N IE 075
*
ı
u
-—
,
ha us-Bibljop, ‘
e *
—
ibliofhek
— FEN
od
— —— —
—
Ed
Ilustrierie - + =
Baus-Bibliotbek
Jahrgang II 2a 121 a3 098
Photographie-Verlag von V. Angere
Was birgt die Zukunft? Nach dem Semälde von A. Lonza.
r
J
Wien.
Jlustrierte
Haus Bibliothek
ur Unterhaltung - - -
und geistigen Anregung.
— —
Band XI
Berlin-Leipzig |
WU. Vobach & Co.
Derlagsbuchhandlung.
pe:
® Druck von
2 W. Vobach & Co.
‚in LeipzigR.
(K Zug‘ 9 — —RWR —VX (LT) (8 Cox 2
* 8 va IT * * * — 8 Sr ve IQ * VERS X) ve AS RN
\T/Z ı UT, IN. 4 Nr — IT, EN 2 RN ”
j — — Frau ad — ——— — en — > u
S—⏑ — — ea ——eae nm >>
InbaltsVerzeichnis.
An
| Seite
Was birgt die Zukunft? Nach dem Semälde von
A. Lonzea. Titelbild.
Wer wird fiegen? Ein Zeitroman in drei Büchern
von Reinhold Ortmann. (Sortfeßung). . . 2423
Deutfche Dichtergrüße: | er
Schnadaebüpfin . > 22 2 nn nn nn. 2486
Beidebild. Don Detlev von Lilieneron . . 2486
Bad Kiffingen. Don Wolfgang Engel . . . . 2487
Mit 9 Abbildungen.
Duellwut bei Tieren. Don Richard Klamroth . 2501
„Um fo einen!“ Novelle von Elfe Krafft . . . 2507
Pbotograpbien. aus dem Vogelleben im Freien.
Von Ewald van den Bofh. . . 2... . 2527
Mit 2 Abbildungen. |
- Deutiche Dichtergrüße:
Ständchen. Don Ludwig Jacobomsfi. „ . 2532
Vöslein und Wandern. Don Friedrich Dolfer. 2532
Wie das Gold gefunden wird. Don Dr. M. Marriot
in San Francisco ER a
Deutfche Dichterinnen der Gegenwart. Helene
Tiedemann (Leon Danderjee). - .» 2.2... 2541
Mit Bildnis der Dichterin.
Das Rätfel der Abnenburg. Roman von Egon Fels. 2545
Deutfche Dichtergrüße:
Derrat, Don Hlerander Kaufmann. . . . 2616
‘
DI
un
IV
[DV
Anbalts:Derzeichnis.
Ein Thüringifches Elite-Regiment und Teine Ge—
fchichte. (4. Thüringifches Infanterie-Regiment
Seite
Ar. 72.) Don Bellmut von Trimborn 2617
Mit 3 Abbildungen.
Allerlei:
Urweltliche Lederbiffen. -. - - x 2.0. . 2640
Klippen des Indizienbeweiles . . - 2643
Einer der unheilvolliten Staatsmänner . „+ 2645
In Sieben Stunden durch fieben er Länder . 2645
Eheſtatiſtik. — .. 2646
Srauen als Soldaten . . . —V . 2647
Wie die Chinefen mit ihren Söttern um Beben . 2649
Scheidungsgründe - 2 2 2.2 0 en nn. 2650
Öcchideenjäger. «© . . +.» a2 are 52002
Die Größe eines Waffertropfens 6853
Rätfel- Ecke ge) . . . . . . 0 e 0 . . . 2654, 2655
J nſerate 0 , ‘ ® U 0 . ‘ . ’ 0 0
2656
Wer wird fiegen?
Ein Zeitroman in drei Büchern von Reinhvld Drimann.
(3. Sortfegung.) (Vachdruck verboten.)
lagen Sie e8 mir noch einmal! Sch bin nicht ein
Mörder?“ |
„Bit!“ machte der Arzt, der es gehört hatte,
und mit vorfichtig gedämpfter Stimme fügte er
Hinzu: „Er fann in jeden Augenblid wieder zum Bewußtfein
fonmen, und ich darf Ihnen zu Ihrer Beruhigung verfichern,
Herr Cederjtjöld, daß die Verlegung allem Anjchein nach Feine
allzu fchwere if. Eine leichte ©ehirnerjchütterung ſcheint
allerdings vorzuliegen; aber ich glaube nicht, daß wir ung
ihretwegen zu ängjtigen brauchen.“
Wührend der Doktor zu ihm |prad), hatte Cederjfjöld fich
langſam aufgerichtet. Seine blauen Augen, die noch größer
und noch herbortretender jchienen als ſonſt, hatten die Worte
förmlich von feinen Tippen getrunken, und während nun jeine
breite Bruft aufs neue mächtig zu arbeiten begann, bewegten
ih jeine Lippen, ohne daß fie doch imftande geweſen wären,
auh nur einen einzigen Laut Hervorzubringen. |
Er that einen zögernden Schritt auf dag Nubhebett zu;
aber der Arzt, nachdem er noch einen rajchen Blick auf feinen
Patienten gerborfen, ging ihm entgegen und rannte ihm zu:
2424 Reinhold Ortmann.
„Begnügen Sie fich vorerjt mit dieſer beruhigenden Aus—
funft — und gehen Sie, ehe Herr von Brunned aus jeiner
Ohnmacht erwacht. Wir müfjen ihn vor jeder Aufregung hüten,
und darum iſt es doch vielleicht beſſer, daß er Sie jet nicht
fieht. Ich glaube ja gern, daß Sie ein Bedürfnis fühlen, mit
ihm zu fprechen; aber wir wollen vor alem Rückſicht auf feinen
Zuftand nehmen — nicht wahr? Und aus diefem Grunde
würde ich es für zmedmäßig Halten, wenn auch die andern
Herrichaften ſich nunmehr verabjchiedeten.“
Arvid Cederjtjöld ftrich fih über die Stirn.
„Aber wenn ich ihn nicht um Verzeihung bitte noch dieſe
Nacht, ich werde es niemals thun fünnen. Ich — —“
„Sie werden mir gejtatten, mein junger Freund, Gie
vorerft nach Haufe zu begleiten. Ich bene, wir haben einiges
miteinander zu reden.“
Es war Heinrich) Vollart, der ihn mit diefer in ziemlic)
energiihem Tone abgegebenen Erklärung unterbrochen hatte,
indem er zugleich jeinen Arm in den des Schweden jchob.
Halb mwillenlos ließ Cederſkjöld ſich ein paar Schritte fortziehen;;
dann aber blieb er doch noch einmal Stehen.
„Meine Frau — iſt fie fort?“
Der Maler wies auf die Thür des Nebenzimmers.
„Ihre Frau iſt mit meiner Tochter da drinnen. Und
wenn Sie es geſtatten, wird fie für dieſe Nacht die Gaſt—
freundſchaft meines Hauſes genießen. Einer dieſer Herren
hat ſicherlich die Freundlichkeit, ſtatt meiner die Damen zu
begleiten.“
Der Schwede ſah ihn an und drückte ihm dann mit einer
ungeſtümen Bewegung ſo heftig die Hand, daß Heinrich Vollart
in —— war, laut aufzuſchreien.
„Sie ſind ein vortrefflicher Mann,“ ſagte er gepreßt.
- „Und Sie können mich laſſen allein gehen. Ich werde nicht
thun, was Sie fürchten.“
„Um fo beffer! Aber ich Habe mir's nun einmal bor-
genommen, Sie zu begleiten. Und ich bin jedenfalld noch vicl
an als ich vortrefflich bin. Lafjen Sie ung aljo gehen!“
Da erhob Arvid Cederjfjöld feinen weiteren Widerjprud)
mehr, und fie gingen. — — —
Wer wird Stegen? 2425
“
. Anders, als fie gefommen . waren, mit jcheuen, lautlojen
Schritten, hatten Gabor Sarlos Gäſte fich entfernt, und jeder
von ihnen Hatte ſich draußen auf dem Borplaß dem noch iyımer
ganz verjtört dreinfchauenden jungen Ungarn mit mannhaften
Händedrud zu nnverbrüchlicher Verſchwiegenheit verpflichtet.
Nun kehrte er in das Atelier zurüd, wo Erich, mit einem
proviſoriſchen Verband verjehen, noc immer in tiefer Bemußt-
loſigkeit dalag.
„Sie find alle fort — bis auf die Damen. Glauben
Sie wirklich, Doktor, daß ih mid) auf eine Stunde entfernen
fann, um fie nach Haufe zu geleiten?“
„Gewiß! Sch werde jelbitverjtändlich für den Neft ver
Nacht bei dem Patienten bleiben, und Sie fagten ja, daß Sie
Ihre Aufwärterin herbeirufen wollten. Es genügt, wenn ic)
irgend eine Perfon zur Verfügung Habe, die mir im Fall der
- Not einige Handreichungen leiſten kann.“
Sarlo wendete jich dem Nebenzimmer zu; aber Dolly hielt
ihm noch zurück.
| „Wir brauchen Ihre Aufwärterin nicht,“ ſagte fi. „Ich
werde bei Ihrem Freunde —
Verlegen zupfte der Ungar an ſeinem Schnurrbart.
„Das iſt ein ſehr großmütiges Anerbieten; aber ich weiß
doch nicht —
„Was haben Sie dagegen einzumenden?“ ' fragte fie ruhig.
„Habe ich mich zu ungeſchickt angejtellt, Herr Doktor?”
| „Gnädiges Fräulein find die beſte Samariterin, die man
ih nur wünfchen kann,“ erwiderte der Arzt verbindlich. „Aber
es bedarf eines jolchen Opfers wirklich nicht mehr, und feine
Annahme wäre nichts als ein jträfliher Mißbrauch Ihrer
Menfchenfreundlichkeit. Vielleicht wäre es für den Augenblick
verdienftlicher, wenn Sie Fräulein Vollart behilflich fein wollten,
dieje arme junge zn zu beruhigen und, fie zum Aufbruch zu
bewegen.“
Dolly leiftete, wenn auch etwas sögernd, der Aufforderung
Folge und trat in das Nebenzimmer ein, wo es indeſſen der
von ihr verlangten Unterſtützung nicht mehr bedurfte. Denn
es war dem ebenjo herzlichen wie verjtändigen Zureden Helenens
gelungen, die Aufregung der Schaufpielerin wenigſtens injoweit
2426 Reinhold Ortmann.
EI IE
zu beichwichtigen, daß man daran denken fonnte, die Wohnung
der beiden Maler mit ihr zu verlaffen. Allerdings bot fie
mit jhrem verjtörten Gefichtchen noch immer einen geradezu
bejammernsmwerten Anblid, und das Mebermaß der Erregung
hatte ihre Kräfte jo erjchöpft, daß fie ſich kaum auf den Füßen
zu halten vermochte. Ihre Thränen waren verfiegt, aber ein
frampfhaftes Schluchzen jchüttelte noch immer von Zeit zu Zeit
ihre zierliche Geftalt. Willenlo8 ließ fie e3 gefchehen, daß man
ihr den Hut aufjeßte und fie in ihren Mantel einhüllte Auf
den Arm Helenens geftüst und mit halb gefchlofjenen Augen,
als fürchte fie, daß fie etwas Entjebliches werde ſehen müfjen,
betrat fie das Mtelier, das man paſſieren mußte, um den
Ausgang zu gewinnen. Helene ſah auf den erjten Blid, daß
Erich. inzwijchen das Bewußtſein wieder erlangt hatte. Denn
feine Mugen waren weit geöffnet, und feine Lippen beivegten
ich zu leifer Antwort auf eine Zrage, die der Arzt eben an
ihn gerichtet haben mochte. Aber Gabor Sarlo winkte ihr zu,
nicht zu verweilen, und fo zog fie die Schaufpielerin raſch mit
ſich auf den Vorplag hinaus, wo fich ihre eigene Garderobe
befand. Erſt als die Thür des Ntelierd ſich Hinter ihr ge-
ſchloſſen hatte, gewahrte fie, daß Dolly ihr nicht gefolgt war.
Sie zog ſich an und wartete ein paar Minuten lang auf das
Ericheinen ihre Verlobten und ihrer Freundin. Dann, al
fie noch immer nicht famen, öffnete fie noch einmal behutfam
die Thür, um mit grenzenlofem Erjtaunen das Bild zu erfafjen,
das fich da drinnen ihren Blicken bot.
Erich von Brunneck Hatte fich auf feinem Lager halb auf-
gerichtet, und fein Geſicht war Helene fo weit zugeiwendet, daß
fie den beglüdten Ausdruck feiner Züge wahrnehmen fonnte.
Bor ihm auf dem Boden aber fniete Dolly in einer vielleicht
etwas theatraliihen, doch darım nicht weniger Tiebreizenden
Stellung, die Ellenbogen auf den Rand des Ruhebettes geſtützt
und das Kinn auf den gefalteten Händen. Ihr aufwärts ge=
richtetes Antliß war dem Verwundeten zugefehrt und für Helene
unsichtbar; aber die ganze Situation war jo unzweideutig, daß
fie nicht exit daS Mienenſpiel der Sängerin zu ftudieren
brauchte, um zu begreifen, was da gejchah.
Peinlich überrajcht, mit einem ftechenden Schmerzgefühl
Wer wird ftegen? 2427
——— M
in der Bruſt, für das ſie ſich ſelbſt wohl kaum hätte eine Er—
klärung geben können, blieb das junge Mädchen regungslos
auf der Schwelle ſtehen. Und nun hörte ſie Dolly ſagen:
„Nein, ich bleibe hier — ich müßte ja zu Hauſe vor
Angſt vergehen.“
Da hielt es ſie nicht länger, und ohne alle Ueberlegung,
einzig dem Impuls des Augenblicks folgend, that ſie ein paar
Schritte auf die kleine Gruppe zu:
„Vergieb — aber ich möchte ein paar Worte unter vier
Augen mit dir reden, Dolly!“
Ohne ſich von den Knieen zu erheben, drehte die An—
geredete den rotblonden Kopf nach ihr um. Ihr Geſicht war
hinreißend ſchön mit dem Ausdruck ſeliger Hingabe, der ſich
wie ein verklärender Schimmer darüber gebreitet, und ein un—
widerſtehlich reizendes Lächeln umſpielte ihre Lippen, als ſie
im weichſten und ſanfteſten Tone erwiderte:
„Weshalb unter vier Augen, Liebſte? — Sch weiß ja
jehr wohl, wa du mir jagen willit. Aber e8 wäre verlorene
Mühe sch bleibe ja nicht allein hier. Und ich frage nichts
nach dem Urteil der Welt.“
Der Doktor war mit einem unmutigen Stirmrunzeln
zurüdgetreten, und achjelzudend flüfterte Gabor Earlo ihm
einige Worte zu. Erich von Brunned aber neigte feinen ver-
bundenen Kopf tiefer zu der Knieenden Hinab und jagte:
„Ich danke Ihnen, Dolly — aber die andern haben recht
— Gie dürfen nicht bleiben! Ich will nit, daß man es
wagt, Ihnen Uebles nachzureden.“
Sie mollte etwa entgegnen; aber . ein unerwarteter
Zwiſchenfall Tieß fie nicht dazu kommen. Vor fünf Minuten
ſchon Hatte Sarlo den Klingelzug in Bewegung gejeßt, der in
die Wohnung der Aufwärterin führte, und num tauchte plößlic)
die maſſige Geftalt der Frau Schulze mit einem Geficht, auf
dem fich Drajtiich genug daS gewaltigite Erjtaunen malte, im
Thürrahmen auf.
„J du meine Jüte! Was i8 denn paſſiert? Das ſieht
ja aus, als hätte es hier Mord und Totſchlag jejeben.“
Als hätte ein Peitjchenhieb fie emporgetrieben, war Dolly
beim erjten Laut diefer rauhen, mißtönenden Stimme auf-
2428 -» | Reinhold Ortmann.
—— und hatte ſich hinter den maleriſchen Dfenaufban j
geflüchtet.
„Entfernen Sie da3 Weib!" raunte fie Sarlo zu. „Um
alles in der Welt beſchwöre ich Sie: ſchicken Sie fie fort!”
Uber die wadere Frau Schulze jah wahrlich nicht aus wie
jemand, der ſich jo ohne mweiteres wieder fortichiden lafjen würde.
Die Arme in die Hüften geftemmt, war fie mitten im Atelier
jtehen geblieben, und ihre Kleinen, verfchmibten Augen waren
unverwandt auf Dollys jehr unzulängliches Verſteck gerichtet.
„Was hat denn das Fräulein? Bor mir braucht fie ſich
doch nicht zu genieren. Und weshalb haben Sie eijentlich nach
mir jeklingelt?“ |
„Herr von Brunneck hat das Mißgeſchick gehabt, ſich durch
einen Fall zu verletzen,“ ſagte Sarlo in großer Verlegenheit,
„und da ich im Begriff bin, die Damen nach Hauſe zu begleiten,
hatte ich Sie bitten wollen, inzwiſchen hier in der Nähe zu
bleiben für den Fall, daß der Herr Doktor eines Beiſtandes
bedürfen ſollte. Jetzt aber — —“
„Natürlich werde ick hier bleiben,“ ſchnitt ihm Frau Schulze
mit großer Entſchiedenheit die Weiterrede ab. „Von den Fräu—
leins wird ihm doch wohl keine die janze Nacht Jeſellſchaft
leiſten wollen.“
Dolly mochte eingeſehen haben, daß es für die Dauer un-
möglich fein würde, fich dem impertinenten Späherblid der Auf-
wärterin zu verbergen. Denn fie trat plöglih aus ihrem
Winkel hervor und gerade auf fie zu.
„Alle juten Jeiſter!“ — wollte Frau Schulze einen ver:
mutlich auf großen Wortreichtum zugefchnittenen Ausdrud höchſten
Erjtaunens beginnen. Dolly aber wußte fie daran zu ver-
hindern, indem fie ihr die Hand entgegenftredte und mit lieben3-
würdigſter Unbefangenheit fagte:
„Srau Schulze — nicht wahr? Sch weiß nicht, ob Sie
ih von unjerer flüchtigen Begegnung her meiner noch erinnern.
Aber ſeitdem ic) Sie erfannt habe, weiß id, daß wir Herrn
von Brunned in der That in guten Händen lafjen, wenn wir
ihn Ihrer mütterlichen Obhut empfehlen. Wollen Sie mir
erlauben, Ihnen ein paar Worte im Vertrauen zu jagen, liebe
Frau Schulze?“
Wer wird jtegen? 2429
Auf dem derbfnochigen Geficht der Frau hatte fich während .
‚diefer auffallend haftigen Begrüßung eine ganze Sfala von
widerjtreitenden Empfindungen gejpielt. Aber fie Hatte die mit
ſo geivinnender Freundlichkeit dargebotene feine Hand nicht ge-
wonnen, und nur mit fichtlichem Widerſtreben Tieß fie ſich
jest von Dolly nach der andern Seite des Ateliers hinüber
ziehen.
= Da aber, wo fie ſicher ſein konnte, von den andern nicht
mehr gehört zu werden, raunte ihr die Sängerin zu:
„Sie werden ſchweigen — nicht wahr? Sie werden den
beiden Herren nicht verraten, woher wir und fennen. Seien
Sie verfichert, daß ich mich Ihnen dafür erfenntlich zeigen
werde.: Sie fünnen für Ihre Verjchiwiegenheit von mir ver-
langen, was Sie wollen.“
„So? Kann ich das wirklich? Na, wir wollen ſehen.
Ich werde mir's überlegen.“ — — —
Als Fräulein Dolly ſich den anderen wieder zuwandte,
hatte ſie ihre vorige Abſicht geändert. Sie trat an das Lager
des Verwundeten, um ſich von ihm zu verabſchieden und ihm
eine ſchmerzloſe Nachtruhe zu wünſchen. Nur für-die Dauer
weniger Sekunden ließ ſie's gejchehen, daß er ihre Hand zärt-
(ih an jeine Lippen drüdte, und einzig ihre Augen, die heiß
und leuchtend die feinigen juchten, jagten ihm alles das, wonach
feine Seele dürſtete.
Mit. einem freundlichen Kopfniden grüßte fie den Arzt,
um dann wie in einer Aufwallung warmer Bärtlichkeit Helenens
‚Taille zu umſchlingen.
„Du ſiehſt, daß ich ganz vernünftig bin, lieber Schab!
Laß uns denn diefe arme kleine Frau Signe gemeinjam unter
unjere jchügenden Fittiche nehmen!“
Gleich darauf waren der Arzt und die Aufiwärterin allein
dei dem Vermundeten.
„Machen Sie doch nicht ein jo ſchrecklich ernſthaftes Ge—
ſicht, liebe Frau Schulze,“ ſagte Erich ſcherzend. „Mit meiner
Verletzung hat es herzlich wenig auf ſich. Und wenn Sie mich
ein bißchen erheitern wollen, ſo erzählen Sie mir, wo Sie die
Bekanntſchaft des Fräulein Förſter gemacht haben. Es würde
mich außerordentlich intereſſieren.“
2430 Reinhold Ortmann.
Mit gerunzelter Stirn ftand die Frau ein paar Sefunden
lang jehweigend wie in innerem Kampfe. Dann aber jchüttelte
lie. ablehnend den Kopf.
„Rein, heute nicht!” ftieß fie kurz und rauh hervor. „Sie
jehen nich aus, als ob es Ihnen jut thäte, Seichichten zu
hören. Wollen Sie denn übrigen3 hier in'n Wtelier liegen
bleiben?“
„Für diefe Nacht wird es wohl das beite jein!” erwiderte
der Arzt ftatt des Gefragten. „Und Sie haben vollfommen
recht, fich jet nicht auf lange Unterhaltungen mit unferm
PBatienten einzulaffen. Er jol nicht plaudern, jondern zu
ſchlafen verſuchen. Kehren Sie alfo vorläufig getroft in Ihre
Wohnung zurüd. Es it genug, wenn Sie fich bereit
zu fommen, ran? ih Sie rufe. .
„Ra ja, Sie brauchen ja bloß zu klingeln. ch bin immer
parat.”
Sie entfernte fi) mit jener anmutigen Leichtigfeit, die
jedesmal den ganzen Fußboden des Ateliers in zitternde Be-
wegung verjeste. Aber als fie dann die Thür ihrer blitfauberen
Küche wieder Hinter fich ing Schloß drüdte, ſagte fie laut und
vernehnlich vor fich hin:
„Und wenn fie mir funfzig Thaler jeben wollte, ich thu's
nich! Sie foll’3 mit ihm nich machen dürfen, wie mit dem
andern — dafür wird die Schulzen fchon ſorgen.
Fünfzehntes Kapitel.
Es mochte gegen neun Uhr morgens ſein, als Erich aus
ſeinem tiefen und wohlthuenden Schlummer erwachte. Ver—
wundert muſterte er ſeine Umgebung, die ihn allerdings fremd
genug anmuten mußte, und es bedurfte einer geraumen Weile
gründlichen Nachdenkens, ehe er ſich alle Vorgänge der ver-
offenen Nacht, joweit er fie mit Bewußtjein miterlebt oder
aus den Erzählungen des Arztes kennen gelernt, ins Gedächtnis
zurüdgerufen und fie in den richtigen Zuſammenhang unter-
einander gebracht hatte.
Die feltjamjten und widerjpruchsvolliten Empfindungen
waren es, die ihn bei diejer Erinnerung bewegten. Seine erite
Wer wird ftiegen? 2431
Regung beim Anblick de3 bunt und flitterhaft aufgepußten
Atelierd, das nur zu deutlich ſowohl die Spuren des aus—
gelafjenen Feſtes wie die feines wüſten und traurigen Abſchluſſes
aufivies, war ein Gefühl des Widermwilleng und der peinlichen
Beihämung geweſen. Er bereute tief, fich troß des üblen Ein-
drud3, den er damal3 bei feinem erjlen Beſuch in ihrem Kreije
empfangen, mit diejem zigeunerhaften Künftlervölfchen eingelafjen
zu haben, und er empfand etwas wie wirklichen Groll gegen
Vollart und Sarlo, die ihn dazu beitimmt hatten.
Aber fein Unmut verflog, und ein Lächeln Hujchte über
fein Geficht, als er jebt de3 jungen Ungarn anfichtig wurde,
der e3 offenbar auf jich genommen hatte, nach der in früher
Morgenitunde erfolgten Entfernung des Arztes bei ihm zu
„wachen“.
Ohne allen Zweifel hatte er den beiten Willen dazu gehabt;
denn er jaß in der denkbar unbequemiten Stellung auf einem
jener alten italienifchen Holzjtühle, die er für das „Seit“, wer -
weiß woher, aufgetrieben hatte, und die für jeden andern Zweck
brauchbarer jchienen al3 für den des Ausruhens. Hundertmal
mochte er in tapferem Kampfe Herr geivorden fein über die
Anmwandlungen einer bleiernen Müdigkeit, endlich aber war er
ihnen doch unterlegen. Sein lodiger Kopf ruhte auf dem harten,
fantigen Schnigwerf der Stuhllehne, als ob e3 der weichite
Daunenpfühl geweſen wäre; ein Ausdrud heiterer Ruhe, wahr-
jcheinlich da8 Spiegelbild eines angenehmen Traumes, war auf '
feinem hübſchen Gelicht; und es wäre ohne allen Zweifel die
größte Graujamfeit geweſen, ihn rau aus dieſem füßen
Schlummer zu weden.
Sicherlich träumt er von der Geliebten! dachte Erich, und
dabei that fich’3 vor feiner eigenen Seele auf wie eine herr—
lihe Wunderwelt voll paradiefischen Sonnenjchein3 und un-
geahnter Seligfeiten.
„Dolly!“ fagte er halblaut vor ſich hin, al3 wäre etwas
unjäglich Beglüdendes jchon in dem bloßen Klang ihres Namens.
Und dann jchloß er die Augen, um durch feinen projaischen
äußeren Eindrud die wonnevollen Bilder zerjtören zu laffen,
die feine Phantafie erfüllten. Aber nicht lange durfte er fich
unbehelligt diejer holden Beichäftigung hingeben. Denn ein
4232 Reinhold Ortmanı.
Schlüffel Inirichte draußen im Drüderfchloß, und ein wohl—
befannter fchwerer Tritt machte die Dielen des Ateliers erzittern.
Seufzend drehte Erich den Kopf zur Seite, um fich ſchlafend
zu Stellen. Dann aber erinnerte er ſich des wirklich ſchlummernden
Freundes, der nicht gejtört werden durfte, und. al3 die Auf-
wärterin über die Schwelle trat, mahnte er jie durch Wort
und Gebärde zur Behutſamkeit.
„Leife, Frau Schulze, leife, damit wir ihn nicht wecken!“
Sie ftreifte Gabor Sarlos Geftalt mit einem mitleidigen
Blick, und dann, indem fie jo vorfichtig wie möglich an Erich
Lager herantrat, brachte fie ein zufammengerolltes Blatt zum
Borichein, das fie bei ihrem Eintritt unter der Küchenjchürze
verborgen gehalten. |
„Hier! SE Habe Ihnen 'was mitjebracht, Herr von
Brunnel! Bielleicht macht's Ihnen Spaß, ſich's 'mal anzu-
jeden.“ |
Mit einer gemwillen heiteren Neugier entrollte Erich den
feineswegs allzu jauberen und jtellenweife arg zerfnitterten
Bogen ftarfen Zeichenpapieres. Aber feine Augen öffneten ftch
weit und ein Ausruf höchiten Erſtaunens fam von jeinen Lippen,
al3 er einen Blick auf die in Fühnen Kreideitrichen ausgeführte
Skizze geworfen, die ihn bedeckte.
„Was iſt 093? — Wie, um alles in der Welt, fommen
Sie zu dieſer Zeichnung?“
„Ich hab' ſie hier in einem Winkel gefunden, als ick das
Atelier wieder in ſtand ſetzen ſollte, nachdem der arme Herr
Stehling jeſtorben war. Wenn keiner das Bild haben will,
dachte ick mir, kannſt du's ja zum Andenken behalten. Ein
bißken verrückt mag es wohl fein; aber ähnlich is es — nich
wahr?“
Die Aehnlichkeit war in der That überrajchend genug, wie
wenig ſonſt auch die Kompofition über die erften flüchtigen An-
deutungen hinausgediehen jein mochte. Ein jchön geſtaltetes,
weibliches Fabelweſen mit aufgelöftem Haar und mächtigen
Ihwarzen Fledermausflügeln, das ſich über einen jchlafenden
Süngling herabneigt, um ihn zu küſſen vder vielleicht auch, um
nah Vampyrart jein Blut zu trinfen — das war das Sujet
des in genialen Zügen ffizzierten Entwurf. Als Fünftlerifche
Wer wird flegen? 2433
Leiftung mochte die Studie dem Auge des Laien wohl ohhe
fonderliche Bedeutung -fcheinen. Und fie würde auch Erich von
Brunneck kaum länger als für wenige Minuten interefjiert
haben, wenn nicht eben dieje ganz unverfennbare, geradezu
verblüffende Aehnlichkeit gewejen wäre, die ihn auf den eriten
Blick gepadt hatte, al3 thäte etwas Wunderbares und Un—
begreifliche3 fich vor jeinen Augen auf.
Dies ſchöne Mädchenantlib, um deſſen Lippen ein jo ver-
langendes und zugleich graufames Lächeln jpielte, e3 trug mit
der vollfommenen Treue eines nach ‚dem Leben gezeichneten
Porträts Dolly Förſters reizende Züge. Und jelbit die eigen-
tümlich anmutige Beugung des fchlanfen Haljes war genau
diejelbe, die Erich jo oft an dem lebendigen Borbilde dieſes
holden Vampyrs entzückt hatte. ;
Er jtarrte auf die Skizze, als hielt er fie für irgend ein
Blendwerf, das jich im nächſten Moment unter feinen Händen
wieder in etwas ganz anderes verwandeln müßte Dann aber
Ihien ein böjer, quälender Gedanke jäh fein Hirn zu durch—
zuden. Denn er richtete ſich haftig auf jeinem Lager empor
und jagte:
„Dtefe Zeichnung wäre aljo von der Hand des ver-
jtorbenen Stehling? Und was wiljen Sie über ihre Entitehung ?“
„Ra, was fol ich denn davon wiljen? Dabei jeweſen bin
id nich, wie er’3 jemacht hat. Aber ick denfe mir, er wird fie
wohl 'mal abjezeichnet haben, wie fie zum Bejuch bei ihm
jewejen i3.”
„Was? — Fräulein Förfter?“
„Den Namen fennen Sie wahrjcheinlich beſſer als id. Er
hat ſie mir nich vorjeltellt. Ick weiß bloß, daß es dieſelbe
Dame war, die fich jeitern fo freundlich um Sie jefümmert hat.
Uber eigentlich jollte id e8 Ihnen ja nich verraten.“
„Sie follten nicht? Und wer hat es Ihnen verboten ?“
„Das Schöne Fräulein natürlich. Sie wollte mir wer weiß
was dafür jeben, wenn id den Mund hielte.“
„Das it nicht wahr! Wann hätte fie Ihnen Derartiges
gejagt?“
„Erlauben Sie jefälligft, Herr von Brunned — id lüge nie.
Wenn es Ahnen: aber anjenehm is, Fann id ja auch ſchweigen.“
ZU Baus-Bibl. IL, Band XI. 153
2434 Reinhold Ortmann.
„Rein, nein — Sie follen mir im Gegenteil alles offen-
baren — hören Sie — alles! Die Dame ftand aljo in näheren
Beziehungen zu dem vorigen Bewohner des Atelier3?. Und fie
fam öfter hierher, ihn zu bejuchen?“
„Nich jerade Häufig. Ick denke, viel öfter al3 zivei- oder
dreimal wird e3 wohl nich jewefen jein. Sie müfjen fich eben
für jewöhnlich anderswo jetroffen haben.“
Erich mochte auf Schlimmeres gefaßt geweſen ſein; denn
wie in einem Aufatmen der Erleichterung hob ſich ſeine Bruſt.
„Sp vermuten Sie? — Uber Sie haben feine Beweiſe
dafür, nicht wahr?" |
„Keine, auf die ich fchwören könnte. Aber man macht ih
doch jo jeine Jedanken. Und wer fo lange Aufwärterin bei
fedige junge Herren jewejen iS wie id, verjteht jih man auch
ein bißfen auf folche Jeſchichten. Daß ſie's darauf anjelegt
Hatte, ihn in fich verliebt zu machen, i3 janz jewiß. Id bin
einmal nebenan im Bimmer jewejen, wie fie fich hier im Atelier
miteinander unterhalten haben. Und id ſage Ihnen: bloß
mit ihrem Lachen hätte fie einen Mann verrüdt machen können
— ohne die Blide und all da3 andere, was ſie ſonſt noch auf-
jeboten haben mag.“
Erich hatte eine Empfindung, als wühle eine rohe Fauſt
mit ſcharfen Meſſern in feiner Bruſt. Die derbe und rückſichts—
loſe Ausdrucksweiſe dieſes unbarmherzigen Weibes machte ſeine
Pein nur noch unerträglicher. Und doch trieb es ihn, die grau—
ſame Qual zu vermehren, indem er alles aus ihr herausfragte,
was ſie wußte oder vermutete.
„Sie haben alſo die beiden damals für ein Liebespaar
angeſehen — ein glückliches Liebespaar?“
„Ilücklich? — Nein, wahrhaftig — das is er nich jeweſen,
der arme Menſch, oder doch höchſtens für ſehr kurze Zeit. Denn
wie die Bekanntſchaft kaum acht Tage alt war, fing es ſchon
mit ihm an.“ |
„Was fing an, Frau Schulze? Können Sie mir denn
nicht in einigem Zufammenhange erzählen, was Sie bemerft
haben?“
„Lieber Himmel, was iS da viel zu erzählen! Sie muß
ihn eben am Narrenjeil 'rumjeführt haben, wie das mohl jo
Wer wird fiegen? 2435
Mode i3 bei diejen Hübfchen Damen, die fich heute von dem
einen anbeten lafjen und morgen von irjend einem andern.
Den einen Tag is er umberjejangen wie jemand, der die Engel
im Himmel fingen hört und der am liebiten jleich die janze
Welt umarmen möchte. Und dann, wenn ihm der Briefträger
jo ein niedliches Kleines Billettchen jebracht hatte oder wenn
er von dem Stelldichein nach Haufe fam, ſah er manchmal aus,
daß einem das Herz im Leibe weh thun mußte. Sie hat ihr
Spiel mit ihm jetrieben, jage id Shnen, Herr von Brunned!
Und es is ein jchändliches Spiel jeweſen. Denn der arme Herr
GStehling iS daran jejtorben." —
Der Schläfer auf der andern Seite des Atelier3 begann
fi zu regen, und mit einem jchmerzlichen Seufzer, den ihm
das erwachende Bemwußtjein feiner unbequemen Lage erpreßt
haben mochte, jchlug er die Augen auf.
„Alle Wetter — ich glaube wahrhaftig, ich habe geichlafen.
Wie find Sie denn hereingefommen, Frau Schulze? — Sch habe
ja gar nicht3 davon gehört.”
Durch die Thüre,” erwiderte fie troden. „Und wenn
eine Kompagnie Soldaten hinter mir her jefommen wäre, würden
Sie mwahrjcheinlich auch nich aufjewacht fein. Zum Kranfen-
wärter, glaube id, find Sie nich jeboren.“
„Kein,“ beitätigte Gabor Sarlo mit drolliger Zerknirſchung,
„ich fürchte es beinahe ſelbſt. Aber könnten Sie uns nicht
vielleicht ein Heines Frühftüd bejorgen, verehrte Frau Schulze?
Sch Ipüre da drinnen eine fürchterliche Leere.“
„Jewiß! Ick bin ja bloß jefommen, um zu fragen, was
Sie haben wollen. Vielleicht 'nen fauren Hering?”
Sarlo überhörte den offenkundigen Sarkasmus dieſer Frage
und erteilte ihr, fich an die Anweiſungen des vorhin durch feine
ärztliche Pflichten abgerufenen Doktors haltend, die erforder-
fihen Inſtruktionen. Erſt als fie fich zögernd entfernt hatte,
trat er an das Lager des Freundes.
„Run, Liebiter, wie geht’ 3? — Sch Hoffe, du biſt — —
aber was iſt denn das da? — Wie fommft du zu der mwunder-
lichen Skizze?“ |
Mit einem gezwungenen Lächeln, das fürwahr trübfelig
genug ausgefallen war, reichte ihm Erich das Blatt.
153 *
2436 Reinhold Ortmann.
„Eine Warnung, die unjer Vorgänger mir durch Ber-
mittelung der ehrenwerten Frau Schulze aus dem Jenſeits hat
zukommen lafjen. — Und fie ift recht verftändlich, nicht wahr?“
Auf dem Geſicht des Ungarn Spiegelte ſich das lebhafteſte
Erſtaunen.
„Fräulein Dolly — als Fledermaus? Ja, was ſoll denn
das nur bedeuten?“
„Nicht als Fledermaus, mein Lieber, ſondern als Vampyr.
Und es bedeutet, daß deine ſchöne Bacchantin, wie du ſiehſt,
ſchon anderen als Modell gedient hat, ehe ſie dir dieſe Gunſt
gewährte. Der Unterſchied iſt nur, daß der arme Teufel, der
mir dieſe Skizze hinterließ, nicht bloß mit dem Kopfe, ſondern
auch mit' dem Herzen an ſeiner Arbeit beteiligt war — und
daß dieſe ungeſunde Art des Schaffens ihm allem Anſchein nach
recht ſchlecht bekam.“ |
Die Bitterkeit in den Worten de3 Freundes veranlaßte
Sarlo, einen Bli auf jein Geficht zu werfen. Und nun wurde:
ihm mit einem Male alles klar.
„Steht es jo? Du vermutelt, daß fie dem Urheber der
Skizze mehr gewejen ſei al3 nur fein Modell?“
„sh würde durch dieje vielfagende Zeichnung davon über-
zeugt jein, auch wenn unjere wadere Aufwärterin es nicht
zum Ueberfluß für ihre Pflicht gehalten hätte, mir einige Er—
läuterungen von zmweifellojeiter Deutlichkeit zu geben. — Aber
daß fie troß diejer Erinnerungen geftern hierher fommen fonnte,
und daß fie — — doch genug, weshalb jollen wir ns weiter
darüber reden?“
Sarlo warf die Studie auf einen Tifch. Sein hübjches
Knabengeficht war ganz rot geworden vor Entrüftung.
„Aber wir müſſen gerade davon reden, Erich! Denn wenn
deine Vermutung zutrifft, Haben wir ung ja in diefer Dolly ganz
entjeglich getäufcht, und es ift meine Pflicht, Helene vor einem
weiteren Verkehr mit ihr zu warnen. Sie hätte ung ja auf die
allerjchnödejte Weile hintergangen.“
Da3 bittere Lächeln war noch immer auf Erich Geſicht.
„Vielleicht beurteiſſt du ſie zu hart, mein Lieber! Am
Ende hatte ſie doch keine Sepp, ung über ihre Ver—
gangenheit zu unterrichten.”
Wer wird ftiegen? 2437
„Du wollteſt fe entjichuldigen — du? Sa, Haft du denn
ganz vergefien, was in diefer Nacht gefchehen it? — Sch
glaubte, du jeieft auf dem Punkte, dich mit ihr zu verloben.“ -
„Bei Gott, ich ‚glaubte e8 beinahe ſelbſt. — Aber das
it ja nun vorbei — ein phantajtifcher Traum, wie all das
andere wirre Zeug, das da ſeit geſtern an uns vorbeigewirbelt
iſt. Willſt du mir eine kleine Gefälligkeit erweiſen, Gabor,
ſo reiche mir dort aus dem Schrank die Skizze, die meinen
Onkel auf ſeinem Totenbette darſtellt. Ich habe Verlangen
darnach, ſie zu ſehen.“ |
Bereitwillig entſprach Gabor. jeinem Wunſche. Er kannte
Die Geichichte des Bildes nicht; aber er wußte, daß es irgend
eine bedeutfame Rolle im Leben jeined Freundes |pielen müfje.
Denn mehr als einmal hatte er beobachtet, wie Erich in Stunden °
der Niedergeichlagenheit, die fich während ihres kurzen Zu—
ſammenlebens jchon recht häufig eingeitellt hatten, dies Blatt
zur Hand nahm, um ſich damit in fein Schlafzimmer zurüd-
zuziehen. Da e8 unzweifelhaft nicht gejchah, weil er daran zu
arbeiten wünjchte, jo mußte die Zeichnung wohl eine Art von
Talisman darftellen, zu dem er in Kleinmut und Trübjal feine
Zufluht nahm. Und der Ungar war ungeachtet jeiner eigenen
Mitteilfamkfeit viel zu zartfühlend, als daß er den Schleier des
Geheimnifjes, das dieſe Skizze zu umgeben jchien, durch eine
indisfrete Frage zu lüften verjucht Hätte. |
Heute am wenigſten würde er fich einer. jolchen Taktlofigfeit
Ihuldig gemacht haben. Aber die. Bitterkeit der Enttäufchung,
die ihm ſoeben zu teil geworden, jchien im Verein mit jeiner
förperlihen Schwäche in Erich ein Bedürfnis nah Mitteilung
gewedt zu Haben, wie er es in gleichem Maße dem jungen
Genoſſen gegenüber fonjt kaum empfunden. Vielleicht auch
‚regte ſich's im Grunde feiner Seele wie eine unbejtimmte Furcht,
daß er troß alledem dem verführerifchen Zauber der jchönen
Kirke noch einmal erliegen fünnte, und er wollte diefer Gefahr
begegnen, indem er den andern zum Mitwiſſer jener ©elöbnifje
und Vorjäße machte, die ihn eigentlich) von vornherein hätten
wappnen jollen gegen die lodende Verjuchung.
Er bat Gabor, fich neben feinem Lager nieberzulafien, und
er erzählte ihm von den Umständen, unter denen jene Zeichnung
2438 Reinhold Ortmann,
entjtanden war, joviel, als er preißgeben fonnte, ohne fich um
die Achtung des Zuhörers zu bringen. Zum erjtenmal jeit
ſeines Oheims Tode |prac) er von Magda. Und es war ihm,
al3 ob mit dem Moment, da er ihren Namen nannte, das
lieblihe Bild des noch Halb kindlichen und doch jo eigentümlich
frauenhaften Gejchöpfe® vor feinem geiftigen Auge in einer
Klarheit und Lebendigkeit erjtünde, wie er es jeit der Stunde
ihres Abjchieds nicht mehr gejehen. Sn al ihren Einzelheiten
wurde die Erinnerung an jenen verhängnisvollen Tag und an
die Nacht, die über fein Schickſal entjchieden hatte, in feiner
Geele wall. Und darüber gewann die Schilderung, die er
dem Freunde don einer jungen Verwandten gab, ihn jelber
unbemwußt, einen faſt ſchwärmeriſchen Charafter.
Bol ehrlicher Teilnahme hörte ihm Gabor Sarlo zu,
und in feiner lebhaften Künftlerphantafie erhielt daS weibliche
Wejen, von dem er mit folcher Andacht und Verehrung reden
hörte, jogleich Geſtalt und Leben.
„Sch Hoffe, daß e8 mir früher oder ſpäter vergönnt fein
wird, deine Coufine kennen zu lernen,“ fagte er, als Erich ein—
mal, von der Bewegung überwältigt, in jeiner Beichte innehielt.
„Sie muß ja fürwahr ein jeltene3 Gejchöpf fein, und ich wollte,
daß Helene fie zur Freundin gewinnen könnte. Aber daran ijt
wohl faum zu denken, denn jie wird nicht nad) Berlin fommen
— nit wahr?“
„Ich glaube es faum, obwohl ich gewiſſe Andeutungen in
dem leßten Briefe, den ich von ihr empfing, beinahe jo erklären
möchte, als ob es ihr Wunſch oder ihre Abjicht fei, Hier ihre
durch die Krankheit meine Oheims unterbrochenen Studien fo
bald al3 möglich wieder aufzunehmen. Aber wenn ich die Be—
merfung auc) richtig verjtanden habe, wird es doch vorausfichtlich
bei dem bloßen Wunjche jein Bemwenden haben, denn der Landrat
von Rocholl, ihr Vormund und väterlicher Bejchüger, gehört noch
ganz und gar zu den Leuten, denen eine jtudierende Frau gleic)-
bedeutend iſt mit einem Gejchöpf ohne alles feinere weibliche Em—
pfinden. Er würde Magda niemals zu ſolchem Zweck nach Berlin
gehen laſſen. Und ich bin überzeugt, daß fie zuviel Findliche
Ehrfurcht vor dem legten Willen ihre Vaters hegt, um ſich
Wer wird ftegen? 2439
m IDEELLER LEn (rn (0,0. LEADER Le fps 2200.00 JRR Le Dunn 2.0.0 zu Zum GL PLN
gegen die Anschauungen des Mannes aufzulehnen, dejjen Obhut
er fie vertraute.“
„Hm!“ meinte Gabor nachdenklich. „Nach allen, was du
mir von ihr erzählt haft, würde ich fie viel eher für eine jener
Naturen halten, die unter allen Umfjtänden und jedem Widerjtand
zum Trotz durchzujeßen willen, was fie einmal für recht und
. gut erkannt haben. Das Bild, das ich mir don deiner VBerivandten
gemacht habe, gleicht der Wirklichkeit ja vielleicht in feinem Zuge.
Aber es ift jo Hübfch, fich ein junges Mädchen vorzuftellen, für
defien Denfen und Handeln e3 fein anderes Gejeß giebt, al?
das der unbedingten Wahrhaftigkeit gegen ſich jelbit, wie gegen
alle Welt.“
Ueberraſcht blidte Erich auf. -
„Wie wunderbar richtig du jie beurteiljt! %a, es ijt, wie
du ſagſt. Wahrhaftigkeit und Beharrlichkeit, das ſind ſo recht
eigentlich die Grundlagen ihres ganzen Weſens. Und wenn ſie
ſehen könnte, wie wenig ich bis jetzt gethan habe, um das feierliche
Verſprechen einzulöſen, das ich ihr an meines Oheims Totenbette
gegeben — ich glaube, ſie könnte es ebenſo wenig verſtehen, wie
ſie es verzeihen könnte. Aber es iſt ja hoffentlich noch nicht zu
ſpät, die verlorene Zeit und die ſchmählich vergeudete Kraft
wieder einzubringen. Es ſoll unſerer wackeren Frau Schulze
unvergeſſen ſein, daß ſie juſt zur rechten Stunde das Trugbild
zerſtört hat, das mich wie ein lockendes Irrlicht von meinem
Wege abziehen wollte. Und wenn du mich jemals wieder in
Gefahr ſiehſt, einer derartigen Verſuchung zum Opfer zu fallen,
ſo ſollſt du mir als ein getreuer Warner dies Bild hier vor
Augen halten, um mich an meine heiligen Verpflichtungen gegen
einen Toten und gegen eine Lebende zu erinnern.“
„Das will ich!“ ſagte Gabor, und in warmem Druck fanden
ſich ihre Hände.
Da Hang es von der Thür des Ateliers her heiter und
glocenhell in ihre feierliche Stimmung hinein:
„sch bitte un Verzeihung, meine Herren — aber ich fand
draußen niemanden, der mic) hätte anmelden Fünnen. Und da
alle Thüren jo einladend offen jtanden, war ich unbeicheiden genug,
ohne Anmeldung einzutreten.“
2440 Reinhold Ortmann.
Schon bei ihrem erjten Wort war der Ungar Hajtig auf-
geiprungen, als gelte es, den vermwundeten Freund gegen eine
neue Gefahr zu beſchirmen.
„Fräulein Dol — — Fräulein Förſter — Sie? Und Sie
ſind allein hierher gekommen!“
„Freilich!“ lachte ſie. „Scheint Ihnen das ſo unerhört?
Und ich habe Ihnen nicht einmal einen Gruß von Ihrer Braut
mitgebracht! Denn Fräulein Helene war heute noch nicht für
mich zu ſprechen. Die Sorge für die arme Frau Signe nahm
ſie vermutlich zu ſehr in Anſpruch, als daß ſie daneben noch eine
Viertelſtunde für mich hätte erübrigen können.“
Sie war vollends in das Atelier eingetreten, und ſie maß
den Ungarn mit einem Blick voll unbefangenſten Erſtaunens,
als er ihr jetzt mit einigen raſchen Schritten entgegen ging, wie
wenn er ſie hindern wollte, ſich Erich noch weiter zu nähern.
„Entſchuldigen Sie, Fräulein Förſter — aber der Arzt hat
Herrn von Brunneck auf das ſtrengſte verboten, irgend einen
Beſuch zu empfangen.“
Er hatte es in einem Tone gejagt, der ſie notwendig em—
pfindlich verlegen mußte. Dolly aber jchien fein Benehmen viel
mehr belujtigend als beleidigend zu finden.
„Auch den meinigen?” fragte fie lächelnd. „Und Sie find
mit diefem Verbot einverjtanden, Herr von Brunneck?“
„Rein,“ erwiderte der Gefragte ruhig. „sch fühle mich
glüclicherweife ftarf genug, e8 zu mißachten. Sei ohne Sorge
um meine Geſundheit, Gabor — und laß uns fir eine Feine
Weile allein.“
Der Ungar zog die Stirn in Falten und drehte an feinem
Schnurrbart. |
„sch weiß doch nicht —
„Wie jonderbar Sie mir — Böhmen Herr Sarlo!
Fürchten fie etiva, ich könnte Ihres Freundes Hilflofigkeit be—
nutzen um ihm ein Leid anzuthun?“
In ihrem ſpöttiſchen Lächeln und ihrem ſchelmiſ chen Blick
war etwas, das den jungen Maler verwirrte. Zwar war er
ſich vollkommen bewußt, daß es eigentlich ſeine Pflicht ſei, ſich
dem Willen des Freundes zu widerſetzen und nicht von ſeiner
Seite zu weichen, ſo lange er ihn von der Gefahr dieſer ſüßen,
Wer wird ftegen? 2441
lächelnden Lippen und dieſer unmiderjtehlichen Augen bedroht
ah. Aber er fand nicht mehr den Mut, auf der Erfüllung
diejer Pflicht zu beitehen, und das Gefühl, mit feinem unſchlüſſigen
Baudern eine etwas lächerliche Figur zu machen, brachte ihn
vollends um feine Haltung.
„Rein, etwas Derartige fürchte ich nicht,“ ſagte er halb
ärgerlich, halb verlegen. „Und ich kann mich ja meinetivegen
einmal umjehen, wo Srau Schulze mit unſerem Frühſtück bleibt.“
„Sie jollten lieber auf einen Sprung zu Shrer Braut
gehen, Herr Sarlo,“ ſchlug Dolly vor, „denn ich glaube, fie
fönnte Ihren Beiltand recht gut brauchen. Bon dem Mädchen
hörte ich vorhin, daß Herr Vollert noch nicht nach Hauſe ge—
kommen ſei. Und Helene iſt vielleicht in einiger Verlegenheit,
was ſie mit ihrem Schützling anfangen ſoll.“
„Ja,“ ſtimmte Erich zu, „das ſollteſt du thun! Und wenn
es möglich it, follteft du auch Arvid Cederſkjöld aufjuchen, um
ihn über mein Befinden zu beruhigen und ihn an irgend einer
thörichten Handlung zu verhindern.”
„Das hieße mic) auf Stunden fortichiden,“ wandte Gabor
unmutig ein. „Und ich habe doch dem Doktor verſprochen, dich
nicht einen Augenblid allein zu laſſen.“
„Aber bin ich denn nicht da?” fragte Dolly. „Und
glauben Sie nicht, Herr Sarlo, daß ich mich zur Beauflichtigung
eines Kranken doch noch etwas beſſer eigne als Sie?“
Er konnte nicht widerjprechen, ohne ihr geradezu ind Geficht
zu fagen, was man inzwiſchen über fie erfahren hatte und was
er demzufolge über fie dachte. Dazu aber konnte er fich nicht
berechtigt fühlen, jo lange nicht Erich jelbit ihm eine Vollmacht
zu folcher Erklärung gegeben. So entichloß er fich denn, zu
gehen. Aber er entfernte fich nicht, ohne zuvor noch einmal
an das Lager des Freundes getreten zu jein und ihm mit
einem vielfagenden Händedrud zugeflüftert zu haben:
„Denke an deine Vorſätze, Erich, und jei jtarf! Sie darf
nicht noc) einmal Macht über dic) gewinnen!” — —
Seit einer Minute jchon hatte die Thür fich Hinter dem
Sortgehenden gejchlojlen, und noch immer ſtand Dolly auf dem
nämlichen led inmitten des Ateliers, die leuchtenden Augen
unverwandt auf das bleiche Geficht des Verwundeten gerichtet.
2442 Reinhold Ortmann.
„Nun?“ fragte fie endlich, und ihre Stimme hatte einen
eigentümlich veränderten, weichen Klang. „Haben Sie mir denn
nicht3 zu jagen?‘
Er hatte ſchwer mit feinem Entjchluß gerungen. Aber
wie hart e3 ihn auch ankommen mochte, e8 mußte doch Klarheit
geſchaffen werden, und er durfte ſie nicht ſchonen.
„Ja,“ erwiderte er, „aber Sie dürfen mir nicht zürnen,
Dolly, wenn es etwas anderes iſt, als Sie nach den Vorgängen
dieſer Nacht erwarten.“
„Nein, ich werde Ihnen nicht zürnen. Und mehr als das,
ich will Ihnen ſogar behilflich ſein, das hochnotpeinliche Ber-
fahren rajch zu Ende zu bringen, denn ich verlege mich nicht
auf3 Leugnen. Und eine gejtändige Angeklagte ift rafch ab-
geurteilt, nicht wahr?‘
In grenzenlojem Erjtaunen ſah er zu ihr auf, und die
plögliche Veränderung in ihren Zügen fehnitt ihm in die Seele.
„Wie? Sie willen bereits — —
„les, was Sie mir jagen könnten, und vielleicht noch
mehr .al3 das. Denn e3 war nicht wohlgethan, alle Thüren
offen zu laſſen, wenn Sie eine fo vertrauliche Unterhaltung
mit Ihrem Freunde führen wollten. Sch habe mindeftens fünf
Minuten lang bier auf der Schwelle gejtanden, während Sie
ihm Ihre Beichte ablegten. Und es bedurfte nicht eben eines
befonderen Scharflinns, um aus dem, was ich hören mußte,
alles übrige zu erraten.‘
Er dachte daran, was fie während jener Minuten gelitten
haben mußte, und all jein Groll erjtarb in einer Empfindung
unjäglichen Mitleids. |
„Sie haben gelaufcht, Doly? O, das war nicht gut.
Denn niemals, das ſchwöre ich Ihnen, hatte ich auch nur für
einen Augenblid den Wunſch, Ihnen wehe zu thun.‘
„Es bedarf feiner Berficherung, mich davon zu überzeugen.
Und ich bereue durchaus nicht, was ich ſoeben gethan. Es iſt
immer gut und nüßlich, jeine Feinde fennen zu lernen. Nun weiß
ich Doch, gegen wen und gegen was ich mich zu verteidigen habe.“
„Ihre Feinde? Nein, Dolly! E3 giebt hier für Sie feinen
anderen Feind, al3 die Vergangenheit. Und da Sie, wie Sie
jelbjt jagen, nichts in Abrede ftellen wollen — —“
Wer wird fiegen? 2443
Seht erit trat fie näher, und eine heiße Glut ftieg in ihren
Wangen auf, da fie ihn mit rafchen Worten unterbrad:
„Sie halten mich alſo wirklich für ein Mädchen, das fich
heute dem einen und morgen dem andern an den Hals wirft?“
„Aber ich veritehe Sie nit. Wenn es doch nad Ihrem
eigenen Geitändnis Wahrheit ift, was Frau Schulze fagte — —“
„Wahrheit? — Sa — ſoweit fie Ihnen erzählt haben
mag, daß jener unglüdliche Stehling mir fein Fremder gewejen
it, und daß er fich in thörichter Verblendung mit Hoffnungen
trug, die nimmermehr Wirklichkeit werden fonnten. Aber ehe
Sie mich auf folche Erzählung Hin als ein herzlojes und ver-
worfenes Geſchöpf verdammten, hätten Sie fürwahrdas Bedürfnis
fühlen follen, mich zu hören. Denn ich bin für die Hoffnungen
jene beflagenswerten Künſtlers ebenfowenig verantwortlich wie
für feine Enttäufchungen. Niemals habe ich daran gedadıt,
ihm mehr zu fein al3 eine Freundin und ein guter Kamerad.
Und viel zu ſpät erit mußte ich zu meinem Schreden erfennen,
wie vollitändig er in unbegreiflicher Verblendung meine Ab-
ſichten mißdeutet hatte.‘
„Konnte Sie da3 wirklich überrafchen?” fragte er zweifelnd.
„Konnten Sie fich über den lodenden Reiz Ihrer Perſönlichkeit
und über jene ehernen Naturgefege, die zwilchen Mann und
Weib von jeher gegolten haben, jo ganz im Unflaren befinden,
daß Sie an harmlofe Freundichaft und gute Kameradichaft zu
glauben vermochten mit einem jungen, heißblütigen Menjchen,
der obendrein ein Jchönheitsfreudiger Künftler war? Hat er
Shnen denn nicht ſchon in der erften Stunde vertraulichen
Beilammenfeing mit Mund und Augen verraten, welcher Art
in Wahrheit feine Empfindungen waren?“
„Was wäre für mich gewonnen, wenn ich Ihnen darauf
mit Nein antworten wollte, da Sie mir’3 ja doch nicht glauben
werden! Ich kann den Toten nicht mehr als Zeugen anrufen
— und wenn Sie jener Skizze dort, die ich heut zum eriten
Male jehe, das Gewicht eines unmwiderleglichen Schuldbemweijes
beimefjen wollen, jo würden wahrjcheinfich alle meine Ver—
jiherungen nicht imftande fein, Sie zu einer anderen Auf-
faffung zu befehren. Schließlich ift es ja aud in Wahrheit
gar nicht der Schatten des unglüdlichen Stehling, der fich zwifchen
2444 Reinhold Ortmann.
ung gedrängt hat, jondern das Bild eines lebendigen Weibes.
Senen hätte ein Hauch meines Mundes verjcheuchen können,
gegen dieſes aber bin ich ohnmächtig. Das wußte ich in dem-
jelben Augenblid, wo Sie mit Gabor Sarlo von ihr zu ſprechen
begannen. Und vielleicht wäre es viel eher an mir gewefen,
die Anklage eines trügerifchen und herzlojen Doppeljpiel3 zu
erheben.“
| Der jchmerzliche Vorwurf in ihren Worten — ein Vor—
wurf, der nicht3 Leidenschaftliches und Gehäffiges, ſondern nur
etwas unjäglich Wehmütiges hatte, rührte ihm ſeltſam ans Herz.
Was auch immer er von ihr glauben mochte und in welchem
Lichte er nach diefem Berjuch einer Rechtfertigung ihr Ber-
hältnis zu jenem Verſtorbenen jah, daran, daß fte in dieſem
Augenblid nur ihn liebte und daß fie in tiefiter Seele un-
glücklich war, fonnte er wahrlich feinen Zweifel hegen. Und
das ernite Mädchenbild, das er vorhin in jeiner Erinnerung
heraufbeichworen, e3 verblaßte nur zu raſch vor der in ihrem
Schmerz jo ergreifenden lebendigen Schönheit, die fich da in
beraufchender Nähe jeinem leiblichen Auge bot.
„Sie thun mir unrecht, Dolly,” fagte er zögernd, „pie
tiefe Verehrung, die ich meiner Coufine Magda zolle, hat nichts
zu jchaffen mit — —"
Aber fie ließ ihn nicht ausreden.
„Kein, Sie jollen fie nicht verleugnen, weil Sie vielleicht
in diefem Moment etwas wie Mitleid für mich empfinden. Dieſe
Magda, der Sie um meinetwillen für eine furze Zeit untreu
gewejen find, um bei der erjten Gewiſſensregung reuevoll zu
ihr zurüdzufehren — fie iſt die Feindin, an die ich vorhin
gedacht. Aber wenn ich fagte, daß ich entichloffen fei, mich
gegen fie zu verteidigen, jo war e3 ein thörichtes Wort, und
ich nehme es zurüd. Sch will niemand aus feinem redht-
mäßigen Befi verdrängen. Und wenn Ihr Freund Sarlo
jemal3 wieder in die Notwendigkeit verjegt wird, den getreuen
Warner zu fpielen, jo werde nicht ich es fein, vor der er Sie
warnen müßte.“
Es ſchien, daß fie ihr Geſpräch al3 beendet anfah, denn
fie wandte fih ab, und nach einigen Sekunden drücdenden
Schweigens fügte fie hinzu:
Wer wird jiegen?. 2445
„Vielleicht ift e8 Ihnen lieber, wenn ich jetzt Ihre Auf-
wärterin rufe, damit fie bis zur Rückkehr des Herrn Sarlo bei
Shnen bleibt.“
Auch jest antwortete Erich nicht jogleich. Aber da fie fein
Verſtummen nun für eine Bejahung nahm und langjamen, müden
- Schritte der Thür zuging, brach feine fo lange mit fchier über-
menjchlicher Selbjtüberwindung behauptete Kraft zujammen, und
in Zauten der leidenfchaftlichiten Sehnfucht Hang e3 von feinen
' Lippen:
„Dolly — nein, e3 ift unmöglid — dies kann nicht das
Ende fein — nicht ſo können wir voneinandergehen.“
Ein Aufſchrei wie das jubelnde Jauchzen einer aus den
Banden hoffnungsloſen Kummers befreiten Menſchenſeele durch—
hallte das Atelier. Und im nächſten Augenblick lag Dolly neben
dem Ruhebett auf den Knieen, um mit den ſchönen, in Thränen
ſchwimmenden Augen leuchtenden Blickes die ſeinen zu ſuchen.
„Nein — nein — wir können nicht, mein Geliebter — es
ginge ja*auch über meine Kraft.“
Shre Arme umſchlangen ihn, und ihre weichen Lippen
brannten auf jeinem Munde. PVergeljen und verjunfen war
alles, was jveben noch trennend und ſcheinbar unübermwindlich
zwiſchen ihnen gejtanden — ein Meer von Glückſeligkeit und
überſchwänglicher Wonne fchlug Hochaufbrandend über ihnen
zuſammen. —
Das erite Wort, das nad). Verlauf von Minuten zwiſchen
ihnen gejprochen wurde, war Dollys wie in jcheuem Sagen ge-
flüfterte Frage:
„Und wirft du's auch nicht bereuen, daß du mic) jetzt zurück⸗
gerufen? Wird ſie mich nicht vielleicht binnen kurzem aber-
mal3 aus deinem Herzen verdrängt haben, dieje junge Verwandte
mit der unbeftechlichen Wahrhaftigkeit und der großen Seele?"
Erich antwortete ihr nur mit leidenfchaftlichen Küffen.
Aber fie gab ſich nicht damit zufrieden, fondern entzog fich ſanft
feinen umjchlingenden Armen.
„Und Gabor Sarlo? Wie willit du dich vor ihm recht-
fertigen?“
| „Bin ich denn ein Knabe, daß ich ihm oder irgend einem
Menſchen Rechenjchaft schuldig wäre über meine Handlungen?
2446 | Reinhold Ortmann.
Sch liebe dich — it das nicht Rechtfertigung und Erklärung
genug für ihn wie für alle anderen!“
„So ſprichſt du jet, da du mich vor Augen haft. Aber
darfit du mir zürnen, wenn mir ein wenig bange ift um mein
Glück? Sch werde fern von dir ficherlich feinen ruhigen Augen-
blif haben, fo lange ich mir fagen muß, daß ein armjeliges
Blatt Bapier fi) immer von neuem trennend zwiſchen uns
itellen darf.“
„sit e8 diefe abjcheuliche Vampyr-Skizze, die dich mitfolcher
Sorge erfüllt? Nun wohl, ich werde Frau Schulze bitten, fie
mir zum Gejchenf zu machen, und der arme Tote wird und
verzeihen, wenn wir fie vernichten.“
In entjchiedener Verneinung jchüttelte Dolly den Kopf.
„Es iſt nicht dies Bild, Erich, vor dem ich mich fürchte,
londern jenes andere dort — das unheimliche Leichengeficht, das
mich bis in meine Träume verfolgen wird, fo lange ich e3 in
deinen Händen weiß. Opfere es mir — das ift die al Bitte,
die ich an dich richte.“
Sie ftredte die Hand nad) der Skizze aus, aber Erich gab
fie ihr nicht.
„Fordere von mir, was du willit, nur nicht dies. Niemand
außer Magda und mir fennt die Heilige Bedeutung, welche dies
Dlatt für mich hat. Sch würde mich zu verfündigen glauben,
wenn ich e8 von mir ließe.“
„Und damit, meinſt du, Jollte ich mich zufrieden geben?
Sit deine Weigerung nicht die beſte Beftätigung, wie berechtigt
meine Furcht vor diefer Zeichnung war? Ich beneide deine
Couſine um die wunderbare Macht, die fie über dich beſeſſen
haben muß, als fie dich zum Sklaven eines toten Bildes machte.
Aber ich bemitleide fie doch noch mehr, als ich fie beneide.
Denn bei all ihrer Wahrheitäliebe und Rechtichaffenheit erjcheint
fie mir wie ein Weſen ohne Fleisch und Blut. Wenn fie dich
Yiebte, hätte fie, bei Gott, einen bejjeren Talisman finden jollen,
lich deiner zu verfichern, al3 gerade diefen. Aber ich glaube auch
gar nicht daran, daß fie dich liebte. Ein liebendes Weib ver-
fällt nimmermehr auf jo ungeheuerliche Gedanken. Sch beitehle
fie nicht, wenn ich entjchloffen bin, dich in meinen Armen ge-
fangen zu halten, und dich, wenn es fein muß, mit meinem
Wer wird fliegen? 2447
Herzblut zu verteidigen gegen jeden, der dich mir wieder ent-
reißen will. Diefe Magda hat fein Recht, dich zu beherrichen,
wenn fie nicht zugleich den Willen und die Macht hat, Did)
glücklich zu machen. Und ich will nicht/mit ihr teilen, du konnteſt
wählen zwijchen ihr und mir. Nun aber, da du dich für mid)
entjchieden haft — nun follit du mir gehören — mir ganz allein.
Du follit feine alte Stlavenfette mit dir herumfchleppen. Und
nicht die Schauer des Todes, jondern die Wonnen des vollen
Lebens jollen dich emportragen zu deinen hohen Zielen. Darum
fort mit diefem abjcheulichen Papier! Und wenn es Sünde it,
e3 zu vernichten, jo nehme ich getrojt die Veranwortung auf
mich. Ich fürchte mich nicht vor Gejpenftern — welchen Namen
auch immer fie haben mögen.“ |
Noch ehe er recht begriffen hatte, welches Ungeheuerliche
fie beabfichtigte, jah er das Blatt in ihren Händen. Und fein
angitvoller, flehender Zuruf Fam zu jpät, die Ausführung ihres
tollen Vorhabens zu hindern. Sie war aufgejprungen und ein
paar Schritte von dem Ruhebett zurüdgetreten. In dem näm-
lichen Moment auch hatte fie die Skizze von oben bis unten
durchgeriljen und die Stüde weit von fich hinweg mitten in das
Atelier geworfen.
Als fie nun den Ausdrud faffungslojen Entſetzens auf
feinem Antlit ſah, flog fie wieder auf ihn zu und warf
ihre Arme um ihn, als wollte fie ihn in diefer Umjchlingung
eritiden.
„Bergieb mir, mein ©eliebter — vergieb! Aber ich konnte
nicht anders. Sch kann mich nicht mit einem andern in
dir teilen — mit einem Toten jo wenig wie mit einer
Lebendigen.”
Für einen Moment war er nahe daran geweſen, jie von
fich zu ftoßen; denn ihre unfinnige Handlungsweiſe hatte auf
ihn gewirkt, wie wenn er plößlich mit einem Strom eiskalten
Waſſers überjchüttet worden wäre, und fait wie eine Regung
des Haſſes war es in ihm aufgeitiegen, da er fie in ſchrankenlos
leidenjchaftlicher Wildheit feinen Talisman, fein Kleinod ver-
nichten jah. Aber den fügen, finnverwirrenden Schmeichelworten,
die jegt ihre Lippen dicht an feinem Antlig flüjterten, hielt fein
flüchtiger Zorn nicht jtand. Ja, nicht einmal zu einem Vorwurf
2448 Reinhold Ortmann.
oder zu einer Klage vermochte er fid) aufzuraffen. Dolly hatte
die erite Probe gewagt auf die Macht, die fie über ihn beſaß
— eine verivegene, tollfühne Probe. Aber fie durfte mit dem’
Ergebnis zufrieden fein. Bon diefem Augenblid an mußte fie,
daß er ihrer Schönheit willenlos unterworfen war, und daß
fie aus ihm würde machen können, was ihr gefiel.
Sie hatte feine Hände fanft von ihren Schultern gelöft;
aber fie jaß noch auf dem Rand des NRuhebettes, mit heißen
Wangen und haftig atmender Bruft, ala ohne vorheriges Klopfen
abermals die Thür des Atelier geöffnet wurde. Dolly rührte
ih nicht; denn fie mochte glauben, daß es Gabor Sarlo fei,
der Schon zurückkam, und fie wollte ihm vermutlich von vorn—
herein feinen Zweifel lajjen über den Ausgang ihrer Unter-
redung mit Erich. Aber es war nicht der Ungar, der in der
nächiten Sekunde über die Schwelle trat, fondern die vierjchrötige
Geſtalt der Aufwärterin. Und die wadere Frau Schulze war
ohne allen Zweifel auf nichts anderes jo wenig vorbereitet ge-
wejen wie auf den Anblid, der fie hier erwartete. Eine kleine
Weile ftand fie mit großen Augen und Halb offenem Munde
ſprachlos da, dann aber, ehe eines von den beiden eine Frage
oder eine Bemerkung an fie gerichtet, drehte fie fih kurz um
‘ und fagte mit jehr lauter Stimme: |
„Bitte, fommen Sie nur ’rein, mein Fräulein! Herr von
Brunneck jcheint ſchon wieder janz wohl zu fein, und auf
einen Damenbejuch mehr oder weniger fommt es ihm mohl
nicht an.“ |
Auch jebt noch dachte Dolly nicht daran, ihren Plab zu
verlafien, denn es fonnte ja nur Helene Bollart jein, die da
fam, ſich nach Erich! Befinden zu erkundigen. Und als fie
dann im nächſten Moment inne wurde, daß fie fich in Ddiejer
Bermutung getäufcht, da war e3 wohl da3 Neberwältigende und
Lähmende der erjten Ueberrafchung, was fie verhinderte, fich
zu erheben.
Die da vor ihr ftand, Jah fie heute zum eritenmal in ihrem
Leben, und doch wußte fie auf den erſten Blid, daß es nur
Magda von Brunned fein fonnte. Dies feine, von fchlicht ge-
jcheiteltem, dunklem Haar umrahmte Köpfchen auf der hochge-
wachjenen, ariftofratiichen Geſtalt, dieſer ſchön gejchnittene,
Wer wird fiegen? 2449
energifche Mund, und vor allem diefe wunderfamen, fchwarzen
Augen, die jo ernit und Har und durchdringend blidten, al3
vermöchten fie jogleich bis in den inneriten Kern der Dinge zu
tauchen, fie jtimmten fo volllommen zu dem Bilde, daß fie ſich
vorhin von der Tochter des verjtorbenen Oberjten gemacht hatte,
daß fie über die Perfönlichkeit der in ein nonnenhaft einfaches
Trauergewand gekleideten Bejucherin nicht für die Dauer eines
Herzichlages im Ungemwifjen gewejen wäre, auch wenn nicht der
beitürzte Ausruf aus Erichs Munde fie jehr bald über dieſelbe
aufgellärt hätte.
„Magda!“ ſtieß er hervor. „Du hier in Berlin? Und
dies unfelige Weib ließ dich eintreten, ohne — —“
Er mußte nit, wie er den begonnenen Sat vollenden
follte, und jein plößliches Berftummen wie der Ausdrud feines
von heißer Schamröte überfluteten Geſichts Hatte ganz den
Charakter einer tödlichen Verlegenheit. Magda war Ichon nad)
dem erjten Schritt, den fie in das Atelier hineingethan Hatte,
jtehen geblieben, und mit einem einzigen großen Blid umfaßten
ihre dunklen Augen den aufgeputzten Raum mit allem, was die -
Ereignifje der legten Nacht an fichtbaren Spuren in ihm zurüd-
gelaſſen hatten. Sie jah die benugten Teller und die zum Teil
nur halbgeleerten Weingläfer, die überall umherſtanden, ſah die
Scherben neben dem umgeftürgten Tiſchchen, das im Tumult
des eriten Schredeng über Arvid Cederſkjölds That nieder’
gerifjen worden war, und ſah die mit blutigem Waſſer gefüllte
Schüffel, die man bisher ebenfo wenig bejeitigt hatte wie alle
die anderen widerwärtigen Ueberbleibjel des Einweihungsfeites
und der dülteren Katajtrophe, die ihm ein fo jähes und vor-
zeitige3 Ende bereitet.
Der Eindrud, den fie von alledem empfing, konnte nur der
fein, daß Hier ein wüſtes Gelage gefeiert worden jei von einer
Art, für die es in ihrer reinen Phantafie Feine greifbare Bor-
jtelung und in ihrer Seele nur eine dunfle Empfindung halb
inftinftiven Abſcheus gab.
Und der Anblid ihres in jeinen Kleidern und mit ver-
bundenem Kopfe auf den Ruhebett liegenden Vetters — dieſer
Anblid, der jie unter anderen Umständen gewiß mit Betrübnis
und innigiter Teilnahme erfüllt hätte, er mußte inmitten jolcher
Ill. Haus⸗Bibl. II, Band XI. 154
2450 Reinhold Ortmann.
Umgebung auf fie wirfen wie ein abjtoßendes Schaufpiel,
gegen das ihr mädchenhaftes Schamgefühl fich beleidigt auf-
lehnte.
Sie ftand regungslos; aber nur ihr tödfiches Erbleichen
und die halb unmwillfürliche und unbewußte Bewegung, mit der
fie im erjten Moment die Handflächen gegen einander gepreßt
hatte, gaben Kunde von dem, was in ihrem Innern borging.
Wohl eine Minute mochte vergangen fein, ehe fie halblaut
erwiderte:
„Ich glaubte dich auf mein Kommen TEN Du haft
alfo meinen Brief nicht erhalten?“
„Nein, Magda — ich ahnte nichts von der freudigen Ueber-
raſchung, die mir da bevorſtand. Und ich bitte dich deshalb,
den ſeltſamen Empfang zu entjchuldigen, der dir — —“
„Richt Doch!“ fiel fie ihm herbe und abweiſend in die Rede.
„Die Ungejchidlichfeit war allein bei mir. Denn ich Hätte deine
Antwort auf meinen Brief abwarten follen, ehe ich hierher
fam. Eigentlich hätte ich wohl darauf gefaßt fein müfjen, dich
zu jtören.“
„uber du ftörft mich nicht!“ rief er, und der Ton jeiner
Worte mußte ihr vffenbaren,. daß nichts Erheucheltes in ſeiner
ſchmerzlichen Aufregung war. „Daß du mich gerade ſo finden
mußt, iſt das unglücklichſte Zuſammentreffen von der Welt. Und
du darfſt nicht nach dem urteilen, Magda, was du hier ſiehſt.
Du mußt mir geſtatten, dir alles zu erklären.“
„Weshalb das? fragte ſie kühl. „Ich habe nicht das
mindeſte Recht, derartige Erklärungen zu empfangen. Und es
verlangt mich nicht nach ihnen. Die Frau, die mich einließ,
Jagte mir, daß dir ein Unfall zugeftoßen fei. Aber es ift nichts
Ernſtliches — nicht wahr?”
„Kein — eine geringfügige Verlegung ohne jede Gefahr.
Ich erlitt fie durch einen ärgerlichen Zufall während des Heinen
Feſtes, das mein Ateliergenofje geſtern hier feinen Freunden
gab. , Und daraus allein erklärt fi) der abfcheuliche Zuftand,
in dem du meine Behaufung findeft. — Aber willit du dich nicht
jegen, liebe Magda? Ich möchte jo gern erfahren, was dich
nach Berlin geführt hat, und ob ich hoffen darf, dic) in meiner
Nähe zu behalten?“
Wer wird u 234451
Sie leiſtete feiner verlegen vorgebrachten Einladung nicht
Folge, jondern blieb unbeweglich hart neben der Thür.
„Vergieb, wenn ich darüber jetzt nicht ſprechen möchte,“
ſagte ſie, immer in demſelben kühlen, abweiſenden Ton, der
ſchon bei ihrem erſten Wort eine unüberſteigliche Schranfe
zwiſchen ihnen aufgerichtet zu haben jchien. „Du wirft alles,
was dich daran interefjieren kann, aus meinem Briefe erfahren,
der ja jchwerlich ganz verloren gegangen iſt. Für jetzt“ — und
ihre Augen waren dabet mit. einem merkwürdig ſtarren Aus-
druck unverwandt auf die Papierfegen inmitten des Ateliers |
gerichtet — „für jebt habe ich nur noch. eine Bitte. Gieb mir
da3 Porträt meines Vaters, Erich, das du in der Nacht nach
feinem Tode gezeichnet. Du hatteft es mir zum Geſchenk ge-
madt, und id) ſagte dir ja, daß ich eines Tages kommen würde,
es einzufordern.“
Erich hatte in dieſem Augenblick keinen andern Wunſch, als
den, daß Arvid Cederſkjölds Waffe ihr blutiges Werk beſſer ver—
richtet haben möchte. Denn woher ſollte er den Mut nehmen,
Magda zu ſagen, was hier geſchehen war, und wie ſollte er es
ihr erklären! Hätten nicht die Bruchſtücke der zerriſſenen Zeich—
nung offen vor ihren Augen dagelegen, ſo hätte er vielleicht
eine Notlüge erſinnen können, um ſie auf ſpäter zu vertröſten.
So aber gab es kein Ausweichen und kein Entrinnen. Und er
fühlte zugleich, daß er Dolly nicht anklagen dürfe, ſondern alles
allein auf ſich nehmen müſſe.
„Vergieb mir, Magda,“ wollte er ſtotternd beginnen, „ein
unglücklicher Zufall — —“
Aber die, welche er hatte ſchonen wollen, machte ſcue groß⸗
mütige Abſicht zu ſchanden. Während ſie bis dahin, ohne ihren
Platz auf dem Rande ſeines Lagers zu verlaſſen, die ſtumme
Zuhörerin gemacht hatte, ſtand Dolly jetzt mit entſchloſſener
Miene auf und raffte die umhergeſtreuten Fetzen der Skizze
zuſammen. |
„Verzeihen Sie mir, Fräulein von Brunneck,“ jagte fie ſehr
ruhig. „Wenn Erich mir: gejagt ‚hätte, daß dies Blatt nicht fein
Eigentum fei, ſondern das Ihrige, jo würde ich mich jelbjtver-
ſtändlich nicht daran vergriffen haben. Nun aber ijt es leider
154*
2452 Reinhold Ortmann.
zu jpät. Und es bleibt mir nur noch übrig, auf Ihre Nachficht
zu hoffen.“ |
Sie war auf fie zugetreten, wohl in der Abficht, ihr die
Ueberrefte de8 Bildes zu übergeben. Magda aber wich zurüd,
und mit einer vornehm-zurückweiſenden Kopfbewegung, die taujend-
mal fränfender war als das hochmütigite Wort, wendete fie ſich
gegen Erich:
„Da ich nicht die Ehre habe, diefe Dame zu kennen, erjuche
ic) dih um eine Erklärung, wie man dazu Fam, jo mit meinem
Beſitztum zu verfahren.”
Eine heiße Röte, die ficherlich viel mehr die Glut de Zornes
war als die der Beichämung, hatte fi) über die Wangen der
Sängerin gebreitet, und fie ließ dem Vermwundeten nicht Beit,
die verlangte Erklärung zu geben.
„Ihr Vetter hat es in der erjten Freude des Wiederjehen?
allerding3 verjäumt, mich Shnen vorzuftellen. Und da Sie jo
großes Gewicht auf derartige Förmlichkeiten legen, will ih e3
ſelbſt thun. Ich heiße Dolly Förfter und bin Herrn von Brunnecks
Braut. Dies Bild aber, das ich, wie gejagt, für jein Eigentum
anjah, habe ich zerrifjen, weil — —“
„Weil e3 Ihnen vermutlic) nicht gefiel,“ unterbrad Magda
in eifig ſtolzem Tone ihre leidenjchaftlich-lebhafte Rede. „Das
iſt eine Erklärung, die mir vollfommen genügt. Und e3 wird
Sie gänzlich beruhigen, wenn ich Ihnen jage, daß daS Blatt
Ihon jeit dem Augenblid, da ich hier eintrat, jeglichen Wert für
mich verloren hatte.“
Dolly preßte die Lippen zufammen und ſchwieg. Der un
nahbaren Bornehmheit dieſes jungen Mädchens gegenüber fühlte
fie ich zu ehr im Nachteil, als daß fie gewagt hätte, die Heraus—
forderung noch iveiter zu treiben. Ueberdies lag Magdas ſchmale
Rechte, die in dem ſchwarzen ſchwediſchen Handfchuh noch zarter
und findlicher erjchien, bereit3 auf der Thürklinfe.
„Da ich es für außgejchloffen halte, daß wir und in naher
Zukunft wieder begegnen könnten, wünjche ich dir baldige Ge—
nejung, Erich, und ſage dir zugleich Lebewohl!“
E3 war nad) ihrem Wunſch und Willen ein Abjchied fürs
Reben, das jagte ihm noch mehr als der Suhalt ihrer Worte
der Ton, in dem fie geiprochen waren; aber eine Stimme in
Wer wird fiegen? 2453
jeinem Innern ſchrie: „Du bift ein Elender und Erbärmlicer,
wenn du es zulajjen kannſt, daß fie fich jo von dir entfernt, mit
diefer Fülle von Groll und Verachtung im Herzen,“
„Höre mid, Magda!” rief er flehend. „Nur noch ein
einzige8 Wort!“ |
And da fie, jeiner angjtvollen Bitte nicht achtend, auf Die
Schwelle der jchon geöffneten Atelierthür trat, warf er die Dede
von fich, die man gejtern über ihn gebreitet hatte, und fprang
auf, um die Enteilende, wenn es fein andere Mittel gab, mit
Gewalt zurüdzuhalten. Aber er hatte die Schwere feiner Ver:
legung und die von der leichten ©ehirnerjchütterung zurüd-
gebliebene Schwäche unterjchägt. Nach dem erjten Schritt fchon
flimmerte e3 ihm vor den Augen. Hunderte von Feuergarben
und bunten, leuchtenden Kugeln ſchienen plößlic) rings um ihn
ber daS ganze Atelier zu erfüllen. Seine Kniee wankten und
jeine Hände tafteten, eine Stüße fuchend, in die leere Luft.
„Magda!” ftieß er noch einmal mit verjagender Stimme
hervor. Dann verließen ihn Kraft und Bemußtfein, und er brad)
ohnmächtig zuſammen, gerade in demjelben Moment, da die Thür
des Ateliers fich hinter der Gerufenen jchloß.
Sechzehntes Kapitel.
„Wollen Sie nicht die Freundlichkeit haben, mich anzujehen,
Sräulein Imgart! — Uber weshalb, um des Himmelswillen,
ein jo böjes Geficht? Was würden Sie jagen, wenn ich dieſen
Ausdrud jet auf der Leinwand fejtgehalten hätte?“
„Ich Tann nicht? dafür, Herr Sarlo! Und ich glaube
auch nicht, daß ich böfe ausſehe — höchſtens ſchrecklich ge-
langweilt.”
Die Schlanke, dunfelhaarige junge Dame, die in großer Ge—
fellfhaftstoilette und in jehr malerifcher, wenn auch vielleicht
etwas gezierter Attitüde auf dem Kleinen Podium faß, hatte es
im Tone eines fpitigen Vorwurfs geantwortet. Faſt noch im
nämlidhen Moment aber lachte fie beluftigt auf — mit einem
feilen, girrenden Lachen, wie Gabor Sarlo e3 noch von feinem
anderen weiblichen Weſen gehört hatte.
3454 Reinhold Ortmann.
— ——“
„Da — ſehen Sie nur hinüber!“ fuhr ſie mit gedämpfter
Stimme fort. „Meine Mama iſt über Ihren Skizzenmappen
ſanft und ſelig entſchlummert. Es wundert mich nicht, denn
ſeit einer Viertelſtunde haben Sie weder mit ihr, noch mit mir
ein Sterbenswörtchen geſprochen. Muß ein Maler denn wirk—
lich gar ſo ungalant ſein, wenn er bei der Arbeit iſt?“
„Ich bitte um Verzeihung! Aber ich gehöre in der That
zu denen, die alles andere vergeſſen, wenn der Gegenſtand ihres
Schaffens fie wirklich interefitert.“
„Das iſt doch wohl nur eine Schmeichelet, die mi mit
Ihrer langweiligen Schweigjamfeit ausſöhnen fol. Denn ein
fo vielbeichäftigter und verwöhnter Künftler wie Sie hat ficher-
lich ſchon ſehr viel interefjantere Modelle gehabt als meine
unbedeutende Perſon.“
„Wenn jchon meine erjte Bemerkung mich in den Verdacht
gebracht Hat, Ihnen zu jchmeicheln, wofür würden Sie dann
erit eine wahrheitsgemäße Antwort auf dieje lebte Bermutung
nehmen! Darf ic) Ihnen ermwidern, daß mich faum je.ein
Auftrag jo glücklich gemacht hat, wie dieſer? Er ift mir. wie
eine Erlöjung gefommen — wahrhaftig! Denn es iſt nach—
gerade zum Berzweifeln, fich immer an denjelben nichtsfagenden
Phyliognomien abplagen und obendrein in jedem Fall den
dümmſten und unkünſtleriſchſten Wünfchen Rechnung tragen zu
müſſen. Wenn ich heute die Gewißheit erhielte, mein Leben
lang dazu verurteilt zu bleiben, ich Hinge, bei Gott, auf der
Stelle die Malerei an den Nagel und würde ein Schneider oder
dergleichen.“
„Auch in Ddiefem Beruf würden Sie ohne Zweifel Ihr
Glück machen,” lachte die junge Dame. „Uber ich zweifle, daß Ä
Ihre Gattin damit einverjtanden fein würde. Sie fagte mir
erjt neulich, wie glücklich fie über die Anzahl der a ſei,
mit denen man Sie von allen Seiten beſtürmt.“
Gabor Sarlo ſeufzte.
„Ja, freilich, wenn es nur nach den Wünſchen meiner Frau
ginge, dürfte ich nie an etwas anderes denken. Und vielleicht hat ſie
recht. Denn das Geldverdienen iſt am Ende doch die Hauptſache.“
Er hatte, während er ſeinen Blick an der ſchönen Geſtalt
des eleganten Modells herabgleiten ließ, ein paar häßliche
Wer wird fliegen? | 2455
Falten in der Anordnung des Kleides entdedt, und er trat an
das Podium, um dem Fehler abzuhelfen.: Als er fich wieder
aufrichtete, begegneten jich für einen Moment ihre Augen.
„sch hoffe, Sie werden nicht immer jo denfen, Herr Sarlo,“
ſagte fie leife, „denn es wäre eine ſchwere Verfündigung an
Ihrem herrlichen Talent.“
Die wohlbeleibte Dame in dem bequemen Fauteuil an der
anderen Seite de3 Atelier machte eine Bewegung, als ob fie
im Begriff fei, fich aus ihrem füßen VBormittagsfchlummer zu
ermuntern. Und vermutlich gejchah e3 aus diefem Grunde,
daß Gabor Sarlo die Antwort-fchuldig blieb und an die Staffelei
zurüdfehrte, um ebenjo emfig und ebenso ſchweigſam wie zuvor
die unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen.
Sein Geficht war jehr ernit geworden, und eine Kleine Falte
lag zwilchen jeinen Brauen. Das Wort, das Fräulein Hertha
Imgart ihm mit einem jo überzeugend warmen Ausdrud herz-
licher Zeilnahme zugeflüftert, e3 hatte einen nur zu Er
al gefunden in feiner Seele.
‘a, er verjündigte ih an jeinem Talent, da3 wußte er
beffer als irgend einer. Uber zum erjtenmal hatte er es heute
auch aus einem fremden Munde hören müſſen. Und daß gerade
fie es ausgejprochen hatte, beſchämte ihn tief.
Wie war es nur möglich, daß er, der Hochjtrebende Künitler,
defjen Phantaſie jo ganz erfüllt geweſen war von den ſonnigſten
Idealen, innerhalb eines Zeitraumes von wenig Monaten ſich
ſelbſt und ſeinen großen Plänen ſo ganz hatte untreu werden
können! Aber es war alles ſo natürlich und ſelbſtverſtändlich
zugegangen, daß er eigentlich gar keine Möglichkeit gehabt hätte,
ſich zur rechten Zeit der Gefahr zu erwehren.
Mit der Ausſtellung ſeiner „Bacchantin“ hatte es an-
gefangen. Denn der Erfolg dieſes Bildes hatte ſelbſt ſeine
kühnſten Erwartungen weit übertroffen. Die ſachverſtändige
Kritik hatte wohl mancherlei daran auszuſetzen gehabt; das
große Publikum aber war entzückt geweſen. Die verbreitetſten
illuſtrierten Zeitſchriften hatten es in Holzſchnittnachbildungen
reproduziert und eine photographijche” Wiedergabe war in
Taufenden von Exemplaren verfauft worden. Der Scharfblicende
Herr WVolffram hatte damit wie mit dem Verfauf des Originals
2456 Reinhold Ortmann.
an einen reichen Kunftenthufiaften ein ausgezeichnetes Geſchäft
gemacht, und er war viel zu klug gewejen, um fich nicht dem
jungen Maler, den er fo geſchickt in die Deffentlichkeit eingeführt
hatte, auf feine Manier auch weiterhin nützlich und förderlich
zu erweilen. Seiner entgegenfommenden Freigebigfeit hatten .
Gabor und Helene e8 zu danken gehabt, daß ihre jehnlichiten
Herzenswünsche jchon viel früher, als fie eg zu erhoffen gewagt,
zur Wirklichkeit werden fonnten. Er hatte dem BZaudernden,
der anfänglich eine gewiſſe injtinktive Furcht vor der Abhängig-
feit eines folchen Schuldverhältnifjes gefühlt hatte, beinahe ge-
waltfjam die Summen aufgedrängt, derer er zu. feiner Ver-
heiratung und zu feiner erjten Einrichtung bedurfte. Er Hatte
fih’3 nicht nehmen laffen, die Hübjche und geräumige Wohnung
des jungen Paares ſelbſt mit allerlei künſtleriſchem Schmud
auzzujtatten, den er feinem Schüßling natürli nur „zum
Selbitfojtenpreife” in Rechnung ftellte. Und er war es endlich
auch geweſen, der Gabor Sarlo die eriten lohnenden Porträt⸗
aufträge übermittelte.
Ah, welche Freude hatte damals unter dieſem Dache ge—
herrſcht! Wie ſelig hatten die Augen der noch von ihrem
Flitterwochenglück verklärten jungen Frau geleuchtet! Und in
wie luſtigen Poltereien hatte Heinrich Vollart ſeinen Stolz auf
den Schwiegerſohn kundgethan! Ein Porträt für tauſend Mark,
von denen man volle fünfhundert ausgezahlt erhielt, da Herr
Wolffram großmütig genug war, nur die Hälfte auf fein Gut-
haben in Anrechnung zu bringen! Und für den Fall des Ge—
lingen3 zudem noc die Ausficht auf weitere, vielleicht noch
glänzendere Aufträge. Denn der Kunſthändler hatte nicht den
eriten beiten für Gabor Sarlo eingefangen, jondern eine in
den Streifen der Berliner Finanzwelt weitbefannte Berfönlich-
feit, in deren Salons fi) alles zufammenfand, was an der
Börje wie in den Spielflub3 Geltung und Anjehen hatte.
„Machen Sie fich wegen der Ausführung nicht zu viele
Sfrupel!” Hatte er Gabor vertraulich zugeraunt. „Wenn Sie
nur feine Naſe ein wenig idealifieren, ohne daß doch gleich
alle Welt über die Unähnlichkeit fchreit, und wenn Sie jeinem
perfiichen Sonnenorden volle künſtleriſche Gerechtigkeit wider—
fahren lajien, jo haben Sie gewonnenes Spiel.“
Wer wird fiegen? 2457
Und er hatte fich mit diefer Prophezeiung nicht getäufcht.
Ob e3 nun die idealifierte Naje oder ob e3 der mit vollendeter
Birtuofität gemalte Sonnenorden gewejen war, was das Ent-
zücden des Auftraggebers in jo hohem Maße erregt hatte —
jedenfall3 war der Erfolg dieſes eriten bezahlten Porträts ein
vollfommen durchichlagender geweſen, und die verheißenen
weiteren Aufträge hatten nicht lange auf ſich warten laſſen.
Schon beim dritten Bilde hatte Gabor auf Geheiß des Kunft-
händler3 den Preis jehr bedeutend hinaufjchrauben müllen,
und beim fünften hatte er fich nach dem energijch durchgejehten
Willen ſeines geſchäftskundigen Impreſario bereit3 bis zu einer
Forderung von dreitaufend Marf veritiegen. Wohl hatte er
jelbjt dabei eine peinlich widerftrebende Empfindung gehabt,
al3 ob er im Begriff fei, jemanden zu beitehlen, und auch
Heinrich VBollart hatte bedenklich den grauen Kopf gefchüttelt,
Frau Helenen3 Augen aber hatten wieder in erhöhten Glanze
geleuchtet, und Herr Wolffram hatte in ihr eine Bundesgenoffin
gefunden, deren holde Macht von vornherein jeden Verfuch einer
ernjtlihen Auflehnung ausschloß.
Damal3 war Gabor Sarlo ganz entzüdt geweſen bon dem
reizenden Gejchäftseifer feiner jungen Frau und von dieſer
faufmännifchen Energie, die fie jo allerliebjt Heidete. Scherzend
hatte er erklärt, daß er dies Reſſort fortan ganz und gar ihrer
Berwaltung überlafjen werde, und er hatte nicht daran gedacht,
ſich zu ſträuben, als fie den Scherz ſogleich ganz ernithaft ge—
nommen und Sich ihrer neuen Aufgabe mit hingebendſtem Eifer
gewidmet hatte. Alle Verhandlungen mit Wolffram waren
feitdem nur noch durch fie geführt worden; fie hatte die ge-
Ichäftliche Korrefpondenz mit den Auftraggebern geführt, und
Gabor hatte wahrhaftig feine VBeranlaffung gehabt, diejen Ver—
ziht auf einen Teil feiner eheherrlichen Rechte zu bereuen.
Denn während er jelbit gewiß niemals den Mut gehabt hätte,
einem Manne, dem er fo viel Dank zu fchulden glaubte, jeiner-
feit3 Bedingungen zu jtellen, mit ihm zu feilfchen oder gar
eine jeiner Anerbietungen wegen zu niedrigen Preijes rundweg
abzulehnen, ließ fich Frau Helene durch derartige Rüdfichten
feinen Augenblid in der Wahrnehmung feiner Intereſſen —
die ja ein wenig freilich auch die ihrigen waren — beirren.
2458 Reinhold Ortmann.
Sie wußte jehr gut, daß Wolffram bei all feinen ſcheinbaren
Wohlthaten nur den eigenen Vorteil im Auge gehabt hatte,
und danach richtete ſie ihr Verhalten gegen ihn ein. Ja, ſie
ſagte es ihm einmal, als er in Gabors Gegenwart den Ge—
kränkten zu ſpielen verſuchte, mit lächelndem Munde und in
liebenswürdigen, doch darum nicht weniger unzweideutigen Worten
gerade ins Geſicht. Und zum grenzenloſen Erſtaunen des von
ihrem kühnen Beginnen aufs höchſte beſtürzten jungen Malers
war die Folge dieſer Aufrichtigkeit nicht etwa ein Bruch mit
dem Kunſthändler oder auch nur eine Erkaltung der Beziehungen
zu ihm, ſondern vielmehr eine geſteigerte Höflichkeit in ſeinem
Benehmen und ein beträchtliches Heraufgehen ſeiner Angebote
geweſen. Die Klugheit dieſes praktiſchen jungen Weibchens
hatte ihm offenbar gewaltig imponiert und er war ſich voll-
Itändig darüber Far, daß er auf die Erhaltung ihrer Gunft
bedacht fein müſſe, wenn ihm nicht fein koſtbarer Schützling
ganz und gar aus den Fingern ſchlüpfen ſolle.
Bald genug hatte Gabor jede Ueberſicht über ſeine Ein-
fünfte verloren. Er hatte ja auch den Kopf voll genug von
jeiner Arbeit, die ihn faum für eine Stunde zur Ruhe fommen
ließ. Denn die Aufträge mehrten ſich raſch in einer Weije,
die ihn faſt zu beängjtigen anfing. Er fühlte, daß er zuviel
auf fich nehme und daß er die Laft nicht mehr bewältigen
fönne — wenigſtens nicht, wenn er in jedem Fall ehrlich und
fünjtleriich zu Werfe gehen wolle. Offen hatte er das eines
Abends feiner Frau im- Beifein ihres Vater erflärt, und
Heinrich Bollart hatte ihm bedingungslos zugeitimmt. Helene
aber hatte gegen jeine Abficht, aus den angegebenen Gründen
einen bejonders vorteilhaften Auftrag zurüczumeilen, mit größter
Entichiedenheit Widerfpruch erhoben. Und al3 er fich immer
wieder auf feine Künftlerehre berief und auf feine moraliſche
Verpflichtung, bei jedem Bilde fein ganzes Können einzujeßen,
hatte fie ihm in ihrer ruhig verjtändigen Weile Har zu machen
verjucht, daß er ich feine Arbeit in diefer Hinficht ganz un—
nötig erjchwere, da feine Auftraggeber und ihr Anhang viel
zu wenig funftverjtändig feien, um jolche Hingabe zu würdigen
und fie ihm nach Gebühr zu danken. Sie verwies ihn auf
das Beilpiel anderer beliebter und vielbefchäftigter Modemaler,
Wer wird fiegen? | 2459
die e3 Schließlich dahin gebracht hätten, daß die Leichtfertigfeit
und Oberflächlichfeit ihrer Arbeit al3 ein Beweis ihrer Genialität
gepriejen würde. Und als er fich entrüftet gegen die Zumutüng
auflehnte, ihnen nachzueifern, jchlang fie a ihren weichen
Arm um feinen Naden und fagte:
„Du ſollſt mic nicht mißverſtehen, Liebſter! Gerade weil
ich dich recht bald in der Lage ſehen möchte, einzig jo “zu
Tchaffen, wie dein Fünftlerifcher Ehrgeiz e3 dir gebietet, bitte id)
dich, unferer Zukunft vorerft das Heine Opfer einiger Zugejtänd-
nilfe zu bringen. Ein Künitler, der nur feinen Idealen nach—
leben will, muß frei und unabhängig fein von allen Eleinlichen
Sorgen des Kampfes ums Daſein. Und du würdeſt darum
ein Unrecht begehen gegen dich ſelbſt, wenn du die glückliche
Gelegenheit worübergehen ließeft, raſch und verhältnismäßig
mühelos zu jolcher Unabhängigkeit zu gelangen. Je eifriger
du jegt für den Erwerb arbeiteit, deito ungehinderter wirft du
binnen wenig Jahren nur noch für deinen Ruhm arbeiten fönnen.
Und ich werde gewiß die erite fein, den Tag zu jegnen, an dem du
dich bis zu dieſer beglüdenden Freiheit durchgerungen haft.”
Wie hätte er der überzeugenden Beredſamkeit und den noch
viel überzeugenderen Zärtlichfeiten feines reizenden jungen Weibes -
widerjtehen können! Er hatte alfo den Auftrag angenommen,
den er mit gutem Gewiſſen eigentlich nicht mehr hätte annehmen
dürfen — und nicht diejen allein, jondern aud) alle weiteren,
jofern ihm nur die von Frau Helene im Einverjtändnis mit
Herrn Wolffram bejtimmten Hohen Preife anſtandslos bemilligt
wurden. Und wenn er auch noch eine Zeitlang redlich bemüht
geweſen war, fich von den Leichtfertigfeiten und Oberflächlichkeiten
anderer übermäßig bejchäftigter Modeporträtiften frei zu halten,
fo war er doch bald genug inne geworden, daß jelbjt die äußerite
Anspannung aller Kräfte nicht mehr Hinreichte, ihn davor zu
bewahren. Denn, was das Schlimmite war, die Luft und Liebe
zur Arbeit, die beglüdende und anſpornende Freude am fünjtle-
rischen Schaffen begannen ihn zu verlaffen. Hier und da ging
er mit wirflichem Widerwillen ans Werk, und je mehr er ſich
der flachen, handmwerfsmäßigen Schöpfung ſchämte, die er da
unter feinen Händen entjtehen jah, defto härter wurde ihm der
Froͤndienſt, in den ihn ein fremder Wille gezwungen.
— — *
2460 Reinhold Ortmann.
Die „Kundſchaft“ aber wurde zu feiner ftillen Berwunderung
von alledem augenjcheinlich nicht das Mindefte gemahr. Man
fand feine Borträt3 nach wie vor'„bezaubernd“ und „entzüdend”,
auch wenn er felbit fie in der Stille des Herzens elende Pinſeleien
nannte und fich ernätlich verfucht fühlte, fie noch im lebten
Augenblid vor der Ablieferung zu vernichten. Helene hatte
dieje Leute aljo vollfommen richtig beurteilt, al3 fie jagte, daß
ihnen jede Fähigkeit abgehe, ein Kunſtwerk nach jeinem wahren
Werte zu ſchätzen. Und jo wurde auch jein Gewiſſen allmäh-
lich jtumpf gegen die anfangs über alle Maße peinigende Em-
pfindung, daß er feine Auftraggeber eigentlich um ihr Geld
betrog, indem er ihnen nicht das gab, was fie nach feinen
früheren Leiftungen mit Fug und Recht von ihm erwarten
durften. |
Die Betrogenen felbjt ahnten ja nichts davon, und e3 ver-
ging Feine Woche, ohne daß ſich nicht aus den reifen der
Berliner Plutofratie — auf diefe allein war Gabor Ruhm
bisher beichränft geblieben — der eine oder die andere be-
Icheidentlich um den Vorzug beworben hätte, von dem genialen
Pinjel des jungen Meifter8 auf die Leinwand gezaubert zu
werden. Er fühlte fich überarbeitet und in tiefiter Seele un-
befriedigt; aber er wagte nicht einmal, feiner Frau etwas davon
zu zeigen. Denn er wußte ja im voraus, daß fie die ſchlagendſten
Bemeisgründe in der Hand hatte für die Thorheit und Grund-
(ofigfeit feiner Klagen.
Wenig mehr als ſechs Monate waren jeit ihrer Ber-
heiratung vergangen, und jchon konnte fie ihn dank ihrer be-
wunderungswürdigen gejchäftlichen und wirtjchaftlichen Talente
mit allen Annehmlichkeiten der Wohlhabenheit umgeben. Die
Schuld an den Kunſthändler war bi3 auf den lebten Pfennig
getilgt, obwohl es den Wünfchen und Abfichten des Herrn
Wolfram wahrſcheinlich viel beſſer entſprochen haben würde,
wenn die junge Frau mit der Rückzahlung weniger eilig geweſen
wäre. Und Gabor Sarlo wußte, daß er nur irgend einen auf
ſein perſönliches Behagen gerichteten Wunſch gegen Helene zu
äußern brauchte, um ihn ſofort mit liebenswürdigſter Bereit—
willigfeit erfüllt zu jehen. Denn jo wenig Bedürfnifje fie für
fich felbft Hatte, jo fparjam fie ihren Heinen Haushalt führte
Wer wird Stegen? 2461
und jo ängitlich jie jede überflüffige Ausgabe vermied, fo liebe-
voll war fie doch allezeit darauf bedacht, den Heinen Lieb-
habereien ihres Gatten Rechnung zu tragen und ihn nichts
entbehren zu laflen von jenen materiellen Genüffen, die ihm
ihrer Meinung nach Vergnügen bereiten fonnten. Er fonnte
bei dem beiten und teuerjten Schneider arbeiten laſſen, während
Frau Helene fich nad) der Gewohnheit ihrer Mädchenjahre
ſogar ihre Gejellichaftstoiletten jelbjt anfertigte; er rauchte die
feinſten Import-Cigarren, und er fand ftet3 eine Flaſche vom
edelſten Ungarwein auf dem Tiſche, während Helene nie etwas
anderes als Waſſer trank.
Aber ihre ſelbſtverleugnende Sorge um ſein Wohlbehagen
ging noch weiter. So viel er ihr auch durch ſeine angeſtrengte
Thätigkeit während der Tagesſtunden entzogen wurde, erhob ſie
doch keinen Anſpruch darauf, ihn dafür während der Abende
ganz für ſich zu behalten. Wolffram Hatte ihr gejagt, daß es
für einen PBorträtmaler, der in die Mode fommen und fich darin
behaupten wolle, unerläßlich jei, gejellichaftliche Beziehungen
zu juchen, und eine jtändige Figur in den Salon jener Sreije
zu bilden, aus denen feine Auftraggeber fich refrutierten. Sie
hatte die volle Berechtigung diejes Verlangens eingefehen, und
fie jelbit hatte ihren Gatten gedrängt, fich dementjprechend zu
verhalten.
Er hatte von Anfang an feine Einladung ablehnen dürfen,
von deren Annahme fich irgend eine wertvolle Anfnüpfung er-
hoffen ließ, und nie hatte fie auch nur das leiſeſte Mißver—
gnügen darüber an den Tag gelegt, daß fie einen großen Teil
ihrer Abende mutterjeelenallein in den häuslichen vier Wänden
zubringen mußte.
Ihm aber, wie fehr er auch die Gefelligfeit liebte, hatte
e3 ftet3 eine empfindliche Beeinträchtigung feines Vergnügens
bedeutet, Helene einfam daheim zu willen, während er tafelte
oder tanzte. Er hatte feine neuen vornehmen Befanntichaften
ziemlich deutlich daran erinnert, daß er verheiratet ſei. Und
die Einladungen waren demzufolge bald nicht mehr für ihn
allein, fondern auch für feine Frau ergangen. Da fie jah, daß
e3 ihm Freude machte, fein allerliebftes junges Weibchen in
die äußerlich jo glänzende Welt der Berliner Börjennoblejje
2462 Reinhold Ortmann.
einzuführen, hatte fie ihn willig ein paarmal begleitet. Und
fie hatte feiner Meinung nach durchaus feinen Anlaß gehabt,
fich über einen Mangel an freundlichem und rüdficht3vollem
Entgegenfommen zu beklagen. Man hatte ſie überaus liebens-
würdig und ganz wie jeinesgleichen behandelt, jo daß Gabor
durchaus nicht begriff, weshalb fie all diefer Freundlichkeit
gegenüber eigentümlich ftil und zurückhaltend geblieben war,
und weshalb fie nach der Heimfehr fo gar nicht in jein Ent- :
züden über das genojjene Vergnügen einjtimmen wollte. Eines
Tages. aber. hatte er dann doch die Gründe dafür erfahren.
Helene hatte ihn gebeten, eine Spiree im Haufe de3 Herrn
Paul Imgart ohne fie zu bejuchen, obwohl die jchön gejtochene
Einladungsfarte auch ihren Namen trug. Und als er durchaus
zu willen begehrte, weshalb fie ihn nicht begleiten molle, hatte
fie freimütig erklärt:
„Aus drei Gründen, liebes Herz, von denen, wie ich
meine, jeder einzelne als Entſchuldigung hinreichen jollte. Erſtens
— weil e8 mir nur ein jehr mäßiges Vergnügen bereitet, mich
unter diejen Leuten zu bewegen, deren Intereſſen nicht. Die
meinigen find und zu denen ich deshalb niemals daS. richtige
Verhältnis gewinnen werde; zweitens — weil ich. unmöglich
wieder in demjelben Kleide hingehen fünnte, und ich es doch
andererjeit3 für eine thörichte und jündhafte Verjchwendung
halten würde, mir ein neue3 zu machen, für das ſonſt nicht
das geringjte Beditrfnis vorhanden ift; drittens aber, und das
ijt vielleicht die Hauptjadde — weil es mir demütigend und
peinlich jcheint, eine Gaſtfreundſchaft anzunehmen, die ich ent-
weder gar nicht oder doch nur in der allerbejcheideniten, nach
den Begriffen jener Leute geradezu armfeligiten Weije ertwidern
könnte. Wir find noch lange nicht reich genug, um Gälte von
diejer Art zu empfangen. Und wenn wir etwa jo leichtfertig
wären, das Geld, das du mühſam genug erarbeiten niußt, für
die Beranftaltung von Gejellfchaften zum Fenſter hinaus zu
“ werfen, jo würde ich dabei doch die drüdende Empfindung
nicht los werden, daß dieſe durch eine fürftliche Lebensführung
verwöhnten und überjättigten Menfchen ein Erfcheinen in .unjerem
Haufe lediglich al3 eine gnädige Herablafjung betrachten würden.
Für dich aber fallen alle derartigen Bedenklichfeiten fort, und
re
Wer wird ftegen? 2463 |
— NT LEEREN ZNLD wu ne —————— 200 un En u —
ich bitte dich darum herzlichit, für die Folge die Einladungen,
die aus jenen reifen fommen, nur noch für Deine eigene
Perſon anzımehmen.“ |
Gabor Sarlo fannte die Energie feiner jungen Frau be—
reits hinlänglid), um zu wifjen, daß e8 gegen eine mit jolcher
Meberlegung begründete Willensfundgabe feine Einwendungen
mehr gab. Er Hatte fich alfo ihrem Wunſche gefüigt; aber es
war doch das unangenehme Gefühl in ihm geblieben, daß diejer
Verzicht auf die Freuden einer Gejelligfeit, die ihm felbjt über-
aus anregend und unterhaltiam erſchien, einer etwas engherzigen
Denkweiſe und einer beinahe kleinlichen Sparjamfeit entiprungen
ſei. Diefe Sparjamfeit, die jich ihm überall in feinem Haufe
bemerflich machte, wo es fich nicht gerade um feine perjönlichen
Liebhabereien und Bedürfnifje handelte, ftörte ihn überhaupt
immer mehr. Er wußte ja, daß die Einnahmen jehr reichlich
floſſen, und deshalb verſtimmte es ihn, zu jehen, wie hartnädig
fi Helene gegen jede Heine Ausgabe fträubte,. die ihr nicht
unbedingt notwendig. ſchien. Als er einmal zufällig hören
mußte, wie geringichäßig fih das Dienftmädchen über Die
„Knauſerei“ ihrer Herrin äußerte, faßte er ſich ſogar das Herz,
ihr in halb fcherzhafter Form einige liebevolle Vorhaltungen
zu machen. ber die ebenjo ruhige wie entjchiedene Zurück—
weilung, die diejem erjten Verſuch einer Einmilchung in das
häusliche Herrjchgebiet feiner Frau zu teil wurde, nahm ihm
ein für allemal die Luft zu einer Wiederholung. Daß fie eine
jo nüchterne Eleine Nechenmeifterin fei, hätte er in den Tagen
feines kurzen Brautjtandes doc nimmermehr für möglich ge-
Halten. Und wenn er ganz ehrlich fein wollte, konnte er ih
nicht verhehlen, daß ihre in jo hohem Maße entwidelten wirt-
ſchaftlichen Tugenden fie in feinen Augen keineswegs liebens-
würdiger machten.
Se häufiger er jeßt die gejelligen Veranstaltungen ſeiner
neuen Belanntenfreile bejuchte, mit deito größerem Unbehagen
empfand er den Eleinlich-|pießbürgerlichen Geijt, der, wie er
meinte, jein eigenes Hausweſen erfüllte. Er hätte ja feine wirk—
liche Künjtlernatur jein müfjen, wenn die üppige Pracht und
der verſchwenderiſche Luxus jener Feſte nicht in hohem Maße
nach jeinem Gejchmad gewejen wären. Bei der Bejcheidenheit
2464 Reinhold Ortmann.
feiner Herkunft und der Dürftigfeit.der Verhältniffe, in denen
er bis zu dieſer günftigen Wendung feines Geſchickes gelebt,
hatte fich ihm mit dem Eintritt in diefe Atmojphäre des Reich—
tum3 und des Weberflufjes eine ganz neue Welt aufgethan. Aber
er hatte jich überrafchend jchnell darin zurechtgefunden, und es
dünfte ihm jeßt fat unbegreiflic), wie er alle diefe Genüfje jo
lange hatte entbehren können, ohne ſich der Armut feines Dajeins
auch nur bewußt zu werden.
Er fühlte jich vollfommen heimiſch in diefen mit raffinierter
Eleganz ausgejtatteten Salons, an diejen mit foftbaren Silber-
Ihägen überladenen Tafeln, über die zumeilen aus Anlaß eines
Diners ein Feines Vermögen in Geftalt von jeltenen Blumen
auggeitreut war. Er, der ſich jahrelang in den armieligften
Speiſewirtſchaften Berlins hatte durchbringen müfjen, genoß mit
dem ganzen Behagen eined erfahrenen Feinſchmeckers die aus—
gejuchten Delifatefjen und die erlefenen Weine, die in jenen
Häujern zn den jelbftverjtändlichen Dingen zu gehören jchienen.
Und er war keineswegs unempfindlich für die Schönheit feiner
Tiſchgenoſſinnen, die ihre Reize durch die kunſtvollſten Toiletten
und die gleißendſten Juwelen ſtets in eine ſo vorteilhafte Be—
leuchtung zu ſetzen wußten.
Wohl war dies Wohlgefallen bisher kaum etwas anderes
geweſen als eine aus rein künſtleriſchen Empfindungen ent=
ſprungene naive Freude am Schönen. Und er war harmlos
genug, die oft recht augenfälligen Koketterien gar nicht zu be—
merken, mit denen dieſe oder jene ihn zu ermutigen und an ſich
zu feſſeln ſuchte. Seit kurzem aber war aus dem Schwarm
jugendlich-anmutiger Geſtalten, auf die ſein Intereſſe ſich bis
dahin ziemlich gleichmäßig verteilt hatte, mehr und mehr eine
einzelne Erſcheinung herausgetreten, um zuletzt ſeine Gedanken
faſt ausſchließlich zu beſchäftigen.
Das war Fräulein Hertha Imgart, die Tochter eines reichen
„Privatiers“, der den erſten Stock eines ſehr vornehmen Hauſes
in der Lennéſtraße bewohnte, und auf den der Kunſthändler
Wolffram ihn von vornherein als auf eine für ihn jehr wichtige
Perſönlichkeit aufmerkſam gemacht hatte. Der Mann war ihm
eigentlich im Anfang nicht ſehr ſympathiſch gewejen mit feinem
ſcharf gejchnittenen Raubvogelgejicht, feinen lauernden Augen und
Wer wird fiegen? 2465
der nervöfen Unruhe feines Weſens. Aber jein Haus war ohne
Zweifel das üppigſte von allen, die Gabor bis jebt kennen ge=
lernt hatte, und die Vorzüge der Tochter waren wohl danad)
angethan, alle unangenehmen Eigenjchaften des Vaters vergefien
zu machen.
Fräulein Hertha galt in ihren Geſellſchaftskreiſen für eine
Schönheit, obwohl ihre Züge eigentlic” mehr auffallend als
regelmäßig waren und einen wirklichen Reiz erjt dann gewannen,
wenn fie ſich während einer angeregten Unterhaltung zu be-
leben anfingen. Dann aber fonnte dies brünette Köpfchen
wirklich bezaubernd ausjehen. Und e3 ließ ſich in folchen Augen-
bliden faum etwas Verführerijches denken als ihr ausdrud3-
volles Geficht, ihr helles Lachen und ihre. jchlanfe, biegjame,
Itet3 in wahre Wunderwerfe der Schneiderfunft gefleidete Geitalt.
Sie war dem jungen Maler zuerit viel Fühler gegenüber-
getreten al3 die meilten andern hübjchen Damen, deren Be-
fanntichaft er da auf dem Parkett der Tiergartenjalond gemacht.
Und er hatte im Verkehr mit ihr eine Befangenheit gefühlt,
die ihm font fremd war. Man fonnte eben mit ihr nicht reden
wie mit den andern. Ihr ſcharfer Verſtand, ihre für ein junges
Mädchen geradezu erjtaunliche Weltfenntnis und ihre bemundern3-
würdige Schlagfertigfeit nötigten den Kavalier, dem die Auf-
gabe zügefallen war, fie zu unterhalten, zu geiltigen Anftren-
gungen, deren e3 für ein Tiſchgeſpräch oder ein Ballgeplauder
mit den Frauen und Mädchen diefer Gejellichaftsfreije ſonſt
wahrlich nicht bedurfte. Und bei ihren erjten Begegnungen
hatte Gabor troß aller Bemühungen das rechte Thema nicht
finden fünnen, das fie veranlaßt hätte, aus ihrer abwartenden
Zurückhaltung herauszutreten.
Dann aber hatte er das Imgartſche Haus einmal in Be-
gleitung feiner Frau beſucht. Und bei dieſem Anlaß war das
Ei3 geichmolzen. Fräulein Hertha jchien ein außerordentliches
Gefallen an Helene zu finden. Sie war der jungen Gattin
des Maler3 gegenüber von einer Liebenswürdigfeit und Herz
lichkeit, deren Gabor ihre anjcheinend fo fühle, rejervierte Natur
gar nicht fähig geglaubt hatte, und e3 ergab fich daraus auf
ganz natürliche Weife, daß auch ihr Benehmen gegen ihn ein
anderes, vertraulichere3 wurde. Bei ihrer nächlten Begegnung,
ZU Haus-Bibl. II, Band XI. 155
2466 | Reinhold Ortmann,
die im Haufe eines gemeinjchaftlichen Bekannten, des Bankier
Eckartsberg, jlattfand und die fie als Tiſchdame an jeine Seite
führte, hatten fie fogleich das rechte Unterhaltungsthema ge-
funden, indem fie ausfchlieglih von der diesmal nicht an-
wejenden Helene ſprachen. Gabor war glüdlih, Fräulein
Hertha in Ausdrüden wärmfler Sympathie von feiner Frau
reden zu hören, und auf ihre teilnehmenden Fragen erzählte
er ihr in feiner liebenswürdig-offenherzigen Weije, die auch jet
noch zumeilen etwas beinahe Knabenhaftes hatte, die ganze,
im Grunde recht einfache Gejchichte jeines Lebens, feiner Tampf-
loſen, wenig romantischen Liebe und feiner im glüdlichiten
jugendlichen Leichtfinn gejchloffenen Heirat. |
Seit jenem Abend waren fie gute Freunde. Und Hertha
Imgart, die jtet3 eine ſouveräne Gleichgültigfeit gegen allen
Klatſch und alles Gerede der Welt an den Tag legte, zeichnete
den jungen Maler in augenfälliger Weile vor den übrigen-
Herren ihrer Bekanntſchaft aus, obwohl er viel weniger als
jene darauf bedacht war, ihr im eigentlichen Wortfinne den Hof
zu machen. ®abor wurde ein beinahe täglicher Salt im Im—
gartihen Haufe, und Hertha befundete ihr lebhaftes Intereſſe
an jeinem Schaffen dadurch, daß fie ihn wiederholt in Be—
gleitung ihrer Mutter oder einer anderen älteren Dame in
jeinem Atelier befuchte. Nur bei dieſen Bejuchen war fie wieder
mit Helene zuſammen getroffen; denn zu den Gejellichaften bei
den Imgarts war die junge Frau troß der immer wiederholten
Einladungen nicht mehr gekommen. Und ihr Verhältnis zu
Hertha hatte demgemäß nicht in demfelben Maße an Wärme
und Herzlichfeit gewonnen wie die Beziehungen ihres Mannes
zu feiner jchönen und geiltreihen Gönnerin. Wohl Fam fie
Hertha nicht unfreundlich entgegen; aber ihre Freundlichkeit war
von einer genau abgemefjenen, zurüdhaltenden Art, die es der
anderen von vornherein unmöglich machte, in ihren Annäherungs-
verfuchen über eine gemwilje Grenze hinaus zu gehen. Und jo
wenig fich in ihrem Benehmen jemals auch nur die leijejte An-
wandlung von Eiferfucht offenbarte, jo wenig trat darin an-
dererjeits ein Bedürfnis nach innigerem Anschluß zu Tage.
Dann — vor ungefähr einer Woche — hatte jich. eines
Tages Herr Paul Imgart bei dem Maler eingefunden, um
Wer wird fiegen? . 2467
wegen eines großen Porträts feiner Tochter Rüdjprache mit
ihm zu nehmen. Er: war eilig, zerjtreut und nervös gemwejen
wie immer, wenn er genötigt war, über Dinge zu reden, die
jeinem Intereſſentreiſe fern lagen. Und obwohl er ſich den
Anſchein zu geben verſuchte, als ſei die Idee zu dieſem Auf-
trage in ſeinem eigenen Kopfe entſtanden, hegte Gabor doch
von Anfang an feinen Zweifel, daß er nur einen — wahr—
jcheinlich jehr dringend ausge Iprochenen — Wunjch feiner Tochter
erfüllte. Bon Imgarts Noblefje in Geldfachen aber hatte Herr
Wolffram wahrlich nicht zu viel gejagt, al3 er feinen Schüßling
empfahl, fich gerade um das Wohlwollen dieſes angeblichen
Brivatiers recht angelegentlich zu bemühen. Denn ſtatt den
Maler um feine Forderung für das beftellte Borträt zu befragen,
machte er ihm ein Angebot, das jehr weit ſelbſt über den höchiten
Preis Hinausging, der Gabor bisher für ein Bild gezahlt
worden war, und fügte — jchon im Fortgehen begriffen —
ganz beiläufig hinzu:
„Da ich dieſe geſchäftliche Seite der Sache gern ſo raſch
wie möglich erledigt ſehen möchte, werde ich mir erlauben,
Ihnen morgen einen Chek auf die vereinbarte Summe zu über—
ſenden. Für die Ablieferung des Bildes ſind Sie dadurch
natürlich in keiner Weiſe an einen beſtimmten Termin gebunden.
Ich weiß, daß Sie ſehr beſchäftigt ſind, und ich wünſche durch—
aus nicht, daß Sie die Arbeit überſtürzen. Wegen der Sitzungen,
die doch jedenfalls hier in Ihrem Atelier ſtattfinden müſſen,
haben Sie wohl die Güte, fich mit meinen Damen zu verjtändigen.“
Gabor Sarlo hatte nicht die Unmahrheit geiprochen, als
er Hertha vorhin verficherte, daß ihn faum jemals ein Auftrag
ſo glüdlich gemacht habe wie diefer. Aber er war fich felber
vielleicht nicht vollftändig klar geweſen über die eigentliche Ur-
jache der heißen Freude, die er bei dem Gedanken an die bevor-
Itehende Arbeit empfunden. Und während der erſten Sigungen,
die immer im Beiſein der phlegmatifchen und ftet3 gelang-
weilten Frau Imgart Stattgefunden, hatte er fich mit liebevoller
fünftlerifcher Hingabe jo ganz in das zu fchaffende Werk ver-
lenkt, daß auch der mißtrauischite Beobachter nicht hätte auf
den Verdacht geraten können, als habe fein Herz einen größeren
Anteil an diefer Freude als fein malerischer Ehrgeiz, Wenn
155*
2468 - Reinhold Ortmann.
e3 wirklich in erjter Linie die Gelegenheit zu langem und un-
geſtörtem Beilammenjein mit Hertha war, was ihn beglüdte,
jo machte er doch jedenfalls nicht den geringjten Verfuch, diefe
Gelegenheit auszunügen. Er ſprach jehr wenig, arbeitete mit
fieberhafter Emfigfeit und blieb bei alledem jo unbefangen, als
hätte ihre reizende Perjönlichkeit für ihn wirklich feine andere
Bedeutung als die eines De]onders hübfchen und intereflanten
Modells.
Heute zum eritenmal hatte diefe Unbefangenheit ihn ver-
laſſen. In dem Augenblid war es gejchehen, da er ich über
Hertha herabgeneigt hatte, um den in Unordnung geratenen
Faltenwurf ihres Kleides zu arrangieren, und da fie ihm
während diefer Beichäftigung mit fo eigentümlich warmem und
innigem Ausdrud die Mahnuug zugeflüjtert hatte, die er bisher
nur von feinem eigenen künſtleriſchen Gewiljen, niemals aber
aus einem fremden Munde gehört. Denn in jenem Moment
war e3 blibartig durch feine Seele gegangen:
Um wieviel befjer fie dich verjteht als dein eigenes Weib!
Sie würde niemal3 verſucht haben, dic) zum elenden Lohn—
arbeiter berabzudrüden. Sie würde dich begeiltert und empor-
getragen haben — während in der dumpfen Atmojphäre, die
Helenes pießbürgerlich-engherziger Erwerbsſinn um did) ver-
breitet, alles Freie und Große in dir notwendig früher oder
jpäter eritiden und elend zu Grunde gehen wird.
Eine Flut von Schmerz und Bitterfeit war in ihm auf-
geftiegen, und fo tief fühlte er ſich beſchämt, daß alle Schaffens-
luft und Schaffensfreude mit einem Male in ihm erjtorben waren.
inter und ſchweigend wilchte er ein paar Minuten lang an
dem Bilde herum, ohne ſich während deſſen nur ein einziges
Mal nad) feinem Modell umzufehen. Und aus dem gärenden
Durcheinander unerfreulicher Erinnerungen und anklagender Ge—
danken klangen ihm i immer vernehmlicher die gefährlichen Fragen
entgegen:
Warum hatte ich's ſo eilig, mich für alle Ewigkeit an ein
Weſen zu feſſeln, das die Bedürfniſſe einer Künſtlerſeele nicht
verſteht und niemals verſtehen wird? Warum habe ich fie und
mich nicht beſſer geprüft — warum bin ich heute nicht mehr
frei, fondern ein arıner, gebundener Sklave — warum — —?
Wer wird fiegen? 2469
Siebzehntes Kapitel.
„Sie jind mir böfe, Herr Sarlo — aber ich bitte Sie um
Berzeihung! Es war eine unbedachte Yeußerung. Und ich habe
jelbftverjtändlich Fein Necht, jo zu Ihnen zu fprechen.“
Hertha war e3, die das nachgerade unerträglich drüdende
Schweigen mit diefen halblaut gejprochenen Worten unterbrochen
hatte. Die tiefen, geräufchvollen Atemzüge aus dem Fauteuil
am anderen Ende des Ateliers thaten fund, daß Frau Imgart
fich nach dem Heinen vergeblichen Ernunterungsverfuch nur um
ſo feiter in die weichen Arme des Traumgottes gejchmiegt hatte
und daß man fi) um ihretwillen feinen Zwang in der Unter-
haltung aufzuerlegen brauchte. Trotzdem aber verließ Gabor
ſeinen Platz an der Staffelei und trat ganz nahe zu Hertha heran,
ehe er leije, aber in faum unterdrüdter Erregung ermwiderte:
„Rein, ic) bin Ihnen nicht böfe, Fräulein Imgart! Und
ih danke Shnen aus der Tiefe meines Herzens für das In—
terefje, da3 Sie an mir nehmen. Denn nur ehrliche Teilnahme
fonnte Ihnen ein Wort eingeben wie dies. Aber jagen Sie
mir jegt auch ganz offen, wie Sie über mich denken — machen
Sie mir fein Hehl daraus, daß Sie mich im Grunde Ihrer
Seele für einen verächtlichen, unfünftlerifchen Streber halten.”
Mit großer Entjchiedenheit jchüttelte fie den hübſchen dunklen
Kopf. |
„Welche Uebertreibung! Glauben Sie dein, daß ich freund-
Ichaftlih mit Ihnen verkehren und daß ih mid von Ahnen
malen lafjen würde, wenn ich eine jo ſchlechte Meinung von
Ihnen hätte? Nein, Herr Sarlo, ich halte Sie für einen wahren
Künftler, und ich habe daS feſte Vertrauen, daß Sie noch zur
rechten Zeit die gefährlihe Bahn verlaffen werden, auf die Sie
ih durch die Verhältnifje Haben drängen lafjen.“
„Und wenn ich Ihnen nun antivorten müßte, daß Sie jich
twahrjcheinlich darin täufchen, weil diefe Berhältnifje eben ſtärker
ind als ih?"
„Ach, da kann Ihr Ernft nicht fein. Für einen Mann
darf es feinen Einfluß geben, der jtärfer wäre als fein eigener
Wille. Sind Sie denn nicht ganz Unabbonnln, und der freie
Herr Shrer Entſchlüſſe?“
2470 Reinhold Ortmann.
Gabor jah beſchämt vor fich nieder; aber er war gerade in
der Stimmung, aufrichtig zu jein — aufrichtig bis zur erbar=
mungsloſen Graujamfeit gegen fich ſelbſt.
„Sie vergejlen, daß ich verheiratet bin — und daß ic nad)
der Anficht meiner rau vor allem für die fichere Zukunft einer
Familie zu jorgen habe.“
„O — Sie. thun Ihrer Gattin ficherlich unrecht, wenn Sie.
ihr eine fo nüchterne und Heinlihe Denktungsart zutrauen. Sit
tie denn nicht jelbit die Tochter eineg Maler und in einer frei—
geiftigen Fünftlerischen Atmoiphäre aufgewachſen? Und hatten Sie
nicht vor der Hochzeit Gelegenheit genug, fie fennen zu lernen?“
Gabor Sarlo dachte an den niederländijchen Ofenwinfel in
Heinrich Bollart3 Atelier und an den Hundertmal gemalten Lehn—
ſtuhl. Und mit einem Male wurde e8 ihm zur Gemwißheit, daß
jeine Srau, wenn er ſich auch weiter widerſtandslos ihrer Führung
überließ, aus ihm denjelben handwerkelnden Dußendmaler machen
würde, der Heinrich Vollart unter dem janften Einfluß feiner
ſparſamen Gattin und jeineß vielleicht noch jparjameren Tüchter-
chens geworden war. Syn leidenjchaftlichem Trotz lehnte ſich ſeine
Seele gegen dieſe Vorſtellung auf, und mit einer Heftigkeit, die
Hertha befremden mußte, gab er zurück:
„O gewiß — ich darf mich nicht beklagen. Ich hätte alles
vorher wiſſen können — alles! Und ich muß blind geweſen ſein,
daß ich nicht deutlich vorausſah, was mich erwartete. Wohl—
geordnete bürgerliche Verhältniſſe, eine makelloſe Reputation und
ein hübſches Guthaben beim Bankier, das ſind die höchſten Ziele
eines Künſtlers, jo mie ſie fi) im Kopfe meiner Frau darſtellen.
Und fie wird mic) zu dem Glauben an Ddieje Ideale befehren,
wie man ihren Vater dazu befehrt hat, der vielleicht auch ein
Herz doll hoher und Heiliger Begeifterung mitgebracht hatte in
jeine Ehe. Hat fie es doch ſchon heute dahin gebracht, daß ih
ohne alle Gewiſſensſkrupel die elendeite Fabrifarbeit verrichte —
und daß ich nicht den Mut haben würde, mich ihr zu wider—
jeßen, wenn jie mir’3 etwa zur Pflicht machte, um irgend eines
lohnenden Broterwerb3 willen meine Kunſt noch jchamlojer preis-
zugeben.“ |
„Aber das wäre ja jchredlich! Und ich glaube nicht daran!
Sie find in der Laune, zu überteiben. Welche Meinung müßte
Wer wird fiegen? 2471
ich fonft von Shrem Charakter und von der Kraft Ihres Willens
gewinnen.“
„Sch ſagte Ihnen ja ſchon, daß ich mich der allerjchlechteiten
würdig weiß. Denn weshalb jollte ich zu beichönigen Juchen,
daß ich meiner Frau gegenüber ein erbärmlicher Schwädhling
bin? Cie regiert mich mit ihrer Sanftmut, gegen die ic) feine
Waffen bejige. Vielleicht wäre es anders geworden, wenn ich
mich ſchon am erjten Tage unjerer Ehe auf mein Herrenrecht
bejommen hätte. Nun aber ift es zu jpät.“
„Nein, Herr Sarlo — es iſt nicht zu ſpät — es darf nicht
zu |pät fein,” jagte fie, ihm mit ihren dunklen, ausdrucksvollen
Augen feit ing Geficht blidend. „Sind Sie wirklich gewiß, daß
Sie Ihre künſtleriſche Perjönlichkeit nur im Kampfe gegen Ihre
Frau durchjegen fünnen, jo dürfen Sie dieſen Kampf nicht ſcheuen.
Und wein Sie einer Bundesgenojjin bedürfen, eines verjtänd-
nisvollen, mitfühlenden Weſens, das Sie in Augenbliden der
- Berzagtheit aufrichtet und anfeuert, jo —“
„So wollten Sie mir Dies göttliche Wejen fein? — O,
Fräulein Hertha, wenn Sie mich vor meiner eigenen Schwäche
retten könnten — wenn Sie — —“ |
Er brach mitten in feiner feurig begonnenen Rede ab, viel-
feicht, weil er nicht wußte, wie er fie enden jollte — vielleicht
auch, weil er erichroden war über das ungejtüme Wort, das ſich
ihm hatte auf die Lippen drängen wollen. Aber er nahm ihre
Hand, die fie ihm nach einem rajchen Blick auf ihre jchlafende
Mutter ohne Widerjtreben überließ und preßte feinen Mund
heiß auf die ſchlanken, fühlen, mit bligenden Juwelen gejchmückten
Finger.
„Nicht doch!“ Flüfterte jie lächelnd. „Wollen Sie denn, daß
ich mein gut gemeinte3 Anerbieten gleich) wieder bereue ?”
Er gab ihre Hand frei, doc) erjt, nachdem er ſie zum
zweiten= und zum drittenmal feurig gefüßt hatte. Sein Gelicht
brannte und er atmete rajcher.
„Mein Gott, wie aufgeregt Sie ausſehen!“ jagte Hertha,
al3 fie dieſe augenfälligen Anzeichen jeiner mächtigen, inneren
Bewegung gewahrte, mit einem fleinen Anflug von Bejorgniß.
„Wenn die Mama gerade jebt erwachte, was jollte ſie von ung
denken!“
2472 Reinhold Prtmann.
Gabor drückte auf den Knopf der eleftrifchen Silingel, und al3
auf dies Zeichen hin noch in der nämlichen Minute die Thür des
Ateliers behutfam geöffnet wurde, rief er, ohne ſich umzufehen:
„Bringen Sie mir ein Glas Wafjer — aber jchnell!”
„Jawohl, Gabor, es wird jogleich da fein. — Geſtatte mir
nur, zuvor Fräulein Imgart zu begrüßen.“
Er war zujammengefahren wie ein jchuldbewußter Uebel—
thäter, der Jih auf jchlimmen Wegen ertappt fieht. Denn auf
das Erjcheinen feiner Frau war er nicht vorbereitet geweſen,
und um nichts in der Welt hätte er ihr gerade in diefem Moment
ins Geficht jehen mögen. Ohne zu antworten, trat er an jeine
Staffelei und machte fich fo emſig an dem Bilde zu jchaffen, als
gelte e3, feine Sefunde zu verlieren. In feinen Ohren raufchte
und braufte das Blut, daß ed nur undeutlich und wie aus weiter
Ferne vernahm, was Helene und Hertha in unbefangen freund-
lihem Tone mit einander Sprachen. Dann aber — er fühlte es
mehr, al3 er e3 jah, denn feine Augen bohrten ſich förmlich in
die Leinwand ein — ftand Helene plößlich dicht neben ihm, um
die im Entjtehen begriffene Arbeit zu betrachten. Er wußte, daß
ihr Bück jeßt aufmerkſam forjchend über ſein Geficht Hinftreifte,
und da er noch die verräterische Glut auf feinen Wangen jpürte,
war cr erjtaunt über die vollfommene Ruhe, mit der fie nad)
einer Heinen Weile jagte:
„sch glaube, e8 wird jehr ähnlid) werden. — Aber du
wollteſt ja ein Glas Waſſer haben! Entjchuldige, daß ich dich
lo lange darauf warten ließ, daS Mädchen ſoll es dir auf der
Stelle bringen.“
Ob fie wirklich nicht von feiner Aufregung bemerkte, ob fie
wirklich feinen Verdacht gefchöpft hatte angefichtS der ſchlafenden
Sittenhüterin und der eigentümlichen Situation, in der fie die
beiden gefunden? Er hatte ſchon jo viele Beweile ihres außer-
ordentlichen Scharfblides erhalten, daß er es kaum zu hoffen
wagte. Und feine Yiveifel würden ſehr raſch zur vollen Gewiß—
heit geworden jein, wenn er die Veränderung hätte wahrnehmen
fünnen, die ınit Helene vorging, ſobald fie die Thür des Atelierd
hinter fich zugezogen hatte.
Ein Ausdruck namenlofer Traurigkeit legte fich über ihr
eben noch jo ruhiges, ja heiteres Antlig, und ſie blieb ſchwer
Wer wird fiegen? 2473
nun —eee — ————— SL Sn RD — — ———— —— ———
atmend ein paar Sekunden lang ſtehen, um beide Hände auf die
Stelle des Herzens zu preſſen, wie wenn ſie dort einen heftigen
körperlichen Schmerz empfände.
„Ich wußte es,“ ſagte ſie leiſe vor ſich hin. „Es konnte
ja auch gar nicht anders ſein.“
In müder Haltung und mit langſamen, matten Bewegungen,
als läge unſichtbar eine drückende Laſt auf ihren Schultern, be—
gab ſie ſich in die Küche, um den Wunſch ihres Mannes zu er—
füllen. Gleich darauf ſchlug die Wohnungsglocke an, und das
Dienſtmädchen kam mit der Meldung zurück:
„Die kleine Dame mit dem fremdländiſchen Namen iſt da
und fragt, ob ſie Frau Sarlo einen Augenblick ſprechen könnte.“
Helene wußte ſogleich, wer mit dieſer Beſchreibung gemeint
ſei, und ſie beeilte ſich, die Beſucherin, die beſcheiden auf dem
Korridor gewartet hatte, nach herzlicher Begrüßung in das Wohn⸗
zimmer einzuführen.
„Sie haben ſich ſo lange nicht mehr bei mir ſehen laſſen,
liebſte Signe!“ ſagte ſie mit freundlichem Vorwurf. „Ich glaubte
ſchon, Sie hätten mich ganz vergeſſen.“
„Ach nein, das glaubten Sie gewiß nicht,“ erwiderte die
Schauſpielerin mit einem wehmütigen Lächeln. „Das Leben,
das ich führe, iſt nicht ſo reich an Zerſtreuungen, um mich meine
Freunde vergeſſen zu machen. Oft genug in dieſen traurigen
letzten Wochen bin ich in Verſuchung geweſen, mich zu Ihnen
zu flüchten. Aber ich habe mir's doch im letzten Augenblick
immer wieder verſagt, weil ich eine gar zu unerfreuliche Geſell—
ſchafterin geweſen wäre für eine glückliche junge Frau.“
„Das war ein ſehr thörichtes Bedenken, wegen deſſen ich
Sie ernſtlich ſchelten möchte. Aber Sie ſagen, daß es traurige
Wochen geweſen ſind, die Sie durchlebt haben? Und ich glaubte
Sie endlich zufrieden und wohlgeborgen in Ihrem neuen En—
gagement.“
„Zufrieden?“ — Wieder huſchte ein ergreifend ſchmerz—
liches Lächeln über das blaſſe, verhärmte Geſicht der Schwedin,
in dem nichts Reizvolles mehr war außer den noch immer
ſchönen und ausdrucksvollen Augen. „So weit verſteigen ſich
meine Wünſche gar nicht mehr, liebſte Frau Helene! Ich er—
ſehne mir ja nur ein ſtilles, beſcheidenes Plätzchen, auf dem ich
2474 Reinhold Ortmann.
in vedlicher Arbeit mein Daſein frilten fann. Und ich hatte
allerdings gehofft, e8 an dieſem Theater dritten Ranges zu
finden, wo man mid) in jo untergeordneten Rollen , bejchäftigte,
daß das Publikum und die Kritif meine Exiſtenz faum bemerkt
hätten, wenn es nicht Herrn Doktor Noberti gefallen hätte,
jie in feiner wohlwollenden Weile unermüdlid) daran zu hindern.“
„Wie? Diejer abjcheuliche Menſch läßt Ihnen noch immer
feine Ruhe?“
Signe Cederſkjöld jchüttelte den Kopf.
„Er hat ji) offenbar vorgenommen, nich bis zur Ver—
nichtung zu verfolgen. Und ich denke, er ift nahe genug daran,
jein Biel zu erreichen. Seit dem Tage, wo ich feinen dreiften
Annäherungsverjuch mit der Entrüjtung zurüdwies, die ihm
gebührte, hat ex noch Feine Gelegenheit vorübergehen laſſen,
mir einen jener giftigen Stiche zu verlegen, au denen meine
fünftlerifche Eriftenz zu Grunde gehen joll. Und ich habe mid)
bald genug davon überzeugen können, was e3 in Berlin für
eine Schaufpielerin bedeutet, einen geiltvollen und einflußreichen
Kritifer zum unverjöhnlichen Feinde zu haben. Heute giebt es
hier Feine noch jo armfelige Vorſtadtbühne mehr, deren Direktor
ich entjchließen würde, mich auch nur in der kleinſten, unwich—
tigiten Rolle auftreten zu laſſen.“
„Sie wollen damit doch nicht Jagen, liebe Signe, daß Sie
auch Ihr letztes Engagement jchon wieder verloren haben?“
fragte Helene bejtürzt.
„sa, ich Hatte natürlich wieder einen der berühmten Kon—
trafte unterjchreiben müfjen, wie fie in Deutjchland gebräuchlich
find, und die dem Direltor das Recht der Entlaffung nad)
Ablauf einiger Wochen geben. Daß er in meinem Fall von
diejem Rechte Gebrauch gemacht hat, darf ich ihn kaum ver-
übeln; denn die bushaften Notizen in Doktor Robertis Zeitung
machten e3 ihm nachgerade beinahe unmöglich, mich weiter zu
beichäftigen.“
„Welch ein Unglüd, dag Sie niemand haben, der für Sie
eintreten und diefen elenden Geſellen zur Rede jtellen kann!“
rief Helene in ehrlicher Entrüftung. „Sch würde meinen Mann
dazu auffordern; aber er ijt für dergleichen jo wenig geeignet.
Und mein Bater — —“
Wer wird jiegen? 2475
„Rein, nein!“ wehrte Signe faſt ängftlih ab. „Sch will
nicht, daß fich meinetiwegen irgend jemand Ungelegenheiten mache.
Und es wiirde ja auch nichts nügen. Er trieb e8 nachher ficher-
li nur um fo fchlimmer.“
„Arme Signe! Wie ſehr ich Sie beklage! Aber haben
Sie denn nie daran gedadht, in Ihre Heimat zurüdzufehren,
wo Sie als Künjtlerin gewiß viel leichter Ihr Fortlommen
finden würden, und wo der abjcheuliche Doktor Noberti Shnen
nicht mehr jchaden kann?“
- Die Schaufpielerin ſchüttelte den Kopf, und eine heiße
Schamröte jtieg in ihren mageren Wangen auf.
„Seine Macht reicht viel weiter, al3 Sie glauben,“ fagte
jie feife. „Gleich nach der fchroffen Abweilung, die er von
mir erfuhr, hat er feine weit reichenden Verbindungen dazu
benußt, mich in Finnland wie in Stodholm durch einen häß-
lihen Sfandalartifel unmögli zu machen, der durch alle
ſchwediſchen Zeitungen ging und der von feinem andern her-
rühren fonnte, al3 von ihm. Der Aufſatz enthielt eine Menge
nichtswürdiger Unmahrheiten und boshafter Erfindungen. Aber
iwie hätte ich daran denken dürfen, ihn zu berichtigen, da ich.
Doc die Hauptjache nicht in Abrede ftellen fonnte!“
Helene wußte ihr nichts Tröftliches mehr zu ertwidern.
Aber fie nahm Die ganz hager und durchſichtig getvordene Hand
der Schaujpielerin mit warmem Drud in die ihrige, und nad
einem kleinen Zaudern neigte fie fi) ganz nahe zu ihr, um
ihr. zuzuflüftern: Er
„Und eine Ausſöhnung nit Ihrem Gatten jollte wirklich
ganz und gar unmöglich jein? Er hatte Sie dod) fo lieb —
und ich weiß, daß Ihr Berjchulden in Wahrheit nicht jo groß
üt, al8 er e8 den Umftänden nad in jeiner erjten Aufregung
glauben mußte. Wenn Sie ihn jet reuig um Verzeihung bäten
— oder wenn Sie jemand, der ed aufrichtig gut mit Ihnen
meint, mit dem Verſuch einer Vermittelung betrauten — —“
Sie hielt inne, denn Signes in Thränen ſchwimmende
Augen waren mit dem Ausdruck einer ſo flehentlichen Bitte
auf ſie gerichtet, daß ſie die bedrückende Empfindung hatte, mit
ihrer gut gemeinten Frage unſanft in eine noch u verheilte
ſchmerzhafte Wunde gegriffen zu haben.
2476 Reinhold Ortmann.
„sh danke Shnen, meine liebe Frau Helene — aber
daran ijt nicht mehr zu denken. Wenn Sie Arvid fennen wirrden,
wie ich ihn fenne, würden Sie nicht an die Möglichkeit glauben,
daß er mir jemal3 verzeihen könnte. Und ich fühle mich auch
jeiner Berzeihung nicht wert. Selbſt wenn er großmütig genug
wäre, mich aus bloßem Mitleid wieder bei jich aufzunehmen,
würde es zwilchen ung doch nie mehr werden, wie es gemejen
it und wie es zwijchen Eheleuten fein fol. Wir würden beide
unglücdli fein. Und da iſt e8 doch wohl beijer, daß ich allein
unglüdlich bin und ihm den ungejtörten Genuß jeiner Sreiheit
vergönne.“
„Kann ich denn aber nichts — gar nichts für Sie thun,
liebſte Signe? Es geht mir ſo nahe, Sie traurig und ſorgen—
voll zu ſehen. Und nicht bloß dem Namen nach möchte ich Ihnen
eine Freundin ſein.“
„Sie ſind es oft genug auch mit der That geweſen, Frau
Sarlo — und nie werde ich aufhören, Ihnen für alles Gute zu
danken, das Sie mir erwieſen haben — ſeit jener unglückſeligen
Nacht bis auf dieſen Tag. Es iſt unrecht, daß ich Sie immer
wieder mit meinen Kümmerniſſen quäle, und ich kam auch ganz
gewiß nicht in dieſer Abſicht heute hierher. Ich wollte Ihnen
nur Lebewohl ſagen, ehe ich Berlin verlaſſe.“
„Sie gedenken alſo doch fortzugehen?“ fragte Helene über⸗
raſcht. „Und wohin wollen Sie ſich wenden?“
„Nach Hamburg. — Ich ſoll am dortigen. Central-Theater
auf Engagement gaſtieren, und der Agent hat mich ſo warm
empfohlen, daß mic) der Direktor hoffentlich behalten wird, ohne
auf dem jchredlichen KiindigungSparagraphen zu beitehen. Es
werden da allerdings nur Poſſen und Ausſtattungsſtücke gegeben;
aber meinen künſtleriſchen Ehrgeiz habe ich ja ohnehin längſt
begraben.“
„Er wird wieder erwachen,“ tröſtete die junge Frau herz—
lich, „und es wird Ihnen auch nicht an Gelegenheit fehlen, ihn
zu befriedigen, wenn Sie nur ſtandhaft bleiben in dieſer Prüfungs—
zeit und ſich nicht allzu früh entmutigen laffen. Glauben Sie
mir, Liebjte, die Prüfungen und Enttäufchungen bleiben feiner
von ung erjpart, und wir alle müflen erfahren, daß es fein
dauerndes Glück auf diefer Erde giebt.“
Wer wird fiegen? | 2477
Signe kannte ihre Beſchützerin hinlänglich, um zu wiſſen,
daß ſolche Worte in ihrem Munde mehr als nur eine banale
Phraſe ſeien. Aber ſie hatte feine Gelegenheit mehr, eine Frage
an jie zu richten. Denn draußen hatte wieder die Glocke an=
geichlagen, und ſchon wurde Heinric; Vollart3 muntere Stimme
auf dem Korridor vernehmlid).
„Es ift mein Vater — er wird fid) herzlich freuen, Sie
zu begrüßen.“
Doch die Schaufpielerin hatte ſich haſtig erhoben.
„Ich bin ſchon länger dageblieben, als ich gedurft hätte.
Der Theateragent hat mich zu einer Beſprechung in ſein Bureau
beſtellt, und mit dieſen vielvermögenden Herren darf man es
nicht durch Unpünktlichkeit verderben.“
Sie tauſchte nur einige freundliche Worte mit dem Maler,
der jebt ind Zimmer trat, und entfernte fi), nachdem ihr Helene
die Zuſage abgezwungen, daß fie vor ihrer Abreiſe noch einmal
borjprechen werde.
„Sie fieht erbärmlich aus, die arme, Kleine Perſon,“ ſagte
Heinrich. Vollart, als Jie gegangen war. „Man tann ji) am
Ende kaum darüber wundern, daß fie dem Publikum jo gar nicht
gefallen will.”
Helene erzählte ihm, was fie joeben von Signe über die
Erbärmlichfeiten des Doftor Roberti erfahren; aber daS Er-
jtaunen und die Entrüftung ihres Vaters waren nicht jo groß,
wie jie es erivartet hatte.
„Dem feigen Gejellen würde ich noch viel Schlimmeres
zutrauen,” meinte er, „aber die thörichte Frau Signe empfängt
damit doch am Ende nur die Strafe für ihre Sünden. Sie
muß jebt dafür büßen, daß fie fi aus bloßer Eitelkeit von dem
erbärmlichen Burjchen bethören ließ. Und nur ich felbjt hat
fie anzuflagen, wenn ihre Schuld fie jo ganz in jeine Gewalt
geliefert hat. Daß fie von Berlin fortgehen will, ift jeden-
fall3 das Gejcheiteite, was jie thun kann; mit ihrer ſchau—
Ipielerifchen Karriere aber it e3 meiner Meinung nad troßdem
vorbei.“
Die ungewohnte Schroffheit und Härte feines Urteils ließ
Helene, Die alle jeine Heinen Eigenheiten auf das genauejte
fannte, jogleich vermuten, daß ihm kürzlich etwas Unangenehmes
2478 Reinhold Ortmann.
widerfahren jei, und daß die jcheinbare Luſtigkeit, mit der er
ing Zimmer getreten war, nur eine Maske geweſen. Aber ſie
hütete Jich, ihn zu fragen; denn fie wußte, daß er e8 alsdann
auf das entjchiedenite leugnen würde, während er ficherlich
aus freien Stüden mit der Urjache jeined geheimen Verdrufjes
herauskam, wenn ſie ſich den Anschein gab, denjelben nicht zu
bemerfen.
Und fie Hatte ich nicht getäufcht. Nachdem er ein paar
Minuten lang von allerlei gleichgültigen Dingen mit ihr geplaudert
hatte, platzte er plößlich heraus:
„Sage mir doc) ’mal, Kind: in welchen Beziehungen ſtehſt
du eigentlich jet zu deiner ehemaligen Freundin Dolly? Siehſt
du fie noch zuweilen? Und könnteſt du dir daS Recht nehmen,
ein offenes Wort mit ihr zu reden, auch wenn e3 ihr vielleicht
nicht geftele!“
„Nein, lieber Vater! Du weißt, daß wir feinen Verfehr
mehr miteinander haben. Und ich für meine Perſon fühle auch
nicht das geringjte Bedürfnig, an dieſem Zujtande etwas zu ändern.
Aus welcher Veranlaffung und über was ſollte ich denn auch mit
ihr reden?“
„Darüber, daß ſie darauf und daran ijt, einen Menfchen zu
Grunde zu richten,“ polterte Heinrich Vollart, jeinem jo lange
verhaltenen Merger endlich) Luft machend, „einen braven, hoff—
nungsvollen Menfchen, der taufendmal zu jchade ift, mit diefer
verrücten Liebelei jein ganzes Leben zu verpfuſchen.“
Ein fremder, ftrenger Zug erſchien auf, dem weichen
Geficht der jungen Frau, und e8 Hang eiskalt, als fie er-
widerte:
„Wenn du vorhin für das Schickſal der armen Frau Signe
nichts anderes übrig hattejt als die Bemerkung, daß ſie jetzt nur
die verdiente Strafe für ihre Thorheit empfange, ſo ſollteſt du
dich, wie ich meine, mit derſelben Erwägung auch über das Los
des Herrn von Brunneck beruhigen. Ich kann nicht beurteilen,
inwieweit deine Befürchtungen gerechtfertigt oder übertrieben
ſind. Aber ich ſehe nicht ein, weshalb eines von uns ſich darum
in ſeine Angelegenheiten einmiſchen ſollte. Er iſt ein Mann —
und alt genug, die Verantwortung für ſeine Handlungen ſelbſt
zu tragen.“
Wer wird fliegen? 2479
=
„Du Haft in Bezug auf ihn nicht immer fo fühl und lieblos
gedacht. Und dann tragen wir am Ende doch auch einen Teil
der Schuld. Durdy uns hat er dieſe verführeriiche Frau kennen
gelernt. Und wir waren es, die fie ihm in jener Unglücksnacht
ind Haus gebracht.“
„Sch aber hatte ihn vor ihr gewarut, ehe es geichah. Und
dann — haft du vergejjen, daß er über ihre früheren Liebe2-
abenteuer vollfommen unterrichtet war, ehe er ſich mit ihr
verlobte?“
„Ja — ja — fie ijt eben eine Here — eine richtige Heine
Here, die mit jedem machen kann, was ihr gefällt. Es iſt offen:
bar gar nicht ihre Abficht, ihn zu heiraten, und doch wird ſie
ihn nicht eher loslaſſen, als bis er aud) feinen legten Blutötropfen
für fie hingegeben hat.“
„Wie fommft du zu dieſer Gewißheit? Hat fie dich etwa
neuerdings zum Vertrauten ihrer geheimjten Abjichten gemacht?“
Heinrich Vollart überhörte den-ungemwohnt jarfajtiichen Ton
ihrer Frage, denn e3 war ihm unverkennbar darım zu thin, ich
alles vom Herzen reden, was ihn bedritfte.
„Sc habe fie feit langem nicht mehr gejehen. Aber ich
fomme eben aus Brunneds Atelier. Und ich bin in tiefiter
Seele erichüttert von dem Eindrud, den ich da gewonnen. Du
weißt, daß er fich ſeit Monaten ganz von und zurüd-
gezogen hatte — aus welchen Grunde, vermag ich nicht zu
ſagen — —“
„sc aberkenne dieſen Grund ſehr wohl“, unterbrach ihn
Helene mit Bitterkeit. „Es geſchah unter dem Einfluſſe Dollys,
die mich ſeit jener Feſtnacht für ihre Feindin hält und die des—
halb um jeden Preis allen Beziehungen zwiſchen Erich von
Brunneck und uns eine Ende bereiten wollte. Wie ſie ſelbſt
am Tage nach ihrer ſogenannten Verlobung ihre Wohnung in
unſerem Hauſe aufgab und in ein weit entlegenes Stadtviertel
überſiedelte, ſo war ſie auch von vornherein darauf bedacht, alle
Fäden zu zerſchneiden, die Brunneck mit dir und mit Gabor
verbanden. Ich brauche dir nicht zu erzählen, wie gut es ihr
gelang. Sobald er ſich unter Fräulein Dollys aufopfernder
Pflege von den Folgen ſeiner Verletzung erholt hatte, mußte
Herr von Brunneck eine andere Wohnung beziehen, und inner—
2480 | Reinhold Ortmann.
—
halb weniger Wochen war er dem bisherigen Freunde ſo ganz
entfremdet, daß er ſogar die Einladung zu unſerer Hochzeit unter
einem nichtigen Vorwande ablehnen konnte.“ |
„Nun, gar ſo nichtig war der Vorwand doch am Ende
nicht,“ wagte Heinrich Vollart einzuwenden. „Du Hatteft darauf
beitanden, daß Fräulein Dolly nicht eingeladen werde. Und es
war ihm jchlieglich nicht zu verübeln, wenn er dieje Unterlaffung
als eine Kränfung empfand.“
„Run — was weiter! Wir fonnten glüdlicherweile auch
ohne ihn und feine jchöne Braut fröhlich fein. — Und du wollteſt
mir ja erzählen, was du heute in Herrn von Brunnecks Atelier
erlebt haſt.“
„sch Habe eine Narrheit begangen — einen verhängnis-
vollen Fehler, den ich bereue, aber leider nicht wieder gut
machen fann. Er hatte mich brieflic) um meinen Befuch gebeten,
ohne mir den Zweck desjelben zu nennen. Ich ſchwankte erit,
ob ich hingehen jollte, denn ich kann nicht leugnen, daß auch ich
mic) durch fein Benehmen einigermaßen verlegt fühlte. Zuletzt
aber that ich’S doch. Und ich muß jagen, daß er mir genau jo
warm und berzlic entgegenfam wie damal3 bei dem erjten Be—
juch, nach, feine Onkels Tode. Aber ed war doch etwas in
jeiner Art, daS mir nicht gefiel, etwas Unftetes und Aufgeregtes
wie bei einen Menjchen, der mit aller Welt und nit am
wenigiten mit jich jelbjt zerfallen it. Er habe mich um mein
Erſcheinen gebeten, jagte er, weil er mein Urteil über ein eben
vollendete Bild haben wolle — ein ehrliches, ungejchminftes
Urteil, fo wie er’3 von jeinem ehemaligen Lehrer erwarten dürfe.
Und dann führte er mich vor eine große Leinwand, über Die
ſchon beim Betreten des Atelier3 mein Blick mit einigem Er—
Ihreden bHingeglitten war. Denn es war eine beriworrene,
phantaftiiche Kompofition ohne alle malerische Kraft und voll
ſchlimmer dilettantischer Fehler. Bei näherer Betrachtung zeigten
fih wohl hier und da Spuren eines Talents, das nur der
vechten Leitung und Ausbildung entbehrte; aber der Geſamt—
eindruck war doch ein geradezu trojtlojer. Und ich — nun, id)
ſagte es ihm rundheraug, ganz jo ehrlich und ungeſchminkt, wie
ev’3 von mir verlangt hatte — ja, vielleicht mit noch härteren
Worten, als ich's einem andern gegenüber gethan hätte. Denn
Wer wird jiegen? 2481
es that mir eben im innerjten Herzen weh, ihn auf einer jo ver-
bängnisvoll abſchüſſigen Bahn zu jehen.”
„Und Brunned? Wie nahın er dein abfälliges Urteil auf?“
„Er jtand neben mir und jprach fein Wort, während ich
mich immer mehr in eine gewiſſe Wut bineinredete — allerdings
in der guten Abjicht, ihn Dadurch auf den rechten Weg zurüd-
zuführen. Zuletzt, als mir jein hartnäciges Schweigen auffiel,
drehte ic) mich nad) ihm. um. Und da fah ih, daß er lächelte
— aber mit einem verzerrten, unnatürlichen Lächeln, das mic)
erſchreckte. Sch wollte einlenfen, wollte ihm jagen, daß das
Bild für ein Malerauge ja auch gewifje Schönheiten habe; aber
jowie er meine Abſicht merkte, fiel er mir in die Rede:
Laſſen Sie’3 gut fein, Meifter! Sie ſehen ja, id) bin von
Ihrer Kritit weder überrajcht noch zerjchmettert. Denn genau
jo und nicht ein bißchen anders hatte ich jie erwartet. Es war
mir eben nur um eine glaubhafte Betätigung defjen zu thun,
was ich ſelbſt über meine Fünftlerijchen Talente und über das
Machwerk da denke. Ich bin Ihnen für Ihre Aufrichtigfeit von
ganzen Herzen verbinden.‘
Und dann, ehe ich auch nur entfernt ahnen fonnte, was er
beabjichtigte, trat er an daS fertige Bild, das ohne allen Zweifel
eine Arbeit von Monaten war, heran, und jchnitt es mit einem
bereit gehaltenen Dolchmefjer von oben biß unten entzwei.“
Helene, die jehr blaß geworden war, jtieß einen Schreckens—
ſchrei aus, wie wenn ſich da3 geichilderte Ereignis hier vor ihren
Augen vollzöge.
„Das that er? Und du fonnteit e8 nicht verhindern?“
„sch Itand im erjten Augenblic wie gelähmt. Und als ic)
ihn dann in den Arm fiel, war e8 zu jpät. Kein Rejtaurator
der Welt fünnte das zerfeßte Gemälde wieder heritellen.“
„Das iſt jehr traurig! Wie hart mußt du gegen ihn ge—
wejen jein, daß er fich zu folcher Verzweiflungsthat hinreißen
lafjen konnte!“
„Das iſt's ja, was ich mir jeßt vorwerfe. Und nun wirſt
du's auch begreiflich finden, daß ich den jehnlichen Wunſch habe,
ihm aus jeinem Elend herauszuhelfen. Denn ein Elend ift es
— das ſchmachvolle Sflavenleben, daS er in den Banden dieſer
goldhaarigen Zauberin führt. Und wenn du ihr nicht in Ge—
ZU. Haus-Bibl. IL, Band XI. 156
2482 Reinhold Ortmann.
wiſſen reden willit, jo werde ich’3 ſelbſt thun — das iſt einfach
Menjchenpflicht.“
Er ſchien nicht übel Luſt zu haben, jeinen Vorſatz auf der
Stelle auszuführen. Aber Helene, die ihre gewöhnliche Ruhe
wiedergewonnen hatte, hielt ihn zurück. |
„sch veritehe dich nicht,“ jagte fie. „Was hat Brunnecks
Verlöbnis mit feinem mißlungenen Bilde zu Schaffen? Und was
willjt du denn eigentlich von Dolly verlangen?“
„Was id) von ihr verlangen will? Sa fo, ih muß dir
wohl auch och das Weitere erzählen, damit du den Zuſammen—
hang begreifit. Alſo ich machte ihm natürlich väterlihe Vorwürfe
wegen feiner itbereilten Handlungsweiſe. Und ich muß dabei
wohl einen Ton angejchlagen haben, der ihm zu Herzen ging.
Denn er nahm plößlicd) meine beiden Hände und Beichtete mir
den ganzen Sammer jeiner armen, zerriffenen Künſtlerſeele. Es
lollte feine Anklage gegen Dolly jein, und dod Hang aus allem,
was er jagte, immer nur der eine verzweifelte Aufichrei: Meine
Beziehungen zu dieſem unjeligen Weibe find das Verhängnis,
an dem ich zu Grunde gehe! Denn alle die bitteren Aeußerungen
iiber jeine eigene Schwäche, über die unwürdige Charafterlofig-
feit, die e8 gejchehen laſſe, daß jein Leben einzig beherricht und
ausgefüllt werde von einer nicht beglüdenden, jondern nur ver—
zehrenden und aufreibenden Yeidenjchaft — was waren fie ſchließ—
lich anderes als ebenjo viele Borwürfe gegen die jelbjtjüchtigen
Abfichten dieſes Gejchöpfs, dem die Natur wahrhaftig mehr von
den Weſen eined biutjaugenden Vampyrs als von dem eines
liebenden Weibes gegeben zu haben jcheint. Er war ritterlich
darauf bedacht, fie zu jchonen, und doch ließ die Erregung des
Augenblickes ihn viel mehr verraten, al3 ihm jelbft zum Bemwußt-
jein fam. Und als ich ihn verließ, hatte ich die Ueberzeugung
gewonnen, daß e8 feine andere Möglichkeit giebt, Den Menſchen
wie den Künstler in ihm zu vetten, als feine Befreiung aus Der
Knechtichaft diefer unjeligen Liebe. Dolly muß ihn freigeben
oder — —“
Er jtodte, als trüge er Bedenken, jeinen Gedanfen vollends aus—
zufprechen. Aber als Helene ihn fragend anjah, ergänzte er Doch:
„Oder fie muß ihn fo bald wie möglich Heiraten, damit
er zur Ruhe kommt, und damit die unausbleibliche Alltagsproſa
Wer wird fiegen? 2483
—
des Ehelebens den gefährlichen Zauber breche, der ihr eine ſo
verhängnisvolle Macht über ihn verleiht.“
Die unausbleibliche Alltagsproſa des Ehelebens! — Heinrich
Vollart ahnte nicht, wie ſchmerzlich er mit dieſem Wort ſein
eigenes Kind getroffen hatte. Erſt in dieſer Stunde hatte ſie
ja den längſt gefürchteten Beweis dafür erhalten, wie erkältend
dieſe Alltagsproſa auf die Liebe eines Mannes wirken könne.
Und es war verzeihlich genug, wenn die Erinnerung an ihren
eigenen Herzenskummer ſie ſtumpf machte für das Schickſal
jenes andern, der einſt ihre erſte jungfräuliche Liebe beſeſſen
und der dies Beſitztum in den Wind geſchlagen hatte wie ein
wertlojes Nicht.
„Vielleicht ſiehſt du die Dinge viel jchwärzer als fie find,
lieber Vater,“ jagte jie fühl. „Und aud) wenn deine Vermutungen
zuträfen, was fönnteft du jchließlich für Herrn von Brunned
thun? Er hat dir feine Geftändnifje jicherlich nicht gemacht,
um damit deine Vermittelung in Anspruch zu nehmen. Und
er würde dir jehr wenig Dank willen für eine Einmiſchung,
die .dir von jeiten Dollys überdies nichts anderes als eine
ſpöttiſche Zurückweiſung eintragen könnte. Wenn mein Rat
einen Wert für dich hat, jo laß diefen Dingen, an denen wir
nicht3 ändern können, ihren Lauf. Mag ein jeder zujehen,
wie er mit dem Schidjal fertig wird, das er fich ſelbſt be-
reitet hat!“ j
Heinrich) Vollart war erfichtlich unangenehm überrafcht von
der geringen Teilnahme jeiner Tochter; denn er hatte mit Be-
ſtimmtheit darauf gerechnet, in ihr eine Bundesgenoffin zu finden
für das Unternehmen, das ihm unter dem erjten, friſchen Ein-
drud des eben Erlebten wirklich al3 eine Freundichafts- und
Menfchenpflicht erjchienen war. Aber er hatte von jeher einen
nicht geringen Reſpekt gehabt vor ihrem Haren Berjtande und
ihrem ficheren Urteil über Menfchen und Dinge Und es war
faum jemals vorgefommen, daß er auf der Durdhführung einer
Abficht beftanden Hatte, wenn Helene ſich gegen die Zweckmäßig—
feit derfelben ausgejprochen.
So übte ihre entichiedene Ablehnung auch diesmal eine ſtark
ernüchternde Wirkung auf ihn aus. Zwar machte er noch einige
grollende Bemerfungen über den Egoismus des Menjchen im
156*
2484 Reinhold Ortmann.
allgemeinen und des weiblichen Gefchlechts im befonderen. Davon
aber, daß er zu Dolly Förjter gehen und ihr ins Gewiſſen
reden würde, war doch nicht weiter die Rede. Und als er erit
einmal angefangen hatte, fih nad den neueſten Porträt-
Aufträgen feines Schwiegerfohnes und den Fortichritten jeiner
begonnenen Arbeiten zu erlundigen, hatte feine Aufregung über
Erich von Brunneds Schidjal ſich ſehr bald vollftommen be—
ſänftigt. |
Daß ihm Helene nicht jo bereitwillig wie jonjt, ſondern nur
mit einem gewiſſen Zögern und ohne alle Freudigfeit Rede ſtand
auf feine Fragen, fiel ihm nicht weiter auf. Und er blidte
höchlichſt überrafcht empor, als fie plößlich Jagte:
„Blaubjt du, daß Gabor ebenfo große Einfünfte haben
würde, wenn ex ftatt der bejtellten Porträts nur noch unbejtellte
Bilder malte?“
„Welche Frage! Nicht den vierten Teil feines jetzigen Ein-
kommens fönnte er damit verdienen. Eine jo erfahrene und
praktiſche Heine Srau wie du follte das doch willen!“
„Ich vermutete es wohl, aber es lag mir daran, auch deine
Anficht zu hören. Und da mir einmal darauf zu |prechen ge=
fommen find, jo gieb mir doc), bitte, ehrliche Antivort auch auf
eine andere Frage. Meinft du, daß Gabors Begabung ernit-
lichen Schaden leiden fünnte durch die Art feiner jeßigen Thätig-
feit — daß er fpäter, wenn er mwohlhabend und unabhängig
geivorden fein wird, jich nicht wieder zu der Höhe feiner eriten
Leiftungen würde aufraffen können?“
Heinrich VBollart wiegte nachdenklich den graumähnigen Kopf.
„Das iſt eine ſchwer zu beantiwortende Frage, mein liebes
Kind! Vielleicht — ja, wahrjcheinlich wäre es für Gabors
fünitleriiche Entwidelung jehr viel vorteilhafter gewefen, wenn
er nicht auf jo bequeme Art in die Mode gefommen wäre, Jondern
ji) noch eine gute Weile rvechtichaffen hätte abplagen müſſen.
Wie ſich aber nun einmal die Dinge geitaltet haben, ift es doc)
wohl am beten, ihn auf dem eingejchlagenen Wege zu erhalte.
Man mag über das Geldverdienen noch jo geringichäßig denken,
in jeinen Wirkungen iſt e8 doch jchlieglich eine jehr ſchöne Sache.
Und dein Gabor fieht mir am allerwenigften danach aus, als
ob er Sich jeßt, nachdem er die Annehmlichkeiten einer bequemen
Wer wird fiegen? 2485
— —
und luxuriöſen Lebensführung einmal kennen gelernt hat, in
beſcheideneren Verhältniſſen wieder wohl und glücklich fühlen
könnte.“
„Auch dann nicht, wenn er in dieſen beſcheideneren Ver—
hältniſſen ganz ſeinen künſtleriſchen Idealen nachleben dürfte?“
Der alte Maler kniff die Augen zu.
„Die künſtleriſchen Ideale — ja, Kind, mit denen iſt das
ſo eine ganz eigene Sache. Wer ihnen einmal untreu geworden
iſt, der kann ſchwerlich jemals wieder das rechte Verhältnis zu
ihnen gewinnen. Ich zweifle gar nicht daran, daß dein Gabor
heute die heftigſte Sehnſucht danach empfindet, ganz nach ſeinem
Gefallen und nach ſeines Herzens Antrieb malen zu können.
Aber ich bin beinahe ebenſo gewiß, daß er von dieſer Freiheit,
wenn er ſie etwa morgen erhielte, einen ganz anderen Gebrauch
machen würde, als er ſich's noch geſtern vorgenommen. Der
Beifall der Menge iſt eine gar zu ſüße Muſik. Und wer einmal
daran gewöhnt worden iſt, ihr zu lauſchen, dem kann ſie durch
keine ſogenannte innere Befriedigung mehr erſetzt werden. Nach
dem erſten Fiasko — und ein Modemaler macht immer Fiasko,
wenn er den Leuten plötzlich etwas ganz anderes bringt, als ſie
von ihm erwartet haben — oder auch ſchon nach dem erſten
halben Erfolg würde er ſeine Ideale ſchnöde im Stich laſſen
und reuig zum Kultus des ſtumpfſinnigen Götzen ‚Publikum‘
zurückkehren. Aber er hätte dieje Belehrung al3dann jehr teuer
erfauft, und ich meine, ex befindet fic) immer noch befjer in dem
jebigen Zultande einer unbefriedigten Sehnſucht, al3 er ſich nad)
der unausbleiblichen großen Enttäufchung befinden würde, Die
ihn leicht genug um das unentbehrlichite Beſitztum des ſchaffen—
den Künſtlers bringen Fünnte: um das Vertrauen in die eigene
Kraft.”
Frau Helene antwortete nichts; aber ein Ausdruck ernſter
Entichlofjenheit war auf ihrem hübjchen, heute fo ſeltſam trau—
rigen Antlitz.
Alles dag, was ihr Vater da ausgejprochen hatte, war ja
auch ihre eigene Meberzeugung. Und um diefer Ueberzeugung
willen mußte fie Gabor zu Liebe auf dem einmal eingejchlagenen
Wege verharren — ſelbſt auf die Gefahr hin, ihn zu verlieren.
(Sortfegung folgt.)
— — — —
Deutliche ‚Dichtergrüße.
Schnadahüpfin.
et Schag hat a’ Kinn
And a’ Grüberl is drin,
Und i fann’s gar nit fag’n,
Die fo lieb i mag's hab’n.
A’ Naſ'n hat jedi
Und Aug’n und a’ Mäul,
Amwa a’ Grüberl im Kinn
Find't man nit allaweil.
Schön rund ts ihr Kinn,
Draus ’s Grüberl fein guet,
Als hätt! ihr 's Chriſtkindl
Das Fingerl neindrucdt.
Heidebild.
Detlev von Zilienceron.
Die Mittagsfonne brütet auf der Heide,
Im Süden droht ein fchwarzer Nina.
Derdurftet hängt das magere Getreide,
Behaglich treibt ein Schmetterling.
Ermattet ruhn der Birt und feine Schafe,
Die Ente träumt im Binfenfraut,
Die Ringelnatter fonnt in trägem Schlafe
Unregbar ihre Tigerbaut.
Im Sickzack zuckt ein Bliß, und Wajferfluten
Entftürzen gierig feuchtem Selt,
Es jauchzt der Sturm und peitfcht mit jenen Ruten
Erlöjend meme Heidewelt.
Bad Kiffingen.
Don Wolfgang Engel.
(Vachdruck verboten.)
a Inter den deutſchen Kurorten,. die durch die Heilfraftt
9 ihrer Quellen und durch ihre bevorzugte geographiſche
ES N Lage Weltruf erlangt haben, jteht neben Wiesbaden
. und Ems Bad Kijfingen obenan. Tauſende und
Abertaufende haben hier Geneſung oder doch Linderung ihrer
Leiden gefunden und erinnern fich gern und dankbar des freund
lihen Städtcheng, das, von der fränkischen Saale durchflofjen,
auch landichaftlich) von hohem Reize iſt, wennſchon es in dieſer
Beziehung den Vergleich mit den rheinischen Bädern nicht auf-
zunehmen vermag. Worin e3 ihnen aber völlig gleichfommt,
und worin es auch von den böhmischen Weltbädern nicht über-
troffen wird, dag ijt die vornehme, and Märcheithafte grenzende
Eleganz, die jich während der Sailon hier entwickelt.
Wer einmal in den legten Jahren an einem warmen Juli—
abend ‚in den ſchönen, duftenden Anlagen des Rifjinger Kurs
gartend gewandelt, dem wird der Eindrucd, den er empfangen,
unvergeßlich bleibe. Mag man für die fchimmernde Pracht,
mit der die vornehme Welt fich umgiebt, auch noch jo wenig
empfänglich jein, diefe Fülle von anmutigen Frauengeftalten,
dieje reiche Ausleje intereffanter Männererjcheinungen, dieje vor—
nehme Haltung, die hier jeder und jede beobachtet, üben einen
Zauber aus und vereinigen ich zu einem &ejamtbilde, dejjen
2488 Wolfgang Engel.
Wirkung niemand fich entziehen fan. Von Ausländern find
e3 namentlich Ruſſen, die Kiſſingen mit Vorliebe aufjuchen,.
aber auch das jtolze Albion, das jonnige Frankreich, die reben—
umgürteten Ufer des Tajo und das Wunderland Italien ent-
ſenden alljährlich zahlreiche Gäfte dorthin; mit den Angehörigen
deutjcher und üjterreichiicher Nation bilden jie ein ſchillerndes,
— — ———— ——
Die fränkiſche Saale,
farbenprächtiges Kaleidoſkop, dejjen Neiz durch das vereinzelte
Auftauchen exotiſcher Würdenträger noch erhöht wird. Ein
Ichier babylonisches Sprachengewirr erfüllt die Bromenaden und
Laubgänge, und dämpft ſich nur, wenn die rauſchenden Ton
wellen, die die treffliche Kurkapelle ihren Snftrumenten entloct,
in einem zarten, jchmelzenden Piano dahinjterben.
Nicht immer hat jih an den Quellen des Nacoczy und
Pandur ein jo glänzendes Leben und Treiben entfaltet. Erſt
— 3 — Be —
Bad Kifjingen. 2489
ſeit Fürſt Bismard, deſſen Fraftvolle Geftalt der Bildhauer
Manger für die fpäteren Gefchlechter durch ein großes Bronzes
Itandbild beider
Saline feitge-
halten bat, in
Kiſſingen Lin-
derung ſeiner
Leiden ſuchte,
hat der Zug der
Fürſtlichkeiten
hierher nicht
wieder aufge—
hört. Die Grä—
fin Hoya, wie
ſich die greiſe
Königin von
Hannover in die
Liſte der Kur—
gäſte eintragen
läßt, ſucht all—
jährlich Kiſſin—
gen auf, und
in ihrer Ge—
ſellſchaft befin—
det ſich, wie in
den letzten, ſo
auch in dieſem
Jahre Prinzeſ⸗
ſin Marie, ihre
Tochter. Es iſt
ein rührend
freundliches
Bild treuer Kin—
desliebe, zu
Das Denkmal des Fürſten Bismard in Kifjingen.
— — (Erſtes Bismarckdenkmal in Deutſchland).
=
gewachſene Prinzeß, ihren großen jchottiichen Schäferhund an der
Leine führend, neben dem Fahrſtuhl herjchreitet, in dem die Mutter
2490 . Wolfgang Engel.
gefahren wird. Much die unglücliche Kaijerin Eliſabeth von
Dejterreich war bi vor vier Jahren jtändiger Gaſt in Kiſſingen.
Bon deutſchen Fürjtlichkeiten, die alljährlich die Heiljpendenden
Quellen aufjuchen, jei Prinzeß Thereſe vun Sachjen-Altenburg,
Herzogin zu Sachjen, genannt. Man jteht jte häufig in leb—
hafter Unterhaltung mit zwei engliichen Damen, den Ladies
Das Standbild „Die trauernde Sermania“,
errichtet zum Gedächtnis an die in der Schlacht bei Kiſſingen Gefallenen.
Garisbrofe und Cholmandeley. Durch ihre Schönheit und die
Pracht ihrer Toiletten waren bisher die Marquije Villavieja
und ihre Schweiter Vicomtefje Bortocarrero aus Madrid, ſowie
die Marquiſe Carcano aus Paris -auffallende Erjcheinungen
der in Kiſſingen verſammelten Geſellſchaft. Und doch werden
ſie und alle ihre reizenden Schweſtern in den Schatten geſtellt
durch Die ſchlanke Gräfin Torby, die Gemahlin des Groß—
fürſten Michael Michailowitſch. Um ihrer wunderbaren Schön—
heit willen, die noch erhöht wird durch den ausgeſuchten
J
Bad Kiffingen. 2.291
Geſchmack, mit dem die Gräfin ſich zu kleiden verſteht, trägt
der Großfürſt willig die Schwere der Verbannung, die über
uli 1866.
Pie.
BI — ER, 12 659
—
Die Schlacht im Kurparke von Riſſingen am 10
ihn verhängt wurde, als er vor nunmehr elf Jahren gegen den
ausgeſprochenen Willen ſeines Vaters und des Zaren Alexander III.
ſich mit der Gräfin Sophie von Merenberg vermählte.
2492 Wolfgang Engel, Bad Kijfingen.
So ſehr aber Kiffingen in den beiden legten Jahrzehnten
fi) zum Lurusbade entwidelt hat, in erjter Linie ift und bleibt
es doch Kurort. Der vorteilhafte Auf feiner Quellen bejteht
jeit Sahrhunderten und hat auch nicht erichüttert werden Fünnen
durch die wechſelvollen Schidjale, die das Städtchen durch—
gemacht hat. Sa, es hat beinahe den Anſchein, als hätte, jo
oft die Ortſchaft unter der Zeiten Not zu leiden hatte, ein
freundlicher genius loci für eine um fo fräftigere Verbreitung
ihres Rufes Sorge getragen.
Ganz bejonders jchiver war für Kiſſingen das Kriegs—
jahr 1866. Wer heute in den prächtigen Anlagen des Kur⸗
gartens fuftwandelt, der denkt faum daran, daß hier faft jeder
Fußbreit Boden unter ihm mit Blut getränkt iſt. ES war am
10. Juli, als hier preußijche und bayrijche Truppen aufeinander
ſtießen. So jchnell -entwidelte fich daS Gefecht, daß alle die—
jenigen Bewohner des Ortes, welche vormittags ihre auf dem
rechten Saaleufer befindlichen Wohnungen verlaffen und den
jenfeit38 des Fluſſes liegenden Stadtteil aufgejucht Hatten, nicht
imftande waren, in ihr Heim zurüdzufehren, und jo mußten
fie die langen, bangen Stunden des Gefecht in fremden Hotel3
und Neftaurants zubringen. Denn die Bayern hatten alle
Uebergänge abgebrochen und die jteinerne Brücke verbarrifadiert.
Bom Mittag bis zum ſpäten Abend war die Stadt erfüllt von
Kanonendonner und PBulverdampf, und erit die einbrechende
Nacht machte dem blutigen Kampfe ein Ende. Preußen tie
Bayern hatten ſchwere Verluſte erlitten: 414 Tote, Darunter
der Generalleutnant Freiherr von Zoller, und 1735 er:
wundete. |
Bon dem Kampfe giebt das von dem Bildhauer Arnol
geichaffene, im Sabre 1869 enthüllte Denkmal der „trauernden
Germania“ Kunde. Es jteht an der Straße, die nad) dem
idyllifch gelegenen Dorfe Nüdlingen führt, inmitten der Gräber,
die die Ruheſtätte der in der Schlacht bei Kiſſingen gefallenen
Krieger bilden. Eine edle Frauengejtalt aus weißem Tiroler
Marmor lehnt in Fnieender Stellung auf ihrem Schilde, das
herabwallende Haar mit Eichenlaub befränzt, tiefe Trauer in
den Zügen. Mit der Linfen umfaßt fie da8 mit dem Gürtel
umwundene Schwert, mit der Nechten jenft jie einen Palmen—
. anquvck gun aLooovx u⸗onondd AT uasuulin
qvg
SE
—
.r
r ie — — — 5y — — —
*
2494 Wolfgang Engel, Bad Kiffingen.
zweig auf Die jtille Totenjtadt zu ihren Füßen. Der falten-
reihe Mantel enthält ein Oxrnament, in dem der Kampf des
Wittelsbacher Löwen mit dem hohenzollernjchen Adler dargeitellt
At. Die ganze Gejtalt ruht auf einem Würfel von jchwarzen
Syenit, der die Snfchrift trägt: „Zur Erinnerung an die im
Sahre 1866 Gefallenen.” Auf der Nordjeite ftehen die Namen
von 16 bayrischen und 15 preußijchen Offizieren, auf der Oſt—
jeite die Namen vor 206 bayriſchen und auf der Weitjeite von
177 preußilchen Uitteroffizieren und Soldaten.
Auch die furchtbare Epoche, die unter dem Namen des
Dreißigjährigen Krieges befannt ift, brachte den: Städtchen
ſchwere Leiden.
Kijfingen, das als Ortjchaft Bereits in einer Urkunde vom
Sohre 801, aß Stadt feit dem Jahre 1394 genannt wird,
fing gerade an, auch im weiteren Umkreiſe befannt zu werde,
als der entjegliche Krieg ausbrad) und dem Aufichwung des
Kurorte hemmend entgegentrat. Sa, im Sahre 1643 griff
der ſchwediſche Oberſt Reichwald die Stadt in der aus—
geiprochenen Abſicht an, fie dem Erdboden gleich zu machen.
Schon waren durc die tagelang ununterbrochen einfallenden
Granaten die Salinen zeritört, und die Einwohner fürchteten
jeden Augenblick, es werde den Schweden gelingen, in Die
Stadt einzudringen, als der Bürger Heil auf ein ebenfo
originelle wie wirkſames Mittel verfiel, die Stadt zu befreien.
Er ließ jämtliche Bienenförbe, deren in der Stadt eine große
Menge vorhanden war, auf die Mauern tragen und in Die
Neihen der anjtiimenden Schweden werfen, und der Erfolg
dieſer Maßnahme blieb nicht aus. Die Bienen, durch den
Sturz in Wut verjeßt, fielen über den Feind her, der Jich der
geflügelten Gegner um jo weniger erwehren fonnte, al3 Die
Städter gleichzeitig einen Ausfall machten. Er wandte fich
zur Flucht, und Kiſſingen Hatte jeitden vor den Schweden Ruhe.
Des originellen Peter Heild Büſte aber wurde von feiner
dankbaren Vaterjtadt an der Oſtſeite des Nathaufes eingemauert,
wo ſie noch heute zu jehen it.
Durh den fürchterlichen Krieg war der Aufihwung
Kiſſingens wohl unterbrochen, aber nicht erjtictt worden. Mehr
und mehr verbreitete jich der Ruf von der Fraftipendenden
i Ne, FT rn A
Der Marbrunnen.
—
—
07 5%
x
ErAr
1
5
2496 | Wolfgang Engel.
—
Wirkung der Quellen, und immer zahlreicher ward die Schar
derjenigen, die den Badeort aufſuchten. Weltruf allerdings
erlangte Kiſſingen erjt im vorigen Jahrhundert, wo verjchiedene
glückliche Umpjtände zujammentrafen, um die Bedeutung des
Kurortes zu erhöhen. So begannen die Bürger im Jahre 1820,
ihre Wohnungen zu verſchönern und zur Aufnahme von Bade—
gäften herzurichten. Zwei Jahre jpäter bildete fich ein Ver—
ihönerungsverein, der den erjten Grund zu den ſchönen Spazier-
wegen in den herrlichen Waldungen legte, und wiederum zwei
Sahre fpäter wurde das Bad ſowohl wie der Wafjerverjfand
an die Gebrüder Bolzano verpachtet, die, mit außergewühn-
licher Umfiht und Thatkraft begabt, den Kurort bedeutend
hoben. | Bu
Inzwiſchen war im Sahre 1737 eine dritte Quelle ent-
deckt worden, der der damalige Fürſtbiſchof Friedrich Karl’ von
Schönborn den Namen Racoczy-Quelle beilegte, und zwar aus
Dankbarkeit gegen den Fürſten Racoczy, don Dem er einen
großen Zeil feiner Güter geerbt hatte.
Öleichzeitig wurde auch der Name der nebenanliegenden,
bis dahin aß „Scharfer Brunnen“ befannten Duelle zur Er-
innerung an Die unter Racoczy dienenden &renzregimenter
- (Banduren) in „Pandur“ umgewandelt. Derjelbe Fürjtbijchof
ließ auch ein Kurhaus bauen und einen 200 Schritt langen
Weg mit Bäumen anpflanzen. Den Kurgarten legte im
Sahre 1769 der Fürftbiichof Adam Friedrich von Seinsheim
an, nachdem er ſich zuvor an der oberen Saline ein Schloß
erbaut hatte, daß Später dem Füriten Bismard als Wohnung
dienen jollte. |
Sm Fahre 1874 weilte Fürſt Bismarck zum erjten Male
als Kurgaſt in Bad Kilfingen. Er bewohnte das Haus Ver. 18
in der nachmal3 nach ihm benannten Straße, das zu den
Sehenswürdigfeiten Kiſſingens Hauptjächlich deshalb zählt, weil
in jeiner unmittelbaren Nähe jener Mordanjchlag zur Aus—
führung gelangte, den der "Böttchergejelle Kullmann aus
Magdeburg gegen da3 Leben des eiſernen Kanzler geplant
hatte. Als am 13. Juli Fürst Bismard unter den jubelnden
Burufen der Bevölkerung eine Ausfahrt unternahm, trat plöß-
lich Kullmann aus der Menge hervor und feuerte aus einem
\
J
Bad Kiſſingen. — 2497
Revolver eine Kugel gegen ihn ab, durch die der Fürſt zum
Glück nur leicht verwundet wurde. Zur Erinnerung an das
Attentat iſt an dem Hauſe Bismarckſtraße 18 eine Tafel an—
22*
Obere Saline, Wohnung des Fürſten Bismarck bei ſeinem Kuraufenthalt in Riſſingen.
gebracht, die folgende Inſchrift trägt: „Am 13. Juli 1874
wurde an diejer Stelle durch) Gottes guädige Führung Seine
Durchlaucht Fürſt Bismard, Kanzler des Deutjchen Reiches,
aus Mörderhand errettet. Dieje Gedenktafel widmet dem
deutichen Volke die Stadtgemeinde Kilfingen.“
Ill. Haus-Bibl. II, Band XI. 157
BD
2498 Wolfgang Engel.
Wie. gewaltig der Aufihtwung Kiſſingens im legten Jahr—
hundert geweſen iſt, iſt erſichtlich aus einer Zuſammenſtellung
der Frequenzziffern. Während im Jahre 1820 nur 540 Kur—
gäfte dort weilten, war das Bad im Jahre 1840 Ihon von
3252, im Jahre 1860 von 7471, im Jahre 1890 von 15056
und im Sahre 1898 von 18333 Kurgäſten befucht. Außerdem
hielten fich im leßtgenannten Jahre 7615 Perſonen borüber-
gehend in Kiſſingen
auf, jo daß die Ges
ſamtfrequenz fich auf
it die am meijten
in Anſpruch ge—
nommene Trink—
quelle der Racoczy,
der in der Minute
durchſchnittlich
30 Liter liefert und
von dem etwa
600000 Flaichen
jährli zum Ver—
and gelangen. Der
Pandur giebt in der
Minute durchichnitt-
GM m —n lich 8,5, der Max—
Die aus Anlaß des EUER Sedenttafel brunnen 7Riter. Der
| Solejprudel, der
200 Meter über dem Meeresipiegel aus einem 108'/, Meter
tiefen, artefiichen Brunnen entipringt, ift beſonders dadurch für
den Beſchauer intereffant, daß er zeitweiſe bis auf vier Meter
zuriikgeht und dann nach und nach wieder emporjteigt. Die
Duelle liefert durchichnittlich 500 Liter in der Minute; aus
dem Brunnenshacht fteigen im gleichen Zeitraum 2000 bis
6000 Liter Kohlenjäure auf.
Die Wirfung der Quellen äußert fich nicht nur in phyſio—
(ogifcher, jondern auch in pathologifcher Richtung. Sie dienen
— 25948 Perſonen be—
u ziffert.
% * Von den Quellen
= {
*
—— vn Wine
———
er
K
.
Pr)
ET er
aus Mönerland erreitet.
*
„> x PR
’u Keraz
Ya
Br ir 0%
- —*
en ne
e RL
[4
Diele xedentofel
widmeldem deulſchen Molfie |
die Stadtgemeinde Hiſſingen. J
i
nn
Ne
x
2
x
' N 4
an
er
..
Bad Kiffingen. | 9499
EDEN
deshalb ſo—
wohl zur er-
folgreichen
Behandlung
von Rachen—
und Magen-
fatarrhen, en.
Zirkulations—
ſtörungen im FB%
Unterleib,
Fettſucht, Fett—
herz, Leberan—
ſchwellungen,
Fettleber,
chroniſchen
Rheumatis⸗
men und an—
deren Krank—
heiten, als
auch von Ner—
voſität, Hypo—
chondrie und
Hyſterie. Für
die Stärkung
und Erheite—
rung des Ner—⸗
venlebens
kommt natür—
lich das
ruhige, unge—
ſtörte und
gleichmäßige,
von allen ee
übertriebenen eu.
förperlichen Das Haus, vor dem am 13. Juli 1874 das Kullmannfche
. Ei: Attentat auf den Fürjten Bismard zur Husführung fam.
wie geiſtigen 5
Anjtrengungen ſich freihaltende Leben der Kurgäſte nicht
zum wenigjten in Betracht.
ART
ai 75
PEN a.
2500 Wolfgang Engel, Bad Kijfingen.
Den Mittelpunkt des gejellichaftlichen Lebens bilden der
im Jahre 1876 im altdeutichen Renaiſſanceſtil reſtaurierte
Sonverjationsjaal mit feinen 200 Meter langen Arkaden und
der Kurgarten. In der Mitte des lebteren befindet jich ein
Mufikpavillon, in dem während der vom 1. Mai bis zum
30. September dauernden Satjon alltäglich zweimal Konzerte ver-
anstaltet werden. Der Konverfationsjaal dient unter anderen
zur Abhaltung der wöchentlich einmal jtattfindenden fogenannten
Neunionbälle; an ihn jchließt Jich ein Feiner Damenjalon an,
der im Baroditil gehalten und 1885 vollendet worden tft, ferner
das im Jahre 1876 errichtete Kurhaus-Rejtaurant, das außer
den Wirtjchaftsräumen einen eleganten Speijejalon, ein Billard-
zimmer mit drei Billard3 und ein Lejezimmer enthält. Im
oberen Raum über dem Arfadenbau befindet ſich eine Loggia
und ein Salon, in dem den Damen Gelegenheit zum Klavier—
ipiel und Gejang geboten ift.
Kiſſingen hat auch ein Theater, das jeit einer Reihe von
Sahren unter der Leitung des Herrn Eduard Reimann,
Direktors de3 Stadttheaters zu Würzburg, jteht. Der Ort
bietet mithin alles, was zur geiftigen Anregung der Kurgäjte
dienen kann. Kein Wunder, daß, wer einmal in Kiſſingen
einige Wochen geweilt hat, immer wieder gern jeine Schritte
dorthin lenkt, um des Segens der heilfpendenden Quellen teil-
Daftig zu werden.
Duellwut bei Tieren.
Don Richard Rlamrofh.
(VNachdruck verboten.)
er Wanderer, der an ſchönen Sommertagen dem
nerventötenden Getriebe der Großſtadt entflieht, ijt,
wenn er fröhlich durch Feld und Wald ftreift, jtet3
geneigt, in poetischen Worten von dem Frieden in
der Natur zu jprechen, die in den jchönen Tagen der Blüten
und veifenden Früchte ihr reizendites Gewand angezogen hat.
Er hat recht damit, foweit nur das Verhältnis feiner
Perſon zur Natur in Frage fommt; denn im intimen Umgange
mit ihr holt er ſich Mut und Kraft zu neuer Arbeit im Dajeins-
fampfe, der heute mit einer Härte und Zähigkeit geführt wird,
wie fie frühere ©eichlechter nicht Fannten. Dem Naturfreunde
jedoch, der fich mit Tiebevoller Aufmerkjamfeit in daS Leben
und Treiben der Tiere, groß und Hein, vertieft, kann es nicht
entgehen, daß jich unter dem täufchenden Glanze von Frühlings-
jeligfeit und Sommerfreude dasjelbe Ringen um die Erijtenz
vollzieht, welches der Inhalt feine arbeitjamen Lebens ijt.
Auch das Tier kämpft fortwährend um jein bißchen Leben und
zwar fajt immer in viel graujfameren Formen als der Menſch;
denn während diejer ich meiſtens der Waffen des Geijtes be-
dient, Handelt: e8 fich bei den Tieren nur darum, wer der
2502 Richard Klamtoth.
phyſiſch ſtärkere iſt und das Endziel des Kampfes ift fajt ſtets
der Tod des Gegners, der, von feinem jtärkeren Feinde be—
zwungen, unbemitleidet auf der Wahlitatt verbluten muß.
Meiftens Handelt e3 jich bei dieſen Kämpfen darum, daß
da8 eine Tier mit feinem Leibe dem anderen zur Nahrung
dienen muß. In anderen Fällen ringen Tiere derjelben oder
verichiedener Art um die Herrichaft an einen bejtimmten Platze;
fie Fämpfen dann gewifjermaßen um das Eigentum an einem
bejtimmten Neviere, das ihnen Nahrung gewährt, und in deſſen
Behauptung nur der Selbiterhaltungstrieb zum Ausdrud kommt.
Außer diefen, nur zu jelbitverjtändlichen Kämpfen giebt e8 aber
noc eine Neihe anderer, bei welchen nicht das Ringen um Die
Nahrung das treibende Motiv iſt. Sie entipringen vielmehr
entiveder dem angeborenen Widerwillen des einen Individuums
gegen das andere oder einer im Temperament vieler Tier-
gattungen deutlich ausgeſprochenen Rauf- und Händelſucht oder
dem Werben um die Gunjt der Weibchen, und ähneln dann
in hohen Grade den menfchlihen Ziweifämpfen, jo daß man
in dieſen Fällen berechtigt it, von einer fürmlichen Duellwut
bei Tieren zu jprechen.
Am befanntejten find don derartigen Tierzweikämpfen wohl
diejenigen der Hirjche untereinander. Abgeſehen von Förſtern,
Sagdfreunden und einer Anzahl Touriften iſt es aber nur
wenigen Menfchen bejchieden, das aufregende und dramatijche
. Schaufpiel, wie zwei Kapital-Hirsche miteinander Fämpfen, zu
beobachten. Es ijt jedoch feit jeher einer der beliebtejten Vor—
würfe für Tiermaler, und neben den vielen höchſt mittelmäßigen
Bildern, wo ein Künſtler, der den Vorgang in der Natur nie
gejehen, die fämpfenden Edelhirſche in den Stellungen ziveier
theatralifchen Poſeurs ſchildert, eriftieren doch auch zahlreiche
Abbildungen, welche ein derartiges Duell mit überrajchender
Naturwahrheit wiedergeben. |
Eine alte Sägerregel bejagt, daß der Hirſch um Aegidi,
alſo am 1. September, in die Brunſt tritt. Dies gilt jedod)
nur von den alten Herren, die um die Gunſt der Hindinnen
ſchon manden harten Strauß ausgefochten haben, während fich
der jüngeren die Erregung erjt einige Wochen ſpäter bemächtigt,
dafür aber auch bis in den Dftober hinein anhält. In Diejen
Duellwut bei Tieren, 2503
nal,
Woochen find die ſonſt jo Harmlojen, ruhigen und vorſichtigen
Tiere wie ausgewechjelt. Sie freffen und jchlafen faum mehr;
. eine ewige Unruhe hat ich ihrer bemächtigt. Tag und Nacht
auf den Beinen, treiben fie daS Mutterwild zujammen. Alle
Vorſicht außer acht lafjend, find fie nur auf die Vergrößerung
ihrer Herde bedacht und jeden Augenblid dazu bereit, deren
Befib gegen etwaige Nebenbuhler zu verteidigen. In dieſe
Zwangslage kommen fie nun täglich auf3 neue; denn da Die
Natur aud) bei dem in Polygamie lebenden Rotwild annähernd
die gleiche Zahl männlicher und weiblicher Individuen hervor—
bringt, bleibt mit Notwendigkeit eine große Zahl namentlich
jüngerer, aber auch älterer Hiriche ohne Herde und jucht dem
vom Glücke begünjtigten auf jede Weije jeinen Harem abipenjtig
zu machen.
Die jungen Hirſche find nun für den feurigen, mutigen
Sechzehnender feine gefährlichen Gegner und räumen das Feld,
jobald dieſer Miene macht, ernftlic zum Angriffe gegen fie
vorzugehen. Anders iſt es jedoch mit den Kapitalhirichen,
welche auf Tod und Leben fämpfen, wenn die Minne in das
Herz dieſer ſtolzeſten Tiere unferer Wälder ihren Einzug hält.
Es iſt ein unvergeklicher Anblid, wenn in einer lauen, von
würzigem Waldesduft durchwehten Septembernacdht, während
am Ofthimmel ein bleicher, fahler Glanz das Nahen des Tages—
gejtirnd verkündet, der Gemaltige mit jeinen Frauen zur
Morgenäfung auf die Waldlichtung tritt. Laut röhrend jcheint
er allen Neidern das Bemwußtfein feiner Selbjtherrlichkeit und
feines Liebesglüds verfünden zu wollen. Aber von weit drüben
Ihallt e3 ihm in der gleichen Sprache zurüd und näher, immer
näher ertönt der Kriegsruf de3 zum Kampfe herausfordernden
Gegners, bis fich endlich diefer ſelbſt am jenjeitigen Waldrande
zeigt... Auch der Hirsch in den Extaſen der Brunſt ſtürzt fich
nicht jinnlos in einen ungleichen Kampf, fondern prüft feine
Ausfichten auf den Sieg. Dft verharren die Gegner laut
brüllend lange Minuten in achtungspollem Abjtande von
einander, die Grasnarbe und den Moo3boden mit wütenden
Huftritten zerfegend, und der jtille Beobachter fieht ftatt eines
aufregungsvollen Kampfes jchließlich, wie der frauenlofe An-
fümmling, eingedenf de3 Sprichwortes, daß Vorficht der beifere
2504 " Richard Klamroth.
Teil der Tapferkeit it, abzieht, um gegenüber einem minder
ſchreckhaften Gegner fein Glüd zu verfuchen. Wo er aber Ausficht
auf Erfolg Hat, fommt es faſt immer zum Kampfe; denn der
glüdliche Befiger einer Herde hält jtet3 Stand. Mit geſenkten
Geweihen ftürmen die Feinde aufeinander 103, und das weithin
vernehmbare Krachen der aufeinander prallenden Geweihe
zeigt, daß es fein Scheingefecht, jondern bitterer Ernſt iſt.
Der fchwächere Teil kann noch von Glüd jagen, wenn er mit
einigen Hautwunden oder einigen abgebrochenen Geweihenden
davon fommt. Dft aber endet die Sache viel tragijcher. Eine
Geweihſpitze bohrt fi) in das Auge des Gegners oder durd)-
bohrt die dünne LZeibeswandung zwifchen den Rippen oder am
Unterleib und erzeugt eine Verwundung, die binnen wenigen
"Tagen in tödlihe Bruft- oder Bauchfellentzündung ausläuft,
und der Unterliegende, der auf der Wahlitatt zurücfbleibt, muß
zujehen, wie die Weibchen, welche abjeitS dem Kampfe zu-
Ihauten, als lebende Illuſtration des Berjes: „la donna &
mobile“ dem Sieger folgen. Zuweilen fommt e3 aud) vor,
daß die Geweihe der echter im Kampfe ich derartig in-
einander hineinbohren, daß die Kampfesmüden fich nicht mehr
voneinander zu trennen vermögen und in tagelanger Qual
jammervoll zu Grunde gehen, während ein dritter fampflos in
den Beſitz der Herde fommt.
Sehr hartnädig find auch die Kämpfe der Nenntiere und
Elenns, die fi) zur Brunftzeit ganz ebenjo befehden wie die
Hirihe. Auch das Damwild und die Nehe machen fich den
Belig der Weibchen ftreitig und wenn dieje Kämpfe auch bei
weiten nicht einen ebenjo dramatiſch beiwegten Anblick gewähren,
jo enden fie troßdem kaum weniger felten tödlich, weil da3
dolchartig zugeipigte Gehörn dieſer Tiere recht gefährliche
Wunden verurjadt.
Ein Hirſch oder Nehbod, der von der Herde ale ſchlagen
wurde, kann übrigens auch dem Menſchen ſehr gefährlich werden.
In ihrer blinden Raſerei greifen die Tiere manchmal jedes
andere ihnen in den Weg kommende Geſchöpf an, und gerade in
den letzten Jahren haben ſich die Fälle auffällig gemehrt, wo
harmloſe Wanderer und Wildheger in hochwildreichen Revieren
von brünſtigen Hirſchen in der grauſamſten Weiſe getötet wurden.
Duellwut bei Tieren. 2505
Wie der Froſch-Mäuſekrieg zur Sliade verhalten ſich zu
den Kämpfen des Rotwildes die Duelle der Auer- und Birk
hähne. Ernſt gemeint jind fie ja ebenjo wie jene; aber dem
Zufchauer fehlt hier die Vorſtellung, daß riejenkräftige Gegner
gegeneinander wüten und wenn unter den wuchtigen Schnabel-
hieben auch die Federn jtieben und Blut fließt, fo behalten dieſe
Bweifämpfe doch ſtets etwas von dem komiſchen Anftrich, der
den Duellen unjerer Haushähne anhaftet.
Vögel jind überhaupt jowohl im Umgange mit ihren Art-
genofjen wie gegenüber anderen Tieren meijt von recht jtreit-
jüchtigem Charakter. Hahnenkfämpfe, bei denen oft ein Kombattant
tot auf dem Plabe bleibt, find nicht nur in England, Spanien
und Portugal, fondern auch in Hinterindien ein weitverbreitetes
Volksvergnügen und damit die Sache nicht gar zu harmlos üt,
befejtigt man den Kampfhähnen häufig fcharfe, feine Klingen an
die Sporen. Aeußerſt unverträgliche Gejellen find die ganze
Sippe der Amfeln und Drofjeln, welche ſich nicht mit der Ber-
jagung des Gegners begnügen, jondern aufeinander Loshaden,
bis die eine tödlich verwundet ijt. Selbſt der Philoſoph unter
den Vögeln, der Storch, bindet mit dem Nachbarftorche an, wenn
ihm deſſen Nejt dem jeinen als zu nahe gelegen zu jein fcheint.
Kein Vogel übertrifft aber an Duellwut die Kampfläufer
(Machetes pugnax), die Jich fortwährend untereinander befämpfen,
ob fie ſich nun in Freiheit oder Gefangenſchaft befinden, ſchon
vor Sahren eingefangen wurden, ihre Freiheit erjt fürzlich ver-
loren haben oder in der Gefangenichaft geboren wurden. Dieje
Duelle jpielen ſich ftet3, auch wenn viele Kampfläufer auf einem
Plage find, als Zweikämpfe ab, und nie findet eine allgemeine
Rauferei aller anwejenden Hähne ftatt. Der Anblid der beiden
Kämpfer reizt aber die anderen ebenfall3 zum Streite ımd fo
entipinnen ſich oft gleichzeitig mehrere Duelle, die, weil die
Tiere bligichnell ihre Bewegungen ausführen und weil Die
Bahnen der kämpfenden Paare jich durchfreuzen, einen Anblid '
gewähren, al3 ob der Teufel in fie alle gefahren wäre.
Nicht minder komiſch ift der Anblick zweier miteinander
fämpfenden Hafen. Blut fließt dabei faum, und es bleibt bei
der Berabreichung tüchtiger Obrfeigen, zu deren Austeilung
namentlich die Hinterläufe benubt werden, in denen die Tiere
2506 Richard Klamroth, Duellwut bei Cieren.
eine erftaunliche Kraft beiten. Zu diefem Zwecke führen fie
wahrhaft grotesfe Sprünge aus, und wer von den Gegnern
am höchſten |pringt, hat die beſte Ausficht, dem anderen eines
zu verjeßen, daß ihm Hören und Sehen vergeht.
Eine Aufzählung aller Arten von Tierfämpfen würde
den Raum eine Buches beanjpruchen; denn vom Oftopoden
und Hummer bis zu den Riefengeftalten der Wale und Haiftiche
und vom Maulwurf, der ein Raufbold erjten Ranges ilt, bis
zum Elefant führt die Liebesleidenjchaft und der Kampf um
das Dajein zu erbitterten Zweifämpfen. Namentlich der zahme
und wilde Elefant iſt nach glaubwürdigen Berichten ein echter,
der zwar nur jchiwer, in Wut zu verjegen ift, dann aber aud)
fürchterlich Tampft. Schauplaß eines jolchen Zweifampfes war
vor einigen Jahren die Londoner Vorſtadt Wimbledon. In
einem dortigen Zirkus hatte man einen furz vorher eriworbenen,
ziemlich ungebärdigen Elefanten, Namens Edgar, um ihn befjer
zu zähmen, an einen weiblichen Elefanten Mary gefefjelt, der
für gewöhnlich mit einem anderen männlichen Elefanten Charlie
in den Borftellungen fich mit feinen Künften produzierte. Als
die Elefanten eines Tages anjcheinend friedlich auf einer Wieje
weideten, fiel Charlie, von Eiferjucht überwältigt, plölich über
die beiden anderen ber, trieb fte durch einen Fluß und eine
Baumpflanzung, warf fie nieder und bearbeitete beide mit feinen
glücklicherweiſe abgejtußgten und abgerundeten GStoßzähnen.
Erſt nad) langer Zeit war e3 den Bemühungen von 60 Mann,
die mit Stangen und Peitſchen auf den diehäutigen Othello
losſchlugen, möglich, den Entrüfteten von den Angegriffenen
zu trennen.
„Um fo einen!“
Xovelle von Elfe Rrafft.
Ma (Nadhydrud verboten.) |
nter den Linden Hatte fie fich die Schaufenfter an—
gejehen, eingehend vor den Modebazaren die für jie
ımerreichbaren Gegenſtände höchſter Eleganz gemuftert,
um die DBlide gleich darauf in leifer Schwermut
über ihr einfaches, blaues Cheviotkleid gleiten zu laſſen. Das
furze, dunkle Jäckchen, deſſen Aermel alljährlich) mit der
herrichenden Mode an Umfang verloren, jah doch eigentlic)
ſchon recht fadenjcheinig unter der eleftriichen Beleuchtung der
Linden aus. | |
Langſam Schritt fie dem Brandenburger Thor entgegen,
und Happte fich fröjtelnd den Krimmerfragen in die Höhe.
Die Steine de Trottoirs, ſowie das Asphalt des Fahr—
weges fliimmerten wie taujende darüber hingejtreute Diamanten,
und auf den Dächern ded Palais am Barijer Platz hatte der
Reif einen glänzenden Schleier gezogen.
Das junge Mädchen wandte den Kopf weder rechtd nod)
links. Seine Aufmerkſamkeit erregte eine dicht vor ihr gehende,
jehr elegante Dame, deren jchönes Antlig ſich ſchon mehreremal
mit einem bezaubernden Lächeln nach ihr umgewandt hatte.
2508 Elſe Krafft.
Ein Herr, der einige Augenblide in läſſiger Gangart
neben Frieda Schritt, näherte jich jet, höflich den Hut lüftend,
der eleganten Dame, und bot ihr nach einigen geflüjterten
Worten den Arm. Gemeinſam ſchritten fie über den Damm,
und das frohe Lachen der ſchönen Unbekannten jchallte Hell zu
dem jungen Mädchen hinüber.
Immer langjamer wurden ihre Schritte. Mit den Augen
verfolgte fie daS Paar, jo lange es jichtbar war, dann ſetzte
fie wie eine Träumende ihren Weg fort. Obgleich fie wußte,
daß Sich etwas Außergewöhnliches, ihrem Geſichtskreiſe Fremdes
eben vor ihr abgejpielt hatte, jtieg eine Art Neid gegen jene
Unbelannte in ihr auf. Wie glüdlic) fie gelacht, und wie
zwanglos der frende Mann auf fie eingelprocdhen hatte. —
War aud) hier die plößlicde Sympathie ziveier fi) zum eriten-
mal begegnenden Menjchen Sünde, wie ihr jchon oft auS dem
Munde weiler Verwandten verfichert worden?
„Wenn Dich je auf der Straße ein Herr anjprechen jollte,
Sriedchen, dann rufe fofort einen Schugmann,“ hatte neulich
Tante Dettchen gejagt, worauf der Onkel lachend ermiderte,
„daß feinem Sriedchen fo etwas gar nicht paſſieren könnte.“
„Warum Denn nicht, Onkel?“ fragte fie raſch.
„Weil du viel zu jolide ausſiehſt, Schäfchen,“ lautete die
Antwort. — |
Jetzt zog ihr das alles wieder durch den Kopf. Eine
unbändige Sehnfucht nach irgend etwas Großem, Wunderbarem
überfiel fie. Ettivas, das imftande wäre, den eintünigen Lauf
ihrer Tage jäh umzuftürzen, ihre einfame Seele lebensfreudig
zu machen, und ihr ganzes unbedentendes Sein zu verändern.
Nicht mehr vom frühen Morgen bis zum jpäten Abend bei
Onkel und Tante fißen zu müſſen, bei jeder Häuglichen Arbeit
ihren Launen und altmodilchen Belehrungen ausgeſetzt. Nicht
mehr die langen, dunklen Winternachmittage am Arm der
großen, Forpulenten Frau durch Die Straßen zu wandeln, und
wie ein kleines Kind fir jeden Ausgang, jede That Rechen
haft abzulegen. — Froh fein, glüdli, — lachen fünnen wie
jene Unbekannte eben gelacht hatte. Nicht mehr ängftlich auf
das Urteil der andern warten, fich hoch über jedes Fleinliche
Gerede ftellen, und der ganzen Welt zum Troß die eigene
„Am jo Einen!“ 2509
Meberzeugung innerer Reinheit ſich genug ſein em: Ach,
wenn ihr dag gelänge! —
Frieda ging die Königgrätzer Straße dicht an hen bereiften
Rafenplägen des Tiergarten? entlang. In ihren tiefen Ge—
danken empfand ſie weder die Kälte, noch die plößliche Einſamkeit
ringsum.
Ein Herr kam ihr entgegen, eine hohe Geftalt mit braunem,
dichten VBollbart über den feit gefchloflenen Lippen. Seine
Augen glitten neugierig über das einsame Mädchen, daS den
Kopf tief gelenkt trug. Er ftreifte die VBorübergehende jo Dicht,
daß fie erjchredt emporblidte, und, einen Augenblick ftehen
bleibend, halb den Kopf nach ihm umwandte.
Da Stand auch er und lüftete den Hut.
'„Berzeihung, mein Fräulein, aber Ddieje Dunkelheit iſt
gefährlich für Sie.“
Das junge Mädchen wollte etwas antworten, es gelang
ihr aber nicht. Zögernd ſetzte ſie ihren Weg fort.
Der elegante Fremde ging an ihrer Seite wieder mit
zurück.
„Ich möchte Sie begleiten, — darf ich?“ fragte er leiſe.
Da ſah ſie noch einmal empor. Ihre Hände verſchlangen
ſich im Muff, doch ihre Augen wurden groß und glänzend.
Sie dachte nicht daran, einen Schutzmann zu rufen, ſie
lächelte ſogar.
„Sie kennen mich ja gar nicht,“ entfuhr es ihr.
„Aber ich möchte Sie kennen lernen, darum frage ich.
Wohin gehen Sie denn jetzt?“
„Nah Haufe, — nad der Kurfüritenitraße, — und ich
finde auch jchon meinen Weg allein,“ jebte fie Haftig Hinzu,
ihre Schritte beſchleunigend. Sie war wieder ganz das kleine,
ängſtliche Mädchen wie immer. |
Ä „Wer wird jo abjtoßend fein! Sch meine e8 doch nur
gut mit Shnen,“ begann er aufs neue, immer noch lächelnd
auf fie berabjehend.
„Freuen Sie ſich doch, daß Sie einen männlichen Be—
Ihüßer in mir gefunden haben. Berliner Straßen find ein
gefährliches Pflafter für jo junge Füße.“
2510 Elſe Krafft.
an
Als Frieda ihren Begleiter verjtändnislos anfah, fuhr er
in väterlihem Tone fort:
„Ihre Augen fommen mir wie zivei große Fragezeichen
bor, für Sie fcheint daS Leben noch aus Rätſeln zu beſtehen.
Soll ich ſie Ihnen löſen helfen? — Sie Baden gewiß einen
ſehr jtrengen Bapa!“
Frieda jchüttelte den Kopf. Sr war der große Mann
plöglich fein Fremder mehr. |
„Nein, — meine Eltern ſind längjt tot. Sch wohne bei
Verwandten, — bei einem Bruder meined Vaters.“
„Noch Schlimmer, da. u gewiß auch nicht wie im
PBaradieje, — was?“
Bei den ſarkaſtiſch — — ——— Worten hielt ſie fich
für verpflichtet, die Partei ihrer Verwandten zu nehmen. |
„Paradieſe giebt es auf Erden nicht,“ meinte fie bejtimmt.
„Aber man foll glüdlic) fein, wenn treuforgende Herzen bemüht
ind, eine verlorene Heimat zu erjeßen.“
„Sehr weije geiprochen, mein Kleines. Sräulein, alle Ach—
tung dor ihrem Familienfinn! Alſo Paradieſe giebt es auf
Erden nicht? — Vielleicht ſagen Sie mir auch noch, wo die—
ſelben Jonſt zu finden ſind?“
Sie jhritten über den Potsdamer Plab, das junge
Mädchen immer zwei Schritte von ihm entfernt.
Sntereffiert mufterte er ihr feines, jchmales Geſichtchen
mit den Heller Augen unter dem Faftanienbraunen Haar.
„Brüche Sugend von altem Blunder umhüllt,“ dachte er, indem
er ihre einfache Kleidung überblidte Die diden Handjchuhe
verſteckten die niedliche, Heine Hand, und unter dem engen
Krimmermützchen ftrebten nach allen Seiten die ADIDErpenILIgen
Locken hervor.
Se länger er dag Anklitz neben ſich betrachtete, umjomehr
gefiel e3 ihm. Im Geilt jah er die junge Gejtalt von einer
Fülle heller Spigen umrieſelt, und die braunen Haare geöffnet
über die Schulter fallen. — Ob ihm aud) hier feine befannte
Unwiderjtehlichfeit behilflich zur Seite jtände? Sie war ein
Kind noch, und ihre Jugend bot eine doppelte Anziehungskraft
für den gereiften Mann.
* *
„Am jo Einen!“ 2511
Eine ganze Weile ſchritten ſie ſtumm die belebte Potsdamer
Straße entlang.
Frieda fühlte herzklopfend ſeine prüfenden Augen anf ſich
ruhen. Zum erjtenmal jchämte fie ſich ihrer Dürftigkeit und
verjtecfte die mit den von Tante ſelbſt geſtrickten Handjchuhen
befleideten Finger wieder im Muff. War fie mit dem erjten
Ungehorjam gegen Zucht und Sitte wirklich eine andere ge-
worden? Jeder Vorübergehende jchien ihre Kühnheit erraten
zu Haben, und mit ſpöttiſchem Lächeln über fte herzufallen. —
Es war doch noch ſehr jchlecht um ihre Selbſtändigkeit
beitellt. — Ä
„Nun, — wollen Sie mir nicht verraten, in welcher
Gegend Ihr Paradies liegt?” fragte er jeßt noch einmal.
„Mein Paradies? — Sch habe Fein.“
Das Hang nicht wie aus Kindermund.
„Oho, jagen Sie jo etwas nicht, mein Fräulein. Sie
haben vielleicht den Schlüfjel noch nicht gefunden, um feine
Pforten zur Herrlichkeit aufzufchliegen. Sie find vielleicht mit
offenen Augen: bisher blind gewejen. — Wiffen Sie, tvie die
Straße heißt, die zum Paradieſe führt?“
Der jchöne, elegante Mann beugte fich tief zu dem Kleinen,
einfachen Mädchen herunter.
Frieda Schritt wie gebannt neben ihnı.
„Liebe,“ — jagte er vorfichtig, indem er feinen Spazier-
ſtock läſſig hin und her drehte.
Unwilfürliih ging fie noch einen Schritt weiter von
ihm ab.
„Es, — es iſt doch wohl beſſer, Sie laſſen mich allein
nach Hauſe gehen, — es — iſt unrecht von mir, die Begleitung
eines fremden Mannes zu dulden,“ antwortete ſie verwirrt.
„Da kann ich mich ja vorſtellen, wenn Sie Angſt vor
dem großen Unbekannten haben.“
Offenbar beluſtigt legte er einen Augenblick den Griff
ſeines Stockes an den Mund.
„Fritz Weber, — Reiſender für Gold- und Silberwaren,“
ſagte er dann mit einer flüchtigen Verbeugung.
„Ich heiße Frieda,“ entgegnete ſie aufatmend, „Frieda
Pählchen.“
2512 Elſe Krafft.
Da er lachend den Hut Tüftete, fuhr fie gleichfalls
lächelnd fort: | |
„Meine Gejelihaft muß Ihnen aber ſehr Tangiveilig
werden, und Sie haben gewiß Wichtigered zu thun, als mic)
nad) Haufe zu bringen.“
„Wichtigeres, als einer allerliebjten jungen Dame in die
Augen zu jehen, giebt es gar nicht.“
„Dann müſſen Sie aber ein jehr ſchlechter Kaufmann fein,
Herr Weber!" —
Er lachte wieder und beiwunderte heimlich ihre Heinen,
\chneeweißen Zähne zwijchen den Halbgeöffneten Lippen.
„Schlechter Kaufmann, — it ja möglich! Aber einen
guten Freund finden Sie dafür in mir. Gehen Sie morgen
wieder denjelben Weg wie heute?“
Sie wurde rot und zupfte verlegen an den Krimmerflode:
ihres Muffe. Woher follte fie nur den Mut nehmen, den
begonnenen Weg zur inneren Befreiung fortzujeßen?
„Ra, — wir müfjen und doch wieder jehen, Fräulein
Friedchen, das iſt doch ganz ſelbſtverſtändlich.“
Wie weich und einfchmeichelnd daS Hang.
„Wenn Onkel und Tante aber was erfahren?”
„Keine Angit, wenn Sie Hug find, merken die ſchon nichts.
Wer jo jung und Hübjch it wie Sie, muß jein Leben genießen.
Alfo morgen wieder in der Königgräßer Straße.“ |
„Nein, ach nein,” jagte fie raid. .„Morgen hat meine
Tante Geburtstag, da muß ich zu Haufe bleiben. — Es wird
überhaupt nicht gehen, Tante läßt mich jelten allein fort.“
„Aber Sie jind doch Fein Kind mehr, Fräulein Frieda,
ic) ließe mir dieſe Ueberwachung einfach nicht gefallen. —
Sagen Sie doch, Sie wollten irgend eine Freundin bejuchen,
dann geht es ficher.“
„sch habe feine Freundin, Herr Weber.“
„Nicht eine, Fräulein Friedchen?“
„Doc, — eine Habe ich, aber die wohnt nicht in Berlin.”
Da3 kam ordentlich wehmütig heraus.
„Außer Mittwoch und Sonnubends muß ich jeden Nach-
mittag mit Tante jpazieren gehen, — immer denjelben Weg
bis zum Spittelmarft und zurüd.“
„Am fo Einen!“ | 2513
„Armes Wurm! — Und an den anderen beiden Tagen?“
„Da, — da ginge e& vielleicht,“ jtotterte fie, den Kopf
bebend. „Da Hab’ ich in Moabit Nähſtunde.“
„Sehen Sie, nun geht’ mit einem Male! Alfo am Sonn—
abend am Brandenburger Thor, — da müfjen Sie ja vorüber-
gehen. Um welche Zeit jind Gie denn mit der Näherei
fertig?“ |
Das Hang alles jo jelbitveritändlich und einfach, daß Frieda -
jih mit jedem feiner Worte Jicherer fühlte
„Wie heute, um 7 Uhr, — Aber gehen Sie jebt, ich
bin gleich zu Haufe; bis vor die Thür dürfen Sie nicht mit-
gehen.”
Bor der Kurfürſtenſtraße blieben fie jtehen und jahen
ſich lächelnd in Die Augen.
Friedas Antliß war von Kälte und Aufregung roſig über-
haucht, und ihre Augen ftrahlten wie zwei Weihnachtäferzen.
Er legte feine mit Glacé bekleidete Hand feit um ihre
wollene Rechte.
„Alſo dann auf Wiederjehen am Sonnabend um ein—
viertel acht am Brandenburger Thor, — Kleine Apfelblüte.“
„Nicht doch, Herr Weber, — das thut ja weh!“
Sie zog ihre Hand zurüd, und bog, Haftig den. Kopf
neigend, in die Kurfürſtenſtraße ein.
Einen Augenblict verfolgte er, ſtehen bleibend, mit den
Blicken ihre zierliche Geſtalt, dann wandte er ſich kurz und
winkte einer leeren, vorüberfahrenden Droſchke.
„Zu Dreſſel, ſo ſchnell wie möglich!“
Es wäre doch ſehr dumm, wenn die entzückende Franzöſin
vom Lindentheater nicht mehr ſeiner harren würde.
* *
Tauwetter in Berlin.
- Bon den Dächern lief das jchmußige Wafjer in Fleinen
Bächen herunter, und der ſonſt feſtgetretene Schnee auf dem
Pflaſter war locker und hatte eine bräunliche Särbung ans
genommen. |
Sn der dritten Etage eines —— Hauſes der Kurfürſten—
ſtraße ſtand Frau Pählchen am Fenſter, und ärgerte ſich über
Su. Baus-Bibl. I, Band XI. 158
2514 Elje Krafft.
jeden Wafjertropfen, der auf ihre friſch gepußten Yeniter-
ſcheiben fiel. |
Ihr Gatte ſaß im Lehnſtuhl Hinter ihr und las Die
Beitung.
ALS die Nichte ind Zimmer trat, blidte er auf.
„Ei der Taufend, Friedchen, Haft dich ja ordentlich hübſch
gemacht heute! Alfo ganz allein das jchöne Kleid genäht?
Alle Achtung vor deiner Schneiderkunft!”
Frau Pählchen wandte ſich bei den beivundernden Worten
ihres Manne3 um und blidte entrüftet auf die zierliche Gejtalt
in den modernen braunen Wollkleide.
„Bilt du verrückt, Mädel! — Dein beftes Kleid für die
Nähſtunde? Und den neuen Hut bei dem Saumwetter! Das
fieht dir fo recht ähnlich, alles über einen Kamm gejchert.
Gleich ziehit du das neue Kleid aus!“
Frieda jebte fich’ ruhig vor dem Spiegel den hellen Filz-
hut auf das braune Haar. Zufrieden mufterte fie ihr glüclich
lächelndes Geficht.
„Sei nicht böfe, Tante, die Sonne fcheint ja draußen.“
„Aber e3 taut, und die Straßen find naß und jchmußig.
Da zieht man daß fchlechteite an, wa man hat, — überhanpt
bi8 Moabit Hin. Ein Glüd, daß die Nähſtunde bald vorüber
ilt, da8 war ja 'was Entjegliches .mit deiner Eitelkeit.“
Sie trat vom Fenjter fort und ging prüfend um die Nichte
herum.
„Biel zu elegant, viel zu elegant, das Geld für Die
Bänder und Rüjchen hätten wir auch ſparen Fünnen.“
„Laß ihr Doch das Vergnügen,“ warf der Onkel be-
ichiwichtigend ein, „dafür ſieht das Mädel auch noch ’mal jo
hübjch wie jonjt aus.“
„Aber Heut’ braucht’ ſie's nicht anzuziehen, jo etwas bleibt
für den Sonntag. — Raſch, Frieda, zieh das blaue an!“
„Dann komm’ ich zu ſpät zur Nähftunde, adieu, ich hab’
feine Zeit mehr,“ und wie der Wirbelwind war fie zur Thür
hinaus.
Entjeßt ſchlug Frau Pählchen die Hände zufammen.
„Sollte man jo etwas für möglich halten? Wilhelm, dag
geht jo nicht weiter mit dem Mädchen! Schon Die ganze lebte
„Um fo Einen!“ 2515
Beit ift fie jo! Das fingt und pubt fich den ganzen Tag, und
will ich jchelten, fliegt fie mir an den Hals und küßt mic) ab.
— Wilhelm. hörſt du denn nicht?“ —
Der kleine, korpulente Mann mit dem gemütlichen, roten
Geſicht blickte Schmunzelnd von der Zeitung auf.
„Sa, ja, ich höre jchon. Friedchen gefällt mir jebt viel
bejjer wie früher. Vielleicht hat fie irgend 'was?“
„Hat irgend 'was? — Was joll je denn haben? — Sc),
bitte mir aus, daß du dich verſtändlicher machſt.“
„Na ja, ich meine ja blo8 jo,“ antwortete er außmeichend
und vertiefte fich jo beharrlich in jeinen Rofalanzeiger, daß Frau
Pählchen fopfichüttelnd zu ihrem Stridzeug griff.
Diesmal waren e3 feine Hausſchuhe.
* *
x.
Frieda aber ſchritt über die najje Straße, fo leichtfüßig und
jorglos, al3 führte der Weg über blumenbeitreute Wiefen. Den
neuen Kleiderrock hielt jie jorgfältig eniporgerafft, und die Glacé—
handſchuhe, ‚welche fie auf der Treppe angezogen, umjpannten,
eng anjchließend, ihre Kleinen, zierlihen Finger. Er hatte fie
. neulich anjtatt des üblichen Veilchenſträußchens mitgebracht. —
Wie glücklich war jie geworden, und wie glüdlic erjt würde
fie jpäter fein, wenn ihr ſüßes Geheimnis alle Welt erfahren,
und Onfel und Tante die Verlobung ihrer Nichte verfünden
würden. Wie alles jo jchnell gefommen, ſie wußte es jelber
nit. Das erite Mal war’3 im Tiergarten, al3 er von ſeiner
großen Liebe geſprochen. Und als fie zitternd jeine Küſſe ge—
duldet, ihr ganzes Herz ihm zuflog, und jie ihn fragte, ob er
an Onfel und Tante fchreiben, oder fie jelbit es ihnen jagen
ſollte, — da füßte er jie, lächelnd den Kopf jchüttelnd, aufs
neue. Bon einer großen Geduld, der fie nun ausgejeßt waren,
erzählte er, und daß er ich nicht eher mit ihr öffentlich verloben
fünne, ehe er eine fejte, fichere Stellung befüße. So eine heim—
liche Liebe, wäre ja dag allerichönjte, wenn fie ihm vertraue. —
Sa, fie vertraute ihm. Und doch war fie, troß all feiner
Bitten, noch nicht zu beivegen gewejen, ein Café oder Reſtaurant
mit ihm zu bejuchen. Er lachte lie aus, wenn ſie in den jtillen Wegen
des 3 Tiergartend ängitlich jeiner ſtürmiſchen Yärtlichfeit wehrte.
1358*
2516 Elfe Krafft.
Das lebte Mal erzählte er ihr von einer guten, alten Tante
in der Mohrenjtraße, die. um das Geheimnis jeiner Liebe wußte.
Zu ihr würde er fein Bräutchen, führen, unter ihrem Dad) für
erjte die jchönjten Zufunftsträume mit ihr ſpinnen. —
Frieda lächelte glücklch vor fich Hin, al3 fie inmitten der
Ihiwagenden Mädchenjchar bei ihrer Näharbeit ſaß. Alle paar
Minuten blickte fie zu der Schwarzwälder Uhr neben der Thür, -
ob ihr Zeiger immer noch nicht die erwünſchte Stunde erreiche.
Jedesmal war fie unter irgend einem Vorwand ein halbes
Stündchen früher als die anderen jungen Mädchen aufgebrochen.
Das magere, ‘alte Yehrfräulein ließ ihre Blicke oft forjchend auf
dem Antliß ihrer Schülerin ruhen. Wenn fie aber die klaren,
blauen Augen jah, in denen noch „der Glanz unbefleckter Jugend“,
wie fie jich innerlich ausdrückte, ruhte, ſchwand jeder Zweifel
ihrer argwöhniſchen Seele. Wie viele leichtſinnige Schülerinnen
ſie auch ſchon gehabt hatte, dieſe geyörte jiher nicht zu
ihnen. —
Auch. heute legte Frieda ihre Arbeit früher zujammen.
Die Schwarzwälder hatte eben jech3 gejchlagen.
Als fie dem alten Fräulein zum Abjchied die Hand reichte,
glättete dieſe ſorgſam die vom Siten hervorgerufeneu Falten
in den neuen Rod.
„Sie werden alle Tage hübfcher, Meine! Was hat denn
die Tante zu Ihrem Kunſtwerk gefagt?“
„Es wäre nur Sonntags ANSUDIEHEN, iſt das nicht genug,
Fräulein?“
Lachend nickte ſie ihren Geninnen zu und lief hinaus.
Vor dem kleinen zerſprungenen Wandſpiegel im Korridor
ordnete ſie ihre Friſur und überſprang auf der Treppe gleich
zwei Stufen mit einem Male, draußen taute es immer noch.
Die Luft war lind, als wäre man ſchon im Frühling. Der
fünfundzwanzigſte Februar war heut', der Geburtstag ihrer
verſtorbenen Mutter. Sie hatte ſich darum etwas ganz Be—
ſonderes vorgenommen.
Fritz würde wie immer am Brandenburger Thor auf ſie
warten. Dann würde ſie mit ihm einen ganzen großen Strauß
Roſen kaufen, köſtliche, dunkelrote Roſen, und an ſeiner Seite
hinauswandern nach dem alten Kirchhof im Süden, wo tief
„Um jo Einen!“ | 2517
herabhängende Zweige das Grab der Mutter eu — —
Ja, das wollte ſie — — —
Wie lange es heute hell blieb.
In den Straßen waren die Gasflammen fchon angezündet,
doch der Himmel noch ganz glühend von der untergehenden
Sonne.
Am Brandenburger Thor blieb Frieda ftehen, und ſpähte
eifrig nach allen Seiten. Er war noch nicht da, der Böfe,
der Liebe, — — ungeduldig ging fie einige Schritte die Linden
entlang. Heute waren e3 gerade vier Wochen her, jeitdem jie
ihm zum erjten Male begegnet. Wieviel Seligfeit lag zwiſchen
damals und heute. Sie hatte ihr Paradies gefunden, — o ivie
dankbar mußte fie ihrem Führer in all die aufgeichlofiene
Herrlichkeit fein. In innerer Glüdjeligfeit ſenkte fie tief den
Kopf. Die Menjchen ringsum brauchten ihr Lächelndes Geſicht
nicht jo neugierig zu mujtern. Erſt al3 eine Hand fich auf
ihre Schulter legte und ihr Arm Fräftig in einen anderen
gezogen wurde, hob fie den Blick empor, und ließ fi) an der
Seite des Geliebten weiterziehen.
„Beinah' hätt! ich meine Feine Apfelblüte nicht erkannt,
warum haft du dich denn heut’ jo feitlich gemacht?“ fragte
er, ihren Arm immer mehr an fich ziehen.
„3a, — gefall’ ich dir? — O, wie mich das freut! Sch
fomme mir immer ſo klein neben dir vor, ſo unbedeutend.
Und dann bitt’ ich jedesmal den lieben Gott, daß er mich mehr
und mehr deiner Liebe würdig mache.“ |
Er blidte beharrlic auf das ſchmutzige Pflafter vor fich.
Um feinen Mund lag e3 wie Spott über ihre Demut.
„Haft du mich wirklich jo lieb, wie du immer ſagſt, Heine
Apfelblüte?“ |
„Was fragit du, wenn du's doch ganz genau weißt,“
antivortete fie vorwurfsvol. „Sch möchte die Kraft bejigen,
dir die Sonne vom Himmel herunter zu holen. Smmer hell,
immer. warm müßte e3 um dich fein, — du weißt ja gar nicht,
wie viel ich dir für deine Liebe jchulde.“
Er biß ſich ungeduldig auf die Lippe, und zog fie aus
der hellen, geräuſchvollen Umgebung der Linden in die jtille
Wilhelmitraße.
2518 Elje Krafft.
Sie hatte feine Hand ergriffen und ihre warme, weiche
Wange auf das kalte Leder gepreßt. |
„SH hab’ eine Bitte, Fritz,“ begann fie zögernd. „Wir
wollen zum Kirchhof fahren, wo meine Mutter liegt, — draußen
am Halleſchen Thor. Sch bin lange nicht dageweſen, und heut’
it ihr Geburtstag. — Sch denfe immer, — fie müßte die
erite fein, der ich mein Glück, — mein fo unverdientes Glüd
offenbare.“
„Dummes Zeug!” entfuhr es ihm unmillfürlich.
ALS Frieda erjchredt feine Hand los ließ, jehte er ruhiger
Yinzu: „Sei doch nicht komiſch, Kleine Maus, — der Kirchhof
iſt längit gejchloffen, wenn wir hinfommen. Es iſt jest ſchon
ganz dunkel. Weißt du, wo ich dich hinbringen will? — Bu
meiner Tante nach der Mohrenftraße. Sie erivartet dich heute,
ich Hab’ es ihr feit verfprechen müſſen. Da hab’ ich meine
ſüße Apfelblüte endlich "mal ein Stündchen ohne die fremden
Menjchen, die ung bis jet überall beobachten konnten.“
Sie Schritten über den Wilhelmplat am Kaiſerhof vorbei,
und der große Mann achtete weder auf ihr blaſſes Gefichtchen,
noch auf ihre traurigen Augen. Immer haftiger zog er fie
vorwärts.
Vor einem großen, mit allerhand Figuren verziertem Hauſe
blieb er ſtehen.
„Siehſt du, Tante hat ſchon Licht oben,“ meinte er, zu
der zweiten, hell erleuchteten Etage hinaufdeutend.
Frieda rührte ſich nicht. Verlegen knöpfte ſie ihren Hand—
ſchuh auf und zu. Ihre Gedanken waren bei dem einſamen
Grab der Mutter, das am heutigen Geburtstag zum erſtenmal
ſeit ihrem Tode nicht mit Blumen von ihres Kindes Hand ge—
ſchmückt werden ſollte.
Er legte ungeduldig den Arm um ihre Schulter, und leitete
ſie in den Hausflur. Und da es dunkel und einſam rings—
herum war, küßte er ſie raſch auf den Mund.
„Willſt du nicht kommen, kleine Apfelblüte?“
„Nein,“ antwortete ſie leiſe, indem ſie wieder auf die
Straße trat.
Aergerlich folgte er ihr.
„Aber worum denn nicht?“
„Am jo Einen!” 2519
„sch kann heut’ deine Tante nicht jehen, ich muß immerzu
an meine Mutter denken. Und da wäre ich doch recht traurig!
— Geh” du allein zu ihr Hinauf und entfchuldige mich, —
geh’, — ic) fahre mit dem Omnibus dort nach Haufe.“
Er blidte in ihre flehenden Augen und Elopfte ſich unmutig
ven Schnee vom Abjah.
„Da fieht man nun deine große Liebe!”
Wehmütig nidte fie mit dem Kopf. |
„Ja, ſchilt mich, Fritz, du haft recht. Sch bin manchmal
riefig wunderlih. — Aber Sonnabend, das verjprech’” ich dir,
Sonnabend können wir und gleich hier unten an der Haus—
thür treffen. Dann fomm’ ich mit hinauf, wenn du noch
willſt.“
Sie reichte ihm die Hand, die er an ſeine Lippen führte.
„Aber Wort halten, kleine Apfelblüte. Soll ich nicht lieber
mitfahren?“ |
„Kein, Fritz, geh’ du nur hinauf zu der alten Dame. —
Sonnabend aljo." —
Sie hatte dem Kutſcher des vorüberfahrenden Omnibuffes
gewinkt, und fprang leichtfüßig auf das Trittbrett.
Er ſchwenkte grüßend den Hut, hob noch einmal die Hand,
und Schritt dann in das Haus zurüd.
* *
x
Als Frieda in das Wohnzimmer trat, war e3 faum halb
acht vorüber. Sonit fehrte fie viel ſpäter aus der Nähftunde
zurüd. |
„Kanu,“ fragte die Tante, „bilt du etwa Pferdebahn ge-
fahren, du kommſt doch ſonſt nicht fo früh?“
Prüfend glitten ihre Blicke über das neue Kleid, doch
Ihien fie in bedeutend befjerer Stimmung zu fein, al3 am
Nachmittage.
„Ja, ich bin gefahren, Tante, die Straßen ſind wirklich ſehr
ſchmutzig.“
Frieda war an den Tiſch getreten, über den eine altmodiſche
Hängelampe ihr Licht verbreitete, und hatte die Arme um den
Hals der unermüdlich Strickenden gelegt.
„Biſt du mir noch böſe, daß ich heute ungehorſam war?“
2520 Elfe Krafft.
— NIS
„Böſe? — Nein, Friedchen. Du mußt doch nun endlich
willen, daß id) e3 nur gut mit dir meine. — Da iſt ein Brief
an dic) gekommen, aus Potsdam. Er wird wohl von deiner
Freundin ſein.“
Das junge Mädchen, über deren glückliche Zuverſicht ſich
in der letzten Stunde eine ſonderbare Zaghaftigkeit gelegt hatte,
wurde bei den milden Worten der Tante wieder froh geſtimmt.
„Onkel iſt wohl im Klub?“ fragte ſie, indem ſie den Brief,
der auf ihrem Platz lag, mit einer Haarnadel öffnete.
Bejahend ſpähte die Tante über ihre Brille hinweg auf das
Schreiben. |
„Was giebt’3 denn, Friedchen, Hat fie bald Hochzeit, die
Toni?“ |
Ganz aufgeregt nicdte Frieda mit dem Kopf.
„sa, Zante, — den? doch nur, Schon in vierzehn Tagen.
Und ob ich nicht ihren Brautfchleier jtiden, und die Beit big
zur Hochzeit bei ihr bleiben wolle, fragt fie. Freitag abend
Ihon holt fie mic) vom Bahnhof ab, — Tante, liebe Tante,
ich darf doch zu ihr, — nicht?“
„Seit ihrer Verlobung iſt's heut’ das erſte Mal, daß ſie
etwas von ſich hören läßt, und nun gleich dieſe große Freund—
ſchaft. — Bleib' lieber hier, Friedchen, du paßt nicht zu den
reichen Leuten dort.“
„Aber Toni hat mich lieb, und man kann ſich ja denken, daß
ſo eine Braut über ihr Glück die Freundin vergißt,“ wandte Frieda
ein. „Früher, als Mama noch lebte, waren wir ja ſo oft bei—
ſammen. Und wäre ihre Mutter, Mamas liebſte Freundin,
nicht auch geſtorben, hätteſt auch du mit ihnen verkehrt, Tante.
— Toni ſchreibt ſo lieb, ganz wie früher, und den Zug hat
ſie auch ſchon beſtimmt, mit dem ich fommen fol. Sch möchte
zu gern Hin.“
„Meinetivegen fahre, wenn der Onfel nicht3 dagegen hat.
Aber ein Hochzeitskleid, wo kriegſt du denn das her?“
Frieda lachte, und reichte der Tante den Brief hinüber.
„Da, lies, — ſie hat an alles gedacht, die Toni. — Darf
ich's denn annehmen?“ |
„J gewiß doch, Friedchen. Mir fann’3 nur angenehm
jein, von unseren paar Zinſen hätten wir's dir nicht Taufen
„Am fo Einen!“ 2521
fönnen. Nun geh’ aber, und beſorg' ung Abendbrot, e3 ijt die
höchite Zeit.” —
Erit als Frieda in der Küche jtand, dachte fie an Fritz.
Wie. fonnte fie nur ganz und gar die Verabredung für Sonn-
abend vergeffen. Nun würde fie wieder nicht mit ihm zu feiner
Berwandten hinaufgehen. Einen Augenblid überlegte fie, wie
fie ihre Fahrt nad) Potsdam am beiten verjchieben, oder
vielleicht heimlich von dort aus auf einige Stunden nad)
Berlin fahren könnte. — Nein, das ginge nicht. Die Fabrit
von Tonis Vater lag weit vom Bahnhof entfernt, da hätte
fie einen Wagen haben müſſen.
Sie dachte hin und her. Das beite wäre, ihm zu jchreiben,
daß fie Franf geworden, und nicht hinaus dürfe. Er war ja ſo
anſpruchsvoll in ſeiner Liebe, und würde am Ende denken, daß
ſie ihn meide, weil er ſich noch nicht öffentlich mit ihr verloben
Eonnte.
Frieda lächelte glüclich vor fich Hin. Es würde ihm gar
nichts ſchaden, wenn er fie einige Zeit nicht jühe. Mit jedem
Tage würde jeine Sehnjucht größer werden, und ihre auch. — —
Dig jie wieder an feinem Herzen lag, — — beide doppelt jelig
nach der Heinen Trennung.
* x
*x
Am Sonntag Morgen wurde Frieda von. der Märzjonne
gewedt, die durch einen Spalt der Vorhänge gerade auf ihre
gejchloffenen Augen leuchtete. Sie richtete ſich auf und blickte
zu der noch feſt ſchlafenden Freundin hinüber.
Bis in die Nacht hinein hatten fie geſtern geplaubert, und
örieda der fünf Jahre älteren die Gejchichte ihrer jungen Liebe
offenbart.
Zuerſt hatte Toni in ihrer ruhigen, vornehmen Art über
den Leichtjinn des großen Kindes gejchoften, und mit ernften
Worten dor jeder heimlichen Zuſammenkunft mit ihm gewarnt.
. Doch Frieda wußte jo beredt, jo überzeugt ‚von ihren: über-
großen Glüd zu erzählen, daß die junge Gebieterin des Haufes
lächelnd mit dem Kopf nickte.
„Weil ich ſelbſt liebe und geliebt werde, Friedchen, deshalb
veriteh” ich dich auch, Und ich fehe es als meine Pflicht an,
9529 Elfe Krafft.
dir in jeder Beziehung zum ferneren Glück behilflich zu fein.
Wir wohnen nad) unjerer Hochzeit3reije in Berlin, — und unjer
Haus wird jedem Freund geöffnet jein. Dann bringst du ihn
mir, deinen Schab, Friedchen, mein Bräutigam fanı vielleicht
feinen Einfluß für ihn geltend machen. Und ihr trefit euch in
unfrer Wohnung, Friedchen, das iſt beſſer für dich, und pafjender.
— — Glaubſt du nun, daß ich e8 gut meine, du Fleines, Teicht-
finniges Mädchen du?“
Wie ein jubelnder Aufichrei Fam es von Frieda Lager.
„Das wird Himmlisch, Toni! Nun hab’ ich gar feine Angſt
mehr, two du mir beiſtehſt. Wenn du ihn nur erjt kennſt, meinen
Friß, dann mußt du ihm ja gut jein!“
Toni lachte. Ä |
„Wie jieht er denn aus?“
„Groß, ſehr groß, — dunkles, lockiges Haar und braunen,
dichten Vollbart. Ich kann dir gar nicht bejchreiben, wie ſchön
er ift! Selbſt dein berühmter Rechtsanwalt, dein Hans kann
nicht beſſer ausſehen.“
„Deine Beſchreibung paßt auch auf ihn, Schäfchen, alſo muß
er wohl deinem Herzallerliebiten ähnlich fein. Du kannſt e8 mir
ja morgen früh verraten, wenn er fommt. — — Willſt du mit
mir zum Bahnhof fahren?“
„Aber Toni!" — — —
Das Fam jo vorwurfsvoll von Friedas Lippen, daß beide
lachen mußten.
Und lächelnd jchliefen fie ein. — — — — — — — —
- Die Sonne wurde immer zudringlicher.
Frieda erhob ſich und begann, fich leije anzufleiden. Bei
Tante und Onfel war fie an das Frühaufitehen gewöhnt. Noch
einen Blick warf fie auf die liebe Schläferin, dann ging fie hinaus.
Sm Nebenzimmer fand fie Bücher auf dem Tiſch, koſtbare
Werke befannter Meiter. |
Frieda durchblätterte eind nad) dem anderen. Am meilten
fejfelte fie ein Band lyriſcher Gedichte, auf dejjen eriter Seite
ein fat unlejerlich gefchriebener Name ftand. „Dr. Hans Litzmann,“
entzifferte fie mühjlam. Das war aljo Toni Verlobter, der eine
jo jchredkliche Feder führte. „In der Handichrift eine Menjchen
liegt feine Seele,“ pflegte der Onkel zu fagen,
„Am fo Einen!“ 2523
II
Gedanfenvoll Happte Frieda das Buch zu. Ihr kam es
plötzlich in den Sinn, daß fie noch nicht ein einzige8 Mal Die
Schriftzüge deſſen gejehen, dem fie ihr Herz geichenft. Fritz
liebte ja das Briefejchreiben nicht. Wie ſchön mußte er ſchreiben,
o wie ſchön! — |
Toni fam, und eö wurde lebendig im Haufe.
Troß der Frühlingsfonne brannte ein helles Feuer im Kamin
de3 Speijezimmers, und an der Staffeetafel neckte fi) der Haug-
herr mit jeinem Beſuch.
Toni bemutterte in ihrer ſicheren Ruhe Vater und Freundin,
ichenfte ihnen den Kaffee ein und ftrich die Brötchen. Um
ihren fonjt jo ernjten Mund lag ein weiches, glücliches Lächeln.
Ale Augenblide Hob fie lauſchend den Kopf, ob Draußen dag
Peitſchengeknall Friedrich! noch immer nicht die Einjpannung der
Nferde verfünde. Als es endlich jo weit war, erhob fie fidh.
Das dunkle Samtfleid umſchloß knapp ihre jchlanfe Figur, und
Frieda eilte dienfteifrig herbei und brachte Hut und Handjchuhe
für die Freundin. |
„Haben Sie jhon ’mal jo 'was Verliebte? gejehen ?“ fragte
lächelnd der Hausherr. „In einer Stunde fommt der Zug, und
ſchon jetzt hat das Mädel feine Ruhe mehr. — — Da brauch |
ic) ja gar nicht anjpannen zu laſſen.“
| „Dann ginge ic) zu Fuß, Papa, und noch eine Stunde
früher. Beſſer, als wenn Hand warten müßte. — Adieu,
Friedchen, laß dir die Zeit nicht lang werden.“
Hochaufgerichtet Ichritt fie hinaus, und Frieda jebte fich
wieder ftill auf ihren Pla am Kaffeetiih. Wenn fie doch auch
ſchon ſo weit wäre. Vierzehn Tage vor der Hochzeit mit dem
geliebten Manne, — eine Seligkeit, kaum zu faſſen! —
Der Hausherr legte die Zeitungen zuſammen und dehnte
behaglich den mächtigen Körper.
„Ich bin ein ſchlechter Geſellſchafter, Fräulein Friedchen,
Sie müſſen mich ſchon entſchuldigen. Jetzt mache ich meinen
ſonntäglichen Rundgang drüben in der Fabrik, werden Sie ſich
auch nicht langweilen ſo ganz allein?“ |
Frieda verneinte lächelnd.
„Es ist ja jo jchön bei Ihnen, Herr Meinhard, wo foll
da Sangemeile herfommen? — Bitte, laſſen Sie fich nicht ftören,“
2524 Elfe Krafft.
— —
Er ſchüttelte ihr kräftig die Hand. |
„Sie find ganz das bejcheidne Kind von früher. Ihre
Mutter war auch jo, immer janft, immer zufrieden. Auf Wieder:
jehen zum Frühſtück!“
Als er hinaus war, fam das Hausmädchen ing Zimmer,
um den Tiſch abzuräumen.
„Wünſchen Sie irgend etwas, gnädiges Fräulein?“
„Nein, danke, ich werde mir ein Buch nehmen.“
„Kennen gnädiges Fräulein ſchon den Herrn Bräutigam?“
fragte das Mädchen weiter.
| Frieda wandte ſich um und trat vom Fenſter fort, aus
dem ſie dem Hausherrn nachgeblickt hatte.
„Nein, — er iſt gewiß ſehr nett.“
Das hübſche Mädchen lachte. |
„Ja, jehr nett ift der Herr Rechtsanwalt, der wird dent
gnädigen Fräulein auch gefallen.“
Frieda blieb in Findlicher Neugier jtehen.
„Er iſt wohl aud) jehr reich?“
„Reich? — Nein, ieh glaube, damit ift es He o —
Aber dafür hat ja unſer gnädiges Fräulein genug, die könnte
gewiß noch viel berühmtere friegen, iwie Herrn Rechtsanwalt.“ —
ALS ſich das Mädchen mit dem Kaffeegejhirr entfernt hatte,
ſchlug Frieda die Portiere vor dem nebenanliegenden Bücher—
zimmer zurück, und ließ ihre Blicke bewundernd über den gemüt—
lichen, hellen Kaum gleiten.
Sn einer Ecke Itand ein Schaukelſtuhl, und man konnte von
ihm aus durch das Fenſter in den — —— Garten
hinausblicken.
Mit einem Buch in der Hand ließ ſie ſich nieder und
lehnte ſich behaglich zurück.
„Goldene Fäden“ ſtand auf dem roten, e eleganten Einband
des kleinen Werkes.
Ein Weilchen durchblätterte ſie gedankenlos ſeinen Inhalt,
dann überkam ſie das Gefühl, als führe auch ſie ſo ein unſicht—
barer, goldener Faden an das Herz des fernen Geliebten. Um
den holden Traum nicht zu verſcheuchen, ſchloß ſie die Augen,
und glaubte ganz deutlich ſeine geflüſterten Liebesworte zu ver—
nehmen, ſeine Küſſe auf den Lippen zu ſpüren. Was er wohl
„Am jo Einen!” 2525
IN
gejagt hatte, al8 er gejtern ihren Brief erhalten? . Nun würde
er mit doppelter Sehnſucht auf eine weitere Nachricht harren. —
Wie heiß es ringsum war, und wie ftarf die Veilchen in
der Vaſe am Fenſter dufteten. Es ließ fich köſtlich hier von
Lenz und Liebe träumen. Smmer deutlicher tauchte fein Bild
vor ihrer Seele auf.
„sch bin ja jo glücklich,“ ſtammelte fie plötzlich, „o Dal glüd-
lich, lieber Gott!" —
Nur an ihn denfen dürfen war ja jchon Seligteit.
Draußen hörte man einen Wagen vorjahren.
Frieda rührte ſich nicht. Auch als fie im Nebenzimmer
Toni Stimme vernahın, blieb ſie noch in ihrer Ede figen. —
„Wie heißt denn dein Heiner Befuh? Du haft mir ja
noch nie etwas don einer Zreundin erzählt,“ hörte Frieda nun
fragen.
Sie ſprang jo Haftig auf, daß der Schaukelſtuhl polternd
gegen die Wand flog, und Toni lachend den Kopf durch die
Portiere ſteckte.
„Alſo hier findet man die kleine Leſeratte, komm, Hand, —
‚ damit deine Neugier befriedigt wird, werde ich ie Dir gleich
vorſtellen.“
Sie zog den Verlobten hinter ſich her und in das Bücher
zimmer. —
„Fritz!“ Hang es jubelnd, „Sriß!" —
Einen Augenblid nur, dann war es wieder fill, ganz ſtill.
Die e8 mit außgeftrecdten Armen gerufen hatte, hielt jebt
die Hand über die Augen, als jähen fie etwas SOME: Une
heilvolles.
„Friedchen,“ meinte Toni entſetzt, „Friedchen!“
Doch ſchon war das junge Mädchen an ihr vorbei und
aus dem Zimmer gelaufen. |
Der jchöne Mann zeigte ein Lächeln, das fchließlich zur
Grimaſſe wurde. Sein Plan war im Augenblid fertig. Ueber-
raſcht wandte er fich zu feiner Braut um. |
„Das kann doch unmöglich deine Freundin fein, Toni, —
nein, — — id) fann e3 nicht glauben.”
Sie trat ganz dicht vor ihn Hin. Ihr Antlitz war fchred-
haft bleih.
2526 „Elſe Krafft, Um fo Einen!“
„Du, — — u kennſt ſie, — — ſage mir, ob du fie
fennft. e
„Flüchtig, Schatz, ſehr ſluchtige Viel iſt nicht dran an ihr.“
Unwillkürlich trat er zurück. Es hatte ausgeſehen, als ob
ſie ihn ſchlagen wollte.
„Und du, — du heißt für ſie Frih, — Fritz Weber? — —
Antworte mir, ich habe das Recht darauf!"
Nun erblaßte auch er. Sein ganzes, herrlich erſchaffenes
Zukunftsbild drohte in Trümmer zu fallen. Er bemühte ſich
jedoch, ruhig zu bleiben.
„Sei doch nicht thöricht, liebe Toni. Du denkſt doch ſonſt
nicht fo Eleinlich über derartige Sachen. Wer weiß, was das
Mädchen dir vorgelogen hat, — — So etwas fennt man ja.“
Wie fie fich beherrjchte, wie fie bei jedem jeiner Worte die
Zähne aufeinanderpreßte, um nicht laut aufzufchreien.
„Seh’, — — geh’ und komme nie wieder! — — Haft du
nicht "gehört, daß du gehen follit?”
Er wollte ihre Hand ergreifen, ihr gut zureden, fie wich
aber entſetzt zurüd. |
Da ging er, wie ein Geächteter fchritt er hinaus.
* *
*
Regungslos blieb Toni ſtehen.
Als unten die Thür ins Schloß fiel, hielt ſie ſich am
Fenſter feſt, um nicht zu Boden zu ſinken.
Durch die Portiere ſchimmerte vom Nähtiſch des Wohn—
zimmers der Brautſchleier zu ihr hinüber. Geſtern waren die
erſten Blüten von Friedas Hand darauf erſtanden. —
Und es zog ſie hinaus, ſuchend durchſchritt ſie die ganzen,
vom hellſten Sonnenlicht durchleuchteten Zimmer.
Kr Bis fie das junge Menſchenkind gefunden hatte, das noch
mehr wie fie felbjt in diefer Stunde verloren. Den Glauben
an da3 Heiligite, was einer kindlich reinen Seele bejchieden war.
Tief beugte fie fich über den zerwühlten, braunen Kopf.
Ihre kalte Wange preßte fie an das heißgeweinte Gefichtchen,
und ihre Arme umjchlangen die Leidensgefährtin feit, — —
immer felter.
„Um fo einen!“...
N
Photographien aus dem Vogelleben im Freien.
Don Emald van den Boſch.
(Vachdruck verboten.)
giebt Faum noch ein lebendes Weſen, das den ftarren-
den Augen des photographiichen Apparat3 entgangen
wäre. Nicht nur wir civilifierten Menfchen werden von
Freunden und Bekannten genötigt, vor dem Apparat
Pla zu nehmen und unfer Geficht in die Falten zu legen, die der
Photograph wünfcht. Auch dem Auftralneger und dem Bufch-
mann paſſiert es, daß fie einen reifenden Gelehrten treffen, der
fie auf jeiner wunderbaren Platte verewigt. Aber auch das
Samilienleben der Bögel im Walde ift durch ihn gefährdet, ob-
gleich) man annehmen jollte, daß e3 jchwierig fein müßte, dort
ein photographijches Atelier zu errichten, wo fie ihre Neſter zu
bauen pflegen. Das Neit iſt ja in der Regel dort angebracht,
wo die Beleuchtungsverhältnifje äußerjt jchlechte find, und die
Schwierigfeiten, den Apparat in die Nähe des Neftes zu bringen
und damit die Scheu der Vögel zu überwinden, iſt jo groß,
daß e3 nur in feltenen Fällen gelingen dürfte, eine Aufnahme
zu bewerfitelligen, die ein deutliches und klares Bild von dem
Leben im Neite bietet.
Man kann ja allerdings den umgekehrten Weg einjchlagen
und die Vögel zu fich heranziehen, indem man ſie einfängt und
fie in der Gefangenjchaft brüten läßt, aber man macht damit
einen jo tiefen Eingriff in ihre natürlichen Lebensbedingungen,
2525 | Ewald van den Bojch.
daß die —— — — aus dem Leben der Vögel unter dieſen
Verhältniſſen nicht annähernd dasſelbe Intereſſe haben, als die
im Freien genommenen Aufnahmen. Der Amerikaner Profeſſor
Herrid hat indefjen ein Verfahren angewandt, mitteljt defjen
es ihm möglich wurde, das Leben der Bögel im Nejte auf Arm—
Kütterung junger Vögel durch die Mutter.
länge genau zu beobachten und fie zu photographieren, ohne
daß man ihnen ihre Freiheit raubt oder ihre Yebensbedingungen
wejentlich verändert, und ohne daß fie gewahr werden, 20 man
lie beobachtet.
Herrid lag daran, die Bögel in jeine Nähe zu bringen
und ſie dort feitzuhalten, nicht durch Stangen und Drähte,
jondern durch ein unfichtbares Band, das elaftiich genug iſt,
um den Vogel fo weit fort fliegen zu laſſen, al3 es ihm ſelbſt
beliebt, und das doch imjtande ift, ihn mit unwiderjtehlicher
Photograpbien aus dem DVogelleben im Sreien. 2529
Kraft wieder zurücdzuziehen. Ein derartiges unfichtbares Band
fand er in der Eiternliebe.
Sah er im Walde auf einem belaubten Zweige ein Neſt,
das er zu beobachten wünſchte, ſo ſtellte er in der Nähe des
Baumes an einer paſſenden Stelle ſein Obſervatorium, ein
grünes Zelt mit dem Eingang auf der einen Seite und einer
kleinen Scheibe auf der entgegengeſetzten, auf. Darauf ließ er
Reinigung des Nejtes durch die Vogelmutter.
den ganzen Zweig mit dem Neſte abjägen und ihn mit großer
Borficht nach dem Zelte hHinunterbringen, wo er auf einem ein-
gerammten Pfahle unmittelbar vor der Scheibe angebracht
wurde.
Man jollte meinen, daß ein jolches Vorgehen gleichbedeutend
mit einer brutalen Vernichtung des Heims des Vogels wäre.
Diez ift indeffen glüdlicherweife nicht der Fall. Weder die
Alten noch die Jungen werden hierdurch ernitlich gejtört. Sind
die Vögel jehr jcheu, jo werden fie das Belt unter Umständen
ZU. Haus-Bibl. II, Band X. 159
2530 Ewald van den Bojch.
zwei Stunden oder länger umfreijen, bis fie ſich auf dem Nefte
niederlaffen. Gewöhnlich fchwindet das Mißtrauen aber ſchon
nach zwanzig Minuten bi3 einer Stunde, und Herrid hat beob-
achtet, wie einzelne Vögel jchon drei Minuten nad) erfolgter
Aufitelung des Neites die Jungen fütterten. Hat ein Vogel
erit einmal da3 Neſt an jeinem neuen Pla befucht, jo wird
er immer wieder und wieder zurückkommen. Gleichzeitig nimmt
die Häufigkeit jeiner Beſuche an der alten Stelle des Neites
ab, und bald fühlt er fich unter den neuen Verhältniſſen voll-
kommen zu Hauſe.
Wenn die Vögel fich dem Neite nähern, erregt im Anfang
jeder merfwürdige Gegenftand, wie die Pfähle, die den Zweig
tragen oder da3 benachbarte Zelt Furcht und Mißtrauen bei
ihnen. Uber da fie bei jeder Rückkehr diefelben Gegenjtände
jehen, merfen fie jchließlich, daß fie feine Gefahr für fie bergen.
Das Belt fteht jtill und unbeweglich da, und da die ungen
dicht dabei find, wird ihre Furcht vor dem Neuen allmählich
überwunden. &3 find die leinen, immer die Kleinen, um die
fih das Intereſſe der alten Vögel jammelt und um die fich
ihr ganzes Leben dreht. Sie find das ſtarke Zodmittel, der
Magnet, der die Eltern unwillkürlich anzieht. Das Holz, der
Zweig, ja, das Neſt ſelbſt, was find fie im Vergleich zu den
Sungen, für die allein fie leben!
Vielleicht ehrt die Furcht der alten Bügel zurüd, wenn ſie
einit zum Neſte heimfehren und die Scheibe im Belt offen finden
und fjehen, daß das Glasauge de3 photographilchen Apparats
ihnen entgegenitarrt. Aber bald werden fie auch mit diefem
Gegenſtand ebenjo wie mit. den ftörenden Lauten aus dem Belte
vertraut.
Natürlich ift die Sache nicht jo einfach, wie mancher glauben
mag. Herrids Methode fordert nicht nur große Geduld und
viel Zeit, jondern auch viel Umficht und genaue Kenntnifje der
Vogelwelt. Bei manchen Arten’ konnte Herrid das Nejt ver-
jeßen, noch bevor die Eier außgebrütet waren, bei andern mußte
er fo lange warten, bis die Jungen vier biß neun Tage alt
waren. Das Bedenken beim Verlegen der Weiter, daß fie leichter
den Angriffen der Raubtiere ausgeſetzt werden lönnten, jchien
bei Herricks Verfuchen von geringer Bedeutung zu jein. Die
Photographien aus dem Dogelleben im Freien. 2531
Raubtiere jchienen die ganze Aufitellung für eine Falle zu halten,
von der fie fich möglichjt fern hielten. Dagegen war die Sonnen
bite für die zarten Jungen gefährlid, und man mußte fich des-
halb vorjehen, daß man nicht zur Erzielung einer bejjeren Be-
leuchtung die fchirmenden Blätter entfernte.
Hatte Herrid auch mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen,
jo wurden feine Anftrengungen doch reichlich belohnt. Mit dem
Notizbuch in der Hand konnte er in feinem Zelte dafigen und
alles beobachten und aufzeichnen, was im Nejt vor fich ging,
wie die Vögel fich näherten, welche Arten Futter fie brachten,
die verjchiedene Thätigkeit der Alten und Jungen, der Bejud)
unmillflommener Gäjte und ihr Kampf mit dem Befiter des
Neſtes, oder das Einfangen der Beute, daS oft unmittelbar vor
feinem Auge vor ſich ging.
Die Vögel lebten und bewegten fi) jo nahe neben ihm,
daß er ihre Atemzüge zählen konnte, und dabei hatten fie feine
Ahnung, daß fie beobachtet wurden. Es war unmöglich, einen
Platz zu finden, von dem aus man befjer ihrem Geſange hätte
lauſchen und die Bedeutung der verjchiedenen Laute ftudieren
fönnen. Dann konnte er fie auch photographieren, wenn es ihm
beliebte, und unter den volllommenften Bedingungen das auf
jeine photographiiche Platte bringen, was bis jeßt noch fein
Naturforſcher gejehen hatte.
Wir bringen heute zwei Wiedergaben der Herridichen Photo-
graphien. Die erſte jtellt den wichtigen Zeitpunkt dar, wann die
Kinder gefüttert werden jollen. Die Mutter ift mit der Kehle
voller Beeren heimgefehrt, die jebt von ihrem Schnabel in den
weit geöffneten Rachen der Heinen Tierchen hinübertvandern follen.
Keiner von ihnen hat eine Ahnung davon, daß der Apparat, der
etwa einen Meter von ihnen entfernt iſt, ein getreues Bild von
der Gier wiedergiebt, die fie in dieſem Augenblick verraten.
In der E Familienſcene, die und unjer zweites Bild vorführt,
ipielen die Jungen eine weniger wichtige Rolle. Sie jcheinen
joweit al8 möglich nad) der einen Seite des Neſtes hinüber—
geichoben zu fein, während die Mutter die Reinigung des anderen
Teils mitteljt ihres Schnabels bejorgt, mit dem ſie alles das—
jenige entfernt, was ſich an Ueberflüjjigen darin angeſammelt hat.
159*
Ständchen.
Zudwig Jacobomwsti..
Und fommt des Wegs ein Mufikant,
Die Fidel auf dem Rüden,
Den will ich durch das weite Land
Zu meiner Kiebiten fchicen.
Und wenn die ganze Stadt erwacht,
Geh’ fiedeln auf den Gaſſen! -
Du follft in folcher Sommernadt
Kein Mädchen fchlafen lafjen.
Der Wächter bleibt verwundert ftehn,
Kein Brunnen will mehr rauschen.
Der Mond vergißt das Weitergehn,
Um deinem Klang zu laufchen.
Und hört es auch die ganze. Stadt,
Du fpielft ja nur für eine:
Die beide Senfter offen hat,
Die iſt es, die ich meine!
Röslein und Wandern.
Friedrich Dolter.
m Monat der Rofen
Ein Böslein am. Hut,
Ein Röslein im Herzen,
So wandert fich’s aut.
Das eine zum Tragen
Als Sterde bunt,
Das andre zum Lieben
Don Herzensgrund.
Das eine zum Welfen
In furzer Seit,
Das andre zum Wahren
In Ewigfeit.
Wie das Gold gefunden wird.
Don Dr. M. Warrivf in San Francisco.
(Vachdruck verboten,)
Am Gofde hängt,
Nach Golde drängt
Doch alles.
ine der Haupttriebfedern. alle menjchlichen Handelns
drückt fich in dieſen Jchlichten Worten Goethes aus.
und vergejjen. Andere Quellen jind an ihre Stelle getreten,
den immer mehr fteigenden Bedarf an, Gold zu befriedigen.
Bald nad) jeiner Entdedung begann Amerika die Völfer Europas
mit Gold zu verjorgen. Zuerſt war es Südamerifa, das große
Scharen Spanischer Abenteurer anzog, die Millionen nad)
Europa jchleppten. Mit dem achtzehnten Sahrhundert ging aber
auch der Goldreihtum Südamerikas zu Ende; der Norden der
neuen Welt jollte bald Erſatz dafür bieten. Im Sabre 1848
fand ein ehemaliger Offizier der Schweizergarde, der Kapitän
Sutter, im Sacramentofluß in Kalifornien das erjte Gold. Das
gab den Anſtoß zu einem gewaltigen Zujammenjtrömen aller
Leute, die nicht® zu verlieren hatten, aber viel zu gewinnen
2534 Dr. IM. Marriot,
hoftten. Weberall wurde der Erdboden auögebeutet, Kalifornien
erichien als das reichite Goldgebiet. Drei Jahre jpäter wurden
auch in Auftralien bedeutende Funde gemacht. Auch hier brad)
ein fürmliche8 Goldfieber aus, ſelbſt von den Schiffen in den
Häfen dejertierten die Mannjchaften, um nach den Goldfeldern
zu laufen. Die Kapitäne waren machtlo8 dagegen und fonnten
häufig nichts Beſſeres thun, als dem Beijpiele der Matrojen zu
folgen. In jüngijter Zeit erregte dann die Entdeckung von Gold
im Trangvaalgebiet Aufjehen, und auch die überaus reichen Gold-
funde am SKlondyfefluß, Hoch oben an der Weſtküſte Nord-
amerifa8, befeitigten die Anficht; daß vorläufig eine Abnahme
der Goldförderung nidyt zu befürchten ijt. —
Man ftellt fi) die Gewinnung des begehrten Metalls
vielfach allzuleicht vor. Das gerade Gegenteil iſt der Fall. Es
genügt nicht, einfach nad) einem Goldbezirk, mehr oder minder
gut ausgerüſtet und verproviantiert, zu wandern, das Erdreich
tüchtig umzugraben und dann fleißig nachzuſchauen, ob fich nicht
etwas glißernd Gelbes zeigen will. Auf diefe Weile würde der
Goldgräber jchwerlich zu einem nennenswerten Gewinn fommen;
das Gold läßt ich nicht jo leicht beilommen. In unjcheinbarer
Hülle, Shwärzlich, unanjehnlich, verbirgt es fih im Schwemmland
oder tief im Geſtein, oder es findet ſich in feſter Verbindung
. mit anderen Metallen, namentlicd) mit Silber. Pielfache Kennt—
nifje und langjährige Erfahrung gehören dazu, da8 Edelmetall
von feiner wertlojen Umgebung zu fcheiden. Ganz bedeutende
körperliche Anftrengungen erfordert die Arbeit des Goldſuchers
freilich aud).
Es giebt verjchiedene Methoden der Goldgewinnuny; die
älteite und einfachite ift daS fogenannte „Goldfeifen“. Sie wird
dort angewandt, wo ſich das Gold in fandigem Boden vorfindet.
Das roheſte, urjprünglichite Handwerkszeug des Goldgräbers
iit die „Batea“, eine flahe Schüfjel au verzinntem Blech oder
Holz; im Notfall wird fie aud) einfach aus einem großen Kürbis
hergeitellt. Sie wird mit goldhaltiger Erde gefüllt und jo lange
unter Wafjer gejchwenft, bis der Sand und Lehm fortgejpült
find, während daß fchwerere Gold auf dem Boden zurücdbleibt.
Died Verfahren, dag freilich den Vorzug großer Billigkeit hat,
ijt andererjeitS mit dem Nachteil verbunden, daß dabei fehr viel
Gold verloren geht. Um auch die Hleineren Goldteilchen zurüd-
zubehalten, milcht man deshalb Quedfilber unter die durd)-
gewajchene Erde. Das Duedfilber löft das Gold auf und ver-
bindet fih mit ihm. Die Milchung, eine breiige Mafje, wird
Wie das Gold gefunden wird, 2535
dann in eilerne NRetorten gebracht, die bis zum Notglühen er-
hist werden. Das Duedjilber verflüchtigt ih dadurd), und das
reine Gold bleibt zurüd.
Statt der Schüfjel bedient man fich Hereit3 ſeit langer Zeit
zum Auswajchen des goldhaltigen Sandes größerer Apparate,
der fogenannten „Wiege“ oder der noch leijtungsfähigeren
„Schleufe”, mit denen ein einzelner Manı pro Tag bis zu
18000 Kilogramm Erde auswaſchen kann. Wo der goldhaltige
Sand offen zu Tage liegt, wendet man freilic) mit großen Kojten
auch noch auögiebigere Abbau Methoden an. Auf der Grube North-
Bloomfield in Kalifornien wird der goldhaltige Sand direkt
durch Waſſer abgeipült. Unter ungeheurem Drud wird ein
Waſſerſtrahl von. ſechs Zoll Durchmelter gegen dag Erdreich ge-
ichleudert.. In 24 Stunden werden auf dieje Weile 4/, Mil-
lionen Kubikfuß Waſſer verbraudt; um einen Teil Gold zu ge—
winnen, müſſen zwölf Millionen Teile Kies durchwaſchen werden.
Das ergiebt natürlich) ungeheure Rückſtände, die, um den Fort-
gang der Arbeit nicht zu hindern, jchleunigft vom Arbeitsplatz
mweggeichafft werden müſſen. Ein einzelner Arbeiter kann aljo
auf eigene Rechnung überhaupt nicht gewinnen. Der Abbau
wird deshalb faft überall von großen Altiengejellichaften betrieben,
und der Goldgräber, der anfang mit großen Hoffnungen auf
Ichnell zu erwerbenden Reichtum nach dem Minenbezirk kam, ift
ichlieglich froh, wenn er als einfacher Arbeiter gegen Tagelohn
in den Dienft einer jolchen Gejellichaft treten kann.
In den Bergwerlen, wo das Gold ſich unter feſtem Geſtein
findet und tief auß der Erde herausgeholt werden muß, liegen
die Verhältnifje nicht mwejentlich anderd. Auch hier find es die
großen Gejellichaften, die vermöge ihrer reichen Mittel den Ab-
bau am ergiebigjten zu betreiben vermögen. Mindejtens aber
thun ſich die Goldgräber zu Kleinen Trupps zuſammen, vier
Mann arbeiten wenigjtend zujammen.
Eine Grube ijt leicht zu eriwerben. In den nordamerifa-
niſchen Goldbezirten hat man nur nötig, ein bejtimmtes Stüd
Land abzufteden und zu erklären, daß man es zum Zwecke des
Goldgrabens bis zu einer gewiſſen Tiefe in Befik nimmt, worauf
dann ohne weiteres daS abgegrenzte Terrain Eigentum des Be—
treffenden wird. Vorausgeſetzt ijt dabei allerdings, daß inner-
halb der erjten zehn Tage bereit mit der Arbeit begonnen wird,
im anderen Falle wird die Grube wieder öffentliches Eigentum.
Die Goldgräber pflegen ihren Gruben, und jollten fie auch
noch) jo wenig ergiebig ſein, gewöhnlich recht hochtrabende Namen
2536 | Dr. M. Marriot.
beizulegen; in den Silber- und Goldbezirken Nevadas ſtößt man
auf Namen wie „Bergkönig“, „Schatztruhe“, „Univerſum“,
„Große Republik“, „Grauer Adler“, „Großmogul“ uſwp. In
den Gold- und Silberſtädten Nevadas findet man oft hunderte
ſolcher kleinen Gruben. Jeden Tag werden neue abgeſteckt, und
nicht ſelten kommt es vor, daß an einer Stelle, wo bereits ein
Haus ſteht, eine Grube angelegt wird. Es iſt beiſpielsweiſe im
Keller eine Arbeit auszuführen, und der Maurer, welcher dieſe
ausführt, findet dabei etwas, das einer goldhaltigen Quarzader
ähnlich ſieht. Sofort erklärt er den Keller für ſeine Parzelle,
die er abbauen will. Wem das Haus gehört, iſt dabei ganz neben—
ſächlich, die goldhaltige Ader iſt Eigentum des Finders, und nie—
mand hat ſich in deſſen Angelegenheiten hineinzumiſchen. Hat
ſich jemand in einer Goldſtadt einen Garten angelegt, der ge—
rade in ſchönſter Blüte ſteht, ſo kann jeder beliebige andere
daherkommen, eine Stange mit der Bekanntmachung aufpflanzen,
daß er hier ein Stück —* zu einer Grube belege, und mit
größter Seelenruhe anfangen, den Boden mit Hacke, Schaufel
und Sprengpulver zu bearbeiten.
In den meiſten der kleinen Gruben wird freilich nicht ſehr
viel gearbeitet. Ihre Eigentümer beſchränken ſich darauf, Anteil-
jcheine auf die Gruben auszugeben und dieje möglichjt vorteilhaft
an den Mann zu bringen; dabei machen fie vielleicht ein vorteil-
hafteres Geſchäft, al3 wenn fie nach dem Golde ſelbſt graben
wollten. Natürlich ift e8 nötig, einen Ausweis zu haben,
wieviel Ertrag die Grube liefert. Diejen Ausweis bejorgt der
von der Regierung vereidigte Wardein, deren es in jeder Goldſtadt
mehrere giebt. Ihm muß ein bejtimmter Teil des zuerjt ge-
wonnenen Metall3, in Barrenform gegofjen, für die jogenannte
Feuerprobe abgeliefert werden. Das iſt ein ſehr intereflantes
Berfahren. Von dem Barren wird eine Ede abgeichnitten, fo
dünn wie Bapier ausgehämmert und dann auf einer Wage von
jolcher Feinheit gewogen, daß, wenn man auf ein Stückchen
Papier von bejtimmtem Gewicht mit einen groben, weichen Blei=
jtift ein paar Worte jchreibt und es dann von neuem wiegt,
die Wage deutlich ein andered Gewicht anzeigt. Etwas Blei wird
gleichfall3 getvogen und mit dem Edelmetall zuſammen in einem
feinen Gefäß aus gepreßter Knochenaſche, der Jogenannten
„Kapelle“ gejchmolzen. Dabei wird dag Blei jamt allen anderen
unedlen Metallen von der Kapelle aufgelogen; reined Gold und
Silber bleibt zurüd. Died wird gewogen; der Gewicht3verlujt
zeigt dann an, wieviel unedled Metall der ganze Barren ent-
Wie das Bold gefunden wird. 2537
hält. Durch Salpeterfäure jcheidet man alsdann da8 Silber
vom Gold und kann jo den Goldgehalt des Barrens feititellen.
Nah dem Goldgehalt der Grube richtet fi) der Kurs der
Anteilfcheine, der jogenannten „Kuxe“. In den amerifanifchen
Goldftädten, wo man es überhaupt mit der Ehrlichkeit nicht fo
genau nimmt, iſt dadurch hatürlic) dem Schwindel Thor und
Thür geöffnet. Um die Anteilicheine recht hoc) zu treiben, ftellt
man einfach künſtlich einen höheren Goldgehalt her. Sn der
Goldgräberjprache wird das das „Salzen“ der Grube genannt.
Es wird einfach von dem Ertrag einer anderen reicheren Grube
etwas in die eigene hineingebracdht und dies dann als wirfficher,
echter Ertrag außgegeben. Nicht jelten greift man jogar zu dem
unglaublich unehrlichen Mandver, ein paar Münzen zu jchmelzen
und das Metall unter Duarzjtüde aus der Grube zu mengen.
Es finden fi immer Dumme, die darauf hineinfallen und dann
das Eigentumsrecht an einer oft ganz wertloſen Grube zu hohem
Preiſe erwerben, um nachher erfennen zu müfjen, daß ihre an—
Icheinend jo reiche Grube ein wertloſes Stüd Erde ift.
Sm allgemeinen gelangt man aljo in den Goldminen nicht
undermutet jchnell zu Reichtum. Ein guter durchjchnittlicher
Tagesverdienſt ift jchon daß beſte, das man erhoffen kann. Daß
Gold in großen Stüden, den jogenannten „Nugget3“ gefunden
wird, gehört zu den größten Seltenheiten; jolche Funde werden
itet3 al3 ein großes Ereignis gefeiert. Aujtralien fann fich des
Vorzugs rühmen, den bisher als größten befannten Goldflumpen
in feinem Boden beherbergt zu haben; er wurde im Jahre 1852
gefunden, wog 248 Pfund und hatte einen Wert von ungefähr
300000 Mark. Der zweitgrößte Nugget im Gewicht ‚von
150 Pfund, der ſich durch außerordentliche Neinheit auszeichnete
und nur eine geringe Menge von weißen Quarz beigemijcht
enthielt, wurde vor einiger Zeit in Kalifornien von dem
Goldaräber Dliver Martin gefunden. Er machte jeinen Fund
auf etwas merkwürdige Weile. Mit einem Kameraden hatte er
an einer abſeits von den Goldgräberlagern gelegenen Stelle, die
der Ausbeutung wert erjchien, eine Mine angelegt. Nach £urzer
Zeit jedoch erkrankten beide am Fieber; lower, Martins Ge-
fährte, der jchon durch den Mangel an Lebensmitteln gejchwächt
war, erlag der Krankheit. Martin, obgleich jelbjt ganz erjchöpft,
wollte feinen Kompagnon wenigjtens in würdiger Weile bejtatten
und ſchickte jich an, am Fuße eines Baumes ein Grab zu graben.
Für dieſe Arbeit belohnte ihn ein gütige8 Schidjal durch die
Entdedung jenes unter den Wurzeln des Baumes verborgenen
2538 Dr. M. Marriot.
Goldklumpens, des größten, der jemals von einem amerikaniſchen
Goldgräber gefunden worden iſt. Er ſtellte ein Vermögen von
etwa 160000 Mark dar.
Bei der Seltenheit derartiger Funde iſt es um fo merk—
würdiger, daß ein anderer Kalifornier, Namen? Daniel Hill,
Jogar zweimal in jeinem Leben je einen großen Nugget entdedt
hat, die ihm zujammen 125000 Mark einbradhten. E83 ging
ihm freilich wie den meilten vom Glück begünftigten Gold-
gräbern; er wußte mit feinem Vermögen nicht anzufangen,
brachte e3 in fürzejter Zeit durch und war bald wieder genötigt,
zur Hade und Schaufel zurüdzufehren. |
Mit den Gerüchten von ſolchen großartigen Funden fuchen
fd die Goldgräber über die Mühe ihres jchwierigen Berufes
hinwegzuhelfen, namentlich in den amerikanischen Goldſtätten
laufen viele Geichichten von großartigen Funden um, die ihre
Entdeder, aus dieſem oder jenem Grunde, vielleiht aus Er-
Ihöpfung, aus Mangel an Proviant oder Transportmitteln,
nicht bergen fonnten, und nachher, wenn fie mit den nötigjten
Hilfsmitteln verjehen an den Fundort zurüdfehren wollten, nicht
wieder entdeden konnten.
Es iſt ficher, daß e8 auf der Erde nod) eine ganze Menge
Diftrikte giebt, wo das gelbe Metall reichlich vorhanden ift, —
aber man feunt fie nicht, und Diejenigen, deren Exiſtenz als
fiher anzunehmen ift, und deren Lage man auch weiß, find
fat unzugänglih und jelbit für fürzere Zeit unbewohnbar.
So fol fih im Innern Auſtraliens, dieſes dürriten und
wafjerärmiten Erdteils, ein Goldbezirk von munderbarem
Reichtum befinden. Da aber Auftralien in feinem Innern nur
Wüſte it, und zwar eine der jchredlichiten und fajt gar nicht
zu durchkreuzenden, jo ijt dieſer Fleck bisher überhaupt nur von
einem einzigen Menfchen erreicht worden, demjelben, der die
Nachricht von den dort in der Einöde lagernden Reichtümern
brachte. Es war der englijche Forſchungsreiſende Giles, der im
Sabre 1876 auf diejen jo unwirtlichen und doch jo gejegneten
Punkt der Erde jtieß; die Proben des Goldes, die er mitbradhte,
und feine Erzählungen veranlagten einige Goldgierige zu einer
Erpedition nad) jener Gegend, doch find fie nicht wieder zurück—
efehrt.
j Viel leichter zu erreichen, was die Länge des Weges an-
belangt, wäre ein zweite Goldfeld, das im nördlichen Afrika,
im Südmelten von Maroffo — ſoll. Der ruſſiſche Reiſende
Gontſcharew berichtete davon. Er kam durch dieſe Goldregionen
Wie das Hold gefunden wird. 2539
auf einer Forjchunggreile, die er, ebenfo wie e3 der befannte
deutſche Reiſende Gerhard Rohlfs auf einer Reife durch Maroffo
that, al3 Mujelmann verkleidet unternehmen mußte, da Die
fanatische Bevölkerung jener Gegend jeden Chriſten und Europäer
- umbringen würde. Das ijt e8 auch, was die Ausbeutung jener
reichen Goldminen verhindert; außerdem haben auch die Sultane
von Maroffo von jeher die Eriltenz jener Reichtümer zu ver-
heimlichen gejucht, da fie fi) ganz mit Recht jagten, daß ein
großer Buftrom von Europäern mit der Zeit der Selbjtändig-
teit ihrer Herrichaft gefährlich werden würde. So wurden ja aud)
die heldenhaften Buren in Transvaal in den Krieg mit England
dadurd) verwidelt, daß der Reichtum ihres Yandes den Fremden-
zufluß, namentlich von England her, zu ſtark begünftigte, wodurch
England Gelegenheit befam, fi) in die inneren Angelegen-
heiten Transvaals einzumiſchen. Ein franzöjiicher Reiſender,
Berthon, hat von reichen Goldminen berichtet, die er tief innen
im Hinterlande von Ecuador in Südamerifa entdedt zu haben
behauptete. Er brachte auch Proben von Gold mit, und zwar
jo viel, al3 er nur irgend bei fich tragen fonnte, ohne daß
die Eingeborenen, die ihn al3 Träger begleiteten, etwas davon
merkten. Es war reinste Gold; als man ihm jedoch den VBor-
Ichlag machte, die Reife noch einmal zu unternehmen und
wieder mit einer ähnlichen Ladung zurüdzufehren, zeigte er
durchaus feine Luſt dazu. In der That jtände jelbit ein ſehr
großer Gewinn in vielem Fall in feinem Verhältnis zu der
dem Reifenden drohenden Gefahr. Das Klima jener Gegend
ift das ungefündefte der Erde und für den Europäer fait
immer tödlich; ebenfo find auch die Bewohner jener noch gar
nicht näher durchforſchten Landitriche zu fürchten.
Unendliche Mühen und Bejchwerden hat es von jeher ge=
foftet, daS begehrte Metall zu erlangen, und doch ilt daS Gold
eigentlicy ein der gewöhnlichſten Metalle der Erde und in un—
gewöhnlich reicher Menge vorhanden. Faſt alles Waſſer der
Erde enthält Gold, auch daS Meerwafjer, wenn es ich auch
nur in winzigen Spuren nachweilen läßt. Eine Tonne Meer-
waſſer enthält etiva ſechs Tanuſendſtel Gramm Gold, die einen
Wert von etwas über eineinhalb Pfennig haben. Das jcheint
wenig, ift e8 aber durchaus nicht; denn allein eine Wafjermajje
von einem Quadratkilometer Oberfläche würde nicht weniger als
24000 Kilogramm Gold enthalten. Der Goldgehalt der ge=
lamten Meere der Erde würde, wenn man die durchichnitt-
lihe Tiefe der Ozeane auf 4 Silometer vechnet, die Summe
2540 Dr M. Marriot, Wie das Bold gefunden wird.
— NIE
/
bon 5838 Billionen Mark betragen. Hätte man diefe Maſſe
Gold in einem Würfel beifammen, fo müßte diejer eine Seiten-
länge von 718 Meter haben. Gelänge e3 den Künſten der
Chemie, dies Gold aus dem Meerwaſſer herauszuziehen und
wolte man e3 unter die 1600 Millionen Bewohner der Erde
gleichmäßig verteilen, jo würde jeder die Rieſenſumme von
3/2 Millionen Mark erhalten. Uebrigens hat man ſich in der That
vor einiger Zeit mit dem Plane getragen, diefen Goldgehalt des
Meeres praktiſch auszunugen. Ein amerifanijcher Unternehmer
errichtete an der Küſte des atlantifchen Oceans, im Staate
Maine, die erite Anlage zur Gewinnung des Seegolded. Leider,
oder vielleicht auch glücdlicherwveije, erwies ſich indeſſen der Be—
trieb als fo Eojtipielig, daß ein Gewinn nicht erzielt werden
fonnte. Gelänge e3 thatlächlih einmal in fpäterer Zeit, aus
dem Meerwajjer auf billige Weile Gold zu gewinnen, dann
würden unfere bejtehenden Geldverhältniſſe einfach über den
Haufen geworfen werden, und wir fünnten nad) einem anderen
Metall a8 Taujchmittel juchen, weil da8 Gold entwertet wäre.
Deutfche Dichterinnen der Gegenwart.
Belene Tiedemann (Leon Danderjee).
(Nahdrud verboten.)
ie „alte Stadt am Meer,” Straljund, ift meine Heimat.
Draußen, „vor dem Thor“ mitten im Grünen, lag.
unjere Billa, in der ic), umgeben von Eltern umd
— Geihmiltern, glüdliche Sahre verlebte.e Damals
‘hatte ich eigentlich alles, was mein Herz begehrte: meine Eltern
machten ſchöne Reifen mit meinen Gejchwiltern und mir, fie
ließen ung Theater und Konzerte bejuchen, jorgten für heitere
Gejelligfeit — ich durfte tanzen und ich tanzte gern — ich
malte, trieb Muſik, las viel und träumte inzwijchen von allerlei
Wunderbarem, das mir die Zukunft bringen würde.
Die beiten Freunde waren meine Bücher. Mit ganzer
Seele verjenfte ich mich in die Werfe in- und ausländijcher
Dichter — eine bejondere Vorliebe hatte ich damals für Lenau,
Schönaich-Carolath, Heinrich Heine und Shafejpeare, diefen
Itrahlenditen aller Dichter, der auch heute noch mein Liebling
it, nächjt Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meder.
Obzwar es jchon „in der Kindheit Tagen“ in meiner
Seele jang und Eang, habe ic) damals doch nie auch nur einen
einzigen Vers niedergejchrieben — nur in mein Tagebuch trug
ich allerlei Erlebtes und Erträumtes ein, und eben neunzehn-
jährig, jchrieb ich in das rotgebundene Büchlein: „Es iſt eine
Luft zu leben! Wie froh bin ich, daß ich auf der Welt bin!“
Zwei Sahre darauf fam jchon das Leid. ch verlor den
geliebten Bater und jpäterhin noch mancherlei, daran mein
2542 Deutjche Dichterinnen der Gegenwart.
Herz mit tauſend Fäden hing. Aber in mwefjen Leben fiele nie
ein Schatten und welchem. Menjchenfinde bliebe Schmerz und
Bitterfeit erjpart? „Ungewiß und vergänglich iſt das Glüd!
Gewiß und ewig bleibt die Pflicht!" Ernte Thätigfeit und
Plihterfüllung helfen verjöhnend über die Gegenſätze de3
Helene Tiedemann (Leon Danderjee).
Lebens hinweg. Was wir auch erjtreben mögen, zum Biel
gelangen wir erit nach Mühen, Sorgen und Kämpfen! Das
Kreuz, von Roſen umranft, wird immerdar das tiefite Symbol
unjeres Lebens fein! Zuweilen flingt in meine Träume das
Wellenraufchen der Oſtſee, und mitten im braujenden Lärm der
Großſtadt überfommt mich eine Sehnſucht nach Einjamfeit —
diejelbe Sehnjucht, die mich als Kind erfaßte, wenn ich hinter
Deutjche PDichterinnen der Segenwart. 2543
geſchloſſenen Fenſtern im Schulzimmer jaß und nicht hinaus
tonnte — die ewige Sehnjucht, die goldene Fäden jpinnt zu
einer luftigen Brüde in das Land der Träume, zu jener heiligen
Inſel im uferlojen Weltmeer, auf der nur Auserwählte landen
dürfen. Die Inſel des Glüdes, von der ein Dichter fchrieb:
„Sie ift wie ein Traum vom PBaradieje, lodend, geheimnisvoll .
— die Menjchen ſchauen fie alle einmal, in den Stunden, da
das Herz groß und weit wird — in ihren Sehnjuchtstagen —
fie bliden zu ihr hinüber und grüßen fie mit heißen, begehrenden
Augen, um fie dann verblafjen zu jehen, und verfchwinden in’
der Unendlichfeit des Meeres und nun die Erinnerung daran
im Herzen tragen — zeitlebeng.. .“
Armenfriedhof.
Ein ftiller Friedhof June Schwarzdorn:
eden —
Das moosbedeckte Heil’genbild von Stein
Seitlih am Weg und die verfallnen Gräber | Nur manchmal geht mir ein Traum dur)
Sanft überſtrahlt von Abendjonnenicein. den Sinn
Und zeigt mir, wie namenlos elend ich bin!
Meine Träume find ſchuld.
Sm öden, farbloien Eincrlet
Rinnen die Stunden, die Tage vorbei —
Wo Gras und Unkraut üppig Übertwwuchern
Ein altes Grab, verwittert und verweht,
Hebt fich ein Kreuz empor, auf deſſen Fläche
Ein wunderlicher Spruch geſchrieben ſteht:
Mit Augen, die groß und brennend find,
Starr’ ih ind Dunkel — und wein’ mich
faft blind
Und ſehe doch, was unfeliz mich macht:
Einen roten Mund, der mein Liebe
verlacht,
„Hier ruht in Frieden meine arıne Seele —
Getreulih gab die Not mir das Geleit
Bi an mein Grab — dann ſchlich fie
weinend weiter
Und überließ mich der Bergefjenheit.
Mich ſchmerzt nun nichts mehr — nicht,
daß auf der Erde
Bon allen Menichen feiner mich vermißt;
Zwei braume Augen vol Blanz und Licht
Sn einem fhönen, jungen Geſicht —
Und daneben jeh’ ih, — vergrämt und
Und könnt’ ich Hagen, wär’ es am das eine,
Daß ich nicht weiß, wie ey Schlummer
it. “
Du ftilles Herz — o wie ich dich beneide
Um diejen Schlaf, den nur der Tod verleiht !
Unfichtbar ſchwebt um den vergeſſ'nen Hügel
Der lichte Engel der Barmherzigkeit...
aB,
Ein Mädchenantlitz — o Gott, bin ich das,
Um deren Lippen das Fieber bebt,
Die flehend die bleichen Hände hebt?
Nein, nein — mir ging nur ein Traum
durch den Sinn —
Meine Träume ſind ſchuld, daß ich elend bin.
Wohl neigteſt du dich manchmal —
Wohl neigteſt du dich manchmal
Freundlich zu mir herab,
Doch meine thörichte Liebe
Wehrteſt du immer ab.
Und dennoch gab zu eigen
Sich dir mit Allgewalt
Meine glückeshungrige Seele —
Aber dein Herz blich kalt.
Da Hab’ ich meine Sehnſucht
Mählih zur Ruh’ gebracht
Und all das bremmende Heimweh
Am Tag hinweg geladıt.
Doh wenn der Abend dämmert,
Bin ich verträumt und ftill,
Weil meine thörichte Liebe
Zu dir nicht fterben till.
2544
Noch bin ich jung —
Noch Bin ih jung — noch will ich leben!
Mein Herz bat Heimweh nad) dem Glück —
Ad, einmal noch die Flügel heben
Und in die jchöne Welt zurüd!
Da draußen lacht der Leitz, der holde,
Im Himmelsblau und Waldesgränt,
Der Becher glänzt im Sonnengolde,
Und taujend duft'ge Blumen blüh'n!
Hinaus, Hinaus, dem Licht entgegen —
Mich tötet die Gefangenſchaft!
Ach, einmal noch die Schwingen regen
Im Vollgefühl der Jugendkraft!
—X
>
—
=
I
Deutfche Dichterinnen der Begenmwart.
Daheim.
Mütterhen — ich bin jo mid’, fo milde —
Mutter, — geh’ nicht von mir diefe Nacht —
Deine Nähe lindert meine Leiden —
Bleibe bei mir, bis der Tag erwadt.
Heimlich ſtill ift’8 hier in deinem Zimmer —
— Ob nun auch die Sehnſucht Schlafen geht ?
Ach, die wecte mich ſonſt immer, immer,
War mein Morgen: und mein Nachtgebet —
War das Licht auf meine Wanderivegen,
Und die Brüde in da3 Heimatland,
Iſt mein Tod, 9 Mutter, weil ich Arme
Nie den Weg zu feinem Herzen fand.
SESIIS
N,
Das Rätfel der Ahnenburg.
Roman von Egon Fels.
(Vachdruck verboten.)
1. Freund und Feind.
seit dem 1. Mai 1532, wo man Florenz’ alte Zreiheit
» — N zu Grabe getragen hatte, herrſchte Aleſſandro dei
a, Medici als unbejtrittener erbliher Herzog in dem
von Cojimo den Alten erbauten Mediciihen Palaſte
an der Via Larga.
Aleſſandro dei Medici war bei feinem Negierungsantritt
nicht der tyranniſche Yültling, der er |päter wurde. Von fräftigem
Körper, lebhaft und ausdauernd, verband er mit förperlichen
Eigenschaften und der Fähigkeit, der äußeren Stellung zu ge—
nügen, Scharfiinn und Schnelligkeit der Auffaljung, und zeigte
in der eriten Zeit guten Willen und einen regen Gerechtig—
feit3jinn.
Allein nur zu bald zeigten ſich die böjen Neigungen jeiner
Natur. Bon Schritt zu Schritt, von Stufe zu Stufe taumelte
der Herzog in den Abgrund des Laſters, und jelbit jeine Ver—
lobung mit Margarethe, der SKailerötochter, änderte darin
nichts. — —
Etwas über eine Meile von Florenz entfernt ſtand zu jener
Zeit das alte Stammſchloß der edlen Familie Ghisberti.
So lange die Gemahlin des Marcheſe Ghisberti lebte, war
das alte Schloß das Paradies eines feltenen Eheglüdes.
ZU. Haus⸗Bibl. II, Band XI. 160
2546 Egon $els.
Madonna Clodilde Ghisberti war von Geburt eine Deutiche,
ein Fräulein von Bardeleben gewejen und von ihrem Gemahl,
dem Marcheje Giovanni, unausiprechlich geliebt worden.
Der Tod dieſer edlen Frau hatte den Sonnenjchein aus des
Marcheje Leben Hinweggenommen. Die Welt war dem verlafjenen
Satten für immer verleidet. Er zog ſich gänzlich von ihr zurüd.
Alles, was von Intereſſe, von Hoffnung und Liebe noch im
Herzen des vereinfamten Mannes lebte, Fonzentrierte ſich auf
jeine zwei Kinder Giulio und Clodilde.
Giulio war ein hochbegabter, junger Mann, der, im Alter
bon einundzivanzig Jahren jtehend, feine Studien auf der hoch—
berühmten Univerfität von Bologna mit dem glänzendjten Er-
folge beendigt hatte. Schon war er im Begriff, in die Regierung
feiner Baterjtadt einzutreten, al die unleidlichen Zuftände von
Florenz durch die im Mai 1534 erfolgte Einjeßung der Jogenannten
Rebellen-Dfficialen noch unleidlicher wurden.
Der Marchefe Ghisberti hielt ſich deshalb für verpflichtet,
jeinen Sohn vom Betreten diejfer gefährlichen Laufbahn ab=
zubalten. Er war jung, er fonnie und jollte auf beſſere Zeiten
warten, er verlor nicht dadurch, im Gegenteile, er gewann
inzwilchen an Menjchenfenntnis, an Sicherheit, an Reife des
Ürteil3.
Der junge Mann gehorchte ohne Widerrede.
Seine vollendete Liebenswürdigkeit hatte ihm viele Freunde
erworben, und jo fam es, daß man ihn überall mit offenen
Armen aufnahm. Er lebte bald auf diefem, bald auf jenem
Schlojje, und jein Vater, zufrieden, ihn bejchäftigt und vor allzu
naher Berührung mit dem gefürchteten, Jittenlojen Herricher ge—
fihert zu haben, ließ ihn gewähren.
Auf Elodilde, das Ebenbild der Mutter in deren Jugend,
war mit dem Namen derjelben, außer der von ihr erlernten
deutſchen Sprache, die fie Sprach, al3 fei fie in Deutjchland ge—
boren, auch ein gutes Teil deren echt deutjcher Tugenden über-
gegangen, unter denen die Liebe zu einem einfach häußlichen,
von Kunft und Wiſſenſchaft geſchmückten Leben wo. al3 die
Heinjte erſchien.
Inmitten jo vieler Schönheiten fiel dennoch, in Ben Gejell-
haften des Adels Clodildens eigenartige Schönheit, die ſüd—
Das -Rätfel der Ahnenburg. 2547
liche8 euer mit zartejter deutjcher Mädchenhaftigfeit vereinte,
fiel ihr ganzes holdſelig keuſches Weſen zu vorteilhaft auf, um
nicht überall, wo ſie auch erſchien, einen Hof von feurigen Be—
wunderern um ſie zu verſammeln. Rechnet man dazu noch ihre
edle Abkunft und den großen Reichtum ihres Vaters, wer kann
ſich dann wundern, daß man ſie mit Heiratsanträgen über—
ſchwemmte?
Clodilde wies indes alle zurück und erklärte, ſie wolle un—
vermählt bleiben, um ihren Vater, deſſen einziges Glück ſie ſei,
niemals verlaſſen zu müſſen.
Unter den Bewerbern, welche Donna Clodilde im Laufe
der Zeit abzuweiſen ſich genötigt fand, wollen wir nur zwei
erwähnen.
Der erſte und bedeutendſte, ſowohl an Stellung, als an
Charakter und perſönlicher Erſcheinung, war Prinz Antonio, ein
naher Verwandter des Gewalthabers, ihm aber wenig gleichend
an Sitten. Tag und Nacht find nicht verichiedener al3 der
Prinzipe und jein verbrecheriicher Better. Meſſire Antonio war
bereit8 einmal verheiratet gemwejen, jebt aber Witwer und ftand
im Alter von neununddreißig Sahren.
Der zweite abgewiejene Bewerber war der Meflire Bianconi
di Malandino, ein Emporfümmling, ein Geihöpf und Liebling
Aleſſandros und deſſen allezeit bereiter, vor Nichts zurüd-
ihredender Teilnehmer und SHelfershelfer feiner Schandthaten.
Diejer ſcham- und ehrlofe Menjch Hatte nun feine Augen
auch auf die jchöne Tochter des Marcheje Ghisberti geworfen.
Zwar war er fi) der ungeheuren luft, welche ihn, den namen—
loſen Abenteurer niederen Urfprungs, von einer Dame von fo
alter, vornehmer Familie trennte, voll bewußt; doch zweifelte
er, im Bewußtjein der Macht, welche er durch die Gunſt feines
Herrn bejaß, feinen Augenblid, daß er mit jeinem Antrag Er-
folg haben müjje.
Es waren nur ein paar Wochen nach dem Tage verflofjen,
an dem Donna Clodilde den Heiratsantrag des Prinzen Antonio
abgelehnt Hatte. Sie hatte geglaubt, des Prinzen Antrag jei
ein Geheimnis zwiſchen ihm und ihr, denn fie machte darüber
nur ihrem Vater, dem ſie alles zu vertrauen gewohnt war, Mit-
teilung. Daß er darüber jchwieg, wußte fie; und daß der Prinz
160*
2548 Egon Fels.
jelbft über feinen Mißerfolg fprechen werde, war nicht ans
zunehmen.
Sie Jollte ji) bald überzeugen, daß auch diejer Vorgang
der allgemeinen Spionage, welche ſich damal3 in den höchiten
Kreifen breit machte, nicht entgangen mar.
Sie traf in einer Gejellihaft mit Bianconi di Malandino
zujammen, und der Abenteurer hatte diesmal feine Maßregeln
jo gut getroffen, daß er all ihre Vorficht zu nichte machte und
fie zwang, feinem Antrag Gehör zu jchenken.
Donna Clodilde fühlte ſich, ganz abgejehen von der Zus
mutung jelbjt, des unverjchämten Emporfümmlings Weib zu
werden, von deſſen ganzer Art und Weile dabei, von der dreijten
Zuverficht desjelben, die eine Ablehnung für ganz unmöglich zu
halten jchien, in tiefjter Seele verlebt.
Da fie jedoch eben fo Hug als ſchön war, ließ fie ſich, Jeiner
Macht zum Böſen eingedenf, von ihrem Unwillen nicht3 merken
und lehnte zwar mit nachdrüdlichem Ernft und in würdigfter
Haltung, aber keineswegs unfreundlich, mit lebhaftem Bedauern,
wie fie höflich jagte, unter dem gewöhnlichen Vorwande, ſich
überhaupt nicht vermählen zu wollen, die ihr zugedachte Ehre ab,
Er war einen Augenblick ſprachlos von dem Durcheinander
bäßlicher Leidenjchaften, das dieje Zurückweiſung in feiner Bruſt
entfefjelt hatte, und jchon wendete ſich Clodilde, nachdem fie ihn
mit einem höflichen Neigen ihres jchönen Hauptes gegrüßt, um
ihn zu verlafjen.
Da war e3 ihm gelungen, fi) zu faſſen. Mit einer
energiſchen Bewegung vertrat er ihr den Weg und jagte, Die
Ihöne Donna Ghisberti Scheine nicht bei Yaune zu fein, deshalb
bejcheide er ſich für heute, werde aber bei pafjender Gelegenheit,
in günjtigerer Stunde feinen Antrag wiederholen, denn er
glaube, daß bejjere Meberlegung Madonna Clodilde zu der
Ueberzeugung bringen werde, wie unflug und thöricht es ſei,
einen Mann wie ihn mit demjelben Maße zu mefjen als andere,
3. DB. den Tugendſpiegel, den Prinzen Antonio, und ihn mit
dem gleichen lächerlichen Vortvande abweiſen zu wollen. Damit
hatte er fi) nochmals, hohnvoll Lächelnd und ihre ſchöne Geftalt mit
einem Blicfe mefjend, der ihr das Blut in den Adern eritarren
ließ, tief verbeugt und ſie jtolz mit hocherhobenem Haupte verlafjen.
Das Rätjel der Ahnenburg. 2549
Bon diefem Tage an lebte fie völlig zurückgezogen und
mied alle Gejellichaften. Wenn fie aber geglaubt, dadurch fich
vor jeinen Nachitellungen zu jchügen, hatte fie fich ſchwer ge—
irrt. Denn fie fonnte ihres Vaters Palaſt nicht verlafjen,
ohne daß er ihren Weg kreuzte, jelbft in die Kirche, die fie
täglih zur Meſſe zu bejuchen pflegte, verfolgte er fie und
jtörte mit. feiner verhaßten Nähe ihre Andadıt.
Dabei war Malandino gewöhnlich von einem langen,
wild ausſehenden, rothaarigen Menjchen begleitet, der eine
Mittelitelung ziviichen Diener und Freund bei ihm einzunehmen
Ihien. Nicht jelten war er auch allein, und einmal erjchien
er in Begleitung eine VBermummten, der ganz in einen bis
zu den Füßen hinabreichenden Mantel gehüllt war, den er bis
unter die Augen binaufgezogen Hatte, während ein großer,
breitfrämpiger, tief in die Stirn gedrüdter Hut die Ver—
mummung dermaßen vollendete, daß don dem ganzen Menfchen
gerade nur die Augen fihtbar waren. Dieje Augen aber ver-
Ichlangen Clodildes Schönheit mit Bliden voll unerträglichen
Feuers, al3 fie, auß der Kirche tretend, durch die Menge der
Andächtigen genötigt war, neben der dunklen Ede der Vor—
halle, wo Malandino mit feinem Begleiter ſtand, einen Augen⸗
blick ſtehen zu bleiben.
„Du haſt recht, Bianconi —“ hörte ſie den Vermummten
flüſtern — „das Mädchen iſt entzückend und” — fie hörte
nichts weiter, denn die vorwärts flutende Menge geſtattete ihr
in dieſem Augenblicke, ihren Weg fortzuſetzen. Gefolgt von
ihrer fie ſtets begleitenden Amme und dem handfeſten, wohl—
bewaffneten Diener, ohne den eine Dame jener Zeit nie ihr
Haus zu verlaſſen wagte, eilte ſie nach Hauſe.
Seitdem mied ſie auch die Meſſe, denn hatte ſie Malan—
dino gefürchtet, jene Augen fürchtete ſie noch weit mehr.
Eine Woche lang hatte ſie ſich ſo eingezogen gehalten
und war dadurch vor Malandino bewahrt geblieben.
Wenige Tage darauf hörte ſie, daß Malandino im Duell
— man ſagte — tödlich verwundet worden ſei.
Clodilde atmete auf. Zwar war ſie viel zu guten Herzens,
um den Tod ihres Feindes zu wünſchen, doch ſie konnte nicht
umhin, deſſen froh zu ſein, daß er mindeſtens vorausſichtlich
2550 Egon Fels.
längere Zeit an fein Lager gefeſſelt und unfähig ſein werde,
ſie weiter zu verfolgen.
Inzwiſchen nahm ſich Clodilde ber, fih ihrer durch Die
Berwundung ihres PVerfolger8 wieder geiwonnenen reiheit
nach Herzensluſt zu erfreuen. Vol Eifer und Luft nahm fie
die weiten Spazierritte wieder auf, die fie in der lebten Zeit
ſchmerzlich entbehrt Hatte, weil fie gefürchtet, dem verhaßten
Malandino dabei zu begegnen.
Sie war früher gewohnt gewejen, die herrliche Umgebung
nur in Begleitung eines Edellnaben, eines weitläufigen Ver—
wandten, den ihre Mutter als Waife bei jich aufgenommen und
erzogen, und gefolgt von einem alten Diener, den ihre Mutter
mit aus Deutichland gebracht Hatte, zu durchitreifen.
Dieje beiden waren zwar aus Vorſicht, und wie es Die
Sitte der Zeit mit fi) brachte, wohl bewaffnet, doch mar
niemals ein Fall vorgekommen, der fie etwa in die unangenehme
Notwendigkeit verjebt Hätte, ſich dieſer Waffen zur Drohung
oder gar zur Verteidigung zu bedienen.
Freilich war Wolf, der Diener, welcher der Tochter mit
nicht minderer Treue anhing al8 der veritorbenen Mutter, nie
ganz frei von Beſorgnis gewejen. Da aber nie irgend etwas
vorgefallen war, was jeiner Beſorgnis Berechtigung gegeben
hätte, jo glaubte er am Ende jelbit, er jei im Unrecht, wenn er
mit feiner Sorge und Aengftlichkeit derjungen, fröhlichen Gebieterin
die Freude an diefen harmlojen Naturgenüfjen jtöre, und folgte
ihr ohne Widerjprudh, als fie eines Morgens ihr Pferd einem ein=
jamen Thale zu lenkte, dag ein Nebenarm des Arno durdhitrömt.
Hätte der treue Wolf nur die geringite Ahnung einer
Gefahr gehabt, er würde ſich mit der freien Sicherheit, welche
\olhe alte, mit der Familie, der fie dienen, feſt verwachſene
Leute zu fennzeichnen pflegt, ihrem Vorhaben widerſetzt haben.
2. Der Meberfall.
Wilde Felfenpartien in den pittoresfejten Formen jchließen
waldgefrönt das Thal zu beiden Seiten ein und machen es
auch an heißen Tagen durch die erfriichende Kühle, welche hier
herricht, zu einem der angenehmijten Aufenthaltsorte.
Das Rätjel der Hhnenburg. 2551
E3 war nicht das erjte Mal, daß man die romantijche
Thal in feiner ganzen Länge durdjitreift hatte. Donna Elodilde
beliebte e3 jogar eines Tages, troß allen Widerjpruche Anjel-
mos, des Edelfnaben, dem die Gejchichte langweilig erjchien,
bier zu rajten.
Eingedenf diefes mit Glüd vollbrachten Waanifjeg, fiel es
Wolf nicht ein, Heute ängjtlic) zu jein, hätte er aber aud)
daran gedacht, jo wäre er fiher der Meinung geweſen, daß
im ſchlimmſten alle feine Waffen und fein Arm wohl hin—
veichend fein würden, die ©ebieterin zu bejchüßen.
Schlieglih war ja auch noch Meſſire Anjelmo da, der
fein Stilet jehr wohl zu gebrauchen verjtand.
Allerdingg war Donna Clodilde auch jelbjt bewaffnet,
denn ſie trug an ihrem Gürtel, mit goldener Kette befeftigt,
ein reich verziertes Jagdmeſſer. Das kam jedoh in Woljs
Augen nit in Betracht, er erklärte es als gänzlich unbraud)-
bar zur Verteidigung. Wie er denn überhaupt, nach Art
vieler Männer, einer Frau die Fähigkeit, fich ſelbſt zu beſchützen
in der Gefahr, gänzlich abſprach.
Scerzend umd lachend, ſich mit Anjelmo necdend und
jeine Nedereien parierend, war Clodilde mit ihren Begleitern
zur Mitte des Thales und zugleich zur engiten Stelle des
Pfades, der nur einer PBerfon Raum gab, gelangt.
Sie ritt auf ihrem weißen Belter vorauf, Anjelmo folgte,
und den Schluß machte Wolf.
Plötzlich, als gerade der Pfad un eine %eljenpartie
biegend fich zu einem Kleinen, freien Plage erweiterte, |prengten
hinter jenem Felſen hervor drei bis an die Zähne bewaffnete,
verlarvte Reiter, fich ziwijchen die Dame und die ihr Folgenden
einjchiebend.
Anjelmo ward, ehe er nur imjtande geweſen, jein Stilet
zu ziehen, vom Pferde gejtochen, und Wolf jah ſich von zwei
Seiten zugleich angegriffen und am Vordringen zu der von
dem dritten Reiter bedrohten Donna Elodilde verhindert.
Diejer Hatte fie in einem Nu von ihrem Pferde auf das
feine hinübergerifjen und jtieß nun, die fich fchreiend Sträubende
mit eijerner Gewalt umflammert haltend, jeinem Tiere die
Sporen in die Geite, daß ed in weiten Süßen mit jeiner
2552 Egon Fels.
Doppellaft davoniprengte und gedanfenfchnell die Geraubte aus.
den Augen des von Todesangſt um fie erfüllten, fich gegen
die hageldichten Streiche feiner beiden Gegner tapfer wehren-
den, ihr vergebens nachitrebenden Wolf entführte.
Durh die SHeftigfeit der Bewegungen des Berlarbtei,
der Donna Clodilde entführte, mochte ſich das jchlecht befeitigte
Band feiner Larve gelodert haben, fo daß fie ihm vom Antlih
fiel, al@ ein Baumajt ihm den tief in die Stirn gerüdten
Hut vom Kopfe rip.
Laut aufichreiend vor Schred und Entjeßen, erkannte
Clodilde in ihm jenen rothaarigen Begleiter ihres Yeindes
Malandino, der ihr Entjegen mit teufliichem Lachen wahrnahın.
Hatte Jie bisher geglaubt, jimplen Räubern, die von
ihrem Vater ein reiches Löſegeld für ihre Rückgabe zu erprefjen
bofften, in die Hände gefallen zu fein und ſich jonach ver-
bältnismäßig ficher gefühlt, jo gab fie ſich nun ganz verloren,
jedoch) weckte dieſe Erkenntnis, jtatt fie ganz Darnieder zu
Ichmettern, al ihre Geiftesgegenwart und ftählte ihre Nerven
zu einer That der Verzweiflung.
Während fie fortfuhr, ſich in dem ihren Leib gleich einer
Eifenflammer umfaffenden Arm des Räubers zu fträuben, zog
fie vorfihtig und von ihm unbemerkt ihr Sagdmefjer und jtieß
es, bligfchnell damit emporfahrend, bis zum Heft in jeine
Bruft.
„Zeu—fel!” wollte ev rufen, aber er vollendete nicht.
Das angefangene Fluchwort erjtarb auf feinen Lippen, Die
rollenden Augen brachen, und kraftlos ließ fein Arm Die bereits
jo fiher gewähnte Beute los.
Clodilde fiel. — da fie, auf den Fall vorbereitet, jich vor—
ihtig an dem Pferd niedergleiten ließ — ohne fich irgendivie
zu verlegen, in das feuchte Moos.
Das Pferd galoppierte weiter, den Toten, dejjen einer
Fuß fih im Steigbügel verfangen hatte, mit ich fchleppend.
Clodilde Hatte ſich raſch und behende wieder aufgerafft
und ſchickte fich an, vorfichtig jede Dedung benußend, den Weg
zurüdzufehren und fich nach Wolf umzufehen, al3 fie Hufichlag
vernahm, der fich raſch näherte. Angſtvoll verbarg fie fich fo
gut, als e8 in der Eile möglich war, im Gebüjch, denn fie
Das Rätſel der Ahnenburg. 2553
WRITER
glaubte, jene anderen beiden Räuber kämen, nachdem fie Wolf
getötet, um ihrem Kumpan zu folgen.
Aber jo war es glüdlicherweije nicht, und ihre Furcht jo
grundlos, als ihr Verbergen unnötig.
Wolfs Tapferkeit war glücklich mit beiden fertig geworden.
Der eine lag tot neben dem armen Anſelmo, der andere hatte
es mit einem Hiebe über das Geſicht, der ihm ein Auge
koſtete, vorgezogen, den heilen Reſt ſeiner werten Perſon durch
ſchleunige Flucht in Sicherheit zu bringen, indem er ſeinen
Herrn entweder bereits mit ſeiner Beute in Sicherheit glaubte,
oder es ihm überließ, ſich und ſie gegen den Verfolger zu
verteidigen.
Der Reiter, welchen Donna Clodilde floh, war Wolf
ſelbſt, der blutbeſudelt und ſelbſt mehrfach verwundet, des
Räubers Spur folgend, an ihr vorüberjagte.
„Wolf! Wolf” jchrie fie hervorjtürzend aus ihrem Ver—
ited, „bier bin ich! Hier!“
Zurückſchauend und feine Gebieterin gerettet Jehend, hielt
er mit einem fo plößlichen Rud jein galoppierendes Pferd an,
daß es fich beinahe mit ihm überjchlagen hätte, und fich raſch
aus dem Sattel jchwingend, rief er jubelnd: „Sa, ja, da jeid
hr, Donna Clodilde! Gott jei Lob und Dank! Uber wie
wurdet Ihr gerettet? Nur durch ein Wunder kann — O
Gott! Ihr blutet ja! Seid Ihr verwundet?“
„Nein,“ jagte fie matt, fich ſchwer auf feinen Arm ſtütend,
„dieſe Hand Hier,“ fie hob ſchaudernd die Rechte, welche von
dem augenblicklich dem Stoße nachſtürzenden Blute des Räubers
ganz rot gefärbt erſchien, „hat Blut vergoffen, hat einen
Menjchen getötet!“
Und an Wolf langſam niedergleitend, ward fie ohnmächtig.
Die übermäßige Aufregung, das Bewußtſein der ganzen
Gefahr, in der ſie ſchwebte, das ſich ihr in dem Augenblicke,
da ſie den Räuber erkannte, aufgedrängt, hatte ihre Kräfte
verdoppelt, aber nun, da ſie ſich ſicher wußte, trat um ſo
raſcher die Reaktion ein und warf ſie nieder.
Schwach und hilflos, wie ein Kind, brachte Wolf ſie mit
großer Mühe zu dem tödlich erſchreckenden Marcheſe zurück,
gefolgt von dem Pferde Anſelmos, worauf dieſer mit ſeiner
2554 Egon Fels.
eigenen und Wolfs Schärpe von dem lebteren befejtigt worden,
und da3 mit feiner traurigen Laſt ohne weitere Führung den
vertrauten Gefährten von ſelbſt nachgelaufen war.
Die Hoffnung, welche Wolf für den armen Edelknaben
gehegt, war nur eine Täufchung, zwar atmete er noch, als er
vom Pferde losgebunden und auf jein Lager gebracht wurde,
aber ehe der Abend kam, Hatte er außgelitten.
Der Zuftand Elodildes war zwar feiner, der eine direkte
Sorge für ihr Leben gerechtfertigt hätte, denn ſie litt nur
ſeeliſch, indem ſie ſich bittere Vorwürfe machte, durch ihren
Eigenſinn, mit dem ſie gerade auf jenem Ritte beſtanden,
ihres Verwandten Tod verurſacht zu haben. Schaudernd ſah
ſie fortwährend das brechende Auge des von ihrer eigenen
Hand Gefallenen vor ſich. Sie ſah ihn im Wachen und im
Traume, nannte ſich eine Mörderin und litt Gewiſſensqualen,
die ſie nirgends Ruhe finden ließen.
Dieſe Seelenpein, welche ſeine Tochter infolge eines allzu
zarten Gewiſſens erduldete, ängſtigte ihren Vater gar ſehr,
doch war dies nicht einmal ſeine einzige und ſchwerſte Sorge.
Zwar war jenem Räuber nicht mehr als nur ſein Recht
geſchehen, er ſamt ſeinen Genoſſen hatten nur gefunden, was
ſie verdienten, allein die Unſicherheit der damaligen Rechts—
zuſtände unter Aleſſandros Tyrannei war ſo groß, daß die
Sache keineswegs ungefährlich für die Familie Ghisberti lag.
Der Herzog kehrte ſich, wenn es der Befriedigung ſeiner
Leidenſchaften oder auch nur derjenigen ſeiner Günſtlinge galt,
an kein Geſetz noch Recht, wenn er auch ſeine Rache nicht
öffentlich auszuführen pflegte.
Deshalb wagte der Marcheſe nicht einmal, ſich zu beklagen
und die Beſtrafung des Frevlers zu fordern. Er hätte am
liebſten die Sache totgeſchwiegen; doch da Clodildes Meſſer
in der Bruſt des Toten ſtecken geblieben war und durch den
Namenszug, der in farbigen Edelſteinen auf dem goldenen
Griff eingelegt fich befand, die Hand verraten hatte, die den
Stoß geführt, fo jtand bei der Frechheit Malandinog zu be=
fürchten, daß er ſelbſt Anklage gegen Clodilde erheben und die
Sache natürlich in völlig erlogener Faſſung vor das er
jeine8 geneigten Gebieters bringen werde.
Das Rätſel der Ahnenburg. 2555
Reifliche Ueberlegung lieg daher dem Marcheje den Ent-
ſchluß faſſen, Malandino zuvorzufommen und die ganze Sache,
wie fie fic verhielt, doc ohne irgendwie auf den Urheber hin-
zudeuten oder auch nur zu verraten, daß er ihn kenne, jelbft vor
den Herzog zu bringen.
Nie war dem würdigen Manne ein Ritt jo ſchwer ge=
worden wie dieſer nach Florenz.
Er ließ den Herzog um Audienz bitten, denn an Ceremoniell
ließ es Aleſſandro nicht fehlen, ſo ſehr es auch ohne Sitte und
Zucht an ſeinem neugeſchaffenen Hofe herging.
Die Audienz ward dem Marcheſe auch ſofort gewährt, er
jedoch erjucht, zu warten, da der Herzog mit feinen Räten
Srancesco Vettori und Roberto Acciaiuoli in wichtigen Staats—
angelegenheiten augenblicklich noch bejchäftigt jei.
Während der Marcheje noch in dem Vorgemache wartete,
trat aus Aleffandros Kabinett der Kämmerer Giomo, der neben
feinem Kameraden, welcher der Ungar genannt ward, feit deſſen
frühefter Sugend dem Herzoge diente. Dieje beiden waren ihres
Herrn allezeit willfährige Werkzeuge und jchredten vor den in—
famften Handlungen nicht zurüd.
Giomo, an dem Marcheje, der ihn gar nicht beachtete, vor—
überjchreitend, blickte mit einer Miene hämiſchen Triumphes und
boshafter Tüde auf ihn nieder.
Kurze Zeit darauf ward der Marcheje in das Kabinett des
Herzogs eingelafjen. |
Alejjandro dei Medici, deſſen dunfler Teint, wolliges Locken—
haar und mwulftige, aufgeworfene Lippen befanntlich zu der uns
erwiejenen Sage, jeine Mutter jei eine Mulattin gemwejen, Ver—
anlafjung gegeben und ihm den Spitznamen el moro eingetragen,
fam dem Bejucher mit all jener Höflichkeit entgegen, empfing
ihn mit jener Xeutjeligfeit, welche ihn troß feiner Verbrechen
beim Bolfe jo beliebt gemacht hatte. Er 309 den Marcheje
neben ſich auf ein Ruhebett nieder, ſprach ihm fein freudiges
Erſtaunen aus, ihn endlich einmal bei ſich zu ſehen und ſchalt
ihn dann freundjchaftlid, daß er niemals bei den Zeitlichfeiten,
weder im Balajte, noch anderswo erjcheine.
Als der Marcheje vor all dem Schwalle höflich freundlicher
Redensarten endlich zu Worte fommen fonnte, entjchuldigte er
2556 Egon Fels.
ſein $ernbleiben mit feiner nie endenden Trauer um den Berluft
jeiner Gemahlin und einer aus der zu ftarfen Gemütsaufregung
bei dem Tode derjelben entjtandenen Kränklichkeit, welche ihm
jede Strapaze, und ſei es auch die freudige eines Feſtes, un-
möglich mache.
„Ah! das ijt etwas anderes, mein werter Ghisberti —“
erwiderte billigend der Herzog, „da habt Ihr ſehr recht, Euch
zu jchonen. Indeß Ihr habt, wie man mir jagt, eine junge,
Ihöne Tochter. Warum erjcheint auch fie nicht im Geleite einer
würdigen Matrone bei den Feten? Meine Muhme Maria
Galviati oder irgend eine andere meiner Verwandten, würde
fie gern unter ihren Schuß nehmen.“
„Ihr ſeid ſehr gütig, Herr Herzog, Eure Aufforderung ehrt
mich und meine Tochter gleicherweiſe“ — erwiderte der Marcheſe,
ih danfend verbeugend. „Indes, es giebt für ein fo junges,
mutterloje8 Wejen der Gefahren fo manche, welche mit einem
öffentlichen Erjcheinen untrennbar verbunden find, und vor denen
fie auch eine jo ehrenvolle.Bemutterung, wie Ihr, mein Fürft,
fie ihr don Euren hochverehrten erlauchten Verwandten in
Aussicht ftellt, nicht zu ſchützen vermöchte, jo daß ic) mich nicht
berufen fühlen faun, ihrer eigenen Neigung zur Einfamfeit hin-
dernd in den Weg zu treten. Gejtatten mir Eure berzoglichen
Gnaden nunmehr auf den Punkt zu fommen, welcher mich ver-
anlaßte, Euch um geneigte Gehör zu bitten?“
Der Herzog neigte, ohne fih durch die erhaltene Zurüd-
weiſung verlegt zu zeigen, mit freundlicher Gewährung den Kopf.
Der Marchefe begann: „Meine Tochter iſt vor zwei Tagen
bei einem Ritte in die Umgegend, den fie in Begleitung eines
jungen Anverwandten und eined Dieners unternahm, von drei
Unbefannten räuberisch angefallen worden.“ Hier erhellte fich
die finfter gerunzelte Stirn, mit welcher der Herzog ihm vom
eriten Worte an zugehört, und bewies jo dem Marcheſe, wie
weile er gehandelt, daß er es vermieden, auch nur anzudeuten,
wie ihm jehr wohl befannt jei, wem jener von feiner Tochter
erdolhte Menjch gedient. Er wünſchte ſich im ftillen zu feiner
Vorſicht Glück, und wollte von neuem beginnen.
Doc) ehe er weiter zu |prechen vermochte, fiel der Herzog
haſtig ein: „Sa, richtig! Das hätte ich beinahe außer acht ge—
Das Rätſel der Ahnenburg. 2557
laſſen —“ und er ergriff einen vor ihm auf dem Tijche liegen-
den Bericht, ihn flüchtig überfliegend. |
„Man meldet mir hier den Vorfall, den ich auf daS Leb-
baftejte bedauere. Diejes Räubervolf! Wann endlicdy wird es
mir gelingen, die Sicherheit im Lande herzujtellen? Sch mache
die größten Anjtrengungen, mit wie wenig Erfolg, daS mag
Euch der Weberfall Eurer Tochter beweijen. Ich werde Die
Sade auf das Strengfte unterjuchen lafjen, und wenn man
jenen Räuber erwijcht, der entflohen ift, jo joll er hängen, mein
fürftliche8 Wort darauf. Uebrigens jcheint Eure Tochter, mein
lieber Ghisberti, mit der Schönheit, die ihr eigen, auch die ganze
Zapferfeit Eures edlen Gejchlechte8 zu vereinigen. Wenige
würden in ſolchem Augenblicke des Schredend weder die Geijtes-
gegenwart noch den Mut befiben, ſich mit einem jo wohl gezielten
Stoße zu retten und ſomit, wenn auch nicht gerade ihr Leben,
ſondern ihres Vaters Börje, denn darauf war e3 doch unfehlbar
abgeſehen,“ — ein lauernder Blid des Sprechers bohrte ſich
hier förmlich in des Marcheſe Angeſicht — „vor einer ſchlimmen
Brandihagung zu bewahren.“
Der Marcheſe ſetzte des Herzogs Späherblide ein undurd-
dringlich Geficht entgegen und entgegnete, fich beiftimmend ver-
beugend: „Daran fann gar fein Zweifel jein. Doch es ift mir
eine große Beruhigung, daß Eure herzoglichen Gnaden jchon
jo genau und richtig von der ganzen traurigen Sache und der
Gerechtigfeit der thätlichen Verteidigung meiner Tochter unter-
richtet find. Ich fam nicht eigentlich, um anzuflagen, jondern
allein zur Richtigftellung von Thatjachen, die man, möglicher-
weile aus Unfenntni3 der Wahrheit, entitellt vor Euer Ohr
gebracht haben konnte.“
„Ihr jehet, mein lieber Ghisberti —“ erwiderte der Herzog
etwas pathetiich, „Eure Belorgnis war unnötig. Doch,“ fügte
er gütig lächelnd hinzu: „Sch bin Eurem Irrtum, der meinem
Beamten Unrecht that, dankbar, daß er mir einen jo werten
Bejuc gebracht. Geftattet meiner teilnehmenden Bewunderung
Eurer tapferen Tochter die Erfundigung, ob die jchöne Dame
auch nicht etwa üble Folgen von dem gehabten Schreden davon
getragen hat?“
„Sch danke Eurer herzoglichen Gnaden für dieje Teilnahme.
2558 Egon $els.
Körperlich ift fie ganz gut davon gefommen, aber ihre Seele üt
ſchwer beunruhigt von ihrer mutigen That. Der Tod ihres
Edelfnaben, eines entfernten Berwandten, betrübt fie ohnedies
ſchwer, aber noch viel fchwerer lajtet der des Räubers, der von
ihrer Hand fiel, auf ihrem Gemiljen.“
„Ahl das it jehr bedauerlich und thöricht noch obendrein!
Habt Ihr denn der übergemwiljenhaften Dame nicht vorgeitellt,
wie wenig an dem Leben folches Schurfen gelegen it? Das
Pferd, welches fie trägt, der Hund, der ihren Schritten folgt,
find mehr wert als jolcher Auswurf der Menfchheit.“
Der Herzog deflamierte diefe Phrajen mit einigermaßen
theatralifch angehauchtem Pathos.
Der Marcheje verbeugte ſich und erwiderte: „Was nüben
Borftellungen in jolchem Falle? So gut wie nichts. Die janft
heilende Hand der Zeit allein kann hier Hilfe bringen und —
„geritreuungen, Zerſtreuungen, mein lieber Ghisberti!”
fiel höchft eifrig der Herzog ein, „glaubt mir, mein würdiger
Freund, Einfamfeit befördert nur das gefährliche Grübeln über
derartige trübjelige Dinge. Sch gebe in vier Wochen zur Feier
des Namenstages meiner Braut ein Zeit, wie diefe Mauern
fein glänzenderes je gefehen. Man jagt mir Leichtfinn nad,
mein lieber Ghisberti, und es iſt wahr, nicht ganz ohne Grund,“
fügte er heuchlerifch, den Blick jenfend, Hinzu, „aber diesmal
wird das Feſt des Gegenstandes, den es verherrlichen joll,
meiner faijerlihen Braut würdig fein, dafür bürgen übrigens
auch Thon die Namen der Damen, welche an meiner Seite die
angenehme Pflicht übernehmen wollen, die Damen zu empfangen.
Meine beiden Muhmen Maria Salviati und Madonna Beatrice
jelbft werden dem Feſte präfidieren.“
Die eritere war die Mutter Caſimos, des jpäteren Nad)-
folger3 Alefjandros, und die andere die Mutter des Prinzen
Antonio. Beides fittenjtrenge, Hochgeachtete und verehrte
Frauen. „Ihr dürft mir,“ fuhr der Herzog fort, „die Bitte
nicht abjchlagen, mein teurer Marchefe, bei diefem Feſte mit
Eurer ſchönen Tochter zu erjcheinen.”
„Nein, weigert Euch nicht —“ fiel er dem Marcheje ins
Wort, als diejer fprechen wollte, um, wie der Herzog auf jeinem
Seficht zu leſen glaubte, ablehnend zu erwidern. „Ich nehme
Das Rätſel der Hhnenburg. 2559
eine Zurückweiſung nicht an, denn dann — würde ich glauben
müfjen, e3 jei wahr, wa3 man mir von Euch gejagt.” Der -
Herzog ſchwieg und heftete einen jo ftechenden, drohenden Blid
aus feinen funfelnden Augen auf den Marchefe, daß diejer
innerlich darunter erbebte, denn er wußte, wie gefährlich e3
war, Aleſſandros Argwohn, den jtet3 bereiten, zu reizen.
Doch war der würdige Mann im Bewußtſein ſeines reinen
Gewiſſens jchnell gefaßt und ermwiderte, den böfen Augen, die
ihn firierten, mit freimütig offenem Blide begegnend: „Darf
ich fragen, was es jei, das man Eurer Herrlichkeit von mir
gejagt? Sch bin mir nicht des Geringiten bewußt, was irgend
feindlich gegen Eure erlauchte Perſon oder Familie wäre, oder
mir ſonſt zur Unehre gereichte.“
„Nun — nun — beruhigt Euch nur, ich glaubte es ja
bisher auch nicht, obgleich Euer beharrliches Fernbleiben von
meinem Haufe eher geeignet ift, jene Berleumdungen ala meinen
Unglauben daran zu bejtätigen.“
„Ihr wollet mir ausweichen, Herr Herzog,“ beharrte der
Marcheje. „Sch bitte Euch, ſprecht Euch aus und geitattet mir,
mich zu verteidigen.“
„Run denn, Ihr wollet es. Alſo — man jagte mir —
ah! da bijt du ja, Giomo“ — unterbrach fi) der Herzog und
blidte erwartungsvoll dem joeben auf der Schwelle des Kabinetts
ericheinenden Känımerer —— — „iſt mein Befehl aus⸗
geführt?”
„Sa, gnädigiter Herr —“ war die Antwort. „Es iſt gut.“
Der Kämmerer verfchwand, und der Herzog wendete fich
dem Marchefe wieder zu. — „Verzeiht die Unterbrechung!“
ſagte er mit all der. gewinnenden Höflichkeit, die er fo gut an-
zunehmen wußte, wo e3 galt, feine inneren Gefinnungen zu
verbergen. „Um alfo wieder zu unjerem vorigen Thema zurüd-
zufommen — man jagte mir, Ihr geböret feit langem zu den
Unzufriedenen, jeiet mir und meiner Dynajtie feindlich gefinnt.
Aus all diefen Gründen hättet Ihr Euren jungen Sohn, defjen
Kenntniſſe und Begabung man jo rühmt, veranlaßt, auf eine
Stelle in meiner Regierung zu verzichten. — Doch — ſprechen wir
nicht mehr davon —“ jebte der Herzog leichthin bejchwichtigend
hinzu, obgleich jeinem lauernden Späherblide das Aufzuden,
2560 Egon Fels.
welches den Marchefe bei der erwähnten, unleugbar wahren
Thatſache blitesgleich durchzitterte, Feineswegs entgangen war.
„sch babe, wie gejagt, beſſeres Vertrauen zu Euren loyalen
Gefinnungen und bin nicht jo raſch, an die Feindſchaft von
Leuten zu glauben, denen ich nie etwas gethan, und zu gerecht,
um ohne Unterfuchung zu verurteilen. Jeder Menjch Hat
Feinde, die fich bemühen, feine redlichiten Abfichten in das
Gegenteil zu verkehren. So wird e3 auch Euch gehen, mein
werter Marchefe — Euer Sohn wird wahrjcheinlich noch feine
Luft gehabt Haben, fich mit den Staatsgejchäften abzuplagen.
Er Hat recht, — taufendmal recht, mein lieber Ghisberti! denn
e3 it — im Vertrauen gejagt — ein gar zu läjtiges, lang-
weiliges, unerquidliches, ach, wie ſchweres Amt für einen jungen,
lebensluſtigen Menjchen. — Alſo — wie gefagt — Ihr kommt
zu dem Feſte und bringt Eure jchöne Tochter mit — nicht
wahr?“
Was fonnte nun der Marcheje anderes thun, als ſich
danfend zu verbeugen und zu verfichern, daß er mit Freuden
diejen Kleinen, ihn felbft nur zu Dante verpflichtenden Beweis
feiner Loyalität bringen und mit feiner Tochter erjcheinen
wolle, wenn anders dieſe bi3 dahin wieder wohl genug fein
werde, um ihre Gemächer zu verlaffen, und die Aufregung
eines Feſtes zu ertragen.
Der Herzog ſprach feine fichere Hoffnung, daß dies der
Fall jein möge, in einem Tone aus, der dem Marcheje voll-
fommen die Gefährlichkeit eines folchen Ausweges zeigte,
Ichüttelte ihm aber dann in berzlichiter Weife die Hand und
begleitete ihn höflich bis zur Thür des Kabinetts.
Gedankenvoll und das Herz von ſchwerer Sorge erfüllt,
itieg der Marcheje die Treppe des Palajtes hinab, welche nach
dem großen Hofe führte, von dem aus man in die Gärten
eintrat. Er mußte nur allzumohl, daß Alejandro niemals
freundlicher war, als wenn e3 galt, irgend wen, den er haßte,
dadurch ficher zu machen und ihn über das Schwert zu täuschen,
das, zum Niederfallen bereit, ſchon über feinem nichtsahnenden
Haupte ſchwebte.
Das Rätſel der Ahnenburg. 2561
3. Proopgierf.
Während der Marchefe, diefe Gedanken in feinem Geiſte
wägend, am Fuße der Treppe angelangt, ſich linf3 dem Aus—
gange zumenden wollte, jah er einen Bekannten jveben in dem
nach dem Garten führenden Thore verjchwinden und jchritt,
feine Abficht ändernd, jenem nad, um mit ihm zu fpredhen.
E3 war ihm willlommen, fich ein wenig zu zerftreuen in
freundfchaftlicher Unterhaltung, ftatt fo, ganz mit Sorgen er-
füllt, vor fein ohnehin trübe gejtimmtes Kind zu treten.
Auf dem Wege, den er hätte paffieren müſſen, um auf
die Straße zu gelangen, jtand eine Gruppe von ſechs jungen
Edelleuten in jcheinbar jehr eifriger Unterhaltung, die fie in-
deſſen nicht verhinderte, jede Bewegung de8 Marchefe mit
lauernden Bliden zu verfolgen.
° Die jungen Männer trugen die von dem prachtliebenden
Alefjandro eingeführte Spanische Tracht, die, damals nod) feines-
wegs allgemein angenommen, fie als zum engjten Kreiſe des
Hofes gehörig bezeichneten.
Als ſie den Marcheſe ſich wider Erwarten dem Garten
zuwenden ſahen, ſetzten auch ſie ſich in Bewegung, um ihm in
einiger Entfernung langſam zu folgen.
Der Marcheſe verſuchte vergeblich, ſeinen ſehr raſch
gehenden Bekannten einzuholen, und hatte ihn endlich an einer
ſcharfen Biegung des Weges aus den Augen verloren, konnte
ihn auch, da er jedenfalls einen der Seitenwege eingeſchlagen
hatte, nicht wieder finden.
Mißmutig kehrte er um, ſah ſich aber nach einigen Schritten
plötzlich jener Gruppe junger Edelleute gegenüber, aus deren
Mitte ihm Bianconi di Malandino, der Feind und Verfolger
ſeiner Tochter, entgegen- und geradezu den Weg vertrat.
„Eh! . Guten Morgen, mein Herr Marchefe —“ redete er
ihn an, fich in den Hüften wiegend und mit der weißen, von
Inwelen funfelnden Hand jein die Oberlippe zierendes Bärtchen
keck in die Höhe mwirbelnd.
„Ein weißer Rabe an diefem Hofe! — mie! — meine
Herren?” — wendete er fih an feine Begleiter, in einem
Ill. Haus-Bibl, I, Band XI. 161
2562 Egon Fels.
rn 200,00, G un ——— — — DL ——U 6 ——— —— GG ALLG ÖL ABB wu
marktſchreieriſchen Tone und mit einer Handbewegung, als
zeige er wirklich irgend ein ſeltenes Tier.
„Gebet Raum, Meſſire Malandino,“ ſagte innerlich vor
Wut knirſchend, aber äußerlich voll ruhigſter Würde, der Ver—⸗
höhnte. „Sch bin eilig und habe überdies durchaus nicht mit
Euch zu reden.“
„Nicht? Haha! Habt Shr nicht? 's ift merkwürdig!"
höhnte lachend der andere.
Seinem Gelächter affompagnierten wie auf Kommando
leine Gefährten.
Malandino wich nicht von der Stelle und fuhr fort:
„Und ich wette doch — Ihr möchtet mir recht viel — ehr
viel jagen, wenn — Ihr es nur mwagtet. Heh? Aber hr
fürchtet Euch, mein werter Herr künftiger Schwiegervater, Ihr
fürchtet Euch! Hihihi! grüßt doch Eure fchöne, tapfere Tochter,
meine ſüße Braut, vielmals von mir.“
Jetzt war e3 mit der Mäßigung des Marcheje vorbei.
Solcher Frechheit gegenüber entſchwand ihm im Augenblide der
legte Net der mit ungeheurer Ueberwindung fejtgehaltenen
Selbftbeherrihung. Flammende Nöte bededte fein vorher vor
Uebermaß der inneren Bewegung erbleichtes, männliches Antlib,
Flammen des Zorns brachen aus den dunklen Augen. Die
gebeugt getragene, hohe Geitalt richtete fich Ferzengerade zu
impofanter Haltung empor und, ein ganz anderer al3 vorher,
rief er, die Hand ans Schwert legend, mit einer Stimme, deren
mächtiger lang an das Grollen eines gereizten Löwen ge—
mahnte: „Unverjchämter, wie könnt Shr Euch erfrechen —“
Er vermochte nicht zu vollenden, denn Malandino, der nun
erreicht, was er gewollt, rief jchäumend: „Was, Alter?! hr
wagt eg, mich zu bejchimpfen! Da — nehmt dies —“
Er hob die Hand, um den würdigen aa) in das Anz
gelicht zu Schlagen.
Doch der Marcheje wich dem Schlage mit einem behenden
Geitenjprunge, bei dem er einen der Begleiter jeined Feindes
durch den unerwarteten Anprall über den Haufen warf, aus
und rief, jeiner jelbft nicht mehr mächtig, fein Schwert ziehend:
„Nun iſt's genug! — Berteidigt Euch, Elender! Sch wäre der
Das Rätjel der Ahnenburg. 2563
Beſchimpfung würdig, die Ihr mir zugedacht, wenn ich fie Euch
‚nicht blutig in das fredye Geficht zurückgebe!“
Die Begleiter Malandinos machten anſcheinlich Miene, fich
dazwiſchen zu werfen, er aber freilchte: „Gebet Raum und lafjet
meinen lieben Schwiegervater gewähren. Der gute Mann bat
zu heißes Blut für fein Alter! Ich will ihm aus aufrichtiger
Liebe ein wenig zur Ader lafjen, das wird ihm gut thun.“
Wenn der Elende gehofft hatte, durch diefen Hohn die Wut
des Beleidigten auf das Aeußerſte zu treiben und ihn fo der
nötigen Befonnenheit und Ruhe beim Zweikampfe zu berauben,
jo irrte er ich. |
Der Marcheje durchichaute die Abficht und wie durch Zauber
ward jein wild empörtes Blut ruhig und falt. Die vibrierenden
Nerven beruhigten und ſpannten fich, der zitternde Mann ward
fejt wie Stahl und der vorher jo wildlodernde Blick falt und ftätig.
Der Kampf begann.
Malandino, ein: vorzügliher echter, ‘der feinen Gegner
fürchtete und niemal3 unterlegen war, wie viele Zweikämpfe er
auch jchon gehabt, war gleichwohl der Sicherheit und Ruhe
dieje8 Gegners nicht gemachten.
Seine ungejtüme Kampfweiſe, jeine unberechenbaren, blib-
ichnellen Ausfälle, brachten ihn hier entjchieden in Nachteil, denn
fie vergeudeten zu raſch die Kräfte, welche in dem durch ein
ausſchweifendes Leben entnerbten und erjchöpften Körper ohnedem
nicht im Uebermaß vorhanden waren. Er feuchte bereit3, und
der Schweiß begann ihm in Strömen vom Geficht herab zu
fließen.
Der Marcheje verteidigte fich bis jebt nur, er hatte noch
nicht die leijefte Bewegung zum Angriff gemacht.
Da, mit einem Male fam Leben in jeine jtatuengleiche
Haltung, und eine Minute darauf brach Malandino mit durd)-
bohrter Bruft zujammen.
Ein Blutjtrom ftürzte über feine Lippen, die lodernden
Augen bradden. Der Körper jtredte ſich — Bianconi di Malan—
Dino war eine Leiche.
Der Marcheje war bejtürzt, denn in dem Augenblide, als
fein Feind tot zu Boden ſank, mußte er auch fofort der mög—
lihen Folgen gedenfen.
161*
2564 Egon $els.
War zu hoffen, daß Ddieje jungen Männer, die Freunde und
Gefinnungsgenofjen des Gefallenen, dem zu erwartenden Zorn
des Herzogs über den Tod feines Günſtlings gegenüber den Mut
haben würden, die Wahrheit zu jagen? Sa, hatten fie überhaupt
auch nur den Willen dazu? Würden fie zugeitehen, daß er nicht
ohne ihre Anteilnahme und Billigung, von dem Gefallenen in
wahrhaft infamer Weile provoziert, ja zu dent } Zweilampfe geradezu
gezwungen worden? —
Sein Blick glitt prüfend von dem einen zum andern, aber
da war nichts zu finden, was ihn ermutigt hätte, zu glauben,
ſie bewahrten in ihrem entarteten Innern noch einen Reſt un—
befleckter Ehre, die ſie zwingen würde, zu ſeinen Gunſten zu
zeugen.
Ratloſigkeit, Beſtürzung, feige Furcht und auch die Schaden—
freude, den gefallen zu ſehen, unter deſſen Hochmut und Ueber—
hebung ſie wohl manches Mal gelitten haben mochten — das
war es, was des Marcheſe ſeelenkundiger Blick auf ihren bleichen
Geſichtern las, nichts weiter.
Er wiſchte ſein blutiges Schwert mit ſeinem Tuche ab, und
es in die Scheide zurückſtoßend, beſchloß er dennoch, den Verſuch
zu machen, ſie an ihre Ehrenpflicht zu mahnen. Er ſagte: „Ich
brauche Ihnen wohl nicht erſt zu ſagen, Meſſires, daß ich dieſen
Ausgang des mir abſichtlich von dem Toten aufgedrungenen
Zweikampfes lebhaft bedaure. Ich hoffe, daß Ihr mir bei Seiner
Gnaden, dem Herrn Herzoge, das Zeugnis geben werdet, dieſer
Edelmann ſei im ehrlichen, von ihm ſelbſt erzwungenen Kampfe
gefallen?“ —
Er wartete vergebens auf ein Wort, auf eine Bewegung,
die ihm ihre Bereitwilligkeit, ihre Ehrenpflicht gegen ihn erfüllen
zu wollen, angedeutet hätte.
Zu ſtolz, um noch einen Verſuch zu machen, ſie dazu zu
bewegen, wendete er ſich ab, um den Garten zu verlaſſen.
Allein, wenn ſie nicht den Willen oder den Mut gefunden,
ihm die Wahrheit zu bezeugen, ſo fanden ſie ihn doch dazu,
ihn ohne Zaudern der Rache des Herzogs zu überliefern.
Der Marcheſe ward plötzlich von hinten überfallen, an
beiden Armen gepackt und bedeutet, er ſei ihr Gefangener, da
er gegen die Palaſtgeſetze, welche Zweikämpfe inmitten des
Das NRätjel der Ahnenburg. 2565
Herzoglichen Beſitztums bei jtrenger Strafe verboten, gefehlt
abe. -
Ghisberti maß die Feiglinge mit Bliden niederjchmetterndfter
Verachtung und ließ ſich ohne ein Wort der Erwiderung ge-
duldig dem Ausgange zuführen.
Im Ausgang des Gartens aber, im Begriff, diefen zu be-
treten, begegnete ihnen der Principe Antonio und fragte be-
fremdet nad) der Urfache diejes jonderbaren Aufzuges.
Einer der jungen Edelleute begann zu jprechen, ward aber
jogleih von dem Prinzen unterbrochen, der ihm nadläffig über
die Schulter zurief: „Sch habe nicht Euch, jondern den Mar-
cheje Ghisberti befragt. Ihr Habt zu fchmweigen, junger Mann!”
jegte er jtreng hinzu, al3 jener fich verantworten wollte.
Als der Prinz darauf von dem Marcheſe alle Thatfachen
Itreng der Wahrheit gemäß gehört, ſagte er zu den Edelleuten:
„Ihr könnt Euch entfernen, Meffires. Ich werde meinem Vetter,
dem Herzog, jelbit Bericht eritatten.“
„Aber — Shr verzeiht, gnädigiter Herr. Der Befehl des
Herzogs bejagt, daß jeder verhaftet werden joll —“
„Welcher mutwillig den Burgfrieven des Palaſtes und
deſſen Umgebung durch Raufereien jtört. Ganz richtig, Meflire
— hat der edle Marcheje Ghisberti das gethan? Habt Ihr
etwa die Stirn, Meffires, das zu behaupten, nachdem hr doch
allefamt Zeugen von dem geraden Gegenteil gewejen? Nehmt
lieber Euer Gedächtnis, Euer Erinnern von jo kurzer Bergangen-
beit beſſer zuſammen, ſonſt möchte ich mich verjucht fühlen, das
meine zu ſchärfen, und ich meine,” fügte der Prinz mit einem
etwas jpöttifchen Lächeln Hinzu, „das würde feinem von Euch
beſonders angenehm fein.“
Tief ſich verbeugend, jchlich ſich einer nach dem andern
ſchweigend von dannen.
So' ſchlecht waren ſie denn doch noch nicht, um dem Mar—
chefe in das Geficht eine jo ungeheure Lüge zu wagen, und
außerdem hatten fie auch alle Urjache, den Prinzen fich nicht
zum Feinde zu machen, denn ein jeder hatte irgend etwas, der
eine in diefer, der andere in’ jener Weife auf dem Kerbholz,
von dem er fürchten mußte, es vor dem Herzog gebracht
zu jehen, und daß der Prinz bei aller Bortrefflichfeit feines
2566 Egon Sels.
Charakters ſchonungslos vorging, wo er vernichten wollte, da3
wußten fie und fanden es deshalb ſpäter, als fie befragt wurben,
für beſſer, bei der Wahrheit zu bleiben.
„Seht nach Haufe, edler Herr,“ Hatte fich der Prinz zu
dem Marcheje gewendet, „und erholt Eu) von dem unan-
genehmen Begebnis. Es iſt eine böſe Sache, das ift nicht zu
leugnen, und Alejandro ift unberechenbar, aber ich hoffe den-
no, ihn Euch zu verſöhnen. Schlimmiten Falles müßtet Ihr
fliehen — doch hoffe ich, daß dies nicht nötig wird. Nechnet
aber in allen Fällen ganz auf mich.” Und ohne die Dank—
jagungen de3 Marcheſe anhören zu wollen, eilte er in den
Palaſt.
Wie gut dem Prinzipe die Beſänftigung ſeines Verwandten
gelungen war, davon erhielt der Marcheſe ſchon am anderen
Tage den Beweis. |
Der Herzog jIchidte Lorenzino dei Medici, einen der Jitten=
Iojejten unter den zahlreichen Genofjen jeiner Ausſchweifungen
zivar, aber immerhin feinen nahen Verwandten, mit einer jehr
gnädigen Botichaft an ihn.
Der Herzog — ſagte Lorenzino, der mit der Ruheloſig—
feit und Verwegenheit feines Charafter3 eine große perjünliche
Liebendwürdigfeit und höfiſche Geſchmeidigkeit vereinte, — laſſe
dem werten Marcheje Ghisberti fein Bedauern über die ſchwere
Beleidigung ausdritden, welche ihm von einem feiner Diener
innerhalb der Grenzen feines PBalaftes zugefügt worden.
Er jende ihn nicht nur feine völlige Verzeihung für Die
Mebertretung der Balajtgejege, jondern füge auch die Ver—
fiherung Hinzu, er würde, wenn nicht der Beleidiger bereits
feinen wohlverdienten Lohn von dem Marchefe jelbjt empfangen,
eine exemplariſche Strafe über ihn verhängt haben. Auch ſei
bei diejer Gelegenheit dem Herzoge zu Ohren gefonımen, daß
nicht, wie er und auch der Marcheje jelbit angenommen, jener
Ueberfall der Madonna Clodilde Ghisberti von Räubern um
eines Löfegeldes "willen, jondern ganz allein von Malandino
geplant und von deſſen eignen Leuten ausgeführt worden jet.
Um nun feine entfchiedene Mikbilligung alles Gejchehenen zu
erkennen zu geben, und dem Marcheſe wie jeiner Tochter Ge—
nugthuung zu verjchaffen, habe der Herzog fich entjchloffen, für
Das Nätjel der Ahnenburg. 2567
REIST
den Abend des Feſtes Madonna Clodilde zu feiner Dame zu
wählen, und erwarte, daß jte fich mit ihrem Vater und in
Begleitung ihre8 Bruders, auf den er die Einladung hiermit
ausdrücklich ausdehne, rechtzeitig einfinde, um mit den Damen
ſeines Hauſes die Gäjte zu empfangen.
Lorenzino fügte noch manches Freundliche bei und. jchien
an diefem Tage feine wahre Natur völlig abgejtreift zu haben,
denn er benahm jich durchaus angemefjen und würdig.
Dennoch dankte der Marchefe Gott, al3 er ihn los war.
VUeber die möglichen Folgen des Zweikampfes glaubte der
Marcheje fi nun allerdings völlig beruhigen zu dürfen, aber
in anderer Beziehung war er deito untuhiger. Nun gab e3
feinen Ausweg mehr, das Ericheinen Clodildes beim Feſte
war ein gebieteriſches Maß geworden.
Aber — wo war der bewegende Grund, der den Herzog
zu all dieſer Zuvorkommenheit, zu all dieſer übergroßen
Freundlichkeit veranlaßte? Man war es nachgerade gewöhnt,
hinter einer That der Großmut und Gerechtigkeit von feiner
Seite irgend einen bewegenden Grund des Eigennußes zu ver—
muten, und man irrte fich jelten bei folcher Annahme.
War es allein der Eigenfinn, das Erjcheinen einer Familie,
die fo lange ſich beharrlic) ferngehalten, amı Hofe zu erzwingen?
Salt es jeiner Tochter Ehre und Unſchuld? Aber — er kannte
fie ja gar nicht — fie war nie mit ihm zujammengetroffen, und
— Würde er dann Giulio mit einladen? War das nicht ein
Wächter und Beichüger mehr an Clodildens Geite?
Und — bürgte nicht der Anlaß des Feſtes, bürgten nicht
die Namen, Madonna Beatrice und Maria Salviati, für Die
würdigfte Gejellihaft und den anſtändigſten Ton desjelben?
Uneins mit fich jelbit, bald hoffend, bald fürchtend, quälte
fi) der Marchefe ein paar angjtvolle Tage mit feinen Ge .
danken und Plänen, die jo rajch entworfen al3 verworfen wurden.
4. Die Infrigue.
Sn der Nacht des dritten Tages nach Lorenzinos Bejuch
war der Marcheje gerade im Begriff, jein Lager aufzujuchen,
als die Thür des Schlafgemaches ſich öffnete, und, von Wolf
2568 Egon $els.
— AS
geleitet, ein bis zur völligen Unkenntlichkeit vermummter
Mann eintrat.
Wolf entfernte fich jofort wieder, ſchloß die Thür hinter
ih, und einen Stuhl beranziehend, jeßte er fich quer vor der
Thür des Vorzimmers nieder, um jeden Laujcher fernzuhalten.
Der außerordentlich beftürzte Marcheje, der ſich in liegender
Haft wieder anzufleiden begann, jah feinen unerwarteten Beſuch
Hut, Mantel und die Halbmasfe abwerfen und blidte mit
namenlofem Erjtaunen in des Prinzen Antonio edles, ernites
Geſicht.
„Ihr habt wohl gerade mich am wenigſten zu ſehen er—
wartet, mein lieber Marcheſe, —“ ſagte dieſer, ihm die Hand
bietend — „mich, der ich ſo lange Euer Haus nicht betreten,
weil ich mir die Kraft nicht zutraute, Madonna Clodildes
liebliches Antlitz wiederzuſehen, ohne von neuem die halb ge—
ſchloſſene Herzenswunde bluten zu fühlen. Ich habe ihr aber
gelobt, immerdar ihr treueſter Freund zu bleiben, da ich ihr
Gatte nicht ſein ſoll, und dieſes mein Manneswort einzulöſen,
bin ich gekommen.“
Der Marcheſe hatte ſich inzwiſchen gefaßt und begrüßte
nun mit voller Herzlichkeit den werten Gaſt. Den Prinzen
zu einem bequemen Sitze geleitend, nahm er ſelbſt ihm gegen—
über Platz und ſagte: „Es iſt wahr — Ihr habt mich über—
raſcht, mein teurer Prinz. Aber was es auch ſein mag, das
Euch zu mir führt, ich fühle mich ſehr geneigt, es willkommen
zu heißen, da dies unbekannte Etwas die bewegende Macht
geworden, mir Euren ſo lange ſchmerzlich vermißten Beſuch
wieder zu bringen.“
„Ihr ſeid ſehr gütig, mein lieber Marcheſe, und ich bin
Euch für Eure Freundſchaft herzlich dankbar, bezweifle aber,
daß Ihr geneigt ſein werdet, den mehr als ernſten Anlaß,
der mich zu ſo unpaſſender Stunde in Euer Haus zurückgeführt,
zu preiſen. — Macht Euch gefaßt, ſehr Schlimmes zu hören.
— Ihr und die Eurigen befindet Euch in einer furchtbaren
Gefahr. Euch daraus zu retten, bin ich gekommen; damit ich
dies jedoch kann, muß ich uneingeſchränktes Vertrauen und
Grabesſchweigen über meine Hilfe von Euch fordern. Werdet Ihr
mir beides gewähren, auf Euer unbeflecktes Edelmannswort?“
Das Rätfel der Ahnenburg. 2569
0 ae)
„a, mein Prinz — ganz und gar, auf mein Edelmanns—
wort! Sch ahne überdies, was Ihr mir Jagen wollt. Ich
fühle die Gefahr, die mich umgiebt. Der Herzog will den
Tod ſeines Günſtlings an mir rächen. Iſt es nicht das?“
„Schlimmer, weit ſchlimmer als dag, mein alter Freund!
Doch — ehe ich weiter fpreche, lafjet mich Euch noch einmal
eindringlichit zu Gemüte führen, daß ich Euch nur retten Tann,
wenn Ihr auf jede Selbjtbejtimmung verzichtet, Euer und der
Euren ganze Wohl und Wehe, ja Eure ganze Exiſtenz völlig
in meine Hände gebt und meinen Anordnungen in jeder Be—
ziehung Gehorſam leiſtet. Es ijt ein ungeheure Verlangen,
daß ich da an Euch ftelle, aber — die Gefahr it auch eine
ungeheure und verlangt ungewöhnliche Mittel, um fie zu be—
ſchwören. Ich werde, das gelobe ich Euch bei Gott und bei
meiner Ehre, Euer Vertrauen nicht täujchen und — “
| „sch bitte Euch, jaget nicht weiter, mein edler Prinz,
es ijt unnötig. Ich gebe mich und die Meinen, gebe alles,
was ich bin und habe, mit jchranfenlojem Vertrauen ganz und
gar in den Schuß Eurer Ehre.“
„sch danke Euch, Ghisberti, Shr werdet e8 niemals bereuen, “
erwiderte Antonio ergriffen, dem Marcheje die Hand reichend.
„Ihr werdet Euch wundern,“ begann er wieder, „Daß
ich, der ich mich doch feinegwegs des Vertrauens meines lajter-
haften Vetters erfreue, von einer Intrigue, die doch im tiefjten
Geheimnis, in feinem eigenen Geheimfabinett von ihm jelbft
und feinen intimjten Werkzeugen gejponnen ward, dennoch jo
ganz unterrichtet bin. , Aber ein Menſch, wie Alejjandro übt
eben den verderblichiten Einfluß auf feine ganze Umgebung aus,
er demoraliſiert gewiſſermaßen jelbit die Beiten, indem er auc)
zu Maßregeln zivingt, die fie verabjcheuen und. über die ſie
vor ſich jelbjt erröten, deren fie jich doch troß alledem bedienen
müfjen, teils un der Sicherheit ihrer eigenen Erijtenz willen,
teils um nicht jedes Einfluffes, der ihnen doch hin und wieder
geitattet, im jtillen den böjen Plänen entgegenzuarbeiten und
hier und da einen Unfchuldigen zu retten, verluftig zu gehen.
Sn diefer Lage befinde auch ich mich. Gleich Alejandro
habe ich meine .gut bejoldeten Spione und von Dielen erfuhr
ich folgendes:
2570 Egon Fels.
Jener elende Malandino, der von Eurer Hand ein viel
zu ehrenhaftes Ende fand, freite ſeiner Zeit um Madonna
Clodilde, nicht etwa deshalb, weil ihre ſüße Schönheit, ihre
Engelsmilde und zahlreichen Tugenden fein Herz gerührt hatten,
ſondern allein in der Abficht, durch fie feinen Einfluß auf den
Herzog zu befeſtigen “
Ein Stöhnen tiefiten Grimmes erleichterte Hier die gepreßte
Bruft des Vaters, der fchweigend, aber mit frampfhaft geballten
Händen der Entwidelung des infamen Anjchlages zuhörte.
„Noch hatte Alejandro Euer jchönes Kind nicht gejehen,
noch mußte er nicht, ‘welchen Schatz himmliſcher Schönheit,
welche Perle von Reinheit und Unſchuld Malandino ihm zu=
gedadht. Da zeigte der abgewiejene Freier ihm eine Tages
Donna Clodilde in der Kirche, und, mie er erivartet hatte,
fing der Herzog in kaum je dagewejenem Grade Feuer und
erteilte ihm Vollmacht zu jeder Schandthat, um dies Kleinod
in feinen Beliß zu bringen.
Ssene Heine Rauferei, bei der Malandino eine gänzlich
unbedeutende Wunde empfing, brachte ihn auf den Einfall, ſich
tödlich verwundet zu jtellen, um Madonna Clodilde, die, um
ihm auszumeichen, es nicht mehr wagte, ihren Palaſt zu ver-
laſſen, jiher zu machen. Durch feine Spione erfuhr er als—
bald, wie gut ſeine teuflijche Lift gelungen, und bereitete den
Veberfall vor.
AS die Entführung duch Eurer Tochter Geijtesgegen=.
wart und Tapferkeit vereitelt worden, Fnirjchte der Herzog vor
Wut, und jein Verlangen, das Weib, das ihre Ehre jo tapfer
zu verteidigen wußte, dennoch in jeinen Befig zu bringen, ward
immer glühender.
Mit feinen beiden Kämmerern, dem Schurken Giomo und
dem Ungar, hielt er Rat, wie man in anderer Weile zum Biele
aelangen könne.
Das waren die Geheimräte, und die wichtigen Staats—
angelegenheiten, die gerade in jeinem Kabinett verhandelt
wurden, als Ihr in den Palaſt kamet, um Audienz zu fordern.
Ein neuer Plan war raſch entworfen, und Giomo ward
ausgejandt, um Malandino von Eurer Anmejenheit zu benach-
richtigen und ihm den Befehl zu bringen, Euch zu provozieren.
Das Rätjel der Ahnenburg. 2571
Der Herzog wußte, welch vorzüglicher Fechter Malandino
war, wußte, wie viele er damit bereit3 ind Jenſeits befördert
hatte, und erwartete mit Beitimmtheit, er werde Euch töten
oder doch mindeſtens tödlich verwunden.. Man Hatte dann in
jedem Falle freie Hand, ein ſchutzloſes Mädchen insgeheim zu
überfallen und zu entführen.
Das war dem anfänglichen Vorſchlage Giomos, direkt
unter irgend einem leicht gefundenen Vorwande fi) Eurer zu
bemächtigen, bei weiten vorzuziehen. Ä
Das wagte Alejandro denn doch nicht. Da aber ein ſo
hinterliftiger Menſch, wie mein entarteter Vetter, immer gern
zwei Pfeile in jeinem Köcher hat und es liebt, ſich auch auf
unvorhergefehene Fälle vorzubereiten, jo empfing er Euch mit
all jener Höflichkeit, deren er. fich mit jo vollendeter Mleilter-
Ichaft zu bedienen weiß, daß es ihm oft gelingt, ſelbſt die zu
täufchen, die ihn nur zu genau fennen; er machte Euch ficher
und bahnte einen neuen Plan durch jene Einladung an, der
in einem Augenblicke in jeinem intriguanten Geiſte ent⸗
ſtanden war.
Als ich an jenem Tage zu ihm kam und er durch mich
von dem üblen Ausfall ſeines Anſchlages auf Euer Leben hörte,
war er einen Augenblick vor Ingrimm wie von Sinnen, dann
aber glättete ſich ſein Geſicht wieder, und er hörte meine Vor—
ſtellungen, meine Verteidigung Eurer gerechten Sache mit einer
Miene an, die mir im Augenblicke rätſelhaft blieb, die ich
jedoch, nachdem ich alles gehört, was ich Euch jetzt mitteile,
nur zu gut verſtand. |
Es war bereit3 mit der VBervollitändigung jeines neuen
Schurkenplanes fertig geworden und feiner Opfer ficher.
Als ich geendigt hatte und feine Enticheidung erwartete,
jftand er auf und fagte, mir mit wohlwollendem Lächeln auf
die Schulter Flopfend: ‚An dir ijt ein vortrefflicher Advokat
verdorben, Antonio. Du haſt mich überzeugte. Der arme
" Malandino thut mir eigentlich leid, er war ein luftiger, brauc)-
barer Kerl — doch — warum betrug er fich wie eine Beitie!
Er war eben übermütig geiworden, troßte zu ficher auf meine
Gnade, und — 's ijt wahr, der Ghisberti war ihm gegenüber
in feinem Rechte. Der arme Mann ijt eben zu ſchwer gereizt
2572 Egon $els.
àV——— LS ——
— —
worden, da vergißt man wohl, was das Geſetz gebietet. Ich
ſehe es ein, und will ihm nicht mehr zürnen. Seinen Arm
vertraulich in Den meinen legend, neigte er fich zu mir:
„Kennſt du den Marcheje und feine Tochter, deren Schönheit
man jo fehr rühmt, näher?* fragte er.
Sch begegnete feinen lauernden Blicke mit feſtem Auge,
denn ich wußte wohl, er wollte nur wiſſen, ob ich die Wahr-
heit verleugnete; ich war ja ficher, daß jeine Spione ihm längft
berichtet hatten, wie ich ohne Erfolg um Madonna Clodilde
geworben. Deshalb gab ich ruhig die Antivort: ‚Sa ich kenne .
beide und zwar genau, da ich Madonna Clodilde einft liebte.‘
‚Was?‘ rief er kurz auflachend, ‚du, der Weiberfeind,
welcher gejchworen, fich nie wieder zu verehelichen? Was du
jagt! Das ijt mir ja jehr intereffant! Warum aber haft du
nicht um die Dame geworben? Der Marcheſe ift reich, jehr
reih, wie man jagt, die Familie ift gut — ich Hätte gegen
dies Bündnis nichts einzinvenden gehabt.‘
Genug davon, ſchloß der Prinz, das weitere will ich mit
Stillichiweigen übergehen.
Ich verließ ihn mit dem Erfolge meiner Intervention zu
Eurem Gunften, im ganzen zufrieden, aber doch von irgend
welcher Ahnung beunruhigt und über jenen jchon erwähnten
rätjelhaften Geſichtsausdruck Aleſſandros brütend.
Lorenzinog Sendung am Tage nachher vollendete das
eb, in dem ich Euch mit Schreden gefangen ſah. Ich nahm
meine Maßregeln und erfuhr heute morgen alles.
Aleſſandros Plan ijt dem Öelingen nahe, denn der Be-
ſuch dieſes Feſtes — dem meine eigene Mutter vorftehen, ihm
jomit als Lodvogel dienen muß — vollendet feinen Triumph.
Indem hr mit den Euren die Schwelle des Palaſtes an
jenem Abende betretet, Liefert Ihr Euch und Euren Sohn
jeinen Banditen und Eure holdfelige Tochter dem Herzog aus.“
Abermals entfloh ein dumpfer Ausruf namenlofen Schredens
den zitternden Lippen des Marcheje; er wollte jprechen, aber
der Prinz erhob Schweigen gebietend die Hand und jprad)
ſelbſt weiter:
„Die Gärten de8 Palaſtes werden erleuchtet fein, denn
ein namhafter Teil des Feſtes wird in ihnen ftattfinden.
Das Rätſel der Ahnenburg. | 2573
Ihr werdet vorfichtig natürlich nicht von Madonna
Clodildes Seite weichen, dasjelbe wird, von Euch benachrichtigt,
Euer Sohn thun. Won den anderen Gäſten durch eine ver-
abredete, leicht ing Werk zu ſetzende PVeranitaltung irgend
welcher Art getrennt, werdet Ihr ruhig, den fchönen Abend
geniegend, furchtlos und nichts ahnend der erleuchteten Stelle
zumandeln, wohin man Euch unter irgend welchem Vorwande
zu loden weiß. Plötzlich ftürzen die durch Schnüre ver-
bundenen, im Laube der Bäume verborgenen Lampen um.
Es iſt finfter um Euch, Shr und Euer Sohn werdet von den
im Gebüjch auf Euch lauernden Mördern überfallen und er-
doldt. Eueren Todes-, der Madonna Klodilde Schredenzichrei
erjtict die raufchende Muſik. Madonna Elodilde wird fort-
geichleppt und in eine jener Lajterhöhlen gebracht, wo Aleffandro
jeine Orgien feiert. In dem Wirrwarr des Feſtes bemerkt
man das DVerjchwinden dreier Perjonen nicht leicht; da aber
Madonna Clodilde die Dame des Herz0g3 an dieſem Abende
war, jo wird dafiir gejorgt, daß. die Geſellſchaft auf glaub
würdige Weile erfährt, fie habe ſich erjchöpft mit ihren An—
gehörigen zurücdgezogen und nach Haufe begeben. |
Eure und Eured Sohnes Leichen werden fortgebradht und
auf der Straße, die Ihr zu paſſieren Habt, ſamt denen Eurer
inzwijchen ebenfalls ermordeten Diener niedergelegt. Der Ans
ichein eines Kampfes ift ja fo leicht geichaffen. Shr jeid dann
von Banditen überfallen und ermordet, Eure Tochter in die
Berge geichleppt worden. Aleſſandro wird rajen, daß felbjt
jeine Gäjte nicht mehr vor den Räubern ficher find, wird einige
aufgreifen und auf der Folter zu dem Gejtändnifje zwingen
lafjen, daß fie e8 waren, welche Euch, und aus Furcht, entdeckt
zu werden, in den Bergen auch Eure Tochter nachträglich er-
mordet haben. hr wifjet, man fann auf der Folter noch
ganz andere Dinge aus dem empfindlichen Menjchenleibe heraus-
preſſen. | |
| Darauf werden die Verbrecher unter möglichit großen
Umjtänden gehenkt und die Sache ijt abgethan.
Was Madonna Elodilde betrifft,“ murmelte er knirſchend
und mit der Hand feinen Wams aufreißend, denn der innere
Ingrimm eritickte ihn faft — „jo Ichafft fie, wenn der ver-
— — — A en
2574 Egon Fels.
brecheriſche Schurke ihrer müde geworden, dasſelbe Gift aus
dem Wege, dem die ſchöne unſchuldige Luiſa Strozzi, des
armen Luigi Vapponi junge Gemahlin, erliegen mußte, weil
ſie ſich Aleſſandros ehrloſen Anträgen nicht fügte und ihrem
Gatten die Treue bewahrte.
Euere Güter und Euer Vermögen verfällt als herrenlos
dem Staate, und Euer Henker wird ſchon Mittel und Wege
finden, ſich den Löwenanteil davon zu ſichern, denn Ihr wiſſet,
er iſt allezeit geldbedürftig und die ungeheuerſten Summen
entſchwinden ihm gleich Sand aus den Händen. Aber er
würde ſich nicht ſeines Raubes freuen! Mit dieſen meinen
Händen erwürgte ich ihn eher, als daß en unreiner Hauch
meine Heilige vergiften ſolltel·
5. Die Gegeninkrigue.
Der Marcheſe war völlig niedergeſchmettert von der in
ſolchem Umfange und ſolcher Nähe keineswegs erwarteten Ge—
fahr, in der er und ſeine Kinder ſchwebten.
„Das Ungeheuer!“ brach er endlich aus. „Hier giebt
es kein Beſinnen, kein Säumen, wir müſſen ſchleunigſt
fliehen!“
„Ganz richtig, mein Freund, Ihr habt den einzigen Weg
zur Rettung bezeichnet. Wie Ihr es aber könnt — daß Ihr
es könnt, bedarf reiflicher Ueberlegung und keines geringen
Aufwandes von Vorſicht und Liſt. Denn glaubt ja nicht, daß
eine Flucht ſo leicht ſein wird, und ſelbſt wenn ſie anſcheinend
gelingt, ſo würdet Ihr Euch zu ſpät überzeugen, daß der Tiger,
der auf Euch lauert, Euch nur um ſo raſcher packen, Ihr um
ſo ſicherer in ſeine verbrecheriſchen Hände fallen werdet. Eure
Beſeitigung zu verbergen, wird ihm in dieſem Falle weit
weniger Mühe machen. Nein — ſagt nichts — wartet. Ich
habe Euch ſchonungslos den ganzen teufliſchen Plan enthüllt,
Euch die entſetzliche Lage gezeigt, in der Ihr und vor allem die,
welche mir nächſt meiner Mutter das teuerſte Weſen auf Erden
iſt und ſein wird, ſich befindet. Nun laſſet mich zu dem von
mir entworfenen, bereits vorbereiteten und angebahnten Plane
Eurer Rettung kommen.
%
Das Rätſel der Ahnenburg. 2575
Ihr müßt gänzlich verjchwinden, das heißt, aus Italien
verjchivinden.
Die ſich täglich jchlimmer geitaltenden Zuſtände unferer
engeren Heimat fünnen jo nicht lange mehr dauern. Meines
verbrecherijchen Better Sturz kann troß der Gunſt des ge=
meinen Volkes, auf die er fich jtüßt und die er durch jeine
Zeutjeligfeit und Zugänglichkeit, durch eine wohlfeile Großmut,
durch eine ſcheinbar dem innerſten Rechtsbewußtſein entſprungene
Gerechtigkeit in kleinen Sachen ſich zu gewinnen und zu er—
Halten verſteht, nicht mehr lange dauern. Eure freiwillige
Verbannung, wenn man Eure Flucht noch jo nennen kann, wird
ſonach nicht eine zu langivierige fein. Seid Ihr damit ein-
veritanden?”
„Ganz und gar, mein Prinz — und dürfte ich auch nie
meine teure Heimat wieder fehen, ich würde doch mit meinem
armen Sinde fliehen, jo weit mid) meine Füße tragen.“
„She Habt recht. — Sit Euer Sohn ſchon von Euch
zurüdgerufen ?* |
„Nein, noch nicht. Sch zügerte, ihm die Weilung zu—
kommen zu lafjen, beivogen von einem geheimen Gefühl banger
Ahnung, daß ihm der Aufenthalt hier Verderben bringen
fünne.“
„Das ijt ein glüdlicher Umjtand. Nach) meiner Anficht
darf jedoch Giulio Stalien nicht mit Euch verlaffen. So lange
er bleibt, wird man Euch und Madonna Clodilde in der Nähe
veritedt wähnen.“
„Aber auiellandzo wird an ihm jeine Nache Fühlen,
wenn —“
„Ihn ficher zu Stellen, dag lajjet meine Sorge jein. Seine
Begleitung würde Eure Flucht nur erjchweren. Man findet
drei Perſonen jtet3 leichter al3 zwei. Ueberdies wäre jeine
Anmwejenheit in der Nähe im Augenblide einer Regierungsver—
änderung für feine fünftige Stellung eine Notwendigfeit.
Schreibt ihm aljo den Sachverhalt, der Euch nötigt, zu fliehen
und weijet ihn an, ohne einen Augenblid Verzögerung nad)
Nom abzureifen, während er dort, wo er fich befindet, erklärt,
er folge der Einladung Alejandro zum Feſte. Leget dies
Empfehlungsjchreiben an den Papſt bei," — der Prinz wählte
2576 Egon Fels.
aus einen Paket Schriften, das er aus einer inneren Taſche
jeine8 Mantel hervorgeholt, einen Brief aus und gab ihn
dem Marchefe. — „hr wißt, Baul II iſt nicht gut auf
Aleffandro zu jprechen. Giulio muß ſich damit jogleich nad)
dem Batilan begeben und Audienz begehren. Seid verſichert,
er wird fie, wenn er jagt, daß er von mir kommt, augenbfid-
li) erhalten, und auf Grund meines Briefe wird ihm nicht
nur eine Gtelle in der nächſten Umgebung des Bapjtes,
ſondern auch, deſſen nachdrücklichſter Schuß zu teil werden.
| Dad wäre die Sicherheit Eure8 Sohnes, und nun
zu Euch.
Sch hörte, Madonna Elodilde ſei feidend. Wird fie im-
Itande jein, zu Pferde zu reifen? Dem das ilt um Des
Ichnelleren Fortkommens willen durchaus notwendig.“
„sch hoffe e8, denn ihr Leiden ift ſpezifiſch ein ſeeliſches.
Das Kind’ Ichreibt fi nicht nur die Schuld an des armen
Anſelmos Tod zu, fie macht ſich auch noch über den bon ihr
getöteten Schurken die ſchwerſten Gewiſſensvorwürfe.“
„Das begreife ih; das ift nur die notwendige Konſequenz
ihrer engelhaften Natur. Aber die gefährliche Lage; deren
ganzen Umfang Ihr keineswegs ihr verheimlichen dürft, wird
ie über jich jelbft Herausheben und ihr die Kräfte nicht nur
zur Reife, fondern auch zu der notwendigen Berjtellung geben.
Sch brauche zwei Tage, um alle meine Vorbereitungen zu der
Sicherung Eurer in das tiefite Geheimnis gehüllten Reife zu
vollenden. | |
Während diefer Zeit müßt Ihr alle vorbereiten und
paden, was Shr zum Notwendigften bedürft, oder al3 beſonders
lieb und wert mit Euch führen wollt. Doc laſſet das Gepäd
nicht zu umfangreich fein, und waget e3 ja nicht, irgend eine
Anordnung für Eure zuricbleibenden Diener und Beamten zu
treffen. Mißtraut jedem, von dem Shr nicht mit Gewißheit
überzeugt feid, daß Ihr auf feine unbeftechlihe Treue mit
Sicherheit bauen könnt. Während diefer geheimen Thätigfeit
muß aber eine öffentliche nebenhergehen, um Euren Feind ficher
zu machen. Zeigt Euch geſchäftig, Euer und der Euren Er—
ſcheinen auf dem Feſte mit einem Glanz vorzubereiten, welcher
beweiſt, wie Ihr die Eurer Familie zugedachte Ehre zu ſchätzen
Das Rätjel der Ahnenburg. 2577
wißt. Madonna Clodilde muß fi) in die Stadt begeben und
bei den Kaufleuten ihre Beftellungen an Stoffen für ihre
Toilette machen, muß Geivandichneider, Sticerinnen und
Sumeliere in Bewegung jeßen, um ihrerjeit3 zu beweijen, welche
- Mühe fie ſich giebt, als Dame des Herzogs, als augenblicliche
Stellvertreterin der Faijerlichen Margarethe, diefer Ehre würdig,
an Glanz und Reichtum ihrer Kleidung alle anderen Damen
zu überjtrahlen. Sie muß einige Beſuche bei ihr bekannten
Familien machen und dort lebhaft, erwartungspoll von dem
Seite ſprechen, auf welches fie fich jo fehr freut, daß fie ent-
Ihloffen alle trüben Gedanken über Bord geworfen. hat.
In der dritten Nacht, von heute an, werden drei Berfonen,
mein Kämmerer Ruggiero, deſſen Treue über allen Zweifel
erhaben iſt, ein Diener und eine Dienerin meiner Mutter —
welche, in deren Kleidern dicht verſchleiert, fie vorſtellen wird,
während Shr, Donna Clodilde und Eure. Diener als ihr Ge-
folge gelten ſollt — Euch am hinteren Gartenthor nach Mitter-
nacht erwarten. Ihr dürft nur einen Diener, Madonna.
Clodilde höchiteng zwei ihrer Frauen mit fich nehmen. Leben3-
mittel bis zur Grenze und die unterwegs notwendigften Hab-
feligfeiten. müſſet Ihr auf ein PBadpferd legen. Das Uebrige .
muß auf einen Wagen gepadt und mit den zwei Frauen Eurer
Tochter, unter irgend einem Vorwande, vorausgeſchickt werden.
Habt Ihr außer Wolf Diener, auf deren Treue Ihr Euch
verlaſſen könnt? Das iſt wejentlich, denn ſonſt würde es kaum
möglich fein, Eure Flucht lang genug zu verbergen, um deren
Geheimnis ganz zu fihern. Wir könnten zwar Beftechung ver-
juchen, aber diefer Weg tft ftet3 unficher.“
„Jawohl! das ift er, und ich denke, wir können ihn ent-
behren. Sch glaube, dreien unter meinen Leuten fo ficher zu
ſein, wie man de3 wanfelmütigen Menfchen überhaupt jein
fann.”
„Das genügt. Dieſe drei müfjen die Täufchung, Ihr
und Eure Tochter befändet Euch noch im Palafte, jo lange
al3 nur möglich zu erhalten wiffen. Wird das möglich jein?“
„DO ja — warum nicht? Elodilde Hat fich bei ihren Ein-
käufen und Beltellungen in der Stadt zu jehr angejtrengt und
muß da3 Bett hüten. Da Urracca, ihre Amme, und Suliette,
SU. Baus-Bibl. II, Band XI. ..162
— — — — —*
2578 Egon Fels.
— —— ————— — ——ç——— —— ⏑ —
ihre Zofe, unglücklicherweiſe nicht anweſend find, denn dieſe
beiden nehmen wir mit, ſo läßt ſie Frau Barbara — die
ehemalige Kammerfrau meiner verſtorbenen Gemahlin — zu
ihrer Bedienung und Pflege befehlen. Dieſe treue Alte wird
ihre Rolle vortrefflich ſpielen. — Ich verlaſſe oft wochenlang
das Schloß und tagelang meine Bibliothek nicht. Niemand
wird es auffallen, wenn ich unſichtbar bleibe, mein Kammer—⸗
diener wird ebenfalls die Täufchung, ich jei anweſend, mit nicht
minderem Geſchick al3 Barbara aufrecht zu erhalten willen.
Die Abreiſe der Dienerinnen zu rechtfertigen, bietet ſich im
Augenblide gerade der denkbar beite Vorwand. Die Schweiter
der Zofe meiner Tochter feiert in nächſter Woche in Pietramala
ihre Hochzeit. Clodilde hat ihr ſchon lange erlaubt, daran
Teil zu nehmen, und Frau Urracca, ihre ehemalige Amme,
zum Schube des Mädchens zur Mitreife veranlaßt. Beide
jollen mit diejer Reife noch eine Nebenaufgabe erfüllen, indem
fie, da ihr Weg an dem Klofter der heiligen Agathe vorüber-
führt, dort einige Kilten mit Früchten und Leinenzeug für die
frommen Schweitern zum Geſchenk mitnehmen. Für die Heilige
ſelbſt hat Clodilde eine Altarbefleidung geitict, die fie ebenfalls
bei diejer Gelegenheit an die Aebtiſſin, eine Freundin meiner
verjtorbenen Gemahlin, abjenden will. Dazu fommen nod) ein
paar Kiſten mit Hausrat und Hochzeitsgeſchenken für die Braut.
E3 wird ſonach niemandem auffallen, wenn die beiden Frauen
ein ziemlich anjehnliches Gepäd mit fich führen.“
„Das könnte fih. ja gar nicht befjer treffen!“ — rief der
‚Prinz überaus. zufrieden. „Laſſet alſo alle jene Kiſten nur
ruhig hier jtehen, ich werde dafür ſorgen, daß, wenn fie auch
nicht an ihre Beltimmung gelangen, weder die Braut noch die
heilige Agathe und ihre frommen Dienerinnen etwas von dem
einbüßen, was die Güte und Frömmigkeit Madonna Clodildes
ihnen zugedacht hat. Euer Gepäd wird die Stelle jener Kiſten
einnehmen, und die Frauen können jonach vielleicht am beiten
Ihon morgen am hellen Tage unbeargwöhnt die Reife antreten,
nur müßt hr für einen ficheren Kutſcher jorgen, denn ftatt
nach PBietramala, mühjen fie ihren Weg, nachdem fie vielleicht
eine halbe oder noch beijer eine Miglie weit diejer Straße ge-
jolgt find, nad) Borgo ©. Sepolero nehmen. Ihr wißt, das
Das Nätfel der Ahnenburg. 2579.
liegt der Grenze des Kirchenjtaates näher als Pietramala und
ift auch jonft bei weitem jener Richtung vorzuziehen. Das
Geheimnis zu fichern, wird meine Mutter während der ganzen
Zeit, welche die Reife nach Borgo ©. Sepolero und die Rüd-
reife erfordert, ihre Gemächer nicht verlaflen und von ihrer
Dienerfchaft für verreift ausgegeben werden. Wir müſſen
natürlich vorbereitet fein, daß Aleſſandros Neugier — ja
vielleicht fein Argwohn nah dem Anlaſſe dieſer jo plößlich
ohne alle Vorbereitung angetretenen Reife nad) dem abgelegenen
Orte forjchen wird, und da muß eine von dem in3 Geheimnis
gezogenen Pater Benedict — Ihr kennt und fchäht ja gleich ung
den ehrwürdigen Mann, unjer Beichtvater — ihr auferlegte
Pilgerfahrt nach der Cathedralficche des heiligen Sohann dajelbit,
dem ihre Stellvertreterin einen goldgeitidten Mantel bringt,
den Vorwand bieten.
Und nun fommen wir zu dem übrigen, was ich fait das
Wichtigfte nennen möchte.
Verweilt Euch nirgends länger, al3 die allernötigjte Er-
holung fordert. Haltet Euch an das arabiſche Sprüchwort
und lafjet fein Gras unter Euren Sohlen wachen, jelbit dann
nicht, wenn Ihr die Grenzen Staliens bereit3 Hinter Euch habt.
Das Ziel Eurer Reife it Paris, wo Euch dies eigenhändige
Empfehlungsfchreiben meiner Mutter den mächtigen Schuß
unferer Muhme, der Königin Catarina, und dies von mir an
Heinrich, ihren Gemahl, den feinen fichern wird. Die Schreiben,
welche Euch) ankündigen, werden auf geheimem Wege Euch dort
und Shr Euch ſomit erwartet, Eure Aufnahme am Hofe vor-
bereitet finden. Glaubt nicht, jo weite Flucht ſei unnötig.
Alefjandros Arm reicht weit und nur Caterina, die, wie Ihr
wißt, eine treue Freundin zu ſein verſteht, aber auch eine
fürchterliche, unverſöhnliche, erbarmungsloſe Feindin iſt, wird
Euch vor ihm ſchützen können, denn ihre Gunſt wird er eben
ſo wenig auf das Spiel ſetzen, als ihre Feindſchaft heraus—
fordern. Habt Ihr Geld genug zu ſo weiter Reiſe?“
„Ich denke — es werden an dreihundert Goldgulden
ſein, überdies kann ich —
„Nein, nein! — Ihr könnt nichts, dürft gar nichts thun,
was irgend darauf hindeuten könnte, Ihr bedürftet Geld, zu
162*
2580 Egon gels.
was für Zwecke es jei —“ fiel ihm haftig der Prinz ins Wort
und fuhr ruhiger fort: „Zu Euren Einfäufen und Beitellungen |
für das Feſt hat ja doch ein Mann von Eurem Kredit fein
bare Geld nötig. Ruggiero wird Euch weitere dreihundert
Goldgulden mitbringen, und hier ift eine Anweilung an den
Sieur Bellegarde in Paris, durch ihn werdet Ihr en
was Ihr weiter bedürft.“
„Aber, mein teuerſter Prinz, ich kann doch unmöglich —
„Still, lieber Freund. Wartet, ich bin noch nicht —
Ihr ſeid mir den größten Beweis Eures Vertrauens noch
ſchuldig.“
Während Antonio dies ſagte, entfaltete er eine Schrift,
an der ein großes Wappenſiegel hing.
„Dies, mein lieber Ghisberti, iſt ein rechtskräftig abge⸗
faßtes, amtlich beglaubigtes Dokument, worinnen Ihr Madonna -
Beatrice, meiner Mutter, Eure geſammten Güter, all Eure
Siegenichaften, Euer ganzes bemwegliches und. unbewegliches
Eigentum um die Summe von-900000 Goldgulden verfauft.
— Das Datum ift aus Vorſicht und um Meffire Vittorio vor
Verantwortung zu fichern, — es iſt von ihm vollzogen und
beglaubigt — auf zwei Monate von dem heutigen Tage zurüd-
datiert. Die Zahlungen jollen in Ouartalraten jtattfinden und
müfjen innerhalb dreier Jahre vom Datum des Berfaufes an,
vollftändig beglichen jein. |
‚ Seid Ihr bereit, dies Dokument zu unterjchreiden und
mich fomit, al3 Stellvertreter meiner Mutter, in den augenblid-
lichen Beſitz Eures Cigentumes zu jeßen?“
Der Marcheje fagte, feine Hand nach der. Schrift auS-
itredend: „Gebt nur raſch ber, mein edler Beſchützer, ich unter-
ſchreibe alles, was Ihr mir vorlegt unbefehen, und gebe, wie
ih Eud) veriprochen, mein und der Meinen ganzes irdiiches
Wohl und Schiejal in Eure edle Hand. Sit e3 doch das
einzige, womit ich Euch die Tiefe meiner Dankbarkeit für Eure
unſchätzbare Hilfe im Augenblicke beweifen Tann.“
Während er jo fprach, hatte er mit einem rajchen Feder-
zuge jeine Unterfchrift vollzogen und gab das Dokument zurüd.
„SH danke Euch, Ghisberti,“ erwiderte der Prinz
lähelnd. — „Ich jehe, daß ich mich in feiner Weije in Euch
Das Rätfel der Ahnenburg. 3581
geirrt. Wer ſelbſt edel und alles Bine würdig it, erfennt
bald die gleichgejinnte Seele in einem anderen.
Sch brauche Euch wohl nicht zu jagen, Wwerter Freund,
daß dies Dokument zwiſchen uns nicht mehr als ein Nichts, '
eine Fiktion iſt. Es iſt für mich nur das rechtskräftige Mittel,
Eure Beſitztümer vor Aleſſandros Habgier ſicher zu fiellen
indem es mich berechtigt, ſie von meinen Beamten und Dienern
in Beſitz nehmen und für Euch und Eure Kinder verwalten zu
laſſen. Die ſogenannten Zahlungen des Kaufes, welche an
Euch erfolgen, werden einfach nur die Erträgniſſe Eurer Be—
ſitztümer ſein. Um Euch aber auch für jenen Fall, den wir
Sterblichen immer vor Augen haben müſſen — ich meine den
Tod meiner Mutter und den meinen — ſicher zu ſtellen, ſo iſt
hier ein zweites Dokument, ebenfalls von Meſſire Vittorio be—
glaubigt, welches den Kauf für null und nichtig erklärt und
Euer Eigenthm Euch zurück giebt. Und nun denke ich, wäre
vorläufig alles geordnet. Was noch übrig bleibt, erfahrt Ihr
durch Ruggiero, doch denke ich — wenn ich es ohne Gefahr
der Beobachtung möglich machen kann, noch perſönlich von Euch
und Madonna Clodilde Abſchied zu nehmen.
. Wenn nicht — 0 jaget ihr, daß ich immerdar, fo lange
der Atem in mir ift, ihr treuer Freund, zu jeder Hilfe bereit
bleibe und fie bitten lafje, auch meiner in Freundfchaft zu ge-
denken. Somit Gott befohlen!" —
Er reichte Abjchied nehmend dem Marcheje die Hand, der,
fie mit beiden Händen drüdend und feithaltend, fagte: „Was
fol ich nun jagen, teuerjter Freund? Sch — den Ihr mit einer
folchen Fülle von Güte und Edelmut überjchüttet, daß mir das
Wort fehlt, Euch die Größe meiner Verpflichtung auszuſprechen?
Wo joll ich anfangen, wo enden mit meinem Danke, wozu mir
nur eine Minute bleibt? da ich doch Tage brauchte, um Euch)
zu lagen, wie unausfprechlich tief mein Herz ihn fühlt! Wie
1 —
„Nicht doch, mein lieber Freund — laſſet es genug ſein.
Ich that nur, was mir mein Herz gebot, that, was Ihr,
an meiner Stelle, ich an der Eurigen, auch gethan haben würdet.
Mir ſelbſt iſt es ja ein großes Glück, gewährt mir ſtets
eine tiefe innere Befriedigung, wenn es mir einmal gelingt,
2582 Egon Sels.
irgend eines der Verbrechen zu verhindern, die mein entarteter
Berwandter nur zu oft begeht. „Ach! leider ift es nur jelten,
daß ich zu rechter Zeit, um einzugreifen, davon erfahre. Saget
nicht3 mehr, mein lieber &hisberti, ich bin ohnedem von Eurer
Dankbarkeit überzeugt.“
„But denn, Ihr wollt es. Sch ſchweige — Aber —
vielleicht Tommt einjt der Tag, wo ich vder auch mein Sohn
beifer al3 durch Worte unjere große Dankbarkeitsſchuld Euch
heimzahlen kann. Laſſet mich aber noch eins ausſprechen,
was mich ſchwer beängjtigt. Werdet nicht Ihr oder Madonna
Beatrice, Eure edle Mutter jelbit, in Gefahr geraten, wenn
Euer Anteil an meiner und Clodildens Flucht — welcher
Aleſſandros Scharflinn faum ganz verborgen bleiben Tann,
jobald er von jenem Dokumente hört und Euch im Beſitz meiner
Güter ſieht — entdedt wird? ch meine, der Herzog hat es
bewiejen, daß ex jelbjt verwandtes Blut nicht ſchont. ch würde
nie wieder eine ruhige Stunde in meinem Leben haben, wäre
Euer Edelmut gegen und Beranlafjung —“
„DO nein,” beichwichtigte voll ruhiger Sicherheit der
Prinz des Marcheje Beforgnis. — „Mich wird er nicht antaften,
noch viel weniger aber meine Mutter. Sie iſt die einzige yon
allen Verwandten, die er wirklich liebt und verehrt. Außerdem
bedarf er ihrer. Wenn er nicht aus noch ein weiß, jo fommt
er zu ihr, denn er weiß ihren Eugen Rat zu jchäten, wenn
auch feine böjen Leidenschaften meilt die Oberhand darüber
gewinnen und nur allzu oft Gutes in Böſes verkehren, weil er
nur in den felteniten Fällen jich zu überwinden vermag, den
Nat jo auszuführen, wie fie ihn erteilte. Wo er e3 that, hat
e3 ihm Glück gebraht und ihn an das gewünjchte Ziel
geführt.
Deshalb jorgt Euch nicht um und. Durch Ruggiero, der
zu mir zurüdfehrt, jobald er Euch ficher in Euer Aſyl am
Hofe Catarinas geleitet hat, werdet Shr von Zeit. zu Beit
von mir hören, wie ih von Euch. Noch eins! — Es wird
beiler jein, wenn Ihr den Brief an Euren Sohn nicht felbit
abjendet. Haltet ihn bereit, Ruggiero wird ihn morgen Nacht
holen, ich jelbjt werde ihn auf ficherem, geheimem Wege an
jeine Adrejje befördern. Somit lebet wohl für heute.“
Das Rätſel der Hhnenburg. 2583
Die beiden edlen Männer jchüttelten fich die Hände und
trennten ich.
Tief vermummt, jchlüpfte der Prinz, von Wolf geleitet,
aus einer Hinterthür. des Palaſtes, durc) die er auch gefommen
und wo er fein Pferd in der Obhut eines ihm dann zu Fuße
folgenden Dieners vorfand.
Auf feinem einfamen Ritte nad) der Stadt trat mehrere-
mal? aus dem tiefen Schatten irgend eines Baumes oder den
eines Thorweges, einer Statue eine dunkle Geſtalt hervor,
näherte ſich dem anhaltenden Reiter und wechſelte einige Worte
mit ihm.
Es waren die Wachen, welche der vorſichtige Mann auf
ſeinem Wege aufgeſtellt hatte, um ſogleich von einem ihm etwa
gefolgten Spione unterrichtet zu werden, der überdies dabei
nichts erfahren, ſondern nur ſein Leben unter dem Dolche einer
Wache verloren haben würde.
Sogleich, nachdem ſein Beſuch ihn verlaſſen hatte, ließ der
Marcheſe die Amme ſeiner Tochter wecken und zu ſich entbieten,
um mit dieſer treuen und klugen Frau alles Nötige zu beiprechen.
Sie redhtfertigte ganz das Vertrauen, welches der Marcheje
in jie gejeßt,. denn fie verlor nicht einen Augenblid den Kopf,
noch beläftigte fie ihn mit Klagen und Sammern, fondern ging
gefaßt und ruhig ſogleich mit Wolf an ihr Gefchäft des Sichteng
und Verpadens des Nötigen.
Der Marcheje felbit ging an fein jchweres Werf, der
Tochter die ungeheure Gefahr, in der fie alle fchwebten, mit-
zuteilen.
Er that es mit Zagen und großer Bejorgnis. Doch Diele
entihwand raſch. Clodilde Hatte kaum ihres Vaters Bericht
vernommen, al3 fie auch mit einem Schlage alle frühere geiftige
Spannfraft- zurüd erhielt und fich, eine ganz andere, als fie
in den legten Tagen gewejen, vor ihn erhob.
Der Prinz hatte recht gehabt. Das Bewußtſein, die
Rettung hänge zum größten Teile von ihrer eignen Kraft und
Geiltesgegenwart ab, ließ fie alles, was fie bisher niederge-
drüdt, von ſich abjchütteln. Seht war feine Zeit zu jelbit-
quälerifchen Grübeleien, die fie im Augenblide faum mehr
begriff, denn ſolcher Infamie gegenüber entichwand jeder
2584 Egon $els.
Zweifel an die volle Berechtigung und Gerechtigkeit ihrer That
auch ihrer Seele.
Sie half Urracca und Wolf, dann ritt fie reichgeſchmückt,
Itrahlend von Schönheit und fcheinbar beiterer al3 je mit dem
Bater, von zwei Dienern begleitet zur Stadt und traf überall
ihre Auswahl in den Häufern der Kaufleute. Nichts war
ihr Schön, nichts reich genug, und ſchon am Abend lief die
Kunde, welche reiche Bejtellungen ſowohl fie, als ihr Vater
für fih und die zur Begleitung zum Feſte beitimmte Diener-
ſchaft gemacht, durd) die Stadt.
In den von ihr befuchten Häufern des Adel3 aber jchüttelte
man die Köpfe und meinte, man habe ninnmermehr geglaubt,
dag in Clodilde Ghisberti eine folche Lebensluſt und Eitelkeit
Ichlummere, ihr habe angenfcheinlich die Einladung des Herzogs
den Kopf ganz und gar verdreht und man fünne da nod) ganz
fonderbare Dinge erleben.
AU dies ward dem Herzag unter den Stadtneuigfeiten von
feinen Spionen mitgeteilt. | |
Er hörte ſchweigend zu, aber feine Lippen umijpielte ein
höhnijches Lächeln. Der Tiger glaubte fich feiner Beute ficher.
Seine Zuverficht verließ ihn auch nicht, als er hörte, Donna
Ghisberti habe fich zu jehr mit dem vielen Wählen und An-
ordnen für das Felt angejtrengt und müſſe das Bett hüten.
Er jendete einen feiner Diener und ließ fi) nach ihrem
Befinden erkundigen. Derſelbe fehrte mit der Botjchaft zurüd,
die Dame jei nur ein wenig ermüdet,, befinde fich aber ſonſt
ganz wohl, wolle aber doch, um fich zu fehonen, nicht mehr vor
dem Feſte öffentlich erjcheinen. "
Damit war der Herzog ganz einverftanden, denn ihm lag
ja am meilten daran, daß fie gefund blieb. Dennoch fendete
er, vielleicht gefchah e3 aus einem inftinftiven Argwohn, feinen
eignen Arzt am dritten Tage, als die Fliehenden fehon weit
von Florenz entfernt waren, nach ihrem Palafte, um ihm über
da3 Befinden der Donna Bericht zu erftatten.
Frau Barbara war aber aud) diefer großen Gefahr ge-
wachien, fie empfing den gelehrten Herrn, bedauerte aber fehr,
ihn nicht augenblicklich zu Madonna Elodilde führen zu können,
da dieſe fih im Bade befinde, bat ihn, bis dahin zu warten,
Das Xätfel der Ahnenburg. 2585
und jegte ihm, damit ihm die Zeit nicht zu lang werde, eine
Flaſche alten fpanifchen Weines, nebit einem vortrefllichen
Imbiß vor.
Der herrliche Wein glitt wie Oel die Kehle hinab und
ſchmeckte dem gelehrten Herrn vortrefflich, aber er hatte leider
die üble Eigenſchaft, daß der Arzt, als Frau Barbara endlich
kam, ihn zu ihrer Gebieterin zu führen, alles doppelt ſah und
nicht mehr ganz ſicher auf ſeinen Füßen ſtand.
Doch er nahm ſich zuſammen und prüfte den Puls der
ihn im verdunkelten Zimmer empfangenden Patientin, ſtellte
ſeine Fragen, die mit einer matten, etwas zitternden Stimme
erwidert wurden und berichtete ſpäter dem Herzog, die Dame
befinde ſich eigentlich ganz wohl, ſei aber zimperlich wie alle
Frauenzimmer und leide lediglich an einer Erregung, welche
die Erwartung des Feſtes, die Ehre, die ihr bevorſtehe, und
der Wunſch, dort die Schönfte zu fein, hinreichend erkläre.
Sie werde, darauf könne man mit Gicherheit rechnen, am
Abend des Feites munter wie ein Fiſch im Waſſer fein.
Der Herzog war zufriedengeftellt, dank der. Geijtes-
gegenwart und Klugheit der Frau Barbara, die ihre eigene
Enkelin in die Kleider oder vielmehr in das Bett Clodildens
geitecft Hatte und diefen Einfall, welchen die Not des Augen—
blicks geboren, jo vortrefflich fand, daß fie die Kleine die Rolle
fortjpielen ließ, während fie vorgab, die Enfelin über Land zu
einer Beswandten gejendet zu haben.
Danf der vortrefflichen Anftalten des Prinzen Antonio,
blieb die Richtung der Flucht, ſelbſt als dieſe entdedt ward,
vom Schleier des tiefiten Geheimniſſes umhüllt.
Der Herzog Ihäumte im ftillen vor Wut, durfte aber,
um feine böjen Anjchläge, die ja verborgen bleiben mußten,
nicht zu verraten, jich nicht allzuviel merken lafjen; obgleich ein
jeder begriff, daß er auf die Dame, welche ihn durch ihr Ent-
weichen vor der ihr zugedadhten Ehre fo ſchwer bloßgeitellt,
wie auf die Ihrigen nicht gut zu ſprechen fein fonnte.e Man
vermutete aber jehr richtig Hinter diefer Flucht ein Geheinmig,
und Alefjandro jah die Notwendigkeit, ich zu mäßigen, jo ſehr
ein, daß er e3 nicht wagte, die treuen Diener der Entflohenen
zur Verantivortung zu ziehen. Der Leibarzt freilich fiel in
2586 | Esgon $els.
Ungnade. Der Herzog nannte ihn öffentlic) einen blinden
Eſel und fügte hinzu, er werde nicht einmal feine Hunde, ge-
ſchweige denn ſich felbit, wieder in feine Hand geben.
Die Spione des Herzogs hatten es am jchlimmften, denn
ihr Herr bedrohte fie mit dem Galgen, wenn fie nicht Die
Spur der Flüchtigen wieder auffänden.
Während nun jene fich abmühten, gedachte Alejandro
die herrlichen Befigungen des Marcheſe von feinen Raubgefellen,
unter dem Vorwande, fie für die Abmwefenden verwalten zu
wollen, außplündern zu lafjen.
Doch wer bejchreibt fein Erjtaunen und feine Wut, al
er erfuhr, wie jene unverrichteter Sache fich zurüdziehen mußten,
da fie überall die Beamten und Diener des Prinzen Antonio,
des neuen Beſitzers, vorgefunden hatten.
6. Schlimme Machrichken.
Da der Herzog ſich ohnedem ſchon vorgenommen hatte, feinen
Vetter über die ſeltſame Reiſe jeiner Mutter nad) ©. Sepolero,
die man ihm berichtet, zu befragen, jo bejchloß er, dies unverweilt
zu thun, um gleichzeitig zu erfunden, mit welchem Nechte er ſich
als der Beliger der Güter des Marcheſe Ghisberti aufipiele.
MWohlweislich Hatte er damit gewartet, biß fein Zorn ſich
gelegt, denn er mußte, daß man gegen die Ruhe Antonios mit
zornigem Toben allzujehr in Nachteil gerate.
| Was er bei diefem Beſuche erfuhr, befriedigte ihn keines⸗
wegs, obgleich er weder gegen den rechtlichen Beſitz der Güter
noch gegen jene angebliche Pilgerfahrt nach S. Johann in
©. Sepolero etwas einwenden konnte.
Sehr mürriſch und mißmutig verließ er den Vetter, nahm
ſich aber vor, zurückzukehren, ſobald ſeine Muhme nur perſön—
lich wieder zur Stelle ſei. Er meinte, von der etwas redſeligen
Dame im Laufe des Geſpräches, vielleicht durch irgend eine
Unvorſichtigkeit, mehr zu erfahren, als von dem heute mehr als
je zugeknöpften Antonio.
Inzwiſchen erfuhr er von ſeinen Spionen, nach Tagen
nagendſter Ungeduld, endlich, daß die Entflohenen durch den
Kirchenſtaat gereiſt ſeien.
Das Rätfel der Ahnenburg. 2587
Auf welchem Wege fie dorthin gelangt, wo fie die Grenze
überjchritten hatten, das blieb ihm jebt und auch jpäter verborgen.
Niemand zweifelte ja, daß jene reijende Dame, die an
heftigen G©efichtäfchmerzen, in Folge einer ftarfen Erfältung,
leidend, mit verbundenem Gefichte zu reilen genötigt war, wirf-
lich die erlaucdhte Madonna Beatrice gewejen. Wer jollte auch '
ſolche Dame, mer ihre Begleitung beargwöhnen? War nicht
jener herrliche, goldgefticte, mit Juwelen bejeßter Spange ge—
zierte Mantel, in welchem nunmehr die Statue des heiligen
Sohannes an hohen Fefttagen prunfen würde, ein leuchtendes
Zeichen ihrer großen Frömmigkeit und ihrer erlauchten perjön-
lihen Anmejenheit in der Kathedrale ©. Johannes?
War fie nicht ihres Leidens wegen zu Wagen, geleitet
von einem Sapuziner, ftatt de3 in den dortigen Kapuziner-
Elojter Frank zurücgebliebenen Ruggiero, und gefolgt von dem
Diener, jowie der Hofe, mit der fie abgereilt war, in der
Heimat wieder angelommen? Die beiden lebteren waren in=
zwilchen in einem am Wege gelegenen Hauſe verſteckt zurüd-
geblieben und Hatten ſich ihrer vorgeblichen Gebieterin auf
deren Rückwege von ihrer PBilgerfahrt wieder angejchlofjen.
Prinz Antonio hatte dem Herzog bei dejjen lebtem Be—
juche verjprochen, ihm die Rüdkunft feiner Mutter jofort melden
zu lafjen, und kam diefem Berjprechen mit folhem Eifer nach,
daß er ihm die Meldung, troß der ſpäten Stunde, in welcher
die Rückkehr jtattfand — es war mitten in der Nacht —
augenblidlich zufchidte.
Der andere Morgen jah denn auch bereits in aller Frühe
den ungeduldigen Herzog auf dem Wege nach dem Palaſte
jeiner Muhme. Die Stunde feined Beſuches war eine viel
frühere, als ihm eigentlich die Sitte geitattete, ganz abgejehen
bon der nötigen Rüdjicht, die er für eine von ziemlich weiter,
befchwerlicher Reiſe exit in der Nacht zurückgekehrte, ältere
Dame hätte haben ſollen.
Doch hatte es der Ungeduldige abermals übel getroffen,
denn er fand ſeine Muhme mit dicht verbundenem Geſicht, noch
immer an der Geſchwulſt leidend, die ſie ſich auf der Reiſe
geholt, und ſo angegriffen, daß ſie ihm nur matt die Hand zu
reichen vermochte.
3588 Esgon Fels.
So zog er denn abermals innerlich grollend ab, nicht
flüger als zuvor, und alle Bilgerfahrten zum Teufel wünjchend.
Denn zur Erhöhung feines Aergers war nun aud) gar nicht
daran zu denken, daß feine Muhme, wie fie verfprochen, dem
Seite mit Donna Maria Salviati präfidieren konnte.
Ein Heiner Troft war ihm die am: Tage des Feſtes ein-
laufende Nachricht, die Spur der Flüchtigen jei aufgefunden,
der Weg, den fie nach Deutjchland genommen, ermittelt. |
Unvermeilt ſetzte der rachefchnaubende Mann die kom—
plizierte, aber mwohlorganifierte Mafchinerie feiner Gewalt—
berrichaft in Bewegung. Mit Courierpferden und untergelegten
Relais, mit Gold, fowie mit Empfehlungsfchreiben wohl ver-
jehen, beste er noch am.felben Tage zwei feiner gejchidteiten
Spürhunde und Häfcher auf die Ferfen der Flüchtigen, mit dem
itridten Befehl, Madonna Elodilde um jeden Preis in feine
Gewalt zu bringen, ihren Vater. und alle ihre Begleiter aber
zu töten.
Bergeblich harrte der Prinz auf Briefe von den Flüchtigen.
Seit dem Bericht, daß fie die Grenzen Deutjchlands wohl-
behalten glücklich überjchritten hätten, blieb jede Nachricht aus.
Dennoch war er darüber nicht bejonder8 beunruhigt. Die
Poitverbindung war in jener Zeit eine jo unfichere, und der
geheime Weg, den die Briefe nehmen mußten, um nicht in die
Hände des Herzogs zu fallen, und ihm jo die Spur der
Flüchtigen zu verraten, ein fo langmwieriger, daß die lange
Verzögerung begreiflich war. Auch konnten die Briefe verloren
gegangen jein, oder irgend welches Hindernis, vielleicht aud)
ein durch befondere Vorficht gebotener Aufſchub, ſich ihrer Ab—
ſendung entgegen geſtellt haben.
Als aber endlich die Zeit vergangen war, welche ſelbſt
beim langſamſten Reiſen nötig geweſen, um nach Frankreich zu
gelangen, und die Zeit für den Bericht ihrer dortigen Ankunft
an ihn nach Florenz zurück dazu, als auch Ruggiero nicht
wiederkehrte, da begann ſich tiefſte Beſorgnis des Prinzen zu
bemächtigen, und er ſchrieb einen dringenden Brief nach Paris
an ſeine Muhme, die Cönigin Caterina, mit der Bitte, ihm
ſchleunigſt die Ankunft der ihr Empfohlenen zu melden, oder
wenn ſie ausgeblieben, nach ihrem Verbleiben in Deutſchland
Das Rätſel der Ahnenburg. 2589
forjchen zu an indem er ihr den Ort, von wo ſie zuletzt
geſchrieben, und die Richtung, in welcher ſie ihre Reiſe fort⸗
zuſetzen beabſichtigt hatten, mitteilte.
Aleſſandro hatte ſeinen Vetter ſeit der Flucht der Ghis—
bertis, wegen der er ihn im ſtillen ſtark beargmöhnte, ſehr kalt
behandels
Freilich war es des Herzogs geſchickteſten Spionen nicht
gelungen, ihm den erwünſchten Beweis von des Prinzen Zu—
ſammenhang damit zu bringen, noch war es ihm ſelbſt geglückt,
die inzwiſchen wieder geneſene Donna Beatrice zu einer Un-
vorfichtigfeit zu verleiten, welche feinen Argwohn beitätigt hätte.
Die alte Dame wußte zu gut, was auf dem Spiele ftand, um
ihrer Heinen Neigung zur Schwaßhaftigfeit hier nachzugeben,
ihre Schlauheit war der des Herzogs weit überlegen. Während
ſie anscheinend jo offen und rüdhaltlos al3 nur möglid) feinen
forjchenden Fragen entgegenfam, hütete fie jede Silbe, jede
Miene, die ihren und ihres Sohnes Anteil hätte verraten
fönnen, und jchien, ‚gleich ihrem Sohne, des Herzogs Kälte
gegen denfelben nicht zu bemerfen.
Eines Tages aber fragte der Herzog Antonio mit höhnen-
dem Lächeln, vb er denn gar nicht wieder von dem früheren
Beliger jeiner neuen Güter und deren bezaubernder Tochter,
feiner einjtigen Angebeteten, gehört habe.
Da erichraf der Prinz bi3 in die Seele hinein und zitterte
innerlih für das Geſchick feiner Schüßlinge. - Doch machte er
Alejandro das Vergnügen nicht, dies ihm zu zeigen, fondern
antwortete mit einem ruhigen, kurzen Nein. Der Herzog jagte
an dem Tage nicht3 weiter und ging.
: Da verbreitete ſich plöglih das Gerücht, der Marcheje
Ghisberti fei guf der Reife durch Deutichland, in der Mark
Brandenburg, von Räubern angefallen, ausgeraubt, und jamt
jeiner Tochter und fämtlichen Dienern niedergemacht worden.
Dies Gerücht gelangte auch zu dem Prinzen, der unſäglich
erichraf, aber nachdem er das Für und Wider veiflic) erivogen,
nicht daran glauben wollte, es vielmehr für eine Bosheit Des
Herz0g3 hielt, auf feinen Befehl ausgeſtreut, um ihn zu er-
Ichreden.
Derjelben Meinung war auch feine Mutter.
2590 | Egon $els.
Da Fam ein paar Tage darauf Aleffandro, der ſich in-
folge feines ſchwelgeriſchen, wüſten Lebenswandels faſt permanent
in Geldverlegenheit befand, und. fragte, ob Antonio ihm nicht
mit ein paar Hundert Goldgulden beiltehen Fönne.
Der‘ Prinz fprach Höflich fein Bedauern aus, daß ihm
dies im Augenblide nicht möglich jei. .
Darauf erwiderte der Herzog lächelnd: „Wahrlich, Antonio,
ich kenne dich von der Seite noch gar nicht. Fängſt du plötzlich
an, ein Knaufer zu werden? Sch glaubte, in dem Augen-
blicke, wo du, oder vielmehr deine Mutter ein fo vorzügliches
Geſchäft gemacht, jollteit du etwas freigebiger gegen deinen
armen Vetter jein.“
Der Prinz erwiderte, ihn wirklich nicht veritehend: „Was
meinst du eigentlich? Bin ich ein Kaufmann, der Gejchäfte
macht?“
„Na — was kann ich meinen als deinen brillanten Kauf
von Gütern, die du nun nicht zu bezahlen brauchſt! Haſt du
etwa nicht, da der Marcheſe Ghisberti nicht mehr am Leben
ilt, den ungeheueriten Profit gemacht? He?“
Der Prinz erbleichte vor tödlichem Schreden, doch er-
widerte er jcheinbar ruhig: „Ach, ich verjtehe, du ſpielſt auf
dies alberne Gerücht an. — Sch hörte auch Schon davon, glaube
e3 aber nicht, und wäre es ſelbſt die Wahrheit, jo wäre ja
noch der Erbe, fein Sohn Giulio, da.”
Dabei faßte er. den Herzog mit einem durchdringenden
Blick ſtrengſten Forſchens ind Auge.
Was er ſah, ließ ihn ſchaudern und ermutigte ihn nicht,
ſeinen Unglauben noch länger feſtzuhalten.
Der Herzog lächelte. Es war ein kaltes, grauſames, teuf—
liſches Lächeln. Er trat dem Prinzen einen Schritt näher,
und ſeine Hand auf deſſen Arm legend, ſprach er langſam;
„Glaube es immerhin, mein lieber Antonio, denn es iſt die
Wahrheit — und was jenen jungen Mann betrifft, ſo mache
dir keine Sorgen, er iſt ebenſo ſterblich wie der Vater und
die Schweſter.“
Vor Grauen erfaßt und in ſeinem tödlichen Schmerze
vor nichts zurückweichend, ſchüttelte Antonio die blutbefleckte
Hand des Herzogs mit einer ungeſtümen Bewegung von ſeinem
Das Rätjel der Ahnenburg. 2591
Arme und rief faſt eritidt von der Gewalt feiner Gefühle:
„Sind fie denn tot, dann bift du ihr Mörder! — Du allein
landteft die angeblichen Räuber aus! Da du Elodilde nicht
gewinnen fonntejt, jo Tließeit du fie morden. — Verſchone
wenigitens den Sohn, — denke an die rächende, ftrafende Hand
des allmäcdhtigen Gottes, die einſt mit jo vielem auch das
Blut diejer Unjchuldigen von dir fordern wird!“
Der Herzog ſtand vor ihm, fih an den Tijch lehnend,
und hatte die Arme übereinander geichlagen. Ein Hohnlächeln
umfchwebte die mwulftigen, dunfelroten Lippen und zeigte die
glänzenden, weißen Zähne, die zwijchen ihnen gleich denen
eines Raubtieres fchimmerten. Nun erhob er langfam die eine.
Hand, den Finger emporjtredend, und ſprach im Tone. ein-
dringliher Warnung, aber ohne hitig zu werden: „Du, nimm
dih in acht! Du jündigit viel auf unjere Verwandtichaft und
auf meine Liebe zu deiner Mutter hin. Sch bin geduldig ge-
wejen bisher, viel zu geduldig, ich werde es nicht mehr fein,
auch du haft nur ein Leben zu verlieren. Daran gedenfe.“
„Nimm es —“ rief Antonio vor Schmerz außer fi —
„nimm es bin, du blutiger Tyrann! Halt du fie — das
Ihönjte, reinfte Wejen, das die Erde je getragen, gemordet,
was gilt mir mein armjelig Leben?! Bade dich in ver-
wandtem Blute, aber noch mit meinem legten Atemzuge tverde
ich Gottes ſchwerſten Fluch auf dich, ihren ruchlofen, blutigen
Mörder, herabrufen!“
Unfähig, ſich länger aufrecht zu erhalten, warf ſich Antonio
in einen Stuhl und brach, dad Geficht mit den Händen be-
dedend, in Thränen aus.
Der Herzog bot einen entjeblihen Anblidl, Das Blut
war ihm bis zur Stirn emporgejtiegen und füllte die Adern
an den Schläfen und die Stirnader bis zum Berften, daß fie
gleich züngelnden Schlangen hervortraten. Blutunterlaufen war
das bläulich-weiße Email der Augen, in denen Die ermeiterte
Bupille wahrhaft hölliihe Flammen Tprühte.
Die dien Lippen waren, wie bei einem Naubtiere, weit
zurüdgezogen, und zwilchen den knirſchenden Zähnen drang
Schaum heror. Vorgebeugt, mit zufammengezugenem Körper
gleich einem Tiger zum Sprunge ich anfchidend, die Hand
2592 | Egon Fels.
das bereits halb gezogene Stilet umkrampfend, ſchien er bereit,
ſich auf den Verwegenen zu ſtürzen und mit eigener Hand den
zu töten, der ihm ſo gegenüber zu treten gewagt.
Aber — er that es nicht. Der Anblick dieſes ſonſt fo
jtolzen, feiten, niemal3 außer Fafjung kommenden Mannes, der
ganz gebrochen und fafjung3los gleicd) einem Kinde meinte und
Ihluchzte, bewegte ihn ſeltſam und weckte in feinem, troß allen
Laſtern, aller Verdorbenheit nicht ganz verhärteten Herzen den
legten Reſt menjchlich weichen Gefühles.
Er ſtieß das Stilet in die Scheide zurück, richtete ſich
auf, und das wutverzerrte Geſicht nahm in wunderbar raſchem
Uebergange einen faſt ſanften Ausdruck an, der lodernde Blick
verſchleierte ſich, das Blut ſtrömte zu dem Herzen zurück, und
ohne ein Wort des Zornes oder der Drohung weiter zu
äußern, ſchritt er ſchweigend an zug vorüber und ver-
ließ ihn.
Kein Wort, feine Miene hier auch fpäter den Prinzen
an Diefe Stunde und an den Auftritt, der ihm beinahe das
Leben gefoftet.
Der Herzog verfehrte ganz wie früher mit ihm und ſchien
ihm nicht das Geringſte nachzutragen.
Dies großmütige Vergeſſen ſo furchtbarer Beleidigung
war ſo ohne Beiſpiel bei dieſem rachſüchtigen Manne, daß
Antonio nicht umhin konnte, es ihm im ſtillen zu dauten, und
ſich ſeinerſeits wohl hütete, ſich je wieder gegen Alefſandro zu
vergeſſen.
Er verbarg ſeine tiefe Trauer um Clodilde, ſeinen Groll
und Schmerz in ſeinem Inneren, zog ſich ſoviel, als es möglich
war, vom Hofe zurück, wo es mit den Sitten ſelbſt dann nicht
beſſer wurde, als die kaiſerliche Margaretha als Aleſſandros
Gemahlin dort herrſchte, denn ſie ſchien ihren Gemahl in
nichts zu genieren, er lebte ganz wie früher, nur trieb er es
vielleicht ein wenig heimlicher.
Bis Antonio von der Königin Catarina ſelbſt Antwort
auf ſeinen Brief erhalten, war er übrigens noch immer geneigt,
jene Nachricht als halb erlogen zu betrachten.
Doch dann blieb ihm leider kein Zweifel mehr über das
ſchreckliche Ende der ihm ſo Teuren.
Das Nätjel der Ahnenburg. 2593
Die Königin fchrieb ihm, daß fie, nachdem die ihr An-
gefündigten zur rechten Zeit nicht in Paris angelommen jeien,
auf feinen lebten Brief hin, Erfundigungen habe anftellen
laffen, die leider feinen Zweifel ließen, daß feine Schüßlinge.
im Bereich der Lande des Kurfürſten Joachim von Preußen
in einem der dortigen großen Wälder von Räubern überfallen
» und getötet worden jeien. Die Befchreibung der Berfonen,
welche in den Wald eingeritten, aber nicht wieder zum Vor-
ſchein gefommen waren, ftimmte fo genau, ebenjo die auf-
gefundenen Kleiderreite, daß an eine Perjonenverwechlelung
nicht gedacht werden könnte.
Die Leichen jeien freilich nicht gefunden worden, denn die
Wölfe hätten nichts als ein Häufchen Knochen, Kleidungsftüce,
Waffen und Niemenzeug von ihnen übrig gelajjen.
Wer den Ueberfall ausgeführt, habe tro& großer Zuvor⸗
kommenheit der kurfürſtlichen Behörden nicht ermittelt werden
fönnen.
Das war alſo das ſchreckliche Ende jo vieler Schönheit
und ſo edler Mannhaftigkeit.
In ſeiner tiefen Trauer vergaß aber der Prinz keineswegs
den einzig Ueberlebenden der Familie, der von Aleſſandros
noch ungeſättigter Rache ſo ſchwer bedroht erſchien.
Er ſchrieb an feinen hohen Gönner, den Papſt, unter—
richtete ihn von Aleſſandros Drohung und bat ihn, den nun-
mehrigen Marcheſe Ghisberti durch geheime Bewachung und
direktes Verbot an Alejandro, fein Leben zu bedrohen, ficher
zu ftellen.
Paul III., der an dem heitern, jungen Manne, dem man
bis jetzt das Schidjal der Seinen noch verborgen gehalten,
‚großes Wohlgefallen fand, erfüllte beide Wünſche, und jo meinte
der Prinz, ſich über Giulios Leben fernere Sorge erſparen zu
fönnen. |
7. Junker Chufbert und fein Spegial.
In einem der Wälder der Mark Brandenburg lag tief
veriteckt im dichteiten Teile desjelben, auf einem mäßig hoben,
breiten Hügelplateau, das alte, halbverfallene Stammſchloß
der Ritter von Greifenkflau.
ZU. Haus:Bibl. II, Band XI. 163
2594 Egon $els.
Zwiſchen hohen, jchlanfen, ſtolzen Tannen, die ihre nadel-
bewehrten Arme weit ausbreiteten, ftanden uralte, Himmel-
anftrebende Buchen, vermifchte fich das helle, friiche Grün der
zierlich beblätterten Hängebirfen mit den nicht minder zierlichen
Nadeln der ſchwanken Zweige der Kärchenbäume, die neben den
filberweißen Stämmen der Birfen auftauchten.
Ehemal3 hatte eine vielbefuchte Landitraße in der Ent-
fernung einer Heinen Biertelftunde an dem Schlofje oder viel-
mehr der Burg vorüber geführt, ein Umftand, den fih in
grauer Vorzeit die Herren Ritter von Greifenflau wohl zu
nuße zu machen mwußten.
Bon dem hohen Turme der Burg aus hatte ein Wächter
die Umgegend beobachtet und feinem Herrn das Herannahen
beladener Wagen raſch genug verfündet; worauf der Nitter
fi) mit feinen jederzeit bereiten Mannen bewaffnete und, wie
ein Blisitrahl aus dem Walde hervorbrechend, die armen, nicht3
ahnenden Krämer überfiel und beraubte.
Che die Beraubten nur irgendivie fi) bewußt wurden,
wie ihnen gejchehen, war der Raubritter mit feinen Leuten
und der Beute längjt wieder im Forſte verſchwunden, wohin
ibm zu folgen die Aermiten in den meilten Fällen viel zu
mutlos waren.
Wagten ſie dies aber dennoch, ſo ſetzten ihnen die dicken,
wie für die Ewigkeit gebauten Mauern und das eiſenbeſchlagene,
eichene Thor der Umfaſſungsmauer, das, wie die Mauer ſelbſt,
durch Wachtürmchen geſchützt war, ein gebieteriſches „Bis hier-
her und nicht weiter!“ entgegen.
Doch auch dieſem rechtloſen Treiben ward mit der wachſen—
den Macht des Gemeinſinnes und der Städte endlich ein Hiel-
geſetzt.
Dem Ritter Chutbert von Greifenklau ward Urfehde an—
geſagt und er gleich darauf, ehe er nur ſeine Freunde und
Geſinnungsgenoſſen zur Hilfe herbeiziehen konnte, von einem
recht ſtattlichen Heere in ſeiner Burg regelrecht belagert.
Der kühne, übrigens ehrenfeſte und von Natur weder böſe
noch graujame Mann wehrte fi) lange vor der RD
jeiner Feinde.
Das Rätſel der Ahnenburg. 28595
Endlich bot er ſeine perſönliche Unterwerfung und Ueber—
gabe der Burg unter der Bedingung an, daß man ſeiner
Tochter und ſeinen Mannen, die unter tauſend Leiden und
Entbehrungen jo tapfer und treu bei ihm ausgebalien, freien
Abzug zujage.
Dieſe Bedingung ward trotzig abgeſchlagen, man forderte
Unterwerfung aller in der Burg Lebenden, ohne jede Aus—
nahme.
Da erbat fi der Ritter von Greifenklau zwei Tage
Bedenkzeit.
Die Belagerer meinten, ſie könnten durch ſolche Ver⸗
zögerung ja nur gewinnen, und jo ward diefe ohne Bedenken
zugeitanden. Der mwachjende Hunger mußte die Bejabung ja
jo entkräften, daß ihnen zulebt jede Möglichkeit des Wider-
ftandes ſchwand, und das war gewiß nur wünfchenswert für alle.
_ Die Feindjeligfeiten wurden eingeftellt. Aber während die
Bürger und ihre Knechte ſich gütlich thaten und ihren Leib
pflegten, begann in den Räumen der Burg eine fieberhafte,
geheimnisvolle Thätigkeit.
Die Hälfte der letzten Lebensmittel wurde verteilt. Dar-
nach begaben ſich alle, die zarte Sungfrau ſelbſt nicht aus—
genommen, an eine Arbeit, zu welcher eigentlich die Kräfte von
Riejen erforderlich gewejen, die aber dennoch von dem kleinen
Häuflein: halb verhungerter und entkräfteter Menfchen in der
unglaublich furzen Zeit von achtundvierzig Stunden ausgeführt
ward. Die zur Uebergabe herangelommene Stunde war vorüber,
aber fein Zeichen kündigte die Unterwerfung an.
Schon ſchickte man fih an, die Feindfeligfeiten auf das
. Nachdrüdlichjte wieder zu beginnen. Da brach auf der rechten
Seite der Burg Feuer aus, von dem Nitter mit eigener Hand
angezündet, ehe er mit all den Geinen auf einem geheimen
Wege, den jie mit ungeheurer Anftrengung nach der linken
Seite Hin, wo den Fuß des Hügeld ein Waldbach begrenzte,
gegraben, entflohen war.
Danf der Nadjläffigfeit der Belagerer, welche, jtatt in
jenem Wugenblide ihre Wachjamfeit zu verdoppeln, all ihre
Aufmerkjamfeit dem Brande zumendeten, gelangte er unter dem
Schuße der Dunkelheit in den dichten Forft und erreichte glück—
163*
2596 | Egon FSels.
lich mit all den Seinen, wenn auch hinfällig bis zum Tode,
die nur ein paar Meilen entfernte Burg eines befreundeten
Ritters. Von dort aus rettete er ſich in der nächſten Nacht
in das ſichere Aſyl eines Kloſters. So hatte der tapfere
Mann ſich, ſein Kind und alle ſeine Getreuen der Rache der
Städter entzogen.
Nachdem er ſich erholt, gelangte er zwar unter vielen
Fährlichkeiten und Strapazen, glücklich nach Wien, an den
Kaiſerhof, wo er Verwandte hatte und gute Aufnahme, wie
freundliche Förderung feiner Intereſſen erwarten durfte.
Da er vorjichtig genug gewejen war, fo viel Gold und
Juwelen, als er und feine Getreuften nur fortbringen fonnten,
bei jeiner Flucht mit fich zu führen, vermochte er auch an dem
Kaijerdofe mit einem Glanze aufzutreten, welcher ihm in feinem
Fortkommen nur fürderlicd) jein konnte.
Das Glüd, das ihm aus fo großer Gefahr unverleßt
hervorgehen ließ, blieb ihm auch Hier zur Geite. Er befam
eine gute Stelle im Eaiferlichen Heere, verheiratete jeine Tochter
glänzend, und gewann, felbft noch in den beften Jahren ftehend,
von impojanter Figur, kühnem, männlich jchönem Neußeren,
dem jich der Auf großer Tapferfeit beigejellte, die Hand einer
reichen, vornehmen Erbin, die ihm, als lebte ihres Stammes,
zugleich den durch des Kaiſers Gnade auf ihn und alle erjt-
geborenen Söhne jeines Stammes forterbenden ©rafentitel ein-
brachte.
Die Belagerer feiner Burg hatten, da fie endlich merften,
daß die Burg wie auögejtorben ſei, daS Feuer gelöfcht, jo daß
immerhin nur ein geringer Teil derjelben den Flammen zum
Opfer fiel.
Waren ihnen die Inſaſſen entgangen, deren Fluchtweg,
ungeachtet alles Sucheng, jo wenig zu entdeden war, daß man
dieſes rätjelhafte Entſchwinden fi) nur durch Zauberei zu er-
flären vermochte, jo wollte man ſich wenigſtens an den Schäßen
ſchadlos halten, welche der Ritter ſowohl, al3 feine noch viel
ärger hauſenden Borfahren, in dem Inneren der Burg auf-
gejpeichert haben mußten. |
Allein, auch diefe Hoffnung, welche jene am meilten
hegten, die nie auch nur eine Stednadel durch den Ritter ver-
Das Rätſel der Hhnenburg. 2597
a —
foren Hatten, jollte ji zu allgemeinem Ingrimm als eine
trügeriſche erweiſen.
Natürlich waren die guten Leute jo klug, eine geheime
Schatzkammer zu vermuten, fie juchten und juchten, fanden aber
nieht das Geringjte, und ließen es fich wenig träumen, wie
icheinbar offen zu Tage der Eingang zu ihr vor ihnen lag.
MWütend über die Vergeblichkeit ihrer Hoffnungen, zer-
jtörten die Städter alle8 bewegliche Eigentum der mit einem,
für die damalige Zeit jeltenen Luxus eingerichteten Burg,
und jchleppten mit fich, was irgend des Mitnehmend wert war.
Verödet lag da3 Schloß. Der Sturm faufte durch die
hohen Gemächer. Regen und Schnee fanden ungehindert Ein-
gang durch die zertrümmerten, nur noch aus dem Bleigitter,
worinnen einſt die Scheiben gehaftet, bejtehenden Fenſter.
ledermäuje hingen in Scharen an den Deden der Korridore
und in allen dunklen Eden. Käuzchen nijteten und jchrieen in
den öden Räumen, und ein Heer von Spinnen überzog mit
ihren Kunſtwerken die arg decimierten und zerfeßten Reſte der
oft recht kurios verzeichneten Bilder der Nitter und ihrer
jteifen Gemahlinnen im Ahnenſaale. Das Raubzeug des Waldes
fand Hier vollfommene, jelten gejtörte Schlupfiwinfel, und e3
ging die Sage, der Greifenftein jei ein beliebter Tummelplah
zahliojer Geſpenſter.
Niemand wagte fich hinein, das heißt, niemand von den
ehrlichen Leuten.
Dagegen trieb jeweilig allerhand Geſindel hier fein Licht-
ſcheues Weſen, und fand diefen Schlupfwinfel zu angenehm,
um nicht alles zu thun, um die Sage von dem Geifterjpuf zu
erhalten und weiter zu verbreiten. Es lag im Geiſte der
damaligen, den finiterjten Aberglauben ergebenen Zeit, daß
derartige Gejchichten allezeit bereiten Glauben fanden, und die
Ruine zu einem geflohenen, gefürchteten Orte machten.
Graf Ehutbert jah die Heimat niemal3 wieder, noch betrat
je ein Glied feiner Yamilie im Laufe von faft Hundert Jahren
die Wiege des am Kaiſerhofe zu großem Anjehen gelangten
Geſchlechtes. —
Im Frühling des Jahres 1536 war e3, al3 ein junger,
etwa zweiundzwanzig Jahre zählender Reiter, in ritterlicher
2598 Egon Sels.
Kleidung, von freiem, pffnem, fühnem Ausjehen und mit ein
paar großen, leuchtenden, blauen Augen gar heiter und friich
in den jonnigen Tag Hineinjchauend, gefolgt von einem etwa
ein. Jahr älteren Manne, fein Roß durch den dichten Wald
lenkte, der, je näher man der Ruine des Greifenftein kam, ſich
immer mehr zujammendrängte und einer undurchdringüchen
Wildnis ähnlicher ward.
„Zum Teufel!“ rief der Jüngere endlich — „geht denn
das jo fort? Das Gewirr wird ja immer ärger! Das ſcheint
mir ein verzauberter Wald zu fein! Gelt, Robert?“
„Kann fein, Chutbert —“ erwiderte diefer mit einer Ver-
traulichkeit, welche doch den Reſpekt nicht vermiſſen ließ. —
„Es wäre übrigens gar feine üble Unterhaltung. Du und ich,
wir würden mit dem Zauberer jchon fertig werden und ihm
deinen Schab aus den Zähnen reißen.”
„Baht: mit deinem Schaße! er ift feit Wien dein drittes
Wort! Se näher ich ihm aber fomme, deito weniger glaube
ih an eine Exiſtenz. Richard wird wohl recht haben, und
die ganze Geſchichte mit dem Schatze nichts als ein Fieber—
traum unſeres Ahnherrn geweſen ſein. Warum hat denn mein
Vater ſelbſt, ſo lange er lebte, keinen Wert darauf gelegt?
Warum nie davon geſprochen? Weshalb hat er erſt in ſeiner
Todesſtunde meiner Mutter Mitteilung davon gemacht, als ſie
um ihres Lieblingsſohnes Armut und Abhängigkeit von Richard,
dem Erben, jammernd ihn beſchwor, meine Zukunft durch eine
teſtamentariſche Verfügung ſicher zu ſtellen? —“
„Nun ja, ich weiß das wohl,” erwiderte Robert —
„glaube aber dennoch feit an die Exiſtenz des Schates. Würde
wohl dein Vater ſonſt von dem Grafen Richard die Abtretung
des Stammfige8 und des dazu gehörigen Waldes an dich
ausdrüdlich gefordert haben?“
„Wer weiß! Vielleicht that er es nur, um meine Mutter
durch die Vererbung dieſes zwar großen, aber ziemlich wert⸗
loſen Beſitzes auf mich zu beruhigen.“
„Pfui, Chutbert! wohin gerät deine Zweifelſuchtd! Du
zeihſt ja damit deinen Vater in ſeiner Sterbeſtunde einer be—
wußten Täuſchung, für die deine Mutter ihm mit ſo feuriger
Beredtſamkeit gedankt, daß er ſo glänzend für dich geſorgt.“
——
Das Rätſel der Ahnenburg. 2599
„Wie du alles auf die Spitze ſtellſt!“ erwiderte ärgerlich
der Junker. „Solch böſer Gedanke befleckte meine Seele nicht.
Es kann ſein, daß mein Vater ſelbſt an die Exiſtenz des Schatzes
geglaubt hat, und ihn irgend welche geheime Beſtimmungen
verhinderten, früher, als kurz vor dem Tode davon zu ſprechen.
Er wollte ja noch mehr ſagen, als der Tod dazwiſchen tretend
ſeine Lippen ſchloß. Aber dies iſt mir noch kein Beweis, daß
die ganze Geſchichte mehr als ein Fiebertraum des erſten Grafen
Greifenklau geweſen. Wäre der Schatz vorhanden, warum in
aller Welt ſollte man faſt achtzig Jahre gewartet haben —
denn ſo lange iſt gerade Graf Chutbert tot — ihn zu heben?“
„Du ungläubiger Thomas!“ rief Robert, ſein Pferd an—
haltend und ſo dem Junker den Weg verſperrend, dabei neſtelte
er an ſeinem Wamſe und zog ein Pergament hervor.
Dies ſeinem Herrn vor die Augen haltend, ſprach er
weiter: „Was iſt denn das hier? Iſt das auch eine Fieber—
viſion? Dieſe zwar unbeholfene, aber ganz deutliche Zeichnung
des Ahnenſaales, mit dem ſorgfältig ausgeführten Kamine, mit
Datum und Jahreszahl ſeiner Flucht aus Greifenſtein, iſt das
etwa auch die Ausgeburt eines ſchon halb im Jenſeits befind⸗
lichen Geiſtes?“
„Nun nein — aber — warum hat Graf Chutbert dieſer
Zeichnung, bei jener Mitteilung auf dem Totenbette an meinen
Großvater, gar nicht erwähnt? Weshalb wies er ihn nicht
auf dieſen Leitfaden hin, der das Suchen nach dem Schatze ſo
außerordentlich leicht macht?“
„Er wird ſie verloren geglaubt oder ihrer vergefien haben,
was. weiß ih, und — ah! da iſt endlich der Greifenſtein!“
unterbrach jich jubelnd Robert, der während feiner lebten Worte
fein Pferd wieder vorwärts getrieben hatte, und nun, da der
Wald fich plöglich öffnete und die lebte Steigung überwunden
var, die Ruine vor fich ſah.
Der Junker war ihm rajch gefolgt und jpähte nun neu-
gierig auf feinen neuen Beſitz.
| „Wahrlich, ein Eojtbares Eigentum! Biel veriprechend, in
der That!“ ſpöttelte er — „juft faſt noch fchlimmer als ich mir
ihn gedacht. ’3 wird eine prächtige Reſidenz für den luftigen
Freiherrn von Greifenklau werden, und wenn unjere jchönen
2600 | Egon $els.
Damen das Eulennejt da jähen, würden fie fich wohl lange
nicht mehr fo viele Mühe geben, mich einzufangen. Es gelüftete
wohl feiner, dort neben dem Junker Habenicht3 zu haufen.“
„Wie du gleich bitter wirt, Chutbert!“ verjuchte Robert
ihn zu bejänftigen, während er beide Pferde, von denen fie
inzwilchen abgejtiegen waren, an einen Baum band.
„Warte es doch erit ab, ehe du dich beflagit. Der
Schatz —“ |
„Ach was, mit deinem Schatze!“ war die ärgerliche Ant-
wort und Chutbert ftredte fich bequem im Moofe aus, einen
umgeſtürzten Baumrieſen als Rücklehne benugend. Den Freund
an feine Seite winfend, fprach er weiter: „Laß uns denn an-
nehmen, daß er wirklich vorhanden war. Glaubſt du, daß er
es noch iſt? Wie mögen die Krämer damal3 nach ihrem
zweifelhaften Siege die Burg durchwühlt haben, er. wird ihnen
Ichwerlich entgangen fein, und felbit, gejeßt, fie fanden ihn
nicht, wie mein Urahne behauptete; bedenfe doch nur, wie viel
heimatlojfes Gefindel, wie viel Räuber und Mörder mögen in
dem Säculum, das faft jeitdem verfloffen, ſich hier in dieſer
thür- und fenjterlojen Auine eingenijtet haben. Da anzunehmen,
der Schatz könne noch vorhanden fein, dazu gehört mehr Gläubig-
feit, al3 ich in mir aufzufinden weiß. Uebrigens iſt mir auch)
die Abhängigkeit von Richard, welche die Mutter jo beflagt,
gar nicht jo zumwider. Er iſt ein guter Kerl, hat allzeit eine
offene Hand für mich, und wenn er auch) manchmal fchilt und
brummt und mir lange Moralpredigten Hält, was jchadet mir
das? Im Gegenteil, ich würde wohl manchmal noch tollere
Streiche machen, wenn mich nicht der Gedanke, was mein weiſer
Bruder dazu fagen würde, noch im lebten Augenblide zur Ueber-
legung und fomit zur Umkehr veranlaßte.“
„sa — das iſt jchon wahr und das fieht Frau Adelheid
wohl aud) ein, aber — fie meint, e3 jei doch eigentlich demütigend,
daß du als zweiter Sohn, der ohnehin ſchon nur den Freiherrn-
titel hat, obgleich jo gut wie Richard ein Grafenjohn, auch
noch fo ganz und gar mit der Begründung deiner Zukunft von
dem Erben abhängig bijt.“ |
„Hm! beiler wäre es freilich — nein, nur angenehmer
für mich, hätte ich eigene Einkünfte — aber — pie lange fie
Das Rätſel der Ahnenburg. 2601
ausreichen würden, hätte ich freie Verfügung darüber, das —“
hier ftrich er fich mit forglojem Lachen durch die lange, blonde
Mähne feines reichen Haares, das bis auf die Schultern feines .
violetten Tuchwamſes herabfiel — „it eine andere Sache und
freilich fraglich genug. Da es nun aber einmal nicht der Fall
it, und nach den Familienfagungen auch nicht anders fein
fann, jo laſſe ich mir feine grauen Haare darum wachlen.
Uebrigens habe ich noch nicht von Demütigung empfunden,
wenn ich Richards Gold beanjpruchte und nahm. Er ift mein
Bruder, es iſt feine Pflicht, für mich zu forgen, feine Hilfe zu
beanfpruchen, mein Recht; wäre ich an feinem, er an meinem
Plate, ich würde mit eben jo offener Hand ihm fpenden, was
er. braucht. Du, mein lieber SKindheitägefährte und Freund,
bilt zwar vor der Welt nur mein Diener, haben wir aber etwa
nicht auch alles gemeinjchaftlih? Sträube ich mich je, von dir
anzunehmen, wa3 mir gerade fehlt, und ift nicht alles, was ich
befige, auch dein? Meine Zukunft werde ich mir, davon fei
überzeugt, mit eigener Hand begründen. Sch fühle dazu den
Mut und die Kraft in mir, werde aber bis dahin ohne Skrupel
von Richard nehmen, was ich bedarf.“
Robert blidte eine Weile jchweigend vor fi) hin. Dann
aber fagte er:
„sch dächte, e8 wäre nun hohe Zeit, ung endlich dein Be-
fißtum näher zu betrachten und uns nach dem verheißenen
Schate umzujehen. Die Sonne hat längſt begonnen, ihre Bahn
zu neigen, und lange vor ihrem Untergange wird hier Dämmerung
herrſchen.“
„Ach, ich weiß nicht,“ erwiderte der Junker, ohne ſeinen
Platz zu verlaſſen, und betrachtete die Burgruine mit einem
Blicke zweifelnder Unſicherheit. — „Ich kehrte am liebſten um,
ohne das alte Neſt da zu betreten. Ich fühle, ſeit ich hier
bin, einen förmlichen Widerwillen dagegen; mir iſt, als warte
dort etwas Großes, Ungeheueres auf mich, das, ſei es zum
Glück oder Unglück, meinem Leben eine völlig andere Richtung
geben werde. Hätte mir Richard nicht ſchon in der Kindheit
das feige Gefühl der Furcht gänzlich ausgetrieben, ich würde
glauben, ich ſei die Memme, mich vor jenem Eulenneſte zu
fürchten.“
2602 Egon Fels.
Kopfſchüttelnd betrachtete Robert den Freund. Solche
Senjibilität war doch fonft nicht feine Sache, Tollfühn big
. zum Extrem, hatte das Wort Gefahr ſtets den größten Reiz
für ihn, und verlodte ihn bisweilen zu den unfinnigjten Wag-
nifjen, vor denen die beherzteiten Männer zurückgewichen wären,
wenn nicht gerade ihre Pflicht fie Hineintried; er Hingegen
beitand derlei Führlichkeiten geradezu zum Vergnügen und
hatte, daS mußte man gejtehen, auch immer fabelhaftes
Slücd dabei.
Diejen furchtlofen Mann jebt fo eigentümlic) zaghaft zu
ſehen, war eine Wahrnehmung, die den treuen Robert ernſtlich
zu beunruhigen begann.
Doch ließ er ſich nichts merken, —7 — ſagte leichthin:
„Nun, auch gut, wie du willſt. Du kannſt ja hier bleiben,
ich werde allein die Unterſuchung anſtellen. Sollte ich Hilfe
brauchen, ſo hole ich dich.“ |
8. Der geheimnisvolle Ton.
Robert trat zu feinem Pferde und zog aus dem Mantel-
lade eine Laterne und ein Paket mit Werkzeugen hervor, worauf
er ſich anjchicte, den Schloßhof zu betreten.
Aber Schon war der Junker an jeiner Geite und rief:
„Du biſt wohl toll, Robert, daß du jo ohne alle Vorficht dich
vorwärts wagen willft, und noch dazu allein?! Jetzt bift du
der Unbefonnene! Muß ich, der Tollkopf, wie ihr mich betitelt,
dih, den Weiſen, VBorfichtigen an die Klugheit mahnen?
Dachteft du wirklich, ich werde um der albernen Gedanken
willen, wie ein Weib, vor dem zurüchweichen, was id) mir ein-
mal vorgenommen? Mag doc da drinnen der Teufel und
feine Großmutter auf mich warten. Sch bin hier, habe meiner
Mutter verjprochen, den vertraften Schaß an Ort und Stelle
zu juchen — d’rum vorwärts — jebt kann es losgehen!“
Er reichte dem Freunde deſſen Piſtolen, die er, famt den
jeinen, aus den Halftern geholt, und Seite an Seite betraten
Die Freunde den Burghof, ihre ſpähenden Blide überall voraus:
endend,
Das Nätjel der Uhnenburg. 2603
Der Burghof, ein weiter, Halbrunder Raum, zeigte ſich
von einer wilden Vegetation überwuchert, die ſich, in üppigiter
Fülle der verjchiedenartigiten Kräuter und Waldblumen, überall
zwiſchen den von ihren PBläben gewichenen, vom Wetter heraus
gewafchenen, zerbrödelnden Steinen herbordrängte, hier und da
von den noch ſchwanken, aber doch ſchon ziemlich Fräftigen
Stämmen irgend eines jungen Baumes überragt.
Sunge bis zu den Boden hinab - belaubte Buchen und
zarte Birken waren darunter am häufigjten vertreten.
Eine Wolfe von Inſekten, von den Tritten der jungen
Männer aus ihrer Ruhe emporgefchredt, ſchwirrte vor ihnen
auf. Hier und da Hujchte daS Kleine Getier des Waldes,
Ichlüpften Schlangen und Eidechjen über den Weg der Freunde,
fi) eilig in irgend ein Loch verfriechend. Aus dem Dicht-
belaubten Buchengebüjch Idimpften eine Anzahl Sperlinge: über
dieſen unerhörten Einbruch in ihr bisher unbeſtrittenes Reich,
ſchmetterten ein paar Finken, freundlicher geſinnt als ihre
Brüder, die Proletarier der Vogelwelt, ihnen einen hellen Gruß
entgegen.
Weit offen gähnte das thorloſe Portal der Burg, die in
einem Gemiſch von gotiſch-romaniſchem Stil erbaut, jedenfalls
einſt ein ſchönes, impoſantes Bauwerk geweſen, das noch jetzt,
in ſeinem Verfalle, einen großen Eindruck auf den Beſchauer
nicht verfehlte. |
Der halb eingeftürzte Wartturm zeigte feine Wendeltreppe,
auf deren zum Teil noch mohlerhaltenen Stufen da8 Moos
wucherte, gelber Ginfter blühte und die blaue Kampanulla ihre
zarten Glöckchen im leiſen Abendwinde jchwingen ließ. Oben
zwilchen den Steinen der Plattform, wo einjt der Wächter Die
herannahenden Gäſte oder die Wagen der Kaufleute mit feinem
Horn dem Gebieter fignalifierte, ſproßte innig vereint ein
Schweiternpaar des Waldes, eine Hängebirke und ein Lärchen—
baum empor, und verichlang fic) gegeneinander neigend das
zierliche Laub und die zarten Nadeln ihrer ſchwankenden Ziveige
‚bei jedem ſtärkeren Windhauche zu zärtlicher Umarmung.
An den koloſſalen, mit zierlichjter Steinarbeit geſchmückten
Mauern, den ſchlanken Fenſterſäulen, die ſich oben zu den Spitz—
bogen ‚in reichiter Kuppelung vereinten, Hetterte der Epheu,
2604 Egon Sels.
mit wilden Weine und mwildem Hopfen vermijcht, empor, und
fiel in langen Ranken, einen grünen Schleier bildend, bor den
kahlen Fenſteröffnungen nieder.
Die jungen Männer konnten ſich dem romantiſchen Zauber
des Ortes nicht entziehen, obgleich die Männer jener Zeit im
allgemeinen wenig empfänglich für derartige Eindrücke waren.
Chutbert gab ſeinem Empfinden Worte, indem er zu
Robert ſagte: „Das iſt ein Ort, wo Frau Mpentiure ſelbſt
wohnen könnte.“
Robert nickte verſtändnisvoll, legte aber, Schweiden ge⸗
bietend, den Finger auf die Lippen, denn ſie waren in einen
Korridor eingetreten, deſſen Tiefe faſt ganz dunfelevor ihnen
lag, und deſſen Bejchaffenheit die ganze Aufmerkſamkeit der
Bormärtzichreitenden forderte.
Auch bier lag Steingeröll verjtreut, und ein vorlichtiges
Prüfen jedes Schritte war unerläßlid, wenn fie fih vor
Schaden bewahren wollten. |
Hatte überdies die Ruine Bewohner, jo war es gefährlich,
ihre Aufmerkſamkeit durch eine Unterhaltung zu erweden,. denn
e3 wäre jenen ein Leichte geweſen, fie hier aus dem Dunkel
heraus zu überfallen, da ihre Geſtalten fich deutlich auf dem
hellen Hintergründe der Halle abzeichnen mußten, während ihr
Blick das vor ihnen liegende Dunkel nicht drei Schritte weit
zu durchdringen vermochte.
Zwar hatte Robert feine Laterne vorfichtig ſchon vor dem
Betreten det Nuine angezündet, Doch wagte er jie nicht zu
öffnen, einmal, weil ihr Licht die Aufmerkjamfeit etwaiger Be-
wohner der Ruine augenblidlich auf jie lenken mußte, und dann,
weil leiſes Fiepen und Schwirren ihm amdeutete, daß zahl-
reihe Fledermäuſe hier nijteten, und ihnen beim Oeffnen der
Laterne in dem engen Gange wie rajend um die Köpfe ſchwirren
würden.
Endlich lichtete ſich der Gang ein wenig. Eine Thür zur
Seite, oder vielmehr die Oeffnung, in welcher jene einſt be—
findlich geweſen, war es, welche das geringe Licht ein—
ſtrömen ließ. |
Es war ein enges, längliches Gemach, aus dem man in
eine Reihe von vier weiteren größeren Räumen gelangte. Die
Das Rätfel der Ahnenburg. 2605
oberen Gemächer waren ſamt dem Ahnenjaale zum größten
Zeile in ihren Mauern völlig unverlebt.
Der Ahnenjaal war ein hoher, mehr tiefer als breiter
Raum. Trotz der drei ziemlich großen, gekoppelten Spitzbogen-
fenſter herrſchte hier eine grüne Dämmerung, von dem dichten
Rankengewirr verurſacht, welches ſich in die Reſte des Blei—
gitters, worinnen ehemals die zahlreichen, kleinen, runden
Fenſterſcheiben befindlich geweſen, eingeklemmt und feſtgeſchlungen
hatte, ſo vor den Fenſtern einen unduchoringlichen Vorhang
bildend. |
Troß der Dämmerung tonnte man erkennen, daß der Saal,
gleich allen Räumen, die man durchſchritten, völlig leer war.
Er machte einen ſehr düſteren Eindruck mit ſeinen rauch—
geſchwärzten Wänden, von denen man die Eichenpanele, welche
ſie einſt über Manneshöhe rings umgaben, abgeriſſen hatte. In
großen, in der Wand eingelaſſenen, geſchwärzten Rahmen hingen
hier und da, in Fetzen zerriſſen, die Bilder der Ahnen, doch
war es bereits zu dunkel, um in dieſer en. vom Fußboden
etwas Genaueres zu erfennen.
„Dort iſt der Kamin,” flüfterte Robert, „jetzt werden
wir ſehen, ob dein Sweifel oder mein Glaube Recht behält.”
Damit wollte er dem Kamine zufchreiten.
Doch Ehutbert Hielt ihn zurüd und flüfterte ihm zu: „Noch
nicht, Robert, erſt laß und die Ruine weiter unterjuchen, ob
e3 ficher, und wir wirklich die einzigen menjchlichen Inſaſſen
find. Finden wir e3 fo, dann holen wir unjere Pferde. Sch
traue dem Wetter nicht für die Nacht. Die Tiere müſſen ein
Obdach haben. Wir haben da unten ja die Wahl. DYeffne die
Zaterne, und laß uns fehen, wohin jene beiden Thüröffnungen
dort führen. z
- Robert fand dieſe Anordnungen feines Freundes zu ver-
nünftig, um nicht im Augenblid mit ihnen einverjtanden zu jein.
Borfihtig, die Waffen zur Hand, ſetzten fie, beim hellen
Lichte der Laterne, ihre Unterjuchung fort.
Nirgend trafen fie auf ein Anzeichen von der unmittel-
baren Nähe eines Menfchen, obſchon Hier und da verftreute
Strohreſte, abgenagte Wildfnochen und einige Lumpen an-
zubeuten fchienen, daß Menfchen Hier geraftet und Mahl ge-
2600 | Egon Fels.
halten hatten, doch mußte dies bereits vor längerer Zeit ge—
ſchehen ſein, denn eine dichte Staubſchicht bedeckte alles.
Das eine der neben dem Saale gelegenen, ziemlich großen,
öden Gemächer, bewahrte noch den Reſt eines Ladens, der von
innen vor das vergitterte Fenſter gelegt werden konnte. Auch
fand es ſich, daß die in den Saal führende Thür noch un—
verſehrt in ihren Angeln vorhanden war.
„Schade, daß dies Gemach keinen anderen Ausgang
hat,“ bemerkte Robert — „es wäre eine ſo prächtige
Zuflucht, für den Fall, daß wir etwa unliebſamen Beſuch be—
kämen!“
„Na, wenn du weiter nichts wünſcheſt, Robert, ſo ſiehe,
hier iſt der Ausgang für uns wie beſtellt,“ erwiderte
Chutbert, neben dem Kamine eine ſchmale, niedere Thür öffnend,
in die man nur gebückt eintreten konnte und die auf einen
ebenſo ſchmalen, finſteren Korridor mündete.
„Das iſt ja prächtig!“ rief Robert, „laß uns ſofort
unterſuchen, wohin dieſer Gang führt.“
Mit vorſichtig vorgehaltener Laterne betraten die jungen
Männer den Gang, der, faſt fo niedrig wie die Thür, fie zu.
fortwährenden Büden ihrer großen Figuren nötigte, und jo
ſchmal war, daß er faum Raum für eine Berfon bot, die, wenn
fie nur einigermaßen von jtärferer Leibesbeichaffenheit gewejen,
al3 unſere ſchlanken, jungen Freunde, mit beiden Schultern die
Mauern berührt haben würde. Der Fußboden jchien mit Sand
oder Erde bededt, oder auch jo dicht mit Moder überzogen zu
fein, daß er dem Fuße eine weiche Fläche bot, auf welcher die
Schritte nicht hörbar wurden. Der Fußboden jenkte jich janft
abwärts, und eine dumpfe Moderluft erjchwerte das Atmen,
die Lampe in der Laterne brannte mit trüber Flamme.
Plöglich blieb der voranjchreitende Robert jtehen und jchloß
hajtig die Laterne, fie vorfichtig noch mit der Hand fchügend,
damit der Schimmer ihres Luftloches fie nicht verrate.
Tiefite, förmlich greifbare Dunkelheit umgab fie.
„Was ijt?“ flüfterte Chutbert, dicht am Ohre Roberts —
„Jahejt du etwas?“
„Nein. Aber ich hörte — till! da iſt e8 wieder,“ flüſterte
diejer zurüd.
Das Nätfel der Hhnenburg. 2607
Zaufchend ftanden beide regungslos.
Aus weiter Ferne, oder vielmehr aus der Tiefe zu ihren
Füßen fam ein leifer, geheimnivoller, Tanggezogener, melodifcher
Ton, dem eine Reihe anderer Kanne ſich anjchloß, bald anſchwellend,
bald verhallend.
War es Geſang — war es ein Saiteninſtrument, etwa
eine Laute? — |
Keiner der beiden wußte es zu jagen. In diefem Momente
Ichien daS eine oder das andere ihnen glaublich, um in dem
nächiten verworfen zu werden.
So aufgeklärt für ihre Zeit die jungen Männer auch waren,
fie vermocdhten ſich doch im Augenblicke eine geheimen Grauens -
nicht zu erwehren. Denn dieje geheimnisvollen Töne hatten etwas
jo Weberirdilches, Geifterhaftes, jchienen bald dicht neben ihnen,
bald aus weiter Ferne, aus unabjehbarer Tiefe zu ihnen empor=
zujteigen, daß ihnen abjolut feine natürliche Erklärung Sant
einfallen wollte.
Mit einem jchrillen Mißtone, der jcheinbar geradezu zwiſchen
ihnen erſcholl, ſo daß beide auseinander prallten, brach die
Geiſtermuſik plötzlich ab.
„Sollten wir nicht beſſer umkehren, Chutbertd⸗ flüſterte
Robert mit heiſerer, zitternder Stimme, dem Freunde damit ver⸗
ratend, welch beängſtigenden Eindruck er von jenen unerklärlichen
Tönen empfangen.
„Dummes Zeug!“ raunter dieſer, ſich mutiger ſtellend, als
er ſich im Augenblicke gerade fühlte. „Vorwärts mit Gott! iſt
mein Wappenſpruch. Sind es Geiſter, was können ſie uns
anhaben? Wir ſind beide gute Chriſten. Sind es Menſchen,
wie wir, ſo will ich ſie ſehen, und, will es Gott, aus meinem
Eigentum vertreiben, wenn ſie in böſer Abſicht ſich hier ver—
bergen.“
Ohne ein Wort der Erwiderung gehorchte Robert, öffnete
ſeine Laterne wieder und ſchritt vorwärts. Er wäre ebenſo
gehorſam geweſen, wenn er auch gewiß gewußt, ſein Pſad führe
geraden Weges ins Verderben. Wo Chutbert hin wollte, da
mußte er an ſeiner Seite ſein, da gab es keine Frage, kein
Bedenken mehr für ſeine Treue.
2608 Egon Sels.
Während aber Robert vorfichtig den fich immer jtärfer
neigenden Boden beleuchtete, durchipähte Chutbert, der eine
Hand auf des Freundes Schulter gelegt, ihm vorgebeugt über
dieje ſchaute, mit jeinen leuchtenden Augen, denen die Schärfe
des Talfenblides eigen war, daS vor ihnen liegende Dunfel,
das ih in ‚der Ferne endlich zu einem leichten Dämmerlicht
erhellte. Nach wenig Schritten wuchs die Dämmerung, fie er-
hellte fi mehr und mehr. Der Gang jchien direkt 2 —
zu führen.
Robert ſchloß die Laterne als unnütz, denn der Weg war
ohne ihr Licht vollkommen ſichtbar geworden. |
Noch einige Schritte und fie ftanden am Ende des Ganges.
Der Ausgang war ein viereckiger Raum, dicht am Fußboden
bildete er eine Art von Stollen, durch den man nur kriechend
hinaus gelangen konnte.
Robert kroch voran, und fand, daß der Ausgang durch
ein Gitter von ſtarken Eiſenſtäben verſperrt war. Nach einigem
Suchen fand ſich der Riegel, der es von innen verſperrte.
Robert zog ihn, der wunderbar leicht ging, zurück, und fand
ſich jenſeits des Gitters, mitten in dem mannshohen Kamin
einer Halle, die grell von dem letzten Lichte * en
Tages erleuchtet war. Chutbert folgte ihm raſch
Die Halle war viel kleiner, als die des Eingangs, und
wie die mwohlerhaltene Dede und der obere Teil der Wände
bewiejen, viel reicher mit Stud verziert gewejen al3 jene. Auch
bier waren die Eichenpanele von den Wänden geriffen und alles
zerjtört, was ſich irgend — ließ.
Die Halle öffnete ſich auf einen Heinen Hof, an den
fi) der Garten anſchloß, das heißt, der Drt, welder einft-
mals ein arten geweſen, jeßt aber eine Blumenwildnig ge⸗
worden war.
In dieſem Burghofe, der von drei Seiten bon dem Ge—
bäude ſelbſt umfchlofjen war, fand fih ein Stall vor, an dem
freilich nicht mehr an die frühere Beitimmung erinnerte, als
die eilernen Ringe in den Wänden und die fteinernen Krippen.
Wie überall in der: ganzen Burg war alles, was von Holz
war, fortgejchleppt, oder vielleicht auch von den gelegentlichen
Beſuchern der Ruine als Brennholz verfeuert worden.
Das Nätjel der Ahnenburg. 2609
Ta man aus diejfem inneren Hofe durch einen Ver—
bindungsgang leicht in den großen Burghof gelangen Fonnte,
jo waren die beiden Pferde bald unter Dach gebracht, und
ließen fich, nachdem man ſie getränft — wozu ein Brummen
im Hofe, deſſen eijerner Eimer arg dom Noft zerfreffen, aber
doch noch brauchbar war, das Wafler lieferte — das mitgeführte
Futter vortrefflich ſchmecken. |
9. Die Erſcheinung.
Junker Chutbert jchien recht zu behalten. Der vorher
in jo leuchtender Klarheit und durchlichtiger Bläue jtrahlende
Himmel war von einer im Oſten aufgejtiegenen Wolfenwand,
die unaufhaltjan der finfenden Sonne nach fi) in Bewegung
gejeßt hatte, mit einem anfangs nur leichten, aber von Minute
zu Minute dichter werdenden grauen Schleier überzogen tworden,
der im Weften, wo die Sonne vor wenig Minuten erjt in ihr
Wolfenbett binabgejunfen war, in langgeitredten Streifen jenes
Ihmußig-gelblihe Not und grünliche Schivefelgelb zeigte, das
Saft immer auf ein nahe Gevorjtehendes Unwetter deutet.
Die Finsternis brach jchnell herein.
Der Schleier am Himmel fchien jich zu einem ſchwarzen
Bahrtuche zu verdichten.
„Wir werden eine Nacht haben, die für unjer Vorhaben
wie gejchaffen iſt,“ bemerkte Robert, neben Chutbert tretend,
der mit übereinander gejchlagenen Armen in der Thüröffnung
des Stalles lehnte und mit finfterem Blide hinaus in Die
Gartenwildnis jchaute, die mit ihrer Dede und Verlafjenheit
dennoch einen geheimen Zauber auf ihn ausübte.
„Mag fein,“ erwiderte er. — „Was weiter? Gejeßt,
wir finden wirklih den Schatz? Wird fein Beſitz mich beffer,
feöhlicher, glücklicher machen? Was ift das Leben überhaupt?
Wozu dies raftloje Ningen und Streben nach Reichtum und
Ehre? Wozu dies Sagen nad) Luft und Vergnügen? Mir ilt,
als wäre daS Leben des Lebens faum wert, und —“
„Bott bewahre mich! Chutbert, du jchwärmft! Ich erkenne
dich kaum mehr wieder!“ rief Robert förmlich erjchroden ob
older im Munde feines lebensluſtigen Freundes ganz unerhörten
SU. Baus-Bibl. II, Band XI. 164
2610 | Egon Fels.
Neden. „J, da hole doch der — ja jo —“ unterbrach er fich
und blicte fich furchtiam dabei um, — „'s wird wohl befjer
fein, feine hölliſche Majeſtät hier nicht zu nennen.“
Was er mit feiner unendlich komischen Grimaſſe dabei
beabfichtigt Hatte, geſchah, Chutbert brach in ein, zwar durch
Borficht gedämpftes, aber überaus fröhliches Lachen aus. Der
unheimliche Zauber war gebrochen, die melancholijchen Gedanken
entflohen wie Nachtgevögel vor den Strahlen der Sonne.
„Na, Gott fei Dankl du kannſt noch lachen, Chutbert!
Wie du mich erjchredt haft! Freilich ift es hier kirchhoföde, aber
deshalb brauchen dir doch ſolche dumme Gedanken nicht zu
fommen. Denke lieber daran, wie du, im Befite des Schabes,
hier mit dem HBauberjtabe Flingenden Goldes, neued Leben
inmitten dieſer Grabesöde entitehen laffen wirft. Sch ſehe
diefe glüdliche Veränderung ſchon vor mir. Sehe das Schloß
neu eritanden — wohnlih, ja glänzend eingerichtet. Die
Halle ift mit Dienerfchaft gefüllt, diefer Stall voll edler
Pferde. Die Wildnis dort iſt gelichtet und nah allen
Regeln der Gartenkunſt in Rabatten eingeteilt, mit jchönen,
duftenden Blumen gefüllt; mit gelbem Sand beitreute Wege,
zierlich mit Buchsbaum eingefaßt, durchjchneiden ihn nach allen
Richtungen in zahlreichen Windungen, und dort, wo das Terrain
ſich hebt, fteht ein Lufthäuschen, zur Ruhe einladend und einen
Ihönen Ausblid, über die neu aufgerichtete Mauer, in den
ſtillen Wald geitattend. Hier im Hofe, wo jebt das hohe Gras
wuchert, treiben fich, auf dem wieder getäfelten Boden, deine
Heinen Buben mit ein paar Hunden umher, während droben
auf dem Söller da deine jchöne Burgfrau fteht und jpähenden
Blides nad) dem Walde hinüberjchaut, deine Heimkehr eriwartend.
Da erblidt ihr jehnend Auge den Geliebten, und mit wehendem
Schleier —“
Hier verſtummte, wie abgejchnitten, urplößlich das fröhliche
Geplauder. |
Lächelnd wendete fich Chutbert dem Freunde zu, um ihm
mit einem Scherzworte zur Fortießung feiner Bhantafie auf-
zufordern. Er erichraf heftig, denn der Freund jtand wie
eine lebendige Statue tödlichen Schredens neben ihm. Toten-
bleich, die Augen weit aufgerifien, deren Bupillen unnatürlich
Das Rätſel der Hhnenburg. 2611
erweitert hervortraten, jtarrte er auf das Fenſter neben dem
Söller, von dem er ſoeben gejprochen. Chutbert folgte der
Richtung feiner entjegten DBlide, konnte aber nirgend3 etwas
entdeden, was ihm des Freundes Schreden zu erklären ver-
mochte.
„Was ift dir, Robert? Was Haft du?“ fragte er haftig
— „du fiehlt ja aus, al3 hättejt du den Teufel, den du vorher.
nicht nennen wollteit, da oben in Perſon gejehen.“
Robert ftrich fich, tief aufatmend, mit der Hand über die
mit faltem Schweiße bededte Stirn, und ohne den Blid von
jenem Fenſter abzuwenden, ermwiderte er mit einer Stimme,
in welcher noch der Nachhall eines furchtbaren Schredens
zitterte. „Den Teufel wohl nicht, aber — einen Geift.“
„Unſinn! Komm zu dir, Robert, du träumft mit offenen
Augen, das iſt fiher!" und Chutbert ergriff des Freundes Arm,
ihn ſchüttelnd. |
Seht endlich wendete Robert den Blid von dem Feniter
ab und eriiderte mit furchtbarem Ernſte: „Nein, ich träumte
nicht. So deutlich, wie ich dich Hier vor mir fehe, jah ich dort
am Fenſter, neben dem Söller, plötzlich, wie hingeweht, eine
weiße Geſtalt ericheinen.“
„Ra, wenn du e3 mit folcher Miene verficherit, muß id)
es wohl glauben. Uber — braucht e3 denn gerade ein Geiſt
gewejen zu fein? Wie jah die Geſtalt aus? War fie Mann
oder Frau? ch würde entichieden das lebtere vorziehen,
borausgejeßt, daß fie jung und ſelbſtverſtändlich jchön iſt.“
„Scherze nicht, Chutbert, mit jo erniten Dingen —“ er-
widerte Robert bereit3 gefaßterr. „Wie ſie ausfah, kann
ih nicht jagen, denn ich ſah von dem Geſicht nicht3 als ein
paar dunkle Augen, die aus weißen Schleiern, oder, was weiß
ih — Leichentüchern heraus, zum Himmel empor gewendet
waren. Bon Entjegen über den unerwarteten Anblid gepadt,
ſchrak mein Blid nur um das Zehnteil einer Sekunde zurüd;
al3 ich wieder hinjah, war fie verſchwunden.“
„Run, da halt du es! du wirft dich getäuscht haben. Wir
fönnen ja uns faum noch jehen, und da oben, wo noch dazı
der Schatten des großen Turmes hinfällt, ilt e3 noch finiterer.
Gewiß, mein lieber Robert, du Haft dich getäufcht.“
164*
2612 Egon Fels.
„Rein, das habe ich nicht. — Sch Jah fie deutlich — aber
— du haft dennoch recht. Ich war ein Narr mit meinem
Screden. Kann e3 denn nicht irgend ein Menſch geweſen
jein, dem es jehr ungelegen iſt, daß wir ihn in feinem Beſitz—
tum bier, deffen er fich vielleicht gänzlich ficher geglaubt, zu
itören fommen und der, um uns durch Schreden wieder zu
vertreiben, ſich das Vergnügen macht, den Geiſt zu fpielen?“
„Sp, das laß ich mir gefallen, alter Junge, jest bift du
wieder du jelbjt!” rief Chutbert erfreut. „Dies alte Raubneſt
it bei alledem ein ganz vertradter Ort. Mich macht e3 zum
Schwärmer über den Unmert diejes lieben, Iuftigen Lebens,
und di) gar zum Geilterfeher. Ein guter Anfang, wahrlich!“
Während er jo mit gedämpfter Stimme zu Robert ſprach,
waren beide bereit3 in die Halle eingetreten und näherten fich
der dem Kamine gegenüber liegenden Seitenthür, die fie, wie
vermutet, zu einem Korridor führte, an deffen Ende eine
lteinerne, überaus mwohlerhaltene Wendeltreppe in die oberen
Räume hinaufführte. ;
Diefer Hintere Teil der Burg war ficher die Wohnung
der Frauen geweſen.
Die Gemächer waren kleiner und überaus reich mit Stuck
geſchmückt, in zweien waren ſogar zum Teil wohlerhaltene,
zum anderen arg von Wind und Wetter, beſonders in der
Nähe der Fenſter, mitgenommene alte Freskomalereien vor-
handen. Ein für die Zeit, wo ſie entſtanden ſein mochten,
überaus koſtbarer und für ſolch einfache Ritterburg wohl noch
ſeltenerer Schmuck.
Im übrigen herrſchte in dieſem Teile der Burg dieſelbe
Oede und Zerſtörung wie überall. Nirgends gab es die Spur
eines Menſchen, dafür aber Staub, Moder, Spinnweben überall.
Hiervon machte das Gemach mit dem Söller, neben dem
auf jeder Seite zwei ziemlich große Fenſter ſich befanden, durch—
aus keine Ausnahme.
Der einzige Unterſchied gegen die anderen Gemächer und
Säle war der, daß es ſich ſtaubfreier als dieſe erwies, was
aber: keineswegs der ordnenden Menſchenhand, ſandern nur
dem Winde zu danken zu ſein ſchien.
Mit demſelben Reſultate, wie unten, wurden auch noch
Das Nätfel der Ahnenburg. 2613
die Räumlichkeiten der zweiten Etage durchjudht. Dede und
Einjamfeit überall. Fled mäuſe, Käuzchen, Spinnen, Mäufe
und ein Ber von Kellerwürmern die einzigen Bewohner.
Ueber all den Unterjuchungen war es natürlich längſt
Nacht geworden, und unſere Freunde jchidten fich endlich an,
nachdem jie durch einige mitgebrachte Nahrung die ungejtümen
Forderungen des über höhere Intereſſen nur zu lange ver-
nachläjligten Magens befriedigt Hatten, die Aufjuchung des
Schatzes zu beginnen.
Sie betraten den mann3hohen, weit vorjpringenden Kamin
des Ahnenjaales, und e3 gelang ihnen, die Hinterwand der
euerjtelle, welche mit einer dichten Rauch- und Rußkruſte be-
det und überzogen war, nach jener Zeichnung auf einer be-
ſtimmten Stelle zu öffnen. Die Steinpirtte bewegte fich leichter,
al3 man ihrer Größe und Schwere nach hätte erwarten follen,
auf ihren unfichtbaren Zapfen zur Seite und gab eine eijerne
Thüre, welche fich dahinter befand, frei.
Schwer atmend von der Anjtrengung hielten beide inne,
und Robert fragte triumphierend: „Na, du Zweifler! was ſagſt
du nun? Sit die Thüre da ein Fiebertraum ?” |
„DO! juble nur nicht zu früh,” erwiderte whutbert
lachend. — „Was dahinter ſteckt, das ift die Hauptjache. Dann
wollen wir Mmeiter reden, wenn wir es willen.“ .Und er jtrengte
fih an, die Fed. an der bezeichneten Stelle durch ein Stemm-
eijen in Bewegung zu jeben. |
Vergeben, die Feder wich und wankte, der Mechanismus
ſpielte nicht.
Jeder der jungen Männer nahm jeine Zaterne und unterjuchte
eine Seite der Thür. E3 war durchaus fein anderer Punkt bemerf-
bar, als jener auf der Zeichnung angegebene, mit dem der äußeren
Steinplatte forrejpondierende, wo die Thür fich öffnen Fonnte.
Beide vereinten nun ihre Kräfte, fie drüdten und jchoben
— alles umjonft.
Draußen begann der Sturm des ausbrechenden Gewitters
zu toben. Dumpf grollte der Donner in der Ferne, das
Wetterleuchten warf zumeilen einen fahlen Schein in den Saal,
und hier und da tauchte geipenftiich ein augenlojes Geficht aus
dem Dunkel der Wände auf.
2614 Egon Fels.
Es waren die wenigen, noch einigermaßen erhaltenen
Ahnenbilder, die aus ihren Rahmen heraus den vergeblichen
Anitrengungen ihres Urenkels zugejehen haben würden, hätte
nicht Vandalenhand ihnen die Augen geraubt.
Endlich fam Robert auf den Einfall, von dem in einer
lederbezogenen Flaſche mitgeführten, zur Speifung der Lampen
in den Laternen beitimmten Dele einige Tropfen in die Ver-
tiefung zu gießen und dies vermitteljt eines mit Del reichlich
getränkten Zeugfetzens, jo gut e3 gehen wollte, hineinzureiben.
AS dies geichehen war, wurde das Eifen nochmals ein-
geitemmt, und abermals machten fich beide mit all ihren Kräften
ans Werf und — al3 draußen ein greller Blitz, die ſchwarze
Wolkendecke de3 Himmels zerreißend, den ganzen Saal mit
Feuer anzufüllen fchien, während der unmittelbar darauf folgende
ungeheure Donnerjchlag die Burg bis in ihre Grundfeiten er-
zittern ließ, und gleichzeitig ein Donnergepolter ftürzender
Steine den Einfturz irgend eines Teiles des zerjtörten linfen
Flügels verkündete — ftürzten auch unfere Freunde, wie vom
Blitze darniedergefchmettert, durch die mit rapider Gewalt
plöglic) aufipringende au au dem Be gebracht,
zu Boden.
Doch waren fie feineswegs verlebt.
Lachend richtete ſich Chutbert zuerit empor und unter-
jtüßte den noch mehr als er erjchrodenen Freund beim Auf-
ſtehen. „Das nenne ich mit der Thür ind Haus fallen!" —
rief er luflig mit feiner vollen Stimme. Damit ergriff er eine
Laterne und leuchtete in dem Raume umher, in den fie mit
der mweichenden Thüre geradezu hineingefallen waren.
„Ale Wetter! Sieh’ doch, Robert, da können wir uns
freilich gratulieren, daß die Weisheit des Baumeiſters, welcher
diefen geheimnisvollen Ort anlegte, vielleicht die Möglichkeit
ſolchen Falles berechnend, dieſe Treppe da nicht näher hinter
der Thür anbringen ließ. Wären wir beide da hinabgefallen,
jo möchte es nicht fo glatt abgegangen fein, ich glaube, wir
vergäßen eine Weile das Aufſtehen. Wie?“
„Ja, ganz beſonders ich, denn da ich zu unterſt lag, hätte
ich auch zuerſt mit den Stufen da Bekanntſchaft gemacht. Du
lagſt ſchon weicher.“
Das Rätjel der Ahnenburg. 2615
— — —— —— — —— — ————û——
Beide lachten.
„Was willſt du denn machen, Robert? — Laß doch den
Stein offen. Wir können am Ende nicht wieder hinaus und
müſſen in dem Loche da unten und auf dem Schatze, deſſen
Exiſtenz mir jetzt ſchon wahrſcheinlicher vorkommt, elendiglich
verhungern.“
„Sei außer Sorge, der Mechanismus ſpielt, wie ich mid) -
überzeugt habe, ganz vorzüglich auch von diefer Seite. Die
Borficht ijt nötig. Denn wir können zwar mit einiger Be—
ſtimmtheit annehmen, daß wir, von jener unerflärbaren Er-
Icheinung abgejehen, die einzigen "menjchlichen Bewohner der
Burg find, aber ob das draußen tobende Unwetter nicht viel-
leicht irgend einen verirrten Wanderer Hierher treiben mag,
fönnen wir nicht wiffen. Bon anderem lichtfcheuen Gefindel,
das möglicherweije bier feinen beftimmten Unterjchlupf hält,
noch gar nicht zu reden. Deshalb“ — er z0g die fich ge-
räujchlo3 bewegende Steinplatte mittelft eines zu dieſem Zwecke
innen angebrachten Eifenringes an fich, und die Feder jchnappte
hörbar ein — „wollen wir und und unfer Geheimnis fichern.
Daß wir bei der Rückkehr nicht etiva irgend welchen Anweſenden
im Saale geradezu in die Hände laufen, dafür hat dein Fluger
Borfahr, oder wer fonft diefen Schlupfwinfel für die Zeiten
der Gefahr angelegt Haben mag, nad) Möglichkeit gejorgt,
denn fieh” — bier ift eine Klappe, die ſich — — mit einiger
Mühe zwar, wie e3 jcheint —“ er ftemmte den Knauf jeines
Dolches dagegen, ſchob und ftieß daran herum, bis fie wich —
— „aber doch endlich beifeite fchieben läßt und wie ich nicht
zweifle" — er legte das Auge an eine darunter verborgene,
etwa dublonengroße Oeffnung — „richtig einen freien Blid
auf den Saal giebt, und uns jonad) in den Stand jegt, vor-
her das Terrain zu beobachten, ehe wir diefen' geheimen Ort
verlafien. . (Sortjegung folgt.)
Derrat.
Alerander Kaufmann.
Die Wafferlitie kichert leis:
„Ich muß euch ein Ding verraten, |
Ich muß euch verraten, was geftern nachts
Hwei junge Derliebte thaten.
Die Eamen mit Detter- und Bafenfchaft
Den Strom hinunter geglitten,
Die faßen, weil Kaufcher im Boot, ganz ftill,
Mit auferbaulichen Sitten.
Sie tauchte die Hand ins Wogenblau,
Den Eopfenden Puls zu fühlen,
Er wollte zur felben Seit einmal
Nach der Wärme des Waſſers fühlen,
Und unter dem Waſſer begegnen fich
Derftohlen die beiden Hände,
Und fliehn und fangen behende ſich —
Es nimmt das Spiel fein Ende,
Die Bafen haben nichts gemerft
Don der glüdlichen Liebesftunde,
Ich aber hab’ es wohl gefehn
Tiefher aus dem laufchenden Grunde.”
| Er
0 IM
A
—
Schloß Hartenfels in Torgau mit der Elbbrüde,
Ein Chüringifhes Elite-Regiment und feine
Geſchichte.
(4. Thüringiſches Infanterie-Regiment Ar. 72.)
Von Hellmut von Trimborn.
(Vachdruck verboten.)
Zur Geſchichte der Stadt Torgau.
icht allzu viel Regimenter haben eine ſo intereſſante
Garniſonſtadt, wie das 4. Thüringiſche Infanterie—
Regiment Nr. 72. Urſprünglich eine ſlaviſche Nieder—
laſſung, wurde „Torgowy“ (zu deutſch: —
unter den erſten ſächſiſchen Kaiſern Heinrich I. und Otto I, die
vor etiva taufend Jahren regierten, in eine deutſche Stadt ver-
wandelt, deren Stüßpunft lange Zeit die benachbarte Burg var.
Der Ort, auf dem Torgau heute jteht, war eine geeignete
Stätte für eine Burggründung. Es liegt auf einem Porphyr—
felfen, der jich nach Oſten durch die Elbe hindurchzieht. Diejer
überragte weithin die Umgebung und bot Schuß gegen die Elb—
überjchwemmungen; denn die Elbe war damals noch nicht ein-
gedämmt. Der Zellen bildete zugleich eine bequeme Furt durch
die Elbe.
2618 Bellmut von Trimborn.
Sn der urjprünglich ſlaviſchen Niederlafjung jeßten ſich die
deutichen Ritter feit und erbauten auf dem Felſen einen mit
Wal und Graben umgebenen Turm oder eine Burg. Gie
. übten nun die Herrichaft aus über die Slaven auf dem linken
Elbufer und bewachten die Furt durch den Fluß. An der Spibe
der Burgbejagung jtanden Ritter, die ſpäter Herren oder auch
Grafen von Torgau genannt wurden.
Sın Schube der Burg, noch auf dem Felſen, ſiedelten ſich
num Deutihe an. Dieſes waren freie Männer mit eigenent
Grundbeſitz. Sie waren verpflichtet, durch Wachen und Bauen
bei der Verteidigung der Burg mitzuwirken. Auch dieje An—
liedelung war mit Wal und Graben umgeben. An der Spibe
derjelben ftand der Schultheiß, der in Gemeinfchaft mit den
Schöffen die niedere Gericht3barkeit ausübte. Die obere Ge—
richtSbarfeit lag in den Händen des Burgvogts.
Die günfjtige Yage der Burg locte bald noch mehr Anſiedler
herbei. Auch blieben die Slaven in der Nähe der Burg wohnen und
gingen ihren Bejchäftigungen nad). Kaufleute, Handwerker jeder
Art kamen herzu, und jo entitand allmählich neben der Burg
noch eine Stadt. Die Bewohner derjelben genofjen den Schuß
der Burg, erhielten aber erjt nach langen Kämpfen gleiche Rechte
mit den Burgbewohnern.
Die Bewohner der Stadt waren die Bürger. Jeder, der
ih in der Stadt dauernd aufhielt, mußte das Bürgerrecht
erwerben. Der neue Bürger leiltete einen Eid, feine Pflichten
gegen die Stadt gewifjenhaft zu erfüllen. Die Handwerker
ſchloſſen ſich zu Innungen oder Bünften zuſammen. Wichtige
Erwerbszweige wurden das Bierbrauen und ſpäter die Tuch—
weberei. Das Torgauer Bier wurde weithin verſandt und
genoß einen guten Ruf. Auch die Landesfürſten liebten es ſehr.
Sie erteilten der brauenden Bürgerſchaft viele Vorrechte.
Von der Burg aus drangen die Deutſchen allmählich nach
Oſten vor. Die noch vorhandenen Slaven vermiſchten ſich mit
den Deutſchen. Sie lernten deutſche Sprache, Sitten und Ge—
bräuche kennen und üben und nahmen das Chriſtentum an. Für
die Aufrechterhaltung und Befeſtigung der chriſtlichen Lehre
ſorgten die Mönche; denn auch viele Klöſter wurden in der
Umgegend gegründet. In Torgau ſelbſt ließen ſich die Franzis:
Ein Thüringifches Elite- Regiment und feine Sejchichte. 2619
faner nieder, die jic) der bejonderen Gunſt der ſächſiſchen Landes—
fürjten erfreuten und die Stadt erjt verließen, als die Reformation
in Torgau ihren Einzug hielt.
Die Landesfürjten — urjprünglich die Markgrafen von
Meißen, jpäter die Kurfürjten von Sachjen — gehörten bis
zur Ungliederung Torgaus an Preußen dem Haufe Wettin an,
das befanntlich bi3 zum heutigen Tage dem Königreich Sachſen
jeine Herrjcher gejchenft hat.
Stammfi und Reſidenz der Markgrafen von Meißen war
die alte Burg, aus der der ftattliche Bau hervorgegangen it,
der unter dem Namen „Schloß Hartenfels“ noch heute von
dem Felſen hernieder grüßt. „Es iſt eine recht kaiſerliche Burg,“
lagte Kaijer Karl V. nach der Schlacht bei dem unweit ge-
legenen Mühlberg, als er das Schloß er-
blickte, und auch andere Fürſten erfreuten
ih an dem herrlichen Bau. Der erite
Flügel des Schlofjes mit dem Hauptein-
gang tt in den Jahren 1481 bis 1490
erbaut und nahm die alte Burg in ich
auf. Bald genügte jedoch der vorhandene
Bau den glänzenden Anjpriüchen des fur-
fürjtlichen Hofes nicht mehr. Als Friedrich
der Großmütige, der hier geboren war, das
Kurſchwert in die Hand nahm, erhielt der berühmte Baumeilter
Konrad Krebs den Auftrag, den Schloßbau zu erweitern. In den
Sahren von 1532 bis 1544 wurden dem Hauptbau die übrigen
Scloßflügel angefügt und glänzend ausgeſtattet. Man richtete
Prunk- und Feſtſäle im Innern her, auf dem Schloffe erhoben
ſich weithin fichtbar die vielen Türme, die nur noch zum Teil er-
halten jind. Seit Friedrich dem Weiſen haben die Fächitichen
Kurfüriten, die inzwiſchen ihre Reſidenz nach Dresden verlegt
hatten, gern in dem Schloſſe Hartenfel3 geweilt, und hier
feierten fie ihre glänzenden Feite, namentlich zu Ehren der
fürjtlihen Vermählungen und Huldigungen. Solche Feite
dauerten faſt immer gegen acht Tage und erhielten eine be-
Jondere Würze durch große Jagden, die in den Wäldern der
Umgegend abgehalten wurden. Im dreißigjährigen und jteben-
jährigen Kriege hat das Aeußere und Innere des Schlofjes
Wappen der Stadt Torgau.
2620 Hellmut von Trimborn.
— — —— ——— —a — — ———— — ——
ſehr gelitten. Im Aare 1771 wurde e3 in eine Strafanitalt
umgewandelt, und feit 1813 ift eg Kajerne.
Zum Schloß gehört eine eigene Kirche, Die Schloßkirche,
die heute von der Garniſon als Gotteshaus benutzt wird.
Sie iſt von dem Kurfürſten Johann Friedrich während der
Reformationszeit erbaut und von Dr. Martin Luther 1544
feierlich eingeweiht worden.
Hiermit kommen wir zu dem großen Anteil, den Torgau
am Werke der Reformation genommen hat. Dieſer Anteil war
ſo groß, daß ein altes Wort ſagt: „Wittenberg iſt die Wiege
der Reformation, Torgau ihre Amme.“ Torgau war Reſidenz—
Itadt, und jo fonnte es nicht ausbleiben, daß die Kunde von
der neuen Richtung auf dem firchlichen Gebiete Ichnell hierher
gelangte. Als Luther die fünfundneunzig Sätze an die Thür
der Wittenberger Schloßkirche gejchlagen Hatte, fand feine mutige
That auch Wiederhall in den Herzen der Bewohner Torgau,
ja jelbit viele von den bier lebenden Auguftinermönchen zollten
‚ihrem Ordensbruder Beifall. Der von ihm ausgejäte Samen
ging immer mehr auf, und fchon im Jahre 1521 predigte er
zum eriten Male in Torgau. Der Stadtrat überreichte ihm
den Ehrentrunf und, als Luther im nächſten Sahre wiederfam,
wurde er bewundert und gefeiert. Von allen Seiten türmten
ih inzwifchen Gefahren der neuen Lehre entgegen, und jo
ihloffen zu ihrem Schuß die evangelifchen Fürften, voran die
Kurfürjten von Sachſen und Helfen, am 5. März 1526 auf
dem Schlojje zu Torgau ein Bündnis; und hier wurden auch
vier Jahre ſpäter von Luther und feinen Freunden die
„Torgauer Artikel” aufgejegt, jene Urkunde, welche die Grund-
lage de3 augsburgiſchen Befenntnifjes wurde. Der Ausbau
der Reformation ging nun in Torgau rüftig vorwärts. Luther
fam öfters hierher, und feine Predigten ließen ftet3 einen
dauernden Eindrud in den Herzen der Torgauer zurüd.
Zorgau hat jeitdem den Namen einer Lutherſtadt behalten.
Auch Luther3 großer Freund und Gehilfe Philipp Melanchthon
Dat oft und gern in Torgau gemeilt.
Unter den berühmten Frauen, die in der Gejchichte der
Stadt eine Rolle jpielen, nimmt Katharina von Bora eine
hervorragende Stelle ein. Schon in frühem Kindesalter kam fie
\
Ein Shüringifches Elite-Regiment und feine Sefchichte. 2621
in das Gifterzienjerklojter zu Nimptjchen bei Grimma in Sachſen
und lebte hier zehn Jahre in Ruhe und Frieden, bis das Lied
der „Wittenbergiichen Nachtigall” verlodend auch in ihre ftille
Belle drang. Berjchiedene Nonnen traten, mit Dr. Martin
Luther in Verbindung und diejer bejchloß, fie aus ihren Kloſter—
mauern zu befreien. Ein Torgauer Bürger, Leonhard Köppe,
unternahm daS Befreiungswerf. In der eriten Oſternacht am
5. April 1523 ftiegen neun Nonnen vermittelit einer Strid-
leiter über die Mauern, auf-der andern Seite wurden fie von
Leonhard Köppe in Empfang genommen, in leere Fäfjer geſteckt,
mit Deden und Stroh bepadt und nach Torgau gefahren. Von
hier famen fie nad) Wittenberg, wo fie Zuther in angejehenen
Samilien unterbradhte. Katharina von Bora fand freundliche
Aufnahme im Hauje des GStadtjchreiberd. In deſſen Haufe
fand auch am 27. Juni 1525 ihre Vermählung mit Luther.
ſtatt. Sechs Jahre überlebte fie ihren Gatten, und am
20. Dezember 1552 ſchied fie in Torgau, wohin fie vor der
Peſt aus Wittenberg frank und elend geflüchtet war, aus dem
Leben. Unter großer Teilnahme der Bevölkerung wurde fie
beerdigt. Noch heute erblidt man hinter der Kanzel in der
Stadtkirche ihr Denkmal. . Diejes trägt die Inſchrift: „Arno
1552 den 20. Dezember ift in Gott jelig entſchlafen alldier
in Torgau Herrn Dr. Martin Luthers ſelig Hinterlafjene Witwe
Katharina von Bora.“ |
Wie auf religiöfem, jo pielte auch auf kriegeriſchem Ge—
biete Torgau feit der Reformationzzeit eine wichtige Rolle. Als
im Sahre 1542 Kurfürſt Johann Friedrich der Großmütige
von der Stadt Wurzen Hilfsgelder zum Türfenfriege forderte
und fie ihm diejelben verweigerte, da bejchloß der Kurfürft, ſie
- mit dem Schwerte dazu zu zwingen. Er gebot deshalb den
wehrhaften Bürgern Torgaus, fi) zu wappnen und gegen die
ungehorjame Stadt augzuziehen. Da rüjteten fich die Torgauer
Bürger, doch wurde der Streit beigelegt, ehe es zum Kampfe
fam. Bon da ab wurde es Brauch), daß die wehrhaften Bürger
Torgaus alljährlich an dem Auszugstage ein Erinnerungsfeit
feierten, mit Harniſchen angethan ins Freie zogen, ſich in den
Waffen übten und an allerlei Kurzweil fich ergößten. Die
Harniſche jo ihnen der Kurfürſt aus feiner Rüftfammer in
2622 Hellmut von Trimborn.
Torgau geſchenkt haben. Im Laufe der Zeit ift dieſes Felt
geblieben, nur wurde es von Oſtern auf Pfingiten verlegt und
nur alle zwei Jahre gefeiert. Bei allen fürftlichen Befuchen,
deren fich Torgau vieler zu rühmen hat, haben die „Geharniſchten“
Spalier gebildet und find ftetS geehrt worden, namentlich haben
die preußijchen Könige und vor allen Dingen Kaiſer Wilhelm IL.,
die „Geharniſchten ausgezeichnet.
Im dreißigjährigen Kriege wurde Torgau und Umgebung
von den Schweden hart mitgenommen. Achtzehn Wochen blieben
die Feinde zu Beginn des Jahres 1637 im Beſitze der Stadt,
von der ſie große Summen Geldes und große Lieferungen in
Tuch uud Bier erpreßten. In jedem Haufe lagen vierzig bis
fünfzig Soldaten und jeder ftellte an die Bewohner feine be-
onderen Forderungen. Jeder Tag brachte neue Mißhandlungen,
neue Bedrüdungen, neue Qualen. Es war nicht3 Ungewöhn—
liches, daß ein auf der Straße gehender Bürger da3 Ziel eines
Hakenſchützen wurde. Oder die Bewohner wurden vor den
Wagen gejpannt und mußten die aus ihren Häufern geraubte
Habe jelbjt nach dem Lager vor die Stadt fahren. Die fchönen
Boritädte und Gärten wurden verbrannt: die Dörfer und Städte
der Umgegend janfen in Aſche. Dabei begann die Belt in
Ichredlicher Weije zu mwüten, denn überall lagen in Verwejung
übergehende Leichen umher. Auch Sterbende jah man mafjen-
haft in den Straßen und Gafjen und vor der Stadt, denn in
den Häufern Hatten fie nicht mehr Plaß; nicht jelten wurden fie
noch lebendig von den Jcharenmweife umherlaufenden Hunden
gefrejien. Ganze Straßen ftarben aus. Gegen 18000 Menjchen
jollen in diefem und den nächiten Kriegsjahren in Torgau ge-
Itorben fein. Noch 1640 wurde Torgau al3 ein verödeter Ort
bezeichnet.
Hundert Jahre vergingen, al3 Torgau don neuem die
Schreden der Kriegsfurie kennen lernte. Im zweiten ſchleſiſchen
Kriege war’3, Ende November 1745, da läutete die Sturm-
glocke und fündete den aus nächtlicher Ruhe geftörten, geängftigten
Bürgern, daß die Preußen fommen. Eine Hufarenabteilung
Iprengte in die Stadt und zwang den Bürgermeilter, mit nad)
Eilenburg zu fommen und Friedrich II. Treue und Gehorjam
zu geloben. Am anderen Tage wurde die Stadt von einem
Ein Chüringifches Elite-Regiment und feine Befchichte. 2623.
——— Sun 200,020 DES j .2.0.62, ze (pSES Le ZZ (SLR SL DEE
Hujarenregiment bejegt. Vierzehn Tage fpäter famen noch
32000 Preußen unter Führung des „alten Deffauer” nad
Zorgau und hielten fünf Tage in der Stadt Raft. Schwer
loftete die Einquartierung auf den Einwohnern, denn jedes
Haus wurde mit dreißig big vierzig Mann belegt. Doch die
Preußen hielten jtrenge Manneszucht, jo daß die Bürger in
feiner Weiſe von ihnen beläftigt wurden.
Im jiebenjährigen Kriege machte fich der preußifche Oberſt
von Wolffersdorf um Torgau bejonders verdient. Mit großer
Tapferkeit verteidigte er in den Tagen vom 9. bis 15. Auguft 1759
die Stadt gegen die Defterreicher, die mit bedeutender Ueber-
macht vor derjelben erjchienen und fie belagerten. Alle An-
griffe und Sturmverjuche wurden zurüdgefchlagen, ja der Oberft
machte noch mehrere Ausfälle und brachte den Feinden große
Berlufte bei. Erſt als Pulver und Blei faft vollftändig fehlten,
ließ er fih auf Unterhandlungen ein. Die Feinde gewährten
ihm und feinen Truppen freien Abzug mit. Hingendem Spiel
und fliegenden Fahnen. Ueber die Elbbrüde führte er jeine
Bataillone nad) Wittenberg zum König, der dem Oberjten dieſe
tapfere Haltung nie vergejjen hat. Hundert Sahre fpäter it
demjelben ein Denkmal errichtet worden, das noch heute auf
der Torgauer Promenade zu jehen ilt.
Bei Torgau fand auch am 3. November 1760 die blutigite
Schlacht de3 jiebenjährigen Krieges ſtatt. Die Defterreicher
hatten unter General Daun eine äußerjt günftige Stellung auf
den Süptiber Höhen, die ſich in ſanften Abdachungen bis dicht
an Torgau heranziehen. Infolge eines Irrtums ſchritt Friedrich
der Große, ohne die verabredete Flankenunterſtützung ſeitens
Zietens und feiner Reiter abzuwarten, zum vorzeitigen Angriff.
Durch einen wahren Kartätichenhagel wurden die anftürmenden
Infanterie» Regimenter faſt volljtändig vernichtet. Sn einer
halben Stunde waren zwei Drittel der anrüdenden Truppen
gefallen; der König jelbit war leicht verwundet worden. Da
fam als Retter in der Not „Zieten aus dem Bujch“, brach aus
vem benachbarten Walde hervor, ftürmte die Anhöhen und
rettete die Ehre de3 Tages. Der Feind räumte das Schladht-
feld, und General Daun gab den Befehl zum fofortigen Rüd-
zug über die Elbe. Als Friedrich der Große nach gewonnener
2624 Hellmut von Trimborn.
Schlacht Bieten begegnete, fiel er ihm tiefbewegt um den Hal2.
Hundert Jahre fpäter wurde zur Erinnerung an den blutigen
Sieg auf dem höchſten Punkte der Süptiger Höhen ein Denf-
mal errichtet, in deſſen Nähe am 18. Oftober 1871 zum Ge-
dächtnis des deutjch-Franzöfifchen Krieges unter großer Feierlich—
feit eine Friedenseiche gepflanzt wurde.
Es war ein Schredenstag für die Bewohner Torgaus, als
im November 1810 befannt wurde, der König von Sadjen
habe beſchloſſen, die bisher offene Stadt in eine Feſtung umzu—
wandeln. Der Kaijer Napoleon mwünjchte es, und der König
von Sachjen mußte gehorchen. Schon nach zwei Jahren ftand
die neue Zeitung, mit Wall und Graben und den nötigen Außen-
werfen verjehen, fertig da; die lebten ſächſiſchen Truppen ver-
ließen: die Stadt und machten den Franzoſen Platz, die unter
dem Kommando de3 Grafen Narbonne die Feltung bis zu
Anfang des Jahres 1814 im Beſitz behielten. Nach zwei—
monatiger Belagerung, während der Seuchen und Hungersnot
die Bewohner heimſuchten, zogen die Preußen am 10. Januar 1814,
Wachholderbeeren zum Schutz gegen Anſteckung kauend, in die
verpeſtete Stadt ein, die von nun an preußiſch blieb und dem
Regierungsbezirk Merſeburg in der Provinz Sachſen zugeteilt
wurde. Sie erholte ſich bald wieder, und die eingeäſcherten
Häuſer wurden wieder aufgebaut. Das Jahr 1888 brachte der
Stadt die lang erſehnte Schleifung der Feſtungswerke. Ein
Werk nach dem andern verſchwand, und nicht mehr lange dürfte
es dauern, ſo werden auch die letzten Reſte der ehemaligen Boll—
werke verſchwunden ſein. Heute iſt Torgau eine freundliche,
gewerbthätige Stadt, deren Einwohner — gegen 11000 an Zahl
— in beſtem Einvernehmen mit der Garniſon leben.
Das 4. Thüringiſche Infanterie-Regiment Nr. 72 bis zum
Jahre 1866.
Im Jahre 1814 wurde Torgau nicht nur preußiſch, es
wurde bald nachher auch Garniſonſtadt. Sechs Jahre ſpäter
zog das 20. Infanterie-Regiment in Torgaus Mauern ein, um
bis zum Jahre 1860 hier zu bleiben; dann wurde es nach
Brandenburg und Treuenbrietzen verlegt. Das 72. Regiment
trat an ſeine Stelle. Bei der Mobilmachung im Jahre 1859
Kin Chüringiiches Elite-Regiment und feine Geſchichte. 2625
al3 32. Zandwehrregiment gebildet, wurde e3 zuerſt in Die
Öarnijonen Torgau, Merjeburg und Naumburg gelegt; doc)
Ihon am 5. Mai 1860 fam das ganze Regiment nad) Torgau
und wurde am 4. Suni desjelben Jahres al3 72. Regiment
der. 16. Brigade: zugeteilt. Schon am 18. Januar erhielt das
Regiment jeine Fahnen.
Bei Liebenau, Podol und Königgrätz.
Beim Feldzuge 1864 ift das Regiment nicht nad) den
Schladtfelde gefommen, wohl aber im Jahre 1866. Es gehörte
zur Armee des Prinzen Friedrich Karl und rüdte an der Spibe
derjelben am 21. Juni in Böhmen ein. Bon Niesfy, der
freundlichen ſchleſiſchen Herrnhuter Kolonie, aus ging der beſchwer—
lihe Mari. Prinz Friedrich Karl war von Görlitz aus auf
dem Bahnhof erichienen, um die Truppen zu befichtigen. Auf
jeinen Befehl jtanden fie mit Gewehr ab, und langjam ging
er an der Front herunter und beobachtete alles mit feinem
feiten, durchbohrenden Blick; e3 wurde fein Spiel gerührt, nicht
lalutiert — fein Hurraruf — er hatte fich alles verbeten.
Nach der Revue hielt der Prinz eine Ansprache an die Offiziere,
ließ hierauf die Bataillone in Sektionen nach der Stadt zu an
fih vorbeimarfchieren und fuhr alsdann fofort nad) feinem
Hauptquartier Görlitz zurüd.
An dem Gefechte bei Liebenau am 26. Juni nahm das
Regiment ruhmvollen Anteil. Bald nachdem die Infanterie
die Höhe des Semmelberges beſetzt hatte, war die preußiſche
Avantgarden-Batterie aufgefahren und hatte ihr Feuer eröffnet.
Die 4. und 2. Kompagnie des 72. Regiments, vom öſterreichiſchen
Granatfeuer, welches die Chaufjee beherrjchte, beläftigt, wandten
fih nach recht3 von derjelben herunter in den Wald, um hier
einige Deckung zu finden. Trotzdem jchlugen die Granaten in
immer unmittelbarerer Nähe ein, und Major Henjel bejchloß
deshalb, der feindlichen Batterie auf den Leib zu gehen. Das
Terrain ſenkte ſich allmählich nach dem Feinde hin zu einer tief
eingejchnittenen Schlucht, deren jenfeitiger Abhang fich jehr fteil
aufwärts zog und mit hohem Stangenholz beitanden war. Die
4. Kompagnie, welche fih an der.Spite befand, ließ ihren
Schügenzug unter Leutnant v. Bömken ſchwärmen und folgte
SU. Haus:Bibl. TI, Band XI, 165
2626 Bellmut von Trimborn.
demfelben auf achtzig Schritt Entfernung, kurz Hinter ihr die
2. Kompagnie. Die öfterreichiiche Batterie, welche das Vor-
gehen der beiden Kompagnien bemerkte, richtete ihr Feuer auf
diefelben. Die Granaten flogen immer dichter um fie herum,
aber meiſtens darüber hinweg, da man der Batterie immer
näher fam. Eine Granate, welche unmittelbar vor der
4. Kompagnie frepierte, verwundete drei Mann ſchwer; einen
Moment bildete ſich eine Lücke inmitten der Kompagnie, aber
im Nu war fie wieder gejchloffen, und mit Energie ging e3
weiter auf die feindlichen Geſchütze los. Alles war voller Be-
geilterung in dem Gedanken an die Möglichkeit, fie zu erobern.
In fünf Minuten war der nördliche Abhang der Schlucht und
die Thalfohle durcheilt, die Geſchoſſe konnten nur noch mittel-
bar, durch die abgerifjenen Aeſte der hohen Kiefern und Fichten
Ichaden. Aber die größten Schwierigfeiten blieben noch zu
überwinden. Der Grund und Boden des jehr fteilen jenfeitigen
Abhangs mar mit Stiefernadeln did bededt, die jehr glatt waren
und das Eriteigen ungemein erjchwerten. Diejer Umftand, ſo—
wie die Hibe des Tages, der brennende Durft, die Erjchöpfung
infolge des jchnellen Vorgehens während des Gefecht3 machten
ein raſches Emporklimmen unmöglid. Nur einzeln fonnten fich
die Leute von Baum zu Baum hinaufziehen, wiederholt mußte
Halt gemacht werden, um Atem zw fchöpfen und um die
Schwächeren heranfommen zu laſſen. Die Schügen, in der
aufgelöften Ordnung weniger behindert, waren zeitiger oben
angefommen, aber aud) nur einzeln, je nach ihren Kräften früher
oder fpäter; fie frochen, durch das hohe Korn gededt, bi3 auf
150 bi3 200 Schritt an die Batterie heran und eröffneten ein
heftige3 Feuer auf Pferde und Bedienungsmannjchaft. Hätten
fie mit dem Feuern gewartet, bis wenigitens der ganze Schüben-
zug vereint war oder womöglich die ganze Kompagnie fi) auf
der Höhe befand — eine Minute Schnellfeuer (dejjen verheerende
Wirfung die Engländer im Burenfriege wiederholt ſpüren
mußten) hätte genügt, um Pferde und Bedienung zu vernichten,
und die Batterie wäre genommen gewejen. Als diejelbe aber
merkte, daß die Schüben ihr bereit3 jo nahe waren, daß einige
Pferde und Leute durch ihr Feuer verwundet wurden, ;proßte
fie auf und fuhr ab, und zwar in folder Eile, daß fie
Ein Chüringifches Elife-Regiment und feine Sefchichte. 2627
De ee —— —
Mützen, Schnapsflaſchen und ſelbſt geladene Granaten im
Stich ließ.
Nach dieſem glücklichen Coup hatte eine von der 4. Kom—
pagnie abgeſandte Patrouille von fünf Mann das Unglück, einer
feindlichen Reiterabteilung in die Hände zu fallen — unter
Umſtänden, die dem Heldenmut der thüringiſchen Infanteriſten
das rühmlichſte Zeugnis ausſtellen. Die Patrouille war ab—
geſchickt worden, während die Kompagnie ſich anſchickte, durch
die Schlucht zum Angriff auf die Batterie vorzugehen; ſie hatte
den beſtimmten Auftrag, nur 150 bis 200 Schritt in der Schlucht
ſeitwärts bis zu einer Biegung derſelben zu gehen, daſelbſt be—
obachtend ſtehen zu bleiben und bei weiterem Vorgehen der
Kompagnie ſich ihr von hinten anzuſchließen; ſie war ausdrücklich
davor gewarnt, ſich ſelbſtändig aufs Plateau zu begeben, um nicht
der feindlichen Reiterei in die Hände zu fallen. Die Mann—
ſchaften der Patrouille hatten ſich freiwillig gemeldet — es
waren wilde, verwegene Geſellen. Als die Kompagnie ſpäter
weiter vorging, um den Waldrand zu beſetzen, hielt es die
Patrouille für bequemer, direkt den Abhang hinaufzuklettern und
ſich der Kompagnie ſeitwärts anzuſchließen, als erſt in der
Schlucht ihren Rücken zu gewinnen. Nachdem die Mannſchaften
die Höhe erreicht, gingen ſie im Korne vor; eine Terrainwelle
verbarg ihnen aber jede Ausſicht; als ſie ſich weiter vorwagten,
um über ſie hinweg ſehen zu können, wurden ſie auch ſofort von
den öſterreichiſchen Dragonern erblickt. Ein Zug ſprengte auf
ſie los, ſie eilten hinter einige einzeln ſtehende Bäume, ſchoſſen
einmal, dann aber waren die Reiter heran. Die Infanteriſten
ſuchten ſich mit dem Bajonett zu verteidigen, aber ſie wurden
von der Ueberzahl niedergeritten und mit Säbelhieben zugedeckt;
wie ein Raſender wehrte ſich Musketier Burfürit, deſſen Tapfer-
feit jogar in öfterreichifchen Zeitungen rühmend hervorgehoben
wurde; er verwundete einen Offizier tödlich und zivei Dragoner
Ihwer. Die Patrouille wurde gefangen genommen, nur Musfetier
Henze blieb jchwerverwundet, mit vier Hieben über Geficht und .
Kopf, deren einer jogar den meifingbejchlagenen Helm gejpalten
hatte, liegen und wurde jpäter von der Klompagnie aufgefunden;
er erlag jeinen Wunden.
In der folgenden Nacht zeichnete fich das Regiment beim
1865*
2628 Bellmut von Erimborn.
Bormarjch gegen die Sjer in dem Gefecht bei dem Dorfe Podol
aus. Es hatte den Üebergang über die Brüde zu fichern, die
über den Fluß führte. Die Mannfchaften des Füfilier-Bataillong,
welche jchon von 2%, Uhr morgens im Mari und am Bor-
mittag im Gefecht gewejen waren, konnten fich vor Ermattung
faum noch aufrecht erhalten; faum hatten fie hinter der Iſer—
brüde Halt gemacht, als ein großer Teil vor Ermüdung nieder-
ſank und jofort im Chaufjeegraben, ungeachtet des. fortgejegten
feindlichen Gewehrfeuers, einſchlief. Trogdem wurden nod)
öfterreichiiche Frontalangriffe gegen die Brüde von den er-
Ichöpften drei Füfilier-Rompagnien und den Jägern durch Feuer
auf ganz Furze Diltanz abgejchlagen. Mit unwandelbarer Ruhe
hielt der tapfere Major von Flotow hinter der Brücfe zu Pferde
auf der Straße, unbefümmert um die dicht einfchlagenden feind-
lihen Gejchofje, weithin fchallte durch den Kampfeslärm feine
tiefe, jonore Stimme, welche die Leute ermunterte und zum
Ausharren mahnte. Doch der jechsfachen feindlichen Nebermacht
gegenüber fonnte er ſchlkeßlich mit feinen erjchöpften Mann-
Ihaften nicht mehr mit Erfolg Widerftand leisten, und jo ordnete
er den Rüdmarih an. Da eilte perjönlich General von Boje
aus dem nur eine halbe Meile entfernten Biwak dem Kampf-
pla zu. Er erkannte die Notwendigkeit, in den Beſitz der
Brüde zu gelangen, und ging troß der bedeutenden Stärfe der
öfterreichiichen Streitkräfte fofort zum Angriff über. Nach einem
blutigen Handgemenge wurde der Feind zurüdgeworfen, und
noch vor Tagesanbruc war der Uebergang über die Brüde
gefichert.
War jomit der Ausgang des Nachtgefechtes von Podol
ein großer ftrategiicher Erfolg, welcher durch den Beſitz der
Sierbrüde bei Podol die kürzefte Linie auf Sicin erjchloß und
die Vereinigung des öſterreichiſch-ſächſiſchen Korps mit der
Hauptarmee in Frage ftellte, jo war doch andererjeit3 für einen
Zeil des 72. Regiments der 26. Juni mit der folgenden Nacht
ein Tag des Mißgeſchickes: nämlich für dag ärztliche Perſonal.
Am frühen Morgen beim Beginn des Gefechtes von Liebenau
hatten die Aerzte des 1. Bataillons, Regimentsarzt Dr. Stahmann
und Aſſiſtenzarzt Dr. Parreidt, das Unglück, daß mitten in
ihren VBerbandplag die feindlichen Granaten unaufhörlich ein-
Ein Thüringijches Elite- Regiment und feine Sejchichte. 2629
un PLAN
Ihlugen. Bei der erjten, welche frepierte, wurden ſämtliche
Pferde jcheu, die drei der beiden Doktoren rijfen ich von den
verdutzten Trainfnechten los und eilten in voller Karriere mit
EEE DIE TEE ET TEEN BOT STE
*
—
— 9
nad %
in} —
> = ⸗ £
a % “ %
—* —
J > *
—— — <>» 42
a re re Er en
u An —
> ——S— — Sr — Beer — — 2 en
Karl von Heudorff, Oberſt und — des 4. Shürin, iſchen Infanterie—
Regiments Ar. 72, + bei Metz am 16. Auguſt 1870.
(Nach einem im Offiziersfafino hängenden Gemälde, einem Geſchenk Kaiſer Wilhelms I.)
Paletots, Negenmänteln, Bejteden und Bequemlichkeit3gegen-
jtänden aller Art der feindlichen Stellung zu. Auch die Pferde
des Medizinfarrens gingen durch und warfen ihn um, jedoch
ohne daß er beichädigt wurde. Ihre Pferde nebit Zubehör
2630 Hellmut von Trimborn,
befamen die Aerzte nie wieder zu fehen. Tagelang ſah man
beide, in öfterreichiiche Militärmäntel, wochenlang nachher in
preußilche Kommißmäntel gehüllt, einher wandeln. — Ein anderes
Mißgeſchick traf in der folgenden Nacht den Stabsarzt de3
Füfilier-Bataillond, Dr. Schmidt, welcher, als das Bataillon
da3 Dorf Podol hatte räumen müfjen, in einer Scheune mit
Berbinden von Verwundeten beichäftigt war und in die Gewalt
der eindringenden Dejterreicher fiel. Man bemächtigte fich feines
Degens und der Genfer Flagge des Medizinfarrens, welche
man al3 Trophäe betrachtete. Als der fommandierende öfter-
reichiſche Offizier jedoch Jah, daß der. Arzt gerade einen ver-
wundeten öjterreichiichen Soldaten verband, bat er ihn mit
einem Händedrud, er möchte.in feiner Arbeit ungeftört fortfahren.
Schwere Verluste erlitt das Regiment in der Schlacht bei
Königgräß am 3. Juli. Schon auf dem überaus bejchwerlichen
Vormarſch wurde mancher brave Ziweiundfiebziger von Todes—
ahnungen befallen. So übergab der Reſerviſt Unteroffizier
Seidel von der 4. Kompagnie, ein ſehr brauchbarer, bejcheidener
Menſch, einem Kameraden Uhr und einen Brief, um fie feiner
Frau zu überfenden, da er am heutigen Tage in der Schlacht
fallen würde. Weder Spott noch Zureden vermocdten ihn von
feiner erniten und feiten Weberzeugung abzubringen. Einige
Stunden Später, beim Sturm auf den Siwiepwald, fiel er, einer
der eriten, von einer Gewehrkugel durch den Kopf gejchofjen.
Schwer waren die Verlufte des Regiments: 7 Offiziere und
124 Mann hatte e3 bei Königgräß verloren; aber e3 hatte auch
ehrenvoll gefämpft, 13 Offiziere und 1000 Mann gefangen,
genommen, 2 Fahnen und 4 Geſchütze erbeutet. |
Am 15. September 1866 fehrten die fiegreichen Zweiund—
fiebziger ruhmgeſchmückt nach ihrer Garnijon Torgau zurüd.
Bon Dahlen aus betraten fie bei Sitenroda wieder preußilchen
Boden. Sn allen Orten wurden fie von den Einwohnern mit
Subel begrüßt. Die Torgauer eilten den Kriegern big Beckwitz
entgegen und bemwillfommneten fie mit Blumen und Kränzen.
Der Rat und die Vertreter der Bürgerfchaft empfingen fie auf -
den Marfte. Der Bürgermeifter hielt eine erhebende Anfprache,
die mit einem Hoc auf das tapfere Regiment ſchloß. Am
Abend war die Stadt feitlich erleuchtet,
Ein Chüringijches Elite-Regiment und feine Sefchichte. 2631
Met, Gravelotte, Belfort.
Vier Jahre lebte daS Regiment nach dem Kriege wieder
in jeiner Garniſon. Da brach der Krieg von 187071 aus.
Major a. D. Ewald von Zedtwig, der, als Oberleutnant in Gorze ſchwerverwundet
liegend, am 18. August 1870 dem an feinem Fenjter vorbeifahrenden König Wilhelm I.
eine Roſe hinausjandte und als Dank dafür jpäter eine ftlberne Roſe erhielt.
Am 25. Suli rüdte daS Negiment aus. Bon Falkenberg
aus wurde es mit der Eijenbahn nac Koblenz gejchafft und dem
achten Armeekorps zugeteilt. Dieſes gehörte zur Armee des
2632 BHellmut von Srimborn, Ein Thür. Elite-Regiment x.
Generals bon Steinmeh, Beim Chin auf die Spicherer Höhen,
am 6. Auguſt, trafen die Zweiundſiebziger erſt nach errungenem
Siege auf dem Schlachtfelde ein. Ruhmreichen Anteil aber ſollten
ſie an den Kämpfen um Metz nehmen. Als das dritte Armee—
korps zwiſchen Gorze und Rezonville in ſchweren Kampf ver—
wickelt war und bereits an Munitionsmangel zu leiden begann,
als das Gewehr- und Geſchützfeuer immer ſtärker zu ihnen
herüberdrang, da hielten ſie es im Biwak von Chesny nicht mehr
aus, und mit Jubel wurde der Befehl des Generalleutnants
bon Barnefoiw aufgenommen, den bedrängten Kameraden zu
Hilfe zu eilen. Ungeachtet der großen Ermüdung, der ftarfen
Märjche der lebten Tage und der drücdenden Sonnenglut eilte
man. in bejchleunigter Gangart ind Mofelthal hinab. Es war
wunderbar, wie die jinfenden Kräfte bei der Ausſicht auf das
‚nahende Gefecht neu belebt und bejeelt wiırden, Die Erwartung
drängte jelbjt den eingetretenen Appetit zurück. Die Leute
marjchierten jo flott, al3 ob fie die beiten Manöverquartiere ver-
laffen hätten. Es iſt gewiß ein vorzügliches Zeichen für den
Geift, welcher im 72. Regiment berichte, daß auf dem Marjche
bis zum Schlachtfeld fein Mann wegen Ermüdung oder Unmohl-
jeind mehr zurückblieb. Am 16. Augujt rüdte das Regiment bei
Gorze in die Schlacdtlinie ein. Das Städtchen gewährte feinen
bejonder8 ermutigenden Anblid, Häufer und Straßen jtanden
und lagen voller Verwundeten der verichiedeniten Regimenter
und Truppengattungen; noch immer neuen Zuwachs brachte man
som Schlachtfelde herein; die Bewohner jtanden unthätig an
ihren Hausthüren und jahen dem wilden Gewoge und Gedränge
zu. Unter den Verwundeten aber herrſchte keineswegs eine ge—
drückte Stimmung, ſie waren voller Vertrauen und Sieges—
zuverſicht — hatten ſie doch erſt vor kurzem Prinz Friedrich Karl
auf das Schlachtfeld eilen ſehen und rückten immer neue Streit—
kräfte zur Unterſtützung der Kämpfenden ebendahin. Einer der
Verwundeten forderte ſogar die 72er Füſiliere bei deren Vorbei—
marjchieren auf, mutig draufzugehen — mit Hurra wurde ihm
geantwortet. Das Ffriegeriiche Gepräge der Stadt, die deutlichen
Anzeichen von der Nähe des Schlachtfeldeg, der Anblid der zahl-
reichen Verwundeten, die Nachricht, daß es troß der großen
feindlichen Uebermadt im Gefecht gut ſtehe — alle trug dazu
*z2 OR spuauusag:asgup/ul uaplısWangDd "+ sag omlogsaatulg wu jovialtads
9
jr)
“2
D
4
i
ãAA
2634 Bellmut von Trimborn.
bei, die Stimmung, die Aufregung der neu heranmarſchierenden
Truppen zu erhöhen und das kriegeriſche Feuer zu beleben.
Alles drängte ſtürmiſch nach vorwärts und ſuchte ſich möglichſt
ſchnell Bahn durch die zum Teil verſtopften Straßen zu ver—
ſchaffen. Obwohl die braven Soldaten einen langen Marſch
zurückgelegt und auch noch keine Nahrung zu ſich genommen
hatten, gingen ſie doch gleich nach Verlaſſen des Städtchens zum
Angriff über. In einem Walde und in einer Schlucht am Wege
ſtürmten ſie gegen das Dorf Rezonville vor. Trotzdem ſie mehr—
mals zurückgeworfen wurden, behaupteten ſie doch das Schlacht—
feld. Freilich waren die Verluſte groß, 36 Offiziere und
852 Mann bluteten auf den Felde der Ehre. Auch der Regiments—
fommandeur Oberſt von Helldorff wurde von einer tödlichen
Kugel ereilt; über ven Moment ſeines Todes hat fih nichts
Beſtimmtes feitjtellen lafjen, da. feine Augenzeugen zugegen
waren; er ftarb, wie er gelebt, treu und ergeben feinem König
und Mriegsheren, feinen Offizieren und Soldaten ein Vorbild
der Tapferkeit und des Heldenmuted. Neben acht Offizieren des
2. Schlefiichen Grenadier-Regiments Nr. 11, zwiſchen Gorze und
der nach Nezonville führenden Straße, unter einem einzelnen
Kirihbaume wurde Oberjt von Helldorff zur letzten Ruhe ge-
legt. Ein Gedenkitein ſchmückt jein Grab.
Hatte das Regiment tapfer mitgeholfen, den eifernen Ring
um Meb zu jchmieden, jo war aud) der 18. Auguft, der blutige
Schlachttag von Gravelotte, für dasjelbe ein Ehrentag. An
diefem Tage fanden 6 Offiziere und 52 Mann des Regiments
den Heldentod. Nun begann die Belagerung von Meb, an
ver ſich das Regiment beteiligte. Am 27. Oftober ergab id)
die mächtige. Jeltung den Deutichen, und am 23. Dezember
wurden die braven Zweiundſiebziger zur Verſtärkung der
Werderſchen Armee nad) Belfort entjendet. Auch auf diefem
Kriegsſchauplatz haben fte fich mehrmals ruhmreid) hervorgethan.
Die Roſe von Gorze.
Eine ergreifende Epijode der Kämpfe um Meb ift an den
Namen des Majors a.D. Ewald von Zedtwib geknüpft, der damals
als Oberleutnant die 2. Kompagnie des 72. Regiments führte.
Er Hatte einen Granatſplitter gegen den linken Fuß erhalten
Ein Chüringiſches Elite-Regiment und feine Geſchichte.
2635
und wurde
zu Boden
geworfen;
ſeine Leute
trugen ihn
aus dem
dichteſten
Kugel—
regen
den Stra—
ßengraben.
Während
dieſes
Transpor—
tes jchmet-
terte eine
Mitrail-
leujen-
ladung die
drei Trä-
ger ver—
wundet
nieder und
traf den
Oberleut-
nant von
Zedtwitz
im Rücken;
er wurde
dann eini-
ge Schritte
weit bi3 in
den ver—
wilderten
Chauſſee⸗
graben
hinter das
Straud-
in
N Dank Hanse
Bde Kr, PR *
—— * ERS
— RP u PIE 9:
* HER
—3 — ——— RR J Kir
ER REN ‚Blumen — Se IB &
irQaben Frandret P5 Bot anal —— HDessiaing and Dijon Gala, % |
Mulde lid er ser Tigngres cinet —* —8* ne
Aut — ——— > ——
—* uns —— due Elyenpli ——
Bes Fingers uns fort gerät;
*
* ð daß N
—— — as;
um: ER 14,
a dein; der —
AIR: =
—
* — er Wu Krreger it vun —* ut,
4 u Kirimmeruxsen au.%
Bir.
Rn ß 5
SM J — and. der Ken ef ersnet
m
% — Rea ab eingte —— ur,
—* essing a Der} — *
vl; — - re — a
—* — — En:
» a
AR
rg aus — goſuc von einem en des 4. Thür.
Inf.Reg. Nr. 72 auf franzöftichen ( Schlachtfeldern und unter Glas
und Rahmen aufbewahrt im Offiziersfaftino des Negiments.
2636 Bellmut von Trimborn.
werk gejchleift, wo er bis nach Mitternacht liegen blieb, immer-
fort dem furchtbarjten Kugelregen ausgeſetzt, häufig zwischen zwei
Feuern. Während diejer Zeit erhielt er noch eine ſchwere Ver-
wundung am Siniegelenf und einen Streifjchuß durch den rechten
Oberjchentel.
In Gorze fand Oberleutnant von Zedtwitz ein Unterkommen
im Hauſe des Krämers Antoine. In rührender Weiſe waren
die Leute bemüht, dem Verwundeten Erleichterung zu ſchaffen;
ihre kleine Tochter Felicie wich kaum vom Lager des Leidenden,
deſſen Kräfte immer mehr dahinſchwanden.
Am 18. August morgens befand er fi in einem Bi zu
ebener Erde, er fonnte von jeinem Schmerzenslager die Straße
iiberbliden, da die Fenſter der großen Hige wegen geöffnet waren.
Auf der Straße ging es lebhaft zu, die Transporte der Ber-
wundeten wollten fein Ende nehmen, Gruppen von Soldaten
taufchten ihre Erlebnifje des lebten blutigen Tages aus, Truppen-
folonnen aller Waffengattungen zogen vorüber.
Plöglich, verjftummt der Lärm der Menge Der König
naht, und begeilterte Hurrarufe dringen an das Ohr des
Kranken. Miühjam richtet fi) diefer auf, um noch einmal
feinen Heldenfönig zu jehen. Einer plöglichen Eingebung
folgend, giebt er die fchöne, dunfelrote Roſe, die jeine junge
Plegerin ihm an fein Lager gejtellt hat, dem gerade anmwejenden,
leichtverivundeten Hornilten Fidert von feiner Kompagnie:
„Diele Roſe bringe unjerm Königlichen Herrn und fage ihm,
ein ſchwer verwundeter Offizier, dem Tode nahe, jendet in
tiefjter Ehrfurcht diefe Roje als Siegesgruß.“ |
- Der Soldat bahnt fich ſchnell einen Weg durch die Menge
‚und überreicht die Roſe dem König, der fie tiefgerührt ent-
gegen nimmt.
Ein Jahr ift borübergegangen; der tapfere Offizier ift von
feinen Wunden genejfen, aber eine tiefichmerzliche Wunde hat
ihm das Schickſal geichlagen, denn feine Gattin, ‚die zu feiner
Pflege nach Gorze geeilt war, hat den Keim einer tödlichen
Krankheit nach der Heimat zurüdgebracht und ift ihr ſchon nad
wenigen Wochen erlegen.
Das erſte Weihnachtsfejt nach beendetem Kriege naht heran.
Da erhält der Vereinſamte vom Berliner Hofmarjchallamt eine
27 +
s
Ein Thuringiſches Elite-Regiment und feine Geſchichte. 2637
Tableau der im franzöſiſchen Seldzuge gefallenen Offiziere des 4. Thür,
2, Infanterie-Regiments Ar. 72.
Oberſt v. Helldorff. *
Krämer. v Hanſtein. v. Oertzen. v. Krauſt. Weſtphal.
Wilhelm Rück. Bertram. v. Alvensleben. v. Heynitz. Martnilian Rück.
Jacob. Wilke, Bode. Schulze. Stedefeld.
Batſch. v. Boſſe. Diesich. v. Bömken. Sottbeiner.
Kiſte. Und was enthält die Sendung? Ein Delbild, auf
welchem ein Marmorblod dargejtellt iſt, mit der Inſchrift:
2638 Bellmut von Trimborn.
„Gorze, den 18. Auguft 1870”, darüber hingeworfen ein ſchwarz—
weiß-rotes Fahnentuch, aus dem das Eiferne Kreuz an jchwarz-
weißem Bande hervorfieht. Daneben fteht ein Infanteriehelm,
geſchmückt mit einem Lorbeerkranz, auf dejjen Blättern Tautropfen
perlen; da3 Sinnbild der Thränen. Ein jchwerer Goldrahmen
umgiebt das Ganze, feinen oberen Rand ſchmückt eine in Silber
getriebene, vollerblühte Roſe. Ein Brief liegt dem Bilde bei:
„Sn dankbariter Erinnerung an den Mir unvergeßlichen
Augenblid, wo Sie, ſchwer verwundet, in Gorze am 18. Auguſt
Mir eine Roſe nachlandten, al3 Ich, Sie nicht fennend, an
Shrem Schmerzenslager vorübergefahren war — jende Sch
das beifommende Bild, damit noch in fpäteren Zeiten man
wiſſe, wie Sie in ſolchem Momente Ihres Königs gedachten
und wie dankbar er Ihnen bleibt.
Weihnachten 1871. gez.: Wilhelm, Rex.
22. 12. 71.”
Blumen aus Frankreich.
Ein rührendes Beichen patriotiſcher Gefinnung eines
Ihlichten Mannes aus dem Volke birgt unter Glas und Rahmen
das Offizieräfafino des 4. Thüringischen Infanterie-Regiments
Nr. 72. Es find Blumen, die der Gefreite der 5. Kompagnie
Bernhard Rammelt auf franzöfiichen Schlachtfeldern gepflüdt
hat. Dazu folgende Berfe:
Wir haben Frankreich Boden einjt geſchmückt,
Ein deutjcher Krieger hat ung dort gepflüdt,
Erinnerungen an die große Zeit,
Da auferjtand des Reiches Herrrlichkeit.
Bei Metz, das damals eingeſchloſſen war
Vom Eiſenring der Deutſchen ganz und gar,
Und auf dem Marſche nach dem Süden dann
Entriß der Heimat uns der Kriegersmann.
Bei Meſſigny und Dijon hatten wir,
Auf der Cöte d'or, vor Langres einſt Quartier.
Sept joll uns hier die neue Heimat fein,
Räumt ung bei euch ein Ehrenplägchen ein!
Des braven Krieger fort und fort gedenft;
Des Sohnes auch, der und an euch verjchentt.
Seid beiden in der treuen Liebe gleich
Zum Regiment, zum Kaijer und zum Reid)!
Ein Thüringifches Elite- Regiment und jeine Sejchichte. 2639
J
Friedenszeiten.
Nach abgeſchloſſenem Frieden rückte das Regiment am
10. Juni 1871 wieder in Torgau ein, von den Einwohnern
mit Jubel begrüßt.
Jetzt dachte man daran, das Andenken der gefallenen
Kameraden zu ehren. Beſondere Gedenktafeln mit den Namen
der in den Kriegen 1866 und 1870/71 gefallenen Offiziere und
Mannſchaften wurden im eriten Stodwerf der Schloßfajerne auf-
geitellt. Auf der Promenade in Torgau vor dem Kommandantur-
gebäude wurde von den Offizieren ein Denkmal errichtet und
am 6. Dezember 1871 eingeweiht; es iſt ein Gejamtdenfmal
für alle Gefallenen des Regiments und bejteht aus einem Sand-
jtein-Obelisfen. Fortan ſchmückte das Eiferne Kreuz die Fahnen—
Ipigen der drei Bataillone. Im Jahre 1896 veranjtaltete auch
das 72. Regiment vom 16. bis 18. Auguft eine erhebende Er-
innerungsfeier an die großen Ereignifje. Eingedenf der Thaten
der Väter, erhält das durch echt fameradjchaftliche Geſinnung
ausgezeichnete Regiment den Geiſt, der jene bejeelt hat, lebendig
und giebt Gewähr dafür, daß auch die Jugend Hinter ihnen
nicht zurüditehen wird, wenn einst der König feine Thüringer
wieder unter die Waffen rufen jollte.
Kafino-Bebäude des 4. Thür. Jnf.-Reg. No. 72.
Urweltliche Terkerbiffen. Schon die griechiſche Sage hat im
Prometheus⸗Mythus dem Fortichritte einer neuen Zeitepoche dichterijchen
Ausdruck verliehen, jener Epoche, da das Feuer, der „göttliche Funke“,
von Menschen in feinen Dienft gezwungen und nugbar gemacht
wurde. Es ift eine „neue Zeit”, um die rote Flamme, die geheat
wird wie ein foftbares Gut, figen rohe, nackte Menfchen, Urwelt—
Menjchen jelber noch. Aber fie jchieben etwas in die Glut — und
bon dem Herde, durch die wilde, rußige Höhle zieht ein jeltfamer
Duft. Der Duft eine neuen Speifezettel$ der alten Erde: von
gebratenem Fleiſch. Se nah Jagdglück und Oertlichkeit wechjelten
Nashornkeulen ab mit Glefantenbraten, Bärenjchinfen, Filet vom
Rieſenhirſch und ähnlichen Genüffen. Um die weggeworfenen Knochen
balgten fich nachher vor der Höhle Wölfe und Schafale, die ſchon
darauf warteten. Schließlich fiel jo ein Nashorn oder Elefanten:
fnochen in einen Bach oder Teih, wo ihn der Kalktuff umhüllte,
oder er geriet in den Lehmboden der Höhle jelbft. Dort haben wir
ihn endlih im 19. Jahrhundert ausgegraben, gejchwärzt bon der
Herdflamme, des leckeren Marke wegen gejpalten, abgenagt bon
Urwelt-Menſch und Urwelt: Wolf. Wir aber legen ihn als koſtbare
Nelique in? Mujeum und datieren ein neues Kapitel von hier —
in der Geſchichte des Eſſens.
Wie mag der Menſch auf die Idee gekommen fein, Fleiſch zu
braten? Das Bedürfnis bejonder8 raffinierter Schlemmerei kann
noch nicht ohne weiteres dazu geführt haben... Schlemmer und Fein-
ſchmecker find die Tiere längſt vor ihm geweſen. |
Und doch Hat Fein noch fo Fluges Tier je angefangen, fein
Trleischgericht zu braten. Die einfache Urſache ift: weil fein Tier
des Feuer Herr geworden ift. MWohl ertragen Tiere eine jchier
unglaublide Hige. Wenn es auch Fabel tft, daß der arme weich-
häutige Salamander, den ſchon ein paar Salzkörner töten, auf
glühendem Noft ausdauern könne, jo leben doch Maflerfäfer in
heißen Quellen, wo ein Menjch fich hoffnungslos verbrühte.
Dft Hat man ſich den Kopf darüber zerbrochen, wie der Urwelt—
Menſch auf diefen Fund aller Funde, der ihm die Hütte wärmte
‚und den Braten briet, gekommen ſein möge. Gefehen hat er das
euer jedenfall zuerit, wenn der Blitz einſchlug und die dürre
Steppe brannte. Wo num der Menjch zuerit auf Erden aufgetreten
jei, ein Grasbrand oder auch ein MWaldbrand twird ihn immer
gelegentlich begegnet ſein. An fich war es ihm zweifellos ein ſchreckliches
Ereignis; jo ſchnell jeine Füße ihn trugen, flüchtete er vor dem
roten Ungeheuer, das da vom Himmel gejtürzt fam, um Wald und
Flur zu frefien. Aber gerade folher Brand mag ihn auch ſchon
Allerlei. | 2641
—1
ganz früh auf den Geſchmack an gebratenem Fleiſch Hier und dort
ein erſtes Mal gebracht haben. Wenn er nad) ausgetobtem Feuer
über die öde, ſchwarz verfohlte Brandftätte 309, fo ftieß er auf Die
Reiber von Tieren, die ſich im Grafe verſteckt hatten por dem roten
Schein und die gerade Dort dad Verhängnis, dad auf Flügeln der
Windsbraut anfaufte, ereilt Hatte. Da lag ein Büffel, die Haut
verfohlt, das Fleiſch gebraten von den raſch iiber ihn fortgemwälzten
Feuerzungen, — eine willkommene Beute für den armen, aus—
gehungerten, noch gar unbehülflihen Menfchen, der nicht? als ein
paar rohe Steimvaffen zum Angriff und zur Abwehr. damal? kannte.
Ind feltfan: dieſes Fleiſch ſchmeckte anders als ſonſt. Durch die
Aſche war es in natürlicher Salzkrufte ſerviert; viel Teichter war es
zu zerfauen; und am wichtigiten vielleicht: es lich fich viel länger
fo aufbewahren als fonft, verdarb nicht fo ſchnell, eine Außerft
wichtige Sache für die glüdlichen Finder, die felbit, wenn fie zu
zwei ober drei waren, doch nicht gleich einen ganzen Ochſen auf
einmal bewältigen konnten, aber um fo mehr Intereſſe Hatten, für
eine Neihe von Mahlzeiten von dem großen Glücksbiſſen zu profitieren.
Wohl möglich, daß Hier einer der Gründe zu ſuchen ift, die den
Wunſch geweckt haben, das Feuer, Diefe dämoniſche, vom Himmel
faufende Schreckensmacht, doch im Kleinen „bezähmt, bewacht” in
der eigenen Wewalt zu haben, — zum guten Zweck, alles erlegte
Mildpret etwas anbraten zu können.
Viel wichtiger freilich mußte der Befiß der Flamme aus einen
anderen Grunde noch fein, — als Schußmittel gegen die Kälte. In
den graufigen Schauern der Eiszeit hat der Menfch gelernt, Sich
in dicke Mammut- und VBärenpelze zu Eleiden, aber trogden wäre
er dem lebenzehrenden Frofte zum Opfer gefallen, erfroren, Hätte
ihn nicht eben die Not auf die fünftliche Feuererzeugung, auf Die
Entdeckung des eigenen Feuerherdes geheßt. Zuerſt wird er ich,
wenn der Blig einen Baum angezündet hatte, herangewagt und
einen brennenden Aſt gerettet haben. Mit dem entfachte er dann
daheim in feiner Sn ein Feuerlein, da3 nie angehen durfte.
Damals, wenn je, hatte die Frau dag Amt als heiligſte Pflicht:
Hüterin des häuslichen Feuer zu fein. Vergaß fie einmal ihre
Pflicht, Jo war vieleicht, wenn der Winter losbrach und fein
Gewitter Erfaß bot, das Schickſal ihrer ganzen Familie damit
traurig befiegelt. Vor ſolchem erlofchenen Herde ift aber aud) die
weitere Leiftung erfonnen worden vom wachſenden Verftande des
Menfchen, der fich eben doch nicht dauernd unterfriegen laffen wollte.
Es galt, das Teuer fo zu zähmen, daß es ſich eventuell auf
Wanderungen mitnehmen ließ. In einem gehöhlten: Aſt wurde
glimmendes Holzmehl mitgeführt, in dem der Funken lange nicht
ftarb und jederzeit leicht zu neuer Herdflamme entfacht werden Fonnte.
Doch wie der Vorforgliche ſolches Holzmehl ſchabte, da erwies ſich,
daß es bei der Neibung jelber fchon Heiß wurde, ja zu glühen be:
gan. Eine ungeheure Erfindung war fpielend, zufällig gemacht, —
die entscheidende: Feuer konnte jederzeit durch Neiben, Quirlen,
0. Haus-Bibl. II, Band XI. 166
2642 Allerlei.
u a
Schaben von dürren Hölzern neu erzeugt werden. Damit war bie
wilde Himmeldtochter Sklavin in des Menſchen Hand. Und damit
zugleih war für das große Kochbuch der MWeltentividelung das
„Braten“ aus dem DBereih des gelegentlichen Zufalls im die
Gewohnheit übergeführt. Zwiſchen Menſch und Tier gähnte jebt
eine luft im Speifezettel, faft wie einst zwifchen Tier und Pflanze.
| Viel Später als das Braten ift das Kochen erfunden worden,
denn in den älteften Neften urweltlicher Menfchenmahlzeiten, die man
aufgedeckt Hat, liegen wohl ſchon angebrannte Heerdfteine, es liegen
da Nashorn und Elefantenknochen, die unverkennbar die Spuren
des Feuers — aljo der Bratzeit — aufweijen, aber auch nicht Die
kleinſte Topficherbe ift aus jener Kurlterperiode ftanımend aufgefunden.
Der Hausfrau wird eimleuchten: ohne Topf feine Bonillon und
überhaupt fein Kochen. Sjmmerhin mag aber doch, wenn man auf
die Bräuche heutiger roher Völker achtet, ein gewiffer eriter Anſatz
zum Kochen auch damals Ion fi) eben angebahnt haben.
Zuerft führte das einfache Braten auf die Verwertung glühend
gemachter Steine bei der Bereitung einzelner Speijen. Mit jolchen
glühenden Steinen madte man danı Waller Eochend, indem man ein
Stück auögehöhlten Holzes, den roheften erften Holznapf, mit Waſſer
füllte und glühende Steinchen hineinwarf, die dad Waſſer erhitten.
An Stelle des Holztopfes trat da wohl gelegentlih, um mehr Raum
auf einmal zu Schaffen, ein geflochtener Korb, deffen Fugen mit Lehm
verichmiert wurden. Und dieſer lehmberpichte Korb endlich, dem
härtenden Feuer ausgejegt, führte auf die Idee eines echten Topfez.
Die Frage, was der Urwelt-Menſch im Küchenzettel eigentlich
ursprünglich bevorzugt hat: ob Fleiſchnahrung oder Pflanzenkoft, —
ift eine viel erörtert. Der Vegetarier würde fie mit einem Feder:
ſtrich zu feinen Gunften löfen und ung einen Ur⸗Menſchen jchildern,
der von eitel Nepfeln und Birnen gelebt habe. Der ältefte Menfch,
‚den wir thatfächlih aus erhaltenen Reiten kennen, that das aber
nun ganz ımbedingt nit. Man muß nicht bergefien, daß dieſer
Menſch uns entgegen tritt im Europa der Eiszeit. Aus dieſem
Europa müſſen wir aber faft alles ftreihen, wa3 wir für damals
uns überhaupt als Gegenftand bon Pflanzenkoft heute vorzuitellen
pflegen. Es gab noch feinen Ackerbau, — alfo feinte Getreidefelder.
Es gab feine veredelten Obftforten, jondern nur ſaure Wildlinge
an Kirfchen und Birnen. Die Tannennadeln, von denen die Mammute
fih genährt haben (die Kadaver im ſibiriſchen Eis tragen fie heute
noch in den hohlen Zähnen), kann der Menfch nicht gut gegellen
haben. Nicht einmal an Bucheckern kann er fih gütlih gethan
haben, denn die Buche ift erft jpäter in die Nordländer langjaın
eingewandert. Und dazu die endlofen Winter, wo felbit fein rotes
oder blaues Beerlein ſich bot oder ein Gericht Pilze den Hunger
ſtillen konnte. Nein, niemals ift der Speifezettel wohl jo aus:
gefprochen nichtvegetarifch gewejen, wie in diefem Stück Urwelt, das
wir genauer kennen. Denn an wilden Tieren, die wohl ein Säger:
volk üppig nähren konnten, war umgefehrt damals in Europa ein
Allerlei. 2643
Ueberfluß, wie wir ihn uns heute gar nicht mehr träumen laffen.
Der Ochſe ftand zwar nod nit im Stall, Viehzudt war ja aud)
noch unbekannt. Aber dafür lief er als Urſtier und Wiſentſtier
herdenweiſe wild im Tann herum. Das Pferd ging nit vor dem
Wagen, aber al „Wildpferd” tummelte e3 fi in der deutſchen
Steppe wie heute in Afrika die Zebrad. Wie ein Stüd nordwärts
verjchlagenes Afrifa auch trampelte ber Elefant daher, das Nashorn
wälzte fich im. Sumpf, und umgekehrt, vom heutigen Eskimoland
ind Herz unſeres Vaterlandes verzaubert, erjchienen das Nenntier
und der grönländiſche Moſchusochſe. Dazu blühten die heute aus—
fterbenden Tierarten Elentier und Biber. Und nun nod die Flüſſe
und Bäche mwimmelnd von Filchen und Krebſen, Die heute unſere
ſchlechte Wirtihaft, jo lange vernadläfligt, auf ein Mininum
reduziert hat, und an der Seefüfte big in die Winkel der Oſtſee in
unendlichiter, dem roheiten Wilden greifbarer Ueberfülle die Auftern!
MWenn je, fo war e3 eine Luft, nach dem Speifezettel der Urwelt
zu wählen — von der Aufter als Entree, alle Sorten Braten durch
bis zum Biberſchwanz als Schlußtrumpf. |
Rlippen des Indizienbeweiſes. Mit tiefer Bewegung ver:
nimmt man von Zeit zu Zeit die Nachricht von dem Geſtändniſſe eines
Sterbenden oder eines von ſchweren Gewifjensbifjen Gefolterten, der fich
eines Verbrechens bezichtigt, für das ein anderer, ein Unjchuldiger,
berantivortlich gemacht worden ift und das er mit langjähriger
Kerkerhaft, vieleicht gar mit dem Tode hat büßen müffen. Diefe
ſogenannten Juſtizmorde find gar nicht fo felten, als man gemein-
hin glaubt. Auch der intelligentefte Richter ift menschlichen Srrtümern
unteriworfen, und wenn eine Reihe von ſchweren Verdachtsgründen
zujammenfommt, um eine beftimmte Perjon als Thäter ericheinen
zu laſſen, jo wird der Nichter kaum anders können, al das Verdikt
auf ſchuldig auszuſprechen. Nichtsdeftoweniger kann nicht genug
gewarnt werden vor den ſchweren Bedenken, die dem Indizienbeweiſe
anhaften. Immer wieder muß die Forderung erhoben werden, daß,
falls ein Verbrechen nicht flipp und Kar erwieſen ift, der Ver:
dächtige, follte er auch der Thäter fein, Lieber ftraffrei ausgehen
joll, als daß er unjchuldig verurteilt wird. Daher auch die all:
gemeine Genugthuung, die die Freiſprechung des Unteroffiziers
Marten hervorgerufen hat, der wohl der Ermordung des Ritt
meiſters Kroſigk verdächtig erjcheinen, nun und nimmer aber auf
Grund des vorliegenden Beweismaterial® als überführter Thäter
gelten konnte.
In greifbarer Deutlichfeit zeigt die Klippen eines Indizien:
beweiſes ein Vorfall, der fih in Wien ereignet hat. Ein dort als
Iharfer Denker angefehener Zurift und Kriminalift betrat vor
furzem den Laden eines Vermiſchtwarenhändlers. Er mollte ein
gehnfronen-Goldftüd wechſeln laſſen und machte deshalb einen
einige Heller betragenden Einkauf. Außer dem Gefchäftsinhaber
befand fih nod eine Kundin in dem fleinen Laden, ein Fabrik:
mädchen. As der Jurift das Goldftück überreichen wollte, ftedte
166*
: — .24 mu
A - —
— |
v
2644 Allerlei.
gerade das Fabrikmädchen in irgend einer Abfiht ihren Arm aus,
der Dadurch mit ber Hand des Juriften in Berührung fam. Das
Goldſtück entglitt feinen Fingern, fiel zu Boden, und er bückte fi),
um es zu ſuchen. Aber auch dad Mädchen Hatte fih fofort auf den
Boden gefniet, fuchte einen Augenblict, erhob fich dann raſch und
ſprach: „Ich find’ nichts, übrigens Hab’ ih auch nichts fallen ge:
hört," Nach diefen Worten verließ fie auffallend rafch den Laden.
Der Verluſtträger fuchte weiter, der Gejchäftsinhaber Fehrte mit
einem Bejen den Staub auf dem Fußboden zufammen, dag Golb-
ſtück kam jedoch nicht zum Vorſchein.
‚ „Da3 ift dod merkwürdig!” meinte der Juriſt, in welchem der
Kriminalift erwahte. „Weshalb Hat fih dag Mädchen am
Suchen beteiligt, weshalb dieſe verdädtige Entſchuldi—
gung, daß fie nichts fallen gehört Hat, und weshalb
dieſes raſche Davongehen?“
Der Geſchäftsführer zuckte die Achſeln und meinte: „Näher
F ich ſie nicht, ſie iſt gegenüber in der Glühlampenfabrik be—
äftigt.“
Der Juriſt iſt ein energiſcher Mann, ſo leicht will er ſich nicht
beſtehlen laſſen, auch intereſſiert ihn der Fall von der kriminaliſtiſchen
Seite. Raſch entſchloſſen, begiebt er ſich zu dem Direktor der
gegenüber befindlichen Fabrik und erzählt ihm den Hergang
der Sache.
Der Direktor meint: „Freilich iſt die Sache höchſt verdächtig,
aber wenn man feine Beweiſe Hat . . . Sol ih das Mädchen
entlaffen 3“
„Das wohl nicht,“ erwiderte der Bejucher, „mir genügt e3,
zu wiſſen, ob fie die Schuldige tft, und Darüber könnte man weitere
Anhaltspunkte gewinnen, wenn Sie fie fofort rufen laffen. Wir
werden jehen, wie fie ſich benimntt.‘
Der Direktor Flingelt und ordnet an, daß die betreffende
Arbeiterin in das Kontor fomme Kaum: ift die Befhuldigte
erfhienen und des Juriſten anfidtig geworden, al? jie
totenbleih wird, am ganzen Körper zu zittern beginnt
und ausruft: „Ich Hab’ nicht gefunden!" Für den
Suriften giebt es nun feinen Zweifel mehr. Dieje Angſt, diefe Be—
teuerung der Unschuld, noch bevor das Mädchen bejchuldigt wurde,
ſpricht klar für die Schuld.
„Ufo, Sie bleiben dabei,” ſagte er ftrenge, „das Zehnkronen—
ftücd nicht genommen zu haben?“
Ein Thränenftron bricht aus den Augen des Mädchens: „Sp
wahr mir Gott helfe, ich Hab’ nichts gefunden!” —
Der Juriſt erwidert: „Machen Sie das mit Ihrem Gewiſſen
ab!“ empfiehlt ſich von dem Direktor und verläßt mit der Ueber—
zeugung das Kontor, daß jeder Richter dieſe Perſon auf Grund des
vorhandenen Indizienbeweiſes verurteilen würde. Als der Juriſt
die Straße betritt, kommt eiliaſt der Vermiſchtwarenhändler auf
ihn zu: „Gnä' Herr, das Goldſtückl is ſchon da, es war
Allerlei. , 2645
im Erdäpfelſack!“ Und er überreiht ihm das Geld. Augen
blicklich geht der Juriſt wieder zu dem Direktor, bittet vor dieſem
die Arbeiterin mit bewegten Morten um Verzeihung und übergiebt
ihr das Goldftüd ala Geſchenk. Seit diefem peinlihen Erlebnis
hat der SZurift und SKriminalift zu Indizienbeweifen fein Ver—
trauen mehr.
Einer der unheilvollſten Staatfsmänner war der ſächſiſche
Minifter Graf von Einfiedel, der in dem zwanziger Jahren als
Kabinettäminifter des ſächſiſchen Königreichs die Portefeuilles des
Innern und Neußern in fich vereinigte. Beſonders war er ein
Feind der Schullehrer, in welchen er die Vertreter der Intelligenz
jah, die er, als Orthodorer der alten Schule, grimmig haßte. Einmal
aber ward der Miniiter doch durh die Antwort eines Unter—
gebenen in die Enge getrieben. Ein fpäter als Univerfitätsprofeflor
befannt gewordener Lehrer, der um eine vakante Stelle bittend
im Vorzimmer des Minifter® ftundenlang warten mußte, ward
endlich vorgelaflen, und nun entipann fi Folgende kurze Unter:
Haltung. Won oben herab den Petenten mufternd, jragte der hoch—
mütige Minifter: „Verheiratet?“ „Zu dienen, Sreellenz.” „Kinder?“
„Zwei, Excellenz.“ „Wie kommt er dazu?!" Der Lehrer, der
durch Diefe Frage des Minifters ſprachlos geworben, jchweigt.
„Run,“ jagte Einfiedel mit barſchem Ton, „nun, warum antwortet
er nicht?” „Nun“, entgegnete der Lehrer rafch, „Ereellenz, ich finne
eben darüber nad, wie ein Dann, wie Sie, dazu fonımt, der all-
mächtige Minifter eines Staate3 zu fein!" Und Einſiedel rafch
den Rücken kehrend, verſchwand er aus dem Salon und bald darauf
aus Dresden, wo ihn der allmächtige Minifter vergebens juchen ließ.
In Jieben Stunden durch fieben deutſche Tänder zu
Fuß zu gelangen, wird mancher Leſer für eine Unmöglichfeit halten, und
doh kann man folches mit Leichtigkeit und zwar auf folgendem
Mege: Geht man von Rudolftadt (Fürftentum Schwarzburg-Nudol:
stadt) aus nah Meiten, jo fommt man in einer halben Stunde
nad) dem Dorfe Ammelftädt (Herzogtum Altenburg), von da in
11/, Stunden von Teihröda (Schwarzburg:Rudolitadt) nach Kemda
(Sadhjen Weimar), von da in 2 Stunden nad) Wigleben (Schwarz:
burg=Sonder3haujen), von da in 11/, Stwiden nah Ofthaufen
Sachſen-Meiningen), dann in 1Y/, Stunden durch das rubolitädtijche
Kirchdorf Elrleben nad Kirchheim (Königreich Preußen), und von
da in einer Stunde nad) dem gothaifchen Städtchen Ichtershauſen.
‚Auf einem andern Wege, ber nur 51/, Stunden beanfprucht, betritt
man fieben verjchiedene deutſche Staaten: Bon Schleiz (Neuß j. 2.)
nah Volkmannsdorf (Weimar), Erispendorf (Neuß ä. 2.), Erf:
manızdorf (Meiningen), nun nad den preußiichen Liebſchitz und
Drognig und endlich nad) den an der Saale gelegenen romantischen
Ortichaften Saalthal (Mltenburg) und Briftwig (Nudolftadt). Wer
bon unjeren werten Leſern fih von der Wahrheit unjerer Behauptung
überzeugen will, der mache einmal dieje Eleine Spaziertour, die ihm
gewiß recht viel Vergnügen machen wird.
2646 Allerlei.
Eheſtatiſtik. Nach der Zahl der Einwohner berechnet, wird in
Nürnberg am meijten geheiratet. Hier kommen auf 1000 Ein-
wohner 10,79 Ehejchließungen. Der Ort, an dem die nächjtmeilten
Eheſchließungen jtattfinden, itt Delmenhorft in Oldenburg; dann
folgt Berlin, Altona, Süderdithmarfchen, Ludwigshafen, Mannheim,
Frankfurt a. M., Heidelberg, Höchft, Offenbach und München. Am
wenigften geheiratet wird in der Rheinprovinz, Eifelgebiet und
in einzelnen Teilen Bayerns, und der Ort, in dem laut den
ftatiftifchen Nachrichten die wenigiten Ehen in Deutfchland innerhalb
der legten SSahre geihloffen wurden, ift Schleiden in der Rheinprovinz.
&3 heiraten jährlih in Deutichland überhaupt 400 000 glücdliche
Brautpaare; trogdem hat das Deutfhe Neih nicht die höchſte
Heiratsziffer. Serbien läuft ihm den Rang ab, ihm folgt Ungarn.
Selbſt Japan übertrifft noch an Zahl der Brautpaare das Deutjche
Reich, natürlih nah dem Verhältnis nn Einwohnerzahl berechnet.
Betrachten wir die Länder einzeln nad den Heiratsausſichten,
welche dort die Frauen Haben, fo ergiebt fi für Oeſterreich ein
befonder3 hoher Prozentfuß von MWitwern und Witwen, die fich
wieder verheiraten. In Frankreich hat eine forgfältig erhobene
Statiftif ergeben, daß die meiften Mädchen im Alter von 20 bis 25
Sahren zum Traualtar ſchreiten. Sehr gering ift die Zahl der
Braute im Alter von 15 bis 20 Jahren, obgleich in der romanischen
und fpeziell in der franzöfiichen Litteratur die Bräute und Heldinnen
gewöhnlih in dieſem Alter ftehen und auch angeblich heiraten.
Zwiſchen dem fünfundzwanzigiten und dreißigften Sahre werden
immer noch zahlveiher Heiraten geſchloſſen als zwijchen dem fünf:
zehnten und dem zwanzigiten. Dann aber geht e8 ſehr ſchnell ab—
wärts, und je mehr fich dad Mädchen von den Dreißigern entfernt,
deito geringer wird die Ausficht zur Ehefchließung, ıyıd in Frankreich
kommt in dem Alter von 60 und 65 Jahren von 365 Sungfrauen
nur noch eine unter die Haube.
Bon Deutfchland Tiegt eine genaue Statiftif nur über Die
Heiraten in Berlin vor, und zwar vom Sahre 1896. In einem
Sünftel aller Berliner Ehen heiratete da3 Mädchen im Alter von
25 Jahren. Bis zum 29. Sahre ift die Heiratsziffer noch eine ver—
hältnismäßig hohe.
Daß ganz abnorme Mltersunterichiede zwiſchen Gatten und
Gattinnen in einer Großftadt vorkommen, ift eigentlich ſelbſt—
veritändlih. Bei fieben Berliner Heiraten war die Braut mehr al?
fünfundzwanzig Sahre älter als der Bräutigam; in 98 Fällen aber
der Gatte fünfundzwanzig Jahr älter, als die Gattin.
Ganz merkwürdig ift e8, daß für Europa der Grundfaß gilt,
daß im Fühlen Norden die Ehen in früheren Jahren geſchloſſen
werden, als im founigen Süden. Intereſſant wird es auch fein,
zu erfahren, aus welchen Berufsklaſſen die Frauen am meilten
Ausficht haben, einen Gatten zu finden. Natürlich ift hier nur von
den arbeitenden und ermwerbenden Frauen die Nede. Die Alterd=
verficherungsanftalt Berlin hat in dieſer Beziehung eine fehr
Allerlei. 2647
intereffante Statiftit aufgeftellt. Von 1000 ermwerbenden Frauen,
bie fich verheirateten, waren über die Hälfte, nämlid) 528, Dienſt⸗
mädchen. Es folgten dann Arbeiterinnen 136, Näherinnen 125, An—⸗
geftellte au Handel und Verkehr 87 und Plätterinnen 46 unter 1000.
Bon den geborenen Berlinerinnen waren vor der Hochzeit unter je
taufend 304 Arbeiterinnen gewejen, dagegen nur-70 Dienftmädden.
Frauen als Soldaten. Mehrfach ijt berichtet worden, mie
in dem heidenmütigen Freiheitäfampfe, den das feine Burenvolf gegen
‚die engliihen Söldnerfcharen geführt hat, auch Frauen an der Geite ihrer
- Männer mit hinaus in den Streit gezogen find, um Blut und Leben
für die Rettung des Vaterlandes einzujegen. Im Anſchluß daran jei
im folgenden an die verichiedenen „weiblichen Heldinnen“ erinnert, von
denen die Geſchichte eine ganze Anzahl fennt.
Nicht unbedeutend iſt Die Zahl diejer weiblichen Soldaten, doch
muß man die Rumpellammer der MWeltgefchichte ordentlich durch—
ftöbern, um ibre Namen und Thaten aus dem Staube zu fördern,
den Jahrhunderte lange Vergeſſenheit auf fie gehäuft.
Seanne D’Arc, die Jungfrau von Orleans, bildet natürlich
eine Ausnahme. Das Leben und tragijche Ende des Heldenmädchens
giebt ſolch dankbaren Stoff für Hiftorifer und Dichter ab, daß fie
immer und immer wieder zum Gegenftand der Verherrlihung oder
VBerunglimpfung, je nach dem Standpunkte des Bearbeiters, ge=
nommen erden.
Die Heldenlaufbahn Jeannes zählt zu den befannteften Epifoden
der Weltgefchichte, jo daß eine Erzählung derjelben hier überflülfig
ericheint. Weniger befannt ift es, daß bald nach dem Ende Seanne
d'Arcs in Frankreich faliche „Sungfrauen von Orleans“ auftauchten.
Sie gaben übereinftimmend vor, dem Scheiterhaufen in Rouen
entgangen zu fein, und heimſten alle Ehren und Gelder ein, die
einft der Heldin verjagt waren.
Bon diefen Hocftaplerinnen des Mittelalter intereffiert ung
beſonders eine.
Ueber ihr Leben ift nur wenig belfannt geworden. Gie Stand
al3 „Zungfrau von Orleans“ an der Spitze eined GSoldatentrupps,
“der anfcheinend auf eigene Fauſt gegen Briten und Burgunder Krieg
führte. Einer ihrer Unterbefehldhaber war. Jean de Signeurville,
der im Sabre 1441 den füniglihen Truppen in die Hände fiel.
Seine Freilafjung, zu der ein föniglicher Befehl nötig war, fcheint
erft die allgemeine Aufmerkſamkeit auf die faljche Jeanne d’Arc
Dan zu haben. Niemand jeßte Zweifel an ihre Abſtammung, und
arlament und Univerfität in Paris vergaßen ganz, daß jie im
Jahre 1431 den Stab über Jeanne gebrochen und luden elf Jahre
ſpäter ihre Doppelgängerin ein, nah „den Mittelpunkt der Welt“
zu kommen. Die Dame befann fich nicht lange und folgte dem
„ehrenvollen Rufe”. |
„Auf einem freien Plage zeigte fie ſich "dem begeifterten Volk,
erzählte mit Stentorftimme, wie fie Orleans befreit, fi fühn mit
Engländern und andern Baterlandsfeinden geftritten und dann,
2648 Allerlei.
nachdem fie ihren Henkern entkommen, im Pilgerfleid nah Nom
gewwandert jei, um bort für ein früher begangenes Vergehen Buße
zu thun. Als ihre Sünden getilgt, habe fte als Soldat erſt im
franzöfilchei, jpäter im italienischen Heere gekämpft und Heldenthaten
jonder Zahl verübt. |
Auch über das Leben Johannas von Flandern, Die nad)
der Gefangennahme ihres Generals Johann von Montfort im Jahre
1341 die Bretagne als Anführerin ihrer Truppen gegen die Angriffe
Frankreichs und der Valois fiegreich verteidigte und fie ihren Sohne
Sohann IV. erhielt, ift nichts mehr als dieſe farge Notiz auf uns
gefommen. Wir willen, daß fie lebte al3 Mann und wie ein Mann
kämpfte und ftarb.
Ein Mädchen, daß Seanne d'Arec in jeeliiher Hinſicht ſehr
ahnli war, lebte um die Mitte de vierzehnten Sahrhunderts
zu Neapel.
Marie de Pouzolès, jo hieß dag Mädchen, entitammte den
niedrigften Volksſchichten. Won frühelter Jugend auf übte fie ſich
im Gebrauche der damals gebräuchlichen Waffen und vermochte gar
bald mit ihrem Armbruftbolzen mit tötlicher Sicherheit das Ziel zu
treffen. Ihre Eltern hatten an dem knabenhaften Gebaren der
Tochter ihre Freude und ließen fie gewähren. Auch die Geiftlichfeit
ſah nichts Anftößiges in ihrem Thun. Sie vermehrte ihr eg nicht
einmal, Männerfleivung anzulegen und fi als Soldat den Truppen
anzufchließen.
Wie die Franzöfin, vermochte fie alle Beſchwerden des Kriegs—
lebend mit einer Leichtigkeit zu ertragen, die ihre Waffengefährten
mit Bewunderung erfüllte und großen vorbildlihen Einfluß im
Heere ausübte. Die Führer Ichäbten fi) zur Ehre, fie in ihrem
Heere zu willen, und holten nicht felten ihren Rat ein. Nachdem
fie an vielen Schladten teilgenommen, Abteilungen jelbftändig be-
fehligt und oft mit kühnem Mute den überlegenen Feind in Die
Flucht geichlagen Hatte, drang ihr Ruhm durch ganz Stalien bis
nad Sizilien, deffen König Robert fie in Neapel aufjuchte und fi
von ihr über ihre Kriegsfahrten berichten ließ.
Auch England hatte eine Eriegerifche Dame in Jenny Gameron,
der Alteften Tochter des ſchottiſchen Edelmannes Cameron von
Glendeſſery, aufzuiveifen. Jenny Cameron, a aus vornehmen
Geſchlecht, war eine Abenteurerin Schlimmfter Sorte Wegen toller
Streihe in ein Barifer Klofter gefteckt, ließ fie fih, faum aus deu
Kinderjahren, von einem Offizier entführen, den. fie bald mit einen
italienischen Edelmanne vertaufchte. Auch von dieſem und mehreren
Nachfolgern im Stich geilen, fehrte fie auf das Gut ihres Bruders
nad Schottland zuriid, das fie nach deſſen Tod, als Vormünderin
de Neffen, eines unfähigen Menfchen, bewirtichaftete.
Als bei dem legten jakobitischen Aufftande im Sahre 1745 der
Ihottische Prätendent zu den LXochiel® Fam und von dort au den
del einlud, fi mit feinen Leuten um die Fahnen der Stuarts zu
‚baren, erfhien an Stelle des Neffen Jenny an der Spike bon
Allerlei. 2649
250 Leuten, begrüßte den Prinzen und übergab ihn Die mitgebrachien
Truppen. Sie trug die Tracht holländifcher Männer: ein ſeegrünes
Reid, darüber einen ſcharlachroten Mantel mit Gold verbrämt.
Da3 lange Haar war im Freien nur hinten znfammengerafft und
die langen Locen unter einem ſamtenen, mit Scharlach gefütterten
Hut geborgen. Ihr koſtbares Streitroß war mit prächtiger, reid)-
geſchmückter Schabrade bedeckt. Die Schottländerin verließ den
Prinzen nicht mehr, kämpfte an feiner Seite bis zu feiner Abreiſe
nah England. Nah Unterdrüdung des Aufitandes murde fie
ſeſangen geſetzt, aber ſchon ein Jahr ſpäter, 1747, wieder ent-
aſſen
Der erſte deutſche Soldat aus dem ſchöneren Geſchlecht war
Marimiliane von Leithorſt, die Tochter des Kurfürſten Mar
Emanuel von Bayern. Vernachläſſigt von ihrer Mutter, die bald
nad der Geburt der Tochter in ein Klofter ging, unbeachtet von
ihrem Vater, wuchs Marimiliane heran. Sie ging ftet3 in Knaben—
fleidung, nannte ſich Maximilian Baron Leithorft und nahm reſolut
als Diefer Pagendienfte bei Baron Halden, dem Würzburgifchen
Gefandten am Regensburger Hofe, an.
Später ging ie nach Wien und wurde Soldat. Sieben Sahre
lang diente fie als Kadett im Infanterieregiment Franz bon Lothringen
in berjchiedenen Garnijonen Ungarıd. Sie befam ihren Abjchied
al3 Leutnant mit Penſion auf Lebenszeit. Sic verzehrte dieje in
Wien, wo fie 1748 am Bruftfrebs ſtarb. Marimiliane von Leithorft
trug bis an ihr Lebengende Männerkleider, die fie nur bei Der
Kommunion mit Frauengewändern bertaujchte.
Aus den Freiheitäfriegen ftrahlt das Bild Eleonore Pro—
haskas, der Heldin, die unter Franzofenfugeln ihr junges Leben
aushauchte.
Ihre Begeiſterung für das Vaterland, die ſie Dienſte als
gemeiner Soldat nehmen ließ, und ihr Tod iſt in allgemein be—
kannten Balladen beſungen worden, ihr Andenken unvergeſſen.
Wie vie Chineſen mit ihren Göttern umgehen. Die
Chineſen ftellen jich ihre Götter mit denjelben Eigenschaften vor, welche
jie jelbft Haben, und durch diefe Auffaflung beſteht entichieden eine
Gemeinschaft mit den Neligionen heidniſcher Völker! Sollten dieſe
göttlihen Wejen nicht auch ein empfängliche® Gemüt für Beitechungen
und Schmeicheleien haben, fragt fich der Chineſe und verjucht, ob er
nicht aud) die Götter betrügen kann, wie er dies bei den Menſchen
mit Vorliebe thut. So giebt irgend ein Frommer feinen Beitrag zur
Neflaurierung eines Tempels in der Lijte mit 1000 Kupfermünzen an,
während er thatjächlich nur 200 fpendet. Der betreffende Gott wird
ſchon nicht jo genau nachrechnen! Während der Zeit der Ausbefferung
des Tempel3 werden dem Gott übrigens die Augen verklebt, damit er
fich) nicht an die herifchende Unordnung ftößt. Das treffendite Beilpiel,
: wie e3 die Chinejen verjuchen, ihre Götter zur überliften, bietet die Be-
handlung des Kiüchengottes, der am Ende des Jahres in den Himmel
fährt, um feinen Kahresbericht über die betreffende Familie zu machen.
2650 Allerlei. F
Damit er ja nichts Böſes ſagt, beſchmiert man ihm die Lippen mit
Honig! Oft werden auch auf den Altären Imitationen von Geld, die
aus Silberpapier hergeftellt find und das Ausſehen von Gilberbarren
haben, verbrannt. Der betreffende Gott wird es ſchon für bare Münze
nehmen! Die chinefiichen Seeleute glauben befanntlid) immer noch,
daß die gefürchteten Taune durch böje Geifter verurjacht werden. Hat
der Sturm feinen Höhepunft erreicht, dann jeßt man, einem alten Ge:
brauch zufolge, ein Bapierichiff, welches eine genaue Imitation des
wirklichen Fahrzeugs ift, auf die Wellen, damit fic die böfen Geiſter
auf dieſes ftürzen, und das eigentliche Fahrzeug inzwiſchen entfliehen
fann. Brit in China eine Epidemie aus, wie Cholera uſw., fo feßt
man jchnell mitten im Jahre Neujahr an. Der Gott der Peſt wird
dann zur Erkenntnis kommen, dab er fich in der Jahreszeit getäufcht
hat, und verichwinden, die böje Krankheit mit fi) nehmend. Ein anderes
Blendwerk ijt folgendes: Ein Mann friecht unter einen Tifch, auf dem
die Opfer jtehen und ſteckt feinen Kopf durch ein in der Mitte des
Tiſches für dieſen Zweck angebradhtes Loch. Man verfucht auf dieſe
Weije dem Gotte vorzujpiegeln, daß man ihm thatjächlicd) einen Menfchen-
fopf opfere. Nach einer gewifjen Zeit befreit fich der gute Mann wieder
aus jeiner Zwangslage und ijt jtolz auf jeine Großthat. Wir fennen
einen Fall, in dem ein DijtriltSbeamter einen Streit zwijchen einem
Priefter und dem Buddha des Tempels zu jchlichten Hatte. Der Gott
wurde vor Gericht zitiert und jollte vor dem Nichter niederfnieen — ein
‚ merkwürdige Verlangen von einer Holzfigur! Als er diefem Befehle
nit nachkam, Diktierte ihm der Richter 500 Bambugjtreiche zu, die
* ihn alebald in einen Trümmerhaufen verwwandelten.
Scheidungsgründe. Es hat, fo lange die Eheſchließung
Staatlichen und kirchlichen Gejegen unterworfen ift, niemals an Verſuchen
gefehlt, die Schwierigleiten, die durd) Staat und Kirche einer Löſung der
She entgegengeftellt werden, zu beheben oder Doch auf ein beſcheidenes
Maß zurüczuführen. Zugegeben mag werden, daß es für Eheleute, die
in unglücflicher Ehe miteinander leben, hart ift, wenn ihrer Trennung
unüberwindliche Hinderniffe in den Weg geftellt werben, wenn es für
fie fein Mittel giebt, die Che, die vielleicht beiderjeit3 aus falſchen
Vorausſetzungen geſchloſſen wurde und deshalb nicht zum Glücke
führen konnte, zu löſen. Aber auf der anderen Seite ur doch auch
berückſichtigt werden, daß mit der Möglichkeit einer leichteren Trennung
der Ehe nicht nur eine verderbliche Leichtfertigkeit beim Eingehen
der Ehe verknüpft ſein, ſondern auch das Familienleben, inſonderheit
dann, wenn Kinder der Ehe entſproſſen ſind, außerordentlich Schaden
nehmen würde.
Die franzöſiſche Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts hat
den beſten Beweis hierfür geliefert. Durch ein von 1792
war die Scheidung bekanntlich völlig freigegeben. In den dieſem
Geſetz folgenden 27 Monaten wurden in Paris allein 6000 Ehen
geſchieden, und im Jahre 1797 war die Zahl der Eheſcheidungen
größer als die der Heiraten. Dupal, in feinem Souvenir Thermi-
doriens erzählt darüber: „Man ging augeinander jo leichten Herzenz,
Allerlei. 2651
als ob man Blumen oder Kirfchen pflüden gehen wollte. Der Ehe—
gatte hatte feine Geliebte und mar jeine® Weibes überdrüffig, Die
Gattin Hatte einen Liebhaber und wünſchte nicht? jehnlicher, als
ihren Gatten 108 zu werden. Sie jagten ſich das, gingen auf’3
Nathan, gaben an, daß fie nicht mehr neben einander leben könnten,
und am⸗ ſelben Tage noch oder am nädjften war die Ehe geichieden
— wegen Unvereinbarkeit der Temperamente. Mer fragte darnad),
was aus den Kindern wurde? Die Gatten waren fi) 108, dad war
die Hauptſache. Es war gar nicht Selten, bei dieſer firen Gejchäftg-
gebahrung Fälle zu finden, wo fih Leute in ſechs Monaten hatten
sechsmal fcheiden laſſen. Dabei famen drollige Dinge vor. So
wechfelten Ehegatten ihre Ehefrauen gegenfeitig aus und waren über
dies Tauſchgeſchäft jo entzüct, daß fie die neue Hochzeit zuſammen
feierten und die Koften auf gemeinfame Rechnung übernahmen.
Der Coder Napoleon machte dDiefem Unweſen befanntlid ein
Ende. Heutzutage wuchern die Ehefcheidungen in Amerifa. In den
Vereinigten Staaten gelten folgende Ehejcheidungdgründe: Untreue
in 46 Staaten, böswilliges Verlaffen in 44, Verſchwinden in 42,
Grauſamkeit (cruelty) oder Furcht por Gewalitthätigfeiten .in 40,
&iniperren in 38, Trunkſucht, Unmäßigfeit oder gewohnheitsmäßige
Beraufhung in 37, Mangel an Vorausſicht (failure to provide)
in 21, alte Sünden vor der Heirat in 13, unanftändige Behand:
lung in 7, Geiftesfranfheit in 5, Getrenntleben in 2, ſchwere
Bernadläffigung der Pflichten in 2, wenn der Mann ein Bagabund
ift in 2, wenn dag Weib nicht in einen anderen Staat mitlommen
will in 1, wenn man das Weib vor die Thür jegt in 1, zu heftiges
Temperament in 1, Öffentliche Verleumdung in 1 u. ſ. f. |
Die amerikanischen Gerichtshöfe find dabei fehr nachläſſig. So
verhalfen, fie beifpieläweife einem Weibe zur Scheidung, meil ihr
Mann „ich nicht wüjche, was ihr eine Art Seelenſchmerz verurſache“,
einem andern, weil „er“ nad 27 jähriger Ehe gejagt habe: „Du
bift alt und außgemergelt (worn out), id) kann Dich nicht länger
ſehen“, einem dritten, weil „er“ ſeine Fußnägel nicht beſchneiden
wollte, einem vierten, weil „er“ ſein armes Weib durch Tabakwolken
an- und ausräucherte. Auf der andern Seite erlangte vor amerika—
niſchem Gericht ein Mann die Scheidung, weil ihn ſeine Frau mit
dem Abſtäuber aus den Bette jagte, ein anderer, weil „ſie“ ihn
verächtlich. behandelte und gejagt hatte: „Du biſt überhaupt kein
Mann“, ein dritter, weil „fie“ feine Kleider nicht ausbeſſerte, nicht
kochte und feine Knöpfe nicht annähte, ein vierter, meil „fie“ ihm
einen derben Stoß mit ihrer Tournüre (with her bustle)- gegeben
hatte. Alles das heißt in Amerika „eruelty“, der Begriff ift aljo
jo dehnungsfähig, wie unfer grober Unfug.
Man erfieht aus der vorftehenden Schilderung, daB Die neue
Welt nit bloß auf wirtichaftlihem Gebiet mit der alten Mutter
Europa in Wettbewerb tritt, und daß beſonders das glückliche, Teicht-
lebige Frankreich einen erfolgreichen Nebenbuhler hat in feinem
Divercons! | |
2652 Allerlei,
Orchideenjãger. Ein äußerft gefährlicher Beruf ift der des
Orchideenjägerd. Seltene Stüde in diefen Blumen find oft ungeheuer
teuer. Die Gejchäfte laſſen die Wildnis jüdlicher Länder bereifen, um
immer neue ımd jeltene Arten zu entdeden. Darum jchließt daS Leben
eines DOrchideenjägerd alle Aufregungen der Forſchung in unbetretenen
Landitrihen in fi, die oft von wilden Tieren und wilden Völkerſchaften
bewohnt werden, und in denen Malaria und andere Krankheiten drohen.
Selbſt die Eingeborenen: vermeiden die Gegenden, in die der kühne
Orchideenjäger eindringt und jeine Blumenbeute verfolgt. Man braucht
nur mit einem diejer Männer zu jprechen, erzählt ein Mitarbeiter von
„Harmworths Magazine”, um merkwürdige Geichichten von Gefahren,
denen fie nur mit fnapper Not entronnen find, und fchredlichen Leiden
zu hören. In -allzuvielen Fällen kehrt leider der verwegene Jäger
überhaupt nicht mehr zurüd, um feine Gejchichte zu erzählen. Eine
große Anzahl diefer Orchideenfucher wird von %. Sander & Co. in
St. Albans, dem großen Sondergejchäft in Orchideen, ausgejandt. Den
Namen einiger diefer Männer tragen jest die gejchäßteften Orchideen:
Falkenberg verlor fein Leben auf Banama, Klabod in Mexiko, Endriez
in Rio Hada, Brown in Madagaskar, Digance in Brafilien, Wallis
in Ecuador, Schroeder. in Sierra Leone und Arnold am DOrinofo. Vor
einigen Jahren trafen acht Jäger in Tamatave zujammen und trennten
ih) dann, um auf die Suche zu gehen. Nach Verlauf eines Jahres
lebte nur noch einer von ihnen, und er erholte fich nie wieder von den
Leiden, die ihm der monatelange Aufenthalt in den verpejteten Eunpf-
gegenden gebracht Hatte. Einer von den anderen war von den Priejtern
der Eingeborenen mit Del begofien und auf dem Göbenaltar verbrannt
worden. Hamelin, der Entdeder vieler neuer Orchideen in den menig
befannten Wäldern Madagaskars, mußte, um in daS Innere der Inſel
dringen zu können, „Blutsbruder“ des Königs Moyanıbafja werden,
eine Ehre, die ihm beinahe dag Leben foftete. Ein anderer Jäger, der
in Neu-Guinea arbeitete, fand eine wunderbar ſchöne, bisher unbefannte
Art auf einem Begräbnisplag der Eingeborenen. Diejer Friedhof war
eine Ebene zwijchen den Hügeln, und die Leichen wurden einfach auf
die Felſen gelegt, biß die Gebeine in der Sonne gebleicht waren. Hier
fand der Sanınler die Wurzeln zwilchen den Knochen, während ein
Mantel aus prächtigen Blüten die bfeichen Reſte bededte. Zuerſt
weigerten fich die Eingeborenen natürlich, zu erlauben, daß die Knochen
ihrer Vorfahren in ihrer Ruhe geflört würden; aber fchließlich änderten
freigebige Gejchenfe in Geftalt Heiner Spiegel und Flitterverzierungen
ihre Anfichten über diejen Punkt, und fie geftatteten die Entfernung
der Orchideen. Manche der Pflanzen fonnte nicht von den Knochen
abgerifjen werden, und ein Echädel wurde mit nad) England gebradit,
in deſſen Hirnhöhle eine Orchidee feitwurzelte und aus der Kinnfade
herauswuchs. Bor vielen Zahren kam eine Orchidee einer ganz neuen
und unbekannten Art in dem Packzeug, in dem einige fremde Pflanzen
gejandt wurden, nad) England. Niemand wußte, woher fie fam, und
ſie blieb lange einzig. Die Orchideen-Zäger fuchten überall danad),
aber erit 70 Jahre jpäter wurde fie gefunden. Cine andere Oxchidee,
Allerlel. | 2653 |
deren Urſprungsort man nicht fennt, fam im Sahre 1854 an, und
troß beharrlichen Suchen? hat man ihre Heimat bis jet noch nicht ge=
funden. Bor einigen Sahren wurden zwei Orchideen im Londoner
Zoologiſchen Garten auf einem Haufen Schutt gefunden. Sie famen
im PBadzeug mit jüdamerifanischen Affen; ihre Heimat ift noch nicht
entdecdt worden. Dan muß nicht etwa denken, daß alle Orchideen teuer
find, nur feltene und neue Arten haben ungeheure Preife; aber viele
ihöne Spielarten find in einigen Sahren von 1000 Mark auf 5 Mark
herabgegangen. Eine Orchidee ift heute noch jelten und koſtbar; aber
morgen fommen vielleicht Taujende diefer Art an, und ein ſprungweiſes
Herabgehen des Marktpreifes ift die natürliche Folge; bei der Spekulation
in Orchideen kann man leichter ein Vermögen verlieren als gewinnen.
Die Größe eines Waſſertropfens. Nach der Anfchauung
der heutigen Phyſik und Chemie ift jeder Stoff aus Keinjten Teilchen
zujammengefegt, die man im allgemeinen bei den Grundſtoffen als
Atome, bei den Verbindungen als Moleküle bezeichnet. Nach diejem
Geſichtspunkte betrachtet, enthält ein Waflertropfen ſchon eine ungeheure
Zahl von Waflerteilhen. Lord Kelvin, der große Phyfifer, hat darüber
einmal eine anjchauliche Rechnung aufgeftellt. Wenn ein einziger Wafjer-
tropfen unter einem —— — ſo ſtark vergrößert werden
könnte, daß er die Ausdehnung der Erdkugel einnähme, ‚jo würden die
ihn zujammenfegenden Molefüle doch nur in der Größe von Kleinen
Billardkugeln ericheinen, Profeſſor Hele- Shaw führte diefen Gedanken
etwa® weiter durh. Er wies darauf Hin, daB e3 eine Million von
Kahren dauern würde, wollte man ein Glas Waſſer Teilchen für Teilchen
entleeren. Nach der jogenannten Stromlinien= Theorie ift e3 möglich
geworden, die Lage der Wafjerteilchen zu einander und ihre Bewegungen
zu erfennen und fo in da8 Geheimnis des Waſſerfluſſes einzudringen.
Auf diefe Erkenntnis war die Löſung der im Waſſerdruck enthaltenen
Rätſel und die Ausnutzung diefer Kraft möglih, und damit hängen
noch viele andere wiflenjchaftliche und praftiihe Fragen zuſammen: die
Wirkungen von Ebbe und Flut, das Nagen der Fluß- und Meeres-
wellen an den Ufern, das Berjanden der Flüffe und Häfen und aud)
das Steuern der Schiffe und die Ausnutzung der Wafjerfälle für die
Induſtrie. Die Phyſik des Waſſers ift fomit für Wiſſenſchaft und
Technik eines der wichtigften &ebiete geworden, defjen Bearbeitung der
Naturwiſſenſchaft obgelegen hat und deſſen Erkundung vielleicht noch
nicht erſchöpft ijt. |
RX
. - Auf
: —
Rätſel.
Zwei wollten nicht länger die Lrſte fein,
Kam drum als Sanzes zum Mägdelein.
Die Holde ſprach: Ich nehme dich an!
Yun jage, was war wohl der tapfere Mann?
Umitellunas-Rätfjel.
Die Buchftaben diejfes Quadrate find To zu
ordnen, daß die ſenk- und wagerechten Reihen .
bezeichnen:
. Einen berühmten Schriftfteller.
Einen Kalifen.
Ein Gier in Südamerika.
Eine Stadt in Ungarn. '
Bonn
Silben-Rätfel;
Aus folgenden 32 Silben find 16 zweifilbige Wörter zu bilden,
deren Unfangsbuchjtaben, von oben nach unten gelejen, zwei Haupt:
perjonen aus einem berühmten Drama, und deren Endbuchtaben,
gleichfalls von oben nad) unten gelejen, zwei Hauptperſonen aus
einer befannten Oper ergeben. Pie Silben find:
ar, ban, bel, bel, chi, dan, den, den, di, dö, em, frö, ger, gul, ho, le
Ina, me, ni, no, nof, rich, ris, rü,“send, — üng, tan, tus ul, de
Die Wörter bezeichnen:
. Einen Wohlthäter der Kinderwelt.
. Einen $luß in Italien.
. Einen männlichen Dornamen.
. Einen deutſchen Dichter.
Einen orientalifhen Kopfſchmuck.
Eine andere Bezeichnung für Anfang.
Zinen Sluß in Afrika.
Zinen Berg in der Schweiz.
Zine Münze.
. Ein Schlachtfeld aus ber Ritterzeit.
. Eine Stadt iu Hannover.
. Eine Zabl.
. Ein Land in Südamerila.
. Zin Handwerkszeug.
. Eine griehifche Böttin.
. Eine Oper.
uch
SARWD-SORNATERU-
Rätfjel- Ede. 2655
‚Buchitabenrätiel,
Wenn ein e in der erjten Silbe fteht,
Iſt das Wort ein Fluß, der nordwärts geht;
Mit i hingegen ift es befannt
Als Mädchenname im deutjchen Land;
Mit u erhellt es die dunkle Nacht, |
Es glänzt am Himmel in milder Pracht.
Rätſel.
Mein Lrſtes iſt nicht wenig,
Mein Zweites iſt nicht ſchwer.
Das Ganze läßt dich hoffen,
Zoch traue nicht zu. jehr.
Metamorphofen-Rätjel, .
Solgende Worte ergeben, richtig zufammengefeßt und unter
Deränderung eines Buchitabens in jedem Worte, ein oft gebrauchtes
Litar:
Oſt, Neben, was, Reiter, Dunft, wie, einft, Alt.
a ee
‚Au Br Opulentes Bericht.
& EA Sn. Ort in Unterfranken.
ss AU. Stadt in Böhmen.
e EU Komponift.
3. UA Schädliches Infekt.
| Fabrikort in Thüringen.
Auflösungen aus Band X.
Rätſel: Rehe, Ehre, eher, Beer.
Umftellungsrätjel: Bitter, Oberon, Traum, Tonne, Made,
Irene, Tajo, Urban, Xarde, Seil.
Charade: Meijterhaft.
Magifches Kreuz: Menelaos, Trebinje, Kalidaja, Sranaten.
Sitaten-Rätfel: Kurz ift der Schmerz, und ewig ift die Freude.
E
Neu eingeführt.
ijoja-Bordeaux,
"Haschenreifer- roter Tafelwein, übertrifft an Qualität. cnreifer- roter Tafelwein, übertrifft an Qualität,
Bouquet und Feinheit alle kleineren Bordeaux - -Weine,
ab Konstanz zu 89 Pig. per Liter.
1 Postkistchen mit 2 ganzen Flaschen
franko gegen Einsendung von Mk. 2. 70.
a SAMOS-SUSS-WEINE
reinheit + Vorengliche Kranken- und Dessert-Weine
——— ab one zu Mk. 1.— per Liter.
1 Postkistchen mit 2 Flaschen franko Mk. ER
ZIEGLER & GROSS, kermat ln:
Schw eiz.
empfohlen;
Be Allen Hotels und Restaurants
Proben und Preisliste gratis und franko. . Sl
erbesserte Universal-Flaschen- =
Verkapsel-Maschine |
Preis Mk. 6.—, steht bis jetzt in jeder
Beziehung unerreicht da, redakt. bespr.
in Nr. 2296 der Ill. Zeitung, Leipzig. Illustr. Preisliste
ZIEGLER & GROSS, Konstanz 56. gratis und franko.
59 Sonntagsgedanken
von Margarete von Hodhfeld.
250 Seiten 8° in feinster, würdigster Ausstattung.
Preis: elegant gebunden mit @oldschnitt Mk. 4.—.
Es giebt wohl kaum ein zu Gefchenken geeigneteres
Werk, als diefe gelfammelten Sonntagsgedanken. #
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen, wo eine ſolche nict
am Orte ilt, iende man die N an den Verlag
Berlin N 4, Leipzig-R.,
Chautieeitr. 39. W. Vobach & Co, Be it. 9.
SEELE EEEE TEE SELL EFSET FL TFT ET |
Beste Nahrung für
gesunde & darmkranke Kinder
TECH
BesterZusatz zurMilch.
vontausenden Aerzten empfohlen.
_Vietnria« feinster Naturbutter-
„Victoria Zwieback der Welt. |
Fürsten und Kö-
ter Blechkasten
mit 260 St. 4M.
franko ohne alle
weiteren Un-
kosten.
Harrs Trüller
Celle 93
Grösst.Zwiebackfabrik
Europas. 12 mal präm
Kindermehl.
[> -.- ETERURT 7
fümerien,
Backe & Esklony’s
Caunus: Seife
Stück 50 Pf. x Stück 50 Pf
ı erhält die Haut jugendfrisch und schön.
Zu beziehen durch alle besseren Par-
Drogerien u. Apotheken oder
direkt durch
Backe & Esklony, Wiesbaden.
Vers. v. 6 Stck. an portofr. f. 2.50 Mk.
Magerkeit F
7 Schöne, volle Körperformen durch unſer orlentaliſches
Er re Kraftpulver, preisgefrönt goldene Medaille Baris 1900,
——4 — Ausſtellung; in 6—8 Wochen ſchon bie 30 vnd.
—
unahme — Streng reell — kein Schwindel.
i
iele Dankſchreiben. Preis: Karton 2 Mt. Poſtanweiſung
., 6 oder Nachnahme mit Gebrauchsanmeijung.
*7 Bygienisches Institut
I D. Franz Steiner & Co., Berlin H,
KRöniggrätzer Strasse 69.
Backpulver,
Dr. Detker’s: Vanillin-Zucker,
Pudding-Pulver
Millionenfach bewährt.
Auf Wunsch ein Backbuch gratis von
Dr. A. Oetker
Bielefeld.
INA