mindestens eine Angehöriger eines dieser Staaten ist.
Kein Staat verpflichtet sich durch diese Abkommen zur Anwendung
eines Gesetzes, welches nicht dasjenige eines Vertragsstaates ist
Ehescheidung.
Art. 17 E.G. B.G.B. Für die Scheidung der Ehe
sind die Gesetze des Staates maßgebend, dem
der Ehemann zur Zeit der Eriiebung der Klage
a n g e h ö r t.
Eine Tatsache, die sich ereignet hat, wäh¬
rend der Mann einem anderen Staate an gehörte.
Internationales Privatrecht.
545
kann als Scheidungsgrund nur geltend gemacht
werden, wenn die Tatsache auch nach den Ge¬
setzen dieses Staates ein Scheidungsgrund
oder ein Trennungsgrund ist.
Ist zur Zeit der Erhebung der Klage die
R e i c h s a n ge h ö r i g k e i t des Mannes erloschen,
die Frau aber Deutsche, so finden die deut¬
schen Gesetze Anwendung.
Auf Scheidung sowie auf Aufhebung der
ehelichen Gemeinschaft kann auf Grund eines
ausländischen Gesetzes im Inlande nur er¬
kannt werden, wenn sowohl nach dem auslän¬
dischen Gesetze als nach den deutschen Ge¬
setzen die Scheidung zulässig sein würde.
Haager Abkommen vom 12. Juni 1902.
Art. 1. Die Ehegatten können eine Ehescheidungsklage nur dann er¬
heben, wenn sowohl das Gesetz des Staates, dem sie angehören (Gesetz
des Heimatstaates), als auch das Gesetz des Ortes, wo geklagt wird, die
Scheidung zulassen.
Das Gleiche gilt für die Trennung von Tisch und Bett.
Art. 2. Auf Scheidung kann nur dann geklagt werden, wenn sie in
dem zu beurteilenden Falle sowohl nach dem Gesetze des Heimatstaates
der Ehegatten als auch nach dem Gesetze des Ortes, wo geklagt wird, sei
es auch aus verschiedenen Gründen, zulässig ist.
Das gleiche gilt für die Trennung von Tisch und Bett.
Art. 3. Ungeachtet der Bestimmungen der Artikel 1 und 2 ist das
Gesetz des Heimatstaates allein maßgebend, wenn das Gesetz des Ortes,
wo geklagt wird, dies vorschreibt oder gestattet.
Art. 4. Das in den vorstehenden Artikeln bezeichnete Gesetz des
Heimatstaates kann nicht angerufen werden, um einer Tatsache, die sich
ereignet hat, während die Ehegatten oder einer von ihnen einem anderen
Staate angehörten, die Wirkung eines Scheidungs- oder Trennungs¬
grundes zu verleihen.
Art. 5. Die Klage auf Scheidung oder auf Trennung von Tisch und
Bett kann erhoben werden:
1. vor der nach dem Gesetze des Heimatsstaates der Ehegatten zu¬
ständigen Gerichtsbarkeit;
2. vor der zuständigen Gerichtsbarkeit des Ortes, wo die Ehegatten
ihren Wohnsitz haben. Wenn die Ehegatten nach der Gesetzgebung ihres
Heimatsstaates nicht denselben Wohnsitz haben, so ist die Gerichtsbarkeit
des Wohnsitzes des Beklagten zuständig. Im Falte der böslichen Ver-
lassung oder im Falle einer Verlegung des Wohnsitzes nach dem Eintritt
des Scheidungs- oder Trennungsgrundes kann die Klage auch vor der zu¬
ständigen Gerichtsbarkeit des letzten gemeinsamen Wohnsitzes erhoben
Hübner, Forensische Psychiatrie. 35
546
Paiiiilienrecht der Oeistesgestörten.
werden. — Die Gerichtsbarkeit des Heimatstaates ist allein berufen, so¬
weit sie für die Scheidungs- oder Trennungsklage ausschlieQlich zu¬
ständig ist. Doch bleibt die fremde Gerichtsbarkeit zuständig für eine
Ehe, in Ansehung deren die Scheidungs- oder Trennungsklage vor der zu¬
ständigen (jerichtsbarkeit des Heimatstaates nicht erhoben werden kann.
Art. 6. Falls die Ehegatten nicht berechtigt sind, eine Scheidungs¬
oder Trennungsklage in dem Lande ihres Wohnsitzes zu erheben, kann
sich gleichwohl jeder von ihnen an die zuständige Gerichtsbarkeit dieses
Landes wenden, um die vorläufigen Maßnahmen zu erwirken, die in
dessen Gesetzgebung für die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft
vorgesehen sind. Diese Maßnahmen bleiben aufrecht erhalten, wenn sie
innerhalb eines Jahres durch die Gerichtsbarkeit des Heimatstaates be¬
stätigt werden; sie bleiben nicht länger bestehen, als es das Gesetz des
Wohnsitzes gestattet.
Art. 7. Die Scheidung und die Trennung von Tisch und Bett, die
durch ein nach .4rt. 5 zuständiges Gericht ausgesprochen werden, sind
überall anzuerkennen, vorausgesetzt, daß die Bestimmungen dieses Ab¬
kommens beobachtet worden sind, und daß im Falle eines Versäumnis¬
urteils die Ladung des Beklagten entsprechend den besonderen Vor¬
schriften erfolgt ist, die das Gesetz seines Heimatstaates für die Anerken¬
nung ausländischer Urteile erfordert.
In gleicher Weise sind überall anzuerkennen die Scheidung und die
Trennung von Tisch und Bett, die von einer Verwaltungsgerichtsbarkeit
ausgesprochen werden, vorausgesetzt, daß das Gesetz eines jeden der
Ehegatten eine solche Scheidung oder Trennung anerkennt.
Art. 8. Wenn die Ehegatten nicht dieselbe Staatsangehörigkeit be¬
sitzen, so ist ihr letztes gemeinsames Gesetz als das Gesetz ihres Heimat¬
staates im Sinne der vorstehenden Artikel anzusehen.
Art. 9. Dieses Abkommen findet nur auf solche Scheidungs- und
Trennungsklagen Anwendung, welche in einem der Vertragsstaaten er¬
hoben werden, und zwar nur dann, wenn mindestens eine der Parteien
einem dieser Staaten angehört.
Kein Staat verpflichtet sich durch diese Abkommen zur Anwendung
eines Gesetzes, welches nicht dasjenige eines Vertragsstaates ist.
Österreichisches Eherecht.
§ 45 . Ein Verlöbnis zieht keine rechtliche Verbindlichkeit nach
sich. Beim Rücktritt von einem solchen kann nur der wirkliche Schaden
eingeklagt werden. (§ 46.) Brautgeschenke können zurückverlangt
werden. (§ 1247.)
Von den Ehehindernissen handeln die folgenden Bestim¬
mungen:
§ 48. ..Rasende, Wahnsinnige, Blödsinnige und Unmündige sind
außerstande, einen gültigen Ehevertrag zu errichten.“
Auch die von einem Blödsinnigen mit irrtümlicher Zustimmung des
Kuratelgerichtes eingegangene Ehe ist nichtig (E. 8. 5. 01, Z. 4893, Sg. IV.
1407).
österreichisches Eherecht.
547
§ 49 . „Minderjährige oder auch Volljährige, welche aus was immer
für Gründen für sich allein keine gültige Verbindlichkeit eingehen können,
sind auch unfähig, ohne Einwilligung ihres ehelichen Vaters sich gültig zu
verehelichen. Ist der Vater nicht mehr am Leben oder zur Vertretung
unfähig, so wird nebst der Erklärung des ordentlichen Vertreters, auch
die Einwilligung der Gerichtsbehörde zur Gültigkeit der Ehe erfordert.“ Ö
Wird die Einwilligung versagt, so hat der Ehewerber das Recht, die
Hilfe des ordentlichen Richters anzusuchen. (§ 52.)
§ 57. „Ein Irrtum macht die Einwilligung in die Ehe nur dann
ungültig, wenn er in der Person des künftigen Ehegatten vor¬
gegangen ist.“^)
Dauernde Impotenz z. Z. der Eheschließung ist Ehehindernis. Später
eintretende, selbst unheilbare Impotenz nicht (§ 60).
§ 95. „Der Ehegatte, welcher den unterlaufenen Irrtum in der
Person oder die Furcht, in welche der andere Teil gesetzt worden ist,
gewußt: ferner, der Gatte, welcher den Umstand, daß er nach den §§ 49,
50, 51, 52 und 54 für sich allein keine gültige Ehe schließen kann, ver¬
schwiegen oder die ihm erforderiiche Einwilligung fälschlich vorgewendet
hat, kann aus seiner eigenen widerrechtlichen Handlung die Gültigkeit der
Ehe nicht bestreiten.“
§ 96. „Überhaupt hat nur der schuldlose Teil das Recht, zu ver¬
langen, daß der Ehevertrag ungültig erklärt werde; er verliert aber
dieses Recht, wenn er nach erlangter Kenntnis des Hindernisses die Ehe
fortgesetzt hat. Eine von einem Minderjährigen oder Pflegebefohlenen
eigenmächtig geschlossene Ehe kann von dem Vater oder der Vormund¬
schaft nur insolange, als die väterliche Gewalt oder Vormundschaft dauert,
bestritten werden."
§ 99. „Die Vermutung ist immer für die Gültigkeit der Ehe. Das
angeführte Ehehindernis muß also vollständig bewiesen werden, und
weder das übereinstimmende Geständnis beider Ehegatten hat hier die
Kraft eines Beweises, noch kann darüber einem Eide der Ehegatten statt¬
gegeben werden.“
Bei behaupteter Impotenz ist der Beweis durch Sachverständige zu
erbringen (§ 100). Läßt sich nicht bestimmt sagen, ob die Impotenz eine
„immerwährende“ ist, dann erfolgt die Ungültigkeitserklärung der Ehe
erst nach weiterem Zusammenleben für die Dauer eines Jahres (§ 101).’)
§ 103. „Die Scheidung von Tisch und Bett muß den Ehegatten,
wenn sich beide dazu verstehen und über die Bedingungen einig sind, von
dem Gericht unter der nachfolgenden Vorsicht gestattet werden.“
’) Z. B. bei unter Kuratel stehenden Verschwendern E. 9. 6. 86, Z.
4982, SIg. 11 069.
’) Nichterfüllung von pekuniären oder sonstigen Bedingungen beein¬
trächtigt die Gültigkeit der Ehe nicht. (§ 59.)
’) Nur bei offenbarer Aussichtslosigkeit kann vom Probejahr ab¬
gesehen werden. (E. 14. 5. 01, Z. 6394, Slg. IV 1412.) Bei unbestimmtem
Sachverständigen-Gutachten auch Probejahr (E. 15. 5. 00, Z. 2920.
Slg. 111. 1002).
35*
548
Testierfähigkeit.
Es muß ein dreimaliger Versöhnungsversuch gemacht (§ 104) und
eine Vermögensauseinandersetzung erfolgt, sowie eine Vereinbarung be¬
züglich des Unterhalts getroffen sein (§ 105). Ein Pflegebefohlener Ehe¬
gatte kann in die Scheidung selbst willigen. Zu den übrigen Aus¬
einandersetzungen ist Einwilligung des gesetzlichen Vertreters und Ku¬
ratelgerichtes nötig. —
Ohne Einverständnis beider Ehegatten kann die Ehe auf Antrag
des einen geschieden werden, wenn „rechtmäßige Gründe“ vorliegen.
(§ 107.) Geisteskrankheit ist nicht besonders genannt. Hier gilt:
§ 109. „Wichtige Gründe, aus denen auf die Scheidung erkannt
werden kann, sind: wenn der Geklagte eines Ehebruchs schuldig erklärt
worden ist; wenn er den klagenden Ehegatten boshaft verlassen oder
einen unordentlichen Lebenswandel geführt hat, wodurch ein beträcht¬
licher Teil des Vermögens des klagenden Ehegatten oder die guten Sitten
der Familie in Gefahr gesetzt werden; ferner dem Leben oder der Ge¬
sundheit gefährliche Nachstellungen; schwere Mißhandlungen oder, nach
dem Verhältnisse der Personen, sehr empfindliche, wiederholte Krän¬
kungen; anhaltende, mit Gefahr der Ansteckung verbundene Leibes¬
gebrechen.“
Katholische Personen können nur durch den Tod getrennt werden.
(§ 111 .)
Für die Juden sind Ausnahmen in den §§ 123—136 vorgesehen. Die
Scheidung erfolgt bei ihnen mittels Scheidebrief. —
Über das Verfahren bei der Ehescheidung, Trennung und Un¬
gültigkeitserklärung der Ehe besagt die Jurisdiktionsnorm vom 1. August
1895 folgendes:
§ 50. Zuständig ist der Gerichtshof erster Instanz (§ 100) des Ge¬
richtes, bei dem der Beklagte seinen allgemeinen Gerichtsstand hat. Be¬
sitzt er einen solchen nicht, dann ist das Landesgericht in Wien zuständig.
§ 114. Zur Bewilligung der einverständlichen Scheidung ist das
Bezirksgericht berufen, bei welchem der Ehemann seinen allgemeinen
Gerichtsstand hat.
Testierfähigkeit.
Aus dem im 5. Buche des Bürgerlichen Gesetzbuches be¬
handelten Erbrecht interessieren uns einmal die Beschränkungen,
denen der geistig Abnorme, bezüglich der Annahme von Erb¬
schaften ausgesetzt ist, daneben aber auch die Bedingungen, unter
denen er ein Testament errichten darf.
Von den ersterwähnten Fragen ist kurz bei Erörterung der
Wirkung der Geschäftsfähigkeit und Entmündigung die Rede ge¬
wesen, so daß sich ein nochmaliges Eingehen darauf hier erübrigt.
Wir werden infolgedessen nur noch die Testierfähigkeit
zu besprechen haben. —
Testierfähigkeit.
549
Nach § 2064 kann der Erblasser ein Testament nur persön¬
lich errichten.
Er wird in den meisten Fällen Gelegenheit haben, sich vorher
den Inhalt desselben genau zu überlegen, und wird dann ein
solches unter Innehaltung der vorgeschriebenen Formen errichten,
und zwar in der Regel entweder eigenhändig oder vor einem
Richter oder Notar (§ 2231) als sogenanntes „ordentliches“
Testament, um ihm die Wirksamkeit zu verbürgen.
Es gibt nun Fälle, in denen besondere Umstände (z. B. eine
plötzliche schwere Erkrankung, der Ausbruch einer ansteckenden
Krankheit, eine Reise auf hoher See), eine möglichst rasche Fest¬
legung des letzten Willens nötig machen. Es ist dann nicht
immer möglich, die für die Errichtung ordentlicher Testamente
vorgeschriebenen Formen zu beobachten. Insbesondere kann dann
der Testator meist nicht den erforderlichen Notar oder Richter
herbeiholen lassen.
Das Bürgerliche Gesetzbuch kennt drei außerordentliche
Testamentsformen, nämlich i. das sogenannte Dorftestament,
welches vor dem Gemeinde- oder Gutsvorsteher und zwei Zeugen
errichtet wird (§ 2249); 2. das Testament in abgesperrten Orten
(d. h. solchen Orten, die infolge des Ausbruchs einer Krankheit
oder sonstiger außerordentlicher Umstände so abgesperrt sind,
daß ein Richter oder Notar nicht zu erreichen ist), welches gleich¬
falls vor dem Gemeinde- oder Gutsvorsteher und zwei Zeugen,
oder durch mündliche Erklärung vor drei Zeugen errichtet werden
kann; 3. das sogenannte Seetestament, das während einer Seereise
an Bord eines deutschen, nicht zur Kaiserlichen Marine gehören¬
den Fahrzeugs, außerhalb eines inländischen Hafens durch münd¬
liche Erklärung vor drei Zeugen errichtet wird (§ 2251).
Hinzu kommt 4. noch das sogenannte Militärtestament,
welches in Kriegszeiten oder während eines Belagerungszustandes
errichtet werden kann, und zwar nur von Personen, welche dem
aktiven deutschen Heere angehören oder nach dem Militärstraf¬
gesetzbuch den Militärgesetzen unterworfen sind (§ 44 d. Reichs¬
militärgesetzes vom 2. Mai 1874, durch Art. 44 E.G.B.G.B. auch
auf die Angehörigen der Kaiserl. Marine ausgedehnt).
Ein ordentliches Testament kann in zweifacher Form er¬
richtet werden; als öffentliches oder als Privattesta¬
ment.
Man spricht von einem öffentlichen Testamente dann.
550
Testierfähigkeit,
wenn es gemäß §§ 2231 Ziff. i, 2232 bis 2246 vor einem
Richter oder Notar errichtet worden ist. Die zweite Form stellt
das holographische oder eigenhändige Testament dar
(§§ 2231 Ziff. 2, 2247, 2248).
Bei der Errichtung des öffentlichen Testaments muß
der Richter einen Gerichtsschreiber oder zwei Zeugen, der Notar
einen zweiten Notar oder zwei Zeugen zuziehen (§ 2233). Der
Erblasser hat dem Richter oder Notar seinen letzten Willen münd¬
lich zu erklären, oder eine Schrift mit der mündlichen Erklärung
zu übergeben, daß diese Schrift seinen letzten Willen enthalte
(§ 2238). Die bei der Errichtung des Testaments mitwirkenden
Personen müssen während der ganzen Verhandlung zugegen sein
(§ 2239). Es muß ein Protokoll in deutscher Sprache über die
Errichtung aufgenommen werden (§ 2240). Dieses muß den Ort
und Tag der Verhandlung, die Bezeichnung des Erblassers und
der mitwirkenden Personen, die nach § 2238 erforderlichen Er¬
klärungen und im Falle der Übergabe einer Schrift die Feststellung
der Übergabe enthalten (§ 2241). Der Erblasser muß das Proto¬
koll genehmigen und eigenhändig unterschreiben (§ 2242). End¬
lich soll das Testament auch, vom Richter oder Notar mit dem
Amlssiegel verschlossen, in amtliche Verwahrung genommen
werden (§ 2246).
Das holographische Testament muß den Ort und
Tag der Testanientserrichtung enthalten und vom Erblasser eigen¬
händig geschrieben und unterschrieben sein. Dann muß es auf
Veranlassung des Erblassers in amtliche Verwahrung genommen
werden (§ 2248). Er kann es aber auch selbst auf bewahren.
Wie schon weiter oben gesagt wurde, ist die Testierfähigkeit
an ein bestimmtes Alter gebunden. Der Erblasser muß nach
§ 2229 Abs. 2 mindestens das t6. Lebensjahr vollendet haben,
bevor er zur Errichtung eines Testaments fähig ist.
Solange er minderjährig ist, d. h. bis zur Vollendung des
21. Lebensjahres kann er außerdem kein holographisches Testa¬
ment errichten (§ 2247). Ihm ist nach § 2238 Abs. 2 nur ge¬
stattet, ein Testament durch mündliche Erklärung vor dem Richter
oder Notar zu errichten.
Die unbeschränkte Testierfähigkeit erreicht der Mensch also
erst mit dem 2i. Lebensjahr. —
Ausgenommen von diesem allgemeinen Grundsatz ist die
Testierfähigkeit der geistig Abnormen.
Testierfähigkeit.
551
Es ist selbstverständlich, daß der Gesetzgeber auch hier der
Geistesgestörten besonders gedacht und für sie besondere Vor¬
schriften aufgestellt hat.
Es sind dabei zwei Möglichkeiten zu unterscheiden: i. daß
der Kranke entmündigt ist, und 2. daß ein Mensch geistig krank
ist, aber weder einen Vormund noch einen Pfleger hat.
Was die Entmündigung anlangt, so besteht hinsichtlich
der Unfähigkeit zur Errichtung eines Testaments zwischen Ent¬
mündigung wegen Geisteskrankheit und wegen Geistesschwäche
kein Unterschied. Auch der wegen Verschwendung und Trunk¬
sucht Entmündigte kann kein Testament errichten.
Für die wegen Geisteskrankheit Entmündigten ergibt sich
das aus den §§ 104 Ziff. 3, 105 Abs. i B.G.B. Jede Willenserklä¬
rung eines solchen Menschen ist nichtig, mithin auch ein von ihm
errichtetes Testament.
Bezüglich der wegen Geistesschwäche, Trunksucht und Ver¬
schwendung Entmündigten bestimmt der § 2229 Abs. 3:
W'^er wegen Geistesschwäche, Verschwen¬
dung oder Trunksucht entmündigt ist, kann ein
Testament nicht errichten. Die Unfähigkeit
tritt schon mit der Stellung des Antrags ein,
auf Grund dessen die Entmündigung erfolgt.
Daraus ergibt sich ohne weiteres die Konsequenz, daß auch
der unter vorläufiger Vormundschaft Stehende testierunfähig ist.
Die Testierunfähigkeit bei dem Entmündigten dauert so lange,
als die Entmündigung zu Recht besteht. Gleichgültig ist, ob sich
das psychische Verhältnis inzwischen gebessert hat (R.G.E.
23, 28).
Ist einmal der Antrag auf Entmündigung gestellt, und hat
der Patient trotzdem noch ein Testament errichtet, so ist auch
dieses nicht unter allen Thnständen rechtsungültig, es gibt viel¬
mehr gewisse Ausnahmen von den bisher erwähnten Bestim¬
mungen, bei deren Zutreffen das Testament trotzdem rechtsgültig
ist, nämlich folgende:
§ 2230. Hat ein Entmündigter ein Testament
errichtet, bevor der die Entmündigung aus¬
sprechende Beschluß unanfechtbar geworden
ist, so steht die Entmündigung der Gültigkeit
des Testaments nicht entgegen, wenn der Ent-
552
Testierfähigkeit.
mündigte noch vor dem Eintritte der Unanfecht¬
barkeit stirbt.
Das Gleiche gilt, wenn der Entmündigte
nach der Stellung des Antrags auf Wiederauf¬
hebung der Entmündigung ein Testament er¬
richtet, und die Entmündigung dem Anträge
gemäß wieder aufgehoben wird.
Ebenso ist ein Testament gültig, das nach Stellung des An¬
trags auf Entmündigung errichtet wurde, wenn dem Anträge
keine Folge gegeben, oder w'enn die ausgesprochene Entmündigung
auf die Anfechtungsklage hin aufgehoben wurde.
Allgemein gesprochen, soll die Entmündigung ihre Rechts-
wirkiing erst dann entfalten, wenn sie rechtskräftig geworden ist.
Sie soll aber aufhören, den Kranken in seiner Bewegungsfreiheit
zu beschränken, schon zu einer Zeit, wo er selbst von sich be¬
hauptet, geschäftsfähig zu sein, sofern das Gericht diese seine
Ansicht nachher bestätigt.
Handelt es sich um einen geistig Gestörten, der
nicht entmündigt ist, so greifen die allgemeinen Grundsätze
über die Geschäftsfähigkeit Platz (§ 104 u. ff.), d. h. ein Ge¬
schäftsunfähiger kann ein Testament nicht errichten. Der be¬
schränkt Geschäftsfähige jedoch ist dazu gemäß § 2229 Abs. i
berechtigt.
Praktisch liegt die Sache für gewöhnlich so, daß ein geistig
Abnormer zunächst testiert und später wird sein Testament an-
gefochten, wde jedes andere Rechtsgeschäft. Zu beweisen ist dann
von dem Anfechtenden, daß der Testator in bezug auf die Testa¬
mentserrichtung als geschäftsunfähig anzusehen war.
Welche Gesichtspunkte sind nun bei der Be¬
weisführung zu beachten?
Man kann sich das w'ohl am leichtesten klar machen, wenn
man von dem Zw'eck des Testamentes ausgeht.
Das Reichsgericht sagt: „Das Testament hat den Zweck, daß
darin der Erblasser seinen Willen über seine Hinterlassenschaft
erklärt.“ (R.G. 2. 12. 09; Das Recht Nr. 5309.)
I. Das „Erklären“ setzt voraus, daß der Erblasser geistig
genügend klar ist, um das, w'as er sagen wdll, auch anderen ver¬
ständlich zu machen, d. h. es genügt nicht, wenn er mit mehr oder
minder großem Verständnis zu allem, was ihn die Verwandten
oder der von einem Angehörigen informierte Notar fragen, ja
Testierfähigkeit.
553
sagt, sondern der Inhalt der Erklärung muß von dem Erblasser
herrühren.
2. Wenn ein Mensch seinen „Willen“ erklären soll, so muß
er wissen, was er will, und das, was er dann vorbringt,
darf nicht der Ausfluß seiner psychischen Krank¬
heit sein. Stimmungsanomalien und Verfolgungsideen dürfen
z. B. nicht bewirkt haben, daß er Erbberechtigte enterbt, krank¬
hafte Gedächtnisschwäche darf ihn nicht vergessen lassen, daß
außer den im Testament bereits Bedachten, noch weitere Erb¬
berechtigte vorhanden sind, krankhafte Beeinflußbarkeit darf
nicht zur Folge haben, daß Erbschleicher, an denen es selten
fehlt, mit unlauteren Mitteln andere Erbberechtigte verdrängen.
3. Der Testator soll über seine „Hinterlassenschaft“ ver¬
fügen. Eine selbstverständliche Vorbedingung hierfür ist, daß
er die Größe seines Besitzes kennt. Wer nicht weiß,
wie viel und was er besitzt, der befindet sich über einen wesent¬
lichen Punkt im Irrtum. Er geht bei der Errichtung seines
Testaments von ganz falschen Voraussetzungen aus.
Der normale Mensch weiß, was er besitzt, er weiß auch, wem
er seine Hinterlassenschaft zukommen lassen will, el>enso wie er
stets im Stande ist, kurz und bündig, mündlich oder schriftlich
zu erklären, wer seine Erben sein sollen und was er für den ein¬
zelnen bestimmt hat. —
Welche Geistestörungen sind es nun hauptsächlich, bei denen
die Testierfähigkeit angezweifelt wird?
.An erster Stelle sind die .A 1 1 e r s p sy c h o se n zu nennen
und zwar ist es hauptsächlich die Dementia senilis (der
Altersschwachsinn), welche Anlaß zu Testamentsanfechtungen
gibt. Entweder sind es Beeinträchtigungsideen, die sich gegen
einzelne Verwandte richten, oder es besteht eine erhebliche Ge¬
dächtnisschwäche, welche den Kranken v^ergessen läßt, wen er
l)ereits bedacht oder wieviel er dem einzelnen zugedacht hat. Bei
senil Dementen haben Erbschleicher meist auch leichtes Spiel.
Der Erfolg ist jedenfalls fast immer der, daß sich ein Teil der
Verwandten, denen bereits Versprechungen gemacht worden
waren, bei der Testamentseröffnung wider Erwarten enterbt sieht.
Auch bei der progressiven Paralyse, dem chro¬
nischen Alkohol ism US (Eifersuchtswahn!), der Manie
und Melancholie, der chronischen Paranoia, der
554
Tesfierfähigkeit.
schweren Hysterie (Beeinflußbarkeit!) können Testamente zu¬
stande kommen, welche Produkte eines kranken Gehirns sind.
Aber nicht nur diese ausgesprochenen Psychosen kx)mmen in
Betracht, sondern daneben auch jene psychischen Alte¬
rationen, welche die Folge körperlichen Siechtums, akuter
fieberhafter Erkrankungen, von Kopfverletzungen und Vergif¬
tungen sind.
Es sind im wesentlichen zwei Faktoren, die für unsere Frage
von Bedeutung sind.
1. Körperliche Hilflosigkeit und starke Schmerzen machen
wiilensschwach, oft sogar willenlos. Wer in diesem Zustande von
Personen, deren er zu seiner Pflege bedarf, zur Testamentserrich¬
tung überredet wird, der testiert leicht so, wie jene es wünschen
und wie er es in gesunden Tagen nicht getan hätte. Es ist jeden¬
falls nicht schwer, von einem solchen Hilflosen manches zu er¬
reichen, was er sonst nicht gewährt haben würde.
2. Besteht Fieber, wurden Betäubungsmittel genommen, hat
der Kranke eine Gehirnerschütterung erlitten oder liegt eine Ge-
himgeschwulst vor, so kann eine mehr oder minder ausgeprägte
Benommenheit ein setzen, ln den leichteren Graden derselben ver¬
mag man die Aufmerksamkeit des Patienten auf einen bestimmten
Vorgang für einige Zeit wohl zu konzentrieren (Bonhoeffer).
Bei solchen Kranken ist aber, ebenso wie bei den unter i. ge¬
nannten, die Beeinflußbarkeit eine größere und so können auch
sic zu Testamenten veranlaßt werden, die sie bei voller Gesund¬
heit nieht errichtet hätten.
In allen diesen Fällen wird es bei der nachträglichen Beurtei¬
lung der Testierfähigkeit sehr darauf ankommen, ob das Testa¬
ment die rechtlich wirksame Fixierung lange gehegter und oft
ausgesprochener Wünsche darstellt, oder ob es unter Übergehung
einer ganzen Reihe von Erbberechtigten, entweder einzelne be¬
sonders bevorzugt, oder sogar vorwiegend fernerstehende Per¬
sonen berücksichtigt, wenn nicht aus dem medizinischen Befunde
selbst der Schluß gezogen werden kann, daß die Benommenheit
die freie Willensbestimmung aufhob.
E. Schnitze erwähnt in diesem Zusammenhänge weiter die
Selbstmörder.
Von den Autoren, welche sich in den letzten Jahren mit dem
Selbstmordproblem beschäftigt haben, ist der Verfasser, soweit
es sich um die Beurteilung von Rentenansprüchen handelt, für
Testierfähigkeit. 555
möglichste Milde energisch eingetreten. Es erhebt sich nun hier
die weitere Frage, wie die Testamente der Selbstmörder zu be¬
urteilen sind.
M. E. lassen sich da bestimmte Grundsätze nicht aufstellen.
Der Selbstmord ist zwar eine Affekthandlung, die einzelnen Fälle
unterscheiden sich aber insofern, als bei dem einen der Affekt
längere Zeit vorher besteht, während er bei dem anderen
momentan ausgelöst wird und rasch zur Tat führt. Nur da, wo
auch das Testament in die Zeit der psychischen Veränderung
hineinfällt, wird es anfechtbar sein. Zu berücksichtigen sind aber
neben der affektiven Störung wohl auch die Motive, welche zum
Selbstmord führen. Sofern diese zu den Erbberechtigten in
keinerlei Beziehung stehen, kann das Testament sachgemäß ver¬
faßt, und inhaltlich vernünftig sein.
Die Testierfähigkeit von Selbstmördern ist demnach unter
ganz anderen Gesichtspunkten zu beurteilen als die Ansprüche der
Hinterbliebenen aus Versicherungen.
Bei den öffentlichen Testamenten wird für gewöhnlich in
dem Verhandlungsprotokoll festgestellt, daß gegen die Verfügungs¬
fähigkeit des Testators keine Bedenken erhoben werden. Die
Unterlagen, auf die sich diese Behauptung stützt, sind häufig
durchaus unzureichend, denn es kommt gar nicht so selten vor,
daß der Testator mit dem Richter oder Notar, dem er nicht näher
bekannt ist, nur das Notwendigste spricht, so daß dieser ein Urteil
über die Geschäftsfähigkeit des Erblassers gar nicht gewinnen
kann.
Es ist nun für solche Fälle der Wunsch ausgesprochen
worden, es möge zu derartigen Testamentserrichtungen, wenn
Differenzen unter den Erbberechtigten zu erwarten sind, ein ärzt¬
licher Sachverständiger hinzugezogen werden. Diese Forderung
ist berechtigt, nur wird man die weitere daran knüpfen müssen,
daß als Sachverständige nur psychiatrisch gut vorgebildete, im
übrigen von den Parteien völlig unabhängige Arzte in Betracht
kommen. Denn wenn z. B. ein alter Hausarzt ohne besondere
psychiatrische \'orbildung gewählt wird, so wird er einmal feinere
psychische Veränderungen, die vielleicht schon genügen, die
Testierfähigkeit in Zweifel zu ziehen, leicht übersehen. Er wird
sich vor allen Dingen nicht so bald entschließen, den Mann, den
er jahrelang behandelt hat, und noch weiter behandeln soll, für
geisteskrank zu erklären. Wird ein solcher Arzt zur Abgabe
556
Testierfähigkeif.
eines Attestes veranlaßt, so kann dasselbe den Schein besonderer
Glaubwürdigkeit für sich haben, ohne daß es ihn verdient. —
Von der Möglichkeit, die Testierfähigkeit z. B. der Testa-
nientserrichtung ärztlich feststellen zu lassen, wird nur ganz aus¬
nahmsweise Gebrauch gemacht. —
In der Mehrzahl der Fälle wird das Testament erst nach dem
Tode des Erblassers angefochten, und zwar zu einer Zeit, wo
durch mikroskopische Untersuchung des Gehirns auch keine Auf¬
klärung mehr gebracht werden kann, dann stehen dem Sach¬
verständigen nur Zeugenaussagen, der handschriftliche Nachlaß
und allenfalls noch die Geschäftsbücher des Verstorbenen zur Ver¬
fügung.
Die Zeugenaussagen sind dabei häufig nur mit Vorsicht oder
überhaupt nicht zu verwerten. Entweder sind die Zeugen mit
den Parteien sehr eng liiert, oder sie sind fast ebenso alt wie der
inzwischen verstorbene Testator selbst, oder drittens werden ihnen
Fragen über den Geisteszustand des Testators zugemutet, die sie
bei ihrer Bildungsstufe gar nicht beantworten können.
Es kommt hinzu, daß bei der Vernehmung der Zeugen ein
Fachmann selten zugezogen wird, obwohl seine Mitarbeit der
Sache selbst nur förderlich wäre. Man findet deshalb auch häufig
in den Akten eine Reihe von Laienurteilen über den Geistes¬
zustand, ohne daß diesen meist sehr apodiktisch gehaltenen Aus¬
sprüchen irgendwelches Tatsachenmaterial beigegeben wäre.
Der Richter, welcher die Zeugenvernehmungen leitet, sollte
daher grundsätzlich nie fragen, ob X. nach Ansicht des Zeugen
geisteskrank war oder nicht, sondern ein möglichst ausführliches
Protokoll aufnehmen, in dem u. a. folgende Punkte zu berück¬
sichtigen wäre:
Wie lange kennt Zeuge den X.? Wie oft hat er ihn gesehen
und bei welchen Gelegenheiten? Womit beschäftigte er sich? Fiel
X. durch sein Verhalten auf? Wie sprach er? War er vergeßlich?
Woraus schließt Zeuge das? Beklagte er sich über Verwandte
oder die Erbberechtigten? Hat er über eine Testamentserrichtung
gesprochen? Wie wurde im Ort über ihn gesprochen? Hatte sich
X. in den letzten Jahren vor seinem Tode körperlich und seelisch
verändert? Hatte er besondere „Eigenheiten“? War er furchtsam,
mißtrauisch, geizig, leicht aufbrau.send ? Ist er auf geschlecht¬
lichem Gebiete in der in Betracht kommenden Zeit aufgefallen?
Testierfähigkeit.
557
Hat er überflüssige Geldausgaben gemacht? War er in Kranken¬
häusern? Ist er ärztlich behandelt worden? Hatte er Schlag¬
anfälle erlitten? Wie war er bei der Testamentserrichtung? Wer
hat für ihn in der Zeit, zu der das Testament entstanden ist,
gesorgt?
Weiter notwendige Fragen ergeben die Schriftsätze der
Parteien.
Bei der Beurteilung der Zeugenaussagen ist neben ihren Be¬
ziehungen zu den streitenden Parteien auch die Fähigkeit der
Zeugen, geistige Störungen zu erkennen, zu berücksichtigen. Ich
habe es z. B. in einem Falle erlebt, daß die sämtlichen Angestellten
eines Großindustriellen nichts an ihm gemerkt hatten, obwohl sie
jahrelang bei ihm bedienstet waren. Ein Krankenpfleger dagegen,
der denselben Patienten drei Monate lang gepflegt hatte, gab in
seinem Zeugnis alle wesentlichen Symptome einer senilen Demenz
an und durch weitere, sehr genaue Ermittelungen wurden seine
Mitteilungen vollauf bestätigt.
Ich möchte im übrigen bei dieser Gelegenheit aufs
dringendste empfehlen, bei der Zeugenvernehmung in unklaren
F'ällen sich nicht auf die nächste Umgebung des Kranken zu be¬
schränken, sondern eventuell auch Personen heranzuziehen, bei
denen sich der Testator, sei es auch nur kürzere Zeit, aufgehalten
hat (Sommerfrischen usw.).
Für die Bewertung der Zeugenaussagen gilt der Grundsatz,
daß positive Angaben, welche durch Tatsachen gestützt sind,
mehr beweisen, als negative.
Bezüglich des handschriftlichen Nachlasses sei hier nur er¬
wähnt, daß namentlich bei der Paralyse und senilen Demenz die
Schrift gewisse Veränderungen erfährt, die in den betreffenden
Kapiteln abgehandelt sind.
Was das Testament selbst betrifft, so ist folgendes zu be¬
rücksichtigen:
1. Sind mehrere Testamente unklaren Inhalts errichtet
und die ersten durch die späteren nicht ausdrücklich in ihrer
Wirksamkeit abgegrenzt worden, so spricht das für die Annahme,
daß der Erblasser nicht die geistigen Fähigkeiten besaß, seinen
Willen klar zum Ausdruck zu bringen.
2. Entspricht der Inhalt und Stil des Testamentes nicht
dem Bildungsgrade des Verfassers, so hat er sich fremder Hilfe
558 Testierfähigkeit.
bedient. Es ist dann zweckmäßig, festziistellen, wer diese Hilfe
geleistet hat, ob dadurch eine ungesetzliche Beeinflußung bedingt
war, und ob der Erblasser ein ihm vorgeschriebenes Testament
auch zu verstehen vermochte.
3. Etwaige Gründe, welche der Erblasser für die Be¬
vorzugung einzelner Erben und die Benachteili¬
gung anderer angibt, sind daraufhin zu prüfen, ob sie nicht
krankhaften Motiven entspringen.
4. Schließlich ist es auch erforderlich, namentlich bei holo¬
graphischen Testamenten, den Ort und die näheren Umstände
der Entstehung zu ermitteln. Wenn z. B. ein solches
Scliriftstück bei einem Besuch des späteren Haupterben verfaßt
ist und der Inhalt des Testaments mit den früheren Ver¬
sprechungen des Erblassers nicht übereinslimmt, so liegt es nahe,
an eine ungesetzliche Beeinflussung zu denken, namentlich dann,
wenn der Testierende infolge seines psychischen Zustandes be¬
sonders suggestibel war. —
Außer den geistigen Mängeln hat der Gesetzgeber bei der
Testamentserrichtung noch einiger Spezialfälle gedenken müssen,
welche eine Einschränkung der Testierfähigkeit zur Folge haben
müssen.
Die gesetzlichen Bestimmungen, welche in Frage kommen,
sind folgende:
a) wenn Unfähigkeit zu sprechen besteht.
Dies ist bei der motorischen Aphasie, der Stummheit, dem
hysterischen Mutismus der F'all.
§ 2243. Wer nach der Überzeugung des
Richters oder des Notars stumm oder sonst
am Sprechen verhindert ist, kann das Testa¬
ment nur durch Übergal) e einer Schrift er¬
richten. Er muß die Erklärung, daß die Schrift
seinen letzten Willen enthalte, bei der Ver¬
handlung eigenhändig in das Protokoll oder
auf ein besond eres Blatt schreiben, das dem
Protokoll als Anlage beigefügt werden muß.
Das eigenhändige Niederschreiben der Er¬
klärung, sowie die Überzeugung des Richters
oder des Notars, daß der Erblasser am Sprechen
verhindert ist, muß im Protokolle festgestellt
Testierfähigkeit,
559
werden. Das Protokoll braucht von dem Erb¬
lasser nicht besonders genehmigt zu werden.
b) wenn Unfähigkeit zu lesen besteht;
§ 2247. Wer minderjährig ist oder Geschrie¬
benes nicht zu lesen vermag, kann ein Testa¬
ment nicht nach § 2231 Nr. 2 errichten.
§ 2238, -Abs. 2. Wer minderjährig ist oder
Geschriebenes nicht zu lesen vermag, kann
das Testament nur durcli mündliche Erklärung
errichten.
Hierzu seien folgende Entscheidungen hinzugefügt:
Zugelassen ist nur eine Erklärung durch gesprochene Worte,
nicht durch Zeichen, so daß ein Testament, bei dem der Errichter
sein Einverständnis lediglich durch Kopfnicken zu erkennen gegeben
hat, nichtig ist. (O.L.Q. Stuttgart, 25. 3. 01; Das Recht 1901, Nr. 1505.)
Der aus § 1922 des 1. Entwurfs wörtlich und unbeanstandet
übernommene § 2238 Abs. 2 spricht ohne Beifügung des bestimmten
oder unbestimmten Artikels von „Geschriebenem“ schlechthin und
deutet schon hiermit an, daß nur ein abstraktes Lesevermögen ver¬
langt wird. Lesen können, heißt, den Sinn des Geschriebenen er¬
fassen können. Aus dem Zwecke des Gesetzes ergibt sich weiter,
daß der in der Form des § 2238 testierende Erblasser „wenigstens
in der Lage sein muß, unzweifelhafte Kunde vom Inhalte der Schrift
zu haben“. So Motive zu § 1922 des 1. Entwurfs 5, 277. Hieraus
folgt, daß der Erblasser auch der Sprache mächtig sein muß, in der
das von ihm übergebene Schriftstück abgefaßt ist. Um das in dieser
Sprache Geschriebene lesen zu können, müssen ihm endlich auch die
ihr eigentümlichen Schriftzeichen soweit geläufig sein, daß er sie zu
Wörtern und Sätzen zusammenfassen und auf diesem Wege sich mit
dem Sinne des Geschriebenen geistig vertraut machen kann. Ein
mehreres wird aber vom Gesetze nicht verlangt. (R.G. 30. 3. 11;
Jur, Wochenschr. 1911, S. 489.)
c) wenn der Patient nicht schreiben kann:
In diesem Falle ist nach § 2238, Abs. i zu verfahren.
Die Errichtung des Testaments erfolgt in
der Weise, daß der Erblasser dem Richter oder
dem Notar seinen letzten Willen mündlich er¬
klärt oder eine Schrift mit der mündlichen Er¬
klärung übergibt, daß die Schrift seinen letz¬
ten Willen enthalte. Die Schrift kann offen
oder verschlossen übergeben werden. Sie kann
von dem Erblasser oder von einer anderen Per¬
son geschrieben sein.
56 o
Testierfähigkeit.
d) wenn der Patient weder lesen noch schrei¬
ben kann, kann er nur mündlich vor dem Richter oder Notar
testieren.
e) wenn der Patient die deutsche Sprache
nicht beherrscht:
§ 2244. Erklärt der Erblasser, daß er der
deutschen Sprache nicht mächtig sei, so muß
bei der Errichtung des Testaments ein ver¬
eideter Dolmetscher zu gezogen werden. Auf
den Dolmetscher finden die nach den §§ 2234 bis
2237 für einen Zeugen geltenden Vorschriften
entsprechende Anwendung.
Das Protokoll muß in die Sprache, in der
sich der Erblasser erklärt, übersetzt werden.
Die Übersetzung muß von dem Dolmetscher an¬
gefertigt oder beglaubigt und vorgelesen
werden; die Übersetzung muß dem Protokoll
als Anlage beigefügt werden.
Das Protokoll muß die Erklärung des Erb¬
lassers, daß er der deutschen Sprache nicht
mächtigsei,sowieden Namen desDolmetschers
und die Feststellung enthalten, daß der Dol¬
metscher die Übersetzung angefertigt oder
beglaubigt und sie vorgelesen hat. Der Dol¬
metscher muß das Protokoll unterschreiben.
§ 2245. Sind sämtliche mit wirken de Per¬
sonen ihrer Versicherung nach der Sprache,
in der sich der Erblasser erklärt, mächtig, so
ist die Zuziehung eines Dolmetschers nicht
erforderlich.
Unterbleibt die Zuziehung eines Dol¬
metschers, so muß das Protokoll in der frem¬
den Sprache aufgenommen werden und die
Erklärung des Erblassers, daß er der deutschen
Sprache nicht mächtig sei, sowie die Versiche¬
rung der mit wirkenden Personen, daß sie der
fremden Sprache mächtig seien, enthalten.
Eine deutsche Übersetzung soll als Anlage
beigefügt werden.
Widerruf des Testaments. — Internationales Privatrecht. 561
f) wenn der Testator taubstumm ist, dann ist
die Anwendung der Zeichensprache ausgeschlossen (Fischer-
Henle). Wenn der Taubstumme aber schreiben und lesen
kann, vermag er auf diesem Wege das Testament zu errichten.
Ist er dazu auch nicht fähig, dann ist er unfähig zu testieren.
Widerruf des Testaments.
Ein einmal errichtetes Testament kann jederzeit widerrufen
werden. Für den Widerruf gelten die gleichen Bestimmungen,
wie für die Testamentserrichtung, mit folgender Ausnahme:
§ 2253. Ein Testament sowie eine einzelne
in einem Testament enthaltene Verfügung
kann von dem Erblasser jederzeit widerrufen
werden.
Die Entmündigung des Erblassers wegen
Geistesschwäche, Verschwendung oder Trunk¬
sucht steht dem Widerruf eines vor der Ent¬
mündigung errichteten Testaments nicht ent¬
gegen.
Der Widerruf hat nur insoweit Gültigkeit, als er Bestim¬
mungen auf hebt, die in dem errichteten Testament enthalten
sind. Der Widerrufende darf aber z. Z. des Widerrufs nicht
völlig geschäftsunfähig sein, weil er dann ja überhaupt keine
rechtswirksame Willenserklärung abgeben kann.
Internationales Privatrecht.
Sowohl für die Testamentserrichtung, wie für den Erbvertrag gilt
das Personalstatut des Erblassers (= Erbstatut) und zwar sowohl be¬
züglich der Form der Errichtung, wie auch bezüglich der Giltigkeit, der
Anfechtbarkeit und Nichtigkeit.
Ebenso wird die letztwillige Verfügung des Erblassers auch nach
seinem Personalstatut ausgelegt, soweit das Letztere überhaupt Rechts¬
regeln darüber enthält. —
Hat der Erblasser sein Personalstatut nach Errichtung des Testa¬
ments gewechselt, so müssen „Testament oder Erbvertrag den Anforde¬
rungen des neuen Statuts entsprechen, sonst können sie nicht wirksam
werden“. (Zitelmann.)
Dies bezieht sich wieder auf sämtliche Errichtungserfordernisse.
’) Literatur: Zitelmann, Internat. Privatrecht II, 2 . u. 3 Stück. Mün¬
chen 1912. Meili, Internat. Privatrecht.
Hübner, Forensische Psychiatrie. 36
562
Testierfähigkeit.
Österreichisches Recht.
§ 564. Der Erblasser muß den Erben selbst einsetzen; er kann
dessen Ernennung nicht dem Ausspruche eines Dritten überlassen.
§ 565. Der Wille des Erblassers muß bestimmt, nicht durch bloße
Bejahung eines ihm gemachten Vorschlages, er muß im Zustande der
vollen Besonnenheit, mit Überlegung und Ernst, frei von Zwang. Betrug,
und wesentlichem Irrtume erklärt werden.
§ 566. Wird bewiesen, daß die Erklärung im Zustande der Raserei,
des Wahnsinnes, Blödsinnes oder der Trunkenheit geschehen sei, so ist sie
ungültig').
§ 567. Wenn behauptet wird, daß der Erblasser, welcher den Ge¬
brauch des Verstandes verloren hatte, zur Zeit der letzten Anordnung bei
voller Besonnenheit gewesen sei; so muß die Behauptung durch Kunst¬
verständige oder durch obrigkeitliche Personen, die den Gemütszustand
des Erblassers genau erforschten, oder durch andere zuverlässige Be¬
weise außer Zweifel gesetzt werden.
§ 569. Unmündige sind zu testieren unfähig. Minderjährige, die das
achtzehnte Jahr noch nicht zurückgelegt haben, können nur mündlich
vor Gericht testieren. Das Gericht muß durch eine angemessene Er¬
forschung sich zu überzeugen suchen, daß die Erklärung des letzten
W illens frei und mit Überlegung geschehe. Die Erklärung muß in ein
Protokoll aufgenommen, und dasjenige, was sich aus der Erforschung er¬
geben hat, beigerückt werden. Nach zurückgelegtem achtzehnten Jahre
kann ohne weitere Einschränkung ein letzter Wille erklärt werden.
§ 570. Ein wesentlicher Irrtum des Erblassers macht die Anordnung
ungültig. Der Irrtum ist wesentlich, wenn der Erblasser die Person,
welche er bedenken, oder den Gegenstand, welchen er vermachen wollte,
verfehlet hat.
§ 576. Einen anfänglich ungültigen letzten Willen macht die später
erfolgte Aufhebung des Hindernisses nicht gültig. Wird in diesem Falle
keine neue Verfügung getroffen; so tritt das gesetzliche Erbrecht ein.
§ 718. Der Widerruf kann nur in einem solchen Zustande gültig ge¬
schehen, worin man einen letzten Willen zu erklären fähig ist. Ein ge¬
richtlich erklärter Verschwender kann seinen letzten Willen gültig wider¬
rufen.
§ 138,3. Uber den Inhalt einer letzten Anordnung kann vor deren
Bekanntmachung kein Vergleich errichtet werden. Die hierüber ent¬
standene Wette wird nach den Grundsätzen von Glücksverträgen
beurteilt.
D Der, nicht wegen Blödsinnes, sondern wegen Unfähigkeit zur
Besorgung seiner Angelegenheiten unter Kuratel Stehende ist nicht
testierfähig. E. 21. 7. 1857. Z. 6183, SIg. 419. Der Beweis, daß der Erb¬
lasser nicht mehr im Vollbesitz seiner Geisteskräfte gewesen ist, genügt
nicht. E. 22. 10. 96. Z. 11 126, SIg. 15 877.
Begründunit des Wohnsitzes.
563
§ 1387. Eben so wenig können neue gefundene Urkunden, wenn sie
auch den gänzlichen Mangel eines Rechtes auf Seite einer Partei ent¬
deckten, einen redlich eingegangenen Vergleich entkräften.
§ 577. Man kann außergerichtlich oder gerichtlich, schriftlich oder
mündlich, schriftlich aber mit oder ohne Zeugen testieren.
Das schriftliche zeugenlose Testament soll den Anforderungen,
welche auch bei uns in Deutschland gestellt werden, entsprechen.
Ist das Testament von einem Anderen geschrieben, so muß es vom
Erblasser „eigenhändig“ unterfertigt werden, der Erblasser muß ferner
vor drei fähigen Zeugen, wovon wenigstens zwei zugleich gegenwärtig
sein sollen, den Aufsatz als seinen letzten Willen bestätigen. Die Zeugen
müssen ihn unterschreiben. (§ 579.)
Kann der Erblasser nicht schreiben, so muß er in Gegenwart aller
drei Zeugen sein Handzeichen darunter setzen. Wenn er nicht lesen kann,
muß er den Aufsatz von einem Zeugen in Gegenwart der anderen zwei,
die den Inhalt eingesehen haben, sich vorlesen lassen. (§ 581.)
Mündliche Testamente können entweder vor drei Zeugen oder vor
Gericht errichtet werden. An das gerichtliche Testament werden die
gleichen Anforderungen gestellt wie in Deutschland. (§§ 587—89.)
Nach der Juristikationsnorm vom 1. August 1895 sind zur gericht¬
lichen Aufnahme letztwilliger Anordnungen alle Bezirksgerichte fähig.
Nachdem vorstehend die Hauptkapitel des bürgerlichen
Rechtes besprochen worden sind, ist es nunmehr erforderlich,
noch einige Punkte kürzer zu erwähnen, welche auch gelegentlich
für den Psychiater Bedeutung gewinnen können. In der Ein¬
teilung der noch zu besprechenden Fragen wollen wir uns an
diejenige des E.G.B. halten.
Begründung des Wohnsitzes.
§ 7 . Wer sich an einem Orte ständig nieder¬
läßt, begründet an diesem Orte seinen Wohnsitz.
Der Wohnsitz kann gleichzeitig an mehreren
Orten bestehen.
Der Wohnsitz wird aufgehoben, wenn die
Niederlassung mit dem W i 11 e ti aufgehoben
wird, sie a u f z u h e b e n.
§ 8 . Wer geschäftsunfähig oder in der Ge¬
schäftsfähigkeit beschränkt ist, kann ohne
den Willen sein es gesetzlichen Vertreters
einen Wohnsitz weder begründen noch auf-
h e ben.
36
564
Haftpflicht.
Der Wohn sitz ist zu unterscheiden von dem Wohn o r t.
Es kann z. B. ein in einer Anstalt Internierter als Wohnort den
Ort der Anstalt, als Wohnsitz einen anderen Ort haben. (Bayr.
O.L.G. II, 327.)
Zur Begründung eines Wohnsitzes wird in der Regel er¬
fordert, daß die I’erson an einem Orte sich niederläßt und den
Willen hat, daß dieser Ort auf die Dauer der Mittelpunkt ihrer
Verhältnisse und Tätigkeit bilden soll. (O.L.G. Köln, 27. 3. 01;
Das Recht 1901, Nr. 2175.)
Mangelt einer Person zufolge Willensschwäche jeder be¬
stimmte Entschluß, so kann sie einen Wohnsitz nicht begründen.
(R.G. IV. 20. 6 .12; Das Recht, Entsch. Nr. 2794.)
Eintritt in ein Krankenhaus begründet regelmäßig keinen
Wohnsitz (Bayr. O.L.G. 16. ii. 08; Neumiller, Das Recht 1908,
Nr. 3520), selbst bei lebenslanger Festhaltung des Geisteskranken
in einer Heilanstalt nicht, es sei denn, daß der Vormund den
Wohnsitz des Mündels durch Erklärung an den Ort der Heil¬
anstalt verlegt. (O.L.G. Karlsruhe, 6. 12. 00; Das Recht 1901,
Nr. 1464 und Bayr. O.L.G. 31. 12. 01 ; Das Recht 1902, Nr. 245.)
Ein großjähriger geistesschwacher Sohn behält den Wohn¬
sitz des Vaters, auch wenn er nicht entmündigt ist. (Bayr. O.L.G.
3. 5. 10; Das Recht 1910, Nr. 1902.)
Treu und Glauben im Geschäftsverkehr.
§ 157. Verträge sind so ausz ulegen, wie
Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Ver¬
kehrssitte es erfordern.
\'on den Verträgen, welche hier in Frage kommen, inter¬
essieren uns in erster Linie die Versicherungsverträge. Die all¬
gemeinen Grundsätze, welche für die Formulierung der Versiche¬
rungsbedingungen zu gelten haben, sind in dem Gesetz über den
Versicherungsvertrag vom 30. Mai 1908 enthalten’).
') Die wesentlichsten Bestimnuingen dieses Gesetzes sind folgende:
Der Versicherer ist bei der Schadensversicherung verpflichtet,
dem Versicherten den durch den Eintritt des Versicherungsfalls ver¬
ursachten Verrnögensschaden zu ersetzen, bei der Personenversicherung
hat er den vereinbarten Betrag an Kapital oder Rente zu zahlen oder
die sonst vereinbarte Leistung zu bewirken. Der Versicherte hat die
vereinbarte Prämie zu entrichten (§ 1). Obliegenheiten, welche von
dem Versicherten zu erfüllen sind, dürfen nur unverschuldet (R.Q. 37,
Treu und Glauben im Geschäftsverkehr. 565
Es sind verschiedene Fragen, die den Arzt dabei inter¬
essieren;
I. Welche Wirkung haben falsche Angaben über die Vor¬
geschichte, wenn sie der Versicherungsnehmer im Auf¬
nahmeantrag oder bei der ärztlichen Untersuchung macht?
Hierauf gibt eine R.G.E. v. 14. i. 10 (Jur. Wochenschr.
1910, S. 193, Nr. 23) Auskunft. Dort heißt es:
„Wenn es sich um einen Umstand handelt, der auf die Ent¬
schließung des Versicherers, den Vertrag einzugehen, von Ein¬
fluß sein kann, so ist die Versicherung für die Gesellschaft un¬
verbindlich. Die Natur des Versicherungsverhältnisses erheischt,
daß der über die Größe des Versicherungsrisikos durch schuld¬
haftes Verhalten des Antragstellers getäuschte Versicherer den
Ersatz des eingetretencn Schadens verweigern darf.“
149) oder weder aus Vorsatz, noch grober Fahrlässigkeit unerfüllt
bleiben (§ 6). Über die Nichtinnehaltung der Versicherungsbedingungen
durch den Versicherungsnehmer s. R.G. 10, 122: „Der Versicherungs¬
nehmer muß darlegen können, daß ihm nach den konkreten Verhältnissen
die Innehaltung der gesetzten Frist so erschwert worden ist, daß in der
strikten Anwendung der Vertragsbestimmungen eine unbillige Härte
liegen W'ürde“ s. ferner R.G. 46, 189; 27, 151; 39, 177; 49, 290; 50, 295.
Der Versicherer kann vom Vertrag zurücktreten, wenn der Versicherte
Umstände, die ihm bekannt und für die Übernahme der Gefahr dem Ver¬
sicherer erheblich sind (R.G. 13, 107; Seuff. Arch. 43, Nr. 52X dem Ver¬
sicherer nicht angezeigt hat (§ 16). Ein Umstand, nach dem der Ver¬
sicherer gefragt hat, gilt im Zweifel immer als erheblich (§ 18). Er¬
höhung der Gefahr ohne Zustimmung des Versicherers zieht Verlust der
Leistung nach sich (s. § 2.3—32). Nach Eintritt des Versicherungsfalles
hat der Versicherte dem Versicherer unverzüglich Anzeige zu machen
(§ 33). Er muß auch jede Auskunft erteilen, die zur Feststellung des
Versicherungsfalles und des Umfanges der Leistungspflicht des Ver¬
sicherers erforderlich ist (§ 34).
Schadenersatz ist in Geld zu leisten (§ 49) bis zur Höhe der Ver¬
sicherungssumme (§ 50). Der Versicherer ist von der Verpflichtung
zur Leistung frei, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall
vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeiführt (§ 61). Der
Versicherungsnehmer ist verpflichtet, beim Eintritt des Versicherungs¬
falles nach Möglichkeit für Abwendung und Minderung des Schadens zu
sorgen und die Weisungen des Versicherers dabei zu befolgen (§ 62).
Sachverständigengutachten sind nicht verbindlich, wenn sie „offenbar
von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen“ (§ 64).
Die Haftpflichtversicherung (§ 149—158) trifft die Fälle
von Tötung, Körperverletzung und (3esundheitsbeschädigung, außerdem
566
Haftpflicht.
2. Welche Wirkung hat die Nichterfüllung der formalen Ver¬
sicherungsbedingungen, soweit sie nicht durch die eben
gemachten Ausführungen getroffen wird?
Eine Verwirkung des Versicherungsanspruchs hat sie nur
dann zur Folge, wenn sie eine schuldhafte ist, es sei denn, daß die
Versicherungsbedingungen das Gegenteil ausdrücklich bestimmen.
(R.G. 9. 7. 01; Das Recht 1903, Nr. 293.)
Enthielt der Versicherungsantrag *) z. B. die Bestimmung,
daß die Nichtbefolgung der vom Arzt des Versicherten zur Be¬
förderung des Heilprozesses getroffenen Anordnungen den Ver¬
lust des Entschädigungsanspruches nach sich zieht, so wird diese
Bestimmung nur wirksam, wenn die ärztliche Anordnung durch
die Sachlage wirklich gerechtfertigt war und dem Versicherten
mit Rücksicht auf seine persönlichen, Familien- und sonstigen
Sachbeschädigung, Folgen fahrlässiger Verletzung der Berufspflichten
usw. Der Versicherer haftet nicht, wenn der Versicherungsnehmer den
Eintritt des Erfolges vorsätzlich und widerrechtlich herbeigefiihrt hat
(§ 152). Der Schaden muß innerhalb einer Woche angezeigt werden
(§ 153).
Lebensversicherung (§ 159—178). Es kann das eigene oder
fremdes Leben versichert werden. Letzteres nur mit schriftlicher Zu¬
stimmung des anderen (§ 159). Ist der andere geschäftsunfähig oder
beschränkt geschäftsfähig, dann muß der Pfleger oder Vormund zu¬
stimmen. Der die Versicherung Nehmende darf das nicht, auch wenn
er der Vormund ist. Es muß in diesem Falle ein besonderer Pfleger
ernannt werden. Selbstmord läßt die Verpflichtung des Versicherers
nur bestehen (§ 169), wenn die freie Willensbestimmung ausgeschlossen
war (R.Q. 4, 160; Seuff. A. 53, Nr. 45; s. auch Hübner. Selbstmord.
Jena 1910. Q. Fischer).
Unfallversicherung (§ 179—18.5). Vorsätzliche und wider¬
rechtliche Herbeiführung des Unfalles befreit den Versicherer von der
Leistung (§ 181). Der Versicherte hat für Abwendung und Minderung
der Folgen Sorge zu tragen (§ 183). Er muß u. U. auf Wunsch des
Versicherers in ein Krankenhaus gehen, sich ev. auch operieren lassen.
(Nach Hager-Behrend, Reichsges. über den Versicherungs-Vertrag. 1908.
Quttentag.)
^) Hierher gehört auch die folgende Entscheidung:
Hat jemand, der gegen die Folgen körperlicher Unfälle versichert
ist, sich im Rauschzustände einen Unfall zugezogen, so kann die
Versicherungsgesellschaft sich ihrer Entschädigungspflicht nicht
unter Berufung auf § 827 B.Q.B. entziehen, sie hat vielmehr Ent¬
schädigung zu leisten, sofern nicht vertraglich die Entschädigungs¬
pflicht für solche Unfälle ausdrücklich ausgeschlossen ist. (R.Q. VII.
8. 5. 08.) Das Recht, Sp. 397, Entsch. Nr. 2328.
Schadenersatz. 567
Verhältnisse billigerweise zugemutet werden dürfte. (R.G. VII.
22. IO. 01; Das Recht 1903, Nr. 294.)
3. Von prinzipieller Bedeutung für alle in der Privatversiche¬
rung entstehenden Differenzen erscheint mir eine Ent¬
scheidung des Reichsgerichts vom 5. Dez. 1911 (Jur.
Wochenschr. 1912, S. 190, Nr. 5) in der es heißt:
„Als Vertragswille der Beteiligten ist festzustellen, was sie
nach Treu und Glauljen gewollt und erklärt haben würden, wenn
sie ihren Willen über den fraglichen Punkt überhaupt geäußert
haben würden.“
Schadenersatz.
Nerven- und Geisteskrankheiten können in verschiedener
Weise eine Verpflichtung zum Schadenersatz^) begründen. Ent¬
weder bewirkt der Kranke selbst durch irgend welche Handlungen,
daß Personen oder Sachen verletzt werden, oder er erleidet infolge
mangelhafter Beaufsichtigung Schaden.
Ist letzteres der Fall, so erhebt sich die weitere Frage, ob
den Patienten ein Verschulden trifft.
Im folgenden wollen wir uns dabei nicht allein auf die un¬
erlaubten Handlungen beschränken, sondern darüber hinaus auch
die Notwehr und die allgemeinen Gesichtspunkte über Haftung
für eigenes und fremdes Verschulden mit in den Kreis unserer
Betrachtungen ziehen.
Die gesetzlichen Bestimmungen, welche in Betracht kommen,
sind die folgenden:
§ 227. Eine durch Notwehr gebotene Hand¬
lung ist nicht widerrechtlich.
Notwehr ist diejenige Verteidigung, welche
erforderlich ist, um einen gegenwärtigen
rechtswidrigen Angriff von sich oder einem
Anderen a b z u w e n d e n.
Die Frage, ob die Notwehr überschritten ist, hat das Gericht
sowohl im Straf- wie im Zivilprozeß nach der objektiven Sach¬
lage, insbesondere nach dem Stärkeverhältnis der beiden Gegner
’) Schadenersatz ist die Beseitigung oder Vergütung eines privat¬
rechtlichen Nachteils, den jemand rechtswidrig oder doch gegen seinen
Willen erlitten hat (Cosack).
Vergl. § 53 Str.Q.B.
568
Haftpflicht.
und der Art und Stärke des Angriffs bzw. der Abwehr zu beur¬
teilen. Die subjektive Auffassung der Handelnden und der Wert
des bedroliten Gutes sind belanglos. (Urt. v. 8. 12. 05; Das
Recht 1910, Nr. 130.)
Ein subjektives Verschulden des Angreifenden ist nicht er¬
forderlich, es kann deshalb auch der Angriff eines Geisteskranken
zur Notwehr Anlaß geben, sofern er objektiv rechtswidrig ist.
§ 249. Wer zum Schadensersätze verpflich¬
tet ist, hat den Zustand herzustellen, der be¬
stehen würde, wenn der zum Ersätze verpflich¬
tende Umstand nicht eingetreten wäre. Ist
wegen Verletzung einer Person oder wegen Be¬
schädigung einer Sache Schadensersatz zu
leisten, so kann der Gläubiger statt der Her¬
stellung, den dazu erforderlichen Geldbetrag
verlangen.
§ 254. Hat bei der Entstehung des Schadens
ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt,
so hängt die Verpflichtung zum Ersätze, sowie
der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den
Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit
der Schaden vorwiegend von dem einen oder
dem anderen Teile verursacht worden ist.
Dies gilt auch dann, wenn sich das Ver¬
schulden des Beschädigten darauf beschränkt,
daß er unterlassen hat, den Schuldner auf die
Gefahr eines ungewöhnlich hohen Schadens
aufmerksam zu machen, die der Schuldner weder
kannte noch kennen mußte, oder daß er unter¬
lassen hat, den Schaden abzuwenden oder zu
mindern. Die Vorschrift des § 278 findet ent¬
sprechende Anwendung').
§ 823. Wer vorsätzlich oder fahrlässig das
Leben, den Körper, die Gesundheit, die Frei¬
heit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht
’) § 278. Der Schuldner hat ein Verschulden seines gesetzlichen Ver¬
treters und der Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner Verbindlich¬
keit bedient, in gleichem Umfange zu vertreten wie eigenes Ver¬
schulden. Die Vorschrift des § 276 Abs. 2 findet keine Anwendung.
Schadenersatz.
569
eines Anderen widerrechtlich verletzt, ist dem
Anderen zum Ersätze des daraus entstehen tlen
Schadens verpflichtet.
Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen,
welcher gegen ein den Schutz eines Anderen
bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem
Inhalte des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses
auch ohne Verschulden möglich, so tritt die
Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.
Die Verpflichtung zum Schadenersatz kann aus den ver¬
schiedensten Gründen bestehen. Entweder ist sie die Konsequenz
einer unerlaubten Handlung oder die eines Vertrages.
Die uns interessierenden Schadenersatzfälle sind in erster
Linie die aus Versicherungsverträgen und unerlaubten Hand¬
lungen resultierenden.
Praktisch liegen die Fälle also für gewöhnlich so, daß durch
irgendein, sei es vertraglich festgelegtes Tun, sei es durch eine
unerlaubte Handlung hervorgerufenes Ereignis ein Mensch
körperlichen und geistigen Schaden erleidet und hierfür Schaden¬
ersatz von dem dazu Verpflichteten verlangt.
Es erhebt sich in diesen Fällen in erster Linie die Frage, in
welchem Umfange die S c h a d e n s e r s a t z pflicht besteht.
Nach einer Reichsgerichtsentsclieidung vom 13. Febr. 1908
(Das Recht 1908, Nr. 1143) darf bei der Schadenfeststelhmg
nicht etwa jede für eine ferne Zeit bestehende Möglichkeit mit
in Betracht gezogen werden, sondern nur der gegenwärtige oder
mit irgendwelcher Bestimmtheit zu erwartende Vermögens¬
schaden.
Eine zweite Frage, welche in Betracht zu ziehen ist und für
gewöhnlich mehr Schwierigkeiten macht, als nötig ist, bezieht
sich auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen
dem in Betracht kommenden Geschehnis und seinen Folgen.
Es ist auf diese Frage ja an den verschiedensten Stellen
schon eingegangen, und es sind auch Entscheidungen zitiert
worden.
Ich beschränke mich deshalb darauf, nur noch folgende Ent¬
scheidung anzuführen:
Nach der feststehenden Rechtsprechung des R.Q. braucht ein be¬
stimmter tatsächlicher Umstand nicht die alleinige Ursache eines
eingetretenen Schadens zu sein, damit die vom Gesetze, sei es mit oder
5/0
Haftpflicht.
ohne die gleichzeitige Annahme eines Verschuldens einer bestimmten
Person, an den Eintritt des Schadens geknüpfte Rechtsfolge eintrete,
vielmehr genügt es, daß er eine der mehreren zusammenwirkenden
Ursachen, also eine bloß mitwirkende Ursache für den schädigenden
Erfolg darstelle, sofern nur nicht die Verbindung zwischen beiden so
lose ist, daß nach der Auffassung des Lebens der eingetretene Schaden
nicht mehr als eine Eolge auch der mitwirkenden Ursache in Betracht
gezogen wird. (R.G. 3. 5. 10.) Jur. Wochenschr. 1910, S. 650, Nr. 6.
Danach, wie auch nach der folgenden Entscheidung kann so¬
mit ein Leiden, das schon vor dem Unfall vorhanden war, die
Hntschädigungspflicht nicht aufheben.
Hat der Beklagte bewiesen, daß der Kläger schon vor dem Un¬
fall an einem bestimmten Leiden litt, und daß die schweren Felgen des
Unfalls ohne diese krankhafte Anlage nicht eingetreten sein würden, so
ist der ursächliche Zusammenhang dennoch nicht aufgehoben, die
entscheidende Ursache der jetzigen Qesundheitsbeschaffenheit des
Klägers war der Unfall. Die Krankheitsanlage kann aber für die
Frage nach der Höhe des Anspruchs von Bedeutung sein. (R.Q. IV.
2. 10. 06.) Das Recht 1907, Nr. 285.
Namentlich bei den Unfallneurosen und manchen Geistes¬
krankheiten kommt der zum Schadensersatz Verpflichtete öfters
mit der Behauptung, daß die Körperverletzung nur auslösende
Ursache für die Geisteskrankheit gewesen sei. In dieser Be¬
ziehung kommt es nach einem Urteil vom 2i. lanuar 1911 (Jur.
Wochenschr. 1911, S. 319, Nr. 4) nicht darauf an, daß die Geistes¬
krankheit ohne die Körperverletzung nicht so, wie geschehen,
eingetreten wäre. Mit anderen Worten gesagt: Eine vorhandene
Disposition hebt die generelle Schadensersatzpflicht nicht auf.
Es kann dagegen nach derselben Entscheidung im Verfahren über
die Höhe der Entschädigung geprüft werden, ob etwa die vom
Kläger verlangten Renten deswegen von einem noch zu ermitteln¬
den Zeitpunkte an in Wegfall zu kommen haben, weil Kläger ohne
die Körperverletzung geisteskrank geworden sein würde.
Ob diese Frage oft in einigermaßen bestimmter Weise wird
beantwortet werden können, erscheint mir zweifelhaft. —
Der zum Schadensersatz Verpflichtete kann nun verlangen,
daß der Beschädigte alle M a ß n a h m e n trifft, welche zur Ver¬
ringerung des entstandenen Schadens zweckmäßig
und erforderlich sind. Insbesondere muß sich der Beschädigte
einem Heilverfahren unterziehen (R.G. 15. 4. 07; Das Recht 1907,
Nr. 1288). Widersetzt er sich ohne Grund einem solchen oder
vereitelt er sonst in schuldhafter Weise den Heilungserfolg, so
Schadenersatz.
571
kann er insoweit Entschädigung nicht beanspruchen. Hat er sich
aber gleich nach dem Unfall längere Zeit ärztlich behandeln lassen
und dann in eine Anstalt zur Pflege begeben, so ist das geschehen,
was in solchen Fällen zu geschehen pflegt und es trifft den Be-
.schädigten nicht der V'^orwurf, Maßregeln versäumt zu haben, die
nach den Umständen zu seiner Heilung geboten gewesen sind
(ähnlich R.G. 29. ii. 09; Das Recht 1910, Nr. 289) ').
Die Unterlassung eines Heilverfahrens kann
nur dann ein Verschulden des Verletzten enthalten, wenn ihm der
Nutzen des Verfahrens, und daß es wahrscheinlich die Heilung
erheblich fordern werde, vorgestellt oder erkennbar gewesen ist
(15. II. 09; Das Recht).
Wie ich schon oben an einer Stelle angeführt habe, ist der
Verletzte unter Umständen auch verpflichtet, sich einer Ope¬
ration oder einem sonstigen ärztlichen Heilverfahren zu unter¬
ziehen. ln dieser Beziehung sind die konkreten Verhältnisse des
Einzelfalles zu würdigen, wobei es hauptsächlich auf die Be¬
schaffenheit des Leidens, die Schwere und Gefährlichkeit der
Operation oder des Heilverfahrens, die mehr oder mindere Aus¬
sicht auf Erfolg ankommen wird, aber möglicberweise auch noch
andere besondere Umstände in Betracht kommen können. Auch
ist immer zu beachten, daß die Vorschrift in § 254 B.G.B. ein
Verschulden des Beschädigten voraussetzt. Es sind deshalb zu¬
gunsten des Beschädigten alle Tatsachen zu berücksichtigen,
welche geeignet sind, eine Weigerung, wenn nicht als begründet,
so doch als entschuldbar erscheinen zu lassen. (R.G. IV. 24. 10. 07;
Das Recht 1907, Nr. 3621.)
Anders drückt dasselbe eine Entscheidung vom 13. Febr. 1905
(Jur. Wochenschr. 1905, S. 201. Nr. 4) aus, welche folgendes sagt:
Von demjenigen, welcher an seiner Gesundheit durch einen Unfall
geschädigt worden ist, für dessen verniögensrechtliche Folgen ein
anderer ersatzpflichtig ist, muß verlangt werden, daß er, soweit er
dazu imtsande ist, die zur Heilung oder Besserung seiner Krankheit
die nach dem jetzigen Stande der medizinischen Wissenschaft sich
darbietenden Mittel zur Anwendung bringt, und es muß hierbei
wenigstens als Regel gelten, daß der Verletzte in solchem Falle nicht
anders handeln darf, als es bei gleicher Gesundheitsstörung ein ver¬
ständiger Mensch tun würde, der nicht )n der Lage ist, die Vermögens¬
nachteile, die ihm bei Fortdauer der Krankheit erwachsen, auf einen
anderen abzuwälzen.
572
Haftpflicht.
Schließlich sind noch zwei Entscheidungen hinzuzufügen,
welche gleichfalls praktisch außerordentlich wichtige Fragen be¬
treffen.
Ein Verletzter, bei dem eine Behebung oder auch nur Besserung
der Unfallfolgen nicht in Frage steht, ist nicht verpflichtet, lediglich
um die vom Beklagten nach dem Gesetz ihm zu zahlende Entschä¬
digung herabzumindern, sein Leben statt in seiner Familie und in
seiner eigenen Häuslichkeit in einer öffentlichen Anstalt zuzubringen.
(R.Q. VII. 25. 1. 10.)
Der Beschädigte ist zur Verringerung des entstandenen Schadens
unter Umständen auch für verpflichtet anzusehen, sich einem anderen
angemessenen Beruf zuzuwenden, oder an einem anderen Ort Wohnung
zu nehmen. Allerdings widerspricht die Zumutung, daß der Kläger
eine bestimmte einzelne Arbeitsgelegenheit aufsuchen oder sich einem
anderen Berufe zuwenden oder einen anderen Wohnort nehmen solle,
um sich einen größeren Verdienst zu verschaffen, dem Rechte des Klägers
auf freie Selbstbestimmung. Es kann indes der Fall so liegen, daß die
Nichtbeachtung eines solchen Gesichtspunktes zu großer Unbilligkeit
gegen den Ersatzpflichtigen führen würde. (R.G. VI. 21. 12. 08. 649/07.)
Das Recht 1909, Nr. 428.
V'on Wichtigkeit scheint mir insbesondere die die .Auf¬
nahme der Arbeit Iretreffende Entscheidung.
Hinzuzufügen ist schließlich noch, daß der Verletzte selbst
aus § 2/8 B.G.B. für ein vom Arzt begangenes Versehen nicht
haftbar gemacht werden kann. (R.G. 29. ii. oy; Das Recht
1910, Nr. 289.)
§ 843. Wird in Folge einer Verletzung des
Körpers oder der Gesundheit tlie Erwerbs¬
fähigkeit des Verletzten aufgehoben oder ge¬
mindert oder tritt eine Vermehrung seiner
Bedürfnisse ein, so ist dem \' e r 1 e t z t e n durch
Entrichtung einer G e 1 d r e n t e Schadensersatz
zu leisten.
Auf die Rente finden die Vorschriften des
§ 760 .A n w e n d u n g. Ob, in welcher Art u n d für
welchen Betrag der Ersatzpflichtige Sicher¬
heit zu leisten hat, bestimmt sich nach den Um¬
stände n.
Statt der Rente kann der Verletzte eine Ab¬
findung in K a p i t a 1 • v e r 1 a n g e n , wenn ein wich¬
tiger Grund vorliegt.
Schadenersatz.
573
Der Anspruch wird nicht dadurch ausge¬
schlossen, daß ein Anderer dem Verletzten
Unterhalt zu gewähren hat.
t^ber die medizinischen Gesichtspunkte, welche bei Bemes¬
sung der Rente in Betracht kommen, wird im klinischen Teil das
Erforderliche gesagt werden. Hier sei nur aus den Entschei¬
dungen der obersten Gerichte Nachstehendes hinzugefügt.
Wenn der Verletzte infolse einer mit der unerlaubten Handlung
in keinem Zusammenhänge stehenden Krankheit auch ohne den Unfall
erwerbsunfähig gewesen sein würde, so kann er für diese Zeit keine
Entschädigung verlangen. (O.L.Q. Braunschweig 22. 10. 07.)
Das Recht 1907, Nr. 3310.
Bei Zubilligung einer Rente an den Wrletzten muß auch
Bestimmung darüber getroffen werden, wie lange sie gezahlt
werden soll. (R.G. 27. 11. 05; Das Recht 1906, Nr. 3039.)
Ist anzunehmen, daß sich der körperliche Zustand des Ver¬
letzten mit der Zeit bessert, so darf eine Abstufung der Rente
vorgenommen werden. Die nach den Erfahrungen des Reichs¬
versicherungsamtes aufgestellte Schadensskala für die Berech¬
nung der prozentualen Besserung darf dabei angewandt werden.
(R.G. 12. 12. 07: Das Recht 1908, Nr. 576.)
Ein wichtiger Punkt in der Beurteilung von Haftpflicht¬
ansprüchen ist die Frage der besonderen Aufwendungen.
Die meisten Unfallverletzten pflegen an die entschädigungs¬
pflichtige Behörde mit derartigen Wünschen heranzutreten. In
erster Linie werden Badereisen und Kostzulagen aller Art ver¬
langt, daneben, wenn es sich um weibliche Verletzte handelt,
Hilfskräfte im Haushalt.
Wie überhaupt in solchen Haftpflichtprozessen werden
gerade in diesem Punkte die ungeheuerlichsten Ansprüche an den
Entschädigungspflichtigen gestellt.
Daß Badereisen nur selten nennenswerten Erfolg haben,
wird weiter unten noch ausgeführt werden.
Be.sondere, außerhalb der Mahlzeiten zu nehmende E x t ra¬
verordn un gen können im allgemeinen bei Berücksichtigung
der sozialen Stellung des Verletzten in engen Grenzen gehalten
werden. So ist es z. B. meines Erachtens zu viel, wenn ein Ver¬
letzter, dessen tägliches Durchschnittseinkommen nicht mehr als
fünf Mark betragen hat, plötzlich behauptet, drei Mark täglich für
Eier und Milch (die zwischen den Mahlzeiten genommen werden
574
Haftpflicht.
sollen) nötig zu haben. Ein Kranker kann das, was zu seiner
Heilung erforderlich ist, selbstverständlich verlangen, darüber
hinaus aber nichts, insbesondere keine unmotivierten Ver¬
günstigungen.
Gesuche mit derartigen Forderungeu sollten grundsätzlich
nur dann berücksichtigt werden, wenn sic sorgfältig begründet
sind, das heißt, das vorgelegtc ärztliche -Attest sollte nicht allein
die Behaui)tung enthalten, daß besondere Maßnahmen nötig sind,
sondern auch genau die Gründe, warum ohne diese Wrordmmgen
die Heilung hintangehalten wird.
In den letzten Jahren viel diskutiert ist die Renten-
k a m p f n e u r o s e. \'"om klinischen Standpunkt wird sie später
noch kurz erörtert werden. Die obersten Gerichte haben sich
wiederholt mit ihr beschäftigt (O.L.G. Hamburg 14. 4. 08; Jur.
Wochenschr. 1908, S. 405, Nr. 5. R.G. 14. ii. 10; Jur. Wochen-
schr. 1911, S. 149, Nr. 4. R.G. 19. 6. 08; Das Recht 1908,
Nr. 3022. R.G. I. IO. io; Jur. Wochenschr. 1910, S. 1003 und
Das Recht 1910, Nr. 3914. R.G. 14. ii. 10; Das Recht, Nr. 328).
Ihr Standpunkt ist etwa folgender:
Hat aber der Verletzte Keifeiiiiber der Bereitwilligkeit des Haft¬
pflichtigen zu angemessener Entschädigung durch die Aufstellung ma߬
loser Schadensanspriiehe selbst den Prozeß veranlaßt, so ist zu prüfen,
ob nicht die durch den Prozeß veranlaßte Verschlimmerung durch das
eigene schuldhafte Verhalten des Verletzten herbcigefiihrt ist und ob
nicht überhaupt hierdurch der ursächliche Zusammenhang mit der Ver¬
letzung aufgehoben ist. (R.Q. VI. 14. 11. 10. 517/10; München 13. 7. 10.)
Das Recht 1911, Nr. 328.
Im übrigen neigt das Reichsgericht aber zur -Anerkennung
der Rentenkampfneurose als ITnfallfolge.
Allerdings ist es richtig, daß der erkennende Senat in einem
nach A.L.R. zu beurteilenden Falle eine bei der Verletzten eingetretene
Folgeerscheinung, die nicht durch ihre körperliche Verletzung an sich,
sondern durch das hinzugekommene Prozeßverfahren herbeigeführt
war, als außerhalb des Bereiches der Schädigung liegend erklärt hat,
welche der Beklagte als Folgen seiner unerlaubten Handlung zu verant¬
worten habe (Jur. Wochenschr. 1906, 231,1,5). Dagegen hat der Senat in
einer anderen nach § 843B.Q.B. ergangenen Entscheidung VI, 31/06, be¬
reits ausgeführt, daß auch eine Schwächung des Nervensystems,
welche bei dem durch einen Unfall Verletzten infolge der Aufregungen
des von ihm wegen Verlustes oder Verminderung seiner Erwerbs¬
fähigkeit geführten Prozesses eingetreten oder gesteigert worden sei,
auf den Unfall zurückgeführt werden könne. Wenn auch bei einer
solchen Sachlage die Frage aufzuwerfen sei, ob der Ersatzpflichtige
Schadenersatz.
S7_5
für eine derartige entfernte Folge des Unfalls verantwortlich gemacht
werden könne, so lasse sich doch nicht sagen, daß der Unfall und die
durch ihn hervorgerufene Schwächung des Nervensystems gegenüber
anderen auf dieses ebenfalls nachteilig wirkenden Ereignissen so sehr
zurückträten, daß von einer adäquaten Ursache nicht mehr gesprochen
werden könne. An dieser auch vom III. Senat in der Entscheidung
vom 19. 6. 08 (Jur. Wochenschr. 1908. .526”) gebilligten Auffassung ist
festzuhalten. Ist durch den Unfall neben der akuten körperlichen Ver¬
letzung auch ein Nervenleiden bei dem Verletzten verursacht, und
dieses durch die Aufregungen des Rechtsstreits, durch die Verweige¬
rung des geforderten Schadensersatzes erheblich gesteigert, so steht
der nur mittelbar eingetretene Erfolg nicht notwendig in einem so ent¬
fernten Zusammenhang mit dem ursprünglichen Ereignis, daß er nach
der Auffassung des Lebens vernünftigerweise nicht mehr in Betracht
gezogen werden könnte. Das B.O.B. hat diese Grundsätze beachtet;
ein Rechtsirrtum ist in der von ihm getroffenen Feststellung, daß das
Nervenleiden des Klägers im vorliegenden Falle eine Folge des er¬
littenen Unfails sei, nicht zu finden. (1. 10. 10; Jur. Wochenschr. 1910,
S. 1003.)
Was die Beweispflicht anlangt, so hat der Schadensersatz,
fordernde Kläger zu beweisen, daß der Beklagte den Unfall ver¬
schuldet hat. Er braucht dies jedoch nicht bis ins einzelne zu tun, es
genügt, wenn er einen Sachverhalt nachweist, „der an sich die Folge¬
rung rechtfertigt, daß der Unfall vom Beklagten verschuldet sei“.
(O.L.Q. Rostock, 23. 12. 03; Das Recht 1904, Nr. 1984.)
Im § 254 ist der Fall vorgesehen, daß ein Kranker durch
schuldhaftes Verhalten entweder bei der Entstehung des Schadens
oder bei seiner Minderung mitgewirkt hat.
Voraussetzung für eine Schuld ist das Vorhandensein der
Dcliktfähigkeit (s. u.). Wo sie fehlt, da kann der § 254 keine
.Anwendung finden. Dies ist z. B. bei Kindern unter 7 Jahren der
Fall. (R.D. 29. I. 06; Das Recht 1906, E. Nr. 1042.)
Ein Verschulden liegt aber vor, wenn der Beschädigte zur .Ab¬
wendung oder Minderung des Schadens das zu tun unterläßt, was
ihm ohne billige Be.schwernis zugemutet werden kann. (K.G.
8. 7. 04; Das Recht 1905, Nr. 965.)
Dagegen kann gegen einen Schadensersatzanspruch wegen
Körperverletzung der Ersatzpflichtige nicht einwenden, der A’er-
letzte habe schon vor der Verletzung sich dem .Alkoholgcnuß er¬
geben und dadurch die Folgen der Verletzung schuldhafterweise
verschlimmert. (O.L.G. Hamburg 21. 3. 10; Das Recht 1910,
Nr. 1918.)
5/6
Haftpflicht.
Unerlaubte Handlungen.
Im Strafrecht ist ein wesentliches Merkmal jeder Schuld die
Zurechnungsfähigkeit. Das gleiche gilt im Zivilrecht für die De¬
liktfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, unerlaubte Handlungen zu be¬
gehen, und die daraus folgenden Rechtsnachteile zu erdulden.
Eine unerlaubte Handlung ist die \’erlctzung des Rechts
eines .Atuleren (Staudinger) oder, wie v. Liszt es ausdrückt, jede
schuldhafte, rechtswidrige N'erletzung fremder, rechtlich ge¬
schützter Interessen').
Einzelne Delikte sind in den §§ 823—826 aufgeführt, nämlich
Verletzungen von Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum
oder sonstigen Rechten (§ 823), Kredit, Erwerb, Fortkommen
(§ 824), Ge.schlechtsehre (§ 825), .sowie jeder Verstoß gegen die
guten Sitten^) (§ 826).
Die Handlung oder Unterlassung’), welche das Delikt bildet,
muß rechtswidrig sein. Sie braucht nicht mit Strafe bedroht zu
sein.
Widerrechtlichkeit liegt nicht vor, wenn der Handelnde durch
Vertrag, Gesetz, Urteil oder gerichtliche Verfügung zum Ein¬
greifen in flie fremde Rechtssphäre l)efugt war oder der ver¬
fügungsberechtigte Beschädigte in die Handlung einwilligte und
nicht etwa durch diese ein Gesetz verletzt wurde, das den \’er-
letzten auch gegen seinen Willen schützen will. Auch Notwehr
(s. o.) und Notstand können die Widerrechtlichkeit aufheben.
(Fischer-Henle.)
War die Handlung widerrechtlich, so ist weiter zu ermitteln,
oH sie vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde.
Vorsätzlich wurde sie dann ausgeführt, wenn der Handelnde
mit dem Bewußtsein und dem Willen der Rechtswidrigkeit, fahr¬
lässig dann, wenn er unter Außerachtlassung der im Verkehr er¬
forderlichen Sorgfalt das Recht eines anderen verletzt hat.
Es kommt nicht darauf an, daß der Täter das Bewußtsein
hatte, er werde mit seiner Handlung einen Schaden anstiften; von
') V. Liszt, Deliktobligationen.
’) Als solcher wurde z. B. die fahrlässige Ausstellung eines Ent-
niiindigungsattestes erachtet. (R.O. 15. 11. 09; Das Recht 1910, Nr. 70.)
S. auch Entniündigungsgutachten.
’) Auch eine solche kann ein Delikt sein (vergl. Staudinger, Planck
u. a.).
Schadenersatz.
577
Bedeutung ist vielmehr lediglich der Umstand, daß er die Rechts¬
widrigkeit seiner Handlung kannte und trotzdem handelte. Bei
der Fahrlässigkeit wiederum kommt es nicht darauf an, daß er
den schließlichen Enderfolg in der. Gestalt wie er aufgetreten ist,
hätte voraussehen können, sondern es genügt, wenn der Täter bei
gehöriger Aufmerksamkeit die Gewißheit oder auch nur die Mög¬
lichkeit der Verletzung der im § 823 genannten Lebensgüter und
Rechte hätte erkennen müssen. (R.G. Bd. 66, 253.)
Das dritte Tatbestandsmerkmal der unerlaubten Handlung
schließlich ist die Zurechenbarkeit, das heißt, der Täter muß für
die Handlung verantwortlich gemacht werden können, er muß
deliktfähig sein.
Die gesetzlichen Bestimmungen, welche Gegenstand unserer
weiteren Erörterungen sein sollen, sind die folgenden:
§ 828. Wer nicht das siebente Lebensjahr
vollendet hat, ist für einen Schaden, den er
einem Anderen zu fügt, nicht verantwortlich.
Wer das siebente, aber nicht das achtzehnte
Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden
den er einem Anderen zu fügt, nicht verantwort¬
lich, wenn er bei der Begehung der schädigenden
Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verant¬
wortlichkeit erforderliche Einsicht hat. Das
Gleiche gilt von einem Taubstummen.
Entsprechend der Annahme des Gesetzgebers, daß ein Kind
bis zur Vollendung des siebenten Lebensjahres ge.schäftsunfähig
ist, wird es auch für deliktunfähig erachtet.
Von diesem Zeitpunkte ab bis zum vollendeten 18. Jahre
ist es relativ deliktfähig, d. h., es kann nur dann schadensersatz¬
pflichtig werden, wenn es bei Begehung der schädigenden Hand¬
lung die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Ein¬
sicht besaß.
Hierüber besagt die Rechtsprechung folgendes:
Die Verantwortlichkeit erscheint als die Verpflichtung, für
die durch eine rechtswidrige Handlung verursachten Folgen ein¬
zustehen. Die Erkenntnis der Verantwortlichkeit ist demgemäß
die Erkenntnis, daß man die durch eine rechtswidrige Handlung
verursachten Schäden tragen müsse. Diese Erkenntnis hegreift
Hnbncr, Forensische Psychiatrie. 37
578
Haftpflicht.
also notwendig auch die Erkenntnis des widerrechtlichen Handelns
in sich. Daraus folgt, daß als Einsicht zur Erkenntnis der Ver¬
antwortlichkeit zunächst die Einsicht zur Erkenntnis der Wider¬
rechtlichkeit einer Handlung zu betrachten ist. (O.L.G. Zwei-
hrücken 9. 4. 02; Seuff. Arch., Bd. 2, Nr. 214.)
Noch genauer wird der Begriff in der nachstehenden Ent¬
scheidung präzisiert:
Die BestimmiiiiK des § 828 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs
ist entstanden in offenbarer Anlehnung an die §§ 56, 57 des Reichs¬
strafgesetzbuchs; an die Stelle der zur Erkenntnis der Strafbarkeit er¬
forderlichen Einsicht dort, ist im Bürgerlichen Gesetzbuch die zur
Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht getreten. Die
Erkenntnis der Verantwortlichkeit erschöpft sich nicht in dem Bewußt¬
sein des Unrechts, des widerrechtlichen Eingreifens in eine fremde
Rechtssphäre (Planck Nr. 2 a zu § 828 des B.G.B.), sie erfordert viel¬
mehr auch ein Verständnis der Pflicht, für die Folgen der Handlung
cinzustehen. Die Erkenntnis der Verantwortlichkeit deckt sich nicht
mit der Erkenntnis der Gefährlichkeit der Handlung, aber auch nicht
mit der Erkenntnis des dem Mitmenschen zugefügten Unrechts; sie
geht vielmehr über beide hinaus. (R.G. 5. 12. 02.)
Jur. Wochenschr. 1903, S. 25 (der Beilage).
Nach einer R.G.E. v. 13. 7. 05 (Jur. Wochenschr. ic;o5, S. 531,
Nr. ii) .soll im Zweifel jedes über 7 Jahre alte Kind als delikt¬
fähig gelten. Der Mangel an Einsicht muß deshalb erst besonders
geltend gemacht werden. Zu beweisen hat ihn dann der Minder¬
jährige. (R.G. Entsch. ii. i. 09; Das Recht 1909, Nr. 680 und
31. 5. 06; Das Recht 1906, Nt. 2061.)
§ 827. Wer im Zustande der Bewußtlosigkeit
oder i ti einem die freie W i 11 c n s b e s t i m m u n g
ausschließcnden Zustande krankhafter Stö¬
rung der Geiste Stätigkeit einem Anderen
Schaden zu fügt, ist für den Schaden nicht ver¬
antwortlich. Hat er sich durch geistige Ge¬
tränke oder ähnliche Mittel in einen vorüber¬
gehenden Zustand dieser Art versetzt, so ist er
für einen Schaden, den er in diesem Zustande
widerrechtlich verursacht, in gleicher Weise
verantwortlich, wie w e ti n ihm Fahrlässigkeit
zur Last fiele; die Verantwortlichkeit tritt
nicht ein, wenn er ohne Verschulden in den Zu¬
stand geraten ist.
Schadenersatz.
579
In der oben zitierten Gesetzesstelle finden wir die gleichen
Begriffe*) wie in den §§ 104 und 105 B.G.B. Der erste Satz be¬
sagt nichts anderes, als daß die geistige Störung den Grad er¬
reicht haben muß, der jedes Rechtsgeschäft nichtig macht. Ob
die Störung vorübergehend oder dauernd besteht, ist gleichgültig.
Demnach ist der Geisteskranke, der in lichten Zwischenräumen
einen Schaden verursacht, haftbar zu machen. Die Entmündigung
als solche übt auf die Deliktfähigkeit keinen Einfluß aus.
Die Verantwortlichkeit des wegen Geistesschwäche Entmündig¬
ten für den einem andern durch eine unerlaubte Handlung zugefügten
Schaden richtet sich daher lediglich nach der allgemeinen Bestimmung
des § 827 B.Q.B.. wonach derjenige für den Schaden nicht verantwort¬
lich ist, der im Zustande der Bewußtlosigkeit oder in einem die freie
Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der
Qeistestätigkeit einem andern Schaden zufügt. Ist die Verantwortlich¬
keit zu bejahen, so kann allerdings darin, daß der Geschäftsunfähige
oder in der Geschäftsfähigkeit Beschränkte sich für geschäftsfähig
ausgibt und dadurch andere verleitet, sich mit ihm in rechtsgeschäft¬
liche Beziehungen einzulassen, eine unerlaubte Handlung, insbesondere
ein Betrug gefunden werden (Motive zum Entwurf des B.G.B. Bd. II,
S. 733). Das Merkmal der W'iderrechtlichkeit ist vorhanden, wenn
der Entmündigte, um die erstrebten Vermögensvorteile zu erlangen,
die Tatsache seiner Entmündigung dem Geschäftsgegner gegenüber in
der Absicht, ihn zu täuschen, unterdrückt. Die sich hieraus ergebende
Haftbarkeit des beschränkt Geschäftsfähigen oder Geschäftsunfähigen
steht auch keineswegs in Widerspruch mit den Zwecken, die das Ge¬
setz mit den Bestimmungen über die Nichtigkeit oder Unwirksamkeit
ihrer rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen verfolgt. Denn wenn
diese Vorschriften auch in erster Linie im Interesse der Geschäfts¬
unfähigen oder nicht voll Geschäftsfähigen gegeben sein mögen und
ihre Ausbeutung durch andere verhüten sollen, so schließt das doch
nicht aus, daß diese Personen sich selbst um die ihnen zugedachtc
Wohltat des Schutzes gegen Übernahme vermögensrechtlicher Ver¬
pflichtungen bringen, indem sie bei Eingehung rechtsgeschäftlicher Be¬
ziehungen zu Dritten sich diesen gegenüber zugleich unerlaubter
Handlungen schuldig machen. (R.G. VII. 23. 10. 11.)
Das Recht 1911, Nr. .3910.
Der § 827 gedenkt neben der Bewußtlosigkeit und krank¬
haften Störung der Geistestätigkeit noch der selbstverschuldeten
Trunkenheit. Eine solche liegt nicht vor i. wenn der Täter
sich über die Qualität des genossenen Alkohols im unklaren war.
*) Ausnahmsweise wird auch die Hypnose in Frage kommen (vgl.
S. 125 u. ff.).
37 *
580 Haftpflicht.
2. wenn er intolerant war, ohne es zu wissen*), 3. wenn eine
krankhafte Sucht nach Alkohol bestand.
Außer dem Alkohol kommen auch die anderen Narkotika,
wie Morphium, Kokain usw. in Betracht.
§ 832. Wer kraft Gesetzes zur Führung der
Aufsicht über eine Person verpflichtet ist,
die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres
geistigen oder körperlichen Zustandes der Be¬
aufsichtigung bedarf, ist zum Ersätze des
Schadens verpflichtet, den diese Person einem
Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatz¬
pflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Auf¬
sichtspflicht genügt, oder w'enn der Schaden
auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstan¬
den sein würde.
Die gleiche Verantwortlichkeit trifft den¬
jenigen, welcher die Führung der Aufsicht
durch Vertrag übernimmt.
Die gemäß § 832 zu beaufsichtigenden sind Minderjährige
und geistig oder körperlich Kranke.
Der Aufsichtspflichtige hat nur für genügende Beaufsich¬
tigung einzustehen, nicht auch dafür, daß diese einen günstigen
Ei folg herbeiführt. Vermag er trotz angestrengter Be¬
mühungen mehrfache erhebliche Verfehlungen des seiner Auf¬
sicht Unterstellten nicht zu verhindern, so muß er allerdings,
je nach Lage des Falles, dessen Unterbringung in eine Familie
oder seine Aufnahme in eine Anstalt veranlassen.
Damit aber in der Unterlassung dieser Maßregel eine Ver¬
letzung der Aufsichtspflicht gefunden werden kann, muß fest¬
stehen, daß der Aufsichtspflichtige von erheblichen Verfehlungen
des zu Beaufsichtigenden tatsächlich Kenntnis hat. (R.G. VI.
IO. II. 10; Das Recht 1911, Nr. 335.)
Der Aufsichtspflichtige darf sich auch nicht damit begnügen,
dem zu Beaufsichtigenden bestimmte Handlungen zu verbieten,
vielmehr muß er „tatkräftige Vorkehrungen“ treffen, um seinen
Schützling von der Übertretung des Verbotes abzuhalten. (O.L.G.
Colmar 18. 10. 01; Das Recht 1903, Nr. 1141.)
Wird trotzdem ein Schaden nicht vermieden, so tritt auch
*) Über die Intoleranz s. Kap. Alkoholpsychoseti.
Schadenersatz. 581
nicht unter allen Umständen Haftung ein. Sie besteht z. B.
nicht, „wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung
entstanden sein würde“. (R.G. 16. 12. 07; Das Recht 190S,
Nr. 515.)
Wichtig ist die Frage, wer nach § 832 haftpflichtig ge¬
macht werden kann.
Soweit Irrenanstalten^), Ärzte und Pfleger in Betracht
kommen, ist auf S. 204 u. ff. das Wesentliche gesagt. Zu er¬
örtern bleibt nur noch eine Frage. Der Anstaltsdirektor und die
Ärzte können nicht jeden Kranken selbst überwachen. Sie be¬
dürfen dazu des Pflegepersonals. Nun weiß jeder Arzt, daß die
Heranziehung guten Pflegepersonals aus mannigfachen Gründen
mit großen Schwierigkeiten verbunden ist. Nachfrage und An¬
gebot stehen nicht immer im richtigen Verhältnis zueinander,
und wenn wirklich die Bescliaffung der erforderlichen Pfleger¬
zahl keine Schwierigkeiten macht, so gelingt es nicht leicht,
gutes Personal zu bekommen, ln dieser Beziehung ist § 831
maßgebend, der folgendes bestimmt:
Wer einen Andern zu einer Verrichtung be¬
stellt, ist zum Ersätze des Schadens ver¬
pflichtet, den der Andere in Ausführung der
Verrichtung einem Dritten widerrechtlich
zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein,
wenn der G e s c h ä f t s h e r r bei der Auswahl der
bestellten Person und, sofern er Vorrichtun¬
gen oder Gerätschaften zu beschaffen oder die
Ausführung der V'errichtung zu leiten hat, bei
der Beschaffung oder der Leitung die im Ver¬
kehr erforderliche Sorgfalt beobachtet oder
wenn der Schaden auch bei Anwendung dieser
Sorgfalt entstanden sein würde.
Die gleiche Verantwortlichkeit trifft den¬
jenigen, welcher für den Geschäftsherrn die
Besorgung eines der im Abs. 1 Satz 2 bezeich-
neten Geschäfte durch Vertrag übernimmt.
Wann hat nun der leitende Arzt die erforderliche Sorgfalt,
’) S. auch: Psych. Wochenschr., Bd. 13, S. 445 u. 463; ferner: Ärzfl.
Sachverst.-Zeitg. 1912, S. 45.
Haftpflicht.
582
von der § 831 spricht, aufgewandt? Hierüber besagt die Recht¬
sprechung folgendes:
Der Qeschäftsherr muß bei der Auswahl der Personen, die er
zu einer Verrichtung bestellt, prüfen, einmal, ob diese die hierzu er¬
forderlichen körperlichen und geistigen Fähigkeiten haben, und sodann,
ob es Leute sind, von denen er mit Grund erwarten darf, daß sie die
ihnen zu übertragenden Arbeiten mit der erforderlichen Sorgfalt aus¬
führen werden; der Qeschäftsherr muß dementsprechend dartun, daß
er die von ihm ausgewähiten Personen als zu der von ihnen zu
leistenden Verrichtung befähigt und als zuverlässig habe ansehen
dürfen... (R.Q. VI. 18. 12. 05.) Jur. Wochenschr. 1906, S. 113, Nr. 12.
Haftbar ist der Anstaltsdirektor selbstverständlich nur für
Schäden, welche der Angestellte in der ihm übertragenen Eigen¬
schaft verursacht hat. (R.G. 29. 4. 09; Das Recht 1909, Nr. 1884.)
Ist ein Schaden geschehen, so hat der Geschäftsherr zu
beweisen, daß die bestellte Person zu der ihr übertragenen Ver¬
richtung nach ihrer Befähigung und Verläßlichkeit geeignet war,
oder wenigstens ohne Verschulden des Geschäftsherrn als ge¬
eignet angesehen werden konnte. (R.G. 13. 10. 04; Das Recht
1905, Nr. 41 und O.L.G. Karlsruhe, 17. 12. 06; Das Recht 1907,
Nr. 2025.)
Das Gericht entscheidet, ob die im Verkehr erforderliche
Sorgfalt beobachtet worden ist.
Da, wo der Richter in die Lage kommen sollte, zu dieser
F'rage Stellung nehmen zu müssen, ist aufs Dringendste zu raten,
daß er Sachverständige zuzieht. Die Notwendigkeit der In¬
anspruchnahme erfahrener Psychiater ergibt sich einmal daraus,
daß der Jurist kaum in der Lage sein wird, die Qualität des dem
beklagten Irrenarzt zu Gebote stehenden Pflegepersonals richtig
abzuschätzen; daneben ist auch der Zustand des Kranken, dessen
Entweichen oder Selbstmord oder sonstige unerlaubte Handlung
die Schadensersatzklage herbeigeführt hat, zu berücksichtigen.
Außer den Angestellten der Irrenanstalten kommen Vor¬
münder, Angehörige des Kranken und solche Personen in Be¬
tracht, welche durch \'ertrag die Beaufsichtigung Geisteskranker
übernommen haben. (Familienpflege.)
Hervorzuheben ist, daß zu den kraft Gesetzes aufsichtspflich¬
tigen Personen der Ehemann einer geisteskranken Ehefrau nicht
ohne weiteres gehört. Unter Umständen kann aber auch er heran¬
gezogen werden. (Vergl. Urteil v. 23. ii. 08; Jur. Wochenschr.
1909, S. 17, Nr. II.)
Dienstvertrag. — Internationales Obligationenrecht. 583
Dienstvertrag.
§ 618. Der Dienst berechtigte hat Räume,
\"orrichtungen oder Gerätschaften, die er zur
V e r r i c li t u n g der Dienste zu h e s c li a f f e n hat, so
einzu richten und zu unterhalten und Dienst¬
leistungen, die unter seiner Anordnung oder
seiner Leitung var zu nehmen sind, so zu regeln,
daß der V'er pflichtete gegen Gefahr für Lehen
und Gesundheit soweit geschützt ist, als die
Natur der Dienstleistung es gestattet.
Ist der Verpflichtete in die häusliche Ge¬
meinschaft aufgent)mmen, so hat der Dienst-
berechtigte in Ansehung des Wohn- und Schlaf¬
raums, der Verpflegung sowie der A r 1 ) e i t s -
und E r h o 1 u n g s z e i t diejenigen Einrichtungen
und Anordnungen zu treffen, welche mit Rück-
sicht auf die Gesundheit, die Sittlichkeit und
die Religion des Verpflichteten erforderlich
sind.
Erfüllt der Dienst berechtigte die ihm in
Ansehung des Lehens und der Gesundheit des
Verpflichteten obliegenden Verpflichtungen
nicht, so finden auf seine Verpflichtung zum
Schadensersätze die für unerlaubte Hand¬
lungen geltenden Vorschriften der §§ 842 h i s
846 entsprechende Anwendung.
Ich erwähne die vorstehende gesetzliche Bestimmung deshalb,
weil ich neuerdings einen Fall zu begutachten hatte, in dem ein
Eisenhahnassistent ein rheumatisches Leiden und eine psychische
Störung auf unhvgienische Diensträume zurückführte.
Internationales Obligationenrecht.
Bei reclitsgeschäftliclieii Obligationen ist niaiiKels besonderer Ver¬
einbarung das Personalstatut des Schuldners maßgebend ’).
Bei Deliktsobligationen ist das Recht des Deliktortes maßgebend.
Art. 12 E.B.Q.B. „Aus einer im Auslande begangenen
unerlaubten Handlung können gegen einen Deut-
*) So der heutige Standpunkt des R.Q. (Jur. Wochenschr. 1905,
S. 71.5 und 1906, S. 187) im Gegensatz zu früheren Entscheidungen (R.O.
53, 140; 54, 316; 55, 106; 58, 367).
584
Haftpflicht.
sehen nicht weitergehende Ansprüclie geltend ge¬
macht werden, als nach den deutschen Gesetzen be¬
gründet sind.
Österreichisches Recht.
§ 1296. „Im Zweifel gilt die Vermutung, daß ein Schade ohne Ver¬
schulden eines andern entstanden sei."
S 1299. „W er sich zu einem Amte, zu einer Kunst, zu einem Ge¬
werbe oder Handwerke öffentlich bekennet; oder wer ohne Not freiwillig
ein Geschäft übernimmt, dessen Ausführung eigene Kunstkenntnisse
oder einen nicht gewöhnlichen Fleiß erfordert, gibt dadurch zu erkennen,
daß er sich den notwendigen Fleiß und die erforderlichen, nicht gewöhn¬
lichen Kenntnisse zutraue; er muß daher den Mangel derselben vertreten.
Hat aber derjenige, welcher ihm das Geschäft überließ, die Unerfahrenheit
desselben gewußt; oder bei gewöhnlicher Aufmerksamkeit wissen
können; so fällt zugleich dem letzteren ein Versehen zur Last."
§ 1300. „Ein Sachverständiger ist auch dann verantwortlich, wenn
er gegen Belohnung in Angelegenheiten seiner Kunst oder Wissenschaft
aus Versehen einen nachteiligen Rat erteilet. Außer diesem Falle haftet
ein Ratgeber nur für den Schaden, welchen er wissentlich durch Erteilung
des Rates dem andern verursachet hat."
Der Arzt haftet auch ohne einen Kunstfehler begangen zu haben,
aus seiner Zusage der Ungefährlichkeit der empfohlenen Behandlung.
§ 1161. „Nur in dringenden Umständen kann der bestellte Arbeiter
oder Werkmeister das ihm aufgetragene Geschäft einem andern an¬
vertrauen, und selbst in diesem Falle haftet er für ein Verschulden in
der Auswahl der Person.“
§ 1163. „Die hier aufgestellten Vorschriften gelten auch von Rechts¬
freunden, Ärzten und Wundärzten, Faktoren, Provisoren, Künstlern, Liefe¬
ranten und andern Personen, welche sich für ihre Bemühungen einen
Gehalt, eine Ffestallung oder sonst eine Belohnung ausdrücklich, oder
stillschweigend ausbedungen haben, insofern hierüber keine besonderen
Vorschriften bestehen.“
§ 1313. „Für fremde, widerrechtliche Handlungen, woran jemand
keinen Teil genommen hat, ist er in der Regel auch nicht verantwortlich.
Selbst in den Fällen, wo die Gesetze das Gegenteil anordnen, bleibt ihm
der Rückersatz gegen den Schuldtragenden Vorbehalten,"
§ 1314. „Wenn jemand eine Dienstperson ohne Zeugnis aufnimmt;
oder eine durch ihre Leibes- oder Gemüts-Beschaffenheit gefährliche
Person im Dienste wissentlich behält; oder einem bekannten Verbrecher
Aufenthalt gibt; so haftet er dem Hausherrn und den Hausgenossen für
den Ersatz des durch die gefährliche Beschaffenheit dieser Person ver¬
ursachten Schadens.“
§1315. „Ebenso haftet derjenige, welcher wissentlich eine solche ge¬
fährliche; oder, wer zu einem Geschäfte eine untüchtige Person bestellet
hat, für den Schaden, welchen ein Dritter hierdurch erlitten hat.“
Die SachverständigentätiEkeit in Zivilsachen. 585
§ 1306. „Den Schaden, welchen jemand ohne Verschulden oder
durch eine unwillkürliche Handlung verursachet hat, ist er in der Regel
zu ersetzen nicht schuldig.“
§ 1307. „Wenn sich aber jemand aus eigenem Verschulden in einen
vorübergehenden Zustand der Sinnenverwirrung versetzt hat; so ist
auch der in demselben verursachte Schade seinem Verschulden zuzu¬
schreiben. Eben dieses gilt von einem Dritten, welcher diesen Zustand
durch sein Verschulden bei dem Beschädiger veranlasset hat.“
§ 1308. „Wenn Wahn- oder Blödsinnige, oder Kinder jemanden be¬
schädigen, der durch irgendein Verschulden hierzu selbst Veranlassung
gegeben hat; so kann er keinen Ersatz ansprechen.“
§ 1309. „Außer diesem Falle gebührt ihm der Ersatz von denjenigen
Personen, denen der Schade wegen Vernachlässigung der ihnen über
solche Personen anvertrauten Obsorge beigemessen werden kann.“
§ 1310. „Kann der Beschädigte auf solche Art den Ersatz nicht er¬
halten; so soll der Richter mit Erwägung des Umstandes, ob dem Be¬
schädiger, ungeachtet er gewöhnlich seines Verstandes nicht mächtig ist,
in dem bestimmten Falle nicht dennoch ein Verschulden zur Last liege;
oder, ob der Beschädigte aus Schonung des Beschädigers die Ver¬
teidigung unterlassen habe; oder endlich, mit Rücksicht auf das Ver-
m.ögen des Beschädigers und des Beschädigten; auf den ganzen Ersatz,
oder doch einen billigen Teil desselben erkennen.“
Die SachverNtiindigentiitij^keit in Zivilsachen.
§ 402. Auf den Beweis durch Sachverstän¬
dige finden die Vorschriften über den Beweis
durch Zeugen entsprechende Anwendung, inso¬
weit nicht in den nachfolgenden Paragraphen
abweichende Bestimmungen enthalten sind.
Zuziehung von Sachverständigen ist notwendig bei der
Ehescheidung wegen Geisteskrankheit (§ 623), bei der Ent¬
mündigung (§ 655), der Anfechtungsklage gegen den Entmün¬
digungsbeschluß (§ 671), der Wiederaufhebung der Entmündi-
gung (§ 676), sowie bei der Aufhebungsklage (§ 679). In
den übrigen Fällen ist die Zuziehung von Sachverständigen in
das freie Ermessen des Gerichts gestellt.
Die Ablehnung eines angebotenen Sachverständigenbeweises
wegen eigener Sachkunde des Gerichts verstößt jedenfalls insolange
nicht gegen das Gesetz, als nicht offensichtlich besondere Fachkennt¬
nisse nötig sind. (R.Q. 13. 11. 09.) Das Recht 1910, Nr. 140.
Auch die Einholung der Auskunft einer Fachbehörde hängt
vom richterlichen Ermessen ab. (R.G. 2. 7. 09; Das Recht 1909,
Nr. 2475.)
5^6 Die Sachverständigentätigkeit in Zivilsachen.
Prozeßtatsachen, die ein Sachverständiger seinem Gutachten zu¬
grunde legt, müssen in der von der Z.P.O. vorgeschriebenen Form,
insbesondere also durch gerichtliche Zeugenvernehmung bewiesen
werden. (Bolze, Praxis, Bd. 20, Nr. 784; Jur. Wochenschr. 1901, S, 718,
Nr. 6 ; 1903, S. 66 , Nr. 9. Gruchot, Bd. 47, S. 1167.)
Eine Vernehmung der Zeugen durch den Sachverständigen selbst,
auch wenn sie mit Zustimmung des Prozeßgerichts oder eines beauf¬
tragten oder ersuchten Richters geschieht, steht der gerichtlichen Ver¬
nehmung nicht gleich. (R.G. I. 2. 10 . 09.) Das Recht, Nr. 3407.
Privatgutachten können mit Zustimmung der Parteien l)e-
nulzt werden. (Jur. Wochenschr. 1912, S. 200, Nr. 25.) Ül)er
ihre Bewertung spricht sich folgende Entscheidung aus (R.G.
i6. 6. 05; Jur. Wochenschr. 1905, S. 537, Nr. 26):
Insoweit der Berufungsrichter den von dem Kläger beigebrachteii
Privatgutachten gegenüber dem des gerichtlichen Sachverständigen
eine geringere Bedeutung deshalb beigelegt hat, weil sie auf Er¬
fordern einer Partei erstattet worden sind, kann sein Standpunkt
nicht gebilligt werden. Sofern keine Bedenken gegen die Glaub¬
würdigkeit eines Sachverständigen vorliegen, ist der Wert seines
Gutachtens nach dessen Begründung unter Berücksichtigung der be¬
sonderen Sachkunde des Gutachtens zu beurteilen.
Nach einer Entscheidung vom 8. Fcbr. 1911 (Jur. W'oehen-
schr. 1911, S. 373, Nr. 35) kommt aber der eben zitierten Ent¬
scheidung ,,allgemeine Bedeutung“ nicht zu.
Die Bewertung des ärztlichen Sachverständigen selbst, der
ein Privatgutachten erstattet hat, ergibt sich aus folgender Ent¬
scheidung:
Wenn auch an dem subjektiven Bestreben des Sachverständigen,
seine Prüfung mit völliger Unparteilichkeit vorzunehmen, kein Zweifel
bestehen kann, und dieses Bestreben durch Stellung und Qualifikation
des Sachverständigen hinreichend verbürgt erscheint, so läßt sich doch
durch den Umstand, daß er sich bereits früher mit der Sache be¬
schäftigt und sich ein Urteil gebildet und dieses Urteil auch schon
ausgesprochen hat, die Befürchtung nicht ganz von der Hand weisen,
daß er objektiv den zu prüfenden Fragen nicht mit derjenigen vollen
Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit werde gegenttbertreten
können, welche für die ersprießliche Erledigung der Aufgaben eines
Sachverständigen, als des Gehilfen des Gerichts, gefordert werden muß.
(Beschluß d. R.G. I. 1. 10 . 02. 51/1902.)
Jur. Wochenschr. 1902, S. 545, Nr, 8 ,
Wenn sich die zu untersuchende Partei weigert (R.G. 13. 2.
05; Das Recht 1905, Nr. 855) oder die beweispflichtige Partei
den Sachverständigen an der Untersuchung verhindert, so steht
diese Vereitelung der Beweisaufnahme dem Rücktritt vom Be-
Die Sachverständigentätigkeit in Zivilsachen. 587
weisantrage gleich. Verschleppt die Partei die Beweisaufnahme
nur, so gilt dies nicht.
. . . Der Sachverständige hat, wenn ihm der Kläger Schwierig¬
keiten in den Weg legt, kein Recht, sich ohne weiteres der Erfüllung
seiner Aufgaben zu entziehen. Er konnte das Gesetz gegen seinen
Beleidiger anrufen und fürchtete er eine Wiederholung der unlieb¬
samen Auftritte, gleichzeitig fordern, daß er bei der Vornahme seiner
Untersuchung wirksam geschützt werde. Dem Gericht fehlt es nicht
an Mitteln, ihm solchen Schutz zu gewähren. . . .
Nirgends findet sich aber der Rechtssatz ausgesprochen oder
vorausgesetzt, daß eine Partei, die sich gegen das Gericht oder dessen
Gehilfen verfehlt, hierfür mit dem Verluste ihres Rechts bestraft
werden soll. (R.G. VII. 28, 4 . 00.)
Seuff. Arch. 1904, Bd. 2, S. 35, Entsch. Nr. 21.
Es ist nicht erforderlich, die vom Sachverständigen zum Zwecke
der Abgabe seines Gutachtens ermittelten besonderen Tatsachen, auch
wenn sie nicht bestritten werden, im Beweisverfahren festzustellen,
insbesondere die Personen, bei denen er Erkundigungen (über Grund¬
stückswerte) eingezogen hatte, als Zeugen zu vernehmen. (R.G. VII.
15. 9. 02. 45/02.) Das Recht, Entsch. Nr. 1727, S. 352.
§ 403. Die Antretung des Beweises erfolgt
durch die Bezeichnung der zu begutachtenden
Punkte.
§ 404. Die Auswahl') der zuziehenden Sach¬
verständigen und die Bestimmung ihrer .An¬
zahl erfolgt durch das Prozeßgericht. Dasselbe
kann sich auf die Ernennung eines einzigen
Sachverständigen beschränken. Es kann an
Stelle der zuerst ernannten Sachverständigen
andere ernennen.
Sind für gewisse Arten von Gutachten Sach¬
verständige öffentlich bestellt, so sollen an-
tl e r e Personen nur dann gewählt werden, wenn
besondere Umstände es erfordern.
Das Gericht kann die Parteien auffordern,
Personen zu bezeichnen, welche geeignet sind,
als Sachverständige vernommen zu werden.
Einigen sich die Parteien über bestimmte
Personen als Sachverständige, so hat das Ge-
’) Gegen die Wahl einer bestimmten Person als Sachverständigen
seitens des Gerichts ist eine Beschwerde nicht zulässig. (O.L.G. Dresden,
13. 12. 00; Das Recht, Entsch. Nr. 1039, S. 213.)
588
Die Sachverständigentätigkeit in Zivilsachen.
rieht dieser Einigung Folge zu geben; das Ge¬
richt kann jedoch die Wahl der Parteien auf
eine bestimmte Anzahl beschränken.
§ 405. Das Prozeßgericht kann den mit der
Beweisaufnahme betrauten Richter zur Er¬
nennung der Sachverständigen ermächtigen.
Derselbe hat in diesem Falle die in dem vor¬
stehenden Paragraphen dem Prozeßgerichte
beigelegten Befugnisse auszuüben.
§ 406. Ein Sachverständiger kann aus den¬
selben Gründen, welche zur Ablehnung eines
Richters berechtigen, abgelehnt werden. Ein
Ablehnungsgrund kann jedoch nicht daraus
entnommen werden, daß der Sachverständige
als Zeuge vernommen worden ist.
Das Ablehnungsgesuch ist bei demjenigen
Gericht oder Richter, von welchem die Ernen¬
nung des Sachverständigen erfolgt ist, vor der
Vernehmung desselben, bei schriftlicher Be¬
gutachtung vor erfolgter Einreichung des
Gutachtens anzubringen. Nach diesem Zeit¬
punkt ist die Ablehnung nur zulässig, wenn
glaubhaft gemacht wird, daß der Ablehnngs-
grund vorher nicht geltend gemacht werden
konnte. Das Ablehnungsgesuch kann vor dem
Ge r i c h t s s c h r e i be r zu Protokoll erklärt werden.
Der Ablehnungsgrund ist glaubhaft zu
machen; zur Versicherung an Eidesstatt darf
die Partei nicht zugelassen werden.
Die Entscheidung erfolgt von dem im zwei¬
ten Absätze bezeichneten Gericht oder Richter;
eine vorgängige mündliche Verhandlung der
Beteiligten ist nicht erforderlich.
Gegen den Beschluß, durch welchen die Ab¬
lehnung für begründet erklärt wird, findet
kein Rechtsmittel; gegen den Beschluß, durch
welchen dieselbe für unbegründet erklärt wird,
findet sofortige Beschwerde statt.
Wann kann ein Sachverständiger abgelehnt werden? Dies
ist z. B. möglich, wenn der Sachverständige der einen Partei
Die Sachverständigentätigkeit in Zivilsachen. 589
Privatgutachten gegen Entgelt erstattet hat (Jur. Wochenschr.
1902, S. 216, Nr. 16) oder wenn er sonst im Interesse einer
Partei eine Sachverständigentätigkeit in der betreffenden An¬
gelegenheit ausgeübt hat (Jur. Wochenschr. 1906, S. 88, Nr. 8),
wenn in dem Gutachten nicht zur Sache gehörige Ausfälle
enthalten sind (R.G. 8. i. 09; Das Recht 1909, Nr. 529),
wenn der Sachverständige Prozesse gegen den Beklagten geführt
hat (O.L.G. Karlsruhe 17. 6. 01; Das Recht 1901, Nr. 2239),
bei Verdacht unbewußter, durch das Interesse am Schicksal einer
Partei hervorgerufener Voreingenommenheit (O.L.G. Bamberg
4. 5. 04; Das Recht 1904, Nr. 2049).
Die Ablehnung ist n i c h t begründet, wenn persönliche Inter¬
essen am Ausgang des Rechtsstreites erst nach seinem Gutachten
entstanden sind (Hamburg 22. i. 10; Das Recht 1910, Nr. 2242),
wenn er bereits in einer früheren Instanz vernommen worden ist
(O.L.G. Karlsruhe 28. 12. 00; Das Recht 1901, Nr. 1088), bei
privater Besprechung des Prozeßgegenstandes, sofern nur eine
Beeinflussung des Sachverständigen vermieden wurde (R.G. 19. i.
07; Das Recht 1907, Nr. 500 und R.G. 21. 4. 04; Das Recht 1904,
Nr. 1668), wenn das Ablehnungsgesuch ohne zwingende Gründe
erst nach der Vernehmung bzw. Erstattung des Gutachtens vor¬
gebracht wurde (O.L.G. Braunschweig 2. 6. 04; Das Recht 1904,
Nr. 1895; R.G. 7. 12. 06; Das Recht 1907, Nr. 2132).
§ 407. Der zum Sachverständigen Ernannte
hat der Ernennung Folge zu leisten, wenn er
zur Erstattung von Gutachten der erforderten
Art öffentlich bestellt ist oder wenn er die
Wissenschaft, die Kunst oder das Gewerbe,
deren Kenntnis Voraussetzung der Begutach¬
tung ist, öffentlich zum Erwerbe ausübt oder
wenn er zur Ausübung derselben öffentlich
bestellt oder ermächtigt ist.
Zur Erstattung des Gutachtens ist auch
derjenige verpflichtet, welcher sich zu der¬
selben vor Gericht bereit erklärt hat.
Der Sachverständige darf die Erstattung des Gutachtens
nicht von der Zusicherung höherer Gebühren abhängig machen.
(K.G. I. 10. 00; Seuff. Arch., Bd. 56, 60/106.)
§ 408. Dieselben Gründe, welche einen
Zeugen berechtigen, das Zeugnis zu verwei-
590 Die Sachverständigentätigkeit in Zivilsachen.
gern, berechtigen einen Sachverständigen zur
Verweigerung des Gutachtens. Das Gericht
kann auch aus anderen Gründen einen Sach¬
verständigen von der Verpflichtung zur Er¬
stattung des Gutachtens entbinden.
Die \'ernehmung eines öffentlichen Beamten
als Sachverständigen findet nicht statt, wenn
die Vorgesetzte Behörde des Beamten erklärt,
daß die Vernehmung den dienstlichen Inter¬
essen Nachteile bereiten würde.
Wer bei einer richterlichen Entscheidung
mitgewirkt hat, soll über Fragen, die den
Gegenstand der Entscheidung gebildet haben,
nicht als Sachverständiger vernommen werden.
§ 409. Im Falle des Nichterscheinens oder
der Weigerung eines zur Erstattung des Gut¬
achtens verpflichteten Sachverständigen wird
dieser zum Ersätze der Kosten und zu einer
Geldstrafe bis zu dreihundert Mark verurteilt.
Im Falle wiederholten Ungehorsams kann noch
einmal eine Geldstrafe bis zu sechshundert
Mark erkannt werden.
Gegen den Beschluß findet Beschwerde statt.
Die Festsetzung und die Vollstreckung der
Strafe gegen eine dem aktiven Heere oder der
aktiven Marine a n g e h ö r e n d e M i 1 i t ä r p e r s o n
erfolgt auf Ersuchen durch das Militärgericht.
§ 410. Die Beeidigung des Sachverständigen
erfolgt vor oder nach Erstattung des Gutach¬
tens. Die Eidesnorm geht dahin, daß der Sach¬
verständige das von ihm erforderte Gutachten
unparteiisch und nach bestem Wissen und Ge¬
wissen erstatten werde oder erstattet habe.
Ist der Sachverständige für die Erstattung
von Gutachten der betreffenden Art im allge¬
meinen beeidigt’), so genügt die Berufung auf
den geleisteten Ei d.
’) VerKl. die VerfüRungen vom 5. 2. 1900 (Just.-Minist.-Bl. 48), vom
19. 3. 1901 (Just.-Minist.-Bl. 72) und vom 18. 7. 1907 (Just.-Minist.-Bl. 478).
Die Sachverständigentätigkeit in Zivilsachen. 591
Der Sachverstäncligeneid deckt auch die Angaben über die
Wahrnehmungen, die der Sachverständige bei einer zum Zwecke
des abzugebenden Gutachtens vorgenommenen Untersuchung ge¬
macht hat (E. d. R.G., Bd. 9, S. 379)- Das Gutachten wird aber
nicht durch den Zeugeneid gedeckt (E. d. R.G., Bd. 6, S. i).
§ 411. Wird schriftliche Begutachtung an¬
geordnet, so hat der Sacliverständige das von
ihm unterschriebene Gutachten auf der Ge-
ricbtsschreiberei niederz ulegen.
Das Gericht kann das Erscheinen des Sach¬
verständigen anordnen, damit derselbe das
schriftliche Gutachten erläutere.
Die Beifügung von Gründen zu einem schriftlichen Gut¬
achten ist nirgends vorge.schrieben. (R.G. 23. 12. ii; Jur.
Wochensebr. 1912, S. 303, Nr. 22.)
§ 412. Das Gericht kann eine neue Begutach¬
tung durch dieselben oder durch andere Sach¬
verständige anordnen, wenn es das Gutachten
für ungenügend erachtet.
Das Gericht kann die Begutachtung durch
einen anderen Sachverständigen a n o r d n e n,
wenn ein Sachverständiger nach Erstattung
des Gutachte ns mit Erfolg ab gelehnt ist.
§ 413. Der Sachverständige hat nach Ma߬
gabe der Gebührenordnung auf Entschädigung
für Zeitversäumnis, auf Erstattung der ihm
verursachten Kosten und außerdem auf ange¬
messene Vergütung seiner Mühewaltung An¬
spruch.
§414. Insoweit zum Beweise vergangener
Tatsachen oder Zustände, zu deren W a h r n e h -
tn u n g eine besondere Sachkunde erforderlich
war, sachkundige Personen zu vernehmen sind,
kommen die Vorschriften über den Zeugen¬
beweis zur An w e n d u n g.
Sachverständige Zeugen sind Zeugen über vergangene Tatsachen
und Zustände und unterscheiden sich von anderen Zeugen nur darin,
daß zu ihren Wahrnehmungen eine besondere Sachkunde erforderlich
592 Die Sachverständigentätigkeit in Zivilsachen.
war; ihre Vernehmung kann daher, wenn die Beweistatsache erheblich
war, nicht abgelehnt werden. (R.Q. VI. 12. 11. 08.)
Das Recht 1909, Entsch. Nr. 119.
Die Ansprüche an die Staatskasse richten sich bei sachverstän¬
digen Zeugen lediglich nach dem sachlichen Gehalt der Vernehmung.
(R.Q. 20. 9. 02.) Jur. Wochenschr. 1902, S. 531, Nr. 7.
§ 383. Zur Verweigerung des Zeugnisses
sind berechtigt:
5. Personen, welchen kraft ihres Amtes,
Standes oder Gewerbes Tatsachen an vertraut
sind, deren Geheimhaltung durch die Natur
derselben oder durch gesetzliche Vorschrift
geboten ist, in betreff der Tatsachen, auf
welche die Verpflichtung zur Verschwiegen¬
heit sich bezieht.
Hierher gehören Ärzte und Pflegepersonal. —-
Bumke hat kürzlich die Frage aufgeworfen, ob bei straf-
oder zivilrechtlichen Begutachtungen der Sachverständige solche
Tatsachen, die für die Beurteilung des Falles von Belang sind,
von dem Patienten dem Arzt aber nur unter der, w'cnn auch
stillschweigenden Voraussetzung mitgeteilt wurden, daß er sie
geheimhält, dem Gericht offenbaren darf.
M. E. muß man da zwei Möglichkeiten unterscheiden:
a) Der Interessierte wendet sich privatim an den Sach¬
verständigen mit der Bitte um Begutachtung.
Alles, was der Sachverständige durch die dabei gepflogenen
Unterredungen erfährt, ist Geheimnis, denn er steht zu dem
Patienten in einem Vertrauensverhältnis. Er wird die Begut¬
achtung ablehnen müssen, wenn ihm zugemutet wird, ein Gut¬
achten unter Verschweigung wichtiger Tatsachen abzugeben, aber
verraten darf er m. E. nichts.
Zur Begründung dieser Ansicht verweise ich auf die S. 244
erwähnte Entscheidung in Strafsachen (Deutsche Jur.-Zeitg. 15,
81, siehe auch Arch. f. Strafr., Bd. 57). Dort ist ausdrücklich
gesagt, daß der Sachverständige auch über andere Wahr¬
nehmungen, die er „infolge seiner Zuziehung als Arzt“ gemacht
hat, die Aussage verweigern kann.
b) Der Sachverständige ist vom Gericht ernannt:
') Qerichtl. Psychiatrie. Leipzig und Wien 1912.
österreichisches Recht.
593
Dann wird er zweckmäßigerweise dem Patienten vor Be¬
ginn der Untersuchungen sagen, daß er verpflichtet sei, alle Wahr¬
nehmungen und Mitteilungen zu verwerten, die ihm für die Be¬
antwortung der vom Gericht gestellten Fragen wichtig zu sein
scheinen. Selbstverständlich ist es, daß er letzteres dann auch tut,
denn er ist dazu bestellt worden, die Wahrheit zu erforschen, und
muß sein Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen abgeben.
Vor einiger Zeit hörte ich schließlich noch von folgendem
Falle:
Dr. X. wird um ein Gutachten ersucht, zu dem ihm von dem
zu Untersuchenden — es handelte sich um eine private Versiche¬
rungssache — das erforderliche Material zur Verfügung gestellt
wurde. Das Gutachten war erstattet, als sich ergab, daß ein Teil
der Angaben wissentlich falsch war. Durfte der Arzt der Ver¬
sicherungsgesellschaft Mitteilung machen, da diese offenbar be¬
trogen werden sollte? Ich glaube, daß in diesem Falle eine liefugte
Offenbarung vorlag.
Österreichisches Recht.
§ 350. „Die Vorschriften über den Zeugenbeweis finden auch An¬
wendung, insoweit zum Beweise vergangener Tatsachen oder Zustände,
zu deren Wahrnehmung eine besondere Sachkunde erforderlich war,
solche sachkundige Personen zu vernehmen sind.“
§ 351. „Wird die Aufnahme eines Beweises durch Sachverständige
notwendig, a) so hat das erkennende Gericht einen oder mehrere Sach¬
verständige, sofort nach Einvernehmung der Parteien über deren Person,
zu bestellen. Hiebei ist, sofern nicht besondere Umstände etwas anderes
notwendig machen, vor allem auf die für Gutachten der erforderten Art
öffentlich bestellten Sachverständigen Bedacht zu nehmen.
Das Gericht kann an Stelle des oder der zuerst bestellten Sach¬
verständigen andere ernennen.“
§ 352. „Wenn ein durch Sachverständige zu besichtigender Gegen¬
stand nicht vor das erkennende Gericht gebracht werden kann, oder die
Aufnahme des Sachverständigenbeweises vor demselben aus anderen
Gründen erheblichen Schwierigkeiten unterliegen würde, so kann die¬
selbe durch einen beauftragten oder ersuchten Richter erfolgen.
Die Bestimmung der Anzahl der Sachverständigen sowie die Aus¬
wahl der Sachverständigen kann in diesem Falle dem mit der Beweis¬
aufnahme betrauten Richter überlassen werden; ferner kann die Aus¬
wahl, wenn dies zur Vermeidung von Verzögerungen oder eines un-
verhältnismäBigen Aufwandes dienlich erscheint, ohne vorgängige Ver¬
nehmung der Parteien geschehen. Die Namen der bestellten Sachverstän¬
digen sind den Parteien vom beauftragten oder ersuchten Richter gleich-
Hübner, Forensische Psychiatrie. 38
594
Die Sachverständigentätigkeit in Zivilsachen.
zeitig mit der Verständigung vor der zur Beweisaufnahme bestimmten
Tagsatzung bekanntzugeben.“
§ 353. „Der Bestellung zum Sachverständigen hat derjenige Folge
zu leisten, welcher zur Erstattung von Gutachten der erforderten Art
öffentlich bestellt ist oder welcher die Wissenschaft, die Kunst oder
das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung der geforderten Begut¬
achtung ist, öffentlich als Erwerb ausübt oder zu deren Ausübung öffent¬
lich angestellt oder ermächtigt ist.
Aus denselben Gründen, welche einen Zeugen zur Verweigerung
der Aussage berechtigen, kann die Enthebung von der Bestellung als
Sachverständiger begehrt werden.
öffentliche Beamten sind überdies auch dann zu entheben, wenn
ihnen die Verwendung als Sachverständige von ihren Vorgesetzten
aus dienstlichen Rücksichten untersagt wird oder wenn sie durch be¬
sondere Anordnungen der Pflicht, sich als Sachverständige verwenden
zu lassen, enthoben sind.“
§ 35‘1. „Wenn ein zur Erstattung des Gutachtens bestellter Sach¬
verständiger die Abgabe des Gutachtens ohne genügenden Grund ver¬
weigert oder trotz ordnungsmäßiger Ladung bei der zur Beweisauf¬
nahme bestimmten Tagsatzung ohne genügende Entschuldigung nicht
erscheint, ist demselben der Ersatz der durch seine Weigerung oder
durch sein Ausbleiben verursachten Kosten durch-Beschluß aufzuerlegen;
außerdem ist der Sachverständige in eine Ordnungsstrafe oder bei mut¬
williger Verweigerung der Abgabe des Gutachtens in eine Mutwillens¬
strafe zu verfallen. In Bezug auf diese Beschlußfassungen haben die
Bestimmungen der §§ 326, 333 und 334 sinngemäße Anwendung zu finden.
Anstatt des ungehorsamen Sachverständigen kann ein anderer
Sachverständiger bestellt werden.
Der ungehorsame Sachverständige haftet nebst dem Kostenersatze
für allen weiteren, den Parteien durch die ihm zur Last fallende Ver¬
eitlung oder Verzögerung der Beweisführung verursachten Schaden.“
§ 355. „Sachverständige können aus denselben Gründen abgelehnt
weiden, welche zur Ablehnung eines Richters berechtigen; jedoch kann
die Ablehnung nicht darauf gegründet werden, daß der Sachverständige
früher in derselben Rechtssache als Zeuge vernommen wurde.
Die Ablehnungserklärung ist bei dem Prozeßgerichte, wenn aber
die Auswahl der Sachverständigen dem beauftragten oder ersuchten
Richter überlassen wurde, bei diesem vor dem Beginne der Beweisauf¬
nahme, und bei schriftlicher Begutachtung vor erfolgter Einreichung des
Gutachtens mittels Schriftsatz oder mündfich anzubringen. Später kann
eine Ablehnung nur dann erfolgen, wenn die Partei glaubhaft macht, daß
sie den Ablehnungsgrund vorher nicht erfahren oder wegen eines für
sie unübersteiglichen Hindernisses nicht rechtzeitig geltend machen
konnte.
Ist im Falle einer solchen nachträglichen Ablehnung die durch
einen beauftragten oder ersuchten Richter vorzunehmende Beweisauf¬
nahme schon beendet, so kann die Ablehnung nur bei dem Proze߬
gerichte vorgebracht werden.“
österreichisches Recht.
595
§ 356. „Gleichzeitig mit der Ablehnung sind die Gründe der Ab¬
lehnung anzugeben. Die Entscheidung über die Ablehnung steht dem
erkennenden Gerichte oder dem beauftragten oder ersuchten Richter
zu, je nachdem die Ablehnung zufolge § 355 bei ersterem oder letzterem
angebracht wurde.
Die Entscheidung erfolgt, wenn die Ablehnung nicht bei einer Tag¬
satzung vorgebracht wird, ohne vorhergehende mündliche Verhand¬
lung. Die ablehnende Partei hat die von ihr angegebenen Gründe der
Ablehnung auf Verlangen des Gerichtes vor der Entscheidung glaubhaft
zu machen. Wird der Ablehnung stattgegeben, so ist ohne Aufschub
die Bestellung eines anderen Sachverständigen zu veranlassen.“
§ 357. „Das erkennende Gericht oder der mit der Leitung der
Beweisaufnahme betraute Richter kann auch die schriftliche Begutach¬
tung anordnen. In diesem Falle sind die Sachverständigen verpflichtet,
auf Verlangen über das schriftliche Gutachten mündliche Aufklärungen
zu geben oder dasselbe bei der mündlichen Verhandlung zu erläutern.“
§ 358. „Jeder Sachverständige hat vor dem Beginne der Beweis¬
aufnahme den Sachverständigeneid zu leisten. Von der Beeidigung des
Sachverständigen kann abgesehen werden, wenn beide Parteien auf die
Beeidigung verzichten.
Ist der Sachverständige für die Erstattung von Gutachten der
erforderten Art im allgemeinen beeidet, so genügt die Erinnerung und
Berufung auf den geleisteten Eid.“
§ 359. „Den Sachverständigen sind diejenigen bei Gericht be¬
findlichen Gegenstände, Aktenstücke und Hilfsmittel mitzuteilen, welche
für die Beantwortung der denselben vorgelegten Fragen erforder¬
lich sind.“
§ 360. „Kann eine gründliche und erschöpfende Begutachtung nicht
sogleich erfolgen, so hat der die Beweisaufnahme leitende Richter für
die Abgabe des Gutachtens eine Frist oder eine besondere Tagsatzung
zu bestimmen.
Von dem Einlangen des schriftlichen Gutachtens sind die Parteien
in Kenntnis zu setzen (§ 286).“
§ 361. „Sind zur Abgabe eines Gutachtens mehrere Sachverstän¬
dige bestellt, so könnten sie dasselbe gemeinsam erstatten, wenn ihre
Ansichten übereinstimmen. Sind sie verchiedener Ansicht, so hat jeder
Sachverständige seine Ansicht und die für dieselbe sprechenden Gründe
besonders darzulegen.“
§ 362. „Das Gutachten ist stets zu begründen. Vor Darlegung
seiner Ansicht hat der Sachverständige in denjenigen Fällen, in welchen
der Abgabe seines Gutachtens die Besichtigung von Personen, Sachen,
Örtlichkeiten und dgl. vorausging und die Kenntnis ihrer Beschaffenheit
für das Verständnis und die Würdigung des Gutachtens von Belang
ist, eine Beschreibung der besichtigten Gegenstände zu geben (Befund),
Erscheint das abgegebene Gutachten ungenügend oder wurden
von den Sachverständigen verschiedene Ansichten ausgesprochen, so
kann das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen anordnen, daß eine
neuerliche Begutachtung durch dieselben oder durch andere Sachver-
38*
596
Die Sachverständigentätigkeit in Zivilsachen.
ständige oder doch mit Zuziehung anderer Sachverständiger stattfinde.
Eine solche Anordnung ist insbesondere auch dann zulässig, wenn ein
Sachverständiger nach Abgabe des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt
wurde. Zu diesen Anordnungen ist auch der beauftragte oder ersuchte
Richter berechtigt.“
§ 363. „Die Partei, welche den Beweis durch Sachverständige
angeboten hat, kann auf denselben verzichten. Der Gegner kann je¬
doch verlangen, daß die angeordnete Beweisaufnahme demungeachtet
vorgenommen werde, wenn entweder die Beweisaufnahme bereits be¬
gonnen hat oder wenigstens die Sachverständigen zum Zwecke der
Beweisaufnahme schon bei Gericht erschienen sind.
Die dem Vorsitzenden nach § 183 zustehende Befugnis, von Amts
wegen eine Begutachtung durch Sachverständige anzuordnen, wird
durch einen Verzicht der Parteien nicht berührt.“
§ 365. „Der Sachverständige hat Anspruch auf Ersatz der ihm
verursachten Kosten und Auslagen, auf Entschädigung für Zeitver¬
säumnis und auf Entlohnung seiner Mühewaltung; er kann einen an¬
gemessenen Vorschuß begehren.
Der Vorsitzende oder der beauftragte oder ersuchte Richter, vor
welchem die Beweisaufnahme stattfindet, können anordnen, daß der
BeweisfUhrer einen von ihnen zu bestimmenden Betrag zur Deckung
des mit der Aufnahme des Beweises durch Sachverständige verbun¬
denen Aufwandes vorschußweise erlege (§ 332, Abs. 2).
Auf die Bemessung der Sachverständigengebühren finden die Be¬
stimmungen des § 347 sinngemäße Anwendung. Gegen den Beschluß
über das Ausmaß dieser Gebühren ist der Rekurs zulässig.“
§ 366. „Gegen den Beschluß, durch welchen die Ablehnung eines
Sachverständigen verworfen oder eine schriftliche Begutachtung an¬
geordnet wird, findet ein abgesondertes Rechtsmittel nicht statt.
Die Entscheidung über die Anzahl der zu bestellenden Sachver¬
ständigen, der Beschluß, durch welchen die Bestellung der Sachver¬
ständigen dem beauftragten Richter überlassen (§ 352) oder ein Sach¬
verständiger wegen Ablehnung enthoben wird, die über die Beeidigung
eines Sachverständigen gefaßten Beschlüsse, endlich die Beschlüsse,
durch welche für die Abgabe des Gutachtens gemäß § 360 eine Tag¬
satzung anberaumt oder eine Frist bestimmt wird, können durch ein
Rechtsmittel nicht angefochten werden.“
§ 367. ..Soweit im Vorstehenden nichts anderes bestimmt ist.
finden auf den Beweis durch Sachverständige und insbesondere auch
auf deren Vernehmung und die Protokollierung des bei einer Tagsatzung
abgegebenen Befundes und Gutachtens die Vorschriften über den Beweis
durch Zeugen entsprechend Anwendung.“
§ 368. „Zur Aufklärung der Sache kann das Gericht auf Antrag
oder von Amts wegen die Vornahme eines Augenscheines, nötigenfalls
mit Zuziehung eines oder mehrerer Sachverständigen, anordnen.
Wenn der zu besichtigende Gegenstand nicht vor das erkennende
Gericht gebracht werden kann, oder die Vornahme des Augenscheines
voi demselben aus anderen Gründen erheblichen Schwierigkeiten unter-
i
österreichisches Recht.
597
liegen würde, so kann dieselbe durch einen beauftragten oder durch
einen ersuchten Richter erfolgen. In diesem Falle kann dem mit der
Vornahme des Augenscheines betrauten Richter die Entscheidung über
die Zuziehung der Sachverständigen und die Ernennung derselben über¬
lassen werden. Gegen diese Beschlüsse ist ein Rechtsmittel nicht zu¬
lässig.
Wenn die Vornahme des Augenscheines voraussichtlich einen
Kostenaufwand verursachen wird, kann der Vorsitzende oder der be¬
auftragte oder ersuchte Richter anordnen, daß der BeweisfUhrer einen
entsprechenden Betrag zur Deckung dieses Aufwandes vorschußweise
erlege (§ 332, Abs. 2)."
§ 183. „Behufs Erfüllung der dem Vorsitzenden nach § 182 ob¬
liegenden Verpflichtungen kann der Vorsitzende insbesondere;
1. die Parteien zum persönlichen Erscheinen bei der mündlichen
Verhandlung auffordern;
2. verfügen, daß die Parteien in ihren Händen befindliche Ur¬
kunden, auf welche sich die eine oder die andere berufen hat, Akten,
Auskunftssachen oder Augenscheinsgegenstände, ferner Stammbäume,
Pläne, Risse und sonstige Zeichnungen und Zusammenstellungen vor¬
legen und eine bestimmte Zeit bei Gericht belassen;
3. die Herbeischaffung der bei einer öffentlichen Behörde oder
bei einem Notar verwahrten Urkunden, auf welche sich eine der Par¬
teien bezogen hat, der Auskunftssachen und Augenscheinsgegenstände
veranlassen;
4. die Vornahme eines Augenscheines unter Zuziehung der Par¬
teien und die Begutachtung durch Sachverständige anordnen, sowie
Personen als Zeugen laden, von welchen nach der Klage oder dem
Gange der Verhandlung Aufklärung über erhebliche Tatsachen zu er¬
warten ist.
Diese Verfügungen können jedoch vom Vorsitzenden in Ansehung
von Urkunden und Zeugen nicht getroffen werden, wenn sich beide
Parteien dagegen erklären.
Solche Erhebungen können selbst vor Beginn der mündlichen Ver¬
handlung angeordnet werden, wenn zu besorgen ist, daß sich andern¬
falls für die Entscheidung wichtige Umstände nicht mehr feststellen
ließen oder ein Beweismittel später nicht mehr oder doch nur unter
erheblich schwereren Bedingungen benützt werden könnte.“
§ 481. „Zeigt sich schon bei Anberaumung der Tagsatzung die
Notwendigkeit, in der Berufungsverhandlung die Wahrheit einzelner in der
Berufungsschrift oder in einem vorbereitenden Schriftsätze angeführter
Tatsachen, auf welche die Berufung gegründet wird, festzustellen, schon
in erster Instanz vorgebrachte Beweise zu wiederholen, zu ergänzen
oder bisher bloß angebotene Beweise aufzunehmen, so hat der Vor¬
sitzende des Berufungssenates die namhaft gemachten Zeugen oder die
in erster Instanz einvernommenen Sachverständigen zur Berufungs¬
verhandlung vorzuladen, die Parteien behufs ihrer eidlichen Vernehmung
zum Erscheinen aufzufordern und die Herbeischaffung aller sonstigen
Beweismittel zu veranlassen.
598 Die Sachverständigentätigkeit in Zivilsachen.
Tatumstände und Beweise, die nach Inhalt der erstrichterlichen
Prozeßakten und des Urteilstatbestandes in erster Instanz nicht vor¬
gekommen sind, dürfen von den Parteien im Berufungsverfahren nur
zur Dartuung oder Widerlegung der geltend gemachten Berufungsgründe
vorgebracht werden; auf solches neues Vorbringen darf überdies nur
dann Rücksicht genommen werden, wenn es vorher im Wege der Be-
riifungsschrift oder mittels vorbereitenden Schriftsatzes (§ 468) dem
Gegner mitgeteilt wurde.“
§ 488. Der Berufungssenat kann nicht bloß die zur Unterstützung
oder Bekämpfung der Berufungsgründe dienenden Beweise aufnehmen,
sondern, wenn dies behufs Entscheidung über die Berufungsanträge not¬
wendig erscheint, auch eine bereits in erster Instanz erfolgte Beweis¬
aufnahme wiederholen oder ergänzen, und im erstrichterlichen Ver¬
fahren von den Parteien erfolglos angebotene Beweise nachträglich
aufnehmen.
Der Berufungssenat kann im letzteren Falle, sowie wenn ein
Augenschein ergänzt werden soll, das Beweisverfahren nach den für
dasselbe in erster Instanz geltenden Vorschriften selbst durchführen
oder die Beweisaufnahme durch einen beauftragten oder ersuchten
Richter vornehmen lassen.
Wurde in erster Instanz ein Sachverständigenbeweis geführt, so
kann der Berufungssenat denselben unter Bestellung anderer Sachver¬
ständiger neuerlich vornehmen lassen.
§ 384. „Die Vornahme eines Augenscheines oder die Vernehmung
von Zeugen und Sachverständigen kann zur Sicherung einer Beweis¬
führung in jeder Lage des Rechtsstreites und selbst noch vor Beginn
desselben beantragt werden, wenn zu besorgen ist, daß das Beweis¬
mittel sonst verloren oder die Benützung desselben erschwert werde.
Diese Beweisaufnahmen können auch, ohne daß letztere Voraus¬
setzungen vorliegen, beantragt werden, wenn Mängel einer Sache oder
eines Werkes festzustellen sind, wegen deren der Gegner Gewähr
leisten soll. Hat der Erwerber einer Sache dem Veräußerer einen
Mangel angezeigt oder die Annahme der Sache wegen Mangelhaftig¬
keit abgelehnt, so kann auch der Veräußerer solche Beweisaufnahmen
beantragen. In gleicher Weise ist der Unternehmer eines Werkes zu
dem Anträge berechtigt, wenn der Besteller ihm einen Mangel ange¬
zeigt oder die Annahme des Werkes wegen Mangelhaftigkeit ver¬
weigert hat.
Der Antrag ist bei dem Prozeßgerichte, in dringenden Fällen aber
sowie wenn ein Rechtsstreit noch nicht anhängig ist, bei dem Bezirks¬
gerichte anzubringen, in dessen Sprengel die Sachen, welche in Augen¬
schein zu nehmen sind oder die Grundlage des Sachverständigen¬
beweises zu bilden haben, oder die zu vernehmenden Personen sich
befinden. Der Antrag kann zu gerichtlichem Protokoll angebracht
werden.“
J. N. § 34. Die Vornahme gerichtlicher Handlungen durch den
Pi äsidenten des Gerichtshofes oder durch den Vorsitzenden des Senates,
welchem eine Rechtssache zur Verhandlung oder Entscheidung zu-
Latente Geistesstörung. 599
gewiesen ist, oder die Übertragung gerichtlicher Handlungen an ein
einzelnes Mitglied dieses Senates oder des zuständigen Gerichtshofes
(beauftragter Richter) ist nur in den gesetzlich bestimmten und in den
diiich die Vorschriften über die innere Einrichtung und Geschäftsordnung
der Gerichte bezeichneten Fällen zulässig.
Die Übertragung gerichtlicher Handlungen an ein Mitglied des
Senates oder des zuständigen Gerichtshofes steht, wenn nicht durch die
hierauf bezüglichen Vorschriften etwas anderes angeordnet oder ins¬
besondere der Vorsitzende hiezu ermächtigt ist, nur dem zur Ver¬
handlung und Entscheidung der Rechtssache berufenen Senate zu.“
Latente Geistesstörung bei Prozeßbeteiligten.
Es kann gelegentlich Vorkommen, daß eine derjenigen Per¬
sonen, die an einem Prozeß als Richter, Gerichtsschreiber, ev.
Ankläger, Anwalt, Partei, Zeuge oder Sachverständiger beteiligt
sind, zur Zeit der Verhandlung geisteskrank ist, ohne daß dies
rechtzeitig erkannt wird.
Wie ist das so entstandene Urteil zu bewerten?
Hegler unterscheidet folgende Fälle:
I. Richter, Schöffen, Geschworene, Gerichtsschreiber.
a) Das Urteil war noch nicht rechtskräftig: Es kann im
Zivil- und Strafprozeß Revision eingelegt werden.
b) Das Urteil war bereits rechtskräftig: dann kann im
Zivilprozeß die Nichtigkeitsklage auf Grund des § 579 Z. i
Z.P.O. erhoben werden. Im Strafprozeß kann das Urteil nicht
beseitigt werden.
2. Parteien und Parteivertreter.
Im Zivilprozeß sind beide prozeßunfähig. Ihre Handlungen
und die ihnen gegenüber vorgenommenen Handlungen sind
rechtsunwirksam. Es kann demnach gegenüber dem nicht rechts¬
kräftigen Urteil Berufung (weil eine Partei nicht vorschrifts¬
mäßig vertreten war), Revision und gegenüber dem rechtskräf¬
tigen Urteil die Nichtigkeitsklage eingeleitet werden.
Im Strafprozeß kann der Staatsanwalt und Rechtsanwalt,
wenn er geistesgestört ist, die ihm übertragene Funktion nicht
ausüben. Seine Unfähigkeit macht eine Revision oder Berufung
möglich, wenn er als ,,abwesend“ i. S. des § 377, Z. 5 angesehen
werden kann, weil er handlungsunfähig ist. Eine Nichtigkeits¬
klage gegen ein rechtskräftiges Urteil gibt es nicht.
6oo
Reichsversicherunes-Ordnung.
3. Zeugen und Sachverständige.
Da geisteskranke Zeugen und Sachverständige gehört und
u. U. sogar vereidigt werden können, so kann höchstens die Be¬
stimmung des § 56 Z. I Str.P.O. und § 393 Z. i Z.P.O. an¬
gezogen werden, wonach Personen, welche wegen mangelnder
Verstandesreife oder wegen Verstandesschwäche von dem Wesen
und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung
liaben, nicht beeidigt werden dürfen. Hatte eine Beeidigung
stattgefunden, so kann gegen ein ergangenes Strafurteil Berufung
eingelegt werden, wenn die Aussage des Kranken für die Be¬
urteilung der Sache von Bedeutung war.
Revision ist nicht möglich (R.G. in Strafs. ii, 261 und
Goltd. Arch. 10, S. 693).
Wiederaufnahme des Verfahrens ist nur im Strafprozeß und
auch da nur zugunsten des Angeklagten möglich. —
Gegen andere Entscheidungen, Beschlüsse, Verfügungen usw.
kommt der Weg der Beschwerde in Betracht, gegen die sonstigen
Handlungen der Prozeßbeteiligten die Nichtigkeitsklage').
RelchsTersicherungs-Ordnimg’O*
A. Krankenversicherung.
§ 179 Abs. I. „Gegenstand der Versicherung sind die in diesem
Buche vorgeschriebenen Leistungen der Krankenkassen (§ 225) an
Kiankenhilfe, Wochengeld und Sterbegeld.“
§ 182. Als Krankenhilfe wird gewährt:
1 . Krankenpflege von Beginn der Krankheit an; sie umfaßt ärzt¬
liche Behandlung und Versorgung mit Arznei sowie Brillen,
Bruchbändern und anderen kleineren Heilmitteln. . . .
Besteht die Krankheit schon beim Eintritt in die versicherungs¬
pflichtige Beschäftigung, so ist die Versicherung nur bei völliger Arbeits¬
unfähigkeit ausgeschlossen. (E. d. Oldenb. Verw.-Oer. 14. 7. 10; Arb.-
') Literatur: Kegler u. Finkh, Latente Geistesstörung bei Proze߬
beteiligten (und die dort angeführte Literatur). Jur.-psych. Grenzfragen,
IV. Bd., S. 35 u. ff. Bumke, Gerichtl. Psychiatrie. Leipzig u. Wien 1912.
Goltd. Arch. 18, S. 839. Jur. Wochenschr. 1898, S. 501. Jur. Wochenschr.
1899, S. 365. Rosenfeld, Strafprozeß. Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1896, S 75
(Fall Brausewetter).
’*) Literatur: Stier-Somlo. R.V.O. München 1913. (Beck.) Derselbe,
Deutsche Sozialgesetzgebung. Jena 1906. (G. Fischer.) Hahn, Kranken-
vers.-Ges. Groß-Lichterfelde 1907. Für den Arzt sind die wichtigen Be¬
stimmungen zusammengestellt bei Rumpf, Arzt u. R.V.O. Bonn 1912.
Marcus & Webers Verlag.
Reichsversicherungs-Ordnung.
6oi
Vers. 28, 162.) Die Zeit der Schonungsbedürftigkeit fällt u. U. noch mit
unter den Begriff der mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit.
(E. d. Bad. Verw.-Qer. 5. 7. 10; Arb.-Vers. 28, 231.)
Die ärztliche Behandlung erfolgt durch den Kassenarzt Bei Not¬
wendigkeit ist immer ein Spezialarzt zuzuziehen. (Arb.-Vers. 23, 344.)
Solange es an einem bestimmten Anhalt dafür fehlt, daG die Befähigung
des Kassenarztes überhaupt, oder für gewisse Krankheiten nicht zureicht,
darf der Kassenvorstand es von der Entschließung des Kassenarztes ab¬
hängig machen, ob die Zuziehung eines Spezialarztes zu billigen ist.
(Pr. O.V.Q. 56, 443.)
In einem Falle von Bulbärparalyse, einer unheilbaren, mit Lähmung
der Zungen-, Lippen- und Schlundmuskulatur einhergehenden Qehirn-
erkrankung, nahm der Patient, da der Kassenarzt ihm zur Linderung
seiner Beschwerden nichts verordnete, einen Spezialarzt und verlangte
Erstattung der Kosten. Das Qericht sprach ihm dieselben zu.
Arbeitsunfähigkeit besteht, wenn durch Krankheit die Unmöglichkeit
bedingt ist, die bisherige Arbeit überhaupt oder nicht ohne Verschlimme¬
rung des Gesundheitszustandes fortzusetzen (Berufsinvalidität)'). Die
Arbeitsunfähigkeit muß zur Erhebung des Krankengeldes nach einer Ent¬
scheidung des Kammergerichts vom 24. Mai 1910 ärztlich festgestellt sein.
(Arb.-Vers. 28, 228.)
Irrenanstalten sind Krankenhäuser; Siechenanstalten, Trinkerasyle
und Genesungsheime nicht. (Arb.-Vers. 27, 163.)
Unter Umständen kann die Kasse in ihre Satzungen auch die Ge¬
währung von Krankenkost aufnehmen.
B. Unfallversicherung.
§ 555. „Gegenstand der Versicherung ist der in den folgenden Vor¬
schriften bestimmte Ersatz des Schadens, der durch Körperverletzung
oder Tötung entsteht.“
Bei vorsätzlicher Herbeiführung des Unfalls (§ 556) entsteht kein
Anspruch. Zog der Verletzte sich den Unfall bei Begehung eines Ver¬
brechens oder vorsätzlichen Vergehens zu, so kann der Schadenersatz
ganz oder teilweise versagt werden (§ 557).
Die Leistungen bestehen in Krankenbehandlung und einer Rente
für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit (§ 558) oder an Steile derselben
Heilanstaltspflege (§ 597).
Die Rente kann für völlige (= Vs des Jahresarbeitsverdienstes)
und teilweise Erwerbsunfähigkeit gewährt werden (§ 559).
§ 560. „Solange der Verletzte infolge des Unfalles so hilflos ist, das
er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann, ist die Rente
entsprechend, jedoch höchstens bis zum vollen Jahresarbeitsverdienste,
zu erhöhen.“
Hilflos ist, wer zu seiner Pflege dauernd eine fremde Arbeitskraft
ganz oder doch in erheblichem Umfange in Anspruch nehmen muß, weil
') Deshalb kann z. B. ein Schreiber wegen Schreibkrampfes vor¬
übergehend arbeitsunfähig i. S. d. G. sein.
6 o 2 Reichsversicherungs-Ordnung.
er zu den meisten Verrichtungen der gewöhnlichen Lebenshaltung aus
eigener Kraft nicht mehr im Stande ist. (Amt!. Nachr. 1902, S. 181,
Z. 1899; s. a. Reger 22, Beil. 9 u. 53.)
§ 561. „War der Verletzte schon zur Zeit des Unfalls dauernd
völlig erwerbsunfähig, so ist nur Krankenbehandlung (§ 558 Nr. 1) zu
gewähren.
Solange er infolge des Unfalls so hilflos ist, daß er nicht ohne
fremde Wartung und Pflege bestehen kann, ist eine Rente bis zur Hälfte
der Vollrente zu gewähren.“
§ 562. „Solange der Verletzte infolge des Unfalls unverschuldet
arbeitslos ist, kann die Genossenschaft auf Zeit die Teilrente bis zur
Vollrente erhöhen.“
Die Genossenschaft kann innerhalb der ersten 13 Wochen nach dem
Unfall den Verletzten, auch ohne ihm ein Heilverfahren zu gewähren,
von der zuständigen Kasse, dem Unternehmer, dem behandelnden Arzte
Auskunft über die Behandlung und den Zustand des Verletzten ver¬
langen (§ 581).
Bei Tötung wird Sterbegeld und Hinterbliebenenrente gewährt
(§ 586). t,.,
Ein neues Heilverfahren kann von der Genossenschaft iederzeit ein¬
geleitet werden, wenn zu erwarten ist, daß es die Erwerbsfähigkeit des
Unfallrentners erhöht (§ 603). Auch der Verletzte und seine Kasse können
die Wiederaufnahme des Heilverfahrens beantragen (§ 604). Während
des Heilverfahrens darf der Verletzte ohne seine Zustimmung nicht aus
einer Anstalt in eine andere gebracht werden (§ 605).
§ 606. „Hat der Verletzte eine Anordnung, die das Heilverfahren
betrifft, ohne gesetzlichen oder sonst triftigen Grund nicht befolgt und
wird dadurch seine Erwerbsfähigkeit ungünstig beeinflußt, so kann ihm
der Schadenersatz auf Zeit ganz oder teilweise versagt werden, wenn
er auf diese Folge hingewiesen worden ist.“
§ 607. „Der Vorstand der Genossenschaft kann einem Renten¬
empfänger auf Antrag statt der Rente Aufnahme in ein Invalidenhaus,
ein Waisenhaus oder eine ähnliche Anstalt gewähren.
Solche Anstalten gelten als Kranken-, Bewahr- und Heilanstalten
im Sinne des § 11 Abs. 2 und des § 23 Abs. 2 des Gesetzes über den
Unterstützungswohnsitz (Reichs-Gesetzbl. 1908, S. 381).
Die Aufnahme verpflichtet den Rentenempfänger auf ein Vierteljahr
und, wenn er nicht einen Monat vor Ablauf dieser Zeit widerspricht,
iedesmal auf ein weiteres Vierteljahr zum Verzicht auf die Rente.“
§ 608. „Tritt in den Verhältnissen, die für die Feststellung der
Entschädigung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung ein,
so kann eine neue Feststellung getroffen werden.“
§ 609. „ln den ersten zwei Jahren nach dem Unfall darf wegen
einer Änderung im Zustand des Verletzten eine neue Feststellung ieder¬
zeit vorgenommen oder beantragt werden. Ist jedoch innerhalb dieser
Frist eine Dauerrente rechtskräftig festgestellt worden oder ist die Frist
abgelaufen, so darf eine neue Feststellung nur in Zeiträumen von min¬
destens einem Jahre vorgenommen oder beantragt werden. Diese
Reichsverslcherungs-Ordnung.
603
Fristen werden auch durch Einleitung eines neuen Heilverfahrens nicht
berührt. Die Zeiträume können durch Übereinkommen gekürzt werden.“
§ 610. „Ein Bescheid oder Endbescheid, der die Rente herabsetzt
oder,entzieht, wird mit Ablauf des auf die Zustellung folgenden Monats
wirksam.“
§ 611. „Erhöhung oder Wiedergewährung der Rente kann nur für
die Zeit nach Anmeldung des Anspruchs verlangt werden.“
§ 616. „Beträgt die Rente eines Verletzten ein Fünftel der Voll¬
rente oder weniger, so kann ihn die Berufsgenossenschaft mit seiner
Zustimmirng nach Anhören des Versicherungsamts mit einem dem Werte
seiner Jahresrente entsprechenden Kapital ablinden.“
§ 619. „Überzeugt sich die Genossenschaft bei erneuter Prüfung,
daß die Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen
oder eingestellt worden ist, so kann sie diese neu feststellen.“
Für die landwirtschaftliche und See-Unfallversicherung gelten die¬
selben Bestimmungen.
C. Invaliden- und Altersversicherung.
§ 1251. „Invaliden- oder Altersrente erhält, wer die Invalidität
oder das gesetzliche Alter nachweist sowie die Wartezeit erfüllt und
die Anwartschaft aufrechterhalten hat.“
§ 1254. „Wer sich vorsätzlich invalid macht, verliert den Anspruch
auf die Rente.
Hat sich der Versicherte oder die Witwe die Invalidität beim Be¬
gehen einer Handlung, die nach strafgerichtlichem Urteil ein Verbrechen
oder vorsätzliches Vergehen ist, zugezogen, so kann die Rente ganz
oder teilweise versagt werden.“
§ 1255. „Invalidenrente erhält ohne Rücksicht auf das Lebensalter
der Versicherte, der infolge von Krankheit und anderen Gebrechen
dauernd Invalide ist.
Als invalide gilt, wer nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit,
die seinen Kräften und Fähigkeiten entspricht und ihm unter billiger
Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufs zu-
geniutet werden kann, ein Drittel dessen zu erwerben, was körperlich
und geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung
in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen.
Invalidenrente erhält auch der Versicherte, der nicht dauernd in¬
valide ist, aber während sechsundzwanzig Wochen ununterbrochen in¬
valide gewesen ist oder der nach Wegfall des Krankengeldes invalide
ist, für die weitere Dauer der Invalidität (Krankenrente).“
§ 1256. „Die Invalidenrente beginnt, unbeschadet des § 1253 und
des § 1255 Abs. 3 mit dem Tage, an dem die Invalidität eingetreten ist.
Als dieser gilt, wenn sich der Beginn der Invalidität nicht feststclien
läßt, der Tag, an dem der Antrag auf Rente beim Versicherungsamt ein¬
gegangen ist.“
§ 1257. „Altersrente erhält der Versicherte vom vollendeten sieb¬
zigsten Lebensjahr an, auch wenn er noch nicht invalide ist.“
6 o 4
Spezielle Psychiatrie,
§ 1269. „Um die infolge einer Erkrankung drohende Invalidität
eines Versicherten oder einer Witwe abzuwenden, kann die Versiche¬
rungsanstalt ein Heilverfahren einleiten.“
§ 1270. „Die Versicherungsanstalt kann insbesondere den Er¬
krankten in einem Krankenhaus oder in einer Anstalt für Genesende
unterbringen.
Ist er verheiratet und lebt er mit seiner Familie zusammen oder
hat er einen eigenen Haushalt oder ist er Mitglied des Haushalts seiner
Familie, so bedarf es seiner Zustimmung.
Bei einem Minderjährigen genügt seine Zustimmung.“
§ 1272. „Entzieht sich ein Erkrankter ohne gesetzlichen oder sonst
triftigen Grund dem Heilverfahren (§ 1269), und wäre die Invalidität
durch das Heilverfahren voraussichtlich verhütet worden, so kann die
Rente auf Zeit ganz oder teilweise versagt werden, wenn der Erkrankte
auf diese Folge hingewiesen worden ist.“
Spezielle Psychiatrie.
Nachdem wir in dem ersten Teil dieses Buches die wich¬
tigsten Symptome und einzelne Symptomenkomplexe kennen ge¬
lernt haben, wird nunmehr unsere Aufgabe darin bestehen, die
verschiedenen Krankheitsbilder kurz zu skizzieren und ihre foren¬
sische Bedeutung, soweit möglich, an der Hand konkreter Fälle zu
zeigen.
Wenn dabei Erörterungen über die strafrechtliche Zu¬
rechnungsfähigkeit im Vordergründe stehen, so ist das dadurch
begründet, daß am häufigsten strafrechtliche Gutachten vom
Psychiater verlangt werden. Das Bestreiken des Verfassers wird
aber darüber hinaus auch darauf gerichtet sein, zivilrechtliche
Fragen, soweit Erfahrung und Material das gestatten und so¬
weit es nicht schon in früheren Kapiteln geschehen ist, zu be¬
sprechen. —
In der P.sychiatrie hat jede Darstellung klinischer Krankheits¬
bilder etwas Subjektives, insofern, als die Anschauungen über die
Abgrenzung der einzelnen Krankheitsformen bei den verschie¬
denen Schulen nicht übereinstimmen und im Laufe der Zeit auch
wechseln. Für forensische Zwecke besitzt dieses persönliche
Moment jedoch keine allzugroße Bedeutung, denn für den Richter
ist die Aufzählung der Symptome und die Darstellung ihrer
sozialen Wirkungen bedeutungsvoller, als die Klassifizierung des
Krankheitsbildes. —
Die Manie. 605
Den folgenden Ausführungen liegen, soweit es sich um
statistische Angaben handelt, 196 Fälle zugrunde, welche größten¬
teils in der Bonner Klinik und Provinzialheilanstalt begutachtet
worden sind. Ich habe aus diesem großen Material nicht nur
geeignete Beispiele herausgesucht und wiedergegel)en, sondern es
schien mir auch wertvoll, zu zeigen, wie oft die einzelnen Psy¬
chosen Anlaß zur Begutachtung geben. Daneben glaubte ich
ferner zahlenmäßige Angaben über die Art der begangenen De¬
likte hinzufügen zu sollen.
Die Manie').
Die Manie ist eine Erkrankung, die in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle eine Neigung zu wiederholtem Auftreten zeigt
und mit der Melancholie zusammen das manisch-depressive Irre¬
sein bildet.
Die letzte Ursache des Leidens kennen wir nicht, wir
wissen aber, daß es zu den degenerativen Zuständen in engster
Beziehung steht. Es kann deshalb nicht wundernehmen, daß die
Personen, welche an manisch-depressivem Irresein erkranken,
schon vor dem ersten Anfall gewisse psychopathische Züge er-
Liepmann, Ideenflucht. Altsche Sammlung. KOIpe, Psychologie
und Medizin. Zeitschr. f. Pathopsychologie 1911. Nitsche, Zeitschr.
f. Psych., Bd. 67. Saitz, Ätiologie der Manie. Berlin 1907. Karger.
Schott, Zentralbl. i. Nervenheilkde. 1904, Monatsschr. f. Psych., Bd. 15.
Seiffer, Manie. Deutsche Klinik. Siemerling, Psychosen im Zusammen¬
hänge mit akuten und chronischen Infektionskrankheiten. Deutsche Klinik
1903. Walker, Arch. f. Psych., Bd. 42. Willerding, Prognose der Manie.
Zeitschr. f. Psych., Bd. 48, S. 72. Mendel, Die Kapitel Manie und Melan¬
cholie in Eulenburgs Realenzyklopädie. Wollenberg, Melancholie.
Deutsche Klinik 1904. Ziehen, Psychiatrie. Gramer, Forens. Psychiatrie.
Kraepelin, Psychiatrie. 8. Aufl. Leipzig 1912. J. A. Barth. A. Westphal,
in der „Psychiatrie". Jena 1911. Q. Fischer. Hoche, im Handbuch.
Stransky, Manisch-depress. Irresein. Wien 1911. F. Deuticke. (Literatur!)
Homburger, im Lit. Bericht der Zeitschr. f. d. ges. Neurol. Bd. II. Nr. 9/10.
Thomsen, Praktische Bedeutung d. manisch-depress. Irreseins. Med.
Klinik 1910. Nr. 45 u. 46. Thalbitzer, Arch. f. Psych. Bd. 43. Thomsen,
Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 64. Hübner, Arch. f. Psych. 1907. Specht,
Zentralbl. f. Nervenheilkde. 1907, S. 529. Qaupp. Münch, med. Wochen-
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XXX. Jahrg. Kölpin, Arch. f. Psych., Bd. 39. Heilbronner, Monatsschr. f.
Psych. u. Neurol., Bd. XXII. Roemheld, Zyklothymie, Klinik f. psych. u.
nerv. Krankheiten. Halle. C. Marhold. Berger, Monatsschr. f. Psych.,
Die Manie.
606
kennen lassen. Bei meist guter Intelligenz wird oft schon in der
Jugend eine hochgradige Ungleichheit der Leistungen beobachtet.
Die Gefühlssphäre zeigt größere Schwankungen als normal, viel¬
fach fällt eine rasche Ermüdbarkeit bei körperlichen und geisti¬
gen Leistungen auf. Auch Zwangsvorstellungen und Phobien
können gelegentlich hinzukommen.
Es ist nicht erforderlich, daß derartige psychopathische Züge
immer deutlich hervortreten. Bei Kranken, die in einfachen
Verhältnissen leben, brauchen sie sich nicht bemerkbar zu
machen. —
Eine Manie setzt in der 'Minderzahl der Fälle unver¬
mittelt ein. Häufiger erfolgt eine langsame, sich über mehrere
Wochen erstreckende Umwandlung der Persönlichkeit. Der
sonst verhältnismäßig ruhig und auch im allgemeinen lenk¬
same Mensch wird plötzlich heiter verstimmt, reizbar, er spricht
viel, läßt sich nicht mehr so leicht lenken wie v'orher. Die heitere
Verstimmung wird auch durch unangenehme Erlebnisse nicht
Ijceinflußt, der Schlaf wird schlecht, cs tritt Viclgeschäftigkeit
ein, der Patient spricht, schreibt und gestikuliert mehr, macht
unnötige Einkäufe, kümmert sich um Dinge, die ihn früher nicht
interessierten, kommt leicht in Streitigkeiten und ähnliches mehr.
In anderen Fällen geht dem eigentlichen Ausbruch der Manie
ein depressives Vorstadium voraus, in dem der Kranke traurig,
gedrückt, ängstlich ist und eine leichte Hemmung des Denkens und
Handelns neben ausgesprochenem Krankheitsgefühl erkennen läßt.
Die Hauptsymptome der klassischen Manie
sind: i. heitere Verstimmung, 2. Erleichterung des Ablaufes der
Vorstellungen, 3. erhöhter Bewcgimgs- und Rededrang, 4. eine
krankhafte Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit.
• Das hervorstechendste Symptom ist die heitere Ver¬
stimmung. Sie beherrscht das Denken und Handeln des
Bd. 22. Thalbitzer, Zeitschr. f. Psych., Bd. 62. Ziehen, Festschrift für
v. Leuthold. Ziehen, Melancholie 1907. Halle a. S. C. Marhold. Rosen¬
thal, Wahnbildung b. d. Melancholie. In.-Diss. Berlin 1909. Sartorius,
Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 65. Sioli, Vierteliahrsschr. f. ger. Med. 1899.
Reitnann, Homizide Melancholiker. Arbeiten aus d. Neurol. Institut. W'ien
1907. Deuticke. Siemerling, Charitd-Annalen XIV, S. 423. E. Meyer,
Vierteliahrsschr. f. ger. Med., 111. Folge, Bd. 24. Kölpin, Friedreichs Bl.
f. ger. Med., Nr. 92, S. 27. Raecke, in Handbuch der Sachverst.-Tätigkeit
1910. W. Braumüller. Pilcz, ibid. 1910. Friedrich, In.-Diss. Bonn 1912.
Die Literatur über Manie und Melancholie ist hier zusammen angegeben.
Die Manie.
607
Kranken in ausgesprociiener VV'eise. Geschehnisse, die bei anderen
Menschen deprimierend wirken, können die Heiterkeit des Ma¬
nischen nicht beeinträchtigen und geben ihm nur Anlaß zu
Scherzen. Er empfindet ein ausgesprochenes Kraftgefühl, das
ihn treibt, an Aufgaben heranzutreten, an die er sich in ge¬
sunden Tagen nicht heranwagen würde. Die heitere Verstimmung
bewirkt weiter, daß er aucli seine geistige Persönlichkeit höher
einschätzt, als früher. Er spricht denn auch viel von seiner
eigenen Leistungsfähigkeit und rühmt dieselbe, während er die
seiner l'mgebung dafür unterschätzt. Diese Überschätzung des
eigenen Ich kann sich bis zu ausgesprochenem Größenwahn
steigern.
Die gefährlichsten Folgen der gehobenen Stimmung sind
einmal die Neigung zu Alkoholexzessen und zweitens
eine gesteigerte Erotik. Hat der Alkohol erst die letzten
Hemmungen beseitigt, so tritt auch die mit der heiteren Ver¬
stimmung oft verbundene Reizbarkeit der Manischen in un¬
angenehmer Weise hervor und bringt den Kranken u. U. in schwere
Konflikte mit der Umgebung und der Polizei. Es kommt zu Auf¬
läufen, Körperverletzungen, Beamtenbeleidigungen. Der Patient
schimpft in den übelsten Ausdrücken und bekundet eine besondere
Neigung, sich öffentlich in obszönen Reden zu ergeben. Der
gleichzeitig vorhandene gesteigerte Geschlechtsbetrieb sucht hem-
mungs- und rücksichtslos nach Befriedigung. So kommt es, daß
Frauen, die in den Zeiten geistiger Gesundheit sich nie einen
Fehltritt zuschulden kommen lassen, in der beginnenden Manie
sich wahllos prostituieren, gravid werden oder sich Geschlechts¬
krankheiten zuziehen, ohne daß auch nur einmal jene Hemmun¬
gen auftauchten, welche sie sonst, außerhalb der Krankheit, vor
einem Fehltritt bewahrten.
Im Berufsleben zeigt sich die heitere Verstimmung da¬
durch, daß der Kranke disziplinlos wird, seine Pflicht versäumt,
auf Ermahnungen in gereiztem, unbotmäßigen Tone reagiert, bis
er schließlich für den Dienst ganz unbrauchbar wird. —
Wie wir soeben schon erwähnt haben, besteht neben der
heiteren Verstimmung häufig auch eine ausgesprochene Reizbar¬
keit. In einer weiteren Zahl von Fällen ist die Verstimmung nicht
gleichmäßig heiter, sondern es tritt eine auffallende Neigung
zu S t i m m u n g s s c h w a n k u n g e n hervor. Der Kranke ergeht
sich in einem .‘\ugenblick in allerlei Sclierzcn und Witzen, schlägt
6 o8
Die Manie.
im nächsten Moment in das Gegenteil um, weint und Ijeklagt sein
trauriges Schicksal. Wenige Sekunden oder Minuten später tritt
die heitere Stimmung wieder in ihre Rechte.
Die pathologische Veränderung der Stimmung Ijewirkt noch
etwas anderes. Die ganze Welt erscheint dem Kranken ver¬
ändert. Wohl erkennt er im allgemeinen die Personen seiner
Umgehung als das, was sie sind. Infolge der Stimmungsänderung
ist al)er das V'erhältnis zu ihnen gegen früher ein anderes ge¬
worden. Es kommt zu einer Nivellierung der sozialen Unter¬
schiede.
Mitunter allerdings besteht ausgesprochene Personenver¬
kennung. Einer unserer Kranken beschrieb das Zustandekommen
derselben folgendermaßen. „Mir sonst sehr wohlbekannte Per¬
sonen, Ärzte, Beamte und Angestellte aller Art sind in meinem
Bewußtsein nicht mehr diesell>en, sondern l)ekleiden irgendeine
Figur aus dem, was ich gelesen oder selbst geschrieben habe oder
hinzuphantasiere. Längst Verstorbene aus meiner Bekanntschaft
glaube ich in irgend einem Vorübergehenden wiederzusehen, wobei
ich mich in der albernsten Weise von einer Ähnlichkeit oder einer
Äußerlichkeit der Betreffenden oder dergl. bestimmen lasse.“ —
Wie schon oben im allgemeinen Teil ausgeführt wurde, ist die
heitere Verstimmung noch mit einer Reihe anderer Symptome ver¬
knüpft, nämlich einmal mit einer Erleichterung des Ab¬
laufes der Vorstellungen und zweitens mit Rede - und
Beweg ungs drang.
Die Kranken sind dauernd beschäftigt. Bald laufen sie, fort¬
während redend, umher, bald fangen sie an zu schreiben, um sehr
schnell die eben begonnene Arbeit wieder liegen zu lassen und sich
einer anderen Sache zuzuwenden. Dieselbe Unstetheit findet sich
auch in ihrem Sprechen und Denken. Einer unserer Pat.
sagte: „Eine Vorstellung löst die andere ab, so daß ich nichts zu
Ende denken und schließlich nicht mehr die kleinste Verrichtung
mit einiger Vernunft bewältigen kann und die Herrschaft über
mich ganz und gar verliere.“ So sind denn auch die sprachlichen
Äußerungen der Kranken eine Mischung von äußeren Eindrücken,
eigenen Gedanken, Klang- und Ähnlichkeitsassoziationen, Reimen
u. a. (Ideenflucht)’).
Dabei ist die Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit eine IkkIi-
) Beispiel s. Allgem. Teil, S. 23.
Die Manie.
609
gradige. Jedes neue Geschehnis, jede hinzukommende Person zieht
den Kranken an, ohne ihn länger als für einen Augenblick fesseln
zu können. Es entgeht ihm nichts. Mit besonderer Vorliebe sind
es kleine Schwächen seiner Umgebung, die er unfehlbar entdeckt
und rücksichtslos verspottet. —
Die Schrift zeichnet sich durch Schnörkel, schlecht aus¬
geschriebene Endsill)en, Unterstreichungen, große Buchstaben,
inhaltlich durch ideenflüchtige Aneinanderreihung der einzelnen
Gedanken, Neigung zu Witzen, Reimen usw. aus. In den höheren
Graden der Manie schreibt der Kranke kreuz und quer, so daß
seine Elaborate bisweilen gar nicht zu entziffern sind. Alle diese
Erscheinungen brauchen nicht immer gleich deutlich hervor¬
zutreten.
ln dem ersten der beiden Beispiele, welche hier angefiigt sind,
iiberwiegt die inhaltliche Störung, bei dem zweiten liegt das Charakte¬
ristische in der äußeren Form (Anwendung von lateinischer Schrift, große
Buchstaben, Unterstreichungen, Ouerschreiben).
Hübner, Forensische Psychiatrie.
39
6 io
Die Manie.
Wenn man die Wirkung der wichtigen psychischen Symptome
der Manie mit einem Schlagwort kurz zusammenfassen will, kann
man sagen, daß auf dem Gebiete des Redens, Handelns, Schreibens
/tcc^ 5
'^1
Z€‘^ -* •♦r^ /
und Denkens durch die Stimmungsänderung Hemniungsvor-
stellungen beseitigt werden. Die Folge davon sind Trinkexzesse,
unnötige Ausgaben, Differenzen mit anderen Menschen, Unfähig¬
keit zur Betätigung im Beruf, Unstetheit der Lebensführung,
sexuelle Exzesse, querulierende und beleidigende Briefe u. a. m.
Spielt die Reizbarkeit eine besonders große Rolle im Krank¬
heitsbild, so sind die Gefahren für den Patienten noch gesteigert.
In solchen Fällen ist es dann kaum zu vermeiden, daß er mit der
Umgebung und den Behörden in Konflikt gerät.
Es ist nun praktisch außerordentlich wichtig, daß diese ver¬
änderte Stellung des Kranken zur Außenwelt nicht erst in den aus¬
geprägten Fällen von Manie hervortritt, sie wird vielmehr schon
bei der Hypomanie beobachtet. Auch die leichten Grade
krankhafter Veränderung gefährden den Patienten in sozialer Be-
Die Manie.
6i I
Ziehung bereits. Man kann sogar sagen, daß sie ihn viel mehr ge¬
fährden, als die schwereren Formen. Die letzteren bedingen nach
kurzer Zeit Anstaltsunterbringung und sichern infolgedessen den
Kranken sehr bald vor Exzessen. Die leichteren Formen hingegen
werden zunächst als krankhaft nicht erkannt; es wird deshalb die
Anstaltsaufnahme nicht gleich bewirkt und so kommt es, daß der
Patient viel Gelegenheit findet, sich und andere zu schädigen.
Solche Menschen gelten in der Öffentlichkeit nicht als krank.
Begehen sie Alkoholexzesse, so werden sie allenfalls für bc- oder
angetrunken gehalten, ihr Witz und ihre Schlagfertigkeit, der
„nie versiegende Humor“ werden aber vom Laien als sicheres
Zeichen geistiger Gesundheit angesprochen.
In den schwereren Fällen von Manie erreicht die
heitere Erregung sehr hohe Grade, das Kraftgefühl des Kranken
führt zu tätlichen Angriffen auf die Umgebung, das Selbstgefühl
steigert sich zu Größenideen, die in humorvoller Weise vorgebracht
werden. Die Reizbarkeit macht sich in wüsten und gemeinen
Schimpfereien Luft, dazu besteht Tag und Nacht lebhafte Unruhe
und Rededrang. Das Schlafbedürfnis ist äußerst gering, der Schlaf
kann fast völlig fehlen.
In diesen Zuständen schwerer Manie können zeitweise auch
Sinnestäuschungen auftreten, die bei den leichteren Formen fast
regelmäßig fehlen.
Inhaltlich entsprechen dieselben entweder der Stimmung des
Patienten; es handelt sich um heitere oder erotische Szenen, die
er erlebt, es kann aber auch vorübergehend zu Halluzinationen
bedrohlichen Charakters kommen, mit denen ausgesprochene
Angst verbunden ist. Wie gefährlich gerade diese Zustände sind,
mag der weiter unten beschriebene Fall lehren. Ihre Bedeutung
liegt darin, daß sie die heitere Stimmung in eine zornmütige Um¬
schlagen lassen, die zu brutalen Angriffen auf die Umgebung
führt.
Auf körperlichem Gebiete ist, wie schon hervorgehoben,
das Schlafbedürfnis äußerst gering. In der Zeit der schweren
Erregung kann der Schlaf fast ganz fehlen. Der Appetit ist dabei
gut, so daß die Patienten trotz des lebhaften Bewegungsdranges
und des unzureichenden Schlafes an Körpergewicht noch zu¬
nehmen. Ihr Gesicht ist gerötet, die Augen strahlen, entsprechend
der Stimmung ist auch der Gesichtsausdruck ein heiterer oder zor¬
niger, die Reden und Handlungen werden mit sehr lebhaften
39*
6i2
Die Manie.
Ausdrucksbewegungen begleitet, es besteht Neigung zu starkem
Gestikulieren. In den schwereren Fällen sind die Bewegungen der
Kranken für gewöhnlich karrikiert und clownhaft.
Die Dauer des manischen Zustandes schwankt innerhalb
weiter Grenzen. Es gibt Anfälle, die sich nur über einige Wochen
erstrecken, es kommt aber auch nicht selten vor, daß die einzelnci\
Attacken 2—3 Jahre dauern. —
Es ist oben schon gesagt worden, daß gerade die leichteren
Grade der Manie außerordentlich häufig verkannt werden. Daß
das geschieht, hat verschiedene Gründe; in erster Linie wohl den,
daß die Besonnenheit der Kranken in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle von Manie vollkommen erhalten bleibt.
Verwirrtheitszustände kommen bei der Manie nur
in den höchsten Graden der Tobsucht, namentlich auch in den
F'ällen, die mit Sinnestäuschungen einhergehen, vor. —
Wenden wir uns der forensischen Bedeutung der
Manie zu, so müssen wir von der Tatsache ausgehen, daß auch
schon beim normalen Menschen Stimmungen von weitgehendem
Einfluß auf das Handeln sind. Das ist eine absolut geläufige Er¬
fahrung, die jeder Mensch oft an sich selbst gemacht hat.
Wenn wir nun erwägen, daß auch schon bei den leichteren
Fällen von Manie nicht mehr eine normale Stimmungsschwankung,
sondern ein pathologischer Affekt vorliegt, so folgt daraus für die
Frage der strafrechtlichen Zurechnungsfähig¬
keit, daß auch das Tun und Lassen der Hypomanischen durch
krankhafte Motive beeinflußt ist. So wenig einleuchtend diese
Anschauung dem Laien angesichts der stets erhaltenen Besonnen¬
heit der Patienten, ihrer Schlagfcrtigkeit usw. zu sein scheint,
plausibel wird sie, wenn man denkt, daß diese Kranken nicht nur
strafrechtlich zu ahndende Handlungen begehen, sondern sich
auch auf wirtschaftlichem Gebiete und moralisch in der Hypo¬
manie erheblich schädigen. Ich brauche nur auf einen Punkt hin¬
zuweisen, der meiner Ansicht nach besonders beweiskräftig ist.
Das Mädchen der gebildeten Stände lernt ihre Geschlechts¬
ehre von Jugend auf als das höchste Gut einzuschätzen. Sie pflegt
die an sie herantretenden Versuchungen, auch dann, wenn sich die
Sinnlichkeit bei ihr regt, abzuweisen. Alle die angeborenen
und anerzogenen Hemmungen nun, welche sie dazu veranlassen,
fallen schon in der Flypomanie meist fort. Von ganz seltenen
Ausnahmen abgesehen, sind derartige Mädchen leichte Beute für
Die Manie.
613
ihre Verführer. Man sieht daraus, daß schon eine geringe krank¬
hafte Veränderung der Stimmung genügt, eine solche Patientin zu
Handlungen zu veranlassen, die sie unter Umständen moralisch
vernichten.
Fragen wir nun, welche Delikte von manischen
Kranken verübt werden, so ist folgendes zu sagen;
In erster Linie kommen wohl die .sogenannten Affektver¬
brechen (Körperverletzung, Widerstand, Hausfriedensbruch, Be¬
leidigung, unter Umständen sogar Mord) in Frage, ferner sind
Sexualverbrechen nichts Ungewöhnliches. Drittens sind Ur¬
kundenfälschungen, Betrügereien und Diebstähle zu erwähnen.
Querulatorische Neigungen, die zur Belästigung von Behörden
und zu Beleidigungsprozessen führen, sind öfters zu beobachten.
Raecke erwähnt ferner das planlose Umherfahren, alkoholi.sche
Exzesse, Vagabondage, Zechprellereien, Belästigungen hoch-
gestellter Persönlichkeiten und Insubordinationen.
Wir haben einen Soldaten gesehen, der in der beginnenden
Manie seine Uniformstücke teils fortwarf, teils beschädigte.
Der Zusammenhang zwischen manischer Er¬
krankung und strafbarer Handlung kann ein ver¬
schiedenartiger sein, wie die folgenden Beispiele lehren mögen.
A. J., Keb. 23. Juni 1855. Mord an einer alten Frau, schwere Manie
mit Sinnestäuschungen und Verfolgungsideen. Freisprechung.
Von Jugend auf als leicht erregbar aufgefallen. Sechs und vier
Jahre vor der Tat hatte der Kranke melancholische Verstimmungszu¬
stände von mehrwöchiger Dauer durchgemacht.
Einige Tage vor der Tat wohnte er einer Missionspredigt bei. Da¬
durch sehr erregt, unstet, lief viel umher, fing an zu trinken, bald hoch¬
gradig exaltiert, bald leicht deprimiert. Er arbeitete nicht mehr und trieb
sich tagelang umher. Am Tage vor der Tat reichlicher Alkoholgenuß,
der Pat. schlief die ganze Nacht fast gar nicht, lief in seiner Wohnung
umher, war unruhig, hörte Stimmen, sah Gestalten von Verfolgern, die
ihn bedrohten. Am nächsten Morgen ging er ganz früh in das Haus
seiner Braut, betrat das Zimmer ihrer Mutter, die ihm nicht wohl
wollte und die Heirat zu verhindern suchte, erschlug dieselbe, ohne daß
ein Wortwechsel vorausgegangen war, nahm ein in demselben Bett
liegendes Kind und lief mit demselben in unsinniger Weise umher. Bei
der Verhaftung nannte er sich Graf von Fürstenberg.
Da das Verhalten des Kranken sofort auffiel, wurde er direkt in
die Irrenanstalt gebracht, wo er einen P/, Jahre dauernden Zustand
manischer Erregung mit zahlreichen Sinnestäuschungen durchmachte.
Dann wurde er entlassen, kam aber nach 6 Monaten schon wieder in die
Anstalt zurück und blieb bis zu seinem im März 1913 erfolgten Ableben
6 i 4
Die Manie.
dauernd darin. Während seines Anstaltsaufenthaltes wechselten manische
und depressive Phasen fortwährend, die freien Zeiten betrugen zum Teil
nur 14 Tage bis 3 Wochen.
Der Fall bedarf kaum weiterer Erläuterung, denn daß zur
Zeit der Tat eine manische Pha.se des zirkulären Irreseins bestand,
ergibt sich ohne weiteres aus dem ganzen Krankheitsverlauf. Wir
finden zur Zeit der Tat motorische Unruhe, Bewegungsdrang,
Schlaflosigkeit, Größenideen (,,Graf von Fürstenberg“), Sinnes¬
täuschungen, Wahnideen im Sinne der Verfolgung und krankhafte
Reizbarkeit. Wie der Patient mir gelegentlich einer späteren Ex¬
ploration mitteilte, hat die Getötete mehrfach versucht, seine Braut
zum Rücktritt vom Verlöbnis zu bewegen; er hat sie infolge¬
dessen in jener Zeit zu seinen Verfolgern gerechnet.
A. St., geb. 3. Januar 1861. Untreue, Diebstahl, Unterschlagung,
Sittlichkeitsverbrechen, Beleidigung, Körperverletzung.
Über Belastung und Entwickelung im Kindesalter nichts Nachteiliges
bekannt. Pat. absolvierte die Schule mit gutem Erfolge. Er lernte dann
das Bureaufach, trat nach seiner Militärzeit als Bureaubeamter bei der
Bahn ein, wo er es bis zum Sekretär brachte. Im Jahre 1899 wurde er
auf dem Disziplinarwege mit Dienstentlassung wegen verschiedener Ver¬
gehen bestraft. Nach Angabe der Ehefrau hatte er sich schon vor dieser
Dienstentlassung in seinem ganzen Wesen erheblich geändert. Während
er früher ein fleißiger und ordentlicher Beamter gewesen war, begann
er im Dienst unpünktlich und lässig zu werden, wurde unbotmäßig und
frech gegen seine Mitarbeiter und Vorgesetzten, fuhr oft ohne Urlaub von
K. fort, besuchte andere Städte und trieb sich auch sonst viel herum.
Diese Unruhe nahm später immer mehr zu, dazu kam große Reizbarkeit,
in der er bei den geringsten Anlässen maßlos auf seine Frau und Kinder
schimpfte, sie in rohester W'eise mißhandelte, so daß die Frau Schutz bei
ihren Eltern suchen mußte.
Als er sich selbst überlassen wurde, verkaufte er die Möbel und
Haushaltungsgegenstände zu unverhältnismäßig geringen Preisen und zog
nach Co., wo er sich als Rechtskonsulent niederließ. Dort erhielt er die
erste Strafe wegen Untreue und Diebstahls. Während der ganzen Zeit
seines Aufenthaltes in Co. war sein Wesen gleichfalls sehr auffallend.
Er war dauernd in gehobener, reizbarer Stimmung, machte die un¬
sinnigsten Einkäufe, bestellte Wein, obwohl er kein Geld hatte, ihn zu
bezahlen, kaufte Schuhe, für die er keine Verwendung hatte, kaufte sich
größere Mengen unechter Schmucksachen, mit denen er sich putzte,
hatte sich manchmal alle Finger mit Ringen besteckt, und dazu schrieb
er fortwährend an alle möglichen Behörden Eingaben zwecklosester Art.
Jeden Klatsch, den er hörte, zeigte er den Behörden an, mochte er auch
noch so unwahrscheinlich sein.
Nach einiger Zeit zog er wiederum nach K. zurück, wo sein Ver¬
halten im großen und ganzen das gleiche blieb. Nur zweimal traten
Die Manie.
615
Phasen auf, die mehrere Wochen dauerten, in denen, er ausgesprochen
ängstlich und menschenscheu war, sich versteckte, wenn jemand ins
Zimmer kam, nichts arbeitete und gedrückt im Hause herumsaß.
Im Januar 1906 verhaftet, weil er verdächtig war, mit Kindern
unter 14 Jahren unzüchtige Handlungen vorgenommen zu haben. Daß
er die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hatte, wurde ihm zweifel¬
frei bewiesen. Da er im Untersuchungsgefängnis durch sein Verhalten
auffiel, kam er zur Beobachtung in die Anstalt. Hier manischer Zu¬
stand. Kommt in heiterer und gehobener Stimmung an und erzählt, in
Co. hätten ihn die Rechtsanwälte schikaniert, weil sie seine Rechts¬
kenntnis fürchteten, jetzt wolle er sich der Schriftstellerei ergeben und
werde mit Schreibmaschinen handeln. In allen Angaben sehr wortreich.
Gehobene Stimmung, viel Gesten, Uberschätzungsvorstellungen, Tag und
Nacht in Bewegung, schläft schlecht, räsonniert viel, beobachtet die Vor¬
gänge auf der Abteilung und denunziert Pfleger, maskiert sich phan¬
tastisch mit Bettlaken und Decken, macht fortwährend Witze, ärgert
andere Kranke und beschimpft dieselben, wenn sie auf seine Gespräche
nicht eingehen, gegen Pfleger und Ärzte anmaßend und grob. Macht
zahlreiche Eingaben über seine Erlebnisse in der Anstalt an die Vor¬
gesetzten Behörden bis zum Minister aufwärts.
Nach Einstellung des Verfahrens in die Irrenanstalt überführt, Dez.
1906 gebessert. Wird beurlaubt, kehrt in die Anstalt nicht wieder zurück.
1907 Depressionszustand, der nach einigen Monaten ausheilt. Dez. 1909
neue manische Erkrankung, macht allerlei Pläne, schreibt sehr viel,
queruliert bei allen Behörden, denunziert, schreibt an Zeitungen, zeit¬
weise ideenflüchtig. 1911 Entmündigung, einige Monate später im
gleichen manischen Zustande in eine andere Anstalt überführt, dort 1912
gestorben. Die Manie bestand bis zuletzt fort. —
Nachzutragen ist bei dem Fall noch, daß dem Patienten später im
Gnadenwege von seiner früheren Dienstbehörde eine Pension bewilligt
wurde, nachdem ärztlicherseits sein unbotmäßiges Verhalten als krank¬
haft, nämlich als Symptom der Manie bezeichnet worden war.
Wenn man von der strafrechtlichen Bedeutung der Manie
spricht, ist noch etwas anderes zu berücksichtigen.
Bisher hatten wir den Fall ins Auge gefaßt, daß der Manische
selbst strafbare Handlungen begeht. Es bleibt die zweite
Möglichkeit zu berücksichtigen, daß an einem manischen Kranken
strafbare Handlungen begangen werden. Auch das ist leichter
möglich wie bei anderen Psychosen, denn erstens sind Manische
außerordentlich leicht der Ausbeutung zugänglich, insbesondere
dann, wenn ihre Sexualsphäre dabei angeregt wird, zweitens aber
sind manische Frauen zweifellos als geisteskrank im Sinne des
§ 176,2 St.G.B. anzusehen.
Wie stark der Geschlechtstrieb auch bei leicbt Manischen ge¬
steigert sein kann, lehrte mich ein Fall, den ich früher selbst zu
6i6
Die Manie.
behandeln hatte- Er betraf eine 28jährige Ehefrau aus dem
besseren Kaufmannsstande, bei der sich verhältnismäßig rasch eine
Manie entwickelte. Im Beginn derselben verließ sie ihr Haus,
trieb sich in der Umgebung einer Großstadt herum und kam nach
einigen Tagen durch Zufall an einen Neubau. Mit den dort be¬
schäftigten Arbeitern ließ sie sich in ein Gespräch ein und erbot
sich schließlich in dem Neubau ganz zu bleiben. Sie verkehrte dort
tagtäglich mit einem Teil der Arbeiter geschlechtlich, suchte sich,
wenn die Handwerker sich entfernt hatten, auch noch andere
Männer. Erst nach etwa 5—6 Tagen wurde sie aus dem Hause
entfernt und einer Irrenanstalt zugeführt.
Wichtig ist die Frage, ob ein Mann den Krankheitszustand
erkennen konnte, bevor er sich mit der Kranken in geschlecht¬
licher Beziehung einließ. Ich glaube, in der großen Mehrzahl der
Fälle wird man das nicht annehmen dürfen. Besonders dann wird
das nicht der Fall sein, wenn die Bekanntschaft, welche zum Ge¬
schlechtsverkehr führte, erst kurz vorher geschlossen war.
Zur Entmündigung kann der einzelne manische Anfall
wohl kaum jemals Anlaß geben. Aber wie schon aus den bis¬
herigen Ausführungen, und insbesondere aus den eben gebrachten
Beispielen hervorgeht, gibt es Fälle, wo ein Anfall dem anderen
so rasch folgt, daß man von freien Zeiten kaum sprechen kann.
In solchen Fällen ist die Frage der Entmündigung zu erwägen.
Daß derartige Kranke auch wirklich entmündigt werden, geht aus
den gebrachten Beispielen hervor. —
Wenn ich in den beiden oben angeführten Krankheits¬
geschichten den ganzen Lebensgang der beiden Menschen dar¬
stellte, so geschah es in der Absicht, auch die zivilrechtlichen
Folgen der Manie deutlich zu machen. Namentlich bei dem Fall
St. läßt sich leicht verfolgen, wie er während der Zeit der Gesund¬
heit ein ruhiges, geordnetes Leben führte, während er mit dem
Einsetzen der Krankheit seinen Beruf verlor, kriminell wurde, sein
Familienleben zerstörte und seine materiellen Verhältnisse sich
mehr und mehr verschlechterten.
Wer sich diese Tatsachen, die keineswegs vereinzelt dastehen,
vor Augen hält, wer ferner bedenkt, daß die Gefühlssphäre über
den Verstand beim Menschen schon normalerweise dominiert, dem
wird ohne weiteres einleuchten, daß Rechtsgeschäfte, die ein
Manischer abschließt, anders zu beurteilen sind, als die eines
Gesunden.
Die Melancholie. 617
Der Nachweis, daß das Rechtsgeschäft wirklich in einem
manischen Anfalle vollzogen worden ist, kann mitunter nur bei
Berücksichtigung der Vorgeschichte erbracht werden. Es zeigt
sich dann, daß der Kranke in gesunden Zeiten sachlich und ver¬
ständig disponiert hat, während er mit dem Einsetzen der Krank¬
heit allerlei gewagte Geschäftsverbindlichkeiten einging, unzweck¬
mäßige Einkäufe machte und eine Vielgeschäftigkeit und Unruhe
an den Tag legte, die ihm vorher fremd war. Auf alle diese Dinge
ist sorgfältig zu achten.
Die Melancholie.
Die Melancholie, das Gegenstück der Manie, ist eine Erkran¬
kung, die in der größeren Mehrzahl der Fälle gleichfalls eine Teil¬
erscheinung des manisch-depressiven Irreseins darstellt. Es
kommt aber vor, und zwar häufiger, wie bei der Manie, daß bei
einem Kranken nur ein ausgesprochener Anfall während des
ganzen Lebens beobachtet wird.
Während bei der Manie heitere Verstimmung, Beschleunigung
des Vorstellungsablaufes, Bewegungsdrang und Überschätzung der
eigenen Persönlichkeit die wichtigsten Symptome darstellen,
ist bei der Melancholie das Umgekehrte der Fall. Traurige Ver¬
stimmung verbindet sich mit Hemmung des Denkens und Han¬
delns, zu der eine Lfnterschätzung der eigenen Persönlichkeit
(Kleinheitswahn) kommt,
Auch die Melancholie pflegt sich allmählich zu entwickeln.
Besonders bevorzugt sie die Pubertät und das sogenannte Klimak¬
terium, aber auch in allen anderen Lebensperioden können melan¬
cholische Phasen auftreten.
Der eigentlichen Erkrankung geht ein Vorstadium
voraus, in dem die Patienten über unbestimmte Beschwerden wie
Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Appetitmangel, Arbeitsunlust,
Mattigkeitsgefühl und gedrückte Stimmung klagen. Letztere tritt
dann immer stärker hervor, bis eines Tages das Krankheitsbild der
Melancholie voll entwickelt ist.
Das wesentlichste Symptom ist die traurige \'erstim-
m u n g. Auch sie verändert die Stellung des Patienten zur Außen¬
welt vollkommen. Der Kranke hat an nichts mehr Freude. Was
auch immer geschieht, alles ist dazu angetan, sein Jammern und
Klagen zu vermehren. Er hat das Gefühl, daß er immer weinen
Die Melancholie.
6i8
muß, oder daß jeden Augenblick ein sclnveres Unglück über ibn
hereinbreeben werde.
Dazu gesellt sich oft ausgesprochenes Angstgefühl.
Diese Angst führt nicht selten zu \’erzweiflungsausbrüchen, in
denen der Kranke Hand an sich selbst legt. Wie unerträglich sie
manchmal sein muß, beweist die Besebreibung einer gebildeten
Kranken: ,,Es war, als wenn man an einem Faden über dem Ab¬
grund bängt und weiß, daß man im nächsten Augenblick hinein¬
stürzen muß.“
Überwiegt die innere Unruhe, dann treibt sie den
Kranken hin und her; er kann nicht sitzen, muß fortwährend her¬
umlaufen, ist nicht im Bett zu halten und weint und jammert Tag
und Nacht. —
Die Hemmung des Denkens kommt objektiv durch
Langsamkeit beim Sprechen und Gedankenarmut, subjektiv durch
das Gefühl innerer Leere und verminderter Leistungsfähigkeit
(,,subjektives Insuffizienzgefühl“) zum Ausdruck. Eine unserer
Kranken beschrieb das letztere folgendermaßen:
„Das Schlimmste ist die geistige Leere in meinem Kopf. Es bildet
sich kein Gedanke in meinem Kopf, und das ist die größte Höllenqual,
daß ich kein Gespräch weiter führen kann, als über meinen eigenen Zu¬
stand. Mein Gemüt ist ganz tot und fort, nur Höllenqual im leeren toten
Kopf, die mit jeder Stunde noch höllischer wird, jede Sekunde ist eine
Ewigkeit in der Hölle.“
Aus diesem Gemütszustände entspringen nun die Selbst¬
vorwürfe.
„Ich schwöre bei dem Allmächtigen, welcher über uns im Himmel
thront, daß ich die entsetzlichste Diebin und Vernichterin aller Eurer
Existenzen werde, wie ich jetzt schon das Glück der armen Kinder zer¬
stört und Schimpf und Schande über sie gebracht habe und jedenfalls
ungeheuerer Geldverlust noch mit der entsetzlichen Schmach sie be¬
troffen. Meine gräßlichen Verbrechen des Diebstahls in der Anstalt, wo
ich doch nur umgeben bin von Liebe und Barmherzigkeit, wo ich nur
Unglückliche sehe, die mit der treuesten Sorgfalt gehegt und gepflegt
werden, alle diese guten Beispiele haben meine Verbrechen doch nicht
abgehalten und ich stehe jetzt vor einer ungeheuren Masse Schulden.
Die kleinen Zahlungen, die du gemacht, werden wohl kaum ein Fünftel
des Betrages ausniachen,“ so schreibt eine Kranke an ihren Mann. —
Mit der Verstimmung und dem inneren Erkalten geht nun
für gewöbnlich auch eine Hemmung der Bewegungen
einher. Diese zeigt sich objektiv darin, daß der Kranke seine ge-
Die Melancholie. 619
wohnten Verrichtungen und Pflichten nicht mehr erfüllen kann,
teils weil er sich zu schwach fühlt, teils weil er willenlos ge¬
worden ist.
Die Folge dieser mangelhaften Leistungsfähigkeit sind neue
Selbstvorwürfe. Der Patient glaubt nicht krank zu sein, sondern
ins Zuchthaus zu gehören, seine Leistungsunfähigkeit sei lediglich
auf Schlechtigkeit und unmoralischen Lebenswandel zurückzu¬
führen. Deshalb müsse er vertilgt werden, „wie Ratten und
Mäuse, seine Seele sei unrettbar verloren, unrettbar in Satans
Hand“.
Neben dem Versündigungswahn kommt die Vorstellung der
Verarmung, die auch bereits erwähnt ist, beim Melancholischen
vor, und weiterhin werden hypochondrische Wahnideen beobachtet.
,,Ich habe ein dauerndes Kochen und Rauschen in meinem Kopf
und ich kann nur mehr ganz langsam gehen, weil im toten, leeren,
hohlen Kopf das Gehirn immer lose ist und bei jedem Schritt
wackelt, ich möchte mich immer stützen, so schlecht ist mir, ich
kann auch nichts mehr essen, denn mein Hals ist zu, in meinem
Innern ist alles faul.“
In seltenen Fällen werden auch Verfolgungsideen be¬
obachtet, die sich namentlich mit dem Versündigungswahn aufs
engste verknüpfen. ,,.^1^ sind sie hinter mir her und wollen mich
umbringen, ich soll in die Hölle gestoßen werden, wo der einzige
Platz für einen so schlechten Menschen ist.“
Ähnlich wie die Verfolgungsideen verhalten sich die Sinnes¬
täuschungen bei Melancholischen. Der Kranke hört Stimmen,
die ihn bedrohen und ihm zuflüstern, was man ihm tun will, daß
er verdammt werden soll und in die Hölle kommen müsse, daß
seine zahlreichen Sünden nur durch den Tod wieder gutgemacht
werden könnten.
Ist die Angst sehr stark, so kann sie .selbst eine erhebliche
Hemmung durchbrechen und es kann dann Vorkommen, daß der
eben noch regungslose Patient ganz plötzlich einen schweren Ge¬
waltakt gegen sich selbst, ausnahmsweise auch gegen andere Per¬
sonen unternimmt (Raptus melancholicus).
Was das äußere Verhalten der Melancholischen anlangt, so ist
dasselbe von dem Grad der Hemmung abhängig. Ist letztere stark,
so bewegt sich der Patient nur wenig, die Haltung ist zusammen¬
gesunken, der Gesichtsausdruck traurig, die Mundwinkel sind
620 Die Melancholie.
lierabgezogen. Der Kranke ringt die Hände und jammert vor
sich hin.
Ist die Hemmung weniger ausgeprägt, dafür die Angst
stärker, so geschieht das Umgekehrte. Man sieht den Patienten
ruhelos Tag und Nacht laut jammernd herumwandern. Er ist
schwer im Bett zu halten und spricht fortw'ährend von seinen Ver-
sündigungs- und Vcrarmungsvorstellungen (Melancholia agitata).
Wichtig sind noch 3 Symptome der Melancholie. Erstens
läßt für gewöhnlich die Nahrungsaufnahme zu wünschen
übrig, sei es, daß Wahnvorstellungen den Patienten verhindern, zu
essen, sei es, daß die Hemmung ihn abhält, es zu tun. Es macht
in den schweren Fällen für gew'öhnlich ziemliche Mühe, den
Kranken ausreichend zu ernähren.
Dazu kommt nun hochgradige Schlaflosigkeit, die
gleichfalls nur schwer zu bekämpfen ist.
Als praktisch wichtigstes Symptom ist schließlich noch die
Selbstmordneigung der Melancholiker zu erwähnen. Wich¬
tig ist sie deshalb, weil der Arzt bei seinen Maßnahmen mit ihr
besonders rechnen muß (§ 222 und 230 St.G.R.). Erschwert
wird die Beurteilung des Zustandes derartiger Kranker da¬
durch, daß viele von ihnen, und zw^ar gerade die schwereren
Fälle, ihre Selbstmordgedanken verheimlichen und ableugnen, so
daß die Umgebung oft zu Unrecht in Sicherheit gewiegt wird. —
Der Kranke selbst kann w-egen seiner Selbstmordversuche
nicht bestraft werden. Da es aber nicht ganz selten vorkommt,
daß sich die Angriffe der Patienten nicht allein gegen das eigene
Leben richten, sondern gegen das von Angehörigen oder anderen
Personen der Umgebung, so kann unter Umständen in diesen Zu¬
ständen ein Totschlag oder Mord begangen w'erden. In einem
Falle habe ich auch eine Brandstiftung erlebt. Die Patientin, um
die es sich dabei handelte, hatte sich in ihrem einsam liegenden
Gehöft eingeschlossen, an verschiedene Stellen Petroleum ge¬
gossen und dann das ganze Haus angezündet; sie selbst ver¬
brannte dabei. Am bekanntesten sind die Fälle, in denen eine
Mutter ihre Kinder tötet, um dieselben vor dem gleichen Schicksal
zu bewahren, daß sie selbst ihrer Meinung nach erwartet. In den
meisten Fällen sind derartige Gewaltakte durch raptusartige Zu¬
stände ausgelöst, gelegentlich können aber auch imperative
Stimmen daran schuld sein.
Die Melancholie.
621
In einem meiner Fälle kam es übrigens auch zu einer Tötung
auf Verlangen*) (§ 216 St.G.B.). Der Melancholiker, welcher
den aktiven Teil darstellte, erschoß das Mädchen und später sich
selbst.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich ohne weiteres auch die
forensische Bedeutung der Melancholie. Entweder
es handelt sich um Gewaltakte gegen andere Personen, oder der
Kranke beschuldigt sich selbst aus seinen Versündigungsideen
heraus bei den Behörden.
Ein Fall, bei dem das erstere zutraf, ist z. B. der folgende:
A. Sch., 29 Jahre alt, Ehefrau. Über Vorgeschichte nur bekannt,
daß Pat. seit 6 Jahren verheiratet war. Anfangs war die Ehe glücklich,
später kam es zu Streitigkeiten zwischen den Ehegatten; der Mann war
eifersüchtig und bezichtigte die Frau der Untreue; er soll auch weiter
behauptet haben, daß die Kinder nicht von ihm wären, sondern von
anderen Männern.
Die Frau nahm sich das sehr zu Herzen, wurde allmählich
traurig verstimmt, gehemmt und äußerte schon einige Monate vor der
Tat in diesem Zustande, sie würde, wenn der Mann glaube, daß die
Kinder nicht von ihm seien, dafür sorgen, daß er sie nicht zu ernähren
brauche. Schon während die Pat. deprimiert war, behauptete sie, daß
ihr Ehemann mit einem 15jährigen Mädchen geschlechtlich verkehrte,
infolgedessen Zunahme der Depression, Hemmung, Angst; sie fürchtete,
daß sie nun ganz verlassen sei, bald deutete sie die ganzen Vorgänge
auch wahnhaft um. Sie sei schuld an allem, sie habe ihrem Mann nichts
in die Ehe gebracht, nun müßten die Kinder darunter leiden und ihret¬
wegen verkommen. Sie und ihre Kinder könnten nur der Hölle und
Verdammnis anheimfallen, auch der Mann müsse unter ihrer Schlechtig¬
keit leiden.
ln diesem Zustande erdrosselte sie eines Tages erst ihre drei
Kinder und hing sich dann selbst auf. Da der Erhängungsversuch mi߬
lang, nahm sie unmittelbar darauf eine größere Dosis Salzsäure. Sie
wurde in bewußtlosem Zustande in ein Krankenhaus gebracht, mußte
aber von dort nach wenigen Tagen in eine Irrenanstalt überführt werden,
da sie immer erneute Selbstmordversuche machte. Später wurde sie
aus der Irrenanstalt als geheilt entlassen.
*) Bei der Tötung auf Verlangen spielt die Melancholie sonst keine
große Rolle, wohl aber die Qrenzzustände. Bei 10 Paaren, deren
Lebensgeschichte ich verfolgen konnte, ergab sich folgendes;
In 2 Fällen handelte es sich um weibliche homosexuelle Liebes¬
paare. Alle 4 Mädchen waren degenerativ-hysterisch. 2mal (eine Kell¬
nerin, ein gewohnheitsmäßiger Einbrecher und Heiratsschwindler) spielte
chronischer Alkoholismus eine Rolle. Ein Mann war Unfallhypochonder,
die übrigen alle degeneriert oder hysterisch. Unter den 8 Männern
befanden sich 5 Vorbestrafte.
622
Die Melancholie.
Wie schon oben angeführt ist, pflegen Melancholische außer
den eben beschriebenen Handlungen vielfach auch Selbst-
beschuldigungen zu begehen, in denen sie sich bei den
Gerichten oder der Polizei irgendeiner strafbaren Handlung be¬
zichtigen.
Ausdrücklich sei hervorgehoben, daß die Selbstbezich¬
tigungen, welche fast regelmäßig bei jedem größeren Delikt,
an dessen Aufklärung gearbeitet wird, bei der Polizei und
der Staatsanwaltschaft einlaufen, soweit sie überhaupt von
Geisteskranken herrühren, nicht etwa nur von Melancholischen
stammen. Das ist vielmehr nur in einem kleinen Teil der
Fälle zutreffend. Häufiger handelt es sich um Hysterische,
Degenerative, und namentlich Paranoide. Letztere scheinen mit
besonderer Vorliebe solche Briefe an die zuständige Behörde zu
richten. In einer Reihe von Mordakten, die ich durchstudieren
konnte, fand ich bei jedem Fall 3—5 derartige Selbstbeschul¬
digungen, die fast ausnahmslos von Paranoiden herrührten.
In seltenen Fällen kann, wie auch schon gesagt, auch ein
Melancholischer solche Handlungen begehen.
So hat Gramer z. B. einen Fall in seiner gerichtlichen
Psychiatrie erwähnt, in dem ein Melancholiker sich dem Unter¬
suchungsrichter stellte und mit zahlreichen Details sich eines
gerade geschehenen Mordes bezichtigte. Da er im LTntersuchungs-
gefängnis durch sein psychisches Verhalten auffiel, kam er in
eine Provinzialheilanstalt zur Beobachtung; dort wurde eine
Melancholie festgestellt. Inzwischen wurde der richtige Mörder
gefaßt und gestand die Tat auch ein. —
In zivilrechtlicher Beziehung ist von besonderer Be¬
deutung die Frage der Geschäftsfähigkeit. Verarmungswahn oder
der Wahn, Andere benachteiligt zu haben einerseits, die depressive
Stimmung andererseits, bewirken eine so weitgehende geschäft¬
liche Unselbständigkeit, daß es einem geschickten Schwindler nicht
schwer fallen kann, einen solchen Patienten zur Unterschrift von
Verträgen und Zessionen zu bringen, die er wegen ihrer Wider¬
sinnigkeit in gesunden Zeiten nie unterschreiben würde. Ein
charakteristischer Fall ist in dem Kapitel Geschäftsfähigkeit
bereits beschrieben (vcrgl. S. 389).
Zirkuläres Irresein.
623
Zirkuläres Irresein').
Mit dem Namen zirkuläres Irresein wurde ursprünglich eine
Reihe von Fällen belegt, in denen manische und melancholische
Erkrankungen im Verlauf des Lebens sich mehrfach wiederholten.
Geschah diese Wiederholung in regelmäßigen Abständen, so
nannte man den V'erlauf des Leidens einen periodischen.
Der Begriff ist später insofern erweitert worden, als die
Periodizität nicht streng innegehalten zu werden brauchte. Es war
nicht nötig, daß sich die Anfälle in bestimmten Zeitabschnitten
folgten, es war auch nicht nötig, daß manische und depressive
Anfälle miteinander abwechselten. Der Krankheitsvcrlauf konnte
derartig sein, daß der Patient nur zu wiederholten Malen an
der gleichen Krankheit, z. B. an der Manie, erkrankte.
Eine Erweiterung und Vertiefung erfuhr die Lehre vom
manisch-depressiven Irresein später noch dadurch, daß man durch
genaue Analyse feststellte, daß manische und depressive Sym¬
ptome zu gleicher Zeit nebeneinander bestehen konnten und da¬
durch ganz eigenartige Krankheitsbilder hervorriefen. Man
sprach dann von manisch-depressiven Mischzustän¬
den (Weygandt).
Um die Symptomengruppierung, die dabei stattfindet, ver¬
ständlich zu machen, sei noch folgendes hinzugefügt.
Wir haben oben gelernt, daß die Kardinalsymptome der
Manie heitere Verstimmung, Erleichterung des Vorstellungs¬
ablaufes, Bewegungsdrang und Größenwahn, diejenigen der
Melancholie traurige Verstimmung, Hemmung des Denkens und
Handelns und Versündigungswahn sind. Eine Mischung von
Symptomen aus diesen beiden Gruppen nennt man einen M i sch-
zustand. Einen solchen stellt z. B. der sogen, manische
Stupor dar. Bei demselben ist der Kranke so gehemmt, daß
er sich fast gar nicht bewegt, andererseits besteht heitere Ver¬
stimmung, die sich in ausgeprägten Fällen besonders auch im
Gesichtsausdruck zu erkennen gibt. Der umgekehrte Zustand
ist die sogen, agitierte Depression. Da handelt es sich
B Eingefiigt sei hier gleich, daß die Manie, Melancholie und das
zirkuläre Irresein bis jetzt keine pathologische Anatomie haben. Manch¬
mal wirken aber grobanatomische Oehirnläsionen auslösend. Vergl.
Taubert, Arch. f. Psych., Bd. 47, Heft 1.
624 Zirkuläres Irresein.
um eine traurige Verstimmung, die mit Bewegungsdrang ver¬
bunden ist. —
Das manisch-depressive Irresein ist eine Erkrankung, bei der
die erbliche Belastung eine nicht geringe Rolle spielt. (Vergl. das
Kapitel: Bedeutung der erblichen Belastung.)
Die davon befallenen Personen pflegen, und zwar von Jugend
auf, eine Anzahl von degenerativen Symptomen zu zeigen.
Damit sind aber die Beziehungen zwischen Degeneration und
manisch-dei)ressivem Irresein noch nicht erschöpft.
Praktisch außerordentlich wichtig ist die Tatsache, daß
namentlich bei Frauen im Anschluß an eine manische oder
melancholische Attacke schwere hysterische und hyiwchondrische
Symptome auftreten können, die das Individuum zu einem dauernd
Kranken machen.
Wie bereits weiter oben ausgeführt ist, kann man nach der
Rechtsprechung des Reichsgerichtes, um eine Ehe mit Erfolg an¬
zufechten, nur dann von einer „Eigenschaft“ sprechen, wenn das
vSymptom dauernd, d. h. für unabsehbare Zeit dem Ehegatten
anhaftet.
Das manisch-depressive Irresein gilt infolgedessen nicht als
eine Eigenschaft iin Sinne dieses Paragraphen, weil der Kranke
freie Intervalle hat. Die ganze Beurteilung eines solchen Falles
wird nun dadurch anders, daß in den freien Intervallen schwere
hysterische oder degenerative Symptome bestehen. Durch sie ist
das Individuum nicht mehr vorübergehend krank, sondern dauernd.
Die Krankheit ist also eine Eigenschaft jm Sinne des Gesetzes
bei ihm geworden.
Daß hysterisch-degenerative Symptome während der luziden
Intervalle auch strafrechtlich von Bedeutung sein können, lehrt der
folgende Fall:
F. O., stud. tlieol., geb. 10 . November 1886. Heiratsschwindel, Betrug,
beides in mehreren Fällen.
Vater nervös, Mutter hysterisch. Großvater der Mutter war im
höheren Alter geisteskrank.
O. selbst wurde mit der Zange geboren. Anfangs anscheinend nor¬
male Entwickelung. Schon mit 6 Jahren Platzangst und „übertriebene
Angst vor Straßenwalzen“. Geistig sehr begabt.
In den ersten Lebensjahren Gehirnerschütterung mit Bewußtlosig¬
keit und Erbrechen. In der Jugend viel körperliche Krankheiten (Brust¬
fellentzündung, viermal fieberhafte Erkrankungen, ferner Blinddarm¬
entzündung, Bronchialkatarrh und häufige Asthmaanfälle).
Zirkuläres Irresein.
625
Frühzeitig hochgradig nervös. Zur Reifeprüfung mußte er ins
Prüfungszimmer getragen werden (hysterische Abasie), nachdem er vor¬
her einmal vom Examen zurückgetreten war. Anfangs gute Schul¬
leistungen, später zerfahren, unstet, flatterhaft. Kein festes Wissen.
1907 Abiturientenexamen.
Schon als Sekundaner vielgeschäftig. Er dichtete, errang sogar
einen Preis. Gleichzeitig betätigte er sich in Jünglings- und Arbeiter¬
vereinen.
April 1907 hysterische Anfälle, zeitweise Unfähigkeit zu gehen
(Abasie), viel Rückenschmerzen, am ganzen Körper sehr empfindlich.
Nach Besserung dieses Zustandes auffallender Stimmungswechsel,
Bewegungs- und Betätigungsdrang, gesteigertes Selbstgefühl und Nei¬
gung, mit Mädchen der verschiedensten Stände Verhältnisse anzufangen.
Verlobte sich mit 4 Mädchen zu gleicher Zeit. Machte auch viel Pläne
für seine Zukunft (wollte Offizier, Ordensbruder, evangelischer Geist¬
licher werden). Ferner interessierte er sich für die Heilsarmee.
Dabei schroffes, rücksichtsloses Wesen. Widerspricht den Eltern
bei jeder Gelegenheit.
Juli 1907 Depression mit zeitweiliger Verwirrtheit. Wurde einmal
in hilflosem Zustande nach Hause gebracht.
Kurze Zeit darauf wieder manisch erregt. Neues Verlöbnis mit
einem anderen Mädchen. Da er mit dieser nach England fliehen wollte,
um sich dort trauen zu lassen, Privatirrenanstalt. Dort bald deprimiert,
bald exaltiert.
Nach mehrmonatigem Aufenthalt in die Freiheit ungeheilt zurück¬
gekehrt, erfolgten 3 weitere Verlobungen. Pat. besuchte kein Kolleg,
reiste zwischen seinen Bräuten fortwährend hin und her, hielt Vorträge
und Predigten. Zu Hause erregt, reizbar, anstößig in Reden, ruhelos,
schrieb und telegrapiiierte fortwährend an die Bräute.
Januar bis Februar 1908 körperlich krank. Währenddessen zu
Haus; sehr erregt.
März 1908 neues Verhältnis durch die Zeitung angeknüpft (Dienst¬
mädchen). Zieht mit derselben in verschiedenen Orten herum und hält
in konfessionellen Arbeitervereinen Vorträge. Anfang April 1908 reiste
er mit dem Mädchen nach England und heiratete sie dort. Die Ehe wurde
einige Monate später für nichtig erklärt.
Juni 1908 Rückkehr nach Deutschland und Internierung in eine
Privatirrenanstalt. Dort manisch.
Nach der Entlassung (1908) siedelte 0. in die Schweiz über, um dort
weiter zu studieren. Hier anfangs ruhiger; besucht Kollegien, arbeitet
fleißig und ordentlich. Gleichzeitig bestanden aber Phobien, Angst¬
zustände, zeitweise außerdem eine gesteigerte Erotik. In der Stimmung
gleichmäßiger, kein Plänemachen, keine Ideenflucht oder Depression.
Bis zu diesem Zeitpunkte hatte O., soweit ermittelt wurde, von
seinen Bräuten kein Geld genommen, mit einem Teil derselben allerdings
geschlechtlich verkehrt.
September 1909 neuer Erregungszustand. Gründet eine literarische
Gesellschaft, in der er Vorträge hält. Kündigt auch sonst Literatur-
Hübner, forensische Psychiatrie. 4()
626 Zirkuläres Irresein.
Vorträge an, die vorwiegend von Qeschäftsmädchen usw. besucht waren.
Mit seinen Hörerinnen begann er nun serienweise Verhältnisse. Die
meisten koitierte er. Von dreien lieh er Geld (im ganzen etwa 5000 Fr.).
Mehreren versprach er die Ehe. Eine bekam ein Kind.
Gleichzeitig schrieb er phrasenhafte, schwülstige Abhandlungen
über verschiedene Themen. Als dieselben von den Autoritäten, denen er
sie vorlegte, nicht günstig beurteilt wurden, machte er sich selbst Kritiken
zurecht, die er mit deren Namen Unterzeichnete. Lanzierte Artikel und
eine Biographie (mit Bild) von sich in die Zeitung. Düpierte einen Ver¬
leger, der das Geld zur Gründung einer literarischen Zeitschrift hergab
und seine Abhandlungen teilweise druckte.
Wegen aller dieser Handlungen kann er sich in X. nicht länger
halten. Deshalb Dezember 1909 Flucht aus X. Vorher mehrere Briefe
mit Verfolgungsideen. Geht nach Bordeaux, wird „Deutschlehrer für
Damen“. Dorthin läßt er sich drei seiner Geliebten nachkommen (z. T.
waren dieselben zu gleicher Zeit in B.). Eine infizierte er mit Gonorrhöe,
die er inzwischen akquiriert hatte. Sein uneheliches Kind fiel während¬
dessen der öffentlichen Armenpflege zur Last.
Vor seiner Flucht nach Bordeaux hatte O. in X., wie sich nachträg¬
lich herausstellte, mit noch fünf Mädchen Verhältnisse angefangen
(Dezember 1909).
Winter 1910 Rückkehr nach der Schweiz mit der Mutter seines
unehelichen Kindes, einer Kellnerin. Dort Fortsetzung des Konkubinates,
bis die Polizei eingreift. Sucht sich gleichzeitig eine reiche Braut, findet
eine solche, läßt sie aber sitzen, als er eine noch reichere entdeckt hat.
Letztere heiratete er im Jahre 1911.
Im Sommer 1910 ruhiger. Während dieser Zeit beschwindelt er
einen Schriftsteller um ca. 100 Fr. mit der Angabe, er könne den Druck
der Arbeiten desselben vermitteln und gute Rezensionen erwirken.
In die gleiche Zeit fallen zwei Denunziationen gegen zwei Schutz¬
leute. Beide Male hatte er lange Geschichten zur Anzeige gebracht, die
sich in dem einen Falle als vollständig, in dem zweiten als teilweise un¬
richtig herausstellten. Da ihn im zweiten Fall der Beamte angegriffen
hatte, verlangte er Schadenersatz, anfangs 50 Fr., später 200 Fr. und
nachher sogar 500 Fr.
Schließlich stellten die um ihr Geld betrogenen Mädchen Straf¬
antrag wegen Betrugs. Deshalb Verhaftung und Beobachtung in einer
Anstalt.
Dort: Rascher Vorstellungsablauf. Schwanken der Aufmerksam¬
keit, gehobene Stimmung, maßlose Selbstüberschätzung, Neigung zu frei
erfundenen Erzählungen neben bewußten Lügen. Ferner Renommier¬
sucht (Diagnose: Psychopathische Konstitution).
Durch einen Zufall kam er später aus dem Untersuchungsgefängnis
heraus und floh nach Deutschland.
In dem Gutachten, das, nachdem schon 4 oder 5 andere Gutachten
Vorlagen, von unserer Klinik erstattet wurde, sprachen wir uns fol¬
gendermaßen aus:
In dem Lebensgang des Angeklagten lassen sich drei Phasen deut-
Zirkuläres Irresein.
627
lieh unterscheiden. Die erste reicht bis etwa zu seiner Schulentlassung
und ist durch eine Reihe schwerer körperlicher Erkrankungen, ferner
durch das Bestehen von Asthmaanfällen und drittens von schweren
nervösen Erscheinungen gekennzeichnet. Der Patient hat als Kind schon
eine hysterische Qehstörung gehabt, die auch zur Zeit des Abiturienten¬
examens wieder auftrat, auch später war er in seinen geistigen Leistun¬
gen ungleich. Es gelang ihm nicht, ein erhebliches positives Wissen
zu erlangen, obwohl er intellektuell sehr gut begabt war; weiter ist die
Schwärmerei für soziale Betätigung hervorzuheben. Aus allen diesen
Dingen wurde geschlossen, daß O. von Jugend auf ein Psychopath
schwerster Form, mit starkem hysterischem Einschlag war.
Die zweite Phase seines Lebens betrifft die Zeit von der Ent¬
lassung aus der Schule bis zum Ende des Jahres 1908. In dieser Zeit
entwickelte sich die Änderung seines Wesens und es traten alle die
manischen Symptome, welche wir als charakteristisch kennen gelernt
haben, Rede-, Bewegungsdrang, gesteigertes Selbstgefühl, gesteigerte
Erotik, heitere Verstimmung mit Reizbarkeit auf. Vorübergehend wurde
der Zustand durch Depressionen unterbrochen.
Die dritte Phase beginnt mit seinem Auftauchen in X. Während
der ersten Zeit lebte er dort zurückgezogen, hatte nur e i n Verhältnis
mit einem Mädchen, von deren Geld er allerdings seinen Unterhalt be¬
stritt, im übrigen fiel er aber zunächst nicht weiter auf. Etwa 5 Monate
nach seinem Auftauchen in X. änderte sich sein Zustand allmählich
wieder. Er fing von neuem an Pläne zu machen, Vorträge zu halten
usw., allerdings noch nicht in dem Maße wie früher; dies begann
erst wieder im Dezember 1909. Dann setzte eine neue manische Attacke
ein, die diesmal durch Verfolgungsideen gekennzeichnet war. In der
Zeit von November 1908 bis Ende 1909 waren es weniger manische
Symptome, die bei ihm bestanden, als vielmehr psychopathische. O.
zeigte einen völligen Mangel an ethischen Gefühlen, er log ohne Grund,
Auch die beiden phantastischen Erzählungen betr. die Schutzleute fallen
in diese Zeit. Er empfand keine Scham, wenn er auf einer Lüge er¬
tappt wurde; gegen Menschen, von denen er annahm, daß sie ihm
nicht überlegen waren, benahm er sich selbstbewußt und rechthabe¬
risch, einem Überlegenen gegenüber wurde er kleinlaut und kriecherisch.
Die strafbaren Handlungen fielen in die Zeit von November 1908
bis Anfang 1910. 0. hatte die verschiedenen Beträge den Mädchen in
kleinen Teilen abzulocken gewußt. Ein Teil seiner Handlungen fiel dem¬
nach außerhalb seiner manischen Zeit. In dieser Beziehung sprach sich
unser Gutachten dahin aus, daß O. für die manischen Zeiten selbstver¬
ständlich als unzurechnungsfähig im Sinne des Gesetzes anzusehen sei.
Für die übrigen Handlungen bliebe zu erwägen, daß man es mit einem
schweren Psychopathen zu tun habe, dessen Zurechnungsfähigkeit auch
in diesen freien Zeiten erheblichem Zweifel unterliege.
Daraufhin wurde das Verfahren gegen den Angeklagten eingestellt.
Man sieht ans diesem Beispiel sehr gut erstens den Lebens¬
gang, den ein solcher Zirkulärer in vielen Fällen nimmt, zweitens
40 *
628 Zirkuläres Irresein.
zeigt sich, daß bei dem \’orhandensein von schwer degenerativen
Symptomen die Zureclinungsfähigkeit des Kranken für viele Hand¬
lungen auch in der freien Zeit zum mindesten zweifelhaft er¬
scheinen muß. —
Dieselbe Bedeutung haben degenerative und hysterische
Symptome bei Manisch-Depressiven für andere forensisch-psychia¬
trische Fragen, z. B. die der Entmündigung. Auch das
mag durch ein Beispiel kurz illustriert werden.
Am 14. 11. 10 stellte der Ehemann C. W. den Antrag, seine Ehefrau
wegen Geisteskrankheit zu entmündigen. Er führte dabei folgendes aus:
Die W. sei seit dem Jahre 1890 geisteskrank. Damals habe sie ihr
erstes Wochenbett gehabt, sei wegen einer geistigen Störung, die sich
im Anschluß daran entwickelt hatte, in das Antoniushospital zu C. ge¬
kommen. Der dortige Arzt habe bescheinigt, daß es sich um eine
Neurasthenie mit schweren Depressionszuständen gehandelt habe.
Seit jener Zeit berichtet der Ehemann weiter, sei sie nicht mehr
normal gewesen. Sie laufe den ganzen Tag umher, kümmere sich um
die Wirtschaft gar nicht und schleppe alles, was sie erreichen könne,
aus dem Hause, um es zu verkaufen. Den Erlös verschenke oder ver¬
trinke sie. Sie mache auch unzweckmäßige Reisen, z. T. ohne ge¬
nügende Barmittel und es sei schon mehrere Male, u. a. vor ganz
kurzer Zeit vorgekommen, daß sie wegen Zechprellerei bez. wegen
Betrug polizeilich sistiert wurde. Sie suche sich auf alle mögliche W'eise
Geld zu verschaffen und schimpfe über den Ehemann, w'enn er ihr keines
gebe. Deswegen habe sie sogar versucht, ihn aus seiner Stelle zu
bringen. Von der Eisenbahn habe sie mehrere Male Strafverfügungen be¬
kommen, w^eil sie ohne Fahrschein die Bahn benutzt hatte. In letzter
Zeit schwebe ein Verfahreh gegen sie bei der hiesigen Kriminalpolizei,
weil sie Handtücher gestohlen habe.
Durch ärztliche .Atteste wurde bewiesen, daß die W. 1889 und 1890
einen acht Wochen dauernden manischen Anfall durchgemacht hatte. Im
Laufe der nächsten Jahre hatte sie ein aufgeregtes Wesen bei gering¬
fügigen Anlässen gezeigt. Im Jahre 1906 gleichfalls eine geistige Er¬
krankung mit heiterer Verstimmung und Ideenflucht. Durch eine Reihe
von Zeugen wurde bewiesen, daß die Angaben des Ehemannes richtig
waren. Insbesondere wurde bestätigt, daß die W. häufig tagelang von
Hause w’eglief und sich umhertrieb, ohne daß die Angehörigen wußten,
wo sie war, daß sie ferner, um Geld zu erhalten, alles verkaufte, was
sie erreichen konnte, und das erhaltene Geld in Naschwerk oder Bier
umsetzte.
Nach der Ansicht des Verfassers, der die Patientin seit mehreren
Jahren aus der Poliklinik kannte, bestand zur Zeit der Entmündigung ein
manischer Zustand. Die Kranke war heiter gestimmt, vielgeschäftig,
blieb keinen Augenblick bei den Explorationen auf dem Stuhle
sitzen, sondern lief umher, erzählte in ideenflüchtiger Weise von ihren
verschiedenen Reisen, suchte dieselben zu begründen, für ihre Ver-
Zirkuläres Irresein. 629
fehlungen speziell für die Zechprellereien hatte sie gar kein Verständnis;
sie berichtete, daß sie bei ihren verschiedenen Reisen am Bahnhof noch
gar nicht gewußt hätte, wohin sie reisen sollte, ein dunkler Drang habe
sie einfach vom Hause fortgetrieben, diesem Drange habe sie nach¬
gegeben. Sie habe auch nie einen Augenblick darüber nachgedacht, ob
es richtig sei, ohne Geld fortzufahren. Daß sie in Schwierigkeiten ge¬
raten werde, habe sie gewußt, das habe sie von ihren Reisen nicht ab¬
gehalten. Alles das, wie ihre ganze Vorgeschichte, den Bericht über ihr
Familienleben, bringt sie lächelnden Mundes vor und schimpft dabei
über ihren Mann, der der schlechteste Mensch von der Welt sei, wäh¬
rend sie einzig und allein richtig handele und eine vernünftige Person sei.
Außer der Manie wies die Patientin Zeichen der Basedowschen
Krankheit auf. Sie hatte einen Kropf, die Augen standen weiter aus den
Höhlen heraus als normal, es bestand das sog. Oraefesche Symptom ’),
ferner Pulsbeschleunigung, ausgesprochenes Durstgefühl, starkes
Schwitzen und zeitweilige Durchfälle.
Außerhalb der manisch-depressiven Phasen bestand Neigung zu
phantastischem Lügen und Verleumden, starke Kopfschmerzen, schlech¬
ter Schlaf, vorübergehendes Angstgefühl, Unsauberkeit und Unstetheit
in der Arbeit bei verhältnismäßig gut erhaltener Intelligenz.
Ferner hatte sie in den Explorationen angegeben: Flimmern vor
den Augen, Neigung zum Alkohol, zeitweise sehe sie alle Gegenstände
größer, als sie in der Wirklichkeit waren (Makropsie).
In ihren freien Zeiten erschien sie einige Male zur Behandlung.
Das geschah aber unregelmäßig; wie sich nachher herausstellte, hat sie
die gegebenen Ratschläge in keiner Weise befolgt. Auch ihre Be¬
richte über ihr Vorleben und ihren Krankheitszustand waren z. T., wie
sich nachher herausstellte, erlogen. Ihre Familie und sich selbst ver¬
nachlässigte sie -auch in den luciden Intervallen.
Auf Grund aller dieser Symptome führt der Verfasser aus, daß es
sich nicht um einen Krankheitszustaiid handele, der periodisch auftrete
und dann schwinde, sondern daß in diesem Falle auch die in den Inter¬
vallen bestehende degenerativ-hysterische Charakterveranlagung mit in
Rechnung zu ziehen sei. Alle diese Erscheinungen zusammen ließen die
Patientin als dauernd geisteskrank erscheinen.
Das Gericht, welches sich in mehreren Terminen von der Richtig¬
keit unserer Beobachtungen überzeugt hatte, sprach sich für eine Ent¬
mündigung wegen Geisteskrankheit aus, die dann auch erfolgte.
Der letzterwähnte Fall zeigt noch etwas anderes, nämlich die
Bedeutung der leichteren Formen des manisch-
depressiven Irreseins.
Der erste Kranke war meiner Überzeugung nach einer von
denen, die am besten für lange Zeit in einer Anstalt untergebracht
werden, weil sie so am ehesten vor sich selbst geschützt sind.
Durch die Verständnislosigkeit der Eltern geschah das nun leider
*) Beim Blick nach unten tritt das Weiße über der Iris hervor.
630
Zirkuläres Irresein.
nicht, die Folge war eine Unsumme teils verbrecherischer, teils
ehrloser Handlungen. Anders lag das in dem zweiten Fall. Da
handelte es sich um eine Kranke, die von Laien im allgemeinen
als verschroben bezeichnet wurde, ohne daß man sie für geistes¬
krank gehalten hätte. Es war ein leichter Fall von manisch-
depressivem Irresein, und trotzdem waren die sozialen Konse¬
quenzen, wenn auch nicht ganz so schlimm, wie in dem vorher¬
gehenden Fall, so doch immerhin so beträchtlich, daß sie zur Ent¬
mündigung führten, das Familienleben zerstörten und den Ruf der
Familie in gröbster Weise schädigten.
Daß derartige Fälle, wie die beiden eben geschilderten, unter
Umständen sogar zu einer Ehescheidung gemäß § 1569
genügen könnten, glaube ich behaupten zu dürfen, denn man
wird sagen müssen, daß in solchen Fällen, gerade im Hinblick
auf die enormen sozialen Schädigungen der Familie durch die
Krankheit, die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten
nicht erhalten bleiben kann. Auch die Aussicht auf Wiederherstel¬
lung derselben muß bei dem endogenen Charakter des manisch-
depressiven Irreseins und der in den freien Intervallen bestehenden
h3sterisch-degenerativen Symptome als geschwunden angesehen
werden.
Noch ein Moment glaube ich besprechen zu müssen. Große
Schwierigkeit macht bei Manisch - Depressiven die Frage der
Dienstfähigkeit. Handelt es sich um so schwere Fälle wie
alle die bisher erwähnten, so ist selbstverständlich, daß ein der¬
artiger Mensch nicht im Staatsdienst gehalten werden kann,
mag seine Beschäftigung sein, welche sie wolle. Es gibt nun
aber eine Reihe von Kranken, bei denen während der freien
Zeiten nicht so schwere psjxhopathische Symptome bestehen, wie
bei den eben geschilderten Fällen, bei denen ferner die manischen
oder melancholischen Phasen von verhältnismäßig kurzer Dauer
sind (6—8 Wochen oder wenig länger) und die Intervalle zwischen
den einzelnen manischen und melancholischen Attacken sehr lange
sind. Trotzdem wird, namentlich in bestimmten Berufen, nach
ein- oder zweimaliger Erkrankung sofort die Frage aufgeworfen,
ob der Betreffende noch dienstfähig sei oder nicht. Insbesondere
bei Lehrern und Lehrerinnen hat die Begutachtung dann große
Schwierigkeiten gemacht. Ich kenne verschiedene Fälle, in denen
von seiten der behandelnden Ärzte das Gutachten dahin abgegeben
wurde, daß der Kranke außerstande sei, seine bisherige Dienst-
Zirkuläres Irresein.
631
Stellung auszufüllen. Mehrfach gingen nun solche dienstentlassenen
Lehrer sofort an private Schulen und übten dort ihre Lehrtätigkeit
weiter aus. Der Zufall hat es gewollt, daß gerade in fast allen
denjenigen Fällen, die ich selbst zu Gesicht bekommen habe,
nachher die Intervalle zwischen den einzelnen Phasen sehr groß
wurden, so daß eine der Kranken, während sie gleichzeitig an einer
Schule in der Nähe von B. unterrichtete, sich zum Oberlehrerinnen¬
examen vorbereiten und nach Aussage der Dozenten, bei denen
sie hörte, auch gute Kenntnisse sich erwerben konnte. Andere
unterrichteten jahrelang an Privatschulen, ohne daß sie auffielen.
Es ist selbstverständlich, daß bei Beantwortung der Frage
der Dienstfähigkeit nicht allein der Zustand des betreffenden
Kranken, sondern auch die Art seines Berufes in Frage kommt.
So wird man selbstredend schon beim ersten melancholischen oder
manischen Anfall einen Lokomotivführer aus dem Betriebsdienst
entfernen müssen. Es ist auch zuzugeben, daß bei den Lehr-
l)ersonen, die in meinen bisherigen Ausführungen besonders
hervorgehoben sind, eine gewisse Schwierigkeit besteht, insofern,
als die Erkrankung an einer Manie sehr leicht zu Handlungen
führt, die geeignet sind den Stand der Lehrerinnen als solchen
zu diskreditieren. Zu bedenken bleibt aber andererseits, daß mit
iler Ausschaltung aus der Staatsschule in vielen Fällen nicht gleich¬
zeitig die Ausschaltung aus dem Lehrberuf im allgemeinen bewirkt
wird. Es kommt hinzu, daß die Pensionierung von dem Kranken
selbst besonders hart empfunden wird, wenn er hinterher viele
Jahre anfallsfrei bleibt, wie ich das bereits erwähnt habe. Alles
das legt, wie ich glaube, doch den Gedanken nahe, in solchen
Fällen milde vorzugehen, eventuell nur eine Versetzung zu befür¬
worten und erst dann, wenn die Wahrscheinlichkeit weiterer rasch
hintereinander folgender Anfälle sehr groß ist, sich für Pensio¬
nierung auszusprechen.
Ich möchte ausdrücklich betonen, daß ich mit diesen Aus¬
führungen keine allgemein gültigen Regeln gegeben haben will.
Es lag mir nur daran, in jedem einzelnen Fall die Erwägung an¬
zuregen, ob nicht der Kranke, der für sein Leiden ja nicht das
Geringste kann, im Beruf gehalten werden kann, der doch meisten¬
teils seine ganze Existenz darstellt, ohne daß der Öffentlichkeit
oder dem Staate Schaden geschieht. Es besteht wohl kein Zweifel,
daß für den Kranken selbst eine große Härte darin liegt, wenn
er nach einem melancholischen Anfall, der nur 8 Wochen dauerte.
632
Die Neurasthenie.
pensioniert wird, seine Gesuche um Wiedereinstellung mit dem
Hinweis, daß sich seine Erkrankung in kurzer Zeit wiederholen
müsse, abgelehnt werden und diese Wiederholung nicht eintritt.
ln einem der Fälle, die ich gesehen habe, sind seit der letzten und
einzigen melancholischen Erkrankung, die der Pat. durchgemacht
hatte, 13 Jahre vergangen. Während dieser Zeit hat der Kranke
dauernd seinen Beruf in Privatstellungen versehen. In den Staats¬
oder Kommunaldienst wurde er nicht wieder aufgenommen.
Die Neurasthenie.
Das Krankheitsbild, welches wir nunmehr zu besprechen
haben, ist gekennzeichnet durch eine krankhafte Erschöpfbarkeit
mit gleichzeitig gesteigerter Reizbarkeit des Nervensystems.
Diese „reizbare Schwäche“ kann angeboren oder erworben sein.
Bei den angeborenen Formen spielt die erbliche Belastung die
Hauptrolle. Die erworbene Neurasthenie wiederum wird durch
schwächende Momente (Geburten, Infektionskrankheiten, starke
Blutverluste, körperliche Anstrengung usw.), durch psychische
Ursachen (Schreck, Unfälle usw.) und durch übermäßige geistige
Anstrengung ausgelöst.
Die durch äußere Schädlichkeiten erw'orbene Erkrankung gilt
als Neurasthenie im engeren Sinne.
Die Symptome des Leidens lasser, sich in zwei Gruppen
einteilen. Die einen sind körperlicher Natur, die anderen
psychischer.
Von den körperlichen Symptomen sind Kopfschmerzen,
Störungen des Schlafes, Schwindelgefühl, Flimmern vor den
Augen, gesteigerte Lichtempfindlichkeit (Lichtscheu), Über¬
empfindlichkeit gegen Schallreize (Hyperakusis), dauernd oder
anfallsweise auftretende Schmerzen in den verschiedensten Glied¬
maßen, Druckschmerzhaftigkeit der Wirbelsäule (Spinalirri ation),
Schwächegefühl, gesteigerte körperliche Ermüdbarkeit, P'ände-
zittern, Steigerung der Sehnenreflexe und mitunter ein psyc.iisch
bedingtes Stottern zu erwähnen.
Für den vorliegenden Zweck sind von höherer Bedeuting
die psychischen Symptome*).
’) A. Westphal in Binswanger-Siemerlings Lehrb. d. Psych. Jena.
Q. Fischer. Gramer, Nervosität. Jena 1906. Q. Fischer. Binswanger,
Neurasthenie. Jena 1896. Neißer, Allgem. Zeitschr. f. Psych. Bd. 51.
Die Neurasthenie.
f'33
In erster Linie macht sich eine allgemeine Ermüdbar¬
keit des Nervensystems bemerkbar. Wenn der Kranke genötigt
ist, sich geistig zu beschäftigen, so zeigt sich sehr bald, daß er
früher versagt, w’ie ehedem. Schon wenn er eine Seite in einem
Buch gelesen hat, weiß er von dem Inhalt wenig oder gar nichts
anzugeben. Schwerere Lektüre versteht er nicht. Sie strengt ihn
auch zu sehr an. Außerdem wird seine Aufmerksamkeit zu rasch
abgelenkt.
Alle diese Erscheinungen rufen in dem Patienten ein lebhaftes
Krankheitsgefühl, eine Unsicherheit und Energielosigkeit
hervor, die ihn verhindert, bestimmte Entschlüsse zu fassen, wenn
dies von ihm verlangt wird, und die seine Leistungsfähigkeit in
hohem Maße beeinträchtigt. Er kann sich infolgedessen mitunter
gar nicht dazu zwingen, an eine bestimmte Arbeit ernstlich heran¬
zugehen, und wenn er es tut, bringt er sie nicht zustande.
Ein Symptom, das praktisch außerordentlich wichtig ist,
stellt die bei Neurasthenikern sehr häufig zu findende Reiz¬
barkeit dar. Die Patienten reagieren schneller und heftiger
auf kleine äußere Unannehmlichkeiten. Sie kommen deshalb mit
ihrer häuslichen Umgebung, ebenso mit ihren Vorgesetzten und
Untergebenen sehr leicht in Differenzen. So heftig die momen¬
tanen Wutausbrüche dabei sind, so rasch verfliegen sie wieder.
Der Patient bedauert hinterher lebhaft, daß er sich soweit ver¬
gessen konnte.
Mit den bisher besprochenen Symptomen kann sich nun ein
ausgesprochenes Angstgefühl verbinden.
Das letztere tritt entweder anfallsweise auf oder besteht
dauernd. So habe ich z. B. im Verlaufe einer schweren Er¬
schöpfungsneurasthenie anfallsweise, sich mehrfach wiederholende
Angstzustände gesehen, die forensisch von w'eitgehendster Be¬
deutung waren. Einer der Patienten beging in diesen Zuständen
mehrere Selbstmordversuche, sprang auch einem unserer Pfleger
an den Hals und würgte ihn’).
v. Krafft-Lbing, Transitor. Irresein aur neurasth. Grundlage. Arbeiten.
Heft 1—4. 1897—1899. Wollenberg in Hoches Handbuch. Jolly, Neur¬
asthenie in Ebstein-Schwalbes Handbuch, Bd. 4 . Oppenheim, Nerven¬
krankheiten. Ganser, Festschrift für das Krankenhaus Dresden-Johann¬
stadt. 1898. Pick, Arch. f. Krinünalanthropol., Bd. 8.
') Später ist der Kranke genesen und in den Beruf zurückgekehrt.
Die Katamnese ergab keine Anhaltepunkte für zirkuläres Irresein.
634
Die Neurasthenie.
Gelegentlich kommt es bei Neurasthenikern auch zu vorüber¬
gehenden „Bewußtseinstrübunge n“, in denen kriminelle
Handlungen, insbesondere auch Angriffe auf andere Personen
beobachtet werden. Ich glaube, daß man in diesen Fällen Ijesser
von einer Einengung des Bewußtseins bei gleichzeitigem Vor¬
handensein pathologischer Affekte sprechen sollte’).
Da die verschiedensten Erkrankungen, namentlich aber auch
die organischen Affektionen, z. B. die Gehirnerweichung, öfters
ein sogenanntes „neurasthenisches Vorstadium“ haben, ist es not¬
wendig, jeden Kranken, bei dem der Verdacht einer Neurasthenie
besteht, sehr sorgfältig —• namentlich auch körperlich — zu unter¬
suchen. Denn erst dadurch kann die Frage entschieden werden,
ob eine echte Neurasthenie vorliegt, oder ob man nur neurasthe-
nische Symptome bei einer anderen nervösen Erkrankung vor sich
hat. Wie wichtig das für gerichtliche Zwecke ist, zeigt der unten
wiedergegebene Fall. Die reine, erworbene Neurasthenie ist eine
heilbare Krankheit. Da, wo erbliche Faktoren eine wesentliche
Rolle spielen, werden Heilungen kaum jemals, wohl aber Besse¬
rungen erzielt.
Was die forensische Bedeutung der Neurasthenie
anlangt, so sind schwere Delikte im allgemeinen selten. Hervor¬
zuheben ist einmal die Gedächtnisschwäche, welche bewirkt, daß
der Patient wichtige Handlungen auszuführen unterläßt, die ihm
strafrechtlich oder zivilrechtlich schweren Schaden bringen
können.
Einer meiner Bekannten, der infolge neurasthenischer Ge¬
dächtnisschwäche vergaß, seine Trambahnkarte rechtzeitig er¬
neuern zu lassen und mit einer abgelaufenen Karte mehrere Tage
fuhr, sollte wegen Betrugs belangt werden.
Bei verantwortungsvollen Posten kann auch die Entschluß-
losigkeit und Angst von Bedeutung sein. So bat ein Lokomotiv¬
führer, den ich zu begutachten hatte, selbst um Ablösung von
seinem Posten, weil er bei einem verhältnismäßig belanglosen
Geschehnis bemerkt hatte, daß er vollkommen den Kopf verlor
und infolge seiner Neurasthenie nicht wußte, was er zu tun hatte.
Es war nur dem Geschick des ihm beigegebenen Heizers zu ver¬
danken, daß ein schweres Eisenbahnunglück verhütet wurde.
') Die forensische Bedeutung dieser Zustände ist kürzlich Gegenstand
einer Kontroverse gewesen. Siehe Arch. f. Kriniinalanthropol., Bd. 49,
S. 133—148 und Bd. 50, S. 160.
Die Neurasthenie. 635
Die Unsicherheit und Gedächtnisschwäche kann auch bei
Zeugenaussagen mitunter von Bedeutung sein.
Schließlich kann auch die Reizbarkeit zu schweren Affckt-
entladungen führen, die sich entweder in Sachbeschädigungen
oder Körperverletzungen Luft machen. —
■Außerdem ist noch folgendes zu beachten:
Es gibt Neurastheniker, die auf Alkohol außerordentlich leb¬
haft reagieren, so daß es dann zu ganz kurz dauernden und bis¬
weilen schwer nachweisbaren Geistesstörungen kommt. Die in
diesem Zustande begangenen Handlungen sind als die eines
Geisteskranken anzusehen.
Darüber hinaus aber wird man der Neurasthenie kaum
jemals die Bedeutung einer geistigen Störung, sei es in straf¬
rechtlichem, sei es in zivilrechtlichem Sinne, beimessen können.
Wenn man das täte, so würde das eine fundamentale Umwälzung
des ganzen Straf- und Zivilrechts bedeuten, denn die Neurasthenie
ist in unseren Tagen eine der häufigsten Erkrankungen^).
Wollenberg“) hat ihre forensische Bedeutung vielleicht am prä¬
zisesten in die Worte gekleidet, daß sie die „Krankheit der mil¬
dernden Umstände'“ sei.
Es kommt oft vor, daß gerade die „Nervosität“ von einem
■\ngeschuldigten als Schuldausschließungsgrund im Sinne des
§51 St.G.B. vorgebracht wird. Ein typischer Fall dieser Art ist
z. B, der folgende:
N. H., 2. Mai 1867 geboren, stahl am 2. November 1909 aus einem
Warenhaus eine Puppe im Werte von 4,50 M. H. bestritt zunächst die
Absicht der rechtswidrigen Zueigung und behauptete, das Ganze sei nur
deshalb geschehen, weil er in dem Geschäft nicht die richtige Kasse ge¬
funden habe. Durch Zeuginnen (Angestellte des Geschäfts) wurde aber
festgestellt, daß er die Puppe sofort unter den Überzieher gesteckt hatte,
sich dann entfernen wollte, und als er merkte, daß seine Tat gesehen
worden war, fortlief.
Da H. früher Lues akquiriert hatte und Symptome der Neurasthenie
darbot, stellte ihm einer der früher behandelnden Arzte ein Zeugnis aus,
daß er an „Gehirnsyphilis“ litte. Daraufhin teilte er dem Gericht mit, daß
er bei Begehung der Handlung geisteskrank und nicht zurechnungsfähig
gewesen sei.
M. war schon vor Begehung der Delikte in der Poliklinik untersucht
worden und wurde später hier auch noch beobachtet. Dabei ergaben
sich nicht die geringsten Symptome, welche für eine organische
') Erb, Über die wachsende Nervosität unserer Zeit. Heidelberg 1895.
“) I. c.
636 Die hypochondrische Form der Neurasthenie (Hypochondrie).
Erkrankung des Zentralnervensystems sprachen. Insbesondere fiel die
Wassermannsehe Reaktion negativ aus.
Durch die Beobachtung wurde festgestellt, daß H. ein leicht erreg¬
barer Mensch war, der mit verschiedenen Mitarbeitern und Hausgenossen
in Konflikt geraten war und deshalb auf einen anderen Posten versetzt
werden sollte. Ferner bestand schlechter Schlaf und Zittern der Hände.
Unruhige, zerfahrene Antworten erfolgten, wenn man länger mit dem
Kranken gesprochen hatte; ließ man ihm aber Zeit, so wurde er ruhig
und antwortete ganz vernünftig.
Bei dieser Sachlage nahm das Gericht an, daß H. zurechnungsfähig
sei. Er wurde bestraft.
Der Vollständigkeit halber füge ich hinzu, daß das, was ich
oben über die Zurechnungsfähigkeit der Neurastheniker gesagt
habe, auch für die Frage der Geschäftsfähigkeit gilt.
Eine Entmündigung wegen Neurasthenie ist nicht denkbar,
eine Ehescheidung höchstens nach § 1568 B.G.B.
Ich glaube auch nicht, daß selbst bei den schwereren Formen
der Neurasthenie die Erkrankung jemals als Grund für die An¬
fechtung der Ehe wird in Anspruch genommen werden
können.
Die liypochouclrische Form der Neurasthenie
(Hypochondrie).
Die Beschreibung der Neurasthenie ist noch nach einer Rich¬
tung hin zu ergänzen.
Es gibt Fälle, die durch krankhafte Verstimmung und Nei¬
gung zu fortwährender Selbstbeobachtung gekennzeichnet sind.
Sie wurden früher unter dem Namen Hypochondrie als ein
selbständiges Krankheitsbild angesehen. Die meisten Autoren
betrachten sie aber neuerdings als eine Abart der Neurasthenie
Das Wesentliche an diesen Fällen läßt sich etwa folgendermaßen
beschreiben:
’) Schott, Hypochondrie. Berl. klin. W'ochenschr. 1904. Wollenberg
in Nothnagels Handbuch 1904. A. Westphal in Binswanger-Siemerlings
Lehrbuch. Raecke, Allgem. Zeitschr. f. Psych., Bd. .‘59. Jolly in Ziems-
sens Handbuch 1877 und im Handbuch v. Ebstein-Schwalbe 1900. Böt-
tiger, Arch. f. Psych., Bd. 31. Wollenberg, Zentralbl. f. Nervenheilk. 1905,
S. 529. Sommer, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Bd. 6 , Heft 2 .
V\ nlffson, In.-Diss. Kiel 1906.
Die hypochondrische Form der Neurasthenie (Hypochondrie). 637
Der Neurastheniker hat, wie bereits oben ausgeführt wurde,
Schmerzen und Mißempfindungen in den verschiedensten Körper¬
teilen. Diese beobachtet nun der hypochondrisch Veranlagte aufs
ängstlichste und knüpft daran allerlei Befürchtungen. Er glaubt,
daß eine Rückenmarksschwindsucht oder die Gehirnerweichung bei
ihm im Anzuge sei, weil er Schmerzen im Rücken oder ein Ziehen
im Hinterkopf hat. Ein leichtes Husten läßt ihn an Lungen¬
schwindsucht denken. Die oft vorhandene Stuhlverstopfung und
Hämorrhoiden beweisen ihm, daß er am Darmkrebs leidet u. ähnl.
mehr. Durch eifrige Lektüre populär-medizinischer Bücher,
deren Inhalt er meist auch noch falsch versteht, wird er in seinen
Befürchtungen noch bestärkt. Er liest z. B., daß beim normalen
Menschen ein Schlag auf die Kniesehne „eine Zuckung des Beins“
auslöse. Vielfache Versuche, bei denen er aber nicht die Sehne,
sondern die Kniescheibe trifft, ergeben, daß keine Zuckung ein-
tritt. Damit hat er die Gewißheit erlangt, daß er an Rücken¬
marksschwindsucht leidet. Er beobachtet, ob die Schläfenschlag¬
adern bei ihm hervortreten, und wenn er sie nach hastigem Gehen
wirklich einmal sieht, steht es für ihn fest, daß er an Arterio¬
sklerose leidet und bald einen Schlaganfall bekommen muß.
Die Folge dieser Feststellungen ist in erster Linie eine Zu¬
nahme der Angst und Depression. Mißmutig, gereizt,
fortw'ährend klagend, stets besorgt, daß sein Zustand sich ver¬
schlimmern oder daß neue Gebrechen hinzutreten könnten, geht
er umher. Trotz hellsten Sonnenscheins und warmen Frühlings¬
wetters darf kein Fenster geöffnet werden, weil er sich nicht „den
Tod“ holen will. Die schmerzenden Glieder werden mit allen
möglichen Tüchern und Binden umwickelt, im Hause findet man
ein ganzes Arsenal von Mixturen, Einreibungen und Rezepten.
Jeder Rat eines Freundes, der einmal „etwas Ähnliches“ gehabt
hat, wird gewissenhaft befolgt. Der Kranke läuft von einem
Arzt zum anderen, und da es zu Dauerheilungen nicht oft kommt,
auch zu allen möglichen Kurpfuschern, für die er dann ein dank¬
bares Objekt der Ausbeutung darstellt.
Die Furcht vor Verschlimmerungen und die Angst vor dem
Tode machen ihn zu einem krassen Egoisten, der nur an sich selbst
denkt, nie auf andere Rücksicht nimmt, der seine Familie lieber
entbehren läßt, als daß er sich selbst etwas abgehen ließe, für
nichts mehr Interesse hat als für sein eigenes Ich, in der Familie
ein Tyrann wird, anderen keine Freude gönnt, weil er selbst keine
638
Die Hysterie.
hat, und Freunde nicht dazu braucht, um sich mit ihnen zu er¬
holen und zu erheitern, sondern um ihnen vorzuklagen. Der
Hypochonder ist das Prototyp des Misanthropen.
Je mehr er sich in seine Gedankengänge verlrohrt, desto fester
glaubt er an seine Unheilbarkeit, und desto mehr Symptome treten
auf. Allein die gesprächsweise Erwähnung eines Gliedes genügt,
um zahlreiche Beschwerden darin hervorzurufen. Läßt man den
Kranken erst einmal von seinen Leiden sprechen, so bringt er eine
Unzahl von Klagen vor und beschreibt in ausführlicher Weise die
zahllosen Kuren, welche er bereits angewandt hat.
Im Kopf sitzt es. Da ,,kriebelt und rieselt und rauscht es".
Er hat ,.Herzaufregungen“. „Die Waden brennen.“ Im Leibe
sitzt ein Organ, „wie ein Kinderarm“. Der Urin hat einen
„trüben Bodensatz“ usw.
Die forensische Bedeutung der Hypochondrie liegt
in erster Linie in der Reizbarkeit, welche zu Beleidigungen führen
kann. Der Nachweis der Erkrankung kann mildernde Umstände
begründen, aber die Bestrafung nicht verhindern.
Gramer sagt ferner, daß es bei schweren Hyjiochondern zur
Entmündigung wegen Geistesschwäche kommen kann. Wir haben
hier erst einen solchen Fall gesehen, der allerdings ungewöhnlich
schwer und mit hysterischen Erscheinungen kompliziert war')-
Die Hysterie“).
Zu den Problemen, welche von Zeit zu Zeit in der psychia¬
trischen Literatur immer wieder auftauchen, gehört auch die
Über die Bedeutung der Hypochondrie für die Hhe s. S. 528.
“) Literatur über Hysterie: Hartenberg, L'hysterie. Paris 1910. Bins-
wanger, Hysterie in Nothnagels Handbuch. Raimann, Hyst. Oeistes-
störungen 1904. Raecke, Arch. f. Psych., Bd. 40. Berl. klin. Wochenschr.
1904. Kölpin, Neurol. Zentralbl. 1910. Hey, Das Gansersche Symptom.
Berlin 1904. Cianser, Arch. f. Psych., Bd. 30 u. 38. Binswanger, Monats-
schr. f. Psych., Bd. 3. Delbrück, Pathol. Lüge. Stuttgart 1891. Aschaffen¬
burg, Psj'chol. d. Hochstapler. Miirz 1907. Jörger, Vierteljahrschr. f.
ger. Med. 1904. Stemmermann, Allg. Zeitschr., Bd. 64. Lougard.
Pseudol. Phantast. Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 55. Hinrichsen, Pseii-
dol. Phantast., Vierteljahrsschr. f. gor. Med. Moeli, Lüge u. Qeistesstör.
Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 48. Oöring, Hyst. Schwindler. Zeitschr. f.
d. ges. Neurol. 1910. Risch, Phantast. Form d. deg. Irreseins. Zeitschr. f.
Psych., Bd. 65. Janet. Geisteszust. d. Hyst. 1894. J. Müller, Pseudol.
Die Hysterie.
639
Frage nach dem Wesen und der Umgrenzung der Hysterie').
Wenn man ehrlich sein will, muß man zugestehen, daß sie bisher
nicht gelöst ist. Das schließt aber nicht aus, daß man nicht
wenigstens an einer Reihe von Symptomengruppen, welche zur
Hysterie gehören, etwas Charakteristisches und Gemeinsames ge¬
funden hat. Dieses Gemeinsame ist in erster Linie die Beein¬
flußbarkeit durch äußere Eindrücke und zweitens
das Uberwiegen des Gefühlslebens über die ver¬
stand e s m ä ß i g e n Erwägungen.
Für unsere Zwecke kommt es nicht darauf an, die Frage auf¬
zuwerfen: Was ist Hysterie? Es dürfte vielmehr richtiger sein,
zu fragen: Welche S y m p t o m e n g r u p p e n und Sym¬
ptome werden zur Hysterie gerechnet?
Ebenso wie bei der Neurasthenie finden wir auch bei der
Hysterie sowohl auf körperlichem, wie auf psychischem Gebiet
krankhafte Veränderungen. Diese können in den verschiedensten
Mischungen auftreten. Dadurch ist die Mannigfaltigkeit der zur
Hysterie zu rechnenden Krankheitsbilder zu erklären.
Was die körperlichen Symptome anlangt, so sind
an erster Stelle die Störungen der Gefühlsempfin-
phantast. In.-Diss. Berlin 1901. Weingarten, Pseudol. phantast. In.-Diss.
Bonn 1902. Magnan, Oeisteszust. d. Entart. Leipzig 1892. Birnbaum,
Vornberg, W ahnbildung auf deg. Basis. Zentralbl. f. Nerv., Bd. 31, S. 657.
Derselbe, Psychosen mit Wahnbildung. Halle a. S. C. Marhold. Stelzner,
Psychopath. Konstitution. Berlin 1909. Karger. Costes, La physique des
hystdriques et leur responsabilitd 1898. These de Toulouse. Fürstner,
Zurechnungsfähigkeit d. Hysterischen. Arch. f. Psych. 1899, S. 267.
Koppen, Pathol. Lüge. Charite-Annalen 1898, Jahrg. 23. Wollenberg.
Forens. Bedeutung d. Krampfkranken. Münch, med. Wochenschr. 1898.
S. 1603. Pick, Hyst. Psychose mit forens. Bemerkgn. Wien. klin. Rund¬
schau 1899. Henneberg, Pseudologia phantastica. Charitfi-Annalen, Bd. 25.
Redlich, Pseudol. phantastica. Allg. Zeitschr. f. Psych, Bd. 57. Siemerling,
Gutachten über die J. W. Friedr. Bl. f. ger. Med., Jahrg. 51. Koppen,
Uber Epil. u. Hyst. Klin.-therap. Wochenschr. u. klin. Jahrbuch 1903.
Lemke, Uber hyst. u. epil. Krämpfe. In.-Diss. Greifswald 1903. Pelmann,
<jrenzzustände. Bonn 1912. A. Strauß, Pathol. Schwindler. In.-Diss.
Bonn 1913.
*) Vergl. Gaupp. Zeitschr. f. d. ges. Neurol., Bd. 5, Heft 4. S. 457 und
die Diskussion zu den Vorträgen Gaupp und Bonhoeffer (Allgem. Zeitschr.
f. Psych. 1910) auf der Jahresvers. des deutschen Vereins für Psych. in
Stuttgart. Allgem. Zeitschr. 1910, S. 520 ff. Babinski, Demembrement de
l'hysterie.
640
Die Hysterie.
düng zu erwähnen. Soweit sie subjektiver Natur sind,
handelt es sich entweder um Schmerzen in den verschiedensten
Körperteilen, z. B. der nagelförmige Kopfschmerz (Clavus),
Druckgefühl im Halse (Globus), Schmerzen in der Magengegend,
in der Herzgegend, im Rücken, im Unterleib und in den Gliedern,
oder um überempfindliche Stellen am Körper (Druckpunkte).
Druck auf diese letzteren löst Schmerzempfindungen aus. Die
wichtigsten derselben sind: Die Druckschmerzhaftigkeit der
Unterbauchgegend (Ovarie) oder der Hoden, ferner der Gelenke,
der Gegend der Brustwarzen und einzelner Wirbeldornfortsätze.
Am Kopf kommt die Gegend über den Augen, das Hinterhaupt,
die Scheitelhöhle und die Warzenfortsätze, mitunter auch die
Nackengegend in Betracht,
Auch andere Mißempfindungen, wie Kribbeln in be¬
stimmten Körperteilen, Taubheitsgefühl und ähnliches, kommen
bei der Hysterie vor. Weiter ist zu erwähnen entweder lokali¬
siertes oder über den ganzen Körper ausgebreitetes, bisweilen sehr
hartnäckiges Hautjucken.
Die G e f ü h 1 s e m p f i n d u n g , sei es für Berührungen, sei
es für Schmerzreize oder für beides, ebenso auch die Temperatur¬
empfindung kann in charakteristischer Weise gestört sein. Wäh¬
rend bei den sogenannten organischen Sensibilitätsstörungen die
Ausbreitung der Gefühlsstörung sich eng an den Verlauf be¬
stimmter Nerven oder Rückenmarkswurzeln anschließt, werden
bei der Hysterie entweder eine ganze Körperseite, oder ein
Körperteil, oder bestimmte Abschnitte einzelner Körperteile von
der Gefühlsstörung betroffen. Auf diese Weise bekommen wir
handschuhförmige, Strumpf- oder manschettenförmige Störungen,
oder eine Gefühllosigkeit des ganzen Armes oder Beines und ähn¬
liches zu sehen. Die Gefühlsempfindung braucht nicht vollständig
aufgehoben zu sein, es kann sich auch um eine Herabsetzung der¬
selben handeln. Charakteristisch ist ferner, und das kann für
manche Fälle von Bedeutung sein, daß die Störung sich von der
rechten auf die linke Seite übertragen läßt und umgekehrt (Trans-
fert). Bewirkt wird das allein durch entsprechende Suggestion.
Sie gelingt aber, das sei ausdrücklich betont, nur in einem Teil
der Fälle. —
Wenn von einzelnen Autoren behauptet wird, daß die Ge¬
fühlsstörungen bei der Hysterie entweder stets simuliert oder
doch wenigstens auf suggestivem Wege entstanden seien, so er-
Die Hysterie.
641
scheint mir persönlich diese Erklärung zum mindesten nicht für
alle Fälle richtig. Wir haben eine ganze Reihe von Kranken ge¬
sehen, bei denen es sich nur um einfache Landarbeiter handelte, die
fern von den großen Kulturstätten lebten, nach unseren Nach¬
forschungen keine Gelegenheit hatten, sich die Sensibilitäts-
störiingen suggerieren zu lassen und trotzdem eines Tages mit
einer Anästhesie auf einer Seite oder an einzelnen Gliedmaßen
erschienen. Daß wir von vornherein unsere Untersuchungen so
einrichteten, daß Suggestivfragen die Störung nicht hervorrufen
konnten, ist selbstverständlich.
Eng verwandt mit den eben geschilderten Gefühlsstörungen
sind die Störungen im Gebiet einzelner Sinnes¬
organe. So kann man gelegentlich sei es totale, sei es ein¬
seitige Blindheit bei Hysterischen feststellen. Auch halbseitige
Geruchs-, Geschmacks- und namentlich Gehörsstörungen kommen
vor und können vorübergehend oder für längere Zeit bestehen.
Bekannt ist ferner das Doppelsehen und die sogenannte kon¬
zentrische Einengung des Gesichtsfeldes bei
Hysterischen (siehe allgemeiner Teil). Trotz dieser Ein¬
engung, selbst wenn sie beiderseitig und sehr stark ausgesprochen
ist, kann der Kranke sich im Raume sehr gut orientieren, stößt
an Gegenstände selten oder gar nicht an und findet sich im all¬
gemeinen ganz gut zurecht. Dadurch unterscheidet sich die
hysterische Gesichtsfeldeinschränkung von der bei organischen
Gehirnerkrankungen vorkommenden.
Hinzuzufügen wäre ferner noch, daß es nicht allein eine
Herabsetzung oder Beeinträchtigung gewisser Sinnesfunktionen
bei der Hysterie gibt, sondern auch eine Überempfindlich¬
keit derselben. Die bekannteste ist die der Haut für Be¬
rührungen und Nadelstiche.
Ferner ist zu erwähnen, daß das Sehen der Hysterischen
insofern gestört sein kann, als die Kranken entweder ihre Um¬
gebung größer (Makropsie), oder kleiner (Mikropsie) sehen, als
sie in Wirklichkeit ist.
Der Mikropsie entspricht auf dem Gebiete des Schreibens
die Mikrographie, d. h. die Kranken schreiben mit auffallend
kleinen Buchstaben. —
Wir kommen damit zu der zweiten Gruppe von Erschei¬
nungen, nämlich den Bewegungsstörungen. Man muß
da Lähmungen und Reizerscheinungen unterscheiden. Die
Hübner, Forensische Psychiatrie. 41
Die Hysterie.
643
wobei es nur ganz ausnahmsweise zu irgendwelchen Verletzungen
kommt. Er beginnt dann sich unregelmäßig hin- und herzu¬
wälzen, mit den Gliedmaßen um sich zu schlagen, zu stöhnen und
zu seufzen; bisweilen tritt auch Schaum vor den Mund, docli ist
das selten der Fall, hie und da bäumt sich der Körper auf und
bildet einen Kreisbogen (arc de cercle).
Bei dem Herumwälzen klammert er sich an erreichbare
Sachen an, reißt aucli gelegentlich Gegenstände um, doch ist dies
nicht allzu häufig.
Das Bewußtsein ist in den meisten Fällen nicht so tief ge¬
trübt, wie beim epileptischen Krampfanfall. Es gelingt bei einem
Teil der hysterischen Anfälle, den Verlauf durch Anreden, Druck
auf die Unterbauchgegend u. ähnl. zu beeinflussen.
Die von Charcot beschriebenen plastischen Stellungen (AfH*
tudes passionelles) bekommen wir seltener zu sehen, öfter schon
die Clownismen (Herumschleudern der Gliedmaßen, Verzerrungen
des Gesichts, Roll- und Schleuderbewegungen des Körpers).
Der Anfall klingt allmählich ab. Zu einem terminalen
Schlaf kommt es nicht oft. Die Erinnerung an den Anfall ist
mehr oder minder getrübt.
Die hysterischen Anfälle, wie ich sie soeben beschrieben
habe, dauern bis zu 30 Minuten, mitunter auch noch länger. Neben
diesen großen Anfällen werden auch kleinere beobachtet, wo
die Kranken einfach umsinken, kurze Zeit mit den Gliedern
zucken, oder sich einige Male auf dem Boden herumwälzen und
dann wieder erwachen. Der Unterschied zwischen dem epilep¬
tischen und hysterischen Anfall besteht darin, daß beim hyste¬
rischen die Bewußtseinstrübung nicht so tief ist und ferner bei ihm
Verletzungen nur selten Vorkommen. Insbesondere werden
Zungenbisse nur äußerst selten beobachtet. Etwas häufiger
kommt es zu unfreiwilliger Urinentleerung. Weiter ist der
hysterische Anfall leichter suggestiv zu beeinflussen und die
Pupillenstarre, die bei epileptischen Anfällen sehr häufig beob¬
achtet wird, ist bei hysterischen Anfällen ein sehr seltenes
Ereignis (A. Westphal, Karplus). Dem hysterischen Anfall fehlt
auch das Brutale, von der jeweiligen Umgebung Unabhängige,
was den epileptischen Anfall für den Kranken so außerordentlich
gefährlich macht.
Die eben angegebenen Unterschiede zwischen dem hyste¬
rischen und epileptischen Anfall sind nicht immer so ausgeprägt,
41 *
644
Die Hysterie.
daß eine Unterscheidung in jedem Falle möglich wäre. Erschwert
wird sie besonders dann, wenn bei demselben Individuum
hysterische und epileptische Symptome nebeneinander auftreten.
Xamentlich können hysterische und epileptische Anfälle bei
demselben Kranken Vorkommen, doch ist dies nicht allzu häufig.
Als eine vierte Gruppe von körperlichen Erscheinungen
haben wir schließlich noch solcher Symptome zu gedenken, die in
einem inneren Organ lokalisiert sind.
Am bekanntesten ist das entweder nur zeitweise, mitunter
in Anfällen auftretende, oder auch dauernd vorhandene Herz¬
klopfen (Tachykardie), weiter ist das hysterische Erbrechen zu
erwähnen, drittens die Störungen der Menstruation, viertens die
bisweilen vorkommenden hysterischen Durchfälle. Vielleicht ist
auch das sogenannte hysterische Fieber hierherzurechnen. —
Wir kommen damit zu den psychischen Erschei¬
nungen. Man hat in dieser Beziehung zwei Gruppen unter¬
schieden, die eine, welche dauernd besteht, wurde als hysterischer
Charakter oder als hysterisches Temperament bezeichnet, die
andere umfaßt die vorübergehenden Störungen.
Bezüglich des hysterischen Charakters möchte ich
mit Wollenberg annehmen, daß dieser Begriff nur als Schlag¬
wort Berechtigung hat. Am besten ist es wohl, einfach zu sagen,
daß im allgemeinen bei hysterischen Personen eine stärkere
Labilität des Gefühlslebens besteht, als bei normalen Menschen,
daß diese Kranken ferner eine gesteigerte Suggestibilität und
eine erhöhte Neigung, seelische Vorgänge in körperliche Stö¬
rungen umzusetzen, aufweisen (Raecke). Dazu kommt Lügen¬
haftigkeit, die Sucht aufzufallen, übertriebene Menschenliebe oder
Haß, Verschwendungssucht oder Geiz und eine lebhafte Phan¬
tasietätigkeit. Diese letztere ist aber nur in einem gewissen
Prozentsatz der Fälle vorhanden ’).
An diesen Kern können sich nun alle möglichen degenera-
tiven Symptome, wie wir sie im allgemeinen Teil kennen gelernt
haben, angliedern. Insbesondere kommt hier in Betracht die Un¬
gleichmäßigkeit und Sprunghaftigkeit des Denkens und Handelns,
’) Kausch, Mitteil, aus d. Orenzgeb. zwischen chir. u. inn. Med.,
Bd. 17.
“) Im Handbuch.
Literatur s. o.
Die Hysterie. 645
stark ausgeprägter Egoismus, Überempfiiicllichkeit, das Fehlen
der ethischen Gefühle und ähnliches mehr.
Die eben erwähnten Eigenschaften machen das an Wider¬
sprüchen so reiche Verhalten der Hysterischen erklärlich. Wo
sie heute noch uneingeschränkt lieben, hassen sie morgen grenzen¬
los. Feinde verfolgen sie mit glühender Rachsucht und bedienen
sich der niedrigsten Mittel, um ihnen zu schaden. An Klatsch
und Intrigue haben sie Freude. Ihre Neugier treibt sie, sich auch
um solche Dinge zu kümmern, die sie nichts angehen und von
denen andere Menschen sich fernhalten. Sie drängen sich in das
Familienleben ein, horchen Dienstboten aus, hören und kolpor¬
tieren mit Vorliebe Hintertreppenklatsch, hetzen, suchen alte
Freunde zu trennen und freuen sich des Unglücks, das anderen
zustößt.
Sie sind eitel, auch für plumpe Schmeicheleien zugänglich.
Berechtigten Tadel nehmen sie übel, übertriebenes Lob tut ihnen
wohl. Im gesellschaftlichen Leben wollen sie eine Rolle spielen.
Sie posieren, suchen sich interessant zu machen und aufzufallen,
haben in der Gesellschaft mindestens ebensoviel Feinde, als
Freunde, sind gegen Höhergestellte devot, ja sogar kriechend¬
höflich, und gegen Untergebene hochfahrend und verletzend.
Furcht empfinden sie nur vor solchen Menschen, die unbekümmert
um ihre Schliche und Intriguen ihren Weg gehen, die selbständig
urteilen und selbständig handeln. —
Im Brennpunkt allen Denkens und Handelns steht bei ihnen
nur die eigene Person. Für sie selbst ist nichts gut genug, darf
kein Opfer gescheut werden, die anderen mögen sich einschränken.
Was für sie zu viel ausgegeben wird, sparen sie an der eigenen
Familie und den Dienstlx)ten wieder ab. Für sich selbst ver¬
schwenderisch, sind sie den eigenen Angehörigen gegenüber,
wenn es nach außen hin nicht auffällt, ausgesprochen geizig.
Unbeständig und wetterwendisch in ihren Neigungen, schwan¬
kend in ihren Urteilen über Dinge und Menschen, sind sie auch
ungleich und wechselnd in ihren Leistungen. Vieles fangen sie
mit Feuereifer an, wenig davon wird vollendet. Da, wo sie den
Durchschnitt überragen, ist das nicht so sehr die Folge systema¬
tischer Arbeit, als vielmehr besonderer Begabung, zu der sich oft
noch ein krankhafter Ehrgeiz gesellt. —
Neben den eigenen Wünschen ist das, „was die Welt sagt“,
eines der wichtigsten Motive für das Tun und Lassen vieler
646
Die Hysterie.
Hysterischen. Da sie mm a1)er infolge ihrer inneren Anlagen
nicht immer so handeln können, wie es ,,die Welt“ verlangt, so
müssen sie lügen und sich verstellen. Uber andere urteilen sie in
pharisäerhafter Weise sehr absprechend und tun doch heimlich
oft genau das gleiche, wie der, den sie verurteilten.
Wenn Unglück sie trifft, oft schon dann, wenn nicht alle ihre
Wünsche erfüllt werden, kommt es zu Szenen und maßlosen Ge¬
fühlsausbrüchen. Dann sind sie die ,,Unverstandenen“, alle
Vorsicht und gesellschaftliche Gewandtheit verläßt sie und es
tritt, wenn auch nur für .Augenblicke, der nackte Egoismus und
die ganze Disziplinlosigkeit ihres Fühlens und Denkens zutage. —
Eine nicht notwendige, aber oft zu findende Beigabe zum
hvsterischen Charakter ist schließlich eine pathologisch entwickelte
I’hantasie. Diese treibt die Kranken, sich in Wachträumereien
einzuspinnen, die sich weit von der nüchternen Wirklichkeit ent¬
fernen. Je lieber ihnen diese Vorstellungen werden, je öfter sie
wiederholt werden und je mehr sie sich in das Denken des Kranken
hineindrängen, desto unschärfer wird die Grenze zwischen Phan¬
tasie und Wirklichkeit, und die Hysterischen fühlen sich dabei so
wohl, daß sie die Kritik nicht aufkommen lassen, sondern sich
hemmungslos den liebgewordenen (jedanken hingeben.
Da, wo die Phantasie übermächtig ist, bewirkt sie bisweilen,
daß der Patient entsprechend seinen Wachträumereien handelt
und so unter Umständen zum Hochstapler wird. —
Die Hysterie ist eine derjenigen Krankheiten, über welche in
Laienkreisen vielfach die unzutreffendsten Anschauungen herr¬
schen. Besonders nach zwei Richtungen hin ist dies der Fall.
Für viele Laien, ja auch für einzelne Arzte, decken sich die Be¬
griffe Hysterie, „Simulation“, „Verstellung“, „Sichaufspielen-
wollen“ mehr oder minder vollkommen. Für sie ist die Hysterie
also keine Krankheit, sondern eine schlechte Charakterveranlagung,
gegen die sie mit Schimpfen und Schlagen vorgehen. Ihren Ur¬
sprung hat diese Ansicht wohl in der Tatsache, daß ein Teil der
hysterischen Symptome psychisch leicht beeinflußbar ist. .Aber
wie schon oben ausgeführt, kann man das keineswegs für alle
Krankheitserscheinungen behaupten. Die Hvsterischen können
nicht immer, wie sie wollen; es zeigt sich vielmehr ihr hyste¬
risches Temperament auf Schritt und Tritt, oft auch dann,
wenn es ihnen nicht angenehm ist. Wenn sie, sit venia verbo,
aus ihrer Haut herauskönnten, dann würden sie sich zum min-
Die Hysterie.
647
(lesten von kriminellen Handlungen viel häufiger fernhalten, als
dies in Wirklichkeit geschieht, und sie würden in der Gesellschaft
eine andere Rolle spielen, als das der Fall ist.
Der zweite Punkt, in dem Hysterische vielfach falsch be¬
urteilt werden, betrifft ihr Geschlechtsleben. Für manchen Un¬
eingeweihten sind die Worte Hysterie und Sinnlichkeit Syno¬
nyma. Das ist zweifellos so allgemein ausgedrückt nicht richtig.
Wohl gibt es unter den Hysterischen auch eine ganze Reihe von
nymphomanischen Frauen. Ebenso sicher ist ferner, daß die
Hysterischen auch einen beträchtlichen Anteil zu den sexuell
Perversen stellen, es gibt aber doch nicht wenig Hysterische, die
nach der umgekehrten Seite geartet sind, und sich als aus¬
gesprochen frigide erweisen'). —
Ehe wir zur Betrachtung der schwereren psychischen Stö¬
rungen übergehen, welche sich auf dem Boden der Hysterie ent¬
wickeln können, ist noch nachzutragen, daß sich die Hysterie mit
angeborenem Schwachsinn verbinden kann, und daß bei derselben
Persönlichkeit degenerative mit hysterischen Krankheitszeichen
aufs innigste vereinigt sein können. Dieser Umstand ist inso¬
fern von be.sonderer Wichtigkeit, als sich aus diesen Mischformen
gerade die Kriminellen rekrutieren. —
Bei den schwereren Störungen psychischer
Natur muß man unterscheiden zwischen solchen, die nur eine
momentane Steigerung von dauernd vorhandenen Charakterzügen
darstellen, und schweren Geisteskrankheiten.
\’on den ersteren sind die maßlosen Affektausbrüche aus ge¬
ringfügigen Anlässen, ferner die Neigung zu phantastischen Er¬
zählungen und die Störungen der Wahrnehmung im Sinne ihrer
Träumerei zu nennen, das heißt, die Kranken erzählen nicht das,
was sie wirklich gesehen haben, sondern sie deuten ihre Erleb¬
nisse um, und erzählen das, was sie gewünscht haben, zu erleben.
Zu welchen weitgehenden Konsequenzen diese pathologisclicn
Eigenschaften führen können, zeigt ein Fall, der sich vor einigen
Jahren in einer Großstadt zugetragen hat.
') Gefördert ist die hier bekämpfte Anschauung durch die Psycho¬
analyse. wie sie heute vielfach betrieben wird. Vergl. z. B. Zeitschr. f.
Psychotherapie, Bd. 1. Weitere Literatur s. bei Friedländer, Hysterie u.
Psychoanalyse. Psych. Wochenschr., 11. Jahrg. und Schulz, Zeitschr. f.
angewandte Psychol. 1909, Nr. 2. Förster, Neurose u. Sexualethik.
Hochland Dez. 1908.
O 48 Die Hysterie.
Eine etwa 25jähr. Schneiderin, die an schwerer Hysterie ohne An¬
fälle, aber mit Neigung zu phantastischen Erzählungen litt, und diese
Neigung durch reiche Lektüre von Hintertreppenromanen noch förderte,
träumte sich in ein Liebesverhältnis mit einem Freiherrn hinein, wie
es in solchen Romanen beschrieben ist. Sie erzählte auch ihrer Um¬
gebung, daß ein Freiherr von X. sie liebe und daß sie dessen Gefühle
erwidere. Sie schrieb an ihren Freier glühende Liebesbriefe postlagernd,
holte sie ab, erwiderte sie dann selbst und unterhielt auf diese Weise
einen regen Briefwechsel mit sich selbst. Weiter erzählte sie eines
Tages ihrer Umgebung, daß sie sich mit dem Freiherrn von X. verlobt
habe und in absehbarer Zeit die Hochzeit sein würde. Der Briefwechsel
wurde auch während der Verlobungszeit fortgesetzt. Schließlich zog sie
auch die letzte Konsequenz aus ihren Phantasien, ging in Ausstattungs¬
geschäfte und begann dort eine entsprechende Aussteuer in Wäsche usw.
zu bestellen, die sie mit der Freiherrnkrone und den Initialen ihres er¬
träumten Bräutigams zeichnen ließ. Da sie die bestellten Sachen nicht
bezahlen konnte, wurde sie verklagt. Soweit dem Verfasser bekannt ist,
wurde sie auch verurteilt.
Daß es sich in diesem Falle nicht etwa um Wahnideen
handelte, sondern um die Ausgeburt einer pathologisch ent¬
wickelten Phantasie, ging deutlich aus den Verhandlungsberichten
hervor, in denen die Kranke selbst zugestand, sie habe wohl ge¬
wußt, daß alles nicht richtig sei. Es habe ihr aber Spaß gemacht,
sich in diese Situationen hinein zu träumen und deshalb habe sie
auch die letzten Konsequenzen aus ihren Träumereien gezogen. —
Die länger dauernden hysterischen Psychosen
werden eingeteilt; a) in Dämmerzustände, b) in deliriöse Zu¬
stände und c) spricht man noch von der sogenannten hysterischen
Paranoia.
Die häufigst vorkommenden hysterischen Psychosen sind die
sogenannten Dämmerzustände.
Sie können sich an einen Anfall anschlicßen, einem solchen
voraufgehen oder selbständig, ohne daß ein Anfall damit in Ver¬
bindung steht, auftreten. Auf körperlichem Gebiete fallen die
Kranken durch Rötung oder Blässe des Gesichts und verschleierten
Blick auf. Sie zeigen ferner in einer Reihe von Fällen eine
triebartige Unruhe, mitunter auch ein ausgesprochen kindliches
Gebaren.
Auf psychischem Gebiete ist das hervorstechendste Symptom
die Bewußtseinstrübung. Die Kranken sind örtlich, zeit¬
lich und über ihre Person teilweise oder ganz unorientiert. Das
Denken ist schwer gestört, das Gebaren des Kranken macht oft
Die Hysterie.
649
einen läppischen Eindruck, bisweilen werden Größenideen ge¬
äußert. Dazu kommt ein von Moeli und Ganser beschriebenes
Symptom, das sogenannte „Vorbeireden“ ^).
Die Erscheinung besteht darin, daß die Kranken entweder
Dinge, die sie unter allen Umständen kennen müssen, nicht
richtig bezeichnen, oder daß sie Antworten geben, die ganz falsch
sind und doch beweisen, daß die gestellte Frage oder der be-
zeichnete Gegenstand wohl verstanden oder erkannt wurde.
2X5 = 11, die Farbe des Schnees ist schwarz, Blut weiß. Eine
Taschenuhr, die man dem Patienten hinhält, deren kleiner Zeiger
auf drei steht, wird als drei bezeichnet und ähnliches mehr.
Diese Dämmerzustände können längere Zeit anhalten und
sich über mehrere Tage, sogar Wochen erstrecken. Besonders
häufig entstehen sie in der Haft. Nicht selten verbinden sie sich
mit stuporartigen Zuständen^). Der Verlauf der Erkrankung ist
dann der, daß bei dem Patienten plötzlich ein heftiger Erregüngs-
zustand mit Neigung zu Gewalttaten einsetzt, der innerhalb
weniger Stunden oder Tage abklingt und einem Zustande voll¬
kommener Regungslosigkeit Platz macht. Der Kranke antwortet
nicht mehr, spricht spontan nicht, nimmt keine Nahrung zu sich,
ist mitunter ausgesprochen ablehnend. Nadelstiche in die Haut
lösen keinerlei Reaktion aus, auch dann nicht, wenn sie unvermutet
appliziert werden. Der Stupor löst sich dann nach einigen Tagen
oder W'ochen und macht einem Ganserschen Dämmerzustand Platz,
der schließlich nach i—8 Wochen auch schwindet.
Diese Zustände können sich, meist als Folge einer äußeren
Veranlassung, mitunter aber auch ohne eine solche, bei demselben
Individuum mehrfach wiederholen. So haben wir hier einen
Knaben beobachtet, der eine mäßig schwere Kopfverletzung er¬
litten hatte und mehrere Monate lang allwöchentlich 3—4mal
Gansersche Dämmerzustände bekam, die für gewöhnlich 12 bis
18 Stunden dauerten.
Eng verwandt mit den eben geschilderten Bewußtseins¬
trübungen sind die sogenannten Trancezustände (Somnam¬
bulismus), welche in spiritistischen Sitzungen eine große Rolle
spielen.
’) Literatur s. 0 ., ferner; Nämisch, Monatsschr. f. Psych. 1913. Bon-
hoeffer, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 68. Stern, Arch. f. Psych., Bd. 50.
Flatau, Zeitschr. f. d. ges. Neurol., Bd. 15.
“) Während derselben kann auch Katalepsie bestehen.
650
Die Hysterie.
Das Studium') einer ganzen Reilie derartiger Medien, die
sich betrügerische Manipulationen hatten zuschulden kommen
lassen (cs sei aus den letzten 10 Jahren insbesondere auch der
Fall Anna Rothe zitiert), zeigten, daß es sich größtenteils um
schwere hysterische Personen handelte, die in jene kataleptischen
und Schlafzustände verfielen.
Das Wesentliche ist auch da wohl eine Einengung des Be¬
wußtseins, in der alle möglichen Vorstellungen auftauchen, die
das Individuum unter Umständen zu kriminellen Handlungen
führen.
Man muß sich allerdings darüber klar sein, daß nicht alles,
was von derartigen Personen getan wird, auch im somnambulen
Zustande geschieht. Die gewerbsmäßigen spiritistischen Medien’)
sind natürlich darauf angewiesen, schon aus geschäftlichen
Gründen immer zu spiritistischen Sitzungen bereit zu sein und
pflegen auch diese Sitzungen außerhalb des Trancezustandes zu
präparieren. Wenn deshalb nicht in der Gesamtpersönlichkeit des
Mediums die erforderlichen Voraussetzungen für das Zutreffen
des § 51 zu finden sind, dann wird man für jeden einzelnen Be¬
trugsfall nachweisen müssen, daß der Angeklagte unzurechnungs¬
fähig war.
Daß es in somnambulem Zustand zu kriminellen Handlungen
kommen kann und zwar mit nachfolgender Amnesie, beweist
folgender Fall, den ich einer bekannten Dame verdanke.
Dieselbe war eines Nachts aufgestanden, hatte einen Brillantring,
der auf ihrem Nachttisch lag, ergriffen und versteckte denselben im
Schlafzustand unter einem Kleiderschrank. Sie ging dann ins Bett
zurück. Am nächsten Tage vermißte sie den Ring und bezichtigte eine
bestimmte Person des Diebstahls, ln der darauffolgenden Nacht stand
sie wiederum auf und holte in demselben Zustand den Ring wieder vor.
Ihre im gleichen Zimmer schlafende Schwester hatte den ganzen Vorgang
beobachtet und befragte sie deshalb. Sie selbst wußte nichts davon.
*) Henneberg, Spiritismus u. Oeistestsörung. Arch. f. Psych., Bd. 34,
S. 998. Derselbe, Arch. f. Psych., Bd. 37, S. 673. Donath, Wiener med.
Wochenschr. 1903. Marie et Viollet, Spiritisme et folie. Journ. de psy-
chol. scx. et pathol. 1904.
’) Da wiederholt durch spiritistische und hypnotische Vorstellungen
Qcsundheitsschädigungen hervorgerufen worden sind, wurden durch Er¬
laß vom 2. Juli 1903 öffentliche Schaustellungen dieser Art verboten. —
S. a.: einbaum, Qerichtsärztl. Beurteilung von Geistesstörungen nach
Hypnose, Heilkunde 1903 und Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1903, S. 199.
Die Hysterie.
651
Sie bedauerte aber außerordentlich, daß sie gegen einen Unschuldigen
einen Verdacht ausgesprochen hatte.
Weiterhin verwandt mit den Dämmerzuständen sind auch
die sogen. S’chlafanfälle, welche bei Hysterischen beobachtet
werden. Sie sind kein absolutes Charakteristikum der H3'sterie,
sondern kommen auch bei Degenerierten vor. Ich erwähne sie
deshalb, weil ich sie mehrfach nach Betriebsunfällen, einmal auch
nach einem unangenehmen Erlebnis habe auftreten und längere
Zeit bestehen sehen. Den letzterwähnten Fall möchte ich kurz
berichten.
Ein löjähr. Qärtnerlehrling, der schon in der Jugend durch manche
Absonderlichkeiten aufgefallen war, insbesondere durch ängstliche
1 räume, Neigung zum Lügen, zeitweilige Reizbarkeit, Ungleichheit der
Schulleistungen, kleine Diebstähle und dauernder Ungehorsam gegen die
Eltern, wird eines Tages von einem elegant gekleideten Herrn an¬
gesprochen, unterhält sich mit demselben längere Zeit auf einer Prome¬
nadenbank und folgt ihm dann in einen Park, wo dieser ihn päderastiert.
Da die Prozedur sehr schmerzhaft war, regte sich der Junge darüber
sehr auf. ln direktem Anschluß daran entstanden nun Schlafanfälle. Der
Kranke schlief mitunter beim Essen ein und blieb mehrere Stunden in
diesem Zustande. Wir haben ihn längere Zeit in der Klinik beobachtet;
es gelang auch durch Suggestion, die Schlafanfälle hervorzurufen. Nach
mehrwöchentlicher Behandlung schwanden sie. Statt dessen stellten sich
leichte Schwindelerscheinungen ein.
Das Wesentliche an diesen Zuständen ist, daß die Kranken
in einen mehr oder minder tiefen Schlaf versinken, der unter
Umständen sich über mehrere Tage und Wochen erstrecken
kann^). Mitunter ist derselbe so tief, daß die Nahrungszufuhr
Schwierigkeiten macht.
Gleichfalls mit einer Bewußtseinstrübung einhergehend und
durch massenhafte Sinnestäuschungen und Wahnideen ausge¬
zeichnet sind die hysterischen Delirien. Der Inhalt der
deliriösen Erlebnisse ist meistenteils ein ausgesprochen ängst¬
licher. Der Kranke hat zahlreiche schreckhafte Visionen, er sieht
insbesondere drohende Gestalten und hört schimpfende Stimmen,
so daß er hochgradig ängstlich wird, vor seinen vermeintlichen
Verfolgern zu fliehen sucht oder sich zur Wehr setzen will. Nach
Abklingen des Deliriums besteht eine mehr oder weniger voll¬
ständige Amnesie.
’) Berl. klin. Wochenschr. 1904 und 1905. Euleiiburg, Med. Klinik
1906. Ein Teil der beschriebenen Fälle betrifft aber Katatoniker.
652
Die Hysterie,
Der deliriöse Zustand kann sich zu einem Stupor weiter ent¬
wickeln oder auch in einen Ganserschen Dämmerzustand über¬
gehen. Nach unseren Beobachtungen wechselt überhaupt das
Bild der hysterischen Bewußtseinstrübungen sehr leicht und sehr
rasch, so daß man deliriöse Zustände, ausgesprochen paranoide
und Gansersche Symptomenkomplexe bei demselben Individuum
innerhalb kurzer Zeit beobachten kann. Diese Erscheinung ist
übrigens schon bei den ersten genauer beschriebenen Fällen hervor¬
getreten (vergl. z. B. die von A. Westphal gebrachte Kranken¬
geschichte ^).
Weiter zu erwähnen sind schließlich noch die paranoiden
Symptomenkomplexe, bei denen eine Bewußtseinsstörung nicht
nachweisbar ist. Man hat bei diesen Zuständen, die sich zum
Teil recht langsam entwickeln können, von hysterischer Paranoia
gesprochen. Das folgende Beispiel zeigt die Entwickelung der
Symptome und gleichzeitig auch die Tatsache, daß diesen Zu¬
ständen auch forensische Bedeutung beizumessen ist.
H. B., geboren 6. August 1881. Kontoristin. Die Patientin, welche
längere Zeit in der Behandlung des Verfassers war, und an Zwangs¬
vorstellungen, Neigungen zu Affektausbrüchen, erotischem Wesen und
hypochondrischen Klagen litt, zu denen auf körperlichem Gebiete leichte
Steigerung der Sehnenreflexe, halbseitige Hypalgesie und Fehlen der
Kachenreflexe sich gesellte, erschien eines Tages, nachdem sie sich
längere Zeit nicht gezeigt hatte, in der Sprechstunde und brachte jetzt fol¬
gende Wahnideen vor: Sie wolle sich wieder einmal ärztlichen Rat holen.
Sie wisse nicht, ob sie geisteskrank sei, oder ob alles, was sie erlebt habe,
Einbildung sei. Herr Qeheimrat W. habe ihr zwar gesagt, es handele
sich um krankhafte Vorstellungen, sie habe das auch eine zeitlang ge¬
glaubt, jetzt sei sie anderer Meinung. Nach dem Inhalt ihrer Erlebnisse
gefragt, fährt sie fort: „Sie wissen das ja alles schon. Der Arzt aus B.
hat es Ihnen ja längst geschrieben.“
Erst nach längerem Zureden bringt sie folgendes vor: Sie habe
ihr ganzes Empfinden in Gedanken niedergelegt, und geschriftstellert.
Ihre Entwürfe habe sie verschiedenen Redaktionen eingesandt. Die¬
selben seien auch teilweise angenommen worden. Es habe sich z. T.
um Sachen ä la Marie Madelaine gehandelt.
Kurze Zeit, nachdem die Manuskripte an die Redaktionen gelangt
waren, sei sie zu einem Arzt gegangen. Dieser habe sofort gemeint,
sie sei Kassenpatientin und habe mit ihr über sexuelle Fragen zu
sprechen begonnen. Sie habe ihn darauf schnippisch behandelt. Seit¬
dem sei er verändert. Es sei wohl ein Racheakt. Sie habe ihm ihre
Gedichte zur Beurteilung eingeschickt. Er habe sie nicht zurück-
) Neurolog. Zcntralbl. 1904.
Die Hysterie. 653
gesandt, sondern sich erst mehrfach dazu auiiordern lassen. Offenbar
habe er seine Studien an ihr gemacht. Als sie dann zu einem anderen
Arzt ging, brauchte der sofort solche Redewendungen, wie sie in ihren
literarischen Arbeiten vorkamen. Dieser gab ihr dann auch Petrol¬
äther- zum Einreiben, wodurch bei ihr geschlechtliche Erregungen her¬
vorgerufen wurden. Einige Male habe er auch obszöne Redensarten
gebraucht, aus denen hervorging, daß er mit ihr geschlechtlich ver¬
kehren wollte. Sie sei dann zu einem dritten Arzt gegangen. Als sie
mit diesem zu sprechen begann, stellte sich heraus, daß er ihre ge¬
samten Werke kannte. Sie schloß daraus, daß sämtliche Ärzte unter
einer Decke steckten. Man mißgönne ihr ihr Talent und wolle sie um¬
bringen.
Als ihr versichert wird, daß es sich um krankhafte Vorstellungen
handele, zunächst einsichtig. Will sich heilen lassen. Deshalb Auf¬
nahme in die Klinik. Hier in den nächsten Tagen völlig uneinsichtig.
Königliche Haltung. Behandelt alle Personen ihrer Umgebung, auch
den Arzt von oben herab; hält sich für eine bedeutende Schriftstellerin.
Dabei mißtrauisch; glaubt, daß der Arzt mit den übrigen Kollegen ge¬
meinsame Sache mache, verlangt entlassen zu werden. Als ihr dies
verweigert wird, wird ihr zur Gewißheit, daß auch der hiesige Arzt
an dem Komplott beteiligt sei; er wolle sie zu einem interessanten
klinischen Fall stempeln und dann veröffentlichen.
Dabei zeitweise ängstlich; glaubt, daß der Petroläther noch nach¬
wirke und sie auf diese Weise vergiftet werden solle. Nimmt keine
Arznei aus Furcht vor Gift und außerdem weil sie glaubt, daß dieselbe
sie geschlechtlich errege, ln diesem Zustande bleibt sie mehrere
Wochen; fest überzeugt von der Richtigkeit ihrer Verfolgungsideen; nach
und nach beruhigt sie sich aber etwas, so daß der Versuch gemacht
wird, sie mit einer Pflegerin im Garten spazieren gehen zu lassen;
hierbei entweicht sie.
Die später eingezogenen Erkundigungen ergaben, daß der Zustand
sich in einem halben Jahre gebessert hatte. Die Kranke war einsichtig
und ging ihrem früheren Beruf wieder nach.
ln diesem Falle handelte es sich um einen aus degenerativ-
hysterischer Anlage herausgewachsenen paranoischen Zustand, der
mehrere Monate anhielt und dann wieder schwand. Ob und welche
äußeren Momente die Erkrankung ausgelöst hatten, vermochten
wir nicht zu ermitteln.
Die forensische Bedeutung des Zustandes liegt darin, daß die
Patientin zu allen Personen ihrer Umgebung äußerst grob und
beleidigend sich verhielt, außerdem aber an die Ärzte, von denen
sie glaubte, daß sie im Komplott gegen sie ständen, mehrfach
Briefe sehr beleidigenden Inhaltes geschrieben hatte. —
Von besonderer praktischer Bedeutung sind einige Zustände,
654
Die Hysterie.
welche von Stertz^) mit dem Ausdruck Pseudodemenz belegt
worden sind. Es handelt sich um Erkrankungen“), die meiner
Meinung nach zur Hysterie“) gehören und gekennzeichnet sind
durch eine erhebliche Erschwerung der Reproduktion des Ge¬
dächtnisinhaltes, d. h. wenn man die Kranken ganz geläufige
Dinge fragt, so müssen sie sich entweder außerordentlich lange
besinnen, ehe sie eine richtige ^Mitwort Vorbringen können, oder
sie sind dazu überhaupt außerstande. Daß es sich dabei nicht
etwa um eine dauernde und irreparable Störung handelt, hat die
Erfahrung längst gelehrt. Stertz hat Fälle beschrieben, in denen
Genesung oder wenigstens weitgehende Besserung eintrat, die
dann ganz plötzlich wieder schwand, nachdem der Patient einer
neuen psychischen Erregung ausgesetzt war. Unter unseren
Fällen befindet sich einer, bei dem wir während des Aufenthaltes
in der Klinik das vollständige Bild einer Pseudodemenz nach-
weisen konnten. N'^ierzehn Tage später nahm derselbe Kranke in
seiner Heimat an einer Gerichtsverhandlung teil, wo er seine
Interessen mit größter Energie und mit beträchtlicher dialektischer
Gewandtheit vertrat^).
Jahrelanges Studium dieser Patienten hat gelehrt, daß es sich
nicht etwa um Simulanten handelt. Die Kranken haben durch¬
weg eine Reihe von körperlichen Symptomen, in erster Linie
Gefühlsstörungen, meist auch Tachykardie, Händezittern und
dergleichen.
Lhn eine Bewußtseinstrübung, wie wir sie bei den hyste¬
rischen Dämmerzuständen kennen gelernt haben, handelt es sich
dabei aber nicht, denn die Patienten sind in den meisten Fällen
örtlich, zeitlich und über ihre Person ungefähr orientiert. Das
Symptom des Vorbeiredens zeigen sie nicht oder doch nur selten
und dann auch nur angedeutet. Im Gegensatz zu den Vorbei¬
redenden pflegen die Kranken meistenteils selbst zu erklären, daß
*) Zeitschr. f. ärztl. Fortbildung 1910. Vergl. auch Haenisch. Monats¬
schrift für Psych. 1913.
“) S. auch das Kapitel Unfailneurosen und Psychosen.
“) Weitere Literatur: Weygandt, Neurol. Zentralbl. 1907, S. 616 und
Zentralbl. f. Nervenheilk. 1908, S. 874. Marina, Neurol. Zentralbl. 1907.
S. 882. H. Oudden, Neurol. Zentralbl. 1900, Nr. 1. Donath, Arch. f.
Psych., Bd. 44.
‘) Die Behörde wollte infolgedessen ein Erniittelungsverfahren ein¬
leiten. weil sie glaubte, der Kranke sei gar nicht selbst bei uns gewesen,
sondern habe in betrügerischer Absicht einen anderen hergeschickt.
Die Hysterie.
655
sie eine bestimmte Frage nicht zu beantworten, einen vor¬
gehaltenen Gegenstand nicht zu bezeichnen vermögen und zwar
deshalb nicht, weil ihr Gedächtnis zu schwach sei.
Daß diese Fälle in naher Beziehung zu den hysterischen
Dämmerzuständen stehen, hat uns eine Beobachtung gelehrt, die
von A. Westphal veröffentlicht worden ist.
Der Kranke bot zunächst monatelang das Bild eines Stupors, in
dem er gar nicht sprach, nur ab und zu einige läppische Bewegungen
machte und etwas grimmassierte, bis er eines Tages ganz akut er¬
wachte. Für den ganzen Zustand hatte er vollkommene Amnesie und
wußte nicht, wo er sich befand. Er mußte sich auch nach allem, was
seit dem Unfall mit ihm vorgegangen war, besonders erkundigen. Er
wußte nicht mehr, daß er einen Unfall erlitten hatte. Alles das suchte er
nun durch interessierte Fragen herauszubekommen. Nach kurzer Zeit
konnten wir ihn entlassen, da sich außer einer Hyperalgesie, einer leich¬
ten Steigerung der Sehnenrcflexe verbunden mit Dermographie nichts
weiteres bei ihm fand. Schon nach einigen Tagen wurde er zurück¬
gebracht und zwar in vollkommen verändertem Zustande. Er war
wiederum stuporös, erwachte aber sehr bald. Unter unseren Augen stellte
sich nun eine Störung des Schreibens ein. Anfangs vermochte er noch
mit Zitterschrift seinen Namen und einige andere Worte zu schreiben,
später verlor er die Fähigkeit zu schreiben vollkommen (Agraphie).
Weiter kam hinzu, daß er auch bekannte Gegenstände bald nicht mehr
bezeichnen und gebrauchen konnte und schließlich vollständig hilflos
wurde. In diesem Zustande soll er sich im Juni 1913 noch befunden
haben, obwohl seine Rentenangelegenheit seit 3 Jahren definitiv er¬
ledigt ist.
Der Fall beweist das, was ich vorhin ausführte, nämlich daß
sich an einen Dämmerzustand nach kurzer Zeit der Luzidität
andere anschließen können, die als Bewußtseinstrübung nicht mehr
gedeutet werden dürfen. Denn während dieser zweiten Periode
seiner Krankheit war der Patient orientiert, erkannte seinen
Defekt, suchte ihn zu motivieren. Es fehlte das Symptom des
Vorbeiredens. Der ganze Zustand während dieser Zeit dürfte
wohl am ehesten dem Bilde der Pseudodenienz entsprechen. Daß
es sich nicht etwa um eine Katatonie handelte, ging einmal aus
dem Vorhandensein einer Reihe von körperlichen Erscheinungen
herv'or, die hysterischer Natur waren. Ferner war das auch an
der außerordentlichen Beeinflußbarkeit zu erkennen, die der
Kranke zeigte. In jeder ungewohnten Situation wurde er un¬
ruhig, begann zu zittern, wie wir es bei der Unfallhysterie öfters
0 Arch. f. Psych. 1910, Bd. 47.
656
Die Hysterie.
zu sehen bekommen. Weiterhin war auffallend die enorme Er¬
müdbarkeit. Im Anfang einer Exploration gelang es dem Unter¬
sucher meist, noch einige Antworten zu erhalten. Sehr rasch
versagte der Kranke aber und zeigte während der ganzen Zeit
das charakteristische Verhalten des Pseudodementen, d. h. er
zeigte Kritik für die eigene Unzulänglichkeit, die sich in Worten
und Gesten zu erkennen gab. Daneben konnte man eine zu¬
nehmende Unsicherheit und Ratlosigkeit beobachten, die sich
gleichfalls in den Gesichtszügen ausprägte. —
Die Pseudodemenz braucht nicht immer in ihrer schwersten
Form aufzutreten. Häufiger findet man nur eine Erschwerung
und Verlangsamung des Denkens, so daß der Kranke Fragen, die
an ihn gerichtet werden, doch schließlich richtig beantwortet,
allerdings sehr langsam, oft auch unsicher. W'enn man den
Patienten einige Zeit exploriert hat, versagt er dann infolge seiner
gesteigerten Ermüdbarkeit vollständig. —
Noch auf eine Gruppe von Krankheitserscheinungen habe ich
aufmerksam zu machen, die, wie ich glaube, auch hierher gehört.
Auch sie wird vorwiegend, aber nicht ausschließlich, bei Unfall¬
kranken beobachtet. Es handelt sich dabei um folgendes:
Auf der Basis einer schweren Hysterohypochondrie (meist
traumatischen Ursprungs) können Verfolgungsideen und Sinnes¬
täuschungen entstehen*). Es kommt nicht zum Ausbau einer
vollständigen hysterischen Paranoia, wie sie oben beschrieben
worden ist, sondern es handelt sich mehr um episodische Wahn¬
bildungen. Bei genauem Nachforschen läßt sich nicht selten fest¬
stellen, daß eine äußere Veranlassung für das Auftreten der krank¬
haften Erscheinungen vorhanden ist. Immer ist aber eine solche
exogene Ursache nicht nachzuweisen.
Charakteristisch ist ferner, daß unmittelbar vor dem Auf¬
treten dieser Erscheinung auch die hysterisch-hypochondrischen
Symptome und die körperlichen Klagen erheblich zunehmen.
Umgekehrt bessern sich um die Zeit, wenn die Halluzinationen
und Wahnideen schwinden, auch die übrigen Symptome. Im
übrigen handelt es sich um Wahnideen, die gegen die Berufs¬
genossenschaft oder bestimmte Personen gerichtet sind, und um
Halluzinationen ängstlichen Inhalts. Ausgelöst werden dieselben
*) Hübner, Selbstmord. Jena. Q. Fischer. Kurthen, Atypische Un¬
fallpsychosen. In.-Diss. Bonn 1911.
Die Hysterie.
657
durch einen unfreiwilligen Ortswechsel oder durch Rentenherab¬
setzung, angeblich ungerechte Behandlung durch Dritte und ähn¬
liches. Einige hierher gehörige Fälle habe ich in meiner Mono¬
graphie über den Selbstmord als atypische Unfallpsychosen be-
schrieljen. Ich glaube jetzt, daß sie der Hysterie ganz zuzu¬
rechnen sind oder jedenfalls zu ihr in naher Beziehung stehen.
Dafür spricht schon allein die psychogene Entstehung.
Alle diese Zustände haben das eine gemeinsam, daß sie
außerordentlich leicht für reine Simulation gehalten werden.
Das aber ist zweifellos nicht der Fall; schon aus dem Grunde
sollte man von dieser Anschauung abkommen, weil der Kranke
den Symptomenkomplex mitunter über viele Jahre in gleicher
Weise zeigt und wir aus der früheren Literatur längst wissen,
daß auch ohne Rentenansprüche und ohne daß irgendwelche
gerichtliche Verfahren schweben, bei Hysterischen jahrelang der¬
artige Zustandsbilder beobachtet werden können.
Ich möchte diese klinischen Ausführungen nicht schließen,
ohne noch einer Erscheinung zu gedenken, die dem Laien als
etwas besonders Merkwürdiges erscheinen muß. Ich meine die
Neigung mancher Hysterischer zu Selbstbeschädigungen*).
Es gibt Hysterische, die aus verschiedenen Gründen, sei es,
daß sie die Aufmerksamkeit des .Arztes auf sich lenken wollen,
sei es, w’ie wir es erlebt haben, daß sie verhindern wollen, daß
man sie aus dem Krankenhause entläßt, um das Mitleid anderer
Menschen für sich wach zu rufen und aus ähnlichen Gründen sich
durch Kratzen oder Reiben Hautverletzungen beibringen. Eine
unserer Kranken band sich feine Fäden um den Unterschenkel,
so daß dadurch eine starke Schwellung auftrat, die von einem
Chirurgen als Knochentuberkulose gedeutet wurde und zu einer
(Iperation führte. Einige Jahre später versuchte die Kranke mit
dem anderen Fuß dasselbe Manöver. Ehe es zur Operation
kam, W’urde ihr Wrhalten aber in der hiesigen chirurgischen
Klinik entdeckt. Wie weit diese Neigung zu direkten und in¬
direkten“) Selbstbeschädigungen gehen kann, hat uns insbesondere
ein Fall gelehrt, in dem eine Hysterische jahrelang einen voll¬
ständigen Symptomenkomplex klagte, der von den verschiedensten
*) Bettmann, Hysterische SelbstverstiimmelunR. Miinchn. med.
Wochenschr. 1903.
“) Darunter verstehe ich die Vortäuschung eines Symptomen-
komplexes zu dem Zwecke, eine Operation zu erreichen.
Hnbner, Forensische Psychiatrie. 42
658
Die Hysterie.
erfahrenen Ärzten stets als Kleinhimabszeß gedeutet wurde und
zu mehreren umfangreichen Schädeloperationen geführt hatte.
Die Kranke verlangte immer von neuem operiert zu werden.
Schließlich kam sie durch Zufall in unsere Klinik, wo wir nach
längerer Beobachtung ihres ganzen Wesens auf den Verdacht
kamen, daß es sich nur um Hysterie handeln könnte. Auf
energische suggestive Beeinflussung verschwand denn auch der
ganze Komplex von Erscheinungen in wenigen Tagen. Statt
dessen traten allerdings andere hysterische Symptome auf. —
Wenn wir nach diesen klinischen Erörterungen zur Be¬
sprechung der forensischen Bedeutung der Hysterie*)
übergehen, so haben wir folgende allgemeine Bemerkungen voran¬
zustellen.
Die Hysterie gehört zu denjenigen Krankheiten, mit denen
der Strafrichter besonders häufig zu tun hat. Unter 196 Fällen,
welche uns in den letzten Jahren aus dem Strafvollzug oder aus
der Untersuchungshaft zugeführt wurden, befanden sich allein
23 Fälle von Hysterie. Von diesen war ein Teil nach der Tat
in Geisteskrankheit verfallen, im Untersuchungsgefängnis viermal,
in der Strafhaft zweimal. Die übrigen 17 Fälle waren zur
Beobachtung gemäß § 81 Str.P.O. geschickt worden. —
Wie bereits an verschiedenen Stellen betont wurde, und in
dieser Beziehung herrscht unter sämtlichen Autoren absolute
Einigkeit, gehört die Hysterie nicht ohne weiteres zu denjenigen
geistigen Abweichungen, die allein durch ihr Vorhandensein schon
Straffreiheit im Sinne des § 51 Str.G.B. begründen.
Diese Tatsache kommt auch bei unserem Material dadurch
zum Ausdruck, daß von den 17 Fällen 8 be'straft, 8 gemäß
') Fürstner, ZurechnungstähiKkeit der Hysterischen. Arch. f. Psych.
1899, S. 267. Wollenberg, Miinchn. med. Wochensclir. 1898. Binswanger
u. Krause, Monatsschr. f. Psych., Bd. 4, S. 336. Pick, Wiener klin. Rund¬
schau 1899. Henneberg, Forens. Bedeutung der Pseudologia phantastica.
Charite - Annalen 1900. Koppen, Klin.-therapeut. Wochenschr. 1903.
Lemke, In.-Diss. Greifswald 1903. Bürgl, Hysterie. Stuttgart 1912.
F. Enke. Hoesel, Kas. Beitr. über d. strafr. Zurech, der Hyst. Viertel-
jahrsschr. f. gerichtl. Med. 1906, Bd. 32. Lücke, Qansersches Symptom
unter Berücks. seiner forens. Bed. .Allg. Zeitschr. f. Psych. 1903. Mora-
vosik, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1894. Siemerling in Schftiidtmanns
Handbuch der gerichtl. Med. 1906. Wildermuth, Zurechnungsfähigk. d.
Hyst. Jur.-psych. Qrenzfragen 1904, Bd. 2. Halle. Marhold. Wollen¬
berg im Handbuch und Münch, med. Wmchenschr. 1898.
Die Hysterie.
659
§ 51 freigesprochen und i wegen Mangels an Beweisen außer
\*erfolgung gesetzt wurden. Vielfach waren der Freisprechung
eine Reihe von Bestrafungen vorausgegangen, weil man zu jener
Zeit an das Vorliegen einer geistigen Abweichung noch nicht
gedacht hatte*). —
Bei den Bestraften handelte es sich meistens um unkompli¬
zierte Fälle von Hysterie, während die Freigesprochenen entweder
schwerere hysterische Symptome boten oder eine Kombination von
verschiedenen psychischen Abweichungen.
Daß die Beurteilung dieser Fälle zu dem Schwersten gehört,
was dem Sachverständigen zugerautet wird, ist weiter oben schon
ausgeführt. Es darf deshalb auch nicht wundernehmen, wenn die
verschiedenen Sachverständigen die Grenze zwischen Zurechnungs¬
fähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit an verschiedene Stellen
verlegen.
Es dürfte zweckmäßig sein, an einigen Beispielen zu zeigen,
wie die Gerichte entschieden haben.
K. B., geh. 19. November 1890, Dienstmädchen, zieht zum Zwecke
der Entbindung in die Stadt. Mietet sich dort ein Zimmer. Am näch¬
sten Morgen stand sie nicht auf, man vernahm aber aus ihrem Zimmer
ein Stöhnen. Als es geöffnet wurde, hatte die B. schon entbunden. Sie
hatte dem Kinde die Zunge ausgerissen, sie auf den Boden geworfen und
die Nabelschnur abgerissen. Über die Zeit der Tat wurde ermittelt,
daß die Patientin einen verstörten und ängstlichen Eindruck gemacht
hatte. Die Zeugen gaben an, sie habe nicht gewußt, wann sie ent¬
bunden habe, sei sehr erregt gewesen, habe geweint und gesagt, sie
habe mit dem Kinde nichts gemacht. Da der hinzugerufene Kreisarzt
annahm, daß ein epileptischer Verwirrtheitszustand bestand, wurde die
Kranke in eine Klinik gebracht. Dort unorientiert, weiß nicht, woher
sie kommt, zu welchem Zwecke sie in die Klinik gebracht worden ist.
Auf Befragen gibt sie an, sie solle ein Kind angefaßt haben, sie sei
bisher in Stellung gewesen, wann und wie lange wisse sie nicht. Dann
habe sie sich eine Schlafstelle genommen, dort habe sie Bilder gesehen,
und sei aus dem Bett gefallen. Ob sie zu jener Zeit entbunden habe,
wisse sie nicht. Sie könne auch nicht sagen, ob es ein Junge oder ein
Mädchen gewesen sei. Aus der Vorgeschichte ist wissenswert, daß der
Großvater der Patientin getrunken hat, sie selbst will in der Schule
schlecht gelernt haben und seit der Kindheit an Anfällen leiden, die sich
durch Zuckungen äußerten und hauptsächlich im Anschluß an Erregungs¬
zustände auftreten sollen. Sie sehe manchmal auch, so berichtet sie
weiter, mit offenen Augen schwarze Männer, die sie fressen wollen.
*) Über die von den Kranken begangenen Delikte s. S. 668.
42*
66 o
Die Hysterie.
Diese Männer springen um das Bett herum oder liegen neben demselben.
Gelegentlich höre sie auch ein oder zwei menschliche Stimmen.
Mitunter, wenn sie in Erregung geriet, schlug sie in der Klinik mit
Armen und Beinen um sich und rief dazu: „Ich kann nicht anders.“ Sie
schrie auch dann mit gellender Stimme den Arzt und die Pflegerinnen an.
Es wurde ein hysterischer Dämmerzustand zur Zeit der Tat an¬
genommen, und besonders darauf hingewiesen, daß 1. für die Tat
Amnesie bestanden hatte, 2. hatte die Kranke gar keinen Versuch ge¬
macht, die Geburt des Kindes zu verbergen, 3. sprach die spezielle Art
der Ausführung (Ausreißen der Zunge) dafür, daß ein Krankheitszustand
Vorgelegen hatte. Die Diagnose Hysterie wurde begründet 1. mit den
Anfällen, bei denen sie schwere Verletzungen offenbar nicht davon¬
getragen hatte. 2. Kam das Ergebnis der psychischen Beobachtung
während des Aufenthaltes in der Klinik in Betracht (das anfallartige
Umherwälzen, das Schreien und die lebhaften Affektausbrüche). 3. Hatte
zeitweise eine vollkommene Analgesie, pathologische Dermographie,
Steigerung der Refle.xe und Tachykardie bestanden.
Das Gericht schloß sich der Ansicht des Sachverständigen an,
und sprach die Angeklagte mit Rücksicht darauf, daß wahrscheinlich
ein Dämmerzustand bestanden hatte, frei. Sie ist dann nach längerer
Zeit in verschiedenen Anstalten gewesen.
Ein anderes Beispiel, in dem die Anklage wegen mehrerer
Betrügereien und Diebstähle erhoben wurde und Einstellung des
Verfahrens erfolgte, ist folgendes:
G. G., geb. 19. September 1888 als Kind angeblich nicht krank ge¬
wesen, körperlich sogar kräftig, ungleiche Schulleistungen. Nach der
Schulentlassung Bäckerlehrling, 1905 Tod der Mutter, danach sehr jäh¬
zornig; schimpfte leicht; geriet bisweisen in solche Erregung, daß er
nach seinen eigenen Angehörigen mit schweren Gegenständen warf.
1907 Sturz ins Wasser, seitdem drohte er, wenn man ihm seinen Wällen
nicht erfüllen wollte, öfters damit, er w’ürde aus dem Fenster springen
oder ins Wasser gehen. Nachdem er sich mit dem Vater entzweit hatte,
nahm er mehrfach für kurze Zeit Stellungen an, hielt es aber nirgends
lange aus, begann dann Gelder, die andere zu fordern hatten, einzu¬
kassieren, hob auf ein fremdes Sparkassenbuch 150 Mk. ab, borgte
alle möglichen Leute an, begann Liebeleien.
Schon immer Klagen über Kopf- und Leibschmerzen, Krämpfe in
den Beinen, schlechten Schlaf, auffallende Erregbarkeit. Im Anschluß
an eine aufregende Szene traten dann ticartige Zuckungen im Gesicht
auf, die sich bei gesteigerter Erregtheit dem ganzen Körper mitteilten
und schließlich aus nichtigen Anlässen in hysterische Krämpfe über¬
gingen.
Körperlich: Reflexsteigerungen, Andeutung von Fußclonus, all¬
gemeine Hyperästhesie, vasomotorische Störungen.
Belastung; Mutter beging Suicid, zwei Geschwister geisteskrank.
Während der Beobachtung genügt die geringste Kleinigkeit, um diese
eigentümlichen Zitteranfälle auszulösen, dazu erging sich Patient, wenn
Die Hysterie.
661
ihm irgend etwas nicht paßte, in den heftigsten Drohungen, wollte z. B.
einen Pfleger mit dem Messer niederstechen, suchte auch verschiedene
Patienten zu beschwindeln und in der Klinik Liebesverhältnisse anzu¬
fangen. Drohte bei jeder Gelegenheit mit Selbstmord.
Mit Rücksicht auf die schweren hysterischen Symptome wurde
das Verfahren wegen der Betrügereien gegen ihn eingestellt.
Besonders bemerkenswert erscheint mir der folgende Fall:
W. S., geboren 24. März 1890. Kaufmannslehrling; Brandstiftung.
Einstellung des Verfahrens.
Vater an Selbstmord gestorben, Patient als Kind bereits merk¬
würdig, energielos, lernte schlecht, stahl von Jugend auf. Im Gym¬
nasium bis Obertertia, machte sich überall durch sein Betragen un¬
möglich, deshalb 1906 aus der Schule in eine kaufmännische Lehre. Dort
nur kurze Zeit ausgehalten, dann wurde er entfernt, weil er seinem
Prinzipal 1300 Mk. gestohlen hatte, die er in einigen Tagen durch¬
brachte. Infolgedessen nach Hamburg als Schiffsjunge auf eine eng¬
lische Bark, die nach Nordamerika unter Segel ging. Unterwegs machte
sich der Bootsmann des Schiffes an ihn heran, um ihn zu unsittlichen
Zwecken zu benutzen. Dies geschah täglich mehrere Male. Wenn der
Patient sich nicht gefügig zeigte, wurde er bedroht und mißhandelt. In
Amerika angekommen, verließ der Kranke das Schiff, der Bootsmann
folgte ihm. S. nahm in einer Fabrik Stellung, dasselbe tat der Boots¬
mann auch. Als er sich dem Patienten dort wieder nähern wollte, kam
es zu einer großen Auseinandersetzung. Im Verlaufe derselben bekam
S. einen schweren Erregungszustand. Gleichzeitig trat der erste
Krampfanfall auf. Anfangs wiederholten sich die Krämpfe alle acht
Tage. Da sie auch mit schweren Erregungen verbunden waren, kam
S. in eine amerikanische Irrenanstalt, wo er 8 Monate blieb. Dann
wurde er in Begleitung eines Wärters nach Deutschland gebracht.
Hier erfuhr er, daß der Vater sich das Leben genommen hatte.
Infolgedessen erneute Erregung, so daß er im Elternhause nicht bleiben
konnte, sondern sofort in eine Heilanstalt gebracht werden mußte. Die
hier beobachteten Anfälle waren typisch hysterische mit Kreisbogen-
und Bewußtseinstrübungen. Mitunter wurde der Patient aggressiv gegen
die Umgebung. Für den Anfall selbst hatte er hinterher keine Erinnerung.
Nach seiner Rückkehr traten auch Zustände von Bewußtseins¬
trübung auf, in denen er den Bootsmann sah, der ihn mißbraucht hatte.
Der Patient pflegte dann die Gestalt, die er zu erblicken glaubte,
zu beschimpfen und verlangte, daß sein Verfolger entfernt würde.
Zweimal entwich er aus der Anstalt und kehrte nach wenigen Stunden
zurück, mit der Angabe, er habe den Bootsmann verfolgt, um ihm etwas
anzutun. Im September 1907 Übersiedelung in eine andere Anstalt.
Hier wechselndes Verhalten, bald läppisch fröhlich, bald freundlich, ver¬
nünftig und zugänglich. Verwirrtheitszustände mit Sinnestäuschungen
wiederholten sich auch hier mehrfach, gleichzeitig einige Selbsmord-
versuche.
662
Die Hysterie.
Oktober 1908. Eintritt zum Militär. Der Ersatzkommission hatte
er das Bestehen seiner Krankheit verschwiegen. Schon im November
traten wieder Anfälle auf, deretwegen er entlassen wurde.
Bei der körperlichen Untersuchung im Lazarett: Allgemeine Herab¬
setzung der Schmerzempfindlichkeit, Fehlen des Hornhaut- und Schlund¬
reflexes.
Ein Versuch, eine Beschäftigung aufzunehmen, mißglückte. Der
Kranke mußte sofort wieder in die Anstalt zurück, wo sich gleich wieder
schwere Anfälle einstellten. Dazu wurden mehrfach Bewußtseinstrübun¬
gen, in denen er die Gestalt des Bootsmannes sah, beobachtet. Nach
einiger Zeit entwich er aus der Anstalt, nicht ohne einem der Pfleger
40 Mk. zu stehlen. Zurückgebracht, gab er diese Verfehlungen zu.
Im September 1909 kamen nun in der Anstalt hintereinander zwei
große Brände vor. Der Verdacht lenkte sich sehr bald auf den Patienten.
Die eine Brandstiftung gab er zu, die andere leugnete er. Dämmerzu¬
stände waren in dieser Zeit nicht aufgetreten. S. wurde aber sofort
nach dem zweiten Brande nach Bonn in die Klinik überführt und dort
längere Zeit beobachtet. Hier traten nun wiederholt solche Dämmer¬
zustände auf, die teils durch Sinnestäuschungen ängstlichen Inhalts ge¬
kennzeichnet waren, zum andern Teil bestanden Qrößenideen, mitunter
auch Vorbeireden. In diesen Zuständen unterschrieb sich der Kranke
immer als Prinz Wilhelm und behauptete, er wäre Oberstleutnant bei
den Gardedragonern, Doktor und Professor, wüßte alles, stände auch
mit dem Kaiser in engster Beziehung, der ihn adoptiert habe usw.
Während der Zustände war das Bewußtsein zweifellos getrübt.
Auf körperlichem Gebiete bestand fast dauernd eine totale Analgesie,
Fehlen der Hornhaut- und Rachenreflexe, Steigerung der Kniesehnen-
und Achillesreflexe.
Auch von uns entwich der Patient mehrere Male mit der gleichen
Begründung, wie aus den früheren Anstalten; er hatte dann den Boots¬
mann verfolgt.
S. ist inzwischen von uns etwa 3 Jahre fort. Noch heute
aber erhalten wir von Zeit zu Zeit Briefe, die mit Prinz Wilhelm
unterzeichnet sind und den gleichen Inhalt haben, wie die bei uns
verfaßten.
Auf Grund eines von dem Verfasser erstatteten Gutachtens
wurde der Patient außer Verfolgung gesetzt. Daß es in diesem
Falle nicht zu einer Bestrafung kam, obwohl eine Bewußtseins¬
trübung z. Z. der Tat nicht nachzuweisen war, ist wohl in An¬
betracht der schweren Krankheitserscheinungen, die bestanden,
durchaus berechtigt und bedarf keiner weiteren Begründung. S.
war ein von Jugend auf völlig haltloser Mensch, der nirgends und
nie im Leben gut getan hatte, außerdem aber schon längere Zeit
vor Begehung der beiden Straftaten schwere hysterische Anfälle
Die Hysterie.
663
und häufig wiederkehrende Bewußtseinstrübungen dargeboten
hatte. —
Einer unserer Kranken, bei dem die Labilität des Gefühls¬
lebens das hervorstechendste Symptom w'ar, der infolgedessen zu
lebhaften und sehr brutalen Affektausbrüchen besonders neigte,
beging folgende Handlung:
Er selbst sow'ohl wie seine Frau sprachen dem Alkohol stark zu.
Insbesondere scheint die Frau eine schw.ere Trinkerin gewesen zu sein.
Da sie infolgedessen die Wirtschaft vernachlässigte und es verabsäumte,
dem Mann und den Kindern das Essen zu kochen, kam es zu wieder¬
holten Differenzen, in deren Verlauf der Mann die Frau auch mi߬
handelte. Eines Tages hatte sich Frau E. wiederum schwer betrunken,
so daß sie sich ins Bett legen mußte. Als der Mann nach Hause kam
und kein Essen vorfand, ging er an das Bett, prügelte die Frau und trat
sie mehrfach mit Füßen. Sie war bei dem Kampfe aus dem Bett ge¬
stürzt und lag mit einem Teil des Körpers unter dem Bett. In dieser
Stellung verließ der Mann sie und so wurde sie am nächsten Tage
tot aufgefunden.
Die gerichtliche Obduktion ergab nicht die genügenden Anhalts¬
punkte dafür, daß durch die Mißhandiung, welche der Mann seiner
Frau zugefügt hatte, der Tod verursacht worden war. Es wmrde des¬
halb das Verfahren wegen Mangels an Beweisen eingestellt. Da der
Fall aber in mancher Beziehung typisch ist, sei es gestattet, ihn zu
Ende zu berichten. Der Patient selbst hatte, das sei hervorgehoben, vor
der Tat 5 bis 6 Glas Bier und einige Schnäpse getrunken. Über seinen
Geisteszustand wußten wir auf Grund mehrmaliger Beobachtung, die
vor der Tat aus anderen Gründen geschah, folgendes:
H. hatte im April 1903 eine Kopfverletzung erlitten; ihm war der
Kopf zwischen zwei Dampfkessel, die montiert werden sollten, ge¬
quetscht worden. Nach dem Unfall trat eine wesentliche Veränderung in
seinem Befinden ein. Das Hörvermögen nahm ab. es traten Kopf¬
schmerzen und Schwindelanfälle auf, letztere besonders beim Bücken.
Dazu kam Schlaflosigkeit und allgemeine Schwäche. Außerdem aber
hob die Ehefrau hervor, daß ihr Mann äußerst reizbar, ängstlich und
schreckhaft geworden sei. öfters habe er auch wirr um sich ge¬
schaut und unvernünftiges Zeug gesprochen. Aus den Akten geht dann
weiter hervor, daß er von den verschiedensten Sachverständigen als
ein total nervenzerrüttender Mensch bezeichnet wurde. Er hatte hyste¬
rische Anfälle und wies auch sonst, wie sich durch die Beobachtung er¬
gab, psychische Störungen auf. Schon während seiner Krankheit beging
er einen Diebstahl. Er wurde psychiatrisch untersucht, aber ver¬
urteilt, da der Sachverständige ihn nur für einen minderwertigen
Hysteriker erklärt hatte. Aus den sonst angestellten Ermittelungen er¬
gab sich, daß das Verhalten des Patienten wechselte. Es gab offenbar
Zeiten, wo ihm Laien nichts anmerkten und er imstande war, die
schw'ersten körperlichen Arbeiten zu leisten. Es genügte aber, und
'664
Die Hysterie.
auch das wurde von Zeugen bekundet, die geringste Kleinigkeit, um
ihn aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen. Dann verfiel er in
Weinen, bekam auch manchmal Krampfanfälle, wurde verwirrt und war
unfähig, einer Beschäftigung nachzugehen.
Die hiesige Beobachtung ergab: Blasse Gesichtsfarbe, leidender
Gesichtsausdruck, beim Eintritt in die Klinik ängstlicher Erregungszu¬
stand. Auf körperlichem Gebiete starkes Lidschwirren, halbseitige Ge¬
fühlsstörung, funktionelle Herabsetzung des Hörvermögens auf dem
linken Ohr, vorsichtiger, schwerfälliger Gang, gesteigerte Refle.xe,
starke Dermographie, Tachykardie.
Psychisch zunächst ein zwei Tage anhaltender, ängstlicher Er¬
regungszustand mit vereinzelten Sinnestäuschungen, dann etwas ruhiger:
In den ruhigen Zeiten klagte er über Stechen im Kopf, Schwindelanfälle,
die objektiv nicht nachzuweisen waren, Angstgefühl, Abnahme des Ge¬
hörvermögens. Als er ruhiger geworden war, fing er auch sofort an zu
querulieren, suchte alle möglichen Vergünstigungen für sich herauszu¬
schlagen, drohte mit Klagen wegen Freiheitsberaubung, weil man ihn
hier widerrechtlich zurückhielte, wurde dann plötzlich unmotiviert er¬
regt und fing an zu schreien: „Ich soll hier wohl die Schwindsucht be¬
kommen, morden wollt Ihr mich! Ihr Mörder.“ Im übrigen örtlich und
zeitlich orientiert, alle Antworten erfolgten langsam, zum Teil auch
ungenau, manche Antworten erinnerten an Vorbeireden (z. B. 7-f-8==14,
8X9 — 81, 4X7 = 21). Schlaf schlecht, Patient lag halbe Nächte im
Bett wach und weinte. Einmal wurde während des Aufenthaltes in der
Klinik ein hysterischer Krampfanfall beobachtet.
Wenn wir uns die in diesem Falle praktisch nicht ent¬
schiedene Frage vorlegen, ob der Patient bei der Mißhandlung,
die er seiner Frau zuteil werden ließ, zurechnungsfähig war ocler
nicht, so zeigt sich sofort die Schwierigkeit der Beurteilung dieser
Fälle. Tatsache ist, daß es sich um einen schweren Hysteriker
handelt, dessen, wie schon oben gesagt, hervorstechendste Sym¬
ptome gerade die Neigung zu Affektausbrüchen und das lebhafte
Schwanken des Gefühlslebens sind. Vor der Tat hatte er nur
einige Glas Bier und etwas Schnaps zu sich genommen.
Seine Willensfreiheit war dadurch zweifellos noch weiter
beeinträchtigt. Hinzu kam schließlich als letztes Moment der
Ärger darüber, daß ihm seine Frau, obwohl er selbst schwer ge¬
arbeitet hatte, nicht einmal das Nötigste besorgt hatte, um seinen
Hunger zu stillen. Alle diese Momente mußten meiner Ansicht
nach schwer ins Gewicht fallen, so daß ich persönlich als Sach¬
verständiger in diesem Falle mich dahin ausgesprochen hätte, daß
begründete Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Patienten
zur Zeit der Tat bestanden hätten und ich glaube, daß diese Be¬
urteilung den Tatsachen am meisten entsprochen hätte. —
Die Hysterie.
66 s
Haben wir soeben einen Fall mit krankhaft gesteigerter
Affekterregbarkeit, zu der noch weiter schädigende Momente
kamen, kennen gelernt, so ist jetzt einiger Fälle zu gedenken, die
andere Komplikationen aufweisen. In erster Linie ist die Ver¬
bindung von Hysterie und Schwachsinn zu erwähnen, welche
unter Umständen auch zur Exkulpierung führen kann. Ich sehe
davon ab, Einzelfälle aufzuführen, weil die Beurteilung dieser
Zustände sich nicht wesentlich von denjenigen der Imbezillität
unterscheidet, nur daß eben die hysterischen Komponente des
Krankheitsbildes noch mit berücksichtigt werden muß. —
Ferner wäre noch einer Gruppe zu gedenken, das sind
die Hysterischen mit zahlreichen querulatorischen und sonstigen
psychopathischen Zügen. Bei ihnen ist das hysterische Moment
vom forensischen Standpunkte aus häufig weniger bedeutungsvoll
als die degenerativen Komponente, auf die im nächsten Kapitel
noch zurückzukommen sein wird.
Ich will deshalb an dieser Stelle auch davon absehen, Beispiele
zu bringen. Dagegen ist es notwendig, noch auf einen Punkt
einzugehen.
Unter den mir zur Verfügung stehenden Fällen sind mehrere,
in denen sich bei hysterischen Frauen eine bestimmte sexuelle
Perversität ausgebildet hatte. Die Abweichung von der Norm
geschlechtlicher Betätigung bestand darin, daß die Kranken
hintereinander ganze Serien von Diebstählen ausführten,
um geschlechtliche Befriedigung zu erlangen. Einen
Fall dieser Art, den ich längere Zeit mitbeobachtet habe, hat
Försterling “) beschrieben.
Das Wesentliche an diesen Kranken ist folgendes: Sie bieten
auf körperlichem und psychischem Gebiete eine ganze Reihe von
hysterischen Symptomen. In geschlechtlicher Beziehung betätigen
sie sich, wenn sie Gelegenheit dazu haben, durchaus normal. Da¬
neben aber können sie mit Hilfe eines Spannungsgefühls, welches
offenbar bei diesen Seriendiebstählen eine große Rolle spielt, auch
zu geschlechtlicher Befriedigung gelangen.
Eine meiner Kranken wurde z. B. von einer Unruhe mit
gesteigerter sexueller Erregung ergriffen. Sobald diese Unruhe
cintrat, fing sie an, wahllos in mehreren nebeneinander gelegenen
') In dem Kapitel Schwachsinn ist ein Beispiel angeführt.
Allg. Zeitschr. f. Psych. 1907.
666
Die Hysterie.
Läden alles zusammenzustehlen, was sie erreichen konnte. Ge¬
wöhnlich trat dann im Laufe von einem oder !’/„ Tagen die ge¬
schlechtliche Befriedigung in Gestalt eines Orgasmus ein. Damit
hörte sie auch gleichzeitig zu stehlen auf und konnte ihre Diebe¬
reien für mehrere Wochen lassen.
Sämtliche Fälle dieser Art, die mir bekannt geworden sind,
wurden erst mehrere Male bestraft, zum Teil sogar sehr schwer,
bis der innere Zusammenhang zwischen strafbarer Handlung
und Geschlechtsleben bekannt wurde. Daß ein solcher Zu¬
sammenhang wirklich bestand, zeigte sich bei dem von Förster-
ling beschriebenen Fall besonders deutlich. Die Patientin stahl
nicht nur in der Freiheit, sondern auch während des Aufenthaltes
im Zuchthaus und in Krankenhäusern. Es handelte sich keines¬
wegs immer um Wertgegenstände. In der Anstalt z. B. stahl sie
Brotrinden, Taschentücher, kleine Schleifchen, Haarnadeln und
ähnliches zusammen und versteckte alles in ihrem Bett, bis der
gewünschte Erfolg erreicht war. Dasselbe tat sie in anderen
Krankenhäusern, in denen sie untergebracht war. —
In mancher Hinsicht erinnern diese Fälle an die Dipso-
manen. —
Ausdrücklich sei übrigens hervorgehoben, daß derartige
serienweise Diebstähle auch aus anderen Motiven, keineswegs
immer aus denen, die ich eben geschildert habe, begangen werden.
So ist mir beispielsweise aus Gerichtsakten ein Mädchen bekannt,
das in verschiedenen Großstädten Deutschlands und des Auslandes
homosexuelle Verhältnisse unterhielt und, um das nötige Geld
zu bekommen, welches zum Besuch der einzelnen Mädchen not¬
wendig war, oder um sich für ein Zusammentreffen mit einer
ihrer Geliebten möglichst schön machen zu können, beging sie
ganze Serien von Schlafstellendiebstählen, die sich dann aber
nur auf Schmuckgegenstände oder bares Geld bezogen. Sie stahl
das, was sie gerade brauchte. Für gewöhnlich ließ sie die ent¬
wendeten Schmuckgegenstände dann in der nächsten Schlafstelle
zurück, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten. Das bare Geld
gab sie selbstverständlich aus.
Auch bei einem Teil der W a r e n h a u s d i e b i n n e n “), die
ja gleichfalls mehrere Diebstähle hintereinander begehen, sind es
') Es handelte sich ausnahmslos um Frauen.
-) Qudden, Warenhausdiebstahl.
Die Hysterie.
667
weniger sexuelle Motive, als vielmehr eine nicht zu hekämpfende
Begierde nach den ausgelegten Gegenständen. In derartigen
Fällen kann, wenn nicht besondere Umstände hinzukommen, eine
Freisprechung nur ausnahmsweise in Frage kommen’). Ebenso¬
wenig wird übrigens der sogenannte hysterische Charakter, wenn
er nicht sehr stark ausgeprägt ist, als Schuldausschließungsgrund
anerkannt.
L. R., geh. 9. September 1866. Vorbestraft wegen Diebstahls,
verleumderischer Beleidigung und gewerbsmäßiger Unzucht. Anklage
wegen gefährlicher Körperverletzung. Bestrafung.
Die R. war im Jahre 1909 bei einer alleinstehenden Dame Haus¬
hälterin geworden. Im Herbst 1909 begann die Dame zu erkranken,
zeigte Symptome von Blutarmut, wurde schließlich bettlägerig. Sie
hatte vorwiegend Magendarmerscheinungen (Durchfälle, Erbrechen usw.).
Die Krankheit nahm derartig zu, daß die Patientin dauernd eine Pflegerin
bei sich haben mußte.
Etwa seit Herbst 1909 bekam die Patientin von der R. zuweilen
lind schließlich immer öfter Speisen, welche stark sauer und schlecht
schmeckten, so daß der Genuß derselben wiederholt verweigert wurde.
Im Februar und März 1910 kamen ölklystiere auf ärztliche Ver¬
ordnung hinzu, nach deren Eingabe eine auffällige Verschlechterung ein¬
trat. Einzelne der Klystiere brannten wie Feuer, einmal verstopfte sich
der Schlauch auch mit einem weißen Salz.
Die zu jener Zeit im Hause befindliche Pflegeschwester bemerkte
mehrere Male, daß die Speiseportionen, welche der Kranken gereicht
wurden, sauer schmeckten, während der in der Küche verbliebene Rest
gut war. Die Schwester achtete darauf genauer und nahm im März
1910 eines Tages zwei Portionen, mit denen sie zum Arzt ging. Schon
die Untersuchnug mit Lakmuspapier zeigte, daß die der Patientin ge¬
reichte Portion stärker sauer reagierte, als die andere. Einige Tage
später wurde in der Küche ein Topf mit dem zum Klystier angewärmten
öl gefunden. Auf dem Grunde dieses Topfes lag unter dem öl eine
dicke Lage groben Salzes. Die Angeklagte behauptete, es handle sich
um Küchensalz; die chemische Untersuchung lehrte, daß es Kleesalz war.
Die weiteren Ermittelungen ergaben nun, daß die R. an die Kranke
anonyme Briefe gerichtet hatte, in denen sie sie aufforderte, ihr Testa¬
ment zu machen, ln demselben Sinne wirkte die R. auch auf ver¬
schiedene Verwandte ein. Alle sollten ihre Brotherrin bewegen, ein
Testament zu machen. Die im Hause befindliche Schwester hatte die
R. außerdem zu Unredlichkeiten zu verführen gesucht. Jene sollte
höhere Rechnungen schreiben und nehmen, was ihr gut schiene, da „die
Alte doch sehr bald sterben würde“ und kein Mensch kontrollieren könne,
wo das Geld geblieben sei. Bei Gelegenheit erzählte die R. ferner, daß
’) Vergl. auch die weiter unten wiedergegebene Entscheidung vom
29. April 1912.
Die Hysterie.
668
sie früher einen alten Herrn gepflegt habe, der auch an Magen- und
Darmleiden gelitten habe. Auch dieser habe anonyme Briefe bekommen.
Durch Revision des Hausinventars wurde festgestellt, daß aus der
Wohnung des Fräulein T. (der Brotherrin) im Laufe der letzten Wochen
eine goldene Uhr, ein Oranatenarmband, Wandteller, ein Nachthemd,
Handschuhe und ähnliches gestohlen worden waren. Eine Durchsuchung
der Sachen der R. ergab, daß ein Teil der als gestohlen gemeldeten
Gegenstände bei ihr gefunden wurde, dazu noch Einiges andere; die
Uhr fehlte allerdings. Für mehrere der bei ihr gefundenen Sachen gab
die R. zu, daß sie sie gestohlen habe; andere sollten nur aus Versehen
unter ihre Kleider gekommen sein.
Im Verlaufe der weiteren Ermittelungen wurde von einem Arzt
angegeben, daß die R. eine schwer hysterische Person sei, daß sie hyste¬
rische Anfälle habe und zum Verleumden und Intrigieren besonders neige.
Von ihm selbst z. B. hatte sie öffentlich behauptet, er habe sie geschlecht¬
lich gebraucht.
Da die zugezogenen üerichtsärzte sich dahin aussprachen, daß eine
unter den § 51 St.Q.B. fallende geistige Störung nicht vorläge, erfolgte
die Verurteilung zu 8 Jahren und einem Monat Zuchthaus und Verlust
der bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von 5 Jahren.
ln diesem Falle war es im wesentlichen der hysterische Cha¬
rakter, die selten auftretenden hysterischen Anfälle und die
Neigung zum Lügen und Betrügen, welche als krankhaft zu be¬
zeichnen waren. Alles das reichte aber nicht aus, die Frei¬
sprechung zu begründen. —
Im Vorstehenden habe ich einige Typen gegeben, wie sie
häufiger zur Beobachtung und Begutachtung kommen.
Wenn wir nun aus unseren Betrachtungen einen allgemein
gültigen Schluß ziehen wollen, so hat der wohl dahin zu lauten,
daß die Hysterie nur dann, wenn besonders zahlreiche und beson¬
ders schwere hysterische Symptome vorhanden sind, als Schuld-
ausschließungsgrund im Sinne des § 5 i zu gelten hat. —
Was die Delikte anlangt, die von unseren Hysterisclien
begangen wurden, so handelte es sich in der Mehrzahl der Fälle
(J4 mal) um Diebstähle und Betrügereien (9 mal). W'eiter kamen
in Betracht 3 Beleidigungen und 2 Körperverletzungen. Bei letz¬
teren si)ielt der Alkohol eine Rolle mit. Unter unserem Material
fanden sich außerdem 2 Mordversuche, i Kindesmord, i Brand¬
stiftung, 3 Xotzuchtsversuche, i Fall von Kuppelei, i von Zu¬
hälterei, I Wiflcrstandsleistung und 4 Fälle von falscher An¬
schuldigung. Die letztere gilt im allgemeinen als ein typisch
hysterisches Delikt. Einen derartigen Fall habe ich im all¬
gemeinen Teil schon beschrieben. (S. 63.)
Die Hysterie.
669
Schließlicli sind dann noch 2 anonyme Briefschreiberinnen
zu erwähnen, die besonders raffiniert vorgegangen w'aren und die *
Bevölkerung der Städte, in denen sie ilir Wesen trieben, lebhaft
beunruhigt hatten.
Die Hysterie kann auch insofern rechtlich Schwierigkeiten
bereiten, als sie bisweilen vorübergehend die Verwahrung
des Kranken in einer Irrenanstalt nötig macht, gegen die
sich der Patient dann sträubt. Ein solcher Fall war z. B. der
folgende, den wir in unserer Klinik hatten.
F. N., geboren 22 . März 1886. Bureaugehilfe, ln die Klinik auf¬
genommen wegen Kopf- und Rückenschmerzen, schlechten Schlafes,
Mattigkeit, Qedächtnisschw'äche. Körperlich: Hinter dem rechten Ohr
eine Operationsnarbe. Beide Lungenspitzen auf Tuberkulose verdächtig.
Gesteigerte Sehnenreflexe. Hypalgesie am ganzen Körper.
Während der Beobachtung war N. traurig verstimmt, ohne Gründe
anzugeben. Außerdem sehr reizbar. Deshalb Differenzen mit anderen
Kranken. Nach 14 Tagen weigert er sich, den ärztlichen Anordnungen
Folge zu leisten, weil er in einer Streitigkeit mit einem anderen Kranken
nicht Recht bekommen hatte. Gleichzeitig sehr erregt, schimpft, droht
mit Selbstmord, verlangt seine Entlassung. Wird durch gütliches Zu¬
reden zunächst besänftigt. Eine Stunde später soll er ins Bureau ge¬
führt werden, um eine Postquittung zu unterzeichnen. Hierbei steigt er
über ein Treppengeländer und läßt sich aus geringer Höhe auf den Boden
fallen. Keine körperlichen Verletzungen, aber sofort hysterischer An¬
fall. Nach Abklingen desselben erregt. Droht, er w'erde den Pfleger
nachts angreifen. Wegen zunehmender Unruhe Hyoszininjektion. Am
nächsten Vormittag ruhig. Gegen Abend plötzlicher Erregungszustand,
will zum Fenster hinausspringen. Verlangt sofortige Entlassung. Droht
mit Klage wegen Freiheitsberaubung und mit Enthüllungen über den
Betrieb in der Klinik. Wird auf eine geschlossene Abteilung der Anstalt
verlegt.
Dort hysterische Augentnuskellähmung, die der Patient auf die
Hyoszininjektion zurückführt. Die Parese ging erst nach ca. 8 Tagen
zurück.
N. batte mir gedroht, er würde eine Klage wegen Freiheits¬
beraubung gegen mich einreichen. Da ich seine Internierung für
absolut notwendig hielt, mich andererseits den Weitläufigkeiten
eines Ermittelungsverfahrens nicht aussetzen w-ollte, w-andte ich
mich vor der Verlegung in die geschlossene Abteilung an die zu¬
ständige Polizeibehörde, der ich den Sachverhalt zunächst münd¬
lich, dann auch schriftlich mittcilte; die letztere stimmte dann
einer Verlegung aus sicherheitspolizeilichen Gründen zu.
Der Patient hat später keine Anklage erhoben, vielmehr die
Maßnahmen als zweckmäßig und richtig dankbar begrüßt, wie
Die Hysterie.
670
aus einem Brief, den er an die Anstalt später richtete, hervorgeht.
Insofern stellt der Fall einen Beitrag zur Lehre von der Ge¬
schäftsführung ohne Auftrag dar, welche Zitelmann') angewandt
wissen will.
Noch in einem Punkte sind die Hysterischen interessant,
nämlich bezüglich ihrer Z e u g n i s f ä h i g k e i t. Es ist hierauf
schon bei verschiedenen anderen Fällen hingewiesen worden. Die
Kranken können das, was sich vor ihnen abspielt, nicht einfach
objektiv so wiederholen, wie sie es gesehen haben, sondern Er¬
lebtes und Gedachtes verbindet sich bei ihnen zu einem untrenn¬
baren Ganzen.
Je stärker der Hysterische mit seinem Gemütsleben an dem
Vorgang beteiligt ist, je mehr er zu phantastischen Wachträume¬
reien “) neigt, desto mehr denkt und deutet er in die wahr¬
genommenen Vorgänge hinein, desto ungenauer muß aber auch
seine Aussage sein. Hierzu kommt, daß einzelne Hysterische,
speziell solche, bei denen sich die Hysterie mit Schwachsinn oder
mit degenerativen Zügen verbindet, auch vor der bewußten Lüge
nicht zurückschrecken. Schließlich kommt ein dritter Faktor hinzu,
die Suggestibilität. In dieser Beziehung sind von den erwachsenen
Zeugen die Hysterischen wohl am meisten gefährdet. Wenn
ihnen eine von der Wirklichkeit in wesentlichen Punkten ab¬
weichende Darstellung mehrere Male in unverfänglicher Weise
erzählt wird, insbesondere aber, wenn sie erst durch Kreuz- und
Querfragen unsicher gemacht und dann geschickt gefragt werden,
dann kann es leicht geschehen, daß ihre Aussagen trotz besten
Willens von der Wahrheit erheblich abweichen.
Daß Hysterische, wenn sie dem Angeklagten feindlich ge¬
sinnt sind, bewußt oder unbewußt ihre Aussagen in einer ihm
B Ausschluß der Widerrechtlichkeit. Arch. f. d. zivilrechtl. Praxis.
Bd. 99 (auch als Monogr. erschienen in Tübingen 1906 bei Mohr).
““l Bei Aussage-Experimenten, welche von Fricke in unserer Klinik
mit kinematographischen Darstellungen gemacht wurden, fiel besonders
eine Hysterische auf. Es war ein 26jähr. Mädchen mit sehr lebhaft ent¬
wickelter Phantasie und Pseudohalluzinationen. Außerdem konnte sie
schlecht sehen. Ihr wurde nun ein einfacher Film (Ankunft eines Eisen¬
bahnzuges) gezeigt. Ihr Bericht, über das, was sie gesehen hatte, ent¬
sprach der Wirklichkeit nicht. Sie behauptete, Dinge und Personen ge¬
sehen zu haben, die sie nicht gesehen haben konnte. Bei ihr hatte die
Phantasie die mangelhafte Wahrnehmung ergänzt.
Genaueres s. Fricke, In.-Diss. Bonn; erscheint 1914.
Die Hysterie.
671
ungünstigen Weise färben, kommt auch nicht selten vor. Aus¬
sagen Hysterischer sind deshalb immer, beson¬
ders aber, wenn sie die einzigen oder hauptsäch¬
lichsten Beweismittel darstellen, mit größter
Vorsicht auf ihre Richtigkeit und Objektivität
zu prüfen.
Bekannt ist, daß gerade in sexuellen Dingen Hysterische
wenig zuverlässig sind; es kann deshalb sehr leicht Vorkommen,
daß falsche Anschuldigungen in dieser Beziehung erhoben werden.
Ich brauche nur auf die in dem Kapitel Hypnose gebrachten
Fälle zu verweisen. Daß es dabei aber auch zu bewußten Lügen
kommen kann, lehrte mich ein Fall, der vor 2 Jahren im Rhein¬
land passiert ist.
Da bezichtigte die 14jährige Tochter eines Arbeiters einen Mann,
mit dem sie in Streitigkeiten geraten war, derselbe habe sie in einen
Busch gelockt und dort wiederholt geschlechtlich mißbraucht. Die
körperliche Untersuchung des Mädchens ergab, daß sie in der Tat schon
seit einiger Zeit defloriert sein mußte. Da sie ganz bestimmte Angaben
machte, erfolgte die Verurteilung des Angeklagten. Schließlich kam
heraus, daß es sich um eine schwer hysterische Person handelte, die in
der Tat geschlechtlich verkehrt hatte und zwar mit ihrem eigenen Vater,
dagegen nicht mit dem Verurteilten.
Zur Entmündigung kommt es bei Hysterischen ver¬
hältnismäßig selten, weil nur ausnahmsweise für längere, unabseh¬
bare Zeit so schwere Erscheinungen bestehen, daß die Kranken
selbst ihre Angelegenheiten nicht zu besorgen vermögen. Nach
unseren Erfahrungen wurde die Entmündigung wegen Geistes¬
schwäche nur dann ausgesprochen, wenn mit der Hysterie ent¬
weder noch andere psychische Störungen (insbesondere der
Schwachsinn oder schwere Degeneration) verbunden waren. Auch
starke kriminelle Tendenzen bei Hysterischen können unter Um¬
ständen den Anstoß dazu geben; oft ist dies jedoch nicht der Fall.
Das beweist am besten der Umstand, daß unter unseren 23 Hyste¬
rischen, die sämtlich kriminell waren, nur einer entmündigt
wurde. Und in diesem Falle handelte es sich um eine Kombina¬
tion von Schwachsinn und Hysterie. Der Fall war folgender.
M. B., 12. Juli 1876 geboren. Vater an Krämpfen gestorben. Mutter
Prostituierte. Seit dem 14. Lebensjahre hatte Patient selbst Krämpfe,
dabei poriomanische Zustände. B. wurde selbst frühzeitig kriminell:
er machte mehrere Notzuchtsversuche. Deshalb in verschiedenen
Irrenanstalten behandelt, einige Male als gebessert entlassen. Ver¬
schiedene Arbeitsversuche mißlangen, B. konnte nirgends bleiben, weil
672
Die Hysterie.
seine Leistungen nicht genügten. In Anstalten und Gefängnissen un¬
angenehm durch Reizbarkeit und kritikloses Querulieren. Nach einer
seiner kriminellen Handlungen stellte sich eine hysterische Abasie ein.
In der Bonner Anstalt fand sich auf körperlichem Gebiete eine Steige¬
rung der Patellarreflexe und eine Herabsetzung der Schmerzempfindlich¬
keit auf der linken Körperhälfte, dazu eine hysterische Abasie und viele
hysterische Anfälle. Die letzteren wurden durch Räsonnieren und Queru¬
lieren eingeleitet, dann fiel Patient auf das Bett oder den Fußboden,
streckte sich, schlug mit Armen und Beinen um sich, beschrieb mit dem
Körper einen Kreisbogen. Beschleunigte Atmung. Nach einigen Minuten
war der Anfall vorüber.
Über seine Schulerfolge gab er an, daß er in der dritten Klasse
sitzen geblieben sei und nichts gelernt habe; dem entsprächen auch seine
Kenntnisse, er könne kaum lesen und schreiben. Einen Beruf habe er
nicht gelernt, da er aus der Lehre stets fortgelaufen sei. Er habe dann
im wesentlichen vagabundiert und gebettelt, sei wegen Betteins, Betrugs,
Hausfriedensbruchs, Körperverletzung und Beleidigung bestraft; die
Sexualdelikte leugnete er.
So war sein Leben vorwiegend in Irrenanstalten, Gefängnissen
und auf der Landstraße abgelaufen. Er hatte bewiesen, daß er für sich
selbst in keiner Weise sorgen konnte und war auch selbst mit der Stel¬
lung eines Vormundes einverstanden. Die Entmündigung erfolgte wegen
Geistesschwäche.
Auch die Ehescheidung gemäß § 1569 B.G.B. wegen
Hysterie wird nur in seltenen Fällen möglich sein, und zwar
deshalb, weil die geistige Gemeinschaft zwischen den beiden Ehe¬
gatten meist nicht vollständig aufgehoben ist und man auch nicht
sagen kann, daß jede Aussicht auf Wiederherstellung derselben
geschwunden ist*).
Dieselben Schwierigkeiten bereitet m. E. die Anfechtung
der Ehe gemäß § 1338, denn für gewöhnlich wird schon der Bräu¬
tigam mehr oder minder deutlich darauf aufmerksam gemacht,
daß die Braut „etwas nervös“ sei. Geschieht das aber wirklich
nicht und er entdeckt erst im Laufe der Ehe die ,,Eigenschaft“
seiner Gattin, so wird er auch nicht sofort bei der ersten Gelegen¬
heit die Anfechtungsklage einreichen und verliert schon damit
allein das Recht gemäß § 1333, die Ehe später anzufechten.
Tn einem Falle, der gerichtlich bis jetzt allerdings noch nicht
definitiv abgeschlossen ist, ist auf Scheidung der Ehe wegen
') Das Reichsgericht hat sich in einer neuen Entscheidung (Recht
1912, Nr. 1806) auf den Standpunkt gestellt, daß Hysterie wohl eine
leichte Reizbarkeit erklären, nicht aber die Verantwortilchkeit für Be¬
schimpfungen gröblichster Art ausschließen könne. (Entsch. 29. 4 . 12.)
Die Hysterie.
6/3
Geisteskrankheit geklagt und gleichzeitig die Ehe wegen schwerer
Hysterie angefochten worden. Es handelt sich dabei um eine
Frau, die den Mann mit maßloser Eifersucht quälte, ihn
überall verleumdete, in der Öffentlichkeit herabsetzte und
um seine Stellung zu bringen versuchte. Patientin ist wegen
ihrer Hysterie auch entmündigt worden, und zwar hatte sich das
Gericht für Geisteskrankheit ausgesprochen, m. E. insofern
zu Unrecht, als die Patientin trotz all ihren krankhaften Eigen¬
schaften ihre Wirtschaft im allgemeinen gut führt, das ihr über¬
gebene Geld in zweckmäßiger Weise verwendet, also immerhin
noch wesentliche Teile dessen, was man Angelegenheiten nennt, in
ganz vernünftiger Weise besorgt. Daß die Anfechtung der
Ehe in diesem Falle vom Gericht anerkannt wird, glaube ich nicht,
dagegen halte ich es wohl für möglich, daß die Ehe wegen
Geisteskrankheit geschieden wird, da die Patientin in einer Weise
gegen ihren Mann vorgegangen ist, die die geistige Gemeinschaft
zwischen den beiden Ehegatten zweifellos aufheben mußte. Für
einen einigermaßen verständigen Mann kann die geistige Ge¬
meinschaft meiner Empfindung nach auch nie und nimmer wieder
hergestellt werden.
Die Testierfähigkeit einer hysterischen Person wird
man im allgemeinen nicht anzweifeln dürfen, es sei denn,
daß man nachweisen kann, daß unbegründete Beeinträch-
tigungs- und Verfolgungsideen den Inhalt des Testamentes be¬
einflußt hätten. War das Testament in einem Zustande hoch¬
gradiger gemütlicher Erregung abgefaßt, die sich gegen eine be¬
stimmte Person richtete, so wird man es im allgemeinen trotzdem
als rechtskräftig ansehen müssen, wenn der Testator Gelegenheit
hatte, es zu ändern, nachdem der Erregungszustand abgeklungen
war. Geschah letzteres nicht, so kann man wohl im allgemeinen
annehmen, daß er es auch nachträglich sanktioniert hat, und seine
Bestimmungen nicht allein der Ausfluß einer momentanen Er¬
regung waren').
‘) Hysterische Schwangere verlangen oft unter Hinweis auf ihr
Leiden die Einleitung der künstlichen Frühgeburt. Eine solche ist bei
der Hysterie, wie bei den übrigen Psychosen nur angezeigt, wenn
Schwiere Erregungszustände oder hochgradige körperliche Schwäche
bestehen. Auch erhebliche Zunahme der Krampfanfälle kann ausnahms¬
weise einen Grund abgeben.
Hübner, Forensische Psychiatrie. 43
674
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten.
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten’).
Von den wesentlichsten Symptomen, welche den degenera-
tiven Charakter ausmachen, ist im allgemeinen Teil schon das
Nötige gesagt worden. Es ist aber wohl zweckmäßig, an dieser
Stelle nochmals auf das einzugehen, was forensisch wichtig ist.
Daß die Degenerierten mit dem Gericht sehr oft in Berührung
kommen, ergibt sich aus folgenden Zahlen zur Evidenz. Von den
196 Fällen, welche ich zusammengcstellt habe, betrafen 31 Dege¬
nerierte. 27 von ihnen waren zur Feststellung des Geistes-
*) Bogdan, Moral. Irresein. Wien. med. Wochenschr. 1897. Bischoff,
Jahrbuch f. Psych. Bd. 17. v. Wagner, Wiener klin. Wochenschr. 1900.
Wehrlin, Annales med.-psychol. 1900, Nr. 2. Gramer, Münch, med.
Wochenschr. 1902, S. 1480. Peritz, Psychopath. Minderwert. Med.
Woche 1902, S. 199. Benedikt, Der Militärarzt 1903, Nr. 11/12. Trüper,
Psychopath. Minerwertigkeiten. Deutsche med. Wochenschr. 1903, S. 364.
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Bd. 2, H. 1/2. Halle. Marhold. Schaffer, Pester med.-chir. Presse 1905,
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verst.-Zeitg. 1906. Schaefer, Moral. Schwachsinn. Halle. Marhold.
Heuß, Zwangsvorst, in der Pubertät. In.-Diss. Berlin 1910. Moerchen,
Degenerierte Frauen höherer Stände. Deutsche med. Wochenschr. 1910,
S. 1982. Ulrich, Diebstahl bei einem Hyst.-Degenerierten. Münch, med.
Wochenschr. 1910. Qudden. Diebst. infolge von Zwangsvorstellungen.
Raecke, Zwangsvorstellungen und Zwangsantriebe vor dem Strafrichter.
Arch. f. Psych., Bd. 43. Leppmann, Forens. Bedeutung der Zwangsvor¬
stellungen. A. S. Z. 1907, S. 264. Hübner, Pathologie der Degenerierten.
Deutsche med. Wochenschr. 1913. Mai. Dornblüth, Qeistesst. der Ent¬
arteten. Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 50. Koch, Abnormer Charakter in
Qrenzfragen 1900. Wiesbaden. Bergmann. Derselbe, Psychopath. Min¬
derwertigkeiten 1893. Ravensburg. Morel, Tratte des degenerescences de
l'eopece humaine 1857. Ziehen, Degeneratives Irresein in Eulenburgs
Realenzyklopädie. Derselbe, Psychopathische Konstitutionen. Charite-
Annalen, Bd. 30 u. 31. Voss, Entartung und Entartungsirresein. Deutsche
med. Wochenschr. 1910. Fabricius, Krankhafter Wandertrieb. In.-Diss.
Bonn 1908. Ooering, Sittlichkeitsverbrecher. In.-Diss. Bonn 1908.
A. Gramer, Nervosität. Jena. Q. Fischer Birnbaum, Degenerative
Phantasten. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 64. Bonhoeffer, Pathol. Ein¬
fall. Deutsche med. Wochenschr. 1905. Heilbronner, Zwangsvorstel-
fungspsychosen. Monatsschr. f. Psych. 1899. Tuczeck, Zwangsvorstel¬
lungen. Berl. klin. W ochenschr. 1899. Ziehen, Psychiatrie. Kraepelin,
Psychiatrie. Mairet et Euzicre, Les Invalides moraux 1910. Montpellier.
(Klinisch u. forensisch.) Helenefriderike Stelzner, Psychopathische Kon¬
stitutionen. Berlin. S. Karger.
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten. 675
Zustandes uns zugeführt worden und zwar nicht immer nach § 81
Str.P.O. ^*ier kamen aus dem Strafvollzug. Die Zahl der
letzteren würde sicher größer sein, wenn ich unser gesamtes
umfangreiches Material bearbeiten könnte, was leider nicht mög¬
lich ist.
Von den zur Aburteilung gelangten P'ällen wurden nur drei
fi eigesprochen, 23 wurden bestraft und in einem Falle erwies sich
der Patient sofort nach der Tat als nicht verhandlungsfähig und
ist es bis heute geblieben. Es handelte sich um einen älteren
Herrn, der wegen Betrugs angeklagt, in der Untersuchungshaft
in einen ängstlichen Erregungszustand mit Sinnestäuschungen
verfallen war. Dieser Zustand besserte sich etwas, wurde aber
durch jede neue gerichtliche Zustellung so erheblich verschlim¬
mert, daß der Patient nie ganz verhandlungsfähig war.
V'on den forensisch wichtigsten Symptomen ist fol¬
gendes zu sagen;
Allen diesen Kranken gemeinsam war die Neigung zu un¬
verhältnismäßig starken Reaktionen auf äußere Geschehnisse.
Diese Eigenschaft machte sich auch bei Gelegenheiten gel¬
tend, bei denen die Patienten selbst gar nicht beteiligt waren.
So hatten wir mehrere Degenerierte, die bei jedem kleinen Ereig¬
nis auf der Abteilung Partei für einen Kranken oder Pfleger er¬
griffen, wobei es dann zu Materialzertrümmerungen oder An¬
griffen auf die Gegenpartei kam.
War der Kranke selbst betroffen, so kam es entweder zu leb¬
haften Erregungszuständen mit Neigung zu Gewalttaten oder zu
Selbstmordversuchen, oder aber es traten ängstliche Erregungs¬
oder Verwirrtheitszustände ein. Bei einigen von den Patienten
war die Neigung zum ,,Umkippen“ so stark, daß man fast mit
Bestimmtheit darauf rechnen konnte, daß jede Verhaftung oder
Vernehmung oder nur eingehende Aussprache über die eigenen
Angelegenheiten, den Eintritt einer solchen Reaktion zur Folge
hatte.
Die Kranken sind dann ängstlich und weinerlich, meist
ist damit auch eine gewisse motorische Unruhe verbunden
und der Schlaf ist schlecht. Sie hören Stimmen und sehen
Gestalten, welche sie bedrohen. Die Vorgänge in ihrer Um¬
gebung beobachten sie sehr genau und mißtrauisch und deuten
dieselben im Sinne ihrer Stimmung, das heißt, sie wittern überall
43*
676 Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten.
Unheil, glauben, man wolle ihnen etwas antun, sie sollen um¬
gebracht werden usw.
Die Orientierung ist häufig nicht wesentlich getrübt, es
kommt aber auch vor, daß zu den bisher beschriebenen Erschei¬
nungen Verwirrtheit tritt.
Fast stets ist auch Krankheitsgefühl und abnorme Ermüd¬
barkeit in diesen Zuständen vorhanden. —
Die eigene Person überschätzen die Kranken regelmäßig.
Sie renommieren dann im Gefängnis wie in der Anstalt mit ihren
besonderen Fähigkeiten, mit ihrer Gerissenheit, mitunter sogar
mit ihren kriminellen Handlungen.
Für ihre Gesundheit sind sie außerordentlich besorgt, nicht
selten löst irgendeine imbedeutende Verletzung, etwas Husten,
ein Pickel oder ähnliches bei ihnen hypochondrische Vorstellungen
aus, auf Grund deren sie dann allerlei Vorteile in bezug auf Be¬
köstigung und medizinische Behandlung zu erlangen suchen.
Wenn ihre Wünsche in dieser Beziehung nicht prompt er¬
füllt werden, dann zeigt sich ihre Reizbarkeit. Sie beginnen zu
schimpfen und zu querulieren. Jede im Interesse der Anstalts¬
ordnung getroffene Maßnahme, die ihnen unbequem ist, deuten
sie im Sinne der Beeinträchtigung und Verfolgung. Sie sind an¬
geschwärzt worden, deshalb gehe man in dieser Weise gegen sie
vor. Man entziehe ihnen die notwendigsten Stärkungsmittel, lege
sie auf eine Abteilung, wo sie nicht gesund w^erden können, stelle
Pfleger zu ihrer Bewachung hin, die voreingenommen gegen sie
seien. Vergehen sie sich gegen die Plausordnung oder kommt man
auf ihre Delikte zu sprechen, so sind sie um eine Entschuldigung
nie verlegen und beschönigen ihr Handeln in jeder Weise, suchen
entweder andere dafür verantwortlich zu machen oder behaupten,
daß in den Gerichtsverhandlungen Meineide geschworen, oder die
Richter voreingenommen gewesen seien und ähnliches mehr. Aus
diesen Vorstellungen heraus beginnen sie dann auch nicht selten
zu querulieren, beantragen die Wiederaufnahme ihrer verschie¬
denen Strafverfahren, ergehen sich in Beleidigungen und De¬
nunziationen gegen Anstalts- und Gerichtsbeamte, beobachten in
der Anstalt jede Kleinigkeit, um dann heimlich Anzeigen an
die Vorgesetzten Behörden zu richten, in denen die Zustände in
der Anstalt in den schwärzesten Farben geschildert werden.
Auch in der Freiheit treten diese letzterwähnten Erschei-
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten. 677
nungen vielfach hervor, wenn auch nicht so stark, wie innerhalb
des engen Rahmens eines Gefängnisses oder einer Anstalt. Statt
dessen zeigt sich in der Freiheit eine andere Erscheinung, das ist
die Unstetheit der Lebensführung. Die meisten dieser Degene¬
rierten sind zu regelmäßiger Arbeit unfähig. Der größte Teil ist
infolgedessen auch beruflos oder arbeitet nur gelegentlich. Von
den 31 Fällen, die ich gegenwärtig zur Verfügung habe, hatten
nur 8 mehrere Jahre oder den größeren Teil ihres Lebens hindurch
einen bestimmten Beruf ausgeübt. Die anderen waren im wesent¬
lichen zwischen Gefängnis, Landstraße, Kaschemme, Irrenanstalt,
Krankenhäusern und Asylen hin und her gewandert. Die meisten
hatten weder ein Handwerk gelernt, noch regelmäßige Arbeit
getan. Sie pflegten, sofern sie der Öffentlichkeit nicht zur Last
lagen, sich entweder durch Schwindeleien, Diebstähle, als Zuhälter
oder auf ähnliche Weise durchzu.schlagen, bis sie wieder ergriffen
wurden, oder in eine Krankenanstalt kamen. Höchstens vorüber¬
gehend arbeiteten sie.
Bei ihren Schwindeleien kam ihnen meist eine beträchtliche
Redegewandtheit, die Fähigkeit, sich jeder Situation anzupassen,
verbunden mit einem gewissen Geschick, die Schwächen anderer
Leute zu erkennen und auszunutzen, und die Neigung zu
skrupellosen Lügen und Renommieren zu Hilfe. Dazu gesellte
sich in einem Teil der Fälle die Gabe, phantastische Erzählungen
zu erfinden und geschickt anzubringen.
Bemerkenswert ist, daß schlechte Lektüre auf diese Kran¬
ken außerordentlich stark wirkt. Wenn man einem solchen
Psychopathen einen gewöhnlichen Roman zu lesen gibt und ver¬
langt nachher eine Inhaltsangabe von ihm, so zeigt sich, daß er
nicht viel davon erzählen kann. Läßt man ihn dagegen den In¬
halt seiner Hintertreppenromane, welche eine Verherrlichung des
Verbrechens und der Verbrecher darstellen, wiederholen, so kann
man im Gegensatz zu dem vorigen Beispiel beobachten, daß er
zahlreiche Details behalten hat, dem Helden dieser Beschreibung
die höchste Verehrung entgegenbringt und in jugendlichem
Alter gar zu gern das Gelesene in die Tat umsetzen möchte.
Auch zu seinen Renommistereien benutzt er seine Lektüre und
seine Phantasie beschäftigt sich vorwiegend mit den Helden,
von denen er gelesen hat. Wir hatten in der Anstalt längere Zeit
einen Kranken, der sich auf Befragen aller möglichen Raubanfälle,
Brandstiftungen usw. bezichtigte, dieselben mit allen Einzelheiten
678 Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten.
l)eschrieb, genau so, wie sie in den Romanen vom Schinderhannes,
der schwarzen Hand usw. dargestellt waren.
Aus solchen Kranken rekrutiert sich auch ein Teil jener
Hochstapler, die sich selbst mit klingenden Namen ausstatten,
sehr sicher auftreten und ihre Schwindeleien mit Hilfe von
selbsterfundenen phantastischen Erzählungen über zu erwartende
Erbschaften, Verlobungen usw. durchführen. —
Hinzuzufügen ist noch, daß die Degeneration sich außer¬
ordentlich häufig mit anderen psychischen Störungen ver¬
bindet. In dem Kapitel Hysterie ist schon darauf hingewiesen
worden, daß hysterische und degenerative Symptome sich oft
vermischen. Degeneration und Schwachsinn findet man gleich¬
falls häufig nebeneinander, seltener auch Epilepsie und Degene¬
ration, und besonders wichtig sind schließlich jene Fälle, in denen
bei Degenerierten leicht periodische Stimmungsschwankungen ein-
treten (Zyklothymie). Gerade diese Kranken sind sozial am
meisten gefährdet.
Was die Delikte anlangt, die von Degenerierten begangen
werden, so sind in erster Linie die Hochstapelei und der Ein¬
bruchsdiebstahl zu nennen, ferner kommen in Betracht Sexual¬
delikte, Raubanfälle, Körperverletzungen und Widerstand.
Über die Neigung zu geschlechtlichen Perversitäten wird
weiter uhten noch zu sprechen sein. —
Die Degenerierten machen auch im Strafvollzug beson¬
dere Schwierigkeiten, so daß es häufig nur bei großer Nachsicht
und vielem Verständnis von seiten der Strafanstaltsbeamten oder
durch N'^erlegung auf die Irrenabteilung eines Gefängnisses, mit¬
unter auch durch ein- oder mehrmalige Verlegung in eine öffent¬
liche Irrenanstalt möglich ist, solche Gefangene eine längere Frei¬
heitsstrafe verbüßen zu lassen. In den Gefängnissen gehören sie
zu denjenigen Menschen, die am häufigsten gegen die Disziplin
verstoßen, am schwersten zu behandeln sind und die meiste
Schreibarbeit verursachen. Bei ihnen ist auch von einem bessern¬
den Einfluß der Strafe fast niemals die Rede. Der Degenerierte
ist im Gegenteil zum Gewohnheitverbrecher häufig geradezu prä¬
destiniert. —
Schließlich ist noch hervorzuheben, daß sieb unter den
Degenerierten eine ganze Reihe von Individuen befinden, die
auf Alkohol pathologisch reagieren, entweder in der
Weise, daß schon kleinere Mengen genügen, ihr Bewußtsein
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten. 679
schwer zu trüben, oder aber, daß der Alkohol bei ihnen die letzten
Hemmungen beseitigt, und es dann zu außerordentlich schweren
Gewalttaten') gegen Personen und Sachen kommt. —
Eine Erscheinung, die bei Degenerierten, Hysterischen und
Epileptikern vorkommt, ist die sog. Poriomanie, der Trieb
zur Ausführung kürzerer oder längerer Reisen. Nicht immer
befinden sich die Kranken, wenn sie dem Drange zu unmoti¬
vierter Ortsveränderung nachgeben in einem Zustand getrübten
Bewußtseins. Mitunter handelt es sich vielmehr lediglich um
ein durch Angstgefühle ausgelöstes Fortlaufen, das die Kranken
ohne Ziel vorwärts treibt. Sie nächtigen im Freien, erdulden
allerlei Entbehrungen. Es kommt auch zu kriminellen Hand¬
lungen. Meist empfinden sie das Herannahen des Zustandes
äußerst unangenehm, sie können seinen Eintritt aber nicht ver¬
hindern. Mir sind mehrere Fälle bekannt, in denen Angehörige
der besten Gesellschaftsklassen in diesen poriomanischen Anfällen
weite Reisen (bis nach Amerika) machten und auf diese Weise
in ausländische Kolonialarmeen gelangten.
Schließlich ist zu erwähnen, daß unter den Degenerierten,
Hysterischen und manchen Gruppen von Schwachsinnigen der
Spiritismus, Okkultismus, der Hang zur Mystik und zum Ge¬
sundbeten, sowie der Aljerglauben ^) zahlreiche Anhänger besitzt.
Einer der größten Psychopathen aller Zeiten, Napoleon I., war
trotz seines kühl berechnenden Verstandes und trotz aller
Menschen- und Weltverachtung in großen und kleinen Dingen
äußerst abergläubisch. Noch deutlicher tritt uns diese Er¬
scheinung in der Geschichte des Niederganges der Römer ent¬
gegen und, wenn wir die Sitten der Gegenwart, die sich beson¬
derer Aufgeklärtheit rühmt, betrachten, so finden wir auf
Schritt und Tritt abergläubische Vorstellungen’), an denen ge¬
rade Degenerierte, Hysterische und Schwachsinnige mit größter
Zähigkeit festhalten, gleichgültig, welchem Bildungskreise sie
entstammen. —
Ein Bild des Lebenslaufes eines solchen Degenerierten gibt
uns die folgende Krankheitsgeschichte;
') Vergl. das Kap. Tropenkoller.
’) Qaupp, Aberglauben. Arch. f. krim. Anthrop., Bd. 28.
’) Gegen die Annahme, daß Aberglaube die freie Willensbestimmung
ausschließe, spricht sich eine Entscheidung vom Jahre 1867 (Seufferts
Arch., Bd. 20, S. 247) aus.
Nervöse und psychische Störungen bei Entartetea
't)8o
A. S., geb. 11. August 1878. Arbeiter. Vater Trinker, über die
Mutter nichts Nachteiliges bekannt. Von 4 Geschwistern sind 3 ge¬
storben. Bis zum 8. Lebensjahr zu Hause. Erziehung mangelhaft. Dann
in eine Erziehungsanstalt. Schlecht gelernt, deshalb unzureichende
Schulkenntnisse. 1900 Syphilis, 1903 Tripper.
Seit dem 18. Lebensjahre vielfach bestraft wegen Betrugs, Dieb¬
stahls, Widerstand, Mißhandlung, Sachbeschädigung zuletzt mit 2 Jahren
Zuchthaus (1906). Während der Verbüßung dieser Strafe mißvergnügt,
klagte über Kopfschmerzen. Schließlich Arbeitseinstellung und Nahrungs¬
verweigerung. Deshalb ins Lazarett. Hier mürrisch. Kopfschmerzen.
Studiert eifrig das Strafrecht und die Strafprozeßordnung, um zu queru¬
lieren. Wegen Verschlimmerung des Zustandes in die Irrenanstalt B.
Hier mürrisch, orientiert, viel hypochondrische Klagen. Er habe faule
Därme, fühle sich matt. Das Wasserlassen gehe schwerer. Der Appetit
sei schlecht. Das Gedächtnis sei schwach geworden. Er sei durch seine
Syphilis krank. Am ganzen Körper habe er unter der Haut syphilitische
Knoten (zeigt dabei einige Knötchen am Körper, die nicht syphilitisch
sind). Er sei in die Anstalt geschickt, um repariert zu werden. Hier sei
eine Reparaturwerkstelle. Ihm könne man aber nicht helfen, denn alte
Harnröhrenstrikturen könne man doch nicht fortbringen. Schon nach
achttägigem Aufenthalt fängt er an, auf Entlassung zu drängen, schimpft
und hetzt die Kranken gegeneinander.
Wenn es Streitigkeiten auf der Abteilung gibt, nimmt er regelmäßig
Partei für den einen oder anderen und wird gegen den Gegner aggressiv.
Sucht gleichzeitig durch fortwährendes Querulieren unberechtigte Ver¬
günstigungen zu erwirken.
Da eine Entlassung in die Freiheit ihm nicht in Aussicht gestellt
werden kann, bittet er dauernd um Rückversetzung in den Straf¬
vollzug. Dieselbe wird ihm nach vierwöchentlichem Aufenthalt in der
Anstalt gewährt. In den ersten 2 Tagen seines Aufenthaltes im Zucht¬
hause 2 Selbstmordversuche, deshalb in die Anstalt zurück. Hier be¬
gründet er diese Versuche damit, daß man ihm außer dem Haar auch den
Bart hätte abschneiden wollen. Außerdem sei ihm seine „Braut“ in der
Nacht erschienen und habe ihm zugerufen, er solle seinem Leben ein
Ende machen.
In den ersten Tagen der Rückkehr aus dem Zuchthause sehr nieder¬
geschlagen. Reißt von einem Nachttisch ein Stück Blech ab, und ver¬
sucht sich damit die Pulsader zu öffnen. Als dies verhindert wird, droht
er mit weiteren Selbstmordversuchen. Dabei viel hypochondrische Be¬
schwerden, die durch indifferente Mittel leicht beeinflußt werden.
Dauernd schlechter Schlaf, in den nächsten Monaten wechselnder Stim¬
mung, meist mürrisch und reizbar. Neigung zu Gewalttaten, sobald ihm
etwas nicht paßt. Queruliert viel, hat fortwährend hypochondrische
Klagen vorzubringen. Dazwischen kommen Zustände, in denen das Ge¬
sicht gerötet ist. Patient schwankt beim Stehen und Gehen wie ein Be¬
trunkener, spricht schleppend und lallend und ist noch mehr gereizt, wie
sonst. Zeitlich und örtlich orientiert. Wenn er einen seiner Feinde er¬
blickt, solche hat er auf der Abteilung ständig, so schimpft und flucht er
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten. 681
und schlägt mit Händen und Füßen um sich, so daß er besonderer Be¬
wahrung bedarf. Ist kaum im Bett zu halten.
Wenn er in diesen Zuständen beruhigende Einspritzungen (Hyoscin)
erhält, so treten bei ihm Sinnestäuschungen auf. Er sieht dann allerlei
Dinge auf dem Boden herumliegen, daneben auch Menschen und Tiere.
Mitunter erinnert der Zustand an ein Delirium. Dabei weiß der Patient
aber andauernd, daß es sich um Sinnestäuschungen handelt.
Die oben erwähnten Zustände schildert er bei anderer Gelegenheit
folgendermaßen:
Es werde ihm schwarz vor den Augen, dann gehe alles mit ihm
rund, und es komme plötzlich über ihn. Er werde dann sehr reizbar und
verwirrt, er fühle sich wie ein Betrunkener. Später könne er sich an
diese Geschehnisse nur sehr unvollkommen erinnern. Das Gesicht ist
dabei gerötet.
Nach längerem Wohlverhalten auf eine freiere Abteilung versetzt,
läßt er sich von einem Kranken, der zur Erledigung persönlicher An¬
gelegenheiten freien Ausgang erhält, Schnaps mitbringen, trinkt den¬
selben, danach mehrere Tage anhaltender Verwirrtheitszustand mit
außerordentlicher Reizbarkeit.
Februar 1907 machte er gemeinsam mit einem anderen Kranken
einen Ausbruchsversuch, trinkt draußen Schnaps. Darauf Erregungs¬
zustand, währenddessen er einen Passanten gefährlich mißhandelt.
Einige Tage später, als ein anderer hochgradig erregter Kranker
von dem Arzt und dem Pfleger beruhigt werden soll, stürzt er plötzlich
ohne irgendeinen besonderen Grund aus dem Bett und will den Arzt in
höchster Wut angreifen. Dabei Gesicht blaß, heftiges Zittern des ganzen
Körpers. Auf Zureden beruhigt er sich und bittet selbst um beruhigende
Medikamente.
Mai 1907 erneuter Fluchtversuch, stiehlt in der Stadt ein Fahrrad,
wird unmittelbar danach verhaftet und auf die Polizeiwache geführt, dort
zerschlägt er mehrere Scheiben und zertrümmert in der Zelle das ge¬
samte Mobiliar, mißhandelt die Beamten. In die Anstalt zurückgebracht
gab er an, er habe vorher Alkohol genossen. Wegen zunehmender
Schlaflosigkeit bettelt er fortwährend um Schlafmittel, zur Beruhigung
um Morphiuminjektionen. Letztere erhält er nicht, andere Schlafmittel
nach Bedarf. Zeitweise erinnert sein Morphiumhunger an den eines
Dipsomanen. Für seine Verfehlungen völlig uneinsichtig; obwohl alle
Versuche einer freieren Behandlung bisher mißglückt waren, drängt er
immer wieder in kritikloser Weise auf Gewährung von allerlei Ver¬
günstigungen. Wenn ihm seine verschiedenen Handlungen vorgehalten
werden, ist er einsichtslos, bestreitet dieselben zwar nicht, versichert
aber, es würde in Zukunft nicht mehr Vorkommen. Dazwischen Drohungen
mit Selbstmordversuchen; oft anmaßend, bedroht Pfleger und Arzte,
wenn die verlangten Schlaf- und Beruhigungsmittel ihm nicht ver¬
abfolgt werden, stiehlt gelegentlich den Pflegern Bier nud trinkt es aus.
Jedesmal danach Erregungszustand mit Selbstbeschädigungsversuchen
oder Neigung zum Zertrümmern von Anstaltsgegenständen.
682 Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten,
Hat inzwischen die Wiederaufnahme des Verfahrens bezüglich der
letzten Straftaten durchgesetzt, wird wegen Widerstandes freige¬
sprochen, wegen der Diebstähle bestraft.
Nachdem er einige Zeit etwas ruhiger gewesen war, wird auf seinen
Wunsch der erneute Versuch gemacht, ihn den Rest seiner Strafe ver¬
büßen zu lassen. Im Zuchthaus allein beschäftigt, gelingt es ihm tatsäch¬
lich, den mehrmonatlichen Strafrest zu absolvieren. Er wird entlassen
(1908). In der nächsten Zeit teils als Arbeiter, teils als Hausierer be¬
schäftigt. Trinkt stark, kommt vielfach in Kollision mit anderen Leuten,
mehrere Schlägereien, ist auch Morphinist geworden, wird wiederholt in
anderen Anstalten verpflegt, kommt ferner in schwer betrunkenem Zu¬
stande, weil er kein Morphium mehr hatte, in die Poliklinik. Abgewiesen,
wird er erregt, greift einmal einen Pfleger im Treppenhause an. Erbietet
sich unmittelbar danach freiwillig zu einer klinischen Demonstration.
Als er bei einer derselben einen anderen Anstalsinsassen, mit dem er
früher Differenzen gehabt hatte, trifft, stürzt er sich auf ihn und will ihn
würgen, kann nur mit Mühe festgehalten werden. Auf Befragen gibt er
an, daß er längere Zeit Zuhälter gewesen und sich auch homosexuell
betätigt habe. 1912 Entziehungskur in der Anstalt. Es wird ihm das
Morphium in wenigen Tagen entzogen, danach Entlassung. Patient
kommt nach kurzer Zeit wieder mit der Angabe, daß er von neuem
Morphium spritze. Inzwischen waren auch mehrere Diebstähle passiert.
Die strafrechtliche Beurteilung des Falles
war bei den verschiedenen Gerichten immer die gleiche. Für die
Eigentumsdelikte wurde er für gewöhnlich bestraft, dagegen
wurden ihm die unter Alkohol und hochgradiger pathologischer
Erregung begangenen Körperverletzungen und Widerstands¬
leistungen nicht zugerechnet. —■
In klinischer Beziehung sind die Psychopathen aus dem
Grunde interessant und schwierig, weil sie vielfach Zustandsbilder
bieten, die auch bei der Dementia paecox Vorkommen. Die Diffe¬
rentialdiagnose l)eidcr Erkrankungen ist infolgedessen außer¬
ordentlich schwierig und oft nur aus dem ganzen Verlauf zu
stellen. Dabei ist sie praktisch insofern von großer Bedeutung,
als die Dementia praecox eine meist unheilbare, ja sogar zur
Verblödung führende Psychose ist, w.ährend sich die degenera-
tiven Symptome unter Umständen — namentlich dann, wenn
die Kranken sich in geeignetem Milieu befinden — rasch bessern.
Die Unterscheidung ist nicht sowohl für die Frage der Anstalts¬
entlassung, wie auch für die strafrechtliche Beurteilung wichtig,
denn wenn die Diagnose Dementia praecox feststeht, so wird
man dem Kranken in den meisten Fällen die Wohltat des § 51
zuteil werden lassen müssen, während das, wie schon oben aus-
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten. 683
geführt ist, bei einem Degenerierten keineswegs der Fall zu sein
braucht. —
Um die Schwierigkeiten, welche sich dem Sachverständigen
nach dieser Richtung hin bieten, zu zeigen, sei der folgende Fall
etwas ausführlicher wdedergegeben.
L. B., geb. 27. Januar 1872. Mechaniker, schwerer Diebstahl, Be¬
strafung. psychopathische Konstitution.
Bruder des Vaters leidet an Krampfanfällen, drei Geschwister des
Patienten als Kinder gestorben. Patient selbst hatte gute Schulerfolge.
Später in Fürsorgeerziehung, nachdem mehrere Versuche ein Handwerk
zu iernen, mißglückt waren. Es fehlte ihm an Ausdauer. Mit 16 Jahren
wegen schweren Diebstahls und Hehlerei zu 2 Jahren Gefängnis ver¬
urteilt. Im Strafvollzug schlechte Führung. Wegen des gleichen Delikts
1893 drei Jahre Gefängnis, 1896 achtzehn Monate Zuchthaus, 1901 ein
Jahr Zuchthaus, 1902 zwei Jahre Zuchthaus, 1905 einundeinhalb Jahre
Zuchthaus.
Während der Strafverbüßung 1902 in der Strafanstalt W. zum
erstenmal geisteskrank. Deshalb Überführung in die Irrenabteilung S.
Hier zerfahrenes Wesen, kindisches, läppisches Verhalten. Patient er¬
zählte von verschiedenen Erfindungen, die er gemacht hatte, und war
vorw'iegend gehobener, heiterer Stimmung. Wahrscheinlichkeitsdiagnose:
Dementia praecox. Aus der Irrenabteilung in eine Irrenanstalt. Hier
sprach er auch von seinen Erfindungen, behauptete unschuldig verurteilt
zu sein, begann mit anderen Kriminellen zu komplettieren, mußte dauernd
im Bett gehalten werden, dabei zunehmend reizbar, nörgelte, querulierte
wxgen des Essens, drohte mit Selbstmord. Auch einzelne Verfolgungs¬
ideen W'urden geäußert. Dazu viel hypochondrische Klagen. Die früheren
Straftaten führte er auf harmlose Unvorsichtigkeiten zurück, die ihm in¬
folge falscher Behandlung durch das Gericht hohe Strafen eingetragen
hätten. Die letzte Verurteilung sei durch Verabredung zwischen Staats¬
anwaltschaft und Gericht, die ihn verschwinden lassen wollten, zustande
gekommen, da er das Vormundschaftsgericht, die Gerichtskasse und
seinen Vormund w'egen Unterschlagung angezeigt habe. In einer anderen
Anstalt, w'ohin er verbracht worden w'ar. dasselbe Verhalten, schreibt
verschiedene Denunziationen an den Landeshauptmann. Zeitweise er¬
regt, so daß er auf die unruhige Abteilung gebracht werden mußte, von
dort entweicht er. Zw^ei Monate später in Bonn wegen eines Fahrrad¬
diebstahls festgenommen. Nach der Festnahme Erregungszustand, be¬
droht Beamte, demoliert Einrichtungsgegenstände seiner Zelle, deshalb
Provinzialheilanstalt Bonn. Nach Abklingen des Erregungszustandes von
hier entlassen. Im Juli 1907 fünf Fahrraddiebstähle, Untersuchungshaft,
sofortiges Einsetzen eines halluzinatorischen Erregungszustandes, viel
Wahnideen und Sinnestäuschungen. Deshalb Überführung in die An¬
stalt G. Dort zunächst ruhig, indifferent, orientiert, sprach viel von
seinen Erfindungen, war voller Pläne, w'ollte Patente nehmen. Zeitweise
Klagen über Kopfschmerzen, Schwände!, Herzklopfen. Mitunter zeigte
er eine eigentümlich starre Haltung, anfangs kümmerte er sich wenig um
r)84 Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten.
seine Umgebung, wurde aber redselig, wenn er den Arzt erblickte. Die
Diagnose lautete: „wahrscheinlich Dementia praecox“. Nach einem mi߬
lungenen Fluchtversuch gereizt, nörgelt, konspiriert mit anderen Krimi¬
nellen.
Inzwischen erfolgte wegen der letzten Fahrraddiebstähle seine Frei¬
sprechung. Im Laufe der nächsten Monate Besserung, die Wahnideen
traten zurück, von Sinnestäuschungen wollte der Patient nichts mehr
wissen. Labile Stimmung, leicht gereizt, fügte sich schlecht in die Haus¬
ordnung, hetzt unter den Kranken.
Infolge dieser Besserung als strafvollzugsfähig und zurechnungs¬
fähig entlassen. (Genesen von paranoidem Erregungszustand bei Dege¬
neration.)
8 . April 1908 verhaftet wegen Einbruchsdiebstahls. Bei der ersten
Vernehmung gibt er an, er sei erst vor kurzem w'egen Geisteskrankheit
freigesprochen und sei auch jetzt noch nervenleidend. Am Tage darauf
Erregungszustand in der Zelte.
Drei Wochen später machte er auf den Richter den Eindruck, als
wenn er nicht in vollem Besitz seiner geistigen^fähigkeiten sei. Deshalb
Zuziehung des Gerichtsarztes. Nach dessen Gutachten hat B. gleich
nach der Verhaftung ein verstörtes Wesen gezeigt. Ende April Er¬
regungszustand in der Zelle. Beruhigung.
Nach einigen Tagen, Mitte Mai, erneuter Erregungszustand mit ver¬
worrenen Reden, sprach von Mädchen, die ihn besuchen, Männern, die
ihn umbringen wollten, Verweigerung der Nahrungsaufnahme. Verun¬
reinigte die Zelle mit Urin. Da er körperlich zurückging, Aufnahme ms
Lazarett. Hier ruhig, verschlossen gegen die anderen, gegen die Auf¬
seher unbotmäßig und frech. Schlechter Schlaf, Zittern der Zunge und
der Finger, Lidflattern, lebhafte Sehnenreflexe, herabgesetzte Schmerz¬
empfindung, leichtes Schwanken bei Fußaugenschluß. Fragen werden
vielfach absichtlich falsch beantwortet. „Patient schweift von der Sache
ab und schwätzt schließlich ganz konfus." Gelegentlich werden Ver¬
folgungsideen geäußert. Antrag des Gerichtsarztes auf Beobachtung
gemäß § 81. Dieselbe erfolgt in Bonn.
Körperlich: Guter Ernährungszustand, lebhafte Sehnenreflexe, keine
Störungen der Gefühlsempfindung, innere Organe o. B.
Subjektive Klagen: Kreuzschmerzen beim Bücken, Kurzatmigkeit,
zeitweises Herzklopfen, schlechter Schlaf. Gleichzeitig klagte Patient
über Intoleranz gegen Alkohol.
Psychisch: Unruhig, häufiger Lidschlag, dabei scheuer Blick. Patient
spricht viel und leise vor sich hin, sieht bisweilen unruhig um sich. Bei
einer längeren Unterredung wird er sehr bald gereizt und heftig, be¬
kommt einen roten Kopf, schimpft mit großem Affekt über akademische
Lumpereien und macht Miene, gegen den Arzt tätlich zu werden. Nach
dem Grunde seines Verhaltens gefragt, sagt er, wenn ihn etwas ärgere,
müsse er sich das vom Herzen reden. Er möchte am liebsten die ganze
Gesellschaft zusammenschießen. Dann könne man ihn seinetwegen kaputt
machen. Wenn er heftig werde, sei er ganz anders, dann schlage er
alles zusammen. Er brachte dann eine ganze Reihe von Beeinträch-
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten. 685
tigungsideen vor. In der Anstalt Q. sei er durch einen Arzt syphilitisch
gemacht worden. Sein Vormund und zwei Juristen hätten ihn um sein
Erbteil gebracht, um ihre eigenen Verbrechen zu verdecken. Sie hätten
ihn durch einen Kriminalschutzmann beobachten lassen und deshalb sei
er hierhergekommen; er werde die Leute aber zur Rechenschaft ziehen.
Im Gefängnis habe man nachts Lärm gemacht, um ihn schlaflos zu
machen, damit er verrückt werden sollte. Bei dem geringsten Zweifel
an der Richtigkeit seiner Erzählungen über zahlreiche Erbschafts- und
sonstige Qeldgeschichten, die bei den Verfolgungen eine Rolle spielen,
wird er sofort erregt, läßt sich allerdings meist beruhigen. Spricht viel
von seinen Erfindungen, gerät dabei in großen Eifer, verspricht, Zeich¬
nungen und detaillierte Beschreibungen anzufertigen. Er ist mit der Er¬
findung eines lenkbaren Luftschiffes, diebessicherer Kleiderhalter und
Fahrradsitze, Wassertretstiefel, eines Wasserfahrrades und Benzin¬
vergasers für Motorräder, die eine Schnelligkeit bis zu 300 km in der
Stunde ermöglichen würden, beschäftigt. Bei jeder seiner Erfindungen
rechnet er gleichzeitig den pekuniären Nutzen aus, den er daraus ziehen
will. Reale Erfolge hat er damit bis jetzt noch nicht erzielt.
Intelligenzprüfung: Kopfrechnen macht ihm große Mühe, auch sonst
sind seine Schulkenntnisse lückenhaft. Er hält auch positive Kenntnisse
zur Erreichung von Erfolgungen nicht für notwendig. Als er von Zeppe¬
lins Leistungen las, schrieb er einen von Beleidigungen strotzenden Brief
an diesen seinen angeblichen Konkurrenten, dem er vorwirft, er habe
seine Pläne gestohlen und für sich gebraucht.
Aus der sonstigen Beobachtung ist noch hervorzuheben, daß er in
wesentlichen Punkten mit seinen Angaben erheblich schwankte. So be¬
hauptete er z. B. früher einmal verheiratet gewesen zu sein. Später
mußte er zugeben, daß er ledig war. Einige Tage später behauptete er
von neuem im Jahre 1902 geheiratet zu haben. Heute stellte er einen
Teil seiner kriminellen Vergangenheit in Abrede, morgen gab er dieselbe
zu, gab aber ganz andere Darstellungen von den Vorgängen wie früher.
Dazu kamen zeitweise starke hypochondrische Beschwerden.
Seit dem Jahre 1902 will er an Sinnestäuschungen leiden. Dieselben
sollen besonders im Anschluß an Anstrengungen, Aufregungen und nach
Alkoholgenuß auftreten und die ganze Zeit, seit dem Jahre 1902 be¬
stehen. Daß er in der Anstalt Q. von Sinnestäuschungen so gut wie gar
nicht gesprochen hatte, also auch offenbar keine gehabt hat, sei hinzu¬
gefügt.
Das Gutachten führt folgendes aus: B. ist ein unsteter Mensch, der
vieles angefangen und nichts vollendet hat. Er ist früh in Fürsorge¬
erziehung gekommen, mit 16 Jahren kriminell geworden, ln der Straf¬
haft traten fast regelmäßig psychische Störungen auf. Während der
Beobachtung in den verschiedenen Anstalten waren seine wesentlichsten
Symptome die labile Stimmung, die ethische Verwahrlosung und das un¬
soziale Verhalten. Daneben zahlreiche hypochondrische Klagen, ge¬
steigerte Affekterregbarkeit, Verlogenheit, Neigung zu Phantastereien.
Es handelt sich nicht um einen Dementia praecox, sondern um einen
Degenerierten mit Neigung zu episodischen psychischen Störungen bei
686 Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten.
entsprechender äußerer Veranlassung, wie Haft usw. Der Nachweis,
daß B. zur Zeit der letzten Tat geisteskrank ini Sinne des § 51 war, ließ
sich nicht erbringen. Patient wurde verurteilt.
Das, was diesen Kranken von der Dementia praecox wesent¬
lich unterscheidet, ist die Abhängigkeit seines psychischen und
körperlichen Befindens von der jeweiligen Umgebung. Kommt er
ins Gefängnis, dann halluziniert er, wird er in eine Heilanstalt
gebracht, so schwinden seine Sinnestäuschungen bis auf einige
wenige Reste (Residualwahn); läßt man ihm seinen Willen, so ist
er im allgemeinen zufrieden, muß er sich in ein bestimmtes Milieu
hinein fügen, so kommt er fortwährend in Kollision mit seiner
Umgebung und läßt dabei eine zweifellos krankhafte Affekt-
erregbarkeit erkennen.
Alles in allem unterscheiden sich diese Fälle durch lebhaftes
Reagieren auf kleinste äußere Einflüsse und durch den krank¬
haften Affekt wesentlich von den typischen Fällen der Dementia
praecox. Daß gewisse Wahnreste übrig bleiben können, ist schon
erwähnt, und insofern können die Kranken dem jugendlichen \'er-
blödeten recht ähnlich sehen. Die gemütliche \'erblödung der
Dementia praecox findet man aber beim Degenerierten nicht. —
Einen anderen Typ von Degenerierten stellt der folgende
Fall dar.
A. K., letzt 19 Jahre alt. Vater Alkoholist und Psychopath, Mutter
gleichfalls Psychopathin, völlig einsichtslos für das Verhalten ihrer Kinder,
von denen außer unserem Patienten noch mehrere andere degenerative
Züge aufweisen. Patient war in der Schulzeit häufig renitent, machte
allerhand Streiche, erreichte aber die oberste Klasse. Nach der Ent¬
lassung mit 14 Jahren Kellnerlehrling. Einige Monate später wird er
bei einer großen Bierreise im Vorraum eines Prostituiertenlokals plötz¬
lich mit einem Schuß in der Schläfe aufgefunden. Die Kugel sitzt
noch heute im rechten Okzipitallappen (Röntgenbild). Nach Ver¬
heilung der Schädelwunde nach Hause zurück. Dort treten immer mehr
degenerative Züge auf. Patient begeht mehrere Ladenkassendiebstähle
und verteilt das entwendete Geld unmittelbar nach der Tat an einem
Haufen ihm völlig unbekannter Straßenkinder; er versteckt den Eltern
die Sachen so, daß diese sie nicht finden und infolgedessen notwendige
Ausgänge nicht machen können; er würgt seine jüngeren Geschwister
und prügelt sie in brutaler Weise, treibt sich tagelang in der Umgebung
von B. herum. Nach Hause zurückgeholt, zeigt er keinerlei Einsicht für
seine Verfehlungen, freut sich sichtlich darüber, daß er den Eltern so viel
Uiigelegenheiten bereitet hat. Diese gehen von einer Klinik in die andere
und verlangen von den Ärzten die Operation ihres Sohnes wegen der im
Gehirn sitzenden Kugel in der ausgesprochenen Hoffnung, daß der Sohn bei
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten. 68"
der Operation sterben würde. Als dies von verschiedenen Chirurgen ab¬
gelehnt wird, wird der Kranke in unsere Klinik gebracht. Hier einsichtslos
für seine Verfehlungen, schimpft in gemeinster Weise auf seine Elter"
hetzt die Kranken gegeneinander, inszeniert ein Komplott gegen einen der
Angestellten der Klinik, stiehlt, lügt, macht dem Personal auf jede Weise
Schwierigkeiten, schätzt seine eigenen Fähigkeiten sehr hoch ein, macht
sich über schwachsinnige Kranke mit besonderer Vorliebe lustig und quält
diese, berichtet oft über phantastische Erlebnisse, die er gehabt haben
will. Auf Wunsch der einsichtslosen Eltern wurden mehrere Versuche, ihn
ein Handwerk lernen zu lassen, gemacht. Jedesmal schickte ihn der Meister
nach einigen Wochen zurück, weil er die aufgetragenen Arbeiten sehr
bald nicht mehr verrichtete, mutwillig Material verdarb, sich herumtricb
oder ganz fortlief. Deshalb einmal in ein Pflegehaus gebracht, von wo
er nach wenigen Tagen entwich. Wieder aufgegriffen, kam er in die
Provinzialheilanstalt B. Nach längerer Behandlung auf der geschlossenen
Abteilung wird der Versuch einer Beurlaubung nach Hause gemacht.
Innerhalb der ersten Tage kommt es zu wüsten Schlägereien mit dem
Vater, die schließlich damit enden, daß Patient auf den Vater schießt.
Deshalb zurück in die Provinzialheilanstalt, wo er sich noch gegenwärtig
befindet.
Der Fall zeigt deutlich, wie erbliche Anlage und ein un¬
günstiges häusliches Milieu zu schwören kriminellen Handlungen
führen. Anklage ist in diesem Fall nie erhoben worden, man hat
vielmehr den Kranken, weil er früher bereits in einer Irrenanstalt
gewesen war, einfach sofort wieder in die Anstalt zurückgebracht.
Der Patient hat aber trotz seiner Jugend bereits gezeigt, daß er
lediglich wegen seiner Charaktereigenschaften, insbesondere des
Zynismus, der Neigung zum Lügen, der Neigung zur bewußten
Grausamkeit, dem Fehlen aller ethischen Regungen, wie sie bei
anderen Menschen in seinem Alter vorhanden sind, für die Außen¬
welt absolut nicht zu gebrauchen ist. Bei diesen Fällen ist m. E.
die Entmündigung wegen Geistesschwäche durchaus angebracht. —
Es gibt eine andere Serie von Degenerierten, die früher
oder später deshalb vor dem Strafrichter erscheinen, weil
sie sich im Laufe der Jahre gewöhnt haben, ihre ganze Lebens¬
führung kostspieliger zu gestalten, als es ihnen ihre Einnahme
gestatten. Sie besitzen nicht die Kraft, sich einzurichten, die
Sucht zu Posieren und zu Renommieren verleitet sie immer wieder
zu größeren Ausgaben, und so kommt es zu Betrügereien und
Schwindeleien aller Art. Amtlich anvertraute Gelder werden
unterschlagen, Wechselfälschungcn begangen, Kassen, welche
ihnen zur N’erwaltung anvertraut sind, werden geplündert,
bis eines Tages der Zusammenbruch erfolgt, dem sich der straf-
(.88
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten.
rechtlich \'erfolgte entweder durch Selbstmord, oder durch die
Flucht zu entziehen sucht. Die meisten dieser Psychopathen
werden verurteilt. Xur dann, wenn die Charakterveränderung
sehr schwer ist oder gleichzeitig hochgradiger Alkoholismus be¬
steht, was nicht selten der Fall ist, kommt es zur Freisprechung.
Die Beurteilung dieser Fälle ist deshalb nicht besonders schwierig.
Schwerer ist sie schon in der folgenden Gruppe von Fällen,
die von Birnbaum mit dem Namen ,,degenerativ Verschrobene"
bezeichnet worden sind.
Das, was die Kranken kennzeichnet, ist einerseits die Über¬
schätzung der eigenen Persönlichkeit, andererseits eine total
verschrobene Weltanschauung. Sie halten sich, und zwar sehr zu
Unrecht, für Übermenschen, für die die vorhandenen Gesetze
nicht gelten, die machen können, was sie wollen, und ihre Indivi¬
dualität „sich frei entfalten lassen“. Sie philosophieren in höchst
unklarer Weise über alle möglichen Dinge, dabei sind aber in ihren
sogenannten philosophischen Werken zwar viele Worte, aber wenig
Sinn enthalten. Es fehlt ihnen jede Ausdauer und Befähigung,
ein Problem auch nur einigermaßen erschöpfend durchzudenken.
Dazu kommt ein anmaßendes, hochfahrendes Wesen, Streitsucht,
Unstetheit, Unlust zur Arbeit, gelegentlich auch Angst, auf
körperlichem Gebiete Schlaflosigkeit, viel Degenerationszeichen,
mitunter auch einzelne hysterische Züge.
Ein Beispiel dieser Art ist folgender Fall:
Der am 3. Februar 1877 in Bonn geborene W. M. ist seit 1891 mehr¬
fach wegen Eigentumsvergehens, darunter 1899 mit 2'/, Jahren Zucht¬
haus wegen Diebstahls im Rückfalle, Betrug und Urkundenfälschung, und
einmal 1902 wegen Vergehens gegen § 183 St.QJJ. vorbestraft, ln den
die letzte Straftat betreffenden Akten findet sich ein längeres Schrift¬
stück des M., das am Tage nach der Verurteilung abgefaßt wurde und in
dem M. eine Reihe recht konfuser und törichter Qrößenideen äußert,
wenige Tage darauf schreibt er einen formell völlig geordneten Brief, in
dem er um protokollarische Vernehmung bittet, da er unschuldig ver¬
urteilt sei; er gibt darin an, daß er in anderer Richtung manchmal
schwache Stunden habe, betont seinen großen Seelenadel, und seine
pietätvolle Qesinnung, und unterzeichnet sich als Professor der Anthro¬
pologie und Naturwissenschaft.
Am 19. März 1909 wurde M. von der 4. Strafkammer des Kgl. Land¬
gerichts 1 wegen Betrugs im Rückfalle zu 10 Monaten Gefängnis ver¬
urteilt. ln der Untersuchungshaft stellte M. den Antrag, ihn durch einen
Spezialisten für Nervenkrankheiten untersuchen zu lassen, da er „etwas
nervenkrank“ sei, und „damit er später die Richter nicht für einen
übereilten Schritt verantwortlich machen müsse“. Der Qerichtsarzt
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten. 689
Dr. H. führte in seinem Gutachten aus, daß M. ein Neurastheniker mit
hysterischen Zügen, daß er aber bezüglich der ihm zur Last liegenden
Straftaten als zurechnungsfähig zu bezeichnen sei. In einem bei den
Akten befindlichen Lebenslauf von ermüdender Länge, sucht M. den
Nachweis hereditärer Belastung zu erbringen, Eltern und Geschwister
sollen nervös sein. Als Hauptsymptom seiner angeblichen Nervenkrank¬
heit, die im Gefängnis in B. ausgebrochen sein soll, schildert er seine
Unbeständigkeit und labile Stimmung; den breitesten Raum in dem
übrigens in unbeholfenem Stil und recht mangelhafter Orthographie ab¬
gefaßten Schriftstück nehmen seine Klagen über angebliche Unter¬
drückungen und Schikane des Aufseherpersonals im belgischen und
holländischen Strafvollzug ein.
Die Bonner Kriminalpolizei berichtete auf Anfrage, daß M. als
geistig nicht normal bekannt sei, seine beiden Schwestern seien nerven¬
leidend, die eine habe häufige, schwere Nervenanfälle; das Leiden der
Kinder sei anscheinend auf Vererbung zurückzuführen, der Vater sei in
seiner Jugend ebenfalls nervenleidend gewesen. Die Strafkammersitzung
am 27. Februar 1909 mußte unterbrochen werden, da M. sich angeblich
unwohl fühlte und zusammensank, ohne sich zu verletzen; der anwesende
Sachverständige Dr. H. untersuchte ihn und äußerte sich dahin, daß M.
sehr wahrscheinlich simuliere, daß es aber auch nicht ausgeschlossen sei,
daß er sich in einer Art Dämmerzustand befinde, der ihn als nicht ver¬
handlungsfähig erscheinen lasse. Darauf wurde die Sache vertagt.
Der zu einer gutachtlichen Äußerung über ähnliche im Gefängnis
beobachtete Anfälle aufgeforderte Gefängnisarzt D. B., bezeichnet M.
als hystero - neurasthenisch. Nach der Verhandlung habe M. sich
geistesabwesend und verwirrt gestellt, eS*- habe sich aber nur um
einen hysterischen, in der Hauptsache gemachten und „noch im Bereich
der Willenssphäre“ liegenden Zustand gehandelt. Im Gefängnis seien
derartige Fälle nicht beobachtet; zur Annahme der Unzurechnungsfähig¬
keit habe er keinen Grund.
Am 29. März 1909 wurde M. als Untersuchungsgefangener in das
Kgl. Gefängnis zu B. eingeliefert.
Nach der Anklageschrift hat M. am 10. November 1905 den Kellner
W. in B., der ihn nicht kannte, um ein Darlehn von 3 Mk. angegangen,
und ihm einen Ring als Pfand zurückgelassen; er versprach, das Geld am
andern Morgen zurückzubezahlen, ließ sich aber nicht mehr sehen. Die
Abschätzung des Ringes ergab einen Wert von nur 50 Pfg.
Weiter wird ihm zur Last gelegt, einem im Sommersemester 1908
bei Ms. Eltern wohnenden Studenten B., das Universitätsanmeldebuch
entwendet zu haben; er wurde in X. im Besitze des Buches betroffen
und versuchte, sich durch dasselbe zu legitimieren.
Von dem Betrug des Kellners wolH| M. bei seiner Vernehmung in
X. nichts wissen; er sprach dabei von allen möglichen philosophischen
Problemen und legte die Schuld an seinen Handlungen der Gesellschaft
zur Last. Bezüglich des Anmeldebuches gab er an, es auf der Straße
in B. gefunden zu haben; einen Grund, warum er das gefundene Buch
dem Eigentümer nicht abgeliefert hatte, konnte er nicht angeben.
Hübner, Forensische Psychiatrie. 44
690 Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten.
Am 8 . April 1909 beantragte M. Aufschiebung des für den 16. April
angesetzten liauptverhandlungstermins und Untersuchung seines Nerven¬
systems durch einen Spezialisten für Nervenkrankheiten unter der An¬
gabe, daß er schon seit Jahren nervenleidend sei.
Sein Antrag auf Beobachtung wurde abgeiehnt. Er wurde ver¬
urteilt, legte aber Revision ein, der stattgegeben wurde. Infolgedessen
kam er in die Anstalt zur Beobachtung.
Hier wurde körperlich eine zeitweilige Beschleunigung der Herz¬
tätigkeit neben ziemlich beträchtlicher Übererregbarkeit des Gefä߬
systems festgestellt. Sonst somatisch nichts.
Psychisch: Anfangs erregt, schroff gegen Ärzte und Pfleger, selbst¬
bewußt. Kommt mit unzähligen Wünschen, indigniert, wenn sie ihm
nicht erfüllt werden. Erzählt fortwährend auf der Abteilung, er sei
Schriftsteller und Philosoph und habe deshalb Anspruch auf besondere
Rücksichten. Eine Zeitlang so impertinent, daß er in den Wachsaal
verlegt werden mußte. Bei den Visiten ignorierte er entweder den Arzt
oder suchte ihn in ein philosophisches Gespräch zu ziehen, wobei er es
vermied, bestimmte Behauptungen aufzustellen, und sich im wesentlichen
darauf beschränkte, mit Pachausdrücken um sich zu werfen und all¬
gemeine Binsenwahrheiten mit großer Emphase vorzubringen. Er war
offenbar völlig durchdrungen von seiner Bedeutung und wollte der Ge¬
sellschaft nicht das Recht zubilligen, über sein Tun und Lassen zu ur¬
teilen, da er über ihr stehe und ihre landläufige Moral auf ihn nicht an¬
wendbar sei. Auf die jetzt zur Verhandlung stehenden Straftaten wollte
er im Anfang seines Hierseins nicht eingehen; es sei ihm peinlich, darüber
zu sprechen. Auf seine früheren häufigen Kollisionen mit dem Straf¬
gesetz hingewiesen, meinte er, es seien Schikane der Gesellschaft ge¬
wesen. Sein Hauptwunsch, der ihm auch erfüllt wurde, war der, man
möge ihm seine Bücher und sein Schreibzeug geben, damit er arbeiten
könne; es waren einige Bücher philosophischen Inhalts und ein paar
Bände von Schillers Werken. Im ganzen beschäftigte er sich jedoch nur
wenig mit diesen Dingen, angeblich, weil sein Befinden ihn an geistiger
Arbeit hinderte.
Leider war er nicht dazu zu bringen, sein philosophisches System
schriftlich zu fixieren; er lehnte es ab unter dem Vorwände, er könne in
dieser Umgebung nicht arbeiten.
Angeblich um Studien zu machen, unterhielt er sich mit einigen
Patienten der Abteilung, wobei er die Kriminellen bevorzugte, von denen
er den einen in einem längeren Schriftstück als Simulanten bezeichnet.
Interessant ist dabei folgender Satz: „Die fingierte Epilepsie des Sch. ist
in Ansehung seiner Strafvollstreckung sehr zweckmäßig, da er sich damit
seinen Rücken decken will vor dem Zuchthause.“
Mit dem allmählichen Abklingen des Erregungszustandes ver¬
schwand vor allem die anfängliche Reizbarkeit, wenngleich man ihn
auch fernerhin vorsichtig behandeln mußte. Der unvermittelte, rein sach¬
liche Vorhalt seiner vielen Vorstrafen brachte ihn sofort in sehr gereizte
Stimmung; er erklärte, ein derartiges Entgegenkommen von seiten des
Arztes lasse er sich nicht gefallen, er würde sich höheren Ortes zu be-
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten. 691
schweren wissen. Er nahm dann gleich die Pose des verkannten und
gekränkten Menschenbeglückers an und nur durch ein längeres Gespräch
über seine philosophischen Bestrebnugen konnte er wieder beruhigt
werden.
Schon seit einer Reihe von Jahren will er sich mit solchen Dingen
beschäftigen. Damals war er noch ein „Sucher“, Jetzt hat er eine fest
gegründete Weltanschauung; während er früher „nahm“, glaubt er jetzt
„geben“ zu können. Er hat sich sein Wissen als Autodidakt erworben;
unter groGen Schwierigkeiten hat er Philosophie, Geschichte, Sprachen,
Physiologie und Psychologie studiert, „auf allen diesen Gebieten müsse
ein Philosoph und Schriftsteller zu Hause sein“. Sobald man nun auf das
eine oder andere Spezialgebiet eingeht, verliert er sich in einem Wust von
Phrasen. Positives Wissen in diesen Dingen ist nirgends zu finden. Allen
dahinzielenden Fragen entschlüpft er aalglatt.
Über ganz allgemein gehaltene Redensarten geht er bei Darlegung
seiner Ansichten nicht hinaus unter Verzicht auf den Versuch einer Be¬
gründung; so behauptet er, daß Bücher und Systeme den Menschen in
der Erkenntnis nicht weiter bringen, nur „Selbstbeobachtung“, „seine
nicht durch Empirie gefälschte Selbstbeobachtung“; die „auf Empirie
und Experimente“ gestützte Wissenschaft lehnt er als Scheinwissen
durchaus ab. Nach den Früchten seiner Selbstbeobachtung gefragt,
rettet er sich auf das Gebiet der Transzendentalen, faselt von „übersinn¬
lichem Prinzip“; der Endzweck aller Kultur bestehe in der Kultivierung
des „transzendentalen Ich“; die heutige Kultur hält er für eine Lüge,
eine „systematische Verirrung“.
Äußere Erfolge als Philosoph und Schriftsteller hat er bisher nicht
aufzuweisen; da er „kein Kind der Zeit“ sei, könne er auf irgendwelche
Unterstützung von seiten der Gesellschaft nicht rechnen; darin teile
er das Schicksal vieler anderer bedeutender Menschen; es bleibe ihm
noch viel zu kämpfen mit den Vorurteilen der Gesellschaft, die er aber
noch zu überwinden hoffe.
Einen bürgerlichen Beruf hat er angeblich nicht; mit solchen Sachen
habe er nichts zu tun, er habe den höchsten Beruf, den es gebe.
Wenn er sein großes philosophisches Werk, den Niederschlag seiner
Anschauungen, vollendet hat, will er sich von der Gesellschaft völlig
zurückziehen, sich „ein Holzhäuschen im Dickicht“ bauen und dort nach
der Natur leben; das Bewußtsein, von den wenigen dazu Fähigen ver¬
standen zu werden, sei ihm dann das Glück.
Auch sonst ist er auf die „Gesellschaft“ nicht gut zu sprechen.
Diese habe ihn verurteilen und einsperren lassen, um ihn zu unter¬
drücken.
Andererseits gab er an, daß er draußen in der Freiheit, auf sich
angewiesen, glücklich sei und nichts von Unterdrückungen von seiten
der Gesellschaft merke. —
M. hat, wie er sagt, die subjektive Überzeugung, daß er krank
und wiederholt unschuldig verurteilt ist, er sei aber nicht geisteskrank,
sondern nervenkrank. Er erklärt sich selbst für einen Psychopathen;
täglich sei er ein anderer, nie beständig; einmal habe er den Wunsch,
44*
692 Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten.
nur seiner Philosophie zu leben, dann wieder alles über Bord zu werten
und ein gut bürgerliches Leben zu führen. Manchmal sei ihm alles
gleichgültig, er sei dann deprimiert, lebensüberdrüssig, könne sich nicht
zur Arbeit aufraffen, habe keinen Glauben an seine Mission als Philo¬
soph. Er fühlt dann angeblich selbst, daß er geistig nicht intakt ist.
Hand in Hand mit dieser Verstimmung sollen Schlaflosigkeit, Reizbar¬
keit, allgemeines UnlustgefUhl, ängstliche Erregung sowie Kopf- und
Rückenschmerzen gehen.
In diesen Zuständen schreibe er Dinge, die er nachher lieber nicht
geschrieben hätte; er sei nicht imstande, seine Mißstimmung und Ge¬
reiztheit zu beherrschen, könne nicht nach den sonst von ihm für richtig
gehaltenen Grundsätzen handeln, auch nicht die Folgen seines Tuns be¬
urteilen.
Er ist der Meinung, daß er nur in diesen Verstimmungszuständen
zu kriminellen Handlungen neigt. Auch die ihm jetzt zur Last liegen¬
den Straftaten will er in einem Zustande begangen haben, in dem er
„nicht seine moralische Integrität hatte“. An die Affäre W. kann er sich
angeblich nicht erinnern, weil es so lange her ist. Das Universitäts-
anmeldebuch des Studenten B. will er zu Hause im Zimmer gefunden
haben. Nachdem B. ausgezogen war, nahm er das Buch an sich, weil
er es für wertlos hielt.
Im übrigen gab M. weiter an, daß er sich manchmal nicht an alles
erinnern könne, was er in den geschilderten Zuständen getan habe. Er
kann sich angeblich keine Rechenschaft über die Genese seiner Schwin¬
deleien geben, weiß sich aber wohl der Einzelheiten zu erinnern; aber
auch Not und Alkoholismus sollen bisweilen dabei ursächlich mitwirken.
Bezüglich der X.er Schwindeleien gibt er z. B. ohne weiteres zu, daß
er die Ringe kaufte, um sie als Pfand zu geben; trotzdem will er sich
„subjektiv“ unschuldig fühlen und bezeichnet sich als „Opfer der Justiz“.
Seinen .Angaben nach ist er „hereditär" belastet. Vater und Mutter
sollen reizbare Naturen, zwei Schwestern nervenkrank (anscheinend
hysterisch!) sein. Während der Schulzeit will er an Krämpfen gelitten
haben, die sich aber später verloren. Er hatte keine Lust zum Lernen,
schwänzte die Schule, machte dumme Streiche; am schwersten fiel ihm
das Rechnen; seine Lieblingsfächer waren Zeichnen und Geographie. Er
hat nach der Schulzeit keinen ordentlichen Beruf gelernt; er war alles
Mögliche, Dekorationsmaler, Kellner. Salonhumorist, hielt nirgends lange
aus, bummelte zwecklos in der Welt herum, angeblich zu Studien¬
zwecken.
Aus den sonstigen Angaben des Patienten ist noch folgendes zu
erwähnen:
Er behauptete, an nächtlichen Beklemmungen und ängstlichen
Träumen zu leiden und sexuell abnorm zu sein. Bei näherem Befragen
stellte sich heraus, daß er als junger Mensch sexuell sehr reizbar war.
Inzwischen war er aber über den „Kultus des Fleisches“ aus „morali¬
schen und ästhetischen Rücksichten“ erhaben.
Außerdem wollte er an Ohnmächten leiden. Hier wurde nichts der¬
artiges beobachtet.
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten. 693
Die Intelligenz war intakt. Insbesondere wies das Urteil keine
Defekte auf.
In dem Gutachten wurde ausgeführt, daß es sich um einen degene-
rativen Phantasten handle. Für das Vorliegen eines Wahnsystems haben
sich keine Beweise erbringen lassen. Begründet wurde die Diagnose
mit der typischen Belastung, der körperlichen und geistigen Minder¬
wertigkeit des Patienten, seiner Reizbarkeit, der Unstetheit der Lebens¬
führung, der frühzeitigen Kriminalität, der Unfähigkeit sich in geordnete
Lebensverhältnisse einzufügen.
Hinzu kommen noch einzelne neurasthenisch-hysterische Züge.
Was die Zurechnungsfähigkeit anlangt, so wußte M., daß er sich
strafbar gemacht hatte. Daß er z. Z. der Ausführung der fraglichen
Handlungen sich in einem psychischen Ausnahmezustand befunden hätte,
ließ sich nicht nachweisen. Seine Widerstandsfähigkeit gegen kriminelle
Anreize ist stets eine geringere, als beim normalen Menschen, völlige
Unzurechnungsfähigkeit z. Z. der Tat ließ sich aber nicht erweisen.
Wie schon oben ausgeführt wurde, stellen gerade die De¬
generierten zu dem Heere der Gewohnheitsverbrecher ein großes
Kontingent, und die Möglichkeit der Rückführung zu sozialer
Lebensführung ist bei den meisten von ihnen zu verneinen. Es
gelingt verhältnismäßig selten, solche Menschen wieder zu brauch¬
baren Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen’).
Nur ausnahmsweise ist das möglich, nämlich dann, wenn man
die Patienten in ein günstiges Milieu versetzen kann, in dem sie
zu verbrecherischer Betätigung wenig Gelegenheit haben. Mit¬
unter ist es eine lohnende und dauernde Beschäftigung unter
sorgfältigster Aufsicht, mitunter eine geeignete Ehe, die das be¬
wirkt, häufig sind die Fälle, in denen eine Besserung beobachtet
wird, aber nicht.
Praktisch von besonderer Bedeutung ist die bereits erwähnte
Tatsache, daß die Degenerierten auf Alkohol öfters patho¬
logisch reagieren. Es kommt dann zu schweren Delikten bei
Menschen, die im gewöhnlichen Leben ziemlich harmlos er¬
scheinen, denen man in nüchternem Zustande derartige Hand¬
lungen nicht Zutrauen würde. Gerade dieser Umstand führt aber
dazu, daß ihre richtige forensische Beurteilung Schwierigkeiten
macht. Ich möchte das an einem Fall zeigen, in dem ich selbst
Sachverständiger war. Er hat in der Öffentlichkeit zu lebhaften
Diskussionen geführt, insbesondere ist die Berechtigung der
’) Die sog. geborenen Verbrecher sind vielfach Degenerierte, s.
S 82. Dort Literatur.
694 Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten.
Freisprechung lebhaft angezweifelt worden; wie sich später ge¬
zeigt hat, ganz zu Unrecht.
K. K., geb. 6 . Sept. 1889, stud. med. Gefährliche Körperverletzung.
Pathologischer Rausch, Freisprechung.
Ein Bruder des Vaters hat Selbstmord begangen; die Mutter leidet
viel an Migräne, ein Bruder Psychopath. Patient selbst in der Schule
viel krank, ungleich in seinen Leistungen, hat erst mit 21 Jahren Abi¬
turientenexamen gemacht. Während der Schulzeit viel Kopfschmerzen,
Qeräuschfurcht, sehr empfindlich gegen Schmerzen. Wenn er wegen
kleinen Verletzungen zum Arzt mußte, fiel er regelmäßig in Ohn¬
macht. Die Kopfschmerzen hatten zwei Formen, entweder sie betrafen
den ganzen Kopf oder es handelte sich um anfallsweise auftretende
Schmerzen über dem rechten Auge, dazu Flimmern auf dem gleichen
■Auge, zeitweise auch Unlust zur Arbeit und Neigung zu traurigen Ver¬
stimmungen. Im allgemeinen nicht viel Alkohol. Nur in den Karnevals¬
tagen 1912 trank er reichlich. Karnevalssonntag bis 3 Uhr nachts auf,
dann einige Stunden geschlafen, darauf Frühschoppen, im Anschluß daran
Ausflug nach C., dort wurde in einem Hotel getanzt und sehr viel ge¬
trunken (Sekt aus Biergläsern, schwere Liköre und ähnliches). Nach
den Berichten von mehreren Zeugen war er ungewöhnlich stark be¬
trunken. Um '/ 3 I 2 Uhr nachts wurde er vor dem Hotel von Bekannten
gefunden, denen er auf Ansprechen nicht antwortete, offenbar erkannte
er sie auch nicht. Diese Zeugen haben weiter beobachtet, daß er aller¬
lei triebartige Handlungen beging. So lief er z. B., nachdem er über
eine halbe Stunde in einer Ecke vor dem Hotel gestanden hatte, ganz
plötzlich auf ein Automobil los, sprang in dasselbe hinein, wobei er bei¬
nahe die Bremse in Betrieb gesetzt hätte und blieb darin liegen; konnte
nur mit Mühe daraus entfernt werden. Was zwischen 12 und 2 Uhr
passierte, weiß weder einer der Zeugen noch der Angeklagte selbst.
Um zwei Uhr traf er die Prostituierte S. auf der Straße. Sie
forderte ihn auf, mitzugehen; Beide bestiegen wortlos eine Droschke.
Während der Fahrt zu der Wohnung der S. sprach K. gar nicht, legte
sich vielmehr quer in die Droschke hinein. Angekommen, betrat er das
Zimmer der K., suchte die Tür hinter sich abzuschließen und steckte
den Schlüssel ein. Die S. forderte ihn auf, ihr den Schlüssel zurück¬
zugeben. K. antwortete nicht, sondern zog wortlos ein Taschenmesser
iiervor, ging auf die S. zu und bedrohte sie fortwährend mit den
Worten: „Ich steche Sie tot!“ Die S. lief um den Tisch herum, warf
Stühle um und rief um Hilfe. Darauf erschien die Prostituierte L. Sie
forderte den K. auf, das Haus zu verlassen. Er folgte ihr, immer ohne
ein Wort zu erwidern, und bedrohte nun mit dem Messer statt der S. die
L. Er ging die Treppe rückwärts herunter, sich am Treppengeländer
festhaltend, und stach in der Luft immer nach der L. Auf einer der
untersten Treppenstufen waren sich beide so nahe, daß die L. fürchtete,
getroffen zu werden. Sie drehte sich infolgedessen um und wollte die
Treppe herauflaufen. Bei dieser Gelegenheit traf K. sie ins Gesäß. Es
war eine kleine Hautwunde entstanden. Die Besitzerin des Hauses hatte
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten. 695
inzwischen einen Schutzmann geholt, so daß K. unmittelbar danach
verhaftet wurde. Er sprach mit dem Schutzmann über die Tat,
taumelte so hin und her, daß er mehrere Male hinfiel und aufgehoben
werden mußte und machte auf den Schutzmann einen sinnlos betrun¬
kenen Eindruck. Auf die Wache gebracht, trat ein schwerer Erregungs¬
zustand ein. K. nahm alles, was er lose bei sich trug, und warf es auf
die Erde (Handschuhe, Feueranzünder, Portemonnaie usw.), drohte mit
Selbstmord und war so erregt, daß eine Vernehmung nicht stattfinden
konnte. Der Kommissar vom Dienst sagte aus, er sei froh gewesen, als
er am anderen Tage hörte, daß der Angeklagte noch am Leben sei.
Dieser Beamte beeidete auch, daß er während seiner elfjährigen Tätig¬
keit als Kriminalbeamter in C. kaum jemals einen Menschen in so er¬
regtem und betrunkenem Zustande gesehen habe, wie den K. Ein Pro¬
tokoll wurde nicht aufgenommen. Der Kommissar sprach aber mit dem
K. über den Vorfall. K. soll hierbei verlangt haben, daß das Messer an¬
gesehen würde; er bestritt entschieden, jemanden gestochen zu haben,
an dem Messer waren Blutspuren auch nicht zu entdecken. K. selbst
weiß von den Vorgängen der ganzen Nacht nichts weiter, als daß er am
nächsten Tage mit der ersten Bahn nach B. zurückgekehrt ist. Im Laufe
des Tages erhielt er dann Nachricht, daß er eine strafbare Handlung
begangen habe und fuhr gemeinsam mit anderen Herren hin, um fest¬
zustellen, was er getan hatte.
Das Gericht sprach den Angeklagten unter Berücksichtigung des
Umstandes, daß er ein körperlich schwächlicher, erblich belasteter, zu
migräneartigen Zuständen, Verstimmungen und nervösen Erscheinungen
neigender Mensch war, im Hinblick ferner auf die bestimmten Aussagen
der beiden Kriminalbeamten frei, indem es annahm, daß ein patholo¬
gischer Rausch Vorgelegen hatte.
Der Verfasser hat dann den Patienten nochmals besonders auf die
Gefahr, in die der Alkohol ihn bringen konnte, aufmerksam gemacht, mit
dem Erfolge, daß K. längere Zeit fast abstinent lebte. Nach Abschluß
der großen Ferien kehrte er ins Semester zurück, traf im Anfang des¬
selben einige Bekannte, mit denen er wiederum eine Nacht durchkneipte.
Bei der Rückkehr am anderen Morgen sah er auf der Straße eine alte
Frau den Schrittweg kehren, stellte dieselbe zur Rede, äußerte den Ver¬
dacht gegen sie, daß sie einen Diebstahl begehen wollte, forderte sie
auf, mit zur Wache zu gehen, und als sie seiner Aufforderung nicht
Folge leistete, griff er sie an und riß ihr einen Teil der Kleider vom
Leibe, wobei er sie schlug und beschimpfte.
K. hat auf Veranlassung des V'erfassers sein Studium auf-
gegeben, ist zunächst für längere Zeit in ein Sanatorium gegangen
und soll dann einen anderen Beruf ergreifen.
Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß K. bei dem ersten
Falle, ebenso wie bei dem zweiten unter Alkohol die Situation,
in der er sich befand, ganz falsch gedeutet hat. Heilbronner und
■696 Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten.
andere haben auf diese Erscheinung bereits hingedeutet; ich
habe sie wiederholt bestätigt gefunden. —
Daß außer bei Hysterischen auch bei Degenerierten die
Pseudologia phantastica Vorkommen kann, ist oben be¬
reits erwähnt. Es ist auch im allgemeinen Teil S. 63 ein Bei¬
spiel gebracht worden, in dem diese Pseudologie zu kriminellen
Handlungen führte. Ferner wurden die Hochstapler erwähnt,
welche mit Hilfe ihrer phantastischen Erzählungen ihre Schwin¬
deleien ausführen. Auch der Tatsache ist bereits gedacht, daß
Selbstbezichtigungen infolge von Pseudologie Vorkommen können;
verhältnismäßig selten dürften wohl Fälle sein, in denen jemand,
um sich einen Titel anmaßen zu können, ein ganzes System von
mehr oder minder bewußten Lügen erfindet. Einen solchen Fall
haben wir hier beobachtet.
Es handelte sich um einen psychopathisch veranlagten, dabei
leicht schwachsinnigen Gärtner, der einmal wegen Diebstahls, zweimal
wegen Beleidigung (begangen durch Zurufen obszöner Worte an halb¬
wüchsige Mädchen) bestraft wurde. Bei dieser Gelegenheit wurde auch
ein Leumundszeugnis über ihn eingefordert, das sehr gut lautete. Ins¬
besondere wurde auf seine tadellose militärische Vergangenheit, seinen
patriotischen Sinn, seine Tätigkeit in einem patriotischen Verein hin¬
gewiesen. Wir prüften letzteres alles nach. Es ergab sich, daß er tat¬
sächlich in einem solchen Verein eine sehr große Rolle gespielt hatte.
Er hatte sich stets als liusarenwachtmeister a. D. bezeichnet, war Zug¬
führer in diesem Verein gewesen und hatte die ihm Unterstellten bei
weitem am besten in Ordnung gehalten, so daß er von den Leitern jedes¬
mal besonders gelobt wurde. Unerschöpflich war er ferner in der Er¬
zählung von Erlebnissen aus seiner langen Militärzeit, die er mit allen
technischen Einzelheiten in sehr überzeugender Weise vortragen konnte.
Er besaß auch Bilder von sich, in denen er in Husarenuniform zu sehen
war. Wir fragten nun beim Regimentskommando des betr. Husaren-
reginients an und es ergab sich, daß er dort nie gedient hatte. Es
wurde nun weiter sein Militärpaß gesucht und dabei zeigte sich, daß
er bei der Ausmusterung zum Landsturm überwiesen war und nie ge¬
dient hatte. —
Die E n t m ü n cl i u n g wird bei Degenerierten in einem
Teil der Fälle unumgänglich notwendig sein, nämlich dann, wenn
sich so schwere Charakteranomalien geltend machen, wie wir
sie im Falle K. (S. 686) kennen gelernt haben, oder wenn die
Lebensführung so unsozial ist, wie der Fall A. S. sie uns ge¬
zeigt hat. Maßgebend wird also für die Entmündigung des
Psychopathen auch lediglich die soziale Brauchbarkeit sein. Aus¬
drücklich betont sei, daß darunter nicht etwa die Gemeingefähr-
Nervöse und psychische Störungen bei Entarteten. 697
lichkeit verstanden werden soll, sondern der Begriff „soziale
Brauchbarkeit“ bezieht sich auf die Frage, ob das Individuum
sich selbst durchschlagen kann, ob es kriminell wird, ob es für
sich und seine Angehörigen in gesunden und kranken Tagen
richtig sorgt usw.
Die Geschäftsfähigkeit Degenerierter wird nur dann
anzuzweifeln sein, wenn es sich um Rechtsgeschäfte handelt, die
in Zuständen schwerer psychischer Krankheit, Verwirrtheit, Er¬
regung oder im pathologischen Rausch ausgeführt sind. Sonst
wird man die Psychopathen im allgemeinen für geschäftsfähig
halten müssen.
Ein besonders schwieriges Kapitel ist das der Beziehungen
zwischen Degeneration und Ehe'). In einzelnen Fällen wird die
Anfechtung der Ehe möglich sein. Ich verweise in dieser
Beziehung auf den im Kapitel Sexuelle Perversitäten zitierten
F'all von Homosexualität. —
Die Möglichkeit der Wiederherstellung der geistigen Ge¬
meinschaft, sei es auch nur für einige Zeit, ist meistenteils vor¬
handen. Eine Ehescheidungsklage kann deshalb selten auf § 1569
gestützt werden. Sehr viel häufiger wird der § 1568 in Frage
kommen.
Was die Frage des Testamentes bei Degenerierten an¬
langt, möchte ich zweierlei sagen:
1. Soll ein Degenerierter in einem Testament bedacht wer¬
den, so wird es im allgemeinen zweckmäßig sein, das Testament
so einzurichten, daß er selbst nie die volle Verwaltung des Geldes
in die Hände bekommt. Manche Fälle von Degeneration werden
auf diese Weise durch P'estlegung des Geldes geradezu v'or dem
Untergange bewahrt. Sie haben immer wieder einen Rückhalt
dadurch, daß zu bestimmten Zeiten die Zinsen einlaufen.
2. Testamente, die von Degenerierten errichtet werden, sind
im allgemeinen rechtsgültig, es sei denn, daß sie in den oben
wiederholt erwähnten Ausnahmezuständen errichtet worden sind.
Auch dann gilt aber das, was schon bei der Hysterie gesagt
worden ist. Sofern das Testament später nicht umgestoßen wird,
obwohl Gelegenheit dazu vorhanden ist, wird man es auch dann
als nachträglich sanktioniert ansehen müssen.
') S. auch S. 501 u. ff.
698
Die Epilepsie,
Die Epilepsie.
Unter dem Namen „Epilepsie“ *) haben wir eine Reihe von
Krankheitszuständen zusammengefaßt, denen gewisse Symptome
gemeinsam sind, ohne daß auch ihre Ursache die gleiche wäre.
Literatur: Gruhle, Fortschritte in der Erkenntnis der Epilepsie.
Zeitschr. f. die ges. Neurol. Referate, Bd. 2, S. 1. Tilmann, Chirurgische
Behandlung der traumatischen Epilepsie. Arch. f. klin. Chir. 92 . Buch¬
binder, Pupillenreaktion im epileptischen Krampfanfall. Med. Klinik,
Bd. 6. H. Vogt, Epilepsie im Kindesalter (forensisch u. klinisch). Berlin.
S. Karger. H. Roemer, Dipsomanie und psychische Epilepsie. Klinik f.
psych. u. nerv. Krankh., Bd. 4. Volland, Epilepsie bei Geschwistern.
Zeitschr. f. die Erf. d. jugendl. Schwachs., Bd. 2. Feldmann, Trauma¬
tische Epilepsie. In.-Diss. Berlin 1908. Max Serog, Versuche über die
Beziehungen zwischen Epilepsie und Alkoholwirkung. Klinik f. psych. u.
nerv. Krankh., Bd. .3. H. Roemer, Epileptische Verstimmung. Monatsschr.
f. Psych., Bd. 26. Raymond et Serieux, La responsabilitS et la condition
sociale des 6pileptiques. Epilepsia, Bd. 1. Gowers, Grenzgebiet der
Epilepsie, Ohnmächten, Vagusanfälle, Vertigo, Migräne, Schlafsymptome.
Wien 1908. Többen, Gerichtsärztliche Bedeutung der Dämmerzustände.
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 36. Bratz, Affektepil. Ärztl. Sachverst.-
Zeitg., Bd. 13. Breuking, Pat. mit aphasischen und asymbolischen Stö¬
rungen. Journ. f. Psych. u. Neun, Bd. 9. Donath, Weitere Beiträge zur
Poriomanie. Arch. f. Psych., Bd. 42. Linde, PupillenuntersuchuHgen.
Psychologische Arbeiten von Kraepelin, Bd. 5. Raecke, Epileptischer
Wandertrieb. Arch. f. Psych., Bd. 43. Alzheimer u. Vogt, Gruppierung
der Epilepsie, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 64. Redlich, Epilepsie mit
Aphasie. Wien. klin. Wochenschr. 1907. G. Stertz, Status hemiepilep-
ticus. Neurol. Zentralbl., Bd. 26. Moenkemöller, Forensische Bedeu¬
tung pathologischer Bewußtseinstrübung. Vierteljahrsschr. f. ger. Med.,
Bd. 32. Raecke, Aphasie und Perseveration bei Epilepsie. Arch. f.
Psych., Bd. 41. Schulze, Sprachstörungen bei Epilepsie. In.-Diss. Göt¬
tingen 1906. Stier, Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung. Jur.-psych.
Grenzfr., Bd. 2. Mörchen. Bewußtseinsstörungen (klin. u. forens.). Mo¬
natsschr. f. Psych., Bd. 17. Isserlin, Assoziationsversuch bei einem
forensisch begutachteten Fall von Epilepsie. Monnatsschr. f. Psych.,
Bd. 18. Heilbronner, Aphasische Symptome. Zentralbl. f. Nervenheilk.,
Bd. 28. Liepmann, Epileptische Geistesstörungen. Deutsche Klinik 1905,
S. 541. Binswanger, Epilepsie. Wien 1899. Bratz u. Falkenberg,
Hysterie 11 . Epilepsie. .4rch. f. Psych., Bd. 38. Lachmund, Vereinzelt
auftretende Halluzinationen bei Epilepsie. Monatsschr. f. Psych., Bd. 15.
Hoche, Differentialsdiagnose zwischen Epilepsie und Hysterie. Arch. f.
Psych.. Bd. 36. E. Schultze, Krankhafter Wandertrieb. Allg. Zeitschr.
f. Psych., Bd. 60. Heilbronner, Fugues. Jahrb. f. Psych., Bd 23. Fabri-
cius, Wandertrieb. In.-Diss. 1907. Pick, Epileptische Traumzustände.
Die Epilepsie.
699
Man unterscheidet eine genuine und eine symptomatische
Epilepsie ^). Die letztere ist Teilerscheinung eines organischen Ge¬
hirnleidens (z. B. einer Gehirngeschwulst, mancher Formen der
Gehirnarteriosklerose und einiger Herzerkrankungen).
Wenn wir auch die letzte Ursache der Epilepsie noch nicht
kennen, so sind uns doch eine Reihe von Faktoren bekannt, denen
zum Mindesten die Entstehung einzelner Fälle zur Last ge¬
legt werden muß. Von den hereditären Momenten seien in erster
Linie die Belastung mit Epilepsie, ferner mit Alkoholismus und
Schwachsinn erwähnt. Die Lues scheint einen erheblich gerin¬
geren Einfluß auszuüben. Als weitere ursächliche Momente
werden Schädel- und Gehirnverletzungen, entzündliche Prozesse
des Gehirns, die zerebrale Kinderlähmung, der Wasserkopf
(Hydrozephalus) und andere, größtenteils schon in früher Jugend
auftretende Ursachen angeführt*). —
Klin.-therap. Wochenschr. 1903. Raecke, Transitor. Bewußtseinstrübun¬
gen der Epileptischen. Halle 1903. Gaupp, Dipsomanie. Jena 1901. Groß,
Verhalten einfacher psychischer Reaktionen in epileptischen Verstim¬
mungen. Kraepelins psychol. Arbeiten, Bd. 3. Siemerling, Transito¬
rische Bewußtseinsstörungen in forensischer Beziehung. Berl. klin.
Wochenschr. 1895 u. Kasuistischer Beitrag zur forensischen Beurteilung
der traumatischen Epilepsie. Tübingen 1895. Derselbe, Epileptische
Dämmerzustände und ihre forensische Bedeutung. Münch, med. Wochen¬
schr. 1903. Wickel, Fahnenflucht und Geistesstörungen. Eriedr. Bl. f.
ger. Med. 1899. von Rad, Zeugnisfähigkeit der Epileptiker. Friede. Bl.
f. ger. Med. 1900. Marcinkowski, Diebstahl im Dämmerzustand. Ärztl.
Sachverst.-Zeitg. 1900. Scholze, Wandertrieb. Militärärztl. Zeitschr.,
Bd. 24. Burgl, Bewußtseinsstörungen vor dem Strafrichter. Münch,
med Wochenschr. 1900. Wollenberg, Epilepsie in Koches Handbuch.
Düms, Epileptische Dämmerzustände bei Soldaten. Militärärztl. Zeitschr.
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Korr.-Bl. 1901. Bonhoeffer, Bewußtseinsstörung mit erhaltener Erinne¬
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Krankheiten. Buchbinder, Gerichtsärztliche Diagnose epileptischer
Krampfanfälle. Vierteljahrsschr. f. ger. Med., Bd. 41, S. 263. Filassier,
Degenere epileptique. L’Encephale 1911. Heilbronner, Forensische
Diagnose der Epilepsie. Münch, med. Wochenschr. 1911. Heine, Foren¬
sische Bedeutung der Amnesie. Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1911.
Veit, Kriminalität der Epelipsie. Epilepsia, Bd. 2.
’) Von einer nach einheitlichen klinischen Gesichtspunkten vor¬
genommenen Einteiiung der Epilepsie kann in dieser forensischen
Zwecken dienenden Arbeit abgesehen werden. (Vergl. Gruiile, Zeitschr.
f. d. ges. Neurol., Referate, Bd. 2, S. 1.)
*) Von der Alkoholepilepsie ist an anderer Stelle die Rede.
700
Die Epilepsie.
Bemerkenswert ist, daß die überwiegende Mehrzahl aller
Fälle von Epilepsie in der Kindheit und Pubertät entstehen.
Etwa '/ä aller Epileptiker erkranken in der Zeit vom i. bis
20. Lebensjahr. Dieser Tatsache entspricht auch die weitere Er¬
fahrung, daß wir bei Epileptikern auf körperlichem Ge¬
biete oft Erscheinungen finden, welche als Ausdruck von Ent¬
wickelungsstörungen oder als Folge früherworbener Krankheiten
anzusprechen sind. Ich nenne Verbildungen des Schädels, halb¬
seitige Lähmungen, Degenerationszeichen, rhachitische Verände¬
rungen am Kopf.
In denjenigen Fällen, in denen Schädel ve r 1 e t z u n ge n
oder direkte traumatische Schädigungen des Gehirns als Ursache
angesprochen werden, findet man Narben am Kopf. —
Die bisher nachgewiesenen chemischen und mikroskopischen
Veränderungen des Blutes*), welche entweder für die Ent¬
stehung des ganzen Krankheitsbildes oder der Anfälle verant¬
wortlich gemacht worden sind, l)esitzen gegenwärtig für foren¬
sische Zwecke noch nicht diejenige Bedeutung, welche ihre aus¬
führliche Darstellung rechtfertigen würde. Es sei hier deshalb
bloß kurz .erwähnt, daß nach Anfällen eine Vermehrung der
weißen Blutkörperchen beobachtet wird, die sich aber rasch ver¬
liert. Auch das Blutserum soll toxische Substanzen enthalten.
Man hat ferner das in der Lumbalflüssigkeit gefundene Cholin
für die Krämpfe verantwortlich machen wollen. Andere Autoren
legen dieselbe Wirkung einigen stickstoffhaltigen Bestandteilen
des Urins bei. Die bisherigen Forschungsergebnisse sind aber
noch so wenig eindeutig, daß man daraus irgendwelche Schlüsse
nicht ziehen kann. Es ist überhaupt noch zweifelhaft, ob die
Epilepsie auf einer Selbstvergiftung beruht. —
Zu den wichtigsten Erscheinungen der Epilepsie gehört der
Krampfanfall. Häufig gehen ihm für Minuten oder Stun¬
den Vorboten voraus, an denen der Kranke selbst oder seine
Umgebung zu erkennen vermag, daß ein Anfall im Anzuge ist^).
In erster Linie wird über Kopfschmerzen oder ein dumpfes Ge¬
fühl im Kopf geklagt, ferner über Schwindelerscheinungen,
*) Vergl. Donath, Deutsche Zeitschr. f. NervenheHk., Bd. 27. Main¬
zer, Monatsschr. i. Psych., Bd. 10. Tintemann, Monatsschr. f. Psych.,
Bd. 24. Hebold u. Bratz, Deutsche med. Wochenschr., Bd. 27.
*) Trotz der Vorboten kommt der Zustand dem Patienten aber nur
in einem Teil der Fälle zum Bewußtsein.
Die Epilepsie.
701
Mattigkeit, Angst, gesteigerte Reizbarkeit und schlechten Schlaf.
Seltener kommt es zu Übelkeit und Erbrechen. Gelegentlich wird
ein Druck im Kopf oder in der Herzgegend empfunden, mit dem
meist ein Gefühl der Unfähigkeit zu körperlicher und geistiger
Arbeit verbunden ist.
Schon um diese Zeit läßt der Patient äußerlich oft gewisse
\’eränderungen erkennen. Die Sprache ist undeutlicher als sonst,
der Blick verschleiert. Das Gesicht zeigt eine auffallende Röte
oder Blässe. Auch die Bindehäute können stärker gerötet sein als
vorher. Dabei ist der Patient mitunter unruhig. Er läuft von
einem Zimmer ins andere und weiß selbst nicht warum. Die ge¬
wohnte Arbeit muß er liegen lassen und mit den Arbeits- oder
Hausgenossen kommt es zu Auseinandersetzungen. —
Als Aura im engeren Sinne bezeichnet man diejenigen Vor¬
gänge, welche dem Anfall unmittelbar vorausgehen, d. h. sich
innerhalb der letzten Minuten oder Sekunden vor dem Ausbruch
desselben abspielen. Zum Teil handelt es sich dabei um die¬
selben Symptome, welche bereits als Vorboten geschildert worden
sind. Es kommen aber auch lokale Reizerscheinungen und
Schmerzen, Kriebeln im Kopf und in den Gliedmaßen, ver¬
einzelte Halluzinationen (Lichterscheinungen, Feuer, Farben,
blitzende Kugeln, Gestalten, Geräusche oder Worte, unangenehme
Gerüche), Angstgefühl und Verwirrtheit vor. ln ganz seltenen
Fällen werden während der Aura bestimmte Handlungen jedes¬
mal wiederholt. So hatten wir einen Kranken, der ein Stück
durchs Zimmer lief und dann umfiel. Ein zweiter sang eine be¬
stimmte Melodie und tanzte dabei bis er zusammenbrach. Von
anderen Patienten wurde die Zeit der Aura dazu benutzt, Schutz¬
maßregeln gegen den Anfall zu treffen. Sie legten sich noch
rasch ins Bett oder setzten sich auf einen Stuhl, so daß sie sich
bei dem Anfall selbst möglichst wenig verletzten. Oder aber sie
teilten dem Pfleger mit, daß der Krampf zu erwarten sei.
Der Anfall selbst beginnt verhältnismäßig rasch. Er
wird in einer großen Zahl von Fällen durch einen Schrei ein¬
geleitet. Der Kranke verliert dann das Bewußtsein und stürzt
zusammen, wo er steht oder geht. Epileptiker, die an schweren
Anfällen leiden, pflegen sich bei diesem Zusammenbrechen nicht
selten erhebliche Verletzungen zuzuziehen. Es kommt zuV’erbren-
nungen, wenn der Patient zu Beginn des Anfalls in der Nähe des
geheizten Ofens stand. Ich habe Fälle gesehen, in denen der
702
Die Epilepsie.
Kranke im Anfall die Treppe herunter oder aus dem Fenster ge¬
fallen war. Einer meiner Patienten ertrank beim Baden, weil er
im Wasser vom epileptischen Anfall betroffen wurde, und einer
meiner Freunde erstickte, weil er im Anfall aus dem Bett mit
dem Gesicht in ein Fell hineinfiel, das v'or dem Bett lag.
Das zweite Stadium des epileptischen Anfalls ist das der
tonischen Starre. Das Gesicht verfärbt sich rötlich-blau. Die
Gliedmaßen und der ganze Körper werden starr und steif. Pas¬
sive Beugebewegungen der Glieder können nicht ausgeführt
werden. Die Augen, mitunter auch der ganze Kopf sind nach
einer Seite gewandt.
Nach 15—30 Sekunden läßt die Spannung in der Körper¬
muskulatur nach und es setzen Zuckungen ein.
Meist handelt es sich um kurze klonische Zuckungen der
Arm- und Beinmuskulatur, des Gesichtes und des Rumpfes, sel¬
tener sind kompliziertere Bewegungen, wie Treten, Schütteln und
Umher wälzen.
Dadurch, daß die Kiefermuskulatur und die Zunge an den
Zuckungen beteiligt sind, kommt es häufig zu Zungenbissen').
Diese können u. ü. sehr schwerer Natur sein. Ich habe einen
Fall gesehen, in dem die ganze Zungenspitze abgebissen war.
Auch Verletzungen der Lippen und der Wangenschleimhaut sind
nichts Ungewöhnliches.
Wie schon oben bei Erörterung der körperlichen Symptome
ausgeführt wurde, finden sich im Anfall einige wichtige körper¬
liche Erscheinungen. Die Pupillen sind auffallend weit und
häufig lichtstarr''). Die Hornhautreflexe sind erloschen, die
Schmerzempfindung aufgehoben. Die Atmung ist beschleunigt,
mitunter auch unregelmäßig. Eine Steigerung der Pulszahl wird
beobachtet. Aus dem Munde quillt Schaum, der bei Verletzungen
der Mundorgane blutige Beimischungen enthält. Urin und Stuhl
können im Anfall abgehen. Die Kniesehnenreflexe sind auf der
Höhe des Anfalls vorübergehend erloschen. In einer gewis.sen
Anzahl von Fällen läßt sich das Babinskische Zeichen doppel-
') Bei Verhaftungen unmittelbar nach Begehung eines Deliktes sollte
auf Zungenbisse bei Epileptikern stets sofort gefahndet werden.
") Pupillenstarre ini Anfall spricht mit überwiegender Wahrschein¬
lichkeit für Epilepsie.
Die Epilepsie.
703
seitig oder einseitig nachweisen. ln den Bindehäuten, mitunter
auch hinter den Ohren und im Gesicht treten kleine Blutungen auf.
Im allgemeinen werden beide Körperhälften von den Zuckun¬
gen gleichmäßig betroffen. Es kommt aber vor, daß eine Körper¬
seite überwiegt, oder daß die Zuckungen zunächst in einer
Körperseite beginnen und erst allmählich auf die ganze übrige
Muskulatur übergehen. Nach 2—5 Minuten lassen die Zuckungen
nach und das Bewußtsein hellt sich auf. Dies geschieht in den
seltensten Fällen plötzlich, meist sind die Kranken auch nach dem
Anfall noch benommen und unklar und erst nach einiger Zeit
(Minuten bis Stunden) pflegen sie wieder ganz klar zu sein.
Nicht selten kommt es vor, daß ein Anfall sich direkt an den
anderen reiht, daß also ganze Anfallserien hintereinander auf-
treten. Dann hellt sich zwischen den einzelnen Anfällen das
Bewußtsein nicht völlig auf. Nur die motorischen Reizerschei¬
nungen lassen für einige Zeit nach, um sehr bald von neuem
einzusetzen. Liegt der Kranke in einem solchen, von Zeit zu
Zeit durch Anfälle unterbrochenem Zustand von Bewußtlosig¬
keit längere Zeit, so spricht man von einem Status epilep-
t i c u s. —
Haben die Anfälle aufgehört und hat das Bewußtsein sich
einigermaßen aufgehellt, .so ist nur in einem kleinen Teil der
Fälle der Kranke wieder ganz beschwerdefrei. Meist folgen
dem Anfall ähnliche Erscheinungen wie die, welche wir als Vor¬
boten kennen gelernt haben. Die Kranken müssen sich nieder¬
legen, sie zeigen sich ablehnend, mitunter auch gereizt, klagen
über Kopfschmerzen, Schwindelgefühl und Mattigkeit. Oft sind
sie für mehrere Stunden außerstande ihre Tätigkeit fortzusetzen.
Meist besteht auch ein ausgesprochenes Schlafbedürfnis. Erst
nach dessen Befriedigung haben sie den Anfall ganz überwunden.
Es kommt aber auch vor, das sich daran noch länger dauernde
\'erstimmungen anschließen.
Die Erinnerung für die Zeit des Anfalles, bisweilen auch
noch für die Zeit unmittelbar vorher und nachher fehlt (Amnesie).
Von den körperlichen Erscheinungen, welche während des
Anfalls beobachtet wurden, kann man mitunter die Pupillen¬
starre, das Fehlen der Knieschnenreflexe, das Babinskische
Zeichen und den Füßklonus noch einige Minuten oder Stunden
später beobachten. Ferner werden nach den Anfällen, und zwar
gelegentlich mehrere Tage lang Mißempfindungen (Parästhesien)
704
Die Epilepsie.
in einzelnen Körperteilen beobachtet, die nicht etwa auf Ver¬
letzungen während des Anfalls zurückzuführen sind. So hatten
wir eine Kranke in unserer Klinik, die nach dem Anfall jedes¬
mal mehrere Tage lang Schmerzen im rechten Schultergelenk und
im rechten Arm hatte, ln diesen Muskelgruppen pflegten für ge¬
wöhnlich auch die Zuckungen einzusetzen, wohl ein Zeichen dafür,
daß wir es in dem Falle mit einer lokalen Affektion im Gehirn
zu tun hatten. —
Was bisher beschrieben worden ist, war der klassische epi¬
leptische Anfall. Es ist nun nicht erforderlich, daß alle die
Phasen und Erscheinungen, welche aufgczählt wurden, jedesmal
gleich deutlich und vollständig ausgeprägt sind. Es gibt viel¬
mehr auch leichtere Formen des epileptischen Anfalls. Diese
wurden von den französischen Autoren als „petit mal“ bezeichnet.
Es handelt sich dabei einmal um eine kurzdauernde Trübung
des Bewußtseins, bei der der Patient nicht hinzufallen braucht.
Es brauchen auch keine ausgesprochenen tonischen und klonischen
Krämpfe vorhanden zu sein, sondern die motorischen Reiz¬
erscheinungen können entweder ganz fehlen oder sich nur auf
einige wenige Zuckungen beschränken. Man sieht mitunter
Fälle, bei denen weiter nichts zu beobachten ist, als daß der be¬
treffende Kranke blaß oder rot wird, einen Augenblick vor sich
hinstarrt, auf Anrufen während dieser Zeit nicht reagiert, Gegen¬
stände, die er in der Hand hat, fallen läßt. Unmittelbar danach
setzt er die begonnene Tätigkeit fort, weiß aber nicht, was in¬
zwischen mit ihm geschehen ist.
Umgekehrt kann das Bewußtsein erhalten sein, statt dessen
treten vorübergehend, sei es mit, sei es ohne Hinfallen, leichte
motorische Reizerscheinungen auf. Auch Schwindelanfälle, bei
denen der Kranke nicht hinfällt und keine Bewußtseinstrübung
erfolgt, kommen vor’).
Da große epileptische Krampfanfälle nur in einem Teil aller
Fälle von Epilepsie vorhanden sind (bei den uns zugeführten
Epileptikern finden sie sich in etwa 6o—7o‘’/„), so ist auf das
’) Die von Sommer beschriebenen Zitteranfälle, ebenso wie manche
Ohnmächten und zeitlich umschriebene Schwindelerscheinungen sind
gleichfalls als leichtere Formen des epileptischen Krampfanfalles anzu¬
sehen. Ferner gehören die zeitlich umschriebenen, sich wiederholenden,
ganz ohne oder nur mit geringen motorischen Reizerscheinungen einher¬
gehenden Trübungen des Bewußtseins (Absenzen) hierher.
705
Die Epilepsie.
X'orkommen der kleinen Anfälle besonders sorgfältig zu acbten.
Bei zweifelhafter Diagnose können sie für die Deutung des
Kranklieitsbildes von großer Wichtigkeit sein.
Was die Häufigkeit des Auftretens von epileptischen An¬
fällen hei den einzelnen Kranken anlangt, so bestehen auch da die
weitgehendsten llnter.schiede. Es gibt Epileptiker, die Krampf¬
anfälle nur in .Miständen von einem oder mehreren Jahren be¬
kommen, andererseits gibt es Kranke, hei denen sich im Laufe
eines Tages 30, 50 und noch mehr Anfälle einstellen. —
Zu den forensisch wichtigsten Erscheinungen der Epilepsie
gehören die sogenannten Dämmerzustände. Das Wesent¬
lichste an ihnen ist eine mehr oder minder ausgesprochene „Um-
wölkung“ (Moeli) des Bewußtseins. Wichtig ist, daß die Kran¬
ken in diesen Zuständen äußerlich nicht aufzufallcn brauchen.
Die Gesichtsfarbe braucht nicht verändert zu sein. Der Gang
und die Sprache zeigen nicht immer krankhafte Störungen. Alle
Handlungen können geordnet, sicher und zielbewußt ausgeführt
werden und trotzdem kann ein Dämmerzustand bestehen.
Häufiger kommt es allerdings vor, daß gewisse Änderungen
im Aussehen und der Haltung hervortreten. Das Gesicht ist ge¬
rötet, der Blick verschleiert, trüb, der Kranke läßt eine gewisse
motorische Unruhe erkennen; mitunter schwankt er beim Gehen,
.so daß er den Eindruck eines Betrunkenen erweckt, die Sprache
ist lallend und undeutlich. Gelegentlich wird bemerkt, daß der
Patient Antworten schuldig bleibt oder solche gibt, die nicht sinn¬
gemäß sind.
Wer sich längere Zeit mit einem im Dämmerzustand befind¬
lichen Kranken beschäftigt, dem wird am meisten die Ungleich¬
heit der geistigen Leistungen eines solchen l’atienten auffallen.
Dieses Schwanken der Gehirnfunktion ist, wie ich glaube, bedingt
durch ein Fluktuieren des Bewußtseins. Es gibt Zeiten, wo die
Patienten Fragen, die man an sie richtet, richtig auffassen, und
wenn auch langsam, so doch sinngemäß beantworten. Auch
Bilder können sie bezeichnen und Gedächtnisleistungen, welche
man von ihnen verlangt, ohne Fehler absolvieren. Zu anderen
Zeiten (oft nur wenige Sekunden oder Minuten später) wiederum
fällt auf, daß schon die W'ahrnehmung Defekte aufweist, indem
einige nebensächliche Eigenschaften eines bestimmten Gegen¬
standes richtig angegeben, viel wichtigere Eigentümlichkeiten des¬
selben nicht richtig aufgefaßt und deshalb auch nicht richtig
Hübner, ForensiBcho Psychiatrie. 45
7 o 6
Die Epilepsie.
wiedergegeben werden. Einer meiner Kranken z. B., besclirieb
auf die Frage, was sich in dem Zimmer, in dem er untergebracht
war, befinde, ziemlich richtig, wieviel Fenster es liatte, wo Bilder
an der Wand hingen, wie die Beleuchtung war usw. Daß aber
in diesem Saal 15 Kranke mit ihm verweilten, und daß diese
Kranken größtenteils im Bett lagen, das wußte er nicht mehi’.
Er behauptete vielmehr bestimmt, es seien ihm andere Leute
dort nicht aufgefallen.
Siemerling hat auf dies Verhalten der im Dämmerzustand
befindlichen Kranken zuerst hingewiesen. Das Wesentliche daran
ist, daß gleichgültige und nebensächliche Dinge mitunter gut be¬
halten werden, während wichtige dem Gedächtnis rasch ent¬
schwinden oder gar nicht richtig wahrgenommen werden.
Nicht selten findet man neben dieser Störung des Wahr¬
nehmungsvorganges auch eine erhöhte Ablenkharkeit der Auf¬
merksamkeit. Der eben noch richtig antwortende Kranke wendet
sein Interesse irgendeinem Gegenstand im Zimmer zu oder läßt
seinen Blick durch das Fenster schweifen und ist dann nicht mehr
zu fixieren.
Auch Halluzinationen können an der Ablenkharkeit der Auf¬
merksamkeit schuld sein. Die Wirkung ist jedenfalls die, daß
weitere Antworten entweder gar nicht oder nur auf wiederholtes
eindringliches Befragen zu erlanget! sind.
Daß es zu Umdeutungen der Umgehung kommt (Personen¬
verkennung usw.), ist weiterhin zu erwähnen.
Besonders wichtig sind die Halluzinationen, weil sie sich
mit dem wirklich Wahrgenommenen so eng vermischen, daß
eine völlig fal.sche Deutung der Situation für den Kranken
daraus resultiert und diese kann zu schweren verbrecherischen
Handlungen führen. Begünstigt werden solche explosiven Ent¬
ladungen noch dadurch, daß in den Dämmerzuständen auch die
Reizbarkeit der Patienten erheblich zunimmt. Wir haben in
der Anstalt wiederholt Epileptiker gehabt, deren an sich schon
nicht geringe Reizbarkeit in den Dämmerzuständen eine so er¬
hebliche Steigerung erfuhr, daß sich Konflikte mit anderen
Kranken oder dem Pflegerpersonal selbst bei vorsichtigster Be¬
handlung, sorgfältigster Bewachung und Verabreichung be¬
ruhigender Medikamente kaum vermeiden ließen. —
Daß es gelegentlich möglich ist, einen Kranken während des
Dämmerzustandes zu allerlei unzweckmäßigen Handlungen zu
Die Epilepsie.
707
veranlassen, habe ich oben bereits ausgeführt. Ich erinnere an
den Fall, in dem mir ein Patient einen Schuldschein über 100 Mk.
ausstellte. —
In den Fällen schwerer Bewußtseinstrübung kommt es zu
apbasischen und asymbolischen Störungen. Ich habe
z. B. in der Vorlesung einen Kranken demonstrieren können,
der die bekanntesten Gebrauchsgegenstände wie Untertasse,
Stiefelwichsbürstc, Licht, Kreide, Bleistift und ähnliches nicht
bezeichnen, teils auch nicht gebrauchen konnte. Dazu fanden sich
in seinen Antworten viel paraphasische Ausdrücke. Auch die
■Ausführung citifacher Flandlungen war deutlich beeinträchtigt.
Er vollführte sic, solange die Bewußtseinstrübung bestand, immer
langsam und ungcscbickt, bisweilen sogar überhau()t nicht. —
Daß gelegentlich auch Rededrang, Idecnflucht und Neigung
zum Reimen beobachtet wird, führt Kräpelin an; doch ist das
nach unseren Erfahrungen eine seltene Erscheinung.
Über die Stimmung im Dämmerzustände wurde bereits
gesagt, daß oft starke Reizbarkeit beobachtet wird, fast regel¬
mäßig ist zum wenigsten aber eine mürrische, depressive Stim¬
mung vorhanden. Gelegentlich kommt es auch zu ausgesprochenen
Angstzuständen, namentlich dann, wenn Visionen und Wahnideen
eine wesentliche Rolle im Krankheitsbilde spielen. Die Patienten
weinen und jammern, bezichtigen sich aller möglichen Schlechtig¬
keiten. Sic müssen die Sünden der Welt auf sich nehmen, Gott
ist ihnen mit seinen Engeln erschienen und hat ihnen ihre Sünden
vorgchalten usw. Dabei sind sie im Gegensatz zum Melancholiker
zeitlich und örtlich nicht orientiert.
Die Sinnestäuschungen, welche im epileptischen
Dämmerzustand Vorkommen, sind außerordentlich lebliaft. Be¬
merkenswert ist ferner, daß bestimmte Visionen bei Epileptikern
besonders häufig beobachtet werden. In erster Linie sind es
schreckhafte Erscheinungen, welche die Kranken haben. Sie
sehen drohende Gestalten, Teufel, wilde Tiere, brennende Häuser,
Blut. Sic hören Schüsse, das Geschrei Sterbender, drohende Zu¬
rufe oder imperative Stimmen.
Daneben haben sie auch religiöse Visionen. Die Jungfrau
Maria mit dem Jesuskinde und den Engeln erscheint ihnen und
tröstet sie. Gott fährt auf einer Wolke zu ihnen nieder und er¬
mahnt sie auszuharren. Die Wolken teilen sich und sic erblicken
Gott auf seinem Thron und zu seiner Rechten Jesus Christus,
45*
Die Epilepsie.
709
immer einer äußeren Veranlassung zum Auftreten eines Dämmer¬
zustandes.
Von den sonstigen für forensische Zwecke bedeutungsvollen
Erscheinungen der Epilepsie sind besonders wichtig die Ver¬
stimmungszustände der Epileptiker').
Meistenteils treten dieselben ohne nennenswerte Trübung des
Bewußtseins für Stunden oder Tage auf. Die Kranken sind mi߬
mutig, geben nur widerwillig Antwort, halten sich von den übri¬
gen Patienten fern. Wendet sich einer derselben an sie, so sind
sie ablehnend oder werden grob. Die Arbeitslust leidet. Auch
der Appetit ist geringer und die erste sich bietende Gelegenheit
läßt sie mit einer Person ihrer Umgebung in Streit geraten.
In den Anstalten querulieren sie über das Essen, darüber, daß sie
zu Unrecht festgehalten würden. Sie verlangen ihre Entlassung
oder beschweren sich über andere Kranke und Pfleger, von denen
sie sich beeinträchtigt fühlen. Bei manchen von ihnen besteht
während dieser Zustände ausgesprochenes Krankheitsgefühl.
\’ielfach fehlt solches al)er, sie erklären im Gegenteil, sie seien
völlig gesund, man habe deshalb kein Recht, sie zurückzuhalten.
Der Gesichtsausdruck ist finster, mürrisch, abweisend, ge¬
laden. Mitunter besteht eine innere Unruhe, die sich durch
zweckloses Umherlaufen kuudgibt.
Ist der Zustand vorüber, so gibt der Patient meist zu, daß
es sich um eine krankhafte Störung handelte. Er kann mitunter
selbst sehr gut beschreiben, wie ihn während der Verstimmung
die geringste Kleinigkeit in Aufregung versetzt, so daß er gar
nicht anders kann, als „grob werden und dreinschlagen“.
Da, wo die Verstimmungen nicht so tiefgehend sind, handelt
es sich mehr um ein Gefühl der Trauer und Niedergeschlagen¬
heit, das die Leistungsfähigkeit des Kranken wesentlich beein¬
trächtigt, ohne aber immer gleich zu Reaktionen gegen die Um¬
gebung zu führen.
In diesen Zuständen ist das Krankheitsgefühl stark aus¬
geprägt. Sie sind es wohl auch, die bei Epileptikern zum Selbst¬
mord führen.
Wichtig ist ferner, daß manche Patienten die Verstimmungen
durch Alkoholgenuß zu betäuben suchen. Da sie in dieser Zeit
') Aschaffenburg, Stimmungsschwankungen der Epileptiker. Halle
a. S. C. Marhold.
710 Die Epilepsie.
geistige Getränke aber besonders schlecht vertragen, so können
leicht schwerere epileptische Störungen ausgelöst werden.
Seltener und praktisch weniger bedeutungsvoll sind Zustände
heiterer Verstimmung, welche mit und ohne Beziehung
zu Anfällen gelegentlich auftreten. Ich habe bei einem epilep¬
tischen Exhibitionisten einmal einen excpiisit manischen Zustand
beobachtet, in dem er den Eindruck eines leicht Betrunkenen
machte, ein gerötetes Gesicht zeigte, fortwährend sprach, reimte,
alliterierte, Eiedchen sang und witzige Ansprachen an die .An¬
wesenden hielt. Als ein auf der Abteilung unbekannter Pfleger
diese verlassen wollte, schloß er sich ihm unter dem Vorgeben an,
er wolle Essen holen, entwich, stellte sich an die Straße und wurde
kurz darauf exhibitionierend gefunden.
Häufig sind diese manischen Zustände nicht, da aber, wie
dieser Fall zeigt, während ihres Bestehens strafbare Handlungen
begangen werden, waren sie kurz zu erwähnen. —
Nahe verwandt mit den Verstimmungszuständen ist eine
andere Erscheinung, die vorwiegend bei Epileptikern beobachtet
wird, nämlich die Dipsomanie.
Es handelt sich um einen mehr oder minder regelmäßig sich
wiederholenden, einige Tage oder Wochen anhaltenden Drang zu
übermäßigem Genuß geistiger Getränke, der hervorgerufen ist
durch eine von äußeren Umständen unabhängige (endogene) A'^er-
stimmung. Die letztere wird als Angst, mitunter auch nur als
Traurigkeit beschrieben. Dazu wird öfters über Schwere im
Kopf, Leistungsunfähigkeit, Unbehagen, Spannungsgefühl und
ähnliches geklagt. Befinden sjch solche Kranke mit ausgespro¬
chener Dipsomanie zur Zeit des „Anfalls“ in der Anstalt, so
betteln sie um Alkohol, genau in derselben Weise, wie der Mor¬
phinist um Morphium. Auf der Abteilung tritt noch ein anderes
Symptom hervor, nämlich eine gewisse Unruhe, die es mitunter
fast unmöglich macht, die Kranken im Bett zu halten. Sie
macht sich auf sprachlichem Gebiete bemerkbar und wird von den
Patienten selbst als äußerst unangenehm und krankhaft empfun¬
den. Sie bitten deshalb den Arzt oft um Beruhigungs- und
Schlafmittel.
In der Freiheit, wo die Befriedigung des Dranges nach
Alkohol möglich ist, kommt es dann zu einer mehrtägigen
schweren Betrunkenheit. Sobald der innere Spannungszustand
gelöst ist, kann der Kranke auch vom Trinken ablassen. Die
Die Epilepsie.
711
Erinnerung an die Zeit des Exzesses ist zum mindesten
lückenhaft.
Daß es selbstverständlich auch Patienten gibt, die innerhalb
gewisser Grenzen regelmäßig trinken, bei denen aber zur Zeit
der dipsomanischen Anfälle die Neigung zum Alkohol sich ins
Ungemessene steigert, bedarf keiner besonderen Erwähnung.
Praktisch wichtig sind nun diese Symptome aus sozialen
Gründen. Wenn die Anfälle sehr rasch aufeinanderfolgen, so
schädigen sie die wirtschaftliche Existenz des Kranken ungeheuer.
Die weitere Folge der dipsomanischen Anfälle ist meistenteils
die, daß es zu Bestrafungen wegen Körperverletzung, Beleidigung,
Betrügereien, Diebstahl usw. kommt. Mißhandlungen der eigenen
Familie sind an der Tagesordnung.
Die Dipsomanie hat also einmal den moralischen und so¬
zialen Niedergang des Kranken selbst und seiner Familie zur
Folge, dann aber führt sie den Patienten unaufhaltsam auch dem
Strafrichter entgegen, dadurch, daß er in jenen Zuständen Eigen¬
tums- und Rohheitsdelikte begeht.
Von einzelnen Autoren sind übrigens auch Fälle beschrieben,
in denen während der dipsomanischen Phase Verträge abge¬
schlossen wurden, die der Kranke sonst sicher nicht getätigt
haben würde. So berichtet Kräpelin *) z. B. von einem Kauf¬
mann, der in einem solchen krankhaften Zustande mit einem Tier¬
bändiger einen äußerst unvorteilhaften Vertrag auf Errich¬
tung einer Menagerie abschloß, durch den er um Tausende von
Mark geschädigt wurde. —
Nahe verwandt mit den dipsomanischen Zuständen sind die
poriomanischen.
In denselben verspüren die Kranken einen Drang, zu un¬
motiviertem, ziel- und planlosem Umherlaufen. Sie sind dabei
oft ängstlich. In einem Teil der Fälle besteht auch eine Bewußt¬
seinstrübung. Mitunter kommt es zu weiten Wanderungen und
Reisen. Alkoholgenuß löst die Zustände bisweilen aus, mitunter
ist das Trinken dabei aber nicht Ursache, sondern nur eine Be¬
gleiterscheinung.
Die Poriomanie wird gelegentlich schon im Kindesalter be¬
obachtet. Häufiger finden wir sie bei erwachsenen Epileptikern.
Bei ihnen hat sie auch eine beträchtliche forensische Bedeutung.
*) Im Lehrbuch der Psychiatrie.
712
Die Epilepsie.
Bei Soldaten z. B. kommt es infolgedessen zu Fahnen¬
flucht und unerlaubter Entfernung.
So haben wir einen Unteroffizier beobachtet, der in Abständen von
etwa 6—8 Monaten den Drang zuin Trinken bekam, sich dann aus seiner
Garnison entfernte und nach 2—3 Tagen für gewöhnlich an einem ganz
fremden Orte wiederfand. Einmal war er in Uniform bis ins Ausland
gekommen. Einen Teil der UniformstUcke verlor er regelmäßig. Meist
war er innerhalb der wenigen Tage völlig verkommen. Für die Zeit
seiner Wanderung hatte er eine mehr als lückenhafte Erinnerung.
Wichtig ist, daß es in diesen poriomanischen Zuständen and)
zu Sexualdelikten infolge gesteigerter geschlechtlicher Erregung
kommen kann. —
Bevor auf die epileptische Charakterdegeneration eingegan¬
gen wird, sei noch eines Punktes kurz gedacht, nämlich der Be¬
ziehungen zwischen Alkohol und Epilepsie.
Daß Alkoholismus der Eltern vielfach für die Epilepsie der
Kinder verantwortlich zu machen ist, wurde bereits an verschie¬
denen Stellen erwähnt. —
Wichtig ist ferner, daß chronischer Alkoholmißbrauch Ix-i
disponierten Menschen eine Epilepsie hervorrufen kann. —
Der einmalige Alkoholexzeß vermag Krampfanfälle und
Dämmerzustände auszulösen. Da Epileptiker vielfach alkohol¬
intolerant sind, so kann ein Alkoholexzeß mit einem patholo¬
gischen Rausch enden. Schließlich können iiathologische Eigen¬
schaften, welche sonst bei dem Kranken nicht hervortreten, im
Rausch sich manifestieren. Bekannt sind die Fälle, in denen
homosexuelle Neigungen sich auf diese Weise zeigten.
Wenn chronischer Alkoholismus sich mit der Epilepsie ver¬
bindet, tritt die Charakterdegeneration bei dem Patienten oft
stärker hervor, als bei reiner Epilepsie.
Schließlich ist noch die Tatsache zu erwähnen, daß Dämmer¬
zustände bei chronischen Trinkern eine deliriöse Färbung l)e-
kommen können. —
Neben den bisher beschriebenen, nur zeitweise vorhandenen
und in mehr oder minder regelmäßigen Zeitabschnitten wieder¬
kehrenden psychischen Störungen findet sich nun bei der Mehr¬
zahl aller Epileptiker (nach unseren Erfahrungen etwa 90—95",>)
eine allmählich sich entwickelnde und langsam fortschreitende
Änderung der geistigen Persönlichkeit. (Epileptische De¬
gen eratio n.)
Es gibt Epileptiker, die nie Zeichen von Schwachsinn gezeigt
Die Epilepsie. 713
haben, und bis an ihr Lebensende frei von derartigen Symptomen
geblieben sind. Aber wie schon gesagt, sind diese Fälle ziemlich
selten. In der Mehrzahl finden wir eine allmählich, wenn auch
langsam, fortschreitende Charakteränderung.
Außerhalb der akuten Zustände ist der Epileptiker für ge-
wöhnlich zeitlich und örtlich, wie über seine Person orientiert.
Dagegen beobachtet man bei ihm eine Verlangsamung des Den¬
kens, welche sich häufig mit Umständlichkeit und Unklarheit der
Ausdrucksweise und Darstellung verbindet. Auf eine einfache
Frage antwortet der Kranke mühsam und mit vielen Worten und
Verklausulierungen, ohne dabei den Kernpunkt der Sache zu
treffen.
In leichteren Fällen ist das Urteil über einfache Lebens¬
verhältnisse und über die eigne I’erson erhalten und es tritt nur
die Langsamkeit des Denkens hervor. Bei schwereren Fällen von
Epilepsie ist regelmäßig eine beträchtliche L^rteilsschwäche nach¬
zuweisen. Meist hat auch das Gedächtnis gelitten, so daß die
Kranken einen Teil dessen, was sie früher gelernt haben, all¬
mählich vergessen und zur Aufnahme neuer Eindrücke, nament¬
lich wenn es sich um kompliziertere Dinge handelt, nicht mehr
fähig sind. Da, wo sich die Epilepsie von Jugend auf mit
schwerem Schwachsinn verbindet, wird ein nennenswertes Schul¬
wissen nicht erreicht und im Leben kann der Patient nur zu
niedrigen, mechanischen Arbeiten verwandt werden, wenn er
nicht dauernder Anstaltspflege bedarf.
In dem Charakter des Epileptikers dominieren zwei Eigen¬
schaften. Einmal findet sich ein stark ausgeprägter Egoismus,
der den Kranken nur an sein eigenes Wohl, nie an die Rechte
anderer denken läßt.
In zweiter Linie ist es die Neigung zur Frömmelei, welche
in dem Denken des Epileptikers eine verhältnismäßig große Rolle
spielt.
Die Kranken beten viel, beschäftigen sich mit religiösen
Problemen, von denen sie nur den geringsten Teil verstehen,
machen in ihrer Llmgebung Bekehrungsversuche und führen Gott
viel im Munde, aber nicht immer im Herzen. Denn trotz ihrer
scheinbaren religiösen Gesinnung schwindet ihre Nächstenliebe
sofort, sobald der Egoismus in P'rage kommt. Der Epileptiker
lügt auch häufig, teils bewußt, teils unbewußt und ist sehr
mißtrauisch.
714
Die Epilepsie.
Verhältnismäßig selten ist er heiter, ruhig und entgegenkom¬
mend, meist zeigt er sich leicht gereizt, mürrisch und mi߬
trauisch. —
So einfach die Diagnose der Epilepsie nach der vor¬
stehenden Schilderung auf den ersten Blick zu sein scheint, so
schwierig kann sie sich manchmal gestalten. Es kann Vorkommen,
daß ein Kranker gemäß § 8i Str.P.O. 6 Wochen lang l>eobachtet
wird und keinen einzigen Anfall oder Dämmerzustand bekommt.
Handelt es sich dann noch um einen Menschen, dessen Intelligenz
nur wenig beeinträchtigt ist, bei dem auch die für den epilep¬
tischen Charakter wesentlichen Züge nicht sehr ausgeprägt sind,
dann bleibt u. U. die Beobachtung so gut wie ergebnislos und
trotzdem kann der Kranke ein schwerer Epileptiker sein. Ich
habe in der Einleitung unter anderem den Fall Tessnow erwähnt,
der seinerzeit viel Aufsehen erregte. Bei diesem Kranken lagen
die Verhältnisse so, daß er seinen ersten ärztlich beobachteten
Anfall am Tage vor der bereits festgesetzten Hinrichtung bekam.
Angesichts dieser Schwierigkeiten erhebt sich die Frage,
welche Hilfsmittel zur Klärung des Einzclfalles heranzuziehen sind.
Die Diagnose Epilepsie setzt sich aus genauen Ermittelungen
über das Vorleben und dem Ergebnis der eigenen Beobachtung
zusammen.
Bei Erhebung der Vorgeschichte ist nach belastenden Fak¬
toren (Alkoholismus, Epilepsie, Schwachsinn) zu forschen.
Ferner ist darauf zu achten, ob nicht schon in der Kindheit Ge¬
hirnentzündungen , Lähmungen, Bettnässen, Kinderkrämpfe,
poriomanische Zustände usw. bestanden haben. Oft macht sich
auch die krankhafte Reizbarkeit und Neigung zu Verstimmungen
früh geltend.
War mit der Epilepsie Schwachsinn verbunden oder hatte der
Angeschuldigte schon in der Schule Krämpfe, so ist das durch
Einsichtnahme in die Schulzeugnisse bzw. Nachfrage bei der
Schulverwaltung oder dem Lehrer meist noch nachzuprüfen.
Die Reizbarkeit und Neigung zu Verstimmungen machen sich
im Leben auch schon dann bemerkbar, wenn sie nicht stark aus¬
geprägt sind. Kommt dazu noch die Langsamkeit bei der Arbeit,
so ist häufiger Stellenwechsel die notwendige Folge. Der Kranke
muß sich außerdem mit minderwertigen Stellen begnügen, er gilt
als unverträglich, zanksüchtig und dumm. Nicht selten kommt es
auch frühzeitig zu gerichtlichen Bestrafungen (Körperverletzun-
Die Epilepsie.
71 5
gen). Dies geschieht besonders dann, wenn der Patient zu trinken
anfängt, sehr leicht. Beim Militär, in der Haft, im Beruf, überall
fällt der Epileptiker auf. Aufgabe des Sachverständigen muß es
sein, Mittel und Wege zur Feststellung der früheren Vor¬
gänge ausfindig zu machen. In Betracht kommen Anfragen
bei der Schulbehörde, dem Pfarramt, dem Regiment, Ärzten,
Krankenkassen, Gefängnissen, Krankenhäusern usw. Auch die
Arbeitsbescheinigungen des Patienten sind heranzuziehen.
Das so gewonnene Material muß nun geordnet werden. Denn
mit dem Nachweis einiger Ohnmächten oder Schwindelanfälle ist
weder für die Diagnose Epilepsie, noch auch für die strafrecht-
liche Verantwortlichkeit des Angeklagten etwas bewiesen.
Das, was ermittelt wurde, muß sich mit dem Ergebnis
der Beobachtung zu einem ganzen Krankheitsbilde zusammen¬
fügen lassen. Wesentlich ist dabei der Nachweis der allmählich
deutlicher werdenden Charakterveränderung und das Auftreten
der oben beschriebenen Stimmungsschwankungen.
Besonderes Gewicht ist ferner auf das Verhalten des Patien¬
ten unter Alkohol zu legen; Ob Alkoholintoleranz bestand, ob
pathologische Räusche beobachtet wurden, ob der Patient als
„Krakehler“ im Rausch bekannt war, das Verhalten der Erinne¬
rung am Tage nach dem Alkoholexzeß, alles das muß ermittelt
werden. Auch der Alkoholversuch kann Anhaltepunkte für die
Beurteilung geben.
Von Epileptikern wird die gleiche Handlung oft auch mehr¬
fach wiederholt (Sittlichkeitsdelikte!). —
Im allgemeinen kann man sagen, daß es nur ganz ausnahms¬
weise vorkommt, daß die ersten Symptome der Epilepsie auch
gleich zu kriminellen Handlungen führen. Wir haben hier nur
einen solchen Fall beobachtet, wo der erste Dämmerzustand, der
bekannt geworden war, zu einem Mordversuch führte.
Bei Bearbeitung eines konkreten Falles ist schließlich noch die
Zeit der Tat besonders zu betrachten. Lag ein Dämmerzustand
vor, so ist die Beurteilung nicht immer schwer. Fehlten aus¬
gesprochene psychische Störungen, so kann die Charakterverände¬
rung von Bedeutung sein. Daneben sind etwaige komplizierende
Momente, wie unmittelbar voraufgegangene Kopfverletzungen, ein
Alkoholexzeß, besondere körperliche Anstrengungen usw. genau
zu ermitteln, ehe über die Frage der Zurechnungsfähigkeit ent¬
schieden werden kann. —
7i6
Die Epilepsie.
Wir kommen damit zur forensischen Bedeutung
der Epilepsie.
Unter den 196 Fällen meines Materials waren 21 Epileptiker.
Was die Delikte anlangt, so standen an erster Stelle Eigen¬
tumsdelikte, d. h. Diebstahl, Unterschlagung, Urkundenfälscliung,
Betrug. Es folgten 10 Roheitsdelikte (gewöhnlich in Form der
gefährlichen Körj)erverletzung, daneben auch ein Straßenraub und
ein Mordversuch) und 10 Fälle von Beleidigung. An dritter Stelle
standen die Sittlichkeitsdelikte (8mal), darunter einmal Blut¬
schande, ein Fall von Homosexualität. Weiterhin sind zu er¬
wähnen zwei Meineide und 2 Fälle von Selbstheschädigung hei
Soldaten, begangen im Dämmerzustände hzw. in einer epileptischen
Verstimmung.
Was die allgemeine Beurteilung der Fälle anlangt, so sind
nur 4 von diesen 21 Kranken bestraft worden. Ein fünfter
wurde wegen Körperverletzung freigesprochen, wegen seiner
Diebstähle bestraft. Alle übrigen wurden freigesprochen hzw.
außer Verfolgung gesetzt. Dazu gehören auch die beiden Fälle
von Meineid.
Zur Illustration der Schwierigkeiten, welche die Begutach¬
tung von Epileptikern bieten kann, sollen im folgenden einige
Beobachtungen mitgetcilt werden, welche größtenteils Typen dar¬
stellen, die uns häufiger begegnet sind.
F. H.. geh. 17, August 1881. Notzucht, gefährliche Körperverletzung.
Am 11. Oktober 1907 soll H. die 9 Jahre alte K. S. in der Wohnung
ihrer Eltern zu W. überfallen, genotzüchtigt und dann am Unterleib
zerschnitten haben. Er gab an, geschlechtlich gebraucht iiabe er das
Mädchen nicht, weshalb er sie mit dem Messer verletzt habe, wisse er
nicht. Er sei angetrunken, aber nicht betrunken gewesen. Später fügte
er hinzu, er habe schon die ganze Woche keine Lust zur Arbeit gehabt
und es während der ganzen Zeit im Kopf gespürt. An jenem Tage habe
er sich nach dem Essen mit seinem Bruder gezankt, dann l‘/j Schoppen
Schnaps getrunken und sei dann nach W. gegangen, um dem Vater des
Mädchens etwas zu bestellen. Was das war, wisse er nicht mehr. Das
Kind sei in den Stall gegangen, er sei ihm gefolgt, er habe es aber
nicht unanständig angefaßt. Das Kind habe geschrien, da habe er das
Messer genommen und gestochen. Ob er sich auf das Kind gelegt,
ob er durch die Kleider gestochen habe, das wisse er nicht. Das
Kind habe ihm nichts getan. Auf die Frage, ob es ihm gut getan habe,
als er stach, sagte er „nein, an so etwas habe er doch keinen Spaß“.
Warum er aufgehört habe, wie er aus dem Stall herausgekommen sei
und ob er in das Haus des Vaters der S. gegangen sei, wisse er nicht.
Die Epilepsie.
717
Nach Angabe des verletzten Kindes hat H. bei dem ganzen Vorfall kein
Wort gesprochen.
Die weiteren Ermittelungen ergaben, daß H. an dem genannten
Tage in drei Portionen, im ganzen P /4 Liter Schnaps gekauft hatte. Er
trank regelmäßig und stark und war dafür bekannt, daß er in angetrun¬
kenem Zustand roh, gewalttätig und „zu allem fähig“ war. In den letzten
Jahren w'ar er stark verkommen. Nach den Aussagen anderer Zeugen
war er ein periodischer Schnapstrinker, wurde, wenn er einmal anfing,
mehrere Tage nicht mehr nüchtern.
190.3—1905 hat er gedient. Beim Militär wurde festgestellt, daß er
mit 10 Jahren eine Kopfverletzung erlitten hatte. Einmal wurde er
während der Dienstzeit bewußtlos daliegend aufgefunden und blieb bis
zum anderen Tage ohne Bewußtsein. Vier Wochen vorher soll er einen
ähnlichen Anfall gehabt haben. Auch im Sommer 1906 ist ein solcher
Zustand beobachtet worden. Der Kranke war damals während einer
ganzen Nacht bewußtlos. Der Anfall wurde von einem Arzt als epilep¬
tisch gedeutet.
Der Vater des H. gab an, ab und zu habe sein Sohn so rote Augen,
sehe jeden auffallend an und gehe, ohne zu sprechen, umher. Das dauere
stets einige Tage. Im März 1907 soll H. seiner Mutter ein Tuch um
den Kopf gelegt, sie auf die Erde geworfen und sie an der Brust und
den Kleidern gerissen haben. Von diesem Vorfall wollte er hinterher
nichts wissen.
Nach seiner Verhaftung schrieb er mehrere Briefe, die in fröm¬
melndem Ton gehalten waren, an verschiedene Verwandte. Da Zweifel
an seiner Zurechnungsfähigkeit entstanden, wurde er der Anstalt Bonn
zur Beobachtung überwiesen. Hier ergab sich auf körperlichem Gebiete
eine Herabsetzung des Empfindungsvermögens am ganzen Körper, eitie
alte, nicht druckempfindliche Narbe auf dem Kopf. Patient ermüdete
bei körperlicher Beschäftigung leicht, so daß er schon nachmittags um
5 Uhr am liebsten das Bett aufsuchte. In der letzten Zeit seines Auf¬
enthaltes in der Anstalt klagte er außerdem, daß ihm „dösig und dumpf“
im Kopfe sei. Während der ganzen Zeit der Beobachtung war er orien¬
tiert, sprach sich über das, was er wußte, in geordneter Weise aus,
doch fiel dabei eine gewisse Langsamkeit und Schwerfälligkeit auf.
Über seine Vorgeschichte berichtete er, daß er als Kind eine Kopfver¬
letzung erlitten habe; ihm sei ein Stück Holz auf den Kopf gefallen.
Später sei ihm bei der Arbeit oft schw'arz vor den Augen geworden;
ab und zu falle er auch hin, aber es sei immer vorübergegangen. Beim
Militär habe er 50—60 Tage im Lazarett gelegen, weil man ihn eines
Tages im Keller bewußtlos aufgefunden habe. Wie er in das Lazarett
gekommen sei, wisse er nicht. Er sei damals längere Zeit im Kopf
duselig gewesen. Ähnliche Zustände habe er später noch mehrfach
gehabt.
Vor und während der Militärzeit sei er ein ganz anständiger
Mensch gewesen, sei regelmäßig in die Kirche gegangen; nachher habe
er das nicht mehr getan. Wie das gekommen sei, wisse er nicht. Er
sei doch vorher ein ordentlicher Mensch gew’esen. Das Trinken müsse
7i8
Die Epilepsie.
allmählich gekommen sein. Ob die Krankheit daran schuld sei, wisse
er nicht. Er habe immer Schnaps getrunken und habe auch viel ver¬
tragen können, aber nachher habe er oft Kopfschmerzen gehabt. Oft
habe er auch nicht gewußt, wie er nach Hause gekommen sei.
Oft sei ihm so dumpf im Kopf und er habe Tage, wo er keine Lust
und keinen Mut habe. Auch eigentümliche Gedanken stellten sich ein.
So sei es ihm jetzt z. B. zu Mute, als wenn ihn jemand greifen wolle.
Mit Mädchen habe er geschlechtlich nicht verkehrt, dagegen 2—3mal
in der Woche onaniert.
Über die Zeit der Tat wiederholt er seine oben gemachten An¬
gaben. Er sei die ganze Woche verändert gewesen („sich selbst lästig“).
Er wisse, daß er zu Mittag noch zu Hause gewesen sei, was nachher
geschehen sei, dessen könne er sich nicht genau erinnern. Er wisse
erst wieder, daß er abends vom W'aehtmeister verhaftet worden sei.
Er habe auch gar nicht gefragt, was los gewesen sei. Erst als ihm der
Untersuchungsrichter vorlas, was er getan haben sollte, sei ihm langsam
eingefallen, daß er mit dem Mädchen etwas zu tun gehabt habe. Am
darauffolgenden Sonntag (die Tat war am Donnerstag), sei ihm der
Kopf wieder in Ordnung gewesen. Ob er mit dem Kinde gesprochen,
ob es geschrieen, wie er weggegangen, was er nachher gemacht habe,
wisse er nicht.
Auf Grund aller dieser Ermittelungen wurde angenommen, daß der
Patient die Tat im Dämmerzustände begangen hatte. H. wurde frei¬
gesprochen und längere Zeit in der Anstalt behandelt. Der Verfasser
hat ihn später zufällig einmal in der Ereiheit getroffen. H. befand sich in
sinnlos betrunkenem Zustande, konnte nicht gehen, sondern lag auf der
Straße und stieß die w'iistestcn Drohungen gegen mehrere Personen aus,
die ihm behilflich waren, aufzustehen. Auch dem Verfasser gegenüber
verhielt er sich in gleicher Weise.
Der Fall ist bemerkenswert einmal dadurch, daß richtige
Krampfanfälle außerordentlich selten vorkamen, ferner ist aus der
Vorgeschichte die allmähliche Degeneration des zweifellos epilep¬
tischen Kranken sehr deutlich zu erkennen. Drittens aber auch
zeigt sich bei ihm die gefährliche Wirkung des Alkohols. Wenn
er keine Gelegenheit hatte, zu trinken, dann war er ein guter
Arbeiter, der im allgemeinen auch willig, lenksam und entgegen¬
kommend war, wie sich während eines mehrjährigen Anstalts-
aufenthaltes gezeigt hat. Sobald er aber zu trinken begann, wurde
er roh und wüst.
S. S., 22. Okt. 1876 geb. Unterschlagung. Poriomanische Anfälle
bei Epilepsie. Unterschlagungen. Freisprechung.
Am 16. Mai 1908 beauftragte der Anstreicher H. aus B. den S., von
einer Bank 380 Mk. abzuheben. S. führte den Auftrag aus. Auf den
Beamten der Bank hat er bei Abhebung des Geldes einen vernünftigen
Eindruck gemacht.
Die Epilepsie.
719
Die Bank lag in E., welches von B. aus nur mit der Bahn zu er¬
reichen war. S. kelirte nach B. nicht zurück, reiste vielmehr umher,
schrieb wenige Tage später an seine Mutter einen Brief aus M. mit der
Bitte um Geld, da er sonst wieder ein Verbrechen begehen müsse. Die
begangene Tat erschien ihm später wie ein Traum.
Er wurde in verschiedenen Städten gesehen und kehrte schließlich
nach etwa 6 Wochen nach B. zurück. Einige Zeit später wurde er ver¬
haftet. Er gab die Tat zu, teilte dem Untersuchungsrichter aber gleich¬
zeitig mit, daß er an Epilepsie leide. Er bat deshalb, ihn von der
Einzelhaft auszuschließen, ln der Gerichtsverhandlung betonte er
gleichfalls, daß er von dem Diebstahl nichts wisse. Wenn er Anfälle be¬
komme, wisse er nicht, was er tue.
Während seines Aufenthaltes im Gefängnisse wurde er einmal
völlig verwirrt und in großer motorischer Unruhe gefunden. Er war so
erregt, daß er in die Tobzelle gebracht werden mußte. Nach einigen
Tagen beruhigte er sich, kam in gemeinsame Haft, wurde da aber plötz¬
lich wieder so unruhig, daß er drolite, den Beamten an den Hals zu
springen, die Gerichtsbeamten totzuschlagen und das Gerichtsgebäude
anzuzünden. Einige Tage später zerriß er einem Aufseher den Rock.
Infolge aller dieser Vorkommnisse wurde er der Bonner Anstalt
überwiesen. Bei der Einlieferung hochgradiger Erregungszustand, dabei
aber orientiert. Patient schimpfte laut, drohte mit allerlei Gewalttaten,
wollte alles entzwei schlagen und in Brand stecken. Im Laufe der Be¬
handlung mehrfach Ohnmachtsanfälle, denen eine mehrstündige psy¬
chische Veränderung vorausging. In diesen Zuständen war Patient sehr
unruhig, beschäftigte sich dauernd mit der Anfertigung von kleinen
Gegenständen aus Papier, lief umher und sprach viel, bis er plötzlich in
Ohnmacht verfiel. Auch Wutanfälle wurden bei ihm beobachtet, in denen
er blaß wurde und sich schimpfend und wütend auf Ärzte und Pflege¬
personal stürzen wollte.
Aus der Vorgeschichte ist bemerkenswert, daß er im Alter von
14 oder 15 Jahren eine schwere Kopfverletzung erlitten hat. Es war
ihm eine eiserne Bohle auf den Kopf gefallen. Enige Monate danach
soll das Leiden begonnen haben. Anfangs öfter Schwindelanfälle, dann
allmähliche Abnahme der geistigen Fähigkeiten. Nach Alkoholgenuß
wurde er sehr reizbar. Zeitweise traten auch Verstimmungen auf.
Schon bei der ersten Aufnahme in die hiesige Anstalt, die lange vor
der oben erwähnten Straftat stattfand, erzählte er, es sei ihm bereits
15mal passiert, daß er alles habe liegen und stehen lassen und davon¬
gelaufen sei. Er habe hinterher nicht gewußt, wo er überall gewesen
sei, erst die Leute erzählten ihm das.
Ob er Krampfanfälle hatte, darüber lauteten seine Angaben ver¬
schieden. Vor der Unterschlagung, wegen der er zur Beobachtung
hierher kam, hatte er bereits einmal in Elberfeld einen Diebstahl be¬
gangen. Unmittelbar, nachdem er verhaftet wurde, mußte er aber so-
’gleich einem Krankenhause übergeben werden, da er anfänglich geistes¬
abwesend war. In der Anstalt 0. war vor der Straftat, derentwegen
720
Die Epilepsie.
er später hierher gebracht wurde, ein Krampfanfail beobachtet worden,
für den ihm nachlier die Erinnerung fehlte.
Während der Bcobachtungszeit klagte er über ängstliche, lebhafte
Träume, in denen er Leute vor sich sah, die ihm etwas tun wollten.
Zeitweise hatte er Kopfschmerzen, war auch schreckhaft. Er sah bis¬
weilen Kerle vor sich, so daß er die Decke über das Qesicht zog. Die
Stimmung war gedrückt. Das (Jedächtnis erwies sich als auffallend
unsicher, so gab S. z. B. seine früheren Bestrafungen olme weiteres zu,
wußte aber über die Einzelheiten, welche zur Bestrafung geführt hatten,
nie genaue Angaben zu machen.
Auch über die Dauer seines früheren Aufenthaltes in der Anstalt
wußte er nichts Genaues. Über seine Reise, die er gelegentlich der
Unterschlagung machte, waren seine Angaben äußerst lückenhaft. Er
wußte nicht, was er in E. getan hatte, nachdem er das Geld abgehoben
hatte, und konnte auch diejenigen Städte nicht vollständig nennen, die er
auf seiner Reise berührt hafte. Einzelne derselben wußte er anzugeben.
Zuletzt habe er in C. einen Scliwindelanfall bekommen, sei dann nach
B. zu Fuß zurückgekehrt; seit diesem Zeitpunkt sei er klar. Die Zeit
vorher komme ihm w'ie ein Traum vor.
Aus der sonstigen Vorgcschiclite ist nur noch bemerkenswert, daß
auch der Vater des Kranken Epileptiker war, und ebenso, wde der
Patient selbst, sehr viel getrunken hatte.
Das Gericht nahm mit dem Sachverständigen an. daß z. Z. der Tat
ein mit Bewußtseinstrübung einhergehender poriopianischcr Anfall be¬
standen hatte und sprach den Angeklagten frei.
Bemerkenswert ist in diesem Falle noch eins, daß nämlich
der Kranke in freien Zeiten wiederholt ausge¬
sprochen haben soll, er könne nicht bestraft w er¬
de n , w e i 1 e i g e i s t e s k r a n k s e i. Es ist sehr wohl denkbar,
daß der Patient gelegentlich Diebstähle und Unterschlagungen
auch begehen wird im flinblick auf die .Ausnahmestellung, die er
einnimmt. Praktisch ist das insofern nicht sehr bedeutungsvoll,
als es sich in der Tat, wie die Beobachtung in ver.schiedenen
Heilanstalten ergeben hat, um einen so schwer Kranken han¬
delt, daß der Mann auch außerhalb der Dämmerzustände zum
mindesten an der Grenze der LJnzurechnungsfähigkcit steht,
namentlich aber dann wobl sicher unzurechnungsfähig ist, wenn
er Alkohol genossen hat. Insofern bietet der Fall einen inter¬
essanten Beitrag zu dem Kapitel Simulation.
H. W. Schwere Urkimdeiifälscliung, Dipsomanie, Freisprechung.
Der am 26. November 1875 geborene Buchhalter H. W., vorbestraft
wegen Mißhandlung mit 100 Mk., wird beschuldigt, am 9. Juni 1911 einen
Postscheck gefälscht und auf Grund desselben 1000 Mk. erhoben zu
haben. Seine Frau nahm ihm an dem gleichen Tage 932 Mk. ab und
übergab dieselben einem Schutzmann, um sie zu sicliern.
Die Epilepsie.
721
Bei seiner Vernehmung gab W. zu, daß er den Scheck ausgefüllt
habe, wußte aber nicht, wie er ihn unterschrieben und wann er das
Geld abgehoben hatte. Den fehlenden Betrag wollte er in Wirtschaften
durchgebracht haben. Er sei an dem Tage betrunken gewesen. Auf
weiteres Befragen gab er noch zu, ein zweites Scheckformular sich an¬
geeignet zu haben. Dasselbe habe er jedoch vernichtet, ohne es zu be¬
nutzen. Der Verteidiger machte geltend, daß W. ein krankhafter Trin¬
ker sei, der schon wiederholt in Trinkerheilanstalten gewesen sei. Auf
Antrag des Qerichtsarztes erfolgte die Beobachtung in der Anstalt. Hier
körperlich 0 . B. Psychisch machte Patient einen finsteren, verschlossenen
Eindruck. Zeitweise bestand ausgesprochene Verstimmung und ge¬
drücktes Wesen, namentlich in der letzten Zeit seines Aufenthaltes. In
diesen Tagen klagte er auch über innere Unruhe und Gereiztheit. Keine
Ohnmächten oder Schwindelanfälle, Alkoholversuch (3 Flaschen Bier) er¬
gebnislos.
Aus der Vorgeschichte: Vater jähzornig, Urgroßvater mütterlicher¬
seits geistig nicht normal, ein Bruder Trinker. Pat. selbst hat in der
Schule gut geleint, keine Kinderkrankheiten, 1891 Selbstmordversuch.
1894 zum Militär. Während der zweijährigen Dienstzeit zweimal
wegen unerlaubter Entfernung bestraft. Nach der Entlassung Kaufmann
bis 1906 in verschiedenen Stellungen, jedesmal ziemlich lange.
Keine Krampfanfälle, dagegen während der Schulzeit gelegentlich
Ohnmächten und nächtliches Bettnässen. Seit 8—10 Jahren von Zeit
zu Zeit leichte Schwindelanfälle von ganz kurzer Dauer, ohne äußere
Veranlassung. Dabei Flimmern vor den Augen, „dann wird es ihm
dunkel“; er muß sich festhalten, um nicht zu fallen, danach Erinnerungs¬
losigkeit. Neben den Schwindelanfällen treten selten Ohnmachtsanfälle
mit völligem Bewußtseinsverlust auf.
Außerdem periodische Trinkexzesse. Mitunter monatelang fast
abstinent, dann, plötzlich einsetzend, mehrtägiger schwerer Alkoholmi߬
brauch. Meist im Anschluß an einen Ärger im Geschäft oder zu Hause
entsteht in ihm ein Gefühl innerer Unruhe und Nervosität. Er hat dann
das Bedürfnis, die Verstimmung und das Unbehagen durch ein paar Glas
Bier herunterzuspülen. Sobald er aber anfängt, trinkt er weiter, die
ganze Nacht, meist auch mehrere Tage hindurch, geht nicht ins Geschäft,
trinkt alles, was ihm vorgesetzt wird, ißt kaum etwas, schläft nur ein
paar Stunden, um dann wieder weiter zu trinken.
Schließlich endet das Ganze mit einem langen Schlaf. Danach geht
er wieder zur Arbeit, ekelt sich vor sich selbst, sucht das im Geschäft
Versäumte nachzuholen, hat wochenlang noch Beschwerden von dem
Alkoholexzeß. Die Erinnerung an die Zeit der Trunkenheit ist mangel¬
haft. Er ist mehrfach in diesen Zuständen mißhandelt worden. Einmal
wurde ihm seine Uhr gestohlen, ohne daß er wußte, wie und wann ihm
das passiert war. Einmal hatte er die Uhr in einer obskuren Kneipe dem
Wirte für wenige Groschen versetzt. Diese Zustände von periodischer
Trunksucht sollen im letzten Jahre häufiger geworden sein.
Für die Zeit der Tat konnte festgestellt werden, daß Patient
schon einige Tage vorher regelmäßig etwas getrunken hatte, ohne aller-
Hübner, Forensische Psychiatrie, 4Ö
722 Die Epilepsie.
dings seine Arbeit zu vernachlässigen oder unmäßig zu sein. Die letzten
beiden Tage vor der Tat hatte er his .ä bez. 7 Uhr morgens in den
verschiedensten Lokalen durchgekneipt. Am Tage der Tat war er in¬
folgedessen morgens nicht zum Geschäft gegangen, stand erst im Laufe
des Vormittags auf, trank etwas Bier und ging dann ins Geschäft. Daß
er dort erklärt hatte, er käme nicht wieder, dessen konnte er sich nicht
entsinnen, auch nicht, daß er einen Zeugen im Geschäft angetroffen hatte.
Wohl schwebte ihm undeutlich vor, daß er Geld mitgenommen hatte.
Die Entnahme der Scheckformulare war ihm auch nicht deutlich er¬
innerlich. Er wußte ferner nicht, wo er die Scheckformulare ausgefiilit
hatte, wohl aber hatte er eine undeutliche Erinnerung, daß er auf dem
Postamte am Schalter gestanden und Geld in Empfang genommen hatte.
Er will dann seiner Erau einen Teil des Geldes aus freien Stücken ge¬
geben haben. Über den Rest des Tages weiß er nichts; auch am nächsten
Tage kneipte er noch weiter. Am Sonntag morgen wurde er dann ver¬
haftet.
Die Ehefrau gab an, daß W. öfters Ohnmachtsanfälle habe, blaß
aussehe, plötzlich über Unwohlsein klage und umsinke. Auch leichte
Zuckungen in den Armen sollen dabei bisweilen beobachtet werden.
Anfangs habe der periodische Drang zum Trinken sich alle 3 —4 Monate
bemerkbar gemacht, später häufiger, zuletzt alle paar Wochen. Nach
dem Mittag, nachdem er das Geld bereits abgehoben hatte, sei W\ total
betrunken nach Hause gekommen und habe Geld auf den Tisch ge¬
worfen. Er sei dann trotz all ihrer Vorstellungen sehr bald wieder
fortgegangen und habe die Nacht durchgekneipt.
Nach Mitteilung eines anderen Zeugen pflegte W. in diesen „Zu¬
ständen“ das unsinnigste Zeug zusammenzulügen, auf seine Erau zu
schimpfen und hinterher von dem, was er gesagt hatte, eine sehr lücken¬
hafte Erinnerung zu haben. Auch Verstimmungszustände waren durch
Zeugen mehrfach beobachtet worden. Einmal auf einem Spaziergang
mit einem Zeugen blieb W'. plötzlich stehen, fing an zu gestikulieren und
sprach konfuse W'orte. Nach 3 Minuten war der Zustand vorbei. W.
war dann wieder klar, wußte aber von der ganzen Sache nichts.
Das Gericht nahm auf Grund des von der Anstalt erstatteten Gut¬
achtens an, daß W. Dipsomane war und sprach ihn frei. —
Haben wir bis jetzt Fälle kennen gelernt, in denen durch
sorgfältige Erhebung der Anamnese und Benutzung des durch die
Beobachtung gelieferten Alaterials eine Klärung möglich war, so
sei im folgenden eine Beobachtung mitgeteilt, in der das nicht
in vollem Umfange gelang.
P. A., geboren 17. April 1884. Gärtner, psychische Epilepsie, Sitt¬
lichkeitsverbrechen, bestraft.
A. ist wegen Diebstahls und zweier Sittliclikeitsverbrechen vor¬
bestraft (unzüchtige Handlungen mit minderjährigen Mädchen). Im
November 1908 hatte er an verschiedenen Tagen ein sechs Jahre altes
Die Epilepsie.
723
Kind unzüchtig betastet und seinen Geschlechtsteil mit dem des Kindes
in Berührung gebracht. Das Kind bekam davon einen Tripper.
Bei ihm selbst wurde diese Geschlechtskrankheit im Untersuchungs¬
gefängnis auch festgestellt. Schon gegenüber dem Vater des Kindes
hatte der Angekagte die Straftat zugegeben und sich zur Tragung der
Unkosten verpflichtet. Er gestand auch bei der polizeilichen Ver¬
nehmung die Tat ein. Im Untersuchungsgefängnis richtete er einen
Brief an den Untersuchungsrichter und bat um Untersuchung seines
Geisteszustandes. Er habe einmal eine Gehirnerschütterung durch¬
gemacht und leide seitdem an Kopfschmerzen und anderen Beschwerden.
Das Gericht beantragte unter Berücksichtigung des Verhaltens des A. im
Gefängnis die Beobachtung gemäß § 81 Str.P.O.
In der Anstalt wurde folgendes festgestellt: Körperlich: Viel De¬
generationszeichen, gesteigerte Kniesehnenreflexe, sonst keine körper¬
lichen Störungen. Psychisch: Ruhig, geordnet, höflich und bescheiden.
Zeitweilig Klagen über Kopfschmerzen und unruhigen Schlaf. Bei der
Arbeit, zu der er angehalten wurde, machte sich mehrfach eine ziemlich
beträchtliche Gedächtnisschwäche bemerkbar. Der F’atient fand z. B.
Werkzeuge, die er im jMoment gebraucht und weggelegt hatte, nicht
wieder. Mitunter leichte Verstimmungen, aber keine Bewußtseins¬
trübungen. örtlich und zeitlich orientiert. Uber die Vorgeschichte wurde
folgendes ermittelt: Mutter leidet an Kopfschmerzen, Vater ist nervös.
Die übrigen Familienmitglieder gesund. Patient selbst in der Jugend
nicht krank, mit 6 Jahren auf die Schule, gut gelernt, im letzten Schul¬
jahre anfallweise heftige Kopfschmerzen, einhergehend mit Mattigkeit
und Übelkeit, abschließend mit Erbrechen. Diese Zustände wiederholten
sich mehrere Tage hintereinander und blieben dann für einige Wochen
aus. Nach der Schulzeit in eine kaufmännische Lehre. Dort Einbruchs¬
diebstahl, deshalb bestraft. Bald nach dem Diebstahl Sturz vom Rade
auf den Minterkopf. Erst mehrstündige Bewußtlosigkeit, seit der Zeit
gänzlich verändert. Auf den damaligen behandelnden Arzt machte er
öfters einen eigentümlichen, verstörten Eindruck. Seitdem auch Kopf¬
schmerzen, Vergeßlichkeit, Zerstreutheit, dazu hochgradige Reizbarkeit,
Unstetheit bei der Arbeit. Keine Ohnmächten, keine Krämpfe, keine
Schwindelanfälle. Dagegen ist es ihm mehrfach passiert, daß er sich auf
ganz bekannten Wegen verlief, und das erst nach einiger Zeit bemerkte.
Bei mehreren dieser Gänge hatte er auch ganz vergessen, weshalb er
von Hause fortgegangen war. Alkohol will er gut vertragen haben,
danach keine Gewalttätigkeiten. Die Tat stellte er anders dar, als das
verletzte Mädchen, und als er sie in seinem Brief zugegeben hatte. Ein
Alkoholversuch fiel negativ aus. Seine Intelligenz war nicht wesentlich
beeinträchtigt. Nach Angabe des Vaters sollen in der Schulzeit mehrfach
Ohnmächten aufgetreten sein. —
Nach der letzten Kopfverletzung, so berichtet der Vater weiter, sei
eine Veränderung des ganzen Wesens bei dem Patienten eingetreten. Seine
Lebensführung sei unstet geworden, er habe die Stellungen viel ge¬
wechselt und sei außerordentlich reizbar geworden. Dazu wurde er in
den letzten Jahren auch konfus. Er habe zeitweise mit stierem Blick
46 *
724
Die Epilepsie.
•vor sich hiiiKebriitet, sei plötzlich aufgesprungen und in gereizter Stim¬
mung davongelaufen. Auch habe er in diesen Verstimmungen öfter mit
Selbstmord gedroht. Nach Mitteilung der Mutter sei einmal im Anschluß
an einen Streit ein Anfall beobachtet worden, bei dem Zuckungen in
allen Gliedern auftraten. Auf Grund aller dieser Tatsachen wurde an¬
genommen, daß es sich wahrscheinlich um eine Epilepsie handelte. Für
die Zeit der Tat konnte ein psychischer Ausnahmezustand nicht nach¬
gewiesen werden. Das Vorliegen einer die freie Willensbestimmung
ausschließenden geistigen Störung zur Zeit der Tat wurde infolgedessen
nicht angenommen. Patient wurde bestraft.
Der Fall ist insofern lehrreich, als er zeigt, daß auch mit den
Hilfsmitteln einer sechswöchentlichen Beohachtung nicht immer
eine vollkommene Klärung des Krankheitsbildes zu erzielen ist.
Nach den Angaben des Patienten und seiner Angehörigen war es
nicht unwahrscheinlich, daß eine durch Kopfverletzungen aus¬
gelöste Epilepsie vorlag. Das vorhandene Material reichte aber
nicht aus, die Diagnose mit Sicherheit zu begründen. Die Schlu߬
folgerung, daß Zurechnungsfähigkeit zur Zeit der Tat bestanden
hatte, wurde deslialb nur per exclusionem gezogen.
Haben wir oben als Schuldausschließungsgründe porio-
manische, dipsomanische Anfälle und Dämmerzustände kennen
gelernt, so werden wir nunmehr sehen, wie weit einzelne Züge des
epileptischen Charakters zu kriminellen Handlungen führen können.
In dem folgenden Falle war es die krankhafte Reizbarkeit,
welche den Patienten zur Tat trieb.
G. H., geb. 22. Februar 1854. Bergiiivalide, Mordversuch. Wegen
Ablebens des Angesch. Verfahren eingestellt.
Kindheit und erste Jugend o. B. Im Jahre 1890 Fall auf den Kopf,
danach Bewußtlosigkeit. Es lief Blut aus Ohr und Nase. Die Bewußtlosig¬
keit dauerte 6 Wochen, danach erholte Patient sich langsam wieder, blieb
aber schwerhörig auf dem rechten Ohr. Im Sommer 1891 begann er
zu arbeiten, bekam bei der Arbeit den ersten epileptischen Anfall mit
Zuckungen und Bewußtlosigkeit. Seitdem alle Wochen 1 bis 2 solcher
Anfälle. Gleichzeitig zunehmender Schwachsinn. Zeitweise Erregungs¬
zustände. Viel Klagen über Kopfschmerzen. In der Folgezeit lief Patient
oft ohne Zweck und Ziel von Hause fort. Zeitweise war er verwirrt.
In der Anstalt längere Zeit ganz still, nimmt kaum Nahrung, antwortet
auf Fragen nicht, hält die Augen geschlossen. Einige Male wurden auch
kurze Anfälle beobachtet, in denen er taumelte, hinfiel, sich verletzte, mit
den Armen zuckte und sich um sich selbst drehte. Dabei öfters hypo¬
chondrische Klagen. Er habe etwas im Leib, das solle man ihm heraus¬
nehmen, dann würde es besser werden. Zeitweise auch religiöse Vor¬
stellungen. Spricht viel von der Dreifaltigkeit; bald weinerlich, bald reizbar.
Operiert viel mit religiösen Sprüchen, zeitweise heftige Kopfschmerzen.
Die Epilepsie.
725
1894 uiiKeheilt beurlaubt, bleibt bis zum Jahre 1912 in der Freiheit in
ungefähr dem gleichen Zustande. Immer mißtrauisch und leicht gereizt;
deshalb Differenzen mit einem Nachbar, von dem er vermutete, daß
derselbe allerlei Gerüchte über ihn verbreitet hatte. Als ihm dessen Ver¬
leumdungen mitgeteilt werden, heftiger Erregungszustand. Patient er¬
greift eine Axt und droht, dem Kinde seines Feindes den Schädel zu spal¬
ten. Er trifft den Jungen auch und versetzt ihm einen so heftigen Schlag,
daß das Gehirn zutage trat. Danach sofort in die Anstalt zurUckgebracht,
völlig ablehnend, sehr gereizt, insbesondere dann, wenn man mit ihm
über seine Tat sprechen will. Daneben scheinen auch vereinzelt Sinnes¬
täuschungen zu bestehen. F’atient stoßt einzelne kurze Sätze hervor,
z. B.: „Ich muß fort. Hier ist die Hülle. Sie sind ein Teufel. Lassen Sie
mich los“ und ähnliches.
Ehe das Verfahren zum Abschluß gebracht werden konnte, stirbt
Patient plötzlich.
Zu einer Ahurteilung des Falles ist es nicht gekommen,
immerhin wird man bei Berücksichtigung der ganzen Krankheits¬
geschichte begründete Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des
Patienten zur Zeit der Tat nicht unterdrücken können.
Schließlich haben wir noch eines Falles zu gedenken, der uns
zeigt, daß auch die bei Epileptikern-vorkommende Neigung zum
Lügen und Betrügen, zu Straftaten führen kann.
J. B., Glasmalerlehrling, geb. 24. Mai 1889. Betrug, epileptische
Degeneration, Freisprechung.
Am 19. Oktober 1907 hatte B. in L. Gelder zur Erweiterung des
W.er Krankenhauses eingesammelt und dabei ein Schriftstück mit dem
Namenszug des Oemeindebaubeamten vorgezeigt. Er wurde verfolgt
und ließ auf der Flucht sein Rad zurück. Am Bahnhof W. wurde er bis
an die Arme durchnäßt festgenommen. Dabei nannte er sich Jakob
Schmitz. Bei der am nächsten Tage ausgeführten Vernehmung gab er
zu, Gelder eingesammelt zu haben, das benutzte Schriftstück wollte er
auf der Chaussee gefunden haben.
Aus der Vorgeschichte ist folgendes bemerkenswert:
Der Patient ist mit der Zange geboren worden. Mit 2 Jahren Ge¬
hirnentzündung mit Erbrechen, Benommenheit und Krämpfen, bei denen
er bewußtlos und verwirrt war. Einmal auf dem Gymnasium lief er
aus der Schule fort und trieb sich umher. Auch im verflossenen Sommer
hatte er mehrfach die Arbeit ohne Grund verlassen, sich tagelang umher¬
getrieben nud kleine Schwindeleien verübt. Vierzehn Tage vor der Tat
Verstimmung. Während derselben von Hause weggelaufen, 2 Tage und
1 Nacht umhergetrieben. Verstimmungen sollen öfters beobachtet wor¬
den sein. Zeitweise sehr reizbar. Weiterhin brachte Patient viel Klagen
über Kopfschmerzen vor. Nach Angaben der Mutter log er viel und
hatte häufig Anfälle, denen Angstzustände vorausgingen. Der Vater
leidet an anfallsweisen Kopfschmerzen und ist einmal bewußtlos zu¬
sammengefallen. Die Untersuchung des Patienten ergab viel Degenera-
726
Die Epilepsie.
lionszeicheii. Lungenspitzenkatarrh. Lebhaftigkeit der Haut- und
Sehnenreflexe. Fehlen der Hornhautreflexe. Herabsetzung der Schmerz-
enipfindlichkeit. Mehrfach wurden Anfälle beobachtet. Bei einem der¬
selben fiel ihm während des Essens sein Eßgeschirr aus der Hand, ohne
daß er es merkte. In der ersten Nacht wälzte er sich im Bett umher,
ließ den Kopf heraushängen, fragte hinterher den Pfleger, der ihn aufs
Kissen zurücklegte, wer ihn geschlagen habe. Acht Tage später fiel er
um 10 Uhr abends plötzlich aus dem Bett. Ins Bett zurückgebracht warf
er Decken und Leintücher von sich, lachte, weinte, suchte sich mehrfach
aus dem Bett zu stürzen, schlug und biß den Pfleger. Erst nach meh¬
reren Stunden trat Beruhigung ein. Täglich ein oder mehrere Anfälle
mit Bewußtseinsverlust, bei denen aber die Pupillen reagierten.
Keine gröberen Intelligenzdefekte. Dagegen gab Patient noch an,
daß er öfters Angstzustände hätte, die Angst säße dann im Leibe und
während des Bestehens derselben sähe er oft Flammen vor den Augen.
Auch habe er manchmal das Gefühl, als wenn ihn ein bestimmter Schutz¬
mann aus C. verfolge. Wenn er nachts aufwache, höre er ihn sprechen.
Der sage, er sei ein Lump und komme ins Zuchthaus, er müsse bestraft
werden.
Er habe viel an Kopfschmerzen gelitten. Ein paarmal sei er aus
der Schule und aus dem Geschäft nach Hause gebracht worden, dabei
habe er mit Armen und Beinen um sich geschlagen, und sei sehr er¬
regt gewesen. Es sei ihm auch öfters passiert, daß er nicht ins Ge¬
schäft gegangen sei und sich herumgetrieben habe. Einmal habe er
sich in einem zoologischen Garten wiedergefunden, ohne zu wissen,
wie er hineingekommen sei. Geld habe er nicht bei sich gehabt,
um den Eintritt zu bezahlen. Ferner leide er oft an Sctiwindel-
anfällen; er habe dann das Gefühl, als wenn er durch ein schwarzes
Glas sähe. Einmal sei er von Hause weggelaufen und mehrere
Tage unterwegs geblieben. Näheres über diese Reise wisse er nicht.
Einige Tage vor der Affäre in W. habe er einen Anfall gehabt; er sei
deshalb 2 Tage im Bett geblieben. Am Tage, an dem er die betrüge¬
rischen Handiungen beging, hatte er ursprünglich die Absicht gehabt,
einen bekannten Lehrer in N. zu besuchen. Auf dem Wege dorthin habe
er dann die Liste und das Schreiben gefunden, dessen er sich bei seinen
Betrügereien bediente. Dadurch sei es zum Kollektieren gekommen.
Als man ihn habe fassen wollen, sei er fortgeradelt, habe aber nachher
das Rad hingestellt und sich ergreifen lassen. Das Geld habe er fort¬
geworfen. Am nächsten Tage habe er sich gegen Mittag wieder krank
gefühlt.
Der Sachverständige führte aus, es bestehe bei B. ein Zustand
hochgradiger körperlicher und geistiger Degeneration. Die körperliche
Degeneration äußere sich in einer Reihe von somatischen Degenerations¬
zeichen. Als Zeichen der psychischen Degeneration seien die im Laufe
der Jahre häufig grundlos auftretenden Verstimmungen, große Reizbar¬
keit, die Neigung zum Lügen und zu leichtsinnigen Handlungen anzu¬
sehen. Dazu kämen die Zustände, in denen er von Hause fortliefe. Wenn
auch ein ausgesprochener Schwachsinn nicht bestehe, so fehlten dem
Die Epilepsie.
727
Patienten in Anbetracht seiner psychischen Degeneration die erforder¬
lichen Hemmungen gegen kriminelle Anreize. Er überselie im Augenblick
der Tat häufig die Konsequenzen seines Handelns nicht, besonders dann
nicht, wenn Anfälle voraufgegangen seien oder folgten. Unter Hinweis
darauf, daß B. am l äge vor der Tat einen Anfall gehabt hatte und unter
Berücksichtigung der hochgradigen psychischen Degeneration des B.
wurde mit hoher W ahrscheinlichkeit das Vorliegen eines die freie W’illens-
bestimmung ausschließenden Zustandes angenommen. Das Gericht schloß
sich dieser Annahme an und sprach den Angeklagten frei. —
Es ist gewiß kein Zufall, daß sich unter der verhältnism.äßig
kleinen Zahl von Fällen, welche in diesem Kapitel verwertet
wurden, zwei Kranke befinden, die des Meineids angeklagt waren.
Erklärlich ist das, wenn man bedenkt, daß bei Epileptikern das
('icdächtnis oft schlecht ist. Es kommt hinzu, daß der Patient in¬
folge seiner Degeneration eine ausgesprochene Neigung zu skrupel¬
losem Lügen hat. Seine Reizbarkeit und seine häufigen Ver¬
stimmungen beeinflussen sein Urteil über manche Vorgänge un¬
günstig. Übertriebenes Mißtrauen veranlaßt ihn, die Handlungen
anderer auf niedrige Motive zurückzuführen. Alles das macht
ihn zum Zeugen äußerst ungeeignet.
Es kommt hinzu, daß mit der Epilepsie in der Mehrzahl der
Fälle ein mehr oder minder ausgesprochener Schwachsinn ver¬
bunden ist — ein Umstand, der gleichfalls nicht geeignet ist, die
Qualität der Aussagen des Epileptikers zu erhöhen.
Ein Fall, in dem bewußtes Lügen bei bestehender Epilepsie
Ursache des Deliktes war, ist folgender;
J. F., Ackerer, geb. 6. Januar 1860. Epilepsie mit müßigem Schwach¬
sinn. Meineid. Freisprechung.
F. erstattete am 30. November 1908 bei der Polizei in O. Anzeige
wegen Diebstahls gegen die Katharina B. Infolgedessen wurde gegen
die B. ein Verfahren eingeleitet. F. gab an, die B. habe Ende Juli 1908
während des Wochenbettes seiner Frau einige Wochen lang in seinem
Hause gearbeitet und bei dieser Gelegenheit aus einer Kiste ein Zwanzig¬
markstück entwendet. Er habe erst nach ihrem Fortgang den Verlust
bemerkt. Einige Tage später habe er die B. auf dem Wege zwischen
W. und A. getroh’en und ihr den Diebstahl vorgehalten. Sie habe ihm
darauf 10 Mk. zurückgegeben und ihn gebeten, ihrem Vater nichts zu
sagen, sie würde ihm die übrigen 10 Mk. auch noch zurückerstatten. Da
dies aber nicht geschehen ist, habe er Anzeige erstattet.
Diese seine Angaben beeidigte der Angeschuldigte in einer Ver¬
handlung am 18. Mai 1908. Die B. hingegen bestritt von vornherein den
Diebstahl und bezeichnete das Zusammentreffen auf dem Wege zwischen
W. undA., von dem F. sprach, als vollkommen erdichtet. Da sie außerdem
in der Lage war, durch einwandfreie Zeugen für den Tag des Diebstahls,
728
Die Epilepsie.
wie für den Tag des Zusaninientreffens ihr Alibi nachzuweisen, so w-urde
sie freigesprochen; gegen F. aber wurde Anklage wegen Meineids er¬
hoben. Er blieb bei seinen Angaben. In der Schwurgerichtssitzung
tauchten Zw'eifel an seiner geistigen üesundheit auf. Es w'urde infolge¬
dessen die Beobachtung genuiß § 81 Str.P.O. beschlossen.
Aus der Vorgeschichte des Angeklagten ergab sich, daß er im Jahre
1886 wegen Unterschlagung angeklagt war, aber freigesprochen wurde,
weil man ihn nicht überführen konnte. Später ist nichts Nachteiliges be¬
kannt geworden. Er ist Ackerer, hat eine kleine Wirtschaft zu besorgen,
die Kasse führte seine Frau. Wenn er Geld brauchte, mußte er es sich
von dieser holen. Es war allgemein bekannt, daß F. von Jugend auf
geistig zurückgeblieben war. ln der Schule hatte er schlecht gelernt
und auch öfter an Krampfanfällen gelitten. Bis zum 17. und 18. Jahre
litt er auch an Bettnässen. Die Beobachtung in der Anstalt ergab;
Stupider Qesichtsausdruck, viel Degenerationszeichen, Schwerhörigkeit,
Sehnenreflexe schwach. Schlängelung der Schläfenschlagadern. Sonst
kein pathologischer Befund. Auf psychischem Gebiete fiel auf: Apa¬
thisches, stumpfes Verhalten. Als ihn ein anderer Kranker eines Ver¬
stoßes gegen die Hausordnung beschuldigte, beklagte er sich weinend
w'ie ein kleines Kind darüber, daß dies geschehen war. Schwerfällige
Ausdrueksweise, langsames Denken bei mäßig gutem Gedächtnis. Aus
den Zeugenaussagen und seinen eigenen Angaben ging hervor, daß er
Krampfanfälle hatte, bei denen er hinfiel, 10 bis 30 Minuten bewußtlos
blieb und hinterher nicht wußte, was mit ihm geschehen war. Auch an¬
fallsweise Kopfschmerzen hatte er, außerdem traten seltene Schwändel-
anfälle auf.
Bei der Aussage bezüglich der B. blieb er; auf den Vorhalt, das
Mädchen habe beweisen können, daß sie gar nicht mit ihm zusammen¬
gewesen sei, antwortete er, die Zeugen seien offenbar von den An¬
gehörigen des Mädchens bewirtet worden und hätten deshalb falsch
ausgesagt. Bei Prüfung der Schulkenntnisse und sonstigen geistigen
Leistungen ergaben sich erhebliche Defekte, sein Schulwissen war so gut
wie ganz geschwunden, etwas mehr wußte er über seine ländliche .Arbeit
Bescheid. Die Grüße seines Besitztums kannte er nicht. Über die Be¬
deutung des Eides war er sich in keiner Weise klar. Er wußte nicht zu
welchem Zwecke geschworen wurde und daß man eine Sünde mit einem
falschen Eid begehe. Die Mitteilung, daß er eventuell bestraft werden
würde und zwar für mehrere Jahre ins Zuchthaus käme, rührte ihn in
keiner Weise.
Bei dieser Sachlage wurden von dem Sachverständigen begründete
Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Patienten geltend gemacht. Das
Gericht sprach ihn dann auf Grund des persönlichen Eindruckes in der
Verhandlung frei. —
War es in dem vorliegenden Falle bewußtes Lügen eines
schwachsinnigen Epileptikers, das zürn Meineid führte, so haben
wir jetzt einen Fall kennen zu lernen, in dem Gedächtnisstörungen
zur Anklage wegen Meineides führten.
Die Epilepsie. 729
H. Q., Tagelöhner, geh. 20. September 1873 wegen Mißhandlung, Be¬
trugs, Diebstahls, Körperverletzung, Bettelei, im ganzen zehnmal vor¬
bestraft, jetzt angeklagt wegen fahrlässigen Meineids.
ln einer Verhandlung gegen einen gewissen J. K. wegen Diebstahls
beeidete Q. als Zeuge, daß er den Angeklagten J. am 9. April 1910 abends
vor 11 Uhr bei dessen Vater getroffen habe, wo er an jenem Abend ge¬
wesen sei. Auf Vorhalt des Vorsitzenden der Strafkammer wollte er
sich genau des Tages entsinnen und gab auch eine ganze Reihe von
Details an, auf die er seine Behauptung stützen wollte. Da dem Gericht
dies von vornherein unglaubwürdig erschien, wurden weitere Beweise
erhoben und es ergab sich, daß die Angaben des Patienten nicht richtig
waren.
Später gab ü. auch ohne weiteres zu, daß seine Angaben nicht
richtig gewesen seien. J. sei einige Wochen vor dem Termin zu ihm
gekommen und habe ihn gefragt, ob er sich nicht entsinnen könne, an
jenem Abend mit ihm zusammengetroffen zu sein. J. habe ihn nicht
direkt zu einer falschen Aussage veranlaßt, sondern im Gespräch mit J.
sei in ihm die falsche Ansicht entstanden.
Da die Verteidigung des G. geltend machte, daß der Patient an
Epilepsie leide, daß infolgedessen erhebliche Erinnerungsmängel bestän¬
den, wurde die Beobachtung gemäß § 81 Str.P.O. nach Anhörung eines
Sachverständigen beschlossen.
In der Anstalt ergab die körperliche Untersuchung eine Reihe von
Degenerationszeichen und Narben, darunter eine EindrUckung des
Knochens auf dem Hinterkopf, Steigerung der Kniesehnenreflexe, mäßige
Herabsetzung des Wiirgreflexes. Abstumpfung der Schmerzempfind¬
lichkeit.
Auf psychischem Gebiete große Reizbarkeit mit Neigung zu Tätlich¬
keiten, Neigung zur Parteinahme für andere, wenn kleine Differenzen
auf der Abteilung passierten, häufige Schlaflosigkeit. Viel Klagen über
Kopfschmerzen und Schwindelgefühl. In einer Nacht machte Patient
einen verstörten Eindruck und klagte über heftige Kopfschmerzen. Als
er zum Abort ging, taumelte er und mußte sich festhalten. Auf dem Abort
bekam er Erbrechen, war blaß, starker Schweißausbruch. Er machte
einen verstörten Eindruck und klagte über Schwindelgefühl. Am anderen
Morgen hatte er eine leidliche Erinnerung für den Zustand. Ein ähnlicher
Zustand wurde einige Wochen später nochmals am Tage beobachtet.
Alkoholversuch negativ, keine Krampfanfälle, keine Sinnestäuschungen
und Wahnideen. Im übrigen war Patient indifferent und schwerfällig.
Seine Antworten erfolgten langsam, zerfahren und weitschweifig. Oft
traf er den Kern der Frage nicht, konnte sich nur schwer zusammen¬
hängend ausdrücken. Nur Fragen, die in den einfachsten Ausdrücken
gehalten waren, konnte er verstehen und beantworten, örtlich und zeit¬
lich war er orientiert, ebenso über seine Person.
Der Vater war Trinker und ein leicht erregbarer Mensch. Die
Mutter war epileptisch und starb in einer Anstalt. Zwei Geschwister sind
gleichfalls epileptisch. Schon als Schuljunge litt Patient viel an Kopf¬
schmerzen. Schulerfolge schlecht. Unstete Lebensführung, viel Arbeits-
730
Die Epilepsie.
stellen. Konnte nirgend dauernd bleiben, beschäftigte sich nur mit unter¬
geordneten niedrigen Arbeiten. Zuletzt Hausknecht in einem Kloster.
An dem häufigen Stellungswechsel war einesteils seine geringe Leistungs¬
fähigkeit, daneben aber auch seine Reizbarkeit und Unverträglichkeit
schuld. Vor 7 Jahren Kopfverletzung mit Bewußtlosigkeit, seitdem
Schwindelanfälle. Es wird ihm dunkel vor den Augen, er sieht feurige
Funken, muß sich festhalten, um nicht zu fallen. Fällt trotzdem mit¬
unter. Nach dem Anfall Gefühl der Schwere in den Knochen. An diesem
Gefühl und eventuellen Verletzungen, die er sich beim Hinfallen zuzieht,
merkt er, daß er Schwindelanfälle gehabt hat. Für die Anfälle selbst
besteht teilweise Erinnerungslosigkeit. Außerdem hat „er eine zweite
Sorte“ von Anfällen, welche er „Fallsuchtsanfälle" nennt. Sie zeichnen
sich dadurch aus, daß ihm dunkel vor den Augen wird. Er bekommt
außerdem ein eigenartiges Gefühl im Magen. Dann bricht er zusammen
und verliert das Bewußtsein. Aus eigener Wissenschaft kann er über
die Krämpfe nichts sagen. Nach den Beschreibungen, die ihm andere
darüber gegeben haben, handelt es sich offenbar um epileptische Krämpfe.
Dieselben enden mit einem langen Schlaf und dem Gefühl von Ab-
geschlagenheit. Zungen- und Lippenbisse sind wiederholt dabei beob¬
achtet worden.
Aufgeregt will er immer gewesen sein. ' ln letzter Zeit soll auch
das Gedächtnis schlecht geworden sein. Die Nachprüfung dieser An¬
gaben, die ja bei Beurteilung des Falles von besonderer Wichtigkeit
waren, ergab in der Tat, daß er besonders bei Zeitangaben außerordent¬
lich unsicher war. Das zeigte sich z. B. bei der Erörterung seines Lebens¬
laufes. Auch seine Merkfähigkeit, geprüft durch Vorsagen von Zahlen,
erwies sich als äußerst gering. Bei weiteren Experimenten über die
Merkfähigkeit wurde festgestellt, daß er bei Beschreibung von Lokali¬
täten, die ihm mit der Aufgabe gezeigt wurden, sie sich möglichst genau
zu merken, nicht nur sehr ungenau war, sondern auch durch Suggestiv¬
fragen sehr leicht beeinflußt werden konnte und daß er grobe Fehler bei
der Beschreibung dieser Lokalitäten machte. Dazu: erhebliche Erschwe¬
rung der Auffassung. Rechnen schlecht. Zu einfachen Aufgaben brauchte
er lange Zeit. Urteilsvermögen wenig entwickelt. Umständlich beim
Sprechen und Denken. Es wurde der Versuch gemacht, aus dem Kranken
herauszubekommen, ob er selbst auf die falschen Angaben gekommen
oder ob er von J. in diesem Sinne beeinflußt war.
Genau ließ sich diese Frage nicht klären; immerhin scheint G. das
Gefühl einer unzulässigen Beeinflussung nicht gehabt zu haben. Nach
der Verhandlung, während seine Aussagen protokolliert wurden, sei ihm
dann der Gedanke gekommen, daß er vieileicht doch nicht richtig aus¬
gesagt habe, dann sei er selbst gegangen und habe sich bei den an¬
gegebenen Personen erkundigt, ob seine Angaben wohi stimmen könnten.
Es habe sich herausgestellt, daß das nicht der Fall war. Er habe ledig¬
lich im guten Glauben, daß er die Wahrheit sage, geschworen.
Auf Grund des gesamten Materials wurde die Diagnose Epilepsie
gestellt. Da die zahlreichen Experimente mit dem Patienten in der An¬
stalt ergeben hatten, daß seine Merkfähigkeit und sein Gedächtnis in der
Die Epilepsie.
731
Tat außerordentlich schwach waren, wurde die Zurechnungsfähigkeit des
Kranken angezweifelt. Ins Gewicht fiel, daß er keinerlei Vorteil von
seiner Aussage hatte. Er hatte dieselbe offenbar auch in gutem Glauben
gemacht. Das Gericht schloß sich dieser Ansicht an und sprach den
Angeklagten frei.
Die Entmündigung wegen Epilepsie wird keine Schwie¬
rigkeiten bereiten, sofern cs sich um hochgradig schwachsinnige
Epileptiker handelt. Ist das nicht der Fall, so wird zum min¬
desten eine Häufung von schweren Symptomen nötig sein, ins¬
besondere von Verstimmungszuständen, Krampfanfällen, event.
auch Dämmerzuständen und poriomanischen Attacken, oder ein
rasches Aufeinanderfolgen von dipsomanischen Anfällen, um 'die
Entmündigung zu begründen. In der Mehrzahl der Fälle wird die
Entmündigung wegen Geistes-schwäche ausreichen.
Bei der Beurteilung der Geschäftsfähigkeit des
Kranken wird zu erwägen sein, a) ob er sich in einem der Aus¬
nahmezustände befunden hat, wie sie oben geschildert sind, b) ob
nebenbei ein hochgradiger Schwachsinn besteht. Letzterer kann
mitunter allein genügen, die Geschäftsfähigkeit in Zweifel zu
ziehen, doch wird dies nur bei hohen Graden von Schwachsinn
angängig sein. Dagegen können in Dämmerzuständen, während
dipsomanischcr und poriomanischer Attacken sehr leicht zivil-
rechtliche Handlungen begangen werden, die dem Kranken äußerst
nachteilig sind. Ich verweise auf das von mir mehrfach erwähnte
Experiment mit dem im Dämmerzustand befindlichen Epileptiker,
der mir einen Schuldschein über 100 Mk. ausstellte.
Zur Ehescheidung wegen Geisteskrankheit wird es ins¬
besondere dann kommen können, wenn der epileptische Charakter
mit seinen unangenehmen Eigenschaften stark ausgeprägt ist oder
die Epilepsie sich mit Alkohnlismus verbindet. Daß in solchen
b'ällen die geistige Gemeinschaft verloren gehen kann und da die
Krankheit unheilbar ist, auch Aussicht auf Wiederherstellung
nicht mehr vorhanden ist, erscheint selbstverständlich. Dasselbe
wird der Fall sein, wenn hochgradige Wrblödung eingetreten ist,
oder aber wenn sich die Krampfanfälle und sonstigen psychischen
Störungen, wie Bewußtseinstrübungen, Reizbarkeit und Verstim¬
mung so eng aneinander anschließen, daß der Patient freie Zeiten
überhaupt nicht i 7 iehr hat.
Bezüglich der Testierfähigkeit wird man insbesondere
prüfen müssen, a) ob die Intelligenz des Kranken ihm gestattet.
732
Die Epilepsie.
ein rechtsgültiges Testament zu machen; b) ob nicht Reizbarkeit,
Mißtrauen und Verstimmungszustände von Bedeutung für den
Inhalt des Testamentes waren und c) bei plötzlich gemachten
Testamenten, ob nicht ein Dämmerzustand oder eine krankhafte
Verstimmung mit Reizbarkeit und Mißtrauen von anderen dazu
ausgenutzt worden ist, den Patienten zum Nachteil anderer Erben
zu beeinflussen.
Die Epileptiker gehören auch zu denen, die bezüglich ihrer
Unterbringung die größten Schwierigkeiten machen. Es
gibt Kranke, die in der Anstalt verhältnismäßig wenig Erschei¬
nungen zeigen, deshalb, weil sie vom Alkohol ferngehalten werden.
Sobald man sie aber in die Freiheit entläßt, begehen sie sehr leicht
Exzesse. Diesem Umstande ist es wohl auch zur Last zu legen,
wenn gerade die Epileptiker in der Üffentlichkeit in den letzten
Jahren so unangenehm aufgefallen sind. Wir haben verhältnis¬
mäßig oft in den Zeitungen lesen müssen, daß schwere Körper¬
verletzungen, Totschlag, Messerstechereien, schwere Sitllichkeits-
verbrechen und ähnliche Delikte von angetrunkenen Epileptikern
begangen wurden. Wie ich aber eben schon sagte, sind dieselben
Kranken in der Anstalt viel weniger gefährlich und oft auch
frei von schwereren Erscheinungen, so daß ihre dauernde Fest¬
haltung sich mit den bestehenden Bestimmungen nicht verein¬
baren läßt. Sie können in manchen Fällen ganz mit Recht ihre
Entlassung verlangen, weil sie der .Anstaltspflege nach einiger
Zeit nicht mehr bedürftig sind.
Die Festhaltung derartiger Patienten gesetzlich zu ermög¬
lichen, wird eine wichtige Aufgabe der zukünftigen Gesetzgebung
sein. Die in den verschiedenen Entwürfen enthaltenen Bestim¬
mungen tragen übrigens den eben geschilderten Verhältnissen be¬
reits Rechnung. —
Schließlich ist noch die Frage zu erörtern, unter welchen Um¬
ständen ein Epileptiker als fähig zur Bekleidung
öffentlicher Ämter zu erachten ist. Allgemeine Regeln
lassen sich nicht aufstellen. Es kommt auf die Schwere der Er¬
krankung und die Art der Tätigkeit an. Ich kenne z. B. einen
Richter, der an Krampfanfällen, aber nicht an der epileptischen
Charakterdegeneration leidet. Er versieht seinen Dienst seit
Jahren.
Bei einem Schutzmann habe ich die Dienst Fähigkeit für den
Polizei dienst verneint, empfahl aber, den Kranken mit
Der Schwachsinn.
733
Schreibarbeiten und zwar an einer Stelle zu beschäftigen, wo er
mit dem Publikum nicht direkt in Berührung kam. Dies ge¬
schah. —
Kompliziert ist die Frage der Dienstfähigkeit da, wo die
Epilepsie durch eine Operation eine erhebliche Besserung erfuhr.
Dies war z. B. bei einem Lehrer der Fall, den wir hier beobachtet
liabcn. Wir empfahlen deshalb, von der Pensionierung abzusehen
und dem Patienten einen längeren Urlaub zu gewähren. Dies ge¬
schah. Während desselben stellte sich aber doch eine zunehmende
Charakterdegeneration ein, so daß an eine Rückkehr in den Dienst
kaum zu denken sein dürfte.
Der Schwachsinn').
Die Krankheitszustände, welche in diesem Kapitel behandelt
werden sollen, sind entweder angeboren oder in der ersten Kind¬
heit erworben. Sie sind vielfach mit der englischen Krankheit
(Rhachitis) verbunden, die Syphilis spielt in etwa 7—lo^/^ der
Fälle eine ursächliche Rolle, auch langdauemde Geburten bei
engen Becken, Zangengeburten und ähnl. werden für den an-
L i t e r a t u r: Hanipe, Schwachsinn nebst seinen Beziehungen zur
Psychologie der Aussage. Braunschweig 1907. Vieweg. Koppen,
Kasuistische Beiträge zur klinischen und forensischen Bedeutung des
Schwachsinns. Charite-Annalen 1897. Gramer, Moral. Idiotie. Miinchn.
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Imbezillität in Deutsche Klinik 1913. Neithard, Zeitschr. f. Med.-Beamte
1903, S. 4. Chlumecky, Zeitschr. f. Med.-Beamte 1901. Weygandt, Be¬
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burg, Schwachsinnige als Zeugen. Neiirol. Zentralbl. 1905, S 187. Un¬
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Schubart, Jugendliche Schwachsinnige im heutigen und künftigen Straf¬
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bezillität in forensischer Beziehung. Psych. Wochenschr., Bd. 10 und
Monatsschr. f. Psych., Bd. 25. Ziemke, Schwachsinn und § 56 Str.O.B.
Monatsschr. f. Kriminalpsych. 1911. Becker, Simulation von Schwach-
734
Der Schwachsinn.
geborenen Schwachsinn verantwortlich gemacht’). Häufiger
noch findet man, daß Alkoholismus, Schwachsinn oder Epilepsie
der Eltern Imbezillität oder Idiotie bei den Kindern zur Folge hat.
In den Fällen, in denen es sich um die früh erworbenen
Formen der Imbezillität und Idiotie handelt, haben entweder
schwere Kopfverletzungen, Hirnhautentzündungen und entzünd¬
liche Prozesse in der Gehirnsubstanz selbst der Entwickelung
hintangehalten.
Man teilt die Schwachsinnszustände ein in Idiotie und Im¬
bezillität“). Beide Fonnen unterscheiden sich nur quantitativ von¬
einander. Nach Gramer ist derjenige ein Idiot, dessen geistige Ent¬
wickelung diejenige eines siebenjährigen Kindes nicht überschritten
hat. Der Gesichtspunkt, der für diese Einteilung maßgebend war,
ist, wie der Autor selbst hinzugefügt hat, ein rein forensischer.
Er wurde im Hinblick auf das B.G.R. gewählt.
Woran erkennt man nun d e n Sc h wa c h s i n ii u n d
welches sind seine wichtigsten S y m ]) t o m e ?
Entsprechend der Tatsache, daß er angclxiren oder früh er¬
worben ist, macht er sich für gewöhnlich bereits in den ersten
Lebensjahren bemerkbar. Viele Schwachsinnige haben später
laufen und .sprechen gelernt, als normale Kinder. In einem Teil
der Fälle wurden auch in den ersten Lebensjahren Krämpfe
beobachtet.
Kommen die Kinder in die Schule, so zeigt sich, daß ihre
Auffassungsgabe schlechter ist, als die des nonnalen Durch-
schnittskindes. Gedächtnisleistungen bewältigen sic besser, als
Verstandesleistungen. Trotz vielen häuslichen Fleißes gelingt es
ihnen entweder gar nicht oder nur mit äußerster Mühe, den An¬
forderungen der Klasse zu genügen. Ihre Schulzeugnisse lassen
denn auch oft erkennen, daß sic dem Durchschnitt ihrer Klasse
sinn. Klinik f. psycli. ii. nerv. Krankh. 1909. Bnchliolz. Beurteilung Im¬
beziller. Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 57. Moeli. Irre Verbrecher. Pel-
man, Irrenfreund 1S97. Tiling, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 52. Siehe
ferner die Literatur über moralischen Schwachsinn (Kap. Degeneration).
Batier, Les fugiies des debiles mentaux dans l'armee. Arch. de Neurol.,
7. S., Bd. 1.
’) Ich glaube aber, daß man diese Annahme bald fallen lassen wird.
Vergl. Hannes, Z. f. Qeburtsh., Bd. 68; Beatus, Inaug.-Diss. Breslau 191,5.
“) Ziehen grenzt noch eine dritte Form, die Debilität, ab. Sie ist
die leichteste und steht der „normalen Dummheit“ am nächsten.
Der Schwachsinn.
735
nicht entsprechen. In den höheren Graden des Schwachsinns
versagen die Kinder .schon früher und kommen aus den untersten
Klassen gar nicht heraus oder sie können in der Normalschule
überhaupt nicht unterrichtet werden, müssen in die Hilfsschule,
und auch da geht es manchmal nicht.
Treten zu dem Schwachsinn noch degenerative Züge, was
nicht selten der Fall ist, so macht die Erziehung noch größere
Schwierigkeiten. Das Kind neigt zu dummen Streichen. Kleine
Diebstähle kommen vor. Das Betragen in der Schule läßt zu
wünschen übrig. Ermahnungen und Strafen haben keinerlei
Wirkung. Entweder läßt cs sie über sich ergehen, ohne irgend¬
wie darauf zu reagieren, oder aber cs tut hinterher erst recht
das, was man ihm verboten hat.
Die mangelhaft entwickelte Urteilskraft in Verbindung mit
einer gesteigerten Beeinflußbarkeit bewirken, daß imbezille
Kinder von gesunden zu allen möglichen Dingen ausgenutzt
werden, zu denen sich vollsinnigc nicht bereit finden.
Das Benehmen der Kranken ist schon in den mittleren Gra¬
den des Schwachsinns so charakteristisch, daß sie auch dem
Laien auffallen. Sie dienen ihrer Umgebung deshalb auch viel¬
fach zum Spott.
Verlassen sic die Schule, deren Ziel oft nicht erreicht
wird, so entsteht eine neue Schwierigkeit, nämlich die Berufs-
fragc. Die meisten Berufe, welche eine gewisse Intelligenz ci-
fordern, kommen für Schwachsinnige kaum in Betracht. Eben¬
sowenig lernen Imbezille, in schwierigen Lagen selbständig zu
handeln. Gelangen sie durch Zufall in eine Stelle, in der sie
selbst dis]M)niercn müssen, so versagen sie meist, während sie
als unselbständige, unter Aufsicht stehende Arbeiter, .sofern cs
sich um mechanische Verrichtungen handelt, ganz Gutes zu
leisten vermögen.
Es ist eine häufig zu beobachtende Erscheinung, daß die
Kranken öfters die Stellen wechseln müssen, teils weil ihre
Leistungen nicht genügen, zum Teil aber auch, weil sie Gegen¬
stand des Spottes ihrer Mitarbeiter sind, und, durch deren
Hänseleien gereizt, sich zu Schimpfreden und Schlägereien hin¬
reißen lassen.
Mit Geld können sie im allgemeinen schlecht umgehen. In
ungewohnter Umgebung sind sic ungeschickt und linkisch. Es
zeigt sich überhaupt, daß sie außerordentlich unselbständig sind.
736
Der Schwachsinn.
sobald sie aus dem engen Kreis ihrer einfachen Beschäftigung
heraustreten und ohne schützende Hand dem Leben preisgegeben
sind. —
Das sind einige wenige Punkte, auf die bei Erhebung
der Vorgeschichte zu achten ist.
Für forensische Zwecke wird man gut tun, durch Nach¬
frage bei den zuständigen Behörden, Einholung der Schulzeug¬
nisse, Befragung des Geistlichen, der ihn konfirmiert hat, An¬
frage beim Bürgermeister des Heimatortes, Nachfragen bei
früheren Arbeitgebern usw. die Berichte des Kranken und seiner
Verwandten nachzuprüfen.
Die Untersuchung des Kranken selbst lehrt uns fol¬
gendes:
Auf affektivem Gebiet zeigt sich, daß der Schwach¬
sinnige häufig auf die kleinen Unannehmlichkeiten des täglichen
Lebens stärker reagiert, als der normale Mensch. Bei einer an¬
deren Gruppe von Fällen wiederum besteht Stumpfheit, die nur
selten durch Gefühlsaufwallungen unterbrochen wird. Geschieht
das aber'), so kommt es zu schweren Gewaltakten. Jedenfalls
steht aber dann die Stärke der Reaktion in keinem Verhältnis
zur äußeren Veranlassung.
Gelegentlich kommt es auch zu Verstimmungen, welche die
I.eistungsfähigkeit des Kranken noch mehr beeinträchtigen und
ihn noch weniger traitable machen.
Ein hervorstechendes Symptom in der Psyche des Schwach¬
sinnigen ist der Egoismus. Rücksichtnahme auf die Inter¬
essen anderer findet man bei Schwachsinnigen nicht allzu häufig.
Dagegen sehen wir den Imbezillen die Erfüllung eines einmal ge¬
äußerten Wunsches mit zäher Energie erstreben. Seine Be¬
gehrlichkeit läßt ihn nicht eher ruhen, bis er den gewünschten
Gegenstand besitzt. Hat er ihn einmal, so verliert derselbe sehr
bald seinen Reiz für ihn.
Will er etwas Bestimmtes erreichen, so ist er im allgemeinen
in der Wahl seiner Mittel nicht sehr skrupulös. Er arbeitet auch
mit Lügen und Verleumdungen. Wer sich seine Feindschaft zu¬
gezogen hat, dem sucht er, wo er kann, zu schaden. Gegen
Schwächere ist er roh. Stärkeren gegenüber oft feige. Dabei
entwickelt er mitunter ein Selbstbewußtsein, das in keinem Ver-
') Der Alkohol wirkt dabei oft als auslösendes Moment.
Der Schwachsinn.
737
hältnis zu seiner Leistungsfähigkeit steht. Gesellt sich hierzu
noch eine gewisse Einsichtslosigkeit und Neigung zum Trotz,
dann kommt es fast regelmäßig zu Reibungen mit Angehörigen
und Mitarbeitern.
Für gewöhnlich pflegt beim Schwachsinnigen auch das Ge¬
schlechtsleben früh zu erw'achen und sich lebhafter bemerkbar zu
machen, als beim normalen Menschen. Auf diese Weise kommt
es zu intensivem Onanieren oder ungewöhnlich frühzeitigem Ge¬
schlechtsverkehr. Da das Schamgefühl meistenteils auch sehr
wenig entwickelt ist, werden unsittliche Handlungen auch öffent¬
lich begangen. Schwachsinnige Mädchen verfallen, sobald die Ver¬
führung an sie herantritt, außerordentlich leicht der Prostitution.
Die Geschlechtsehre ist für sie weiter nichts als eine Ware, die
man teuer verkauft, um für den Erlös möglichst viel Annehmlich¬
keiten zu erlangen.
Zu erwähnen ist schließlich noch ein stark ausgeprägter
Hang zu Äußerlichkeiten. Es wird nicht allein auf eine der
sozialen Stellung und den pekuniären Verhältnissen entsprechende
Kleidung Wert gelegt, sondern darüber hinaus werden die
neuesten Moden mitgemacht. Im Sprechen und in den Be¬
wegungen wird eine Feinheit markiert, die innerlich nicht vor¬
handen ist. Bezüglich aller dieser Äußerlichkeiten unterscheidet
sich der Schwachsinnige vom normalen Menschen dadurch, daß
er sie bis zur Karrikatur nachäfft, um mehr zu scheinen, als er
ist, während sie für den Normalen Selbstverständlichkeiten dar¬
stellen. Der Imbezille trinkt „echten“ französischen Sekt nicht
deshalb, weil er ihm besser schmeckt wie Wein und Bier, sondern
deshalb, w'eil andere sehen, daß er sich so teure Getränke leisten
kann. Er drängt sich in Gesellschaftskreise ein, in die er nicht
hineingehört, ohne zu merken, daß er nicht gern gesehen wird,
und wenn er das wirklich merkt, dann weicht er nicht, selbst
auf die Gefahr hin, eine lächerliche Figur zu spielen. Die Sucht
aufzufallen und den Mangel an innerem Gehalt durch Äußerlich¬
keiten zu verdecken, ist wesentlich mitbestimmend für das ge¬
samte Handeln vieler Imbezillen*). —
Wie schon im allgemeinen Teil ausgeführt worden ist, macht
den Kranken, von denen hier die Rede ist, die Ansammlung
*) Sehr deutlich treten diese Erscheinungen z. B. in den Memoiren
des bekannten Juwelendiebes George Manolesku, welche vor einigen
Jahren in Berlin erschienen sind, hervor.
H^ibner, Forensische Psychiatrie.
47
738
Der Schwachsinn.
eines Wissensschatzes große Schwierigkeiten. Viele
von ihnen lernen noch eine gewisse Anzahl von konkreten Gegen¬
ständen bezeichnen und gebrauchen. Schwieriger ist schon die
Gewinnung höherer Begriffe, und was die meisten Schwierig¬
keiten bereitet, das ist die Erkennung feinerer Unterschiede, das
abstrakte Denken und Urteilen. Wohl niemals gelangen die
Kranken dazu, größere Gesichtspunkte zu gewinnen.
Das Gedächtnis des Schwachsinnigen ist insofern beschränkt,
als er von einem Vorgänge erheblich weniger Einzelheiten, und
zwar nur einen Teil der gröberen, behält, und die auch häufig noch
rascher vergißt, als der normale Mensch.
Nimmt man hinzu, daß auch die Auffassungsfähigkeit l)ei
diesen Kranken häufig erheblich erschwert ist, so ergibt sich ohne
weiteres, daß sie als Zeugen sehr oft wenig wertbare Angaben
machen. Handelte es sich um kompliziertere Vorgänge, über
die sie aussagen sollen, so haben sie deren inneren Zusammen-
liang gar nicht verstanden. Sie sind es auch, die den einfachsten
Fragen des Richters nicht selten ziemlich hilflos gegenüberstehen.
Bei den Handlungen der Schwachsinnigen spielt die Nach¬
ahmung eine große Rolle. Mitunter läßt die Art, wie nachgeahmt
wird, deutlich erkennen, daß dem Kranken dabei jedes Verständnis
für das, was er tut, fehlt.
Die Prüfung der intellektuellen Fähigkeiten
beim Schwachsinn geschieht mit den im allgemeinen Teil be¬
schriebenen Methoden. Vor Verwertung der damit gewonnenen
Resultate muß man sich aber darüber klar werden, was
man von dem Patienten überhaupt verlangen kann. Es wäre
falsch, wollte man allein aus der Tatsache, daß ein Mensch eine
Reihe von Fragen, welche man an ihm gerichtet hat, nicht beant¬
wortet, auf Schwachsinn schließen. Notwendig ist zunächst ein¬
mal, zu ermitteln, welche Vorbildung er genossen hatte.
Was er nicht gelernt hat, kann er nicht wissen. War z. B. der
Schulbesuch infolge mangelhafter Erziehung oder weil der
Patient schon während der Schulzeit mitverdienen mußte, ein
unregelmäßiger, so darf es den Untersucher nicht wundernehmen,
wenn er große Lücken im Schulwissen entdeckt. Wollte er dar¬
aus allein den Schluß auf Schwachsinn ziehen, so würde er weit
fehlen, überhaupt darf man den Ausfällen im Schulwissen nur
dann erhebliche Bedeutung beilegen, wenn es sich um gröbere
Dinge handelt. Denn man muß bedenken, daß sowohl der Ar-
Der Schwachsinn.
7J9
beiter wie der Akademiker mit dem Verlassen der Schule vieles,
was er da gelernt hat, nicht mehr anwendet und infolgedessen
vergißt. Ganz anders ist es, wenn ein solcher Mann schlecht
rechnet, mit Geld nicht umzugehen weiß, über die einfachsten
Verrichtungen, denen er in seiner Beschäftigung täglich begegnet,
nicht Bescheid weiß, kurz und gut, wenn er über Fragen nicht in¬
formiert ist, die ihm aus seiner Umgebung und seiner Tätigkeit
bekannt sein müßten.
Mehr Wert als auf diese vielfach nur als Gedächtnisleistun¬
gen anzusprechenden Reaktionen lege ich auf die Prüfung des
Urteilsvermögens. Und da zeigen sich die Defekte meistenteils
auch viel deutlicher. Es gibt Schwachsinnige, die die üblichen
Fragen nach dem Schulwissen ganz prompt zu beantworten ver¬
mögen, eben deshalb, weil sie ein verhältnismäßig gutes Gedächt¬
nis haben und die Anforderungen des Untersuchers nicht allzu
hoch gestellt worden sind. Tritt man an diese Patienten aber
mit Urteilsfragen heran oder läßt man sich ihre Vorgeschichte er¬
zählen, und fordert im Verlaufe der Erzählung hier und da ein
Urteil über das Vorleben und einzelne Handlungen, die sie be¬
gangen haben, heraus, so zeigt sich ihre Unzulänglichkeit außer¬
ordentlich deutlich. Es tritt dann das hervor, was oben als der
Mangel an großen Gesichtspunkten bezeichnet worden ist. Die
Kranken haben eine Reihe von Einzelheiten gelernt und behalten,
es aber nicht vermocht, diese Einzelheiten unter größere Ge¬
sichtspunkte zu ordnen. Das aber ist für das menschliche Han¬
deln viel wesentlicher, als die Anhäufung eines großen Gedächtnis¬
schatzes.
Für forensische Zwecke ist und bleibt, und das kann nicht
scharf genug betont werden, die Reaktion des Patienten auf das
Leben das Wesentliche. Wenn sich da gezeigt hat, daß der
Kranke nirgends oder nur selten zurechtgekommen ist, es nicht
vermocht hat, sich einen Beruf zu schaffen, niemals eine wirk¬
liche Selbständigkeit an den Tag gelegt, sondern sich nur
immer und immer wieder als minderwertiger Mensch erwiesen
hat, hinter dem Durchschnitt seiner gleich vorgebildeten Alters¬
genossen erheblich zurückgeblieben ist, dann ist er schwach¬
sinnig, auch wenn er ein verhältnismäßig gutes Schulwissen be¬
sitzt. —
Die bisher gegebene Beschreibung entspricht etwa einem
Schwachsinnigen mittleren Grades. Es gibt nun Kranke, die er-
47 *
740
Der Schwachsinn.
lieblich tiefer .stehen, es gibt aber auch solche, die bildungsfähiger
sind. Auf beide Gruppen muß noch eingegangen werden.
Die tiefsten Stufen der Idiotie repräsentieren Fälle, die
im wesentlichen ein vegetatives Dasein führen. Sie lernen für
gewöhnlich nicht sprechen, sondern können nur einzelne Laute
ausstoßen. Gelegentlich gelingt es, sie zur Reinlichkeit zu er¬
ziehen; immer ist aber auch das nicht möglich. Diejenigen Per¬
sonen, welche sie mit Essen versorgen, erkennen sie wieder, sonst
ist ihr Unterscheidungsvermögen äußerst gering. Meist müssen
sie bezüglich der vegetativen Funktionen (Nahrungszunahme,
Darmentleerungen) wie Kinder in den ersten Lebensjahren be¬
aufsichtigt und behandelt werden. Daß es auch in diesen Zu¬
ständen tiefsten Blödsinns zu Handlungen kommen kann, die
bei gesunden Menschen strafrechtlich schwer geahndet werden
würden, lehrte uns ein Fall, den wir gegenwärtig in unserer An¬
stalt haben.
Er betrifft einen tiefstehenden Idioten, welcher aus irgendeinem
nicht bekannt gewordenen Grunde von einem hilflosen Paralytiker, der
im Bett neben ihm lag, beschimpft und bedroht worden war. In der
folgenden Nacht biß der Idiot dem Patienten einen Teil des Hoden¬
sackes ab. —
Die nächste Stufe der Idiotie bilden Fälle, die zwar laufen
und sprechen lernen, auch mit vieler Mühe und sehr viel später
als der normale Mensch zur Reinlichkeit erzogen werden, bei
denen es unter Umständen sogar durch monate- und jahrelange
Anleitung gelingt, sie zu ganz einfachen und mechanischen Ver¬
richtungen wie Graben, Roßhaarzupfen und ähnlichem anzu¬
leiten. Für die Schule sind sie aber noch nicht brauchbar. Häufig
kommen sie sogar nicht einmal in der Hilfsschule mit. Außer¬
halb einer Anstalt sind sie im allgemeinen ebensowonig wie die
erste Gruppe zu halten.
In einer dritten Gruppe finden sich Fälle, die es bei mehr¬
jährigem Schulbesuch etwa dahin bringen, daß sie das Wissen der
Schüler der untersten Volksschulklassen erlangen. Dem ent¬
spricht auch im späteren Leben ihre Leistungsfähigkeit. Einige
mechanische Beschäftigungen können sie ausüben, darüber hinaus
leisten sie nichts. Dagegen ist Anstaltsbeliandlung nicht immer
erforderlich. Wenn sie sonst gutmütig und ruhig sind, können
sie bei günstigen äußeren Verhältnissen auch in der Freiheit
verpflegt werden. So kennen wir aus unserer Poliklinik seit
Der Schwachsinn.
7-^1
mehreren Jahren einen Idioten, der in einem vielbesuchten Lokal
durch Aufstellen der Kegel sich seinen Lebensunterhalt selbst
verdient.
Die nun folgenden Fälle gehören zur Imbezillität.
Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sie für gewöhnlich das
Schulwissen, welches ihnen geboten wurde, nicht vollständig in
sich aufnahmen und auch im Berufsleben hinter dem Durch¬
schnitt derjenigen Menschen, die mit ihnen etwa aus gleichem
Milieu stammen und gleiche Bildungsmöglichkeit hatten, zurück¬
blieben. Anstaltspflegebedürftig sind diese Kranken nur dann,
wenn sie unsoziale Neigungen, oder Neigung zu Erregungs¬
zuständen zeigen. Sie gelten, namentlich wenn sie auf dem
Lande in einfachen \'erhältnissen leben, im allgemeinen nicht als
geisteskrank. Erschwert ist ihre Beurteilung besonders auch
dann, wenn es den Patienten gelungen ist, ein gewisses Schul¬
wissen zu erlangen, so daß sie bei den üblichen Intelligenz¬
prüfungen verhältnismäßig gut abschneiden. In solchen Fällen
ist aber gerade auf die Llrteilsbildung, auf Prüfung der Kom¬
binationsfähigkeit, kurz auf die Prüfung derjenigen Funktionen,
welche den Menschen im Leben erst vollwertig machen, das
größte Gewicht zu legen.
Ein Begriff, der in der forensischen Literatur früher eine
große Rolle spielte, ist der der moralischen Idiotie’) oder des
moralischen Schwachsinns. Man wollte damit alle die Menschen
bezeichnen, welche intellektuell nicht nachweisbar gestört waren,
denen nur die ethischen Gefühle fehlten.
Die Aufstellung eines solchen Krankheitsbildes war vom
rechtspolitischen Standpunkte aus nicht unbedenklich und das
Reichsgericht hat sich denn auch in einer Entscheidung v'om
14. 12. 86 (E. 15, 97) dahin ausgesprochen, daß bei dem „von der
Theorie angenommenen Mangel jeglichen moralischen Haltes die
Zurechnungsfähigkeit nur dann für ausgeschlossen gelten kann,
wenn der Mangel aus krankhafter Störung nachzuweisen ist“.
Ich glaube nicht, daß es richtig ist, von moralischem
Schwachsinn zu sprechen. Die Fälle, welche ich gesehen habe,
waren entweder leicht Imbezille oder Degenerierte. Sie konnten
zwar die üblichen Fragen, welche ihnen bei der Intelligenzprüfung
’) Auch Moral insanity genannt. Literatur s. unter Degenerations¬
psychosen.
742
Der Schwachsinn.
vorgelegt wurden, im allgemeinen richtig beantworten, aber die
Ungleichheit der Leistungen zu verschiedenen Zeiten, das Ver¬
halten des Gefühlslebens, die Unstetheit der Lebensführung und
manches andere zeigten doch, daß die Gesamtpersönlichkeit er¬
krankt war. —
Vom forensischen Standpunkte aus wichtig ist bei
Imbezillen erstens die Reizbarkeit und Neigung, auf geringfügige
äußere Veranlassungen unverhältnismäßig stark zu reagieren, die
viele Imbezille schon unter gewöhnlichen Verhältnissen zeigen.
Diese Eigenschaft steigert sich noch, wenn sie Alkohol zu sich
genommen haben. Bei einer Reihe von Schwachsinnigen findet
man auch eine ausgesprochene Alkoholintoleranz, so daß sie auf
geringe Mengen Alkohol mit schweren pathologischen Räuschen
reagieren und dann bedenkliche kriminelle Handlungen begehen.
Die geringe Ausbildung ethischer Vorstellungen bewirkt,
daß ein Teil der Schwachsinnigen der Prostitution und dem Vaga¬
bundentum anheimfällt, auch das häufige Vorkommen von Eigen¬
tumsdelikten ist auf den Mangel ethischer Vorstellungen und auf
die Urteilsschwäche zurückzuführen.
Die gesteigerte Sexualität wiederum bewirkt, daß die Kran¬
ken auch zu den Sittlichkeitsverbrechern ein nicht geringes Kon¬
tingent stellen.
In zivilrechtlicher Beziehung ist es in erster Linie
die Unselbständigkeit in wirtschaftlichen Dingen, welche den
Kranken ihre Sonderstellung verleiht. —
Zu erwähnen ist, daß namentlich diejenigen Schwachsinni¬
gen, bei denen sich epileptoide, hysterische und degenerative
Züge im Krankheitsbild vorfinden, oder die nebenbei dem chro¬
nischen Alkoholmißbrauch verfallen sind, am meisten Gefahr
laufen, bestraft zu werden. Dies ergibt sich sehr deutlich aus
der folgenden kleinen Statistik.
Unter 196 Kriminellen befanden sich 33 Schwachsinnige,
dav^on 3 Frauen, 30 Männer. Von diesen waren 18 wegen des De¬
liktes, das ihre Begutachtung zur Folge hatte, freigesprochen
worden. 15 wurden nach Begutachtung bestraft.
Unter den Freigesprochenen befanden sich mehrere, welche
vorher wegen ähnlicher Delikte (Diebstähle, Sittlichkeitsver¬
brechen) einige Male bestraft worden waren, ehe von der Ver¬
teidigung das Vorliegen des § 51 Str.G.B., behauptet wurde. Sie¬
benmal erfolgte die I'reisprechung, weil der Schwachsinnige im
Der Schwachsinn.
743
akuten schweren Rausch gehandelt hatte. In vier weiteren Fällen
lag eine Kombination von chronischem Alkoholismus mit an¬
geborenem Schwachsinn vor. In einem Falle bestanden neben der
Imbezillität auch epileptoide Züge. Bei drei weiteren Kranken
fanden sich neben dem Schwachsinn auch hysterische Symptome.
An erster Stelle stehen die Eigentumsdelikte (Diebstahl, und
zwar vorwiegend in der Form des Einbruchsdiebstahls, ferner
Betrügereien und Unterschlagungen) mit 17 Fällen. Wegen Roh-
heitsverbrechen wurde 10 mal Anklage erhoben. Darunter be¬
fand sich ein Mord, ein Totschlag des eigenen Mannes, eine Mi߬
handlung der eigenen Mutter. An dritter Stelle sind die Sitt¬
lichkeitsdelikte zu erwähnen (12 Fälle)._ Meist waren es Not¬
zuchtsversuche, ferner mehrfach Blutschande, daneben homo¬
sexuelle Akte usw.
In zwei Fällen kamen wiederholte Brandstiftungen vor.
Kleinere Delikte wie Betteleien usw. gaben nur selten Veran¬
lassung zur Aufnahme in die Anstalt.
Bei den höheren Graden des Schwachsinns macht die ge¬
richtsärztliche Beurteilung keine Schwierigkeiten.
Welche Punkte dabei besonders zu berücksichtigen sind, geht aus
den Ausführungen über Vorgeschichte und Urteilsprüfung her¬
vor. —
Ein Fall von hochgradigem Schwachsinn ist der folgende:
H. K., geb. 26. Oktober 1861. Mehrfache Brandstiftungen. Hoch¬
gradiger Schwachsinn, Freisprechung.
Aus der Vorgeschichte war nur zu ermitteln, daß K. in seinem
Dorfe im allgemeinen für geistig nicht gesund galt. Einigen Zeugen
hatte er stets den Eindruck eines Blödsinnigen gemacht; viele hatten
sich im Dorf über ihn lustig gemacht. Über seine Arbeitsleistungen sagte
ein anderer Zeuge aus, daß er einfache Arbeiten, wenn man ihn an¬
stellte, ganz gut auszuführen vermochte; doch konnte er nichts selb¬
ständig machen.
Wenn man ihm Arbeit gab und ihn beaufsichtigte, tat er sie, gab
man ihm keine, so lief er weg und trieb sich umher. Er wurde vielfach
auch der tolle Hubert genannt.
Bei einer Erbauseinandersetzung war er nicht fähig, seine An¬
sprüche selbst zu vertreten, sondern ihm mußte ein Pfleger beigegeben
werden, der seine Rechte wahrte.
K. hat im Laufe der letzten 20 Jahre mehrfach Brandstiftungen be¬
gangen. Bei einer derselben wurde er begutachtet, bei den übrigen ein¬
fach in die Anstalt zurückgebracht. Als er nach einer seiner letzten
Brandstiftungen der Anstalt wieder zugeführt wurde, fragte ihn der Ver¬
fasser, warum er denn die Scheune in Brand gesteckt habe, worauf er
744
Der Schwachsinn.
lächelnd die Antwort hervorbrachte; „Weil ihn so gefroren habe.“ (Es
war im September.)
Bei seinen Vernehmungen war das Bild immer dasselbe. Er er¬
schien einfältig lächelnd und behielt dieses Lächeln auch dann bei,
wenn von den ernstesten Dingen gesprochen wurde. Seine Bewegun¬
gen waren unbeholfen, die Haltung dem Ernst der Situation nicht an¬
gemessen. Die Sprache war undeutlich, das Benehmen verlegen, mit¬
unter kindlich vertraulich. Fragen, die nicht in allereinfachster Form
gestellt wurden, vermochte er nicht zu beantworten. Es zeigte sich,
daß er bei kleinen Rechenaufgaben vollkommen versagte. Über seine
häuslichen Verhältnisse vermochte er kaum irgendwelche Auskunft zu
erteilen; obwohl er die Schule besucht hatte, konnte er nicht lesen,
nicht einmal seinen Namen schreiben. Die Qeldmünzen kannte er nur
zum kleinen Teil.
Daß er sich selbst dem Leben gegenüber unsicher fühlte, geht
daraus hervor, daß er wenige Tage nach einer Entlassung aus der An¬
stalt selbst zurückkehrte und flehentlich bat, man möchte ihn wieder
aufnehmen. In der Anstalt war er nur zu ganz einfachen Arbeiten zu
verwenden und auch die verrichtete er nur, wenn er genügend beauf¬
sichtigt war. Im übrigen drehte sich sein ganzes Denken und Trachten
um Essen, Trinken, Schlafen und Rauchen. Wenn er nach diesen Rich¬
tungen hin versorgt war, ging ihm nichts ab und er fühlte sich äußerst
wohl. Einige Male entwich er, war aber jedesmal sehr zufrieden, wenn
er wieder zurückgebracht worden war.
Nachträgliche Ermittelungen ergaben, daß der Vater ein sonder¬
barer Mensch gewesen sein soll, daß auch mehrere Geschwister des
Patienten nicht als vollwertig galten.
Das Gericht schloß sich,dem Gutachten des Gerichtsarztes ohne
weiteres an und sprach den Patienten frei. Im Jahre 1902 wurde K.
außerdem entmündigt.
Eine Mischung von Schwachsinn und degenerativen Zügen
stellte der folgende Fall dar.
W. D. geb. 22. März 1883. Metzgergeselle.
Vater an amyotropischer Lateralsklerose gestorben. Ein Bruder
und eine Schwester des Vaters waren geisteskrank. Über die Kindheit
des Patienten ist nichts wesentliches bekannt. Er hat vom 9. bis
16. Lebensjahre eine höhere Schule besucht und soll angeblich gut ge¬
lernt haben. Das einjährige Zeugnis hat er nicht erreicht, wurde viel¬
mehr wegen dummer Streiche aus der Schule entlassen. Darauf
Metzgerlehrling im väterlichen Geschäft. Seit Februar 1900 arbeitete
er nicht mehr, las Tag und Nacht, war oft erregt. Mehrfach lief er von
Hause fort, vermietete sich als Fuhrknecht, verkaufte Gegenstände, die
ihm gehörten, zu Schleuderpreisen und trieb sich umher.
Nachdem er in verschiedenen Städten längere Zeit umher vaga¬
bundiert war, kam er in die Provinzialheilanstalt B. Hier mehrfach Er¬
regungszustände, bramabasierendes Wiesen, Neigung zu phantastischem
Lügen, völlige Unfähigkeit, sich in die Hausordnung zu fügen, Neigung
Der Schwachsinn.
745
zum Metzen und zur Uiibotmäßigkeit. Wenn ihm etwas verweigert
wurde, reagierte er stets mit heftigen Erregungszuständen. Zeitweise
Nahrungsverweigerung, einmal Selbstmordversuch. Für sein Verhalten
stets völlig uneinsichtig.
Nach einiger Zeit entwich er aus der Anstalt und begab sich zu
seinen Eltern, versprach dort das Beste, wollte sich wieder beschäftigen
und sich den Wünschen seiner Eltern fügen, begann aber sofort wieder
sein altes Leben, vagierte umher, arbeitete nicht, trat anspruchsvoll
auf, schimpfte und skandalierte.
In der ganzen Zeit bis jetzt ist D. in Anstalten, in Gefängnissen
oder auf der Landstraße gewesen; er hat sich nie einen Beruf zu
schaffen vermocht, bestahl seine eigenen Eltern, erbrach dabei ver¬
schlossene Behälter oder schlug dieselben entzwei.
Einmal schnitt er ohne Grund einer Kuh den Schwanz ab.
Ausgesprochene Neigung zum Vagabundieren. Auf seinen Fahrten
war er in München, Hamburg, Berlin, Bonn, Köln, in verschiedenen
anderen Städten des Rheinlandes, Frankfurt a. M. usw., teils ohne Stel¬
lung, teils vorübergehend beschäftigt. Bald arbeitete er als Knecht
oder Kutscher, bald bei Schaubudenbesitzern als Gehilfe, oder er bettelte
und stahl; nirgends hielt er es lange aus, entweder weil er nicht recht
arbeiten wollte, oder weil er durch sein hochfahrendes Wesen, sein
Renommieren, seine Grobheit und Roheit nirgends behalten wurde.
Auf Alkohol reagierte er stets mit lebhaften Erregungszuständen.
Vielfach vorbestraft wegen Widerstand, Körperverletzung, Diebstahl,
Betrug, Unterschlagung usw. Nachdem er einige Male in Anstalten zur
Beobachtung gewesen war, pflegte er bei seinen späteren Straftaten
selbst darauf hinzuweisen und seine Unzurechnungsfähigkeit zu behaupten.
Es erfolgte deshalb wiederholt Beobachtung gemäß § 81 Str.P.O., so z. B.
im Jahre 1901. Damals hatte er einen Kunden seines Vaters um 500 Mk.
betrogen und außerdem einem Dienstmädchen ein Portemonnaie mit
Inhalt gestohlen. Den ersteren Vorfall stellte er selbst nachher folgender¬
maßen dar: Er sei an dem fraglichen Tage zufällig vor dem Hause des
Herrn H. gewesen. Er wurde nun von diesem gefragt, ob er das Geld
für seinen Vater annehmen wolle. Mit dem erhaltenen Scheck sei er
nach Bonn gefahren, um den Rechtsanwalt seines Vaters zu benach¬
richtigen, damit die Klage gegen H. zurückgenommen würde. Zuerst
habe er in der Westdeutschen Bank einmal Zusehen wollen, ob man
ihm das Geld auszahle. Auf dem Wege zum Rechtsanwalt sei er dann
am Bahnhof vorbeigekommen, da sei ihm der Gedanke durch den Kopf
gegangen, mit dem Gelde eine Reise zu machen. Seine Eltern hätten
ihm ja lange kein Geld gegeben. Er sei deshalb sofort nach Köln und
von dort nach Belgien gefahren. Als er dort hörte, daß er steckbrief¬
lich verfolgt würde, habe er sich sofort nach Herbesthal begeben und
sich dort gestellt, ln Wirklichkeit traf letzteres nicht zu. Er war
vielmehr aus Belgien abgeschoben und nach Deutschland überführt
worden.
Während der Anstaltsbeobachtung war er froh und guter Dinge,
machte sich über seine Lage nicht die geringste Sorge; ihm könne ja
746
Der Schwachsinn.
nicht viel passieren, zu bereuen habe er nichts, er habe ja nur das
Vermögen seiner Eltern geschädigt. Das Ganze sei doch im letzten
Grunde ein lustiger Streich, den er infolgedessen auch lachend immer
wieder erzählte. Daß er selbst seine Beobachtung in der Anstalt be¬
antragt hatte, bestritt er später. Seiner Mutter gegenüber ist er un¬
befangen, äußert nur viele M'ünsche und zwar in einem Tone, als wenn
nichts vorgefallen wäre. Zu einer Beschäftigung ist er nicht zu bringen.
In die Hausordnung fügt er sich grundsätzlich nicht und fühlt sich un¬
richtig behandelt, wenn ihm seine Verstöße vorgehalten werden. Die
körperliche Untersuchung ergibt zahlreiche Degenerationszeichen, Un¬
gleichheit der Eazialisinnervation. Psychisch zeitlich und örtlich orien¬
tiert, rechnet leidlich, starke Überschätzung der eigenen Persönlichkeit,
geziertes Wesen, kleidet sich auffallend, drängt sich in übler Weise an
den Arzt heran, behauptet alle möglichen Kenntnisse, z. B. der franzö¬
sischen und englischen Sprache zu haben. In Wirklichkeit beschränken
sich dieselben auf einige wenige Brocken; beschönigt seine ganze Ver¬
gangenheit. Trotz höherer Schulbildung schreibt Pat. unorthographisch;
der Satzbau ist unklar und schwülstig; vielfach sind es gar keine vollstän¬
digen Sätze, die er vorbringt. Von seiner sonstigen früheren Schulbildung
weiß er nicht mehr viel. Das meiste, namentlich soweit es die Sprachen
anlangt, hat er vergessen. Das Urteil über seine eigenen Leistungen und
sein früheres Verhalten ist geradezu kindlich. Er hält sich für einen
außerordentlich klugen, schönen, befähigten, eleganten Menschen, der
auf andere infolgedessen mit Recht herabsehen kann, die Ärzte behandelt
er entweder plump vertraulich oder anmaßend. Noch mehr tritt das den
Pflegern gegenüber hervor. Er verlangt für sich allerlei Rechte, die
keinem anderen gewährt werden und reagiert mit heftigen Erregungs¬
zuständen, wenn seinen Forderungen nicht entsprochen wird. Wenn
er sich selbst gegen die Hausordnung vergeht, was täglich mehrere Male
geschieht, völlig uneinsichtjg, schiebt die Schuld entweder anderen zu
oder sucht in ganz schwachsinniger Weise sein Verhalten zu motivieren,
hänselt andere Kranke. Wenn irgend etwas Besonderes auf der Ab¬
teilung passiert, drängt er sich vor und führt das große Wort, hilft
anderen Kranken bei Durchstechereien und Entweichungsversuchen, ist
selbst aus der Anstalt wiederholt entwichen. Feige, wenn er sich
einem Überlegeneren gegenüber sieht, anmaßend und roh, wenn er der
Stärkere zu sein glaubt.
War allein in der Anstalt B. siebenmal, außerdem in verschiedenen
anderen Irrenkliniken und Anstalten. Seit November 1902 entmündigt.
Wegen seiner strafbaren Handlungen ist er bis jetzt stets verurteilt
worden.
Daß es sich nicht bloß um einen Degenerierten handelt,
sondern daß der Mann auch zweifellos schwachsinnig ist, wird
durch seine hochgradige Urteilsschwäche, welche sich nicht nur
auf seine eigenen Handlungen bezieht, sondern ganz allgemein
ist, und durch die bei seiner Vorbildung unverhältnismäßig ge-
Der Schwachsinn.
747
ringen Kenntnisse bewiesen. Der Patient hat eine höhere Schule
viele Jahre hindurch besucht und war trotzdem außerstande,
orthographisch richtig und in geschlossenen Sätzen zu schrei¬
ben ! —
Ein Fall, in dem degenerative Züge eine geringere Rolle spiel¬
ten, wo es sich um einen ruhigen Schwachsinnigen handelte,
der aber für sein Tun völlig einsichtslos war, ist der folgende.
K. M., Gymnasiast, geh. 17. Dezember 1881. Diebstahl zweier
Fahrräder, Schwachsinn, Freispruch.
Großvater der Mutter geisteskrank gewesen, Bruder der Mutter
gleichfalls geisteskrank. Vater der Mutter rückenmarkleidend. Die
Geburt des Patienten selbst war ungewöhnlich schwer, das Kind war
übertragen. Bis zum 5. Jahre Bettnässen. Mit 5 Jahren Sturz über
das Treppengeländer. Kopfverletzung. Im sechsten Lebensjahr Gehirn¬
erschütterung und Armbruch, mehrstündige Bewußtlosigkeit.
Ein dritter Sturz auf dem Eise, danach Bewußtlosigkeit und Er¬
brechen.
Auf der Schule schlecht gelernt, zweimal sitzen geblieben. Es
fehlte ihm an Aufmerksamkeit und Ausdauer. Mathematik lernte er
sehr schwer, Geographie überhaupt nicht. Immer gleichmäßig heiterer
Stimmung; auch wenn er ernstlich zur Rede gestellt wurde, blieb
er lustig, faßte alles komisch auf. Mitunter auch reizbar und auf¬
geregt. Die Schwächen seiner Lehrer erkannte er sehr leicht und
wußte dieselben gut nachzumachen. Schon in den ersten Schuljahren
machte er gelegentlich Angriffe auf Sparbüchsen seiner Geschwister und
nahm loses Geld daraus. Einige Jahre vor dem in Rede stehenden
Delikt räumte er seiner Mutter den Bücherschrank halb aus und ver¬
kaufte die Bücher. Zur Rede gestellt, gab er die Tat sofort zu; eine
Tracht Prügel mit der Reitpeitsche hatte nicht den geringsten Erfolg.
Mehrfach hatte er auch Briefe an begüterte Personen mit falscher
Unterschrift gerichtet, in denen er für Andere Geld und ähnliches er¬
bettelte. Einmal hatte er einen Bericht für eine große Zeitung gemacht,
in dem der Überfall einer Dame und deren Rettung geschildert war,
ohne daß an der ganzen Geschichte ein Wort wahr war. Eine Zeitlang
soll er auch anfallsweisc Kopfschmerzen mit Müdigkeitsgefühl und Er¬
schwerung des Gehens gehabt haben.
Die zwei ihm zur Last gelegten Fahrraddiebstähle gab er zu, war
aber völlig einsichtios, betrachtete den Anstaltsaufenthalt als Ver¬
gnügungsreise und freute sich, „jetzt mal einige Irre zu sehen“. An die
Tragweite seiner Handlung denkt er nicht. Was ihm plötzlich einfalle,
das tue er. Er sei Augenblicksmensch. Eine Intelligenzprüfung ergibt;
Einfache Rechenaufgaben werden im allgemeinen gut gelöst. Obwohl er
das Rechnen mit Logarithmen gelernt hat, kann er weder einen Logarith¬
mus definieren noch solche Rechnungen ausführen. Fragen aus der
vaterländischen Geschichte beantwortet er sämtlich falsch. So verlegt
er z. B. den 30jährigen Krieg in das Jahr 1718—48. Übersetzung leichter
748
Der Schwachsinn.
sprachlicher Texte, die er schon in der Schule gehabt hat, gehen nicht.
Einfache Dinge, wie das erste Gebot, weiß er auch nicht. Dazu aus¬
gesprochen albernes Benehmen, zeitweise anmaßend. Neckt die Kran¬
ken, macht ihre Sprache nach; stellt ihnen ein Bein, daß sie hinfallen.
Hetzt die Pfleger hin und her und bereitet ihnen auf alle Weise Un¬
gelegenheiten. Zur Rede gestellt sagt er, die wären dazu da, das zu
tun, was man von ihnen verlangte. Körperlich ohne Besonderheiten.
Das Wesentliche an diesem Falle ist die vollkommene Ein¬
sichtslosigkeit des Kranken und die Mangelhaftigkeit seines
Wissens. Dazu kommt eine Neigung zum phantastischen Lügen
und zum Hetzen, überhaupt im allgemeinen eine rudimentäre
Entwickelung der ethischen Gefühle. Der Patient wurde auf
Grund des Gutachtens, welches die hiesige Anstalt erstattete, frei-
gesprochen. Was aus ihm später geworden ist, vermochten wir
nicht zu ermitteln. —
Es ist bereits oben ausgeführt worden, daß Schwachsinnige
häufig auch alkoholintolerant sind und sich in der Trunkenheit
zu schweren Delikten hinreißen lassen. Ein typischer Fall dieser
Art ist der folgende.
A. M., geb. 1. Dezember 1889. Vater und Mutter geistig gesund,
ein Bruder und eine Schwester sind ungeraten. Patient selbst war
stets willig, aber schwer von Begriff und unselbständig, hatte ein ver¬
schlossenes Wesen und wurde als dumm bezeichnet. Auf der Schule
arbeitete er unregelmäßig, bummelte viel, führte sich schlecht. Schon
als Schüler zog er einmal das Messer und wurde gewalttätig. Als
junger Bursche einmal wegen Diebstahls mit 5 Tagen Gefängnis be¬
straft. Nach der Schulzeit in die Lehre. Hier mangelhafte Leistungen.
Er begann zu trinken. Der Vater sagte aus, daß er sich im Trünke
wie toll benommen habe. Mehrfach habe er auch mit Selbstmord
gedroht. Am 25. März 1909 schoß er auf die Prostituierte S. mit
einem Revolver, so daß sie an der Verletzung starb. Er war mit ihr
vormittags zusammengewesen und glaubte, sie habe ihm Geld entwendet.
Um dieses Geld zurückzuverlarigen ging er zu ihr, traf sie aber nicht
an. Nachmittags, nachdem er den ganzen Tag über viel getrunken
hatte, ging er nochmals zu ihr und schoß auf sie. Den Revolver hatte
er sich am gleichen Tage gekauft.
Während der Anstaltsbeobachtung teilnahmslos und gleichgültig.
Neigung zu Fluchtversuchen; einmal verbog er das Fenstergitter in der
oberen Etage des Hauses, sprang aus dem Fenster und entwich, wurde
aber sehr bald zurückgebracht. Zeitweise aufsässig gegen das Per¬
sonal, Neigung zu Differenzen mit anderen Kranken, keine Sinnes¬
täuschungen, Wahnideen oder Bewußtseinstrübungen. Einfache Rechen¬
aufgaben werden falsch gelöst, z. B. 12-f 12 = 39,-84 — 25 = 69,
— k Zinsrechnungen unmöglich. Die Aufforderung, die
Monatsnamen rückwärts zu nennen, konnte er nur unvollständig aus-
Der Schwachsinn.
749
führen. Bis 80 rückwärts zählen ging nicht. Die Tage der Woche,
die Monate, die zehn Gebote weiß er auch nicht. Als blauptgebirge von
Deutschland nennt er das Siebengebirge, Deutschland ist ein Königreich,
andere Königreiche kennt er nicht. Sonstige geographische und einfache
geschichtliche Fragen bleiben unbeantwortet. Seine schriftlichen Äuße¬
rungen sind durchaus unorthographisch und unvollständig im Satzbau.
Für seine Lage völlig einsichtlos. So schreibt er z. B. nach einer
Entweichung an die Eltern kein Wort der Entschuldigung, sondern
schreibt als einziges: „Hoffentlich ist Vater gut nach Hause gekommen!“
(der ihn hierher gebracht hatte) und fügt dann gleichzeitig zahlreiche
Wünsche hinzu. Von früheren Lehrern und Vorgesetzten wurde er als
teilnahmslos, faul, schlecht lernend, geistig abwesend, schlecht veranlagt
bezeichnet. Langsame Verarbeitung der aufgenommenen Eindrücke, im
sprachlichen Ausdruck unbeholfen, bringt kaum einen Satz zu Ende,
weiß oft die einfachsten Dinge des täglichen Lebens nicht.
Über die Zeit der Tat wurde folgendes ermittelt. M. war morgens
mit einer gewissen Summe Geldes nach T. gekommen, um sich einen
Hut zu kaufen. Da es noch sehr früh war, begann er zu trinken, kaufte
dann den Hut, begab sich darauf in ein Lokal, in dem Prostituierte ver¬
kehrten. Dort lernte er die S. kennen. Er ging mit ihr mit, kehrte dann
in das Lokal zurück, wo sie ihn nach einiger Zeit verließ. Später
merkte er, daß ihm ein Teil seines Geldes fehlte. Er nahm an, daß die
S. es ihm gestohlen habe, ging zu ihr hin und verlangte es zurück.
Da die S. aber zunächst nicht anwesend war, verließ er das Haus
wieder, kehrte in das Lokal zurück und trank dort weiter. Abends
kam die S. dann selbst in das Lokal. Er stellte sie zur Rede und ais
sie leugnete, daß sie ihm Geld genommen habe, schoß er auf sie. Die
Erinnerung an die Tat war lückenhaft. Auch von der Verhaftung und
der ersten Vernehmung wußte er nichts. Erst am folgenden Morgen
wachte er auf, ohne zu wissen, wo er war; er glaubte, dn einem Keller
zu sein. Auf Zeugen bei der Tat soll er einen hochgradig erregten
Eindruck gemacht haben. Die Gutachten sprachen sich dahin aus. daß
es sich um einen schwachsinnigen Menschen handele, der z. Z. der Tat
unter Alkohol gestanden habe. Es war nachgewiesen, daß er sehr viel
Alkohol im Laufe des Tages genossen hatte. Die Sachverständigen
nahmen deshalb das Vorliegen des § 51 an, das Gericht schloß sich
dieser Ansicht an.
Bei diesem Kranken hätte die Imbezillität allein kaum ge¬
nügt, die Freisprechung zu begründen. Erst das Hinzutreten der
Alkoholvergiftung machte den Kranken unzurechnungsfähig. —
Wir haben damit einige Typen des Schwachsinns kennen ge¬
lernt, wie sie gerade für strafrechtliche Gutachten von Wichtig¬
keit sind. Auch in zivilrechtlicher Beziehung ist der Schwach¬
sinn insofern von Bedeutung, als er vielfach zur Entmündigung
Anlaß gibt. Von den erwähnten 33 Fällen wurden z. B. in der
Zeit, w'ährend sie bei uns waren, 6 entmündigt.
750
Der Schwachsinn.
Der Grund liegt in ihrer außerordentlichen Unselbständig¬
keit dem Leben gegenüber, die sie nicht nur kriminell werden
läßt, sondern oft auch verhindert, ihre Angelegenheiten zu be¬
sorgen.
Wichtig ist dabei, daß der Imbezille häufig in der Außen¬
welt gar nicht als schw-achsinnig gilt. Daher kommt es, daß
sich Dutzende von Zeugen finden, die gern erbötig sind, zu
beeiden, daß eine bestimmte Person geistig absolut vollwertig
sei, während sie in Wirklichkeit ausgesprochen schwachsinnig
ist. Ein Fall dieser Art ist der folgende.
Am 10. Februar 1911 wurde der hiesigen Klinik die J. S. von einer
Frau zugefUhrt mit dem Bemerken, der ganze Ort sei in Aufregung, daß
die S. entmündigt werden solle. Das geschehe nur, damit die Schw^estern
der Patientin sich des Vermögens bemächtigen könnten. Viele Bürger
von W. seien der Meinung, daß die S. geistig gesund sei und hätten dies
durch Unterschrift bezeugt. Die Begleiterin wies dabei einen 25 bis
30 Unterschriften enthaltenden Bogen vor, auf dem Schuster, Schreiner,
Nachtwächter und einige Bauern bescheinigten, daß die S. „ganz ge¬
sund sei und ihr Vermögen selbst verw'alten könne“.
Wir versprachen, die S, zu untersuchen und falls sie wirklich
geistesgesund sei, ein entsprechendes Attest auszustellen. Letzteres
unterblieb nach einer fünftägigen Beobachtung, weil auch wir zu der
Überzeugung gekommen waren, daß sie geistesschwach im Sinne des
§ 6 des B.Q.B. sei. Wir teilten ihr dies mit. Anscheinend hat sie
unsere Mitteilung gar nicht verstanden, denn unter dem 22. Februar 1913
wurde trotzdem vom Königl. Amtsgericht W. ein Gutachten über den
Geisteszustand der S. erfordert.
Über ihre Vorgeschichte konnte sie wenig angeben. Sie war nie
aus ihrem Dorfe herausgekommen, hatte immer in der Ackerw'irtschaft
der Eltern geholfen und diese hatten für sie gesorgt. Vor einiger Zeit
waren nun die Eltern gestorben und Patientin hatte einen „Vormund“
bekommen. Jetzt wolle sie heiraten. Zur Vormundschaft oder Pfleg¬
schaft (w'as von beiden es sei, wisse sie nicht genau) habe sie seinerzeit
ihre Zustimmung gegeben. In der Schule habe sie stets schlecht gelernt,
besonders sei ihr das Rechnen schwer gew'esen.
Eine Intelligenzprüfung ergab die Richtigkeit dieser Angabe voll¬
ständig. 3-1-4 = 8, 3X5 = 6, 2-1-3 = 6, 4—3 = 9. Hauptstadt von
Deutschland Preußen. Andere Städte von Deutschland behauptet sie in
der Schule nie gelernt zu haben, soweit wären sie nie gekommen. Als
Datum gab sie den 13. Februar 1819 an. Kleine Münzen konnte sie nicht
zusammenzahlen. Auf die Frage, wieviel sie auf 50 Pfennig heraus¬
bekäme, wenn sie für 23 Pfennig Zucker kaufe, antwortete sie: 24 Pfennig.
Lesen konnte sie kaum. Obwohl sie an dieser Untersuchung am meisten
interessiert war, wußte sie nicht einmal wie der Ort hieß, in dem sie sich
befand. Schreiben ganz mangelhaft. Den Preis eines Pfundes Kartoffeln
Der Schwachsinn. 751
gab sie mit einer Mark an. 1 Liter Milch kostet 11 Pfennig, ein Ei
20 Pfennig, 1 Pfund Butter eine Mark. Unterschiedsfragen verstand sie
nicht. Uber die Bedeutung der Entmündigung war sie sich vollkommen
im unklaren. Die Größe des eigenen Besitzes, dessen Wert und dessen
Erträgnisse kannte sie nicht. Auf die Frage, wieviel sie jährlich zu ver¬
zehren habe, antwortet sie erst gar nicht, schließlich sagte sie 10 Mark.
Auf die Frage, wieviel Zinsen sie bei von 1000 Mark erhalte, ant¬
wortet sie: 200 Mark.
Im übrigen während der ganzen Beobachtung unbeholfen, lächelt
schwachsinnig oder verlegen, hat gar kein Verständnis für die Situation,
in der sie sich befindet. Bei einer klinischen Demonstration spricht sie
fortwährend freundlich lächelnd in den Vortrag des Dozenten hinein und
läßt dabei deutlich erkennen, daß sie von dem Gesagten nichts verstanden
hat. Bei der Entlassung bedankt sie sich für die Untersuchung. Obwohl
ihr in Gegenwart mehrere Zeugen eindringlich gesagt wird, daß sie
schwachsinnig sei und der Entmündigung bedürfe, kehrt sie sehr ver¬
gnügt in ihre Heimat zurück und gibt dem Gericht an, man habe ihr ver¬
sprochen, ihr ein Gesundheitsattest auszustellen.
Der zuständige Kreisarzt hatte sie schon vorher in einem ausführ¬
lichen und sachlich wohibegründeten Gutachten für schwachsinnig und
geistesschwach im Sinne des Gesetzes erklärt.
Nach unserer Ansicht war es ein ganz einfacher Fall, über dessen
EntmUndigungsreife kein Wort zu verlieren war. Das Gericht hat mit
Rücksicht auf die Aufregung, die sich der Bevölkerung bemächtigt hatte,
ein weiteres Gutachten von einer anderen Klinik eingeholt. —
Bei Schwachsinnigen ist die Frage der Entmündigung ab¬
hängig zu machen von der Größe des geistigen Besitzstandes,
besonders von der Urteilsfähigkeit, ferner von ev. unsozialen
Eigenschaften, daneben aber auch von der Größe des Interessen¬
kreises des Kranken. Wenn in dem eben beschriebenen Falle
kein Vermögen vorhanden gewesen wäre, so würde die Kranke
die einfachen ländlichen Arbeiten, welche sie bisher verrichtet
hatte und mit denen sie wohl soviel verdiente, um ihren
Lebensunterhalt in einfachster Form zu bestreiten, ruhig haben
weiter verrichten können und es hätte einer Entmündigung
nicht bedurft. Da sie aber im Besitze von Vermögen war,
das von dritten Personen verwaltet wurde, da sie außerdem Hei¬
ratsgedanken hatte, ihre anderweitige Unterbringung infolge der
Differenzen mit der eigenen Familie wohl auch notwendig wurde,
war ihr ein Kreis von „Angelegenheiten“ erwachsen, der so
groß war, daß sie ihn nicht mehr zu übersehen und auch nicht zu
besorgen vermochte. Somit bedurfte sie dringend eines Vor¬
mundes.
752 Alkoholpsychosen.
Für gewöhnlich wird die Entmündigung wegen Geistes¬
schwäche in solchen Fällen genügen, da sie dem Kranken eher
die Möglichkeit bietet, die vorhandenen Kenntnisse und Fähig¬
keiten auszunutzen, als die Entmündigung wegen Geistes¬
krankheit.
Bei der Beurteilung der Frage der Geschäftsfähig¬
keit im konkreten Falle wird man erstens zu erwägen haben,
ob die intellektuellen Fähigkeiten des Patienten ausreichen, ihn
die ganze Tragweite des Rechtsgeschäftes, welches er abge¬
schlossen hatte, erkennen zu lassen. Daneben aber wird unter Um¬
ständen zu erwägen sein, wie weit die Unselbständigkeit und die
Suggestibilität des Schwachsinnigen sein Handeln beeinflußte.
Als Grund zur Anfechtung einer Ehe wird der
Schwachsinn aus dem Grunde wohl nur ganz selten in Betracht
kommen, weil er in den meisten Fällen, da, wo er ausgesprochen
ist, auch deutlich für einen Laien erkennbar ist. —
Zu erwähnen bleibt in klinischer und forensischer Beziehung
schließlich noch, daß im Anschluß an Kopfverletzungen und In¬
fektionskrankheiten auch im späteren Leben Schwachsinnszu¬
stände entstehen können, die sich von den angeborenen oft
schwer unterscheiden lassen.
So haben wir z. B. zweimal nach Typhus Halbseitenlähmun¬
gen und eine Abnahme der geistigen Fähigkeiten beobachtet.
Unter den zahlreichen Unfallverletzten, welche in unsere Klinik
zur Begutachtung eingewiesen wurden, fanden sich gleichfalls
nicht selten solche, welche nach einem schweren, oft mit direkter
Verletzung des Gehirns einhergehenden Betriebsunfall schwach¬
sinnig geworden waren.
Häufig ist bei diesen Fällen gerade die Alkoholintoleranz
sehr stark ausgesprochen. Dazu gesellt sich eine schwere Reiz¬
barkeit, zwei Momente, die den Patienten ganz besonders zu
Affektverbrechen disponieren.
Alkoholpsyclioseii.
Zu den wichtigsten Ursachen der Kriminalität gehört der
Alkohol. Dadurch, daß er Hemmungen beseitigt und motorische
0 Dieselben werden im Gegensatz zur Imbezillität und Idiotie als
Demenz bezeichnet.
Alkoholpsychosen.
753
Entladungen begünstigt, führt er zu Körperverletzungen, Wider¬
standsleistungen, Beleidigungen und Sittlichkeitsdelikten. Der
chronische Mißbrauch wiederum läßt das Individuum entarten und
bewirkt seinen und seiner Familie sozialen Niedergang. —
Es gibt Menschen, die trotz jahre- und jahrzehntelangen, regel¬
mäßigen und beträchtlichen Alkoholgenusses sozial keinen nennens¬
werten Schaden erleiden. Andererseits kommt es vor, daß ein
einzelner Alkoholexzeß bei einem disponierten Individuum schwere
psychische Krankheitserscheinungen hervorruft (pathologischer
Rausch), die zwar rasch wieder schwinden, aber den Kranken
während ihres Bestehens leicht zu Gesetzesübertretungen bringen.
Der chronische Alkoholgenuß löst entweder langsam sich ent¬
wickelnde Veränderungen (Eifersuchtswahn, Charakterdegene¬
ration) oder akut auftretende Psychosen (Delirium, Alkohol-
halluzinose) aus, die gleichfalls dadurch gekennzeichnet sind, daß
sic den Patienten strafrechtlich stark gefährden. —
Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die a 1 k o h o 1 -
intolerant sind, d. h. bei ihnen bewirkt unter Umständen
schon eine verhältnismäßig kleine Menge Alkohol eine schwere
psychische Veränderung. Zu den dauernd Alkoholintoleranten
gehören manche Schwachsinnige, Hysterische, Degenerierte und
namentlich Epileptiker. Innerhalb weiter Grenzen schwankt
die Toleranz gegen Alkohol bei den leichteren Formen des
manisch-depressiven Irreseins (Zyklothymie).
Daneben gibt es Fälle, in denen die i\lkoholintoleranz keine
dauernde Erscheinung ist, sondern nach Einwirkung gewisser
äußerer Schädigungen auftritt, z. B. nach schweren Infektions¬
krankheiten und nach Kopfverletzungen. So habe ich z. B.
Studenten, die auf Säbelmensuren schwere Kopfverletzungen mit
Knochensplitter erhielten, später ausgesprochen alkoholintolerant
werden sehen. Dasselbe beobachtete ich bei einem Offizier, der
vom Pferde gestürzt und auf den Kopf gefallen war.
Mitunter vereinigen sich eine Reihe von Faktoren, um vor¬
übergehende Alkoholintoleranz zu erzeugen. Dies war z. B. bei
einem der im Kap. Tropenkoller beschriebenen Patienten der Fall.
Die bedenkliche Folge der Alkoholintoleranz besteht darin,
daß der Intolerante mit schweren Erregungszuständen oder Be¬
wußtseinstrübungen auf den Alkohol reagiert.
Sein Rausch ist somit kein normaler, sondern ein krank-
Hübner, Forensieebo Psychiatrie. 43
754
Alkoholpsychosen.
hafter') (pathologischer Rausch, atypischer Rausch, pathologische
Alkoholrcaktion).
Bisweilen besteht bei den Alkoholintoleranten eine aus¬
gesprochene Abneigung gegen alkoholische Getränke, die erst
überwunden werden muß, deren sie sich auch durchaus bewußt
sind. Haben sie aber erst einmal etwas getrunken, dann können
sie nachher nicht Maß halten und so kommt es zu den krank¬
haften Reaktionen. —
Der pathologische Rausch’) kann in seltenen Fällen
plötzlich einsetzen. Häufiger entwickelt er sich allmählich aus
der einfachen Betrunkenheit heraus. Es kommt dann zu einer
Änderung des Bewußtseinszustandes, die mit einer ängstlichen
oder zornmütigen Erregung verbunden, oder durch Sinnes¬
täuschungen und Wahnideen gekennzeichnet ist. Mitunter handelt
es sich nur um eine Beeinträchtigung des Wahrnehmungs-
*) Kutner, Med. Klinik 1908, S. 1369. Jahrmärker, Monatsschr. f.
Kriminalpsych. 1908. Landsberger, Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1909, Leh-
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bei Heeresangehörigen. Klinik f. Psych. u. Nervenkrankh., Bd. 3. Fran-
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nalite. Arch. d’Anthropol. crimin., Bd. 27. Friedrich, Strafzumessung und
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der gericht. Psych. 1909. Kutner, Deutsche med. Wochenschr. 1904.
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1911, S. 415. A. Gramer und Vogt, Ursachen des Alkoholismus. Ref. in
Mendels Jahresber. 1911. Müller, Sammelbericht über die Jahre 1906—10.
Zeitschr. f. d. ges. Neurol. Ref. Bd. 4. Raecke, Aktengutachten über den
Geisteszustand eines inzwischen verstorbenen Alkoholikers. Vierteljahrs-
schr. f. gerichtl. Med. 1911. E. Stranski, Pseudohalluzination bei Alkoho¬
likern. Jahrb. f. Psych., Bd. 32, S. 419.
’) Alkoholintoleranz und pathologischer Rausch hängen nicht not¬
wendig miteinander zusammen. Insbesondere braucht der vom patho¬
logischen Rausch befallene Mensch nicht immer alkoholintolerant zu sein.
Alkoholpsychosen.
755
Vermögens, Es kommt dann zu einer Verkennung der Situation,
in der sich die Kranken befinden, und infolgedessen zu schweren
Gewaltakten.
Bei derjenigen Form *), bei der Sinnestäuschungen und
Wahnideen im Vordergründe des Krankheitsbildes stehen, handelt
es sich meistenteils um Zustandsbilder, die dem Delirium sehr
ähnlich sehen (delirante Rauschzustände). Massen¬
hafte Gesichtstäuschungen, zum großen Teil ängstlichen Inhalts,
treten auf, dazu auch noch, allerdings weniger zahlreich,
Gehörstäuschungen, mitunter auch Verfolgungsideen. Die Kran¬
ken finden sich in ihrer Umgebung im allgemeinen zurecht,
gelegentlich kommt es aber doch infolge gestörter Auffassung
und Wahrnehmung zu einer pathologischen Deutung einzelner
X'^orgänge. Auf affektivem Gebiete macht sich in erster Linie die
Angst geltend, welche sich vorübergehend auch mit Reizbar¬
keit verbinden kann.
Stärker ist die Angst häufig, aber nicht immer, bei
den rascher verlaufenden Fällen (epileptoider Rausch zu.
stände). Sie haben mit den epileptischen Rauschzuständen auch
noch etwas anderes gemeinsam, die auffallende Beteiligung des
Bewegungs- und Sprechapparates. Die Kranken schimpfen und
schreien, bisweilen unter Wiederholung derselben Redensarten.
Sie neigen zu Gewalttaten, die in der Situation nicht begründet
sind. Auch anfallsartige Zustände kommen vor. Auf Zuspruch
sind die Kranken völlig unzugänglich, häufig steigert sogar ein
solcher ihre Erregimg noch. Das Bewußtsein ist erheblich ge¬
trübt. Dazu kommen Verfolgungsideen.
Der Ausbruch des ganzen Zustandes kann, aber braucht
nicht immer, plötzlich erfolgen. Meist ist irgendeine äußere
V'eranlassung das auslösende Moment.
Die Störung ist besonders gefährlich, weil es darin zu den
schwersten Gewaltakten kommt. —
Für die forensische Beurteilung erschwerend wirkt der Um¬
stand, daß der epileptoide Rausch nur wenige Minuten zu dauern
braucht. Der längste, der dem Verfasser begegnet ist, dauerte
etwa eine halbe Stunde.
Der Zustand endet mit einem langen Schlaf. —
') Kommt mehr bei chronischen Alkoholisten vor. Bei schweren
chronischen Trinkern treten derartige Rauschzustände besonders in den
Abendstunden häufiger auf (Wollenberg).
iß
756
Alkoholpsychosen.
An dritter Stelle sind die alkoholischen Dämmer¬
zustände zu erwähnen. Bei ihnen ist das Wesentlichste
die Veränderung des Bewußtseins. Sinnestäuschungen und
Wahnideen, oder Störungen des Affekts spielen eine unter¬
geordnete Rolle. Sie können dabei Vorkommen, sind aber, wie
schon gesagt, von geringerer Bedeutung.
Die Patienten können sich in diesen Zuständen durchaus ge¬
ordnet benehmen, so daß sie als krank nicht auffallen. Plötz¬
lich kommt es dann zu einer aus der augenblicklichen Situation
heraus gar nicht verständlichen Handlung. Besonders beachtens¬
wert ist aber, daß in diesen Dämmerzuständen Handlungen be¬
gangen werden, welche in engem Zusammenhänge mit früher —
in gesundem Zustande — geäußerten Vorstellungen stehen. So
werden z. B. gelegentlich Drohungen gegen andere Personen
(Moeli), die früher ausgesprochen wurden, in die Tat umgesetzt.
Der Beginn dieser Zustände ist fast regelmäßig ein allmäh¬
licher. Die Kranken fallen äußerlich wenig auf, w-erden meist nur
für angetrunken gehalten. Auch nach Begehung einer Straftat
ändert sich ihr Verhalten wenig. Insbesondere braucht die
Sprache nicht lallend zu sein. Die Patienten taumeln auch nur
selten.
Der Zustand endet gleichfalls mit einem langen Schlaf. Wie
hei den epileptischen Dämmerzuständen findet man auch bei den
alkoholischen am nächsten Tage eine mehr oder minder aus¬
gesprochene Amnesie.
Wichtig ist, daß die hier vorgenommene Abgrenzung der
])athologischen Rauschzustände keine scharfe ist. Die geschilderten
Zustandsbilder können sich vielmehr innerhalb desselben Rausches
in der mannigfachsten Weise kombinieren. —
Schon aus den in früheren Kapiteln gemachten gelegentlichen
Bemerkungen und einzelnen Beispielen geht hervor, daß zu patho¬
logischen Alkoholrcaktionen gerade solche Menschen, welche zu
den Grenzzuständen gerechnet werden, besonders disponiert sind,
( 1 . h. es kommen in Betracht in erster Linie Epileptiker, ferner
Hysterische, Degenerierte, Imbezille. Besonders gefährdet sind
solche Kranke, die schwere Unfälle, vornehmlich Kopfver¬
letzungen, mit oder ohne Gehirnerschütterungen erlitten haben.
Auch die angeborene und erworbene Neurasthenie kann mit
•Mkoholintoleranz und Neigung zu ])athnlogischer Alkoholreaktion
verbunden sein.
Alkoholpsychosen.
757
Die strafrechtliche Bedeutung des pathologischen
Rausches glaube ich nicht besser demonstrieren zu können, als
durch Angaben derjenigen Delikte, welche von unseren Kranken
darin begangen worden sind. Im ganzen sind es ,12 Fälle, in
denen pathologische Räusche festgestellt wurden. Von ihnen
wurden folgende Verbrechen begangen; 2 Morde, i Totschlag,
8 schwere und gefährliche Körperverletzungen und i Not¬
zuchtsversuch.
Beispiele für pathologische Rauschzustände sind in dem
Kapitel Degeneration und Imbezillität gegeben. Wenn hier noch
ein weiterer Fall hinzugefügt wird, so geschieht es, weil er einige
Besonderheiten bietet. Es scheint nach den Zeugenaussagen, als
ob im pathologischen Rausche der Patient homosexuelle Neigungen
betätigen wollte, von denen er sonst nichts wußte.
H. C., geh. 25. September 1888. Von erblicher Belastung nichts be¬
kannt, Abiturientenexanien mit 18 Jahren, dann l'/^ Jahre kaufmännische
Lehre und praktische Tätigkeit im Geschäft des Vaters. Der Vater be¬
handelte ihn sehr streng, deshalb öfters Differenzen. Vater sehr heftiger
Mensch. Nach Beendigung der kaufmännischen Ausbildung 3 Semestei
an der technischen Hochschule in H. Dort nach Kommersen mit einem
Bekannten mutuelle Onanie. Er selbst wußte nichts davon. Als er es
erfuhr, bekam er Angst, fuhr nach Hause und berichtete es dem Vater.
Von diesem wurde er infolgedessen sehr schlecht behandelt.
Seit dem 14. oder 15. Lebensjahr Herzklopfen, damals Sturz vom
Rade.
Als er von dem mutuellen Onanieren erfuhr, sehr ängstlich und
aufgeregt, glaubte alles sei zu Ende, hielt sich für verfehmt und aus¬
gestoßen. Verließ deshalb bald das elterliche Haus und reiste nach Eng¬
land, kam aber nach 8 Tagen zurück und ging dann in ein Sanatorium.
Darauf ein Semester technische Hochschule in Zürich, wo er mit einem
Pferde stürzte. Er schlug mit der Nase auf, war kurze Zeit bewußtlos,
hatte Erbrechen und Nasenbluten, mußte über eine Woche im Bett bleiben.
Von dem Unfall selbst wußte er hinterher nichts mehr, erst daß man
ihn nach Hause gebracht hatte, war ihm bekannt. Seit jener Zeit konnte
er Alkohol nicht mehr so gut vertragen, wie vorher, bekam rasch einen
heißen Kopf. Ein Jahr später diente er, wurde befördert. Nach der Ent¬
lassung ein Jahr in Amerika, wo er sich weiter ausbildete. 1902 Rück¬
kehr ins elterliche Geschäft, in dem er 5 Jahre verblieb. Allmählich ge¬
staltete sich das Verhältnis zu dem Vater immer schlechter, es gab häufig
Streitigkeiten, in denen sein Bruder die Partei des Vaters nahm, weil
er sich von dem Patienten als zweiter Chef nicht genügend respek¬
tiert fühlte. Die Tätigkeit in der elterlichen Fabrik strengte ihn sehr an,
er wurde leicht müde und schlief bei der Arbeit ein. Deshalb im darauf¬
folgenden Sommer 6 Wochen nach der Schweiz. Nach der Rückkehr
758 Alkoholpsychosen.
konnte er besser arbeiten. Da sich aber das Verhältnis zu seinem Bruder
und seinem Vater nicht besserte, trat er aus dem Geschäft aus und wollte
sich eine andere Stellung suchen.
Februar 1908 hatte er ein Renkontre mit einem Offizier, das zu einer
Forderung führte. Die Angehörigen wollten ihn veranlassen, ins Ausland
zu flüchten, er weigerte sich aber, nahm die Forderung an, machte sie
aber von gewissen Bedingungen abhängig. Infolgedessen wurde ein
ehrengerichtliches Verfahren gegen ihn eingeleitet mit dem Erfolge, daß
er den schlichten Abschied erhielt. Seine Familie war seiner Ansicht
nach gegen ihn, ließ ihn durch Detektivs beobachten, und ihm, wie er
meinte, anonyme Drohbriefe zusenden, in denen er aufgefordert wurde,
zu flüchten, da er des Vergehens gegen § 175 St.Q.B. schuldig sei. Er
erzählt eine ganze Menge wahnhaft klingender, aber nicht nachprüfbarer
Einzelheiten, die beweisen sollten, daß seine Angehörigen ihn heimlich
beobachten ließen. Er sei infolgedessen außerordentlich mißtrauisch ge¬
worden und habe für sein Leben gefürchtet. Das ehrengerichtliche
Verfahren, das 4 Monate dauerte, regte ihn seelisch sehr auf, so daß er
viel im Bett lag, schlecht schlief und namentlich, um sich zu betäuben,
viel trank. Deshalb bekam er öfters Herzklopfen. Einmal sei er sogar
für einige Tage nach Brüssel gefahren, um den Aufregungen zu entgehen.
Dabei glaubte er die Beobachtung gemacht zu haben, daß ihm bis
Aachen ein Detektiv nachfuhr, der von den Verwandten angestiftet war.
Nach Erledigung des ehrengerichtlichen Verfahrens längerer Land¬
aufenthalt, dann begann er ein Geschäft mit einem Kompagnon zu¬
sammen, das aber nicht ging. Sehr bald nach seiner Rückkehr in die
Stadt stellten sich die alten Beschwerden ein. Inzwischen verlobte er
sich. Hiervon wollte sein Vater nichts wissen. Er verdächtigte und
verleumdete ihn deshalb angeblich dauernd bei der Familie seiner
Braut. Infolgedessen hatte Patient gegen alle ein krankhaftes Mi߬
trauen und das Gefühl, als ob jeder ihm etwas am Zeuge flicken wollte.
Nachdem er sich endlich mit seinem Vater ausgesöhnt hatte, teilte ihm
sein Schwiegervater eines Tages mit, daß die Verlobung aufgelöst sei.
Während der Verlobungszeit hatte er viel getrunken, nach der Auf¬
lösung der Verlobung noch mehr. Er hatte sich auf diese Weise be¬
täuben wollen.
Die Straftat, derentwegen er zur Beobachtung kam, war folgende:
Er hatte die ganze Nacht durchgezecht und lernte im Laufe der Nacht in
einem Cafe einen Mann Namens F. (anscheinend ein Zuhälter!) kennen,
mit dem er durch mehrere weitere Lokale zog, teils Bier, teils Sekt, teils
Kaffee trinkend. Schließlich kamen sie in das Haus der Wirtin V. Dort
verlangte F. von C. 5 Mark, die er verauslagt haben wollte; er erhielt
ein Zwanzigmarkstück, gab aber nur 10 Mark heraus. Während die beiden
Beteiligten hierüber verhandelten, traten sie in den Hof. Gleich darauf
hörte man sechs Schüsse fallen, während deren sich F. in die Ecke des
Hofes zuriiekzog. C. verließ unmittelbar danach das Haus, begann dann
allmählich zu laufen, wurde aber eiiigeholt und festgenommen.
Der getroffene F. gab an, C. habe ihm eine Halskette im Laufe der
Nacht geschenkt und ihm homosexuelle Anerbieten gemacht, auch ein
Alkoholpsychosen. 759
Zimmer mit zwei Betten in einem Hotel bestellt. Im Hausflur des Hauses
der V. sei F. mit dem C. in eine Auseinandersetzung wegen des Oeldes
geraten, dabei habe C. ihn bedroht, indem er einen Revolver zog. F. habe
nun dem C. die Hand festgehalten und zwar so, daß der Lauf nach oben
gerichtet war und zog selbst dann den Revolver. Er ließ dann den C. los
und erhielt unmittelbar danach einen Schuß in den Oberschenkel.
C. bestritt diese Aussagen, insbesondere, daß er homosexuelle Ab¬
sichten gehabt habe, und behauptete, er könne sich der Einzelheiten des
ganzen Vorfalles nicht recht entsinnen, denn er habe an jenem Abend
sehr viel getrunken. Nach den Beschreibungen mußten es etwa 3 Flaschen
Wein und mehr als 12 Kognaks gewesen sein. Der ganze Vorgang war
außerdem wenige Tage nach Aufhebung der Verlobung. Auf einige
Zeugen hat C. den Eindruck schwerer Trunkenheit gemacht, denn er tau¬
melte stark.
Aus den weiteren Ermittelungen ist nur interessant, daß durch meh¬
rere Zeugen festgestellt wurde, erstens, daß tatsächlich enorme Alkohol¬
mengen genossen worden waren, zweitens daß sich C. während des
Rausches gegenüber weiblichen Personen durchaus ablehnend verhalten,
dagegen mit dem F. sehr vertraut getan hatte. Diesen nannte er wieder¬
holt Herzchen und Liebchen und hing ihm seine Halskette um. Es konnte
auch nachgewiesen werden, daß C. versucht hatte, mit F. ein Zimmer in
einem Hotel zu bekommen. C. hatte überall einen schwer betrunkenen
Eindruck gemacht.
Die Angelegenheit, die Anlaß zu ehrengerichtlichem Einschreiten ge¬
geben hatte, war ähnlicher Natur; er hatte sich mit einem Kameraden
vergnügt, dabei viel Alkohol getrunken und versuchte nun, denselben un¬
sittlich zu berühren.
Die Familie berichtete noch, daß der Patient auf ihre Veranlassung
nie von Detektiven beobachtet worden war. Dagegen war er von Kind¬
heit an sehr reizbar und eigensinnig, dabei aber intellektuell gut begabt.
Die erste Vernehmung erfolgte 2*/j—3 Stunden nach der Verhaftung.
Um diese Zeit machte er schon wieder einen nüchternen Eindruck, wußte
aber über die Tat sehr wenig, insbesondere nicht, wo sie sich abgespielt
hatte. Im übrigen gab er an, F. hätte Geld von ihm verlangt, darum habe
er, um diesen von sich abzuwehren, einen Schreckschuß abgegeben, um
sein Leben zu schützen.
C. selbst hat zwar behauptet, sinnlos betrunken gewesen zu sein,
sich aber im übrigen für geistig gesund erklärt, und als von Seiten
seiner Familie Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit erhoben wurden,
sich dagegen ganz energisch gewehrt nud darin einen neuen Beweis für
seine Annahme, daß ihn seine Familie unschädlich machen und schika¬
nieren wolle, erblickt.
Die Untersuchung in der Anstalt ergab auf körperlichem Gebiete
eine leichte Steigerung der Sehnenreflexe, Hautnachröten, leichtes Zittern
der gespreizten Finger, im übrigen nichts Besonderes. Intelligenz intakt,
korrektes äußeres Benehmen, Patient gibt gut und sachlich Auskunft. An
der Behauptung, daß seine Angehörigen ihn durch Detektive hätten be¬
obachten lassen, hält er trotz gegenteiliger Versicherung, auch während
760
Alkoholpsychosen.
des Anstaltsaufenthaltes fest. Die Angaben über die Straftat selbst
bleiben sich gleich, eine homosexuelle Veranlagung stellte er entschieden
in Abrede. Ebenso will er dem F. keinerlei homosexuelle Anträge ge¬
macht haben. Für die Zeit der Tat selbst fehlt größtenteils die Erinnerung.
Klarer wird seine Erinnerung erst von der Zeit ab, während der er sich
auf dem Polizeibureau befand. Ein Alkoholversuch hatte den Erfolg, daß
nach einer Flasche schweren Rheinweins der Puls von 84 auf 104 Schläge
stieg, dagegen fand sich keine Änderung an den Reflexen. Das Benehmen
des Patienten blieb in jeder Hinsicht korrekt. Die Erinnerung an die
während des Experiments geführten Gespräche war am nächsten Tage
erhalten.
Im übrigen ergab die Beobachtung nur noch, daß der Patient über
anfallsweises Herzklopfen zu klagen hatte, daß dieses Herzklopfen tat¬
sächlich auch zeitweise bestand, geht daraus hervor, daß die Pulszahlen
bis zu 120 beobachtet wurden.
Das erstattete Gutachten führte aus: C. ist ein von Jugend auf ner¬
vöser Mensch. Solche Menschen sind häufig sehr mißtrauisch. Auch
der Angeklagte war dies, wie sich aus dem Verhältnis zu seiner Familie
ergibt.
Weiterhin wurde darauf hingewiesen, daß Patient einige Kopfver¬
letzungen erlitten hatte, und offenbar vor der Tat, infolge der Auflösung
der Verlobung, schweren seelischen Erregungen ausgesetzt gewesen war.
Damit waren die Vorbedingungen für einen pathologischen Rausch
durchaus gegeben.
Da der Sachverhalt nicht ganz geklärt war und die Aussagen des
Verletzten sich später in manchen Punkten widersprachen, so war nicht
mit Sicherheit zu sagen, daß ein pathologischer Rausch Vorgelegen hatte.
Sah man die Aussage des C. als richtig an, so bedurfte es zur Er¬
klärung seiner Handlung eines pathologischen Rauschzustandes nicht; C.
konnte dann annehmen, daß jener ihn bedroht hatte und er sich in Not¬
wehr befand. Zu erklären blieb allerdings, warum er so viele Schüsse
auf den F. abgegeben hatte.
Für denjenigen, der die Angaben des Verletzten seinem Urteil zu¬
grunde legte, war die Tat unverständlich. Es war ein so erheblicher
Streit, der den Angeklagten zum Schießen hätte bewegen können, nicht
vorausgegangen, so daß noch weniger Grund zu einer solchen Reaktion
vorlag, wie bei der anderen Lesart. Hinzu kam, daß C., wie erwiesen
war, eine ungeheure Menge Alkohol zu sich genommen hatte.
Unter diesen Umständen wurde das Gutachten dahin abgegeben,
daß C. ein widerstandsloser Mensch sei, bei dem möglicherweise die
freie Willensbestimmung zur Zeit der Tat ausgeschlossen, jedenfalls aber
nicht unerheblich beschränkt war. Er wurde daraufhin freigesprochen.
Wenn ich den Fall anführe, so geschieht es einmal deshalb,
weil er die großen Schwierigkeiten, die sich der Aufklärung des
Sachverhaltes nachträglich entgegenstellten, sehr deutlich zeigt;
daneben handelte es sich um einen jener Fälle, in denen homo-
Alkoholpsychosen.
761
sexuelle Neigungen anscheinend nur unter Alkohol hervortreten '),
ohne daß sich der Patient selbst dessen voll bewußt ist, und
drittens deshalb, weil das, was Gramer als Grundlage und Vor¬
bedingung eines pathologischen Rausches verlangt, in dem Falle C.
sehr ausgesprochen vorhanden war.
Gramer “) verlangt zur Diagnose des pathologischen Rausches
folgendes:
I. den Nachweis einer mehr oder weniger ausgeprägten all¬
gemeinen pathologischen Grundlage, 2. den Nachweis der be¬
sonderen schädigenden Momente, welche zu der in Betracht
kommenden Zeit eingewirkt haben und 3. den Nachweis der
pathologischen Erscheinungen im eigentlichen Zustande des patho¬
logischen Rausches.
Die pathologische Grundlage ist, wie schon oben ausgeführt
worden ist, für gewöhnlich eine Neurasthenie, eine psychopathische
Veranlagung, Epilepsie, Hysterie oder ähnliches. Im Falle G. war
es eine psychopathische Veranlagung mit neurasthenischen Er¬
scheinungen.
Als besondere schädigende Momente kommen alle körper¬
lichen und geistigen Überanstrengungen in Betracht. Unmittel¬
bar vorhergegangene Infektionskrankheiten, direkt voraufgegan¬
gener Geschlechtsverkehr, gemütliche Aufregungen, unter Um¬
ständen sogar schon plötzlicher Temperaturwechsel, auch ein
Sturz im Rausch, Wortwechsel und ähnliches mehr können als
auslösende Momente wirken.
Am schwierigsten ist für gewöhnlich, der dritten Forderung
Gramers zu genügen, nämlich der des Nachweises des patho¬
logischen Rausches. Am ehesten gelingt derselbe noch,
wenn der Sachverständige selbst die Möglichkeit hat, sämtliche
beteiligten Zeugen ganz genau auszufragen. In einigen Fällen,
in denen ich selbst Sachverständiger war, habe ich deshalb das
schriftliche Gutachten unbestimmt gelassen und mir ein definitives
Gutachten für die Hauptverhandlung Vorbehalten, zu der ich um
Ladung sämtlicher in Frage kommenden Zeugen bat. Es ist mir
mehrfach gelungen, auf diese Weise Klarheit zu verschaffen.
B Siehe auch Colla, Drei Fälle homosexueller Handlungen im
Rauschzustand. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1906.
“1 Im Lehrbuch, siehe aber auch Aschaffenburg in Hoches Handbuch.
762
Alkoholpsychosen.
Fcstzustellen ist ganz genau alles, was der Angeklagte vor
der Tat gemacht hat, wo er gewesen ist, ob sich eine plötzliche
Veränderung in seinem V'erhalten nachweisen ließ, was er ge¬
sprochen hat (Sinnestäuschungen, Verfolgungsideen?), ob er
ängstlich oder erregt war, ob seine Antworten sinngemäß waren,
ob er schwankte, welche Gesichtsfarbe er zeigte, ob an anderen
Stellen noch Differenzen vorgekommen sind, ob er unmittelbar
vor der Tat schlaftrunken erschien und ob er anfallartige Zu¬
stände dargeboten hat. Werden letztere von Zeugen angegeben,
so tut man gut, sie sich ganz genau beschreiben zu lassen, andern¬
falls sind derartige Mitteilungen mit V’orsicht zu verwerten
(Heilbronner).
Wichtig ist ferner das \'erhalten des Angeklagten bei der
Tat. Hat er dabei gesprochen, waren seine Äußerungen sinn¬
gemäß, ließ er irgendwelche Affekte erkennen? Wie war das
äußere V'erhalten? (Schwankender Gang, lallende Sprache, Ge¬
sichtsrötung, Erbrechen?) War die Handlung aus der Situation
zu erklären? Wurde sie rasch und geschickt ausgeführt, zeigt die
Art der Ausführung irgendwelche Besonderheiten? Wie verhielt
sich der Patient unmittelbar nach der Tat oder bei seiner sofort
erfolgten Verhaftung? (Erregt, schlafsüchtig, fiel an seinen Be¬
wegungen irgend etwas auf?) Sprach er über die Tat und was
sagte er? Wann, wo und wie lange schlief er danach? Was
wußte er bei der ersten Vernehmung über die Tat, wie weit stimmt
die strafbare Handlung mit seinem Verhalten im nüchternen Zu¬
stande überein?
Von den körperlichen Symptomen, die natürlich nur dann
geprüft werden können, wenn die Verhaftung bald nach der Tat
erfolgt und sofort ein Arzt hinzugezogen wird, ist in erster Linie
das Verhalten der Pupillen zu erwähnen. In einer Reihe von patho¬
logischen Rauschzuständen und sehr schweren sinnlosen Räuschen
wird träge Reaktion der Pupillen ’) beobachtet, die den patho¬
logischen Rausch selbst einige Zeit überdauern kann (Gudden,
Kuttner).
‘) Qudden, Ncurol. Zentralbl., Bd. 19, S. 1096. H. Kuttner, Med. Klinik
1908, S. 1369. Hübner, Arch. f. Psych. 1906. Margulies, Arch. f. Psych.,
Bd. 47, S. 316. Neussei, Psychologische Arbeiten, Bd. 5, S. 408. Bumke,
Pupillenstüruiigen bei Geistes- und Nervenkrankheiten. Jena. 0. Fischer.
A. Gramer, Monatsschr. f. Psych. u. Neurol., Bd. 13, S. 36. Kuttner,
Deutsche med. Wochenschr. 1904, S. 10,57. Moeli, Berl. klin. Wochenschr.
Alkoholpsychosen.
763
Was den Nachweis der Bewußtseinsstörung anlangt, so be¬
zieht sich die letztere ja meist nicht allein auf die Tat, sondern
häufig auch auf die Zeit vor und nach derselben.
Wenn man da den Erinnerungsdefekt abgrenzen und zeigen
kann, daß der Patient sich auch verschiedener harmloser Re-
gebenheiten nicht erinnert, so ist seine Angabe, daß er eine
mehr oder minder vollständige Amnesie habe, schon eher glaub¬
würdig. Daß mit dem Nachweis einer Amnesie immer noch nicht
der Beweis erbracht ist, daß wirklich eine schwere Bewußtseins¬
trübung bestanden hat, ist im allgemeinen Teil schon ausgeführt.
Nach einem normalem Rausch ist die Erinnerung unter Um¬
ständen auch lückenhaft, mitunter sogar sehr weitgehend be¬
einträchtigt.
Nachzutragen haben wir zu den bisher beschriebenen Krank¬
heitszuständen noch einen, nämlich die Alkoholepilepsie').
Sie entsteht durch übermäßigen Alkoholgenuß auf dem Boden
einer ererbten Anlage und sie kann auch wieder schwinden, wenn
der Patient abstinent wird. Das wesentlichste Symptom der
.Alkoholepilepsie sind Krampfanfälle oder Anfallserien. Daneben
kann auch Alkoholintoleranz bestehen. —
Neben den bisher besprochenen Erscheinungen, die, ab- •
gesehen von der Alkoholepilepsie, größtenteils dem einzelnen
Alkoholexzeß ihre Entstehung verdanken, bilden sich beim chro¬
nischen Trinker als Folge der dauernden Vergiftung auch länger
bestehende Veränderungen auf körperlichem Gebiete und im
Charakter aus, die dem Individuum den Stempel des chro¬
nischen Alkoholisten aufdrücken.
Soweit es sich um psychische Änderungen handelt, betreffen
dieselben sowohl die intellektuelle wie die affektive Sphäre.
Die Intelligenz läßt allmählich nach und zwar ist es in erster
Linie das Gedächtnis ’) und die Merkfähigkeit, welche eine Beein-
1897. Siemerling, Berl. klin. Wochenschr. 1896. Uhthoff, Qräfes Arch. f.
Ophthalmol. 1886. H. Vogt, Berl. klin. Wochenschr. 1905. Weiler, Pupillen¬
untersuchungen, Zeitschr. f. d. ges. Neurol.
') H. Vogt, Fortschr. d. Med. 1908. Chotzen, Zentralbl. f. Nerven-
heilk. 1906. Serog, Klinik f. psych. u. Nervenkrankh., Bd. 3. Siemerling,
Kpileptische Bewußtseinstrübungen. Arch. f. Psych., Bd. 42. Soutzo,
l.'epilepsie constitutionelle. Ann. m6d.-psychol. 1911.
') Specht, Monatsschr. f. Psych., Bd. 21. Nitsche, Allg. Zeitschr. f.
Psych. 1906. Schenk, Psychologie des Trinkers. Arzti. Sachverst.-Zeitg.
764
Alkoholpsychosen.
trächtigung erfahren, daneben aber auch das Urteil. Die Kranken
werden vergeßlich im Dienst, führen die ihnen anvertrauten Akten
und Bücher unordentlich, vergessen Befehle, welche ihnen auf¬
getragen worden sind, werden interesselos, schließlich sind sie
so unselbständig, daß sie aus dem Beruf entfernt werden müssen
und auch im Privatleben nicht sachlich zu disponieren vermögen.
Dazu kommt sehr bald eine ausgesprochene Einsichtslosig¬
keit und Schwäche des Urteils, die sich zunächst auf solche
Momente erstreckt, die die eigene Person angehen, später aber
immer weitere Kreise zieht.
Anfangs erweist sich der Kranke nur insofern einsichtslos,
als er nicht glauben will, daß er zuviel trinkt und daß sein Trinken
ihm und seiner Familie schädlich ist; er beschönigt sein eigenes
Handeln, sucht für jeden Trinkexzeß eine Ursache in dem Ver¬
halten seiner Umgebung oder in äußeren Umständen, nur sich
selbst sucht er auf alle Weise rein zu waschen. Nicht selten
macht sich ferner ein ausgesprochenes Mißtrauen gegen die Per¬
sonen der Umgebung geltend, das sich entweder als Eifersucht
gegen die eigene Frau richtet, oder Amtsgenossen und Vor¬
gesetzte betrifft, von denen er sich benachteiligt fühlt.
In den höheren Graden des chronischen Alkoholismus steht
die Gedächtnisschwäche und Urteilslosigkeit so sehr im Vorder¬
gründe des Krankheitsbildes, daß der Patient durch dieselbe in
seinem Tun und Lassen weitgehend beeinträchtigt wird. Man
spricht dann auch von alkoholischer Demenz.
Auf affektivem Gebiete ist in erster Linie eine krankhafte
Jleizbarkeit, Neigung zu heftigen Zornausbrüchen zu erwähnen.
L-nter diesen Symptomen muß am meisten die Familie leiden.
Sie treten hervor, sobald der Kranke angetrunken ist. In diesem
Zustande ist er dann geradezu gefährlich; es kommt zu Mi߬
handlungen der Ehefrau und der Kinder, zu Wirtsliausstreit
und Messerstechereien.
Weiter ist zu erwähnen die Neigung zur Rührseligkeit.
Dinge, die ihn im nüchternen Zustande keinen Augenblick tan¬
gieren, fallen ihm in der Betrunkenheit plötzlich ein und lösen
ganze Tränenströme aus. So weint der 5ojähr'ige in der Be-
1911, S. 501. Kracpelin, Internat. Monatsschr. zur Erforschung des Alko-
holisnius 1910. Ebenda Bleuler. Qruber, Alkoholisnius. Aus Natur und
üeisteswelt 1911.
Alkoholpsychosen.
765
trunkenheit plötzlich darüber, daß er nicht hat Soldat werden
können, oder er weint, weil er kurz vorher im Gespräch einem
Freunde ein grobes Wort gesagt hat, oder weil seine Frau so
gut ist und er so schlecht und ähnliches mehr.
Am deutlichsten hervortretend sind die ethischen Defekte.
Der chronische Trinker ist ein ausgesprochener Egoist. Ob seine
Familie etwas zu essen hat, ist ihm gleichgültig, wenn er nur
seinen Durst befriedigen kann. Er selbst stellt weitgehende
Ansprüche an das Leben, ohne die Berechtigung der Forde¬
rungen seiner hungernden und darbenden Familie anzuerkennen.
In Gegenwart von Fremden kann er zu Frau und Kindern freund¬
lich sein, kaum ist er mit der Familie allein, beginnt er zu toben
und zu schimpfen, nichts kann ihm recht gemacht werden, an
allem hat er zu tadeln, er bedient sich der gemeinsten Schimpf¬
worte und scheut auch vor Schlägen und Sachbeschädigungen
nicht zurück.
Wenn seine unglücklichen Familienverhältnisse bekannt wer¬
den, wälzt er alle Schuld auf Frau und Kinder ab, lügt der Welt
etwas vor, stellt sich als den guten Menschen und vielgeprüften
Dulder hin, der von den Seinen zur Verzweiflung getrieben wird.
Obwohl er längst im Beruf nur noch unregelmäßig oder gar nicht
tätig ist, rühmt er seine Leistungsfähigkeit, wie er überhaupt seine
Person unverdient hoch einschätzt, sich für einen guten und ethisch
sehr hochstehenden Menschen hält und das auch öffentlich erklärt,
während er in Wirklichkeit ein Nichtstuer ist, der Fernstehenden
etwas vorlügt und seine eigene Familie in jeder Weise hintergeht
und betrügt.
Macht die Beschaffung von Alkohol wegen Geldmangels
Schwierigkeiten, so ist ihm kein Mittel zu schlecht, zu Geld zu
gelangen. Er verkauft den notwendig.sten Hausrat, macht
Schulden, bettelt, wenn es sein muß und erniedrigt sich in jeder
Weise, lediglich, um ein paar Groschen aufzutreiben, mit denen
er weiter trinken kann. Auch vor Diebstählen und Betrügereien
schreckt er nicht zurück. Daß unter diesem seinem Handeln sein
guter Ruf leidet, daß er damit die Pflichten gegen die Familie
in gröbster Weise verletzt, ist ihm gleichgültig.
Fast regelmäßig kommt es daher auch zu einer völligen Zer¬
rüttung des Ehelebens. Die Frau wird beschimpft, geschlagen,
zur Arbeit ausgenutzt. Statt dessen geht er zu anderen Frauen,
beschenkt dieselben, amüsiert sich mit ihnen, beginnt auch wohl
766
Alkoholpsychosen.
geschlechtliche Verhältnisse mit ihnen und scheut sich nicht, der
Gattin gegenüber mit diesem Verhalten zu prahlen, weil er weiß,
daß er ihr auf diese Weise wehtun kann’).
In Gegenwart Anderer heiter und gesprächig, gilt er oft als
guter Gesellschafter. Zu Hause ist er übelgelaunt, mißgestimmt,
schweigsam und wartet nur auf einen Augenblick, der es ihm er¬
möglicht, sich in seine geliebte Kneipe zurückzuziehen.
Auch auf körperlichem Gebiete macht sich schließlich der
chronische Alkoholmißbrauch geltend. Anfangs schwemmt der
Gewohnheitstrinker auf, das Fettpolster wird stärker, das Gesicht
gerötet (Nase!), auch die Bindehäute sind gerötet, die Hände
zittern, mitunter auch die Zunge. Es besteht Druckschmerzhaftig¬
keit einzelner Nervenstämme oder der Waden und eine aus¬
gesprochene Uberempfindlichkeit der Fußsohlen (Plantarhyper¬
ästhesie). Dazu nimmt die körperliche Leistungsfähigkeit ab.
Zunächst handelt es sich nur um ein vorzeitiges Ermüden,
später verringern sich auch die Körperkräfte, die körperlichen
Leistungen sind schließlich ebenso minderwertig wie die geistigen.
Ausgesprochene Trinker können ernstlich überhaupt erst arbeiten,
nachdem sie einige Schnäpse zu sich genommen haben. —
Bei diesen Eigenschaften des chronischen Alkoholisten ist es
nicht zu verwundern, daß ihre Familien so oft der öffentlichen
Armenpflege zur Last fallen und daß bei ihnen Eigentums¬
delikte, Körperverletzungen, Widerstand, Sittlichkeitsverbrechen
und ähnliche Verbrechen und Vergehen häufig Vorkommen.
Durch die mangelnde Arbeitslust und Arbeitsfähigkeit vieler
Trinker sind manche Kommunen ganz außerordentlich stark be¬
lastet worden. Es mußte deshalb das im Kapitel Entmündigung
bereits erwähnte Gesetz geschaffen werden, welches ermöglicht,
den Trinker auch gegen seinen Willen zur Arbeit anzuhalten oder
im Arbeitshause unterzubringen. —
Aus dem Gesagten ergibt sich ohne weiteres, daß die chro¬
nischen Alkoholisten sehr oft mit dem Strafgesetz in Konflikt
kommen. Es wird deshalb auch oft die Frage der Zurechnungs¬
fähigkeit aufgeworfen. In dieser Beziehung muß nun gesagt
werden, daß keineswegs jeder chronische Trinker als unzurech-
’) Zu welchen trostlosen Zuständen es in Trinkerfamilien öfters
kommt, haben die Nachforschungen der Alkoholfürsorgevereine ergeben,
auf deren Jahresberichte verwiesen sei.
Alkoholpsychosen.
767
iiungsfähig im Sinne des § 51 Str.G.B. anzusehen ist. Die chro¬
nischen Alkoholisten gehören vielmehr zu den Grenzzuständen.
Daraus folgt, daß entweder die durch den Alkohol gesetzten Ver¬
änderungen besonders schwere sein müssen, oder daß der chro¬
nische Alkoholist zur Zeit der Tat unter der Einwirkung außer¬
gewöhnlicher Schädigungen gestanden haben muß, wenn Frei¬
sprechung erfolgen soll.
Zwei Beispiele, an denen das sehr deutlich zu erkennen ist,
sind die folgenden:
A. K., geh. 30. September 1857. Rechtsanwalt. Unterschlagung.
Drei Kinder der Familie schwachsinnig. Sonst in der Familie nur
auffallende Charaktere, keine direkten Geisteskranken.
Über Jugend nichts Nachteiliges bekannt. Seit 21 Jahren ver¬
heiratet. Im Anfang war die Khe glücklich, Patient war literarisch sehr
begabt, hatte eine gute Auffassungsgabe für künstlerische Dinge, war
guter Klavierspieler, konnte auch schöne lyrische Gedichte machen, war
aber immer wenig energisch, alle Sorgen verschwieg er der Frau.
In den letzten 4 Jahren langsame Änderung. Reizbar, leicht auf¬
geregt. Konnte sich in Gegenwart von entfernteren Verwandten nicht
beherrschen, ließ sich nicht gern an geschäftliche Dinge erinnern, fand
nirgends Ruhe, wurde unstet in der Arbeit.
Seit 2 Jahren deutlicherer geistiger Rückgang. Angefangene Bücher
bekam er nicht zu Ende, interessierte sich für nichts mehr, klagte über
Kopfdruck, Schwindelgefühl, Leere im Kopf, Unfähigkeit, sich zu kon¬
zentrieren, gesteigerte Ermüdbarkeit, konnte sich die Namen seiner
Klienten nicht mehr merken, zeitweise leichtes Angstgefühl. Dabei
schlechter Schlaf, lag im Bett viel wach und wurde von allerlei un¬
angenehmen Gedanken gequält.
Vor Jahren Vermögensverlusf. Danach Alkoholmißbrauch (Bier,
Wein, Schnaps), fing morgens vor dem ersten Frühstück mit Schnaps an,
war an mehreren Stammtischen, Früh- und Abendschoppen beteiligt, ging
auch im Laufe des Vormittags in die Stadt und trank an verschiedenen
Stellen, ohne sich hinzusetzen, Schnäpse an der Theke, brauchte den
Alkohol „als Peitsche“, sonst konnte er überhaupt nicht arbeiten. Der
Frau suchte er seine Nervosität nach Möglichkeit zu verbergen. Vor
2 oder 3 Jahren Sturz von der Treppe. Einige Zeit später (und zwar im
ganzen 3—4mal) anfallartige Zustände, in denen die Sprache verändert
war (schwer und lallend). Einmal scheint er dabei auch verwirrt gewesen
zu sein. Keine körperlichen Lähmungserscheinungen. Die Zustände
gingen nach ganz kurzer Zeit vorüber. Die Sprache soll aber im all¬
gemeinen undeutlich geworden sein, die Schrift wurde zitterig, das Ge¬
dächtnis nahm ab. Man konnte ihm keine Bestellung in die Stadt mehr
auftragen, weil er alles vergaß. Auch das Kopfrechnen ging nicht mehr.
Infolge zunehmender Unfähigkeit kümmerte er sich um seine Tätig¬
keit als Anwalt und Notar so gut wie gar nicht mehr, überließ das Meiste
seinem Schreiber, der es erledigte, so gut er konnte. Bei notariellen
768
Alkoholpsychosen.
Akten vereinnahmte er Stempelgebiihren selbst, verwertete aber keine
Stempel und gab das Geld aus, überzeugte sich nie, ob die liquidierten
Stempel auch verwandt worden waren, unterschrieb einfach alles, was
ihm zur Unterschrift vorgelegt wurde, vergaß vollkommen, was er ge¬
macht und nicht gemacht hatte.
Zunächst wegen ungenügender Führung der Bücher Disziplinarver¬
fahren. Er erhielt einen Verweis. Später, weil die Kasse nicht stimmte,
Anklage wegen Betruges. Da von vornherein Zweifel an der Zu¬
rechnungsfähigkeit bestanden, Beobachtung in der Anstalt.
Hier körperlich: Starke Fettentwickelung am ganzen Körper, ge¬
rötetes Gesicht, Patient sieht viel älter aus, als er ist. Gesteigerte Knie¬
sehnenreflexe, links etwas stärker als rechts, ebenso Achillessehnen¬
reflexe, kein Babinski, kein Oppenheim, unsicherer Gang. Überempfind¬
lichkeit der Fußsohlen, Druckschmerzhaftigkeit der Waden, Händezittern,
Wassermannsche Reaktion und die sonstigen Syphilisreaktionen negativ.
Psychisch außerordentlich gedächtnisschwach; Patient, der früher
strafrechtlich sehr viel tätig gewesen ist, kennt den § 51 St.Q.B., den
§ 81 St.P.O. nicht mehr genau, ist unsicher in allen Angaben über die
einzelnen Straftaten, die ihm zur Last gelegt werden, vermag nur ganz
unklar Auskunft zu geben; einfache Rechenaufgaben werden richtig ge¬
löst, etwas schwierigere (wie die Höhe der Zinsen bei 800 Mark, welche
3‘/3 ®/o in einem Jahr bringen), vermochte er nicht richtig zu lösen. Be¬
schäftigt sich gar nicht, bei Erörterung seiner verschiedenen Straftaten
wenig interessiert. Er habe sich eben um nichts kümmern können, weil
es sein Zustand nicht erlaubte, so sei das alles gekommen. Welche Straf¬
taten es im einzelnen seien, vermöge er nicht zu sagen. Schlechter
Schlaf, Appetitlosigkeit, klagt über Oeräuschfurcht, macht äußerlich einen
schwerfälligen stumpfen Eindruck. Bei Erörterung seines Krankheits-
zustahdes bricht er zeitweise in Tränen aus. Viel „rheumatische“
Schmerzen in Armen und Beinen.
Der Aufforderung, einen ausführlichen Lebenslauf zu schreiben,
kommt er nach; er stellt auch seine Jugend in größeren Zügen umständ¬
lich dar. seine Angaben über die Straftaten wie überhaupt über die
letzten Jahre sind äußerst unzureichend. Das Einzige, was immer
wieder berichtet wird, ist, daß er außerordentilch viel getrunken hatte,
seinen Dienst nicht versehen konnte, auch allerlei Medikamente, wie
Opium, Brom, Veronal und ähnliches genommen hatte. Durch Ver¬
nehmung von Zeugen wurde dann noch festgestellt, daß er sich vielfach
die Parteien in Wirtschaften bestellt und dort Akte aufgenommen hatte;
öfters war es auch vorgekommen, daß er Personen, die ihn wiederholt
besucht hatten, gar nicht wiedererkannte. Ferner hatte sein Bureau¬
vorsteher häufig bemerkt, daß er die verschiedenen Parteiangelegen¬
heiten verwechselte, und mit der einen Partei Dinge besprach, die die
andere angingen. Er wußte oft gar nicht, ob die Parteien nach Tätigung
des Aktes bezahlt hatten oder nicht.
Mit Rücksicht auf die körperlichen Erscheinungen (Überempfindlich¬
keit der Fußsohlen, Wadenschmerz, Händezittern, zeitweise lallende
Sprache, Ungleichheit der Reflexe), ferner mit Rücksicht auf die Vor-
Alkoholpsychosen.
769
gcschichte, in bezug auf Alkohol, drittens bei Berücksichtigung der außer¬
ordentlichen Gedächtnisschwäche und Willenlosigkeit, die gerade in den
letzten Jahren von sämtlichen Zeugen und von dem Patienten selbst in
glaubwürdiger Weise angegeben wurde, nahm der Sachverständige an,
daß es sich um erworbenen Schwachsinn handelte, der im wesentlichen
auf Alkoholmißbrauch zurUckzuführen war und vielleicht zu kleinen
Schlaganfällen geführt hatte. Das Leiden hatte bewirkt, daß der Patient
nicht nur jene Straftaten beging, sondern sich auch finanziell vollkommen
ruinierte. Er wußte nicht, was er verdient hatte. Er konnte nie sagen,
ob er etwas eingenommen hatte oder nicht. Die krankhafte Nachlässig¬
keit, die er seinen dienstlichen Verrichtungen gegenüber gezeigt hatte,
war auch in seinem Privatleben zu konstatieren.
Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, daß die Voraussetzungen
des § 51 St.QB. gegeben seien; das Gericht schloß sich dieser An¬
nahme an.
War es im vorliegenden Falle im wesentlichen die Gedächtnis¬
störung, vielleicht kombiniert mit sonstigen organischen Erschei¬
nungen, und das allmähliche Versagen im Beruf, was am auf¬
fälligsten hervortrat, so ist nunmehr eines Falles zu gedenken, bei
dem die Reizbarkeit und die unsozialen Neigungen in erster Linie
in Erscheinung traten.
H. B., geb. 17. August 1869. Handelsmann, chronischer Alkoholist
mit Alkoholepilepsie, wiederholt wegen Hausfriedensbruchs bestraft, ver¬
letzte durch Messerstiche seine Frau.
Über Erblichkeit und Erziehung nichts bekannt. Patient war von
jeher starker Trinker. Tägliches Quantum: Für 1.20 Mark Schnaps und
1 Mark Bier.
Im Jahre 1907 stach er in der Trunkenheit mit einem Messer nach
der Ehefrau; da Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit auftauchten, vom
Gerichtsarzt beobachtet. Derselbe stellte fest, daß B. starker Trinker
war, und daß seit mehreren Jahren Anfälle und Zustände von Bewußtsein¬
trübung beständen. Letztere träten namentlich nach reichlichem Alkohol¬
genuß auf. In einem solchen Zustand hatte B. die Frau gestochen, deshalb
Freisprechung.
Aus der sonstigen Vorgeschichte war noch bemerkenswert, daß
Patient 1904 einen Schrotschuß in den Kopf erhalten hatte, dabei
wurde das linke Auge verletzt und mußte herausgenommen werden.
Seit der Zeit wurde er vergeßlich, konnte nichts behalten, seine Angaben
widersprachen sich, er war über die Vergangenheit wenig orientiert,
fing dann allmählich an zu trinken. Im Anschluß daran stellte sich eine
Charakterveränderung ein, die etwa folgendermaßen zu beschreiben wäre.
Sein Gedächtnis ließ mehr und mehr nach, so daß er seinen Beruf als
Handelsmann aufgab. Gleichzeitig wurde er reizbar und roh, reagierte
auf die geringste Kleinigkeit gleich mit Schlägen und wüsten Schimpf¬
worten, trank regelmäßig, war infolgedessen ständig betrunken, und ging
keiner Beschäftigung mehr nach. Hinzu kamen epileptische Anfälle und
Hübner, Forensische Psychiatrie. 49
770
Alkoholpsychosen.
pathologische Räusche. Tn einem derselben verletzte er seine Frau in der
angegebenen Weise. Nach der Freisprechung wurde er der hiesigen An¬
stalt überwiesen und blieb 8 Monate hier. Dann erfolgte seine Ent¬
lassung. Schon 3 Monate später erstattete die Ehefrau dem zuständigen
Polizeikommissar Anzeige, daß ihr Mann sich seit der Entlassung be¬
schäftigungslos umhertriebe, er sei auch wieder dem Trünke ergeben,
bedrohe fortwährend die eigenen Angehörigen und die Bewohner des
Hauses mit Totschlag und Totstechen, so daß alles in fortwährender
Furcht vor ihm lebe. Am Abend vor der Anzeige hatte er ohne Qrund
mit einer Kupferstange die Zimmertiire zertrümmert. Hinzugekommen
war inzwischen der Wahn ehelicher Untreue, wegen dessen er seine
Frau mit den gemeinsten Schimpfworten belegte; gleichzeitig bedrohte
er die Frau von neuem mit Totstechen. Mehrere im Hause wohnende
Zeugen bestätigten die Richtigkeit der Angaben der Frau. Einer derselben
sagte aus, daß B. dauernd eine spitze dreikantige Feile mit sich herum-
triige.
Daß er tatsächlich unmittelbar nach der Entlassung wieder zu
tiinken begonnen hatte, ging daraus hervor, daß er schon wenige Tage
später wieder in der Anstalt erschien, und mehrere Beschwerden, die er
Vorbringen zu müssen glaubte, unter Ausstößen von Drohungen in sehr
lautem Tone vorbrachte, offenbar auch sehr stark betrunken war. Nach
viermonatlicher Behandlung wiederum entlassen.
Zwei Jahre später wird er erneut in die Anstalt gebracht, weil das
Trinken zugenommen hatte. Er mißhandelte in der Wohnung Frau und
Kinder wieder, griff seine Töchter unsittlich an, bedrohte die Frau mit
dem Messer, und zerschlug Scheiben. In der Zwischenzeit war er in
einer Trinkerheilanstalt gewesen. Im April 1911 entlassen. Hat nicht
ft ieder gearbeitet, sondern wieder zu trinken angefangen, bis er Ende
November in eine andere Anstalt aufgenommen, und von dieser zu uns
überführt wurde.
Bei der Aufnahme bestand Zittern der Hände, Überempfindlichkeit
der Fußsohlen. Er erzählte, zu Hause bei ihm sei es so unruhig ge¬
wesen, daß er wieder habe trinken müssen, und mit seiner Frau infolge¬
dessen Streit bekommen habe. Er habe sich sehr aufgeregt, und deshalb
noch mehr getrunken. In der Anstalt ruhig und umgänglich, hier und da
migräneähnliche Zustände.
Das Charakteristische an der Kraiikheitsgeschichte, bei der
übrigens noch nachzutragen ist, daß der Patient in der Anstalt,
wo er abstinent war, nie Krampfanfälle gehabt hat, liegt darin,
daß er in nüchternem Zustande verhältnismäßig umgänglich war,
wenn auch eine gewisse Gedächtnisschwäche und moralische De-
pravation nicht zu verkennen war. Sobald er aber aus der Anstalt
herauskam und wieder zu trinken begann, dann zeigte sich seine
Reizbarkeit und moralische Verkommenheit viel stärker. Er
mißhandelte seine Familie, bedrohte die Hausbewohner, beging
Alkoholpsychosen.
771
eine Sachbeschädigung über die andere, verging sich sittlich an
seinen eigenen Kindern, arbeitete nicht, kurz, er ließ alle die
ethischen Defekte, welche gerade den Trinker besonders aus¬
zeichnen, aufs deutlichste erkennen.
Nicht weniger interessant ist bei diesem Fall die Tatsache,
daß der Kranke nur dann Anfälle bekam, wenn er einige Zeit
getrunken hatte. In der Anstalt selbst sind, wie schon oben ge¬
sagt, keine solchen beobachtet worden. —
Es ist im Verlauf der eben gemachten Erörterungen bereits
wiederholt darauf hingewiesen worden, daß das Gedächtnis des
Alkoholisten mehr und mehr abnimmt. Es gibt nun Fälle, in
denen die Gedächtnis- und Merkfähigkeitsstörung außerordentlich
stark ausgeprägt ist, in denen ferner, wie bereits im allgemeinen
Teil ausgeführt wurde, Gedächtnislücken durch Konfabuliercn aus^
gefüllt und in denen, wenigstens bei einem Teil der Fälle, gewisse
körperliche Erscheinungen vorhanden sind. Dieser Symptomen-
komplex wird als Korsakowsche Psychose*) bezeichnet
und stellt einen der Endzustände dar, wie sie bei chronischen
Alkoholisten Vorkommen.
In den ausgeprägten Fällen tritt am deutlichsten die Störung
der Merkfähigkeit hervor. Dinge, ül)er die man eben mit dem
Kranken gesprochen hat, vergißt er im Moment. Er steht vom
Mittagstisch auf und weiß nicht, daß und was er gegessen hat.
Die Namen seiner Mitkranken kann er nicht behalten, obwohl er
wochenlang mit ihnen zusammen ist. Er verlegt im Augenblick
die notwendigsten Gebrauchsgegenstände und muß stundenlang
nach ihnen suchen, weil er nicht weiß, wo er sie hingelegt hat.
Neben der Störung der Merkfähigkeit ist auch das Gedächtnis
für die jüngste Vergangenheit beeinträchtigt. Was gestern, vor¬
gestern und vor ein paar Wochen vor sich gegangen ist, weiß der
Patient nicht. Wenn man ihn nur fragt, wo er sich während dieser
Zeit befunden hat, so lautet seine Antwort meistenteils falsch;
*) Choroschko, Neurol. Zentralbl. 1909. Gregor, Monalsschr. f. Psych.,
Bd. 21, 23, 25. Kutner, Arch. f. Psych., Bd. 41. Liepmann, Neurol.
Zentralbl. 1910. E. Meyer, Deutsche med. Wochenschr. 1909. Rollmann,
In.-Diss. 1911 (Literatur!). Jolly, Charite-Annalen 1897. Lückerath,
Neurol. Zentralbl. 1900. E. Meyer und Raecke, Arch. f. Psych. 1904.
E. Schnitze, Berl. klin. Wochenschr. 1898. Bonhoeffer, Akute Geistes¬
störungen der Gewohnheitstrinker. Jena 1902. Bonhoeffer, Korsakow-
scher Symptomenkomplex. Neurol. Zentralbl. 1904.
49
772
Alkoholpsychosen.
dagegen ist er über die frühere Zeit, über seine Jugend und die
ersten Mannesjabre besser orientiert und weiß darüber gut Aus¬
kunft zu geben.
Die Größe des Gedächtnisdefektes nach der Vergangenheit
hin ist verschieden. Wir haben aber hier Fälle gesehen^), t)ei
denen fast sämtliche Erinnerungsbilder bis in die Jugend (etwa
bis zum 25. Jahre) geschwunden waren, so daß die Kranken
vollkommen in jener Zeit lebten und die späteren Erlebnisse wie
ausgelöscht erschienen.
Die bestehende Erinnerungslücke wird nun durch Konfabu¬
lationen ausgefüllt. Fragt man einen solchen Kranken, was er am
Abend vorher getan habe, so erzählt er eine lange Geschichte, daß
er mit seinen Freunden X. und Y. zusammengewesen sei und sich
unterhalten habe, man habe über dies und jenes gesprochen, Karten
gespielt und ähnliches mehr, kurz, es folgt im verbindlichsten Ton
eine detaillierte Schilderung von Geschehnissen, die sich gar nicht
zugetragen haben. In manchen Fällen ist es dabei möglich, dem
Kranken allerlei Dinge zu suggerieren, die er dann auch selbst
weiter ausschmückt und im festen Glauben an ihre Richtigkeit er¬
zählt. Der Defekt der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses
zeigt sich aber auch da, denn schon im nächsten Augenblick weiß
er oft nicht mehr, was er eben erzählt hat.
Dabei sind die Kranken in ihrer äußeren Haltung und in
ihrem ganzen Benehmen im allgemeinen sehr korrekt, sie suchen
vielfach ihren Gedächtnisdefekt zu entschuldigen, wenn sie darauf
aufmerksam gemacht werden, daß ihre Erzählungen nicht der
Wirklichkeit entsprechen. Sie bringen ihre Konfabulationen in
liebenswürdiger und verbindlicher Form vor. Nur gelegentliche
Zornesausbrüche lassen erkennen, daß man es mit einem alten
Alkoholisten zu tun hat.
Bei vielen von ihnen spielt übrigens die alkoholische Ver¬
gangenheit in den Erzählungen eine große Rolle.
In manchen P'ällen kann die Gedächtnisschwäche und Merk-
fäliigkeitsstörung so ausgesprochen sein, daß die Kranken völlig
rat- und hilflos sind und einen verwirrten Eindruck machen, weil
sie alles vergessen, sich innerhalb ihrer kleinen Häuslichkeit oder
der engen Anstaltsverhältnisse nicht zurechtfinden, so daß sie
dann besonderer Aufsicht und Pflege bedürftig sind.
’) Vcrgl. auch das Kapitel Presbyophrenie.
Alkoholpsychosen.
773
Wie bereits oben ausgeführt worden ist, können sich diese
Erscheinungen auf psychischem Gebiete nun mit gewissen körper¬
lichen verbinden. Meist handelt es sich um neuritische Symptome,
die auch gelegentlich mit Entartungsreaktion einhergehen können.
Die Muskulatur in einzelnen Nervenstämmen ist druckempfind¬
lich, in seltenen, besonders schweren Fällen kann es sogar zu
Lähmungen kommen. Die Sehnenreflexe sind abgeschwächt oder
können fehlen. Die Patienten haben viel subjektive Beschwerden,
speziell starke Schmerzen. Nach einiger Zeit der Abstinenz
pflegen die neuritischen Symptome in den Hintergrund zu treten,
es bleiben nur die wirklichen Lähmungserscheinungen zurück.
Die psychischen Symptome sind in der Mehrzahl der Fälle
nicht reparabel. Man kann gelegentlich einige wenige Fälle be¬
obachten, in denen es tatsächlich zu einer, wenn auch nicht Hei¬
lung, so doch wesentlichen Besserung kommt, diese Fälle sind im
allgemeinen aber sehr selten, so daß man bei der praktischen Be¬
urteilung des Korsakowschen Symptomenkomplexes, z. B. im Hin¬
blick auf die Entmündigung, wohl kaum damit zu rechnen braucht.
Die forensische Bedeutung der Korsakowschen
Psychose auf strafrechtlichem Gebiete ist durch die Gedächtnis¬
schwäche gegeben. Die Kranken vergessen alles. Sie wissen
nicht, von wem sie Geld zu fordern haben und werden infolge¬
dessen leicht betrogen. Sie haben vergessen, welche Verbind¬
lichkeiten sie selbst eingegangen sind, und laufen Gefahr, als Be¬
trüger behandelt zu werden. Steht die Reizbarkeit mehr im
Vordergründe, so kann es gelegentlich zu Beleidigungen und tät¬
lichen Angriffen auf die Umgebung kommen, doch scheint das
selten zu sein. Die gerichtsärztliche Beurteilung ist bei aus¬
gesprochenen Fällen nicht schwierig.
Wichtiger als die strafrechtliche, ist die zivilrechtliche Be¬
deutung des Korsakowschen Symptomenkomplexes insofern, als
der Kranke infolge seiner Gedächtnisschwäche unfähig ist, irgend¬
welche Rechtsgeschäfte rechtsgültig zu erledigen. Er sagt in
verbindlichster Form zu allem ja, ohne einen Augenblick zu
überlegen, worum es sich handelt, und hat im nächsten Moment
vergessen, daß er kurz vorher in allerlei Verpflichtungen ein¬
willigte.
Die starke Gedächtnis- und Merkfähigkeitsschwäche läßt ihn
außerdem fast regelmäßig unfähig erscheinen, irgendwelche
nennenswerten, vermögensrechtlichen Geschäfte zu erledigen. Auch
Alkoholpsychosen.
774
um seine Familie kann er sich nicht so kümmern, wie es erforderlich
ist. Meist liegen die Verhältnisse so, daß er den größten Teil
alles dessen, was man unter Angelegenheiten versteht, nicht zu be¬
sorgen vermag.
Daß derartige Kranke selbstverständlich auch unfähig sind,
ein rechtsgültiges Testament zu machen, bedarf bei der geistigen
Hilflosigkeit, in der sie sich befinden, keiner besonderen Be¬
gründung.
Hinzuzufügen ist noch, daß nicht allein nach chronischem
Alkoholmißbrauch der Korsakowsche Symptomenkomplex be¬
obachtet wird, sondern gelegentlich auch nach anderen Schädlich¬
keiten, z. B. nach schweren Kopfverletzungen, ferner sind Fälle
nach Typhus und Arsenikvergiftung beschrieben und schließlich
werden auch beim Altersschwachsinn derartige Krankheitsbilder
beobachtet. —
Ein Fall, in dem die Entmündigung in Aussicht genommen,
wegen der später eingetretenen Besserung aber nicht durch¬
geführt wurde, ist folgender:
Johanna S., geb. 25. Februar 1876, Artistin. Korsakowsche Psychose.
Lntmündigungsantrag. Besserung. Antrag zurückgezogen.
Seit vielen Jahren schwerer AlkoholmiObrauch. Patientin war
dauernd in Animierlokalen tätig. Vier Monate vor der Aufnahme un¬
sicherer Gang. In den nächsten Wochen starke Trinkexzesse bei mangel¬
hafter Nahrungsaufnahme. Anfang Oktober 1908 Veränderung des
geistigen Verhaltens.
Bei der Aufnahme (15. Oktober 1908): Zeitlich und örtlich unorientiert.
iag und Nacht unruhig, klagt über große Mattigkeit. Sehnenreflexe an
den Beinen erloschen. Doppelseitige Peroneusparese. Träge Pupillen¬
reaktion. ln den ersten Tagen auch noch einzelne deliriöse Züge. Dann
zeitlich und örtlich unorientiert. Die Erinnerung für die jüngste Ver¬
gangenheit erloschen. Patientin weiß von dem sechsmonatigen Bonner
Aufenthalt nichts mehr, kann nicht sagen, wo sie vor Aufnahme in die
Klinik war. Dagegen vermag sie über die früheren Jahre Auskunft zu
geben. Fragen nach Geburtstag und Ort, einigen früheren Krankheiten,
Verheiratung und Zahl der Kinder werden richtig beantwortet.
In den nächsten Tagen Konfabulationen. Sie erzählt, sie sei am
Tage vorher angekommen, vorher in Meran gewesen, habe hier eine
Tante besucht usw. Auf die Suggestivfrage des Arztes, ob sie nicht vor
8 Tagen mit ihm spazieren gegangen sei, erwidert sie, das sei richtig und
fügt verschiedene Einzelheiten über den Spaziergang hinzu. Merkfähig¬
keit stark beeinträchtigt. Patientin kann auch nicht rechnen, weil sie die
gestellten Aufgaben nicht behält.
Stimmung wechselnd, meist heiter. Äußeres Verhalten korrekt. Zeit-
Alkoholpsychosen.
775
weise dringendes Verlangen nach Alkohol. Viel Schmerzen in den Beinen.
Waden druckschmerzhaft.
Wenn man ihr in den ersten Monaten ihres Aufenthaltes in der Klinik
den Auftrag erteilte, sich eine bestimmte Zahl oder Frage zu merken,
hatte sie in einigen Minuten nicht nur den Auftrag selbst, sondern auch
die Tatsache vergessen, daß sie etwas gefragt worden war.
Ganz allmählich besserte sich dieser Zustand, so daß die Patientin
im Oktober 1910 — also nach zweijährigem Aufenthalt — als wesentlich
gebessert entiassen werden konnte. Sie behielt wieder alles, was sie
erlebte. Nur hier und da machte sich eine gewisse Unsicherheit des
Gedächtnisses bemerkbar. Bisweilen mußte die Kranke sich auch etwas
länger besinnen, als der normale Mensch 0.
Der Fall ist insofern bedeutungsvoll, als er zeigt, daß die
Korsakowsche Psychose sich nach einiger Zeit unter Umständen
so weit bessern kann, daß eine Entmündigung nicht angebracht
wäre. Oft geschieht das allerdings wohl nicht. Wenn sie etwa
ein Jahr bestanden hat, ohne daß eine nennenswerte Besserung
eintrat, kann man die Einleitung eines Entmündigungsverfahrens
wohl rechtfertigen, in besonderen Fällen auch schon eher. —
Noch ein Punkt ist schließlich nachzutragen, der bei der Be¬
schreibung des Krankheitsbildes nicht erwähnt wurde. Er betrifft
die Beziehungen zwischen der Korsakowschen Psychose und den
übrigen alkoholischen Geistesstörungen.
Nur in einem Teil der Fälle entwickelt sich die polyneuritischc
Psychose allmählich „aus einer alkoholischen Vertrottelung
heraus“ (Müller, Kraepelin). Nicht selten schließt er sich un¬
mittelbar an ein ausgesprochenes Delirium an, mitunter geht ihm
auch nur ein Zustand von Benommenheit mit vereinzelten dcli-
ranten Zügen (Bonhoeffer) voraus. Ein solches abortives Deli¬
rium scheint die Krankheit im Falle Sch. eingeleitet zu haben.
Über die D i p s o m a n i e *), die gleichfalls noch kurz zu er¬
wähnen ist, ist bereits in dem Kapitel Epilepsie das Erforderliche
gesagt worden. Daß nicht alle diejenigen Fälle, in denen der
Kranke nur periodisch trinkt, zur Epilepsie zu rechnen sind,
wäre noch hinzuzufügen. Vielfach handelt es sich auch um
*) Bezüglich der Einzelheiten sei auf die Dissertation von Rollmann,
Bonn 1911, verwiesen.
’) Pelz, Monatsschr. f. Psych., Bd. 21. Higier, Neurol. Zentralbl.
1909, S. 781. Rieger, Festschr. f. Werneck. Jena 1906. Q. Fischer.
Schenk. Der Alkoholismus 1906 und Deutsche Medizinal-Zeitg. 1909.
Donath, Osterr. Arzte-Zeitg., Bd. 8.
7/6
Alkoholpsychosen.
leicht manisch-depressive Kranke oder um Degenerierte mit Angst¬
zuständen. Gemeinsam ist jedenfalls allen diesen Fällen i. das
periodische Auftreten des Alkoholmißbrauches, 2. die einschnei¬
dende Bedeutung desselben für die soziale Lebensführung des
Kranken, und 3. die schwerere Wirkung des Alkohols, der bei
ihnen leichter zu Trübungen des Bewußtseins führt, wie bei
anderen Menschen. —
Wir haben nun noch eine Reihe von anderen Kranklieits-
zuständen zu besprechen, welche zum Teil dadurch gekenn¬
zeichnet sind, daß sie rasch vorübergehen. In erster Linie ist
des Delirium tremens*) zu gedenken.
Nadi mehrjährigem schwerem Alkoholmißbrauch setzt, meist
plötzlich, oft durch äußere schädigende Momente ausgelöst, das
Delirium ein. Als auslösende Faktoren kommen Unfälle, körper¬
liche Krankheiten (Pneumonie), psychisch erregende Gescheh¬
nisse, nach manchen Autoren auch plötzliche Alkoholabstinenz in
Betracht.
Meist geht dem eigentlichen Delirium eine Zeit, welche meh¬
rere Wochen, aber auch nur einige Tage zu betragen braucht,
voran, in denen der Kranke eine Reihe von körperlichen Be¬
schwerden hat. Der Appetit ist gering, der Schlaf ist außer¬
ordentlich schlecht, es bestehen morgendliches Erbrechen, Kopf¬
schmerzen und Schwindelerscheinungen; oder die Kranken klagen
über eingenommenen Kopf, Unfähigkeit zu denken, ein unbehag¬
liches Gefühl, innere Unruhe, die sie von Ort zu Ort treibt. Mit¬
unter sind sie auch gereizt oder ängstlich. Um diesen unbehag¬
lichen Zustand zu betäuben, pflegen sie weiter zu trinken.
Gelegentlich wird der Patient durch unruhige Träume ge¬
quält, deren Inhalt dem eines Deliriums in vieler Beziehung nahe-
stcht. Schließlich bricht dann eines Tages das Delirium wirk¬
lich aus.
Im Vordergründe des Krankheitsbildes stehen Sinnestäii-
*) Wassermeyer, Delirium tremens. Arch. f. Psych., Bd. 44. Bon-
hoeffer. Akute Geistesstörungen der Gewohnheitstrinker. Jena 1912.
Aschaffenhurg, Deutsche med. Wochenschr. 1908. Chainowsky, In.-Diss.
Basel 1909. Gramer in Eulenburgs Realenzyklopädie. Gaupp, Wien. klin.
Rundschau 1906. Holitscher, Psych. Wochenschr. 1908. Hertz, Allg.
Zcitschr. f. Psych. 1910. van Vleusen, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 63.
Berger, Jahreskurse f. ärztl. Fortbildung 1911. Bonhoeffer, Zeitschr. f.
ärztl. Fortbildung 1911.
_ Alkoholpsychosen. 777
schungen. Und zwar handelt es sich vorwiegend um Gesichts¬
halluzinationen, daneben kommen auch Gehörstäuschungen vor,
seltener Parästhesien. Die Kranken sehen massenhaft kleine
Tiere (Flöhe, Wanzen, Läuse) im Bett, oder glauben, daß große
Hunde ihnen nachspringen und sie beißen wollen. Oder sie werden
von Menschen mit langen Messern verfolgt, denen sie zu entfliehen
suchen, und ähnliches mehr. Dazu hören sie bedrohende Stimmen
und Schimpfworte, oft verspüren sie ein Kribbeln und Jucken in
der Haut. Die Stimmen, welche sie hören, sind beschimpfenden
oder bedrohenden Inhalts. Es wird ihnen ihr übermäßiges
Trinken vorgeworfen. Sie hören, daß man sie ermorden will, daß
sie für ihre zahlreichen Missetaten gefangen gesetzt werden sollen,
daß sie einen Menschen umgebracht hätten und deshalb jetzt aufs
Schafott geschleppt werden sollen, und anderes. Neben diesen
Sinnestäuschungen besteht Desorientiertheit. Die Kranken ver¬
kennen Personen, reden andere Kranke oder Pfleger mit den Namen
ihrer Freunde an, ihr Bett wird zum Wagen umgedeutet, an das
sie die Pferde schirren wollen, die Kopfkissen sind Säcke, die
sie auf- und abladen, der Bettrand wird der Kutscherbock, von dem
aus sie die Pferde in Bewegung setzen wollen usw. Nicht selten
geschieht die illusionäre Verkennung im Sinne ihres früheren Be¬
rufs. So wie es eben beschrieben wurde, handelt ein Kutscher.
Der Maurer betrachtet dasselbe Bett als Gerüst, er ruft seinem
Handlanger zu, er solle ihm Mörtel bringen, sucht auf dem Boden
die Kelle, und benimmt sich so, als wenn er nicht im Kranken¬
hause, sondern bei der Arbeit wäre (Beschäftigungsdelirien).
Das Charakteristische an den Halluzinationen und Illusionen
des Delirianten ist nun, daß es sich um massenhafte Sinnes¬
täuschungen handelt (viele Menschen, viele Tiere, viele Stimmen,
laute Musik, Kirmestrubel und ähnliches), und daß die halluzina¬
torischen Gestalten, der Boden, die Wände usw. in fortwähren¬
der Bewegung sind. Mitunter sind die Halluzinationen auch
schreckhaften Charakters. So wurde z. B. in der Nähe von
Berlin ein Delirant aufgefunden, der einen Vorortszug zwischen
2 Stationen dreimal zum Halten brachte, weil er auf demselben
Geleise in entgegengesetzter Richtung einen anderen Zug an-
kommen sah, und auf diese Weise einen Zusammenstoß verhindern
wollte. Ein anderer unserer Deliranten alarmierte die Feuerwehr,
weil er sah, daß sich ein Kriegsschiff in einer engen Straße im
Sande festgefahren hatte. Ein Student, den wir in unserer Klinik
778
Alkoholpsychosen.
behandelt haben, erlebte eine ganze Rheinreise von Bonn bis
Coblenz im Delirium, die er mit voller Anschaulichkeit
schilderte.
Äußerst kennzeichnend für die Deliranten ist es, daß es leicht
gelingt, sie durch Suggestion zu illusionärer Umdeutung ihrer
Umgebung zu bringen. Auf Aufforderung sucht der Patient
Hunderte von Läusen von seiner Bettdecke ab, in der Vorlesung
kann er leicht dazu gebracht werden, Spinnen, auf die man ihn
aufmerksam macht, am Boden totzutreten. Von einem leeren
Stück Papier liest er seinen Lebenslauf oder andere Dinge al'<.
Einer unserer Patienten z. B. las vor: ,,Allzu reichlicher Alkohol¬
genuß ist dem Menschen schädlich, darum ist er zu vermeiden“
(Reichard)'). Führt man den Kranken an ein abgestelltes Tele¬
phon, so hört er aus den Geräuschen allerlei heraus und ant¬
wortet (Aschaffenburg)“). Druck auf die Augäpfel bewirkt das
Auftreten lebhafter Gesichtshalluzinationen (Liepmann)').
In schwereren Fällen kommt es zu starker Desorientiertheit
mit hochgradiger Angst und Ratlosigkeit. Wenn dann die Hallu¬
zinationen ängstlichen Inhalts sind, so kann es leicht Vorkommen,
daß Patient sich seiner vermeintlichen Verfolger durch einen Ge¬
waltakt erwehren will und auf diese Weise einen Angriff auf Per¬
sonen macht, die ihm nicht das Geringste getan haben. Morde
sind vielfach im Delirium vorgekommen.
Einer weiteren merkwürdigen Eigenschaft ist zu gedenken.
Es gelingt nämlich durch energisches Anrufen mitten aus der Des¬
orientiertheit heraus von dem Patienten eine ganze Reihe präziser
Antworten über sein Vorleben und über die dem Delirium voraus¬
gehenden Geschehnisse zu erhalten.
Es liegt ferner wohl im Wesen der Illusion begründet, daß
das ganze Krankheitsbild abends und nachts stärker ausgeprägt
ist wie am Tage. Es gibt Deliranten, die am Tage außer einem
stark geröteten Gesicht, lebhaftem Händezittern, starker Schwei߬
absonderung und einer gewissen motorischen Unruhe auf den
ersten Blick keine weiteren Symptome zu bieten scheinen. Erst
wenn man sie längere Zeit beobachtet, entdeckt man gelegentlich,
daß sie halluzinieren. Abends dagegen werden sie zunehmend
’) Reichard, Neurol. Zentralbl. 1905, S. 551.
“) Aschaffenburg, Deutsche med. Wochenschr. 1908,
“) Liepniann, Arch. f. Psych., Bd. 27.
Alkoholpsychosen.
779
unruhig, sehen massenhaft Gestalten und Tiere, sind ängstlich,
fortwährend in Bewegung, und können nur mit Mühe im Bett
gehalten werden.
Bei manchen Deliranten, und zwar sind das wohl die gefähr¬
lichsten, tritt die bei Alkoholisten häufig zu beobachtende Reiz¬
barkeit auch während des Deliriums stark hervor, so daß die
Kranken gegen ihre Halluzinationen und Illusionen in gleicher
Weise vorgehen wollen, wie im gewöhnlichen Rausch.
Die Stimmung richtet sich im allgemeinen nach dem Inhalt
der Halluzinationen. Sind dieselben bedrohlichen Charakters, so
ist auch die Stimmung des Kranken eine ängstliche, sieht er an¬
genehme, heitere Szenen, was seltener der Fall ist, so entspricht
diesen Erlebnissen auch seine Affektlage. Dabei kommt es zu
häufigem Stimmungswechsel, gelegentlich aber auch, wie schon
wiederholt erwähnt worden ist, zu schweren Affektausbrüchen mit
Neigung zu Gewalttätigkeiten.
Auf körperlichem Gebiete fällt in erster Linie das gerötete
Gesicht auf, ferner besteht Händezittern, lebhafter Schweißaus¬
bruch, nicht selten ist auch Fieber nachzuweisen, der Puls ist
beschleunigt, häufig auch unregelmäßig.
Im Urin findet sich in einer großen Zahl von Fällen Eiweiß ^),
der Appetit ist schlecht, mitunter bestehen Durchfälle.
Nach 2—lotägigem Bestehen endet das Delirium plötzlich mit
einem längeren Schlaf, aus dem die Kranken in der Mehrzahl
der Fälle orientiert erwachen. Es gibt aber auch Kranke, bei
denen sich die Orientierung erst allmählich einstellt, mitunter
bleiben einzelne Wahnideen, welche sich auf Grund von Sinnes¬
täuschungen gebildet hatten, noch einige Zeit bestehen (Residual¬
wahn) ’).
Gelegentlich entwickelt sich aus dem Delirium heraus eine
Korsakowsche Psychose, oder es schließt sich an den ursprünglich
deliriösen Zustand eine weitere Krankheitsphase an, in der der
I'atient systematisierte Wahnideen darbietet.
Die forensische Bedeutung des Deliriums liegt
in erster Linie in den ängstlichen Erregungszuständen"). Die
Patienten suchen sich gegen ihre vermeintlichen Verfolger zu
") Liepmann, Arch. f. Psych., Bd. 28.
") Stertz, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1910.
■■’) Auch Selbstmorde kommen im Delirium vor; s. Kürbitz, Allg.
Zeitschr. f. Psych. 1907.
780 Alkoholpsychosen.
schützen und machen Angriffe auf Personen, welche ihnen zufällig
begegnen, oder es kommt zu Skandalszenen, die zur Verhaftung
führen. Einer unserer Kranken z. B. erhielt eine Arreststrafe,
weil er der Kontrollversammlung ferngeblieben war. In der Haft
brach ein Delirium aus, in dem er einen Unteroffizier angriff.
Bei dem charakteristischen Verlauf des Deliriums ist die
ganze Beurteilung meist nicht schwer; es kann wohl auch kaum
jemals Vorkommen, daß ein solches Delirium übersehen wird.
Nachzutragen ist noch, daß die Erinnerung an das Delirium
liei den verschiedenen Fällen eine verschiedene ist. Die einen
können den deliriösen Inhalt ihrer Erlebnisse wiedergeben, bei den
anderen ist die Erinnerung eine mehr summarische, mit vielen
Lücken durchsetzte. In manchen schweren Fällen wissen die
Patienten so gut wie gar nichts davon. —
Nahe verwandt mit der eben besprochenen Krankheitsform
und aus ihr mitunter herauswachsend, oder mit deliriösen Zügen
vermischt vorkommend, ist eine andere akute Geistesstörung der
Trinker, nämlich die sogen, akute Halluzinose^) (hallu¬
zinatorischer Wahnsinn der Trinker). Der Unterschied gegen¬
über dem Delirium liegt darin, daß es sich nicht um massenhafte
Halluzinationen handelt und auch die Umgebung nicht in dem
Maße verkannt wird wie beim Delirium, sondern daß das Bewußt¬
sein wenig oder gar nicht getrübt ist und zusammenhängende Ver¬
folgungsideen auftreten.
Ebenso wie das Delirium, setzt auch dieses Krankheitsbild
meist unvermittelt ein. Die oben bereits erwähnten körper¬
lichen Erscheinungen können auch hier vorausgehen. Plötzlich
treten dann Sinnestäuschungen und Wahnideen auf. Der Kranke
sieht, wie unheimliche Gestalten ihm folgen, leise Gespräche führen
und ihn bedrohen, er hört, wie sie sich verabreden, sie würden ihn
an einer dunklen Stelle der Straße töten, er eilt infolgedessen in
das erste beste Lokal, läßt sich dort nieder; bald hört er, wie meh¬
rere am Nebentisch sitzende Männer von derselben Sache sprechen,
genau verabreden, wann der Angriff auf ihn erfolgen soll usw.
*) A. Gramer in Binswanger-Siemerliiigs Lehrbuch. Wollenberg in
Hoches Handbuch, lllberg in der Festschr. f. das Stadtkrankenhaus in
Dresden 1899. Qoldstein, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1907. Rittershaus,
Zeitschr. f. d. Erforschung d. jugendl. Schwachsinns, Bd. 3, S. 476. Bon-
hoeffer 1. c.; P. Schröder, Intoxikationspsychosen. Wien 1912.
Alkoholpsychosen.
781
Aus ihren Reden vernimmt er, daß sie sein Vorleben genau
kennen. Er schließt daraus, daß sich eine ganze Bande ge¬
bildet hat, die ihn umbringen will, zieht die weitere Konsequenz
daraus, daß er sich verteidigen muß. Einer unserer Kranken
schloß sich in sein Haus ein, verbarrikadierte dessen Türen, legte
an die Wasserleitung einen langen Schlauch, begann aus dem
Fenster zu schimpfen, und als sich infolgedessen eine größere
Menschenmenge ansammelte, sah er darin die Bestätigung dessen,
was er in den Tagen vorher geargwöhnt hatte, daß er nämlich
von einer ganzen Horde verfolgt würde und umgebracht werden
sollte. Infolgedessen spritzte er mit seinem Schlauch auf die
untenstehende Menge, bis das Haus von Schutzleuten gestüimt
wurde. Er kam dann zu uns.
Auch hier hörte er noch in der Nacht die Stimmen seiner
Verfolger unter dem Fenster rufen, und selbst, als das längst nicht
mehr der Fall war, glaubte er nach wie vor an die Richtigkeit
seiner Sinnestäuschungen und Verfolgungsideen.
Auch in diesen Zuständen kann es zu Personenverkennungen
kommen, ebenso werden Täuschungen des Gefühlssinns beob¬
achtet, die der Patient dann in wahnhafter Weise verarbeitet,
indem er glaubt, daß mit besonderen Apparaten heimlich gegen
ihn vorgegangen wird. Wesentlich ist, daß sich mit diesen para¬
noiden Vorstellungen und Sinnestäuschungen ein lebhafter Angst¬
affekt und die Neigung zu Zorn- und Wutausbrüchen verbinden
kann und daß es auf diese Weise zu Angriffen auf die Um¬
gebung kommt.
Die innere Unruhe des Alkoholdeliranten, ebenso wie die
körperlichen Zeichen, welche beim Alkoholdelirium bereits be¬
sprochen sind, finden sich meist auch beim Alkoholhallu¬
zinanten.
Der ^'erlauf der Erkrankung ist kein rascher wie beim Deli¬
rium. Fast stets zieht sich dieselbe über einige Wochen hin. Es
kommt aber auch vor, daß sich ein chronisch paranoischer Zustand
entwickelt, namentlich ist dies dann der Fall, wenn bereits ein
oder einige .A.lkoholhalluzinosen voraufgegangen sind.
Ein typisches Beispiel einer Alkoholhalluzinose ist das fol¬
gende :
P. H., Bahnwärter, starker Trinker, wird in die Anstalt eingeliefert
und berichtet folgendes:
“82 Alkoholpsychosen.
Vor einiger Zeit habe er gehört, daß seine Schwester sich
in einem Bordell in H. befinde und dort Unzucht treibe. Er habe
infolgedessen vor einigen Tagen beschlossen, dorthin zu fahren und
das Mädchen aus dem üblen Hause herauszuholen. Schon auf dem
Wege zum Bahnhof sei ihm aufgefallen, daß eine Reihe merkwürdig aus¬
sehender Leute ihm in einiger Entfernung folgten, sich verstohlen Zeichen
gaben und auf ihn hinwiesen. Er sei dann in ein Dienstcoupö gestiegen
und habe die Fahrt nach H. gemacht. Während der Reise habe er nun
im Nebencoupö dieselben Leute sprechen hören, offenbar seien es Zu¬
hälter gewesen, die verhindern wollten, daß er seine Schwester aus dem
übelberüchtigten Hause hole. Man habe geschimpft und gedroht, man
wolle ihn kalt machen, es würde sich schon Gelegenheit dazu bieten.
Der eine habe auch gesagt, wenn er das Haus beträte, würde jener
hinter der Tür stehen und ihn erstechen. Er sei dann nach H. ge¬
kommen und habe auch das Haus, in dem seine Schwester sich befinden
sollte, gefunden, er habe dasselbe betreten und nach seiner Schwester
verlangt, man habe ihm aber gesagt, dieselbe sei dort nicht. Er habe
das nicht glauben und selbst nachsehen wollen, es seien dann noch
mehrere Leute gekommen und hätten ihn hinausgeworfen. In dieser Tat¬
sache erblickte er eine neue Bestätigung seiner Ansicht, daß man hinter
ihm her sei. Dies habe sich im übrigen auch auf dem Rückwege gezeigt.
Wiederum saßen im Nebencoupe jene Leute und besprachen ganz genau
alle Einzelheiten, wie, wo und wann er umgebracht werden sollte. Er
sei infolgedessen schleunigst nach T. zurUckgefahren und habe dort die
Polizei benachrichtigt; diese habe ihm aber keine Hilfe Zusagen können,
weil sie ihm nicht geglaubt habe. Seine Angst sei immer größer ge¬
worden, er habe auch einige von den Kerlen hinter sich gesehen und
habe dieselben beschimpft; auch hierher seien sie ihm nachgekommen.
Die Ehefrau des Mannes gab an, daß er in der Tat in den letzten
Tagen von seinen Verfolgern gesprochen habe, auch von Haus einige Zeit
fort gewesen und sich herumgetrieben habe, ob er nach H. gereist sei,
könne sie nicht sagen. Jedenfalls habe er eine ganze Reihe von Per¬
sonen beschimpft und bedroht und deshalb sei seine Überführung in die
Anstalt notwendig geworden. Auch hier glaubte er noch 3 bis 4 Monate
vollkommen an die Richtigkeit seiner Angaben, allmählich kam Krank-
hcitseinsicht. Nach 6 Monaten etwa konnte er entlassen werden. 2 Jahre
später kam er mit einer ähnlichen Halluzinose wieder, die diesmal er¬
heblich länger anhielt. Patient wurde nach längerer Behandlung zwar
als gebessert, aber nicht als geheilt entlassen, war ruhiger geworden,
schimpfte auch nicht mehr. An einem großen Teil seiner Wahnidee hielt
er aber nach wie vor fest.
Über die forensische Bedeutung dieses Krankheits¬
zustandes ist im wesentlichen dasselbe zu sagen, wie über das
Delirium, nur daß er mehrere Wochen anhält, während das Deli¬
rium nach einigen Tagen abgeklungen ist.
Zu verkennen sind diese Zustände kaum, weil die Kranken
Alkoholpsychosen. 783
mit ihren Wahnideen und Sinnestäuschungen so stark beschäftigt
sind, daß sie allerlei merkwürdige Handlungen begehen, die auch
dem Laien auffallen. Abgesehen davon sprechen sie selbst von
ihren Verfolgungsideen so ausgiebig, daß sie sofort als geistes¬
krank erkannt werden. —
Die chronischen Alkohospsychosen’) paranoiden
Charakters sind gekennzeichnet entweder dadurch, daß die Wahn¬
ideen nicht ausheilen, während die Sinnestäuschungen zurück¬
treten, oder es kommt zu chronischem Halluzinieren, oder drittens
tritt Eifersuchtswahn auf, der nicht mehr ausheilt,
Praktisch, namentlich aber in bezug auf ihre strafrecht¬
liche Bedeutung, sind diese Fälle der chronischen Paranoia
gleichzustellen, auf die deshalb der Kürze halber hier ver¬
wiesen sei.
Es ist eben von dern Eifers uchts wahn der Trinker die
Rede gewesen“). Er tritt vorwiegend bei langjährigen schweren
Trinkern auf. Erst handelt es sich um ein Mißtrauen gegen die
Frau, das den Patienten dazu veranlaßt, sie genauer zu beobachten.
Er glaubt dann alle möglichen kleinen Zeichen zu bemerken, aus
denen er schließt, daß die Frau mit anderen Männern verkehrt.
Er unterzieht regelmäßig ihre Wäsche einer genauen Unter¬
suchung. Jeder kleine Fleck, den er darin findet, wird als Samen¬
fleck angesehen, nachts hört er Tritte auf dem Korridor, aus denen
er schließt, daß jetzt der Geliebte der Frau sich wieder davon¬
schleicht, weil er gemerkt hat, daß der Mann zu Hause ist. Er
stellt der Frau Fallen, um zir ermitteln, ob sie nachts heimlich das
Schlafzimmer verläßt und ähnliches mehr.
*) Boiihoeffer, Die alkoholischen Geistesstörungen. Deutsche Klinik.
Wien 1905. Chotzen, Arch. f. Psych, Bd. 41; Zentralbl. f. Nervenheilk.
1907; Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 66. E. Meyer, Arch. f. Psych., Bd. 38.
P. Schroeder, Chronische Alkoholpsych. Samml. zwangt Abh. Halle a. S.
1905. Stoecker, Klinischer Beitrag zur Frage der Alkoholpsychosen.
In.-Diss. Erlangen 1910. Raecke, Verhaudl. d. Qesellsch. deutscher
Naturforscher 1903. Iverrens, In.-Diss. Bonn 1911. Raecke, Arch. f.
Psych., Bd. 39.
“) Eriedmann, Psychol. d. Eifersucht. Qrenzfragen d. Nerven- und
Seelenlebens, Nr. 82. Wiesbaden 1911. Bergmann. Birnbaum, Krank¬
hafte Eifersucht und Eifersuchtswahn. Sexualprobleme 1911. Jaspers,
Zeitschr. f. d. ges. Neurol., Bd. 1, S. 567. E. Meyer, Arch. f. Psych.,
Bd. 46, .S. 847. Wahlert. In.-Diss. Greifswald 1903.
784
Alkoholpsychosen.
Einer unserer Kranken z. B. klemmte mehrere Male ein Stück
Holz in die Tür, um festzustellcn, ob die letztere nachts, wenn er
schlief, geöffnet würde. Als tatsächlich einige Male das ein¬
geklemmte Hölzchen zu Boden gefallen war, behauptete er mit
Bestimmtheit, seine Frau verließe nachts, während er schlief, das
Zimmer, um zu ihrem Geliebten zu gehen.
Das Krankhafte des ganzen Zustandes liegt darin, daß die
Vorstellung der ehelichen Untreue auf Grund von „Beweisen“
gefaßt wird, die völlig unzureichend sind. Die meisten dieser
Kranken haben die vermeintlichen Liebhaber ihrer Frau gar nicht
gesehen und können auch dann, wenn sie einen Bestimmten im
Verdacht haben, gar nicht beweisen, daß der Betreffende wirklich
das tut, was sie von ihm glauben, sondern es sind ganz vage Ver¬
dachtsmomente, auf die sie ihre Wahrvorstellungen gründen. Ein
Blick beim Vorbeigehen, ein Fleck in der Wäsche, vermehrter
Schleim in der Vagina oder ,.Erweiterung“ der Vagina, aus solchen
Dingen schließt der Kranke, daß seine Frau mit einem anderen
Manne verkehrt habe. Nach kürzerer oder längerer Abstinenz
pflegt der Patient für die Wahnideen in einem Teil der Fälle eine
gewisse Krankheitseinsicht zu bekommen. Es geschieht aber nicht
selten, daß mit dem erneuten Einsetzen von Alkoholexzessen auch
der Eifersuchtswahn wiederkehrt und schließlich zu einer unheil¬
baren Krankheit wird.
Bedeutungsvoll ist das Leiden deshalb, weil der Patient seine
Frau infolge seiner krankhaften Vorstellungen häufig mißhandelt,
ja, es gehört nicht zu den Seltenheiten, daß der Eifersuchtswahn
der Trinker zu schweren Körperverletzungen, sogar zu Totschlag
und Mord führt^). Ebenso kommt es gelegentlich zu Beleidigungen
und Körperv'erletzungen desjenigen Mannes, welcher als Liebhaber
der Frau angesprochen wird. Auch das Umgekehrte wird übrigens
beobachtet, daß der Patient selbst Schaden leidet, indem der Be¬
leidigte ihn verprügelt.
Auch in zivilrechtlicher Hinsicht ist der Eifersuchts¬
wahn insofern von Bedeutung, als er geeignet ist, das Eheleben
') Vor einigen Monaten erschien ein Alkoholist, der wegen Eifer¬
suchtswahns bei uns früher behandelt worden war, Sonntags abends in
meiner Wohnung mit der Bitte, ihn sofort aufzunehmen, denn sonst
geschehe ein Unglück. Ich entsprach seinem Wunsche und nahm dem
Kranken gleichzeitig einen geladenen Revolver ab. Er war aus einer
anderen Anstalt entwichen, um seine Frau zu töten.
Alkoholpsychosen. 785
durch und durch zu zerrütten. Wenn längere Zeit bestehender
Eifersuchtswahn nachgewiesen ist, ist meiner Ansicht nach die
Ehescheidung wegen Geisteskrankheit nur dann nicht durchführ¬
bar, wenn der Kranke, sei es freiwillig, sei es unfreiwillig, zu
längerer Anstaltsbehandlung bewogen werden kann und durch
diese eine weitgehende Besserung oder Heilung erzielt wird.
übrigens ist in solchen Fällen die Ehescheidung ja auch aus
§ 1568 B.G.B. möglich, wenn die Anwendung des § 1569 B.G.B.
Schwierigkeiten macht. Es steht außer allem Zweifel, daß die
schweren Mißhandlungen, welche eine solche Frau erdulden muß,
eine grobe Verletzung der durch die Ehe begründeten Pflichten
darstellen, und daß dadurch eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen
N’erhältnisses verschuldet wird, daß der Frau die Fortsetzung der
Ehe nicht zugemutet werden kann. —
Zu erwähnen ist schließlich bei dem Kapitel Alkoholpsychosen
noch die akute Angstpsychose der Trinker.
Sie ist ausgezeichnet durch hochgradige Angst und Ver¬
zweiflung. Hinzutreten kann innere Unruhe, Schreckhaftigkeit,
Neigung zu Selbstmordversuchen.
Bisweilen treten diese Zustandsbilder mehr anfallartig auf,
sie können aber auch längere Zeit anhalten. Tritt die Angst
zurück, macht sie einem verhältnismäßig stumpfen, gehemmten
Wesen Platz. Nach Gramer’) handelt es sich im allgemeinen um
eine heilbare Psychose.
Die forensische Bedeutung liegt in der Neigung zu
Affektausbrüchen. —
Als a 1 k o h o 1 i s c h e P s e u d o p a r a 1 y s e hat man außer¬
dem noch eine auf dem Boden chronischen Alkoholmißbrauchs
entstehende Erkrankung beschrieben, die durch eine verhältnis¬
mäßig weitgehende Verblödung gekennzeichnet ist, ohne daß
mit ihr auch Größenideen verbunden zu sein brauchen. Ge¬
legentlich findet sich träge Pupillenreaktion und eine vorüber¬
gehende Abschwächung der Kniephänomene, so daß das Bild
’) ln Binswanger-Siemerlings Lehrbuch.
“) Literatur: Roth, Alkoholfrage 1907. Puppe, Ärztl. Sachv.-Zeitg.
1903. Stier, Akute Trunkenheit. Jena 1907. v. Wagner, Wien. klin.
Wochenschr., Bd. 32. Siemerling, Friedrichs Bl. f. gerichtl. Med., Bd. 52.
Oertel, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 59. Francotte, Journ. de Neurol. 1897.
Schloss, Wien. med. Wochenschr. 1898. Hoppe, Allg. Zeitschr. f. Psych.,
Bd. 57. E. Meyer, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., Bd. 23.
Hübner, Forensische Psychiatrie. 50
786
Alkoholpsychosen.
einer beginnenden Paralyse vorgetäuscht wird. Sogar die
Sprache kann für einige Zeit undeutlich und verwaschen sein.
Der Unterschied gegenüber der echten Paralyse liegt aber darin,
daß sowohl die körperlichen Symptome wie auch ein Teil der psy¬
chischen unter Alkoholabstinenz in verhältnismäßig kurzer Zeit
weitgehender Besserung fähig sind.
Gramer zieht aus dem Vorhandensein derartiger Fälle mit
Recht den Schluß, daß man bei Alkoholisten vorsichtig mit der
Diagnose Paralyse sein müsse, für gewöhnlich ist aber nach einigen
Wochen oder Monaten die Diffcrentialdiagnose möglich, so daß
bei längerer Beobachtung Fehler vermieden werden. Ist nach
einiger Zeit eine wesentliche Besserung eingetreten, so ist der Fall
forensisch bezüglich Entmündigung und Ehescheidung nicht
schwierig. —
Über die strafrechtliche Bedeutung der einzelnen auf Alkcjhol-
mißbrauch zurückzuführenden Krankheitszustände ist wohl kaum
weiteres hinzufügen. Zivilrechtlich können die vorüber¬
gehend auftretenden psychischen Störungen nur insofern von
Wichtigkeit sein, als sie Anlaß zur Ventilierung der Frage der
Geschäftsfähigkeit für einzelne Rechtsgeschäfte geben. Es werden
unter dem Einfluß des Eifersuchtswahns bisweilen Testamente
errichtet, in denen die Frau bei der Erbschaft benachteiligt wird.
Bei der Entmündigung wird weniger der akute Zustand für
die Beurteilung des Falles berücksichtigt werden dürfen, als viel¬
mehr Dasjenige, was übrig bleibt, wenn die akuten Erscheinungen
des Deliriums, der Alkoholhalluzinose usw. abgeklungen sind.
Wie schon oben ausgeführt wurde, wird man im allgemeinen
den chronischen Trinker nur dann entmündigen lassen, wenn
man damit einen ganz bestimmten Zweck verfolgt, d. h. in erster
Linie, wenn auf diese Weise ein Heilversuch eingeleitet werden
soll, zu dem sich der Kranke ohne Zwang nicht bereit findet. In
kleineren Orten wird man durch die Entmündigung auch dem
Kranken das Schuldenmachen erschweren können.
Daß die Ehescheidung’) bei Trinkern möglich ist,
namentlich wenn Eifersuchtswahn besteht, oder aber wenn
Verblödung eingetreten ist, ist oben auch bereits ausgeführt
worden.
’) Über die EhescheidunR bei Eifersuchtswahn s. R.O. 30. 6. 04; Jur.
Wochenschr. 1904, S, 470.
Alkoholpsychosen.
787
Die Zeugnisfähigkeit des Alkoholisten ist von Fall zu
Fall zu beurteilen. Handelt es sich um einen degenerierten
Trinker, so lügt er unter Umständen bewußt. Hat das Gedächtnis
gelitten, so kann die Erinnerung an den in Frage kommenden Vor¬
gang ungenau sein. Zu berücksichtigen bleibt ferner die Möglich.-
keit, daß der Patient zu der Zeit, als sich das Geschehnis abspielte,
auch betrunken war, so daß er gar nicht imstande war, richtige
Wahrnehmungen zu machen*).
Ein Fall, in dem sowohl die Entmündigung wegen Geistes¬
schwäche als die Ehescheidung in Betracht kam, ist der folgende:
CI. B., geh. 2. Mai 1867. Ärztegattin. Chronische Alkoholistin. Ent¬
mündigung. Ehescheidung.
Fragestellung: ob Aussicht besteht, daß die Ehefrau B. sich bessern
werde oder ob jegliche Besserung als ausgeschlossen erscheine.
Vorgeschichte. Am 27. Juli d. J. stellte der Rechtsanwalt C. namens
des praktischen Arztes Dr. B. beim königl. Amtsgericht in W. den Antrag,
gegen die Ehefrau CI. B. das Entmündigungsverfahren wegen Trunksucht
einzuleiten und die vorläufige Vormundschaft zu beschließen. Zur Be¬
gründung des Antrags wurde ein Schriftsatz eingereicht, dem ich folgen¬
des entnehme:
Frau B. ist seit 10 Jahren dem Trünke ergeben. Anfangs trank sie
nur Bier und Wein, später auch stärkere Getränke (Cognak, Rum usw).
ln der ersten Zeit vermochte sie das Trinken noch zu verheimlichen,
später war das nicht mehr möglich. Als der Ehemann davon merkte,
suchte er dem Übel mit allen Mitteln entgegenzuwirken, vor allem durch
Beseitigung der Quellen für die Getränke. Das gelang aber nur zeitweise,
denn Frau B. fand immer wdeder Mittel und Wege, sich Alkohol zu ver¬
schaffen.
Im Frühjahr 1904 erkrankte sie an einem mit Leberschw'ellung und
Zeichen der Nervenentzündung verbundenem, dem Delirium ähnlichen
Zustand, dessentwegen sie 2 Monate zu Hause und dann 7 Monate in
einem Krankenhause behandelt wurde, ohne daß ein Dauererfolg erzielt
worden w'äre. Allen Mahnungen und Verwarnungen zum Trotz trank sie
W'eiter und stieß sogar noch Drohungen gegen ihren Mann und ihre
Kinder aus.
Die mehrmonatliche (1905—1906) Krankheit ihres ältesten Sohnes hat
ebensowenig, wie dessen Tod irgendwelchen günstigen Einfluß auf ihr
Verhalten ausgeübt.
Mehrfacher Aufenthalt im Eltcrnhause und bei einem Onkel blieben
gleichfalls ohne Dauererfolg. Trotz sorgfältigster Aufsicht gelang es ihr
doch immer wieder, sich geistige Getränke zu verschaffen. Sie bediente
sich dabei ihres eigenen Dienstmädchens und einer Waschfrau, trank den
*) über die Betrunkenheit von Zeugen bei der Verhandlung s. die
Ausführungen in dem entsprechenden Kapitel der Str.P.O.
50
788 Alkoholpsychosen.
ini ärztlichen Sprechzimmer ihres Gatten vorhandenen Alkohol und den
zu Reinigungszwecken eingekauften Spiritus, und scheint schließlich auch
vor den geringeren Schnapssorten nicht zurückgeschreckt zu sein,
wenigstens finden sich in dem Kontobuch Notizen über den Einkauf von
Schnaps („Wurm“, „Bergalter“, „Bitterer“ und ähnl.). —
Als Folgen der Trunksucht wurden durch die Zeugen nachstehende
Tatsachen angegeben:
1. Vernachlässigte Frau B. ihren Haushalt. Sie rechnete mit den
Dienstboten nicht ab und kümmerte sich um die Erziehung und Kleidung
ihres einzigen Kindes nicht, so daß der Vater dafür sorgen mußte, daß
der Knabe abends rechtzeitig ins Bett kam.
2. Ist von verschiedenen Zeugen ausgesagt worden, daß Frau B. in
der Betrunkenheit wirr redete und auch eine hochgradige Gedächtnis¬
schwäche an den Tag legte. Sie erzählte mehrfach hintereinander die¬
selben Dinge, ohne es zu merken.
3. Schimpfte sie über ihren Ehemann in Gegenwart der Dienstboten
„in der gemeinsten Weise“ und sprach gegen denselben die schwersten
Verdächtigungen (Eifersuchtsideen) aus. Durch ihr Gebaren bewirkte sie,
daß ihre Trunksucht in allen Kreisen der Bevölkerung bekannt werde.
Um diesem Zustande ein Ende zu machen, bewirkte der Ehemann
am 29. April 1909 die .Aufnahme in die hiesige Klinik.
Am 27. Juli d. J. stellte er außerdem den Antrag auf Entmündigung
wegen Trunksucht.
In dem am 16. August 1909 mit der zu Entmündigenden abgehaltenen
Explorationstermin bestritt sie, ihren Haushalt vernachlässigt zu haben.
Als Grund ihrer Trunksucht gab sie Eifersucht an, zu der ihr ihr Mann
oft Anlaß gegeben habe.
Daß sie nach dem Alkoholgenuß geistig geschwächt sei, bestritt sie
energisch und gab zum Beweise mehrere Zeugen, u. a. den Verfasser an.
Eigene Beobachtung. Die zu Entmündigende hat sich vom
29. April d. J. bis jetzt in der Königl. Nervenklinik aufgehalten und ist
in bezug auf ihren psychischen Zustand öfters von dem Verfasser unter¬
sucht worden. Sie machte dabei folgende Angaben:
Psychisch: Sie brauche nicht zu trinken. Wenn sie keinen Alkohol
habe, entbehre sie ihn auch nicht. Wenn sich zu Hause die Verhältnisse
so unglücklich gestaltet hätten, so sei sie keineswegs daran allein schuld.
Sie habe ihrem Manne gleich gesagt, er solle nicht in das Haus ziehen,
in dem der Bierhändler wohne. Dadurch habe sie auch sehr viel Ge¬
legenheit zum Trinken gehabt. Außerdem habe man in der Familie viel
geselligen Verkehr gepflegt. Es seien mitunter schon morgens Gäste da¬
gewesen und dann sei auch Alkohol auf den Tisch gekommen. Ihr Mann
habe ja selbst beim Frühstück, Mittag und Abendbrot getrunken. —
Sie habe auf diese Weise durchschnittlich etwa 3 Krüge Bier täglich
zu sich genommen. Schnaps habe sie selten getrunken.
Die ehelichen Verhältnisse hätten sich auch nicht allein des Trinkens
wegen so ungünstig gestaltet. Ihr Gatte habe ihr auch Grund zur Eifer¬
sucht gegeben. Er sei zu einer Dame nach B. gefahren und habe sie
darüber vernachlässigt. Zwischen den beiden seien überschw’ängliche
Alkoholpsychosen.
789
Karten gewechselt worden. Ihr Gatte habe ihr auch gesagt, er führe
zu der anderen, offenbar um sie zu reizen. So etwas müsse doch jede
Frau kränken.
Charakteristisch für ihre Gedächtnisschwäche ist z. B. der folgende
Vorfall;
Eines Tages — es handelte sich um einen Besuch ihres Mannes —
hatte sie wieder eine Unterredung mit dem Verfasser, in der in durchaus
sachlicher Weise ihre verschiedenen, dem Gatten zu übermittelnden
Wünsche besprochen wurden. Einige Stunden später bat Patientin um
eine neue Unterredung, in der sie den Verfasser wiederholt um Verzeihung
bat. Sie müsse ihn vorhin gekränkt haben. Von den Dingen, die sie
dabei vorbrachte, war vorher gar nicht die Rede gewesen. Sie hatte
offenbar von dem Inhalt der vorhergegangenen Unterredung keine
Ahnung mehr. —
Hinzugefügt sei übrigens noch, daß auch den mit ihr untergebrachten
Patientinnen die Gedächtnisschwäche aufgefallen ist.
Zur Beurteilung des sonstigen psychischen Verhaltens ist noch
folgendes hinzuzufügen:
Die Stimmung schwankte. W-enn ihr eine unangenehme Mitteilung
gemacht wurde, war sie vorübergehend gereizt und grob, einige Stunden
später sprach sie über dieselbe Sache aber bereits in humorvoller Weise.
Als sich ihr Gatte ihren W'Unschen bezüglich Entlassung widersetzte,
drohte sie, ihm allerlei Unannehmlichkeiten bei Behörden usw. bereiten
zu wollen.
Als ihr probeweise die Erlaubnis erteilt wird, allein in die Stadt
zu gehen, verzichtet sie darauf, betont dabei, daß sie sich vom Alkohol
fern halten könne, bittet gleichzeitig aber heimlich eine andere Patientin,
ihr ein Pfund Kognakbohnen aus der Stadt mitzubringen. Mehrfach wurde
auch beobachtet, daß der Brennspiritus, den sie zum Haarebrennen ver¬
wenden sollte und der ihr in die Brennmaschine gegossen wurde, ver¬
schwunden war, ohne daß die Haare gebrannt waren.
Wenn ihr etwas nicht paßt, gerät sie im Moment in lebhafteste Er¬
regung, schimpft, bedient sich der gewöhnlichsten Ausdrücke, begeht
grobe Verstöße gegen die Formen. Einige Minuten später ist sie wieder
vergnügt und zufrieden, hat den voraufgegangenen unangenehmen Vor¬
fall vergessen.
Dabei besteht eine enorme Gedächtnisschwäche. Oft hat die
Patientin schon eine Stunde nach einem Geschehnis vollkommen ver¬
gessen, was passiert war.
Auf körperlichem Gebiete fand sich mäßiges Händezittern,
eine leichte Druckschmerzhaftigkeit der Lebergegend, starke Uber¬
empfindlichkeit der Fußsohlen und geringer W'adenschmerz.
Gutachten. Fragen wir zunächst, ob bei Frau B. tatsächlich
Trunksucht vorliegt.
Diese Frage ist vom medizinischen Standpunkt aus aus mehreren
Gründen zu bejahen. Einmal deshalb, weil Frau B. sich durch ihr über¬
mäßiges Trinken bereits früher schwere gesundheitliche Schädigungen
zugezogen hat.
790 Alkoholpsychosen.
Sie hat im Jahre 1904 einen dem Delirium ähnlichen Zustand
geistiger Störung durchgemacht, der mit Leberschwellung und Nerven¬
entzündung verbunden war, ein Komplex von Krankheitserscheinungen,
der für schwere Trunksucht geradezu typisch ist.
Zweitens sind auch noch heute, nachdem sie bereits einige Zeit in
ärztlicher Behandlung steht, Zeichen chronischen AlkoholmiBbrauchs bei
ihr zu finden. Ich nenne als solche das Händezittern, die Überempfind¬
lichkeit der Fußsohlen, die Gedächtnisschwäche, die sehr stark ausge¬
prägte Einsichtslosigkeit und die dauernd vorhandenen Eifersuchtsideen.
Auch diese Symptomenreihe findet sich bei keiner anderen Geistes¬
störung so ausgeprägt, wie beim chronischen Alkoholismus.
Daß es sich auch im juristischen Sinne um Trunksucht handelt, mit
anderen Worten, daß Frau B. bisher unter gewöhnlichen Verhältnissen
nicht die Kraft besessen hat, dem Anreize zum übermäßigen Genuß
geistiger Getränke zu widerstehen, ist aus ihrer Vorgeschichte zu ent¬
nehmen.
Seit 10 Jahren trinkt sie. Von seiten ihres Ehemannes und ihrer
eigenen Verwandten sind die verschiedensten Versuche gemacht worden,
ihr den Alkohol zu entziehen. Solange sie durch scharfe Bewachung
in ihrer Bewegungsfreiheit behindert wurde, ging es mit ihr; so¬
bald sie jedoch in die gewöhnlichen Verhältnisse des täglichen Lebens
zurückkehrte, versagte sie jedesmal nach kurzer Zeit wieder. Es ver¬
dient auch hervorgehoben zu werden, daß sie sich in früheren Jahren nur
auf Bier und Wein beschränkte, während sie später selbst den
schlimmsten Fusel nicht scheute. Wie aus den Bekundungen der Zeugin
W. S. hervorgeht, hat die Patientin gelegentlich auch einmal große
Quantitäten (P/s Flaschen) Wein in wenigen Minuten hintereinander
heruntergetrunken.
Wer alles das jahrelang tut, dabei die soziale Stellung des Mannes
utitergräbt, lediglich um sich heimlich Alkohol zu verschaffen (cf. der
Verkehr mit der Waschfrau), bei dem muß man annehmen, daß er von
einer krankhaften „Sucht“ zum Trinken beherrscht wird, der hat auch
bewiesen, daß er unter den gewöhnlichen Verhältnissen des täglichen
Lebens nicht die Kraft besitzt, dem Anreiz zum übermäßigen Genuß
geistiger Getränke zu widerstehen.
Mit den vorstehenden Ausführungen haben wir bereits die Frage der
Besserungsfähigkeit (i. S. des § 681 Z.P.O.) angeschnitten.
Wer an der Hand der Vorgeschichte verfolgt hat, wie die Kranke
von Bier und Wein zum Schnapse herabgesunken ist, wer von der Frucht¬
losigkeit aller bisherigen Heilversuche hört und drittens erwägt, daß
selbst so harte Schicksalsschläge wie der Tod des Vaters und des eigenen
Kindes nicht vermocht haben, die Kranke auf den rechten Weg zurück-
zuführen, der wird auch auf die Zukunft wenig Hoffnung setzen können,
um so weniger, als die Patientin auch heute, nachdem ihr von Ver¬
wandten, ja sogar vom Gericht klar gemacht worden ist, daß von ihrem
zukünftigen Verhalten alles weitere abhängt, daß sie ihre ganze Willens¬
kraft zusammennehmen müsse, um sich von dem traurigen Leiden zu be-
Der Morphinismus. 791
freien, noch daran festhült, daß sie durch ihren Gatten zum Trinken
verführt worden sei und daß sie auch in Zukunft nur davon frei
werden könne, wenn der Gatte ihr keinen Grund zur Eifersucht mehr
geben würde. Daß die Eifersucht krankhaft ist, sieht sie nicht ein.
Wenn die Kranke immer von neuem auf die früheren kurzen Zeiten
hinweist, in denen sie, unter strenger Aufsicht stehend, nichts getrunken
liat, so ist dem entgegenzuhalten, daß sie bisher jedesmal nach Rückkehr
aus der strengen Abgeschiedenheit des Krankenhauses oder nach dem
Landaufenthalt beim Onkel in den alten Zustand zurückgefallen ist.
Wenn von der Zukunft überhaupt noch etwas zu erwarten ist — mit
Sicherheit auszuschließen ist eine Besserung auch bei Frau B. nicht —
so wird nur dann etwas erreicht werden, wenn die Kranke unter die
leitende Hand eines Vormundes kommt.
Sich selbst überlassen, wird sie wahrscheinlich die vom Ehemann
gehegten Befürchtungen wahr machen. Wie sie bisher ihre Haupt¬
interessen (die Wirtschaft und das Kind) infolge der Trunksucht vernach¬
lässigt hat, so würde sie das auch in Zukunft tun. Außerdem steht zu
erwarten, daß sie sich pekuniär durch die beträchtlichen Ausgaben für
geistige Getränke auf die Dauer erheblich schädigen muß, ebenso, wie
sie sich gesellschaftlich überall unmöglich macht. Ob sie schließlich nicht
auch in der Trunkenheit eine ihrer Drohungen gegen den Mann und ihre
Nebenbuhlerin einmal ausführt, ist nicht abzusehen.
Die Patientin ist auf Grund dieses Gutachtens entmündigt worden.
Später wurde auch auf Antrag des Mannes die Ehe geschieden.
Wie bereits an anderer Stelle erwähnt wurde, wird in man¬
chen Gegenden Englands, Rußlands und Deutschlands der Alko¬
hol durch Äther ersetzt. Da die Konsequenzen im Prinzip die¬
selben sind, braucht hier nicht weiter darauf eingegangen zu
werden. Siehe auch Cohn, Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1903, S. 44.
Betr. Absinth s. a. Sachverst.-Zeitg. 1907, S. 108.
Der Morphinismus’).
Ein Morphinist ist ein Kranker, der regelmäßig Morphium
nimmt, dessen Nervensystem sich an das Morphium so gewöhnt
hat, daß er sich desselben nicht mehr entraten kann und der in¬
folgedessen auf körperlichem und geistigem Gebiete gewisse Ver¬
giftungserscheinungen darbietet.
Sonstige Literatur: Troeger, Akute Morphiumvergiftung in ge-
richtlich-medizin. Beziehung. Friedreichs Blätter f. ger. Med., Jahrg. 53,
S. 62. Crothers, Morphinisme and crime. Alienist and Neurologist 1901.
Schmidtaner, Einfluß des Morphinismus auf die strafrechtliche und zivil-
rechtliche Zurechnungsfähigkeit. Friedreichs Bl. f. gerichtl. Med., Bd. 37,
792
Der Morphinismus.
Diese Definition, welche im großen und ganzen mit derjenigen
von Krafft-Ebing übereinstimmt, bezeichnet also nicht jeden regel¬
mäßig Morphium Nehmenden als Morphinisten, sondern nur den¬
jenigen, bei dem der Genuß dieses Mittels zu einer krankhaften
„Sucht“ geworden ist.
Viele Morphinisten sind von Jugend auf degenerativ ver¬
anlagt. Die äußere Veranlassung, welche sie zum Morphinismus
treibt, sind körperliche oder seelische Schmerzen, chronische Er¬
krankungen, Angstzustände, Schlaflosigkeit, Verführung und
Nachahmung (Erlenmeyer) ').
Unter den Morphinisten befinden sich viel solche, die be¬
sonders leicht an Morphium hcrankommen können (Ärzte, Apo¬
theker, Tierärzte, Pflegerpersonal). Daneben verfallen gelegent¬
lich aber auch Angehörige aller anderen Stände der Sucht.
Der Arzt verordnet das Morphium in allererster Linie zur
Beseitigung von Schmerzen. Bei dieser Gelegenheit lernt der
Patient seine wunderbare Wirkung zum ersten Male kennen.
Tage- und wochenlang hat er dagelegen, von heftigsten Schmerzen
gepeinigt, schlaflos, fast verzweifelt. Er erhält eine Morphium¬
injektion, und innerhalb w'eniger Minuten sind seine ganzen
Qualen geschwunden. Es kommt eine himmlische Ruhe und Zu¬
friedenheit über ihn und er findet Schlaf.
Er erwacht nach einiger Zeit. Die Wirkung des Morphiums
ist verflogen. Von neuem setzen seine Schmerzen ein. Von neuem
muß er den Schlaf entbehren, da ist es ganz natürlich, daß er
selbst nach dem wunderbaren Linderungsmittel verlangt.
Da, wo der Arzt oder ärztlich kontrolliertes Pflegepersonal
die Verabreichung selbst in Händen behält, pflegt auch längere
S. 377 (dort ältere Literatur!). Mörchen, Delirante Zustände. Monats-
schr. f. Psych., Bd. 28. Förster, Charit6-Annalen, Bd. 34, S. 285. H. Berger,
Jahreskurse f. ärztl. Fortbildung 1911. Bonhoeffer, Zeitschr. f. ärzfl. Fort¬
bildung 1911. Erlenmeyer, Morphiumsucht. 1887. Deutsch, Morphinis¬
mus. 1901. F. Enke. Cohn, Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1899. Weygandt im
Atlas der Psychiatrie. München. Lehmann. Ziehen, Psychiatrie. 4. Auf!.
Levinstein, Morphiumsucht. Berlin 1883. Rodet, Morphiomanie et Mor-
phinisme. Paris 1897 (Literatur). Jastrowitz in Deutsche Klinik 1904:
Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1912, S. 448. Haymann, Polyneuritische Psy¬
chose. Zentralbl. f. Nervenheilk. 1909. Ilberg, Monatsschr. f. Kriminal-
psychol. 1909, S. 436.
S. auch Behandlung des Morphinismus und Kokainismus im
Handbuch der ges. Therapie. Jena 1909. Gustav Fischer.
Der Morphinismus.
793
Darreichung von Morphium im allgemeinen keine nachteiligen
Folgen zu haben. Anders ist es, wenn in der Privatpraxis die
Morphiumflasche und die Spritze dem Kranken überlassen wird
und er selbst entscheidet, wann eine neue Injektion erforderlich
ist. Dann beginnt für den Haltlosen die Gefahr. Er wartet nicht
erst ab, bis sich die Schmerzen wieder einstellen, sondern sucht
das zu vermeiden, indem er vorher Morphium spritzt. Die
Wirkung verfliegt rasch. Bald gewöhnt er sich ganz an das
Mittel, und je mehr das der Fall ist, desto größer wird das Be¬
dürfnis danach.
Auf diese Weise kommt der Kranke mitunter sehr rasch zu
sehr hohen Dosen (i—3 g täglich *). Je mehr er nimmt, desto
geringer wird seine Widerstandskraft, so daß er bald nicht mehr
ohne Morphium leben kann, also morphiumsüchtig “) in dem oben
angegebenen Sinne geworden ist. —
Sein Befinden hängt jetzt ganz davon ab, ob er Morphium
bekommt oder nicht. Fehlt es ihm, so treten Abstinenz¬
erscheinungen auf. Er ist unfähig zusammenhängend zu
denken und zu reden, fühlt sich innerlich unruhig. Er kann sich
nicht konzentrieren, erscheint zerstreut, seine Leistungsfähigkeit
nimmt ab, die innere Unruhe zeigt sich durch zweckloses Herum¬
laufen. Auch Angstgefühl entsteht bisweilen und Schlaflosigkeit
kann hinzutreten. Das Gesicht sieht fahl und verfallen aus. So¬
bald er sich das unentbehrliche Gift wieder eingespritzt hat,
ändert sich innerhalb weniger Minuten sein Aussehen und Ge¬
baren. Er wird wieder lebhafter und beweglicher wie vorher, kann
seine Arbeit sogleich aufnehmen. Die Haltung ist straffer, die
Gesichtsfarbe ist frischer, das Mienenspiel lebhafter. Da die
Kranken das selbst wissen, tragen sie immer einen Vorrat an
Morphium mit sich herum und nehmen die erste beste Gelegenheit
wahr, um sich neue Injektionen zu machen. Sie desinfizieren
dabei die Spritze nicht mehr, machen die Injektionen durch die
Kleider hindurch und so kommt es, daß sie nicht allein am Körper
eine Unzahl von Injektionsstellen haben, sondern sehr bald auch
Eiterungen (Abszesse) bekommen, deretwegen sie dann ärztlich
*) Für den Juristen sei hinzugefügt, daß die aus medizinischen Grün¬
den verabreichte Einzeldosis 0.01 g, die Tagesdosis 0.03 g Morphium
beträgt.
’) Ober das Zustandekommen der Gewöhnung s. Rübsamen: Arch.
f. exp. Pathol. 59, 227.
794
Der Morphinismus,
Ijehanclelt werden müssen. Die Narben von solchen Abszessen
und auch die zahlreiclien Einsticbstellen am ganzen Körper können
dem Arzt neben der durch das Morphium bedingten auffallenden
Enge der Pupillen die Diagnose Morphinismus erleichtern. —
Wenn der Kranke soweit gekommen ist, wie es eben ge¬
schildert wurde, ist er meistenteils nicht mehr in ärztlicher Be¬
handlung und er hat nun Mühe, sich die für ihn erforderliche täg¬
liche Morphiumdosis zu beschaffen, sofern er nicht selbst Arzt
ist oder durch seine berufliche Tätigkeit Gelegenheit hat, das
Gift zu erhalten. Diejenigen Kranken, die hierzu nicht in der
Lage sind, setzen sich entweder heimlich mit Drogisten *) usw.
in Verbindung, oder sie gehen in der Großstadt gleichzeitig zu
mehreren Ärzten und lassen sich von jedem kleine Dosen ver¬
schreiben mit dem Versprechen, auf diese Weise ohne Anstalts¬
behandlung eine Abstinenzkur zu machen. Einer unserer Kranken,
der allmählich zum Vagabunden geworden war, zog von Ort zu
Ort, ließ sich überall bei der Polizei eine Bescheinigung für den
Armenarzt geben, von diesem eine kleine Menge Morphium ver¬
schreiben, mit der er weiter wanderte. So machte er täglich viele
Kilometer ab, um bloß die erforderliche Dosis Morphium zu¬
sammen zubekommen. —
Genügt auch das nicht, so schreitet der Kranke zur Rezept¬
fälschung. Es sind ferner Fälle bekannt, wo Morphinisten, um
Morphium zu erlangen, den Apotheker überfielen oder in Apo¬
theken einbrachen. —
Der Morphinist gilt im allgemeinen als ein entarteter, ver¬
weichlichter Mensch mit ethischen Defekten, die bei ihm ebenso
wie beim chronischen Alkoholisten eine große Rolle spielen. Er
erniedrigt sich in jeder Weise, wenn er dadurch zu Morphium
kommen kann, lügt und betrügt, er verkommt meist auch sozial
sehr rasch, wenn er finanziell nicht sehr gut fundiert ist. Das
Verhältnis zur Familie ändert sich in demselben Sinne wie beim
Alkoholisten, kurz, die Charakterdegeneration, welche
der Morphinist erfährt, entspricht in vieler Beziehung derjenigen
des chronischen Trinkers. Nur insofern besteht ein Unterschied,
B Erwähnt sei hier, daß ein Drogist wegen fahrlässiger Körperver¬
letzung und Übertretung des § 367,3 St.Q.B. bestraft worden ist (Ärztl.
Sachverst.-Zeitg. 1900, S. 467), ebenso ein Apotheker (Ärztl. Sachverst.-
Zeitg. 1910, S. 44) und ein Arzt (Urteil des L.Q. Bonn 1913).
Der Morphinismus. 795
als Intelligenzdefekte beim Morphinisten nicht einzutreten pflegen
und auch Sinnestäuschungen häufiger fehlen. Dagegen beobachten
wir die Schreckhaftigkeit und Empfindlichkeit des Alkoholisten
auch beim Morphinisten. Auch streitsüchtig ist der letztere oft.
Mit dem Trinker hat er noch etwas anderes gemeinsam.
Hat der Kranke während einer Reihe von Jahren das Gift in
größerer Menge genommen, so stellt sich die Morphium-
k a c h e X i e ein.
Das Gesicht zeigt eine auffallende Blässe, die Haare fallen
aus, ebenso die Zähne. Der Appetit läßt nach. Stuhlverstopfung
wechselt mit Durchfällen ab. Die Herztätigkeit wird unregel¬
mäßig, es kann zu ausgesprochener Herzschwäche kommen. Die
Pupillen sind eng und reagieren träge. Die Körperkräfte und die
Leistungsfähigkeit nehmen ab. Schon nach leichten Anstrengungen
ermüdet der Kranke. Die Hände zittern, die sexuelle Erregbar¬
keit schwindet. Bei Frauen wird oft auch das Ausbleiben der
Periode beobachtet.
Von der Charakterdegeneration ist oben schon die Rede ge¬
wesen. Schwerere Psychosen kommen selten vor. Beobachtet
wurden epileptoide und dclirante Zustände *). Außerdem auch der
Korsakowsche Symptomenkomplex.
Bei plötzlicher Abstinenz treten Durchfälle, Erbrechen,
Gähnen, Gliederzittern, unter Umständen Herzschwäche auf, ferner
Schmerzen in den Gliedern, motorische Unruhe mit Neigung
zur Selbstbeschädigung, Angstzustände und gelegentliche Hallu¬
zinationen.
Auch deliriöse Zustände werden beobachtet. Wo sie die
Abstinenz begleiten, handelt es sich meist um eine Kombination
mit Alkoholismus. —
Was die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit
des Morphinisten anlangt, so sind die ausgesprocheneren psy¬
chischen Störungen, insbesondere die Delirien, selbstverständlich
Krankheitszustände, welche die Anwendung des § 51 Str.G.B.
rechtfertigen.
Die Charakterdegeneration allein begründet noch keine Un¬
zurechnungsfähigkeit. In solchen Fällen hängt die Beurteilung
von dem Grade der vorhandenen Entartung ab, daneben auch von
der Art des begangenen Deliktes.
’) Moerchen; Monatsschr. f. Psych., Bd. 28.
796
Der Morphinismus,
Etwas anderes ist es, wenn sich der Patient in der Morphium¬
abstinenz befindet. Während dieser Zeit ist er, zum mindesten
für eine Reihe von Delikten, als geisteskrank im Sinne des § 51
Str.G.B. anzusehen. Dann ist er zu allem fähig. Er verkauft,
was er besitzt, um Geld zu bekommen, mit dem er sich Morphium
verschaffen kann. Er begeht Körperverletzungen, Urkunden¬
fälschungen und Einbrüche, bettelt und betrügt, fälscht und unter¬
schlägt, alles nur aus dem einem Grunde.
Begeht ein Kranker in diesem Zustande eine mit seiner
Morphiumabstinenz zusammenhängende Straftat, so wird man
wohl in den meisten Fällen zum mindesten eine starke Beeinträch¬
tigung der freien Willensbestimmung annehmen müssen.
Der Sachverständige wird dabei sein Augenmerk auf folgende
Fragen zu richten haben: i. Ist der Angeschuldigte wirklich
Morphinist in dem oben angegebenen Sinne? 2. Bestehen Kom¬
plikationen (Alkoholismus, Kokainismus, schmerzhafte körper¬
liche Krankheiten)? 3. Wie weit hat der Mißbrauch aller dieser
Gifte depravierend auf die Psyche des Patienten gewirkt? 4. Be¬
standen zur Zeit der Tat ausgesprochene Abstinenzerscheinungen
und welche?
Hinzuzufügen ist noch, daß bei Entziehungskuren zu einer
Zeit, wo man die Kur schon als beendet ansieht, noch plötzlich
Abstinenzerscheinungen auftreten können. Krafft-Ebing be¬
richtet außerdem, daß in dieser Zeit eine krankhafte Steigerung
der Libido sexualis eintreten kann, die sich gelegentlich in straf¬
bare Handlungen umsetzt.
Bezüglich der zivilrechtlichen Folgen des Morphinis¬
mus wird es in erster Linie auf die Gesamtpersönlichkeit an¬
kommen. Eine Entmündigung D wegen Morphinismus wird nur
dann möglich sein, wenn der Kranke sich bereits in der Morphium¬
kachexie befindet, d. h. wenn er so hochgradig degeneriert ist
und der Morphinismus auf seine soziale Lebensführung einen so
tiefgreifenden Einfluß ausgeübt hat, daß er eben deswegen außer¬
stande ist, seine Angelegenheiten zu besorgen.
Daß der Einfluß, den der Morphiummißbrauch auf die
Lebensführung des Kranken ausübt, ein wirklich unheilvoller ist,
mögen die folgenden Tatsachen beweisen.
’) Cohn, Zivilrechtliche Bedeutung des Morphinismus. Ärztl. Sach-
verst.-Zeitg. 1899, S. 185. (Dort ältere Literatur.)
Der Morphinismus.
797
Von 17 Morpliinisten (darunter 6 Frauen) übten nur 3
einigermaßen regelmäßig einen Beruf aus (i Arzt, i Ingenieur,
I Kaufmann). Ein weiterer Arzt war so begütert, daß er nicht
zu arbeiten brauchte. Die übrigen arbeiteten entweder unregel¬
mäßig (i cand. med. als Reisebegleiter) oder gar nicht. Zwei von
den Frauen begingen gemeinsam Selbstmord, zwei weitere (Mutter
und Tochter) lebten seit Jahren zum Teil von Erpressungen, zum
anderen Teil von geschickt inszenierten Betteleien. Die übrigen
lebten im wesentlichen von Armenunterstützungen oder Be¬
trügereien. Ab und zu wurde ihr unstetes Umherschweifen durch
einen Aufenthalt im Gefängnis oder in einer Irrenanstalt unter¬
brochen.
.Auch diejenigen, welche im Beruf bleiben können, sind in
ihren Leistungen ungleichmäßig. Oft handeln sic unüberlegt,
lassen sich auf unsichere Spekulationen ein (Ziehen) und suchen
auf jede Weise Geld zu verdienen, ohne Rücksicht darauf, ob sie
die Grenze des gesetzlich und moralisch Erlaubten überschreiten
oder nicht.
Daß sie dabei oft, statt zu gewinnen, verlieren und daß sie
bisweilen ausgebeutet werden, wird Niemanden wundernehmen.
Die Ungültigkeit der Rechtsgeschäfte, welche solche Personen
vollziehen, wird man aber nur in seltenen .Ausnahmcfällen be¬
weisen können. —
Daß verheimlichter Morphinismus ein E h e a n f e c h t u n g s -
grund ist, halte ich für selbstverständlich. Die Eheschei¬
dung wegen Geisteskrankheit beim Morphinismus dürfte jedoch
in den seltensten Fällen möglich sein, wohl aber die Ehescheidung
gemäß § 1568, weil diese Kranken vielfach, ebenso wie die den
Alkoholisten infolge ihrer persönlichen Eigenschaften, infolge
ihres grenzenlosen Egoismus, Reizbarkeit usw. eine tiefe Zer¬
rüttung des ehelichen Lebens herbeiführen (vergl. auch S. 528).—
.Anhangsweise') sei erwähnt, daß ein Verletzter vor dem
Reichsversicherungsamt mit Erfolg geltend machen konnte, er
habe infolge seines Morphinismus die gesetzliche Frist für Ein¬
haltung der Berufung versäumt. Die Morphiumsucht wurde
gleichzeitig als mittelbare Unfallsfolge anerkannt. —
B Ärztl. Sacliverst.-Zeitg. 1912, S. 107.
798
Der Kokainismus.
Der KokainismuH^).
Es kommt verhältnismäßig selten vor, daß ein Kranker von
vornherein zur Schmerzbetäubung nur zum Kokain greift. Meist
werden die Patienten Kokainisten dadurch, daß man ihnen das
Morphium mit Hilfe des Kokains abgewöhnen will. Das gelingt
nicht, und der Morphinist nimmt nun beides nebeneinander.
Das Kokain ist insofern gefährlicher als das Morphium, als
es früher und häufiger zu psychischen Störungen führt. Diese
Letzteren sind auch schwerer und lösen besonders leicht Gewalt¬
tätigkeiten aus.
Wichtig ist, daß neben dem Morphiokokainismus auch noch
Alküholmißbrauch bestehen kann, wodurch die Krankheitsbilder,
welche zur Beobachtung gelangen, gleichfalls eine besondere
Färbung erhalten. —
Was die körperlichen Störungen anlangt, welche
sich beim Kokainisten finden, so sind Händezittern, Steigerung
der Sehnenreflexe, Ernährungsstörungen an den Nägeln, Braun¬
oder Schwarzfärbung der Einstichstellen, welche von den Ein¬
spritzungen zurückgeblieben sind, zu erwähnen.
Subjektiv wird über Trockenheit im Halse und ein Gefühl,
als wenn zahlreiche Fremdkörper in der Haut säßen, geklagt
(Magnansches Zeichen).
Auf psychischem Gebiet wird erstens der Kokain-
rausch, zweitens Zustände, welche bald mehr deliriös, bald
mehr halluzinose ähnlich sind, drittens der Eifersuchts¬
wahn der Kokainisten unterschieden.
Zur Auslösung von länger dauernden psychischen Störungen
infolge von Kokain bedarf es nicht immer großer Mengen des
Giftes, mitunter genügt schon eine oder einige Injektionen, um
derartige Erscheinungen hervorzurufen. So haben wir in unserer
Anstalt einen Chauffeur beobachtet, der sich bei einer Benzin¬
explosion eine schwere Verbrennung zugezogen hatte; es wurden
’) Erlennieyer im Handb. d. ges. Therapie 1909. Q. Fischer. Hey-
manii, Zentralbl. f. Nervenheilk. 1885. Lewin, Neurol. Zentralbl. 1891.
Wildenrath, Kokainvergiftung. Friedreichs Blätter f. gerichtl. Med. 1911.
Higier, Jahresber. f. Neurol. u. Psych. 1909, S. 474. Oordon, The Journ.
of the Americ. Med. Assoc. 1908, Ref. Mendels Jahresb. 1908, S. 1054.
Higier, Münch, med. W’ochenschr. 1911, S. 503. Wildenrath, Friedreichs
Blätter f. gerichtl. Med. 1911, S. 215.
Der Kokainismus.
799
mehrfach Hauttransplantationen notwendig. Bei einer derselben
wurde Kokain angewandt. In direktem Anschluß daran entstand
eine Melancholie, die aber ausgesprochen deliriös gefärbt war.
Patient sah monatelang Schlangen und andere kleine Tiere.
Forensisch von verhältnismäßig geringer Bedeutung ist der
Kokainrausch. Er führt nur ausnahmsweise zu Gewalt¬
taten. Bei ihm tritt vorübergehend eine sehr liedeutemle, kurz
dauernde Steigerung der zentralen motorischen Erregbarkeit auf,
welcher dann eine Lähmung zu folgen scheint (Kraepelin). Dabei
steigt die Pulszahl erheblich und der Blutdruck sinkt. Die
Kranken sind vorübergehend, wie beim .•\lkoholrausch, lustig,
sprechen viel, gestikulieren lebhaft, früher aber wie beim gewöhn¬
lichen Rausch werden sie müde und schläfrig.
Die Folgen längeren Kokaingebrauches bestehen
in Gedächtnis.schwäche, Abnahme der Leistungsfähigkeit, Ge¬
räuschfurcht, Willensschwäche, Lüifähigkeit zu geistiger .‘\rbeit,
Reizbarkeit, Mißtrauen, Angst und ethischer Depravation. Auch
eine ausgesprochene Demenz .soll vorLjmmen.
In den höheren Graden des Kokainismus wird auch Kachexie
beobachtet, die der beim Morphinismus beschriebenen im großen
und ganzen ähnlich ist. Neigung zu Ohnmächten, schlechter
Schlaf, Herzbeschwerden sind dabei häufig.
Deliriöse Zustände werden verhältnismäßig selten beob¬
achtet. Sie zeichnen sich dann durch die besondere sinnliche
Lebhaftigkeit und den ängstlichen Inhalt aus. Beginn und Ab¬
schluß der Erkrankung erfolgen rasch. Es werden massenhaft
kleine Tiere gesehen, dazu drohende Gestalten und schimpfende
Stimmen. Der Patient ist ängstlich, unorientiert, findet sich im
Zimmer nicht zurecht, wird gereizt gegen seine Verfolger, neigt
zu aggressiven Handlungen und zu Selbstbeschädigungen.
Bei der K o k a i n h a 11 u z i n o s e ist der Kranke gleichfalls
unruhig, reizbar, mißtrauisch und schlaflos. Er läuft fortwährend
umher, kann weder im Bett noch in der Wohnung gehalten werden
und hat dabei massenhafte Halluzinationen. Er sieht ganze
Scharen von Menschen, die ihn bedrohen, erblickt Bilder an der
Wand, wendet sich gegen seine Verfolger, droht mit Schlagen und
Erschießen, zertrümmert in der Wut Gegenstände und deutet vor
allen Dingen, und das ist wohl das Wesentlichste, seine gesamte
LTmgebung in wahnhafter Weise um. Die Gesichts- und Gchörs-
halluzinationen haben eine außerordentliche Lebhaftigkeit. Ferner
8oo
Der Kokainismus.
ist auffallend, daß der Patient zahlreiche Gefühlstäuschungen
hat, die er auch in wahnhafter Weise ausdeutet. Seine Feinde
bearbeiten ihn mit elektrischen Strömen, lassen ihn auf Nadeln
liegen usw.
Die Wahnvorstellungen, welche bestehen, sind im wesent¬
lichen Verfolgungsideen. Alle Menschen, die der Kranke sicht,
betrachtet er als seine Feinde, beobachtet sie mißtrauisch, prüft
das Essen, ob darin nicht Gift enthalten ist, glaubt heimlich be¬
wacht zu werden. Er beschwert sich infolgedessen bei der Polizei
und zeigt seine vermeintlichen Verfolger bei der Staatsanwalt¬
schaft an. Dabei wird er sehr erregt, droht mit Selbstmord,
schimpft und tobt tagelang. —
Die praktisch bedeutungsvollste Störung ist der Eifer¬
suchtswahn des Kokainisten, der im allgemeinen auch viel
stärker ausgeprägt ist als der des Alkoholistcn, so daß es zu
Lärmszenen, brutalen Mißhandlungen der Ehefrau, Demolieren
v'on Möbeln usw. kommt. Der Kokainist verarbeitet ähnlich, wie
es der Alkoholist tut, jedes kleine Geschehnis, jeden kleinen Fleck,
ein zufälliges Erröten der Frau, das Vorl)eigehcn eines Mannes
an dem Hause und ähnliche harmlose Geschehnisse im Sinne
seiner Eifersucht.
Infolgedessen bewacht er seine Frau, spürt ihr heimlich nach,
um neues Beweismaterial für die Richtigkeit seiner Wahnvor¬
stellungen zu erhalten. —
Ein typisches Beispiel, das gleichzeitig die Gefährlichkeit
eines solchen Kranken zeigt, ist das folgende;
F.. U., Dr. med.. 30 Jahre alt, von der Polizei eingeliefert, weil er
fortwährend Gestalten in seiner Wohnung sieht, die durch das Fenster
und die Zimmerdecken eindringen und mit seiner Frau Unzucht treiben.
Fr hört die Fremden mit seiner Frau reden und ruft sie mit dem Namen
an. Nachts ist er in den letzten Tagen mehrfach ans Fenster gegangen,
hat den Passanten gedroht, sie zu erschießen, wenn sie sich dem Hause
näherten. Zeitweise so erregt, daß er Stühle und Fenster zertrümmerte,
hl der verflossenen Nacht war er zum Polizeiamt gegangen, um Hilfe
gegen eine Masse Soldaten zu holen, welche in seiner Wohnung ein¬
dringen wollten. Deshalb in die Anstalt. Hier hochgradig erregt; gibt
selbst an, er sei Morphinist und Kokainist. Wie wir nachträglich fest¬
stellen konnten, trank er außerdem auch stark. Bei seiner Ankunft sieht
er fortw'ährend seine Frau durch das Fenster und will durch die Scheiben
gehen. Schimpft auf die Frau. Dieselbe habe ihn hierher gebracht, sie
verkehre dauernd mit Männern, er müsse dabei Zusehen. Stößt viele
Drohungen aus, beobachtet Pflegepersonal und Arzte mißtrauisch,
Progressive Paralyse.
8oi
will sich den ärztlichen Anordnungen in keiner Weise fügen, wird
grob und droht aggressiv zu werden. In der Nacht schläft er nicht,
ist sehr unruhig; schimpft fortwährend laut. Sieht in allen Ecken seine
Frau Unzucht treiben, erblickt allerlei Bilder an den W'änden, läuft im
Saal umher. Zeitweise total verwirrt, kann sein Bett nicht wiederfinden.
Die Frau berichtet, er habe sie seit der Zeit, daß er Kokain spritzt,
mit seiner Eifersucht in schlimmster Weise verfolgt. Sie habe zuletzt
nicht mehr allein auf die Toilette gehen dürfen, er sei ihr auch dahin ge¬
folgt und habe sie während ihres Aufenthaltes dort bewacht. In den
letzten Tagen habe der Mann sehr lebhaft halluziniert, auf den Stühlen,
die in seiner Nähe standen, Leute sitzen sehen, mit denen er dann zu
schimpfen begann. Er stieß gegen dieselben auch Drohungen aus. —
Völlig einsichtslos für seine Eifersuchtsvorstellungen und Sinnes¬
täuschungen wird er auf Wunsch der Frau aus der Anstalt entlassen und
in eine Spezialheilanstalt überführt.
Von dort kehrt er einige Tage später mit einem anderen Insassen
in angetrunkenem Zustande zurück und macht dem hiesigen Aufnahme¬
arzt eine Szene, will ihn kontrahieren. Während der Unterredung noch
völig einsichtslos. Glaubt sich nach wie vor verfolgt, glaubt auch an die
Eifersuchtsvorstellungen, welche er vorgebracht hat. Ist nur mit Mühe
unter Zuziehung von Personal aus der Anstalt zu entfernen.
Auch dieser Patient hatte übrigens, wie das bei Kokainisten
nicht selten der Fall ist, ständig eine geladene Schußwaffe bei
sich. Schon deshalb allein sind die Kranken besonders gefährlich.—
Hinzuzufügen ist ferner noch, daß um eine Zeit, wo die
Sinnestäuschungen bereits etwas zurückgetreten sind, die wahn¬
hafte Umdeutung der Umgebung bestehen bleibt und die Kranken
infolgedessen, trotz relativer Besserung, ungefähr ebenso zu be¬
werten sind, wie ein chronischer Paranoiker. Erst nach mehr¬
monatlicher Kokainentziehung pflegen sie im allgemeinen wieder
auszuheilen. Gegenüber Kokainisten ist viel größere Vorsicht am
Platze, wie bei Morphinisten und Alkoholisten.
Die progressive Paralyse.
Das Krankheitsbild, welches wir nunmehr zu besprechen
haben, ist gekennzeichnet durch eine einheitliche Ätiologie — die
Syphilis. Es gehört ferner zu den wenigen, in denen wir auch
nach dem Tode des Patienten durch mikroskopische Untersuchung
des Gehirns die Diagnose stellen können.
Es handelt sich um eine organische Erkrankung des Gehirns
und Rückenmarks, welche im allgemeinen langsam fortschreitet,
zur Verblödung führt und mit dem Tode endigt.
Hnbnerf Forensische Psychiatrie. 51
8o 2 Progressive Paralyse.
Die meisten Paralytiker erkranken im besten Mannesalter,
cl. h. in der Zeit zwischen 30 und 50 Jahren. Es gibt aber auch
Fälle, in denen die Paralyse später ausbricht, ebenso wie auf dem
Boden der ererbten Syphilis bereits im Kindesalter Fälle von
Gehirnerweichung beobachtet worden sind.
Dem eigentlichen Ausbruch der Erkrankung geht vielfach ein
Stadium voraus, das sich über Monate und Jahre erstrecken kann
und durch allgemeine nervöse Erscheinungen gekennzeichnet ist.
Die Kranken sind verstimmt, gereizt, launenhaft, lassen in ihrer
Leistungsfähigkeit nach, ermüden schneller, werden bisweilen
geradezu ,,schlafsüchtig“. Das Gedächtnis und die Merkfähigkeit
zeigen leichte Störungen, es besteht Krankheitsgefühl.
In einer Reihe von Fällen, namentlich geschieht dies bei
Frauen, entwickelt sich nun aus diesem Vorstadium heraus all¬
mählich eine langsam zunehmende Verblödung, ohne daß es zu
Verwirrtheits- oder Erregungszuständen kommt. Meist verläuft
allerdings die Erkrankung nicht so unauffällig, es bilden sich viel¬
mehr eines Tages schwerere Störungen aus.
Die Depression nimmt zunächst zu, um dann verhältnismäßig
rasch einer heiteren Verstimmung Platz zu machen. Das vorher
beobachtete Krankheitsgefühl schwindet, der Pat. fühlt sich kräf¬
tiger und gesünder als je, entwickelt eine auffällige Vielgeschäftig¬
keit, macht allerlei Pläne und setzt dieselben ohne Rücksicht auf
ihre Zweckmäßigkeit auch in die Tat um. Hinzu kommen Größen¬
ideen, die sich je nach der Persönlichkeit des Kranken entweder
in engen Grenzen halten oder ins Ungemessene gehen. Bei
Frauen sind sie weniger ungeheuer, als bei Männern. Frauen
haben viele schöne Kinder, viele Kleider, bekommen gut zu essen,
viel Süßes, heiraten einen Prinzen oder einen ,,richtigen Baron"
und dergleichen mehr. Bei Männern dagegen gehen die Größen¬
ideen häufig weiter. Einer unserer Kranken erzählte strahlend,
er sei an einem Tage Vorstandsmitglied vom Männergesang¬
verein, Kaiser und Feldwebel bei der Garde geworden, er habe
viele Millionen durch seine Erfindungen erworben, wolle dem Arzt
einige dav’on schenken, tausend Krankenhäuser errichten, mit
seiner Armee gegen den Kaiser von Rußland zu Felde ziehen und
dann mit einem Zeppelin auf den Mond fahren. Ein anderer
unserer Pat., der ein schweres, pulsierendes Aortenaneurysma
hatte, erzählte unter Hinweis auf letzteres strahlend, er sei im
Feldzuge gewesen und habe als General gegen die Franzosen ge-
Progressive Paralyse. 803
fochten, bei dieser Gelegenheit habe er die schwere Wunde davon¬
getragen, und trotzdem lebe er noch.
In ihrer Vielgeschäftigkeit ziehen die Patienten aus ihren
Wahnideen oft auch die Konsequenzen. So kaufte sich z. B. einer
unserer Kranken, der eine untergeordnete Dienerstelle in einem
wissenschaftlichen Institut bekleidete, sieben Konversations¬
lexika, weil er den medizinischen Doktor machen wollte. Er
glaubte, er sei der Erfinder des Yohimbins und habe dessen
Wirkung experimentell ausprobiert, lief in den Kneipen der Stadt
herum und beschrieb seinen Zechgenossen, in welcher Weise dies
geschehen sei, begann auch Abhandlungen darüber zu schreiben.
Etwas später erzählte er überall, er solle sich mit einer hoch-
gestellten Dame verloben und kaufte infolgedessen eine ganze
Anzahl von Verlobungsringen, obwohl er verheiratet war.
Ein Bahnhofswirt, den wir behandelten, hielt sich für einen
mehrfachen Millionär und Gott und kaufte im Beginn der Para¬
lyse für mehrere Tausend Mark von den allerbesten Zigarren¬
sorten. Ein anderer Kranker (Großkaufmann) machte große
Reisen, nahm überallhin Pferd und Wagen mit, ließ seine Villa
umbauen, so daß innerhalb weniger Monate sein ganzes, sehr
beträchtliches Vermögen aufgebraucht war und nach seinem
Tode die Familie mit einer Unsumme von Schulden zurückblieb.
Ein kleiner Schuhmacher, der sich einige Zeit in unserer Klinik
befand, schrieb heimlich einen Brief an einen Pferdehändler und
bestellte in demselben einen eleganten Vierspänner. —
Eine vielfach zu beobachtende Steigerung der Sinnlichkeit
führt zu geschlechtlichen Exzessen. Die Patienten treiben sich
mit Dirnen herum, ziehen von einem Bordell ins andere, werden
pekuniär ausgebeutet. Gelegentlich kommt es sogar zu Ehe¬
schließungen mit Prostituierten. —
Die Größenideen der Parah^tiker können dem Inhalt nach
wechseln. Oft tragen sie von vornherein den Stempel geistiger
Schwäche. Bei der starken Suggestibilität der Kranken gelingt
es leicht, durch einige wenige Fragen immer neue und ungeheuer¬
lichere Wahnvorstellungen aus ihnen herauszulocken.
Die motorische Unruhe, die in diesem Stadium besteht, kann
sich bis zur tobsüchtigen Erregung *) steigern und längere Zeit,
') Wenn die Paralyse unter schweren Erregungszuständen rascii,
d. h. in etwa 6 Monaten, zum Tode führt, spricht man von „galoppieren¬
der Paralyse".
51 *
8o4
Progressive Paralyse.
ja sogar bis zum Ableben anhalten (agitierte Paralyse). Häufig
ist das jedoch nicht, vielmehr verläuft das Leiden meist so
weiter, daß verhältnismäßig rasch eine ausgesprochene Verände¬
rung der Persönlichkeit auftritt. Der Kranke verblödet, die
Größenideen werden zunächst affektlos vorgebracht und ver¬
schwinden u. U. nachher ganz. Schließlich besteht eine so hoch¬
gradige Demenz, daß der Patient nur noch ein vegetatives Dasein
führt, seine ganze Vergangenheit vergessen hat, neue Eindrücke
so gut wie gar nicht aufnimmt, unsauber mit Kot und LTrin ist
und nach einigen Jahren an dem Leiden zugrunde geht. —
In anderen Fällen ist es kein expansives Stadium, mit dem
die eigentliche Paralyse beginnt, sondern umgekehrt ein depres¬
sives. Die Stimmung ist ausgesprochen traurig. Wir haben auch
gelegentlich Fälle gesehen, wo ein lebhafter, sich anfallsweise
steigernder Angstaffekt die schweren Erscheinungen der Paralyse
einleitete. Hinzu traten depressive Wahnvorstellungen. Die
Kranken glaubten, sie sollten ermordet werden, sie hätten schlecht
gehandelt, kämen in die Hölle und seien Mörder. Daneben
äußerten sie auch hypochondrische Vorstellungen. Das Blut in
den .\dern sei verdorrt, die Organe faulten, sie könnten nicht
mehr atmen und nicht mehr verdauen (die Nahrungsaufnahme
ließ infolgedessen zu wünschen übrig), sie hätten schlecht an ihrer
Familie gehandelt, seien große Sünder und würden infolgedessen
umgebracht werden.
Auch hier ist der weitere Verlauf, ähnlich wie bei der e.xpan-
siven Paralyse, der, daß der Affekt abblaßt, die Demenz rasch
zunimmt und mit dem Fortschreiten der Verblödung auch die
Wahnvorstellungen allmählich schwinden^).
Vorübergehend können Paralytiker auch verwirrt sein und
deliriöse Zustandsbilder bieten, ferner können katatone Symptome
Vorkommen. Ich habe einen Fall beobachtet, der während des
ganzen Verlaufs das Bild der Katatonie bot. Unter anderem
machte der Patient einen mehrmonatlichen Stupor durch. Nur
einige wenige körperliche Symptome deuteten darauf hin, daß es
sich um eine organische Gehirnerkrankung auf syphilitischer
Basis handelte. Die spätere mikroskopische Untersuchung des
*) Sinnestäuschungen spielen bei der Paralyse eine untergeordnete
Rolle. Wo sie Vorkommen, entsprechen sie inhaltlich fast immer dem
gleichzeitig bestehenden Größen- oder Kleinheitswahn.
Progressive Paralyse. 805
Gehirns ließ an der Diagnose Paralyse keinen Zweifel. Die
Krankheit hat 4 Jahre gedauert. —
Die bisher besprochenen Fälle waren dadurch gekennzeichnet,
daß nach einem „neurasthenischen Vorstadium“ sich verhältnis¬
mäßig rasch ein expansives oder depressives Stadium entwickelte,
das dann in Verblödung überging. Nicht immer ist nun der
Verlauf ein so typischer.
In einer Reihe von Fällen tritt zwar nach dem neurasthe¬
nischen Vorstadium eine Steigerung der Krankheitserscheinungen
ein, sie ist aber nicht so erheblich, wie beim expansiven Stadium.
Auch hier fühlt sich der Kranke stärker und gesünder wie früher,
es fehlt aber an ausgesprochenen Größenideen. Der Patient ver¬
mag noch einige Zeit in seinem Beruf zu bleiben, fällt allerdings
in demselben, ebenso wie auch im Privatleben, durch allerlei auf.
Zunächst treten einzelne Züge hervor, die früher an ihm nicht
beobachtet wurden. Seine Kleidung wird unordentlich, er wird
vergeßlich, benimmt sich in Gesellschaft nicht so, wie man das
früher an ihm gewöhnt war, ist reizbar, zeitweise nicht orientiert,
es können auch Erinnerungsfälschungen und Konfabulationen
auftreten. Einer meiner Patienten, der vorher wissenschaftlich
nie tätig gewesen war, begann im Anfang seiner Erkrankung ein
großes politisches Werk^), das er nachher nicht ganz zu Ende
führen konnte, in dem aber nach dem Urteil von Fachleuten viele
gute Gedanken neben zahlreichen ausgesprochenen Plattheiten zu
finden waren. Ein anderer Kranker, den ich beobachtete, erzählte
in Gesellschaft von Damen grobe Zweideutigkeiten, schlief mehr¬
fach bei Tisch ein, flatulierte ohne Rücksicht auf seine Umgebung
und wurde nach kurzer Zeit so unordentlich in seiner Kleidung,
daß die Frau ihn ständig beaufsichtigen mußte. —
In einzelnen Fällen wiederum tritt sehr früh eine sehr stark
ausgeprägte Gedächtnisstörung zutage. Sie bewirkt, daß der
Patient sich ähnlich verhält, wie die an Korsakowscher Psychose
leidenden Kranken.
Wir haben hier einen solchen Fall bei einem Ingenieur be¬
obachtet, der durch die rasch zunehmende Gedächtnisschwäche
unruhig und ängstlich wurde und in den Rhein ging. Daraufhin
zu uns gebracht, zeigte sich, daß er über die ganze Vergangenheit
bis zu seiner Kindheit zunächst nicht mehr Bescheid wußte. .All¬
mählich stellte sich ein Teil des Fehlenden wieder ein, ganz kehrte
Nietzsches Zarathustra soll in diesem Stadium geschrieben sein.
8o6
Progressive Paralyse.
das Gedächtnis aber nicht zurück. Der Kranke ist 3 Jahre später
in einer anderen Anstalt an Paralyse gestorben. —
Ist das expansive oder das depressive Stadium oder die
anderen akuten Zustandsbilder abgeklungen, so zeigt sich, daß
der Kranke in seiner ganzen Persönlichkeit total verändert ist.
Der Kreis dessen, was ihn interessiert, ist erheblich enger ge¬
worden. Er nimmt am Leben keinen Anteil mehr, der Beruf ist
ihm gleichgültig geworden, selbst das Geschick seiner Familie be¬
unruhigt ihn nicht.
Aus eigener Initiative tut er fast nichts mehr. Meist sitzt
er ohne Beschäftigung und ohne den Trieb zu einer solchen umher.
Er ist unselbständig geworden und muß beaufsichtigt und ver¬
sorgt werden, wie ein Kind.
Seine geistige Hilflosigkeit kommt ihm nicht zum Bewußt¬
sein. Fast stets ist er heiter gestimmt, erzählt blöde lächelnd von
seinen Größenideen, daß er „ganz gesund“ sei, daß es ihm „sehr
gut“ gehe, daß das Essen ihm schmecke, daß er spazieren gehen
wolle. Darüber hinaus ist er unfähig, ein Gespräch zu führen
(demente Euphorie).
Die Vorgänge in seiner Umgebung beobachtet er nicht. Das,
was er zufällig sieht, vermag er nicht zu behalten. Gegenstände,
die er gebrauchen muß, verlegt er fortwährend ; Aufträge, die man
ihm erteilt, vergißt er im Moment, weil die Merkfähigkeit und
das Gedächtnis schwer gestört sind.
Anfangs weiß er sich wichtigerer Vorkommnisse aus seiner
Vergangenheit noch zu erinnern, später schwindet das Gedächtnis
für sie auch; ebenso verringert sich sein positives Wissen mehr
und mehr.
Wie über seinen Gesundheitszustand im besonderen, so zeigt
sein LTrteil über die Welt und das Leben im allgemeinen, daß er
hochgradig dement geworden ist. Er kann sehr bald die ein¬
fachsten Verhältnisse nicht mehr übersehen, in wirtschaftlichen
Dingen ist er ganz unbeholfen geworden und wenn man auf reli¬
giöse und politische Fragen überhaupt eine Antwort erhält, dann
zeigt dieselbe entweder, daß der Kranke gar nicht verstanden hat,
was man von ihm will, oder, daß er eine eigene Meinung darüber
nicht mehr besitzt.
Mit dieser Urteilslosigkeit verbindet sich nun eine weit¬
gehende Beeinflußbarkeit. Wie es im expansiven Stadium ge¬
lingt, durch Suggestivfragen immer abenteuerlichere Größenideen
Progressive Paralyse.
807
aus dem Kranken herauszulocken, kann man den dementen Para¬
lytiker gleichfalls leicht dahin bringen, daß er zu unsinnigen Ver¬
trägen seine Zustimmung gibt, Geld verschenkt, Mesalliancen ein¬
geht, Testamente errichtet, die seinen früheren Absichten direkt
widersprechen u. Ä. m.
In den Endstadien ist er dann körperlich und geistig un¬
beholfen, wie ein Kind in den ersten Lebensjahren. Er versteht
nur ausnahmsweise etwas von dem, was man zu ihm spricht.
Gefühlsreaktionen kann man bei ihm nicht mehr auslösen. Die
Nahrung muß ihm eingeflößt werden.
Parallel mit diesen Zuständen tiefster Verblödung geht ein
rapider körperlicher Verfall. Die Kranken magern ab,
der Gesichtsausdruck wird blöde, die Sprache fast unverständlich,
bisweilen tritt zwangsartiges Lachen und Weinen auf. Der Pat.
ist unsauber mit Kot und Urin. Damit ist auch seine Pflege
erheblich erschwert, es entsteht an verschiedenen Stellen Druck¬
brand, bis schließlich der Tod, sei es an paralytischem Marasmus,
sei es an einer sonst hinzukommenden Erkrankung (Lungen¬
entzündung, Tuberkulose, Blutvergiftung, ausgehend von dem
Druckbrand), eintritt. Bei Männern beträgt die Krankheitsdauer
etwa 3—5 Jahre, bei Frauen verläuft die Paralyse langsamer. Wir
haben Fälle gesehen, in denen sich das Leiden über 5, 6 Jahre und
noch länger hinzog. —
Die Paralysen, welche wir bisher kennen gelernt haben, hatten
insofern einen gleichartigen Verlauf, als nach einem Vorstadium
zunächst akute Symptome auftraten, die langsam, aber ohne
Unterbrechung zur vollständigen Verblödung führten.
Dieser Krankheitsverlauf kann nun durch kürzere oder
längere Phasen der Besserung unterbrochen werden. Man spricht
dann von Remissionen.
Die akuten Erscheinungen klingen ab. Es kommt vorüber¬
gehend zu einer wenigstens teilweisen Wiederherstellung der
geistigen Persönlichkeit. Mitunter können die Kranken für einige
Zeit aus der Anstalt heraus; gelegentlich — allerdings sehr
selten — sind sie sogar zur Ausübung ihres Berufes wieder fähig.
Die vorhandenen körperlichen Lähmungserscheinungen, insbeson¬
dere die Pupillenanomalien und Störungen der Reflextätigkeit
bleiben aber bestehen. Für denjenigen, der den Kranken genauer
kennt, ist es meistenteils auch nicht schwer, hie und da Züge zu
8o8
Progressive Paralyse.
erkennen, die ihm in gesunden Zeiten fremd waren und zweifellos
Reste der Krankheit darstellen.
Die Remissionen können ausnahmsweise so weitgehend sein
und so lange anhalten, daß sie einer Heilung sehr nahe stehen.
Doch geschieht das so selten, daß der Zivilrichter praktisch damit
nicht zu rechnen braucht. —
Es sind soeben die körperlichen Symptome erwähnt
worden. Auf diese muß jetzt näher eingegangen werden. Sie
sind bei der Paralyse von ganz besonderer Bedeutung, weil sie die
Diagnose der Erkrankung mitunter schon zu einer Zeit ermög¬
lichen, wo bei alleiniger Berücksichtigung der psychischen Sym¬
ptome eine Klärung des Falles nicht möglich wäre.
Die wichtigsten somatischen Krankheitszeichen der Paralyse
sind folgende:
Die Pupillen können entweder sehr eng (Miose) oder
abnorm weit (Mydriasis) sein. Nicht selten besteht auch ein
Unterschied in der Weite zwischen links und rechts, der Pupillen¬
rand ist dabei vielfach verzogen. Die Lichtreaktion kann ein- oder
doppelseitig träge oder aufgehoben sein (reflektorische Pupillen¬
starre oder Pupillenträgheit). In einem Teil der Fälle ist auch
die Konvergenzreaktion aufgehoben, so daß absolute Starre be¬
steht (siehe S. 70). Verhältnismäßig früh geht auch die Reaktion
der Pupillen auf psychische und Schmerzreize verloren.
Als seltene Augenbefunde bei der Paralyse sind zu erwähnen:
Augenmuskellähmungen und Sehnervenschwund. —
Ebenso wichtig wie die Störungen der Pupillenreaktion, sind
diejenigen der Sprache. Vielfach erhält dieselbe frühzeitig
einen näselnden Beiklang, es kommt zu Umstellungen und Aus¬
lassungen von Buchstaben und Silben; die einzelnen Worte oder
Silben werden langsam, monoton, stockend (Hesitieren), undeut¬
lich (verwaschen) vorgebracht. Überwiegt die Undeutlichkeit,
so spricht man von verschliffener Sprache. Werden Buchstaben,
Silben und Worte nicht richtig aneinandergereiht, so spricht man
von Silbenstolpern.
Vorübergehend, insbesondere nach paralytischen Anfällen
(s. u.) werden auch ap basische und asymbolische
Störungen beobachtet, d. h. das Sprach vermögen ist ent¬
weder aufgehoben oder beeinträchtigt, oder das Sprachver¬
ständnis hat vorübergehend oder dauernd Schaden gelitten.
Gegenstände, die der Patient kennen muß, erkennt er nicht wieder
Progressive Paralyse. 809
oder vermag er nicht zu bezeichnen. Derartige Zustände pflegen
sich, wie schon gesagt, vorübergehend, gelgentlich auch einmal für
längere Zeit einzustellen ^).
Auch die Schrift erfährt im Verlauf der Paralyse Verände¬
rungen, die denen der Sprache in vieler Beziehung gleichen.
Die Zeilen werden nicht mehr genau innegehalten, die Schrift
wird ausfahrend, zitterig, undeutlich, es kommt zu Auslassungen
von Buchstaben, Silben und Worten; der Patient schreibt unortho¬
graphisch, läßt die Sätze unvollständig. Ist die Demenz sehr weit
fortgeschritten, so kann es Vorkommen, daß die einzelnen Buch¬
staben nicht mehr leserlich sind und man den Inhalt des Ge¬
schriebenen nur,zum geringen Teil zu verstehen vermag.
Sehr deutlich treten diese Störungen in der beigegebenen
Schriftprobe hervor, welche von einem Bureaubeamten stammt.
yiM/
5Äci\A/fiZaM,
0(^*At4 llHMi.
^OlltnAk/r X
Der erste Teil derselben ist Anfang 1909, der zweite im Mai 1913
geschrieben. Inzwischen war bei dem Patienten eine Paralyse
’) Vergl. Stertz, Monatsschr. f. Psych. 1912.
8io
Progressive Paralyse.
ausgebrochen, die ziemlich rasche Fortschritte gemacht hat; er
ist in tiefster Verblödung vor 3 Vlonaten gestorben. Das Charak¬
teristische an der zweiten Schriftprobe ist erstens, daß sie zitterig
ist, zweitens daß sie Auslassungen enthält und drittens im Satz¬
bau unvollständig ist.
Von sonstigen Störungen im Gebiete der Gehirnnerven sind zu
nennen ein mitunter sehr deutlicher Unterschied in der Gesichts¬
innervation (Faz i a 1 i s d i f f e r e n z). Die Nasenlippenfalte ist
dann einseitig verstrichen und der entsprechende Mundwinkel
hängt tiefer herab. Zu beachten ist dabei aber, daß nicht jede
Ungleichheit der Gesichtshälften als Fazialisdifferenz anzusehen
ist. Vielfach handelt es sich nur um eine angeborene Asymmetrie.
Weiterhin ist zu erwähnen, daß in der Muskulatur des
Mundes, der Wangen und des Kinns, in der Ruhe und bei mimi¬
schen Bewegungen feinere oder gröbere Zuckungen auftreten
(L i p pe n b e b e 11), welche namentlich die Sprache ungünstig be¬
einflussen.
In den späteren Stadien der Paralyse finden wir als Ausdruck
einer Reizung des fünften Gehimnerven (Trigeminus) das
Zähneknirschen. Die völlig verblödeten Patienten knirschen
stundenlang mit den Zähnen, so daß die Kauflächen der letzteren
mitunter wie abgeschliffen erscheinen.
Im Endstadium der Paralyse ist ferner das Kauen und
Schlucken beeinträchtigt, so daß es häufig zum Verschlucken
kommt.
Die Zunge wird zitternd herausgestreckt.
An den Gliedmaßen fällt mitunter schon früh, in der Mehr¬
zahl der Fälle allerdings erst später eine eigentümliche Unsicher¬
heit und ein grobschlägiges Zittern auf. Bisweilen wird letzteres
so stark, daß die Kranken feinere Verrichtungen überhaupt nicht
mehr vornehmen können und bei gröberen unsicher sind. Ins¬
besondere beeinflußt es auch die Schrift (siehe oben).
Neben dem Zittern kann man entweder in einzelnen oder in
zahlreichen Muskelgruppen bei manchen Kranken unregelmäßige,
veitstanzähnliche (choreatische), gelegentlich auch langsamere,
polypenartige (athetoide) Bewegungen wahrnehmen. Dieselben
stellen den Ausdruck eines Reizzustandes der Gehirnrinde, nach
einigen Autoren auch einen solchen der zentralen Ganglien dar.
Fast regelmäßig beobachtet man in den späteren Stadien
eine ausgesprochene Schwäche der Gliedmaßen, die sich besonders
Progressive Paralyse.
8ii
beim Gehen zeigt. Die Kranken gehen unsicher, taumelig, ver¬
langsamt, sie knicken öfters mit den Knien ein (paretischer
Gang). Mitunter ist er auch schleudernd und stampfend, dabei
werden die Beine weit auseinandergesetzt (ataktischer Gang).
Sind Muskelspannungen (Spasmen) in den unteren Extremitäten
vorhanden, so wird der Gang steif und verlangsamt. Die Fu߬
spitze klebt am Boden. Die Schritte sind kurz (spastischer Gang).
Die Reflexe zeigen bei der Paralyse kein einheitliches
Verhalten. Es gibt Fälle, in denen die Patellar- und Achilles¬
sehnenreflexe zunächst gesteigert sind, später schwinden können.
In anderen sind sie von Anfang an gesteigert und bleiben so. In
nicht wenigen Fällen wiederum zeigen sie keine nennenswerten
Abweichungen von der Norm. Reflex s t e i g e r u n g e n sind
aber wohl etwas häufiger, als die Abschwächung der Reflexe,
öfters ist ein- oder doppelseitiger Fußklonus vorhanden. Ferner
kommt bei der Paralyse in einem gewissen Prozentsatz auch das
Babinskische Zeichen einseitig oder doppelseitig vor, ebenso wird
der Oppenheimsche Großzehenreflex entweder einseitig oder
doppelseitig beobachtet.
Besonders wichtig ist neben dem Verhalten
der Pupillen, der Sprache und Schrift, das Fehlen
der Kniesehnenreflexe, der Nachweis von ein-
oder doppelseitigem Fußklonus, Babinski und
Oppenheim.
Der Gefühlssinn ist mitunter insofern gestört, als ent¬
weder Schmerzen (namentlich im Hinterkopf oder der Stirn) be¬
stehen. Daneben findet man vielfach eine Herabsetzung der
Schmerzempfindlichkeit an den Unterschenkeln, die sich bis zu
völliger Empfindungslosigkeit steigern kann.
Unter dem Ausdruck trophische Störungen faßt man
eine Reihe bei der Paralyse vorkommender Änderungen des Er¬
nährungszustandes verschiedener Gewebe zusammen, welche prak¬
tisch von erheblicher Bedeutung sind.
Voranzustellen ist dabei das Verhalten des Körper¬
gewichtes. Durch die Untersuchungen von Reichard ’) und
anderen ist festgestellt, daß beim Paralytiker auffallend starke
Schwankungen des Körpergewichts Vorkommen.
Untersuchungen über das Gehirn. Jena 1911. Q. Fischer. Leit¬
faden für die psychiatr. Klinik. Jena. 0. Fischer.
8i2
Progressive Paralyse.
Fast regelmäßig kommt es in den Endstadien der Paralyse zu
einer weitgehenden Abmagerung, während im Beginn des Leidens
gelegentlich ein erheblicher Anstieg des Körpergewichts be¬
obachtet wird. Teils ist der letztere wohl dadurch bedingt, daß
vom Beginn der Paralyse manche Kranken ungewöhnlich viel
essen („F r e ß s u c h t“).
Daß auch in der Haut Ernährungsstörungen nicht fehlen, sieht
man namentlich in den späteren Stadien des Leidens an dem häufig
auftretenden Druckbrand (Dekubitus). An denjenigen Stellen,
welche auf der Unterlage aufliegen, tritt zunächst eine Rötung auf,
sehr bald gehen die oberflächlichen Hautschichten zugrunde und es
bildet sich dann ein Geschwür, daß trotz sorgfältigster Behand¬
lung häufig eine auffallend geringe Neigung zur Ausheilung
zeigt. Es gibt Fälle, in denen das Geschwür innerhalb weniger
Tage trotz sachgemäßer Behandlung Handtellergröße erreichen
kann. Daß es sich dabei wirklich um trophische Störungen und
nicht etwa um mangelhafte Pflege des Kranken handelt, beweist
m. E. der Umstand, daß selbst in den bestversorgten Abteilungen
bei dem gewissenhaftesten Pflege- und Ärztepersonal dieser
Druckbrand mitunter schon in verhältnismäßig frühem Stadium
der Erkrankung auftritt.
Praktisch bedeutungsvoll ist ferner die abnorme Brüchig¬
keit derRippen, welche man bei manchen Paralytikern findet.
Handelt es sich dann um erregte Kranke, so kann es trotz größter
Sorgfalt des Pflegepersonals sehr leicht einmal Vorkommen, daß
beim Festhalten des Kranken oder beim Zurückführen eines wider¬
strebenden Kranken ins Bett eine Rippe gebrochen wird^).
Ist die abnorme Brüchigkeit der Knochen sehr groß, so sind
solche Rippenbrüche nicht zu vermeiden. Ihr Vorkommen beweist
jedenfalls nicht ohne weiteres, daß dem Kranken eine Mißhandlung
widerfahren ist. Zu erwähnen ist, daß auch die Rippenbrüche dem
Kranken keine Schmerzen bereiten.
Auch die sogenannte Ohrblutgeschwulst (Othämatom)
dürfte als eine trophische Störung aufzufassen sein, wenngleich
außerdem auch noch äußere Veranlassungen zu ihrer Entstehung
erforderlich sind. So kommt es z. B. bei unruhigen Kranken ge¬
legentlich vor, daß sie mit dem Ohr an den Bettrand stoßen und
*) E. Meyer. Arch. f. Psych., Bd. 26. Eckel. Inaug.-Diss. 1905. Spon¬
tanfrakturen bei prog. Paralyse.
Progressive Paralyse.
813
dadurch eine Ohrblutgeschwulst entsteht. Dieselbe ist meist an der
Vorderfläche des Ohres lokalisiert, liegt zwischen der Knorpelhaut
und dem Knorpel und enthält zunächst Blut. Später dickt das letz¬
tere ein. Die Affektion heilt meistenteils unter Verbildung der
äußeren Ohrmuschel aus. Seltener kommt es zu einer Vereiterung
der Blutgeschwulst. —
Daß die Gefäßinnervation gestört ist, zeigt sich
an den gelegentlichen, durch äußere Schädlichkeiten nicht be¬
dingten Rötungen des Kopfes und des Gesichts, an der Alkohol¬
intoleranz, die häufig besteht, in den späteren Stadien an der Blau¬
färbung (Zj^anose) der Finger und Hände, bisweilen auch der
Füße.
Als weitere wichtige Störungen sind zu nennen die Unfähig¬
keit, Kot und Urin zu halten (Inkontinenz), welche mit¬
unter schon früh, fast regelmäßig aber in den späteren Stadien der
Erkrankung auftritt und die Pflege des Patienten erheblich er¬
schwert.
Daß die Wassermannsche Reaktion im Blut und in
der Spinalflüssigkeit positiv ist, daß sich ferner in der Spinal¬
flüssigkeit eine erhebliche Vermehrung des Zellgehaltes, sowie eine
positive Nonne-Apeltsche Reaktion findet, ist bereits im all¬
gemeinen Teil gesagt. Nach Plaut, Stertz') und anderen spricht
der positive Ausfall aller vier Reaktionen mit hoher Wahrschein¬
lichkeit für die Diagnose ,,progressive Paralyse“.
Bisher noch nicht erwähnt, aber von hoher Bedeutung für
den Verlauf des Leidens sind die sogenannten paralytischen
Anfälle. Es gibt Paralysen, die überhaupt keine anfallsartigen
Zustände haben. Bei etwa 20—30% unserer Kranken “) finden
wir sie aber. Die leichteste Form ist die, daß nur vorübergehende
Schwindelanfälle oder Zustände von Schwäche mit Benommenheit
auftreten. In den späteren Stadien kommt es dann zu schwereren
Anfällen, die in verschiedener Weise verlaufen können. Entweder
setzt nach Art eines Schlaganfalles eine Lähmung mit Bewußt¬
seinsverlust oder Bewußtseinstrübung ein. Dieselbe kann von
Zuckungen auf einer oder beiden Körperhälften begleitet sein.
’) Plaut, Serodiagnostik. 1909. 0. Fischer. Stertz, Allg. Zeitschr.
f. Psych., Bd. 65, S. 565.
“) Merkwürdig ist, daß die prozentualen Angaben über diesen Punkt
in so weiten Qrengen schwanken (10—80“/o).
Progressive Paralyse.
814
Oder es handelt sich um Anfälle, die den bei der Epilepsie zu
beobachtenden gleichen.
Daß sich an diese Anfälle länger dauernde Benommenheits¬
zustände mit aphasischen und asymbolischen Erscheinungen an¬
schließen und daß auch Lähmungserscheinungen nach Anfällen
längere Zeit bestehen können, ist oben bereits gesagt. Bedeutungs¬
voll für den Verlauf des Leidens sind diese Anfälle insofern, als
ihnen nicht selten eine Verschlechterung des Gesamtbefindens, ins¬
besondere aber des psychischen Zustandes folgt, oft auch dann,
wenn die Lähmungserscheinungen fast restlos zurückgegangen sind.
Zu bemerken ist noch, daß ähnlich wie beim Status epilepticus
auch bei der Paralyse ganze Serien von Anfällen beobachtet
werden. —
Mit Rücksicht darauf, daß die Paralyse zu den wenigen auch
anatomisch diagnostizierbaren Erkrankungen gehört, sei hier ganz
kurz etwas über ihre pathologische Anatomie hinzu¬
gefügt. Man unterscheidet zwei Arten pathologischer Verände¬
rungen, nämlich solche, die schon mit bloßem Auge sichtbar sind
(makroskopische) und mikroskopische.
Die makroskopischen bestehen in leichten Ver¬
dickungen der Schädeldecke, Verwachsungen der harten Hirn¬
haut mit dem Knochen, hämorrhagischer Entzündung der harten
Hirnhaut (Pachymeningitis haemorrhagica), Blutaustritte unter
die harte Hirnhaut (Hämatom der Dura), Vermehrung des Ge¬
hirnwassers (Hydrocephalus internus und externus), Verdickung
und Trübung der weichen Hirnhaut (Leptomeningitis chronica),
Verwachsung der weichen Hirnhaut mit der Himoberfläche, Ab¬
nahme des Gehirngewichtes, Verschmälerung der Gehirnwin¬
dungen (Atrophie), insbesondere des Stirnhirns, Scheitellappens
und vorderen Schläfenlappens, Erweiterung der Hirnventrikel,
Granulierung der Ventrikelwandbekleidung (Ependymitis granu-
laris). Im Rückenmark finden sich Degenerationen der Seicen-
und Hinterstränge.
Die makroskopischen Veränderungen brauchen nicht alle
gleich stark ausgebildet zu sein.
M i k r o s k o p i s c h e V e rä n d e r u n g e n. Der Schichten¬
bau der Hirnrinde zeigt meist schwere Störungen, bedingt durch
Zerfall zahlreicher Ganglienzellen. Die noch vorhandenen Zellen
sind gleichfalls schwer verändert. Die markhaltigen Nervenfasern
Progressive Paralyse. 815
schwinden zum Teil, insbesondere ist bekannt der Schwund der
Tangentialfasern (Tuczek) und der fleckenweise Faserschwund
(Fischer). An Stelle des geschwundenen nervösen Gewebes
wuchert die Zwischensubstanz, die Neuroglia.
Die Blutgefäße sind häufig vermehrt und zeigen entzundlich-
degenerative Veränderungen. Besonders wichtig ist die Infil¬
tration der adventitiellen Lymphscheiden mit Plasmazellen, Lym¬
phozyten- und Stäbchenzellen.
Die forensische Bedeutung der progressiven Para¬
lyse liegt mehr auf zivilrechtlichem als auf strafrechtlichem Ge¬
biete. Unter meinen 196 Fällen fanden sich im ganzen 4 Paralytiker,
welche sich verbrecherisch betätigt hatten, und zwar handelte es
sich um Betrug, Brandstiftung, Diebstahl und Abtreibung^).
Zwei waren freigesprochen worden, die dritte war zweifellos erst
nach der Tat erkrankt, in dem 4. Falle war zwar Bestrafung er¬
folgt, bei nachträglicher Betrachtung des ganzen Krankheitsver¬
laufes muß man aber wohl annehmen, daß der Patient bereits zur
Zeit der Tat paralytisch war.
Wenn die Handlungen von Paralytikern so selten strafrecht¬
lich verfolgt werden, so kommt das wohl zum großen Teil daher,
daß die Krankheit, sobald sie einmal ausgebrochen ist, auch selten
verkannt wird. Es wird daher gar nicht erst ein Ermittlungs¬
verfahren eingeleitet, sondern die Patienten werden gleich der
Anstalt überwiesen.
Die meisten Straftaten, welche Paralytiker begehen, fallen in
den Beginn der Erkrankung. Das Zurücktreten der ethischen Ge¬
fühle, das Nachlassen des Gedächtnisses, die gehobene Stimmung
und die oft frühzeitig eintretende Urteilsstörung bewirken, daß
dem Patienten der Unterschied zwischen mein und dein nicht mehr
zum Bewußtsein kommt. Bei der Ausführung ihrer Delikte fallen
die Paralytiker mitunter durch Unv'orsichtigkeit, Plumpheit, Un¬
geschicklichkeit auf. Im Gegensatz zu dem gewiegten Hoch¬
stapler, Betrüger und Dieb nehmen sie fremdes Eigentum, wo und
wann sie es bekommen können, ohne Rücksicht darauf, ob sie dabei
gefaßt werden oder nicht, lediglich geleitet durch ihre krankhaften
Motive. Entweder sie denken nicht daran, daß es fremdes Eigen¬
tum ist, dessen sie sich bemächtigen, oder aus ihren Größenideen
heraus glauben sie sich zu allem berechtigt. Die gehobene Stim-
Von anderen Autoren wird außerdem noch über Sittlichkeits¬
delikte und gelegentlich über Mordversuche berichtet.
8 i6
Progressive Paralyse.
muiig kann außerdem das Wunschgefühl in ihnen so steigern, und
entgegen stehende Hemmungsvorstellungen derartig verringern,
daß sie, wie ein Kind, gerade das nehmen, was ihnen in die Auger»
fällt und dessen Besitz ihnen im Moment wünschenswert erscheint.
Es kommt auch vor, daß die Paralytiker Gegenstände an sich
nehmen, die sie schon nach kurzer Zeit irgendwo liegen lassen, ohne
sich weiter darum zu kümmern, weil sie durch andere Vor¬
stellungen abgelenkt werden.
Aus alledem folgt, daß beim Paralytiker die Feststellung des
Verhaltens vor, während und nach der Tat unter Umständen von
besonderer Bedeutung sein kann.
Leicht ist die Beurteilung in den Fällen, in denen im expan¬
siven oder depressiven Stadium eine Straftat begangen wird, oder
wenn paralytische Demenz besteht. Es gelingt dann, eine Reihe
von körperlichen und psychischen Symptomen festzustellen,
welche die Diagnose ermöglichen. Ein Beispiel dieser Art ist das
folgende:
A. K., Weinhändler, geb. 18. Dez. 1868. Vater Alkoholiker. Patient
selbst hatte eine normale Kindheit, seit 14 Jahren verheiratet, starker
Alkoholmißbrauch, vor 8 Jahren Lues. Schmierkur.
Im August 1910 wegen achtfachen schweren Betrugs in Unter¬
suchungshaft genommen. Er hatte von seiner Firma Wein verkauft,
und das Geld verbraucht. Im Untersuchungsgefängnis tauchten Zweifel
an seiner Zurechnungsfähgkeit auf, deshalb Beobachtung. Dieselbe er¬
gab: Rechte Pupille weiter wie die linke, beide reagieren schwach auf
Licht, Patellarreflexe gesteigert, deutliche Sprachstörung bei schweren
Worten (verschliffene Sprache), Zittern der Zunge und Hände, Schwan¬
ken beim Stehen und Gehen, örtlich und zeitlich orientiert; bei
kleinen Rechenaufgaben versagt er (z. B. 5X17^ 75, 35 + 28 = 75, bei
nochmaliger Aufforderung =73, 73—26 = 56), eine vierstellige Zahl,
welche ihm gesagt wurde, vermag er nach kurzer Zeit nicht mehr zu
reproduzieren, weiß nicht das Jahr seiner Eheschließung. Über seine
strafbare Handlung spricht er in gleichgültigem Ton, weiß nicht, daß
seine Firma durch sein Verhalten geschädigt ist, vermag auch nicht
einzusehen, daß er etwas Unrechtes getan hat. Dazu hochgradige
Interessenlosigkeit, Unfähigkeit zu solchen Arbeiten, die ernstliche,
geistige Leistungen darstellen. Patient ließ sich hier in der SpQlküche
mit Tellerwaschen beschäftigen! Stumpfes Verhalten. Äußert nie den
Wunsch nach Veränderung seiner Lage.
Nach einiger Zeit in der Remission entlassen.
Die Beurteilung des Falles war bei dem Vorhandensein der para¬
lytischen Sprachstörung, der Pupillenstörungen und des psychischen
Befundes nicht schwer, das Verfahren wurde infolgedessen auch ein¬
gestellt.
Progressive Paralyse. 817
Leicht in der Beurteilung ist auch der folgende Fall, den ich
früher privat zu beobachten Gelegenheit hatte;
A. S., 47 Jahre, höherer Beamter. Beleidigungen. Über Lues
nichts bekannt. Patient hat, solange er dem Verfasser bekannt
war, ruhig, zurückgezogen, sehr solide gelebt. Etwa ein Jahr vor Aus¬
bruch der Paralyse fiel der Kranke durch eine gewisse Umständlich¬
keit in seinen Erzählungen auf. Es kam auch vor, daß er gelegentlich
dieselben Dinge kurz hintereinander mehrfach wiederholte, ohne es zu
merken. Zeitweise machte er einen versonnenen, abgelenkten Eindruck.
Das Arbeiten im Dienst fiel ihm schwerer, er begann, wichtige Dinge
zu vergessen. Auch die Diskussion über die häuslichen Verhältnisse
machte ihm größere Schwierigkeiten als früher. Vom Hausarzt wegen
Neurasthenie aufs Land geschickt, mietete er sich in einem kleinen
Bauernhaus ein. Dort brach drei Tage nach seiner Ankunft plötzlich die
Paralyse aus. Der Patient wurde unruhig, lief in seinem Zimmer umher,
schimpfte, schrie und sang, behauptete, man wolle ihn verfolgen, lief
infolgedessen entkleidet aus dem Hause, erkletterte einen Apfelbaum,
pflückte dort die unreifen Apfel in einen großen Sack, und warf nun
auf die hinzukommenden Leute mit den Äpfeln, weil er sie für seine Ver¬
folger hielt. Schließlich stieg er mit halbvollem Apfelsack vom Baum
herunter, und lief eiligst in einen in der Nähe befindlichen See hinein,
um sich zu ertränken. Er wurde zurückgeholt, ins Bett gebracht und
konnte etwas beruhigt werden. Zwei Tage später sollte er auf Ver¬
anlassung seiner Wirtin nach Hause zurückkehren. Man brachte ihn
zum Bahnhof, und setzte ihn in einen Zug. Diesem entstieg er an der
nächsten Haltestelle (einer Großstadt), und dort lief er auf den beleb¬
testen Straßen herum und sprach alle vorübergehenden Damen wie
Prostituierte an, machte ihnen unsittliche Anerbieten, und erging sich in
obszönen Redensarten. Nach einigen Stunden wurde er in einem Bor¬
dell verhaftet, zur Polizei gebracht, dort als Paralytiker erkannt. Die
wesentlichsten Symptome waren Sprachstörung, Pupillenstarre, gestei¬
gerte Kniephänomene, Störung der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses,
hochgradige Erregung mit Größenideen (glaubte Kaiser und König zu
sein). Beschimpfte seine Frau mit den gemeinsten Ausdrücken. Mußte
nach Aufnahme in die Irrenanstalt B. dauernd im Bad gehalten werden,
starb nach 6 Monaten im paralytischen Anfall.
Bei der ganzen Sachlage wurde in dem eben beschriebenen Falle
eine Anklage nicht erst erhoben, da die Diagnose Paralyse nicht schwer
zu stellen war.
Es ist nun aber nicht immer so leicht zu einer Klärung des
Falles zu kommen, insbesondere bestehen im Beginn der Paralyse
dann Schwierigkeiten, wenn die Demenz noch nicht sehr aus¬
gesprochen ist, Größenideen nicht vorhanden sind und es auch an
sicheren körperlichen Symptomen fehlt. Denn, und das ist hier
noch nachzutragen, wenn sich auch im Laufe der Erkrankung fast
regelmäßig deutliche körperliche Symptome entwickeln, so braucht
Hübner, Forensische Psychiatrie. 52
8 i8
Progressive Paralyse.
man sie doch im Beginn des Leidens nicht immer zu finden.
Ihr Fehlen aber erschwert unter Umständen die Diagnose ganz
erheblich. Dies war z. B. bei der folgenden Beobachtung der Fall.
A. St., geb. 18. .April 1853, früher Notariatssekretär, später Gelegen¬
heitsarbeiter.
Vater Trinker, Brüder gesund.
Über Kindheit und Vorbildung nichts bekannt, Pat. wurde Notariats¬
sekretär, 1885 wegen Unterschlagung zu neun Monaten, 1904 wegen
Kirchendiebstahls zu einem Monat Gefängnis verurteilt. In den letzten
Jahren verkommen. Seit 1906 soll sich sein Wesen geändert haben, er
wurde zänkisch, mißhandelte seine Frau, arbeitete nur ganz unregel¬
mäßig, seit Anfang 1906 Spuren von Geistesgestörtheit, konnte nicht
einmal beim Telefonieren verwendet werden, war öfters durcheinander.
Gegen seine Frau roh, schlug dieselbe bei jeder Kleinigkeit, be¬
schimpfte sie mit den gröbsten Ausdrücken, schlug ihr mit dem Stiefel
ein Loch in die Stirn, lachte dazu, als sie verbunden wurde. Schlief
die meiste Zeit nicht im Bett, sondern auf dem Hausflur, stahl Blumen
aus den Anlagen und Schienenteile von einer Bahn. Seine Uhr und
Kette warf er eines läges in den Ofen, die Manschettenknöpfe auf den
Hof. Ließ bei seinen Spaziergängen kurz hintereinander drei Hüte unter¬
wegs liegen und wußte nicht, wo sie geblieben waren.
In der Kleidung nachlässig, lief mehrfach auf der Straße mit offener
Hose herum und wurde deshalb auch einmal von einem Polizeibeamten
angehalten. Beim Essen griff er mit den Händen in die Schüsseln und
konnte gar nicht genug Speisen zu sich nehmen. August 1906 ging er
zu Fuß nach R., verlangte dort am Bahnschalter ohne Geld ein Billet
nach B. In demselben Monat nahm er in einer Kirche zu B. vom
offenen Opferteller 12 Pfennige in Gegenwart von mehreren anderen
Personen. Einige Tage später verläßt er das Haus, um sich Arbeit zu
suchen, nimmt dazu seine Papiere mit, kehrt nach 8 Tagen ohne Papiere
und ohne Arbeit wieder zurück. Über den Verbleib der Zeugnisse ver¬
mag er nichts Näheres anzugeben. Zeitweise sehr vergeßlich, am 5. Aug.
1906 steckt er eine Dreschmaschine und mehrere Getreideinieten in
Brand. An dem gleichen Tage besuchte er seine Schwägerin in B. und
entwendete derselben eine Uhr. Unmittelbar darauf verhaftet, gibt er
den Diebstahl der Uhr zu und leugnet die Brandstiftung. Am Tage der
Tat hatte B., wie durch Zeugenaussagen festgestellt werden konnte, viel
Alkohol genossen. Er war überhaupt in der ganzen Gegend als Trinker
bekannt. Die Beobachtung in der Anstalt ergab leichte Gedächtnis¬
schwäche, stumpfes Verhalten, Pupillen reagieren, Reflexe von normaler
Stärke, Sprache ohne Besonderheiten. Die Untersuchung des Blutes
und der übrigen Reaktionen war zu jener Zeit noch nicht möglich. Der
hiesige Sachverständige sprach sich dahin aus, daß eine sichere Diagnose
nicht zu stellen sei, es könne sich um eine organische Gehirnerkrankung
handeln, es könne aber auch Alkoholismus vorliegen. Jedenfalls stehe
durch die Zeugenaussagen fest, daß der Kranke in den letzten 6 Monaten
vor Begehung der Brandstiftung wiederholt allerlei strafbare, aber auch
Progressive Paralyse. 819
viele auffällige nicht strafbare Handlungen, durch die er sich selbst
schädigte, begangen hatte. Dieser Umstand im Verein mit dem am Tage
der Tat nachgewiesenen Alkoholmißbrauch lege die Annahme nahe, daß
seine Zurechnungsfähigkeit zur Zeit der Tat in Zweifel zu ziehen sei.
Trotz der Unbestimmtheit des Gutachtens wurde das Verfahren
eingestellt und der Kranke der Anstalt überwiesen. Hier fiel nun in den
ersten Wochen sein gleichgültiges stumpfes Wesen auf, auch die Sprache
erregte sehr baid den Verdacht einer beginnenden Paralyse, ohne daß
zuächst weitere Anhaltspunkte für diese Diagnose benannt werden
konnten. Höchstens nahm die Demenz etwas zu, körperliche Symptome,
die eine sichere Diagnose gestattet hätten, traten aber auch innerhalb
der nächsten Monate noch nicht auf. Plötzlich setzte dann ein Erregungs¬
und Verwirrtheitszustand ein und es folgten auch einige körperliche
Symptome.
Patient war sehr euphorischer Stimmung, erklärte Millionär zu
sein, fühlte sich ganz gesund und war unendlich glücklich. Mit den
Heiligen des Himmels, Gott und dem heiligen Geist stehe er in direkter
Verbindung. Dabei ausgesprochenes Silbenstolpern, linke Pupille weiter
wie die rechte, beide stark verzogen, Reaktion stark herabgesetzt, un¬
sauber mit Kot und Urin, Sehnenreflexe gesteigert. Eine vierstellige
Zahl, die man ihm nannte, konnte er schon nach wenigen Sekunden nicht
mehr wiederholen. Von diesem Zeitpunkte ab zunehmende Verschlech-
teiung des Befindens, Abnahme des Körpergewichtes, hochgradige Un¬
sauberkeit. Psychisch: Unorientiert, vergißt alles, was man mit ihm be¬
spricht, keinerlei Interessen, Juni 1909 Tod, durch die Sektion wurde
die Diagnose Paralyse makroskopisch und mikroskopisch bestätigt.
Im Jahre 1908 wurde er wegen Geisteskrankheit entmündigt.
Besondere Schwierigkeiten bereiten den Sachverständigen
sowohl in strafrechtlicher wie in zivilrechtlicher Beziehung die
sogenannten Rem issionen.
Hat ein Kranker eine Straftat während einer Remission be¬
gangen und ist die Diagnose Paralyse vorher sichergestellt ge¬
wesen oder durch den Gesamtverlauf noch nachträglich sicherzu-
stellcn, so wird nur in ganz seltenen Ausnahmefällen eine Be¬
strafung erfolgen können.
Sind während der Remission nur körperliche Symptome
vorhanden und ist die Psyche ganz intakt, w'as allerdings bei der
Paralyse kaum je der Fall sein wird, dann genügen die ersteren
wohl nicht, eine Freisprechung zu begründen. Eine solche kann
sich vielmehr nur auf psychische Symptome stützen. Wie aber
bereits bei den klinischen Ausführungen gesagt worden ist, handelt
es sich bei den Remissionen stets nur um Besserungen und bei sehr
sorgfältiger Prüfung, namentlich bei sehr genauer Erhebung der
52*
820
Progressive Paralyse.
Anamnese, gelingt es schließlich doch, Unterschiede im Verhalten
des Kranken zur Zeit der Beobachtung, und auch zur Zeit der
Tat gegenüber früheren Jahren nachzuweisen.
Steht die Diagnose Paralyse zur Zeit der Beobachtung noch
nicht fest, so wird es sehr darauf ankommen, welche klinischen
Krankheitszeichen vorhanden waren, wie weit dieselben das Zu¬
standekommen der Tat beeinflußten und ob die strafbare Hand¬
lung irgendwelche Besonderheiten (Art der Ausführung?) darbot.
Stimmungsveränderungen oder hochgradige Gedächtnis¬
schwäche werden bei Diebstahls- und Betrugsdelikten ins Gewicht
fallen, eine gesteigerte Erotik bei Sittlichkeitsdelikten usw.
Zu berücksichtigen wird fernerhin sein, ob der Patient zur
Zeit der Tat unter Alkohol gestanden hat. Selbst wenn die
Remission eine so weitgehende wäre, daß sie an sich eine Frei-
spechung nicht begründen könnte, so wird man doch den Para¬
lytiker, wenn er unter Alkohol gestanden hat, erheblich anders
bewerten müssen als einen Gesunden.
Eine wesentliche Unterstützung wird unsere Diagnose bei
dem heutigen Stande unserer Kenntnisse durch Ausnutzung der
Wassermannschen Reaktion und der Untersuchung des Liquor
cerebrospinalis erhalten. Wenn bei einem zweifelhaften Fall die
im allgemeinen Teil genannten 4 Reaktionen positiv ausfallen,
so wird auch das m. E. zugunsten der Annahme einer schweren
organischen Gehirnstörung sprechen und sowohl den Sachver¬
ständigen wie auch das Gericht zu besonderer Vorsicht mahnen.
Meist wird man in diesen Fällen begründete Zweifel an der Zu¬
rechnungsfähigkeit hegen müssen.
Was die Entmündigung der Paralytiker anlangt, so sollte
sie in allen denjenigen Fällen, in denen die Diagnose festgestellt
ist, andererseits die Angelegenheiten des Patienten einen großen
Kreis umfassen, grundsätzlich und zwar möglichst früh
durchgeführt werden.
Da, wo das nicht geschieht, liegt immer die Gefahr vor, daß
der Kranke von anderen Personen mißbraucht wird und daß er
sein Geld für unzweckmäßige Dinge ausgibt. Wenn nach diesem
Grundsatz regelmäßig verfahren würde, so würde manches große
Vermögen, das ohne Entmündigung innerhalb weniger Monate
verloren geht, der Familie erhalten bleiben. Es ist bedauerlich,
daß äußere Rücksichten, insbesondere Furcht vor dem Gerede der
Progressive Paralyse.
821
Welt und ähnliche Gründe die Angehörigen abhalten, in ihrem
eigenen Interesse zwar rücksichtslos, aber doch zweckmäßig vor-
zugeheii.
Leider liegen die V'erhältnisse meistenteils so, daß die
Angehörigen auf das Vorliegen einer Geisteskrankheit erst durch
die unzweckmäßigen Ausgaben ihres Verwandten hingewiesen
werden.
Der Sachverständige wird sich in seinem Gutachten auch in
den zweifelhaften Fällen, d. h. da, wo das Krankheitsbild noch
nicht sehr ausgeprägt ist, in erster Linie bemühen müssen, den
Nachweis zu führen, daß der Patient seit einer gewissen Zeit eine
durchgreifende Umwandlung der Persönlichkeit erfahren hat, daß
seine Stellung zur Familie eine andere geworden ist, wie weit er
zur Besorgung seiner Vermögensangelegenheiten unfähig ist, in¬
wiefern sich seine Leistungsfähigkeit im Beruf geändert hat, ob
er den sonstigen an ihn herantretenden öffentlichen Pflichten zu
genügen vermag, ob sein sittliches Verhalten sich gegen früher
geändert hat.
Vermag der Gutachter nachzuweisen, daß zwischen einst und
jetzt ein großer I 7 nterschied besteht, und kann er außerdem noch
einige körperliche Symptome ins Feld führen, so wird er sowohl
im Beginn der Erkrankung, wie auch während einer Remission
mit Recht behaupten dürfen, daß der Patient geistesschwach
im Sinne des Gesetzes ist.
Wenn oben gesagt worden ist, daß auch im Falle einer Ent¬
mündigung der Richter mit der Möglichkeit von Remissionen im
allgemeinen praktisch nicht rechnen soll, so muß hier hinzugefügt
werden, daß es sich bei Paralytikern aus praktischen Gründen
nicht empfiehlt, gerade während einer Remission das Ent¬
mündigungsverfahren einzuleiten, weil naturgemäß während
dieser Zeit der Nachweis des Bestehens einer Geisteskrankheit
oder Geistesschwäche im Sinne des Gesetzes viel größere
Schwierigkeiten macht, als vorher oder nachher. Der Richter
halte sich bei seinem Urteil in dubio immer vor Augen, daß
Remissionen, denen nicht gleich (d. h. innerhalb einiger Monate)
wieder eine Verschlechterung folgt, etwas überaus Seltenes sind.
Im übrigen ist ja wiederholt betont worden, daß auch während
der Remissionen sich meistenteils kleine Züge nachweisen lassen,
die zeigen, daß der Patient krank geblieben ist. Entscheidend
wild daneben selbstverständlich die Größe des Kreises der An-
822
Progressive Paralyse.
gelegenheiten des Einzelnen sein. Insbesondere da, wo große \'’er-
mögenswerte auf dem Spiele stehen, kann der Richter im Inter¬
esse der zürückbleibenden Familie nicht vorsichtig genug sein. —
Es ist bereits wiederholt darauf hingewiesen worden, daß
gerade die Anfangsstadien der Paralyse insofern gefährlich sind,
als sie den Patienten zu allerlei unzweckmäßigen Rechtsgeschäften
veranlassen. Er ist unternehmungslustig, macht allerlei Pläne,
kauft Dinge ein, die er gar nicht brauchen kann. Einer unserer
Kranken machte jede Bestellung, die er aufgab, bei sämtlichen
Geschäften, die für diese Branche in der Stadt vorhanden waren,
gleichzeitig. War im Hause eine Scheibe zu reparieren, so be¬
stellte er sämtliche Glaser, ein abgebrochener Schlüssel veranlaßte
ihn, ein Dutzend Schlo.sser ins Haus zu holen. Statt eines An¬
zuges bestellte er sich bei 5 verschiedenen Schneidern je einen.
Weiter oben ist bereits der Bahnhofswirt erwähnt, welcher sich
Tausende von den teuersten und besten Zigarren einkaufte, und
der Institutsdiener, der sich 7 Konversationslexika anschaffte,
um seinen medizinischen Doktor zu machen, und mehrere Ver¬
lobungsringe kaufte.
Handelte es sich hier um verhältnismäßig geringfügige Dinge,
deren Bezahlung den betreffenden Kranken allerdings auch schon
nicht möglich war, so kann es bei Großkaufleuten, höheren
Beamten, Offizieren usw. sehr leicht dazu kommen, daß sie Ver¬
bindlichkeiten eingehen, die selbst pekuniär besser Gestellte nicht
zu erfüllen vermögen.
Der Nachweis, daß diese Rechtsgeschäfte in geistiger Er¬
krankung, und zwar im Beginn einer Paralyse abgeschlossen
wurden, ist dann nur durch eingehende Vernehmung von Zeugen
zu erbringen. Ein zweites, und zwar sehr wichtiges Hilfsmittel
ist das Studium der Schrift. Da, wo Ausgabebücher vorhanden
sind, versäume der Sachverständige nie, sich auch die vorlegen
zu lassen, denn nicht allein aus der Höhe der Summen, sondern
auch aus der Art der Verwendung sind manchmal Schlüsse auf
den Geisteszustand des Kranken möglich.
Läßt sich nachweisen, daß eine Paralyse zur Zeit der frag¬
lichen Handlung bereits bestand, so sind Zweifel an der Ge¬
schäftsfähigkeit des Patienten berechtigt. Das Bestreben des
Sachverständigen muß jedenfalls dahin gehen, aufzuklären, ob
die Handlung die Konsequenz von etwa bestehenden Größenvor¬
stellungen ist, ob hochgradige Urteilsschw'äche vorlag, die den
Progressive Paralyse.
«13
Patienten hinderte, zu übersehen, was er mit den fraglichen
Verpflichtungen übernommen hatte, kurz es muß nach Möglich¬
keit aufgeklärt werden, wie weit paralytische Symptome das
Handeln des Patienten beeinflußten.
Daß ein Mensch eine ausgesprochene Paralyse haben kann,
und daß trotzdem nicht alles, was er tut, krankhaft ist, lehrt
folgender Fall, der gegenwärtig die Gerichte noch beschäftigt.
V. D. B., 38 Jahre alt, Ringkämpfer, seit raehrern Jahren ver¬
heiratet, lebt aber von seiner Frau getrennt, der Ehe sind mehrere Kinder
entsprossen.
Patient zieht mit einer Truppe in allen Weltteilen herum, und ver¬
anstaltet Ringkämpte. Seit Mitte 1912 psychisch verändert, gedächtnis¬
schwach, weniger leistungsfähig, Dezember 1912 plötzlicher Ausbruch
der Paralyse, mit Wahnvorstellungen, Verfolgungsideen und Hallu¬
zinationen. Deshalb in eine Privatirrenanstalt. Vor Aufnahme in die¬
selbe errichtete Patient ein Testament, in dem er einen Teil seines sehr
großen Besitzes (es handelte sich um mehrere Häuser, die in Holland
standen, Baargeld, das auf verschiedenen deutschen Banken untergebracht
war, und einige Villen, die in Dänemark standen), seiner Geliebten ver¬
machte. Diese hatte ihn mehrere Jahre auf seinen Reisen begleitet. Am
Tage vor der Testamentserrichtung, die Patient, wie durch Zeugen nach¬
weisbar war, seit Jahren in demselben Sinne geplant hatte, wurde er
von dem Verfasser untersucht. Es zeigte sich reflektorische Pupillen-
starre, eine starke Sprachstörung, gesteigerte Kniesehnenreflexe, Lippen¬
beben, Händezittern. Sinnestäuschungen und Verfolgungsideen, und
mäßige Gedächtnisschwäche. Patient wußte aber über seinen Besitz,
seinen Aufenthalt, die Art seiner Tätigkeit, die Einnahmen der letzten
Zeit bei der Untersuchung noch recht gut Bescheid. Seiner Geliebten
hatte er die Villen in Dänemark vermacht, das übrige Vermögen fiel
seinen Anverwandten zu.
Die letzteren fochten nun das Testament an, das von mir erstattete
Gutachten ging dahin, daß die Urteilsschwäche des Kranken nicht der¬
artig groß war, daß er über Form und Inhalt des Testamentes im Un¬
klaren war. Ich habe dann weiter darauf hingewiesen, daß das Testa¬
ment inhaltlich die schriftliche Fixierung einer lange gehegten Absicht
war; wenn er das Testament gerade an diesem Tage errichtete — er
hatte sich zur Aufnahme in die Anstalt freiwillig erboten — so war das
allerdings auf die Beeinflussung seiner Geliebten, die sich sicher gestellt
wissen wollte, zurückzuführen. Daß er infolge seiner Krankheit in
höherem Grade beeinflußbar w'ar als ein normaler Mensch, steht außer
Zweifel.
Wie in diesem Falle entschieden werden wird, vermag ich
nicht zu sagen, nach deutschem Recht würde ich jedenfalls den
Patienten nicht als geschäftsunfähig ansehen. Ich glaube auch,
daß nach deutschem Rechte das Testament als solches rechtsgültig
B 24
Qehirnsyphilis.
wäre. Denn die Beeinflussung, welche das Mädchen auf den
Kranken ausgeübt hat, bezog sich nicht auf den Inhalt des Testa¬
mentes, sondern nur auf die Zeit seiner Errichtung. Anders
würden die Verhältnisse liegen, wenn der Kranke mit dem
Mädchen nicht schon jahrelang zusammengelebt und zu einer Zeit,
wo er sicher noch geistig gesund war, wiederholt den Wunsch ge¬
äußert hätte, seine Geliebte später in diesem Sinne sicherzustellen.
Wenn das Verhältnis zu Beginn der Erkrankung zustande ge¬
kommen wäre, und das Mädchen hätte ihn dann zur Abfassung
eines solchen Testaments veranlaßt, dann würde dasselbe selbst¬
verständlich ungültig seiiD).
Geliirii8jT)hillN.
Nicht jeder, der eine Syphilis akquieriert hat, verfällt später
in Geisteskrankheit. Dies geschieht vielmehr nur bei einem
kleinen Teil der Fälle. Außer der progressiven Paralyse kennt
man noch die sogenannten ,,echt syphilitischen“ Gehirnerkran¬
kungen. Es handelt sich entweder um Gummen im Gehirn (d. h.
es bilden sich umschriebene syphilitische Geschwülste) oder die
Flirnhäute zeigen eine syphilitische Entzündung, die auch die
Gehirnsubstanz selbst mitergreifen kann, Meningomyelitis syphi¬
litica, schließlich können auch die Gehirngefäße schwere Ver¬
änderungen erfahren und auf diese Weise psychische Störungen
hervorrufen (Endarteriitis syphilitica).
Daneben kann eine in dem Kranken schlummernde Disposition
zu nichtsyphilitischen Geistes- oder Nervenkrankheiten durch den
Kummer über die erfolgte Ansteckung manifest werden. Als
solche kommen in erster Linie neurasthenische, hysterische und
') Literatur: Magnan ct Serieux, La paralysie gönßrale. Paris 1894.
Garnier, Annal. d’ Hygiene 1892 und La folie ä Paris 1898. Kaes. Allgem.
Zeitschr. f. Psych., Bd. 53. Camuset, Annales med.-psychol. 1883. Baker,
General paralysis and crime, Journ. of mental Science, Bd. 50. Ober¬
steiner, Progr. Paralyse. Wien 1908. A. Holder. Boas, Arch. f. Kriminal-
anthropol. 1907. Illberg, Arch. f. Kriminalanthropol. 1912, S. 102. Zingerle,
Progr. Paralyse in Dietrichs Handbuch der ärztl. Sachverst.-Tätigkeit.
Wien 1909. Braumüller. Hoche im Handbuch, 2. Aufl., S. 648. Kraepelin,
Psychiatrie, 8. Aufl. Gramer, Gerichtl. Psychiatrie. Wollenberg in Bins-
wanger-Sienierliiigs Lehrbuch, 2. Aufl. Bilz, In.-Diss. Kiel 1912. Kirch-
berg. Eigentumsvergehen bei Dem. paral. Arch. f. Psych., Bd. 49, S. 172.
Gehirnsyphilis.
825
hypochondrische Symptomenkomplexe, sowie die Melancholie in
Betracht. Namentlich treten Verstimmungszustände auf, die auch
zu Selbstmordversuchen führen können. Diese Krankheits¬
zustände sind der Behandlung zugänglich. Sie haben wenig foren¬
sisches Interesse.
Die organisch bedingten Gehirnkrankheiten auf syphilitischer
Basis verlaufen sehr verschieden.
Im Beginn werden vielfach deliriöse Verwirrtheits- und
Depressionszustände beobachtet. Gelegentlich kommen auch para¬
noische Zustandsbilder vor. Oder das Leiden beginnt mit einer
Lähmung, die ähnlich wie bei einem Schlaganfall plötzlich einsetzt.
Handelt es sich um Gummigeschwülste, so beginnt die Erkrankung
mit Kopfschmerzen, Benommenheit, Schwindelgcfühl, Erbrechen,
Stauungspapille und Pulsverlangsamung, wie das bei Gehirn¬
geschwülsten im allgemeinen beobachtet wird. Auch korsakow-
ähnliche Zustände haben wir einige Male gesehen. Schließlich
kommen Fälle vor, in denen epileptiforme Anfälle sich mit
vorübergehenden Bewußtseinstrübungen, Erregungszuständen und
Neigung zu Gewalttaten verbinden.
Entweder ohne voraufgehende andere psychische Erschei¬
nungen oder als Folgeerscheinung der letzteren stellt sich schlie߬
lich eine mehr oder minder ausgeprägte Demenz ein. Diese kann
sich vorwiegend auf die ethischen Gefühle erstrecken, so daß die
Lebensführung sich ungünstig ändert (Schuldenmachen, Trink-
und geschlechtliche Exzesse), meist sind aber auch gröbere oder
leichtere intellektuelle Störungen vorhanden.
Die Demenz kann ausnahmsweise sehr rasch zu hochgradiger
Verblödung führen. Häufiger entwickelt sich die Erkrankung
langsam weiter. Es kommt dann zu Remissionen und schub¬
weisen Verschlimmerungen. Frühzeitig pflegt das Gedächtnis und
Gefühlsleben zu leiden.
Fast regelmäßig bestehen neben den psychischen Symptomen
auch körperliche. Am häufigsten sind die Klagen über
Kopfschmerzen. Letztere treten vielfach nur nachts auf. Sub¬
jektives Schwindelgefühl kann sich mit objektiv nachweisbaren
Schwindelanfällen verbinden. Der Gang wird bisweilen taumelig.
Oft kommen halbseitige Lähmungen (luetische Hemiplegie) oder
Lähmungen einzelner Glieder hinzu. Betreffen dieselben ein Bein,
so wird dasselbe nachgeschleift und um das gesunde Bein herum¬
geführt (zirkumduziert). Die Haut- und Sclinenreflexe sind ent-
826
Qehirnsyphilis.
weder gesteigert oder — was seltener vorkommt — herabgesetzt.
Oft findet man das Babinskische und Oppenheimsche Phänomen.
Auch Fußklonus wird beobachtet. Alle diese Erscheinungen
können ein- oder doppelseitig sein.
Die Sprache wird mitunter auch undeutlich. Im Gegensatz
zum Paralytiker sprechen die Kranken aber rasch. Es kommt
auch nur selten zu richtigem Silbenstolpern.
Die Gesichtinnervation kann ungleich sein. Die Pupillen sind
in einer Reihe von Fällen entweder ein- oder beiderseitig absolut
starr. Reflektorische Starre kommt vor, ist aber selten. Häufig
werden Augenmuskellähmungen beobachtet.
In den vorgeschrittenen Stadien kann es auch zur Blasen-
und Mastdarmlähmung, sowie zu trophischen Störungen der Haut
kommen.
Besonders charakteristisch für die Gehirnsyphilis ist der
^\'echsel der Symptome. Die Lähmungserscheinungen treten an¬
fangs nur vorübergehend auf. Erst später bleiben sie dauernd.
Auch der Wechsel in der Lokalisation der Lähmungen ist be¬
merkenswert. —
Die Behandlung der mit psychischen Störungen einhergehen¬
den GehirnsN^philis ist in den .\nfangsstadien vielfach von gutem
Erfolg begleitet. Hat sich aber erst einmal ein gewisser Grad
von Schwachsinn eingestellt, dann ist auf Heilung nicht mehr
zu rechnen, wohl aber können vorübergehende Besserungen auch
dann noch erzielt werden.
Die Dauer der Erkrankung ist verschieden. Es sind Fälle
beschrieben, die in wenigen Wochen zum Tode führten. Ich selbst
habe Patienten behandelt, die Ende der dreißiger Jahre erkrankten
und jenseits des sechzigsten Jahres starben. —
Die Syphilis des Gehirns und seiner Hüllen ist ebenso wie
die Paralyse mikroskopisch zu diagnostizieren. —
Die forensische Bedeutung des Leidens ist nicht
sehr groß. Unter unseren 194 Fällen war nur einer von Lues
cerebrospinalis. Er ist strafrechtlich und zivilrechtlich inter¬
essant.
A. W., geh. 4. Januar 1871, Kaufmann. Betrug, Qehirnsyphilis,
Freisprechung, Fntmündigung.
Unehelich geboren. Großvater väterlicherseits Trinker, ein Bruder
des Patienten taubstumm.
Patient selbst entwickelte sich schlecht. Kam in der Schule nur bis
zur 3. Klasse. Dann Hufschmied. Nach etwa lOjähriger Tätigkeit
Gehirnsyphilis.
827
macht er sich in N. selbständig, gab aber das Geschäft wegen eines
Lungenleidens bald auf. Fing in C. eine Mineralwasserfabrik an, verlor
sein Geld dabei. ' 1895 verheiratet. Ehe unglücklich. Patient fing mit
dem Gelde seiner Frau Häuserspekulationen an. Strafen von 1898—1909.
Untreue — 2 Monate Gefängnis, Pfandverschleppung — 1 Monat Ge¬
fängnis, Betrug — 7 Monate Gefängnis, 1910 wegen Betrugs in Unter¬
suchungshaft. Nachdem er längere Zeit im Lazaret des Untersuchungs¬
gefängnisses gelegen hatte, in eine psychiatrische Klinik überführt. Hier
wurde festgestellt: Reduzierter Ernährungszustand, heftige Kopfschmerzen,
Schlaflosigkeit, Unfähigkeit zu gehen und zu stehen. Psychisch: Ge¬
hemmt, äußert Selbstmordgedanken, verliert bei Unterredungen leicht
den Faden, Gedächtnisschwäche und auffallende Herabsetzung der Merk¬
fähigkeit. Körperlich: Druckschmerzhaftigkeit der Nervenstämme. Nach
Angaben der Ehefrau war W. stets nervös, trank viel. In den letzten
Jahren trieb er sich viel mit Dirnen umher, 1905 Syphilis.
Auf Grund dieses Befundes, der schon z. Z. der letzten Straftat be¬
stand. Einstellung des Verfahrens.
27. Juni 1910 Aufnahme in Bonn. Hier Steigerung der Haut- und
Sehnenreflexe, leichte rechtsseitige Fazialisparese, taumelnder Gang,
schlechter Ernährungszustand. Viel Schwäche- und Schwindelgefühl,
nächtliche Kopfschmerzen, Gürtelgefühl, Herabsetzung der Merkfähigkeit,
Gedächtnisschwäche, einfache Rechenaufgaben werden oft nicht richtig
gelöst, Interesselosigkeit, zeitweilige Schwerbesinnlichkeit. Läßt sich
^on anderen Kranken leicht zu unberechtigten Beschwerden überreden.
Winter 1910 entlassen, neue Betrügereien. Wieder außer Ver¬
folgung gesetzt. Kommt mit den gleichen Symptomen zurück (z. B.
7 X 9 = 45, 6X 7 = 76!). Bald wurde auch die Sprache schlechter, die
Zunge wich nach rechts ab, die Sehnenreflexe waren lebhaft gesteigert.
Starke Gedächtnisschwäche (z. B. Geburtsdaten der Kinder, Hochzeits¬
tag wußte er nicht). Dreistellige Zahlen konnte er nicht behalten, über
seine geschäftlichen Verhältnisse wußte er nur ganz unzureichende An¬
gaben zu machen. Er übersah dieselben nicht mehr. Rechnen noch
schlechter wie früher. Patient merkte jetzt auch nicht mehr, daß er
fortwährend Fehler machte. Quecksilberkuren hatten nur vorübergehen¬
den Erfolg.
Im Entmündigungstermine (18. April 1911) unsicher, Krankheits¬
gefühl, der Entmündigung gegenüber gleichgültig.
Entmündigungsgutachten: Diagnose Gehirnsyphilis. Patient ist un¬
fähig, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Kompliziertere Angelegenheiten,
insbesondere solche geschäftlicher Natur, hat er seit Jahren nicht mehr
richtig erledigen können; Unfähigkeit zu selbständigem Urteil, starke Be¬
einflußbarkeit durch andere. Deshalb einem Minderjährigen in der Ge¬
schäftsfähigkeit gleichzusetzen.
Die Entmündigung erfolgte wegen Geistesschwäche.
Wie sich aus dem eben beschriebenen Falle ergibt, sind es in
erster Linie die Gedächtnis- und Urteilsstörungen sowie die
ethischen Defekte, welche die strafrechtliche Verantwortlichkeit
828
Psychosen bei organischen Qehirnkrankheiten.
und die Geschäftsfähigkeit des Kranken mit Gehirnsyphilis be¬
einträchtigen.
Bei Entmündigungen (ev'ent. auch bei Ehescheidungen gemäß
§ 1569 B.G.B.) wird unter Umständen auch zu erwägen sein, ob
nicht durch eine Behandlung des Kranken eine so weitgehende
Besserung zu erzielen ist, daß der Patient wieder fähig wird, seine
Angelegenheiten wie früher zu besorgen. Nach unseren hiesigen
Erfahrungen, wird man diese Hoffnung nur in ganz frischen
Fällen hegen dürfen.
Handelt es sich um die Frage der Geschäftsfähigkeit oder
um Testamentserrichtungen, so ist neben den intellektuellen Fähig¬
keiten und dem Verhalten des Gefühlslebens besonders auch zu
prüfen, ob die vielfach zu findende krankhafte Suggestibilität des
Patienten nicht von Anderen in unzulässiger Weise ausgenutzt
worden ist.
PsychoHen bei ori^aiiischeii Gehiriikrankheiteii.
Multiple Sklerose
Das Krankheitsbild, welches nun kurz gestreift werden muß,
ist ausgezeichnet durch das Auftreten von zahlreichen, bald klei¬
neren, bald größeren Herden, welche über das ganze Gehirn und
Rückenmark verstreut sein können. Die entstehenden Symptome
sind sehr verschiedener Natur, je nach dem Sitz der Herde. Es
kann auf körperlichem Gebiet zu Augenmuskellähmungen, skan¬
dierender Sprache (d. h. der Kranke hackt jede Silbe einzeln ab),
Augenzittern (Nystagmus), Intentionszittern (bei willkürlichen
') Literatur: Lannois, Revue neurol. 1903. Kraepelin im Lehr¬
buch der Psychiatrie. Knoblauch, Monatsschr. f. Psych. 1908. Lachmund,
Psych.-Neurol. Wochenschr. 1911. Raymond u. Touchard, Neurol. Zen-
tralbl. 1909. Damenberger. Gießen 1901. Redlich, Psychosen bei Oe-
hirnerkrankungen. Wien 1912. Seiffer, Arch. f. Psych., Bd. 40. Ed. Müller,
Mult. Skier. 1904. Bloch. Zeitschr. f. d. ges. Neur., Bd. 2. Raecke, Arch.
f. Psych. 1906, Bd. 41 und Vierteljahresschr. f. ger. Med., Bd. 34. Berger.
Jahrb. f. Psych., Bd. 25. Cassirer, Mult. Skier. 1905. Buzzard, Insular
sclerosis and Hysteria. Lancet 1897, 1. Fr. Schnitze, Arch. f. Psych.,
Bd. 11. Schiile, Arch f. klin. Med., Bd. 7. Nonne, Mitteil, der Hamburg.
Staatski ankenhäuser 1910. Duge, lii.-Diss. Bonn 1913. Aubert, 1912,
These de Montpellier. Crüger, In.-Diss. Kiel 1912. E. Meyer. Deutsche
med. Wochenschr. 1912, S. 1620.
Multiple Sklerose. 829
Bewegungen tritt, je näher der Kranke an das Ziel kommt, ein
um so stärkeres Zittern auf) kommen. Ferner können Halb-
seitenlähmungen mit Steigerung des entsprechenden Patellar-
rtflexes, Fußklonus und Babinskischem Zeichen auftreten, früh¬
zeitig sind die Bauchdeckenreflexe aufgehoben, in den späteren
Stadien kommt es auch zu Lähmungen der Blase und des Mast¬
darms.
Da sich kleinere Herde häufig in der Rinde etablieren,
kann es nicht wundernehmen, wenn mit der Erkrankung auch
psychische Störungen verbunden sind, namentlich ist das in den
späteren Stadien der Fall. Raecke z. B. fand unter 37 Sklerotikern
13 mal deutlichen Schwachsinn, 9 mal andersartige Störungen.
Seiffer fand unter 10 Kranken 9 mal erhebliche Intelligenz¬
störungen. Unter 19 in unserer Klinik in den letzten Jahren
behandelten Fällen war nur einer, den ich als geistig voll¬
wertig hätte bezeichnen mögen. Bei ihm bestand das Leiden
2 Jahre. Bei 17 von den anderen Kranken fiel mir in erster
Linie das Mißverhältnis zwischen Stimmung und körper¬
lichem Befund auf. Obwohl die Kranken zum Teil schlecht gehen
konnten, ja sogar trotz bestehender Inkontinenz, obwohl ferner
zahlreiche Besserungs- und Heilungsversuche vergeblich gewesen
waren, obwohl man die Kranken w'eiter zum Teil auch über die
ungünstige Prognose ihres Leidens aufgeklärt hatte, zeigten sie
fast durchgängig eine auffallende Euphorie gegenüber ihrer Lage,
mit der sich fast regelmäßig eine gew’is.se Urteilsschwäche ver¬
band. In lebhafter Erinnerung steht mir in dieser letzten Be¬
ziehung ein Arzt, den ich vor vielen Jahren wiederholt zu sehen
Gelegenheit hatte. Auch er litt an multipler Sklerose, hörte mit
\'orliebe neurologische Fortbildungskurse, in denen auch die
Prognose der multiplen Sklerose eingehend besprochen wurde. Er
wußte seine eigene Diagnose, lief aber trotzdem äußerst vergnügt
umher, erzählte jedem Kollegen, er leide an multipler Sklerose,
bei ihm sei es aber nur ein Herd, der sitze noch besonders günstig
und mache keinerlei Fortschritte.
.•\ußer diesen Intelligenzdefekten, die, wde besonders betont
sei, der Schwere der körperlichen Erkrankung keinesw’egs
parallel zu gehen brauchen (wir haben sie hier gesehen bei
Patienten, die im Anfang des Leidens standen, ebenso wie wdr
umgekehrt das mehrjährige Bestehen einer sicheren multiplen
Sklerose nachw'eisen konnten, ohne daß gleich nennensw’erte In-
830 Psychosen bei organischen Qehirnkrankheiten.
telligenzdefekte nachzuvveiseii waren), gibt es nun noch andere
schwere psychische Störungen.
Wir haben z. B. in der Anstalt Sklerotiker gesehen, die längere
Zeit halluzinierten; ich habe weiter einen Fall beobachtet, in dem
ein Kranker mehrere Jahre unter lebhaften Sinnestäuschungen
und Wahnideen litt und außerdem zeitweise heftig erregt war.
Erregungs- und Verwirrtheitszustände sind auch von anderen
Autoren wiederholt beobachtet worden.
Es ist das Verdienst Raeckes, darauf hingewiesen zu haben,
daß die multiple Sklerose auch eine gewisse forensische Bedeutung
haben kann. Er hat einen Fall von Brandstiftung und einen Fall
von Unzucht mit Kindern begutachtet. In dem ersten Falle
lag eine krankhafte Depression, in dem zweiten eine Intelligenz-
Störung vor.
Das letztere wird wohl bei Beobachtungskranken das häu¬
figere sein. Es kann nicht scharf genug betont werden, daß
die multiple Sklerose ein schweres organisches Gehirnleiden ist,
das die Tendenz zu langsam fortschreitender Verschlechterung
zeigt und sich sehr oft in der Gehirnrinde lokalisiert, somit also
auch anatomisch nachweisbare Ausfallerscheinungen macht.
Manche ältere Fälle von multipler Sklerose, wie man sie in
Siechenhäusern zu sehen bekommt, sind meiner Ansicht nach
Schwachsinnigen auch der höheren Grade durchaus an die Seite
zu stellen, so daß ihre Entmündigung wegen Geistesschwäche
unter Umständen in Frage gezogen werden muß*).
Über die Prognose der multiplen Sklerose ist schon gesagt,
daß es sich im allgemeinen um ein fortschreitendes, allerdings in
den ersten Jahren gewisse Remissionen zeigendes Leiden handelt.
Wichtig ist, was auch bereits angedeutet wurde, daß es nach
dem Tode möglich ist, durch die Obduktion und mikroskopische
Untersuchung die multiple Sklerose festzustellen. Die mikro¬
skopische Untersuchung des Gehirns ist unter Umständen in¬
sofern von Bedeutung, als dadurch gerade kleinere Herde, die in
der Hirnrinde sitzen, nachgewiesen werden können.
*) Ich habe einen Fall gesehen, in dem die Entmündigung wegen
Geisteskrankheit ausgesprochen war.
Huntingtonsche Chorea.
831
Hunting[tonsche Chorea.
Die Chorea chronica hereditaria ist ausgezeichnet durch un¬
regelmäßige, kurze, ruckartige Zuckungen, welche die verschie¬
densten Körperteile und Muskelgebiete betreffen können (s. u.).
Daneben finden sich auf psychischem Gebiet Intelligenzstörungen
sowie episodische Erregungs- und Depressionszustände (besonders
im Beginn des Leidens). Mitunter wird auch Selbstmordneigung
beobachtet. Ferner kommen Verfolgungswahn und vereinzelte
Halluzinationen vor. In 2 Fällen habe ich auch Größenideen, wie
bei Paralytikern, gesehen. Daß die Krankheit ganz ohne psychische
Veränderungen verläuft, ist selten.
Das Leiden ist erblich und unheilbar und entsteht meist im
3. oder 4. Lebensjahrzehnt.
Die forensische Bedeutung der Erkrankung liegt in der Reiz¬
barkeit (Körperverletzungen, Beleidigungen), ferner in der Ab¬
nahme der Intelligenz. Daß in den späteren Stadien der Krankheit
der Patient in seiner Geschäftsfähigkeit beschränkt ist, dürfte
ziemlich regelmäßig der Fall sein. Zu berücksichtigen bleibt, daß
nicht allein der Intelligenzdefekt, sondern auch die Interesselosig¬
keit und Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Lage die richtige
Besorgung der Angelegenheiten verhindert.
Die oft vorhandene Reizbarkeit und Neigung zu Gewalttätig¬
keiten verbunden mit der Interesselosigkeit können, da das Leiden
auch unheilbar ist, eine Ehescheidung nach § 1569 B.G.B. be¬
gründen. Einen Fall dieser Art haben wir hier beobachtet:
P. C., geb. 5. Juni 1864, Schneider, wurde am 21. Juni 1905 in die
psych. Klinik zu C. aufgenommen, weil er geisteskrank geworden war.
Er litt an Huntingtonscher Chorea mit Erregungszuständen.
Die Mutter hatte die gleiche Krankheit gehabt. Patient zeigte
starke Zuckungen in den verschiedensten Muskelgruppen, namentlich in
den Gliedmaßen, der Mund- und Zungenmuskulatur. Die Zuckungen waren
unregelmäßig, kurz, ruckartig, ließen sich willkürlich nicht unterdrücken
und hörten nur im Schlaf auf. Bei psychischer Erregung nahmen sie zu.
Trotzdem konnte der Kranke aber noch einzelne feinere Verrichtungen
ausführen. Seit 1902 auch psychische Veränderung. Für das Geschäft
kein Interesse. Seit Juni 1905 zunehmend aufgeregt, unruhig, „machte
der Frau viel Last“.
In C. als ziemlich dement und urteilslos bezeichnet. In den Jahren
1902—1905 hatte er viel neue Kleidungsstücke gekauft, obwohl er nicht
ausging. Er arbeitete sehr langsam, saß viel stupide herum, machte der
Frau oft Szenen.
832 Psychosen bei organischen Qehirnkrankheiten.
Vom 21. Jiiiii 1905 bis 28. August 1905 in zwei Anstalten. Ungeheilt
entlassen wurde er noch reizbarer, schimpfte, wurde gewalttätig gegen
die Frau, warf mit dem Bügeleisen nach ihr, war zeitweise unrein mit
Urin und Kot. Gedächtnis und Auffassungsvermögen ließen nach. Sehr
unvorsichtig mit Feuer. Gegen Fremde roh und grob.
1907 wieder in eine Klinik gebracht, ist er zeitlich und örtlich un-
orientiert, hielt sich für kerngesund. Meist heiter, zeitweise reizbar.
Auch ernste Gespräche begleitet er mit unmotiviertem Lachen. Arbeiten
will er nicht. Einsichtslos für sein Benehmen gegenüber der Frau. Von
letzterer spricht er gar nicht.
Seine Entlassung erbittet er mit der Begründung, daß ihm sonst
die Schere und das Bügeleisen verrosten oder daß er das Gehen hier
ganz verlerne. Als Grund der Aufnahme gibt er einen rechtsseitigen
Schulterbruch an, den er nie hatte.
ln der Klinik oft unsauber mit Kot und Urin. Beim Essen gleichfalls
sehr unappetitlich infolge der unwillkürlichen Zuckungen.
Als er eines Tages eine weibliche Kranke der hiesigen Klinik er¬
blickt, wird er erregt, erkundigt sich, ob sie unverheiratet sei, schreibt
ihr Liebesbriefe, die z. T. zusammenhanglos sind, und macht ihr Heirats-
antrage. Verlangt eine Unterredung mit dem Mädchen. Als ihm diese
verweigert wird, erregt.
Über Rechtsgeschäfte, Eheschließung, Pflichten der Ehe, Bigamie usw.
hat er ganz vage Vorstellungen. Zeitlich und örtlich unvollständig orien¬
tiert. Leichte Rechenaufgaben werden oft falsch gelöst (7X8 = 72,
41 —29 = 21, 71—37 = 44, 8 X 9 = 64). Hält sich für ganz gesund.
Weiß nicht, warum er in die Klinik gekommen ist. Reizbar gegen
andere Kranke. Um seine Frau kümmert er sich gar nicht.
Dezember 1909 deshalb Ehescheidung. In der Folgezeit weiterer
körperlicher und geistiger Rückgang. 1912 Tod. Vorher Entmündigung
wegen Geistesschwäche.
Der Fall zeigt deutlich, wie das Leiden nicht nur wegen der
Zuckungen, .sondern in erster Linie infolge der damit verbundenen
psychischen Störungen den sozialen Rückgang des Individuums
zur Folge hat. Man sieht ferner, daß die Erkrankung auch auf
die Ehe von ungünstigem Einfluß ist^).
Die Erwerbsfähigkeit der Kranken kann lange Zeit er¬
halten bleiben.
Literatur: Erdt, Gerichtsärztl. Bedeutung der Huntingtonschen
Chorea. Friedreichs Bl. f. ger. Med. 1903. Facklam, Arch. f. Psych. 1898.
Bd. 30. Wollenberg, Chorea in Nothnagels Handbuch. Wien 1898. Hölder.
Nathan, Die psychischen Störungen bei der Huntingtonschen Chorea.
In.-Diss. Bonn 1912 (hier die ges. Literatur). E. Bayer, Erwerbsfähig¬
keit bei Huntingtonscher Chorea. Med. Klinik 1909.
Chorea mitior. — Basedowsche Krankheit. — Oehirngeschwiilste. 833
Chorea minor (Veitstanz).
Anhangsweise sei hinzugefügt, daß neben der chronischen
Chorea noch eine akute Form vorkommt. Sie ist heilbar, tritt
meist — im Gegensatz zu der anderen Krankheit — in der Jugend
auf, ist nicht vererbbar, beruht vielfach auf Infektion (Gelenk¬
rheumatismus, Influenza, Lungenentzündung usw.) und ist nicht
so regelmäßig mit psychischen Störungen verbunden, wie die
chronische Chorea. Die vorkommenden ernsteren Krankheits¬
bilder sind deliriöser Natur oder stellen Verwirrtheitszustände
dar. Gerichtsärztliche Bedeutung haben sie wohl kaum jemals.
Ihre forensische Beurteilung bietet keinerlei Schwierigkeiten.
Basedowsche Krankheit ')•
Die wesentlichsten körperlichen Symptome sind ein Kropf,
Glotzaugen, Pulsbeschleunigung, seltener Lidschlag (Stellw.agsches
Symptom), Erweiterung der Lidspalten; beim Senken des er¬
hobenen Blickes wird der über der Hornhaut gelegene Teil der
Bindehaut sichtbar (Graefesches Symptom).
Auf psychischem Gebiete findet man neurasthenische und
hysterische Symptome. Seltener kommen Manien, Melancholien
und Zustände halluzinatorischer Verwirrtheit vor. Gelegentlich
wurde auch die Kombination von Morbus Basedow und Epilepsie
beobachtet.
Wichtig ist, daß nach Unfällen ganz akut Erscheinungen der
Krankheit auftreten können.
Gehirngeschwülste ^).
Die Geschwülste des Gehirns machen Lokal- und Allgemein-
erschcinungen. Die erstercn hängen von dem Sitz des Tumors
’) Literatur: A. Hornburger. In.-Diss. Straßburg 1899. Oppen¬
heim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten 1913. Möbius in Nothnagels
Handbuch. Ziehen, Berl. klin. Wochenschr. 1909. Laignel - Lavastine,
Revue neurologique 1908. Bonhoeffer in Aschaffenburgs Handb. der
Psych. Thoma, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 51. Halberstadt, Revue
neurol. 1912. S. 327.
’) Literatur: Oppenheim, Nervenkrankheiten und Oehirnge-
schwülste in Nothnagels Handbuch 1913. P. Schuster, Psych. Störungen
bei Gehirntumoren 1902. Pfeiffer, Arch. f. Psych., Bd. 47. Sterling,
Ztschr. f. d. ges. Neurol., Bd. 12. A. Westphal, Festschr. für Sonnenburg.
Hübner. ForeiiHtsche Psychiutrie. .'>S
«34
Die Qehirnarteriosklerose.
ab. Von den letzteren seien Kopfschmerzen, Erbrechen, Be¬
nommenheit, Schlafsucht, Schwindel, Bewußtlosigkeit, allgemeine
Krämpfe zu nennen.
Von psychischen Krankheitserscheinungen seien genannt:
manische, melancholische und Verwirrtheitszustände. Ferner
Delirien, der Korsakowsche Symptomenkomplex, Demenz, bei
Stirnhirntumoren Witzelsucht. Auch paralyseähnliche Krank¬
heitsbilder sind beschrieben worden.
Daß diese Affektion gelegentlich einmal auch forensisches
Interesse haben kann, beweist ein Fall von Glioma cerebri
(Staerke).
Die (xehiriiarteriosklerose.
Die Gefäßverkalkung ’) ist eine Erkrankung, welche sich für
gewöhnlich im fünften Lebensjahrzehnt, selten schon früher be¬
merkbar macht. Sie verdankt ihre Entstehung meist verschiedenen
Ursachen, von denen in erster Linie die Syphilis, der Alkohol,
daneben übermäßige körperliche und geistige Arbeit genannt seien.
In einer Reihe von Fällen spielt auch erbliche Belastung eine
Rolle, das Leiden tritt dann oft schon auffallend früh hervor. —
Die Arteriosklerose entwickelt sich meist ganz allmählich und
braucht nicht immer das ganze Gefäßsystem gleichmäßig zu be¬
fallen.
Vom klinischen Standpunkte aus werden vier Gruppen unter¬
schieden.
I. Die sogenannte nervöse Form (Windscheid, Gramer)
ist charakterisiert durch rasche psychische, vielfach auch körper¬
liche Ermüdbarkeit, Gedächtnisschwäche, Kopfschmerzen und
Schwindelanfälle. Die Kranken werden oft auch reizbar, zur
Weiterführung ihrer Berufsarbeit unfähig, ihre geistige Produk¬
tivität ist erlahmt. Schon mit einfachen Methoden lassen sich
Defekte der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses nachweisen.
VV'ollenberK in Binsw.-Siemerlings Lehrbuch. Bruns. Qehirngeschwülste.
Berlin 1897. Qiaelli in Policlinico 1897. Jastrowitz, Deutsche med.
Wochenschr. 1888. bd. Müller, Psych. Störungen bei (leschwülsten des
Stirnhirns. Leipzig 1902. Fürstner, Arch. f. Psych., Bd. 15, 16, 17.
Staerke, ülioma cerebri. Psych. en Neurol. Bladen, Bd. 15, S. 197.
*) Literatur siehe unter Altersblödsinn.
Die Qehirnarteriosklerose. 835
dazu kommt Ohrensausen, Flimmern vor den Augen, meist aucli
eine ausgesprochene Intoleranz gegen Alkohol.
Wichtig ist, daß die Krankheitserscheinungen in ihrer
Schwere erheblichen Schwankungen unterworfen sein können.
Während der Patient an einem Tage leistungsfähig ist, sich
auch noch an schwierigere Fragen heranmachen kann, ver¬
sagt zu anderer Zeit sein Gedächtnis den Dienst. Es fehlt dem
Kranken dann auch die Initiative, er kann den an ihn im Beruf
gestellten Anforderungen entweder gar nicht, oder nur mit Mühe
genügen. Dabei erkennt er selbst seinen Zustand meist richtig
und knüpft an denselben allerlei hypochondrische Befürchtungen,
Bei richtiger Behandlung ist das Leiden verhältnismäßig
gutartig.
An 2. Stelle haben wir derjenigen Krankheitsbilder zu ge¬
denken, deren Hauptmerkmal darin besteht, daß sie bald lang¬
samer, bald rascher zu schweren psychischen Ausfallserscheinun¬
gen führen.
Auch hier sind im Beginn nur die schon erwähnten Allgemein¬
erscheinungen (Kopfschmerzen, Schwindel, Gedächtnisschwäche)
vorhanden. Bald stellt sich eine Veränderung der Stimmung ein.
Die Kranken werden weinerlich, gereizt, unruhig, fühlen sich
krank, hegen allerlei Befürchtungen für die Zukunft, gehen von
einem Arzt zum andern.
Bald nehmen die Schwindelerscheinungen zu, es treten richtige
Schwindelanfälle auf, auch diese steigern sich noch, es kommt ent¬
weder zu vorübergehenden Lähmungen oder zu epileptiformen
Krampfanfällen. Bei diesen Anfällen bleibt von der Lähmung
etwas zurück. Die Sprache wird undeutlich, mitunter auch ver¬
waschen, ohne daß es zu eigentlichem Silbenstolpern kommt. In
ausgesprochenen Fällen treten schließlich richtige Halbseiten¬
lähmungen hinzu.
Mit der Zunahme der Schwindelanfälle geht eine erhebliche
psychische ^'eränderung mit dem Kranken vor sich. Die ursprüng¬
lich vorhandene Angst schwindet, das Interesse für die Familie,
für den Beruf, für die eigene Person tritt zurück, die Kleidung
wird unordentlich, der Patient vernachlässigt sich auch körper¬
lich, er wird stumpfer und apathischer, mitunter wird in diesem
Stadium eine gesteigerte geschlechtliche Erregbarkeit bemerkt.
Die ethischen Gefühle stumpfen mehr und mehr ab.
836 Die Qehirnarteriosklerose.
Das Gedächtnis und die Merkfähigkeit lassen deutlich nach,
es kommt zu vorübergehenden Erregungszuständen mit Sinnes¬
täuschungen und Wahnideen, auch Verwirrtheitszustände und
deliriöse Phasen werden beobachtet. Je häufiger sich die anfalls¬
artigen Zustände bemerkbar machen, desto rascher schreitet die
Verblödung fort. Schließlich findet man eine Demenz, die nach
Alzheimer insofern Besonderheiten bietet, als sie die Gesamt¬
persönlichkeit nicht gleichmäßig betrifft, sondern einzelne Teile
dersell)en auffällig lange erhalten läßt. Die Neigung zu depres¬
siver Verstimmung und die pathologische Reizbarkeit zeigen sich
auch in den Endstadien des Leidens häufig noch.
Die intellektuellen Leistungen dieser Kranken sind weit¬
gehenden Schwankungen unterworfen*).
Die wichtigsten körperlichen Erscheinungen, welche bei
dieser Eorm der Arteriosklerose auftreten können, sind halbseitige
Lähmungen, Fazialisparesen, Gesichtsfeldeinschränkungen, Stö-
lungen der Sprache, Trägheit der Licht- und Akkommodations¬
reaktion der Pupillen, Glaskörperblutungen, Netzhautblutungen,
Hemianopsie, Aphasien und pathologische Veränderungen der
Sehnen reflexe. —
Als Abart ist eine von L. W. Weber beschriebene Grupi^e
von Fällen anzusehen, bei der auch Größenideen Vorkommen, die
aber dem normalen Vorstellungskreise der Persönlichkeit, ihrem
Berufsleben und ihrer sozialen Stellung eingeordnet sind, eine
logische Begründung erfahren und suggestiv weniger beeinflußbar
sind als bei Paralytikern. Weber fand bei diesen Kranken regel¬
mäßig eine angeborene degenerative Anlage.
Nahe verwandt mit den eben erwähnten Krankheitsbildern
ist die von Binswanger unter dem Namen Encephalitis subcorti-
calis chronica beschriebene Erkrankung, ebenso die von Alzheimer
beschriebene senile Rindenverödung und perivaskuläre Gliose.
Drittens haben wir noch der i)sycbiscben Störungen zu ge¬
denken, die nach Schlaganfällen auftreten. Es kommen heitere,
depressive und ängstliche Erregungszustände mit oder ohne
Wahnvorstellungen vor, die zum Teil ausheilen können, zum
größeren Teil allerdings in Demenz übergehen. —
*) Stertz, Periodisclies Schwanken der Hirnfunktion. Arch. f. Psych.
1909.
Die Qehirnarteriosklerose.
«37
Gaupp hat ein Krankheitsbilcl als arteriosklerotischen
Dämmerzustand beschrieben, das durch ängstlich-delirante Er¬
regung mit V'^erarmungswahn, Desorientiertheit, Schreien und
Jammern gekennzeichnet ist. Der Zustand dauert wenige Tage,
dann tritt Heilung mit Amnesie für die Erregung auf (arterio¬
sklerotischer Dämmerzustand).
Zu erwähnen ist schließlich bei dieser Gruppe noch die ein¬
fache Demenz, welche nach Schlaganfällen als Ausdruck einer
neben dem Herde bestehenden allgemeinen Gehirnschädigung be¬
obachtet wird.
Die postapoplektische Demenz ist praktisch von großer
Wichtigkeit. Sie kann, wenn es sich um nur einen Herd handelt,
wenig ausgesprochen sein, so daß sie dem Fernerstehenden ganz
entgeht und keinen Anlaß bietet, die Geschäftsfähigkeit oder
Testierfähigkeit des Kranken in Zweifel zu ziehen. Geringe
Gedächtnis- und Merkfähigkeitsstörungen und starke Ermüdbar¬
keit bei geistigen Anstrengungen, größeres Ruhebedürfnis, viel¬
leicht auch eine nur ganz gelegentlich hervortretende geringe
Urteilsschwäche können die einzigen Zeichen des überstandenen
Schlaganfalls sein.
Wiederholen sich nun aber die Apoplexien oder war die erste
Blutung sehr groß, so ist die Folge für den Kranken eine
weitergehende. Das Gedächtnis ist erheblich gestört, es tritt eine
auffallende Gleichgültigkeit für alles, was den Kranken früher
interessiert hat, ein. Seine Orientierung leidet, außerdem fällt er
durch häufiges unmotiviertes Lachen auf.
Dazu wird die Sprache vielfach undeutlich. Es zeigen sich
Lähmungserscheinungen. Der Kopf und die Hände zittern,
Schwindelanfälle treten auf. ln den höheren Graden der post-
apoplcktischen Demenz sind die Kranken auch unsauber.
Hinzuzufügen ist noch, daß die Arteriosklerose verhältnis¬
mäßig selten rein vorkommt. Da wo höhere Schwachsinnsgrade
vorliegen, handelt es sich fast regelmäßig um eine Kombination
mit seniler Demenz.
An vierter Stelle ist schließlich die arteriosklerotische Epi¬
lepsie zu erwähnen.
Was die forensische Beurteilung des Leidens an¬
langt, so kommen auf strafrechtlichem Gebiete Eidesverletzungen
vor, die auf die Gedächtnisschw'äche zurückzuführen sind.
Wichtiger als diese Delikte sind aber die Sexualverbrechen. Von
838 Die Qehirnarteriosklerose.
Zeit zu Zeit begegnet uns ein Fall, in dem ein bis dahin völlig^
unbescholtener Mann sich einer Reihe geschlechtlicher Vergehen
schuldig macht. Genaue Ibitersuchung des Angeschuldigten
fördert dann nicht selten eine Arteriosklerose zutage.
F.in Fall dieser Art — der einzige Fall von Arteriosklerose
unter unseren 196 Beobachtungen — ist der folgende;
R.. geh. 21. September 1848, war angeklagt, im Jahre 1910 an einer
Anzahl Schülerinnen, Personen unter 14 Jahren, unzüchtige Handlungen
vorgenommen zu haben. Er sollte einigen Mädchen unter die Röcke an
den Geschlechtsteil, andere an die Brust gefaßt oder sie geküßt haben,
und zwar, wenn die Kinder in seinen Laden kamen, um etwas zu kaufen,
oder nachdem er sie besonders dazu hereingerufen hatte.
R. bestritt die Handlungen entschieden. Richtig sei, daß einige der
Kinder bei ihm Zuckersachen gekauft hätten. Die Mutter der Kinder D.
hätte ihn in Gegenwart seiner Frau wegen der unzüchtigen Handlungen
zur Rede gestellt; seine Tochter habe darauf die Kinder D. gefragt, diese
hätten gesagt, er habe sie nicht unsittlich angefaßt.
Die Schülerin M. L. hatte angegeben, R. habe sie einmal auf dem
Hof der Witwe R. unter die Rocke gefaßt; diesen Vorfall habe Gertrud R.
gesehen. Letztere gab aber an, sie wisse von der Sache nichts.
(Den Aussagen der Schülerinnen B. und L. konnte die Lehrerin in
der Schule nicht immer Glauben beimessen. Der Wahrheitsliebe der
L. D. stellte die Lehrerin kein gutes Zeugnis aus, wogegen die M. L. ein
gutes Zeugnis bekam.)
R. ist vorbestraft, u. a. vor vielen Jahren wegen Hehlerei mit
6 Monaten Gefängnis und 2 Jahren Ehrverlust.
Am 9. Januar 1911 wurde R. in die psychiatrische Klinik zu C. auf¬
genommen und von dort aus am 28. Januar 1911 der Provinzial-Heil- und
Pflege-Anstalt in B. überwiesen. Nach den hierbei gemachten Mit¬
teilungen ist über erbliche Belastung und die Entwickelung des R. nichts
bekannt. Seit mehreren Monaten soll sein Gedächtnis nachgelassen, seit
8—10 Tagen soll er sehr aufgeregt sein. Er redete konfuse Sachen,
äußerte Größenideen, war schwer besinnlich und machte einen dementen
Eindruck.
Beobachtung in der Anstalt: Die Pupillen sind rund, die rechte ist
weiter wie die linke, beide verengen sich auf Lichteinfall nur träge und
wenig ausgiebig. Die Augenbewegungen sind frei, die Zunge wird gerade
vorgestreckt, zittert dabei heftig. Die Lungenspitzen sind verdächtig
auf Tuberkulose. Herz o. B. Der Puls ist regelmäßig, SO Schläge in
der Minute, die Schläfenadern sind stark geschlängelt, die Radialarterien
sind starrwandig und geschlängelt. Urin frei von Eiweiß und Zucker.
Die Haut- und Sehnenreflexe sind vorhanden. Keine Gefühlsstörungen.
Beim Stehen mit geschlossenen Augen tritt leichtes Schwanken ein; im
übrigen ist die Motilität nicht gestört.
Beim Sprechen schwerer Worte fällt auf. daß die Sprache undeutlich
ist. Bisweilen kommt es auch zu Umstellungen von Buchstaben.
Die Qehirnarteriosklerose.
839
In den ersten Tagen seines hiesigen Aufenthaltes war R. deprimiert,
klagte, sein Gedächtnis habe in den letzten Jahren sehr nachgelassen,
ein Vermögensverlust habe ihn sehr mitgenommen, er mache sich Sorge,
wovon er leben solle, und Selbstvorwürfe, daß er gesündigt habe. Cr
klagte auch über Kopfschmerzen und Schwindelanfälle, die in den letzten
Jahren häufiger aufträten.
Nach einiger Zeit wurde R. etwas freier, die Stimmung besserte
sich, so daß er aus dem Wachsaal verlegt werden und aufstehen konnte.
ln mehreren Untersuchungen erwies er sich zeitlich, örtlich und über
seine Personalien orientiert. Er gab an, er sei krank im Kopf gewesen
und habe nicht mehr gewußt, was er getan habe; wie das gekommen sei,
könnte er nicht sagen. Er habe sich verfolgt geglaubt, oft Tiere, groß
wie Pferde, Spinnen von riesiger Größe, auch Menschen, Frauen und
Männer, vor Augen gehabt, zum Teil ganz verunstaltet. Das sei Tag
und Nacht so gewesen, er habe die Menschen auch sprechen hören, habe
sie aber nicht verstanden, auch Schreien habe er gehört. Im Frühjahr
vorigen Jahres habe das angefangen, da sei er so weit gewesen, daß er
sich habe das Leben nehmen wollen. Das sei so gegangen, bis er fort¬
gebracht worden sei. Von seinem Aufenthalt in C. wisse er nicht viel.
Wie er zur Besinnung gekommen sei, hätten die Ärzte ihm gesagt, er
schlafe ja immer, und hätten ihm Spielsachen gezeigt, die er nicht hätte
benennen können. Er wisse auch nicht, wie lange er in C. gewesen sei.
Die Kenntnisse des R. sind schlecht. Bei allen diesbezüglichen
Fragen muß er lange überlegen. Er rechnet schlecht. 4X6 = 24,
6 X 8 = 46, 48, 7 X 12 = 7 X 10 = 70 = 80 = 82, 12 X 13 = ? kann er
nicht. 23 + 44 = 57, 51 — 16 = 33; dabei vergißt er die Zahlen.
62 — 19 = 41, 18 :6 = 6, 56 ; 8 = ? kann er nicht, ‘/s X Vs = L
Eine vierstellige Zahl, die er behalten soll, hat er schon nach einer
Minute verge.ssen. Er klagt darüber, daß er vergeßlich geworden sei;
zu Hause habe er auch nicht mehr behalten können. Wenn er etwas
holen sollte, wenn die Frau ihm eine Besorgung aufgetragen habe, habe
er das oft vergessen.
Gefragt, was er denn begangen habe, sagt er, eine Frau habe an¬
gegeben, er solle ein Mädchen angefaßt haben. Wann, wisse er nicht.
Er sei nach dem Gericht geführt worden, aber was dort gesagt worden
sei, wisse er nicht alles mehr. Er solle Kindern unter die Röcke gegriffen
haben, das habe ihm sein Schwiegersohn gesagt. Er habe so etwas nicht
getan, er meine, daß nichts an der' Sache sei. Als ihm die einzelnen
Delikte vorgehalten wurden, sagte er mit gedrückter Miene, das könne
doch nicht möglich sein, er glaube alles in der Welt, aber daß er so etwas
getan habe, das glaube er nicht. Das sei nicht wahr; von der Maria L.
sagte er. das könne nicht sein, dann sei das Kind angestiftet worden, das
zu sagen. Schließlich zeigt sich bei ihm eine gelinde Entrüstung, und er
meint, da höre doch alles auf, da stehe ihm der Verstand still; bei der K.
erklärt er, vor 2 Jahren oder so, solle das Kind auch so etwas mitgemacht
haben.
Bei der ganzen Besprechung zeigt er aber doch sehr wenig Affekt;
er geht ganz ruhig und gelassen fort, ohne daß die Worte des Arztes
840 Die Qehirnarteriosklerose.
über die eventuellen Folgen solcher Handlungen irgendwelchen Eindruck
auf ihn machen.
Gutachten: Es handelt sich bei R. um das arteriosklerotische Irre¬
sein. Hierfür sprechen die stark geschlängelten Schläfenadern und die
harten, geschlängelten Radialarterien.
Ferner haben wir noch folgende Symptome anzuführen: Apha-
tische Störungen sind offenbar in C. konstatiert worden, wo R. Spiel¬
zeug nicht benennen konnte. Eine leichte Sprachstörung bei schweren
Worten ist hier festgestellt worden. Auffallend war weiterhin eine starke
Gedächtnisschwäche und erhebliche Herabsetzung der Merkfähigkeit.
Die Krankheit hat sich langsam und allmählich entwickelt. Später
machten starke Aufregung, konfuse Reden und QröBenideen die Über¬
führung des R. in die Klinik zu C. erforderlich. Dort wurden zuerst Ver-
sündigungs- und Verarmungsideen geäußert.
ln B. machte sich im Krankheitsbild aber auch schon eine geistige
Schwäche geltend. Die Kenntnisse des R. sind dürftig und er rechnet
außerordentlich schlecht.
Es ist durchaus wahrscheinlich, daß die Erkrankung im Frühiahr
1910 begonnen hat (wenn nicht noch früher). Die ihm zur Last gelegten
Delikte fallen also in eine Zeit, in der er schon gehirnkrank war. Er
selbst will von den Anschuldigungen nichts wissen. Er weiß auch offen¬
bar nichts Sicheres mehr davon, einmal weil sein Gedächtnis gelitten,
zweitens weil im vorigen Jahr die geistige Erkrankung zu Sinnestäu¬
schungen im Gesichts- und Gehörssinn und Benommenheit geführt hat.
Wiclitiger als vom strafrechtlichen Standpunkte aus ist die
Arteriosklerose zivilrechtlich. Es kommt verhältnismäßig häufig
vor, daß die Geschäftsfähigkeit eines derartigen Kranken in
Zweifel gezogen wird oder nach dem Tode Testamente angefochten
werden; es ist dann gut, wenn der Sachverständige bei ärztlichen
Untersuchungen, die er aus anderen Gründen vornimmt, von
vornherein sein Augenmerk auch auf den psychischen Zustand
lenkt und sich darüber Notizen macht. Sehr nützlich erwies sich
das z. R. in dem folgenden Falle:
P. Z., 62 Jahre. Mühlenbesitzer. Testamentsanfechtung, Gutachten,
gütliche Einigung der Parteien.
Im Jahre 1909 erschien in meiner Sprechstunde eines Tages der
Mühlenbesitzer P. Z. mit seiner Frau. Beide gaben an. Z. habe vor etwa
6 Monaten einen Schlaganfall erlitten, danach habe sein Gedächtnis etwas
nachgelassen, er könne seinen umfangreichen Geschäftsbetrieb nur mit
Mühe übersehen, es gebe Tage, wo er sich so gut wie gar nicht be¬
schäftigen könne, dazu leide er an Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Ge¬
dächtnisschwäche, erhöhter Ermüdbarkeit. An manchen Tagen falle ihm
das Denken ganz besonders schwer, öfter sei er auch traurig verstimmt
und zum Weinen geneigt. Die objektive Untersuchung ergab: Starke
Die Qehirnarteriosklerose.
841
periphere Arteriosklerose (Schläfenschlagadern, Pulsadern), lin Urin
Spuren von Eiweiß, Reste einer rechtsseitigen Lähmung. Am rechten
Euß Babinski, rechtes Kniephänomen leicht gesteigert. Rechts Andeutung
von Fußklonus, grobe Kraft im rechten Arm, der meistenteils in Beuge¬
stellung, leicht adduziert gehalten wird, herabgesetzt. Sprache o. B.
Pupillen reagieren träge. Dem Kranken wurde geraten, sich von seinem
üeschäft zurückzuziehen, er erhielt einen Kurplan, etwas Jod und wurde
im übrigen nach Kräften psychisch beeinflußt, da er fürchtete, rasch neue
Schlaganfälle zu bekommen. In den nächsten 8 Monaten änderte sich
der Zustand nicht wesentlich, nur das Gedächtnis nahm etwas ab, Patient
zeigte sich infolgedessen nicht wieder bei dem Verfasser. Erst nach
’/* Jahren kam er, weil die Schwindelerscheinungen etwas zugenommen
hatten. Bei dieser Gelegenheit nahm ich wieder eine ausführliche psy¬
chische Untersuchung vor. Es zeigte sich, daß er über den Umfang seiner
geschäftlichen Tätigkeit, seiner Einnahmen und Ausgaben und die Art
der Anlage seiner Kapitalien usw. gut Bescheid wußte. Er war in seiner
Leistungsfähigkeit inzwischen etwas zurückgegangen, behielt aber die
Hand noch immer im Geschäfte und konnte an Tagen, an denen er sich
wohl fühlte, auch noch ganz gut disponieren und mitarbeiten. Körperlich
hatte er eine nennenswerte Veränderung nicht durchgemacht. Psychisch
war vielleicht noch bemerkenswert, daß am Tage der Untersuchung eine
deutliche Depression bestand, die mit hypochondrischen Klagen ver¬
bunden war, insbesondere fürchtete sich der Patient vor neuen Schlag¬
anfällen. Einige Wochen nach der Rückkehr von dieser zweiten Unter-
srehung machte er, ohne von seiner Frau besonders beeinflußt worden
zu sein, ein Testament zu deren Gunsten (es handelte sich um die zweite
Frau), durch welches seine Brüder und deren Kinder in verschiedener
Hinsicht benachteiligt waren. Vier Monate nach der zweiten Unter¬
suchung starb er. Nach den übereinstimmenden Aussagen beider Par¬
teien hatte er sich in den ersten Wochen nach der zweiten Untersuchung
nicht wesentlich geändert; einige Tage vor dem Tode wurde er unruhig,
die Depression nahm zu. schließlich trat Verwirrtheit ein, er lief umher,
fand sich in der eigenen Wohnung nicht zurecht, bis ein Schlaganfall ihn
bettlägerig machte, dem er in wenigen Tagen erlag. Die Brüder des
Verstorbenen wollten nun das Testament anfechten, da sie sich benach¬
teiligt fühlten. Es wurde auch Klage eingereicht. Beide Parteien
wandten sich dann an den Verfasser, der sich dahin aussprach, daß der
Patient bei der zweiten Untersuchung noch testierfähig gewesen sei.
Wenn also inzwischen mit ihm keine nennenswerte Veränderung bis zur
Errichtung des Testamentes vor sich gegangen war. dann mußte man
annehmen, daß seine Testierfähigkeit auch um jene Zeit noch nicht be¬
einträchtigt war. Da offenbar die Klüger nennenswerte Faktoren, welche
für eine Verschlechterung zu jener Zeit schon gesprochen hätten, nicht
Vorbringen konnten, so gaben sie sich mit einer von der Gegenseite ge¬
botenen, sehr kleinen Summe zufrieden und zogen ihre Klage zurück.
Schon bei der Besprechung der wichtigsten zivilrechtlichen
Bestimmungen, welche für die forensische Psychiatrie in Betracht
842
Die Oehirnarteriosklerose.
kommen, ist der Aphasie mehrfach gedacht worden. Wir
müssen nunmehr noch etwas genauer auf diesen Punkt eingehen.
Die für unsere Zwecke wichtigsten Störungen sind: i. Die
motorische Aphasie'): der Patient verstellt, was man zu
ihm spriclit, kann aber selbst nicht reden. 2. Die sensorische
Aphasie: der Kranke kann sprechen, versteht aber nicht, was
man zu ihm redet. 3. Die Paraphasie: es kommt zum Ein¬
schieben unrichtiger Silben oder Worte, zum Verwechseln von
Worten. 4. Die Alexie: Unfähigkeit Geschriebenes zu lesen.
5 Die Agraphie: Unfähigkeit zu schreiben.
Alle diese durch Herderkrankungen bedingten Erscheinungen
können von forensischer Wichtigkeit sein, und zwar nach zwei
Richtungen. Einmal kann durch eine Aphasie der Kranke an der
Besorgung seiner Angelegenheiten in dem Maße gehindert sein,
daß er entweder eines Pflegers, gelegentlich sogar eines Vor¬
mundes bedarf, dann aber sind für die Testierfähigkeit von
Aphatischen besondere Bestimmungen erlassen. Von den letzteren
ist im dritten Teil dieses Buches an entsprechender Stelle bereits
gesprochen worden. Hier ist deshalb nur noch auf die Ent¬
mündigung einzugehen.
Voranzustellen ist da, daß nicht jeder Aphatiker unfähig ist,
seine Angelegenheiten zu besorgen. Es werden im wesentlichen
zwei Momente in Frage kommen, durch die er daran verhindert
sein kann, das ist erstens die Unfähigkeit, sich mit anderen zu ver¬
ständigen. Wenn er z. B. an sensorischer Aphasie leidet, zu der
noch asymbolische Störungen und eine Paraphasie kommen, dann
versteht er das, was andere zu ihm sagen, nicht und kann außer¬
dem viele Dinge, deren er benötigt, nicht bezeichnen. Damit ist
eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die Besorgung der
Angelegenheiten entfallen, und es ist in solchen Fällen den
Kranken wohl .schwer möglich, alles das, was unter dem Begriff
Angelegenheiten zusammengefaßt wird, sachgemäß zu erledigen.
Zweitens wird sich die Frage erheben, wie weit der vorhandene
Herd das Gehirn allgemein geschädigt hat, wie weit insbesondere
das Urteil des Kranken und sein Gedächtnis gelitten haben. Sind
gröbere Störungen bei einem motori.schcn Aphasiseben, der alles
') Die hier erwähnten Störungen der Sprache sind lediglich bedingt
durch Herderkranklingen ini Gehirn, nicht durch solche der peripheren
Sprachniuskulatur.
Die Qehirnarferiosklerose. 843
versteht, was man zu ihm spricht, und sich eventuell schriftlich
verständigen könnte, vorhanden, so ist der Kranke wohl doch
einem Schwachsinnigen gleich zu erachten.
Es sind also auch hier die sozialen Konsequenzen der Gehirn¬
erkrankung, welche berücksichtigt werden müssen.
Ein Beispiel, in dem ein sensorisch Aphasischer wegen
Geisteskrankheit entmündigt wurde, hat Brand *) aus unserer
Klinik veröffentlicht. Ein Fall, der ähnlich lag, ist der folgende;
H. (j., sceb. 28. Mai 1838 zu B. Schlosser. Sensorische Aphasie,
dement, Entmündigung wegen Geisteskrankheit.
Bis zum Jahre 1907 gesund. November 1907 starb eine seiner
Schw'estern. Bei ihrem Begräbnis erlitt Patient einen Schlaganfall.
Infolgedessen Gesichtslähmung, Verlust der Sprache; geistig nicht normal.
Am 10. März 1909 Aufnahme in die Klinik, weil er seiner Tochter nicht
mehr folgte, sich umhertrieb, dem Alkohol stark zusprach, nachts nicht
schlief und sehr reizbar war.
Da für den Patienten von Zeit zu Zeit verschiedene Geldgeschäfte
zu erledigen waren, er außerdem für einige Kinder zu sorgen hatte, wurde
die Frage der Entmündigung akut. In dem Gutachten, welches zu er¬
statten war, w'urde folgender Befund niedergelegt.
I. Es bestand körperlich eine rechtsseitige Lähmung mit Patellar¬
und Fußklonus, Babinskischem Zeichen. Die peripheren Schlagadern
w'aren verhärtet und stark geschlängelt.
Auf psychischem Gebiet fand sich erstens eine sensorische Aphasie.
Forderte man den Patienten z. B. auf, die Zunge zu zeigen, so schloß er
die Augen, gab man ihm den Auftrag, im Zimmer hin und her zu gehen,
so öffnete er den Mund; wenn er spontan sprechen wollte, so waren
seine Worte infolge zahlreicher paraphasischer Einschiebungen nur zum
geringen Teil verständlich; namentlich wenn er in Erregung geriet,
konnte er sich so gut wie gar nicht verständlich machen. Die be¬
kanntesten Gebrauchsgegenstände, wie Stuhl, Löffel, Teller usw. konnte
er nicht bezeichnen, hier und da kam es auch vor, daß er einzelne solcher
Gegenstände nicht zu gebrauchen vermochte.
Dazu kam eine hochgradige Erregbarkeit. Wenn ihm irgend etwas
nicht paßte, schlug er mit seinem Stock drein, warf mit Kaffeetassen,
Tellern, Gläsern, Löffeln usw. nach demjenigen, der ihm nicht zu Willen
war. Auf einem Spaziergang, den er mit einem unserer Pfleger am
Rhein machte, sprang er plötzlich ins Wasser, um zu zeigen, daß er
schwimmen konnte. Einige Male war er von seinen .Angehörigen zum
Spazierengehen abgeholt worden; fast regelmäßig entlief er denselben
dann und irrte tagelang, von einer Wirtschaft in die andere ziehend, in
der Stadt umher, bis er wieder aufgegriffen w'urde. Einmal lief er seiner
Tochter auch weg, rannte zum Bahnhof, kaufte sich dort eine Fahrkarte
und lief dann ohne Rücksicht auf die ein- und ausfahrenden Züge immer
) In.-Diss. Bonn 1908.
844
Die Oehiriiarteriosklerose.
quer über die Oeleise, bis ihn Bahnbeamte zurückholten. Während eines
kurzen Urlaubs, der ihm auf Veranlassung seiner Verwandten gewährt
worden war, wurde er plötzlich von einem unserer Pfleger vor dem
Bahnhof gefunden, auch da war er seinen Angehörigen entlaufen und
gerade in dem Augenblick, als er aufgefunden wurde, mit einem Dienst¬
mann in eine Schlägerei geraten.
Während des Aufenthaltes in der Klinik sind verschiedene kleine
Schwindel- und Schlaganfälle beobachtet worden, die vorübergehende
Lähmungen zur Folge hatten. Daneben bestanden auch zeitweise Ver¬
wirrtheitszustände, wo der Kranke unruhig war, schimpfte, weinte,
Stimmen hörte, mitunter auch deliriös erschien, ln den letzten Monaten
vor dem Tode äußerte er auch Heiratsgedanken.
Das Gutachten führte aus, B. Q. leidet an Qehirnarteriosklerose, die
sich durch Schlaganfälle, aphasische Erscheinungen und allgemeine
psychische Störungen, insbesondere eine deutliche Demenz kundgibt.
Der Patient ist unfähig, sich mit der Außenwelt zu verständigen, er kann
auch den einfachsten an ihn gerichteten Aufforderungen, denen jedes
kleine Kind mit Leichtigkeit nachkommt, nicht entsprechen. Hinzu kommt
seine krankhafte Reizbarkeit und die vorübergehenden schweren psychi¬
schen Störungen. Alle diese Symptome machen ihn hilflos wie ein Kind
unter 7 Jahren. Infolgedessen erscheint die Entmündigung wegen Geistes¬
krankheit angebracht. Besonders verwiesen wurde auch noch auf den
Umstand, daß der Kranke den Wert des Geldes nicht mehr kannte, wenn
er sich selbst überlassen war, das Wenige, was er besaß, sofort vertrank
und ausgab und hinterher noch nicht einmal zu sagen vermochte, wo er
gewesen war und wofür er sein Geld ausgegeben hatte. Daß er geistig
außerordentlich hilflos war ging daraus hervor, daß er sich wiederholt
direkter Lebensgefahr ausgesetzt hatte.
Die Entmündigung erfolgte im Sinne des Gutachtens.
Die Geschäftsfähigkeit Aphasischer ist nach den
gleichen Gesichtspunkten zu beurteilen wie die Entmündigung,
d. h. die Tatsache, daß jemand eine Aphasie hat, genügt nicht,
ihm die Geschäftsfähigkeit ohne weiteres abzusprechen. Es sei
in dieser Beziehung nur an einen Fall von Broadbend erinnert, in
dem eine 70jährige aphasische Patientin mit erhaltener Fähigkeit
zu lesen mit großer Energie um das Recht kämpfte, das Vermögen
selbständig zu verwalten, das man ihr in der falschen Ansicht, sie
sei geisteskrank, genommen hatte.
Andererseits werden Aphasische besonders dann, wenn sich
allgemeine psychische Störungen, etwa wie in dem Falle, der eben
beschrieben wurde, hinzugesellen, zum mindesten vorübergehend
geschäftsunfähig sein können.
Schließlich ist auch der Zeugnisfähigkeit Aphasischer
zu gedenken; auch die braucht nicht beeinträchtigt zu sein.
Der Altersschwachsinn.
845
Wesentlich für die Beurteilung ist es i. Näheres über den Zustand
des Patienten zur Zeit des Geschehnisses, das er wahrgenommen
haben soll, zu ermitteln, 2. ihn einer sehr sorgfältigen Gedächtnis¬
prüfung zu unterziehen, durch die festgestellt werden soll, ob der
Patient überhaupt, richtiges Wahrnehmungsvermögen voraus¬
gesetzt, in der Lage war, einen verhältnismäßig komplizierten
V'organg wirklich zu behalten; 3. muß der Allgemeinzustand zu
der Zeit, in der er aussagen soll, berücksichtigt werden.
Dieser letztere Punkt ist insofern von Wichtigkeit, als wie
die Untersuchungen von Stertz und anderen erwiesen haben,
gerade bei Arteriosklerotikern vielfach lebhafte Schwankungen der
geistigen Leistungsfähigkeit beobachtet werden. Diese Schwan¬
kungen sind zum Teil unabhängig von äußeren Faktoren. Da bei
•Arteriosklerotikern aber nicht selten auch eine gesteigerte Ermüd¬
barkeit hinzukommt, so kann die Qualität der Zeugenaussagen
eines solchen Kranken auch dadurch leiden, daß er lange im
Gerichtsgebäude warten muß, ehe er zur Vernehmung aufgerufen
wird. Alle diese Punkte wird der Sachverständige wissen
müssen, ehe er ein Gutachten über die Zeugnisfähigkeit des
Patienten abzugeben vermag.
Der Altersschwachsinn.
Schon im vorigen Kapitel ist darauf hingedeutet worden, daß
der Mensch mit zunehmendem Alter eine Reihe von Veränderungen
erfährt, welche zum Teil der direkten Untersuchung mit psycho¬
logischen Methoden zugänglich sind. Von den körperlichen Ver¬
änderungen, welche mit dem Alter verbunden sind, soll hier nicht
weiter gesprochen werden. Sie sind nicht so stark, daß sie das
Individuum ohne weiteres geisteskrank machten, sie liegen auch
noch innerhalb der Breite des Normalen. Trotzdem lassen sie
sich leicht nachweisen.
Die Zeit, wann sie erscheinen, ist verschieden. Es gibt Men¬
schen, welchen noch jenseits der sechziger Jahre eine große
Elastizität und geistige und körperliche Beweglichkeit erhalten
geblieben ist. Jenseits des 70. Lebensjahres aber pflegen kleine
V'eränderungen kaum jemals ganz zu fehlen.
Worin besteht nun die Wandlung, die der
normale Mensch in psychischer Beziehung im
846
Der Altersschwachsinn.
Greisenalter erfährt? Wohl Allen gemeinsam ist das,
was die experimentelle Psychologie ermittelt hat, nämlich erstens
eine Verlangsamung des Denkens. Bei Assoziationsexperimenten
zeigte sich, daß diese Verlangsamung bei schwierigeren Auf¬
gaben bis zu 40'/c betrug. Ferner ergab sich, daß bei Rechen¬
versuchen die Zahl der Fehler, welche von den Greisen gemacht
wurde, eine erheblich größere war, als die der von jungen Leuten
gelieferten. Drittens zeigte sich bei den älteren Versuchspersonen
eine Abnahme der Elastizität und Mannigfaltigkeit des Vor¬
stellungsinhaltes. Weiterhin ist, wie durch die Untersuchungen
von Licske festgestellt wurde, die Merkfähigkeit im Greisenalter
geringer als in den früheren Jahren.
Bei eigenen Untersuchungen über dieses Gebiet fiel mir
ferner auf, daß ältere Versuchspersonen im allgemeinen eine
ausgesprochene Abneigung bekundeten, sich in neue und un¬
gewohnte Vorstellungskreise hineinzudenken.
Neben diesen mit psychologischen Methoden leicht feststell¬
baren Erscheinungen sind noch einige weitere Veränderungen zu
erwähnen.
Der Greis ist abgeklärter. Bei ihm kann nicht jede Kleinig¬
keit eine lebhafte Gefühlsfeaktion hervorrufen, er urteilt weniger
hart, sucht zu vermitteln, wo er Gegensätze bestehen sieht, seine
Erfahrung ist größer, wie die des Jungen. So sieht er da, wo
jener ratlos ist, immer noch einen Ausweg. Unvoreingenommen
und ruhig tritt er jedem neuen Erlebnis entgegen.
Der Greis, wie er hier geschildert ist, ist ein Philosoph ge¬
worden, dessen überlegener Ruhe und sicherem Urteil sich die
Jüngeren ohne weiteres beugen, dessen Rat sie einholen, wenn ihre
eigene Erfahrung versagt.
Nur Wenigen ist es beschieden, zu solcher Abgeklärtheit
zu gelangen. Häufiger sind es die Schattenseiten der mensch¬
lichen Psyche, welche im Greisenalter stärker hervortreten.
Die Abnahme der körperlichen Beweglichkeit, mannigfache
Beschwerden, welche das Alter mit sich bringt, bedingen eine
egozentrische Einengung des Gefühlslebens (Ziehen). Der Greis
muß bei jeder körperlichen und geistigen Anstrengung sich erst
die Frage vorlegen, ob er sie sich auch zumuten darf, er muß sich
im gesellschaftlichen Leben wie im Beruf gewisse Beschränkungen
auferlegen, so kommt es von selbst, daß die Rücksicht auf seine
Der Altersschwachsinn.
847
körperlichen Bedürfnisse und Annehmlichkeiten auch in seinem
Denken einen größeren Platz einnimmt wie früher, und er muß
diese Rücksichten verlangen, mitunter auch dann, wenn er die
Interessen anderer schädigt.
Es gibt nun viele, die die Abnahme der eigenen Leistungs¬
fähigkeit möglichst lange verbergen wollen. Sie arbeiten mit Auf¬
bietung aller Kräfte weiter, wenn sie dann doch versagen, schieben
sie die Schuld ihrer Umgebung zu. Sie werden verdrießlich,
reizbar, nörgeln an allem herum, was ihre Untergebenen machen,
und wollen sich mit aller Gewalt in ihrer Stellung behaupten.
Dies geht eine Weile, schließlich erfolgt dann doch der Zusammen¬
bruch.
In manchen Fällen kommt zu den eben geschilderten Eigen¬
schaften noch eine weitere unangenehme, nämlich ausgesprochenes
Mißtrauen gegen die Umgebung. Solche Menschen fühlen sich
überflüssig, zu nichts mehr nütze und glauben, daß sie Anderen
eine Last sind, ohne daß sie immer Grund zu dieser Annahme
hätten. Mißtrauisch überwachen sie die Bewegungen und Reden
ihrer nächsten Angehörigen, legen mancher harmlosen Äußerung
infolgedessen eine falsche Deutung bei, behaupten, man empfinde
ihre Anwesenheit als lästig, würde sie gern los werden wollen usw.
Sie sind verdrießlich, die Fliege an der Wand ärgert sie, nichts
kann ihnen recht gemacht werden, so daß sie in Wirklichkeit auch
eine Plage für die Familie sind.
Auf körperlichem Gebiet kommt hinzu, daß der Schlaf un¬
regelmäßig ist, Verdauungsstörungen treten öfters auf, das Gehen
fällt den Greisen schwer, wie sie überhaupt bei körperlichen An¬
strengungen leichter versagen.
Den eben geschilderten psychologischen Eigenschaften ent¬
spricht die Kriminalität der Greise, wie sich aus der folgenden
Tabelle ergibt.
Dieselbe ist berechnet aus der Reichskriminalstatistik Jahr¬
gang 1905. Man kann aus ihr entnehmen, daß für die Männer im
Alter von 60—70 Jahren der Durchschnitt der Beteiligung an
sämtlichen Verbrechen und Vergehen i,9‘/fc beträgt.
Es ist nun interessant, diejenigen Delikte zu betrachten,
welche diesen Durchschnitt überschreiten. Das sind die Belei¬
digung, Brandstiftung, Verletzungen der Eidespflicht, falsche
Anschuldigung, Blutschande, Kuppelei, Erregung öffentlichen
Ärgernisses, Unzucht und Notzucht.
848
Der Altersschwachsinn.
Zum A'erständnis der Tabelle sei hinzugefügt, daß im Alter
von 60—70 Jahren 2^0 Männer und 2% Frauen und im .\lter
von 70 Jahren und darüber 0,4% Männer und 0,4^ Frauen
standen.
Einzel
60-70
Mäi
delikte
70u.m.
iner
0
60-70
0
70u.m.
Einzel
60-70
Fra
delikte
70u.ni.
uen
60-70
0
70u.m
Widerstand . . .
200
29
1,1
0,2
23
6
2,1
0,5
Hausfriedensbruch.
264
39
1,2
0,1
84
12
3,7
0,5
Beleidigung . . .
1709
354
3,9
0,8
685
136
4
0,8
Mord.
3
—
1,3
—
—
1
—
2,0
Körperverl. i. allg.
1440
279
1,2
0,2
296
70
3
0,7
Einf. Diebst.. . .
856
167
1,6
0,3
350
61
1,8
0,3
„ „ i. Rückf.
213
37
2,1
0,4
65
11
2,6
0,4
Schw. Diebst. . .
29
2
0,3
0,02
8
4
0,9
0,4
,, ,, i. Rückf.
24
—
0,8
—
3
—
1,6
—
Unterschlagung
238
37
1,2
0,2
74
13
1,8
0,3
Betrug.
266
42
1,3
0,2
78
18
2,1
0,5
Sachbeschädigung.
199
60
1
0,3
26
8
2,6
0,8
Brandstiftung . .
Verbr. u. Verg. i.
39
9
3.3
0,8
15
5
6,0
2,0
allgem.
7941
1524
1,9
0,3
■2488
490
3
0,6
Verl, der Eidespfl. .
Falsche Anschuldi-
29
7
3,6
0,9
9
—
0,4
—
gungen ....
26
4
7
1
5
2
4
1,5
Bliitscnande . . .
8
2
2,6
0,7
1
2
0,5
1,0
Kuppelei Zuhälterei
Erregung öffentl.
31
4
2
0,2
69
12
3,2
0,6
Ärgernisses . .
40
6
2
0,3
7
—
2
—
Unzucht, Notzucht
254
73
5
1,4
—
—
—
—
Eine Erklärung für das Hervortreten gerade dieser Delikte
wird einmal darin zu suchen sein, daß die Sexualität*), wie von
Aschaffenburg und verschiedenen anderen Autoren betont w'urde,
in diesen Jahren noch einmal aufflackert oder sich hemmungsloser
auszuleben trachtet, zum anderen Teil ist es die Reizbarkeit der
Greise und die Gedächtnisschwäche, welche das häufigere'.‘Auf¬
treten einzelner Delikte erklären.
Wir kommen damit zu den psychischen Störungen,
welche im Greiscnaltcr Vorkommen. Ritti hat dieselben in zwei
*) Besonders verwiesen sei auf die Untersuchungen Breslers bezüg¬
lich der Eheschließungen von Greisen mit Mädchen bis zu 20 Jahren.
(C. Mai hold, Halle a. S. 1907.) Danach haben iin Jahre 1904 Ehen der
angegebenen Art geschlossen: 85 Männer iin Alter von 40—50 Jahren,
322 zwischen 50—60 Jahren stehende und 487 über 60 Jahre alte Männer.
Der Altersschwachsinn.
849
Gruppen geteilt. Er unterscheidet erstens solche Psychosen,
die zwar in jedem Lebensalter Vorkommen, aber einige Besonder¬
heiten aufweisen; daneben spricht er von den spezifisch senilen
Psychosen.
Auf die erste Gruppe einzugehen ist für unsere Zwecke nicht
erforderlich, da sie, abgesehen von kleinen durch das höhere Alter
bedingten Beimischungen, sich von den schon geschilderten Krank¬
heitsbildern nicht wesentlich unterscheiden.
Die zweite Gruppe umfaßt mehrere Formen. Die wichtigste
von ihnen ist die Dementia senilis.
Das Wesentliche an diesem Krankheitsbild ist eine bald
rascher, bald langsamer vor sich gehende Verblödung. Die
Kranken werden vergeßlich, neue Eindrücke gehen spurlos an
ihnen vorüber, sie können sie nicht behalten. Sie leben mit ihrem
Denken im wesentlichen in der V'ergangenheit, werden eigensinnig,
mißtrauisch, unordentlich, ja unsauber. Männer fallen vielfach
durch obszöne Reden und unsittliche Handlungen auf.
Dabei sind die Kranken gereizt und mißmutig oder unmoti¬
viert heiter. Geringfügige äußere Veranlassungen können sie zu
lebhaften Gefühlsausbrüchen bringen. Der Kreis ihrer Interessen
engt sich mehr und mehr ein; schließlich leidet auch die Orientie¬
rung, sie erkennen die Personen ihrer Umgebung nicht mehr
richtig. Die fehlende Erinnerung suchen sie durch Konfabula¬
tionen zu ersetzen, so daß durch die charakteristische Verbindung
von Merkfähigkeitsstörung, Erinnerungstäuschungen und Neigung
zum Konfabulieren das Bild der Korsakowschen Psychose ent¬
stehen kann (Presbyophrenie).
In ausgesprochenen Fällen der Erkrankung vergißt der
Patient im Moment alles, was er erlebt hat. Er muß nach Ge¬
brauchsgegenständen, die er öfters nötig hat, jedesmal lange
suchen, weil er nie weiß, wohin er sie gelegt hat. In der ge¬
wohnten Umgebung findet er sich schlecht zurecht. Personen¬
namen kann er nicht behalten und verwechselt oft die eigenen
Angehörigen. Fragt man ihn, wie er den letzten Abend ver¬
bracht hat, so erzählt er in korrekter Form und mit verbind¬
lichem Lächeln, daß er aus gewesen sei, sich mit Freunden unter¬
halten habe, nach Mitternacht nach Hause gekommen sei usw.
In Wirklichkeit hatte er die Abteilung nicht verlassen und war
der Hausordnung gemäß um 9 Uhr im Bett.
Hübner, Forensische Psychiatrie.
54
850
Der Altersschwachsinn.
Erzählt er freiwillig, dann spricht er von weit zurückliegenden
Dingen in einer Weise, als ob sie erst gestern passiert wären.
Die letzten Jahrzehnte sind aus seinem Gedächtnis gestrichen.
Siebzigjährige Frauen berichten von ihrer Jugendlielje, den
ersten Jahren ihres Eheglückes, von ihren ,,kleinen“ Kindern
(die inzwischen in Wirklichkeit bereits fünfzig Jahre alt sind).
Die Stimmung ist meist entweder indifferent oder leicht
euphorisch. Gelegentlich wird sie gereizt; ab und zu auch
weinerlich.
Vorübergehend können Verwirrtheitszustände oder deliriöse
Phasen hinzutreten. Der Verlauf ist meist ein chronischer. —
Auch bei der senilen Demenz kann es zu passageren Ver¬
wirrtheitszuständen kommen. So beobachtet man namentlich im
Anfang des Leidens öfter, daß die Kranken am Tage verhältnis¬
mäßig still und leicht lenkbar sind, dagegen abends unruhig zu
werden beginnen, aufstehen, im Hause umherirren, sich nicht
zurechtfinden, weinen und schimpfen, mitunter auch Sinnes¬
täuschungen haben, bis schließlich die Verblödung fortschreitet
und sie wieder ruhiger werden.
Mit zunehmender Demenz werden die Kranken auch unselb¬
ständig, sind ein Spielball in den Händen Anderer, lassen sich nach
jeder Richtung hin beeinflussen. Sie sind plumpen Schmeicheleien
zugänglich. Wer für die Befriedigung ihrer Wünche und Triebe
sorgt, der kann bei ihnen alles erreichen, was er will. Daher
kommt es, daß bei derartigen Kranken Erbschleicher und Kokotten
ein leichtes Spiel haben.
.Außer den Verwirrtheitszuständen, welche oben schon er¬
wähnt wurden, kommen auch delirante Phasen, namentlich bei
früheren Alkoholisten vor. Ebenso werden Eifersuchts- und Be¬
einträchtigungsideen oder hypochondrische Vorstellungen nicht
selten im Krankheitsbilde zu finden sein. —
Bisweilen schon im fünften Lebensjahrzehnt, mitunter aber
auch erst später, treten ferner Zustände halluzinatorischer Ver¬
wirrtheit auf, welche von Demenz nicht begleitet zu sein brauchen
und nach einzelnen .Autoren eine funktionelle Psychose darstellen,
die wieder ausheilt. Es entwickelt sich in diesen Fällen nach
kurzem Vorstadium meist sehr rasch ein Verwirrtheitszustand mit
lebhaften Sinnestäuschungen und verwirrter Gedankenflucht, die
sich bis zur Inkohärenz steigern kann. Die Stimmungslage ist
Der Altersschwachsinn.
8 S'
vorwiegend ängstlich. Dazu kommen Gesichtshalluzinationen, die
häufig Ähnlichkeit mit den bei Alkoholpsychosen vorkommenden
Sinnestäuschungen haben. Auffallend ist ferner die große körper¬
liche und geistige Erschöpfbarkeit. Das Leiden kann in voll¬
kommene Heilung übergehen.
Mit verschiedenen anderen Autoren möchte ich annehmen, daß
es sich in diesen Fällen um keine spezifisch senile Psychose
handelt, sondern um Zustände akuter Verwirrtheit, wie sie in
jedem Lebensalter Vorkommen können und in diesen Fällen nur
durch das Senium ausgelöst sind.
In Ergänzung der Ausführungen über die Dementia senilis ist
noch hinzuzufügen, daß auch ausgesprochene Herderscheinungen
in das Bild hineinverwebt sein können, wenn sich die Gehirn¬
atrophie an einzelnen Stellen stärker lokalisiert. Es sind moto¬
rische, sensorische Aphasien, Mischungen von beiden, Kombina¬
tionen von Apraxie mit aphasischen Symptomen, Sehstörungen
infolge von Atrophien im Hinterhauptlappen usw. beobachtet
worden.
Anhangsweise erwähnt sei schließlich noch, daß im Anschluß
an Alterserkrankungen anderer Organe Psychosen entstehen
können, so z. B. nach Kataraktoperationen, nach Nieren¬
schrumpfung, nach Verschluß der Halsschlagader usw. Für
forensische Zwecke haben diese Erkrankungen aber nur wenig
Interesse. —
Wir haben noch kurz der körperl ichen Störungen bei
der senilen Demenz zu gedenken.
Bekannt ist der Ausfall der Haare und Zähne, der Schwund
des Fettpolsters, die Abnahme des Seh- und Hörvermögens.
Hinzu kommt oft der Altersstaar, der Greisenbogen an der Regen¬
bogenhaut, Kopf- und Händezittern, undeutliche (durch das Fehlen
der Zähne bedingte) Sprache, Atemheschwerden, Gefäßverkalkung,
unsicherer, schwerfälliger, mitunter auch trippelnder Gang.
Hinzutreten können Steigerungen oder Abschwächungen der
Haut- und Sehnenrefle.xe, träge Pupillenreaktion, Halbseiten¬
lähmungen. ln schweren Fällen kann es auch zu \’erunreinigung
mit Urin und Kot kommen.
Die körperliche Schwäche und krankhafte Ermüdbarkeit zeigt
sich in einem erhöhten Ruhebedürfnis, das noch gesteigert wird
durch die oft vorhandenen Störungen des Schlafes.
Schließlich sind noch Verdauungsstörungen zu erwähnen. —
54 *
852
Der Altersschwachsinn.
Die Diagnose des Altersschwachsinns macht dann keine
Schwierigkeiten, wenn man den Kranken selbst vor sich hat.
Etwas anderes ist es, wenn es sich um die Begutachtung von
\'’erstorbenen handelt. Wie weiter unten gezeigt werden wird,
sind die Urteile über den Geisteszustand solcher Personen wenig
wert, wenn sie nicht von Sachverständigen herrühren. Auch die¬
jenigen Laien, welche den Patienten für geisteskrank hielten,
können ihre Ansicht selten ausreichend begründen.
Besser als über den geistigen Zustand eines Verstorbenen
gelingt es meist, über das körperliche Befinden Auskunft zu er¬
halten. Es erhebt sich deshalb die Frage, wie weit hieraus
Schlüsse auf die Psyche zu ziehen sind. In dieser Beziehung hat
nun die Erfahrung gelehrt, daß körperlicher und psychischer
Rückgang nicht parallel gehen. Wenn der Patient sich aber häufig
verunreinigte, nur schlecht gehen konnte, ohne daß hierfür lokale
Ursachen verantwortlich zu machen wären, so kann man mit einer
gewissen Wahrscheinlichkeit annehmen, daß er auch geistig nicht
mehr intakt w’ar.
Von größerer Bedeutung als diese Dinge sind die schrift¬
lichen Äußerungen (Briefe usw.), welche der Kranke in der frag¬
lichen Zeit verfaßt hat. Aus ihnen kann man zweierlei entnehmen.
Zunächst ist die Schrift des Altersschwachsinnigen zitterig.
Daneben finden sich formale und inhaltliche Störungen. Kann
man nun einen erheblichen Unterschied zwischen früheren Jahren
und der in Frage kommenden Zeit feststellen, dann ist ein weiteres
Argument gewonnen, das mit Wahrscheinlichkeit für einen
geistigen Rückgang spricht. Bestimmt kann man das aber auch
nicht behaupten, denn die Zitterschrift allein kann auch bei noch
geschäftsfähigen Greisen Vorkommen. Mehr Gewicht ist auf die
inhaltlichen Störungen und namentlich auf die Verschlechterung
gegenüber früheren Jahren zu legen. (S. nebenstehende Hand¬
schrift.)
Man muß sich überhaupt darüber klar sein, daß der exakte
und sichere Nachweis einer senilen Demenz lediglich aus der
Hinterlassenschaft') eines Menschen und aus Zeugenaussagen nur
in seltenen Fällen zu erbringen ist.
') Bei Testamentsstreitigkeiten empfiehlt es sich übrigens, alle wich¬
tigen Briefe, aus denen Schlüsse auf den Geisteszustand des Verstorbenen
gezogen werden soilen, zu photographieren. Denn da sie den Akten oft
nicht beigeheftet werden können, gehen sie leicht verloren.
Der Altersschwachsinn.
853
Was über die Bewertung von Zeugenaussagen binzuzufügen
wäre, steht im Anfang des Gutachtens W. Ich verweise, um
Wiederholungen zu vermeiden, auf diese Stelle.
Daß die Kriminalität der senilen Demenz keine sehr große
und reichhaltige sein kann, ergibt sich schon aus den statistischen
Zahlen, welche für normale Greise gefunden wurden. Die häufig¬
sten Delikte, welche ich bei senil Dementen gesehen habe, sind
Sittlichkeitsverbrechen, ferner kleine Diebstähle und Eidesver-
Probe I:
Probe II;
Probe II ist vier Monate später fceschrieben als Probe I.
letzungen. Der Eifersuchtswahn führt gelegentlich auch zu
Mordversuchen.
Bei der strafrechtlichen Beurteilung dieser Fälle
ist zu bedenken, daß gerade die ethische Depravation, insbesondere,
wenn sie sich auf sexuellem Gebiete bemerkbar macht, das erste
Zeichen des geistigen Rückgangs sein kann. Es kommt dann, wenn
noch keine ausgesprochene Intelligenzschwäche vorhanden ist, sehr
leicht vor, daß die Fälle falsch gedeutet werden, und erst die
epikritische Betrachtung ein richtiges Bild bietet.
854 Dßf Altersschwachsinn.
Bemerkenswert ist nämlich, wie Aschaffenburg und andere
hervorheben, daß von den senilen Sittlichkeitsverbrechern der
allergrößte Teil entweder gar nicht oder nur wegen unbedeutender
Delikte vorbestraft ist. Wenn nach einem bis dahin vorwurfsfreien
Leben ein derartiger Kranker plötzlich eine Reihe von Sittlich¬
keitsdelikten begeht, so sollte das zu denken geben und der Richter
sollte nie versäumen, in einem solchen Falle eine psychiatrische
Untersuchung herbeizuführen.
Diese letztere ist nun, wie schon gesagt, sofern gröbere
intellektuelle Störungen fehlen, nicht ganz leicht. Nur durch ge¬
naueste Befragung der Angehörigen wird es gelingen, den Nach¬
weis zu führen, daß nicht allein auf geschlechtlichem Gebiete, son¬
dern auch sonst die ethischen Gefühle des Patienten gelitten haben,
daß er auffiel und mit ihm gegen früher eine wesentliche Ver¬
änderung vor sich gegangen ist.
Ein Fall, der diese \’erhältnisse ziemlich gut erkennen läßt,
ist der folgende. Er stellt, wie noch hinzugefügt sei, unter den
196 Fällen den einzigen von seniler Demenz dar.
S. W. B., geb. 24. Juni 1846, Postschaffner a. D., wurde 10. September
1909 verhaftet, weil er am 8. September an zwei Mädchen unter 14 Jahren
unzüchtige Handlungen vorgenommen hatte. Bei der polizeilichen Ver¬
nehmung bestritt er, sich irgendwie vergangen zu haben. Die Personal¬
akten des B. ergaben, daß er ein pflichtgetreuer Beamter gewesen ist,
der wegen vorgeschrittenen Alters unter Verleihung des allgemeinen
Ehrenzeichens in den Ruhestand versetzt worden war. Gerichtliche oder
Disziplinarstrafen hatte er nicht erlitten.
Die Untersuchung in der Anstalt ergab nun; Auf körperlichem Ge¬
biete ergrautes Haar, defekte Zähne, faßförmiger Brustkasten, chronische
Bronchitis, starke Arteriosklerose, träge Licht- und Konvergenzreaktion,
alle Bewegungen werden langsam, umständlich und zitterig ausgeführt,
steifer, schwankender Gang, lebhaftes Schwanken beim Fußaugenschluß,
Händezittern. Psychisch war er außerordentlich klagsam und rührselig,
jammerte fortwährend unter Tränen, daß er nicht mehr lange leben
werde. Er war schlaflos, fühlte sich dauernd matt, klagte über Kopf¬
schmerzen; es bestand hochgradige Gedächtnisschwäche und Schwindel¬
anfälle. Am auffälligsten war die Labilität der Stimmung. Daneben war
Patient zeitlich ungenau orientiert, alle Antworten erfolgten langsam und
nach längerem Besinnen. Wichtige Daten aus seiner Vergangenheit ver¬
mochte er nicht anzugeben. Er berichtete, was durch Nachfrage
bestätigt wurde, daß er seine Stelle als Postschaffner habe aufgeben
müssen, weil er sich beim Geldherausgeben öfers irrte und dann aus
eigener Tasche nachzahlen mußte. Auch frankierte er Pakete falsch.
Schon vor einigen Jahren ist er einmal im Dienst zusammengesunken
und mußte mit der Droschke nach Hause gebracht werden. Er hatte
Der Altersschwachsinn.
856
von Aschaffenburg'), Göring“), F. Leppmann “) ergeben haben,
nicht vereinzelt da. Es ist deshalb auch die Forderung aufgestellt
worden, daß bei derartigen Sittlichkeitsverbrechern grundsätzlich
eine psychiatrische Untersuchung erfolgen sollte. Wie berechtigt
dies Verlangen ist, zeigt unser Fall. —
Wir kommen damit zur Frage der Entmündigung. Sie
wird nicht oft aufgeworfen. Vielfach geschieht es nur deshalb,
um den Patienten von der Errichtung unzweckmäßiger Testamente
abzuhalten. Wird eine Entmündigung beantragt, so ist zu prüfen,
ob Gedächtnis- und Urteilsschwäche besteht, ob der Kranke eine
pathologische Beeinflußbarkeit, oder umgekehrt einen unmoti¬
vierten Starrsinn und Trotz zeigt, ob Wahnideen und Sinnes¬
täuschungen bestehen. Alle diese Symptome pflegen auch die
Besorgung der Angelegenheiten zu beeinträchtigen, in welchem
Grade dies geschieht, das richtet sich nach der sozialen Stellung
des Kranken und nach der Schwere des Leidens. —
Ich habe oben die psychischen Veränderungen, welche der
normale Greis erfährt, absichtlich ziemlich ausführlich dargestellt,
weil vielfach Differenzen darüber entstehen, ob im konkreten Fall
bereits eine senile Demenz vorliegt oder nur eine physiologische
Abschwächung der geistigen Funktionen.
Schwierig ist die Entscheidung der Frage besonders dann,
wenn der Kranke von jeher psychopathische Züge geboten hat oder
die äußeren Verhältnisse sehr kompliziert sind. Wert ist dann
auf die Änderung der Persönlichkeit zu legen.
Welche Gesichtspunkte im einzelnen zu berücksichtigen sind,
ergibt sich aus dem folgenden Gutachten:
K. H., geh. 24. Januar 1836. Kaufmann. Antrag auf Entmündigung
wegen Geistesschwäche. Abgelehnt.
Am 22. November 1909 stellte die Ehefrau des oben Genannten den
Antrag, den M. wegen Geisteskrankheit zu entmündigen, weil er seit
einigen Jahren die tollsten Geschäfte mache, unglaubliche Summen in
ganz nebelhafte Unternehmungen stecke, in mehrere Strafverfahren ver¬
wickelt sei, sich um seine Angehörigen gar nicht kümmere, und, obwohl
er verheiratet ist, mit einer Frau aus K. ein unsittliches Verhältnis an-
gekniipft habe.
') Monatsschr. f. Kriminalpsychol. Bd. 2. S. ,399 und Münchn. med.
Wochenschr. 1908, S. 1961.
-) In.-Diss. Bonn 1908 und Zeitschr. f. d. ges. Neurol., Lit.-Ber. 1913.
Literatur!
“) Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1905.
Der Altersschwachsinn.
857
Weiter wird in dem üntmiindigungsantrag ausgeführt, daß H. erblich
belastet sei, sich der Bedeutung der gegen ihn geführten Verhandlung
gar nicht bewußt werde und eine zu seiner gegenwärtigen Lage gar
nicht passende Heiterkeit zur Schau trage.
In einem Blatt 12 der Akten befindlichen Attest führt der behan¬
delnde Arzt des H. aus, es bestehe der dringende Verdacht, daß der
Explorand an Geistesschwäche leide und es angezeigt sei, seinen Geistes¬
zustand zu untersuchen.
Sanitätsrat Dr. B., nochmals vor Gericht vernommen, führte fol¬
gendes näher aus: Er kenne den H. seit ungefähr 20 Jahren, vor etwa
5 Jahren habe derselbe eine schwere Lungenentzündung überstanden
und seit dieser Zeit sei er geistig verändert. Er vernachlässige sein
Äußeres, kümmere sich um seine Familie gar nicht mehr; die Bestrafung,
welche über ihn verhängt sei und seine äußerst ungünstigen Familien¬
verhältnisse machten ebensowenig wie die großen Vermögensverluste,
die er erlitten habe, irgendwelchen Eindruck auf ihn. Außerdem führte
auch der Sachverständige an, daß ihm bekannt sei, daß H. trotz seines
hohen Alters ein geschlechtliches Verhältnis mit einer Frau aus K. habe.
Das Kgl. Amtsgericht fragte nun zunächst bei der hiesigen Staats¬
anwaltschaft an, ob bei den gegen H. geführten Verhandlungen Umstände
hervorgetreten wären, die den Verdacht der Geistesschwäche erwecken
konnten. Herr Staatsanwalt Dr. Sch. beantwortete die Frage dahin, daß
sich H. seines Erachtens äußerst geschickt verteidigt habe, keinerlei
Spuren von Geistesschwäche zeigte und in der Urteilsbegründung sogar
als ein sehr intelligenter Mann bezeichnet wurde.
Mit Rücksicht auf die Ausführungen des Dr. B. beschloß das Kgl.
Amtsgericht nach Anhörung des Geh. Med.-Rates Prof. Dr. U. das Ent¬
mündigungsverfahren wegen Geistesschwäche zu eröffnen. Es wurden
zunächst einige Zeugen vernommen.
Die Haushälterin des H., Karoline R., sagte aus, daß er an den
Baron Bl. über 150 000 Mark verliehen hätte. Er habe sich ferner an der
Begründung eines Kasinos in Korfu beteiligt, sitze den ganzen Tag über
seinen Prozeßakten, vernachlässige sein Äußeres, kümmere sich nicht um
seine Kinder, sei aber für sich selbst äußerst sparsam. Um seine Familie
kümmere er sich gar nicht; von dem unsittlichen Verhältnis zu der Frau
wußte die Zeugin gleichfalls.
Der Zeuge Freiherr von Bl. sagte aus, daß ihm H. in der Tat gegen
Wechsel verschiedene Summen geliehen habe, in welcher Höhe konnte er
zunächst nicht angeben; bei einer nochmaligen Vernehmung ergänzte er
seine Äussagen dahin, daß er von H. etwa 90 900 Mark bar erhalten
und dafür Wechsel in Höhe von 185 000 Mark ausgestellt habe. Äußerdem
hatte H. an ihn noch für kleinere Darlehen, Kohlenlieferungen und vor¬
gestreckte Prozeßkosten eine Forderung von 53 000 Mark. Äus den
weiteren Äussagen des Zeugen geht hervor, daß von Bl. mehrere (soweit
Verfasser aus den Äkten entnehmen konnte, sind es im ganzen 7) Forde¬
rungen, die er gegenüber anderen Leuten hatte, an H. zediert hat. Keine
dieser Forderungen war aber eintreibbar; wegen fast sämtlicher
schweben, zum Teil beim Reichsgericht, Prozesse, die H. führt.
8 s8
Der Altersschwachsinn.
Am 10. März 1911 wurde unter Zuziehung des Geh. Med.-Rates Proi.
Dr. U. eine persönliche Vernehmung des zu Entmündigenden vor¬
genommen. H. beantwortete die an ihn gestellten Fragen meist richtig,
er suchte auch seine Vermögensverluste zu erklären. Mit Rücksicht auf
die Schwierigkeit des Falles beantragte Geh. Rat U., einen zweiten Sach¬
verständigen hinzuzuziehen. Als solcher wurde der Verfasser vom Ge¬
richt bestellt.
Für die Beurteilung der psychischen Fähigkeiten des Exploranden
haben sich aus den Akten noch folgende Momente ergeben.
Das Königliche Landgericht B. hatte in seiner Sitzung vom 15. Juni
1910 über mehrere Straftaten des H. zu urteilen. Da der Verteidiger des
Angeklagten auf das schwelgende Entmündigungsverfahren hinwies, hat
das Gericht Veranlassung genommen, während der Hauptverhandlung
seine Aufmerksamkeit auf den Geisteszustand des H. zu richten. Es
erlangte dabei die volle Überzeugung, daß der Angeklagte sowohl zur
Zeit der Hauptverhandlung wie auch zur Zeit der ihm zur Last gelegten
Taten sich im vollen Besitze seiner Geisteskräfte befand. Er wußte über
Einzelheiten eines mehrere Jahre zurückliegenden Vorfalles Bescheid,
brachte alles, was zu seiner Entlastung beitragen konnte, in sehr ge¬
schickter Weise vor.
In einem Gnadengesuch, welches die Elisabeth H. aus Kr.
(eine Tochter des H.) an S. Majestät den Kaiser wegen ihres Vaters
richtete, führt dieselbe aus, daß das Verhalten des H. sich seit einer im
Jahre 1902 überstandenen Krankheit geändert habe. Dasselbe behauptet
H. in einem selbstverfaßten Gnadengesuch gleichfalls.
Gegenteiliger Ansicht ist die Kgl- Staatsanwaltschaft, welche
ausführt. daß H. hinsichtlich seines geschäftlichen Gebahrens seit vielen
Jahren in dem Ruf stehe, daß er Gelder zu sehr hohen Zinsen verleihe
und daß seine Handlungsweise bei den einzelnen Geschäften regelmäßig
nahe an Betrug streife. Außerdem soll er seit einiger Zeit einen sittlich
nicht einwandfreien Lebenswandel führen.
Untersuchungsbefund: Vorausgeschickt sei, daß H. zu den Unter¬
suchungen stets in einfacher, aber nicht besonders vernachlässigter Klei¬
dung erschien. Er gab auf alle an ihn gerichteten Fragen bereitwillig
Auskunft mit Ausnahme seiner Beziehungen zu der Dame in K- Als der
Verfasser auf diese zu sprechen kam, schwieg der Explorand. Bei Be¬
sprechung seines Vorlebens machte er folgende Angaben:
Geisteskrankheiten sind in der Familie der Mutter vorgekommen.
Sie selbst war nicht geisteskrank, wohl aber mitunter sehr aufgeregt.
Sonst keine erbliche Belastung. Der Vater war stets ruhig und ist sehr
alt geworden. Er war besonders geistig sehr frisch. —
Patient selbst sei als Kind mehrfach krank gewesen. Er habe nur
einmal eine auffallende Krankheit gehabt. Die Denkfähigkeit sei damals
aufgehoben gewesen. Man habe ihn aber einige Tage später im Schweiß
liegend im Bett gefunden, danach sei es gut gewesen.
Außerdem habe er Erkältungen und Kinderkrankheiten (Masern
und Scharlach) durchgemacht, ferner sei er als Knabe einmal die Treppe
Der Altersschwachsinn
859
heruntergefallen und habe einen halben Tag bewußtlos gelegen. Es sei
aber alles wieder gut vorübergegangen.
Später, als junger Mann, habe er einmal Diphtheritis gehabt. Da¬
mals kannte man diese Krankheit noch nicht so, man nannte sie Angine
(in Holland). Er habe deshalb, da sich ein Lungenleiden daran anschloß,
mehrere Bäder gebrauchen müssen. Seinen Beruf habe er deshalb auf¬
gegeben. Er sei Theologe gewesen und habe in Holland auch gepredigt.
Da er aber den Bluthusten bekam, wurde er Erzieher.
Die Schule hat er in B. besucht, dann kam er aufs Gymnasium und
hat auch auf der Universität B. evangelische Theologie studiert. Nach
Beendigung der Studienzeit ging er nach dem Haag als Erzieher. Ge¬
predigt habe er nur vertretungsweise einige Male.
Wegen des Lungenleidens gab er auch diesen Beruf schließlich auf.
In der Folgezeit ist er viel herumgekommen, war Erzieher und
Reisebegleiter in England und Italien.
Kaufmann wurde er dadurch, daß er ein kleines Geschäft seines
Vaters übernehmen mußte. Es handelte sich um eine Kohlenhandlung.
Patient hat dasselbe später erheblich vergrößert, so daß er in den flotten
Jahren bis zu 40 Arbeiter beschäftigte. Vermögen hatte er ursprünglich
nicht. Er hat das erst durch das Geschäft erworben. Namentlich in den
70er Jahren (1871—1873) hatte er sehr günstige Kohlenabschlüsse ge¬
macht. Außerdem erwarb er Terrains, die im Werte sehr stiegen. Er
wurde schließlich zur Vermögenssteuer mit 8—900 000 Mark eingeschätzt.
Das Vermögen hatte er nicht bar, es lag vielmehr in Grundstücken. Der
Verkaufswert war damals annähernd richtig eingeschätzt.
Er hat das Vermögen später verloren. „Ich kann nicht sagen, durch
unglückliche Spekulationen, sondern durch leichtsinniges Kreditgeben.
Ich hielt die Leute alle für zu ehrlich und bin dann betrogen worden.“
..Alles das ist aber erst geschehen seit dem Jahre 1892. Damals
hatte ich eine sehr schwere Lungenentzündung und man glaubte, daß ich
nicht durchkäme. Ich war vom Hausarzt bereits aufgegeben.
Daß ich seitdem innerlich verändert gewesen wäre, kann ich nicht
sagen. Ich kann es mir aber nicht anders erklären. Früher wäre ich vor¬
sichtiger gewesen, nicht so flott. Meine Kinder z. B. habe ich reisen
lassen. Ich selbst blieb zu Hause. Für mich habe ich nichts gebraucht.
Ich hatte auch keine Passionen zum Trünke.
Nach der heftigen Krankheit im Jahre 1902 kam ich in den Besitz
größerer Geldmittel und dadurch wurde ich leichtfertiger im Geldausgeben.
Ich kann nicht sagen, daß ich seit jener Zeit schwerfälliger geworden
wäre, im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, als wenn ich jünger geworden
wäre. Ich kann darüber keine Rechenschaft geben, aber ich hatte so das
Gefühl.
Mit 34 Jahren heiratete ich. Aus der Ehe entsprangen 4 Mädchen.
Ich war immer sehr leicht geschlechtlich erregt. Daß das in den letzten
Jahren eine Steigerung erfahren hätte, kann ich nicht sagen. Ich bin doch
jetzt ein alter Knabe (nach einigem Nachdenken), es kann aber doch wohl
sein, daß das stärker geworden ist.“
86 o
Der Altersschwachsinn.
Als der Versuch gemacht wird, auf sein erotisches Verhältnis mit
der K.er Dame näher einzugehen, gibt er ausweichende Antworten.
„Vor dem Jahre 1902 bin ich überhaupt nicht bestraft worden.
1902/03 wurde ich wegen Beleidigung eines Anwalts bestraft. Ich wollte
ihn absichtlich beleidigen. Das Gericht nahm an, daC ich über das be¬
rechtigte Maß der Verteidigung hinausgegangen wäre und verurteilte
mich zu 50 Mark Geldstrafe. Ich war furchtbar gereizt und habe die Be¬
leidigung absichtlich ausgesprochen. Der Rechtsanwalt hat selbst einen
gehörigen disziplinarischen Wischer bekommen.
Die zweite Strafe erlitt ich im Jahre 1909 in der Sache H.-L. Man
hat mir vorgeworfen, daß ich dem H. statt baren Geldes einen Akzept¬
wechsel wiedergegeben habe. Ich wurde verurteilt zu 6 Wochen Ge¬
fängnis und 600 Mark Geldstrafe. Ich legte Revision ein und dieselbe
wurde verworfen, weil ein Rechtsirrtum nicht nachgewiesen werden
konnte.“
Im übrigen war noch folgendes an dem Exploranden bemerkens¬
wert: Auffallend war zunächst, daß er sich über die Entmündigung und
die Bedeutung der Untersuchung durch den Unterzeichneten keinerlei
Gedanken machte. Über die Rechtswirkung der Entmündigung war er
sich klar. Auf Befragen erklärte er, er wäre mit einer Entmündigung
eventuell einverstanden, wenn der Vormund für ihn bis zum Lebensende
sorgen wolle, so daß er sich um nichts zu kümmern brauche, dann wäre
ihm die Sache ganz recht. Seine Stimmung war im allgemeinen eine
heitere, selbst dann, wenn man ihn darauf aufmerksam machte, daß er
doch bei seiner sehr ernsten Lage keinen besonderen Grund zur Heiter¬
keit habe, lächelte er und sagte, warum er sich grämen solle. Ein be¬
sonderer Bewegungsdrang wurde bei dem Patienten nicht bemerkt, es
war auch kein Rededrang bei ihm zu konstatieren. Wenn er etwas ge¬
fragt wurde, gab er ausführliche Antworten, dieselben enthielten aber
keine überflüssigen Zusätze, sondern waren im allgemeinen sachlich ge¬
halten.
Auf körperlichem Gebiete fand sich folgendes: Graues Haar, frisches
Aussehen, gerötetes Gesicht, die sicht- und fühlbaren Schlagadern sind
geschlängelt und starrwandig.
Die Pupillen verengern sich auf Lichteinfall und beim Blick in die
Nähe prompt.
Zunge gerade, belegt, wird zitternd vorgestreckt, die übrigen Hirn¬
nerven ohne Besonderheiten.
Herzdämpfung nicht verbreitert. Puls zurzeit 96, Urin frei von
Eiweiß und Zucker.
Keine Störungen der Beweglichkeit. Die Reflexe sind beiderseits
gleich, lebhaft gesteigert. Das Babinskische und Oppenheimsche Zeichen
fehlen. Ebenso Fußzittern. Patient gibt nachträglich noch an. daß er
einmal einen schweren Ohnmachtsanfall gehabt habe. Lähmungen hätten
bei ihm nie bestanden.
Bemerkt sei noch, daß der Patient hier am Tage der letzten Unter¬
suchung, nachdem er eine Treppe etwas schnell hinaufgestiegen war, über
lebhaftes Schwindelgefühl klagte und ein stark gerötetes Gesicht aufwies.
Der Altersschwachsinn.
8 ^
Gutachten: Die Hauptfrage, welche in dem vorliegenden Falle zu
beantworten ist, lautet dahin, ob wir bei H. eine Geisteskrankheit vor uns
haben oder ob es sich noch um eine physiologische Abschwächung der
psychischen Funktionen, wie sie sich bei Leuten in höherem Lebensalter
regelmäßig findet, handelt. Der Verfasser ist geneigt, letzteres anzu¬
nehmen, und zwar aus folgenden Gründen:
Wahnideen und Sinnestäuschungen fehlen bei dem Patienten voll¬
kommen. Sie sind auch, soweit diesseits bekannt ist, niemals bei ihm be¬
obachtet worden, auch unorientiert war er nie. Im Gegenteil weiß er
sowohl über die Geschehnisse der letzten Zeit, wie über die der Ver¬
gangenheit — das ergibt sich aus dem vorstehenden Untersuchungsbefund
aufs deutlichste — sehr gut Bescheid. Er faßt alle an ihn gerichteten
Fragen prompt und sinngemäß auf, seine Antworten darauf tauten
durchaus vernünftig und sachlich, er ist sich sogar der Konsequenzen
im einzelnen sehr wohl bewußt, schweigt da, wo er nichts sagen will,
und erklärt seine verschiedenen Handlungen genau so, wie jeder andere
Mensch. Von einer Gedächtnisschwäche, einer Störung der Merkfähig¬
keit, von Verwirrtheit oder gar Verfolgungs- und Beeinträchtigungsvor¬
stellungen kann keine Rede sein. Irgendein Anhaltspunkt dafür, daß er
altersschwachsinnig wäre, besteht also nicht. Wohl ist zuzugeben, daß
er in seinen Äußerungen mitunter etwas langsamer ist, als jüngere Per¬
sonen, er muß sich auch hier und da auf das eine oder andere Datum
etwas besinnen, ganz selten kommt es vor, daß er selbst eine seiner An¬
gaben richtig stellen muß. Alles in allem aber sind die durch das Alter
bedingten, noch im Bereiche des Normalen liegenden quantitativen Ände¬
rungen seiner intellektuellen Fähigkeiten geringer, wie man
sie bei einem Menschen seines Älters sonst im allgemeinen findet.
Was die Gefühlssphäre anlangt, so erscheint es allerdings
auf den ersten Blick auffällig, daß die Ereignisse der letzten Jahre ver¬
hältnismäßig wenig Eindruck auf den Exploranden gemacht haben. Weder
der Verlust seines beträchtlichen Vermögens, noch die Trennung von
seiner Familie, noch auch schließlich seine gerichtliche Bestrafung haben
bewirkt, daß seine Stimmung sich verschlechtert hat. Er ist gleichmäßig
heiter geblieben. Wollte man darin jedoch ein Zeichen des einsetzenden
Schwachsinns erblicken, so würde man zu weit gehen, denn H. ist nicht
erst seit dem Jahre 1902, wie von seiten der Familie angenommen wird,
zu einer derartigen Lebensauffassung geneigt, sondern er war es
von jeher.
Er hat z. B. jahrzehntelang im öffentlichen Leben gestanden, ist ver¬
schiedentlich schweren Angriffen ausgesetzt gewesen, ohne daß ihn das
irgendwie berührte.
Auch mit dem Gericht hatte er früher schon zu tun und zwar wegen
ähnlicher Sachen, wie in der Affäre H. Man konnte ihn jedoch nicht
überführen. Auch das hat auf ihn keinen Eindruck gemacht.
Dasselbe trifft für sein Geschlechtsleben zu. Die Neigung zu un¬
ehelicher sexueller Betätigung hat er gleichfalls bereits seit langen Jahren
gehabt. Sie ist ihm nur ungewöhnlich lange erhalten geblieben und der
Familie erst jetzt bekannt geworden.
862
Der Altersschwachsinn.
Angesichts der heiteren Stimmung, welche man bei dem H. findet,
ist es notwendig, die Frage aufzuwerfen, ob nicht etwa eine Manie oder
ein manisches Zustandsbild, wie es bei älteren Leuten bisweilen infolge
von Qehirngefäßverkalkung beobachtet wird, vorliegt. Auch dafür haben
sich nicht genügend Anhaltepunkte finden lassen. Es fehlen alle sonstigen
Zeichen der Manie, nämlich der Rede- und Bewegungsdrang, die Viel¬
geschäftigkeit, die erhöhte Ablenkbarkeit, die Neigung zu Scherzen u. a. m.
Im Gegenteil muß sogar besonders hervorgehoben werden, daß die Aus¬
führungen des H. stets sachlich waren und keinerlei krankhafte Weit¬
schweifigkeit zeigten. —
Auch dem Umstande, daß H. eine Reihe gewagter Geschäfte gerade
in den letzten Jahren gemacht haben soll, vermag ich nicht die Bedeu¬
tung beizulegen, daß sie als Symptom manischer Vielgeschäftigkeit gelten
könnten. Dagegen spricht zunächst schon der Umstand, daß er einen Teil
der geschäftlichen Verbindungen, durch die er Geld verlor, schon vor dem
Jahre 1902 eingegangen war. Es kommt ferner hinzu, daß seine geschäft¬
lichen Manipulationen auch früher teilweise mit besonders großem Risiko
verbunden waren.
Selbst wenn man aber der Ansicht sein wollte, daß die Sorglosigkeit,
mit der er seine Geschäfte besorgte, und die Gleichgültigkeit, die er bei
Vermögensverlusten an den Tag legte, Zeichen einer krankhaften Störung
der Geistestätigkeit wären, so würde das noch nicht ausreichen, eine
Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche zu be¬
gründen. Denn nicht jede geistige Störung genügt dazu, einen Menschen
zu entmündigen. Die Geistesstörung muß vielmehr einen solchen Grad
erreicht haben, daß sie den davon Befallenen an der Besorgung der Ge¬
samtheit seiner Angelegenheiten hindert. Dies trifft bei H. zweifellos
nicht zu. Wenn man auch zugeben muß, daß er in der Verwaltung seines
Vermögens keine glückliche Hand gehabt hat, so läßt sich andererseits
nicht verkennen, daß er sich z. B. in allen Gerichtssachen sehr geschickt
benommen hat und seine persönlichen Verhältnisse (Haushalt usw.)
durchaus sachgemäß ordnete, \\ enn er dabei besonders sparsam bezüg¬
lich seiner eigenen Bedürfnisse war, so erscheint das durchaus verständ¬
lich, sofern man bedenkt, daß sein Vermögen infolge der unglücklichen
Spekulationen sehr zusammengeschrumpft ist.
Daß die großen Vermögensverluste gerade in die letzten Jahre fallen,
erklärt er selbst auch sehr einfach, indem er angibt, er habe erst in diesen
Jahren bares Geld in größerer Menge in die Hände bekommen. Vorher
sei sein Geld in Grundstücken festgelegt gewesen. Er habe deshalb
größere Beträge früher gar nicht verleihen können. —
Auf Grund der vorstehenden Erwägungen komme ich zu dem
Schlüsse, daß vorerst nicht bewiesen ist, daß H. geistes krank oder
geistes schwach im Sinne des § 6 B.G.B. ist, sondern nur, daß er viel¬
leicht geringe Änderungen seiner psychischen Persönlichkeit erfahren hat.
Selbst wenn man einzelne Züge des psychischen Gesamtbildes als krank¬
haft ansehen wollte, so z. B. die Gleichgültigkeit gegenüber seiner
Lage und die Sorglosigkeit bei der Verwaltung seines Ver¬
mögens, so würden diese Erscheinungen doch nicht zur Begründung der
Der Altersschwachsinn. 863
Annahme ausreichen, daß H. seine Angelegenheiten nicht zu besorgen
vermag. Im Gegenteil steht unzweifelhaft fest, daß er einige seiner An¬
gelegenheiten, z. B. seine rechtlichen Beziehungen, speziell seine zahl¬
reichen Prozesse, sehr sorgfältig führt und bis ins einzelne selbst be¬
arbeitet. Daraus folgt, daß er wesentliche Teile dessen, was unter dem
Begriff „Angelegenheiten“ zusammengefaßt ist, selbst besorgt, und des¬
halb treffen die Voraussetzungen des § 6 B.Q.B. auf ihn gegenwärtig
nicht zu.
Der weitere Verlauf des Falles, soweit ich davon gehört habe,
bestätigte die in dem Gutachten niedergelegte Ansicht. H. ist
später nicht dement geworden.
Wie weit von einzelnen Sachverständigen der Begriff der
physiologischen Abschwächung gefaßt wird, zeigt der folgende
Fall, den ich aus verschiedenen Gründen gleichfalls ausführlicher
wiedergeben möchte.
Er zeigt nämlich ziemlich alle Komplikationen, welche bei
derartigen Begutachtungen Vorkommen können. Die meisten
Zeugen waren tot, die wenigen lebenden entweder selbst sehr alt
oder irgendwie interessiert. Die Kranke, aus einfachen Verhält¬
nissen stammend, von jeher beschränkt, wird zunächst auf Grund
ungefähr desselben Befundes entmündigt, wieder bemündigt und
später zum zweiten Mal entmündigt. Sie gerät in die Hände be¬
stimmter Personen, macht ein Testament zugunsten dieser letz¬
teren und trotz greifbarster Beweise für ihre völlige geistige Un¬
zulänglichkeit wird sie ärztlicherseits für testierfähig erklärt.
Auch zu dem Kapitel der Testierfähigkeit stellt der
Fall somit einen wertvollen Beitrag dar.
A. W., starb mit 96 Jahren. Zweimal entmündigt. Zuletzt Testa¬
mentsanfechtung.
Die A. VV. hat wiederholt über ihren Nachlaß Verfügungen ge¬
troffen. Die erste schriftliche Fixierung ihres letzten Willens, welche
mir vorlag, stellt ein Testament vom 24. August 1890 dar. In dem¬
selben widerrief sie ihre früheren letztwilligen Verfügungen, und ver¬
machte, abgesehen von einigen Legaten, die besonders aufgeführt sind,
ihrem Neffen Th. P. alle ihre Mobilien und Immobilien (im Werte von
ca. 400 000 Mk.).
Über diese erste Testamentserrichtung ist nun folgendes ermittelt
worden: Zunächst fällt auf, daß nach dem Wortlaut des Testaments das
letztere von der Erblasserin diktiert worden ist. Demgegenüber hat einer
der bei Errichtung desselben anwesend gewesenen Zeugen, der jetzt
47 Jahre alte Schuhmacher Th. K. folgendes unter Eid ausgesagt: „Ob
A. W. vorher mit Notar Schw. über den Inhalt des Testaments gesprochen
hat, weiß ich nicht. Bei der Aufnahme des Testaments selbst hat sie
ihren \\ illen in keiner Weise zum Ausdruck gebracht.
864
Der Altersschwachsinn.
Th. P.. der im Zimmer anwesend war, gab dem Notar an, welchen
Inhalt die einzelnen Testamente haben sollten. A. W. wollte von der
Sache nichts wissen, sie lief wiederholt aus dem Zimmer usw. Das
Testament ist angefertigt worden, ob sie anwesend war oder nicht.
Der Zeuge berichtete außerdem noch, daß die W. von der ganzen
Sache nichts habe wissen w'ollen. Sie sei wiederholt aus dem Zimmer
gelaufen, und er habe sie auf Veranlassung des Notars zweimal aus der
Küche zurückgeholt, und ein drittes Mal vom Hofe. Er habe sie beim
letzten Mal am Arme in das Zimmer hereingezogen. Als er sie das erste
Mal in das Zimmer hineinholte, sagte sie, sie wolle mit der ganzen Sache
nichts zu tun haben. Die gleiche Erklärung habe sie im Zimmer dem
Notar selbst abgegeben.
Der Zeuge selbst und seiner Angabe nach auch die übrigen Zeugen
hatten die Überzeugung, daß die W. geisteskrank war. Bei der Ver¬
lesung des Testaments gab sie wenig acht, und hatte deshalb von der
Bedeutung und dem Inhalt desselben keine Ahnung (Aussage des K.). Der
bei der Testamentserrichtung gleichfalls anwesend gewesene O. Br. soll
zu K. auf dem Nachhausewege gesagt haben, da kann man sehen, was mit
Geld nicht alles zu machen ist.
Bei der Verlesung des Testaments war die W. zugegen, und soll
dabei wiederholt mit dem Kopf genickt haben.“
Das zweite, einen kleinen Zusatz enthaltende Testament stammt
vom 29. November 1892. Uber seine Entstehung erfahren wir aus den
Akten nichts Besonderes.
Beide Testamente stimmen insofern überein, als in ihnen der
Th. P. zum Haupterben ernannt wurde.
Am 25. November 1894 stellten nun der H. K. und J. H. den Antrag,
die W. wegen Geisteskrankheit zu entmündigen. Sie führten aus: Die
zu Entmündigende befinde sich bereits seit 30 Jahren in einem krank¬
haften Zustand und sei nicht in der Lage, ihr ziemlich bedeutendes Ver¬
mögen selbst zu verwalten, noch sich über die Verwaltung desselben
irgendwelche Kenntnis zu verschaffen. Sie sei gänzlich teilnahmlos.
Die Krankheit bestehe seit einem vor 30 Jahren überstandenen
Nervenfieber und habe sich mit den Jahren immer mehr gesteigert.
Auch seien in der Familie mehrfach Geisteskrankheiten vorgekommen.
Ein Bruder — C. — sei in der Irrenansalt zu N. gestorben.
Das Kgl. Amtsgericht CI. veranlaßte zunächst den Bürgermeister
von C. zu einer Äußerung über den Antrag. Derselbe sprach sich dahin
aus, daß die Angaben der Antragsteller im allgemeinen richtig seien.
Er bezweifelte selbst, daß die \V. damals imstande war, sich Kenntnis
von der Verwaltung des Gutes zu verschaffen.
In einem Explorationstermin, den das Gericht am 19. Dezember 1894
abhielt, gab die Patientin ihr Alter falsch an, sie WTißte nicht, wie hoch
sich ihr Besitz belief und wieviel Steuern sie zu zahlen hatte. Geldstücke
erkannte sie, vermochte sie aber nicht zusammenzuzählen.
Die W. selbst gab an, sie kümmere sich gar nicht mehr um die Wirt¬
schaft, das hätten früher immer ihre Brüder und Schwestern getan, sie
sei immer in der Küche gewesen.
Der Altersschwachsinn. 865
Der zugezogene Sachverständige, Herr Kreisarzt D. Q., gab sein
Gutachten dahin ab, daß die W. an Altersblödsinn leide und unfähig sei,
ihren Angelegenheiten selbst vorzustehen.
Das Gericht beschloß die Entmündigung (1894).
Weiteres über die erbliche Belastung der W. erfahren wir aus einem
Schreiben, welches sich Bl. 40 der Strafakten gegen P. findet. Dort
schreibt J. H., daß eine Schwester der W. fast in jedem Frühjahr 3 bis
4 Wochen „ganz geistesschwach“ gewesen sei.
Am 27. Juni 1896 stellte der Rechtsanwalt W\ im Namen des Th. P.
den Antrag auf Wiederaufhebung der Entmündigung, mit nachfolgender
Begründung: Die W. sei zur Zeit der Entmündigung etwas aufgeregt ge¬
wesen und sei diese Aufregung jedenfalls mit die Veranlassung, daß die
Entmündigung ausgesprochen wurde. Inzwischen sei sie aber wieder
ruhig geworden. (Beide Behauptungen finden in den Entmündigungs¬
akten keine Stütze, wie schon hier bemerkt sei, im Gegenteil wird das
stumpfe Verhalten zur Zeit der Entmündigung besonders betont.)
Der weiteren Begründung entnehme ich folgendes: Die A. W. sei in
der Jugend lange krank gewesen. Allmählich habe sie sich erholt, habe
jedoch immer eine gewisse körperliche Schwäche zurückbehalten und
wurde deshalb ausschließlich in der Küche verwandt. Für diesen ihren
Interessenkreis habe sie volles Verständnis, ebenso könne sie über die
Vergangenheit Auskunft geben und habe auch noch Interesse für die Be¬
gebenheiten des Dorfes. Nur die Politik sei ihr fremd, „ingleichen habe
sie sich während ihres ganzen Lebens so gut wie gar nicht mit Geld¬
angelegenheiten befaßt und kenne daher nur die gewöhnlichen Geld¬
sorten“.
Die W. wurde in einem neuen Termin persönlich vernommen, dabei
über ihre Personalien und den oben angegebenen Interessenkreis befragt.
Darüber hinaus scheint man in dem Termin keine Fragen an sie gestellt
zu haben. Die Fragen nach den Geschwistern, dem Viehbestand und
einigen ähnlichen sehr einfachen Dingen beantwortete sie ungefähr, aber
nicht ganz richtig, ein Talerstück konnte sie nicht erkennen.
Die vernommenen Zeugen sagten folgendes aus: Pfarrer J. hatte
während der letzten 2, 3, 4 Jahre keine besondere Geistesbeschränktheit
an der W. bemerkt. Dieselbe habe sich ein wenig in der Küche be¬
schäftigt, meist aber die Kinder des P. beaufsichtigt.
Ähnlich wie dieser Zeuge sprachen sich der Wirt H. M. und der
Kaufmann J. D. aus. Ersterer sagte sogar noch bestimmter aus, daß die
W. nicht mehr imstande sei, sich um die Wirtschaft zu bekümmern.
Der Sachverständige, Dr. X., erstattete ein ausführliches schrift¬
liches Gutachten, in dem er folgendes ausführte: Die W. sei ihm seit
14 Jahren bekannt. Er habe sie auch mehrfach behandelt. Über ihre
Vorgeschichte machte die W. (wohl auf Befragen) genau dieselben An¬
gaben wie in dem Explorationstermin. Auf körperlichem Gebiet konnte
Dr. X., abgesehen von einer Verschlechterung des Hör- und Sehver¬
mögens, nichts Krankhaftes finden.
Lesen und Schreiben war mangelhaft, wie der Sachverständige
meint, wegen der mangelhaften Schulbildung. Das Gedächtnis für die
Hübner, Forensische Psychiatrie. 55
866
Der Altersschwachsinn.
jüngste und fernere Vergangenheit war gut. Auch ihre intellektuellen
Fähigkeiten waren angeblich gut entwickelt. Sie kennt Geld und Qeldes-
wert, versteht einfache Rechenexempel mit einstelligen Zahlen zu lösen,
hat jedoch etwas unklare Begriffe von abstrakten Dingen, z. B. Hypo¬
theken und Zinsen. In der Gemüts- und Willenssphäre zeigte sie keinerlei
Defekte.
Der Sachverständige ist zu dem eben wiedergegebenen Urteil über
die geistigen Fähigkeiten im wesentlichen auf Grund seiner Erfahrungen
im Explorationstermin gekommen. Ein detaillierter Befund fehlt in dem
Gutachten.
Dr. X. kam zu dem Schluß, er glaube, daß die W. über die nötige
Urteilskraft und Selbständigkeit der Entschließung verfüge, um im öffent¬
lichen Leben das eigene Interesse wahrzunehmen und die Fähigkeit be¬
sitze, Rechtshandlungen mit dem vollen Bewußtsein ihrer Bedeutung und
ihrer Folgen vorzunehmen, obwohl sie nur über eine sehr geringe Schul¬
bildung verfüge und ihre Geistesanlagen infolgedessen sehr gering ent¬
wickelt waren.
Er führte ferner aus, daß der geschilderte Zustand der Explorandin
nicht Folge von Alterserscheinungen sei, sondern bestanden habe, solange
er sie kenne, d. h. seit etwa 14 Jahren.
Da die Königl. Staatsanwaltschaft in C. die Besserung nicht für be¬
wiesen hielt, veranlaßte sie den Bürgermeister von C. zu einer Äußerung.
Dieser führte aus, daß die Gebrüder P. das größte Interesse an der .Auf¬
hebung der Entmündigung hätten, um dann ihre Erbschaftsinteressen be¬
treiben zu können. Die beiden P. hätten einen großen Einfluß auf die W.
und wollten anscheinend in den Besitz des gesamten großen Vermögens
der W. gelangen. Nach dem Dafürhalten des Berichterstatters war die
Explorandin im August 1896 in dem gleichen Zustande wie im Jahre 1904.
Die Königl. Staatsanwaltschaft beantragte mit Rücksicht auf die
Äußerung des mit den Verhältnissen am besten vertrauten Bürgermeisters
die Äbweisung der Klage auf Aufhebung der Entmündigung. Den gleichen
Antrag stellten unter Benennung von 8 Zeugen der J. H. und H. K., indem
sie hinzufügten, daß die W. jetzt genau so geisteskrank sei wie vor
20 Jahren.
Von den angebotenen Beweismitteln machte das Gericht keinen
weiteren Gebrauch, sondern kam schon auf Grund des vorhandenen
JMaterials zu dem Schluß, daß die W. nicht geisteskrank sei, und hob
daher die Entmündigung auf.
Hiergegen legte die Staatsanwaltschaft Beschwerde ein, das Königl.
Landgericht stellte weitere Erhebungen an, die ergaben, daß eine ganze
Reihe von Leuten die W. für geistig abnorm hielten. Bei einer persön¬
lichen Vernehmung machte die Patientin über verschiedene wesentliche
Punkte, z. B. ihren eigenen Geburtstag, das Alter ihrer Eltern, die Größe
ihres Ackerhofes, die Zahl der Kühe und den Wert ihres Besitztums
falsche Angaben. Sie wußte nicht einmal, daß ihr die ganze Ackerwirt¬
schaft noch gehörte. Bezüglich der beiden Testamente wußte sie weder
bei wem der Akt getätigt war, noch auch wen sie alles in demselben
bedacht hatte.
Der Altersschwachsinn. 867
Trotz dieser mangelhaften geistigen Leistungen kam der zugezogene
Sachverständige, Herr Dr. B. aus Q., zu der Überzeugung, daß sie das¬
jenige Maß geistiger Leistungsfähigkeit besäße, welches sie brauche, um
„mit richtiger Erkenntnis und besonderer Überlegung ihre Angelegenheit
selbst zu besorgen und die Folgen ihrer Handlungen zu überlegen“.
Der Sachverständige stützte sich außer auf die im Explorationstermin
gewonnenen Erfahrungen auf eine weitere Untersuchung, die er mit der
Patientin vorgenommen hatte. Ihm, ebenso wie dem Gericht war auf-
gefallen, daß die Kranke sehr unsicher war und öfters zu P. und seiner
Frau hinsah, um sich von diesen die Richtigkeit ihrer Angaben bestätigen
zu lassen.
Das Königl. Landgericht beschloß in seiner Sitzung vom 9. Februar
1897 zwar die Aufhebung der Entmündigung, ordnete aber der W. einen
Beistand zu, der hauptsächlich bei Regelung der Vermögungsangelegen-
heiten mitzuwirken hatte. In der Begründung heißt es, daß die W. zwar
nicht an Blödsinn, Wahnsinn oder Raserei im Sinne des Artikels 489
B.Q.B. litte, daß ihr aber diejenige Geisteskraft nicht völlig innewohne,
welche erforderlich sei, die bei dem Umfange ihres Vermögens sich
möglicherweise ergebenden Rechtsgeschäfte größerer Tragweite selb¬
ständig zu erledigen.
Im Oktober 1910 reichten nun die Eheleute H. K. beim Königl. Amts¬
gericht zu C. einen Antrag auf Sicherung des Beweises in der Erbschafts¬
sache W. ein. Sie bestritten die Rechtsgültigkeit der vorhandenen Testa¬
mente, indem sie behaupteten, die Testierende habe infolge angeborener
Geisteskrankheit nicht die Fähigkeit besessen, ein rechtsgültiges Testa¬
ment zu errichten und beantragten, noch weitere Zeugen über den
Geisteszustand der W'. zu vernehmen. Sie fügten eine eidesstattliche Ver¬
sicherung des einzigen noch lebenden Zeugen Th. K. (s. oben) bei, in der
sich K. dahin aussprach, nach seiner Überzeugung habe die W. von der
Bedeutung und dem Inhalt des Testamentes keine .Ahnung gehabt.
Die verschiedenen Zeugen, welche vernommen wurden, sprachen
sich teils für, teils gegen Geisteskrankheit aus. Notar P. hatte bei
Tätigung des Aktes vom Jahre 1905 die Überzeugung, daß die W. den
Inhalt desselben kannte und damit einverstanden war.
Im November 1910 stellte die Ehefrau des K. von neuem den Antrag,
die W. zu entmündigen. Zur Begründung des Antrags erstattete der
Unterzeichnete nach Untersuchung der Patientin (2. Dezember 1910) ein
ausführliches Gutachten. Der von mir erhobene Befund stimmte mit dem
vom Gericht festgestellten im wesentlichen überein. Besonders auffallend
war mir die große geistige und körperliche Hilflosigkeit, die nach meiner
Überzeugung die Kranke verhinderte, für ihre körperlichen und wirtschaft¬
lichen Interessen zu sorgen. Ich erklärte die für geistes krank im
Sinne des B.G.B. —
Das Gericht nahm nochmals eine persönliche Vernehmung der
Patientin vor, die ungefähr das gleiche Resultat hatte, wie die vorher¬
gegangenen Untersuchungen. Als Sachverständiger war Dr. X. zuge¬
zogen. Der Befund, welchen dieser erhob, war folgender; Körperlich
machte die Untersuchte ihm den Eindruck einer hinfälligen Greisin. Auf
55 *
868 Der Altersschwachsinn.
geistigem Gebiete fand er, daß eine geordnete Unterhaltung mit der W.
nicht möglich sei. Es werde ihr nicht allein wegen ihres mangelhaften
Gehörs, sondern wegen ihrer mangelhaften Geisteskräfte ungemein
schwer, den Sinn der an sie gestellten Fragen zu erfassen und darauf
Antwort zu geben. Weiter schildert er die W. folgendermaßen: „Völlig
stumpf sitzt sie in ihrem Ruhesessel, unbekümmert um alles, was um
sie herum vorgeht. Ihre einzige geistige Tätigkeit besteht in dem ge¬
wohnten rein mechanischen Beten des Rosenkranzes, welche ihre Unter¬
haltung bei läge bildet, da ein geistiger Verkehr mit ihrer Umgebung
infolge ihrer körperlichen und geistigen Mängel unmöglich geworden ist.“
In dem Gutachten kam der Sachverständige zu dem Schlüsse, daß
die \V. an Altersschwachsinn leide. Trotz seiner Schilderung von der
tiefgreifenden Verblödung kam er aber im Gegensatz zu dem Unter¬
zeichneten zu der Überzeugung, daß nur Geistesschwäche im Sinne des
Gesetzes vorliege. Dr. X. führt weiter aus: „Ein die freie Willens¬
bestimmung ausschließender Zustand von krankhafter Störung der
Geistestätigkeit, liegt in diesem Falle nicht vor.“
Die gegenteilige Ansicht des Verfassers suchte Dr. X. dadurch zu
erklären, daß er infolge seiner Kenntnis des Dialektes besser in der Lage
gewesen sei, das geistige Kapital der W. festzustellen, als Ref. Ich
möchte nicht verfehlen, gleich hier festzustellen, daß diese Begründung
unzutreffend ist. Die Untersuchung, welche ich am 2. Dezember 1910
vornahm, wurde in der Weise durchgeführt, daß die von mir gestellten
Fragen der Explorandin in ihrer Muttersprache von dem Ehepaar P.
(also den Hauptinteressenten) und dem Bureauvorsteher C. übermittelt
wurden und die Antworten mir dann zurückübersetzt und im einzelnen
erklärt werden mußten, soweit ich sie nicht verstand. Erst wenn ich
mich selbst überzeugt zu haben glaubte, daß keine Mißverständnisse
obwalteten, machte ich meine Notizen.
Bezüglich der Testierfähigkeit sprach sich Dr. X. in einem beson¬
deren Gutachten (vom 10. Dezember 1910) aus.
Er nimmt an, daß die W. in den Jahren 1890 und 1892 testierfähig
war: 1. weil sie in dem ihr unterstehenden Bereiche — der Küche —
selbständig fungierte, sich allerdings um die Verwaltung des Hofes und
um Geldangelegenheiten nicht kümmerte; 2. weil eine akute Geistes¬
störung zu jener Zeit nicht bestand, die W, vielmehr im Jahre 1890 und
1892 geistig ebenso beschaffen war, wie im Jahre 1896 (d. h. zur Zeit
der Aufhebung der Entmündigung); 3, weil die Angehörigen der W. von
ihrer geistigen Gesundheit damals selbst überzeugt waren; 4. weil die
meisten Zeugen bekundet haben, daß die W. bei gesundem Verstände
gewesen sei. Die gegenteiligen Aussagen fielen weniger ins Gewicht,
weil sie entweder nicht auf persönlicher Beobachtung beruhten, oder
den Verdacht erweckten, daß Gedächtnistäuschungen vorlägen.
Die Aussage des Zeugen K., welche das Verhalten der W. bei Er¬
richtung des Testaments im Jahre 1890 näher illustriert, ist mit keinem
Worte erwähnt. Der Umstand, daß die Untersuchte im Jahre 1894 ent¬
mündigt worden ist, ist für den Sachverständigen ohne Belang, da die
Entmündigung „auf Grund einer kurzzeitigen Vernehmung derselben und
Der Altersschwachsinn. 869
eines kurzen, mangelhaft begründeten Gutachtens des Sachverständigen
erfolgte“.
Gutachten. Bevor auf die Erörterung der eigentlichen Beweisfragen
eingegangen werden kann, bedarf es einer Vorbemerkung. Dieselbe be¬
trifft die Bedeutung der Zeugenaussagen.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Beurteilung des Geistes¬
zustandes eines Menschen, sofern er nicht mit Wahnideen und Sinnes¬
täuschungen behaftet ist, für Laien immer sehr schwer ist. Besonders
schwierig ist sie aber dann, wenn es sich um die Feststellung von
Schwachsinnszuständen handelt. Die ärztlichen Sachverständigen pflegen
in solchen Fällen daher alle Zeugenaussagen, welche nur das Urteil eines
Laien enthalten, für ziemlich wertlos zu erklären, sofern dieses Urteil
nicht durch Angabe von bestimmten Tatsachen genauer begründet ist.
Berechtigt ist dieser Standpunkt insbesondere dann, wenn die Zeugen
einfache Leute sind, wie das in dem vorliegenden Rechtsstreite fast aus¬
nahmslos der Fall ist.
Auch ich möchte für die folgenden Ausführungen nach diesem Grund¬
sätze verfahren, weil ich glaube, daß man auf diese Weise den realen
Verhältnissen, wie sie zur Zeit der Errichtung des Testaments Vorlagen,
am nächsten kommen dürfte. Wenn ich nun dieses Prinzip anwende,
dann ist für die Beantwortung der Beweisfrage am bedeutungsvollsten
die eidliche Aussage des Zeugen K. Er sagte in objektiver Form aus,
wie sich die W. bei Errichtung des Haupttestaments verhalten hat. Tat¬
sachen berichtete auch der Zeuge M., der Provinzialstraßenwärter J. K.
und einige andere später zu erwähnende Zeugen.
Dem von dem Herrn Vorgutachter bezüglich ihrer Bedeutung an-
gezweifelten Berichte des Bürgermeisters von C. möchte ich, wenn ich
ihn auch nicht übermäßig hoch bewerte, doch nicht alle Bedeutung ab¬
sprechen. Denn es handelt sich dabei um amtliche Auskünfte, von denen
man doch wohl voraussetzen kann, daß sie auf Grund einer vorher¬
gegangenen Information erteilt sind, ganz abgesehen davon, daß das, was
in diesen Auskünften gesagt wird, nämlich daß die W. für blödsinnig gelte,
auch von anderen Zeugen behauptet wurde.
Soviel über die Bewertung der Zeugenaussagen. Es wird nunmehr
unsere Aufgabe sein, diejenigen Tatsachen kurz zusammenzustellen,
welche über den Geisteszustand der W. im allgemeinen, im besonderen
aber zu der fraglichen Zeit, uns bekannt geworden sind.
Über die erbliche Belastung der W. erfahren wir, daß einer ihrer
Brüder in der Irrenanstalt zu N. geisteskrank gestorben ist. Eine andere
Schwester von ihr war alljährlich im Frühjahr 3—4 Wochen ganz geistes¬
schwach. Uber die Zurechnungsfähigkeit ihrer Schwester H. bestanden
außerdem zur Zeit der Testamentserrichtung gleichfalls Zweifel.
Die Verstorbene selbst hat die Schule nur unregelmäßig besucht und
nicht richtig schreiben und lesen gelernt. Sie war in der Jugend viel
krank und sehr schwach. Mit 13 oder 14 Jahren verließ sie die Schule
und beschäftigte sich seitdem in der Küche des elterlichen Gutes, ohne
sich um das, was außerhalb dieses Interessenkreises lag, irgendwie zu
kümmern. In ihrer Umgebung wurde sie verschieden beurteilt. Während
870
Der Altersschwachsinn.
sie die einen für geistig normal hielten, glaubten die anderen ihr stilles,
zurückhaltendes Wesen als besonders auffallend bezeichnen zu müssen.
Es gab aber auch eine Reihe von Leuten, die sie für schwachsinnig
hielten.
Als ihre Geschwister gestorben waren, kümmerte sie sich um ihr
Vermögen und dessen Verwaltung auch noch nicht, überließ vielmehr die
Besorgung dieser Dinge ihrem Neffen P. Sie hat. und das möchte ich
besonders unterstreichen, soweit sich aus den Aussagen und Gutachten
ergibt, niemals eine eigene Meinung bezüglich der Verwaltung ihres Ver¬
mögens geäußert. M. und-D. P. haben vielmehr stets „alles gemacht“.
W enn ich auf diesen Punkt großen Wert lege, so geschieht das aus
folgenden Gründen:
Erstens wird dadurch bewiesen, daß die W. von jeher eine un¬
gewöhnlich unselbständige Person war. Denn es gibt zwar viele
Menschen, die weder lesen noch schreiben können; trotzdem sind die¬
selben aber sehr wohl imstande, sich um die Größe ihres Besitztums,
um dessen Verwaltung, um die Regulierung von Einnahmen und Aus¬
gaben, um Ein- und Verkäufe u. a. m. zu kümmern. Sie tun das auch
und sind mitunter sehr gerissene Geschäftsleute. Geschieht das in so
konsequenter Weise nicht, wie in dem vorliegenden Falle, so legt schon
dieser Umstand den Verdacht nahe, daß es sich hier um mehr, als
schlechte Schulbildung und Erziehung handelt. Schon deshalb allein
müßte man bei der W. an Schwachsinn denken.
Ein zweiter Schluß, der sich aus dem Verhalten der W. ergibt, be¬
trifft ihre geschäftliche Gewandtheit. Wenn ein Mensch sich 70 Jahre
seines Lebens nie um geschäftliche Dinge gekümmert hat, so daß er nicht
einmal weiß, was er besitzt, so muß er naturgemäß geschäftlich so un¬
gewandt bleiben, daß er eine Meinung in allen diesen Dingen gar nicht
haben, geschweige denn eine solche in rechtsgültiger Form zum Ausdruck
bringen kann. Er muß geschäftlich ganz unselbständig bleiben und ist
damit auch stets auf die Hilfe anderer angewiesen. Was die ihm sagen,
muß er glauben, da er ja selbst nicht imstande ist, ihre Ratschläge nach¬
zuprüfen.
Das Bewußtsein seiner Unselbständigkeit macht ihn aber not¬
wendigerweise auch der Beeinflussung seiner Umgebung zugänglicher,
als das bei normalen Durchschnittsmenschen der Fall ist.
Die vorstehenden Überlegungen treffen zweifellos auch auf die W.
zu. Ich verw’eise zur Begründung auf die Aussage des Zeugen M.,
welcher angab, er habe wegen des Landverkaufs nur mit P., nicht aber
mit der einen blödsinnigen Eindruck machenden W. verhandelt. Auch
bei der Überweisung der Baustelle zum Pfarrhaus ist P. der geistige
Leiter der Verhandlungen gewesen. P. ist es gew’esen. der bei Errichtung
der Testamente dem Notar die erforderlichen Anw^eisungen gab und hat
schließlich auch den Inhalt des Vertrages zwischen den präsumptiven
Erben dem amtierenden Notar angegeben. Besonders verweisen möchte
ich schließlich noch auf die Ausführungen des Bürgermeisters von C. und
der königl. Staatsanwaltschaft zu CI. in den Akten: Aufhebung der Ent¬
mündigung.
Der Altersschwachsinn.
871
Soweit die Kenntnis des Unterzeichneten reicht, und die anderen
Sachverständigen waren der gleichen Ansicht, hat die W. zu keiner Zeit
ihres Lebens in geschäftlichen Dingen eine eigene Meinung geäußert.
Bemerkt sei übrigens gleich hier, daß die eigenen Verwandten die
W. in geistiger Beziehung nicht sehr hoch eingeschätzt zu haben scheinen.
Wie die Zeugin B. aussagte, habe man ihr gegenüber das sonderbare
Wesen der Patientin mit einem in der Jugend durchgemachten Nerven¬
fieber zu erklären gesucht. Dem Zeugen M. gegenüber hat P. gar nicht
bestritten, daß die W. schwachsinnig sei, hat vielmehr die Tatsache, daß
man sie nicht in eine Irrenanstalt gebracht habe, besonders entschuldigt.
Er sagte, sie sei harmlos, man behalte sie deshalb zu Hause. —
Mit den vorstehenden Ausführungen haben wir bereits die Zeit er¬
reicht, zu welcher die fraglichen Testamente gemacht worden sind.
Bevor hier auf Einzelheiten eingegangen werden kann, muß eine
Vorbemerkung gemacht werden. So sehr die Sachverständigen unter¬
einander und die verschiedenen Gerichte über die Beurteilung des
Geisteszustandes der W. seit dem Jahre 1894 auseinandergehen, so wenig
tun sie das bezüglich des objektiven Befundes. Eine Nachprüfung der
damaligen Geistesverfassung ist heute demnach noch möglich, weil die
verschiedenen Akten Untersuchungsprotokolle enthalten.
Schwieriger würde die Beantwortung der Frage nach dem Geistes¬
zustand der W. in den Jahren 1890 und 92 sein, wenn wir nicht einige
indirekte Angaben darüber hätten.
Die wichtigste ist die des Dr. X., welche besagt, daß der von ihm
gelegentlich der Aufhebung der Entmündigung im Jahre 1896 festgestellte
Geisteszustand bestanden habe, solange er sie kenne. Wir können also
annehinen, daß die W. im Jahre 1890 ungefähr ebenso war, wie im
Jahre 1896. Dies wird auch von K. und A. behauptet.
Den zweiten Anhaltspunkt gibt uns die Aussage des Zeugen K.,
welcher bei Errichtung des ersten Testaments zugegen war.
Wie aus dieser Zeugenaussage hervorgeht, war die W. ebensowenig
w ie der Zeuge selbst während der ganzen Verhandlung zugegen (§ 2239
B.G.B.). K. mußte sie vielmehr dreimal in die Stube, in w'elcher der
Notar amtierte, zurückholen, weil sie sich aus derselben geflüchtet hatte.
Als sie zum drittenmal hereingezogen worden war, wurde die Zimmertür
zugehalten, damit sie nicht von neuem flüchten konnte.
Dieses Verhalten ist für denjenigen verständlich, der in der Ver¬
storbenen eine Schw'achsinnige sieht, die sich wieder vorher noch nachher
jemals mit geschäftlichen Dingen abgegeben hat und jeder ihr un¬
gewohnten und unbequemen Situation zu entgehen sucht, gleichgültig ob
sie dadurch Schaden erleidet oder nicht.
Wenn die Verstorbene wirklich, wie Herr Dr. X. das annimmt, über
die nötige Urteilskraft und Selbständigkeit der Entschließung verfügt
hätte, um ihr eigenes Interesse wahrzunehmen, und wenn sie die Fähig¬
keit besessen hätte, „Rechtshandlungen mit dem vollen Bew'ußtsein ihrer
Bedeutung und ihrer Folgen vorzunehmen“, dann wäre ihr Verhalten
ganz unverständlich. Es gibt für dieses Benehmen eben nur eine
Erklärung, nämlich die, daß sie damals ebenso geisteskrank war wie
■872
Der Altersschwachsinn.
später, und daß sie zur Errichtung dieses Testaments nicht aus eigener
freier Entschließung gelangte, sondern auf Grund anderer Einflüsse. Wer
die Absicht hat, ein Testament zu errichten, der bekundet diese Absicht
nicht dadurch, daß er bei Aufnahme des notariellen Aktes erklärt, er
wolle mit der Sache nichts zu tun haben.
Ich stehe also, wie sich aus dem Vorhergehenden ergibt, auf dem
Standpunkt, daß das Verhalten der W. bei Errichtung des ersten Testa¬
ments gar nicht anders zu erkiären ist, als durch die Annahme einer
Geisteskrankheit, die sie geschäftsunfähig machte. Welcher Art soll nun
diese Krankheit gewesen sein?
In dieser Hinsicht glaube ich mich dahin zusammenfassen zu müssen,
daß m. E. die W. von Jugend auf schwachsinnig war. Wenn einige von
den Vorgutachtern ihr sicher verbürgtes sonderbares Verhalten allein
durch schlechte Schulbildung und engen Gesichtskreis zu erklären suchen,
so halte ich die Erklärung für unzureichend; denn jedem, der Land¬
bevölkerung kennt, sind zahlreiche Menschen begegnet, die ganz mangel¬
hafte Schulkenntnis besitzen und über die engen Grenzen ihres Dorfes
nie hinausgekommen sind und trotzdem ihr Vermögen und ihr Gut vor¬
züglich verwalten, mitunter sogar sehr geschickte geschäftliche Mani¬
pulationen vornehmen. Wenn man nun weiß, daß in der Familie W., K.,
H. usw. die Frage der Erbschaft oft ventiliert wurde, und wenn man dann
hört, daß die Hauptbeteiligte sich weder über die Größe ihres Vermögens,
noch über dessen Verwendung im einzelnen Kenntnis verschaffte und sich
Rechenschaft geben ließ, dann kann das nie und nimmermehr im Bereiche
des Physiologischen liegen, man kann das nicht mehr als normale Geistes¬
armut bezeichnen, sondern muß ein derartiges Verhalten als patho¬
logisch, als Schwachsinn bezeichnen. Zu diesem, seit vielen Jahren be¬
stehenden Schwachsinn kam nun aber noch ein weiteres Moment hinzu.
Es steht für den Unterzeichneten fest, daß die Geisteskräfte der Ver¬
storbenen, so gering sie vorher schon gewesen waren, zur Zeit der Testa¬
mentserrichtung zweifellos auch durch das hohe Alter gelitten hatten.
Zu dem angeborenen Schwachsinn hatte sich eine Altersdemenz hinzu¬
gesellt, und die letztere hat sich dann mehr und mehr verstärkt, bis zu
dem hohen Grade, in dem Unterzeichneter die W. Ende des Jahres 1910
vorfand.
Wenn die Herren Dr. X. und Dr. B. in diesem Zustand noch eine
physiologische Abschwächung der Geisteskräfte sehen zu dürfen glauben,
so vermag ich dem nicht zuzustimmen. Die beim normalen Menschen
im höheren .Alter vorkommenden Veränderungen sind, wie durch zahl¬
reiche psychologische Experimente feststeht, viel geringfügiger Natur.
Es gehört auch zum Bilde des Altersschwachsinns keineswegs regel¬
mäßig ein krankhaftes Mißtrauen oder eine krankhafte Reizbarkeit. Es
gibt vielmehr Menschen, die im höheren Alter ganz langsam verblöden,
und zwar in einer Weise, daß das zunächst ihrer Umgebung gar nicht
aufzufallen braucht.
■Auch der Umstand, daß das Gedächtnis der Patientin noch nicht
völlig versagt hatte, daß die Kranke vielmehr noch verschiedene Ge¬
schehnisse aus ihrer Vergangenheit wußte, spricht nicht gegen das Vor-
Der Altersschwachsinn.
8/3
liegen des Altersschwachsinns. Es kommt vielmehr bei Senildementen
öfters vor, daß sie über ihre nächsten Familienangehörigen noch Auskunft
erteilen können. Daß diese Auskunft übrigens bei der W. nur teilweise
richtig war, ist gerade bei der Untersuchung zwecks Aufhebung der Ent¬
mündigung festgestellt worden.
Der Bürgermeister B. aus K., dem diese Nachprüfung übertragen
wurde, stellte fest, daß die W. ihren eigenen Geburtstag falsch angegeben
hatte, nicht wußte, ob der Vater oder die Mutter zuerst gestorben war,
falsche Angaben über die Größe der Ackerwirtschaft und des Vieh¬
bestandes gemacht, und noch einige Ungenauigkeiten bezüglich der Ver¬
wandtschaft P.s zu Protokoll gegeben hatte. Wie wenig im letzten
Grunde das Gericht zur Zeit der Aufhebung der Entmündigung von der
geistigen Intaktheit der W. überzeugt war, geht zur Genüge aus der Tat¬
sache hervor, daß der Patientin ein Beistand bestellt wurde').
Wer die vorstehenden Ausführungen überblickt, wer insbeson¬
dere bedenkt, daß die W. zur Zeit der Errichtung des ersten Testaments
bereits ein derartig krankhaftes Verhalten an den Tag gelegt hat, daß sie
unbedingt als geschäftsunfähig anzusehen war, und wer ferner erwägt,
daß sie später wegen Altersblödsinns entmündigt worden ist, der wird
notgedrungen auch zu der Überzeugung kommen müssen, daß sie zur Zeit
der Errichtung des zweiten Testaments, d. h. im Jahre 1902 gleichfalls
geschäftsunfähig war.
Herr Dr. X. hat nun in seinem Gutachten vom 10. Dezember 1910
die W. für testierfähig erklärt, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Sie
habe in dem ihr unterstehenden Bereiche der Küche selbständig fungiert.
Gegen dieses Argument ist zu sagen, daß 1. zu einer derartigen
Tätigkeit — es handelt sich um einen ländlichen Haushalt — keine sehr
hohen geistigen Fähigkeiten gehören; 2. gerade Schwachsinnige auf
einzelnen Gebieten Durchschnittsleistungen sehr wohl hervorbringen
können, ohne daß sie deshalb im bürgerlichen Leben als gesehäftsfähig
anzusehen wären. Derartige Patienten kann man z. B. in jeder Irren¬
anstalt sehen; 3. aber glaube ich schwere Bedenken genereller Art gegen
die Schlußfolgerung erheben zu müssen. Die Tatsache, daß eine Frau
mäßigen Ansprüchen im Kochen genügt, kann nie und nimmermehr zu
einem Schluß auf ihre Geschäftsfähigkeit verwandt werden. Ich halte
ein derartiges Verfahren besonders dann für sehr gefährlich, wenn es
sich, wie in diesem Falle, um eine Person handelt, die ein großes Ver¬
mögen, teils in barem Gelde, teils in Liegenschaften zu verwalten hatte
(ca. 400 000 Mark!).
2. Als weiteres Argument bringt Herr Dr. X. das Fehlen einer akuten
Geistesstörung vor.
Eine solche ist von keiner der Parteien jemals angenommen worden,
ist aber auch nicht erforderlich, es kommt nur darauf an, daß irgendeine
*) Dieser Teil der geschilderten Rechtsstreitigkeiten hatte sich vor
Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs abgespielt.
874
Der Altersschwachsinn.
Form geistiger Erkrankung vorhanden ist. Eine solche aber scheint mir
im Falle \V. nachgewiesen zu sein.
3. Die Angehörigen der W. sollen zur Zeit der Testamentserrichtung
von deren geistiger Gesundheit selbst überzeugt gewesen sein.
Wenn die Gebrüder P. das waren, so ist das leicht verständlich, da
sie den Löwenanteil der gesamten Hinterlassenschaft durch diese Testa¬
mente erhielten. Sie hatten also nicht den geringsten Grund, eine
etwaige Geistesstörung der W. aufzudecken, weil dadurch die Tesfa-
mentserrichtung unmöglich gemacht wurde.
Die anderen Verwandten aber scheinen, soweit das aus den Akten
zu ersehen ist, zu jener Zeit von der Errichtung des Testaments nichts
gewußt zu haben. Abgesehen davon aber, handelte es sich um eine
geistige Störung, die von einfachen Landleuten wohl auch falsch gedeutet
werden konnte, wenn die Betreffenden mit der Patientin nicht dauernd
zusammenwohnten. K. und H. waren übrigens nicht der Ansicht, daß die
W. geistesgesund war.
4. Die meisten Zeugen sollen bekundet haben, daß die W. bei ge¬
sundem Verstände gewesen sei. Was zu diesem Punkte zu sagen ist,
habe ich bereits in den einleitenden Ausführungen gesagt. Ein großer
Teil der Zeugen, welche sich für die geistige Gesundheit der W. aus¬
gesprochen haben, sind Dienstmädchen, Landarbeiter, und aus ähnlichen
Berufszweigen herrührend, zum Teil waren sie selbst bereits sehr alt,
die allermeisten haben außerdem lediglich Werturteile abgegeben, aus
denen man meines Erachtens irgendwelche Schlüsse nicht ziehen kann.
Wenn z. B. der TQjährige Landarbeiter v. B. bekundet, die W. sei gerade
so geistesgesund gewiesen wie er selbst, so ist mit einer derartigen Aus¬
sage nichts anzufangen. Sie verliert namentlich dann jeden Wert, wenn
man hört, daß derselbe Zeuge von dem C. W., welcher in einer Irren¬
anstalt starb, behauptet, man könne nicht sagen, daß er von Verstände
gewesen sei. Von Bedeutung ist dagegen die fast ausschließlich objektive
Tatsachen enthaltende Aussage des K. und auch diejenige des M. und
diese beiden lauten unter Angabe von Gründen dahin, daß die W. geistes¬
gestört war. Der Zeuge M. kann nur die W. gemeint haben, da ihre
Schwestern nicht mehr lebten.
Ich vermag daher keinen der Gründe, welche Herr Dr. X. zugunsten
der Testierfähigkeit der W. in den Jahren 1890 und 1892 vorgebracht
hat, als stichhaltig anzuerkennen, und glaube, daß er bei Berücksichtigung
der Aussage des K., die ihm leider entgangen zu sein scheint, zu einem
anderen Resultate gekommen wäre.
Es kommt hinzu, daß die W., soweit ich aus den Akten ersehe, zur
Zeit der Testamentserrichtimg die Küchenarbeit gar nicht mehr in vollem
Umfange leistete, und ein sehr stumpfes Verhalten zeigte. Ferner fiel
sie zu jener Zeit auch schon durch ein großes Anlehnungsbedürfnis auf
und war in allen an sie herantretenden Fragen sehr unsicher, so daß, wie
der Bürgermeister von C. berichtete (siehe Akten: Aufhebung der Ent¬
mündigung, Brief vom 10. .August 1896), die Brüder P. einen großen Ein¬
fluß auf die W. hatten, eine Ansicht, die übrigens die Kgl. Staatsanwalt¬
schaft zu CI. in den eben erwähnten Akten und an anderer Stelle gleich-
Der Altersschwachsinn.
87s
falls ausgesprochen hat. Weil die Staatsanwaltschaft befürchtete, daß
dieser Einfluß mißbraucht werden könnte, berichtete sie ini Jahre 1898
an das zuständige Amtsgericht.
Wenn man nun nachträglich erfährt, daß P. bei der Erbschaft so auf¬
fallend begünstigt wurde, daß er selbst, um späteren Prozessen aus dem
Wege zu gehen, noch zu Lebzeiten der Erblasserin Vergleiche mit den
übrigen Erben zu schließen suchte, und denselben Abfindungssummen
anbot, erscheint es verständlich, wenn von der Gegenpartei behauptet
wird, P. habe die W. beeinflußt. Daß das bei einer geistig so hilflosen
Person äußerst leicht möglich war, bedarf nach den oben gemachten Aus¬
führungen keinen besonderen Begründung.
Wenn ich zum Schluß nochmals zusammenfassen darf, so gebe ich
mein Gutachten dahin ab, daß die W. am 20. Juli 1890 und 29. November
1892 nicht in der Lage war, den Zweck und die Bedeutung eines Testa¬
ments zu erfassen, daß sie die beiden Testamente bei ihrem Geistes¬
zustand gar nicht abfassen konnte, seit vielen Jahren ganz unter dem
Einfluß der Brüder P. stand und daß die beiden Testamente gar nicht
ihren eigenen W'illen enthalten können, weil sie einmal keinen eigenen
W'illen in dieser Frage hatte, zweitens aber auch nicht in der Lage war,
denselben zum Ausdruck zu bringen. —
Welchen Ausgang der Prozeß nahm, vermag ich nicht zu
sagen. Daß es sich um eine Geisteskranke handelte, unterliegt
für mich keinem Zweifel. —
Zum Schluß dieses Kapitels sei auszugsweise noch ein Gut¬
achten hinzugefügt, welches die V erhandlungsfähigkeit
eines älteren Mannes betrifft, der einen Schlaganfall erlitten hatte
und in geistiger Beziehung erheblich zurückgegangen sein sollte.
Die Fragestellung lautete: i. ob D. der Verhandlung mit Ver¬
ständnis zu folgen vermag, 2. ob der körperliche Zustand derartig
ist, daß aus seiner Beteiligung an der Verhandlung mit einiger
Sicherheit eine Lebensgefahr für ihn zu erwarten ist.
Der Rentner J. D., geb. am 9. Januar 1840 zu B., wohnhaft in B.,
war seit den siebziger Jahren als Direktor der B.er Bank tätig und hatte
dieselbe in den letzten Jahren ihres Bestehens sogar als erster Direktor
geleitet. Im Laufe der letzten Jahre soll er gemeinschaftlich mit den
anderen Direktoren und dem Aufsichtsrat verschiedenen Kunden derartig
hohe Kredite gewährt haben, daß die Bank dadurch in Zahlungsschwierig¬
keiten geriet und Konkurs anmelden mußte (1908). —
Über den Gesundheitszustand des Angeschuldigten geht aus den von
mir eingesehenen Akten nur hervor, daß D. im Winter 1905/06 einen
Schlaganfall erlitten hat, der ihn aber nicht hinderte, der Bank seine
Dienste weiter zu widmen.
Zweifel an seiner Verhandlungsfähigkeit sind erst im Februar 1911
von dem Sohne des Angeschuldigten ausgesprochen worden. Begründet
wurden dieselben damit, daß D. bei ruhigen Gesprächen nicht mehr in der
876
Der Altersschwachsinn.
Lage sei, auch nur ganz kurze Zeit zu folgen und sich dessen bewußt zu
bleiben, wovon gesprochen wurde. Er verfalle völliger Erschöpfung.
Ferner sprach der Sohn die Befürchtung aus, daß die Aufregung der Ver¬
handlung lebensgefährliche Zwischenfälle herbeifuhren könnte.
Der Verteidiger des Angeschuldigten stellte daraufhin den Antrag,
eine Begutachtung des D. herbeizuführen, in der die von Herrn D. -ir.
vorgebrachten Bedenken gegen die Verhandlungsfähigkeit seines Vaters
Gegenstand der Erörterung sein sollten.
Das Kgl. Landgericht beschloß, dem Anträge stattzugeben. In dem
Beschluß vom 24. Februar 1911 wurde besonders betont, daß D. im Laufe
der umfangreichen und langwierigen Voruntersuchungen in vielen Ver¬
nehmungen sich als verhandlungsfähig erwiesen hatte.
Untersuchungsbefund: Über seine Vorgeschichte machte der Ex-
plorand auf Befragen folgende Angaben:
Keine erbliche Belastung. Beim Patienten selbst keine nennens¬
werten früheren Erkrankungen. Vor 7—8 Jahren öfters Schwindelanfälle.
Februar 1906 Schlaganfall. Dabei keine Lähmung, kein Sprachverlust.
Schon einige Monate vorher war Patient einmal umgefallen. In letzter
Zeit fühlt er sich sehr elend, ist schlaflos, aufgeregt, hat Herzklopfen und
Schmerzen in der Herzgegend. Auch Gedächtnisschwäche soll ein¬
getreten sein.
Körperlich: Arteriosklerose; Pupillen reagieren. Hörvermögen be¬
einträchtigt, leichte Fazialisdifferenz, Lungenerweiterung; rechtsseitiger
Babinski (?), sonstige Reflexe o. B., langsamer, schleppender Gang.
Die Untersuchung der psychischen Eigenschaften ergab zunächst,
daß an den verschiedenen Tagen eine gewisse Erschwerung der Auffassung
bestand. Es war mitunter notwendig, einzelne Fragen mehrfach zu
wiederholen, ehe der Patient sie verstand. Daß er aber den Sinn einer
der gestellten Fragen überhaupt nicht verstanden hätte, ist nicht vor¬
gekommen. Ferner ist vielleicht eine gewisse Stumpfheit in seinem
Wesen nicht zu verkennen.
Um über die Gedächtnisschwäche Genaueres zu erfahren, wurden
eine Reihe Fragen, die zum Teil den Prozeß betrafen, sich teilweise aber
auch auf andere Dinge bezogen, an den Kranken gerichtet.
Patient mußte sich auf Einzelheiten aus seinem umfangreichen
Prozeß zwar etwas besinnen, kam aber meist auf die richtige Antwort.
Nur selten mußte er eine Erwiderung schuldig bleiben. Wenn man sich
längere Zeit mit ihm beschäftigte, ermüdete er. Dann wurden die rich¬
tigen Antworten auch seltener.
Als der Kranke aufgefordert wurde, einige Rechenaufgaben schrift¬
lich auszurechnen, löste er nur die erste, leichteste und erklärte, er habe
seit Jahren nicht mehr Gelegenheit gehabt zu rechnen, halte sich daher
nicht mehr für imstande, solche Rechnungen zu lösen.
Bei Prüfung der Merkfähigkeit schienen die vorhandenen Defekte
auf den ersten Blick größer, als sie in Wirklichkeit waren. Wenn man
dem Patienten Hilfsfragen stellte, gelang es sehr oft, eine ganze Menge
Einzelheiten aus ihm herauszuholen.
Der Altersschwachsinn. 877
Bemerkt sei zum Schluß noch, daß der Unterzeichnete eine so¬
genannte objektive Anamnese, d. h. Angaben über die Vorgeschichte, die
von einem unbeteiligten Dritten herrührten, nicht hat erhalten können.
Gutachten: Was zunächst die Krankheit anlangt, an der der An¬
geschuldigte leidet, so handelt es sich um Alterserscheinungen, die sich
durch Schwindelanfälle, zeitweilige Kopfschmerzen, Gedächtnisschwäche
und Herabsetzung der Merkfähigkeit vornehmlich kund geben, und auf
Gehirngefäßverkalkung und Schwund der Gehirnzellen beruhen. Ob es
sich im Jahre 1905/06 um einen wirklichen Schlaganfall gehandelt hat, läßt
sich gegenwärtig nicht mit Sicherheit sagen. Höchstens das nicht einwand¬
freie und nur gelegentlich beobachtete Babinskische Zeichen konnte in
diesem Sinne gedeutet werden. Sicher ist jedenfalls, daß irgendwelche
ernsteren körperlichen oder geistigen Schäden aus jenem Anfall dem
Kranken nicht erwachsen sind. Auch die später nach Angabe des An¬
geschuldigten mehrfach aufgetretenen Schwindelanfälle haben ihn nur
vorübergehend in seinem Befinden beeinträchtigt und keinerlei Läh¬
mungserscheinungen zurückgelassen.
Es fragt sich nun, hat die Gedächtnisschwäche und die Störung der
Merkfähigkeit, welche bei dem Kranken nachweisbar ist, einen solchen
Grad erreicht, daß von vornherein angenommen werden muß, D. ist nicht
verhandlungsfähig. Diese Frage ist folgendermaßen zu beantworten:
Das geistige Verhalten des Patienten unterliegt, wie die Unter¬
suchung zweifellos ergeben hat, gewissen Schwankungen. D. hat seine
guten und schlechten Tage. Er machte z. B. bei der ersten Vorunter¬
suchung über sein Vorleben und seine früheren Erkrankungen ziemlich
genaue, den klinischen Erfahrungen durchaus entsprechende Angaben.
Er hat ferner bei einer zweiten Untersuchung ungefähr dieselben Mit¬
teilungen über seine geschäftlichen Beziehungen zu D. gemacht, wie vor
2 Jahren (vergl. Akten).
Andererseits hat er bei der am 15. März vorgenommenen Unter¬
suchung in der gleichen Sache viel ungenauere Angaben gemacht. Zum
Teil mag das darauf zurückzuführen sein, daß die Sache D. diesmal erst
gegen Ende einer P/sStündigen Untersuchung berührt wurde, ob aber der
Ausfalt an positiven Antworten allein dadurch bedingt war, erscheint mir
fraglich. Die klinische Erfahrung hat übrigens auch längst gelehrt, daß
gerade bei Kranken mit Oehirngefäßverkalkung sowohl der geistige Be¬
sitzstand wie die geistige Leistungsfähigkeit von Tag zu Tag wechseln
kann. Derartige Patienten versagen leichter als normale Menschen.
Für die mir gestellten Fragen ergibt sich aus den vorstehenden Aus¬
führungen, daß man bei dem gegenwärtigen Zustande die Verhandlungs¬
fähigkeit nicht von vornherein ausschließen kann. D. hat bei dem
größeren Teil der hiesigen Untersuchungen ungefähr ebensoviel und fast
das Gleiche angegeben, wie seinerzeit dem Herrn Untersuchungsrichter.
Die Tage, an denen er verhältnismäßig gut Auskunft zu geben wußte,
überwogen sogar. Wenn daher die Kgl. Strafkammer angenommen hat,
daß er bei jenen Vernehmungen verhandlungsfähig war, so muß auch
angenommen werden, daß er in der nächsten Woche wenigstens an
einigen Tagen verhandlungsfähig sein wird.
878
Der Altersschwachsinn.
Zu berücksichtigen wird allerdings sein, daß er etwas langsamer
auffaßt als Normale, ferner, daß er schwerhörig ist, geistig leichter er¬
müdet, und daß ihm schließlich die eine oder andere Einzelheit im Verlaufe
der Verhandlung entfallen sein wird, so daß man sie ihm wird ins Ge¬
dächtnis zurückrufen müssen.
Ein Versuch, mit D. zu verhandeln, kann gemacht werden. Es wird
jedoch nicht möglich sein, viel mehr als 2 Stunden täglich zu verhandeln.
Es empfiehlt sich, dem Angeschuldigten zu gestatten, daß er angibt, wann
er sich außerstande fühlt, weiteren Erörterungen zu folgen.
Was die zweite Beweisfrage anlangt, so möchte ich folgendes
sagen: Es ist wissenschaftlich bekannt, daß große Aufregungen geeignet
sind, einem zu Schlaganfällen disponierten Menschen zu schaden. Es
können ihm bei aufregenden Gerichtsverhandlungen zweifellos üble Zu¬
fälle begegnen. In Wirklichkeit geschieht das aber, wie die tägliche Er¬
fahrung hundertfach lehrt, sehr selten. Daß bei dem angeschuldigten
D. diese Gefahr besonders groß war, ist durch nichts erwiesen. Er hat
die großen Anstrengungen des Konkurses überstanden. Die Unter¬
suchungshaft ist ohne weitere Folgen für ihn verlaufen, obwohl sie doch
zweifellos für einen Menschen in seiner sozialen Stellung mit einem
schweren seelischen Chok verbunden sein mußte. Er hat drittens zahl¬
lose Vernehmungen mitgemacht, ohne daß diese Geschehnisse seine
Krankheit nachweislich verschlimmert hätten. Alle diese Umstände
sprechen dafür, daß D. trotz seines hohen Alters noch recht wider¬
standsfähig ist. W'enn deshalb die Möglichkeit einer Schädigung des
Gesundheitszustandes des Angeschuldigten nicht sicher ausgeschlossen
werden kann, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß unangenehme Zufälle
eintreten könnten, verhältnismäßig gering und nicht viel größer als hei
anderen Menschen im gleichen Alter, —
Es ist daraufhin mit D. verhandelt worden. Er hat die acht¬
zehntägige Verhandlung ohne Schaden überstanden.
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Dciiieiitia praecox.
Die Krankheitsbilder, welche unter dein obigen Namen zu¬
sammengefaßt werden, haben, wie man wohl schon jetzt sagen
kann, keine einheitliche Ursache'). Ursprünglich nahm man an,
daß es sich um Erkrankungen handelte, die zweierlei gemeinsam
hatten, nämlich erstens die Entstehung in der Zeit der Pubertät
oder unmittelbar danach und zweitens den Ausgang in eine mehr
oder minder ausgesprochene Verblödung.
Weitere Forschungen haben nun aber ergeben, daß es
Krankheitszustände gibt, die sich in ihrem Verlauf und in den
wesentlichsten Symptomen in nichts von einer der Untergrupiien
der Dementia jiraecox unterscheiden und trotzdem in verhältnis¬
mäßig spätem Alter auf treten können (z. B. die Spätkatatonie).
Es hat sich ferner gezeigt, daß nicht alle Fälle, welche
man ihren wesentlichsten Symptomen nach zur Dementia
praeco.x rechnen muß, zu einer intellektuellen Verblödung führen.
Es gibt im Gegenteil eine ganze Reihe von älteren Fällen von
Dementia jiraecox, deren geistiger Besitzstand, trotz langer Jahre
der Krankheit, intakt geblieben ist“).
Etwas anderes ist es mit dem Gemütsleben. Auch bei den
Fällen, die sozial als geheilt bezeichnet werden, kann man im all¬
gemeinen doch wohl sagen, daß sie gegenüber der gesunden Zeit
ilires Lebens an gemütlicher Regsamkeit erheblich oder wenigstens
merklich abgenommen haben.
') Die neuerdings erhobenen Befunde mit dem Abderhaldenschen
Dialysierverfahren (Fauser) seien hier einstweilen erwähnt. Sie sind
bisher noch nicht genügend nachgeprüft.
“) Reuter, Verhalten der Intelligenz . . . Inaug.-Diss. Bonn 1909.
Hebephrenie.
883
Die Dementia praecox wird für gewöhnlich in drei l.hiter-
gruppen eingeteilt, nämlich in die Hehephrenie, Katatonie und
Dementia paranoides.
Zwischen allen dreien bestehen vielfache Übergänge, ins¬
besondere zwischen der Hebephrenie und Katatonie^).
Hebephrenie.
Die Hebephrenie ist eine Erkrankung, die vorwiegend im
F’ubertätsalter beginnt. Sie kann sich ganz allmählich entwickeln,
ohne daß es zu akuteren psychischen Störungen kommt. In einer
nicht kleinen Zahl von Fällen pflegt sich allerdings der Beginn
deutlicher zu markieren^).
Nach einem kurzen Stadium, in dem der Kranke mi߬
gestimmt ist, allerlei körperliche Beschwerden hat (Kopf¬
schmerzen, Schlaflosigkeit, Unfähigkeit zu denken, Mattigkeit,
Verstimmung), setzt eines Tages ein ängstlicher Erregungs¬
zustand ein, der von massenhaften Sinnestäuschungen bedrohlichen
Inhaltes und Verfolgungsideen begleitet wird. Zum Unterschiede
von der Melancholie blassen aber sowohl die gemütliche Erregung,
wie die Wahnvorstellungen ab und machen einer mehr oder minder
stark ausgeprägten geistigen Leere Platz. Der Kranke verliert
das Interesse an den Dingen, die ihm früher wertvoll waren, er
kann sich zur Arbeit nicht mehr zwingen. Wenn er es wirklich
versucht etwas zu tun, hat er ein starkes Ermüdungsgefühl dabei
und bringt auch nichts rechtes zustande. Das Denken wird un¬
klar und zerfahren, dabei beschäftigt er sich mit Prohlemcn,
deren Lösung ihm noch weniger wie allen anderen Menschen
gelingt.
Die Merkfähigkeit und das Gedächtnis sind nicht beein¬
trächtigt, ebensowenig die Orientierung. Auch Bewußtscins-
B Urstein, Dementia praecox. Berlin u. Wien 1909. Bieuler,
Schizophrenie. Wien. Deuticke. Frankhauser. Zeitschr. f. d. ges. Psych.,
Bd. 6, Heft 2. Riva, Forme cliniche attribuite alla d. p. Rivista speri-
mentaie di Freniatria, vol. 37. Rinne, Wien. klin. Rundschau, 1911.
Bresler, Zwiesinn 1912. Halle a. S. C. Marhold. Tomasini, Le Demenze
originarie, 1910. Nocera. Smith, Dementia praecox. New York medical
Journ. 1910. Stranski, Zeitschr. f. d. ges. Neurol., 8, 616.
’) Klipstein, Über die hebephrenen Formen d. Dem. praec. Cen-
tralbl. f. Nervenheilk. 1906.
56 *
884
Dementia praecox.
trübungen treten, abgesehen von einigen seltenen Fällen, wo sie
im Beginn der Erkrankung beobachtet werden, während des
ganzen weiteren Verlaufes nicht auf. Das Auffassungsvermögen
zeigt gleichfalls keine Störung. Das Wesentlichste an diesen Zu¬
ständen ist der Mangel an Interesse für die Umgebung, für die
eigene Person, für den früheren Beruf und die Familie. Der
Kranke steht, sitzt oder liegt herum; es gelingt in den späteren
Stadien kaum, ihn zu irgendeiner Be.schäftigung zu bewegen;
wenn man mit ihm über diese seine Interessenlosigkeit spricht,
sucht er sie mit vielen Worten, die aber wenig Inhalt haben, in
verklausulierter und verschrobener Weise zu begründen. Auch in
seinen spontanen Äußerungen fällt eine außerordentliche Ge¬
dankenarmut auf.
Die Abstumpfung des Gefühlslebens gibt sich
in verschiedener Weise zu erkennen. Obwohl der Kranke sich
für gesund hält, löst die Verwahrung in der Anstalt keine nennens¬
werte Reaktion bei ihm aus. Sixintan tut er nur selten etwas,
um wieder herauszukommen. Wird er nach Hause beurlaubt oder
versuchsweise entlassen, so löst auch das bei ihm keine Reaktion
aus, er sitzt dort gerade so untätig herum wie in der Anstalt oder
begeht hier und da einige verschrobene Handlungen. Zu einer
nutzbringenden Tätigkeit ist er nicht zu bewegen. Wenn man mit
ihm über diese Gernütsstumpfheit spricht, ja sogar, wenn man ihn
direkt reizt, so wird es nur in verhältnismäßig wenigen Fällen ge¬
lingen, eine gemütliche Reaktion bei ihm auszulösen.
Auch das Urteil wird allmählich getrübt. Abgesehen
davon, daß die Kranken schon ihre eigene Lage nicht richtig be¬
urteilen, ist auch ihre Stellung zur Außenwelt verändert. Selbst
in denjenigen Fällen, in denen sie persönlich nicht beteiligt sind,
ist ihr Urteil verschroben und läßt oft erkennen, daß ihnen das
Verständnis für das Wesentliche des zu beurteilenden Vorganges
fehlt. —
Vielfach kommen auch hypochondrische Beschwer¬
den vor, die dann reichlich geäußert werden. Der Pat. hat bald
im Kopf, bald in den Gliedern Schmerzen, er fühlt sich körper¬
lich unfähig zu jeder Arbeit, die Zunge ist belegt, er fühlt ein
Kribbeln auf der Haut und ähnliches mehr. —
Namentlich im Beginn der Erkrankung findet man, wie schon
oben ausgeführt wurde, Sinnestäuschungen und Wahn¬
ideen. Entweder sind es bedrohetide Stimmen und Verfolgungs-
Hebephrenie.
885
ideen, welche den Kranken erschrecken, oder es erscheinen ihm
Engel und der liebe Gott und teilen ihm mit, daü er zu
(•roßem auserwählt sei, die Welt erlösen solle, sich auf einen hohen
Beruf vorbereiten müsse, nichts essen dürfe usw.
Allerlei Gerüche können hinzukommen. Der Patient glaubt
auch, daß Gift im Essen sei. Gewisse Sensationen in der Haut
deutet er in dem Sinne, daß er elektrisiert wird; es wird ihm die
,,Natur abgezogen“’: man versucht bei ihm ,,mittels elektrischer
Strahlen die Beischlafkrisis“ hervorzurufen und ähnliches mehr.
Die Zerfahrenheit, welche sich im Denken und Ur¬
teilen geltend macht, tritt in den schriftlichen Äußerungen des
Kranken herv'or und nicht zuletzt auch in seinen Bewegungen und
in der äußeren Haltung. Er wird unordentlich in der Kleidung,
die Bewegungen werden eckig und verschroben. Wenn er spricht,
so begleitet er seine Worte mit übertriebenen, bizarren Hand¬
bewegungen, vielfach werden auch Handlungen begangen, die aus¬
gesprochen läppisch sind; die Kranken verstecken sich, wenn zu¬
fällig eine Person, die ihnen wohlbekannt ist, ins Zimmer tritt,
sie laufen planlos in den Straßen umher; einer unserer Pat. suchte
einem Wagenpferde, das er zufällig stehen sah, seinen Zylinder
auf den Kopf zu binden. Auch unmotiviertes Schimpfen kommt
gelegentlich vor.
Dabei lassen die ethischen Gefühle ganz erheblich nach, es
kommt zu schamlosem Onanieren, gelegentlich zu obszönen Redens¬
arten, die Sauberkeit in der Kleidung und im Essen läßt nach;
einer unserer Kranken lag wochen- und monatelang auf dem Mist¬
haufen des väterlichen Bauernhofes umher und war von d(jrt nicht
fortzukriegen.
Die Kranken sorgen für sich auf körperlichem Gebiete so
wenig, daß sie ganz verkommen. Auch die Nahrungsaufnahme läßt
zu wünschen übrig, so daß sie nach dieser Richtung hin gleich¬
falls beaufsichtigt werden müssen. Der Schlaf ist vielfach gestört.
Die Schrift und die schriftlichen Äußerungen zeigen die
gleiche Zerfahrenheit des Denkens, welche bereits oben besprochen
worden ist.
In vielen, wortreichen, mit verschrohenen Ausdrücken durch¬
setzten Perioden wird ein eitizelner dürftiger Gedanke vor¬
gebracht.
Der Verlauf des Leiflens ist entweder der, daß die Ver¬
blödung zunimmt, so daß der Kranke schließlich in den Ecken
886
Dementia praecox.
umhersteht, nichts tut und jedes Interesse an der Außenwelt ver¬
loren hat. Oder aber es wechseln Zustände, in denen er ver¬
hältnismäßig ruhig ist, mit solchen vorübergehender Erregung.
Mit letzterer verbinden sich oft Sinnestäuschungen.
Der Ausgang ist in der großen Mehrzahl der Fälle immer
der gleiche; es kommt zu gemütlicher Verblödung. Das Ge¬
dächtnis und die Merkfähigkeit ebenso wie die Orientierung
brauchen nicht immer gelitten zu haben.
Die älteren Kranken der Hehephreniegruppe sind oft auch
unsauber mit Kot und Urin, sie speicheln stark, sind unappetit¬
lich beim Essen und werden allmählich so unselbständig, daß sie
zu den meisten Verrichtungen (Essen, Stuhlgang, An. und Aus¬
kleiden) herangeholt und beaufsichtigt werden müssen.
Nach Kraepelin verblöden etwa 75 “/o Hebephrenen‘).
Bei unserem Bonner Material würde die Zahl wohl noch höher
sein: es sind nicht allzu viele, die für immer oder auch nur für
sehr lange Zeit die Anstalt verlassen.
Die Katatonie.
Ebenso wie die Hebephrenie setzt auch dieser Krankheits¬
zustand in den Entwickelungsjahren und dem diesen folgenden
Jahrzehnt ein. Voraus gehen unbestimmte Vorboten; der
Pat. fühlt sich verändert, hat Krankheitsgefühl, das Denken fällt
ihm schwer, der Schlaf wird schlechter, es bestehen Stimmungs¬
schwankungen, meist ist die Stimmung trübe, mitunter hat der
Kranke das Gefühl, als ob ein schweres Unheil ihm droht. —
*) Literatur über Dementia praecox; Kraepelin, Psychiatrie. Wollen¬
berg in Boches Handbuch. Sienicrling in Schmidtmanns Handbuch.
Bleuler, Dementia praecox. Wien 1911. Deuticke. E. Meyer in Berliner
Klinik, 22. Jahrg., Heft 265, 1910. Thomsen, Zeitschr. f. Psych., Bd. 64.
Lückerath, Zeitschr. f. Psych., Bd. 68. Soutzo fils; Annales m6d.-psychol.
1907. Alzheimer, Path. Anat. der Psychosen. Neurol. Zentralbl. 1900.
Anton, Wiener klin. \\ ochenschr. 1904. Aschaffenburg. Zeitschr. f. Psych.
Bd. 54 u. 55. Bleuler, Allgem. Zeitschr. 1908, Bd. 65. Delbrück, Forens.
Bedeutung d. Dem. praec. VI. Vers, des Med. Beamten-Ver. R. Foerster,
Forens. Bed. Naturforscher-Vers. 1908 in Köln. Foersterling, Monats-
schr. f. Psych., Bd. 15. Qaupp, Zentralbl. f. Nervenheilk. 1903. Gregor,
Diagn. psych. Prozesse im Stupor. Zentralbl. f. Nervenheilk. 1907. Groß,
Schrift Geisteskranker, Psychol. Arbeiten v. Kraepelin, Bd. 2. Heil-
bronner, Haftenbleiben u. Stereotypie. Monatsschr. f. Psych., Bd. 17
u. 18. Kahlbaum. Die Katatonie. Berlin 1874. Hirschwald. Hoche in
Binswanger-Siemerlings Lehrbuch. F. Sioli, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1913.
Die Katatonie.
887
Die schweren Krankheitserscheinungen, welche dann eines
Tages mehr oder minder unvermittelt einsetzen, können ver¬
schiedener Art sein. Entweder der Kranke wird deprimiert und
äußert Verfolgungsideen, die von Sinnestäuschungen begleitet sein
können, oder es tritt ein ängstlicher Erregungszustand ein, zu
dem sich gleichfalls Sinnestäuschungen und Wahnideen gesellen.
Es handelt sich dabei entweder um bedrohliche Gestalten, die den
Pat. beschimpfen, ihn töten wollen. Sie rufen ihm ,,Rache, Mörder“
zu, sagen ihm, er habe nicht richtig gebeichtet und kommuniziert.
Seltener sind die Worte, die der Pat. hört, angenehmen Inhaltes.
Gelegentlich kommt es auch zu Größenideen; Gott selbst sagt dem
Kranken, er sei der Erlöser der Welt, müsse ein hohes, aber
schweres Amt auf sich nehmen, er solle sich würdig darauf vor¬
bereiten.
Die Zustandsbilder, welche man im Beginn des
Leidens sieht, sind demnach entweder paranoide Symptomen-
komplexe, oder sie ähneln den melancholischen Zuständen; mit¬
unter aber setzt auch der Stupor unvermittelt und direkt ein.
Die Kranken haben während des Vorstadiums ausgespro¬
chenes Krankheitsgefühl, sie wissen, daß sie innerlich und äußer¬
lich verändert sind, geben mitunter auch Gründe für diese Ver¬
änderung an (Überarbeitung, Liebeskummer, Aufregungen), sehr
bald blaßt aber der Affekt ab, sie werden energielos und zer¬
fahren und versinken sehr rasch in eine ausgesprochene gemüt¬
liche Verblödung.
Bemerkenswert ist, daß während des Bestehens der Verstim¬
mungszustände, welche eben geschildert wurden, die Kranken
nicht selten gefährlich werden. Es kommt unter dem Einfluß der
.^ngst oder der Verfolgungsideen zu Selbstmordversuchen, die
sorgfältige Bewachung des Pat. notwendig machen. Ist einmal
der Erregungszustand abgeklungen, so ist die Selbstmordgefahr
erheblich geringer, wenngleich sie auch da nicht immer ganz aus¬
zuschließen ist.
Nach diesem Initialstadium der Erkrankung, währenddessen,
wie noch nachzutragen ist, das Gedächtnis und die Merkfähigkeit
im allgemeinen gut erhalten, die Auffassungsfähigkeit mitunter
beeinträchtigt ist, indem die Kranken alle Vorgänge ihrer Um¬
gebung im Sinne ihrer Verstimmung oder ihrer Wahnideen um-
dcuten, verfällt der Kranke entweder in einen katatonischen
Stupor oder in katatonische Erregung.
888
Dementia praecox.
Der Stupor*) wird eingeleitet durch mehr oder minder
rasches Abnehmen der sjjrachlichen Äuüerungen und spontanen
(freiwilligen) Bewegungen. Die Patienten sprechen wenig oder
gar nicht. Was sie Vorbringen, wird mit leiser Stimme und lang¬
sam gesagt, schließlich hören sie eines Tages ganz zu sprechen auf.
Ähnlich geschieht es mit den Bewegungen. Während sie anfangs
noch umhergehen, sich mit anderen Kranken unterhalten und
an deren Beschäftigung beteiligen, hört das mehr und mehr
auf, sie sitzen still herum, haben schließlich das Bedürfnis, ganz
liegen zu bleil)en, ziehen die Decke über den Kopf, und regen sich
wenig oder gar nicht. Selbst zur Nahrungsaufnahme und zu den
sonstigen Verrichtungen müssen sie aus dem Bett geholt werden.
Der Gesichtsausdruck erhält dabei etwas Starres. \’ielfach werden
die Augen krampfhaft geschlossen. Schließlich reagieren die
Kranken auch auf Anreden und Anstoßen nicht mehr. Wenn man
sie aufsetzen will, so leisten sie Widerstand. Fordert man sie auf,
an einen bestimmten Platz zu geben, so tun sie dies nicht, sie
gehen entweder in die entgegengesetzte Ecke, oder rühren sich
überhaupt nicht vom Fleck, will man sie an die gewünschte Stelle
schielten, so leisten sie auch dabei Widerstand (Negativismus)’).
In denjenigen Fällen, in denen der Stupor weniger aus¬
gesprochen ist, w'ird eine starre Haltung eingenommen, freiwillige
Bewegungen erfolgen selten, auch wird spontan wenig gesprochen,
der Patient ist uninteressiert, gibt kaum je zu erkennen, daß er
das wabrnimmt, was in der Umgebung geschieht. Antworten er¬
folgen langsam, stockend und affektlos.
Auch in diesem Zustande läßt vielfach die Nahrungs.auf-
nahme zu wün.schen übrig. Wenn der Patient auch nicht, wie in
tiefem Stupor, jede Nahrung grundsätzlich verweigert, so muß er
zum mindesten zum Essen angehalten und dabei beaufsichtigt
werden, es kommt auch nicht selten vor, daß ihm die Nahrung
löffelweise eingeflößt werden muß. Die schweren Katatoniker
werden Wochen- und monatelang mit der Schlundsonde ge¬
füttert. Manche von ihnen setzen dabei der Fütterung so hef¬
tigen Widerstand durch Zusammcn])rcssen der Lipjjen entgegen.
') Gregor, Zentralbl. f. Nervenheilk. 1907. Groß, Zcitschr. f. Psycli,
Bd. 53, S. 855.
’) O. Groß, Negativismus. Psych. Wochenschr. 1903. Lundborg,
Zentralbl. f. Nervenheilk. 19U2.
Die Katatonie.
889
(iaß es besonderer Manipulationen bedarf, um ihnen die nötige
Xabrung zuzuführen.
Regelmäßig verbunden mit dem katatonischen Stupor ist
eine X'ernachlässigung des Äußern des Kranken. Seine Kleidung
ist unordentlich, er läßt den Speichel herunterfließen, ohne ihn
abzuwischen, mitunter ist er unsauber mit Kot und Urin, andere
Kranke wiederum spucken ins eigene Bett und dessen Umgebung,
und verunreinigen auf diese Weise sich und das Zimmer, in dem
sie sich aufhalten, in höchst unappetitlicher Weise.
Schon oben ist gesagt worden, daß die Haltung des
Katatonikers') etwas Besonderes bietet. Zunächst bekommt
sie dadurch, daß der Kranke sich spontan wenig bewegt, etwas
Starres. Daneben werden aber auch öfters bizarre Stellungen ein¬
genommen, und längere Zeit beibehalten. Einer unserer Kranken
steht z. B. mitten in einem Krankensaal stundenlang am Tage in
der Haltung eines Betenden, die Mütze zwischen den gefalteten
Ifänden, das Gesicht zum Boden gewandt, die Augen nieder¬
geschlagen, da. Ein anderer Patient steht seit ungefähr 7 Jahren
den größten Teil des Tages in einer bestimmten, ziemlich dunklen
Ecke herum, blickt fortwährend zu Boden, ohne sich im geringsten
zu regen. Nur zu den Mahlzeiten verläßt er diesen I’latz, nimmt
selbst Nahrung und kehrt dann sofort an die alte Stelle zurück.
Auch der Gesichtsausdruck zeigt die gleiche Starre;
mitunter wird für kürzere oder längere Zeit ein Lächeln oder
Grinsen beobachtet, gelegentlich sind auch die Lippen rüsselförmig
vorgewölbt (Schnauzkrampf). Das Starre, Maskenhafte tritt be¬
sonders dann hervor, wenn, wie das meistenteils geschieht, die
Patienten wenig mimische Bewegungen machen.
Weiterhin kommt im katatonischen Stupor die Erscheinung
der Katalepsie^) vor, d. h. die Patienten behalten alle Stel¬
lungen, welche man ihnen gibt, längere Zeit bei, auch dann, wenn
dieselben sehr unbequem sind.
Ferner begegnet man bei Katatonikern dem Sym])tom der
Echopraxie und E c h o 1 a 1 i e , bei dem die Kranken Be¬
wegungen, welche man ihnen Vormacht, nachahmen, oder Worte,
die man an sie richtet, mehrfach wiederholen.
B E. Meyer, Prognostische Bedeutung der katatonen Symptome.
Münch. Med. Wochenschr. 1903.
“) Kräpelin, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1892. Bd. 48.
890
Dementia praecox.
Der Stupor kann in ausgeprägter Form selir lange l)estchen.
\Vir haben hier Stuporen von i'/sjähriger Dauer wiederholt be¬
obachtet. Vielfach löst sich der schwere Stupor, sei es allmählich,
sei es plötzlich, und die Patienten bleiben dann zwar noch etwas
gehemmt, aber sie bewegen sich doch spontan mehr, essen z. T.
auch wieder selbst, machen stereotype Bewegungen').
Mitunter verfallen sie sogar in eine gewisse motorische Unruhe.
Die katatone Erregung ist gekennzeichnet durch eine
gewisse Einförmigkeit. Vielfach werden stereotyp dieselben
Bewegungen immer und immer von neuem wiederholt. Dazwischen
kommt es zu unvermuteten, rasch ausgeführten und aus der Situa¬
tion selten zu erklärenden triebartigen Handlungen, der Schlaf
kann dabei gestört sein, so daß die Kranken auch Nachts unruhig
sind, fortwährend reden, fortwährend sich bewegen, dabei Bett¬
wäsche oder ihre eigene Kleidung zerstören, gewalttätig werden
und fortwährend schreien. Das ganze Krankheitsbild zeichnet
sich durch außerordentliche Gedankenarmut, häufige Wieder¬
holung derselben Bewegungen und Redensarten, eine gewisse Ein¬
förmigkeit aus. Dabei haben die Bewegungen etwas Groteskes,
Versclirobenes, Übertriebenes oder Geziertes an sich, das zu der
Persönlichkeit des Kranken nicht paßt.
Im Gegensatz zu der manischen Erregung ist bei der kata-
tonen nur ganz selten eine Beziehung zu der jeweiligen Umgebung,
in der sich der Kranke befindet, zu erkennen. Auch für die bereits
erwähnten triebartigen Handlungen ist es meist schwierig, eine
greifbare Erklärung zu finden. Diese unmotivierten und plötz¬
lich ausgeführten Handlungen sind aber insofern von Bedeutung,
als sie mitunter zu tätlichen Angriffen auf Personen führen
können und deshalb den Katatoniker gefährlich machen.
Ein nennenswerter Affekt wird bei der katatonen Erregung,
gleichfalls im Gegensatz zu der manischen, meist vermißt.
In den sprachlichen Äußerungen*) findet man viel¬
fach Wortncubildungen, wie sie im allgemeinen Teil bereits be¬
schrieben worden sind; auch Vorbeireden kommt dabei vor, die
Ordnung des Gedankenganges kann schließlich derartig gestört
sein, daß das, was der Patient vorbringt, für jeden anderen völlig
*) Heilbroiiner, Über Haftenbleiben 11 . Stereotypie. Monatsschr.
1906. Bd. 17 u. 18.
*) Stransky, Sprachverwirrtheit. Halle a. S. C. Marhold.
Die Katatonie.
891
l... .
unverständlich ist. Es stellt in der schwersten Form der Störung,
Wortsalat genannt, eine.Aneinanderreihung von Worten und
Sätzen dar, in die keinerlei Sinn gebracht werden kann, die aber
mit viel lebhaften Ausdrucksbewegungen begleitet werden, so daß
mitunter ein Gesunder, der den Kranken bloß sprechen sieht, seine
Worte aber nicht hört, den Eindruck hat, als ob dort ein leb¬
haft gestikulierender Mensch in temperamentvoller Weise über
einen bestimmten Gegenstand spricht. Mitunter sind diesem
Wortsalat Reste von früheren Wahnideen beigemischt.
Für die schriftlichen Äußerungen der Patienten
gilt dasselbe wie für ihre Reden, nur daß da die übertriebene
Betonung von unwichtigen Worten durch Unterstreichen, .'\us-
rufungs- und Fragezeichen ersetzt ist. Auch allerlei mystische
Zeichen finden sich zwischen den einzelnen Worten und
Sätzen. Ein Beispiel katatonen Wortsalates stellt die vorstehende
Probe dar.
Ebenso verschroben, wie die sprachlichen und schriftlichen
Äußerungen der Kranken sind auch ihre Zeichnungen*).
Krankheitseinsicht besteht nicht immer. In einem Teil der
') Mohr, Zeicliiiutigen von üeisteskranken. Zentralbl. f. Nerven-
heilk. 1906, S, 702.
txPill- -—-
wv .vU-
f—.'.t7=r
-yW*- f imJ '»Ai»' J^'***y
Dementia paranoides.
893
Fälle wird sie aber angegeben. Manche von unseren Katatonikern
hatten sogar ausgesprochenes Krankheitsgefühl, das sich aller¬
dings vorwiegend durch hypochondrische Klagen äußerte.
Der Ausgang’) der Katatonie ist in der Mehrzahl der
Fälle, wie wir sie zu sehen bekommen, der, daß eine tief¬
gehende gemütliche Verblödung eintritt, die es den Wenigsten
gestattet, außerhalb der Anstalt zu leben. Der Prozentsatz der
schweren Katatoniker, die von uns aus zur Entlassung kommen,
ist ein äußerst geringer. Ich glaube nicht, daß mehr wie
von diesen Kranken im sozialen Sinne als genesen anzusehen sind.
.Glatte Heilungen sind nach unseren Erfahrungen kaum zu be¬
obachten. Gelegentlich kommt es aber, wie schon gesagt, einmal
vor, daß ein solcher Kranker vorübergehend, mitunter auch viel¬
leicht für einige Jahre, außerhalb der Anstalt leben kann.
Dementia paranoides.
Das Wesentliche an dieser Gruppe von Kranken“), die
übrigens, wie gleich vorangestellt sei, sehr viel kleiner ist, als die
der Hebephrenie und Katatonie, besteht darin, daß sich mit dem
Ausl)ruch der Krankheit zahlreiche abenteuerliche Wahnvorstel¬
lungen und Sinnestäuschungen einstellen, die sich aber zu keinem
richtigen System zusammenfügen, sondern ohne oder in nur losem
inneren Zusammenhang nebeneinander bestehen. Daneben kommt
es zu sehr raschem Verfall der gesamten Persönlichkeit.
Das Vorstadium gleicht dem der Katatonie und Hebe-
phrenie. Es treten Allgemeinerscheinungen auf, dann setzt eines
Tages eine .ängstliche Erregung ein, der sehr bald
Sinnestäuschungen und Wahnideen folgen. Der Kranke sieht
seine ganze Llmgebung mit anderen Augen an, wittert überall
Verfolger, hört Stimmen, welche ihn bedrohen. Dieselben
Stimmen sagen ihm, daß er zu Höherem berufen, ein Prinz sei,
zum Königshause in Beziehung treten solle usw. Bald machen
sieb auch seine V'^erfolger bemerkbar, die ihm zurufen, er wäre ein
’) Raecke, Prognose der Katatonie. Arch. f. Psych., Bd. 47. Schmidt,
Kigebnisse persönlicher Katamnesen bei geheilten Dem. praecox-Kran-
ken. Zeitschr. f. die ges. Neurol. 1911. Bd. 6.
“) Kraepelin (Zeitschr. f. d. ges. Psych., Bd. 11, S. 622) gibt an,
daß die paranoiden Formen später einzusetzen pflegen, als die Hebe¬
phrenie und Katatonie.
894
Dementia praecox.
Homosexueller, ein Onanist, habe Kinder getötet und solle
nun selbst umgebraclit werden.
In anderen Fällen sind es wieder mehr hypochondrische Vor¬
stellungen, die der Kranke vorbringt. Seine Feinde haben ihm mit
Hilfe von Röntgenstrahlen Lunge und Leber verbrannt, er ist innen
ganz hohl, ein Tier sitzt in seinem Körper, das steigt auf und ab;
bald sitzt es im Kopf und macht ihm Beschwerden, bald steigt
es in den Leib hinunter und quält ihn dort. Er spürt nachts,
wie elektrische Strahlen auf ihn einwirken und ihm Haut¬
jucken bereiten, seine Geschlechtsteile werden mit Strahlen be¬
arbeitet, man sucht ihn auf diese Weise zu schwächen. Er soll
ein Opfer der Wissenschaft werden, er ist an die Universität ver¬
kauft worden, er soll viviseziert werden usw. Alles das geschieht,
weil er bestimmte kirchliche Einrichtungen bekämpft habe, man
wolle ihn deshalb unschädlich machen und ihn auf möglichst grau¬
same Weise „um die Ecke bringen“. Andere Leute sollen dabei
mit vernichtet werden. Alles das hört der Patient zum Teil von
seinen Stimmen. Mitunter sieht er auch Gestalten, die ihn be¬
drohen oder ihm diese Mitteilungen machen.
Ferner „entstehen“ alle möglichen Gerüche, und das Essen
schmeckt nach Gift. Besonders nachts verstärken sich bisweilen
die Sinnestäuschungen. Anfangs sind die Kranken über alle
diese Dinge erregt, es kommt zu Selbstmordversuchen oder es
werden Angriffe auf die vermeintlichen Verfolger unternommen,
ln zwei Fällen, die in den letzten Jahren gerade sehr viel Aufsehen
erregt haben, kam es zu Familienmorden, wobei das eine Mal
drei, das andere Mal vier Personen ums Leben kamen. Fast regel¬
mäßig aber geraten die Kranken infolge der Sinnestäuschungen
so in Erregung, daß sie der Anstalt zugeführt werden müssen.
Dort bleiben nun ihre Wahnvorstellungen noch längere Zeit be¬
stehen, dagegen blaßt der Affekt mehr und mehr ab. Es wird
auch nicht mehr spontan über die Dinge gesprochen, sondern
nur noch auf Befragen, und allmählich tritt dann ein Zer¬
fall der ganzen psychischen Persönlichkeit ein, so daß die ur¬
sprünglich noch lose zusammenhängenden Wahnvorstellungen mehr
und mehr von sonstigen völlig zerfahrenen Gedankengängen durch¬
setzt werden und es nach" einigen Jahren gar nicht mehr möglich
ist, die ursprünglichen Gedankeiigänge zu erkennen. Von vorn¬
herein fällt an der ganzen Wahnbildung das Abenteuerliche. Gro¬
teske, Ungewöhnliche und Ungeheuerliche auf. Die Erzählungen
Dementia paranoides.
895
werden unzusammenhängend, der Patient grimmassiert, bisweilen
sind dabei die mimischen Bewegungen und die begleitenden Gesten
der Hände übertrieben, bizarr und eckig. Das Bewußtsein des
Kranken ist während des ganzen Bestehens des Leidens völlig
erhalten. Mitunter kommt es zur Umdeutung der Vergangenheit
im Sinne der Wahnbildung. Das Gedächtnis und die Merkfähig¬
keit können lange erhalten sein. Der Affekt, welcher anfangs
deprimiert, oder auch gehoben sein kann, blaßt allmählich ab.
In einem Teil der Fälle gelingt es, die Kranken noch längere
Zeit zu beschäftigen. Sie bedürfen aber dabei besonderer Beauf¬
sichtigung und Anleitung. Vielfach betätigen sie sich zwar;
das, was sie produzieren (z. B. Zeichnungen usw.), ist un¬
schwer als von einem Geisteskranken herrührend zu erkennen.
Die F.ndzustände der Dementia paranoides unterscheiden sich
wenig von denen der Hebephrenie. Manchmal enthalten sie auch
katatone Züge, fast regelmäßig findet man Reste der ursprüng¬
lichen Wahnbildung in den zusammenhanglosen Redensarten des
Kranken.
Ähnlich wie manche chronisch Verrückten suchen die Kranken
im Beginn des Leidens ihren Verfolgern durch Anwendung aller
möglichen Vorrichtungen zu entgehen. So pflegte sich einer
unserer Kranken mit Vorliebe Spucknäpfe auf den Kopf zu setzen,
weil seiner Meinung nach durch diese die Strahlen, mit denen er
am Kopf getjuält wurde, nicht hindurch konnten. Ein anderer
unserer Patienten läuft seit Jahren mit einem großen Turban auf
dem Ko])fe herum, der gleichfalls irgendwelche Strahlen ab¬
halten soll.
Gegenwärtig befinden sich ferner zwei Patienten auf der Ab¬
teilung, die sich seit Jahren nicht die Haare scheren lassen,
weil sic durch eine Offenbarung Gottes zu Erlösern der Welt er¬
nannt worden sind. Ein Fünfter macht sich an die Kleidung, an
seine Mütze, auf die Schuhe, auf die Rockärmel, den Kragen usw.
verschiedene geheimnisvolle Zeichen und Sterne, die weder er
selbst noch ein anderer deuten kann. —
In den bisherigen Ausführungen über die Dementia praecox
ist von den wesentlichen psychischen Symptomen die Rede ge¬
wesen, die körperlichen*) sind dabei absichtlich vernach-
*) Pförtner, Monatsschr. f. Psych., Bd. 38. E. Meyer, Körperliche
Störungen bei Dem. praec. Zeitschr. f. Psych., Bd. 66 und Neurol.
Zentralbl. 1912, S. 483.
Dementia praecox.
896
lässipft worden. Die hauptsächlichsten Erscheinungen auf körper¬
lichem Gebiet, welche übrigens nicht vollständig und nicht dauernd
da zu sein brauchen, sind: Steigerung der«Sehnenreflexe, ge¬
steigerte mechanische Erregbarkeit der Nervenstämme und Mus¬
keln, erhöhte Speichel- und Schweißabsonderung, Anomalien der
Menstruation, Störungen der Innervation der Hautgefäße. So
haben wir in ausgesprochenen Eällen von Katatonie vielfach eine
sehr starke Blaufärbung der Hände, die bisweilen sich auch auf
die Unterarme erstreckte, wahrnehmen können.
Besonders wichtig ist ferner das Verhalten der Pupillen.
Es sind da 2 Reihen von Symptomen beschrieben worden. Iin
katatonischen Stupor findet man bisweilen eine abnorme Weite der
Pujnllen, daneben werden, fast ständig wechselnd, alle möglichen
Verziehungen beobachtet. Bald hat die Pupille mehr eine ovale
Form, bald ist ihr Rand unregelmäßig gewunden. Alles das kann
sich unter den Augen des Beobachters fortwährend ändern. Dazu
kann auch die Reaktion wechseln. (A. W e s t p h a 1)’). Wir
haben bei Katatonikern bei vielfach wiederholten Untersuchungen
bald absolute Starre der Pupillen, bald wieder prompte Reaktion
unmittelbar nacheinander gesehen.
Daneben findet sich bei den ausgesprochenen Fällen von
Dementia praecox ein Kehlen der Pupillenunruhe und der Pupillen¬
erweiterung auf psychische, sensible und sensorische Reize
(B u m k e) ^).
Der Wert dieser Pu])illenerscheinungen bei forensischen
Eällcji liegt darin, daß man bei Kranken, die das Bild des Stupors
bieten, in deren Psyche man nicht näher einzudringen vermag, bei
denen man insbesondere auch nicht sagen kann, ob sie simulieren
oder nicht, durdi das Vorhandensein der oben geschilderten
Pupillenphänomene einen gewissen Anhaltspunkt für die Annahme
einer Krankheit liat.
Außer den bisher beschriebenen körperlichen Symptomen
kommen noch lebhafte Schwankungen des Körper¬
gewichts”) und sogenannte katatone Anfälle vor. Die
*) A. Westphal, Deutsche Med. Wochensclir. 1907 u. 1909. Literatur
bei Winter, Inaug.-Diss. Bonn 1911.
”) Bumke. Pupillenstörungen. Jena. Q. Fischer. Hühner, Arch. f.
Psych. 1906. Weiler, Zeitschr. f. d. ges. Neurol., Bd. 2, S. 102.
”) Reichardt, Leitfaden in die psych. Klinik. Jena. 0. Fischer.
Dementia paranoides. 897
letzteren treten meist Ireim Beginn des Leidens auf, und haben viel
Ähnlichkeit mit den epileptischen Anfällen, werden aber im spä¬
teren Verlaufe der Krankheit nicht mehr beobachtet. Ich kann
dabei hinzufügen, daß wir hier einmal einen Kranken beobachtet
haben, der im Beginn der Erkrankung das klassische Bild eines
Dämmerzustandes darbot. Er wurde im Kolleg vorgestellt, war
traumhaft benommen und begann plötzlich vor dem Auditorium
zu exhibitionieren.
Die Auffassung und Wahrnehmung war gestört, hinterher
bestand für die Vorgänge, während dieses Zustandes, der sich über
mehrere Wochen erstreckte, vollständige Amnesie, das ganze
Krankheitsbild ging in eine katatone Verblödung über.
Nachzutragen ist zu dem bisher Ausgeführten noch eins,
nämlich, daß ein nicht geringer Teil derjenigen Patienten, welche
später an Dementia praecox erkranken, bereits in der Kindheit
gewisse Zeichen abnormer Veranlagung haben erkennen lassen.
\üelfach läßt sich Bettnässen nachweisen, ferner Nachwandeln.
Die Kranken sind von jeher einsilbig, verschlossen gewesen, haben
sich abseits von ihren Kameraden gehalten, und sind in der Kind¬
heit auch durch andere Absonderlichkeiten aufgefallen.
über die Ursachen der Erkrankung und über ihr Wesen
wissen wir wenig Bestimmtes. Die Beobachtung, daß das Gros
der Fälle in der Zeit der Pubertät erkrankt, hat zu der Theorie
Anlaß gegeljen, daß irgendwelche Körperdrüsen durch abnorme
Sekretion die Krankheit entstehen ließen. Eine Zeitlang hat man
auch die Schilddrüsen für die Entstehung des Leidens verant¬
wortlich machen wollen. Versuche mit Schilddrüsenextrakten,
die in manchen Fällen von Basedowscher Krankheit Besserung
gebracht haben, lösten bei Katatonikern keine nennenswerte Ände¬
rung der Erkrankung aus, wie ich mich durch ausgedehnte Ver¬
suche selbst überzeugt habe. —
Was die pathologische Anatomie“) des Leidens
anlangt, so ist es heute wohl noch nicht möglich, regelmäßig
charakteristische Befunde zu erheben, mit Hilfe deren nach dem
*) Bleuler, Schizophrenie, S. 376. Dort Literatur. Berger, Berliner
klin. Wochenschr. 1903. Monatsschr. f. Psych. 1904. Bd. 16.
“) Alzheimer, Referat auf der Jahresvers. des Deutsch. Vereins f.
Psych. 1913. Ferner Qoldstein, Arch. f. Psych., Bd. 46. Heilbrnnner, Kr-
gebnisse der allg. Pathol. 1901. Alzheimer, Neurol. Zentralbl. 1897.
Monatsschr. f. Psych., Bd. 2, S. 82. Sioli, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1913.
Hübneff Forensische Psychiatrie. 57
Dementia praecox.
Siß
Tode die Diagnose zu stellen wäre. Immerhin sind doch in den
letzten Jahren solche Fortschritte gemacht worden, daß wir
hoffen dürfen, auch diese Frage in absehbarer Zeit geklärt zu
sehen.
Wir kommen nunmehr zur forensischen Bedeutung
der Dementia praecox’).
Unter den iy6 Fällen unseres Materials waren im ganzen 21
von Dementia praecox. Hiervon scheiden für unsere weiteren Be¬
trachtungen zunächst 5 Fälle deshalb aus, weil es sich zwar um
Kriminelle handelte, die Psychose selbst aber ziemlich sicher erst
in der Haft ausgebrochen war. Dies geschieht, wie die Unter¬
suchungen von Kurt Wilmanns ’) ergeben haben, welche gleich¬
falls an unserem Material vorgenommen worden sind, öfters.
Es sei aber an dieser Stelle gleich darauf hingewiesen, daß die
Diagnose Dementia praecox bei Erkrankungen in der Haft wegen
gewisser äußerer Ähnlichkeiten der degenerativen Haftpsychosen
mit der Katatonie häufiger gestellt wird, als das den tatsäch¬
lichen Verhältnissen entspricht“). Dieser Umstand ist aber für
den Kranken nicht gleichgültig, denn er gilt, sobald er als Kata-
toniker bezeichnet worden ist, den Behörden gegenüber als un¬
heilbarer, gemeingefährlicher Geisteskranker. Wenn dann später
eine Haftpsychose abgeklungen ist, und der Patient entlassen
werden könnte, erheben sich große Schwierigkeiten. Die Polizei
und sonstige Verwaltungsbehörden erheben gegen die Entlassung
Einspruch, weil sie sehr wohl wissen, daß die Katatonie ein un¬
heilbares Leiden ist.
Da es sich bei der Beobachtung im Lazarett in den ersten
Wochen nicht immer sicher entscheiden läßt, ob eine Haftpsychose
oder ein katatoner Symptomenkomplex vorliegt, wird der Ge¬
fängnisarzt gut tun, sich nur in absolut sicheren Fällen auch be¬
stimmt über die vorliegende Diagnose auszusprechen. —
’) Raecke in Dietrichs Handbuch der Sachverstiindigentätigkeit.
Kölpin, Friedieichs Bl. für ger. Med. 1908. Schott, Vierteljahrsschrift
i. ger. Med. 3. Folge, Bd. 30. R. Foerster, Verh. der Deutsch. Natur¬
forscher und Ärzte. Köln 1908. Friedrich, Inaug.-Diss. Bonn 1912.
“) Statistisches über Haftpsychosen. Inaug.-Diss. Bonn 1910. Auch
Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 67.
“) Vergl. Bonhoeffer, Degenerationspsychosen. Halle 1907. C. Mar-
hold. W ilmans u. Nitschc, Geschichte der Haftpsychosen. Zeitschr.
f. d. ges. Neurol. Referatenteil, Bd. 3, Heft 5 u. 6., Jahrg. 1911.
Dementia paranoides.
899
Bei der hohen Bedeutung, welche die Differentialdiaguose
zwischen Hysterie und Dementia praecox besitzt, erhebt sich die
Frage, ob es nicht doch Unterscheidungsmerkmale gibt, welche
ermöglichen, die eine oder andere Diagnose zu stellen. In dieser
Beziehung müssen wir nun bekennen, daß man über gewisse Wahr¬
scheinlichkeitsschlüsse nicht hinauskommt. Bedeutungsvoll er¬
scheinen mir aber doch die folgenden Faktoren.
Wollenberg *) hat mit Recht hervorgehoben, daß bei den
I)sychogen entstehenden, d. h. nicht zur Dementia praecox-Gruppe
gehörenden Haftpsychosen vielfach eine außerordentlich deutliche
Abhängigkeit vom Milieu nachzuweisen ist. Diese Abhängigkeit
besteht nicht allein darin, daß die akuten psychischen Symptome
mit der Entfernung aus der Einzelhaft und Überführung des Ge¬
fangenen in die Lazarettabteilung sehr rasch zurückgehen, und
umgekehrt bei der Rückverlegung in die Strafanstalt unter L^ni-
ständen sehr schnell wieder aufflackern, sondern sie scheinen mir
wenigstens in manchen Fällen weiter zu gehen.
Wir haben hier eine ganze Reihe von Fällen beobachtet, in
denen auch die schwereren psychischen Störungen, wie Sinnes¬
täuschungen und Wahnvorstellungen, sich der jeweiligen Um¬
gebung und den jeweiligen Zeitereignissen in einer Weise an-
])aßten, wie das bei der Dementia praecox wohl nur selten be¬
obachtet wird.
Weiter machte sich diese Abhängigkeit vom Milieu auch in¬
sofern geltend, als Gemütsbewegungen oft leicht ausgelöst w-erden
konnten (im Gegensatz zur Dementia praecox) und diese dann
nicht ohne Einfluß auf das sonstige psychische Befinden des
Kranken blieben.
Da, wo körperliche hysterische Symptome, wie halbseitige
Gefühlsstörungen, hysterische Lähmungen, Fehlen des Hornhaut-
und Rachenreflexes und ähnliches, längere Zeit in aus¬
gesprochener Weise bestanden, habe ich eine schw'ere gemütliche
Verblödung auch bei mehrjähriger Beobachtung nicht gesehen,
während bei unserem Material in den Fällen von Dementia
praecox, die mit einem ausgesprochenen akuten Erregungszu¬
stand begannen und dann katatone Symptome zeigten, im all¬
gemeinen ziemlich rasch eine gemütliche Verblödung, Interessen-
B Im Handbuch von Hoche; s. übrigens auch Sieffert.
Dementia praecox.
900
losigkeit, ein ausgesprochener Mangel an Initiative und Unfähig¬
keit sich zu betätigen eintrat.
Auch das Verhalten in der Freiheit ist bei den Kranken,
welche an psychogenen Haftpsychosen gelitten haben, selbst wenn
sie gewisse Reste ihrer Wahnideen in die Freiheit mitnehmen, ein
ganz anderes, wie das des Hebephrenen und Katatonikers.
Wird der letztere entlassen, so unterscheidet sich sein Ver¬
halten nicht wesentlich von dem in der Anstalt. Beobachtet man
einen noch nicht völlig geheilten Patienten, der sich in der Rekon¬
valeszenz nach einer Haftpsychose befindet, so wird man die
Passivität, welche der andere dem Leben gegenüber zeigt, hier nicht
finden. Mit einem Wort gesagt, man muß, wie ich glauben möchte,
die sogenannten katatonen Symptome bei der Diagnosenstellung
nicht zu hoch bewerten, vielmehr nach Abklingen derselben prüfen,
inwieweit sich die Persönlichkeit des Kranken durch die Psychose
geändert hat. Für Degenerierte und Hysteriker ist letztere eine
Episode^), die nur ganz ausnahmsweise dauernde Spuren hinter-
läßt, während sie beim Katatoniker zu einer geistigen und ge¬
mütlichen Verarmung führt.
Daß es während des akuten Zustandes, z. B. in den Fällen,
wo die Differentialdiagno.se zwischen einem Ganserschen Dämmer¬
zustände und dem katatonen Vorbeireden schwankt, nicht immer
möglich ist, eine sichere Diagnose zu stellen, habe ich oben bereits
gesagt. Doch scheint mir auch da bemerkenswert, daß das Vorbei¬
reden des Hysterikers sich viel enger an die Situation anschließt,
als beim Katatoniker. Das Schauspielerische, Gewollte, Absicht¬
liche, das ,,Kleben am Milieu", tritt bei einem Hysteriker deut¬
licher hervor. Es läßt sich sogar bei geeigneter Gelegenheit (kli¬
nische Demonstration!) geradezu provozieren. —
Bei 16 von unseren olien genannten 21 Kranken stand der
Ansbruch der Psychose und die Straftat in engem zeitlichen Zu¬
sammenhang, oder aber die Straftat wurde zu einer Zeit begangen,
wo die P.sychose bereits sicher nachzuweisen war. 4 von den 16
wurden bestraft, 12 freigesprochen.
Was die Delikte anlangt, die begangen wurden, so handelte
es sich in 3 Fällen um Mord oder Totschlag, einmal um räube-
’) lioniburger, Lebensschicksale geisteskranker Strafgefangener.
Kriminalpsychol. Arbeiten. Berlin 1911. J. Springer. Weitere Literatur
zu dieser Frage: Differentialdiagn. zw. katat. u. hyst. Stupor. Allg. Zeit-
schr. f. Psych. 1908. Bd. 65.
Dementia paranoides. 901
rische Erpressung, 6 Fälle von Diebstahl, Unterschlagung, Be¬
trug, 2 Sexualdelikte, eine Beleidigung und Widerstand, zweimal
um militärische Verbrechen (h'ahnenflucht und Widersetzlich¬
keit) und einmal um Münzverbrechen. —
Im folgenden mögen einige Beispiele zeigen, in welcher Weise
verschiedene Zustandsbilder der Dementia praecok zu kriminellen
Handlungen Anlaß geben können.
St. Sch., geh. 17. Aug. 1858. Beleidigung, Widerstand, Körperver¬
letzung, Halluzinationen und Verfolgungsideen, Freisprechung.
Gber Vorleben nichts weiter bekannt, als daß er ini ganzen sech-
zehnmal vorbestraft ist. In seiner Militärzeit mit einem Jahre Qe-
fängnis wegen Achtungsverletzung, Gehorsamsverweigerung, Beleidi¬
gung und tätlichen Angriffs eines Vorgesetzten bestraft. Seit 1889 mit
Haft, Arbeitshaus und Gefängnis bis zur Dauer eines Jahres wegen
Betteins, Landstreicherei, Annahme eines falschen Namens, Gebrauch
gefälschter Papiere, Urkundenfälschung, Diebstahlsversuch, Widerstands¬
leistung, gefährlicher Körperverletzung, Mißhandlung und Beleidigung.
Sachbeschädigung. Zuletzt am 9. 8 . 06 vom Schöffengericht A. zu
5 Wochen Gefängnis, wegen Beleidigung und Widerstandsleistung.
In den nächsten Monaten beging er wieder mehrere Beleidigungen.
Widerstandsieistungen und Körperverletzungen in B.; deshalb verhaftet,
fiel er durch sein psychisches Verhalten auf und wurde von dem Ge-
lichtsarzt w'cgen „chronischer Verrücktheit“ für unzurechnungsfähig er¬
klärt, vom Gericht infolgedessen freigesprochen. Zweifel an seiner Zu¬
rechnungsfähigkeit waren aufgetreten, weil er im Gefängnis dauernd
erregt war, die Möbel seiner Zelle demolierte, Beamten Urin ins Gesicht
spie. Deshalb sofort Überführung in die hiesige Anstalt. Hier berichtet
er, er werde seit Jahresfrist verfolgt. Schon im Gefängnis in A. habe
man ihm mit Röntgenstrahlen die verschiedensten Körperteile verbrannt.
Dadurch habe er Schmerzen und Brandwunden bekommen, auch habe
er Stimmen gehört, die ihm Drohungen zuriefen, er solle in eine
Zwangsjacke gesteckt und als Versuchsobjekt an eine Irrenanstalt ab¬
geliefert werden. Außerdem habe man ihm Pulver ins Fssen getan,
deshalb habe er sich schon wiederholt an die verschiedensten Behörden
gewandt, aber ohne Erfolg.
ln zerfahrener Weise berichtet er dann weiter, daß auch im Ge¬
fängnis diese Dinge fortgesetzt worden seien, außerdem habe man ihn
dort schlecht behandelt, habe ihm kein Wasser zu trinken gegeben, des¬
halb habe er Urin trinken müssen, auch bei der Verhaftung habe man
ihn schlecht behandelt, dagegen habe er sich gewehrt.
Im Laufe der hiesigen Beobachtung dauernd sehr erregt, kommt
fortwährend und beklagt sich über Pfleger, Arzte, die ihn nachts mit
Strahlen malträtieren. Bald werden ihm die Strahlen auf den Kopf ge¬
leitet, so daß er dort Schmerzen hat, bald wird ihm das Rückenmark
damit ausgesaugt, bald seine Geschlechtsteile bearbeitet, dadurch wird
ihm das Gehen erschwert. Alles das bringt er in zerfahrener unklarer
902
Dementia praecox.
Weise vor, zeitweise mit Affekt, mitunter aber auch ohne nennenswerte
Erregung. Eines Tages erfolgt ein Angriff auf einen der Ärzte, von dem
er glaubte, daß dieser ihm nachts mit elektrischen Strahlen die Ge¬
schlechtsteile „bearbeite“.
Die Sinnestäuschungen und Wahnideen blieben dauernd bestehen,
der Kranke wurde allerdings im Laufe der Zeit mehr und mehr zer¬
fahren. Aus äußeren Gründen mußte er ungeheilt in eine andere An¬
stalt überführt werden.
Das Verfahren wegen der letzten Körperverletzungen wurde nieder¬
geschlagen.
Wenn auch Wahnideen und Sinnestäuschungen besonders
leicht zu kriminellen Handlungen führen können, so kommen solche
bei der Dementia praeco.x gelegentlich auch ohne Halluzinationen
vor, die Kranken können lediglich aus gemütlicher Verblödung
heraus allerlei strafbare Handlungen begehen.
A. B., gcb. 5. Dez. 1887. Sittlichkeitsdelikt, alter Fall von Dementia
praecox, Einstellung des Verfahrens.
Der Patient, welcher in der Kindheit nicht besonders aufgefallen
w'ar, und dann Schreiner gelernt hatte, begann sich mit etwa 18 Jahren
psychisch allmählich zu verändern. Seine Leistungen ließen nach, er
wurde unstet, zog viel umher, wurde nirgends lange behalten, war still,
einsilbig, zurückhaltend, verkehrte mit den andern nicht, lag oft stunden¬
lang da, und stierte vor sich hin. Im Jahre 1908 nahm er Stellung in
M. an. Dort fiel er von vornherein durch eine gewisse Verschrobenheit
auf, er hielt sich von den Mitarbeitern zurück, sprach manchmal leise
vor sich hin, lief stundenweise grundlos von der Arbeit weg, schimpfte
zeitweise ohne Grund, schlief schlecht, stand nachts auf und lief im
Zimmer umher.
An einem Tage im September brachte die erwachsene Tochter des
Meisters den Gesellen den Nachmittagskaffee in die Werkstelle, und
verteilte denselben dort. Es kam dabei zu einem Gespräch, an dem
sich der Patient nicht beteiligte. Während die andern sich mit dem
Meister und seiner 'i'oehter unterhielten, trat B. plötzlich auf die letz¬
tere zu, sagte ihr eine obszöne Redensart, warf sie zu Boden, und ver¬
suchte, sie in Gegenwart der andern zu mißbrauchen. Als die Männer
ihn ergriffen, und von dem Mädchen fortzogen, stand er willig auf,
sprach auch dabei nicht, und ließ sich ohne w'eiteres zur Polizei führen.
Hier fiel er sofort durch sein sonderbares Wesen auf, w'eshalb ein Arzt
herbeigcholt wurde, der ihn für geisteskrank erklärte, so daß seine
Überführung in die Klinik erfolgte. Die weitere Beobachtung ergab,
daß der Patient stumpf umhersaß, viel speichelte, spontan fast nichts
sprach, an den Spielen und Unterhaltungen der übrigen Kranken keinerlei
Anteil nahm, zu einer Arbeit nicht zu bewegen war, am liebsten sich
ins Bett legte, und die Decke bis über den Kopf zog. Redete man ihn
an und deckte ihn zu diesem Zw'ccke auf, so zog er sich die Decke so¬
gleich wieder über den Kopf, ohne zu antw'orten und wandte sich ab.
Dementia paranoides. 903
Auf Befragen gab er einsilbig Auskunft, zeitlich und örtlich orientiert, die
strafbare Handlung gab er zu, vermochte aber keine weitere Erklärung
dafür zu geben, als daß er das Mädchen hätte gebrauchen wollen.
W'arum er den Angriff gerade in dem Moment machte, wußte er
nicht zu sagen. Im Verlauf der weiteren Behandlung versank er all¬
mählich in tiefen Stupor, in dem er sich, nach Mitteilung der Anstalt,
in die er überführt wurde, noch längere Zeit befand. Jetzt völlig ver¬
blödet.
Ähnlich liegen die Verhältnisse in einem Falle, der unserer
Anstalt vor kurzem zugeführt wurde, in dem ein alter Katatoniker
angeblich bei einem Einbruch festgenommen worden war. Richtig
war, daß er in einem übrigens nicht verschlossenen Zimmer eines
fremden Hauses gefunden wurde. Er suchte dort aber keines¬
wegs nach Wertgegenständen, sondern stand stumpf herum, ohne
etwas an sich genommen zu haben.
Gelegentlich kommt es in diesen Zuständen auch zu schweren
Verbrechen. So hat Wachsmut *) aus der Frankfurter Anstalt
einen Fall beschrieben, in dem ein Katatoniker bei der Arbeit einen
Schmiedegesellen tötete, ferner erwähnt Sioli *) einen Mann, wel¬
cher seine ganze Familie umzubringen suchte.
Vielfach handelt es sich dabei um impulsive Handlungen,
die ganz plötzlich ohne irgendwelche Vorbereitung und ohne daß
man sie aus der Situation heraus verstehen könnte, ausgeführt
werden. Es kommt aber auch vor, daß die Straftaten scheinbar
wohlüberlegt und vorbereitet sind. Einen derartigen Fall hatten
wir in der hiesigen Anstalt zu begutachten.
S. S., geb. 7. Juli 1882. Wegen Pferdediebstahls vorbestraft, Mord,
Katatonie, Freisprechung. Am 19. Sept. 1909 erschien S., wie bereits mehr¬
fach in den Tagen vorher, auf dem Stellenvermittelungsbureau der Ww.
K. in C., um sich wegen einer neuen Stelle als Viehwärter zu erkundigen.
Er erhielt wiederum den Bescheid, daß keine Stelle für ihn frei wäre.
Darauf veriieß er das Bureau, ging in das gegenüberliegende Schweizer¬
zimmer, und schoß durch die Glasscheibe der Flurtür in den Bureau-
raum hinein, wo er die am Pult stehende Frau M. traf. Nach Abgabe
des Schusses lief er fort, wobei er, als ihn die Leute festhalten wollten,
ein offenes Messer zog, und seine Verfolger abwehrte. Bei seiner poli-
') Wachsmut, Arztl. Sachverst.-Ztg. 9, 17. Siehe auch Ztschr. für
Psych., Bd. 64 , S. 836.
“) Sioli, Bericht über die Anstalt für Irre und Epileptische. Frank¬
furt a. M. 1904/05. Seite 8. S. ferner auch Schott, Vierteljahresschrift
für gerichtliche Med. B-Folge. Band 30, Heft 2 und Kölpin, Friedreichs
Blätter für ger. Med. 1908.
904
Dementia praecox.
zeilichen und späteren richterlichen Vernehmung gab er an, er sei vor
etwa 14 Tagen nach C. gekommen, habe sich an das Stellenvermitte¬
lungsbureau der Ww. K. wegen einer Stelle gewandt. Man habe ihn
dort immer vertröstet, das habe er sich sehr zu Herzen genommen. Als
er dann erfuhr, daß von dem Bureau einem andern Viehwärter eine
Stelle besorgt worden war, habe er sich geärgert und beschlossen, sich
an der Frau M. zu rächen. In der verflossenen Nacht habe er dann den
Entschluß gefaßt, nochmals wegen einer Stellung zu fragen. Falls er
eine solche nicht erhielte, wollte er auf die Frau schießen. Die weiteren
Ermittelungen ergaben, daß er bereits in der Schweiz in einer Irren¬
anstalt verpflegt worden war, nachdem ihn die Polizei aufgegriffen hatte.
Alkoholist war er nicht, hatte auch am Tage der Tat nichts getrunken.
Auf die erstvernehmenden Beamten machte er einen beschränkten Ein¬
druck. Bei den späteren Vernehmungen wechselte er in seinen An¬
gaben erheblich, und fiel ferner dadurch auf, daß er manchmal die merk¬
würdigsten Behauptungen aufstellte. So z. B. sagte er, daß auch bei
scharfen Schüssen eine Körperverletzung nicht nötig sei. Er habe in
seiner Heimat einmal gesehen, wie ein Schuß aus großer Nähe auf einen
Schutzmann abgegeben worden sei, ohne daß derselbe eine Verletzung
erhielt.
Daß er geisteskrank war, behauptete er selbst nicht, gab aber an,
daß er früher in einer schweizerischen Anstalt wegen Lungenentzündung
behandelt worden und auch früher hier und da geistesgestört gewesen
sei. Seine Krankheit soll sich in „dummen Streichen“ geäußert haben.
Die weiteren Erhebungen ergaben folgendes: Auf der letzten Stelle
wurde er nach wenigen Tagen entlassen, weil seine Arbeit mangelhaft
W’ar. In der vorhergehenden Stelle war er dadurch aufgefallen, daß er
zwar sein Pflicht tat, aber sehr wenig sprach, und einen geistig nicht
ganz normalen Eindruck machte. Ein Zeuge hatte bemerkt, daß der
Angeschuldigte an dem fraglichen Morgen wie auch sonst durch Wort¬
kargheit auffiel, und mit gesenktem Haupte herumlief. Ein anderer Vieh¬
schweizer hatte den S. am Tage vor der Tat gesprochen, dabei sagte
S. zu ihm auf dem Wege zum Rhein: „Ich mache die Beiden kaputt.“
Der Zeuge hatte diese Äußerung aber für einen Scherz gehalten und
sprach dies aus. Dabei klopfte S. auf seine Brusttasche, und sagte, er
habe den Revolver zu der Tat schon gekauft. Auch diesem Zeugen ist
aufgefallen, daß S. viel vor sich hinstierte, an den Unterhaltungen der
Übrigen sich nicht beteiligte. Ihm kam der Angeschuldigte geistig nicht
normal vor. Bei einer späteren Vernehmung vor dem Untersuchungs¬
richter fiel der Kranke noch mehr auf. Er gab so gut wie gar keine
Antwort, nickte höchstens einmal ja oder nein, lief im Zimmer umher,
steckte die Hände in die Tasche, senkte den Kopf, war nicht zu bewxgen,
den Untersuchungsrichter anzublicken und machte im übrigen einen
ziemlich stupiden Eindruck. Vor Unterschrift des Protokolls, nach dem
er die zur Last gelegte Beschuldigung ganz bestritt, las er alles langsam
durch. Im Qerichtsgefängnis lag er gleichgültig, ohne jedes Interesse an
seiner Umgebung im Bett, hatte die Decke meist über den Kopf gezogen,
äußerte weder Wünsche noch Klagen, war weder verstimmt, noch ängst-
Dementia paranoides. 905
lieh, noch gedrückt. Anfangs war er etwas zugänglicher gewesen. In
dieser Zeit hatte der Qerichtsarzt festgestellt, daß er zeitlich und örtlich
orientiert war und mäßig gute Schulkenntnisse besaß. Dabei hatte er
auch angegeben, daß er von Jugend auf an Ohnmächten leide, die sich
aber alimühlich verloren hätten. Der letzte Anfall sei vor einem Jahr
beobachtet worden. Epileptische Symptome wurden im Gefängnis nicht
bemerkt, der Patient versank immer mehr, gab schließlich keine Ant¬
wort mehr, lächelte blöde vor sich hin.
Da der Qerichtsarzt sich nicht klar war, ob es sich um eine Epi¬
lepsie oder Dementia praecox handle, wurde Beobachtung gemäß § 81
Str.P.O. beantragt und der Kranke kam in unsere Anstalt. Hier lag er
dauernd völlig apathisch im Bett, ohne sich im Geringsten um seine Um¬
gebung zu kümmern. Oft lag er unter der Decke vergraben stundenlang
da, ohne sich zu regen. Mitunter nahm er im Bett eigenartige un¬
bequeme Stellungen ein, die er lange Zeit beibehielt. Wenn man an
ihn herantrat, drehte er das Gesicht zur Seite. Faßte man ihn an, um
ihn herumzudrehen, so widerstrebte er auf das Energischste. Auf An¬
reden lächelte er blöde vor sich hin, ohne die Tageszeit zu erwidern.
Auch auf Fragen gab er, wenn überhaupt, dann nur ganz einsilbige Ant¬
worten. Dieses Verhalten blieb während der ganzen Beobachtungszcit
immer das gleiche, einerlei ob der Arzt, ein Pfleger oder ein Patient
an ihn herankam, einerlei auch, ob er beobachtet wurde oder sich un¬
beobachtet glauben konnte. Häufig lachte der Kranke vor sich hin
ohne ersichtlichen Grund. Oft zeigte er merkwürdige Manieren, z. B.
wurde gelegentlich beobachtet, wie er bei der Rückkehr vom Abort
eine Weile vor seinem Bett stehen blieb, starr vor sich hinsehend, um
dann plötzlich mit beiden Füßen hineinzuspringen. Ab und zu über¬
schlug er einzelne Mahlzeiten. Mehrfach wurde er mit Absicht unauf¬
fällig beim Essenverteilen vergessen, er reagierte überhaupt nicht
darauf. Der Schlaf war schlecht, der Patient lag stundenweise wach.
In der Nacht vom 25. zum 26. stand er etw'a um 1 Uhr auf, legte
sich auf den Fußboden, horchte einige Minuten und kehrte dann ins
Bett zurück. Über die Ursache, warum er dies getan hatte, sprach er
sich nicht aus. Eine körperliche Untersuchung war erst in den letzten
Wochen seines Aufenthaltes in der Anstalt möglich. Es fand sich dabei
außer zahlreichen Degenerationszeichen an dem Patienten nichts be¬
sonderes, zeitlich war er orientiert, örtlich nicht vollständig. Seine Ant-
W'orten erfolgten langsam, es bedurfte häufig mehrfacher Wieder¬
holungen der gestellten Fragen, ehe eine einsilbige, zögernde Antwort
erfolgte. Auf die Straftat selbst ging er nicht weiter ein. Während der
ganzen Unterredung legte er ein blödes, verlegenes Lächeln an den
Tag. Zum Setzen war er nicht zu bewegen.
Bezüglich der Anfälle machte er später die Angabe, daß dieselben
sich nach der Schulzeit bereits verloren hätten.
In dem Gutachten wurde auf die Qemütsstumpfheit, das zeitweilige
Fehlen jeder sprachlichen Äußerung (Mutazismus), den Negativismus,
das manirierte Benehmen hingewiesen und die Wahrscheinlichkeits¬
diagnose „katatonischer Stupor“ gestellt.
go6
Dementia praecox.
Da die Zeugenaussagen ergeben hatten, daß der Patient mit Sicher¬
heit schon vor der Tat geistig nicht normal war (er sprach schon da¬
mals wenig, lief mit gesenktem Kopf umher, beteiligte sich nicht an
den Unterhaltungen seiner Arbeitsgenossen und stierte auf einen
Fleck), nahm der Sachverständige an, daß die Erkrankung schon zur
Zeit der Tat bestand. Auch die Sinnlosigkeit der Straftat und ihre
außerordentliche Brutalität deutete darauf hin, daß sie der Ausfluß eines
geistigen Erkrankungszustandes war. Es wurde das Vorliegen des
§ 51 Str.G.B. angenommen und das Gericht stellte das Verfahren ein.
Der Kranke wurde zu uns als gemeingefährlicher Geisteskranker defini¬
tiv überführt.
Der weitere Verlauf des Leidens — der Patient ist bei uns noch
einige Monate geblieben, bis er in eine schweizerische Anstalt über¬
führt wurde — hat gelehrt, daß die ursprünglich gestellte Diagnose
„katatonischer Stupor“ richtig war. Der Patient hat nach Beendigung
des Gerichtsverfahrens völlig stuporös mehrere Monate im Bett gelegen
und ist in diesem Zustande überführt worden.
Da die Dementia praecox eine Erkrankung des jugendlichen
Alters ist, kann es nicht wundemchinen, daß sie vielfach auch
gerade wahrend der militärischen Dienstzeit zum Aus¬
bruch kommt. Ob dafür immer der Dienst als solcher als aus¬
lösendes Moment in Betracht kommt, erscheint mir zweifelhaft.
Es gibt al)er wohl Fälle, in denen gemütliche Erregungen oder
schwere körperliche Anstrengungen, hie und da vielleicht auch
ein Kopftrauma, eine Dementia praecox auslösen können.
Wichtiger ist, daß mitunter Widersetzlichkeiten, Beleidigung
und tätliche Angriffe auf Vorgesetzte oder Fahnenflucht die
ersten Zeichen des Ausbruchs der Psychose sein können. Ferner
ist wissenswert, daß gelegentlich bei den in Arbeiterabteilungen
und Festungsgefängnissen TJntergebrachten, ebenso übrigens wie
bei Zivilgefangenen, zum Teil ausgelöst durch die Eigenart
des Milieus, eine Dementia praecox auftreten kann. Nach unseren
Erfahrungen ist sie aber auch da seltener, als noch vor lo Jahren
angenommen wurde. Häufiger handelt es sich m. E. um ilie
Reaktion von Degenerierten und Hysterischen auf die Einzelhaft.
Wie oben bereits ausgeführt wurde, tritt bei vielen Kranken
der Dementia jjraecox-Gruppe frühzeitig eine hochgradige \’er-
blödung ein. Diese letztere bedingt nun nicht selten, daß der
Kranke auch seine Geschäftsfähigkeit verliert. Er ist in der Be¬
sorgung seiner Angelegenheiten mehr oder minder stark beein¬
trächtigt. Solange er sich im Stupor befindet, gibt er so gut wie
gar keine Willensäußerungen von sich. Ist die Zerfahrenheit
Dementia paranoides. 907
des Denkens und Urteilens eines der hervorstechendsten Sym¬
ptome, so bedarf der Patient gleichfalls eines Vormundes, weil
er sonst die unzweckmäßigsten Handlungen begeht.
Wer die zivilrechtliche Hilfsbedürftigkeit der Dementia
])raecox-Kranken richtig kennen lernen will, der muß sie nicht
allein in der Anstalt, sondern auch in der Freiheit gesehen haben,
wie sie da unordentlich angezogen, zwecklos umherlaufen,
Menschen und Behörden belästigen, keinerlei gewinnbringende
Beschäftigung ausüben, unzweckmäßige Einkäufe machen, sehr
oft durch ihr Gebahren auffallen, auch in Differenzen mit anderen
geraten, mitunter sogar für ihre Umgebung nicht ganz ungefähr¬
lich sind.
Schwierigkeiten in der Beurteilung machen bei der Ent¬
mündigung nicht diejenigen Fälle, in denen es sich um Endzustände
mit katatonischen Symptomen oder gar ausgesprochene Stuporen
handelt, sondern vielmehr diejenigen, welche noch nicht sehr zer¬
fahren sind, wo katatone Symptome fehlen und nur die Beein¬
trächtigung des Gemütslebens einen hohen Grad erreicht hat.
Ein Fall, der sowohl strafrechtlich wie zivilrechtlich hier be¬
obachtet worden ist, bei dem das strafrechtliche Gutachten aus
den angegebenen • Gründen gewisse Schwierigkeiten bereitete, ist
der folgende:
P. L., Kcb. 15. Nov. 1862. Blutschande, Dementia praecox, Frei¬
sprechung, einige Jahre später Entmündigung.
Am 6 . Nov. 1901 zeigte der Polizeidiener D. aus U. an, daß L. seine
Frau und Tochter seit längerer Zeit fortgesetzt mißhandele, so daß sich
beide häufig aus dem Hause flüchten müßten. Bald darauf erfuhr der
Anzeigende auch, daß die Tochter des L. von ihrem Vater schwanger
sei. Letzteres wurde ihm auf Nachfrage bei Mutter und Tochter be¬
stätigt. Die Mutter fügte hinzu, daß der Vater die Tochter auch noch
fortgesetzt schlage. Bald wurde L. festgenommen und ein Verfahren
gegen ihn eingeleitet. Er gestand, seine Tochter verschiedene Male ge¬
schlechtlich mißbraucht zu haben, so daß sie von ihm schw'anger sei.
Dagegen bestritt er die Mißhandlungen. Auch die Tochter gab zu, von
dem Vater schwanger zu sein, berichtete die näheren Umstände, bestritt
aber, von ihm mißhandelt worden zu sein. Sie fügte hinzu, der Vater
sei zeitweilig durcheinander. Die Ehefrau des L. sagte bei ihrer Ver¬
nehmung gleichfalls aus, daß L. mitunter nicht zurechnungsfähig sei;
es liege in der Familie. Außer seinem Vater und Großvater habe noch
eine Tante und ein Vetter ihr Leben durch eigene Hand geendigt.
Früher habe der Mann sich immer ordentlich und anständig geführt.
Wenige Tage nach seiner Inhaftierung meldete der Gefangenen¬
aufseher, L. führe sich wie ein Wahnsinniger auf, er scheine an Ver-
9o8
Dementia praecox.
folgungswahn zu leiden. Es sei ihm schon ein Strick abgenommen
worden, anscheinend aus einem Halstuch gefertigt, mit dem er wahr¬
scheinlich Selbstmord verüben wollte. Bei dieser Sachlage wurde L.
in das Gefängnis zu B. überführt und dort von dem Qefängnisarzt be¬
obachtet. Letzterer konnte aber zu einem sicheren Urteil über, den
Geisteszustand nicht gelangen und beantragte Beobachtung gemäß § 81
Str.P.O.
Mehrere Nachbarn, welche über den Geisteszustand des L. ver¬
nommen wurden, sagten übereinstimmend aus, er sei ein sehr be¬
schränkter Mensch und unzurechnungsfähig, zeitweise auch tobsüchtig.
Eine Zeugin sagte, wenn irgend etwas Kindisches bei den Nachbarn ge¬
sprochen worden sei, so heißt cs allgemein, daß habe der „tolle Peter“
gesagt. Der Pfarrer bekundete, daß der Patient sich sehr zurückhielt,
als Ackerer tüchtig, im übrigen aber ein komischer Kauz war. Wenn
er seine komischen Ideen hatte, dann war er davon nicht abzubringen,
mochten dieselben noch so verschroben sein.
In der Anstalt ergab die Beobachtung, daß L. zahlreiche Degene¬
rationszeichen darbot, es bestand rechtsseitiges Schielen, Lidschwirren,
schmaler Gaumen, abnorme Zahnstellung, der Puls war etwas be¬
schleunigt. ferner bestand Hautnachröten. Auf psychischem Gebiete fiel
auf, daß der Patient selbst über Dinge der jüngsten Vergangenheit keine
richtige Auskunft gab. Er wußte nicht, wie lange er im Gefängnis ge¬
sessen hatte, daß er vorher in einem anderen Gefängnis gewesen war.
Seinen Verfehlungen gegenüber verhielt er sich völlig gleichgültig, zeit¬
lich war er nicht völlig orientiert, über seine sonstige-Vorgeschichte gab
er auch nur sehr ungenaue Auskunft, verlangte, man solle ihn gehen
lassen, da er nach Hause müsse, Holz hacken; seine Frau könne sonst
nicht zurecht kommen. Daß man derartige Handlungen, wie er sie be¬
gangen hatte, nicht tun durfte, wußte er; eine Erklärung dafür, daß er
sie doch getan hatte, konnte er nicht geben.
Bei leichten Rechnungen versagte er sehr rasch (5X6? 6X4?
6 X8? 4+6—10 rechnet er an den Fingern aus; 11+20+8 kann er
nicht rechnen, weil er die Finger dabei nicht gebrauchen kann). Auch
die weitere Intelligenzprüfung ergab, daß der Patient urteilsschwach ist.
Äußerlich zeigte er ein gleichgültiges, fast gelangweiltes Wesen und
antwortete immer in gleichgültigem 'Ion, oft mußten die Fragen wieder¬
holt werden. Um seine Umgebung kümmerte er sich wenig, schlief gut;
von den ärztlichen Visiten nahm er keine Notiz, nennenswerte gemüt¬
liche Erregungen wurden bei ihm nicht gesehen.
Bei nochmaliger, unter Zuziehung des Sachverständigen erfolgter
Vernehmung von Mutter und Tochter ergab sich, daß Patient zeitweise
geistig erheblich verändert war, wie toll herumlief, nicht wußte, was
er tat, schimpfte, w-enig arbeitete, alles durcheinander brachte. Einmal
hatte er in einem solchen Zustand einen Schuppen, der gerade fertig
gebaut war. wieder umreißen w-ollen. Ein junges Pferd, das er gerade
angeschafft hatte, hatte er in diesem Zustande ohne Grund verkauft und
statt dessen ein altes gekauft.
Dementia paranoides.
909
Bei der letzten Exploration sprach sich der Patient dann besser
aus, suchte seine Handlungen auch zu begründen, führte insbesondere
aus, daß er seine Qeschüfte bis jetzt ganz allein besorgt hätte, nicht
geisteskrank sei, wohl aber zeitweise allerlei Beschwerden habe.
Bei dieser Sachlage kam der Gutachter zu dem Ergebnis, es seien
nicht die erforderlichen Anhaltspunkte für die Annahme vorhanden, daß
der § 51 bei L. zutreffe.
ln der Verhandlung kamen nachher eine ganze Reihe neuer Tat¬
sachen heraus, insbesondere die, daß Patient längere Zeit Eifersuchts¬
ideen, die völlig unbegründet waren, gegen seine Frau geäußert hatte.
Er hatte einem anderen Zeugen gegenüber erklärt, er habe alle die Vor¬
gänge, die sich Jetzt abspielten, früher schon geträumt. Ein weiterer
Zeuge sagte aus, L. habe ihm erzählt, daß seine Frau sich mit dem
Geschlechtsverkehr mit seiner Tochter einverstanden erklärt habe. Sie
habe ihm das durch besondere Äußerungen angedeutet. Er habe sich
trotzdem nicht gleich entschlossen, mit seiner Tochter zu verkehren,
sondern es habe ein halbes Jahr gedauert, bis er den Entschluß in die
Tat umsetzte.
Da das ganze Verhalten des Patienten bei der Verhandlung auch
dem Gericht den Verdacht einer geistigen Störung erweckte, wurde er
fl eigesprochen und der Anstalt überwiesen. Hier kam er mit seinen
alten Eifersuchtsideen sehr bald wieder zum Vorschein. Daneben be¬
standen hypochondrische Klagen; zur Arbeit war er nicht zu bewegen.
Zeitweise ausgesprochene Wahnvorstellungen. Schreibt an seine Frau,
daß er hier in der „Mordkammer“ habe liegen müssen in einem Bett,
das mit „Leichengift“ bestrichen sei, im ganzen Hause rieche es nach
Leichen.
Nach mehrmonatlicher Behandlung nach Hause entlassen, bleibt er
bis zum Jahre 1907 draußen, arbeitet nicht mehr, zeitweise erregt,
schlaflos, Neigung zu Gewalttaten, ln letzter Zeit hatte er mit Brand¬
stiftung gedroht, deshalb erneute Aufnahme. Hier viel Beeinträchtigungs¬
ideen, es werden „Kunststücke“ mit ihm gemacht, die Leute auf der
Straße hätten sich Zeichen gegeben, wenn er vorübergegangen sei.
Dabei Schlaflosigkeit und ein Gefühl im Kopf, als ob er toll sei. Voll¬
kommen gemütliche Stumpfheit und Gleichgültigkeit, intelektuell gegen
früher nicht verändert. Nur etwas zerfahren in der Ausdruckswefse.
In den letzten Monaten vor der Aufnahme hatte er noch 5000 Mk. Schul¬
den gemacht.
Auf Grund aller dieser Tatsachen wurde er wegen Geistesschwäche
entmündigt.
Die Schwierigkeit des Falles liegt darin, daß anfangs die
Zerfahrenheit nicht sehr groß war, aiisgesiirochen verschrobene
Handlungen wurden nicht begangen, und auch die Beziehungs¬
und X'erfolgungsideen des l’at. waren so spärlich vorhanden, so
daß es einer längeren Beobachtung bedurfte, um sie ans Tages¬
licht zu bringen.
Amentia.
9 fo
Was die Ehescheidung bei der Dementia praecox an¬
belangt, so ist schon weiter oben ausgeführt, daß bei alten Kata-
tonikern, die völlig verblödet sind, keine Schwierigkeiten ent¬
stehen.
Dagegen gibt es viele Fälle, in denen sowohl die Frage, ob
die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben,
wie auch die, ob Aussicht auf Wiederherstellung derselben vor¬
handen ist, nicht ganz einfach zu beantworten sein wird. Von
Bedeutung wird für die erste der beiden Fragen weniger der
intellektuelle Zustand, als vielmehr die gemütliche Verblödung
sein. Gerade der eigenen Familie, insbesondere der Frau gegen¬
über, muß sie sich bemerkbar machen.
Ebenso können Beeinträchtigungs- und Eifersuchtsideen, wie
sie in den eben beschriebenen Fällen bestanden, vorhanden sein.
Gramer legt ferner auf ein körperliches Symptom großen
Wert, nämlich auf die sogenannte vasomotorische Paralyse, d. h.
darauf, daß die Hände und Füße livide und blau verfärbt sind,
und daß sich leichte Ödeme an den Füßen zeigen. Darin sieht er
ein prognostisch ungünstiges Zeichen.
Bei Testamentserrichtungen wird man in erster
Linie prüfen müssen, wie das Testament zustande gekommen ist,
d. h. ob der Kranke sich aus eigener Initiative dazu entschloß,
ein solches zu errichten, oder ob andere ihn dazu bewogen halben.
Daß Wahnideen und Bizarrerien das Testament inhaltlich beein¬
flussen können, brauchte nicht besonders betont zu werden. Wenn
der Kranke es selbst geschrieben hat, wird man oft an der Art
des Ausdrucks und der ganzen Form desselben Anhaltspunkte für
die Beurteilung des Falles finden können. War das nicht der Fall,
und es handelt sich um die nachträgliche Feststellung des Geistes¬
zustandes eines Testators, wird der Sachverständige gleichfalls
gut tun, nach Möglichkeit schriftliche .Äußerungen des Kranken
aus jener Zeit zu erbitten. Daneben werden selbstredend auch
Zeugenaussagen von Bedeutung sein.
Aiuentia.
Kennzeichnend für die Psychose ist der plötzliche Beginn,
das Auftreten einer Bewußtseinstrübung, welche verbunden ist
mit zahlreichen Sinnestäuschungen und Verwirrtheit.
912 Amentia.
Wichtig ist, daß die Kranken aus ihrer Ratlosigkeit heraus,
zum Teil auch unter dem Einfluß von Halluzinationen gegen ihre
Umgehung gewalttätig werden und Selbstmordversuche machen.
Sie bedürfen deshalb besonders sorgfältiger Beaufsichtigung, weil
sie für sich und andere eine Gefahr darstellen.
Mitunter sind dem Krankheitsbild deliriöse.Züge l)eigemischt.
Die Nahrungsaufnahme läßt unter Umständen zu wünschen übrig,
namentlich trifft das dann zu, wenn gleichzeitig Vergiftungsideen
bestehen. Bisweilen besteht Unsauberkeit mit Urin und Kot.
Auf körperlichem Gebiet sind zu erwähnen: Schlaflosigkeit,
Temperatursteigerungen, Abnahme des Körpergewichts, Herz¬
schwäche, mangelhafte Nahrungsaufnahme, mitunter auch Stö¬
rungen der Menstruation. Das Leiden heilt aus, wenn die
Körperkräfte nicht vorzeitig versagen. Trifft letzteres zu, so tritt
der Tod ein. Die Erinnerung an die Krankheit ist mehr oder
minder unvollständig.
Die Amentia wird aufgefaßt als ein Reizzustand des ganzen
Gehirns. Infolgedessen muß man die motorischen Symptome,
die Erregung, die Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen, Un-
orientiertheit usw. als koordinierte Symptome auffassen.
Zu erwähnen ist schließlich noch, daß es Fälle gibt, in denen
derartige Verwirrtheitszustände bei derselben Person mehrere
Male im Leben auftreten.
Was die forensische Bedeutung dieser Erkrankung
anlangt, so ist dieselbe nicht groß; die Kranken werden für ge¬
wöhnlich sehr rasch einer Irrenanstalt zugeführt und haben des¬
halb selten Gelegenheit, kriminelle Handlungen zu begehen. Am
häufigsten kommt es noch zu schweren Gewalttaten gegen Per¬
sonen und Sachen. In einem der hier beobachteten Fälle lief die
Kranke im Beginn des Leidens zur Polizei und bezichtigte ihre
eigenen Kinder des Diebstahls.
M. E., geb. 11. Okt. 1861. Kaufmannsfrau.
Keine Heredität. Jugend und Entwickelungsjahre ohne Bedeutung.
Elf Kinder. Alle hatten Rhachitis. Viel seelische Erregungen, da der
Mann Neurastheniker war.
In der letzten Zeit viel Familienärger wegen einer Tochter. Da¬
nach verstimmt. Plötzlich nachts unruhig. Hat viel Oehörstäuschungen
(V'ögelzwitschern, Gesang, Stimmen). Es wird ihr zugerufen, ihre Toch¬
ter wolle sie bestehlen. Hört, wie in der unteren Etage Körbe und
Kisten gepackt werden. Verkennt Personen, zeitlich und örtlich un-
orientiert. Läuft in hoher Erregung zur Polizei und zeigt die Tochter
Infektions- und autotoxischc Psychosen. 913
an. Deshalb in die Klinik. Hier Tag und Nacht erregt. Hört Tier- und
Menschenstimmen. Die Vögel singen und zwitschern. In anderen
Zimmern hört sie ihre Kinder und den Mann sprechen. Durch die
Fenster werden ihr von Fremden Schimpfworte und Drohungen zu¬
gerufen. Dabei hochgradige motorische Unruhe. Patientin läuft völlig
schlaflos Tag und Nacht im Saal herum, spricht viel, ist zeitweise sehr
ängstlich. Fieber. Rascher körperlicher Verfall. Vierzehn Tage später
Exitus.
Die Entmündigung kommt, ebenso wie die Ehescheidung
deslialb wold niemals in Betracht, weil das Leiden entweder mit
dem Tode endet (Erschöpfung) oder zur Heilung gelangt.
Mit Recht betont Siemerling, daß die Geschäfts- und Testier¬
fähigkeit während des Höhestadiums der Erkrankung durchweg
aufgehoben ist*).
liifektioiis- und autotoxisclie Psychosen.
Fast jede Infektionskrankheit kann psychische Störungen
auslösen. Praktisch besonders wichtig sind die Lungenentzün¬
dung (Pneumonie), der Typhus, der Gelenkrheumatismus, die
Hirnhautentzündung (Meningitis) und die Influenza. Ferner löst
mitunter das Puerperium (Wochenbett) und die Laktation Geistes¬
störungen aus.
Die Psychosen können im ganzen Verlaufe der Erkrankung
auftreten, besonders häufig findet man im Beginn (Initial¬
delirien) und beim Abfall des Fiebers (Deferveszenzdelirien)
psychotische Zustände.
Die wichtigsten Typen sind i. die eben besprochene Amentia,
2. deliriöse Zustände, 3. werden auch akut paranoische Psychosen
*) Literatur; Siemerling in Binswanger-Siemerlings Lehrbuch,
ferner Zeitschr. f. ärztl. Fortbild. 1911, Nr. 21. Bonhöffer, Psychosen im
Gefolge von akuten Infektionen. Wien 191(1. Deuticke. Hendricks Zeit¬
schr. f. Psych., Bd. 67. P. Schroeder, Anat. Befunde. Zeitschr. f.
Psych., Bd. 66. Fug. Fraenkel, Virch. Arch., Bd. 194. E. Beyer, Arch. f.
Psych., Bd. 29. Lapinski, Neurol. Zentralbl. 1907. Jahrmaerker, Zen-
tralbl. f. Nerveiiheilk. 1907. Remstedt. In.-Diss. Kiel 1910. Degener.
In.-Diss. Kiel 1910. Marx. In.-Diss. Kiel 1909. Hoche, Deutsche Klinik
1903, S. 197. Scholz, Deutsche rned. Wochenschr. 1897. Stransky,
Wiener med. Wochenschr. 1905. Strohmeyer, Monatsschr. f. Psych.
Bd. 19. Raecke, Monatsschr. f. Psych. XI und Zeitschr. f. Psych., Bd. 57.
Binswanger, Berl. klin. Wochenschr. 1897.
Hübner, Poronsiürlie Paychiiilrie.
:*8
914
Die Paranoia acuta.
beobachtet, 4. werden manische und melancholische Phasen durch
den Geburtsakt ausgelöst.
Bezüglich der klinischen Symptome verweise ich auf die ent¬
sprechenden Kapitel*).
Forensisch wichtig sind diese Zustandsbilder insofern, als es
gelegentlich zu Angriffen gegen die Umgebung kommt. In den
Wochenbettpsychosen werden auch Gewalttaten gegen das neu¬
geborene Kind begangen. Diese fallen aber meist nicht unter
den § 217 Str.G.B., weil die Tat nicht mehr ,,gleich nach der
Geburt“ ausgeführt wurde ^).
Die Paranoia acuta.
Unter dem Namen Paranoia fassen wir Krankheitsbilder zu¬
sammen, welche vorwiegend gekennzeichnet sind durch das Auf¬
treten von Wahnvorstellungen, die sich je nach dem Grade der
Bildung des Kranken zu einem bald mehr einfachen, bald kompli¬
zierteren „System“ zu vereinigen pflegen, d. h. die Wahnideen
stehen nicht zusammenhanglos nebeneinander, sondern der Kranke
sucht sie unter ganz bestimmten Gesichtspunkten zu ordnen. —
Bei der Paranoia acuta entstehen die Wahnvorstellungen
meist sehr rasch“).
.•\ls Ursache nimmt man erstens das Bestehen einer gewissen
Veranlagung des Erkrankenden an; daneben können Gelegenheits¬
ursachen das Leiden auslösen. Solche kommen in Betracht bei
körperlichen Erkrankungen (W'oehenbett, Lungentuberkulose, Un-
*) Hoche, Puerperalpsychosen. Arch. f. Psych., Bd. 24 . FUrstner,
Arch. f. Psych., Bd. 11. Fürstner, Arch. f. Psych., Bd. 5. Aschaffen¬
burg, Arch. f. Psych., Bd. 24 . Adler, Zeitschr. f. Psych., Bd. 53. Her¬
mann. In.-Diss. Berlin 1901. E. Meyer, Arch. f. Psych., Bd. 39. W agner
V. Jauregg, Jahrb. f. Psych., Bd. 22 . Weber, Körperl. Erkr. u. Geistes¬
störungen. Altsche Sammlung, Bd. 3. Siemerling im Lehrbuch u. Zeit¬
schr. f. ärztl. Fortbild. 1911. Dobrotworsky, Korsak. Jourii. 1912, S. 743.
“) Eine Handlung fällt nach Frank nur dann unter den Begriff
„gleich nach der Geburt“, wenn der durch die Geburt erregte Gemüts¬
zustand noch fortdauert.
*) Köppen, Akute Paranoia. Sitzungsbericht. Allg. Zeitschr. f. Psych.
1899, Bd. 56. Siemerling im Lehrb. d. Psych. Jena. G. Fischer. Gramer,
Zeitschr. f. Psych., Bd. 51. Cattani. In.-Diss. Bern 1896. Gallus. In.-Diss.
Jena 1892. Rüdin, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 60. Serbski, Ebenda.
Bd. 48. W'erner, Die Paranoia. Stuttgart 1891. Kreuser, Forens.-psych.
Die Paranoia acuta.
9^5
fällen usw.), psychischen Ursachen (Schreck, lebhafte Gemüts¬
bewegungen, geschäftliche Verluste, Haft); mitunter fehlt jede
äußere Veranlassung.
Auch bei den paranoischen Erkrankungen pflegt dem eigent¬
lichen Ausbruch ein Prodromalstadium vorauszugehen,
das mindestens einige Tage, meist einige Wochen dauert. In dieser
Zeit fühlen sich die Patienten krank, schlafen schlecht, der Appetit
läßt nach, es tritt ein Gefühl innerer Unruhe auf, das sie sich
zunächst nicht erklären können. Ihre Leistungsfähigkeit ver¬
ringert sich. Nach den gewöhnlichen Verrichtungen fühlen sie
sich müde und abgespannt. Hinzukommen Reizbarkeit, häufiger
Stimmungswechsel, mitunter auch körperliche Beschwerden.
Die mit ihnen vorgehende Veränderung beunruhigt die
Kranken; sie denken darüber nach, worauf das alles zurück¬
zuführen sein könnte, beobachten sich selbst, wie ihre Um¬
gebung genauer, als früher. So kommt es rasch dazu, daß
sie ganz harmlose Geschehnisse mit der eigenen Person in Ver¬
bindung bringen, daß Worte, die andere sprechen, und Be¬
wegungen, die sie bei anderen sehen, auf die eigene Person bezogen
werden. Je mehr sie darauf achten, desto mehr fällt ihnen auf.
Sie suchen nach einer Erklärung für all dies ihnen zunächst
Unverständliche und kommen so sehr rasch zu der Wahnvorstel¬
lung, daß sie verfolgt werden.
Haben sie diese Gewißheit erlangt, so folgen auch bald
Größenideen nach. Sie überlegen, warum sie verfolgt werden.
Da kommt ihnen der Gedanke, sie werden wegen ihrer beson¬
deren Fähigkeiten beneidet, man mißgönnt ihnen ihre Erfolge
im Beruf. Eine äußere Ähnlichkeit, ein zufällig aufgefangenes
Wort veranlassen sie, sich selbst in Beziehung zu hochstehenden
Persönlichkeiten zu bringen. Sie sind Abkömmlinge eines regie¬
renden Fürsten, .sollen die Welt erlösen, stehen mit Gott in Ver¬
bindung usw. Begünstigt wird das Auftreten dieser Größen-
und Verfolgungsideen noch, wenn sich, wie das meistenteils ge¬
schieht, sehr früh Sinnestäuschungen einstellen. Der Kranke
Qrenzfragen, 2. Bd., Heft 1 u. 2. Halle a. S. C. Marhold. Ziehen, Arch.
f. Psych., Bd. 24 . Thonisen, Arch. f. Psych., Bd. 45.
Die Paranoia acuta gehört zu den Krankheitsbildern, die in den
letzten Jahren viel diskutiert worden sind. Ich habe es vermieden, auf
Streitfragen einzugehen, weil sie für forensische Zwecke nicht so hohe
Bedeutung haben, daß ihre ausführliche Darstellung berechtigt wäre.
öS*
916 Die Paranoia acuta.
hört dann Stimmen, die ihm mitteilen, daß er verfolgt wird, wer
ihn verfolgt, was mit ihm geschehen wird, warum er verfolgt
wird, daß er Kaiserssohn ist und Großes vollbringen soll.
Ist er vorübergehend freudig erregt und stolz über die neu¬
gewonnene Erkenntnis, so muß er sich doch bald gegen seine Ver¬
folger wehren. Sie belästigen ihn, wo er geht und steht. Des
nachts wird geklopft und gerufen, es wird unter seinem Fenster
Geschrei gemacht und geschimpft, er wird aller möglichen Gemein¬
heiten bezichtigt, man droht ihm mit der Polizei, mit Prügel und
Totschlag. Er hört Tag und Nacht, wie die Stimmen ihm zurufen,
er müsse beseitigt werden, er dürfe nicht dazu kommen, das aus¬
zuführen, was er ausführen wolle, er sei ein gemeiner Mensch,
ein geschlechtlich Perverser, Dieb und Mörder und müsse aufs
Schaffott. Vergeblich sucht er nach seinen Verfolgern, meist hört
er sie, kann sie aber nicht sehen. Er wird erregt, antwortet auf
die Schimpfreden, welche er zu hören glaubt, kann nachts nicht
mehr schlafen, läuft umher und begeht schließlich nicht selten aus
dieser verzweifelten Stimmung heraus Gewaltakte gegen sich
selbst oder gegen einen Unschuldigen, den er für einen seiner
Verfolger hält.
Sind die Sinnestäuschungen massenhaft und sehr bedrohlich,
so kann der Kranke in Verwirrtheit verfallen. Er wird dann
unorientiert, zeigt lebhaftes Angstgefühl, wird motorisch unruhig
und ratlos. Nach einigen Stunden oder Tagen klingt die Erregung
ab, der Patient wird ruhiger und übersieht dann die Situation, in
der er sich zu befinden glaubt. Jetzt weiß er, warum er verfolgt
wird, entdeckt in seiner Umgebung immer neue Gegner, fühlt sich
aber dadurch nicht mehr beunruhigt, sondern denkt zielbewußt an
Abwehrmaßregeln.
Je nach der Menge der Sinnestäuschungen kann nun der Zu¬
stand innerhalb gewisser Grenzen hin- und herschwanken, teils
ist der Kranke beunruhigt und erregt, teils ruhiger. Es können
auch vorübergehende Stuporzustände auftreten.
Kommt man mit den Patienten auf ihre Ideen zu sprechen,
so sind sie völlig unbelehrbar. Erst ganz allmählich, d. h. nach
mehreren Wochen oder Monaten treten die Wahnideen zurück,
sie bekommen Krankheitseinsicht, erholen sich auch körperlich
und können meist nach 3—8 Monaten geheilt entlassen werden.
Ein Teil der Fälle entwickelt sich im späteren Leben zu einer
clirnnischen Paranoia. Mitunter wiederholt sich das Leiden mehr-
Die Paranoia acuta. 917
fach. Nennenswerte Störungen auf körperlichem Gebiet be¬
stehen, abgesehen von den Zeichen der Erschöpfung und eines
lokalen Leidens, nicht.
Die Fälle von akuter Paranoia sind verhältnismäßig .selten.
Wir haben in den letzten Jahren aber einige beobachtet, die
dadurch der Anstaltspflege bedürftig wurden, daß sie sieb gegen
ihre vermeintlichen Verfolger wandten und auf diese Weise
Körperverletzungen, Beleidigungen und Denunziationen begingen.
Uber die Entstehung der Wahnideen und Sinnestäuschungen
gab ein Patient, der insofern kriminell geworden war, als er an
seine vermeintliche Verfolgerin beleidigende Briefe richtete und
sie der Staatsanwaltschaft anzeigte, sehr gut Auskunft. Seine
Krankheitsgeschichte sei im folgenden kurz wiedergegeben:
F. F., geh. 21. Januar 1892. Beleidigung, Paranoia acuta, Straf¬
antrag wurde nicht gestellt. Patient ist unehelich geboren, besuchte
8 Jahre lang die Volksschule mit gutem Erfolge, kam dann in eine Schuh¬
fabrik in die Lehre; diese Stelle verließ er bald und ging in eine Harmo¬
nikafabrik, später Hausdiener und Hilfsarbeiter in verschiedenen Hotels
und Restaurants, viel auf der Wanderschaft, zeitweilig bei der Heils¬
armee, dann wieder bei der Hamburg-Amerikalinie und bei einem Maurer
als Hilfskraft, schließlich im Industriegebiet als Arbeiter tätig.
In der Schule angeblich gut gelernt. Nach der Schulentlassung be¬
schäftigte er sich in seinen Mußestunden mit Bücherlesen. Namentlich
zog ihn der Okkultismus und Spiritismus sowie das Studium der Frauen
besonders an. Er schöpfte seine Kenntnisse aus einer Zwanzigpfennig¬
bibliothek, deren einzelne Hefte in Dresden erscheinen und sich vor¬
wiegend mit derartigen Fragen beschäftigen. Durch eins der gekauften
Bücher lernte er eine Methode kennen, die darauf abzielte, den Frauen
mit Erfolg Neigung einzuflößen „durch Fernbeeinflussung und Suggestion“
(„sogenannte Telepathie“). —
Die ersten Anzeichen seines Zustandes traten etwa 8 Wochen vor
der Aufnahme in die Klinik auf. In der ersten Woche fühlte er sich
körperlich unwohl und matt. Wenn er schlafen wollte, spürte er einen
Druck an verschiedenen Körperstellen. Der Stuhl war schlecht, der
Appetit auch.
Über die weitere Entwickelung des Leidens berichtete der Patient
nach seiner Genesung folgendermaßen;
„Die ersten Anzeichen meines Zustandes äußerten sich vor etwa
8 Wochen.
Ich versuchte einem Mädchen etwas mitzuteilen, die Antwort war
schwer zu verstehen. Zur bestimmten Zeit sah ich jedoch das Mädchen
auf dem bezeichneten Platz. Ich machte weitere Experimente im Hell¬
sehen, sah sie im Geiste durch die Vision hindurch! „Heute nehme ich
an, daß ich bei fast allen Experimenten im Hellsehen resp. Fernsehen,
Halluzinationen zum Opfer gefallen bin!“ Nebenbei beinflußte ich auch
9 i8
Die Paranoia acuta.
andere Mädchen, erst durch sogen, persönlichen Magnetismus, und, so¬
bald Sympathie da war, durch telepathische Suggestion; „eine speziell“.
Rines Tages nun habe ich ein ganz sonderbares Gefühl am Sonnen¬
geflecht: Ha, denke ich — das ist „Telepathie“! Konzentriere mich also
so, daß ich an gar nichts denke, ich nehme Gedanken wahr, aber un¬
deutlich, z. B. „komme doch“, ich frage telepathisch: Wie heißt du?
Da vernehme ich ganz schwach, wie gehaucht, den Namen „Agnes“. Ich
sagte ihr, sie solle mal das Abc hersagen, das konnte ich ziemlich gut
verstehen, während sie alle Fragen sofort verstand. Eine halbe Stunde
später konnte ich auch das Mädchen auf mehrmaliges Fragen verstehen.
Nun wollte ich schlafen, 8 Uhr morgens, ich hatte jene Woche „Nacht¬
schicht“, konnte aber nicht schlafen, da sie fortwährend geistig rief:
„Komme doch!“ Ich zog mich wieder an und ging an das bewußte
Fenster, es war aber nichts zu sehen. Ich fragte sie nun: „Willst du
Ulk mit mir treiben? usw. Kurz, ich konnte sie immer besser verstehen.
Schlafen konnte ich nicht. Abends 6 Uhr ging ich nach der Arbeit, um
8 Uhr, bei der ersten Pause, unterhielten wir uns tadellos. Von zwölf
bis zwei „nachts“ noch besser. Nun konnte ich ihr bei der Arbeit doch
nicht immer zuhören, ich sagte also, gehe doch endlich schlafen, sonst
wirst du krank. Ja, sagte sie, begann aber sofort weiter zu sprechen:
es war mir nicht möglich, die Stimmen zu betäuben, ich hatte zwar mein
volles Bewußtsein, war aber wie bezaubert, Vergnügen machte mir die
Sache nicht mehr. Da sagte das Mädchen im Verlaufe der Unterhaltung
„siehst du, wie ich deine Gedanken lesen kann, du kannst ja, wie ich
sehe, die meinen auch lesen!“ Die Sache wurde immer toller, ja sogar
unheimlich. Das Mädchen entwickelte immer mehr schauspielerisches
Talent, sie übertrug nun nicht nur Worte, sondern auch die Gefühle, die
man dabei empfindet. Z. B. rief sie plötzlich: „Franz, Franz, ich bin
wahnsinnig geworden.“ Sie wiederholte die Worte und stöhnte dabei
„fürchterlich“. Diese Worte hatten eine solche Wirkung, daß mich ein
kalter Schauer befiel und sofort Schweiß ausbrach. Ich nahm meine
Willenskraft zusammen, beruhigte sie, ich nahm an, daß sie auf natürliche
Weise, mit den noch nicht mitgeteilten Gedanken, eingeschlafen und sich
so unbewußt in Somnambulismus versetzt hätte, was sie auch scheinbar
bestätigte. Plötzlich rief sie: „Franz, Franz, ich bin hellsehend ge¬
worden.“ Ich war neugierig, sie rief: „du wirst sechzig Jahre alt werden,
wirst im Irrenhaus an der Schwindsucht sterben, o, was sehe ich, auf
dem Schafott wirst du sterben, nein, doch nicht, aber im Irrenhaus!“
„Ich, Beweise!“ „Sie, deine Mutter wohnt in F. P. 12!“ Nun hatten
wir bald Morgen, da kam mir der Gedanke, daß es nicht dieses Mäd¬
chen -sondern die Sch. war, ich also falsch verbunden war, was
sie mir höhnisch bestätigte. Nun hatte ich schon seit einer Woche
schlechten Stuhlgang, schlechten Appetit, fühlte mich körperlich unwohl,
matt, und wenn ich schlafen wollte, fühlte ich einen Druck auf ver¬
schiedenen Körperstellen, ich dachte später, da hat dir die Sch. darauf¬
hinzielende Suggestionen gegeben, die ich in meinem Zustand wahrnalim,
z. B. beim Essen. „Sie“: Schmeckt nicht! „ich“ schmeckt tadellos; Sie:
„du hast einen Ekel, du mußt dich erbrechejj“, ich „mir ist so w'ohl, ich
Die Paranoia acuta.
919
könnte jubeln!“ Kurz, ich brachte mir Gegenvorstellung bei. Als ich
von der Nachtschicht zurück war, versuchte ich mit dem andern Mädchen
in telepathische Verbindung zu kommen, was mir in meinem Zustand
auch sofort gelang. Dieses Mädchen erzählte mir nun, daß die Sch.
längere Zeit täglich nach D. gefahren sei, und dort, bei einem Hypno¬
tiseur das Hypnotisieren erlernt habe, daß sie die Mädchen als Ver¬
suchsobjekte benutze, bei ihr aber keinen Erfolg gehabt hätte. Nun
wußte ich, wo sie die teuflischen Suggestionen her hatte. Die Periode
mit diesem Mädchen, war ein ganz reiner himmlischer Zustand, eine
nicht zu beschreibende Ekstase. Nun kam die Sch. wieder aufs Tapet,
sie sagte: ,ßürschchen, ich werde dir jetzt was sagen, daß dir hören
und sehen vergeht, ich habe dich des öfteren in Somnambulismus ver¬
setzt, ohne daß du eine Ahnung davon hattest, wie hübsch du da er-
zähien konntest, paß mal auf-
,Haha‘, haha‘, das andere werde ich deiner lieben Lina erzählen,
wie sich die freuen wird, die habe ich zwar auch in den sogen. Somnam¬
bulismus versetzt; aber die ist gut, tatsächlich viel besser als ich, du
hast ja ,ne feine Witterung für die Seele, haha‘, und was deinen Neben¬
buhler betrifft, über den du dich immer so spöttisch amüsiertest, so bin
ich ihm nicht gleichgültig geworden; sondern ich habe ihn durch Sug¬
gestion geheilt, und was deine — und deinen Nebenbuhler betrifft, ich
werde sie gegenseitig verliebt machen, sie werden sich lieben, und nicht
nach dem ,wie‘ fragen, (spöttisch) ,wie schön ist doch die Telepathie!*
Meinen Nachbarinnen, du weißt doch-und der in der Menage werde
ich sagen, du hättest sie hypnotisiert.“
„Jetzt, wo ich bis zu einem gewissen Grade objektiv urteilen kann,
sehe ich die Sache in einem anderen Lichte, aber ich beschreibe eben
den Zustand so, wie er sich in meinem Innern abgespielt bat!“
Im Verlauf des oben gezeichneten Gespräches bin ich ans Fenster
gegangen und sah, wie die Sch. ins Nachbarhaus ging, das war eben
Zufall. Ich nahm aber an, daß sie nun die Drohung wahr machen würde,
ich machte alles in Ordnung, um ins Krankenhaus nach D. zu gehen, die
Formalitäten mit der Krankenkasse waren erledigt. Ich befand mich
nun schon 4 oder 5 Tage in dieser Verfassung, natürlich fiel mein Wesen
meinen Arbeitskollegen auf. Einer: „Franz, ich glaube, du hast dich
zu viel mit deinen Büchern beschäftigt, das stimmt nicht!“ Am
2. Tag war ich privatim bei einem Arzt, um durch Oegenhypnose aus
dem Rapport zu kommen, der mich, wie ich annahm, mit der Sch. ver¬
band. Er erklärte etwa, „sie sind absolut nicht irrsinnig, sie haben
sich etwas in den Kopf gesetzt, sie sollten sich nicht mit derartigen
Dingen befassen, ihre Kräfte reichen hierzu nicht aus, daß müssen Sie
uns überlassen, ich werde Ihnen jetzt Schlafpulver verschreiben, ja, ich
kann Sie hypnotisieren usw.“ Ein Naturheilkundiger, von dem ich vor¬
aussetzte. daß er hypnotisieren könnte, bot mir Pillen an. Im Kranken¬
haus in D. war ich 4 Tage, erhielt Stuhltee und einmal eine Spritze —
gegen Schlaflosigkeit, beide Medikamente waren wirkungslos, der
dortige Professor meinte, „er weiß Bescheid-“ „daß müssen wir
selbst wissen, was für eine Methode wir anzuwenden haben!“
920
Die Paranoia acuta.
Die Sch. hatte sich nun in einen richtigen Teufel verwandelt, ihre
jüngere Schwester, ihr Vater und die zuvor angedeuteten Mädchen
hatten sich ihr angeschlossen, ich bekam Leibschmerzen, hatte einen
Druck auf den Magen, wie wenn einer darauf sitzen würde, die eine gab
mir nun die Suggestion, du „mußt“ ver—, kurz lauter ganz gemeine
Suggestionen, zudem mußte ich alle Sünden meines Lebens anhören, da
erfaßte mich die Verzweiflung-da gaben sie mir Suggestionen, daß
ich ganz mutlos wurde, ums Haar hätte ich sie um Verzeihung gebeten,
ich wähnte mich richtig in die Holle versetzt, ich hätte mir Arme und
Beine abschneiden lassen, wäre ich dadurch von jenem Teufel befreit
worden, den Kopf w'ollte ich aus dem Grunde behalten, W'eil ich er¬
forschen w'ollle, ob der Mensch eine unsterbliche Seele besitzt oder
nicht, denn ich sagte mir. wenn du dich mit deiner Vernunft überzeugt
hast, daß die Seele unsterblich, die Glückseligkeit nur so ist, wie du sie
in jener Ekstase erlebt hast, dann sind tausend Jahre seelische Leiden,
wie jetzt eine Bagatelle. ..Daß ich hier nicht übertrieben habe, darauf
könnte ich einen Eid schwören!“
Da Pat. in dem Krankenhause zunehmend unruhig wurde, wurde er
zu uns verlegt. Inzwischen hatte sich das Krankheitsbild noch vervoll¬
ständigt. Die Wahnideen hatten zugenommen. Er behauptete, die S.
wolle ihn zweigeschlechtlich machen, das heißt, homo- und hetero¬
sexuell, weil das sein größter Ekel sei. Auch wolle sie ihn geisteskrank
machen. In der Klinik merkte er die Suggestionen der S. sofort auch.
Sie sprach fortwährend mit ihm, z. B. während einer Unterredung mit
dem Arzte: „Du verdammter Spitzbube bist tatsächlich verrückt, dich
soll der Teufel holen.“ Pat. hört die Stimmen von innen heraus, fügte
hinzu, er könne dort auch hineinsehen. Die Stimmen kämen aus dem Unter¬
leib; Gestalten sah er hier nicht. Am Unterleib w'urde gespielt, er
wurde dort gezwickt und beeinflußt, das Essen schmeckte ihm nicht, der
Stuhl war verstopft. Die S. ließ ihn unter Anwendung der Suggestion
mit den Augen rollen und machte andere Leute auf ihn aufmerksam. Ihre
Schw^estcr und ihr Vater waren auch dabei. Die hatte sie schon auf¬
gewiegelt. Auch in der Nacht wollte sie versuchen, ihm die Nerven
zu zerrütten.
Bittet hier um Gegenhypnosen, von denen er Heilung erwartet. Er
wird einige Male hypnotisiert. Nach dem ersten Mal fühlt er sich sehr
w'ohl, beim zweiten Mal schon weniger, die dritte Hypnose hat wenig
Einfluß. Einige Tage später fällt er dadurch auf, daß er plötzlich vom
Essen aufsteht, die Hände an die Ohren hält und offenbar lauscht. Das¬
selbe tut er bei einem Spaziergang im Park und auf dem Abort, wo er
lange bleibt. Manchmal lächelt er vor sich hin. geht in steifer Haltung
mit hochgehobenem Haupt, zeigt durch sein ganzes Wesen, daß die
Sinnestäuschungen und Wahnideen wieder die Oberhand gewonnen
haben. Er berichtet, die hypnotische Beeinflussung habe w’ieder stärker
eingesetzt, nachdem er sich mit der Frage beschäftigt habe, ob der
Mensch nach dem Tode weiterlebe, oder nicht. Durch die Gemeinheit
der S. werde er nun wieder beeinflußt und hypnotisiert. Er fühle wieder
den konzentrierten Magnetismus an seinem ganzen Körper, man könne
Die Paranoia acuta.
921
das Oeschlechtsniagnetismus nennen. Die S. und ihre jüngere Schwester
beeinflußten ihn; die Autosuggestionen die er bisher mit Erfolg dagegen
angewandt habe, hätte er ausgesetzt, jetzt wolle er damit wieder an¬
fangen. Er höre oft die Stimmen der Frauenzimmer. Anfangs habe er
geglaubt, daß er sie nur mit dem Verstände wahrnehme, jetzt merke er
es auch mit den Ohren immer mehr. Die Stimmen geben ihm die Sug¬
gestion und beschimpfen ihn mit Esel, Tollpatsch, Schafskopf, Dumm¬
kopf. Sie hätten ihn auch zum Rauchen verführt, um seinen Willen
zu schwächen. Einmal habe ihm die S. auch zugerufen, ich werde dich
schon kriegen, du mußt mich noch küssen, du mußt mir noch zu Füßen
liegen, ich will auch meine Rache haben.
Einige Tage später berichtet er. daß die S. auch in der Klinik schon
neue Hilfskräfte gewonnen hätte. Er bezeichnet zwei bestimmte Pat.,
die mit ihr im Komplott ständen. Einer von ihnen habe ihm auch schon
Suggestionen gegeben, „du hast Furcht“. Da sei er sofort zu ihm hin¬
gegangen und habe ihn scharf angesehen. Sie versuchen es auf alle Art
und reizen ihn immer wieder. Beim Schreiben geben sie ihm auch Sug¬
gestionen. daß er das Kleine groß und das Große klein schreiben muß.
Sehen kann er die Leute nicht, früher sind sie ihm als leichte Schatten
erschienen. Sprechen hört er sic fortwährend. Er nimmt die Stimmen
durch das Ohr wahr. Aus einer bestimmten Richtung kommen sie nicht.
Er hat selbst darauf geachtet, indem er sich die Ohren zuhielt. „Man
kann es aber so nicht beurteilen.“
Nachdem er die beiden Pat. in der Klinik mit im Komplott glaubt,
ist er aufgeregt, geht nachts vor deren Zimmertür, beschimpft sie, stellt
den einen in seinem Zimmer zur Rede, droht ihnen, so daß seine Ver¬
legung in die Provinzialheilanstalt erfolgen muß. Hier zunehmende Er¬
regung. die sich erst nach einigen Wochen legt: dann allmählicher Rück¬
gang der Erscheinungen. Zum Schluß Krankheitseinsicht, hält das ganze
für eine geistige Störung, wird geheilt entlassen. Die Orientierung war
während der ganzen Krankheitsdauer erhalten.
Der Fall zeigt erstens, wie die Krankhcitsersclieinungen, ins¬
besondere die Sinnestäuscluingen und Wahnideen entstanden sind,
zweitens zeigt er, nach welcher Richtung iiin die Kranken kriminell
werden können. Unser Patient hat das Mädchen, in der er seine
Verfolgerin sah, mehrfach beleidigt, er hat sie auch der Staats¬
anwaltschaft denunziert. Er hat ferner gegen die beiden Patienten,
welche er in der Klinik für seine Verfolger hielt, vorgehen wollen
und dieselben lebhaft bedroht und beschimpft. —
Damit ist die forensische Bedeutung der akuten Paranoia fast
erschöpft. Es kann gelegentlich wohl auch einmal zur Vollziehung
von Rechtsgeschäften kommen, die der Kranke unter dem Einfluß
seiner pathologischen Vorstellungen tätigt, doch ist Derartiges
nicht häufig. Einer unserer Patienten, der wegen Lungen-
922
Die Paranoia chronica.
tuberkulöse die Krankenkasse in Anspruch nahm, hörte Stimmen,
welche ihm zuriefen, er habe kein Recht an die Kasse, denn er sei
nicht krank, sondern nur faul, er solle das erhobene Krankengeld
zurückgeben usw. Darauf setzte er sich hin und schrieb an den
Vorstand, er verzichte formell auf alle Rechte an die Kasse, um
den Verfolgungen zu entgehen.
Einen Ehescheidungsgrund gibt die akute Paranoia wohl
nie ab.
Die Paranoia cliroiiica.
Die Diskussion über die Abgrenzung des Krankheitsbildes
befindet sich gegenwärtig in lebhaftem Fluß. Wir wollen von
einer Erörterung der verschiedenen Streitfragen absehen, weil sie
für forensische Zwecke nicht so bedeutungsvoll sind, daß eine ein¬
gehende Darstellung derselben notwendig wäre'). —
Wir wollen hier bei der Umschreibung des Begriffes be¬
sonderen Wert auf die mehr oder minder rasche Ausbildung eines
Wahnsystems legen, das sich ohne Trübung des Bewußtseins aus
der Persönlichkeit heraus entwickelt, mit Sinnestäuschungen ein¬
hergehen kann, auch mit gewissen Änderungen des Gefühlslebens
verbunden ist, ohne daß man deshalb aber schon von stärkeren
.‘\ffektschwankimgen s])rechen kann. Mit Kraepelin, Hoche und
anderen .Autoren möchten wir drei Unterarten unter.schcidcn,
nämlich die chronische kombinatorische, die chronische halluzina¬
torische und die hy])ochondrische Paranoia. Bei dieser Einteilung
muß man sich aber immer vor .Augen halten, daß damit Typen be¬
zeichnet werden, zvvischcti denen es zahllose Übergänge gibt“).—
’) Wilmaiins Zeiitralbl. f. Nervenheilk. 1910. Friedmann, Monats-
.schrift f. Psycli. XVII. Birnbaum, Psychosen mit WatinbildunR. Halle
a. S. 1908. C. Marhold. Kräpelin. Zeitschr. f. d. ges. Neurol., Bd. 11, S. 617.
“) Gramer, Abgrenzung der Paranoia. Zeitschr. f. Psych.. Bd. .Sl.
Ders. Berl. klin. Wochenschr. 1902. Jolly, Degenerationspsychose und
Paranoia. Charite-Annalen, Bd. 27. Buchholz, Chron. Paranoia mit zykl.
Anf. Leipzig 1895. Kunick, In.-Diss. Kiel 1905. Ziehen. Arch. f.
Psych., Bd. 24. C. Werner, Die Paranoia. Stuttgart 1891. Schneider,
Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 60. Tiling. Psych. Wochenschr. Sommer,
Paranoia. Deutsche Klinik, Bd. 6. Kl. Neißer, Paranoia und Schwach¬
sinn, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1897, S. 241. Derselbe, Zentralbl. f. Nerven¬
heilkunde, Bd. 15. Masselon, L'Encephale 1912.
Die Paranoia chronica.
923
Es ist in den früheren Jahren viel darüber gestritten worden,
ob der Paranoiker schwachsinnig sei oder nicht. Diese Frage ist
inzwischen dahin entschieden, daß sich eine chronische Paranoia
zwar auf dem Boden des angelxirenen Schwachsinns entwickeln
kann, ohne daß die Annahme einer erworbenen oder angeborenen
geistigen Schwäche aber zur Erklärung des Krankheitsbildes un¬
bedingt erforderlich ist.
Die chronische kombinatorische Paranoia ent¬
wickelt ’) sich fast regelmäßig nur bei psychopathischen Persön¬
lichkeiten. Vielfach sind es Menschen, die schon in der Kindheit
und in den Entwickelungsjahren besonders aufgefallen sind. Eine
verhältnismäßig gute Intelligenz verbindet sich mit einer gewissen
Unstetheit des Wesens. Bisweilen werden künstlerische Neigungen
beobachtet, ein über das gewöhnliche Maß hinausgehender Bil¬
dungsdrang findet sich nicht selten; mit ihm verbindet sich Ehr¬
geiz, die Sucht, v^orwärts zu kommen. Ferner beobachtet man eine
t'berschätzung der eigenen Person, verbunden mit hochgradiger
Empfindlichkeit und Mißtrauen. Ängstlich achtet der Kranke
darauf, ob er so behandelt wird, wie er es glaubt verlangen zu
können. Die harmloseste Redensart eines anderen gibt ihm Ver¬
anlassung, stundenlang nachzudenken, wie das wohl gemeint sein
könne, ob dahinter nicht irgendeine beabsichtigte Kränkung
stecken könnte.
Die Überempfindlichkeit, das Mißtrauen und das gesteigerte
Selbstgefühl machen den Kranken zu einem wenig angenehmen
Haus- und .‘Xrbeitsgenossen. Es kommt vielfach zu uiiangenehmeu
Auseinandersetzungen, bei denen er unbelehrbar ist, das Recht
stets auf seiner Seite glaubt und sich von den anderen benach¬
teiligt fühlt, wenn sie nicht so wollen, wie er. Fast nie mißt
er sich die Schuld bei derartigen Disputen bei. Wohl aber setzt
sich bei ihm mit der Zeit die Ansicht fest, daß er benachteiligt
werden solle. Je mehr er daran glaubt, desto genauer beobachtet
er seine Umgebung und desto mehr Anhaltepunkte glaubt er für
seine Annahme zu finden.
Bald kommt er einen Schritt weiter. Es ist nicht mehr Zu¬
fall, Ungeschicklichkeit oder Unachtsamkeit, daß er schlecht be¬
handelt wird, sondern böser Wille. Seine Angehörigen, seine Mit¬
arbeiter, die Nachbarn usw. haben etwas gegen ihn, sprechen
B Pick, Neurol. Zentralbl. 1902.
924 Die Paranoia chronica.
hinter seinem Rücken über ihn, beobachten ihn — nicht so, daß er
verstehen könnte, was sie sprechen, aber an ihren verlegenen
Mienen, an den Blicken, die sie austauschen, an der Art, wie sie
sich abwenden, wenn er kommt, wie sie das Zimmer verlassen,
sobald er es betritt, entnimmt er mit Gewißheit, daß sie sich alle
gegen ihn zusammengetan haben.
Bald erweitert sich der Kreis seiner Verfolger. In den Zei¬
tungen werden Andeutungen gemacht, die sich auf ihn beziehen;
wenn er in Geschäften etwas einkauft, wird er anders bedient,
wie die übrigen Kunden. Im Beruf werden ihm Schwierigkeiten
bereitet, er wird verleumdet, seine Freunde werden ihm abwendig
gemacht, er soll isoliert, ja wirtschaftlich und moralisch ver¬
nichtet worden.
Alles das hat niemals einer seiner Verfolger bestimmt aus¬
gesprochen. Dank seiner ,,scharfen Beobachtungsgabe“ bedarf es
dessen aber auch gar nicht. Er sieht, daß sie sich anders ver¬
halten, daß sie hinter seinem Rücken gegen ihn arbeiten, daß seine
Vorgesetzten ihm nicht mehr mit demselben Wohlwollen be¬
gegnen wie früher, daß sich auch seine Freunde von ihm zurück¬
ziehen. Gelegentliche Mißerfolge im Beruf und den sonstigen
Unternehmungen sind ihm ein sicherer Beweis, daß andere die
Hände im Spiele haben.
Schon früh taucht auch bei ihm die Frage auf, warum gerade
er zum Gegenstand solcher Verfolgungen gemacht wird. Bald
findet er die Antwort darauf. Man beneidet ihn wegen seiner
Leistungen, die besser sind, als die seiner Mitarbeiter; man will
nicht, daß er hoch kommt und jene Zurückbleiben. Man will ihn
unterdrücken, weil er die anderen überragt, dazu bedient man sich
aller erdenklichen Mittel. Diese Erkenntnis steigert sein Selbst¬
bewußtsein, er beginnt aktiv gegen seine Feinde vorzugehen, um
„sich durchzusetzen“.
Nachdem sein ganzes Denken auf bestimmte Punkte ein¬
gestellt ist. deutet er auch die Vorgänge der Außenwelt nur noch
in diesem Sinne. Hinter jedem belanglosen Geschehnis wittert er
neue Verfolgungen. Alles, was sich ereignet, ist ihm ein neuer
Beweis für die Richtigkeit seiner Annahmen. Er wird gereizt,
hochfahrend, schroff gegen seine büngebung, hält dabei aber
wenigstens in den ersten Jahren der Krankheit mit seinen Wahn-
V'orstellungen, denn .solche sind es inzwischen geworden, sehr zu¬
rück, bis eines Tages auch das nicht mehr möglich ist. Nun ,,muß
Die Paranoia chronica. 925
er kämpfen“, „nicht seinetwegen, sondern der großen Sache wegen,
die er vertritt“, nun ,,müssen alle die aus dem Wege geräumt
werden“, die sich ihm entgegenstellen, nun beginnt der „Kampf
bis aufs Messer“, der nur mit einem „Sieg oder Unterliegen“ enden
darf (verfolgte Verfolger).
Jetzt geht der Kranke rücksichtslos vor, er denunziert, be¬
schimpft seine Verfolger, bedroht sie, wendet sich an die Öffent¬
lichkeit. Da er bei den Behörden keine Unterstützung findet, in
ihnen also auch sehr bald Teilnehmer an dem Komplott gegen sich
erkennt, muß er sich selbst helfen und benutzt jedes erreichbare
Mittel. Selbst zur Waffe greift er, um seine Gegner unschädlich
zu machen. Auf diese Weise kommt es unter Umständen sogar
zu schweren Körperverletzungen und Mordversuchen.
Besonders gefährlich sind die Kranken deshalb, weil bei ihnen
die strafbaren Handlungen nicht das Produkt eines Augenblicks
sind, in dem ein bestimmtes Gefühl die verstandesmäßigen Über¬
legungen zurückgedrängt hat, sondern der Plan reift in aller Stille,
wird sorgfältig vorbereitet und trifft meist ein völlig ahnungsloses
Opfer').
Da, wo der Kranke nicht soviel Initiative und Temperament
besitzt, um gegen seine Feinde aktiv vorzugehen, ist der Erfolg
ein umgekehrter. Der Patient zieht sich vor seinen Verfolgern
zurück. Er verläßt seine Wohnung und zieht in ein entferntes
Stadtviertel. Schon beim Einzuge merkt er aber, daß dort die
Bewohner von den früheren Hausgenossen informiert sind und
über ihn Bescheid wissen; daß dort die alten Sticheleien ebenso
losgehen sollen, ohne daß er die geringste Veranlassung dazu ge¬
geben hätte. So kommt es zu einem ruhelosen Herumziehen, das
den Patienten zur Verzweiflung treibt und ihm oft sogar zu
Selbstmordversuchen Anlaß gibt.
Obwohl er sich nicht für krank hält, sucht er nicht allein die
Polizei und die sonstigen Behörden auf, sondern geht gar nicht
selten auch zum Arzt, um sich diesem zu offenbaren. Sagt der
ihm, daß es sich um krankhafte Vorstellungen handelt, so zeigt
sich der Patient völlig unbelehrbar. Er ist keinem vernünftigen
Zuspruch zugänglich, weiß immer neue Einwände gegen die An¬
sicht des Arztes geltend zu machen und da, wo seine Logik v'ersagt.
') Hoche, Gefährlichkeit Geisteskranker. Med. Klinik 1906.
926
Die Paranoia chronica.
kommt er einfach mit der Behauptung, daß es doch so sei, wie er
meine *).
So bildet er langsam, über viele Jahre hin, sein System
weiter, bis schließlich irgendeine auffällige Handlung ihn in die
Irrenanstalt bringt.
Das äußere V' e r h a 11 e n des Patienten kann lange Jahre
ganz korrekt sein. Er kann sich auch trotz weit vorgeschrittener
Krankheit im allgemeinen in die bestehende Rechtsordnung ein-
fügen. Vielfach gilt er als ein verschlossener Mensch, als ein
Sonderling, mit dem nicht viel anzufangen ist. Die wenigsten aber
vermuten hinter ihm einen Geisteskranken. Erst dadurch, daß er
sich zufällig einmal ausspricht oder gegen seine vermeintlichen
Verfolger vorgeht, kommt heraus, daß er seit Jahren an Wahn¬
vorstellungen leidet. —
Sinnestäuschungen spielen bei der kombinatorischen
Paranoia eine verhältnismäßig geringe Rolle. Sie kommen ge¬
legentlich vor, sind aber nicht sehr zahlreich, ein Umstand, der
gleichfalls die Erkennung der Erkrankung wesentlich erschwert.
Wichtig sind dagegen die sogenannten Erinnerungs¬
täuschungen. Sie sind vorhanden, wenn der Kranke die
Vergangenheit im Sinne seines späteren Wahnsystems umdeutet
und harmlose Geschehnisse aus früheren Jahren mit seinen spä¬
teren Verfolgungs- und Größenideen in Verbindung bringt. —
Die halluzinatorische Paranoia unterscheidet sich
von der eben besprochenen Gruppe dadurch, daß frühzeitig Sinnes¬
täuschungen auftreten, die sowohl die Wahnbildungen inhaltlich
beeinflussen, wie auch für das Handeln des Kranken von hoher
Bedeutung sind.
Auch bei der halluzinatorischen Paranoia beginnt
das Leiden allmählich mit einem Vorstadium, wie es oben
bereits geschildert worden ist. Die weitere Entwickelung ist so,
daß eines Tages Sinnestäuschungen auftreten, der Kranke
hört, daß er von seinen Verfolgern beschimpft wird: auch
drohende Stimmen vernimmt er; es wird ihm mitgeteilt, was
seine Feinde gegen ihn zu unternehmeii beabsichtigen. Oder die¬
selben haben soviel Macht über ihn gewonnen, daß sie mit Hilfe
der Stimmen befehlen können, was sie wollen. Er muß nach den
Befehlen handeln.
Oft wird aber nach solchen Unterredungen auch der Arzt in das
„System " mit einbezogen.
Die Paranoia chronica. 927
Die Größen ideen wiederum werden durch die Sinnes¬
täuschungen insofern gefördert, als dem Kranken mitgeteilt wird,
daß er zu Großem ausersehen ist: Er steht mit Hilfe der Stimmen
mit Gott*) direkt in Verbindung, der ihm seine Befehle gibt. Es
wird ihm mitgeteilt, daß er zum „Erlöser der Welt“ oder zum
„Kaiser der ganzen Welt“ ausersehen ist und ähnliches mehr.
Im Beginn des Leidens kommt es vor, daß der Kranke die
Sinnestäuschungen noch als etw'as Abnormes ansieht. Er sucht
ihre Richtigkeit experimentell festzustellen. Sehr bald aber
kommt er so weit, daß er von der Wirklichkeit dessen, was er
hört, felsenfest überzeugt ist.
Auch die anderen Sinne sind an den Halluzinationen beteiligt,
am wenigsten wohl der Gesichtssinn. Es kommt verhältnismäßig
selten vor, daß der Kranke auch Gestalten sieht. Wo das vor¬
kommt, handelt es sich mehr um Illusionen.
Dagegen wird häufiger angegeben, daß das Essen sonderbar
schmecke, daß ein eigentümlicher Geruch im Zimmer sei, oder es
entstehen abnorme Sensationen in der Haut, die der Kranke als
Beeinflussung durch elektrische Strahlen, unzüchtige Berührungen
und ähnliches deutet.
Während bei der kombinatorischen Paranoia die Wahnvor¬
stellungen sich nicht selten in Grenzen halten, die wenigstens zum
Teil noch im Bereich der Möglichkeit liegen, steigern sie sich bei
der halluzinatorischen Paranoia so weit darüber hinaus, daß es
nicht schwer ist, die Äußerungen des Patienten als Ausfluß seiner
Krankheit zu erkennen.
Unter den Kranken dieser Gruppe befinden sich denn auch
zahlreiche Weltverbesserer, Gottes- und Königskinder, Fürsten
und Herrscher, Erfinder, Dichter und Künstler, die ihre Mission
höheren Gewalten zu verdanken haben. Der Steigerung der
Größenideen entspricht meist auch eine Steigerung der Intensität
der Verfolgungen. Der halluzinierende Paranoiker kann sich
seiner Gegner überhaupt nicht erwehren. Wo er hinkommt, wird
er von ihnen belästigt. Des Nachts foltern sie ihn mit elektrischen
Maschinen, welche durch die Wand oder den Fußboden hindurch
wirken. Es werden ihm mittels „Telephonie“ oder ,,Telepathie“
’) Da, wo religiöse Wahnvorstellungen vorherrschten, sprach man
früher von Paranoia religiosa. Wenn der Wahn erotisch gefärbt war,
wurde das Krankheitsbild auch als Paranoia erotica bezeichnet.
928
Die Paranoia chronica.
Schimpfvvorte zugerufen. Mit Röntgenstrahlen wird er durch¬
leuchtet. Die Stimmen sprechen ihm alles vor, was er gerade
sagen will, sie ,,verbinden“ ihm den Mund, so daß er vorüber¬
gehend still sein muß, sie verlangen von ihm, daß er krumm und
schief geht, damit er den Leuten auffällt, ziehen ihm ,,die Natur
ab“, mit einem Wort gesagt, sie malträtieren ihn auf alle erdenk¬
liche Weise.
Auch das äußere Verhalten des halluzinierenden Para¬
noikers muß sich naturgemäß bei dieser Sachlage von dem des
kombinierenden unterscheiden. Während der letztere sich der
Außenwelt doch für gewöhnlich anpaßt, so daß er nicht be¬
sonders aufzufallen braucht, sehen wir den Halluzinanten meist in
mäßiger, nicht seltener in ausgesprochener Erregung. Er lauscht
auf das, was die Stimmen ihm sagen, antwortet mitunter, wenn
auch nur leise. Der Blick ist gespannt, nach der Gegend ge¬
richtet, aus welcher die Stimmen kommen. Das Mißtrauen
gegen die Umgebung ist stärker entwickelt. Der Patient sucht
nach Schutzvorrichtungen, mit deren Hilfe er sich gegen die
Stimmen seiner Verfolger und deren elektrische Maschinen
schützen kann. Schließlich kommt es dann eines Tages zu einem
Gewaltakt gegen einen von denen, die er im Komplott, gegen sich
glaubt, und an denen er für die Verfolgungen Rache nehmen will.
Ist somit im allgemeinen der halluzinierende Paranoiker
leichter als Kranker zu erkennen, wie der kombinierende, so
muß doch hinzugefügt werden, daß auch der Halluzinant unter
Umständen imstande ist, sich soweit zu beherrschen, daß er
von seinen Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen nicht
spricht, dieselben sogar ableugnet. Auch er kann also dissimulieren
(vergl. Allgem. Teil). Bei genauer Beobachtung ist es aber
meist doch möglich, zu erkennen, daß er nicht frei von Sinnes¬
täuschungen ist.
Die dritte Unterart der Paranoia ist die hypochondrische.
Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß im Krankheitsbilde hypo¬
chondrische Wahnvorstellungen dominieren. Daneben bestehen
außerdem Sinnestäuschungen und Wahnideen, insbesondere Ver-
folgungs- und Größenwahn, wie bei den anderen paranoischen Er¬
krankungen. Das charakteristische Gepräge erhalten diese Fälle,
die übrigens in reiner Form verhältnismäßig selten sind, dadurch,
daß der Patient allerlei Krankheitszeichen an seinem Körper zu
entdecken glaubt, um die er sich viel Gedanken macht und deren
Die Paranoia chronica.
929
Entstehung er wahnhaft zu erklären sucht. Bald sind es irgend¬
welche Flecken am Körper, bald ist der Urin zu scharf, bald ist der
Magen ausgebrannt, das Rückenmark verdorrt usw. Wenn die
Kranken für diese hypochondrischen Vorstellungen eine bestimmte
Person verantwortlich machen, so kann es auch da zu Gewalttaten
kommen. Daneben ist die Folge nicht selten die, daß die Nahrung
verweigert wird, oder die Patienten allerlei verschrobene Mani-
l)ulationen vornehmen, um das Leiden auf eigene Faust zu heilen.
Die Beeinflussung durch verstandesmäßige Erwägungen oder
durch andere Arten der Beweisführung ist nicht möglich. Die
Kranken halten vielmehr unbelehrbar an ihren Vorstellungen
fest. —
Der Verlauf der chronischen Paranoia ist für
gewöhnlich der, daß die Kranken Jahre und Jahrzehnte an ihrem
„System“ fortbilden, d. h. alle neuen Wahrnehmungen den alten
einzuordnen suchen, und somit das ganze Weltbild, wie es sich ihnen
bietet, unter dem Gesichtspunkt des Größen- und Verfolgungs¬
wahns ansehen. Mit den Jahren aber läßt ihre Energie nach, sie
halten an den alten Wahnvorstellungen zwar fest, bilden aber
.schließlich wenig oder gar keine neuen mehr. Das zunehmende
Alter macht auch sie ruhiger und bedächtiger. Zu einer eigent¬
lichen Verblödung kommt es aber im allgemeinen nicht, ebenso¬
wenig zu einer Heilung.
Wenn die Kranken gelernt haben, mit ihren Wahnvorstellungen
und Sinnestäuschungen zu paktieren, ist es unter Umständen sogar
möglich, sic wieder aus der Anstalt zu entlassen. Sie fallen dann
in der Öffentlichkeit nicht einmal besonders auf.
Wichtig ist, daß es bei der chronischen Paranoia .sogenannte
Exazerbationen gibt, während deren die trübe Stimmung
oder Gereiztheit des Kranken, oft auch die Sinnestäuschungen an
Zahl zunehmen und der Wahn den Patienten stärker beunruhigt,
als vorher, ln diesen Zuständen sind die Kranken besonders ge¬
fährlich (Selbstmord, Mord!). —
.-\uf körperlichem Gebiete braucht der Paranoiker
keine nennenswerten Störungen zu bieten. .'Mlenfalls kann man
eine mehr oder minder große Zahl von Entartungszeichen nach-
weisen.
Die forensische Bedeutung der chronischen
Paranoia ist eine beträchtliche. In erster Ivinie führt sic fast
regelmäßig zu strafrechtlichen Handlungen, von denen die ge-
Hübner, Forensische Psychiatrie. 51)
930
Die Paranoia chronica.
ringsten noch Beleidigungen sind. Weiterhin kommt es zu fal¬
schen Anschuldigungen, Körperverletzungen, Totschlag und Mord¬
versuchen’), oder es werden Störungen des Gottesdienstes be¬
gangen, entweder, weil der Kranke selber glaubt. Apostel oder
Sohn Gottes zu sein, oder aus anderen Gründen. So hatten wdr
z. B. eine Kranke, die eines Tages mitten im Hauptgottesdienst
den auf der Kanzel amtierenden Geistlichen mit Steinen un<l
Straßenkot zu bewerfen begann, den sie sich in großen Tüten
mitgebracht hatte, weil sie von ihren Stimmen gehört hatte, daß
er die Heirat mit einem von ihr geliebten Hilfsprediger ver¬
hindern wollte.
Weiterhin begehen Paranoiker gelegentlich auch Hausfriedens¬
bruch, indem sie in fremde Wohnungen einzudringen, namentlich
aber auch in Schlösser regierender Fürsten sich Eingang zu ver¬
schaffen suchen, entweder in der Absicht, den Thron selbst zu
besteigen, oder weil sie bei dem Herrscher Klagen gegen ihre V'er-
folger vorzubringen haben. Ebenso werden vielfach an die Be¬
hörden lange Schriftstücke zum Teil beleidigenden Inhaltes ge¬
richtet, in denen sie entweder ihre Thronbesteigung aukündigen,
eine Weltverbesserung versprechen, oder ihre Verfolger denun¬
zieren ’).
Sittlichkeitsdelikte sind seltener (s. Snell).
Wenn unter meinen 196 Fällen im ganzen nur 3 Paranoiker
sind, so ist das wohl dadurch zu erklären, daß die chronische Para¬
noia bei unserem Material überhaupt etwas verhältnismäßig
Seltenes ist. Daß die Begutachtung namentlich dann, wenn
Sinnestäuschungen nicht sehr zahlreich vorhanden sind oder ganz
fehlen, große Schwierigkeiten l)ereiten kann, und daß ein solcher
Kranker unter Umständen die Behörden jahrelang in Atem zu
halten vermag, beweist der folgende Fall, den ich selbst l)egut-
achtet habe.
H. V. R., Keh. 30. Auk. 1847, Privatiere. Die R. wurde beschiildiKt,
1 . am 26. Januar 1904 zu H. den Sanitätsrat Dr. V. bedroht zu haben,
indem sie ihn auf der Wandelbahn stellte und ihm zurief: „Sanitätssrat V.,
’) Komnick. Zeitschr. f. Med.-Beamte 1897. Legras, Annal. m6d.-
psychol. 1898. Snell, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 20, 64.
“) S. auch Bonhoeffer, Zentralbl. f. Nervenheilk., Bd. 22. Ferner
Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 57, S. 401. v. Krafft-Ebing, Friedreichs Bl.
für gerichtl. Med., Bd. 41. Siemerling, Vierteljahrsschrift für gericlitl.
Med., Bd. 12 und 13.
Die Paranoia chronica.
931
wenn Sie heiraten, werden Sie totgeschossen, ich lasse mich nicht an
meiner Ehre angreifen, ich lasse mich nicht von Ihnen für geisteskrank
erklären.“ 2. Am 5. August 19ü4 denselben dadurch beleidigt zu liaben,
daß sie ihn auf offener Postkarte für geisteskrank erklärte, und ihn
der Bestechung beschuldigte. Außerdem hatte sie ihn auf der Fahrt
von D. nach C. in der Eisenbahn mit einem geladenen sechsläufigen
Revolver bedroht.
Bei Gelegenheit der Vernehmungen in der Angelegenheit zu I und 2
wurden eine Reihe von Tatsachen bekannt, welche Zweifel an der
geistigen Gesundheit der R. erweckten. Deshalb wurde beschlossen, sie
auf ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen. Diesen Beschluß ver¬
eitelte die Angeklagte, indem sie in die Schweiz floh. Im Jahre 1909
kehrte sie nach Deutschland zurück, und wurde in der hiesigen Klinik
beobachtet.
Aus der Vorgeschichte ist folgendes bemerkenswert.
Pat. ist die jüngste von 23 Geschwistern, zwei ihrer Brüder sind
an Paralyse gestorben, sie selbst war immer kränklich und ein Sorgen¬
kind. Im dritten Lebensjahrzehnt kam sie nach Deutschland, und blieb
hier fast olme Unterbrechung. Sie lebte ganz für sich, bildete sich aber
damals schon ein, sie habe einen üblen Geruch an sich. Sie war exal¬
tiert, griff alles Mögliche mit Feuereifer an, um cs bald wieder fallen
zu lassen. Sie galt bei allen Anderen als abnorm; man nannte sie nicht
anders als die „Verdrehte“. Verheiratet war sie nicht. Eines Tages
nahm sie das uneheliche Kind eines Kohlenträgers an Kindesstatt an,
und zog dasselbe groß.
Dank der Stellung ihres Vaters, der inzwischen gestorben ist, hatte
sie Beziehungen zu den höheren und höchsten offiziellen Behörden.
Mit Hilfe dieser Beziehungen gelang es ihr auch, sich in einem deutschen
Bundesstaat naturalisieren zu lassen, obwohl sie bereits damals durch
einige Exzentrizitäten aufgefallen war.
Im Jahre 1892/93 weilte die Angeklagte mit ihrer Pflegetochter in X.
Dort wurde zunächst das Kind, später auch sie von Dr. V. behandelt. Im
Sommer 1893 schrieb sie dann an Dr. V. einen Brief, in dem sie ihm
ihre Zuneigung zu erkennen gab. Da Dr. V. hierauf nicht reagierte,
begann sie ihn zu verfolgen. Sie schrieb ihm zunächst verzweifelte
Briefe, drohte mit Selbstmord, bedrohte auch die Bekannten des Dr. V.
und veröffentlichte sehr bald eine Broschüre gegen ihn. Sie drang in
seine Sprechstunde ein, und verfolgte ihn auch auf Reisen. In einer
größeren Anzahl von Briefen teilte sie ihm mit, sie wolle, ihn so lange
peinigen, bis er ihr eine vernünftige Unterredung gewährt habe.
Da ihr Verhalten bald allgemein auffiel, wurde sie ausgewiesen.
Sie verstand es aber trotzdem, den Dr. V. durch Briefe und gelegent¬
liche Besuche in X. immer wieder zu belästigen. Im Jahre 1900 wurde
sie dann wegen einer akuten Verschlimmerung ihrer geistigen Störung
eine kurze Zeit in einer Privatheilanstalt behandelt. Nachdem der Zu¬
stand sich gelegt hatte, wurde sie wieder entlassen (nach dreimonat¬
licher Behandlung). Es hatte sich inzwischen bei ihr ein ganzes System
herausgebildet. Sie glaubte, Dr. V. habe sie ursprünglich heiraten
.öO*
932 Die Paranoia chronica.
wollen, sei aber durch andere, die ihr feindlich gesinnt waren, davon
abgebracht worden, und wolle jetzt eine andere Frau nehmen. Diese
Letztere nun sowohl, wie Dr. V. verfolgten sie mit ihrem Haß. Der ver¬
meintlichen Rivalin machte sie melirfach Szenen auf der Straße, hei
denen sie dieselben mit den gemeinsten Ausdrücken, wie „Dirne, Ehe¬
brecherin“ usw. bezeichnete. Dr. V. suchte sie immer von neuem für
sich zu gewinnen, beschimpfte in den Briefen an ihn die Riyalin, und
bedrohte auch ihn, als er gar nicht reagierte. Daraus, daß sich infolge
ihres Benehmens alle ihre früheren Bekannten in X. von ihr zurück¬
zogen, scliloß sie, daß auch diese alle im Komplott gegen sie seien. Als
sie schließlich ausgewiesen wurde, glaubte sie, daß auch die Behörden
ihre Feinde unterstützten.
Eines Tages war sie trotz des Verbots nach C. gekommen (einer
in der Nähe von X. gelegenen Stadt). Dort hörte sie auf einem Spazier¬
gang. den sie zufällig machte, daß sie sich in der Nähe des Gefängnisses .
befand, wo gerade ein Schaffott errichtet wurde, da am nächsten Tage
eine Hinrichtung stattfinden sollte. Sie verw^ertete diese Tatsache so¬
fort in wahnhafter Weise, glaubte, daß ihre Feinde sie jetzt aufs Schafott
bringen wollten, machte einen Selbstmordversuch, indem sie eine
größere Menge Morphium, welches sie sich zu verschaffen gewußt
hatte, nahm. Deshalb Anstaltsaufnahme. Nach dreimonatlicher Be¬
handlung konnte sie wieder aus der Anstatt entlassen werden, und ging
nun zunächt nach der Schweiz. Auch dort fühlte sie sich überall von
den gedungenen Spionen der V.schen Bande verfolgt. Sie wandte sich
infolgedessen wiederholt an den deutschen Gesandten, der jedoch keinen
Giund zum Einschreiten fand. Auch aus der Schw’eiz verfehlte sie nicht,
den Dr. V. von Zeit zu Zeit mit Briefen zu überschütten, und verfaßte
außerdem eine zweite Broschüre, drohte mit einer dritten, in der sie
Enthüllungen über ihn und das Vorleben seiner vermeintlichen Braut
machen wollte.
Vom Gericht war inzwischen ein Steckbrief gegen sie erlassen
worden, ebenso ein Haftbefehl.
Gegen letzteren erhob sie nun bei sämtlichen Instanzen Beschwerde.
In langen Schriftstücken, in denen sie ausführlich darsiellte, daß und
weshalb ihrer Meinung nach Dr. V. und seine Sippe sie verfolge. Das
bisherige Gerichtsverfahren erklärte sie als eine „Intrigue kleiner
Beamten“ und als eine „Frauenintrigue“. Die Ärzte in X., welche sie
für geisteskrank erklärt hätten, ständen unter dem Einfluß des Dr. V.
und seines Anhangs. Dessen Braut sei ihr sogar in die Schweiz nach-
gefahren, und habe mit ihrer Jungfer eine Unterredung gehabt. Sie sei
eine sehr hochstehende, adelige Dame, der man eine solche Behandlung
nicht zuteil werden lassen dürfe, ln mehreren Schreiben an das Ge¬
richt in X. führte sie aus, daß der Richter auch unter dem Einfluß des
Dr. V. stände, und sie. die hochstehende adelige Dame nur heraus¬
gebissen habe, weil sie dem Dr. V. nicht gefiele. Dr. V. habe dem
Richter, wie sie selbst gesehen habe, hundert Mark gegeben.
Ohne daß der Haftbefehl aufgehoben w'urde, kehrte sie im Jahre
löDS nach Deutschland zurück und begab sich in einen in der Nähe von
Die Paranoia chronica.
933
X. gelegenen Badeort. Dort wurde sie ermittelt, und schließlich nach
längeren Verhandlungen zur Aufnahme in die hiesige Klinik bewogen.
Die sonstigen Ermittelungen ergaben, daß Pat. zeitweise Ver¬
giftungsideen gehabt, und auch von Qeruchshalluzinationen gesprochen
hatte. Bei der hiesigen Beobachtung bestätigte sie das eben Aus¬
geführte, Dr. V. habe sie heiraten wollen, durch ihre Nebenbuhlerin aber
sei das verhindert worden. Es hätten sich nun alle möglichen anderen
Personen an diesen Intriguen beteiligt, ja offenbar auch das (iericht, der
Badedirektor, sogar ihre ehemalige Pflegetochter sei schließlich in das
Komplott einbezogen worden. Es seien Briefe gefälscht, man habe von ihr
alles Mögliche behauptet, was nicht wahr war. Als sie in die Schweiz
geflüchtet sei, sei eine ihrer Verfolgerinnen nachgefahren, und habe ihre
Kammerjungfer ausgeforscht. Qesehen habe sie diese Feinde nicht, aber
ihre Stimmen im üarten deutlich gehört. Ferner habe sie mehrfach in
der Eisenbahn „bemerkt“, daß Dr. V. und ihre Nebenbuhlerin ihr nach¬
gereist seien.
Auch in den Qerichtsakten seien Fälschungen vorgenommen wor¬
den, die hiesigen Ärzte sollten sich nicht wundern, wenn aus den Qe¬
richtsakten die Atteste, welche ihre geistige Gesundheit bescheinigten,
verschwunden seien. Weiter kam heraus, daß sie glaubte, der Kaiser
interessiere sich für sie, sie habe das gelegentlich einmal in einer Kon¬
ditorei aus den Gesprächen ihrer Tischnachbarn entnommen. Aus der
Schweiz habe sie durch Vermittelung des Zivilkabinetts dem Kaiser
einen Qeburtstagsglückwunsch dargebracht. Nach Absendung dieses
Briefes hörte sie (auf welchem Wege vermag sie nicht anzugeben), der
Kaiser solle gesagt haben: „Warum kommt sie nicht zurück.“ Als der
Kaiser vor einigen Jahren in Straßburg war. verließ sie die Schweiz
und fuhr dorthin. Während der Festlichkeit fuhr die Kaiserin einmal
dicht bei ihr vorbei und grüßte sie bei dieser Gelegenheit „zweimal sehr
freundlich“. Andere Herren aus dem Gefolge gingen bei ihr vorüber
und sagten in bezug auf sie: „Keine Spur von Verrücktheit.“ Als der
Kaiser später vorbeigeritten kam, winkte sic lebhaft, darauf fixierte er
sie sehr scharf. Sie hatte dabei das Gefühl, als ob er sie auch bezüg¬
lich ihres Geisteszustandes genau prüfte. Zu einer anderen Zeit begeg¬
nete sie dem Kaiser in W., wo er über die Promenade ritt. Als er
bei ihr vorbeikam, sagte er einige französische Worte, aus denen sie
entnahm, daß er sie kannte. Mit dem russischen Kaiserhause stand sie
wahrscheinlich auch insofern in Verbindung, als eine ihrer weiblichen
Vorfahren mit dem Gemahl Katharinas der Großen eine Liaison gehabt
haben soll. Auf diese Beziehung deutet auch ein Teil ihres Namen hin.
W'eiterhin ergab die Beobachtung in der hiesigen Klinik, daß die
Patientin sehr mißtrauisch war, und fragte, ob auch Medizin ins Essen
getan worden sei, sie traue keinem Menschen. Dr. V. und andere suchten
sie zu schädigen, indem sie ihr überall nachreisten und sie in den Pen¬
sionen anzuschwärzen suchten. Dr. V. sei auch direkt nach ihrer Ankunft
in B. gewesen, er habe sich dadurch bemerkbar gemacht, daß er von
einem Straßenbahnschaffner den Namen V. zum Hause habe herauf¬
rufen lassen. Zeitweise beklagt sie sich Uber die Ärzte, die wahrschein-
934
Die Paranoia chronica.
lieh auch mit Dr. V. unter einer Decke steckten und von ihm wohl gut
bezahlt würden. Sie achtete dauernd auf die Qesichtszüge der Ärzte
und des Pflegepersonals und fragte, ob nicht etwa ungünstige Berichte
über sie eingelaufen seien. Sie glaubte nicht, daß sie wieder entlassen
werden würde, drohte gleichzeitig, wenn die Ärzte sie hier zurück¬
behielten, würden sie „höheren Ortes“ viel Unannehmlichkeiten haben.
Bemerkenswert ist die Beurteilung, welche der Fall erfahren
hat. Obwohl die Pat. in X. die Polizei, den Landrat und die
sonstigen Behörden jahrelang durch ihr auffälliges Benehmen be¬
schäftigte, obwohl sich das Publikum ferner durch ihr Auftreten
in dem Badeort sehr belästigt fühlte, konnten sich weder die zu¬
ständigen Behörden noch auch der mehrfach befragte Kreisarzt
dazu entschließen, sie für geisteskrank zu erklären. So trieb sie
ihr Wesen etwa 14 Jahre lang. Während dieser Zeit wurden ihre
P'einde ihres Lebens nicht froh. Sie verfolgte dieselben, wo sie
nur konnte, sei es mit Briefen, sei es persönlich. Die olien er¬
wähnte Szene, bei der sie den Dr. V. im Kupee mit dem Revolver
bedrohte, sah so gefährlich aus, daß die übrigen Insassen des Ab¬
teils dieses sofort verließen, aus Furcht, es könnte zu einer Bluttat
kommen.
Da sie aus dem Auslande zugezogen war, suchte man sieb
schließlich auf die Weise zu helfen, daß man sie auswies.
Der Erfolg war nicht groß, denn da der Ort X. an der Grenze
zu einem anderen Bundesstaate lag, so zog sie in die nächstgelegene
Stadt, von der aus man X. innerhalb von 30 Minuten erreichen
konnte, und setzte dort ihre Belästigungen fort. Da sie in diesem
Bundesstaate weniger auffiel, hatte man keinen Grund, gegen sie
einzuschreiten, es gelang ihr dort sogar, sich naturalisieren zu
lassen.
Wenn letzteres möglich war, .so ist das dadurch zu erklären,
daß sie es außerdem verstanden hatte, sich im ganzen 5 Gesund¬
heitsatteste, von denen eins von einem Nervenarzt, die anderen
von teils ausländischen, teils deutschen Autoritäten herrührten,
zu verschaffen. In einem ist sie ,,zwar als etwas exzentrisch,
aber geistig gesund“, in den anderen als ,,völlig geschäftsfähig
und zurechnungsfähig“ bezeichnet worden. Eins der .Atteste
basiert auf einer dreiwöchentlichen Beobachtung in der Sprech¬
stunde, die anderen auf ..genauen Sprechstundenuntersuchungen“.
Die Erklärung für diese merkwürdige Erscheinung wird wohl
darin zu suchen sein, daß die Kranke vorsichtigerweise von ihren
Wahnvorstellungen nieht sprach. Daß sie wenig Sinnestäuschungen
Die Paranoia chronica.
935
hatte, erschwerte die Erkennung der Erkrankung gleichfalls. Ein
Teil dessen, was sic vorbrachte, lag auch im Bereich der Möglich¬
keit. Alles das mag wohl dazu beigetragen haben, daß sie für ge¬
wöhnlich gesund erschien.
Hinzu kommt, daß sie überall als Exzellenz auftrat, obwohl
der Titel wohl ihrem Vater, nicht aber ihr selbst gebührt hatte.
Überall da, wo sie etwas erreichen w'ollte, bediente sie sich in sehr
geschickter Weise der Namen verschiedener Minister, wies dazu
auf ihre engen Beziehungen zum russischen Kaiserhaus hin, und
ließ auch durchblicken, daß der deutsche Kaiser sich sehr für sie
interessiere. Da ihr Vater diensttuender Kammerherr bei einem
regierenden Fürsten gewesen war, klangen die Äußerungen durch¬
aus glaubhaft, und haben infolgedessen auch ihre Wirkung nie
verfehlt. —
Noch abenteuerlicher, wie der eben beschriebene Fall, ist ein
weiterer, dessen Erkennung gleichfalls die größten Schwierig¬
keiten t.)ereitete. Auch dieser Kranke konnte jahrzehntelang gegen
seine Feinde arlieiten, che er als geisteskrank erkannt wurde.
Er wird sein Treiben im übrigen wahrscheinlich fortsetzen, da er
sich einer Internierung durch die Flucht ins Ausland entzogen hat.
0. E., geb. 6. Juni 1856. Dr. med., prakt. Arzt.
Im Januar 1912 reichte der derzeitige Rektor der Universität X.
der zuständigen Staatsanwaltschaft ein Schreiben, unterzeichnet ..der
Ponophysiokrat“ und eine Broschüre ein, in der der frühere Rektor, Qe-
heimrat A. des „konventionellen Kathedermeineides zum Zwecke der
Töchterverkuppelei“ beschuldigt wurde, und bat, eine Beleidigungsklage
gegen den Verfasser zu erheben. Aus mehreren bei den Universitäts-
akten befindlichen Schreiben ergab sich als Grund für das feindselige
Verhalten des anonymen Briefschreibers folgendes: E. hatte im Jahre
1909 an den Rektor der Universität X. die Bitte gerichtet, einen Anschlag
an das „schwarze Brett“ der Universität heften zu lassen, in dem E.
Privatvorlesungen über ein von ihm gefundenes System, die „Phono-
physiokratie“, anzeigte. Seiner Bitte wurde nicht entsprochen mit der
Motivierung, daß die Universität kein Interesse daran habe, solche
Piivatunternehmungen zur Kenntnis der Studierenden zu bringen. Kurze
Zeit darauf wandte sich E. von neuem an den Rektor, und forderte ihn
auf, „sein Verbot besser zu motivieren, oder aufzuheben“. Er fuhr dann
fort: „Ich gebe Ihnen 3 Tage Zeit für die Erfüllung meiner Forderung,
widrigenfalls ich die Ehre habe, Ihnen mitzuteilen, daß ich mich mit der
Universität als im Kriegszustand befindlich betrachten werde. Ich be-
ti achte diesen Brief als ein Ultimatum. Diesmal enthielt das Schreiben
außer der Unterschrift .,der Ponophysiokrat“ auch noch den richtigen
Namen und d e Adresse des Schreibers, Dr. O. E.
936 Die Paranoia chronica.
Da er auf dieses Ultimatum keine Antwort erhielt, teilte er in
einem 3. Briefe mit, daß nun das Kriegsrecht gelte, und er bereits eine
Broschüre in Druck gegeben habe. Diese Broschüre führt auf dem Titel¬
blatt die Überschrift „Akademische Volksverdummer?“ J’accuse! Oder
das Perjurium coiiventionale pygocraticum facultatum germanicarum ad
majoretn ipsarum gloriam, ad augendum coefficientem nubilitatis filiarum
secundum principium „in filiae cunnum et patris serpere in anum“. Weiter
teilte der Verfasser mit, daß er zum Zwecke der Verfolgung dieser An¬
gelegenheit ein besonderes Archiv gegründet habe, in dem jene Broschüre
und zahlreiche andere Artikel gegen das deutsche Universitätswesen und
einzelne Universitätsprofessoren erscheinen würden.
Diese Drohung hat E. denn auch wahr gemacht, und zw'ar mit un¬
gewöhnlicher Geschwindigkeit. Innerhalb von etwa 8 Wochen, die die
Begutachtung in Anspruch nahm, erschienen 12—14 Lieferungen seines
Aichivs, in denen das gleiche Thema immer wieder von neuem ab¬
gehandelt worden war. Ein Heft war an den deutschen Kaiser ge¬
richtet, zwei, die vorhergegangen waren, an den Justizminister, die
ersten an die akademische Jugend und die alten Herren, alle zielten
darauf ab, die höchsten Behörden und die Öffentlichkeit für die Sache
E. in Anspruch zu nehmen. Wenn man das, was der Verfasser vor¬
zubringen hatte, kurz zusammenfassen will, so sagt er etwa folgendes:
Vor 35 Jahren besuchte E. das nationalökonomische Seminar eines
jetzt noch lebenden Gelehrten. Er verfaßte dort eine Arbeit, welche
auf der Theorie eines früheren Privatdozenten beruhte, der zu jener
Zeit wegen verschiedener Vorkommnisse der Dozentur entkleidet
worden war. Die Arbeit ist angeblich in dem Seminar besprochen
worden und der Leiter der Vorlesung kritisierte sie abfällig. E. zog
daraus nicht den Schluß, daß die Arbeit schlecht sei, sondern nahm im
Gegenteil an, daß sie eine phänomenale wissenschaftliche Leistung dar-
stclle und der Professor sie lediglich wegen ihrer Originalität und der
Theorien, auf denen sie basierte, unterdrücken wollte. Eingefügt muß
hier werden, daß der Professor, um den es sich handelt, in den Streit
mit dem Privatdozenten verwickelt gewesen war. E. nahm nun leiden¬
schaftlich Partei für den Dozenten, gleichzeitig richtete sich sein Haß
gegen den Professor, den er seitdem mit den gröbsten Schimpfw'orten
belegte.
E. unterzog seine Seniinararbeit einer Revision, übersetzte sie auch
ins Französische und ließ sie in Buchform erscheinen. Gleichzeitig
reichte er sie angeblich als Dissertation bei allen deutschen Universi¬
täten ein; sie wurde aber nirgends als ausreichend erachtet. (In den
Akten einer Universität, bei der ich mich erkundigt habe, ist über das
Bew'erbungsschreibeii des E. nichts zu ermitteln gewesen.)
E. schloß jedenfalls aus dieser Kritik seiner Arbeit, daß nicht nur
jener eine Professor gegen ihn sei, sondern sämtliche staatswlssen-
scliaftlichen Fakultäten. Sie alle w'ollten seine epochemachende Lehre,
die Phonophysiokratie, unterdrücken und totschw^eigen. Weitere Nah¬
rung gewann diese Anschauung dadurch, daß über sein inzwischen her-
aiisgekommenes Buch einige sehr abfällige Kritiken erschienen („Ge-
Die Paranoia chronica.
937
schinacklose Darstellung alberner Gedanken", „Qalliniathias eines albernen
Ökonomen"). Den Grund für die ablehnende Haltung der offiziellen Ver¬
treter der Nationalökonomie sah E. darin, daß er „nicht zum Klüngel
gehörte“.
Um nun seiner in Frankreich — besonders in Paris — von einigen
Foi Schern anerkannten Lehre auch in Deutschland Geltung zu ver¬
schaffen, beschloß er schließlich, die Fakultäten zu brüskieren, einen Be¬
leidigungsprozeß zu provozieren und so auf dem Wege eines öffentlichen
Skandals, einesteils die „Schliche“ der Fakultäten aufzudecken, andern-
tcils für seine Theorien zu wirken.
Bevor er zu diesem Mittel griff, suchte er eine Dozentur zu er¬
langen, indem er ein liektographiertes Schreiben an die akademischen
Senate sämtlicher Hochschulen deutscher Zunge versandte, das folgenden
W'ortlaut hatte:
„Für den Fall, daß infolge der ausländischen Publikationen der
letzten Zeit die Fakultät, zu der das Lehrgebiet der Soziologie gehört,
ihre Ansicht über den wissenschaftlichen Wert der von tnir inau¬
gurierten Doktrin der Ponophysiokratie in melius geändert haben und
es bedauern sollte, ,hot ariston Achaion ouden etisen', bitte ich den
hohen akademischen Senat zur Kenntnis zu nehmen, daß ich bereit bin,
einem Ruf, die Phonophysiokratie zu lehren — auch als Privat¬
dozent — Folge zu leisten.“
Dieses auf schlechtem Papier in fast unleserlicher Schreibtnaschinen-
schrift aus Mexiko, wohin der Patient inzwischen übergesiedelt war, an
sämtliche deutschen und einem Teil der schweizerischen Hochschulen
gerichtete Schreiben, betrachtete der Verfasser als eine Bewerbung um
eine Privatdozentur, und da er darauf meist gar keine Antwort erhielt,
beschloß er nunmehr aggressiv vorzugehen. Hierzu suchte er sich die
Universität X. aus.
Da die Massenproduktion an Briefen und Drucksachen und die Tat¬
sache, daß er sehr bald auch beleidigend gegen die Justizbehörden wurde,
Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit erweckten, wurde seine Beobach¬
tung beschlossen und bei der Besonderheit der Umstände von zwei
Bonner Sachverständigen durchgeführt.
Uber das Vorleben des E. wurde bei dieser Gelegenheit noch fol¬
gendes ermittelt: Als Student im Jahre 1885 ist E. wegen Beleidigung
bestraft worden. Den Richter, der in jener Sache gegen ihn zu erkennen
hatte, denunzierte er sofort beim Vorgesetzten Landgerichtspräsidenten
und bediente sich in diesem Schreiben der gröbsten Ausdrücke. Er be¬
hauptete, der Richter rede ins Blaue, leide an einem großen Mangel an
Redaktionskunst, wisse keinen Unterschied zu machen zwischen einer
deutschen Ehefrau und einer Pariser Grisette. Der Richter habe einige
Bemerkungen in dem Urteil nur deshalb gemacht, um ihn, den Vei-
urteilten, zu diskreditieren; jener sei ein Kolporteur von Geschichts-
trägereien und es sei zweifelhaft, ob ein Mann, der die tatsächlichen
Verhältnisse seines Wirkungskreises so wenig kenne, der so wenig An¬
sprüche an die Dignität eines Richters stelle, die Habilität besitze, als
Richter in einer großen Stadt zu fungieren. E. wurde deshalb zu 100 Mark
93«
Die Paranoia chronica.
Geldstrafe verurteilt. Da er sehr begütert war, schloß er aus der Höhe
des Strafmaßes, daß er „sachlich“ im Recht gewesen sei und eigentlich
nur „pro forma" bestraft worden sei.
C. war um jene Zeit schon verheiratet, lebte in unglücklichster Ehe,
angeblich weil seine Frau, die er auf alle Weise malträtierte, nicht das
genügende Verständnis für einen geistig so bedeutenden Menschen, wie
ihn, hatte. Infolgedessen verließ er sie eines Tages und reiste nacn
Island, wo er sich längere Zeit aufhielt. Inzwischen wurde die Ehe ge¬
schieden.
Schon auf der Schule war er übrigens aufgefallen. So machte er
z. B., als er durch das Abiturientenexamen fiel, den beteiligten Lehrern
eine Szene, in der er die Schuld für das Mißlingen des Examens nicht
sich beimaß, sondern den Lehrern, die er für Schwachköpfe erklärte. Er
verließ die Schule, ging für mehrere Jahre nach .Afrika und reiste dort
umher. Nach Deutschland zurückgekehrt, bestand er das Abiturienten-
examen als Auswärtiger und studierte dann Medizin und National¬
ökonomie. Schon auf seiner ersten Reise hatte er sich in amateurhafter
Weise mit allen möglichen Fragen beschäftigt. Überall glaubte er schon
damals praktisch wichtige Entdeckungen zu machen. Wenn er irgend¬
einen Vorgang an zwei Stellen in gleicher Weise beobachtete, so zog er
daraus die weitgehendsten allgemeinen Schlüsse, glaubte jedesmal wich¬
tige neue Naturgesetze gefunden zu haben, die zum Teil auch in seinem
Archiv veröffentlicht sind. Es handelt sich dabei um die heterogensten
Dinge. Genannt seien z. B. folgende Probleme: das Wesen der Hysterie,
die Tropenkrankheiten und ihre Behandlung, die Beseitigung der Sozial¬
demokratie innerhalb von wenigen Monaten, Besserung der Produktions¬
möglichkeiten, metaphysische Probleme, die Frage, ob man einem Manne
durch Hypnose Liebe zu einer ebenso häßlichen, wie ungebildeten und
ungeliebten Frau einflößen kann und ähnliches mehr.
Im Laufe seines Lebens hat er noch mehrere große Reisen gemacht.
1872—74 rund um Afrika, 1883 Island, 1894—1911 Amerika, vorwiegend
Mexiko, wo er bei den Indianern einen Teil seiner hypnotischen Experi¬
mente machte.
Von Mexiko aus hat er dann seinen Kampf gegen die staatswissen-
schaftlichen Fakultäten weitergeführt, bis er schließlich im Jahre 1911 be¬
schloß, die Sache energischer zu betreiben, und zu diesem Zwecke kehrte
er nach Deutschland zurück.
Inzwischen war das Leiden bei ihm erheblich fortgeschritten. Wie
er über sich und andere dachte, geht aus seinen verschiedenen Werken
deutlich hervor. Von sich selbst spricht er folgendermaßen: Sein Name
und seine Leistungen sind in Frankreich sehr bekannt, er habe mit seiner
Ponophysiokratie der deutschen Wissenschaft in Paris und damit in allen
romanischen Ländern Ehre gemacht. Er hat außerdem „anerkannte“
Leistungen ’) in der Pathologie und Philosophie. Seine Sache „komme
*) Wer die Leistungen anerkannt hatte, vermochte Patient in den
seltensten Fällen anzugeben.
Die Paranoia chronica.
939
vor den Revisionshof der Kulturgeschichte". Wenn er wegen dieser Be¬
leidigungen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden sollte, würden
ihm im Gefängnis sicher besondere Vergünstigungen zuteil werden. Er
sei klüger als alle anderen, ihm gelinge es auch rasch, einen psychia¬
trischen Sachverständigen hereinzulegen. Er habe sich schon seit längerer
Zeit eine psychiatrische Spezialtheorie zurechtgelegt, die noch nirgends
zu lesen sei. Er habe eine universelle Bildung, sei ein Homo classicus.
Seihen schwerfälligen Examinatoren (damit meint er die beiden psychia¬
trischen Sachverständigen) sei er in der Debattierkunst zu sehr überlegen,
er sei ein hervorragender Mann, der in der Soziologie eine methodo¬
logische Neuerung eingeführt habe. W'enn man ihn als Schwachkopf
hinstelle, heiße das, andere Leute irreführen.
Im Gegensatz zu der hohen Bewertung, welche er seiner eigenen
Person zuteil werden ließ, erklärte er seinen Hauptgegner, den Prof. Y.
in C., für einen „sterilen bornierten Menschen", dessen einziges Verdienst
darin bestehe, ihn, den Angeschuldigten, zum soziologischen Experimen¬
tator zu machen. Von den Fakultäten — und in dieser Beziehung ver¬
allgemeinerte er später nach jeder Richtung hin — redete er als von einer
Gesellschaft von mehr oder minder Schwachsinnigen, die ihre Stellung
nur dazu ausnutzten, wissenschaftlich arbeitende Leute, die außerhalb des
Universitätsklüngels ständen, mundtot zu machen, ihre Töchter an ge¬
fügige Dozenten zu verheiraten, die außerdem aus ihrer Stellung mög¬
lichst viel Geld zu gewinnen und ihre Hörer durch Anwendung der
Examenspeitsche sich gefügig zu erhalten suchten. Die Fakultäten seien
große „Schwiegermischpochen", die sich durch Inzucht fortsetzten Das
deutsche Volk unterscheide sich von anderen Völkern u. a. dadurch, daß
bei anderen Völkern die wissenschaftliche Sterilität bloß ein Menschen-
recht, während sie beim deutschen Volke die heiligste der Menschen¬
pflichten sei. Zur akademischen Karriere gehöre nicht Kapazität, sondern
Papazität usw.
Neue Nahrung erhielt sein Größenwahn, als in Paris eine Dissertation
erschien, welche einige anerkennende Worte über seine Ponophysiokratie
enthielt, und als auch in dem Expose eines anderen französischen Ge¬
lehrten seiner Theorie gedacht wurde. An diese Autoren klammerte er
sich nun offenbar an, und darauf ist es wohl zurückzuführen, daß er eines
Tages einen Brief erhielt, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß, wenn er
einen Vortrag über seine Lehre in Paris halten wolle, ihm in der Hoch¬
schule für Sozialwissenschaften und in einer anderen Akademie wahr¬
scheinlich ein Saal gratis zur Verfügung gestellt würde. Diese Mitteilung
deutete er sofort in dem Sinne, daß ihm in Paris ein Lehrstuhl angeboten
würde, während man ihn in Deutschland zu unterdrücken suchte.
Er hat nun seine Feinde, insbesondere den Professor Y., jahrelang
mit den gröbsten Schmähbriefen und Bedrohungen verfolgt, ohne daß Y.
wußte, um w'en es sich handelte, da alle Schreiben, die E. in seiner Sache
in die Welt setzte, nur mit; „Der Ponophysikrat“ unterzeichnet waren.
In der psychiatrischen Beobachtung und Begutachtung sah er auch nichts
anderes als einen Versuch der Justiz, der Universität zu Hilfe zu kommen.
940 Die Paranoia chronica.
nicht, weil sie an seine geistige Erkrankung glaube, sondern weil sie
einem Manne, dessen „geistige Superioritüt“ sie fürchte, den Wahrheits¬
beweis vor Gericht abschneiden wolle. In einer der letzten Nummern
seines Archivs, die dem Verfasser zu Gesicht kamen, richtete er einen
offenen Brief an seine Majestät den Kaiser, in dem er folgende Forde¬
rungen stellte: I. Eine Kommission einzusetzen zur Bestimmung des
wissenschaftlichen W'ertes seiner Ponophysiokratie und seiner Vorschläge
betreffend Gründung einer Arbeiterpartei. 2. Von der Mitgliedschaft dieser
Kommission alle deutschen Professoren auszuschließen, dagegen die fran¬
zösischen Autoren, welche sein Werk gelobt hätten, hineinzusetzen.
3. Wenn der Wert seiner Arbeit durch diese Kommission anerkannt sei,
die deutschen Professoren zur Rechenschaft zu ziehen. 4. Die Staats¬
anwaltschaft in X. anzuweisen, die Konfiskation seines Archivs aufzu¬
heben. 5. Wenn ihm der Wahrheitsbeweis bei seinen Beleidigungen ge¬
länge, eine Kommission einzusetzen zum Studium der Frage, ob die
herrschende Protektionswirtschaft durch Gründung einer staatlichen
wissenschaftlichen Zeitschrift mit einem von ihm erfundenen Prinzip der
obligierenden Offerte zu beseitigen sei. 6. Ihm inzwischen in den Regie¬
rungsblättern Papier zur Verfügung zu stellen zur Entwickelung eines
Programms, durch das er die sozialdemokratischen Arbeiterführer
zwingen will, ihm Rede und Antwort zu stehen, damit in drei Monaten
die jetzige sozialdemokratische Partei gesprengt und aus dem revolutio¬
nären Arbeiterfragment eine ordnungsliebende Staatsbetriebspartei mit
übligiereiidem Charakter des ponophysiokratischen Preiskurantes gemacht
würde. In seinen sämtlichen Arbeiten, u. a. auch in dem offenen Brief
an Se. Majestät bedient er sich gegen alle in Betracht kommenden Gegner
und gegen die Justizbehörden dauernd der gröbsten Ausdrücke, die sich
ständig wiederholen, von denen die gelindesten oben bereits zitiert sind.
Die körperliche Untersuchung ergab außer zahlreichen Degenera¬
tionszeichen nichts Besonderes, bei den psychischen Untersuchungen
wiederholte er die in seinem W'erk niedergelegten Beeinträchtigung.s-
und Orößenideen mit fast denselben Worten und einer Zungenfertigkeit,
die es dem jeweiligen Sachverständigen fast unmöglich machte, auch
einmal zu Worte zu kommen. Er erwies sich dabei als völlig unbelehr¬
bar, suchte immer wieder mit neuen Gründen zu kommen, und wenn
er mit seiner Dialektik zu Ende war, kam er mit Behauptungen, für die
er keinerlei Beweise erbrachte.
Unser Gutachten führte folgendes aus:
Erstens bot E. körperlich zahlreiche Degenerationszeichen, zweitens
unterscheidet sich sein ganzer Lebenslauf von dem eines normalen
Durchschnittsmenschen wesentlich. Auf der Schule hatte er Differenzen
mit seinen Lehrern, fiel dann durchs Examen, machte abenteuerliche
Reisen, und nachdem er schließlich das Examen nachträglich bestanden
hatte, beschäftigte er sich mit den heterogensten Wissenschaften und ver¬
suchte zu gleicher Zeit selbständig auf allen diesen Gebieten zu arbeiten.
Mit seinen Universitätslehrern vertrug er sich nicht, mit den Kommilitonen
ebenso« enig, so daß es zu Beleidigungen und Beleidigungsprozessen kam.
Die Paranoia chronica.
941
Einmal soll er auch ein Duell mit einem Offizier gehabt haben. Er hei¬
ratete verhältnismäßig früh, schon als Student. Die Ehe ging aber nach
zwei Jahren auseinander. Seine eigene Persönlichkeit hat er von jeher
sehr hoch bewertet, in der Bekämpfung seiner Gegner war er stets un¬
gewöhnlich scharf. Schon früher hat er seinen Gegnern stets unlautere
Motive zugeschoben und fühlte sich von ihnen verfolgt. Dazu trat von
jeher eine außerordentliche Abenteuerlust bei ihm hervor, die ihn zu
weiten Reisen veranlaßte.
Im Laufe seines späteren Lebens nahm dann die Überschätzung der
eigenen Persönlichkeit erheblich zu. Er betrachtete sich als einen Aus¬
nahmemenschen erster Ordnung, einen von den „ganz großen Entdeckern“,
der einem Robert Koch an die Seite gestellt zu werden verdiente, mehr
sei als Magnifizenzen und Exzellenzen, und das Recht habe, auf die große
Menge der übrigen Menschheit mit Mitleid und Verachtung herabzusehen.
Aus der Tatsache, daß er sein Buch veröffentlicht hat, schließt er, daß
jeder seine Lehre kennen müsse, verlangt von allen Fakultäten und Uni¬
versitätsrektoren, selbst wenn deren Tätigkeit sich auf ganz entfernte
Wissensgebiete erstreckt, daß sie seinen Namen, seine Persönlichkeit und
seine Werke kennen müssen. Den, bei dem das nicht der Fall ist, hält er
für einen beschränkten Menschen oder für einen Feind, der sich der
Unterdrückung eines Genies schuldig mache. Dafür, daß er in seinen '
Behauptungen viel zu weit gegangen ist, hat er keinerlei Einsicht, wie er
überhaupt bezüglich der ganzen Sache unbelehrbar ist. Ferner wurde
darauf hingewiesen, daß die Zahl seiner Verfolger sehr groß war, und
allmählich immer zunahm. Professoren. Arbeiterführer, Sozialdemokraten,
die Gerichte, das Justizministerium usw., sie alle standen im Bunde gegen
ihn, dabei verallgemeinerte er, von einzelnen, zum Teil noch falsch ge¬
deuteten Vorkommnissen ausgehend, in gröbster Weise. Er behauptete
z. B., daß man ihn, den genialen E., in eine Irrenanstalt bringen wolle,
weil Conrad Ferdinand Meyer seinerzeit auch in einer Irrenanstalt ge¬
sessen hat. Er gab an, sich um eine Dozentur an sämtlichen deutschen
Universitäten beworben zu haben. In Wirklichkeit hat er nur ein hekto-
graphiertes Schreiben an die Universitäten gerichtet, das aber als Be¬
werbung nicht anzusehen ist. Er behauptete, einen Ruf nach Paris
bekommen zu haben, während man ihn in Wirklichkeit über die Mög¬
lichkeit informiert hatte, für einen einzelnen Vortrag kostenlos einen
Saal zur Verfügung gestellt zu erhalten.
Das für die Krankhaftigkeit der Vorstellungen des Patienten Kenn¬
zeichnende liegt in der Dürftigkeit der objektiven Tatsachen, auf die er
seine Wahnvorstellungen aufbaut. Weiterhin ist als krankhaft anzusehen
die Maßlosigkeit der Reaktion auf die Handlungen seiner vermeintlichen
Gegner und schließlich wiesen wir darauf hin, daß der Patient sich den
Kampf mit den Fakultäten zuletzt zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Für
diesen Kampf hat er aber einen großen Teil seines Vermögens verbraucht
und schließlich auch seine persöniiche Freiheit aufs Spiel gesetzt.
Sinnestäuschungen konnten bei dem Patienten übrigens nicht nach¬
gewiesen werden, wie noch nachzutragen sei.
942
Die Paranoia chronica.
Charakteristisch ist schließlich auch der weitere Verlauf der An¬
gelegenheit. Die Abfassung des Gutachtens, die sich auf zahlreiche Druck¬
schriften stützte, nahm verhältnismäßig lange Zeit in Anspruch. Da E.
nun seine Ziele in Paris weiter verfolgen wollte, so ließ er eines Tages
in X. an die Litfassäulen einen Anschlag machen, in dem er feststellte,
daß sein Versuch, die deutsche Wissenschaft vor die Schranken des Ge¬
richts zu zwingen, mißlungen sei, man habe gekniffen. Er müsse jetzt
einem Rufe nach Paris folgen, er könne sich mit dieser Angelegenheit
infolgedessen nicht länger beschäftigen. Dann verließ er Deutschland,
reiste nach Frankreich, und verfaßte hier eine hetzerische Broschüre
gegen Deutschland, betitelt „Die deutsche Invasion", in der er nachzu¬
weisen suchte, daß die östlichen Landesteile Frankreichs allmählich von
den Deutschen „friedlich erobert" würden.
Wie schon in der Darstellung des Gutachtens ausgeführt
wurde, sind die Punkte, auf die man hei der Beurteilung der
l’erson Wert legen muß, folgende:
1. Ist der Nachweis zu führen, daß es sich um schwer
psychopathische Personen handelt, die einerseits Neigung zur
Überschätzung des eigenen Ich, anderseits zur Unterschätzung
' der vermeintlichen Gegner zeigen.
2. Ist die Neigung zu Verallgemeinerungen, die bei diesen
Kranken besteht, besonders zu betonen. Aus ganz vereinzelten,
häufig noch mißverstandenen oder falsch gedeuteten Vorgängen
ziehen sie die weitgehendsten Schlüsse.
3. Es läßt sich meist nachweisen, daß der Kreis ihrer Ver¬
folger ein sehr großer ist und sich ständig erweitert.
4. Kommt hinzu, daß die Patienten ihre Ideen trotz aller
.Aussichtslosigkeit, die sie nicht erkennen, mit einer Maßlosigkeit
und Rücksichtslosigkeit verfechten, die ihnen selbst auf die Dauer
pekuniär und sozial schadet.
5. K(jmmt hinzu, daß die Kranken jeden \ 4 )rgang, jede
.Äußerung, die gemacht wird, in dem ihrem Zwecke entsprechen¬
den Sinne ummodeln und umdeuten.
Sehr viel einfacher ist die Beurteilung, wenn es sich um
halluzinierende Paranoiker handelt. Das beweist z. B. der fol¬
gende Fall:
Am 21. November 1912 wurde in B. auf der K.straße ein Mann ge¬
sehen, in der linken Hand einen Regenschirm, in der rechten Hand einen
Revolver, mit dem er die Passanten bedrohte. Als ein Polizeibeamter
hinzukam und ihn festnehmen wollte, richtete der Mann den Revolver
auf diesen und gab hintereinander drei Schüsse ab, die aber fehlgingen.
Der Polizeibeamte sprang Jetzt auf den Schießenden los, beide rangen
erst miteinander und stürzten zu Boden. Hierbei kam der Polizeibearate
Die Paranoia chronica.
943
nach unten zu liegen. Mit der freien Hand feuerte der Mann jetzt aber¬
mals einen Schuß auf den Beamten ab. er traf wiederum nicht. In¬
zwischen war ein zweiter Beamter hinzugeeilt, auch auf diesen schoß
er. Trotz einiger Säbelhiebe, die er erhielt, schlug er wütend mit
dem Revolver auf die Beamten ein, so daß diese mehrere blutende
Kopfverletzungen davontrugen. Trst durch das Hinzukommen weiterer
Personen gelang es, ihn kampfunfähig zu machen und zu verhaften.
Hierbei brachte er einem dritten Beamten eine Verletzung bei.
Bei seiner Vernehmung entstanden Zweifel an seiner Zurechnungs¬
fähigkeit, deshalb Aufnahme in die Anstalt. Hier ängstlich, mißtrauisch,
sehr zurückhaltend. Schließlich kommt er eines Tages heraus: Er habe
schon lange bemerkt, daß man ihn verfolge. Die Leute befaßten sich mit
seiner Person, sagten ihm Schlechtes nach, deshalb müsse er sich wehren.
Weiteres ist aus ihm nicht herauszubringen. Einige Tage später gibt er
dem Stationspfleger an, vor seiner Aufnahme habe er die letzte Zeit gar
nicht mehr in seinem Zimmer schlafen können, sondern sei auf den
Speicher gelaufen, und habe auf einer Bank geschlafen, weil die Verfolger
immer hinter ihm hergewesen seien. Seine Stelle habe er auch wegen
jener Leute verlassen müssen. Jedesmal wenn er mit der Eisenbahn
gefahren sei, seien seine Verfolger in Automobilen ihm vorangeeilt, hätten
sich durch Pfeifen verständigt, in Wirtschaften hätten ihn immer Kri¬
minalbeamte beobachtet, er sei deshalb schon einmal zu einem Kommissar
in C. gegangen und habe sich beschwert. Auch hier seien ihm die Ver¬
folger nachgekommen. Dabei gespannter Qesichtsausdruck, finsteres
Wesen, dem Arzt gegenüber ablehnend.
Drei Wochen später tiefe Verstimmung, es sei der letzte Tag seines
Lebens. Es komme jetzt, wie es kommen müsse, man wolle ihn um¬
bringen, er habe allerlei Ahnungen. Einige Tage später etwas zuver¬
sichtlicher, er brauche sich vor niemand zu fürchten, er habe jetzt eine
Waffe, das sei der liebe Qott. 14 Tage später. Er habe öfters in letzter
Zeit Leibschmerzen gehabt, die seien aber immer wieder vorüber¬
gegangen, er hätte daran bleiben müssen, wenn er nieht seine besonderen
Beschützungen gehabt hätte, denn im Essen und Trinken sei etwas „darin
gewesen“, das habe stark gerochen. Vorgestern z. B. roch der Rest des
Kaffees nach Pfeifensud. so daß er ihn nicht habe genießen können.
Wenn er das Brot esse, bekomme er einen komischen Geruch in die Nase.
Danach habe er auch immer Druckgefühl in der Herzgegend und Kurz¬
atmigkeit. Es müsse also im Essen etwas darin sein, was nicht Ijinein-
gehöre. Ob es Gift sei, könne er nicht sagen, so klug sei er nicht. Die
Ermittelungen in der Heimat ergaben mm noch folgende Tatsachen. Im
Sommer 1911 trat er auf einem kleinen Out als Kuhschweizer in Stellung.
Er fing dort Beziehungen zu einer Witwe in O. an und trat mit ihr in
intimen Verkehr. Ohne besonderen Grund trat bei der Witwe eine Er¬
kaltung in ihrer Zuneigung ein, ihm nannte sie als Grund, der Pastor habe
ihr in der Beichte gesagt, sie solle ihn gehen lassen. Darauf ging der
Patient zum Pastor und grüßte ihn mit den Worten; „Gelobt sei Jesus
Christus“, der Pfarrer antwortete darauf; „Outen Tag“. Dies fiel ihm
auf, ein richtiger Diener Gottes erwidere den Gruß anders. Der Geist-
944 Die Paranoia chronica.
liehe gab ihm auch keinen richtigen Aufschiuß über das, was er wissen
wollte.
Bald merkte er auch, daß die Bauersleute, bei denen die Witwe und
er dienten, ihm feindlich gesinnt waren, man musterte ihn bös, wenn er
vorbeikam, stellte ihm Fallen. So machte sich z. B. die Tochter des
Bauern an ihn heran, wo er als Schweizer bedienstet war, und wollte ihn
zu einem Techtelmechtel veranlassen, indem sie ihn „Usel“ nannte, das
sollte heißen, er sei kein richtiger Mann. „Hinter dem Ganzen stak offenbar
ein vornehmer Herr.“ Auch ein Viehhändler kam in Betracht, der war
ihm auch feindlich gesinnt, weil er die Viehwirtschaft so gut verstanden
habe. Die Kühe hätten bei ihm immer länger und mehr Milch gegeben,
wie bei anderen Schweizern. Eines Tages ging er nach O. zu der
Witwe, mit der er noch verkehrte. Als er auf dem Wege zu ihr w'ar,
bekam er ein ängstliches Gefühl, und erbat sich deshalb die Begleitung
des Sohnes seines Wirtes. Als er mit diesem ging, fiel ihm mancherlei
auf. Der Sohn des Hauses pfiff, ein Mann schlich ihm nach, er fühlte sich
verfolgt. Der Witwe sagte er das auch und fügte hinzu, er solle gelyncht
werden. Um seinen Verfolgern zu entgehen, wandte er sich zunächst
nach C. Auf dem W'ege dorthin wurde er von Radfahrern und Auto¬
mobilisten verfolgt, deshalb erbat er in C. den Schutz der Polizei. Man
wollte ihm aber nicht glauben und entließ ihn. Auf den Straßen, in den
Wirtschaften, überall traf er Verfolger, darunter alte Bekannte. Er faßte
infolgedessen den Entschluß, C. mit der Bahn zu verlassen. Auf dem
Bahnhof wurde er beobachtet, sah, wie seine Verfolger ebenfalls in den
Zug stiegen, deshalb saß er schußbereit im Kupee. Man wagte aber offen¬
bar nicht, ihn dort zu attackieren. Nur ein im Abteil sitzender Herr sah
ihn verdächtig an. Um seinen Verfolgern zu entgehen, fuhr er nicht so
weit, wie sein Billett reichte, sondern stieg vorher hier aus. Als er sich
auf dem Bahnsteig befand, sah er, daß seine Verfolger den Zug auch ver¬
lassen hatten. Sobald er hier 'die Straße betrat, sah er, daß ihn das
ganze Publikum auffällig betrachtete und beobachtete. Er ging in ein
Hotel, wo er übernachten wollte, dort nahm man ihn erst an, später aber
lehnte man ihn ah. nachdem er erklärt hatte, er werde verfolgt. Infolge¬
dessen irrte er die ganze Nacht vom 19. bis 20. in der Stadt umher. Am
20. wollte er auf der Hauptwache Schutz suchen, konnte sie aber nicht
finden. Er fragte, wo sie wäre, man gab ihm aber keine Auskunft.
Offenbar wollte man ihm nicht sagen, wo die Hauptwache war. Schlie߬
lich kam es zu dem Rekontre mit den Schutzleuten. Einige Tage später
fügte er hinzu, er habe im Krankenhause zu C. eines Abends eine über¬
irdische Erscheinung gehabt, und in der Nacht einen Zuruf gehört.
Schließlich kommt heraus, daß er dauernd Stimmen hört, die ihm
Zurufen, er sei der Admiral der himmlischen Marine, böse Geister ver¬
folgten ihn, das spüre er im Magen; dorthin würden sie ihm mit dem
Essen hineingepumpt, hier sei die Vorhölle, in der er büßen solle, hier
würde er von den Dienern des Teufels gequält. Wenn er die Prüfung
überstanden habe, dann solle er erhöht werden. Seine Mutter und die
Mutter Gottes seien ihm erschienen, hätten ihm schmerzerfüllt angeschaut,
dann wären sie wieder gegangen. Auch der Kaiser sei ihm erschienen.
Die Paranoia chronica.
945
und zu seinen Füßen habe ein Kopf gelegen. Dabei viel Verfolgungsideen
und Vergiftungsvorstellungen. Dauernd sei im Essen Qift, das Essen habe
einen besonderen fleschmack, er spüre auch einen besonderen Geruch.
Zeitweise deshalb erregt, hat mehrfach Fensterscheiben eingeschlagcn,
neuerdings ziemlich’ unzugänglich. (Okt. 1913 in gleichem Zustand.)
Die forensische Beurteilung des Falles ist sehr einfach, nach¬
dem schon am ersten Tage seines Aufenthaltes in der Anstalt
W'ahnideen und Sinnestäuschungen nachgevviesen waren. Der Fall
lehrt aber gleichzeitig, wie außerordentlich gefährlich Paranoiker
sind. Es kommt in der Tat, wie schon oben ausgeführt ist, gar
nicht selten vor, daß durch solche Kranke schwere Verbrechen
begangen werden.
Was die zivilrechtliche Bedeutung der chronischen
Paranoia anlangt, so stehen die meisten Autoren auf dem Stand¬
punkt, daß eine Entmündigung*) nur dann am Platze ist, wenn sich
der Nachweis führen läßt, daß die Krankheit den davon Befallenen
in der Besorgung seiner Angelegenheiten wirklich ernstlich be¬
hindert. Dieses Prinzip ist insofern berechtigt, als die Erfahrung
gelehrt hat, wie auch oben schon betont wurde, daß die Paranoiker
trotz zahlreicher Wahnideen im bürgerlichen Leben jahre- und
jahrzehntelang sich betätigen können, ohne als geisteskrank er¬
kannt zu werden. Insbesondere gehen sie ihrem Berufe ohne
nennenswerte Störungen nach, sorgen für ihre Familie, verwalten
ihr Vermögen richtig usw. In allen diesen Fällen erbringen sie
praktisch den Beweis, daß sie eines Vormundes nicht bedürfen.
Es wäre falsch und würde den Absichten des Gesetzgebers wider¬
sprechen, wenn man ihnen bei dieser Sachlage einen Vormund
aufdrängte.
Sobald sich aber einmal zeigt, daß das Privatleben des
Kranken durch die Paranoia wesentlich in Mitleidenschaft ge¬
zogen ist, läßt sich eine Entmündigung nicht umgehen. Meist wird
die wegen Geistesschwäche genügen.
Bei der Beurteilung der Geschäftsfähigkeit wird es
in erster Linie darauf ankommen zu ermitteln, ob das angefochtene
Rechtsgeschäft in irgendeiner Beziehung zu den krankhaften Vor¬
stellungen und Sinnestäuschungen des Patienten steht. Läßt sich
dies auch nur wahrscheinlich machen, dann wird es der Richter
in dubio für nichtig erklären dürfen.
*) Die in dem Kap. Querulantenwahn zit. ReichsKerichtsentschei-
dungeii können auch für Paranoiker gelten.
Hübner, Forensische Psychiatrie.
60
94 ^^ Die Paranoia chronica.
Es ist schon bei Besprechung des § 51 Str.G.B. darauf hin¬
gewiesen worden, daß gerade beim Paranoiker der Nachweis, daß
krankhafte Motive das Handeln beeinflußt haben, nur in einem
Bruchteil der wirklich vorkommenden Fälle zu führen ist. Zu be¬
achten wird der geistige Zustand zur Zeit der Tätigung des
Rechtsgeschäftes ^Exazerbationen ?) sein, ferner die Art des
Rechtsgeschäftes, event. wird auch in Frage kommen, mit wem
er dasselbe abgeschlossen hat, vielleicht mitunter sogar der Er¬
folg, den es für den Kranken selbst gehabt hat.
Wenn die chronische Paranoia ein Ehescheidungs¬
grund im Sinne des § 1569 abgeben soll, ist notwendig, daß
entweder die Wahnideen und Sinnestäuschungen sich gegen die
eigene Ehefrau richten oder der Patient bei der Verfolgung seiner
krankhaften Ideen so rücksichtslos vorgeht, daß dadurch die
Familie, speziell die Ehefrau vernachlässigt wird und somit die
geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben ist.
Ist das erst einmal der Fall, so wird sie wohl selten wieder her¬
gestellt. Auch Größenideen spielen eine gewisse Rolle insofern,
als einem Kranken, der plötzlich Beziehungen zu regierenden
Fürstenhäusern entdeckt, die Ehe mit einem früheren Dienst¬
mädchen oder einer kleinen Bürgerstochter lästig sein wird. Er
behandelt infolgedessen seine Frau schlecht, und auf diese Weise
kommt es zur Aufhebung der geistigen Gemeinschaft. Es sind
also sowohl die Größen- wie die Verfolgungsideen, welche die
ehelichen Beziehungen trüben können. Aber auch der Charakter,
aus dem heraus die Paranoia sich entwickelt, ist infolge der vielen
jrsychopathischen Züge geeignet, das eheliche Verhältnis auf die
Dauer deratig zu verschlechtern, daß die geistige Gemeinschaft
aufgehoben wird. Ein Beispiel hierfür ist der Fall E.
Was die D i e n s t f ä h i g k e i t der Paranoiker anlangt, so
kommt es erstens auf die Art des Berufes an und zweitens darauf,
wie weit das System des Erkrankten in Beziehung zu diesem
Beruf steht. In technischen Betrieben, im Eisenbahndienst usw.
wird man Paranoiker nur dann lassen können, wenn völlig aus¬
geschlossen ist, daß sie sich und anderen schaden können.
Schwieriger ist die Beantwortung der Frage der Dienstfähigkeit
in anderen Berufen, wie etwa dem des Lehrers. Wir haben hier
z. B. einen Gymnasialprofessor gesehen, der angeblich trotz einer
längere Zeit bestehenden Paranoia nicht aufgefallen war. Nur
einmal, während einer Kaisersgeburtstagsfeier, bei der er die Fest-
Der Queruiantenwahn.
947
rede liielt, kam es zu einer Szene, weil er glaubte, daß während
seiner Rede ein Primaner aus der hintersten Ecke des Saales ihm
gemeine Worte zurief. Der Kranke ist nach einiger Zeit wesent¬
lich gebessert in den Beruf zurückgekehrt. —
Was für die Geschäftsfähigkeit im allgemeinen gilt, gilt für
die T e s t i e r f ä h i g k e i t im besonderen. Wenn der Kranke
die nach allgemeiner Anschauung wirklich Erbberechtigten auch
in der üblichen Weise bedenkt oder wenn sich nachweisen läßt,
daß sein Wahnsystem das Testament nicht nennenswert beeinflußt
hat, dann wird man es im allgemeinen als rechtsgültig ansehen
dürfen. Man muß sich im Hinblick auf das oben Gesagte aber
darüber klar sein, daß man den Zusammenhang zwischen Geistes¬
störung und dem Inhalt des Testamentes nicht immer wird er¬
kennen können. Gelegentlich wird die mündlich oder schriftlich
gemachte Begründung der letztwilligen Verfügungen Anhalte¬
punkte für die Beurteilung bieten.
Der Queruiantenwahn').
Mehr noch als die Dementia praecox und die chronische
Paranoia ist in den letzten Jahren der sogenannte Querulanten¬
wahn Gegenstand klinischer Erörterungen gewesen. Hitzig und
Kraepelin haben die Querulanten in zwei Gruppen geschieden,
nämlich die echten Querulanten, welche chronische Para-
‘) Literatur: Groß, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1905. — Roth,
V'ierteljahrssclir. f. gerichtl. Med. 1898. Koinfeld, Ärztl. Sachverst.-Zcitg.
1907, S. 359. Jaspers, Zeitschr. f. d. ges. Neurol., Bd. 1. Koppen, Arch. f.
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tralbl. f. Nervetiheilk. 1905. Henneberg, Charite-Annalen 1897. Kruska,
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ined. Wochenschr. 1899. Roth, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., Bd. 15.
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Hitzig, Querulantenwahnsinn. 1897. Neißer, Allg. Zeitschr. f. Psych.,
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psychose und Paranoia. Charit6-Annalen, Bd. 27. Aschaffenburg, Münch,
med. Wochenschr. 1904 und Zeitschr. f. Med.-Beainte. Pfister, Allg. Zeit-
ÜÜ*
948 Der Querulanteiiwahn.
noiker sein sollten, und die sogenannten Pseudoquerulanten,
die degenerativ veranlagte Menschen waren, welche auf eni-
sj)rechende äußere Veranlassung hin zu querulieren begannen.
Nach unserer Auffassung ist der Gegensatz zwischen den echten
und Pseudoquerulanten kein ausgesprochener, zwischen beiden
findet man vielmehr zahlreiche (''hergänge. Wenn man hei dieser
Sachlage ühcrhau])t Typen unterscheiden will, so möchten wir etwa
folgende Gruppen neheneinandcrstellen.
Wir gehen dabei aus von den echten Querulanten (Kraepe-
lin). Das sind Kranke, bei denen sich meist chronisch, in
einer kleineren Zahl von Fällen aber verhältnismäßig rasch an die
Vorstellung der rechtlichen Benachteiligung ein System von Ver¬
folgungsideen angliedert, das sich im Laufe der Zeit — meist
im Anschluß an äußere Geschehnisse — weiterbildet.
.\uffallend ist an diesen Fällen, daß das Ereignis, das den Aus¬
gangspunkt des Wahnsystems bildet, fast immer einen wohlvor¬
bereiteten Boden findet.
Es sind in erster Linie degenerative Züge, die sich bei den
Kranken zeigen, daneben ist aber bereits ein gesteigertes Mi߬
trauen auf der einen Seite und Überschätzung der eigenen Persön¬
lichkeit auf der anderen Seite vorhanden. Die Kranken fühlen
sich unsicher, erwartungsvoll, sie beobachten ihre L'mgebung
sehr. f. Psych., Bd. 59, S. 589. Kirchberg, In.-Diss. Berlin 1903. Pändy,
üyogyoszat. Ref. in Mendels Jahresber. 1904, S. 1130. E. Meyer, Arch.
f. Psych., Bd. 34. Meyen, Paranoia nach Trauma. Monatsschr. f. Unfall-
heilk. 1901, S. 226. F. Leppniann, Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1901. Braun,
Zeitschr. f. Med.-Beamte 1900, Nr. 16. Qlogowsky, ebenda Nr. 3. Frese.
Querulant und seine Entmündigung. Jur.-psych. (irenzfragen, Bd. 6, Nr. 8.
Halle a. S. Marhold. und Francotte, Journ. de Neurol. 1909, S. 21.
K. Mendel, Querulant bei Unfallversicherung. Neurol. Zentralbl. 1909,
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f. gerichtl. Med. 1907, S. 441. Albüs et Charpentier, L'Encephale 1907,
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A. Westphal, Charite-Annalen 1894. Hübner, Vortr. auf d. Jahresv. d.
D. Vereins f. Psych. 1909 in Stuttgart. Kraepelin, Paranoische Erkran¬
kungen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. 1910. Koester, In.-Diss. Kiel 1910.
Simmonds, In.-Diss. Heidelberg 1910. Löwy, Zentralbl. f. Nervenheilk.
1910, Bd. 21, S. 81. Lückerath, Degenerationspsychosen. Arztl. Sach¬
verst.-Zeitg. 1909. Gaupp, Hypomanic und Querulantenwahn. Berlin
1910. Jolly, Psychiatrie. Bonn 1914.
Der Querulantenwahn.
949
bereits schärfer, bis sich dann irgend etwas ereignet, woraus sie
eine reclitliche Benachteiligung herleiten zu können glauben, und
nun entwickelt sich verhältnismäßig rasch ein System, und gleich¬
zeitig fängt der Patient an, in maßloser Weise zu ([ueruliercn.
Genau wie bei den kombinatorischen Paranoikern Kraepelins
spielen Sinnestäuschungen liier eine ganz untergeordnete Rolle.
Nur gelegentlich treten sie auf. Eine größere Rolle spielen die
Erinnerungstäuschungen.
Diese Form verläuft in der Weise, daß der Patient einen
jahre- und jahrzehntelangen Kampf um sein vermeintliches Recht
führt, allmählich wird er dann ruhiger, ohne deshalb sein Wahn¬
system ganz zu korrigieren.
Einige Male — nämlich dann, wenn der Patient etwas Be¬
sonderes erreichen wollte — kam es auch zu direkter Dissimu¬
lation, d. h. der Patient ,,wollte von den alten Dingen gar nicht
mehr reden, alles das war für ihn abgetan“. Die alten Sachen
,,hatte er begraben“ und ähnliches mehr. In der Tat hörte er
auch mit dem Querulieren auf; es war aber in den meisten Fällen
bei sorgfältiger Untersuchung nachzuwei.sen, daß er an den Kern
seines Systems nach wie vor glaubte. —
Eine Abart der Paranoia hallucinatoria stellt eine zweite
Gruppe dar, in der es verhältnismäßig rasch zur Ausbildung
von V'erfolgungs- und Größenideen kommt, zu denen sich
zahlreiche Halluzinationen gesellen, ohne daß das Ganze zu¬
nächst den Beigeschmack der rechtlichen Benachteiligung und
des Querulierens erhält. An irgendeinem Punkte, sei es, daß
dem Patienten wirklich ein Unrecht geschieht, sei es, daß er an
seine Wahnideen und Sinnestäuschungen anknüpft, beginnen dann
die Kranken zu querulieren und verhalten sich v(m da ab wie
echte Querulanten. So hörte einer unserer Kranken nach mehr
als sechsjähriger Krankheit durch Stimmen, daß er von einem
Amtsgerichtsrat, dem er selber Ungelegenheiten bereitet hatte,
mit Hilfe der Katholiken und Freimaurer zu wissenschaftlichen
Zwecken verkauft werden sollte. Er sclirieb mm, um sich selbst
vor diesem Scbicksal zu bewahren und die Ehre der W'issenschaft
zu retten, an alle zuständigen Behörden, wie Anstaltsdirektor,
Landeshauptmann, Staatsanwalt, Oberlandesgcrichtspräsident und
die Minister, Anklagen und Beschwerden gegen den Urheber
seines vermeintlichen Unglücks; dieses Verfahren betreibt er jetzt
.seit mehr als vier Jahren.
950 Der Querulantenwahn.
Es handelte sich in allen diesen Fällen, wie Wemicke es aus-
drückt, um Kranke mit V^erfolgimgsvvahn, die eines Tages zu
querulieren anfangen. —
Wir kommen damit zu einer dritten Gruppe. Es sind von
Heilbronner, Sieffert, Lückerath, Bonhoeffer und Anderen chro¬
nische querulatorische Psychosen beschrieben worden, über deren
Zugehörigkeit zum degenerativen Irresein kein Zweifel bestehen
kann. Der größte Teil von ihnen ist durch die Haft ausgelöst,
es gibt aber zweifellos auch Fälle, in denen ein anderes Ereignis
— bei dem Pleilbronnerschen Mädchen war es z. B. eine falsche
Beschuldigung gegen den behandelnden Arzt — die gleiche
Wirkung hatte.
Es handelt sich durchgängig um Menschen, die bei verhältnis¬
mäßig guter intellektueller Begabung durch psychopathische Züge,
wie Hetz- und Krakeelsucht, Unverträglichkeit, Reizbarkeit,
Neigung zu Affekthandlungen, krankhafte Selbstüberschätzung,
starke Kriminalität und ähnliches schon seit der Kindheit auf¬
gefallen waren. Bonhoeffer spricht bei diesen Kranken von einer
Disharmonie in der Dynamik der Vorstellungen, in dem Sinne,
daß bestimmte Vorstellungen von einem andauernden Affekt-
Überschuß begleitet sind, so daß Gegenvorstellungen nicht die ent¬
sprechende Betonung finden.
Bei solchen Kranken stellt sich im Anschluß an irgendein
Erlebnis ein ])aranoisches Zustandsbild ein, das dem des Queru¬
lantenwahnes völlig entsijricht. Das Geschehnis wird zum Mittel¬
punkt eines Beeinträchtigungssystems, das mehr oder minder
lange anhält, mitunter durch Verbringung in günstige äußere Ver¬
hältnisse ziemlich rasch gebessert werden kann, indem für die
krasseren Wahnbildungen Krankheitseinsicht eintritt, das abnorme
Temperament aber bestehen bleibt und auch — wie Bonhoeffer
gleichfalls mit Recht betont — diejenigen Beeinträchtigungsideen,
die mit landläufigen Anschauungen nicht kontrastieren, keine
Korrektur erfahren. Letzteres würde vielleicht auch noch ge¬
schehen, wenn die Kranken, um die es sich dabei handelt, nicht
vielfach durch Begehung neuer krimineller Handlungen dafür
sorgen würden, daß sie in das ungünstige Milieu der Haft zurück¬
versetzt werden müssen. Ich meine mit den kriminellen Hand¬
lungen nicht solche, die ihren • querulatorischen Neigungen ent¬
springen, sondern andere, tlavon unabhängige, die auf Rechnung
ihrer degenerativen Anlage zu setzen sind. Die Patienten begehen
951
Der Querulantenwahn.
neue Diebstähle, Körperverletzungen und ähnliches und kommen
deswegen ins Gefängnis. Während nun aber in der Freiheit ihre
Wahnvorstellungen nicht besonders hervortreten, stellen sich die¬
selben in der Haft wieder ein. Auf diese Weise kommt es, daß
man beim Studium der Anamnese — wie Bonhoeffer schon an¬
gibt — mehrere solche querulatorische Phasen nachweisen kann.
Mit der Erwähnung der eben besprochenen Fälle haben wir
uns bereits jener Gruppe von Kranken genähert, die Kraepelin
früher als Pseudoquerulanten bezeichnete. Es handelt sich um
Menschen, bei denen sich gesteigertes Selbstgefühl mit erhöhter
JCmpfindlichkeit verbindet. Intellektuell entsprechen sie zum
mindesten dem Durchschnitt. Sie sind in manchen Dingen sehr
gerissen, andererseits verhältnismäßig leichtgläubig, zu Über¬
treibungen geneigt, nicht immer kritisch im Urteil, oft mehr
Gefühls- als Verstandesmenschen. Während sie nun Interessen
anderer sehr leicht einmal verletzen, ohne sich dabei viel Gedanken
zu machen, reagieren sie sehr heftig, wenn sie Grund zu der An¬
nahme zu haben glauben, daß man sie selbst rechtswidrig benach¬
teiligen wolle. Sie werden dann maßlos heftig, verfolgen ihre
Ansprüche bis in die höchsten Instanzen, ohne dabei besonderes
Geschick zu beweisen. Ihr Temperament geht mit ihnen durch
und veranlaßt sie zu Äußerungen, durch die sie sich auch dann
ins Unrecht setzen würden, wenn sie in der Schule selbst recht
hätten. Auf diese Weise kommt es notwendig zu weiteren Kon¬
flikten. Die Kranken müssen schließlich um ihre Existenz
kämpfen. In den letzten Zeiten höchster Erregung können ihre
Bceinträchtigungsvorstellungen vorübergehend den Charakter
wirklicher Wahnideen annehmen, schließlich kommt aber mit zu¬
nehmender Beruhigung doch auch die Kritik meist wieder und
viele von ihnen stehen von der weiteren Verfolgung der An¬
gelegenheit ab, wenn sie ihre Aussichtslosigkeit eingesehen haben.
Immer ist das allerdings nicht der Fall.
Mitunter ist es irgendein neues Geschehnis, das sie von ihrem
alten Kampfe ablenkt, und ihrer querulatorischen Disposition neue
Nahrung zu weiteren Kämpfen gibt. Auf diese Weise können die
Kranken jahrzehntelang mit allen möglichen Behörden in Streit
liegen.
\'’on den ersten Gruppen, welche beschrieben worden sind,
unterscheiden sie sich aber darin, daß es zur wirklichen .Ausbildung
eines Wahnsystems nicht kommt, daß Wahnvorstellungen höchstens
952
Der Querulantenwahn.
vorübergehend vorhanden sind. Wichtig ist ferner, daß, wenn der
die Vorstellung begleitende Affekt nachgelassen hat, die Patienten
auch wieder kritischer werden, und nicht mehr so unbelehrbar
sind, wie zur Zeit der Erregung.
.“^ußer den bisher besprochenen Gruppen ist schließlich noch
eine zu erwähnen, in der aus einem chronisch manischen Tempera¬
ment heraus der Patient bei jeder sich bietenden Gelegenheit
queruliert.
Bei ihnen macht sich aber die Flüchtigkeit und leichte .Ab¬
lenkbarkeit der Manischen so deutlich geltend, daß sie sich v'on
den Pseudoquerulanten ablreben. Der Wechsel der Ursachen,
aus denen queruliert wird, ist ein viel häufigerer, als bei dem
Gros der Pseudoquerulanten. Die Patienten werden auch inner¬
lich viel weniger durch die angeblichen rechtlichen Benach¬
teiligungen tangiert, wie die Angehörigen der vorhergehenden
Gruppe. —
In Kürze sei noch hinzugefügt, daß es auch Manisch-Depres¬
sive gibt, welche querulieren, wie das schon bei Besprechung des
zirkulären Irreseins erwähnt worden ist. Ebenso gibt es degenera-
tive chronische Querulanten, welche periodische Schwankungen
im Sinne des zirkulären Irreseins zeigen. Während der manischen
Phasen steigert sich dann die Viclgeschäftigkeit und damit das
Querulieren, aber in den sogenannten freien Zeiten bleiben sie vor
wie nach Querulanten.
Die Querulanten gehören zu den forensisch wichtigsten
Kranken. Durch die Maßlosigkeit ihrer Kampfesweise kommen
sie selbstverständlich über kurz oder lang mit den Behörden in
Konflikt. Günstigsten Falles sind es ganze Serien von Be¬
leidigungen, die sie sich zu schulden kommen lassen, aber auch
darüber hinaus kommt es nicht selten zu Körperverletzungen, zum
Teil recht schwerer Art.
Da die meisten von ihnen psychopathisch veranlagt sind, und
die Rechte anderer Menschen wenig respektieren, da insbesondere
dem Querulanten, sobald er erst einmal in den Kampf verwickelt
ist, kein Mittel zu .schlecht ist, mit dem er seine Ziele weiter ver¬
folgen kann, so wird es niemanden wundernehmen, wenn auch
Eigentumsdelikte, falsche .Anschuldigungen, und unter Umständen
auch Meineide Vorkommen. Schon oben ist ja darauf hingewiesen
worden, daß einzelne Gruppen von diesen Kranken sehr beträcht¬
liche kriminelle Tendenzen aufweisen. Bei der strafrechtlichen
953
Der Querulantenwahu.
Beurteilung werden folgende Gesichtspunkte zu berücksich¬
tigen sein:
In erster Linie ist die gesamte Persönlichkeit zu betrach¬
ten, d. h. es ist zu erforschen, ob der Kranke ein schwer De¬
generierter oder leicht Schwachsinniger ist, der auch ohne die
querulatorische Komponente nicht als vollwertig anzusehen sein
würde.
2. Kommt in Betracht, ob bereits ein wirklicher Verfolgungs-
wahn besteht, oder ob es sich um affektbetonte Vorstellungen
handelt.
3. Sind die sozialen Konsequenzen, die der Patient aus der
Vorstellung der rechtlichen Benachteiligung gezogen hat, zu be¬
rücksichtigen, d. h., es ist zu prüfen, ob er über das Maß des
Üblichen in seinen Kämpfen weit hinausgegangen ist, wie weit er
sich pekuniär und in seiner Stellung durch sein Verhalten ge¬
schadet hat, und ob der erlittene Schaden belehrend wirkt.
Schließlich wird auch die auslösende Ursache des Queru-
lierens in Betracht zu ziehen sein. Handelt es sich da um eine
Kleinigkeit, so daß das Mißverhältnis zwischen Ursache und Wir¬
kung sehr groß ist, so wird auch das zugunsten der Annahme einer
Krankheit sprechen, selbstredend nur im Verein mit anderen
Symptomen. —
Bei der großen praktischen Bedeutung, welche der Queru¬
lantenwahn hat, ist es nötig, an einigen geeigneten Beispielen die
Frage der Zurechnungsfähigkeit, Uienstfähigkeit und Entmün¬
digung zu besprechen.
Schon aus dem bisher Gesagten geht ohne weiteres hervor,
daß es gesunde und kranke, besser gesagt zurechnungsfähige und
unzurechnungsfähige Querulanten gibt. Ein Fall, in dem wir die
Zurechnungsfähigkeit anerkannten, ist der folgende:
A. L., gcb. 19. April 1885. Bahnassistent, Beleidigungen und Ver¬
dächtigungen von Vorgesetzten, Unaufmerksamkeit und Nachlässigkeit im
Dienst, Entlassung, Beschwerden durch alle Instanzen.
L. trat am 1. Dezember 1907 in den Dienst der Eisenbahnverwaltung,
nachdem er vom Militär wegen Plattfußes mit Zivilversorguiigsschein
entlassen worden war. Vom ersten Tage ab fiel er unangenehm auf. Am
Tage des Diensteintrittes bat er bereits um seine Entlassung, acht Tage
später nahm er sie wieder zurück. Die Prüfung zum Assistenten bestand
er nach der vorgeschriebenen Zeit mit genügend. Nach dreimonatlicher
Dienstzeit Erkrankung an eiteriger Mandelentzündung; Oktober 1908
Versetzung in den Bureaudienst, weil er dem Außendienst wegen Platt-
fußbeschw erden nicht gewachsen war. April 1909 will er wiederum aus
Der Querulantenwahn.
954
dem Staatsdienst, um an die Shantungbahn zu gehen. Juni 1909 chro¬
nische Mandelentzündung und Rachenkatarrh, deshalb Badekur in Born¬
holm. Dezember 1909 erneute Meldung in den Kolonialdienst, wieder
abgewiesen, März 1910 Gesuch an die Direktion, ihn in einer anderen,
auüerhalb seiner Karriere liegenden Stellung zu beschäftigen, weil er
dort mehr Geld verdienen könne. April 1910 Versetzung nach E. Der
Patient hatte schon vorher mit seinen Mitarbeitein und Vorgesetzten
Differenzen gehabt, in E. ging es gar nicht. Alle, die mit ihm zu tun
hatten, beleidigte er mit den gröbsten Worten, enthielt seinen Vor¬
gesetzten den Gruß vor. Machte denselben auf jede Weise dienstlich und
außerdienstlich Schwierigkeiten. Deshalb Versetzung nach T. Sowohl in
E. wie in T. bestand dauernd ein chronischer Rachenkatarrh, den er auch
gelegentlich vorschob, wenn er nicht zum Dienst gehen wollte. So z. B.
im August 1910; nachdem er mit seinem Verkehrsinspektor unangenehme
Auseinandersetzungen gehabt hatte, Krankmeldung wegen Rachenkatarrh.
Im Anschluß daran Gesuch um längeren Urlaub, dem noch die Bitte um
verschiedene besondere Vergünstigungen beigefügt war.
In C. begann er nun bereits seine sämtlichen Mitarbeiter und Vor¬
gesetzten zu verdächtigen. Er beschuldigte sie des Betrugs, verschie¬
dener grober Dienstwidrigkeiten, insbesondere behauptete er, daß auf
dem Bahnhof eine solche Unordnung herrsche, daß die Betriebs¬
sicherheit in höchstem Maße gefährdet sei. Sofort eingeleitete strenge
Untersuchung ergab, daß sämtliche wichtigen Behauptungen frei erfunden,
einige nebensächliche Einzelheiten stark übertrieben waren.
Bei den zahlreichen Vernehmungen, die aus Anlaß dieser Denunzia¬
tionen erfolgten — L. hatte ganze Serien von Beschwerden an die Vor¬
gesetzten Behörden gerichtet — meldete er sich plötzlich wegen hoch¬
gradiger Nervosität krank und führte das Leiden auf einen Unfall zurück.
Mit dem letzteren hatte es folgende Bewandtnis. Am 5. Dezember
1911 hatte er Dienst als Fahrdienstleiter gehabt. Er erteilte einem Zuge
Einfahrt, ohne zu bemerken, daß auf dem in Frage kommenden Geleise
noch ein leerer Wagen stand. Es kam zu einem Zusammenstoß. Hierbei
erschrak er heftig, sah bleich aus und „nahm sich die Angelegenheit sehr
zu Herzen“. Drei Tage später war er im Begriff, einem anderen Zuge
Einfahrt zu erteilen, als er von einem Weichenstellerposten die Anfrage
erhielt, ob der Zug nicht erst halten solle, da das Geleise besetzt sei.
Hierdurch will er sich noch mehr aufgeregt haben und betrachtet nament¬
lich die zweite Angelegenheit als Dienstunfall. Von der Behörde ist er
als solcher nicht anerkannt worden. L. wurde vielmehr bestraft, aus dem
Betriebsdienst zurückgezogen und zur Güterabfertigung B. versetzt.
Wegen Nervosität dienstunfähig für 14 Tage, dann angeblich geheilt.
Schon im nächsten Monat Gesuch urn längeren Urlaub wegen Rachen¬
katarrhs. Zwei Ärzte bescheinigen, daß er operiert werden müsse; nach
vielem Hin- und Hersclireiben (Patient richtet in Abständen von 8 bis
10 Tagen ausgesprochen querulatorisch gehaltene, mit vielen Unter¬
streichungen versehene, und mit Ausfällen und Verdächtigungen gegen die
nächsten Vorgesetzten gespickte Gesuche, die er nummerierte, an seine
Vorgesetzte Behörde) wurde ihm der erbetene Urlaub zum Zwecke der
Der Ouerulantenwahn.
Q55
Operation genehniigt. Bis zum Antritt desselben wurde er als dienstfähig:
erklärt, folgte aber sämtlichen Aufforderungen, Dienst zu tun, nicht, son¬
dern erklärte einfach, er litte wieder an nervösen Kopfschmerzen, zudem
sei sein Halsleiden ja noch nicht geheilt. Da er in seinen sämtlichen Ein¬
gaben einen Ton anschlug, der jeder DiszipHn Hohn sprach, und außer¬
dem seine Vorgesetzten bis zu den Direktionsmitgliedern fortwährend der
Parteilichkeit zieh, mußte er mehrfach bestraft werden. Im Dezember
entschloß er sich endlich zu der Nasenoperation und bat dazu auch
wiederum um Urlaub, fuhr nach (j., um sich operieren zu lassen, kehrte
wieder, ohne von dem Erfolg der Operation zu berichten. Als die Eisen¬
bahn sich bei dem zuständigen Krankenhause erkundigte, kam heraus, daß
er erst zwei Tage vor der Rückkehr in den Dienst überhaupt zur ärzt¬
lichen Untersuchung erschienen war und die Operation gar nicht hatte
vornehmen lassen.
Mehrfache Untersuchungen auf Unfallfolgen hatten keinerlei Er¬
gebnis. Es ist nie ein objektiver Befund erhoben worden utid auch seine
Klagen waren, abgesehen von Kopfschmerzen, in keiner Weise typisch.
Während sich alles das abspielte, richtete der Patient eine Be¬
schwerde an das zuständige Ministerium unter Umgehung des Dienst¬
weges. In derselben beleidigte er wieder seine sämtlichen Vorgesetzten
bis zum Personaldezernenten der Direktion herauf und brachte die Ge¬
schichten von den Unregelmäßigkeiten auf dem Bahnhof T. nochmals mit
allen Einzelheiten und unter Angabe der kleinsten Details vor. Eine
zweite Untersuchung hatte kein anderes Resultat wie die erste. Das
Ministerium verfügte, daß dem L. zu kündigen sei. Dies geschah. Er
erhob dagegen Einspruch. Der Einspruch wurde verworfen. Nunmehr
wandte er sich an das Ministerium, welches seine Begutachtung ver-
anlaßte. Hier wurde folgendes festgestellt:
Subjektive Beschwerden: Kopfschmerzen, sonderbares Gefühl ira
Kopf beim Bücken, zeitweise schlechter Schlaf, leichte Ermüdbarkeit
beim Rechnen, Flimmern und Funkensehen vor den Augen, trübe Stim¬
mung. Körperlich: Verschiedene Degenerationszeichen. Puls zwischen
86 und 94. im übrigen körperlich ohne Besonderheiten. Psychisch: Selbst¬
bewußtes Auftreten, hält sich für sehr tüchtig, weil er die Realschule
zwei Jahre besucht hatte (notabene ohne das Einjährige zu bekommen)
und später Unteroffizier und Bataillonsschreiber gewesen sei. Spricht
viel von den Rücksichten, die er in seiner Stellung bei seiner Bildung
verlangen könne; von seinen Kollegen spricht er als ungebildeten, un¬
geschliffenen Bauern, behauptet, im Dienst nur Gutes und Tüchtiges ge¬
leistet zu haben. Daß er zweimal schwere Gefährdungen des Betriebes
herbeigeführt habe, sei nicht seine Schuld, sondern die der anderen. Für
das Unzulässige seines Verhaltens gegenüber der Direktion und seinen
\'orgesetzten zunächst einsichtslos, erst als ihm mit dürren Worten klar
gemacht wird, daß sich ein solches Verhalten kein Mensch gefallen lassen
könne, bekommt er eine gewisse Einsicht: glaubt aber trotzdem noch, daß
er ungerecht behandelt worden sei. Neigung zum Lügen. Übertreibt
auch bewußt seine Beschwerden von den Unfällen. Habe zuletzt gar
iiicht mehr ordentlich denken können, nur deshalb sei cs passiert, daß er
956 Der Querulantenwahn.
in solchem Ton an die Vorgesetzte Behörde schrieb. Glaubt, daß der
Arzt alles, was er sagt, für bare Münze nimmt, und spricht sich hinter
dem Rücken des Untersuchers in diesem Sinne aus.
Obwohl er durch die Dienstentlassung in einer gewissen pekuniären
Bedrängnis sich befand, nicht besonders verstimmt.
Daß er durch den Unfall in seiner Erwerbsfähigkeit nicht beeinträch¬
tigt war, ergab sich daraus, daß er inzwischen eine kleine Schreiberstelle,
auf der er sehr viel arbeiten mußte, angenommen hatte.
Das Gutachten führt folgendes aus: L. ist ein Psychopath,
denn es bestanden körperliche Degenerationszeichen, gesteigertes
Selbstgefühl, Neigung zum Lügen, pathologische Reizbarkeit, maßlose
Reaktion auf kleine äußere Veranlassungen. Ein nennenswerter Grad von
Neurasthenie bestand nicht, denn L. bot erstens körperlich keinerlei
Zeichen dafür, seine subjektiven Klagen wechselten je nach der Situation,
in der er sich befand. Wollte er einen Mißgriff, den er begangen hatte,
bemänteln, dann klagte er viel, zu anderen Zeiten weniger. Als Ver¬
fasser ihm klar machte, daß er im Falle einer Unzurechnungsfähigkeits¬
erklärung nicht darauf rechnen könnte, bei irgendeiner Behörde wieder
eingestellt zu werden, modifizierte er seine Angaben über die nervösen
Erscheinungen ganz erheblich. Er wurde als zurechnungsfähiger Queru¬
lant bezeichnet. Sein Querulieren hatte nicht den Charakter des Wahn¬
haften erreicht. Im Gegenteil hatte er gegen Ende seines Aufenthaltes in
der hiesigen Klinik sogar eine gewisse Einsicht für seine Verfehlungen.
Ein ausgeprägtes Krankheitsbild bestand auch nicht, sondern nur eine
gewisse psychopathische Veranlagung. Bei dieser Sachlage konnte von
einer Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit nicht gesprochen werden.
Innerhalb der wenigen Jahre seiner Tätigkeit bei der Eisenbahn
waren dank dem vielen Querulieren des Patienten drei dicke Bände
Akten entstanden.
Im Gegensatz zu dem eben beschriebenen Falle betrifft der
folgende einen zweifellos Geisteskranken:
A. Th., 35 Jahre alt. Betrug, Querulantenwahn. Freisprechung.
Der Küfer W. C. erstattete am 2. Dezember 1908 gegen den Kaufmann
A. Th. Anzeige, er sei von diesem für einen Vertrauensposten engagiert
worden und habe 1000 Mark hinterlegen müssen. Diese 1000 Mark
sollten auf seinen Namen bei einer Bank deponiert werden. W. übergab
dem Th. auch 1000 Mark; er wollte eine Quittung von der Bank von Th.
haben, die dieser ihm nicht gab. Nun erbat er von Th. eine schriftliche
Eiklärung, daß das Geld, welches Th. auf seinen eigenen Namen ein-
gezahlt hatte, auf den Namen des W. überschrieben würde. Dieser Bitte
entsprach Th. nicht.
Er bestritt sogar, daß das Geld auf W.s Namen eingezahlt werden
sollte, und deponierte es bei der B.er Bank auf seinen Namen. Kurz
darauf schrieb er dem W., daß er ihn nach dem verabredeten Probe¬
monat nicht aristellen könne und den Betrag zurückzahlen würde. Er
schickte nun ein Fräulein Sch. zur Bank, um 300 Mark zu erheben; sein
Konto war aber gesperrt.
957
Der Querulantenwahn.
Den zwischen beiden geschlossenen, von Th. aufgesetzten Vertrag
hatte W. nicht durchgelesen, sondern Th. hatte ihn nur vorgelesen. Nach
U.s Angabe ist ihm auch vorgelesen worden, daß das Geld auf seinen
Namen hinterlegt werden sollte.
Th. ist im Jahre 1906 in Köln wegen Betrugs und Urkundenfälschung
zu 2 Jahren 6 Wochen Gefängnis verurteilt worden.
Er war im Jahre 1904 in Zahlungsschwierigkeiten geraten, und half
sich dadurch, daß er verschiedene Personen engagierte, die ihm Kaution
stellen mußten. Das Gericht hat angenommen, daß es ihm lediglich um
die Kaution zu tun war, durch die er sich flüssige Mittel zu beschaffen
suchte, während er eine dauernde Anstellung der betreffenden Personen
in Wirklichkeit nicht beabsichtigte.
Am 9. Dezember 1905 wurde er verhaftet, hiergegen legte er immer
wieder Beschwerde ein, indem er zunächst beteuerte, sich des Betrugs
oder Betrugsversuches nicht schuldig gemacht zu haben. Er besitze
zudem Vermögen an Immobilien im Werte von 85 000 Mark, sei infolge¬
dessen auch nicht fluchtverdächtig.
Schon am 22. Dezember 1905 schrieb er an den Untersuchungs¬
richter, es sehe fast so aus, als ob man ihm sein gutes Recht vorenthalten
wolle. Später schrieb er, sein polizeiliches Leumundszeugnis sei w'ohl
an der ganzen Sache schuld, denn der Polizeikommissar in X. arbeite
systematisch gegen ihn. ln einer eingehenden Rechtfertigungsschrift er¬
klärt er den Rentner E. H. für die Triebfeder der gegen ihn gemachten
falschen Anzeige. Er schreibt darin: „Betrug ist niedrig, aber zu etwas
Niedrigem bin ich nicht fähig. Selbstsucht kenne ich nicht.“
Am .3. April 1906 schreibt er, er sehe nicht ein, daß er durch die
Macht verschiedener Beamten sein Vermögen verlieren solle. Sein Ver¬
gehen bestehe lediglioh darin, daß er einem Polizei- und Kriminalbeamten
frei und offen entgegengetreten sei.
Die Zeugen, die gegen ihn ausgesagt hätten, seien beeinflußt.
Seine Existenz sei gerichtlich ungerechtfertigt untergraben worden
u'egen Beamtenintriguen.
In der Erwiderung auf die Anklageschrift schreibt er, die Fest¬
stellungen schienen doch von sehr stark interessierter Seite geführt zu
sein, wozu er vor allem den 6. Polizei-Bezirk, 2. Kriminal-Polizei-Bezirk
und den Gerichtsvollzieher C. rechnen müsse.
Er bittet die Anklage abzulehnen, da die ganze Sache zur Haupt¬
sache eine Intrigue des Herrn H. unter Anstiftung einiger Beamten sei.
Gegen das Urteil legte Th. Revision ein. An seine Mutter schrieb
er am 21. April 1906: ,,Keines seiner Worte sei widerlegt, er habe sich
keine Vorwürfe zu machen, und Glauben sollte man eben auch am Gericht
meinen Ansagen schenken, da ich nicht lüge.“ W'as man alles gegen ihn
in der Sitzung unter Eid gelogen habe, das sei zu viel. Je mehr man ihn
verkenne, desto höher schätze er seinen eigenen Wert. „Ich suche vor¬
läufig noch den Menschen, der mich in moralischem und ethischem Ge¬
fühl übertrifft.“
958
Der Querulantenwahn.
Er schreibt an seine Mutter weiter: „Daß dein Bruder jetzt jeden¬
falls Freude hat, ist klar, denn der Prokurist desselben war im Zu¬
hörerraum.“
„Die Meinung, welche in der Sitzung vorherrschte, war, die Familie
sei völlig mittellos und deshalb hätte ich mir durch den Betrug Geld ver¬
schafft. Ich habe ein so zartes Gefühl, daß ich die geringste Betonung
eines Wortes empfinde und auch die Lippe eines Richters unter dem
Schnurrbart zucken fühle. In dem Briefe verbittet er sich Ratschläge.
Sie solle schweigen, nicht denken und kombinieren. Er verantworte
selbst, was er tue.
Am 14. April 1906 schreibt er. er könne sich des Gedankens nicht
erwehren, die Königl. Staatsanwaltschaft habe, um die beiden Kommis¬
sare zu schützen, das Verfahren gegen ihn eröffnet.
„Alle zu meinen Gunsten sprechenden Tatsachen werden unter¬
drückt, oder, was dasselbe ist. trotz meiner genauen Angaben absichtlich
nicht ermittelt.“ „Mein Verbrechen besteht darin, daß ich einen Kom¬
missar usw. berechtigt angezeigt habe. Damit ich nun gegen diese Herren
Polizeibeamten nichts machen kann, bin ich trotz größeren Grundbesitzes
als fluchtverdächtig in Untersuchungshaft genommen worden und soll ge¬
richtlich zum Betrüger gestempelt und ehrlos gemacht werden.“ „Mein
Recht liegt klar auf der Hand, aber ein lächerliches Urteil wird als Recht
gesprochen.“
Weiter schreibt er, daß Zeugenaussagen in dem Urteil zu seinen Un¬
gunsten gedreht sind.
Am 24. Juli 1906 schreibt er: „Die Strafe ist auf Grund eines mit
den verworfensten Mitteln zusammengcstellten Urteils hier verhängt
worden.“
Willkürliche Zusätze des Gerichts sind gemacht worden, Zeugen¬
aussagen zu seinem Nachteil verdreht, rechtlich erhebliche, zu seinen
Gunsten sprechende Angaben der Zeugen sind unterdrückt worden, ln
der Sache H. sei er gegen das Gesetz verurteilt worden, und zwar, um
das mit den verworfensten Mitteln zusammengebrachte Urteil vom
18. April 1906 besser aufrecht erhalten zu können. Dies sei durch ein
Stadtgespräch zu beweisen, denn am 27. Juli habe er die Mitteilung
empfangen, daß schon vor Monaten gesagt worden sei, daß, bevor seine
gegen das Urteil vom 18. April eingelegte Revision zur Verhandlung
käme, er wegen eines anderen Vergehens bestraft werde. Das C.er Land¬
gericht verdiene den Namen eines Gerichtes nicht, es sei eine Urteils¬
fabrik.
In einem Brief nennt er jede gegen ihn vollstreckte Strafe ein Ver¬
brechen. Er droht mit Veröffentlichung des ihm getanen Unrechts. Es
werde sich dann nicht nur um das ihm verweigerte göttliche Recht
handeln.
Charakteristisch ist ein Schreiben: Das Urteil ist absichtlich ge¬
fälscht. „Ich weiß, daß das Urteil vor dem Verhandlungstermine fi.x und
fertig geschrieben war.“ Er beantragt wegen des an ihm begangenen
\ erbrechens die Ablehnung seiner bisherigen Richter.
Der Querulantenwahn. 959
Zu erwähnen ist ferner ein Schreiben, in dem er unter anderem
anführt: „Meine mit Reichsstempel versehenen Verträge sind gültig und
kann das Gericht auf eine bloße Annahme hin kein Urteil sprechen, weil
das Motiv zu der mir gerichtlich untergeschobenen Absicht, daß ich meine
Verträge nicht hätte halten wollen, doch nicht anzunehmen ist, ich hätte
das Reich bereichern wollen. Überhaupt wird durch die gerichtliche An¬
nahme das Reich als Dieb hingestellt, weil es Stempelsteuern für ein
Nichts erhebt, da das Stückchen bedrucktes Papier wertlos ist.“
Weiter spricht er von den Richtern als Lumpengesindel, droht mit
Veröffentlichungen, schreibt, die am Gericht beschäftigten Verbrecher
hätten ihm nicht umsonst die Ehre abgeschnitten, spricht von ganz ge¬
meinen Schurkenstreichen der Justizbeamten, Dünkel des überheberischen
Verbrechergesindels, welches die Justiz in C. ausübt.
Während der Beobachtung in der hiesigen Anstalt war er zeitlich
und örtlich orientiert. Wahnideen und Sinnestäuschungen fehlten, ebenso
Krämpfe, im übrigen war er redegewandt und von guter Intelligenz. Er
brachte im wesentlichen dieselben Sachen vor, die oben schon erwähnt
worden sind. Die treibende Kraft bei der ganzen Affäre gegen ihn sei
sein Onkel E., der habe sich mit H., einem Juden, zusammengetan. Der
Kommissar stehe mit dem im Bunde, denn er verkehre in demselben Lokal
an demselben Tisch wie sein Onkel. Die Polizei habe die Leute gegen
ihn aufgehetzt, im Urteil sei alles unterdrückt und gefälscht worden. Die
Polizei habe sich geäußert, sie würde ihm etwas in die Papiere bringen.
Das Gericht habe die Gesetze nicht innegehalten. Er habe auf diese
Weise 300 OüO Mark verloren. Das Urteil sei gefälscht. Er habe recht
und sei stramm vorgegangen. Die Juristen hätten sich ihm gegenüber
nur so benommen, um die beiden Kommissare der Bestrafung rechts¬
widrig zu entziehen. Lumpen kämen bekanntlich immer in höhere Stel¬
lungen hinein, erst kürzlich habe ihm noch ein Herr gesagt, daß sein
Schwiegersohn nur dazu da sei, um die Verbrechen der Beamten zu ver¬
decken. —
Neben den Verfolgungsideen bestand auch eine beträchtliche
Selbstüberschätzung. Diese zeigte sich sehr früh. Schon mit 18 Jahren
ließ sich der Patient mit seinen politischen Gegnern in Preßfehden ein.
Den Juristen fühlt er sich überlegen. Er belehrt sie, behauptet, W’as er
sage, sei richtig. Er schreibt an seine Mutter, er suche schon lange nach
dem Menschen, der ihm in moralischer und ethischer Hinsicht übertreffc.
Er habe immer edel an den Menschen gehandelt usw.
Die dem Arzt gemachte Angabe, daß er das Gymnasium bis Ober¬
sekunda besucht habe, erwies sich als falsch. —
Das Gutachten führte aus, daß es sich um eine chronische querula¬
torische Psychose handle, die sich bei erhaltener Besonnenheit zu einem
völligen Wahnsystem ausgebildet habe. Th. glaubte sich von seinem
Onkel und dem Rentner H. verfolgt. Diese seien die Seele aller Machen¬
schaften gegen ihn. Von ihnen ist die Polizei bestochen, diese intriguiere
auch gegen ihn und würde von der Justiz gedeckt. Deshalb würde ihm
nachgesagt, er habe Betrug begangen, in Wirklichkeit sei das nicht
der Fall.
Der Ouerulantenwahn.
960
Er ergeht sich infolgedessen in den gröbsten Beschimpfungen gegen
die Polizei und die Gerichte, wirft den Zeugen Meineide vor. Den H.
nennt er einen Lumpen, das Gericht ist bestochen. Die Aussagen wurden
verdreht, das Urteil mit den verwerflichsten Mitteln zusammengestellt.
Hinzu kommen noch einzelne wahnhafte Äußerungen. Schon vor
Monaten sei es Stadtgespräch gewesen, daß er verurteilt werden sollte,
das Urteil sei schon vor der Verhandlung fertig gestellt worden. Der
Vorsitzende Richter habe unter dem Schnurrbart mit der Lippe gezuckt;
das alles bedeute, daß man gegen ihn sei.
Es bestanden bei Th. Selbstüberschätzung, Größen- und Verfoigungs-
ideen mit Neigung zum Querulieren. Der Sachverständige nahm infolge¬
dessen an, daß der § 51 vorliege. Dieser Ansicht schloß sich das Ge¬
richt an.
Wenn man die oben angeführten Grunds.ätze bei der Be¬
urteilung dieses Falles anwendet, so wird wohl kein Zweifel
daiüber bestehen, daß es sich um einen Geisteskranken handelte.
Der Patient hat nach seiner Freisprechung aus der Anstalt un¬
entwegt weiter queruliert, bis er uns verließ. Inzwischen sind be¬
reits wieder mehrere Delikte vorgekommen. Bei ihm tritt auch
das Typische des wirklichen Querulanten deutlich hervor. Th.
hat zahllose Schriftstücke von beträchtlicher Länge an die ver¬
schiedensten Behörden gerichtet. In jedem derselben kamen die
alten Wahn- und \'erfolgungsideen immer wieder von neuem zum
Ausdruck. Sie alle strotzten von Beschimpfungen gegen seine
vermeintlichen Verfolger und gegen die Behörden. In der Form
fielen sie dadurch auf, daß der Patient alle Kraftstellen unter¬
strich, mit Ausrufungszeicben und Gedankenstrichen viel ope¬
rierte, sich auf Stellen aus seinen Privatakten bezog, bei den
Empfängern der Schriftstücke stets den ganzen Sachverhalt als
bekannt voraussetzte, mit oberflächlichen juristischen Kenntnissen
arbeitete. Geisteskrank will er nicht sein, droht vielmehr, er werde
sich in eine ausländische Irrenansalt begeben und sich dort be¬
obachten lassen, weil es in Preußen keine Ärzte gebe, die Mut
liätten. Auch in seinem äußeren Verhalten ist er der gleiche, er
spricht lebhaft, zeigt sich dabei dialektisch und formell recht ge¬
wandt, weiß auf jeden Einwurf etwas zu erw'idern. Wenn man
ihn in die Enge treibt, lügt er, oder kommt einfach mit Behaup¬
tungen, für die er die Beweise schuldig bleibt. Für seine Wahn¬
vorstellungen zeigt er sich völlig unbelehrbar.
Eine der schwierigsten Fragen der forensischen Psychiatrie
ist die der Entmündigung des Querulanten. Mit
diesem Problem haben sich verschiedene Juristen beschäftigt.
Der Qiierulantenwahn.
961
Genannt sei z. B. Frese ^). Auch das Reichsgericht hat zu der
Frage der Entmündigung wegen Querulantenwahns mehrfach
Stellung genommen. Die wichtigsten Entscheidungen sind fol¬
gende :
Auch wenn sich die geistige Erkrankung in den Formen des
Querulantenwahnsinns zeigt, kann eine Entmündigung nur eintreten,
wenn die Wahnideen die Person in allen ihren Lebensbetätigungen
erfaßt haben, sie nach allen Richtungen in der Art beherrschen, daß
eine allgemeine geistige Erkrankung als vorhanden angesehen werden
muß. (O.L.Q. Hamburg, 1. 4 . 01.) Das Recht 1901, Entsch. Nr. 1462.
Eine Entmündigung ist nicht möglich, wenn die Störung der
Qeistestätigkeit sich auf einzelne oder einen bestimmten Kreis von
Angelegenheiten beschränkt.
Ist der Geisteskranke, wie dies namentlich beim Querulanten¬
wahnsinn der Fall ist, von bestimmten krankhaften Vorstellungen be¬
herrscht, so kommt es darauf an, ob diese krankhaften Vorstellungen
ihn derart ausfüllen, daß sie auf sein Handeln überall Einfluß haben,
und daß seine gesamten Lebensverhältnisse mehr oder weniger hier¬
durch in Mitleidenschaft gezogen werden. (R.Q. IV, 30. 6. 10.)
Das Recht 1910, Nr. 3149.
Voraussetzung der Entmündigung wegen Geisteskrankheit foder
Geistesschwäche) ist, daß sich die Unfähigkeit des Kranken zur Be¬
sorgung seiner Angelegenheiten auf die Gesamtheit dieser Angelegen¬
heiten erstreckt. Diese Feststellung kann durch die Erwägung allein,
daß nach dem Standpunkt der Wissenschaft, die nur auf einem be¬
schränkten Gebiete der Geistestätigkeit sich äußernde Erkrankung
immer das Zeichen einer allgemeinen Geisteskrankheit sei, nicht ge¬
stützt werden. Ausschlaggebend kann sein, daß der Kranke in Ver¬
folgung seiner Wahnideen bereits mit der staatlichen Rechtsordnung
und ihren Organen in Konflikt gekommen und zu ferneren ihn not¬
wendig schwer schädigenden Konflikten geneigt ist. Bei solcher
Sachlage steht der Entmündigung nicht entgegen, daß der Kranke auf
einzelnen Lebensgebieten, insbesondere in seinen Berufs- und Fami¬
lienangelegenheiten, ein vernünftiges Verhalten betätigt. (R.O. IV,
28. 10. 07.) Das Recht 1907, S. 1526, Entsch. Nr. 3752.
Querulanten sind nicht schlechthin als geisteskrank im Sinne der
Ziff. 1 des § 6 B.O.B. anzusehen. Ob der Querulantenwahnsinn,
Paranoia, einen solchen Grad erreicht hat, daß Geisteskrankheit im
gesetzlichen Sinne vorliegt, ist Tatfrage. Wird der Querulant von
seinen krankhaften Vorstellungen derart beherrscht, daß dadurch seine
gesamten Lebensverhültnisse in Mitleidenschaft gezogen werden, so
ist der Tatbestand Ziff. 1 des § 6 B.G.B. gegeben. Eine Querulantin
D Jur.-psych. Qrenzfragen, Bd. 4, Heft 8. Halle a. S. 1909.
C. Marhold.
Hübner, Forensische Psychiatrie,
Der Ouerulantenwahn.
9^)2
kann wohl ihre Pflichten im Haushalt und gegen ihre Familie ordent¬
lich erfüllen und in einzelnen Beziehungen ihre Vermögensangelegen¬
heiten, wie bei dem Betriebe ihres Hökerstandes und bei der Ver¬
waltung des Hauses, nicht verkehrt handeln, gleichwohl kann sie in¬
folge ihrer geistigen Rrkrankung nicht imstande sein, ihre Angelegen¬
heiten im allgemeinen, namentlich außerhalb der engen Grenze des
häuslichen und Familienlebens, zu besorgen. Die Entmündigung wegen
Geisteskrankheit auf Grund der Ziff. 1 hat aber zur Voraussetzung,
daß der zu Entmündigende infolge der Geisteskrankheit seine An¬
gelegenheiten in ihrer Gesamtheit, nicht nur einzelne von ihnen, zu
besorgen außerstande ist. Eine absolute Unfähigkeit des Geistes¬
kranken, seine Angelegenheiten zu besorgen, ist nicht erforderlich.
(R.G. IV, 18. 3. 07.) Zeitschr. f. Med.-Beamte 1907, Beil. Nr. 2, S. 70.
Wenn die Querulanten so verschieden hcurtcilt worden sind,
so liegt das daran, daß der Querulantcnwalu), wie bereits oben aus¬
geführt wurde, keine einheitliche Gruppe von Krankheitsfällen
darstellt. Die Berechtigung einer Entmündigung hängt nicht
allein von der Tatsache ab, daß ein Kranker queruliert, sondern es
muß durch das Querulieren und die damit verbundenen psy¬
chischen .‘Abweichungen die gesamte Lebensführung des Patienten
ungünstig beeinflußt werden. Dies geschieht nun aber bei Queru¬
lanten gar nicht so selten, denn, wie auch bereits oben ausgeführt
wurde, handelt es sich fast stets um schwer psychopathische Per¬
sönlichkeiten. bei denen die degenerative Charakteranlage ebenso
bedeutungsvoll ist, wie das Querulieren. In diesen Fällen ist nun
aber für gewöhnlich auch sehr leicht zu erweisen, daß der Kranke
in der Besorgung seiner Angelegenheiten durch seine patho¬
logischen Eigenschaften auf Schritt und Tritt behindert wird.
Durch das Querulieren kommt er mit allen Behörden in Kon¬
flikt, er wird bestraft, verliert seine Stelle und vergeudet
einen Teil seines Vermögens auf diese Weise. Regelmäßiger,
nutzbringender Arbeit wird er entfremdet, weil er nur noch für
seine ,,Interessen“ kämpft. Hinzu kommen kriminelle Tendenzen,
und bringen ihn auch wieder in Konflikt mit den Behörden. Sic
geben gleichzeitig seiner (luerulatorischen A’eranlagung neue Nah¬
rung. Kurz, es ist bei einem Teil dieser Kranken ein ganzer
circulus vitiosus, der sie sozial mehr und mehr herabdrückt und es
notwendig macht, daß .Andere für sie denken und handeln.
Es ergibt sich aus diesen Erwägungen ohne weiteres, daß
auch ich auf dem Standpunkt stehe, daß das Querulieren allein,
so unbequem es sämtlichen Behörden sein mag, keinen Entmün¬
digungsgrund abgibt, selbst wenn es krankhaft ist. Es muß viel-
Der Ouerulantenwahn.
9^3
mehr der Nachweis gefordert werden, daß alle wesentlichen An¬
gelegenheiten von dem Patienten nicht besorgt werden können. —
Durch die Arbeiten von Sieffert, Rüdin, Wilmanns iisw. ist
bekannt geworden, daß auch die Haft zur Auslösung querula¬
torischer Symptomenkomplexe besonders geeignet ist. Unter den
Patienten nun, welche in der Haft in diesem Sinne erkranken,
finden sich nicht wenige, die so starke kriminelle Tendenzen haben,
daß sie nach Verbüßung ihrer Haftstrafen regelmäßig wieder
straffällig werden. Auf diese Weise schwankt ihr Refinden; sie
sind deshalb nicht dauernd unzurechnungsfähig im Sinne des § 51
St.G.B., w'ohl aber kann ihre Entmündigung in Frage kommen,
weil sie niemals zu .sozialer Lebensführung fähig sind. Befinden
sie sich in der Freiheit, so treten zw'ar die paranoiden Symptome
zurück, statt dessen machen sich aber die kriminellen Neigungen
um so stärker geltend. Ins Gefängnis zurückgekehrt, zeigt
sich rasch wieder die paranoide Komponente. Nie sind sie
ganz normal. Stets bleiben sie unsoziale Elemente. Die straf¬
rechtliche Beurteilung, welche sie erfahren, kann deshalb zu ver¬
schiedenen Zeiten eine verschiedene sein; zivilrechtlich sind sie
oft entmündigungsreif, weil sie sich nie einen Beruf zu schaffen
vermögen, fortw'ährend kriminell werden, querulieren, häufig den
öffentlichen Armenbehörden zur Last fallen, weil sie nur das tun,
was ihnen beliebt, für sich eine Sonderstellung im Leben ver¬
langen, sich als die unrecht Behandelten, von allen Seiten Ver¬
folgten ansehen und unbelehrbar an ihren Wahnvorstellungen fest-
halten.
Die Schwierigkeiten, welche sich der Beurteilung solcher
Fälle cntgegenstellen, zeigt die folgende Beobachtung, welche
unter Übergehung der querulatorischen Komponente mit-
geteilt wird.
J. W., Keb. rO. Mai 1865. 21nial wegen Diebstahl, Einbruch, Körper¬
verletzung, Unterschlagung, Widerstand, Betteln usw. bestraft. Einige
Male freigesprochen, jetzt in einer Anstalt interniert, wegen Geistes¬
krankheit entmündigt. Versucht danach sämtliche Strafverfahren wieder
aufzunehmen.
W. wurde durch Beschluß des Amtsgerichtes D. vom 10. November
1907 wegen Geisteskrankheit entmündigt, weil er von Jugend auf be¬
schränkt, 2Imal bestraft war, beim Explorationstermin sich auffällig be¬
nommen und Wahnideen vorgebracht hatte, und weil verschiedene Zeugen
und Sachverständige Tatsachen bekundet hatten, welche den Schluß
erlaubten, daß W'. geisteskrank sei. Im besonderen wurde seine Neigung
zu Stimmungsschwankungen, die Reizbarkeit, das Mißtrauen, die Neigung
til*
964
Der Oueriilantenwahn.
zu Gewalttaten, ferner Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen, Störungen
des Vorstellungs-, Trieb- und Hmpfindungslebens glaubhaft gemacht.
W. stellte nach einiger Zeit den Antrag auf Aufhebung der Ent¬
mündigung, indem er das bei den Akten befindliche Gutachten zu wider¬
legen suchte.
Bezüglich einiger Wahnvorstellungen erklärte er, daß er jetzt eines
Besseren belehrt sei, das aufgeregte Wesen und die Launenhaftigkeit
führte er auf die lange Internierung zurück. Bezüglich der in einer
Strafanstalt geäußerten Wahnideen sagte er, er habe seiner Phantasie
zuviel freien Lauf gelassen, sein Anwalt fügte hinzu, daß sich ein Teil
der von W. gemachten Äußerungen als harmlos erklären ließe, ein anderer
Teil durch die Internierung in der Anstalt zu motivieren sei. Wenn W . in
seinen Eingaben einen unangemessenen Ton angeschlagen habe, so sei
das auf seine mangelhafte Bildung zurückzuführen.
Das Medizinalkollegium empfahl, den Patienten in einer anderen
Anstalt begutachten zu lassen, infolgedessen wurde W. zu uns überführt
und von dem Verfasser beobachtet.
Untersuchungsbefund: Körperlich keine erheblichen Störungen.
Weder am Nervensystem, noch an den inneren Organen ließen sich .Ab¬
weichungen von der Norm nachweisen. Auffallend war während der
sechswöchentlichen Beobachtung nur eitis. nämlich daß W. mit Durch¬
fällen und Magenbeschwerden zu tun hatte. An der Hand fand sich eine
bereits in früheren Gutachten erwähnte Pityriasis versicolor.
Die psychische Untersuchung ergab folgendes: Der Bitte des Ver¬
fassers, ihm einen ausführlichen Lebenslauf aufzuschreiben, wollte er
nicht entsprechen. Er sei im Schreiben nicht recht bewandert, im
übrigen lasse er sich auf derartiges nicht ein. Es könnte ihm da irgend¬
eine harmlose Äußerung als krankhaft ausgelegt werden. Mündlich wolle
er auf entsprechende Eragen antworten. Verfasser befragte den Patienten
infolgedessen an der Hand der Akten über sein Vorleben, worauf W'.
folgende Angaben machte.
Er sei am 10. Mai 1865 in W. geboren, habe in G. die Schule be¬
sucht. Da er schon von Jugend auf das Vieh habe hüten müssen, sei
der Schulbesuch unregelmäßig gewesen und er habe Schreiben und
Rechnen nicht viel gelernt. „Ich bin aber deshalb nicht in der Schule
zurückgeblieben, soviel wie dort gelernt wurde, habe ich auch gelernt.
Ich mache aber beim Schreiben Hehler.“
Die erste Strafe habe er mit 12 oder 13 Jahren bekommen. Es sei
gar nichts Schlimmes gewesen. Er habe eine Mundharmonika irgendwo
liegen sehen und dieselbe an sich genommen, nicht in der Absicht sie zu
stehlen, sondern er habe nur darauf spielen wollen. Sein Vater habe
ihn aber wegen Diebstahls angezeigt, da habe er 3 Tage bekommen.
Mit 14 Jahren sei er aus der Schule gekommen und dann zu Ver¬
wandten nach E. übergesiedelt. Dort sei er als Kutscher gefahren. Erst
im 17. Lebensjahr sei er wieder mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten,
habe damals in H. mit einem Kameraden zusammen einen Hund von der
Kette losgeschnitten. „Es war mehr ein Bubenstreich, nicht daß wir
den Hund hatten stehlen wollen. Wir sind auch freigesprochen worden,
Der Ouerulantenwahn,
965
oder vielmehr gerade freigesprochen sind wir nicht, aber die Unter¬
suchung ist uns angerechnet worden. Das war irn Jahre 1881.“ Als
man ihn wegen dieses Mundediebstahls in das Polizeigefängnis gebracht
hatte, sei er krätzekrank befunden worden; man habe ihn aber zur
Heilung dieses Leidens nicht etwa ins Krankenhaus geschickt, sondern
ihn im Untersuchungsgefängnis behandelt. Da hier aber die notwendigsten
Einrichtungen fehlten, schlug die Krankheit nach innen und so sei er
„körperlich krank geblieben und in seinem Fortkommen erschwert“.
Warum man ihn damals nicht in das Krankenhaus geschickt habe,
wisse er nicht, vielleicht habe es die Staatsanwaltschaft so angeordnet.
Jedenfalls sei die Krankheit nur kalt hergestellt worden. „Wir sind mit
Schmierseife und Perubalsam eingeschmiert und nicht in ein warmes
Zimmer gebracht worden, daß die Krankheit sich ausgeschwitzt hätte.“
Nach 8 Tagen sei die Krankheit äußerlich fortgewesen. Er habe aber
davon etwas zurückbehalten. Auch die Beine seien etwas gelähmt in den
Gelenken, seitdem habe er auch viel Leibschmerzen.
Als ihm gesagt wurde, beim Gehen sei von der Lähmung der
Gelenke nichts zu merken, sagte er; „Doch, ich gehe schwankend“ (steht
dabei auf und geht, sich in den Hüften wiegend, im Zimmer hin
und her). —
Einige Monate später — so genau kann er das nicht sagen, es sind
schon einige Jahre her — habe er wegen Diebstahls 9 Monate bekommen.
Er sei wieder als Kutscher gefahren, der Geschäftsherr habe ihm aber
seinen Lohn nicht auszahlen wollen, da habe er sich Kleidungsstücke mit¬
genommen und einen Hund, „das heißt, der Hund lief ihm natürlich nach“.
Die Kleidungsstücke habe er genommen, um sich schadlos zu halten.
Er habe gewußt, daß es ein Unrecht war. „Ich hatte aber keine Ahnung,
daß mein Brotherr mich anzeigen wollte, weil der mir doch Geld schuldig
war.“ Mehr wie einen dem Lohn entsprechenden Wert habe er ja auch
nicht gestohlen, außer dem Hund, der allerdings noch 50—60 Mark extra
wert war.
Nach Verbüßung der neunmonatlichen Gefängnisstrafe sei er wieder
Kutscher geworden. Feste Stellungen habe er nicht annehmen können,
da er mit Knechten und ähnlichen Leuten nicht zusammen schlafen konnte.
Die hätte er sonst angesteckt. Er habe immer gewußt, daß das an¬
steckend sei.
Die Gefängnisärzte seien übrigens an der unzureichenden Behand¬
lung nicht schuld gewesen. Es habe vielmehr daran gelegen, daß im
Untersuchungsgefängnis keine entsprechenden Einrichtungen vorhanden
waren. —
Die nächste Strafe habe er sich schon 3 oder 4 Monate nach Ver¬
büßung der vorhergehenden zugezogen. „Es waren ein paar Taschen¬
uhren. In dem Hause wohnte ich sozusagen. Natürlich bin ich dazu
von einem anderen verleitet worden. Der hat die Uhr auch verkauft
und das Geld für sich behalten. Ich bekam damals 1 Jahr Gefängnis und
erlernte während desselben die Schuhmacherei.“
Nach der Entlassung habe er sich diesem Handwerk ganz gewidmet,
habe aber den richtigen Lohn als Geselle nicht verdienen können. In
Der Querulantenwahn.
966
der ersten Stelle sei es kurz nach dem Eintritt bekannt geworden, daß
er vorbestraft war. Man habe ihm das vorgeworfen, da sei er gleich
wieder gegangen. In der Herberge in E. habe er dann einen Bekannten
wieder getroffen, der ihn bat, einen Überzieher mit aus dem Lokal zu
nehmen. Er habe das getan und der Andere versetzte das Kleidungs¬
stück darauf. Später sei herausgekommen, daß der Überzieher einem
Kaufmann gehörte. Davon habe er selbst nichts gewußt. Von dem
Erlös habe er übrigens auch nichts erhalten. —
Unter Übergehung einer ganzen Reihe weniger wichtiger Einzel¬
heiten aus den nächsten Jahren seien hier gleich die Angaben über den
Aufenthalt im W.er Gefängnis angeführt.
Er habe da Äußerungen gemacht. In seiner Eigenschaft als Beamten¬
schuhmachervorarbeiter sei er beim Maßnehmen öfters mit den Beamten¬
frauen in Berührung gekommen. Dabei habe er gehört, wie der Direktor,
die Frau Direktor und der Werkmeister etw'as sprachen. Er habe nicht
genau darauf geachtet, was sie sprachen, da er sich mit Maßnehmen
beschäftigte. Daß er sich dahin geäußert habe, die Direktorstochter habe
ein Verhältnis, das leugne er. Man habe ihm das vielleicht angedichtet.
„In solchen Anstalten W'erden die Leute öfters geuzt.“ Ebensow'enig sei
ihm etwas darüber bekannt, daß man ihn zu der Direktorstochter in
Beziehung gebracht habe. Sonst wisse er doch alles ganz genau. Daran
könne er sich aber nicht erinnern. —
Wegen der W'.er Vorgänge sei er nach H. und von dort, weil er
nach dem Urteil verlangt habe, nach M. gebracht w'orden. Nach lömonat-
lichem Aufenthalt in der Irrenabteilung sei er nach J. in die Irrenanstalt
überführt worden. Er habe damals angenommen, daß Herr und Frau
Direktor aus W. dem Werkmeister von der Tochter erzählt hätten, es
wäre nicht richtig mit ihr. Der Werkmeister antwortete: „Den können
die gerichtlich belangen.“ Worauf sich das bezog, wisse er, Patient,
nicht. „Es kann möglich sein, daß es von meiner Seite ein Mißverständnis
gewesen ist.“ Der Werkmeister habe auch gesagt: „Dick, dick.“ Als
er, Patient, danach den Pfarrer fragte, ob die Paula verführt w'orden sei,
fragte letzterer sofort dagegen: „Die Dicke?“ Aus alledem habe er
geschlossen, daß sich die Tochter des Direktors von W. in anderen Um¬
ständen befinde.
Daß es damals diese Sache in Beziehung zur Länge seiner Strafe
gebracht habe, stimme nicht, „Was ich gesprochen habe, w-eiß ich nicht
ganz genau. Davon habe ich nichts gesagt. Wenn es in den Akten steht,
dann ist es zugemacht worden.“ —
Aus der Anstalt J. habe er sich heimlich entfernt und dann ein
unstetes Wanderleben begonnen. Erst habe er 4 Wochen bei einem
Schuhmacher gearbeitet, dann kehrte er nach E. zurück. Da hier sein
Vorleben sofort bekannt wurde, ging er nach Holland. Durch Musizieren
habe er dort eine Zeitlang viel Geld verdient, als aber dann sein Instru¬
ment kaput ging, mußte er sich eine andere Tätigkeit suchen. Deshalb
reiste er nach C. und von dort nach M., w'o er in eine Qeflügelschlächterei
eintrat. Auch dieses Geschäft mußte er bald wieder aufgeben, da ihn
ein Pferd biß. Wieder stellenlos geworden, nahm er 2 Wochen später
Der Ouerulantenwahn.
967
eine Ladetikasse aus einem fremden Geschäfte fort. „Die Leute haben
aber ihr Geld wiederbekommen.“ Er sei in J. 6 Wochen lang beobachtet
worden. Nach 2 Monaten habe er sich aber heimlich wieder entfernt
und sei dann in die Anstalt eingebrochen. Da Herr Geheimrat B. ihn für
gesund erklärte, habe er 1 Jahr Gefängnis bekommen und die auch ab¬
gemacht. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis habe er sich zunächst
nach A. begeben, sei aber bald wieder nach Deutschland zurückgekehrt,
weil er keine Stellung finden konnte. Erst in E. bekam er wieder eine
Sülche bei einem Schuhmachermeister. Da die Meisterin ihn aber gleich
schlecht behandelte, ging er sofort wieder weg. Wenige Tage später
wurde dort nun ein Diebstahl begangen. Den hätte er selbstverständ¬
lich nicht verübt. Man hatte ihm denselben aber zur Last gelegt. Da
er außerdem noch einen Pferdediebstahl begangen, die Notwehr über¬
schritten und das Verbot des Waffentragens übertreten hatte, sei er zu
6 Jahren Zuchthaus verurteilt w'orden.
Die Notwehr sollte er bei folgender Gelegenheit überschritten haben:
Er habe mit Messern und Revolvern gehandelt und seinen ganzen Vorrat
bis auf eine sechsläufige Schußwaffe verkauft. Als er nun in einer
Kaschemme, in der nur „Louis, Karusselknechte und Huren“ verkehrten,
in Krach kam, habe er zunächst 3 Schüsse, die nur blind waren, ab¬
gegeben. Die vierte Patrone war eine scharfe, das habe er gewußt und
wollte sie deshalb in die Luft schießen. Es habe sich aber in dem Hand¬
gemenge jemand so unglücklich hingestellt, daß er den in die Brust ge¬
troffen habe. —
Von der sechsjährigen Strafe habe er 3 Jahre und 2 Monate verbüßt,
dann sei er gegen die Sache angegangen und freigesprochen worden,
weil man ihn nur auf Verdacht hin bestraft habe. Vor dem Unter¬
suchungsrichter sei er dann von Kreisarzt Dr. W. für geistig gesund
erklärt worden. Beim Wiederaufnahmeverfahren habe Direktor Dr. E.
und Dr. W. mitgewirkt. Ersterer habe hinterher behauptet, er, Patient,
sei wegen Geisteskrankheit freigesprochen worden. Direktor F. habe ihn
für einen harmlosen Geisteskranken erklärt.
Seit dem Jahre 1903 sei er nun im Bewahrungshause der Provinzial-
Heilanstalt in D. untergebracht.
Außer dem vorstehend Mitgeteilten war von dem Exploranden trotz
zahlreicher Zwischenfragen über sein Vorleben nur herauszubringen, daß
er w'ährend eines Aufenthaltes in A. ein weiteres Delikt begangen habe.
Er habe da mit Stahlw’aren hausiert. Das sei aber nur kurze Zeit ge¬
gangen. Da ihm ein Freund sagte, er, Patient, habe doch noch Strafe
abzumachen, so sei er in den nächsten Bäckerladen gegangen, habe die
Ladenkasse ergriffen, und mit dieser sei er ein Stück fortgelaufen. Dann
sei er aber schließlich mit der Bäckersfrau selbst zur Polizei gegangen
und habe sich verhaften lassen.
Auch diese Straftat habe er natürlich absichtlich begangen, um
wieder ins Gefängnis zu kommen. —
Die weiteren Explorationen ergaben, daß er an den Wahnideen be¬
züglich der Krätze festhielt. Patient mußte auch zugeben, daß er in D.
die Kranken aufgehetzt und gegen Ärzte und Personal geschimpft hatte.
968 Der Ouerulantenwahn.
Im übrigen zeigte er sich gereizt, leicht erregbar, roh und zum
Querulieren geneigt.
Gutachten: Die erste Frage, welche zu erörtern ist, lautet: Ist \V.
während der hiesigen Beobachtung geisteskrank gewesen? Diese Frage
glaubt Verfasser aus folgenden Gründen bejahen zu müssen:
1. Obwohl der Kläger in dem an das Königliche Amtsgericht zu D.
gerichteten Schreiben am 1. Januar 1908 ausdrücklich erklärte, er gebe
seine bisherige Ansicht über diesen Punkt auf, indem er einräume, sich
getäuscht zu haben, hat er in dem oben wiedergegebenen Lebenslauf
und auch bei mehreren weiteren Vorbesuchen an der Annahme fest¬
gehalten, sein Leben sei durch die nach innen vertriebene Krätze zer¬
stört. Er hat sogar ausdrücklich widerrufen, daß er durch die ihm in S.
und hier zuteil gewordene Aufklärung bezüglich der angeblichen Krätze
davon überzeugt worden wäre, er habe sich geirrt. In D. habe man ihm
gesagt, damit habe der Verfasser der Krätzebroschüre Geld verdienen
wollen. Das ist aber nicht an dem. „Wenn ich in ein Krankenhaus ge¬
bracht werde, wird sich da ja heraussteilen, daß ich an dieser Krankheit
leide.“ W. hat damit unzweifelhaft bewiesen, daß er an die Krätze¬
geschichte weiterglaubt und daß er aus derselben Konsequenzen zieht,
welche die Grenze des Normalen weit überschreiten.
2. Was die W. Angelegenheit anbetrifft, so hat der Kläger hier
ebensowenig zurückgehalten, als in D. Charakteristisch für die Ansicht,
welche er darüber hatte, ist die Antwort, die er auf die Frage des Unter¬
zeichneten gab, ob er seine Behauptungen über die Direktorstochter auch
schriftlich niedergelegt habe? Ja! Das habe ich! Ich werde aber mit
einem Irrenarzt darüber nicht sprechen. Der legt mir das als Krankheit
aus. Vor Gericht werde ich meine Zeugen schon angeben!
Mit diesen Worten hat W. zugestanden, daß er an jenes Wahnsystem
heute genau so fest glaubt, wie vor fast 10 Jahren. Er hat auch gleich¬
zeitig erklärt, warum er sich bezüglich desselben häufig große Zurück¬
haltung auferlegt. Er hat gemerkt, daß ihm das als Wahnvorstellung
ausgelegt wird.
3. Auch Beziehungs- und Verfolgungsideen gegen seine frühere und
jetzige Umgebung hat W. hier vorgebracht. Abgesehen davon, daß er
nach dem Berichte des Stationspflegers seiner Abteilung viel und in
übler Weise über die D.er Ärzte schimpfte, hat er auch die hiesigen
Ärzte, speziell den Verfasser, sofort verdächtigt, er stecke mit den D.er
Ärzten unter einer Decke, sei befangen usw., als er merkte, daß Referent
ihn auch für krank hielt.
4 . Ferner ist zu erwähnen das Verhalten des W. den unruhigen
Kranken gegenüber. Wenn er sich in gereizter Stimmung befand, schlug
er sofort blind darauf los, genau in der gleichen Weise, wie das in D.
öfters bei ihm beobachtet worden ist.
5. Schließlich ist auch noch als letztes, sehr wichtiges Ärgument
die hochgradige Urteilsschwäche zu erwähnen, die der Kläger während
der verschiedenen Voruntersuchungen an den Tag legte. Sehr beweisend
nach dieser Richtung hin sind unter anderem die Äntworten, die er auf
Der Querulantenwahn.
969
die Vorhaltungen des Unterzeichneten gab, daß er den D.er Direktor der
Beeinflussung von Gerichten in einem Schreiben beschuldigt habe.
Nicht minder deutlich geht aus der Darstellung einzelner seiner
Straftaten hervor, daß er ein schwachsinniger Mensch ist. Abgesehen
davon, daß er Tatsachen, die aktenmäßig feststehen und jederzeit nach¬
zuprüfen sind, solange leugnete, bis man ihm bewies, daß er sie selbst
schriftlich fixiert hatte, suchte er seine Straftaten nach jeder Richtung hin
zu beschönigen, die Schuld von sich abzuwälzen und sich als den Ver¬
führten hinzustellen.
Merkwürdig, und wohl auch in das Gebiet der Urteilsschwäche ge¬
hörig, sind einzelne Behauptungen *) des Klägers, die er plötzlich aufstellt.
Ich meine damit folgendes; Er klagt z. B. gegenwärtig gegen die Staats¬
anwaltschaft auf Aufhebung der Entmündigung. Es wird beschlossen, ein
Obergutachten über ihn einzufordern; darauf schreibt er an das Gericht
neben verschiedenen Versicherungen, daß er geistig gesund sei, die
Staatsanwaltschaft, gegen die er klagt, habe seine Freilassung be¬
antragt. —
Auf Grund der vorstehend angeführten Symptome glaubt Verfasser
die Überzeugung aussprechen zu dürfen, daß W. gegenwärtig, d. h.
während der sechswöchentlichen Beobachtung in B., geisteskrank war.
Wir kommen damit zur zweiten Frage, ob der Kläger auch zur Zeit
des Entmündigungsbeschlusses (10. November 1907) geisteskrank gewesen
ist? Auch diese Frage glaube ich mit einer an Sicherheit grenzenden
W ahrscheinlichkeit bejahen zu müssen. Als Beweismittel verweise ich
auf einen bei den Akten des D.er Amtsgerichts befindlichen, vom Kläger
geschriebenen Brief, in dem er die Krätzegeschichte in der alten Weise
vorbringt, seine Mitkranken verdächtigt, „daß sie Streitigkeiten mit ihm
suchten“, damit er „Schaden daran“ habe, bezüglich verschiedener An¬
staltsvorkommnisse eingestehen muß, daß er mehr behauptet hatte,
als den Tatsachen entsprach und wieder Dinge, die aktenmäßig fest¬
standen, ableugnete.
Wir finden also auch hier, 10 Tage vor dem EntmündigungsbeschluB,
die wesentlichsten der oben angeführten Symptome wieder. Meiner
Ansicht nach ist W. nicht nur gegenwärtig und zur Zeit des Entmün¬
digungsbeschlusses, sondern schon von Jugend auf krank gewesen. Das
hat sich anfangs durch mangelhafte Schulerfolge, bald darauf durch un¬
gewöhnlich frühe Kriminalität und seit dem Ende der achtziger Jahre
durch Wahnideen zu erkennen gegeben, zu denen sich zeitweise auch
Sinnestäuschungen gesellten.
Wo W. sich auch immer befand, ob er im Gefängnis oder in der
Irrenanstalt war, immer fiel er durch krankhafte Reizbarkeit, Neigung
zu Übertreibungen, häufigen Stimmungswechsel, brutale Gewaltakte und
Neigung zu Beziehungsvorstellungen auf. ünd die gleiche schwach¬
sinnige Art, die manche seiner strafbaren Handlungen auszeichnete, trat
auch bei seinen Verteidigungsversuchen zutage. Einmal entschuldigte er
sich mit Geisteskrankheit und bezeichnete die jungen Ärzte, welche ihn
’) Daß es sich um Halluzinationen handelte, ließ sich nicht beweisen
970
Der Ouerulantenwahn.
für geistesgesund erklärt hatten, als befangen oder fahrlässig. Ein
anderes Mal will er durchaus als geistesgesund erscheinen und greift die
Gutachten derjenigen Ärzte an, die ihn für krank erklärten.
Er leugnet in bestimmtester Form Dinge, die er kurz vorher ebenso
bestimmt schriftlich fixiert hatte. Er trägt ferner Jahrelange Wahn¬
vorstellungen mit sich herum und zieht aus ihnen Konsequenzen, die
jedem ohne weiteres als krankhaft imponieren.
Schließlich aber — und darin erblicke ich auch noch ein wichtiges
Argument für das dauernde Bestehen seiner geistigen Erkrankung — ist
noch darauf hinzuweisen, daß es ihm niemals gelungen ist, sich für mehr
als einige Wochen eine Stellung zu verschaffen. Trotz seiner 44 Jahre
hat er bisher ständig zwischen der Landstraße, dem Gefängnis und der
Irrenanstalt hin- und hergeschwankt. Zu einem geordneten Dasein ist
er nie gelangt. Wenn daher das Königl. Amtsgericht zu der Ansicht
gelangte, der Kläger sei infolge von Geisteskrankheit unfähig, seine
Angelegenheiten zu besorgen, so hat W. das erforderliche Beweismaterial
durch seine bisherige Lebensführung selbst erbracht, weil er nur seinen
Trieben und Wahnvorstellungen folgt und weil ihm die notwendige Kritik
bei seinen Handlungen fehlt, darum ist er als unfähig zur Besorgung
seiner Angelegenheiten zu erachten.
Er sieht in jedem seinen Feind, der nicht so will, wie er. Sich selbst
betrachtet er als das von allen Seiten verfolgte Opfer der Schlechtigkeit
Anderer. Er glaubt zu allen möglichen Ansprüchen berechtigt zu sein,
wehrt sich gegen die geringste scheinbare Benachteiligung von seiten
der Behörden in übertriebener Weise, während er für sein eigenes
Handeln stets Entschuldigungen findet. Zu ehrlicher Arbeit kann er sich
nicht aufraffen, sondern er betritt immer von neuem, so oft er die Freiheit
wieder erlangt hat, den Weg des Verbrechens und die Schuld für seine
Handlungen sucht er anderen aufzubürden.
Wenn er daher in dem bereits oben zitierten Schreiben an das
Königl. Amtsgericht in D. sagt, er sei, was sein Geschäft anlangt, wohl
imstande, seine Angelegenheiten zu besorgen, so ist das eine der vielen
Behauptungen, für die er den Beweis noch zu erbringen hätte.
Fassen wir die bisherigen Erörterungen zusammen, so ergibt sich,
daß W. ein von Jugend auf schlecht beanlagter und schlecht erzogener
Mensch ist, der seit dem 13. Lebensjahr fortwährend mit den Gerichten
zu tun hat und seit dem 25. oder 26. Lebensjahre an Wahnvorstellungen
leidet, die zwar nicht immer in gleicher Stärke hervortraten, für die aber
immer nur ganz kurze Zeit Krankheitseinsicht bestand.
Solange wir zuverlässige Nachrichten über W. haben, läßt sich auch
seine degenerative Charakterveranlagung nachweisen, die sich in ge¬
steigertem Selbstbewußtsein, krankhafter Reizbarkeit, Neigung zu Gewalt¬
taten, mangelhafter Reproduktionstreue und einer stark ausgeprägten
Sucht zu querulieren zu erkennen gab.
Auf Grund dieser Symptome glaube ich zu der Annahme berechtigt
zu sein, daßW. an Wahnbildungen auf degenerafivem Boden und Neigung
zu fortgesetztem Querulieren leidet und als geisteskrank zu erachten ist.
Der Querulantenwahn.
971
Die bestehende Geisteskrankheit hat meiner Ansicht nach auch schon
einen so hohen Grad erreicht, daß sie den Kläger unfähig macht, seine
Angelegenheiten zu besorgen, denn sie hat ihn nicht nur daran gehindert,
sich im Erwerbsleben eine Stellung zu verschaffen, sondern infolge seiner
Krankheit ist er überaus häufig mit dem Strafgesetz in Konflikt ge¬
kommen.
Wenn er von einigen Ärzten vorübergehend als nicht geisteskrank
erachtet worden ist, so geschah das einmal sicher auf Grund von un¬
genügender Untersuchung, w'ie bereits Herr Direktor E. seinerzeit aus¬
geführt hat. Der damalige Gutachter hat seine Ansicht später auch modi¬
fiziert. Als er in J. für strafrechtlich verantwortlich erklärt worden war,
kann es sich nur um eine vorübergehende Besserung gehandelt haben,
denn 3 Monate vorher waren die Direktionen der Anstalten H. und J.
noch der Meinung, daß W. geisteskrank sei, und wenige Monate nach
seiner Verurteilung wird bereits aus I. berichtet, daß er durch krank¬
haftes Verhalten auffiel.
In A, ist er gleichfalls einmal für strafrechtlich verantwortlich er¬
klärt worden. Die unmittelbar darauf vorgenommene sechswöchige Be¬
obachtung in D. zeigte jedoch, daß er krank war.
Wenn ferner der Einwand erhoben worden ist, daß ein Teil der als
krankhaft aufgefaßten Vorstellungen des Klägers durch seine gegen¬
wärtige traurige Lage zu erklären sei, so ist demgegenüber immer von
neuern zu betonen, daß er die gleichen Beziehungsvorstellungen und die
gleiche Reizbarkeit, wie überhaupt alle wesentlichen Symptome, auf die
sich die Diagnose der Geisteskrankheit stützt, schon seit vielen Jahren
geboten hat, und zwar sowohl in anderen Irrenanstalten wie auch in Ge¬
fängnissen und in einigen kurzen Perioden der Freiheit,
Alle diese Erscheinungen sind der Ausfluß degenerativer Charakter¬
veranlagung. Sie haben ihn bisher durch das Leben begleitet und werden
ihn auch in Zukunft nicht verlassen. Sie haben ihn schon seit Jahren un¬
fähig gemacht, seine Angelegenheiten zu besorgen und werden ihn
voraussichtlich auch in Zukunft daran hindern. —
Zur Ehescheidung gibt der Querulantenwahn im all¬
gemeinen nicht oft Anlaß. Es ist sogar mehrfach die Beobachtung
gemacht worden, daß der kranke Gatte den gesunden derartig be¬
einflußte, daß auch dieser an die querulatorischen Behauptungen
seines Partners glaubte. In einem Falle ergriff die induzierte
Frau die Initiative, und führte ihrerseits den Kampf weiter.
Gelegentlich kann der Querulantenwahn aber aus einem an¬
deren Grunde zur Begutachtung führen. Es ist eine bekannte
Tatsache, daß sich gerade Querulanten zum Gewerbe des Rechts¬
konsulenten drängen, und es erhebt sich dann die Frage, ob sie
als unzuverlässig im Sinne des § 35 der G.O. anzusehen sind
oder nicht. Ein Gutachten, das diese Frage behandelt, sei
972
Der Querulantenwahn.
auszugsweise mitgeteilt; Das prinzipiell Wichtige an dem Fall ist
folgendes:
1. Der Kranke glaubte zwar im geheimen an die Berechtigung
seiner krankhaften \'orstellungen noch, aber seit mehr als i Jahr
hatte er keine Behörde belästigt, und sich in seinem Gewerbe als
Rechtskonsulent nur ganz geringfügige Verstöße gegen die für
Rechtskonsulenten erlassenen Vorschriften zu schulden kommen
lassen. Trotzdem wurde er als unzuverlässig im Sinne des Ge¬
setzes angesehen, weil er von seiner geistigen Störung noch nicht
geheilt war.
2. Kom])liziert ist der Fall außerdem noch durch den Um¬
stand, daß M. in dem strafrechtlichen Verfahren, welches die
Klage der Polizeibehörde beim Bezirksausschuß nach sich zog,
gemäß § 51 St.G.B. freigesprochen worden ist, ohne daß die
Schuldfrage weiter erörtert wurde, während seine Mitangeklagten
wegen Mangels an Beweisen freigesprochen wurden.
3. Daß die Öffentlichkeit an die Möglichkeit, M. sei als
Rechtsberater unzuverlässig, nicht gedacht hat, geht einmal aus
seiner umfangreichen Klientel, ferner aber auch daraus hervor,
daß der Waisenrat der Stadt ihn dem \’ormundschaftsgericht in
mehreren Fällen als geeigneten Berater Minderjähriger empfahl.
4. Die Frage, ob seine geistige Erkrankung von Einfluß auf
seinen Gewerbebetrieb w'ar, ist überhaupt nicht erörtert worden.
Sachverhalt: Am 2ü. Mai 1912 erhob die Polizei gegen den M. Klage
mit dem Anträge, dem Ocnamiten die Ausübung des Gewerbes als Be¬
sorger fremder Rechtsallgelegenheiten zu untersagen. Sie begründete die
Klage damit, daß M. wegen Übertretung der für Rechtskonsulenten er¬
lassenen Vorschriften mehrfach bestraft worden sei, und vor allem aber
nach dem Gutachten des Prof. Dr. A. vom 11. Januar 1911 schon seit
Jahren an Querulantenwahn leide. Aus dem letzteren Grunde sei der
Beklagte wegen Beihilfe zu betrügerischem Bankerott im Jahre 1911
außer Verfolgung gesetzt worden.
Der Beklagte wandte ein, daß die Übertretungen gegen die Vor¬
schriften für Rechtskonsulenten gering seien, und außerdem in die
kritische Zeit fielen, in der er geisteskrank gewesen sei. Er legte ein
Attest des praktischen Arztes Dr. A. in C. vor, in dem bescheinigt war,
daß M. in der Lage sei, seine geschäftlichen Angelegenheiten selbständig
zu regeln. Weiter erbot sich M., „hunderte von Unterschriften hochacht¬
barer Bürger beizubringen“, welche bekunden sollten, daß sein Geistes¬
zustand ein völlig normaler sei. Schließlich behauptete er auch, daß er
nicht auf Grund des § 51 St.G.B. freigesprochen worden sei, sondern des¬
wegen, weil sich in den Verhandlungen ergeben hätte, daß alle An¬
geklagten an dem ihnen zur Last gelegten Verbrechen schuldlos waren.
Der Oiierulaiitenwahn.
973
Schon in dem ersten Schriftsatz versprach M., auf diesen letzten Punkt
nochmals einzugehen. Als weiteren Einwand wies M. in einer Sitzung
am 16. Juni 1912 darauf hin, daß er inzwischen von dem kgl. Amtsgericht
in C. in 2 Fällen zum Vormund ernannt worden sei. Als ihm Einsicht in
das Gutachten des Herrn Prof. Dr. A. gewährt worden war, erbot er sich
in einem mit 11 Anlagen versehenen Schriftsatz zu einer eingehenden
Widerlegung dieses Gutachtens, deren Umfang etwa 30—40 Bogenseiten
umfassen sollte. Diese Widerlegung ist nicht eingesandt worden, weil
der Bezirksausschuß in einer späteren Sitzung beschloß, den M. nochmals
psychiatrisch untersuchen zu lassen. Aus den Akten des kgl. Polizei¬
präsidenten geht hervor, daß gegen M. in der Tat wiederholt wegen Ab¬
fassung von Schriftstücken ohne Angabe seines Namens und der Ge-
schäftsbuchnummer Strafbefehle erlassen worden waren. Bemerkens¬
wert ist ferner, daß er nach den Akten des Polizeipräsidenten angeblich
für einen anscheinend geisteskranken Mann namens S. wiederholt Briefe
verfaßt hatte und dabei für ein kurzes Schreiben von nur wenigen Zeilen
sich 5 Mark hatte zahlen lassen, so daß der Verdacht entstand, M. beute
das Publikum aus. Durch Nachfragen bei dem kgl. Amtsgericht in C.
wurde festgestellt, daß M. in der Tat in 2 Fällen zum Vormund minder¬
jähriger Kinder bestellt worden war, weil das Gericht von seiner Geistes¬
krankheit keine Kenntnis hatte. —
Zum Verständnis der ganzen Sachlage ist es notwendig, auf die An¬
gelegenheit C., die das Material zu dem von Prof, Dr. A. erstatteten ärzt¬
lichen Gutachten lieferte, kurz einzugehen:
M. hat mit einem Manne namens C. und dessen Ehefrau in Ge¬
schäftsverbindung (Bauspekulationen) gestanden. Später geriet er mit
beiden in Differenzen, fühlte sich von ihnen betrogen und strengte infolge¬
dessen eine Reihe von Prozessen gegen sie an. In einem dieser Pro¬
zesse leistete C. einen Eid. der dem M. seiner Ansicht nach über
100 000 Mark kostete.
Im Anschluß an dies Vorkommnis begann nun der Beklagte einen
endlosen Kampf, der sich über 10 Jahre erstreckte und in dessen Verlauf
.M. mehr als 2000 Schriftsätze, Briefe und Telegramme verfaßte und an
Behörden aller Art. den Justizminister und sogar an den Kaiser richtete.
F.r bezichtigte den C. des Meineids, der Urkundenfälschung. Freiheits¬
beraubung, des Betruges und zahlreicher anderer Verbrechen und Ver¬
gehen.
„Die Affäre C. bildete von da ab den Angelpunkt in dem Leben des
M. Er stand mit diesem Gedanken auf. und ging mit ihm zu Bett. C.
war seine fixe Idee geworden, er war ihm der Ausbund der Schlechtig¬
keit; er wurde ihm auch die Veranlassung, sogenannter Rechtskonsulent
zu werden. Auf Grund seiner Erfahrungen mit C. glaubte er das Recht
zu kennen, glaubte, die Mittel und Wege, dasselbe zur Geltung zu
bringen, durch seine Erfahrung kennen gelernt zu haben und seinen Mit¬
menschen durch seinen Rat der beste Helfer zu sein. Dabei zog sich,
wie durch sein ganzes Leben, seinen Familien-, gesellschaftlichen. Wirt¬
schaftsverkehr, so speziell durch seine rechtlichen Angelegenheiten die
Affäre C. als roter Faden. Gegen wen man ihn anrief und seinen Rat
974
Der Querulantenwahn.
begehrte, der war selbstverständlich ein so großer Schuft und Betrüger
wie C., vor dessen betrügerischen Manipulationen man sich unbedingt
schützen müsse, um nicht, wie er, dem Vermögensruin ausgesetzt zu
werden.“ (Entnommen einem Schriftsatz des Verteidigers M. aus dem
Jahre 1911.) Justizrat L. kam in dem eben zitierten Schriftsatz zu dem
Ergebnis, daß M. ein krankhafter Mann sei, dem eine freie Willens-
bcstimmung bei seinen Handlungen und speziell bei seinen juristischen
Ratschlägen fehle, der unwiderstehlich von der Affäre C. umkrallt sei,
die seinen Ideengang und die daraus resultierenden Handlungen wider¬
standslos beherrsche und leite.
Wegen dieses Verhaltens des M., das in C. gerichtsbekannt ist.
stellte sein Verteidiger in der Strafsache gegen O. und ü. wegen
Bankerotts, in die der Beklagte verwickelt war (s. oben), bei Gericht
den Antrag, seinen Klienten psychiatrisch untersuchen zu lassen. Das
geschah durch Prof. A. in C.; das erstattete Gutachten datiert vom
11. Januar 1911.
Prof. A. fand körperlich bei M. nichts, was für die Beurteilung des
Geisteszustandes von Wichtigkeit gewesen wäre. Auf psychischem Ge¬
biet erwies sich M. im allgemeinen als ruhig. Nur bei Erörterung der
Angelegenheit C. wurde er sichtlich erregt, sprach überstürzter, so daß
es oftmals unmöglich war, seinem Gedankengang zu folgen. Er erwähnte
dann andauernd Namen und Vorfälle aus den Akten, als ob er bei dem
Hörer die gleiche Kenntnis der Akten voraussetzen dürfe, die er selbst
besaß. Er verlor regelmäßig den Faden, zog immer wieder neue Einzel¬
heiten als Beweis heran und machte es dem Hörer ganz unmöglich, ihm
zu folgen.
Im übrigen berichtete er Prof. A., daß er durch die Affäre C. an
seiner Berufstätigkeit gehindert sei. Deshalb sei er auch zum Teil Rechts¬
konsulent geworden. Einen erheblichen Teil seines Einkommens müsse
er auf die C.sche Sache verwenden. So sende er z. B. durch einen
Freund vor» London aus regelmäßig ein sehr teures Telegramm an den
deutschen Kaiser, in dem er diesem von der Rechtsbeugung Mitteilung
mache. Das Telegramm habe immer denselben Wortlaut.
Prof. A. weist nun besonders darauf hin, daß die Eingaben, welche
M. in der C.schen Sache verfaßte, seit Jahren einen merkwürdigen Ton
angenommen hatten.
In einem an die Präsidenten mehrerer hoher Gerichte adressierten
hektographierten Schreiben fordert er die Richter auf, ihm dazu zu helfen,
„daß Recht und Gerechtigkeit gewahrt würden“.
Das ihm ungünstige Urteil nannte er „meineidiges Schreibvertrags-
nrteil“. In einer Eingabe aus dem Jahre 1901 behauptete er. seine liebe
Frau sei durch den Meineid des C. zu Tode gequält worden. Herrn Prof. A.
berichtete er ferner, daß die C.sche Sache im ganzen 17 Opfer gefordert
habe darunter eine ganze Reihe Juristen und seinen eigenen Sohn. Ihm
selbst habe C. auch nach dem Leben getrachtet.
Es seien von seiten der Gerichte Fehler gemacht worden, und um
die zu verdecken, dürfe der Staatsanwalt jetzt seinem Antrag auf Straf¬
verfolgung wegen Meineids nicht nachgeben. Es seien auch wiederholt
975
Der Ouerulantenwahn.
Schriftstücke aus den Akten herausKenoninien worden, deshalb messe er
die Akten jedesmal genau, um festzustellen, ob sie auch unversehrt
wiederkümen.
In dem Gutachten kam Prof. A. zu dem Ergebnis, daß M. ein mit
Wahnideen behafteter Querulant sei, der immer weitere Kreise in seine
Angelegenheit hineinzog. Für die Straftat billigte ihm der Sachverstän¬
dige den Schutz des § 51 Str.Q.B. zu. In der Tat ist M. auch frei¬
gesprochen worden.
Die Polizeibehörde zu C. ist auf M. dadurch aufmerksam gemacht
worden, daß im Juni 1911 ein Bericht von auswärts über ihn einlief.
Außerdem war im Dezember 1909 bereits einmal vor Erledigung der
Sache O. der Polizeipräsident von einer der beteiligten Firmen darauf
hingewiesen worden, daß M. als Rechtskonsulent unzuverlässig sei. Doch
handelte es sich bei dem Anzeigenden um einen Prozeßgegner des M.
in einer anderen Sache. In der Strafsache O. war, was hier nachzutragen
sei, M. insofern beteiligt, als er dem O. geraten hatte, zu einer Zeit, wo
er sich in Zahlungsschwierigkeiten befand, der Ehefrau O. und einer Ver-
wandten Immobilien und Hausinventar zu überlassen. In der Schwur¬
gerichtsverhandlung ist O. aber später freigesprochen worden. —
Bemerkt sei schließlich noch, daß Prof. A. sich nicht zur Ausstellung
eines Gesundheitsattestes dem Beklagten gegenüber bereit erklärt hatte,
sondern nur zur Erstattung eines Gutachtens auf behördliches Verlangen.
Dasselbe wäre aber nicht im Sinne des Beklagten ausgefallen.
Der Bezirksausschuß hatte dem Verfasser die Frage gestellt, ob M.
\on dem Querulanteuwahn geheilt sei. Die Antwort ergibt sich aus den
nachstehenden Ausführungen, die auch gleichzeitig Angaben über das
Ergebnis des hier erhobenen Befundes enthalten:
Nach dem ausführlichen, sorgfältig begründeten und auf ein großes
Material gestützten Gutachten des Prof. A. kann es keinem Zweifel
unterliegen, daß der Beklagte im Januar 1911 als ein geisteskranker
Querulant zu bezeichnen war.
Wesentlich für die Feststellung, daß eine Geistesstörung vorlag, war
nicht die Frage, ob M. wirklich Unrecht erlitten hatte, sondern vielmehr
die Art, wie er seine Prozeßangelegenheit betrieb, und die Verfolgungs¬
ideen, die zweifellos bei ihm bestanden.
M. ging ganz in seiner Prozeßsachc auf. Er vernachlässigte seinen
Broterwerb, verwandte auf die Angelegenheit unverhältnismäßig viel
Geld, setzte alle erdenklichen Behörden in Bewegung, vergriff sich fort¬
während in der Form, beleidigte Gerichte, den Kaiser, seine vermeint¬
lichen Gegner, belästigte Abgeordnete und Gerichtsbeamte immer von
neuem mit seinem Fragen und Auseinandersetzungen, verlangte für
sich eine Ausnahmestellung bezüglich der Steuern und war durch
nichts von der Verfolgung der C.schen Sachen abzubringen. Daß auch
Wahnideen bestanden haben, geht aus seinen eigenen Äußerungen zur
Genüge hervor. Weil das Gericht „Irrtümer“ begangen hat. darf der
Staatsanwalt seinen Anzeigen gegen C. nicht entsprechen, es sind Akten
„gefälscht“ oder verschiedener Schriftsätze beraubt worden, die höheren
970
Der Ouerulantenwahn.
Justizbehörden wollen ihm nicht helfen, zwei Anwälte, die hinter seinem
Rücken konferieren, lachen „höhnisch“ wie er kommt, der Rechtsanwalt
F. hat einen Meineid zu seinen Ungunsten geschworen, zur weiteren
Verfolgung seiner Angelegenheit hat er „für Geld“ keinen Anwalt be¬
kommen, durch die C.sche Sache sind seine Frau und sein Sohn zugrunde
gegangen, die Angelegenheit hat noch viele andere Opfer gefordert, so
z. B. Exz. V. Sch. und Exz. Ha. Der C. habe ihm selbst nach dem Leben
getrachtet u. a. m.
Diese wahnhafte Verarbeitung der Sache einerseits, die schwierige
Lage, in die sich M. auf die Dauer durch seine Schriftsätze gebracht hat.
andererseits zeigen, daß er jede Kritik verloren hatte und sich nur von
seinen krankhaften Vorstellungen leiten ließ.
M. hat dem Verfasser gegenüber auch zugegeben, daß er zu
jener Zeit geisteskrank gewesen sei. Es fragt sich aber nun, wie die
Erkrankung weiter verlaufen ist.
Ist eine Heilung eingetreten?
Auf Grund des hier gewonnenen Tatsachenmaterials muß die Frage
verneint werden. Begründet wird dieser Standpunkt folgendermaßen'
1. Daß der Explorand keine volle Krankheitseinsicht hat, geht schon
allein daraus hervor, daß er nun nicht mehr über die Sache C. sprechen
will. Sie „ist für ihn begraben“, „er rührt nicht mehr daran“, er glaubt
aber nach wie vor, daß C. einen Meineid geschworen hat; er glaubt auch
daran, daß die Gerichte sich geirrt und eine Rechtsbeugung begangen
hätten, daß Protokolle gefälscht worden seien. Für ihn liegt also auch
heute noch in der Bekämpfung des von Prof. A. gebrauchten Wortes
„vermeintliches“ Recht der Schwerpunkt der ganzen BeweisführurTg.
Der Beklagte hat nun einige Male Äußerungen getan, die den Ein¬
druck erwecken könnten, als ob er die Angelegenheit jetzt doch anders
ansähe. So sagte er z. B. am 7. Dezember 1912, er sei schlecht beraten
worden und habe die ganze Frage falsch beurteilt.
Er stand damals auf dem Laienstandpunkte, ein „Regiertwerdender“,
der seine Steuern bezahlte, habe auch Anrecht auf Gerechtigkeit. Aus
den weiteren Ausführungen ergibt sich aber, daß wirkliche Einsicht trotz¬
dem nicht besteht. M. fährt nämlich fort: Jetzt wisse er, daß ein Gericht
einen Fehler einem Regiertwerdenden nie eingestehen darf. Es dürfe
sich nie neben den Regiertwerdenden stellen.
Damit spricht er aber nichts anderes aus, als daß er an die bewußte
Rechtsbeugung des Gerichts glaubt. Auch heute also ist er der Meinung,
daß man ihm sein Recht wider besseres Wissen nicht hat zuteil werden
lassen.
2. Eine gewisse Änderung in seinem Verhalten ist insofern allerdings
eingetreten, als der Beklagte, soweit dem Verfasser bekannt geworden
ist. in den letzten Monaten keine Eingaben in der Sache C. gemacht hat.
In dieser Beziehung scheint sie also wirklich zurzeit für ihn begraben
zu sein, ob für immer, ist allerdings noch nicht sicher. Jedenfalls ver¬
dient diese Tatsache besonders hervorgehoben zu werden, denn sie legt
die Annahme einer gewissen Besserung zweifellos nahe.
Der Ouerulantenwahn.
977
3. Andererseits aber hat M. eine Reihe von Aussprüchen getan, die
den Schluß gestatten, daß er auch heute die Angelegenheit C. in krank¬
hafter Weise verarbeitet. So sagte er z. B. am 7. Dezember:
Der Landgerichtspräsident v. E. habe zu ihm von Entschädigung
gesprochen. Ob das eine Finte sei oder nicht, wisse er nicht. Jeden¬
falls seien aus den (jberschüssen des Hauses 30—40 000 Mk. ange¬
sammelt. Wenn er die bekomme, nehme er sie.
Hervorgehoben zu werden verdient noch eine Äußerung vom
29 . August 1912: „M. E. haben die höheren Behörden eine Art Aus¬
sprache. Ich glaube auch so was gemerkt zu haben. Das Gericht war
ö—7 Jahre gegen mich. Auf einmal merkte ich, daß ein Umschlag statt¬
gefunden hatte. .Anfangs wurde ich immer als Querulant und mit scheelen
Augen angesehen. Dann 1905—07 drehte es sich. Da meinten sie, dem
Manne ist Unrecht geschehen.
Dann kam wieder eine Zeit, wo C. die Überhand hatte, da ging die
Schreiberei wieder los."
Daß C. auch jetzt noch die Hand im Spiele hat, ist seiner Ansicht
nach sicher. M. hat beim Polizeipräsidenten selbst gemerkt, daß man
dort nicht mit Strenge gegen ihn Vorgehen wollte, weil die Anzeige von
C. kam, einer Seite, die man nicht achtete. „Aber nach dem Gesetze
muß es gemacht werden.“ Sogar dafür, daß sich von C. kein Schreiben
in den Polizeiakten befindet, hat er eine Erklärung.
4. Hinzu kommt, daß der Beklagte es vielfach sehr geschickt ver¬
mieden hat, genauer auf die gestellten Fragen einzugehen. Er suchte
möglichst schnell von Dingen, die ihm unbequem waren, abzuschweifen;
es ist deshalb längere Zeit dem Unterzeichneten gar nicht möglich ge¬
wesen, ein abschließendes Urteil über den Fall zu gewinnen.
5. Weiter bleibt noch zu erwähnen, daß auch das äußere Verhalten
des Beklagten durchaus dem entsprach, wie es Prof. A. geschildert hat.
Unermüdlich kam M. immer auf dieselben Dinge zurück, geriet vom
Hundertsten ins Tausendste, wußte jede Nummer seines Journals zu er-
liiutern, setzte bei seinem Zuhörer die Bekanntschaft mit allen Einzel¬
heiten der verwickelten Angelegenheit voraus und geriet in einen Rede¬
strom, der nur schwer zu dämmen war.
6. Schließlich ist auch noch zu erwähnen, daß bei ihm die
Eigenschaft vieler Querulanten, bestimmte Vorgänge in seinem Sinne zu
deuten, vielfach hervorgetreten ist.
So schloß er z. B. aus den Unterredungen mit Prof. A., daß dieser
ihm ein Gesundheitsattest ausstellen wolle. In Wirklichkeit hat der
Sachverständige aber nur deshalb auf einer behördlichen Aufforderung
zur Erstattung des Gutachtens bestanden, weil er den Beklagten nach
wie vor für krank hielt.
Fassen wir die bisherigen Ausführungen zusammen, so ergibt sich,
daß in dem Zustande des M. eine Änderung eingetreten ist insofern, als
er die fortwährende Inanspruchnahme der Behörden in den letzten
Monaten unterlassen hat. Darin ist eine gewisse Besserung zu erblicken.
Geheilt ist er aber noch nicht.
liäljncr, Forensische Psychiulrie. (32
978
Der Tropenkoller.
Der Bezirksausschuß verbot darauf dem Patienten die weitere Aus¬
übung des (jewerbes. Die Unzuverlässigkeit *) ini Sinne des § 35 Q.O.
wurde damit begründet, daß M. von dem Querulantenwahn noch nicht
geheilt war.
Der Tropenkoller
W ie schon in dem Kapitel Krankheitsbedingungen angedeutet
wurde, wirkt der Aufenthalt in den Tropen auf die Psyche des
Euro])äers aus verschiedenen Gründen ungünstig. Infolge des
Klimawechsels, der veränderten Emährungs- (die W^a.sserversor-
gung!) und W'ohnungsverhältnisse, ferner infolge von starken
körperlichen Anstrengungen bildet sich eine Tropenneurasthenie
aus (Schütte), die sich durch mangelhafte Beherrschung der
Affekte, große Empfindlichkeit und Reizbarkeit, gesteigerte Er¬
müdbarkeit in körperlicher und geistiger Beziehung und schlechten
Schlaf auszeichnet.
*) Wichtig ist für den Begriff Unzuverlässigkeit zweierlei: Ein zu¬
verlässiger Rechtskonsulent muß einmal die Befähigung zum Beruf
haben (vergl. Motive zum § 35 in der Novelle zur Q.O. vom 1. Juli 1883),
ferner muß er auch sittlich qualifiziert sein, ln einem Urteil des Ob.-
Verw.-üer. vom 16. Okt. 1895 wurde z. B. die Ausübung des Gewerbe¬
betriebes wegen „gänzlicher Unfähigkeit des Beklagten, auch nur den
einfachsten tatsächlichen Sachverhalt einigermaßen verständlich dar¬
zustellen", untersagt (vergl. Entsch. des O.V.O. Bd. 28, Nr. 56, S. 329).
Eine ausführliche Entscheidung findet sich Entsch. des O.V.Q. Bd. 41.
S. 330. Gleichfalls unzuverlässig ist eine Person, der w'egen Geistes¬
krankheit oder Geistesschwäche die Geschäftsfähigkeit in ihren eigenen
Atigelegenheiten völlig entzogen oder beschränkt worden ist (Entsch. des
O.V.G. Bd. 39, S. 291).
Minzugefügt sei, daß in der Gewerbeordnung noch an einer anderen
Stelle, nämlich im § 57 a Abs. 2. auf psychische Mängel Bezug ge¬
nommen wird. Dort wird der Ausdruck „Geistesschwäche“ gebraucht.
In Übereinstimmung mit L. W. Weber (Psych. Wochenschr. Bd. 14,
S. 274) möchte ich denjenigen als geistesschwach i. S. der G.-O. ansehen,
der infolge psychischer Erkrankung unfähig ist, die gesetzlichen Be¬
stimmungen, welche für das Wandergewerbe erlassen sind, zu ver¬
stehen, zu behalten und zu beachten.
“) Plehn, Hirnstörungen in heißen Ländern und ihre Beurteilung. Arch.
f. Schiffs- u. Tropenhygiene, Bd. 10. Rasch, Allg. Zeitschr. f. Psych..
Bd. 54. Schütte, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 66, S. 70U. Mellpach, Geo-
psych. Erscheinungen. 1911. Engelmann. Bastian, Klima u. Akklimati¬
sation unter ethnischem Gesichtspunkte. 1878. Pelman, Monatsschr. f.
Kriminalpsychol., Bd. 1.
Der Tropenkoller.
979
Aus der Sonderstellung, welche der Weiße sich dem Einge-
Ixjrenen gegenüber schaffen muß, ergeben sich zahlreiche weitere
Gründe, die seinen Zustand ungünstig beeinflussen. Der Europäer
will und muß der Herr bleiben. Um das zu erreichen, muß er bei
der Faulheit, Verlogenheit, Hinterlist und Ünehrlichkeit der Neger
oft eingreifen und hart strafen. Andererseits soll er alles ver¬
meiden, was die Eingeborenen reizt und das ist nach den An¬
gaben glaubwürdiger Kolonisten besonders dann schwierig, wenn
die Habgier oder die Sexualsphäre in Frage kommen.
Unterliegt schon ein ganz Gesunder allen diesen Schädlich¬
keiten sehr leicht, so ist die Gefahr für Minderwertige noch
größer. Sie weisen bereits unter den Verhältnissen des Heimat¬
landes häufig eine hochgradige Labilität des Gefühlslebens auf,
die sich unter den veränderten Lebensbedingungen in den Tropen
noch stärker bemerkbar macht. Hinzukommt, daß viele von ihnen
dem Alkohol ergeben sind, und in der heißen Zone nicht die
Widerstandskraft besitzen, ihm zu entsagen. Dabei wirken Spiri¬
tuosen dort oft noch stärker auf Körper und Psyche, wie bei uns.
Sie beseitigen die wenigen vorhandenen Hemmungen, steigern das
Machtbewußtsein, verringern die Kritik, machen unvorsichtig und
bringen so den Kranken in große Gefahren. —
Hinzu treten nun noch weitere Schädlichkeiten, welche un¬
günstig auf den Europäer einwirken. In erster Linie sind
zu nennen Infektionskrankheiten, der Sonnenstich, Hitzschlag,
momentane körperliche Überanstrengungen, gesteigerte Sinnlicb-
keit, die nach Befriedigung sucht, und Alkoholexzesse.
Von den Infektionskrankheiten ist die bekannteste die
Malaria, daneben ist die Dysenterie zu nennen. Beide können so¬
wohl in der akuten, wie in der chronischen Form psychische Stö¬
rungen auslösen, die in extremen Fällen eine Dementia para-
lytica Vortäuschen. Jedenfalls, selbst da, wo sie milde verlaufen,
wirken sie körperlich schwächend und fördern somit die neur-
asthenischen Erscheinungen. —
Bei dem Vorherrschen der Reizbarkeit und Affekterregbar¬
keit im Krankheitsbild wird es verständlich, wenn in erster Linie
Roheitsdelikte (Körperverletzungen, Totschlag, Mord) von Euro¬
päern verübt werden.
Wenn in den letzten Jahren in den deutschen Kolonien ver¬
hältnismäßig wenig vorgekommen ist, so hat das verschiedene
Gründe: Der Kolonist auf seiner Farm hat wenig Gelegenheit zu
C2*
Der Tropenkoller.
980
Alkoholexzessen. Er hat sich auch gewöhnt, abstinent zu leben.
Es erfolgt ferner wohl allmählich eine Akklimatisation der ein¬
gewanderten Europäer. Drittens ist die Zahl der nur vorülter-
gehend in den Trollen anwesenden Europäer geringer als früher.
SchlieUlich kann man — und darin sehe ich ein wichtiges Mo¬
ment — vorsichtiger in der Auswahl derjenigen Persönlichkeiten
sein, die man in die Kolonien schickt, ln dieser Beziehung lagen
bei uns anfangs wenig Erfahrungen vor. —
Eine wesentliche Vermehrung aller oben aufgeführten Schäd¬
lichkeiten tritt in Kriegszeiten ein. Die Ernährung ist noch mehr
erschwert, die Wasserverhältnissc gestalten sich noch ungünstiger,
als in Friedenszeiten, so daß der Alkohol oft das einzige erreich¬
bare Getränk ist; die Strapazen steigern sich bis zur Grenze der
Leistungsfähigkeit, und auch die Infektionskrankheiten breiten
sich stärker aus.
Bei Soldaten tritt dann die Änderung der geistigen Per¬
sönlichkeit sehr rasch hervor, und führt dort naturgemäß bei der
Strenge der Disziplin auch leichter zu Verstößen gegen das Gesetz.
Die in der Heimat tadelfreie Führung ändert sich, es kommt zu¬
nächst zu kleinen Nachlässigkeiten im Dienst, hier und da wird
auch eine Unbotmäßigkeit gegen \T)rgesetzte begangen, es ent¬
steht, wie Schütte es ausdrückt, ein Strafregister, wie wir es in
der Heimat bei l’sychopathen zu sehen gewohnt sind.
Wichtiger ist nun weiter aber die Tatsache, daß es unter
Alkohol auch zu schwereren Delikten kommen kann.
In Betracht kommen tätliche Angriffe auf Vorgesetzte, mili¬
tärischer Aufruhr und ähnliche schwere \'ergehen gegen das
M ilitärstrafgesetz.
Ausdrücklich hervorzuheben ist, daß diese Delikte trotz der
ungünstigen Verhältnisse nur selten vorgekommen sind, und daß
für gewöhnlich verschiedene schädigende Momente beim Zu¬
standekommen der Tat zusammengewirkt hatten.
Als solche sind zu erwähnen: Wochenlange, anstrengende
Ritte in das Innere bei ungenügender Verpflegung und erzwun¬
gener Alkoholabstinenz, Kopfverletzungen, große Hitze, vorher¬
gegangener Lazarettaufenthalt, fieberhafte Erkrankungen.
.Vuf diesen vorbereiteten Boden kam dann ein Alkoholexzeß,
der eine schwere Bewußtseinstrübung zur Folge hatte, ln diesem
Zustande wurde für gewöhnlich das Delikt begangen.
Der Tropenkoller.
981
Soweit sich nachträglich aus Zeugenaussagen und Beschrei¬
bungen feststellen ließ, handelte es sich oft um typische, patho¬
logische Räusche. —
Bei der medizinischen Beurteilung dieser Fälle, die meist erst
längere Zeit nach Begehung des Deliktes erfolgt, muß der Haupt-
wert auf den Nachweis einer Veränderung der Persönlichkeit,
ferner auf die Feststellung aller derjenigen Schädlichkeiten ge¬
legt werden, welche besonders geeignet sind, solche Ausnahme¬
zustände hervorzurufen. Die in Betracht kommenden Faktoren
sind körperliche Erkrankungen, länger dauernde Entbehrungen,
große Strapazen, Alkoholabstinenz, unmittelbar voranfgegangene
Kopfverletzungen, auf die auch großer Wert zu legen ist, und
schließlich ein einmaliger, nach längerer Abstinenz begangener
Alkoholexzeß, oder aber eine Häufung von Alkoholexzessen, die
bei mangelhafter Ernährung naturgemäß auch äußerst ungünstig
wirken müssen.
Kann man eine solche Häufung von Schädlichkeiten nach-
weisen, so ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß die Voraus¬
setzungen des § 51 Str.G.B. Vorlagen. Selbstverständlich ist, daß
jeder Einzelfall nach dieser Richtung hin genau geprüft werden
muß.
Die forensische Bedeutung des Tropenkollers ist
vorwiegend eine strafrechtliche.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die Klarstellung des
Einzelfalles oft erst später möglich ist, häufig erst im Wieder¬
aufnahmeverfahren geschieht. Das war z. B. im folgenden Falle
zutreffend.
A. B.. geb. .T Mai 1881, Schreiner. Tätlicher Angriff auf Vor¬
gesetzte.
1903 Eintritt als Pionier. Ein Jahr später Übertritt zu einer Kolonial¬
truppe. Während der Dienstzeit im Inlande Führung „sehr gut“. Un¬
bestraft. Im neuen Truppenteil zunächst Führung nur „ziemlich gut“,
6 Monate später „schlecht“. In dieser Zeit wurde der Patient sechsmal
bestraft (ungebührliches Benehmen. Entfernung vom Dienst, Überschreiten
des Zapfenstreiches. Trunkenheit auf Posten, Achtungsverletzung gegen
Vorgesetzte, hierbei auch unter Alkohol gestanden). Juni 190.3 Quetsch¬
wunde am Kopfe und rechten Oberschenkel. April 1906 befand sich B.
mit einem Kameraden nach Zapfenstreich in einem Lokal in seinem
Qarnisonorte; er war betrunken, schlug dort Lärm. Auf Meldung des
Polizeibeamten w'urde eine Patrouille unter Führung eines Unteroffiziers
zum Lokal geschickt, um die beiden Leute zu arretieren. Beide folgten
den Befehlen des Vorgesetzten nicht, verlangten W'eiter zu trinken.
982 Der Tropenkoller.
wurden schließlich mit (rewalt aus dem Lokal entfernt und singen dann
mit der Patrouille langsam und widerwillig mit. Dabei lärmten sie,
blieben alle Augenblicke stehen und schimpften auf den Kompagnieführer.
Als sie einmal stehen geblieben waren, forderte der Unteroffizier sie zum
Weitergehen auf. Daraufhin hob 13. einen schweren Stein auf und warf
ihn nach dem Unteroffizier. Er traf nicht, wollte dann aber einen zweiten
Stein aufheben, hierbei fiel er zu Boden. Die weiteren Ermittelungen
ergaben: An dem fraglichen Nachmittag war B. mit vier anderen Kame¬
raden in der Kantine gewesen und hatte dort mehrere Flaschen Kognak
und einige Flaschen Bier gemeinsam mit den anderen getrunken. Gegen
Abend seien sie dann in das erwähnte Lokal gegangen, wo sie noch
einige Flaschen Bier tranken, wieviel zusammen, wußte B. nicht. Er hatte
am anderen Morgen von 20 Mark, die er mitgenommen hatte, nur noch
6 Mark.
Weiter gab B. an, nach der Verletzung im Jahre 1905 (es handelte
sich um einen Sturz von der Brücke auf die Schienen) habe er manchmal
solchen Drang zum Trinken bekommen, daß er ihm Folge leisten mußte.
Einen Teil der kleineren Strafen führte er auf die in diesen Zuständen
begangenen Alkoholexzesse zurück.
Die Zeugen sagten folgendermaßen aus; Der Patrouillenführer: Die
beiden Angeklagten waren sehr betrunken, jedoch nicht sinnlos. Die drei
anderen Zeugen: Der erste: Die Angeklagten waren beide sehr betrunken,
so daß sie nicht unterscheiden konnten, wer vor ihnen stand. Der zweite:
Die Angeklagten waren so betrunken, daß sie kaum gehen konnten. Der
dritte: Beide waren stark betrunken, B. mußte geführt werden. Der
Kompagnieführer fügte hinzu, er habe die Leute seit Ende März in seiner
Kompagnie, sie seien nicht als Trinker bekannt und hätten sich bis dahin
nichts zuschulden kommen lassen.
B. wurde wegen Ungehorsams, Gehorsamsverweigerung, Beleidigung
eines Vorgesetzten und tätlichen Angriff gegen einen Vorgesetzten zu
10 Jahren und 7 Monaten verurteilt, unter Anrechnung eines Monates
der Untersuchungshaft.
Im August 1906 trat B. seine Strafe an. Er führte sich befriedigend.
Zwei Monate später bekam er plötzlich ohne äußere Ursache einen Tob¬
suchtsanfall: er zertrümmerte die Scheiben und mehrere Gegenstände in
seiner Zelle, gab auf Befragen keine Antwort. Deshalb Aufnahme ins
Lazarett. Hier stand er fast den ganzen Tag stumpf mit ängstlichem
Gesichtsausdruck in einer Ecke, gab auf Fragen keine Antwort, Auf¬
forderungen befolgte er langsam. Gelegentlich äußerte er, er w'erde tot¬
geschossen, weil er selbst schon zwei Stück totgeschossen habe. Später
beantwortete er alle Fragen mit; „Ich will heraus“.
Recherchen über sein Vorleben, erbliche Belastung usw. ergaben,
daß B. nicht belastet war, in der Schule gut gelernt und auch später die
Fähigkeiten eines Durchschnittsmenschen gezeigt hatte. In der Kom¬
pagnie galt er während des ersten Dienstjahres als gut beanlagt, ernsten
Charakters, zuverlässig, kameradschaftlich, nüchtern und sparsam. Seine
Leistungen waren in allen Dienstzw'eigen gut.
Der Iropenkoller.
983
B. wurde der Provinzialheilanstalt zu B. zur weiteren Beobach¬
tung zugeführt. Nach Abschluß der Beobachtung zur weiteren Abbüßung
der Strafe dem Gefängnis H. überwiesen. Von hier betrieb er die Wieder¬
aufnahme seines Verfahrens.
Die hiesige Beobachtung hatte ergeben; Zahlreiche Degenerations¬
zeichen, insbesondere am Kopf, starrer, maskenartiger üesichtsausdruck,
innere Organe o. B., Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit am ganzen
Körper. Patient stößt beim Sprechen an. Psychisch: örtlich und zeitlich
anfangs nicht genau orientiert. Klagen über Stiche in der Herzgegend,
Schwindelgefühl, schlechten Schlaf. Schulkenntnisse schlecht. Einfache
Additionen werden nach langem Besinnen gelöst, Subtraktionen nur mit
einstelligen Zahlen möglich, Dividieren überhaupt nicht, ebensowenig
Bruchrechnungen. Trotz dreijähriger Wanderschaft dürftige geographische
Kenntnisse. Die üblichen sonstigen Intelligenzprüfungsfragen werden nur
teilweise richtig beantwortet. Den Sturz, von dem schon oben die Rede
war, beschrieb er folgendermaßen: Er sei im Juni 1905 drei Meter hoch
vom Pier gefallen, mit dem Hinterkopf auf eine Eisenschiene aufgeschlagen
und dann ins Wasser gestürzt. Nach kurzem Bewußtseinsverlust sei er
von der Brandung gegen das Pier geworfen, wo er sich habe an¬
klammern können. Nach dem Sturz 12 Tage wegen Kopfschmerzen im
Lazarett. Seit dieser Zeit soll ein früher nicht vorhandenes Bedürfnis
nach alkoholischen Getränken aufgetreten sein. Es sei wie ein Trieb in
ihm gewesen. Vorher habe er seinen Kognak oder Rum meist verschenkt,
seit jener Zeit suchte er von anderen zu seiner Ration noch etwas hinzu¬
zubekommen. Wenn er Bier und Schnaps durcheinander trank, wurde er
sinnlos betrunken.
Alle Angaben wurden in glaubwürdiger, bereitwilliger Weise vor¬
gebracht, deckten sich vollkommen mit den früheren Auslassungen, welche
in den Akten niedergelegt waren und machten einen durchaus glaubhaften
Eindruck.
Es wurde in dem Gutachten folgendes ausgeführt:
Der Zustand, welchen B. im Gefängnislazarett und in der hiesigen
Anstalt durchgemacht hatte, war eine Haftpsychose, die ihre Entstehung
einer degenerativen Veranlagung verdankt. Für die Beurteilung der
Straftat kamen folgende Momente in Betracht:
W'ichtig war, daß der Patient bei der Truppe im Inlande nur gute
Charaktereigenschaften gezeigt hatte und ein tüchtiger Soldat gewesen
war. In den Tropen änderte sich sein Verhalten. Nach etwas über halb¬
jährigem Aufenthalt bekommt er seine ersten Disziplinarstrafen wegen
ungebührlichen Benehmens im Gliede, Entfernung vom Dienst und Herum¬
treibens in der Garnison. Dieses Verhalten ist seinem früheren in der
Heimat durchaus widersprechend. Nun hat die Erfahrung gelehrt, daß
der Europäer besonders während der ersten Jahre, in denen er sich an
das neue Klima gewöhnen muß, in den Tropen sehr häufig nicht nur in
körperlicher, sondern auch in geistiger, intellektueller wie ethischer Be¬
ziehung Einbuße erleidet. Diese Erfahrung würde auch das veränderte
Benehmen des B. erklären.
984
Der Tropenkoller.
Als ein weiteres schädigendes Moment kam dann die Kopfverletzung
hinzu, die ziemlich beträchtlich gewesen sein muß. Sie löste bei dem
Patienten eine periodisch auftretende erhöhte Neigung zu Alkoholexzessen
aus und verminderte seine Widerstandsfähigkeit gegen Alkohol, wenn wir
seiner Beschreibung folgen dürfen. Für seine eigenen Angaben spricht
der Umstand, daß die vielen Delikte, welche zwischen der Kopfverletzung
und der Bestrafung wegen der letzten Straftat lagen, größtenteils unter
Alkohol begangen wurden.
Bezüglich der in Rede stehenden Straftaten selbst liegen nun Aus¬
sagen von drei Gefreiten vor, die nur Tatsachen enthalten. Der eine
bekundete, daß B. so stark schwankte, daß er geführt werden mußte,
der zweite sagte, beide Delinquenten seien so betrunken gewesen, daß
sie kaum gehen konnten, und der dritte bekundete, sie hätten nicht er¬
kannt, wen sie vor sich hatten.
Hingewiesen wurde auch darauf, daß der B. beim Aufheben des
zweiten Steines zu Boden fiel. Weiterhin kam in Betracht die große
Energie und Brutalität bei Ausführung der Gewalttat. Schließlich blieb
zu berücksichtigen, daß auf der Wache B. tief und fest geschlafen hat und
daß am nächsten Morgen für die Vorgänge der Nacht völlige Erinnerungs¬
losigkeit bestand.
Unter Berücksichtigung der krankhaften Widerstandslosigkeit gegen
Alkohol, der vorhandenen Bewußtseinstrübung, der Neigung zu Gewalt¬
taten, des terminalen Schlafes und der nachfolgenden Erinnerungslosigkeit
wurde das Vorliegen eines pathologischen Rausches angenommen.
Das Gericht schloß sich dieser Auffassung an und sprach den
Patienten nachträglich frei.
Abgesehen von dieser für Europäer cbaraktenstisclien Reak¬
tion auf das Tropenklima und die sonstigen in der heißen Zone
einwirkenden Schädlichkeiten können nun be.sonders in Kriegs¬
zeiten auch noch andere Psychosen ausgelöst werden, ln Betracht
kommt z. B. das manisch-depressive Irresein, die Dementia prae¬
cox, die Paralyse usw. Ein Fall von manisch-depressivem Irre¬
sein, der auf diese Weise zur Begutachtung kam, ist der folgende.
B. Sch., geb. 23. Mai 1876. Urlaubsüberschreitung, Zerstörung und
Preisgabe von Dienstgegenständen, Selbstbeschädigung. Manisch-depres¬
sives Irresein. Freisprechung.
Sch. ist erblich belastet, 1898 Eintritt zum Militär, 1905 Übertritt in
die Schutztruppe.
Im Inlande gute Führung, in der Schutztruppe schlechte Führung,
mehrfach bestraft, zuletzt wegen der oben angegebenen Vergehen mit
8 Monaten Gefängnis. Sein Verhalten bei der wegen des letzten Deliktes
geführten Untersuchung erschien von vornherein merkwürdig. Durch
genauere Ermittelungen wurde schließlich folgendes festgestellt;
S. hatte sich mit einem eingeborenen Mädchen verlobt und wollte
dieselbe besuchen. Er blieb länger bei ihr, als sein Urlaub reichte. Um
die Urlaubsüberschreitung zu verdecken, simulierte er einen Überfall, er-
Der Tropenkoller.
085
schoß sein Reittier, verschoß eine Anzahl Patronen, verletzte sich durch
einen Schuß an der Hand und zwar in einer Weise, daß bei der ärzt¬
lichen Untersuchung sofort der ganze Tatbestand, insbesondere die Selbst¬
beschädigung festgestellt werden konnte. Bei den späteren Vernehmungen
benahm er sich auch mehrfach merkwürdig. Schon damals gab er an,
er wisse nicht, warum er fortgelaufen sei, er leide oft an Angstanfällen
und habe das auch 14 Tage vorher dem Stabsarzt gemeldet.
Von der Truppe als verwahrloster, fauler Mensch bezeichnet, mit
dem sich keiner der Kameraden vertragen konnte. Zur Verbüßung der
Strafe in ein Oefängnis gebracht, wurde er dort mit Reinigen von Zellen
usw'. beschäftigt. Eines Tages schloß er zwei zum Tode verurteilten
Gefangenen die Zellentür auf und machte mit ihnen einen Fluchtversuch.
Er selbst verstauchte sich dabei den Fuß und stellte sich infolgedessen
freiwillig wieder. Die beiden anderen wurden eingefangen. Irgendeinen
Grund, den anderen zu helfen, hatte er nicht. Die Flucht war für alle
drei insofern gefährlich, als sie dem Feinde leicht in die Hände fallen
konnten. Davon abgesehen, mußten sie notwendig großen Gefahren,
Mühen und Strapazen entgegengehen.
Bei späteren Vernehmungen gibt er an, daß er sich seit August 190.S
verändert gefühlt habe, er habe an Kopfschmerzen, Herzbeschwerden,
Nervenzittern gelitten. Zur Zeit der Flucht habe er einen starken Blut¬
andrang zum Kopf verspürt, der erst eine Stunde nachher gewichen sei.
Auch seine Verlobung mit dem Bastardmädchen führte er auf seinen
kianken Zustand zurück.
Nach Europa zurückgebracht, setzte eine schwere Melancholie ein,
von der er 5 Monate später genas.
Es wurde angenommen, daß er in den Tropen eine manische Phase
des zirkulären Irreseins durchgemacht hatte. Deshalb wurde er während
dieser Zeit als salopp, faul, unverträglich usw. bezeichnet. Auch die sonst
unverständlichen Handlungen, wie die Gefangenenbefreiung usw., wurden
durch die Manie erklärt.
Das Gericht schloß sich im Wiederaufnahmeverfahren dem Gutachten
des Sachverständigen an. Patient wurde nachträglich freigesprochen.
Außer (len interessanten Gesiclitspunktcn, welche uns diese
Fälle für die Beurteilunjj vor ('lericht gezeigt liat)en, ist wohl noch
eine Folgerung aus ihnen zu ziehen, nämlich die, daß hei der .Aus¬
wahl derjenigen Personen, welche in heiße Länder geschickt
werden sollen, nicht vorsichtig genug verfahren werden kann. Es
kam früher öfter vor, daß ein in der Familie Entgleister in die
Tropen geschickt wurde, weil man ihn im eigenen Vaterlande gern
los werden wollte. Fälle wie die eben beschriebenen und noch
manche anderen zeigen, wie wenig zweckmäßig es ist, Psveho-
|iathcn noch besonderen Gefahren auszusetzen. —
Zum Schluß noch ein Wort über eine Frage, die in den letzten
Jahren in Deutschland viel erörtert worden ist.
9811 Der Tropenkoller.
Man hört und liest von Zeit zu Zeit in den Zeitungen, daß
Angehörige gebildeter Stände Deutschland fluchtartig verließen
und schließlich in einer der bestehenden Kolonialarnieen wieder
auftauchten. Von 6 Fällen, die ich genauer verfolgen konnte
(einen davon habe ich selber begutachtet), handelte es sich in
zweien um Poriomanen ohne epileptische Anfälle, aber mit zahl¬
reichen Degenerationszeichen. Der dritte war Psychopath und
hatte in den letzten Jahren auffallend viel getrunken, so daß er
sich sozial in Deutschland nicht mehr halten konnte. Zwei weitere
waren infolge von kriminellen Handlungen aus Deutschland ge¬
flohen, im Auslande den Werbern aus Mangel an Geld in die
Hände gefallen und hatten eine längere Dienstzeit bei der
Fremdenlegion in Algier durchgemacht. Der sechste war leicht
imbezill und hatte Deutschland gleichfalls wegen einer TTnter-
schlagung verlassen. Die Zurückgekehrten konnten sich mit einer
Ausnahme zu regelmäßiger Arbeit nicht mehr zwingen, sie fielen
der öffentlichen Armenpflege zur Last. .
Für unsere Zwecke bedeutungsvoll sind die Fälle, in denen
die Rechtsgültigkeit der Einwilligung zum Eintritt in die be¬
treffende Kolonialarmee in Zweifel zu ziehen ist.
In dem einen Falle, den ich selbst begutachtet habe, handelte
es sich um einen Kandidaten der Medizin, der in Deutschland
sein erstes halbes Jahr mit der W'affe abgedient hatte, ein guter
Soldat gewesen war, keinerlei Gründe hatte, sein \'aterland zu
verlassen. Eines Tages bekam er eine schwere Kieferhöhlen¬
eiterung, die ihn körperlich sehr mitnahm, weswegen er auch
mehrere Male operiert werden mußte.
Im Anschluß an die letzte Operation stellte sich bei ihm
allmählich eine deutliche Charakterveränderung ein, er wurde
unstet, arbeitete nicht mehr so fleißig wie früher, war zeitweise
reizbar, unverträglich. ln den letzten zwei Jahren seiner
Studienzeit hatte er dann dreimal poriomanische Attacken.
/Zweimal kam er in die französische Fremdenlegion, einmal wurde
er gerade nach seinem Eintritt in die holländische Kolonialarmee
zurückgeholt. Ich habe ihn einmal begutachtet. Wie ich schon
oben in einer .Anmerkung anführte, gelang es mir in diesem Falle,
aus dem Inhalt und der Form seiner Briefe das Vorliegen eines
Ausnahmezustandes wahrscheinlich zu machen. Der Patient wurde
dann auch aus der Fremdenlegion vorzeitig entlassen.
Qefängnispsychosen.
987
Gefänsiiispsycliosen.
Mit dem Ausdruck Haft- oder Gefängnispsychosen soll keine
einheitliche Krankheitsgruppe bezeichnet werden. Es wird damit
vielmehr lediglich zum Ausdruck gebracht, daß die Internierung
mit ihren körperlichen und psychischen Folgen eine Geistesstörung
au.sgelöst hat. Der Schreck über die Verhaftung, die Ungewißheit
über den Ausgang des Prozesses, Furcht vor wirtschaftlichen und
moralischen Nachteilen, Reue usw. bewirken die psychische Ver¬
änderung. Hinzu kommt der Wechsel in der Ernährung, die Wir¬
kung der Einzelhaft, die einförmige Art der Beschäftigung und
die Strenge des Gefängnislebens, Faktoren, die gleichfalls ge¬
eignet sind, Geistesstörungen auszulösen.
Die in der Haft entstehenden Psychosen werden in zwei
Gruppen eingeteilt. Wilmanns’), Sieffert u. a. unterscheiden
erstens echte Psvchosen und zweitens degenerative Haftpsychosen.
Was die ersteren anlangt, so können sämtliche Krankheits¬
bilder, welche wir kennen gelernt haben, Vorkommen, die Epi¬
lepsie, die Gehirnerweichung, die senile Demenz, das manisch-
depressive Irresein, alkoholische Geistesstörungen, akute Erschei¬
nungen beim Mor|)hinisten und Kokainisten, Erregungszustände
bei Schwachsinnigen usw.
Eine gewisse Ausnahmestellung nimmt die Dementia
praecox ein insofern, als sie im Beginne des Leidens mitunter
durch die Haft eine besondere Färbung erhält. Die Kranken
zeigen eine ängstliche Erregung, während welcher sie beun¬
ruhigende und bedrohende Stimmen hören.
*) Qefängnispsychosen. Halle a. S. 1908. Altsche Sammlung. Sieffert,
Qefängnispsychosen. Halle a. S. 1907. Rüdin, Qefängnispsych. In.-Diss.
Berlin 1901. Skliar, Qefängnispsych. In.-Diss. Bern 1904 auch Monats-
schr. f. Psych. 1904. Rüdin, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1903, Bd. 60. Bon-
hoeffer, Degenerationspsychosen. Altsche Sammlung. Halle a. S. 1907.
Marhold. K. Wilmanns, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 67. E. Schnitze,
Psychosen b. Militärgef. Jena 1904 u. 1907. Q. Eischer. Nitsche u.
Wilmanns. Qeschichte der Haftpsychosen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. 1911,
Bd. 3, Referate. Risch, Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 65. S. 171. Raecke,
Allg. Zeitschr. f. Psych. 1901 (Hyst. Stupor u. hyst. Dämmerzust.). Pollitz,
Einzelhaft u. Qeistesstörung. Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1905. Mönkemöller,
Monatsschr. f. Kriminalpsych., Bd. 1. Moeli, Irre Verbrecher. 1888.
Longard, Psych. Wochenschr. 1901. Hoffmann, Arch. f. Kriminalanthrop.,
Bd. 25. Birnbaum, Psychosen mit Wahnbildung, Halle a. S. 1908.
988 Ocfängnispsychosen.
Daß die Differentialdiagnose zwischen der Dementia praecox
und den degenerativen Haftpsychosen von praktischer Wichtigkeit
ist, wurde in dem Kapitel ,,Dementia praecox“ bereits ausgefiihrt.
Es braucht an dieser Stelle deshalb nur darauf verwiesen zu
werden.
Die degenerativen Erkrankungen können sieb in
verschiedener Eorm äußern. Entweder es treten neurasthe-
n isch-hv sterische Symjttome auf oder psychopathische
Züge, wie Reizbarkeit, Mißtrauen, Zwangsvorstellungen, werden
durch die Haft stärker an die Oberfläche gezogen. Auch hypo¬
chondrische Klagen können auftreten und sich mit Depression und
Reizbarkeit verbinden. Hinzukommen kann noch die Neigung zu
phantastischem Fabulieren und ein mehr oder minder regelmäßiges
Schwanken der Stimmung, das von äußeren Einflüssen unabhängig
zu sein scheint.
Gelegentlich werden auch periodische Schwan¬
kungen im Befinden des Kranketi beobachtet, welche auf äußere
Einflüsse nicht zurückzuführen sind.
Außer den bisher liesprochenen Zustandsbildern können nun
weitere, länger dauernde Psychosen auftreten. Entweder sind es
Bilder, die den Charakter des Q u e r u 1 a n t e n w a h n s tragen
oder der halluzinatorischen Paranoia gleichen, dalx'i
aber im Gegensatz zu dieser Erkrankung eine außerordentliche
Abhängigkeit vom Milieu zeigen. Schon in der Irrenabteilung,
noch mehr in der Freiheit bessern sie sich, um sofort wieder auf-
zuflackern, wenn ein neues Delikt den Kranken von neuem in
die Strafanstalt zurückführt. Die Dauer des Krankheitsprozes.ses
ist also keine unbegrenzte, sondern hängt vorwiegend von äußeren
Faktoren ab.
Wenn diese Kranken nicht ganz ausheilen, so liegt das viel¬
fach daran, daß sie eben sehr schnell in die Strafanstalt zurück¬
kommen. Es können sich dann auch einzelne Wahnkornplexc so
festsetzen, daß sic chronisch werden. (Vergl. den Fall W. unter
Querulanten wahn.)
Schließlich ist noch einer Gruppe von P'ällen zu gedenken, die
Sieffert mit dem .■\usdruck ,,d c m e n z a r t i g e Z u s t ä n d e" be¬
zeichnet. Er gründet diese Signierung darauf, daß die Kranken
einen mehr oder weniger schwachsinnigen Eindruck machen, keine
sicheren Erscheinungen hebephrener Demenz bieten, im Gefängnis
Handlungen begehen, die mit der Anstaltsdisziplin nicht vereinbar
Qefängiiispsychosen.
989
sind, ein leicht verschrobenes W'esen zeigen, das sich namentlich
dadurch auszeichnet, daß sie ihr rechtswidriges Gebahren in ganz
merkwürdiger Weise begründen und mit zäher Hartnäckigkeit
verteidigen. Allen gemeinsam ist, daß sie sich schon mehrere
Jahre im Zuchthaus aufhielten.
Sieffert faßt diese Fälle gleichfalls als Kunstprodukte der
Haft auf und nicht als chronische Defektzustände.
.Auf (jrund von Erfahrungen, die man auch an langjährigen
Irrenanstaltsinsassen machen kann, möchte ich dieser Ansicht bei-
])flichten. Das wesentlicbe, was bei der Gestaltung dieser Persön-
licbkeiten mitwirkt, ist nicht ein N'ersageii der (.emütssphäre, wie
bei der Demetitia ])raecox, sondern eine Einengung des Interessen-
krei.ses und der ('.efühlsregungen, welche durch das Milieu bedingt
ist. Dazu kann dann noch durch ungeeignete Lektüre usw. das
Denken auf Probleme hingelenkt werden, tlie der Patient bei
seinem Bildungsgrad gar nicbt zu bewältigen vermag. Wenn er
mit diesen (kxlanken, die ihn naturgemäß sehr beschäftigen, viel
(jjjeriert, so erscheint er nicht nur dement, sondern auch ver¬
schroben.
Bedenken gegen iliese Erklärung werden für denjenigen
nicht bestehen, der gesuiuie Personen beobachtet hat, die ur¬
sprünglich eine weitgehende geistige Iteweglichkeit besaßen, in der
Großstadt lebhaften Anteil an allen Tagesereignissen nahmen und
dann eines Tages durch Berufs- oder sonstige Pflichten in engere
Verhältnisse versetzt wurden. Nur wenige von denen, welche
einen solchen Werdegang durchniachen müssen, können sich von
der Einwirkung des engeren Milieus ganz frei halten, und was
hier innerhalb der (kenze des Normalen in der Freiheit geschieht,
das muß naturgemäß bei den ungünstigen Bedingungen des .An-
staltslebens noch viel schärfer hervortreten. —
Haben wir bisher die mehr chronisch verlaufenden Zustands¬
bilder besprochen, so müssen wir kurz der akuten gedenken. Sie
setzen für gewöhnlich in der Untersuchungshaft oder im Beginn
der Strafhaft ein, können allerdings auch in seltenen Fällen im
Verlaufe einer längeren Haftstrafe zum Ausbruch kommen.
W’ohl regelmäßig handelt es sich um entartete Individuen, die
davon befallen sind. Die wichtigsten Formen, welche Vorkommen,
sind folgende;
1 . Mit oder ohne Vorstadium, in dem der Kranke leicht
deprimiert ist, nörgelt, allerlei Schwierigkeiten macht, setzt plötz-
990
Qefängnispsychosen.
lieh ein heftiger Erregungszustand ein. Der Kranke zertrümmert
Einrichtungsgegenstände seiner Zelle, schimpft und schreit, be¬
hauptet, man wolle ihn töten, es sei Gift im Essen usw. Schon bei
oberflächlicher Untersuchung kann man feststellen, daß gleich¬
zeitig eine Bewußtseinstrübung besteht. Der weitere Verlauf des
Zustandes ist dann entweder der, daß die Erregung allmählich
abklingt und der Patient wieder frei wird, oder daß er in einen
Stupor versinkt, der für einige Tage oder Wochen bestehen kann
und sich dann allmählich löst. Sehr oft sind bei diesem Krank¬
heitsbild auch hysterische Symptome, insbesondere eine totale
Analgesie zu finden. Bezeichnend ist für einen Teil der Fälle, daß
sie oft schon durch die Überführung in die Lazarettabteilung oder
in die Irrenanstalt derartig günstig beeinflußt werden, daß der
ganze Zustand innerhalb weniger Tage abklingt.
Auch ohne daß ein Erregungszustand voraufgegangen ist,
kann entweder allmählich oder plötzlich ein hysterischer
Stupor (Räcke) einsetzen, bei dem gleichfalls gewisse körper¬
liche Zeichen der Hysterie nachzuweisen sind. Nach verschieden
langer Zeit, meist nach einigen Wochen, löst er sich allmählich
wieder.
Nach Disziplinierung in der Strafanstalt, mitunter aber auch
ohne solche, entstehen bisweilen Gansersche Dämmer¬
zustände mit Vorbeireden, gelegentlichen Größenideen und
Bewußtseinstrübungen.
Zu erwähnen sind fernerhin die in der Haft auftretenden
A m e n t i a f o r m e n und die Tatsache, daß durch die Haft ein¬
zelne 0{ler serienweise auftretende hysterische Anfälle und
hysterische Delirien zur Beobachtung kommen. Auf¬
fallend war bei den Fällen, welche wir hier gesehen haben,
daß fast regelmäßig auch irgendwelche körperlichen Symptome
der Hysterie, insbesondere Anästhesien, Fehlen der Rachen-
refle.xe usw. nachzuweisen waren, ein Punkt, der für die Diffe¬
rentialdiagnose eventuell von Wert sein kann.
Forensisch bedeutungsvoll sind diese Zustände
deshalb, weil ihre \'^erkennung dem Kranken in der Strafanstalt
Disziplinarstrafen einträgt. Eine falsche Deutung derselben ist
aber sehr leicht möglich, weil manche Erscheinungen, insbeson¬
dere das Vorbeireden, den Stempel des Absichtlichen, bewußt
Simulierten, des ,,Wilden-Mann-Spielen-Wollens“ gar nicht so
selten an sich tragen, ln denjenigen Fällen wiederum, wo die
Oefängnispsychosen.
991
Diagnose Dementia praecox in Betracht kommt, kann unter Llm-
ständen sogar nachträglich noch die Frage aufgeworfen werden,
ob der Kranke bereits zur Zeit der Tat geisteskrank war.
Daß gelegentlich die Haftpsychosen auch in der Unfall¬
praxis Anlaß zur Begutachtung geben können, lehrt der fol¬
gende Fall, den ich ziemlich ausführlich wiedergebe, weil er zeigt,
welche differentialdiagnostischen Erörterungen in Frage kommen
können.
J. B., geh. 10. November 1874. Händler. Unfallneurose, Diebstähle,
Haftpsychose, ln dem Gutachten sollte erörtert werden, ob die letztere
Unfallsfolge war.
Vorgeschichte: B. erlitt am 12. September 1901 auf der Zeche K. .
dadurch einen Betriebsunfall, daß Gestein sich loslüstc und ihn um linken
Arm und Fuß verletzte. Die ärztliche Diagnose lautete: I. Eine 6 cm
lange, 4 cm tiefe geklüftete Quetschwunde am linken Ellenbogen außen,
die höchstwahrscheinlich das Gelenk freigelegt hat. 2. Eine schwere
Kontusion des linken Fußgelenkes, höchstwahrscheinlich Knöchelbruch
durch Schien- und Wadenbein.
Die Verletzungen (es hatte sich nur um einen Bruch des Waden¬
beins gehandelt) heilten im kath. Krankenhaus zu B. aus. B. erhielt zu¬
nächst 100 “/o Rente.
Im Jahre 1902 konnte die Rente auf 15 “/o herabgesetzt werden.
Am 29. August 1904 beantragte B., ihm die Vollrente zu gewähren,
da sein Zustand sich wieder verschlimmert hätte. Nähere Angaben über
die Art der Verschlimmerung fehlten. Der Verletzte machte dieselben
auch beim Schiedsgericht nicht, bei W'elchem er nach Erhalt eines Ab-
Ichnungsbescheides der Sektion Beruiung eingelegt hatte. Er behielt also
nur 15 “/o Rente. Auch diese wurden ihm aber im Jahre 1906 entzogen,
da er seinen Aufenthalt wechselte, ohne der Berufsgenossenschaft Nach¬
richt zu geben. W'ie sich später herausstellte, war der Verletzte nach
Verübung mehrerer Diebstähle nach Holland geflohen und dort verhaftet
worden.
Wegen der Diebstähle wurde B. vom Landgericht E. zu 5 Jahren
Zuchthaus und den üblichen Nebenstrafen verurteilt. Er trat die Strafe
am 19. März 1907 in der Strafanstalt zu W. an. Schon am 28. April 1907
wurde er jedoch in das Lazarett verlegt, weil er erregt wurde und unter
Tränen verlangte, man solle ihn zu seiner Frau und den Kindern gehen
lassen. Genaueres über sein Verhalten in W. erfahren wir aus einem
ärztlichen Gutachten.
„Am 27. April 1907 plötzlich meldet er sich beim Direktor, ist sehr
erregt und bittet unter Tränen, man möge ihn nach Hause gehen lassen.
Er wird zum Lazarett genommen, weint dort anfangs und reagiert
auf alles Fragen und Ansprechen nur mit der Antwort, er wolle nach
Hause zu seiner Frau. Er ist jetzt 6 Wochen im Lazarett geblieben.
Der Zustand ist von Anfang an derselbe geblieben. Er grimassiert
unausgesetzt, sucht sich allen Untersuchungen zu entziehen und spricht
992
OefätiKnispsychosen.
kein Wort. Auf Nadelstiche weicht er aus und zuckt, fängt an zu weinen,
also keine Analgesien nachweisbar. Würg- und Bindehautreflexe sind
vorhanden. Patellar- und Pupillenreflexe normal.“ (Akten W.)
B. wurde auf Antrag der Direktion der Strafanstalt W. zunächst in
die Irrenabteilung M. überführt. Der dortige Arzt berichtet folgendes:
„Bei der Aufnahme in die hiesige Irrenabteilung mußte Rubrikat
geführt werden, da er stark schwankte, gab auf Fragen keine Antwort,
sagt nur „Hause“ und stierte dabei den Fragenden mit schräger Kopf¬
haltung an. In den ersten 8 Tagen nahm er freiwillig keine Nahrung
und mußte gefüttert werden. Später wurde er etwas freier, reagierte
auf Antworten, doch ist nicht zu verkennen, daß sein Vorstellungsablauf
ein sehr verlangsamter ist. Im großen (janzen zeigt er ein kindisches,
läppisches Wesen und ist leicht zum Weinen geneigt. Kr beteuert fast
täglich, daß er unschuldig verurteilt sei. In der letzten Zeit äußert er
ganz verworrene Wahnvorstellungen, glaubt, daß eine Katze auf dem
Saal sei, die verjagt werden müsse, und daß jede Nacht seine Frau und
Kinder an seinem Bett erscheinen und ihn aufforderten, nach Hause zu
kommen. B. leidet an Jugendirresein. Kin Strafvollzug ist bei ihm un¬
möglich. Die geistige Krkrankung, die unaufhaltsam Fortschritte macht,
hat zu seiner völligen geistigen und gemütlichen Verblödung geführt.
Kr ist dauernd strafvollzugsunfähig.
Von der Irrenabteilung IM. erfolgte zunächst die Überführung in die
Provinzial-Heilanstalt M. und von dort wurde B. nach (i. gebracht. Der
Kranketigeschichte der letztgenannten Anstalt entnehme ich folgende
Daten: Bisher ruhig, stumpf. Nimmt wenig Notiz von seiner L'mgebung.
Faßt Anrede gut auf, antwortet bereitwillig, (übt Personalien richtig an.
Behauptet bisher nur zweimal bestraft zu sein; einmal wegen Haus-
fiiedensbruch zu .J Monaten und einmal wegen Hehlerei zu 3 Monaten.
In B. und K. verbüßt. Nachher habe er das Qeschäft drangegeben und
sei wieder auf die Zeche gegangen.
Jetzt mit 5 Jahren bestraft, weinend, er solle gestohlen haben, und
das habe er nicht getan. Ks sei ein gewisser B., den er vom Oefängiiis
her kannte, zu ihm gekommen und habe ihn aufgefordert, ein üeschäft
mit ihm anzufangen, und weil er so schlecht arbeiten konnte, habe er
es getan. Der andere habe ihm I.Sd Mark gegeben, und damit habe er
ein (jemüsegeschäft angefangen. Dann sei der andere stehlen gegangen
und habe ihm die Brocken ins Haus gebracht. Kr habe gewußt, daß das
gestohlen war. sei vor dem Manne bange gewesen. Weinend: (iewiß.
er habe Strafe verdient, aber kein Zuchthaus. Sei im vergangenen Jahr
verurteilt und nach W\ gebracht worden. Da sei er krank geworden
und habe sich nachher in M. wiedergefunden, er sei ganz weggewesen.
Ks sei ihm schon vorher gar nicht mehr richtig gewesen, er habe nicht
gew'ußt, wie ihm war; von der Krankheit wisse er nichts. Wie er in M.
zu sich kam, habe er erst gar nicht glauben wollen, daß er da war.
könne gar nicht sagen, wie er da die Welt ansah. Sei dann aber wieder
ganz gesund geworden, jetzt fehle ihm nichts mehr. Nur habe er mitunter
so Anfälle, in denen er gar nicht wisse, wo er sei. Das dauert I bis
2 Stunden. Dann sei ihm so komisch im Kopf. Das habe er auch früher
Qefängnispsychosen. 993
schon gehabt, seit dem Malheur. In der Irrenabteilung und in M. habe
er oft seine Frau rufen hören, meist habe sie von draußen her gerufen,
sie sei aber auch manchmal durch die verschlossene Tür zu ihm ge¬
kommen. Hier habe er dergleichen noch nicht gehört.
7 X 9 = ... 64 ... 61, 4 X 6 = ... 24, 93 — 7 = 86.
Monatsnamen richtig aufgezählt, rückwärts geht’s nicht.
Ruhig, indifferente Stimmung zu Bett; meint, vor den Anfällen habe
er immer „so Zittern in den Armen“, dann werde ihm neblig im Kopf,
was dann weiter geschehe, wisse er nicht; wenn er dann wieder zu sich
komme, tue ihm die Brust so weh. Hingefallen wäre er nie im Anfall.
Mehrfach sei es auch geschehen, daß er auf der Straße etwas „gesucht
und nichts gefunden habe“; später will er nichts davon gewußt haben.
Er habe diese Anfälle früher immer verschwiegen. Ruhig, lenksam, ver¬
langt nach Arbeit; die Hausarbeit genügt ihm nicht, es sei ihm einerlei,
welcher Art die Tätigkeit sei. Trägt sich anscheinend mit Entweichungs¬
ideen. —
In der Folgezeit blieb Patient in O. ruhig und lenksam, dachte aber
offenbar noch immer daran zu entweichen. Deshalb erfolgte seine Über¬
führung nach B.
Aus der Krankheitsgeschichte des dortigen Bewahrungshauses geht
folgendes hervor:
Bei der ersten Untersuchung gab B. an, er wisse von seinen Dieb¬
stählen nichts. Er leide zeitweise an Anfällen, in denen er nicht wisse,
was er tue und was mit ihm geschehe. Derartige Anfälle habe er schon
beim Militär bekommen. Dort habe der Hauptmann ihn mehrfach vom
Exerzieren fortgeschickt. Er sei dann jedesmal in das Lazarett ge¬
kommen. —
In der Folgezeit betrieb er von B. aus aufs energischste die Wieder¬
aufnahme des Verfahrens, indem er behauptete, sein Komplice, der in¬
zwischen in einer Irrenanstalt verstorbene Br., habe die Diebstähle allein
begangen und die Sachen nur in einem besonders gemieteten Zimmer
der B.schen Wohnung abgestellt. Wenn er, der Verletzte, überhaupt
bestraft werden dürfe, so könne es nur wegen Hehlerei geschehen. (Wie
ich aus den Akten B. entnehme, haben die Angehörigen B.s selbst aus¬
gesagt, daß der Verletzte sich an den Diebstählen mit beteiligt habe, und
es scheinen auch bei der Haussuchung die gestohlenen Sachen in ver¬
schiedenen Räumen der B.schen Wohnung gefunden worden zu sein, also
nicht allein in dem von Br. gemieteten Zimmer.)
Daß er sich von seinem Komplicen gestohlene Sachen hatte schenken
lassen, gibt er in einem Briefe an die Geschwister zu.
Da nun die Geistesstörung des Verletzten von dessen Pfleger auf
den Unfall zurückgeführt wurde, so beschloß das Schiedsgericht für
Arbeiterversicherung, den B. hier nochmals beobachten zu lassen.
Hiesige Beobachtung: Über die Geistesstörung, welche seine Ent¬
fernung aus dem Strafvollzug und die Überführung in die Irrenanstalt zur
Folge hatte, wußte B. wenig anzugeben. Er wisse nicht, warum er aus
W. fortgebracht worden sei. ,.Wie ich gehört habe, bin ich keine 14 Tage
im Strafvollzug gewesen. Dann bin ich gleich nach M. in die Irren-
Häbner, Forensische Psychiatrie. 03
994
Gefängnispsychosen.
abteilung gekommen. Weshalb dies geschah, weiG ich nicht.“ Ich selbst
wollte nicht in eine Irrenanstalt (weint). Er habe jetzt das Wiederauf¬
nahmeverfahren beantragt, weil er von der ganzen Geschichte, die man
ihm zur Last gelegt habe, nichts wisse. „Ich weiß ja auch nicht, wieviel
ich bekommen habe. Die Strafe, die ich verdiente, konnte ich ruhig ab¬
machen.“
Über sein Vorleben berichtet er, er habe auf der Schule schlecht
gelernt, und sei nur bis zur 2. Klasse gekommen. Was er könne, das
habe er draußen zugelernt. Außer dem Bergmannsberuf habe er auch
noch gehandelt. Gut sei es ihm aber dabei nicht gegangen.
Soweit er wisse, sei er sonst nie richtig krank gewesen. Auch in
der Kindheit habe ihm nichts gefehlt. Erblich belastet sei er nicht, doch
sei eins seiner Kinder in einer Idiotenanstalt untergebracht.
Krampfanfälle habe er nie gehabt, auch richtige Schwindelanfälle
nicht. „Ich habe aber Zustände, in denen es mir so bläulich vor dem
Kopfe ist, als wenn ein Schleier vor dem Kopfe wäre.“ —
Es sei gleich hier eingeflochten, daß der Verfasser zur Nach¬
prüfung der in B. gemachten Angaben über die während der Militär¬
dienstzeit aufgetretenen Anfälle bei dem zuständigen Regiment angefragt
hat. Die Antwort lautete, daß B. dort nie wegen irgendwelcher
Anfälle im Lazarett behandelt worden ist, sondern nur wegen Rheuma¬
tismus. Die im Lazarett vorhandenen Krankenblätter enthielten nichts,
was die Angaben des Verletzten unterstützt hätte.
Die genauere psychische Untersuchung des B. ergab, daß er hier
zeitlich und örtlich orientiert war, im übrigen aber in seinem Wissen
mancherlei Lücken aufwies. Das Alphabet konnte er nur bis L sagen.
Die Hauptstädte von Bayern und Württemberg wußte er nicht. Als
kriegführende Mächte des Jahres 1870 nannte er Preußen und Frankreich.
Als Vorgänger Wilhelms II. in der Regierung gab er Friedrich Wil¬
helm III. an. Die gestellten Rechenaufgaben löste er nur zum geringen
Teil richtig. 3X4^12, 3-1-21=24, 21 — 19 = 2, 9X2=101,
39:3= 13, 39 — 27= 10. Unterschiedsfragen dagegen beantwortete er
richtig.
Die Stimmung des Patienten war hier im allgemeinen eine ruhige
und zuversichtliche. Nur wenn man auf seine Straftaten zu sprechen
kam, oder er selbst seine Familie erwähnte, geriet er in Erregung und
weinte.
Am hervorstehendsten war die Ungenauigkeit in seinen Angaben.
Heute behauptete er, nie Anfälle gehabt zu haben, morgen berichtete er,
schon beim Militär wegen solcher im Lazarett behandelt worden zu sein.
Einmal versicherte er hoch und teuer, er habe nicht gewußt, daß die von
Br. in seiner Wohnung abgestellten Sachen gestohlen waren, zu anderer
Zeit sagte er, er habe das wohl gewußt, habe aber nichts dazu sagen
können, weil er dem Br. Geld schuldete. Einige Wochen vorher hatte er
in einem Brief an seine Angehörigen die Sache so dargestellt, als ob
seine Frau die Sachen von Br. angenommen hatte, und er dies nur ver¬
schwieg. um die Frau vor Strafe zu schützen.
Qefängnispsychosen.
995
Daran, daß er gestohlen hat, ist seiner Ansicht nach der Unfall
schuld. Obwohl er zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilt ist, wundert er sich,
daß er trotz zweijährigen Aufenthalts in einer Anstalt noch immer nicht
entlassen wird.
Gutachten: Auf Grund der Vorgeschichte und des hier erhobenen
Befundes kann folgendes als festgestellt gelten: B. war wohl von jeher
ein minderwertiger jVlensch. Er hat in der Schule schlecht gelernt, und
ist in späterer Zeit mehrmals mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen.
Nachdem er seine Tätigkeit als Bergmann aufgegeben hatte, sank
er sehr schneit, wurde zunächst Atthändler, und verband sich schließlich
mit einem Menschen, den er im Gefängnis kennen gelernt hatte, um ge¬
meinsam mit ihm gesetzwidrige Handlungen zu begehen. Daß er sich der
Strafbarkeit seiner Taten bewußt war, hat er teilweise hier zugegeben,
das geht übrigens auch aus den oben zitierten Briefen hervor.
Krampf- oder objektiv erkennbare Schwindelanfälle hat er höchst¬
wahrscheinlich nie gehabt. Während seines langen Anstaltsaufenthaltes
sind jedenfalls solche nicht beobachtet worden, ebensowenig beim
Militär. Daß sie in der Zeit nach dem Unfall aufgetreten wären, ließ sich
nicht nachweisen, ist auch nicht sehr wahrscheinlich, denn wenn dies der
Fall gewesen wäre, hätte der Verletzte sicher nicht gezögert, der Berufs¬
genossenschaft davon Mitteilung zu machen.
Es ist überhaupt nach dem vorliegenden Material nicht erwiesen,
daß B. vor seiner Verbringung nach W. jemals Zeichen einer akuten
Geistesstörung geboten hätte. Daß er ein degenerierter Mensch von jeher
war, ist bereits oben ausgeführt.
Erst einige Wochen nach seinem Eintritt in das Zuchthaus zeigte
sich, wie aus den Strafanstaltsakten hervorgeht, bei ihm eine geistige
Veränderung. Während er in den ersten 4 Wochen durch nichts auffiel
und arbeitete, mußte er am 27. April 1907 in das Lazarett verlegt werden,
weil zunächst seine Stimmung umgeschlagen war — er weinte fort¬
während —. Bald verfiel er auch in einen „Stupor“, d. h. in einen Zustand
von Regungslosigkeit, in dem er vor sich hinstierte, auf Fragen keine
Antwort gab, die Nahrung verweigerte und grimassierte. Mehrere
Wochen glaubte er auch die Stimmen seiner Angehörigen zu hören.
Ferner sah er nachts eine Katze im Saal, kurz — er stand unter dem Ein¬
fluß von Sinnestäuschungen.
Nachdem sich dieser stuporöse Zustand allmählich (d. h. innerhalb
von 10 Monaten) gelöst hatte, zeigte sich, daß er für die Zeit der akuten
Geistesstörung gar keine oder zum mindesten eine nur sehr unvoll¬
ständige Erinnerung hatte.
Im Verlaufe der weiteren Beobachtung traten nun wieder die
degenerativen Züge stärker hervor.
Seine Stimmung wechselte leicht. Sobald er eine unangenehme
Nachricht erhielt, schlug er um. Der Schlaf war nicht immer gleich gut.
Er klagte über die — objektiv allerdings nie beobachteten — Zustände,
in denen ihm so bläulich vor dem Kopfe war. Es kam hinzu die bereits
oben erwähnte mangelhafte Treue der Reproduktion und die auffallende
63*
996
Qefängnispsychosen.
Kritiklosigkeit bei Beurteilung seiner Person und seiner Lage. Denn B.
betrachtet sich auch heute noch als das unschuldige Opfer einer un¬
gerechten Justiz. Schließlich begann er auch sofort, nachdem er sich
nur wieder einigermaßen wohl fühlte, mit anderen Verbrechern auf der
Abteilung Entweichungsversuche zu machen. Auch das ist sehr cha¬
rakteristisch.
Fragen wir uns, angesichts der eben aufgezählten Tatsachen, welcher
Art die bei dem Verletzten beobachtete Geistesstörung war, so ist
meines Erachtens allein anzuehmen, daß es sich um eine sogenannte
Haftpsychose bei einem degenerierten Menschen handelte.
Daß B. wirklich ein Dögenerö ist, dafür hatten wir oben bereits eine
ganze Reihe von Tatsachen gefunden; 1. seine unstete und unsoziale
Lebensführung, 2. die Stimmungsschwankungen, 3. die mangelhafte
Reproduktionstreue in seinen Erzählungen, 4. die falsche Beurteilung
seiner Handlungen und seiner gegenwärtigen Lage, 5. gewisse, von ihm
selbst auf mangelhafte Schulbildung zurückgeführte Wissensdefekte.
Daß die akute Geistesstörung wirklich ein sogenannter „Zuchthaus-
knall" war, ergibt sich aus folgendem: 1. Die Psychose setzte plötzlich
mit einem weinerlichen Erregungszustand ein. 2. Es folgte dann ein
Stupor, der mit Nahrungsverweigerung, Hemmungserscheinungen und
Grimassieren einherging. 3. Es traten auch für einige Zeit Sinnes¬
täuschungen hinzu. 4. Die akuten Erscheinungen bildeten sich wieder
vollständig zurück, ohne daß Verblödung eingetreten wäre. 5. Für die
Zeit der Geistesstörung fehlte die Erinnerung fast vollständig. 6. Auch
der Umstand, daß die Psychose im Anschluß an ein bestimmtes Ereignis,
nämlich seine Verurteilung zu einer langjährigen Zuchthausstrafe, auftrat,
ist charakteristisch für die Haftpsychose.
Differentialdiagnostisch kommt dreierlei in Betracht, nämlich:
1. Die Epilepsie. Die geklagten Schwindelanfälle und die Stim¬
mungsschwankungen sind zur Stütze dieser Diagnose herangezogen
worden. Die Psychose scheint dabei als Dämmerzustand aufgefaßt
worden zu sein (Dr. B.). Demgegenüber ist zu bemerken, daß die
Schwindelanfälle objektiv nie zur Beobachtung gekommen sind, daß die
Stimmungsschwankungen im Gegensatz zu den epileptischen stets durch
äußere Momente bedingt waren, und die akute Psychose nichts für den
epileptischen Dämmerzustand Charakteristisches darbot, abgesehen
davon, daß Dämmerzustände, die sich über mehrere Monate erstrecken,
sehr selten Vorkommen.
2. Das Jugendirresein. Diese Diagnose stellte der Gefängnisarzt
in M. Gegen dieselbe spricht das restlose Ausheilen der akuten Erschei¬
nungen, mit anderen W orten der Umstand, daß der Patient bisher nicht
verblödet ist.
3. Die traumatische Demenz (Diagnose der Anstalt G.). Gegen diese
Auffassung ist einzuwenden, daß ein höherer Grad von Schwachsinn,
der sich nach dem Unfall entwickelt hätte, nicht nachzuweisen war.
Zwischen dem Unfall und dem Ausbruch der akuten Störung liegt außer¬
dem ein Zeitraum von 6 Jahren.
Die sexuellen Perversitäten.
997
Nach alledem erscheint die oben vertretene Anschauung, daß B.
ein von Jugend auf psychopathischer Mensch ist, der eine sogenannte
Qefängnispsychose durchgemacht hat, am wahrscheinlichsten.
Diese letztere auf den Unfall vom Jahre 1901 zurückzuführen, ist
jedoch nicht angängig. Einmal wegen der Länge des zwischen Unfall und
Geistesstörung liegenden Zeitraumes, 2. weil ein viel näherliegendes ur¬
sächliches Moment für die Haftpsychose in der unmittelbar voraus¬
gegangenen Verurteilung zu langer Zuchthausstrafe und der Überführung
in das Zuchthaus gegeben ist, 3. weil sich keine sicheren Anhaltspunkte
dafür haben finden lassen, daß der Unfall den Geisteszustand des Ver¬
letzten überhaupt in merklicher Weise beeinflußt hätte. Es kann deshalb
meines Erachtens die Verletzung vom 12. September 1901 auch nicht
einmal als wesentlich mitwirkende Ursache bei Entstehung der
Geistesstörung herangezogen werden. —
Die sexueUen Perversitäten.
Zu den forensisch wichtigsten Störungen des Instinktlebens
gehören die geschlechtlichen Perversitäten.
Kurz und präzise auszudrücken, was in sexueller Beziehung
normal und abnorm ist, ist unmöglich, weil auch schon bei geistig
und körperlich Gesunden die weitgehendsten Verschiedenheiten
Vorkommen, zunächst schon in bezug auf das erste Auftreten und
Schwinden geschlechtlicher Regungen.
So kann es z. B. nicht ohne weiteres als abnorm bezeichnet
werden, wenn sich bereits in der Kindheit geschlechtliche Regun¬
gen bemerkbar machen, ebensowenig wie es unter allen Um¬
ständen als pathologisch anzusprechen ist, wenn bei Männern
jenseits des 6o. Lebensjahres der Geschlechtstricb in unver¬
änderter Stärke fortbesteht. Auch die Art der Betätigung
bei den einzelnen Menschen ist äußerst verschieden, ohne daß
man deshalb immer gleich das Vorliegen einer Perversität an¬
nehmen darf.
Im engeren Sinne abnorm sind alle diejenigen geschlechtlichen
Handlungen, welche qualitative Abweichungen von der Norm
darstellen. Am stärksten tritt dieser qualitative Unterschied bei
der Homosexualität, d. h. bei der Liebe zwischen Mann
und Mann oder Weib und Weib hervor. Bei den übrigen Per¬
versitäten finden wir bereits wieder Anklänge an die normale
Art der Befriedigung. Es werden noch folgende Unterschiede
gemacht:
998
Die sexuellen Perversitäten.
1. der Sadismus,
2. der Masochismus,
3. der Fetischismus,
4. die Sodomie oder Zoophilie,
5. der Exhibitionismus.
Es ist für die uns hier interessierenden Fragen gleichgültig,
ob die erwähnten Abnormitäten angeboren sind oder erst erworben
werden. Letzteres ist wohl bei der größeren Mehrzahl der Fall. —
Wenn man auch nach den Publikationen mancher Urninge
glauben könnte, daß die gleichgeschlechtliche Liebe
eine sehr weitv^erbreitete Form erotischer Betätigung darstelle, so
erscheint mir das doch nicht recht glaubhaft. Ich kann mich viel¬
mehr des Eindruckes nicht erwehren, daß durch die leider lawinen¬
artig anschwellende Literatur über diese Fragen, durch einige
Sensationsprozesse und durch eine gewisse Presse die Bedeutung
der Homosexualität für unser deutsches Volksleben allzusehr auf¬
gebauscht worden ist und daß mancher Psychopath, der ohne
Kenntnis dieser Literatur der normalen Betätigung nie entzogen
worden wäre, durch literarische Belehrung und entsprechenden
Verkehr vollends in die Gedankengänge der Homosexuellen hinein¬
gedrängt wurde.
Mit der Homosexualität beschäftigt sich der § 175 Str.G.B.:
Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen
I’ersonen männlichen Geschlechts oder von Men¬
schen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefäng¬
nis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der
bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.
Die Strafbestimmung richtet sich gegen den aktiven und
passiven ’) Teil. Gleichgültig ist, ob beide oder nur einer von
ihnen eine wollüstige Absicht hatte. (E. 34, 245.) —
Für die Anwendung des § 175 gegenüber dem passiven Teil genügt
es, daß dieser auch seinerseits bewußter- und gewolltermaßen zu der
’) Bezüglich des passiven Teils sei noch die folgende Entscheidung
erwähnt;
Bei widernatürlicher Unzucht zwischen Männern wird die Be¬
strafung des passiven Teils nicht dadurch ausgeschlossen, daß der
aktive Teil irrtümlich eine Frauensperson vor sich zu haben glaubt.
Denn in subjektiver Hinsicht erfordert § 175 nicht, daß beide Personen
mit strafrechtlichem Vorsatze gehandelt haben. (R.Q. II. 21. 5. 09.)
Sächs. R.A. 4 , 497 und Jahrb. 1909, S. 48.
Dasselbe besagt eine Entscheidung in D.R. 10, 416.
Die sexuellen Perversitäten. 99 g
beischlatsähnlichen Handlung mitwirkt, sie insoweit selbst vornimmt
oder duldet, und zwar in Kenntnis davon, daß der Andere dabei in der
Absicht der Erregung oder Befriedigung seines Qeschlechtstriebes
handelt. (R.Q. III. 5. 1. 10.)
Seuff. Bl. 75, 359 und Jahrb. 1910, S. 51.
Wichtig und viel erörtert ist die Frage, was man unter einer
beischlafähnlichen Handlung versteht. Denn nur eine solche kann
bestraft werden. Von den zahlreichen Entscheidungen des R.G.
seien folgende angeführt:
Für den Begriff der widernatürlichen Unzucht im Sinne des § 175
Str.Q.B. wird nichts weiter erfordert, als daß eine dem natürlichen
Beischlaf ähnliche Vereinigung des Geschlechtsteils der einen männ¬
lichen Person mit dem Leibe der andern erfolgt ist. Daß auch bei¬
schlafsähnliche Bewegungen vorgenommen sind, bedarf nicht des Nach¬
weises. (R.Q. V. 28. 4. 08.)
Jahrb. 1908, I, S. 60 und Das Recht 1912, Sp. 385, Nr. 2266.
Eine beischlafsähnliche Handlung kann beim Verkehr unter Manns¬
personen nur da angenommen werden, wo die eine Mannsperson bei
beischlafsähnlichem Gebrauche des männlichen Gliedes den Körper des
anderen mit dem Qliede berührt hat. Hat eine Entblößung des männ¬
lichen Gliedes auf Seiten des aktiven Teiles nicht stattgefunden, so wird
in Ermangelung einer unmittelbaren Berührung des gemißbrauchten
Körpers mit dem Qliede des anderen — abgesehen von besonderen,
hier in keiner Weise angezeigten Ausnahmefällen — ein beischlafs¬
ähnlicher Akt nicht anzunehmen und deshalb der Tatbestand des § 175
zu verneinen sein. (R.Q. IV. S.-S. 19. 12. 02.)
E. d. R.Q. in Strafsachen Bd. 36, S. 32, Entsch. Nr. 13.
Der § 175 Str.Q.B. erfordert nicht, daß der Körper der zur wider¬
natürlichen Unzucht mißbrauchten Person männlichen Geschlechts an
derjenigen Stelle entblößt gewesen sein müsse, gegen welche der Akt
vorgenommen worden ist. (Aus einem Urteil des R.Q. v. 22. 12. 04.)
Das Recht 1905, S. 367.
Ist die Handlung der Erregung oder Befriedigung des Qeschlechts-
triebs mindestens des einen Teils zu dienen bestimmt, so genügt zur
Annahme des Vorsatzes für den anderen, die Handlung duldenden Teil
die Kenntnis von der wollüstigen Absicht des aktiven Täters, ver¬
bunden mit dem Willen, die beischlafsähnliche Handlung desselben zu
dulden. Der Wille, daß der aktive Täter seine Qeschlechtslust an ihm
befriedigt, ist nicht erforderlich. (R.M.Q. II. 28. 3. 08.)
Jahrb. 1909 und R.M.Q. 12, 158.
Darin, daß der Täter das Glied des Mittäters in seinen Mund steckt
und längere Zeit daran lutscht, kann der äußere Tatbestand des § 175
gefunden werden. (R.Q. 5. 1. 10.)
Seuff. Bl. 75, 359 und Jahrb. 1910, S. ,52.
Mutuelle Onanie fällt dagegen nicht unter den § 175.
Das Recht 4, 493.
lOOO
Die sexuellen Perversitäten.
Mit Rücksicht darauf, daß der § 175 Str.G.B. für gewisse
gleichgeschlechtliche Handlungen Strafe androht, ist es nötig
hinzuzufügen, daß nur ein kleiner Teil der geistig gesunden
Homosexuellen wirkliche päderastische Akte oder beischlafähn¬
liche Handlungen im obigen Sinne begeht. In der größeren
Mehrzahl der Fälle handelt es sich um Liebesverhältnisse, die je
nach den Neigungen der beiden Partner entweder rein seelischer
Natur sind oder auch durch Umarmungen, Küsse, mutuelle
Onanie und ähnliches betätigt werden. —
Wie oben bereits angedeutet wurde, werden homosexuelle
Handlungen nicht nur von Geisteskranken, sondern auch von
Menschen begangen, bei denen die Zurechnungsfähigkeit nicht in
Zweifel zu ziehen ist. Ein Teil von ihnen ist sogar als geistig
gesund zu bezeichnen. Bei diesen letzteren kann es zwar auch
zu gleichgeschlechtlicher Betätigung in ihrer gröbsten Form
kommen, sie wird aber nur geübt, weil die Möglichkeit zu
normaler geschlechtlicher Befriedigung fehlt. Daher finden wir
in Internaten, Gefängnissen, bei der Fremdenlegion, in Straf¬
kolonien usw., d. h. überall da, wo das weibliche Element fehlt,
faut de mieux die homosexuelle Betätigung. Sie schwindet, so¬
bald die Möglichkeit des normalen Geschlechtsverkehrs ge¬
geben ist.
Bei einer zweiten Gruppe von Menschen, es handelt sich fast
durchgängig um Psychopathen, ist der Grund, warum sie sich
gleichgeschlechtlich betätigen, ein anderer. Sie werden von dem,
was Hoche „Reizhunger“ und „Verlangen nach neuen Variationen“
nennt, dazu getrieben, ihre Gunst Männern zuzuwenden. Es
handelt sich entweder um Leute, die jahre- und jahrzehntelang
exzessive Onanie getrieben haben, oder wie Gramer es ausdrückt,
um Roues, welche beim Weibe keine Befriedigung mehr finden
können.
Daß diese Menschen homosexuell werden, ist oft mehr ein
Zufall. Wenn sie zur rechten Zeit andere Manipulationen kennen
gelernt hätten, so würden sie sich eventuell einer anderen Per¬
versität ergeben haben.
Nur für eine kleine Gruppe von Fällen möchte ich glauben,
daß da die Neigung zu homosexueller Betätigung angeboren oder
sehr früh erworben ist. Auch diese Menschen sind Psychopathen,
es machen sich aber bei ihnen schon zu einer Zeit, wo sie durch
die einschlägige Literatur auf ihren Zustand noch nicht aufmerk-
Die sexuellen Perversitäten.
lOOl
sam geworden sind, einzelne Symptome bemerkbar, welche den
Gedanken nahelegen, daß es sich um mehr als eine anerzogene
Abweichung vom Normalen handelt.
Wenn man öfters mit Homosexuellen spricht, so erzählt die
Mehrzahl von ihnen, daß sie schon in der Kindheit an sich selber
Züge beobachtet hätten, die ihre homosexuelle Veranlagung
erkennen ließen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um
eine Umdeutung von harmlosen Geschehnissen aus der Jugendzeit
an der Hand der Literatur. Nur ganz ausnahmsweise soll man
deshalb solche Angaben unbesehen glauben. —
An vierter Stelle sind dann eine Reihe von Geisteskranken
zu erwähnen, welche gleichfalls homosexuelle Handlungen be¬
gehen. Ein großes Kontingent unter diesen letzteren stellen die
Schwachsinnigen und Alkoholisten. Gelegentlich kommt es auch
in Dämmerzuständen zu homosexuellen Handlungen. Gramer er¬
wähnt außerdem die Paranoiker. Ausnahmsweise werden auch
im Beginn der Dementia praecox solche Handlungen begangen.
Einmal sah ich einen homosexuellen Exhibitionisten, der
seine strafbaren Handlungen auf Grund von Zwangsvorstellungen
ausführte. Es handelte sich um folgenden Fall:
Der Patient war ein 42iähriger Ingenieur, der einen äußerst intelli¬
genten Eindruck machte, bei einer großen Firma eine herausgehobene
Stellung einnahm, Reserveoffizier war und ein makelloses Vorleben auf¬
zuweisen hatte.
Die körperliche Untersuchung bot nichts Besonderes, auf psychischem
Gebiete zeigte er eine Reihe von neurasthenischen Erscheinungen. Seine
Eltern sollen beide von jeher sehr nervös gewesen sein.
Bei ihm stellten sich nun von Zeit zu Zeit Angstzustände ein, im
Anschluß an dieselben tauchte die Empfindung auf, daß er vor 15- bis
20jährigen jungen Leuten exhibitionieren müßte. Er versuchte nach
Kräften sich gegen diesen Gedanken zu wehren, war bei vielen Ärzten
gewesen, um Heilung zu suchen, man hatte aber nichts erreicht.
Wenn der Zustand einsetzte, bekam er ein Angstgefühl und hatte
den lebhaften Drang zu exhibitionieren, und zwar nur vor jungen Men¬
schen. Er suchte diesen Drang zu unterdrücken, wurde den Gedanken
aber nicht los, die Angst nahm zu. Zittern trat auf. Wenn er sich dann
nicht aus der heiklen Situation rasch entfernte, konnte er dem Antrieb
nicht widerstehen. So war es mehrere Male passiert, daß er in der
Lehrlingsabteilung der Fabrik, in der er tätig war, vor den halbwüchsigen
Jungen exhibitioniert hatte. Gerichtliche Konsequenzen hatte die Sache
nicht, dagegen wollte ihn die Gesellschaft entlassen. Er kam zu mir
mit der Frage, ob durch Kastration eine Besserung zu erzielen sein würde.
1002
Die sexuellen Perversitäten.
Wer Homosexuelle in kleinerem oder größerem Kreise
unter sich öfters beobachtet hat, der weiß, daß sie gewisse
Eigentümlichkeiten in Haltung, Kleidung, Bewegungen und
Sprechweise erkennen lassen. Er weiß ferner, daß ein Teil von
ihnen ausgesprochen weibliche Angewohnheiten angenommen hat.
Einige tragen sogar die Kleidung des anderen Geschlechtes (z. B.
männliche Prostituierte in weiblicher Kleidung). Wer aus diesen
und den sonstigen Eigenschaften ohne weiteres den Schluß ziehen
wollte, daß es sich um Kranke handelt, die für ihre geschlechtliche
Betätigung nicht verantwortlich zu machen seien, geht viel zu
weit. Es gibt zweifellos Menschen, bei denen der perverse Ge¬
schlechtstrieb eine solche Macht besitzt, daß er die soziale Stellung
und Gesundheit des Individuums gefährdet, doch ist das nicht
häufig. Wenn z. B. ein Mann hungert und friert, tagelang obdach¬
los umherläuft und die Unbilden der Witterung nicht scheut, um
für wenige Minuten den Anblick eines halbwüchsigen Jungen, in
den er sich verliebt hat, zu genießen, wie ich das in einem Falle
beobachten konnte, und wenn diesen Mann weder Krankheit noch
Not davon abbrachte, dem Gegenstand seiner Liebe w'eiter nach¬
zustellen, so ist ein solches Verhalten wohl nicht anders zu er¬
klären, als durch die Übermacht des perversen Geschlechtstriebes,
und wenn es in einem derartigen Falle zu strafbaren Handlungen
kommt, so ist allerdings sorgfältig zu erwägen, ob man einen
solchen Unglücklichen überhaupt bestrafen darf. Das sind aber,
wie schon gesagt, seltene Ausnahmen. Für das Gros der Homo¬
sexuellen gilt die allgemeine Regel, daß sie strafrechtlich ver¬
antwortlich sind. Nur diejenigen, bei denen entweder die Un-
bezähmbarkeit des Triebes oder eine psychische Krankheit ein¬
wandsfrei nachgewiesen sind, haben Anspruch auf den Schutz des
§51 Str.G.B. Überall da, wo die Unbezähmbarkeit des Triebes
aber unzweideutig hervortritt, sind wohl stets auch noch andere
psychische Abweichungen von der Norm zu erkennen, so daß sich
auch da das Gutachten nicht auf ein einzelnes Symptom aufzu¬
bauen braucht.
Ein Beispiel, das die Schwierigkeiten der Begutachtung deut¬
lich zeigt, ist das folgende;
J. H., Kaufmannsfrau, geb. 2. März 1883. Anklage wegen Kuppelei;
perverser Sexualtrieb, Bestrafung.
Großvater und Vater waren Trinker. Der Vater besaß eine obskure
Kneipe mit Damenbedienung. Er war ein heftiger und jähzorniger Mensch
Die sexuellen Perversitäten.
1003
und mißhandelte seine Familie häufig. Von den Geschwistern der Patientin
zeigte ein Bruder einen auffallend starken Qeschlechtstrieb. Eine
Schwester hat unehelich geboren.
Die Patientin selbst litt als Kind viel an Krämpfen und Schmerzen
aller Art. Häufig fiel sie durch jähen Stimmungswechsel auf, war leicht
zu Wutanfällen und heftigen Wutausbrüchen zu reizen. Ihr Geschlechts¬
leben regte sich auffallend früh und mit ungewöhnlicher Stärke. Mit
8 Jahren war sie unzüchtigen Berührungen seitens ihres Klavierlehrers
ausgesetzt. Ein Jahr später begann sie geschlechtliche Handlungen mit
Knaben und Mädchen vorzunehmen, welche sie in den Keller und Boden
des elterlichen Hauses lockte. Bei diesen geschlechtlichen Akten zog sie
Mädchen den Knaben vor. Mit 14 Jahren wurde sie vergewaltigt und
begann nun ein zügelloses Geschlechtsleben. Mit 16 Jahren gebar sie
unehelich ihr erstes Kind. Neben regulären Verhältnissen unterhielt sie
dauernd Verkehr mit Geschlechts- und Altersgenossinnen, der allein ihr
Befriedigung gewährte, die sie bei den Geschlechtsakten mit Männern
nicht empfand.
Sie wurde dann Artistin und zwar Kunstradfahrerin. Mit 18 Jahren
lernte sie ihren jetzigen Ehemann auf einer Kunstreise kennen, wurde
von ihm schwanger, wenige Wochen vor der Niederkunft heiratete er sie.
In der Ehe genügte ihr der normale Koitus nicht. Es traten viel¬
mehr bei ihr sehr bald masochistische Neigungen neben der Homo¬
sexualität hinzu. Sie ließ sich von dem Mann während des Aktes beißen,
kneifen, kratzen, schlagen und stechen. Er mußte sie in der gemeinsten
Weise beschimpfen, ins Gesicht speien, in den Mund urinieren, wobei
sie besonders wollüstige Gefühle empfand. Wenn er ihren Wünschen
nach dieser Richtung hin nicht entsprach, reagierte sie mit Wutanfällen.
Gleichzeitig blieb ihre Vorliebe für junge, wohlgestaltete Mädchen
mit üppigen Figuren und schwellenden Formen bestehen. Wo sie solche
ausfindig machen konnte, lag sie ihnen als anbetende Sklavin zu Füßen
und buhlte um ihre Gunst mit Schmerzen und Qualen. Mit der Amme des
eigenen Kindes trieb sie mutuelle Onanie.
Da sie zu sexueller Betätigung mit Mädchen zu wenig Gelegenheit
fand, beschloß sie schließlich in ihrer eigenen Wohnung mit Hilfe ihres
Mannes neue Orgien zu inszenieren.
Zu diesem Zwecke begann sie folgendes:
Sie mietete besonders jugendliche Dienstmädchen (im Alter von
16—18 Jahren). Wenn das neue Mädchen erschien, teilte sie ihm mit,
es müßte sich erst ordentlich baden. Dies geschah für gewöhnlich an
einem der ersten Abende. Wenn das Mädchen im Wasser saß, erschien
sie selbst und erklärte, sie wolle es abreiben. Dazu entkleidete sie sich
auch vollständig. Während sie hiermit beschäftigt war, erschien
meistenteils auf vorherige Verabredung der Mann nur in einen alten
Militärmantel gehüllt und sie erklärte dann dem Mädchen, der Mann
würde das Abreiben fortsetzen. Wenn sich die Mädchen hierzu bereit
fanden, dann wurden sie am Ende der Prozedur aufgefordert, dem Ehe¬
paar in das Schlafzimmer zu folgen, wo die Frau von ihnen ver¬
langte, daß sie sich von dem Manne in ihrer Gegenwart gebrauchen
1004
Die sexuellen Perversitäten.
lassen sollten. Einmal ließ sich hierzu ein Mädchen freiwillig herbei, in
den anderen Fällen sträubten sich die Mädchen. Das Ehepaar versuchte
dann, sie durch Alkohol gefügig zu machen. Es wurde Grog aus Bier¬
gläsern getrunken. Wenn die Opfer betrunken waren, mußte der Mann
in Gegenwart der Frau den Koitus vollziehen, sie selbst empfand dabei
auch geschlechtliche Befriedigung.
Zur Anzeige kam die ganze Sache dadurch, daß der Mann eines der
Dienstmädchen, das sich nicht willfährig zeigte, durchprügelte. Die An¬
klage gegen den Mann lautete auf Körperverletzung und gegen die Frau
auf Kuppelei.
Im ganzen wurden fünf Sachverständige vernommen, von denen
sich vier dahin aussprachen, daß die Angeklagte eine schwer psycho¬
pathische Person sei, deren ganzer Lebensgang schon dafür spräche, daß
sic geistig minderwertig sei. In bezug auf sexuelle Dinge sei sie von
einem so lebhaften und ununterdrückbaren Triebe beseelt, daß ihr die
Vergünstigung des § 51 zuteil werden müsse. Ein weiterer Sachver¬
ständiger sprach sich gegen diese Anschauung aus. Er führte aus, daß
die Angeklagte sich nicht hätte strafbar zu machen brauchen, denn sie
hätte sich durch Masturbation oder durch den Anblick des Geschlechts¬
verkehrs anderer auch in der Weise befriedigen können, daß sie gegen
den Kuppeleiparagraphen nicht verstoßen hätte.
Ich selbst habe diesen Fall nicht untersucht. Er ist mir nur
aktenmäßig bekannt. Ich glaube aber, daß der letzte Sachver¬
ständige den Fall insofern verkannt hat, als man von einem
psychopathischen Individuum, das so schwer degeneriert ist, wie
jene Patientin nach den ausführlichen Gutachten verschiedener
Sachverständiger es war, kaum verlangen kann, daß sie, sobald
einmal die Begierde bei ihr auftaucht, erst lange Überlegungen
anstellt, wie sie die Paragraphen des geltenden Rechtes umgeht,
um nicht bestraft zu werden. Ich glaube, daß begründete Zweifel
an ihrer Zurechnungsfähigkeit doch wohl bestanden. Wenn der
fünfte Sachverständige auch auf die Tatsache hinwies, daß sie im
Gefängnis durch homosexuelle Neigungen nicht aufgefallen ist,
so beweist das nicht sehr viel, denn derartige Neigungen können
auch so diskret betätigt werden, daß sie sich der Beobachtung
gelegentlich wohl entziehen.
Zu erwähnen ist bei dem Kapitel Homose.xualität^) noch eins.
Es gibt Menschen, die unter gewöhnlichen Umständen in ge-
*) Literatur über Homosexualität und die übrigen Perversitäten:
Goering, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1913, S. 649 (Literatur!)
und In.-Diss. Bonn 1908. Seiffer, Arch. f. Psych., Bd. 31, S. 405. Mönke-
möller, Exhibitionismus forens. Arch f. Kriminalanthrop., Bd. 53. Alz¬
heimer, Arch. f. Psych., Bd. 28. WTilffen, Sexualverbrecher. Berlin.
Die sexuellen Perversitäten.
1005
schlechtlicher Beziehung nicht auffallen, bei denen dagegen nach
mehr oder minder reichlichem Alkoholgenuß Bewußtseins¬
trübungen auftreten, in denen sie gleichgeschlechtliche Handlungen
begehen. Hier handelt es sich um eine larvierte Form der Homo¬
sexualität, deren forensische Beurteilung bei Berücksichtigung der
Bewußtseinstrübung nicht schwer ist. (Näheres s. unter Alkohol¬
psychosen.) —
Es hat in den letzten Jahren eine lebhafte Agitation ein¬
gesetzt, welche darauf abzielt, den § 175 Str.G.B. zu beseitigen.
Die Diskussion ist von beiden Seiten mit großer Leidenschaft
geführt worden, nicht zum wenigsten wohl deshalb, weil das Tun
und Treiben der Homosexuellen in der Form, wie es an die
Öffentlichkeit tritt, dem normalen Durchschnittsmenschen sehr
Langenscheidt. Aschaffenburg, Sittlichkeitsverbrechen. Monatsschr. f.
Kriminalpsychol., Bd. 2, S. 399. Bartolomäus, Sittlichkeitsstraftaten.
Zeitschr. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft, Bd. 25. Boas, Sexuelle Per¬
versität. Arch f. Kriminalanthrop., Bd. 29. Bonhoeffer, Sittlichkeits¬
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Buchholz, Haarfetischist. Ärztl. Sachverst.-Zeitg., Bd. 14. Hoche, Neurol.
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1911. Foersterling, Stehltrieb und sexuelle Abnormität. Allg. Zeitschr. f.
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1890. Ilberg, Lustmord und Lustmörder. Monatsschr. f. Kriminalpsychol.,
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Naecke, Lustmord. Arch. f. Kriminalanthrop., Bd. 17. Derselbe, Zopf-
abschneiden. Ebenda, Bd. 23. Paffrath, Mädchenstecher. Ärztl. Sach¬
verst.-Zeitg. 1903. Rheinisch, Leichenschändung. Arch. f. Kriminal¬
anthrop., Bd. 15. Seiffer, Exhibitionismus. Arch. f. Psych., Bd. 31.
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rung. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., Bd. 25 u. 26. Sioli, Allg. Zeitschr.
f. Psych., Bd. 50. StraBmann, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., Bd. 10,
S. 80. Thomsen, Exhibitionismus. Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 53. S. 650.
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Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med., Bd. 36. Pelman, Psychische Grenz¬
zustände. Bonn 1912. F. Gohen.
ioo6 Die sexuellen Perversitäten.
zuwider ist. Meine persönliche Ansicht über die Frage geht
dahin, daß die Wirkung der Abschaffung des § 175 überschätzt
wird. Ich glaube nicht, daß die Freigabe des gleichgeschlechtlichen
Verkehrs die Geburtenziffer oder die öffentliche Sittlichkeit in
Deutschland erheblich beeinflussen würde. Da, wo das Auftreten
der Urninge in der Öffentlichkeit zu Unzuträglichkeiten führt,
haben wir im geltenden Rechte bereits genügend Möglichkeiten,
Abhilfe zu schaffen. Andererseits hat das Bestehen des § 175
außerordentlich ungünstige Folgen gehabt, unter denen das Er-
pressertum an erster Stelle zu nennen ist.
Der neue Vorentwurf zu einem Strafgesetzbuch hat Straf¬
bestimmungen für die widernatürliche Unzucht nicht nur der
Männer, sondern auch des weiblichen Geschlechtes vorgesehen.
Die letzteren halte ich für vollkommen verfehlt. Sie ist übrigens
von der Kommission auch bereits wieder gestrichen worden.
Daß im künftigen Recht die homosexuelle Prostitution ebenso
wie die heterosexuelle unter Strafe gestellt werden soll, halte ich
für richtig*), wenngleich man sich auch da nicht wird verhehlen
dürfen, daß diese Strafen an den tatsächlichen Verhältnissen nicht
das geringste ändern werden und damit das neue Strafgesetzbuch
eine Bestimmung enthält, deren praktische Durchführung so gut
wie unmöglich ist. —
Der Sadismus ist dadurch gekennzeichnet, daß der Ge¬
schlechtsakt zum Zwecke der Erregung oder Steigerung des
Wollustgefühls mit körperlichen und psychischen Mißhandlungai
des Partners verbunden wird, oder daß nur die letzteren zur ge¬
schlechtlichen Befriedigung ausgeführt zu werden brauchen, ohne
daß es des Geschlechtsaktes selbst noch bedarf. Die Wollust emp¬
findet der Mißhandelnde.
Die extremsten Arten der Ausführung sind der Lustmord
und die Leichenschändung. Häufiger kommt es zu Messerstichen
in den Unterleib (Mädchenstecher) oder Verletzungen der äußeren
Geschlechtsteile. Diese Formen bringen den Täter stets vor den
Strafrichter. Seltener geschieht das bei Anwendung der Rute, des
Halsbandes, Maulkorbes, der Fessel, Peitsche und der übrigen be¬
kannten Requisiten, die man in jedem Kriminalmuseum sehen kann.
Der Sadismus kann sich mit Homosexualität verbinden. —
) Sofern man F*rostitution überhaupt strafen will.
Die sexuellen Perversitäten.
1007
Das Gegenteil vom Sadismus ist der Masochismus.
Hierbei wird die geschlechtliche Befriedigung erzielt oder erhöht
durch das Ertragen von Schmerzen und Beschimpfungen. In
den schwereren Fällen bedarf es des Geschlechtsaktes nicht mehr.
Die Zufügung des körperlichen oder seelischen Schmerzes genügt.
In Ermangelung geeigneter Partner greifen manche Masochisten
(z. B. Frauen, die sich niemandem dekouvrieren können) zur Rute
und prügeln sich selbst.
Ausdrücklich betont sei, daß auch diese beiden Abirrungen
von der normalen Geschlechtsbetätigung ihren Ursprung von Emp¬
findungen nehmen, die bei gesunden Menschen Vorkommen. Am
bekanntesten sind wohl die angenehmen Nachempfindungen nach
Schmerzreizen. Innerhalb der Grenzen des Normalen liegt ferner
wohl auch das Gefühl erhöhter Befriedigung, welches manche
Männer empfinden, wenn sie ein Weib, das sich ihnen hingibt,
durch den Koitus in einen solchen Zustand von Erregung ver¬
setzen, daß es völlig wehrlos ist.
Die typischen Sadisten und Masochisten haben psychologisch
eine ganze Reihe charakteristischer Züge. Bei den ersteren ist es
die Energie und Neigung zur Skrupellosigkeit und Grausamkeit,
welche auch sonst im Leben ihr Auftreten und Handeln beein¬
flußt. Die Masochisten wiederum sind größtenteils niedrige,
weichliche, kriecherische, dabei oft perfide und rachsüchtige
Naturen, die auch im Leben Verachtung und Zurechtweisung sehr
gern hinnehmen, ja sogar provozieren, wenn bei ihnen dadurch
geschlechtliche Regungen ausgelöst werden.
Die weiblichen Masochistinnen, welche ich untersuchen
konnte, boten auch sonst viele Zeichen von Degeneration. In der
Mehrzahl hatten sie gleichzeitig einen pathologisch gesteigerten
Geschlechtstrieb und waren derartig leicht erregbar, daß häufig
schon eine Zurechtweisung oder ein hartes Wort genügte, einen
Orgasmus auszulösen.
Eine schwangere Sadistin, welche ich zufällig im Leben be¬
obachten konnte, berichtete mir, daß sich ihre Neigung zu Mi߬
handlungen anderer Menschen während der Gravidität merklich
gesteigert habe. In der Tat prügelte sie ihre Kinder und Dienst¬
mädchen von Morgens bis Abends. Sie war bereits einmal wegen
grausamer Mißhandlung eines ihrer Kinder gerichtlich bestraft.
In einem Teile jener Aufsehen erregenden Fälle, in denen
Frauen grobe Mißhandlungen ihrer eigenen Kinder vornehmen.
lOc8 Die sexuellen Perversitäten.
sind, wie ich glaube, sadistische Neigungen die Ursache. Immer
ist das aber wohl nicht der Fall.
Was die forensische Bedeutung der beiden eben be¬
sprochenen Perversitäten anlangt, so ist der Sadist strafrechtlich
mehr gefährdet als der Masochist. Daß Leichenschändungen,
Körperverletzungen und Beleidigungen, die bei sadistischen Akten
Vorkommen, gerichtlich bestraft werden, ist selbstverständlich.
Ich kenne Urteile, in denen auf Strafe wegen Freiheitsberaubung
erkannt werden mußte, weil der Sadist seine Opfer in besondere
Räume lockte und dort festhielt. In einem Falle gründete ein
homosexueller Sadist Schiffsjungenschulen und andere gemein¬
nützige Institute in verschiedenen Städten Deutschlands, unter¬
suchte die Eintretenden selbst auf ihre körperliche Tauglichkeit,
ließ sie exerzieren, arbeitete ein Statut aus, welches für zahlreiche
Verfehlungen körperliche Strafen festsetzte, und nahm die E.xe-
kution der letzteren selbst vor. Bei ihm’ war der Trieb so stark,
daß er trotz zahlreicher gerichtlicher Bestrafungen immer wieder
neue Versuche unternahm.
Der Masochist ist strafrechtlich weniger gefährdet. Er
duldet ja nur Unrecht. Immerhin hat aber auch er neuerdings
gelegentlich vor Gericht gestanden, und zwar aus folgendem
Grunde:
Es ist eine bekannte Tatsache, daß in den Großstädten das
Bestreben der Perversen dahin geht, sich zusammenzufinden. Die
Homosexuellen — auch die Frauen — haben das längst in Form
von Klubs, literarischen Kränzchen usw. getan. Bei den Sadisten
und Masochisten geschieht es viel in der Weise, daß einer den
ergänzenden Partner durch die Zeitung etwa in der Form einer
Heirats- oder Unterrichtsannonce, die dann eine in diesen Kreisen
bekannte Bezeichnung („Herrin“, „sehr energische Erzieherin“,
„Brunhildenerscheinung“, Offerte unter „Ruth“ usw.) enthält.
Neuerdings sind Inserent und verantwortlicher Redakteur gemäß
§ 184,4 St.G.B. bestraft worden^).
Daß diese Verhältnisse von Sadisten mit einer Masochistin
oder umgekehrt mitunter auch noch indirekte strafrechtliche Kon-
') § 184,4 lautet: Mit Gefängnis bis zu einem Jahre und mit Geld¬
strafe bis zu eintausend Mark oder mit einer dieser Strafen wird bestraft,
wer 4. öffentliche Ankündigungen erläßt, welche dazu bestimmt sind, un¬
züchtigen Verkehr herbeizuführen.
Die sexuellen Perversitäten.
1009
Sequenzen haben können, indem die „Hörigkeit“ des einen Teiles
vorn anderen dazu benutzt wird, jenen zu strafbaren Handlungen
zu verleiten, beweisen die Erfahrungen der letzten Jahre’). —
Auch der nunmehr zu besprechende Fetischismus hat
seine Wurzeln in normalen Erscheinungen des Geschlechtslebens.
Es kommt nicht selten vor, daß der Gegenstand des sexuellen Be¬
gehrens vorwiegend wegen bestimmter körperlicher oder geistiger
Eigenschaften (Körperform, Haarfarbe usw.) seinen übrigen Ge¬
schlechtsgenossen vorgezogen wird. Beim Fetischisten werden
diese Besonderheiten mehr und mehr zur Hauptsache. Er geht
sogar einen Schritt weiter. Sein Interesse wird nicht mehr durch
die Person absorbiert, sondern durch bestimmte Kleidungs¬
stücke, Zöpfe und ähnliches. Mit diesen Gegenständen verbinden
sich erotische Empfindungen für ihn, die sich bis zum Samenerguß
steigern können. Oft wird die Onanie zur Erzielung dieses End¬
resultates zu Hilfe genommen. So kommt es zum Zopfabschnei-
den, zu Diebstählen weiblicher Kleidungsstücke, hier und da auch
einmal zu Beleidigungen, wenn der Fetischist sieht, daß die von
ihm geliebten Kleidungsstücke von anderen nicht sorgfältig be¬
handelt werden. Nicht selten haben die Fetischisten ganze Samm¬
lungen, die hundert und mehr Exemplare des begehrten Kleidungs-
siückes (Schürzen, Schuhe, Unterkleider usw.) enthalten.
Bei der forensischen Beurteilung sind die gleichen Gesichts¬
punkte anzuwenden, wie bei den übrigen Perversitäten-). —
Als Kombinationen von Sadismus und Fetischismus fasse ich
die Tinten- und Säurespritzer auf, sowie die Fälle, in denen die
Kleider den Frauen auf der Straße mit Messern oder Scheeren
zerschnitten werden. —
Es gibt noch eine, vorwiegend bei Frauen vorkommende,
seltene geschlechtliche Perversität, die darin besteht, daß nach
Eintritt eines ängstlichen Spannungs- und Verstimmungszustandes
die Betreffende eine ganze Serie von Diebstählen begeht, die dann
ebenso plötzlich abschließt, wenn der Zweck, die Erzielung des
Wollustgefühles, erreicht ist. Danach tritt ein Gefühl der Er¬
leichterung ein. Die Art der gestohlenen Gegenstände ist gleich-
’) Besonders genau ist der Fall auch von E. Meyer und Puppe in der
Vierteljalirsschr. f. gerichtl. Med. 1Q12 veröffentlicht.
-) Der Fetischismus ist auch als Entlastungsmittel bei gewöhnlichen
Diebstählen benutzt worden (vergl. Arch. f. Psych., Bd. 28).
Hübner, Forensische Psychitttrie. 04
lOIO
Die sexuellen Perversitäten.
gültig, es kommt deshalb vor, daß die heterogensten Dinge aus
mehreren nebeneinander gelegenen Läden gestohlen werden. —
Als Sodomie liezeichnet man die Unzucht mit Tieren. Sie
wird auf dem Lande gelegentlich als Ersatz für den Umgang mit
Frauen geübt. Nymphomanische Weiber, die eine Infektion oder
Gravidität fürchten, halten sich zur geschlechtlichen Befriedigung
bisweilen Hunde.
Wo die Täter Geisteskranke sind, handelt es sich um Alko-
holisten, Paralytiker, Altersschwachsinnige und Epileptiker. —
Kommen die vorstehend geschilderten Abnormitäten selten
vor den Strafrichter, so geschieht das häufiger bei einer anderen
Störung, nämlich dem Exhibitionismus’). Man versteht
darunter das unerlaubte Entblößen der Geschlechtsteile vor an¬
deren, insbesondere vor Vertretern des anderen Geschlechtes, ohne
Rücksicht auf die Lhngebung. Der mehr oder minder deutlich
hervortretende Zweck der Handlung besteht darin, bei sich oder
dem anderen Teil geschlechtliche Erregungen zu erwecken. Häufig
wird sie von Epileptikern im Dämmerzustand, bisweilen aber
auch außerhalb eines solchen begangen, ferner habe ich sie bei
Altersschwachsinnigen, Paralytikern, Imbezillen, .A.lkoholisten,
einmal auch in der Vorlesung bei einem Katatoniker beobachten
können. Sonst kommt sie bei alten Onanisten vor, in seltenen
Fällen bei geschlechtlich unerfahrenen Halbwüchsigen. In einem
Teil der Beobachtungen wird Masturbation damit verbunden.
Die Art der Ausführung ist fast stets die gleiche. Er¬
wähnenswert ist, daß einzelne Exhibitionisten sich bereits zweck¬
entsprechend kostümieren. Sie lassen die Gegend der Geschlechts¬
teile unbekleidet, ziehen aber einen langen Mantel an, den sie im
geeigneten Moment öffnen. —
Bei der strafrechtlichen Behandlung ist die Hauptregel, daß
jeder Exhibitionist psychiatrisch untersucht werden sollte. Diese
Forderung ist gerechtfertigt durch die engen Beziehungen der Er¬
scheinung zur Epilepsie und zum Alkoholismus. Ist Geistes¬
krankheit oder abnorme Stärke des Triebes zu erweisen, dann sind
') Das Entblößen des Gesäßes, selbst wenn es in wollüstiger Absicht
geschieht, ist kein Exhibitionieren im Sinne des § 183, wenn durch diese
Handlung das Gefühl für Anstand und Sitte in geschlechtlicher
Beziehung nicht verletzt ist. Urteil vom 27. November 1908 (840/08). Jur.
Wochenschr. 1909, 294/23.
Die sexuellen Perversitäten,
lOI I
die Voraussetzungen des § 51 St.G.B. gegeben. Besonders wichtig
ist die Berücksichtigung etwa voranfgegangenen Alkoholgenusses,
weil dadurch die Widerstandskraft herabgesetzt, die Sinnlichkeit
gesteigert gewesen sein kann.
Die Bestrafung der Exhibitionisten erfolgt nach § 183.
W^er durch eine unzüchtige Handlung öffent¬
lich ein Ärgernis gibt, wird mit Gefängnis bis zu
zwei Jahren oder mit Geldstrafe bis zu fünf¬
hundert Mark bestraft. —
Neben der strafrechtlichen Bedeutung, welche die sexuellen
Perversitäten haben, sind sie auch noch nach einer anderen Rich¬
tung von W^ichtigkeit.
Es ist selbstverständlich, daß auch das Eheleben der sexuell
Perversen durch ihre von der Norm abweichenden Neigungen be¬
einflußt werden muß. Wie ich schon in den Kapiteln Anfechtung
und Scheidung der Ehe erwähnt habe, empfindet der Homosexuelle
einen Degout gegen Frauen. Der Sadist und Masochist findet bei
der unberührten und normal empfindenden Frau kaum jemals
Verständnis für seine Praktiken. Nicht allein die Art, wie er
geschlechtliche Befriedigung sucht, ist eine andere, sondern auch
seine ganze Auffassung der Beziehungen zwischen Mann und
Weib. Der Sadist will herrschen und sein Weib knechten, der
Masochist Sklave sein, selbst dienen und gestraft werden. Wenn
der andere Partner sich in die ihm zugedachte Rolle nicht hinein¬
finden kann — und das wird häufig der Fall sein — dann leidet
gerade das „spezifisch Eheliche“, es kann keine Gemeinschaft ent¬
stehen, es muß zu einer stetig zunehmenden inneren Entfremdung
kommen. Beide Teile hegen infolgedessen bald den WTmsch nach
Trennung der Ehe.
Ein Beispiel dieser Art sei hinzugefügt:
A. K., geh. 31. Juli 1881. Kaufmann. Anfechtung der Ehe wegen
Psychopathie und Homosexualität, Antrag auf Ehescheidung. Lebenslauf:
Patient ist Sohn eines Oroßkaufmannes. Der Vater ist ein stiller, ver¬
ständiger, arbeitsamer Mann. Die Mutter soll phantastisch veranlagt
gewesen sein, den Patienten mit übertriebener Liebe behandelt haben.
In der ersten Kindheit zeigte er selbst eine ausgesprochene Vorliebe für
phantastische Beschreibungen aus Märchen usw. „Er erlebte damals
diese Geschichten selbst mit.“ Schon mit 6 Jahren bekundete er große
Vorliebe fürs Theaterspielen. Er verkleidete sich oft, besonders gern als
Mädchen mit schleppenden Gewändern. Große Vorliebe hatte er für
„tieftraurige Geschichten“.
64
1012 Die sexuellen Perversitäten.
In der Schule wegen leichter Ablenkbarkeit schlechte Resultate.
Er empfand die Schule nur als Zwang, lernte dabei aber sehr gut, solange
er in den unteren Klassen war. Als die schwierigeren Fächer begannen,
wurde er einer der Schlechtesten. Mathematik fiel ihm besonders
schwer. Die Sprachen lernte er leicht. Er erreichte mit Mühe das ein¬
jährige Zeugnis. Ihm selbst ist seine Willenlosigkeit, die Neigung zum
Abenteuerlichen, die „Sehnsucht nach der weiten Welt“, die Neigung zu
phantastischen Träumereien und die Unfähigkeit zu positiver Arbeit von
jeher aufgefallen. Dazu kam ein angeborener Hang zum Schönen und
Eleganten. Er verlangte für sich immer das beste, das geschmackvollste,
legte äußeren Dingen eine ungeheure Wichtigkeit bei, beschäftigte sich
viel mit Toilettefragen usw.
Nach der Schulentlassung wollte er Schauspieler werden. Der Vater
gestattete dies jedoch nicht, sondern tat ihn in eine kaufmännische Lehre.
Schon jetzt begann er sich intensiv am Qesellschaftsleben zu beteiligen,
suchte mit allen Mitteln zu glänzen, wollte in der Gesellschaft auffallen.
Dem Weibe gegenüber scheu, nur einmal brachte er es zu einem wirk¬
lichen „Verhältnis“. In diesem Falle hatte die Frau die Initiative er¬
griffen. Kaum war aus äußeren Gründen eine räumliche Trennung
zwischen ihm und seiner Geliebten erfolgt, vergaß er sie auch. Als sie
ihm dann schrieb, sie fühle sich Mutter von ihm, wurde sie ihm eklig.
Eines Tages kam er durch Zufall in eine Gesellschaft von Homo¬
sexuellen, denen er sich binnen kurzem ganz anschloB. Unter ihnen befand
sich ein Herr, in den er sich sofort verliebte. Seine schwärmerische
Zuneigung zu diesem äußerte sich in mädchenhafter Weise. Er schmückte
sich für jenen, suchte ihm auf alle Weise zu gefallen, war unglücklich,
wenn er mit anderen Herren sprach; es kam zu Umarmungen und
Küssen. Patient machte seinem Geliebten auch Eifersuchtsszenen und
war unglücklich, wenn der ihn nicht beachtete, freute sich über jedes
anerkennende Wort, das ihm sein Geliebter zuteil werden ließ.
Während diese Bekanntschaft noch in den Anfangsstadien war,
lernte Patient seine jetzige Frau kennen. Da die äußeren Verhältnisse
beider Familien günstige waren und wohl von beiden Eltern eine Ver¬
heiratung gewünscht wurde, hielt Patient um die Hand der Dame an,
wurde von ihr zunächst aber zurückgewiesen. Inzwischen steigerten sich
seine homosexuellen Neigungen mehr und mehr. Schließlich kam nach
einigen Monaten die Dame noch einmal auf das Projekt zurück. Da
Patient sich inzwischen Sorgen gemacht hafte, daß er wegen seiner
homosexuellen Neigungen Unannehmlichkeiten haben würde, beschloß er,
sich durch eine Heirat zu retten.
Schon auf der Hochzeitsreise erkannte er jedoch, daß ihm Frauen
zuwider waren. Es kam zwar zu gelegentlichem sexuellen Verkehr, doch
mußte Patient sich dazu zwingen. Es war ihm auch nicht möglich, seiner
Frau freundlich und liebevoll entgegenzukommen. Als dieselbe schließlich
noch gravid wurde, empfand er einen ausgesprochenen Ekel gegen sie.
Insbesondere stieß er sich daran, daß sie ihre elegante Figur verloren
hatte und daß sie von ihm nun ein Kind bekommen würde. Infolgedessen
mißhandelte er sie einige Male körperlich, beschimpfte sie häufig mit
Die sexuellen {Perversitäten.
1013
rohen Worten und machte ihr insbesondere über die eingetretene
Schwangerschaft heftige Vorwürfe. Cr äußerte z. B., er verfluche den
Tag, an dem das Kind Vater zu ihm sagen würde, er wolle keine Familie
haben, er wolle auch keine Pflichten übernehmen, er wolle sich von
seiner Frau scheiden lassen usw.
Weder vor der Verheiratung noch nachher vermochte er jemals
einen ernstlichen Beruf auszuüben. Es wurden zwar verschiedene Ver¬
suche mit ihm gemacht. Er wurde zunächst in mehreren Geschäften
untergebracht, später trat er in das Geschäft des Vaters als Teilhaber
ein, nirgends arbeitete er ernstlich. Er konnte sich nicht unterordnen
und positive Arbeit zu leisten war ihm unmöglich. Im wesentlichen be¬
schäftigte er sich mit Romanlesen, Reiten, Spazierengehen, Sport und
ähnlichen Dingen. Ab und zu ging er auch, und zwar größtenteils auf
Kosten seiner Frau, auf Reisen. Zu einer ernsten Beschäftigung war er
weder durch Bitten, noch durch Drohungen zu bringen.
Während der Beobachtung in der Klinik fand sich auf körperlichem
Gebiete nichts wesentliches, in psychischer Beziehung entsprach das
Verhalten dem, was man nach der vorstehenden Anamnese erwarten
konnte. Patient verwendete einen großen Teil des Tages auf seine
Toilette. Wenn man mit ihm sprach, erzählte er mit müder Stimme und
in gelangweiltem Ton, daß er sich nun einmal zu einer Arbeit nicht
zwingen könnte, in dieser Beziehung hätten seine Verwandten ganz recht,
er wäre eben nicht zum Arbeiten da. Sein Sinn für Schönheit, seine
Neigung zum Posieren, seine Unbeständigkeit, seine Blasiertheit ge¬
statteten ihm weder zu arbeiten, noch Freundschaften zu besitzen, noch
auf andere Rücksicht zu nehmen, für ihn existiere nur sein liebes Ich.
Alles andere sei ihm gleichgültig. Dabei zeigte er sich für alles Neue,
was er kennen lernte, leicht entflammt. Als er kam, schwärmte er für
Psychoanalyse. Nachdem er in B. einige Studenten der Philosophie
kennen gelernt hatte, beschloß er sofort, sich der Philosophie zu widmen.
Schon sechs Wochen später hatte er seine Absicht dahin geändert, fried¬
lich sich aufs Land zurückzuziehen und dort zu arbeiten. Wie wir nach-
tiäglich feststellen konnten, hat er diese Absicht ebensowenig aus¬
geführt. wie alle früheren. Unbeständigkeit, Schwanken in seinem
Urteil, ein übertriebenes Hängen an Äußerlichkeiten, Neigung zum
Posieren, die Fähigkeit, in oberflächlicher Weise über alle möglichen
Dinge zu sprechen, ohne dabei ein wirklich ausreichendes positives
Wissen über diese Dinge zu besitzen, eine gewisse formale Gewandheit,
das waren die hauptsächlichsten Eigenschaften, welche hier festgestellt
worden sind. Seine homosexuellen Neigungen betätigte er hier nicht,
gab aber zu, nur gleichgeschlechtlich zu empfinden.
Gutachten: Zunächst ist festzsustellen, ob Herr K- überhaupt psycho¬
pathisch veranlagt ist und welche Symptome bei ihm bestehen. Hierbei
ist folgendes zu berücksichtigen.
Schon als Kind hat Patient an sich einen ausgesprochenen Hang
zum Abenteuerlichen, Sensationellen und Grausigen beobachtet. Er be¬
friedigte denselben sowohl durch Märchenbücher wie auch durch die
Hintertreppenerzählungen der Dienstboten. Die zweite Eigenschaft,
1014
Die sexuellen Perversitäten.
welche gleichfalls sehr früh bei ihm hervortrat, war die Sucht zu
posieren. Mit ihr verband sich die Neigung zum Luxus.
Es befriedigte ihn in hohem Maße, wenn er sich in dramatischen
Rollen, angetan mit schönen Kleidern, auf dem Theater sehen konnte,
wenn er im Mittelpunkt des Interesses stand. An alledem hing sein Herz
so sehr, daß er darüber verabsäumte, den nüchternen Forderungen des
Alltags gerecht zu werden. Er vernachlässigte die Schule.
Es war unter diesen Umständen kein Wunder, daß er den Wunsch
äußerte, Schauspieler zu werden. Daß ihn hierzu aber nicht etwa ein
unwiderstehlicher Drang trieb, sondern nur die Freude am Schein, be¬
weist am besten die Tatsache, daß er diese Zukunftspläne, ohne nennens¬
werten Widerstand zu leisten, aufgab, als die Eltern ihn zum Kaufmann
bestimmten. In der Schule hatte er es nur bis zur Sekunda gebracht,
wie er selbst berichtet, deshalb, weil er sofort versagte, als ernstliche
Arbeit und klares Denken (z. B. Mathematik) von ihm verlangt wurden.
Sein Beruf hat ihm nie Freude gemacht, weil er, um etwas zu er¬
reichen, arbeiten und nachdenken mußte. So fühlte er sich darin auch
nur glücklich, wenn er auf Reisen war, Abwechselung hatte. Der Ge¬
danke, daß jeder Mensch die Pflicht hat, sich selbst zu ernähren, ist ihm
anscheinend noch nie gekommen.
Als er etwas älter wurde, erklärte er — das war vor etwa
2 Jahren — er eigne sich zum Kaufmann nicht, man habe einen Fehler
gemacht, ihm diesen Beruf aufzuzwingen, er tat aber nicht das geringste,
um jenen Fehler gutzumachen und zu einer anderen selbständigen Stel¬
lung zu gelangen, verlangte im Gegenteil von seinen Verwandten, daß
sie sich um seine Person bemühten.
Wir kommen damit zu seinen Haupteigenschaften: einer maßlosen
Selbstüberhebung und einem ebenso großen Egoismus.
Weil ihm der kaufmännische Beruf nicht paßt, darum gibt er ihn
auf. Weil in der Ehe nicht alles so geht, wie er wünscht, darum sucht er
deren Lösung herbeizuführen und verachtet die ganze Institution. Weil
seine frühere Geliebte in andere Umstände kam, wurde sie ihm „un¬
bequem“ und er kümmerte sich um das Kind nicht, weil „ihm die ganze
Sache allmählich langweilig geworden war“.
Daran, daß auch in seiner Ehe sein Verhalten die jetzigen traurigen
Zustände heraufbeschworen hat, denkt er kaum iemals. Seinen Vater
nannte er schwach, wankelmütig und entschlußunfähig. Daß er selbst
aber seine Anschauungen über seine vitalsten Lebensinteressen fortwäh¬
rend wechselt, ist ihm niemals aufgefallen.
In neuester Zeit, nachdem sich durch eine günstige Heirat seine
pekuniäre Lage erheblich verbessert hatte, trat sein Hang zum Luxus
und die Sucht, zu brillieren, noch stärker hervor. In richtiger Selbst¬
erkenntnis sagt er, daß in ihm „etwas Kokottenhaftes“ stecke. Er hat
mit der Kokotte in der Tat das eine gemeinsam, daß beide mit allen
Mitteln, hauptsächlich aber durch Kleidung, die Blicke anderer auf sich
zu lenken bemüht sind. Nicht der innere Wert einer Persönlichkeit gilt
bei ihm, sondern nur seine äußere Hülle.
Die sexuellen Perversitäten.
1015
Eine weitere Eigenschaft, die stets an ihm hervortrat, ist seine
Wankelmütigkeit. Bald will er diesen Beruf ergreifen, bald jenen. Min¬
destens einmal wöchentlich hat er in letzter Zeit seinen Verwandten
andere Vorschläge bezüglich seiner Person gemacht.
Schließlich ist zur Vervollständigung des Charakterbildes noch zu
erwähnen, daß er eines Tages entdeckte, er sei geschlechtlich abnorm
veranlagt. Ob hierbei nicht der unheilvolle Einfluß eines guten Ereundes
mitgespielt hat, ließ sich nicht mit Sicherheit nachweisen. Tatsache
ist jedenfalls, wenn wir den Angaben des Patienten folgen, daß er, seit¬
dem ihm die Erkenntnis seiner „abnormen Veranlagung“ gekommen war,
die Ehe und den normalen Geschlechtsverkehr erheblich anders be¬
urteilte, sich selbst als Märtyrer fühlte und dafür seiner Frau die Ehe
zur Folter machte.
Fassen wir die vorstehenden Ausführungen zur Beantwortung der
ersten Frage zusammen, so ist zu sagen, daß K. zweifellos psychopathisch
veranlagt ist. Das hat sich erstens in seinem sozialen Verhalten
gezeigt.
Zweitens haben wir aber zum Beweise dafür, daß eine so¬
genannte „psychopathische Konstitution“ vorliegt, eine Reihe von krank¬
haften Symptomen. Ich nenne als solche den Hang zum Luxus, den
krassen Egoismus, die Selbstüberschätzung, die Wankelmütigkeit, die
Unklarheit des Denkens und die Urteilsschwäche bezüglich seiner eigenen
Angelegenheiten.
Alle diese Erscheinungen sind nicht erst in den letzten Jahren auf¬
getreten, sondern sie haben mehr oder minder deutlich schon von Jugend
auf bestanden. Wenn sie erst neuerdings stärker bemerkt worden sind,
so geschah das, weil sich durch seine Verheiratung der Kreis seiner
Pflichten gegen früher erheblich erweiterte. Während er bis zu dem
genannten Zeitpunkte wenigstens teilweise der väterlichen Autorität
unterstand, wurde er mit der Verehelichung selbständiger und von diesem
Augenblick an versagte er auch.
Wir kommen damit zu der weiteren Frage: Wie hat sich die psycho¬
pathische Veranlagung des K. im Eheleben bemerkbar gemacht, ins¬
besondere hat K. eine lebhafte Abneigung gegen seine Frau zu erkennen
gegeben?
Was den letzten Punkt anlangt, so geht aus seinen eigenen Angaben
hervor, daß er „unter keinen Umständen“ länger mit ihr Zusammenleben
will. Sie „paßten“, wie er sagt, nicht zueinander.
Während der Zeit, in der seine gleichgeschlechtlichen Neigungen ihn
mehr beschäftigten, hat er auch einen heftigen Ekel vor den Frauen im
allgemeinen empfunden.
Es kommt hinzu, daß ihm das „Getue“ mit dem Kind stets zuwider
war. Ferner sei an seine Äußerung erinnert: ,.Für Frau und Kind zu
arbeiten, sei ihm eklig“.
Er führte das auch weiter dahin aus, daß er nicht wüßte, wie er es
ertragen würde, wenn er jetzt nach X. zurück müßte.
Wenn er auch gelegentlich zugibt, an dem unglücklichen Verhältnis
ioi6 Unfallneurosen und Psychosen.
mit schuld zu sein, so ist er doch im letzten Grunde der Meinung, seine
Frau hätte sich ihm mehr anpassen müssen, als das geschehen ist. —
Wie merkwürdig er im übrigen das ganze eheliche Verhältnis auf¬
faßt, das geht schon allein aus den Worten hervor, mit denen er die noch
nicht Geschiedene einem ihm ganz fernstehenden Manne anpries.
Die Frage, welche Mitteilungen über das Geschlechtsleben des K.
vorliegen, ist folgendermaßen zu beantworten:
Er hat früher mit Frauen geschlechtlich verkehrt. Er hat in England
sogar eine Liaison gehabt, die nicht ohne Folgen geblieben sein soll. —
Erst später — nach gewissen Vermutungen seiner nächsten An¬
gehörigen, wohl unter dem Einfluß eines Freundes — haben sich dann
die gleichgeschlechtlichen Neigungen entwickelt.
Solche Handlungen, die im § 175 Str.G.B. unter Strafe gestellt sind,
hat er anscheinend nicht begangen, wie er auch von der männlichen
Prostitution mit einem gewissen Abscheu spricht.
Nach seinen eigenen Angaben fing er aber vor seiner Verlobung
ein gleichgeschlechtliches Freundschaftsverhältnis mit einem Herrn an.
Auch sein Bruder scheint hiervon später etwas gemerkt zu haben. Schon
auf der Hochzeitsreise hat er sich infolgedessen sehr unglücklich gefühlt
und während seiner Ehe hat er sich auch nur selten geschlechtlich be¬
tätigt. Bestimmend hierbei waren nicht allein die gleichgeschlechtlichen
Ideen, sondern auch der übertriebene Schönheitssinn. Das Physische des
sexuellen Verkehrs war ihm widerwärtig und es ist bezeichnend für ihn,
daß er angibt, seine Frau sei ihm während der Gravidität besonders zu¬
wider gewesen, weil sie ihre eleganten Formen verloren hatte. —
Zum Verständnis des vorstehenden .Auszuges aus dem er¬
statteten Gutachten sei folgendes hinzugefügt: Die sämtlichen
Verwandten des K. konnten sich sein X’erhalten niclit erklären.
Schließlich wurde der Hausarzt befragt, der eine Psychose an¬
nahm und die Untersuchung bei uns empfahl. Diese ergab das
oben kurz skizzierte Resultat. Die Frau war nun über die be¬
sonderen „Eigenschaften“ im Sinne des B.G.R., welche ihr Mann
besaß, aufgeklärt und focht die Ehe an.
Uiifalliieiiroseii und PsyehoNeii.
Der Zweck der nachfolgenden ganz kurzen Ausführungen
kann naturgemäß nicht der sein, eine Übersicht über das außer¬
ordentlich große und praktisch wichtige Gebiet der Nerven- und
Geisteskrankheiten nach Unfällen zu geben. Die -Absicht des Ver¬
fassers geht vielmehr lediglich dahin, für den Juristen die Be¬
ziehungen der bekannteren Krankheitsbilder zu • etwaigen Un¬
fällen kurz zu skizzieren, weil der Zivilrichter vielfach in die
Lage kommt, über derartige Fälle zu urteilen. —-
Unfallneuroseti und Psychosen.
1017
\’on 0 1 ) p e n li e i m *) ist der Ausdruck ,,traumatische Neu¬
rose“ geprägt worden. Dieser Autor verstand darunter ein be¬
sonderes Krankheitsbild, das sich vorwiegend aus einer Mischung
von neurasthenischcn und hysterisclien Symptomen zusammen¬
setzte. Neuerdings sieht man von der Anwendung des Begriffes
aber mehr und mehr ab und beschränkt sich darauf, die funk¬
tioneilen Erkrankungen des Nervensystems, welche nach Unfällen
auftreten, entsprechend denjenigen Symptomen, welche im Krank¬
heitsbilde vorherrschen, zu bezeichnen. Es wird deshalb jetzt nur
noch von traumatischer Neurasthenie, Hysterie, Hypochondrie,
Epilepsie und deren Mischformen gesprochen.
Die bei den funktionellen Unfallnervenkrankheiten auf¬
tretenden Symptome sind teils lokaler Natur, teils allgemeiner.
Die allgemeinen Erscheinungen bestehen in Kopf¬
schmerzen, Schwindelgefühl, gesteigerter Reizbarkeit, depri¬
mierter Stimmung; gelegentlich in hyixjchondrischen \'orstel-
lungen (die letzteren sind prognostisch ziemlich ungünstig), Ge¬
dächtnisschwäche, gesteigerter Ermüdbarkeit, Unfähigkeit sich
zu konzentrieren usw. Hierzu kann mitunter ein allgemeines
Zittern, das sich bei psychischer Erregung steigert, hinzutreten.
An lokalen Symptomen sind zu nennen Herzklopfen,
gesteigertes Hautnachröten, Blaufärhung der Hände und Füße,
Lähnumgserscheinungen oder Kontrakturzustände in den vom
Unfall betroffenen Gliedmaßen, Gefühlsstörungcn, die sich ent¬
weder auf Abschnitte des verletzten (Biedes beziehen oder dieses
ganz betreffen.
Auf körperlichem Gebiete finden sich neben den schon ge¬
nannten Erscheinungen vielfach Steigerungen der Haut- und
Sehnenrefle.xe. Nicht selten ist der Rachenreflex herabgesetzt
oder fehlt ganz, auch die Binde- und Hornhautreflexe können
fehlen. Ferner kann eine funktionelle Pulsbeschleunigimg be¬
stehen. —
Das ist wohl die häufigste Mischung von Symptomen, wie
sie uns bei zahlreichen Unfallhegutachtungen begegnet. Dieses
Krankheitsbild kann nun aber gewisse Modifikationen erfahren,
je nachdem die einen Symptome fehlen, die anderen stärker
hervortreten.
’) Die traumatischen Neurosen. Berlin 1888.
ioi8
Unfallneurosen und Psychosen.
Sind viel hypochondrische Klagen mit starker Verstimmung
verbunden, so spricht man auch von Unfallhypochondern.
Einen anderen Typ stellen die sogenannten Reizbaren
dar, weil bei ihnen die Reizbarkeit im Vordergründe des Krank¬
heitsbildes steht; sie sind auch kriminell am meisten gefährdet.
Wenn man bei den schwereren Fällen Strafverzeichnisse ein¬
fordert, findet man für gewöhnlich mehrere Vorstrafen wegen
Körperverletzung und Beleidigung. —
Wichtig ist, daß sich mit diesen Zuständen oft auch eine
ausgesprochene Alkoholintoleranz verbindet, die den
Kranken dann besonders gefährlich ist, wenn sie durch die .\rt
ihres Berufes zu häufigerem Alkoholgenuß gezwungen sind. —
Hervorzuheben sind weiter noch diejenigen Fälle, in denen
eine ausgeprägte Gedächtnisstörung besteht. Diese letz¬
tere kommt zustande einmal durch eine krankhafte Ermüdbarkeit
des Gedächtnisses, so daß der Patient die ersten Fragen zwar
richtig beantwortet, sehr bald aber unsicher wird und schließlich
ganz versagt, oder aber es handelt sich um eine Hemmung. Ist
letztere vorhanden, so können die Kranken zeitweise den Eindruck
von völlig verblödeten Menschen machen. Sie wissen die einfach¬
sten Dinge nicht, sind außerstande diejenigen Gebrauchsgegen¬
stände, deren sie sich täglich bedienen müssen, zu benennen. Man
kann sie mitunter nicht allein auf der Straße gehen lassen, weil
sie den Weg zu ihrem Hause nicht zurückfinden. Sie können
nicht zwei und zwei zusammenzählen und ähnliches mehr. Dabei
sind sie aber orientiert, erkennen die Personen ihrer Umgebung
wieder, wenn sie auch deren Namen nicht zu nennen vermögen,
finden sich in bekannten Räumen auch ganz gut zurecht. Eine
Bewußtseinstrübung liegt nicht vor. Mitunter geben die
Patienten Antworten, die an das Vorbeireden der Hysterischen
erinnern.
Stertz ’) hat diese Zustände als Pseudodemenz bezeichnet.
Sie sind, wie ich glaube, den hysterischen Lähmungen an die Seite
zu stellen. Wie in dem einen Fall ein Arm oder Bein lediglich
durch krankhafte Vorstellungen seine Beweglichkeit verliert, ob¬
wohl die Muskulatur, die peripheren Nerven und die Leitungs¬
bahnen an sich gesund sind, so ist es hier das Gedächtnis, die
U Literatur und ausführlichere Darstellung s. im Kap. Hysterie.
Unfallneurosen und Psychosen.
1019
Merkfähigkeit und das Kombinieren, welches von einer h 3 'Ste-
rischen Lähmung befallen wird.
Die Kenntnis dieser Zustände ist praktisch insofern von
Bedeutung, als sie vielfach für reine Simulation angesehen werden.
Begünstigt wird diese Anschauung noch dadurch, daß sie unver¬
mittelt auftreten und schwinden können. Daß es unmöglich ist,
insbesondere für Arbeiter und Menschen ohne jede Vorbildung,
Wochen- und monatelang bei der Beobachtung in einer Klinik der¬
artige Zustandsbilder aus voller Gesundheit heraus zu simulieren,
bedarf für denjenigen, der die Kompliziertheit der Störung durch
eingehende Untersuchung selbst oft hat feststellen können, keiner
besonderen Begründung. —
Eine weitere Gruppe von Fällen, die hier noch zu erwähnen
sind, sind die U n f a 11 q u e r u 1 a n t e n.
.^us der Vorstellung heraus, daß die Folgen ihres L^nfalls
schwerere sind, als die Berufsgenossenschaft und die unter¬
suchenden Ärzte anerkannt haben, beginnt der Kranke zu queru¬
lieren, indem er zunächst den ganzen Instanzenweg erschöpft, sich
darüber hinaus dann an die Ministerien, den Landesherrn, die
ordentlichen Gerichte, den Reichstag usw. wendet, ebenso wie ein
richtiger Querulant.
Bemerkenswert ist bei diesen Fällen noch weiter, daß die
Kranken sich nicht allein bei der Beschreibung ihrer zahlreichen
Leiden mehr und mehr von der Wirklichkeit entfernen, sondern
auch diejenigen Dinge, die objektiv nachprüfbar sind, wie das
Unfallereignis selbst, werden je nach dem Grade des vorhandenen
Affekts immer anders, und zwar stets schlimmer erzählt. So
habe ich in unserer Klinik mehrfach einen Unfallhv’pochonder mit
querulatorischen Zügen vorgestellt, der bei derselben Demonstra¬
tion wiederholt aufgefordert, das Unfallereignis zu beschreiben,
immer groteskere Schilderungen davon gab.
ln Wirklichkeit war ihm ein etwa 20—30 Pfund wiegender Stein
auf eine Hand und dann auf den Fuß gefallen. Bei der ersten Erzählung
wog der Stein einen Zentner, war ihm auf den Rücken gefallen und hatte
ihn umgeworfen. Bei dem zweiten Bericht wog er bereits mehrere
Zentner, die Wirbelsäule war beschädigt und einige Rippen waren ge¬
brochen. Die dritte Erzählung berücksichtigte schon den Kopf mit; es
war ein Schädclbruch erfolgt, und beim vierten Mal schließlich war es
nicht mehr ein einzelner Stein, sondern das gesamte Hangende war
heruntergefallen und hatte den Kranken unter sich begraben, so daß er
von seinen Kameraden erst langsam befreit werden mußte und dann
völlig bewußtlos ins Krankenhaus getragen wurde, wo ein Schädelbruch,
1020
Utifallneurosen und Psychosen.
mehrere Rippen-, Arm- und Beinbrüche festgestellt worden waren, die
den jetzigen traurigen Zustand veranlaßt haben sollten.
Alle diese Beschreibungen waren in 15 Minuten zu erhalten.
Wir haben damit das Grenzgebiet zwischen Neurosen und
Psychosen schon betreten. Weiter hierher gehören in erster Linie
diejenigen Fälle, welche im Beginn der Erkrankung, d. h. un¬
mittelbar nach dem L^nfallereignis für kürzere oder längere Zeit
in einen Dämmerzustand verfallen.
Wir haben z. B. einen Patienten beobachtet, der unmittelbar
nach dem Unfall etwa 36 Stunden lang schwer in seinem Bewußt¬
sein getrübt war und sich selbst während dieser Zeit mehrere
scharfe Schnitte am Lüiterleib beibrachte, dabei auch die Ge¬
schlechtsorgane verletzte. Er ist jetzt soweit hergestellt, daß
er seinen früheren Beruf wieder zu ergreifen beabsichtigt. Der
Unfall liegt drei Jahre zurück. Daß es auch Dämmerzustände
von mehrmonatlicher Dauer gibt, hat A. Westphal nachgewiesen.
Weiterhin ist jener Fälle zu gedenken, die für gewöhnlich
das Bild einer mehr oder minder schweren Hypochondrie’)
bietet, d. h. ein Krankheitsbild, das im wesentlichen zusammen¬
gesetzt ist aus neurasthenischen, hysterischen und hypochon¬
drischen Symptomen. \'on Zeit zu Zeit stellt sich nun bei einigen
dieser Fälle eine Zunahme der Depression und eine Steigerung
der körperlichen Beschwerden ein, und es kann dann vorüber¬
gehend zu Wahnideen und Sinnestäuschungen kommen. Die
Kranken fühlen sich verfolgt, und zwar sind es entweder berufs¬
genossenschaftliche Organe, die Polizei oder .sonstige Aufsichts¬
behörden, von denen sie glauben, daß sie ihnen nicht wohl woll¬
ten und etwas gegen sie hätten. Mitunter kommt es zu Sinnes¬
täuschungen. Die Kranken hören des Nachts an die Wand
klopfen, auch vereinzelte Schimjifworte, wie ,,Faulpelz‘‘, ,,er will
nicht arbeiten“ und ähnliches mehr. Mit der Abnahme der De¬
pression und dem Rückgang der körperlichen Beschwerden treten
auch die Sinnestäuschungen zurück und der Wahn kann schwinden.
Diese Kranken, wie überhaupt die Unfallhypochonder sind
noch nach einer anderen Richtung hin bemerkenswert, sie sind
nämlich auch besonders selbstmordgefährlich“).’ Wer sie unter-
') Genauere Schilderung im Kap. Hysterie.
“) Vcrgl. Hübner. Selbstmord. Jena 1910. Q. Fischer. K. Mendel,
Monatsschr. f. Psych. 1913. P. Schuster, Die traumatischen Neurosen.
Deutsche Klinik IV.
Unfallneurosen und Psychosen.
1021
schätzt, der kann mitunter ihre Selbstniordneigung geradezu
fördern ’).
Neben den bisher beschriebenen Krankheitszuständen kann
auch die reine Hysterie mit großen und kleinen hysterischen
Krampfanfällen, Halbseitenlähmung, hysterischer Abasie, Aphonie
usw. nach Unfällen auftreten.
Wichtig für die Frage des ursächlichen Zusammenhanges ist
hei den bisher bes])rochenen Fällen eins, nämlich, daß die Schwere
der Folgen der Schwere des Unfalls nicht parallel zu gehen
braucht, d. h. kleine Ursachen können große Wirkungen haben,
wenn die Ursache ein besonders disponiertes Individuum trifft ^).
Bekannt ist der vom Reichsversicherungsamt entschiedene
Fall, in dem ein hysterisch veranlagtes Mädchen durch ein leeres
Zimmer ging, in welchem auf dem Boden eine Kleisterschüssel
stand; sie trat hinein, fiel auf den Rücken, ohne sich nennenswert
zu beschädigen, erlitt aber einen großen Schreck, infolgedessen
bekam sie schwere hysterische Krampfanfälle, und wurde er-
werbsunfäihg (K. Bd. lo, S. 40, Nr. 80). Weitere Beispiele sind
in dem Kapitel Krankheitsbedingungen von mir bereits angeführt
worden, auf das ich deshalb verw'eisen kann.
Was die durch diese funktionellen Erkrankungen bedingte
E r w e r b s V e r m i n d e r u n g anlangt, so lassen sich allgemein
gültige Regeln nicht angeben. Hypochondrische Symptome sind
jedenfalls dann, wenn sie stark ausgeprägt sind, auch stark er-
W’erbsvermindert; dagegen sind die funktionellen Gedächtnis¬
störungen nicht so hoch zu bewerten, wie etwa organisch bedingte
Störungen des Gedächtnisses. Man kann auch sagen, daß
ein Mensch, der einen hysterisch gelähmten Arm hat, meist nicht
so schlecht daran ist, wie ein Kranker, der die Beweglichkeit
seines Armes etwa durch eine Stichverletzung der Nerven oder
ähnliches verloren hat.
-Andererseits wäre es falsch, die hysterisch-hypochondrischen
Symptome zu unterschätzen, namentliali, wenn es sich um schwere
Krankheitserscheinungen handelt. —
') Die Bewertung derartiger Fälle ist sehr schwer. Häufig ist auch
nicht allein die Rentenangelegenheit an der Verstimmung schuld, sondern
ungünstige häusliche Verhältnisse.
“) Bei den Unfallneurosen hat es infolgedessen auch gar keinen
Zweck, in Schriftsätzen für das Gericht allzuviel Gewicht auf die Gering¬
fügigkeit der Verletzung zu legen.
1022
Unfallneurosen und Psychosen.
Die traumatische Epilepsie ist auch eine der häufiger
nach Unfällen zu beobachtenden Erkrankungen. Daß ihre Be¬
deutung nicht allein eine zivilrechtliche, sondern auch eine straf¬
rechtliche ist, glaube ich in dem Kapitel Epilepsie an verschie¬
denen Beispielen nachgewiesen zu haben. Bei den meisten trau¬
matischen Epileptikern sind es Anfälle und Verstimmungen,
daneben Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Unfähigkeit zur Ar¬
beit usw., aus denen sich das Krankheitsbild zusammensetzt. Es
kann aber auch Vorkommen, daß Dämmerzustände ausgelöst
werden, ebenso sind poriomanische Attacken beobachtet worden,
außerdem Verwirrtheits- und deliriöse Zustände.
Der ursächliche Zusammenhang gilt sowohl bei der Epilepsie,
wie bei den anderen bisher besprochenen Krankheitsbildern als
erbracht, wenn der Patient vor dem Unfälle erwerbsfähig war
und sich die ersten Erscheinungen zeitlich im Anschluß an den
Unfall entwickelt haben, d. h. innerhalb der nächsten Wochen
nach dem Unfall, bei der Epilepsie wird man sogar sagen können,
innerhalb der ersten 3—6 Monate nach dem Unfall. Wichtig wird
schließlich auch sein, daß das Krankheitsbild eine jener eigen¬
tümlichen Symptomenkomplexe darstellt, wie sie bisher be¬
schrieben worden sind.
Lange Zeit hat man darüber gestritten, ob es eine eigentliche
t r au matische Psychose gäbe. Diese Frage ist jetzt dahin
entschieden, daß das nicht der Fall ist, es treten vielmehr auch
nach schwereren Verletzungen die verschiedensten Krankheits¬
bilder auf. ln erster Linie sind zu nennen: Delirien, zw'eitens
kommen Korsakow-ähnliche Zustände vor, d. h. Störungen der
Merkfähigkeit und des Gedächtnisses, die nach schwereren Kopf¬
verletzungen offenbar organisch bedingt, zum Teil aber der
Besserung auch zugänglich sind. Weiterhin werden Verwirrt¬
heitszustände nach Art der Amentia beobachtet. Chronisch para¬
noische Psychosen, bei denen der Alkohol oder sonstige \'er-
giftungen nicht eine wesentlich mitwirkende Rolle gespielt hätten,
habe ich noch nicht gesehen.
Schwere A 1 k o h o 1 i s t e n erleiden durch Kopfverletzungen
sehr häufig Schaden. Es kann entweder ein Delirium ausgelöst
werden, auch halluzinoseähnliche Zustände kommen vor. In
einem Fall wurde durch einen Sturz, bei dem auch der Kopf mit¬
getroffen war, eine akute Paranoia ausgelöst. Derselbe Mann fiel
einige Jahre später, nachdem er inzwischen ein Delirium absolviert
Unfallneurosen und Psychosen.
1023
hatte, nochmals hin. Diesmal setzte einige Tage nach der neuen
Verletzung wiederum ein akut paranoischer Zustand ein, der aber
in eine chronisch paranoische Psychose überging. Das ganze
Krankheitsbild hatte eine ausgesprochen alkoholische Färbung.
Bezüglich der Paralyse steht man gegenwärtig im allge¬
meinen auf dem Standpunkt, daß nicht jeder kleine Unfall eine
solche auszulösen vermag, sondern daß es dazu einer schwereren
Verletzung bedarf. Der zeitliche Zusammenhang darf im allge¬
meinen auch nicht derart sein, daß wenige Tage nach dem Unfall
dann ein vollständiges Krankheitsbild zu finden ist, sondern da,
wo man einen wirklichen Zusammenhang zwischen Paralyse und
Unfall annehmen soll, muß sich dann im Anschluß an das Trauma
das Krankheitsbild allmählich entwickeln. Besonders
bei der Paralyse empfiehlt es sich, eine möglichst genaue Vor¬
geschichte zu erheben; man wird dann nicht selten finden, daß
schon sichere Zeichen der Paralyse vor dem Einsetzen des Un¬
falles bestanden haben.
Wichtig ist, daß auch die Arteriosklerose nach Un¬
fällen eine erhebliche Verschlimmerung erfahren kann, so daß es
zu verschiedenen kleinen Schlaganfällen kommt, die eine mehr
oder minder tiefgreifende V'erblödung des Patienten zur P'olge
haben, oft auch in verhältnismäßig kurzer Zeit seinen Tod herbei¬
führen kann.
Weiterhin ist hinzuzufügen, daß bei Greisen Unfälle
besonders schwere Folgen haben können. Das Nervensystem
ist bei ihnen an sich weniger widerstandsfähig. Trifft sie dann
ein Unfall, so findet derselbe einen besonders gut vorbereiteten
Boden. Dadurch sind die gelegentlich zur Beobachtung kommen¬
den schwereren Folgen erklärt.
Der einzelne Anfall des manisch-depressiven Irre¬
seins kann gleichfalls durch einen Unfall ausgelöst werden.
Mitunter geschieht das in der Weise, daß sich im Anschluß an
die Verletzung eine hypochondrische Verstimmung einstellt, die
mehr oder minder rasch, bisweilen erst nach einigen Monaten in
eine Melancholie hinüberleitet. Man wird in solchen Fällen
auch die Melancholie unter Umständen als Unfallfolge anerkennen
müssen, wenn gar keine anderen Ursachen dafür zu finden sind.
Wenn der Kranke aber dann ausgeheilt ist, und nach mehreren
Jahren einen weiteren Anfall desselben Leidens bekommt, so
scheint es mir nicht berechtigt, diesen zweiten Anfall, wenn
1024
Unfallneurosen und Psychosen.
der Kranke inzwischen voll arbeitsfähig gewesen ist, und nament¬
lich in der sogenannten freien Zeit keine nennenswerten hj sterisch-
hypochondrischen Besclnverden gehabt hat, auch auf Rechnung des
Ihifalls zu setzen.
W'ir haben für die zweite Phase im allgemeinen die Ent¬
schädigungspflicht der Berufsgenossenschaft usw. nicht an¬
erkannt. ■—
Nach Unfällen treten nicht selten auch Zustandsbilder auf,
bei denen die Diagnose Dementia praecox in Frage kommt.
Zunächst ist dabei jedesmal sorgfältig zu erwägen, ob nicht eine
Hysterie vorliegt. Daß gelegentlich einmal eine wirkliche Kata¬
tonie nach einem Unfall entsteht, ist sicher. Bei dem gegen¬
wärtigen Stande unseres Wissens wird man ein solches Krank¬
heitsbild als Unfallfolge anerkennen müssen, wenn es verhältnis¬
mäßig rasch, d. h. in den ersten Wochen nach dem Unfall sich
entwickelt. Auf das Sichentwickeln lege ich einen gewissen Wert,
denn wenn ein Kranker heute einen leichten Unfall, etwa eine
leichte Kojjfverletzung erleidet, er versinkt innerhalb von 3 bis
4 Tagen in einen schweren Stupor und verblödet dann allmählich,
so ist meiner Ansicht nach der Zusammenhang, trotz der engen
zeitlichen Beziehung zweifelhaft und ich habe gefunden, daß man
bei sorgfältigem Nachforschen doch auch allerlei Symptome
findet, die schon vor dem Unfall bestanden haben, und darauf
hindeuten, daß das Leiden nicht erst durch denselben hervor¬
gerufen worden ist.
Zweifelhaft sind weiter die Fälle, wo erst längere Zeit nach
dem Unfall, sei es 6 Monate und mehr, sich eine jugendliche \'er-
blödung cinstellt. Wenn da die Zwischenzeit zwischen Unfall und
dem .Ausbruch der Erkrankung ganz svmptomenfrei war, wird
man den Zusammenhang wohl auch ablehnen müssen. In diesem
Sinne spricht sich übrigens auch eine Entscheidung des
(K. XXIV, S. 17, Nr. 18) aus.
Zum Schluß dieses Abschnittes noch etwas über die Be¬
ziehungen zwischen angeborenem Schwachsinn und
Kopfverletzungen.
Bei erwachsenen Imbezillen habe ich eine V'erschlimme-
rung des Schwachsinns nach Kopfverletzungen bisher nicht ge¬
sehen, wohl aber das Hinzutreten von neurasthenisch-hysterischen
Symptomen, die dann natürlich den schon an sich minderwertigen
Mcn.schen in seiner Erwerbsfähigkeit und nicht selten auch in
Unfallneurosen und Psychosen.
I02S
seiner sozialen Lebensführung stärker beeinträchtigen mußten, als
einen ganz gesunden Menschen.
Geistig gesunde Kinder können nach schweren Kopftraumen
auf der Entwickelungsstufe stehen bleiben, welche sie zur Zeit
des Unfalles erreicht hatten. —
Trifft die Verletzung ein imbezilles Kind, so ist die Be¬
antwortung der Frage, ob das Trauma eine Verschlimmerung des
Zustandes bewirkt hat, sehr schwer. Auch in diesen Fällen können
neurasthenisch-hysterische Symptome hinzutreten. Handelt es
sich um einen entschädigungspflichtigen Unfall, so wird vielfach
behauptet, daß die geistigen Fähigkeiten des Kindes nachgelassen
hätten. Dies wird wohl nur dann anzuerkennen sein, wenn von
der Zeit unmittelbar nach dem Unfall ab eine weitere geistige
Entwickelung des Kindes nicht stattfindet oder aber diese Ent¬
wickelung sich auffallend verzögert^).
Bei den Schwachsinnszuständen ist schließlich noch eines
Punktes zu gedenken. Nach direkten Verletzungen des
Gehirns kommt es zu einer mitunter sehr beträchtlichen Ab¬
nahme der geistigen Fähigkeiten“). Die Kranken sind in erster
lyinie gedächtnisschwach, insbesondere die höheren psychischen
Funktionen (Abstraktion, Urteil) haben gelitten. Meist besteht
auch ziemlich beträchtliche Reizbarkeit und Neigung zu De¬
pressionen. V’orübergehend können Halluzinationen auftreten.
Von besonderer forensischer Wichtigkeit ist endlich noch
die Tatsache, daß nach Kopfverletzungen, ebenso wie nach
Strangulationen Amnesien auftreten, welche sich nicht allein auf
das Unfallereignis beziehen, sondern auch noch die Zeit unmittel¬
bar vorher betreffen können. Praktisch wichtig ist diese Tat¬
sache insofern, als bei Körperverletzungen oder bei Unfällen, bei
“) Bei Beurteilung des Einzelfalles wird immer zu berücksichtigen
sein, daß das schwachsinnige Kind auch ohne den Unfall sich im Sinne
seiner Krankheit weiter entwickelt hätte. Als Verschlimmerung kann
demnach entweder nur das Hinzutreten einer Unfallneurose oder eine in
greifbarem Zusammenhang mit dem Unfall stehende Änderung des
Orundzustandes angesehen werden.
“) Anhangsweise sei hinzugefügt, daß auch Schlaganfälle durch Un¬
fälle ausgelöst werden können, und zwar in seltenen Fällen sogar erst
einige Zeit nach dem Unfälle. (Vergl. die Literatur über traumatische
Spätapoplexien, s. auch unten.)
Hübner, Forensische Psychiatrie.
65
1026
Unfallneurosen und Psychosen.
denen event. Schadensersatzansprüche erhoben werden, der Ver¬
letzte in erster Linie vernommen wird. Es ist wichtig zu wissen,
daß unter Umständen die Zeugenaussagen eines solchen Ver¬
unglückten unbrauchbar sein können *).
Hinzuzufügen habe ich noch, daß sich in einem Falle bei
einem 15 jährigen Jungen nach einer Kopfverletzung Gans er¬
sehe Dämmerzustände, die sich längere Zeit hindurch in
Abständen von mehreren Tagen folgten, beobachten ließen.
Ebenso habe ich einen Fall gesehen, wo sich eine typische
Dipsomanie im Anschluß an einen Sturz auf den Kopf ent¬
wickelte.
Was die forensische Bedeutung der Unfallpsychosen
und Neurosen anlangt, so wird am häufigsten wohl die Frage des
ursächlichen Zusammenhanges zwischen der Verletzung und der
entstandenen Geistesstörung aufgeworfen werden. Was in dieser
Beziehung zu sagen ist, steht in den Kapiteln Krankheitsbedingun¬
gen, Verfall in Siechtum und Lähmung, Schadenersatz usw. Bei
Festsetzung des Schadenersatzes, welcher zu leisten ist, sind zwei
Spezialfälle zu berücksichtigen, nämlich i. der, daß der Verletzte
ein Kind ist, welches eine Erwerbstätigkeit noch nicht ausübt,
und 2. der, daß der Verletzte in einem Alter steht, von welchem
man annehmen muß, daß er nicht mehr völlig erwerbsfähig ist.
Über den ersten Fall spricht sich eine Entscheidung des
Reichsgerichtes vom 5. April 1906 aus, die von prinzipieller Be¬
deutung ist. Ich entnehme dieselbe der ärztlichen Sachverstän-
digen-Zeitung (1906). Dort ist folgendes ausgeführt:
Der Kläger war zurzeit des Unfalls acht Jahre alt; es muß also
jedenfalls zuerst angenommen werden, daß er weder zurzeit der Klage¬
zustellung, noch jetzt eine Einbuße an Erwerb, den er ohne den Unfall
gehabt haben würde, erleidet, also für diese Zeit und für die nächsten
Jahre eine Rente wegen Beeinträchtigung seiner Erwerbsfähigkeit nicht
fordern kann, vielmehr insoweit höchstens eine Rente wegen Ver¬
mehrung seiner Bedürfnisse in Frage kommen könnte. Und für die
Zeit, wo er in das erwerbsfähige Alter kommen wird, erscheint es zum
mindesten zweifelhaft, ob sich jetzt bereits mit zureichender Sicher¬
heit übersehen läßt, wie hoch der ihm dann durch die erlittene Ver¬
letzung erwachsende Erwerbsverlust zu veranschlagen sei; es liegt
in der Natur der Sache, daß dies nicht wohl beurteilt werden kann,
so lange der Beruf, den der Kläger dereinst ergreifen wird, nicht fest-
') Vergl. Ziehen, Gutachten über die Verläßlichkeit der Zeugenaus¬
sage usw. Viertcljahrsschr. f. ger. Med. 1897.
Unfallneurosen und Psychosen. 1027
steht. Fehlt es aber jetzt an den erforderlichen Unterlagen für die
Bemessung des künftigen Erwerbsverlustes, so kann eine Verurteilung
zur Zahlung der zur Ausgleichung dieses Schadens dienenden Rente
zurzeit nicht ausgesprochen werden. Der Kläger würde vielmehr in¬
soweit nur eine Feststellung dahin verlangen können, daß der Beklagte
ihm künftig den durch den Erwerbsverlust erwachsenden Schaden zu
ersetzen habe; während die Bestimmung, in welcher Weise und Höhe
dieser Schadenersatz zu leisten sein werde, erforderlichen Falles einem
späteren Prozesse Vorbehalten bleiben müßte. Med. B.-Z.
Was die obere Altersgrenze der Erwerbsfähig¬
keit anlangt, so liegen mehrere Entscheidungen vor, welche sich
darüber aussprechen.
Das Kammergericht hat in einer vom Reichsgericht später
bestätigten Entscheidung angenommen, daß ein Mann bis zum
65. Lebensjahre völlig erwerbsfähig sei. Darüber hinaus wollte
das Kammergericht in dem konkreten Falle eine Abstufung vor¬
nehmen, die allerdings ganz willkürlich war. Das Reichsgericht
hob die Entscheidung in diesem Teile auf und verwies die Sache
zur nochmaligen Prüfung ,,über die individuelle Beschaffenheit
des Klägers und die konkrete Sachlage“ wegen der weiteren
Rentenbemessung an die Vorinstanz zurück*).
Mir selbst ist eine Entscheidung des Oberlandesgerichtes
Düsseldorf vom 3. Juli 1907 bekannt, nach der ein selbständiger
62jähriger Gelbgießermeister, der bis zu seinem Unfall ganz ge¬
sund war, bis zum 65. Lebensjahre eine Rente in Höhe von etwa
“/a des früheren Einkommens erhielt, darüber hinaus nichts.
Auch dieses Urteil ist später abgeändert worden. Der Patient
wird jetzt noch von Zeit zu Zeit untersucht wie jeder andere
Lhifallkranke. Eine Besserung in seinem Befinden ist nicht ein¬
getreten, aber auch keine nennenswerte Verschlechterung.
Ich glaube, daß diese Art der Beurteilung die gegebene ist.
Der jeweilige Grad von Erwerbsverminderung hängt auch im
höheren Alter einmal von einer individuellen Beschaffenheit des
V^erletzten und zweitens von den äußeren Verhältnissen, in denen
er lebt, ab.
Schwierig ist die Beurteilung der Entschädigungsfrage dann,
wenn es sich urn eine Hinterbliebenenrente handelt. Ich
meine z. B. folgende Fälle;
') Ärztl. Sachverst.-Zeitg. 1907.
6ö
1028 Unfallneurosen und Psychosen.
Ein 35 Jahre alter Arzt verunglückte tödlich auf der Eisen¬
bahn (Wirbelsäulenfraktur, Brust- und Schädelquetschungen).
Bei den Abfindungsverhandlungen mit der Witwe wurde an¬
genommen, daß der Verstorbene bis zum 70. Lebensjahre über¬
haupt gearbeitet und bereits im 60. Lebensjahre seine Leistungs¬
fähigkeit allmählich nachgelassen hätte. Die Frau wurde infolge¬
dessen so abgefunden, daß sie bis zum 60. Jahre des Mannes eine
bestimmte jährliche Rente, vom 60.—70. Jahre desselben zwei
Drittel dieser Rente und von da ab nichts mehr erhalten sollte.
Aus den damals gepflogenen mündlichen Verhandlungen ging
hervor, daß sich die zuständige Behörde an die Voraussetzungen
des Alters- und Invalidengesetzes anlehnte. —
Von Bedeutung ist auch die Frage der Abfindung bei
den Unfallneurosen. Grundlegend für die Beurteilung dieser Fälle
sind die Untersuchungen von Horn*), welche mit unseren
eigenen Erfahrungen vollkommen übereinstimmen. Wir haben
gefunden, daß auch schwere Psychoneurosen 3—5 Jahre nach der
Abfindung im allgemeinen wesentlich gebessert, ja sogar im
sozialen Sinne geheilt waren. Wenn wir deshalb über die Basis,
auf der Abfindungsverhandlungen gepflogen werden sollen, be¬
fragt werden, pflegen wir folgendermaßen zu verfahren:
Handelt es sich um kleine Renten, so empfehlen wir, den
Patienten mit dem einfachen oder doppelten Jahresbetrage ab¬
zufinden. Bestand ein hoher Grad von Erwerbsverminderung
oder völlige Erwerbsunfähigkeit zur Zeit der Abfindungsverhand¬
lungen, so empfehlen wir den um diese Zeit bestehenden Grad für
etwa 3 Jahre anzunehmen und dementsprechend den Kranken ab¬
zufinden. Handelte es sich um ältere Fälle, bei denen völlige Er¬
werbsunfähigkeit schon lange bestand und eine Änderung nur unter
der Voraussetzung der Abfindung anzunehmen ist, so raten wir,
eine Abfindungssumme bis zum fünffachen Betrage der Rente für
völlige Erwerbsunfähigkeit zu geben. Unter bestimmten, be¬
sonders schwierigen Umständen wird man event. sogar noch etwas
höher gehen können. Diese Grundsätze haben sich bei den von
uns bearbeiteten Fällen bewährt. Kleine Modifikationen werden
sich je nach Lage des Einzelfalles wohl noch als nötig erweisen.
Wichtig ist schließlich für den Richter auch noch zweierlei.
*) Horn, Nervöse Erkrankungen nach Eisenbahnunfällen. Bonn 1912.
Markus & Webers Verlag.
Unfallneurosen und Psychosen.
1029
Im Laufe des Heilverfahrens werden vielfach Ansprüche an
die zur Entschädigung verpflichtete Behörde gestellt, die weit
über das Maß dessen hinausgehen, was der Einzelne seiner sozialen
Stellung und seinen Lebensgewohnheiten nach zu verlangen hat.
Es ist uns nicht selten begegnet, daß Kuraufenthalte, welche zur
Besserung von Unfallfolgen verordnet worden waren, zu voll¬
ständigen Vergnügungsreisen ausgestaltet wurden mit Besuch von
Museen, Bergfahrten usw. Verlangt wurde nicht nur die Er¬
stattung der Unkosten für den Patienten selbst, sondern auch noch
für Angehörige. In einem Falle ging der Verletzte sogar so weit,
eine vollständige Ausrüstung von Kleidern und Wäsche der Be¬
hörde auf die Rechnung zu setzen.
Nach unseren Erfahrungen ist der Erfolg derartiger Reisen
und Kuraufenthalte in der Mehrzahl der Fälle kein großer. Es
gibt eine kleine Reihe von Kranken, bei denen er wirklich eine
nennenswerte Besserung bewirkt. In der großen Zahl der Fälle
entsprechen aber die finanziellen Aufwendungen dem erzielten
Erfolge in keiner Weise. Wenn der Richter die Entschädigungs¬
pflicht für derartige Reisen und Aufenthalte anerkennen soll, so
kann er mit Recht verlangen, daß die Forderung besonders genau
begründet wird (ausführliche ärztliche Atteste mit Angabe der
anzuwendenden Heilfaktoren und positiven Vorschlägen über die
Unterbringung), denn wir halten es für unangemessen, daß in der
Art der Unterbringung, Verpflegung usw. Anforderungen an den
Entschädigungspflichtigen gestellt werden, die der sozialen
Stellung des Kranken nicht entsprechen. Besonders betonen
möchten wir dabei das erzieherische Moment. Der Kranke kann
Heilung verlangen, aber keinerlei Vergünstigungen. Diese
letzteren wirken ungünstig auf ihn ein, machen ihn begehrlicher,
als für seine Heilung gut ist. Sie demoralisieren ihn oft
geradezu.
Das beste Heilmittel für die meisten Unfällneurasthe¬
niker und Hysteriker ist die Arbeit. Durch Krankenhaus¬
behandlung ist nur in einem kleinen Teil der Fälle überhaupt eine
nennenswerte Besserung zu erzielen.
In unserer Klinik ist in Anlehnung an eine Arbeit von Schnitze
und Stursberg von Dr. Spieß eine Untersuchung über die Heil-
') Von den Fällen, welche wir später weiter verfolgen konnten, ist
nur einer, trotz Abfindung, dauernd krank geblieben.
1030 Unfallneurosen und Psychosen.
harkeit der von Berufsgenossenschaften zu entschädigenden Unfall¬
verletzten angestellt worden, welche sich auf 100 Fälle bezieht.
Das Ergebnis war, daß 15 Fälle geheilt, 8 abgefunden, 17 ge¬
bessert und nur 15 verschlimmert waren. Schultze und Stursberg
haben 26,9% Geheilte und Gebesserte, 11,9% Verschlimmerte.
Bei der Beurteilung dieser Zahlen bleibt zu bedenken, daß
darunter sich auch eine ganze Reihe von ganz frischen Fällen
befinden. Würden nur ältere berücksichtigt worden sein, dann
wäre die Zahl der Gebesserten und Geheilten sicher noch höher.
Ausdrücklich betont sei, daß die Ergebnisse dieser Unter¬
suchungen für Beurteilung der Frage nach der Abfindung von
Unfällen, welche nicht in das Gebiet der Arbeiterversicherung
gehören, nicht verwandt werden können, denn nach der Reichs¬
versicherungsordnung ist eine Abfindung des Verletzten ja nur
bei kleineren Renten möglich.
Zum Schluß sei noch ein kurzes Wort über die Simu¬
lationsfrage hinzugefügt.
Daß Unfallverletzte besonders leicht zu Übertreibungen
neigen, ist eine Erfahrung, die jeder macht, der viel Unfall¬
verletzte zu untersuchen hat. Die Kenntnis dieser Tatsache ent¬
bindet uns aber nicht von der Pflicht, in jedem einzelnen Falle
den Nachweis zu führen, i. daß übertrieben wird und 2. was
übertrieben wird. Der Sachverständige sollte deshalb die Be¬
hauptung, daß simuliert wird, grundsätzlich nur aufstellen, wenn
er sie auch beweisen kann.
Noch eins habe ich schließlich hinzuzufügen: Wir haben hier
einige Male Unfallhysteriker gesehen, welche im Laufe einer
militärischen Übung eine Verschlimmerung erfuhren und
dann Ansprüche an die Militärverwaltung stellten, die, soviel mir
bekannt ist, auch anerkannt werden mußten. Einer der Kranken
war vor der Übung nur um 30^ in seiner Erwerbsfähigkeit be¬
schränkt gewesen. Angeblich nach einem längeren Marsch trat
die Verschlimmerung ein. Ich weiß nicht, ob derartige Vor¬
kommnisse häufig sind, jedenfalls zeigen sie, daß enge Fühlung¬
nahme zwischen Militärbehörden und Berufsgenossenschafteri
sowohl im Interesse des Kranken, wie der beteiligten Behörden
liegt. —
Für den Psychiater ist es notwendig, noch einige Punkte aus der
Rechtsprechung des Reichs-Versicherungsamtes hier anzufügen, welche
ihm bei seiner Sachverständigentätigkeit häufiger begegnen. —
Unfallneurosen und Psychosen. 103X
Ohne Einholung eines ärztlichen Gutachtens ist im allgemeinen eine
Rentenherabsetzung nicht zulässig (K. VI, S. 18, Nr. 35). Der Verletzte
muß hierzu untersucht werden. Es kommt nun nicht selten vor, daß
er sich weigert, der Aufforderung zur Untersuchung in einer Anstalt
nachzukommen. Eine solche Weigerung begründet die Herabsetzung
der Rente tVII, S. 53, Nr. 97; IX, S. 41, Nr. 78). Wenn der Arzt in
solchen Fällen über die Höhe der vorzunehmenden Rentenminderung
befragt wird, sei er vorsichtig. Häufig ist Mißtrauen, Reizbarkeit oder
Depression die Ursache der Weigerung. Eine geringe Herabsetzung ^)
genügt dann oft schon, den Patienten nachträglich zur Untersuchung zu
bewegen. Die Folgen der Weigerung kann der Verletzte dadurch wieder
beseitigen, daß er sich nachträglich der Untersuchung unterzieht (XVIII,
S. 270, Nr. 31).
Bei der Weigerung des Verletzten spielt eine große Rolle die Be¬
hauptung, der mit der Begutachtung betraute Arzt stehe in einem Ver¬
tragsverhältnis zu der Berufs-Genossenschaft. Das R.V.A. hat hier zu
entscheiden: daß der Umstand allein, daß ein Arzt Gebühren für Gut¬
achten nach mit der Berufs-Genossenschaft vereinbarten Sätzen be¬
rechnet, macht ihn noch nicht zu einem mit ihr in einem Vertragsverhält¬
nisse stehenden Arzte (XIX, S. 210, Z. 234). —
Wichtig ist für den Anstaltsarzt die Frage, ob er sich weigern kann
ein Gutachten zu erstatten. Dies ist zu verneinen, sofern keine Gründe
vorliegen, welche ihm die Schweigepflicht auferlegen. Die Ber.-Gen.
kann ihn sogar durch das zuständige Amtsgericht vernehmen lassen
(O.L.G. Breslau 28. 9. 01; Amtl. Nachr. 1902, Nr. 552). Mir ist ein Fall
bekannt, in dem ein Anstaltsdirektor sich weigerte, eine Abschrift der
Krankheitsgeschichte eines auf öffentliche Kosten in der Anstalt befind¬
lichen Kranken zu erteilen. Auch er sollte als sachverständiger Zeuge
vernommen werden.
In einem Falle, in dem ein Patient zu uns auf Krankenkassenkosten
kam, wurde bei Verhandlungen über einen 2 Jahre später erfolgten Un¬
fall Abschrift unseres Journals erteilt, weil der Verletze sich offenbar
eine Rente erschwindeln wollte. In diesem Falle lag u. E. eine höhere
sittliche Pflicht zur Offenbarung vor. —
Was die Beurteilung des Einzelfalles anlangt, so muß der Arzt
folgende Punkte beachten:
Sind mehrere Unfälle zu entschädigen, so darf sich der Arzt nicht
damit begnügen, eine Oesamtrente anzugeben, sondern er muß die Folgen
jedes einzelnen Unfalles, so gut das geht, abschätzen (XXFV, S. 3, Nr. 1).
War der Verletzte vor dem Unfall teilweise erwerbsunfähig, so
hebt das zwar die Entschädigungspflicht der Ber.-Gen. nicht auf, bei der
Rentenberechnung muß die teilweise Erwerbsverminderung berück¬
sichtigt w'erden (.4.N. 1890, S. 515, Nr. 877 und K. VI, S. 110, Nr. 214).
Wenn ein Unfall infolge hohen Alters des Verletzten schlimmere
’) In den mir bekannten Entscheidungen betrug die Herabsetzung
durchschnittlich 10—25 “/o.
1032
Unfallneurosen und Psychosen.
Folgen zeitigt, sind diese mit zu berücksichtigen (VII. S. 36, Nr. 64; s. auch
A.N. 1890, S. 505, Nr. 877).
Höhe des Lohnes (A.N. 1888, S. 290, Nr. 568) und die jeweilige Be¬
schäftigung allein sind grundsätzlich nicht von ausschlaggebender
Bedeutung für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit (VI, S. 80, Nr. 155
und VI, S. 4, Nr. 5). Hierfür kommen in erster Linie medizinische Ge¬
sichtspunkte in Betracht. —
Hilflosenrente wird gewährt, wenn der Verletzte ständig oder vor¬
wiegend fremder Wartung und Pflege bedarf (A.N. 1902, S. 181). Ob
Angehörige oder Fremde die Wartung übernehmen, ist gleichgiltig
(K. XVIII, S. 82, Nr. 81). Es kommt auch nicht darauf an, ob der Patient
zu Hause oder in einer Anstalt verpflegt wird (K. XXII, S. 205, Nr. 9).
Irrenanstaltsaufnahme wegen Qemeingefährlichkeit bedingt keine Hilf¬
losigkeit i. S. d. Q. (K. XXIII, S. 193, Nr. 208). Die Hilflosigkeit ist also
nicht durch die Internierung bedingt, sondern nur dann vorhanden, wenn
der Patient bei Verrichtung seiner persönlichen Bedürfnisse, wie An-
und Auskleiden, Einnehmen der Mahlzeiten usw. fremder Hilfe bedarf. —
Heilverfahren ist jede Maßnahme, welche von sachverständiger
Seite für erforderlich erachtet wird, um einen, dem normalen möglichst
nahekommenden günstigen Zustand herbeizuführen (A.N. 1891, S. 211
und K. VI, S. 29 Nr. 57). Wiedereröffnung eines Heilverfahrens kann
nur erzwungen bzw. zugelassen werden, wenn begründete Hoffnung
besteht, daß sich eine Besserung herbeiführen lasse (K. VI, S. 74, Nr. 142).
Weigerung des Verletzten, ein Heilverfahren durchführen zu lassen, be¬
gründet Rentenherabsetzung.
Operationen, die mit Chloroformnarkose verbunden sind, oder
eine eingreifende Verletzung des Bestandes und der Unversehrtheit des
Körpers darstellen, braucht ein Verletzter nicht an sich vornehmen zu
lassen (A.N. 1891, S. 211 und K. VI, S. 137, Nr. 35). —
Die Unterlassung der Obduktion gereicht u. U. derjenigen Partei
zum Schaden^ welche dadurch zur Klärung der (s. A.N. 1886, S. 291 und
K. IX, S. 127, Nr. 245) von ihr aufgestellten Behauptungen hätte bei¬
tragen können. —
Kleider können Anstaltsinsassen zur Fortsetzung des Heilverfahrens
von der Ber.-Qen. besonders bewilligt werden.
Anhangsweise sei hinzugefügt, daß für die Beamten der Preußischen
und Reichs - Zivilverwaltung, des Reichsheeres und der Kaiserlichen
Marine, sowie Personen des Soldatenstandes, welche in reichsgesetzlich
der Unfallversicherung unterliegenden Betrieben beschäftigt sind, fol¬
gende Bestimmungen gelten;
„Sie erhalten, wenn sie infolge eines im Dienste erlittenen Betriebs¬
unfalls dauernd dienstunfähig werden, als Pension sechsundsechzigzwei-
diittel Prozent ihres jährlichen Diensteinkommens.
Personen der vorbezeichneten Art erhalten, wenn sie infolge eines
im Dienste erlittenen Betriebsunfalls nicht dauernd dienstunfähig ge¬
worden, aber in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt worden sind, bei
ihrer Entlassung aus dem Dienste als Pension:
Unfallneurosen und Psychosen.
1033
1. im Falle völliger Erwerbsunfähigkeit für die Dauer derselben
den im ersten Absätze bezeichneten Betrag;
2. im Falle teilweiser Erwerbsunfähigkeit für die Dauer derselben
denjenigen Teil der vorstehend bezeichneten Pension, welcher
dem Maile der durch den Unfall herbeigeführten Einbuße an
Erwerbsfähigkeit entspricht.
Ist der Verletzte infolge des Unfalls nicht nur völlig dienst- oder
erwerbsunfähig, sondern auch derart hilflos geworden, daß er ohne
fremde Wartung und Pflege nicht bestehen kann, so ist für die Dauer
dieser Hilflosigkeit die Pension bis zu hundert Prozent des Dienst¬
einkommens zu erhöhen.
Solange der Verletzte aus Anlaß des Unfalls tatsächlich und un¬
verschuldet arbeitslos ist, kann in den Fällen des Abs. 2 Ziff. 2 die
Pension bis zum vollen Betrage des Abs. 1 vorübergehend erhöht
werden.
Steht dem Verletzten nach anderweiter reichsgesetzlicher Vor¬
schrift ein höherer Betrag zu, so erhält er diesen.
Nach dem Wegfalle des Diensteinkommens sind dem Verletzten
außerdem die noch erwachsenden Kosten des Heilverfahrens (§ 9 Abs. 1
Nr. 1 des Oewerbe-Unfallversicherungsgesetzes, Reichs-Qesetzbl. 1900,
S. 585) zu ersetzen.“
(§ 1 des Preußischen Gesetzes betr. die Fürsorge von Beamten in¬
folge von Betriebsunfällen in der Fassung vom 2. Juni 1902 und des
Unfall-Fürsorgegesetzes vom 18. Juni 1901.)
Für den ärztlichen Sachverständigen, dem die vorstehenden
Ausführungen nicht genügen, ist im folgenden ein ausführliches
Literaturverzeichnis hinzugefügt, mit dessen Hilfe ihm das
Studium der wesentlichsten Spezialfragcn möglich ist.
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Elektrische Unfälle. In.-Diss. Bonn 1912. — Hai lau er, Unfälle bei
Kindern. In.-Diss. Bonn 1912. — Brandt, Sprachstörungen nach Un¬
fällen. In.-Diss. Bonn 1908. — Hübner, Trauma und Neurosen im
Kindesalter. Reichsmedizinalanzeiger 1910. — Steenbeck, Hysterie
versicherungsrechtlich. In.-Diss. Bonn 1912. — Hübner, Zwangs¬
vorstellungen nach Unfall. Ärztl. Sachv.-Ztg. 1913 od. 14 (erscheint erst).
Die Entscheidungen, welche in diesem Abschnitt angeführt sind,
entstammen entweder den amtlichen Nachrichten oder den Entschei¬
dungen des R.V.A., welche im Selbstverläge der Knappschaftsberufs¬
genossenschaft als Anlage zum Kompaß (K.) erscheinen. Auch die Reger-
sche Sammlung ist herangezogen worden.
Sachregister,
Abasie bei Hysterie 642.
Aberglauben 48, 679.
Abfindung nach Unfällen 1028.
Ablauf der Vorstellungen bei Manie
608. '
.Ablehnung eines Sachverständigen
in Zivilsachen 588.
Abstinenzerscheinungen bei Mor¬
phinismus 793.
Abstraktion 4, 65.
Abulie 20.
Achillesreflex 72.
Achillessehne 72. '
Ärztliche Tätigkeit 201, 353 ö. R.
Ätiologie 95.
Affekt 4.
Affektleben der Frau 10.
Agnosie 71.
Agoraphobie 57.
Agraphie 71, 559, 842.
Akoasmen 45.
Alexie 72, 842,
Alkohol bei Altersschwachsinn 855;
bei Entarteten 386, 693; bei Epil.
712; Bewußtseinstrübungen nach
385.
Alkoholdelirant, motorische Unruhe
desselben 22. I
Alkoholexzesse bei Manie 607. I
Alkoholintoleranz 753; bei Unfall¬
neurosen 1018. i
Alkoholismus bei Unfallneurosen I
1022.
Alkoholismus, chronischer 763; Ent- |
miindigung 786; ethische De¬
fekte 765; Gedächtnisdefekte
772; Reizbarkeit 764; Rührselig- I
keit 764; Testierfähigkeit 553;
Zeugnisfähigkeit 787; körperl.
766.
Alkoholmißbrauch als Körperver¬
letzung 203; als Krankheits¬
ursache 97.
Alkoholpsychosen; Angstpsychose
785; chronische 783; Dämmer¬
zustände 756; Delirium tremens
776; Beschäftigungsdelirium 777;
forens. Bedeut, d. Del. 779; De¬
menz. alkoholische 764; Eifer¬
suchtswahn 783; strafrechtl.Be-
deutg. ders. 784; zivilrechtl. Be-
deutg. 784; Ehescheidung bei
Eifersucht 785; Alkoholepilepsie
763; Halluzinose 780; Korsakow¬
sche Psychose 771; forens. Be-
deutg. ders. 773; alkohol. Pseu¬
doparalyse 785; Rausch, pathol.
754; Rauschzustände, delirante
755; epileptoide 755; Nachweis
des pathol. Rausches 762; straf¬
rechtl. Bed. der A. 757; körper¬
liche Symptome 766.
Alkoholversuch 93.
Alter des Täters bei militär. Verbr.
306.
Alterspsychosen, T estierfähigkeit
553.
.Altersschwachsinn 19; u. Alkohol¬
genuß 855; Entmündigung 856;
Begutachtung Verstorbener 852;
körperl. Störungen 851; Krimi¬
nalität 847; Presbyophrenie 849;
akute psych. Stör. 848; straf¬
rechtl. Beurt. 853; Testierfähig¬
keit 863.
Sachregister.
1039
Amentia, Ehescheidung 913; Ent¬
mündigung 913; forens. Bedeutg.
912; Geschäftsfähigkeit 913; im
Gefängnis entstehend 990; kör¬
perliche 912 und psychische Er¬
scheinungen 911; Vorstadium
911; Testierfähigkeit 913.
Amnesie 703, 1025; retrograde 61.
Anästhesie 73.
Analgesie 73.
Anatomie, patholog., d. Dementia
praecox 897; progr. Paralyse
814.
Anfälle, epileptische 700; hyster.
642; paralytische 813; Katatone
896.
Angaben, falsche bei Versiche¬
rungsanträgen 565.
Angelegenheiten i. S. des § 6 B.G.B.
410.
Angeschuldigter, Exploration über
die Tat 110.
Angetrunkenheit 117; Zeugnisfähig¬
keit 252.
Angst 17.
Angstpsychose, alkoholische 785.
Angstgefühl bei Neurasthenie 633;
bei Melancholie 618.
Annahme v. Willenserklärungen 399.
Anrechnung d. Anstaltsaufenthalts
auf die Strafhaft 272.
Anschuldigung, falsche 63, 186, 211,
265.
Anstaltsaufenthalt, Verpflichtung
zu, bei Verletzten 572.
Anstaltsbehandlung 147.
Anstaltsbeobachtung im Strafverf.
288; im Entmündigungsverf. 436.
Anstaltsdirektor, Haftpflicht 211,
581.
Anstaltsunterbringung der Epilep¬
tiker 732.
Anstaltspflegebedürftigkeit u. Ent¬
mündigung 415.
Anstiftung 178.
Antrag auf Entmündigung 427.
Antragsberechtigung bei Entmün¬
digung 427.
Antragsfrist 182.
Apathie 18.
Aphasie, motor. 71, 842; bei Epilept.
707; sensorische 71, 842.
Aphonie 71; bei Hysterie 642.
Apraxie 72.
Arbeitsbehandlung 208.
.Arteriosklerose 97; des Gehirns
834; bei Unfallneurosen 1023.
Arzt, geistig abnormer als Anstalts¬
leiter 232.
Astasie 642.
Asymbolie bei Epilept. 707.
Athetoide Bewegungen bei Para¬
lyse 810.
Antragsmündigkeit 181.
Attitudes passionelles 643.
Aufbewahrungspflicht des Eigen¬
tums der Kranken 221.
Aufklärung des Patienten über sein
Leiden 236.
Aufnahmeatteste 216.
Aufnahmeverfahren 204.
Aufsichtspflicht, Verletzung der 581.
Aufwendungen, besondere 573.
Aufzeichnungen, schriftl., des An¬
geschuldigten 111.
Augenbefunde bei progr. Paral. 808.
Aura bei epilept. Dämmerzust. 701.
Aussage, Erregung z. Z. der 265;
Kopfverletzungen u. A. 264, 1026.
Aussetzung der Entmünd. wegen
Trunksucht 473.
Auswahl des Sachverst. im Zivil¬
prozeß 587.
Autobiographische Methode 5.
Automatischer Akt 7.
Autosuggestion 122.
Autotoxische Psychosen 914.
Babinskisches Zeichen 73.
Beamte, Alkoholisten oder Degene¬
rierte 322; Definition des Be¬
griffes 320; vorübergehende
Dienstunfähigkeit 326: -Diszipli-
narrecht (Preuß.) 318; Fernblei¬
ben vom Amte ohne Urlaub 325;
Schuldlosigkeit beim Fernblei-
1040
Sachregister.
ben 329; Zurückziehung aus dem [
Betrieb bei Gedächtnisschwäche I
327; Nichtrichterliche 318; Rich¬
terliche, Gesetzliche Vorschrif- |
ten 343; Standespflichten u. Ein¬
schränkung persönlicher Be- ;
wegungsfreiheit 320; Simulation
326; Dienstliche Verfehlungen j
320; Verfehlungen im Privat¬
leben 320; geistig abnorme, j
außerdienstliche und dienstliche '
Verfehlungen 322, Geisteszu¬
stand als Milderungsgrund bei
Verfehlungen 322; öffentliche
als Zeugen, Genehmigung der
Vorgesetzten Dienstbehörde 285.
Beaufsichtigung, ungenügende 211.
Beeidigung der Sachverständigen ^
in Zivilsachen 590. ,
Beeinflußbarkeit des Gefühlslebens '
von Entarteten und Hysteri- '
sehen 18. '
Befehlsautomatie 25.
Begnadigung, bedingte 165.
Begriffe, abstrakte 4.
Begünstigung 180.
Begutachtung, Anordnung einer
neuen 291. i
Beihilfe 178.
Belastung, direkte 78; erbliche 78;
forensische Bedeutung erblicher
B. 81; gehäufte 81; indirekte 78.
Benommenheit bei Testamentser- |
richtung 554.
Beobachtung nach § 81 288.
Beobachtung, Anfechtung des Be¬
schlusses auf 289; Beschluß,
Beschwerde gegen denselben
288; von Soldaten gemäß § 217 (
M.Str.G.O. 312; eines Verurteil- !
ten in einer Irrenanstalt im '
Wiederaufnahmeverfahren E.
316. 1
Beobachtungsalltrag, Abweisung
des 289. I
Berufsgeheimnis, Ärztliches 240. i
Berufsleben bei Manie 607. 1
Berufsvormundschaft 440.
Berufswechsel, Verpflicht, zu nach
Unfall 572.
Beruf, Schädigung der geistigen
Gesundheit durch den B. 97.
BerUhrungsempfindung 73.
Beschädigung, schwere körperliche
im österr. Str.G.B. 352.
Beschäftigungsdelirium 777.
Beschäftigungstherapie 209.
Beschmutzungsfurcht 57; Beisp. 58.
Beschwerde gegen Beschlüsse und
Verfügungen des Gerichts 295.
Besorgung i. S. des § 6 B.G.B. 413.
Besserung geistig Minderwertiger,
Wann kann man dieselbe als
eingetreten betrachten? 148.
Betäubung 191.
Betrunkenheit und Aussage 265.
Bewegungsdrang bei Manie 608.
Bewegungshemmung bei Melan¬
cholie 618.
Bewegungsstereotypien 22; bei
Katatonie 890.
Bewegungsstörungen bei Hysterie
641.
Beweisanträge des Angeklagten 297.
Beweisaufnahme beim Kriegsge¬
richt 314; im Strafverfahren 299.
Bewußtlosigkeit 184, 381; Defini¬
tion der 115.
Bewußtsein 5; Doppeltes 42.
Bewußtseinsstörung 35.
Bewußtseinstrübungen bei Nicht-
Geisteskranken 43; Auslösung
durch Gifte 43; bei Hysterie
648; bei Neurasthenie 634.
Beziehungsvorstellungen 52.
Bezirksgerichte, Verfahren nach
ö. R. 360.
Bißwunden am Zungenrande 71.
Blasenspalte 6.
Blut, Chemische Veränderung bei
Epilepsie 700.
Bluterkrankheit 6.
Brüchigkeit der Rippen bei Para¬
lyse 812.
Bruttrieb 27.
Bürgerliches Gesetzbuch 369.
Sachregister.
1041
Charakter 7; -degeneration bei
Morphinismus 794; -eigenschaf-
ten, Psychopath. 84; Hysteri¬
scher 644; -trieb 27.
Chirurgie u. üeisteskranke 232, 233.
Chorea, Huntingtonsche, Foren¬
sische Bedeutung ders. 831;
Ehescheidung auf Grund von
831, minor 833.
Choreatische Bewegungen bei Pro¬
gressiver Paralyse 810.
Chronischer Alkoholismus 763.
Chronische Alkoholpsychosen 783.
Clownismus bei Hysterie 643
Combinationsfähigkeit 65.
Dämmerzustände 36, 117; Alkoho¬
lische 756; die wichtigsten l'or-
men der 37; bei Epilepsie 705;
Erinnerung an — bei Epilepsie
708; das Verhalten der Erinne¬
rung 111; Qansersche 996,
1026; in und nach der Geburt
136; Handlungen der in —n Be¬
findlichen 36; bei Hysterie, nach
Kopfverletzungen ,387; Nach¬
weis der 37.
Degeneration 82; Epileptische 712;
-szeichen 6; körperliche 6.
Dekubitus bei progressiver Para¬
lyse 812.
Delikte bei Epil. 716; im pathol.
Rausch 757; bei Entarteten 678;
bei Hysterie 668; bei Manie 613;
bei Schwachsinn 743; bei Dem.
sen. 854.
Deliktfähigkeit 575, 577.
Deliriöse Zustände bei Hysterie
648; bei Kokainismus 799, 804,
755.
Delirium 42; bei Kreissenden 137.
Delirium tremens 776.
Dementia paranoides 893.
Dementia praecox 897; Differen¬
tialdiagnose; Hysterie 899; Ehe¬
scheidung 910; Forensische Be¬
deutung 897; in der Haft 987;
Schwankungen des Körperge-
Häbner, Forensitebe Psychiatrie.
i Wichts 896; Körperliche Sym¬
ptome 896; Kriminelle Handlun-
gen 902; Miltärzeit 906; Pupil-
I lenerscheinungen 896; Testier¬
fähigkeit 910; nach Unfall 1024;
Zivilrechtliche Bedeutung 907.
Demenz bei Alkoholpsychosen 76s:
^ -artige Zustände bei Gefängnis¬
psychosen 988; bei progressiver
I Paralyse 43.
Denkhemmung 43; bei Melancholie
I 618.
Depression. Agitierte, bei zirkulä-
^ rem Irresein 623.
I Deprimierte, der 18.
' Diebstahl der Schwangeren 13,
1009.
Diensteid als Sachverständigeneid
286.
j Dienstentlassung durch Disziplinar¬
verfahren 327; durch längere
unerlaubte Entfernung verwirkt
327.
Dienstfähigkeit eines Beamten, Ein¬
fluß gewisser zivilrechtlicher
Maßregeln auf die .339; bei Epi¬
lepsie 7.32; bei Paranoia chro-
I nica 946; bei zirkulärem Irre¬
sein 630.
j Dienstunfähigkeit, anerkannte .326;
dauernde 337; vor Eintritt der
1 Pensionsberechtigung 334; vor¬
übergehende 326.
Dienstvergehen 320.
Dienstvertrag 583.
Differentialdiagnose: Hysterie und
Dementia praecox 899; —; Dem.
praecox und nerv, und psych.
Stör. Entarteter 683.
Dipsomanie 385; bei Epilepsie 710.
Dissimulation 47, 85, 93; bei Hallu¬
zinanten 928.
Disziplinargerichte für Richter 343.
Disziplinargesetz, preußisches 318;
für Richter .343.
Disziplinarrecht für Rcichsbeamte
i .344; Berufung im 332; Wieder-
I aufnahmeverfahren im 332.
G6
1042
Sachregister.
Disziplinarstrafen. Ordnungsstra¬
fen und Entfernung aus dem
Amte 328.
Disziplinarverfahren bei Dienstun¬
würdigkeit 330; Einstellung des
331, 332; mündliche Verhand¬
lung 331; Rechtskraft des Ur¬
teils 332.
Dorftestament 549.
Dorsalflexion 73.
Dressur bei Hypnose 124.
Ebbinghaussche Ergänzungs¬
methode 68.
Echolalie 25, 889.
Echopraxie 25. 889.
Egoismus 18; bei Epil. 173; bei
Schwachsinn 736.
Ehe 495; Eingehung 496, 498;
Wirkungen der 516; Anfechtung
504; Voraussetz, der A. 504;
Anfechtungsberechtigte 506; An¬
fechtungsgründe 505; Ausschluß
der Anfechtung 505; Irrtum De¬
finition 506; Sachverständigen¬
tätigkeit dabei 514; arglistige
Täuschung 506; Sachverstän¬
digentätigkeit dabei 514; und
Morphinismus 797; Nichtigkeit
501; Wirkungen der Nichtig-
keitserkl. 503; Qeschäftsunfähig-
, k'eiF als Nichtigkeitsgrund 501;
Bewußtlosigkeit als Nichigkeits-
grund 501; verständige Würdi¬
gung des Wesens 506; persön¬
liche Eigenschaften 508; ehe¬
liche Lebensgemeinschaft 516;
Mißbrauch des Rechtes 517;
Umstände (Definition) 510, arg¬
listige Täuschung, Entdeckung
ders. 513; Entdeckung des Irr¬
tums 513; Psychopathenehe 697;
bei Schwachsinn 752; internat.
Privatrecht 542; ö. R. 546.
Ehefähigkeit u. Entmündigung 421.
Eheliche Pflichten. Verweiger. .524.
Ehescheidung 516; Begriff Geistes¬
krankheit .530; Aussicht 538;
j Wiederherstellung 538; dreijäh-
' rige Frist 532; Geisteskrankheit
, und Geistesschwäche u. E. 531;
I Aufhebung der geist. Gemein¬
schaft 533; Prognosestellung
I bei E. wegen Geisteskr. 540;
Voraussetz, der Ehescheidungs-
' klage 530; Zumuten 523; Bös-
I liches Verlassen 520; Verletzg.
j der durch die E. begründeten
Pflichten 521; absolute Gründe
j 519; relative 521, 522 523; Wir¬
kung d. Ehescheid. 542; inter-
j nat. Privatrecht 544; ö. R. 546;
E. u. geschlechtl. Pervers. 524.
1011; Alkoholismus 526; nor¬
male Affekte 529; Hysterie und
Degen. 524, 672; Schwachsinn
529; Dem. praecox 910; Epi¬
lepsie 731; zirkul. Irresein 630;
^ Amentia 913; Paranoia acuta
922; Paran. chron. 946; Queru¬
lantenwahn 971; Neurasthenie
636; Eifersuchtswahn 785; Hun-
tingtonsche Chorea 831.
Eheschließung geistig Minderwer¬
tiger 500; Geisteskranker 499.
I Eheunmündigkeit 498.
Eideshindernisse 362.
Eifersuchtswahn 53; bei Alkohol-
1 psych. 783; bei Kokainismus
1 800, und Testierfähigkeit 562.
Einsicht 159; Feststellung ders. 161.
Eklampsie 136.
, Empfindung 3.
Encephalitis subcorticalis 836.
Entartete 78, 82, 674, 693; Ver¬
schrobene 688; Delikte 678; Ehe
I 697; Entmündigung 696; Ge¬
schäftsfähigkeit 697; Poriomanie
I 679; Strafvollzug 678.
Entfernung aus dem Amt 328; von
der Gerichtsstelle 294.
Entlassung Geisteskranker 222:
geisteskr. Verbrecher 222.
I Entmündigung 405; Übergangsbest.
beim Inkrafttreten des B.G.B.
I 486; Ablehnung 439; Anfechtung
Sachregister.
1043
440; u. Amtsverlust 339; und
Anstaltspflegebedürftigkeit 415;
Antragsberechtigung 426; Attest
429; Ausländer im Inlande 428;
ö. R. 484; inter. Privatr. 482;
Beschluß 426; Beschwerde gegen
Ablehnung 439; Einl. des Ver¬
fahrens 427; Oemeingefährlich-
keit 414; Geisteskrankheit und
Geistesschwäche 408; Inkraft¬
treten der E. 423, 438; chro¬
nische Trinker 786; Alters¬
schwachsinn 856; Amentia
913; Entartete 696; Epilepsie
731; Gehirnarteriosklerose 843;
Hysterie 671; Manie 616; Neu¬
rasthenie 636; Quenilantenwahn
960; Schwachsinn 751; zirku¬
läres Irresein 628; Wirkungen
der E. 423; Gutachten 436;
Kosten des Verfahrens 438;
Ausschluß der öffentlichk. beim
Termin 434; richterl. Protokoll
344; Testierfähigkeit u. E. 421,
551; Zustellung d. Beschlusses
438, 440; Verfahren 426; An¬
staltsbeobachtung 436; Sach-
verst. im E.-Verfahren 433;
Staatsanwalt u. E.-Verfahren
431; Maßnahmen während des
Verf. 431; Verfahren bei E.
wegen Trunksucht 472; Anfech¬
tung des Beschl. bei E. wegen
Trunks. 475; Kosten des Ver¬
fahrens bei E. wegen Trunks.
474; Wiederaufhebung der E.
wegen Trunks. 467, 477; Wir¬
kung der E. wegen Trunks. 477;
Wiederbemündigung bei E. weg.
Trunks. 477; Zustellung des Be¬
schlusses 475.
Entweichungen Geisteskranker 224.
Entwickelungsphasen des Men¬
schen 97.
Epilepsie 698; Alkoholepil. 763; Al¬
koholwirkung 712; Amnesie 703;
Dienstfähigkeit 732; Anstalts¬
unterbringung 732; Asymbol.
I
Störungen 707; Aphasie 707;
Aura 701; Degeneration d. Cha¬
rakters 712; Veränderungen d.
Bluts 700; Diagnose 714; Dipso¬
manie 710; Dämmerzustände
705; Wahnvorstellungen 708;
^ Verstimmungen 709; Urteil 713;
I Krampfanfall 700; Petit mal
704; Status epilepticus 703;
I Halluzinationen 706; Frömmelei
I 713; Egoismus 713; Lüge 713;
Mißtrauen 713; Poriomanie 711;
Rauschzustände 755; Paraesthe-
sien 703; Traumatische 700,
1022; Entmündigung 731; Ge¬
schäftsfähigkeit 731; Testier¬
fähigkeit 731; strafrechtl. Be-
deutg. 716; Ehescheidung 731.
Erinnerung im Rausch 119.
Erinnerungsbild 3.
Erinnerungstäuschung, identifizie¬
rende 64.
Erkrankungen, die vor dem Unfall
I bestanden 570, 1031.
Ermittelungsverfahren im Diszipli-
I narrecht 330.
Erregung 18. 22, 990.
Errötungsfurcht 57.
Ersatzzustellung 440.
I Erwerbsfähigkeit 1021, 1031.
Erythrophobie 57.
Euphorie, demente bei Paralyse
806.
Exacerbationen bei Paranoia 929.
Exaltation 17.
Exhibitionismus 1010.
Fahrlässigkeit, Annahme derselben
250.
' Falscheid. fahrlässiger 250.
I Familienrecht der Geistesgestörten
495; Haager Abkommen vom
I 12. VI. 1902 545; österr. Recht
546.
I Fazialisdifferenz bei progr. Paral.
; 810.
I Fetischismus 1009.
66
1044
Sachregister.
Finger, überzählige 6.
Flexibilitas cerea 21.
Folgen längeren Kokaingebrauches
799.
Forensische Bedeutung von Amen-
tia 912; Delirium 776; Alkohol¬
psychosen 779; Dementia prae¬
cox 897; Epilepsie 716; Oefäng-
nispsychosen 990; Qehirnarte-
riosklerose 837; Qehirnsyphilis
826; Huntingtonschen Chorea
831; Hypochondrie 638; Hyste¬
rie 658; Infektions- und auto¬
toxische Psychosen 914; Kor-
sakowschen Psychose 773;
Manie 612; Melancholie 621;
Neurasthenie 634; Paranoia
acuta 921; Paranoia chronica
925, 929; progressiven Paralyse
815; Querulantenwahn 952;
Schwachsinn 742; Sadismus u.
des Masochismus 1008; Unfall-
neu rosen und -Psychosen 1026.
Fragestellung beim Schwurgericht
269.
Freiheitsberaubung, widerrecht¬
liche, durch Anstaltsärzte 214.
Fürsorgeerziehung 172.
Fürsorgevereine für geistig Min¬
derwertige 143.
Fiißklonus 72.
Fußzittern = FuBklonus.
Gang bei Paralyse 811.
Qanserscher Dämmerzustand 990.
Gaumen, steriler 6.
Gebärende, Geisteszust. 132, ö. R.
350.
Gebrechen, geistige 338.
Gebühren, der Sachv. in Strafs.
295. in Zivilsachen 589. 591.
Geburtenziffer 11.
Gedächtnis 3; Störungen 60, 62;
Untersuchung dess. 64; u. Aus¬
sage 264; bei Schwangeren 137;
bei Unfallverletzten 1019; bei
Alkoholisten 772; und Zeugnis¬
fähigkeit 25.3, 261.
Qedankenablauf-Störungen 43.
Qedankenlautwerden 46.
Qefangenenbefreiung 225.
Gefängnispsychosen 987; degene-
rative 988; neurasth. und hyst.
Sympt. 988; querulatorische
988; paranoische 988; demenz¬
artige 988; Erregungszustände
990; Qansersche Dämmerzust.
990; Ainentiaformen 990; hyste¬
rische Delirien 990; forens. Be¬
deut. 990.
Gefühle, Verlust der ethischen bei
Hebephrenie 885.
Gefühlsleben Jugendlicher 153.
Gefühlssinn 73; bei Hysterie 640;
bei Paralyse 811.
Gefühlston 4.
Gehirnarteriosklerose 834; Agra-
pliie 842; Alexie 842; Parapha¬
sie 842; sensorische Aphasie
842; motorische Aphasie 842;
forens. Bedeut. 837; Zeugnis!.
844; Geschäftsfähigkeit 844; Ent¬
mündig. 843; senile Rindenver-
ödung 836; perivaskuläre Qliose
8,36; Encephalitis subcortical.
chron. 836; Größenideen 836;
Ausfallserscheinungen 835; ner¬
vöse Form 843; Schlaganf. 836.
Gehirnerweichung 19. 801.
Qehirnsyphilis 824; forens. Bedeut.
826.
Qehirnverletzungen nach Unfall
1025.
Geisteskrankheit und Strafvollzug
270; i. S. des § 176 Str.O.B.
188; u. Körperverletzung 193.
195; Unterschied von Geistes¬
schwäche 418; als Entmündi¬
gungsgrund 408; Inkrafttreten
der Entm. wegen 438.
Geistesschwäche Entmündig. 408.
Qeistestätigkeit, krankhafte Stö¬
rung der 138, 395.
Geistesstörung latente bei Proze߬
beteiligten 599. 600.
Sachregister.
1045
Geisteszustand der Gebärenden
132; ö. R. 350.
Geistig Abnorme, Testierfähigkeit '
550.
Geistige Gebrechen 489.
Geistige Störung i. S. des § 51 |
Str.G.B. 138; i. S. des § 104, 105 1
B.G.B. 395.
Gemeingefährlichkeit 227, 228; u.
Anstaltspflege 229; u. Entm. 414.
Gemütserregung u. Zeugnisfähigk. ,
2.52.
Gemütsstumpfheit bei Dem. praec.
884.
Geruchshalluzination 46.
Geschäftsfähigkeit 370, 374; bei
Epil. 731; bei Arteriosklerose
844; bei Schwachsinn 396, 752; I
Altersschwachsinn 398; Amentia
913; mot. Aphasie 391; Bezie¬
hungswahn 389; vorübergeh.
Geistesst. 380; beschränkte 376;
internat. Privatr. 400; chron.
Geistesst. 392; Lebensalter und
374; bei Manie 389, 397; bei
Melancholie 389; Paraphasie 391;
Paran. chron. 945; Paralyse
396; Wirkung der beschr. G.
399.
Geschäftsunfähigkeit 376, 392; Wir¬
kungen 399; und Geistes¬
schwäche 393; u. Geisteskrank¬
heit .393.
Gerichtsstelle. Entfernung von der
294.
Geschlechtsleben Jugendlicher 194.
Geschlechtstrieb 27; bei Manie 612,
615; bei Dem. sen. 853.
Geschmackshalluzinationen 46.
Gesetz über den Vers.-Vertr. .566;
über die Beurk. des Personen¬
standes 499; betr. Trunks. 471.
Gesichtsausdruck bei Katatonie 889;
bei Manie 611; bei Melancholie
619.
Gesichtsbildung 6.
Gesichtsfeld 71; bei Hyst. 641.
Gewohnheitsverbrecher 141; Un¬
schädlichmachung 147.
Globuline 74.
Grausamkeit der Frauen 10.
Greisenalter 15, 845.
Grenzzustände 138; Beurteil. 293.
Größenwahn 49; forens. Bed. 50;
bei Paran. chron. 927; bei Para¬
lyse 49, 803.
Grundlagen, physiolog., des Ge¬
schlechtstriebes 28.
Gutachten, falsche 249, 304; münd¬
liche 302; in Strafs. 288; Form
ders. 300; Nachprüfung ders.
292; einer Fachbehörde 292; un¬
genügende, im Militärstrafproz.
313; in Zivils. 491; Verweige¬
rung in Zivils. 590; im Entmiin-
digungsverf. 436.
Haager Abkommen Entm. 483;
Familienrecht 545.
Haft, Einfluß auf Degenerierte 963.
Haftfähigkeit 270.
Haftpflicht des Arztes 235.
Handeln, Störungen des 19.
Handlungen, reflexoide 28; uner¬
laubte 576; bei Dem. praec. 902.
Handlungsfähigkeit 370; Geistes¬
gestörter ö. R. 402 u. 405.
Haltung bei Katatonie 889.
Halluzinationen 44; kinästhetische
47; des Gefühlssinns 46; op¬
tische 45; akustische 45; der
Erinnerung 62; bei Epil, 706;
bei Paranoia 926.
Halluzinose der Trinker 780; bei
Kokainmißbrauch 799.
I Hauptverhandlung 358.
Hautpigmentierungen 6.
I Hebephrenie 883; Verblödung 886;
Zerfahrenheit 885; Verlust der
ethischen Gefühle 885; Qemüts-
stumpfheit 884; Urteil 884; Sin¬
nestäuschungen und Wahnideen
884; hypochondrische Beschw.
884.
Hehlerei 180.
1046
Sachrejrister.
Hemiplegie bei Hysterie 642; bei
Arteriosklerose s. Schlaganfall.
Hemmung 20.
Heredität 78.
Hilflosigkeit, körperliche, Testier¬
fähigkeit 554.
Hinterbliebenenrente 1027.
Hornhautreflex 70.
Hörigkeit 124.
Homosexualität 1004.
Hunger 27.
Hydrozephalus 76.
Hypästhesie 73.
Hypalgesie 73.
Hyperästhesie 73.
Hyperalgesie 73.
Hyperthymie 17.
Hypnose, Definit, d. Begriffs 42,
121, 185; Zeugnis hypnotisierter
127; -Bewußtlosigkeit i. S. des
§ 51 Str.Q.B. 123; Schadener¬
satz 579; Verbrechen an Hyp¬
notisierten u. fahrl. Mißbr. ders.
125.
Hypnotiseur 261; ö. R. 353.
Hypochondrie 636; forens. 638,
zivilrechtl. 51, h. Vorstell, bei
Paralyse 804; bei Hebephrenie
884; bei Paranoia chron. 928.
Hypomanie 610.
Hypotaxie 122.
Hysterie 638; Abasie 642; Aphonie
642; Astasie 642; Attitudes pas-
sionelles 643; Anfälle 642, 990;
Bewegungsstörungen 641; Be¬
wußtseinstrübung 648; Clowiiis-
men 643; Charakter 644; Däm¬
merzustände 648; Delikte 668;
deliriöse Zust. 648, 990; Ehe¬
scheidung 672; Entmündigung
671; Psychische Erscheinungen
644; forens. Bed. 658; Sensibili¬
tätsstörungen 640; Gesichtsfeld
641; Hemiplegie 642; körperl.
Sympt. 639; Makropsie 641;
Mikropsie 641; Mißempfindun¬
gen 640; Mutismus 642; Para¬
noia 648; Pseudodemenz 654;
Ptosis 642; u. Schwachsinn 647;
Selbstbeschädigungen 657; u.
sex. Pervers. 665; Sinnlichkeit
647; Somnambulismus 649; Stö¬
rungen der Sinnestätigkeit 641;
plastische Stellungen 643; Stu¬
por Hyst. 990; Tachykardie
664; Testierfähigkeit 554, 673;
Trancezustände 649; Uberemp¬
findlichkeit 641; Warenhaus-
diebst. 666; Zeugnisfähigk. 670.
Ideenflucht 23, 43, 608.
Idiotie 740.
Illusion 44.
Imbezillität 741.
Impulsive Handlung 25, 32.
Impulsives Irresein 33.
Infektion psychische 100.
I Infektionskrankheiten als Ursache
von Geistesstörungen 98. 752.
Infektionspsychosen 913; forens.
Bed. 914.
Inkohärenz 43.
Inkontinenz bei Paralyse 813.
Insuffizienzgefühl subjektives bei
Melancholie 618.
Instinkte 25, 30; pathol. Äußerun¬
gen derselben 30.
Intelligenz 4, Prüfung derselben 68.
Internierung unbegründete 204.
I Intoleranz gegen Alkohol 753.
Invaliden u. Altersvers. 603.
Irrenabteilungen an Gefängn. 290.
Irrenanstalt i. S. des § 81 Str.P.O.
290.
Irrenarzt rechtl. Stellung 204.
Irrenpfleger 204.
Isolierung 211.
Jugendliche 151; ö. R. 348; Krimi¬
nalität 152; Verfahren gegen
165; ö. R. 363.
Kachexie bei Morphinism. 795.
Katalepsie 21; bei Katatonie 889.
Katatone Anfälle 896; Erregung bei
Dementia praecox 890.
Sachregister.
1047
Katatonie bei progress. Paralyse
804; Echolalie 889; Echopraxie
889; Qesichtsausdruck 889; Hal¬
tung 889; Initialstadium 887;
Katatone Erregung 890; Kata¬
lepsie 889; Motorische Unruhe
22; Nahrungsaufnahme 888;
Stupor 888; Stereotype Be¬
wegungen 890; Verblödung 893;
Vorstadium 886; Wortneubil¬
dungen 890; Wortsalat 891.
Kinderaussagen 256; Bewertung
derselben 257.
Klage, Erhebung der 268.
Kleinheitswahn 50.
Klima, Wirkung auf d. Psyche 100.
Klimakterium 13.
Kokainismus 33; DeliriöseZustände
799; Eifersuchtswahn 800; Fol¬
gen längeren Kokaingebrauches
799; Halluzinose 799; Körper¬
liche Störungen 798; Kokain¬
rausch 799; Schußwaffen 801.
Kokainist 52.
Kohlenoxydvergiftung 97.
Koma 35.
Kombinatorische Paranoia 923.
Kombinieren 4.
Konfabulieren 62.
Konstitution, psychopathische 82.
Konvergenzreaktion 70.
Körpergewicht, Schwankungen bei
Dementia praecox 896.
Körperliche Symptome bei Demen¬
tia praecox 896; Störungen bei
Kokainismus 798; Veränderun¬
gen bei Manie 611.
Körperverletzung durch Behand¬
lung 206.
Kopfverletzungen bei Schwachsinn
752.
Kornealreflex 70.
Korsakowsche Psychose bei Alko¬
holpsychosen 771.
Kosten des Entmündigungsverfah¬
rens 438.
Krampfanfall bei Epilepsie 700.
Krampferscheinungen 73.
I Krankenversicherung 600.
' Krankheit der Angeklagten und
Verurteilten (ö. R.) 365.
I Krankheitsbedingungen 95.
Krankheitsgefühl bei Neurasthenie
633.
^ Krankheitsursache 95.
j Kreuzverhör 298.
I Kriminalität bei Altersschwachsinn
847.
Kritik s. Urteil.
Kurpfuscher 201; ö. R. 353.
Kryptorchismus 6.
Lähmung 72, 193, 196.
Lebensalter, Geschäftsfähigkeit 374.
Lebenslauf als Urteilsreaktion 67.
Lebensversicherung 566.
Lichtreflex 70.
Lichtstarre 70.
Lippenbeben bei progress. Para¬
lyse 810.
Liquor cerebrospinalis 79.
Lüge in der Hypnose 127; bei Epi¬
lepsie 713; pathologische 63.
Lymphozytose 74.
Mädchen, Zeugin bei Sexualdelikt
258.
Makropsie bei Hysterie 641.
Makroskopische Veränderungen bei
progressiver Paralyse 814.
Malaria 98.
Manie 605; Alkoholexzesse 607;
Beginn 606; Berufsleben 607;
Bewegungsdrang 608; Dauer
612; Delikte 613; Dienstliches
Verhalten 614; Entmündigung
Erleichterung des Vorstellungs¬
ablaufs 608; Forensische Be¬
deutung 612; Geschäftsfähigkeit
616; Geschlechtstrieb 612, 615;
Heitere Verstimmung 606;
Hauptsymptome 606; körper¬
liche Veränderungen 611; leich¬
tere Formen 610; § 176, 2
Str.G.B. 615; Rededrang 608;
Schrift 609; Sinnestäuschungen
1048
Sachregister.
611; Stirtimungsschwankungen
607; Strafrechtliche Zurech¬
nungsfähigkeit 612; Unvermittel¬
tes Eintreten der 606; Ursachen
605; Verwirrtheitszustände 612.
Manieren 25.
Manischer Stupor 623.
Manisch-depressive Mischzustände
bei zirkulärem Irresein 623.
Manisch-depressives Irresein und
Dienstsfähigkeit 630; strafrecht¬
lich 624; nach Unfall 1023.
Masochismus 1077.
Masselonsche Methode 68.
Massendelikt. Frauen beim 10.
Massenverbrecher 66.
Medikamente, Mißbrauch 97.
Meineid, Verleitung zum 249.
Melancholia agitata 620.
Melancholie, Angstgefühl 618,
Forensische Bedeutg. 621, Hem¬
mung der Bewegungen 618,
Hemmung des Denkens 618
Nahrungsverweigerung 620
Raptus melancholicus 619
Schlaflosigkeit 620; Selbstbe¬
zichtigungen 622; Selbstmord¬
neigung 620; Selbstvorwürfe
618; Sinnestäuschungen 619;
Subjektives Insuffizienzgefühl
618; Vorstadium 617; Verfol¬
gungsideen 619; Zivilrechtliche
Beziehungen 622.
Menstruation 11.
Merkfähigkeit 3; Störungen der 60;
Nachweis der Störungen 61.
Mikropsie bei Hysterie 641.
Mikroskopische Veränderungen bei
progressiver f^aralyse 814.
Milderungsgründe im öst. Str.O.B.
349.
Milieufrage für aus d. Anstalt Ent¬
lassene 144.
Militärgericht. Zuständigkeit 305.
Militärpersonen, selbstverschuldete
Trunkenheit 307.
Militärstrafgesctzbuch 3i>4.
Militärstrafprozeß 311.
Militärtestament 549.
Militärzeit und Dementia praecox
906.
Minderjährigkeit und Testierfähig¬
keit 559.
Miose bei progressiver Paralyse
808.
Mißhandlungen 210.
Mißtrauen 17; bei Epilepsie 713.
Mitschuld im österr. Str.O.B. 348.
Mittäterschaft 178.
Momente, psychische, Erzeuger
nervöser u. psychischer Stö¬
rungen 98.
Moralische Idiotie 741.
Mord 51.
Morphinismus 33; Abstinenzerschei¬
nungen 793; Charakterdegene¬
ration 794; Eheanfechtuiigsgrund
797; Morphiumkachexie 795;
Strafrechtl. Zurechnungsfähigk.
795; Zivilrechtl. Folgen 796.
Motorische Unruhe 22; bei progr.
Paralyse 803.
Mutazismus 20.
Mutismus bei Hysterie 642.
Mydriasis bei progressiver Para¬
lyse 808.
Mysophobie 57.
Nachtwandeln 43.
Nahrungsaufnahme bei Katatonie
888; bei Melancholie 620.
Narkose 185.
Narkotika 579.
Negativismus 21.
Nervöse Form der Qehirnarterio-
sklerose 834.
Neurasthenie, Angstgefühl 633; Be¬
wußtseinstrübungen 634; Ehe¬
scheidung 636; Entmündigung
636; Forensische Bedeutung 634;
Körperliche Symptome 632;
Krankheitsgefühl 633; Psychi¬
sche Symptome 632; Reizbar¬
keit 633; Schwere 97; Vorsta¬
dium organischer Erkrankungen
634.
Sachregister.
1049
Nichtbefolgung ärztlicher Anord- !
nungen 566,
Nichterfüllung formaler Versiehe- I
rungsbedingungen 566.
Nichterscheinen der Sachverstän- j
digen in Zivilsachen 591.
Notwehr 181; Schadenersatz 567. 1
Obduktion 75.
Obergutachten 292.
Objektivierung von Vernehmungen '
256.
Obligationsrecht. International. 583.
österr. Bürgerl. Recht 402.
Offenbarung, befugte 244.
Ohrblutgeschwulst 812.
Onanie 96.
Operationen bei Fürsorgezöglingen
175.
Orte, abgesperrte und Testament
549.
Parästhesien bei Epilepsie 703.
Paralyse, progressive; Augenbe¬
funde 808; Ataktischer Gang |
811; Athetoide Bewegungen 810;
Brüchigkeit der Rippen 812;
Choreatische Bewegungen 810;
Dekubitus 812; Deliriöse Zu- |
stände 804; Demenz 804; De¬
mente Euphorie 806; Fazialis- 1
differenz 810; Forensische Be¬
deutung 815; Störungen der Qe-
fäßinnervation 813; Gefühlssinn¬
störung 811; Geschäftsfähigkeit
397; Größenideen 803; Hypo- i
chondrische Vorstellungen 804;
Inkontinenz 813; Katatonie 804; ,
Körperlicher Verfall 807; Lip- ,
penbeben 810; Makroskopische J
Veränderungen 814; Mydriasis
808; Mikroskopische Veränd. '
814; Miose 808; Motorische Un- |
ruhe 803; Ohrblutgeschwulst ,
812; Paralytische Anfälle 813;
Paretischer Gang 811; Patholo¬
gische Anatomie 814; Reflexe
811; Remissionen 807; Schwie¬
rigkeiten für Sachverständige
durch Remission 819; Schrift¬
veränderung 809; Spastischer
Gang 811; Sprachstörungen 808;
Syphilis 801; Testierfähigkeit
553; Trophische Störungen 811;
Unfallneurosen und -psychosen
1023; Heitere Verstimmung:
Vorstadium 802: Wassermann-
sche Reaktion 813; Zähneknir¬
schen 810; Verschiedene akute
Zustandsbilder 805.
Paralysis agitans 72.
Paralytiker, Motorische Unruhe 22.
Paranoia acuta, Vorstadium 915;
Ehescheidung 922; Forensische
Bedeutung 921.
Paranoia chronica, Äußeres Ver¬
halten 926; Dienstfähigkeit 946;
Dissimulation bei Halluzinanten
928; Ehescheidung 946; Erinne¬
rungstäuschungen 926; Essen¬
tielle Punkte für d. Beurteilung
942; Exazerbationen 929; Foren¬
sische Bedeutung 925, 929; Ge¬
schäftsfähigkeit 945; Größen¬
ideen 927; Halluzinatorische
Paranoia 926; dieselbe bei Ge¬
fängnispsychosen 988; Hypo¬
chondrische Paranoia 928;
Hysterische Paranoia 648; Sin¬
nestäuschungen 926; Testier¬
fähigkeit 553. 947; Verlauf 929;
Zivilrechtliche Bedeutung 945.
Paraphasie 71; bei Gehirnarterio¬
sklerose 842.
Parteien und Parteivertreter bei
latenter Geistesstörung v. Pro¬
zeßbeteiligten 599.
Patellarreflex 72.
Pensionierung, Geisteskrankheiten
bedingend die 341; infolge kör¬
perlicher oder geistiger Krankh.
355.
Personenverkennung 47.
Perversität, sexuelle 32, 84; Dieb¬
stähle 1009; Fetischismus 1009;
Forensische Bedeutung von Sa-
1050
Sachregister.
dismus und Masochismus 1008;
Ehescheidung 1011; Exhibitio¬
nismus 1010; Homosexualität
1004; Hysterie 665; Masochis¬
mus 1007; Reichsgerichtsent¬
scheidungen 998; Sadismus
1006; Sodomie 1010.
Petit mal 41; bei Epilepsie 704.
Pflegepersonal, Bestrafungen 210.
Pfleger, Auswahl derselben 492.
Pflegschaft, Aufhebung ders. 493;
Beendigung ders. 493; wegen
geistiger Gebrechen 489; für
Minderjährige 488; „Verständi¬
gung“ (Definition) 490; Ver¬
ständigung, Hinderungsgründe
einer V. 491; für Volljährige 488;
Voraussetzungen 487; und Vor¬
mundschaft; Unterschied zwi¬
schen derselben 488; Vorläufige
Pflegschaft 437; rechtliche Wir¬
kung der 493.
Phoneme 45.
Phobien 57.
Platzangst 57.
Poriomanie bei Epilepsie 711; bei
Entarteten u. Hysterischen 679.
Presbyophrenie bei Altersschwach¬
sinn 849.
Privatgeheimnis, Definition 242.
Privatgutachten in Zivilsachen 586.
Privatrecht, Internationales 482.
Privattestament bei Testierfähig¬
keit 549.
Prostituierte 189.
Pseudodemenz bei Hysterie 654;
bei Unfallneurosen u. -Psycho¬
sen 1018.
Pseudohalluzinationen 44.
Pseudologia phantastica 63; bei
Hysterischen u. Entarteten 696.
Pseudoparalyse, Alkoholische 785.
Pseudostupor 22.
Pseudotetanie, Hysterische 642.
Psychiatrie, Spezielle 604.
Psychische Momente als Erreger
nervöser und psychischer Stö¬
rungen 98.
' Psychopath, Lebensgang 84.
I Ptosis bei Hysterie 642.
Pubertät 14, 83.
Publikum und Anstalt 216, 221.
Pupillenerscheinungen bei Demen¬
tia praecox 896.
I Pupillenstörungen 70.
' Pupillenstarre, absolute 70.
Querulantenwahn 53; Eorensische
Bedeutung 952; Echte Queru¬
lanten 948; Ehescheidung 971;
Entmündigung 960; bei Qefäng-
I nispsychosen 988; Hafteinfluß
963; Reichsgerichts - Entschei¬
dungen 961.
I Rachenreflex 71.
Raptus melancholicus 619.
Rassen-Verschiedenheit als Krank-
I heitsursache 98.
Rausch, Kokain- 799; Normaler und
pathologischer 120; Pathologi-
I scher 750; Nachweis des pathol.
762.
Rededrang bei Manie 608.
I Reflexe bei progr. Paralyse 811.
Reflextätigkeit, Störungen 72.
Regenbogenhaut (Iris) 6.
Regeneration 81.
, Rechtsbeistand und Anstaltsleitung
220 .
Rechtsfähigkeit 369; Beginn der¬
selben 370; österr. Recht 402.
Rechtsgeschäft 370; Anfechtung
desselben 372; Abschluß im Zu¬
stand von Bewußtlosigkeit 383;
i Abschluß im schweren Rausch
386; Gültigkeit 373; Mangel¬
haftigkeit 373; Nichtigkeit 371;
Unterschied zwischen Nichtig-
^ keit und .Anfechtbarkeit 373.
^ Rechtsprechung d. Reichsversiche-
I rungsamtes bei Unfallneurosen
und -Psychosen 1030.
Reichsbeamte, besondere Bestim¬
mungen bezgl. Versetzung usw.
345.
Sachregister.
1051
Reichsversicherungs - Ordnung, In- I
validen- und Altersversicherung
603; Krankenversicherung 600;
Unfallversicherung 601. I
Reizbarkeit 17; bei Alkoholpsycho- .
sen 764; bei Neurasthenie 633;
bei Unfallneurosen u.-Psychosen j
1018. '
Reizerscheinungen b. Hysterie 642.
Rekurs an das Staatsministerium |
335.
Remissionen bei progr. Paralyse
807. j
Rentenkampfneurose 574. '
Richter, freie Beweiswürdig. 107.
Richter. Schöffen, Geschworene, |
Qerichtsschreiber mit latenten ,
Geistesstörungen als Proze߬
beteiligte 599.
Richterliche Beamte 342.
Rindenverödung, senile und peri¬
vaskuläre Gliose 836. I
Rippenbrüchigkeit bei progr. Para- |
lyse 812. !
Rührseligkeit bei Alkoholpsycho¬
sen 764.
Sachen, abgenommene von Kran¬
ken 221.
Sachleitung beim Kriegsgericht 314. ;
Sachverständiger, Definition 279;
Wahl dess. 279; Ablehnung 280;
Pflicht der Ernennung Folge zu !
leisten 281; Ermittelungen des- i
selb. 290; Ladung 282; unmittel¬
bare Ladung 282; Strafe für
Nichterscheinen 282; entschul- |
digtes Ausbleiben 282; Aufhebg.
der Strafen 283; öffentl. Beamte
als S. 283; Schweigepflicht 284;
Beeidigung in Strafs. 285; all¬
gemeine Beeid. 285; Ladung
durch die Angesch. 296; Gebüh- |
ren 295, 297; Entlohnung ö. R.
362; Bestrafung ö. R. 361.
Sachverständiger, Zeuge 287, 591.
Sachverständigentätigk. in Strafs.
279; Zeugnisverweigerungsrecht |
i. Strafs. 283; Unwahre An¬
gaben bei Entschuld. 283; ö. R.
354; in Zivilsachen: Verweige¬
rung d. Zeugn. 592; erneute
Begutachtung 591; Gebühren
589, 591; Privatgutachten 586;
Ablehnung 588; Gutachtenver¬
weigerung 590; Nichterscheinen
590; Beeidigung 590; schriftl.
Gutachten 591.
Sadismus 1006.
Saugen des Kindes 30.
Schadenersatz 567, Verpflichtung
zum Anstaltsaufenthalt 572; An¬
staltsdirektion 581; Verletzung
der Aufsichtspflicht 581; beson¬
dere Aufwendungen 573; Ver¬
pflichtung zum Berufswechsel
572; Hypnose 579; Unterlassung
des Heilverfahrens 571; Krank¬
heiten vor dem Unfall 570; Nar¬
kotika 579; Notwehr 567; ö. R.
584; Rentenkampfneurose 574;
Taubstumme 577; selbstver¬
schuldete Trunkenheit 579; ur-
sächl. Zusammenhang 569; Um¬
fang des Sch. 569; fahrlässige
Widerrechtlichkeit 576; vor-
sätzl. Widerrechtl. 576.
Schädelverletzungen bei Epil. 700.
Schändung 184.
Schlaf 42; Störungen dess. beim
Kinde 82.
Schlafanfälle bei Hysterie 651.
Schlaflosigkeit bei Melancholie 620.
Schlaftrunkenheit 43; Zustand von
Bewußtlosigkeit 130; alkoho¬
lische 131; physiologische 131;
affektive 131; kriminelle Hand¬
lungen 133.
Schlaganfälle 836; u. Aussage 264;
als Unfallsfolge 1025.
Schmerzempfindung 73.
Schrift 72, 609, 809.
Schwachsinn 734; Lebenslauf 734;
Ursachen 732; Prüfung der In¬
tellekt. Fähigk. 738; ethische
*
1052 Sachregister.
Defekte 737; Egoismus 736; und I
Hysterie 647; Entmündig. 751; j
Geschäftsfähigkeit 752; und Un¬
fall 1024; strafr. Bedeut. 742;
Delikte 743; Ehe 752.
Schwäche der geistigen Kräfte 337. I
Schwängerung von Anstaltsinsass.
211 .
Schwangerschaft 12.
Schwanken der psych. Funktionen
11. 1
Schweigepflicht, Entbindung von
ders. 241, 248, 284.
Schutzaufsicht 143, 149.
Schutztrieb 27.
Schwimmhautbildung 6. I
Schwindler 63.
Seetestament 549. ^
Selbstbezichtigungen bei Melanch. I
622.
Selbstbeschädigungen bei Hyster.
657.
Selbstbewußtsein 5.
Selbstmord 11, 50, 209; Testiert.
554; bei Unfallkr. 1020; in der
Anstalt 208; b. Gebärenden 1.33; i
bei Melanch. 620.
Selbstverschuldete Trunkenh. 579.
Selbstvorwürfe 50. 618. 1
Sensibilität 73.
Sexualleben des Kindes 83.
Sicherungsmaßregeln bei Trinkern
146.
Siechtum 193, 195. 1
Silbenstolpern 71. 1
Simulation 85; Nachweis 91, 646,
1019. 1
Sinnesorgane 2.
Sinnesreiz 3.
Sinnestäuschungen 44.
Sittlichkeitsverbrechen 11, 350. |
Sitzungspolizei beim Militärgericht 1
313.
Sodomie loio.
Soldaten, Delikte 309; geistig ab¬
norme 309,
Somnambulismus 122; 649.
Somnolenz 35, 122.
Sopor 35.
Speisegelüste der Schwangeren 13.
Sprachstörungen 71; bei Paralyse
808.
Sprachverwirrtheit 24.
Stammeln 71.
Status epilepticus 703.
Stereotypien der Haltung und Be¬
wegung 25.
Stimmen 46.
Stimmung 4. Erkennung der Stim-
mungsanomalien 18; Bedeutung
der 17.
Störungen der Geistestätigkeit des
Gefühlslebens 16.
Stottern 71.
Strafaufschub im Militärstrafproz.
318; im Strafproz. 275.
Strafaussetzung wegen Geistes¬
krankheit 273.
Strafmündigkeit 151; relative bei
milit. Vergehen 306.
Strafrecht 101; ö. R. 345; Intern.
366.
Strafprozeß 254; ö. R. 354.
Strafrechtliche Zurechnungsfähigk.
bei Manie 612; Alkoholpsych.
757; Eifersuchtswahn 784; Mor¬
phinismus 795; Querulantenwahn
953; Altersschwachsinn 853.
Strafunmündigkeit 151.
Strafvollstreckung bei Geisteskr.
im Militärstrafproz. 317.
Strafvollzug, Unterbrechung 270,
273, 141, 678.
Strafvollzugsunfähigkeit 271.
Stupor 888; hyst. 990.
Suggestion posthypnot. 130; und
Zeugenaussage 261; auf Verfall
124.
Symptomatologie, allgem. 16.
Symptome, körperliche 69.
Syphilis, ererbte 75; und Paralyse
801.
Tachykardie bei Hysterie 644.
Tatfrage, Erörterung 289.
Sachregister.
1053
Taubstumme 3; Kriminalität 177,
Schadenersatz 577; Testier-
fähigkeit 561; Unterricht 176;
Zurechnungsfähigkeit 175.
Taubstummenlehrer vor Gericht
177.
Teilnahme im österr. Str.G.B. 348.
Temperaturempiindungen 73.
Testament Entarteter 697.
Testamentsrecht, International. 561;
österreichisches 562.
Testierfähigkeit, Ärztliche Sachver¬
ständige 555; Alterspsychosen
.553; Altersschwachsinn 863;
Amentia 913; Aphasie .558; Be¬
nommenheit 554; Beurteilung d.
Testaments 557; Beweis der
Geschäftsunfähigkeit 552; Be¬
wertung der Zeugenaussagen
557; bei chronischem Alkoholis¬
mus 5.53; bei chronischer Para¬
noia 553; bei Dementia praecox
910; Dorftestament 599; Ent¬
mündigung 551; bei Epilepsie
731; Fragen zur Feststellung
der Testierfähigk. Verstorbener
5.56; geistig Abnorme 550; geist.
Gestörte .552; von Personen, die
Geschriebenes nicht lesen kön¬
nen 559; bei Hysterie 673; bei
schwerer Hysterie 554; bei kör¬
perlicher Hilflosigkeit 554; von
Personen, die weder lesen noch
schreiben können .560; Militär¬
testament 549; Minderjährigkeit
.5.59; öffentlich. Testament 549;
Testament in abgesperrt, örten
549; österr. Recht 562; bei
Paranoia chronica 947; bei pro-
gress. Paralyse .553; von Per¬
sonen, die nicht schreiben kön¬
nen 560; Seetestament 549; von
Selbstmördern 554; bei starken
Schmerzen 5.54; von Personen,
welche die deutsche Sprache
nicht beherrschen 560; v. Taub¬
stummen 561; bei Unfähigkeit
zu sprechen 558; Zeugenaus¬
sagenüberlebender 556; \\ ider-
j ruf des Testaments 561.
Tötung auf Verlangen 621.
i Trancezustände bei Hysterie 649.
I Traum 42; Trunkenheit 42.
; Trieb 25; -handlungen, Abgrenzung
' von anderen Bewegungsformen
26, Pathologische Erscheinun¬
gen des -lebens 32; modifizier-
' barer 29; u. Reflex, Unterschied
j 26.
I Trinker. Arbeitszwang 71; heilbare
und unheilbare 474; Unterbrin-
i gung in Heilanstalt 470.
Tropenkoller 100; Beurteilung 921.
Trophische Störungen bei progr.
! Paralyse 811.
i Trunkenheit 145; sinnlose, Krite¬
rien derselben 118.
j Trunkenheit selbstverschuldete bei
I Militärpersonen 308.
Trunksucht 145; Entmündigung,
j Schwierigkeiten 471; Wieder-
j aufhebung der Entmündig. 475;
Psychopathische Symptome als
j Ursache 385; Verfahren bei der
' Entmündigung 472.
Uberempfindlichkeit bei Hysterie
641.
I Überweisung, Ablehnung der Über-
[ nähme 430; d. Entmündigung430;
Entscheidung durch das gemein-
j schaftliche obere Gericht 431.
Umfang der Schadenersatzpflicht
569.
Unbeeidigte Vernehmung 261.
Unerlaubte Handlungen 576.
Unfähigkeit zu sprechen b. Testier¬
fähigkeit 558.
Unfallneurosen und-Psychosen, Ab¬
findung 1028; Alkoholintoleranz
1018; Alkoholismus 1022; Amne-
■ sien 1025; Arteriosklerose 1023;
Dementia praecox 1024; Er¬
werbsfähigkeit 1021, 1027; Fo¬
rensische Bedeutung 1026; Di-
1054
Sachregister.
rekte Qehirnverletzungen 1025;
Qansersche Dämmerzust. 1026;
Gedächtnisstörung 1019; Hinter¬
bliebenenrente 1027; manisch- '
depressives Irresein 1023; Para¬
lyse 1023; Pseudodemenz 1018;
Rechtsprechung des Reichs-Ver¬
sicherungsamtes 1030; Reizbare
1018; Schlaganfälle 1025; An- I
geborener Schwachsinn 1024;
Selbstmordneigung 1020; Simu¬
lation 1019; Traumatische Epi¬
lepsie 1022; Unfallhypochonder
1018; Unfallquerulanten 1019.
Unfallversicherung 566, 601.
Unterbringung, zwangsweise von
Trinkern durch den Vormund '
470.
Unterlassung eines Heilverfahrens
571; rechtswidrige 199.
Unterscheidungsmerkmal, psychol.,
zwischen Mann und Frau 8.
Unterschiede, psychol., der Ge¬
schlechter 7.
Untersuchung, körperliche, des An¬
geklagten 295.
Untersuchungsgefangene, Entwei-
weichungen 224.
Unvermitteltes Eintreten v. Manie
606. j
Unzurechnungsfähigkeit, Erkennung '
derselben 108; wegen Geistes¬
krankheit 104; temporäre 115. [
Unzucht 183.
Ursachenlehre, medizinische 96.
Ursachen des Schwachsinns 733. j
Urteil, forensisch 67.
Urteilsbildurig, Störungen 65.
Urteilsfähigkeit bei Epilepsie 713.
Urteilstrübung b. Hebephrenie 884.
Urteilsvermögen 4.
Veranlagung 6. I
Verarmungswahn 50. j
Verbigeration 24.
Verblödung bei Hebephrenie 886;
bei Katatonie 893. |
Verbrechen der Masse 66.
Verbrecher, geisteskranke, Unter¬
bringung 224.
Vereidigung 261; Geisteskranker
262.
Vererbung, gleichartige 79.
Verfahren. Einstellung desselb. 268.
Verfall, körperlicher bei progres¬
siver Paralyse 807.
Verfolgungswahn 52; Beispiel 52;
bei Melancholie 619; physika¬
lischer 53.
Vergiftungen, gewerbliche 97.
Verhandlung, mündliche, im Dis¬
ziplinarverfahren 331.
Verjährung im Preußischen Diszi-
plinarrecht 322.
Verlöbnis, Aufhebungsgrund: Ner¬
vöse Leiden 497; Definition 496;
Schadenersatz 496.
Vernehmung des Angeschuldigten
(Disziplinarverfahren, Vorunter¬
suchung) 331; Mängel derselben
256.
Verpflegungsklassen, Erlaß 222.
Verpflichtung zum Anstaltsaufent¬
halt bei Unfallverletzungen 572;
zum Berufswechsel bei Unfall¬
verletzungen 572.
Verschwendung als Entmündigungs¬
grund 406.
„Verschrobene“, „Degenerativ“ 688.
Versetzung in den Ruhestand nach
Vollendung d. 65. Lebensjahres
335; Unfreiwillige bei Richtern
344.
Verständigung mit dem Patienten
im Sinne des § 1910 B.G.B. 490.
Verstandestätigkeit der Frau 10.
Verstimmungen 388.
Verstimmungszustände bei Epilep¬
sie 709; bei progr. Paralyse
(heitere) 802.
Versündigungswahn 50.
Verwahrung der gemeingefährlich.,
vermindert Zurechnungsfähigen
nach Strafverbüßung in einer
öffentl. Heil- und Pflegeanstalt
Sachregister.
1055
142; von Verbrechern 145; in
der Anstalt 206; in Irrenanstal¬
ten oder Verwahrungshäusern
148.
Verwirrtheitszustände 42; b. Manie
612.
Volljährigkeit 375.
Volljährigkeitserklärung 376.
Vorbeireden 21.
Vorentwurf 170.
Vormund 439.
Voraussetzungen 479.
Vormundschaft, vorläufige, 437;
Antragstellung auf vorläufige
479; Ablehnung des Antrages,
Beschwerde des Antragstellers
480; Aufhebung durch Be¬
schwerderecht 481; Beendigte
481; Einsetzung, Beschwerde
gegen dieselbe 480.
Vormundschaftsrichter, Verhalten
bei ausgesprochener Entmündi¬
gung 478.
Vorsitzender. Befugnis 293; Rechts¬
mittel geg. denselb. 293; Recht
desselben in bezug auf Zeugen-
u. Sachverständigenladung 297.
Vorstadium bei Amentia 911; bei
Katatonie 886; bei Melancholie
617; bei Paranoia acuta 915; b.
progr. Paralyse 802.
Vorstellung 3.
Vorstellungsablauf bei Manie 608.
Voruntersuchung, Disziplinarrecht
331.
Vorverfahren, Disziplinarrecht 330.
Wachstumsanomalien 6.
Wahnvorstellungen Entstehung 48;
Nachweis 54; Unterschied zw.
W. u. Zwangsvorst. 55; expan¬
sive 49; depressive 50; melan¬
cholische 50; hypochondrische
51; strafrechtl. Bedeutung 51;
Unterschied zw. Irrtum u. W.
48.
W'ahnsystem 54.
Wahrnehmung und Zeugenaussage
261.
Warenhausdiebstahl 666.
I W'assermannsche Reaktion 74.
Widerrechtlichkeit, fahrlässige 576;
vorsätzliche 576.
W'iderruf des Testaments 561.
Wiederaufnahmeverfahren 277; im
Militärstrafprozeß 315; ö. R. 363,
Willenlosigkeit 184.
Willensbestimmung 6, 105; freie
(§ 104) 394.
Willenserklärung 370; empfangsbe¬
dürftige 371.
Wissen 3.
Wohnsitz, Begründung .564.
Wolfsrachen 6.
Wortbildungen 890.
Wortneubildungen 24.
I W'ortsalat 891.
Wunderkinder 83.
I Zähne (Degenerationszeichen) 6.
Zähneknirschen 810.
Zehen, überzählige 6.
Zerfahrenheit 885.
Zeugen, sachverständige in Strafs.
287; früher geisteskranke 263,
I Beobachtung von 267; in Zivils.
591; Vernehmung in Zivilsachen
586; bei Testierfähigkeit 556;
Entlohnung der sachv. Z. 288;
latente Qeistesstör. bei Z. 600;
I Verweigerung des Z. in Zivils.
592 in Strafs. 283.
Zeugnisse, unrichtige 303.
Zeugnisfähigkeit Qeistesgesunder
255; in der Pubertät 258; Er¬
wachsener 259; bei Hysterie
670; bei Trinkern 787; bei Ar¬
teriosklerose 844; Zirkuläres
Irresein 623; Ehescheidung 630;
Dienstfähigkeit 630; Entmündi¬
gung 628.
Zeugnisverweigerung, Belehrung
über das Recht 284.
Zitterlähmung 72.
Zivilrecht 368.
1056
Sachregister.
Ziichtigungsreclit bei b'ürsorgezög-
lingen 174.
Zurechnungsfähige vermindert 140,
142, 147; partiell 113; bei dis-
ziplin. Strafs. 332; ö. R. 345;
Deliktf. 370.
Zusammenhang, ursächl. 199; jur.
Nachweis 201, 569; med. N. 200.
Zustellung d. Beschlusses der Ent-
münd. 438.
Zwangsantriebe, Beispiel 58.
Zwangshandlungen 54,58,59; foren¬
sische Bedeutung 54, 56, 59; bei
Schwangeren 13.
I Zwangspensionierung 334; eines
j Richters 344; der Reichsbeam-
' ten 344; Benachrichtigung 334.
I Zweifelsucht 56.
I Zyklothymie u. Alkoholmißbrauch
i 753.
Verzeichnis der ausführlicheren Beispiele.
Entmündigung wegen Trunksucht j Eheanfechtung w. Homosex. 1014.
787 (zugleich vorl. Vormund- Qefängnispsychose oder Unfall¬
schaft); weg. Geistesschwäche Psychose? 993.
856 (physiol. Alterserscheinun- | Testierfähigkeit 863.
gen oder Dem. sen.?); Queru- j Verhandlungsfähigkeit 875.
lantenwahn u. E. 963. | Zuverlässigkeit 972.
Druckfehler.
S. 55, Zeile 14 statt Fehlen „Vorhandensein“.
S. 107, Zeile 11 statt Fragen „Frage“.
S. 109, Zeile 8 von unten statt Erkrankungen „Erkrankung".
S. 114. Zeile 14 von unten statt günstiger „ungünstiger“.
S. 152 letzte Zeile statt 18 “/o „28“/«“-
Namenregistei’.
Ackermann 1034.
Adler 79, 914.
Albes (et Charpentier) 948.
.Albrecht 881.
•Alessi 1035.
Alexander 880.
Allen 1036.
Althaus 880.
Alzheimer 77, 461, 879, 886, 897,
1004.
— (u. Vogt) 698, 881.
Angiolella 880.
Anglade (et Ducos) 880.
— (et Chocveaux) 1034.
■Anton 18.
.Apelt 1034.
.Appeldorn 879.
Arnaud (Ballet et) 880.
Arndt 319, 461.
Artmann 537.
Aschaifenburg 11, 15, 33, 69, 82, 34,
102. 105, 113, 134, 144, 151, 163.
184, 193, 206, 231, 239, 240, 248,
263, 270, 272, 278, 469, 709, 754,
761, 776, 778, 854, 856, 886, 914,
947, 1005.
Aubert 828.
Babinski 811.
Bähr 1035.
Baer 6.
Baerwald 8.
Baglioni 7, 29.
Baily 1035.
Baker 824.
Bahnt (Rauschburg und) 878.
Baller 1036.
Ballet (et Arnaud) 880.
Hübner, Forensische Psychiatrie.
Bar, von 105, 240, 366.
Bartolomäus 1005.
Bastian 979.
j Batier 734.
Bauchwitz 248.
Bauer 264.
Baum (Watermann und) 1035.
Bayer, E. 832.
Bayerthal 79.
Beatus 734.
Bechterew 72.
Becker 68, 184,197, 307, 455, 733, 948.
Beckstein 241.
Beer 465, 466.
Behr 77.
Beling 240, 263.
Benedikt 674.
Bennecke 754.
Benon 1037.
Berger 605, 776, 792, 828, 897.
Berkhan 733.
Berliner 1036.
Berner 105.
Bernheim 124.
Bernstein 256, 536.
Berze 44.
Bescheren 105.
Bettmann 657.
Beyer 205, 879, 913.
Biause 307.
Biberfeld 240, 388.
Birnbaum 82, 674, 783, 922, 987.
Binswanger 17, 76, 698, 879, 913,
1034.
— (und Krause) 658.
!-Siemerling 785, 879.
j Bischof, 134, 501.
I Bischoff 345.
67
1058
Namenregister.
Blachian 440.
Blaute 880.
Bleuler 764, 883, 886, 897.
Bloch 828, 1034.
Boas 824, 881, 882, 1005.
Boden 255.
Bogdan 674.
Bogdanoff 256.
Bohne 74, 1035.
Bonhoeffer 111, 189, 649, 674, 754,
771, 775, 776, 780, 783, 792, 833,
898, 913, 930, 1005, 1036.
Borchard 1036.
Bonsmann 79.
Brand 843, 1037.
Brauchitsch 319.
Brauer 1036.
Braun 948.
Braunbehrens, von 319. 329.
Bratz 79, 470, 698.
— (und Falkenberg) 698.
Brenner 466.
Bresler 15, 85, 417, 455, 537, 848,
878. 879.
Breuking 698.
Brun 1033.
Bruns 8.34, 1034.
Brush 1033.
Buch, L. 879.
Buchbinder 698, 699.
Buchholz 734, 879, 922, 1005.
Biihler 2.
Biinger 105.
Bumke 54, 70, 345, 347, 592, 600.
762, 896.
Burger 222, 605.
Burgl 537, 658, 699.
Buzzard 828.
Cahinian 878.
Calker, von 105.
Camuset 824.
Cassirer 828.
Cattani 914.
Chainowsky 776.
Charcot 125.
Charpentier (Albes et) 948.
— (Dupong et) 1036.
Chavigny 307.
Chlumecky 733.
Chocveaux (Anglade et) 1034.
Choroschko 771.
Chotzen 754, 763, 783.
Claparede 2.
Clouston 881.
Cohn 791, 792.
Colla 473. 474, 761.
Colella 880, 1035.
Conolly 880.
Cosack 369, 370, 381, 393, 417, 495.
Cramer 14, 31. 46, 93, 105, 173, 19.3,
209, 281, 300, 415, 466, 491, 500,
537, 605, 674, 733, 754, 761, 776,
824, 834, 881, 910, 922, 1035.
i — (und Windscheid) 1035.
— A., 319, 674, 754, 762, 780, 1005,
i 1035.
Crome 369, 381, 392, 465.
Croqc 1035.
Crothers 791.
Crüger 829.
Dannenberger 828.
Damköler 79.
Dannemann 99, 300, 440, 754, 882.
1037.
Daude 105, 251, 254, 405, 455.
Day 881.
Degener 913.
Deiters 733.
Delbrück 63, 886.
Demange 881.
Dernburg 405.
Deutsch 792.
Diehl 34, 466, 880.
Dobrschanski 30.
Dohna, Graf zu 101, 105, 204, 241.
Donath 650, 654, 698, 700, 775.
Dorland, W. A. 879.
Dornblüth 674.
Doutrebent (et Marchand) 881.
Dreyfus 879.
Diims 699.
Düring 230.
Dub 1037.
Ducot (Anglade et) 880.
Namenregister.
1059
Du ge 828.
Dumas 1036.
Dupong (et Charpentier) 1036.
Dupr6 1033.
Dyroff, A. 2.
Ebbecke 521.
Ebbert 1037.
Ebbinghaus 1, 68.
Eckert 1034.
Edel 208, 1034.
— M. 1035.
Erdmann, Job. Ed. 878.
Ehrenroth 1037.
Ehret, H. 879.
Eichelberg 1037.
Elgermann 12.
Ellis 7, 8.
Emmert 264.
Endemann 465, 466.
Enke 658.
Erdt 832.
Erlenmeyer 792, 798.
Eschle 10.36.
Esquirol 881.
Eulenburg 176, 651, 1005, 135.
Euzicre (Mairet et) 674.
Evensen 881.
Fabricius 674, 698.
Eacklam 832.
Ealkcnberg (Bratz und) 698.
Eaure 1035.
Eauser 44. 54, 882.
Eeisenberger 880.
Feldmann 698, 1036.
Felke 1033.
Fcrc ,32.
Ferrero 10.
Filassier 699.
Finger 105.
Finkh 68, 733.
— (Hegler und) 600.
Fischer, Jacob 881.
— M. 13.
Fischer-Henle 369, 410, 495, 576.
Finzi 11.
Flatau 1, 649.
Flatau-Jacobsohn 76.
Flesch 241.
Flournoy 880.
Flügge 227, 240.
Foelsche 1037.
Förster 647.
Foerster, R. 33, 886, 898.
Foersterling 665, 886, 1005.
Forel 121, 123.
Förster 17, 39, 111, 60.5, 792.
Fraeb 1034.
Fraenkel. Eug. 913.
Francotte 754, 785.
— (Marhold und) 948.
V. Frank 105, 121, 175, 194, 243,
368, 914.
Frankhauser 883.
Freudenthal 405.
Frese 948, 961.
Friedliinder 240, 248, 647, 733, 880.
Friedmann 48, 783, 947, 1034, 1037.
Friedreich 407, 440, 455.
Friedrich 606, 754, 898.
Fritsch 34.
Fröhlich 1034.
Fuchsberger 104, 121.
I Fiirstner 658, 834, 880, 914.
Fuld 234.
I
Gallus 914.
Ganser 649, 733.
Ganter 68.
Gantter, R. 880.
Garnier 824.
j Gaupp 2, 11, 17, 48, 117, 537, 605,
674, 679, 699, 776, 879, 886.
j Gaupp-Stein 426, 427, 432, 437.
j Geill 1005.
I Geis 1036.
Gerlach 1034.
Giaclli 834.
Giese 1037.
Gleispach. Graf 134.
I Glogowsky 948.
[ Goebel 145.
I Goering 1.39, 170, 374, 674, 856,
I 1004.
j Goetzc 1036.
j Goldscheider 1035.
07
io6o
Namenregister.
Ooldschmidt 139.
Ooldstein 2, 44, 780, 897. 1035.
Qordon 798.
Gottlob 263.
Qoudal 881.
Qowers 698. ^
Graf, H. 34.
Grashey 113.
Graßmann 79.
Grebener 105.
Gregor 60, 64, 263, 771, 886, 888. i
Greppin 880.
Griesinger 880. ,
Groos 26.
Groß 28, 34, 43, 48, 131, 134, 255,
256, 259, 265, 881, 886, 888, 947. !
- 8. i
Gruber 764. !
Grüble 41, 152, 698, 699. I
Gudden, H., 14, 43, 131. 654, 674, 754.
— M. 41.
Güntz 880.
Guicciardi 947.
Gui rönnet 1036.
Gumpertz 1035.
Gutmann 1034.
Guttenberger 205.
I
Haag 1035, 1037. I
Haberda 1005. '
Haecker 79.
Haemisch 654. l
Hahn 234, 264, 600.
Halberstadt 833.
Hamm 239. !
Hammerschmidt 1036.
Hampe 733. j
Hang 1035.
Hannes 734.
Hartmann 1034.
Hasche-Klünder 55.
Hauberg 241. ,
Haymann 256, 792.
Hegler (und Fink) 600.
Heilbronner 16, 34, 56, 113, 120.
231, 461, 605, 674, 698, 699, 754.
762, 880, 886. 890, 897. 948. 1005,
1034. I
Heilfron 369, 393. 506.
Heimberger 170, 233, 240, 241, 249,
267, 270. 272.
Heine 699.
Heißer 241.
Heller 13.
Hellpach 100, 978.
Hellwig 48, 153.
Helm, V. d. 220.
Hendricks 913.
Henneberg 261, 650, 658, 947.
Hennes 39.
Hennig 60.
Hermann 914, 1036.
Hertz 776.
Heß 393, 394, 1033, 1037.
Heuß, von 307, 674.
Heveroch 44.
Heymans 8.
Higier 775, 798.
Hinrichsen 41.
Hippe 241.
Hippel, von 105.
Hirschfeld 878.
Hitzig 947.
Hoche 5, 16, 26, 27, 33, 92, 239,
300, 605, 698, 824, 886. 913, 914,
925, 1005, 1035.
Hochgeschurz 39, 110.
Hochhaus 879.
Hoegef 8.
Holder 405.
Hopfner 71.
Hößlin, von 1034.
Hoffmann 74. 878, 987.
Holitscher 776.
Homburger 605, 833, 879, 900, 1037.
Hoppe 85, 466, 785.
Horn 102, 105, 1028.
Horstmann 48.
Hotter 469.
Huber 106.
Hubrich 533.
Hübner 15, 16. 19. 44. 66, 76. 81.
96, 128, 189, 193, 255, 605, 656,
674, 762, 879, 948, 1020, 1037.
Hurwicz 228.
Namenregister.
io6i
llberg 780, 792, 1005.
Illing 329.
Isserlin 1, 698.
Iverrens 783.
Jacob 1036.
Jacobsohn 1, 881.
Jacoby 1037.
Jaeger 164, 240.
Jagemann, von 145.
Jahrmaerker 913.
James 1, 26.
Jaspers 16, 44, 67, 33, 783, 947.
Jaßny 8.
Jastrowitz 792, 843.
Jaworski 11.
Jellineck 248.
Joachim 233, 240, 248.
Jodl 1, 5, 6, 26.
Joedicke 85.
John 288.
Jolly 114, 771, 922, 947, 948.
Juliusburger 106, 754.
Kaes 824.
Kahl 106, 139, 240.
Kahlbautn 886.
Kaindl 44.
Kalmus 537.
Katzenstein 121.
Kaufmann 882.
Kausch 644.
Keidel 369, 508.
Kern, von 307.
Kersten 1005.
Kiernau 880.
Kirberg 105.
Kirchberg 824, 948.
Kirn 882.
Kissinger 1036.
Kleist 60.
Klieneberger 44.
Klink 1034.
Klipstein 883.
Kluge 173.
Klumker 440.
Knecht 6, 37.
Knoblauch 828.
Koch 674.
— J. A. L. 879.
Köhler 1035.
Kölpin 16, 605, 606, 879, 898, 1034.
Koppen 658. 733, 914, 947, 1035,
1037.
Koester 948.
Kohl 14.
Köhler 240, 248, 405.
Kohlrausch 426.
I Kolben 1035.
[ Komnick 930.
Kompe 733.
Korn 233, 240, 248.
I Kornfeld 947.
Koßmann 12.
Kraepelin 17, 31, 407, 605, 674, 711,
764, 824, 828, 879, 886, 889, 893,
922, 948.
Krafft-Ebing 43, 878, 881, 930, 947.
I Kramer 60.
Krautwig 1036.
Krause (Binswanger und) 658.
Krauß 105, 240, 248.
Krell 461.
Kretschmar 319, 339.
Kreuser 699, 914.
Kruska 947.
Külpe 5, 23, 605.
Küpper 1035.
Kürbitz 512, 779.
, Kulmbach 1005.
I Kunick 922.
I Kunowski, von 231.
I Kurella 6, 1035.
I Kuttner 754, 762, 771.
Laband 319.
Lachmund 698, 828.
Lacombe 1033.
! Laignel-Lavastine 833.
j Landsberg 289, 369, 405, 417, 468.
' Landsberger 93, 754.
Langenscheidt 882.
Lannois 828.
! Lapinski 913, 1033.
Laquer 38.
Laurent 1036.
1002
Namenregister.
Leers 74, 1005, 1035.
Legras 930.
Lemke 5.5, 658. I
Lene! 5,39. i
Leppmann 43, 81, 106, 140, 195, 270, '
444, 491, 537, 674, 856, 881, 882, ^
948, 1005, 1033, 1036, lfi37.
L(5ri 878.
Leroy 85.
Leupold. von 1037.
Leuthold, von 606. I
Levis 405.
Levinstein 792.
Lewin .387, 798.
Liehmann 241.
Li6gois 123, 124.
Liepmann 2, 2.3, 105, 605, 698, 771, j
778, 779. I
Lieske 846, 878.
Lilienthal, von, 125, 139, 16.3. 170,
239.
Linde 698. I
Lindenberg 295. ]
Litten 248, 272, 275.
Liszt, von 101, 104, 107, 121, 139,
366, 576. !
Lobsien 256. '
Lochte 240, 245.
Loeb 29.
Löffler .345.
Löwe 278.
Lüwenfeld 123, 642.
Löwenstimm 48.
Löwy 948.
Lombroso 10, 82.
Lomer 880. 1
Longard 987. |
Lorenz 345. ,
Lucien-Orause 5.37. I
Lückerath 154. 173, 771, 948.
Lüht 879.
Lutze, A. 879. I
Mach, von 537.
Mackowitz, von 43.
Magnat! (et Sörieux) 824.
Mainzer 240.
Mairet (et Euzifere) 674.
Mandel 880.
Marchand 881.
— (Doutrebent et) 881.
— (Toulouse et) 880.
Marcinkowski 17, 669.
Margulies 762.
Marie (et Picqu6) 1037.
— (et Pirquet) 1035.
— (et Viollet) 650, 1036.
Marina 654.
Markuse 879.
Martins 79.
Marx 261, 270, 913.
Masseion 922.
Mattauschek 347, 754, 1035.
Mattusch 881.
Mayer 4.3, 176, 240, 307.
Mayr, von 102.
Mazerkiewicz 1034.
Meili 366, 401, 402, 561.
Meitzer 307.
Mendel 104, 105, 369, 405, 605, 947,
948, 1020, 1034.
Merklin 674.
Meyen 948.
Meyer 1, 13. 19, 76. 95, 307, 606.
754, 771, 783, 785, 812, 828, 881.
886, 889, 895, 914, 948, 1036.
Meyer, E. (und Puppe) 1009.
— (und Kaecke) 771.
Meyerhof 49.
Mingazzini 879.
Miodowski 1035.
Mittenzweig 76, 445, 947.
Mittermeyer 188. 240, 248.
Miyake 1033.
Moebius 8, 833.
Moeli 41, 63. 105, 106, 110, 111, 222.
270, 275, .369, 414, 415, 417, 536,
649, 734, 754, 762, 987.
Mönkernöller 698, 987, 1004.
Moerchen 674, 698, 792, 795.
Mohr 891.
Moll 154, 240, 243.
Montet 1033.
Montpellier 674.
Moravcsik 658.
Morel 109, 674.
Namenregister.
1063
Moser 1034.
Müller 189, 270, 754. 775, 828, 834,
1034, 1037.
Mugdan 11.
Muralt, von 1034.
Naecke 6, 43. 231, 881, 882, 1005.
Niimisch 649.
Nathan 832.
Neißer 922, 947.
Neitliard 733.
Neumann 405, 533, 1035.
Neumüller 564.
Neussei 762.
Nicoladoni 880.
Nitsche 605, 763.
— (und Wilmanns) 987.
— (Wilmanns und) 898.
Noetzli 879.
Nonne 73, 828.
Nouaille 880.
Oberndorfer 121, 123.
Ohersteiner 72, 824, 1034.
Oertel 785.
Oetker 170.
Oettingen, von 102.
Ohrtmann 879.
Oliviers 880.
Ollivier 881.
Olshausen 105, 194, 195, 248, 250,
254.
Oppenheim 240. 642, 811, 833, 1017,
1035.
Oppenhoff 105, 198.
Oppermann 204.
Ormea 1035.
Pachantoni 879.
Paffrath 1005.
Pallaske 240.
Pündy 948.
Parison 880.
Parisot 1036.
Payr 1036.
Pficharman 881.
Pelman 105, 4.55, 734, 947, 978, 1005.
Pelz 775. 1034.
' Pentz 754.
Peretti 85.
Peritz 674.
Peschke 152.
Peters 332.
Pfafferoth 319, 329.
Pfeiffer 13, 833.
j — (und Scholz) 880.
] Pfersdorf 20.
Pfister 947.
Pförtner 80, 895.
Phleps 1036.
j Pick 153, 658, 698, 879, 880, 923.
I Picket 880.
1 Pieque 1033.
Pilcz 79, 606, 879, 881.
Pinel 881.
Pirquet (Marie et) 1035.
Pistor 293.
' Placzeck 38, 74, 240, 249.
* Planck 369, 380, 392, 401, 410, 417,
I 444.465,466,492,496,508,511,
537.
I Plaut 7.3, 813, 1035.
: Plehn 98, 978.
j Plempel 134.
! Podesta 307.
i Pohl 34.
Polack 41.
Polet 41.
; Pollitz 105, 141, 537, 882, 987.
Prinzing 240.
Przeworski 43.
Pütter, A. 7, 29.
Puppe 19, 785.
— (E. Meyer und) 1009.
Rad, von 699.
Raecke 16. 37, 41. 69, 121, 161, 307,
407, 606, 644, 674, 698, 699, 754,
j 783, 828, 893, 898, 913, 978, 987.
j — (E. Meyer und) 771.
Raimann 51.
Ranschburg 733.
' — (und Bälint) 878.
' Rasch 288, 289.
Rathmann 1034.
Rauschke 33.
^ 1064 Namenregister.
Raymond (et Serieux) 698.
Saitz 605.
— (et Touchard) 828.
Sala 1036.
Rapmund-Dietrich 239.
Salgo 111 , 879.
Redlich 698, 828, 879.
1 Samter 433.
Rehbein 405.
1 Sander 64.
Regis 881, 1035.
Sanz, Fernandez 880.
Reichardt 77, 778, 811, 896, 1036.
Sartorius 606.
Reimann 606.
' Sauerbruch 1036.
Remstedt 913.
Schaefer 105, 491, 674, 880.
Reuter 882.
Schaffer 674.
Rheinbaben, von 319, 322, 329, 331,
1 Schellong 98.
337.
Schenk 763, 775.
Rheinisch 1005.
Scherer 405, 567.
Richter 754.
Schiffer 537.
Rieger 67, 79, 775.
Schilling 55.
Rietschel 537.
Schlager 204, 455.
Rinne 883.
1 Sclilegtendal 240.
Risch 987.
Schloß 785, 878.
Rissom 307.
Schmidt 239, 879, 893.
Rittershaus 780.
Schmidt-Qreßner 583.
Ritti 848, 878.
-Guisau 264.
Riva 883.
Schmidtaner 791.
Rixen 88 , 272, 273, 287.
1 Schmidtmann 300.
Rodet 792.
Schneider 26, 878, 922.
Rodewaldt 67.
1 Schönfeld 1036.
Roher 1035.
Scholz 913.
Roerner, H. 698.
1 — (Pfeiffer und) 880.
Roemheld 605.
Scholze 699, 1034.
Rönne 319.
Schott 455, 605, 898, 903.
Roller 30.
Schrenck-Notzing 121 , 123,125,127,
Rollmann 771, 775.
261, 733.
Romen 307.
1 Schroeder 80, 173, 783, 913.
Rosenfeld 600.
Schubart 161, 733.
Rosenthal 606.
1 Scliuchard 1005.
Roth 785, 947.
Schule 828, 947.
Rotschild 145.
Schürmann 1036.
Rouillard 881.
Schütte 978.
Rübsamen 793.
Schulz 647.
Riidin 79, 914, 987.
Schulze 698.
Rüß 67.
Schultze 67, 132, 144, 161, 195, 204,
Rummo 881.
231, 239, 307, 369, 381, 392. 393,
Rumpf 37, 301, 600, 882.
' 394, 405, 410, 413, 415, 444, 452,
Ruppiöre (Bazelaire de) 881.
[ 461, 469, 473, 499, 503, 510, 533,
Rupprecht 152, 163.
1 536, 554, 642, 698, 771, 828, 987,
Rusack 231.
10,34, 1037.
Russell 880.
— (und Stursberg) 1029.
Rybakow 79.
Schuppin 79.
Salerni 881.
Schur 8 .
NaiiieiircKistcr.
I o( >5
Schuster 833, 1020.
Seelig 163.
Seemann 1034.
Seglas 881.
Seiffer 605, 828, 1004, 1005.
Sellheini 11.
Serbski yi4.
Serieiix (MaKiian et) 824.
—• (Raymond et) 698.
SeroK 4, 698.
Seydel 319. 329, 1034.
Seuffert 428. 430, 432, 434, 464.
Sieber 43.
Sichel 79.
Sieffert, 43, 950, 963, 987.
Siernerling 85. 91. 97, 106, 110, 111,
369, 605, 606, 658, 699, 763, 785,
878, 886, 913, 914, 930, 1005.
Sighele 10. 66.
Simmoiids 948.
Sinz 93.
Sioli 67, 79. 146 606, 886, 897, 903,
100.5.
Sitten 510, .537.
Skliar 987.
Skrzeczka 193.
Smith 883.
Specht 605, 763, 947.
Spieß 76. 1029.
Spitta 43.
Spliedt 272. 27.5.
Soergel 234.
Sommer 79. 106, 109, 922, 10.34.
SüimtaK 135.
Soutzo 763. 886.
Stadelmann 10.33.
Staerke 8.34.
Stall! 10.37.
Staudinger .369. 381, .392, 401, 406.
407. 410, 417, 444, 46.5, 49.3, .50,3,
511. .5.3.3, .5.37. 576.
Steenbeck 10.37.
Steinach 28.
Steinhiß 4.3.
Steinharter 121.
Stelzner .32, 82, 674.
Stenglein 240,
Stephenson 880.
Sterling 833.
Stern 8, 255, 649.
Sternberg 405, 879.
Stertz 462, 6.54, 698, 779, 809, 813,
836, 948, 1018, 1037.
Stier 307, 698, 785.
-Somio 319, 600.
Stoecker 783.
Stoos 240, 345, 349.
Stolper 1036.
Strakosch 128.
Stransky 30, 44, 66, 605, 754, 883,
890, 913.
Straßmann 31, 34, 38, 106, 1.34, 300,
,369, 537, 1005, 1034.
Strohmeyer 93.
Stubenrauch 402.
Studt 319, 329.
Stursberg (Schnitze und) 1029.
Sünner 1037.
Süßheim 374.
Sybel, von 60.
Sydow-Busch 451.
Tecklenburg 947.
Thalbitzer 605, 606.
Thivet 881.
Thoma 833.
Thomalla 75, 407.
Thornsen 55, 197, 60,5, 886, 915,
1005.
Tiedemann 948.
Tiling 734, 922.
Tilmann 698, 1036.
Tintemann 700, 948.
Többen 698, 881, 1005.
Touchard (Raymond et) 828.
Toulouse (et Marchand) 880 .
Toniaschny 93.
Tomasini 88.3.
Trespe 1036.
Troeger 791, 1035.
Trömner 1037.
Troschin 22.
Triiper 674.
Tuczeck 95, 405, 461, 674, 815.
Uhthoff 763.
Ulrich 674.
Namenregister.
1066
Umhauer 153.
Ursteiii 883.
Veit 699.
Verworn 3, 61.
Vieregge 879.
Vierhaus 229.
Viollet 1034.
— (Marie et) 1036.
VIeuten, van 776.
Vocke 225, 405.
Vogt, H. 698, 763, 879, 1037.
— (Alzheimer und) 698, 881.
— (Kramer und) 754.
Volland 698.
Vorkastner 44.
Voß 79, 176, 674, 754.
Vurpas 32, 41.
Wachsmut 903.
Wagner 38, 674, 785.
Wahlert 783.
Waldschmidt 1037.
Walker 605.
Wallbaum 1037.
Walter 1005.
Warda 54.
Wassermann 73, 468.
Wassermeyer 41, 776.
Watermann 1035.
— (und Baum) 1035.
Weber 76, 93, 225, 231, 754, 881.
879, 914. 978, 1034.
Wehmer 466.
Wehrlein 674.
Weiler 70, 220, 763.
W'einbaum 650.
Weinberg 79.
W'eiß 879.
Wellenbergh 880.
Wendel 1036.
Wendenburg 1036.
I Werner 914, 922, 1034.
Wernicke 6, 947.
Werthauer 220.
Westphal 17, 54, 255, 461, 605, 642,
652, 655, 833, 879, 881, 896, 948,
, 1035, 1036, 1037.
j W'eygandt 388, 654, 733, 792.
! Wickel 195, 699, 882, 1005.
I W'iedens 1033.
I W'iersberg 879.
I Wildenrath 798.
Wildermuth 658.
i Wille 879.
Willerding 605.
W'ilmanns 33. 141, 144, 898, 922,
947, 987.
— (und Nitsche) 898.
— (Nitsche und) 987.
Windscheid 834, 879, 1035.
— (Kramer und) 1035.
Witkowski 879.
j Wittich 272.
I Wolff 240.
I Wollenberg 12, 10.5, 113, 605, 644,
l 658, 699, 824, 832, 834, 8S1, 886,
! 899.
^ Wolter 12.
I Wundt 1, 26, 65.
! Wulffen 154, 882, 1004.
i
I Yvernes 754.
[ Ziehen 1, 17, 19, .37, 60. 66, 67. 113,
171, 264, 605, 606, 674, 734, 792,
833, 846. 878, 915, 922, 947,
1026.
Ziemke 733.
Ziffer 879.
Zimbal 69.
Zingerle 824, 878, 882.
Zitehnann 204, 236, 237, 238, 259,
401, 506, 561.
Zorn 319.
Soeben ist ersdiienen;
Kurzer Leitfaden
der
PSYCHIATRIE
Für Studierende und Ärzte
Von
Dr. Ph. Jolly
Assistenten an der Psychiatrischen und Nervenklinik
(Geh.-Rat Prof. Anton] in Halle a. S.
Preis brosch. M. 4.—, geb. M. 4.80
In dem allgemeinen Teil wird nach einem kurzen histo¬
rischen Abriß die allgemeine Ätiologie und dann die all¬
gemeine Symptomatologie der Psychosen systematisch be¬
sprochen. Hierauf folgt die dem praktischen Zweck des
Buches entsprechend besonders ausführlich behandelte all¬
gemeine Diagnostik der Geisteskrankheiten, bei der zunächst
die Anamnese näher gewürdigt wird, daim unter eingehender
Berücksichtigung der einschlägigen neurologischen Tatsachen
der körperliche Befund und schließlich die psychische Kranken¬
untersuchung übersichtlich gruppiert sind. Nach einem kurzen
Kapitel über die allgemeine pathologische Anatomie sowie
über Verlauf und Prognose wird die allgemeine Therapie er¬
örtert, wobei besonders auch die Schlafmittel nach Wirkung
und Dosen angeführt werden. Den Schluß des allgemeinen
Teils bilden die wichtigsten für den psychiatrischen Sach¬
verständigen in Betracht kommenden gesetzlichen Bestim¬
mungen. In dem speziellen Teil sind die einzelnen Psychosen
systematisch nach Ätiologie, Symptomatologie, Differential¬
diagnose, Prognose und Therapie, und zwar so ausführlich ge¬
schildert, daß man sich ein ausführliches Bild von der jeweiligen
Psychosenform machen und den einzelnen Fall danach be¬
urteilen kann. Auch die neueren serologischen Methoden sind
eingehend berücksichtigt. Ein ausführliches Register erleichtert
die Benützung des Werkchens.
A. Marcus & E. Webers Verlag in Bonn
Anatomie
des
Zentralnervensystems
Siebzehnter, der Sonderausgabe
Sechster Bericht
enthaltend die
Leistungen und Forschvmgsergebnisse
in den Jahren 1911 vmd 1912
Von
Prof. Dr, L. Edinger und Prof. Dr. A. Wallenberg
io Frankfurt a. M. in Danzig
Preis M. 6.—
Dieser seit 27 Jahren erscheinende Bericht hat sich durch die Voll¬
ständigkeit, in der er den vielfach zerstreuten Stoff in nur von speziellsten
Fachmännern geschriebenen Referaten wiedergibt, einen sicheren
Leserkreis geschaffen, daß er seit 12 Jahren auch separat erscheinen
konnte. Er ist für Institute und Gelehrte, welche auf hirnanatomischem
Gebiete arbeiten, ein längst unentbehrliches Werkzeug geworden. Diese
neue Ausgabe ist besonders reichhaltig und in den Referaten und Titeln
so verläßlich als möglich gestaltet. Außer den beiden Herausgebern
sind die Herren Brodmann für Hirnrinde, P. Röthig für vergleichende
Anatomie. V. Franz und Nello Beccari an dem neuen Bande be¬
teiligt. Dazu kommen viele Autorreferate, die doch die authentischste
Wiedergabe dessen sind, was der Autor zu sagen hat. Sorgsam wird die
Technik berücksichtigt.
Der fünfte Bericht, enthaltend die Leistungen und For¬
schungsergebnisse in den Jahren 1909 und 1910, ist ebenfalls
noch erhältlich und kostet 4 Mark.
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Der Arzt und die deutsche Reichsversicherungsordnung
Von
Dr. Th. Rumpf
Geh. Med.-Rat und Prof, an der Universität Bonn
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Berliner kUnnche Wochemchrift: Der verdienstvolle Verfasser hat es verstanden, auf wenig mehr
als 100 Seiten das Notwendigste zusammenzufassen, was der Arzt von der R.V. O. wissen
muß. Unter der Knappheit der Sprache hat die Verständlichkeit nicht gelitten, im Gegenteil
liest sich das Buch, das eine Fülle von Belehrung bringt, leicht, fließend und höchst anregend.
Das Buch kann jedem Arzte, der sich über die Rechte und Pflichten, die die R. V. O. den
Ärzten auferlegt, eine Kenntnis verschaffen will, auf das Wärmste empfohlen werden.
Der AmlBorzi: Das Buch ist zur Einführung der Arzte in dieses Gebiet bestimmt und erfüllt seine
Aufgabe in vollkommenem Maße.
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Vor kurzem ist erschienen;
Über
nervöse Erkrankungen
nach Eisenbahnunfällen
Mit besonderer Berücksichtigung ihrer BeeinDussung
durch Kapitalabhndung bezw. Rentenverfahren
Von
Dr. med. Paul Horn
in Bonn
mit einem Vorwort von
Dr. Th, Rumpf
Geh. Med.-Rat und Professor an der Universität Bonn
Preis brosch. M 4. —; geb. M 4.80
Inhaltsverzeichnis
1. Bisherige Anschauungen über die Prognose nervöser Unfallfolgen.
2. Häufigkeit der nervösen Unfallfolgen. 3. Entstehung, Wesen, Krank¬
heitsformen. 4. Individuelle Disposition, Geschlecht, Alter, soziale
Stellung. 5. Diagnose, Beurteilung und Behandlung. 6. Weiterer Verlauf:
a) bei Kapitalabfindung, b) bei Rentenverfahren. 7. Schlußfolgerungen.
Leitsätze und tabellarische Übersicht. Literaturverzeichnis. Sachregister.
Berliner klinische Wochenschrift 1913: Auch die vorliegende, tüchtige
Arbeit P. Horns, die unter der Ägide und mit dem Material Rumpfs
entstanden ist, betont wieder, daß die Unfallneurosen bei weitem nicht
so häufig sind, wie vielfach noch angenommen wird, und daß die fast
allgemeine Behauptung ihrer höchst ungünstigen Prognose nicht mehr
haltbar ist. Damit ist indessen das Ergebnis dieser wichtigen Unter¬
suchungen nicht erschöpft; dem Verfasser kam es auch darauf an, an
einer großen Zahl gut untersuchter und in ihrem Verlauf verfolgter
Krankheitsfälle eine schärfere Umgrenzung der Krankheitsbilder zu
versuchen, was schon längst ein dringendes Bedürfnis ist, und weiter¬
hin im Lichte seiner Untersuchungen alle übrigen Fragen zu erörtern,
die auf dem Gebiet der Unfallneurose noch ungelöst sind.
Wegen der Wichtigkeit für den Praktiker seien einige seiner Er¬
gebnisse hier angeführt .... Im übrigen muß jeder Praktiker selbst zu
diesem kleinen Büchlein greifen: was er hier findet, steht in keinem
Lehrbuch, ist klar und ruhig, mit sachlicher Kritik vorgetragen und ge¬
hört zum nötigsten Wissensbestande für die Unfallpraxis. W. Seiffer.
Schweizerische Zeitschrift für Unfallmedizin 1913: . . . Das Werk ist klar
geschrieben und ist geeignet, dem Praktiker als Grundlage für die
Prognosenstellung der oft sehr komplizierten Fälle zu dienen.
A, Marcus & E. Webers Verlag in Bonn
Soeben ist erschienen:
Die Therapie
an den
Bonner Universitätskliniken
Bearbeitet von
Innere Klinik (Geh. Rat Schnitze): Prof. Schnitze, Prof.
Esser, Prof Finkelnbnrg, Prof Stnrsberg. Medizinische
Poliklinik (Prof Kranse): Prof. Pani Kranse. Psychi¬
atrische und Nervenklinik (Geh. Rat Westphal):
Prof. Westphal, Prof Hübner. Chirurgische Klinik
(Geh. Rat Garre): Prof. Madiol, Dr. Bayer, Dr. Eis,
Dr. Fründ, Dr. Geinitz, Dr. Krabbel, Dr. Syring. Augen¬
klinik (Geh. Rat Knhnt): ProfKnhnt. Ohren-, Nasen¬
klinik (Geh. Rat Walb): Prof Walb. Frauenklinik
(Prof V. Franqne): Prof Reifferscheid. Hautklinik
(Prof. Hoffmann): Priv.-Doz. Frieboes
Herausgegeben von
Prof Dr. Rudolf Finkelnburg
in Bonn
Preis brosch. M 9.60, geb. M 10.60
Aus dem Vorwort:
Die vorliegende „Therapie der Bonner Kliniken“ ist ols ein rein
praktisches therapeutisches Kompendium in erster Linie für Studie¬
rende und Praktiker bestimmt.
Lehrbuchmöpig, aber in möglichst knapper Form sind die einzelnen
Kapitel der verschiedenen Disziplinen zusammenhängend abgehandelt.
Dabei ist nach Möglichkeit erstrebt worden, durch einleitende dia=
gnostische Bemerkungen dem Leser die für eine sachgemäße, besonders
A. Marcus & E. Webers Verlag in Bonn
auch ätiologisdie Behandlung unbedingt erforderlichen diagnostischen
Richtlinien in aller Kürze vor Augen zu führen.
Besonderes Gewicht ist darauf gelegt, auch die negativen thera¬
peutischen Resultate der Bonner Kliniken zu übermitteln, um dadurch
den Praktiker vor der Anwendung zahlreicher durch langjährige Be=
obachtung der Kliniken als nutzlos erwiesener Heilmethoden und Heil=
mittel zu bewahren.
Durch besonders eingehende Besprechung der speziellen Technik
der Behandlungsarten, soweit dies erforderlich erschien, sowie durch
die Beifügung genauer Diätvorschriften, Rezeptformeln usw. hat hoffent¬
lich das Kompendium an praktischem Wert gewonnen.
Die knappe, alles Überflüssige vermeidende Form des Buches war
nur dadurch möglich, dafi die Bearbeitung der einzelnen Kapitel von
den Leitern der Kliniken selbst oder älteren durch längere Lehrtätig=
keit praktisch geschulten Dozenten und älteren Assistenten der Kliniken
übernommen wurde.
Inhaltverzeichnis:
Innere Krankheiten: Bearb. von Geh. Rat Prof. SCHULTZE,
Prof FINKELNBURG, Prof PAUL KRAUSE und Prof STURS¬
BERG.
Kinderkrankheiten: Bearb. von Prof ESSER.
Psychische und Nervenkrankheiten : Bearb. von Geh. Rat Prof
WESTPHAL, Prof HÜBNER und Prof FINKELNBURG.
Chirurgische Krankheiten : Bearb. von Geh. Rat Prof GARRfi,
Prof MACHOL, Dr. BAYER, Dr. ELS, Dr. FRÜND, Dr. GEI¬
NITZ, Dr. KRABBEL und Dr. SYRING.
Augenkrankheiten: Bearb. von Geh. Rat Prof KUHNT.
Ohren-, Nasen- und Halskrankheiten: Bearb. von Geh. Rat
Prof WALB.
Frauenkrankheiten: Bearb. von Prof. REIFFERSCHEID.
Haut- und Geschlechtskrankheiten : Bearb. von Priv. - Doz.
FRIEBOES.
Anhang:
Spezielle Technik: Bearb. von Prof Dr. STURSBERG.
Therapie der (klinisch wichtigsten) Vergiftungen:
Bearb. von Prof Dr. FINKELNBURG.
A. Marcus & E. Webers Verlag in Bonn
Im November 1913 wird erscheinen:
Leitfaden
der
Säuglingskrankheiten
Für Studierende und Ärzte
Von Dr. W. BIRK
Privatdozenten für Kinderheilkunde an der Universität in Kiel
Preis ca. M 4.—
Das Büchlein verfolgt rein praktische Ziele: es soll dem Studenten
für das Studium und dem praktischen Arzt für die Behandlung der
Säuglingskrankheiten als Leitfaden dienen.
Es ist keins der üblichen Kompendien, die mit ihrer Kürze meist
mehr verwirren als Nutzen stiften. Die Darstellung ist zwar knapp,
aber erschöpfend. Eine eingehende Behandlung hat die Diagnostik und
die Therapie erfahren, während die Theorie nur da berücksichtigt wurde,
wo es zum Verständnis des Krankheitsbildes unbedingt notwendig er¬
schien. Den breitesten Raum nehmen entsprechend ihrer praktischen
Bedeutung die Ernährungsstörungen des Säuglingsalters ein, die — wie
bei dem Verfasser als Schüler Czernys nicht anders zu erwarten — ge-
mäfi den Anschauungen der Czemyschen Schule abgehandelt sind.
1870/71
Erinnerungen und Betrachtungen
Von
Prof. Dr, Heinrich Fritsch, Geh. Ober-Med.-Rat
3.-5. Auflage. — Preis gebunden M 5.—
Medizinische Klinik; Die „Erinnerungen“ seien allen Kollegen auf
das Wärmste empfohlen.
Deutsche militärärztliche Zeitschrift: Das Buch ist ein wert¬
volles Dokument für die große Zeit; seine Lektüre kann warm emp=
fohlen werden.
Zeitschrift für ä r z tli ch e Fort bi Idung: Diese Erinnerungen eines
alten beliebten Lehrers dürften ein willkommenes Geschenk für den
deutschen Arzt sein.
Schmidts Jahrbücher; Ein prächtiges Buch, diese Erinnerungen und
Betrachtungen!
A. Marcus & E, Webers Verlag in Bonn
Allgemeines Berggefe^ ‘‘siKun,''''’'"
Von Dr. jur. H, Brallert. Zweite Auflage bearbeitet von
Dr, jur. HansGottschalk.
Der jetzt vorliegende 1. Teil des Gelaintwerkes kann einzeln nicht erworben werden. Seine
Abnahme verpflichtet vielmehr zum Kauf des demnächft erfcheinenden 11. Teiles. Preis des voll-
Itändigen brofehierten Exemplares M 22.—. Nach Ausgabe des 11. Teiles koltco io Halbfranz
/tebundene vollständige Exemplare M 24.50.
Das preußifdie Gewerkfdiaftsrecht
kommentiert von W. WelthoH, in zweiter Auflage bearb.
von Fritz Bennhold, Geh. Bergrat und vortrag. Rat
im Min. für Handel und Gewerbe. In Leinen geb, M 7.—
Das preußifdie Waffergefe^ 7er%Tr-
handlungen des Landtags erläutert von Dr. Hans Gott-
Ichalk, Rechtsanwalt in Dortmund. 24 Druckbogen. In
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K. J. Friedrich, Ed. Gammersbach, H, Geffcken, K. Hassert,
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Bild von den Fortschritten der gesamten Medizin zu geben. In erster
Linie findet der praktische Arzt in ihnen alles für ihn Wissenswerte in
möglichster Vollständigkeit vor.
Aber auch der Spezialarzt und der theoretische Forscher werden
durch sic in Zusammenhang mit allen Zweigen der medizinischen Wissen¬
schaft gehalten. Da „Schmidts Jahrbücher" nicht ein jährliches Nach¬
schlagewerk, sondern eine Monatsschrift sind, ist es möglich, daß alle
Zeitschriften-Arbeiten und Bücher bald nach ihrem Erscheinen referiert
werden können. Jedem Arzt und Forscher, gleichviel auf welchem Spezial¬
gebiet er sich betätigt, wird hier in den nach Disziplinen übersichtlich
geordneten kritischen Referaten eine schnelle Information über die neuen
Forschungsergebnisse ermöglicht.
Die Jahrbücher bringen neben Einzelreferaten und Bücher-
besprechungen besonders auch Sammelreferate. Es werden
regelmäßig einige Themata in kurzgefaßten Sammelreferaten behandelt,
so daß jedes Monatsheft eine größere Zahl derartiger zusammenfassender
Berichte enthält.
Ein ganz besonderer Wert wohnt den Jahrbüchern inne durch ihre
beinahe lückenlose Bibliographie, zu deren Anfertigung der Redaktion
fast die gesamten Zeitschriften des In- und Auslandes zur Verfügung
stehen. Diese bedeutungsvollen Literaturzusammenstellungen und die von
wissenschaftlichen Mitarbeitern mit größter Exaktheit angefertigten Sach-
iind Namenregister lassen die Zeitschrift für jeden Arzt und Forscher zu
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