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Full text of "Illustrierte Haus-Bibliothek zur Unterhaltung und geistigen Anregung Jahrg 2, Band 11"

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Baus-Bibliotbek 
Jahrgang II 2a 121 a3 098 








Photographie-Verlag von V. Angere 


Was birgt die Zukunft? Nach dem Semälde von A. Lonza. 


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Wien. 


Jlustrierte 
Haus Bibliothek 


ur Unterhaltung - - - 
und geistigen Anregung. 


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Band XI 


Berlin-Leipzig | 
WU. Vobach & Co. 
Derlagsbuchhandlung. 


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® Druck von 

2 W. Vobach & Co. 
‚in LeipzigR. 





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InbaltsVerzeichnis. 
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| Seite 

Was birgt die Zukunft? Nach dem Semälde von 

A. Lonzea. Titelbild. 

Wer wird fiegen? Ein Zeitroman in drei Büchern 
von Reinhold Ortmann. (Sortfeßung). . . 2423 
Deutfche Dichtergrüße: | er 
Schnadaebüpfin . > 22 2 nn nn nn. 2486 
Beidebild. Don Detlev von Lilieneron . . 2486 
Bad Kiffingen. Don Wolfgang Engel . . . . 2487 

Mit 9 Abbildungen. 

Duellwut bei Tieren. Don Richard Klamroth . 2501 
„Um fo einen!“ Novelle von Elfe Krafft . . . 2507 


Pbotograpbien. aus dem Vogelleben im Freien. 
Von Ewald van den Bofh. . . 2... . 2527 
Mit 2 Abbildungen. | 

- Deutiche Dichtergrüße: 
Ständchen. Don Ludwig Jacobomsfi. „ . 2532 
Vöslein und Wandern. Don Friedrich Dolfer. 2532 
Wie das Gold gefunden wird. Don Dr. M. Marriot 
in San Francisco ER a 
Deutfche Dichterinnen der Gegenwart. Helene 


Tiedemann (Leon Danderjee). - .» 2.2... 2541 
Mit Bildnis der Dichterin. 


Das Rätfel der Abnenburg. Roman von Egon Fels. 2545 


Deutfche Dichtergrüße: 
Derrat, Don Hlerander Kaufmann. . . . 2616 


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Anbalts:Derzeichnis. 





Ein Thüringifches Elite-Regiment und Teine Ge— 
fchichte. (4. Thüringifches Infanterie-Regiment 


Seite 


Ar. 72.) Don Bellmut von Trimborn 2617 
Mit 3 Abbildungen. 
Allerlei: 
Urweltliche Lederbiffen. -. - - x 2.0. . 2640 
Klippen des Indizienbeweiles . . - 2643 
Einer der unheilvolliten Staatsmänner . „+ 2645 
In Sieben Stunden durch fieben er Länder . 2645 
Eheſtatiſtik. — .. 2646 
Srauen als Soldaten . . . —V . 2647 
Wie die Chinefen mit ihren Söttern um Beben . 2649 
Scheidungsgründe - 2 2 2.2 0 en nn. 2650 
Öcchideenjäger. «© . . +.» a2 are 52002 
Die Größe eines Waffertropfens 6853 


Rätfel- Ecke ge) . . . . . . 0 e 0 . . . 2654, 2655 


J nſerate 0 , ‘ ® U 0 . ‘ . ’ 0 0 





2656 





Wer wird fiegen? 

Ein Zeitroman in drei Büchern von Reinhvld Drimann. 
(3. Sortfegung.) (Vachdruck verboten.) 
lagen Sie e8 mir noch einmal! Sch bin nicht ein 
Mörder?“ | 

„Bit!“ machte der Arzt, der es gehört hatte, 
und mit vorfichtig gedämpfter Stimme fügte er 
Hinzu: „Er fann in jeden Augenblid wieder zum Bewußtfein 
fonmen, und ich darf Ihnen zu Ihrer Beruhigung verfichern, 
Herr Cederjtjöld, daß die Verlegung allem Anjchein nach Feine 
allzu fchwere if. Eine leichte ©ehirnerjchütterung ſcheint 
allerdings vorzuliegen; aber ich glaube nicht, daß wir ung 
ihretwegen zu ängjtigen brauchen.“ 

Wührend der Doktor zu ihm |prad), hatte Cederjfjöld fich 
langſam aufgerichtet. Seine blauen Augen, die noch größer 
und noch herbortretender jchienen als ſonſt, hatten die Worte 
förmlich von feinen Tippen getrunken, und während nun jeine 
breite Bruft aufs neue mächtig zu arbeiten begann, bewegten 
ih jeine Lippen, ohne daß fie doch imftande geweſen wären, 
auh nur einen einzigen Laut Hervorzubringen. | 

Er that einen zögernden Schritt auf dag Nubhebett zu; 
aber der Arzt, nachdem er noch einen rajchen Blick auf feinen 
Patienten gerborfen, ging ihm entgegen und rannte ihm zu: 








2424 Reinhold Ortmann. 





„Begnügen Sie fich vorerjt mit dieſer beruhigenden Aus— 
funft — und gehen Sie, ehe Herr von Brunned aus jeiner 
Ohnmacht erwacht. Wir müfjen ihn vor jeder Aufregung hüten, 
und darum iſt es doch vielleicht beſſer, daß er Sie jet nicht 
fieht. Ich glaube ja gern, daß Sie ein Bedürfnis fühlen, mit 
ihm zu fprechen; aber wir wollen vor alem Rückſicht auf feinen 
Zuftand nehmen — nicht wahr? Und aus diefem Grunde 
würde ich es für zmedmäßig Halten, wenn auch die andern 
Herrichaften ſich nunmehr verabjchiedeten.“ 

Arvid Cederjtjöld ftrich fih über die Stirn. 

„Aber wenn ich ihn nicht um Verzeihung bitte noch dieſe 
Nacht, ich werde es niemals thun fünnen. Ich — —“ 

„Sie werden mir gejtatten, mein junger Freund, Gie 
vorerft nach Haufe zu begleiten. Ich bene, wir haben einiges 
miteinander zu reden.“ 

Es war Heinrich) Vollart, der ihn mit diefer in ziemlic) 
energiihem Tone abgegebenen Erklärung unterbrochen hatte, 
indem er zugleich jeinen Arm in den des Schweden jchob. 
Halb mwillenlos ließ Cederſkjöld ſich ein paar Schritte fortziehen;; 
dann aber blieb er doch noch einmal Stehen. 

„Meine Frau — iſt fie fort?“ 

Der Maler wies auf die Thür des Nebenzimmers. 

„Ihre Frau iſt mit meiner Tochter da drinnen. Und 
wenn Sie es geſtatten, wird fie für dieſe Nacht die Gaſt— 
freundſchaft meines Hauſes genießen. Einer dieſer Herren 
hat ſicherlich die Freundlichkeit, ſtatt meiner die Damen zu 
begleiten.“ 

Der Schwede ſah ihn an und drückte ihm dann mit einer 
ungeſtümen Bewegung ſo heftig die Hand, daß Heinrich Vollart 
in —— war, laut aufzuſchreien. 

„Sie ſind ein vortrefflicher Mann,“ ſagte er gepreßt. 
- „Und Sie können mich laſſen allein gehen. Ich werde nicht 
thun, was Sie fürchten.“ 

„Um fo beffer! Aber ich Habe mir's nun einmal bor- 
genommen, Sie zu begleiten. Und ich bin jedenfalld noch vicl 
an als ich vortrefflich bin. Lafjen Sie ung aljo gehen!“ 

Da erhob Arvid Cederjfjöld feinen weiteren Widerjprud) 
mehr, und fie gingen. — — — 


Wer wird Stegen? 2425 


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. Anders, als fie gefommen . waren, mit jcheuen, lautlojen 
Schritten, hatten Gabor Sarlos Gäſte fich entfernt, und jeder 
von ihnen Hatte ſich draußen auf dem Borplaß dem noch iyımer 
ganz verjtört dreinfchauenden jungen Ungarn mit mannhaften 
Händedrud zu nnverbrüchlicher Verſchwiegenheit verpflichtet. 
Nun kehrte er in das Atelier zurüd, wo Erich, mit einem 
proviſoriſchen Verband verjehen, noc immer in tiefer Bemußt- 
loſigkeit dalag. 

„Sie find alle fort — bis auf die Damen. Glauben 
Sie wirklich, Doktor, daß ih mid) auf eine Stunde entfernen 
fann, um fie nach Haufe zu geleiten?“ 

„Gewiß! Sch werde jelbitverjtändlich für den Neft ver 
Nacht bei dem Patienten bleiben, und Sie fagten ja, daß Sie 
Ihre Aufwärterin herbeirufen wollten. Es genügt, wenn ic) 
irgend eine Perfon zur Verfügung Habe, die mir im Fall der 
- Not einige Handreichungen leiſten kann.“ 

Sarlo wendete jich dem Nebenzimmer zu; aber Dolly hielt 
ihm noch zurück. 

| „Wir brauchen Ihre Aufwärterin nicht,“ ſagte fi. „Ich 
werde bei Ihrem Freunde — 

Verlegen zupfte der Ungar an ſeinem Schnurrbart. 
„Das iſt ein ſehr großmütiges Anerbieten; aber ich weiß 
doch nicht — 

„Was haben Sie dagegen einzumenden?“ ' fragte fie ruhig. 
„Habe ich mich zu ungeſchickt angejtellt, Herr Doktor?” 
| „Gnädiges Fräulein find die beſte Samariterin, die man 
ih nur wünfchen kann,“ erwiderte der Arzt verbindlich. „Aber 
es bedarf eines jolchen Opfers wirklich nicht mehr, und feine 
Annahme wäre nichts als ein jträfliher Mißbrauch Ihrer 
Menfchenfreundlichkeit. Vielleicht wäre es für den Augenblick 
verdienftlicher, wenn Sie Fräulein Vollart behilflich fein wollten, 
dieje arme junge zn zu beruhigen und, fie zum Aufbruch zu 
bewegen.“ 

Dolly leiftete, wenn auch etwas sögernd, der Aufforderung 
Folge und trat in das Nebenzimmer ein, wo es indeſſen der 
von ihr verlangten Unterſtützung nicht mehr bedurfte. Denn 
es war dem ebenjo herzlichen wie verjtändigen Zureden Helenens 
gelungen, die Aufregung der Schaufpielerin wenigſtens injoweit 


2426 Reinhold Ortmann. 





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zu beichwichtigen, daß man daran denken fonnte, die Wohnung 
der beiden Maler mit ihr zu verlaffen. Allerdings bot fie 
mit jhrem verjtörten Gefichtchen noch immer einen geradezu 
bejammernsmwerten Anblid, und das Mebermaß der Erregung 
hatte ihre Kräfte jo erjchöpft, daß fie ſich kaum auf den Füßen 
zu halten vermochte. Ihre Thränen waren verfiegt, aber ein 
frampfhaftes Schluchzen jchüttelte noch immer von Zeit zu Zeit 
ihre zierliche Geftalt. Willenlo8 ließ fie e3 gefchehen, daß man 
ihr den Hut aufjeßte und fie in ihren Mantel einhüllte Auf 
den Arm Helenens geftüst und mit halb gefchlofjenen Augen, 
als fürchte fie, daß fie etwas Entjebliches werde ſehen müfjen, 
betrat fie das Mtelier, das man paſſieren mußte, um den 
Ausgang zu gewinnen. Helene ſah auf den erjten Blid, daß 
Erich. inzwijchen das Bewußtſein wieder erlangt hatte. Denn 
feine Mugen waren weit geöffnet, und feine Lippen beivegten 
ich zu leifer Antwort auf eine Zrage, die der Arzt eben an 
ihn gerichtet haben mochte. Aber Gabor Sarlo winkte ihr zu, 
nicht zu verweilen, und fo zog fie die Schaufpielerin raſch mit 
ſich auf den Vorplag hinaus, wo fich ihre eigene Garderobe 
befand. Erſt als die Thür des Ntelierd ſich Hinter ihr ge- 
ſchloſſen hatte, gewahrte fie, daß Dolly ihr nicht gefolgt war. 
Sie zog ſich an und wartete ein paar Minuten lang auf das 
Ericheinen ihre Verlobten und ihrer Freundin. Dann, al 
fie noch immer nicht famen, öffnete fie noch einmal behutfam 
die Thür, um mit grenzenlofem Erjtaunen das Bild zu erfafjen, 
das fich da drinnen ihren Blicken bot. 

Erich von Brunneck Hatte fich auf feinem Lager halb auf- 
gerichtet, und fein Geſicht war Helene fo weit zugeiwendet, daß 
fie den beglüdten Ausdruck feiner Züge wahrnehmen fonnte. 
Bor ihm auf dem Boden aber fniete Dolly in einer vielleicht 
etwas theatraliihen, doch darım nicht weniger Tiebreizenden 
Stellung, die Ellenbogen auf den Rand des Ruhebettes geſtützt 
und das Kinn auf den gefalteten Händen. Ihr aufwärts ge= 
richtetes Antliß war dem Verwundeten zugefehrt und für Helene 
unsichtbar; aber die ganze Situation war jo unzweideutig, daß 
fie nicht exit daS Mienenſpiel der Sängerin zu ftudieren 
brauchte, um zu begreifen, was da gejchah. 

Peinlich überrajcht, mit einem ftechenden Schmerzgefühl 


Wer wird ftegen? 2427 





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in der Bruſt, für das ſie ſich ſelbſt wohl kaum hätte eine Er— 
klärung geben können, blieb das junge Mädchen regungslos 
auf der Schwelle ſtehen. Und nun hörte ſie Dolly ſagen: 

„Nein, ich bleibe hier — ich müßte ja zu Hauſe vor 
Angſt vergehen.“ 

Da hielt es ſie nicht länger, und ohne alle Ueberlegung, 
einzig dem Impuls des Augenblicks folgend, that ſie ein paar 
Schritte auf die kleine Gruppe zu: 

„Vergieb — aber ich möchte ein paar Worte unter vier 
Augen mit dir reden, Dolly!“ 

Ohne ſich von den Knieen zu erheben, drehte die An— 
geredete den rotblonden Kopf nach ihr um. Ihr Geſicht war 
hinreißend ſchön mit dem Ausdruck ſeliger Hingabe, der ſich 
wie ein verklärender Schimmer darüber gebreitet, und ein un— 
widerſtehlich reizendes Lächeln umſpielte ihre Lippen, als ſie 
im weichſten und ſanfteſten Tone erwiderte: 

„Weshalb unter vier Augen, Liebſte? — Sch weiß ja 
jehr wohl, wa du mir jagen willit. Aber e8 wäre verlorene 
Mühe sch bleibe ja nicht allein hier. Und ich frage nichts 
nach dem Urteil der Welt.“ 

Der Doktor war mit einem unmutigen Stirmrunzeln 
zurüdgetreten, und achjelzudend flüfterte Gabor Earlo ihm 
einige Worte zu. Erich von Brunned aber neigte feinen ver- 
bundenen Kopf tiefer zu der Knieenden Hinab und jagte: 

„Ich danke Ihnen, Dolly — aber die andern haben recht 
— Gie dürfen nicht bleiben! Ich will nit, daß man es 
wagt, Ihnen Uebles nachzureden.“ 

Sie mollte etwa entgegnen; aber . ein unerwarteter 
Zwiſchenfall Tieß fie nicht dazu kommen. Vor fünf Minuten 
ſchon Hatte Sarlo den Klingelzug in Bewegung gejeßt, der in 
die Wohnung der Aufwärterin führte, und num tauchte plößlic) 
die maſſige Geftalt der Frau Schulze mit einem Geficht, auf 
dem fich Drajtiich genug daS gewaltigite Erjtaunen malte, im 
Thürrahmen auf. 

„J du meine Jüte! Was i8 denn paſſiert? Das ſieht 
ja aus, als hätte es hier Mord und Totſchlag jejeben.“ 

Als hätte ein Peitjchenhieb fie emporgetrieben, war Dolly 
beim erjten Laut diefer rauhen, mißtönenden Stimme auf- 





2428 -» | Reinhold Ortmann. 





—— und hatte ſich hinter den maleriſchen Dfenaufban j 
geflüchtet. 

„Entfernen Sie da3 Weib!" raunte fie Sarlo zu. „Um 
alles in der Welt beſchwöre ich Sie: ſchicken Sie fie fort!” 

Uber die wadere Frau Schulze jah wahrlich nicht aus wie 
jemand, der ſich jo ohne mweiteres wieder fortichiden lafjen würde. 
Die Arme in die Hüften geftemmt, war fie mitten im Atelier 
jtehen geblieben, und ihre Kleinen, verfchmibten Augen waren 
unverwandt auf Dollys jehr unzulängliches Verſteck gerichtet. 

„Was hat denn das Fräulein? Bor mir braucht fie ſich 
doch nicht zu genieren. Und weshalb haben Sie eijentlich nach 
mir jeklingelt?“ | 

„Herr von Brunneck hat das Mißgeſchick gehabt, ſich durch 
einen Fall zu verletzen,“ ſagte Sarlo in großer Verlegenheit, 
„und da ich im Begriff bin, die Damen nach Hauſe zu begleiten, 
hatte ich Sie bitten wollen, inzwiſchen hier in der Nähe zu 
bleiben für den Fall, daß der Herr Doktor eines Beiſtandes 
bedürfen ſollte. Jetzt aber — —“ 

„Natürlich werde ick hier bleiben,“ ſchnitt ihm Frau Schulze 
mit großer Entſchiedenheit die Weiterrede ab. „Von den Fräu— 
leins wird ihm doch wohl keine die janze Nacht Jeſellſchaft 
leiſten wollen.“ 

Dolly mochte eingeſehen haben, daß es für die Dauer un- 
möglich fein würde, fich dem impertinenten Späherblid der Auf- 
wärterin zu verbergen. Denn fie trat plöglih aus ihrem 
Winkel hervor und gerade auf fie zu. 

„Alle juten Jeiſter!“ — wollte Frau Schulze einen ver: 
mutlich auf großen Wortreichtum zugefchnittenen Ausdrud höchſten 
Erjtaunens beginnen. Dolly aber wußte fie daran zu ver- 
hindern, indem fie ihr die Hand entgegenftredte und mit lieben3- 
würdigſter Unbefangenheit fagte: 

„Srau Schulze — nicht wahr? Sch weiß nicht, ob Sie 
ih von unjerer flüchtigen Begegnung her meiner noch erinnern. 
Aber ſeitdem ic) Sie erfannt habe, weiß id, daß wir Herrn 
von Brunned in der That in guten Händen lafjen, wenn wir 
ihn Ihrer mütterlichen Obhut empfehlen. Wollen Sie mir 
erlauben, Ihnen ein paar Worte im Vertrauen zu jagen, liebe 
Frau Schulze?“ 


Wer wird jtegen? 2429 





Auf dem derbfnochigen Geficht der Frau hatte fich während . 
‚diefer auffallend haftigen Begrüßung eine ganze Sfala von 
widerjtreitenden Empfindungen gejpielt. Aber fie Hatte die mit 
ſo geivinnender Freundlichkeit dargebotene feine Hand nicht ge- 
wonnen, und nur mit fichtlichem Widerſtreben Tieß fie ſich 
jest von Dolly nach der andern Seite des Ateliers hinüber 
ziehen. 
= Da aber, wo fie ſicher ſein konnte, von den andern nicht 
mehr gehört zu werden, raunte ihr die Sängerin zu: 

„Sie werden ſchweigen — nicht wahr? Sie werden den 
beiden Herren nicht verraten, woher wir und fennen. Seien 
Sie verfichert, daß ich mich Ihnen dafür erfenntlich zeigen 
werde.: Sie fünnen für Ihre Verjchiwiegenheit von mir ver- 
langen, was Sie wollen.“ 

„So? Kann ich das wirklich? Na, wir wollen ſehen. 
Ich werde mir's überlegen.“ — — — 

Als Fräulein Dolly ſich den anderen wieder zuwandte, 
hatte ſie ihre vorige Abſicht geändert. Sie trat an das Lager 
des Verwundeten, um ſich von ihm zu verabſchieden und ihm 
eine ſchmerzloſe Nachtruhe zu wünſchen. Nur für-die Dauer 
weniger Sekunden ließ ſie's gejchehen, daß er ihre Hand zärt- 
(ih an jeine Lippen drüdte, und einzig ihre Augen, die heiß 
und leuchtend die feinigen juchten, jagten ihm alles das, wonach 
feine Seele dürſtete. 

Mit. einem freundlichen Kopfniden grüßte fie den Arzt, 
um dann wie in einer Aufwallung warmer Bärtlichkeit Helenens 
‚Taille zu umſchlingen. 

„Du ſiehſt, daß ich ganz vernünftig bin, lieber Schab! 
Laß uns denn diefe arme kleine Frau Signe gemeinjam unter 
unjere jchügenden Fittiche nehmen!“ 

Gleich darauf waren der Arzt und die Aufiwärterin allein 
dei dem Vermundeten. 

„Machen Sie doch nicht ein jo ſchrecklich ernſthaftes Ge— 
ſicht, liebe Frau Schulze,“ ſagte Erich ſcherzend. „Mit meiner 
Verletzung hat es herzlich wenig auf ſich. Und wenn Sie mich 
ein bißchen erheitern wollen, ſo erzählen Sie mir, wo Sie die 
Bekanntſchaft des Fräulein Förſter gemacht haben. Es würde 
mich außerordentlich intereſſieren.“ 


2430 Reinhold Ortmann. 





Mit gerunzelter Stirn ftand die Frau ein paar Sefunden 
lang jehweigend wie in innerem Kampfe. Dann aber jchüttelte 
lie. ablehnend den Kopf. 

„Rein, heute nicht!” ftieß fie kurz und rauh hervor. „Sie 
jehen nich aus, als ob es Ihnen jut thäte, Seichichten zu 
hören. Wollen Sie denn übrigen3 hier in'n Wtelier liegen 
bleiben?“ 

„Für diefe Nacht wird es wohl das beite jein!” erwiderte 
der Arzt ftatt des Gefragten. „Und Sie haben vollfommen 
recht, fich jet nicht auf lange Unterhaltungen mit unferm 
PBatienten einzulaffen. Er jol nicht plaudern, jondern zu 
ſchlafen verſuchen. Kehren Sie alfo vorläufig getroft in Ihre 
Wohnung zurüd. Es it genug, wenn Sie fich bereit 
zu fommen, ran? ih Sie rufe. . 

„Ra ja, Sie brauchen ja bloß zu klingeln. ch bin immer 
parat.” 

Sie entfernte fi) mit jener anmutigen Leichtigfeit, die 
jedesmal den ganzen Fußboden des Ateliers in zitternde Be- 
wegung verjeste. Aber als fie dann die Thür ihrer blitfauberen 
Küche wieder Hinter fich ing Schloß drüdte, ſagte fie laut und 
vernehnlich vor fich hin: 

„Und wenn fie mir funfzig Thaler jeben wollte, ich thu's 
nich! Sie foll’3 mit ihm nich machen dürfen, wie mit dem 
andern — dafür wird die Schulzen fchon ſorgen. 


Fünfzehntes Kapitel. 
Es mochte gegen neun Uhr morgens ſein, als Erich aus 
ſeinem tiefen und wohlthuenden Schlummer erwachte. Ver— 
wundert muſterte er ſeine Umgebung, die ihn allerdings fremd 
genug anmuten mußte, und es bedurfte einer geraumen Weile 
gründlichen Nachdenkens, ehe er ſich alle Vorgänge der ver- 
offenen Nacht, joweit er fie mit Bewußtjein miterlebt oder 
aus den Erzählungen des Arztes kennen gelernt, ins Gedächtnis 
zurüdgerufen und fie in den richtigen Zuſammenhang unter- 
einander gebracht hatte. 
Die feltjamjten und widerjpruchsvolliten Empfindungen 
waren es, die ihn bei diejer Erinnerung bewegten. Seine erite 


Wer wird ftiegen? 2431 





Regung beim Anblick de3 bunt und flitterhaft aufgepußten 
Atelierd, das nur zu deutlich ſowohl die Spuren des aus— 
gelafjenen Feſtes wie die feines wüſten und traurigen Abſchluſſes 
aufivies, war ein Gefühl des Widermwilleng und der peinlichen 
Beihämung geweſen. Er bereute tief, fich troß des üblen Ein- 
drud3, den er damal3 bei feinem erjlen Beſuch in ihrem Kreije 
empfangen, mit diejem zigeunerhaften Künftlervölfchen eingelafjen 
zu haben, und er empfand etwas wie wirklichen Groll gegen 
Vollart und Sarlo, die ihn dazu beitimmt hatten. 

Aber fein Unmut verflog, und ein Lächeln Hujchte über 
fein Geficht, als er jebt de3 jungen Ungarn anfichtig wurde, 
der e3 offenbar auf jich genommen hatte, nach der in früher 
Morgenitunde erfolgten Entfernung des Arztes bei ihm zu 
„wachen“. 

Ohne allen Zweifel hatte er den beiten Willen dazu gehabt; 
denn er jaß in der denkbar unbequemiten Stellung auf einem 
jener alten italienifchen Holzjtühle, die er für das „Seit“, wer - 
weiß woher, aufgetrieben hatte, und die für jeden andern Zweck 
brauchbarer jchienen al3 für den des Ausruhens. Hundertmal 
mochte er in tapferem Kampfe Herr geivorden fein über die 
Anmwandlungen einer bleiernen Müdigkeit, endlich aber war er 
ihnen doch unterlegen. Sein lodiger Kopf ruhte auf dem harten, 
fantigen Schnigwerf der Stuhllehne, als ob e3 der weichite 
Daunenpfühl geweſen wäre; ein Ausdrud heiterer Ruhe, wahr- 
jcheinlich da8 Spiegelbild eines angenehmen Traumes, war auf ' 
feinem hübſchen Gelicht; und es wäre ohne allen Zweifel die 
größte Graujamfeit geweſen, ihn rau aus dieſem füßen 
Schlummer zu weden. 

Sicherlich träumt er von der Geliebten! dachte Erich, und 
dabei that fich’3 vor feiner eigenen Seele auf wie eine herr— 
lihe Wunderwelt voll paradiefischen Sonnenjchein3 und un- 
geahnter Seligfeiten. 

„Dolly!“ fagte er halblaut vor ſich hin, al3 wäre etwas 
unjäglich Beglüdendes jchon in dem bloßen Klang ihres Namens. 
Und dann jchloß er die Augen, um durch feinen projaischen 
äußeren Eindrud die wonnevollen Bilder zerjtören zu laffen, 
die feine Phantafie erfüllten. Aber nicht lange durfte er fich 
unbehelligt diejer holden Beichäftigung hingeben. Denn ein 


4232 Reinhold Ortmanı. 





Schlüffel Inirichte draußen im Drüderfchloß, und ein wohl— 
befannter fchwerer Tritt machte die Dielen des Ateliers erzittern. 

Seufzend drehte Erich den Kopf zur Seite, um fich ſchlafend 
zu Stellen. Dann aber erinnerte er ſich des wirklich ſchlummernden 
Freundes, der nicht gejtört werden durfte, und. al3 die Auf- 
wärterin über die Schwelle trat, mahnte er jie durch Wort 
und Gebärde zur Behutſamkeit. 

„Leife, Frau Schulze, leife, damit wir ihn nicht wecken!“ 

Sie ftreifte Gabor Sarlos Geftalt mit einem mitleidigen 
Blick, und dann, indem fie jo vorfichtig wie möglich an Erich 
Lager herantrat, brachte fie ein zufammengerolltes Blatt zum 
Borichein, das fie bei ihrem Eintritt unter der Küchenjchürze 
verborgen gehalten. | 

„Hier! SE Habe Ihnen 'was mitjebracht, Herr von 
Brunnel! Bielleicht macht's Ihnen Spaß, ſich's 'mal anzu- 
jeden.“ | 

Mit einer gemwillen heiteren Neugier entrollte Erich den 
feineswegs allzu jauberen und jtellenweife arg zerfnitterten 
Bogen ftarfen Zeichenpapieres. Aber feine Augen öffneten ftch 
weit und ein Ausruf höchiten Erſtaunens fam von jeinen Lippen, 
al3 er einen Blick auf die in Fühnen Kreideitrichen ausgeführte 
Skizze geworfen, die ihn bedeckte. 

„Was iſt 093? — Wie, um alles in der Welt, fommen 

Sie zu dieſer Zeichnung?“ 

„Ich hab' ſie hier in einem Winkel gefunden, als ick das 
Atelier wieder in ſtand ſetzen ſollte, nachdem der arme Herr 
Stehling jeſtorben war. Wenn keiner das Bild haben will, 
dachte ick mir, kannſt du's ja zum Andenken behalten. Ein 
bißken verrückt mag es wohl fein; aber ähnlich is es — nich 
wahr?“ 

Die Aehnlichkeit war in der That überrajchend genug, wie 
wenig ſonſt auch die Kompofition über die erften flüchtigen An- 
deutungen hinausgediehen jein mochte. Ein jchön geſtaltetes, 
weibliches Fabelweſen mit aufgelöftem Haar und mächtigen 
Ihwarzen Fledermausflügeln, das ſich über einen jchlafenden 
Süngling herabneigt, um ihn zu küſſen vder vielleicht auch, um 
nah Vampyrart jein Blut zu trinfen — das war das Sujet 
des in genialen Zügen ffizzierten Entwurf. Als Fünftlerifche 


Wer wird flegen? 2433 





Leiftung mochte die Studie dem Auge des Laien wohl ohhe 
fonderliche Bedeutung -fcheinen. Und fie würde auch Erich von 
Brunneck kaum länger als für wenige Minuten interefjiert 
haben, wenn nicht eben dieje ganz unverfennbare, geradezu 
verblüffende Aehnlichkeit gewejen wäre, die ihn auf den eriten 
Blick gepadt hatte, al3 thäte etwas Wunderbares und Un— 
begreifliche3 fich vor jeinen Augen auf. 

Dies ſchöne Mädchenantlib, um deſſen Lippen ein jo ver- 
langendes und zugleich graufames Lächeln jpielte, e3 trug mit 
der vollfommenen Treue eines nach ‚dem Leben gezeichneten 
Porträts Dolly Förſters reizende Züge. Und jelbit die eigen- 
tümlich anmutige Beugung des fchlanfen Haljes war genau 
diejelbe, die Erich jo oft an dem lebendigen Borbilde dieſes 
holden Vampyrs entzückt hatte. ; 

Er jtarrte auf die Skizze, als hielt er fie für irgend ein 
Blendwerf, das jich im nächſten Moment unter feinen Händen 
wieder in etwas ganz anderes verwandeln müßte Dann aber 
Ihien ein böjer, quälender Gedanke jäh fein Hirn zu durch— 
zuden. Denn er richtete ſich haftig auf jeinem Lager empor 
und jagte: 

„Dtefe Zeichnung wäre aljo von der Hand des ver- 
jtorbenen Stehling? Und was wiljen Sie über ihre Entitehung ?“ 

„Ra, was fol ich denn davon wiljen? Dabei jeweſen bin 
id nich, wie er’3 jemacht hat. Aber ick denfe mir, er wird fie 
wohl 'mal abjezeichnet haben, wie fie zum Bejuch bei ihm 
jewejen i3.” 

„Was? — Fräulein Förfter?“ 

„Den Namen fennen Sie wahrjcheinlich beſſer als id. Er 
hat ſie mir nich vorjeltellt. Ick weiß bloß, daß es dieſelbe 
Dame war, die fich jeitern fo freundlich um Sie jefümmert hat. 
Uber eigentlich jollte id e8 Ihnen ja nich verraten.“ 

„Sie follten nicht? Und wer hat es Ihnen verboten ?“ 

„Das Schöne Fräulein natürlich. Sie wollte mir wer weiß 
was dafür jeben, wenn id den Mund hielte.“ 

„Das it nicht wahr! Wann hätte fie Ihnen Derartiges 
gejagt?“ 

„Erlauben Sie jefälligft, Herr von Brunned — id lüge nie. 
Wenn es Ahnen: aber anjenehm is, Fann id ja auch ſchweigen.“ 

ZU Baus-Bibl. IL, Band XI. 153 


2434 Reinhold Ortmann. 





„Rein, nein — Sie follen mir im Gegenteil alles offen- 
baren — hören Sie — alles! Die Dame ftand aljo in näheren 
Beziehungen zu dem vorigen Bewohner des Atelier3?. Und fie 
fam öfter hierher, ihn zu bejuchen?“ 

„Nich jerade Häufig. Ick denke, viel öfter al3 zivei- oder 
dreimal wird e3 wohl nich jewefen jein. Sie müfjen fich eben 
für jewöhnlich anderswo jetroffen haben.“ 

Erich mochte auf Schlimmeres gefaßt geweſen ſein; denn 
wie in einem Aufatmen der Erleichterung hob ſich ſeine Bruſt. 

„Sp vermuten Sie? — Uber Sie haben feine Beweiſe 
dafür, nicht wahr?" | 

„Keine, auf die ich fchwören könnte. Aber man macht ih 
doch jo jeine Jedanken. Und wer fo lange Aufwärterin bei 
fedige junge Herren jewejen iS wie id, verjteht jih man auch 
ein bißfen auf folche Jeſchichten. Daß ſie's darauf anjelegt 
Hatte, ihn in fich verliebt zu machen, i3 janz jewiß. Id bin 
einmal nebenan im Bimmer jewejen, wie fie fich hier im Atelier 
miteinander unterhalten haben. Und id ſage Ihnen: bloß 
mit ihrem Lachen hätte fie einen Mann verrüdt machen können 
— ohne die Blide und all da3 andere, was ſie ſonſt noch auf- 
jeboten haben mag.“ 

Erich hatte eine Empfindung, als wühle eine rohe Fauſt 
mit ſcharfen Meſſern in feiner Bruſt. Die derbe und rückſichts— 
loſe Ausdrucksweiſe dieſes unbarmherzigen Weibes machte ſeine 
Pein nur noch unerträglicher. Und doch trieb es ihn, die grau— 
ſame Qual zu vermehren, indem er alles aus ihr herausfragte, 
was ſie wußte oder vermutete. 

„Sie haben alſo die beiden damals für ein Liebespaar 
angeſehen — ein glückliches Liebespaar?“ 

„Ilücklich? — Nein, wahrhaftig — das is er nich jeweſen, 
der arme Menſch, oder doch höchſtens für ſehr kurze Zeit. Denn 
wie die Bekanntſchaft kaum acht Tage alt war, fing es ſchon 
mit ihm an.“ | 

„Was fing an, Frau Schulze? Können Sie mir denn 
nicht in einigem Zufammenhange erzählen, was Sie bemerft 
haben?“ 

„Lieber Himmel, was iS da viel zu erzählen! Sie muß 
ihn eben am Narrenjeil 'rumjeführt haben, wie das mohl jo 


Wer wird fiegen? 2435 





Mode i3 bei diejen Hübfchen Damen, die fich heute von dem 
einen anbeten lafjen und morgen von irjend einem andern. 
Den einen Tag is er umberjejangen wie jemand, der die Engel 
im Himmel fingen hört und der am liebiten jleich die janze 
Welt umarmen möchte. Und dann, wenn ihm der Briefträger 
jo ein niedliches Kleines Billettchen jebracht hatte oder wenn 
er von dem Stelldichein nach Haufe fam, ſah er manchmal aus, 
daß einem das Herz im Leibe weh thun mußte. Sie hat ihr 
Spiel mit ihm jetrieben, jage id Shnen, Herr von Brunned! 
Und es is ein jchändliches Spiel jeweſen. Denn der arme Herr 
GStehling iS daran jejtorben." — 

Der Schläfer auf der andern Seite des Atelier3 begann 
fi zu regen, und mit einem jchmerzlichen Seufzer, den ihm 
das erwachende Bemwußtjein feiner unbequemen Lage erpreßt 
haben mochte, jchlug er die Augen auf. 

„Alle Wetter — ich glaube wahrhaftig, ich habe geichlafen. 
Wie find Sie denn hereingefommen, Frau Schulze? — Sch habe 
ja gar nicht3 davon gehört.” 

Durch die Thüre,” erwiderte fie troden. „Und wenn 
eine Kompagnie Soldaten hinter mir her jefommen wäre, würden 
Sie mwahrjcheinlich auch nich aufjewacht fein. Zum Kranfen- 
wärter, glaube id, find Sie nich jeboren.“ 

„Kein,“ beitätigte Gabor Sarlo mit drolliger Zerknirſchung, 
„ich fürchte es beinahe ſelbſt. Aber könnten Sie uns nicht 
vielleicht ein Heines Frühftüd bejorgen, verehrte Frau Schulze? 
Sch Ipüre da drinnen eine fürchterliche Leere.“ 

„Jewiß! Ick bin ja bloß jefommen, um zu fragen, was 
Sie haben wollen. Vielleicht 'nen fauren Hering?” 

Sarlo überhörte den offenkundigen Sarkasmus dieſer Frage 
und erteilte ihr, fich an die Anweiſungen des vorhin durch feine 
ärztliche Pflichten abgerufenen Doktors haltend, die erforder- 
fihen Inſtruktionen. Erſt als fie fich zögernd entfernt hatte, 
trat er an das Lager des Freundes. 

„Run, Liebiter, wie geht’ 3? — Sch Hoffe, du biſt — — 
aber was iſt denn das da? — Wie fommft du zu der mwunder- 
lichen Skizze?“ | 

Mit einem gezwungenen Lächeln, das fürwahr trübfelig 
genug ausgefallen war, reichte ihm Erich das Blatt. 

153 * 


2436 Reinhold Ortmann. 





„Eine Warnung, die unjer Vorgänger mir durch Ber- 
mittelung der ehrenwerten Frau Schulze aus dem Jenſeits hat 
zukommen lafjen. — Und fie ift recht verftändlich, nicht wahr?“ 
Auf dem Geſicht des Ungarn Spiegelte ſich das lebhafteſte 
Erſtaunen. 

„Fräulein Dolly — als Fledermaus? Ja, was ſoll denn 
das nur bedeuten?“ 

„Nicht als Fledermaus, mein Lieber, ſondern als Vampyr. 
Und es bedeutet, daß deine ſchöne Bacchantin, wie du ſiehſt, 
ſchon anderen als Modell gedient hat, ehe ſie dir dieſe Gunſt 
gewährte. Der Unterſchied iſt nur, daß der arme Teufel, der 
mir dieſe Skizze hinterließ, nicht bloß mit dem Kopfe, ſondern 
auch mit' dem Herzen an ſeiner Arbeit beteiligt war — und 
daß dieſe ungeſunde Art des Schaffens ihm allem Anſchein nach 
recht ſchlecht bekam.“ | 

Die Bitterkeit in den Worten de3 Freundes veranlaßte 
Sarlo, einen Bli auf jein Geficht zu werfen. Und nun wurde: 
ihm mit einem Male alles klar. 

„Steht es jo? Du vermutelt, daß fie dem Urheber der 
Skizze mehr gewejen ſei al3 nur fein Modell?“ 

„sh würde durch dieje vielfagende Zeichnung davon über- 
zeugt jein, auch wenn unjere wadere Aufwärterin es nicht 
zum Ueberfluß für ihre Pflicht gehalten hätte, mir einige Er— 
läuterungen von zmweifellojeiter Deutlichkeit zu geben. — Aber 
daß fie troß diejer Erinnerungen geftern hierher fommen fonnte, 
und daß fie — — doch genug, weshalb jollen wir ns weiter 
darüber reden?“ 

Sarlo warf die Studie auf einen Tifch. Sein hübjches 
Knabengeficht war ganz rot geworden vor Entrüftung. 

„Aber wir müſſen gerade davon reden, Erich! Denn wenn 
deine Vermutung zutrifft, Haben wir ung ja in diefer Dolly ganz 
entjeglich getäufcht, und es ift meine Pflicht, Helene vor einem 
weiteren Verkehr mit ihr zu warnen. Sie hätte ung ja auf die 
allerjchnödejte Weile hintergangen.“ 

Da3 bittere Lächeln war noch immer auf Erich Geſicht. 

„Vielleicht beurteiſſt du ſie zu hart, mein Lieber! Am 
Ende hatte ſie doch keine Sepp, ung über ihre Ver— 
gangenheit zu unterrichten.” 


Wer wird ftiegen? 2437 





„Du wollteſt fe entjichuldigen — du? Sa, Haft du denn 
ganz vergefien, was in diefer Nacht gefchehen it? — Sch 
glaubte, du jeieft auf dem Punkte, dich mit ihr zu verloben.“ - 

„Bei Gott, ich ‚glaubte e8 beinahe ſelbſt. — Aber das 
it ja nun vorbei — ein phantajtifcher Traum, wie all das 
andere wirre Zeug, das da ſeit geſtern an uns vorbeigewirbelt 
iſt. Willſt du mir eine kleine Gefälligkeit erweiſen, Gabor, 
ſo reiche mir dort aus dem Schrank die Skizze, die meinen 
Onkel auf ſeinem Totenbette darſtellt. Ich habe Verlangen 
darnach, ſie zu ſehen.“ | 

Bereitwillig entſprach Gabor. jeinem Wunſche. Er kannte 
Die Geichichte des Bildes nicht; aber er wußte, daß es irgend 
eine bedeutfame Rolle im Leben jeined Freundes |pielen müfje. 
Denn mehr als einmal hatte er beobachtet, wie Erich in Stunden ° 
der Niedergeichlagenheit, die fich während ihres kurzen Zu— 
ſammenlebens jchon recht häufig eingeitellt hatten, dies Blatt 
zur Hand nahm, um ſich damit in fein Schlafzimmer zurüd- 
zuziehen. Da e8 unzweifelhaft nicht gejchah, weil er daran zu 
arbeiten wünjchte, jo mußte die Zeichnung wohl eine Art von 
Talisman darftellen, zu dem er in Kleinmut und Trübjal feine 
Zufluht nahm. Und der Ungar war ungeachtet jeiner eigenen 
Mitteilfamkfeit viel zu zartfühlend, als daß er den Schleier des 
Geheimnifjes, das dieſe Skizze zu umgeben jchien, durch eine 
indisfrete Frage zu lüften verjucht Hätte. | 

Heute am wenigſten würde er fich einer. jolchen Taktlofigfeit 
Ihuldig gemacht haben. Aber die. Bitterkeit der Enttäufchung, 
die ihm ſoeben zu teil geworden, jchien im Verein mit jeiner 
förperlihen Schwäche in Erich ein Bedürfnis nah Mitteilung 
gewedt zu Haben, wie er es in gleichem Maße dem jungen 
Genoſſen gegenüber fonjt kaum empfunden. Vielleicht auch 
‚regte ſich's im Grunde feiner Seele wie eine unbejtimmte Furcht, 
daß er troß alledem dem verführerifchen Zauber der jchönen 
Kirke noch einmal erliegen fünnte, und er wollte diefer Gefahr 
begegnen, indem er den andern zum Mitwiſſer jener ©elöbnifje 
und Vorjäße machte, die ihn eigentlich) von vornherein hätten 
wappnen jollen gegen die lodende Verjuchung. 

Er bat Gabor, fich neben feinem Lager nieberzulafien, und 
er erzählte ihm von den Umständen, unter denen jene Zeichnung 


2438 Reinhold Ortmann, 





entjtanden war, joviel, als er preißgeben fonnte, ohne fich um 
die Achtung des Zuhörers zu bringen. Zum erjtenmal jeit 
ſeines Oheims Tode |prac) er von Magda. Und es war ihm, 
al3 ob mit dem Moment, da er ihren Namen nannte, das 
lieblihe Bild des noch Halb kindlichen und doch jo eigentümlich 
frauenhaften Gejchöpfe® vor feinem geiftigen Auge in einer 
Klarheit und Lebendigkeit erjtünde, wie er es jeit der Stunde 
ihres Abjchieds nicht mehr gejehen. Sn al ihren Einzelheiten 
wurde die Erinnerung an jenen verhängnisvollen Tag und an 
die Nacht, die über fein Schickſal entjchieden hatte, in feiner 
Geele wall. Und darüber gewann die Schilderung, die er 
dem Freunde don einer jungen Verwandten gab, ihn jelber 
unbemwußt, einen faſt ſchwärmeriſchen Charafter. 


Bol ehrlicher Teilnahme hörte ihm Gabor Sarlo zu, 
und in feiner lebhaften Künftlerphantafie erhielt daS weibliche 
Wejen, von dem er mit folcher Andacht und Verehrung reden 
hörte, jogleich Geſtalt und Leben. 


„Sch Hoffe, daß e8 mir früher oder ſpäter vergönnt fein 
wird, deine Coufine kennen zu lernen,“ fagte er, als Erich ein— 
mal, von der Bewegung überwältigt, in jeiner Beichte innehielt. 
„Sie muß ja fürwahr ein jeltene3 Gejchöpf fein, und ich wollte, 
daß Helene fie zur Freundin gewinnen könnte. Aber daran ijt 
wohl faum zu denken, denn jie wird nicht nad) Berlin fommen 
— nit wahr?“ 

„Ich glaube es faum, obwohl ich gewiſſe Andeutungen in 
dem leßten Briefe, den ich von ihr empfing, beinahe jo erklären 
möchte, als ob es ihr Wunſch oder ihre Abjicht fei, Hier ihre 
durch die Krankheit meine Oheims unterbrochenen Studien fo 
bald al3 möglich wieder aufzunehmen. Aber wenn ich die Be— 
merfung auc) richtig verjtanden habe, wird es doch vorausfichtlich 
bei dem bloßen Wunjche jein Bemwenden haben, denn der Landrat 
von Rocholl, ihr Vormund und väterlicher Bejchüger, gehört noch 
ganz und gar zu den Leuten, denen eine jtudierende Frau gleic)- 
bedeutend iſt mit einem Gejchöpf ohne alles feinere weibliche Em— 
pfinden. Er würde Magda niemals zu ſolchem Zweck nach Berlin 
gehen laſſen. Und ich bin überzeugt, daß fie zuviel Findliche 
Ehrfurcht vor dem legten Willen ihre Vaters hegt, um ſich 


Wer wird ftegen? 2439 


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gegen die Anschauungen des Mannes aufzulehnen, dejjen Obhut 
er fie vertraute.“ 


„Hm!“ meinte Gabor nachdenklich. „Nach allen, was du 
mir von ihr erzählt haft, würde ich fie viel eher für eine jener 
Naturen halten, die unter allen Umfjtänden und jedem Widerjtand 
zum Trotz durchzujeßen willen, was fie einmal für recht und 
. gut erkannt haben. Das Bild, das ich mir don deiner VBerivandten 
gemacht habe, gleicht der Wirklichkeit ja vielleicht in feinem Zuge. 
Aber es ift jo Hübfch, fich ein junges Mädchen vorzuftellen, für 
defien Denfen und Handeln e3 fein anderes Gejeß giebt, al? 
das der unbedingten Wahrhaftigkeit gegen ſich jelbit, wie gegen 
alle Welt.“ 

Ueberraſcht blidte Erich auf. - 


„Wie wunderbar richtig du jie beurteiljt! %a, es ijt, wie 
du ſagſt. Wahrhaftigkeit und Beharrlichkeit, das ſind ſo recht 
eigentlich die Grundlagen ihres ganzen Weſens. Und wenn ſie 
ſehen könnte, wie wenig ich bis jetzt gethan habe, um das feierliche 
Verſprechen einzulöſen, das ich ihr an meines Oheims Totenbette 
gegeben — ich glaube, ſie könnte es ebenſo wenig verſtehen, wie 
ſie es verzeihen könnte. Aber es iſt ja hoffentlich noch nicht zu 
ſpät, die verlorene Zeit und die ſchmählich vergeudete Kraft 
wieder einzubringen. Es ſoll unſerer wackeren Frau Schulze 
unvergeſſen ſein, daß ſie juſt zur rechten Stunde das Trugbild 
zerſtört hat, das mich wie ein lockendes Irrlicht von meinem 
Wege abziehen wollte. Und wenn du mich jemals wieder in 
Gefahr ſiehſt, einer derartigen Verſuchung zum Opfer zu fallen, 
ſo ſollſt du mir als ein getreuer Warner dies Bild hier vor 
Augen halten, um mich an meine heiligen Verpflichtungen gegen 
einen Toten und gegen eine Lebende zu erinnern.“ 

„Das will ich!“ ſagte Gabor, und in warmem Druck fanden 
ſich ihre Hände. 

Da Hang es von der Thür des Ateliers her heiter und 
glocenhell in ihre feierliche Stimmung hinein: 

„sch bitte un Verzeihung, meine Herren — aber ich fand 
draußen niemanden, der mic) hätte anmelden Fünnen. Und da 
alle Thüren jo einladend offen jtanden, war ich unbeicheiden genug, 
ohne Anmeldung einzutreten.“ 


2440 Reinhold Ortmann. 





Schon bei ihrem erjten Wort war der Ungar Hajtig auf- 
geiprungen, als gelte es, den vermwundeten Freund gegen eine 
neue Gefahr zu beſchirmen. 

„Fräulein Dol — — Fräulein Förſter — Sie? Und Sie 
ſind allein hierher gekommen!“ 

„Freilich!“ lachte ſie. „Scheint Ihnen das ſo unerhört? 
Und ich habe Ihnen nicht einmal einen Gruß von Ihrer Braut 
mitgebracht! Denn Fräulein Helene war heute noch nicht für 
mich zu ſprechen. Die Sorge für die arme Frau Signe nahm 
ſie vermutlich zu ſehr in Anſpruch, als daß ſie daneben noch eine 
Viertelſtunde für mich hätte erübrigen können.“ 

Sie war vollends in das Atelier eingetreten, und ſie maß 
den Ungarn mit einem Blick voll unbefangenſten Erſtaunens, 
als er ihr jetzt mit einigen raſchen Schritten entgegen ging, wie 
wenn er ſie hindern wollte, ſich Erich noch weiter zu nähern. 

„Entſchuldigen Sie, Fräulein Förſter — aber der Arzt hat 
Herrn von Brunneck auf das ſtrengſte verboten, irgend einen 
Beſuch zu empfangen.“ 

Er hatte es in einem Tone gejagt, der ſie notwendig em— 
pfindlich verlegen mußte. Dolly aber jchien fein Benehmen viel 
mehr belujtigend als beleidigend zu finden. 

„Auch den meinigen?” fragte fie lächelnd. „Und Sie find 
mit diefem Verbot einverjtanden, Herr von Brunneck?“ 

„Rein,“ erwiderte der Gefragte ruhig. „sch fühle mich 
glüclicherweife ftarf genug, e8 zu mißachten. Sei ohne Sorge 
um meine Geſundheit, Gabor — und laß uns fir eine Feine 
Weile allein.“ 

Der Ungar zog die Stirn in Falten und drehte an feinem 
Schnurrbart. | 

„sch weiß doch nicht — 

„Wie jonderbar Sie mir — Böhmen Herr Sarlo! 
Fürchten fie etiva, ich könnte Ihres Freundes Hilflofigkeit be— 
nutzen um ihm ein Leid anzuthun?“ 

In ihrem ſpöttiſchen Lächeln und ihrem ſchelmiſ chen Blick 
war etwas, das den jungen Maler verwirrte. Zwar war er 
ſich vollkommen bewußt, daß es eigentlich ſeine Pflicht ſei, ſich 
dem Willen des Freundes zu widerſetzen und nicht von ſeiner 
Seite zu weichen, ſo lange er ihn von der Gefahr dieſer ſüßen, 


Wer wird ftegen? 2441 





lächelnden Lippen und dieſer unmiderjtehlichen Augen bedroht 
ah. Aber er fand nicht mehr den Mut, auf der Erfüllung 
diejer Pflicht zu beitehen, und das Gefühl, mit feinem unſchlüſſigen 
Baudern eine etwas lächerliche Figur zu machen, brachte ihn 
vollends um feine Haltung. 

„Rein, etwas Derartige fürchte ich nicht,“ ſagte er halb 
ärgerlich, halb verlegen. „Und ich kann mich ja meinetivegen 
einmal umjehen, wo Srau Schulze mit unſerem Frühſtück bleibt.“ 

„Sie jollten lieber auf einen Sprung zu Shrer Braut 
gehen, Herr Sarlo,“ ſchlug Dolly vor, „denn ich glaube, fie 
fönnte Ihren Beiltand recht gut brauchen. Bon dem Mädchen 
hörte ich vorhin, daß Herr Vollert noch nicht nach Hauſe ge— 
kommen ſei. Und Helene iſt vielleicht in einiger Verlegenheit, 
was ſie mit ihrem Schützling anfangen ſoll.“ 

„Ja,“ ſtimmte Erich zu, „das ſollteſt du thun! Und wenn 
es möglich it, follteft du auch Arvid Cederſkjöld aufjuchen, um 
ihn über mein Befinden zu beruhigen und ihn an irgend einer 
thörichten Handlung zu verhindern.” 

„Das hieße mic) auf Stunden fortichiden,“ wandte Gabor 
unmutig ein. „Und ich habe doch dem Doktor verſprochen, dich 
nicht einen Augenblid allein zu laſſen.“ 

„Aber bin ich denn nicht da?” fragte Dolly. „Und 
glauben Sie nicht, Herr Sarlo, daß ich mich zur Beauflichtigung 
eines Kranken doch noch etwas beſſer eigne als Sie?“ 

Er konnte nicht widerjprechen, ohne ihr geradezu ind Geficht 
zu fagen, was man inzwiſchen über fie erfahren hatte und was 
er demzufolge über fie dachte. Dazu aber konnte er fich nicht 
berechtigt fühlen, jo lange nicht Erich jelbit ihm eine Vollmacht 
zu folcher Erklärung gegeben. So entichloß er fich denn, zu 
gehen. Aber er entfernte fich nicht, ohne zuvor noch einmal 
an das Lager des Freundes getreten zu jein und ihm mit 

einem vielfagenden Händedrud zugeflüftert zu haben: 

„Denke an deine Vorſätze, Erich, und jei jtarf! Sie darf 
nicht noc) einmal Macht über dic) gewinnen!” — — 

Seit einer Minute jchon hatte die Thür fich Hinter dem 
Sortgehenden gejchlojlen, und noch immer ſtand Dolly auf dem 
nämlichen led inmitten des Ateliers, die leuchtenden Augen 
unverwandt auf das bleiche Geficht des Verwundeten gerichtet. 


2442 Reinhold Ortmann. 


„Nun?“ fragte fie endlich, und ihre Stimme hatte einen 
eigentümlich veränderten, weichen Klang. „Haben Sie mir denn 
nicht3 zu jagen?‘ 

Er hatte ſchwer mit feinem Entjchluß gerungen. Aber 
wie hart e3 ihn auch ankommen mochte, e8 mußte doch Klarheit 
geſchaffen werden, und er durfte ſie nicht ſchonen. 

„Ja,“ erwiderte er, „aber Sie dürfen mir nicht zürnen, 
Dolly, wenn es etwas anderes iſt, als Sie nach den Vorgängen 
dieſer Nacht erwarten.“ 

„Nein, ich werde Ihnen nicht zürnen. Und mehr als das, 
ich will Ihnen ſogar behilflich ſein, das hochnotpeinliche Ber- 
fahren rajch zu Ende zu bringen, denn ich verlege mich nicht 
auf3 Leugnen. Und eine gejtändige Angeklagte ift rafch ab- 
geurteilt, nicht wahr?‘ 

In grenzenlojem Erjtaunen ſah er zu ihr auf, und die 
plögliche Veränderung in ihren Zügen fehnitt ihm in die Seele. 

„Wie? Sie willen bereits — — 

„les, was Sie mir jagen könnten, und vielleicht noch 
mehr .al3 das. Denn e3 war nicht wohlgethan, alle Thüren 
offen zu laſſen, wenn Sie eine fo vertrauliche Unterhaltung 
mit Ihrem Freunde führen wollten. Sch habe mindeftens fünf 
Minuten lang bier auf der Schwelle gejtanden, während Sie 
ihm Ihre Beichte ablegten. Und es bedurfte nicht eben eines 
befonderen Scharflinns, um aus dem, was ich hören mußte, 
alles übrige zu erraten.‘ 

Er dachte daran, was fie während jener Minuten gelitten 
haben mußte, und all jein Groll erjtarb in einer Empfindung 
unjäglichen Mitleids. | 

„Sie haben gelaufcht, Doly? O, das war nicht gut. 
Denn niemals, das ſchwöre ich Ihnen, hatte ich auch nur für 
einen Augenblid den Wunſch, Ihnen wehe zu thun.‘ 

„Es bedarf feiner Berficherung, mich davon zu überzeugen. 
Und ich bereue durchaus nicht, was ich ſoeben gethan. Es iſt 
immer gut und nüßlich, jeine Feinde fennen zu lernen. Nun weiß 
ich Doch, gegen wen und gegen was ich mich zu verteidigen habe.“ 

„Ihre Feinde? Nein, Dolly! E3 giebt hier für Sie feinen 
anderen Feind, al3 die Vergangenheit. Und da Sie, wie Sie 
jelbjt jagen, nichts in Abrede ftellen wollen — —“ 


Wer wird fiegen? 2443 





Seht erit trat fie näher, und eine heiße Glut ftieg in ihren 

Wangen auf, da fie ihn mit rafchen Worten unterbrad: 
„Sie halten mich alſo wirklich für ein Mädchen, das fich 
heute dem einen und morgen dem andern an den Hals wirft?“ 
„Aber ich veritehe Sie nit. Wenn es doch nad Ihrem 
eigenen Geitändnis Wahrheit ift, was Frau Schulze fagte — —“ 

„Wahrheit? — Sa — ſoweit fie Ihnen erzählt haben 
mag, daß jener unglüdliche Stehling mir fein Fremder gewejen 
it, und daß er fich in thörichter Verblendung mit Hoffnungen 
trug, die nimmermehr Wirklichkeit werden fonnten. Aber ehe 
Sie mich auf folche Erzählung Hin als ein herzlojes und ver- 
worfenes Geſchöpf verdammten, hätten Sie fürwahrdas Bedürfnis 
fühlen follen, mich zu hören. Denn ich bin für die Hoffnungen 
jene beflagenswerten Künſtlers ebenfowenig verantwortlich wie 
für feine Enttäufchungen. Niemals habe ich daran gedadıt, 
ihm mehr zu fein al3 eine Freundin und ein guter Kamerad. 
Und viel zu ſpät erit mußte ich zu meinem Schreden erfennen, 
wie vollitändig er in unbegreiflicher Verblendung meine Ab- 
ſichten mißdeutet hatte.‘ 

„Konnte Sie da3 wirklich überrafchen?” fragte er zweifelnd. 
„Konnten Sie fich über den lodenden Reiz Ihrer Perſönlichkeit 
und über jene ehernen Naturgefege, die zwilchen Mann und 
Weib von jeher gegolten haben, jo ganz im Unflaren befinden, 
daß Sie an harmlofe Freundichaft und gute Kameradichaft zu 
glauben vermochten mit einem jungen, heißblütigen Menjchen, 
der obendrein ein Jchönheitsfreudiger Künftler war? Hat er 
Shnen denn nicht ſchon in der erften Stunde vertraulichen 
Beilammenfeing mit Mund und Augen verraten, welcher Art 
in Wahrheit feine Empfindungen waren?“ 

„Was wäre für mich gewonnen, wenn ich Ihnen darauf 
mit Nein antworten wollte, da Sie mir’3 ja doch nicht glauben 
werden! Ich kann den Toten nicht mehr als Zeugen anrufen 
— und wenn Sie jener Skizze dort, die ich heut zum eriten 
Male jehe, das Gewicht eines unmwiderleglichen Schuldbemweijes 
beimefjen wollen, jo würden wahrjcheinfich alle meine Ver— 
jiherungen nicht imftande fein, Sie zu einer anderen Auf- 
faffung zu befehren. Schließlich ift es ja aud in Wahrheit 
gar nicht der Schatten des unglüdlichen Stehling, der fich zwifchen 


2444 Reinhold Ortmann. 





ung gedrängt hat, jondern das Bild eines lebendigen Weibes. 
Senen hätte ein Hauch meines Mundes verjcheuchen können, 
gegen dieſes aber bin ich ohnmächtig. Das wußte ich in dem- 
jelben Augenblid, wo Sie mit Gabor Sarlo von ihr zu ſprechen 
begannen. Und vielleicht wäre es viel eher an mir gewefen, 
die Anklage eines trügerifchen und herzlojen Doppeljpiel3 zu 
erheben.“ 
| Der jchmerzliche Vorwurf in ihren Worten — ein Vor— 
wurf, der nicht3 Leidenschaftliches und Gehäffiges, ſondern nur 
etwas unjäglich Wehmütiges hatte, rührte ihm ſeltſam ans Herz. 
Was auch immer er von ihr glauben mochte und in welchem 
Lichte er nach diefem Berjuch einer Rechtfertigung ihr Ber- 
hältnis zu jenem Verſtorbenen jah, daran, daß fte in dieſem 
Augenblid nur ihn liebte und daß fie in tiefiter Seele un- 
glücklich war, fonnte er wahrlich feinen Zweifel hegen. Und 
das ernite Mädchenbild, das er vorhin in jeiner Erinnerung 
heraufbeichworen, e3 verblaßte nur zu raſch vor der in ihrem 
Schmerz jo ergreifenden lebendigen Schönheit, die fich da in 
beraufchender Nähe jeinem leiblichen Auge bot. 

„Sie thun mir unrecht, Dolly,” fagte er zögernd, „pie 
tiefe Verehrung, die ich meiner Coufine Magda zolle, hat nichts 
zu jchaffen mit — —" 

Aber fie ließ ihn nicht ausreden. 

„Kein, Sie jollen fie nicht verleugnen, weil Sie vielleicht 
in diefem Moment etwas wie Mitleid für mich empfinden. Dieſe 
Magda, der Sie um meinetwillen für eine furze Zeit untreu 
gewejen find, um bei der erjten Gewiſſensregung reuevoll zu 
ihr zurüdzufehren — fie iſt die Feindin, an die ich vorhin 
gedacht. Aber wenn ich fagte, daß ich entichloffen fei, mich 
gegen fie zu verteidigen, jo war e3 ein thörichtes Wort, und 
ich nehme es zurüd. Sch will niemand aus feinem redht- 
mäßigen Befi verdrängen. Und wenn Ihr Freund Sarlo 
jemal3 wieder in die Notwendigkeit verjegt wird, den getreuen 
Warner zu fpielen, jo werde nicht ich es fein, vor der er Sie 
warnen müßte.“ 

Es ſchien, daß fie ihr Geſpräch al3 beendet anfah, denn 
fie wandte fih ab, und nach einigen Sekunden drücdenden 
Schweigens fügte fie hinzu: 


Wer wird jiegen?. 2445 





„Vielleicht ift e8 Ihnen lieber, wenn ich jetzt Ihre Auf- 
wärterin rufe, damit fie bis zur Rückkehr des Herrn Sarlo bei 
Shnen bleibt.“ 

Auch jest antwortete Erich nicht jogleich. Aber da fie fein 
Verſtummen nun für eine Bejahung nahm und langjamen, müden 
- Schritte der Thür zuging, brach feine fo lange mit fchier über- 
menjchlicher Selbjtüberwindung behauptete Kraft zujammen, und 
in Zauten der leidenfchaftlichiten Sehnfucht Hang e3 von feinen 
' Lippen: 

„Dolly — nein, e3 ift unmöglid — dies kann nicht das 
Ende fein — nicht ſo können wir voneinandergehen.“ 

Ein Aufſchrei wie das jubelnde Jauchzen einer aus den 
Banden hoffnungsloſen Kummers befreiten Menſchenſeele durch— 
hallte das Atelier. Und im nächſten Augenblick lag Dolly neben 
dem Ruhebett auf den Knieen, um mit den ſchönen, in Thränen 
ſchwimmenden Augen leuchtenden Blickes die ſeinen zu ſuchen. 

„Nein — nein — wir können nicht, mein Geliebter — es 
ginge ja*auch über meine Kraft.“ 

Shre Arme umſchlangen ihn, und ihre weichen Lippen 
brannten auf jeinem Munde. PVergeljen und verjunfen war 
alles, was jveben noch trennend und ſcheinbar unübermwindlich 
zwiſchen ihnen gejtanden — ein Meer von Glückſeligkeit und 
überſchwänglicher Wonne fchlug Hochaufbrandend über ihnen 
zuſammen. — 

Das erite Wort, das nad). Verlauf von Minuten zwiſchen 
ihnen gejprochen wurde, war Dollys wie in jcheuem Sagen ge- 
flüfterte Frage: 

„Und wirft du's auch nicht bereuen, daß du mic) jetzt zurück⸗ 
gerufen? Wird ſie mich nicht vielleicht binnen kurzem aber- 
mal3 aus deinem Herzen verdrängt haben, dieje junge Verwandte 
mit der unbeftechlichen Wahrhaftigkeit und der großen Seele?" 
Erich antwortete ihr nur mit leidenfchaftlichen Küffen. 
Aber fie gab ſich nicht damit zufrieden, fondern entzog fich ſanft 
feinen umjchlingenden Armen. 

„Und Gabor Sarlo? Wie willit du dich vor ihm recht- 
fertigen?“ 

| „Bin ich denn ein Knabe, daß ich ihm oder irgend einem 

Menſchen Rechenjchaft schuldig wäre über meine Handlungen? 


2446 | Reinhold Ortmann. 





Sch liebe dich — it das nicht Rechtfertigung und Erklärung 
genug für ihn wie für alle anderen!“ 

„So ſprichſt du jet, da du mich vor Augen haft. Aber 
darfit du mir zürnen, wenn mir ein wenig bange ift um mein 
Glück? Sch werde fern von dir ficherlich feinen ruhigen Augen- 
blif haben, fo lange ich mir fagen muß, daß ein armjeliges 
Blatt Bapier fi) immer von neuem trennend zwiſchen uns 
itellen darf.“ 

„sit e8 diefe abjcheuliche Vampyr-Skizze, die dich mitfolcher 
Sorge erfüllt? Nun wohl, ich werde Frau Schulze bitten, fie 
mir zum Gejchenf zu machen, und der arme Tote wird und 
verzeihen, wenn wir fie vernichten.“ 

In entjchiedener Verneinung jchüttelte Dolly den Kopf. 

„Es iſt nicht dies Bild, Erich, vor dem ich mich fürchte, 
londern jenes andere dort — das unheimliche Leichengeficht, das 
mich bis in meine Träume verfolgen wird, fo lange ich e3 in 
deinen Händen weiß. Opfere es mir — das ift die al Bitte, 
die ich an dich richte.“ 

Sie ftredte die Hand nad) der Skizze aus, aber Erich gab 
fie ihr nicht. 

„Fordere von mir, was du willit, nur nicht dies. Niemand 
außer Magda und mir fennt die Heilige Bedeutung, welche dies 
Dlatt für mich hat. Sch würde mich zu verfündigen glauben, 
wenn ich e8 von mir ließe.“ 

„Und damit, meinſt du, Jollte ich mich zufrieden geben? 
Sit deine Weigerung nicht die beſte Beftätigung, wie berechtigt 
meine Furcht vor diefer Zeichnung war? Ich beneide deine 
Couſine um die wunderbare Macht, die fie über dich beſeſſen 
haben muß, als fie dich zum Sklaven eines toten Bildes machte. 
Aber ich bemitleide fie doch noch mehr, als ich fie beneide. 
Denn bei all ihrer Wahrheitäliebe und Rechtichaffenheit erjcheint 
fie mir wie ein Weſen ohne Fleisch und Blut. Wenn fie dich 
Yiebte, hätte fie, bei Gott, einen bejjeren Talisman finden jollen, 
lich deiner zu verfichern, al3 gerade diefen. Aber ich glaube auch 
gar nicht daran, daß fie dich liebte. Ein liebendes Weib ver- 
fällt nimmermehr auf jo ungeheuerliche Gedanken. Sch beitehle 
fie nicht, wenn ich entjchloffen bin, dich in meinen Armen ge- 
fangen zu halten, und dich, wenn es fein muß, mit meinem 


Wer wird fliegen? 2447 





Herzblut zu verteidigen gegen jeden, der dich mir wieder ent- 
reißen will. Diefe Magda hat fein Recht, dich zu beherrichen, 
wenn fie nicht zugleich den Willen und die Macht hat, Did) 
glücklich zu machen. Und ich will nicht/mit ihr teilen, du konnteſt 
wählen zwijchen ihr und mir. Nun aber, da du dich für mid) 
entjchieden haft — nun follit du mir gehören — mir ganz allein. 
Du follit feine alte Stlavenfette mit dir herumfchleppen. Und 
nicht die Schauer des Todes, jondern die Wonnen des vollen 
Lebens jollen dich emportragen zu deinen hohen Zielen. Darum 
fort mit diefem abjcheulichen Papier! Und wenn es Sünde it, 
e3 zu vernichten, jo nehme ich getrojt die Veranwortung auf 
mich. Ich fürchte mich nicht vor Gejpenftern — welchen Namen 
auch immer fie haben mögen.“ | 

Noch ehe er recht begriffen hatte, welches Ungeheuerliche 
fie beabfichtigte, jah er das Blatt in ihren Händen. Und fein 
angitvoller, flehender Zuruf Fam zu jpät, die Ausführung ihres 
tollen Vorhabens zu hindern. Sie war aufgejprungen und ein 
paar Schritte von dem Ruhebett zurüdgetreten. In dem näm- 
lichen Moment auch hatte fie die Skizze von oben bis unten 
durchgeriljen und die Stüde weit von fich hinweg mitten in das 
Atelier geworfen. 

Als fie nun den Ausdrud faffungslojen Entſetzens auf 
feinem Antlit ſah, flog fie wieder auf ihn zu und warf 
ihre Arme um ihn, als wollte fie ihn in diefer Umjchlingung 
eritiden. 

„Bergieb mir, mein ©eliebter — vergieb! Aber ich konnte 
nicht anders. Sch kann mich nicht mit einem andern in 
dir teilen — mit einem Toten jo wenig wie mit einer 
Lebendigen.” 

Für einen Moment war er nahe daran geweſen, jie von 
fich zu ftoßen; denn ihre unfinnige Handlungsweiſe hatte auf 
ihn gewirkt, wie wenn er plößlich mit einem Strom eiskalten 
Waſſers überjchüttet worden wäre, und fait wie eine Regung 
des Haſſes war es in ihm aufgeitiegen, da er fie in ſchrankenlos 
leidenjchaftlicher Wildheit feinen Talisman, fein Kleinod ver- 
nichten jah. Aber den fügen, finnverwirrenden Schmeichelworten, 
die jegt ihre Lippen dicht an feinem Antlig flüjterten, hielt fein 
flüchtiger Zorn nicht jtand. Ja, nicht einmal zu einem Vorwurf 


2448 Reinhold Ortmann. 





oder zu einer Klage vermochte er fid) aufzuraffen. Dolly hatte 
die erite Probe gewagt auf die Macht, die fie über ihn beſaß 
— eine verivegene, tollfühne Probe. Aber fie durfte mit dem’ 
Ergebnis zufrieden fein. Bon diefem Augenblid an mußte fie, 
daß er ihrer Schönheit willenlos unterworfen war, und daß 
fie aus ihm würde machen können, was ihr gefiel. 

Sie hatte feine Hände fanft von ihren Schultern gelöft; 
aber fie jaß noch auf dem Rand des NRuhebettes, mit heißen 
Wangen und haftig atmender Bruft, ala ohne vorheriges Klopfen 
abermals die Thür des Atelier geöffnet wurde. Dolly rührte 
ih nicht; denn fie mochte glauben, daß es Gabor Sarlo fei, 
der Schon zurückkam, und fie wollte ihm vermutlich von vorn— 
herein feinen Zweifel lajjen über den Ausgang ihrer Unter- 
redung mit Erich. Aber es war nicht der Ungar, der in der 
nächiten Sekunde über die Schwelle trat, fondern die vierjchrötige 
Geſtalt der Aufwärterin. Und die wadere Frau Schulze war 
ohne allen Zweifel auf nichts anderes jo wenig vorbereitet ge- 
wejen wie auf den Anblid, der fie hier erwartete. Eine kleine 
Weile ftand fie mit großen Augen und Halb offenem Munde 
ſprachlos da, dann aber, ehe eines von den beiden eine Frage 
oder eine Bemerkung an fie gerichtet, drehte fie fih kurz um 
‘ und fagte mit jehr lauter Stimme: | 

„Bitte, fommen Sie nur ’rein, mein Fräulein! Herr von 
Brunneck jcheint ſchon wieder janz wohl zu fein, und auf 
einen Damenbejuch mehr oder weniger fommt es ihm mohl 
nicht an.“ | 

Auch jebt noch dachte Dolly nicht daran, ihren Plab zu 
verlafien, denn es fonnte ja nur Helene Bollart jein, die da 
fam, ſich nach Erich! Befinden zu erkundigen. Und als fie 
dann im nächſten Moment inne wurde, daß fie fich in Ddiejer 
Bermutung getäufcht, da war e3 wohl da3 Neberwältigende und 
Lähmende der erjten Ueberrafchung, was fie verhinderte, fich 
zu erheben. 

Die da vor ihr ftand, Jah fie heute zum eritenmal in ihrem 
Leben, und doch wußte fie auf den erſten Blid, daß es nur 
Magda von Brunned fein fonnte. Dies feine, von fchlicht ge- 
jcheiteltem, dunklem Haar umrahmte Köpfchen auf der hochge- 
wachjenen, ariftofratiichen Geſtalt, dieſer ſchön gejchnittene, 


Wer wird fiegen? 2449 





energifche Mund, und vor allem diefe wunderfamen, fchwarzen 
Augen, die jo ernit und Har und durchdringend blidten, al3 
vermöchten fie jogleich bis in den inneriten Kern der Dinge zu 
tauchen, fie jtimmten fo volllommen zu dem Bilde, daß fie ſich 
vorhin von der Tochter des verjtorbenen Oberjten gemacht hatte, 
daß fie über die Perfönlichkeit der in ein nonnenhaft einfaches 
Trauergewand gekleideten Bejucherin nicht für die Dauer eines 
Herzichlages im Ungemwifjen gewejen wäre, auch wenn nicht der 
beitürzte Ausruf aus Erichs Munde fie jehr bald über dieſelbe 
aufgellärt hätte. 

„Magda!“ ſtieß er hervor. „Du hier in Berlin? Und 
dies unfelige Weib ließ dich eintreten, ohne — —“ 

Er mußte nit, wie er den begonnenen Sat vollenden 
follte, und jein plößliches Berftummen wie der Ausdrud feines 
von heißer Schamröte überfluteten Geſichts Hatte ganz den 
Charakter einer tödlichen Verlegenheit. Magda war Ichon nad) 
dem erjten Schritt, den fie in das Atelier hineingethan Hatte, 
jtehen geblieben, und mit einem einzigen großen Blid umfaßten 
ihre dunklen Augen den aufgeputzten Raum mit allem, was die - 
Ereignifje der legten Nacht an fichtbaren Spuren in ihm zurüd- 
gelaſſen hatten. Sie jah die benugten Teller und die zum Teil 
nur halbgeleerten Weingläfer, die überall umherſtanden, ſah die 
Scherben neben dem umgeftürgten Tiſchchen, das im Tumult 
des eriten Schredeng über Arvid Cederſkjölds That nieder’ 
gerifjen worden war, und ſah die mit blutigem Waſſer gefüllte 
Schüffel, die man bisher ebenfo wenig bejeitigt hatte wie alle 
die anderen widerwärtigen Ueberbleibjel des Einweihungsfeites 
und der dülteren Katajtrophe, die ihm ein fo jähes und vor- 
zeitige3 Ende bereitet. 

Der Eindrud, den fie von alledem empfing, konnte nur der 
fein, daß Hier ein wüſtes Gelage gefeiert worden jei von einer 
Art, für die es in ihrer reinen Phantafie Feine greifbare Bor- 
jtelung und in ihrer Seele nur eine dunfle Empfindung halb 
inftinftiven Abſcheus gab. 

Und der Anblid ihres in jeinen Kleidern und mit ver- 
bundenem Kopfe auf den Ruhebett liegenden Vetters — dieſer 
Anblid, der jie unter anderen Umständen gewiß mit Betrübnis 
und innigiter Teilnahme erfüllt hätte, er mußte inmitten jolcher 

Ill. Haus⸗Bibl. II, Band XI. 154 





2450 Reinhold Ortmann. 


Umgebung auf fie wirfen wie ein abjtoßendes Schaufpiel, 
gegen das ihr mädchenhaftes Schamgefühl fich beleidigt auf- 
lehnte. 

Sie ftand regungslos; aber nur ihr tödfiches Erbleichen 
und die halb unmwillfürliche und unbewußte Bewegung, mit der 
fie im erjten Moment die Handflächen gegen einander gepreßt 
hatte, gaben Kunde von dem, was in ihrem Innern borging. 
Wohl eine Minute mochte vergangen fein, ehe fie halblaut 
erwiderte: 

„Ich glaubte dich auf mein Kommen TEN Du haft 
alfo meinen Brief nicht erhalten?“ 

„Nein, Magda — ich ahnte nichts von der freudigen Ueber- 
raſchung, die mir da bevorſtand. Und ich bitte dich deshalb, 
den ſeltſamen Empfang zu entjchuldigen, der dir — —“ 

„Richt Doch!“ fiel fie ihm herbe und abweiſend in die Rede. 
„Die Ungejchidlichfeit war allein bei mir. Denn ich Hätte deine 
Antwort auf meinen Brief abwarten follen, ehe ich hierher 
fam. Eigentlich hätte ich wohl darauf gefaßt fein müfjen, dich 
zu jtören.“ 

„uber du ftörft mich nicht!“ rief er, und der Ton jeiner 
Worte mußte ihr vffenbaren,. daß nichts Erheucheltes in ſeiner 
ſchmerzlichen Aufregung war. „Daß du mich gerade ſo finden 
mußt, iſt das unglücklichſte Zuſammentreffen von der Welt. Und 
du darfſt nicht nach dem urteilen, Magda, was du hier ſiehſt. 
Du mußt mir geſtatten, dir alles zu erklären.“ 

„Weshalb das? fragte ſie kühl. „Ich habe nicht das 
mindeſte Recht, derartige Erklärungen zu empfangen. Und es 
verlangt mich nicht nach ihnen. Die Frau, die mich einließ, 
Jagte mir, daß dir ein Unfall zugeftoßen fei. Aber es ift nichts 
Ernſtliches — nicht wahr?” 

„Kein — eine geringfügige Verlegung ohne jede Gefahr. 
Ich erlitt fie durch einen ärgerlichen Zufall während des Heinen 
Feſtes, das mein Ateliergenofje geſtern hier feinen Freunden 
gab. , Und daraus allein erklärt fi) der abfcheuliche Zuftand, 
in dem du meine Behaufung findeft. — Aber willit du dich nicht 
jegen, liebe Magda? Ich möchte jo gern erfahren, was dich 
nach Berlin geführt hat, und ob ich hoffen darf, dic) in meiner 
Nähe zu behalten?“ 


Wer wird u 234451 





Sie leiſtete feiner verlegen vorgebrachten Einladung nicht 
Folge, jondern blieb unbeweglich hart neben der Thür. 

„Vergieb, wenn ich darüber jetzt nicht ſprechen möchte,“ 
ſagte ſie, immer in demſelben kühlen, abweiſenden Ton, der 
ſchon bei ihrem erſten Wort eine unüberſteigliche Schranfe 
zwiſchen ihnen aufgerichtet zu haben jchien. „Du wirft alles, 
was dich daran interefjieren kann, aus meinem Briefe erfahren, 
der ja jchwerlich ganz verloren gegangen iſt. Für jetzt“ — und 
ihre Augen waren dabet mit. einem merkwürdig ſtarren Aus- 
druck unverwandt auf die Papierfegen inmitten des Ateliers | 
gerichtet — „für jebt habe ich nur noch. eine Bitte. Gieb mir 
da3 Porträt meines Vaters, Erich, das du in der Nacht nach 
feinem Tode gezeichnet. Du hatteft es mir zum Geſchenk ge- 
madt, und id) ſagte dir ja, daß ich eines Tages kommen würde, 
es einzufordern.“ 

Erich hatte in dieſem Augenblick keinen andern Wunſch, als 
den, daß Arvid Cederſkjölds Waffe ihr blutiges Werk beſſer ver— 
richtet haben möchte. Denn woher ſollte er den Mut nehmen, 
Magda zu ſagen, was hier geſchehen war, und wie ſollte er es 
ihr erklären! Hätten nicht die Bruchſtücke der zerriſſenen Zeich— 
nung offen vor ihren Augen dagelegen, ſo hätte er vielleicht 
eine Notlüge erſinnen können, um ſie auf ſpäter zu vertröſten. 
So aber gab es kein Ausweichen und kein Entrinnen. Und er 
fühlte zugleich, daß er Dolly nicht anklagen dürfe, ſondern alles 
allein auf ſich nehmen müſſe. 

„Vergieb mir, Magda,“ wollte er ſtotternd beginnen, „ein 
unglücklicher Zufall — —“ 


Aber die, welche er hatte ſchonen wollen, machte ſcue groß⸗ 
mütige Abſicht zu ſchanden. Während ſie bis dahin, ohne ihren 
Platz auf dem Rande ſeines Lagers zu verlaſſen, die ſtumme 
Zuhörerin gemacht hatte, ſtand Dolly jetzt mit entſchloſſener 
Miene auf und raffte die umhergeſtreuten Fetzen der Skizze 
zuſammen. | 

„Verzeihen Sie mir, Fräulein von Brunneck,“ jagte fie ſehr 
ruhig. „Wenn Erich mir: gejagt ‚hätte, daß dies Blatt nicht fein 
Eigentum fei, ſondern das Ihrige, jo würde ich mich jelbjtver- 
ſtändlich nicht daran vergriffen haben. Nun aber ijt es leider 

154* 


2452 Reinhold Ortmann. 





zu jpät. Und es bleibt mir nur noch übrig, auf Ihre Nachficht 
zu hoffen.“ | 

Sie war auf fie zugetreten, wohl in der Abficht, ihr die 
Ueberrefte de8 Bildes zu übergeben. Magda aber wich zurüd, 
und mit einer vornehm-zurückweiſenden Kopfbewegung, die taujend- 
mal fränfender war als das hochmütigite Wort, wendete fie ſich 
gegen Erich: 

„Da ich nicht die Ehre habe, diefe Dame zu kennen, erjuche 
ic) dih um eine Erklärung, wie man dazu Fam, jo mit meinem 
Beſitztum zu verfahren.” 

Eine heiße Röte, die ficherlich viel mehr die Glut de Zornes 
war als die der Beichämung, hatte fi) über die Wangen der 
Sängerin gebreitet, und fie ließ dem Vermwundeten nicht Beit, 
die verlangte Erklärung zu geben. 

„Ihr Vetter hat es in der erjten Freude des Wiederjehen? 
allerding3 verjäumt, mich Shnen vorzuftellen. Und da Sie jo 
großes Gewicht auf derartige Förmlichkeiten legen, will ih e3 
ſelbſt thun. Ich heiße Dolly Förfter und bin Herrn von Brunnecks 
Braut. Dies Bild aber, das ich, wie gejagt, für jein Eigentum 
anjah, habe ich zerrifjen, weil — —“ 

„Weil e3 Ihnen vermutlic) nicht gefiel,“ unterbrad Magda 
in eifig ſtolzem Tone ihre leidenjchaftlich-lebhafte Rede. „Das 
iſt eine Erklärung, die mir vollfommen genügt. Und e3 wird 
Sie gänzlich beruhigen, wenn ich Ihnen jage, daß daS Blatt 
Ihon jeit dem Augenblid, da ich hier eintrat, jeglichen Wert für 
mich verloren hatte.“ 

Dolly preßte die Lippen zufammen und ſchwieg. Der un 
nahbaren Bornehmheit dieſes jungen Mädchens gegenüber fühlte 
fie ich zu ehr im Nachteil, als daß fie gewagt hätte, die Heraus— 
forderung noch iveiter zu treiben. Ueberdies lag Magdas ſchmale 
Rechte, die in dem ſchwarzen ſchwediſchen Handfchuh noch zarter 
und findlicher erjchien, bereit3 auf der Thürklinfe. 

„Da ich es für außgejchloffen halte, daß wir und in naher 
Zukunft wieder begegnen könnten, wünjche ich dir baldige Ge— 
nejung, Erich, und ſage dir zugleich Lebewohl!“ 

E3 war nad) ihrem Wunſch und Willen ein Abjchied fürs 
Reben, das jagte ihm noch mehr als der Suhalt ihrer Worte 
der Ton, in dem fie geiprochen waren; aber eine Stimme in 


Wer wird fiegen? 2453 





jeinem Innern ſchrie: „Du bift ein Elender und Erbärmlicer, 
wenn du es zulajjen kannſt, daß fie fich jo von dir entfernt, mit 
diefer Fülle von Groll und Verachtung im Herzen,“ 

„Höre mid, Magda!” rief er flehend. „Nur noch ein 
einzige8 Wort!“ | 

And da fie, jeiner angjtvollen Bitte nicht achtend, auf Die 
Schwelle der jchon geöffneten Atelierthür trat, warf er die Dede 
von fich, die man gejtern über ihn gebreitet hatte, und fprang 
auf, um die Enteilende, wenn es fein andere Mittel gab, mit 
Gewalt zurüdzuhalten. Aber er hatte die Schwere feiner Ver: 
legung und die von der leichten ©ehirnerjchütterung zurüd- 
gebliebene Schwäche unterjchägt. Nach dem erjten Schritt fchon 
flimmerte e3 ihm vor den Augen. Hunderte von Feuergarben 
und bunten, leuchtenden Kugeln ſchienen plößlic) rings um ihn 
ber daS ganze Atelier zu erfüllen. Seine Kniee wankten und 
jeine Hände tafteten, eine Stüße fuchend, in die leere Luft. 

„Magda!” ftieß er noch einmal mit verjagender Stimme 
hervor. Dann verließen ihn Kraft und Bemußtfein, und er brad) 
ohnmächtig zuſammen, gerade in demjelben Moment, da die Thür 
des Ateliers fich hinter der Gerufenen jchloß. 


Sechzehntes Kapitel. 


„Wollen Sie nicht die Freundlichkeit haben, mich anzujehen, 
Sräulein Imgart! — Uber weshalb, um des Himmelswillen, 
ein jo böjes Geficht? Was würden Sie jagen, wenn ich dieſen 
Ausdrud jet auf der Leinwand fejtgehalten hätte?“ 

„Ich Tann nicht? dafür, Herr Sarlo! Und ich glaube 
auch nicht, daß ich böfe ausſehe — höchſtens ſchrecklich ge- 
langweilt.” 

Die Schlanke, dunfelhaarige junge Dame, die in großer Ge— 
fellfhaftstoilette und in jehr malerifcher, wenn auch vielleicht 
etwas gezierter Attitüde auf dem Kleinen Podium faß, hatte es 
im Tone eines fpitigen Vorwurfs geantwortet. Faſt noch im 
nämlidhen Moment aber lachte fie beluftigt auf — mit einem 
feilen, girrenden Lachen, wie Gabor Sarlo e3 noch von feinem 
anderen weiblichen Weſen gehört hatte. 


3454 Reinhold Ortmann. 


— ——“ 





„Da — ſehen Sie nur hinüber!“ fuhr ſie mit gedämpfter 
Stimme fort. „Meine Mama iſt über Ihren Skizzenmappen 
ſanft und ſelig entſchlummert. Es wundert mich nicht, denn 
ſeit einer Viertelſtunde haben Sie weder mit ihr, noch mit mir 
ein Sterbenswörtchen geſprochen. Muß ein Maler denn wirk— 
lich gar ſo ungalant ſein, wenn er bei der Arbeit iſt?“ 

„Ich bitte um Verzeihung! Aber ich gehöre in der That 
zu denen, die alles andere vergeſſen, wenn der Gegenſtand ihres 
Schaffens fie wirklich interefitert.“ 

„Das iſt doch wohl nur eine Schmeichelet, die mi mit 
Ihrer langweiligen Schweigjamfeit ausſöhnen fol. Denn ein 
fo vielbeichäftigter und verwöhnter Künftler wie Sie hat ficher- 
lich ſchon ſehr viel interefjantere Modelle gehabt als meine 
unbedeutende Perſon.“ 

„Wenn jchon meine erjte Bemerkung mich in den Verdacht 
gebracht Hat, Ihnen zu jchmeicheln, wofür würden Sie dann 
erit eine wahrheitsgemäße Antwort auf dieje lebte Bermutung 
nehmen! Darf ic) Ihnen ermwidern, daß mich faum je.ein 
Auftrag jo glücklich gemacht hat, wie dieſer? Er ift mir. wie 
eine Erlöjung gefommen — wahrhaftig! Denn es iſt nach— 
gerade zum Berzweifeln, fich immer an denjelben nichtsfagenden 
Phyliognomien abplagen und obendrein in jedem Fall den 
dümmſten und unkünſtleriſchſten Wünfchen Rechnung tragen zu 
müſſen. Wenn ich heute die Gewißheit erhielte, mein Leben 
lang dazu verurteilt zu bleiben, ich Hinge, bei Gott, auf der 
Stelle die Malerei an den Nagel und würde ein Schneider oder 
dergleichen.“ 

„Auch in Ddiefem Beruf würden Sie ohne Zweifel Ihr 
Glück machen,” lachte die junge Dame. „Uber ich zweifle, daß Ä 
Ihre Gattin damit einverjtanden fein würde. Sie fagte mir 
erjt neulich, wie glücklich fie über die Anzahl der a ſei, 
mit denen man Sie von allen Seiten beſtürmt.“ 

Gabor Sarlo ſeufzte. 

„Ja, freilich, wenn es nur nach den Wünſchen meiner Frau 
ginge, dürfte ich nie an etwas anderes denken. Und vielleicht hat ſie 
recht. Denn das Geldverdienen iſt am Ende doch die Hauptſache.“ 

Er hatte, während er ſeinen Blick an der ſchönen Geſtalt 
des eleganten Modells herabgleiten ließ, ein paar häßliche 


Wer wird fliegen? | 2455 





Falten in der Anordnung des Kleides entdedt, und er trat an 
das Podium, um dem Fehler abzuhelfen.: Als er fich wieder 
aufrichtete, begegneten jich für einen Moment ihre Augen. 

„sch hoffe, Sie werden nicht immer jo denfen, Herr Sarlo,“ 
ſagte fie leife, „denn es wäre eine ſchwere Verfündigung an 
Ihrem herrlichen Talent.“ 

Die wohlbeleibte Dame in dem bequemen Fauteuil an der 
anderen Seite de3 Atelier machte eine Bewegung, als ob fie 
im Begriff fei, fich aus ihrem füßen VBormittagsfchlummer zu 
ermuntern. Und vermutlich gejchah e3 aus diefem Grunde, 
daß Gabor Sarlo die Antwort-fchuldig blieb und an die Staffelei 
zurüdfehrte, um ebenjo emfig und ebenso ſchweigſam wie zuvor 
die unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen. 

Sein Geficht war jehr ernit geworden, und eine Kleine Falte 
lag zwilchen jeinen Brauen. Das Wort, das Fräulein Hertha 
Imgart ihm mit einem jo überzeugend warmen Ausdrud herz- 
licher Zeilnahme zugeflüftert, e3 hatte einen nur zu Er 
al gefunden in feiner Seele. 

‘a, er verjündigte ih an jeinem Talent, da3 wußte er 
beffer als irgend einer. Uber zum erjtenmal hatte er es heute 
auch aus einem fremden Munde hören müſſen. Und daß gerade 
fie es ausgejprochen hatte, beſchämte ihn tief. 

Wie war es nur möglich, daß er, der Hochjtrebende Künitler, 
defjen Phantaſie jo ganz erfüllt geweſen war von den ſonnigſten 
Idealen, innerhalb eines Zeitraumes von wenig Monaten ſich 
ſelbſt und ſeinen großen Plänen ſo ganz hatte untreu werden 
können! Aber es war alles ſo natürlich und ſelbſtverſtändlich 
zugegangen, daß er eigentlich gar keine Möglichkeit gehabt hätte, 
ſich zur rechten Zeit der Gefahr zu erwehren. 

Mit der Ausſtellung ſeiner „Bacchantin“ hatte es an- 
gefangen. Denn der Erfolg dieſes Bildes hatte ſelbſt ſeine 
kühnſten Erwartungen weit übertroffen. Die ſachverſtändige 
Kritik hatte wohl mancherlei daran auszuſetzen gehabt; das 
große Publikum aber war entzückt geweſen. Die verbreitetſten 
illuſtrierten Zeitſchriften hatten es in Holzſchnittnachbildungen 
reproduziert und eine photographijche” Wiedergabe war in 
Taufenden von Exemplaren verfauft worden. Der Scharfblicende 
Herr WVolffram hatte damit wie mit dem Verfauf des Originals 


2456 Reinhold Ortmann. 





an einen reichen Kunftenthufiaften ein ausgezeichnetes Geſchäft 
gemacht, und er war viel zu klug gewejen, um fich nicht dem 
jungen Maler, den er fo geſchickt in die Deffentlichkeit eingeführt 
hatte, auf feine Manier auch weiterhin nützlich und förderlich 
zu erweilen. Seiner entgegenfommenden Freigebigfeit hatten . 
Gabor und Helene e8 zu danken gehabt, daß ihre jehnlichiten 
Herzenswünsche jchon viel früher, als fie eg zu erhoffen gewagt, 
zur Wirklichkeit werden fonnten. Er hatte dem BZaudernden, 
der anfänglich eine gewiſſe injtinktive Furcht vor der Abhängig- 
feit eines folchen Schuldverhältnifjes gefühlt hatte, beinahe ge- 
waltfjam die Summen aufgedrängt, derer er zu. feiner Ver- 
heiratung und zu feiner erjten Einrichtung bedurfte. Er Hatte 
fih’3 nicht nehmen laffen, die Hübjche und geräumige Wohnung 
des jungen Paares ſelbſt mit allerlei künſtleriſchem Schmud 
auzzujtatten, den er feinem Schüßling natürli nur „zum 
Selbitfojtenpreife” in Rechnung ftellte. Und er war es endlich 
auch geweſen, der Gabor Sarlo die eriten lohnenden Porträt⸗ 
aufträge übermittelte. 

Ah, welche Freude hatte damals unter dieſem Dache ge— 
herrſcht! Wie ſelig hatten die Augen der noch von ihrem 
Flitterwochenglück verklärten jungen Frau geleuchtet! Und in 
wie luſtigen Poltereien hatte Heinrich Vollart ſeinen Stolz auf 
den Schwiegerſohn kundgethan! Ein Porträt für tauſend Mark, 
von denen man volle fünfhundert ausgezahlt erhielt, da Herr 
Wolffram großmütig genug war, nur die Hälfte auf fein Gut- 
haben in Anrechnung zu bringen! Und für den Fall des Ge— 
lingen3 zudem noc die Ausficht auf weitere, vielleicht noch 
glänzendere Aufträge. Denn der Kunſthändler hatte nicht den 
eriten beiten für Gabor Sarlo eingefangen, jondern eine in 
den Streifen der Berliner Finanzwelt weitbefannte Berfönlich- 
feit, in deren Salons fi) alles zufammenfand, was an der 
Börje wie in den Spielflub3 Geltung und Anjehen hatte. 

„Machen Sie fich wegen der Ausführung nicht zu viele 
Sfrupel!” Hatte er Gabor vertraulich zugeraunt. „Wenn Sie 
nur feine Naſe ein wenig idealifieren, ohne daß doch gleich 
alle Welt über die Unähnlichkeit fchreit, und wenn Sie jeinem 
perfiichen Sonnenorden volle künſtleriſche Gerechtigkeit wider— 
fahren lajien, jo haben Sie gewonnenes Spiel.“ 


Wer wird fiegen? 2457 





Und er hatte fich mit diefer Prophezeiung nicht getäufcht. 
Ob e3 nun die idealifierte Naje oder ob e3 der mit vollendeter 
Birtuofität gemalte Sonnenorden gewejen war, was das Ent- 
zücden des Auftraggebers in jo hohem Maße erregt hatte — 
jedenfall3 war der Erfolg dieſes eriten bezahlten Porträts ein 
vollfommen durchichlagender geweſen, und die verheißenen 
weiteren Aufträge hatten nicht lange auf ſich warten laſſen. 
Schon beim dritten Bilde hatte Gabor auf Geheiß des Kunft- 
händler3 den Preis jehr bedeutend hinaufjchrauben müllen, 
und beim fünften hatte er fich nach dem energijch durchgejehten 
Willen ſeines geſchäftskundigen Impreſario bereit3 bis zu einer 
Forderung von dreitaufend Marf veritiegen. Wohl hatte er 
jelbjt dabei eine peinlich widerftrebende Empfindung gehabt, 
al3 ob er im Begriff fei, jemanden zu beitehlen, und auch 
Heinrich VBollart hatte bedenklich den grauen Kopf gefchüttelt, 
Frau Helenen3 Augen aber hatten wieder in erhöhten Glanze 
geleuchtet, und Herr Wolffram hatte in ihr eine Bundesgenoffin 
gefunden, deren holde Macht von vornherein jeden Verfuch einer 
ernjtlihen Auflehnung ausschloß. 

Damal3 war Gabor Sarlo ganz entzüdt geweſen bon dem 
reizenden Gejchäftseifer feiner jungen Frau und von dieſer 
faufmännifchen Energie, die fie jo allerliebjt Heidete. Scherzend 
hatte er erklärt, daß er dies Reſſort fortan ganz und gar ihrer 
Berwaltung überlafjen werde, und er hatte nicht daran gedacht, 
ſich zu ſträuben, als fie den Scherz ſogleich ganz ernithaft ge— 
nommen und Sich ihrer neuen Aufgabe mit hingebendſtem Eifer 
gewidmet hatte. Alle Verhandlungen mit Wolffram waren 
feitdem nur noch durch fie geführt worden; fie hatte die ge- 
Ichäftliche Korrefpondenz mit den Auftraggebern geführt, und 
Gabor hatte wahrhaftig feine VBeranlaffung gehabt, diejen Ver— 
ziht auf einen Teil feiner eheherrlichen Rechte zu bereuen. 
Denn während er jelbit gewiß niemals den Mut gehabt hätte, 
einem Manne, dem er fo viel Dank zu fchulden glaubte, jeiner- 
feit3 Bedingungen zu jtellen, mit ihm zu feilfchen oder gar 
eine jeiner Anerbietungen wegen zu niedrigen Preijes rundweg 
abzulehnen, ließ fich Frau Helene durch derartige Rüdfichten 
feinen Augenblid in der Wahrnehmung feiner Intereſſen — 
die ja ein wenig freilich auch die ihrigen waren — beirren. 


2458 Reinhold Ortmann. 





Sie wußte jehr gut, daß Wolffram bei all feinen ſcheinbaren 
Wohlthaten nur den eigenen Vorteil im Auge gehabt hatte, 
und danach richtete ſie ihr Verhalten gegen ihn ein. Ja, ſie 
ſagte es ihm einmal, als er in Gabors Gegenwart den Ge— 
kränkten zu ſpielen verſuchte, mit lächelndem Munde und in 
liebenswürdigen, doch darum nicht weniger unzweideutigen Worten 
gerade ins Geſicht. Und zum grenzenloſen Erſtaunen des von 
ihrem kühnen Beginnen aufs höchſte beſtürzten jungen Malers 
war die Folge dieſer Aufrichtigkeit nicht etwa ein Bruch mit 
dem Kunſthändler oder auch nur eine Erkaltung der Beziehungen 
zu ihm, ſondern vielmehr eine geſteigerte Höflichkeit in ſeinem 
Benehmen und ein beträchtliches Heraufgehen ſeiner Angebote 
geweſen. Die Klugheit dieſes praktiſchen jungen Weibchens 
hatte ihm offenbar gewaltig imponiert und er war ſich voll- 
Itändig darüber Far, daß er auf die Erhaltung ihrer Gunft 
bedacht fein müſſe, wenn ihm nicht fein koſtbarer Schützling 
ganz und gar aus den Fingern ſchlüpfen ſolle. 

Bald genug hatte Gabor jede Ueberſicht über ſeine Ein- 
fünfte verloren. Er hatte ja auch den Kopf voll genug von 
jeiner Arbeit, die ihn faum für eine Stunde zur Ruhe fommen 
ließ. Denn die Aufträge mehrten ſich raſch in einer Weije, 
die ihn faſt zu beängjtigen anfing. Er fühlte, daß er zuviel 
auf fich nehme und daß er die Laft nicht mehr bewältigen 
fönne — wenigſtens nicht, wenn er in jedem Fall ehrlich und 
fünjtleriich zu Werfe gehen wolle. Offen hatte er das eines 
Abends feiner Frau im- Beifein ihres Vater erflärt, und 
Heinrich Bollart hatte ihm bedingungslos zugeitimmt. Helene 
aber hatte gegen jeine Abficht, aus den angegebenen Gründen 
einen bejonders vorteilhaften Auftrag zurüczumeilen, mit größter 
Entichiedenheit Widerfpruch erhoben. Und al3 er fich immer 
wieder auf feine Künftlerehre berief und auf feine moraliſche 
Verpflichtung, bei jedem Bilde fein ganzes Können einzujeßen, 
hatte fie ihm in ihrer ruhig verjtändigen Weile Har zu machen 
verjucht, daß er ich feine Arbeit in diefer Hinficht ganz un— 
nötig erjchwere, da feine Auftraggeber und ihr Anhang viel 
zu wenig funftverjtändig feien, um jolche Hingabe zu würdigen 
und fie ihm nach Gebühr zu danken. Sie verwies ihn auf 
das Beilpiel anderer beliebter und vielbefchäftigter Modemaler, 


Wer wird fiegen? | 2459 





die e3 Schließlich dahin gebracht hätten, daß die Leichtfertigfeit 
und Oberflächlichfeit ihrer Arbeit al3 ein Beweis ihrer Genialität 
gepriejen würde. Und als er fich entrüftet gegen die Zumutüng 
auflehnte, ihnen nachzueifern, jchlang fie a ihren weichen 
Arm um feinen Naden und fagte: 

„Du ſollſt mic nicht mißverſtehen, Liebſter! Gerade weil 
ich dich recht bald in der Lage ſehen möchte, einzig jo “zu 
Tchaffen, wie dein Fünftlerifcher Ehrgeiz e3 dir gebietet, bitte id) 
dich, unferer Zukunft vorerft das Heine Opfer einiger Zugejtänd- 
nilfe zu bringen. Ein Künitler, der nur feinen Idealen nach— 
leben will, muß frei und unabhängig fein von allen Eleinlichen 
Sorgen des Kampfes ums Daſein. Und du würdeſt darum 
ein Unrecht begehen gegen dich ſelbſt, wenn du die glückliche 
Gelegenheit worübergehen ließeft, raſch und verhältnismäßig 
mühelos zu jolcher Unabhängigkeit zu gelangen. Je eifriger 
du jegt für den Erwerb arbeiteit, deito ungehinderter wirft du 
binnen wenig Jahren nur noch für deinen Ruhm arbeiten fönnen. 
Und ich werde gewiß die erite fein, den Tag zu jegnen, an dem du 
dich bis zu dieſer beglüdenden Freiheit durchgerungen haft.” 

Wie hätte er der überzeugenden Beredſamkeit und den noch 
viel überzeugenderen Zärtlichfeiten feines reizenden jungen Weibes - 
widerjtehen können! Er hatte alfo den Auftrag angenommen, 
den er mit gutem Gewiſſen eigentlich nicht mehr hätte annehmen 
dürfen — und nicht diejen allein, jondern aud) alle weiteren, 
jofern ihm nur die von Frau Helene im Einverjtändnis mit 
Herrn Wolffram bejtimmten Hohen Preife anſtandslos bemilligt 
wurden. Und wenn er auch noch eine Zeitlang redlich bemüht 
geweſen war, fich von den Leichtfertigfeiten und Oberflächlichkeiten 
anderer übermäßig bejchäftigter Modeporträtiften frei zu halten, 
fo war er doch bald genug inne geworden, daß jelbjt die äußerite 
Anspannung aller Kräfte nicht mehr Hinreichte, ihn davor zu 
bewahren. Denn, was das Schlimmite war, die Luft und Liebe 
zur Arbeit, die beglüdende und anſpornende Freude am fünjtle- 
rischen Schaffen begannen ihn zu verlaffen. Hier und da ging 
er mit wirflichem Widerwillen ans Werk, und je mehr er ſich 
der flachen, handmwerfsmäßigen Schöpfung ſchämte, die er da 
unter feinen Händen entjtehen jah, defto härter wurde ihm der 
Froͤndienſt, in den ihn ein fremder Wille gezwungen. 


— — * 


2460 Reinhold Ortmann. 





Die „Kundſchaft“ aber wurde zu feiner ftillen Berwunderung 
von alledem augenjcheinlich nicht das Mindefte gemahr. Man 
fand feine Borträt3 nach wie vor'„bezaubernd“ und „entzüdend”, 
auch wenn er felbit fie in der Stille des Herzens elende Pinſeleien 
nannte und fich ernätlich verfucht fühlte, fie noch im lebten 
Augenblid vor der Ablieferung zu vernichten. Helene hatte 
dieje Leute aljo vollfommen richtig beurteilt, al3 fie jagte, daß 
ihnen jede Fähigkeit abgehe, ein Kunſtwerk nach jeinem wahren 
Werte zu ſchätzen. Und jo wurde auch jein Gewiſſen allmäh- 
lich jtumpf gegen die anfangs über alle Maße peinigende Em- 

pfindung, daß er feine Auftraggeber eigentlich um ihr Geld 
betrog, indem er ihnen nicht das gab, was fie nach feinen 
früheren Leiftungen mit Fug und Recht von ihm erwarten 
durften. | 

Die Betrogenen felbjt ahnten ja nichts davon, und e3 ver- 
ging Feine Woche, ohne daß ſich nicht aus den reifen der 
Berliner Plutofratie — auf diefe allein war Gabor Ruhm 
bisher beichränft geblieben — der eine oder die andere be- 
Icheidentlich um den Vorzug beworben hätte, von dem genialen 
Pinjel des jungen Meifter8 auf die Leinwand gezaubert zu 
werden. Er fühlte fich überarbeitet und in tiefiter Seele un- 
befriedigt; aber er wagte nicht einmal, feiner Frau etwas davon 
zu zeigen. Denn er wußte ja im voraus, daß fie die ſchlagendſten 
Bemeisgründe in der Hand hatte für die Thorheit und Grund- 
(ofigfeit feiner Klagen. 

Wenig mehr als ſechs Monate waren jeit ihrer Ber- 
heiratung vergangen, und jchon konnte fie ihn dank ihrer be- 
wunderungswürdigen gejchäftlichen und wirtjchaftlichen Talente 
mit allen Annehmlichkeiten der Wohlhabenheit umgeben. Die 
Schuld an den Kunſthändler war bi3 auf den lebten Pfennig 
getilgt, obwohl es den Wünfchen und Abfichten des Herrn 
Wolfram wahrſcheinlich viel beſſer entſprochen haben würde, 
wenn die junge Frau mit der Rückzahlung weniger eilig geweſen 
wäre. Und Gabor Sarlo wußte, daß er nur irgend einen auf 
ſein perſönliches Behagen gerichteten Wunſch gegen Helene zu 
äußern brauchte, um ihn ſofort mit liebenswürdigſter Bereit— 
willigfeit erfüllt zu jehen. Denn jo wenig Bedürfnifje fie für 
fich felbft Hatte, jo fparjam fie ihren Heinen Haushalt führte 


Wer wird Stegen? 2461 





und jo ängitlich jie jede überflüffige Ausgabe vermied, fo liebe- 
voll war fie doch allezeit darauf bedacht, den Heinen Lieb- 
habereien ihres Gatten Rechnung zu tragen und ihn nichts 
entbehren zu laflen von jenen materiellen Genüffen, die ihm 
ihrer Meinung nach Vergnügen bereiten fonnten. Er fonnte 
bei dem beiten und teuerjten Schneider arbeiten laſſen, während 
Frau Helene fich nad) der Gewohnheit ihrer Mädchenjahre 
ſogar ihre Gejellichaftstoiletten jelbjt anfertigte; er rauchte die 
feinſten Import-Cigarren, und er fand ftet3 eine Flaſche vom 
edelſten Ungarwein auf dem Tiſche, während Helene nie etwas 
anderes als Waſſer trank. 

Aber ihre ſelbſtverleugnende Sorge um ſein Wohlbehagen 
ging noch weiter. So viel er ihr auch durch ſeine angeſtrengte 
Thätigkeit während der Tagesſtunden entzogen wurde, erhob ſie 
doch keinen Anſpruch darauf, ihn dafür während der Abende 
ganz für ſich zu behalten. Wolffram Hatte ihr gejagt, daß es 
für einen PBorträtmaler, der in die Mode fommen und fich darin 
behaupten wolle, unerläßlich jei, gejellichaftliche Beziehungen 
zu juchen, und eine jtändige Figur in den Salon jener Sreije 
zu bilden, aus denen feine Auftraggeber fich refrutierten. Sie 
hatte die volle Berechtigung diejes Verlangens eingefehen, und 
fie jelbit hatte ihren Gatten gedrängt, fich dementjprechend zu 
verhalten. 

Er hatte von Anfang an feine Einladung ablehnen dürfen, 
von deren Annahme fich irgend eine wertvolle Anfnüpfung er- 
hoffen ließ, und nie hatte fie auch nur das leiſeſte Mißver— 
gnügen darüber an den Tag gelegt, daß fie einen großen Teil 
ihrer Abende mutterjeelenallein in den häuslichen vier Wänden 
zubringen mußte. 

Ihm aber, wie fehr er auch die Gefelligfeit liebte, hatte 
e3 ftet3 eine empfindliche Beeinträchtigung feines Vergnügens 
bedeutet, Helene einfam daheim zu willen, während er tafelte 
oder tanzte. Er hatte feine neuen vornehmen Befanntichaften 
ziemlich deutlich daran erinnert, daß er verheiratet ſei. Und 
die Einladungen waren demzufolge bald nicht mehr für ihn 
allein, fondern auch für feine Frau ergangen. Da fie jah, daß 
e3 ihm Freude machte, fein allerliebftes junges Weibchen in 
die äußerlich jo glänzende Welt der Berliner Börjennoblejje 


2462 Reinhold Ortmann. 





einzuführen, hatte fie ihn willig ein paarmal begleitet. Und 
fie hatte feiner Meinung nach durchaus feinen Anlaß gehabt, 
fich über einen Mangel an freundlichem und rüdficht3vollem 
Entgegenfommen zu beklagen. Man hatte ſie überaus liebens- 
würdig und ganz wie jeinesgleichen behandelt, jo daß Gabor 
durchaus nicht begriff, weshalb fie all diefer Freundlichkeit 
gegenüber eigentümlich ftil und zurückhaltend geblieben war, 
und weshalb fie nach der Heimfehr fo gar nicht in jein Ent- : 
züden über das genojjene Vergnügen einjtimmen wollte. Eines 
Tages. aber. hatte er dann doch die Gründe dafür erfahren. 
Helene hatte ihn gebeten, eine Spiree im Haufe de3 Herrn 
Paul Imgart ohne fie zu bejuchen, obwohl die jchön gejtochene 
Einladungsfarte auch ihren Namen trug. Und als er durchaus 
zu willen begehrte, weshalb fie ihn nicht begleiten molle, hatte 
fie freimütig erklärt: 
„Aus drei Gründen, liebes Herz, von denen, wie ich 
meine, jeder einzelne als Entſchuldigung hinreichen jollte. Erſtens 
— weil e8 mir nur ein jehr mäßiges Vergnügen bereitet, mich 
unter diejen Leuten zu bewegen, deren Intereſſen nicht. Die 
meinigen find und zu denen ich deshalb niemals daS. richtige 
Verhältnis gewinnen werde; zweitens — weil ich. unmöglich 
wieder in demjelben Kleide hingehen fünnte, und ich es doch 
andererjeit3 für eine thörichte und jündhafte Verjchwendung 
halten würde, mir ein neue3 zu machen, für das ſonſt nicht 
das geringjte Beditrfnis vorhanden ift; drittens aber, und das 
ijt vielleicht die Hauptjadde — weil es mir demütigend und 
peinlich jcheint, eine Gaſtfreundſchaft anzunehmen, die ich ent- 
weder gar nicht oder doch nur in der allerbejcheideniten, nach 
den Begriffen jener Leute geradezu armfeligiten Weije ertwidern 
könnte. Wir find noch lange nicht reich genug, um Gälte von 
diejer Art zu empfangen. Und wenn wir etwa jo leichtfertig 
wären, das Geld, das du mühſam genug erarbeiten niußt, für 
die Beranftaltung von Gejellfchaften zum Fenſter hinaus zu 
“ werfen, jo würde ich dabei doch die drüdende Empfindung 
nicht los werden, daß dieſe durch eine fürftliche Lebensführung 
verwöhnten und überjättigten Menfchen ein Erfcheinen in .unjerem 
Haufe lediglich al3 eine gnädige Herablafjung betrachten würden. 
Für dich aber fallen alle derartigen Bedenklichfeiten fort, und 


re 


Wer wird ftegen? 2463 | 


— NT LEEREN ZNLD wu ne —————— 200 un En u — 


ich bitte dich darum herzlichit, für die Folge die Einladungen, 
die aus jenen reifen fommen, nur noch für Deine eigene 
Perſon anzımehmen.“ | 

Gabor Sarlo fannte die Energie feiner jungen Frau be— 
reits hinlänglid), um zu wifjen, daß e8 gegen eine mit jolcher 
Meberlegung begründete Willensfundgabe feine Einwendungen 
mehr gab. Er Hatte fich alfo ihrem Wunſche gefüigt; aber es 
war doch das unangenehme Gefühl in ihm geblieben, daß diejer 
Verzicht auf die Freuden einer Gejelligfeit, die ihm felbjt über- 
aus anregend und unterhaltiam erſchien, einer etwas engherzigen 
Denkweiſe und einer beinahe kleinlichen Sparjamfeit entiprungen 
ſei. Diefe Sparjamfeit, die jich ihm überall in feinem Haufe 
bemerflich machte, wo es fich nicht gerade um feine perjönlichen 
Liebhabereien und Bedürfnifje handelte, ftörte ihn überhaupt 
immer mehr. Er wußte ja, daß die Einnahmen jehr reichlich 
floſſen, und deshalb verſtimmte es ihn, zu jehen, wie hartnädig 
fi Helene gegen jede Heine Ausgabe fträubte,. die ihr nicht 
unbedingt notwendig. ſchien. Als er einmal zufällig hören 
mußte, wie geringichäßig fih das Dienftmädchen über Die 
„Knauſerei“ ihrer Herrin äußerte, faßte er ſich ſogar das Herz, 
ihr in halb fcherzhafter Form einige liebevolle Vorhaltungen 
zu machen. ber die ebenjo ruhige wie entjchiedene Zurück— 
weilung, die diejem erjten Verſuch einer Einmilchung in das 
häusliche Herrjchgebiet feiner Frau zu teil wurde, nahm ihm 
ein für allemal die Luft zu einer Wiederholung. Daß fie eine 
jo nüchterne Eleine Nechenmeifterin fei, hätte er in den Tagen 
feines kurzen Brautjtandes doc nimmermehr für möglich ge- 
Halten. Und wenn er ganz ehrlich fein wollte, konnte er ih 
nicht verhehlen, daß ihre in jo hohem Maße entwidelten wirt- 
ſchaftlichen Tugenden fie in feinen Augen keineswegs liebens- 
würdiger machten. 

Se häufiger er jeßt die gejelligen Veranstaltungen ſeiner 
neuen Belanntenfreile bejuchte, mit deito größerem Unbehagen 
empfand er den Eleinlich-|pießbürgerlichen Geijt, der, wie er 
meinte, jein eigenes Hausweſen erfüllte. Er hätte ja feine wirk— 
liche Künjtlernatur jein müfjen, wenn die üppige Pracht und 
der verſchwenderiſche Luxus jener Feſte nicht in hohem Maße 
nach jeinem Gejchmad gewejen wären. Bei der Bejcheidenheit 


2464 Reinhold Ortmann. 





feiner Herkunft und der Dürftigfeit.der Verhältniffe, in denen 
er bis zu dieſer günftigen Wendung feines Geſchickes gelebt, 
hatte fich ihm mit dem Eintritt in diefe Atmojphäre des Reich— 
tum3 und des Weberflufjes eine ganz neue Welt aufgethan. Aber 
er hatte jich überrafchend jchnell darin zurechtgefunden, und es 
dünfte ihm jeßt fat unbegreiflic), wie er alle diefe Genüfje jo 
lange hatte entbehren können, ohne ſich der Armut feines Dajeins 
auch nur bewußt zu werden. 

Er fühlte jich vollfommen heimiſch in diefen mit raffinierter 
Eleganz ausgejtatteten Salons, an diejen mit foftbaren Silber- 
Ihägen überladenen Tafeln, über die zumeilen aus Anlaß eines 
Diners ein Feines Vermögen in Geftalt von jeltenen Blumen 
auggeitreut war. Er, der ſich jahrelang in den armieligften 
Speiſewirtſchaften Berlins hatte durchbringen müfjen, genoß mit 
dem ganzen Behagen eined erfahrenen Feinſchmeckers die aus— 
gejuchten Delifatefjen und die erlefenen Weine, die in jenen 
Häujern zn den jelbftverjtändlichen Dingen zu gehören jchienen. 
Und er war keineswegs unempfindlich für die Schönheit feiner 
Tiſchgenoſſinnen, die ihre Reize durch die kunſtvollſten Toiletten 
und die gleißendſten Juwelen ſtets in eine ſo vorteilhafte Be— 
leuchtung zu ſetzen wußten. 

Wohl war dies Wohlgefallen bisher kaum etwas anderes 
geweſen als eine aus rein künſtleriſchen Empfindungen ent= 
ſprungene naive Freude am Schönen. Und er war harmlos 
genug, die oft recht augenfälligen Koketterien gar nicht zu be— 
merken, mit denen dieſe oder jene ihn zu ermutigen und an ſich 
zu feſſeln ſuchte. Seit kurzem aber war aus dem Schwarm 
jugendlich-anmutiger Geſtalten, auf die ſein Intereſſe ſich bis 
dahin ziemlich gleichmäßig verteilt hatte, mehr und mehr eine 
einzelne Erſcheinung herausgetreten, um zuletzt ſeine Gedanken 
faſt ausſchließlich zu beſchäftigen. 

Das war Fräulein Hertha Imgart, die Tochter eines reichen 
„Privatiers“, der den erſten Stock eines ſehr vornehmen Hauſes 
in der Lennéſtraße bewohnte, und auf den der Kunſthändler 
Wolffram ihn von vornherein als auf eine für ihn jehr wichtige 
Perſönlichkeit aufmerkſam gemacht hatte. Der Mann war ihm 
eigentlich im Anfang nicht ſehr ſympathiſch gewejen mit feinem 
ſcharf gejchnittenen Raubvogelgejicht, feinen lauernden Augen und 


Wer wird fiegen? 2465 





der nervöfen Unruhe feines Weſens. Aber jein Haus war ohne 
Zweifel das üppigſte von allen, die Gabor bis jebt kennen ge= 
lernt hatte, und die Vorzüge der Tochter waren wohl danad) 
angethan, alle unangenehmen Eigenjchaften des Vaters vergefien 
zu machen. 

Fräulein Hertha galt in ihren Geſellſchaftskreiſen für eine 
Schönheit, obwohl ihre Züge eigentlic” mehr auffallend als 
regelmäßig waren und einen wirklichen Reiz erjt dann gewannen, 
wenn fie ſich während einer angeregten Unterhaltung zu be- 
leben anfingen. Dann aber fonnte dies brünette Köpfchen 
wirklich bezaubernd ausjehen. Und e3 ließ ſich in folchen Augen- 
bliden faum etwas Verführerijches denken als ihr ausdrud3- 
volles Geficht, ihr helles Lachen und ihre. jchlanfe, biegjame, 
Itet3 in wahre Wunderwerfe der Schneiderfunft gefleidete Geitalt. 

Sie war dem jungen Maler zuerit viel Fühler gegenüber- 
getreten al3 die meilten andern hübjchen Damen, deren Be- 
fanntichaft er da auf dem Parkett der Tiergartenjalond gemacht. 
Und er hatte im Verkehr mit ihr eine Befangenheit gefühlt, 
die ihm font fremd war. Man fonnte eben mit ihr nicht reden 
wie mit den andern. Ihr ſcharfer Verſtand, ihre für ein junges 
Mädchen geradezu erjtaunliche Weltfenntnis und ihre bemundern3- 
würdige Schlagfertigfeit nötigten den Kavalier, dem die Auf- 
gabe zügefallen war, fie zu unterhalten, zu geiltigen Anftren- 
gungen, deren e3 für ein Tiſchgeſpräch oder ein Ballgeplauder 
mit den Frauen und Mädchen diefer Gejellichaftsfreije ſonſt 
wahrlich nicht bedurfte. Und bei ihren erjten Begegnungen 
hatte Gabor troß aller Bemühungen das rechte Thema nicht 
finden fünnen, das fie veranlaßt hätte, aus ihrer abwartenden 
Zurückhaltung herauszutreten. 

Dann aber hatte er das Imgartſche Haus einmal in Be- 
gleitung feiner Frau beſucht. Und bei dieſem Anlaß war das 
Ei3 geichmolzen. Fräulein Hertha jchien ein außerordentliches 
Gefallen an Helene zu finden. Sie war der jungen Gattin 
des Maler3 gegenüber von einer Liebenswürdigfeit und Herz 
lichkeit, deren Gabor ihre anjcheinend fo fühle, rejervierte Natur 
gar nicht fähig geglaubt hatte, und e3 ergab fich daraus auf 
ganz natürliche Weife, daß auch ihr Benehmen gegen ihn ein 
anderes, vertraulichere3 wurde. Bei ihrer nächlten Begegnung, 

ZU Haus-Bibl. II, Band XI. 155 


2466 | Reinhold Ortmann, 








die im Haufe eines gemeinjchaftlichen Bekannten, des Bankier 
Eckartsberg, jlattfand und die fie als Tiſchdame an jeine Seite 
führte, hatten fie fogleich das rechte Unterhaltungsthema ge- 
funden, indem fie ausfchlieglih von der diesmal nicht an- 
wejenden Helene ſprachen. Gabor war glüdlih, Fräulein 
Hertha in Ausdrüden wärmfler Sympathie von feiner Frau 
reden zu hören, und auf ihre teilnehmenden Fragen erzählte 
er ihr in feiner liebenswürdig-offenherzigen Weije, die auch jet 
noch zumeilen etwas beinahe Knabenhaftes hatte, die ganze, 
im Grunde recht einfache Gejchichte jeines Lebens, feiner Tampf- 
loſen, wenig romantischen Liebe und feiner im glüdlichiten 
jugendlichen Leichtfinn gejchloffenen Heirat. | 
Seit jenem Abend waren fie gute Freunde. Und Hertha 
Imgart, die jtet3 eine ſouveräne Gleichgültigfeit gegen allen 
Klatſch und alles Gerede der Welt an den Tag legte, zeichnete 
den jungen Maler in augenfälliger Weile vor den übrigen- 
Herren ihrer Bekanntſchaft aus, obwohl er viel weniger als 
jene darauf bedacht war, ihr im eigentlichen Wortfinne den Hof 
zu machen. ®abor wurde ein beinahe täglicher Salt im Im— 
gartihen Haufe, und Hertha befundete ihr lebhaftes Intereſſe 
an jeinem Schaffen dadurch, daß fie ihn wiederholt in Be— 
gleitung ihrer Mutter oder einer anderen älteren Dame in 
jeinem Atelier befuchte. Nur bei dieſen Bejuchen war fie wieder 
mit Helene zuſammen getroffen; denn zu den Gejellichaften bei 
den Imgarts war die junge Frau troß der immer wiederholten 
Einladungen nicht mehr gekommen. Und ihr Verhältnis zu 
Hertha hatte demgemäß nicht in demfelben Maße an Wärme 
und Herzlichfeit gewonnen wie die Beziehungen ihres Mannes 
zu feiner jchönen und geiltreihen Gönnerin. Wohl Fam fie 
Hertha nicht unfreundlich entgegen; aber ihre Freundlichkeit war 
von einer genau abgemefjenen, zurüdhaltenden Art, die es der 
anderen von vornherein unmöglich machte, in ihren Annäherungs- 
verfuchen über eine gemwilje Grenze hinaus zu gehen. Und jo 
wenig fich in ihrem Benehmen jemals auch nur die leijejte An- 
wandlung von Eiferfucht offenbarte, jo wenig trat darin an- 
dererjeits ein Bedürfnis nach innigerem Anschluß zu Tage. 
Dann — vor ungefähr einer Woche — hatte jich. eines 
Tages Herr Paul Imgart bei dem Maler eingefunden, um 


Wer wird fiegen? . 2467 
wegen eines großen Porträts feiner Tochter Rüdjprache mit 
ihm zu nehmen. Er: war eilig, zerjtreut und nervös gemwejen 
wie immer, wenn er genötigt war, über Dinge zu reden, die 
jeinem Intereſſentreiſe fern lagen. Und obwohl er ſich den 
Anſchein zu geben verſuchte, als ſei die Idee zu dieſem Auf- 
trage in ſeinem eigenen Kopfe entſtanden, hegte Gabor doch 
von Anfang an feinen Zweifel, daß er nur einen — wahr— 
jcheinlich jehr dringend ausge Iprochenen — Wunjch feiner Tochter 
erfüllte. Bon Imgarts Noblefje in Geldfachen aber hatte Herr 
Wolffram wahrlich nicht zu viel gejagt, al3 er feinen Schüßling 
empfahl, fich gerade um das Wohlwollen dieſes angeblichen 
Brivatiers recht angelegentlich zu bemühen. Denn ſtatt den 
Maler um feine Forderung für das beftellte Borträt zu befragen, 
machte er ihm ein Angebot, das jehr weit ſelbſt über den höchiten 
Preis Hinausging, der Gabor bisher für ein Bild gezahlt 
worden war, und fügte — jchon im Fortgehen begriffen — 
ganz beiläufig hinzu: 

„Da ich dieſe geſchäftliche Seite der Sache gern ſo raſch 
wie möglich erledigt ſehen möchte, werde ich mir erlauben, 
Ihnen morgen einen Chek auf die vereinbarte Summe zu über— 
ſenden. Für die Ablieferung des Bildes ſind Sie dadurch 
natürlich in keiner Weiſe an einen beſtimmten Termin gebunden. 
Ich weiß, daß Sie ſehr beſchäftigt ſind, und ich wünſche durch— 
aus nicht, daß Sie die Arbeit überſtürzen. Wegen der Sitzungen, 
die doch jedenfalls hier in Ihrem Atelier ſtattfinden müſſen, 
haben Sie wohl die Güte, fich mit meinen Damen zu verjtändigen.“ 

Gabor Sarlo hatte nicht die Unmahrheit geiprochen, als 
er Hertha vorhin verficherte, daß ihn faum jemals ein Auftrag 
ſo glüdlich gemacht habe wie diefer. Aber er war fich felber 
vielleicht nicht vollftändig klar geweſen über die eigentliche Ur- 
jache der heißen Freude, die er bei dem Gedanken an die bevor- 
Itehende Arbeit empfunden. Und während der erſten Sigungen, 
die immer im Beiſein der phlegmatifchen und ftet3 gelang- 
weilten Frau Imgart Stattgefunden, hatte er fich mit liebevoller 
fünftlerifcher Hingabe jo ganz in das zu fchaffende Werk ver- 
lenkt, daß auch der mißtrauischite Beobachter nicht hätte auf 
den Verdacht geraten können, als habe fein Herz einen größeren 
Anteil an diefer Freude als fein malerischer Ehrgeiz, Wenn 

155* 


2468 - Reinhold Ortmann. 





e3 wirklich in erjter Linie die Gelegenheit zu langem und un- 
geſtörtem Beilammenjein mit Hertha war, was ihn beglüdte, 
jo machte er doch jedenfalls nicht den geringjten Verfuch, diefe 
Gelegenheit auszunügen. Er ſprach jehr wenig, arbeitete mit 
fieberhafter Emfigfeit und blieb bei alledem jo unbefangen, als 
hätte ihre reizende Perjönlichkeit für ihn wirklich feine andere 
Bedeutung als die eines De]onders hübfchen und intereflanten 
Modells. 

Heute zum eritenmal hatte diefe Unbefangenheit ihn ver- 
laſſen. In dem Augenblid war es gejchehen, da er ich über 
Hertha herabgeneigt hatte, um den in Unordnung geratenen 
Faltenwurf ihres Kleides zu arrangieren, und da fie ihm 
während diefer Beichäftigung mit fo eigentümlich warmem und 
innigem Ausdrud die Mahnuug zugeflüjtert hatte, die er bisher 
nur von feinem eigenen künſtleriſchen Gewiljen, niemals aber 
aus einem fremden Munde gehört. Denn in jenem Moment 
war e3 blibartig durch feine Seele gegangen: 

Um wieviel befjer fie dich verjteht als dein eigenes Weib! 
Sie würde niemal3 verſucht haben, dic) zum elenden Lohn— 
arbeiter berabzudrüden. Sie würde dich begeiltert und empor- 
getragen haben — während in der dumpfen Atmojphäre, die 
Helenes pießbürgerlich-engherziger Erwerbsſinn um did) ver- 
breitet, alles Freie und Große in dir notwendig früher oder 
jpäter eritiden und elend zu Grunde gehen wird. 

Eine Flut von Schmerz und Bitterfeit war in ihm auf- 
geftiegen, und fo tief fühlte er ſich beſchämt, daß alle Schaffens- 
luft und Schaffensfreude mit einem Male in ihm erjtorben waren. 
inter und ſchweigend wilchte er ein paar Minuten lang an 
dem Bilde herum, ohne ſich während deſſen nur ein einziges 
Mal nad) feinem Modell umzufehen. Und aus dem gärenden 
Durcheinander unerfreulicher Erinnerungen und anklagender Ge— 
danken klangen ihm i immer vernehmlicher die gefährlichen Fragen 
entgegen: 

Warum hatte ich's ſo eilig, mich für alle Ewigkeit an ein 
Weſen zu feſſeln, das die Bedürfniſſe einer Künſtlerſeele nicht 
verſteht und niemals verſtehen wird? Warum habe ich fie und 
mich nicht beſſer geprüft — warum bin ich heute nicht mehr 
frei, fondern ein arıner, gebundener Sklave — warum — —? 


Wer wird fiegen? 2469 





Siebzehntes Kapitel. 

„Sie jind mir böfe, Herr Sarlo — aber ich bitte Sie um 
Berzeihung! Es war eine unbedachte Yeußerung. Und ich habe 
jelbftverjtändlich Fein Necht, jo zu Ihnen zu fprechen.“ 

Hertha war e3, die das nachgerade unerträglich drüdende 
Schweigen mit diefen halblaut gejprochenen Worten unterbrochen 
hatte. Die tiefen, geräufchvollen Atemzüge aus dem Fauteuil 
am anderen Ende des Ateliers thaten fund, daß Frau Imgart 
fich nach dem Heinen vergeblichen Ernunterungsverfuch nur um 
ſo feiter in die weichen Arme des Traumgottes gejchmiegt hatte 
und daß man fi) um ihretwillen feinen Zwang in der Unter- 
haltung aufzuerlegen brauchte. Trotzdem aber verließ Gabor 
ſeinen Platz an der Staffelei und trat ganz nahe zu Hertha heran, 
ehe er leije, aber in faum unterdrüdter Erregung ermwiderte: 

„Rein, ic) bin Ihnen nicht böfe, Fräulein Imgart! Und 
ih danke Shnen aus der Tiefe meines Herzens für das In— 
terefje, da3 Sie an mir nehmen. Denn nur ehrliche Teilnahme 
fonnte Ihnen ein Wort eingeben wie dies. Aber jagen Sie 
mir jegt auch ganz offen, wie Sie über mich denken — machen 
Sie mir fein Hehl daraus, daß Sie mich im Grunde Ihrer 
Seele für einen verächtlichen, unfünftlerifchen Streber halten.” 

Mit großer Entjchiedenheit jchüttelte fie den hübſchen dunklen 
Kopf. | 
„Welche Uebertreibung! Glauben Sie dein, daß ich freund- 
Ichaftlih mit Ihnen verkehren und daß ih mid von Ahnen 
malen lafjen würde, wenn ich eine jo ſchlechte Meinung von 
Ihnen hätte? Nein, Herr Sarlo, ich halte Sie für einen wahren 
Künftler, und ich habe daS feſte Vertrauen, daß Sie noch zur 
rechten Zeit die gefährlihe Bahn verlaffen werden, auf die Sie 
ih durch die Verhältnifje Haben drängen lafjen.“ 

„Und wenn ich Ihnen nun antivorten müßte, daß Sie jich 
twahrjcheinlich darin täufchen, weil diefe Berhältnifje eben ſtärker 
ind als ih?" 

„Ach, da kann Ihr Ernft nicht fein. Für einen Mann 
darf es feinen Einfluß geben, der jtärfer wäre als fein eigener 
Wille. Sind Sie denn nicht ganz Unabbonnln, und der freie 
Herr Shrer Entſchlüſſe?“ 


2470 Reinhold Ortmann. 





Gabor jah beſchämt vor fich nieder; aber er war gerade in 
der Stimmung, aufrichtig zu jein — aufrichtig bis zur erbar= 
mungsloſen Graujamfeit gegen fich ſelbſt. 

„Sie vergejlen, daß ich verheiratet bin — und daß ic nad) 
der Anficht meiner rau vor allem für die fichere Zukunft einer 
Familie zu jorgen habe.“ 

„O — Sie. thun Ihrer Gattin ficherlich unrecht, wenn Sie. 
ihr eine fo nüchterne und Heinlihe Denktungsart zutrauen. Sit 
tie denn nicht jelbit die Tochter eineg Maler und in einer frei— 
geiftigen Fünftlerischen Atmoiphäre aufgewachſen? Und hatten Sie 
nicht vor der Hochzeit Gelegenheit genug, fie fennen zu lernen?“ 

Gabor Sarlo dachte an den niederländijchen Ofenwinfel in 
Heinrich Bollart3 Atelier und an den Hundertmal gemalten Lehn— 
ſtuhl. Und mit einem Male wurde e8 ihm zur Gemwißheit, daß 
jeine Srau, wenn er ſich auch weiter widerſtandslos ihrer Führung 
überließ, aus ihm denjelben handwerkelnden Dußendmaler machen 
würde, der Heinrich Vollart unter dem janften Einfluß feiner 
ſparſamen Gattin und jeineß vielleicht noch jparjameren Tüchter- 
chens geworden war. Syn leidenjchaftlichem Trotz lehnte ſich ſeine 
Seele gegen dieſe Vorſtellung auf, und mit einer Heftigkeit, die 
Hertha befremden mußte, gab er zurück: 

„O gewiß — ich darf mich nicht beklagen. Ich hätte alles 
vorher wiſſen können — alles! Und ich muß blind geweſen ſein, 
daß ich nicht deutlich vorausſah, was mich erwartete. Wohl— 
geordnete bürgerliche Verhältniſſe, eine makelloſe Reputation und 
ein hübſches Guthaben beim Bankier, das ſind die höchſten Ziele 
eines Künſtlers, jo mie ſie fi) im Kopfe meiner Frau darſtellen. 
Und fie wird mic) zu dem Glauben an Ddieje Ideale befehren, 
wie man ihren Vater dazu befehrt hat, der vielleicht auch ein 
Herz doll hoher und Heiliger Begeifterung mitgebracht hatte in 
jeine Ehe. Hat fie es doch ſchon heute dahin gebracht, daß ih 
ohne alle Gewiſſensſkrupel die elendeite Fabrifarbeit verrichte — 
und daß ich nicht den Mut haben würde, mich ihr zu wider— 
jeßen, wenn jie mir’3 etwa zur Pflicht machte, um irgend eines 
lohnenden Broterwerb3 willen meine Kunſt noch jchamlojer preis- 
zugeben.“ | 

„Aber das wäre ja jchredlich! Und ich glaube nicht daran! 
Sie find in der Laune, zu überteiben. Welche Meinung müßte 


Wer wird fiegen? 2471 





ich fonft von Shrem Charakter und von der Kraft Ihres Willens 
gewinnen.“ 

„Sch ſagte Ihnen ja ſchon, daß ich mich der allerjchlechteiten 
würdig weiß. Denn weshalb jollte ich zu beichönigen Juchen, 
daß ich meiner Frau gegenüber ein erbärmlicher Schwädhling 
bin? Cie regiert mich mit ihrer Sanftmut, gegen die ic) feine 
Waffen bejige. Vielleicht wäre es anders geworden, wenn ich 
mich ſchon am erjten Tage unjerer Ehe auf mein Herrenrecht 
bejommen hätte. Nun aber ift es zu jpät.“ 

„Nein, Herr Sarlo — es iſt nicht zu ſpät — es darf nicht 
zu |pät fein,” jagte fie, ihm mit ihren dunklen, ausdrucksvollen 
Augen feit ing Geficht blidend. „Sind Sie wirklich gewiß, daß 
Sie Ihre künſtleriſche Perjönlichkeit nur im Kampfe gegen Ihre 
Frau durchjegen fünnen, jo dürfen Sie dieſen Kampf nicht ſcheuen. 
Und wein Sie einer Bundesgenojjin bedürfen, eines verjtänd- 
nisvollen, mitfühlenden Weſens, das Sie in Augenbliden der 
- Berzagtheit aufrichtet und anfeuert, jo —“ 

„So wollten Sie mir Dies göttliche Wejen fein? — O, 
Fräulein Hertha, wenn Sie mich vor meiner eigenen Schwäche 
retten könnten — wenn Sie — —“ | 

Er brach mitten in feiner feurig begonnenen Rede ab, viel- 
feicht, weil er nicht wußte, wie er fie enden jollte — vielleicht 
auch, weil er erichroden war über das ungejtüme Wort, das ſich 
ihm hatte auf die Lippen drängen wollen. Aber er nahm ihre 
Hand, die fie ihm nach einem rajchen Blick auf ihre jchlafende 
Mutter ohne Widerjtreben überließ und preßte feinen Mund 
heiß auf die ſchlanken, fühlen, mit bligenden Juwelen gejchmückten 
Finger. 

„Nicht doch!“ Flüfterte jie lächelnd. „Wollen Sie denn, daß 
ich mein gut gemeinte3 Anerbieten gleich) wieder bereue ?” 

Er gab ihre Hand frei, doc) erjt, nachdem er ſie zum 
zweiten= und zum drittenmal feurig gefüßt hatte. Sein Gelicht 
brannte und er atmete rajcher. 

„Mein Gott, wie aufgeregt Sie ausſehen!“ jagte Hertha, 
al3 fie dieſe augenfälligen Anzeichen jeiner mächtigen, inneren 
Bewegung gewahrte, mit einem fleinen Anflug von Bejorgniß. 
„Wenn die Mama gerade jebt erwachte, was jollte ſie von ung 
denken!“ 


2472 Reinhold Prtmann. 





Gabor drückte auf den Knopf der eleftrifchen Silingel, und al3 
auf dies Zeichen hin noch in der nämlichen Minute die Thür des 
Ateliers behutfam geöffnet wurde, rief er, ohne ſich umzufehen: 

„Bringen Sie mir ein Glas Wafjer — aber jchnell!” 

„Jawohl, Gabor, es wird jogleich da fein. — Geſtatte mir 
nur, zuvor Fräulein Imgart zu begrüßen.“ 

Er war zujammengefahren wie ein jchuldbewußter Uebel— 
thäter, der Jih auf jchlimmen Wegen ertappt fieht. Denn auf 
das Erjcheinen feiner Frau war er nicht vorbereitet geweſen, 
und um nichts in der Welt hätte er ihr gerade in diefem Moment 
ins Geficht jehen mögen. Ohne zu antworten, trat er an jeine 
Staffelei und machte fich fo emſig an dem Bilde zu jchaffen, als 
gelte e3, feine Sefunde zu verlieren. In feinen Ohren raufchte 
und braufte das Blut, daß ed nur undeutlich und wie aus weiter 
Ferne vernahm, was Helene und Hertha in unbefangen freund- 
lihem Tone mit einander Sprachen. Dann aber — er fühlte es 
mehr, al3 er e3 jah, denn feine Augen bohrten ſich förmlich in 
die Leinwand ein — ftand Helene plößlich dicht neben ihm, um 
die im Entjtehen begriffene Arbeit zu betrachten. Er wußte, daß 
ihr Bück jeßt aufmerkſam forjchend über ſein Geficht Hinftreifte, 
und da er noch die verräterische Glut auf feinen Wangen jpürte, 
war cr erjtaunt über die vollfommene Ruhe, mit der fie nad) 
einer Heinen Weile jagte: 

„sch glaube, e8 wird jehr ähnlid) werden. — Aber du 
wollteſt ja ein Glas Waſſer haben! Entjchuldige, daß ich dich 
lo lange darauf warten ließ, daS Mädchen ſoll es dir auf der 
Stelle bringen.“ 

Ob fie wirklich nicht von feiner Aufregung bemerkte, ob fie 
wirklich feinen Verdacht gefchöpft hatte angefichtS der ſchlafenden 
Sittenhüterin und der eigentümlichen Situation, in der fie die 
beiden gefunden? Er hatte ſchon jo viele Beweile ihres außer- 
ordentlichen Scharfblides erhalten, daß er es kaum zu hoffen 
wagte. Und feine Yiveifel würden ſehr raſch zur vollen Gewiß— 
heit geworden jein, wenn er die Veränderung hätte wahrnehmen 
fünnen, die ınit Helene vorging, ſobald fie die Thür des Atelierd 
hinter fich zugezogen hatte. 

Ein Ausdruck namenlofer Traurigkeit legte fich über ihr 
eben noch jo ruhiges, ja heiteres Antlig, und ſie blieb ſchwer 


Wer wird fiegen? 2473 


nun —eee — ————— SL Sn RD — — ———— —— ——— 


atmend ein paar Sekunden lang ſtehen, um beide Hände auf die 
Stelle des Herzens zu preſſen, wie wenn ſie dort einen heftigen 
körperlichen Schmerz empfände. 

„Ich wußte es,“ ſagte ſie leiſe vor ſich hin. „Es konnte 
ja auch gar nicht anders ſein.“ 

In müder Haltung und mit langſamen, matten Bewegungen, 
als läge unſichtbar eine drückende Laſt auf ihren Schultern, be— 
gab ſie ſich in die Küche, um den Wunſch ihres Mannes zu er— 
füllen. Gleich darauf ſchlug die Wohnungsglocke an, und das 
Dienſtmädchen kam mit der Meldung zurück: 

„Die kleine Dame mit dem fremdländiſchen Namen iſt da 
und fragt, ob ſie Frau Sarlo einen Augenblick ſprechen könnte.“ 

Helene wußte ſogleich, wer mit dieſer Beſchreibung gemeint 
ſei, und ſie beeilte ſich, die Beſucherin, die beſcheiden auf dem 
Korridor gewartet hatte, nach herzlicher Begrüßung in das Wohn⸗ 
zimmer einzuführen. 

„Sie haben ſich ſo lange nicht mehr bei mir ſehen laſſen, 
liebſte Signe!“ ſagte ſie mit freundlichem Vorwurf. „Ich glaubte 
ſchon, Sie hätten mich ganz vergeſſen.“ 

„Ach nein, das glaubten Sie gewiß nicht,“ erwiderte die 
Schauſpielerin mit einem wehmütigen Lächeln. „Das Leben, 
das ich führe, iſt nicht ſo reich an Zerſtreuungen, um mich meine 
Freunde vergeſſen zu machen. Oft genug in dieſen traurigen 
letzten Wochen bin ich in Verſuchung geweſen, mich zu Ihnen 
zu flüchten. Aber ich habe mir's doch im letzten Augenblick 
immer wieder verſagt, weil ich eine gar zu unerfreuliche Geſell— 
ſchafterin geweſen wäre für eine glückliche junge Frau.“ 

„Das war ein ſehr thörichtes Bedenken, wegen deſſen ich 
Sie ernſtlich ſchelten möchte. Aber Sie ſagen, daß es traurige 
Wochen geweſen ſind, die Sie durchlebt haben? Und ich glaubte 
Sie endlich zufrieden und wohlgeborgen in Ihrem neuen En— 
gagement.“ 

„Zufrieden?“ — Wieder huſchte ein ergreifend ſchmerz— 
liches Lächeln über das blaſſe, verhärmte Geſicht der Schwedin, 
in dem nichts Reizvolles mehr war außer den noch immer 
ſchönen und ausdrucksvollen Augen. „So weit verſteigen ſich 
meine Wünſche gar nicht mehr, liebſte Frau Helene! Ich er— 
ſehne mir ja nur ein ſtilles, beſcheidenes Plätzchen, auf dem ich 


2474 Reinhold Ortmann. 





in vedlicher Arbeit mein Daſein frilten fann. Und ich hatte 
allerdings gehofft, e8 an dieſem Theater dritten Ranges zu 
finden, wo man mid) in jo untergeordneten Rollen , bejchäftigte, 
daß das Publikum und die Kritif meine Exiſtenz faum bemerkt 
hätten, wenn es nicht Herrn Doktor Noberti gefallen hätte, 
jie in feiner wohlwollenden Weile unermüdlid) daran zu hindern.“ 

„Wie? Diejer abjcheuliche Menſch läßt Ihnen noch immer 
feine Ruhe?“ 

Signe Cederſkjöld jchüttelte den Kopf. 

„Er hat ji) offenbar vorgenommen, nich bis zur Ver— 
nichtung zu verfolgen. Und ich denke, er ift nahe genug daran, 
jein Biel zu erreichen. Seit dem Tage, wo ich feinen dreiften 
Annäherungsverjuch mit der Entrüjtung zurüdwies, die ihm 
gebührte, hat ex noch Feine Gelegenheit vorübergehen laſſen, 
mir einen jener giftigen Stiche zu verlegen, au denen meine 
fünftlerifche Eriftenz zu Grunde gehen joll. Und ich habe mid) 
bald genug davon überzeugen können, was e3 in Berlin für 
eine Schaufpielerin bedeutet, einen geiltvollen und einflußreichen 
Kritifer zum unverjöhnlichen Feinde zu haben. Heute giebt es 
hier Feine noch jo armfelige Vorſtadtbühne mehr, deren Direktor 
ich entjchließen würde, mich auch nur in der kleinſten, unwich— 
tigiten Rolle auftreten zu laſſen.“ 

„Sie wollen damit doch nicht Jagen, liebe Signe, daß Sie 
auch Ihr letztes Engagement jchon wieder verloren haben?“ 
fragte Helene bejtürzt. 

„sa, ich Hatte natürlich wieder einen der berühmten Kon— 
trafte unterjchreiben müfjen, wie fie in Deutjchland gebräuchlich 
find, und die dem Direltor das Recht der Entlaffung nad) 
Ablauf einiger Wochen geben. Daß er in meinem Fall von 
diejem Rechte Gebrauch gemacht hat, darf ich ihn kaum ver- 
übeln; denn die bushaften Notizen in Doktor Robertis Zeitung 
machten e3 ihm nachgerade beinahe unmöglich, mich weiter zu 
beichäftigen.“ 

„Welch ein Unglüd, dag Sie niemand haben, der für Sie 
eintreten und diefen elenden Geſellen zur Rede jtellen kann!“ 
rief Helene in ehrlicher Entrüftung. „Sch würde meinen Mann 
dazu auffordern; aber er ijt für dergleichen jo wenig geeignet. 
Und mein Bater — —“ 


Wer wird jiegen? 2475 





„Rein, nein!“ wehrte Signe faſt ängftlih ab. „Sch will 
nicht, daß fich meinetiwegen irgend jemand Ungelegenheiten mache. 
Und es wiirde ja auch nichts nügen. Er trieb e8 nachher ficher- 
li nur um fo fchlimmer.“ 

„Arme Signe! Wie ſehr ich Sie beklage! Aber haben 
Sie denn nie daran gedadht, in Ihre Heimat zurüdzufehren, 
wo Sie als Künjtlerin gewiß viel leichter Ihr Fortlommen 
finden würden, und wo der abjcheuliche Doktor Noberti Shnen 
nicht mehr jchaden kann?“ 

- Die Schaufpielerin ſchüttelte den Kopf, und eine heiße 
Schamröte jtieg in ihren mageren Wangen auf. 

„Seine Macht reicht viel weiter, al3 Sie glauben,“ fagte 
jie feife. „Gleich nach der fchroffen Abweilung, die er von 
mir erfuhr, hat er feine weit reichenden Verbindungen dazu 
benußt, mich in Finnland wie in Stodholm durch einen häß- 
lihen Sfandalartifel unmögli zu machen, der durch alle 
ſchwediſchen Zeitungen ging und der von feinem andern her- 
rühren fonnte, al3 von ihm. Der Aufſatz enthielt eine Menge 
nichtswürdiger Unmahrheiten und boshafter Erfindungen. Aber 
iwie hätte ich daran denken dürfen, ihn zu berichtigen, da ich. 
Doc die Hauptjache nicht in Abrede ftellen fonnte!“ 

Helene wußte ihr nichts Tröftliches mehr zu ertwidern. 
Aber fie nahm Die ganz hager und durchſichtig getvordene Hand 
der Schaujpielerin mit warmem Drud in die ihrige, und nad 
einem kleinen Zaudern neigte fie fi) ganz nahe zu ihr, um 
ihr. zuzuflüftern: Er 

„Und eine Ausſöhnung nit Ihrem Gatten jollte wirklich 
ganz und gar unmöglich jein? Er hatte Sie dod) fo lieb — 
und ich weiß, daß Ihr Berjchulden in Wahrheit nicht jo groß 
üt, al8 er e8 den Umftänden nad in jeiner erjten Aufregung 
glauben mußte. Wenn Sie ihn jet reuig um Verzeihung bäten 
— oder wenn Sie jemand, der ed aufrichtig gut mit Ihnen 
meint, mit dem Verſuch einer Vermittelung betrauten — —“ 

Sie hielt inne, denn Signes in Thränen ſchwimmende 
Augen waren mit dem Ausdruck einer ſo flehentlichen Bitte 
auf ſie gerichtet, daß ſie die bedrückende Empfindung hatte, mit 
ihrer gut gemeinten Frage unſanft in eine noch u verheilte 
ſchmerzhafte Wunde gegriffen zu haben. 


2476 Reinhold Ortmann. 





„sh danke Shnen, meine liebe Frau Helene — aber 
daran ijt nicht mehr zu denken. Wenn Sie Arvid fennen wirrden, 
wie ich ihn fenne, würden Sie nicht an die Möglichkeit glauben, 
daß er mir jemal3 verzeihen könnte. Und ich fühle mich auch 
jeiner Berzeihung nicht wert. Selbſt wenn er großmütig genug 
wäre, mich aus bloßem Mitleid wieder bei jich aufzunehmen, 
würde es zwilchen ung doch nie mehr werden, wie es gemejen 
it und wie es zwijchen Eheleuten fein fol. Wir würden beide 
unglücdli fein. Und da iſt e8 doch wohl beijer, daß ich allein 
unglüdlich bin und ihm den ungejtörten Genuß jeiner Sreiheit 
vergönne.“ 

„Kann ich denn aber nichts — gar nichts für Sie thun, 
liebſte Signe? Es geht mir ſo nahe, Sie traurig und ſorgen— 
voll zu ſehen. Und nicht bloß dem Namen nach möchte ich Ihnen 
eine Freundin ſein.“ 

„Sie ſind es oft genug auch mit der That geweſen, Frau 
Sarlo — und nie werde ich aufhören, Ihnen für alles Gute zu 
danken, das Sie mir erwieſen haben — ſeit jener unglückſeligen 
Nacht bis auf dieſen Tag. Es iſt unrecht, daß ich Sie immer 
wieder mit meinen Kümmerniſſen quäle, und ich kam auch ganz 
gewiß nicht in dieſer Abſicht heute hierher. Ich wollte Ihnen 
nur Lebewohl ſagen, ehe ich Berlin verlaſſe.“ 

„Sie gedenken alſo doch fortzugehen?“ fragte Helene über⸗ 
raſcht. „Und wohin wollen Sie ſich wenden?“ 

„Nach Hamburg. — Ich ſoll am dortigen. Central-Theater 
auf Engagement gaſtieren, und der Agent hat mich ſo warm 
empfohlen, daß mic) der Direktor hoffentlich behalten wird, ohne 
auf dem jchredlichen KiindigungSparagraphen zu beitehen. Es 
werden da allerdings nur Poſſen und Ausſtattungsſtücke gegeben; 
aber meinen künſtleriſchen Ehrgeiz habe ich ja ohnehin längſt 
begraben.“ 

„Er wird wieder erwachen,“ tröſtete die junge Frau herz— 
lich, „und es wird Ihnen auch nicht an Gelegenheit fehlen, ihn 
zu befriedigen, wenn Sie nur ſtandhaft bleiben in dieſer Prüfungs— 
zeit und ſich nicht allzu früh entmutigen laffen. Glauben Sie 
mir, Liebjte, die Prüfungen und Enttäufchungen bleiben feiner 
von ung erjpart, und wir alle müflen erfahren, daß es fein 
dauerndes Glück auf diefer Erde giebt.“ 


Wer wird fiegen? | 2477 





Signe kannte ihre Beſchützerin hinlänglich, um zu wiſſen, 
daß ſolche Worte in ihrem Munde mehr als nur eine banale 
Phraſe ſeien. Aber ſie hatte feine Gelegenheit mehr, eine Frage 
an jie zu richten. Denn draußen hatte wieder die Glocke an= 
geichlagen, und ſchon wurde Heinric; Vollart3 muntere Stimme 
auf dem Korridor vernehmlid). 

„Es ift mein Vater — er wird fid) herzlich freuen, Sie 
zu begrüßen.“ 

Doch die Schaufpielerin hatte ſich haſtig erhoben. 

„Ich bin ſchon länger dageblieben, als ich gedurft hätte. 
Der Theateragent hat mich zu einer Beſprechung in ſein Bureau 
beſtellt, und mit dieſen vielvermögenden Herren darf man es 
nicht durch Unpünktlichkeit verderben.“ 

Sie tauſchte nur einige freundliche Worte mit dem Maler, 
der jebt ind Zimmer trat, und entfernte fi), nachdem ihr Helene 
die Zuſage abgezwungen, daß fie vor ihrer Abreiſe noch einmal 
borjprechen werde. 

„Sie fieht erbärmlich aus, die arme, Kleine Perſon,“ ſagte 
Heinrich. Vollart, als Jie gegangen war. „Man tann ji) am 
Ende kaum darüber wundern, daß fie dem Publikum jo gar nicht 
gefallen will.” 

Helene erzählte ihm, was fie joeben von Signe über die 
Erbärmlichfeiten des Doftor Roberti erfahren; aber daS Er- 
jtaunen und die Entrüftung ihres Vaters waren nicht jo groß, 
wie jie es erivartet hatte. 

„Dem feigen Gejellen würde ich noch viel Schlimmeres 
zutrauen,” meinte er, „aber die thörichte Frau Signe empfängt 
damit doch am Ende nur die Strafe für ihre Sünden. Sie 
muß jebt dafür büßen, daß fie fi aus bloßer Eitelkeit von dem 
erbärmlichen Burjchen bethören ließ. Und nur ich felbjt hat 
fie anzuflagen, wenn ihre Schuld fie jo ganz in jeine Gewalt 
geliefert hat. Daß fie von Berlin fortgehen will, ift jeden- 
fall3 das Gejcheiteite, was jie thun kann; mit ihrer ſchau— 
Ipielerifchen Karriere aber it e3 meiner Meinung nad troßdem 
vorbei.“ 

Die ungewohnte Schroffheit und Härte feines Urteils ließ 
Helene, Die alle jeine Heinen Eigenheiten auf das genauejte 
fannte, jogleich vermuten, daß ihm kürzlich etwas Unangenehmes 





2478 Reinhold Ortmann. 





widerfahren jei, und daß die jcheinbare Luſtigkeit, mit der er 
ing Zimmer getreten war, nur eine Maske geweſen. Aber ſie 
hütete Jich, ihn zu fragen; denn fie wußte, daß er e8 alsdann 
auf das entjchiedenite leugnen würde, während er ficherlich 
aus freien Stüden mit der Urjache jeined geheimen Verdrufjes 
herauskam, wenn ſie ſich den Anschein gab, denjelben nicht zu 
bemerfen. 

Und fie Hatte ich nicht getäufcht. Nachdem er ein paar 
Minuten lang von allerlei gleichgültigen Dingen mit ihr geplaudert 
hatte, platzte er plößlich heraus: 

„Sage mir doc) ’mal, Kind: in welchen Beziehungen ſtehſt 
du eigentlich jet zu deiner ehemaligen Freundin Dolly? Siehſt 
du fie noch zuweilen? Und könnteſt du dir daS Recht nehmen, 
ein offenes Wort mit ihr zu reden, auch wenn e3 ihr vielleicht 
nicht geftele!“ 

„Nein, lieber Vater! Du weißt, daß wir feinen Verfehr 
mehr miteinander haben. Und ich für meine Perſon fühle auch 
nicht das geringjte Bedürfnig, an dieſem Zujtande etwas zu ändern. 
Aus welcher Veranlaffung und über was ſollte ich denn auch mit 
ihr reden?“ 

„Darüber, daß ſie darauf und daran ijt, einen Menfchen zu 
Grunde zu richten,“ polterte Heinrich Vollart, jeinem jo lange 
verhaltenen Merger endlich) Luft machend, „einen braven, hoff— 
nungsvollen Menfchen, der taufendmal zu jchade ift, mit diefer 
verrücten Liebelei jein ganzes Leben zu verpfuſchen.“ 

Ein fremder, ftrenger Zug erſchien auf, dem weichen 
Geficht der jungen Frau, und e8 Hang eiskalt, als fie er- 
widerte: 

„Wenn du vorhin für das Schickſal der armen Frau Signe 
nichts anderes übrig hattejt als die Bemerkung, daß ſie jetzt nur 
die verdiente Strafe für ihre Thorheit empfange, ſo ſollteſt du 
dich, wie ich meine, mit derſelben Erwägung auch über das Los 
des Herrn von Brunneck beruhigen. Ich kann nicht beurteilen, 
inwieweit deine Befürchtungen gerechtfertigt oder übertrieben 
ſind. Aber ich ſehe nicht ein, weshalb eines von uns ſich darum 
in ſeine Angelegenheiten einmiſchen ſollte. Er iſt ein Mann — 
und alt genug, die Verantwortung für ſeine Handlungen ſelbſt 
zu tragen.“ 


Wer wird fliegen? 2479 


= 


„Du Haft in Bezug auf ihn nicht immer fo fühl und lieblos 
gedacht. Und dann tragen wir am Ende doch auch einen Teil 
der Schuld. Durdy uns hat er dieſe verführeriiche Frau kennen 
gelernt. Und wir waren es, die fie ihm in jener Unglücksnacht 
ind Haus gebracht.“ 

„Sch aber hatte ihn vor ihr gewarut, ehe es geichah. Und 
dann — haft du vergejjen, daß er über ihre früheren Liebe2- 
abenteuer vollfommen unterrichtet war, ehe er ſich mit ihr 
verlobte?“ 

„Ja — ja — fie ijt eben eine Here — eine richtige Heine 
Here, die mit jedem machen kann, was ihr gefällt. Es iſt offen: 
bar gar nicht ihre Abficht, ihn zu heiraten, und doch wird ſie 
ihn nicht eher loslaſſen, als bis er aud) feinen legten Blutötropfen 
für fie hingegeben hat.“ 

„Wie fommft du zu dieſer Gewißheit? Hat fie dich etwa 
neuerdings zum Vertrauten ihrer geheimjten Abjichten gemacht?“ 

Heinrich Vollart überhörte den-ungemwohnt jarfajtiichen Ton 
ihrer Frage, denn e3 war ihm unverkennbar darım zu thin, ich 
alles vom Herzen reden, was ihn bedritfte. 

„Sc habe fie feit langem nicht mehr gejehen. Aber ich 
fomme eben aus Brunneds Atelier. Und ich bin in tiefiter 
Seele erichüttert von dem Eindrud, den ich da gewonnen. Du 
weißt, daß er fich ſeit Monaten ganz von und zurüd- 
gezogen hatte — aus welchen Grunde, vermag ich nicht zu 
ſagen — —“ 

„sc aberkenne dieſen Grund ſehr wohl“, unterbrach ihn 
Helene mit Bitterkeit. „Es geſchah unter dem Einfluſſe Dollys, 
die mich ſeit jener Feſtnacht für ihre Feindin hält und die des— 
halb um jeden Preis allen Beziehungen zwiſchen Erich von 
Brunneck und uns eine Ende bereiten wollte. Wie ſie ſelbſt 
am Tage nach ihrer ſogenannten Verlobung ihre Wohnung in 
unſerem Hauſe aufgab und in ein weit entlegenes Stadtviertel 
überſiedelte, ſo war ſie auch von vornherein darauf bedacht, alle 
Fäden zu zerſchneiden, die Brunneck mit dir und mit Gabor 
verbanden. Ich brauche dir nicht zu erzählen, wie gut es ihr 
gelang. Sobald er ſich unter Fräulein Dollys aufopfernder 
Pflege von den Folgen ſeiner Verletzung erholt hatte, mußte 
Herr von Brunneck eine andere Wohnung beziehen, und inner— 


2480 | Reinhold Ortmann. 


— 





halb weniger Wochen war er dem bisherigen Freunde ſo ganz 
entfremdet, daß er ſogar die Einladung zu unſerer Hochzeit unter 
einem nichtigen Vorwande ablehnen konnte.“ | 

„Nun, gar ſo nichtig war der Vorwand doch am Ende 
nicht,“ wagte Heinrich Vollart einzuwenden. „Du Hatteft darauf 
beitanden, daß Fräulein Dolly nicht eingeladen werde. Und es 
war ihm jchlieglich nicht zu verübeln, wenn er dieje Unterlaffung 
als eine Kränfung empfand.“ 

„Run — was weiter! Wir fonnten glüdlicherweile auch 
ohne ihn und feine jchöne Braut fröhlich fein. — Und du wollteſt 
mir ja erzählen, was du heute in Herrn von Brunnecks Atelier 
erlebt haſt.“ 

„sch Habe eine Narrheit begangen — einen verhängnis- 
vollen Fehler, den ich bereue, aber leider nicht wieder gut 
machen fann. Er hatte mich brieflic) um meinen Befuch gebeten, 
ohne mir den Zweck desjelben zu nennen. Ich ſchwankte erit, 
ob ich hingehen jollte, denn ich kann nicht leugnen, daß auch ich 
mic) durch fein Benehmen einigermaßen verlegt fühlte. Zuletzt 
aber that ich’S doch. Und ich muß jagen, daß er mir genau jo 
warm und berzlic entgegenfam wie damal3 bei dem erjten Be— 
juch, nach, feine Onkels Tode. Aber ed war doch etwas in 
jeiner Art, daS mir nicht gefiel, etwas Unftetes und Aufgeregtes 
wie bei einen Menjchen, der mit aller Welt und nit am 
wenigiten mit jich jelbjt zerfallen it. Er habe mich um mein 
Erſcheinen gebeten, jagte er, weil er mein Urteil über ein eben 
vollendete Bild haben wolle — ein ehrliches, ungejchminftes 
Urteil, fo wie er’3 von jeinem ehemaligen Lehrer erwarten dürfe. 
Und dann führte er mich vor eine große Leinwand, über Die 
ſchon beim Betreten des Atelier3 mein Blick mit einigem Er— 
Ihreden bHingeglitten war. Denn es war eine beriworrene, 
phantaftiiche Kompofition ohne alle malerische Kraft und voll 
ſchlimmer dilettantischer Fehler. Bei näherer Betrachtung zeigten 
fih wohl hier und da Spuren eines Talents, das nur der 
vechten Leitung und Ausbildung entbehrte; aber der Geſamt— 
eindruck war doch ein geradezu trojtlojer. Und ich — nun, id) 
ſagte es ihm rundheraug, ganz jo ehrlich und ungeſchminkt, wie 
ev’3 von mir verlangt hatte — ja, vielleicht mit noch härteren 
Worten, als ich's einem andern gegenüber gethan hätte. Denn 


Wer wird jiegen? 2481 





es that mir eben im innerjten Herzen weh, ihn auf einer jo ver- 
bängnisvoll abſchüſſigen Bahn zu jehen.” 

„Und Brunned? Wie nahın er dein abfälliges Urteil auf?“ 

„Er jtand neben mir und jprach fein Wort, während ich 
mich immer mehr in eine gewiſſe Wut bineinredete — allerdings 
in der guten Abjicht, ihn Dadurch auf den rechten Weg zurüd- 
zuführen. Zuletzt, als mir jein hartnäciges Schweigen auffiel, 
drehte ic) mich nad) ihm. um. Und da fah ih, daß er lächelte 
— aber mit einem verzerrten, unnatürlichen Lächeln, das mic) 
erſchreckte. Sch wollte einlenfen, wollte ihm jagen, daß das 
Bild für ein Malerauge ja auch gewifje Schönheiten habe; aber 
jowie er meine Abſicht merkte, fiel er mir in die Rede: 

Laſſen Sie’3 gut fein, Meifter! Sie ſehen ja, id) bin von 
Ihrer Kritit weder überrajcht noch zerjchmettert. Denn genau 
jo und nicht ein bißchen anders hatte ich jie erwartet. Es war 
mir eben nur um eine glaubhafte Betätigung defjen zu thun, 
was ich ſelbſt über meine Fünftlerijchen Talente und über das 
Machwerk da denke. Ich bin Ihnen für Ihre Aufrichtigfeit von 
ganzen Herzen verbinden.‘ 

Und dann, ehe ich auch nur entfernt ahnen fonnte, was er 
beabjichtigte, trat er an daS fertige Bild, das ohne allen Zweifel 
eine Arbeit von Monaten war, heran, und jchnitt es mit einem 
bereit gehaltenen Dolchmefjer von oben biß unten entzwei.“ 

Helene, die jehr blaß geworden war, jtieß einen Schreckens— 
ſchrei aus, wie wenn ſich da3 geichilderte Ereignis hier vor ihren 
Augen vollzöge. 

„Das that er? Und du fonnteit e8 nicht verhindern?“ 

„sch Itand im erjten Augenblic wie gelähmt. Und als ic) 
ihn dann in den Arm fiel, war e8 zu jpät. Kein Rejtaurator 
der Welt fünnte das zerfeßte Gemälde wieder heritellen.“ 

„Das iſt jehr traurig! Wie hart mußt du gegen ihn ge— 
wejen jein, daß er fich zu folcher Verzweiflungsthat hinreißen 
lafjen konnte!“ 

„Das iſt's ja, was ich mir jeßt vorwerfe. Und nun wirſt 
du's auch begreiflich finden, daß ich den jehnlichen Wunſch habe, 
ihm aus jeinem Elend herauszuhelfen. Denn ein Elend ift es 
— das ſchmachvolle Sflavenleben, daS er in den Banden dieſer 
goldhaarigen Zauberin führt. Und wenn du ihr nicht in Ge— 

ZU. Haus-Bibl. IL, Band XI. 156 


2482 Reinhold Ortmann. 





wiſſen reden willit, jo werde ich’3 ſelbſt thun — das iſt einfach 
Menjchenpflicht.“ 

Er ſchien nicht übel Luſt zu haben, jeinen Vorſatz auf der 
Stelle auszuführen. Aber Helene, die ihre gewöhnliche Ruhe 
wiedergewonnen hatte, hielt ihn zurück. | 

„sch veritehe dich nicht,“ jagte fie. „Was hat Brunnecks 
Verlöbnis mit feinem mißlungenen Bilde zu Schaffen? Und was 
willjt du denn eigentlich von Dolly verlangen?“ 

„Was id) von ihr verlangen will? Sa fo, ih muß dir 
wohl auch och das Weitere erzählen, damit du den Zuſammen— 
hang begreifit. Alſo ich machte ihm natürlich väterlihe Vorwürfe 
wegen feiner itbereilten Handlungsweiſe. Und ich muß dabei 
wohl einen Ton angejchlagen haben, der ihm zu Herzen ging. 
Denn er nahm plößlicd) meine beiden Hände und Beichtete mir 
den ganzen Sammer jeiner armen, zerriffenen Künſtlerſeele. Es 
lollte feine Anklage gegen Dolly jein, und dod Hang aus allem, 
was er jagte, immer nur der eine verzweifelte Aufichrei: Meine 
Beziehungen zu dieſem unjeligen Weibe find das Verhängnis, 
an dem ich zu Grunde gehe! Denn alle die bitteren Aeußerungen 
iiber jeine eigene Schwäche, über die unwürdige Charafterlofig- 
feit, die e8 gejchehen laſſe, daß jein Leben einzig beherricht und 
ausgefüllt werde von einer nicht beglüdenden, jondern nur ver— 
zehrenden und aufreibenden Yeidenjchaft — was waren fie ſchließ— 
lich anderes als ebenjo viele Borwürfe gegen die jelbjtjüchtigen 
Abfichten dieſes Gejchöpfs, dem die Natur wahrhaftig mehr von 
den Weſen eined biutjaugenden Vampyrs als von dem eines 
liebenden Weibes gegeben zu haben jcheint. Er war ritterlich 
darauf bedacht, fie zu jchonen, und doch ließ die Erregung des 
Augenblickes ihn viel mehr verraten, al3 ihm jelbft zum Bemwußt- 
jein fam. Und als ich ihn verließ, hatte ich die Ueberzeugung 
gewonnen, daß e8 feine andere Möglichkeit giebt, Den Menſchen 
wie den Künstler in ihm zu vetten, als feine Befreiung aus Der 
Knechtichaft diefer unjeligen Liebe. Dolly muß ihn freigeben 
oder — —“ 

Er jtodte, als trüge er Bedenken, jeinen Gedanfen vollends aus— 
zufprechen. Aber als Helene ihn fragend anjah, ergänzte er Doch: 

„Oder fie muß ihn fo bald wie möglich Heiraten, damit 
er zur Ruhe kommt, und damit die unausbleibliche Alltagsproſa 


Wer wird fiegen? 2483 


— 





des Ehelebens den gefährlichen Zauber breche, der ihr eine ſo 
verhängnisvolle Macht über ihn verleiht.“ 

Die unausbleibliche Alltagsproſa des Ehelebens! — Heinrich 
Vollart ahnte nicht, wie ſchmerzlich er mit dieſem Wort ſein 
eigenes Kind getroffen hatte. Erſt in dieſer Stunde hatte ſie 
ja den längſt gefürchteten Beweis dafür erhalten, wie erkältend 
dieſe Alltagsproſa auf die Liebe eines Mannes wirken könne. 
Und es war verzeihlich genug, wenn die Erinnerung an ihren 
eigenen Herzenskummer ſie ſtumpf machte für das Schickſal 
jenes andern, der einſt ihre erſte jungfräuliche Liebe beſeſſen 
und der dies Beſitztum in den Wind geſchlagen hatte wie ein 
wertlojes Nicht. 

„Vielleicht ſiehſt du die Dinge viel jchwärzer als fie find, 
lieber Vater,“ jagte jie fühl. „Und aud) wenn deine Vermutungen 
zuträfen, was fönnteft du jchließlich für Herrn von Brunned 
thun? Er hat dir feine Geftändnifje jicherlich nicht gemacht, 
um damit deine Vermittelung in Anspruch zu nehmen. Und 
er würde dir jehr wenig Dank willen für eine Einmiſchung, 
die .dir von jeiten Dollys überdies nichts anderes als eine 
ſpöttiſche Zurückweiſung eintragen könnte. Wenn mein Rat 
einen Wert für dich hat, jo laß diefen Dingen, an denen wir 
nicht3 ändern können, ihren Lauf. Mag ein jeder zujehen, 
wie er mit dem Schidjal fertig wird, das er fich ſelbſt be- 
reitet hat!“ j 

Heinrich) Vollart war erfichtlich unangenehm überrafcht von 
der geringen Teilnahme jeiner Tochter; denn er hatte mit Be- 
ſtimmtheit darauf gerechnet, in ihr eine Bundesgenoffin zu finden 
für das Unternehmen, das ihm unter dem erjten, friſchen Ein- 
drud des eben Erlebten wirklich al3 eine Freundichafts- und 
Menfchenpflicht erjchienen war. Aber er hatte von jeher einen 
nicht geringen Reſpekt gehabt vor ihrem Haren Berjtande und 
ihrem ficheren Urteil über Menfchen und Dinge Und es war 
faum jemals vorgefommen, daß er auf der Durdhführung einer 
Abficht beftanden Hatte, wenn Helene ſich gegen die Zweckmäßig— 
feit derfelben ausgejprochen. 

So übte ihre entichiedene Ablehnung auch diesmal eine ſtark 
ernüchternde Wirkung auf ihn aus. Zwar machte er noch einige 
grollende Bemerfungen über den Egoismus des Menjchen im 

156* 


2484 Reinhold Ortmann. 





allgemeinen und des weiblichen Gefchlechts im befonderen. Davon 
aber, daß er zu Dolly Förjter gehen und ihr ins Gewiſſen 
reden würde, war doch nicht weiter die Rede. Und als er erit 
einmal angefangen hatte, fih nad den neueſten Porträt- 
Aufträgen feines Schwiegerfohnes und den Fortichritten jeiner 
begonnenen Arbeiten zu erlundigen, hatte feine Aufregung über 
Erich von Brunneds Schidjal ſich ſehr bald vollftommen be— 
ſänftigt. | 

Daß ihm Helene nicht jo bereitwillig wie jonjt, ſondern nur 
mit einem gewiſſen Zögern und ohne alle Freudigfeit Rede ſtand 
auf feine Fragen, fiel ihm nicht weiter auf. Und er blidte 
höchlichſt überrafcht empor, als fie plößlich Jagte: 

„Blaubjt du, daß Gabor ebenfo große Einfünfte haben 
würde, wenn ex ftatt der bejtellten Porträts nur noch unbejtellte 
Bilder malte?“ 

„Welche Frage! Nicht den vierten Teil feines jetzigen Ein- 
kommens fönnte er damit verdienen. Eine jo erfahrene und 
praktiſche Heine Srau wie du follte das doch willen!“ 

„Ich vermutete es wohl, aber es lag mir daran, auch deine 
Anficht zu hören. Und da mir einmal darauf zu |prechen ge= 
fommen find, jo gieb mir doc), bitte, ehrliche Antivort auch auf 
eine andere Frage. Meinft du, daß Gabors Begabung ernit- 
lichen Schaden leiden fünnte durch die Art feiner jeßigen Thätig- 
feit — daß er fpäter, wenn er mwohlhabend und unabhängig 
geivorden fein wird, jich nicht wieder zu der Höhe feiner eriten 
Leiftungen würde aufraffen können?“ 

Heinrich VBollart wiegte nachdenklich den graumähnigen Kopf. 

„Das iſt eine ſchwer zu beantiwortende Frage, mein liebes 
Kind! Vielleicht — ja, wahrjcheinlich wäre es für Gabors 
fünitleriiche Entwidelung jehr viel vorteilhafter gewefen, wenn 
er nicht auf jo bequeme Art in die Mode gefommen wäre, Jondern 
ji) noch eine gute Weile rvechtichaffen hätte abplagen müſſen. 
Wie ſich aber nun einmal die Dinge geitaltet haben, ift es doc) 
wohl am beten, ihn auf dem eingejchlagenen Wege zu erhalte. 
Man mag über das Geldverdienen noch jo geringichäßig denken, 
in jeinen Wirkungen iſt e8 doch jchlieglich eine jehr ſchöne Sache. 
Und dein Gabor fieht mir am allerwenigften danach aus, als 
ob er Sich jeßt, nachdem er die Annehmlichkeiten einer bequemen 


Wer wird fiegen? 2485 


— — 





und luxuriöſen Lebensführung einmal kennen gelernt hat, in 
beſcheideneren Verhältniſſen wieder wohl und glücklich fühlen 
könnte.“ 

„Auch dann nicht, wenn er in dieſen beſcheideneren Ver— 
hältniſſen ganz ſeinen künſtleriſchen Idealen nachleben dürfte?“ 

Der alte Maler kniff die Augen zu. 

„Die künſtleriſchen Ideale — ja, Kind, mit denen iſt das 
ſo eine ganz eigene Sache. Wer ihnen einmal untreu geworden 
iſt, der kann ſchwerlich jemals wieder das rechte Verhältnis zu 
ihnen gewinnen. Ich zweifle gar nicht daran, daß dein Gabor 
heute die heftigſte Sehnſucht danach empfindet, ganz nach ſeinem 
Gefallen und nach ſeines Herzens Antrieb malen zu können. 
Aber ich bin beinahe ebenſo gewiß, daß er von dieſer Freiheit, 
wenn er ſie etwa morgen erhielte, einen ganz anderen Gebrauch 
machen würde, als er ſich's noch geſtern vorgenommen. Der 
Beifall der Menge iſt eine gar zu ſüße Muſik. Und wer einmal 
daran gewöhnt worden iſt, ihr zu lauſchen, dem kann ſie durch 
keine ſogenannte innere Befriedigung mehr erſetzt werden. Nach 
dem erſten Fiasko — und ein Modemaler macht immer Fiasko, 
wenn er den Leuten plötzlich etwas ganz anderes bringt, als ſie 
von ihm erwartet haben — oder auch ſchon nach dem erſten 
halben Erfolg würde er ſeine Ideale ſchnöde im Stich laſſen 
und reuig zum Kultus des ſtumpfſinnigen Götzen ‚Publikum‘ 
zurückkehren. Aber er hätte dieje Belehrung al3dann jehr teuer 
erfauft, und ich meine, ex befindet fic) immer noch befjer in dem 
jebigen Zultande einer unbefriedigten Sehnſucht, al3 er ſich nad) 
der unausbleiblichen großen Enttäufchung befinden würde, Die 
ihn leicht genug um das unentbehrlichite Beſitztum des ſchaffen— 
den Künſtlers bringen Fünnte: um das Vertrauen in die eigene 
Kraft.” 
Frau Helene antwortete nichts; aber ein Ausdruck ernſter 
Entichlofjenheit war auf ihrem hübjchen, heute fo ſeltſam trau— 
rigen Antlitz. 

Alles dag, was ihr Vater da ausgejprochen hatte, war ja 
auch ihre eigene Meberzeugung. Und um diefer Ueberzeugung 
willen mußte fie Gabor zu Liebe auf dem einmal eingejchlagenen 
Wege verharren — ſelbſt auf die Gefahr hin, ihn zu verlieren. 

(Sortfegung folgt.) 


— — — — 





Deutliche ‚Dichtergrüße. 





Schnadahüpfin. 


et Schag hat a’ Kinn 
And a’ Grüberl is drin, 
Und i fann’s gar nit fag’n, 
Die fo lieb i mag's hab’n. 


A’ Naſ'n hat jedi 

Und Aug’n und a’ Mäul, 
Amwa a’ Grüberl im Kinn 
Find't man nit allaweil. 


Schön rund ts ihr Kinn, 
Draus ’s Grüberl fein guet, 
Als hätt! ihr 's Chriſtkindl 
Das Fingerl neindrucdt. 


Heidebild. 
Detlev von Zilienceron. 
Die Mittagsfonne brütet auf der Heide, 
Im Süden droht ein fchwarzer Nina. 
Derdurftet hängt das magere Getreide, 
Behaglich treibt ein Schmetterling. 


Ermattet ruhn der Birt und feine Schafe, 
Die Ente träumt im Binfenfraut, 

Die Ringelnatter fonnt in trägem Schlafe 
Unregbar ihre Tigerbaut. 


Im Sickzack zuckt ein Bliß, und Wajferfluten 
Entftürzen gierig feuchtem Selt, 

Es jauchzt der Sturm und peitfcht mit jenen Ruten 
Erlöjend meme Heidewelt. 





Bad Kiffingen. 


Don Wolfgang Engel. 





(Vachdruck verboten.) 


a Inter den deutſchen Kurorten,. die durch die Heilfraftt 
9 ihrer Quellen und durch ihre bevorzugte geographiſche 
ES N Lage Weltruf erlangt haben, jteht neben Wiesbaden 
. und Ems Bad Kijfingen obenan. Tauſende und 
Abertaufende haben hier Geneſung oder doch Linderung ihrer 
Leiden gefunden und erinnern fich gern und dankbar des freund 
lihen Städtcheng, das, von der fränkischen Saale durchflofjen, 
auch landichaftlich) von hohem Reize iſt, wennſchon es in dieſer 
Beziehung den Vergleich mit den rheinischen Bädern nicht auf- 
zunehmen vermag. Worin e3 ihnen aber völlig gleichfommt, 
und worin es auch von den böhmischen Weltbädern nicht über- 
troffen wird, dag ijt die vornehme, and Märcheithafte grenzende 
Eleganz, die jich während der Sailon hier entwickelt. 

Wer einmal in den legten Jahren an einem warmen Juli— 
abend ‚in den ſchönen, duftenden Anlagen des Rifjinger Kurs 
gartend gewandelt, dem wird der Eindrucd, den er empfangen, 
unvergeßlich bleibe. Mag man für die fchimmernde Pracht, 
mit der die vornehme Welt fich umgiebt, auch noch jo wenig 
empfänglich jein, diefe Fülle von anmutigen Frauengeftalten, 
dieje reiche Ausleje intereffanter Männererjcheinungen, dieje vor— 
nehme Haltung, die hier jeder und jede beobachtet, üben einen 
Zauber aus und vereinigen ich zu einem &ejamtbilde, dejjen 





2488 Wolfgang Engel. 





Wirkung niemand fich entziehen fan. Von Ausländern find 
e3 namentlich Ruſſen, die Kiſſingen mit Vorliebe aufjuchen,. 
aber auch das jtolze Albion, das jonnige Frankreich, die reben— 
umgürteten Ufer des Tajo und das Wunderland Italien ent- 
ſenden alljährlich zahlreiche Gäfte dorthin; mit den Angehörigen 
deutjcher und üjterreichiicher Nation bilden jie ein ſchillerndes, 





— — ———— —— 


Die fränkiſche Saale, 


farbenprächtiges Kaleidoſkop, dejjen Neiz durch das vereinzelte 
Auftauchen exotiſcher Würdenträger noch erhöht wird. Ein 
Ichier babylonisches Sprachengewirr erfüllt die Bromenaden und 
Laubgänge, und dämpft ſich nur, wenn die rauſchenden Ton 
wellen, die die treffliche Kurkapelle ihren Snftrumenten entloct, 
in einem zarten, jchmelzenden Piano dahinjterben. 

Nicht immer hat jih an den Quellen des Nacoczy und 
Pandur ein jo glänzendes Leben und Treiben entfaltet. Erſt 


— 3 — Be — 


Bad Kifjingen. 2489 





ſeit Fürſt Bismard, deſſen Fraftvolle Geftalt der Bildhauer 
Manger für die fpäteren Gefchlechter durch ein großes Bronzes 
Itandbild beider 
Saline feitge- 
halten bat, in 
Kiſſingen Lin- 
derung ſeiner 
Leiden ſuchte, 
hat der Zug der 
Fürſtlichkeiten 
hierher nicht 
wieder aufge— 
hört. Die Grä— 
fin Hoya, wie 
ſich die greiſe 
Königin von 
Hannover in die 
Liſte der Kur— 
gäſte eintragen 
läßt, ſucht all— 
jährlich Kiſſin— 
gen auf, und 
in ihrer Ge— 
ſellſchaft befin— 
det ſich, wie in 
den letzten, ſo 
auch in dieſem 
Jahre Prinzeſ⸗ 
ſin Marie, ihre 
Tochter. Es iſt 
ein rührend 





freundliches 
Bild treuer Kin— 
desliebe, zu 
Das Denkmal des Fürſten Bismard in Kifjingen. 
— — (Erſtes Bismarckdenkmal in Deutſchland). 
= 


gewachſene Prinzeß, ihren großen jchottiichen Schäferhund an der 
Leine führend, neben dem Fahrſtuhl herjchreitet, in dem die Mutter 





2490 . Wolfgang Engel. 


gefahren wird. Much die unglücliche Kaijerin Eliſabeth von 

Dejterreich war bi vor vier Jahren jtändiger Gaſt in Kiſſingen. 
Bon deutſchen Fürjtlichkeiten, die alljährlich die Heiljpendenden 
Quellen aufjuchen, jei Prinzeß Thereſe vun Sachjen-Altenburg, 
Herzogin zu Sachjen, genannt. Man jteht jte häufig in leb— 
hafter Unterhaltung mit zwei engliichen Damen, den Ladies 





Das Standbild „Die trauernde Sermania“, 
errichtet zum Gedächtnis an die in der Schlacht bei Kiſſingen Gefallenen. 


Garisbrofe und Cholmandeley. Durch ihre Schönheit und die 
Pracht ihrer Toiletten waren bisher die Marquije Villavieja 
und ihre Schweiter Vicomtefje Bortocarrero aus Madrid, ſowie 
die Marquiſe Carcano aus Paris -auffallende Erjcheinungen 
der in Kiſſingen verſammelten Geſellſchaft. Und doch werden 
ſie und alle ihre reizenden Schweſtern in den Schatten geſtellt 
durch Die ſchlanke Gräfin Torby, die Gemahlin des Groß— 
fürſten Michael Michailowitſch. Um ihrer wunderbaren Schön— 
heit willen, die noch erhöht wird durch den ausgeſuchten 





J 


Bad Kiffingen. 2.291 





Geſchmack, mit dem die Gräfin ſich zu kleiden verſteht, trägt 
der Großfürſt willig die Schwere der Verbannung, die über 


uli 1866. 


Pie. 


BI — ER, 12 659 


— 


Die Schlacht im Kurparke von Riſſingen am 10 





ihn verhängt wurde, als er vor nunmehr elf Jahren gegen den 
ausgeſprochenen Willen ſeines Vaters und des Zaren Alexander III. 
ſich mit der Gräfin Sophie von Merenberg vermählte. 


2492 Wolfgang Engel, Bad Kijfingen. 





So ſehr aber Kiffingen in den beiden legten Jahrzehnten 
fi) zum Lurusbade entwidelt hat, in erjter Linie ift und bleibt 
es doch Kurort. Der vorteilhafte Auf feiner Quellen bejteht 
jeit Sahrhunderten und hat auch nicht erichüttert werden Fünnen 
durch die wechſelvollen Schidjale, die das Städtchen durch— 
gemacht hat. Sa, es hat beinahe den Anſchein, als hätte, jo 
oft die Ortſchaft unter der Zeiten Not zu leiden hatte, ein 
freundlicher genius loci für eine um fo fräftigere Verbreitung 
ihres Rufes Sorge getragen. 

Ganz bejonders jchiver war für Kiſſingen das Kriegs— 
jahr 1866. Wer heute in den prächtigen Anlagen des Kur⸗ 
gartens fuftwandelt, der denkt faum daran, daß hier faft jeder 
Fußbreit Boden unter ihm mit Blut getränkt iſt. ES war am 
10. Juli, als hier preußijche und bayrijche Truppen aufeinander 
ſtießen. So jchnell -entwidelte fich daS Gefecht, daß alle die— 
jenigen Bewohner des Ortes, welche vormittags ihre auf dem 
rechten Saaleufer befindlichen Wohnungen verlaffen und den 
jenfeit38 des Fluſſes liegenden Stadtteil aufgejucht Hatten, nicht 
imftande waren, in ihr Heim zurüdzufehren, und jo mußten 
fie die langen, bangen Stunden des Gefecht in fremden Hotel3 
und Neftaurants zubringen. Denn die Bayern hatten alle 
Uebergänge abgebrochen und die jteinerne Brücke verbarrifadiert. 
Bom Mittag bis zum ſpäten Abend war die Stadt erfüllt von 
Kanonendonner und PBulverdampf, und erit die einbrechende 
Nacht machte dem blutigen Kampfe ein Ende. Preußen tie 
Bayern hatten ſchwere Verluſte erlitten: 414 Tote, Darunter 
der Generalleutnant Freiherr von Zoller, und 1735 er: 
wundete. | 

Bon dem Kampfe giebt das von dem Bildhauer Arnol 
geichaffene, im Sabre 1869 enthüllte Denkmal der „trauernden 
Germania“ Kunde. Es jteht an der Straße, die nad) dem 
idyllifch gelegenen Dorfe Nüdlingen führt, inmitten der Gräber, 
die die Ruheſtätte der in der Schlacht bei Kiſſingen gefallenen 
Krieger bilden. Eine edle Frauengejtalt aus weißem Tiroler 
Marmor lehnt in Fnieender Stellung auf ihrem Schilde, das 
herabwallende Haar mit Eichenlaub befränzt, tiefe Trauer in 
den Zügen. Mit der Linfen umfaßt fie da8 mit dem Gürtel 
umwundene Schwert, mit der Nechten jenft jie einen Palmen— 


. anquvck gun aLooovx u⸗onondd AT uasuulin 





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2494 Wolfgang Engel, Bad Kiffingen. 





zweig auf Die jtille Totenjtadt zu ihren Füßen. Der falten- 
reihe Mantel enthält ein Oxrnament, in dem der Kampf des 
Wittelsbacher Löwen mit dem hohenzollernjchen Adler dargeitellt 
At. Die ganze Gejtalt ruht auf einem Würfel von jchwarzen 
Syenit, der die Snfchrift trägt: „Zur Erinnerung an die im 
Sahre 1866 Gefallenen.” Auf der Nordjeite ftehen die Namen 
von 16 bayrischen und 15 preußijchen Offizieren, auf der Oſt— 
jeite die Namen vor 206 bayriſchen und auf der Weitjeite von 
177 preußilchen Uitteroffizieren und Soldaten. 

Auch die furchtbare Epoche, die unter dem Namen des 
Dreißigjährigen Krieges befannt ift, brachte den: Städtchen 
ſchwere Leiden. 

Kijfingen, das als Ortjchaft Bereits in einer Urkunde vom 
Sohre 801, aß Stadt feit dem Jahre 1394 genannt wird, 
fing gerade an, auch im weiteren Umkreiſe befannt zu werde, 
als der entjegliche Krieg ausbrad) und dem Aufichwung des 
Kurorte hemmend entgegentrat. Sa, im Sahre 1643 griff 
der ſchwediſche Oberſt Reichwald die Stadt in der aus— 
geiprochenen Abſicht an, fie dem Erdboden gleich zu machen. 
Schon waren durc die tagelang ununterbrochen einfallenden 
Granaten die Salinen zeritört, und die Einwohner fürchteten 
jeden Augenblick, es werde den Schweden gelingen, in Die 
Stadt einzudringen, als der Bürger Heil auf ein ebenfo 
originelle wie wirkſames Mittel verfiel, die Stadt zu befreien. 
Er ließ jämtliche Bienenförbe, deren in der Stadt eine große 
Menge vorhanden war, auf die Mauern tragen und in Die 
Neihen der anjtiimenden Schweden werfen, und der Erfolg 
dieſer Maßnahme blieb nicht aus. Die Bienen, durch den 
Sturz in Wut verjeßt, fielen über den Feind her, der Jich der 
geflügelten Gegner um jo weniger erwehren fonnte, al3 Die 
Städter gleichzeitig einen Ausfall machten. Er wandte fich 
zur Flucht, und Kiſſingen Hatte jeitden vor den Schweden Ruhe. 

Des originellen Peter Heild Büſte aber wurde von feiner 
dankbaren Vaterjtadt an der Oſtſeite des Nathaufes eingemauert, 
wo ſie noch heute zu jehen it. 

Durh den fürchterlichen Krieg war der Aufihwung 
Kiſſingens wohl unterbrochen, aber nicht erjtictt worden. Mehr 
und mehr verbreitete jich der Ruf von der Fraftipendenden 


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Der Marbrunnen. 


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2496 | Wolfgang Engel. 


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Wirkung der Quellen, und immer zahlreicher ward die Schar 
derjenigen, die den Badeort aufſuchten. Weltruf allerdings 
erlangte Kiſſingen erjt im vorigen Jahrhundert, wo verjchiedene 
glückliche Umpjtände zujammentrafen, um die Bedeutung des 
Kurortes zu erhöhen. So begannen die Bürger im Jahre 1820, 
ihre Wohnungen zu verſchönern und zur Aufnahme von Bade— 
gäften herzurichten. Zwei Jahre jpäter bildete fich ein Ver— 
ihönerungsverein, der den erjten Grund zu den ſchönen Spazier- 
wegen in den herrlichen Waldungen legte, und wiederum zwei 
Sahre fpäter wurde das Bad ſowohl wie der Wafjerverjfand 
an die Gebrüder Bolzano verpachtet, die, mit außergewühn- 
licher Umfiht und Thatkraft begabt, den Kurort bedeutend 
hoben. | Bu 

Inzwiſchen war im Sahre 1737 eine dritte Quelle ent- 
deckt worden, der der damalige Fürſtbiſchof Friedrich Karl’ von 


Schönborn den Namen Racoczy-Quelle beilegte, und zwar aus 


Dankbarkeit gegen den Fürſten Racoczy, don Dem er einen 
großen Zeil feiner Güter geerbt hatte. 

Öleichzeitig wurde auch der Name der nebenanliegenden, 
bis dahin aß „Scharfer Brunnen“ befannten Duelle zur Er- 
innerung an Die unter Racoczy dienenden &renzregimenter 
- (Banduren) in „Pandur“ umgewandelt. Derjelbe Fürjtbijchof 
ließ auch ein Kurhaus bauen und einen 200 Schritt langen 


Weg mit Bäumen anpflanzen. Den Kurgarten legte im 


Sahre 1769 der Fürftbiichof Adam Friedrich von Seinsheim 
an, nachdem er ſich zuvor an der oberen Saline ein Schloß 
erbaut hatte, daß Später dem Füriten Bismard als Wohnung 
dienen jollte. | 

Sm Fahre 1874 weilte Fürſt Bismarck zum erjten Male 
als Kurgaſt in Bad Kilfingen. Er bewohnte das Haus Ver. 18 
in der nachmal3 nach ihm benannten Straße, das zu den 
Sehenswürdigfeiten Kiſſingens Hauptjächlich deshalb zählt, weil 
in jeiner unmittelbaren Nähe jener Mordanjchlag zur Aus— 
führung gelangte, den der "Böttchergejelle Kullmann aus 
Magdeburg gegen da3 Leben des eiſernen Kanzler geplant 
hatte. Als am 13. Juli Fürst Bismard unter den jubelnden 
Burufen der Bevölkerung eine Ausfahrt unternahm, trat plöß- 
lich Kullmann aus der Menge hervor und feuerte aus einem 


\ 


J 


Bad Kiſſingen. — 2497 











Revolver eine Kugel gegen ihn ab, durch die der Fürſt zum 
Glück nur leicht verwundet wurde. Zur Erinnerung an das 
Attentat iſt an dem Hauſe Bismarckſtraße 18 eine Tafel an— 


22* 


Obere Saline, Wohnung des Fürſten Bismarck bei ſeinem Kuraufenthalt in Riſſingen. 





gebracht, die folgende Inſchrift trägt: „Am 13. Juli 1874 
wurde an diejer Stelle durch) Gottes guädige Führung Seine 
Durchlaucht Fürſt Bismard, Kanzler des Deutjchen Reiches, 
aus Mörderhand errettet. Dieje Gedenktafel widmet dem 


deutichen Volke die Stadtgemeinde Kilfingen.“ 
Ill. Haus-Bibl. II, Band XI. 157 





BD 


2498 Wolfgang Engel. 


Wie. gewaltig der Aufihtwung Kiſſingens im legten Jahr— 
hundert geweſen iſt, iſt erſichtlich aus einer Zuſammenſtellung 
der Frequenzziffern. Während im Jahre 1820 nur 540 Kur— 
gäfte dort weilten, war das Bad im Jahre 1840 Ihon von 
3252, im Jahre 1860 von 7471, im Jahre 1890 von 15056 
und im Sahre 1898 von 18333 Kurgäſten befucht. Außerdem 
hielten fich im leßtgenannten Jahre 7615 Perſonen borüber- 
gehend in Kiſſingen 
auf, jo daß die Ges 
ſamtfrequenz fich auf 


it die am meijten 
in Anſpruch ge— 
nommene Trink— 
quelle der Racoczy, 
der in der Minute 
durchſchnittlich 
30 Liter liefert und 
von dem etwa 
600000 Flaichen 
jährli zum Ver— 
and gelangen. Der 
Pandur giebt in der 
Minute durchichnitt- 
GM m —n lich 8,5, der Max— 
Die aus Anlaß des EUER Sedenttafel brunnen 7Riter. Der 
| Solejprudel, der 
200 Meter über dem Meeresipiegel aus einem 108'/, Meter 
tiefen, artefiichen Brunnen entipringt, ift beſonders dadurch für 
den Beſchauer intereffant, daß er zeitweiſe bis auf vier Meter 
zuriikgeht und dann nach und nach wieder emporjteigt. Die 
Duelle liefert durchichnittlich 500 Liter in der Minute; aus 
dem Brunnenshacht fteigen im gleichen Zeitraum 2000 bis 
6000 Liter Kohlenjäure auf. 
Die Wirfung der Quellen äußert fich nicht nur in phyſio— 
(ogifcher, jondern auch in pathologifcher Richtung. Sie dienen 


— 25948 Perſonen be— 
u ziffert. 
% * Von den Quellen 


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aus Mönerland erreitet. 


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Diele xedentofel 
widmeldem deulſchen Molfie | 
die Stadtgemeinde Hiſſingen. J 


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Bad Kiffingen. | 9499 





EDEN 


deshalb ſo— 
wohl zur er- 
folgreichen 
Behandlung 
von Rachen— 
und Magen- 
fatarrhen, en. 
Zirkulations— 
ſtörungen im FB% 
Unterleib, 
Fettſucht, Fett— 
herz, Leberan— 
ſchwellungen, 
Fettleber, 
chroniſchen 
Rheumatis⸗ 
men und an— 
deren Krank— 
heiten, als 
auch von Ner— 
voſität, Hypo— 
chondrie und 
Hyſterie. Für 
die Stärkung 
und Erheite— 
rung des Ner—⸗ 
venlebens 
kommt natür— 
lich das 
ruhige, unge— 
ſtörte und 
gleichmäßige, 
von allen ee 
übertriebenen eu. 
förperlichen Das Haus, vor dem am 13. Juli 1874 das Kullmannfche 
. Ei: Attentat auf den Fürjten Bismard zur Husführung fam. 
wie geiſtigen 5 
Anjtrengungen ſich freihaltende Leben der Kurgäſte nicht 
zum wenigjten in Betracht. 





ART 
ai 75 


PEN a. 





2500 Wolfgang Engel, Bad Kijfingen. 





Den Mittelpunkt des gejellichaftlichen Lebens bilden der 
im Jahre 1876 im altdeutichen Renaiſſanceſtil reſtaurierte 
Sonverjationsjaal mit feinen 200 Meter langen Arkaden und 
der Kurgarten. In der Mitte des lebteren befindet jich ein 
Mufikpavillon, in dem während der vom 1. Mai bis zum 
30. September dauernden Satjon alltäglich zweimal Konzerte ver- 
anstaltet werden. Der Konverfationsjaal dient unter anderen 
zur Abhaltung der wöchentlich einmal jtattfindenden fogenannten 
Neunionbälle; an ihn jchließt Jich ein Feiner Damenjalon an, 
der im Baroditil gehalten und 1885 vollendet worden tft, ferner 
das im Jahre 1876 errichtete Kurhaus-Rejtaurant, das außer 
den Wirtjchaftsräumen einen eleganten Speijejalon, ein Billard- 
zimmer mit drei Billard3 und ein Lejezimmer enthält. Im 
oberen Raum über dem Arfadenbau befindet ſich eine Loggia 
und ein Salon, in dem den Damen Gelegenheit zum Klavier— 
ipiel und Gejang geboten ift. 

Kiſſingen hat auch ein Theater, das jeit einer Reihe von 
Sahren unter der Leitung des Herrn Eduard Reimann, 
Direktors de3 Stadttheaters zu Würzburg, jteht. Der Ort 
bietet mithin alles, was zur geiftigen Anregung der Kurgäjte 
dienen kann. Kein Wunder, daß, wer einmal in Kiſſingen 
einige Wochen geweilt hat, immer wieder gern jeine Schritte 
dorthin lenkt, um des Segens der heilfpendenden Quellen teil- 
Daftig zu werden. 








Duellwut bei Tieren. 
Don Richard Rlamrofh. 





(VNachdruck verboten.) 


er Wanderer, der an ſchönen Sommertagen dem 
nerventötenden Getriebe der Großſtadt entflieht, ijt, 
wenn er fröhlich durch Feld und Wald ftreift, jtet3 
geneigt, in poetischen Worten von dem Frieden in 
der Natur zu jprechen, die in den jchönen Tagen der Blüten 
und veifenden Früchte ihr reizendites Gewand angezogen hat. 

Er hat recht damit, foweit nur das Verhältnis feiner 
Perſon zur Natur in Frage fommt; denn im intimen Umgange 
mit ihr holt er ſich Mut und Kraft zu neuer Arbeit im Dajeins- 
fampfe, der heute mit einer Härte und Zähigkeit geführt wird, 
wie fie frühere ©eichlechter nicht Fannten. Dem Naturfreunde 
jedoch, der fich mit Tiebevoller Aufmerkjamfeit in daS Leben 
und Treiben der Tiere, groß und Hein, vertieft, kann es nicht 
entgehen, daß jich unter dem täufchenden Glanze von Frühlings- 
jeligfeit und Sommerfreude dasjelbe Ringen um die Erijtenz 
vollzieht, welches der Inhalt feine arbeitjamen Lebens ijt. 
Auch das Tier kämpft fortwährend um jein bißchen Leben und 
zwar fajt immer in viel graujfameren Formen als der Menſch; 
denn während diejer ich meiſtens der Waffen des Geijtes be- 
dient, Handelt: e8 fich bei den Tieren nur darum, wer der 






2502 Richard Klamtoth. 





phyſiſch ſtärkere iſt und das Endziel des Kampfes ift fajt ſtets 
der Tod des Gegners, der, von feinem jtärkeren Feinde be— 
zwungen, unbemitleidet auf der Wahlitatt verbluten muß. 

Meiftens Handelt e3 jich bei dieſen Kämpfen darum, daß 
da8 eine Tier mit feinem Leibe dem anderen zur Nahrung 
dienen muß. In anderen Fällen ringen Tiere derjelben oder 
verichiedener Art um die Herrichaft an einen bejtimmten Platze; 
fie Fämpfen dann gewifjermaßen um das Eigentum an einem 
bejtimmten Neviere, das ihnen Nahrung gewährt, und in deſſen 
Behauptung nur der Selbiterhaltungstrieb zum Ausdrud kommt. 
Außer diefen, nur zu jelbitverjtändlichen Kämpfen giebt e8 aber 
noc eine Neihe anderer, bei welchen nicht das Ringen um Die 
Nahrung das treibende Motiv iſt. Sie entipringen vielmehr 
entiveder dem angeborenen Widerwillen des einen Individuums 
gegen das andere oder einer im Temperament vieler Tier- 
gattungen deutlich ausgeſprochenen Rauf- und Händelſucht oder 
dem Werben um die Gunjt der Weibchen, und ähneln dann 
in hohen Grade den menfchlihen Ziweifämpfen, jo daß man 
in dieſen Fällen berechtigt it, von einer fürmlichen Duellwut 
bei Tieren zu jprechen. 

Am befanntejten find don derartigen Tierzweikämpfen wohl 
diejenigen der Hirjche untereinander. Abgeſehen von Förſtern, 
Sagdfreunden und einer Anzahl Touriften iſt es aber nur 
wenigen Menfchen bejchieden, das aufregende und dramatijche 
. Schaufpiel, wie zwei Kapital-Hirsche miteinander Fämpfen, zu 
beobachten. Es ijt jedoch feit jeher einer der beliebtejten Vor— 
würfe für Tiermaler, und neben den vielen höchſt mittelmäßigen 
Bildern, wo ein Künſtler, der den Vorgang in der Natur nie 
gejehen, die fämpfenden Edelhirſche in den Stellungen ziveier 
theatralifchen Poſeurs ſchildert, eriftieren doch auch zahlreiche 
Abbildungen, welche ein derartiges Duell mit überrajchender 
Naturwahrheit wiedergeben. | 

Eine alte Sägerregel bejagt, daß der Hirſch um Aegidi, 
alſo am 1. September, in die Brunſt tritt. Dies gilt jedod) 
nur von den alten Herren, die um die Gunſt der Hindinnen 
ſchon manden harten Strauß ausgefochten haben, während fich 
der jüngeren die Erregung erjt einige Wochen ſpäter bemächtigt, 
dafür aber auch bis in den Dftober hinein anhält. In Diejen 


Duellwut bei Tieren, 2503 


nal, 





Woochen find die ſonſt jo Harmlojen, ruhigen und vorſichtigen 
Tiere wie ausgewechjelt. Sie freffen und jchlafen faum mehr; 
. eine ewige Unruhe hat ich ihrer bemächtigt. Tag und Nacht 
auf den Beinen, treiben fie daS Mutterwild zujammen. Alle 
Vorſicht außer acht lafjend, find fie nur auf die Vergrößerung 
ihrer Herde bedacht und jeden Augenblid dazu bereit, deren 
Befib gegen etwaige Nebenbuhler zu verteidigen. In dieſe 
Zwangslage kommen fie nun täglich auf3 neue; denn da Die 
Natur aud) bei dem in Polygamie lebenden Rotwild annähernd 
die gleiche Zahl männlicher und weiblicher Individuen hervor— 
bringt, bleibt mit Notwendigkeit eine große Zahl namentlich 
jüngerer, aber auch älterer Hiriche ohne Herde und jucht dem 
vom Glücke begünjtigten auf jede Weije jeinen Harem abipenjtig 
zu machen. 

Die jungen Hirſche find nun für den feurigen, mutigen 
Sechzehnender feine gefährlichen Gegner und räumen das Feld, 
jobald dieſer Miene macht, ernftlic zum Angriffe gegen fie 
vorzugehen. Anders iſt es jedoch mit den Kapitalhirichen, 
welche auf Tod und Leben fämpfen, wenn die Minne in das 
Herz dieſer ſtolzeſten Tiere unferer Wälder ihren Einzug hält. 
Es iſt ein unvergeklicher Anblid, wenn in einer lauen, von 
würzigem Waldesduft durchwehten Septembernacdht, während 
am Ofthimmel ein bleicher, fahler Glanz das Nahen des Tages— 
gejtirnd verkündet, der Gemaltige mit jeinen Frauen zur 
Morgenäfung auf die Waldlichtung tritt. Laut röhrend jcheint 
er allen Neidern das Bemwußtfein feiner Selbjtherrlichkeit und 
feines Liebesglüds verfünden zu wollen. Aber von weit drüben 
Ihallt e3 ihm in der gleichen Sprache zurüd und näher, immer 
näher ertönt der Kriegsruf de3 zum Kampfe herausfordernden 
Gegners, bis fich endlich diefer ſelbſt am jenjeitigen Waldrande 
zeigt... Auch der Hirsch in den Extaſen der Brunſt ſtürzt fich 
nicht jinnlos in einen ungleichen Kampf, fondern prüft feine 
Ausfichten auf den Sieg. Dft verharren die Gegner laut 
brüllend lange Minuten in achtungspollem Abjtande von 
einander, die Grasnarbe und den Moo3boden mit wütenden 
Huftritten zerfegend, und der jtille Beobachter fieht ftatt eines 
aufregungsvollen Kampfes jchließlich, wie der frauenlofe An- 
fümmling, eingedenf de3 Sprichwortes, daß Vorficht der beifere 


2504 " Richard Klamroth. 





Teil der Tapferkeit it, abzieht, um gegenüber einem minder 
ſchreckhaften Gegner fein Glüd zu verfuchen. Wo er aber Ausficht 
auf Erfolg Hat, fommt es faſt immer zum Kampfe; denn der 
glüdliche Befiger einer Herde hält jtet3 Stand. Mit geſenkten 
Geweihen ftürmen die Feinde aufeinander 103, und das weithin 
vernehmbare Krachen der aufeinander prallenden Geweihe 
zeigt, daß es fein Scheingefecht, jondern bitterer Ernſt iſt. 
Der fchwächere Teil kann noch von Glüd jagen, wenn er mit 
einigen Hautwunden oder einigen abgebrochenen Geweihenden 
davon fommt. Dft aber endet die Sache viel tragijcher. Eine 
Geweihſpitze bohrt fi) in das Auge des Gegners oder durd)- 
bohrt die dünne LZeibeswandung zwifchen den Rippen oder am 
Unterleib und erzeugt eine Verwundung, die binnen wenigen 
"Tagen in tödlihe Bruft- oder Bauchfellentzündung ausläuft, 
und der Unterliegende, der auf der Wahlitatt zurücfbleibt, muß 
zujehen, wie die Weibchen, welche abjeitS dem Kampfe zu- 
Ihauten, als lebende Illuſtration des Berjes: „la donna & 
mobile“ dem Sieger folgen. Zuweilen fommt e3 aud) vor, 
daß die Geweihe der echter im Kampfe ich derartig in- 
einander hineinbohren, daß die Kampfesmüden fich nicht mehr 
voneinander zu trennen vermögen und in tagelanger Qual 
jammervoll zu Grunde gehen, während ein dritter fampflos in 
den Beſitz der Herde fommt. 

Sehr hartnädig find auch die Kämpfe der Nenntiere und 
Elenns, die fi) zur Brunftzeit ganz ebenjo befehden wie die 
Hirihe. Auch das Damwild und die Nehe machen fich den 
Belig der Weibchen ftreitig und wenn dieje Kämpfe auch bei 
weiten nicht einen ebenjo dramatiſch beiwegten Anblick gewähren, 
jo enden fie troßdem kaum weniger felten tödlich, weil da3 
dolchartig zugeipigte Gehörn dieſer Tiere recht gefährliche 
Wunden verurjadt. 

Ein Hirſch oder Nehbod, der von der Herde ale ſchlagen 
wurde, kann übrigens auch dem Menſchen ſehr gefährlich werden. 
In ihrer blinden Raſerei greifen die Tiere manchmal jedes 
andere ihnen in den Weg kommende Geſchöpf an, und gerade in 
den letzten Jahren haben ſich die Fälle auffällig gemehrt, wo 
harmloſe Wanderer und Wildheger in hochwildreichen Revieren 
von brünſtigen Hirſchen in der grauſamſten Weiſe getötet wurden. 





Duellwut bei Tieren. 2505 


Wie der Froſch-Mäuſekrieg zur Sliade verhalten ſich zu 
den Kämpfen des Rotwildes die Duelle der Auer- und Birk 
hähne. Ernſt gemeint jind fie ja ebenjo wie jene; aber dem 
Zufchauer fehlt hier die Vorſtellung, daß riejenkräftige Gegner 
gegeneinander wüten und wenn unter den wuchtigen Schnabel- 
hieben auch die Federn jtieben und Blut fließt, fo behalten dieſe 
Bweifämpfe doch ſtets etwas von dem komiſchen Anftrich, der 
den Duellen unjerer Haushähne anhaftet. 

Vögel jind überhaupt jowohl im Umgange mit ihren Art- 
genofjen wie gegenüber anderen Tieren meijt von recht jtreit- 
jüchtigem Charakter. Hahnenkfämpfe, bei denen oft ein Kombattant 
tot auf dem Plabe bleibt, find nicht nur in England, Spanien 
und Portugal, fondern auch in Hinterindien ein weitverbreitetes 
Volksvergnügen und damit die Sache nicht gar zu harmlos üt, 
befejtigt man den Kampfhähnen häufig fcharfe, feine Klingen an 
die Sporen. Aeußerſt unverträgliche Gejellen find die ganze 
Sippe der Amfeln und Drofjeln, welche ſich nicht mit der Ber- 
jagung des Gegners begnügen, jondern aufeinander Loshaden, 
bis die eine tödlich verwundet ijt. Selbſt der Philoſoph unter 
den Vögeln, der Storch, bindet mit dem Nachbarftorche an, wenn 
ihm deſſen Nejt dem jeinen als zu nahe gelegen zu jein fcheint. 
Kein Vogel übertrifft aber an Duellwut die Kampfläufer 
(Machetes pugnax), die Jich fortwährend untereinander befämpfen, 
ob fie ſich nun in Freiheit oder Gefangenſchaft befinden, ſchon 
vor Sahren eingefangen wurden, ihre Freiheit erjt fürzlich ver- 
loren haben oder in der Gefangenichaft geboren wurden. Dieje 
Duelle jpielen ſich ftet3, auch wenn viele Kampfläufer auf einem 
Plage find, als Zweikämpfe ab, und nie findet eine allgemeine 
Rauferei aller anwejenden Hähne ftatt. Der Anblid der beiden 
Kämpfer reizt aber die anderen ebenfall3 zum Streite ımd fo 
entipinnen ſich oft gleichzeitig mehrere Duelle, die, weil die 
Tiere bligichnell ihre Bewegungen ausführen und weil Die 
Bahnen der kämpfenden Paare jich durchfreuzen, einen Anblid ' 
gewähren, al3 ob der Teufel in fie alle gefahren wäre. 

Nicht minder komiſch ift der Anblick zweier miteinander 
fämpfenden Hafen. Blut fließt dabei faum, und es bleibt bei 
der Berabreichung tüchtiger Obrfeigen, zu deren Austeilung 
namentlich die Hinterläufe benubt werden, in denen die Tiere 


2506 Richard Klamroth, Duellwut bei Cieren. 





eine erftaunliche Kraft beiten. Zu diefem Zwecke führen fie 
wahrhaft grotesfe Sprünge aus, und wer von den Gegnern 
am höchſten |pringt, hat die beſte Ausficht, dem anderen eines 
zu verjeßen, daß ihm Hören und Sehen vergeht. 

Eine Aufzählung aller Arten von Tierfämpfen würde 
den Raum eine Buches beanjpruchen; denn vom Oftopoden 
und Hummer bis zu den Riefengeftalten der Wale und Haiftiche 
und vom Maulwurf, der ein Raufbold erjten Ranges ilt, bis 
zum Elefant führt die Liebesleidenjchaft und der Kampf um 
das Dajein zu erbitterten Zweifämpfen. Namentlich der zahme 
und wilde Elefant iſt nach glaubwürdigen Berichten ein echter, 
der zwar nur jchiwer, in Wut zu verjegen ift, dann aber aud) 
fürchterlich Tampft. Schauplaß eines jolchen Zweifampfes war 
vor einigen Jahren die Londoner Vorſtadt Wimbledon. In 
einem dortigen Zirkus hatte man einen furz vorher eriworbenen, 
ziemlich ungebärdigen Elefanten, Namens Edgar, um ihn befjer 
zu zähmen, an einen weiblichen Elefanten Mary gefefjelt, der 
für gewöhnlich mit einem anderen männlichen Elefanten Charlie 
in den Borftellungen fich mit feinen Künften produzierte. Als 
die Elefanten eines Tages anjcheinend friedlich auf einer Wieje 
weideten, fiel Charlie, von Eiferjucht überwältigt, plölich über 
die beiden anderen ber, trieb fte durch einen Fluß und eine 
Baumpflanzung, warf fie nieder und bearbeitete beide mit feinen 
glücklicherweiſe abgejtußgten und abgerundeten GStoßzähnen. 
Erſt nad) langer Zeit war e3 den Bemühungen von 60 Mann, 
die mit Stangen und Peitſchen auf den diehäutigen Othello 
losſchlugen, möglich, den Entrüfteten von den Angegriffenen 
zu trennen. 








„Um fo einen!“ 
Xovelle von Elfe Rrafft. 
Ma (Nadhydrud verboten.) | 


nter den Linden Hatte fie fich die Schaufenfter an— 

gejehen, eingehend vor den Modebazaren die für jie 
ımerreichbaren Gegenſtände höchſter Eleganz gemuftert, 
um die DBlide gleich darauf in leifer Schwermut 
über ihr einfaches, blaues Cheviotkleid gleiten zu laſſen. Das 
furze, dunkle Jäckchen, deſſen Aermel alljährlich) mit der 
herrichenden Mode an Umfang verloren, jah doch eigentlic) 
ſchon recht fadenjcheinig unter der eleftriichen Beleuchtung der 
Linden aus. | | 

Langſam Schritt fie dem Brandenburger Thor entgegen, 
und Happte fich fröjtelnd den Krimmerfragen in die Höhe. 
Die Steine de Trottoirs, ſowie das Asphalt des Fahr— 
weges fliimmerten wie taujende darüber hingejtreute Diamanten, 
und auf den Dächern ded Palais am Barijer Platz hatte der 
Reif einen glänzenden Schleier gezogen. 

Das junge Mädchen wandte den Kopf weder rechtd nod) 
links. Seine Aufmerkſamkeit erregte eine dicht vor ihr gehende, 
jehr elegante Dame, deren jchönes Antlig ſich ſchon mehreremal 
mit einem bezaubernden Lächeln nach ihr umgewandt hatte. 






2508 Elſe Krafft. 





Ein Herr, der einige Augenblide in läſſiger Gangart 
neben Frieda Schritt, näherte jich jet, höflich den Hut lüftend, 
der eleganten Dame, und bot ihr nach einigen geflüjterten 
Worten den Arm. Gemeinſam ſchritten fie über den Damm, 
und das frohe Lachen der ſchönen Unbekannten jchallte Hell zu 
dem jungen Mädchen hinüber. 

Immer langjamer wurden ihre Schritte. Mit den Augen 
verfolgte fie daS Paar, jo lange es jichtbar war, dann ſetzte 
fie wie eine Träumende ihren Weg fort. Obgleich fie wußte, 
daß Sich etwas Außergewöhnliches, ihrem Geſichtskreiſe Fremdes 
eben vor ihr abgejpielt hatte, jtieg eine Art Neid gegen jene 
Unbelannte in ihr auf. Wie glüdlic) fie gelacht, und wie 
zwanglos der frende Mann auf fie eingelprocdhen hatte. — 
War aud) hier die plößlicde Sympathie ziveier fi) zum eriten- 
mal begegnenden Menjchen Sünde, wie ihr jchon oft auS dem 
Munde weiler Verwandten verfichert worden? 

„Wenn Dich je auf der Straße ein Herr anjprechen jollte, 
Sriedchen, dann rufe fofort einen Schugmann,“ hatte neulich 
Tante Dettchen gejagt, worauf der Onkel lachend ermiderte, 
„daß feinem Sriedchen fo etwas gar nicht paſſieren könnte.“ 

„Warum Denn nicht, Onkel?“ fragte fie raſch. 

„Weil du viel zu jolide ausſiehſt, Schäfchen,“ lautete die 
Antwort. — | 

Jetzt zog ihr das alles wieder durch den Kopf. Eine 
unbändige Sehnfucht nach irgend etwas Großem, Wunderbarem 
überfiel fie. Ettivas, das imftande wäre, den eintünigen Lauf 
ihrer Tage jäh umzuftürzen, ihre einfame Seele lebensfreudig 
zu machen, und ihr ganzes unbedentendes Sein zu verändern. 
Nicht mehr vom frühen Morgen bis zum jpäten Abend bei 
Onkel und Tante fißen zu müſſen, bei jeder Häuglichen Arbeit 
ihren Launen und altmodilchen Belehrungen ausgeſetzt. Nicht 
mehr die langen, dunklen Winternachmittage am Arm der 
großen, Forpulenten Frau durch Die Straßen zu wandeln, und 
wie ein kleines Kind fir jeden Ausgang, jede That Rechen 
haft abzulegen. — Froh fein, glüdli, — lachen fünnen wie 
jene Unbekannte eben gelacht hatte. Nicht mehr ängftlich auf 
das Urteil der andern warten, fich hoch über jedes Fleinliche 
Gerede ftellen, und der ganzen Welt zum Troß die eigene 


„Am jo Einen!“ 2509 





Meberzeugung innerer Reinheit ſich genug ſein em: Ach, 
wenn ihr dag gelänge! — 

Frieda ging die Königgrätzer Straße dicht an hen bereiften 
Rafenplägen des Tiergarten? entlang. In ihren tiefen Ge— 
danken empfand ſie weder die Kälte, noch die plößliche Einſamkeit 
ringsum. 

Ein Herr kam ihr entgegen, eine hohe Geftalt mit braunem, 
dichten VBollbart über den feit gefchloflenen Lippen. Seine 
Augen glitten neugierig über das einsame Mädchen, daS den 
Kopf tief gelenkt trug. Er ftreifte die VBorübergehende jo Dicht, 
daß fie erjchredt emporblidte, und, einen Augenblick ftehen 
bleibend, halb den Kopf nach ihm umwandte. 

Da Stand auch er und lüftete den Hut. 

'„Berzeihung, mein Fräulein, aber Ddieje Dunkelheit iſt 
gefährlich für Sie.“ 

Das junge Mädchen wollte etwas antworten, es gelang 
ihr aber nicht. Zögernd ſetzte ſie ihren Weg fort. 

Der elegante Fremde ging an ihrer Seite wieder mit 
zurück. 

„Ich möchte Sie begleiten, — darf ich?“ fragte er leiſe. 

Da ſah ſie noch einmal empor. Ihre Hände verſchlangen 
ſich im Muff, doch ihre Augen wurden groß und glänzend. 
Sie dachte nicht daran, einen Schutzmann zu rufen, ſie 
lächelte ſogar. 

„Sie kennen mich ja gar nicht,“ entfuhr es ihr. 

„Aber ich möchte Sie kennen lernen, darum frage ich. 
Wohin gehen Sie denn jetzt?“ 

„Nah Haufe, — nad der Kurfüritenitraße, — und ich 
finde auch jchon meinen Weg allein,“ jebte fie Haftig Hinzu, 
ihre Schritte beſchleunigend. Sie war wieder ganz das kleine, 

ängſtliche Mädchen wie immer. | 

Ä „Wer wird jo abjtoßend fein! Sch meine e8 doch nur 
gut mit Shnen,“ begann er aufs neue, immer noch lächelnd 
auf fie berabjehend. 

„Freuen Sie ſich doch, daß Sie einen männlichen Be— 
Ihüßer in mir gefunden haben. Berliner Straßen find ein 
gefährliches Pflafter für jo junge Füße.“ 


2510 Elſe Krafft. 
an 

Als Frieda ihren Begleiter verjtändnislos anfah, fuhr er 
in väterlihem Tone fort: 

„Ihre Augen fommen mir wie zivei große Fragezeichen 
bor, für Sie fcheint daS Leben noch aus Rätſeln zu beſtehen. 
Soll ich ſie Ihnen löſen helfen? — Sie Baden gewiß einen 
ſehr jtrengen Bapa!“ 

Frieda jchüttelte den Kopf. Sr war der große Mann 
plöglich fein Fremder mehr. | 

„Nein, — meine Eltern ſind längjt tot. Sch wohne bei 
Verwandten, — bei einem Bruder meined Vaters.“ 

„Noch Schlimmer, da. u gewiß auch nicht wie im 
PBaradieje, — was?“ 

Bei den ſarkaſtiſch — — ——— Worten hielt ſie fich 
für verpflichtet, die Partei ihrer Verwandten zu nehmen. | 

„Paradieſe giebt es auf Erden nicht,“ meinte fie bejtimmt. 
„Aber man foll glüdlic) fein, wenn treuforgende Herzen bemüht 
ind, eine verlorene Heimat zu erjeßen.“ 

„Sehr weije geiprochen, mein Kleines. Sräulein, alle Ach— 
tung dor ihrem Familienfinn! Alſo Paradieſe giebt es auf 
Erden nicht? — Vielleicht ſagen Sie mir auch noch, wo die— 
ſelben Jonſt zu finden ſind?“ 

Sie jhritten über den Potsdamer Plab, das junge 
Mädchen immer zwei Schritte von ihm entfernt. 

Sntereffiert mufterte er ihr feines, jchmales Geſichtchen 
mit den Heller Augen unter dem Faftanienbraunen Haar. 
„Brüche Sugend von altem Blunder umhüllt,“ dachte er, indem 
er ihre einfache Kleidung überblidte Die diden Handjchuhe 
verſteckten die niedliche, Heine Hand, und unter dem engen 
Krimmermützchen ftrebten nach allen Seiten die ADIDErpenILIgen 
Locken hervor. 

Se länger er dag Anklitz neben ſich betrachtete, umjomehr 
gefiel e3 ihm. Im Geilt jah er die junge Gejtalt von einer 
Fülle heller Spigen umrieſelt, und die braunen Haare geöffnet 
über die Schulter fallen. — Ob ihm aud) hier feine befannte 
Unwiderjtehlichfeit behilflich zur Seite jtände? Sie war ein 
Kind noch, und ihre Jugend bot eine doppelte Anziehungskraft 
für den gereiften Mann. 

* * 


„Am jo Einen!“ 2511 





Eine ganze Weile ſchritten ſie ſtumm die belebte Potsdamer 
Straße entlang. 

Frieda fühlte herzklopfend ſeine prüfenden Augen anf ſich 
ruhen. Zum erjtenmal jchämte fie ſich ihrer Dürftigkeit und 
verjtecfte die mit den von Tante ſelbſt geſtrickten Handjchuhen 
befleideten Finger wieder im Muff. War fie mit dem erjten 
Ungehorjam gegen Zucht und Sitte wirklich eine andere ge- 
worden? Jeder Vorübergehende jchien ihre Kühnheit erraten 
zu Haben, und mit ſpöttiſchem Lächeln über fte herzufallen. — 
Es war doch noch ſehr jchlecht um ihre Selbſtändigkeit 
beitellt. — Ä 

„Nun, — wollen Sie mir nicht verraten, in welcher 
Gegend Ihr Paradies liegt?” fragte er jeßt noch einmal. 

„Mein Paradies? — Sch habe Fein.“ 

Das Hang nicht wie aus Kindermund. 

„Oho, jagen Sie jo etwas nicht, mein Fräulein. Sie 
haben vielleicht den Schlüfjel noch nicht gefunden, um feine 
Pforten zur Herrlichkeit aufzufchliegen. Sie find vielleicht mit 
offenen Augen: bisher blind gewejen. — Wiffen Sie, tvie die 
Straße heißt, die zum Paradieſe führt?“ 

Der jchöne, elegante Mann beugte fich tief zu dem Kleinen, 
einfachen Mädchen herunter. 

Frieda Schritt wie gebannt neben ihnı. 

„Liebe,“ — jagte er vorfichtig, indem er feinen Spazier- 
ſtock läſſig hin und her drehte. 

Unwilfürliih ging fie noch einen Schritt weiter von 
ihm ab. 

„Es, — es iſt doch wohl beſſer, Sie laſſen mich allein 
nach Hauſe gehen, — es — iſt unrecht von mir, die Begleitung 
eines fremden Mannes zu dulden,“ antwortete ſie verwirrt. 

„Da kann ich mich ja vorſtellen, wenn Sie Angſt vor 
dem großen Unbekannten haben.“ 

Offenbar beluſtigt legte er einen Augenblick den Griff 
ſeines Stockes an den Mund. 

„Fritz Weber, — Reiſender für Gold- und Silberwaren,“ 
ſagte er dann mit einer flüchtigen Verbeugung. 

„Ich heiße Frieda,“ entgegnete ſie aufatmend, „Frieda 
Pählchen.“ 


2512 Elſe Krafft. 





Da er lachend den Hut Tüftete, fuhr fie gleichfalls 
lächelnd fort: | | 

„Meine Gejelihaft muß Ihnen aber ſehr Tangiveilig 
werden, und Sie haben gewiß Wichtigered zu thun, als mic) 
nad) Haufe zu bringen.“ 

„Wichtigeres, als einer allerliebjten jungen Dame in die 
Augen zu jehen, giebt es gar nicht.“ 

„Dann müſſen Sie aber ein jehr ſchlechter Kaufmann fein, 
Herr Weber!" — 

Er lachte wieder und beiwunderte heimlich ihre Heinen, 
\chneeweißen Zähne zwijchen den Halbgeöffneten Lippen. 

„Schlechter Kaufmann, — it ja möglich! Aber einen 
guten Freund finden Sie dafür in mir. Gehen Sie morgen 
wieder denjelben Weg wie heute?“ 

Sie wurde rot und zupfte verlegen an den Krimmerflode: 
ihres Muffe. Woher follte fie nur den Mut nehmen, den 
begonnenen Weg zur inneren Befreiung fortzujeßen? 

„Ra, — wir müfjen und doch wieder jehen, Fräulein 
Friedchen, das iſt doch ganz ſelbſtverſtändlich.“ 

Wie weich und einfchmeichelnd daS Hang. 

„Wenn Onkel und Tante aber was erfahren?” 

„Keine Angit, wenn Sie Hug find, merken die ſchon nichts. 
Wer jo jung und Hübjch it wie Sie, muß jein Leben genießen. 
Alfo morgen wieder in der Königgräßer Straße.“ | 

„Nein, ach nein,” jagte fie raid. .„Morgen hat meine 
Tante Geburtstag, da muß ich zu Haufe bleiben. — Es wird 
überhaupt nicht gehen, Tante läßt mich jelten allein fort.“ 

„Aber Sie jind doch Fein Kind mehr, Fräulein Frieda, 
ic) ließe mir dieſe Ueberwachung einfach nicht gefallen. — 
Sagen Sie doch, Sie wollten irgend eine Freundin bejuchen, 
dann geht es ficher.“ 

„sch habe feine Freundin, Herr Weber.“ 

„Nicht eine, Fräulein Friedchen?“ 

„Doc, — eine Habe ich, aber die wohnt nicht in Berlin.” 

Da3 kam ordentlich wehmütig heraus. 

„Außer Mittwoch und Sonnubends muß ich jeden Nach- 
mittag mit Tante jpazieren gehen, — immer denjelben Weg 
bis zum Spittelmarft und zurüd.“ 


„Am fo Einen!“ | 2513 





„Armes Wurm! — Und an den anderen beiden Tagen?“ 

„Da, — da ginge e& vielleicht,“ jtotterte fie, den Kopf 
bebend. „Da Hab’ ich in Moabit Nähſtunde.“ 

„Sehen Sie, nun geht’ mit einem Male! Alfo am Sonn— 
abend am Brandenburger Thor, — da müfjen Sie ja vorüber- 
gehen. Um welche Zeit jind Gie denn mit der Näherei 
fertig?“ | 
Das Hang alles jo jelbitveritändlich und einfach, daß Frieda - 
jih mit jedem feiner Worte Jicherer fühlte 

„Wie heute, um 7 Uhr, — Aber gehen Sie jebt, ich 
bin gleich zu Haufe; bis vor die Thür dürfen Sie nicht mit- 
gehen.” 

Bor der Kurfürſtenſtraße blieben fie jtehen und jahen 
ſich lächelnd in Die Augen. 

Friedas Antliß war von Kälte und Aufregung roſig über- 
haucht, und ihre Augen ftrahlten wie zwei Weihnachtäferzen. 

Er legte feine mit Glacé bekleidete Hand feit um ihre 
wollene Rechte. 

„Alſo dann auf Wiederjehen am Sonnabend um ein— 
viertel acht am Brandenburger Thor, — Kleine Apfelblüte.“ 

„Nicht doch, Herr Weber, — das thut ja weh!“ 

Sie zog ihre Hand zurüd, und bog, Haftig den. Kopf 
neigend, in die Kurfürſtenſtraße ein. 

Einen Augenblict verfolgte er, ſtehen bleibend, mit den 
Blicken ihre zierliche Geſtalt, dann wandte er ſich kurz und 
winkte einer leeren, vorüberfahrenden Droſchke. 

„Zu Dreſſel, ſo ſchnell wie möglich!“ 

Es wäre doch ſehr dumm, wenn die entzückende Franzöſin 
vom Lindentheater nicht mehr ſeiner harren würde. 

* * 


Tauwetter in Berlin. 

- Bon den Dächern lief das jchmußige Wafjer in Fleinen 
Bächen herunter, und der ſonſt feſtgetretene Schnee auf dem 
Pflaſter war locker und hatte eine bräunliche Särbung ans 
genommen. | 

Sn der dritten Etage eines —— Hauſes der Kurfürſten— 
ſtraße ſtand Frau Pählchen am Fenſter, und ärgerte ſich über 
Su. Baus-Bibl. I, Band XI. 158 


2514 Elje Krafft. 








jeden Wafjertropfen, der auf ihre friſch gepußten Yeniter- 
ſcheiben fiel. | 

Ihr Gatte ſaß im Lehnſtuhl Hinter ihr und las Die 
Beitung. 

ALS die Nichte ind Zimmer trat, blidte er auf. 

„Ei der Taufend, Friedchen, Haft dich ja ordentlich hübſch 
gemacht heute! Alfo ganz allein das jchöne Kleid genäht? 
Alle Achtung vor deiner Schneiderkunft!” 

Frau Pählchen wandte ſich bei den beivundernden Worten 
ihres Manne3 um und blidte entrüftet auf die zierliche Gejtalt 
in den modernen braunen Wollkleide. 

„Bilt du verrückt, Mädel! — Dein beftes Kleid für die 
Nähſtunde? Und den neuen Hut bei dem Saumwetter! Das 
fieht dir fo recht ähnlich, alles über einen Kamm gejchert. 
Gleich ziehit du das neue Kleid aus!“ 

Frieda jebte fich’ ruhig vor dem Spiegel den hellen Filz- 
hut auf das braune Haar. Zufrieden mufterte fie ihr glüclich 
lächelndes Geficht. 

„Sei nicht böfe, Tante, die Sonne fcheint ja draußen.“ 

„Aber e3 taut, und die Straßen find naß und jchmußig. 
Da zieht man daß fchlechteite an, wa man hat, — überhanpt 
bi8 Moabit Hin. Ein Glüd, daß die Nähſtunde bald vorüber 
ilt, da8 war ja 'was Entjegliches .mit deiner Eitelkeit.“ 

Sie trat vom Fenjter fort und ging prüfend um die Nichte 
herum. 

„Biel zu elegant, viel zu elegant, das Geld für Die 
Bänder und Rüjchen hätten wir auch ſparen Fünnen.“ 

„Laß ihr Doch das Vergnügen,“ warf der Onkel be- 
ichiwichtigend ein, „dafür ſieht das Mädel auch noch ’mal jo 
hübjch wie jonjt aus.“ 

„Aber Heut’ braucht’ ſie's nicht anzuziehen, jo etwas bleibt 
für den Sonntag. — Raſch, Frieda, zieh das blaue an!“ 

„Dann komm’ ich zu ſpät zur Nähftunde, adieu, ich hab’ 
feine Zeit mehr,“ und wie der Wirbelwind war fie zur Thür 
hinaus. 

Entjeßt ſchlug Frau Pählchen die Hände zufammen. 

„Sollte man jo etwas für möglich halten? Wilhelm, dag 
geht jo nicht weiter mit dem Mädchen! Schon Die ganze lebte 


„Um fo Einen!“ 2515 





Beit ift fie jo! Das fingt und pubt fich den ganzen Tag, und 
will ich jchelten, fliegt fie mir an den Hals und küßt mic) ab. 
— Wilhelm. hörſt du denn nicht?“ — 

Der kleine, korpulente Mann mit dem gemütlichen, roten 
Geſicht blickte Schmunzelnd von der Zeitung auf. 

„Sa, ja, ich höre jchon. Friedchen gefällt mir jebt viel 
bejjer wie früher. Vielleicht hat fie irgend 'was?“ 
„Hat irgend 'was? — Was joll je denn haben? — Sc), 
bitte mir aus, daß du dich verſtändlicher machſt.“ 
„Na ja, ich meine ja blo8 jo,“ antwortete er außmeichend 
und vertiefte fich jo beharrlich in jeinen Rofalanzeiger, daß Frau 
Pählchen fopfichüttelnd zu ihrem Stridzeug griff. 

Diesmal waren e3 feine Hausſchuhe. 


* * 
x. 


Frieda aber ſchritt über die najje Straße, fo leichtfüßig und 
jorglos, al3 führte der Weg über blumenbeitreute Wiefen. Den 
neuen Kleiderrock hielt jie jorgfältig eniporgerafft, und die Glacé— 
handſchuhe, ‚welche fie auf der Treppe angezogen, umjpannten, 
eng anjchließend, ihre Kleinen, zierlihen Finger. Er hatte fie 
. neulich anjtatt des üblichen Veilchenſträußchens mitgebracht. — 
Wie glücklich war jie geworden, und wie glüdlic erjt würde 
fie jpäter fein, wenn ihr ſüßes Geheimnis alle Welt erfahren, 
und Onfel und Tante die Verlobung ihrer Nichte verfünden 
würden. Wie alles jo jchnell gefommen, ſie wußte es jelber 
nit. Das erite Mal war’3 im Tiergarten, al3 er von ſeiner 
großen Liebe geſprochen. Und als fie zitternd jeine Küſſe ge— 
duldet, ihr ganzes Herz ihm zuflog, und jie ihn fragte, ob er 
an Onfel und Tante fchreiben, oder fie jelbit es ihnen jagen 
ſollte, — da füßte er jie, lächelnd den Kopf jchüttelnd, aufs 
neue. Bon einer großen Geduld, der fie nun ausgejeßt waren, 
erzählte er, und daß er ich nicht eher mit ihr öffentlich verloben 
fünne, ehe er eine fejte, fichere Stellung befüße. So eine heim— 
liche Liebe, wäre ja dag allerichönjte, wenn fie ihm vertraue. — 

Sa, fie vertraute ihm. Und doch war fie, troß all feiner 
Bitten, noch nicht zu beivegen gewejen, ein Café oder Reſtaurant 
mit ihm zu bejuchen. Er lachte lie aus, wenn ſie in den jtillen Wegen 
des 3 Tiergartend ängitlich jeiner ſtürmiſchen Yärtlichfeit wehrte. 

1358* 


2516 Elfe Krafft. 





Das lebte Mal erzählte er ihr von einer guten, alten Tante 
in der Mohrenjtraße, die. um das Geheimnis jeiner Liebe wußte. 
Zu ihr würde er fein Bräutchen, führen, unter ihrem Dad) für 
erjte die jchönjten Zufunftsträume mit ihr ſpinnen. — 

Frieda lächelte glücklch vor fich Hin, al3 fie inmitten der 
Ihiwagenden Mädchenjchar bei ihrer Näharbeit ſaß. Alle paar 
Minuten blickte fie zu der Schwarzwälder Uhr neben der Thür, - 
ob ihr Zeiger immer noch nicht die erwünſchte Stunde erreiche. 
Jedesmal war fie unter irgend einem Vorwand ein halbes 
Stündchen früher als die anderen jungen Mädchen aufgebrochen. 
Das magere, ‘alte Yehrfräulein ließ ihre Blicke oft forjchend auf 
dem Antliß ihrer Schülerin ruhen. Wenn fie aber die klaren, 
blauen Augen jah, in denen noch „der Glanz unbefleckter Jugend“, 
wie fie jich innerlich ausdrückte, ruhte, ſchwand jeder Zweifel 
ihrer argwöhniſchen Seele. Wie viele leichtſinnige Schülerinnen 
ſie auch ſchon gehabt hatte, dieſe geyörte jiher nicht zu 
ihnen. — 

Auch. heute legte Frieda ihre Arbeit früher zujammen. 
Die Schwarzwälder hatte eben jech3 gejchlagen. 

Als fie dem alten Fräulein zum Abjchied die Hand reichte, 
glättete dieſe ſorgſam die vom Siten hervorgerufeneu Falten 
in den neuen Rod. 

„Sie werden alle Tage hübfcher, Meine! Was hat denn 
die Tante zu Ihrem Kunſtwerk gefagt?“ 

„Es wäre nur Sonntags ANSUDIEHEN, iſt das nicht genug, 
Fräulein?“ 

Lachend nickte ſie ihren Geninnen zu und lief hinaus. 

Vor dem kleinen zerſprungenen Wandſpiegel im Korridor 
ordnete ſie ihre Friſur und überſprang auf der Treppe gleich 
zwei Stufen mit einem Male, draußen taute es immer noch. 
Die Luft war lind, als wäre man ſchon im Frühling. Der 
fünfundzwanzigſte Februar war heut', der Geburtstag ihrer 
verſtorbenen Mutter. Sie hatte ſich darum etwas ganz Be— 
ſonderes vorgenommen. 

Fritz würde wie immer am Brandenburger Thor auf ſie 
warten. Dann würde ſie mit ihm einen ganzen großen Strauß 
Roſen kaufen, köſtliche, dunkelrote Roſen, und an ſeiner Seite 
hinauswandern nach dem alten Kirchhof im Süden, wo tief 


„Um jo Einen!“ | 2517 





herabhängende Zweige das Grab der Mutter eu — — 
Ja, das wollte ſie — — — 

Wie lange es heute hell blieb. 

In den Straßen waren die Gasflammen fchon angezündet, 
doch der Himmel noch ganz glühend von der untergehenden 
Sonne. 

Am Brandenburger Thor blieb Frieda ftehen, und ſpähte 
eifrig nach allen Seiten. Er war noch nicht da, der Böfe, 
der Liebe, — — ungeduldig ging fie einige Schritte die Linden 
entlang. Heute waren e3 gerade vier Wochen her, jeitdem jie 
ihm zum erjten Male begegnet. Wieviel Seligfeit lag zwiſchen 
damals und heute. Sie hatte ihr Paradies gefunden, — o ivie 
dankbar mußte fie ihrem Führer in all die aufgeichlofiene 
Herrlichkeit fein. In innerer Glüdjeligfeit ſenkte fie tief den 
Kopf. Die Menjchen ringsum brauchten ihr Lächelndes Geſicht 
nicht jo neugierig zu mujtern. Erſt al3 eine Hand fich auf 
ihre Schulter legte und ihr Arm Fräftig in einen anderen 
gezogen wurde, hob fie den Blick empor, und ließ fi) an der 
Seite des Geliebten weiterziehen. 

„Beinah' hätt! ich meine Feine Apfelblüte nicht erkannt, 
warum haft du dich denn heut’ jo feitlich gemacht?“ fragte 
er, ihren Arm immer mehr an fich ziehen. 

„3a, — gefall’ ich dir? — O, wie mich das freut! Sch 
fomme mir immer ſo klein neben dir vor, ſo unbedeutend. 
Und dann bitt’ ich jedesmal den lieben Gott, daß er mich mehr 
und mehr deiner Liebe würdig mache.“ | 

Er blidte beharrlic auf das ſchmutzige Pflafter vor fich. 
Um feinen Mund lag e3 wie Spott über ihre Demut. 

„Haft du mich wirklich jo lieb, wie du immer ſagſt, Heine 
Apfelblüte?“ | 

„Was fragit du, wenn du's doch ganz genau weißt,“ 
antivortete fie vorwurfsvol. „Sch möchte die Kraft bejigen, 
dir die Sonne vom Himmel herunter zu holen. Smmer hell, 
immer. warm müßte e3 um dich fein, — du weißt ja gar nicht, 
wie viel ich dir für deine Liebe jchulde.“ 

Er biß ſich ungeduldig auf die Lippe, und zog fie aus 
der hellen, geräuſchvollen Umgebung der Linden in die jtille 
Wilhelmitraße. 


2518 Elje Krafft. 





Sie hatte feine Hand ergriffen und ihre warme, weiche 
Wange auf das kalte Leder gepreßt. | 

„SH hab’ eine Bitte, Fritz,“ begann fie zögernd. „Wir 
wollen zum Kirchhof fahren, wo meine Mutter liegt, — draußen 
am Halleſchen Thor. Sch bin lange nicht dageweſen, und heut’ 
it ihr Geburtstag. — Sch denfe immer, — fie müßte die 
erite fein, der ich mein Glück, — mein fo unverdientes Glüd 
offenbare.“ 

„Dummes Zeug!” entfuhr es ihm unmillfürlich. 

ALS Frieda erjchredt feine Hand los ließ, jehte er ruhiger 
Yinzu: „Sei doch nicht komiſch, Kleine Maus, — der Kirchhof 
iſt längit gejchloffen, wenn wir hinfommen. Es iſt jest ſchon 
ganz dunkel. Weißt du, wo ich dich hinbringen will? — Bu 
meiner Tante nach der Mohrenftraße. Sie erivartet dich heute, 
ich Hab’ es ihr feit verfprechen müſſen. Da hab’ ich meine 
ſüße Apfelblüte endlich "mal ein Stündchen ohne die fremden 
Menjchen, die ung bis jet überall beobachten konnten.“ 

Sie Schritten über den Wilhelmplat am Kaiſerhof vorbei, 
und der große Mann achtete weder auf ihr blaſſes Gefichtchen, 
noch auf ihre traurigen Augen. Immer haftiger zog er fie 
vorwärts. 

Vor einem großen, mit allerhand Figuren verziertem Hauſe 
blieb er ſtehen. 

„Siehſt du, Tante hat ſchon Licht oben,“ meinte er, zu 
der zweiten, hell erleuchteten Etage hinaufdeutend. 

Frieda rührte ſich nicht. Verlegen knöpfte ſie ihren Hand— 
ſchuh auf und zu. Ihre Gedanken waren bei dem einſamen 
Grab der Mutter, das am heutigen Geburtstag zum erſtenmal 
ſeit ihrem Tode nicht mit Blumen von ihres Kindes Hand ge— 
ſchmückt werden ſollte. 

Er legte ungeduldig den Arm um ihre Schulter, und leitete 
ſie in den Hausflur. Und da es dunkel und einſam rings— 
herum war, küßte er ſie raſch auf den Mund. 

„Willſt du nicht kommen, kleine Apfelblüte?“ 

„Nein,“ antwortete ſie leiſe, indem ſie wieder auf die 
Straße trat. 

Aergerlich folgte er ihr. 

„Aber worum denn nicht?“ 


„Am jo Einen!” 2519 





„sch kann heut’ deine Tante nicht jehen, ich muß immerzu 
an meine Mutter denken. Und da wäre ich doch recht traurig! 
— Geh” du allein zu ihr Hinauf und entfchuldige mich, — 
geh’, — ic) fahre mit dem Omnibus dort nach Haufe.“ 

Er blidte in ihre flehenden Augen und Elopfte ſich unmutig 
ven Schnee vom Abjah. 

„Da fieht man nun deine große Liebe!” 

Wehmütig nidte fie mit dem Kopf. | 

„Ja, ſchilt mich, Fritz, du haft recht. Sch bin manchmal 
riefig wunderlih. — Aber Sonnabend, das verjprech’” ich dir, 
Sonnabend können wir und gleich hier unten an der Haus— 
thür treffen. Dann fomm’ ich mit hinauf, wenn du noch 
willſt.“ 

Sie reichte ihm die Hand, die er an ſeine Lippen führte. 

„Aber Wort halten, kleine Apfelblüte. Soll ich nicht lieber 
mitfahren?“ | 

„Kein, Fritz, geh’ du nur hinauf zu der alten Dame. — 
Sonnabend aljo." — 

Sie hatte dem Kutſcher des vorüberfahrenden Omnibuffes 
gewinkt, und fprang leichtfüßig auf das Trittbrett. 

Er ſchwenkte grüßend den Hut, hob noch einmal die Hand, 
und Schritt dann in das Haus zurüd. 


* * 
x 


Als Frieda in das Wohnzimmer trat, war e3 faum halb 
acht vorüber. Sonit fehrte fie viel ſpäter aus der Nähftunde 
zurüd. | 
„Kanu,“ fragte die Tante, „bilt du etwa Pferdebahn ge- 
fahren, du kommſt doch ſonſt nicht fo früh?“ 

Prüfend glitten ihre Blicke über das neue Kleid, doch 
Ihien fie in bedeutend befjerer Stimmung zu fein, al3 am 
Nachmittage. 

„Ja, ich bin gefahren, Tante, die Straßen ſind wirklich ſehr 
ſchmutzig.“ 

Frieda war an den Tiſch getreten, über den eine altmodiſche 
Hängelampe ihr Licht verbreitete, und hatte die Arme um den 
Hals der unermüdlich Strickenden gelegt. 

„Biſt du mir noch böſe, daß ich heute ungehorſam war?“ 


2520 Elfe Krafft. 





— NIS 


„Böſe? — Nein, Friedchen. Du mußt doch nun endlich 
willen, daß id) e3 nur gut mit dir meine. — Da iſt ein Brief 
an dic) gekommen, aus Potsdam. Er wird wohl von deiner 
Freundin ſein.“ 

Das junge Mädchen, über deren glückliche Zuverſicht ſich 
in der letzten Stunde eine ſonderbare Zaghaftigkeit gelegt hatte, 
wurde bei den milden Worten der Tante wieder froh geſtimmt. 

„Onkel iſt wohl im Klub?“ fragte ſie, indem ſie den Brief, 
der auf ihrem Platz lag, mit einer Haarnadel öffnete. 

Bejahend ſpähte die Tante über ihre Brille hinweg auf das 
Schreiben. | 

„Was giebt’3 denn, Friedchen, Hat fie bald Hochzeit, die 
Toni?“ | 

Ganz aufgeregt nicdte Frieda mit dem Kopf. 

„sa, Zante, — den? doch nur, Schon in vierzehn Tagen. 
Und ob ich nicht ihren Brautfchleier jtiden, und die Beit big 
zur Hochzeit bei ihr bleiben wolle, fragt fie. Freitag abend 
Ihon holt fie mic) vom Bahnhof ab, — Tante, liebe Tante, 
ich darf doch zu ihr, — nicht?“ 

„Seit ihrer Verlobung iſt's heut’ das erſte Mal, daß ſie 
etwas von ſich hören läßt, und nun gleich dieſe große Freund— 
ſchaft. — Bleib' lieber hier, Friedchen, du paßt nicht zu den 
reichen Leuten dort.“ 

„Aber Toni hat mich lieb, und man kann ſich ja denken, daß 
ſo eine Braut über ihr Glück die Freundin vergißt,“ wandte Frieda 
ein. „Früher, als Mama noch lebte, waren wir ja ſo oft bei— 
ſammen. Und wäre ihre Mutter, Mamas liebſte Freundin, 
nicht auch geſtorben, hätteſt auch du mit ihnen verkehrt, Tante. 
— Toni ſchreibt ſo lieb, ganz wie früher, und den Zug hat 
ſie auch ſchon beſtimmt, mit dem ich fommen fol. Sch möchte 
zu gern Hin.“ 

„Meinetivegen fahre, wenn der Onfel nicht3 dagegen hat. 
Aber ein Hochzeitskleid, wo kriegſt du denn das her?“ 

Frieda lachte, und reichte der Tante den Brief hinüber. 

„Da, lies, — ſie hat an alles gedacht, die Toni. — Darf 
ich's denn annehmen?“ | 

„J gewiß doch, Friedchen. Mir fann’3 nur angenehm 
jein, von unseren paar Zinſen hätten wir's dir nicht Taufen 


„Am fo Einen!“ 2521 





fönnen. Nun geh’ aber, und beſorg' ung Abendbrot, e3 ijt die 
höchite Zeit.” — 

Erit als Frieda in der Küche jtand, dachte fie an Fritz. 
Wie. fonnte fie nur ganz und gar die Verabredung für Sonn- 
abend vergeffen. Nun würde fie wieder nicht mit ihm zu feiner 
Berwandten hinaufgehen. Einen Augenblid überlegte fie, wie 
fie ihre Fahrt nad) Potsdam am beiten verjchieben, oder 
vielleicht heimlich von dort aus auf einige Stunden nad) 
Berlin fahren könnte. — Nein, das ginge nicht. Die Fabrit 
von Tonis Vater lag weit vom Bahnhof entfernt, da hätte 
fie einen Wagen haben müſſen. 

Sie dachte hin und her. Das beite wäre, ihm zu jchreiben, 
daß fie Franf geworden, und nicht hinaus dürfe. Er war ja ſo 
anſpruchsvoll in ſeiner Liebe, und würde am Ende denken, daß 
ſie ihn meide, weil er ſich noch nicht öffentlich mit ihr verloben 
Eonnte. 

Frieda lächelte glüclich vor fich Hin. Es würde ihm gar 
nichts ſchaden, wenn er fie einige Zeit nicht jühe. Mit jedem 
Tage würde jeine Sehnjucht größer werden, und ihre auch. — — 
Dig jie wieder an feinem Herzen lag, — — beide doppelt jelig 
nach der Heinen Trennung. 

* x 
*x 

Am Sonntag Morgen wurde Frieda von. der Märzjonne 
gewedt, die durch einen Spalt der Vorhänge gerade auf ihre 
gejchloffenen Augen leuchtete. Sie richtete ſich auf und blickte 
zu der noch feſt ſchlafenden Freundin hinüber. 

Bis in die Nacht hinein hatten fie geſtern geplaubert, und 
örieda der fünf Jahre älteren die Gejchichte ihrer jungen Liebe 
offenbart. 

Zuerſt hatte Toni in ihrer ruhigen, vornehmen Art über 
den Leichtjinn des großen Kindes gejchoften, und mit ernften 
Worten dor jeder heimlichen Zuſammenkunft mit ihm gewarnt. 
. Doch Frieda wußte jo beredt, jo überzeugt ‚von ihren: über- 
großen Glüd zu erzählen, daß die junge Gebieterin des Haufes 
lächelnd mit dem Kopf nickte. 

„Weil ich ſelbſt liebe und geliebt werde, Friedchen, deshalb 
veriteh” ich dich auch, Und ich fehe es als meine Pflicht an, 


9529 Elfe Krafft. 





dir in jeder Beziehung zum ferneren Glück behilflich zu fein. 
Wir wohnen nad) unjerer Hochzeit3reije in Berlin, — und unjer 
Haus wird jedem Freund geöffnet jein. Dann bringst du ihn 
mir, deinen Schab, Friedchen, mein Bräutigam fanı vielleicht 
feinen Einfluß für ihn geltend machen. Und ihr trefit euch in 
unfrer Wohnung, Friedchen, das iſt beſſer für dich, und pafjender. 
— — Glaubſt du nun, daß ich e8 gut meine, du Fleines, Teicht- 
finniges Mädchen du?“ 

Wie ein jubelnder Aufichrei Fam es von Frieda Lager. 

„Das wird Himmlisch, Toni! Nun hab’ ich gar feine Angſt 
mehr, two du mir beiſtehſt. Wenn du ihn nur erjt kennſt, meinen 
Friß, dann mußt du ihm ja gut jein!“ 

Toni lachte. Ä | 

„Wie jieht er denn aus?“ 

„Groß, ſehr groß, — dunkles, lockiges Haar und braunen, 
dichten Vollbart. Ich kann dir gar nicht bejchreiben, wie ſchön 
er ift! Selbſt dein berühmter Rechtsanwalt, dein Hans kann 
nicht beſſer ausſehen.“ 

„Deine Beſchreibung paßt auch auf ihn, Schäfchen, alſo muß 
er wohl deinem Herzallerliebiten ähnlich fein. Du kannſt e8 mir 
ja morgen früh verraten, wenn er fommt. — — Willſt du mit 
mir zum Bahnhof fahren?“ 

„Aber Toni!" — — — 

Das Fam jo vorwurfsvoll von Friedas Lippen, daß beide 
lachen mußten. 

Und lächelnd jchliefen fie ein. — — — — — — — — 

- Die Sonne wurde immer zudringlicher. 

Frieda erhob ſich und begann, fich leije anzufleiden. Bei 
Tante und Onfel war fie an das Frühaufitehen gewöhnt. Noch 
einen Blick warf fie auf die liebe Schläferin, dann ging fie hinaus. 

Sm Nebenzimmer fand fie Bücher auf dem Tiſch, koſtbare 
Werke befannter Meiter. | 

Frieda durchblätterte eind nad) dem anderen. Am meilten 
fejfelte fie ein Band lyriſcher Gedichte, auf dejjen eriter Seite 
ein fat unlejerlich gefchriebener Name ftand. „Dr. Hans Litzmann,“ 
entzifferte fie mühjlam. Das war aljo Toni Verlobter, der eine 
jo jchredkliche Feder führte. „In der Handichrift eine Menjchen 
liegt feine Seele,“ pflegte der Onkel zu fagen, 


„Am fo Einen!“ 2523 





II 


Gedanfenvoll Happte Frieda das Buch zu. Ihr kam es 
plötzlich in den Sinn, daß fie noch nicht ein einzige8 Mal Die 
Schriftzüge deſſen gejehen, dem fie ihr Herz geichenft. Fritz 
liebte ja das Briefejchreiben nicht. Wie ſchön mußte er ſchreiben, 
o wie ſchön! — | 

Toni fam, und eö wurde lebendig im Haufe. 

Troß der Frühlingsfonne brannte ein helles Feuer im Kamin 
de3 Speijezimmers, und an der Staffeetafel neckte fi) der Haug- 
herr mit jeinem Beſuch. 

Toni bemutterte in ihrer ſicheren Ruhe Vater und Freundin, 
ichenfte ihnen den Kaffee ein und ftrich die Brötchen. Um 
ihren fonjt jo ernjten Mund lag ein weiches, glücliches Lächeln. 
Ale Augenblide Hob fie lauſchend den Kopf, ob Draußen dag 
Peitſchengeknall Friedrich! noch immer nicht die Einjpannung der 
Nferde verfünde. Als es endlich jo weit war, erhob fie fidh. 
Das dunkle Samtfleid umſchloß knapp ihre jchlanfe Figur, und 
Frieda eilte dienfteifrig herbei und brachte Hut und Handjchuhe 
für die Freundin. | 

„Haben Sie jhon ’mal jo 'was Verliebte? gejehen ?“ fragte 
lächelnd der Hausherr. „In einer Stunde fommt der Zug, und 
ſchon jetzt hat das Mädel feine Ruhe mehr. — — Da brauch | 

ic) ja gar nicht anjpannen zu laſſen.“ 

| „Dann ginge ic) zu Fuß, Papa, und noch eine Stunde 
früher. Beſſer, als wenn Hand warten müßte. — Adieu, 
Friedchen, laß dir die Zeit nicht lang werden.“ 

Hochaufgerichtet Ichritt fie hinaus, und Frieda jebte fich 
wieder ftill auf ihren Pla am Kaffeetiih. Wenn fie doch auch 
ſchon ſo weit wäre. Vierzehn Tage vor der Hochzeit mit dem 
geliebten Manne, — eine Seligkeit, kaum zu faſſen! — 

Der Hausherr legte die Zeitungen zuſammen und dehnte 
behaglich den mächtigen Körper. 

„Ich bin ein ſchlechter Geſellſchafter, Fräulein Friedchen, 
Sie müſſen mich ſchon entſchuldigen. Jetzt mache ich meinen 
ſonntäglichen Rundgang drüben in der Fabrik, werden Sie ſich 
auch nicht langweilen ſo ganz allein?“ | 

Frieda verneinte lächelnd. 

„Es ist ja jo jchön bei Ihnen, Herr Meinhard, wo foll 
da Sangemeile herfommen? — Bitte, laſſen Sie fich nicht ftören,“ 


2524 Elfe Krafft. 


— — 





Er ſchüttelte ihr kräftig die Hand. | 

„Sie find ganz das bejcheidne Kind von früher. Ihre 
Mutter war auch jo, immer janft, immer zufrieden. Auf Wieder: 
jehen zum Frühſtück!“ 

Als er hinaus war, fam das Hausmädchen ing Zimmer, 
um den Tiſch abzuräumen. 

„Wünſchen Sie irgend etwas, gnädiges Fräulein?“ 

„Nein, danke, ich werde mir ein Buch nehmen.“ 

„Kennen gnädiges Fräulein ſchon den Herrn Bräutigam?“ 
fragte das Mädchen weiter. 
| Frieda wandte ſich um und trat vom Fenſter fort, aus 
dem ſie dem Hausherrn nachgeblickt hatte. 

„Nein, — er iſt gewiß ſehr nett.“ 

Das hübſche Mädchen lachte. | 

„Ja, jehr nett ift der Herr Rechtsanwalt, der wird dent 
gnädigen Fräulein auch gefallen.“ 

Frieda blieb in Findlicher Neugier jtehen. 

„Er iſt wohl aud) jehr reich?“ 

„Reich? — Nein, ieh glaube, damit ift es He o — 
Aber dafür hat ja unſer gnädiges Fräulein genug, die könnte 
gewiß noch viel berühmtere friegen, iwie Herrn Rechtsanwalt.“ — 

ALS ſich das Mädchen mit dem Kaffeegejhirr entfernt hatte, 
ſchlug Frieda die Portiere vor dem nebenanliegenden Bücher— 
zimmer zurück, und ließ ihre Blicke bewundernd über den gemüt— 
lichen, hellen Kaum gleiten. 

Sn einer Ecke Itand ein Schaukelſtuhl, und man konnte von 
ihm aus durch das Fenſter in den — —— Garten 
hinausblicken. 

Mit einem Buch in der Hand ließ ſie ſich nieder und 
lehnte ſich behaglich zurück. 

„Goldene Fäden“ ſtand auf dem roten, e eleganten Einband 
des kleinen Werkes. 

Ein Weilchen durchblätterte ſie gedankenlos ſeinen Inhalt, 
dann überkam ſie das Gefühl, als führe auch ſie ſo ein unſicht— 
barer, goldener Faden an das Herz des fernen Geliebten. Um 
den holden Traum nicht zu verſcheuchen, ſchloß ſie die Augen, 
und glaubte ganz deutlich ſeine geflüſterten Liebesworte zu ver— 
nehmen, ſeine Küſſe auf den Lippen zu ſpüren. Was er wohl 


„Am jo Einen!” 2525 


IN 





gejagt hatte, al8 er gejtern ihren Brief erhalten? . Nun würde 
er mit doppelter Sehnſucht auf eine weitere Nachricht harren. — 

Wie heiß es ringsum war, und wie ftarf die Veilchen in 
der Vaſe am Fenſter dufteten. Es ließ fich köſtlich hier von 
Lenz und Liebe träumen. Smmer deutlicher tauchte fein Bild 
vor ihrer Seele auf. 

„sch bin ja jo glücklich,“ ſtammelte fie plötzlich, „o Dal glüd- 
lich, lieber Gott!" — 

Nur an ihn denfen dürfen war ja jchon Seligteit. 

Draußen hörte man einen Wagen vorjahren. 

Frieda rührte ſich nicht. Auch als fie im Nebenzimmer 
Toni Stimme vernahın, blieb ſie noch in ihrer Ede figen. — 

„Wie heißt denn dein Heiner Befuh? Du haft mir ja 
noch nie etwas don einer Zreundin erzählt,“ hörte Frieda nun 
fragen. 

Sie ſprang jo Haftig auf, daß der Schaukelſtuhl polternd 
gegen die Wand flog, und Toni lachend den Kopf durch die 
Portiere ſteckte. 

„Alſo hier findet man die kleine Leſeratte, komm, Hand, — 
‚ damit deine Neugier befriedigt wird, werde ich ie Dir gleich 
vorſtellen.“ 

Sie zog den Verlobten hinter ſich her und in das Bücher 
zimmer. — 

„Fritz!“ Hang es jubelnd, „Sriß!" — 

Einen Augenblid nur, dann war es wieder fill, ganz ſtill. 

Die e8 mit außgeftrecdten Armen gerufen hatte, hielt jebt 
die Hand über die Augen, als jähen fie etwas SOME: Une 
heilvolles. 

„Friedchen,“ meinte Toni entſetzt, „Friedchen!“ 

Doch ſchon war das junge Mädchen an ihr vorbei und 
aus dem Zimmer gelaufen. | 

Der jchöne Mann zeigte ein Lächeln, das fchließlich zur 
Grimaſſe wurde. Sein Plan war im Augenblid fertig. Ueber- 
raſcht wandte er fich zu feiner Braut um. | 

„Das kann doch unmöglich deine Freundin fein, Toni, — 
nein, — — id) fann e3 nicht glauben.” 

Sie trat ganz dicht vor ihn Hin. Ihr Antlitz war fchred- 
haft bleih. 


2526 „Elſe Krafft, Um fo Einen!“ 





„Du, — — u kennſt ſie, — — ſage mir, ob du fie 
fennft. e 

„Flüchtig, Schatz, ſehr ſluchtige Viel iſt nicht dran an ihr.“ 

Unwillkürlich trat er zurück. Es hatte ausgeſehen, als ob 
ſie ihn ſchlagen wollte. 

„Und du, — du heißt für ſie Frih, — Fritz Weber? — — 
Antworte mir, ich habe das Recht darauf!" 

Nun erblaßte auch er. Sein ganzes, herrlich erſchaffenes 
Zukunftsbild drohte in Trümmer zu fallen. Er bemühte ſich 
jedoch, ruhig zu bleiben. 

„Sei doch nicht thöricht, liebe Toni. Du denkſt doch ſonſt 
nicht fo Eleinlich über derartige Sachen. Wer weiß, was das 
Mädchen dir vorgelogen hat, — — So etwas fennt man ja.“ 

Wie fie fich beherrjchte, wie fie bei jedem jeiner Worte die 
Zähne aufeinanderpreßte, um nicht laut aufzufchreien. 

„Seh’, — — geh’ und komme nie wieder! — — Haft du 
nicht "gehört, daß du gehen follit?” 

Er wollte ihre Hand ergreifen, ihr gut zureden, fie wich 
aber entſetzt zurüd. | 

Da ging er, wie ein Geächteter fchritt er hinaus. 

* * 


* 

Regungslos blieb Toni ſtehen. 

Als unten die Thür ins Schloß fiel, hielt ſie ſich am 
Fenſter feſt, um nicht zu Boden zu ſinken. 

Durch die Portiere ſchimmerte vom Nähtiſch des Wohn— 
zimmers der Brautſchleier zu ihr hinüber. Geſtern waren die 
erſten Blüten von Friedas Hand darauf erſtanden. — 

Und es zog ſie hinaus, ſuchend durchſchritt ſie die ganzen, 
vom hellſten Sonnenlicht durchleuchteten Zimmer. 

Kr Bis fie das junge Menſchenkind gefunden hatte, das noch 
mehr wie fie felbjt in diefer Stunde verloren. Den Glauben 
an da3 Heiligite, was einer kindlich reinen Seele bejchieden war. 

Tief beugte fie fich über den zerwühlten, braunen Kopf. 
Ihre kalte Wange preßte fie an das heißgeweinte Gefichtchen, 
und ihre Arme umjchlangen die Leidensgefährtin feit, — — 
immer felter. 

„Um fo einen!“... 


N 





Photographien aus dem Vogelleben im Freien. 
Don Emald van den Boſch. 


(Vachdruck verboten.) 
giebt Faum noch ein lebendes Weſen, das den ftarren- 
den Augen des photographiichen Apparat3 entgangen 
wäre. Nicht nur wir civilifierten Menfchen werden von 
Freunden und Bekannten genötigt, vor dem Apparat 
Pla zu nehmen und unfer Geficht in die Falten zu legen, die der 
Photograph wünfcht. Auch dem Auftralneger und dem Bufch- 
mann paſſiert es, daß fie einen reifenden Gelehrten treffen, der 
fie auf jeiner wunderbaren Platte verewigt. Aber auch das 
Samilienleben der Bögel im Walde ift durch ihn gefährdet, ob- 
gleich) man annehmen jollte, daß e3 jchwierig fein müßte, dort 
ein photographijches Atelier zu errichten, wo fie ihre Neſter zu 
bauen pflegen. Das Neit iſt ja in der Regel dort angebracht, 
wo die Beleuchtungsverhältnifje äußerjt jchlechte find, und die 
Schwierigfeiten, den Apparat in die Nähe des Neftes zu bringen 
und damit die Scheu der Vögel zu überwinden, iſt jo groß, 
daß e3 nur in feltenen Fällen gelingen dürfte, eine Aufnahme 
zu bewerfitelligen, die ein deutliches und klares Bild von dem 
Leben im Neite bietet. 

Man kann ja allerdings den umgekehrten Weg einjchlagen 
und die Vögel zu fich heranziehen, indem man ſie einfängt und 
fie in der Gefangenjchaft brüten läßt, aber man macht damit 
einen jo tiefen Eingriff in ihre natürlichen Lebensbedingungen, 








2525 | Ewald van den Bojch. 





daß die —— — — aus dem Leben der Vögel unter dieſen 
Verhältniſſen nicht annähernd dasſelbe Intereſſe haben, als die 
im Freien genommenen Aufnahmen. Der Amerikaner Profeſſor 
Herrid hat indefjen ein Verfahren angewandt, mitteljt defjen 
es ihm möglich wurde, das Leben der Bögel im Nejte auf Arm— 





Kütterung junger Vögel durch die Mutter. 


länge genau zu beobachten und fie zu photographieren, ohne 
daß man ihnen ihre Freiheit raubt oder ihre Yebensbedingungen 
wejentlich verändert, und ohne daß fie gewahr werden, 20 man 
lie beobachtet. 

Herrid lag daran, die Bögel in jeine Nähe zu bringen 
und ſie dort feitzuhalten, nicht durch Stangen und Drähte, 
jondern durch ein unfichtbares Band, das elaftiich genug iſt, 
um den Vogel fo weit fort fliegen zu laſſen, al3 es ihm ſelbſt 
beliebt, und das doch imjtande ift, ihn mit unwiderjtehlicher 


Photograpbien aus dem DVogelleben im Sreien. 2529 


Kraft wieder zurücdzuziehen. Ein derartiges unfichtbares Band 
fand er in der Eiternliebe. 

Sah er im Walde auf einem belaubten Zweige ein Neſt, 
das er zu beobachten wünſchte, ſo ſtellte er in der Nähe des 
Baumes an einer paſſenden Stelle ſein Obſervatorium, ein 
grünes Zelt mit dem Eingang auf der einen Seite und einer 
kleinen Scheibe auf der entgegengeſetzten, auf. Darauf ließ er 





Reinigung des Nejtes durch die Vogelmutter. 


den ganzen Zweig mit dem Neſte abjägen und ihn mit großer 
Borficht nach dem Zelte hHinunterbringen, wo er auf einem ein- 
gerammten Pfahle unmittelbar vor der Scheibe angebracht 
wurde. 

Man jollte meinen, daß ein jolches Vorgehen gleichbedeutend 
mit einer brutalen Vernichtung des Heims des Vogels wäre. 
Diez ift indeffen glüdlicherweife nicht der Fall. Weder die 
Alten noch die Jungen werden hierdurch ernitlich gejtört. Sind 
die Vögel jehr jcheu, jo werden fie das Belt unter Umständen 

ZU. Haus-Bibl. II, Band X. 159 


2530 Ewald van den Bojch. 





zwei Stunden oder länger umfreijen, bis fie ſich auf dem Nefte 
niederlaffen. Gewöhnlich fchwindet das Mißtrauen aber ſchon 
nach zwanzig Minuten bi3 einer Stunde, und Herrid hat beob- 
achtet, wie einzelne Vögel jchon drei Minuten nad) erfolgter 
Aufitelung des Neites die Jungen fütterten. Hat ein Vogel 
erit einmal da3 Neſt an jeinem neuen Pla befucht, jo wird 
er immer wieder und wieder zurückkommen. Gleichzeitig nimmt 
die Häufigkeit jeiner Beſuche an der alten Stelle des Neites 
ab, und bald fühlt er fich unter den neuen Verhältniſſen voll- 
kommen zu Hauſe. 

Wenn die Vögel fich dem Neite nähern, erregt im Anfang 
jeder merfwürdige Gegenftand, wie die Pfähle, die den Zweig 
tragen oder da3 benachbarte Zelt Furcht und Mißtrauen bei 
ihnen. Uber da fie bei jeder Rückkehr diefelben Gegenjtände 
jehen, merfen fie jchließlich, daß fie feine Gefahr für fie bergen. 
Das Belt fteht jtill und unbeweglich da, und da die ungen 
dicht dabei find, wird ihre Furcht vor dem Neuen allmählich 
überwunden. &3 find die leinen, immer die Kleinen, um die 
fih das Intereſſe der alten Vögel jammelt und um die fich 
ihr ganzes Leben dreht. Sie find das ſtarke Zodmittel, der 
Magnet, der die Eltern unwillkürlich anzieht. Das Holz, der 
Zweig, ja, das Neſt ſelbſt, was find fie im Vergleich zu den 
Sungen, für die allein fie leben! 

Vielleicht ehrt die Furcht der alten Bügel zurüd, wenn ſie 
einit zum Neſte heimfehren und die Scheibe im Belt offen finden 
und fjehen, daß das Glasauge de3 photographilchen Apparats 
ihnen entgegenitarrt. Aber bald werden fie auch mit diefem 
Gegenſtand ebenjo wie mit. den ftörenden Lauten aus dem Belte 
vertraut. 

Natürlich ift die Sache nicht jo einfach, wie mancher glauben 
mag. Herrids Methode fordert nicht nur große Geduld und 
viel Zeit, jondern auch viel Umficht und genaue Kenntnifje der 
Vogelwelt. Bei manchen Arten’ konnte Herrid das Nejt ver- 
jeßen, noch bevor die Eier außgebrütet waren, bei andern mußte 
er fo lange warten, bis die Jungen vier biß neun Tage alt 
waren. Das Bedenken beim Verlegen der Weiter, daß fie leichter 
den Angriffen der Raubtiere ausgeſetzt werden lönnten, jchien 
bei Herricks Verfuchen von geringer Bedeutung zu jein. Die 


Photographien aus dem Dogelleben im Freien. 2531 


Raubtiere jchienen die ganze Aufitellung für eine Falle zu halten, 
von der fie fich möglichjt fern hielten. Dagegen war die Sonnen 
bite für die zarten Jungen gefährlid, und man mußte fich des- 
halb vorjehen, daß man nicht zur Erzielung einer bejjeren Be- 
leuchtung die fchirmenden Blätter entfernte. 

Hatte Herrid auch mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen, 
jo wurden feine Anftrengungen doch reichlich belohnt. Mit dem 
Notizbuch in der Hand konnte er in feinem Zelte dafigen und 
alles beobachten und aufzeichnen, was im Nejt vor fich ging, 
wie die Vögel fich näherten, welche Arten Futter fie brachten, 
die verjchiedene Thätigkeit der Alten und Jungen, der Bejud) 
unmillflommener Gäjte und ihr Kampf mit dem Befiter des 
Neſtes, oder das Einfangen der Beute, daS oft unmittelbar vor 
feinem Auge vor ſich ging. 

Die Vögel lebten und bewegten fi) jo nahe neben ihm, 
daß er ihre Atemzüge zählen konnte, und dabei hatten fie feine 
Ahnung, daß fie beobachtet wurden. Es war unmöglich, einen 
Platz zu finden, von dem aus man befjer ihrem Geſange hätte 
lauſchen und die Bedeutung der verjchiedenen Laute ftudieren 
fönnen. Dann konnte er fie auch photographieren, wenn es ihm 
beliebte, und unter den volllommenften Bedingungen das auf 
jeine photographiiche Platte bringen, was bis jeßt noch fein 
Naturforſcher gejehen hatte. 

Wir bringen heute zwei Wiedergaben der Herridichen Photo- 
graphien. Die erſte jtellt den wichtigen Zeitpunkt dar, wann die 
Kinder gefüttert werden jollen. Die Mutter ift mit der Kehle 
voller Beeren heimgefehrt, die jebt von ihrem Schnabel in den 
weit geöffneten Rachen der Heinen Tierchen hinübertvandern follen. 
Keiner von ihnen hat eine Ahnung davon, daß der Apparat, der 
etwa einen Meter von ihnen entfernt iſt, ein getreues Bild von 
der Gier wiedergiebt, die fie in dieſem Augenblick verraten. 

In der E Familienſcene, die und unjer zweites Bild vorführt, 
ipielen die Jungen eine weniger wichtige Rolle. Sie jcheinen 
joweit al8 möglich nad) der einen Seite des Neſtes hinüber— 
geichoben zu fein, während die Mutter die Reinigung des anderen 
Teils mitteljt ihres Schnabels bejorgt, mit dem ſie alles das— 
jenige entfernt, was ſich an Ueberflüjjigen darin angeſammelt hat. 


159* 





Ständchen. 


Zudwig Jacobomwsti.. 


Und fommt des Wegs ein Mufikant, 
Die Fidel auf dem Rüden, 

Den will ich durch das weite Land 
Zu meiner Kiebiten fchicen. 


Und wenn die ganze Stadt erwacht, 
Geh’ fiedeln auf den Gaſſen! - 

Du follft in folcher Sommernadt 
Kein Mädchen fchlafen lafjen. 


Der Wächter bleibt verwundert ftehn, 
Kein Brunnen will mehr rauschen. 
Der Mond vergißt das Weitergehn, 
Um deinem Klang zu laufchen. 


Und hört es auch die ganze. Stadt, 
Du fpielft ja nur für eine: 

Die beide Senfter offen hat, 

Die iſt es, die ich meine! 


Röslein und Wandern. 
Friedrich Dolter. 


m Monat der Rofen 
Ein Böslein am. Hut, 
Ein Röslein im Herzen, 
So wandert fich’s aut. 


Das eine zum Tragen 
Als Sterde bunt, 

Das andre zum Lieben 
Don Herzensgrund. 


Das eine zum Welfen 
In furzer Seit, 

Das andre zum Wahren 
In Ewigfeit. 








Wie das Gold gefunden wird. 


Don Dr. M. Warrivf in San Francisco. 





(Vachdruck verboten,) 


Am Gofde hängt, 
Nach Golde drängt 
Doch alles. 


ine der Haupttriebfedern. alle menjchlichen Handelns 
drückt fich in dieſen Jchlichten Worten Goethes aus. 





und vergejjen. Andere Quellen jind an ihre Stelle getreten, 
den immer mehr fteigenden Bedarf an, Gold zu befriedigen. 
Bald nad) jeiner Entdedung begann Amerika die Völfer Europas 
mit Gold zu verjorgen. Zuerſt war es Südamerifa, das große 
Scharen Spanischer Abenteurer anzog, die Millionen nad) 
Europa jchleppten. Mit dem achtzehnten Sahrhundert ging aber 
auch der Goldreihtum Südamerikas zu Ende; der Norden der 
neuen Welt jollte bald Erſatz dafür bieten. Im Sabre 1848 
fand ein ehemaliger Offizier der Schweizergarde, der Kapitän 
Sutter, im Sacramentofluß in Kalifornien das erjte Gold. Das 
gab den Anſtoß zu einem gewaltigen Zujammenjtrömen aller 
Leute, die nicht® zu verlieren hatten, aber viel zu gewinnen 


2534 Dr. IM. Marriot, 





hoftten. Weberall wurde der Erdboden auögebeutet, Kalifornien 
erichien als das reichite Goldgebiet. Drei Jahre jpäter wurden 
auch in Auftralien bedeutende Funde gemacht. Auch hier brad) 
ein fürmliche8 Goldfieber aus, ſelbſt von den Schiffen in den 
Häfen dejertierten die Mannjchaften, um nach den Goldfeldern 
zu laufen. Die Kapitäne waren machtlo8 dagegen und fonnten 
häufig nichts Beſſeres thun, als dem Beijpiele der Matrojen zu 
folgen. In jüngijter Zeit erregte dann die Entdeckung von Gold 
im Trangvaalgebiet Aufjehen, und auch die überaus reichen Gold- 
funde am SKlondyfefluß, Hoch oben an der Weſtküſte Nord- 
amerifa8, befeitigten die Anficht; daß vorläufig eine Abnahme 
der Goldförderung nidyt zu befürchten ijt. — 

Man ftellt fi) die Gewinnung des begehrten Metalls 
vielfach allzuleicht vor. Das gerade Gegenteil iſt der Fall. Es 
genügt nicht, einfach nad) einem Goldbezirk, mehr oder minder 
gut ausgerüſtet und verproviantiert, zu wandern, das Erdreich 
tüchtig umzugraben und dann fleißig nachzuſchauen, ob fich nicht 
etwas glißernd Gelbes zeigen will. Auf diefe Weile würde der 
Goldgräber jchwerlich zu einem nennenswerten Gewinn fommen; 
das Gold läßt ich nicht jo leicht beilommen. In unjcheinbarer 
Hülle, Shwärzlich, unanjehnlich, verbirgt es fih im Schwemmland 
oder tief im Geſtein, oder es findet ſich in feſter Verbindung 
. mit anderen Metallen, namentlicd) mit Silber. Pielfache Kennt— 
nifje und langjährige Erfahrung gehören dazu, da8 Edelmetall 
von feiner wertlojen Umgebung zu fcheiden. Ganz bedeutende 
körperliche Anftrengungen erfordert die Arbeit des Goldſuchers 
freilich aud). 

Es giebt verjchiedene Methoden der Goldgewinnuny; die 
älteite und einfachite ift daS fogenannte „Goldfeifen“. Sie wird 
dort angewandt, wo ſich das Gold in fandigem Boden vorfindet. 
Das roheſte, urjprünglichite Handwerkszeug des Goldgräbers 
iit die „Batea“, eine flahe Schüfjel au verzinntem Blech oder 
Holz; im Notfall wird fie aud) einfach aus einem großen Kürbis 
hergeitellt. Sie wird mit goldhaltiger Erde gefüllt und jo lange 
unter Wafjer gejchwenft, bis der Sand und Lehm fortgejpült 
find, während daß fchwerere Gold auf dem Boden zurücdbleibt. 
Died Verfahren, dag freilich den Vorzug großer Billigkeit hat, 
ijt andererjeitS mit dem Nachteil verbunden, daß dabei fehr viel 
Gold verloren geht. Um auch die Hleineren Goldteilchen zurüd- 
zubehalten, milcht man deshalb Quedfilber unter die durd)- 
gewajchene Erde. Das Duedfilber löft das Gold auf und ver- 
bindet fih mit ihm. Die Milchung, eine breiige Mafje, wird 


Wie das Gold gefunden wird, 2535 





dann in eilerne NRetorten gebracht, die bis zum Notglühen er- 
hist werden. Das Duedjilber verflüchtigt ih dadurd), und das 
reine Gold bleibt zurüd. 

Statt der Schüfjel bedient man fich Hereit3 ſeit langer Zeit 
zum Auswajchen des goldhaltigen Sandes größerer Apparate, 
der fogenannten „Wiege“ oder der noch leijtungsfähigeren 
„Schleufe”, mit denen ein einzelner Manı pro Tag bis zu 
18000 Kilogramm Erde auswaſchen kann. Wo der goldhaltige 
Sand offen zu Tage liegt, wendet man freilic) mit großen Kojten 
auch noch auögiebigere Abbau Methoden an. Auf der Grube North- 
Bloomfield in Kalifornien wird der goldhaltige Sand direkt 
durch Waſſer abgeipült. Unter ungeheurem Drud wird ein 
Waſſerſtrahl von. ſechs Zoll Durchmelter gegen dag Erdreich ge- 
ichleudert.. In 24 Stunden werden auf dieje Weile 4/, Mil- 
lionen Kubikfuß Waſſer verbraudt; um einen Teil Gold zu ge— 
winnen, müſſen zwölf Millionen Teile Kies durchwaſchen werden. 
Das ergiebt natürlich) ungeheure Rückſtände, die, um den Fort- 
gang der Arbeit nicht zu hindern, jchleunigft vom Arbeitsplatz 
mweggeichafft werden müſſen. Ein einzelner Arbeiter kann aljo 
auf eigene Rechnung überhaupt nicht gewinnen. Der Abbau 
wird deshalb faft überall von großen Altiengejellichaften betrieben, 
und der Goldgräber, der anfang mit großen Hoffnungen auf 
Ichnell zu erwerbenden Reichtum nach dem Minenbezirk kam, ift 
ichlieglich froh, wenn er als einfacher Arbeiter gegen Tagelohn 
in den Dienft einer jolchen Gejellichaft treten kann. 

In den Bergwerlen, wo das Gold ſich unter feſtem Geſtein 
findet und tief auß der Erde herausgeholt werden muß, liegen 
die Verhältnifje nicht mwejentlich anderd. Auch hier find es die 
großen Gejellichaften, die vermöge ihrer reichen Mittel den Ab- 
bau am ergiebigjten zu betreiben vermögen. Mindejtens aber 
thun ſich die Goldgräber zu Kleinen Trupps zuſammen, vier 
Mann arbeiten wenigjtend zujammen. 

Eine Grube ijt leicht zu eriwerben. In den nordamerifa- 
niſchen Goldbezirten hat man nur nötig, ein bejtimmtes Stüd 
Land abzufteden und zu erklären, daß man es zum Zwecke des 
Goldgrabens bis zu einer gewiſſen Tiefe in Befik nimmt, worauf 
dann ohne weiteres daS abgegrenzte Terrain Eigentum des Be— 
treffenden wird. Vorausgeſetzt ijt dabei allerdings, daß inner- 
halb der erjten zehn Tage bereit mit der Arbeit begonnen wird, 
im anderen Falle wird die Grube wieder öffentliches Eigentum. 

Die Goldgräber pflegen ihren Gruben, und jollten fie auch 
noch) jo wenig ergiebig ſein, gewöhnlich recht hochtrabende Namen 


2536 | Dr. M. Marriot. 





beizulegen; in den Silber- und Goldbezirken Nevadas ſtößt man 
auf Namen wie „Bergkönig“, „Schatztruhe“, „Univerſum“, 
„Große Republik“, „Grauer Adler“, „Großmogul“ uſwp. In 
den Gold- und Silberſtädten Nevadas findet man oft hunderte 
ſolcher kleinen Gruben. Jeden Tag werden neue abgeſteckt, und 
nicht ſelten kommt es vor, daß an einer Stelle, wo bereits ein 
Haus ſteht, eine Grube angelegt wird. Es iſt beiſpielsweiſe im 
Keller eine Arbeit auszuführen, und der Maurer, welcher dieſe 
ausführt, findet dabei etwas, das einer goldhaltigen Quarzader 
ähnlich ſieht. Sofort erklärt er den Keller für ſeine Parzelle, 
die er abbauen will. Wem das Haus gehört, iſt dabei ganz neben— 
ſächlich, die goldhaltige Ader iſt Eigentum des Finders, und nie— 
mand hat ſich in deſſen Angelegenheiten hineinzumiſchen. Hat 
ſich jemand in einer Goldſtadt einen Garten angelegt, der ge— 
rade in ſchönſter Blüte ſteht, ſo kann jeder beliebige andere 
daherkommen, eine Stange mit der Bekanntmachung aufpflanzen, 
daß er hier ein Stück —* zu einer Grube belege, und mit 
größter Seelenruhe anfangen, den Boden mit Hacke, Schaufel 
und Sprengpulver zu bearbeiten. 


In den meiſten der kleinen Gruben wird freilich nicht ſehr 
viel gearbeitet. Ihre Eigentümer beſchränken ſich darauf, Anteil- 
jcheine auf die Gruben auszugeben und dieje möglichjt vorteilhaft 
an den Mann zu bringen; dabei machen fie vielleicht ein vorteil- 
hafteres Geſchäft, al3 wenn fie nach dem Golde ſelbſt graben 
wollten. Natürlich ift e8 nötig, einen Ausweis zu haben, 
wieviel Ertrag die Grube liefert. Diejen Ausweis bejorgt der 
von der Regierung vereidigte Wardein, deren es in jeder Goldſtadt 
mehrere giebt. Ihm muß ein bejtimmter Teil des zuerjt ge- 
wonnenen Metall3, in Barrenform gegofjen, für die jogenannte 
Feuerprobe abgeliefert werden. Das iſt ein ſehr intereflantes 
Berfahren. Von dem Barren wird eine Ede abgeichnitten, fo 
dünn wie Bapier ausgehämmert und dann auf einer Wage von 
jolcher Feinheit gewogen, daß, wenn man auf ein Stückchen 
Papier von bejtimmtem Gewicht mit einen groben, weichen Blei= 
jtift ein paar Worte jchreibt und es dann von neuem wiegt, 
die Wage deutlich ein andered Gewicht anzeigt. Etwas Blei wird 
gleichfall3 getvogen und mit dem Edelmetall zuſammen in einem 
feinen Gefäß aus gepreßter Knochenaſche, der Jogenannten 
„Kapelle“ gejchmolzen. Dabei wird dag Blei jamt allen anderen 
unedlen Metallen von der Kapelle aufgelogen; reined Gold und 
Silber bleibt zurüd. Died wird gewogen; der Gewicht3verlujt 
zeigt dann an, wieviel unedled Metall der ganze Barren ent- 


Wie das Bold gefunden wird. 2537 





hält. Durch Salpeterfäure jcheidet man alsdann da8 Silber 
vom Gold und kann jo den Goldgehalt des Barrens feititellen. 

Nah dem Goldgehalt der Grube richtet fi) der Kurs der 
Anteilfcheine, der jogenannten „Kuxe“. In den amerifanifchen 
Goldftädten, wo man es überhaupt mit der Ehrlichkeit nicht fo 
genau nimmt, iſt dadurch hatürlic) dem Schwindel Thor und 
Thür geöffnet. Um die Anteilicheine recht hoc) zu treiben, ftellt 
man einfach künſtlich einen höheren Goldgehalt her. Sn der 
Goldgräberjprache wird das das „Salzen“ der Grube genannt. 
Es wird einfach von dem Ertrag einer anderen reicheren Grube 
etwas in die eigene hineingebracdht und dies dann als wirfficher, 
echter Ertrag außgegeben. Nicht jelten greift man jogar zu dem 
unglaublich unehrlichen Mandver, ein paar Münzen zu jchmelzen 
und das Metall unter Duarzjtüde aus der Grube zu mengen. 
Es finden fi immer Dumme, die darauf hineinfallen und dann 
das Eigentumsrecht an einer oft ganz wertloſen Grube zu hohem 
Preiſe erwerben, um nachher erfennen zu müfjen, daß ihre an— 
Icheinend jo reiche Grube ein wertloſes Stüd Erde ift. 

Sm allgemeinen gelangt man aljo in den Goldminen nicht 
undermutet jchnell zu Reichtum. Ein guter durchjchnittlicher 
Tagesverdienſt ift jchon daß beſte, das man erhoffen kann. Daß 
Gold in großen Stüden, den jogenannten „Nugget3“ gefunden 
wird, gehört zu den größten Seltenheiten; jolche Funde werden 
itet3 al3 ein großes Ereignis gefeiert. Aujtralien fann fich des 
Vorzugs rühmen, den bisher als größten befannten Goldflumpen 
in feinem Boden beherbergt zu haben; er wurde im Jahre 1852 
gefunden, wog 248 Pfund und hatte einen Wert von ungefähr 
300000 Mark. Der zweitgrößte Nugget im Gewicht ‚von 
150 Pfund, der ſich durch außerordentliche Neinheit auszeichnete 
und nur eine geringe Menge von weißen Quarz beigemijcht 
enthielt, wurde vor einiger Zeit in Kalifornien von dem 
Goldaräber Dliver Martin gefunden. Er machte jeinen Fund 
auf etwas merkwürdige Weile. Mit einem Kameraden hatte er 
an einer abſeits von den Goldgräberlagern gelegenen Stelle, die 
der Ausbeutung wert erjchien, eine Mine angelegt. Nach £urzer 
Zeit jedoch erkrankten beide am Fieber; lower, Martins Ge- 
fährte, der jchon durch den Mangel an Lebensmitteln gejchwächt 
war, erlag der Krankheit. Martin, obgleich jelbjt ganz erjchöpft, 
wollte feinen Kompagnon wenigjtens in würdiger Weile bejtatten 
und ſchickte jich an, am Fuße eines Baumes ein Grab zu graben. 
Für dieſe Arbeit belohnte ihn ein gütige8 Schidjal durch die 
Entdedung jenes unter den Wurzeln des Baumes verborgenen 


2538 Dr. M. Marriot. 





Goldklumpens, des größten, der jemals von einem amerikaniſchen 
Goldgräber gefunden worden iſt. Er ſtellte ein Vermögen von 
etwa 160000 Mark dar. 

Bei der Seltenheit derartiger Funde iſt es um fo merk— 
würdiger, daß ein anderer Kalifornier, Namen? Daniel Hill, 
Jogar zweimal in jeinem Leben je einen großen Nugget entdedt 
hat, die ihm zujammen 125000 Mark einbradhten. E83 ging 
ihm freilich wie den meilten vom Glück begünftigten Gold- 
gräbern; er wußte mit feinem Vermögen nicht anzufangen, 
brachte e3 in fürzejter Zeit durch und war bald wieder genötigt, 
zur Hade und Schaufel zurüdzufehren. | 

Mit den Gerüchten von ſolchen großartigen Funden fuchen 
fd die Goldgräber über die Mühe ihres jchwierigen Berufes 
hinwegzuhelfen, namentlich in den amerikanischen Goldſtätten 
laufen viele Geichichten von großartigen Funden um, die ihre 
Entdeder, aus dieſem oder jenem Grunde, vielleiht aus Er- 
Ihöpfung, aus Mangel an Proviant oder Transportmitteln, 
nicht bergen fonnten, und nachher, wenn fie mit den nötigjten 
Hilfsmitteln verjehen an den Fundort zurüdfehren wollten, nicht 
wieder entdeden konnten. 

Es iſt ficher, daß e8 auf der Erde nod) eine ganze Menge 
Diftrikte giebt, wo das gelbe Metall reichlich vorhanden ift, — 
aber man feunt fie nicht, und Diejenigen, deren Exiſtenz als 
fiher anzunehmen ift, und deren Lage man auch weiß, find 
fat unzugänglih und jelbit für fürzere Zeit unbewohnbar. 
So fol fih im Innern Auſtraliens, dieſes dürriten und 
wafjerärmiten Erdteils, ein Goldbezirk von munderbarem 
Reichtum befinden. Da aber Auftralien in feinem Innern nur 
Wüſte it, und zwar eine der jchredlichiten und fajt gar nicht 
zu durchkreuzenden, jo ijt dieſer Fleck bisher überhaupt nur von 
einem einzigen Menfchen erreicht worden, demjelben, der die 
Nachricht von den dort in der Einöde lagernden Reichtümern 
brachte. Es war der englijche Forſchungsreiſende Giles, der im 
Sabre 1876 auf diejen jo unwirtlichen und doch jo gejegneten 
Punkt der Erde jtieß; die Proben des Goldes, die er mitbradhte, 
und feine Erzählungen veranlagten einige Goldgierige zu einer 
Erpedition nad) jener Gegend, doch find fie nicht wieder zurück— 
efehrt. 

j Viel leichter zu erreichen, was die Länge des Weges an- 
belangt, wäre ein zweite Goldfeld, das im nördlichen Afrika, 
im Südmelten von Maroffo — ſoll. Der ruſſiſche Reiſende 
Gontſcharew berichtete davon. Er kam durch dieſe Goldregionen 


Wie das Hold gefunden wird. 2539 





auf einer Forjchunggreile, die er, ebenfo wie e3 der befannte 
deutſche Reiſende Gerhard Rohlfs auf einer Reife durch Maroffo 
that, al3 Mujelmann verkleidet unternehmen mußte, da Die 
fanatische Bevölkerung jener Gegend jeden Chriſten und Europäer 
- umbringen würde. Das ijt e8 auch, was die Ausbeutung jener 
reichen Goldminen verhindert; außerdem haben auch die Sultane 
von Maroffo von jeher die Eriltenz jener Reichtümer zu ver- 
heimlichen gejucht, da fie fi) ganz mit Recht jagten, daß ein 
großer Buftrom von Europäern mit der Zeit der Selbjtändig- 
teit ihrer Herrichaft gefährlich werden würde. So wurden ja aud) 
die heldenhaften Buren in Transvaal in den Krieg mit England 
dadurd) verwidelt, daß der Reichtum ihres Yandes den Fremden- 
zufluß, namentlich von England her, zu ſtark begünftigte, wodurch 
England Gelegenheit befam, fi) in die inneren Angelegen- 
heiten Transvaals einzumiſchen. Ein franzöjiicher Reiſender, 
Berthon, hat von reichen Goldminen berichtet, die er tief innen 
im Hinterlande von Ecuador in Südamerifa entdedt zu haben 
behauptete. Er brachte auch Proben von Gold mit, und zwar 
jo viel, al3 er nur irgend bei fich tragen fonnte, ohne daß 
die Eingeborenen, die ihn al3 Träger begleiteten, etwas davon 
merkten. Es war reinste Gold; als man ihm jedoch den VBor- 
Ichlag machte, die Reife noch einmal zu unternehmen und 
wieder mit einer ähnlichen Ladung zurüdzufehren, zeigte er 
durchaus feine Luſt dazu. In der That jtände jelbit ein ſehr 
großer Gewinn in vielem Fall in feinem Verhältnis zu der 
dem Reifenden drohenden Gefahr. Das Klima jener Gegend 
ift das ungefündefte der Erde und für den Europäer fait 
immer tödlich; ebenfo find auch die Bewohner jener noch gar 
nicht näher durchforſchten Landitriche zu fürchten. 

Unendliche Mühen und Bejchwerden hat es von jeher ge= 
foftet, daS begehrte Metall zu erlangen, und doch ilt daS Gold 
eigentlicy ein der gewöhnlichſten Metalle der Erde und in un— 
gewöhnlich reicher Menge vorhanden. Faſt alles Waſſer der 
Erde enthält Gold, auch daS Meerwafjer, wenn es ich auch 
nur in winzigen Spuren nachweilen läßt. Eine Tonne Meer- 
waſſer enthält etiva ſechs Tanuſendſtel Gramm Gold, die einen 
Wert von etwas über eineinhalb Pfennig haben. Das jcheint 
wenig, ift e8 aber durchaus nicht; denn allein eine Wafjermajje 
von einem Quadratkilometer Oberfläche würde nicht weniger als 
24000 Kilogramm Gold enthalten. Der Goldgehalt der ge= 
lamten Meere der Erde würde, wenn man die durchichnitt- 
lihe Tiefe der Ozeane auf 4 Silometer vechnet, die Summe 


2540 Dr M. Marriot, Wie das Bold gefunden wird. 





— NIE 


/ 
bon 5838 Billionen Mark betragen. Hätte man diefe Maſſe 
Gold in einem Würfel beifammen, fo müßte diejer eine Seiten- 
länge von 718 Meter haben. Gelänge e3 den Künſten der 
Chemie, dies Gold aus dem Meerwaſſer herauszuziehen und 
wolte man e3 unter die 1600 Millionen Bewohner der Erde 
gleichmäßig verteilen, jo würde jeder die Rieſenſumme von 
3/2 Millionen Mark erhalten. Uebrigens hat man ſich in der That 
vor einiger Zeit mit dem Plane getragen, diefen Goldgehalt des 
Meeres praktiſch auszunugen. Ein amerifanijcher Unternehmer 
errichtete an der Küſte des atlantifchen Oceans, im Staate 
Maine, die erite Anlage zur Gewinnung des Seegolded. Leider, 
oder vielleicht auch glücdlicherwveije, erwies ſich indeſſen der Be— 
trieb als fo Eojtipielig, daß ein Gewinn nicht erzielt werden 
fonnte. Gelänge e3 thatlächlih einmal in fpäterer Zeit, aus 
dem Meerwajjer auf billige Weile Gold zu gewinnen, dann 
würden unfere bejtehenden Geldverhältniſſe einfach über den 
Haufen geworfen werden, und wir fünnten nad) einem anderen 
Metall a8 Taujchmittel juchen, weil da8 Gold entwertet wäre. 








Deutfche Dichterinnen der Gegenwart. 


Belene Tiedemann (Leon Danderjee). 





(Nahdrud verboten.) 
ie „alte Stadt am Meer,” Straljund, ift meine Heimat. 
Draußen, „vor dem Thor“ mitten im Grünen, lag. 
unjere Billa, in der ic), umgeben von Eltern umd 
— Geihmiltern, glüdliche Sahre verlebte.e Damals 
‘hatte ich eigentlich alles, was mein Herz begehrte: meine Eltern 
machten ſchöne Reifen mit meinen Gejchwiltern und mir, fie 
ließen ung Theater und Konzerte bejuchen, jorgten für heitere 
Gejelligfeit — ich durfte tanzen und ich tanzte gern — ich 
malte, trieb Muſik, las viel und träumte inzwijchen von allerlei 
Wunderbarem, das mir die Zukunft bringen würde. 

Die beiten Freunde waren meine Bücher. Mit ganzer 
Seele verjenfte ich mich in die Werfe in- und ausländijcher 
Dichter — eine bejondere Vorliebe hatte ich damals für Lenau, 
Schönaich-Carolath, Heinrich Heine und Shafejpeare, diefen 
Itrahlenditen aller Dichter, der auch heute noch mein Liebling 
it, nächjt Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meder. 

Obzwar es jchon „in der Kindheit Tagen“ in meiner 
Seele jang und Eang, habe ic) damals doch nie auch nur einen 
einzigen Vers niedergejchrieben — nur in mein Tagebuch trug 
ich allerlei Erlebtes und Erträumtes ein, und eben neunzehn- 
jährig, jchrieb ich in das rotgebundene Büchlein: „Es iſt eine 
Luft zu leben! Wie froh bin ich, daß ich auf der Welt bin!“ 

Zwei Sahre darauf fam jchon das Leid. ch verlor den 
geliebten Bater und jpäterhin noch mancherlei, daran mein 






2542 Deutjche Dichterinnen der Gegenwart. 





Herz mit tauſend Fäden hing. Aber in mwefjen Leben fiele nie 
ein Schatten und welchem. Menjchenfinde bliebe Schmerz und 
Bitterfeit erjpart? „Ungewiß und vergänglich iſt das Glüd! 
Gewiß und ewig bleibt die Pflicht!" Ernte Thätigfeit und 
Plihterfüllung helfen verjöhnend über die Gegenſätze de3 





Helene Tiedemann (Leon Danderjee). 


Lebens hinweg. Was wir auch erjtreben mögen, zum Biel 
gelangen wir erit nach Mühen, Sorgen und Kämpfen! Das 
Kreuz, von Roſen umranft, wird immerdar das tiefite Symbol 
unjeres Lebens fein! Zuweilen flingt in meine Träume das 
Wellenraufchen der Oſtſee, und mitten im braujenden Lärm der 
Großſtadt überfommt mich eine Sehnſucht nach Einjamfeit — 
diejelbe Sehnjucht, die mich als Kind erfaßte, wenn ich hinter 





Deutjche PDichterinnen der Segenwart. 2543 


geſchloſſenen Fenſtern im Schulzimmer jaß und nicht hinaus 
tonnte — die ewige Sehnjucht, die goldene Fäden jpinnt zu 
einer luftigen Brüde in das Land der Träume, zu jener heiligen 
Inſel im uferlojen Weltmeer, auf der nur Auserwählte landen 
dürfen. Die Inſel des Glüdes, von der ein Dichter fchrieb: 
„Sie ift wie ein Traum vom PBaradieje, lodend, geheimnisvoll . 
— die Menjchen ſchauen fie alle einmal, in den Stunden, da 
das Herz groß und weit wird — in ihren Sehnjuchtstagen — 
fie bliden zu ihr hinüber und grüßen fie mit heißen, begehrenden 
Augen, um fie dann verblafjen zu jehen, und verfchwinden in’ 
der Unendlichfeit des Meeres und nun die Erinnerung daran 
im Herzen tragen — zeitlebeng.. .“ 





Armenfriedhof. 
Ein ftiller Friedhof June Schwarzdorn: 
eden — 


Das moosbedeckte Heil’genbild von Stein 
Seitlih am Weg und die verfallnen Gräber | Nur manchmal geht mir ein Traum dur) 
Sanft überſtrahlt von Abendjonnenicein. den Sinn 

Und zeigt mir, wie namenlos elend ich bin! 


Meine Träume find ſchuld. 


Sm öden, farbloien Eincrlet 
Rinnen die Stunden, die Tage vorbei — 


Wo Gras und Unkraut üppig Übertwwuchern 
Ein altes Grab, verwittert und verweht, 

Hebt fich ein Kreuz empor, auf deſſen Fläche 
Ein wunderlicher Spruch geſchrieben ſteht: 


Mit Augen, die groß und brennend find, 
Starr’ ih ind Dunkel — und wein’ mich 
faft blind 


Und ſehe doch, was unfeliz mich macht: 
Einen roten Mund, der mein Liebe 
verlacht, 


„Hier ruht in Frieden meine arıne Seele — 
Getreulih gab die Not mir das Geleit 
Bi an mein Grab — dann ſchlich fie 

weinend weiter 
Und überließ mich der Bergefjenheit. 


Mich ſchmerzt nun nichts mehr — nicht, 
daß auf der Erde 
Bon allen Menichen feiner mich vermißt; 


Zwei braume Augen vol Blanz und Licht 
Sn einem fhönen, jungen Geſicht — 


Und daneben jeh’ ih, — vergrämt und 


Und könnt’ ich Hagen, wär’ es am das eine, 
Daß ich nicht weiß, wie ey Schlummer 
it. “ 


Du ftilles Herz — o wie ich dich beneide 
Um diejen Schlaf, den nur der Tod verleiht ! 
Unfichtbar ſchwebt um den vergeſſ'nen Hügel 
Der lichte Engel der Barmherzigkeit... 


aB, 
Ein Mädchenantlitz — o Gott, bin ich das, 


Um deren Lippen das Fieber bebt, 
Die flehend die bleichen Hände hebt? 


Nein, nein — mir ging nur ein Traum 
durch den Sinn — 
Meine Träume ſind ſchuld, daß ich elend bin. 


Wohl neigteſt du dich manchmal — 


Wohl neigteſt du dich manchmal 
Freundlich zu mir herab, 

Doch meine thörichte Liebe 
Wehrteſt du immer ab. 


Und dennoch gab zu eigen 

Sich dir mit Allgewalt 

Meine glückeshungrige Seele — 
Aber dein Herz blich kalt. 


Da Hab’ ich meine Sehnſucht 
Mählih zur Ruh’ gebracht 

Und all das bremmende Heimweh 
Am Tag hinweg geladıt. 


Doh wenn der Abend dämmert, 
Bin ich verträumt und ftill, 
Weil meine thörichte Liebe 

Zu dir nicht fterben till. 


2544 





Noch bin ich jung — 


Noch Bin ih jung — noch will ich leben! 
Mein Herz bat Heimweh nad) dem Glück — 
Ad, einmal noch die Flügel heben 

Und in die jchöne Welt zurüd! 


Da draußen lacht der Leitz, der holde, 
Im Himmelsblau und Waldesgränt, 
Der Becher glänzt im Sonnengolde, 
Und taujend duft'ge Blumen blüh'n! 


Hinaus, Hinaus, dem Licht entgegen — 
Mich tötet die Gefangenſchaft! 

Ach, einmal noch die Schwingen regen 
Im Vollgefühl der Jugendkraft! 





—X 
> 


— 
= 





I 


Deutfche Dichterinnen der Begenmwart. 


Daheim. 


Mütterhen — ich bin jo mid’, fo milde — 
Mutter, — geh’ nicht von mir diefe Nacht — 
Deine Nähe lindert meine Leiden — 
Bleibe bei mir, bis der Tag erwadt. 


Heimlich ſtill ift’8 hier in deinem Zimmer — 
— Ob nun auch die Sehnſucht Schlafen geht ? 
Ach, die wecte mich ſonſt immer, immer, 
War mein Morgen: und mein Nachtgebet — 


War das Licht auf meine Wanderivegen, 
Und die Brüde in da3 Heimatland, 

Iſt mein Tod, 9 Mutter, weil ich Arme 
Nie den Weg zu feinem Herzen fand. 







SESIIS 


N, 


Das Rätfel der Ahnenburg. 


Roman von Egon Fels. 





(Vachdruck verboten.) 


1. Freund und Feind. 
seit dem 1. Mai 1532, wo man Florenz’ alte Zreiheit 
» — N zu Grabe getragen hatte, herrſchte Aleſſandro dei 
a, Medici als unbejtrittener erbliher Herzog in dem 
von Cojimo den Alten erbauten Mediciihen Palaſte 
an der Via Larga. 

Aleſſandro dei Medici war bei feinem Negierungsantritt 
nicht der tyranniſche Yültling, der er |päter wurde. Von fräftigem 
Körper, lebhaft und ausdauernd, verband er mit förperlichen 
Eigenschaften und der Fähigkeit, der äußeren Stellung zu ge— 
nügen, Scharfiinn und Schnelligkeit der Auffaljung, und zeigte 
in der eriten Zeit guten Willen und einen regen Gerechtig— 
feit3jinn. 

Allein nur zu bald zeigten ſich die böjen Neigungen jeiner 
Natur. Bon Schritt zu Schritt, von Stufe zu Stufe taumelte 
der Herzog in den Abgrund des Laſters, und jelbit jeine Ver— 
lobung mit Margarethe, der SKailerötochter, änderte darin 
nichts. — — 

Etwas über eine Meile von Florenz entfernt ſtand zu jener 
Zeit das alte Stammſchloß der edlen Familie Ghisberti. 

So lange die Gemahlin des Marcheſe Ghisberti lebte, war 
das alte Schloß das Paradies eines feltenen Eheglüdes. 

ZU. Haus⸗Bibl. II, Band XI. 160 






2546 Egon $els. 








Madonna Clodilde Ghisberti war von Geburt eine Deutiche, 
ein Fräulein von Bardeleben gewejen und von ihrem Gemahl, 
dem Marcheje Giovanni, unausiprechlich geliebt worden. 

Der Tod dieſer edlen Frau hatte den Sonnenjchein aus des 
Marcheje Leben Hinweggenommen. Die Welt war dem verlafjenen 
Satten für immer verleidet. Er zog ſich gänzlich von ihr zurüd. 

Alles, was von Intereſſe, von Hoffnung und Liebe noch im 
Herzen des vereinfamten Mannes lebte, Fonzentrierte ſich auf 
jeine zwei Kinder Giulio und Clodilde. 

Giulio war ein hochbegabter, junger Mann, der, im Alter 
bon einundzivanzig Jahren jtehend, feine Studien auf der hoch— 
berühmten Univerfität von Bologna mit dem glänzendjten Er- 
folge beendigt hatte. Schon war er im Begriff, in die Regierung 
feiner Baterjtadt einzutreten, al die unleidlichen Zuftände von 
Florenz durch die im Mai 1534 erfolgte Einjeßung der Jogenannten 
Rebellen-Dfficialen noch unleidlicher wurden. 

Der Marchefe Ghisberti hielt ſich deshalb für verpflichtet, 
jeinen Sohn vom Betreten diejfer gefährlichen Laufbahn ab= 
zubalten. Er war jung, er fonnie und jollte auf beſſere Zeiten 
warten, er verlor nicht dadurch, im Gegenteile, er gewann 
inzwilchen an Menjchenfenntnis, an Sicherheit, an Reife des 
Ürteil3. 

Der junge Mann gehorchte ohne Widerrede. 

Seine vollendete Liebenswürdigkeit hatte ihm viele Freunde 
erworben, und jo fam es, daß man ihn überall mit offenen 
Armen aufnahm. Er lebte bald auf diefem, bald auf jenem 
Schlojje, und jein Vater, zufrieden, ihn bejchäftigt und vor allzu 
naher Berührung mit dem gefürchteten, Jittenlojen Herricher ge— 
fihert zu haben, ließ ihn gewähren. 

Auf Elodilde, das Ebenbild der Mutter in deren Jugend, 
war mit dem Namen derjelben, außer der von ihr erlernten 
deutſchen Sprache, die fie Sprach, al3 fei fie in Deutjchland ge— 
boren, auch ein gutes Teil deren echt deutjcher Tugenden über- 
gegangen, unter denen die Liebe zu einem einfach häußlichen, 
von Kunft und Wiſſenſchaft geſchmückten Leben wo. al3 die 
Heinjte erſchien. 

Inmitten jo vieler Schönheiten fiel dennoch, in Ben Gejell- 
haften des Adels Clodildens eigenartige Schönheit, die ſüd— 


Das -Rätfel der Ahnenburg. 2547 





liche8 euer mit zartejter deutjcher Mädchenhaftigfeit vereinte, 
fiel ihr ganzes holdſelig keuſches Weſen zu vorteilhaft auf, um 
nicht überall, wo ſie auch erſchien, einen Hof von feurigen Be— 
wunderern um ſie zu verſammeln. Rechnet man dazu noch ihre 
edle Abkunft und den großen Reichtum ihres Vaters, wer kann 
ſich dann wundern, daß man ſie mit Heiratsanträgen über— 
ſchwemmte? 

Clodilde wies indes alle zurück und erklärte, ſie wolle un— 
vermählt bleiben, um ihren Vater, deſſen einziges Glück ſie ſei, 
niemals verlaſſen zu müſſen. 

Unter den Bewerbern, welche Donna Clodilde im Laufe 
der Zeit abzuweiſen ſich genötigt fand, wollen wir nur zwei 
erwähnen. 

Der erſte und bedeutendſte, ſowohl an Stellung, als an 
Charakter und perſönlicher Erſcheinung, war Prinz Antonio, ein 
naher Verwandter des Gewalthabers, ihm aber wenig gleichend 
an Sitten. Tag und Nacht find nicht verichiedener al3 der 
Prinzipe und jein verbrecheriicher Better. Meſſire Antonio war 
bereit8 einmal verheiratet gemwejen, jebt aber Witwer und ftand 
im Alter von neununddreißig Sahren. 

Der zweite abgewiejene Bewerber war der Meflire Bianconi 
di Malandino, ein Emporfümmling, ein Geihöpf und Liebling 
Aleſſandros und deſſen allezeit bereiter, vor Nichts zurüd- 
ihredender Teilnehmer und SHelfershelfer feiner Schandthaten. 

Diejer ſcham- und ehrlofe Menjch Hatte nun feine Augen 
auch auf die jchöne Tochter des Marcheje Ghisberti geworfen. 
Zwar war er fi) der ungeheuren luft, welche ihn, den namen— 
loſen Abenteurer niederen Urfprungs, von einer Dame von fo 
alter, vornehmer Familie trennte, voll bewußt; doch zweifelte 
er, im Bewußtjein der Macht, welche er durch die Gunſt feines 
Herrn bejaß, feinen Augenblid, daß er mit jeinem Antrag Er- 
folg haben müjje. 

Es waren nur ein paar Wochen nach dem Tage verflofjen, 
an dem Donna Clodilde den Heiratsantrag des Prinzen Antonio 
abgelehnt Hatte. Sie hatte geglaubt, des Prinzen Antrag jei 
ein Geheimnis zwiſchen ihm und ihr, denn fie machte darüber 
nur ihrem Vater, dem ſie alles zu vertrauen gewohnt war, Mit- 
teilung. Daß er darüber jchwieg, wußte fie; und daß der Prinz 

160* 


2548 Egon Fels. 





jelbft über feinen Mißerfolg fprechen werde, war nicht ans 
zunehmen. 

Sie Jollte ji) bald überzeugen, daß auch diejer Vorgang 
der allgemeinen Spionage, welche ſich damal3 in den höchiten 
Kreifen breit machte, nicht entgangen mar. 

Sie traf in einer Gejellihaft mit Bianconi di Malandino 
zujammen, und der Abenteurer hatte diesmal feine Maßregeln 
jo gut getroffen, daß er all ihre Vorficht zu nichte machte und 
fie zwang, feinem Antrag Gehör zu jchenken. 

Donna Clodilde fühlte ſich, ganz abgejehen von der Zus 
mutung jelbjt, des unverjchämten Emporfümmlings Weib zu 
werden, von deſſen ganzer Art und Weile dabei, von der dreijten 
Zuverficht desjelben, die eine Ablehnung für ganz unmöglich zu 
halten jchien, in tiefjter Seele verlebt. 

Da fie jedoch eben fo Hug als ſchön war, ließ fie ſich, Jeiner 
Macht zum Böſen eingedenf, von ihrem Unwillen nicht3 merken 
und lehnte zwar mit nachdrüdlichem Ernft und in würdigfter 
Haltung, aber keineswegs unfreundlich, mit lebhaftem Bedauern, 
wie fie höflich jagte, unter dem gewöhnlichen Vorwande, ſich 
überhaupt nicht vermählen zu wollen, die ihr zugedachte Ehre ab, 

Er war einen Augenblick ſprachlos von dem Durcheinander 
bäßlicher Leidenjchaften, das dieje Zurückweiſung in feiner Bruſt 
entfefjelt hatte, und jchon wendete ſich Clodilde, nachdem fie ihn 
mit einem höflichen Neigen ihres jchönen Hauptes gegrüßt, um 
ihn zu verlafjen. 

Da war e3 ihm gelungen, fi) zu faſſen. Mit einer 
energiſchen Bewegung vertrat er ihr den Weg und jagte, Die 
Ihöne Donna Ghisberti Scheine nicht bei Yaune zu fein, deshalb 
bejcheide er ſich für heute, werde aber bei pafjender Gelegenheit, 
in günjtigerer Stunde feinen Antrag wiederholen, denn er 
glaube, daß bejjere Meberlegung Madonna Clodilde zu der 
Ueberzeugung bringen werde, wie unflug und thöricht es ſei, 
einen Mann wie ihn mit demjelben Maße zu mefjen als andere, 
3. DB. den Tugendſpiegel, den Prinzen Antonio, und ihn mit 
dem gleichen lächerlichen Vortvande abweiſen zu wollen. Damit 
hatte er fi) nochmals, hohnvoll Lächelnd und ihre ſchöne Geftalt mit 
einem Blicfe mefjend, der ihr das Blut in den Adern eritarren 
ließ, tief verbeugt und ſie jtolz mit hocherhobenem Haupte verlafjen. 


Das Rätjel der Ahnenburg. 2549 





Bon diefem Tage an lebte fie völlig zurückgezogen und 
mied alle Gejellichaften. Wenn fie aber geglaubt, dadurch fich 
vor jeinen Nachitellungen zu jchügen, hatte fie fich ſchwer ge— 
irrt. Denn fie fonnte ihres Vaters Palaſt nicht verlafjen, 
ohne daß er ihren Weg kreuzte, jelbft in die Kirche, die fie 
täglih zur Meſſe zu bejuchen pflegte, verfolgte er fie und 
jtörte mit. feiner verhaßten Nähe ihre Andadıt. 

Dabei war Malandino gewöhnlich von einem langen, 
wild ausſehenden, rothaarigen Menjchen begleitet, der eine 
Mittelitelung ziviichen Diener und Freund bei ihm einzunehmen 
Ihien. Nicht jelten war er auch allein, und einmal erjchien 
er in Begleitung eine VBermummten, der ganz in einen bis 
zu den Füßen hinabreichenden Mantel gehüllt war, den er bis 
unter die Augen binaufgezogen Hatte, während ein großer, 
breitfrämpiger, tief in die Stirn gedrüdter Hut die Ver— 
mummung dermaßen vollendete, daß don dem ganzen Menfchen 
gerade nur die Augen fihtbar waren. Dieje Augen aber ver- 
Ichlangen Clodildes Schönheit mit Bliden voll unerträglichen 
Feuers, al3 fie, auß der Kirche tretend, durch die Menge der 
Andächtigen genötigt war, neben der dunklen Ede der Vor— 
halle, wo Malandino mit feinem Begleiter ſtand, einen Augen⸗ 
blick ſtehen zu bleiben. 

„Du haſt recht, Bianconi —“ hörte ſie den Vermummten 
flüſtern — „das Mädchen iſt entzückend und” — fie hörte 
nichts weiter, denn die vorwärts flutende Menge geſtattete ihr 
in dieſem Augenblicke, ihren Weg fortzuſetzen. Gefolgt von 
ihrer fie ſtets begleitenden Amme und dem handfeſten, wohl— 
bewaffneten Diener, ohne den eine Dame jener Zeit nie ihr 
Haus zu verlaſſen wagte, eilte ſie nach Hauſe. 

Seitdem mied ſie auch die Meſſe, denn hatte ſie Malan— 
dino gefürchtet, jene Augen fürchtete ſie noch weit mehr. 

Eine Woche lang hatte ſie ſich ſo eingezogen gehalten 
und war dadurch vor Malandino bewahrt geblieben. 

Wenige Tage darauf hörte ſie, daß Malandino im Duell 
— man ſagte — tödlich verwundet worden ſei. 

Clodilde atmete auf. Zwar war ſie viel zu guten Herzens, 
um den Tod ihres Feindes zu wünſchen, doch ſie konnte nicht 
umhin, deſſen froh zu ſein, daß er mindeſtens vorausſichtlich 


2550 Egon Fels. 





längere Zeit an fein Lager gefeſſelt und unfähig ſein werde, 
ſie weiter zu verfolgen. 

Inzwiſchen nahm ſich Clodilde ber, fih ihrer durch Die 
Berwundung ihres PVerfolger8 wieder geiwonnenen reiheit 
nach Herzensluſt zu erfreuen. Vol Eifer und Luft nahm fie 
die weiten Spazierritte wieder auf, die fie in der lebten Zeit 
ſchmerzlich entbehrt Hatte, weil fie gefürchtet, dem verhaßten 
Malandino dabei zu begegnen. 

Sie war früher gewohnt gewejen, die herrliche Umgebung 
nur in Begleitung eines Edellnaben, eines weitläufigen Ver— 
wandten, den ihre Mutter als Waife bei jich aufgenommen und 
erzogen, und gefolgt von einem alten Diener, den ihre Mutter 
mit aus Deutichland gebracht Hatte, zu durchitreifen. 

Dieje beiden waren zwar aus Vorſicht, und wie es Die 
Sitte der Zeit mit fi) brachte, wohl bewaffnet, doch mar 
niemals ein Fall vorgekommen, der fie etwa in die unangenehme 
Notwendigkeit verjebt Hätte, ſich dieſer Waffen zur Drohung 
oder gar zur Verteidigung zu bedienen. 

Freilich war Wolf, der Diener, welcher der Tochter mit 
nicht minderer Treue anhing al8 der veritorbenen Mutter, nie 
ganz frei von Beſorgnis gewejen. Da aber nie irgend etwas 
vorgefallen war, was jeiner Beſorgnis Berechtigung gegeben 
hätte, jo glaubte er am Ende jelbit, er jei im Unrecht, wenn er 
mit feiner Sorge und Aengftlichkeit derjungen, fröhlichen Gebieterin 
die Freude an diefen harmlojen Naturgenüfjen jtöre, und folgte 
ihr ohne Widerjprudh, als fie eines Morgens ihr Pferd einem ein= 
jamen Thale zu lenkte, dag ein Nebenarm des Arno durdhitrömt. 

Hätte der treue Wolf nur die geringite Ahnung einer 
Gefahr gehabt, er würde ſich mit der freien Sicherheit, welche 
\olhe alte, mit der Familie, der fie dienen, feſt verwachſene 
Leute zu fennzeichnen pflegt, ihrem Vorhaben widerſetzt haben. 


2. Der Meberfall. 


Wilde Felfenpartien in den pittoresfejten Formen jchließen 
waldgefrönt das Thal zu beiden Seiten ein und machen es 
auch an heißen Tagen durch die erfriichende Kühle, welche hier 
herricht, zu einem der angenehmijten Aufenthaltsorte. 


Das Rätjel der Hhnenburg. 2551 





E3 war nicht das erjte Mal, daß man die romantijche 
Thal in feiner ganzen Länge durdjitreift hatte. Donna Elodilde 
beliebte e3 jogar eines Tages, troß allen Widerjpruche Anjel- 
mos, des Edelfnaben, dem die Gejchichte langweilig erjchien, 
bier zu rajten. 

Eingedenf diefes mit Glüd vollbrachten Waanifjeg, fiel es 
Wolf nicht ein, Heute ängjtlic) zu jein, hätte er aber aud) 
daran gedacht, jo wäre er fiher der Meinung geweſen, daß 
im ſchlimmſten alle feine Waffen und fein Arm wohl hin— 
veichend fein würden, die ©ebieterin zu bejchüßen. 

Schlieglih war ja auch noch Meſſire Anjelmo da, der 
fein Stilet jehr wohl zu gebrauchen verjtand. 

Allerdingg war Donna Clodilde auch jelbjt bewaffnet, 
denn ſie trug an ihrem Gürtel, mit goldener Kette befeftigt, 
ein reich verziertes Jagdmeſſer. Das kam jedoh in Woljs 
Augen nit in Betracht, er erklärte es als gänzlich unbraud)- 
bar zur Verteidigung. Wie er denn überhaupt, nach Art 
vieler Männer, einer Frau die Fähigkeit, fich ſelbſt zu beſchützen 
in der Gefahr, gänzlich abſprach. 

Scerzend umd lachend, ſich mit Anjelmo necdend und 
jeine Nedereien parierend, war Clodilde mit ihren Begleitern 
zur Mitte des Thales und zugleich zur engiten Stelle des 
Pfades, der nur einer PBerfon Raum gab, gelangt. 

Sie ritt auf ihrem weißen Belter vorauf, Anjelmo folgte, 
und den Schluß machte Wolf. 

Plötzlich, als gerade der Pfad un eine %eljenpartie 
biegend fich zu einem Kleinen, freien Plage erweiterte, |prengten 
hinter jenem Felſen hervor drei bis an die Zähne bewaffnete, 
verlarvte Reiter, fich ziwijchen die Dame und die ihr Folgenden 
einjchiebend. 

Anjelmo ward, ehe er nur imjtande geweſen, jein Stilet 
zu ziehen, vom Pferde gejtochen, und Wolf jah ſich von zwei 
Seiten zugleich angegriffen und am Vordringen zu der von 
dem dritten Reiter bedrohten Donna Elodilde verhindert. 

Diejer Hatte fie in einem Nu von ihrem Pferde auf das 
feine hinübergerifjen und jtieß nun, die fich fchreiend Sträubende 
mit eijerner Gewalt umflammert haltend, jeinem Tiere die 
Sporen in die Geite, daß ed in weiten Süßen mit jeiner 


2552 Egon Fels. 





Doppellaft davoniprengte und gedanfenfchnell die Geraubte aus. 
den Augen des von Todesangſt um fie erfüllten, fich gegen 
die hageldichten Streiche feiner beiden Gegner tapfer wehren- 
den, ihr vergebens nachitrebenden Wolf entführte. 

Durh die SHeftigfeit der Bewegungen des Berlarbtei, 
der Donna Clodilde entführte, mochte ſich das jchlecht befeitigte 
Band feiner Larve gelodert haben, fo daß fie ihm vom Antlih 
fiel, al@ ein Baumajt ihm den tief in die Stirn gerüdten 
Hut vom Kopfe rip. 

Laut aufichreiend vor Schred und Entjeßen, erkannte 
Clodilde in ihm jenen rothaarigen Begleiter ihres Yeindes 
Malandino, der ihr Entjegen mit teufliichem Lachen wahrnahın. 

Hatte Jie bisher geglaubt, jimplen Räubern, die von 
ihrem Vater ein reiches Löſegeld für ihre Rückgabe zu erprefjen 
bofften, in die Hände gefallen zu fein und ſich jonach ver- 
bältnismäßig ficher gefühlt, jo gab fie ſich nun ganz verloren, 
jedoch) weckte dieſe Erkenntnis, jtatt fie ganz Darnieder zu 
Ichmettern, al ihre Geiftesgegenwart und ftählte ihre Nerven 
zu einer That der Verzweiflung. 

Während fie fortfuhr, ſich in dem ihren Leib gleich einer 
Eifenflammer umfaffenden Arm des Räubers zu fträuben, zog 
fie vorfihtig und von ihm unbemerkt ihr Sagdmefjer und jtieß 
es, bligfchnell damit emporfahrend, bis zum Heft in jeine 
Bruft. 

„Zeu—fel!” wollte ev rufen, aber er vollendete nicht. 
Das angefangene Fluchwort erjtarb auf feinen Lippen, Die 
rollenden Augen brachen, und kraftlos ließ fein Arm Die bereits 
jo fiher gewähnte Beute los. 

Clodilde fiel. — da fie, auf den Fall vorbereitet, jich vor— 
ihtig an dem Pferd niedergleiten ließ — ohne fich irgendivie 
zu verlegen, in das feuchte Moos. 

Das Pferd galoppierte weiter, den Toten, dejjen einer 
Fuß fih im Steigbügel verfangen hatte, mit ich fchleppend. 

Clodilde Hatte ſich raſch und behende wieder aufgerafft 
und ſchickte fich an, vorfichtig jede Dedung benußend, den Weg 
zurüdzufehren und fich nach Wolf umzufehen, al3 fie Hufichlag 
vernahm, der fich raſch näherte. Angſtvoll verbarg fie fich fo 
gut, als e8 in der Eile möglich war, im Gebüjch, denn fie 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2553 


WRITER 





glaubte, jene anderen beiden Räuber kämen, nachdem fie Wolf 
getötet, um ihrem Kumpan zu folgen. 

Aber jo war es glüdlicherweije nicht, und ihre Furcht jo 
grundlos, als ihr Verbergen unnötig. 

Wolfs Tapferkeit war glücklich mit beiden fertig geworden. 
Der eine lag tot neben dem armen Anſelmo, der andere hatte 
es mit einem Hiebe über das Geſicht, der ihm ein Auge 
koſtete, vorgezogen, den heilen Reſt ſeiner werten Perſon durch 
ſchleunige Flucht in Sicherheit zu bringen, indem er ſeinen 
Herrn entweder bereits mit ſeiner Beute in Sicherheit glaubte, 
oder es ihm überließ, ſich und ſie gegen den Verfolger zu 
verteidigen. 

Der Reiter, welchen Donna Clodilde floh, war Wolf 
ſelbſt, der blutbeſudelt und ſelbſt mehrfach verwundet, des 
Räubers Spur folgend, an ihr vorüberjagte. 

„Wolf! Wolf” jchrie fie hervorjtürzend aus ihrem Ver— 
ited, „bier bin ich! Hier!“ 

Zurückſchauend und feine Gebieterin gerettet Jehend, hielt 
er mit einem fo plößlichen Rud jein galoppierendes Pferd an, 
daß es fich beinahe mit ihm überjchlagen hätte, und fich raſch 
aus dem Sattel jchwingend, rief er jubelnd: „Sa, ja, da jeid 
hr, Donna Clodilde! Gott jei Lob und Dank! Uber wie 
wurdet Ihr gerettet? Nur durch ein Wunder kann — O 
Gott! Ihr blutet ja! Seid Ihr verwundet?“ 

„Nein,“ jagte fie matt, fich ſchwer auf feinen Arm ſtütend, 
„dieſe Hand Hier,“ fie hob ſchaudernd die Rechte, welche von 
dem augenblicklich dem Stoße nachſtürzenden Blute des Räubers 
ganz rot gefärbt erſchien, „hat Blut vergoffen, hat einen 
Menjchen getötet!“ 

Und an Wolf langſam niedergleitend, ward fie ohnmächtig. 

Die übermäßige Aufregung, das Bewußtſein der ganzen 
Gefahr, in der ſie ſchwebte, das ſich ihr in dem Augenblicke, 
da ſie den Räuber erkannte, aufgedrängt, hatte ihre Kräfte 
verdoppelt, aber nun, da ſie ſich ſicher wußte, trat um ſo 
raſcher die Reaktion ein und warf ſie nieder. 

Schwach und hilflos, wie ein Kind, brachte Wolf ſie mit 
großer Mühe zu dem tödlich erſchreckenden Marcheſe zurück, 
gefolgt von dem Pferde Anſelmos, worauf dieſer mit ſeiner 


2554 Egon Fels. 





eigenen und Wolfs Schärpe von dem lebteren befejtigt worden, 
und da3 mit feiner traurigen Laſt ohne weitere Führung den 
vertrauten Gefährten von ſelbſt nachgelaufen war. 

Die Hoffnung, welche Wolf für den armen Edelknaben 
gehegt, war nur eine Täufchung, zwar atmete er noch, als er 
vom Pferde losgebunden und auf jein Lager gebracht wurde, 
aber ehe der Abend kam, Hatte er außgelitten. 

Der Zuftand Elodildes war zwar feiner, der eine direkte 
Sorge für ihr Leben gerechtfertigt hätte, denn ſie litt nur 
ſeeliſch, indem ſie ſich bittere Vorwürfe machte, durch ihren 
Eigenſinn, mit dem ſie gerade auf jenem Ritte beſtanden, 
ihres Verwandten Tod verurſacht zu haben. Schaudernd ſah 
ſie fortwährend das brechende Auge des von ihrer eigenen 
Hand Gefallenen vor ſich. Sie ſah ihn im Wachen und im 
Traume, nannte ſich eine Mörderin und litt Gewiſſensqualen, 
die ſie nirgends Ruhe finden ließen. 

Dieſe Seelenpein, welche ſeine Tochter infolge eines allzu 
zarten Gewiſſens erduldete, ängſtigte ihren Vater gar ſehr, 
doch war dies nicht einmal ſeine einzige und ſchwerſte Sorge. 

Zwar war jenem Räuber nicht mehr als nur ſein Recht 
geſchehen, er ſamt ſeinen Genoſſen hatten nur gefunden, was 
ſie verdienten, allein die Unſicherheit der damaligen Rechts— 
zuſtände unter Aleſſandros Tyrannei war ſo groß, daß die 
Sache keineswegs ungefährlich für die Familie Ghisberti lag. 

Der Herzog kehrte ſich, wenn es der Befriedigung ſeiner 
Leidenſchaften oder auch nur derjenigen ſeiner Günſtlinge galt, 
an kein Geſetz noch Recht, wenn er auch ſeine Rache nicht 
öffentlich auszuführen pflegte. 

Deshalb wagte der Marcheſe nicht einmal, ſich zu beklagen 
und die Beſtrafung des Frevlers zu fordern. Er hätte am 
liebſten die Sache totgeſchwiegen; doch da Clodildes Meſſer 

in der Bruſt des Toten ſtecken geblieben war und durch den 
Namenszug, der in farbigen Edelſteinen auf dem goldenen 
Griff eingelegt fich befand, die Hand verraten hatte, die den 
Stoß geführt, fo jtand bei der Frechheit Malandinog zu be= 
fürchten, daß er ſelbſt Anklage gegen Clodilde erheben und die 
Sache natürlich in völlig erlogener Faſſung vor das er 
jeine8 geneigten Gebieters bringen werde. 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2555 





Reifliche Ueberlegung lieg daher dem Marcheje den Ent- 
ſchluß faſſen, Malandino zuvorzufommen und die ganze Sache, 
wie fie fic verhielt, doc ohne irgendwie auf den Urheber hin- 
zudeuten oder auch nur zu verraten, daß er ihn kenne, jelbft vor 
den Herzog zu bringen. 

Nie war dem würdigen Manne ein Ritt jo ſchwer ge= 
worden wie dieſer nach Florenz. 

Er ließ den Herzog um Audienz bitten, denn an Ceremoniell 
ließ es Aleſſandro nicht fehlen, ſo ſehr es auch ohne Sitte und 
Zucht an ſeinem neugeſchaffenen Hofe herging. 

Die Audienz ward dem Marcheſe auch ſofort gewährt, er 
jedoch erjucht, zu warten, da der Herzog mit feinen Räten 
Srancesco Vettori und Roberto Acciaiuoli in wichtigen Staats— 
angelegenheiten augenblicklich noch bejchäftigt jei. 

Während der Marcheje noch in dem Vorgemache wartete, 
trat aus Aleffandros Kabinett der Kämmerer Giomo, der neben 
feinem Kameraden, welcher der Ungar genannt ward, feit deſſen 
frühefter Sugend dem Herzoge diente. Dieje beiden waren ihres 
Herrn allezeit willfährige Werkzeuge und jchredten vor den in— 
famften Handlungen nicht zurüd. 

Giomo, an dem Marcheje, der ihn gar nicht beachtete, vor— 
überjchreitend, blickte mit einer Miene hämiſchen Triumphes und 
boshafter Tüde auf ihn nieder. 

Kurze Zeit darauf ward der Marcheje in das Kabinett des 
Herzogs eingelafjen. | 

Alejjandro dei Medici, deſſen dunfler Teint, wolliges Locken— 
haar und mwulftige, aufgeworfene Lippen befanntlich zu der uns 
erwiejenen Sage, jeine Mutter jei eine Mulattin gemwejen, Ver— 
anlafjung gegeben und ihm den Spitznamen el moro eingetragen, 
fam dem Bejucher mit all jener Höflichkeit entgegen, empfing 
ihn mit jener Xeutjeligfeit, welche ihn troß feiner Verbrechen 
beim Bolfe jo beliebt gemacht hatte. Er 309 den Marcheje 
neben ſich auf ein Ruhebett nieder, ſprach ihm fein freudiges 
Erſtaunen aus, ihn endlich einmal bei ſich zu ſehen und ſchalt 
ihn dann freundjchaftlid, daß er niemals bei den Zeitlichfeiten, 
weder im Balajte, noch anderswo erjcheine. 

Als der Marcheje vor all dem Schwalle höflich freundlicher 
Redensarten endlich zu Worte fommen fonnte, entjchuldigte er 


2556 Egon Fels. 





ſein $ernbleiben mit feiner nie endenden Trauer um den Berluft 
jeiner Gemahlin und einer aus der zu ftarfen Gemütsaufregung 
bei dem Tode derjelben entjtandenen Kränklichkeit, welche ihm 
jede Strapaze, und ſei es auch die freudige eines Feſtes, un- 
möglich mache. 

„Ah! das ijt etwas anderes, mein werter Ghisberti —“ 
erwiderte billigend der Herzog, „da habt Ihr ſehr recht, Euch 
zu jchonen. Indeß Ihr habt, wie man mir jagt, eine junge, 
Ihöne Tochter. Warum erjcheint auch fie nicht im Geleite einer 
würdigen Matrone bei den Feten? Meine Muhme Maria 
Galviati oder irgend eine andere meiner Verwandten, würde 
fie gern unter ihren Schuß nehmen.“ 

„Ihr ſeid ſehr gütig, Herr Herzog, Eure Aufforderung ehrt 
mich und meine Tochter gleicherweiſe“ — erwiderte der Marcheſe, 
ih danfend verbeugend. „Indes, es giebt für ein fo junges, 
mutterloje8 Wejen der Gefahren fo manche, welche mit einem 
öffentlichen Erjcheinen untrennbar verbunden find, und vor denen 
fie auch eine jo ehrenvolle.Bemutterung, wie Ihr, mein Fürft, 
fie ihr don Euren hochverehrten erlauchten Verwandten in 
Aussicht ftellt, nicht zu ſchützen vermöchte, jo daß ic) mich nicht 
berufen fühlen faun, ihrer eigenen Neigung zur Einfamfeit hin- 
dernd in den Weg zu treten. Gejtatten mir Eure berzoglichen 
Gnaden nunmehr auf den Punkt zu fommen, welcher mich ver- 
anlaßte, Euch um geneigte Gehör zu bitten?“ 

Der Herzog neigte, ohne fih durch die erhaltene Zurüd- 
weiſung verlegt zu zeigen, mit freundlicher Gewährung den Kopf. 

Der Marchefe begann: „Meine Tochter iſt vor zwei Tagen 
bei einem Ritte in die Umgegend, den fie in Begleitung eines 
jungen Anverwandten und eined Dieners unternahm, von drei 
Unbefannten räuberisch angefallen worden.“ Hier erhellte fich 
die finfter gerunzelte Stirn, mit welcher der Herzog ihm vom 
eriten Worte an zugehört, und bewies jo dem Marcheſe, wie 
weile er gehandelt, daß er es vermieden, auch nur anzudeuten, 
wie ihm jehr wohl befannt jei, wem jener von feiner Tochter 
erdolhte Menjch gedient. Er wünſchte ſich im ftillen zu feiner 
Vorſicht Glück, und wollte von neuem beginnen. 

Doc) ehe er weiter zu |prechen vermochte, fiel der Herzog 
haſtig ein: „Sa, richtig! Das hätte ich beinahe außer acht ge— 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2557 





laſſen —“ und er ergriff einen vor ihm auf dem Tijche liegen- 
den Bericht, ihn flüchtig überfliegend. | 

„Man meldet mir hier den Vorfall, den ich auf daS Leb- 
baftejte bedauere. Diejes Räubervolf! Wann endlicdy wird es 
mir gelingen, die Sicherheit im Lande herzujtellen? Sch mache 
die größten Anjtrengungen, mit wie wenig Erfolg, daS mag 
Euch der Weberfall Eurer Tochter beweijen. Ich werde Die 
Sade auf das Strengfte unterjuchen lafjen, und wenn man 
jenen Räuber erwijcht, der entflohen ift, jo joll er hängen, mein 
fürftliche8 Wort darauf. Uebrigens jcheint Eure Tochter, mein 
lieber Ghisberti, mit der Schönheit, die ihr eigen, auch die ganze 
Zapferfeit Eures edlen Gejchlechte8 zu vereinigen. Wenige 
würden in ſolchem Augenblicke des Schredend weder die Geijtes- 
gegenwart noch den Mut befiben, ſich mit einem jo wohl gezielten 
Stoße zu retten und ſomit, wenn auch nicht gerade ihr Leben, 
ſondern ihres Vaters Börje, denn darauf war e3 doch unfehlbar 
abgeſehen,“ — ein lauernder Blid des Sprechers bohrte ſich 
hier förmlich in des Marcheſe Angeſicht — „vor einer ſchlimmen 
Brandihagung zu bewahren.“ 

Der Marcheſe ſetzte des Herzogs Späherblide ein undurd- 
dringlich Geficht entgegen und entgegnete, fich beiftimmend ver- 
beugend: „Daran fann gar fein Zweifel jein. Doch es ift mir 
eine große Beruhigung, daß Eure herzoglichen Gnaden jchon 
jo genau und richtig von der ganzen traurigen Sache und der 
Gerechtigfeit der thätlichen Verteidigung meiner Tochter unter- 
richtet find. Ich fam nicht eigentlich, um anzuflagen, jondern 
allein zur Richtigftellung von Thatjachen, die man, möglicher- 
weile aus Unfenntni3 der Wahrheit, entitellt vor Euer Ohr 
gebracht haben konnte.“ 

„Ihr jehet, mein lieber Ghisberti —“ erwiderte der Herzog 
etwas pathetiich, „Eure Belorgnis war unnötig. Doch,“ fügte 
er gütig lächelnd hinzu: „Sch bin Eurem Irrtum, der meinem 
Beamten Unrecht that, dankbar, daß er mir einen jo werten 
Bejuc gebracht. Geftattet meiner teilnehmenden Bewunderung 
Eurer tapferen Tochter die Erfundigung, ob die jchöne Dame 
auch nicht etwa üble Folgen von dem gehabten Schreden davon 
getragen hat?“ 

„Sch danke Eurer herzoglichen Gnaden für dieje Teilnahme. 


2558 Egon $els. 





Körperlich ift fie ganz gut davon gefommen, aber ihre Seele üt 
ſchwer beunruhigt von ihrer mutigen That. Der Tod ihres 
Edelfnaben, eines entfernten Berwandten, betrübt fie ohnedies 
ſchwer, aber noch viel fchwerer lajtet der des Räubers, der von 
ihrer Hand fiel, auf ihrem Gemiljen.“ 

„Ahl das it jehr bedauerlich und thöricht noch obendrein! 
Habt Ihr denn der übergemwiljenhaften Dame nicht vorgeitellt, 
wie wenig an dem Leben folches Schurfen gelegen it? Das 
Pferd, welches fie trägt, der Hund, der ihren Schritten folgt, 
find mehr wert als jolcher Auswurf der Menfchheit.“ 

Der Herzog deflamierte diefe Phrajen mit einigermaßen 
theatralifch angehauchtem Pathos. 

Der Marcheje verbeugte ſich und erwiderte: „Was nüben 
Borftellungen in jolchem Falle? So gut wie nichts. Die janft 
heilende Hand der Zeit allein kann hier Hilfe bringen und — 

„geritreuungen, Zerſtreuungen, mein lieber Ghisberti!” 
fiel höchft eifrig der Herzog ein, „glaubt mir, mein würdiger 
Freund, Einfamfeit befördert nur das gefährliche Grübeln über 
derartige trübjelige Dinge. Sch gebe in vier Wochen zur Feier 
des Namenstages meiner Braut ein Zeit, wie diefe Mauern 
fein glänzenderes je gefehen. Man jagt mir Leichtfinn nad, 
mein lieber Ghisberti, und es iſt wahr, nicht ganz ohne Grund,“ 
fügte er heuchlerifch, den Blick jenfend, Hinzu, „aber diesmal 
wird das Feſt des Gegenstandes, den es verherrlichen joll, 
meiner faijerlihen Braut würdig fein, dafür bürgen übrigens 
auch Thon die Namen der Damen, welche an meiner Seite die 
angenehme Pflicht übernehmen wollen, die Damen zu empfangen. 
Meine beiden Muhmen Maria Salviati und Madonna Beatrice 
jelbft werden dem Feſte präfidieren.“ 

Die eritere war die Mutter Caſimos, des jpäteren Nad)- 
folger3 Alefjandros, und die andere die Mutter des Prinzen 
Antonio. Beides fittenjtrenge, Hochgeachtete und verehrte 
Frauen. „Ihr dürft mir,“ fuhr der Herzog fort, „die Bitte 
nicht abjchlagen, mein teurer Marchefe, bei diefem Feſte mit 
Eurer ſchönen Tochter zu erjcheinen.” 

„Nein, weigert Euch nicht —“ fiel er dem Marcheje ins 
Wort, als diejer fprechen wollte, um, wie der Herzog auf jeinem 
Seficht zu leſen glaubte, ablehnend zu erwidern. „Ich nehme 





Das Rätſel der Hhnenburg. 2559 





eine Zurückweiſung nicht an, denn dann — würde ich glauben 
müfjen, e3 jei wahr, wa3 man mir von Euch gejagt.” Der - 
Herzog ſchwieg und heftete einen jo ftechenden, drohenden Blid 
aus feinen funfelnden Augen auf den Marchefe, daß diejer 
innerlich darunter erbebte, denn er wußte, wie gefährlich e3 
war, Aleſſandros Argwohn, den jtet3 bereiten, zu reizen. 

Doch war der würdige Mann im Bewußtſein ſeines reinen 
Gewiſſens jchnell gefaßt und ermwiderte, den böfen Augen, die 
ihn firierten, mit freimütig offenem Blide begegnend: „Darf 
ich fragen, was es jei, das man Eurer Herrlichkeit von mir 
gejagt? Sch bin mir nicht des Geringiten bewußt, was irgend 
feindlich gegen Eure erlauchte Perſon oder Familie wäre, oder 
mir ſonſt zur Unehre gereichte.“ 

„Nun — nun — beruhigt Euch nur, ich glaubte es ja 
bisher auch nicht, obgleich Euer beharrliches Fernbleiben von 
meinem Haufe eher geeignet ift, jene Berleumdungen ala meinen 
Unglauben daran zu bejtätigen.“ 

„Ihr wollet mir ausweichen, Herr Herzog,“ beharrte der 
Marcheje. „Sch bitte Euch, ſprecht Euch aus und geitattet mir, 
mich zu verteidigen.“ 

„Run denn, Ihr wollet es. Alſo — man jagte mir — 
ah! da bijt du ja, Giomo“ — unterbrach fi) der Herzog und 
blidte erwartungsvoll dem joeben auf der Schwelle des Kabinetts 
ericheinenden Känımerer —— — „iſt mein Befehl aus⸗ 
geführt?” 

„Sa, gnädigiter Herr —“ war die Antwort. „Es iſt gut.“ 

Der Kämmerer verfchwand, und der Herzog wendete fich 
dem Marchefe wieder zu. — „Verzeiht die Unterbrechung!“ 
ſagte er mit all der. gewinnenden Höflichkeit, die er fo gut an- 
zunehmen wußte, wo e3 galt, feine inneren Gefinnungen zu 
verbergen. „Um alfo wieder zu unjerem vorigen Thema zurüd- 
zufommen — man jagte mir, Ihr geböret feit langem zu den 
Unzufriedenen, jeiet mir und meiner Dynajtie feindlich gefinnt. 
Aus all diefen Gründen hättet Ihr Euren jungen Sohn, defjen 
Kenntniſſe und Begabung man jo rühmt, veranlaßt, auf eine 
Stelle in meiner Regierung zu verzichten. — Doch — ſprechen wir 
nicht mehr davon —“ jebte der Herzog leichthin bejchwichtigend 
hinzu, obgleich jeinem lauernden Späherblide das Aufzuden, 


2560 Egon Fels. 





welches den Marchefe bei der erwähnten, unleugbar wahren 
Thatſache blitesgleich durchzitterte, Feineswegs entgangen war. 
„sch babe, wie gejagt, beſſeres Vertrauen zu Euren loyalen 
Gefinnungen und bin nicht jo raſch, an die Feindſchaft von 
Leuten zu glauben, denen ich nie etwas gethan, und zu gerecht, 
um ohne Unterfuchung zu verurteilen. Jeder Menjch Hat 
Feinde, die fich bemühen, feine redlichiten Abfichten in das 
Gegenteil zu verkehren. So wird e3 auch Euch gehen, mein 
werter Marchefe — Euer Sohn wird wahrjcheinlich noch feine 
Luft gehabt Haben, fich mit den Staatsgejchäften abzuplagen. 
Er Hat recht, — taufendmal recht, mein lieber Ghisberti! denn 
e3 it — im Vertrauen gejagt — ein gar zu läjtiges, lang- 
weiliges, unerquidliches, ach, wie ſchweres Amt für einen jungen, 
lebensluſtigen Menjchen. — Alſo — wie gefagt — Ihr kommt 
zu dem Feſte und bringt Eure jchöne Tochter mit — nicht 
wahr?“ 

Was fonnte nun der Marcheje anderes thun, als ſich 
danfend zu verbeugen und zu verfichern, daß er mit Freuden 
diejen Kleinen, ihn felbft nur zu Dante verpflichtenden Beweis 
feiner Loyalität bringen und mit feiner Tochter erjcheinen 
wolle, wenn anders dieſe bi3 dahin wieder wohl genug fein 
werde, um ihre Gemächer zu verlaffen, und die Aufregung 
eines Feſtes zu ertragen. 

Der Herzog ſprach feine fichere Hoffnung, daß dies der 
Fall jein möge, in einem Tone aus, der dem Marcheje voll- 
fommen die Gefährlichkeit eines folchen Ausweges zeigte, 
Ichüttelte ihm aber dann in berzlichiter Weife die Hand und 
begleitete ihn höflich bis zur Thür des Kabinetts. 

Gedankenvoll und das Herz von ſchwerer Sorge erfüllt, 
itieg der Marcheje die Treppe des Palajtes hinab, welche nach 
dem großen Hofe führte, von dem aus man in die Gärten 
eintrat. Er mußte nur allzumohl, daß Alejandro niemals 
freundlicher war, als wenn e3 galt, irgend wen, den er haßte, 
dadurch ficher zu machen und ihn über das Schwert zu täuschen, 
das, zum Niederfallen bereit, ſchon über feinem nichtsahnenden 
Haupte ſchwebte. 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2561 





3. Proopgierf. 


Während der Marchefe, diefe Gedanken in feinem Geiſte 
wägend, am Fuße der Treppe angelangt, ſich linf3 dem Aus— 
gange zumenden wollte, jah er einen Bekannten jveben in dem 
nach dem Garten führenden Thore verjchwinden und jchritt, 
feine Abficht ändernd, jenem nad, um mit ihm zu fpredhen. 

E3 war ihm willlommen, fich ein wenig zu zerftreuen in 
freundfchaftlicher Unterhaltung, ftatt fo, ganz mit Sorgen er- 
füllt, vor fein ohnehin trübe gejtimmtes Kind zu treten. 

Auf dem Wege, den er hätte paffieren müſſen, um auf 
die Straße zu gelangen, jtand eine Gruppe von ſechs jungen 
Edelleuten in jcheinbar jehr eifriger Unterhaltung, die fie in- 
deſſen nicht verhinderte, jede Bewegung de8 Marchefe mit 
lauernden Bliden zu verfolgen. 

° Die jungen Männer trugen die von dem prachtliebenden 
Alefjandro eingeführte Spanische Tracht, die, damals nod) feines- 
wegs allgemein angenommen, fie als zum engjten Kreiſe des 
Hofes gehörig bezeichneten. 

Als ſie den Marcheſe ſich wider Erwarten dem Garten 
zuwenden ſahen, ſetzten auch ſie ſich in Bewegung, um ihm in 
einiger Entfernung langſam zu folgen. 

Der Marcheſe verſuchte vergeblich, ſeinen ſehr raſch 
gehenden Bekannten einzuholen, und hatte ihn endlich an einer 
ſcharfen Biegung des Weges aus den Augen verloren, konnte 
ihn auch, da er jedenfalls einen der Seitenwege eingeſchlagen 
hatte, nicht wieder finden. 

Mißmutig kehrte er um, ſah ſich aber nach einigen Schritten 
plötzlich jener Gruppe junger Edelleute gegenüber, aus deren 
Mitte ihm Bianconi di Malandino, der Feind und Verfolger 
ſeiner Tochter, entgegen- und geradezu den Weg vertrat. 

„Eh! . Guten Morgen, mein Herr Marchefe —“ redete er 
ihn an, fich in den Hüften wiegend und mit der weißen, von 
Inwelen funfelnden Hand jein die Oberlippe zierendes Bärtchen 
keck in die Höhe mwirbelnd. 

„Ein weißer Rabe an diefem Hofe! — mie! — meine 
Herren?” — wendete er fih an feine Begleiter, in einem 

Ill. Haus-Bibl, I, Band XI. 161 


2562 Egon Fels. 
rn 200,00, G un ——— — — DL ——U 6 ——— —— GG ALLG ÖL ABB wu 


marktſchreieriſchen Tone und mit einer Handbewegung, als 
zeige er wirklich irgend ein ſeltenes Tier. 

„Gebet Raum, Meſſire Malandino,“ ſagte innerlich vor 
Wut knirſchend, aber äußerlich voll ruhigſter Würde, der Ver—⸗ 
höhnte. „Sch bin eilig und habe überdies durchaus nicht mit 
Euch zu reden.“ 

„Nicht? Haha! Habt Shr nicht? 's ift merkwürdig!" 
höhnte lachend der andere. 

Seinem Gelächter affompagnierten wie auf Kommando 
leine Gefährten. 

Malandino wich nicht von der Stelle und fuhr fort: 
„Und ich wette doch — Ihr möchtet mir recht viel — ehr 
viel jagen, wenn — Ihr es nur mwagtet. Heh? Aber hr 
fürchtet Euch, mein werter Herr künftiger Schwiegervater, Ihr 
fürchtet Euch! Hihihi! grüßt doch Eure fchöne, tapfere Tochter, 
meine ſüße Braut, vielmals von mir.“ 

Jetzt war e3 mit der Mäßigung des Marcheje vorbei. 
Solcher Frechheit gegenüber entſchwand ihm im Augenblide der 
legte Net der mit ungeheurer Ueberwindung fejtgehaltenen 
Selbftbeherrihung. Flammende Nöte bededte fein vorher vor 
Uebermaß der inneren Bewegung erbleichtes, männliches Antlib, 
Flammen des Zorns brachen aus den dunklen Augen. Die 
gebeugt getragene, hohe Geitalt richtete fich Ferzengerade zu 
impofanter Haltung empor und, ein ganz anderer al3 vorher, 
rief er, die Hand ans Schwert legend, mit einer Stimme, deren 
mächtiger lang an das Grollen eines gereizten Löwen ge— 
mahnte: „Unverjchämter, wie könnt Shr Euch erfrechen —“ 

Er vermochte nicht zu vollenden, denn Malandino, der nun 
erreicht, was er gewollt, rief jchäumend: „Was, Alter?! hr 
wagt eg, mich zu bejchimpfen! Da — nehmt dies —“ 

Er hob die Hand, um den würdigen aa) in das Anz 
gelicht zu Schlagen. 

Doch der Marcheje wich dem Schlage mit einem behenden 
Geitenjprunge, bei dem er einen der Begleiter jeined Feindes 
durch den unerwarteten Anprall über den Haufen warf, aus 
und rief, jeiner jelbft nicht mehr mächtig, fein Schwert ziehend: 
„Nun iſt's genug! — Berteidigt Euch, Elender! Sch wäre der 


Das Rätjel der Ahnenburg. 2563 





Beſchimpfung würdig, die Ihr mir zugedacht, wenn ich fie Euch 
‚nicht blutig in das fredye Geficht zurückgebe!“ 

Die Begleiter Malandinos machten anſcheinlich Miene, fich 
dazwiſchen zu werfen, er aber freilchte: „Gebet Raum und lafjet 
meinen lieben Schwiegervater gewähren. Der gute Mann bat 
zu heißes Blut für fein Alter! Ich will ihm aus aufrichtiger 
Liebe ein wenig zur Ader lafjen, das wird ihm gut thun.“ 

Wenn der Elende gehofft hatte, durch diefen Hohn die Wut 
des Beleidigten auf das Aeußerſte zu treiben und ihn fo der 
nötigen Befonnenheit und Ruhe beim Zweikampfe zu berauben, 
jo irrte er ich. | 

Der Marcheje durchichaute die Abficht und wie durch Zauber 
ward jein wild empörtes Blut ruhig und falt. Die vibrierenden 
Nerven beruhigten und ſpannten fich, der zitternde Mann ward 
fejt wie Stahl und der vorher jo wildlodernde Blick falt und ftätig. 

Der Kampf begann. 

Malandino, ein: vorzügliher echter, ‘der feinen Gegner 
fürchtete und niemal3 unterlegen war, wie viele Zweikämpfe er 
auch jchon gehabt, war gleichwohl der Sicherheit und Ruhe 
dieje8 Gegners nicht gemachten. 

Seine ungejtüme Kampfweiſe, jeine unberechenbaren, blib- 
ichnellen Ausfälle, brachten ihn hier entjchieden in Nachteil, denn 
fie vergeudeten zu raſch die Kräfte, welche in dem durch ein 
ausſchweifendes Leben entnerbten und erjchöpften Körper ohnedem 
nicht im Uebermaß vorhanden waren. Er feuchte bereit3, und 
der Schweiß begann ihm in Strömen vom Geficht herab zu 
fließen. 

Der Marcheje verteidigte fich bis jebt nur, er hatte noch 
nicht die leijefte Bewegung zum Angriff gemacht. 

Da, mit einem Male fam Leben in jeine jtatuengleiche 
Haltung, und eine Minute darauf brach Malandino mit durd)- 
bohrter Bruft zujammen. 

Ein Blutjtrom ftürzte über feine Lippen, die lodernden 
Augen bradden. Der Körper jtredte ſich — Bianconi di Malan— 
Dino war eine Leiche. 

Der Marcheje war bejtürzt, denn in dem Augenblide, als 
fein Feind tot zu Boden ſank, mußte er auch fofort der mög— 
lihen Folgen gedenfen. 

161* 


2564 Egon $els. 





War zu hoffen, daß Ddieje jungen Männer, die Freunde und 
Gefinnungsgenofjen des Gefallenen, dem zu erwartenden Zorn 
des Herzogs über den Tod feines Günſtlings gegenüber den Mut 
haben würden, die Wahrheit zu jagen? Sa, hatten fie überhaupt 
auch nur den Willen dazu? Würden fie zugeitehen, daß er nicht 
ohne ihre Anteilnahme und Billigung, von dem Gefallenen in 
wahrhaft infamer Weile provoziert, ja zu dent } Zweilampfe geradezu 
gezwungen worden? — 

Sein Blick glitt prüfend von dem einen zum andern, aber 
da war nichts zu finden, was ihn ermutigt hätte, zu glauben, 
ſie bewahrten in ihrem entarteten Innern noch einen Reſt un— 
befleckter Ehre, die ſie zwingen würde, zu ſeinen Gunſten zu 
zeugen. 

Ratloſigkeit, Beſtürzung, feige Furcht und auch die Schaden— 
freude, den gefallen zu ſehen, unter deſſen Hochmut und Ueber— 
hebung ſie wohl manches Mal gelitten haben mochten — das 
war es, was des Marcheſe ſeelenkundiger Blick auf ihren bleichen 
Geſichtern las, nichts weiter. 

Er wiſchte ſein blutiges Schwert mit ſeinem Tuche ab, und 
es in die Scheide zurückſtoßend, beſchloß er dennoch, den Verſuch 
zu machen, ſie an ihre Ehrenpflicht zu mahnen. Er ſagte: „Ich 
brauche Ihnen wohl nicht erſt zu ſagen, Meſſires, daß ich dieſen 
Ausgang des mir abſichtlich von dem Toten aufgedrungenen 
Zweikampfes lebhaft bedaure. Ich hoffe, daß Ihr mir bei Seiner 
Gnaden, dem Herrn Herzoge, das Zeugnis geben werdet, dieſer 
Edelmann ſei im ehrlichen, von ihm ſelbſt erzwungenen Kampfe 
gefallen?“ — 

Er wartete vergebens auf ein Wort, auf eine Bewegung, 
die ihm ihre Bereitwilligkeit, ihre Ehrenpflicht gegen ihn erfüllen 
zu wollen, angedeutet hätte. 

Zu ſtolz, um noch einen Verſuch zu machen, ſie dazu zu 
bewegen, wendete er ſich ab, um den Garten zu verlaſſen. 

Allein, wenn ſie nicht den Willen oder den Mut gefunden, 
ihm die Wahrheit zu bezeugen, ſo fanden ſie ihn doch dazu, 
ihn ohne Zaudern der Rache des Herzogs zu überliefern. 

Der Marcheſe ward plötzlich von hinten überfallen, an 
beiden Armen gepackt und bedeutet, er ſei ihr Gefangener, da 
er gegen die Palaſtgeſetze, welche Zweikämpfe inmitten des 


Das NRätjel der Ahnenburg. 2565 





Herzoglichen Beſitztums bei jtrenger Strafe verboten, gefehlt 
abe. - 

Ghisberti maß die Feiglinge mit Bliden niederjchmetterndfter 
Verachtung und ließ ſich ohne ein Wort der Erwiderung ge- 
duldig dem Ausgange zuführen. 

Im Ausgang des Gartens aber, im Begriff, diefen zu be- 
treten, begegnete ihnen der Principe Antonio und fragte be- 
fremdet nad) der Urfache diejes jonderbaren Aufzuges. 

Einer der jungen Edelleute begann zu jprechen, ward aber 
jogleih von dem Prinzen unterbrochen, der ihm nadläffig über 
die Schulter zurief: „Sch habe nicht Euch, jondern den Mar- 
cheje Ghisberti befragt. Ihr Habt zu fchmweigen, junger Mann!” 
jegte er jtreng hinzu, al3 jener fich verantworten wollte. 

Als der Prinz darauf von dem Marcheſe alle Thatfachen 
Itreng der Wahrheit gemäß gehört, ſagte er zu den Edelleuten: 
„Ihr könnt Euch entfernen, Meffires. Ich werde meinem Vetter, 
dem Herzog, jelbit Bericht eritatten.“ 

„Aber — Shr verzeiht, gnädigiter Herr. Der Befehl des 
Herzogs bejagt, daß jeder verhaftet werden joll —“ 

„Welcher mutwillig den Burgfrieven des Palaſtes und 
deſſen Umgebung durch Raufereien jtört. Ganz richtig, Meflire 
— hat der edle Marcheje Ghisberti das gethan? Habt Ihr 
etwa die Stirn, Meffires, das zu behaupten, nachdem hr doch 
allefamt Zeugen von dem geraden Gegenteil gewejen? Nehmt 
lieber Euer Gedächtnis, Euer Erinnern von jo kurzer Bergangen- 
beit beſſer zuſammen, ſonſt möchte ich mich verjucht fühlen, das 
meine zu ſchärfen, und ich meine,” fügte der Prinz mit einem 
etwas jpöttifchen Lächeln Hinzu, „das würde feinem von Euch 
beſonders angenehm fein.“ 

Tief ſich verbeugend, jchlich ſich einer nach dem andern 
ſchweigend von dannen. 

So' ſchlecht waren ſie denn doch noch nicht, um dem Mar— 
chefe in das Geficht eine jo ungeheure Lüge zu wagen, und 
außerdem hatten fie auch alle Urjache, den Prinzen fich nicht 
zum Feinde zu machen, denn ein jeder hatte irgend etwas, der 
eine in diefer, der andere in’ jener Weife auf dem Kerbholz, 
von dem er fürchten mußte, es vor dem Herzog gebracht 
zu jehen, und daß der Prinz bei aller Bortrefflichfeit feines 


2566 Egon Sels. 





Charakters ſchonungslos vorging, wo er vernichten wollte, da3 
wußten fie und fanden es deshalb ſpäter, als fie befragt wurben, 
für beſſer, bei der Wahrheit zu bleiben. 

„Seht nach Haufe, edler Herr,“ Hatte fich der Prinz zu 
dem Marcheje gewendet, „und erholt Eu) von dem unan- 
genehmen Begebnis. Es iſt eine böſe Sache, das ift nicht zu 
leugnen, und Alejandro ift unberechenbar, aber ich hoffe den- 
no, ihn Euch zu verſöhnen. Schlimmiten Falles müßtet Ihr 
fliehen — doch hoffe ich, daß dies nicht nötig wird. Nechnet 
aber in allen Fällen ganz auf mich.” Und ohne die Dank— 
jagungen de3 Marcheſe anhören zu wollen, eilte er in den 
Palaſt. 

Wie gut dem Prinzipe die Beſänftigung ſeines Verwandten 
gelungen war, davon erhielt der Marcheſe ſchon am anderen 
Tage den Beweis. | 

Der Herzog jIchidte Lorenzino dei Medici, einen der Jitten= 
Iojejten unter den zahlreichen Genofjen jeiner Ausſchweifungen 
zivar, aber immerhin feinen nahen Verwandten, mit einer jehr 
gnädigen Botichaft an ihn. 

Der Herzog — ſagte Lorenzino, der mit der Ruheloſig— 
feit und Verwegenheit feines Charafter3 eine große perjünliche 
Liebendwürdigfeit und höfiſche Geſchmeidigkeit vereinte, — laſſe 
dem werten Marcheje Ghisberti fein Bedauern über die ſchwere 
Beleidigung ausdritden, welche ihm von einem feiner Diener 
innerhalb der Grenzen feines PBalaftes zugefügt worden. 

Er jende ihn nicht nur feine völlige Verzeihung für Die 
Mebertretung der Balajtgejege, jondern füge auch die Ver— 
fiherung Hinzu, er würde, wenn nicht der Beleidiger bereits 
feinen wohlverdienten Lohn von dem Marchefe jelbjt empfangen, 
eine exemplariſche Strafe über ihn verhängt haben. Auch ſei 
bei diejer Gelegenheit dem Herzoge zu Ohren gefonımen, daß 
nicht, wie er und auch der Marcheje jelbit angenommen, jener 
Ueberfall der Madonna Clodilde Ghisberti von Räubern um 
eines Löfegeldes "willen, jondern ganz allein von Malandino 
geplant und von deſſen eignen Leuten ausgeführt worden jet. 
Um nun feine entfchiedene Mikbilligung alles Gejchehenen zu 
erkennen zu geben, und dem Marcheſe wie jeiner Tochter Ge— 
nugthuung zu verjchaffen, habe der Herzog fich entjchloffen, für 


Das Nätjel der Ahnenburg. 2567 


REIST 





den Abend des Feſtes Madonna Clodilde zu feiner Dame zu 
wählen, und erwarte, daß jte fich mit ihrem Vater und in 
Begleitung ihre8 Bruders, auf den er die Einladung hiermit 
ausdrücklich ausdehne, rechtzeitig einfinde, um mit den Damen 
ſeines Hauſes die Gäjte zu empfangen. 

Lorenzino fügte noch manches Freundliche bei und. jchien 
an diefem Tage feine wahre Natur völlig abgejtreift zu haben, 
denn er benahm jich durchaus angemefjen und würdig. 

Dennoch dankte der Marchefe Gott, al3 er ihn los war. 

VUeber die möglichen Folgen des Zweikampfes glaubte der 
Marcheje fi nun allerdings völlig beruhigen zu dürfen, aber 
in anderer Beziehung war er deito untuhiger. Nun gab e3 
feinen Ausweg mehr, das Ericheinen Clodildes beim Feſte 
war ein gebieteriſches Maß geworden. 

Aber — wo war der bewegende Grund, der den Herzog 
zu all dieſer Zuvorkommenheit, zu all dieſer übergroßen 
Freundlichkeit veranlaßte? Man war es nachgerade gewöhnt, 
hinter einer That der Großmut und Gerechtigkeit von feiner 
Seite irgend einen bewegenden Grund des Eigennußes zu ver— 
muten, und man irrte fich jelten bei folcher Annahme. 

War es allein der Eigenfinn, das Erjcheinen einer Familie, 
die fo lange ſich beharrlic) ferngehalten, amı Hofe zu erzwingen? 
Salt es jeiner Tochter Ehre und Unſchuld? Aber — er kannte 
fie ja gar nicht — fie war nie mit ihm zujammengetroffen, und 
— Würde er dann Giulio mit einladen? War das nicht ein 
Wächter und Beichüger mehr an Clodildens Geite? 

Und — bürgte nicht der Anlaß des Feſtes, bürgten nicht 
die Namen, Madonna Beatrice und Maria Salviati, für Die 
würdigfte Gejellihaft und den anſtändigſten Ton desjelben? 

Uneins mit fich jelbit, bald hoffend, bald fürchtend, quälte 
fi) der Marchefe ein paar angjtvolle Tage mit feinen Ge . 
danken und Plänen, die jo rajch entworfen al3 verworfen wurden. 


4. Die Infrigue. 


Sn der Nacht des dritten Tages nach Lorenzinos Bejuch 
war der Marcheje gerade im Begriff, jein Lager aufzujuchen, 
als die Thür des Schlafgemaches ſich öffnete, und, von Wolf 


2568 Egon $els. 





— AS 


geleitet, ein bis zur völligen Unkenntlichkeit vermummter 
Mann eintrat. 

Wolf entfernte fich jofort wieder, ſchloß die Thür hinter 
ih, und einen Stuhl beranziehend, jeßte er fich quer vor der 
Thür des Vorzimmers nieder, um jeden Laujcher fernzuhalten. 

Der außerordentlich beftürzte Marcheje, der ſich in liegender 
Haft wieder anzufleiden begann, jah feinen unerwarteten Beſuch 
Hut, Mantel und die Halbmasfe abwerfen und blidte mit 
namenlofem Erjtaunen in des Prinzen Antonio edles, ernites 
Geſicht. 

„Ihr habt wohl gerade mich am wenigſten zu ſehen er— 
wartet, mein lieber Marcheſe, —“ ſagte dieſer, ihm die Hand 
bietend — „mich, der ich ſo lange Euer Haus nicht betreten, 
weil ich mir die Kraft nicht zutraute, Madonna Clodildes 
liebliches Antlitz wiederzuſehen, ohne von neuem die halb ge— 
ſchloſſene Herzenswunde bluten zu fühlen. Ich habe ihr aber 
gelobt, immerdar ihr treueſter Freund zu bleiben, da ich ihr 
Gatte nicht ſein ſoll, und dieſes mein Manneswort einzulöſen, 
bin ich gekommen.“ 

Der Marcheſe hatte ſich inzwiſchen gefaßt und begrüßte 
nun mit voller Herzlichkeit den werten Gaſt. Den Prinzen 
zu einem bequemen Sitze geleitend, nahm er ſelbſt ihm gegen— 
über Platz und ſagte: „Es iſt wahr — Ihr habt mich über— 
raſcht, mein teurer Prinz. Aber was es auch ſein mag, das 
Euch zu mir führt, ich fühle mich ſehr geneigt, es willkommen 
zu heißen, da dies unbekannte Etwas die bewegende Macht 
geworden, mir Euren ſo lange ſchmerzlich vermißten Beſuch 
wieder zu bringen.“ 

„Ihr ſeid ſehr gütig, mein lieber Marcheſe, und ich bin 
Euch für Eure Freundſchaft herzlich dankbar, bezweifle aber, 
daß Ihr geneigt ſein werdet, den mehr als ernſten Anlaß, 
der mich zu ſo unpaſſender Stunde in Euer Haus zurückgeführt, 
zu preiſen. — Macht Euch gefaßt, ſehr Schlimmes zu hören. 
— Ihr und die Eurigen befindet Euch in einer furchtbaren 
Gefahr. Euch daraus zu retten, bin ich gekommen; damit ich 
dies jedoch kann, muß ich uneingeſchränktes Vertrauen und 
Grabesſchweigen über meine Hilfe von Euch fordern. Werdet Ihr 
mir beides gewähren, auf Euer unbeflecktes Edelmannswort?“ 


Das Rätfel der Ahnenburg. 2569 





0 ae) 





„a, mein Prinz — ganz und gar, auf mein Edelmanns— 
wort! Sch ahne überdies, was Ihr mir Jagen wollt. Ich 
fühle die Gefahr, die mich umgiebt. Der Herzog will den 
Tod ſeines Günſtlings an mir rächen. Iſt es nicht das?“ 

„Schlimmer, weit ſchlimmer als dag, mein alter Freund! 
Doch — ehe ich weiter fpreche, lafjet mich Euch noch einmal 
eindringlichit zu Gemüte führen, daß ich Euch nur retten Tann, 
wenn Ihr auf jede Selbjtbejtimmung verzichtet, Euer und der 
Euren ganze Wohl und Wehe, ja Eure ganze Exiſtenz völlig 
in meine Hände gebt und meinen Anordnungen in jeder Be— 
ziehung Gehorſam leiſtet. Es ijt ein ungeheure Verlangen, 
daß ich da an Euch ftelle, aber — die Gefahr it auch eine 
ungeheure und verlangt ungewöhnliche Mittel, um fie zu be— 
ſchwören. Ich werde, das gelobe ich Euch bei Gott und bei 

meiner Ehre, Euer Vertrauen nicht täujchen und — “ 
| „sch bitte Euch, jaget nicht weiter, mein edler Prinz, 
es ijt unnötig. Ich gebe mich und die Meinen, gebe alles, 
was ich bin und habe, mit jchranfenlojem Vertrauen ganz und 
gar in den Schuß Eurer Ehre.“ 

„sch danke Euch, Ghisberti, Shr werdet e8 niemals bereuen, “ 
erwiderte Antonio ergriffen, dem Marcheje die Hand reichend. 

„Ihr werdet Euch wundern,“ begann er wieder, „Daß 
ich, der ich mich doch feinegwegs des Vertrauens meines lajter- 
haften Vetters erfreue, von einer Intrigue, die doch im tiefjten 
Geheimnis, in feinem eigenen Geheimfabinett von ihm jelbft 
und feinen intimjten Werkzeugen gejponnen ward, dennoch jo 
ganz unterrichtet bin. , Aber ein Menſch, wie Alejjandro übt 
eben den verderblichiten Einfluß auf feine ganze Umgebung aus, 
er demoraliſiert gewiſſermaßen jelbit die Beiten, indem er auc) 
zu Maßregeln zivingt, die fie verabjcheuen und. über die ſie 
vor ſich jelbjt erröten, deren fie jich doch troß alledem bedienen 
müfjen, teils un der Sicherheit ihrer eigenen Erijtenz willen, 
teils um nicht jedes Einfluffes, der ihnen doch hin und wieder 
geitattet, im jtillen den böjen Plänen entgegenzuarbeiten und 
hier und da einen Unfchuldigen zu retten, verluftig zu gehen. 

Sn diefer Lage befinde auch ich mich. Gleich Alejandro 
habe ich meine .gut bejoldeten Spione und von Dielen erfuhr 
ich folgendes: 


2570 Egon Fels. 











Jener elende Malandino, der von Eurer Hand ein viel 
zu ehrenhaftes Ende fand, freite ſeiner Zeit um Madonna 
Clodilde, nicht etwa deshalb, weil ihre ſüße Schönheit, ihre 
Engelsmilde und zahlreichen Tugenden fein Herz gerührt hatten, 
ſondern allein in der Abficht, durch fie feinen Einfluß auf den 
Herzog zu befeſtigen “ 

Ein Stöhnen tiefiten Grimmes erleichterte Hier die gepreßte 
Bruft des Vaters, der fchweigend, aber mit frampfhaft geballten 
Händen der Entwidelung des infamen Anjchlages zuhörte. 

„Noch hatte Alejandro Euer jchönes Kind nicht gejehen, 
noch mußte er nicht, ‘welchen Schatz himmliſcher Schönheit, 
welche Perle von Reinheit und Unſchuld Malandino ihm zu= 
gedadht. Da zeigte der abgewiejene Freier ihm eine Tages 
Donna Clodilde in der Kirche, und, mie er erivartet hatte, 
fing der Herzog in kaum je dagewejenem Grade Feuer und 
erteilte ihm Vollmacht zu jeder Schandthat, um dies Kleinod 
in feinen Beliß zu bringen. 

Ssene Heine Rauferei, bei der Malandino eine gänzlich 
unbedeutende Wunde empfing, brachte ihn auf den Einfall, ſich 
tödlich verwundet zu jtellen, um Madonna Clodilde, die, um 
ihm auszumeichen, es nicht mehr wagte, ihren Palaſt zu ver- 
laſſen, jiher zu machen. Durch feine Spione erfuhr er als— 
bald, wie gut ſeine teuflijche Lift gelungen, und bereitete den 
Veberfall vor. 

AS die Entführung duch Eurer Tochter Geijtesgegen=. 
wart und Tapferkeit vereitelt worden, Fnirjchte der Herzog vor 
Wut, und jein Verlangen, das Weib, das ihre Ehre jo tapfer 
zu verteidigen wußte, dennoch in jeinen Befig zu bringen, ward 
immer glühender. 

Mit feinen beiden Kämmerern, dem Schurken Giomo und 
dem Ungar, hielt er Rat, wie man in anderer Weile zum Biele 
aelangen könne. 

Das waren die Geheimräte, und die wichtigen Staats— 
angelegenheiten, die gerade in jeinem Kabinett verhandelt 
wurden, als Ihr in den Palaſt kamet, um Audienz zu fordern. 

Ein neuer Plan war raſch entworfen, und Giomo ward 
ausgejandt, um Malandino von Eurer Anmejenheit zu benach- 
richtigen und ihm den Befehl zu bringen, Euch zu provozieren. 


Das Rätjel der Ahnenburg. 2571 





Der Herzog wußte, welch vorzüglicher Fechter Malandino 
war, wußte, wie viele er damit bereit3 ind Jenſeits befördert 
hatte, und erwartete mit Beitimmtheit, er werde Euch töten 
oder doch mindeſtens tödlich verwunden.. Man Hatte dann in 
jedem Falle freie Hand, ein ſchutzloſes Mädchen insgeheim zu 
überfallen und zu entführen. 

Das war dem anfänglichen Vorſchlage Giomos, direkt 
unter irgend einem leicht gefundenen Vorwande fi) Eurer zu 
bemächtigen, bei weiten vorzuziehen. Ä 

Das wagte Alejandro denn doch nicht. Da aber ein ſo 
hinterliftiger Menſch, wie mein entarteter Vetter, immer gern 
zwei Pfeile in jeinem Köcher hat und es liebt, ſich auch auf 
unvorhergefehene Fälle vorzubereiten, jo empfing er Euch mit 
all jener Höflichkeit, deren er. fich mit jo vollendeter Mleilter- 
Ichaft zu bedienen weiß, daß es ihm oft gelingt, ſelbſt die zu 
täufchen, die ihn nur zu genau fennen; er machte Euch ficher 
und bahnte einen neuen Plan durch jene Einladung an, der 
in einem Augenblicke in jeinem intriguanten Geiſte ent⸗ 
ſtanden war. 

Als ich an jenem Tage zu ihm kam und er durch mich 
von dem üblen Ausfall ſeines Anſchlages auf Euer Leben hörte, 
war er einen Augenblick vor Ingrimm wie von Sinnen, dann 
aber glättete ſich ſein Geſicht wieder, und er hörte meine Vor— 
ſtellungen, meine Verteidigung Eurer gerechten Sache mit einer 
Miene an, die mir im Augenblicke rätſelhaft blieb, die ich 
jedoch, nachdem ich alles gehört, was ich Euch jetzt mitteile, 
nur zu gut verſtand. | 

Es war bereit3 mit der VBervollitändigung jeines neuen 
Schurkenplanes fertig geworden und feiner Opfer ficher. 

Als ich geendigt hatte und feine Enticheidung erwartete, 
jftand er auf und fagte, mir mit wohlwollendem Lächeln auf 
die Schulter Flopfend: ‚An dir ijt ein vortrefflicher Advokat 
verdorben, Antonio. Du haſt mich überzeugte. Der arme 
" Malandino thut mir eigentlich leid, er war ein luftiger, brauc)- 
barer Kerl — doch — warum betrug er fich wie eine Beitie! 
Er war eben übermütig geiworden, troßte zu ficher auf meine 
Gnade, und — 's ijt wahr, der Ghisberti war ihm gegenüber 
in feinem Rechte. Der arme Mann ijt eben zu ſchwer gereizt 


2572 Egon $els. 


àV——— LS —— 





— — 


worden, da vergißt man wohl, was das Geſetz gebietet. Ich 
ſehe es ein, und will ihm nicht mehr zürnen. Seinen Arm 
vertraulich in Den meinen legend, neigte er fich zu mir: 
„Kennſt du den Marcheje und feine Tochter, deren Schönheit 
man jo fehr rühmt, näher?* fragte er. 

Sch begegnete feinen lauernden Blicke mit feſtem Auge, 
denn ich wußte wohl, er wollte nur wiſſen, ob ich die Wahr- 
heit verleugnete; ich war ja ficher, daß jeine Spione ihm längft 
berichtet hatten, wie ich ohne Erfolg um Madonna Clodilde 
geworben. Deshalb gab ich ruhig die Antivort: ‚Sa ich kenne . 
beide und zwar genau, da ich Madonna Clodilde einft liebte.‘ 

‚Was?‘ rief er kurz auflachend, ‚du, der Weiberfeind, 
welcher gejchworen, fich nie wieder zu verehelichen? Was du 
jagt! Das ijt mir ja jehr intereffant! Warum aber haft du 
nicht um die Dame geworben? Der Marcheſe ift reich, jehr 
reih, wie man jagt, die Familie ift gut — ich Hätte gegen 
dies Bündnis nichts einzinvenden gehabt.‘ 

Genug davon, ſchloß der Prinz, das weitere will ich mit 
Stillichiweigen übergehen. 

Ich verließ ihn mit dem Erfolge meiner Intervention zu 
Eurem Gunften, im ganzen zufrieden, aber doch von irgend 
welcher Ahnung beunruhigt und über jenen jchon erwähnten 
rätjelhaften Geſichtsausdruck Aleſſandros brütend. 

Lorenzinog Sendung am Tage nachher vollendete das 
eb, in dem ich Euch mit Schreden gefangen ſah. Ich nahm 
meine Maßregeln und erfuhr heute morgen alles. 

Aleſſandros Plan ijt dem Öelingen nahe, denn der Be- 
ſuch dieſes Feſtes — dem meine eigene Mutter vorftehen, ihm 
jomit als Lodvogel dienen muß — vollendet feinen Triumph. 
Indem hr mit den Euren die Schwelle des Palaſtes an 
jenem Abende betretet, Liefert Ihr Euch und Euren Sohn 
jeinen Banditen und Eure holdfelige Tochter dem Herzog aus.“ 

Abermals entfloh ein dumpfer Ausruf namenlofen Schredens 
den zitternden Lippen des Marcheje; er wollte jprechen, aber 
der Prinz erhob Schweigen gebietend die Hand und jprad) 
ſelbſt weiter: 

„Die Gärten de8 Palaſtes werden erleuchtet fein, denn 
ein namhafter Teil des Feſtes wird in ihnen ftattfinden. 


Das Rätſel der Ahnenburg. | 2573 





Ihr werdet vorfichtig natürlich nicht von Madonna 
Clodildes Seite weichen, dasjelbe wird, von Euch benachrichtigt, 
Euer Sohn thun. Won den anderen Gäſten durch eine ver- 
abredete, leicht ing Werk zu ſetzende PVeranitaltung irgend 
welcher Art getrennt, werdet Ihr ruhig, den fchönen Abend 
geniegend, furchtlos und nichts ahnend der erleuchteten Stelle 
zumandeln, wohin man Euch unter irgend welchem Vorwande 
zu loden weiß. Plötzlich ftürzen die durch Schnüre ver- 
bundenen, im Laube der Bäume verborgenen Lampen um. 
Es iſt finfter um Euch, Shr und Euer Sohn werdet von den 
im Gebüjch auf Euch lauernden Mördern überfallen und er- 
doldt. Eueren Todes-, der Madonna Klodilde Schredenzichrei 
erjtict die raufchende Muſik. Madonna Elodilde wird fort- 
geichleppt und in eine jener Lajterhöhlen gebracht, wo Aleffandro 
jeine Orgien feiert. In dem Wirrwarr des Feſtes bemerkt 
man das DVerjchwinden dreier Perjonen nicht leicht; da aber 
Madonna Clodilde die Dame des Herz0g3 an dieſem Abende 
war, jo wird dafiir gejorgt, daß. die Geſellſchaft auf glaub 
würdige Weile erfährt, fie habe ſich erjchöpft mit ihren An— 
gehörigen zurücdgezogen und nach Haufe begeben. | 

Eure und Eured Sohnes Leichen werden fortgebradht und 
auf der Straße, die Ihr zu paſſieren Habt, ſamt denen Eurer 
inzwijchen ebenfalls ermordeten Diener niedergelegt. Der Ans 
ichein eines Kampfes ift ja fo leicht geichaffen. Shr jeid dann 
von Banditen überfallen und ermordet, Eure Tochter in die 
Berge geichleppt worden. Aleſſandro wird rajen, daß felbjt 
jeine Gäjte nicht mehr vor den Räubern ficher find, wird einige 
aufgreifen und auf der Folter zu dem Gejtändnifje zwingen 
lafjen, daß fie e8 waren, welche Euch, und aus Furcht, entdeckt 
zu werden, in den Bergen auch Eure Tochter nachträglich er- 
mordet haben. hr wifjet, man fann auf der Folter noch 
ganz andere Dinge aus dem empfindlichen Menjchenleibe heraus- 

preſſen. | | 
| Darauf werden die Verbrecher unter möglichit großen 
Umjtänden gehenkt und die Sache ijt abgethan. 

Was Madonna Elodilde betrifft,“ murmelte er knirſchend 
und mit der Hand feinen Wams aufreißend, denn der innere 
Ingrimm eritickte ihn faft — „jo Ichafft fie, wenn der ver- 


— — — A en 


2574 Egon Fels. 





brecheriſche Schurke ihrer müde geworden, dasſelbe Gift aus 
dem Wege, dem die ſchöne unſchuldige Luiſa Strozzi, des 
armen Luigi Vapponi junge Gemahlin, erliegen mußte, weil 
ſie ſich Aleſſandros ehrloſen Anträgen nicht fügte und ihrem 
Gatten die Treue bewahrte. 

Euere Güter und Euer Vermögen verfällt als herrenlos 
dem Staate, und Euer Henker wird ſchon Mittel und Wege 
finden, ſich den Löwenanteil davon zu ſichern, denn Ihr wiſſet, 


er iſt allezeit geldbedürftig und die ungeheuerſten Summen 


entſchwinden ihm gleich Sand aus den Händen. Aber er 
würde ſich nicht ſeines Raubes freuen! Mit dieſen meinen 
Händen erwürgte ich ihn eher, als daß en unreiner Hauch 
meine Heilige vergiften ſolltel· 


5. Die Gegeninkrigue. 

Der Marcheſe war völlig niedergeſchmettert von der in 
ſolchem Umfange und ſolcher Nähe keineswegs erwarteten Ge— 
fahr, in der er und ſeine Kinder ſchwebten. 

„Das Ungeheuer!“ brach er endlich aus. „Hier giebt 
es kein Beſinnen, kein Säumen, wir müſſen ſchleunigſt 
fliehen!“ 

„Ganz richtig, mein Freund, Ihr habt den einzigen Weg 
zur Rettung bezeichnet. Wie Ihr es aber könnt — daß Ihr 
es könnt, bedarf reiflicher Ueberlegung und keines geringen 
Aufwandes von Vorſicht und Liſt. Denn glaubt ja nicht, daß 
eine Flucht ſo leicht ſein wird, und ſelbſt wenn ſie anſcheinend 
gelingt, ſo würdet Ihr Euch zu ſpät überzeugen, daß der Tiger, 
der auf Euch lauert, Euch nur um ſo raſcher packen, Ihr um 
ſo ſicherer in ſeine verbrecheriſchen Hände fallen werdet. Eure 
Beſeitigung zu verbergen, wird ihm in dieſem Falle weit 
weniger Mühe machen. Nein — ſagt nichts — wartet. Ich 
habe Euch ſchonungslos den ganzen teufliſchen Plan enthüllt, 
Euch die entſetzliche Lage gezeigt, in der Ihr und vor allem die, 
welche mir nächſt meiner Mutter das teuerſte Weſen auf Erden 
iſt und ſein wird, ſich befindet. Nun laſſet mich zu dem von 
mir entworfenen, bereits vorbereiteten und angebahnten Plane 
Eurer Rettung kommen. 


% 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2575 





Ihr müßt gänzlich verjchwinden, das heißt, aus Italien 
verjchivinden. 

Die ſich täglich jchlimmer geitaltenden Zuſtände unferer 
engeren Heimat fünnen jo nicht lange mehr dauern. Meines 
verbrecherijchen Better Sturz kann troß der Gunſt des ge= 
meinen Volkes, auf die er fich jtüßt und die er durch jeine 
Zeutjeligfeit und Zugänglichkeit, durch eine wohlfeile Großmut, 
durch eine ſcheinbar dem innerſten Rechtsbewußtſein entſprungene 
Gerechtigkeit in kleinen Sachen ſich zu gewinnen und zu er— 
Halten verſteht, nicht mehr lange dauern. Eure freiwillige 
Verbannung, wenn man Eure Flucht noch jo nennen kann, wird 
ſonach nicht eine zu langivierige fein. Seid Ihr damit ein- 
veritanden?” 

„Ganz und gar, mein Prinz — und dürfte ich auch nie 
meine teure Heimat wieder fehen, ich würde doch mit meinem 
armen Sinde fliehen, jo weit mid) meine Füße tragen.“ 

„She Habt recht. — Sit Euer Sohn ſchon von Euch 
zurüdgerufen ?* | 

„Nein, noch nicht. Sch zügerte, ihm die Weilung zu— 
kommen zu lafjen, beivogen von einem geheimen Gefühl banger 
Ahnung, daß ihm der Aufenthalt hier Verderben bringen 
fünne.“ 

„Das ijt ein glüdlicher Umjtand. Nach) meiner Anficht 
darf jedoch Giulio Stalien nicht mit Euch verlaffen. So lange 
er bleibt, wird man Euch und Madonna Clodilde in der Nähe 
veritedt wähnen.“ 

„Aber auiellandzo wird an ihm jeine Nache Fühlen, 
wenn —“ 

„Ihn ficher zu Stellen, dag lajjet meine Sorge jein. Seine 
Begleitung würde Eure Flucht nur erjchweren. Man findet 
drei Perſonen jtet3 leichter al3 zwei. Ueberdies wäre jeine 
Anmwejenheit in der Nähe im Augenblide einer Regierungsver— 
änderung für feine fünftige Stellung eine Notwendigfeit. 
Schreibt ihm aljo den Sachverhalt, der Euch nötigt, zu fliehen 
und weijet ihn an, ohne einen Augenblid Verzögerung nad) 
Nom abzureifen, während er dort, wo er fich befindet, erklärt, 
er folge der Einladung Alejandro zum Feſte. Leget dies 
Empfehlungsjchreiben an den Papſt bei," — der Prinz wählte 





2576 Egon Fels. 





aus einen Paket Schriften, das er aus einer inneren Taſche 
jeine8 Mantel hervorgeholt, einen Brief aus und gab ihn 
dem Marchefe. — „hr wißt, Baul II iſt nicht gut auf 
Aleffandro zu jprechen. Giulio muß ſich damit jogleich nad) 
dem Batilan begeben und Audienz begehren. Seid verſichert, 
er wird fie, wenn er jagt, daß er von mir kommt, augenbfid- 
li) erhalten, und auf Grund meines Briefe wird ihm nicht 
nur eine Gtelle in der nächſten Umgebung des Bapjtes, 
ſondern auch, deſſen nachdrücklichſter Schuß zu teil werden. 
| Dad wäre die Sicherheit Eure8 Sohnes, und nun 
zu Euch. 

Sch hörte, Madonna Elodilde ſei feidend. Wird fie im- 
Itande jein, zu Pferde zu reifen? Dem das ilt um Des 
Ichnelleren Fortkommens willen durchaus notwendig.“ 

„sch hoffe e8, denn ihr Leiden ift ſpezifiſch ein ſeeliſches. 
Das Kind’ Ichreibt fi nicht nur die Schuld an des armen 
Anſelmos Tod zu, fie macht ſich auch noch über den bon ihr 
getöteten Schurken die ſchwerſten Gewiſſensvorwürfe.“ 

„Das begreife ih; das ift nur die notwendige Konſequenz 
ihrer engelhaften Natur. Aber die gefährliche Lage; deren 
ganzen Umfang Ihr keineswegs ihr verheimlichen dürft, wird 
ie über jich jelbft Herausheben und ihr die Kräfte nicht nur 
zur Reife, fondern auch zu der notwendigen Berjtellung geben. 
Sch brauche zwei Tage, um alle meine Vorbereitungen zu der 
Sicherung Eurer in das tiefite Geheimnis gehüllten Reife zu 
vollenden. | | 

Während diefer Zeit müßt Ihr alle vorbereiten und 
paden, was Shr zum Notwendigften bedürft, oder al3 beſonders 
lieb und wert mit Euch führen wollt. Doc laſſet das Gepäd 
nicht zu umfangreich fein, und waget e3 ja nicht, irgend eine 
Anordnung für Eure zuricbleibenden Diener und Beamten zu 
treffen. Mißtraut jedem, von dem Shr nicht mit Gewißheit 
überzeugt feid, daß Ihr auf feine unbeftechlihe Treue mit 
Sicherheit bauen könnt. Während diefer geheimen Thätigfeit 
muß aber eine öffentliche nebenhergehen, um Euren Feind ficher 
zu machen. Zeigt Euch geſchäftig, Euer und der Euren Er— 
ſcheinen auf dem Feſte mit einem Glanz vorzubereiten, welcher 
beweiſt, wie Ihr die Eurer Familie zugedachte Ehre zu ſchätzen 





Das Rätjel der Ahnenburg. 2577 





wißt. Madonna Clodilde muß fi) in die Stadt begeben und 
bei den Kaufleuten ihre Beftellungen an Stoffen für ihre 
Toilette machen, muß Geivandichneider, Sticerinnen und 
Sumeliere in Bewegung jeßen, um ihrerjeit3 zu beweijen, welche 
- Mühe fie ſich giebt, als Dame des Herzogs, als augenblicliche 
Stellvertreterin der Faijerlichen Margarethe, diefer Ehre würdig, 
an Glanz und Reichtum ihrer Kleidung alle anderen Damen 
zu überjtrahlen. Sie muß einige Beſuche bei ihr bekannten 
Familien machen und dort lebhaft, erwartungspoll von dem 
Seite ſprechen, auf welches fie fich jo fehr freut, daß fie ent- 
Ihloffen alle trüben Gedanken über Bord geworfen. hat. 

In der dritten Nacht, von heute an, werden drei Berfonen, 
mein Kämmerer Ruggiero, deſſen Treue über allen Zweifel 
erhaben iſt, ein Diener und eine Dienerin meiner Mutter — 
welche, in deren Kleidern dicht verſchleiert, fie vorſtellen wird, 
während Shr, Donna Clodilde und Eure. Diener als ihr Ge- 
folge gelten ſollt — Euch am hinteren Gartenthor nach Mitter- 
nacht erwarten. Ihr dürft nur einen Diener, Madonna. 
Clodilde höchiteng zwei ihrer Frauen mit fich nehmen. Leben3- 
mittel bis zur Grenze und die unterwegs notwendigften Hab- 
feligfeiten. müſſet Ihr auf ein PBadpferd legen. Das Uebrige . 
muß auf einen Wagen gepadt und mit den zwei Frauen Eurer 
Tochter, unter irgend einem Vorwande, vorausgeſchickt werden. 

Habt Ihr außer Wolf Diener, auf deren Treue Ihr Euch 
verlaſſen könnt? Das iſt wejentlich, denn ſonſt würde es kaum 
möglich fein, Eure Flucht lang genug zu verbergen, um deren 
Geheimnis ganz zu fihern. Wir könnten zwar Beftechung ver- 
juchen, aber diefer Weg tft ftet3 unficher.“ 

„Jawohl! das ift er, und ich denke, wir können ihn ent- 
behren. Sch glaube, dreien unter meinen Leuten fo ficher zu 
ſein, wie man de3 wanfelmütigen Menfchen überhaupt jein 
fann.” 

„Das genügt. Dieſe drei müfjen die Täufchung, Ihr 
und Eure Tochter befändet Euch noch im Palafte, jo lange 
al3 nur möglich zu erhalten wiffen. Wird das möglich jein?“ 

„DO ja — warum nicht? Elodilde Hat fich bei ihren Ein- 
käufen und Beltellungen in der Stadt zu jehr angejtrengt und 
muß da3 Bett hüten. Da Urracca, ihre Amme, und Suliette, 

SU. Baus-Bibl. II, Band XI. ..162 


— — — — —* 


2578 Egon Fels. 


— —— ————— — ——ç——— —— ⏑ — 


ihre Zofe, unglücklicherweiſe nicht anweſend find, denn dieſe 
beiden nehmen wir mit, ſo läßt ſie Frau Barbara — die 
ehemalige Kammerfrau meiner verſtorbenen Gemahlin — zu 
ihrer Bedienung und Pflege befehlen. Dieſe treue Alte wird 
ihre Rolle vortrefflich ſpielen. — Ich verlaſſe oft wochenlang 
das Schloß und tagelang meine Bibliothek nicht. Niemand 
wird es auffallen, wenn ich unſichtbar bleibe, mein Kammer—⸗ 
diener wird ebenfalls die Täufchung, ich jei anweſend, mit nicht 
minderem Geſchick al3 Barbara aufrecht zu erhalten willen. 
Die Abreiſe der Dienerinnen zu rechtfertigen, bietet ſich im 
Augenblide gerade der denkbar beite Vorwand. Die Schweiter 
der Zofe meiner Tochter feiert in nächſter Woche in Pietramala 
ihre Hochzeit. Clodilde hat ihr ſchon lange erlaubt, daran 
Teil zu nehmen, und Frau Urracca, ihre ehemalige Amme, 
zum Schube des Mädchens zur Mitreife veranlaßt. Beide 
jollen mit diejer Reife noch eine Nebenaufgabe erfüllen, indem 
fie, da ihr Weg an dem Klofter der heiligen Agathe vorüber- 
führt, dort einige Kilten mit Früchten und Leinenzeug für die 
frommen Schweitern zum Geſchenk mitnehmen. Für die Heilige 
ſelbſt hat Clodilde eine Altarbefleidung geitict, die fie ebenfalls 
bei diejer Gelegenheit an die Aebtiſſin, eine Freundin meiner 
verjtorbenen Gemahlin, abjenden will. Dazu fommen nod) ein 
paar Kiſten mit Hausrat und Hochzeitsgeſchenken für die Braut. 
E3 wird ſonach niemandem auffallen, wenn die beiden Frauen 
ein ziemlich anjehnliches Gepäd mit fich führen.“ 

„Das könnte fih. ja gar nicht befjer treffen!“ — rief der 
‚Prinz überaus. zufrieden. „Laſſet alſo alle jene Kiſten nur 
ruhig hier jtehen, ich werde dafür ſorgen, daß, wenn fie auch 
nicht an ihre Beltimmung gelangen, weder die Braut noch die 
heilige Agathe und ihre frommen Dienerinnen etwas von dem 
einbüßen, was die Güte und Frömmigkeit Madonna Clodildes 
ihnen zugedacht hat. Euer Gepäd wird die Stelle jener Kiſten 
einnehmen, und die Frauen können jonach vielleicht am beiten 
Ihon morgen am hellen Tage unbeargwöhnt die Reife antreten, 
nur müßt hr für einen ficheren Kutſcher jorgen, denn ftatt 
nach PBietramala, mühjen fie ihren Weg, nachdem fie vielleicht 
eine halbe oder noch beijer eine Miglie weit diejer Straße ge- 
jolgt find, nad) Borgo ©. Sepolero nehmen. Ihr wißt, das 


Das Nätfel der Ahnenburg. 2579. 





liegt der Grenze des Kirchenjtaates näher als Pietramala und 
ift auch jonft bei weitem jener Richtung vorzuziehen. Das 
Geheimnis zu fichern, wird meine Mutter während der ganzen 
Zeit, welche die Reife nach Borgo ©. Sepolero und die Rüd- 
reife erfordert, ihre Gemächer nicht verlaflen und von ihrer 
Dienerfchaft für verreift ausgegeben werden. Wir müſſen 
natürlich vorbereitet fein, daß Aleſſandros Neugier — ja 
vielleicht fein Argwohn nah dem Anlaſſe dieſer jo plößlich 
ohne alle Vorbereitung angetretenen Reife nad) dem abgelegenen 
Orte forjchen wird, und da muß eine von dem in3 Geheimnis 
gezogenen Pater Benedict — Ihr kennt und fchäht ja gleich ung 
den ehrwürdigen Mann, unjer Beichtvater — ihr auferlegte 
Pilgerfahrt nach der Cathedralficche des heiligen Sohann dajelbit, 
dem ihre Stellvertreterin einen goldgeitidten Mantel bringt, 
den Vorwand bieten. 

Und nun fommen wir zu dem übrigen, was ich fait das 
Wichtigfte nennen möchte. 

Verweilt Euch nirgends länger, al3 die allernötigjte Er- 
holung fordert. Haltet Euch an das arabiſche Sprüchwort 
und lafjet fein Gras unter Euren Sohlen wachen, jelbit dann 
nicht, wenn Ihr die Grenzen Staliens bereit3 Hinter Euch habt. 
Das Ziel Eurer Reife it Paris, wo Euch dies eigenhändige 
Empfehlungsfchreiben meiner Mutter den mächtigen Schuß 
unferer Muhme, der Königin Catarina, und dies von mir an 
Heinrich, ihren Gemahl, den feinen fichern wird. Die Schreiben, 
welche Euch) ankündigen, werden auf geheimem Wege Euch dort 
und Shr Euch ſomit erwartet, Eure Aufnahme am Hofe vor- 
bereitet finden. Glaubt nicht, jo weite Flucht ſei unnötig. 
Alefjandros Arm reicht weit und nur Caterina, die, wie Ihr 
wißt, eine treue Freundin zu ſein verſteht, aber auch eine 
fürchterliche, unverſöhnliche, erbarmungsloſe Feindin iſt, wird 
Euch vor ihm ſchützen können, denn ihre Gunſt wird er eben 
ſo wenig auf das Spiel ſetzen, als ihre Feindſchaft heraus— 
fordern. Habt Ihr Geld genug zu ſo weiter Reiſe?“ 

„Ich denke — es werden an dreihundert Goldgulden 
ſein, überdies kann ich — 

„Nein, nein! — Ihr könnt nichts, dürft gar nichts thun, 
was irgend darauf hindeuten könnte, Ihr bedürftet Geld, zu 

162* 


2580 Egon gels. 





was für Zwecke es jei —“ fiel ihm haftig der Prinz ins Wort 
und fuhr ruhiger fort: „Zu Euren Einfäufen und Beitellungen | 
für das Feſt hat ja doch ein Mann von Eurem Kredit fein 
bare Geld nötig. Ruggiero wird Euch weitere dreihundert 

Goldgulden mitbringen, und hier ift eine Anweilung an den 
Sieur Bellegarde in Paris, durch ihn werdet Ihr en 
was Ihr weiter bedürft.“ 

„Aber, mein teuerſter Prinz, ich kann doch unmöglich — 

„Still, lieber Freund. Wartet, ich bin noch nicht — 
Ihr ſeid mir den größten Beweis Eures Vertrauens noch 
ſchuldig.“ 

Während Antonio dies ſagte, entfaltete er eine Schrift, 
an der ein großes Wappenſiegel hing. 

„Dies, mein lieber Ghisberti, iſt ein rechtskräftig abge⸗ 
faßtes, amtlich beglaubigtes Dokument, worinnen Ihr Madonna - 
Beatrice, meiner Mutter, Eure geſammten Güter, all Eure 
Siegenichaften, Euer ganzes bemwegliches und. unbewegliches 
Eigentum um die Summe von-900000 Goldgulden verfauft. 
— Das Datum ift aus Vorſicht und um Meffire Vittorio vor 
Verantwortung zu fichern, — es iſt von ihm vollzogen und 
beglaubigt — auf zwei Monate von dem heutigen Tage zurüd- 
datiert. Die Zahlungen jollen in Ouartalraten jtattfinden und 
müfjen innerhalb dreier Jahre vom Datum des Berfaufes an, 
vollftändig beglichen jein. | 
‚ Seid Ihr bereit, dies Dokument zu unterjchreiden und 
mich fomit, al3 Stellvertreter meiner Mutter, in den augenblid- 
lichen Beſitz Eures Cigentumes zu jeßen?“ 

Der Marcheje fagte, feine Hand nach der. Schrift auS- 
itredend: „Gebt nur raſch ber, mein edler Beſchützer, ich unter- 
ſchreibe alles, was Ihr mir vorlegt unbefehen, und gebe, wie 
ih Eud) veriprochen, mein und der Meinen ganzes irdiiches 
Wohl und Schiejal in Eure edle Hand. Sit e3 doch das 
einzige, womit ich Euch die Tiefe meiner Dankbarkeit für Eure 
unſchätzbare Hilfe im Augenblicke beweifen Tann.“ 

Während er jo fprach, hatte er mit einem rajchen Feder- 
zuge jeine Unterfchrift vollzogen und gab das Dokument zurüd. 

„SH danke Euch, Ghisberti,“ erwiderte der Prinz 
lähelnd. — „Ich jehe, daß ich mich in feiner Weije in Euch 





Das Rätfel der Ahnenburg. 3581 





geirrt. Wer ſelbſt edel und alles Bine würdig it, erfennt 
bald die gleichgejinnte Seele in einem anderen. 

Sch brauche Euch wohl nicht zu jagen, Wwerter Freund, 
daß dies Dokument zwiſchen uns nicht mehr als ein Nichts, ' 
eine Fiktion iſt. Es iſt für mich nur das rechtskräftige Mittel, 
Eure Beſitztümer vor Aleſſandros Habgier ſicher zu fiellen 
indem es mich berechtigt, ſie von meinen Beamten und Dienern 
in Beſitz nehmen und für Euch und Eure Kinder verwalten zu 
laſſen. Die ſogenannten Zahlungen des Kaufes, welche an 
Euch erfolgen, werden einfach nur die Erträgniſſe Eurer Be— 
ſitztümer ſein. Um Euch aber auch für jenen Fall, den wir 
Sterblichen immer vor Augen haben müſſen — ich meine den 
Tod meiner Mutter und den meinen — ſicher zu ſtellen, ſo iſt 
hier ein zweites Dokument, ebenfalls von Meſſire Vittorio be— 
glaubigt, welches den Kauf für null und nichtig erklärt und 
Euer Eigenthm Euch zurück giebt. Und nun denke ich, wäre 
vorläufig alles geordnet. Was noch übrig bleibt, erfahrt Ihr 
durch Ruggiero, doch denke ich — wenn ich es ohne Gefahr 
der Beobachtung möglich machen kann, noch perſönlich von Euch 
und Madonna Clodilde Abſchied zu nehmen. 

. Wenn nicht — 0 jaget ihr, daß ich immerdar, fo lange 
der Atem in mir ift, ihr treuer Freund, zu jeder Hilfe bereit 
bleibe und fie bitten lafje, auch meiner in Freundfchaft zu ge- 
denken. Somit Gott befohlen!" — 

Er reichte Abjchied nehmend dem Marcheje die Hand, der, 
fie mit beiden Händen drüdend und feithaltend, fagte: „Was 
fol ich nun jagen, teuerjter Freund? Sch — den Ihr mit einer 
folchen Fülle von Güte und Edelmut überjchüttet, daß mir das 
Wort fehlt, Euch die Größe meiner Verpflichtung auszuſprechen? 
Wo joll ich anfangen, wo enden mit meinem Danke, wozu mir 
nur eine Minute bleibt? da ich doch Tage brauchte, um Euch) 
zu lagen, wie unausfprechlich tief mein Herz ihn fühlt! Wie 
1 — 

„Nicht doch, mein lieber Freund — laſſet es genug ſein. 
Ich that nur, was mir mein Herz gebot, that, was Ihr, 
an meiner Stelle, ich an der Eurigen, auch gethan haben würdet. 

Mir ſelbſt iſt es ja ein großes Glück, gewährt mir ſtets 
eine tiefe innere Befriedigung, wenn es mir einmal gelingt, 


2582 Egon Sels. 





irgend eines der Verbrechen zu verhindern, die mein entarteter 
Berwandter nur zu oft begeht. „Ach! leider ift es nur jelten, 
daß ich zu rechter Zeit, um einzugreifen, davon erfahre. Saget 
nicht3 mehr, mein lieber &hisberti, ich bin ohnedem von Eurer 
Dankbarkeit überzeugt.“ 

„But denn, Ihr wollt es. Sch ſchweige — Aber — 
vielleicht Tommt einjt der Tag, wo ich vder auch mein Sohn 
beifer al3 durch Worte unjere große Dankbarkeitsſchuld Euch 
heimzahlen kann. Laſſet mich aber noch eins ausſprechen, 
was mich ſchwer beängjtigt. Werdet nicht Ihr oder Madonna 
Beatrice, Eure edle Mutter jelbit, in Gefahr geraten, wenn 
Euer Anteil an meiner und Clodildens Flucht — welcher 
Aleſſandros Scharflinn faum ganz verborgen bleiben Tann, 
jobald er von jenem Dokumente hört und Euch im Beſitz meiner 
Güter ſieht — entdedt wird? ch meine, der Herzog hat es 
bewiejen, daß ex jelbjt verwandtes Blut nicht ſchont. ch würde 
nie wieder eine ruhige Stunde in meinem Leben haben, wäre 
Euer Edelmut gegen und Beranlafjung —“ 

„DO nein,” beichwichtigte voll ruhiger Sicherheit der 
Prinz des Marcheje Beforgnis. — „Mich wird er nicht antaften, 
noch viel weniger aber meine Mutter. Sie iſt die einzige yon 
allen Verwandten, die er wirklich liebt und verehrt. Außerdem 
bedarf er ihrer. Wenn er nicht aus noch ein weiß, jo fommt 
er zu ihr, denn er weiß ihren Eugen Rat zu jchäten, wenn 
auch feine böjen Leidenschaften meilt die Oberhand darüber 
gewinnen und nur allzu oft Gutes in Böſes verkehren, weil er 
nur in den felteniten Fällen jich zu überwinden vermag, den 
Nat jo auszuführen, wie fie ihn erteilte. Wo er e3 that, hat 
e3 ihm Glück gebraht und ihn an das gewünjchte Ziel 
geführt. 

Deshalb jorgt Euch nicht um und. Durch Ruggiero, der 
zu mir zurüdfehrt, jobald er Euch ficher in Euer Aſyl am 
Hofe Catarinas geleitet hat, werdet Shr von Zeit. zu Beit 
von mir hören, wie ih von Euch. Noch eins! — Es wird 
beiler jein, wenn Ihr den Brief an Euren Sohn nicht felbit 
abjendet. Haltet ihn bereit, Ruggiero wird ihn morgen Nacht 
holen, ich jelbjt werde ihn auf ficherem, geheimem Wege an 
jeine Adrejje befördern. Somit lebet wohl für heute.“ 


Das Rätſel der Hhnenburg. 2583 





Die beiden edlen Männer jchüttelten fich die Hände und 
trennten ich. 

Tief vermummt, jchlüpfte der Prinz, von Wolf geleitet, 
aus einer Hinterthür. des Palaſtes, durc) die er auch gefommen 
und wo er fein Pferd in der Obhut eines ihm dann zu Fuße 
folgenden Dieners vorfand. 

Auf feinem einfamen Ritte nad) der Stadt trat mehrere- 
mal? aus dem tiefen Schatten irgend eines Baumes oder den 
eines Thorweges, einer Statue eine dunkle Geſtalt hervor, 
näherte ſich dem anhaltenden Reiter und wechſelte einige Worte 
mit ihm. 

Es waren die Wachen, welche der vorſichtige Mann auf 
ſeinem Wege aufgeſtellt hatte, um ſogleich von einem ihm etwa 
gefolgten Spione unterrichtet zu werden, der überdies dabei 
nichts erfahren, ſondern nur ſein Leben unter dem Dolche einer 
Wache verloren haben würde. 

Sogleich, nachdem ſein Beſuch ihn verlaſſen hatte, ließ der 
Marcheſe die Amme ſeiner Tochter wecken und zu ſich entbieten, 
um mit dieſer treuen und klugen Frau alles Nötige zu beiprechen. 

Sie redhtfertigte ganz das Vertrauen, welches der Marcheje 
in jie gejeßt,. denn fie verlor nicht einen Augenblid den Kopf, 
noch beläftigte fie ihn mit Klagen und Sammern, fondern ging 
gefaßt und ruhig ſogleich mit Wolf an ihr Gefchäft des Sichteng 
und Verpadens des Nötigen. 

Der Marcheje felbit ging an fein jchweres Werf, der 
Tochter die ungeheure Gefahr, in der fie alle fchwebten, mit- 
zuteilen. 

Er that es mit Zagen und großer Bejorgnis. Doch Diele 
entihwand raſch. Clodilde Hatte kaum ihres Vaters Bericht 
vernommen, al3 fie auch mit einem Schlage alle frühere geiftige 
Spannfraft- zurüd erhielt und fich, eine ganz andere, als fie 
in den legten Tagen gewejen, vor ihn erhob. 

Der Prinz hatte recht gehabt. Das Bewußtſein, die 
Rettung hänge zum größten Teile von ihrer eignen Kraft und 
Geiltesgegenwart ab, ließ fie alles, was fie bisher niederge- 
drüdt, von ſich abjchütteln. Seht war feine Zeit zu jelbit- 
quälerifchen Grübeleien, die fie im Augenblide faum mehr 
begriff, denn ſolcher Infamie gegenüber entichwand jeder 





2584 Egon $els. 


Zweifel an die volle Berechtigung und Gerechtigkeit ihrer That 
auch ihrer Seele. 

Sie half Urracca und Wolf, dann ritt fie reichgeſchmückt, 
Itrahlend von Schönheit und fcheinbar beiterer al3 je mit dem 
Bater, von zwei Dienern begleitet zur Stadt und traf überall 
ihre Auswahl in den Häufern der Kaufleute. Nichts war 
ihr Schön, nichts reich genug, und ſchon am Abend lief die 
Kunde, welche reiche Bejtellungen ſowohl fie, als ihr Vater 
für fih und die zur Begleitung zum Feſte beitimmte Diener- 
ſchaft gemacht, durd) die Stadt. 

In den von ihr befuchten Häufern des Adel3 aber jchüttelte 
man die Köpfe und meinte, man habe ninnmermehr geglaubt, 
dag in Clodilde Ghisberti eine folche Lebensluſt und Eitelkeit 
Ichlummere, ihr habe angenfcheinlich die Einladung des Herzogs 
den Kopf ganz und gar verdreht und man fünne da nod) ganz 
fonderbare Dinge erleben. 

AU dies ward dem Herzag unter den Stadtneuigfeiten von 
feinen Spionen mitgeteilt. | | 

Er hörte ſchweigend zu, aber feine Lippen umijpielte ein 
höhnijches Lächeln. Der Tiger glaubte fich feiner Beute ficher. 
Seine Zuverficht verließ ihn auch nicht, als er hörte, Donna 
Ghisberti habe fich zu jehr mit dem vielen Wählen und An- 
ordnen für das Felt angejtrengt und müſſe das Bett hüten. 

Er jendete einen feiner Diener und ließ fi) nach ihrem 
Befinden erkundigen. Derſelbe fehrte mit der Botjchaft zurüd, 
die Dame jei nur ein wenig ermüdet,, befinde fich aber ſonſt 
ganz wohl, wolle aber doch, um fich zu fehonen, nicht mehr vor 
dem Feſte öffentlich erjcheinen. " 

Damit war der Herzog ganz einverftanden, denn ihm lag 
ja am meilten daran, daß fie gefund blieb. Dennoch fendete 
er, vielleicht gefchah e3 aus einem inftinftiven Argwohn, feinen 
eignen Arzt am dritten Tage, als die Fliehenden fehon weit 
von Florenz entfernt waren, nach ihrem Palafte, um ihm über 
da3 Befinden der Donna Bericht zu erftatten. 

Frau Barbara war aber aud) diefer großen Gefahr ge- 
wachien, fie empfing den gelehrten Herrn, bedauerte aber fehr, 
ihn nicht augenblicklich zu Madonna Elodilde führen zu können, 
da dieſe fih im Bade befinde, bat ihn, bis dahin zu warten, 


Das Xätfel der Ahnenburg. 2585 





und jegte ihm, damit ihm die Zeit nicht zu lang werde, eine 
Flaſche alten fpanifchen Weines, nebit einem vortrefllichen 
Imbiß vor. 

Der herrliche Wein glitt wie Oel die Kehle hinab und 
ſchmeckte dem gelehrten Herrn vortrefflich, aber er hatte leider 
die üble Eigenſchaft, daß der Arzt, als Frau Barbara endlich 
kam, ihn zu ihrer Gebieterin zu führen, alles doppelt ſah und 
nicht mehr ganz ſicher auf ſeinen Füßen ſtand. 

Doch er nahm ſich zuſammen und prüfte den Puls der 
ihn im verdunkelten Zimmer empfangenden Patientin, ſtellte 
ſeine Fragen, die mit einer matten, etwas zitternden Stimme 
erwidert wurden und berichtete ſpäter dem Herzog, die Dame 
befinde ſich eigentlich ganz wohl, ſei aber zimperlich wie alle 
Frauenzimmer und leide lediglich an einer Erregung, welche 
die Erwartung des Feſtes, die Ehre, die ihr bevorſtehe, und 
der Wunſch, dort die Schönfte zu fein, hinreichend erkläre. 
Sie werde, darauf könne man mit Gicherheit rechnen, am 
Abend des Feites munter wie ein Fiſch im Waſſer fein. 

Der Herzog war zufriedengeftellt, dank der. Geijtes- 
gegenwart und Klugheit der Frau Barbara, die ihre eigene 
Enkelin in die Kleider oder vielmehr in das Bett Clodildens 
geitecft Hatte und diefen Einfall, welchen die Not des Augen— 
blicks geboren, jo vortrefflich fand, daß fie die Kleine die Rolle 
fortjpielen ließ, während fie vorgab, die Enfelin über Land zu 
einer Beswandten gejendet zu haben. 

Danf der vortrefflichen Anftalten des Prinzen Antonio, 
blieb die Richtung der Flucht, ſelbſt als dieſe entdedt ward, 
vom Schleier des tiefiten Geheimniſſes umhüllt. 

Der Herzog Ihäumte im ftillen vor Wut, durfte aber, 
um feine böjen Anjchläge, die ja verborgen bleiben mußten, 
nicht zu verraten, jich nicht allzuviel merken lafjen; obgleich ein 
jeder begriff, daß er auf die Dame, welche ihn durch ihr Ent- 
weichen vor der ihr zugedadhten Ehre fo ſchwer bloßgeitellt, 
wie auf die Ihrigen nicht gut zu ſprechen fein fonnte.e Man 
vermutete aber jehr richtig Hinter diefer Flucht ein Geheinmig, 
und Alefjandro jah die Notwendigkeit, ich zu mäßigen, jo ſehr 
ein, daß er e3 nicht wagte, die treuen Diener der Entflohenen 
zur Verantivortung zu ziehen. Der Leibarzt freilich fiel in 


2586 | Esgon $els. 





Ungnade. Der Herzog nannte ihn öffentlic) einen blinden 
Eſel und fügte hinzu, er werde nicht einmal feine Hunde, ge- 
ſchweige denn ſich felbit, wieder in feine Hand geben. 

Die Spione des Herzogs hatten es am jchlimmften, denn 
ihr Herr bedrohte fie mit dem Galgen, wenn fie nicht Die 
Spur der Flüchtigen wieder auffänden. 

Während nun jene fich abmühten, gedachte Alejandro 
die herrlichen Befigungen des Marcheſe von feinen Raubgefellen, 
unter dem Vorwande, fie für die Abmwefenden verwalten zu 
wollen, außplündern zu lafjen. 

Doch wer bejchreibt fein Erjtaunen und feine Wut, al 
er erfuhr, wie jene unverrichteter Sache fich zurüdziehen mußten, 
da fie überall die Beamten und Diener des Prinzen Antonio, 
des neuen Beſitzers, vorgefunden hatten. 


6. Schlimme Machrichken. 


Da der Herzog ſich ohnedem ſchon vorgenommen hatte, feinen 
Vetter über die ſeltſame Reiſe jeiner Mutter nad) ©. Sepolero, 
die man ihm berichtet, zu befragen, jo bejchloß er, dies unverweilt 
zu thun, um gleichzeitig zu erfunden, mit welchem Nechte er ſich 
als der Beliger der Güter des Marcheſe Ghisberti aufipiele. 

MWohlweislich Hatte er damit gewartet, biß fein Zorn ſich 
gelegt, denn er mußte, daß man gegen die Ruhe Antonios mit 

zornigem Toben allzujehr in Nachteil gerate. 

| Was er bei diefem Beſuche erfuhr, befriedigte ihn keines⸗ 
wegs, obgleich er weder gegen den rechtlichen Beſitz der Güter 
noch gegen jene angebliche Pilgerfahrt nach S. Johann in 
©. Sepolero etwas einwenden konnte. 

Sehr mürriſch und mißmutig verließ er den Vetter, nahm 
ſich aber vor, zurückzukehren, ſobald ſeine Muhme nur perſön— 
lich wieder zur Stelle ſei. Er meinte, von der etwas redſeligen 
Dame im Laufe des Geſpräches, vielleicht durch irgend eine 
Unvorſichtigkeit, mehr zu erfahren, als von dem heute mehr als 
je zugeknöpften Antonio. 

Inzwiſchen erfuhr er von ſeinen Spionen, nach Tagen 
nagendſter Ungeduld, endlich, daß die Entflohenen durch den 
Kirchenſtaat gereiſt ſeien. 


Das Rätfel der Ahnenburg. 2587 





Auf welchem Wege fie dorthin gelangt, wo fie die Grenze 
überjchritten hatten, das blieb ihm jebt und auch jpäter verborgen. 

Niemand zweifelte ja, daß jene reijende Dame, die an 
heftigen G©efichtäfchmerzen, in Folge einer ftarfen Erfältung, 
leidend, mit verbundenem Gefichte zu reilen genötigt war, wirf- 
lich die erlaucdhte Madonna Beatrice gewejen. Wer jollte auch ' 
ſolche Dame, mer ihre Begleitung beargwöhnen? War nicht 
jener herrliche, goldgefticte, mit Juwelen bejeßter Spange ge— 
zierte Mantel, in welchem nunmehr die Statue des heiligen 
Sohannes an hohen Fefttagen prunfen würde, ein leuchtendes 
Zeichen ihrer großen Frömmigkeit und ihrer erlauchten perjön- 
lihen Anmejenheit in der Kathedrale ©. Johannes? 

War fie nicht ihres Leidens wegen zu Wagen, geleitet 
von einem Sapuziner, ftatt de3 in den dortigen Kapuziner- 
Elojter Frank zurücgebliebenen Ruggiero, und gefolgt von dem 
Diener, jowie der Hofe, mit der fie abgereilt war, in der 
Heimat wieder angelommen? Die beiden lebteren waren in= 
zwilchen in einem am Wege gelegenen Hauſe verſteckt zurüd- 
geblieben und Hatten ſich ihrer vorgeblichen Gebieterin auf 
deren Rückwege von ihrer PBilgerfahrt wieder angejchlofjen. 

Prinz Antonio hatte dem Herzog bei dejjen lebtem Be— 
juche verjprochen, ihm die Rüdkunft feiner Mutter jofort melden 
zu lafjen, und kam diefem Berjprechen mit folhem Eifer nach, 
daß er ihm die Meldung, troß der ſpäten Stunde, in welcher 
die Rückkehr jtattfand — es war mitten in der Nacht — 
augenblidlich zufchidte. 

Der andere Morgen jah denn auch bereits in aller Frühe 
den ungeduldigen Herzog auf dem Wege nach dem Palaſte 
jeiner Muhme. Die Stunde feined Beſuches war eine viel 
frühere, als ihm eigentlich die Sitte geitattete, ganz abgejehen 
bon der nötigen Rüdjicht, die er für eine von ziemlich weiter, 
befchwerlicher Reiſe exit in der Nacht zurückgekehrte, ältere 
Dame hätte haben ſollen. 

Doch hatte es der Ungeduldige abermals übel getroffen, 
denn er fand ſeine Muhme mit dicht verbundenem Geſicht, noch 
immer an der Geſchwulſt leidend, die ſie ſich auf der Reiſe 
geholt, und ſo angegriffen, daß ſie ihm nur matt die Hand zu 
reichen vermochte. 


3588 Esgon Fels. 





So zog er denn abermals innerlich grollend ab, nicht 
flüger als zuvor, und alle Bilgerfahrten zum Teufel wünjchend. 
Denn zur Erhöhung feines Aergers war nun aud) gar nicht 
daran zu denken, daß feine Muhme, wie fie verfprochen, dem 
Seite mit Donna Maria Salviati präfidieren konnte. 

Ein Heiner Troft war ihm die am: Tage des Feſtes ein- 
laufende Nachricht, die Spur der Flüchtigen jei aufgefunden, 
der Weg, den fie nach Deutjchland genommen, ermittelt. | 

Unvermeilt ſetzte der rachefchnaubende Mann die kom— 
plizierte, aber mwohlorganifierte Mafchinerie feiner Gewalt— 
berrichaft in Bewegung. Mit Courierpferden und untergelegten 
Relais, mit Gold, fowie mit Empfehlungsfchreiben wohl ver- 
jehen, beste er noch am.felben Tage zwei feiner gejchidteiten 
Spürhunde und Häfcher auf die Ferfen der Flüchtigen, mit dem 
itridten Befehl, Madonna Elodilde um jeden Preis in feine 
Gewalt zu bringen, ihren Vater. und alle ihre Begleiter aber 
zu töten. 

Bergeblich harrte der Prinz auf Briefe von den Flüchtigen. 
Seit dem Bericht, daß fie die Grenzen Deutjchlands wohl- 
behalten glücklich überjchritten hätten, blieb jede Nachricht aus. 
Dennoch war er darüber nicht bejonder8 beunruhigt. Die 
Poitverbindung war in jener Zeit eine jo unfichere, und der 
geheime Weg, den die Briefe nehmen mußten, um nicht in die 
Hände des Herzogs zu fallen, und ihm jo die Spur der 
Flüchtigen zu verraten, ein fo langmwieriger, daß die lange 
Verzögerung begreiflich war. Auch konnten die Briefe verloren 
gegangen jein, oder irgend welches Hindernis, vielleicht aud) 
ein durch befondere Vorficht gebotener Aufſchub, ſich ihrer Ab— 
ſendung entgegen geſtellt haben. 

Als aber endlich die Zeit vergangen war, welche ſelbſt 
beim langſamſten Reiſen nötig geweſen, um nach Frankreich zu 
gelangen, und die Zeit für den Bericht ihrer dortigen Ankunft 
an ihn nach Florenz zurück dazu, als auch Ruggiero nicht 
wiederkehrte, da begann ſich tiefſte Beſorgnis des Prinzen zu 
bemächtigen, und er ſchrieb einen dringenden Brief nach Paris 
an ſeine Muhme, die Cönigin Caterina, mit der Bitte, ihm 
ſchleunigſt die Ankunft der ihr Empfohlenen zu melden, oder 
wenn ſie ausgeblieben, nach ihrem Verbleiben in Deutſchland 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2589 


forjchen zu an indem er ihr den Ort, von wo ſie zuletzt 
geſchrieben, und die Richtung, in welcher ſie ihre Reiſe fort⸗ 
zuſetzen beabſichtigt hatten, mitteilte. 

Aleſſandro hatte ſeinen Vetter ſeit der Flucht der Ghis— 
bertis, wegen der er ihn im ſtillen ſtark beargmöhnte, ſehr kalt 
behandels 

Freilich war es des Herzogs geſchickteſten Spionen nicht 
gelungen, ihm den erwünſchten Beweis von des Prinzen Zu— 
ſammenhang damit zu bringen, noch war es ihm ſelbſt geglückt, 
die inzwiſchen wieder geneſene Donna Beatrice zu einer Un- 
vorfichtigfeit zu verleiten, welche feinen Argwohn beitätigt hätte. 
Die alte Dame wußte zu gut, was auf dem Spiele ftand, um 
ihrer Heinen Neigung zur Schwaßhaftigfeit hier nachzugeben, 
ihre Schlauheit war der des Herzogs weit überlegen. Während 
ſie anscheinend jo offen und rüdhaltlos al3 nur möglid) feinen 
forjchenden Fragen entgegenfam, hütete fie jede Silbe, jede 
Miene, die ihren und ihres Sohnes Anteil hätte verraten 
fönnen, und jchien, ‚gleich ihrem Sohne, des Herzogs Kälte 
gegen denfelben nicht zu bemerfen. 
Eines Tages aber fragte der Herzog Antonio mit höhnen- 
dem Lächeln, vb er denn gar nicht wieder von dem früheren 
Beliger jeiner neuen Güter und deren bezaubernder Tochter, 
feiner einjtigen Angebeteten, gehört habe. 

Da erichraf der Prinz bi3 in die Seele hinein und zitterte 
innerlih für das Geſchick feiner Schüßlinge. - Doch machte er 
Alejandro das Vergnügen nicht, dies ihm zu zeigen, fondern 
antwortete mit einem ruhigen, kurzen Nein. Der Herzog jagte 
an dem Tage nicht3 weiter und ging. 

: Da verbreitete ſich plöglih das Gerücht, der Marcheje 
Ghisberti fei guf der Reife durch Deutichland, in der Mark 
Brandenburg, von Räubern angefallen, ausgeraubt, und jamt 
jeiner Tochter und fämtlichen Dienern niedergemacht worden. 

Dies Gerücht gelangte auch zu dem Prinzen, der unſäglich 
erichraf, aber nachdem er das Für und Wider veiflic) erivogen, 
nicht daran glauben wollte, es vielmehr für eine Bosheit Des 
Herz0g3 hielt, auf feinen Befehl ausgeſtreut, um ihn zu er- 
Ichreden. 

Derjelben Meinung war auch feine Mutter. 


2590 | Egon $els. 





Da Fam ein paar Tage darauf Aleffandro, der ſich in- 
folge feines ſchwelgeriſchen, wüſten Lebenswandels faſt permanent 
in Geldverlegenheit befand, und. fragte, ob Antonio ihm nicht 
mit ein paar Hundert Goldgulden beiltehen Fönne. 

Der‘ Prinz fprach Höflich fein Bedauern aus, daß ihm 
dies im Augenblide nicht möglich jei. . 

Darauf erwiderte der Herzog lächelnd: „Wahrlich, Antonio, 
ich kenne dich von der Seite noch gar nicht. Fängſt du plötzlich 
an, ein Knaufer zu werden? Sch glaubte, in dem Augen- 
blicke, wo du, oder vielmehr deine Mutter ein fo vorzügliches 
Geſchäft gemacht, jollteit du etwas freigebiger gegen deinen 
armen Vetter jein.“ 

Der Prinz erwiderte, ihn wirklich nicht veritehend: „Was 
meinst du eigentlich? Bin ich ein Kaufmann, der Gejchäfte 
macht?“ 

„Na — was kann ich meinen als deinen brillanten Kauf 
von Gütern, die du nun nicht zu bezahlen brauchſt! Haſt du 
etwa nicht, da der Marcheſe Ghisberti nicht mehr am Leben 
ilt, den ungeheueriten Profit gemacht? He?“ 

Der Prinz erbleichte vor tödlichem Schreden, doch er- 
widerte er jcheinbar ruhig: „Ach, ich verjtehe, du ſpielſt auf 
dies alberne Gerücht an. — Sch hörte auch Schon davon, glaube 
e3 aber nicht, und wäre es ſelbſt die Wahrheit, jo wäre ja 
noch der Erbe, fein Sohn Giulio, da.” 

Dabei faßte er. den Herzog mit einem durchdringenden 
Blick ſtrengſten Forſchens ind Auge. 

Was er ſah, ließ ihn ſchaudern und ermutigte ihn nicht, 
ſeinen Unglauben noch länger feſtzuhalten. 

Der Herzog lächelte. Es war ein kaltes, grauſames, teuf— 
liſches Lächeln. Er trat dem Prinzen einen Schritt näher, 
und ſeine Hand auf deſſen Arm legend, ſprach er langſam; 
„Glaube es immerhin, mein lieber Antonio, denn es iſt die 
Wahrheit — und was jenen jungen Mann betrifft, ſo mache 
dir keine Sorgen, er iſt ebenſo ſterblich wie der Vater und 
die Schweſter.“ 

Vor Grauen erfaßt und in ſeinem tödlichen Schmerze 
vor nichts zurückweichend, ſchüttelte Antonio die blutbefleckte 
Hand des Herzogs mit einer ungeſtümen Bewegung von ſeinem 


Das Rätjel der Ahnenburg. 2591 





Arme und rief faſt eritidt von der Gewalt feiner Gefühle: 
„Sind fie denn tot, dann bift du ihr Mörder! — Du allein 
landteft die angeblichen Räuber aus! Da du Elodilde nicht 
gewinnen fonntejt, jo Tließeit du fie morden. — Verſchone 
wenigitens den Sohn, — denke an die rächende, ftrafende Hand 
des allmäcdhtigen Gottes, die einſt mit jo vielem auch das 
Blut diejer Unjchuldigen von dir fordern wird!“ 

Der Herzog ſtand vor ihm, fih an den Tijch lehnend, 
und hatte die Arme übereinander geichlagen. Ein Hohnlächeln 
umfchwebte die mwulftigen, dunfelroten Lippen und zeigte die 
glänzenden, weißen Zähne, die zwijchen ihnen gleich denen 
eines Raubtieres fchimmerten. Nun erhob er langfam die eine. 
Hand, den Finger emporjtredend, und ſprach im Tone. ein- 
dringliher Warnung, aber ohne hitig zu werden: „Du, nimm 
dih in acht! Du jündigit viel auf unjere Verwandtichaft und 
auf meine Liebe zu deiner Mutter hin. Sch bin geduldig ge- 
wejen bisher, viel zu geduldig, ich werde es nicht mehr fein, 
auch du haft nur ein Leben zu verlieren. Daran gedenfe.“ 

„Nimm es —“ rief Antonio vor Schmerz außer fi — 
„nimm es bin, du blutiger Tyrann! Halt du fie — das 
Ihönjte, reinfte Wejen, das die Erde je getragen, gemordet, 
was gilt mir mein armjelig Leben?! Bade dich in ver- 
wandtem Blute, aber noch mit meinem legten Atemzuge tverde 
ich Gottes ſchwerſten Fluch auf dich, ihren ruchlofen, blutigen 
Mörder, herabrufen!“ 

Unfähig, ſich länger aufrecht zu erhalten, warf ſich Antonio 
in einen Stuhl und brach, dad Geficht mit den Händen be- 
dedend, in Thränen aus. 

Der Herzog bot einen entjeblihen Anblidl, Das Blut 
war ihm bis zur Stirn emporgejtiegen und füllte die Adern 
an den Schläfen und die Stirnader bis zum Berften, daß fie 
gleich züngelnden Schlangen hervortraten. Blutunterlaufen war 
das bläulich-weiße Email der Augen, in denen Die ermeiterte 
Bupille wahrhaft hölliihe Flammen Tprühte. 

Die dien Lippen waren, wie bei einem Naubtiere, weit 
zurüdgezogen, und zwilchen den knirſchenden Zähnen drang 
Schaum heror. Vorgebeugt, mit zufammengezugenem Körper 
gleich einem Tiger zum Sprunge ich anfchidend, die Hand 


2592 | Egon Fels. 





das bereits halb gezogene Stilet umkrampfend, ſchien er bereit, 
ſich auf den Verwegenen zu ſtürzen und mit eigener Hand den 
zu töten, der ihm ſo gegenüber zu treten gewagt. 

Aber — er that es nicht. Der Anblick dieſes ſonſt fo 
jtolzen, feiten, niemal3 außer Fafjung kommenden Mannes, der 
ganz gebrochen und fafjung3los gleicd) einem Kinde meinte und 
Ihluchzte, bewegte ihn ſeltſam und weckte in feinem, troß allen 
Laſtern, aller Verdorbenheit nicht ganz verhärteten Herzen den 
legten Reſt menjchlich weichen Gefühles. 

Er ſtieß das Stilet in die Scheide zurück, richtete ſich 
auf, und das wutverzerrte Geſicht nahm in wunderbar raſchem 
Uebergange einen faſt ſanften Ausdruck an, der lodernde Blick 
verſchleierte ſich, das Blut ſtrömte zu dem Herzen zurück, und 
ohne ein Wort des Zornes oder der Drohung weiter zu 
äußern, ſchritt er ſchweigend an zug vorüber und ver- 
ließ ihn. 

Kein Wort, feine Miene hier auch fpäter den Prinzen 
an Diefe Stunde und an den Auftritt, der ihm beinahe das 
Leben gefoftet. 

Der Herzog verfehrte ganz wie früher mit ihm und ſchien 
ihm nicht das Geringſte nachzutragen. 

Dies großmütige Vergeſſen ſo furchtbarer Beleidigung 
war ſo ohne Beiſpiel bei dieſem rachſüchtigen Manne, daß 
Antonio nicht umhin konnte, es ihm im ſtillen zu dauten, und 
ſich ſeinerſeits wohl hütete, ſich je wieder gegen Alefſandro zu 
vergeſſen. 

Er verbarg ſeine tiefe Trauer um Clodilde, ſeinen Groll 
und Schmerz in ſeinem Inneren, zog ſich ſoviel, als es möglich 
war, vom Hofe zurück, wo es mit den Sitten ſelbſt dann nicht 
beſſer wurde, als die kaiſerliche Margaretha als Aleſſandros 
Gemahlin dort herrſchte, denn ſie ſchien ihren Gemahl in 
nichts zu genieren, er lebte ganz wie früher, nur trieb er es 
vielleicht ein wenig heimlicher. 

Bis Antonio von der Königin Catarina ſelbſt Antwort 
auf ſeinen Brief erhalten, war er übrigens noch immer geneigt, 
jene Nachricht als halb erlogen zu betrachten. 

Doch dann blieb ihm leider kein Zweifel mehr über das 
ſchreckliche Ende der ihm ſo Teuren. 


Das Nätjel der Ahnenburg. 2593 





Die Königin fchrieb ihm, daß fie, nachdem die ihr An- 
gefündigten zur rechten Zeit nicht in Paris angelommen jeien, 
auf feinen lebten Brief hin, Erfundigungen habe anftellen 
laffen, die leider feinen Zweifel ließen, daß feine Schüßlinge. 
im Bereich der Lande des Kurfürſten Joachim von Preußen 
in einem der dortigen großen Wälder von Räubern überfallen 
» und getötet worden jeien. Die Befchreibung der Berfonen, 
welche in den Wald eingeritten, aber nicht wieder zum Vor- 
ſchein gefommen waren, ftimmte fo genau, ebenjo die auf- 
gefundenen Kleiderreite, daß an eine Perjonenverwechlelung 
nicht gedacht werden könnte. 

Die Leichen jeien freilich nicht gefunden worden, denn die 
Wölfe hätten nichts als ein Häufchen Knochen, Kleidungsftüce, 
Waffen und Niemenzeug von ihnen übrig gelajjen. 

Wer den Ueberfall ausgeführt, habe tro& großer Zuvor⸗ 
kommenheit der kurfürſtlichen Behörden nicht ermittelt werden 
fönnen. 

Das war alſo das ſchreckliche Ende jo vieler Schönheit 
und ſo edler Mannhaftigkeit. 

In ſeiner tiefen Trauer vergaß aber der Prinz keineswegs 
den einzig Ueberlebenden der Familie, der von Aleſſandros 
noch ungeſättigter Rache ſo ſchwer bedroht erſchien. 

Er ſchrieb an feinen hohen Gönner, den Papſt, unter— 
richtete ihn von Aleſſandros Drohung und bat ihn, den nun- 
mehrigen Marcheſe Ghisberti durch geheime Bewachung und 
direktes Verbot an Alejandro, fein Leben zu bedrohen, ficher 
zu ftellen. 

Paul III., der an dem heitern, jungen Manne, dem man 
bis jetzt das Schidjal der Seinen noch verborgen gehalten, 
‚großes Wohlgefallen fand, erfüllte beide Wünſche, und jo meinte 
der Prinz, ſich über Giulios Leben fernere Sorge erſparen zu 
fönnen. | 


7. Junker Chufbert und fein Spegial. 
In einem der Wälder der Mark Brandenburg lag tief 
veriteckt im dichteiten Teile desjelben, auf einem mäßig hoben, 
breiten Hügelplateau, das alte, halbverfallene Stammſchloß 


der Ritter von Greifenkflau. 
ZU. Haus:Bibl. II, Band XI. 163 


2594 Egon $els. 





Zwiſchen hohen, jchlanfen, ſtolzen Tannen, die ihre nadel- 
bewehrten Arme weit ausbreiteten, ftanden uralte, Himmel- 
anftrebende Buchen, vermifchte fich das helle, friiche Grün der 
zierlich beblätterten Hängebirfen mit den nicht minder zierlichen 
Nadeln der ſchwanken Zweige der Kärchenbäume, die neben den 
filberweißen Stämmen der Birfen auftauchten. 


Ehemal3 hatte eine vielbefuchte Landitraße in der Ent- 
fernung einer Heinen Biertelftunde an dem Schlofje oder viel- 
mehr der Burg vorüber geführt, ein Umftand, den fih in 
grauer Vorzeit die Herren Ritter von Greifenflau wohl zu 
nuße zu machen mwußten. 

Bon dem hohen Turme der Burg aus hatte ein Wächter 
die Umgegend beobachtet und feinem Herrn das Herannahen 
beladener Wagen raſch genug verfündet; worauf der Nitter 
fi) mit feinen jederzeit bereiten Mannen bewaffnete und, wie 
ein Blisitrahl aus dem Walde hervorbrechend, die armen, nicht3 
ahnenden Krämer überfiel und beraubte. 


Che die Beraubten nur irgendivie fi) bewußt wurden, 
wie ihnen gejchehen, war der Raubritter mit feinen Leuten 
und der Beute längjt wieder im Forſte verſchwunden, wohin 
ibm zu folgen die Aermiten in den meilten Fällen viel zu 
mutlos waren. 

Wagten ſie dies aber dennoch, ſo ſetzten ihnen die dicken, 
wie für die Ewigkeit gebauten Mauern und das eiſenbeſchlagene, 
eichene Thor der Umfaſſungsmauer, das, wie die Mauer ſelbſt, 
durch Wachtürmchen geſchützt war, ein gebieteriſches „Bis hier- 
her und nicht weiter!“ entgegen. 

Doch auch dieſem rechtloſen Treiben ward mit der wachſen— 
den Macht des Gemeinſinnes und der Städte endlich ein Hiel- 
geſetzt. 

Dem Ritter Chutbert von Greifenklau ward Urfehde an— 
geſagt und er gleich darauf, ehe er nur ſeine Freunde und 
Geſinnungsgenoſſen zur Hilfe herbeiziehen konnte, von einem 
recht ſtattlichen Heere in ſeiner Burg regelrecht belagert. 

Der kühne, übrigens ehrenfeſte und von Natur weder böſe 
noch graujame Mann wehrte fi) lange vor der RD 
jeiner Feinde. 


Das Rätſel der Ahnenburg. 28595 





Endlich bot er ſeine perſönliche Unterwerfung und Ueber— 
gabe der Burg unter der Bedingung an, daß man ſeiner 
Tochter und ſeinen Mannen, die unter tauſend Leiden und 
Entbehrungen jo tapfer und treu bei ihm ausgebalien, freien 
Abzug zujage. 

Dieſe Bedingung ward trotzig abgeſchlagen, man forderte 
Unterwerfung aller in der Burg Lebenden, ohne jede Aus— 
nahme. 

Da erbat fi der Ritter von Greifenklau zwei Tage 
Bedenkzeit. 

Die Belagerer meinten, ſie könnten durch ſolche Ver⸗ 
zögerung ja nur gewinnen, und jo ward diefe ohne Bedenken 
zugeitanden. Der mwachjende Hunger mußte die Bejabung ja 
jo entkräften, daß ihnen zulebt jede Möglichkeit des Wider- 
ftandes ſchwand, und das war gewiß nur wünfchenswert für alle. 

_ Die Feindjeligfeiten wurden eingeftellt. Aber während die 
Bürger und ihre Knechte ſich gütlich thaten und ihren Leib 
pflegten, begann in den Räumen der Burg eine fieberhafte, 
geheimnisvolle Thätigkeit. 

Die Hälfte der letzten Lebensmittel wurde verteilt. Dar- 
nach begaben ſich alle, die zarte Sungfrau ſelbſt nicht aus— 
genommen, an eine Arbeit, zu welcher eigentlich die Kräfte von 
Riejen erforderlich gewejen, die aber dennoch von dem kleinen 
Häuflein: halb verhungerter und entkräfteter Menfchen in der 
unglaublich furzen Zeit von achtundvierzig Stunden ausgeführt 
ward. Die zur Uebergabe herangelommene Stunde war vorüber, 
aber fein Zeichen kündigte die Unterwerfung an. 

Schon ſchickte man fih an, die Feindfeligfeiten auf das 
. Nachdrüdlichjte wieder zu beginnen. Da brach auf der rechten 
Seite der Burg Feuer aus, von dem Nitter mit eigener Hand 
angezündet, ehe er mit all den Geinen auf einem geheimen 
Wege, den jie mit ungeheurer Anftrengung nach der linken 
Seite Hin, wo den Fuß des Hügeld ein Waldbach begrenzte, 
gegraben, entflohen war. 

Danf der Nadjläffigfeit der Belagerer, welche, jtatt in 
jenem Wugenblide ihre Wachjamfeit zu verdoppeln, all ihre 
Aufmerkjamfeit dem Brande zumendeten, gelangte er unter dem 
Schuße der Dunkelheit in den dichten Forft und erreichte glück— 

163* 


2596 | Egon FSels. 





lich mit all den Seinen, wenn auch hinfällig bis zum Tode, 
die nur ein paar Meilen entfernte Burg eines befreundeten 
Ritters. Von dort aus rettete er ſich in der nächſten Nacht 
in das ſichere Aſyl eines Kloſters. So hatte der tapfere 
Mann ſich, ſein Kind und alle ſeine Getreuen der Rache der 
Städter entzogen. 

Nachdem er ſich erholt, gelangte er zwar unter vielen 
Fährlichkeiten und Strapazen, glücklich nach Wien, an den 
Kaiſerhof, wo er Verwandte hatte und gute Aufnahme, wie 
freundliche Förderung feiner Intereſſen erwarten durfte. 

Da er vorjichtig genug gewejen war, fo viel Gold und 
Juwelen, als er und feine Getreuften nur fortbringen fonnten, 
bei jeiner Flucht mit fich zu führen, vermochte er auch an dem 
Kaijerdofe mit einem Glanze aufzutreten, welcher ihm in feinem 
Fortkommen nur fürderlicd) jein konnte. 

Das Glüd, das ihm aus fo großer Gefahr unverleßt 
hervorgehen ließ, blieb ihm auch Hier zur Geite. Er befam 
eine gute Stelle im Eaiferlichen Heere, verheiratete jeine Tochter 
glänzend, und gewann, felbft noch in den beften Jahren ftehend, 
von impojanter Figur, kühnem, männlich jchönem Neußeren, 
dem jich der Auf großer Tapferfeit beigejellte, die Hand einer 
reichen, vornehmen Erbin, die ihm, als lebte ihres Stammes, 
zugleich den durch des Kaiſers Gnade auf ihn und alle erjt- 
geborenen Söhne jeines Stammes forterbenden ©rafentitel ein- 
brachte. 

Die Belagerer feiner Burg hatten, da fie endlich merften, 
daß die Burg wie auögejtorben ſei, daS Feuer gelöfcht, jo daß 
immerhin nur ein geringer Teil derjelben den Flammen zum 
Opfer fiel. 

Waren ihnen die Inſaſſen entgangen, deren Fluchtweg, 
ungeachtet alles Sucheng, jo wenig zu entdeden war, daß man 
dieſes rätjelhafte Entſchwinden fi) nur durch Zauberei zu er- 
flären vermochte, jo wollte man ſich wenigſtens an den Schäßen 
ſchadlos halten, welche der Ritter ſowohl, al3 feine noch viel 
ärger hauſenden Borfahren, in dem Inneren der Burg auf- 
gejpeichert haben mußten. | 

Allein, auch diefe Hoffnung, welche jene am meilten 
hegten, die nie auch nur eine Stednadel durch den Ritter ver- 


Das Rätſel der Hhnenburg. 2597 


a — 





foren Hatten, jollte ji zu allgemeinem Ingrimm als eine 
trügeriſche erweiſen. 

Natürlich waren die guten Leute jo klug, eine geheime 
Schatzkammer zu vermuten, fie juchten und juchten, fanden aber 
nieht das Geringjte, und ließen es fich wenig träumen, wie 
icheinbar offen zu Tage der Eingang zu ihr vor ihnen lag. 

MWütend über die Vergeblichkeit ihrer Hoffnungen, zer- 
jtörten die Städter alle8 bewegliche Eigentum der mit einem, 
für die damalige Zeit jeltenen Luxus eingerichteten Burg, 
und jchleppten mit fich, was irgend des Mitnehmend wert war. 

Verödet lag da3 Schloß. Der Sturm faufte durch die 
hohen Gemächer. Regen und Schnee fanden ungehindert Ein- 
gang durch die zertrümmerten, nur noch aus dem Bleigitter, 
worinnen einſt die Scheiben gehaftet, bejtehenden Fenſter. 
ledermäuje hingen in Scharen an den Deden der Korridore 
und in allen dunklen Eden. Käuzchen nijteten und jchrieen in 
den öden Räumen, und ein Heer von Spinnen überzog mit 
ihren Kunſtwerken die arg decimierten und zerfeßten Reſte der 
oft recht kurios verzeichneten Bilder der Nitter und ihrer 
jteifen Gemahlinnen im Ahnenſaale. Das Raubzeug des Waldes 
fand Hier vollfommene, jelten gejtörte Schlupfiwinfel, und e3 
ging die Sage, der Greifenftein jei ein beliebter Tummelplah 
zahliojer Geſpenſter. 

Niemand wagte fich hinein, das heißt, niemand von den 
ehrlichen Leuten. 

Dagegen trieb jeweilig allerhand Geſindel hier fein Licht- 
ſcheues Weſen, und fand diefen Schlupfwinfel zu angenehm, 
um nicht alles zu thun, um die Sage von dem Geifterjpuf zu 
erhalten und weiter zu verbreiten. Es lag im Geiſte der 
damaligen, den finiterjten Aberglauben ergebenen Zeit, daß 
derartige Gejchichten allezeit bereiten Glauben fanden, und die 
Ruine zu einem geflohenen, gefürchteten Orte machten. 

Graf Ehutbert jah die Heimat niemal3 wieder, noch betrat 
je ein Glied feiner Yamilie im Laufe von faft Hundert Jahren 
die Wiege des am Kaiſerhofe zu großem Anjehen gelangten 
Geſchlechtes. — 

Im Frühling des Jahres 1536 war e3, al3 ein junger, 
etwa zweiundzwanzig Jahre zählender Reiter, in ritterlicher 


2598 Egon Sels. 





Kleidung, von freiem, pffnem, fühnem Ausjehen und mit ein 
paar großen, leuchtenden, blauen Augen gar heiter und friich 
in den jonnigen Tag Hineinjchauend, gefolgt von einem etwa 
ein. Jahr älteren Manne, fein Roß durch den dichten Wald 
lenkte, der, je näher man der Ruine des Greifenftein kam, ſich 
immer mehr zujammendrängte und einer undurchdringüchen 
Wildnis ähnlicher ward. 

„Zum Teufel!“ rief der Jüngere endlich — „geht denn 
das jo fort? Das Gewirr wird ja immer ärger! Das ſcheint 
mir ein verzauberter Wald zu fein! Gelt, Robert?“ 

„Kann fein, Chutbert —“ erwiderte diefer mit einer Ver- 
traulichkeit, welche doch den Reſpekt nicht vermiſſen ließ. — 
„Es wäre übrigens gar feine üble Unterhaltung. Du und ich, 
wir würden mit dem Zauberer jchon fertig werden und ihm 
deinen Schab aus den Zähnen reißen.” 

„Baht: mit deinem Schaße! er ift feit Wien dein drittes 
Wort! Se näher ich ihm aber fomme, deito weniger glaube 
ih an eine Exiſtenz. Richard wird wohl recht haben, und 
die ganze Geſchichte mit dem Schatze nichts als ein Fieber— 
traum unſeres Ahnherrn geweſen ſein. Warum hat denn mein 
Vater ſelbſt, ſo lange er lebte, keinen Wert darauf gelegt? 
Warum nie davon geſprochen? Weshalb hat er erſt in ſeiner 
Todesſtunde meiner Mutter Mitteilung davon gemacht, als ſie 
um ihres Lieblingsſohnes Armut und Abhängigkeit von Richard, 
dem Erben, jammernd ihn beſchwor, meine Zukunft durch eine 
teſtamentariſche Verfügung ſicher zu ſtellen? —“ 

„Nun ja, ich weiß das wohl,” erwiderte Robert — 
„glaube aber dennoch feit an die Exiſtenz des Schates. Würde 
wohl dein Vater ſonſt von dem Grafen Richard die Abtretung 
des Stammfige8 und des dazu gehörigen Waldes an dich 
ausdrüdlich gefordert haben?“ 

„Wer weiß! Vielleicht that er es nur, um meine Mutter 
durch die Vererbung dieſes zwar großen, aber ziemlich wert⸗ 
loſen Beſitzes auf mich zu beruhigen.“ 

„Pfui, Chutbert! wohin gerät deine Zweifelſuchtd! Du 
zeihſt ja damit deinen Vater in ſeiner Sterbeſtunde einer be— 
wußten Täuſchung, für die deine Mutter ihm mit ſo feuriger 
Beredtſamkeit gedankt, daß er ſo glänzend für dich geſorgt.“ 


—— 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2599 


„Wie du alles auf die Spitze ſtellſt!“ erwiderte ärgerlich 
der Junker. „Solch böſer Gedanke befleckte meine Seele nicht. 
Es kann ſein, daß mein Vater ſelbſt an die Exiſtenz des Schatzes 
geglaubt hat, und ihn irgend welche geheime Beſtimmungen 
verhinderten, früher, als kurz vor dem Tode davon zu ſprechen. 
Er wollte ja noch mehr ſagen, als der Tod dazwiſchen tretend 
ſeine Lippen ſchloß. Aber dies iſt mir noch kein Beweis, daß 
die ganze Geſchichte mehr als ein Fiebertraum des erſten Grafen 
Greifenklau geweſen. Wäre der Schatz vorhanden, warum in 
aller Welt ſollte man faſt achtzig Jahre gewartet haben — 
denn ſo lange iſt gerade Graf Chutbert tot — ihn zu heben?“ 

„Du ungläubiger Thomas!“ rief Robert, ſein Pferd an— 
haltend und ſo dem Junker den Weg verſperrend, dabei neſtelte 
er an ſeinem Wamſe und zog ein Pergament hervor. 

Dies ſeinem Herrn vor die Augen haltend, ſprach er 
weiter: „Was iſt denn das hier? Iſt das auch eine Fieber— 
viſion? Dieſe zwar unbeholfene, aber ganz deutliche Zeichnung 
des Ahnenſaales, mit dem ſorgfältig ausgeführten Kamine, mit 
Datum und Jahreszahl ſeiner Flucht aus Greifenſtein, iſt das 
etwa auch die Ausgeburt eines ſchon halb im Jenſeits befind⸗ 
lichen Geiſtes?“ 

„Nun nein — aber — warum hat Graf Chutbert dieſer 
Zeichnung, bei jener Mitteilung auf dem Totenbette an meinen 
Großvater, gar nicht erwähnt? Weshalb wies er ihn nicht 
auf dieſen Leitfaden hin, der das Suchen nach dem Schatze ſo 
außerordentlich leicht macht?“ 

„Er wird ſie verloren geglaubt oder ihrer vergefien haben, 
was. weiß ih, und — ah! da iſt endlich der Greifenſtein!“ 
unterbrach jich jubelnd Robert, der während feiner lebten Worte 
fein Pferd wieder vorwärts getrieben hatte, und nun, da der 
Wald fich plöglich öffnete und die lebte Steigung überwunden 
var, die Ruine vor fich ſah. 

Der Junker war ihm rajch gefolgt und jpähte nun neu- 
gierig auf feinen neuen Beſitz. 
| „Wahrlich, ein Eojtbares Eigentum! Biel veriprechend, in 

der That!“ ſpöttelte er — „juft faſt noch fchlimmer als ich mir 
ihn gedacht. ’3 wird eine prächtige Reſidenz für den luftigen 
Freiherrn von Greifenklau werden, und wenn unjere jchönen 


2600 | Egon $els. 





Damen das Eulennejt da jähen, würden fie fich wohl lange 
nicht mehr fo viele Mühe geben, mich einzufangen. Es gelüftete 
wohl feiner, dort neben dem Junker Habenicht3 zu haufen.“ 

„Wie du gleich bitter wirt, Chutbert!“ verjuchte Robert 
ihn zu bejänftigen, während er beide Pferde, von denen fie 
inzwilchen abgejtiegen waren, an einen Baum band. 

„Warte es doch erit ab, ehe du dich beflagit. Der 
Schatz —“ | 

„Ach was, mit deinem Schatze!“ war die ärgerliche Ant- 
wort und Chutbert ftredte fich bequem im Moofe aus, einen 
umgeſtürzten Baumrieſen als Rücklehne benugend. Den Freund 
an feine Seite winfend, fprach er weiter: „Laß uns denn an- 
nehmen, daß er wirklich vorhanden war. Glaubſt du, daß er 
es noch iſt? Wie mögen die Krämer damal3 nach ihrem 
zweifelhaften Siege die Burg durchwühlt haben, er. wird ihnen 
Ichwerlich entgangen fein, und felbit, gejeßt, fie fanden ihn 
nicht, wie mein Urahne behauptete; bedenfe doch nur, wie viel 
heimatlojfes Gefindel, wie viel Räuber und Mörder mögen in 
dem Säculum, das faft jeitdem verfloffen, ſich hier in dieſer 
thür- und fenjterlojen Auine eingenijtet haben. Da anzunehmen, 
der Schatz könne noch vorhanden fein, dazu gehört mehr Gläubig- 
feit, al3 ich in mir aufzufinden weiß. Uebrigens iſt mir auch) 
die Abhängigkeit von Richard, welche die Mutter jo beflagt, 
gar nicht jo zumwider. Er iſt ein guter Kerl, hat allzeit eine 
offene Hand für mich, und wenn er auch) manchmal fchilt und 
brummt und mir lange Moralpredigten Hält, was jchadet mir 
das? Im Gegenteil, ich würde wohl manchmal noch tollere 
Streiche machen, wenn mich nicht der Gedanke, was mein weiſer 
Bruder dazu fagen würde, noch im lebten Augenblide zur Ueber- 
legung und fomit zur Umkehr veranlaßte.“ 

„sa — das iſt jchon wahr und das fieht Frau Adelheid 
wohl aud) ein, aber — fie meint, e3 jei doch eigentlich demütigend, 
daß du als zweiter Sohn, der ohnehin ſchon nur den Freiherrn- 
titel hat, obgleich jo gut wie Richard ein Grafenjohn, auch 
noch fo ganz und gar mit der Begründung deiner Zukunft von 
dem Erben abhängig bijt.“ | 

„Hm! beiler wäre es freilich — nein, nur angenehmer 
für mich, hätte ich eigene Einkünfte — aber — pie lange fie 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2601 





ausreichen würden, hätte ich freie Verfügung darüber, das —“ 
hier ftrich er fich mit forglojem Lachen durch die lange, blonde 
Mähne feines reichen Haares, das bis auf die Schultern feines . 
violetten Tuchwamſes herabfiel — „it eine andere Sache und 
freilich fraglich genug. Da es nun aber einmal nicht der Fall 
it, und nach den Familienfagungen auch nicht anders fein 
fann, jo laſſe ich mir feine grauen Haare darum wachlen. 
Uebrigens habe ich noch nicht von Demütigung empfunden, 
wenn ich Richards Gold beanjpruchte und nahm. Er ift mein 
Bruder, es iſt feine Pflicht, für mich zu forgen, feine Hilfe zu 
beanfpruchen, mein Recht; wäre ich an feinem, er an meinem 
Plate, ich würde mit eben jo offener Hand ihm fpenden, was 
er. braucht. Du, mein lieber SKindheitägefährte und Freund, 
bilt zwar vor der Welt nur mein Diener, haben wir aber etwa 
nicht auch alles gemeinjchaftlih? Sträube ich mich je, von dir 
anzunehmen, wa3 mir gerade fehlt, und ift nicht alles, was ich 
befige, auch dein? Meine Zukunft werde ich mir, davon fei 
überzeugt, mit eigener Hand begründen. Sch fühle dazu den 
Mut und die Kraft in mir, werde aber bis dahin ohne Skrupel 
von Richard nehmen, was ich bedarf.“ 

Robert blidte eine Weile jchweigend vor fi) hin. Dann 
aber fagte er: 

„sch dächte, e8 wäre nun hohe Zeit, ung endlich dein Be- 
fißtum näher zu betrachten und uns nach dem verheißenen 
Schate umzujehen. Die Sonne hat längſt begonnen, ihre Bahn 
zu neigen, und lange vor ihrem Untergange wird hier Dämmerung 
herrſchen.“ 

„Ach, ich weiß nicht,“ erwiderte der Junker, ohne ſeinen 
Platz zu verlaſſen, und betrachtete die Burgruine mit einem 
Blicke zweifelnder Unſicherheit. — „Ich kehrte am liebſten um, 
ohne das alte Neſt da zu betreten. Ich fühle, ſeit ich hier 
bin, einen förmlichen Widerwillen dagegen; mir iſt, als warte 
dort etwas Großes, Ungeheueres auf mich, das, ſei es zum 
Glück oder Unglück, meinem Leben eine völlig andere Richtung 
geben werde. Hätte mir Richard nicht ſchon in der Kindheit 
das feige Gefühl der Furcht gänzlich ausgetrieben, ich würde 
glauben, ich ſei die Memme, mich vor jenem Eulenneſte zu 
fürchten.“ 


2602 Egon Fels. 





Kopfſchüttelnd betrachtete Robert den Freund. Solche 
Senjibilität war doch fonft nicht feine Sache, Tollfühn big 
. zum Extrem, hatte das Wort Gefahr ſtets den größten Reiz 
für ihn, und verlodte ihn bisweilen zu den unfinnigjten Wag- 
nifjen, vor denen die beherzteiten Männer zurückgewichen wären, 
wenn nicht gerade ihre Pflicht fie Hineintried; er Hingegen 
beitand derlei Führlichkeiten geradezu zum Vergnügen und 
hatte, daS mußte man gejtehen, auch immer fabelhaftes 
Slücd dabei. 

Diejen furchtlofen Mann jebt fo eigentümlic) zaghaft zu 
ſehen, war eine Wahrnehmung, die den treuen Robert ernſtlich 
zu beunruhigen begann. 


Doch ließ er ſich nichts merken, —7 — ſagte leichthin: 
„Nun, auch gut, wie du willſt. Du kannſt ja hier bleiben, 
ich werde allein die Unterſuchung anſtellen. Sollte ich Hilfe 
brauchen, ſo hole ich dich.“ | 


8. Der geheimnisvolle Ton. 


Robert trat zu feinem Pferde und zog aus dem Mantel- 
lade eine Laterne und ein Paket mit Werkzeugen hervor, worauf 
er ſich anjchicte, den Schloßhof zu betreten. 

Aber Schon war der Junker an jeiner Geite und rief: 
„Du biſt wohl toll, Robert, daß du jo ohne alle Vorficht dich 
vorwärts wagen willft, und noch dazu allein?! Jetzt bift du 
der Unbefonnene! Muß ich, der Tollkopf, wie ihr mich betitelt, 
dih, den Weiſen, VBorfichtigen an die Klugheit mahnen? 
Dachteft du wirklich, ich werde um der albernen Gedanken 
willen, wie ein Weib, vor dem zurüchweichen, was id) mir ein- 
mal vorgenommen? Mag doc da drinnen der Teufel und 
feine Großmutter auf mich warten. Sch bin hier, habe meiner 
Mutter verjprochen, den vertraften Schaß an Ort und Stelle 
zu juchen — d’rum vorwärts — jebt kann es losgehen!“ 

Er reichte dem Freunde deſſen Piſtolen, die er, famt den 
jeinen, aus den Halftern geholt, und Seite an Seite betraten 
Die Freunde den Burghof, ihre ſpähenden Blide überall voraus: 
endend, 


Das Nätjel der Uhnenburg. 2603 





Der Burghof, ein weiter, Halbrunder Raum, zeigte ſich 
von einer wilden Vegetation überwuchert, die ſich, in üppigiter 
Fülle der verjchiedenartigiten Kräuter und Waldblumen, überall 
zwiſchen den von ihren PBläben gewichenen, vom Wetter heraus 
gewafchenen, zerbrödelnden Steinen herbordrängte, hier und da 
von den noch ſchwanken, aber doch ſchon ziemlich Fräftigen 
Stämmen irgend eines jungen Baumes überragt. 

Sunge bis zu den Boden hinab - belaubte Buchen und 
zarte Birken waren darunter am häufigjten vertreten. 

Eine Wolfe von Inſekten, von den Tritten der jungen 
Männer aus ihrer Ruhe emporgefchredt, ſchwirrte vor ihnen 
auf. Hier und da Hujchte daS Kleine Getier des Waldes, 
Ichlüpften Schlangen und Eidechjen über den Weg der Freunde, 
fi) eilig in irgend ein Loch verfriechend. Aus dem Dicht- 
belaubten Buchengebüjch Idimpften eine Anzahl Sperlinge: über 
dieſen unerhörten Einbruch in ihr bisher unbeſtrittenes Reich, 
ſchmetterten ein paar Finken, freundlicher geſinnt als ihre 
Brüder, die Proletarier der Vogelwelt, ihnen einen hellen Gruß 
entgegen. 

Weit offen gähnte das thorloſe Portal der Burg, die in 
einem Gemiſch von gotiſch-romaniſchem Stil erbaut, jedenfalls 
einſt ein ſchönes, impoſantes Bauwerk geweſen, das noch jetzt, 
in ſeinem Verfalle, einen großen Eindruck auf den Beſchauer 
nicht verfehlte. | 

Der halb eingeftürzte Wartturm zeigte feine Wendeltreppe, 
auf deren zum Teil noch mohlerhaltenen Stufen da8 Moos 
wucherte, gelber Ginfter blühte und die blaue Kampanulla ihre 
zarten Glöckchen im leiſen Abendwinde jchwingen ließ. Oben 
zwilchen den Steinen der Plattform, wo einjt der Wächter Die 
herannahenden Gäſte oder die Wagen der Kaufleute mit feinem 
Horn dem Gebieter fignalifierte, ſproßte innig vereint ein 
Schweiternpaar des Waldes, eine Hängebirke und ein Lärchen— 
baum empor, und verichlang fic) gegeneinander neigend das 
zierliche Laub und die zarten Nadeln ihrer ſchwankenden Ziveige 
‚bei jedem ſtärkeren Windhauche zu zärtlicher Umarmung. 

An den koloſſalen, mit zierlichjter Steinarbeit geſchmückten 
Mauern, den ſchlanken Fenſterſäulen, die ſich oben zu den Spitz— 
bogen ‚in reichiter Kuppelung vereinten, Hetterte der Epheu, 


2604 Egon Sels. 








mit wilden Weine und mwildem Hopfen vermijcht, empor, und 
fiel in langen Ranken, einen grünen Schleier bildend, bor den 
kahlen Fenſteröffnungen nieder. 

Die jungen Männer konnten ſich dem romantiſchen Zauber 
des Ortes nicht entziehen, obgleich die Männer jener Zeit im 
allgemeinen wenig empfänglich für derartige Eindrücke waren. 

Chutbert gab ſeinem Empfinden Worte, indem er zu 
Robert ſagte: „Das iſt ein Ort, wo Frau Mpentiure ſelbſt 
wohnen könnte.“ 

Robert nickte verſtändnisvoll, legte aber, Schweiden ge⸗ 
bietend, den Finger auf die Lippen, denn ſie waren in einen 
Korridor eingetreten, deſſen Tiefe faſt ganz dunfelevor ihnen 
lag, und deſſen Bejchaffenheit die ganze Aufmerkſamkeit der 
Bormärtzichreitenden forderte. 

Auch bier lag Steingeröll verjtreut, und ein vorlichtiges 
Prüfen jedes Schritte war unerläßlid, wenn fie fih vor 
Schaden bewahren wollten. | 

Hatte überdies die Ruine Bewohner, jo war es gefährlich, 
ihre Aufmerkſamkeit durch eine Unterhaltung zu erweden,. denn 
e3 wäre jenen ein Leichte geweſen, fie hier aus dem Dunkel 
heraus zu überfallen, da ihre Geſtalten fich deutlich auf dem 
hellen Hintergründe der Halle abzeichnen mußten, während ihr 
Blick das vor ihnen liegende Dunkel nicht drei Schritte weit 
zu durchdringen vermochte. 

Zwar hatte Robert feine Laterne vorfichtig ſchon vor dem 
Betreten det Nuine angezündet, Doch wagte er jie nicht zu 
öffnen, einmal, weil ihr Licht die Aufmerkjamfeit etwaiger Be- 
wohner der Ruine augenblidlich auf jie lenken mußte, und dann, 
weil leiſes Fiepen und Schwirren ihm amdeutete, daß zahl- 
reihe Fledermäuſe hier nijteten, und ihnen beim Oeffnen der 
Laterne in dem engen Gange wie rajend um die Köpfe ſchwirren 
würden. 

Endlich lichtete ſich der Gang ein wenig. Eine Thür zur 
Seite, oder vielmehr die Oeffnung, in welcher jene einſt be— 
findlich geweſen, war es, welche das geringe Licht ein— 
ſtrömen ließ. | 

Es war ein enges, längliches Gemach, aus dem man in 
eine Reihe von vier weiteren größeren Räumen gelangte. Die 


Das Rätfel der Ahnenburg. 2605 





oberen Gemächer waren ſamt dem Ahnenjaale zum größten 
Zeile in ihren Mauern völlig unverlebt. 

Der Ahnenjaal war ein hoher, mehr tiefer als breiter 
Raum. Trotz der drei ziemlich großen, gekoppelten Spitzbogen- 
fenſter herrſchte hier eine grüne Dämmerung, von dem dichten 
Rankengewirr verurſacht, welches ſich in die Reſte des Blei— 
gitters, worinnen ehemals die zahlreichen, kleinen, runden 
Fenſterſcheiben befindlich geweſen, eingeklemmt und feſtgeſchlungen 
hatte, ſo vor den Fenſtern einen unduchoringlichen Vorhang 
bildend. | 
Troß der Dämmerung tonnte man erkennen, daß der Saal, 
gleich allen Räumen, die man durchſchritten, völlig leer war. 

Er machte einen ſehr düſteren Eindruck mit ſeinen rauch— 
geſchwärzten Wänden, von denen man die Eichenpanele, welche 
ſie einſt über Manneshöhe rings umgaben, abgeriſſen hatte. In 
großen, in der Wand eingelaſſenen, geſchwärzten Rahmen hingen 
hier und da, in Fetzen zerriſſen, die Bilder der Ahnen, doch 
war es bereits zu dunkel, um in dieſer en. vom Fußboden 
etwas Genaueres zu erfennen. 

„Dort iſt der Kamin,” flüfterte Robert, „jetzt werden 
wir ſehen, ob dein Sweifel oder mein Glaube Recht behält.” 
Damit wollte er dem Kamine zufchreiten. 

Doch Ehutbert Hielt ihn zurüd und flüfterte ihm zu: „Noch 
nicht, Robert, erſt laß und die Ruine weiter unterjuchen, ob 
e3 ficher, und wir wirklich die einzigen menjchlichen Inſaſſen 
find. Finden wir e3 fo, dann holen wir unjere Pferde. Sch 
traue dem Wetter nicht für die Nacht. Die Tiere müſſen ein 
Obdach haben. Wir haben da unten ja die Wahl. DYeffne die 
Zaterne, und laß uns fehen, wohin jene beiden Thüröffnungen 
dort führen. z 

- Robert fand dieſe Anordnungen feines Freundes zu ver- 
nünftig, um nicht im Augenblid mit ihnen einverjtanden zu jein. 

Borfihtig, die Waffen zur Hand, ſetzten fie, beim hellen 
Lichte der Laterne, ihre Unterjuchung fort. 

Nirgend trafen fie auf ein Anzeichen von der unmittel- 
baren Nähe eines Menfchen, obſchon Hier und da verftreute 
Strohreſte, abgenagte Wildfnochen und einige Lumpen an- 
zubeuten fchienen, daß Menfchen Hier geraftet und Mahl ge- 


2600 | Egon Fels. 





halten hatten, doch mußte dies bereits vor längerer Zeit ge— 
ſchehen ſein, denn eine dichte Staubſchicht bedeckte alles. 

Das eine der neben dem Saale gelegenen, ziemlich großen, 
öden Gemächer, bewahrte noch den Reſt eines Ladens, der von 
innen vor das vergitterte Fenſter gelegt werden konnte. Auch 
fand es ſich, daß die in den Saal führende Thür noch un— 
verſehrt in ihren Angeln vorhanden war. 

„Schade, daß dies Gemach keinen anderen Ausgang 
hat,“ bemerkte Robert — „es wäre eine ſo prächtige 
Zuflucht, für den Fall, daß wir etwa unliebſamen Beſuch be— 
kämen!“ 

„Na, wenn du weiter nichts wünſcheſt, Robert, ſo ſiehe, 
hier iſt der Ausgang für uns wie beſtellt,“ erwiderte 
Chutbert, neben dem Kamine eine ſchmale, niedere Thür öffnend, 
in die man nur gebückt eintreten konnte und die auf einen 
ebenſo ſchmalen, finſteren Korridor mündete. 

„Das iſt ja prächtig!“ rief Robert, „laß uns ſofort 
unterſuchen, wohin dieſer Gang führt.“ 

Mit vorſichtig vorgehaltener Laterne betraten die jungen 
Männer den Gang, der, faſt fo niedrig wie die Thür, fie zu. 
fortwährenden Büden ihrer großen Figuren nötigte, und jo 
ſchmal war, daß er faum Raum für eine Berfon bot, die, wenn 
fie nur einigermaßen von jtärferer Leibesbeichaffenheit gewejen, 
al3 unſere ſchlanken, jungen Freunde, mit beiden Schultern die 
Mauern berührt haben würde. Der Fußboden jchien mit Sand 
oder Erde bededt, oder auch jo dicht mit Moder überzogen zu 
fein, daß er dem Fuße eine weiche Fläche bot, auf welcher die 
Schritte nicht hörbar wurden. Der Fußboden jenkte jich janft 
abwärts, und eine dumpfe Moderluft erjchwerte das Atmen, 
die Lampe in der Laterne brannte mit trüber Flamme. 

Plöglich blieb der voranjchreitende Robert jtehen und jchloß 
hajtig die Laterne, fie vorfichtig noch mit der Hand fchügend, 
damit der Schimmer ihres Luftloches fie nicht verrate. 

Tiefite, förmlich greifbare Dunkelheit umgab fie. 

„Was ijt?“ flüfterte Chutbert, dicht am Ohre Roberts — 

„Jahejt du etwas?“ 

„Nein. Aber ich hörte — till! da iſt e8 wieder,“ flüſterte 

diejer zurüd. 


Das Nätfel der Hhnenburg. 2607 





Zaufchend ftanden beide regungslos. 

Aus weiter Ferne, oder vielmehr aus der Tiefe zu ihren 
Füßen fam ein leifer, geheimnivoller, Tanggezogener, melodifcher 
Ton, dem eine Reihe anderer Kanne ſich anjchloß, bald anſchwellend, 
bald verhallend. 

War es Geſang — war es ein Saiteninſtrument, etwa 
eine Laute? — | 
Keiner der beiden wußte es zu jagen. In diefem Momente 
Ichien daS eine oder das andere ihnen glaublich, um in dem 
nächiten verworfen zu werden. 


So aufgeklärt für ihre Zeit die jungen Männer auch waren, 
fie vermocdhten ſich doch im Augenblicke eine geheimen Grauens - 
nicht zu erwehren. Denn dieje geheimnisvollen Töne hatten etwas 
jo Weberirdilches, Geifterhaftes, jchienen bald dicht neben ihnen, 
bald aus weiter Ferne, aus unabjehbarer Tiefe zu ihnen empor= 
zujteigen, daß ihnen abjolut feine natürliche Erklärung Sant 
einfallen wollte. 

Mit einem jchrillen Mißtone, der jcheinbar geradezu zwiſchen 
ihnen erſcholl, ſo daß beide auseinander prallten, brach die 
Geiſtermuſik plötzlich ab. 

„Sollten wir nicht beſſer umkehren, Chutbertd⸗ flüſterte 
Robert mit heiſerer, zitternder Stimme, dem Freunde damit ver⸗ 
ratend, welch beängſtigenden Eindruck er von jenen unerklärlichen 
Tönen empfangen. 

„Dummes Zeug!“ raunter dieſer, ſich mutiger ſtellend, als 
er ſich im Augenblicke gerade fühlte. „Vorwärts mit Gott! iſt 
mein Wappenſpruch. Sind es Geiſter, was können ſie uns 
anhaben? Wir ſind beide gute Chriſten. Sind es Menſchen, 
wie wir, ſo will ich ſie ſehen, und, will es Gott, aus meinem 
Eigentum vertreiben, wenn ſie in böſer Abſicht ſich hier ver— 
bergen.“ 

Ohne ein Wort der Erwiderung gehorchte Robert, öffnete 
ſeine Laterne wieder und ſchritt vorwärts. Er wäre ebenſo 
gehorſam geweſen, wenn er auch gewiß gewußt, ſein Pſad führe 
geraden Weges ins Verderben. Wo Chutbert hin wollte, da 
mußte er an ſeiner Seite ſein, da gab es keine Frage, kein 
Bedenken mehr für ſeine Treue. 


2608 Egon Sels. 





Während aber Robert vorfichtig den fich immer jtärfer 
neigenden Boden beleuchtete, durchipähte Chutbert, der eine 
Hand auf des Freundes Schulter gelegt, ihm vorgebeugt über 
dieje ſchaute, mit jeinen leuchtenden Augen, denen die Schärfe 
des Talfenblides eigen war, daS vor ihnen liegende Dunfel, 
das ih in ‚der Ferne endlich zu einem leichten Dämmerlicht 
erhellte. Nach wenig Schritten wuchs die Dämmerung, fie er- 
hellte fi mehr und mehr. Der Gang jchien direkt 2 — 
zu führen. 

Robert ſchloß die Laterne als unnütz, denn der Weg war 
ohne ihr Licht vollkommen ſichtbar geworden. | 

Noch einige Schritte und fie ftanden am Ende des Ganges. 
Der Ausgang war ein viereckiger Raum, dicht am Fußboden 
bildete er eine Art von Stollen, durch den man nur kriechend 
hinaus gelangen konnte. 

Robert kroch voran, und fand, daß der Ausgang durch 
ein Gitter von ſtarken Eiſenſtäben verſperrt war. Nach einigem 
Suchen fand ſich der Riegel, der es von innen verſperrte. 
Robert zog ihn, der wunderbar leicht ging, zurück, und fand 
ſich jenſeits des Gitters, mitten in dem mannshohen Kamin 
einer Halle, die grell von dem letzten Lichte * en 
Tages erleuchtet war. Chutbert folgte ihm raſch 

Die Halle war viel kleiner, als die des Eingangs, und 
wie die mwohlerhaltene Dede und der obere Teil der Wände 
bewiejen, viel reicher mit Stud verziert gewejen al3 jene. Auch 
bier waren die Eichenpanele von den Wänden geriffen und alles 
zerjtört, was ſich irgend — ließ. 

Die Halle öffnete ſich auf einen Heinen Hof, an den 
fi) der Garten anſchloß, das heißt, der Drt, welder einft- 
mals ein arten geweſen, jeßt aber eine Blumenwildnig ge⸗ 
worden war. 

In dieſem Burghofe, der von drei Seiten bon dem Ge— 
bäude ſelbſt umfchlofjen war, fand fih ein Stall vor, an dem 
freilich nicht mehr an die frühere Beitimmung erinnerte, als 
die eilernen Ringe in den Wänden und die fteinernen Krippen. 
Wie überall in der: ganzen Burg war alles, was von Holz 
war, fortgejchleppt, oder vielleicht auch von den gelegentlichen 
Beſuchern der Ruine als Brennholz verfeuert worden. 


Das Nätjel der Ahnenburg. 2609 





Ta man aus diejfem inneren Hofe durch einen Ver— 
bindungsgang leicht in den großen Burghof gelangen Fonnte, 
jo waren die beiden Pferde bald unter Dach gebracht, und 
ließen fich, nachdem man ſie getränft — wozu ein Brummen 
im Hofe, deſſen eijerner Eimer arg dom Noft zerfreffen, aber 
doch noch brauchbar war, das Wafler lieferte — das mitgeführte 
Futter vortrefflich ſchmecken. | 


9. Die Erſcheinung. 

Junker Chutbert jchien recht zu behalten. Der vorher 
in jo leuchtender Klarheit und durchlichtiger Bläue jtrahlende 
Himmel war von einer im Oſten aufgejtiegenen Wolfenwand, 
die unaufhaltjan der finfenden Sonne nach fi) in Bewegung 
gejeßt hatte, mit einem anfangs nur leichten, aber von Minute 
zu Minute dichter werdenden grauen Schleier überzogen tworden, 
der im Weften, wo die Sonne vor wenig Minuten erjt in ihr 
Wolfenbett binabgejunfen war, in langgeitredten Streifen jenes 
Ihmußig-gelblihe Not und grünliche Schivefelgelb zeigte, das 
Saft immer auf ein nahe Gevorjtehendes Unwetter deutet. 

Die Finsternis brach jchnell herein. 

Der Schleier am Himmel fchien jich zu einem ſchwarzen 
Bahrtuche zu verdichten. 

„Wir werden eine Nacht haben, die für unjer Vorhaben 
wie gejchaffen iſt,“ bemerkte Robert, neben Chutbert tretend, 
der mit übereinander gejchlagenen Armen in der Thüröffnung 
des Stalles lehnte und mit finfterem Blide hinaus in Die 
Gartenwildnis jchaute, die mit ihrer Dede und Verlafjenheit 
dennoch einen geheimen Zauber auf ihn ausübte. 

„Mag fein,“ erwiderte er. — „Was weiter? Gejeßt, 
wir finden wirklih den Schatz? Wird fein Beſitz mich beffer, 
feöhlicher, glücklicher machen? Was ift das Leben überhaupt? 
Wozu dies raftloje Ningen und Streben nach Reichtum und 
Ehre? Wozu dies Sagen nad) Luft und Vergnügen? Mir ilt, 
als wäre daS Leben des Lebens faum wert, und —“ 

„Bott bewahre mich! Chutbert, du jchwärmft! Ich erkenne 
dich kaum mehr wieder!“ rief Robert förmlich erjchroden ob 
older im Munde feines lebensluſtigen Freundes ganz unerhörten 

SU. Baus-Bibl. II, Band XI. 164 


2610 | Egon Fels. 





Neden. „J, da hole doch der — ja jo —“ unterbrach er fich 
und blicte fich furchtiam dabei um, — „'s wird wohl befjer 
fein, feine hölliſche Majeſtät hier nicht zu nennen.“ 

Was er mit feiner unendlich komischen Grimaſſe dabei 
beabfichtigt Hatte, geſchah, Chutbert brach in ein, zwar durch 
Borficht gedämpftes, aber überaus fröhliches Lachen aus. Der 
unheimliche Zauber war gebrochen, die melancholijchen Gedanken 
entflohen wie Nachtgevögel vor den Strahlen der Sonne. 

„Na, Gott fei Dankl du kannſt noch lachen, Chutbert! 
Wie du mich erjchredt haft! Freilich ift es hier kirchhoföde, aber 
deshalb brauchen dir doch ſolche dumme Gedanken nicht zu 
fommen. Denke lieber daran, wie du, im Befite des Schabes, 
hier mit dem HBauberjtabe Flingenden Goldes, neued Leben 
inmitten dieſer Grabesöde entitehen laffen wirft. Sch ſehe 
diefe glüdliche Veränderung ſchon vor mir. Sehe das Schloß 
neu eritanden — wohnlih, ja glänzend eingerichtet. Die 
Halle ift mit Dienerfchaft gefüllt, diefer Stall voll edler 
Pferde. Die Wildnis dort iſt gelichtet und nah allen 
Regeln der Gartenkunſt in Rabatten eingeteilt, mit jchönen, 
duftenden Blumen gefüllt; mit gelbem Sand beitreute Wege, 
zierlich mit Buchsbaum eingefaßt, durchjchneiden ihn nach allen 
Richtungen in zahlreichen Windungen, und dort, wo das Terrain 
ſich hebt, fteht ein Lufthäuschen, zur Ruhe einladend und einen 
Ihönen Ausblid, über die neu aufgerichtete Mauer, in den 
ſtillen Wald geitattend. Hier im Hofe, wo jebt das hohe Gras 
wuchert, treiben fich, auf dem wieder getäfelten Boden, deine 
Heinen Buben mit ein paar Hunden umher, während droben 
auf dem Söller da deine jchöne Burgfrau fteht und jpähenden 
Blides nad) dem Walde hinüberjchaut, deine Heimkehr eriwartend. 
Da erblidt ihr jehnend Auge den Geliebten, und mit wehendem 
Schleier —“ 

Hier verſtummte, wie abgejchnitten, urplößlich das fröhliche 
Geplauder. | 

Lächelnd wendete fich Chutbert dem Freunde zu, um ihm 
mit einem Scherzworte zur Fortießung feiner Bhantafie auf- 
zufordern. Er erichraf heftig, denn der Freund jtand wie 
eine lebendige Statue tödlichen Schredens neben ihm. Toten- 
bleich, die Augen weit aufgerifien, deren Bupillen unnatürlich 


Das Rätſel der Hhnenburg. 2611 








erweitert hervortraten, jtarrte er auf das Fenſter neben dem 
Söller, von dem er ſoeben gejprochen. Chutbert folgte der 
Richtung feiner entjegten DBlide, konnte aber nirgend3 etwas 
entdeden, was ihm des Freundes Schreden zu erklären ver- 
mochte. 

„Was ift dir, Robert? Was Haft du?“ fragte er haftig 
— „du fiehlt ja aus, al3 hättejt du den Teufel, den du vorher. 
nicht nennen wollteit, da oben in Perſon gejehen.“ 

Robert ftrich fich, tief aufatmend, mit der Hand über die 
mit faltem Schweiße bededte Stirn, und ohne den Blid von 
jenem Fenſter abzuwenden, ermwiderte er mit einer Stimme, 
in welcher noch der Nachhall eines furchtbaren Schredens 
zitterte. „Den Teufel wohl nicht, aber — einen Geift.“ 

„Unſinn! Komm zu dir, Robert, du träumft mit offenen 
Augen, das iſt fiher!" und Chutbert ergriff des Freundes Arm, 
ihn ſchüttelnd. | 

Seht endlich wendete Robert den Blid von dem Feniter 
ab und eriiderte mit furchtbarem Ernſte: „Nein, ich träumte 
nicht. So deutlich, wie ich dich Hier vor mir fehe, jah ich dort 
am Fenſter, neben dem Söller, plötzlich, wie hingeweht, eine 
weiße Geſtalt ericheinen.“ 

„Ra, wenn du e3 mit folcher Miene verficherit, muß id) 
es wohl glauben. Uber — braucht e3 denn gerade ein Geiſt 
gewejen zu fein? Wie jah die Geſtalt aus? War fie Mann 
oder Frau? ch würde entichieden das lebtere vorziehen, 
borausgejeßt, daß fie jung und ſelbſtverſtändlich jchön iſt.“ 

„Scherze nicht, Chutbert, mit jo erniten Dingen —“ er- 
widerte Robert bereit3 gefaßterr. „Wie ſie ausfah, kann 
ih nicht jagen, denn ich ſah von dem Geſicht nicht3 als ein 
paar dunkle Augen, die aus weißen Schleiern, oder, was weiß 
ih — Leichentüchern heraus, zum Himmel empor gewendet 
waren. Bon Entjegen über den unerwarteten Anblid gepadt, 
ſchrak mein Blid nur um das Zehnteil einer Sekunde zurüd; 
al3 ich wieder hinjah, war fie verſchwunden.“ 

„Run, da halt du es! du wirft dich getäuscht haben. Wir 
fönnen ja uns faum noch jehen, und da oben, wo noch dazı 
der Schatten des großen Turmes hinfällt, ilt e3 noch finiterer. 
Gewiß, mein lieber Robert, du Haft dich getäufcht.“ 

164* 


2612 Egon Fels. 





„Rein, das habe ich nicht. — Sch Jah fie deutlich — aber 
— du haft dennoch recht. Ich war ein Narr mit meinem 
Screden. Kann e3 denn nicht irgend ein Menſch geweſen 
jein, dem es jehr ungelegen iſt, daß wir ihn in feinem Beſitz— 
tum bier, deffen er fich vielleicht gänzlich ficher geglaubt, zu 
itören fommen und der, um uns durch Schreden wieder zu 
vertreiben, ſich das Vergnügen macht, den Geiſt zu fpielen?“ 

„Sp, das laß ich mir gefallen, alter Junge, jest bift du 
wieder du jelbjt!” rief Chutbert erfreut. „Dies alte Raubneſt 
it bei alledem ein ganz vertradter Ort. Mich macht e3 zum 
Schwärmer über den Unmert diejes lieben, Iuftigen Lebens, 
und di) gar zum Geilterfeher. Ein guter Anfang, wahrlich!“ 

Während er jo mit gedämpfter Stimme zu Robert ſprach, 
waren beide bereit3 in die Halle eingetreten und näherten fich 
der dem Kamine gegenüber liegenden Seitenthür, die fie, wie 
vermutet, zu einem Korridor führte, an deffen Ende eine 
lteinerne, überaus mwohlerhaltene Wendeltreppe in die oberen 
Räume hinaufführte. ; 

Diefer Hintere Teil der Burg war ficher die Wohnung 
der Frauen geweſen. 

Die Gemächer waren kleiner und überaus reich mit Stuck 
geſchmückt, in zweien waren ſogar zum Teil wohlerhaltene, 
zum anderen arg von Wind und Wetter, beſonders in der 
Nähe der Fenſter, mitgenommene alte Freskomalereien vor- 
handen. Ein für die Zeit, wo ſie entſtanden ſein mochten, 
überaus koſtbarer und für ſolch einfache Ritterburg wohl noch 
ſeltenerer Schmuck. 

Im übrigen herrſchte in dieſem Teile der Burg dieſelbe 
Oede und Zerſtörung wie überall. Nirgends gab es die Spur 
eines Menſchen, dafür aber Staub, Moder, Spinnweben überall. 

Hiervon machte das Gemach mit dem Söller, neben dem 
auf jeder Seite zwei ziemlich große Fenſter ſich befanden, durch— 
aus keine Ausnahme. 

Der einzige Unterſchied gegen die anderen Gemächer und 
Säle war der, daß es ſich ſtaubfreier als dieſe erwies, was 
aber: keineswegs der ordnenden Menſchenhand, ſandern nur 
dem Winde zu danken zu ſein ſchien. 

Mit demſelben Reſultate, wie unten, wurden auch noch 


Das Nätfel der Ahnenburg. 2613 





die Räumlichkeiten der zweiten Etage durchjudht. Dede und 
Einjamfeit überall. Fled mäuſe, Käuzchen, Spinnen, Mäufe 
und ein Ber von Kellerwürmern die einzigen Bewohner. 

Ueber all den Unterjuchungen war es natürlich längſt 
Nacht geworden, und unſere Freunde jchidten fich endlich an, 
nachdem jie durch einige mitgebrachte Nahrung die ungejtümen 
Forderungen des über höhere Intereſſen nur zu lange ver- 
nachläjligten Magens befriedigt Hatten, die Aufjuchung des 
Schatzes zu beginnen. 

Sie betraten den mann3hohen, weit vorjpringenden Kamin 
des Ahnenjaales, und e3 gelang ihnen, die Hinterwand der 
euerjtelle, welche mit einer dichten Rauch- und Rußkruſte be- 
det und überzogen war, nach jener Zeichnung auf einer be- 
ſtimmten Stelle zu öffnen. Die Steinpirtte bewegte fich leichter, 
al3 man ihrer Größe und Schwere nach hätte erwarten follen, 
auf ihren unfichtbaren Zapfen zur Seite und gab eine eijerne 
Thüre, welche fich dahinter befand, frei. 

Schwer atmend von der Anjtrengung hielten beide inne, 
und Robert fragte triumphierend: „Na, du Zweifler! was ſagſt 
du nun? Sit die Thüre da ein Fiebertraum ?” | 

„DO! juble nur nicht zu früh,” erwiderte whutbert 
lachend. — „Was dahinter ſteckt, das ift die Hauptjache. Dann 
wollen wir Mmeiter reden, wenn wir es willen.“ .Und er jtrengte 
fih an, die Fed. an der bezeichneten Stelle durch ein Stemm- 
eijen in Bewegung zu jeben. | 

Vergeben, die Feder wich und wankte, der Mechanismus 
ſpielte nicht. 

Jeder der jungen Männer nahm jeine Zaterne und unterjuchte 
eine Seite der Thür. E3 war durchaus fein anderer Punkt bemerf- 
bar, als jener auf der Zeichnung angegebene, mit dem der äußeren 
Steinplatte forrejpondierende, wo die Thür fich öffnen Fonnte. 

Beide vereinten nun ihre Kräfte, fie drüdten und jchoben 
— alles umjonft. 

Draußen begann der Sturm des ausbrechenden Gewitters 
zu toben. Dumpf grollte der Donner in der Ferne, das 
Wetterleuchten warf zumeilen einen fahlen Schein in den Saal, 
und hier und da tauchte geipenftiich ein augenlojes Geficht aus 
dem Dunkel der Wände auf. 


2614 Egon Fels. 





Es waren die wenigen, noch einigermaßen erhaltenen 
Ahnenbilder, die aus ihren Rahmen heraus den vergeblichen 
Anitrengungen ihres Urenkels zugejehen haben würden, hätte 
nicht Vandalenhand ihnen die Augen geraubt. 

Endlich fam Robert auf den Einfall, von dem in einer 
lederbezogenen Flaſche mitgeführten, zur Speifung der Lampen 
in den Laternen beitimmten Dele einige Tropfen in die Ver- 
tiefung zu gießen und dies vermitteljt eines mit Del reichlich 
getränkten Zeugfetzens, jo gut e3 gehen wollte, hineinzureiben. 

AS dies geichehen war, wurde das Eifen nochmals ein- 
geitemmt, und abermals machten fich beide mit all ihren Kräften 
ans Werf und — al3 draußen ein greller Blitz, die ſchwarze 
Wolkendecke de3 Himmels zerreißend, den ganzen Saal mit 
Feuer anzufüllen fchien, während der unmittelbar darauf folgende 
ungeheure Donnerjchlag die Burg bis in ihre Grundfeiten er- 
zittern ließ, und gleichzeitig ein Donnergepolter ftürzender 
Steine den Einfturz irgend eines Teiles des zerjtörten linfen 
Flügels verkündete — ftürzten auch unfere Freunde, wie vom 
Blitze darniedergefchmettert, durch die mit rapider Gewalt 
plöglic) aufipringende au au dem Be gebracht, 
zu Boden. 

Doch waren fie feineswegs verlebt. 

Lachend richtete ſich Chutbert zuerit empor und unter- 
jtüßte den noch mehr als er erjchrodenen Freund beim Auf- 
ſtehen. „Das nenne ich mit der Thür ind Haus fallen!" — 
rief er luflig mit feiner vollen Stimme. Damit ergriff er eine 
Laterne und leuchtete in dem Raume umher, in den fie mit 
der mweichenden Thüre geradezu hineingefallen waren. 

„Ale Wetter! Sieh’ doch, Robert, da können wir uns 
freilich gratulieren, daß die Weisheit des Baumeiſters, welcher 
diefen geheimnisvollen Ort anlegte, vielleicht die Möglichkeit 
ſolchen Falles berechnend, dieſe Treppe da nicht näher hinter 
der Thür anbringen ließ. Wären wir beide da hinabgefallen, 
jo möchte es nicht fo glatt abgegangen fein, ich glaube, wir 
vergäßen eine Weile das Aufſtehen. Wie?“ 

„Ja, ganz beſonders ich, denn da ich zu unterſt lag, hätte 
ich auch zuerſt mit den Stufen da Bekanntſchaft gemacht. Du 


lagſt ſchon weicher.“ 


Das Rätjel der Ahnenburg. 2615 


— — —— —— — —— — ————û—— 


Beide lachten. 

„Was willſt du denn machen, Robert? — Laß doch den 
Stein offen. Wir können am Ende nicht wieder hinaus und 
müſſen in dem Loche da unten und auf dem Schatze, deſſen 
Exiſtenz mir jetzt ſchon wahrſcheinlicher vorkommt, elendiglich 
verhungern.“ 

„Sei außer Sorge, der Mechanismus ſpielt, wie ich mid) - 
überzeugt habe, ganz vorzüglich auch von diefer Seite. Die 
Borficht ijt nötig. Denn wir können zwar mit einiger Be— 
ſtimmtheit annehmen, daß wir, von jener unerflärbaren Er- 
Icheinung abgejehen, die einzigen "menjchlichen Bewohner der 
Burg find, aber ob das draußen tobende Unwetter nicht viel- 
leicht irgend einen verirrten Wanderer Hierher treiben mag, 
fönnen wir nicht wiffen. Bon anderem lichtfcheuen Gefindel, 
das möglicherweije bier feinen beftimmten Unterjchlupf hält, 
noch gar nicht zu reden. Deshalb“ — er z0g die fich ge- 
räujchlo3 bewegende Steinplatte mittelft eines zu dieſem Zwecke 
innen angebrachten Eifenringes an fich, und die Feder jchnappte 
hörbar ein — „wollen wir und und unfer Geheimnis fichern. 
Daß wir bei der Rückkehr nicht etiva irgend welchen Anweſenden 
im Saale geradezu in die Hände laufen, dafür hat dein Fluger 
Borfahr, oder wer fonft diefen Schlupfwinfel für die Zeiten 
der Gefahr angelegt Haben mag, nad) Möglichkeit gejorgt, 
denn fieh” — bier ift eine Klappe, die ſich — — mit einiger 
Mühe zwar, wie e3 jcheint —“ er ftemmte den Knauf jeines 
Dolches dagegen, ſchob und ftieß daran herum, bis fie wich — 
— „aber doch endlich beifeite fchieben läßt und wie ich nicht 
zweifle" — er legte das Auge an eine darunter verborgene, 
etwa dublonengroße Oeffnung — „richtig einen freien Blid 
auf den Saal giebt, und uns jonad) in den Stand jegt, vor- 
her das Terrain zu beobachten, ehe wir diefen' geheimen Ort 
verlafien. . (Sortjegung folgt.) 








Derrat. 


Alerander Kaufmann. 
Die Wafferlitie kichert leis: 
„Ich muß euch ein Ding verraten, | 
Ich muß euch verraten, was geftern nachts 
Hwei junge Derliebte thaten. 


Die Eamen mit Detter- und Bafenfchaft 

Den Strom hinunter geglitten, 

Die faßen, weil Kaufcher im Boot, ganz ftill, 
Mit auferbaulichen Sitten. 


Sie tauchte die Hand ins Wogenblau, 
Den Eopfenden Puls zu fühlen, 
Er wollte zur felben Seit einmal 
Nach der Wärme des Waſſers fühlen, 


Und unter dem Waſſer begegnen fich 
Derftohlen die beiden Hände, 

Und fliehn und fangen behende ſich — 
Es nimmt das Spiel fein Ende, 


Die Bafen haben nichts gemerft 

Don der glüdlichen Liebesftunde, 

Ich aber hab’ es wohl gefehn 

Tiefher aus dem laufchenden Grunde.” 


| Er 





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— 





Schloß Hartenfels in Torgau mit der Elbbrüde, 


Ein Chüringifhes Elite-Regiment und feine 
Geſchichte. 


(4. Thüringiſches Infanterie-Regiment Ar. 72.) 

Von Hellmut von Trimborn. 
(Vachdruck verboten.) 
Zur Geſchichte der Stadt Torgau. 


icht allzu viel Regimenter haben eine ſo intereſſante 
Garniſonſtadt, wie das 4. Thüringiſche Infanterie— 
Regiment Nr. 72. Urſprünglich eine ſlaviſche Nieder— 
laſſung, wurde „Torgowy“ (zu deutſch: — 
unter den erſten ſächſiſchen Kaiſern Heinrich I. und Otto I, die 
vor etiva taufend Jahren regierten, in eine deutſche Stadt ver- 
wandelt, deren Stüßpunft lange Zeit die benachbarte Burg var. 

Der Ort, auf dem Torgau heute jteht, war eine geeignete 
Stätte für eine Burggründung. Es liegt auf einem Porphyr— 
felfen, der jich nach Oſten durch die Elbe hindurchzieht. Diejer 
überragte weithin die Umgebung und bot Schuß gegen die Elb— 
überjchwemmungen; denn die Elbe war damals noch nicht ein- 
gedämmt. Der Zellen bildete zugleich eine bequeme Furt durch 
die Elbe. 











2618 Bellmut von Trimborn. 





Sn der urjprünglich ſlaviſchen Niederlafjung jeßten ſich die 

deutichen Ritter feit und erbauten auf dem Felſen einen mit 
Wal und Graben umgebenen Turm oder eine Burg. Gie 
. übten nun die Herrichaft aus über die Slaven auf dem linken 
Elbufer und bewachten die Furt durch den Fluß. An der Spibe 
der Burgbejagung jtanden Ritter, die ſpäter Herren oder auch 
Grafen von Torgau genannt wurden. 

Sın Schube der Burg, noch auf dem Felſen, ſiedelten ſich 
num Deutihe an. Dieſes waren freie Männer mit eigenent 
Grundbeſitz. Sie waren verpflichtet, durch Wachen und Bauen 
bei der Verteidigung der Burg mitzuwirken. Auch dieje An— 
liedelung war mit Wal und Graben umgeben. An der Spibe 
derjelben ftand der Schultheiß, der in Gemeinfchaft mit den 
Schöffen die niedere Gericht3barkeit ausübte. Die obere Ge— 
richtSbarfeit lag in den Händen des Burgvogts. 

Die günfjtige Yage der Burg locte bald noch mehr Anſiedler 
herbei. Auch blieben die Slaven in der Nähe der Burg wohnen und 
gingen ihren Bejchäftigungen nad). Kaufleute, Handwerker jeder 
Art kamen herzu, und jo entitand allmählich neben der Burg 
noch eine Stadt. Die Bewohner derjelben genofjen den Schuß 
der Burg, erhielten aber erjt nach langen Kämpfen gleiche Rechte 
mit den Burgbewohnern. 

Die Bewohner der Stadt waren die Bürger. Jeder, der 
ih in der Stadt dauernd aufhielt, mußte das Bürgerrecht 
erwerben. Der neue Bürger leiltete einen Eid, feine Pflichten 
gegen die Stadt gewifjenhaft zu erfüllen. Die Handwerker 
ſchloſſen ſich zu Innungen oder Bünften zuſammen. Wichtige 
Erwerbszweige wurden das Bierbrauen und ſpäter die Tuch— 
weberei. Das Torgauer Bier wurde weithin verſandt und 
genoß einen guten Ruf. Auch die Landesfürſten liebten es ſehr. 
Sie erteilten der brauenden Bürgerſchaft viele Vorrechte. 

Von der Burg aus drangen die Deutſchen allmählich nach 
Oſten vor. Die noch vorhandenen Slaven vermiſchten ſich mit 
den Deutſchen. Sie lernten deutſche Sprache, Sitten und Ge— 
bräuche kennen und üben und nahmen das Chriſtentum an. Für 
die Aufrechterhaltung und Befeſtigung der chriſtlichen Lehre 
ſorgten die Mönche; denn auch viele Klöſter wurden in der 
Umgegend gegründet. In Torgau ſelbſt ließen ſich die Franzis: 


Ein Thüringifches Elite- Regiment und feine Sejchichte. 2619 





faner nieder, die jic) der bejonderen Gunſt der ſächſiſchen Landes— 
fürjten erfreuten und die Stadt erjt verließen, als die Reformation 
in Torgau ihren Einzug hielt. 

Die Landesfürjten — urjprünglich die Markgrafen von 
Meißen, jpäter die Kurfürjten von Sachjen — gehörten bis 
zur Ungliederung Torgaus an Preußen dem Haufe Wettin an, 
das befanntlich bi3 zum heutigen Tage dem Königreich Sachſen 
jeine Herrjcher gejchenft hat. 

Stammfi und Reſidenz der Markgrafen von Meißen war 
die alte Burg, aus der der ftattliche Bau hervorgegangen it, 
der unter dem Namen „Schloß Hartenfels“ noch heute von 
dem Felſen hernieder grüßt. „Es iſt eine recht kaiſerliche Burg,“ 
lagte Kaijer Karl V. nach der Schlacht bei dem unweit ge- 
legenen Mühlberg, als er das Schloß er- 
blickte, und auch andere Fürſten erfreuten 
ih an dem herrlichen Bau. Der erite 
Flügel des Schlofjes mit dem Hauptein- 
gang tt in den Jahren 1481 bis 1490 
erbaut und nahm die alte Burg in ich 
auf. Bald genügte jedoch der vorhandene 
Bau den glänzenden Anjpriüchen des fur- 
fürjtlichen Hofes nicht mehr. Als Friedrich 
der Großmütige, der hier geboren war, das 
Kurſchwert in die Hand nahm, erhielt der berühmte Baumeilter 
Konrad Krebs den Auftrag, den Schloßbau zu erweitern. In den 
Sahren von 1532 bis 1544 wurden dem Hauptbau die übrigen 
Scloßflügel angefügt und glänzend ausgeſtattet. Man richtete 
Prunk- und Feſtſäle im Innern her, auf dem Schloffe erhoben 
ſich weithin fichtbar die vielen Türme, die nur noch zum Teil er- 
halten jind. Seit Friedrich dem Weiſen haben die Fächitichen 
Kurfüriten, die inzwiſchen ihre Reſidenz nach Dresden verlegt 
hatten, gern in dem Schloſſe Hartenfel3 geweilt, und hier 
feierten fie ihre glänzenden Feite, namentlich zu Ehren der 
fürjtlihen Vermählungen und Huldigungen. Solche Feite 
dauerten faſt immer gegen acht Tage und erhielten eine be- 
Jondere Würze durch große Jagden, die in den Wäldern der 
Umgegend abgehalten wurden. Im dreißigjährigen und jteben- 
jährigen Kriege hat das Aeußere und Innere des Schlofjes 





Wappen der Stadt Torgau. 


2620 Hellmut von Trimborn. 
— — —— ——— —a — — ———— — —— 
ſehr gelitten. Im Aare 1771 wurde e3 in eine Strafanitalt 
umgewandelt, und feit 1813 ift eg Kajerne. 

Zum Schloß gehört eine eigene Kirche, Die Schloßkirche, 
die heute von der Garniſon als Gotteshaus benutzt wird. 
Sie iſt von dem Kurfürſten Johann Friedrich während der 
Reformationszeit erbaut und von Dr. Martin Luther 1544 
feierlich eingeweiht worden. 

Hiermit kommen wir zu dem großen Anteil, den Torgau 
am Werke der Reformation genommen hat. Dieſer Anteil war 
ſo groß, daß ein altes Wort ſagt: „Wittenberg iſt die Wiege 
der Reformation, Torgau ihre Amme.“ Torgau war Reſidenz— 
Itadt, und jo fonnte es nicht ausbleiben, daß die Kunde von 
der neuen Richtung auf dem firchlichen Gebiete Ichnell hierher 
gelangte. Als Luther die fünfundneunzig Sätze an die Thür 
der Wittenberger Schloßkirche gejchlagen Hatte, fand feine mutige 
That auch Wiederhall in den Herzen der Bewohner Torgau, 
ja jelbit viele von den bier lebenden Auguftinermönchen zollten 
‚ihrem Ordensbruder Beifall. Der von ihm ausgejäte Samen 
ging immer mehr auf, und fchon im Jahre 1521 predigte er 
zum eriten Male in Torgau. Der Stadtrat überreichte ihm 
den Ehrentrunf und, als Luther im nächſten Sahre wiederfam, 
wurde er bewundert und gefeiert. Von allen Seiten türmten 
ih inzwifchen Gefahren der neuen Lehre entgegen, und jo 
ihloffen zu ihrem Schuß die evangelifchen Fürften, voran die 
Kurfürjten von Sachſen und Helfen, am 5. März 1526 auf 
dem Schlojje zu Torgau ein Bündnis; und hier wurden auch 
vier Jahre ſpäter von Luther und feinen Freunden die 
„Torgauer Artikel” aufgejegt, jene Urkunde, welche die Grund- 
lage de3 augsburgiſchen Befenntnifjes wurde. Der Ausbau 
der Reformation ging nun in Torgau rüftig vorwärts. Luther 
fam öfters hierher, und feine Predigten ließen ftet3 einen 
dauernden Eindrud in den Herzen der Torgauer zurüd. 
Zorgau hat jeitdem den Namen einer Lutherſtadt behalten. 
Auch Luther3 großer Freund und Gehilfe Philipp Melanchthon 
Dat oft und gern in Torgau gemeilt. 

Unter den berühmten Frauen, die in der Gejchichte der 
Stadt eine Rolle jpielen, nimmt Katharina von Bora eine 
hervorragende Stelle ein. Schon in frühem Kindesalter kam fie 


\ 


Ein Shüringifches Elite-Regiment und feine Sefchichte. 2621 


in das Gifterzienjerklojter zu Nimptjchen bei Grimma in Sachſen 
und lebte hier zehn Jahre in Ruhe und Frieden, bis das Lied 
der „Wittenbergiichen Nachtigall” verlodend auch in ihre ftille 
Belle drang. Berjchiedene Nonnen traten, mit Dr. Martin 
Luther in Verbindung und diejer bejchloß, fie aus ihren Kloſter— 
mauern zu befreien. Ein Torgauer Bürger, Leonhard Köppe, 
unternahm daS Befreiungswerf. In der eriten Oſternacht am 
5. April 1523 ftiegen neun Nonnen vermittelit einer Strid- 
leiter über die Mauern, auf-der andern Seite wurden fie von 
Leonhard Köppe in Empfang genommen, in leere Fäfjer geſteckt, 
mit Deden und Stroh bepadt und nach Torgau gefahren. Von 
hier famen fie nad) Wittenberg, wo fie Zuther in angejehenen 
Samilien unterbradhte. Katharina von Bora fand freundliche 
Aufnahme im Hauje des GStadtjchreiberd. In deſſen Haufe 
fand auch am 27. Juni 1525 ihre Vermählung mit Luther. 
ſtatt. Sechs Jahre überlebte fie ihren Gatten, und am 
20. Dezember 1552 ſchied fie in Torgau, wohin fie vor der 
Peſt aus Wittenberg frank und elend geflüchtet war, aus dem 
Leben. Unter großer Teilnahme der Bevölkerung wurde fie 
beerdigt. Noch heute erblidt man hinter der Kanzel in der 
Stadtkirche ihr Denkmal. . Diejes trägt die Inſchrift: „Arno 
1552 den 20. Dezember ift in Gott jelig entſchlafen alldier 
in Torgau Herrn Dr. Martin Luthers ſelig Hinterlafjene Witwe 
Katharina von Bora.“ | 

Wie auf religiöfem, jo pielte auch auf kriegeriſchem Ge— 
biete Torgau feit der Reformationzzeit eine wichtige Rolle. Als 
im Sahre 1542 Kurfürſt Johann Friedrich der Großmütige 
von der Stadt Wurzen Hilfsgelder zum Türfenfriege forderte 
und fie ihm diejelben verweigerte, da bejchloß der Kurfürft, ſie 
- mit dem Schwerte dazu zu zwingen. Er gebot deshalb den 
wehrhaften Bürgern Torgaus, fi) zu wappnen und gegen die 
ungehorjame Stadt augzuziehen. Da rüjteten fich die Torgauer 
Bürger, doch wurde der Streit beigelegt, ehe es zum Kampfe 
fam. Bon da ab wurde es Brauch), daß die wehrhaften Bürger 
Torgaus alljährlich an dem Auszugstage ein Erinnerungsfeit 
feierten, mit Harniſchen angethan ins Freie zogen, ſich in den 
Waffen übten und an allerlei Kurzweil fich ergößten. Die 
Harniſche jo ihnen der Kurfürſt aus feiner Rüftfammer in 





2622 Hellmut von Trimborn. 





Torgau geſchenkt haben. Im Laufe der Zeit ift dieſes Felt 
geblieben, nur wurde es von Oſtern auf Pfingiten verlegt und 
nur alle zwei Jahre gefeiert. Bei allen fürftlichen Befuchen, 
deren fich Torgau vieler zu rühmen hat, haben die „Geharniſchten“ 
Spalier gebildet und find ftetS geehrt worden, namentlich haben 
die preußijchen Könige und vor allen Dingen Kaiſer Wilhelm IL., 
die „Geharniſchten ausgezeichnet. 

Im dreißigjährigen Kriege wurde Torgau und Umgebung 
von den Schweden hart mitgenommen. Achtzehn Wochen blieben 
die Feinde zu Beginn des Jahres 1637 im Beſitze der Stadt, 
von der ſie große Summen Geldes und große Lieferungen in 
Tuch uud Bier erpreßten. In jedem Haufe lagen vierzig bis 
fünfzig Soldaten und jeder ftellte an die Bewohner feine be- 
onderen Forderungen. Jeder Tag brachte neue Mißhandlungen, 
neue Bedrüdungen, neue Qualen. Es war nicht3 Ungewöhn— 
liches, daß ein auf der Straße gehender Bürger da3 Ziel eines 
Hakenſchützen wurde. Oder die Bewohner wurden vor den 
Wagen gejpannt und mußten die aus ihren Häufern geraubte 
Habe jelbjt nach dem Lager vor die Stadt fahren. Die fchönen 
Boritädte und Gärten wurden verbrannt: die Dörfer und Städte 
der Umgegend janfen in Aſche. Dabei begann die Belt in 
Ichredlicher Weije zu mwüten, denn überall lagen in Verwejung 
übergehende Leichen umher. Auch Sterbende jah man mafjen- 
haft in den Straßen und Gafjen und vor der Stadt, denn in 
den Häufern Hatten fie nicht mehr Plaß; nicht jelten wurden fie 
noch lebendig von den Jcharenmweife umherlaufenden Hunden 
gefrejien. Ganze Straßen ftarben aus. Gegen 18000 Menjchen 
jollen in diefem und den nächiten Kriegsjahren in Torgau ge- 
Itorben fein. Noch 1640 wurde Torgau al3 ein verödeter Ort 
bezeichnet. 

Hundert Jahre vergingen, al3 Torgau don neuem die 
Schreden der Kriegsfurie kennen lernte. Im zweiten ſchleſiſchen 
Kriege war’3, Ende November 1745, da läutete die Sturm- 
glocke und fündete den aus nächtlicher Ruhe geftörten, geängftigten 
Bürgern, daß die Preußen fommen. Eine Hufarenabteilung 
Iprengte in die Stadt und zwang den Bürgermeilter, mit nad) 
Eilenburg zu fommen und Friedrich II. Treue und Gehorjam 
zu geloben. Am anderen Tage wurde die Stadt von einem 








Ein Chüringifches Elite-Regiment und feine Befchichte. 2623. 
——— Sun 200,020 DES j .2.0.62, ze (pSES Le ZZ (SLR SL DEE 


Hujarenregiment bejegt. Vierzehn Tage fpäter famen noch 
32000 Preußen unter Führung des „alten Deffauer” nad 
Zorgau und hielten fünf Tage in der Stadt Raft. Schwer 
loftete die Einquartierung auf den Einwohnern, denn jedes 
Haus wurde mit dreißig big vierzig Mann belegt. Doch die 
Preußen hielten jtrenge Manneszucht, jo daß die Bürger in 
feiner Weiſe von ihnen beläftigt wurden. 

Im jiebenjährigen Kriege machte fich der preußifche Oberſt 
von Wolffersdorf um Torgau bejonders verdient. Mit großer 
Tapferkeit verteidigte er in den Tagen vom 9. bis 15. Auguft 1759 
die Stadt gegen die Defterreicher, die mit bedeutender Ueber- 
macht vor derjelben erjchienen und fie belagerten. Alle An- 
griffe und Sturmverjuche wurden zurüdgefchlagen, ja der Oberft 
machte noch mehrere Ausfälle und brachte den Feinden große 
Berlufte bei. Erſt als Pulver und Blei faft vollftändig fehlten, 
ließ er fih auf Unterhandlungen ein. Die Feinde gewährten 
ihm und feinen Truppen freien Abzug mit. Hingendem Spiel 
und fliegenden Fahnen. Ueber die Elbbrüde führte er jeine 
Bataillone nad) Wittenberg zum König, der dem Oberjten dieſe 
tapfere Haltung nie vergejjen hat. Hundert Sahre fpäter it 
demjelben ein Denkmal errichtet worden, das noch heute auf 
der Torgauer Promenade zu jehen ilt. 

Bei Torgau fand auch am 3. November 1760 die blutigite 
Schlacht de3 jiebenjährigen Krieges ſtatt. Die Defterreicher 
hatten unter General Daun eine äußerjt günftige Stellung auf 
den Süptiber Höhen, die ſich in ſanften Abdachungen bis dicht 
an Torgau heranziehen. Infolge eines Irrtums ſchritt Friedrich 
der Große, ohne die verabredete Flankenunterſtützung ſeitens 
Zietens und feiner Reiter abzuwarten, zum vorzeitigen Angriff. 
Durch einen wahren Kartätichenhagel wurden die anftürmenden 
Infanterie» Regimenter faſt volljtändig vernichtet. Sn einer 
halben Stunde waren zwei Drittel der anrüdenden Truppen 
gefallen; der König jelbit war leicht verwundet worden. Da 
fam als Retter in der Not „Zieten aus dem Bujch“, brach aus 
vem benachbarten Walde hervor, ftürmte die Anhöhen und 
rettete die Ehre de3 Tages. Der Feind räumte das Schladht- 
feld, und General Daun gab den Befehl zum fofortigen Rüd- 
zug über die Elbe. Als Friedrich der Große nach gewonnener 


2624 Hellmut von Trimborn. 





Schlacht Bieten begegnete, fiel er ihm tiefbewegt um den Hal2. 
Hundert Jahre fpäter wurde zur Erinnerung an den blutigen 
Sieg auf dem höchſten Punkte der Süptiger Höhen ein Denf- 
mal errichtet, in deſſen Nähe am 18. Oftober 1871 zum Ge- 
dächtnis des deutjch-Franzöfifchen Krieges unter großer Feierlich— 
feit eine Friedenseiche gepflanzt wurde. 

Es war ein Schredenstag für die Bewohner Torgaus, als 
im November 1810 befannt wurde, der König von Sadjen 
habe beſchloſſen, die bisher offene Stadt in eine Feſtung umzu— 
wandeln. Der Kaijer Napoleon mwünjchte es, und der König 
von Sachjen mußte gehorchen. Schon nach zwei Jahren ftand 
die neue Zeitung, mit Wall und Graben und den nötigen Außen- 
werfen verjehen, fertig da; die lebten ſächſiſchen Truppen ver- 
ließen: die Stadt und machten den Franzoſen Platz, die unter 
dem Kommando de3 Grafen Narbonne die Feltung bis zu 
Anfang des Jahres 1814 im Beſitz behielten. Nach zwei— 
monatiger Belagerung, während der Seuchen und Hungersnot 
die Bewohner heimſuchten, zogen die Preußen am 10. Januar 1814, 
Wachholderbeeren zum Schutz gegen Anſteckung kauend, in die 
verpeſtete Stadt ein, die von nun an preußiſch blieb und dem 
Regierungsbezirk Merſeburg in der Provinz Sachſen zugeteilt 
wurde. Sie erholte ſich bald wieder, und die eingeäſcherten 
Häuſer wurden wieder aufgebaut. Das Jahr 1888 brachte der 
Stadt die lang erſehnte Schleifung der Feſtungswerke. Ein 
Werk nach dem andern verſchwand, und nicht mehr lange dürfte 
es dauern, ſo werden auch die letzten Reſte der ehemaligen Boll— 
werke verſchwunden ſein. Heute iſt Torgau eine freundliche, 
gewerbthätige Stadt, deren Einwohner — gegen 11000 an Zahl 
— in beſtem Einvernehmen mit der Garniſon leben. 


Das 4. Thüringiſche Infanterie-Regiment Nr. 72 bis zum 
Jahre 1866. 

Im Jahre 1814 wurde Torgau nicht nur preußiſch, es 
wurde bald nachher auch Garniſonſtadt. Sechs Jahre ſpäter 
zog das 20. Infanterie-Regiment in Torgaus Mauern ein, um 
bis zum Jahre 1860 hier zu bleiben; dann wurde es nach 
Brandenburg und Treuenbrietzen verlegt. Das 72. Regiment 
trat an ſeine Stelle. Bei der Mobilmachung im Jahre 1859 


Kin Chüringiiches Elite-Regiment und feine Geſchichte. 2625 


al3 32. Zandwehrregiment gebildet, wurde e3 zuerſt in Die 
Öarnijonen Torgau, Merjeburg und Naumburg gelegt; doc) 
Ihon am 5. Mai 1860 fam das ganze Regiment nad) Torgau 
und wurde am 4. Suni desjelben Jahres al3 72. Regiment 
der. 16. Brigade: zugeteilt. Schon am 18. Januar erhielt das 
Regiment jeine Fahnen. 


Bei Liebenau, Podol und Königgrätz. 

Beim Feldzuge 1864 ift das Regiment nicht nad) den 
Schladtfelde gefommen, wohl aber im Jahre 1866. Es gehörte 
zur Armee des Prinzen Friedrich Karl und rüdte an der Spibe 
derjelben am 21. Juni in Böhmen ein. Bon Niesfy, der 
freundlichen ſchleſiſchen Herrnhuter Kolonie, aus ging der beſchwer— 
lihe Mari. Prinz Friedrich Karl war von Görlitz aus auf 
dem Bahnhof erichienen, um die Truppen zu befichtigen. Auf 
jeinen Befehl jtanden fie mit Gewehr ab, und langjam ging 
er an der Front herunter und beobachtete alles mit feinem 
feiten, durchbohrenden Blick; e3 wurde fein Spiel gerührt, nicht 
lalutiert — fein Hurraruf — er hatte fich alles verbeten. 
Nach der Revue hielt der Prinz eine Ansprache an die Offiziere, 
ließ hierauf die Bataillone in Sektionen nach der Stadt zu an 
fih vorbeimarfchieren und fuhr alsdann fofort nad) feinem 
Hauptquartier Görlitz zurüd. 

An dem Gefechte bei Liebenau am 26. Juni nahm das 
Regiment ruhmvollen Anteil. Bald nachdem die Infanterie 
die Höhe des Semmelberges beſetzt hatte, war die preußiſche 
Avantgarden-Batterie aufgefahren und hatte ihr Feuer eröffnet. 
Die 4. und 2. Kompagnie des 72. Regiments, vom öſterreichiſchen 
Granatfeuer, welches die Chaufjee beherrjchte, beläftigt, wandten 
fih nach recht3 von derjelben herunter in den Wald, um hier 
einige Deckung zu finden. Trotzdem jchlugen die Granaten in 
immer unmittelbarerer Nähe ein, und Major Henjel bejchloß 
deshalb, der feindlichen Batterie auf den Leib zu gehen. Das 
Terrain ſenkte ſich allmählich nach dem Feinde hin zu einer tief 
eingejchnittenen Schlucht, deren jenfeitiger Abhang fich jehr fteil 
aufwärts zog und mit hohem Stangenholz beitanden war. Die 
4. Kompagnie, welche fih an der.Spite befand, ließ ihren 
Schügenzug unter Leutnant v. Bömken ſchwärmen und folgte 

SU. Haus:Bibl. TI, Band XI, 165 





2626 Bellmut von Trimborn. 





demfelben auf achtzig Schritt Entfernung, kurz Hinter ihr die 
2. Kompagnie. Die öfterreichiiche Batterie, welche das Vor- 
gehen der beiden Kompagnien bemerkte, richtete ihr Feuer auf 
diefelben. Die Granaten flogen immer dichter um fie herum, 
aber meiſtens darüber hinweg, da man der Batterie immer 
näher fam. Eine Granate, welche unmittelbar vor der 
4. Kompagnie frepierte, verwundete drei Mann ſchwer; einen 
Moment bildete ſich eine Lücke inmitten der Kompagnie, aber 
im Nu war fie wieder gejchloffen, und mit Energie ging e3 
weiter auf die feindlichen Geſchütze los. Alles war voller Be- 
geilterung in dem Gedanken an die Möglichkeit, fie zu erobern. 
In fünf Minuten war der nördliche Abhang der Schlucht und 
die Thalfohle durcheilt, die Geſchoſſe konnten nur noch mittel- 
bar, durch die abgerifjenen Aeſte der hohen Kiefern und Fichten 
Ichaden. Aber die größten Schwierigfeiten blieben noch zu 
überwinden. Der Grund und Boden des jehr fteilen jenfeitigen 
Abhangs mar mit Stiefernadeln did bededt, die jehr glatt waren 
und das Eriteigen ungemein erjchwerten. Diejer Umftand, ſo— 
wie die Hibe des Tages, der brennende Durft, die Erjchöpfung 
infolge des jchnellen Vorgehens während des Gefecht3 machten 
ein raſches Emporklimmen unmöglid. Nur einzeln fonnten fich 
die Leute von Baum zu Baum hinaufziehen, wiederholt mußte 
Halt gemacht werden, um Atem zw fchöpfen und um die 
Schwächeren heranfommen zu laſſen. Die Schügen, in der 
aufgelöften Ordnung weniger behindert, waren zeitiger oben 
angefommen, aber aud) nur einzeln, je nach ihren Kräften früher 
oder fpäter; fie frochen, durch das hohe Korn gededt, bi3 auf 
150 bi3 200 Schritt an die Batterie heran und eröffneten ein 
heftige3 Feuer auf Pferde und Bedienungsmannjchaft. Hätten 
fie mit dem Feuern gewartet, bis wenigitens der ganze Schüben- 
zug vereint war oder womöglich die ganze Kompagnie fi) auf 
der Höhe befand — eine Minute Schnellfeuer (dejjen verheerende 
Wirfung die Engländer im Burenfriege wiederholt ſpüren 
mußten) hätte genügt, um Pferde und Bedienung zu vernichten, 
und die Batterie wäre genommen gewejen. Als diejelbe aber 
merkte, daß die Schüben ihr bereit3 jo nahe waren, daß einige 
Pferde und Leute durch ihr Feuer verwundet wurden, ;proßte 
fie auf und fuhr ab, und zwar in folder Eile, daß fie 


Ein Chüringifches Elife-Regiment und feine Sefchichte. 2627 
De ee —— — 


Mützen, Schnapsflaſchen und ſelbſt geladene Granaten im 
Stich ließ. 

Nach dieſem glücklichen Coup hatte eine von der 4. Kom— 
pagnie abgeſandte Patrouille von fünf Mann das Unglück, einer 
feindlichen Reiterabteilung in die Hände zu fallen — unter 
Umſtänden, die dem Heldenmut der thüringiſchen Infanteriſten 
das rühmlichſte Zeugnis ausſtellen. Die Patrouille war ab— 
geſchickt worden, während die Kompagnie ſich anſchickte, durch 
die Schlucht zum Angriff auf die Batterie vorzugehen; ſie hatte 
den beſtimmten Auftrag, nur 150 bis 200 Schritt in der Schlucht 
ſeitwärts bis zu einer Biegung derſelben zu gehen, daſelbſt be— 
obachtend ſtehen zu bleiben und bei weiterem Vorgehen der 
Kompagnie ſich ihr von hinten anzuſchließen; ſie war ausdrücklich 
davor gewarnt, ſich ſelbſtändig aufs Plateau zu begeben, um nicht 
der feindlichen Reiterei in die Hände zu fallen. Die Mann— 
ſchaften der Patrouille hatten ſich freiwillig gemeldet — es 
waren wilde, verwegene Geſellen. Als die Kompagnie ſpäter 
weiter vorging, um den Waldrand zu beſetzen, hielt es die 
Patrouille für bequemer, direkt den Abhang hinaufzuklettern und 
ſich der Kompagnie ſeitwärts anzuſchließen, als erſt in der 
Schlucht ihren Rücken zu gewinnen. Nachdem die Mannſchaften 
die Höhe erreicht, gingen ſie im Korne vor; eine Terrainwelle 
verbarg ihnen aber jede Ausſicht; als ſie ſich weiter vorwagten, 
um über ſie hinweg ſehen zu können, wurden ſie auch ſofort von 
den öſterreichiſchen Dragonern erblickt. Ein Zug ſprengte auf 
ſie los, ſie eilten hinter einige einzeln ſtehende Bäume, ſchoſſen 
einmal, dann aber waren die Reiter heran. Die Infanteriſten 
ſuchten ſich mit dem Bajonett zu verteidigen, aber ſie wurden 
von der Ueberzahl niedergeritten und mit Säbelhieben zugedeckt; 
wie ein Raſender wehrte ſich Musketier Burfürit, deſſen Tapfer- 
feit jogar in öfterreichifchen Zeitungen rühmend hervorgehoben 
wurde; er verwundete einen Offizier tödlich und zivei Dragoner 
Ihwer. Die Patrouille wurde gefangen genommen, nur Musfetier 
Henze blieb jchwerverwundet, mit vier Hieben über Geficht und . 
Kopf, deren einer jogar den meifingbejchlagenen Helm gejpalten 
hatte, liegen und wurde jpäter von der Klompagnie aufgefunden; 
er erlag jeinen Wunden. 

In der folgenden Nacht zeichnete fich das Regiment beim 

1865* 


2628 Bellmut von Erimborn. 





Bormarjch gegen die Sjer in dem Gefecht bei dem Dorfe Podol 
aus. Es hatte den Üebergang über die Brüde zu fichern, die 
über den Fluß führte. Die Mannfchaften des Füfilier-Bataillong, 
welche jchon von 2%, Uhr morgens im Mari und am Bor- 
mittag im Gefecht gewejen waren, konnten fich vor Ermattung 
faum noch aufrecht erhalten; faum hatten fie hinter der Iſer— 
brüde Halt gemacht, als ein großer Teil vor Ermüdung nieder- 
ſank und jofort im Chaufjeegraben, ungeachtet des. fortgejegten 
feindlichen Gewehrfeuers, einſchlief. Trogdem wurden nod) 
öfterreichiiche Frontalangriffe gegen die Brüde von den er- 
Ichöpften drei Füfilier-Rompagnien und den Jägern durch Feuer 
auf ganz Furze Diltanz abgejchlagen. Mit unwandelbarer Ruhe 
hielt der tapfere Major von Flotow hinter der Brücfe zu Pferde 
auf der Straße, unbefümmert um die dicht einfchlagenden feind- 
lihen Gejchofje, weithin fchallte durch den Kampfeslärm feine 
tiefe, jonore Stimme, welche die Leute ermunterte und zum 
Ausharren mahnte. Doch der jechsfachen feindlichen Nebermacht 
gegenüber fonnte er ſchlkeßlich mit feinen erjchöpften Mann- 
Ihaften nicht mehr mit Erfolg Widerftand leisten, und jo ordnete 
er den Rüdmarih an. Da eilte perjönlich General von Boje 
aus dem nur eine halbe Meile entfernten Biwak dem Kampf- 
pla zu. Er erkannte die Notwendigkeit, in den Beſitz der 
Brüde zu gelangen, und ging troß der bedeutenden Stärfe der 
öfterreichiichen Streitkräfte fofort zum Angriff über. Nach einem 
blutigen Handgemenge wurde der Feind zurüdgeworfen, und 
noch vor Tagesanbruc war der Uebergang über die Brüde 
gefichert. 

War jomit der Ausgang des Nachtgefechtes von Podol 
ein großer ftrategiicher Erfolg, welcher durch den Beſitz der 
Sierbrüde bei Podol die kürzefte Linie auf Sicin erjchloß und 
die Vereinigung des öſterreichiſch-ſächſiſchen Korps mit der 
Hauptarmee in Frage ftellte, jo war doch andererjeit3 für einen 
Zeil des 72. Regiments der 26. Juni mit der folgenden Nacht 
ein Tag des Mißgeſchickes: nämlich für dag ärztliche Perſonal. 
Am frühen Morgen beim Beginn des Gefechtes von Liebenau 
hatten die Aerzte des 1. Bataillons, Regimentsarzt Dr. Stahmann 
und Aſſiſtenzarzt Dr. Parreidt, das Unglück, daß mitten in 
ihren VBerbandplag die feindlichen Granaten unaufhörlich ein- 


Ein Thüringijches Elite- Regiment und feine Sejchichte. 2629 


un PLAN 


Ihlugen. Bei der erjten, welche frepierte, wurden ſämtliche 
Pferde jcheu, die drei der beiden Doktoren rijfen ich von den 
verdutzten Trainfnechten los und eilten in voller Karriere mit 








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Karl von Heudorff, Oberſt und — des 4. Shürin, iſchen Infanterie— 
Regiments Ar. 72, + bei Metz am 16. Auguſt 1870. 
(Nach einem im Offiziersfafino hängenden Gemälde, einem Geſchenk Kaiſer Wilhelms I.) 


Paletots, Negenmänteln, Bejteden und Bequemlichkeit3gegen- 
jtänden aller Art der feindlichen Stellung zu. Auch die Pferde 
des Medizinfarrens gingen durch und warfen ihn um, jedoch 
ohne daß er beichädigt wurde. Ihre Pferde nebit Zubehör 


2630 Hellmut von Trimborn, 





befamen die Aerzte nie wieder zu fehen. Tagelang ſah man 
beide, in öfterreichiiche Militärmäntel, wochenlang nachher in 
preußilche Kommißmäntel gehüllt, einher wandeln. — Ein anderes 
Mißgeſchick traf in der folgenden Nacht den Stabsarzt de3 
Füfilier-Bataillond, Dr. Schmidt, welcher, als das Bataillon 
da3 Dorf Podol hatte räumen müfjen, in einer Scheune mit 
Berbinden von Verwundeten beichäftigt war und in die Gewalt 
der eindringenden Dejterreicher fiel. Man bemächtigte fich feines 
Degens und der Genfer Flagge des Medizinfarrens, welche 
man al3 Trophäe betrachtete. Als der fommandierende öfter- 
reichiſche Offizier jedoch Jah, daß der. Arzt gerade einen ver- 
wundeten öjterreichiichen Soldaten verband, bat er ihn mit 
einem Händedrud, er möchte.in feiner Arbeit ungeftört fortfahren. 

Schwere Verluste erlitt das Regiment in der Schlacht bei 
Königgräß am 3. Juli. Schon auf dem überaus bejchwerlichen 
Vormarſch wurde mancher brave Ziweiundfiebziger von Todes— 
ahnungen befallen. So übergab der Reſerviſt Unteroffizier 
Seidel von der 4. Kompagnie, ein ſehr brauchbarer, bejcheidener 
Menſch, einem Kameraden Uhr und einen Brief, um fie feiner 
Frau zu überfenden, da er am heutigen Tage in der Schlacht 
fallen würde. Weder Spott noch Zureden vermocdten ihn von 
feiner erniten und feiten Weberzeugung abzubringen. Einige 
Stunden Später, beim Sturm auf den Siwiepwald, fiel er, einer 
der eriten, von einer Gewehrkugel durch den Kopf gejchofjen. 
Schwer waren die Verlufte des Regiments: 7 Offiziere und 
124 Mann hatte e3 bei Königgräß verloren; aber e3 hatte auch 
ehrenvoll gefämpft, 13 Offiziere und 1000 Mann gefangen, 
genommen, 2 Fahnen und 4 Geſchütze erbeutet. | 

Am 15. September 1866 fehrten die fiegreichen Zweiund— 
fiebziger ruhmgeſchmückt nach ihrer Garnijon Torgau zurüd. 
Bon Dahlen aus betraten fie bei Sitenroda wieder preußilchen 
Boden. Sn allen Orten wurden fie von den Einwohnern mit 
Subel begrüßt. Die Torgauer eilten den Kriegern big Beckwitz 
entgegen und bemwillfommneten fie mit Blumen und Kränzen. 
Der Rat und die Vertreter der Bürgerfchaft empfingen fie auf - 
den Marfte. Der Bürgermeifter hielt eine erhebende Anfprache, 
die mit einem Hoc auf das tapfere Regiment ſchloß. Am 
Abend war die Stadt feitlich erleuchtet, 








Ein Chüringijches Elite-Regiment und feine Sefchichte. 2631 


Met, Gravelotte, Belfort. 
Vier Jahre lebte daS Regiment nach dem Kriege wieder 
in jeiner Garniſon. Da brach der Krieg von 187071 aus. 





Major a. D. Ewald von Zedtwig, der, als Oberleutnant in Gorze ſchwerverwundet 
liegend, am 18. August 1870 dem an feinem Fenjter vorbeifahrenden König Wilhelm I. 
eine Roſe hinausjandte und als Dank dafür jpäter eine ftlberne Roſe erhielt. 
Am 25. Suli rüdte daS Negiment aus. Bon Falkenberg 
aus wurde es mit der Eijenbahn nac Koblenz gejchafft und dem 
achten Armeekorps zugeteilt. Dieſes gehörte zur Armee des 


2632 BHellmut von Srimborn, Ein Thür. Elite-Regiment x. 





Generals bon Steinmeh, Beim Chin auf die Spicherer Höhen, 
am 6. Auguſt, trafen die Zweiundſiebziger erſt nach errungenem 
Siege auf dem Schlachtfelde ein. Ruhmreichen Anteil aber ſollten 
ſie an den Kämpfen um Metz nehmen. Als das dritte Armee— 
korps zwiſchen Gorze und Rezonville in ſchweren Kampf ver— 
wickelt war und bereits an Munitionsmangel zu leiden begann, 
als das Gewehr- und Geſchützfeuer immer ſtärker zu ihnen 
herüberdrang, da hielten ſie es im Biwak von Chesny nicht mehr 
aus, und mit Jubel wurde der Befehl des Generalleutnants 
bon Barnefoiw aufgenommen, den bedrängten Kameraden zu 
Hilfe zu eilen. Ungeachtet der großen Ermüdung, der ftarfen 
Märjche der lebten Tage und der drücdenden Sonnenglut eilte 
man. in bejchleunigter Gangart ind Mofelthal hinab. Es war 
wunderbar, wie die jinfenden Kräfte bei der Ausſicht auf das 
‚nahende Gefecht neu belebt und bejeelt wiırden, Die Erwartung 
drängte jelbjt den eingetretenen Appetit zurück. Die Leute 
marjchierten jo flott, al3 ob fie die beiten Manöverquartiere ver- 
laffen hätten. Es iſt gewiß ein vorzügliches Zeichen für den 
Geift, welcher im 72. Regiment berichte, daß auf dem Marjche 
bis zum Schlachtfeld fein Mann wegen Ermüdung oder Unmohl- 
jeind mehr zurückblieb. Am 16. Augujt rüdte das Regiment bei 
Gorze in die Schlacdtlinie ein. Das Städtchen gewährte feinen 
bejonder8 ermutigenden Anblid, Häufer und Straßen jtanden 
und lagen voller Verwundeten der verichiedeniten Regimenter 
und Truppengattungen; noch immer neuen Zuwachs brachte man 
som Schlachtfelde herein; die Bewohner jtanden unthätig an 
ihren Hausthüren und jahen dem wilden Gewoge und Gedränge 
zu. Unter den Verwundeten aber herrſchte keineswegs eine ge— 
drückte Stimmung, ſie waren voller Vertrauen und Sieges— 
zuverſicht — hatten ſie doch erſt vor kurzem Prinz Friedrich Karl 
auf das Schlachtfeld eilen ſehen und rückten immer neue Streit— 
kräfte zur Unterſtützung der Kämpfenden ebendahin. Einer der 
Verwundeten forderte ſogar die 72er Füſiliere bei deren Vorbei— 
marjchieren auf, mutig draufzugehen — mit Hurra wurde ihm 
geantwortet. Das Ffriegeriiche Gepräge der Stadt, die deutlichen 
Anzeichen von der Nähe des Schlachtfeldeg, der Anblid der zahl- 
reichen Verwundeten, die Nachricht, daß es troß der großen 
feindlichen Uebermadt im Gefecht gut ſtehe — alle trug dazu 


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2634 Bellmut von Trimborn. 





bei, die Stimmung, die Aufregung der neu heranmarſchierenden 
Truppen zu erhöhen und das kriegeriſche Feuer zu beleben. 
Alles drängte ſtürmiſch nach vorwärts und ſuchte ſich möglichſt 
ſchnell Bahn durch die zum Teil verſtopften Straßen zu ver— 
ſchaffen. Obwohl die braven Soldaten einen langen Marſch 
zurückgelegt und auch noch keine Nahrung zu ſich genommen 
hatten, gingen ſie doch gleich nach Verlaſſen des Städtchens zum 
Angriff über. In einem Walde und in einer Schlucht am Wege 
ſtürmten ſie gegen das Dorf Rezonville vor. Trotzdem ſie mehr— 
mals zurückgeworfen wurden, behaupteten ſie doch das Schlacht— 
feld. Freilich waren die Verluſte groß, 36 Offiziere und 
852 Mann bluteten auf den Felde der Ehre. Auch der Regiments— 
fommandeur Oberſt von Helldorff wurde von einer tödlichen 
Kugel ereilt; über ven Moment ſeines Todes hat fih nichts 
Beſtimmtes feitjtellen lafjen, da. feine Augenzeugen zugegen 
waren; er ftarb, wie er gelebt, treu und ergeben feinem König 
und Mriegsheren, feinen Offizieren und Soldaten ein Vorbild 
der Tapferkeit und des Heldenmuted. Neben acht Offizieren des 
2. Schlefiichen Grenadier-Regiments Nr. 11, zwiſchen Gorze und 
der nach Nezonville führenden Straße, unter einem einzelnen 
Kirihbaume wurde Oberjt von Helldorff zur letzten Ruhe ge- 
legt. Ein Gedenkitein ſchmückt jein Grab. 

Hatte das Regiment tapfer mitgeholfen, den eifernen Ring 
um Meb zu jchmieden, jo war aud) der 18. Auguft, der blutige 
Schlachttag von Gravelotte, für dasjelbe ein Ehrentag. An 
diefem Tage fanden 6 Offiziere und 52 Mann des Regiments 
den Heldentod. Nun begann die Belagerung von Meb, an 
ver ſich das Regiment beteiligte. Am 27. Oftober ergab id) 
die mächtige. Jeltung den Deutichen, und am 23. Dezember 
wurden die braven Zweiundſiebziger zur Verſtärkung der 
Werderſchen Armee nad) Belfort entjendet. Auch auf diefem 
Kriegsſchauplatz haben fte fich mehrmals ruhmreid) hervorgethan. 


Die Roſe von Gorze. 

Eine ergreifende Epijode der Kämpfe um Meb ift an den 
Namen des Majors a.D. Ewald von Zedtwib geknüpft, der damals 
als Oberleutnant die 2. Kompagnie des 72. Regiments führte. 
Er Hatte einen Granatſplitter gegen den linken Fuß erhalten 


Ein Chüringiſches Elite-Regiment und feine Geſchichte. 


2635 





und wurde 
zu Boden 
geworfen; 
ſeine Leute 
trugen ihn 
aus dem 
dichteſten 
Kugel— 
regen 
den Stra— 
ßengraben. 


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nieder und 
traf den 
Oberleut- 
nant von 
Zedtwitz 
im Rücken; 
er wurde 
dann eini- 
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rg aus — goſuc von einem en des 4. Thür. 
Inf.Reg. Nr. 72 auf franzöftichen ( Schlachtfeldern und unter Glas 
und Rahmen aufbewahrt im Offiziersfaftino des Negiments. 


2636 Bellmut von Trimborn. 





werk gejchleift, wo er bis nach Mitternacht liegen blieb, immer- 
fort dem furchtbarjten Kugelregen ausgeſetzt, häufig zwischen zwei 
Feuern. Während diejer Zeit erhielt er noch eine ſchwere Ver- 
wundung am Siniegelenf und einen Streifjchuß durch den rechten 
Oberjchentel. 

In Gorze fand Oberleutnant von Zedtwitz ein Unterkommen 
im Hauſe des Krämers Antoine. In rührender Weiſe waren 
die Leute bemüht, dem Verwundeten Erleichterung zu ſchaffen; 
ihre kleine Tochter Felicie wich kaum vom Lager des Leidenden, 
deſſen Kräfte immer mehr dahinſchwanden. 

Am 18. August morgens befand er fi in einem Bi zu 
ebener Erde, er fonnte von jeinem Schmerzenslager die Straße 
iiberbliden, da die Fenſter der großen Hige wegen geöffnet waren. 
Auf der Straße ging es lebhaft zu, die Transporte der Ber- 
wundeten wollten fein Ende nehmen, Gruppen von Soldaten 
taufchten ihre Erlebnifje des lebten blutigen Tages aus, Truppen- 
folonnen aller Waffengattungen zogen vorüber. 

Plöglich, verjftummt der Lärm der Menge Der König 
naht, und begeilterte Hurrarufe dringen an das Ohr des 
Kranken. Miühjam richtet fi) diefer auf, um noch einmal 
feinen Heldenfönig zu jehen. Einer plöglichen Eingebung 
folgend, giebt er die fchöne, dunfelrote Roſe, die jeine junge 
Plegerin ihm an fein Lager gejtellt hat, dem gerade anmwejenden, 
leichtverivundeten Hornilten Fidert von feiner Kompagnie: 
„Diele Roſe bringe unjerm Königlichen Herrn und fage ihm, 
ein ſchwer verwundeter Offizier, dem Tode nahe, jendet in 
tiefjter Ehrfurcht diefe Roje als Siegesgruß.“ | 

- Der Soldat bahnt fich ſchnell einen Weg durch die Menge 
‚und überreicht die Roſe dem König, der fie tiefgerührt ent- 
gegen nimmt. 

Ein Jahr ift borübergegangen; der tapfere Offizier ift von 
feinen Wunden genejfen, aber eine tiefichmerzliche Wunde hat 
ihm das Schickſal geichlagen, denn feine Gattin, ‚die zu feiner 
Pflege nach Gorze geeilt war, hat den Keim einer tödlichen 
Krankheit nach der Heimat zurüdgebracht und ift ihr ſchon nad 
wenigen Wochen erlegen. 

Das erſte Weihnachtsfejt nach beendetem Kriege naht heran. 
Da erhält der Vereinſamte vom Berliner Hofmarjchallamt eine 


27 + 


s 


Ein Thuringiſches Elite-Regiment und feine Geſchichte. 2637 





Tableau der im franzöſiſchen Seldzuge gefallenen Offiziere des 4. Thür, 
2, Infanterie-Regiments Ar. 72. 
Oberſt v. Helldorff. * 


Krämer. v Hanſtein. v. Oertzen. v. Krauſt. Weſtphal. 
Wilhelm Rück. Bertram. v. Alvensleben. v. Heynitz. Martnilian Rück. 
Jacob. Wilke, Bode. Schulze. Stedefeld. 

Batſch. v. Boſſe. Diesich. v. Bömken. Sottbeiner. 


Kiſte. Und was enthält die Sendung? Ein Delbild, auf 
welchem ein Marmorblod dargejtellt iſt, mit der Inſchrift: 





2638 Bellmut von Trimborn. 





„Gorze, den 18. Auguft 1870”, darüber hingeworfen ein ſchwarz— 
weiß-rotes Fahnentuch, aus dem das Eiferne Kreuz an jchwarz- 
weißem Bande hervorfieht. Daneben fteht ein Infanteriehelm, 
geſchmückt mit einem Lorbeerkranz, auf dejjen Blättern Tautropfen 
perlen; da3 Sinnbild der Thränen. Ein jchwerer Goldrahmen 
umgiebt das Ganze, feinen oberen Rand ſchmückt eine in Silber 
getriebene, vollerblühte Roſe. Ein Brief liegt dem Bilde bei: 
„Sn dankbariter Erinnerung an den Mir unvergeßlichen 
Augenblid, wo Sie, ſchwer verwundet, in Gorze am 18. Auguſt 
Mir eine Roſe nachlandten, al3 Ich, Sie nicht fennend, an 
Shrem Schmerzenslager vorübergefahren war — jende Sch 
das beifommende Bild, damit noch in fpäteren Zeiten man 
wiſſe, wie Sie in ſolchem Momente Ihres Königs gedachten 
und wie dankbar er Ihnen bleibt. 

Weihnachten 1871. gez.: Wilhelm, Rex. 

22. 12. 71.” 
Blumen aus Frankreich. 

Ein rührendes Beichen patriotiſcher Gefinnung eines 
Ihlichten Mannes aus dem Volke birgt unter Glas und Rahmen 
das Offizieräfafino des 4. Thüringischen Infanterie-Regiments 
Nr. 72. Es find Blumen, die der Gefreite der 5. Kompagnie 
Bernhard Rammelt auf franzöfiichen Schlachtfeldern gepflüdt 
hat. Dazu folgende Berfe: 

Wir haben Frankreich Boden einjt geſchmückt, 
Ein deutjcher Krieger hat ung dort gepflüdt, 


Erinnerungen an die große Zeit, 
Da auferjtand des Reiches Herrrlichkeit. 


Bei Metz, das damals eingeſchloſſen war 
Vom Eiſenring der Deutſchen ganz und gar, 
Und auf dem Marſche nach dem Süden dann 
Entriß der Heimat uns der Kriegersmann. 


Bei Meſſigny und Dijon hatten wir, 

Auf der Cöte d'or, vor Langres einſt Quartier. 
Sept joll uns hier die neue Heimat fein, 

Räumt ung bei euch ein Ehrenplägchen ein! 


Des braven Krieger fort und fort gedenft; 
Des Sohnes auch, der und an euch verjchentt. 
Seid beiden in der treuen Liebe gleich 

Zum Regiment, zum Kaijer und zum Reid)! 


Ein Thüringifches Elite- Regiment und jeine Sejchichte. 2639 


J 





Friedenszeiten. 


Nach abgeſchloſſenem Frieden rückte das Regiment am 
10. Juni 1871 wieder in Torgau ein, von den Einwohnern 
mit Jubel begrüßt. 

Jetzt dachte man daran, das Andenken der gefallenen 
Kameraden zu ehren. Beſondere Gedenktafeln mit den Namen 
der in den Kriegen 1866 und 1870/71 gefallenen Offiziere und 
Mannſchaften wurden im eriten Stodwerf der Schloßfajerne auf- 
geitellt. Auf der Promenade in Torgau vor dem Kommandantur- 
gebäude wurde von den Offizieren ein Denkmal errichtet und 
am 6. Dezember 1871 eingeweiht; es iſt ein Gejamtdenfmal 
für alle Gefallenen des Regiments und bejteht aus einem Sand- 
jtein-Obelisfen. Fortan ſchmückte das Eiferne Kreuz die Fahnen— 
Ipigen der drei Bataillone. Im Jahre 1896 veranjtaltete auch 
das 72. Regiment vom 16. bis 18. Auguft eine erhebende Er- 
innerungsfeier an die großen Ereignifje. Eingedenf der Thaten 
der Väter, erhält das durch echt fameradjchaftliche Geſinnung 
ausgezeichnete Regiment den Geiſt, der jene bejeelt hat, lebendig 
und giebt Gewähr dafür, daß auch die Jugend Hinter ihnen 
nicht zurüditehen wird, wenn einst der König feine Thüringer 
wieder unter die Waffen rufen jollte. 





Kafino-Bebäude des 4. Thür. Jnf.-Reg. No. 72. 





Urweltliche Terkerbiffen. Schon die griechiſche Sage hat im 
Prometheus⸗Mythus dem Fortichritte einer neuen Zeitepoche dichterijchen 
Ausdruck verliehen, jener Epoche, da das Feuer, der „göttliche Funke“, 
von Menschen in feinen Dienft gezwungen und nugbar gemacht 
wurde. Es ift eine „neue Zeit”, um die rote Flamme, die geheat 
wird wie ein foftbares Gut, figen rohe, nackte Menfchen, Urwelt— 
Menjchen jelber noch. Aber fie jchieben etwas in die Glut — und 
bon dem Herde, durch die wilde, rußige Höhle zieht ein jeltfamer 
Duft. Der Duft eine neuen Speifezettel$ der alten Erde: von 
gebratenem Fleiſch. Se nah Jagdglück und Oertlichkeit wechjelten 
Nashornkeulen ab mit Glefantenbraten, Bärenjchinfen, Filet vom 
Rieſenhirſch und ähnlichen Genüffen. Um die weggeworfenen Knochen 
balgten fich nachher vor der Höhle Wölfe und Schafale, die ſchon 
darauf warteten. Schließlich fiel jo ein Nashorn oder Elefanten: 
fnochen in einen Bach oder Teih, wo ihn der Kalktuff umhüllte, 
oder er geriet in den Lehmboden der Höhle jelbft. Dort haben wir 
ihn endlih im 19. Jahrhundert ausgegraben, gejchwärzt bon der 
Herdflamme, des leckeren Marke wegen gejpalten, abgenagt bon 
Urwelt-Menſch und Urwelt: Wolf. Wir aber legen ihn als koſtbare 
Nelique in? Mujeum und datieren ein neues Kapitel von hier — 
in der Geſchichte des Eſſens. 

Wie mag der Menſch auf die Idee gekommen fein, Fleiſch zu 
braten? Das Bedürfnis bejonder8 raffinierter Schlemmerei kann 
noch nicht ohne weiteres dazu geführt haben... Schlemmer und Fein- 
ſchmecker find die Tiere längſt vor ihm geweſen. | 

Und doch Hat Fein noch fo Fluges Tier je angefangen, fein 
Trleischgericht zu braten. Die einfache Urſache ift: weil fein Tier 
des Feuer Herr geworden ift. MWohl ertragen Tiere eine jchier 
unglaublide Hige. Wenn es auch Fabel tft, daß der arme weich- 
häutige Salamander, den ſchon ein paar Salzkörner töten, auf 
glühendem Noft ausdauern könne, jo leben doch Maflerfäfer in 
heißen Quellen, wo ein Menjch fich hoffnungslos verbrühte. 

Dft Hat man ſich den Kopf darüber zerbrochen, wie der Urwelt— 
Menſch auf diefen Fund aller Funde, der ihm die Hütte wärmte 
‚und den Braten briet, gekommen ſein möge. Gefehen hat er das 
euer jedenfall zuerit, wenn der Blitz einſchlug und die dürre 
Steppe brannte. Wo num der Menjch zuerit auf Erden aufgetreten 
jei, ein Grasbrand oder auch ein MWaldbrand twird ihn immer 
gelegentlich begegnet ſein. An fich war es ihm zweifellos ein ſchreckliches 
Ereignis; jo ſchnell jeine Füße ihn trugen, flüchtete er vor dem 
roten Ungeheuer, das da vom Himmel gejtürzt fam, um Wald und 
Flur zu frefien. Aber gerade folher Brand mag ihn auch ſchon 


Allerlei. | 2641 


—1 





ganz früh auf den Geſchmack an gebratenem Fleiſch Hier und dort 
ein erſtes Mal gebracht haben. Wenn er nad) ausgetobtem Feuer 
über die öde, ſchwarz verfohlte Brandftätte 309, fo ftieß er auf Die 
Reiber von Tieren, die ſich im Grafe verſteckt hatten por dem roten 
Schein und die gerade Dort dad Verhängnis, dad auf Flügeln der 
Windsbraut anfaufte, ereilt Hatte. Da lag ein Büffel, die Haut 
verfohlt, das Fleiſch gebraten von den raſch iiber ihn fortgemwälzten 
Feuerzungen, — eine willkommene Beute für den armen, aus— 
gehungerten, noch gar unbehülflihen Menfchen, der nicht? als ein 
paar rohe Steimvaffen zum Angriff und zur Abwehr. damal? kannte. 
Ind feltfan: dieſes Fleiſch ſchmeckte anders als ſonſt. Durch die 
Aſche war es in natürlicher Salzkrufte ſerviert; viel Teichter war es 
zu zerfauen; und am wichtigiten vielleicht: es lich fich viel länger 
fo aufbewahren als fonft, verdarb nicht fo ſchnell, eine Außerft 
wichtige Sache für die glüdlichen Finder, die felbit, wenn fie zu 
zwei ober drei waren, doch nicht gleich einen ganzen Ochſen auf 
einmal bewältigen konnten, aber um fo mehr Intereſſe Hatten, für 
eine Neihe von Mahlzeiten von dem großen Glücksbiſſen zu profitieren. 
Wohl möglich, daß Hier einer der Gründe zu ſuchen ift, die den 
Wunſch geweckt haben, das Feuer, Diefe dämoniſche, vom Himmel 
faufende Schreckensmacht, doch im Kleinen „bezähmt, bewacht” in 
der eigenen Wewalt zu haben, — zum guten Zweck, alles erlegte 
Mildpret etwas anbraten zu können. 

Viel wichtiger freilich mußte der Befiß der Flamme aus einen 
anderen Grunde noch fein, — als Schußmittel gegen die Kälte. In 
den graufigen Schauern der Eiszeit hat der Menfch gelernt, Sich 
in dicke Mammut- und VBärenpelze zu Eleiden, aber trogden wäre 
er dem lebenzehrenden Frofte zum Opfer gefallen, erfroren, Hätte 
ihn nicht eben die Not auf die fünftliche Feuererzeugung, auf Die 
Entdeckung des eigenen Feuerherdes geheßt. Zuerſt wird er ich, 
wenn der Blig einen Baum angezündet hatte, herangewagt und 
einen brennenden Aſt gerettet haben. Mit dem entfachte er dann 
daheim in feiner Sn ein Feuerlein, da3 nie angehen durfte. 
Damals, wenn je, hatte die Frau dag Amt als heiligſte Pflicht: 
Hüterin des häuslichen Feuer zu fein. Vergaß fie einmal ihre 
Pflicht, Jo war vieleicht, wenn der Winter losbrach und fein 
Gewitter Erfaß bot, das Schickſal ihrer ganzen Familie damit 
traurig befiegelt. Vor ſolchem erlofchenen Herde ift aber aud) die 
weitere Leiftung erfonnen worden vom wachſenden Verftande des 
Menfchen, der fich eben doch nicht dauernd unterfriegen laffen wollte. 
Es galt, das Teuer fo zu zähmen, daß es ſich eventuell auf 
Wanderungen mitnehmen ließ. In einem gehöhlten: Aſt wurde 
glimmendes Holzmehl mitgeführt, in dem der Funken lange nicht 
ftarb und jederzeit leicht zu neuer Herdflamme entfacht werden Fonnte. 
Doch wie der Vorforgliche ſolches Holzmehl ſchabte, da erwies ſich, 
daß es bei der Neibung jelber fchon Heiß wurde, ja zu glühen be: 
gan. Eine ungeheure Erfindung war fpielend, zufällig gemacht, — 
die entscheidende: Feuer konnte jederzeit durch Neiben, Quirlen, 

0. Haus-Bibl. II, Band XI. 166 





2642 Allerlei. 





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Schaben von dürren Hölzern neu erzeugt werden. Damit war bie 
wilde Himmeldtochter Sklavin in des Menſchen Hand. Und damit 
zugleih war für das große Kochbuch der MWeltentividelung das 
„Braten“ aus dem DBereih des gelegentlichen Zufalls im die 
Gewohnheit übergeführt. Zwiſchen Menſch und Tier gähnte jebt 
eine luft im Speifezettel, faft wie einst zwifchen Tier und Pflanze. 
| Viel Später als das Braten ift das Kochen erfunden worden, 
denn in den älteften Neften urweltlicher Menfchenmahlzeiten, die man 
aufgedeckt Hat, liegen wohl ſchon angebrannte Heerdfteine, es liegen 
da Nashorn und Elefantenknochen, die unverkennbar die Spuren 
des Feuers — aljo der Bratzeit — aufweijen, aber auch nicht Die 
kleinſte Topficherbe ift aus jener Kurlterperiode ftanımend aufgefunden. 

Der Hausfrau wird eimleuchten: ohne Topf feine Bonillon und 
überhaupt fein Kochen. Sjmmerhin mag aber doch, wenn man auf 
die Bräuche heutiger roher Völker achtet, ein gewiffer eriter Anſatz 
zum Kochen auch damals Ion fi) eben angebahnt haben. 

Zuerft führte das einfache Braten auf die Verwertung glühend 
gemachter Steine bei der Bereitung einzelner Speijen. Mit jolchen 
glühenden Steinen madte man danı Waller Eochend, indem man ein 
Stück auögehöhlten Holzes, den roheften erften Holznapf, mit Waſſer 
füllte und glühende Steinchen hineinwarf, die dad Waſſer erhitten. 
An Stelle des Holztopfes trat da wohl gelegentlih, um mehr Raum 
auf einmal zu Schaffen, ein geflochtener Korb, deffen Fugen mit Lehm 
verichmiert wurden. Und dieſer lehmberpichte Korb endlich, dem 
härtenden Feuer ausgejegt, führte auf die Idee eines echten Topfez. 

Die Frage, was der Urwelt-Menſch im Küchenzettel eigentlich 
ursprünglich bevorzugt hat: ob Fleiſchnahrung oder Pflanzenkoft, — 
ift eine viel erörtert. Der Vegetarier würde fie mit einem Feder: 
ſtrich zu feinen Gunften löfen und ung einen Ur⸗Menſchen jchildern, 
der von eitel Nepfeln und Birnen gelebt habe. Der ältefte Menfch, 
‚den wir thatfächlih aus erhaltenen Reiten kennen, that das aber 
nun ganz ımbedingt nit. Man muß nicht bergefien, daß dieſer 
Menſch uns entgegen tritt im Europa der Eiszeit. Aus dieſem 
Europa müſſen wir aber faft alles ftreihen, wa3 wir für damals 
uns überhaupt als Gegenftand bon Pflanzenkoft heute vorzuitellen 
pflegen. Es gab noch feinen Ackerbau, — alfo feinte Getreidefelder. 
Es gab feine veredelten Obftforten, jondern nur ſaure Wildlinge 
an Kirfchen und Birnen. Die Tannennadeln, von denen die Mammute 
fih genährt haben (die Kadaver im ſibiriſchen Eis tragen fie heute 
noch in den hohlen Zähnen), kann der Menfch nicht gut gegellen 
haben. Nicht einmal an Bucheckern kann er fih gütlih gethan 
haben, denn die Buche ift erft jpäter in die Nordländer langjaın 
eingewandert. Und dazu die endlofen Winter, wo felbit fein rotes 
oder blaues Beerlein ſich bot oder ein Gericht Pilze den Hunger 
ſtillen konnte. Nein, niemals ift der Speifezettel wohl jo aus: 
gefprochen nichtvegetarifch gewejen, wie in diefem Stück Urwelt, das 
wir genauer kennen. Denn an wilden Tieren, die wohl ein Säger: 
volk üppig nähren konnten, war umgefehrt damals in Europa ein 


Allerlei. 2643 





Ueberfluß, wie wir ihn uns heute gar nicht mehr träumen laffen. 
Der Ochſe ftand zwar nod nit im Stall, Viehzudt war ja aud) 
noch unbekannt. Aber dafür lief er als Urſtier und Wiſentſtier 
herdenweiſe wild im Tann herum. Das Pferd ging nit vor dem 
Wagen, aber al „Wildpferd” tummelte e3 fi in der deutſchen 
Steppe wie heute in Afrika die Zebrad. Wie ein Stüd nordwärts 
verjchlagenes Afrifa auch trampelte ber Elefant daher, das Nashorn 
wälzte fich im. Sumpf, und umgekehrt, vom heutigen Eskimoland 
ind Herz unſeres Vaterlandes verzaubert, erjchienen das Nenntier 
und der grönländiſche Moſchusochſe. Dazu blühten die heute aus— 
fterbenden Tierarten Elentier und Biber. Und nun nod die Flüſſe 
und Bäche mwimmelnd von Filchen und Krebſen, Die heute unſere 
ſchlechte Wirtihaft, jo lange vernadläfligt, auf ein Mininum 
reduziert hat, und an der Seefüfte big in die Winkel der Oſtſee in 
unendlichiter, dem roheiten Wilden greifbarer Ueberfülle die Auftern! 
MWenn je, fo war e3 eine Luft, nach dem Speifezettel der Urwelt 
zu wählen — von der Aufter als Entree, alle Sorten Braten durch 
bis zum Biberſchwanz als Schlußtrumpf. | 

Rlippen des Indizienbeweiſes. Mit tiefer Bewegung ver: 
nimmt man von Zeit zu Zeit die Nachricht von dem Geſtändniſſe eines 
Sterbenden oder eines von ſchweren Gewifjensbifjen Gefolterten, der fich 
eines Verbrechens bezichtigt, für das ein anderer, ein Unjchuldiger, 
berantivortlich gemacht worden ift und das er mit langjähriger 
Kerkerhaft, vieleicht gar mit dem Tode hat büßen müffen. Diefe 
ſogenannten Juſtizmorde find gar nicht fo felten, als man gemein- 
hin glaubt. Auch der intelligentefte Richter ift menschlichen Srrtümern 
unteriworfen, und wenn eine Reihe von ſchweren Verdachtsgründen 
zujammenfommt, um eine beftimmte Perjon als Thäter ericheinen 
zu laſſen, jo wird der Nichter kaum anders können, al das Verdikt 
auf ſchuldig auszuſprechen. Nichtsdeftoweniger kann nicht genug 
gewarnt werden vor den ſchweren Bedenken, die dem Indizienbeweiſe 
anhaften. Immer wieder muß die Forderung erhoben werden, daß, 
falls ein Verbrechen nicht flipp und Kar erwieſen ift, der Ver: 
dächtige, follte er auch der Thäter fein, Lieber ftraffrei ausgehen 
joll, als daß er unjchuldig verurteilt wird. Daher auch die all: 
gemeine Genugthuung, die die Freiſprechung des Unteroffiziers 
Marten hervorgerufen hat, der wohl der Ermordung des Ritt 
meiſters Kroſigk verdächtig erjcheinen, nun und nimmer aber auf 
Grund des vorliegenden Beweismaterial® als überführter Thäter 
gelten konnte. 

In greifbarer Deutlichfeit zeigt die Klippen eines Indizien: 
beweiſes ein Vorfall, der fih in Wien ereignet hat. Ein dort als 
Iharfer Denker angefehener Zurift und Kriminalift betrat vor 
furzem den Laden eines Vermiſchtwarenhändlers. Er mollte ein 
gehnfronen-Goldftüd wechſeln laſſen und machte deshalb einen 
einige Heller betragenden Einkauf. Außer dem Gefchäftsinhaber 
befand fih nod eine Kundin in dem fleinen Laden, ein Fabrik: 
mädchen. As der Jurift das Goldftück überreichen wollte, ftedte 

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2644 Allerlei. 





gerade das Fabrikmädchen in irgend einer Abfiht ihren Arm aus, 
der Dadurch mit ber Hand des Juriften in Berührung fam. Das 
Goldſtück entglitt feinen Fingern, fiel zu Boden, und er bückte fi), 
um es zu ſuchen. Aber auch dad Mädchen Hatte fih fofort auf den 
Boden gefniet, fuchte einen Augenblict, erhob fich dann raſch und 
ſprach: „Ich find’ nichts, übrigens Hab’ ih auch nichts fallen ge: 
hört," Nach diefen Worten verließ fie auffallend rafch den Laden. 
Der Verluſtträger fuchte weiter, der Gejchäftsinhaber Fehrte mit 
einem Bejen den Staub auf dem Fußboden zufammen, dag Golb- 
ſtück kam jedoch nicht zum Vorſchein. 

‚ „Da3 ift dod merkwürdig!” meinte der Juriſt, in welchem der 
Kriminalift erwahte. „Weshalb Hat fih dag Mädchen am 


Suchen beteiligt, weshalb dieſe verdädtige Entſchuldi— 
gung, daß fie nichts fallen gehört Hat, und weshalb 
dieſes raſche Davongehen?“ 

Der Geſchäftsführer zuckte die Achſeln und meinte: „Näher 
F ich ſie nicht, ſie iſt gegenüber in der Glühlampenfabrik be— 

äftigt.“ 

Der Juriſt iſt ein energiſcher Mann, ſo leicht will er ſich nicht 
beſtehlen laſſen, auch intereſſiert ihn der Fall von der kriminaliſtiſchen 
Seite. Raſch entſchloſſen, begiebt er ſich zu dem Direktor der 
gegenüber befindlichen Fabrik und erzählt ihm den Hergang 
der Sache. 

Der Direktor meint: „Freilich iſt die Sache höchſt verdächtig, 
aber wenn man feine Beweiſe Hat . . . Sol ih das Mädchen 
entlaffen 3“ 

„Das wohl nicht,“ erwiderte der Bejucher, „mir genügt e3, 
zu wiſſen, ob fie die Schuldige tft, und Darüber könnte man weitere 
Anhaltspunkte gewinnen, wenn Sie fie fofort rufen laffen. Wir 
werden jehen, wie fie ſich benimntt.‘ 

Der Direktor Flingelt und ordnet an, daß die betreffende 
Arbeiterin in das Kontor fomme Kaum: ift die Befhuldigte 
erfhienen und des Juriſten anfidtig geworden, al? jie 
totenbleih wird, am ganzen Körper zu zittern beginnt 
und ausruft: „Ich Hab’ nicht gefunden!" Für den 
Suriften giebt es nun feinen Zweifel mehr. Dieje Angſt, diefe Be— 
teuerung der Unschuld, noch bevor das Mädchen bejchuldigt wurde, 
ſpricht klar für die Schuld. 

„Ufo, Sie bleiben dabei,” ſagte er ftrenge, „das Zehnkronen— 
ftücd nicht genommen zu haben?“ 

Ein Thränenftron bricht aus den Augen des Mädchens: „Sp 
wahr mir Gott helfe, ich Hab’ nichts gefunden!” — 

Der Juriſt erwidert: „Machen Sie das mit Ihrem Gewiſſen 
ab!“ empfiehlt ſich von dem Direktor und verläßt mit der Ueber— 
zeugung das Kontor, daß jeder Richter dieſe Perſon auf Grund des 
vorhandenen Indizienbeweiſes verurteilen würde. Als der Juriſt 
die Straße betritt, kommt eiliaſt der Vermiſchtwarenhändler auf 
ihn zu: „Gnä' Herr, das Goldſtückl is ſchon da, es war 


Allerlei. , 2645 





im Erdäpfelſack!“ Und er überreiht ihm das Geld. Augen 
blicklich geht der Juriſt wieder zu dem Direktor, bittet vor dieſem 
die Arbeiterin mit bewegten Morten um Verzeihung und übergiebt 
ihr das Goldftüd ala Geſchenk. Seit diefem peinlihen Erlebnis 
hat der SZurift und SKriminalift zu Indizienbeweifen fein Ver— 
trauen mehr. 

Einer der unheilvollſten Staatfsmänner war der ſächſiſche 
Minifter Graf von Einfiedel, der in dem zwanziger Jahren als 
Kabinettäminifter des ſächſiſchen Königreichs die Portefeuilles des 
Innern und Neußern in fich vereinigte. Beſonders war er ein 
Feind der Schullehrer, in welchen er die Vertreter der Intelligenz 
jah, die er, als Orthodorer der alten Schule, grimmig haßte. Einmal 
aber ward der Miniiter doch durh die Antwort eines Unter— 
gebenen in die Enge getrieben. Ein fpäter als Univerfitätsprofeflor 
befannt gewordener Lehrer, der um eine vakante Stelle bittend 
im Vorzimmer des Minifter® ftundenlang warten mußte, ward 
endlich vorgelaflen, und nun entipann fi Folgende kurze Unter: 
Haltung. Won oben herab den Petenten mufternd, jragte der hoch— 


mütige Minifter: „Verheiratet?“ „Zu dienen, Sreellenz.” „Kinder?“ 
„Zwei, Excellenz.“ „Wie kommt er dazu?!" Der Lehrer, der 
durch Diefe Frage des Minifters ſprachlos geworben, jchweigt. 
„Run,“ jagte Einfiedel mit barſchem Ton, „nun, warum antwortet 
er nicht?” „Nun“, entgegnete der Lehrer rafch, „Ereellenz, ich finne 
eben darüber nad, wie ein Dann, wie Sie, dazu fonımt, der all- 
mächtige Minifter eines Staate3 zu fein!" Und Einſiedel rafch 
den Rücken kehrend, verſchwand er aus dem Salon und bald darauf 
aus Dresden, wo ihn der allmächtige Minifter vergebens juchen ließ. 

In Jieben Stunden durch fieben deutſche Tänder zu 
Fuß zu gelangen, wird mancher Leſer für eine Unmöglichfeit halten, und 
doh kann man folches mit Leichtigkeit und zwar auf folgendem 
Mege: Geht man von Rudolftadt (Fürftentum Schwarzburg-Nudol: 
stadt) aus nah Meiten, jo fommt man in einer halben Stunde 
nad) dem Dorfe Ammelftädt (Herzogtum Altenburg), von da in 
11/, Stunden von Teihröda (Schwarzburg:Rudolitadt) nach Kemda 
(Sadhjen Weimar), von da in 2 Stunden nad) Wigleben (Schwarz: 
burg=Sonder3haujen), von da in 11/, Stwiden nah Ofthaufen 
Sachſen-Meiningen), dann in 1Y/, Stunden durch das rubolitädtijche 
Kirchdorf Elrleben nad Kirchheim (Königreich Preußen), und von 
da in einer Stunde nad) dem gothaifchen Städtchen Ichtershauſen. 
‚Auf einem andern Wege, ber nur 51/, Stunden beanfprucht, betritt 
man fieben verjchiedene deutſche Staaten: Bon Schleiz (Neuß j. 2.) 
nah Volkmannsdorf (Weimar), Erispendorf (Neuß ä. 2.), Erf: 
manızdorf (Meiningen), nun nad den preußiichen Liebſchitz und 
Drognig und endlich nad) den an der Saale gelegenen romantischen 
Ortichaften Saalthal (Mltenburg) und Briftwig (Nudolftadt). Wer 
bon unjeren werten Leſern fih von der Wahrheit unjerer Behauptung 
überzeugen will, der mache einmal dieje Eleine Spaziertour, die ihm 
gewiß recht viel Vergnügen machen wird. 


2646 Allerlei. 





Eheſtatiſtik. Nach der Zahl der Einwohner berechnet, wird in 
Nürnberg am meijten geheiratet. Hier kommen auf 1000 Ein- 
wohner 10,79 Ehejchließungen. Der Ort, an dem die nächjtmeilten 
Eheſchließungen jtattfinden, itt Delmenhorft in Oldenburg; dann 
folgt Berlin, Altona, Süderdithmarfchen, Ludwigshafen, Mannheim, 
Frankfurt a. M., Heidelberg, Höchft, Offenbach und München. Am 
wenigften geheiratet wird in der Rheinprovinz, Eifelgebiet und 
in einzelnen Teilen Bayerns, und der Ort, in dem laut den 
ftatiftifchen Nachrichten die wenigiten Ehen in Deutfchland innerhalb 
der legten SSahre geihloffen wurden, ift Schleiden in der Rheinprovinz. 

&3 heiraten jährlih in Deutichland überhaupt 400 000 glücdliche 
Brautpaare; trogdem hat das Deutfhe Neih nicht die höchſte 
Heiratsziffer. Serbien läuft ihm den Rang ab, ihm folgt Ungarn. 
Selbſt Japan übertrifft noch an Zahl der Brautpaare das Deutjche 
Reich, natürlih nah dem Verhältnis nn Einwohnerzahl berechnet. 

Betrachten wir die Länder einzeln nad den Heiratsausſichten, 
welche dort die Frauen Haben, fo ergiebt fi für Oeſterreich ein 
befonder3 hoher Prozentfuß von MWitwern und Witwen, die fich 
wieder verheiraten. In Frankreich hat eine forgfältig erhobene 
Statiftif ergeben, daß die meiften Mädchen im Alter von 20 bis 25 
Sahren zum Traualtar ſchreiten. Sehr gering ift die Zahl der 
Braute im Alter von 15 bis 20 Jahren, obgleich in der romanischen 
und fpeziell in der franzöfiichen Litteratur die Bräute und Heldinnen 
gewöhnlih in dieſem Alter ftehen und auch angeblich heiraten. 
Zwiſchen dem fünfundzwanzigiten und dreißigften Sahre werden 
immer noch zahlveiher Heiraten geſchloſſen als zwijchen dem fünf: 
zehnten und dem zwanzigiten. Dann aber geht e8 ſehr ſchnell ab— 
wärts, und je mehr fich dad Mädchen von den Dreißigern entfernt, 
deito geringer wird die Ausficht zur Ehefchließung, ıyıd in Frankreich 
kommt in dem Alter von 60 und 65 Jahren von 365 Sungfrauen 
nur noch eine unter die Haube. 

Bon Deutfchland Tiegt eine genaue Statiftif nur über Die 
Heiraten in Berlin vor, und zwar vom Sahre 1896. In einem 
Sünftel aller Berliner Ehen heiratete da3 Mädchen im Alter von 
25 Jahren. Bis zum 29. Sahre ift die Heiratsziffer noch eine ver— 
hältnismäßig hohe. 

Daß ganz abnorme Mltersunterichiede zwiſchen Gatten und 
Gattinnen in einer Großftadt vorkommen, ift eigentlich ſelbſt— 
veritändlih. Bei fieben Berliner Heiraten war die Braut mehr al? 
fünfundzwanzig Sahre älter als der Bräutigam; in 98 Fällen aber 
der Gatte fünfundzwanzig Jahr älter, als die Gattin. 

Ganz merkwürdig ift e8, daß für Europa der Grundfaß gilt, 
daß im Fühlen Norden die Ehen in früheren Jahren geſchloſſen 
werden, als im founigen Süden. Intereſſant wird es auch fein, 
zu erfahren, aus welchen Berufsklaſſen die Frauen am meilten 
Ausficht haben, einen Gatten zu finden. Natürlich ift hier nur von 
den arbeitenden und ermwerbenden Frauen die Nede. Die Alterd= 
verficherungsanftalt Berlin hat in dieſer Beziehung eine fehr 


Allerlei. 2647 





intereffante Statiftit aufgeftellt. Von 1000 ermwerbenden Frauen, 
bie fich verheirateten, waren über die Hälfte, nämlid) 528, Dienſt⸗ 
mädchen. Es folgten dann Arbeiterinnen 136, Näherinnen 125, An—⸗ 
geftellte au Handel und Verkehr 87 und Plätterinnen 46 unter 1000. 
Bon den geborenen Berlinerinnen waren vor der Hochzeit unter je 
taufend 304 Arbeiterinnen gewejen, dagegen nur-70 Dienftmädden. 

Frauen als Soldaten. Mehrfach ijt berichtet worden, mie 
in dem heidenmütigen Freiheitäfampfe, den das feine Burenvolf gegen 

‚die engliihen Söldnerfcharen geführt hat, auch Frauen an der Geite ihrer 
- Männer mit hinaus in den Streit gezogen find, um Blut und Leben 
für die Rettung des Vaterlandes einzujegen. Im Anſchluß daran jei 
im folgenden an die verichiedenen „weiblichen Heldinnen“ erinnert, von 
denen die Geſchichte eine ganze Anzahl fennt. 

Nicht unbedeutend iſt Die Zahl diejer weiblichen Soldaten, doch 
muß man die Rumpellammer der MWeltgefchichte ordentlich durch— 
ftöbern, um ibre Namen und Thaten aus dem Staube zu fördern, 
den Jahrhunderte lange Vergeſſenheit auf fie gehäuft. 

Seanne D’Arc, die Jungfrau von Orleans, bildet natürlich 
eine Ausnahme. Das Leben und tragijche Ende des Heldenmädchens 
giebt ſolch dankbaren Stoff für Hiftorifer und Dichter ab, daß fie 
immer und immer wieder zum Gegenftand der Verherrlihung oder 
VBerunglimpfung, je nach dem Standpunkte des Bearbeiters, ge= 
nommen erden. 

Die Heldenlaufbahn Jeannes zählt zu den befannteften Epifoden 
der Weltgefchichte, jo daß eine Erzählung derjelben hier überflülfig 
ericheint. Weniger befannt ift es, daß bald nach dem Ende Seanne 
d'Arcs in Frankreich faliche „Sungfrauen von Orleans“ auftauchten. 
Sie gaben übereinftimmend vor, dem Scheiterhaufen in Rouen 
entgangen zu fein, und heimſten alle Ehren und Gelder ein, die 
einft der Heldin verjagt waren. 

Bon diefen Hocftaplerinnen des Mittelalter intereffiert ung 
beſonders eine. 

Ueber ihr Leben ift nur wenig belfannt geworden. Gie Stand 
al3 „Zungfrau von Orleans“ an der Spitze eined GSoldatentrupps, 
“der anfcheinend auf eigene Fauſt gegen Briten und Burgunder Krieg 
führte. Einer ihrer Unterbefehldhaber war. Jean de Signeurville, 
der im Sabre 1441 den füniglihen Truppen in die Hände fiel. 
Seine Freilafjung, zu der ein föniglicher Befehl nötig war, fcheint 
erft die allgemeine Aufmerkſamkeit auf die faljche Jeanne d’Arc 
Dan zu haben. Niemand jeßte Zweifel an ihre Abſtammung, und 

arlament und Univerfität in Paris vergaßen ganz, daß jie im 
Jahre 1431 den Stab über Jeanne gebrochen und luden elf Jahre 
ſpäter ihre Doppelgängerin ein, nah „den Mittelpunkt der Welt“ 
zu kommen. Die Dame befann fich nicht lange und folgte dem 
„ehrenvollen Rufe”. | 

„Auf einem freien Plage zeigte fie ſich "dem begeifterten Volk, 
erzählte mit Stentorftimme, wie fie Orleans befreit, fi fühn mit 
Engländern und andern Baterlandsfeinden geftritten und dann, 


2648 Allerlei. 





nachdem fie ihren Henkern entkommen, im Pilgerfleid nah Nom 
gewwandert jei, um bort für ein früher begangenes Vergehen Buße 
zu thun. Als ihre Sünden getilgt, habe fte als Soldat erſt im 
franzöfilchei, jpäter im italienischen Heere gekämpft und Heldenthaten 
jonder Zahl verübt. | 

Auch über das Leben Johannas von Flandern, Die nad) 
der Gefangennahme ihres Generals Johann von Montfort im Jahre 
1341 die Bretagne als Anführerin ihrer Truppen gegen die Angriffe 
Frankreichs und der Valois fiegreich verteidigte und fie ihren Sohne 
Sohann IV. erhielt, ift nichts mehr als dieſe farge Notiz auf uns 
gefommen. Wir willen, daß fie lebte al3 Mann und wie ein Mann 
kämpfte und ftarb. 

Ein Mädchen, daß Seanne d'Arec in jeeliiher Hinſicht ſehr 
ahnli war, lebte um die Mitte de vierzehnten Sahrhunderts 
zu Neapel. 

Marie de Pouzolès, jo hieß dag Mädchen, entitammte den 
niedrigften Volksſchichten. Won frühelter Jugend auf übte fie ſich 
im Gebrauche der damals gebräuchlichen Waffen und vermochte gar 
bald mit ihrem Armbruftbolzen mit tötlicher Sicherheit das Ziel zu 
treffen. Ihre Eltern hatten an dem knabenhaften Gebaren der 
Tochter ihre Freude und ließen fie gewähren. Auch die Geiftlichfeit 
ſah nichts Anftößiges in ihrem Thun. Sie vermehrte ihr eg nicht 
einmal, Männerfleivung anzulegen und fi als Soldat den Truppen 
anzufchließen. 

Wie die Franzöfin, vermochte fie alle Beſchwerden des Kriegs— 
lebend mit einer Leichtigkeit zu ertragen, die ihre Waffengefährten 
mit Bewunderung erfüllte und großen vorbildlihen Einfluß im 
Heere ausübte. Die Führer Ichäbten fi) zur Ehre, fie in ihrem 
Heere zu willen, und holten nicht felten ihren Rat ein. Nachdem 
fie an vielen Schladten teilgenommen, Abteilungen jelbftändig be- 
fehligt und oft mit kühnem Mute den überlegenen Feind in Die 
Flucht geichlagen Hatte, drang ihr Ruhm durch ganz Stalien bis 
nad Sizilien, deffen König Robert fie in Neapel aufjuchte und fi 
von ihr über ihre Kriegsfahrten berichten ließ. 

Auch England hatte eine Eriegerifche Dame in Jenny Gameron, 
der Alteften Tochter des ſchottiſchen Edelmannes Cameron von 
Glendeſſery, aufzuiveifen. Jenny Cameron, a aus vornehmen 
Geſchlecht, war eine Abenteurerin Schlimmfter Sorte Wegen toller 
Streihe in ein Barifer Klofter gefteckt, ließ fie fih, faum aus deu 
Kinderjahren, von einem Offizier entführen, den. fie bald mit einen 
italienischen Edelmanne vertaufchte. Auch von dieſem und mehreren 
Nachfolgern im Stich geilen, fehrte fie auf das Gut ihres Bruders 
nad Schottland zuriid, das fie nach deſſen Tod, als Vormünderin 
de Neffen, eines unfähigen Menfchen, bewirtichaftete. 

Als bei dem legten jakobitischen Aufftande im Sahre 1745 der 
Ihottische Prätendent zu den LXochiel® Fam und von dort au den 
del einlud, fi mit feinen Leuten um die Fahnen der Stuarts zu 
‚baren, erfhien an Stelle des Neffen Jenny an der Spike bon 


Allerlei. 2649 





250 Leuten, begrüßte den Prinzen und übergab ihn Die mitgebrachien 
Truppen. Sie trug die Tracht holländifcher Männer: ein ſeegrünes 
Reid, darüber einen ſcharlachroten Mantel mit Gold verbrämt. 
Da3 lange Haar war im Freien nur hinten znfammengerafft und 
die langen Locen unter einem ſamtenen, mit Scharlach gefütterten 
Hut geborgen. Ihr koſtbares Streitroß war mit prächtiger, reid)- 
geſchmückter Schabrade bedeckt. Die Schottländerin verließ den 
Prinzen nicht mehr, kämpfte an feiner Seite bis zu feiner Abreiſe 
nah England. Nah Unterdrüdung des Aufitandes murde fie 
ſeſangen geſetzt, aber ſchon ein Jahr ſpäter, 1747, wieder ent- 
aſſen 


Der erſte deutſche Soldat aus dem ſchöneren Geſchlecht war 
Marimiliane von Leithorſt, die Tochter des Kurfürſten Mar 
Emanuel von Bayern. Vernachläſſigt von ihrer Mutter, die bald 
nad der Geburt der Tochter in ein Klofter ging, unbeachtet von 


ihrem Vater, wuchs Marimiliane heran. Sie ging ftet3 in Knaben— 
fleidung, nannte ſich Maximilian Baron Leithorft und nahm reſolut 
als Diefer Pagendienfte bei Baron Halden, dem Würzburgifchen 
Gefandten am Regensburger Hofe, an. 

Später ging ie nach Wien und wurde Soldat. Sieben Sahre 
lang diente fie als Kadett im Infanterieregiment Franz bon Lothringen 
in berjchiedenen Garnijonen Ungarıd. Sie befam ihren Abjchied 
al3 Leutnant mit Penſion auf Lebenszeit. Sic verzehrte dieje in 
Wien, wo fie 1748 am Bruftfrebs ſtarb. Marimiliane von Leithorft 
trug bis an ihr Lebengende Männerkleider, die fie nur bei Der 
Kommunion mit Frauengewändern bertaujchte. 

Aus den Freiheitäfriegen ftrahlt das Bild Eleonore Pro— 
haskas, der Heldin, die unter Franzofenfugeln ihr junges Leben 
aushauchte. 

Ihre Begeiſterung für das Vaterland, die ſie Dienſte als 
gemeiner Soldat nehmen ließ, und ihr Tod iſt in allgemein be— 
kannten Balladen beſungen worden, ihr Andenken unvergeſſen. 


Wie vie Chineſen mit ihren Göttern umgehen. Die 
Chineſen ftellen jich ihre Götter mit denjelben Eigenschaften vor, welche 
jie jelbft Haben, und durch diefe Auffaflung beſteht entichieden eine 
Gemeinschaft mit den Neligionen heidniſcher Völker! Sollten dieſe 
göttlihen Wejen nicht auch ein empfängliche® Gemüt für Beitechungen 
und Schmeicheleien haben, fragt fich der Chineſe und verjucht, ob er 
nicht aud) die Götter betrügen kann, wie er dies bei den Menſchen 
mit Vorliebe thut. So giebt irgend ein Frommer feinen Beitrag zur 
Neflaurierung eines Tempels in der Lijte mit 1000 Kupfermünzen an, 
während er thatjächlich nur 200 fpendet. Der betreffende Gott wird 
ſchon nicht jo genau nachrechnen! Während der Zeit der Ausbefferung 
des Tempel3 werden dem Gott übrigens die Augen verklebt, damit er 
fich) nicht an die herifchende Unordnung ftößt. Das treffendite Beilpiel, 
: wie e3 die Chinejen verjuchen, ihre Götter zur überliften, bietet die Be- 
handlung des Kiüchengottes, der am Ende des Jahres in den Himmel 
fährt, um feinen Kahresbericht über die betreffende Familie zu machen. 


2650 Allerlei. F 


Damit er ja nichts Böſes ſagt, beſchmiert man ihm die Lippen mit 
Honig! Oft werden auch auf den Altären Imitationen von Geld, die 
aus Silberpapier hergeftellt find und das Ausſehen von Gilberbarren 
haben, verbrannt. Der betreffende Gott wird es ſchon für bare Münze 
nehmen! Die chinefiichen Seeleute glauben befanntlid) immer noch, 
daß die gefürchteten Taune durch böje Geifter verurjacht werden. Hat 
der Sturm feinen Höhepunft erreicht, dann jeßt man, einem alten Ge: 
brauch zufolge, ein Bapierichiff, welches eine genaue Imitation des 
wirklichen Fahrzeugs ift, auf die Wellen, damit fic die böfen Geiſter 
auf dieſes ftürzen, und das eigentliche Fahrzeug inzwiſchen entfliehen 
fann. Brit in China eine Epidemie aus, wie Cholera uſw., fo feßt 
man jchnell mitten im Jahre Neujahr an. Der Gott der Peſt wird 
dann zur Erkenntnis kommen, dab er fich in der Jahreszeit getäufcht 
hat, und verichwinden, die böje Krankheit mit fi) nehmend. Ein anderes 
Blendwerk ijt folgendes: Ein Mann friecht unter einen Tifch, auf dem 
die Opfer jtehen und ſteckt feinen Kopf durch ein in der Mitte des 
Tiſches für dieſen Zweck angebradhtes Loch. Man verfucht auf dieſe 
Weije dem Gotte vorzujpiegeln, daß man ihm thatjächlicd) einen Menfchen- 
fopf opfere. Nach einer gewifjen Zeit befreit fich der gute Mann wieder 
aus jeiner Zwangslage und ijt jtolz auf jeine Großthat. Wir fennen 
einen Fall, in dem ein DijtriltSbeamter einen Streit zwijchen einem 
Priefter und dem Buddha des Tempels zu jchlichten Hatte. Der Gott 
wurde vor Gericht zitiert und jollte vor dem Nichter niederfnieen — ein 
‚ merkwürdige Verlangen von einer Holzfigur! Als er diefem Befehle 
nit nachkam, Diktierte ihm der Richter 500 Bambugjtreiche zu, die 
* ihn alebald in einen Trümmerhaufen verwwandelten. 
Scheidungsgründe. Es hat, fo lange die Eheſchließung 
Staatlichen und kirchlichen Gejegen unterworfen ift, niemals an Verſuchen 
gefehlt, die Schwierigleiten, die durd) Staat und Kirche einer Löſung der 
She entgegengeftellt werden, zu beheben oder Doch auf ein beſcheidenes 
Maß zurüczuführen. Zugegeben mag werden, daß es für Eheleute, die 
in unglücflicher Ehe miteinander leben, hart ift, wenn ihrer Trennung 
unüberwindliche Hinderniffe in den Weg geftellt werben, wenn es für 
fie fein Mittel giebt, die Che, die vielleicht beiderjeit3 aus falſchen 
Vorausſetzungen geſchloſſen wurde und deshalb nicht zum Glücke 
führen konnte, zu löſen. Aber auf der anderen Seite ur doch auch 
berückſichtigt werden, daß mit der Möglichkeit einer leichteren Trennung 
der Ehe nicht nur eine verderbliche Leichtfertigkeit beim Eingehen 
der Ehe verknüpft ſein, ſondern auch das Familienleben, inſonderheit 
dann, wenn Kinder der Ehe entſproſſen ſind, außerordentlich Schaden 
nehmen würde. 


Die franzöſiſche Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts hat 
den beſten Beweis hierfür geliefert. Durch ein von 1792 
war die Scheidung bekanntlich völlig freigegeben. In den dieſem 
Geſetz folgenden 27 Monaten wurden in Paris allein 6000 Ehen 
geſchieden, und im Jahre 1797 war die Zahl der Eheſcheidungen 
größer als die der Heiraten. Dupal, in feinem Souvenir Thermi- 
doriens erzählt darüber: „Man ging augeinander jo leichten Herzenz, 








Allerlei. 2651 





als ob man Blumen oder Kirfchen pflüden gehen wollte. Der Ehe— 
gatte hatte feine Geliebte und mar jeine® Weibes überdrüffig, Die 
Gattin Hatte einen Liebhaber und wünſchte nicht? jehnlicher, als 
ihren Gatten 108 zu werden. Sie jagten ſich das, gingen auf’3 
Nathan, gaben an, daß fie nicht mehr neben einander leben könnten, 
und am⸗ ſelben Tage noch oder am nädjften war die Ehe geichieden 
— wegen Unvereinbarkeit der Temperamente. Mer fragte darnad), 
was aus den Kindern wurde? Die Gatten waren fi) 108, dad war 
die Hauptſache. Es war gar nicht Selten, bei dieſer firen Gejchäftg- 
gebahrung Fälle zu finden, wo fih Leute in ſechs Monaten hatten 
sechsmal fcheiden laſſen. Dabei famen drollige Dinge vor. So 
wechfelten Ehegatten ihre Ehefrauen gegenfeitig aus und waren über 
dies Tauſchgeſchäft jo entzüct, daß fie die neue Hochzeit zuſammen 
feierten und die Koften auf gemeinfame Rechnung übernahmen. 
Der Coder Napoleon machte dDiefem Unweſen befanntlid ein 
Ende. Heutzutage wuchern die Ehefcheidungen in Amerifa. In den 
Vereinigten Staaten gelten folgende Ehejcheidungdgründe: Untreue 
in 46 Staaten, böswilliges Verlaffen in 44, Verſchwinden in 42, 
Grauſamkeit (cruelty) oder Furcht por Gewalitthätigfeiten .in 40, 
&iniperren in 38, Trunkſucht, Unmäßigfeit oder gewohnheitsmäßige 
Beraufhung in 37, Mangel an Vorausſicht (failure to provide) 
in 21, alte Sünden vor der Heirat in 13, unanftändige Behand: 
lung in 7, Geiftesfranfheit in 5, Getrenntleben in 2, ſchwere 
Bernadläffigung der Pflichten in 2, wenn der Mann ein Bagabund 
ift in 2, wenn dag Weib nicht in einen anderen Staat mitlommen 
will in 1, wenn man das Weib vor die Thür jegt in 1, zu heftiges 
Temperament in 1, Öffentliche Verleumdung in 1 u. ſ. f. | 
Die amerikanischen Gerichtshöfe find dabei fehr nachläſſig. So 
verhalfen, fie beifpieläweife einem Weibe zur Scheidung, meil ihr 
Mann „ich nicht wüjche, was ihr eine Art Seelenſchmerz verurſache“, 
einem andern, weil „er“ nad 27 jähriger Ehe gejagt habe: „Du 
bift alt und außgemergelt (worn out), id) kann Dich nicht länger 
ſehen“, einem dritten, weil „er“ ſeine Fußnägel nicht beſchneiden 
wollte, einem vierten, weil „er“ ſein armes Weib durch Tabakwolken 
an- und ausräucherte. Auf der andern Seite erlangte vor amerika— 


niſchem Gericht ein Mann die Scheidung, weil ihn ſeine Frau mit 


dem Abſtäuber aus den Bette jagte, ein anderer, weil „ſie“ ihn 
verächtlich. behandelte und gejagt hatte: „Du biſt überhaupt kein 
Mann“, ein dritter, weil „fie“ feine Kleider nicht ausbeſſerte, nicht 
kochte und feine Knöpfe nicht annähte, ein vierter, meil „fie“ ihm 
einen derben Stoß mit ihrer Tournüre (with her bustle)- gegeben 
hatte. Alles das heißt in Amerika „eruelty“, der Begriff ift aljo 
jo dehnungsfähig, wie unfer grober Unfug. 

Man erfieht aus der vorftehenden Schilderung, daB Die neue 
Welt nit bloß auf wirtichaftlihem Gebiet mit der alten Mutter 
Europa in Wettbewerb tritt, und daß beſonders das glückliche, Teicht- 
lebige Frankreich einen erfolgreichen Nebenbuhler hat in feinem 
Divercons! | | 


2652 Allerlei, 





Orchideenjãger. Ein äußerft gefährlicher Beruf ift der des 
Orchideenjägerd. Seltene Stüde in diefen Blumen find oft ungeheuer 
teuer. Die Gejchäfte laſſen die Wildnis jüdlicher Länder bereifen, um 
immer neue ımd jeltene Arten zu entdeden. Darum jchließt daS Leben 
eines DOrchideenjägerd alle Aufregungen der Forſchung in unbetretenen 
Landitrihen in fi, die oft von wilden Tieren und wilden Völkerſchaften 
bewohnt werden, und in denen Malaria und andere Krankheiten drohen. 
Selbſt die Eingeborenen: vermeiden die Gegenden, in die der kühne 
Orchideenjäger eindringt und jeine Blumenbeute verfolgt. Man braucht 
nur mit einem diejer Männer zu jprechen, erzählt ein Mitarbeiter von 
„Harmworths Magazine”, um merkwürdige Geichichten von Gefahren, 
denen fie nur mit fnapper Not entronnen find, und fchredlichen Leiden 
zu hören. In -allzuvielen Fällen kehrt leider der verwegene Jäger 
überhaupt nicht mehr zurüd, um feine Gejchichte zu erzählen. Eine 
große Anzahl diefer Orchideenfucher wird von %. Sander & Co. in 
St. Albans, dem großen Sondergejchäft in Orchideen, ausgejandt. Den 
Namen einiger diefer Männer tragen jest die gejchäßteften Orchideen: 
Falkenberg verlor fein Leben auf Banama, Klabod in Mexiko, Endriez 
in Rio Hada, Brown in Madagaskar, Digance in Brafilien, Wallis 
in Ecuador, Schroeder. in Sierra Leone und Arnold am DOrinofo. Vor 
einigen Jahren trafen acht Jäger in Tamatave zujammen und trennten 
ih) dann, um auf die Suche zu gehen. Nach Verlauf eines Jahres 
lebte nur noch einer von ihnen, und er erholte fich nie wieder von den 
Leiden, die ihm der monatelange Aufenthalt in den verpejteten Eunpf- 
gegenden gebracht Hatte. Einer von den anderen war von den Priejtern 
der Eingeborenen mit Del begofien und auf dem Göbenaltar verbrannt 
worden. Hamelin, der Entdeder vieler neuer Orchideen in den menig 
befannten Wäldern Madagaskars, mußte, um in daS Innere der Inſel 
dringen zu können, „Blutsbruder“ des Königs Moyanıbafja werden, 
eine Ehre, die ihm beinahe dag Leben foftete. Ein anderer Jäger, der 
in Neu-Guinea arbeitete, fand eine wunderbar ſchöne, bisher unbefannte 
Art auf einem Begräbnisplag der Eingeborenen. Diejer Friedhof war 
eine Ebene zwijchen den Hügeln, und die Leichen wurden einfach auf 
die Felſen gelegt, biß die Gebeine in der Sonne gebleicht waren. Hier 
fand der Sanınler die Wurzeln zwilchen den Knochen, während ein 
Mantel aus prächtigen Blüten die bfeichen Reſte bededte. Zuerſt 
weigerten fich die Eingeborenen natürlich, zu erlauben, daß die Knochen 
ihrer Vorfahren in ihrer Ruhe geflört würden; aber fchließlich änderten 
freigebige Gejchenfe in Geftalt Heiner Spiegel und Flitterverzierungen 
ihre Anfichten über diejen Punkt, und fie geftatteten die Entfernung 
der Orchideen. Manche der Pflanzen fonnte nicht von den Knochen 
abgerifjen werden, und ein Echädel wurde mit nad) England gebradit, 
in deſſen Hirnhöhle eine Orchidee feitwurzelte und aus der Kinnfade 
herauswuchs. Bor vielen Zahren kam eine Orchidee einer ganz neuen 
und unbekannten Art in dem Packzeug, in dem einige fremde Pflanzen 
gejandt wurden, nad) England. Niemand wußte, woher fie fam, und 
ſie blieb lange einzig. Die Orchideen-Zäger fuchten überall danad), 
aber erit 70 Jahre jpäter wurde fie gefunden. Cine andere Oxchidee, 


Allerlel. | 2653 | 





deren Urſprungsort man nicht fennt, fam im Sahre 1854 an, und 
troß beharrlichen Suchen? hat man ihre Heimat bis jet noch nicht ge= 
funden. Bor einigen Sahren wurden zwei Orchideen im Londoner 
Zoologiſchen Garten auf einem Haufen Schutt gefunden. Sie famen 
im PBadzeug mit jüdamerifanischen Affen; ihre Heimat ift noch nicht 
entdecdt worden. Dan muß nicht etwa denken, daß alle Orchideen teuer 
find, nur feltene und neue Arten haben ungeheure Preife; aber viele 
ihöne Spielarten find in einigen Sahren von 1000 Mark auf 5 Mark 
herabgegangen. Eine Orchidee ift heute noch jelten und koſtbar; aber 
morgen fommen vielleicht Taujende diefer Art an, und ein ſprungweiſes 
Herabgehen des Marktpreifes ift die natürliche Folge; bei der Spekulation 
in Orchideen kann man leichter ein Vermögen verlieren als gewinnen. 

Die Größe eines Waſſertropfens. Nach der Anfchauung 
der heutigen Phyſik und Chemie ift jeder Stoff aus Keinjten Teilchen 
zujammengefegt, die man im allgemeinen bei den Grundſtoffen als 
Atome, bei den Verbindungen als Moleküle bezeichnet. Nach diejem 
Geſichtspunkte betrachtet, enthält ein Waflertropfen ſchon eine ungeheure 
Zahl von Waflerteilhen. Lord Kelvin, der große Phyfifer, hat darüber 
einmal eine anjchauliche Rechnung aufgeftellt. Wenn ein einziger Wafjer- 
tropfen unter einem —— — ſo ſtark vergrößert werden 
könnte, daß er die Ausdehnung der Erdkugel einnähme, ‚jo würden die 
ihn zujammenfegenden Molefüle doch nur in der Größe von Kleinen 
Billardkugeln ericheinen, Profeſſor Hele- Shaw führte diefen Gedanken 
etwa® weiter durh. Er wies darauf Hin, daB e3 eine Million von 
Kahren dauern würde, wollte man ein Glas Waſſer Teilchen für Teilchen 
entleeren. Nach der jogenannten Stromlinien= Theorie ift e3 möglich 
geworden, die Lage der Wafjerteilchen zu einander und ihre Bewegungen 
zu erfennen und fo in da8 Geheimnis des Waſſerfluſſes einzudringen. 
Auf diefe Erkenntnis war die Löſung der im Waſſerdruck enthaltenen 
Rätſel und die Ausnutzung diefer Kraft möglih, und damit hängen 
noch viele andere wiflenjchaftliche und praftiihe Fragen zuſammen: die 
Wirkungen von Ebbe und Flut, das Nagen der Fluß- und Meeres- 
wellen an den Ufern, das Berjanden der Flüffe und Häfen und aud) 
das Steuern der Schiffe und die Ausnutzung der Wafjerfälle für die 
Induſtrie. Die Phyſik des Waſſers ift fomit für Wiſſenſchaft und 
Technik eines der wichtigften &ebiete geworden, defjen Bearbeitung der 
Naturwiſſenſchaft obgelegen hat und deſſen Erkundung vielleicht noch 
nicht erſchöpft ijt. | 


RX 


. - Auf 
: — 





Rätſel. 


Zwei wollten nicht länger die Lrſte fein, 
Kam drum als Sanzes zum Mägdelein. 

Die Holde ſprach: Ich nehme dich an! 

Yun jage, was war wohl der tapfere Mann? 


Umitellunas-Rätfjel. 

Die Buchftaben diejfes Quadrate find To zu 
ordnen, daß die ſenk- und wagerechten Reihen . 
bezeichnen: 

. Einen berühmten Schriftfteller. 
Einen Kalifen. 


Ein Gier in Südamerika. 
Eine Stadt in Ungarn. ' 


Bonn 





Silben-Rätfel; 


Aus folgenden 32 Silben find 16 zweifilbige Wörter zu bilden, 
deren Unfangsbuchjtaben, von oben nach unten gelejen, zwei Haupt: 
perjonen aus einem berühmten Drama, und deren Endbuchtaben, 
gleichfalls von oben nad) unten gelejen, zwei Hauptperſonen aus 
einer befannten Oper ergeben. Pie Silben find: 


ar, ban, bel, bel, chi, dan, den, den, di, dö, em, frö, ger, gul, ho, le 

Ina, me, ni, no, nof, rich, ris, rü,“send, — üng, tan, tus ul, de 
Die Wörter bezeichnen: 

. Einen Wohlthäter der Kinderwelt. 

. Einen $luß in Italien. 

. Einen männlichen Dornamen. 

. Einen deutſchen Dichter. 

Einen orientalifhen Kopfſchmuck. 

Eine andere Bezeichnung für Anfang. 

Zinen Sluß in Afrika. 

Zinen Berg in der Schweiz. 

Zine Münze. 

. Ein Schlachtfeld aus ber Ritterzeit. 

. Eine Stadt iu Hannover. 

. Eine Zabl. 

. Ein Land in Südamerila. 

. Zin Handwerkszeug. 

. Eine griehifche Böttin. 

. Eine Oper. 


uch 
SARWD-SORNATERU- 


Rätfjel- Ede. 2655 





‚Buchitabenrätiel, 


Wenn ein e in der erjten Silbe fteht, 

Iſt das Wort ein Fluß, der nordwärts geht; 
Mit i hingegen ift es befannt 

Als Mädchenname im deutjchen Land; 

Mit u erhellt es die dunkle Nacht, | 

Es glänzt am Himmel in milder Pracht. 


Rätſel. 


Mein Lrſtes iſt nicht wenig, 
Mein Zweites iſt nicht ſchwer. 
Das Ganze läßt dich hoffen, 
Zoch traue nicht zu. jehr. 





Metamorphofen-Rätjel, . 


Solgende Worte ergeben, richtig zufammengefeßt und unter 
Deränderung eines Buchitabens in jedem Worte, ein oft gebrauchtes 


Litar: 
Oſt, Neben, was, Reiter, Dunft, wie, einft, Alt. 


a ee 


‚Au Br Opulentes Bericht. 
& EA Sn. Ort in Unterfranken. 
ss AU. Stadt in Böhmen. 
e EU Komponift. 
3. UA Schädliches Infekt. 
| Fabrikort in Thüringen. 


Auflösungen aus Band X. 
Rätſel: Rehe, Ehre, eher, Beer. 
Umftellungsrätjel: Bitter, Oberon, Traum, Tonne, Made, 
Irene, Tajo, Urban, Xarde, Seil. 
Charade: Meijterhaft. 
Magifches Kreuz: Menelaos, Trebinje, Kalidaja, Sranaten. 
Sitaten-Rätfel: Kurz ift der Schmerz, und ewig ift die Freude. 


E 





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