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Ein guter Kamerad. Vach einem Semälde von Rudolf Trade.
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Baus-Bibliothek
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und geistigen Anregung
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Band XII
Berlin-Leipzig
WU. Vobah & Co.
Derlagsbuchhandlung,
® Druck von
W. Dobach & Eo.
in £eipsig-R.
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Inbatts-Verzeichnis.
2
Seite
Ein guter Kamerad. Vach einem Bemälde von
Rudolf Trade, Kitelbild.
Wer wird fiegen? Ein Zeitroman in drei Büchern
von Reinhold Ortmann. (Sortfeßung). . . 2663
Deutiche Dichtergrüße:
Die Fuge Tochter. Don Diktor Blüthgen. . 2724
Im deutfchen Reichstag. Ein Blid in die parlamen-
tarifhe Mafchineriee Don U, Oskar Klauß:
mann. Erſter Geil) . ae Br nie ir 223
mit 3 Abbildungen.
Deutfche Dichter der Gegenwart. \ulius Lob:
meyer. Don Dr. 4. St. ae DAAD
Mit Bildnis und Salfimile des Dichters.
Das Rätfel der Abnenburg. Roman von ae |
(Sortjegung) . 2753
Das Germanifche ern. in Nürnberg. Don
Dr. Julian Marceufe . 2823
Mit 4 Abbildungen.
Märchen äuf der Wanderung. Dom Urfprung und
Wejen der m Don Dr. en a
born. . 2831
Weiße Haare. Kovelle von 5. —V . 2837
Deutfche Dichtergrüße:
Babe. Don Betty Paoli. . . . 2852
Wildbad Gaftein. Don Wolfgang Ense, . 2853
Mit 6 Abbildungen.
SISnhalts-Derzeichnis.
Der letzte Befuch, Don Johannes Bernhard
Seite
. 2865
Wie überwintert unfere beimatliche Tierwelt?
Don Dr. Konrad Erdmann .
Deutfche Dichtergrüße:
Boffnungslos.
Allerlei;
Königin Luiſe und die ANESHOANEN: Don Bujtav
Walter . Er
.
+
.
Die Straffolonie von Yenealibaniene.
Zur Sefchichte der Difitenfarte .
Das Derjchwinden der toten Tiere
Sutes Bedächtnis
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Der Zuftballon als Gieffeeforfcher.
Das Porträt des Königs.
Hus der guten alten Zeit.
Rätfel-Ece .
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Don Theodor Kirchner.
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RR, 1:72:
. 2880
. 2881
. 2887
. . 2889
2891
. 2892
2892
. 2893
2893
‚2895, 2896
Wer wird fiegen?
Ein Zeitroman in drei Büchern von Reinhold Brimann.
(4. sortfegung.) (Nachdrud verboten.)
Achtzehntes Kapitel,
us der alten Gafje im Innern der Stadt war Dolly
Förſter in eine der. neuen, vornehmen Straßen des
J Weſtens gezogen, wo man durch die verſchwenderiſche
" Anwendung von unechter Vergoldung und gipfernem
Stud dem Innern der Häufer ein jo bejtechendes, „palaftartiges“
Ausjehen zu geben weiß. Für eine Wohnung nach der Straße
freilich reichten ihre Mittel nicht aus, jondern fie hatte fich im
dritten Stock eines jogenannten Gartenhaujes eingemietet, wo
die VBergoldungen noch unechter, die Stucverzierungen noch hin=
fälliger waren und wo fie feine andere Ausficht hatte alß den
Blick auf einen vieredigen, hepflafterten Hof, dem zwei kümmerlich
Ichmale Rajenftreifen etwas Gartenähnliches verleihen jollten.
Hier lebte ſie in einer bejtändigen jtillen Fehde mit der
dur) ihre Geſangsübungen gejtörten Nachbarjchaft — einer
Fehde, die wohl ſchon längſt mit ihrer Niederlage und ihrem
unfreiwilligen Auszuge geendet hätte, wenn jie nicht in den
Männern ebenſo warme Berteidiger und ftandhafte Bundes-
genofjen gehabt Hätte, al3 ihr die Frauen erbitterte und unver-
jöhnliche Feindinnen waren, Es hatte fie nicht viel Mühe ge-
2664 Reinhold Ortmann.
koſtet, ſich dieſes Beiſtandes zu verſichern; denn ſie hatte noch
mit keinem ihrer opfermütigen Beſchützer auch nur ein einziges
Wort gewechſelt. Ein freundlicher Augenaufſchlag bei zufälligen
Begegnungen auf der Treppe, ein kleines, liebenswürdiges Lächeln
bei der ſtummen Erwiderung eines Grußes waren die einzigen
Beſtechungsmittel geweſen, deren ſie ſich bedient hatte. Und doch
hatten dieſe mehr als beſcheidenen Gunſtbeweiſe hingereicht, die
Herzen einiger ſonſt muſterhaft fügſamer Ehegatten mit einer
Widerſtandskraft zu wappnen, an der alle Aufwiegelungsverſuche
der erzürnten Lebensgefährtinnen machtlos abprallten.
An kleinen Unannehmlichkeiten und Nadelſtichen von ſeiten
der weiblichen Nachbarſchaft fehlte es natürlich trotzdem nicht;
aber Dolly bewahrte ihnen gegenüber eine ſtolze Gelaſſenheit,
die jeden derartigen Verſuch unfehlbar mit einer Beihämung
für feine Urheberin endigen ließ.
Sie nahm von ihrer Umgebung Feine Notiz und unterhielt
feinen Verkehr. Auch die fcharfblidendften unter ihren Fein-
dinnen, die befländig auf der Lauer lagen, um aus dem Er-
gebnis ihrer Wahrnehmungen endlich eine wirffame Waffe gegen
die Schöne Sängerin zu jchmieden, hatten bisher nicht3 entdeden
fönnen, was fich zu ihrem Nachteil ausnugen ließ. Und man
verzieh ihr dieſe Tadellofigfeit ihres Lebenswandels natürlich
noch weniger als ihre goldhaarige Schönheit und den füßen
Schmelz ihrer wundervollen Stimme.
In der That hatte Dolly ihrem Verlobten bisher nur ein
einziges Mal gejtattet, ihre Wohnung zu betreten. Ihre Zu-
fammenfünfte bejchränften fich auf gelegentliche furze Befuche,
die fie ihm während der Nachmittagsftunden in feinem Atelier
- abitattete, und auf gemeinfame Spaziergänge in den abgelegen-
ſten Teilen der öffentlichen Parkanlagen, wo fie ziemlich ficher
fein fonnten, von feinem Bekannten gejehen zu werden.
Aber nit Erichs, jondern Dolly Wünfche waren es,
denen durch diefe ängftlich beobachtete Heimlichkeit Genüge ge-
ſchah. Es war ihm ebenſo wenig gelungen, ihre Einwilligung
in eine öffentliche Bekanntgabe ihres Verlöbniſſes zu erhalten,
als er eine beſtimmte Erklärung über den Zeitpunkt ihrer end—
lichen Vereinigung von ihr zu erlangen vermocht hatte. Sie
ſchien ſich vollkommen glücklich zu fühlen in einem Zuſtande,
Wer wird ſiegen? 2665
der für Erich nachgerade zu einer faſt unerträglichen Qual ge—
worden‘ war. Und ſo ſicher wußte fie ſich ihrer Macht über
ihn, daß es fie nicht im mindeiten beunruhigte, wenn er bier
und da an jeinen Ketten zu rütteln und fich gegen ihre Art,
ihn zu behandeln, aufzulehnen verfuchte.
„Ih muß vor allem meine Fünftlerifche Ausbildung zu
einem gewiſſen Abſchluß bringen,“ war die einzige Erklärung,
zu der fie fich in folchen Augenbliden verjtand. „Noch ehe ich
dich kennen lernte, Hatte ich mir gelobt, mich in diefem Vor—
haben durch nichtS beirren zu laffen. Und du kannſt unmöglich
etwas Tadelnswertes darin finden, daß ich die Gewohnheit habe,
meinen Grundjäßen treu zu bleiben.”
E3 Half ihm nichts, wenn er fie darauf Hinwies, daß
diefe Studien, die fie während der lebten Monate in der That
"mit außerordentlicher Energie betrieben hatte, im Grunde eine
höchſt überflüſſige Zeitvergeudung feien, da er ihr ja doch nie-
mal3 geitatten würde, als Opernfängerin die Bühne zu betreten.
Ihr Wille war unerjchütterlih, und der feinige nur allzu
ſchwach, wenn fie die Waffen ihrer verführerifchen Schönheit
ing Feld führte, um ihn zu breden.
Auch an diefem Morgen hatte Fräulein Dolly ſchon ſeit
einer Stunde mit kurzen Unterbrechungen ihre Koloraturen und
Triller geübt. Aber ſie war heute ausnehmend unzufrieden mit
ſich ſelbſt. Und nachdem ihr eine beſonders ſchwierige Tonfigur,
die ſie ſonſt mühelos bewältigt hatte, zum drittenmal verun—
glückte, warf ſie den Deckel des ſchlechten Mietsflügels unwillig
zu und ließ ſich mit verdrießlicher Miene in einen Stuhl
fallen.
„Wie langweilig das iſt!“ ſeufzte ſie. „Wahrhaftig, ich
werde mich doch endlich zu dem Entſchluß aufraffen müſſen,
irgendwie ein Ende zu machen — fo oder jo!”
Sie griff nach dem Cigarettenfäftchen, das ihr in Stunden
des Alleinjeins längft unentbehrlich) geworden war, und hüllte
fich in duftige, blaue Rauchwolfen ein, während ihre leicht zu-
Sammengezogenen Brauen und die Heine, jcharfe Linie an den
Naſenflügeln verrieten, daß die Gedanken, denen fie fich hin-
gegeben hatte, nicht eben die jonmigften und erfreulichiten
jeien.
2666 Reinhold Ortmann.
Es Eopfte, und da3 halbwüchſige Mädchen, das bet ihrer
Wirtin die Dienfle einer Aufwärterin verjah, übergab Dolly
zwei eben eingelaufene Briefe.
Das Geficht der jungen Sängerin wurde noch verdrieß-
Ticher, als fie den eriten von ihnen anjah. Er trug den Poſt—
jtempel Zürich, und fie hatte nur einen Blick auf die ungleic-
mäßige, nervöſe Handichrift der Adreſſe zu werfen brauchen,
um den Abfender zu erraten. Mit einer zornigen Handbewegung,
wie wenn man etwas VBerhaßtes und Widerwärtiges von ſich
ſchleudert, warf fie ihn uneröffnet auf den Tiſch. Aber auch
der Anblick des andern vermochte die Wolfe nicht von ihrem
Antlig zu jcheuchen. Sie wußte, daß er von Erich kam, und
fie hätte wohl einigermaßen neugierig fein jollen auf feinen
Inhalt. Denn ihr Verlobter hatte ganz gegen feine Gewohnheit
jeit drei Tagen nicht3 von fich hören laſſen, und fie konnte
nicht zweifeln, daß ihr diefer Brief Aufflärung bringen würde
über die Urjache feines Schweigend. Trotzdem ſchien fie nicht
neugierig und drehte ihn lange unjchlüffig zwiſchen den Fingern,
ehe fie langjam und fichtlich mit einem gemwiffen inneren Wider-
jtreben den Umjchlag aufriß. Ein auf allen vier Seiten eng
beichriebener Briefbogen war e3, den jie entfaltete. Und fchon
die Anrede, die nicht „AUngebeteter Schag!”" oder „Mein ge-
liebtes Leben!" — fondern fehr kurz und fühl „Liebe Dolly!”
lautete, mußte fie auf Unerfreuliches gefaßt machen.
Aber fie war nicht überrafcht. Gewiſſe Eigentümlichkeiten
in Erich3 Benehmen hatten fie fchon bei ihrer lebten Zufammen-
funft vor vier Tagen argwöhnen lafjen, daß er fich mit irgend
welchen großen Entjchlüffen in Bezug auf ihr Verhältnis trug.
“Und fie glaubte aud) zu erraten, worin dieje Entjchlüffe, für
deren Ausreifung es einer jo langen Zeit bedurft hatte, beitehen
würden.
Ohne jede Spannung, beinahe gleichgültig, glitten ihre
Augen über die erjten Zeilen hinweg. Dann aber funfelte e3
plöglich wie Erjtaunen oder Erjchreden in ihnen auf, und die
feinen Najenflügel der Sängerin vibrierten in heftiger Erregung,
während fie ihre Lektüre beendete.
Das war allerdings etwas ganz anderes, als fie erwartet
hatte — und fie mußte mehrere Stellen des Briefes zweimal
Wer wird fiegen? 2667
leſen, ehe fie wirklich daran glauben Tonnte, daß e3 ihr füg-
famer Freund, der willenloſe Sklave ihrer zaubermächtigen
Schönheit war, der jo zu ihr zu reden tagte.
Denn Erich von Brunned hatte gejchrieben:
„Liebe Doliy! Sch Habe Dich auffuchen wollen, um mit
Dir von Angeficht zu Angeficht über dieſe bitter erniten Dinge
zu reden. Aber an der Thür Deines Haufes bin ich zweimal
wieder umgekehrt, weil es mir an Mut gebradd. Und viel-
Yeicht nicht jo jehr an Mut als an Vertrauen in meine Kraft.
Sch wußte ja, welchen Berlauf alle unjere früheren Unter-
redungen über den nämlichen Gegenjtand genommen und wie
wenig ſelbſt meine feſteſten Vorſätze mich davor geſchützt hatten,
in ſchwächlicher Nachgiebigkeit Deinem Willen zu erliegen.
Diesmal aber könnte von ſolcher Nachgiebigkeit nicht mehr
die Rede ſein. Es wäre zu Deinem Verderben wie zu meinem.
Daß ich ſeit der Erkenntnis der unerbittlichen Notwendigkeit
noch mehrere Tage habe verſtreichen laſſen, ehe ich ſie Dir
offenbare, mag Dir ein Beweis dafür ſein, wie reiflich und
gründlich ich alles erwogen. Ich habe ſchwer gekämpft; aber
ich habe keinen anderen Ausweg aus dieſer Wirrnis finden
können als den, Dir Deine Freiheit zurückzugeben und die
meinige von Dir zu erbitten. Wir ſind in einem Irrtum
geweſen — beide, Du und ich — und wir müſſen uns aus
feinen Banden losmachen, ehe fie uns erdroſſeln. Sch ſehe
den zürnenden Blick Deines Auges, während e3 auf diejen
Beilen ruht, aber ich kann troßdem nichts zurüdnehmen von
dem, was ich gejchrieben. Ein verhängnisvoller Jrrtum war
e3, als ich mich ſtark genug glaubte, zu der Sorge um meine
eigene Zukunft noch die Verantwortung für ein anderes
Menfchenlos auf meine Schultern zu nehmen. Und jelbft
wenn heute nichts anderes zwilchen uns jtände als Dies,
müßte ich e3 für eine fträfliche Leichtfertigfeit Halten, die
Dinge in den bisherigen Geleifen weiter gehen zu lafjen.
Sch bin fein Künſtler — und auch wenn e3 mir gelänge,
mich noch einmal in die alten Illuſionen einzuwiegen, würde
dem erneuten Anlauf unfehlbar nur eine neue Enttäufchung
folgen. Mit meinem vermeintlichen Malerberuf iſt es vor-
2668 Reinhold Ortmann.
bei — für immer vorbei. Und die graufame Erfenntnis hat
mich jo viel von meinem Lebensmut und von meinen Lebens—
. hoffnungen gefojtet, daß ich an der Möglichkeit verzweifeln
muß, mir auf den Trümmern meiner zweimal zufammen-
gebrochenen Erijtenz nun zum dritten Male ein neues Dafein
aufzubauen. Wohin mein armjeliges Scifflein treiben wird,
ich weiß es nicht, und ich bin in meiner gegenwärtigen
Gemütsverfaflung nicht einmal fähig, darüber nachzudenken.
Wie dürfte ich mich da vermeſſen, noch länger ein anderes
Schidjal mit dem meinen zu verfnüpfen! Es wäre zugleich
Thorheit und Verbrechen. Mein Konto aber ift in dieſer
Hinficht wahrlich ſchon ſchwer genug belaftet, als daß ich die
Schuldfumme freventlich noch weiter vergrößern follte.
Vielleicht hätte ich mich damit begnügen follen, Dir Vor—
ftehendes al3 den einzigen Grund meines Entſchluſſes mitzu-
teilen. Aber Du haft ein Recht auf die ganze Wahrheit.
Und e3 foll in diefem entjcheidungsfchweren Augenblid nichts
Unausgefprochenes zwiſchen ung bleiben.
Wir müfjen und trennen, Dolly, nicht nur, weilich ein
trauriger Schwädhling bin, der ſich von den Wellen des Lebens
haltlos bald hierhin, bald dorthin werfen läßt, fondern aud),
weil ich e3 längſt verlernt habe, an die Wahrhaftigkeit Deiner
Liebe zu glauben. Das ift der andere Irrtum, der ung ver-
hängni3voll geworden ift — und diejer war augfchließlich
bei Dir. Deine vermeintliche Neigung für mich war von
allem Anbeginn nicht3 al3 eine Laune und ein Spiel — eben
gut genug, eine kurze Spanne Deine Daſeins angenehm
auszufüllen.
Früher oder ſpäter — deſſen bin ich gewiß — würdeſt Du
das Gefallen an diefem Spiel verloren und das langweilig ge-
wordene Spielzeug für immer beijeite geworfen haben, un⸗
-befümmert darum, wieviel Du an ihm zerbrochen und zerftört
hatteſt. Könnteſt Du mir zürnen, wenn ich mir in all dem un-
aufhörlichen Kämpfen und Unterliegen doc) noch einen winzigen
Reit von Selbitahhtung bewahrt hätte, der mir verbietet, ge-
duldig diefen Augenblid des Ueberdruſſes abzumwarten, und der
mich bejtimmt, mit feſtem Entſchluß — wenn auch vielleicht mit
bintendem Herzen — ein Band zu löſen, in deſſen Bejtändig-
Wer wird ftegen? 2669
keit ich fein Vertrauen mehr zu ſetzen vermag? Du wirft mir
die Anerkennung nicht verjagen können, daß ich ein gläubiger
und fügſamer Liebhaber geweſen bin, der ſich demütig von
Deinen wechlelnden Launen quälen ließ, jelbjt wenn e3 nur auf
Koiten feiner Manneswürde gejchehen fonnte. Sch habe Dir
rüdhaltlos mein ganzes vergangenes Leben offenbart und habe
mich nicht dagegen aufgelehnt, ala Du mir verboteft, dem _
Deinigen nachzuforschen. Sch habe den quälenden Zweifeln
Schweigen geboten, die Deine Zurüdhaltung immer auf3 neue
in mir wachrufen mußten, und ich habe wie ein Bettler von
den Brojamen der Zärtlichfeit gelebt, die Du mir hier und da
gnädig zu teil werden ließeſt, wenn Dein Wanfelmut, Deine
Kälte, Deine oft geradezu empörende Gleichgültigkeit mich bis
an den Rand der Verzweiflung gebracht hatten. Ich Habe
meine beiten Kräfte vergeudet in diefem graufamen Spiel, und
ich Habe darüber fchließlich den Boden unter den Füßen ver-
loren. Nun aber iſt's an der Beit, eine Ende zu machen, es
koſte mich, was es wolle. Sch gebe Dir Dein Wort zurüd,
und ich fordere von Dir ein Gleiches. Wir wollen verfuchen,
das Erlebnis diejes halben Sahres für einen aufregenden Traum
zu halten, der beglücdend und verheißungsvoll begonnen, um
mit dem wehmütigen Ausklang der Entjagung zu enden. Ohne
Groll und Bitterfeit wollen wir jcheiden, nachdem wir erfannt
haben, daß es uns durch äußerliche wie durch innere Gründe
verjagt ift, einander glücklich zu machen. Um Deine Zukunft
it mir nicht bang, denn Du befiteft ja das Zaubermittel, Dir
die Herzen der Männer unterthan zu machen, wo immer e3
Dir gefällt. Und Du wirft Dich feiner bald genug von neuem
bedienen, dejjen bin ich gewiß. Mögen denn Glück und Er-
folg Deine treuen Gefährten bleiben bis an das Ende Deines
Lebens. Uud möge feine läftige Erinnerung Dir je die Freude
am Genuß des Augenblid3 vergällen. Das ift der Wunfch,
mit dem ich mein leßtes Lebewohl begleite — ein Lebewohl
auf immer.
Willit Du mir antworten, fo mag e3 auf demjelben Wege
gejchehen, den ich für dieje Erklärung gewählt habe. Denn
ein nochmaliges Wiederjehen wäre wohl nur eine nubloje
Dual für ung beide. Aber auch Dein Schweigen würde eine
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2670 Reinhold Ortmann.
Antwort ſein, die ich zu deuten und mit der ich mich zu
beſcheiden weiß.
Dein unglücklicher Freund Erich von Brunneck.“
Der letzte Teil des Briefes war ſo unleſerlich geſchrieben,
daß Dolly Mühe gehabt hatte, ihn zu entziffern. Nun warf
ſie mit einem kurzen Auflachen, das ſicherlich nicht der Ausdruck
einer heiteren Gemütsſtimmung war, das Blatt zu Boden und
durchmaß ein paarmal mit raſchen Schritten das Zimmer.
Das wechſelnde Mienenſpiel ihres Antlitzes verriet, wie ſtürmiſch
hinter der weißen Stirn die Gedanken arbeiteten, und wie
ſchwer es ihr fiel, zu einem beſtimmten Entſchluß zu gelangen.
Da fiel im Vorübergehen ihr Blick auf den zweiten Brief,
deſſen Daſein ihr in der Aufregung über Erichs unerwartete
Abſage ganz aus dem Gedächtnis entſchwunden war. Und
jetzt zögerte ſie nicht mehr, auch ihn zu erbrechen. Die Mit-
teilung, die er enthielt, war im Gegenſatz zu jener langen
Herzensergießung ſehr kurz. Sie war in franzöſiſcher Sprache
abgefaßt und lautete:
„Ich rufe Dich heute zum letztenmal. Biſt Du binnen
einer Woche nicht hier bei mir in Zürich, ſo werde ich
kommen, Dich zu holen. Und verſuche nicht, mir zu ent—
ſchlüpfen. Wo immer Du Dich verbergen könnteſt, ich werde
Dich zu finden wiſſen. Und diesmal, das ſchwöre ich Dir,
würdeſt Du umſonſt alle Deine Künſte verſchwenden, mich
zu hintergehen.“
Der Brief zeigte weder eine Anrede noch eine Unterſchrift:
aber Dolly wußte gut genug, von wen er kam. Und ſie wußte
auch, daß der, der ihn gefchrieben, jehr wohl der Mann war,
feine Drohung zur Ausführung zu bringen. Wenn fie big
dahin noch im Zweifel geweſen war, wie fie ſich der Erklärung
Erich3 gegenüber zu verhalten habe, jo hatte der Lafonifche
Befehl, den ihr in demfelben Augenblick jener andere zufommen
ließ, mit einem Schlage ihrer Ungemwißheit ein Ende bereitet.
Sie ftellte ihre nervöje Wanderung durch das Zimmer ein,
riß beide Briefe in Stüde und zündete die in den Ofen ge-
worfenen Feen mit einem Streichholz an, das Zerſtörungswerk
Wer wird fiegen? 2671
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der züngelnden Flamme mit den Augen verfolgend, bis nur
noch ein winziges Häuflein ſchwarzer, kniſternder Aſche übrig
geblieben war.
Dann aber ging ſie in ihr anſtoßendes Schlafgemach und
kleidete ſich um, langſam und ſorgfältig, wie wenn es ihr heute
mehr denn je darauf anfäme, jchön zu fein. Wohl war es
nur ein einfaches Promenadenkoſtüm, das fie gewählt hatte;
aber das nad) engliſchem Schnitt gefertigte leid ſaß wie an-
gegoffen auf ihrem herrlich gebildeten Körper. Und als fie
nach Verlauf einer halben Stunde noch einmal vor den hohen
Toilettenfpiegel trat, um fich prüfenden Blides vom Kopf bis
zu den Füßen zu betrachten, durfte fie wahrlich vollfommen
zufrieden fein mit dem entzüdenden Bilde, das ihr die kryſtallene
Fläche zurücdwarf. Die heftige Gemütsbewegung hatte feine
entjteliende Spur in ihrem Antliß zurüdgelaffen, und das fieges-
gewiſſe Aufleuchten in ihren wundervollen Nirenaugen jchien
zu jagen: |
Jun wollen wir jehen, ob ich wirklich noch dag Bauber-
mittel befiße, mir die Herzen der Männer unterthan zu machen,
wann e3 mir gefällt.
Neunzehntes Kapitel.
Beim erjten Morgengrauen hatte Erich von Brunned
feinen zehnmal begonnenen und ebenſo oft wieder zerriffenen
Brief an Dolly beendet. Und auf der Stelle war er hinunter
gegangen, ihn in den Kaften zu werfen, als fürchte er, der
ſchwer erfämpfte Entjchluß könnte ihn wieder gereuen, wenn
er bis zum Anbruch de3 Tages mit jeiner Ausführung warte.
Nun war e3 gefchehen. Und feine erite Empfindung, als
das inhaltsjchwere Billet feinen Fingern entglitten war, glich
faft einem Gefühl freudiger Erleichterung, als jei ihm eine
ihwere Sorge vom Herzen genommen worden. Aber diefe
Regung ging ſchnell vorüber, und an ihre Stelle trat eine
dumpfe Gleichgültigfeit gegen alles, was nun noch weiter er-
folgen konnte. Es war jo wenig Furcht als Genugthuung,
was nach diefem entjcheidenden Schritt in feiner Seele zurüd-
geblieben war. ine öde, trojtlofe Leere war in ihm wie um
2672 - Reinhold Ortmann.
ihn her. Das fahle Grau des langjam heraufziehenden Winter-
morgens war ein getreues Abbild der Stimmung, die ihn be-
herrſchte.
| In jeine Wohnung mochte er nicht zurückkehren, denn er
wußte, daß er nun doch feinen Schlummer mehr finden würde.
Und was hätte er ſonſt da oben in feinem Atelier beginnen
jollen, jest, wo er auf Grund eigener Entichließung aufgehört
hatte, ein Maler zu fein, und wo er das Handwerkszeug der
Kunſt, in der er nach feiner Ueberzeugung zeitlebens nur ein
elender Stümper geblieben wäre, nicht ohne ein Gefühl der
Beihämung und des Widerwillens anjehen Fonnte!
Ohne die empfindliche, ja ſchneidende Morgenfälte zu jpüren,
ging er aufs Geratewohl durch die Straßen, in denen fich all-
gemach die Neußerungen neu erwachenden großftädtilchen Lebens
bemerflich machten. Und da er in feiner gegenwärtigen Gemüts—
verfaffung nicht Energie genug hatte, fich an irgend einem tröft-
fihen Vorja für die Zukunft aufzurichten, bejchäftigten feine
Gedanken ſich ausschließlich mit der Vergangenheit — mit diejer
Vergangenheit, die in Wahrheit jeßt hinter ihm zu liegen jchien
wie ein, wüfter, noch in der Erinnerung peinigender und be-
drüdender Traum. |
Denn er hätte fie faſt an den Fingern herzählen fünnen,
die Stunden reinen, ungetrübten Glüdes, die er jeinem Verlöbnig
mit Dolly zu danken gehabt. Und fie waren vorüber gegangen
wie eine Fata Morgana, ohne eine Spur zu binterlafjen;
während fich feiner Seele unauslöjchlich dag Gedächtnis ein-
geprägt hatte an alle die zahllofen Dualen und Bitternife,
deren Urjache jeine Leidenjchaft für die fchöne Kofette ge-
weien ar.
Uber e3 war, als hätten dieſe Erinnerungen jebt ihren
Stachel für ihn verloren. Obwohl der Brief, der feine Sflaven-
fetten zerbrechen jollte, noch nicht einmal in Dollyg Händen
war, jchien ihm doc die Zeit feiner Knechtſchaft ſchon meit,
weit zurüd zu liegen. Und er betrachtete da3 lange Martyrium
dieſes Verlöbnifjes jo fühl und nüchtern, als wäre er durch
ein halbes Menjchenleben von ihm getrennt.
Durfte er denn in Wahrheit Dolly allein verantwortlich
machen für alles, was er mährend dieſer legten Monate ge-
Wer wird ftegen? 2673
litten? Lag nicht ein großer, vielleicht jogar der größere Teil
der Schuld auch bei ihm? Und Hatte er ein Recht gehabt, die
Wahrhaftigkeit ihrer Liebe anzuzweifeln, ihr Launenhaftigfeit
und Wankelmut zum Borwurf zu machen, während fein Ge—
willen ihn nicht freifprechen fonnte von der Anklage, ihr in feinen
geheimjten Gedanken mehr als einmaldieTreuegebrochen zuhaben ?
Denn ihre Macht über ihn war nur dann eine völlig
ſchrankenloſe geweſen — da3 heiße Begehren nad) ihrem Beſitz
hatte mit elementarer Gewalt nur dann Beli von ihm ergriffen,
wenn fie förperlich) und lebendig vor ihm ſtand, wenn ihre
Schönheit ihn trunfen machte, wenn ihr lockendes Nirenlachen
und der Sirenenflang ihrer Stimme feine Sinne verwirrte.
Dann freilich hatte e3 für ihn auf der ganzen weiten
Welt nicht3 anderes gegeben als fie, Teine Seligfeit al3 die
Geligfeit in ihren Armen — und fein Unglüd als das Unglüd,
‚fie zu verlieren. |
Uber es war jedesmal nur ein Rauſch gewejen. Und
jedesmal war ihm die Ernüchterung gefolgt, wenn der Reiz,
der ihn hervorgerufen, nicht mehr auf Erich wirkte. Er hatte
ih manchmal geradezu vor dem Alleinjein gefürchtet, weil er
wußte, daß ſich in jolchen Stunden immer wieder ein anderes
Bild vor das Bild der Geliebten drängte, und daß zu allen
anderen Kämpfen und Wirrnilfen feiner vergebens nach) Ruhe
ringenden Seele fich auch noch diefer quälende Zwieſpalt gefellte,
der ihn an feiner eigenen Redlichkeit und Ehrenhaftigfeit zweifeln
machte. | |
Mit Feiner noch fo energifchen Anjtrengung des Willens
hatte er die ftändige Erinnerung an feine Coufine Magda aus
feinem Herzen bannen können. Und feine fophijtiich erflügelte
Rechtfertigung feines Verhaltens gegen fie hatte der Gemwißheit,
daß fie ihn verachtete, ihren bohrenden Stachel genommen.
Smmer reiner, immer verflärter hatte fich die Borjtellung
bon ihrer Perjönlichkeit und ihrem Wefen in jeiner Einbildung
gejtaltet. Er hatte fie feit jenem Bejuche in feinem Atelier
nicht wiedergejehen; aber e3 verging troßdem fein Tag und feine
Stunde, wo fie nicht greifbar deutlich vor ihm geftanden hätte,
ganz jo, wie fie an dem unglüdjeligen Morgen zum letztenmal
feinem leiblichen Auge erjchienen war.
Ju. Haus-Bibl. II, Band XII. 168
2674 Reinhold Ortmann.
Und er hatte jich nicht damit begnügt, nur an Ste zu denfen,
ondern er hatte zweimal den Verſuch gemacht, wieder eine Brüde
zu jchlagen über die Kluft, die fie von ihm trennte.
Aus ihrem durd) einen bloßen Zufall verjpätet eingetroffenen
Briefe, der ihm damals ihren Bejuch Hatte ankündigen jollen,
wußte er ja, wo fie fich befand. Mit einem gewiſſen freudigen
Stolz hatte fie ihm in jenem Schreiben mitgeteilt, daß es ihr
endlich gelungen jei, da3 Widerjtreben ihres Vormundes gegen
ihre Zufunftspläne zu bejiegen und jeine Einwilligung in eine
Wiederaufnahme ihrer unterbrochenen Studien zu erlangen. Es
ſei ihre Abficht, zunächft die noc) vorhandenen Lüden in ihren
Borkenntniffen auszufüllen und dann eine Schweizer Univerfität
zu beziehen, um fich durch ernites Fachſtudium für irgend einen
Lebensberuf tüchtig zu machen. Da fie fich doch niemals ent-
Ichließen würde, auf dem Lande zu leben, und da aud die
wirtichaftlichen VBerhältnifie auf dem von ihrem Vater ererbten
Gute nicht die beiten feien, Habe Herr von Rocholl ihrer Bitte
zugeltimmt, Oeſterhof für fie zu verfaufen, und fie werde alfo
in der Wahl ihrer Vebensaufgabe wie ihres fünftigen Aufenthalts
nicht mehr wie bisher durch die läftige Rückſicht auf dies Be—
figtum, das doch nur noch Schmerzliche Erinnerungen in ihr
hätte wachrufen fünnen, behindert fein. In Berlin, wohin fie
in Begleitung einer älteren Verwandten des Rochollichen Hauſes
fäme, wolle fie zunächft in einem ihr empfohlenen Benfionat
Wohnung nehmen, um jich dann ein pafjendes Unterfommen
in einer anjtändigen Familie zu fuchen. Sie freue jich herzlich
auf das Wiederjehen, hatte fie dieſen in ihrer gewohnten klaren
und phrajenlojen Weile gemachten Mitteilungen hinzugefügt,
und Sie hoffe, daß fie einander in ihren Arbeiten gegenjeitig
würden nüßlich und fürderlich fein können.
Shre Freude wie ihre Hoffnungen waren durch das, mas
jie bei ihrem Beſuche hatte wahrnehmen und erleben müfjen,
nun freilich gründlich zerjtört worden. Und Eric) Fannte ihren
Charakter gut genug, um zu willen, wie gering feine Ausficht
lei, fie zu verjöhnen. Aber er konnte die Vorjtellung nicht er-
tragen, daß Ste ihn für fchlechter und ehrlojer Hielte, als er’s
verdiente, und darım hatte er den Verſuch einer brieflichen
Aufklärung gemacht, die nach Möglichkeit auch feine Rechtfertigung
Wer wird fiegen? | 2675
- fein ſollte. Er hatte fie zugleich) um eine perjönliche Unter-
redung gebeten und um die Erlaubnis, fie mit feiner Braut
näher befannt zu machen. Aber Magdas Antwort hatte ihm
eine bittere Enttäufchung bereitet, denn fie war eine Ablehnung
gewejen in fühljter und bejtimmtelter Form. Er habe nicht
nötig, ſchrieb fie, fich ihr gegenüber zu verteidigen oder ihr
über fein Thun und Laſſen Rechenſchaft abzulegen; zur An-
fnüpfung neuer Belanntichaften aber fehle es ihr an Zeit wie
an Neigung, da fie ſich während ihres Berliner Aufenthalts
angejtrengter Arbeit zu widmen gedenfe.
Seine Bitte um eine Zufammentunft hatte fie überhaupt
feiner Erwiderung gewürdigt. Und wenn Eric) jich bis dahin
noch irgendwelche SUufionen Hinfichtlid). einer Ausſöhnung
- gemacht hatte, jo mußten fie durch den Inhalt und die Faſſung
dieſes Schreibens auf das unbarmherzigſte zerjtört werden.
Anfangs Hatte er denn auch in einer Aufwallung zornigen
Trotzes gemeint, e3 möge aljo in Gottesnamen alles zu Ende
fein zwijchen ihnen. Uber fein Troß hatte ihn nicht lange zu
wappnen vermocht gegen die nagenden Vorwürfe ſeines Gewiſſens
und gegen eine ſehnſüchtige Stimme in ſeinem Herzen, die
immer wieder nach einer Annäherung verlangte.
Ohne Vorwiſſen Dollys, der er auch von dem Brief⸗
wechſel kein Wort verraten, hatte er ſich einige Wochen ſpäter
in jenem Penſionat nach dem Verbleib ſeiner Couſine erkundigt.
Und dann war er viele Tage lang in den Abendſtunden, wenn,
wie er meinte, ſein häufiges Erſcheinen keine Aufmerkſamkeit
erregen konnte, durch die ihm bezeichnete Straße gewandert,
immer in der Hoffnung, daß ein glüdlicher Zufall Magda in
jeinen Weg führen würde.
Aber der Zufall war ihm nicht zu Hilfe gefommen, und
er Hatte fie nicht gejehen. Da, an einem Tage, der ganz
erfüllt gemwejen war von quälenden Herzensfämpfen und von
bitteren Zweifeln an der HBulänglichfeit feiner Fünftlerifchen
Talente, hatte er in untwiderftehlichem Verlangen nach) einer
mitfühlenden Menjchenfeele, der er ich ganz hingeben und
vertrauen dürfe, alle jeine bisherige Scheu von fich geworfen
und war ungeftüm pochenden Herzens in jenes dritte Stockwerk
168*
, Ti gruen — Tg" - 4 *
7
2676 Reinhold Ortmann.
emporgeſtiegen, wo nach den ihm gewordenen Mitteilungen
Magda wohnen ſollte.
Man hatte ihm geſagt, daß er recht berichtet ſei, und auch,
daß er ſie anweſend fände. Aber das Dienſtmädchen, dem er
ſeine Karte übergeben hatte, war nach Verlauf einiger banger
Minuten mit dem Beſcheide zurückgekehrt, Fräulein von Brunneck
müſſe bedauern, keinen Herrenbeſuch empfangen zu können und
laſſe, falls es ſich um etwas ſehr Wichtiges handeln ſollte, um
eine ſchriftliche Mitteilung bitten. |
Wie ein abgewiejener Bettler war er von dannen gegangen,
und ſeit jenem Tage hatte er feinen Verſuch mehr gemacht,
Magda zu verjühnen.
Aber die Sehnfucht nad) ihr war nicht auß feinem Herzen
gewichen. Sie hatte alle Eraltationen jeiner Leidenjchaft für
Dolly überdauert, und fie war niemals ftärfer geweſen ald an
diefem grauen Morgen, der ihm den jo wenig hoffnungsfreudigen
Beginn eines neuen Lebens bedeuten jollte. —
Ohne zu wiljen, auf welchem Wege er dahin gelangt war,
ah fid) Erih in der Straße Unter den Linden und vor. den
großen Spiegeljcheiben eines vornehmen Kaffeehauſes, deſſen Pforten
für die einer Erfriſchung bedürftige „Lebewelt“ die ganze Nacht
hindurch geöffnet waren. Er erinnerte ſich, daß er jeit geſtern
Mittag nichts genojjen habe, und trat ein, um an einem der
Marmortifchen in möglichit weiter Entfernung von der Straße
Platz zu nehmen. |
Tas Frühſtück, das ihm ein übernächtig.ausfehender Kellner
brachte, rührte er allerding8 auch jet nicht an, wohl aber griff
er mechaniſch nad) einem der Blätter, Die der dienjteifrige
Beitungsgroom neben ihn auf den Stuhl gelegt hatte.
Es waren die „Hamburger Nachrichten”, und fein Blid
fiel zuerft auf eine der mit zahllojen Anzeigen bedruckten Inſeraten—
jeiten. Gleichgültig, ohne zu wiljen, was er las, ließ Erich Die
Augen über da3 krauſe Durcheinander von Ankündigungen und
Geſuchen dahingleiten, bis fie an einer Annonce haften blieben,
die ihn um ihrer eigentümlichen Faſſung willen für einen Moment
interejlierte. Denn jie lautete:
„Geſucht werden tüchtige und arbeitöwillige Hilfskräfte,
möglichjt mit Kenntniffen und Erfahrungen im Ingenieurfach,
Wer wird fiegen? 2677
für ein neues induftrielle8 Unternehmen, deſſen Lage zur Zeit
die Zahlung größerer Gehälter noch nicht geitattet. Für ftellen-
loje Ingenieure, ehemalige Genieoffiziere uſw. bietet jich in—
dejjen hier die Möglichkeit, Durch Fleiß und rüdhaltlofe Hin—
gabe an eine ohne Zweifel ausfichtöreiche Echöpfung nach und
nad) eine günjtige und geachtete Lebensſtellung zu erringen.
Nur Reflektanten, die fich die dazu erforderliche Ausdauer zu=
trauen und die bereit ſind, ihre Anjprüche für den Anfang auf
da8 beicheidenjte Maß herabzujegen, wollen jich unter genauer
Angabe ihrer perjönlichen Verhältniffe und ihrer bisherigen
Zhätigfeit melden bei Asmus Chriftenjen, Hamburg, Rödings-
markt 67.”
Da hätten wir ja vielleicht etwas für mich! dachte Erid)
in bitterer Selbitironie. Der Mann, der feine Zeute mit ſchönen
Ausſichten auf eine nebelhafte Zukunft zu bezahlert gedenft, ſpeku—
fiert ja ganz unverkennbar auf jchiffbrüchige Exiftenzen meines
Sclaged. Und für das zweifelhafte induftrielle Unternehmen des
Herrn Asmus Chriftenjen würden meine Fähigkeiten am Ende
noch außreichen. —
„St 8 möglich? — Täuſchen mid) meine Augen nicht? Sie
find’8, Brunneck? Und Sie ftudieren den Stellenanzeiger wie ein
brodlojer Commis?“ Ä |
Erid war beim Klang der unangenehm jcharfen und
Ichnarrenden Männerjtimme betroffen zufammengefahren, und etwas
von dem Unbehagen, das ihm dieje Ueberrajchung bereitete, malte
fih ziemlich deutlih auf feinem Geſicht, aß er den Gruß
zurücgab:
„Guten Morgen, Herr von Gerftein! Sa, ich bin's wirklich
— und ih fam in der That zu feinem andern Zweck in das
Kaffeehaus, al3 um in den Beitungen nach einer paflenden Stel-
lung zu ſuchen.“
„Ad, Spaß!” lachte der andere. „Ein Mann wie Cie! —
Aber Sie erlauben doch, daß ic) mic) zu Ahnen jeße. Kellner,
einen Schwarzen! — War eine jcharfe Sigung heute Nacht, und
ohne jo einen Heinen Beitjchenhieb wollen die verflirten Nerven
ihre Schuldigfeit nicht mehr recht thun.“ -
Erich jah den ehemaligen Slameraden jeit der Nacht, die ihn
nad Magdas Willen jeinen Offiziersrock gefojtet hatte, heute
2678 Reinhold Ortmann.
zum -erjtenmal wieder. Und die Antipathie, mit der er fich feiner
erinnert hatte, fonnte faum verringert werden durch die Ver—
änderung, die mit dem früheren Offizier inzwiſchen vorgegangen
war. Sein Gejicht war noch hagerer und jchlaffer, feine Züge
noch ſchärfer geworden, und die unruhigen, ſtechenden Augen
lagen tief in den dunkel umrandeten Höhlen. Dieſer mit ſtutzer—
bafter Eleganz gekleidete Mann, in defjen Kravatte und an deſſen
feinem Finger rviefige Brillanten funfelten, war nur noch eine
traurige Menjchenruine, und man mochte e8 ihm ohne weiteres
glauben, wenn er darüber Hagte, daß jeine Nerven ihre Schuldig-
keit nicht mehr thun wollten.
Er go ſich ein Gläschen feinften Cognaks in jeinen Kaffee
und jtürzte haftig daS dampfend heiße Getränk hinunter. Dann,
nachdem er ſich eine friſche Cigarette angezimdet hatte, wendete
er fich wieder an Eric), der bis dahin fein Bedürfnis gefühlt
hatte, das Geſpräch fortzujeßen.
„Sie find nur borübergehend i in Berlin, nicht wahr? Wollen
jih in unjerer Reſidenz ein bißchen von der Langeweile des
Zandlebens erholen? Denn Sie haben doch wohl nach Ihres
Herrn Onkels Tode feine Befißung übernommen? Hätten ja jonjt
nicht die geringjte Veranlajjung gehabt, bunten Rod auszuziehen.“
„Doch — ich hatte eine andere Veranlaſſung dazu, Herr
von Gerſtein! Und ich habe meines Oheims Beſitzung nicht über-
nonmen, jondern ich lebe feit meiner Verabſchiedung dauernd in
Berlin.“
„Bon Shren Nenten — wie? Beneidendwerte Situation
für einen jo jungen Mann! Wundere mich nur, daß wir ung
noch nirgends begegnet ind. Iſt doch am Ende gar wi jo
groß, die Welt, in der man fich nicht langweilt.“
„Nein, aber ſie ift nicht die mieinige. Denn ic) befinde mid)
feinesweg3 in der angenehmen Lage, von meinen Renten zu leben,
ſondern muß jehr ernftlich darauf bedacht jein, mir durch Arbeit
meinen Lebensunterhalt zu verdienen.“
Herr von Gerjtein machte ein erjtauntes Geſicht.
„21H, es wäre alſo Ernit gewejen, was Sie da von Be—
ichäftigungfuchen oder jo 'was jagten? Sie wollen jich in Joch
ſpannen laſſen? Bielleicht gar von irgend einem jchmußigen
Plebejer?“
Wer wird fiegen? 2679
„sch hoffe, mir in jeder Thätigfeit meine Manneswürde
zu erhalten, Herr von Gerſtein!“
Der Andere überhörte die nachdrückliche Betonung dieſer Worte.
| „Pah, das find jchöne Illuſionen, mein Lieber! Nach meiner
‚Erfahrung giebt es gar feine unglüdlichere Kreatur als einen
verabichiedeten Offizier, der ums tägliche Brot arbeiten muß. Und
- wenn ich Ihnen einen freundjchaftlichen Nat geben darf, ift es
der, ſich auf Derartige aofnuungeioie Verſuche gar nicht erft
einzulafjen.“
„Und wovon, wenn ich fein Vermögen bejige, jollte ich
Ihrer Meinung nach mein Leben friften?“ |
Mit einem unangenehmen Auflachen lehnte ſich Gerſtein in
feinen Stuhl zurüd und betrachtete den ehemaligen Regiments—
fameraden mit jcharfem, lauerndem Blick.
„Das it allerdings eine Gewiſſensfrage, verehrter junger
Freund! Aber ich denfe, bei einigem Scharffinn könnte e8 Ihnen
gar nicht jo ſchwer fallen, ſelbſt die richtige Anttvort zu finden.
Sie brauchen doc nur die Augen aufzumachen und fi ein
bischen umzujehen. Wovon mögen wohl zum Beilpiel die beiden
gejchniegelten Jünglinge da drüben ihr Dafein früten? Sieht
man ihnen nicht den Börfenjobber auf hundert Schritte an? Und
läßt nicht ihr ausgezeichneter Ernährungszuftand darauf schließen,
daß fie ſich in Diefem mühelojen Berufe jehr wohl befinden?
Eh bien, weshalb ſoll man fi nicht ein Beilpiel an ihnen
nehmen?“
| „Für Börjengeichäfte fehlt es mir leider ebenfo jehr an den
nötigen Vorkenntniſſen als an jeglichem Talent.“
Herr von Gerſtein lachte wieder.
„Würden auch nicht weit Damit fommen gegen die Konkurrenz
bon dem Schlage da. — Aber Sie ind gar nicht jo naiv, mein
lieber Brunned, wie Sie fich jebt jtellen. Wifjen recht gut, was
ich meine. — Jeder nad) jeiner Erziehung und feinen Lebens—
gervohnheiten. Was für jene da die Börſe ijt, it für ung der
Rennplab und der grüne Tiih. Der eine Erwerb ilt jo legitim
wie der andere, denn Jeu it Jeu, ob man’3 num Differenzgejchäft
. nennen mag oder Baccarat. Habe ich nicht recht?“
„Aber man kann doch nicht von Spiel leben — kann doc
unmöglich jeine ganze Eriftenz darauf aufbauen.“
2680 Reinhold Ortmann.
nn
„Und warum nicht? Sit nicht ſchließlich jeder, der nicht wie
der Saul am Karren durch Leben geht, den Wechjelfällen des
Glücks unterworfen? Heute auf, morgen nieder — ein geichidter
Menſch fällt zulet doch immer auf die Füße. Und ich fenne
viele Berufsarten, die gefährlicher find al3 der Beruf eines Spielers
Noch einmal — wenn ich Ihnen als Freund und alter Kamerad
raten jo, fo kümmern Sie fi) den Teufel um die Annoncen da
und fallen die Sachen lieber von der philofophilchen al3 von der
moraliſchen Seite an! ch erkläre mich gern bereit, Sie für den
Anfang unter meine jchübenden Sittiche zu nehmen, und wenn
Sie wollen, machen wir biß auf mweitered gemeinjchaftliche Sache.
Sie haben doch au ihrer Leutnantszeit und von Ihren fonftigen
geiellichaftlichen Verbindungen her hier gewiß viele Belfannte,
die Sie in unjeren Kleinen @irfel einführen können. Dafür,
daß fie ihn etwas erleichtert verlaffen werden, will ich dann
ſchan jorgen.“
Die Nöte der Scham und der Entrüftung brannte auf
Erichs Wangen. -
„Das heißt, ich jollte Shnen als Schlepper dienen, Herr
von Gerjtein?“
Der andere aber gab dem Unwillen, der in Diejer Frage
zitterte, eine falſche Deutung.
„Dit, mein Beiter! Dergleichen denft man ı vielleicht, aber
man Ipricht ed nicht aus. Wir find doch Feine Bauernfänger,
jondern ehrliche Leute. Und es ift feine Gefahr bei der Sache,
dafür jtehe ich Ihnen ein.“
Unfähig, ſich länger zu beherrichen, hatte Erich fich erhoben.
„Trotzdem haben Sie ſich mit Ihrem freundjchaftlichen Vor—
ihlag an den Unrechten gewendet. Ich jollte mich durch Ihre
abjcheuliche Zumutung beleidigt fühlen; denn ich habe Ihnen
niemals ein Recht gegeben, mich in dieſem Sinne für Ihres—
gleihen zu halten. Aber Sie werden die Gründe verjiehen, aus
denen ich auf jede Genugthuung oder jede weitere Erörterung
verzichte.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er davon, während
Herr von Gerſtein ihm erſt verblüfft nachſchaute, um dann mit
zitternder Hand fein Cognakgläschen aus der geſchliffenen Glas—
karaffe noch einmal zu füllen.
Wer wird fiegen? 2681
Beſchämt und erniedrigt durch das, was er joeben hatte über
fih ergehen laſſen müfjen, jchritt Erich in finfterjter Yaune dent
Brandenburger Thor zu, um auf den verichneiten Wegen des
Tiergartens die Einſamkeit zu juchen, nad) der es ihn verlangte.
Bald genug war es denn auch ganz jtill um ihn her. Aber als
er in eine der Alleen einbog, die nad) den „Zelten“ führen,
Ihlug eine mwehleidige, weibliche Stimme an fein Ohr:
„Ah, Lieber Herr, haben Sie Mitleid mit mir! Ich bin
jo ſchwach, daß ich mich faum noch auf den Füßen Halte.“
Er blidte zur Seite und gewahrte, auf eine Bank gefauert,
die Geſtalt einer dürftig gekleideten, ältlihen Frau, die ihm ihre
zitternde, runzlige Hand entgegenjtredte und aus entzündeten,
glanzlofen Augen flehend zu ihm auflah.
Er griff in die Tajche, um nach einer kleinen Münze zu
Juden. Da er aber nur größere Goldftüce zwijchen den Fingern
fühlte, jeßte er feinen Weg fort, ohne der Bettlerin ein Almofen
gegeben zu haben. Ein paar unverftändliche Worte und einige
unarfifulierte Laute Eangen hinter ihm drein — jeltiame, be-
ängftigende Laute, die ihn unter anderen Umjtänden gewiß ver-
anlaßt haben würden, den Kopf zu wenden.
Sn dieſem Augenblick aber hörte er fie nicht, wollte er fie
nicht hören. Ein ſchiffbrüchiges Menfchendafein mehr — mas
weiter! Dieje Alte, die all ihren Sammer vergefjen haben würde,
jobald die Großmut eines Vorübergehenden fte in den Stand ge-
fett hätte, jich für einen Grojchen Branntwein zu kaufen, fie war
vielleicht jogar noch beffer daran al3 er, für den es fein Mittel
gab, die quälenden Vorwürfe ſeines Gewifjens zu betäuben. Auch
ſie hatte ſich ihr Schickſal wahricheinlich jelbjt bereitet; mochte fie
denn damit fertig werden, jo gut ſie fonnte, — ganz jo, wie er
ohne eine8 Menschen Beiltand mit dem jeinigen würde fertig
werden müſſen! —
Aber das jonderbare, verzweifelte Stöhnen der Bettlerin,
das er geflifjentlich hatte überhören twollen — er hatte es nod)
immer im Ohr, auch als er längft in einen der Nebenwege ein—
gebogen und um viele hundert Schritte von der Bank des alten
MWeibes entfernt war. Es verfolgte ihn unabläſſig, wie energijch
er auch bemüht war, an etwas anderes zu denken. Und es ließ
ihm feine Ruhe, bis er nach Verlauf einer Vierteljtunde, wie von
2682 Reinhold Ortmann. .
einer unmiderjtehlichen Macht dazu gezwungen, halb gegen jeinen
Willen umfehrte und die Allee wieder aufjuchte, in der er ſo—
eben die erſte wirklich hartherzige Handlung jeined Lebens be=
gangen. | |
Aus eigener Entfernung jchon nahm er wahr, daß die Frau
nicht mehr allein war. Eine andere weibliche ©ejtalt ſtand neben
der. Bank, halb über die Sitzende herabgeneigt und anjcheinend
mit ihr beichäftigt. Auch al3 er jchon ganz nahe gefommen war,
fonnte er ihrer gebeugten Haltung wegen das Geficht der Dame
nicht erfennen. Er jah nur, daß fie von ſchlanker, jugendlicher
Figur und ganz in Schwarz gekleidet war wie eine Trauernde.
Aber er ſchämte jich im innerjten Herzen feiner vorigen Teil-
nahmloſigkeit und bejchleunigte die Schritte, um mwenigitens jeßt
jeinen Beiftand anzubieten, fofern man von demſelben noch Ge—
brauch machen fünnte.
„Verzeihen Sie, mein Fräulein — aber wenn ich hier von
irgend welchem Nutzen ſein kann —“
Das Wort erſtarrte ihm im Munde, als die Angeredete
ſich nach ihm umwandte, um kühl und befehlend, ohne jeden
Anflug von Ueberraſchung zu erwidern:
„Ja — du kannſt dich nach einem Schutzmann umſehen,
der ſich dieſer Unglücklichen annimmt und ſie in ein Kranken—
haus ſchafft. Denn ich fürchte, ſie ſtirbt mir ſonſt unter den
Händen.“
„Magda —“ ſtammelte er, noch ganz benommen von dem
Unerwarteten diejer Begegnung. Und er machte einen Verſuch,
ihre Hand zu ergreifen. Ihr Stirnrunzeln aber ließ feinen
erhobenen Arm wieder herabſinken, und im nächiten Moment
ſtürmte er davon, in der Richtung nach der Charlottenburger
Chaufjee, mo er am eheiten hoffen durfte, einen der im Fall
der Not jo ſchwer auffindbaren Wächter der öffentlichen Ord-
nung anzutreffen. Das Glück war ihm günftig, denn jchon
nach wenig Hundert Schritten ſah er die Helmjpigen zweier
auf ihrem Batrouillengange befindlichen Schußleute in einiger
Entfernung zwilchen dem kahlen Strauchwerf aufblinfen. Er
rief fie an und unterrichtete jte mit furzen Worten über den
Fall, der ihr Eingreifen nötig mache. Zwar leijteten die beiden
Beamten feiner Aufforderung Folge; aber jie hatten es nicht
Wer wird fiegen? | 2683
fonderlich eilig, und als fie der Erfanften anfichtig wurden,
meinte der eine von ihnen:
„Ra, wegen der Landitreicherin hätten Sie ſich nicht jo
viel Mühe zu geben brauchen, Fräulein! Die ift' einfach be-
trunfen. Und ob fie ihren Rausch hier ausfchläft oder auf der
Polizeiwache, ift am Ende ziemlich einerlei.“
Magda drehte fich nach ihm um, und aus ihren fchönen,
ausdrudsvollen Augen flammte die Entrüftung.
„Rein, es ijt nicht einerlei!” ermwiderte fie. „Die Frau ift
ſchwer krank und jedenfalls vollitändig erfchöpft. Sie bedarf
dringend ärztlicher Hilfe, und Ihre Pflicht ift es, fie ihr zu
verſchaffen.“
Der energiſche Ton, in dem ſie zu ihm ſprach, ihre vor—
nehm gebieteriſche Haltung und die Diltinktion ihrer ganzen
Erfcheinung blieben nicht ohne Eindrud auf den Beamten.
Er neigte fich über die leife ächzende Frau, die offenbar gar
nicht3 mehr wahrnahm von dem, was an ihr und um fie her
geſchah, und gab feinem Kameraden einen Winf.
„Bir wollen fie zur Wache jchaffen,“ meinte er, „da wird
man jchon herausfinden, was e3 mit ihrer ſchweren Krankheit
auf ſich hat.“
„Nein,“ beharrte Magda mit Entſchiedenheit, „ich verlange,
daß Sie die Frau unverzüglich zu einem Arzt oder in ein
Krankenhaus bringen. Ich bin gern bereit, die Droſchke zu
bezahlen.“
„Sie verſtehen ſich ja ausgezeichnet aufs Kommandieren,
mein Fräulein!“ lachte der Schutzmann. „Aber vielleicht haben
Sie recht. Und wenn Sie für die Auslagen aufkommen
wollen, fahre ich die alte Frau auch in Gottesnamen gleich
zur Charite, . |
Magda hatte ihr fleine3 Portemonnaie jchon in der Hand,
und als Erich, der beihämt und unthätig beijeite gejtanden
hatte, Miene madte, ihr mit der Bezahlung zuvorzufommen,
wies fie durch einen jtrengen Blick jeine Einmiſchung zurüd.
„Hier ijt mein Name und meine Adreſſe,“ ſagte fie, indem
fie dem Beamten ihre Vifitenfarte zugleich mit einem Goldftüd
überreichte. „Ihre Behörde mag mir der Ueberſchuß zurüd
eritatten, wenn e3 nicht des ganzen Betrages bedürfen jollte.“
2684 Reinhold Ortmann.
Die Schugleute faßten die wimmernde Bettlerin unter den
Armen, um fie jo glimpflic” wie möglich bis zum nächiten
Drofchtenitandplaß zu transportieren. Magda blidte ihnen eine
Heine Weile nach; dann wandte fie fich nach der entgegen=
gejegten Richtung, ohne Erich, defjen Augen unverwandt an ihr
hingen, auch nur eine Blickes zu würdigen.
„Willſt du mir nicht wenigſtens gejtatten, dir einen guten
Tag zu wünſchen, Magda?“ fragte er. „Oder verachteſt du
mich jo tief, daß du es nicht einmal über dich gewinnft, mir
deine Hand zu reichen?”
„Wenn dir jo viel daran gelegen iſt — —“ Mit einer
Bewegung, die fait Fränfender war als es eine Weigerung ge
wejen wäre, bot jie ihm die jchmale, behandichuhte Rechte, um
fie nach flüchtiger Berührung fogleich wieder zurüdzuziehen.
„Aber du mußt mid) entjchuldigen. Sch habe mich hier ſchon
länger aufgehalten, als meine Zeit es gejtattet.”
Doc er war feit entjchloffen, fich die Gelegenheit zu einer
Ausſprache diesmal nicht wieder entichlüpfen zu laffen. Und
al3 ſie rajhen Schritte ihren Weg fortießte, wie jemand, der
e3 wirklich jehr eilig bat, blieb er an ihrer Seite.
„Du Halt es abgelehnt, meinen Bejuch zu empfangen,
Magda, und haft mir damit jede Möglichkeit einer Rechtfertigung
abgejchnitten. Nun aber mußt du mich hören. Ich kann ein
Verhältnis, wie es jebt zwiſchen uns bejteht, nicht länger
ertragen.“ |
„Und was jollte deine fogenannte Rechtfertigung, auf die
ich gar feinen Anjpruch habe, daran. ändern? Wenn es dich
beruhigt, zu hören, daß ich dir nicht böfe bin und daß ich dir
von Herzen alle8 Gute wünjche, jo will ich e8 hiermit aus—
geiprochen haben. Aber ich bitte dich, mich dann auch nicht
weiter zu quälen. Wozu joll uns eine Auseinanderjeßung
frommen, die da8 Vergangene aufmwühlt, während wir es viel
bejjer ruhen lafjen!“
„Du biſt jehr unbarmherzig für ein junges weibliches
Mejen. Sind ed denn nur alte Zandjtreicherinnen, die dein
Mitleid wachrufen können?“
Mit ernſtem Blick ſah ſie zu ihm auf.
„Ich Hoffe, Erich, daß es nicht mein Mitleid -ijt, an das
Wer wird fiegen? 2685
du dich wenden wollte. Du — ein Mann — an das Mit-
leid eines Mädchens!”
„Vielleicht würde ich feiner anderen eingejtehen, daß es jo
iſt. Vor dir aber will ich mich bereitwillig demütigen, wenn
ed mir damit nur gelingt, deine Verzeihung zu erhalten. Sa,
id) brauche eine teilnehmende, mitleidige Menjchenjeele —
jemanden, der mich vor mir felber rettet. Siehſt du denn nicht,
Magda, wie elend ich bin?“ Ä
„So offenbare Dich deiner Braut, und laß fie Deine
Netterin fein. Sie ift doch wohl die Nächite dazu, wie ich denke.“
„Rein, jie wäre die Lebte dazu gewejen, auch wenn fie
noch ein Recht hätte auf den Namen, den du ihr da giebt.
Aber mein Verlöbnis beiteht nicht mehr. Heute — in Ddiejer
Nacht — habe ich es gelöjt.”
Wenn er gehofft hatte, fie durch diefe Erklärung milder
zu ftimmen, jo fah er fich ſchmerzlich enttäuſcht. In ihren
Augen jprühte e8 vielmehr auf wie zorniger Unwille, und der
harte Zug, der fo jchlecht zu der jugendlichen Weichheit ihres
Antlites ftimmte, erichien wieder an ihren Mundiwinfeln.
„Ah — und deshalb mwillft du mic, deines Vertrauens
würdigen? Deshalb Hoffteft du, bei mir heute ein willigeres
Ohr zu finden für deine jogenannte Rechtfertigung! Aber du
beurteiljt mich falſch. Sch weiß nicht, aus welchen Gründen
du deine Verlobung gelöft haft, und ich will es nicht wiſſen.
Denn unjere Lebensanjchauungen find jo himmelweit bonein=
_ ander verjchieden, daß ich dir in meinem Urteil wahrjcheinlich
unrecht tun würde, nur, weil es mir nicht gegeben ift, mic)
in deine Denkungsweiſe hineinzufinden. Wir werden ung nie
veritehen, Erich, und darum ift es befjer, wenn wir nicht erit
den Verſuch machen, und zu veritändigen. Ich fühle nicht
mehr den Beruf in mir, deine Vertraute oder deine Retterin
zu werden.“ . |
„Da3 heißt, du glaubft nicht mehr an den Ernſt meiner
Vorſätze und an meine Kraft, fie durchzuführen?“
„Nein,“ ſagte fie feit, und ohne auch nur eine Sekunde
lang mit ihrer Antwort zu zaudern. „Ich glaube nicht
daran. Und du jollteit auch willen, weshalb es nicht anders
jein kann.“
2686 Reinhold Ortmann.
„Dann allerdings muß ich wohl die Hoffnung aufgeben,
dich zu verjühnen. und das alte freundichaftliche Verhältnis
zwilchen ung wieder herzuſtellen. Aber du thuft nicht recht
daran, Magda, mich heute fo von dir gehen zu laſſen. Und
leicht genug Fönntelt du eines Tages deine Härte bereuen.“
„Wer ſelbſt hart genug ift, um ungerührt an einem ber-
zweifelnden Mitmenjchen vorüber zu gehen — hat der ein Necht,
ih über die Mitleidlofigfeit anderer zu beflagen? Und nun
noc einmal, Erich, laß es genug jein diejer Erdrterungen, die
ebenjo peinlich wie zwecklos find. Vielleicht, wenn du mir eines
Tages beweilen kannſt, daß du ein Mann geworden bift, mag
es zwiſchen und wieder werden, wie es einjt gewejen. Bis
dahin aber bleibt es am beiten bei dem jeßigen Zuſtande. Du
findet wohl andere, die dir bejjer al ich bieten fünnen, wonach
es dich verlangt.“
Sie war stehen geblieben, zum Zeichen, daß fie ſich hier
von ihm zu verabichieden wünſche. Und er verjuchte nicht
länger, ihr feine Gejellichaft aufzudrängen. "Seitdem ihre
bitteren Worte ihm verraten hatten, daß ſie fein Herzlojes Be—
nehmen gegen die kranke Bettlerin beobachtet Hatte, wußte er
ja, daß es ein vergebliche8 Bemühen bleiben würde, fie umzu=
ſtimmen. Er verjtand, daß Ste ihn jegt nicht nur für leichtfertig,
wanfelmütig und wortbrüchig, jondern auch für jchlecht halten
müfje. Und er war fehr geneigt, ihr in diefem Verdammungs—
urteil rückhaltlos zuzuſtimmen.
Ohne eine Erwiderung auf ihre letzten Worte lüftete er
ſeinen Hut.
„Lebe wohl, Magda!“
Nun zauderte ſie doch. Etwas im Ausdruck ſeines Ge—
ſichts und im Klang ſeiner Stimme mochte ſie ſtutzig machen.
Aber die kleine Anwandlung von MER ging ſchnell
vorüber.
„Lebe wohl, Erich!” gab fie zurüd.
Und ohne einen lebten Händedrud gingen fie nach ent=
gegengejebten Richtungen auseinander.
Wer wird ftegen? 2687
Zwanzigſtes Rapitel.
E3 war Mittag geworden, als Erich, zum Tode ermüdet
und doch mit jagenden Pulſen, endlich feine Wohnung wieder
betrat. Er hatte die legten Stunden jeit feiner Verabſchiedung
von Magda in der eriten beiten Weinftube zugebracht, die er
auf feinem Wege gefunden. Aber, wenn er gehofft hatte, mit
dem feurigen Rebenblute Vergefjen oder neuen Lebensmut zu
trinken, jo war es ein jehr thörichtes Unterfangen geweſen.
Denn ſeine Stimmung war nur Düjterer und troſtloſer ge—
worden mit jedem Ölaje, das er unter Empfindungen des Ekels
über jich jelbit hinabgeſtürzt. Und er befand jich jebt gerade
in der rechten Gemütsverfaſſung, irgend etwas Verzweifeltes
zu beginnen.
Es ſchien, — die Haushälterin, die ihm geöffnet hatte,
Willens geweſen ſei, ihm eine Mitteilung zu machen. Aber
ſeine haſtig abweiſende Geſte und ein Blick in ſein erſchreckend
verändertes, verſtörtes Geſicht hatten ſie betroffen verſtummen
laſſen. Erich warf Hut und Mantel auf dem Vorplatze von
fih und trat in das Wohnzimmer, das ihn: hier zugleich als
Atelier gedient hatte.
Das zerichnittene Gemälde, von dem die Leinwand in langen
Sehen herabhing, jtand noch auf der Staffelei, und in wülter
Unordnung lagen jeine Malgerätichaften umher; denn er hatte
der Haushälterin ausdrüdlich verboten, irgend etwas anzurühren.
Angewidert durch den trojtlofen Anblick blieb er nach den erjten
Schritten jtehen. Da ließ ein Geräufch Hinter feinem Rücken
ihn erjchroden zufammenfahren. Er drehte fih um und ah in
Dollys reizendes Gelicht.
„Du — du hier?“ ftieß er hervor. „Du haft aljo meinen
Brief nicht erhalten ?*
„Wäre ich Hier, wenn ich ihn nicht erhalten hätte?” gab
‘fie zurüd, jo weich, jo demütig und unterwürfig, daß er das
Opfer einer Sinnestäufchung zu fein glaubte. „Konnteſt du
denn im Ernſt eine andere Antwort erwarten al3 dieje?“
Beim erjlen Ton ihrer Rede fühlte er, wie er wieder an
ihn heranjchlich, diefer ſchmeichleriſch füße, firenenhaft lockende
Bauber, der von ihrer Holden Perfönlichkeit ausging wie von
2688 Reinhold Ortmann.
σ,
der wunderthätigen Fee im Kindermärchen. Und er fühlte auch,
daß er niemals weniger als in dieſem Augenblick gerüſtet ge—
weſen ſei, ihm zu widerſtehen.
Aber er wollte nicht unterliegen. Und im Bewußtſein
ſeiner Schwäche nahm er ſeine Zuflucht zu einer erkünſtelten
Brutalität. |
„Du hättet dir und mir die nublofe Aufregung erſparen
ſollen!“ jagte er rauh. „Hatte ich mich) denn noch immer nicht
deutlic) genug ausgeſprochen? Und fann dir wirklich jo viel
daran liegen, daß ich dir's ins Geficht hinein wiederhole?“
„Kein. Es war an dem einen Mal genug, um mir mein
Unrecht zum Bewußtfein zu bringen. Und nur um deine Ber-
zeihung zu erbitten, bin ich gefommen.“
„Meine Verzeihung?“ wiederholte er mit einem harten
Auflahen. „Was it daran gelegen? Aber es fommt mir
durchaus nicht darauf an, fie dir zu gewähren, wenn e3 jonit
nicht3 iſt, was du verlangit. Denn etwas anderes darfit
du von mir nicht mehr erwarten. Du fiehft ja, ich bin ein
Bettler.“
„Am fo beifer, wenn du es bift. Haft du Hier nichts mehr
aufzugeben und nicht zu verlieren, jo gehörit du fortan nur
um jo gewiller mir allein. Und jest erſt werde ich dir in
Wahrheit fein können, was du jo lange vergeblich in mir ge-
jucht, deine treue Gefährtin und hingebende Bundesgenojjin im
Kampf mit dem feindlichen Leben.“
„Was heißt das?“ fiel er ihr in die Rede. „Worauf ſoll
das nun wieder hinaus? Du glaubjt vielleicht, daß ich über-
treibe, daß ich mich Hinter eine lügnerifche Phraſe verichanze,
um mich deiner zu entledigen? Uber ich jchwöre dir, Dolly:
es ijt mir bitterer Ernjt geweſen mit jedem Wort, das ich dir
gejchrieben. Sch bin Fein Künftler, bin es niemals gewejen.
Und ich tauge wahrjcheinlich zu irgend einem anderen ordent-
lichen Beruf ebenjo wenig wie ich zum Soldaten und zum Maler
taugte. Es find erit ein paar Stunden vergangen, jeitdem mir
einer meiner ehemaligen Freunde, der fih recht und jchlecht
al3 gewerbsmäßiger Spieler durchs Leben jchlägt, den mohl-
gemeinten Borjchlag machte, ihm gegen einen angemefjenen
Beuteanteil die Dienfte eines Gehilfen und Gimpelfängers zu
Wer wird ftegen? 2689
leilten. Der Mann war ohne Zweifel ein Menfchenfenner und
veritand fich darauf, Leute meines Schlages zu beurteilen. Ich
denfe, daß ich gut hun werde, jein Anerbieten in ernitliche Er-
wägung zu ziehen.“
Dolly hatte ihn ausreden laſſen; aber al3 er geendet, eilte
fie auf ihn zu und fchlang troß feines Widerſtrebens ihre Arme
um feinen Naden.
„Mein armer, armer Freund! Wenn ich doch früher ge-
ahnt hätte, wie es in deinem Herzen ausfieht! Dann wäre ja
dies alles nicht nötig gewejen — und wir fünnten längjt voll-
fommen glüdlich fein.“
„sch veritehe dich nicht!" ſagte er unficher. „Was wäre
nicht nötig gewejen! Und wie hättejt du e3 anfangen wollen,
mic glüdlich zu machen, wenn dir mein Seelenzuftand früher
befannt gemwejen wäre?“
„Aber Haft du denn niemals geahnt, du thörichter Mann,
daß ich bei diefem fogenannten Spiel mit deinen Empfindungen,
aus dem du mir in deinem Briefe einen jo bitteren Vorwurf
machſt, noch unendlich viel mehr gelitten als du? Daß ich mir
immer wieder Gewalt anthun mußte, um dir hinter jcheinbarer
Zaunenhaftigfeit und erheuchelter Kälte zu verbergen, wie heiß,
wie glühend heiß ich mich nach dem Augenblick unjerer endlichen
Bereinigung jehnte!“
„Und da3 joll ich dir glauben, Dolly? Welche vernünftige
Urſache hätteſt du dafür gehabt, eine fo graujame und gefähr-
lihe Komödie zu ſpielen?“
„Die triftigite von der Welt, mein Freund! ch mußte
den Wünſchen meines eigenen Herzens Zügel anlegen, weil ich
dir hier in Deutjchland al3 dein rechtmäßig angetrautes Weib
nicht hätte gehören dürfen.” —
„Das find immer neue Rätjel. Du hätteſt hier in Deutich-
land mein Weib nicht werden dürfen?“ fagit du. „Was aber
hätte den entgegen gejtanden? Der Widerjtand deiner Familie
etwa — diejer Familie, die fich längſt von dir losgeſagt hat
und die darum faum noch ein Recht bejißt, über dein Schidjal
zu bejtimmen? Das wäre doc wahrlich fein unüberwindliches
Hindernis geweſen?“
JU. Haus-BibL IL, Band XU. 169 _
2690 Reinhold Ortmann.
„Es ift nicht der Widerftand meiner Jamilie allein, Erich,“
flüfterte fie, ihr Geficht verihämt an feiner Schulter bergend.
„Aber e3 giebt ein Geheimnis in meinem Leben, das über
meinem Haupte jchwebt wie ein ewig drohendes Verhängnis.
Und dies Geheimnis war es, das mich bis heute gehindert hat,
dich glücklich zu machen.“
„Bis heute nur? Du haſt dich alſo entſchloſſen, es mir
zu offenbaren?“
Dolly ſchüttelte den Kopf; aber als Erich daraufhin eine
unmwillige Bewegung machte, jchmiegte fie fich nur feiter an
jeine Bruft.
„Du mußt an mic) glauben, Geliebter!” hauchte fie. „Es
iſt nicht3, das mich deiner unwürdig machte — ich ſchwöre e3
dir bei allem, was mir heilig und teuer ift auf Erden. Aber
ich darf es dir nicht fagen — heute noch nicht. Erit an dem
Tage, da wir Mann und Frau jein werden, brauche ich Dir
nicht8 mehr zu verbergen.”
„Und wie jollte diefer Tag jemals erjcheinen, da noch, wie
du ſagſt, unſrer Vereinigung unüberwindliche Hinderniſſe ent—
gegenſtehen?“
„Wir können uns nicht hier in Deutſchland trauen laſſen.
Aber die Welt iſt groß, und wir werden überall wohl auf—
gehoben ſein, wo wir miteinander glücklich ſein dürfen. Begreifſt
du nun, weshalb ich deinen Entſchluß, auf die Fortſetzung
dieſer Künſtlerlaufbahn zu verzichten, viel mehr mit Jubel als
mit Betrübnis vernommen habe — und weshalb es nichts
Schreckhaftes für mich hat, wenn du dich für einen Bettler
hältſt? Nun giebt es ja nichts mehr, das dich an die deutſche
Erde feſſelt. Wir werden uns ein neues Leben zimmern —
drüben, jenſeits des Ozeans, in einem freien, glücklichen Lande,
wo keine hemmenden Vorurteile ſich uns entgegenſtellen und wo
wir nicht die Vergangenheit wie eine Kette mit uns herum—
ſchleppen. Iſt es nicht eine herrliche, eine berauſchende Aus—
ſicht, Liebſter? Und kannſt du dich nur einen Augenblick bedenken,
all dies Häßliche und Bedrückende abzuwerfen, das dir hier das
Leben verbittert hat und weiter verbittern würde?“
Der Strom ihrer Nede flutete über ihn dahin wie eine
ſüße Muſik, der er Ohr und Herz nicht verjchließen fonnte, wie
Wer wird fliegen? 2691
eindringlich auch die warnende Stimme der Vernunft ihn dazu
mahnen wollte Vielleicht hätte er vor den Erlebniſſen des
heutigen Morgens noch Kraft genug gehabt, der holden Ver—
führerin zu widerjtehen; die Unterhaltung mit dem ehemaligen
Kameraden aber, und vor allem ver beichämende Verlauf feiner
Begegnung mit Magda Hatten ihm fo ganz allen Glauben an
ich felbft und an jeine Zukunft geraubt, daß ein Ausblid, wie
Dollys Leidenjchaftlich zärtliche Beredfamfeit ihn vor jeine
Geele zauberte, auf ihn wirken mußte wie ein himmlijches
Wunder.
Wenn e3 Wahrheit werden könnte, was fie da ausmalte!
Wenn er in einer anderen Umgebung, unter völlig neuen Ber-
hältnifjen, losgelöjt und unabhängig von allem, was ihn bier
einengte und behinderte, doch noch den rechten Weg fände, den
er nach jeiner lebten großen Enttäufchung hier nirgends mehr
fich öffnen fah! Es war eine zu verlodende Hoffnung, als daß
jeine lebensdurftige Jugend fich nicht jogleich hätte an fie an-
klammern jollen, allen Einwendungen des zweifelnden Verjtandes
zum Troß.
Dolly Hatte ihn neben ſich auf das Sofa niedergezogen,
und ohne feine Hand aus der ihrigen zu laljen, ſprach fie
. weiter — raſch, lebhaft, mit. einer Klarheit und Beitimmtheit,
die etwas wunderjam Ueberzeugendes hatten. Denn für fie gab
e3 nicht3 Ungewiſſes und HZweifelhaftes mehr in Bezug auf
da3, was nun weiter gejchehen würde. Sie hatte einen fertigen
Plan mitgebracht, und fie entwidelte ihn bis in alle Einzelheiten
mit einer fieghaften Zuverficht, die alle Einwendungen und Be-
denken im Keime erfticte.
Sobald wie möglich wollten fie Berlin verlafjen, um fich
in Helgoland trauen zu laffen und dann von dort auß Die
Reife nach Amerika fortzujegen. Ihr erites Ziel würde natür-
lich New-York jein; aber e3 lag keineswegs in Dollys Abficht,
dort zu bleiben.
„SH Habe mir immer gewünjcht, irgendwo im Weſten
der Bereinigten Staaten zu leben,“ plauderte fie. „Ein Ver—
wandter unjere® Haufe, der ein ganze Menfchenalter in
Colorado zugebracht hatte, pflegte und das dortige Leben in jo
verlodenden Yarben zu fjchildern, daß ich ſchon als Badfild)
169*
2692 Reinhold Ortmann.
eine unbezwingliche Sehnſucht hatte, dahin zu kommen. Wir
werden uns natürlich das ſchönſte Plätzchen ausſuchen, das wir
auf unſerer großen Hochzeitsreiſe entdecken, und werden uns
dann ein Leben ganz nach unſeren Neigungen geſtalten. Du
wirſt eine Thätigkeit finden, die dir zuſagt. Denn ich weiß,
daß deine Kräfte nur Raum und Gelegenheit brauchen, um
ſich zu entfalten. Ich aber — nun, ich werde bis zu dem
Zeitpunkt, wo du ein reicher Mann geworden biſt, Muſikunter—
richt geben und im Kirchenchor ſingen, was da drüben ſehr
gut bezahlt wird. Darum, daß wir ohne Not und Sorge
unſer Leben friſten werden, iſt mir wahrhaftig nicht bange!
Zwei, die fic lieb Haben, wie wir, können es ſchon mit Dem
Schickſal aufnehmen, wenn jie nur bereit find, die Hände zu
rühren und wenn fie fih um die Thorheiten der Welt nicht
fümmern.“
Erich hörte ihr zu, ohne fie zu unterbrechen. Wohl
raunte ihm von Zeit zu Zeit Die warnende Stimme in ſeinem
Innern zu:
Es ſind phantaſtiſche Luftſchlöſſer, die ſie da aufbaut.
Nichts von alledem kann jemals Wirklichkeit werden. Und deine
Pflicht iſt es, mit einem bündigen, unzweideutigen Wort ihre
thörichten Illuſionen zu zerſtören.
Aber er mußte doch wohl den rechten Augenblick verſäumt |
haben, dies Wort zu ſprechen; denn als er ſich endlich aufraffen
wollte, e8 zu thun, brauchte jie nur ihr goldhaariges Köpfchen
an jeine Schulter zu Jchmiegen und aus ihren mwunderjamen
Augen voll Hingebender Zärtlichkeit zu ihm aufzujehen, um ihn
verjtummen zu machen. |
„Wir werden jo glüclich fein!“ flüfterte fie mit einem
Ausdrud, der jeden Widerftand dahinjchmelzen ließ wie lebten
Aprilfchnee im Kuß der Frühlingsfonne. „Und taufendfach ſoll
meine Liebe dich entjchädigen für alles; wa3 du um meinet-
willen gelitten.“
„And deine Familie, Dolly?” wagte er endlich zu fragen.
„Auch wenn man uns auf Helgoland trauen jollte, ohne nad)
der Einwilligung deiner Eltern zu fragen, fürchtet du nicht,
daß e3 dich eines Tages gereuen könnte, dich mir ohne ihren
Segen zu eigen gegeben zu haben?“
Wer wird fliegen? 2693
Sie jchüttelte den Kopf mit einem Lächeln, daS hundertmal
beredter war al3 alle Berficherungen, und das ihn vor einigen
Monaten zu dem glüdlichjten aller Sterblichen gemacht hätte.
Auch Heute ließ e3 fein Blut aufwallen und jein Herz in
raſcheren Schlägen Hopfen; aber was er empfand, war nicht
mehr das jauchzende Glüdsgefühl jenes erjten Liebesrauſches.
Es miſchte fich darein eine Negung des Unmuts und des Groll3
über die rätjelhafte, unmiderftehliche Macht, der er da erlag.
„Halt du aber auch recht bedacht, was du da thun willſt?“
lagte er. „Biſt du dir wirklich Har geworden über die Trag-
weite eines folchen Entſchluſſes? Ein Schritt wie dieſer ift
nicht mehr ungeschehen zu machen. Und fein verjpätetes Be—
dauern könnte dich aus den Feſſeln löſen, von denen ich dich
heute hatte befreien wollen.‘
„Aber wie oft noch foll ich dir jagen, du thörichter Mann,
daß id) von ihnen gar nicht befreit jein will — daß ich dich
lieb habe — über alles lieb, und daß ich mit Freuden nod)
viel, viel mehr al3 meine Familie und meine Künftlerträume
hingeben würde für da3 Glüd, dir zu gehören.‘ |
„Und die Geſchichte deines Lebens — das Geheimnis
der Vergangenheit — ich ſoll fie wirklich nicht erfahren?‘
„Richt vor unjerer Hochzeit, Liebjter! Aber du brauchit
darum nicht fo finfter und mißtrauifch zu bliden. Nie würde
ich dein Vertrauen begehren, wenn ich mich deiner unwürdig
wüßte.‘ |
Erih war aufgejtanden und hatte gejenften Hauptes ein
paarmal das Atelier durchmeilen. Dann blieb er vor jeinem
zerjchnittenen Gemälde ftehen, und noch einmal zogen in raſchem
Wechiel allerlei Erinnerungen an die Gefchehniffe des lebten
Sahres vor jeiner Seele vorüber. Es waren viele darunter,
die ihn jehr wohl wieder hätten wanfend machen können in
feinem ſchon halb gefaßten Entichluffe. Aber ein legtes, nur
zu lebendiges Bild, das fchlieglich alle anderen zurücddrängte,
gab nach kurzem Zweifeln und Wägen den Ausichlag zu Dollys
guniten. Es war das Bild jeiner heutigen legten Begegnung
mit Magda — die Erinnerung an die jchroffe Zurückweiſung,
die er von ihr erfahren, und an die unbarmherzige Rücdjichts-
Iofigfeit, mit der fie ihn troß feiner reumütigen Vorſätze Die
2694 Reinhold Ortmann.
ganze Schwere ihrer Verachtung hatte fühlen laſſen. Er hatte
fi) vor ihr fo tief gedemütigt, al3 ein Mann fich nur immer
vor einem Mädchen demütigen kann. Und doch hatte fie es
verjchmäht, jeine flehend ausgeitredte Hand zu ergreifen —
doch hatte fie ſich kalt und gleichgültig von ihm abgewendet
wie von einem rettungslos Berlorenen!
Es war, als fäme ihm erit jet die ganze Grauſamkeit der
tödlichen Kränfung zum Bemwußtlein, die er durd) fie erlitten.
Etwas wie wilder Haß gegen ihre Hochmütige Tugend und
wie leidenfchaftliches Berlangen, ihr den heutigen Schinpf durch
eine gleich demütigende Beſchämung zurüdzuzahlen,' regte ſich
in jeiner Bruft. Das aber wußte er, daß es nur einen einzigen
Weg gab, diefem Verlangen Erfüllung zu verjchaffen. Nur
wenn er ihr eines Tages durch unmwiderlegliche Thatfachen den
Beweis erbringen fonnte, daß fie ihn falſch und ungerecht
beurteilt hatte — wenn er es zu etwas Großem brachte, zu
einer gejellichaftlichen Stellung, die ihr jelbit gegen ihren Willen
Achtung abnötigte — nur dann würde er wirklich den Triumph
genießen, fie bejchämt und gedemütigt zu jehen. Hier aber —
dejjen war er gewiß — gab es feine Möglichkeit für ihn, ein
jo Hoch geſtecktes Ziel zu erreichen. Wenn e8 ihm überhaupt
gelingen ſollte, konnte e8 nur unter neuen Verhältniſſen ge=
ſchehen — unter Verhältnifjen, wie Dollys jchmeichelnde Bered-
jamfeit fie ihm eben fo anjchaulich und verführerifch gefchildert
hatte. Weshalb aljo jollte er zaudern, den Schritt zu thun,
zu dem fie ihm riet! Daß die Liebe des ſchönſten Weibes ihm
den Kampf erleichtern und die harte Arbeit verjüßen jollte, war
doch fürwahr fein Grund, auch diejer legten Ausficht feige den
Rüden zu ehren!
„But denn,“ fagte er, „ich bin mit deinem Vorſchlage
einverjtanden.“
„D, wie glüdlich bin ich! Aber ich wußte ja, daß du
nicht Nein jagen könnteſt. Und wann werden wir reijen?“
„Das läßt ſich wohl nicht jo ohne weitere bejtimmen.
Sch Habe Hier noch Verjchiedened zu ordnen, und es wird
immerhin einige Zeit vergehen, bevor ich den Heinen Reit
meined Vermögens flüjjig machen kann,”
Ein Schatten der Enttäufhung glitt über Dollys Geſicht.
Wer wird fiegen? 2695
„Sit dazu deine perjönliche Anwejenheit jo unbedingt er-
forderlih? Man kann dir das Geld doch nach New-York nach—
jenden! Und du haſt gewiß irgend einen vertrauensmwürdigen
Sreund, der jtatt deiner hier ordnen fann, was du noch zu
erledigen Halt. Sch möchte fo gerne, daß wir bald, redt
bald — lieber heute als morgen — dieſes jchredliche Berlin
verlaſſen.“
Aber in dieſem einen Punkte gelang es ihr nicht, ihren
Willen durchzuſetzen.
„sch kann mich nicht davonſchleichen wie ein Dieb,“ ſagte
Erich, „und ich habe auch feine Veranlafjung dazu. Natürs
lich iſt es am beiten, den einmal gefaßten Entſchluß jo jchnell
wie möglich durchzuführen. Unſere Abreije braucht aber des—
wegen noch nicht zu einer Flucht zu werden. Und es -ijt
durchaus notwendig, daß ic) meine Angelegenheiten perjönlich
ordne.“ |
Dolly war von der Entjchiedenheit feiner Erklärung er-
jichtlich jehr unangenehm berührt; aber fie jah ein, daß es am
beiten jei, jich vorläufig zu fügen, da fie leicht genug auch das
ſchon Errungene wieder aufs Spiel jeben fonnte, wenn fie
hartnädig auf ihrer Forderung bejtand. Und als jie nad)
einer kleinen Weile daS Atelier verließ, war der liebevollen
Zärtlichkeit ihres Abjchied3 nichts von der Verſtimmung anzu=
merfen, die daS teilweile Fehlichlagen ihrer jehr bejtimmten
Abfichten in ihr zurückgelaſſen.
Einundzwanzigſtes Kapitel.
Eine eigentümlich ſchwüle Atmojphäre hat jeit der Stunde,
da Helene ihren Gatten während jener Porträtfißung in einer
jo zweideutigen Situation mit jeinem ſchönen Modell überrafcht
hatte, das Sarloſche Haus erfüllt.
Nicht, daß die junge Frau Gabor mit eiferfüchtigen Vor—
würfen gequält oder ihm aud) nıır eine gefränfte und beleidigte
Miene gezeigt hätte! Sie war im Gegenteil freundlich und
ruhig wie immer, und ein unbefangener Dritter würde jchiver-
lih eine Veränderung in ihrem Benehmen bemerkt haben.
Gabors ſchlechtes Gewiſſen aber hatte feine Empfindlichkeit hin-
\
2696 Reinhold Ortmann.
länglich gejteigert, um ihn Diefe Veränderung troßdem fühlen
zu lajjen. Und nachden ein etwas ungejchiefter Verjuch, den
häßlichen Schatten durch ein erkünſteltes Wiederaufflanmen
leidvenfchaftlicher Zärtlichkeit zu verjcheuchen, an der gelafjenen,
doch darum nicht weniger entjchiedenen Ablehnung der jungen
Frau ziemlich fläglich und beſchämend gejcheitert war, wußte er
nichts Beſſeres zu thun, als jeinerjeitS den trogig Schmollenden
zu ſpielen.
Er ging dem Alleinjein mit feiner Frau fo viel wie mög—
ih aus dem Wege, faß bei ihren gemeinfamen Mahlzeiten
\hweiglam und verdrießlich am Tiſche, und ging allabendlich
aus, um irgend eine ©ejellichaft zu bejuchen, aus der er erit
in ſpäter Nachtſtunde und jcheinbar zum Tode ermüdet nad
Hauje Fam.
Co war e8 nun jchon jeit fünf Tagen gegangen, und da
ji) im übrigen alle8 im gewohnten Geleife beivegte und Helene
eine klärende Aussprache nicht zu wünschen fchien, hatte es ganz
das Ausſehen, als ob dieſer unbehagliche Zuftand der jungen
Ehe zu einem dauernden werden jolle.
Arch Heute waren noch kaum zwanzig Worte zwijchen den
beiden Gatten gewechjelt worden, als Gabor, der bis zum Ein:
bruch der frühen Dunkelheit gearbeitet und dann nach einer
neuerlichen Gewohnheit ein paar Stunden im Kaffeehaufe zu—
gebracht hatte, gegen acht Uhr heimfehrte, um ſich umzukleiden.
Sein Gejellfchaftsanzug lag vorſorglich im Schlafzimmer
bereit, wie er ihn um Diefe Zeit immer zu finden gewöhnt war.
Aber er hatte noch nicht mit jeiner Toilette begonnen, al3 gegen
ihre ſonſtige Öepflogenheit und zu feiner etwas peinlichen Ueber-
rajhung Helene eintrat. Gabor glaubte wahrzunehmen, daß jie
auffallend bleich ei, aber er gab jich den Anjchein, es nicht zu
bemerfen, und begann in erheuchelter Unbefangenheit irgend
eine luſtige Melodie vor jich Hin zu fummen. Gerade weil er
jein Gewiſſen nicht rein fühlte, hatte er ſich während dieſer
fünf Tage mit allerlei fophiftiichen Scheingründen jo hartnäcig
zu überreden verjucht, jeinerjeit3 der Beleidigte zu fein, daß er
ſich wirklich von der Berechtigung dieſer Auffaſſung überzeugt
hielt, und daß er feſt entſchloſſen war, bei einer etiwaigen Aus—
einanderjegung diefen Standpunkt mit allem Nachdrud zu ver-
- Wer wird ftegen? 2697
treten. Hatte ſeine unmännliche Gefügigfeit in Helenes
praltifch=nüchternen Erwerbsſinn ihn die Erfüllung feiner ehr-
geizigen künſtleriſchen Hoffnungen gefojtet, jo wollte er doc)
wenigſtens jeine perjönliche Freiheit biß zum Aeußerſten gegen
ihre Herrjchgelüjte verteidigen, itber deren Vorhandenſein die
gleichmäßige Sanftheit ihres Weſens ihn nicht länger zu täujchen
vermochte.
Sn innerjten Herzen beflommen, und darum nur um fo
mehr bereit, jich beim erjten Anzeichen eines beabjichtigten
Kampfes mit aufbraufender Heftigfeit zu wappnen, erwartete er
die Anrede feiner Frau. Und er glaubte über den Zweck ihres
Erſcheinens genügend orientiert zu fein, al3 Helene nad) kurzem
Schweigen fagte:
„Darf ich fragen, Gabor, wohin du heute abend gehſt?“
„Seit wann hätte ich dir ein Geheimnis daraus gemacht?
Aber du ſollteſt e3 eigentlich willen. Die Einladung hat ja
lange genug offen auf dem Tiſche gelegen.“
„But denn, ic) weiß es. Du willſt eine Ballfeftlichfeit bei
den Imgarts bejuchen.“
„Daß ijt allerdings meine Abficht. Haft du etwas dagegen?“
„sch würde dir jehr dankbar jein, wenn du dich entichließen
könnteſt, darauf zu verzichten.”
Er hörte am Stang ihrer Stimme, daß e3 ihr nicht leicht
geworden war, dieje Bitte auszujprechen, und ſeine natürliche
Gutmütigkeit, die ihn noch immer fügſam und nachgiebig gemacht
hatte gegen jeden ihrer Wünsche, drängte ihn auch jeßt, dem un—
natürlichen Zuſtand diejer legten Tage einfach dadurch ein Ende
zu bereiten, daß er mit liebenswürdiger Heiterkeit ihrem im
Grunde ja gar nicht Jo unbegreiflichen Begehren entſprach. Aber
er beſann ich noch zu rechter Zeit, daß es dann um jeine Autorität
und um die Freiheit ſeines Handelns wahrjcheinlich für immer
geihehen jein würde, und darum nahm er fi) vor, wenigjtens
dies eine Mal unerjchütterlich feft zu bleiben.
„Eine jonderbare Zumutung!“ jagte er, vorjichtig darauf
bedacht, ihrem Blick nicht zu begegnen. „Und weshalb jollte ich
nicht hingehen? Denn du mußt doch wohl ganz beſonders triftige
Gründe haben, eine jo beijpielloje Ungezogenheit von mir zu
verlangen.”
2698 _ Reinhold Ortmann.
„sch möchte den Abend mit dir verbringen, Gabor! Könnte
das nicht für einen einzigen Ausnahmefall als Grund ge—
nügen?”
„Wenn du e8 mir vierundzwanzig Stunden früher mitgeteilt
hätteft — gewiß! Aber daß es jest für eine Ablage zu ſpät ge-
worden iſt, mußt du doch ſelbſt einjehen. Sch habe Herrn Imgart
erjt heute nachmittag gejprochen und mit ihm verabredet, daß er
morgen früh herfommt, um dag Borträt jeiner Tochter in, Augen—
ihein zu nehmen, woran mir aus verichiedenen Urjachen außer-
ordentlich viel gelegen ift. Ich könnte mich aljo nicht einmal mit
einem plößlichen Unwohlſein herausreden. Und mein Ausbleiben
wäre eine Beleidigung, die man im Imgartſchen Haufe mit Recht
als unverzeihlich anjehen würde.“
„Es ließe fich doch wohl ein Vorwand finden, ſofern du nur’
den Wunsch hätteft, meine Bitte zu erfüllen. Und es ist eine jehr
herzliche Bitte, Gabor!“
Wie er e8 über fich gewann, aud) jeßt noch zu widerftehen,.
war ihm eigentlich jelbjt ein Rätſel. Er jtellte fid) vor, wie
hübſch die Verſöhnung fein würde, wenn er jebt Sa jagte. Aber
dann dachte er wieder an Hertha Imgart und daran, wie er.ihr
morgen gegenübertreten jolle; und der fnabenhafte Troß, hinter
den er fich jeit dem Beginn diejer Unterredung geflüchtet hatte,
behielt den Sieg.
„Sage lieber: eine jehr thörichte Bitte. Denn ihre Er-
füllung würde‘ nicht nur einen vollitändigen Bruch mit den
Imgarts bedeuten, jondern fie würde mich wahrjcheinlich in dem
ganzen Geſellſchaftskreiſe unmöglich machen, deſſen Mittelpunkt
fie bilden. Und wenn ich dir zu Liebe bisher die ſchwerſten
Dpfer gebracht habe, um mir die einträgliche Gunſt diejer er—
leuchteten Kunjtfreunde von der Fonds- und der Produften-
Börſe zu erwerben, jo jehe ich nicht ein, weshalb ich fie jebt um
einer bloßen Laune willen wieder aufs Spiel jeßen jollte. Daß
man dich nicht mit eingeladen hat, ift lediglich deine eigene
Schuld, und du weißt, wie unzufrieden ich damit bin. Aber
wenn es dich langweilt, allein zu Haus zu bleiben, koſtet e8 mich
nur eine leiſe Andeutung, um Darin Fünftig eine Aenderung
herbeizuführen.“
Helene machte eine entjchieden abwehrende Bewegung.
Wer wird fliegen? 2699
„Davon ijt nicht die Rede. Ich wünjche jenes Haus nicht
zu betreten — wünjche es jetzt weniger denn je. Geh’ aljo in
Gottes Namen, wenn dein Herz dich Jo unmiderjtehlich dahin
zieht. Aber vergiß nit, daß ich heute den Verſuch gemacht
babe, dich vor einer Thorheit, wenn nicht vor Schlimmerem,
zu bewahren.”
Wie heftig er ſich auch wegen diejer Feigheit zürnte, hatte
Gabor doch nicht den Mut, eine nähere Erklärung ihrer legten
Worte zu fordern, deren verborgenen Sinn er ja gut genug ver—
ſtand. Er fand feine andere Erwiderung, als ein jpöttijches
Auflachen, und er verjuchte nicht, Helene zurüdzuhalten, al3 fie
jetzt das Zimmer verließ.
Die Stimmung aber, in der er jeine Toilette beendete, war
eine nicht3 weniger als feitlich-freudige. Und von einem Gefühl
der Genugthuung über den erfämpften Sieg war durchaus nichts
in jeiner Seele. Die Art, wie jeine Frau ihre Niederlage hin—
genommen, die geradezu hoheitvolle Würde, mit der fie ihm jene
legte Warnung zugerufen, hatten doch einen tiefen Eindrud auf
ihn gemacht. Und feine troßige Hartnädigfeit würde ſchwerlich
Itand gehalten haben, wenn Helene noch einmal verjucht hätte,
ie zu brechen.
Aber fie that e3 nicht, und ſie mußte ſich wohl in die
Küche zurückgezogen haben, um einer nochmaligen Begegnung
vor ſeinem Fortgehen auszuweichen, da er ſie nirgends fand, als
er langſam und in der halb uneingeſtandenen Hoffnung auf eine
freundliche Verſtändigung durch alle Zimmer ging. So machte
er ſich denn auf den Weg, ohne ſie noch einmal geſehen zu
haben. Aber er nahm ſich vor, nur kurze Zeit bei den Imgarts
zu bleiben und frühzeitig heimzukehren. War er es auch ſeiner
Manneswürde ſchuldig geweſen, diesmal ſeinen Willen durch—
zuſetzen, ſo lag es doch keineswegs in ſeiner Abſicht, Helene
ernſtlichen Kummer zu bereiten. Und wenn er zurückkam,
konnte er ihr, dem Verlangen ſeines Herzens folgend, die Hand
zur Verſöhnung bieten, ohne ſich etwas zu vergeben, wie es
vorhin durch eine allzu bereitwillige Fügſamkeit der Fall ge—
weſen wäre.
Mit ſolchen Abſichten betrat er eine Viertelſtunde ſpäter das
vornehme Haus in der Lennäeſtraße, deſſen erſtes Stockwerk
2700 Reinhold Ortmann.
Herthas Eltern bewohnten. Die lange Zimmerflucht war glänzend
erleuchtet, und ein bunter Schwarm gepußter Gäſte bewegte ſich
bereit3 in den prächtigen Räumen.
Die meiſten diefer blafiert und gelangweilt dreinjchauenden
Herren wie der juwelengejchmücdten rauen und Mädchen, die
in den foitbarjten und raffinierteften Toiletten ihre Reize zur
Schau trugen, waren für Gabor bereit3 alte Bekannte. Und
auch der ſinnenſchmeichelnde Luxus des Reichtum, der fich rings
um ihn her jo hundertfältig offenbarte, hatte den bejtrickenden
Bauber des Neuen und Ungefannten für ihn verloren. Bis zu
dem Augenblid, wo er Hertha gefunden hatte, die anfangs durd)
irgend eine Urjache in einem anderen Zeile der Wohnung feſt—
gehalten jein mußte, wollte ihm das alles heute jogar, recht
fade und inhaltleer erjcheinen. Die Unterhaltung, in die ein
al3 „Lebemann“ berühmter Bankdirektor ihn zu verwickeln juchte,
dünkte ihn mit der jeichten Geſchmackloſigkeit ihrer oft gehörten
Scherze als fait unerträglich. Und während fein Blick über die
defolletierten Damen mit den durch hundert Toilettenfünfte ver-
jüngten oder verjchönten Gefichtern dahinglitt, fagte er ſich, daß
eigentlich nicht eine einzige unter ihnen jei, die im Ernſt einen
Vergleich mit jeiner hübjchen, energilchen, jungen Frau hätte aus—
halten können. Auch die haftige, nervöſe Art des Hausherren,
der ihm im Vorübergehen die Hand gedrüdt hatte, vielleicht ohne
im Moment zu wiflen, wen er vor jich hatte, gefiel ihm heute
iveniger denn je. Und wenn er nicht gewußt hätte, daß er durch
fein vorzeitige Verſchwinden irgend eine an feiner Berjtimmung
ganz unjchuldige, junge Dame in peinliche Verlegenheit bringen
würde, hätte er vielleicht noc) vor dem Beginn der Tafel un-
auffällig die Flucht ergriffen. f
Darum, wer dieſe junge Dame jein würde, hatte er id)
noch nicht einmal gefümmert. Er hatte dag draußen vom Diener
überreichte Kärtchen, auf dem, wie er wußte, der Name feiner
Tilchnachbarin verzeichnet ſtand, achtlo8 in die Wejtentajche ge=
jtecft, weil e8 ja immer noch früh genug war, unmittelbar vor
den Beginn des Soupers von jeinem Inhalt Kenntnis zu
nehmen. Und da ihm unter diejen Eofetten, leichtlebigen Frauen,
wie unter den beängftigend frühreifen und weltflugen, jungen
Mädchen die eine jo gleichgültig war wie die andere, verlangte
Wer wird fiegen? 2701
e3 ihn vorläufig durchaus nicht darnach, den Schleier des Ge—
heimniſſes zu lüften.
Eine geraume Zeit ſchon mußte feit feinem Eintritt ver—
gangen jein, als er endlich der Tochter des Haufes anfichtig
wurde. Sm lebhaften Geplauder mit einer anderen jungen Dame
war Hertha plöglih ganz nahe bei ihm im Rahmen einer
offenen Thür erjchienen. Und ihr Anblid hatte mit einem
Schlage feine gelangmweilte und gedrücdte Stimmung von Grund
aus verwandelt.
Denn jo oft auch ihre Anmut ihn bereit3 entzückt Hatte, heute
fand er jie Doc) reizender als je zuvor. Und er zögerte nicht,
ſich auf ziemlich rückſichtsloſe Art von feinem gefchwäßigen Ge—
ſellſchafter los zu machen, um fie zu begrüßen.
Mit einem bezaubernden Lächeln und einem Aufleuchten
der Freude in den ſchönen, ausdrudsvollen Augen reichte fie ihm
die Hand.
„Sie müſſen ſehr ſpät gefommen fein, Herr Sarlo; denn id)
habe Sie vorhin überall vergeblich gefucht.“
Er fügte die behandſchuhten Fingerchen und ſtammelte eine
Entſchuldigung. Wie war e8 nur möglich, daß er vorhin für
einen Augenblic in allem Ernſt hatte daran denken können, dem
Verlangen Helened nachzugeben!
„sc habe nämlich eine große Neuigfeit für Sie,“ plauderte
Hertha in vertraulichem Flüfterton weiter, als ihre Freundin fich
disfret zurücdgezogen hatte. „Eine Ueberraſchung — und hoffent—
ih eine angenehme. Aber es muß vorläufig noch ein Geheimnis
bleiben zwilchen uns beiden. Denn ich habe meinem Papa ver=
Iprechen müſſen, zunächlt gegen feinen Menjchen etwas davon zu
erwähnen.“
„Und doch wollen Sie es mir verraten, Fräulein Smgart? —
Bin ich einer ſolchen Auszeichnung denn auch wert?“
„Das werden wir gleich jeden,“ jagte jte lachend. „Es wäre
allerdings jchrecklich, wenn ich mich in Ihnen getäufcht hätte. —
Kommen Sie — e3 brennt mir auf der Seele. Und wir fünnen
uns jegt vor Tiſche wohl leichter auf ein paar Minuten unbemerkt
fortitehlen al3 nachher.“
Höchlich verwundert und ohne auch nur entfernt zu ahnen,
was ihm da bevorjtehen muchte, folgte Gabor der behend Vor—
2702 Reinhold Örtmann.
ausfchreitenden durch die von gedämpftem Stimmengejhwirr
und einem jchier atembeflemmenden Gemiſch der verjchiedeniten
Wohlgerüche erfüllten Gemächer.
Daß ihre gemeinjchaftlihe Flucht aus der Geſellſchaft un—
bemerft bleiben würde, war freilich eine allzu optimiftiiche Vor—
ausſetzung Hertha geweſen. Denn von überall ber folgten
ihnen neugierige Blicke und bedeutjames Flüftern. Aber jelbjt
wenn fie c8 bemerft hätte, würde fie dadurch in ihrem Vorhaben
chwerlich irre gemacht worden fein. Es war eben ihre Art,
dergleichen fleine Verjtöße gegen Sitte und Herfommen mit
jouveräner Gleichgültigfeit zu behandelu.
Sie jhlug am Ende der langen Zimmerreihe eine bejtidte
Samtportiere zurüd und lud mit einer anmutigen Kopfbeivegung
ihren aufs äußerfte geipannten Begleiter zum Betreten des da—
binter liegenden kleinen Raumes ein.
„Das iſt mein Allerheiligites, Herr Sarlo — mein Schmoll=
winkel, in den jonft jo leicht niemand feinen Fuß jegen darf.
Hoffentlih wifjen Sie. die Ausnahme, die ich heute mit Ihnen
mache, nad) ihrem ganzen Werte zu jchäßen.“
Das Gemach, in das fie ihn geführt hatte, war ein mit
erlefeniten Geſchmack und feinſtem Stilgefühl ausgeſtattetes
Boudoir, über defjen zierliche Möbel und zartfarbige Seiden-
tapeten die durch rötliche Gläſer abgedämpften, elektrischen Glüh-
lampen nur eine wohlthuend milde Helligfeit breiteten — ein
Raum, mehr geichaffen für daS gelegentliche Einſamkeits—
bedürfniß einer mit allen Genüfjen des Dajeins vertrauten Welt-
dame, al3 für die unjchuldigen Träumereien einer noch unberührten
Mädchenſeele.
„Wie hübſch Sie ſich Ihren Schmollwinkel eingerichtet haben,
Fräulein Hertha!“ ſagte Gabor mit dem Ausdruck einer vom
Herzen kommenden Anerkennung. „Ich habe nie etwas ſo Aller—
liebſtes geſehen.“
„Es freut mich, daß er Ihnen gefällt. Aber nicht, um Ihnen
mein Mädchenſtübchen zu zeigen, habe ich Sie den Freuden der Ge—
ſelligkeit da drinnen entzogen, — hier — das war es, was ich Ihnen
zeigen wollte. Finden Sie auch das nach Ihrem Geſchmack?“
Sie hatte die Schublade eines im Stil Ludwigs des Fünf—
zehnten aus Roſenholz gearbeiteten Schreibtiſches geöffnet und
Wer wird fiegen? 2703
reichte dem jungen Maler eine große Photographie, die Aufnahme
eines malerilch am Seeufer hingelagerten Schlößchens.
„Ein richtiger Wohnſitz für eine Märchenfee! Das ift der
Lago di Como, wenn ich nicht irre.“
„Erraten! Und die Villa ift die unjrige. Geſtern ift nach
langen Verhandlungen der Abjchluß perfekt getworden, der ſie in
den Beſitz meined Vaters übergehen läßt.“
„sch gratuliere Ihnen von Herzen. Wer in der Lage it,
ji) ein ſolches Fleckchen zu fichern, darf in der That unter die
beneidenswerten Sterblichen gerechnet werden.”
Ich danke Shnen! Sa, es ift ſehr hübſch, eigentlich noch
viel hübjcher, als e8 hier auf dem Bilde ausfieht. Wir lernten
die Befigung, die biß jegt einem etwas fpleenigen Engländer ge-
hört Hat, im letzten Winter auf unjerer herfömmlichen Sstalien-
reite kennen, und wir — das heißt, ehrlich gejprochen: ich —
waren jo entzüdt davon, daß mein Papa ſchon damals im
itillen den Entjchluß faßte, Villa und Park zu erwerben. Der
Engländer erklärte auf eine Anfrage, daß er gar nicht daran
dächte, ſich ſeines Eigentums zu entäußern. Aber wenn mein
Papa fih einmal etwa vorgenommen hat, weiß er es aud)
durchzuführen, und das Wort ‚unmöglich‘ iſt für ihn nicht
vorhanden. Gejtern überraichte er mich mit der Kunde, daß
der Raufvertrag unterzeichnet jei, den er in etwa acht Tagen
al3 fein Angebinde auf den Geburtstagstiih der Mama legen
werde.”
„Ein fürftlicheg Geburtstagsgeſchenk! Ihre Frau Mutter
wird einige Urjache haben, ſich zu freuen.“
„Sie wird ſehr überrajcht jein, denn fie ahnt nicht das
Mindeite. Und damit dieje Ueberraſchung, die das Beſte an der
Sache ijt, nicht verdorben werde, habe ich mich zu jtrengiter
Berjchwiegenheit verpflichten müjjen. Daß ichh mein Gelöbnis Ihnen
gegenüber breche, muß natürlich feine bejondere Urſache haben.
Können Sie fie erraten?“
Gabor dachte ein wenig nad; dann jehüttelte er den Kopf.
„sch geitehe, daß mein Scharflinn mid) vollftändig im Stiche
läßt, Fräulein Hertha!”
„Nein, es ift auch eigentlich unmöglich. Alſo hören Sie!
Gleich als der Bapa mir feine große Enthüllung machte, Habe ich
2704 Reinhold Ortmann.
ihm erklärt, daß ich auch meinen Anteil haben volle an dem Ge—
Ihenf. Und auf jeine Frage, worin diejer Anteil beſtehen jolle,
verlangte ich von ihm das Verjprechen, den architektonisch jehr
. prächtigen Speijefaal und die daran anjtoßende große Garten
halle, deren künſtleriſche Ausſchmückung mir nicht gefallen hatte,
nad) meinem Gejchmad umgejtalten zu dürfen. Er machte mir
eine Blanfozujage, und er war jelbftverftändlich zu vornehm, jein
Wort zurüdzuziehen, als ich mit meiner Abjicht herausfam, die
großen Wandfelder wie Die Lünetten von einem bedeutenden
Maler, den ich aber ganz nach meinem Ermefjen auswählen wollte,
mit einer Anzahl allegorijcher Gemälde ſchmücken zu lafjen. Daß
ih über die Perſon dieſes Maler3 von vornherein nicht einen
Augenblick im Zweifel war, werden Sie nun den Umständen nach
vielleicht erraten.“ |
Es war fo viel reizende Schelmerei in dem lang ihrer
legten Worte und in dem Blick, der dabei über Gabor hin=
jtreifte, daß er fich hoch beglüct fühlte, noch ehe er Die ganze
Bedeutung der Aufgabe begriffen hatte, die ihm zu Teil werden
jollte.
„Sie hätten an mich gedahht? DO, Fräulein Hertha, das ijt
mehr Freundlichkeit, als ich verdient habe.“
„Aber Sie wifjen ja nod) gar nicht, um was e3 fich handeln
lol, und ob e3 für Sie überhaupt der Mühe wert fein würde,
den Auftrag zu übernehmen. Vielleicht ift es eine ganz kindiſche
Idee, in die ich mich da verliebt habe, und Sie lachen mich ein=
fach aus. Ich behalte mir nämlich vor, den Künſtler zu in=
ipirieren, der fie) da in meinem Dienft begiebt. Ich will ge-
wiſſermaßen meinen jchöpferischen Anteil haben an diefen Bildern,
und darum werde ich mich nicht damit begnügen, die Motive ans
zugeben, jondern ich werde die Arbeit Schritt für Schritt durch
jedes Stadium ihrer Entwidelung begleiten — ich werde mir
das Recht berausnehmen, Kritif zu üben und meine Meinung
frei zu äußern — ohne Eigenfinn natürlich und immer bereit,
mich) von der überlegenen Einsicht des berufenen Künſtlers be—
lehren zu laffen, aber auch ohne Scheu, eine empfindliche Künſtler—
eitelfeit zu verlegen. Würden Sie nicht von vornherein davor
zurüchchreden, Herr Sarlo, auf einen Vertrag mit folchen Be—
dingungen einzugehen?“
Wer wird fiegen? 2705
„sch könnte mir nichts Köftlicheres und Beglüdenderes denken
al3 eine ſolche Gemeinſamkeit des Schaffens,” fagte er in einem
Ton, der wahrlich feinen Zweifel an jeiner Aufrichtigfeit Yafjen
fonnte. „Aber ich möchte Ihnen faſt zürnen, Fräulein Hertha,
daß Sie dieje herrliche Phantasmagorie vor meine Seele ge-
zaubert haben, denn fie wird ja aller Vorausſicht nad) bleiben, als
was fie mir in diefem Augenblick erjcheint: ein jchöner Traum,
der niemals Wirklichfeit werden kann.”
„Und weshalb nur ein Traum? Wenn Ihnen der Gedanke
gefällt, jehe ich wahrhaftig nicht ein, welche unüberwindlichen
Hindernifje fich feiner Ausführung entgegenjtellen follten. Die
Beit und die Arbeitöfraft, die Sie mir zum Opfer bringen,
würden ja nicht nutzlos verjchwendet fein. Denn ich bin nicht
jo graufam, meine Schäße ganz für mich allein zu begehren.
Sie jollen die Wände nicht etwa al fresco bemalen, einzig zur
Augenweide für die Bewohner der Billa und ihre gelegentlichen
Bejucher; jondern e8 werden richtige, trangportable Gemälde fein,
die Sie meinetiwegen ein Jahr lang auf alle Ausſtellungen ſchicken
fönnen, ehe jie dauernd an ihrem Bejtimmungsort verbleiben.
Und dann dürfen Sie aud) nicht mißverſtehen, was ich da über
meine Mitarbeit gejagt habe und über die Inſpiration, die von
mir ausgehen fol. Nicht in der Art Shrer jebigen Auftrag-
geber möchte ich Sie beeinflufjen, jondern gerade im entgegen
gelegten Sinne, indem ich lediglich) darüber zu machen verjuche,
daß Sie in feinem Augenblid bon dem Wege der reinen Kunit
abweichen, um auf irgend einem Seitenpfade den wohlfeilen Bei⸗
fall der Menge zu ſuchen.“
Nun erſt begriff er ſie ganz, und das Herz ging ihm weit
auf in einem Empfinden beglückter Dankbarkeit.
„Was für ein großes und ſeltenes Weſen ſind Sie, Hertha!
Was Sie da thun wollen, ſoll alſo in keiner anderen Abſicht ge—
ſchehen, als um mich vor der Verſumpfung und dem künſtleriſchen
Untergange zu retten? So viel wollen Sie an einen Menſchen
wagen, der Ihnen noch vor wenig Wochen ein Fremder war,
und der niemals in der Lage ſein wird, Ihnen ſolche Großmut
nach Gebühr zu danken?“
„Nicht doch, Herr Sarlo! Sie bringen mich ja in Verlegen—
heit, wenn Sie es ſo anſehen, daß ich mir von meinem Papa
Ill. Haus⸗Bibl. II, Band XII. 17G
2706 Reinhold Ortmann.
vielleicht etiwaS anderes außgebeten hätte, wenn ich nicht den Wunſch
gehabt hätte, Ihnen ein wenig nüßlich zu jein — warum foll ich
e3 leugnen? Denn Sie werden dod) hoffentlich mein Anerbieten
nun nicht darum gleich Eurzer Hand ablehnen. Aber von irgend
welcher Dankbarkeit oder dergleichen darf- niemals die Rede fein
— das mache ich zur Bedingung. Wenn es mir nicht eine wahre
Herzensfreude wäre, zu denken, daß es mir vielleicht vergönnt
ſein ſoll, ein verirrtes Genie auf die rechte Bahn zurück zu führen,
würde ich mich auf das alles gewiß nicht eingelaſſen haben. Ich
habe alſo meinen Lohn dahin.“
| Gabor Sarlo nahm ihre beiden Hände, ohne daß fie einen
Verſuch gemacht hätte, ihn daran zu hindern, und drüdte fie an
ſeine Lippen.
„Daß es Wahrheit werden fünnte!“ mitcmelte er. „Daß ich an
Ihrer Hand mich jelbjt und meinen wahren Künitlerberuf wieder⸗
finden dürfte!“
„Sie ſollen es, Herr Sarlo!“ ſagte ſie herzlich, ihm endlich
ſanft ihre Hände entziehend. „Und ich will Ihnen auch gleich
ſagen, wie ich mir die Ausführung meines Planes in reiflichem
Nachdenken zurechtgelegt habe. Die Villa wird in dieſen Tagen
von ihrem bisherigen Eigentümer geräumt und ſoll nach etwa
zwei Wochen zu unſerer Aufnahme bereit ſein. Dann werden
wir vorausſichtlich einen Monat dort zubringen. Und wenn
Sie ſich entſchließen könnten, während dieſes Monats unſer Gaſt
zu ſein, würden ſich alle Einzelheiten für die Ausführung der
Gemälde bejprechen und feititellen laſſen. Ob Sie dann. die
Arbeit jelbjt dort an Ort und Stelle oder in Ihrem biefigen
Atelier bewirken wollen, jtände natürlich ganz bei Ihnen. —
Eine aber — wie peinlich e8 mir auch fein mag, es aus—
zujprechen — müßte ich allerdings zur unerläßlichen Bedingung
machen.“
Gabor ahnte injtinktiv, worin diefe Bedingung beitehen
würde, und Hertha mochte auf jeinem Geſicht leſen, was in
ihm vorging; jie fam ihm und feinen Einwänden zuvor, indem
ſie ſagte:
„Gaben Sie mir nicht zu verſtehen, Herr Sarlo, daß Ihre
Frau Gemahlin einen lebhaft entwickelten Geſchäftsſinn habe und
ein ſehr feines Verſtändnis für die praktiſche Seite Ihres Künſtler—
Wer wird fiegen? 2707
beruf? Nun, vielleicht wird fie fich leichter zu dem allerdings
nicht geringfügigen Opfer entjchliegen, Sie auf ganze vier Wochen
von fich zu lafjen, wenn mein Bapa wegen der Gemälde vorher
ein fejtes Abkommen mit Ihnen trifft, deſſen Vorausſetzung dann
aber jener Beſuch in unſerer Billa fein würde. Sie wiſſen, es
iſt nicht jcehiver, in ſolchen Sachen mit meinem Vater handelseins
zu werden. So peinlich genau er in jeinen faufmännifchen An-
gelegenheiten ijt, jo generös ilt er in allen Dingen, die außerhalb
diejer rein gejchäftlichen Sphäre liegen. Und ic) ſage Ihnen jchon
jebt, daß Sie für die Mebernahme des Auftrages, der Sie ja
gewiß viele Monate hindurch ausſchließlich bejchäftigen wird,
fordern fünnen, was Sie wollen.“
„And meine Thätigfeit als Borträtmaler? Glauben Sie
wirfli, daß ich es verantiworten fünnte, fie ganz zu vernach—
läjligen? Einige Monate der Unthätigfeit würden ohne Zweifel
binreihen, mich auf dieſem Gebiete, auf dem ein jo eifriger
und erbitterter Wettbewerb herrſcht, ganz aus der Mode zu
bringen.“
„Vielleicht ift es eben daS, was ich herbeizuführen wünſche.
Und wenn Sie die Verantwortung dafür jcheuen, To gejtatten
Sie mir, ſie auf mich zu nehmen. Habe ich mid) einmal auf da3
Wagnis eingelafjen, in einem gewiſſen bejcheidenen Sinne Ihre
Muſe zu fein, jo muß ich wohl auc) bereit fein, alle möglichen
Folgen zu tragen.“
Gabor verjtand nicht recht, wie dieſe Erklärung gemeint jein
fonnte; oder er war auch nicht in der Verfaſſung, fich jebt den
Kopf darüber zu zerbrechen. Während diejer leßten Minuten hatte
ſich's vor ihm aufgethan wie der Ausblick in eine Zukunft voll
blendenden Glanzes und beraufchender ©eligfeiten. Was er an-
fänglih nur für die unausführbare Augenblid3faune eines er-
finderijchen und etwas phantajtischen Mädchenköpfchens gehalten,
jeßt hatte e3 die greifbare Geftalt der Wirklichkeit angenommen,
und jeßt — das fühlte er mit voller Gewißheit — mußte e3
Wirklichfeit bleiben, tvenn die Enttäufhung ihn nicht ganz zu
Boden jchmettern sollte.
Frei und ungehindert Schaffen zu dürfen, wie fein künſtle—
riſches Gewiſſen e8 ihn gebot — ledig der ſchimpflichen SHaven-
fette des Broterwerb3 — und in dieſem Schaffen mit fein=
170*
2708 Reinhold Ortmann.
finnigem, teilnehmendem Verſtändnis begleitet von dem hold-
jeligften und liebenswürdigſten Geſchöpf, das ihm bisher auf
jeinem Lebenswege begegnet war — was konnte er Köftlicheres
erträumen — und was blieb ihm noch zu wünjchen übrig, wenn
dieſem monnigen PBhantafiegebilde eine volle Verwirklichung be=
ihieden war?
„Und wann —“ fragte er — „wann würde die Entjcheidung
erfolgen?”
„Sie würden zunächſt volle acht Tage Bedenkzeit haben.
Und id) mache es Ihnen zur Pflicht, während dieſer acht Tage
mit niemandem zu Rate zu gehen als mit fich ſelbſt. Zu allen
gewünfchten Auskünften und zur Beleitigung aller etwa auf-
tauchenden Bedenken jtehe ich Shnen natürlich zur Verfügung.
Und wir werden Gelegenheit. genug haben, uns über meinen
Plan zu unterhalten, da ic) ja in dieſer Woche täglich zur Sitzung
fommen muß, wenn das Bild noch rechtzeitig zum Geburtstage
meiner Mama fertig werden fol. Bei der Feitlichkeit, die aus
Anlaß dieſes Geburtötages bei uns ftattfindet, wird mein Vater
dann mit der Frage an Sie herantreten, ob Sie geneigt find,
die malerilche Ausjchmüdung der Villa am Comer See zu über-
nehmen. Und dann ift mit Ihrem Sa oder Nein die Sache
entjchieden.“
„Wie meine Antwort ausfallen wird — id) brauche es
Ihnen wohl nicht erjt zu jagen. Aber meine Frau —! Muß
ic) auch ihr gegenüber bis dahin Stillichweigen bewahren?“
„sa — ich halte e3 für unerläßlid — einmal um des
feiten Verjprechens willen, daS ich meinem Vater gegeben, und
dann ein wenig aud) Ihretwegen. Je weniger Gelegenheit Sie
Ihrer Gattin zu langem Erwägen und Ueberlegen geben, deito
leichter werden Sie ihre Zuftimmung erlangen. — Nun aber
dürfen wir ung wohl nicht länger der Gejellichaft entziehen, ohne
einige Dubend gejchäftiger Läfterzungen in Bewegung zu jeßen.
Warten Sie nur einen Augenblid, bis ich) das Bild wieder ver-
ichlofien Habe. So — und nun geben Sie mir Ihren Arm;
denn es dürfte gerade an der Zeit jein, daß Sie mich zu Tijche
führen.” Ä
„Sie — Fräulein Imgart?“ — Er z0g haltig das ver-
gejjene Kärtchen aus der Taſche und errötete vor Vergnügen, als
Wer wird fiegen? 2709
er wirklich ihren Namen darauf lag. „Das ift eine Auszeichnung,
auf die ich jelbit in meinen fühnjten Träumen nicht zu hoffen
gewagt hätte?“ |
| „Sind Ihre kühnſten Träume jo bejcheiden?* necdte fie
lachend. „Ich will doch hoffen, daß fie gelegentlich auch einen
etwas höheren Flug nehmen. Aber im Vertrauen will ich Ihnen
offenbaren, daß ich daS Placement noch im legten Augenblick durch
eine Kleine Kriegsliſt zuftande gebracht habe, weil ich Hoffte, es
würde Ihnen jo recht fein. Ein Gejtändnis, das ich Ihnen als
ein mwohlerzogene3 junges Mädchen eigentlich nicht machen dürfte
— nicht wahr?”
Gabor fand darauf feine andere Antwort al3 die, daß er ihr
wiederum die Hand küßte, bejeligt durch den leichten Druck der
Ichlanfen Finger, den er dabei verjpürte.
Dann führte er jte hinaus. Und ihr gemeinjfames Wieder-
ericheinen wurde jebt vielleicht weniger bemerkt, als es zehn
Minuten früher der Fall gewejen wäre, da die Gejellichaft in der
That eben im Begriff war, ſich zur Tafel zu begeben.
Von dem, was er während der nächſten Stunden erlebt,
hatte Gabor nachher nur Die beglüdende Erinnerung an einen
holden Rauſch, der alles um ihn her gleichſam in einen rojigen
Nebel eingehüllt und ihn auf Flügeln des Entzückens hoch über
alle nüchterne Wirklichkeit emporgetragen hatte. Hertha jchien
all ihren beſtrickenden Liebreiz heute nur für ihn zu entfalten,
und es war, als ob daS geheime Einverjtändnis, das jeit der
Unterredung im Boudoir zwilchen ihnen obwaltete, ihnen plößlic)
‚die Berechtigung gegeben hätte zu einer Vertraulichkeit, wie fie
vor diejer Stunde ihrem Verkehr niemal3 eigen gewelen mar.
Immer wieder, abfichtlid oder unabfichtlih, fanden ſich zu
flüchtiger, Eojender Berührung ihre Hände, und öfter noch —
namentlich danı, wenn fie mitten in dem braujenden Stimmen
geſchwirr Minuten lang beide in traumverlorenem Schweigen da=
gejefjen — begegneten ſich ihre Augen zu einer verjtohlenen Zivie-
ſprache, von der fie glauben mochten, daß fie feinem aus ihrer
Umgebung wahrnehmbar oder verjtändlich jei.
Dann, nad) Aufhebung der Tafel, hatte der Ball feinen
Anfang genommen, und unter den vielen eifrigen und unermüd—
lihen Tänzern war Gabor der eifrigjte und unermüdlichite ge-
RE
& 7
—
2710 Reinhold Ortmann.
weſen. Das feurige Temperament der Raſſe, der er entſtammte,
kam bei ihm niemals ſo augenfällig zu Tage, als wenn er ſeine
ſchlanke, geſchmeidige Figur nach den rythmiſchen Klängen eines
Walzers oder einer Mazurka bewegen konnte. Dann ſprühte
alles an ihm von Leben und jugendlicher Daſeinsfreude. Seine
Augen leuchteten wie die eines vom fröhlichen Spiel erhitzten
Kindes, und die weichen Lippen unter dem martialiſchen Schnurr—
bart lächelten gleichfalls mit einem naiven, unſchuldigen Kinder—
lächeln, das dem friſchen, roſigen Geſicht einen Ausdruck herz—
gewinnender Liebenswürdigkeit verlieh.
Er war ein Gegenſtand freundlichſter Aufmerkſamkeit für alle
anweſenden Damen; aber er gewahrte die ermutigenden Blicke
gar nicht, die ihm von allen Seiten zuflogen. Er tanzte faſt nur
mit Hertha, und er würde in ſeiner freudetrunkenen Welt—
vergeſſenheit überhaupt keine andere aufgefordert haben als ſie,
wenn nicht ſie ſelbſt, während ſie in ſeinem Arm dahinflog, ihm
gelegentlich die Bitte zugeflüſtert hätte, ſich dieſes oder jettes
ſchmachtenden Mauerblümchens zu erbarmen.
Eben hatte er ſie wieder an einen anderen Tänzer abtreten
müſſen, als er ſich plötzlich am Arm berührt fühlte und zu
ſeiner fatalen Ueberraſchung in das lächelnde Geſicht des Doktor
Roberti ſah, von deſſen Anweſenheit in der Geſellſchaft er bis
dahin überhaupt nichts gewußt hatte.
Seit jener Unglücksnacht in Erich von Brunnecks Atelier
hatte jeder Verkehr zwiſchen ihm und dem Journaliſten aufgehört
und bei gelegentlichen, zufälligen Begegnungen auf der Straße
war er ohne Wort und Gruß an ihm vorübergegangen. Aber
der Doktor hatte ihm gegenüber den Großmütigen geſpielt und
hatte es verſchmäht, ſich für dieſe beleidigend geringſchätzige
Behandlung mit den Waffen ſeiner beißenden Satire zu rächen.
Wiederholt hatte er in den von ihm bedienten Zeitungen
und Journalen in Ausdrücken warmer Anerkennung von dem
Talent des vielverheißenden jungen Malers geſprochen, und er
hatte ſeiner letzten Porträtausſtellung ſogar einen größeren
Artikel voll faſt überſchwänglichen Lobes gewidmet. .
Deſſen erinnerte fi) Gabor in diefem Augenblid peinlicher
Ueberraſchung ſehr gut, und ein gewiſſes Danfbarkfeit3bedürfnis
feiner liebenswürdigen, jedes dauernden und tiefen Grolls ganz
[le nn — -
Wer wird fiegen? 9711
unfähigen Natur, wie auch die Rückſicht auf den Schauplah
der unerwarteten Begegnung, machten e3 ihm unmöglich, den
Sournalilten zu brügfieren.
„Buten Abend, mein mwerter Herr Sarlo! Sieht man
Sie auch einmal wieder? — Ein fehr amüfantes Feſt, nicht
wahr?“
„Ich fir meine Perſon wenigſtens unterhalte mich recht gut.“
. „Man braudt Sie nur anzujehen, um davon überzeugt
zu fein. Darf ich vielleiht auch Ihre Frau Gemahlin be-
grüßen?”
„Meine Frau ift nicht hier, Herr Doktor!”
„Ach, wie fchade! Ein kleines Unmwohljein vermutlich?
Jedenfalls bitte ich, meine beſten Empfehlungen zu übermitteln
und meine herzlichſten Wünſche für baldige Geneſung. Was
macht denn die Kunſt? Sie geht nach Brot — nicht wahr?
Oder nach Auſtern und Champagner, wie man in Ihrem Falle
wohl richtiger ſagen muß. — Uebrigens ein verteufelt reizendes
Mädchen.“
„Wer, Herr Doktor? — die Kunſt?“
„Seit wann ſind Sie ſo witzig, lieber Freund? Nein,
nicht die Kunſt meinte ich, ſondern die holdeſte ihrer Be—
ſchützerinnen, die liebenswürdige Tochter dieſes gaſtlichen Hauſes.
Als ich Sie ſo mit ihr dahinfliegen ſah, habe ich zum erſten—
mal in meinem Leben bedauert, nicht auch ein flotter Tänzer
zu ſein, und ich habe Sie zum taufenditen Mal um ihren un-
widerjtehlichen Schnurrbart beneidet.”
Gabor wußte nicht recht, ob er den Empfindlichen ſpielen
oder mit einem Lächeln über die Bemerkung hinweggehen follte.
- Aber Roberti ſelbſt half ihm aus dieſer Verlegenheit, indem
er in feiner gleichmütig jpöttifchen Weiſe auf ein anderes, jchein-
bar weit abliegendes Thema überjprang.
„Kennen Sie den Herren da drüben — den mit dem
ſchwarzen Spisbart und dem Augenaufichlag eines Sterbenden?
Nein? Es giebt alſo wirklich noch einen Menjchen in Berlin,
der ihn nicht fennt, den berühmten Ludwig Feldern, den
genialiten Dramatifer der Gegenwart und Zukunft? Dann
haben Sie vielleicht auch noch gar nicht3 von dem interefjanten
Roman gehört, deſſen Held er augenblidlich iſt?“
2712 Reinhold Ortmann.
Gabor, der ſchon wieder fehnfüchtig nach Hertha ausjchaute,
hatte feinen anderen Wunjch als den, von den unangenehmen
Schwätzer loszufommen. |
„Nein. Und ich muß geftehen, Herr Doktor — —“
„oO, fallen Sie ſich's nur erzählen. Es ift eine amüjante
Geſchichte, und vielleicht ſogar ein bißchen lehrreich. Aber
wenn ich jagte, daß Feldern der Held des Romans ift, ſo Habe
ich mich nicht ganz korrekt ausgedrüdt. Einen Helden giebt e3
bei jolchen Gejchichten überhaupt niemals, weil fich die männ-
lichen Akteure nichts weniger als heroiſch zu benehmen pflegen.
E3 giebt da immer nur eine Heldin. Und die ift in diejem
Tall die überjchlanfe Dame mit der Botticelli-Frifur, mit der
Sie unjern großen Dramatiker eben jo lebhaft plaudern jehen.
Sie ift die gejchiedene Frau eines Bankier und die glücdliche
Beliterin einer Rente von dreißigtaufend Mark. Seit zwei
Sahren it fie auf der Jagd nach einem berühmten Manne,
und bei der Premiere, die Ludwig Feldern über Nacht zu einer
Berühmtheit machte, hat fie ihn gefunden. Alle Welt betrachtet
die beiden jchon al3 eine Art Brautpaar. Man verjäumt nie,
fie zufammen einzuladen und fie bei Tijch nebeneinander zu
eben. Hundert gefällige Leutchen arbeiten mit rührender Ge-
Ihäftigfeit an dem LZuftandefommen des hübſchen, Kleinen
Skandals, ohne den e3 nicht abgehen zu jollen jcheint, ehe die
beiden in den Hafen der Ehe einlaufen "Tönnen.“
„Eines Skandals?“ fragte Gabor, der nur mit halbem
Ohr zuhörte, weil er Hertha eben im Geſpräch mit einigen
Herren an der anderen Seite des Saales jah. Und Doktor
Roberti neigte fi) ganz nahe zu ihm, um mit jcharfer Be-
tonung zu flüftern:
„E3 giebt da nämlich ein kleines Hindernis, injofern als
der große Dichter leider verheiratet iſt. Ich Fannte ihn und
feine Frau jchon zu der Zeit, da er noch weit davon entfernt
war, der berühmte Ludwig Feldern zu fein, und da der Ge—
richtsvollzieher jehr viel häufiger bei ihm erjchien al3 der Geld-
briefträger. Damals wäre er vermutlich elend zu Grunde
gegangen, wenn nicht die Heine, tapfere Frau dageweſen wäre,
um das ſchwanke Schifflein feines Lebens mutig an allen
Klippen vorbei zu fteuern. Ein Philiſter würde jagen, daß er
Wer wird fiegen? | 2713
ihr nicht weniger als alles zu danken bat, und daß er fie dafür
bis an das Ende jeines Lebens auf den Händen tragen müßte.
Aber wir find ja hier glüdlicherweije feine Gejellichaft von
Philiſtern, jondern von freidenfenden, vorurteilslofen Leuten.
Und wir finden e3 darum ganz in der Ordnung, daß der
große Feldern einer Gefährtin überdrüflig wird, die nur eben
für den fleinen Feldern gut genug war. “Gebt, da er die
- Höhe gewonnen hat und mit einem Sahreseinfommen von
Hunderttaufenden rechnen darf, braucht er natürlich eine andere
Frau als eine, die fich aufgezehrt hat im Kampf mit der
Mijere des Lebens. Jetzt braucht er nur noch eine Mufe, die
ihn injpiriert, eine Göttin, vor der er anbetend auf den Knieen
liegen fann. Und wenn es eine Dufe mit dreißigtaufend Mark
Rente jein fann — nun, um fo bejjer! Nur Heingeijtige und
engherzige Pfahlbürger können darin jo etwas wie eine Schurferei
erbliden. — Uber fie hören mir ung zu, Herr Sarlo — meine
Geſchichte langmweilt Sie?”
„DO, durchaus nicht. Sie fagten, daß Herr Feldern —
„Daß er im Begriff iſt, einen Schurfenftreich zu begeben
— nad philiftröfer Auffaſſung. Wir Dichter und Künftler
denken darin jelbitverjtändlich ganz anders. Wir haben ja den
wunderschönen Begriff erfunden von dem Rechte der Perſönlichkeit,
ich auszuleben. Und damit haben wir die Rechtfertigung ge-
funden für alles, was uns auf Kojten unferer Nebenmenschen
zu thun beliebt. Aber ich will Sie nicht länger aufhalten, Herr
Sarlo! Mir jcheint, daß Ihre jchöne Mufe jehnfüchtig nach
Ihnen ausschaut.“
Damit war er wieder im Gewühl verſchwunden; Gabor
aber glaubte noch jein fatales, ſpöttiſches Lachen zu vernehmen,
und all das beraujchende Glüdsgefühl, das ihn während der
lebten Stunden erfüllt hatte, war mit einem Mal dahin.
„So ernjt, Herr Sarlo?“ hörte er im nächſten Augenblid
Herthas weiche Stimme. „Sit Ahnen etwas Unangenehmes
widerfahren? Oder fangen Sie an, fich zu langweilen?“
Er proteitierte natürlich gegen eine ſolche Vermutung, und
wenige Sefunden jpäter wirbelte er wieder mit ihr im feurigen
Tanze dahin. Aber e8 war nicht mehr dasjelbe wie vorher;
das fühlte Hertha mit ficherem weiblichen Inſtinkt, und fie ſchien
2714 Reinhold Ortmann.
entichloffen, der Urjache der Veränderung auf den Grund zu
kommen.
„Ich ſah, daß Sie ſich mit dem Doktor Roberti unter-
hielten,“ jagte fie. „Hat er Ihnen vielleicht eine feiner beliebten
Bosheiten verſetzt, daß Sie jo arg veritimmt find?“
Und mit naiver Aufrichtigfeit erwiderte der junge Maler:
„Nein, er hat mir nur eine häßliche Klatjchgeichichte eraählt,
eine, die ich Lieber nicht gehört hätte?“
„Und darf man fragen, wen fie betraf?“
„Ach, man follte dergleichen nicht wiederholen. Wahr-
icheinlich ijt ja auch gar nichts daran.”
Aber fie ließ nicht nach, in ihn zu dringen, bis er ihr
wiederholt hatte, was ihm von Robertis Erzählung im Ge-
dächtnis geblieben war. Er hatte vielleicht erwartet, daß fie
voll fittliher Entrüftung die beiden Gäfte gegen einen jo
Ihimpflihen Verdacht in Schuß nehmen würde. Aber fie that
nicht3 dergleichen, fondern fagte vielmehr zu feiner Ueberraſchung
in eigentümlich ernitem Ton:
„Was der hämifche, Kleine Doftor Ihnen da zugetragen
hat, it vermutlich vollfommen wahr. Zwei große und ftarfe
Naturen, die das Schickſal gleichfam von allem Anbeginn für
einander beſtimmt hatte, ringen da nach Vereinigung. Und ich
hoffe, daß es ihnen gelingt, die Hinderniffe zu überwinden,
die fi) der Berwirffihung ihrer Wünjche entgegenitellen.“
Gabor war ganz betroffen von der Ruhe und Beſtimmtheit,
mit der fie das Jagte.
„Sie meinen aljo, daß Herr Feldern recht daran thäte, ſich
von feiner Frau jcheiden zu laſſen — auch wenn fie ihm feinen
Anlaß gegeben hat, fich über fie zu beflagen?”
„Ste macht ihn unglüdlich durch ihr bloßes Dafein; weil
er dies fremde Dafein, zu dem er feine innere Beziehung mehr
hat, wie einen Leichnam mit fich herum fchleppen muß. Sit
das noch nicht Grund genug?“
„Sit Ste denn von feinen Wiünfchen und von feinem Ber-.
hältni3 zu jener anderen, das doch alle Welt zu fennen und
zu billigen jcheint, nicht unterrichtet?”
„Sie müßte blind und taub umhergehen, wenn fie e3 nicht
wäre. Aber fie will ihn nicht freigeben. Und es fehlt ihm,
Wer wird jiegen? 2715
wie es ſcheint, an der rechten Energie, fich feine Freiheit zu
erzwingen. Unter den Männern viel mehr al3 unter den Frauen
find ja die mitleidswürdigen Schwächlinge zu ſuchen, die ſich
ihr Leben durch eigene Schuld verpfuſchen, weil ſie den Mut
nicht aufbringen können, glücklich zu ſein.“
Die Muſik verftummte, und auch wenn Gabor auf ihre
legten Worte: eine Erwiderung in Bereitichaft gehabt Hätte,
hätte fie unausgejprochen bleiben müfjen, da eben einige junge
Damen heranjchiwirrten, um ſich von Hertha zu verabjchieden.
Und nun wurde der Aufbruch bald allgemein. Gabor fand
feine Gelegenheit mehr, verjtohlene Worte mit der Tochter des
Gaſtgebers zu taufchen. Ein Händedrud und ein nur für ihn
vernehmliches, von einem bedeutfamen Lächeln begleitetes: „Auf
morgen aljo!" mar alles, was ihm in diefer Nacht noch an
Bunftbeweifen von ihr zu teil wurde.
Bon einem nahen Kirchenturme jchlug e3 Vier, als er in
die Straße einbog, in der feine Wohnung lag.
Und er Hatte fich Jo feit vorgenommen, frühzeitig wieder
daheim zu fein, weil er jich mit feiner Frau hatte verjühnen
wollen! Wie jeltiam, daß er während der ganzen Nacht nicht
mehr daran gedacht hatte — nicht ein einziges Mal! Wie
hatte doc) Hertha gejagt? Mitleidswürdige Schwädhlinge, die
fi) ihr Leben durch eigene Schuld verpfujchen, weil fie den
Mut nicht aufbringen fünnen, glüdlich zu fein! — Ob fie viel-
leicht auch ihn im Verdacht hatte, einer diefer Schwädhlinge
- zu fein? Und ob er nicht vielleicht in Wahrheit zu ihnen
zählte?
Se mehr er über ihre Worte grübelte, deſto mehr wollte
es ihn bedünfen, al3 ob fie nicht ohne eine ganz bejtimmte Be-
ziehung auf ihn gejprochen worden jeien. Aber wenn es jo
war — mein Gott, welcher Ausblid that ſich dann vor ihm
auf! War e3 möglich, daß Hertha in der Freundfchaft, die fie
mit ihm verband, ein Seitenjtüd jah zu dem Roman, der ſich
da zwiſchen den dramatischen Dichter und der gejchiedenen
Bankiersgattin abjpielte? Siedend heiß ſtrömte ihm alles Blut
zum Herzen, al3 jeine Gedanfen bis zu diefem Punkte gelangt
waren. Er mußte jeinen Hut lüften und feinen Ueberrod auf-
reißen troß der fchneidenden Kälte der Winternacht. Und ob—
2716 Reinhold Ortmann.
wohl er ficher war, daß Helene bereits im tiefen Schlafe lag,
gewann er es nicht über‘fich, in diefem Zustande der Erregung,
der fich feiner plößlich bemächtigt Hatte, feine Wohnung auf-
zujuchen. Bier- oder fünfmal noch jchritt er die Straße auf
und nieder, ehe er fich wieder Herr geworden glaubte über den
Sturm beunruhigender und unflarer Empfindungen, der da
mit elementarer Gewalt feine Seele durchbrauft Hatte.
Er war jebt voll Zorn über fich ſelbſt, und fortwährend
glaubte er die jchrille, höhnifche Stimme des Doktor Roberti
zu hören, wie er ihm zurief:
„Ein Schurfenjtreih — nad der Auffaffung der Philiſter!
Wir aber find eine Gejellichaft von freidenfenden, vorurteils-
(ojen Leuten.“
Kein, bei Gott — auch wenn es wirklich das Glüc war,
das ihm da winkte, nicht um jolchen Preis wollte er es feit-
halten. Taufendmal eher wollte er alle ehrgeizigen Hoffnungen
begraben, als daß er zum Schurfen würde an feinen Weibe!
Niemals war feine Seele voll beſſerer Vorſätze geweſen
als jest, da er leile die Treppen emporitieg und geräufchlos
die Entreethür öffnete, um Helenens Schlummer nicht zu
Itören. |
Die Thür zum Wohnzimmer war nur angelehnt, und
durch den Spalt fiel ein heller Lichtichimmer auf den Vorplatz
hinaus. Er jchlich auf den Fußſpitzen Hinzu und warf einen
ſpähenden Blid in das Gemach. Es war ficherlich nicht feine
Schuld, daß ihn die hübſche Einrichtung, an der er noch vor .
wenig Monaten jeine helle Zreude gehabt, dürftig und reizlog
anmutete nach) all der verſchwenderiſchen Pracht und Dem
raffinierten Luxus, Die ihn vorhin umgaben? Oder war es
vielleicht nicht jo jehr die Einrichtung al3 das Bild, zu dem
fie in dieſem Augenblid den Rahmen abgab? Denn Helene
war nicht zur Ruhe gegangen, wie fie e8 auf feinen ausdrüd-
lihen Wunſch ſonſt immer that, wenn er ohne fie eine Gejell-
ſchaft beſuchte. Sie ſaß vielmehr vollitändig angelleidet am
Tiſche und er fonnte nicht im Zweifel fein über die Art der
Beihäftigung, der fie fich während feiner Abwetenheit hin-
gegeben hatte. Sie hielt einen Strumpf in der Hand und ein
mit Strümpfen gefüllte Körbchen ftand vor ihr auf dem Tiiche.
Wer wird fiegen? 2717
Wahrjcheinlich Hatte jie fich in der Erwartung jeiner Rückkehr
bis lange nad; Mitternacht die Zeit mit Strümpfeltopfen ver-
fürzt, um dann doch endlich von der Müdigkeit überwältigt zu
werden. Denn 'fie war in den Stuhl zurüdgelehnt und jchlief
jest; ihr Köpfchen war nad) hinten gefunfen, und die ruhigen
Atemzüge einer friedlich Schlummernden hoben ihre Bruft. Sie :
jah jehr hübſch aus, und Gabor hätte fich wahrlich Feine befjere
Gelegenheit für die beabfichtigte Verfühnung mwünjchen können,
al3 fie fi) ihm da durch die Gunſt des Zufall bot. Er
brauchte ja nur hin zu gehen und Helene mit einem zärtlichen
Kup aus dem Schlummer zu weden, um ihrer Verzeihung ge=
wiß zu jein. |
Aber um nichts in der Welt hätte er über fich vermocht,
es zu thun. Wie lieblich auch vielleicht jedem andern das Bild
diefer über ihrer hausmütterlichen Beichäftigung vom Schlafe
überrajchten, rofigen, jungen Grau erjchienen wäre — ihn mutete
e8 an, wie eine Allegorie der häuslichen und künſtleriſchen
Miſere, in der er fein Talent und jeine Schaffensfreude zu
Grunde gehen fühlte.
Sparen und erwerben, fliden und Strümpfe ftopfen — das
war es, was feine Frau unter den Pflichten einer Künftlers-
gattin verjtand und was fie ewig darunter verjtehen würde!
Wenn er fie jebt übervollen Herzens in jeine Arme gejchlofjen
hätte, fie wäre imjtande gemwejen, ihn zu fragen, ob er viel—
leicht einen neuen Auftrag mit nad) Haufe bringe. Und darauf
oder auf etwas dem Wehnliches durfte er es nicht ankommen
lafjen, wenn nicht diefer Augenblid von verhängnispoller Be-
deutung werden jollte für die ganze Zukunft feiner Che. |
So trat er nicht über die Schwelle, jondern juchte nad)
einem Mittel, Helene zu weden und ihr feine Anmejenheit fund
zu thun, ohne daß er ihr darum Auge in Auge hätte gegen-
über treten müfjen. Er begab fich in jein Atelier und warf
die Thür desjelben jo heftig hinter fich zu, daß die Schlummernde
Dadurch notivendig aufgejchredt werden mußte. Dann zündete
er die Gasflammen an, weil er ihr Zeit laſſen wollte, fich zur
Ruhe zu begeben, ehe er felbft das Schlafzimmer auffuchte.
Aber die PViertelftunde, die er da zwilchen jeinen fertigen und
angefangenen Porträts verbrachte, diejer jchablonenhaftern Dußend-
2718 Reinhold Ortmann.
ware, deren Anblid ihm ein Gefühl tiefiten Widerwillend er-
zeigte — fie war für das Glück feiner Ehe vielleicht verhängnis-
al3 irgend ein unbedachtes Wort der ‚Jungen Stau es
hätte fein können.
Unter es dieſen Arbeiten der lebten Monate, ſo weit ſie
ſich noch in ſeinem Atelier befanden, war ja nur eine einzige,
die er aus künſtleriſchem Empfinden heraus und mit wahrer
fünjtleriicher Schaffensfreude begonnen —: Hertha Imgarts
Borträt. Und vor dieſem bis auf einige unbedeutende Kleinig-
keiten vollendeten Bildnis ſtand er jebt wie in andächtiger
Verzückung, um noch einmal zu durchleben, was diefer Abend
ihm. an unvergeßlich ſeligen Augenbliden gebracht hatte. Bor
denn Blick diejer gemalten Augen, deren Wiedergabe ihm fait
über die eigene Erwartung hinaus gelungen war, zerjtoben alle
jeine großen und edlen Vorjäße in leereg Nicht. Und wenn
Helene jeßt auf den Gedanken gekommen wäre, ihn zu über—
rajchen, würde ihr ein einziger Bli auf fein jenem Gemälde
zugemwandtes Antlitz offenbart haben, wie es um feine Empfindungen
beitellt war.
Aber fie war wohl zu jtolz, ihn zu belaufchen. Als er
nach einer geraumen Weile leife daS eheliche Schlafgemach be—
trat, jah er ihr blondes a mit geichlofjenen Augen auf
dem Kiffen ruhen, wie wenn jie bereitS wieder feſt eingejchlafen
wäre. Und er fonnte Jich entkleiden, ohne ein Wort mit ihr
zu jprechen. Die Öefahr einer Auseinanderjeßung, die in- diejer
Stunde vielleicht don unerwarteter Tragweite gemwejen wäre,
war aljo durch das von ihm gewählte AuskunftSmittel glücklich
abgewendet. Aber während er nun bis gegen Tagesanbruch
hin ſchlummerlos in die Dunkelheit jtarrte, umgaufelt von immer
wechjelnden, verführeriich lockenden Bildern, flang es ihm fait
unabläffig im Ohre nad), daS bedeutjame Wort Hertha von
den Schwächlingen, denen daS Glück entichlüpft, weil fie den
Mut nicht aufbringen können, es feitzuhalten.
Zweiundzwanzigites Kapitel.
Nun waren auch die legten Vorbereitungen erledigt, und
Erich) von Brunned hatte, wie er bei fich jelber jagte, die
Wer wird jiegen? 2719
Schiffe verbrannt, die ihm eine Nüdfehr in das alte Beben er=
möglicht hätten.
Wie heftig auch Dolly unaufgörlich zur Eile gedrängt
Hatte, waren doch volle acht Tage vergangen, ehe er alles hin-
länglic) geordnet hatte, um die große Reife antreten zu können.
Und er hatte fich damit einverjtanden erklären müſſen, Daß jeine
Berlobte, der der Berliner Boden buchſtäblich unter den
Füßen zu brennen jchien, feitden der entjcheidende Entſchluß
einmal gefaßt worden war, ſchon einige Tage vor ihm nad)
Hamburg fuhr.
Auch einem anderen von ihr fundgegebenen Wunjche, der
ihn an und für ſich noch weniger ſympathiſch war, hatte er
ih unter dem Zwang der Umstände fügen müfjen.
Doly Hatte ihm nämlich erklärt, daß fie aus Rückſicht
auf ihre in Hamburg lebende Zamilie, mit der ſie durchaus
feine nochmalige Berührung zu haben wiünjche, während Des
dortigen Aufenthalt3 nur unter faljchem Namen in einem Hotel
logieren könne. Und alle feine Einwendungen waren an Der
Beharrlichkeit geicheitert, mit der fie auf ihrem Willen beftand.
Nach den Erfundigungen, die er eingezogen hatte, fonnte
auch in Helgoland die Trauung nur auf Grund von Ausweiſen
erfolgen, deren Beibringung man ihm al3 ganz unerläßlich
bezeichnet hatte. Yür jeine eigene Perjon machte Die Be—
Ihaffung der nötigen Papiere allerdings nicht die geringjten
Schwierigkeiten. Dolly aber war über die Notivendigfeit, ſich
mit derartigen Dokumenten zu verjehen, jehr verjtimmt geweſen,
und hatte fein Erbieten, ihr zur Erlangung derjelben behilflich
zu fein, mit der Motivierung abgelehnt, daß ihre Familie leicht
auf ihr Vorhaben aufmerkfjam werden könnte, wen jie etwa
zufällig erführe, daß irgend ein Unbekannter auf jolche Art um
ihre Angelegenheiten befiimmert jei.
„Zur rechten Zeit werden die Schriftſtücke Schon da ſein,“
hatte fie ihn verfichert. Und da er ſie über die Wichtigkeit
derjelben ja nicht im Zweifel gelaſſen hatte, glaubte er fich mit
diefer vollkommen zuverjichtlich Hingenden Erklärung begnügen
zu können.
Er hatte darauf verzichtet, fie zu dem Abendzuge, mit
dem fie gefahren war, an die Bahn zu begleiten, weil alles
2720 Reinhold Ortmann.
vermieden werden follte, was ihre Abficht vorzeitig verraten
fonnte. Und er hatte die wenigen Tage, die ihm dann nod)
in Berlin verblieben waren, ausschließlich auf die Erledigung
gejchäftlicder und perjönlicher Angelegenheiten verwendet, ohne
irgend einem feiner alten Freunde und Belannten, von denen
feiner über fein Borhaben unterrichtet war, einen Abſchieds—
beſuch zu machen.
Wohl that es ihm leid, daß er nicht wenigſtens Gabor
Sarlo und feinem Schwiegervater zum lebten Lebemwohl die
Hand drüden konnte, und wohl kämpfte er lange mit der Ver—
ſuchung, einen jchriftliden Scheidegruß an Magda zu richten.
Aber Dolly Hatte feine feite Zufage, daß er nicht Derartiges
tun würde, und er hielt fich verpflichtet, feinem Verſprechen
treu zu bleiben.
Das Kapital, das ihm nach Erfüllung aller Verbindlic-
feiten noch verblieb, war Fleiner als er e3 vorausgejehen hatte,
und er mußte fich jagen, daß die Ausfichten für feine und
Dolys Zukunft trübe genug jeien, wenn es ihm nicht gelang,
drüben in der neuen Welt bald eine fichere Eriftenz zu finden.
Uber e3 Half ja zu nichts mehr, ſich jebt mit Sorgen zu
plagen um das, wa3 fommen würde. Es gab fein Zurüd
mehr, jondern nur noch ein unerbittliche8 Vorwärts, und es galt,
gleichlam mit gejchloffenen Augen den Sprung in dag Ungewiſſe
zu thun.
Erich kam fich vor wie ein abenteuernder GlüdSritter, als
er an einem vegneriihen Winterabend zum leßtenmal feine
Berliner Wohnung verließ, um die unten harrende Droſchke zu
beiteigen, die ihn zum Bahnhof bringen follte.
Während er dem Kutjcher behilflich war, feinen Reiſekoffer
auf dem Bod unterzubringen, fiel fein Blick auf einen Vorüber—
gehenden, der ihn jeinerjeitS eigentümlich jcharf und lauernd
zu beobachten fchien. Es war ein auffallend groß und breit-
Ihultrig gebauter Mann mit dunklen, ſeltſam gligernden Augen,
und Erich hatte auf der Stelle die fichere Empfindung, daß er
diefen Menfchen nicht zum erjtenmal in jeinem Leben jah.
Aber er vermochte fich nicht zu erinnern, wo und unter welchen
Umftänden er ihm begegnet jei. Und da der Unbekannte hajtig
weiter ging, hatte er ihn bald vergeſſen. Als er eine halbe
\
Wer wird fiegen? 2721
Stunde jpäter einen lebten Blid durch das Fenfter feines
Wagenabteils auf den Bahnfteig warf, wollte es ihm jcheinen,
als wäre der hochgewachlene Mann, der in großer Eile an
dem jchon zur Abfahrt bereiten Zuge entlang lief, um fich noch
im legten Moment einen Platz zu fichern, derjelbe, deſſen jcharf-
geichnittene Züge vorhin jeine Aufmerkjamfeit erregt hatten.
Aber er hielt diefen flüchtigen Eindrud für eine durch eine zu=
fällige Nehnlichfeit hervorgerufene Täufchung, und feine Ge—
danken waren in diejen enticheidungdjchweren Angenblicken zu
ſehr mit anderen, bedeutjameren Dingen bejchäftigt, al3 daß
er auf eine jo nebenſächliche Wahrnehmung hätte Gewicht
legen follen.
Beim Morgengrauen traf er in Hamburg ein. Aber er
nahm jein Quartier nicht in demjelben Hotel, das Dolly ge=
wählt hatte Denn wenn jchon dieſe heimliche Helgoländer
Trauung fehr wenig den Vorjtellungen entipradh, die er ih
bisher von der Würde und Feierlichkeit einer Eheſchließung
gemacht, jo würde er ſich's vollends nimmermehr verziehen
haben, wenn jein Verhalten während dieſer fluchtartigen Neije
die weibliche Ehre jeiner Verlobten noch mehr fompromittiert
hätte. Er hatte fie auch nicht von dem Zeitpunkt feiner An—
funft unterrichtet, um zu verhindern, daß fie ihn etwa am
Bahnhof erwarte, und eine unerflärliche Scheu, eine Feigheit,
die er nicht zu überwinden vermochte, wie ſehr er ſich auch ihrer
ſchämte, hielt ihn ab, ſchon in der erſten ſchicklichen Morgen—
ſtunde zu ihr zu eilen.
Es war faſt Mittag geworden, als er ſein Hotel verließ,
um das ihrige aufzuſuchen. An der Loge des Pförtners ver—
weilte er einen Augenblick, um ſich zu erkundigen, ob ihm etwa
ein Brief oder ein Telegramm nach Hamburg nachgeſandt
worden ſei. Und in dieſem Moment — jetzt war es ſicherlich
keine Täuſchung — ging draußen vor der offenen Thür der
ſonderbare Unbekannte von geſtern vorüber, ihn mit demſelben
funkelnden Blick betrachtend, der ihm zuerſt die Empfindung
erweckt hatte, daß es nur die Wiederholung einer früheren
Begegnung ſei, die er da erlebte. Auch jetzt wußte er ſich
nicht zu erinnern, wo dieſe Begegnung ſtattgefunden; aber er
eilte, einem gebieteriſchen Zwange folgend, auf die Straße
Ill. Haus⸗Bibl. U, Band XII. 171
2722 Reinhold Ortmann.
hinaus, um den Mann, der ihn allem Anfchein nad) ge-
fliffentlich verfolgte, jchärfer ind Auge zu fallen, oder ihn, wenn
es fich al3 möglich erwies, geradezu zur Rede zu jtellen.
Doc wie aufmerkſam er auch nach allen Seiten ausſpähte,
der Unbefannte war ihm während Diejer wenigen Sekunden
entjchwunden, als ob die Erde ihn verjchludt hätte, und Erich
mußte jeinen Weg antreten, ohne feiner noch einmal anfichtig
geworden zu jein. —
Mit ſtürmiſcher Zärtlichkeit wurde er von Dolly empfangen.
Sie wurde nicht müde, ihn zu verfichern, daß fie während der
Ichredlihen Tage, die jie wie eine Gefangene hier in ihrem
Hotelzimmer verlebt Habe, von der Sehnfuht nach ihm und
von der brennenden Ungeduld fat verzehrt worden je. Und
ihr Ausſehen zeugte hinlänglich dafür, daß fte nicht übertrieb,
denn fie war bleich und übernächtig, ihre Nafenflügel vibrierten
in heftiger, nerpöfer Erregung und ihre Augen glühten mie im
Sieber. Als er fie fragte, ob fie inzwiſchen in den Beſitz der
Papiere gelangt ſei, erklärte fie haftig, es jei alles in Ordnung,
und fie habe feinen fehnlicheren Wunſch als den, noch heute
zu reifen. Ihre Kleinen Hände frampften fih zujammen, als
Erich ihr auseinanderjegen mußte, daß daran nicht zu denken
jei, da erit am übernädjiten Tage ein Schiff abginge, das fie
benußen könnten. Auch fei dem Geiftlichen auf Helgoland erit
für diefen Tag ihre Ankunft angekündigt worden, jo daß fie
nicht darauf rechnen könnten, ſchon bei einem früheren Eintreffen
ihre Wünfche erfüllt zu jeher. Das Gewicht feiner Gründe
war ein derartiges, daß fie wohl einjah, es werde ihr aud)
diesmal nicht3 anderes übrig bleiben, als fich in jeine Wünjche
zu fügen. Aber es jchien ihr heute noch ſchwerer zu werden,
al8 an jenem Tage in Berlin, und Erich war geradezu bejtürzt
bon der nervöſen Aufgeregtheit in ihrem Benehmen.
Er machte ihr den Borjchlag, ihn auf einem Spaziergang
durch die Stadt oder auf .einer Fahrt nach irgend einem Punkt
der Umgebung zu begleiten. Aber fie lehnte es ab mit der
Begründung, daß fie Gefahr laufen würde, einem ihrer An-
gehörigen oder ihrer früheren Bekannten zu begegnen. Da:
gegen übergab ſie ihm ein Verzeichnis von allerlei ver—
Ichiedenartigen Gegenftänden, deren fie noch für .die meite
Wer wird fiegen? 2123
Reiſe bedurfte und deren Bejorgung fie vor der Abfahrt von
Berlin verjäumt hatte, mit dem Erjuchen, diefe Dinge für jte
zu faufen.
So wenig er jich auch eine jolche Empfindung eingejtehen
mochte, war Erich doch vielleicht im Grunde des Herzens froh,
der Notwendigkeit eine längeren Beilammenjeing, da unter
den obwaltenden Umpftänden etwas jehr Peinliches und Be—
drückendes für ihn hatte, durch dieſen Auftrag vorerjt über-
hoben zu jein. Und er verließ Dolly mit dem Verſprechen,
ihr gegen Abend das Gemwünjchte zu überbringen. Als er
\hon auf der Schwelle jtand, warf ſie ſich noch einmal, wie
vorhin bei feinem Erjcheinen, ſtürmiſch an feine Brujt nnd
flüfterte:
„Wären wir doch erſt fort — weit fort! Mir ift jo
bang, mein ©eliebter, jo unausjprechlich bang!“
Er juchte fie zu beruhigen, joweit es ihm in feiner eigenen
feinesweg3 ruhigen und zuderjichtlichen Stimmung möglich war.
Aber er ſah qn dem Zucden ihrer Mundwinfel und an dem
ungejtümen Wogen ihres Buſens, daß jeine Worte die beab-
fichtigte Wirkung auf fie nicht hervorbrachten, wenn jte Sich
auch nach einer Weile den Anjchein gab, von der Grundlojig-
feit ihrer unerflärlichen Furcht überzeugt zu jein und ihn mit
einem leidlich gefaßt Elingenden: „Auf Wiederjehen denn heute
abend!“ entlieg. — — (Sortfegung folgt.)
NORDEN GERSOL
ISCH. Deutliche Dichterarüße. TER“
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SE 3 ERROR
Die Fluge Tochter.
Diltor Blüthgen.
Mutter ſprach, wie Mütter ſind:
„Kind, laß Klugheit walten!
. Wenn dein Herzchen Liebe fpinnt,
Nimm dir feinen Alten!
Alter Mann ift wunderlich;
Blickſt du auf, fo ärgern dich
Weißes Baar und Salten.“
Mutter fprah: „Ach, denfe dran,
Willſt du einft nicht härmen:
Kommt ein junger Sreiersmann,
Mußt nicht gleich erwärmen!
Junge Treu ift feltner Art;
Glücklich macht fein fchmuder Bart,
Loch verliebtes Schwärmen.“
Ei, das wär’ ein feltfam Ding.
Mied' ich den und diefen!
Wenn ich nach der Mutter ging,
Hätt' ich’s wohl zu büßen.
Wer mich liebt, der mag mich frein!
Müßt' ich immer Sräulein fein,
Sollt’ es mich verdrießen.
ib
—
| Im dentfchen Reichstag.
Ein Blid in die parlamentarifche Majchinerie.
Don A. Dakar Rlaußmann.
(Nahdrud verboten.)
er in Berlin lebt oder Gelegenheit hat, für längere
14 oder fürzere Zeit nach Berlin zum Beluch zu fommen,
nimmt wohl Gelegenheit, einmal einer Sitzung des
deutjchen Reichſtags beizumwohnen. Wenn es Zeit und
Umjtände erlauben, macht man wohl auch unter Führung der
Hausbeamten einen Nundgang durch diejenigen Räumlichkeiten
des Reichstags, welche dem Publikum gezeigt werden. Hallen
bon riefigen Dimenfionen, von gewaltiger Länge und Höhe thun
ſich dann vor dem Belucher auf, große Näume, faft ausnahms—
108 zu Sitzungszwecken dienend, zum Teil noch nicht einmal
fertig ausgeführt, mehr oder minder koſtbar möbliert und aus—
geſchmückt, fieht der Beſucher. Sein Fuß wandelt auf Diden
Riejenteppichen, die aus einem Stüc nach bejonderen Maßen
gefertigt jind, und in welche meiſt das Monogranım D. R.
(Deuticher Reichstag) eingewebt iſt. Das Auge erfreut fich an
‚Kunftwerfen au8 Marmor und aus Sitrianer Kalkſtein, kunſt—
volle, bunte Glasfenſter ſpenden gedämpftes Licht, und man
empfindet es, daß etwas von Wichtigfeit und Feierlichkeit in den
Räumen dieſes Hauſes liegt. Aber der Bejucher ift noch nicht
imstande, fich ein richtiges Bild von dem parlamentarijchen Be—
triebe zu machen, befommt feinen Meberblid über die Thätigfeit
2726 4. Oskar Klaußmann.
der verjchiedenen Faktoren, die notwendig find, um die Mafchinerie
de3 deutſchen Reichſstags in Gang zu erhalten, und bejonder3
bleibt e3 ihm unklar, wo die treibende Kraft diefer Mafchinerie
eigentlich ſteckt. |
Die drei Faktoren der Gejebgebung und der Regierung im
deutjchen Reiche find erſtens der Sailer, dem der Reichskanzler
und die Staatsjefretäre zur Seite jtehen, zweiten? der Bundes-
rat, deſſen einzelne Mitglieder von den Bundesfürſten Bayerns,
Sachſens, Württemberg, Badend, Heſſens ꝛc. ernannt find und
die Intereſſen der Bundesfürjten und Bundesitaatern vertreten.
Als dritter Faktor fommt der Reichötag hinzu, Der aus den ge—
wählten Vertretern des deutjchen Volkes beiteht. Das Reichstags-⸗ -
gebäude ift daS Geſchäftshaus ſowohl für die einzelnen Parteien
des Volkes, als für den Bundesrat, denn diejer verfügt nicht
über ein bejondere® Gejchäftshaus. So: find innerhalb des
Reichstagsgebäudes alle Faktoren zu gemeinfamer Arbeit ver—
einigt. Deshalb hat auch der Reichskanzler, haben die Minifter
ihre bejonderen Arbeit3- und Unterfunftsräume, und felbft für
den Kaiſer jtehen für den Fall jeiner Anmejenheit Räume zur
Verfügung. Das Reichstagsgebäude enthält nicht nur im jo-
genannten Zwiſchengeſchoß eine Kaijerloge, in welcher der Kaiſer
mit jeinem Gefolge den Sitzungen beiwohnen kann, fondern hinter
diejer Hofloge find noch Räume für den Kaijer und fein Gefolge
vorgejehen. Es find hier Jogar Einrichtungen vorhanden, die
dem Kaiſer geftatten, zu arbeiten und ſich Vorträge halten zu
laſſen. |
Das Reichstagsgebäude ift bekanntlich nad) den Plänen des
ehemaligen Frankfurter Architekten Paul Wallot ausgeführt, der
bei dem PBreisaugjchreiben im Jahre 1882 für feinen Entwurf
den erſten Preis erhielt. Am 18. Juni 1883 bejchloß der Neichs-
tag die Berufung des Architeften Wallot zur Ausführung des
Baues, und am 9. Juni 1884 wurde durch Kaiſer Wilhelm 1.
der Grundſtein des NeichStagshaufes gelegt. Am 5. Dezember 1894
war der Bau hergeitellt, und Kaiſer Wilhelm II. legte den
Schlußſtein des Reichſstagsgebäudes. Die eigentlichen Baufojten
haben ſich auf einundzwanzig Millionen Mark geſtellt. Es wurden
außerdem bewilligt: für die innere Ausſtattung des Hauſes
an Möbeln 600000 Marf, wobei ein Zeil des Mobiliar aus
Im deutjchen Reichstag. 2727
dem alten Reichstagsgebäude in der Leipzigerſtraße mit verivendet
wurde; für Beleuchtungsförper 400000 Mark, für Teppiche,
Totalanficht des Neichstagsgebäudes, im Pordergrunde das Bismard-Dentmal.
‘ J
2 Tan
Läufer und Vorhänge 275000 Mark. Für die fünjtlerische Aus—
ſchmückung des Innern des Haujes war von 1893 bis zu Be—
ee —
—2 — —
2728 U, Oskar Klaußmann.
ginn der jetzigen Reichſtags-Legislatur-Periode (1898 bis 1903)
mehr al3 eine Million Mark ausgegeben worden. Die fünitle-
riſche Ausſchmückung ift jedoch noch nicht fertig, und diefer Mangel
macht ſich an verjchiedenen Punkten für den Bejucher ſtörend
bemerkbar.
Machen wir nun einen Rundgang dur) das Gebäude nad)
anderen Grundſätzen, al3 jonjt die Führung der Befucher erfolgt.
Suchen wir einmal hinter die Couliffen dieſes Rieſenbetriebes
zu jehen, und mögen ſich Leſerin und Leſer und vertrauensboll,
wenigſtens im Geiſte anjchliegen. Sie werden Einblid gewinnen
in eine Rieſen-Hauswirtſchaft, in welcher e8 allein vierzig Scheuer-
frauen giebt.
Um un im voraus einen Weberblic über da3 Innere des
Neichtagsgebäudes zu verichaffen, jei feitgeitellt, daß der Rieſen—
bau fünf Gefchofje hat und zwar: ein Kellergeſchoß, ein Erd—
geichoß, ein Hauptgeſchoß, ein Zwiſchengeſchoß und ein Ober—
geſchoß. Das Zwiſchengeſchoß ijt recht eigentümlich eingerichtet,
es enthält gegenüber den anderen Geſchoſſen auffallend wenig
Räume, die an und für ſich benußbar find. Der große Sitzungs—
faal, die riefigen Wandelhallen, welche den Sitzungsſaal umgeben,
die koloſſalen Vejtibüle an den vier Eingangsſeiten de Haufe
reichen nämlicd) vom Erdgeſchoß bis in das Zwiſchengeſchoß
hinein. Die erjterwähnten Räumlichkeiten gehen durch daS ganze
Haupt= und durch das ganze Zwiſchengeſchoß. Beinahe den
Mittelpunkt des großen Gebäudes bildet die Kuppel; unter dieſer
liegt, durch das ganze Obergejchoß gehend, ein leerer Raum und
dann unter diefem der Sitzungsſaal. Zivei Höfe von rechtecdiger
Form liegen innerhalb des Reichstagshauſes, einer mit den
Längsfeiten nad) Norden, der andere mit den Längsjeiten nacı
Süden (Brandenburger Thor), Wir begeben uns Ddireft nad)
dem Hauptgejchoß, und zwar nad) der Nord-Dftleite desſelben
und kommen hier in das Bureau des deutjichen Reichstags.
Diefes Bureau iſt die Achje des ganzen parlamentarifchen
Betriebes, die treibende Kraft des großen Mechanismus, ge—
wijjermaßen der feite Bol in der Erjcheinungen Flucht. Andere
Abgeordnete kommen in das Haus, andere Präſidenten und
Schriftführer leiten die Geſchäfte des Hauſes, andere Reichs—
fanzler und Staatsjefretäre, andere Bundesrats-Mitglieder treten
BE = — i⸗
Im deutjchen Reichstag. 2729
im Laufe der Zeit auf. Gleichmäßig bleibt nur das Bureau,
welchen alle Pflichten eines Hausverwalters, einer Verwaltungs—
Behörde, gewiſſermaßen die Pflichten einer Hausfrau und eine
Menge techniicher Verpflichtungen obliegen, von deren Größe
man ſich auf den erjten Blid gar feinen Begriff machen kann.
Wollte man Pflichten und Aufgaben des Reichstagsbureaus auS-
führfich ſchildern, ſo witrde ein ziemlich) dicfleibiger Band dadurd)
entjtehen. Wir müſſen und damit begnügen, anzuführen, daß
das Bureau eine Reichsbehörde it, die zu feiner anderen Be—
hörde in Beziehungen oder im Abhängigkeit3verhältnis jteht, und
welche lediglich dem Reichsſtags-Präſidenten unterjteht, für den
da3 Bureau wiederum die rechte Hand, die Helferin und Die
augführende Behörde ijt. Der Reichstag jelbit iſt feine Behörde,
er it einer der gejeßgeberifchen Faktoren des Reiches und fteht
mit den anderen Faktoren in gleihem Range. So find 3. B.
Reichdtagspräfident und Reichskanzler ſich vollitändig gleich-
gejtellt.
Der Haudherr, diejenige PBerjönlichkeit, die im Neichstags-
hauſe alle Anordnungen zu treffen hat, ift der Reichstag3-
Präſident, den die Mitglieder des Reichstags aus ihrer Mitte
wählen und zu deſſen Unterjtüßung zwei Bice-Prälidenten und
einige Schriftführer ebenfalls durch Wahl beſtimmt erden,
Da aber der Reichstags-PBräfident nicht jelbjtändig alle Einzel-
heiten bearbeiten fann, da es zu gewijlen Beiten, 3.8. nad
Auflöfung eines NReichstages oder nach Ablauf einer Sibungs-
periode überhaupt fein Reichsſtags-Präſidium giebt, bildet das
Bureau des Reichstags die Vertretung des Präfidenten, natürlich
unter jeiner Kontrolle und vorbehaltlich feiner Genehmigung
der einzelnen Schritte. An der Spite de3 Bureaus ſteht feit
vielen Jahren eine jehr verdienjtuolle Berjönlichkeit, ver Geheime
Regierungsrat Knack, ein Mann, auf deſſen Schultern, wenigſtens
zeitweife, eine ungeheure Arbeit lajtet. Während der Sibungs-
periode giebt es Tage, an denen Taufende von Zujchriften und
Zufendungen ankommen, die ohne allen Aufenthalt erledigt
werden müſſen. Dieſe Arbeiten verteilt der Bureau-Direktor
an jeine Beamten; er bejtimmt, von wen und wie die Eingänge
zu bearbeiten find. Er vermittelt den Berfehr im ganzen Haufe,
er weilt den einzelnen Abgeordneten nötigenfalls Beamte zır,
2730 4. Osfar Klaußmann.
ſucht alle Wünfche der Abgeordneten zu erfüllen, beauffichtigt
. die Haus-Inſpektoren, nimmt alle Anträge, die Abgeordnete in
der Sitzung ſchriftlich zu Stellen beabfichtigen, entgegen, empfängt
die in den Kommilfionen entworfenen Berichte, um ihre weitere
gefchäftliche Behandlung zu veranlaffen; außerdem erledigt der
Direktor jelbftändig den größten Teil der riefigen Korreſpondenz
mit Behörden und Privaten. Er nimmt die Petitionen ent-
gegen, die aus dem Reiche einlaufen, er führt den Abgeordneten
da3 don ihnen gewünschte Arbeitsmaterial zu, er bejorgt die
Drudjachen, er hat den brieflichen Verfehr mit den Abgeord-
neten, wenn ſie in der Heimat find, er bejchäftigt die Druderei
im Haufe, er dirigiert hundert verjchiedene Dinge und muß
jelbjt am Schreibtiich täglich eine Arbeit leiſten, die jehr oft
das Maß von Menjchenfräften überjteigt. Ihm unterjteht das
Stenographenbureau und die Bibliothek, ihm unterstehen das
Archiv und die Führung der Generalaften, er trifft vor jeder
Seſſion die nötigen Vorbereitungen, um die Wiederaufnahme
der Arbeiten im Haufe zu ermöglichen. Wenn nad) der Neu-
einberufung des Reichstags die erjte Situng beginnt, und der
Präfident die Worte ausſpricht: „Die Sigung iſt eröffnet!”
jo ift eine Riejenarbeit des Bureaus in der Zwiſchenzeit voll-
zogen worden, um der parlamentarischen Majchinerie die Wieder-
aufnahme der Arbeit zu ermöglichen. Auch wenn der Reichs—
tag während einer Legislaturperiode gejchloffen iſt und feine
Situngen ftattfinden, hört die Arbeit im Bureau nicht auf.
Es müſſen dann Ueberſichten angefertigt werden über Die
Thätigfeit des Reichsſtags und der Kommillionen. E3 find die
verjchiedenartigften Arbeiten, die der Reichstag gewünscht oder
angefangen hat, weiterzuführen, es jind beitändig Eingänge ent-
gegen zu nehmen, die Arbeit hört nicht auf! Sie vermindert ſich
allerdings, wenn der Reichstag geſchloſſen ift, und deshalb wird
um dieſe Zeit auch das Perſonal des Haufes und des Bureaus,
das nicht etatmäßig angejtellt it, entlaſſen und erſt wieder ein-
geitellt, wenn die Sigungen beginnen. Zum ftändigen Perſonal
des Haufes gehören außer dem Bureau-PDireftor und den haupt-
ſächlichſten Bureau-Beamten die Bibliothefare, der Chef des
Itenographijchen Bureau, die Haus-Inſpektoren, der ingenieur,
dem die Ventilation, die Beleuchtung und die Heizung unter-
Im deutfchen Reichstag. 21
ſteht, die Portiers, der Botenmeiſter und eine Anzahl von
Dienern. Auch die Zahl der vierzig Scheuerfrauen, die unter
einer beſonderen Oberin ſtehen, wird, während der Reichstag
8 RR Tan ARTE AN REIN) EA £ 2
Dis
— —
Zimmer des Kaiſers im Reichstagsgebäude.
geſchloſſen tft, vermindert, weil ja dann nicht täglich in großen
Stil reingemacht zu werden braucht. Wird aber eine neue
Sejjion des Neichstages eröffnet, dann finden ſich die Leute,
die entlafjen wurden, wieder zum Dienſt ein, die Fraftiong-
diener, die Saaldiener, die Thüröffner, die Aufzugmwärter, die
2732 A. Oskar Klaußmann.
Maſchiniſten und Heizer, die Stenographen, die Boten, die
Kolonne der Reinigungsfrauen uſw.
Zu den notwendigſten Dingen für den Betrieb im Hauſe
gehört, außer der Inſtandhaltung des Gebäudes, der Räumlich—
keiten; der Möblierung und Ausſtattung, außer der Reinigung
und der jetzt noch notwendigen Vollendung der künſtleriſchen
Ausſchmückung vor allem die Heizung, Lüftung und de-
leuchtung. |
Die Beleuchtung der Innenräume des Reich3tages geichieht
ausſchließlich durch eleftriiches Licht. Es find viertaufend
Glühlampen und ungefähr Hundert Bogenlampen vorgejehen. -
Die eleftriiche Kraft wird im Haufe ſelbſt erzeugt.
Senjeit3 der Sommerftraße, der Oſtfront des Reichstags—
gebäudes gegenüber, befindet „jich (jet noch im Neubau) ein
gewaltiges Gebäude im Monumentalitil, die Amtswohnung
des Reichstags-Präſidenten. (Augenblicklich befindet fich die—
jelbe bis zur SHeritellung des Neubaues am Pariſer Platz.)
Hinter dieſem Monumentalbau befindet ſich noch ein Gründſtück,
auf welchem ein hoher Schornſtein, ein Keſſelanlage- und ein
Maſchinenhaus ſtehen. In dieſem Keſſel- und Maſchinenhaus
werden Dampf und Elektrizität für die verſchiedenen Zwecke
des Reichstagsbetriebes erzeugt. Erſt ſeit kurzem hat ſich die
Reichstags-Verwaltung dieſe eigene Elektrizitätsanlage ein—
gerichtet. Sie entnahm früher den Strom von den Berliner
Elektrizitätswerken, wie auch die ganze elektriſche Inſtallation
von der Allgemeinen Elektrizitäts-Geſellſchaft, von der die
Elektrizitätswerke eine Abteilung ſind, geliefert wurde. Die
Elektrizität dient nicht nur zur Beleuchtung, ſondern auch zum
Antrieb der zwölf großen Ventilatoren, die im Kellergeſchoß
des Hauſes aufgeſtellt ſind. Dieſe ſaugen friſche Luft vor
allem durch die oberen Fenſter der beiden Weſttürme des
Neichstags-Gebäudes in das Haus ein. Durch eine beſonders
kunſtvolle Einrichtung wird bejtändig frifche Luft, die, wenn
nötig, vorher erwärmt wird, durch alle Räume, Korridore,
Säle und Höfe geleitet und die verwandte Luft nach dem Keller
zurüdgeführt, von wo aus fie durch die beiden Türme an der
Ditieite wieder in3 Freie gedrücdt wird. Der große Sitzungs—
ſaal erhält einen fünfmaligen Luftwechjel in der Stunde, für
Im deutſchen Reichstag. . 2733
die übrigen Sitzungsſäle, für die Erfriſchungsräume und den
Leſeſaal ift ein ziweimaliger, für die Kloſetts und Garderoben
ein zwei- bis Ddreimaliger, für die fonjtigen Räume ein ein-
maliger LZuftwechjel in der Stunde vorgejehen.
In der falten Sahreszeit werden ſämtliche Räume des
Haufes auf 20° Celſius geheizt, die Borhallen werden auf
10° Celſius erwärmt. Die Korridore, Treppenhäufer und Bor-
hallen find durch Dampfluftheizung, die Bibliothek, der Leje-
jaal, der lange Saal der Reftauration, die Bureaus und
Wohnungen durch Warmwaſſerheizung erwärmt.
Gemijchtes Heizſyſtem, nämlich Luftheizung und außerdem
noh Warmmafjer-Heizförper in den Fenſterniſchen haben die
Sigungsfäle, ferner ‚der Schreibjaal und der Edjaal der
Rejtauration.
Für den großen Sibimgsjaal ift eine von der übrigen
Anlage getrennte Dampf-Warmwafjer-Luftheizung eingerichtet.
Die Lüftung und Erwärmung des Haufe fteht unter beftändiger
Kontrolle durch fogenannte Ferninftrumente, insbeſondere durch
Thermometer. Dieje Apparate zeigen in einem Zimmer im
Erdgeichoß, in welchem der Ingenieur des Haufe ſitzt, beitändig
an, welche Temperatur in jedem einzelnen Raume herricht, mit
welcher Geihwindigfeit ſich die Lüftung in den verjchiedenen
Räumen vollzieht, und welche Beichaffenheit die Luft in jedem
einzelnen Raume des Haufes hat. Die eine Längswand des
Sngenieurzimmers ijt von einem Riejenschaltbrett in Anſpruch
genommen, auf welchem metallene Hebel befeitigt find, die man
nach recht3 und links, nach) unten und oben oder durch da3
Umdrehen eines an ihnen befeitigten Rädchens bethätigen kann.
Der Ingenieur oder feine Leute brauchen nur hin und wieder
einen Kontrollblid auf dieje Apparate zu werfen, um jederzeit
über Temperatur und Lüftung des Haujes unterrichtet zu ein.
Wollen fie einem oder mehreren Räumen mehr oder weniger
warme, mehr oder weniger frilche Luft zuführen, beablichtigen
fie tm Sommer, die Temperatur gewiljer Räume durch Zu-
führung frischer Luft herabzufegen, fo brauchen fie nur an
den am Schaltbrett vorhandenen Hebeln zu manipulieren, um
auf weite Entfernung in dem betreffenden Raum den gewünjchten
Erfolg zu erreichen. Die Fahrſtühle im Haufe werden hydraulisch
2734 : 4. Oskar Klaußmann.
betrieben; den Dampf, das Heiz- und Drudwaffer liefert die —
bereit3 erwähnte Keſſel- und Mafchinenanlage jenjeit3 der
Sommeritraße.
Beginnen wir jet unjeren Rundgang von dem Bureau
de3 Direftord aus. Der Eingang zu demjelben liegt in einer
langgeitredten, mit Oberlicht verjehenen Halle, welche den Vor- 4
raum für die Zimmer de3 Präſidenten bildet. Säulen von
rechteckigem Duerjchnitt und gewaltiger Stärke, aus iftrijch-
dalmatijchem Kalkitein gefertigt, tragen die.Wölbung der Halle.
Ein rotbrauner Teppich dedt den Fußboden, hohes, eichen-
geichnigtes Geftühl, deſſen Rückwand mit Gold und bunten
Farben gepreßtes Leder bildet, und dag in Riefen-Dimenfionen
den ftilifierten Reichsadler zeigt, jchmüdt diefen Vorraum. Wir
wollen hier gleich darauf hinmweilen, daß, ebenfo wie in diejem
Raume, im ganzen Reichstagsgebäude für die Ausführung der
Dekorationen, der Möbel, der Beleuchtungskörper uſw. die beiten
Firmen im ganzen Reiche zugezogen worden find.
Sp find z. B. in diefem Raume die zwei gewaltigen Kron—
feuchter für Gasglühlicht von einer Augsburger Firma geliefert,
und e3 find an den Dekorationen beteiligt Firmen in Mann-
heim, Hamburg, Berlin, Darmjtadt uf.
Nahe der Thür, die zu dem Bureau des Direktors führt,
mündet eine zweite Thür in den Edjaal der Bibliothek, der die
Heine Bibliothek enthält, nämlich die Nachjchlagewerfe, die für
den jofortigen Gebrauch der Reichstagsmitglieder hier bereit
ſtehen. Der große Arbeitsfaal und die Bücherei befinden ſich
im Obergejchoß, jtehen aber mit dem Raum hier unten durch
Aufzüge und eine Art Rohrpoft in Verbindung. An der öft-
lichen Langjeite der Präfidial-VBorhalle liegen ſolide, aber ver-
hältnismäßig einfach ausgejtattete Zimmer für die Schriftführer,
für die Bice-Präfidenten, für den Präfidenten, und außerdem
befindet fih hier noch ein Konferenz- Zimmer, in dem der
Neichstagsvorjtand feine Situngen abhalten kann. Die un-
mittelbare Nähe des Pirektorial-Bureaus3 neben dem Zimmer
des PBräfidenten ermöglicht ein rajches und ficheres Zufammen-
arbeiten. Dieſem Vorraum der Präfidial-Abteilung entiprechend
liegt jenjeit3 des Ofteinganges, auf der anderen Seite des Ge—
bäudes, ein ganz gleicher Vorraum, welcher für den Bundes-
Im deutjchen Reichstag. 2735
rat beitimmt if. Bon bier aus gehen Thüren nad) dem
Zimmer de3 Neichsfanzlerd Grafen von Bülow und der
Staat3jefretäre Grafen Poſadowsky, von Thielmann und von
Richthofen. Auch der Reichsfanzler und die Staatsſekretäre
haben ein bejonderes Konferenzzimmer. Dielen Räumlichkeiten
reihen fich ein VBorzimmer und zwei Situngsfäle für den
Bundesrat an. Der Bundesrat bejchließt über die im Reichs—
tag zu machenden Vorlagen und hat fich darüber zu erklären,
ob er die vom Reichstag gefaßten Bejchlüffe annimmt. , Er be-
Ichließt ferner über die zur Ausführung der Reichsgeſetze er-
forderlichen Verwaltungs-Vorſchriften und Einrichtungen. Er
beichließt ferner über Mängel, welche bei Durchführung der
Neichsgefege oder der erwählten Vorſchriften und Einrichtungen
hervortreten. Es find adhtundfünfzig Stimmen im Bundesrat
vorhanden. Bon dieſen hat Preußen feiner Einwohnerzahl
entiprechend fiebzehn Stimmen, Bayern ſechs, Sachſen und
Württemberg je vier, Baden und Helfen je drei, Medlenburg-
Schwerin und Braunſchweig je zwei, alle anderen Staaten und
freien Städte je eine Stimme. Jedes Bundesrat3- Mitglied
ilt befugt, Vorjchläge zu machen und zum Bortrag zu bringen,
und das Präſidium des Bundesrat3, d. h. der Reichsfanzler,
it verpflichtet, diejelben zur Beratung zu jtellen. Trotzdem e3
nur adhtundfünfzig Stimmen im Bundesrat giebt, find doch
einhundertvierundvierzig Bevollmächtigte und deren Stellvertreter
zum Bundesrat vorhanden. Für verjchiedene Beratungs-
angelegenheiten lafjjen fich die Staaten eben durch verjchiedene
Bevollmächtigte vertreten, welche den Gegenjtand der Beratung
bejonder8 genau fennen und beherrichen. Nur die Kleinen
Staaten und freien Städte haben gewöhnlich nur einen jtändigen
Bertreter. Aus dem Borraum fommen wir nad) links in den
eigentlichen Bundesrat3faal, wo ein hufeilenfürmiger Tijch
jteht, um welchen die ſchweren, mit Seidenplüfch bezogenen
Stühle für die Vertreter der einzelnen Staaten ftehen. Auf
jedem Platz liegt eine Ledermappe, die den Reichsadler, ſo—
wie den Namen des Bundesftaat3 oder einer der den Bundes-
ſtaaten gleichgeitellten, freien Städte Hamburg, Lübeck oder
Bremen in Golddrud trägt. Ein ziemlich breiter, veranda-
ähnlicher Balkon umgiebt dieſes Zimmer, welches leider zu
Er in —n
2738 2. Oskar Klaußmann.
denjenigen gehört, welche noch immer nicht fertig ſind. Die
neun Felder in der Tannenholz-Decke ſollen mit Gemälden ge—
ſchmückt werden, und es iſt bis jetzt nur eine Probe der Bemalung
der Decke gemacht worden, welche ſonderbar genug ausſieht.
Die Gobelins, welche die Wände bekleiden ſollen, ſind noch nicht
fertig, und die Wände ſind daher vorläufig mit grauem Stoff
beſpannt. Ueber dem großen Kamin aus iſtriſchem Kalkſtein
iſt ein rechteckiger Raum ausgeſpart, in welchen ſpäter ein
Relief aus vergoldeter Bronze eingelaſſen werden ſoll. Dieſes
Relief ſoll Kaiſer Wilhelm J. von einem Eichbaum längs eines
Kornfeldes zu einem Lorbeerbaum reitend, darſtellen.
Durch den Vorraum des eben beſichtigten Hauptſitzungsſaales
gelangen wir nun in den einfacher gehaltenen Sitzungsſaal für die
Ausichüffe des Bundesrat3. Der Bundesrat bildet nämlich aus
feiner Mitte folgende dauernde Ausſchüſſe: 1. Für das Land—
heer und die Feftungen, 2. für das Seewejen, 3. für Zoll- und
Steuerweſen, 4. für Handel und Verkehr, 5. für Eijenbahn-, Poſt—
und Telegraphenwejen, 6. für Juftizwejen, 7. für Rechnungs—
wejen. In jedem diejer Ausſchüſſe müfjen, außer dem Präſidium,
mindeſtens vier Bundesstaaten vertreten fein, von denen jeder
nur eine Stimme hat. Die Zufammenjegung der Ausjchüffe
wird für jedes Jahr erneuert. Es wird außerdem im Bundes-
rat aus den Bevollmächtigten der Königreiche Bayern, Sachjen
und Württemberg und zwei vom Bundesrat alljährlih zu
wählenden Bevollmächtigten anderer Bundesftaaten ein Aus—
ſchuß für die auswärtigen Angelegenheiten gebildet, in welchem
Bayern den Vorſitz führt. Bayern Hat auch) noch andere
Refervatrechte im Bundesrat. Es hat 5.8. in dem Ausſchuß
für das Landheer und die Feitungen einen jtändigen Sitz. Die
übrigen Mitglieder dieſes Ausjchuffes werden ebenfo wie die
des Ausſchuſſes für das Seewejen vom Kaijer ernannt, wohin-
gegen die Mitglieder der anderen Ausjchüjfe vom Bundesrat
gewählt werden. Neben diefem Saal befindet fich die hoch—
elegant eingerichtete, mit allen Bequemlichkeiten verjehene
Garderobe de3 Bundesrat. Im Reichstag Hat man für
„Garderobe“ das Wort „Kleider-Ablage” eingeführt; obgleich
diefer Ausdrud nicht volljtändig das Fremdwort vertritt. In
der Garderobe find ja auch Wajchapparate und andere Ein-
— ——— — — -
Im deutſchen Reichstag. 2737
richtungen für Toilette aufgeftellt und e3 handelt fich alfo nicht
allein um das Ablegen der Kleider. Erwähnenswert find hier
die Telephon-Apparate, welche ſowohl in den Sitzungszimmern,
al3 auch in den Klorridoren und im Foyer angebracht find und
e3 ermöglichen, das nächjtgelegene Fernſprechamt anzurufen.
Eine eigene Vermittelungs- oder entralitelle für das Fern- .
ſprechweſen hat der Reichsſstag nicht, während z. B. eine folche
im preußijchen Abgeordnetenhaufe zur Erleichterung des Ver—
fehres vorhanden it. Mit dem preußijchen Abgeordneten- und
mit dem Herrenhaus ift der Reich3tag durch zwei direkte Leitungen
verbunden. Es ijt dies deshalb nötig, weil ja jehr oft die Mit-
glieder des Reichstags auch Mitglieder des preußiſchen Herren-
oder preußilchen Abgeordnetenhaufes find, und e3 notwendig
werden kann, die Herren bei wichtigen Abjtimmungen aus einem
der Parlamente nad) dem andern zu berufen.
Da wir auf der Ditjeite de8 Gebäudes jind, befichtigen
wir gleich die Logen, da am Oſtportal die Aufgänge für Die
Diplomaten und HofsXogen liegen. Das Publikum, welches
die Neichstagsfikungen befuchen will, muß durch den Nordein-
gang, durch Portal V, jeinen Eintritt nehmen. Hier befindet
ih unten linf® die Billet-Ausgabe, welche jo viel Billetg,
natürlich unentgeltlich, ausgiebt, als Plätze vorhanden find.
Sobald die Tribünen bejegt find, werden Billet3 erjt wieder
ausgegeben, wenn Bejucher die Tribünen verlajjen haben. Aus
dem Beltibül, in dem fich die Billetausgabe befindet, kommt
man auf den Nordhof, der ebenjo wie der Südhof, eine Länge
von 25 und eine Breite von 14 Meter hat, und zu einer
Treppe nad) der für das Bublifum bejtimmten Tribüne.
Steigen wir dieſe hinauf, jo fommen wir in den Sitzungs—
ſaal jelbft, der für die Plenarberatungen dient. Diejer Raum
iſt gewiffermaßen die Hauptjache im Haufe, denn hier finden
die Beratungen des Reichſtags in Anmejenheit der Bundesrats—
Vertreter Statt. Viele Bejucher, die zum erjtenmal in dieſen
Saal treten, find über die Dimenfionen enttäufcht gemejen.
Sie hatten fich die Größenverhältniffe anders gedacht, ins—
bejondere, nachdem fie draußen die koloſſalen Hallen gejehen
hatten. Der Saal hat 22 Meter Breite, 29 Meter Länge
und 13 Meter Höhe. Das ift aber die äußerſte Grenze der
Ill. Baus:Bibl. II, Band XII. 172
2738 4. Oskar Klaußmann.
„Hörfähigkeit”. Würde man die Dimenfionen größer gewählt
haben, jo mwären die Redner nicht mehr verftändlich gemefen.
Der Saal ijt vieredig, und die gejamten Wände find mit Holz-
werk bekleidet, um die Akuſtik des Haufes zu verjtärfen. Der
Sitzungsſaal im Haufe der Gemeinen in London ift halb jo
groß wie der Sitzungsſaal im deutjchen Neichttagshaufe. Des—
halb aber bietet er auch kaum für die Hälfte der Abgeordneten
Plag und bei großen Sitzungen müfjen die englifchen Ab-
geordneten felbjt auf den Tribünen des Hauſes Pla nehmen.
Der engliiche Barlamentzfaal hat auch) feine Schreibpulte, jondern
nur Roßhaarbänfe, auf denen aber fein Abgeordneter einen
beitimmten Plab Hat. Nur derjenige Platz, auf dem ein
Eylinderhut jteht, gilt für befeßt und darf von feinem anderen
englijchen Abgeordneten eingenonmen werden. Der deutjche
und der engliihe Sitzungsſaal haben rechterfige Grundform.
In anderen neueren PBarlamentsgebäuden, 3. B. in Wien, in
Paris und in Madrid, find diefe Säle halbrund. Dieje Form
eignet fi) aber nur dann, wenn die Redner ſämtlich von der
Rednertribiine aus |prechen und nicht von Plaß, wie das leider
im deutſchen Reichstag meijt üblich ift. Die deutjchen Ab-
geordneten find zu bequem, um jelbjt bei längeren Auseinander-
ſetzungen exit die Nednertribüne zn befteigen und ich hinter
das Pult zu Stellen. Sie lieben es, vom Pla aus, in recht
legerer Haltung, womöglich die Hände in den Hojentajchen,
ihre Rede zu Halter. Sie bleiben dadurch unverjtändlich und
der Preſſe, welcher fait die. ganze Tribüne an der Südſeite
de3 Saales eingeräumt iſt, wird Die Berichteritattung durch
dieje8 Sprechen vom Platze aus jehr erichwert. An der Süd-
feite liegen neben der Tribüne der Preſſe die Logen für den
Bundesrat, an der Nordfeite diejenigen für den Hof und Die
Diplomaten. An der Weiteite jchliegen fich die Tribünen für
das Publikum und die Mitglieder der Behörden an. An der
Oſtſeite des Saales befinden fich feine Tribünen. Hier ift im
Saale ein Podium errichtet, auf welchem in nochmaliger Er—
böhung der Aufbau Pla gefunden hat, der die Redner—
tribüne und über ihr die Site für den Schriftführer und den
Präſidenten enthält. Zur Rechten und Linken diejes Bräfidial-
aufbaues ftehen auf Ddiefer Empore lange, breite Tijche und
— —
Im deutſchen Reichstag. 2739
hinter dieſen ſchwere, eichene, ledergepoliterte Lehnſeſſel. Rechts
vom Präſidenten fiten an einem langen Tiſch der Neichsfanzler,
die Minijter und die Staatsjefretäre, Linf3 die anderen Bundes—
ratövertreter. Unter der Nednertribüne jteht der jogenannte
„Tiſch des Haufes“ mit zwei Wahlurnen in dunkler Bronze,
deren Deckel mit der vergoldeten Kaiſerkrone geſchmückt Jind.
BEL
Stuhl Bismards, aus dem alten Reichstagsgebäude übernommen, jetzt der Sit
des Reichstagsabgeordneten Singer Ey ra tionszimmer der joztaldemofratifchen
artei,
Bor dem Tiſch des Haufe befindet ſich eine Baluftrade, und
innerhalb dieſer jteht der ziemlich lange Tiich für die Steno-
graphen. Die Zimmer der Stenographen liegen im Erd—
geichoß und ſtehen durch einen langen Gang und durch eine
Kleine Treppe mit dem Sißungsjaal im Hauptgejchoß in direkter
Verbindung. Die Stenographen, von denen die Hälfte dem
Syſtem ©abel3berger, die andere Hälfte dem Syſtem Stolze
angehört, nehmen paarweile, je zehn Minuten lang, die Ver—
handlung auf. Der Chef de Stenographen-Bureaus jigt an
1727
2740 4. Oskar Klaußmann.
einem bejonderen Pult innerhalb des durch die Baluftrade ein-
gefriedigten Raumes und bleibt ftändig auf jeinem Pla, um
die Zwilchenrufe und die anderen Notizen, wie zum Beilpiel:
„Laute Heiterkeit”, „Pfuirufe“, „Unruhe im Haufe”, „lebhafter
Beifall” zu firieren und an der richtigen Stelle im Bericht
einzufügen. Die Ablöfung der Stenographen erfolgt, da aud)
die Treppen und Gänge mit diden Teppichen belegt find, ſtets
lautlos. Die zwei von der Aufnahme der Debatte zuriüd-
fommenden Stenographen diftieren in den Arbeiträumen ihr
Stenogramm den dazu angejtellten Sefretären, welche das Diktat
auf gleichmäßig große Duartblätter in Aurrentjchrift nieder-
Ichreiben. Dann können die abgelöjten Stenographen ſich einige
Minuten ausruhen und treten dann wieder zur Ablöſung an.
Die Manuffripte werden den Rednern fofort zur Korrektur
vorgelegt und nach Diefer noch während der Sitzung in Die
Drudereien befördert. Der Borjteher des ftenographijchen
Bureaus trägt die Verantwortung dafür, daß unlorrigierte
Manuſkripte nur mit der Öenehmigung des betreffenden Redners,
beziehungsweile des Präfidenten, bereit3 korrigierte Manuffripte
aber nur mit der Erlaubnis de3 die Oberaufficht über Die
Stenogrammeführenden Bize-Bräfidenten, beziehungsweiſe Schrift-
führer oder des Nednerd au dem Bureau tweggegeben, fort-
gejendet oder einer dritten Perſon zur Einficht vorgelegt werden.
Dieje Berichte geben die Reden wortgetreu wieder, und wenn
man die unforrigierten Berichte liejt, überzeugt man ſich davon,
daß ſehr viele Parlamentarier ein recht fchlechtes Deutih in
ihren Neden zum beiten gegeben und daß den meilten Die
präzile Form des Ausdrucks mangelt. Eine Entjchuldigung
dafür ijt ja in manchen alle die perjünliche große Erregung,
in der fi) die Nedner befinden, bejonder3 wenn die Wogen
der Debatte jehr hoch gehen. Die Berichte, die auf dieſe Weile
aufgenommen werden, ind im Drud ungefähr nad) 48 Stunden
fertiggeftellt. Wer ji) das Vergnügen machen will, die Reden
und die ganzen Verhandlungen mwortgetreu zu lejen, kann auf
diefe Berichte bei der Pot abonnieren. Der Erwerbspreis
beträgt pro Bogen 5 Pfennige. Zür die Tageszeitungen find
dieſe offiziellen Berichte aus zwei Gründen nicht zu verwenden;
eritend find fie zu lang, zweitens aber erjcheinen fie zu fpät.
Re.
" 2
—
Im deutſchen Reichstag. 2741
Die großen Zeitungen unterhalten daher mit ſehr großen Koſten
eigene parlamentariſche Bureaus, welche die Debatten, wenn
auch nicht wortgetreu, ſo doch in den Hauptſachen ſtenographiſch
aufnehmen, und das Manuffript geht durch beſondere Boten
und Radfahrer bruchſtückweiſe nach der Druderei und in den
Satz. Es giebt auch bejondere parlamentarische Korrefpondenz-
Bureaus, welche derartige Berichte telegraphiich, telephoniſch
oder in Yorm von heftographierten und raſch gedrudten
Manuffripten an Berliner oder auswärtige Zeitungen liefern.
Diefe palamentariiche Berichterftattung ift für den Neichstag
und feine Mitglieder von höchſter Wichtigkeit. Wenn fich die
parlamentarifchen Berichteritatter, wie dies in London vor-
gefommen ijt, zu einem Streik entjchliegen würden, jo Fäme
der Reichstag in ſchwere Bedrängnid. Er würde dann „mit
Ausschluß der Deffentlichkeit” verhandeln. Wenn die Zeitungen
feine Berichte veröffentlihen, würde im Publikum von den
geijtvolliten Reden der Parlamentarier und den wichtigften Ver—
handlungen nicht3 bekannt, denn Die offiziellen wortgetreuen
Berichte find im Publikum ja gar nicht verbreitet.
Man Hat für die Preſſe im Neichdtag einigermaßen ge=
lorgt. Man Hat ihr 10 Arbeit3zimmer zur Verfügung geftellt,
welche in Zwiſchengeſchoß liegen, man bat ihr jogar einen
Heinen Leſeſaal eingerichtet. Im Obergeſchoß befinden fich noch
eine Anzahl von Telephonzellen für die Prefje, welche die Ver—
bindung mit Berlin und den auswärtigen Telephonäntern er-
möglichen. Ferner befindet ſich bier eine kleine Rejtauration
für die Vertreter der Prejje, jowie eine Anzahl von Warte-
räumen für die Radfahrer und Boten der Redaktionen. Bon
dem fchweren und anjtrengenden Dienft, den gerade die parla=
mentarijchen Berichterjtatter Haben, macht man fich im Publikum
gar feinen Begriff. Es ift Förperli und geijtig geradezu
aufreibend und nervenzerftörend, ftundenlangen, wichtigen Ver—
handlungen beizumohnen und gleichzeitig mitzufchreiben, und
zivar jo mitzujchreiben, daß nicht3 Wichtige im Bericht ver—
geilen und nichts Unmichtige8 angegeben wird. Die Art und
Weije, wie die Redner vom Plate aus jprechen, erjchivert, wie
bereit3 erwähnt, das Hören; dazu fommt die große Unrube,
welche bei vielen Rednern im Haufe dadurch Herricht, daß fi
2742 4. Oskar Klaußmann.
während der Rede desſelben die übrigen Parlamentarier un—
geniert laut unterhalten. Ferner erſchweren das Hören bei
bewegten Sitzungen die oft „wilden“ Zurufe und das Geſchrei,
das ſich im Hauſe ſelbſt gegen den Redner, bald von der Rechten,
bald von der Linken her erhebt. Dazu kommt im Sommer
eine trotz der Ventilation oft unerträgliche Hitze, die fortwährende
Rückſicht auf die Uhr, das Geizen mit Minuten, das Haſten
und Heben, um die Berichte ja nur rechtzeitig: noch auf dag
Telegraphenamt, in die ZTelephonzelle oder in die Druderei
Ihaffen zu können, und e8 giebt faun einen anderen Beruf und
eine andere Form der Berichterjtattung, bei der jo viel Leiftung,
Sicherheit und Anfpannung aller Kräfte verlangt wird, wie
gerade bei den parlamentarischen Berichten.
Die Einrichtungen für den gejamten parlamentarijchen
Betrieb und für die Bedürfniffe und Bequemlichkeiten der
Bolkövertreter werden wir am beiten überjehen und betrachten
fönnen, wenn wir einen Reich3tagsabgeordneten auf feinem
Tagewerfe begleiten. Natürlid) wählen wir einen der fleißigen
und gewiſſenhaften Abgeordneten, der e3 für feine heilige Pflicht
hält, das Vertrauen jeiner Wähler durch eifrige Arbeit zu
rechtfertigen. Ein ſolcher Abgeordneter hat ein gar ſchweres
Amt und muß feine gefamte Kraft in den Dienit des Barla-
mentarismus jtellen. Es fei zur Ehre der deutjchen Volks—
vertretung gelagt, daß es folcher Abgeordneten jehr viele giebt,
die allerdings in fchreiendem Gegenſatz zu den Leuten ftehen,
die ihre Mandat-Pflichten nur als einen Sport betrachten und
„im Nebenamt“ erfüllen. Es giebt auch Abgeordnete, die über-
haupt nicht in die Situngen gehen, die nie die Drudjachen
(efen, die ihnen zugehen, und die ſich während der Seſſionszeit
in Berlin aufhalten, um ihre Privatgefchäfte hier zu erledigen
oder um ſich zu amüfieren. Wenn eine Reichstags-Seſſion be-
ginnen fol, werden die Neichstagsabgeordneten durch Briefe
vom Reichstagsbureau aufgefordert, zu erjcheinen, und e3 wird
ihnen gleichzeitig Tagesordnung, Tag und Stunde der eriten
Sitzung angegeben. Die in Berlin eintreffenden Abgeordneten
melden fih im Bureau und teilen fofort mit, welches ihre
provijorische oder definitive Wohnung ift. Eine größere Zahl
ver Abgeordneten wohnt in Hotels, und zwar immer in dem-
Im deutjchen Reichstag. 2743
felben Hotel, wo dem Abgeordneten gewöhnlich auch ein be-
ſtimmtes Bimmer für die ganze Selfion zu entjprechend er-
mößigten Preifen zur Verfügung gejtellt wird. Ein anderer
großer Teil der Abgeordneten wohnt „möbliert“, und gewiſſe
Bimmervermieterinnen, im Berliner Jargon die „parlamenta=
rilhen Witwen” genannt, jowohl im lateinifchen Viertel von
Berlin, wie im Stadtteil Moabit, find auf die Beherbergung
von Abgeordneten eingerichtet. Auch diejelben möblierten Zimmer
beziehen die Abgeordneten meiſt wieder, und manche wohnen
jahrelang bei derjelben Wermieterin. Der verjtorbene Ab-
geordnete Windthorſt hat 3. B. zwanzig Jahre in einem ein-
fachen Stübchen in der alten Jacobſtraße als „möblierter Herr“
gehauft. Gewöhnlich nehmen die Abgeordneten im Hotel und
in den möblierten Wohnungen nur ihren Morgenfaffee und
höchſtens den Abendthee. Wollen fie ihre Abgeoröneten-Pflicht
erfüllen, jo find fie den ganzen Tag im Reichstagsgebäude in
Anfpruch genommen und fommen erjt wieder am Abend nach
Haufe. Der Abgeordnete muß am Morgen gewöhnlich einige
Stunden dem Lefen der Drudjachen widmen, die ihm von der
Botenmeijterei de3 Reichstags durch bejondere Boten, von denen
jedem ein bejtimmter Bejtellbezirk zugeteilt ift, in das. Haus
gebracht werden. Gemöhnlich treffen diefe Drudjachen in den
Nachmittags- und Abenditunden ein. Sie beftehen aus Tage3-
ordnungen, Gejeßes-Entwürfen mit den dazu gehörigen Motiven
und Anlagen, aus Kommilfionsberichten, gedrudten Auszügen
aus Petitionen, aus den Wwortgetreuen Situngsberichten, aus
Denkichriften, aus ſogenannten Blau- und Weißbüchern, aus
Rechnungsabſchlüſſen, aus Ueberfichten über die Thätigfeit von
Behörden und Verwaltungen und aus den Etat3. Der Haupt-
etat iſt allein ein dicleibiges Werk, das mehrere Kilo wiegt,
und feine Durcharbeitung erfordert für den gewifjenhaften
Parlamentarier viele Wochen. Um den Etat zu verftehen, dazu
muß man fich allerdings in ihn hineingelefen haben und ein
routinierter Parlamentarier fein, und der Abgeordnete Eugen
Richter gilt felbit bei feinen Gegnern für den beiten Kenner
und Benrteiler de3 Etats. Keiner findet fih in dem Ddid-
leibigen Werfe fo gut zurecht, wie er. Diefe Drucdjachen, wenig
rejpeftvoll im parlamentarischen Deutſch „Schinken“ genannt,
2744 A. Oskar Klaußmann, Im deutfchen Reichstag.
jammeln fi) in der Wohnung des Abgeordneten zu ganzen
Haufen an. Am Schluſſe einer langwährenden Seſſion find
e3 jchließlich zwei bi8 drei Gentner Mafulatur, deren Verkauf
der Abgeordnete gewöhnlich der Wirtin überläßt, nachdem er
lich die Stüde, die ihn intereffiert haben und die er aufbewahren
will, herausgefucht hat. ES giebt auch Abgeordnete, welche das
ganze Sahr über feinen Blid in diefe Drucjachen thun, und
die fie unberührt auf dem Stapel Liegen lafjen, ohne fidh je-
mals mit ihnen zu bejchäftigen. (Schluß folgt.)
Deutfche Dichter der Gegenwart.
Julius Lohmeyer.
Don Dr. R. St.
(Vachdruck verboten.)
in liebgewordener Hausfreund, der draußen in der
Welt viel erlebt hat und, was er mit finnigen Augen
2 geſchaut und mit warmem Herzen gefühlt, in an—
heimelnder Weiſe uns mitzuteilen weiß, verlockt uns
wohl nach jahrelanger Bekanntſchaft zu der teilnahmsvollen
Frage: „Wo kamſt du her des Weges? Wie biſt du geworden,
was du biſt?“ Ein ſolcher lieber Hausfreund iſt unſeren Leſern
Julius Lohmeyer geworden, der, wie kein zweiter, durch ſeine
herzerquickenden Dichtungen zu erfreuen verſteht. Nur wenige
wußten Näheres über die Perſönlichkeit des liebenswürdigen
alten Herrn; aber auch, die ihn nicht kannten, hatten ihn um
ſeiner zarten und launigen Dichtungen willen ins Herz ge—
ſchloſſen. Ueber den Werdegang eines ſo beliebten und unſeren
Leſern jo naheſtehenden Dichters Genaueres zu erfahren, iſt
gewiß ein berechtigtes Verlangen.
Am 6. Oktober 1835 wurde Julius Lohmeyer in der
maleriſch gelegenen Feſtungsſtadt Neiße in Oberſchleſien ge—
boren; er war, als der älteſte von vier Geſchwiſtern, beſtimmt,
die väterliche Apotheke zu übernehmen. Einer ſelten glücklichen
Jugend, vor allem ſeinen Eltern, dem edlen, ſonnigen Kinder—
gemüt ſeines naturbegeiſterten Vaters, das ihm die Welt er—
ſchloß, dankt er es, wie er ſelbſt ausſprach, wenn er die Fähig—
keit beſitzt die Herzen der Kinder zu begeiſtern.
2746 Dr. 4, St.
Urjprünglich ſollte er die väterliche Apothefe übernehmen
und wurde don einem Freunde feines Vaters in diefen Stand
eingeführt. Eifrig gab er fich dem Studium der Naturmifien-
Ichaften hin. Seine Neigungen aber gingen fchon von der
Schülerzeit an auf Dichtung und Litteratur. Der Wunsch,
einem liebenswürdigen Mädchen feine Hand reichen und einen
Hausſtand begründen zu Fünnen, ließ ihn von anderen Plänen
wieder zu dem zunächit ergriffenen Berufe zurüdfehren. 1863
übernahm er nach abgelegtem Staat3eramen al3 Befiter die
Königliche Hofapothefe in Elbing.
- Die parlamentarijchen Kämpfe vor und nach 1866 zogen
ihn in das politiche Leben hinein, und ſchon in diefer Heit
befundete er fich al3 warmer Patriot. Eine Reihe ſchwung—
voller, erniter und Humoriftiicher SKampfgedichte, die der
„Kladderadatſch“ von ihn veröffentlichte, veranlaßten den da-
maligen Leiter des berühmten Witblattes, Ernſt Dohm, ihm
im Jahre 1867 eine Stellung an der Redaktion des einfluß-
reihen Organs anzutragen. Lohmeyer gehörte der Redaktion
des „Kladderadatich” bis zum Jahre 1873 an und machte fich
vor allem in den Kriegsjahren 1870/71 durch feine hinreißenden,
vaterländiichen Gedichte, die vielfach) in Sammlungen und
Schulbücher übergegangen jind, befannt.
Einige Kinderjchriften, die Lohmeyer auf Veranlaffung
de3 Sladderadatich-Verlegers jchrieb, erlebten jeltenen Exfolg,
der den Dichter völlig überrafchte und ihn 1873 zur Gründung
der „Deutjchen Jugend“ veranlaßte, einer im vornehmſten Stil
gehaltenen Kinderzeitichrift. Lohmeyer Hat den mweitgehenditen
Einfluß auf die gefamte Sugendlitteratur, vor allem nach
fünjtlerifch-poetifcher Seite Hin, ausgeübt. Die Lektüre des.
Kindes, welche feit Jahrzehnten einem trodenen Dilettantismus
überantwortet gewejen war, gewann durch die Mitwirkung
einer Reihe namhafter Talente, die ſpäter zu reichem Dichter-
ruhm gelangten, wie Bictor Blüthgen, Johannes Trojan,
Frida Schanz, Heinrich Seidel und anderen, fünftlerijch-
edle Form und atmete wieder Humor, Phantafie, Geihmad.
Werner Hahn urteilte in feiner „Geſchichte der poetifchen
Litteratur": „Lohmeyers Jugendwerk wird durch feinen
dauernden Wert in der Litteraturgefchichte den Ruhm einer
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Deutſche Dichter der Gegenwart.
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2748 Dr. 4. St.
nd
Durch die Beziehung zu den Künjtlern, die für feine Beit-
Ichrift Zeichnungen lieferten, trat Lohmeyer bald auch zum
„Berein Berlin Künftler” in nahe Verbindung. Jahrelang
dichtete er für diefen Verein Künjtlerfeitfpiele, welche mit großer
PBracdtentfaltung zur Aufführung gebracht wurden, und zum
Danf wurde er zum Ehrenmitgliede des Verein ernannt.
Durch ſchweres Leid follte die Weltanfchauung des Dichters
jene Bertiefung erfahren, die wir in feinen jpäteren Werfen
bewundern. Aus einem behaglichen Heim in einem zurüd-
gezogenen Winkel Berlins, nicht zu fern dem Tiergarten ge-
legen, riß den Dichter plöglich ein jelten trauriges Geichid
heraus. Sein Weib und fein Kind wurden von unheilbaren
Leiden erfaßt, er jelbit erkrankte an einem ſchweren Augen-
nervenübel, das ihn zu jeder jchriftitelleriichen Thätigfeit lange
Zeit unfähig machte. Eine ruheloje Periode des Reiſens und
Wandern begann. Drei Sahre vermweilte Lohmeyer in der
Schweiz, ohne Heilung für fi) und die Seinigen zu finden.
Nach unjagbaren Leiden ftarben ihm Weib und Kind. In dem
beiten Mannesalter jtehend, durch fein Augenleiden bereits
lieben Jahre unfähig zu jeglicher Arbeit mit der Feder, Fehrte
er allein, ohne Familie, in die Heimat -zurüd. Aber in jenen
Sahren bitterjten Lebenswehes, die er in der Einjamfeit der
großen Alpennatur, unter den weiten Sternenhimmel der Hoch-
alpen zugebracht, hatte fich feine Weltanschauung gereift und
geläutert, er hatte fi) „zu der Weisheit des Gemüt und
Geiſtes durchgefämpft, welche den Schmerz des Einzelnen auf-
hebt in höherer Harmonie des Ganzen.“
Endlich wurde ihm Erlöjung. Ein ausgezeichneter Augen-
arzt, Profeſſor Albert Nagel in Tübingen, erkannte fein Leiden
und befreite ihn von namenlojen Qualen. Und wieder auf den
Alpen, wo er fein Schwerjtes erlebt und fein innerlich Beſtes
gefunden, fand er auch ein neues ſchönes Eheglüd. Aus dieſem
Zuſammenhang eine zur Ruhe durchgerungenen Wehes und
eines neu aufdämmernden Heimat3- und Eheglücks erwuchſen
die „Gedichte eines Optimiſten“. E3 find reife Lebens-
früchte, dieje Ehelieder, voll jubelnden Dankgefühls und frommer
Innigkeit, diefe Wanderflänge, Tagebuchblätter, bejchaulichen
Sprüde Es läßt fich nicht aufzählen, was das Buch allen
Deutiche Dichter der Begenmwart. 2749
Herzensfreunden bietet. „Der Wandel des Flüchtigen“ hat den
Dichter wahres Glück kennen gelehrt. Beichränfung ohne Neid,
Liebe zum Haufe, zur Natur, Aufblid zum Ewigen; alles weiſt
ihn über fich hinaus auf etwas Bleibendes, Allwaltendes; das
Weltgeheinnis ift ihm die Liebe und erfchließt fich nur der Demut.
Seitdem hat fich ihm ein Jahr ftillen Ehe- und Familien-
glüdes an das andere gereiht. Zwei Knaben und ein Mädchen
beleben jein den Freunden teures Haus. Charakteriſtiſch für
die erjte Zeit wiedererlangten ftillen Glüdes und Schaffens iſt
wohl das von uns mitgeteilte Gedicht „Großſtadt-Idylle“.
Wandte ſich Lohmeyer bisher in jeinen projaischen Werfen
vorzugsweiſe an die reifere Jugend, ſprach er in den poetilchen
Gaben vorzugsweile zu der frohen Welt der Kleinen und
Kleiniten, jo wandte jich das fonnige Gemüt des Dichters fortan
mehr dem finnigen Erwachjenen zu. Am befannteiten wurden
wohl jeine Xebensiprüche „Auf Pfaden des Glücks“, feine
Kovellen „Die Beſcheidenen“ und „Wir leben noch” und
jeine Jugendnovellen „Junges Blut“ und „Sugendwege
. und Serfahrten.”
Dr. Julius Lohmeyer it eine echte Poetennatur. Eine
wunderbare Gabe befißt diefer Dichter, das Glück zu finden
in Kleinsten, Unfcheinbarjten. Es giebt wohl feinen zeit-
genöffichen Dichter, welcher weiter vom Peſſimismus entfernt
wäre al3 Lohmeyer, eine Natur, welche von Liebe und Pietät
itrahlt. Jedes Gejchöpf it ihm eine Freuden- und Genuß—
quelle. Dazu fommt eine urjprüngliche Verklärungsfraft, welche
unbefchreiblich liebenswürdig wirkt. Da ift nicht Bacchantiſches,
nichts Trotziges, nichts Biſſiges; aber auch nichts Süßliches,
Ueberweichliches, Schwärmerifches. Ein reifer Mann, auch ge=
Ichmadßreif, jchreitet abgeklärt durch dag Leben und legt hier
und da feine Finger auf Dinge, die ihn innerlich über ſich ſelbſt
hinausheben und ihm eine Ausſprache abzwingen. Wir find
überzeugt, daß Julius Lohmeyer wie fein anderer jeine große
Gemeinde hat. Nur die bedeutendjten der lebenden Dichter
bieten in ihren Gedichtſammlungen jo wenig Nieten wie Loh—
meyer, liebenswürdiger aber wirkt feiner. |
Als die vaterländiiche Bewegung fi, vor allem auf An—
regung Kaiſer Wilhelms II. der Schaffung einer ftarfen deutichen
2750 Dr. X. St.
Seemacht zumwandte, begründete Lohmeyer zur Unterjtüßung der
von den Gegenparteien bedrohten „zweiten Flottenvorlage* die
ſeinerzeit viel genannte „Freie Vereinigung für Flottenvorträge“,
die jogenannte „ProfejjorensVereinigung“, unter deren
Mitgliedern die erlauchtejten Männer in Wiſſenſchaft, Litteratur,
Kunft und Technik al3 Kronzeugen für die Notwendigkeit der
Stärkung deutſcher Seemaht in Wort nnd Schrift eintraten.
Schließlich vereinigte Lohmeyer den großen Kreis hervorragender
patriotiicher Männer zu einem Zuſammenwirken in der jeit
1901 unter jeiner Leitung erjcheinenden nationalen „ Deutjchen
Monatsjchrift für das gefamte Leben der Gegenwart.“
Schließen wir diefe Skizze mit den Worten de3 finnigen
Ludwig Ziemſſen: „Nichts gleicht dem Gefühl tiefer Er-
quidung, das die Lektüre dieler Föftlichen Bücher Hinterläßt;
man fühlt fich ſelbſt beſſer, froher, glüclicher in der Nach—
empfindung dieſer bezaubernden Lieder, auf denen es wie
Sonnenglanz einer jchöneren Sphäre ruht, und gewinnt in—
mitten einer tief in fich zerriffenen und gejpaltenen Gegenwart
neue Zuverſicht zu Menfchen, Zeit und Leben. Schöner, inniger,
weihevoller ijt faum je das Glüd, dag ein twaderer, jinniger
Mann im Befiß von Frau und Kind empfunden, ausgelprochen,
ausgejungen worden. Hier ijt in vier Heilen oft Tiefites und
Herzbewegendſtes gegeben. Ueberall ringt ſich bei Julius
Lohmeyer eine fein organiſierte Natur vollſtändigen, dichteriſchen
und humanen Andachtsgeiſtes zu vollem, harmoniſchem Ausdruck.
O glücklicher Poet, in deſſen Herzen Natur und Liebe alle
Diſſonanzen löſen und alles Vergängliche ein Unvergängliches
weckt!“
Seſam! Sefam! Peffne dich!
Papa im Arbeitsſtübchen Da ſpürt Papa ein Rühren
Zieht ernſt die Stirne kraus, Und lächelt übers Buch;
Iſt heut' ſelbſt für ſein Bübchen, Wohl öffnet alle Thüren
Für niemand heut' zu Haus. Solch holder Zauberſpruch.
Es klopft. Wer wagt zu ſtören? Und tönen ihm die Worte
Er hört e8 mit Verdruß. Zum drittenmal ans Ohr,
Ein Stimmchen läßt fih hören: ann öffnet er die Pforte
„Bapa, nur einen Kup!“ Und zieht fein Kind empor.
Er fheucht in raſchem Grimme Und ob auch fein Gewiſſen
Das Kind mit barichem Droh'n, Ihm ernite Mahnung hält:
Doc wieder wirbt die Stimme Sein Büblein abzuküſſen
Mit ſüßem Schmeidelton. Muß Beit fein auf der Welt.
Deutjche Pichter der Begenwart. 2751
Das Roggenkörnlein.
Jüngſt wogte hier ein weites Aehrenfeld,
Nun ging dahin jein fonmerliches Prangent,
Am Dornftraud nur blieb eine Aehre Hangen,
. Aus der ein Körnlein in die Hand mir fällt.
Aus diefem arauen Aderkorne fteigt
Ein neuer Halm und eine neue Aehre,
Ein Kornfeld einst, das fich gleich goldtem Meere
Leis rauſchend vor dem Saud des Ew'gen neigt.
Von Segen fühl' ich träufen meine Hand:
Ein unbegrenzter Strom von Lebensfülle
Ergießt ſich aus der unſcheinbaren Hülle
In ſonn'gen Segenswogen durch das Land.
Denn alle Macht, Gewalt und Herrlichkeit
Des Lebensſtroms aus ew'gem Liebesborne
Wogt jetzt durch meine Hand in dieſem Korne
Dahin von Ewigkeit zu Ewigkeit.
JIragemãaulchen.
Du holdes Fragemäulchen, ſüße Plage, Keimt doch empor in jenem dunklen Triebe
Komm nur, du lieber Störer meiner Ruh'; Der Baum, der einſt in Gottes Sterne ragt,
Geduldig leih' ich Antwort jeder Frage: | Das Heil’ge Sehnen, das in Weh und Liebe
„Warum, Bapa? Wohin? Weshalb? Wozu?“ | Sich bis zum Urquell alles Daſeins fragt.
GrouRffanf-Ioylie.
Ein Sonntagnachmittag. Im Schatten ruh'n
Die ftillen Gärten ung zu Füßen mu;
Ein bunter Sommerflor hüllt den Balkoıt,
Der ſchwebend wie ein luft'ger Blumenthron
Hinaushängt in die fonntagsftille Stadt,
Ans heimlich bergend Hinter Blüt' und Blatt,
In dichtes Weingerank und blüh'nde Roſen;
Fernher der Großſtadt Braufen, dumpfes Tofen:
Ein rafend Halten nach der Woche Plagen,
Genuß und Glück dev Stunde abzujagen
Durh Dunst und Glut und Staub. Hier Raft und Fülle.
Ein Finkenlied Schalt ſchmetternd durch die Stille;
Sonft alles jtumm. Um uns die grüne Bucht,
Und über uns der Sommerwolfen Flucht.
So ſitzen wir — der Bube jauchzt und lacht —
Der Tag verlifcht, — der Abend fommt, — die Nacht.
So Hand in Hand flieh’n uns die Sternenftundent,
Und Mund an Mund haucht glückberauſcht: Gefunden!
Bor ven Goldkaferſchuhchen.
(Daterträume.)
Bor meines Bübleind Kämmerlein Die Schühlein müfjen Wunder thun:
Zwei Kleine Schuhen ftehen, Wie lernt' mein Büblein ſpringen!
Die find fo niedlich, find fo fein, Bald wird ihm in den Käferfchuh’n
Wie ich noch fein? gejehen. Der erſte Echritt gelingen.
WET, ——— —— — —
2752
— — —
7
*
Dr. A. St., Deutſche Dichter der Gegenwart.
Allein die Schühlein wachſen aus
Beim Tippen und beim Tappen:
Bald hört man durch das ſtille Haus
Schnürſtiefel munter klappen.
Die ſtapfen nun mit Allgewalt
Herum auf Gottes Erden,
Bis auch die Stiefeletten bald
Zu Schäftenjtiefeln werden!
Da ſitzt der ganze Mann erjt drin,
Die können tapfer knarren
Und patjchen, Hu! durch dick und dünn,
Und mit dem Abjap fcharren.
Feſt aufzutreten immerdar
Mag er fich drin befleißen,
Und manches Paar in mandhem Jahr
Bertragen und verreißen.
Tanzſchuh' leg’ ich ihm jpäter zu,
Sudt er erjt Holde Fraüen,
Und ein paar derbe Wanderichuh’,
Die ſchöne Welt zu jchauen.
Und müßt’ es fein, jo wollt’ ich frod —
Sm flotten Wichs zu prahlen —
Einjt meinem Bruder Studio
Kanonen nocd bezahlen.
Das Rätſel der Ahnenburg.
Roman von Egon Fels.
((. Sortiegung.) (Vachdruck verboten.)
10. Der Shah.
SS obert jchob die Klappe, nachdem er fie ein paarmal
Fee | hin und her bewegt, damit fie leichter ginge, wieder
zu und ſprach weiter: „Set haben wir nach allen
Regeln der Kriegskunſt unfern Rückzug gelichert.
Nun denke ih — kann es los gehen.“
Er nahm jeine Laterne auf und jtieg langſam, Stufe nach
Stufe vorfichtig beleuchtend, dem Freunde voran, die Treppe
hinunter. Es waren zweiunddreißig ziemlich hohe Stufen
zurüdzulegen, ehe man wieder ebenen Boden erreichte und ſich
in einem halbrunden, ziemlich niederen, aber, wie die Treppe
und der obere Raum vor derjelben, von einer durchaus reinen,
falten Luſt erfüllten Raume befand.
Ueber die Möglichkeit, wie in diejem tief unter der Burg
liegenden, ein Sahrhundert völlig verjchlofjen geweſenen Gelaß
die reine Luft erhalten bleiben Eonnte, gaben ſpätere Unter—
ſuchungen die Beftätigung der Vermutung, welche gleic, anfangs
die bier herrſchende Zugluft in ihnen auffteigen ließ.
Kleine runde Löcher, dicht oben an der Dede der ge—
waltigen Wölbung, forrejpondierten mit einem eng vergitterten,
bieredigen Luftloch im Schorniteine des Kamines und führten
der Schabfammer ftet3 frijche Luft zu, während eine finnreiche
SU. Baus:Bibl, I, Band X. 173
2754 | Egon $els.
Vorrichtung, welche, im Schlote jelbft angebracht, das Gitter
Ihüßte, den jo benußten Quftzug verhinderte, auf das Feuer im
Kamine des Sanles jelbft beeinträchtigend zu wirken.
Das Burgpverließ war zu feiner Zeit ein gar gefürchteter
Drt, den jelbjt der VBorwibigite der Diener niemal3 zu betreten
gewagt haben würde, hätte es überhaupt einen benußbaren
Eingang gegeben. Doc da war nicht der Fall.
Der Gefangene, welcher an diefem furchtbaren Orte einige
Tage oder Wochen zubringen jollte, wurde mitteljt eines
Seile8 durch eine jchwere Fallthür binuntergelaffen und aus
diefem Grabe zur Zeit wieder empor geholt, wenn er über-
haupt das Licht des Tages wieder erbliden durfte So mußte
diefe Lage der Schatzkammer als die Jicherite und pafjendite
ſich dem Urenfel von ſelbſt aufdrängen, der nach jo langer
Zeit die Früchte der VBorficht und Sparjamfeit feiner Ahnen
ernten follte.
Waren diefe Früchte wohl auch zum größten Teile nicht
in einer Weije getvonnen worden, die jein unbejtechliches Ehr-
gefühl als ehrenhaft anjehen fonnte, jo waren fie doch nun um
jo jicherer fein unbejtritteneg Eigentum, als e8 wohl niemand
mehr gab, der ein Necht, und fei es auch nur ein eiigebildetes
geweſen, daran hätte nachweilen fünnen. So that er niemand
Unrecht, wozu aljo jollte er ſich Sfrupel machen?
Alle Zweifel, die Chutbert je gegen das Vorhandenſein
dieſes rätjelhaften Schaßes gehegt, wurden glänzender widerlegt,
al3 es fich jelbit die Fühne Phantafie feiner Mutter träumen
gefonnt. Da ſtanden Kiften und Kaften an den Wänden hin,
dicht nebeneinander, ja übereinander gejtelt. Da war ein
Kaſten, bis an den Rand gefüllt mit Goldftücen aller vormals
üblichen Werte. Da jtand eine große Kifte mit Silberbarren
und daneben eine Fleinere, aber mit Juwelen ohne Fafjung und
mit gefaßtem Schmud aller Art, mit Berlenjchnüren und anderen
Kleinodien, ziemlich) 6iß zum Nande gefüllt. Dort war eine
jehr große Kijte mit filbernen und goldenen Gefäßen. Daneben
eine Reihe eben folcher Kijten mit Eojtbaren Waffen, Rüftungen
und Helmen, auf daS reichjte gearbeitet, mit Gold verziert und
teilweiſe ſogar mit Edeljteinen geſchmückt. Da gab es Kiſten
voll feinjter Linnen und andere, mit fojtbarem Gold und
Das Nätfel der Ahnenburg. 2755
Silber durchwirkter Seidenjtoffe und ein Kleines Käftchen voll
jener herrlichen, flandriſchen Spiten, die als Wunderwerke
menſchlichen Fleißes angejtaunt und mit Gold aurgeinogen
wurden.
Alles das war ſehr gut und wohl erhalten; was gelitten
hatte, ließ ſich wohl wieder herſtellen, ja, die trockene Reinheit
der Luft hatte ſelbſt Eiſen und Stahl ſo ziemlich vor Roſt
bewahrt.
Faſt ſprachlos, nur hin und wieder durch einen Ausruf
des Erſtaunens bei- einen beſonders reichen Funde das tiefe
Schweigen unterbrechend, hatten die Freunde all dieſen Reich—
tum oberflächlich gemuſtert.
Chutbert kniete eben vor dem Juwelenkaſten und ließ
gedankenlos, ſich an dem Schimmer ergötzend, einen Regen
funkelnder Steine, die im Lichte der Laternen tauſendfarbige
Strahlen ausſtreuten, durch die Finger laufen.
Robert ſaß auf einer daneben ſtehenden Kiſte und blickte,
das ehrliche, treue Geſicht vor Eifer und Freude hochgerötet,
mit blitzenden Augen zu ihm nieder. Endlich ward ihm nach—
gerade das tiefe Schweigen drückend, und er begann, es unter—
brechend: „Nun, Chutbert, haſt du vor Freuden die Sprache
verloren? Wer Hatte mm recht? Du ungläubiger Thomas!
Heila! das wird ein Leben werden! Du bilt jeßt ja falt reicher
als Graf Richard ſelbſt.“
Ungeftüm warf Chutbert die Sumelen, welche er eben
anfgenommen, um fein Spiel von neuem zu beginnen, in Die
Kite zurüd und ſchlug den Dedel zu. Aufipringend rief er:
„Das bin ich! ja, das bin ich! aber es freut mich nicht, noch
kann ich dies alles als mein rechtmäßiges — ich meine, als
mein alleiniges Eigentum betrachten.“
„Nun, als was denn ſonſt? Wer in aller Welt hätte
außer dir darauf ein Recht?“ rief erſtaunt Robert.
„Du biſt blind oder willſt blind ſein,“ entgegnete Chutbert,
ſich neben ihn ſetzend. „Glaubſt du wirklich, Richard würde,
wenn er gewußt, welcher Reichtum hier in dem alten Eulen—
neſte verborgen liege, es mit allem, was es enthält und ver—
birgt — ſo lautet ausdrücklich die Klauſel der Urkunde — mir
und meinen dereinſtigen Erben für ewige Zeiten abgetreten haben?“
173*
2756 Egon Sels.
„Warum denn nicht? Der Graf ift reich genug, er liebt
di, er iſt nicht geizig und gönnt Dir don Herzen alles
Gute.“ |
„Das weiß ih. Aber — ich liebe ihn auch und kenne
die Pflicht, welche die Ehre und das gewöhnlichſte Gerechtig-
feitägefühl mir auferlegt. Sch werde mich nicht eher meiner
Reichtümer freuen können, bis er fie mit mir geteilt hat.“
„Sroßmütig bis zum Exceß, wie immer!“ rief Nobert,
dem bei feiner genauen Kenntnis des Charakters feines Freundes
diejer Entſchluß keineswegs überrajchend Fam. „Nur glaube
ich durchaus nicht, daß du den Grafen zur Annahme diefer
Großmut wirt bewegen fönnen. Du weißt, er nimmt nie fein
gegebenes Wort zurück, ſollte er es auch bereuen und es ſein
eigener Schade ſein. Er gab dir ſein Eigentumsrecht an den
alten Stammſitz ſamt Inhalt und Umgebung, und du wirſt
alles ohne Ausnahme behalten müſſen.
„Aber — er gab es mir im Irrtum — vielmehr in
Unkenntnis über den ungeheuren Wert ſeiner Abtretung
an mich.“
„Nun — du kannſt es ja verſuchen, lieber Chutbert, aber
du wird ſehen, ich behalte recht. Laß aber doch alle dieſe
Grübeleien der Zukunft und freue dich mit mir deines
Glückes. Was wirſt du mit all dieſem Reichtum zunächſt
beginnen?“
„sch werde ihn gewifjenhaft in zwei Teile jcheiden und
mit meiner Hälfte dag alte Raubneſt ausbauen, den Wald in
der Nähe lichten laſſen, und wenn alles fertig iſt, auf dem
Greifenſtein mit meiner lieben Mutter und mit dir, du Ge—
treuer, haufen, bis es mir zu einſam wird im Forſte und ich
für ein paar Wochen benachbarte Burgen bejuche, oder aud)
nah Wien reife, um Richard heimzufuchen, mich in jeinem
Haufe oder am Hofe zu beluftigen und —“
„Eines fchönen Tages irgend ein edles Fräulein vom
Hofe als Burgfrau heimführen auf mein Schlog —“ er-
gänzte lachend Robert die Rede Chutberts, da diejer inne ge=
halten hatte.
Doch diefer fchüttelte den Kopf ſehr energifch und er-
widerte, Halb lachend, halb ernthaft: „Nein. Das wirt du
Das Nätjel der Ahnenburg. 2787
jobald nicht erleben. Dazu habe ich feine Luft, denn einmal
babe ich meine Freiheit zu lieb, um fie jelbit dem ſchönſten
Weibe zu opfern, und zweitens werde ich nimmermehr eine
jener hoffärtigen, im Minneſpiel nur zu geübten Schönen des
Hofes als Hausfrau heimführen. Ich will, wenn ich überhaupt
jemals heirate, mein Weib für mich und nicht für andere haben.
Zum Spiel ſind mir dieſe Hoffräuleins gut genug, zum Ernſte
aber noch lange nicht. Uebrigens habe ich — du weißt es
wohl, noch keine Frau geſehen, bei der mir der Gedanke, für
ihren Beſitz meine Freiheit herzugeben, auch nur einen Augen—
blick denkbar geſchienen. Es hat auch noch keine unter allen,
denen ich hofieret, dies große Opfer von mir verlangt, die
meiſten hätten ſich billiger gegeben, wenn — ich nur Miene
dazu gemacht. — Aber — der Zug wird nachgerade recht
empfindlich hier. Das Gewitter muß gewaltig abgekühlt haben
da draußen. Laß uns wieder emporſteigen in den Saal. Die
armen, zerfetzten Ahnenbilder da oben ſollen mir bald wieder
anders ausſchauen. Die ſoll Meiſter Ritter mit ſeinen Schülern
in die Kur nehmen, ſoll ausflicken, was ſich flicken läßt und
anderes nach den vorhandenen Reſten neu malen.
„Die Stoffe da und die Juwelen werden die Mutter in
Entzüden verjegen. Ich freue mich jchon darauf, wie ihre
Ihönen Augen beim Anblid diefer Schäße glänzen werden, Die
nun ihren — Betteljunfer, wie fie mich in bitterer Anklage
gegen das Schicjal jo oft zu nennen pflegte, mit einem Schlage
am reihen Manne machten.
„Du, mein guter Robert, wirft nun auch nicht mehr nötig
haben, deine Armut mit mir zu teilen, jondern fortan als mein
eriter Dienftmann vor der Welt, al3 meine rechte Hand in
Wahrheit, all daS Gute mit mir teilen, welches mir diejer
Reichtum mitbringt.”
„Ich danke dir, Chutbert, für deine Güte und nehme fie
an, wie fie mir geboten wird. Mehr Liebe und Treue als
Bisher kann ich dir dafür freilich nicht verſprechen, denn alles,
was mein Herz an beiden aufzumenden Hat, iſt bereit ganz
dein eigen.“
„Das weiß ich, mein lieber, treuer Gefährte, e8 bleibt in
allem übrigen alles beim alten, wir find und bleiben Brüder
J 2
Er tn. F
2758 Egon Fels.
im Herzen —“ erwiderte Chutbert bewegt, und eine herzliche
Umarmung beſiegelte aufs neue den alten ———— zwiſchen
Herr und Diener.
Beide ſtiegen hinauf und betraten, nachdem ſie die Thür
und die Steinplatte des Kamines hinter ſich geſchloſſen, wieder
den Saal.
Der Kamin bewahrte nun mit der dicken Rauch- und
Rußkruſte jeiner Hinterwand wieder jo ſorglich al3 bisher die
Schatzkammer ſamt ihren fojtbaren Inhalte.
Mittelſt ihrer Mäntel und Mantelſäcke bereiteten ſich die
jungen Männer in dem Nebengemache ihr Lager und ſchloſſen
mit vereinten Sräften die ſchwere, in den Angeln arg verroftete
Thüre, die fi nur mit einem Mark und Bein durchdringenden
Kreiihen zu dem von ihr geforderten Dienste herbeiließ,
hoben mit großer Anſtrengung den gleichfal8 verrofteten
Riegel vor und legten fich, obſchon vor aller äußeren Störung
gefichert, doch aus langgeübter Gewohnheit, mit den Waffen
dicht zur Seite, nieder, um, ermüdet wie ſie waren, mit all
der Schnelligkeit, wie der holde Gaſt der Jugend zu nahen
pflegt, alsbald in tiefen Schlaf zu ſinken.
Das Rauſchen des Waldes draußen, in dem der Wind,
welcher ſich noch immer nicht ganz gelegt hatte, jene geheimnig-
volle, die Seele in allerhand Träume wiegende Muſik weckte,
lang den Schlummernden da3 Wiegenlied, und die über Die
Mondesſcheibe zuweilen gleitenden Wolken vollführten auf
den Fußboden des Gemaches einen ſeltſamen, geſpenſtiſ Hg
Schattentanz.
Hier und da Hujchte ein Mäuschen aus jeinem Verſteck
hervor und betrachtete verwundert mit den glänzenden, Fugen
Aeuglein die Störer feiner Einſamkeit. Näher und näher
huſchten die Mondegitrahlen dem Lager und woben ein
Ihimmerndes Neb über die Schläfer, weckten in Chutberts
blonder Löwenmähne die ſchlummernden Goldfunfen, woben aus
ihnen eine Art von Heiligenichein um das jchöne, Fühne, vom
gefunden Schlummer mit Rojen überhauchte Geficht, und küßten
die gejchloffenen Lider jo Fräftig, daß der Schhummernde uns
ruhig ward und erwachte.
Das Nätfel der Ahnenburg. 2759
11. Die weiße Frau.
Chutbert war mit dem ſeltſamen Gefühle erwacht, welches
wir empfinden, wenn ohne unſer Wifjen der Blid irgend einer
Berjon fih auf uns heftet. Ihm war, als müfje fich außer
dem Freunde an feiner Seite, dejjen tiefe, regelmäßige Atem—
züge den ungeftörten Schlummer verrieten, deſſen er fich er-
freute, nocd) irgend jemand im Zimmer aufhalten, deſſen Nähe
er unbehaglich empfand.
Er richtete fi) auf und blickte umher. Das glänzendite
Mondlicht erhellte daS ganze Zimmer. Es war jo leer, wie
vorher. Kein Laut ließ fich hier hören als Nobert3 ruhiger .
Atem und draußen des Windes bald fanfte, bald braufende Mufif.
Chutbert meinte endlich), der Mondenjtrahl allein fei es
gewejen, der ihn gewedt und jenes unbehagliche Gefühl in ihm
erregt. Er rüdte ein wenig zur Seite und war im Begriff,
jich wieder umzulegen und ſorglos weiter zu jchlafen, als fein
Blick, ich noch einmal aufwärts wendend, auf eine weiße ©e-
ſtalt fiel, die dicht an jeinem Kopfe, regungslos, jo gegen Die
Mauer gejchmiegt jtand, als gehöre fie zu dieſer.
Ein dichter, weißer Schleier verhüllte daS Geſicht, doch
war er nicht dicht genug, al8 daß Chutberts Blick, der troß
des augenblidlichen Schredens die gewohnte Schärfe beivahıte,
nicht dahinter zwar geifterbleiche, aber Tieblihe Züge und ein
paar große, Schwarze, leuchtende Augen zu entdeden vermocht
hätte, die beivegung3los, ftarr auf ihn geheftet waren.
Schon öffnete er den Mund, um die Geitalt anzurufen,
als urplößlic) das Mondenlicht entſchwand und tiefſte Dunfel-
heit das Gemach erfüllte.
Eine große, ſchwarze Wolke glitt über den Mond dahin,
ſein freundliches Licht neidiſch verhüllend.
Chutbert ſchnellte empor, ein raſcher Griff und die Laterne
ſprang auf, gerade jene Stelle, wo noch ſoeben die Geſtalt ge—
ſtanden, ſcharf beleuchtend.
Die Stelle war leer — die Geſtalt verſchwunden.
Er hob die Laterne hoch empor und ſah eben noch die
Geſtalt im Begriff, jenen geheimen Gang durch die Thür neben
dem Kamine zu betreten.
2760 Egon Fels.
Chutbert wollte rajch fein Schwert emporraffen, ftolperte
aber in feiner Haft und fiel über Nobert3 außgeftredte Füße.
Dieſer erwachte nicht einmal darüber, er murmelte einige
unartifulierte Zaute vor fi) Hin und fchlief weiter.
Zwar Hatte Chutbert jich rasch wieder emporgerafft und
eilte, fein Schwert unter dem Arme, mit der anderen Hand
die Laterne hoch haltend, der Geftalt nach, die er indes nicht
gleich Jah, da fie großen Vorſprung gewonnen hatte, deren
Kühe er aber gleichjam inſtinktiv empfand.
Danf der früheren Unterfuchung des Ganges konnte er
jich unbedenklich rajch vorwärts wagen und fah denn auch bald
die weiße Frau vor Sich her ſchweben. Er rief fie an,
doch dies hatte feinen anderen Erfolg, ald daß fie raſcher
a
Die weißen Gemwänder wehten im Luftzuge, der auch hier
Eingang fand, da Chutbert die Thür hinter ſich offen gelaſſen,
um ſie her und ſchienen ſie gleichſam zu tragen, als ſeien es
Flügel oder Wolken.
Plötzlich fuhr ein heulender Windſtoß daher, ſchien die
Geſtalt zu erfaſſen und herum zu wirbeln, die Flamme in der
Laterne ſchlug hoch empor und — verlöſchte.
In tiefſte Finſternis gehüllt, ſtand Chutbert ſtill. Er
rief nochmals die Geſtalt an. — Alles blieb ſtill, nur das
Heulen, Jammern und Winſeln des Windes antwortete ihm.
Trotz all ſeines Mutes wagte Chutbert doch nicht, der
Erſcheinung im Finſtern weiter zu folgen.
Mißmutig tappte er ſich an den Wänden hin nach ſeiner
Lagerſtätte zurück und ſchlief endlich trotz des Grübelns über
das Geſpenſt ein, ſchlief fort, als längſt der helle Tag in das
Gemach ſchien und Robert ihn bereits mit der Morgenſuppe,
die er im Kamine bereitet hatte, erwartete.
Denn in der damaligen Zeit mußten die Reiſenden alles
mit ſich führen, was ſie unterwegs bedurften, da es der Her—
bergen nur wenige gab und dieſe ſelbſt oft nichts als nur ein
Lager und Unterkunft zu bieten hatten, das allerdings noch
öfter von ſolcher Beſchaffenheit war, daß es Perſonen höheren
Standes vorzogen, im Freien zu kampieren, wenn es anders
das Wetter und die augenblickliche Sicherheit der Umgebung
Tas Nätfel der Hhnenburg. 2761
geftattete. Deshalb war fein Neijender ohne das nötige Ge—
Ihirr und die Utenfilien zur Bereitung eines Mahles denkbar.
Als Robert ihn geweckt und er fi) den Schlaf aus den
Augen gerieben Hatte, genoß er jehr jtil und nachdenklich fein
Frühſtück.
Robert ließ ihn gewähren; als Chutbert aber auch dann
noch ſchweigſam blieb, ſagte er: „Du biſt ſo ſtill und nachdenklich
— haſt du etwa einen ſchweren Traum gehabt in der Nacht?“
Chutbert fuhr ſich mit der Hand über die hohe Stirn,
wie um ſchwere Gedanfen zu verjcheuchen, und ermwiderte auf-
Ihauend mit halbem Lächeln: „Das nicht gerade. Aber — ich
babe dein Geſpenſt von gejtern abend wieder gejehen.“
„Wie? — Haft du wirflih? Saheſt du e8 in der Nähe?
Wie jah e8 aus?“ rief Robert, feine Frogen Hinter einander
berjagend, und fauerte ſich neben dem Freunde nieder, der, als
ſei er noch ermüdet, ſich wieder auf feinem Lager dehnte.
ChHutbert erzählte nun, was er gejehen und wie e3 ihm
bei der Verfolgung der Geitalt ergangen.
Robert hörte ihm mit atemlojem Intereſſe zu und rief
dann: „Das iſt ja greulich, Hier in deinem Eigentume jold)
unheimlichen Gajt zu finden! Wahrlich, eine ſchlimme Zugabe
zu dem herrlichen Schage! Du mußt fchleunigit Pater Stephan
oder irgend einen anderen Prieſter, vielleicht hier aus der
Nähe, fommen lafjen, daß er den Geilt bannt!“
„Das werde ich bleiben lafjen, mein guter unge. Sch
bin wohl mindeſtens ein ebenjo guter Chriſt, wie ſolcher
Prieſter, und getraue mir mit dem Kruzifix in der Hand den
Geiſt allein zu bannen, wenn ich nur erjt weiß, wo er eigent=
lich hauft. Jetzt —“ jehte er kurz abbrechend, und eine ver-
juchte Erwiderung Roberts mit einer abmwehrenden Hand-
bewegung diefem auf die Lippen bannend, hinzu, „dürften
wohl endlich) unjere Leute anfommen. Willſt du nicht einmal
unten nachjehen? Dem Stande der Sonne nad) muß e3 in
der neunten Stunde jein und —”
„Wenn man den Wolf nennt, fo fommt er gerennt —“
citierte Robert das Sprichwort und wies auf die herfulifche
Geſtalt eines alten Mannes, der joeben ur der Schwelle des
Ahnenſaales erſchien.
2762 | Egon Fels.
Der Alte, dem man den ehemaligen Sriegäfnecht auf
Hundert Schritte anſah, obgleich er jetzt die Kleidung eines
höheren Diener3 in den Farben des Haujes Greifenklau,
dunfelblau mit Silber, trug, jchritt dröhnend über den Saal,
und auf der Schwelle de3 Gemaches ftehen bleibend, riß er
mit einer jtattlichen Verbeugung feinen Schlapphut von dem
weißen Haupte und rief fröhlich: „Gott zum Gruß, Junker
Chutbert! und Ihr, Meilter Robert!“
Er erhielt den Gruß von beiden gleich freundlich zurüd,
und der Junker rief aufltehend: „ES iſt mir lieb, daß ihr da
jeid. Dich, Alter, brauche ich hernach. Wie gefällt dir denn
mein Erbe?“
Er war dabei zu den Alten getreten, hatte ihm die Hand
gereicht und überjchritt nun, von ihm gefolgt, die Schwelle.
Der Alte warf einen mufternden Blid im Saale umher,
jtreifte die gemißhandelten Ahnenbilder, mit ihren zum größten
Teile ausgejtochenen Augen, und den jonftigen Spuren vanda-
liſcher Hände, ſowie die zerfraßten, zerhauenen Mauern, das
aufgeriffene Getäfel des Fußbodens mit den Augen, und er-
widerte endlich in fomisch-verlegener Weile:
„Na, 's könnte freilich beſſer, aber auch noch jchlechter
fein! Wenn wir nur Geld hätten, da wäre ung bald geholfen.
Denn die Mauern, daS hab’ ich ſchon gefjehen, find zum
größten Teile alle noch feſt und gut, die waren der Schwefel-
bande von Krämern denn doc zu ftark, die haben fie nicht
zeritören fünnen wie alle8 andere, und die halten wohl noch
ein paar Hundert Jahre. Ein Heidengeld wird's freilich
toten, und wenn nicht Frau Adelheid oder der Herr Graf —“
er fragte fich verlegen hinter dem Ohre und ſetzte bedauernd
Hinzu: „O je, 's iſt doch recht ſchade, daß es heutzutage nicht
mehr erlaubt ift, das Krämervolf zu fchröpfen! Sa, ja, ich
jag’3 immer, die alten Zeiten waren doch befjer.”
Der Junker erwiderte lachend: „Na, Hans Jochem, e3 ging
in alten Zeiten auch nicht immer fo glatt ab mit dem Schröpfen,
wie dir dieſe Burg am beiten bemweilen fann. Tröfte dich
aber, Alter, wir haben ſolche Geiwaltmittel nicht nötig. Das
Geld tft da, jo viel wir nur brauchen und noch viel mehr —
heidenmäßig viel Geld! Das Schloß wird aufgebaut! Dazu
= 5 — 7 —
Das Rätſel der Ahnenburg. 2763
brauche ich dich eben, daß du ſogleich nach der Stadt reiteſt
und Meiſter Hildebrandt, den hochberühmten Baumeiſter, hierher
holſt. Kannſt ihm immer ſagen, er ſolle mir mit ſeinen Geſellen
mein Erbe wieder herſtellen, ſchöner, prächtiger als es je ge—
weſen. Du, mein Alter, ſollſt mein Burgwart, und Brigitte,
deine Frau, Beſchließerin werden.“
„Juchhe! Mein junger, gnädiger Herr ſoll leben! Potz
Wetter! das ift ne Beſcherung und 's iſt doch nicht Weih—
nachtszeit!“ jchrie der Alte jubelnd und ftürzte fich auf des
Junkers Hand, um feinen borftigen, grauen Schnurrbart
wiederholt darauf zu drüden.
Chutbert ließ ihn Lächelnd eine Weile gewähren, dann
zog er feine Hand zurüd und fagte: „Laß es gut fein, mein
Alter. Mache dich nun auf, meinen Befehl zu vollziehen.
Je jchneller du reitet und den Meifter hierher bringit, deito
eher werden die Arbeiten begonnen. Sage zugleic) dem
Meiſter, er folle ſogleich Zimmerleute mit dem Nötigiten hier-
her beordern, damit.ich Thüren in die Thore befomme und
mein Eigentum nicht mehr jedem beliebigen Strolche offen
Iteht, dem e3 etwa einfällt, hier zu nächtigen und mir vielleicht
die Pferde zu jtehlen. Mache ihm begreiflich, daß dies vor
allem das Nötigite jei und noch heute notdürftig hergeftellt
werden müſſe. Das llebrige beipreche ich ſchon jelbjt mit ihm.”
Der Alte nickte verjtändnispoll, verbeugte fich, ftapfte, jo
raſch er fonnte, aus dem Saale die Treppe hinab und teilte,
während er wieder fein Pferd beitieg, jeinen Gefährten —
drei jüngeren Dienern, welche Frau Adelheid, die alte Gräfin,
ihrem Sohne zum Geleit mitgegeben, die große Neuigfeit im
Fluge mit, die mit nicht geringem Jubel aufgenommen ward.
Dann ritt er jpornitreich® von dannen, jo raſch es nur der
Wald erlaubte.
Während der Junker fich niederfegte, um' in feine Schreib-
tafel einen kurzen Bericht von dem glücklichen Auffinden des
Schatzes an feine Mutter, und die Aufforderung an jeinen
Bruder, zu fommen und den Schab mit ihm zu teilen, nieder-
zufchreiben, ftieg Robert auf feinen Befehl in das Schab-
gewölbe hinab, um der mit Goldjtüden gefüllten Kiſte eine
genügende Zahl von Doppeldublonen zu entnehmen, die Meister
2764 Egon Fels.
Hildebrandt als Vorſchuß zu der Beihafjung der Materialien
erhalten jollte.
Robert hatte dem Junker zivar vorgefchlagen, er ſolle
doch lieber perſönlich die Meldung des Glückfalles nach Wien
bringen, während er, hier zurückbleibend, die erſten not—
wendigſten Arbeiten beaufſichtige und mindeſtens ein Zimmer
fertig ausbauen und einrichten laſſe, damit der Rückkehrende
ſchon ſeine Bequemlichkeit finde. Doch Chutbert hatte dieſen
ſehr vernünftigen und ihm gewiß viele Unanehmlichkeiten er-
jparenden Borjchlag ſehr eifrig abgelehnt.
Ohne daß er ich felbit deſſen bewußt ward, fpielte das
brennende Verlangen, der nächtlichen Erjcheinung möglichit
bald auf die Spur zu fommen, bei diejer rajchen Ablehnung
eine große Rolle und überwog den einen Augenblick verlodend
auftauchenden Wunſch, bei der geliebten Mutter und dem
Bruder jelbit als. der Verkünder feines Glüdes zu erjcheinen.
Sp ritt denn einer der Diener mit der Freudenbotjchaft
und dem Auftrage, die andere nötige Dienerjchaft her zu be-
ordern, fort, und Junker Chutbert blieb auf Greifenftein.
Meiiter Hildebrandt, der bewährte Baumeiſter, griff mit
einer großen Anzahl feiner Gefellen raſch und mit Eifer den
ihm gerade jehr willfommenen Auftrag der Reftauration der
Ruine Greifenftein an.
Bald umgab ein Gerüft den halb eingeftürzten Wartturm
und den daran jtoßenden linfen, vom Feuer zeritörten Geiten-
flügel. Sm Inneren des unverjehrten Teile der Bura aber
war ein Haufen Arbeiter — Glaſer, Tifchler, Zimmerleute,
Schlofjer, Anftreiher — mit der Neftauration eifrigft be-
ſchäftigt. |
Die Ahnenbilder waren aus ihren in die Wand ein-
gelafjenen Rahmen herausgenommen und in Meifter Ritters
Kur gegeben worden. Der Maler hatte freilich über die
vandaliſch zeritörten Gemälde die Hände über dem Kopfe zu-
lammengejchlagen, aber dann doch gemeint, die Heritellung
werde zwar fchwierig, aber nicht unmöglich jein und jelbit,
wo dies unmöglich, würden die Kopieen nach den zerfeßten
Originalen an Aehnlichkeit nichts zu münfchen übrig laffen,
das fünnte er verjprechen.
Das Rätjel der Hhnenburg. 2765
Bei der guten Bezahlung trat nirgends eine Stockung ein
und alle Arbeiten nahmen einen gedeihlichen, vajchen Fortgang.
In ein paar Wochen war das Gemach neben dem Ahnenfaale,
das Sich der Junker zum Schlaf- und einftweilen auch zum
Wohnzimmer erforen, bereit3 fertig und gewährte mit feinen
friich getünchten Wänden, welche einige Bilder zierten, mit
den nach damaliger Mode zwar jehr jchwerfälligen, aber über-
aus bequemen, mit dunfelgrünem Damaſt bezogenen Polſter—
möbeln und einigen Schränken von jchöner und reicher Arbeit,
mit dem breiten, von einem Betthimmel überragten Bett, deſſen
Vorhänge von demfelben Stoffe waren, wie die Bezüge der
Möbel, einen überaus freundlichen Anblid. Der Laden am
Fenſter war entfernt, und neue helle Scheiben, die an den
Rändern und im oberen Teile von. farbigen Gläfern eingefaßt
waren, glänzten in den Bleigittern des Feniters.
Bon dem großen Yenfter aus, Hinter dem zu beiden
Seiten grüne Damaftgardinen niederhingen, hatte man eine
ſchöne Ausficht auf den im Umkreiſe der Burg ſtark, aber mit
Geſchmack und forgfältigiter Schonung der ältejten und Schönsten
Bäume gelichteten Wald.
Auf Robert3 bejonderes Drängen hatte Sunfer Chutbert
eingewilligt, daß dieſer einen zierlich von glängendem Meffing
gearbeiteten, aber troßdem recht ftarfen Riegel an jener
Ichmalen, nach dem geheimen Gange führenden Thür anbringen
ließ. Diejen Riegel unterjuchte Robert an jedem Abende, ehe
er den Freund vorm Schlafengehen verließ, auf das Sorg—
fältigjte, ob er auch feit gefchloffen und jo Chutbert vor jedem
Ueberfalle von diejer Seite eben jo gefichert ſei, wie von der
anderen.
Der Vorforgliche Tieß e3 fich wenig träumen, daß der
Junker, ehe er fich niederlegte, ebenſo jorgfältig, al3 er ihn
geichlofjen, diefen Riegel zurüdzog und die Thür probierte, ob
fie fih auch leicht genug öffne, und dann lange bis nad
. Mitternacht wachend und laufchend in feinem Bett lag, und
auf die Erfcheinung der weißen Frau wartete.
Doc er wartete umſonſt. Nichts regte ſich. Die weiße
Fran erſchien nidt.
Vergebens unterfuchte er jo häufig jenen Gang, daß er
2766 Egon Fels.
gar Fein Licht mehr bedurfte, jondern feinen Weg im Finjtern
gefunden hätte. Vergebens beobachtete er von einem verjtecten
Winkel aus, abend in der Dämmerung, die Fenſter der
Kemnate. Vergebens hatte er den Hof jamt dem anjtoßenden
Garten, ſowie das ganze Hintergebäude ſelbſt, von allen
Störungen durch die Arbeitsleute fern gehalten, all viele
Plätze für verbotenen Boden erklärt.
Er hörte weder jemals wieder jene feltfamen, geheimnis-
vollen, harmoniſchen Geiftertöne, noch ſah er die Erſcheinung
der weißen Fran.
Der junge Mann Tannte ji) ſelbſt nicht mehr in der
ſeltſamen Unruhe, die ihn hin und hertrieb. Ein geheimes
Verlangen, das er ſelbſt der brennenden Neugierde zuſchrieb,
welche jene Erſcheinung in ihm erregt, machte ihn ruhe- und
friedlod. Die Unmöglichkeit, den Wejen und der Art jener
Erſcheinung auf die Spur zu kommen, bejchäftigte ihn fort-
während, und das immermwährende Grübeln darüber begann
jein förperliches Wohlbefinden zu jtören. Er verlor den Appetit
und die gute Laune. Die gejunde Farbe feiner Wangen ver-
blich ſichtlich.
Robert wurde ängſtlich, da er durchaus nicht in Erfahrung
bringen konnte, was eigentlich das ſchöne Gleichgewicht der
Natur ſeines Herrn und Freundes jo anhaltend ſtörte, denn
zum erjten Male im Leben verweigerte Chutbert ihm fein
Vertrauen, weil er fich feiner Empfindung ſchämte und fürdhtete,
Robert werde ihn auslachen.
Und gerade dieſe Furcht war ein bedenfliches Zeichen,
wie fchwer das Gleichgewicht feiner durchaus gefunden, unver-
fünjtelten Natur bereit3 verrüdt var.
Wann hätte ſonſt je irgend eine Handlung de3 Freundes,
den er jo ganz als einen notwendigen Teil ſeines eignen
Selbit bisher betrachtet hatte, ihn Schon im voraus in Gedanken
jo verlegen fönnen?
Robert hatte bisher jtet3, ohne Bedenken damit anzujtoßen,
jagen dürfen, wa3 er dachte, denn zwiſchen ihnen ivar das
böje Wort „Empfindlichfeit” nie ein Gebrauch geweſen.
Mit Chutbert3 Abficht, den Schab mit dem Bruder zu
teilen, ging es ihm auch nicht nach Wunjche.
Das Rätſel der Ahnenburg. 2767
Graf Richard verſprach zwar zu fommen, aber nicht vor
der völligen Beendigung des Baued. Er machte es aber zur
ausdrüdlichen Bedingung, daß von einer Teilung des Schabes
zwilchen ihnen, in die er nie und nimmer willigen werde,
niemal3 wieder die Rede ſei. Da Chutbert die Stammburg
mit allem, was fie über und unter der Erde enthalte, jamt
dem umgebenden Walde, ohne jeden Vorbehalt erhalten, jei
jeder Ziveifel an die Rechtmäßigkeit feines Beſitzes, über den
er fih Sfrupel zu machen jcheine, barer Unfinn. Selbit wenn
Chutbert in feiner Burg den Nibelungenhort, von dem die Sage
erzähle, gefunden, müſſe es dabei jein Bewenden haben, daß er
nur ihm und ihm allein gehöre, und damit — Punktum.
Sp jchrieb der Graf in feiner etwas derben Weile, und
Chutbert Fannte feinen Bruder zu gut, um von einem noch—
maligen Berjuche, ihn zur Teilung zu bewegen, einen bejjeren
Erfolg zu erwarten. Dennoch) ward e3 ihm fchwer, fich in
den Gedanken ungeteilten Beſitzes ſeines Schabes hinein zu
finden, e3 jchien ihm dies nicht beſſer, al3 eine ungerechte
Uebervorteilung des Bruders, und fein Beli nicht gerade ein
unberechtigter, aber auch nicht ein völlig berechtigter.
Robert hatte viele Mühe, feine Unzufriedenheit mit des
Bruders Zurückweiſung zu befchwichtigen, und e3 gelang ihm
dies Schließlich nur dadurch, daß er ihm begreiflich machte,
wie es ja nur von feinem Willen abhänge, den Grafen und
jeine junge Gemahlin durch gelegentliche Gejchenfe an ihren
Namenstagen und zur Weihnacht doch mit einigen der ſchönſten
Stüde aus dem Schage zu überrafchen.
Das ftellte Chutbert endlich zufrieden. Das war ein
willfommener Ausweg. Auf diefe Weile mußte nach und nad
jo mandes foftbare Stüd den Herrn finden, dem e3 nad) der
großmütigen Ueberzeugung ſeines uneigennüßigen Herzens
zugehörte.
12. Die weiße Frau erfcheint wieder,
Der Sommer war bereit3 auf feiner Höhe angelangt. Es
war ein fehr heißer Tag geweſen, dem eine wundervolle, jchün-
heitstrunfene Mondennacht folgte.
2768 Egon Fels.
Die Freunde Hatten fich jpät, erit kurz vor Mitternacht
getrennt.
Ehutbert war’ nad) abermaligem bergeblichen Warten auf
die Erjcheinung der weißen Frau endlich eingelchlafen.
Das Fenjter war offen, und wie damals in jener erften
Nacht feiner Ankunft in feinem Erbe ſchwebte das Mondenlicht
in breiten, wogenden Silberitreifen in das Stile Gemach, glitt
über die Möbel hin und fpielte auf dem farbenreichen, prächtigen,
flandrifchen Teppich, der die Mitte des Zimmers zierte, Eletterte
an den ſchweren, gedrehten Füßen des Tiſches empor und ließ
die filberne Trinffanne und die goldenen Becher daneben, aus
denen die Freunde den Nachttrunk gejchlürft Hatten, in jeinem
Scheine funfeln und glänzen. Die farbigen Gläſer aber oben
in dem Spibbogen des Fenjters ſchienen einen Regen leuchtender
Juwelen über die weiße Dede des Lagers und den ruhig atmenden
Schläfer hinzuftreuen.
Plöglich fuhr Chutbert, aus dem Schlafe ertvachend, empor
und ſetzte ſich auf.
Irgend ein Laut hatte ihn geweckt, daß wußte er, aber —
was für ein Laut?
Er lauſchte und blickte, die Gardinen des freiſtehenden
Bettes an der geſchloſſenen Seite zurückſchiebend, nach der ge-
heimen Thür — fie war verſchloſſen, das Zimmer leer. |
Da — War e3 wieder. — E3 pochte an der Thür zum
Ahnenjaale.
Ehutbert war mit einem Sabe aus dem Bette, und fein
am Bette lehnendes Schwert ergreifend, ſchickte er ſich an, die
Thür zu öffnen.
Aber ehe feine Hand den Riegel der Thür zurüdgezogen,
hörte er Schon Roberts Stimme: „Mach’ raſch auf, Chutbert,
ih bin e3 ja!“
Ohne dem haſtig Oeffnenden Zeit zu einer Frage zu laſſen,
rief der Eintretende, noch halb atemlo3 vom eiligiten Laufe:
„Sie iſt wieder da! Sch Habe fie gejehen!“
Chutbert zudte zufammen, wie unter einem eleftriichen
Schlage, und nach jeinen Kleidern Springend, die er mit Roberts
Hilfe in fieberifcher Haft anzulegen begann, fragte er: „Wo —
wo haft du fie gejehen?“
Das Rätſel der Ahnenburg. 2769
Ihm Fam gar fein Zweifel, wen der Freund meine, und
e3 erfüllte ihn fait mit Neid, daß jenem gelungen, was er jo
lange vergeblich erwartet. — Robert hatte die weiße Frau
“ gejehen.
Warum war fie nicht ihm, der ihren Anblid jo erjehnt,
allein erſchienen?
„Sm Garten unten —“ erividerte Robert, ich im ftillen
über die fieberhafte Spannung wundernd, mit der des Freundes
jeltfjam glänzende Augen an jeinen Lippen hingen, um ihm
gleichlam die Worte von diejen abzulejen, ehe fie dem Munde
entglitten. Ihm erjchien diefe Aufregung, nach der Chutbert
in letter Heit eigenen Apathie, um jo jeltfamer und auf-
fallender. |
Doch hielt er es nicht für Hug, feiner Verwunderung
Worte zu geben, und jagte: „ALS ich vorhin von dir fam —
begegnete mir Sürgen, der heute die Stallwache Hat, und
meldete mir, dein Liebling, der Almanfor, ſei Frank. Ich eilte
hinab und fand das Tier, ftöhnend und wild um fich her—
Ichlagend, fi) auf dem Boden mwälzend. Sch ordnete jofort das
Nötige an und fonnte mich nach anderthalbjtündiger Arbeit be-
ruhigt entfernen, da meine Mittel geholfen hatten.
Ich war jedoch zu aufgeregt und erhigt, um zur Ruhe
zu gehen und wollte auch aus Vorſicht noch einige Zeit ver-
Itreichen lafjfen, um dann nochmals im Stalle nachzufehen, ob
die Beſſerung anhalte und der bedenkliche Anfall fich nicht
wiederhole. Sch jchlenderte alfo im Hofe auf und nieder, be-
trat dann, verlodt von der wunderbaren Schönheit der Nacht,
den kleinen Hof und trat aus diefem in den Garten. Sch
dachte nicht einmal an die Möglichkeit der Erfcheinung der
weißen Frau, hatte überhaupt in der legten Beit ihrer fait ganz
vergejien, gejchah es ja einmal, fo freute ich mich, daß der
Lärm und die Anmelenheit jo vieler arbeitenden Menfchen den
unheimlichen Spuf vertrieben habe. Doc wie gejagt, an
diefem Abend fam mir fein Gedanfe an fie, da auf einmal
jah ich fie plöglih vom Hügel am Ende des Garten herab-
ſchweben. |
Das Mondliht umfloß die weiße Geftalt mit einem
leuchtenden Silberfchimmer, der gleihjam von ihr auszuftrömen
ZU. Baus-Bibl. I, Band XII. 174
2770 Egon Fels.
ſchien. Sch wollte ihr erit den Weg vertreten. Da fie aber
feine Abficht zeigte, den Garten zu verlafjen, fondern in einen
Seitenweg einbog, jo bejann ich mich anders und lief, um dich
zu holen.“ |
„Das ift recht, Robert, ich danke dir! — Komm, ich bin
fertig —“ und Chutbert wollte, indem er dies fagte, hinaus—
ſtürmen, ohne den Schwertgurt umzulegen oder dasjelbe über-
haupt mitzunehmen. |
Robert hielt ihn zurüd und mahnte ihn daran.
„Bah! was joll mir das Schwert gegen einen Geijt nüben!“
rief er ſpöttiſch — duldete aber doch, daß Robert ihn das
Schwert mittelit des Gurtes an der Seite befejtigte.
„Wiffen wir, ob es wirklich ein Geiſt iſt?“ ermiderte
Robert, während beide bereit3 die wieder hergeftellte, große
Treppe binabeilten. |
„Run — iſt es fein Geift, dann doch gewiß ein Weib, das
noch viel weniger zu fürchten it.“
„Das ſchon, aber willen wir auch, ob diefe den Geiſt ab-
ſichtlich ſpielende Perſon allein it? Es können andere dahinter
ſtecken.“
„Ich möchte wiſſen, wo? — Haben wir nicht etwa jeden
Winkel durchſtöbert? Doch da ſind wir!“
„Ja — und nun denke ich, wir teilen uns. Einer von
uns betritt den Garten und ſcheucht das Geſpenſt auf, welches
ohne Zweifel, hier in der Kemnate feinen geheimen Schlupf-
winfel haben muß, während der andere hier am Eingange der
Halle ihm den Weg dahin abjchneidet.”
„Ganz recht, Nobert. — Sch werde hier bleiben, treibe
du die weiße Frau hierher.“
„Nein, laß mich lieber bleiben und gehe du. Die Stelle
fann gefährlich werden, wenn —“
„Punktum! Du gebft und ich bleibe —“
Robert war durch diefen Befehl zum Schweigen gebracht,
er wußte, daß er gehorchen müſſe.
Er flüfterte daher nur noch: „Sei vorlichtig, Chutbert —“
und eilte, forgfältig den Schatten der Zierfträucher und Bäume
aufjuchend, die, unbehindert von ordnender Menſchenhand, nod) in
alter, wilder Urfprünglichkeit in dem Garten fortwuchern durften.
u
. Das Rätfjel der Ahnenburg. 2771
Er durchſtreifte ihn nach allen Richtungen, ohne zu finden,
was er juchte, und war bereits im Begriff, unter der Annahme,
daß die Geftalt fich einen anderen Ort für ihre Promenade
ausgefucht habe, fein Suchen als vergeblich aufzugeben, als er
fie zwilchen einem dichten Gebüjch, wie aus der Erde gewachien,
plöglic) auftauchen jah. Der Weg, welchen fie aller Wahr-
icheinlichfeitt nach kommen mußte, führte an einem großen
Sliederbufch vorüber, der ihm ein willfommenes Beritef und
die Möglichkeit bot, fie unbemerkt an fich vorübergehen zu lafjen
und jo in ihren Rüden zu gelangen.
Er verſteckte jich dahinter, und der Mond war jo gefällig,
fein Vorhaben zu erleichtern, indem er jich für einige Momente
Hinter einer jchwarzen Wolfe verbarg, deren Ränder mit
leuchtenden Silberrändern ſäumend.
Robert war ein beherzter, mutiger Mann, der Tod und
Teufel nicht fürchtete, aber im Augenblide, als er die weiße
Geſtalt jo langjam jchwebend auf fich zufommen ſah, von einer
Fledermaus bald in engeren, bald in weiteren Kreifen umflogen,
fopfte doch jein Herz in lauten, bangen Schlägen gegen die
Rippen, und ein Falter Schauer glitt ihm am Rüden herab,
al3 er, da fie fich dicht vor ihm befand, durch die Falten des
dichten Schleier8, der fie bi3 zu den Boden verhüllte, ein
ſchmales, totenblafjes Gejicht hindurchſchimmern, und ein Paar
dunfle Augen, die, gerade vor fich Hinftarrend, dennoch nichts
zu fehen fchienen, phosphoriſch leuchten ſah.
Die Geſtalt hatte etwas unbeſchreiblich Unheimliches in ihrer
totenhaft ftarren Unbeweglichkeit. Sie fchien Fein Glied zu be-
wegen, fie ſchritt nicht, fie glitt nicht, fie chien vielmehr von einer
unfichtbaren Gewalt vorwärts getrieben, getragen zu werden.
Einen Moment noch blieb Robert, von Schreden an feinen
Platz gefeflelt, ſtehen, als fie bereit3 vorüber war, dann er-
mannte er fich und eilte ihr mit lautem Rufe nad).
Beim Tone feiner Stimme zudte fie zufammen und wendete,
ohne einen Augenblid ihr plößlich überaus raſch werdendes
Borwärtsgleiten zu unterbrechen, den Kopf zurüd.
Robert ſah die leuchtenden Augen einen Moment auf fich
gerichtet, dann Hatte jie al wieder gewendet und glitt noc)
raſcher vorwärts.
174*
2772 Egon $els.
Dies eigene Fliehen verdoppelte jeinen Eifer, all
fein Mut kehrte zurüd.
Er lief und kam ihr näher, ſchon ſtreckte ſeine Hand ſich
aus, ihr Gewand zu erfaſſen, da — ging es ihm, wie einſt
Chutbert. Er ſtolperte und fiel. Eine von ihm in ſeiner Haſt
nicht bemerkte Baumwurzel hatte ihm dieſen Unfall bereitet.
Das Geſpenſt hatte entſchiedenes Glück oder tückiſche Geiſter in
ſeinem Dienſte.
Zwar erhob ſich der Geſtürzte raſch wieder, doch die Ge—
jtalt war inzwiſchen aus feinem Augenkreiſe verſchwunden.
Er eilte trotz eines heftigen Schmerzes an dem beim
Falle aufgeſchlagenen rechten Knie raſch vorwärts, und ſah ſie,
am Ausgange des Gartens angelangt, eben die Halle unter
dem Söller betreten.
Dort erwartete ſie Chutbert, ihm lief ſie alſo gerade in
die Hände.
Da durchzitterte ein lauter, ſchriller Schreckensſchrei das
Schweigen der Nacht, er kam unfehlbar aus der Halle. Das
Geſpenſt konnte alſo ſchreien — faſt gleich darauf folgte ein
lauter Fluch und der vorwärts humpelnde Robert erkannte des
Freundes Stimme.
Als er in der Halle anlangte, fand er niemand, hörte
aber doch das laute Atmen einer Perſon, die eine große Kraft—
anftrengung machte.
Er rief: „Chutbert! wo biſt du?“
„Hier bin ih! Komm hierher und Hilf mir! Sie ijt ent-
flohen, und das Gitter will nicht weichen.“
„Was für ein Gitter?“ fragte Robert, der fich nicht gleich
orientierte und dem überdies dur eine Schalltäufchung
Chutberts Stimme aus einer gerade entgegengejeßten Rich—
tung, von der, in welcher er ſich nun befand, herzu—
fommen fchien.
„Run, Hier unten, das Gitter zum geheimen Gange!
Sie iſt bier durchgeſchlüpft und Hat es Hinter fich ge=
ſchloſſen.“
„Ei, dann gieb dir feine Mühe und komm hervor. Das
Gitter it nur von innen zu Öffnen. Ich habe daS lange jchon
unterſucht und hätte ſonſt troß dem Riegel in deinem Zimmer
Das Rätſel der Ahnenburg. 2773
feine Nacht ruhig geichlafen. Komm aber hervor und gieb
mir Raum. Sch habe auch auf dieſer Seite einen gut ver—
ſteckten Riegel anbringen laſſen, den wollen wir borjchieben.
Wir haben dann unſer fchreiendes Geſpenſt wie die Maus in
der Falle und fangen e3 von deinem Zimmer auß mit aller
Bequemlichkeit.”
Chutbert fam langfam hervor, wehrte aber Robert ab
und fagte: „Sieb dir doch feine Mühe, für heute ijt es nichts.
Sie iſt längft durch mein Zimmer entwilcht.“
„Da Tann fie ja nit. Der Riegel it an feiner
Stelle. Sch Habe ihn, wie jeden Abend unterjucht, ehe ich Dich
verließ.“
„Das glaube ich wohl, aber ich Habe ihn, al3 du fort
wareſt, wie jeden Abend, zurüdgejchoben, immer auf den Be-
ſuch wartend, der niemals kam,“ erwiderte Chutbert jehr
gelafjen. !
Ein leiſ— Pfeifen war Roberts einzige Antivort auf dieſe
überrajchende Eröffnung, die ihm mit einem Male alles erklärte,
was ihm im Wejen des Freundes in der lebten Beit unerflär-
lich gewwejen. Dann folgte er dem Voranjchreitenden, der, den
fleinen Hof verlafjend, in den großen trat und fich über Die
große Treppe in jein Zimmer begab.
Alles war dort, wie er e3 verlafjen. Rein Beichen ver—
riet, daß inzwiſchen ein anderer Fuß das ſtille Gemach be-
treten Hatte.
Sene Thür des geheimen Ganges war gefchloffen wie vorher.
Leicht auffeufzend, warf ſich Ehutbert in einen Stuhl.
Robert, in deflen Knie inded der Schmerz ſchon nach—
gelafjen hatte, ließ fih neben ihm nieder und ſagte:
„3 ilt doch jchade um den ſchönen Schlumnter, in dem ich dich
geſtört.“
Er hätte zu gern gewußt, wie des Freundes Zuſammen—
treffen mit’ der weißen Frau eigentlich ausgefallen war, hielt
e3 aber, dejjen verjtimmtem Schweigen gegenüber, nicht für
ratjam, darnad) zu fragen. — „Sch hätte nicht geglaubt, daß
unjer Verſuch jo rejultatlo8 verlaufen würde.“
„Reſultatlos? Meinft du? Nein, das war e3 denn doch
nicht. Ich meinesteild bin außerordentlih mit dem Reſultate
2774 Egon Fels.
zufrieden. Sch weiß nun mindeſtens gewiß, was = bon allem
Anfang vermutete.”
„Und was ijt das?“ fragte Robert, da * Freund
inne hielt.
„Daß es fein Geſpenſt, ſondern — ein Weib iſt.“
„Und wo iſt dieſer Beweis?“ fuhr Robert zu fragen
fort, der, den vernommenen Schreckensſchrei abſichtlich ignorierend,
mehr wiſſen wollte.
„Was es mir beweiſt?“ rief Chutbert, lachend aufſpringend.
Es war das alte heitere Lachen, das Robert nun ſchon
ſo lange nicht mehr von ihm gehört.
„Ei! — mein Gefühl und dieſer Finger hier!“ er hob
die Rechte empor, an deren Daumen langſam ein Blutstropfen
nach dem anderen niederrann. „Ich hörte in meinem Leben
noch nicht, daß die Geſpenſter Zähne haben, um zu beißen.
Die kleine Katze hat ſcharfe Zähne, ſo viel iſt gewiß!“ ſetzte
er noch immer lachend hinzu und tauchte den verletzten Finger
in das Waſſer des Waſchbeckens.
„Was? Die Geſtalt hat dich gebiſſen? Ja, mein Himmel!
wie kam denn das?“ rief Robert erſtaunt.
„Ja, wie kam es — das iſt raſch geſagt. Alſo — ſie
kam in die Halle geſtürzt, gerade auf mich los, ohne mich, wie
es ſchien, zu ſehen, obgleich mich der ſeltſam leuchtende Glanz
ihrer Augen vermuten läßt, ſie habe von Natur oder durch
lange Gewohnheit die Eigenſchaft, im Finſtern zu ſehen.
Sie wollte mit der Behendigkeit einer Schlange und mit
nicht mehr Geräuſch, als dieſe im weichen Mooſe verurſacht,
an mir vorüberſchlüpfen, aber ich griff zu und erfaßte einen
Arm, einen zarten,, ſchön geformten Arm, wie mein Gefühl
mir jagte. Sie jtieß einen jchrillen Schredenzichrei aus, den
du doc gehört haben mußt, und verjuchte, mit einer wilden,
überrajchend Fräftigen Bewegung ſich los zu reißen. Wergeb-
lich, ich hielt fejt wie eine Eiſenklammer den zarten Arm ums
ſpannt, obgleich ich mich in acht nahm, ihn nicht zu ſehr zu
drücen, denn wehe thun wollte ich dem armen, ertappten Ge—
ipenfte denn doc nicht.
Da fühlte ich plößlic ein heißes Wehen über meiner
Hand, und ein fcharfer Schmerz im Daumen lieg mich unwill
4
4
BER WEZ. „mit... . — —“
Das Rätſel der Ahnenburg. 2775
fürlich einen Moment im Drude nachlaffen. Gleichzeitig flog
mir eine große Fledermaus gerade ins Gejiht. Während jo
meine Aufmerfjamfeit ein wenig abgelenkt ward, indem ich nad)
dem Tiere fchlug, entwand fie ſich meiner Hand mit aufer-
ordentlicher Gewandtheit. Zwar folgte ich) der Entfliehenden
jofort, doch da ich mich der wiederholten Angriffe der Fleder—
maus, die e3 durchaus auf mein Geſicht und beſonders meine
Augen abgejehen zu haben jchien, zu erwehren hatte, war id)
lange nicht jo jchnell, wie es notwendig geweſen, um fie zu
verhindern, in den Gang zu gelangen, den fie, wie ich richtig
vermutete, zu ihrem Entkommen wählte. Sch kam zu jpät.
Das Gitter fchnappte mir vor der Naſe zu. Ich hörte ein
leiſes, melodiſches Lachen, gleich einen: Silberglödchen und —
alle8 war til. Das infame Tier, die Fledermaus, ſchien nur
ihren Nüdzug gededt zu haben, gerade als jei fie dazu ab-
gerichtet, denn fie ließ mich nun völlig in Ruhe. Ich rüttelte
wütend an dem Gitter — da kameſt du.“
„Seltjam, in der That!” bemerkte Robert. „Wo in aller
Welt mag das Weib nur jteden? Wer mag fie jein? Wie
lange jchon und zu welchem Zwecke hauft fie hier?“
„sa, mein lieber Junge, das alles find Fragen, die ich
jelbjt gern beantwortet hätte!” lachte Chutbert, der mit einem
Male all feinen Frohfinn wieder gefunden hatte.
„Aber nur Geduld, Geduld! 's ift das freilich ein bitteres
Kraut, das ich gerade nicht ſehr liebe, aber da es nun einmal
nicht ander ift, jo muß ich verjuchen, wie es mir ſchmecken
mag. Morgen müfjen wir den Gang unterfuchen. Sch denke,
e8 muß da noch irgend einen geheimen Eingang zu einem
Veriteef geben. Die Töne, welche wir damal3 hörten, können
ihr Geſang oder auch ihr Saitenjpiel gewejen fein. Das Ueber-
irdiiche, ©eifterhafte, welches fie Hatten, mag die Schallver-
änderung Durch Die dazmwilchen liegenden Mauern ihnen ge-
geben Haben. Weiß ich nur erſt, wo fie Fampiert, jo will ich
fie ausgraben, wie einen Dachs aus feinem Baue.“
„Du wirft wohl num auch die Kemnate jamt Hof und
Garten in Arbeit nehmen lafjen?“ |
„Rein, Das nicht. Dort bleibt alles wie bisher. Ich will
jenes ſeltſame Weſen wenigſtens vor fremder Beläftigung ſchützen.“
2776 Egon Sels.
„Und du?”
„Ra, mit mir ilt e8 etwas andere. Ich will ihr zwar
die Zuflucht, die fie vielleicht braucht, nicht entziehen, aber ich
denke Doch wohl als Herr des Hauſes dag Necht zu haben, zu
erfahren, wer auf meinen Grund und Boden fi) ohne meine
Erlaubnis eingeniltet hat.“
„Das haft du, Chutbert, ohne allen Zweifel, und wer
weiß überdies, ob dies Geſpenſt von Fleiſch und Bein nicht
noch irgend welchen unliebjamen Anhang hat. Notwendig ift
es jedenfalls, der Sache auf den Grund zu gehen, denn es hat
troßdem etwas recht Unheimliches, wenn e3 im eignen Haufe
Schlupfwinkel giebt, deren Vorhandenſein man zwar ahnt, die
man aber partout nicht auffinden kann.“
„Da haft du redt. Wir wollen fie jedoch jchon finden.
Und nun, Gott befohlen! Mit dem Schlafe wird es wohl
freilich nicht8 mehr fein, denn dort ift ſchon das Morgenrot,
die Sonne ift nicht mehr weit. Sch will e8 aber trotzdem
verjuchen, damit ich heute Nacht um jo muntrer bin.“
Nobert entfernte jich, und Chutbert, den der Freund den
verwundeten Daumen mit einem Stücchen Leinwand verbunden
hatte, treckte fich, ohne die Kleider nochmal3 abzulegen, auf
dem Bett aus, verſank auch wider Erwarten al3bald in
Schlummer, der allerdings fein erquidender genannt werden
fonnte, denn im Traume erjchien ihm die weiße Frau wieder
und lodte ihn fliehend nach, weiter und immer weiter. Weber
Berg und Thal, über Ströme und durch) Wälder ging Die
Hebjagd, und wenn er ermattet inne halten wollte, hörte er
immer wieder jenes leife, harmoniſche Lachen, und daS ftachelte
ihn von neuem zu den unerhörteften Anftrengungen, biß er
endlich die Fliehende auf einem Berge erreichte. Er erfaßte
ihr Gewand, aber es war nur ein Duft, der fie umfloß, denn
e3 zerrann unter feinen Händen, während fie lachend ihn: ent=
ſchwand und er ſich hart an einem gähnenden Abgrunde be—
fand. Ihm jchwindelte — und taumelnd ſank er Hinab, tief
und immer tiefer, biß er unten, hart auf dem eljenboden auf—
Ihlagend? — erwachte und ih, in Schweiß gebadet, mit
feuchender Bruft, aber im übrigen jehr wohlbehalten, auf dem
Wolfsfell vor feinem Bette liegend fand,
Das Nätjel der Ahnenburg. 2777
Das war der tiefe Fall in den Abgrund. Lachend jprang
er empot und begrüßte wohlgemut die fchon Hoch ſtehende
Sonne.
13. Enldecktk.
Junker Ehutbert hatte e3 ſich zwar, wie wir wifjen, nicht
gerade als leicht, aber doch als erreichbar vorgeitellt, den
Schlupfwinfel jenes rätjelhaften weiblichen Weſens zu entdeden,
das jo geheimnisvoll in feinem Eigentum lebte und webte,
mußte aber endlich, jelbjt nachdem er die Hilfe des Meijter
Hildebrandt in Anjpruch genommen, einjehen, daß er ſich mehr
vorgenommen, als ſich ausführen lie.
Der Gang ward ſorgſam unterfucht, die Wände durch-
geflopft, aber nichtS gefunden, wa3 einer geheimen Thür ähn-
li) gewejen wäre, oder deren VBorhandenjein auch nur ver-
muten ließ. Ueberall fam der gleiche volle Klang zurüd, die
durchaus egale Stärke der Mauer bezeugend.
Nun Fam der Fußboden daran, der aus feit geitampftem
Lehmboden beitand, unter welchem fi Steinplatten befanden.
Hier war es nun freilic) etwas andere. Ungefähr an der-
jelben Stelle, wo damals die Freunde jene geheimnisvollen
Töne gehört hatten, Hang der Boden in der vollen Breite de3
Ganges und in einer Länge von fünfundzwanzig Schritten hohl,
doch war, mie gejagt, nirgends ein Eingang zu dem ohne
Zweifel hier befindlichen, darunter liegenden Naume zu ent-
defen. Meiſter Hildebrandt meinte naiv, der Eingang müſſe
anderswo jein.
Wo aber war diefer Eingang? Das war die Frage,
worauf auch Meilter Hildebrandt jchlieglich die Antwort jchuldig
bleiben mußte, denn ale Vermutungen ermwiejen ſich als
trügerifch. |
Nun ſchlug er allerdings ein Radikalmittel vor, welches
wohl mit Sicherheit zum Ziele geführt haben wide Er
wollte den Fußboden durchichlagen. Aber davon mochte der
junge Freiherr nicht3 hören und verweigerte dazu die Erlaub-
nis. Die Gewaltſamkeit dieſes Verfahrens, die undermeidliche
Bloßſtellung der geheimnisvollen Bemwohnerin, die er da drinnen
Enz En nn nn nn.
7 J — = *
+ *
2778 Egon Fels.
vermutete, widerſtrebten ſeinem Zartgefühle; er ließ ſich daher
nochmals das Verſprechen des Baumeiſters, das dieſer ſchon
vorher hatte leiſten müſſen, über die ganze Angelegenheit gegen
jedermann zu ſchweigen, BILDEN und alles blieb beim
Alten.
Deshalb waren aber die Verjuche, den Verfte auf Die
Spur zu kommen, feinesweg3 aufgegeben, jondern die beiden
Freunde fuchten und ſuchten, laufchten und lauerten, fchliefen |
viel bei Tage und wachten während des größten Teiles der
Nacht, jelbit gleich ruhelojen Geijtern in der Burg und deren
Umgebung umberirrend.
Doc die weiße Frau gehörte zu den Spröden ihres Ge-
Ichlechtes und ließ ſich vergebens ſuchen. Keine Erſcheinung
war zu ſehen.
So verging abermals ein Monat.
Es war wieder eine wunderſchöne, nur etwas kühlere
Vollmondsnacht als jene vor einem Monat. Beide Freunde
hatten ihre nächtliche Runde wieder einmal beendet und trafen,
wie gewöhnlich, im großen Burghofe zuſammen, ſich gegen—
ſeitig die Erfolgloſigkeit ihrer, nach verſchiedenen Richtungen
unternommenen Unterſuchung mitzuteilen. Da faßte Chutbert
plötzlich krampffaft des Freundes Hand und flüſterte mit
zitternder, vor Bewegung heiſerer Stimme: „Sieh doch, um
des Heilandes willen! Sieh dort!“
Robert folgte der Richtung, welche des Freundes angft-
voll gejpannter Blick und deffen deutende Hand ihm wieſen,
und ſah, vor Schred eritarrend, auf dem höchſten Punkte des
von Mondlicht fürmlich triefenden Turmgerüſtes die Geftalt
der weißen Frau wandeln, die fich dort oben auf dem gefähr-
lihen Pfade mit einer Sicherheit bewegte, als befinde fie fich
auf ebener Erde. Das verjchleierte Haupt umjchivebte die
Fledermaus, und das kluge Tier jchien befjer die große Gefahr
feiner Herrin zu kennen als dieje jelbjt, denn die reife, in
welchen fie um deren Haupt jchwebte, waren weit größer, al3
damal3 unten im Garten und kamen ihr niemals näher, e3
war, als fürchte fie, der Luftdrud ihrer Flügel könne den
Schwerpunkt der Nachtiwandlerin da oben verrüden und fie
hinabftürzen in die furchtbare Tiefe.
Das Rätſel der Hhnenburg. 2779
SE
Die jungen Männer wagten faum zu atmen. — „Sie iſt
mondſüchtig,“ ſagte endlich Robert leiſe. — „Aengſtige dich
nicht, Chutbert, ſie wird nicht fallen, der Mond hält ſie mit
zauberiſcher Gewalt. Am ganzen Himmel iſt keine einzige Wolke,
es iſt daher nicht die mindeſte Gefahr vorhanden, daß ſie da
oben erwacht. — Still! um Gotteswillen keinen Laut!“ er
preßte gleichzeitig die Hand feſt auf Chutberts Mund, und es
gelang ihm, den unwillkürlichen Entſetzensſchrei im Entſtehen
zu erſticken, daß er nicht die Höhe erreichen Fonnte.
Chutbert Hatte ihn ausgeitoßen, als fie plößlich einen frei
über die Tiefe Hinausragenden Balfen betrat, an dejjen Ende
ein Slafchenzug befeftigt war, mitteljt deſſen fich die Bauarbeiter
das nötige Material heraufzuziehen pflegten.
Die weiße Frau fchritt Hinaus big an des Balfens äußerſtes
Ende und jtand nun, frei ſchwebend zwiſchen Himmel und Erde,
Ihlug mit einer anmutsvollen Bewegung den Schleier zurüd
und hob das geifterbleiche Antlitz, deſſen Züge jelbit für die
Icharfe Sehfraft, deren die jungen Männer fich erfreuten, bei der
großen Entfernung freilich nicht zu erfennen waren, zu dem
Monde empor, der die ganze weiße Geitalt mit feinen Strahlen
förmlich einzufpinnen ſchien, daß fie fich in leuchtender Glorie
auf dem Hintergrunde des tiefblauen Zirmamentes, gleich einem
Boten aus dem Jenſeits, ſtrahlend vom Abglanze des Aller-
höchiten, abzeichnete. |
Die Arme ausbreitend, begann fie einen janften, lieblichen
Geſang, indem fie fich nach dem Tafte der Melodie hin und
her wiegte. Der Gejang war zu leife, al3 daß man verstehen
fonnte, in welcher Sprache fie jang, er glich dem Teilen,
träumenden Gezwitjcher eines jchlafenden Vögleins im Neſte
und ſchien dem Rhythmus nach eine Art Wiegenlied zu jein.
Chutbert lehnte jih an den Freund. Er fchien der Stüße
Dringend zu bedürfen, denn der Starke, junge Körper diejeg, Feine
Gefahr jcheuenden, tollfühnen Mannes zitterte und bebte vor
tiefiter Angft und namenlojfem Entjeßen. Er hörte faum, was
Robert ihm tröftend zuflüfterte.
Diefer Hatte dur Mitteilungen jeiner Mutter, deren
jüngere Schweiter an derſelben geheimnißvollen, früher viel
häufiger als heutzutage auftretenden Krankheit gelitten, einige
BZ niit. 2 A
2780 Egon Fels.
Erfahrung. Jene Unglüdliche war, wie jo viele, ein Opfer
derjelben geworden, indem fie in der ſchönſten Jugendblüte
dadurd) den Tod fand, weil eine unborfichtige Magd fie beim
Namen angerufen, als fie gerade auf dem Dacdje ihres väter-
lihen Haujes ihre Mondpromenade machte. Sie war erwacht
und, vom Schwindel erfaßt, Hinabgeftürzt in den Hof, wo fie
fih da8 junge Haupt auf den Steinen zerjchmetterte.
Reife verhallte da oben der ſüße Geſang und das Unglaubliche
geihah, die Nachtwandlerin wendete ſich um auf dem ſchmalen
Balken, der ihren Füßen faum Raum zum Schreiten bot, und
legte mit nicht einen Moment wankender Sicherheit ihren gefahr-
vollen Weg wieder zurüd bis auf die vergleichsweiſe ficheren
Bretter des Gerüſtes, wo fie noch eine furze Zeit hin und ber
wandelte und dann langjam herabzufteigen beganır.
Die wie von jchiwerer, Eörperlicher Pein erlöft aufatmenden
Freunde verftändigten fich raſch über ihre fernere Handlungsweile.
Sie verbargen fich in: dem tiefen Schatten des Turmes
und ließen die weiße Frau an fich vorüber gehen.
Wie damald im Garten, ehe Robert fie angerufen, ſchritt
fie fteif und bewegungslos, gleich einer wandelnden Statue, an
ihnen vorüber. Die dunklen, glänzenden Mugen blidten ftarr
gerade aus. Die Fledermaus umfchwirrte in engen Kreijen daS
hochgetragene Haupt, defjen jchöne, geijterbleiche Züge von hin—
reißender Lieblichfeit der zurüdgejchlagene Schleier nicht ‚mehr
verhüllte Die Arme hingen ihr an beiden Seiten nieder und
die Freunde hörten jelbjt nicht in dem Augenblick, als fie an ihnen
vorüber fam, das Geräufch ihrer Schritte.
Borfichtig, jo geräuſchlos als nur möglich, folgten fie ihr
in geringer Entfernung.
Sie ſchien noch nicht gewillt, fi) zur Ruhe zu begeben,
denn fie jchlug den Weg nach dem Garten ein.
Am Cingange blieben die Freunde ftehen. Hier war fie
ihnen ficher, fie mußte, wenn fie in die Burg wollte, diejen
wieder pajlieren.
„Was jollen wir nun machen, Chutbert?“ fragte Robert. —
„Ich fchlage vor, wir ftellen uns zu beiden Seiten hier auf,
und im Momente, da fie heraus will, faſſen wir zu gleicher
Beit ihre beiden Arme und halten fie feſt. Dann mag fie ver-
RREFET.N
“ala h-
Das Rätjel der Ahnenburg. 2781
juchen, uns zu entwilchen. Ballen kann fie hier nicht, und fo
hat es feine Gefahr für jie, wenn fie plötzlich aus dem Schlafe
aufgeſchreckt wird.“
„Aber fie wird erjchreden, zum Tode erjchreden! Bedenfe
doc), welch zarte Wejen fie ift.“
„sa, das ift freilich wahr. Aber wie jonft ſollen wir aus—
findig machen, wo fte eigentlich Hauft? Sie ſelbſt muß es jagen
und jie wird es thun, wenn fie ſich in unjerer Gewalt befindet.“
„Beſſer it eg, wir folgen ihr unbemerkt —“
„Damit fie uns wieder entwijcht, nicht wahr?“
„Mag jie denn, ich will mich lieber diefer Gefahr ausjeßen,
al3 fie irgend erichreden und Fränfen. Wir werden —“
„Still! da ift fie! — fie fommt zurück!“
AUS Robert dies flüfternd ſagte, war jie bereit3 ganz nahe,
und zum Verbergen war e8 zu jpät. Das Geräujch Eonnte fie
erwecken. |
Steif, gleih Bildfäulen, ohne fi) zu regen, ja faum zu
atmen wagend, blieben die Freunde, welche leife bei ihrem
Erjcheinen auseinander gewichen waren, jtehen.
Sie fam näher. Sie war da — Schritt mitten zwijchen
ihnen hindurd).
Kein Blick fiel auf fie. Automatenhaft, den leeren Blick
geradeaus gerichtet, fam fie vorüber. Keine Ahnung der Nähe
anderer, durchdrang die tiefe Betäubung ihres Schlummers.
Sie jchien zu träumen, denn der fchöne, bleihe Mund
lächelte, man jah die Doppelreihe der glänzenden, perlengleichen
Zähne, und über dem jüßen, jungen, blaſſen Geſicht lag der
Schimmer einer traumhaften, ſchwärmeriſchen Glüchſeligkeit, jeinen
hohen Reiz noch erhöhent. |
Leile wie vorher folgten die jungen Männer. Sie jchritt
geradeswegs über den Hof in die Halle der Kemnate, jtatt aber,
wie jene erwartet hatten, ihre Schritte nad) der Seite des
geheimen Ganges zu lenfen, fchritt fie nad) der entgegengejegen
Seite, verließ die Halle und jtieg die nach der erſten Etage führende
Wendeltreppe hinauf, ging durch die Bimmer der Kemnate und
geradesweges auf den Kamin los, der fi in dem Zimmer mit
den bibliichen Fresfen befand, griff mit der Hand an die linfe
Geite, gerade an der Stelle, wo ſich der Kaminmantel in reicher
2782 Egon Fels.
Studarbeit der Wand anjchloß, und dfejer löjte ſich gleich einer,
fich in den Angeln bewegenden Thür von der Wand. Sie fchritt
hindurch und langjam fiel der Kaminmantel gleich einer Thür
hinter ihr zu.
Doch nicht ganz, denn das verhinderte der rajch dazwiſchen
geichobene Dolchknauf Roberts.
Borfichtig die Deffnung wieder ermeiternd, laufchten beide
auf das leife Schleifen ihrer Gewänder auf den Stufen einer
Treppe. Dann Hörten fie das Deffnen und Schließen einer
Thür. Darauf trat Grabegitille ein.
Tief aufatmend, ſagte Chutbert leife zu Robert: „Endlich!“
„Sa, endlich fennen wir den Ort, wo diefe geheimnisvolle
Schöne — die übrigens nicht geheimnisvoller ilt, al3 deine Stamm-
burg, die unterwühlter zu jein jcheint, als ein Fuchsbau —
fih verbirgt. Sollen wir aber nicht, unjere Entdeckung ver-
folgend, der weißen Frau, jchon als Vergeltung, daß fie ung
fo lange genarrt, einen Bejuch in ihrem Palaſte da unten ab-
Itatten? Wenn wir diefe Kaminmantelthüre recht weit öffnen,
gewinnen wir wohl Licht genug, um uns die Treppe hinab-
zufinden, die hier in ihre Klauſe führen muß.“
„Das iſt zweifelhaft. Jedenfalls wäre es nicht angenehm,
wenn wir unferen Beſuch Kopf über, Kopf unter, bei ihr ab⸗
ſtatteten.“
„Du haſt recht. So warte ein wenig hier, ich laufe und
hole eine Laterne.“
Da Chutbert nichts erwiderte, ſo hielt Robert das für
eine Bejahung und entfernte ſich. Als er, mit der Laterne
zurückkommend, ſich anſchickte, dem Freunde vorauf hinab—
zuſteigen, ſagte dieſer, ihn zurückhaltend:
„Rein, nicht jetzt will ich ſie heimſuchen. Nicht unvor-
bereitet ſoll das zarte Geſchöpf von mir überrajcht werden.
Sie joll vorher wiſſen, daß ihre Behaufung entdedt iſt und ſie
meines Bejuches gemwärtig fein muß. ch werde jet hinab-
Iteigen, die Laterne auf die unterjte Stufe ſetzen und mein
Barett daneben legen. Sie wandelt wohl aud) während de3
Tages hier herum; dann wird fie beides entdeden und
mein Beſuch in einigen Tagen ihr nicht mehr überrajchend
fommen.“
Das Nätfel der Ahnenburg. 2783
„Wenn fie aber, fich entdeckt jehend, entfliedt, jo wirft du
nie da3 Geheimnis erfahren, welches ſie umgiebt.“
„Wohin ſoll jie fliehen? und wann? Am Tage hat fie
die Arbeiter zu fürchten und während der Nacht werden wir
Wache Halten, daß es nicht geichieht, bis ich fie geiprochen.
Veberdies, hätte fie fliehen wollen, jo wäre ihr feit der lebten
Bollmondsnacht reichlich Zeit und Gelegenheit geblieben.“
Nachdem er jeinen Borja ausgeführt hatte und der
Kamin nad) forgfältigem Studium feines Mechanismus wieder
an feine Stelle gebracht worden war, verließen fie die Kemnate.
Unterwegs ſah ſich Chutbert die Thüröffnung an, welche
den Gang, der von dem großen Burghofe nad) dem Fleinen
führte, ehemal3 verjchloffen hatte, und fagte: „Hier muß mir
noch heute eine Thür her. Sch will es der weißen Frau un-
möglih machen, noch einmal ihr Leben in folch fürchterliche
Gefahr zu bringen. Auch die Gartenmauer joll jofort in An-
griff genommen und die zufammengebrochenen Stellen neu
aufgeführt werden. Das wird fie nicht nur vor möglicher
Beläftigung von außen, fondern aud) davor fügen, ſich ſelbſt
Schaden zuzufügen, indem fie etwa nachts fchlafend durch die
Brüche der Mauer in den Wald gerät.” |
„And der dritte Zweck diejes jehr löblichen Vorſatzes iſt
der, deinen ſchönen Geiſt fiherer an. Ort und Stelle zu
bannen,” erwiderte Robert lachend und lief, ohne Chutberts
Antwort abzuwarten, den Korridor entlang, jeinem eigenen
Gemache zu. |
Chutbert trat lächelnd in fein Zimmer und nidte gedanfen-
vol ein paarmal mit dem Kopfe, al3 wolle er jagen: Sa, ja
— So iſt e8, recht hat er.
Während die Freunde in der folgenden Nacht unten in
der Halle Wache hielten, um eine etwaige Flucht der geheimnig-
vollen Dame zu verhindern, hatte Junker Chutbert ihren Bejuch
in feinem Bimmer verfaumt und damit den Beweis erhalten,
daß doch noch irgend eine geheime Verbindung ihrer Klauſe
mit dem Gange oder — wer weiß e8, noch ein zweiter Ein-
gang don ihrer Wohnung vielleiht nach feinem Gemache
führen müſſe.
Als er todmüde und überwacht fein Bett aufjuchen wollte,
EZ nie... RE — —
2784 Egon Fels.
fand er auf dem Kiffen desjelben, mit einer Nadel von felten
Ichöner Arbeit und großem Werte der fie zierenden Steine ein
Pergamentblatt befeitigt.
Die zierlihen Schriftzüge, welche es bededten, zeugten
von einer, für die damalige. Zeit, wenigſtens in Deutjchland,
ſeltenen Geſchicklichkeit im Schreiben, auch ließ die Gewandt-
heit, mit der fich die Schreiberin ausdrüdte, auf eine überaus
lorgfältige Erziehung jchließen, die fie genoffen. Sie jchrieb:
„Die Unglüdliche, welche durch jchwere Schickſalsſchläge
genötigt ift, ungeladen noch immer die Gajtfreundfchaft des
Beligers diefer Burg in Anfpruch zu nehmen, dankt ihm auf
das innigſte für die zarte Weile, mit welcher er ihr Die
Meldung zufommen ließ, daß ihr Aufenthaltsort von ihm
entdedt ward. Gleichzeitig bittet fie ihn aber um Chrifti
willen, auch noch ferner ihre Zurückgezogenheit zu ehren und
ihr zu geitatten, ihm verborgen zu bleiben, wie bisher. Die
Zeit ist nicht mehr fern, wo eine Veränderung eintreten und
ihr erlauben wird, dem Hausherren, der mit jo viel zarter
Rückfiht jede Störung von ihrer Umgebung durch den lauten
Arbeitertroß fern hielt, von ihrer jtörenden Gegenwart zu be-
freien. Sie wird jedoch nicht gehen — fie verfichert daS bei
ihrer unbefledten Ehre — ohne dem gütigen Manne für die
Zuflucht, die fie noch von ihm erbittet, zu danken, und den
Schleier des Geheimnifjes, das fie umgiebt, zu lüften. Jetzt
noch zu jchweigen, gebieten ihr zwingende Verhältniffe und ein
Schwur, den fie geleitet. Die weiße Frau.”
14. Geſpenſter und kein Ende.
Die Köchin und der Kellermeiſter, beide mit anderem
Geſinde von der forgenden Mutter dem Sohne zu feiner Haus—
haltung nachgeſchickt, jobald er nur gemeldet, daß Unterkunft
für fie befchafft jei, wunderten fich nicht wenig, al3 ihr Herr,
der in letzter Beit jo überaus wenig getrunfen und faſt noch
weniger gegellen, mit einen Male, wenigitens bei feinem Abend-
ejlen, dag er fortan in feinem Zimmer einzunehmen pflegte,
einen ganz außerordentlichen Appetit und ganz leidlichen Durft
entwidelte.
Das Nätjel der Ahnenburg. 2785
Zu gleicher Zeit ward das Verbot, den Garten und den
Kleinen Hof zu betreten, an die Arbeiter jowohl, wie an die
Dienerjchaft erneuert und die jtrenge Befolgung desjelben da-
durch gefichert, daß das Thor, welches die beiden Burghöfe
verband, ſowie von dem vorderen Teile der Burg nad)
dem hinteren Teile, der fogenannten Kemnate führte, durd)
Itarfe Thüren und Schlöffer verwahrt wurden, deren Schlüffel
der Herr in alleinige Verwahrung nahm.
Damit war die Verwunderung der Leute indejjen immer
noch nicht erichöpft, fie jollte eine Steigerung dadurch erfahren,
daß Frau Brigitte, die Beichließerin, eines jchönen Tages ent-
dedte, daß die beiden, mit allen Bequemlichkeiten und nicht
geringem Luxus eingerichteten Gemächer der Frau Gräfin
Adelheid von Greifenflau, der gnädigen Mutter des jungen
Freiherrn, vollſtändig ausgeräumt und all die Eojtbaren Möbel
ſpurlos verſchwunden waren:
Sie erhob ein großes Zetergefchrei und Tief zu ihrem
gnädigen Herrn, die unerhörte Dreiftigfeit der Spigbuben von
Arbeitern, denn nur unter Re frechen Bolfe könnten die
Diebe jtefen, anzuflagen.
Allein der Junker lachte fie ang und meinte, fie müſſe
geichlafen. haben, daß fie nicht bemerft, wie er die ganze Ein-
richtung, die ihm nicht gefallen, wieder habe fortichaffen Lafjen.
Frau Brigitte ſchwieg und entfernte fich.
Wenn aber der Junker geglaubt hatte, mit feinem Spotte,
womit er fie freilich zum Schweigen gebracht, ihre Bedenken
auch niedergefchlagen zu haben, jo irrte er fich gewaltig.
Frau Brigitte fragte und forjchte und erwarb damit die
Genugthuung, daß niemand mehr mwilfe, als fie jelber; es war
allen dasſelbe Rätjel wie ihr, wohin die Möbel gefommen
waren. Kein Menjch Hatte fie fortichaffen jehen, feiner der
Arbeiter wollte fie fortgefchafft baben.
Die arme Frau Brigitte zerquälte nun ihren Kopf mit
der Löſung des Rätſels, ohne mit all dem Kopfzerbrechen ihr
auch nur einen Schritt näher zu kommen.
Dabei ward ihr auch noch von anderer Seite das Leben
ſchwer gemacht und ihr nicht allein, fondern ihrem Alten, dem
guten Hans Kochen, mit.
U. Haus⸗Bibl. I, Band XII. 175
BEE EZ nn... —— —:
2786 22 Egon Fels.
Wie fie die Oberaufficht über die weibliche, jo führte er
diejelbe über die männliche Dienerſchaft — Robert natürlich
ausgenommen, der über Allen jtand und von allen gleich
reipeftiert wurde, nur im ftillen von Frau Brigitte nicht, die
ihn mit aufgezogen hatte und fich jo manches herausnahm.
Die Dienerfchaft machte beiden mit einem Male das Leben
jauer, denn fie ward jchwierig, jtedte die Köpfe zufammen und
that nichts, wie es gethan werden jollte und mußte, damit der
Freiherr, der, ſo gütig er war, doch ſtrenge Ordnung liebte
und einen regelmäßigen Dienſt von ſeinen Leuten forderte,
zufrieden geſtellt werden konnte.
Nach einigen heftigen Worten, die ſich ſowohl von ſeiten
des Burgwarts, als der Veſchließerin, auf die Häupter
Schuldiger und Unſchuldiger entluden, kam als Urſache der
Zerſtreuung und gelegentlicher kleiner Unglücksfälle eine all-
gemeine Gejpeniterjeherei zum Vorſcheine.
Der und jener, ſowie dieſe und jene, wollten bald eine
weiße, bald eine ſchwarze Frau, bald einen Hund mit glühen⸗
den Augen, der aus der Schnauze Feuer ſprühte, bald einen
Mann ohne Kopf, dieſen fein ſäuberlich unter dem Arme
tragend, in irgend einem dunfeln Winfel oder Korridor ge—
ſehen haben oder ihm gar begegnet fein.
Endlich jah eine der Dienerinnen im Dunfel eines trüben
Tages, Ende Oktober, in der Dämmerftunde, vom Fenfter eines
oberen Korridord aus, im Garten eine weiße Öeftalt wandeln;
ihr Betergefchrei rief andere herzu, und ein jeder jah in
der inzwijchen vollends eingetretenen Nacht etwas Anderes,
Schredlicheres.
Das Gerede unter den Dienern hatte fein Ende und feiner
mehr wollte nach Dunfelwerden die weiten, hallenden Korridore
der oberen Stodwerfe betreten. Die ärgerlichiten Auftritte
fanden fat täglich Statt. Frau Brigitte, die mit den Wider-
Ipenjtigen fast noch weniger anzufangen wußte, al3 ihr Mann,
war in heller Verzweiflung, denn fie jah ihre ganze Herrichaft
bedroht. Endlich war ihre Geduld erſchöpft und fie faßte den
großen Entſchluß, die Hilfe ihres jungen Herrn in Anfpruc zu
nehmen, indem ſie ihm zugleich Mitteilung von all den Greueln
machte, deren Schauplaß in letzter Zeit die Burg geweſen.
Das Rätſel der Ahnenburg. 2787
Leider mußte Frau Brigitte den Kummer erleben, daß ihre
furchtbare Erzählung all des Spufes keineswegs den davon
erwarteten Eindrudf auf den Freiheren machte. Denn dieſer
lachte nur, und Robert lachte ebenfall2..
Die ſtille Indignation der Beſchließerin war eine gar große.
Den einzigen Troſt empfing ſie dadurch, daß das Reſultat ihrer
Klage ein beſſeres war, als deren Eindruck ſie zu erwarten
berechtigte.
Jenes Fenſter — es war das einzige, von dem man den
Hof und Garten des Hintergebäudes ſehen konnte — ward
mittelſt eines ſtarken, verſchließbaren Ladens undurchſichtig
gemacht und der Neugierde der Leute entzogen, die während
des Tages und beſonders, ſobald die Dämmerſtunde herannahte,
dorthin liefen und auf neue Nahrung für ihre Geſpenſter—
ſeherei und abergläubiſche Furcht lauerten, ſtatt die ihnen an—
befohlene Arbeit zu thun. Ferner ward denjenigen, die ſich
etwa weigerten, nach Dunkelwerden die Korridore zu pallteren, -
unm ihre Obliegenheiten zu erfüllen, mit Einſperrung ins Burg-
verließ gedroht.
Das half nun freilich zum Gehorſam, aber nicht gegen
die Furcht der Leute, und Hans Jochem ſowohl wie Frau
Brigitte hatten ſomit nach wie vor ihre liebe Not mit ihnen,
und beſonders die letztere lag Robert unaufhörlich mit Fragen
an, ob denn die gnädige Frau Mutter nicht bald kommen werde,
um ihre längſt wieder fertig eingerichteten Gemächer in der
Burg zu beziehen und die Zügel der Oberherrſchaft über das
Geſinde wieder in ihre Hände zu nehmen.
Doch Robert zuckte jedesmal die Achſeln und meinte, Frau
Adelheid werde wohl ſchwerlich vor gänzlicher Vollendung des
Baues, und dann wahrſcheinlich mit ihrem älteſten Sohne, dem
Grafen, zufammen fommen.
Frau Brigitte ließ es ſich nicht träumen — und das war
gut für Robert, ihre Neugierde hätte ihn ſonſt zu Tode geplagt
— wie genau er ihr Auskunft über alles, was ihr rätſelhaft
erſchien, hätte geben können.
Hätte ſie das gewußt, o, wie würde ſie ihn feſtgehalten,
welch energiſchen Verſuch würde ſie gemacht, welche Liſt und
Schlauheit, welche Schmeichelei und Beharrlichkeit würde ſie
175*
2788 Egon Sels.
ins ‚Treffen geführt haben, um ihm, was er wußte, zu ent-
reißen. _
Wie würde fie ihre Augen aufgeriffen haben, hätte fie er-
fahren, welch fehöne Bewohnerin der Junker mit feinem Ber-
bote, jenes Bereich zu betreten, das man, wie auf gemeinjchaft-
liches Uebereinfommen, nur noch den Geſpenſterwinkel nannte,
habe fichern wollen.
Sie war mit allen anderen feit in die Meinung verrannt,
daß die Abjperrung des hinteren Teiles der Burg, ſowie die
Eile, mit welcher die zum Teil ganz bverfallene Mauer um die
Gartenwildnis wieder hergeftellt wurde, ihre Urjache allein in
des Herrn fejter Meberzeugung finde, daß es unmöglich ei,
jenes Heer von Geſpenſtern, welches ihrer Anficht nach dort
jein unheimliche Wejen trieb, zu verjagen.
Wie würde fie erjtaunt fein, hätte Robert ihr jagen wollen,
daß dieſe Vorfichtsmaßregeln allein dem Schube jener Schönen
Frau, der alleinigen Bewohnerin des vermeintlichen Gejpeniter-
tummelplage3 dienen mußten. Sie fanden ihren Grund teils
in der ängſtlichen Fürſorge des jungen Hausherren, der weißen
Frau jene halsbrechenden Schlummerpromenaden auf dem Turm-
gerüſt unmöglich zu machen, fie vor der Gefahr, fchlafend in
den Wald zu geraten, zu jchügen, und ihr auf einem ihr allein
zugänglichen Terrain die freiejte Bewegung zn verjchaffen, in-
den fie zugleich vor der Möglichkeit, dabei zu Schaden zu
fommen, bewahrt wurde. _
Ferner war Chutbert der jehr richtigen Meinung, daß
feinem noch jo ftrengen Verbote jo ficher zu trauen fei, als
verjchlofjenen Thüren und hohen Mauern.
Robert hätte ferner die bedauernde Berwunderung Frau
Brigittens, warum ihr Herr wohl eigentlich troß überaus großen
Appetites, deſſen er fich in letzter Zeit erfreute, troß Der über-
reichlichen Nahrung, die er genoß, völlig beruhigen und ihr
das Ueberflüfftge ihrer bejorgten Gedanken darüber zu Gemüte
führen Fünnen.
Wie hätte die gute Frau auch auf den Gedanken kommen
follen, daß ein großer Teil der Speifen und des Weines Abend
für Abend von Robert jorafältig in goldene und Silberne Ge—
fäße gethan wurde — in Gefäße, welche Frau Brigitte nie
Das Rätſel der Ahnenburg. 2789
gejehen. — Diele padte er danır ſorgſam in einen Korb und
trug ihn, durch die behutjam von dem Freiheren geöffnete Ver—
bindungsthür, bis in die Halle der Kemnate. Hier jedoch nahm
der Herr ſelbſt den Korb, um ihn höchſt eigenhändig die Treppe
hinauf zu tragen, worauf er ihn vor der Thür des Fresken—
zimmers hinſetzte. Denn dort drüben gab e3 in den beiden
Freskenzimmern, wie in der darunter liegenden Halle jebt ſo—
wohl Thüren al3 Zenfter, welche Meijter Hildebrandt auf Befehl
ſchleunigſt hatteanfertigen und Durch einen vertrauten, verſchwiegenen
Arbeiter, der dafür glänzend bezahlt wurde, anbringen lafjen. .
Dort wartete auch der andere leere Korb vom vergangenen
Abende bereit3 auf ihn. Dieſer Korb, welchen der “unter
zurücbrachte, enthielt zwar gewöhnlich nichts al3 die Fojtbaren
leeren Gefäße, welche aus dem Schaße ftammten und die Robert
felbft reinigte und putzte. Manchmal aber war aud ein
Vergamentblättchen. darin, worauf irgend eine Erwiderung auf
ein Schreiben des Junkers an die weiße Frau, einige freund-
liche Dankesworte, oder in letzter Zeit, nach vielem jchriftlichen
Drängen des erjteren, wohl auch irgend ein Wunſch, eine Bitte
verzeichnet Itand. Dieſe Wünjche waren allerdings jtet3 über-
aus bejcheidene und drehten fich immer nur um Kleinigkeiten,
meiſt um Material zu weiblichen Handarbeiten, oder um neue
Saiten für ihre Laute. Zur Beſchaffung diefer Dinge lag
dann immer gleich ein Goldſtück, oder die vom vorigen Kaufe
übrig gebliebenen Silbermünzen bei. Ein Beweis, daß, was
es auch für Gründe fein mochten, welche die weiße Frau be-
wogen hatten, fich hier in tiefite Einfamfeit und Verborgen—
heit zurückzuziehen, Armut wenigftend zu ihnen nicht gehörte.
Ein Gegenitand immerwährenden Grübeln3 blieb für die
beiden Freunde das Nätjel, woher die weiße Frau früher die
Nahrungsmittel genommen, ehe Chutbert ihr mit der beigelegten
Ichriftlichen Bitte, ganz fein Gaft fein zu wollen, den Korb mit
Lebensmitteln und Wein in das Fresfenzimmer gejtellt, und die
Stunde bezeichnet hatte, zu welcher fie ftet3 den von neuem
gefüllten Korb vorfinden werde.
Sie hatte das Anerbieten mit Ausdrüden angenommen,
welche bewiejen, daß ihres Wirtes Güte, einem tiefgefühlten
DBedürfniffe entgegenfommend, ihr eine große Wohlthat fei.
2790 s Egon $els.
Wie lange war fie eigentlich jchon in der Ruine anwejend?
War fie im vorigen Winter fc yon da? E3 war undenkbar, denn
wie hätte dies zarte Weſen den rauhen Winter im ungeheizten
Raume überleben können? Zwar mochte e3 wohl da unten jo
empfindlich Falt nicht fein als oben, aber gleichviel, eg war un-
denkbar, obgleich ihre auch jet noch weiße Kleidung, da in-
zwijchen der Winter mit Schnee und Eis feinen Einzug ge-
halten, zu beweiſen jchien, daß fie viel Kälte ertragen konnte.
Wo nahm fie die ftet3 fledenlojen, weißen Gewänder her? Hatte
fie Verbindungen nad) außen? Aber wie? wo? wann?
Wöchentlicd) ein paarmal, an feitgejegten Abenden, jchafften
beide Freunde mit vereinten Kräften große Spreuförbe voll
harten Holzes bis in dag vorderjte Zimmer mit den Fresken, fie
jo mit dem nötigen HeizungSmaterial dverjorgend.
Wo wäre eine Grenze für Frau Brigittend Staunen zu
finden geweſen, wenn fie dieſe Zimmer, die fie, als ſie einmal
im Anfange hier gewejen, eine Sünde und Schande genannt
hatte, jo ganz verändert und all die ſchwer vermißten und be=
jammerten, jchönen Möbel aus Frau Adelheid Gemach in dem
Zimmer mit dem Kamin und im Nebenzimmer, welches, als.
Schlafgemach eingerichtet; von den jungen Männern nie betreten
wurde, gejehen hätte.
Dieſe Heldenthat hatten die Freunde, unterjtüßt don jenem
Arbeiter, in ein paar Nächten ind Werf gejeßt, ohne bei ihrem
Werke, daS begreiflichermweile bei der Schwere der meiſten Gegen=
ſtände nicht geräufchlos zu vollbringen war, dank der Geſpenſter—
furcht der Dienerjchaft, von irgend einem gejtört worden zu jein.
Die Freunde fanden zwar, wenn fie die Holzfürbe brachten,
ſtets das Zimmer leer, aber die umberliegenden Gegenjtände,
bier eine Mifjale, dort Pergamentblätter und Griffel, da bie
Laute, am Fenſter auf einem Kleinen Tiſche Seide und Gold—
fäden, bewieſen, wie oft und gern die weiße Frau fich hier
aufhielt. Es hätte ihrer jchriftlichen Verficherung, fie fühle jich,
feit die Site ihres großmütigen, zartfühlenden Wirte ihr eine
jo freundliche Wohnung geihaffen, wie neu geboren, kaum bedurft.
Was mochte ein zweifellog zart und fein gewühntes Mädchen
gelitten haben, da unten in dem untwirtlichen Zufluchtorte;
welchen Entbehrungen mochte fie unterworfen gemwejen jein?
Das Rätſel der Hhnenburg. 2791
Es war wohl begreiflich, daß fie mit Wonne von geivohnten
Bequemlichkeiten und Genüfjen Bei nahm.
Ein Rätjel über alle Rätjel aber blieb den jungen Männern
der befremdende Umjtand, daß fie die Kanne Malvafier, die ihr
Abend für Abend gebracht wurde, niemal3 zurückwies und das
Gefäß am anderen Abende jtet3 geleert war.
Konnte man denn nur glauben, daß eine jo zarte- Dame
eine ſolche Menge fchweren Weines zu ſich zu nehmen vermöge,
und das nicht nur als Ausnahme, ſondern als Regel, Tag für
Tag?
Die Speijen wären allerdings für eine einzige Mahlzeit
für eine Dame auch viel zu reichlich bemefjen geweſen, allein,
fie lebte einen ganzen Tag, volle vierundzwanzig Stunden
davon. Nım hatte fie zum Trinken des Weines freilich eben jo
viel Zeit, aber e8 mußte unmöglich erjcheinen, daß fie das zu
vollbringen imjtande ſei. Wie fie fich aber auch den Kopf
darüber zerbrechen mochten, fie fanden nicht3 al3 Roberts endlichen
Einfall, fie jammle den koftbaren Wein zum Bade für ſich, da
er, wie man ſagte, die Schönheit konſervieren ſolle.
Chutbert lachte bis zu Thränen über dieſen Einfall, und
Robert ſtimmte bei, da aber etwas Vernünftigeres nicht aus—
zufinden war, ſo kamen beide überein, die Sache dabei bewenden
zu laſſen und ſich ferneres Kopfzerbrechen zu erſparen.
Wenn nun der Junker auch, den Willen der Dame ehrend,
ſich perſönlich von ihr fern hielt, ſo verzichtete er darum doch
nicht darauf, ſie zu beobachten.
Jenes, auf ſeinen Befehl durch einen Laden verrammelte
Korridorfenſter hatte ihn auf den Gedanken gebracht, ſich in
einer über dem Korridor liegenden Kammer, in die Rückwand
derſelben, ein Fenſter brechen zu laſſen. Er hatte richtig kalkuliert,
er konnte daraus die Fenſter der Kemnate, den ganzen Hof und
Garten überſehen. Dort ſtand er denn ſo manche Stunde und
wartete, bis er die weiße Frau hier oder dort erſcheinen ſah.
Sie ging jetzt, wo fie ſich völlig ſicher fühlte, zu jeder
Stunde des Tages aus den Zimmern in den Hof, um ſich Waffer
zu holen, doc) ließ fie fich in dem Garten nie vor der Dämmerung
bliden, wenn die Arbeiter, welche vom Turmbaue aus den
leßteren überjehen fonnten, den Bau verlafien hatten.
2792 Egon Fels.
Da, eined Morgens, Jah er jie plöglich von ihrer Arbeit
am Fenſter aufipringen und eine Minute darauf erjchien fie in
der Thür der Halle, lief eiligft in den Hof und verjchwand im
arten hinter dichtem Gebüſch, dag blätterlog, wie e8 war, ihm
dennoch die Ausficht auf den Punkt veriperrte, dem fie fich zu—
gewendet hatte. e
Doch blieb fie nicht lange Ein großes, in weißes
Leinen eingejchlagenes® Paket im Arm, erjdhien fie wieder
und las troß der Schwere ihrer Laſt, die fie nur mit Mühe
fortzujchleppen jchien, eifrig in einem Briefe, dejjen großes,
rotes Wachdfiegel an jeinem Baden fich wie ein Pendel Hin
und her bewegte.
Ihre Hand, die den Brief hielt, zitterte, und einmal ſetzte
lie, ftehen bleibend, ihre Laſt nieder, nicht um fich zu ruhen,
jondern um die Hände in heftigjter Bewegung zu ringen und
mit ihrem Sadtüchlein die Thränen zu trodnen, die fie im Leſen
verhinderten. Dann las fie weiter, wobei fie jo heftig meinte
und Ichluchzte, daß ihre ganze ©ejtalt erzitterte. Nachdem fie
damit zu Ende gekommen, faltete fie den Brief zuſammen und
hob ihn in ihr Kleid am Bufen, dann ſank fie auf die Kniee
und ſchien zu beten. Nach längerer Zeit erhob fie fi) und das
Ihwere Paket, da8 ein paarmal ihren Kleinen Händen wieder
entglitt, aufraffend, ging ſie in die Halle zurück.
Da Stand der Junker nım wieder dor einem neuen Rätjel.
Wer Hatte ihr ein Zeichen gegeben? Denn fie hatte noch eine
Minute vorher, ehe fie aufgeblict, ruhig arbeitend am Fenſter
geſeſſen. Wie hatte die Perſon, welche das Paket gebradit,
über die hohe Gartenmauer zu ihr gelangen Fünnen?
Bon einer’ fieberhaften Neugierde erregt, ließ Chutbert
fein Pferd jatteln, und ohne Robert zu benachrichtigen, wollte
er fortreiten, da kam dieſer bereits, jein Pferd ſelbſt aus dem
Stalle führend, heraus und fragte, ob er mitfommen dürfe.
Während beide an der ©artennauer entlang ritten, erfuhr
Nobert, was gejchehen war, und jah ſich, als fie endlich bei
jener Stelle angefommen waren, welcher die weiße Frau zu—
geeilt ivar, mit nicht minderer Spannung al3 Chutbert jelbit,
nah den Spuren um, die jene Perjon, welche der Dame Brief
und Paket gebracht, wohl zurickgelaffen haben mußte.
Das Nätfel der Ahnenburg. 2793
Hier war früher eine jtarfe Brejche in der Mauer ge—
weſen und Deshalb wahricheinlich dieſe Stelle zum Verkehre
mit der Außenwelt von der Dame gewählt worden.
Jetzt jedoch war diefe Stelle gerade weniger geeignet
al3 jede andere, denn ein großer, ftarfer Baum, welcher ehe-
mal3 dicht an der Mauer gejtanden und feine Aeſte weit in
den Garten Hinein geftrect hatte, war den Arbeitern im Wege
gewejen und deshalb gefällt worden. Somit war ein bequemes
Mittel, über die wieder hergeitellte, Hohe Mauer zu gelangen,
in Wegfall gefonmen.
Allein, die Perſon, welche der weißen Frau die bereits
genannten Gegenſtände gebracht, hatte fich recht gut zu helfen
gewußt, da fie zu Pferde war. Dicht an der Mauer war das
Moos von Pferdehufen aufgewühlt. Der Reiter war auf dag
Pferd und von diefem auf die Mauer gejtiegen, wie Spuren
von Moos und feuchter Erde, die an den unberworfenen Steinen
hängen geblieben waren, beiviejen.
„Der Kerl kann Klettern wie eine Habe,“ bemerkte Robert
zu Chutbert, der mit finfter zujammengezogener Stirn die
Spuren unterjucht hatte und eine Beute der heftigiten Auf-
regung zu fein fchien.
Hätte e3 für Robert, der feinen Herrn und Freund ge—
nauer kannte, als Diefer fich felbit, noch eines Beweiſes bedurft,
dieſe allzu verräteriiche Aufregung hätte ihn geliefert.
E3 war fein Zweifel mehr möglich. Der Freiherr von
Greifenklau, der jchönfte Manı am Hofe von Wien, das Ziel
zärtlicder Wünjche der ſchönſten Damen, der Schmetterling, der,
von Blume zu Blume flatternd, ſich leider von feiner feſſeln
ließ, wie jüß ihr Duft auch) war; der Iuftige Sunfer, der Die
Liebe bisher verjpottet und verlacht, fie als eine närriſche Krank—
heit erklärt hatte, war gefangen; liebte eine Namenloſe, von
der er nicht einmal wußte, ob das Geheimnis, welches fie
umgab, nicht gar ein jchimpfliches fei, daS fie der Beachtung
und nun gar der Liebe eines Edelmannd unwürdig machte.
Freilich, fie ſelbſt Hatte in ihrem Briefe von ihrer unbeflecten
Ehre gejprochen, hatte fich eine Unglüdliche genannt, doch wer
bürgte dafür, daß dies Wahrheit und nicht die gejchict be—
rechnete Lüge irgend einer fahrenden Dirne fei, die Um—
2794 | Egon $els.
jtände, Gott weiß, welcher Art, zu zeitweiliger Verborgenheit
‚nötigten?
War Robert mit feinen Grübeleien bis zu dieſer Be—
trachtung gelangt, danı gab ihm jein Gewifjen immer einen
Heinen, moralifchen Stoß, und daS liebliche, unſchuldvolle Antlig
der weißen rau erhob ſich vor. feinem Gedächtnid. Die
leuchtenden, ſchwarzen Augen der Nachwandlerin jahen ihn
jtrafend an.
Sah etiva eine Dirne jo auß?
War ihre ftrenge Zurückgezogenheit, ihr keuſches Zurüd-
weichen vor jeder Gemeinjchaft mit dem jungen Burgheren,
etwa zufanımenzureimen mit dem Thun und Treiben ſolch ver-
ächtlichen Gejchöpfes?
Nein — mußte er fich jelbit jagen — fo weit war fie
wohl feines Freundes Neigung würdig. Aber dennoch — wer
war fie? Woher kam fie? Warum verbarg fie fi) in dem
Schoß der Erde? Was in aller Welt follte daraus werden?
Nicht erit feit heute machte ſich Robert folche Gedanken
und warf die inhaltsjchwere, lebte Frage auf, noch hatte er es
an ausgeſprochenen Bedenflichkeiten und Warnungen, ja jogar
an der Drohung, Frau Wdelheid von der geheimnisvollen
Inſaſſin der Kemnate Runde zu geben, fehlen lajjen.
Doh war der Erfolg von all dem ein gar Häglicher
gewejen.
Bedenklichkeiten verlachte, Warnungen verſpottete Chutbert
aber bei jener Drohung war er zum erſten Male in ihrem
gemeinſchaftlichen, freundſchaftsinnigen Leben ernſtlich böſe auf
den Freund geworden, und hatte ihm Abſage aller Freundſchaft
zugejchivoren, wenn er fich beikommen lafje, auch nur eine An—
deutung vom Vorhandenjein der weißen Frau an die alte Gräfin
oder feinen Bruder zu geben.
Dieje gar ernft gemeinte Drohung hatte allerdings Robert
— der überhaupt nur gedroht und nicht mit einem Atemzuge
an die Ausführung gedacht hatte — verſtummen lafjen, aber
feine Bedenken, feine Bejorgnifje, feine Angjt um den Ausgang
der Sache nicht gehoben.
Das Rätſel der Hhnenburg. 2795
15. Der neue Diener,
Ter Junker hatte auf Robert3 Bemerkung, jener Reiter müfje
zu Hettern verjtehen gleich einer Kate, nichts erwidert, jondern,
ich kurz abwendend, fein Pferd beitiegen und war fortgeritten,
ohne jih darum zu befümmern, ob jener folge oder nicht.
KRopfichüttelnd folgte Robert feinem Beilpiele und ritt
hinter ihm drein, ohne fich zu eilen, an feine Seite zu gelangen,
indem er abermals fich in jene Gedanken und Beſorgniſſe ver-
tiefte, die wir vorhin andeuteten.
’ Auf einer Lichtung trafen fie auf einen Mann, deſſen
Pferd an einen Baum gebunden ſtand, während er jelbjt eine
Ktorbflafche in einer, ein Stüd Brot in der anderen Hand,
auf einem umgeftürzten Baume ſaß und in aller Ruhe und
Gemütlichkeit feinen Morgenimbiß einnahm, als wölbe fich das
herrlichſte Laubdach über feinem Haupte und das Sommer—
lüftchen trage ihm den würzig friſchen Waldduft zu, während
doch ein recht kalter Wind die kahlen Bäume durchſauſte und
klappernd die dürren Aeſte aneinander ſchlug. Die Kälte,
welche vor einigen Wochen geherrſcht hatte, war zwar, wie ſie
viel zu früh ſelbſt für jene Gegenden — Ende Oktober —
aufgetreten war, nur ein kurzer Beſuch und Vorbote des Winters
geweſen und längſt milderer Luft gewichen, aber es war bei
nur fünf Grad Wärme denn doch zu falt, um Hier im Walde
jo gar ruhig und behäbig Raſt zu Halten.
Die Tracht des Mannes war die gewöhnliche eine3 Hand-
werfers, aber mit diefer harımonierte weder die joldatiiche Hal-
tung, noch das martialishe Geficht mit dem jchneeweißen
Knebelbarte und dem ftarfen, grau gejprenfelten Haupthaare.
Zwar war der Mann nach der demütigen Gewohnheit
früherer Seiten einem durch) Tracht und Weſen al3 Edelmann
Gefennzeichneten gegenüber beim Nahen des Junkers und feines
Begleiters fofort aufgeitanden und ftand, feine Kappe in der
Hand, in rejpeftvoller Haltung Chutbert, der fein Pferd an-
gehalten hatte, gegenüber, aber weder jein fühner, adlerartiger
Blick, noch die Art zu Sprechen, harmonierte mit den demütigen
Antworten, die er auf des Junkers Fragen gab.
„Aus Finfenjtein fomme ich, gnädiger Herr” — das war
2796 Egon Sels.
eine benachbarte Stadt — „bin ein armer Schreiner meines
Zeichens und hatte mich nad) dem Greifenjtein aufgemacht, hoffte
dort bei dem Freiherrn lohnende Arbeit zu finden, ward aber
abgemiejen, bin eben zu jpät gefommen, find jchon Arbeiter
genug da. 's iſt eine gar ſchwere Zeit, gnädigiter Herr, für
unjer einen, nirgends giebt’3 Arbeit, und man muß doch leben,
‚und Hat man dazu nod) Weib und Kind zu verjorgen, jo wird's
einem noch viel jchwerer, als ehrlicher Kerl durch die Welt
zu fommen. Könnte nicht der gnädige Herr vielleicht einen
Diener brauchen? Wenn e3 mit dem Handwerk nichts it, fo
geht's vielleicht ſo. Ich verſtehe die Behandlung der Pferde,
bin auch ein Stückchen Kurſchmied, weiß ferner mit dem Auf-
warten bei Tiſche Beicheid und —
„Den Kurſchmied glaube ich dir aufs Wort, mein Alter,
Was aber das Aufwarten bei Tiiche anbelangt, fo möchte ich
auf deine Gejchiklichkeit darin nicht viel geben, denn dir mag
. wohl ein Schwert in der Hand gewohnter fein, al3 ein Braten-
teller —“ erwiderte Chutbert, den Alten forjchend mujternd,
der vor dem leuchtenden, blauen Auge, das ihn durch und durch
zu Schauen fchien, den fühnen Blid ſenkte, während eine leichte
Nöte das tiefgebräunte Geficht überflog, die man freilich nicht
gejehen, wenn er jeine Kappe nicht abgenommen hätte, und
nun die in ſcharfem Abſtand zu dem übrigen Gejicht jtehende
weiße Stirn der Verräter dieſer inneren Wallung eines ehrlichen
Gemütes geworden wäre.
„Der gnädige Herr belieben mit einem armen Manne zu
icherzen,“ erwiderte er, den ſcheu vor dem forjchenden Auge -
Chutbert3 gejenften Blick ein wenig wieder erhebend, „'s iſt
wahr, hab's wohl auch einmal verſucht, Kriegsdienſte zu nehmen
und das Schwert zu führen. — 's gefiel mir auch nicht ſchlecht,
aber — aber — na, die Liebe machte mir einen Querſtrich.
Mein Schatz wollte feinen wilden Kriegsmann, und da ſagte
ic dem Kriegshandwerfe Balet und trat bei meinem Schiwieger-
vater. al3 Gejelle ein, damit der Schreiner erlange, was der
wilde Kriegsgeſell nie befommen hätte.“
„Kun — und halt du e3 nie bereut, das Schwert mit dem
Hobel vertauscht zu Haben?“ fragte Chutbert, dem der Mann,
wie jeine ganze Art und Weiſe gefiel.
Das NRätjel der Hhnenburg. 2797
N
„se nun, gnädigiter Herr — jo eigentlich bereut will ich
gerade nicht Jagen, denn der Preis, den mir der Wechjel ein-
brachte, war gerade fein geringer, ein gutes, ſchönes Weib und
ein Geſchäft, das jeinen Mann ernährte. Freilich“ bier
richtete fi) der Alte Ferzengerade zu feiner ganzen Höhe empor,
und frei begegneten die Adleraugen denen des Freiherrn, —
„Jo recht gefallen hat mir das nie fo Wie das freie, Fühne
Neiterleben und —“ er unterbrach ich, indem er mit finfender
Stimme und urplößlich in fih zufammenfnidender Haltung,
wie durch einen rafchen Gedanken dazu veranlaßt, hinzuſetzte:
„sch bin wohl auch Fein recht geſchickter Schreiner geweſen,
und fo —“ Schloß er mißmutig — „jind wir denn berarmt,
und ich bin froh, wenn ich den Biffen Brot für mein Weib und
Kind gewinne.”
Dabei ftedte er, wie fich auf einmal befinnend, die Flaſche,
welche er noch immer in der Linfen hielt, haftig in die Tajche,
al3 wolle er verhüten, daß der Duft ihres Inhaltes ſich dem
Seruchfinn de3 zu ihm fich beugenden Herrn bemerklich made.
Denn der feurige, ſpaniſche Wein, der diejelbe noch zur
Hälfte füllte, möchte ein ſchlechter Zeuge für behauptete
Armut geweſen ſein.
Demütig ſetzte er dann hinzu: „Wenn mich der gnädigſte
Herr alſo leider wohl nicht brauchen kann, ſo will ich unter—
thänigſt bitten, mich zu entlaſſen. Ich muß mich eilen, anders—
wo —“
„Das iſt nicht nötig, Alter,” unterbrad) ihn Chutbert.
„Zwar habe ich Leute genug, unde brauche feinen Diener, aber
du gefällit mir, und jo mag ich es wohl einige Zeit mit dir
verjuchen. Dein Lohn ſoll auch für deine Familie mit veichen.
Bin ich mit deinen Dienjten zufrieden und behalte dich, wenn
der Winter vorbei ift, fo mag fich wohl auch irgend ein Fleiner-
Bolten für dein Weib in meinem Dienjte finden. Geh’, nimm
Abſchied von den Deinen, und melde dic) morgen oder über-
morgen auf dem Greifenftein, ich bin der Freiherr von
Greifenklau.“
Robert, der ohne ein Wort zu ſprechen, den ſtillen Be—
obachter gemacht hatte, ſah einen Blitz des Triumphes in den
kühnen Augen des Alten aufleuchten, der übrigens ausſah, als
2798 Egon $els.
überrafche ihn die Nennung des Namens jeine3 neuen Herrn
feineswege3, jondern habe von allem Anfang, wilfend, wen er
vor fich habe, jeine Reben wohl berechnet, und nun erreicht,
was er gewollt.
Seht verbeugte er ſich tief, dankte und verſicherte, daß der
edle Herr immer einen treuen Diener an ihm haben und gewiß
allezeit mit ihm zufrieden ſein werde, da er ſich in ſeinem Dienſte
die größte Mühe geben wolle.
Bei dem allen vermochte er doch eine gewiſſe Verlegenheit,
die ſich ſeiner plötzlich bemächtigt hatte, nicht ganz zu verbergen.
Er ward unruhig und machte ſich, nach Art verlegener Menſchen,
irgend etwas zu ſchaffen. Er zupfte ſich hier und da an der
Kleidung und zog das noch unverzehrte Brotſtück, das er vor—
her auf ſeiner Bruſt ins Wams geſteckt, mehrere Male hervor,
um es ſofort wieder einzuſtecken.
Als er dies zuletzt that, riß er ein Pergamentblättchen mit
heraus, das, ohne von ihm bemerkt zu werden, zu Boden fiel.
Das ganze Gebaren des Alten, deſſen Weſen und Manieren,
wie ſeine ganze Redeweiſe, trotz ſeiner Erklärung von dem
Kriegshandwerk, das er einſt getrieben, ſo wenig zu der Stel—
lung eines Schreiners, der er zu ſein vorgab, zu paſſen ſchien,
hatte das Mißtrauen Roberts in hohem Grade geweckt. Er
beſchloß deshalb, ſich in den Beſitz jenes Pergamentſtreifens zu
ſetzen, deſſen Fall er bemerkt hatte.
Er ſtieg ab, wie um an dem Riemenzeug ſeines Pferdes
etwas zu verbefiern, und wußte dabei das junge, feurige Tier
zu einem plößlichen Seitensprunge zu veranlafjen, wobei er
den Bügel losließ, und das fo freigewordene Pferd fich zur
Flucht anſchickte.
Der Alte fprang dieniteifrig hinzu, um zu helfen, dadurch
hatte Robert Zeit, fich nach dem PBergamentitreifen zu büden
und ihn verſchwinden zu laflen.
. Nun rief er: „sch danke euch, Alter — gebt Euch feine
Mühe, der Wildfang kommt ſchon von jelber wieder.“
Er pfiff, und gehorfam, wie ein Hund, fam das Pferd,
welches fich der greifenden Hand des Alten, nachdem e3 ihn
ruhig hatte heranfommen laſſen, jedesmal durch einen nedifchen
Seitenjprung zu entziehen gewußt, herbei getrabt.
Das Rätjel der Hhnenburg. 2799
Robert ſprang auf und folgte dem Freunde, der, nachdem
er noch nach dem Namen des Alten gefragt, und diejer ſich
Sürgen Wiedemann genannt, voranritt.
Der Alte ſchaute ihnen mit einer ſchalkhaft triumphierenden
Miene nach, ſchnippte vergnügt mit den Fingern, und mit dem
Nufe: „Das nenne ich Glück haben! Was wird fie dazu
lagen!“ holte er die Flaſche hervor und nahm einen herzhaften
Schlud, ſchwang ſich auf fein Pferd und ritt in entgegengejeßter
Richtung von dannen.
Nach einigen hundert Schritten wendete ſich Chutbert zu
Robert und fragte: „Was hobit du vorhin auf?“
„DO, nur dies Blättchen, welches deinem neuen Diener
entfiel,” ermwiderte diejer und reichte ihm den bereit3 vorher
verftohlen gelejenen Streifen Pergament.
Noch weit mehr als vorher Robert, der nur mit Mühe
einen Ausruf des Erftaunens unterdrüdt Hatte, ftußte Chutbert
beim Anblide diefer wohlbefannten zierlichen Handichrift.
Das Blatt bewegte fich auf und nieder, jo zitterte feine
Hand, al3 er halblaut las: „Morgen Abend, eine Stunde nad)
Sonnenuntergang.“
„Die Unterfchrift fehlt freilich,” bemerkte Robert, „aber
du weißt, jo gut wie ich, daß fie lauten müßte: ‚Die weiße Fran.“
„Morgen früh wird alfo dein neuer Diener jchwerlich
fommen, er muß doch erit morgen abend der Schreiberin dieſes
Zettels melden, wie glüdlich die jedenfall3 von ihr beeinflußte
Abſicht ihres Bertrauten, ſich als Diener bei dir einzuſchmuggeln,
gelungen iſt.“
„Unſinn! Wenn du Mißtrauen ſäen willſt, Robert,“
erwiderte finſter Chutbert, „ſo muß der Verſuch Sinn und
Verſtand haben. Kann bei dieſem rein zufälligen Begegnen
von einer Abſicht die Rede ſein? Wußte Wiedemann etwa,
daß ich gerade jetzt des Weges kommen werde?“
Wenn auch das nicht gerade, da du aber jo oft in. den
Wald reitet, jo fonnte —“
„Schweig!“ rief Chutbert gereizt. „Es wird dir nie ge-
lingen, mir Mibtrauen gegen fie einzuflößen. Sie ift viel zu
unſchuldig und zu reinen, ehrenhaften Sinne, um zu ſolcher
Hinterliſt ihre Zuflucht zu nehmen.“
2800 Egon $els.
„Du bit, in Bezug auf die weiße Frau, von einer un-
begreiflichen —“
Ein warnender, drohender, gebietericher Blick des Herrn,
den Chutbert dem Freunde fo. jelten zeigte, ließ diejen das, was
er jagen wollte, verjchluden, ftatt deſſen bemerkte er: „Erlaube,
du kannſt Doch nach diefem Beweiſe da —“ er deutete auf den
Bettel, den der Junker immer noch in der Hand hielt — „un-
möglich noch zweifeln, daß jener Mann —“
„Der weißen Frau Freund, Vertrauter, höherer Hindi —
was weiß ich, iſt! Das iſt richtig, aber ich glaube nimmer-
mehr, daß fie, um feine Abficht in meine Dienfte zu treten,
um ihr nahe zu fein, gewußt, und behaupte entjchieden, daß
fie diejelbe mißbilligen, ja wenn fie fann, noch jet verhindern.
wird.”
„Dein Bertrauen in fie ift groß, Chutbert,“ erividerte
Robert mit trübem Ernſt. „Sch hoffe, du wirft mir, obgleich
das deinige in mich in der lebten Beit ſchwer gelitten zu haben
icheint, die Gerechtigkeit nicht verfagen, zu glauben, daß niemand
froher und glüdlicher fein wird als ich, wenn —“
„Sicht weiter, Robert,” unterbrach ihn Chutbert beſchwörend
und reichte ihm die Hand hinüber, „ich bitte dich, mein Freund,
mein Bruder, — laß e3 genug fein. ch verfenne ja nicht, daß
du nur thuft, was du für deine Freundespflicht, wie nicht
minder meiner Mutter und meinem Bruder gegenüber für deine
Dienerpflicht erachteft. Sch zürne dir darüber weder, noch habe
ich dir — da ſei Gott vor! — mein Vertrauen oder meine Liebe
entzogen, beide find heute wie immer ungejchmälert dein. Doch -
— laß gehen, was nicht mehr zu ändern iſt. Sch glaube an
die weiße Frau, ih muß an fie glauben, denn würde id)
von ihr getäufcht, dann hätte das Leben feinen Wert mehr
für mich, und der Tag wäre verflucht, an dem ic) meinen Fuß
in die Ruine meines Stammjchloffes ſetzte. Denn ich hätte,
indem ich jenen Schatz fand, fait im gleichen Augenblide den
größeren Schatz, die Ruhe, den Frieden meined Herzens, auf
immer verloren, und ſomit das, was allein dem Leben Wert
verleiht.“
Er ſchwieg, und Robert wagte nicht mit einem Worte, auf
jeine vorigen, noch unbejchwichtigten Zweifel zurüd zu kommen.
Das Rätſel der Hhnenburg. 2801
Doc Hatte die Entdedung, wie tief bereits dieje ihm un-
ſäglich unheilvoll erjcheinende Liebe zu der weißen Frau in des
Freundes Herzen mwurzle, ihn mit einer peinlichen Angſt und
Sorge für die Zukunft erfüllt.
Endlich wagte er doch die Frage: „Willſt du nicht wenigſtens
verjuchen, jener morgen abend ftattfindenden Zuſammenkunft
beizumohnen? Es wäre fo leicht, und man würde dabei dem
Geheimnis der weißen Frau fiher auf den Grund kommen.“
„Leicht wäre es wohl, Robert, aber auch recht und ehren-
Haft? Wäre e3 meiner würdig, den Spion zu machen? Möchteft
du mich dort ftehen und die Gebeimniffe des Mädchens, das
ich liebe und ewig lieben werde, belaufchen ſehen?“ fragte
Chutbert, mit der Hand auf ein Gebüſch, unweit jener Stelle
der Mauer, an der fie eben vorüberfamen, deutend, das zum
Verſteck für einen Lauſcher jo geeignet war, daß es wie ertra
zu diefem Zwecke dorthin gepflanzt zu fein jchien.
Robert ſenkte betroffen den Blid vor dem vorwurfspollen
Ausdrud im Auge des Freundes, doch that er dies weniger,
weil er fich beichämt fühlte, ihm etwas Unpafjendes, oder gar
Unehrenhaftes zugemutet zu haben, als darum, weil er fich be-
mübte, ihm feine Gedanken zu verbergen. Er dachte bei fich
— freilich, er hat recht, es wäre nicht adelige Sitte, obgleich
in feiner Zage fich wenig Edelleute Skrupel darüber, und viel-
mehr ungeniert den Lauſcher machen würden. Doch was ſich
für ihn nicht paßt, ſchickt ſich wohl für mich, ift fogar meine
Pflicht, als fein treuer Diener und Freund. ch werde dort
fein zur bejtimmten Stunde. Höre ich Schlechtes, dann müßte
e3 ja mit dem Teufel zugehen, wenn e3 mir nicht gelänge, die
geheimnisvolle Schöne mit der Unſchuldsmiene aus Greifenftein
zu vertreiben und Chutbert vor ihren Künjten zu retten.
Mit diefen Gedanken trug er fich den ganzen folgenden
Tag, wußte fie indes jo gut zu verbergen, daß der Junker gar
‚nit auf den Einfall fam, Robert fünne thun, was er felbit
- verjchmäht, und fein Arg hatte, al3 er gegen Sonnenuntergang
nach ihm fragte und von dem Burgwart den Bejcheid erhielt,
er jei von einem Ritte nad) der Stadt noch nicht zurüdgefehrt.
Wohl verborgen im Gebüfch, ſchon vor der in jenem Hettel
bezeichneten Stunde, erwartete Robert den fogenannten Schreiner,
ZU. Haus-Bibl. II, Band XII. 176
2802 Egon Fels.
Sürgen Wiedemann. Seine Situation dabei war Feine beſonders
angenehme.
Das Wetter hatte wieder umgejchlagen, e3 fror ftarf, und
ein eifiger Wind drang troß der warmen Kleidung, troß des
Pelzes, in den er fich gehüllt hatte, ihm big auf die Haut.
Endlich verfündeten Hufichläge das Herannahen des Er-
warteten und Robert wünfchte ſich Glüd, früh genug gekommen
zu fein, denn noch immer war e3 nicht ganz die beitimmte
Stunde.
Sürgen überließ jein Pferd ſich felbit und behielt, ſich an
einen Baumjtamm Iehnend, die Mauer im Auge.
Es war bereit3 vollftändig Nacht, aber eine Flare, helle
Nacht. Obſchon fein Mondenjchein war, funkelten die Sterne
fo hell, daß Robert den Alten genau jehen fonnte.
Er teilte jeine Aufmerkſamkeit zwifchen ihm und der Höhe
der Mauer.
Plötzlich jah er ihn emporfahren und hörte ihn einen leifen
Pfiff ausſtoßen.
Auf dies Signal kam das Pferd herangetrabt und ſtellte
ſich mit einer präziſen Ruhe und Sicherheit an die Mauer, der
man e3 anmerfte, dies fei eine lang geübte Gewohnheit.
Oben über der Mauer flatterte etwas Weißes, und e3 ſchien
dies das Signal’zu fein, daß die Dame zur Stelle gefommeır.
Der Alte ftieg in den Bügel, gelangte mit der Kunftfertig-
feit eines Gauklers jtehend auf da3 vorzüglich Stand haltende
Roß, und ehe Robert nur gejehen, wie e3 eigentlich jo fchnell
möglich gewejen, an der glatten Mauer empor zu gelangen,
laß er rittlings oben.
Neben ihm erjchien in der nächſten Minute die weiße Fran,
die jenjeit3 der Mauer auf einer Leiter ftehen mußte.
Robert jah freilich nur ihren wie immer dicht verfchleierten
Kopf und vermochte feinesweges ihr Geficht zu unterjcheiden,
doc) fie mußte es ja fein, da der Garten nur ihr allein zu-
gänglih war. Ein Zweifel an ihrer Identität war alfo von
vornherein ausgejchlofjen.
Außer dem Pfeifen und Saufen des ſtoßweiſe daher-
fahrenden Nachtwindes, der, in der Richtung der Burg her—
wehend, dem Laufcher jedes Wort zutrug, herrichte die tiefjte Stille.
Das Nätjel der Ahnenburg. 2803
Nicht der leiſeſte Laut konnte ihm entgehen, ohne daß er
den Gehörfinn bejonders anzuftrengen brauchte.
Das Halblaut geführte Geſpräch auf der Mauer begann.
Robert Horchte und horchte, er vernahm jeden Laut, aber ach!
man ſprach italienisch, Hätte jedoch ebenjo gut türkiſch oder
chinefiich Tprechen können, er würde ebenjoviel oder vielmehr
ebenjowenig verjtanden haben.
Der gute Robert Heinze war ein jehr Fluger, für feinen
Stand — bejonders in der damaligen Zeit — außerdrdentlich ge-
bildeter Mann. Jedoch für fremde Sprachen hatte er nicht das
mindefte Talent. Das bißchen Latein, welches ihm zum Ver—
ſtändnis der Mefje nötig war, hatte ihm jo riefiges Kopfzer-
brechen gefoftet, daß er nicht zu bewegen geivejen, auch die
Sprachſtunden Chutbert3, wie deſſen übrigen Unterricht, bei dem
gelehrten Präzeptor zu teilen.
Chutbert ſelbſt ſprach Lateinifch, Stalienisch und Franzöſiſch,
ja ſogar ein wenig Spaniſch. Infolge dieſer Sprachfertigkeit
‚und ſeiner ſonſtigen Bildung galt er denn auch inmitten der
vielen ungebildeten Edelleute der damaligen Zeit für ein halbes
Wunder an Öelehrjamfeit und hätte am Kaiferhofe gleich feinem
Bruder eine gute Carriere machen können.
Doch in jeinem ftarfen Unabhängigkeitsfinne wußte er allen
Anträgen ſchon von weiten auszumweichen und vorzubeugen, und
pflegte zu feiner Familie zu jagen, er wolle lieber als fein
eigener Herr trodenes Brot eſſen, als fi im Dienſte eines
anderen von lauter Delifatefjen mäften.
Robert hätte feinen vergeblichen Laufcherpoften gern ver-
laffen, mußte jedoh, um nicht entdedt zu werden, ausharren
bi3 zum Ende und vertrieb fi) die Zeit damit, aus dem Tonfalle
der Stimmen den Inhalt des Gefpräches zu erraten.
Die weiße Frau Sprach mweinend, und der Alte antwortete
in weichen, bejchwichtigenden Lauten.
Allmählich ward fie ruhiger, aber auf einmal ſchien da3
Geſpräch fich zu erhiben, fie fprach in zornigem, gebieterifchem
Tone. Der Alte antwortete ruhig, entjchuldigend, beſchwich—
tigend, ward zuletzt energiſch, ja jogar trotzig, obgleich jein Ton
immer rejpeftvoll blieb. Hierauf begann die Dame wieder in
176*
— ee
2804 Egon Fels.
ängftlichen, flehenden Tönen janfter Bitte zu ſprechen, allein !
der Alte blieb unbewegt, feine Antwort voll ruhiger Feltigfeit.
Die Unterredung hatte bereit3 eine Stunde gedauert.
Dem armen Zaujcher waren von der Kälte und der totalen
Unbemweglichkeit, zu welcher er, um fich nicht zu verraten, ge-
ziwungen war, alle Glieder wie zu Stein eritarrt. Ihm war
zu Mute, al3 erfriere ihm buchjtäblich die Seele im Leibe.
Später pflegte er, wenn man ihn mit diefem verunglüdten
Laufchverjuche nedte, zu jagen: Diejer habe wohl auch fein
Gutes gehabt, denn ſeitdem wiſſe er ganz genau, daß es ein
Irrtum jein müſſe, ſich die Hölle al3 Ort ewigen Feuers
zu denfen. Er ſei in jener Stunde vom Gegenteil überzeugt
worden.
Diefer Ort der Dual und des Entſetzens müſſe aus Eis
beitehen, und der Nordiwind tojend ihn durchbraufen. Denn die
Dual, jo fürchterlich zu frieren, fei gewiß größer und ficher
nachhaltiger, al3 die, gebraten zu werden.
Doch wie hienieden nichts ewig dauert, hatte zu Roberts
Trofte endlich auch das Märtyrertum diejer ihm eine Emigfeit
lang dünfenden Unterredung ein Ende. |
Der Kopf der weißen Frau verſchwand Hinter der Mauer.
Der Alte rief ihr fein felicissima notte nad) und ftieg herab.
Als er außer Hörweite war, wollte Robert fich fchleunigit
entfernen.
Allein da3 ging jo rafch nicht, wie er geglaubt. Die er-
ftarrten Glieder verfagten fajt den Dienft. Nur humpelnd
vermochte er fich fort und heim zu bewegen. Das war jedoch
nicht das, was ihn am meiſten ärgerte, er hätte darüber nicht
einem Gedanken des Mißpergnügens Raum gegeben, denn was
er gethan, war ja im Intereſſe des Freundes gefchehen, für den
ihm nicht3 zu fchwer erjchien. Aber daß er fich umſonſt ge=
quält hatte und nun fo klug war wie vorher, darüber fonnte
er nicht jo rajch fich beruhigen.
Chutbert bemerkte bei dem gemeinjchaftlichen Abendefjen
wohl, daß der Freund nicht fo heiter war al3 fonft, machte
jedoch, tief verjtimmt, wie er war, darüber feine Bemerkung.
Ihm erjchten im Augenblide alles gleichgültig, er war innerlich
zu jehr beichäftigt.
Das Rätjel der Ahnenburg. 2805
Das Rendezvous der weißen Frau mit jenem Alten, den
er in jeinen Dienjt genommen, hatte ihm den ganzen Tag nicht
aus dem Kopfe gewollt.
Wie Robert ſich gegen Abend auf feinem Laufcherpoiten
vorbereitete, jo war er zu feinem Obfervatorium hinaufgeitiegen
und hatte troß der Dunkelheit mit feinem Nachtglafe die weiße
Frau in den Garten gehen und in jener Richtung Hinter den
Sträuchern verfchwinden, fie erjt nach länger als einer vollen
Stunde, jehr rajchen Ganges, wieder erjcheinen gejehen.
Sollte es denn möglich fein, daß fie ſolche Täufchung
billige, daß fie, wenn auch diefelbe vielleicht von ihr nicht ge .
radezu veranlaßt worden, dennoch durch ihr Schweigen gegen
ihn daran teil nehme? |
Nein, es konnte ja nicht fein, e3 war unmöglich, fagte er ſich
jelbjt, wußte fie überhaupt darum, jo würde fie es nicht dulden.
Trotz alledem war er nicht ruhig, immer und immer wieder
erhob, troß feines Glaubens an fie, der häßliche Zweifel fein
Haupt und verhinderte ihn, ruhig zu werden.
Er glaubte — er fürcdhtete — er zweifelte und glaubte
wieder, er wußte jelbit nicht, welches Gefühl das ftärfere in
jeiner Seele war.
Als er von dem Gange zu ihr mit dem leeren Korbe
zurüdfehrte, riß er in größter Haft die foftbaren Gefäße heraus,
juchte und ſuchte. |
Vergebens, feine Zeile, feine Warnung vor der Täufchung,
die jener Hinterlijtige fich mit ihm erlauben wollte, war vorhanden.
Einen Augenblid ftand er ganz betroffen und nieder-
geichlagen, im nächſten jedoch ſchon Hatte die erfinderifche Liebe
einen Ausweg entdedt.
Was wollte er denn? — war es denn bereit3 jo gewiß,
daß jener wirklich fam? Sie würde, ſobald fie feine Abficht ver-
nommen, es ihm ohne Zweifel verboten haben und damit gut.
17. Das Billet. |
Erfüllt von diefem tröftlichen Gedanken, der ihn ein wenig
aus der Niedergejchlagenheit emporrichtete, in die ihn die Furcht,
ſie faljch zu finden, verjeßt, ging der Junker zur Ruhe und
gr
2806 Egon Fels.
RI IN
fand auch, nachdem er jich freilich lange ruhelog umhergeworfen,
endlih Schlaf. |
E Doch er war faum eine Vierteljtunde eingefchlafen, als er
wieder erwachend emporfuhr.
Ein leifes, ſchüchternes Klopfen an der Thür des geheimen
Ganges hatte, jo zaghaft es Eang, dennoch Eingang in feinen
Schlummer gefunden und ihn geweckt.
Schon ftedte er den Fuß aus dem Bett, um herauszu-
Ipringen, doch zog er ihn, ſich befinnend, ebenjo ſchnell wieder
zurüd und fragte:
„Wer ift hier? Seid Ihr es, weiße Dame?“
„sa, edler Herr, ih bin es —“ antwortete eine zarte
Silberftimme.
„Verzeiht einen Augenblid, ich bitte, ich fomme jogleich —“
„DO nein, nein! Sch bitte Euch, bleibt —“ rief fie ängit-
lich. — „Nehmt dies, leſet und handelt, aber — ſeid nicht hart,
ich bitte Euch, edler Herr.”
Die Thür öffnete fich zu einem ganz ſchmalen Spalt. Eine
kleine, weiße Hand ſchlüpfte hindurch, warf ein Pergamentblatt
in das Gemach und verſchwand ſogleich wieder. Die Thür
ſchnappte ins Schloß.
Wie der Habicht auf die Taube, ſtürzte ſich der Junker,
haſtig aus dem Bett ſpringend, auf das Blatt, drückte es wieder⸗
holt an die Lippen und dann erſt entzündete er die Lampe, um
es zu leſen, da das ſanfte Licht des Sternenhimmels, das durch
keine vorgezogene Gardine verhindert ward, das Zimmer zu
erhellen — er liebte das nicht — zwar wohl hinreichend war,
jeden Gegenſtand darinnen deutlich zu unterſcheiden, doch ſelbſt
Augen wie den ſeinen nicht zu leſen erlaubte.
Er las:
„Verzeiht, edler Herr, daß Euer Gaſt diesmal freiwillig
und mit vollem Bedacht Eure Nachtruhe ſtören muß. Doch
vermöchte ich es nicht, auch nur eine Nacht über an der
Täuſchung teil zu nehmen, die gut gemeinter Eifer für mein
Wohl Euch, mein edler, großmütiger Gaſtfreund, zugedacht hat,
und die zu verhindern ich machtlos bin.
Ihr habt gütig, wie immer, einen Menſchen in Euren
Dienſt genommen, der das nicht iſt, wofür er ſich ausgiebt.
Das Nätfel der Uhnenburg. 2807
Der vorgebliche Jürgen Wiedemann ift mein treuer Diener,
nein, mehr al3 mein Diener, mein Bertrauter, mein Freund,
meine einzige Stübe inmitten meiner Verlafjenheit, ehe Gottes
Gnade mir in Euch den Freund erwedte, der mein jchiweres
203, unter dem ich dem Zujammenbrecdhen nahe war, mit jo '
viel Bartheit zu erleichtern mußte.
Dieler treue Freund nun hält es, im Hinblick auf ein —
möglicherweife bald eintretendes, mir mit noch ſchwererem
Kummer drohendes Ereignis, für notwendig, in meiner un—
mittelbaren Nähe zu fein, und glaubt fich deshalb gerechtfertigt,
wenn er fich eine Hinterlift erlaubt und, Euch über feine Perjon
täujchend, in Euren Dienſt tritt. Sch habe ihn gebeten, da3
zu unterlafjfen, habe ihm jein Unrecht vorgeftellt, habe gezürnt,
alie3 vergebens. Zum erjten Male gehorcht er jelbjt dem aus—
geiprochenen Befehle nicht und befteht auf feinem Rechte, mir
wider meinen eigenen Willen in dieſer Weile zu Dienften zu
fein, welche, wie er behauptet, die Umſtände rechtfertigten und
nötig machten.
So fagte.er und blieb dabei, was ich auch dagegen jagen
mochte. Ich konnte jonach die Täufchung nicht anders ver—
hindern, al3, indem ich fie dadurch, daß ich Euch davon unter-
richte, wie e3 mir Ehre und Pflicht gebieten, unmöglich mache.
Der, von dem ich fpreche, iſt nicht arm, bedarf weder für
fih noch die Seinen irgend eines Geldverdienites, noch glaube
ich jeines Schutzes fo dringend zu bedürfen, wie er meint, er-
freue ich mich ja doch des Schußes eines fo edlen, großmütigen
Mannes, wie Ihr es jeid.
Wenn Ihr Jürgen Wiedemann fortfendet — ich nenne ihn
jo, weil ich, das bitte ich zu glauben, jelbjt Euch feinen wahren
Namen nicht nennen darf, fo gern ich Euch auch in allen Stüden
vertrauen möchte — jo feid, ich flehe Euch) an, gütig gegen ihn
und bedenkt, daß die Lüge, deren er fich gegen Euch fchuldig
machte, allein aus feiner mafellofen Treue gegen mich und
mein Haus hervorging, und verzeiht fie ihm um derer Willen,
die fich nennt Eure dankbare Maria.“
Strahlend vor Freude, drüdte Chutbert feine Lippen auf
den Namen der Geliebten.
Endlich wußte er doch, mit welchem Namen er fie zu
2808 Egon Fels.
nennen hatte, fie, der jein ganzes Herz gehörte. Er hatte recht
gehabt, fie war feiner Hinterliit fähig, war feiner vollen Liebe
würdig.
Was e3 auch fein mochte, das fie zu diefer VBerborgenheit
nötigte, etwas Schimpfliches war e3 nicht, das fühlte er in
diefem Augenblide mehr al3 je, mit unumftößlicher Gewißheit.
Nur halb befleidet wie er war, lief er, einen Pelz über-
werfend, mitten in der Nacht zu dem Freunde, um diejem
jubelnd die ihn beglüdende Neuigfeit zu melden.
Robert freute fich von Herzen mit ihm darüber, denn der
vollendeten Thatſache der Liebe feines Freundes und Herrn zu
Donna Maria gegenüber fonnte ihn ja nichts willfommener jein,
al3 eine folche Beltätigung feines innigſten Wunjches, daß die,
der Chutbert3 Herz nun zu eigen geworden, dieje8 Herzens
würdig fein möge. Was fonnte ihm ficherere Hoffnung darauf
machen, als diejer zarte Zug mafellofer Ehren- und Gemiljen-
haftigfeit? —
In feiner Freude darüber plauderte er, dem es allezeit
ſchwer geworden, längere Zeit vor dem Freunde etwas zu ver-
.. bergen, jeinen heutigen vergeblichen Spionierverfuch aus.
Chutbert ſchalt zwar ein wenig, war aber zu glüdlich und
mußte zu jehr über die Hägliche Schilderung diejes falten Ver-
gnügens lachen, um ernitlich zürnen zu fönnen.
Schon am frühen Morgen ward dem Junker der neue
Diener von dem bereitS unterrichteten Hans Jochem gemeldet
und zugeführt.
Der Junker jaß mit großer Grandezza auf einem Lehn—
jtuhle in jeinem Arbeitszimmer. Robert ftand hinter ihm,
leicht auf die hohe Lehne des Stuhles, in dem fein Herr faß,
geſtützt. |
„Zritt näher, Alter,” ſagte ChHutbert Ffopfnidend, die
tiefe Referenz des neuen Dieners erwidernd. „Bilt früh zu
meinem Dienjte, das gefällt mir. ch liebe folchen Eifer an
meinen Leuten. Es mag dir gerade heute wohl etwas jehr
jauer geworden fein, jobald wieder den weiten Weg von Finfen-
berg nach hier zurüdzulegen. Kannft ja faum zwei Stunden
geichlafen haben und mußt fcharf geritten jein noch dazu,
gelt — Jürgen Wiedemann?“
Das Rätſel der Ahnenburg. 2809
Ueberrajcht hob der Alte den Kopf und blidte fcharf in
des Freiherrn offenes Geficht, denn der Ton, in dem jener den
falfchen Namen ausſprach, die Feine Baufe vorher und die
ganze Bemerkung, die den Nagel fo geradezu auf den Kopf
traf, befremdete ihn höchlich und wollte ihm keineswegs
gefallen.
Allein der Freiherr verzog feine Miene und fuhr fort:
„Geſtern abend zwei Meilen her und zwei zurüd, heute morgen
wieder zwei her, machen ſechs Meilen in einer Nacht, das ift
mit dem beiten Pferde feine geringe Anftrengung in deinen
Jahren und giebt mir einen recht jicheren Beweis von deiner
Züchtigfeit, mein Alter.”
Mitten in feiner Rede hätte Chutbert beinahe laut auf-
gelacht über die Miene vollfommenfter Berblüfftheit und Be—
jtürzung in Jürgens braunem, wetterhartem Geficht. Er be-
zwang ſich jedoch und fprad) ruhig zu Ende.
„sch veritehe Euer Gnaden nicht,“ Itammelte der Alte
endlih. „Wie meint der gnädige Herr das? Ach war doch —“
diesmal ging die Lüge nicht jo geläufig über feine Lippen, denn
er war bereit3 unfjicher geworden. „Sch war ja doch geitern
abend gar nicht Hier.”
„Nein, hier gerade nicht, da haft du wohl recht, aber doc)
in Greifenftein. Heh! — Jürgen Wiedemann? Warft du etwa
nicht auf der Gartenmauer, um mit Donna Maria — die ver-
geblich verjuchte, dich von der Täufchung, die du mir zugedadht,
zu —"
Er konnte nicht vollenden, denn ein wilder, objchon im
Entitehen noch unterdrüdter, aber doch Halb verſtandener, halb
erratener Fluch entjchlüpfte des Alten Munde.
Hoch auf redte fich die martialijche Geſtalt, und der Alte
jchmetterte eine Eijenfauft auf den Tiſch nieder, neben dem er
Itand, daß die Bergamente und Stifte, die darauf lagen, in
die Höhe jprangen, und mit einer Stimme, die: wie rollender
Donner durch das Gemach dröhnte, rief er: „Donna Maria
hätte etwas Beſſeres thun können, al3 mich zu verraten und jo
ihren alten, treuen Diener bloßzuftellen, daß er, wie ein beim
Lügen ertappfer Schulfnabe vor Euch ſteht! ’3 iſt mir eine
ungewohnte Lage das! — Na — man ift nie zu alt, um neue
2810 Egon Fels.
Erfahrungen zu machen. Hätte e3 nicht gedacht von ihr —.
O, die Weiber! die Weiber! Ja, wenn es gilt, ihren Kopf
durchzuſetzen, da hat auch die befte diefes eigenfinnigen Ge—
Ihlechtes ihre Tücken! — Na, da ift es denn nun freilich) mit
dem Dienfte nicht3 und ich fann wieder gehen. — Nichts für.
ungut, Herr Freiherr von Greifenklau, glaubt mir, ’3 ift mir
leid, daß Shr, der Shr ein Ehrenmann feid, den alten —“ er
biß fich auf die Lippen und verfchludte rafch den Namen, der .
ihm in feinem Aerger beinahe entjchlüpft wäre. „Nu den —
den alten Sohn meines Baterd jo vor Euch gejehen habt,
Denkt deshalb, wenn Ihr fünnt, nicht ſchlimm von mir, und
nun, gnädiger Herr, verzeiht, und — gehabt Euch wohl.“ Er
verbeugte fich mit feinem Anftand und einer Würde, die augen-
blidlih den höheren mwohlgeachteten Diener eines vornehmen
Hauſes verriet, und wollte das Gemach verlafjen.
Chutbert that nichts, ihn daran zu Hindern, aber er blicte
fih nach) Robert um, diefem einen Augenwink gebend.
Darauf vertrat Robert dem Alten den Weg und jagte:
„Halt, Halt! Nicht fo vorjchnell, Meister Wiedemann. Der
gnädige Herr hat Euch in feine Dienfte genommen und Ihr
habt noch nicht gehört, daß er fein Wort zurüdgezogen. Möget
Ihr auch nicht der fein, für den Ihr Euch ausgegeben, jo feid
Ihr doch als der vertraute Diener der Donna Maria, al3 ihr
treuer Freund, wie fie dem gnädigen Herrn gejchrieben, jeine3
Vertrauens würdig, und gerade da3, mas er braucht, ja jozu-
jagen dringend bedarf.”
Nicht ohne Abficht Hatte Robert es erwähnt, wie die weiße
Frau ihren Diener als ihren treuen Freund bezeichnet, denn
die finitere Miene des im tiefiten Mißmut und innerlichem
Groll über die erlittene Bloßitellung und Beſchämung ver-
zogenen Gefichts des Alten hatte ihm ein jolches Pflaſter für
deſſen Selbſtachtung ratſam erjcheinen laſſen.
Die freundliche Abſicht ward auch erreicht. Die verehrte,
geliebte Herrin hatte ihn als ihren Freund erkannt, dies glich
alles aus und nahm jede Spur von Groll und Mißmut aus
ſeiner Seele, verklärte gleich einem darauf fallenden Sonnen⸗
ſtrahl die finftere Miene.
„Ihr wißt vielleicht durch Donna Maria,” fuhr Robert
Das Rätfel der Ahnenburg. 2811
fort, „jo weit wenigſtens al3 fie jelbjt davon Kenntnis Hat,
daß mein gnädiger Herr ihr, um das Geheimnis ihres Hier-
fein gegen jedermann zu wahren, Dienjte leiftet, die er zwar,
al3 einer Dame und unter jo zwingenden Umständen geleiftet,
keineswegs al3 erniedrigend für fich betrachtet, die ihm aber
doch nicht gar leicht werden, auch nicht für ihn paflen.
„She werdet aljo. begreifen, daß Ihr gerade, in Eurer
Eigenschaft al3 vertrauter Diener der Donna Maria, ein wahres
Kleinod für ihn, wie für die Dame jelbjt eine große Freude,
ein rechter Troſt jein werdet.”
„Wer weiß!” brummte Sürgen, deſſen Geficht, das eine
wahre Stufenleiter wechſelnder Gefühle und verjchiedener
Grade von Freude durchlaufen hatte, als ihm die hochwill-
fommene Kunde geworden, er dürfe bleiben, ſich jebt plötzlich
wieder verdunfelte.
„Sie jcheint doch nicht mehr fo viel von mir zu halten
al3 früher,“ brummte er weiter. — „Der neue vornehme
Freund gilt ihr wohl mehr al3 der alte, der fie auf feinen
Armen getragen, fie gewiegt und ihre erjten Schritte geleitet
bat, jonft würde fie nicht jogar von geſtern abend —“
„Das that fie nicht, das nicht, darüber dürft Ihr Euch
beruhigen,“ fiel Robert jchnell und befchwichtigend ein. „ch
war e3, der dies dem gnädigen Herrn mitteilte Ich jah, ich
belaufchte — nein, nein! erjchredt nur nicht jo,” berubigte
er den plößlich erbleichenden, vor tödlichem Erjchreden faſt
wanfenden Mann. „Euer und der Dame Geheimnis ift noch
licher bewahrt. — Sch veritehe fein Wort italienisch.”
Der Alte atmete tief auf, wie von einer ſchweren Laſt
befreit. Die Nöte fehrte in das braune Geficht, der Glanz in
die fühnen Augen zurüd, ja, ein launiges Lächeln umſchwebte
jeinen Mund, al3 ex, Robert von der Seite betrachtend, erwiderte:
„Das war Euch wohl recht fatal? Habt Euch jchwer darüber
geärgert, gelt, junger Herr?"
Nobert errötete, eriwiderte aber ruhig, ihm offen und frei
in da8 Geficht jchauend: „Sa, in der That, das ift wahr.
Doc war es nicht Neugierde, die mich zu den Verfuche, den
Zaujcher zu jpielen, veranlaßte. Was ich that, ich that eg ohne
Wiſſen meined gnädigen Herrn und zu dejjeu nachträglicher,
— ER re 2: —*
De © .
2812 | Egon Fels.
ernfter Mißbilligung, doch bereue ich es weder, nod) habe id)
mich defjen zu jchämen. Ein treuer Diener ift für die Ehre
und das Wohl jeine8 Herrn bejorgter, als für jein eigenes,
und wacht über beides, wenn er auch dazu nicht aufgefordert
wird und fi zu Schritten bequemen muß, die er für id
jelbjt nicht gethan hätte. Ihr werdet es verftehen, warum id),
erfüllt von diefem Gefühl meiner Pflicht, es verjuchte, einen
Bipfel des Geheimnifjes zu lüften, der Donna Maria umgiebt.
Sch fürchtete —“
„Doch nicht etwa, daß dies Geheimnis eines fei, das Unehre
bringe? —“ ward- er ungejtüm von dem plößlih auffahrenden
Alten unterbrochen, deſſen braunes Geficht plötzlich wie in Blut
. getaucht erglühte. Einen Schritt näher zu Robert tretend, fuhr
er nachdrüdlich fort: „Sagt das nicht, junger Mann, hütet Euch
jelbft, e& nur zu denken, ſonſt jchlage ich Euch nieder, jo wahr —“
er hielt inne, fchluckte heftig und fuhr fort: „So wahr ich ein
alter — Ejel bin! Verzeiht! gnädiger Herr, ich vergaß mich —
betrug mich in Eurer Gegenwart, wie es jich nicht ziemt — es
ol nicht wieder vorkommen.“
„Run, laßt e8 gut fein, Alter,“ ermwiderte der Junker
gütig, ein Lächeln über daS drollige Umjchlagen de Grimm
in Berlegenheit und Aerger unterdrüdend. „Ihr wollt mir
aljo dienen?“
„sa, gnädiger Herr,” ermwiderte er, ſich verbeugend.
„Nun, mwohlan. — So nehme ich did) denn in meinen
Dienſt, Sürgen Wiedemann, oder wie du funjt heißen magit,
und nun verſöhne dich raſch mit Meifter Robert Heinze, meinem
Schreiber. Was du für Donna Maria bijt, ift er mir, ja, er
teht mir durch Gleichheit der Jahre und Neigungen, durch ge—
meinjchaftliche Erziehung noch weit näher, ift mein lieber Sugend-
gefährte und Freund. Was ich ehre, daS ehrt er, und wem
ih meinen Schuß veriprochen, den wird er verteidigen, und
jei e8 mit Gefahr ſeines Lebens. Ich bin überzeugt, ihr beide
werdet, troß dem großen Abjtand der Jahre zwijchen euch, noch
gute Freunde werden.”
„Das iſt mein Wunſch, Meilter Robert,“ jagte der Alte
und bot dem Angeredeten, mit einem guten Xächeln auf dem
fühnen Geficht, die Hand — „vergebt mir meinen vorigen Ungeftüm.“
— —7
Das Rätſel der Ahnenburg. 2813
——
„Von ganzem Herzen, Meiſter Jürgen,“ erwiderte Robert
freundlich, kräftig in die dargebotene Rechte einſchlageud. —
„Ich verſtehe und ehre ihn, würde es auch nicht gelinder machen,
träte jemand meinem gnädigen Herrn zu nahe.“
„So, das ſehe ich gern,“ ergriff der Junker wieder das
Wort. — „Wir ſind alſo einig. Geh' jetzt mit Robert, er wird
dir deine Kammer anweiſen und dich von den Dienſten unter—
richten, die ich von dir erwarte.“ |
Damit reichte er dem Alten die Hand, die diejer Fräftig
drückte und dann mit feinen bärtigen Tippen berührt. Man
jah, dies war ihm eine ungewohnte Huldigung einem Manne
gegenüber, aber fie fam ihm von Herzen und war ein beredter
Ausdrud feiner Dankbarkeit.
Diefen Abend trug Jürgen den Speijeforb für Jeine junge
Herrin, während der Junker ihn nur begleitete, um ihm den
Weg zu zeigen und die Thür aufzufchließen, deren Schlüfjel er
auch in der Folge nicht aus den Händen ließ, oder den viel-
mehr Sürgen, der fortan allein ging, nach jedesmaliger Be-
nußung wieder an ihn abliefern mußte.
Wenn fich aber der Junker auch dem Heinen Hofe von
jenem Abende gänzlich fern hielt, war er doch weit entfernt,
auch auf feinen Beobachtungspoften oben auf dem Boden zu
verzichten, benutzte ihn vielmehr immer eifriger, je jeltener er
die weiße Frau im Freien erjcheinen ſah. Auch an ihrem
Fenſter, wo fie zu fihen und zu lefen oder zu ſticken pflegte in
den Morgenstunden, zeigte fie fich jeltener, fie jchien trauriger
al3 früher und oftmals jah er fie weinen.
Wie jehr er fich darüber auch beunruhigte, wagte er doch
nicht nach der Urjache diejer Traurigkeit und diefer Thränen
bei Jürgen zu forjchen, fein Zartgefühl verbot ihm jede Frage,
außer der nach ihrem Befinden.
Als Jürgen an jenem Abende von feiner Gebieterin zurüd-
gefehrt war, hatte er dem Freiherrn einen Zettel gebradt,
worauf die Dame ihm ihren Dank fendete.
Er las den Zettel mit ftrahlendem Blide und barg ihn
dann auf der Bruft in feinem Wamfe.
„Bar Donna Maria jehr erfreut?” fragte er.
2814 Egon Fels.
„DO, und Wie, gnädiger Herr!” rief der Alte mit be-
wegter Stimme. — „hr hättet fie jehen ſollen. Es wäre ein
Ihöner Lohn für Eure Güte und Großmut gewejen. — Sie
lachte, fie weinte und fiel mir um den Hals, ja —“ hier
lächelte der Alte ſchelmiſch — „fie hat wahrhaftig mit ihren
Rojenlippen meine bärtige Wange berührt! ch wußte gar
nicht, wie mir wurde, ſolch Glüd, ſolche Ehre ift mir in meinem
Leben nicht widerfahren.“
Der Junker war blutrot geworden und zum erjtenmal
in feinem Leben empfand er einen Augenblid das häßliche
Gefühl bittern Neides. Wie gern wäre er an des Alten Stelle
gemwejen! |
Deffen Stimme unterbrach feine Gedanfen.
„Donna Maria läßt Euch jagen, gnädiger Herr, daß fie
nach diefem nenen Beweis ſchrankenloſer Großmut und Ber-
trauens von Eurer Seite e3 auf das Lebhafteite bedaure, Euch)
nicht durch Mitteilung ihres Geheimnifjes ihrerjeit3 beweiſen
zu fönnen, daß ihr Vertrauen zu Euch nicht geringer ſei. Doch,
da e3 nicht von ihrem Willen abhänge, jo —“
„Genug davon, Sürgen — fage der Dame, ich jei nicht
neugierig und von ihrem guten Willen völlig überzeugt, fie ſolle
jichh jeder Sorge in dieſer Beziehung entichlagen. Ich werde,
wie ſehr ich auch wünſchte, mit ihr perjönlich zu verfehren, ihr
mindeſtens zumweilen einen Beſuch abjtatten zu dürfen, doch nicht
ungeduldig fein, wenn fie es für unthunlich hält, und dauerte
das auch noch Jahre.‘
„Das wird es nicht, gnädiger Herr, fie wird bald frei
fein, zu gehen, wohin fie will, und dann nicht zögern, Euch
Ichleunigjt von der Laſt zu befreien, die ihre Gegenwart ohne
Zweifel für —“
„Laſt!“ jchrie der Junker auf, dem der Gedanke, fie könne
vielleicht den Greifenftein bald verlaffen, gleich einem zmwei-
Ichneidigen Schwert durch die Seele ging.
„Sie eine Laſt für mich?! Sie, die —“
Er hielt inne, jich erinnernd, daß es ihm faum zieme, die
Gefühle feines Herzens für fie dem Diener zu verraten.
„Du bilt ein Narr, mein guter Sürgen, mit deinen Voraus—
ſetzungen,“ jeßte er, fich gemwaltjam faſſend, anjcheinend ſehr
Das Rätſel der Ahnenburg. 2815
ruhig hinzu. „Kommt jene Beit, die du angedeutet, jo wird
- Donna Maria mic) empfangen und dann wird fich alles
finden. Sch bedarf deiner nicht mehr, geh’ und lege dich
auf's Ohr.” Bazenn
18. Der geheime Gang.
Der Gewinn Jürgens wies fich nachgerade al3 ganz un-
\hägbar für den Freiherrn, denn er gewährte ihm die Mög-
Yichfeit, fich für einige Zeit Robert3 zu entäußern, indem er
ihn mit jeinen Weihnachtsgejchenfen aus dem Schabe für
die Mutter, den Bruder und die Schwägerin nad) Wien fendete.
Es war nicht der große Wert der Gejchenfe, der ihn etwa
veranlaßte, gerade Robert mit der Sendung zu betrauen, die
der treue Burgwart, Hans Jochem, mit den dreien der Sicher-
heit halber ihm al3 Geleit und Bededung mitgegebenen Knechten
eben jo ficher an ihre Beitimmung gebracht haben würde, wie
jener, jondern die Ueberzeugung, daß des guten Alten diplo-
matijche Gejchiclichfeit der Neben- oder eigentlich Hauptauf-
gabe dabei nicht gewachlen jein erde.
Diefer Meberzeugung brachte er das Opfer, fi) von dem
Freunde zu trennen, was ihm feineswegs leicht wurde; feine
Gegenwart, feine treue Anhänglichleit und anmutige Plauderei
war ihm mehr al3 je in diefem Augenblid zum Bedürfnis
geworden.
Dad A und D ihrer Geſpräche war vor allem natürlich
Donna Maria, denn jeit einmal jener Augenblid das Siegel
von Chutbert3 Lippen genommen, war er ganz und gar zur
alten vertrauten Gewohnheit, alles mit ihm zu teilen — feinen
‚Schmerz, wie feine Freude. — zurüdgefehrt und jchüttete gar
oft jein volles Herz, den überreichen Strom feiner Gefühle in
des treuen Freundes Bufen aus.
Diejen bitterfüßen Troft mußte er nun für längere Zeit
entbehren und alle jeine Gefühle in fich verjchließen.
Man begreift, daß ihm dies nicht leicht wurde. Doc)
Das Opfer wurde gebracht, weil es gebracht werden mußte.
Es war nämlich als gewiß anzunehmen, daß die alte
Gräfin den Wunſch hegen werde, die Gelegenheit zu benußen,
um im ficheren ©eleite des Boten und der Knechte die Neije
2816 Egon Fels. | — F
— — — — — — — — nn
nach Greifenſtein anzutreten und ihren Lieblingsſohn mit ihrie- '
Ankunft zu überrafchen. Diejen Wunſch der Mutter im Enin
ſtehen zu eritiden, war nun Roberts diplomatische Aufgabe. .
Er jollte zu dieſem Zwecke eine möglichit abjchredende Schilderung
de3 rauhen Klimas der Gegend entwerfen und dazu die Klagen
gejellen, daß es mit dem Baue nicht jo recht vom Flecke wolle,
da das überaus frühe Hereinbrechen des Winterd allzu raſch
die Einftelung der Arbeiten nötig gemacht und ſich dadurd)
die Burg noch in einem jo unfertigen Zuftande befinde, daß
außer der Wohnung des Herrn noch fein einzige8 der herr-
Ichaftlichen Gemächer fi in bewohnbarem Zuftande befinde.
Einmal war die alte Dame überaus empfindlich gegen die
Unbilden der Witterung und dann haßte fie nichts mehr als
die Unordnung eine Baued und den Lärm der Arbeiter. Es
war Daher taujend gegen eins zu wetten, daß ſie augenblicklich
jeden Gedanken, jebt nach Greifenftein zu kommen, aufgeben
werde, wenn ihr folche Kunde recht zu Gemüte geführt und
gehörig beleuchtet würde.
Frau Adelheid jollte und durfte nun einmal nicht jeßt
nach ©reifenjtein fommen. Ihr, das durfte der Sohn als
gewiß betrachten, würde weder feine eigene Veränderung, deren
er ſich vollauf, oft zu eigener Verwunderung, beivußt war,
noch das Vorhandenfein jener geheimnisvollen Bewohnerin der
Kemnate lange verborgen geblieben fein. Wieviel Delikatefje
und Bartgefühl Frau Adelheid auch bejaß, jo traute er doch
der weiblichen Neugier nicht recht und fürchtete im eben an=
gedeuteten Falle jchwere Beläftigungen fir Donna Maria.
Auf Roberts Verichiwiegenheit konnte er fich in jeder Be—
ziehung jo verlafjen, wie auf jeinen guten Willen, alles jo zu
ordnen, wie er ed wünſchte; denn billigte diefer auch, wie er
oft offen gejagt, daS Verſchweigen der delifaten Situation
gegen die alte Gräfin nicht, bangte ihm auch ſchwer vor dem
endlichen Ausgange und hegte er troß allem auch noch immer
ein leiſes Mißtrauen gegen die weiße Frau, das Heißt, nicht
gerade gegen fie jelbit, aber gegen ihre ganze Situation, Yo
würde er Doch nie das Bertrauen des Freundes verraten, viel-
mehr, wenn es galt, gegen feine eigene Weberzeugung allezeit
treu zu ihm halten. |
Das Nätfel der Ahnenburg. 2817
— —
Zwar hatte ſich Robert in letzter Zeit, ſeitdem er wußte,
wie tief der Freund die weiße Frau liebte, nie mehr über
ſeine eigenen Gefühle und Befürchtungen in betreff dieſer ihm
verhängnisvoll erſcheinenden Neigung ausgeſprochen. Doch
Chutbert, der ihn ſo genau kannte, der in ſeiner Seele las,
wie in einem offenen Buche, bedurfte des geſprochenen Wortes
nicht, um zu wiſſen, was Robert dachte. |
Troßdem wußte er, daß jein Geheimnis ficher bei ihm
war und er alles thun werde, um die Gräfin, jeine Mutter,
fernzuhalten.
So zog denn Robert fort, und Chutbert blieb allein zurück,
um zum erſten Male in ſeinem Leben ein Weihnachtsfeſt ohne
den Jugendgefährten zu verleben. Es ſollte zugleich das er—
eignis- und folgenreichſte für ihn werden.
Am Weihnachtsabende brachte Jürgen, der außer einem
ganz beſonders feſtlichen Mahle das Weihnachtsgeſchenk des
Freiherrn für die weiße Frau, ein in Samt gebundenes, an
den goldbeſchlagenen Ecken und der Schließe mit Juwelen be—
ſetztes, innen mit den herrlichſten Medaillons, von Meiſter
Ritters Hand geſchmücktes Miſſale, in die Kemnate hinüber
getragen, ihm als Gegengeſchenk einen Schwertgurt von rubin—
rotem, reich in Gold geſticktem Samt, deſſen Schloß ein großer
Rubin zierte, zurück.
Der Junker betrachtete mit ſtaunendem Entzücken das
ſchöne Geſchenk und bewunderte die Zartheit und Kunſtfertig—
keit der Arbeit, die er, unwiſſend, daß ſie für ihn beſtimmt,
gar oft in ihren geſchickten Händen geſehen und den Stoff be—
neidet hatte, auf dem ihre ſchönen Augen ſo unverwandt ruhten.
In der Freude ſeines Herzens ſchenkte er dem Alten eine
Summe, daß dieſer ſtaunend die Augen aufriß, und beteuerte,
ſolch ein buon mano habe er in feinem ganzen Leben noch
niemal3 erhalten.
Chutbert hieß ihn lachend gehen. Er wollte allein jein,
um ſich ungeſtört ſeinem Entzücken hingeben und die herrliche
Arbeit jener teuren Hände an ſein Herz, an ſeine pn drüden
zu können.
Das Hatte fie für ihn gearbeitet und ohne Bweifel freund-
lich jeiner dabei. gedacht, wenn fie — er wagte den Gedanfen
ZU. Haus-Bibl, II, Band XII 177
2818 Egon Fels.
nicht außzudenfen, es wäre ja zuviel Des Glü.ſckes auf einmal
für ihn geweſen.
Ach nein, das durfte er wohl nicht hoffen. Aber wer
weiß, was noch nicht war, konnte werden. — Wenn ſie nur
erſt dieſes läſtigen Geheimniſſes entledigt, frei war, ihn zu em—
pfangen und mit ihm zu verkehren, dann möchte wohl vielleicht
ſeine ehrfurchtsvolle Werbung ihre Gegenliebe erwecken.
Zwar ſtand ſie ſo hoch über allen Frauen, war ſo viel
ſchöner als alle, die er je geſehen, mit denen er je verkehrt —
ihm ſchien es wenigſtens ſo — und er fühlte ſich in der Be—
ſcheidenheit der echten Liebe ihrer kaum würdig, er war ihr
vielleicht nicht einmal ebenbürtig, aber er zagte dennoch nicht,
er hoffte — hoffte ſie zu gewinnen, ſie einſt ſein zu nennen.
Bei alledem fehlte ihm doch der Freund gar ſehr, er
hätte ſo gern mit ihm ſeine Freude, ſeine Hoffnungen beſprochen.
Nie fühlte er tiefer die Wahrheit des alten Spruches: „Ge—
teilte Freude iſt doppelte Freude —“ und ſehnend ſuchten ſeine
Wünſche den Freund in der Ferne auf.
Am zweiten Weihnachtstage kam Jürgen ſichtlich beſtürzt
und bewegt von ſeiner Sendung zurück und bat, der Freiherr
möge ihm geſtatten, daß er die Nacht unter der Wohnung
Donna Marias in der Halle zubringe, da fie möglicherweije
in dieſer Nacht jeiner bedürfe.
| „Sie iſt doch nicht Frank?“ rief Chutbert erichroden auf-
Ipringend.
„Nein, bewahre, das nicht, Gott ſei Dank! Aber — ad!
fraget mich nicht, gnädiger Herr, ich kann Euch ja nichts jagen.
Geftatten mir Euer Gnaden vielmehr, raſch zu ihr zurüd-
zufehren.“
Chutbert war dem Alten ganz nahe getreten und feine
leuchtenden, blauen Augen bohrten fih mit einem jeelen-
erforjchenden Blide in die Züge des Mannes, der bleich und
angegriffen ausſah.
„Jürgen —“ begann er dann, und legte ſeine Hand auf
deſſen Schulter: „Donna Maria will mich doch nicht etwa ver—
laſſen?“ In ſeinem Tone zitterte die ganze bange Seelenangſt,
welche der grauſame, plötzlich in ihm aufſteigende Gedanke
erweckt hatte.
Das Rätſel der Ahnenburg. 2819
„Gott bewahre mih! Was denkt Ihr, gnädiger Herr?“
fuhr der Alte auf. — „Haltet Ihr Donna Maria für eine
fo niedrige, undankbare Seele? Könnt Shr glauben, daß fie
ih ohne Abjchied, ohne Dank, heimlich von Hier megftehlen
ſollte?“
„Nun nein, beruhige dich nur. Ich that es nicht, es
war nur ein Gedanke des Augenblicks, er iſt bereits vorüber.
Du ſelbſt bit an dem böſen Gedankenblitze ſchuld, der mir einen
Augenblid jo viel Schmerz gemacht. Warum drohteſt du
mir vor kurzem damit, daß Donna Maria den Greifenjtein
verlafjen werde?“
„Aber, gnädiger Herr — einmal muß fie doch gehen,
wenn — doch dazu ift noch nicht Die Zeit, und wenn fie geht,
wird es nicht gejchehen, ohne daß Ihr davon wißt und ihren
perſönlichen Danf empfangen habt.“
„Dank? Defien bedarf es nicht, mir genügt, daß ich fie
ipreche, ehe fie geht. Das weitere wird ſich finden. Hier ift
der Schlüfjel zurüd, jollte di) Donna Maria brauchen, jo
bleib’, jo lange du willſt, bei ihr, nur vergiß nicht, daß du
nie während de8 Tages jene Thür öffnen und durch fie hier-
her zurückkehren darfit. Niemand darf das jehen, fonft hätte
das Spionieren fein Ende. Willit, oder mußt du dennod)
während des Tages zu mir fommen, jo laß dir von Donna
Maria den geheimen Weg zeigen, den ich jelbit nicht kenne,
mitteljt feiner gelangjt du dort durch jene Thür direkt hierher.”
Sürgen kam nicht zurüd, ſondern blieb den ganzen
folgenden Tag abweſend, doc) ftellie er fich abends zur ge=
wohnten Stunde ein. Er war fehr bleich und fichtlich er-
Ihöpft und bat wieder für die ganze Naht um Urlaub,
jobald er fi) nur erjt unten in der Küche felbjt geftärkt
haben würde. I |
Der Sunfer gewährte ihm dag, jchalt ihn aber, daß er
nicht wenigitend, um etwas zu ejjen, durch den geheimen Gang
berübergefommen fei.
Sürgen beteuerte darauf, feine Minute zum Efjen Zeit ge=
habt zu haben. |
Der Junker jchüttelte den Kopf, ſprach aber ſeine Ver—
mwunderung nicht aus, jondern fragte nur, als Jürgen fich an—
177*
Be. —
2820 Egon Sels.
Ichiette, mit jeinem wohlgefüllten Korbe und einer Diesmal, mie
der Freiherr jehr wohl bemerkt, viel größeren Weinfanne als
jonft in die Kemnate abzugeben, ob das Wohlbefinden von Donna
Maria noc) ungejtört ſei.
„D ja,: ohne Sorge, gnädiger Herr,” erwiderte er,
„fie ift ganz wohl, aber auch jehr — jehr betrübt, und ſollte
doch eigentlich Gott danken, dag — na! — e3 wird ja nun
nicht mehr lange dauern, bis Ihr alles hört, guädiger Herr —
's geht zu Ende mit dem Geheimnis.“ Er verbeugte jid)
und ging.
Chutbert blieb jehr unruhig zurüd. Was ging drüben vor?
Wozu brauchte Maria ihren Diener Tag und Naht? Sie hatte
fi) den ganzen Tag nicht einmal blicken laſſen, jo oft er aud)
in fein vorgebliches Studierzimmer hinaufgeftiegen war und
nad) ihr geipäht Hatte. Er fonnte nicht einmal einen Bipfel
ihre8 Schleier im Hofe oder im Garten erbliden,. und ebenjo
wenig am Yenfter ihres Gemaches.
War fie wirklich nicht Frant? Warum war fie jo betrübt,
wie Sürgen fagte? Es follte aljo mit dem Geheimniſſe zu Ende
gehen? Darüber war er im Grunde nicht böje, denn war er-
auch nicht neugierig in der gemeinen Bedeutung des Wortes, ſo
war er doch geſpannt auf die Aufklärung jo vieler Rätjel. Aber
damit fam aud) die Stunde des Abjchiedes für ihn. Würde ſie
wirflic) gehen und ihn verlafien, vielleicht auf — Nimmer-
iwiederfehr? Nein, nein, das fonnte, daS jollte, daS durfte nicht
geichehen, mehr al3 jein Leben, ſein ganzes zeitliche® Glüd, Die
Ruhe, der Frieden des ganzen langen Lebens, da3 noch vor ihn
liegen mochte, war an ihr Bleiben oder an ihre Wiederkehr
geknüpft. -
Bol peinigender Unruhe, hin- und hergeworfen zwilchen
“ Hoffen und Bagen, verbrachte der Freiherr die qualvollite Nacht
feines Lebens im unaufhörlichen Umherwandeln in feinem Zimmer.
Erit al3 fi) der Himmel im Oſten bereit3 zu röten begann,
warf er ſich vollfommen erjchöpft auf jein Bett, ohne ſich aus—
zufleiden, und verjuchte den Schlummer herbeizurufen, den er
bisher geflohen. |
Vergebens, das innere Fieber, die Gedankenjagd, die in
ihm tobte, ließ der Nuhe nicht Raum und vericheudhte den
Das Nätjel der Hhnenburg. 2821
Schlaf, wenn er ſich erbarnıend über den müden Geiſt nieder-
jenfen wollte.
Nachdem er fid) eine Stunde ruhelo3 von einer Seite auf Die
_ andere geworfen, erhob er ſich migmutig in dem Augenblide wieder,
al3 es draußen laut und vernehmlic) an die geheime Thür Elopfte.
„Wer da?“
„sch bin es, gnädiger Herr, darf ich hereinfonmen?“
Ehutbert ſprang Hin, um die Thüre zu öffnen.
Noch bläffer und angegriffener als geſtern abend trat
Jürgen ein.
„Ach! Ihr feid Schon angekleidet, gnädiger Herr?” rief er
befriedigt; „das iſt gut, denn es ift feine Minute zu verlieren!
Donna Maria läßt ſofort um Euren Beluch bitten.“
Chutbert erbebte und eine helle Glut färbte jein edelſchönes
Antlit. Da war er ja endlich, der jo heiß erjehnte Augenblic.
Barg er Glück oder Unglüd in jeinem Schoße ?
Mit gehaltener Würde, welche die zitternde, mit Angjt ge—
milchte Freude, die jein Herz erfüllte, nicht ahnen ließ, erwiderte
er, lein Barett ergreifend: „sch Itehe zu der Dame Befehl bereit.“
Jürgen verneigte ſich mit einer Grandezza, welche den gut
gejchulten Diener eined hohen Hauſes mehr als je verriet und
ſchritt voran.
Draußen ergriff er eine Laterne, welche er auf den Boden
geſtellt hatte und ſchloß, indem er den Freiherrn an ſich vorüber
gehen ließ, hinter ihm die Thür. Nun bemerkte dieſer ſtaunend,
daß ſich dicht neben ſeiner Thür im rechten Winkel, in dem
Gange, eine andere ſchmale, jetzt bereits offenſtehende Thür be—
fand, die ſich, wie die ſeine, nach dem Gange zu, in den ſie
führte, öffnete.
Der Umſtand, daß die Thür in ſeinem Zimmer, ſobald ſie
geöffnet ward, ſich gegen die innere Wand des Ganges legte,
und die Stelle jener anderen Thür vollſtändig bedeckte, hatte
verhindert, daß ſie bei ſeiner eigenen Unterſuchung des Ganges,
ſowie bei der ſpäteren durch Meiſter Hildebrandt, wahrgenommen
worden war. Das Durchklopfen der Wände war ſeiner eigenen
Anſicht nach, weil er den vermuteten Eingang viel weiter nach
dem Ende des Ganges hin befindlich geglaubt, auch erſt in
einiger Entfernung von ſeinem Zimmer begonnen worden.
2822 Egon Sels, Das Rätſel der Ahnenburg.
Er war eben der beitimmten Meinung gewejen, daß er zu
jenem Raume unter dem ange führen müfje, von wo aus er
und Robert die Geijtermufif gehört hatten.
Darin irrte er jedodh. Die Thür führte keinesweges zu
einem abwärts führenden Gange oder einer Treppe, jondern
der Gang, den fie verjchloß, der faſt noch ſchmäler als der
andere, lief ganz ebenjo zwijchen zwei Mauern hin, und führte
direft in daS Freöfenzimmer mit dem Kamine.
Um jene. Fresken waren barod genug Rahmen gemalt,
wahrjcheinlih ausdrüdlid) zu dem Zwecke, den Anjchluß der
vorzüglich in ihren Rahmen 'pafjenden geheimen Thür zu ver-
bergen.
E3 war das Bild von Simfon und Delila, durch welches
Ehutbert, von Sürgen geführt, daS Zimmer der weißen Frau
betrat. Das Bild ſchloß ſich geräuſchlos von jelbjt wieder in
leinen Rahmen ein, und der Freiherr ſtand erbebend vor der
weißen Frau. GFortſetzung folgt.)
Das Germanifhe Muſeum in Nürnberg.
Don Dr. Julian Marrule.
(Vachdruck verboten.)
In Nürnberg, der alten Neichsitadt, fonnte in diejem
Sahre ein Feſt gefeiert werden, da3 einer nationalen
J Schöpfung jo ureigenfter Art galt, wie feine zweite wohl
im deutſchen Baterlande zu finden iſt, der fünfzigite
Geburtstag des Germaniſchen Mujeums. Kein lofer Zufall fügt
e3, daß diejes Schmudfäftchen in der Umfriedung der alten Noris
Iteht, dem Städtebild längſt vergangener Zeiten! In dieſer engen
Gaſſe und aus diefem vermwitterten Haufe tönte einft Hans
Sachjens Lied, und nicht fern davon in feinem alten, über-
einander gejchobenen Eckhauſe lebte Albrecht Dürer jelbit, furzum
überall weht uns der heilige Schauer der Geſchichte an bis
zur altehrwürdigen Burg, die in ihren Mauern die glänzenditen
Träger der deutſchen Kaiſerkrone ſah. Enge, winklige Straßen,
mit einer Fülle von Romantif ausgejtattet, durchziehen noch
heute die Stadt, fojtbare Säulen und Brunnen aus alter Zeit
bannen den Schritt, Mauer und Graben umjchließen fie.
Wahrlich, zu diefer Umgebung fehlen die einjtens jo ſtolz ein-
herziehenden Ratsherren, mit Halsfrauje und Barett geſchmückt,
e3 fehlen die Iujtigen Gejellen in hellem Wams, die züchtigen
Frauengeitalten in altdeutichem Gewande. So fteht das alte
Nürnberg noch immer vor unjeren Augen, indes Nürnberger
er — TIEREN
2824 Dr. Julian Mareuſe.
Lebkuchen und Nürnberger Spielzeug von neuem den Ruhm
der Stadt in alle Winde getragen haben.
In diefem Rahmen nun ijt aus Fleinen Anfängen eine
Schöpfung erjtanden, die in ihrem eigenartigen Gepräge und
x
—
* —— 2 * an
——
ihrer nationalen Bedeutung eins der intereſſanteſten Bauwerke
der modernen Zeit darſtellt, das Germaniſche Muſeum. Ein
fränkiſcher Edelmann, Freiherr Hans von und zu Aufſeß, war
es, der anfangs der fünfziger Jahre des vergangenen Jahr—
hunderts von der Idee getragen wurde, einen nationalen
—
— — —
Das Sermanijche Mufeum in Nürnberg. 2825
Mittelpunkt für alle Bejtrebungen auf dem Gebiete der deutjchen
Geſchichts- und Altertumsforichung zu begründen. Reiche
Sammlungen aller Art, die er jein eigen nannte, ein glühend
patriotifcher Sinn waren die Hebel feines Ideenganges. Ein
z
Der Wajjerhof mit dem großen Treppenturm,
fürjtlicher Proteftor, der damalige Prinz Johann, der |pätere
König von Sadjen, eritand ihm, und unter deſſen Aegide
wurde im Jahre 1852 der Grunditein zum Germanijchen Muſeum
gelegt, das wenige Monate fpäter, am 15. Juni, in fleinen,
bejcheidenen Räumen dem Publikum übergeben wurde. Die
2826 Dr. Julian Marcuſe.
Sammlungen, die zum größten Teil nur aus den Schäßen des
Sreiheren von Aufjeß beftanden, waren jo wenig umfangreich,
daß fie in dem Turme des jogenannten Tiergärtnerthores Raum
fanden, bis durch die Munificenz König Ludwigs I. von Bayern
da3 ehemalige Kartäujerklofter angefauft und zu einem Mufeum
umgejtaltet werden konnte. Doch die politische Zerriſſenheit
Deutſchlands ſchwebte wie ein Unſtern über des fränfijchen
Edelmannes Fultureller That, und erit die Entfcheidung des
Krieges 1866 ſollte auch über diefe Schöpfung reinigend wirken.
Das loſe Band, welches der deutiche Bund um die Staaten
geichloffen, war zerrijjen, aber der deutſche Einheitsgedanfe
war nicht eritorben. Das Intereſſe an der Anftalt wuch3, und
dur) die 1867 erfolgte Uebernahme de3 Proteftorat3 ſeitens
des Bayernkönigs erhielt fie äußerlich ein Anjehen, das fie
mehr fördern mußte, al3 die ſchwache Autorität des Bundestages.
Deutſchlands Fürsten, allen voran die Kaiſer von Deutichland
und Defterreich, betrachteten es al3 eine Ehrenpflicht, dieſes
nationale Werk auszubauen, und jo entitand ein edler Wett-
itreit der Regierungen und Städte, Korporationen und Verbände,
—— Hr Scherflein zu den Sammlungen beizutragen. Unüberjehbare
Schätze flojjen zu und legten den Grund zur Erfüllung der
vornehmften Satung jener Gründung, die da lautet: „Das
Germaniſche Mufeum, eine Nationalanftalt für alle Deutjchen,
hat den Zweck, die Kenntniffe der deutjchen Vorzeit zu erhalten
und zu mehren, namentlich die bedeutfamen Denkmale der
deutschen Geſchichte, Kunſt und Litteratur vor der Vergefien-
heit zu bewahren und ihr Verſtändnis auf alle Weije zu fördern.“
Um diefem Zwecke gerecht zu werden, war e3 nötig, alle Zeichen
und Zeugen der Vergangenheit zu jammeln, alle Werfe der
Kunſt, alle Gegenjtände des Fulturellen Lebens früherer Beiten
zu erwerben. Was ein Menjch, und fei er auch der mächtigite,
nicht vermag, da3 vermag’ die gemeinjame Arbeit vieler, die
von derjelben befruchtenden Idee getragen find. Und jo waren _
e3 Fürſten und hiftorifche Adelsfamilien, Städte und Korpora-
tionen, die aus dem reichen Born ihrer Hiltorifchen Beſitztümer
das ihrige beitrugen. So ftifteten die deutfchen Standesherren
eine fojtbare Waffenfammlung, die deutfchen Städte Anfichten
und Pläne, Porträts und Bücher, Skulpturen aller Art, die
⁊
Das Sermanifche Muſeum in Nürnberg. 2827
deutichen Herricherhäufer Urkunden und Medaillen, Münzen
und Siegel, zahlreiche Batrizierfamilien Familienwappen und
———— ae ae
— — — — —
Der Wittelsbacher Hof mit dem Uhrturm, eins der Bebäude un oh
Netionalmufeums injNürnberg.
andere wertvolle Einzeljtücde. Das deutjche Reich ſelbſt unter-
tüßt die Beftrebungen durch einen namhaften Zuſchuß. Dank
diejer univerjellen Förderung iſt aus der Heinen, urjprünglichen
—— ⸗ —
2828 Dr. Julian Marcuſe.
Rartaufe heute eine große Stadt geworden mit Mauern und
Türmen, Zwinger und Gräben, Haus an Haus iſt erjtanden, -
jedes Sahrzehnt hat wenigſtens einen Anbau- erjtehen helfen,
und fie alle bewahren den Charakter und Stil ihrer Beit, fie
alle ſchmiegen fich eng an Nürnbergs ehrwürdige Bauart an.
Sn weit über hundert Räumen find die Sammlungen unter-
gebracht, die das umfafjendite Bild der fulturellen Entiwidelung
des germanijchen Volksſtammes darjtellen. Mit den Pfahlbau-
bewohnern beginnend und die Anfänge der eriten Kultur vor
Augen führend, durchitreifen wir bei einem Rundgang alle
Perioden des Bölferlebend. Wir erbliden die Fundſtücke der
Bronzezeit, wir gehen über zu den Denfmälern der römischen
Kultur und zu den unter dem Einfluß der römischen Herrichaft
jtehenden erjten Sahrhunderten des Germanentums, die ſchon
reihe Goldſchmied- und Filigranarbeiten aufweilen. Das zweite
Sahrtaufend mit feiner chriftlich-abendländifchen Kultur führt
ung die Grabfteine der großen Männer und hervorragenden
Geſchlechter jener Zeit, die auf Deutſchlands Geſchicke Einfluß
hatten, vor Augen und weiterhin Sfulpturdenfmäler, wie Dom-
thüren, foftbar gejchnigte Altarbilder und Taufbeden, bronzene
Kruzifire und Figuren. Die herrlichen Skulpturen des vier—
zehnten Jahrhunderts folgen; al3 eine der hervorragenditen
jei die heilige Maria genannt, zahlreiche Grabdenfmäler und
Kapellen. Das fünfzehnte und jechzehnte Jahrhundert läßt
una den Glanz des Rittertums erkennen: Turnierwaffen und
Rüſtungen von edeljter Arbeit, Silber- und Goldgejchirre. Und
nun in überjchwenglicher Fülle die Sammlungen zur Gejchichte
des häuslichen Lebens im Mittelalter, zunächſt das Haus jelbit
mit feinen feiten, fonjtruftiven und deforativen Teilen: Fuß-
böden, Deden, Wandtäfelungen, Defen, Schränfen und Sefjeln,
Truhen und Tiichen, dann die Kleinen Gerätjchaften in jeder
Form und Art. Zierlichſte Holzichnigereien, koſtbare Gewebe
und Nadelarbeiten, prunkvolle Silber- und Goldarbeiten zeugen
von der hohen Wertichäßung des Kunſtgewerbes und der treif-
lihen Ausführung zur damaligen Zeit. Die Gefhichte der
Koſtüme zeigt Trachten und Gewänder in bunter Zahl, die
Wiſſenſchaften find durch geometrische und aſtronomiſche Apparate,
durch eine reiche chemisch-pharmazeutifche Sammlung, die Mufik
Das Sermanijche Mufeum in Nürnberg. 2829
durch die eigenartigſten Inſtrumente, die in Ausfehen und Form
wahren Ungetümen gleichen, vepräjentiert. Eine Bibliothek
von weit über 150000 Bänden, eine der jelteniten Siegel- und
Miünzenfammlungen, ein Kupferftichfabinett, welches das Entzüden
jedes Sachtenners hervorruft, und noch vieles andere mehr,
das bei einer
flüchtigen Be—
trachtung, mie
der borliegen-
den, kaum ge-
itreift werden
fann, ergänzen
die hier jfiz-
zierten Samm-
lungen. Das
Germanijche
Mujeum bildet
außer den auf-
gejpeicherten
Schägen der
Bergangenbheit
einen außer-
ordentlich
fruchtbaren Bo;
den für wiſſen—
Ichaftlichen Ge-
danfenaus-
taujch: hat es
doch die weitere,
durch die az Die Jeanne „Aienbenger To —
as Hauptwerk der ruberger figürlichen Renaiſſanceſkulptur,
Satzungen aus⸗ im Germaniſchen Nationalmuſeum zu Nürnberg.
drücklich nieder-
gelegte Aufgabe, zur Verbreitung der Kenntniſſe der hiſtoriſchen
Denkmale und zur Vermittelung ihres Verſtändniſſes wiſſen—
ſchaftliche und populäre Veröffentlichungen herauszugeben,
welche ſich über alle Teile der deutſchen Geſchichte, Litteratur
und Kunſt erſtrecken. Und weiterhin ſoll es ſich — auch dies
iſt niedergelegt — mit allen wiſſenſchaftlichen und künſtleriſchen
2830 Dr. %. Mareufe, Das Sermanifche Muſeum in Nürnberg.
Snitituten und Bereinen, welche verwandte Beitrebungen ver-
folgen, jowie mit allen hervorragenden Gelehrten, welche ſich
mit der deutjchen Vergangenheit bejchäftigen, in Verbindung
- jeßen, um fo einen lebendigen Zujammenhang zwilchen allen
die Vorzeit des deutichen Volkes betreffenden Studien her—
zuitellen. - Bu
Daß e3 diefen Aufgaben, die feinen Begründern vor-
Ichwebten, treu geworden, das wiſſen alle, welche die Entwidelung
des Germaniſchen Muſeums verfolgt haben: Möge es daber
al3 wahres Nationalmujfeum de3 deutjchen Volles für alle
Beiten wachſen, blühen und gedeihen.
Märchen auf der Wanderung,
Dom Urſprung und Wefen der Dollsmärchen.
Don Dr. AnpH Beilborn.
= (Vachdruck verboten.)
3 war einmal!” Mit diefen drei Worten taucht das
ganze Paradies unjerer Kindheit vor ung auf,
dammernde Winterabende, kniſterndes Kaminfeuer,
jener heimliche Zauber, der ung alle mit hinaus—
begleitet ing Leben. Damals freilich ließen wir es ung nicht
träumen, daß hoch im Norden, in Eis und Schnee, die Esfimo-
mutter, in den. PBrairien Amerifas die Sndianermutter ihren
Kleinen dem weientlichen Inhalte nach diejelben Märchen er-
zählt, wie wir fie hören, in denen das Gute über das Böſe
fiegt und die das Gerechtigfeitsgefühl des Kleinen Erdenbürgers
befriedigen.
In einer Märchenfammlung des Neapolitaners Bafile, die
aus dem Jahre 1600 ſtammt, findet ſich ein Märchen, das
etwa folgendes erzählt: „Es war einmal eine Frau, die hatte
zwei Töchter: eine brave, fleißige Stieftochter, die ſie aber nicht
leiden mochte, und eine böſe, faule rechte Tochter, die von ihr
ehr verhätjchelt wurde. Eines Tages ging die fleißige Stief-
tochter mit ihrem Korbe aus, Futter zu holen. Da rollte ihr
plößlich der Korb aus den Händen und fiel in eine tiefe Höhle.
Aus Furcht vor der Stiefmutter ftieg da8 arme Mädchen nun
in die dunkle Höhle hinab. Da fam fie zu einem fchimmernden
Palaſte, darin drei munderjchöne Feen mwalteten. Dielen diente
IE
2832 Dr. Adolf Heilborn.
fie treulih, und als die Zeit um war und fie heimzufehren
begehrte, fiel ihr, als fie durch das Thor des Schlofjes ſchritt,
zum Lohne ein goldener Stern auf die Stirn. Als das die
böje Stiefjchweiter daheim jah, trachtete fie auch nach ſolchem
Schmud. So stieg fie denn gleichfall3 durch die dunkle Höhle
zu den Feen hinab, aber der Lohn für ihr unmirjches Weſen
und ihre Faulheit war nur ein Schandmal auf der Stirn. er
Als der befannte Germaniſt Wilhelm Grimm am 13. Otto⸗
ber 1811 aus dem Munde Dortchen Wilds, ſeiner nachmaligen
Gattin, im Apothekersgarten zu Kaſſel das Ihöne Märchen von
der ‚Frau Holle” vernahm und aufzeichnete, hatte er gewiß
feine Ahnung davon, daß diejes kerndeutſche Märchen ſchon
200 Sahre vor ihm ein Staliener zu Papier gebracht, und daß
etwa ein Sahrhundert jpäter der Franzoſe Charles Berrault
ein ganz ähnliches Märchen mitgeteilt hatte. Nun, Dortchen
Wild ſtammt aus einer Genfer Familie, und die Vermutung
liegt fo nahe, unjere „Frau Holle“ jei urfprünglich ein fran-
zöſiſches Phantafiegebilde.
Allein die moderne Märchenforſchung hat uns gelehrt, daß
das „Holle-Motiv“ (wenn wir ſo ſagen dürfen) faſt durch die
ganze Welt verbreitet iſt. In einem iriſchen Märchen wird
das brave Mädchen von der Stiefmutter in den Brunnen ge—
worfen und kehrt mit einem Käſtchen voll Schätze heim, „wie
fie fein König auf Erden beſitzt“. In dem Kaſten des faulen
Mädchens dagegen finden fich nur Kröten und Schlangen. Das
Ichottifche Märchen von der Frau Holle weiß von einer Königs—
tochter zu erzählen, die goldbehangen wieder heimfehrt, während
die Stiefſchweſter mit Schmutz beworfen wird.
In den Denkſchriften der Petersburger Akademie vom
Jahre 1872 lautet das Holle-Märchen der Turkmenen öſtlich
vom Kaſpiſchen Meere folgendermaßen: „Eine Frau hatte ein-
mal zwei Töchter, eine fleißige und eine faule. Eines Tages
fiel dem fleißigen. Mädchen der Eimer in den tiefen Brunnen.
Aus Furcht, zu Haufe geftraft zu werden, ſpringt das Mädchen
dem Eimer nad) und fommt auf dem Grunde des Brunnens
zum Froſtrieſen, der e3 in feine Dienjte nimmt. Zur Belohnung
für ihren treuen Fleiß ſchenkt ihr der Froftriefe einen Eimer
voll Goldftüde. Und als fie daheim ankommt, fräht der Hahn:
Märchen auf der Wanderung. 2833
ee}
„Kikerifi, in dem Eimer der Fleibigen find Goldftüde!” Da
gelüftet’3 auch die Faule nach dem Golde. Ahr aber giebt der
Froſtrieſe nur einen Eimer voll Eisftüde, und der Haushahn
fräht: „Kiferifi, in dem Eimer der Faulen find Eisftüdel" Das
armenijche Holle-Märchen berichtet von der „alten Frau“, zu
der die Stieftochter fommt, und die ihr zur Belohnung Haar
und Kleid in Gold verwandelt. Die rechte Tochter aber „wird
jo verwandelt, daß fie wie eine Vogelicheuche ausſah“. Sa,
jelbjt in Birma und Japan ift man der „Frau Holle“ wieder
begegnet, wenn auch in fremdartig anmutendem Gewande,
und e3 jei ung gejtattet, auch diefe beiden Faſſungen kurz zu
erzählen.
„Eines Tages,” fo lautet die birmanische Fafjung, „ging
ein Mädchen zum Bache, um Wafjer zu fchöpfen. Da entglitt
der hölzerne Eimer feinen Händen und wurde von der Strö—
mung fortgeführt. Es eilte ihm nach, da kam e3 zu einem
Wehr, das einem Rieſen gehörte. Wie diefer nun filchen ging
und das Mädchen erblidte, wollte er e3 freſſen. Sie aber er-
zählte ihm mweinend ihr Elend, fo daß der Rieſe von Mitleid
ergriffen ward und fie mit fich nach Haufe nahm, wo fie ihm
und der Riefin den Haushalt führen mußte. Sie war treu und
fleißig, und als fie nach einiger Zeit, Heimweh fühlend, die
Rieſen bat, fie Heimzufenden, mwilligten diefe auch ein. Nur follte
lie vorher der Riefin noch einmal den Kopf frauen. Der war
aber voller grüner Schlangen und großer Tauſendfüße. Da
holte das Mädchen eine Art und erjchlug die Ungetüme. Er-
freut führte die Riefin das Mädchen in ein Gemach, darin zwei
Körbe ftanden, und forderte es auf, einen davon zu wählen.
E3 nahm den unfcheinbaren, alten Korb, und fiehe da, als es
daheim anlangte, war er bis zum Rande gefüllt mit köftlichen
Edeliteinen und Gold. Das Glüd des Mädchens erregte Staunen
und Neid, und ein junger Mann, der davon erfuhr, machte
ih auf den Weg, fein Heil bei den Rieſen gleichfall3 zu ver-
juhen. Es ging ihm zunächſt alles nad) Wunſch. Aber er ift
zu den beiden unfreundlich und widerjpenjtig, und als ſie ihn
von dannen fchiden, wählt er den neuen, größeren Korb. Als
. er aber damit nach Haufe fam, waren lauter Menjchenjchädel
darin.“
ZU. Haus:Bibl. TI, Band XIL 178
2834 Dr. Adolf Beilborn.
Noch verjchleierter, aber trogdem unverfennbar ift das
„Holle-Motin“ in dem erwähnten japanischen Märchen, da3 in
‚jenen Fleinen, auch bei ung befannten, reich illuftrierten Büchern
jteht, die die Eltern den Kindern zur Unterhaltung und Be-
lehrung in die Hand geben.
„Ein alter Mann,” jo erzählt es, „bejaß einen Sperling,
den er fehr liebte. Als er eines Tages nad) Haufe fam, war
der Sperling fort. Die Frau hatte ihm die Zunge aus-
gejchnitten und ihn aus dem Haufe gejagt, weil der Vogel ihr
das Neismehl aufgefreifen hatte. Da war der Mann jehr be-
trübt und machte fich auf den Weg, jeinen Sperling zu ſuchen.
Endlih fand er ihn, und der Sperling führte ihn in feine
Yamilie ein, wo er jehr gut aufgenommen wurde. Cr blieb
eine Weile da, und als er heimfehren will, fordert ihn der
Sperling auf, von zwei Körben einen mitzunehmen. Der
Mann, der alt und ſchwach war, wählte den leichteren; aber
al3 er zu Haufe anfam, war der Korb voll Gold und Edel—
Iteine. Als die Habgierige Frau das fah, ging jie ebenfalls zur
Sperlingsfamilie. Als ſie endlich anlangte, bat ſie den Sperling
gleich um ein Geſchenk. Da führte ſie der gaſtfreundliche
| Sperling zu den beiden Körben. Sie aber wählte den größeren.
Keuchend Fam fie daheim wieder an. Doch als fie den Korb
öffnete, |prangen lauter böje Kobolde heraus, die fie arg zu-
richteten.“
Entkleiven wir alle diefe Holle-Märchenvarianten ihres
jeweilig verjchiedenartigen Aufpußes, jo bleibt ung al3 nadtes
Motiv, gewiſſermaßen als ethiſcher Grundgehalt, die Belohnung
des Guten und Beitrafung des Böfen durch ein zauberhaftes
Weſen. Diejes Motiv ift aber bei all den verjchiedenen Völkern
da3 gleiche. Haben nun dieje verjchiedenen Völfer dies Motiv
eine3 vom andern entlehnt, oder find fie unabhängig voneinander
darauf gefommen? Das ift die Frage, die uns im folgenden
beichäftigen jol, und die zu beantworten die moderne Märchen-
forſchung feit langem bemüht ift.
Zunächſt jei betont, daß, was von der Verbreitung de3
Holle-Motivs gilt, auch für eine große Anzahl anderer Märchen»
typen zutreffend it. Hat doch die Engländerin Miß M. Cor
allein 345 Bartanten des Aichenbrödel-Märchens aus aller
Märchen auf der Wanderung. 2835
Herren Länder zufammengeftellt! Nun, für die merkwürdige
Thatjache, daß die alte heſſiſche Bauersfrau den Brüdern
Grimm die gleihen Märchen erzählte, die der Kaffer im Kraal,
der Eskimo in der Schneehütte, der Indianer am Zeltfeuer
jeinen Rindern noch heut erzählt, war jene Beobachtung von
größter Tragweite, daß die fchier unerjchöpfliche Fülle der
Bolfsmärchen fi) doch auf wenige Typen zurüdführen läßt,
die immer, wenn auch in mancherlei Verkleidung, wiederfehren,
und die meist nur in verjchiedenartiger Weiſe miteinander ver-
ſchmolzen find, jo daß fich fchlieglih Taufende von Varianten
ergeben. Solcher Urtypen fennt man etwa hundert.
Der berühmte Sanskritforicher Benfey war es nun, der
al3 erjter nachwies, daß die Mehrzahl der Urtypen unferer
heutigen Märchen uraltindifchen Urſprungs ift. In dem älteften
indischen Gejchichtenbuch finden fich bereits fünfhundert derartige
Märchen und Sagen. Da aber die Indier damals jchon ein
hochentwideltes Kulturvolf waren, nimmt Benfey an, daß fie
auch die eigentlichen Schöpfer der Märchen find und daß mit
ihrer Aultur auch die Märchen zu den übrigen Bölfern des
Morgen- und Abendlandes famen. Die indiihen Märchen-
lammlungen wurden fpäter ing Syrifche, Arabiſche und andere
orientalifche Sprachen überjebt. Aus ihnen haben u. a. das
arabiſche „Tauſend und eine Nacht”, das perjiiche „Bapageien-
buch“ u. ſ. f. geichöpft, und die Araber waren e3 dann in
eriter Linie, die jene Märchen zu uns gebradt. Die Einfälle
der Mongolen und die Kreuzzüge trugen desgleichen zur Ber-
breitung der orientalifchen Märchen weſentlich bei.
Allein die geiftreiche Hypotheſe Benfeys vermag gleichwohl
das Rätſel des Urſprungs unjerer Märchen nicht völlig zu
löſen. Mag auch feine Annahme für alle jene Märchentypen,
denen ein indogermanifcher Mythus (wie etwa im Dornröschen
und Sneewittchen) zu Grunde liegt, unbedingte Gültigkeit Haben,
jo dürfte fie doch für jene zahlreichen Märchen, die ein ethiſcher
Grundgedanfe gebar (wie die „Frau Holle”), nicht zutreffend
fein. Dafür ſpricht u. a. auch der Umstand, daß die alten
Aegypter, die gewißlich zu der jpäteren indiſchen Kultur feinerlei
Beziehungen hatten, bereit3 gleichfalls ganz ähnliche Märchen
erzählten.
118*
2836 Dr. Adolf Beilborn, Märchen auf der Wanderung.
Sp hat uns 3. B. Georg Ebers aus dem hieratifchen
Papyrus „Harris 500" ein- „Märchen vom verwunſchenen
Prinzen“ erzählt, das eine überrajchende Aehnlichkeit mit unferm
Märchen vom gläjernen Berg verrät. In der Abhandlung zu
diefem merkwürdigen Bapyrus, der aus dem lebten Jahrtauſend
‚vor Chriſto jtammt, betont Ebers nun mit vollem Recht, daß
die eben erwähnte Aehnlichkeit „auf Feine Entlehnung, ſondern
auf die Aehnlichkeit des menjchlichen Denkens in allen Zeiten
und Breiten zurüdzuführen“ fei. Und die gleiche Art des
Märchenerzählens aller Völker, die wörtlichen Wiederholungen
der Reden im Märchen charafterifierend, fügt er Hinzu: „Unter-
zieht man die poetischen Leiltungen der Völfer einem Vergleich,
jo will es erjcheinen, als wäre auch der (naive) epiſch erzählende
Menſch, jo verjchiedene Flügel auch feinem Geiſte gewachjen
jein mögen, gewiſſen ihm angeborenen Gejeten unterworfen.“
Dieje Ebersſche Hypotheſe, daß die Märchenähnlichkeit auf
die Aehnlichkeit des Denkens zurücdzuführen fei, hat viel Beſtechen—
de3 für fih. Auch eine ganze Reihe englifcher Märchenforfcher
neigt ihr zu, jo namentlich Andrew Lang, der die Gleichartig-
feit der Märchen im Often und Weiten aus der Gleichartigfeit
der primitiven geiltigen Veranlagung aller Menjchen erklärt.
Die Wahrheit dürfte auch hier in der Mitte liegen. Wie
wir jchon betonten, find jedenfalls alle die Märchen, die auf
nationale Stammmpthen zurüdgehen, über den Erdkreis mit
der Kultur gewandert — und e3 ijt eine feinfinnige Bemerkung
Reuleaux', wenn er an die innige Verwandtſchaft des deutjchen -
„Wandern“ und „Wandeln“ erinnert — alle diejenigen Märchen
aber, deren Gehalt vorwiegend ethiſch ift, autochthon, dem gleich—
artigen Denken der einzelnen Völker entſproſſen. |
Weiße Haare.
Novelle von J. Ofttmer.
(Nahdrud verboten.)
arum nit, Lola?" — „Weil ich ihn nicht liebe,
Mama!” rief das jchöne Mädchen und warf den
Kopf zurüd, daß die braunen Locken flogen. „Sit
das nicht Grund genug? Soll ich ihn nehmen, weil
er jung und reich, oder weil er hübſch und vornehm ift, oder
weil er mich liebt?“
„Aber Lola,“ jagte die Mutter ernit, „da zählit du jelbit
alle Eigenfchaften auf, die Werner zum begehrenswerteiten Che-
mann machen, und fagit dann, du liebeit ihn nicht. Warum
aber liebjt du ihn nicht?”
„Bedarf e3 dazu eine8 Grundes?“ fragte die Tochter
leife. Dabei errötete fie tief, was der Furzjichtigen Mutter
entging.
Frau Albers lehnte ſich mit befümmerter Miene in ihren
Lehnſtuhl zurüd und fagte: „Höre, mein Kind, fo geht e3 nicht
weiter. Das ift nun der fünfte, den du ablehnit, und immer,
weil du ihn nicht Liebft. Es waren lauter gute Partien. Wer
weiß, ob fich noch einer findet, wenn du auch Werner heim-
ſchickſt. Es fpricht fich leicht herum, wenn ein Mädchen Körbe
austeilt, und bald wagt fich Feiner mehr heran, denn fie muß
doch einen Grund dazu haben, — entweder iſt's Hochmut, oder
man glaubt, ihr Herz ſei nicht frei; ich weiß freilich, daß Fein
von beiden zutrifft... Es iſt mir ein Nätjel, was dich
bewegt!“
2838 &. Öttmer.
„Muß ich denn heiraten, Mama?” fragte Lola, und ihre
Stimme zitterte ein wenig.
„Kind, Kind, was ſoll das heißen! Du weißt, ich bin
frank, und wenn ich einmal fterbe, Haft du niemand auf der
Welt, der dir nahe ftünde.“
63 war, als wollte das junge Mädchen etwas erwidern,
doch ſchwieg es.
„Ueberlege es dir. Bedenke, daß ſich dir ſchwerlich ein
zweites Mal eine ſolche Gelegenheit zum Glück bieten wird.“
„Zum Glück, Mama?” ſagte Lola träumeriſch. „Glück
denk' ich mir anders. Zum Glück gehört Liebe.”
„Ach, Kind,“ erwiderte die Mutter, „zu einer glücklichen
Ehe gehören Achtung, Sympathie höchſtens und eine ſorgenloſe
Exiſtenz. Glaub' mir, die aus Leidenſchaft geſchloſſenen Bünd—
niſſe werden ſelten glücklich. Der Rauſch verfliegt, und dann
ſieht man mit nüchternen Augen die mangelhaften Verhältniſſe,
für die man früher im Taumel blind war oder ſein wollte.
Und bei Werner findeſt du alles, was die ſichere Gewähr eines
wolkenloſen Lebens giebt. Und dazu betet er dich ja an!“
„Aber ich ihn nicht!“
„Das findet ſich,“ meinte Frau Albers. „Neigung erweckt
Gegenneigung. Nimm ihn, Lola! Gieb mir dieſe Beruhigung,
dich wohlgeborgen im Hafen zu wiſſen, geſchützt vor aller Un—
bill des Schickſals. Dann kann ich ruhig ſterben. Thu's —
thu's mir zu Liebe.“
„Ich kann nicht!“ Es klang wie ein Wehruf. Schmerz
und Trotz flogen über die ſchönen Züge des Mädchens.
Dann erhob ſie ſich und verließ das Zimmer.
In ihrer Stube angelangt, ſetzte fie ſich auf das kleine
Sofa, verbarg das Geſicht in die Hände und ſchien tief nach—
zuſinnen. So verbrachte ſie eine Weile, dann ließ ſie die Hände
ſinken, und ihr Blick ſtreifte durch. den Heinen Raum. Ein
echtes Mädchenſtübchen: elegant und traulich, mit hundert un—
nützen Dingen geſchmückt: Vaſen und Schälchen, Ballerinnerungen
und Blumen und einer Anzahl von Photographien. An einer
derſelben blieb ihr Auge hängen. Sie ſtand auf, nahm den
Rahmen in die Hand und ſah das Bild unverwandt an. Es
war ein ſchöner, ausdrucksvoller Männerkopf, nicht in der
Weiße Haare, | 2839
eriten Blüte der Jugend, vierzig vielleicht — ein frifches, kraft—
volles Geficht.
„Du weißt, daß ich nicht kann,“ murmelte fie. „Franz —".
Es pochte an ihre Thür. Blitzſchnell Itellte fie das Bild
weg und wendete fich um. Auf ihr „Herein“ trat ihr der ent-
gegen, mit dem fie eben geheime Zwieſprache gepflogen hatte.
Ein Leuchten ging durch ihre Augen, eine Glutwelle über ihr
Geſicht; lächelnd trat fie ihm entgegen.
„Du, Onfel Franz?“
Doch auf feiner Stirn lag eine dunkle Wolfe, und feine
Stimme hatte einen ungewohnt rauhen Klang, al3 er jagte:
„Deine, Mutter jhidt mid. Sch ſoll dir Vernunft
predigen.” |
Sie war blaß geworden bis in die Lippen, und alles Licht
erlofch in ihren Augen. Er febte fich, fie blieb gejentten Hauptes
vor ihm Stehen, wie ein Kind, das Schelte erwartet.
Eine lange Pauſe trat ein. Endlich fragte er mühſam:
„Warum giebjt du Werner einen Korb?”
„sc habe es Mama ja gejagt: weil ich ihn nicht liebe,“
_ antwortete fie leile.
„Lola, Sprich die Wahrheit zu mir, wie du es immer ge-
than haft. Ich glaube nicht, daß dies dein einziger Grund it.
Du biſt umſchwärmt und ummworben wie felten ein Mädchen,
und fo oft ein Freier fommt, weiſeſt du ihn ab — das iſt nicht
natürlih. Sag’ mir, warum du das thuft.“ Die tiefe, weiche
Männerjtimme zitterte vor innerer Bewegung.
Sie wich feiner Frage aus.
„Soll ich einen nehmen, den ich nicht liebe?“
„Warum aber Liebit du ihn nicht?” fragte Franz. „Er
it jchön, reich und vornehm — und jung,“ fügte er hinzu; es
Hang wie ein Seufzer. „Wie muß denn der fein, den du
lieben könnteſt?“
Sefundenlang ſchlug fie die Augen zu ihm empor, dann
lenkte fie wieder die Lider.
Abermals jtocdte das Geſpräch; dann fagte fie kaum hör-
bar: „sch werde überhaupt nicht heiraten.”
Sein Bid umſchloß liebevoll ihre zarte Geftalt, daun
rief er: |
2840 &. Öttmer.
„Du nicht heiraten! Das ift ja unmöglich! Und warum
nicht, warum nicht?”
Sie gab feine Antwort.
„Onkel Franz,“ fragte fie plößlich, „warum heirateft denn
du niht?"
Schier faſſungslos ſtarrte er fie an.
„Ich — warum ich nicht?“
„Sa, Onfel Franz, du?”
Er ſchien ſich zu befinnen., Doc ſagte er dann nur:
„Bon mir ilt ja nicht die Rede! was kann dic) da3
fümmern.“
„Kein,“ drängte fie, „ſag', warum du nicht.“
„Laß doch!” wehrte er.
Doch fie ließ nicht ab.
„Wenn du e3 denn durchaus willen willſt,“ murmelte er
endlich und jah dabei ftarr an ihr vorbei. „Die einzige, die
ich je geliebt habe, iſt mir unerreichbar.“
„sit fie verheiratet?“
„Kein!
„Was denn?‘
„Sie ift jung und ſchön und ich — bin ein älterer Mann,
Lola.“
Du, Onkel Franz! Und du liebit fie?“
„Unſagbar!“ flüfterte er vor fich hin, als ſpräche er zu
ſich jelbit. |
„Und weiß fie es?“ fragte das Mädchen.
„Wie jollte fie anders!” ermwiderte er.
Ein lange Baufe trat ein. In ſich ſelbſt verjunfen, ftand
fie von ihm abgemwendet, das fchöne Geficht wie verfteint in
Schmerz. Bon ihr ungejehen, ruhte fein Blick auf ihr in
namenlojer Zärtlichkeit, in verjengender Glut.
Endlich erhob er fi).
„Meberlege dir’3, Lola, und denfe daran, daß es deiner
Mutter jehnlichiter Wunſch iſt⸗
* *
*
Als Onkel Franz gegangen war, brach ein Sturm der
Leidenſchaft über Lola herein. Sie ſank in die Kniee und
Weiße Haare. 2841
preßte ihr glühendes Geficht in die Kiffen des Sofas. hr
war’3, al3 läge die Welt in Trümmern. Ins tiefſte Herz hatte
fie e3 getroffen, daß Franz liebte, eine liebte, die ihn ver-
Ihmähte. Es war ihr unfaßbar, wie ein Mädchen ihn ver-
ſchmähen fonnte; ihr war er der Inbegriff alles Guten und
Edlen. Zum erjten Male legte fie fi) die Frage vor, ob fie
denn gehofft Habe, daß er fie zu feinem Weibe machen würde,
fie, die fic) jo Klein fühlte neben ihm, die zu ihm aufblidte in
grenzenlojer Verehrung. Sie wußte e3 nicht, fie wußte nur,
daß er, jeitdem fie denken konnte, der Stern ihres Lebens ge-
weſen war, der Herr über all ihr Denten und Fühlen, der Ab⸗
gott ihrer jungen Seele. Sie kannte feinen Willen al3 den
feinen und fein Glück als feinen Beifall. Sie hatte nicht? ge-
träumt als ihn und nichts erſehnt als feine Nähe — fie fühlte
fich als fein Geſchöpf, und nun warf er fie achtlos von fih!
Mit einem Schlage vernichtete er ihren Traum von Glüd.
Daß er mußte, wie glühend fie ihn liebe, daran zweifelte ſie
feinen Augenblid; wie hätte es ihm auch verborgen geblieben
fein können! Er aber liebte eine andere, die würde er heim-
führen, denn wer könnte ihm auf die Dauer widerftehen! Was
lag nun daran, was aus ihr würde! Nun konnte fie den
Wunjch ihrer Mutter erfüllen und Karl Werner heiraten. Franz
hatte ihr doch jelbjt dazu geraten. Er verjtand ja nicht, wie
man feine eigenen Wünſche und Hoffnungen nicht denen anderer
unterordnen fonnte, er lebte und mühte ſich ja nur für andere
und hatte zuerit ihrem Vater, dann ihrer Mutter und ihr feine
Neigungen und feine Bequemlichkeit geopfert — nicht aus
Schwäche, jondern aus jeglihem Mangel an Egoismus, aus
geläutertiter Güte. Sie, feine getreue Schülerin, - mußte nun
auch das Opfer bringen und mit Werner fortziehen. Ein
Schauer durchriejelte fie. Fort! Franz nicht einmal mehr
jehen? So weit ihr Erinnern reichte, war er ihr ftet3 zur
Seite gewejen, der beite, der treufte Freund, und nun follte
alles, alle aus jein? —
Als ihr Vater ftarb, war fie ein zehnjähriges Kind; da-
mals trat Franz in ihr Leben ein als deffen Mittelpunft. Er
war der Compagnon ihres Vaters geweſen, nun wurde er ihr
Bormund. Und was für ein Bormund! Wie er ihr und ihrer
2842 &. Ottmer.
Mutter Vermögen in raftlojer Arbeit zu mehren fuchte, jo be-
ſchäftigte er fih unermüdlich) mit der Erziehung der Kleinen
Lola. Täglih kam er, beauflichtigte ihren Unterricht und
fümmerte fich um das Meinfte, was fie betraf. Der fchöne,
dreißigjährige Mann widmete dem fremden Rinde einen großen
Teil feiner Muße und lenkte und leitete es in allem. In jeiner
Hand war das unbändige Ding weich wie Wachs. Wenn die
Mutter und die alte, treue Marie nicht mit ihr ausfommen
fonnten, nicht mit Bitten und nicht mit Drohungen, bedurfte
e3 nur eine3 mahnenden Wortes von „Onkel“ Franz, wie fie
ihn nannte, obgleich feinerlei verwandtichaftliche Bande fie ver-
fnüpften, und ihr Troß war gebrochen. Einer von ihm diftierten .
Strafe beugte fie fich ohne Widerrede und küßte wohl noch die
Hand, die fie eben gezüchtigt hatte.
Auch die Jahre änderten nicht viel an ihrem Verhältnis.
Mit der Zeit lernte fie teilnehmen an feinen geiftigen Intereſſen.
Obwohl er Kaufmann war, hatte er fich doch eine vieljeitige
Bildung erworben und betrieb mit befonderer Vorliebe botanijche
Studien. Dies hätte eigentlich fein Beruf werden jollen, doc)
entjagte er auf Wunſch feines Vaters feiner Neigung und pflegte
lie nur als Liebhaberei weiter. In diefem Fache unterrichtete
er Lola ſelbſt; auch fonjt las er mit ihr und überwachte ihre
Lektüre noch auf daS Genaueſte, nachdem fie längjt der Schule
entwachlen war. Sie hatte grenzenlojes Vertrauen zu ihm, alle
ihre Gedanken breitete fie vor ihm aus, jodaß er meinte, auf
den Grund ihrer Seele jehen zu fünnen. Sie hingegen wußte
nicht viel von jeinem Leben, wenn er ihr fern war. Nur Jelten
traf fie ihn außerhalb ihres Haujes, denn während fie in den
Batrizierfamilien der Stadt verkehrte, juchte er mit Vorliebe
Gelehrtenkreiſe auf. Und da er zu den Menjchen gehörte, Die
nur ungern von fich jelbjt reden, jo kannte fie feine Beziehungen
und Freundichaften faum. Sprachen andere von ihm, jo gejchah
e3 immer in den Ausdrüden der größten Hochachtung vor jeinem
Edelſinn, jeiner ftillen Wohlthätigfeit, jeiner ritterlichen Großmut.
Jedes jolde Wort war ein Geſchenk für fie, mit dem fie das
Idol auf dem Altar ihre Herzens ſchmückte.
So war e8 geblieben bisher.
Wohl warf fie ſich ihm nicht mehr ſtürmiſch an den Sag
2.35 er — rn — —
Weiße Baare. 2843
und küßte ihm nicht mehr die Hände, aber jeder feiner Wünſche
war für die erwachſene junge Dame ebenjo ein Gebot wie einjt
für das wilde Kind.
Und nun follte alle8 aus fein — fie würde mit Werner
nad) der großen deutichen Metropole ziehen, und Yranz würde
‚ feine Liebe heiraten. Wer fie jein fünnte, darüber dachte fie
nit nad); ſie würde es ja nicht erraten fönnen, da fie feine
Beziehungen nicht Fannte.
„Aus und vorbei!” jtöhnte Lola in ihrem einfamen Mädchen-
jtübchen. „Leb' wohl, Franz!“
* *
*
Das HochzeitSdiner war beendet. In zivanglojen Gruppen
Itanden die Gäfte zuſammen, die Kaffeetafjen in der Hand, und
plauderten. Mitten unter ihnen: die junge Braut und der
Bräutigam, der vor Glüd und GSeligfeit nicht wußte, was er
ſprach, und wie viel er ſprach. Lola ſah wunderſchön aus unter
der Myrtenkrone, von der der Schleier bis über die lange
Scleppe mwallte. Etwas blaß zwar, aber wunderjchön, darüber
waren alle einig. Sie ſchien jemand zu ſuchen. Ihr Auge glitt
von einer Gruppe zur andern. Nun bewegte fie fich langſam
der Thür zu und durchichritt dann die Räume bis zum lebten,
ihrem- Mädchenftübchen, in dem heute die Geſchenke aufgejtellt
waren. Dort fand fie Franz. Er lehnte mit dem Rüden gegen
das Fenſter und ftarrte in die Lichter der Heinen Krone. ALS
fie eintrat, richtete er ji) mit einem Ruck empor. Sie trat dicht
an ihn hinan.
„Franz,“ jagte fie — zum erjten Male nannte fie ihn nicht
Onkel —, „ich wollte dir noch Zebewohl jagen und dir danfen,
dir taujendmal danken, Franz, für alles, was du mir warſt, für
deine Güte, Treue und Geduld — für alles, alles.” ihre
Stimme zitterte. Stodend fügte fie Hinzu: „Und wünſchen
wollt’ ich dir, daß jte noch dein werde, die du liebft, und Dich
jo beglüde, wie du es verdienft.“
Er war jehr blaß geworben.
Nun nahm er ihr Geſicht in beide Hände, wie er es s ſo oft
gethan, da ſie noch ein Kind war, und küßte ſie auf Stirn und
Augen innig und lange.
2844 &. Öttmer.
„Bott jegne dich, geliebte Kind!“ war alle, was er hervor-
brachte.
Plötzlich beugte fie fich Hinab und zog feine Hand an
ihre Lippen; heiß fielen ihre Thränen darauf, dann war fie
verſchwunden. A
ar
Wir Menjchen wiſſen alle nicht, was Glück ift, und was
zum Glüde führt. Wir langen und haſchen nad) der goldenen
Frucht, und führen wir fie an den Mund, jo hat ein Wurm
ihr Inneres zerfreſſen. Wir jagen der jchillernden Seifenblaje
nach, und haben wir fie endlich erreicht, zerplagt fie und jprigt
ung ihren herben Schaum in die Augen. Yrau Albers jollte
dies jchmerzlich erfahren. Ihre Tochter wurde in der Ehe, die
fie jo heiß für fie erwünjcht hatte, namenlog elend.
Anfangs freilich glaubte die Mutter, für ihr Kind dag Beite
erreicht zu haben, Lola lebte in den glänzenditen Verhältnifjen,
im vollen Treiben üppiger Gejelligfeit, ihr Mann betete fie an,
und die Welt huldigte ihr. Wie ihr jelbjt dabei zu Mute war,
davon ſprach fie nie. Gie that alle8, was ihr Gatte wünſchte
und führte ohne Widerrede das Leben, das ihm behagte, nur
jeine glühende Liebe erwiderte fie nicht; eine liebenswürdige
Gattin war jie ihm, doch Feine zärtliche. Innerlich litt fie an
unfäglihem Heimweh. Im Wachen und im Schlafe ftieg Die
Baterftadt mit ihren gegen den Himmel ragenden Türmen, um—
geben von einem Kranze bewaldeter Berge, vor ihr auf. Träumend
laß fie oft ftundenlang und dachte zurück an die Beit, da fie
durch die engen Gaſſen gewandelt war, und dann jah jie wieder
ihr kleines Stübchen, in dem fie jo fröhlich gewejen war. Franz
Ihritt durd) diefe Phantafien; er und die Stadt verwoben fich
untrennbar ineinander, ſodaß fie felbjt nicht wußte, nad) wen
von beiden ihr Herz fich jehnte, daß e3 faſt brach vor unnenn=
barem Weh. Sie forrejpondierte mit ihrer Mutter, nicht mit
Franz. Wohl hatte fie ihm gejchrieben, doch Hatte er ihr nicht
geantwortet. Sie machte ihm feinen Vorwurf daraus, aber ſein
Schweigen kränkte fie, und von Tag zu Tag erwartete fie die
Kunde jeiner Verlobung. Indes blieb es ftill davon.
Sp verging ein Jahr. Dann brad) ein furchtbares Schidjal
über fie herein. Ihr Mann wurde von einem unbeilbaren
rt Dt RI een wer
Weiße Baare. | 2845
Leiden befallen. Auf die erſte Schredensfunde Hin eilte ihre
Mutter zu ihr und beſchwor fie, ihn einer Heilanftalt zu über-
geben. Auch die Freunde und Bekannten redeten ihr zu, es zu
thun; e8 wäre ein unmenjchliches Anfinnen, daß jie ihre Jugend
an feiner Seite vertrauern jollte. Doch fie fonnte fi) nicht dazu
entichliegen. Der arme Kranke war für feine Umgebung ganz
ungefährlich und hatte feine Liebe zu ihr mit in feine Umnachtung
hinübergenommen. Er war nur ruhig in ihrer Nähe und hing
ih an fie wie ein Hilflofes Kind. Ohne Klage nahm fie ihr
ſchweres Kreuz auf fih und trug es mit ftiller Ergebung. Der
Gedanke an Franz, daran, was er recht finden würde, leitete fie
in all ihrem Thun. Sie zog fi) ganz von der Welt zurüd und
lebte nur dem großen Slinde, das ihrer zu jeder Stunde bedurfte.
Der gebrochene Mann und die junge Frau wohnten in dem
weiten Hauje mitten in der wogenden Stadt iwie auf einer ein=
ſamen Inſel. Nur: wenn fie mit ihm ausfuhr, jah fie fremde
Menjchen, und mancher frühere Befannte z0g bei ihrem Anblid
tiefec den Hut in Chrerbietung vor ihrem Opfermut. Ihre
Mutter Hatte fie längft wieder verlafjen und lebte ihrer zarten
Gefundheit wegen an der Riviera, doc) ließ fie nicht nach) mit
- Drängen, Lola folle den unheilbar Kranken einer Anjtalt über-
antworten. Da fchrieb dieje endlihh an Franz, ihm die Ent-
ſcheidung anheimgebend.
Was er litt, fünnen feine Worte jagen. Die bitterjten Vor—
- würfe machte er fich, daß auch er ihr zu dieſer Heirat geraten
hatte. In namenloſer Sehnfucht ftredte er oft die Arme nad)
ihr aus, als müſſe er fie an fich reißen als jein Eigentum für
alle Ewigfeit. Als aber ihr Brief kam, ſchwankte er feinen
Augenblid. Wie er ſie erzogen Hatte zu ftrengiter Pflicht-
erfüllung, ſelbſt mit dem Beijpiel vorangehend, jo jchrieb er auch
jet: „Du mußt bei ihm bleiben; dort ift dein Platz.“ Sie
hatte e8 nicht ander8 erwartet und füßte jeine Beilen in
demütiger Liebe.
So veritrihen drei bleierne Jahre. Endlich brachte der
Tod Erlöfung. Sie jubelte nicht auf, denn fie hatte den armen
Kranken vor unendlihem Mitleid liebgerwonnen, und die Freiheit
bot ‘ihr das Glück nicht, auf das fie nicht mehr hoffte, an das
fie nicht mehr glaubte.
2846 &. Ottmer.
AU die Zeit war Franz nicht bei ihr geweſen; die Mutter
hatte oft wochenlang mit ihr in ihren düftern Heim gelebt, er
war nicht gefommen. Sie beflagte jich nicht darüber, aber e3
that ihr weh. Hatte er fie ganz vergefjen und verſtoßen? Er
aber fam nicht, weil er den Mut nicht dazu fand, weil er fühlte,
alle Iangbewahrte Fafjung würde zufammenbrechen vor ihrem
Anblick.
Auch jetzt jollten fie fich nicht gleich wiederjehen. Sie ver-
brachte mit der leidenden Mutter den Winter im Süden. Dort
lebten fie ſtill und zurüdgezogen, doch ſchien Lola wunſchlos zu
fein. Mit Franz ftand fie nun in eifrigem Briefmwechjel. Er
hatte ihr nach ihres Mannes Tod fo-treu und herzlich gejchrieben
wie in ihrer Mädchenzeit, wenn fie mit der Mutter auf Neijen
war, daß fich, ihr ſelbſt unbewußt, der alte Ton des Vertrauens
und der Verehrung in ihre Antwort eingejchlichen hatte. Er.
erwiderte jehnell darauf, und bald waren fie in die frühere Art
und Weile zurücdgefallen; er erzählte ihr von allem, was fie an—
regen und erheitern fonnte, fie breitete ihr Thun und Denken
vor ihm aus und fchilderte die Jahre, die jeit ihrer Entfernung
verfloffen waren. Aus diejen Briefen trat ihm nicht mehr dag
fröhliche, verwöhnte Mädchen von ehedem entgegen, jondern ein
ernjtes, gereiftes Weib, das das Leid nicht verbittert, nur ge—
läntert hatte. Er meinte wieder auf den Grund ihrer Seele
ſehen zu können, die ihm kryſtallhell zu fein ſchien, und doc)
verjtand er nicht, was ihr die Kraft zum Tragen, Mut und
Ausdauer gegeben hatte, was fie bewahrt hatte vor jeder ſchlimmen
Regung, daß fie rein geblieben war wie ein Kind — die namen=
(oje Liebe zu ihm. Er lag vor diefer Seele auf den Knieen,
und er jah nicht, daß fie fein Bild piegelte in ihren Tiefen, tvo
e3 ruhte jeit langer Zeit: er begriff nicht, daß er fie zu dem ge—
macht hatte, was fie war.
Allmählich verging der Winter.
Als der Sommer nahte, bejchlofjen fie und die Mutter, in
die oberöfterreichiichen Berge zu gehen, Franz ſollte fie dort
bejuchen. |
Frau Albers und Lola wählten zu ihrem Aufenthalt einen
Heinen, einfachen Ort, der an einem der großen Seen gelegen
war. Das Häuschen, das fie mieteten, jtand etwas erhöht au
Weiße Baare. 2847
der Landſtraße, die es von der Waflerfläche trennte. Der Blid
fonnte frei auf den blauen Wogen ruhen und ans jenjeitige
Ufer ſchweifen, welches in nicht allzu großer Entfernung grün
beivaldet emporitieg. Nach Dften aber, wo der See ich ſchier
endlos breitete, war die Ausficht nicht frei, da eine eigenfinnige
Zandzunge in nächjter Nähe des Dorfes hervoriprang. Da noch
feinerlei moderner Komfort in diejen entlegenen Winkel gedrungen
war, Hatten nur wenige Yamilien außer Albers ihre Zelte hier
aufgefchlagen, und aud) mit diejen famen die beiden Frauen in
eine Berührung, da fie eigene Wirtjchaft und ihr jtill vornehmes
Leben wie zu Hauſe führten.
Alle Gedanken Lolas waren auf Franzens Kommen gerichtet.
Sie hoffte, ſie wollte ja nichts, als ihn nur wiederſehen, wieder
ſeine Hand berühren und ſeine Stimme hören. Doch vergingen
noch viele Wochen, ohne daß er ſich angemeldet hätte, und ſie
ſagte ſich, daß das Wiederſehen ihm eben nichts bedeute.
Endlich kam er.
An einem grauen Nachmittag ſtand ſie auf dem Landungs—
ſteg und harrte des Dampfſchiffes. Ihr Herz pochte, und ihr
Auge ſchaute unabläſſig in die Ferne — die Vergangenheit war
verſunken und vergeſſen, ſie wußte nur, daß er in wenigen
Minuten da ſein würde. Nun keuchte das Boot heran, legte an,
daß das morſche Holz der Brücke knarrte, und Franz ſprang
als erſter über das ſchmale Brett. Keines Wortes fähig, ſtreckte
ſie ihm beide Hände entgegen, die er in die ſeinen nahm, ſie
immer näher an ſich ziehend, als wollte er ſie in die Arme
preſſen. Doch ließ er ſie plötzlich fahren, und jetzt ſchritten ſie
nebeneinander her. Er hatte ſich wenig verändert, die ſchlanke,
kräftige Mannesgeſtalt machte einen friſchen, gefeſteten Eindruck.
Sie in ihrem ſchwarzen Gewande, das braune Haar, das ſie
ſonſt immer in flatternden Locken getragen hatte, zu einem
ſchlichten Knoten zuſammengeſteckt, ſah mädchenhaft zart aus, und
ihr Geſicht, das ſchmaler und blaſſer geworden war, erſchien faſt
noch jünger als damals unter dem Brautkranz. Kein herber
Zug lag auf ihm, nur wie ein Schleier wunſchloſe Ergebung.
Wie ſie ſo an ſeiner Seite dahinging, reichte ſie ihm kaum bis
zur Schulter, und unwillkürlich neigte er das Haupt, wenn
er zu ihr ſprach. Sie führte ihn ihrer Mutter zu; er
2848 &. Ottmer.
ſollte für die Dauer ſeines Aufenthalt$ mit in ihrem Häuschen
wohnen. |
Diejem eriten Wiederjehen folgte eine Reihe jchöner, fonniger
Tage. Wie ein leichter Schimmer von Nöte dämmerte es in
Lolas Wangen auf, und in ihren Augen jtrahlte ſtille Zufrieden-
heit. Alles Ungeftüm früherer Jahre war von ihr gemwichen,
eine vornehme Gelafjenheit und mohlthuende Sanftmut über ihr
ganzes Wejen gebreitet, nur eins quälte fie; er könne bald wieder
abreifen. Denn eine eigentümliche Unruhe ſchien fich feiner zu—
weilen zu bemächtigen. Sie verbraditen viele Stunden ganz
allein miteinander; wenn die Mutter noch lange jchlief, zogen
fie des Morgen? aus. Am liebjten jchritten fie nach Wejten,
wo die Straße vom See ab in ein ſchmales Thal einbog und
zu einem andern, Lleinern ‚See führte Dort nahmen fie wohl
ein einfaches Frühmahl, und die Zeit verflog ihnen in heiter-
ernten Gefprächen. Manchmal verjtummte er aber plößlich und
verabfchiedete fih, zu Hauſe angelangt, von ihr, um fich den
ganzen Tag nicht mehr bliden zu laſſen. Er botanifiere, hieß
e3 dann, doch nie ſah fie, daß er etwas heimbradhte.
So waren fie auch eines Wormittagd wieder hinüber—
gewandert. Die Sonne hatte aber jo heiß gebrannt, daß Lola
davon abgejpannt und ermüdet war und Franzens Vorjchlag,
zur Heimfahrt einen Bauernivagen zu mieten, gern annahm.
Shen jaß jie auf dem hohen Bänfchen, als Franz ihr einen
Strauß blauer Gentianen reichte, den er eben gefauft hatte.
Sie beugte fich zu ihm herab, jo daß ihre Wange feine Hand
jtreifte, und jagte im alten Kinderton: „Sch danke dir, dur guter
Onkel Franz!" Da ſchlug ihm eine dunkle Blutwelle über dag
Antlig bis an jein blonde Haar hinauf, und mit den Worten:
„Fahre allein, Zola, ich fomme nach,“ wendete er fich ab und
Ichritt davon. Erſt zur ſpäten Efjenzftunde jah fie ihn wieder.
Ein andermal hatte er fie des Abends auf den See hinaus-
gerudert. Der Bollmond ftand am Himmel. Sie jaß am Steuer
und wiegte fich leicht im Takte der Wellen, daß die braunen
Loden, die fie auf feinen Wunſch wieder gelöft trug, leije mit-
tanzten. Eine träumeriſche Stimmung hatte ſich beider bemädhtigt;
fte ſprachen kaum ein Wort. So fuhren fie langjam hin und her.
Da ſagte fie wie zu fich jelbit: „Wie jelig, wer hier die Liebe
Weiße Haare, - 2849
fände!” Ihn durchfuhr's wie ein Schlag. Sofort trieb er den
Kahn ans Ufer, geleitete fie heim und verſchwand in die helle
Nacht. So oft fie ihn dann auch fragte, was ihn jo jählings
gepackt habe, nie erhielt fie eine Antwort.
Der September war herangefommen. Die Natur der Berge
glänzte wohl noch in vollfter Friſche, doch Schon lagen des Morgens
die Nebel länger im Thal, und das Alpenveilchen blühte allüberall
al3 eriter holder Bote des Herbftes. Hochſommerlich aber muteten
noch Die ſchweren Gewitter an, die ſich fait an jedem Nachmittag
entluden.
So war e8 auch heute. Draußen ftürmte und tobte es.
Sie Hatten fih in Frau Alber3’ Stube verfammelt. Franz las
vor; Lola ſaß ihm gegenüber und laufchte der ach! jo geliebten
Stimme. Als er emporblicte, trafen fich ihre Augen. Da jtand
er auf und fagte, er müfje noch ing Freie. Sie folgte ihm.
„Wohin, Zranz, doch nicht auf den See?"
Er beruhigte fie und eilte hinab. |
Sie blicdte ihm durch das Fenſter nad. Trotz feines Ver⸗
ſprechens ſah ſie ihn dem Ufer zuſchreiten, ſeinen Kahn losbinden
und abſtoßen. Das Gewitter hatte nachgelaſſen, es regnete nur
noch in großen Tropfen, und die Wellen hatten weiße Kämme.
Lola lief hinab, um ihn zu beſchwören, er ſolle umkehren, doch
ſchon war er um die nächſte Landenge verſchwunden. Seufzend
ſchlich ſie zurück. Eine eigentümliche Beklemmung bemächtigte
ſich ihrer. Alle Vorſtellungen der Mutter, daß Franz ein Waſſer—
und Wetterkundiger ſei, fruchteten nichts. Bald jollte fie erniten
Grund zur Bejorgnis haben.
Nachdem fich der Himmel etwas aufgeheitert hatte, brad)
mit unglaubliher Schnelligkeit ein neue Gewitter los. Die
Plöglichkeit und Wucht, mit denen fih Orkan, Donner und Blitz
in ihnen erhebt und die Natur in gewaltiamen Aufruhr bringt,
ijt eine Eigentümlichfeit diefer Berge. Schäumend und braufend
ſchlugen die weißköpfigen Wellen gegen das Ufer, der See, der
zuerit dunfelviolett außgejehen hatte, nahm eine graugrüne Färbung
an, dann hüllte fich alles in einen dichten Schleier, der Himmel
und Wafjer zu vereinen ſchien. Wechzend wiegten ſich die Fichten.
Ron Minute zu Minute zerriß ein greller Blitz die Wolfenwand,
dem Ffrachender Donner folgte, welchen das Echo verhundertfachte.
SU, Haus-Bibl. II, Band XL. 179
2850 &. Ottmer.
Graufig ſchön war es anzujehen, doch Lola jah die Schönheit
nicht, Angit und Entjegen preßte ihr das Herz zujammen, ſchnürte
ihr die Kehle zu. Die Hände ringend, ſtand fie am Fenſter
und jah brennenden Auges in den wilden Taumel hinein. Die
Mutter ſprach von ihrem Diwan aus unaufhörlich auf Ste ein,
fie vernahm es nicht, fie hörte nur daS Toben da draußen und
den Schrei ihrer gequälten Seele. So verging die Zeit. Endlic)
hielt jte e3 nicht länger. Sie mußte hinaus. Mit Mühe rang
jie fi) biS zum Stege durch; dort fand fie ein paar Schiffer
und Sommergäfte verfammelt; es hatte ſich jchon die Kunde
verbreitet, daß ein Boot auf dem Wafjer ſei. Auf Lolas Frage,
ob fie nicht ausfahren wollten, ihn zu juchen, wieſen fie ſtumm
auf den tobenden See. Sie bot ein Heine Vermögen, wenn
fie e8 dennoch wagten — Feiner entichloß ſich; was würde es
auch nüßen? wo jollten fie ihn juchen auf der weiten Waſſer—
fläche, auf der man faum die Hand vor den Augen jehen konnte?
Ihre Aufregung wuchs von Minute zu Minute — da jchien es
ihr, als habe fie Hilferufe gehört. Die anderen hatten nicht
vernommen. Sinnlos vor Angjt, rannte fie zum nächſten Kahn,
um ihn loszumachen, doch mühte jie ſich vergebens; die Wogen
trieben fie zurüd, und triefend vor Näfje, mit blutigen Fingern
mußte jie davon abitehen. So brach) der Abend herein, und
mit ihn wurde es ſtill. Pechſchwarz war die Nacht, fein Stern
am Himmel; die Natur, die eben noch jo wild gerajt hatte, lag
lautlos da. Lola war zu ihrer Mutter zurückgekehrt, fie jaß
wieder am Fenſter und ftarrte ins Dunkel in völliger Hoffnung3=
lojigfeit. Die Stunden vergingen. Die alte Frau war bor
Müdigkeit auf dem Divan eingejchlafen, die Lichter waren erlojchen.
Lola jaß regungglos.
ALS der Morgen aufdämmerte, jchlich te hinunter. Draußen
fein Menſch. Sie ging zum See hinab, dann die Straße entlang,
die an jeinem Ufer hinführte, ziellos, planlos, immer weiter und
weiter — dem Sonnenaufgang entgegen, in den herrlichen Tag
hinein. Golden färbten ſich Firmament und See, fie jah es
nicht, fie fühlte nicht, daß ſie jich vorwärts bewegte, jie Dachte
nicht mehr, in ihr jchrie es nur: „Franz, Franz!“ So wanderte
ſie wohl eine Stunde oder zwei. Die erſten blutigroten Strahlen
der Sonne glühten ihr eben ins Geſicht, da plötzlich, bei einer
— *
—
—
Weiße Haare. 9851
Wendung des Weges, trat er ihr entgegen. Ihre Augen öffneten
jih weit, dann breitete jie die Arme aus und ſank lautlos zu
Boden.
ALS fie erwachte, Eniete Franz vor ihr. Helle Thränen
liefen ihm über die Wangen, und er preßte ihre Xoden an feinen
Mund, dabei murmelte er immer wieder: „Weiße Haare, weiße .
Haare!” Zuerſt verjtand fie ihn nicht, Doch als fie ſich aufrichtete,
fiel ihr Blid auf ihre Locken, die ihr nun über die Bruft wallten —
da ſah fie im roten Morgenlicht ſchneeweiße Strähne in ihr
dunkle Haar ſich miſchen. Was das Elend vieler Jahre nicht
vermocht hatte, das hatte dieſe eine Nacht bewirkt, in der fie
an Franzens Leben verzieifelt war.
Nun war er aufgeftanden und hatte auch ihr emporgeholfen.
Befeligt lag fie an feiner Bruft, doch er rang nocd immer ver-
geblic nach Faſſung. Endlich brachte er nur wieder die Worte
hervor: „Weiße Haare — um mich, um mich!”
„Stanz,“ ſagte fie, „hat es exit deſſen bedurft? Wußteſt
du nicht, daß ich dich liebe, feitdemn ich denken kann?“
„Hätt’ ich's gewußt, ich hätte dich nicht fortgelaffen, während
mir daS Herz in Stüde brach. Ach gejtand dir ja meine Liebe,
als Antwort verlobtejt du dich mit Werner, und erſt deine Ab—
ſchiedsworte fagten mir, daß du mich nicht. verjtanden hatteſt.“
„sch war’3 — die Unerreihbare — ih?”
„Wer ſonſt al3 du! Mein Kind, mein Weib!” ftammelte
er, und zum erſten Male küßte er ihre Lippen.
179*
Babe;
Betty Paoli.
les hinzugeben
ft der Liebe Brauch;
Nimm denn hin mein Keben
Und mein Sterben auch!
Aller meiner Lieder
Sanften Schmeichellaut,
Die ein Eden wieder
Sich aus Schutt erbaut.
. Alle Kichtgedanfen,
Die an Glück und Leid
Kühn fich aufwärts ranfen
In die Ewigkeit.
AI mein ftilles Sehnen,
Innig dir vertraut,
Das in felgen Thränen
Auf dich niedertaut!
imm, daß nichts Dir fehle,
Wenn die Stunde ruft,
Meine ganze Seele
Din als Opferduft!
€
Wildbad Gaftein.
Don Wulfgang Engel.
(Nadhydrud verboten.)
in Weltlurusbad wie Karlsbad oder Dftende, wie
Wiesbaden oder Trouville ift das Wildbad Gaftein
nicht. Wohl wird der Zudrang zu feinen heilfräftigen
Duellen von Jahr zu Jahr ſtärker, und auch die Zahl
der Gefunden, die vorübergehend dort Aufenthalt nehmen, um
die wildromantifche Schönheit der Natur zu genießen, hat in
ven lebten Jahren eine beträchtliche Steigerung erfahren. Aber
jene3 blendende, buntjchillernde Leben, das die Kaſinos und
Wandelgänge der ausgeiprochenen Zurusbäder erfüllt, jene teils
wirkliche, teil3 gemachte Eleganz, die dort zur Entfaltung ge-
langt und fich äußerlich in einem durch alles Raffinement der
Mode ausgezeichneten Glanz und Reichtum der Toiletten kund—
giebt, jene raujchenden Vergnügungen, ohne die die Lurusbäder
gar nicht mehr denkbar find und die nicht zum wenigſten den
Kitt bilden, durch den die einzelnen reife der Badegefellichaft
einander näher geführt und zufammengehalten werden — da3
alles fehlt Gajtein oder bewegt fich doch in fo befcheidenen
Grenzen, daß e3 nicht imftande ift, dem Kurort jeinen Stempel
aufzudrüden.
Damit joll jedoch nicht gejagt werden, daß Gaftein Fein
bornehme® Bad if. Eine überrafchende Fülle glängender
Kamen findet man dort alljährlich vereinigt. Beſonders ſtark
2854 Wolfgang Engel, Wildbad Sajtein.
RISSE
vertreten ift der öfterreichiiche Adel; aber auch zahlreiche Glieder
der deutjchen, der italienischen und der franzöfiichen Ariftofratie
geben fich hier alljährlich ein Stelldichein. Schon im Jahre 1436
weilte Erzherzog Friedrich III. von Defterreich, der nachmalige
Kaifer Friedrich IV., mit einem glänzenden Gefolge in Gaftein
als Badegaft, und nach ihm haben viele hoch- und Höchitgeftellte _
Perjönlichkeiten die wunderbaren Duellen aufgefucht. Kaiſer
Wilhelm I. fuhr zwei volle Jahrzehnte Hindurch allſommerlich
nach Gaſtein, und die belebende Wirfung, die die Bäder dafelbft
auf den greifen Herrjcher ausübten, hat wohl nicht zum wenigiten .
dazu beigetragen, den Ruf der Gafteiner Quellen in alle Welt
zu tragen. Ebenſo begab fich Kaiſer Franz Joſef wiederholt
dorthin, nachdem er im Jahre 1886 das Badeſchloß, die
Thermalquellen und das Dunjtbad durch Kauf in feinen Privat- -
befig gebracht hatte. Auch feine unglüdliche Gemahlin, die -
Kaiſerin Elijabeth, ging gern nad) Gaſtein, deſſen pittoresfe
Naturjcenerie ihrem jchönheit3durftigen Sinn befonders zufagen .
mochte. we
Leopold II, der König der Belgier, ift feit Jahren ftändiger
Sommergaft in Saftein, ebenfo der regierende Fürjt Heinrich XIV.
Reuß j. L., Prinz Morik von Sachjen-Altenburg, Herzog Georg -
von Sachfen-Meinigen, der regierende Herzog Ernit von Sachjen-
Altenburg. Bis zu feinem Tode zählte auch FZürft Günther
von Schwargburg-Sondershaufen zu den regelmäßigen Befuchern
des Wildbades, und eine Unmenge von Anefooten find noch -
heute über fein Badeleben im Umlauf. „Wiffen Sie,” fagte
der Fürſt einmal zu einem Kurgaſte, „wie ich es anfange, um
mit einer fremden Dame ein Geſpräch anzufnüpfen?” — „Das
it jehr einfach, Durchlaucht laffen fich ihr vorftellen.“ — „Fehl-
gejchofien, mein Lieber! ch gehe nahe, aber ohne fie zu be-
rühren, an der Dame vorüber und frage, ob ich fie geitoßen
hätte. Natürlich anttwortet fie freundlich mit Nein. Nun, er-
widere ich, das kann ich ja nachholen. Damit gebe ich ihr
einen Stoß mit dem Ellenbogen, und die Bekanntſchaft ift |
gemacht.“
Ich muß natürlich) die Verantwortung für die Glaub-
würdigkeit diefes Gejchichtcheng ablehnen. Aber ob wahr, ob
erfunden, auf alle Fälle jcheint es mir ungemein charakteriftifch
5. |
R
2856 Wolfgang Engel.
zu fein, nicht nur für den Fürſten Günther, fondern namentlich
auch für die Ungezwungenheit des Verkehrs, die zwijchen den
Öafteiner Badegälten beiteht. Dieſe Ungezwungenheit hat ihren
tieferen Grund. Die weitaus große Mehrheit derjenigen, die
das Wildbad aufjuchen, umfchließt ein gemeinfames Band: das
Band der. Krankheit. Mag das Leiden bei dem einfachen Be-
amten, der da mühlam am Stode fich fortbewegt, weiter vor-
geichritten jein ala bei dem ordengejchmüdten Staat3penfionär,
der noch verhältnismäßig elaftiich an ihm vorüberjchreitet,
diefen wie jenen hat der gleiche Grund nach Gaſtein geführt,
und dieſe Gemeinſamkeit des Leidens veranlaßt naturgemäß
eher, als es jonjt der Fall zu jein pflegt, zur Ausſprache, zu
teilnehmenden Fragen und freundlichen Troſtesworten.
Das Wildbad Gaſtein blickt auf eine lange Geſchichte
zurück. Im Jahre 680 nämlich ſollen in dem damals noch
ganz im Urzuſtande befindlichen Hochgebirge, das Herzog
Theodor von Bayern dem erſten Biſchof von Salzburg, dem
heiligen Rupertus, geſchenkt hatte und das zur Stadt Juvavia
gehörte, drei Jäger von Goldegg einen Hirſch angeſchoſſen
haben, bei deſſen Verfolgung ſie, wie die Sage erzählt, zuerſt
ins Gaſteiner Thal eingedrungen ſeien. Hier hätten fie den
Hirſch gefunden, wie er an der Quelle jeine Wunde badete. Es
ſoll dies die Stelle gewejen fein, wo jet die Hauptquelle ihren
Ausflug Hat, und der Name Wildbad mag ebenjo von dem
„Bade des Wildes” al3 von der wilden oder vielmehr wild—
ſchönen Gegend abgeleitet worden jein.
Wenn aber die Sage auch) die Entdedung der Heilquelle
erit an das Ende des fiebenten Sahrhundert3 unjerer Zeit—
rechnung verlegt, befannt war das Gaſteiner Thal bereits be-
deutend früher. Denn es fteht hiſtoriſch feit, daß fchon die
Nömer dort ausgedehnte Bergwerfe angelegt hatten, um nad)
Gold und Silber zu graben. Dieſe von ihnen verlafjenen
Bauten wurden von 790 an von den Erzbiichöfen wieder fort-
gejegt. Aber troß des regen Lebens, das fich nun entiwidelte,
bejchränfte jich diejes mehr auf den Bergbau und Handel, ala
auf den Bejuch der Heilquellen, da der Zugang bei den meilt
höchſt gefährlichen, Schmalen Wegen nur auf Saumtieren mög-
lich war. Das Wildbad beitand damals nur aus vier oder
Wildbad Sajtein. | 2857
aan
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Wildbad_Bajtein < Der obere Woafjerfall der Ache.
fünf elenden Hütten mit Heinen Verfchlägen als Bäder, die man
in jenen Beiten nur gegen Wunden und Gejchwüre brauchte.
2858 Wolfgang Engel, Wildbad Baftein.
Erſt ala im Jahre 1436 Erzherzog Friedrich III. mit
zahlreichem Gefolge das Wildbad aufjuchte und wegen einer
Schenfelwunde fieben Wochen lang dort badete, wurde die Auf-
merkſamkeit mehr auf diejes jelbjt gelentt. Die Wege wurden
verbefjert, die Badeeinrichtungen erweitert, jo daß einem zahl-
reicheren Bejuche der Quelle nicht3 mehr entgegenftand. Und
diefer Beſuch ließ nicht auf ich warten. Während der Gold-
und Silberbergbau, wie der Handel mit Stalien und Deutich-
land ihre Blütezeit erreichten, wurde das Wildbad von zahl-
reihen Kranken aus den höchiten wie aus den niederften Ständen
aufgejucht, und immer weiter verbreitete ſich der Ruf des
legenipendenden Waſſers. In jene Periode fällt die Gründung
des Armenbadipital3 durch den reichen Wechsler Strochner in
Salzburg und eines Gaſthofes durch einen gewiſſen Straubinger,
deſſen Nachkommen noch heute die Beſitzer des „Straubinger
Hotels“ find.
Um die Mitte des jechzehnten Sahrhundert3 aber begann
eine trübe Zeit für das Wildbad. Das Thal wurde durd) ein
ſchweres Erdbeben Heimgejucht, und diefem elementaren Natur-
ereignis folgten Feuersbrünfte, verheerende Ueberfchwemmungen
und Seuchen. Der Bergbau und der einft jo lebhafte Handel
ſchritten unaufhaltiam dem Berfall entgegen, doch auf die Ent
widelung des Badeortes hatten die mannigfachen Unglüdsfälle-
auf die Dauer feinen Einfluß. Schon im Jahre 1753 war
der Fremdenftrom, der ſich nah Wildbad Gaftein ergoß, To
gewaltig, daß man ſich zur Anlage eines Filialfurortes ent-
Schließen mußte. Herrliche Kunſtſtraßen wurden angelegt, und
an die Stelle der hölzernen Hütten traten die erjten Häufer
von Stein. Auch die Begründung einer eigenartigen Chronik
von Bad Gaftein fällt in dieje Zeitperiode. Sie wird ſeit dem
Sahre 1680 von den Kurgäſten ſelbſt gejchrieben und iſt nieder-
gelegt in den noch von jenem Jahre an im Pfarrhaufe auf-
bewahrten „Ehrungsbüchern”. Diefe Chronif wird bis zum
heutigen Tage fortgejebt und iſt ſchon aus dem Grunde von
hohem Intereſſe, weil man darin in allen Sprachen, in Poeſie
und PBroja, die individuellen Eindrüde der Badegäſte aus—
gejprochen findet.
Viele diejer Inſchriften preijen die wunderthätige Heilkraft
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Der Klamm:Paß.
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Zandjichaftsbild aus der Umgebung von Wildbad Bajtein
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2860 Wolfgang Engel.
der Quellen, deren man heutzutage jechzehn zählt. Bon ihnen
werden die Fürſten-, die Doktors-, die Kaiſer-Franzens-, die
Spital- und die Grabenbäderquelle am meijten benußt. Sämtliche
Quellen ſcheinen einen gemeinjchaftlihen Urſprung im Geſtein
des 2491 Meter hohen Graufogel3 zu haben, an deſſen Fuße,
1012 Meter über dem Meeresipiegel, das Wildbad liegt. Die
Quellen haben eine Temperatur von 45 bis 47° C. und geben
zujammen täglich gegen 43000 Heftoliter Wafjer, das, in Form °
von Bädern angewendet, ungemein belebend und anregend auf
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Das Badeichloß ii. Wildbad Saftein,
regelmäßiger Aufenthaltzort des verjtorbenen Kaiſers Wilhelm I
das Nerven, Gefäß- und Muskelſyſtem wirt. Man benußt eg
bei Nervenfrankheiten, bei gichtiichen und rheumatiſchen Leiden,
bei chronischen Hautkrankheiten, bei Folgen von Berwundungen
und anderen Leiden. |
Die Art all diefer Krankheiten bedingt es, daß in Bezug
auf gejellichaftliche Zerjtreuungen ſoviel al3 möglich Maß gehalten
wird. Immerhin Jorgt die Badeverwaltung mit anerfennenswertem
Eifer für die Unterhaltung der Kurgäſte. Al eine bejondere
Sehenswürdigkeit gilt mit Recht die eleftrijche Beleuchtung des
großartigen Wafjerfalles. der Ache, die während der Saiſon jeden
Mittwoch und Sonntag nad) eingetretener Dunkelheit und bei
halbwegs günjtigem Wetter jtattfindet.
Wildbad Bajtein. | 2861
Diefer Wafjerfall bildet die vornehmlichite Schönheit des
an Naturichönheiten reichen Wildbades. Aus wilden Schluchten,
umjäumt von reichen Fichtenwaldungen, bricht die Ache hervor,
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Wildbad Baftein: Denkmal Kaifer Wilhelms T,
um ſich fofort in zwei mächtigen Fällen, deren oberer 63 Meter
hoch it, während der untere gar eine Höhe von 85 Metern
erreicht, ind Thal herabzuftürzen. In ununterbrochenem Tofen,
Schäumen und Ziichen ftreut der Doppelfall den Wafjerjtaub
umher, der durch hölzerne Schußwände von den tiefer gelegenen
2862 Wolfgang Engel.
Häujern abgehalten wird. Den prächtigiten Anblid des oberen
alles gewinnt man von der Reichsſtraßenbrücke, den des unteren
bon einer Terrajje beim Unterfrämer.
Den Hauptjammelplag der Gaſteiner Badewelt bildet der
Straubingerplaß, zwilchen dem Hotel Straubinger und dem dem
Kaiſer von Oeſterreich gehörigen Badeichloß. Lebteres murde
1794 vom Erzbiihof Hieronymus von Salzburg erbaut und
diente alljährlich Kailer Wilhelm I. zum Wohnfiß. Unweit des
Straubingerplaßed, auf dem die Kurfapelle zweimal täglich
fonzertiert, beginnt die prächtige, mit dem Denkmal Kaiſer Wilhelms I.
gejchmücte Kaiſerpromenade, die in das ſchöne Kötſchachthal führt.
Vielleiht noch lohnender aber ift ein Spaziergang auf der
Poſtſtraße nach) Hof-Gaftein, an der Wandelbahn, dem Kurkaſino
und einer Reihe von Villen vorüber, deren helle Türmchen und
Giebel freundlich aus dem dunklen Nadelgrün hervorlugen und
faft durchweg einen herrlichen Ausblid gewähren. Unter ihnen
it architeftonijch von bejonderem Reiz die dem Grafen Lehndorf
gehörige Solitude, in deren Nähe Jich die Heine proteftantijche
Kirche, Eigentum des Deutjchen Kaiſers, befindet. Hier beginnen
zur Rechten der Poſtſtraße die Schwarzenbergjchen Anlagen,
die fich anderthalb Kilometer weit bis zu dem außgfichtreichen
König Otto-DBelvedere hinziehen. Auch die Pyrferhöhe, dem
Andenken des im Jahre 1847 verfiorbenen Erzbiſchofs Ladislaus
Pyrker von Erlau gewidmet, gewährt eine prächtige Ausficht.
Nicht weit davon befindet fi) ein Echo, welches das Brauſen
der Ache trefflich wiedergiebt.
Bon den weiteren Ausflügen darf man den in das zwei
und eine halbe Stunde entfernte Naßfeld als eine der ſchönſten
und lohnenditen Bartien des Gafteiner Thals bezeichnen. Die
Heine Ortjchaft liegt in einem eine Stunde langen, von drei
Bächen, die vereint die Ache bilden, durchfloffenen Thal und
it rings don riefigen, vielfach vergletjcherten Bergen ein—
geſchloſſen. Das Thal Hat echten Hochgebirgscharafter. Bon
befonderem Intereſſe ift auf dem Wege nach Naßfeld der jo-
genannte „Aufzug“. Es war dies eine jäh aufiteigende, 530 Meter
lange, hölzerne Schienenbahn, auf der ein fünfzehn Meter hohes
Waflerrad einen Rollwagen zur Beförderung der Bergfnappen
und Erze in wenigen Minuten zum Knappenhaus hinaufzog.
wo.
Wildbad Baftein. 2863
Du Nu Dun ,“GG—âúͤ —— — ——
Die unübertrefflichen Thermalquellen Gaſteins mit ihrem
ſeltenen Waſſerreichtum und ihrer Heilkraft, die wundervolle
Kurlafino und Wandelbahn in Wildbad Gaſtein.
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Lage inmitten der erhabenen Bergwelt, die Pracht der Alpen-
flora und der Reiz der gejchichtlichen Erinnerungen bilden ver-
eint die Anziehungsmittel, die von Jahr zu Jahr mehr Fremde
2864 Wolfgang Engel, Wildbad Baftein.
nach dem Gajteiner Thale führen. Die Bejuchsziffer hat ſich
in den lebten jechzig Jahren verzehnfacht; im Sahre 1842 be-
trug ſie 857, während fie im vorigen Jahre auf 8725 geitiegen
war. Entiprechend diefem Anjchwellen der Fremdenzahl hat
lich) naturgemäß auch das äußere Bild des Wildbades verändert.
Modern gebaute Billen tauchen überall aus dem Grün der
Tannen und Fichten hervor, reizvolle Anlagen, in denen fich
Natur und Kunft gejchwilterlich die Hand reichen, jchmüden
die bequem hergerichteten Bromenaden, und die Baderäume find
mit allen Erfordernifjen der neueren Hygiene ausgeitattet. So
reiht fich Wildbad Gaftein würdig den bejuchteiten Kur- und
Badeorten an, unter denen e3 durch feine landichaftliche Schön-
heit und durch die Heilkraft feiner Duellen einen der erjten
Plätze einnimmt. Kein Wunder, daß mancher Badegait, der
alljährlich nach Gaftein zu gehen genötigt iſt, ven Wunſch hat,
dort ein eigenes Befigtum zu erweben. Durch die räumlichen
Berhältniffe und die gebirgige Umgebung des Wildbades find
jedoch der vermehrten Anfiedelung natürliche Grenzen gezogen.
Der lebte Beſuch.
Don Iuhannes Bernhard.
F * (Vachdruck verboten.)
3 war eine prachtvolle September-Nacht. Die Luft
war Har, und jo hell leuchteten die Strahlen des
Mondes, daß man jelbit die entfernteften Gegenftände
jo deutlich wie bei Tage fah. Als ich aus einem der
Fenſter meines Heinen, etwa eine Stunde von Newyork ent-
fernten Landſitzes fchaute, ergriff mich ein außerordentliches Wohl—
behagen bei dem Gedanken, daß ich hier draußen, fern von dem
Dunft und der Hite der Großitadt, weilen und den herrlichen
Abend in ftiller, ländlicher Ruhe verleben durfte.
Ich hatte meinen beiden Kleinen gute Nacht gewünjcht,
und eine Stunde fpäter hatte auch meine Frau fich zur Ruhe
begeben. Die Nacht war jo mild und die Landichaft jo zauber-
haft jchön, daß ic) mir einen Stuhl herausholte, eine Cigarre
anzündete und. mich feßte, um bier auf der Terraſſe die köſt—
liche Luft und das gligernde Monpdlicht zu genießen. Plößlich
blieben ‘meine Gedanken bei meinem teueriten Sugendfreund
Sad Wilton hängen. As wir das Gymnafium verließen,
- hatten wir beide, Sad und ich, uns ewige Freundichaft geſchworen.
Das Schickſal hatte ung dann getrennt, und in den folgenden
SU. Baus:Bibl. II, Band XII. 180
2866 Johannes Bernhard.
Sahren jahen wir una nur felten. Daß meine Gedanken in
diefer ungewöhnlichen Stunde bei Sad weilten, kann ich mir
nur dadurch erklären, daß mein Blid über die Wiefen vor mir
auf eine Anhöhe fiel, auf der Sad und ich uns in früheren
Sahren oft genug im Mondjchein getummelt hatten.
Wir ftammten beide aus demfelben Orte. Später befuchten
wir gemeinſchaftlich das Gymnaſium, und dann ging e3
in die weite Welt hinaus. Beide hatten wir von Haufe aus
Geld, doch war das Bermögen meines Freundes erheblich
größer al3 meines. Fünf Jahre vor der Nacht, von der ih
Ipreche, kurz vor meiner Hochzeit, ging Jad nach Europa.
Er war Sunggejelle und durchitreifte ſchon ſeit Sahren den
ganzen Erdball. Heute war er hier, morgen dort. Gelegent—
Yich fchrieb er mir auch, und von Zeit zu Zeit hörte ich von
dem einen oder anderen heimfehrenden Touriſten, daß er fich
in London oder Paris, in Rußland oder Stodholm aufhalte.
Stet3 lauteten die Nachrichten gut. Jack genoß fein Leben
und feine Freiheit.
Plöglich, während ich jo träumend da jaß, hörte ich daS
Iharfe Zujchlagen der Gartenthür und jah einen Mann fich
dur) den Garten dem Haufe nähern. Indeſſen Hatte Die
Geſtalt etwas eigenartig Unbeftimmtes, obgleich fie vom Mond-
licht hell beleuchtet war. Sch muß geitehen, daß ich bei diejem
blisfchnellen Auftauchen einer menjchliden Erjcheinung ſtutzig
wurde. Die Landitraße, die allein zu meinem Beſitz führte,
lag auf weite Entfernung Ear und deutlich vor mir, und id)
hatte auf ihr niemanden kommen jehen. Sch hatte das Gefühl,
al3 habe fich die Gejtalt eben au8 dem Erdboden erhoben, jo :
plöglic) war fie da. Als fie ſich aber näherte, erkannte ich in '
ihr Jack Wilton. Sch fuhr aus meinem Seſſel auf, fprang die
Treppe hinab und ergriff, freudig bewegt, feine Hand.
„Hallo, Sad, alter unge!“ rief ich, „wie merkwürdig!
Soeben dachte ich noch an dich!“
„Lieber, alter Freund,“ ſagte er, und feine Stimme Hang
jo Hohl, als fäme fie aus dem Grabe, „es war fehr liebens—
würdig don Dir, daß du deine Gedanken bei mix weilen ließeſt.“
Sad machte einen müden Eindrud. Sein Antlit war -
geipenjterhaft bleih. Seine Hand war falt und fteif, ein matter,
v
Der lebte Befuch. | 2867
|
toter Bli lag in feinen Augen, und feine Lippen zudten nervös.
Indeſſen achtete ich nicht jo jehr darauf. Das Wiederjehen mit
dem alten Freunde machte mid) jo glücklich, daß ich auf derartige
Kleinigkeiten in dieſem Augenblid Fein Gewicht legte.
„Komm, alter Zunge,“ jagte ich, „jeb’ dich ımd mad)’ e8
dir bequem. Das nenne id) eine Weberrafchung! Eben noch)
wähne ich dich Hunderte von Meilen entfernt, und jegt ſtehſt du
dor mir!“
Ich rüdte einen Stuhl an den meinen, und Sad ſank mit
einem tiefen Seufzer darauf nieder, al3 ich ſagte: „Du halt
heute wohl jchon einen tüchtigen Weg gemacht.”
„Ja,“ antwortete er matt. „Ich habe ſeit heute morgen
ſchon eine große Reiſe gemacht," und die müden, glanzlofen
Augen wandten ſich mir zu, während ein eigenartige, beinahe
liitige8 Lächeln über fein bleiches Antlib 300.
„Du kommſt von Newyork?“ fragte id).
„Biel weiter her,“ entgegnete er, während er jeine müden
Augen auf mir ruhen ließ. „sch komme von London.“
Seine jonderbare Antwort ergriff mich eigenartig, aber doch
nicht jo jehr, al fein ununterbrochenes fremdes Starren. Dann
fiel mir ein, daß er, der Weitgereijte, nich meiner etwas Elein=
lichen Neugierde wegen wohl aufziehen wollte ch antwortete -
denn auch jcherzend: „Das ift allerdings eine großartige Leijtung,
die dir jo leicht fein anderer nachmachen wird.“
&3 So faßen mir etwa eine Stunde bei einander, die Koſten
der Unterhaltung bejtritt ich indeſſen faſt allein. Sad beantwortete
. nur einige wenige Fragen, und dies gejchah mit leijer, dumpfer
- Stimme. Ich hatte das Gefühl, al3 kämpfe er mit einem großen,
ſeeliſchen Schmerz. Während unjerer Unterhaltung Jah ic) James,
mein Faktotum, der jeitwärtd an der Ede des Hauſes ſtand und
mir zuwinkte.
„Entſchuldige mich für einen Augenblid, Sad,“ fagte ich,
„mein Verwalter jcheint etwas auf dem Herzen zu haben.“
Ich ging zu James hinüber und fragte ihn nach ſeinem Begehr.
„Entihuldigen Sie, Sir,” erwiderte er, „daß ich Sie in
Ihrer Unterhaltung ſtöre. Die braune Stute hat ein Eijen
verloren, weshalb ich fragen wollte, ob ic) morgen mit ihr ins
Dorf reiten und fie beichlagen laſſen joll.“
180*
2868 Johannes Bernhard,
„Kein, ich werde fie morgen jelbit hinüberbringen. Ich
habe die Stute lange nicht geritten und muß im Dorfe auch
nod) einige Gejchäfte bejorgen.“
„Sehr wohl,“ entgegnete James und entjchuldigte fich noch—
mals, daß er mein Gejpräd mit dem Herrn oben auf der Ter-
raſſe unterbrochen habe. Dann wünſchte er mir eine gute Nacht,
itecfte jeine Pfeife wieder in den Mund und verjchwand in der
Richtung nach dem Stalle. Als ich wieder auf meinen Plab
zurückkehrte, erſchrack ich noch mehr als vorher über die auf—
fallende Bläſſe in Jacks Antlitz.
„Komm' jetzt, alter Freund,“ ſagte ich, „du biſt abgeſpannt.
Ich will dich auf dein Zimmer bringen. Schlaf' nur ordentlich
aus, und morgen werde ich dir Gelegenheit geben, deine Lungen
zu ſtählen und dich der friſchen, kräftigen Landluft zu erfreuen.
Ich wette darauf, daß du ſchön ſchlafen wirſt.“
„Ja,“ erwiderte mein Freund in müdem Ton und mit einem
eigenartigen Klang in der Stimme. „Ich werde ſchön ſchlafen.“
Wir betraten den Flur, und ich leuchtete ihm mit einer
Lampe, die ich vom Tiſche nahm, die Treppe hinauf. Auf halbem
Wege machte ich plötzlich Halt. Es fiel mir auf, daß ich ſeine
Schritte nicht hörte, obgleich er unmittelbar hinter mir ging.
„Dies iſt unſer Fremdenzimmer,“ ſagte ich, als wir oben
waren. „Es iſt allerdings nur ein beſcheidenes Stübchen. Sind
wir erſt wieder in der Stadt, und du beſuchſt mich dann, ſo
werden wir dir ein beſſeres Quartier geben.“
Als er neben mir ſtand, bemerkte ich, daß die Lampe, die
ich in der Hand hielt, unſere beiden Schatten auf die Jalouſie
warf. Der meinige war voll und kräftig, während Jacks
Schatten einer ſchwachen, unklaren Kopie glich. Es war in der
That ſonderbar.
„Gute Nacht, Jack,“ ſagte ich zum Abſchied, „und bevor du
einſchläfſt, vergiß nicht, das Licht auszumachen. Morgen früh
ſehen wir uns wieder.“
Er richtete ſeine glanzloſen Augen auf mich, und das fremde
Lächeln zog wieder über ſeine bleichen Züge. Als ich ihn verließ,
fühlte ich eine gewiſſe Erleichterung. Denn der Blick hatte
mich faſt ängſtlich gemacht. Als ich unſer Schlafzimmer betrat,
fand ich meine Frau noch wachend vor.
Der lebte Beſuch. 2869
REITS
„Mit wen unterhielteft du dic) auf der Terrafje?“ fragte
fie. „War e3 einer unjerer Nachbaren? Ich gab mir alle
Mühe, eurer Unterhaltung zu folgen. Der Mann fprad) aber
jo undeutlich, daß ich feines feiner Worte verftand.“
Mit einem Lächeln über ihre Neugierde antwortete ich:
„Kein, es war fein Nachbar. Sch habe eine Ueberraſchung für
dich, Beſſie. Rate, wer ed wur!”
Sie nannte die Namen einer Reihe meiner Freunde, die
häufig aus der Stadt zum Beſuch herausfamen, doch traf fie
natürlich nicht den richtigen.
„Erinnerſt du dich, daß ich dir öfters bon meinem beiten
Ssugendfreunde Jack Wilton erzählte?“
„Jawohl, aber er kann doch unmöglich hier fein. Du
ſagteſt mir wenigſtens, daß er in London lebe.“
„ein, er ijt nicht in London, er it für dieſe Nacht unjer
Saft,“ antwortete ich), „und morgen wird er das unbezahlbare
Glück haben, Dich, mein ‚Liebling, kennen zu lernen.“
„Wenn er hier ift, muß ich morgen früh aufitehen und
nad) dem Rechten jehen. Auf Hannah fann id) mich nicht ver-
lafjen. Sie ijt zu unbeholfen.“
Während Beſſie gleich einjchlief, Tag ich noch lange wach.
Ein eigenartige Gefühl Hatte fich meiner bemächtigt. Als ich
meine Augen Ichloß, Jah ich Jacks bleiches Antlitz und glanzlofe
Augen unaufhörlih vor mir. Der Morgen graute fehon, als ich
die Augenlider ſchloß, und auch diefer Schlaf war nicht er-
quidend; denn fortwährend träumte ic) von Geiltern und
Gräbern.
Als ich aufmwachte, fand ich, daß Beſſie bereit3 das Schlaf-
zimmer verlafjen hatte. Ich Heidete mich jchnell an und wollte
mich gerade nach unten begeben, als Bellie mit einer Zeitung
in der Hand eintrat.
„Das war ein recht jchlechter Wi von dir, Will,“ jagte .
ſie mit einem Ton, den ich bis dahin bei ihr noch nie gehört Hatte.
„Welchen Wit meinst du?” fragte ich verwundert.
„Du erzählteit mir doch, das Jack Wilton hier fei. Armer
Menſch, hätteſt du von dem Unglüdf gewußt, daß den Aermſten
betroffen Hat, jo hättejt du nicht noch er jeine Koften Wibe
gemacht.”
2870 | Johannes Bernhard.
„Welches Unglück?“ Ich fragte ärgerlich, mit einer eigen-
artigen Erregung in meinem Herzen. u.
„Dein Freund Sad ift geitern in London von einer Droſchke us
überfahren und jo ſchwer verlegt. worden, daß er nach einer
Stunde gejtorben it.“ .
„Aber das iſt ja Unfinn, Beifie! Sad iſt hier. Er kam
geitern abend an. Haft du mic) nicht ſelbſt mit ihm draußen
iprechen hören?“
„a, aber Will! Sieh’ doch die Morgenausgabe, die James
ſoeben von der Bahn geholt hat. Sie bringt die telegraphijche
Mitteilung des Unglüdsfalles.“ |
Sch ergriff das Blatt. Richtig, fie enthielt einen tele-
graphifchen Bericht aus London über den Unglüdsfall, der dem
Mr. John Wilton aus Newyork zugeltoßen war. Er war
überfahren worden und eine Stunde fpäter im Kräanfenhaug
gejtorben.
„Zweifelsohne ist es eine Verwechſelung,“ rief ich in meiner
Erregung. „Es kann unmöglich mein Sad fein. Er ſchläft
noch ganz ruhig oben im Fremdenzimmer.“
Beſſie blickte mich aber erjtaunt an und jagte:
„Ich verjtehe dich nicht, Will, wie du den Scherz jebt noch
weiter treiben Fannit.”“
Sch wollte nicht mehr hören. In der äußerften Erregung
eilte ich durch den Flur und ſprang die Treppe hinauf. Auf
mein Klopfen erhielt ‚ich feine Antwort. Da, zum erſten Male -
in meinem Leben, padte mich das unbegreifliche Gefühl, das
im Augenblid eines tödlichen Schreden3 den Menjchen befallen
fann. Sch wollte Jack rufen, meine Stimme verjagte aber
ihren Dienft. Endlich Hatte ich meine Bejinnung wieder er-
langt. Entichlofjen öffnete ich die Thür und trat ein. Zu
meinem größten Erjtaunen ſah ich nicht3 von meinem Freunde.
Sa, jogar das Bett var unberührt.
Ich ſtand wie veriteinert da. Hatte ich geſtern abend ge—
träumt? Sicher hatte ich es gethan. Denn von Jack war
keine Spur zu finden. Und doch konnte ich nicht geträumt
haben. Denn auf dem Tiſche ſtand die Lampe, die ich mit
hinauf genommen hatte, mit niedergeſchrobenem Docht, ſodaß
das Licht vorſichtig ausgemacht worden war. Wie ſollte ich
_ —— — — Dumm. ae. = —
Der lebte Beſuch. 2871
dies erflären? Hatte ich mich, ohne e3 zu ahnen, in der Gejell-
Ihaft eines Geijtes, eines Etwas befunden, deſſen Dafein ich
früher ſtets beitritten hatte?
Sch erzählte meiner Frau ausführlich, was ich am vorher-
gehenden Abend erlebt hatte, und fie war im höchſten Grade
beitürzt.
„Es unterliegt feinem Zweifel, daß ich Sad gejtern ge—
jehen babe,” erklärte ich feſt. „Wir haben uns etwa eine
Stunde miteinander unterhalten, und du Haft ja auch. jelbit
jeine Stimme gehört.“
| „a, ich habe geitern abend zwei Stimmen gehört. Deine
und die Stimme eines Fremden, deren Töne ungewöhnlich dumpf
Hangen,“ war Bellie Antwort.
„Dann habe ich alfo nicht geträumt. War Jack Wiltonz
Geiſt hier? Bah, an dergleiden glaube ich nicht. Nein, Sad
war e3 in eigener Perſon. — Nun, was giebt’3?" fragte ich
Sames, der gerade das Speijezimmer betrat.
„Ein Telegramm, Sir.”
Sch öffnete es eilig mit einem leichten Gefühl von Be-
Hemmung. Der inhalt lautete:
„Bruder Sad gejtern in London infolge eines Unglüds-
falle gejtorben. Mutter verzweifelt. Kommen Sie bald-
möglichſt zu una in die Stadt. Henry Wilton.“
Raum hatte ich das Telegramm gelejen, als ich, der ſtarke,
fräftige Mann, plöglich wie ein Taſchenmeſſer zufammenflappte.
ALS ich wieder zur Befinnung fam, lag ih im Wohnzimmer
lang hingeſtreckt auf der Chaijelongue. James hatte mich mit
Beſſies Hilfe dorthin getragen.
„James,“ jagte ich, als ich wieder Herr meiner Sprache
war, „haben Sie mich gejtern abend in Gejellichaft eines Fremden
auf der Terraſſe fiten ſehen?“
„Jawohl, Herr, ich habe noch um Entjchuldigung gebeten,
weil ich die Unterhaltung ftörte.”
„Sie find aljo Ihrer Sache ficher, daß Sie dort jemanden
gejehen haben?“
„Eine bejtimmte Erklärung fann ich darauf nicht abgeben.
Ich ſah die Perſon nicht deutlich. Sch Jah nur den Schatten.
Der Mond ftand Hoch. Sch bin nicht neugierig, Herr, und
2872 Johannes Bernhard, Der lebte Befuch.
habe mich deshalb um den Fremden nicht befümmert. Ihre
beiden Schatten ſah ich aber auf dem Fußboden der Terroffe .
„Haben Sie den Mann jprechen hören?“
„Ja, Herr, und welch eigenartige Stimme er hatte. Sie
fang jo merkwürdig hohl.”
„Wo waren Sie, al3 wir uns ins Haus begaben?“
„SH war noch im Garten und rauchte meine Pfeife. Sch
hörte, wie Sie die Thür ſchloſſen, und furz darauf fah ich auf
der Jalouſie des Fremdenzimmer Ihre beiden Schatten, oder,
um ganz ftreng bei der Wahrheit zu bleiben, einen und einen
halben.”
„Einen und einen halben! Was heißt das?“
„Ich meinte damit, daß ich Ihren Schatten klar ſah, der
andere aber nicht ſo deutlich war. Er war transparentartig,
ſodaß ich ihn nicht für voll rechnen kann.“
„Danke, James,“ ſagte ich und entließ ihn. Kopfſchüttelnd
ging er davon. Er war ſich nicht darüber klar, was das Verhör
bezwecken ſollte.
Jetzt drängt ſich mir ſo oft die Frage auf: Wie läßt ſich
dieſe eigenartige Erſcheinung erklären? Ich denke oft daran,
daß das Ganze wohl ein Traum war. War dies der Fall,
ſo war die Löſung ja da. Wie kann man aber ſo lebhaft
träumen und noch am nächſten Morgen von dem Geträumten
einen ſo packenden Eindruck haben?
Aber auch die Traumtheorie zerfällt in ein Nichts, wenn
man in Betracht zieht, daß auch meine Frau zwei Stimmen
gehört hat. Unmöglich konnte fie und ich ganz dasjelbe ge—
träumt haben. Und außer ihr hatte auch James die Stimme
gehört und James hatte ferner mich mit einer Perſon auf der
Terrafje fißen oder vielmehr unjere Schatten gejehen. Diejelben
Schatten jah er jpäter auf der Saloufie des Fremdenzimmers
wieder, beide verfchieden, meinen Schatten deutlich und Fräftig,
den anderen durchfichtig und verjchivommen. Ferner war Die
Lampe, die noch brannte, als ich das Fremdenzimmer verließ,
lorgfältig ausgedreht. Das war eine unumftößliche Thatjache.
E3 giebt aljo feine andere Erklärung. Sch muß an das Da-
jein von Geiltern glauben und die fonderbare Erfcheinung als
den leßten Beſuch meines Freundes auffallen.
IBBBBBBBE
Wie überwintert unſere heimatliche Tierwelt?
Don Dr. Ronrad Erdmann.
(Vachdruck verboten.)
e nach der klimatiſchen Anpafjungsfähigfeit unjerer
heimijchen Tierwelt ijt die Art ihrer Neberwinterung
eine verjchiedene. Ein Teil unjerer gefiederten Freunde,
jomweit fie zu den Zug- und Wandervögeln zählen,
verläßt mit dem beginnenden Herbite die nordilche Heimat, um
in jüdlicheren Zonen die Zeit zu überdanern, während daheim
der grimme Winter fein Elirrendes Eisfcepter ſchwingt und ſeinen
Flockenmantel ſchüttelt. Sie find ohne Frage am beiten daran,
denn fie gehen einfach dem unangenehmen Herrn aus dem Wege
und damit auch den Unbilden, die feine Gefolgſchaft bilden:
Hunger und Kälte.
Für den zurüchleibenden, minder glüdlichen Teil unferer
heimilchen Tierwelt hat Mutter Natur in ziwiefacher Weile
gejorgt: durch die weiſen Snititutionen des Winterfleides
und des Winterjchlafes. Erftere kommt vorzüglich für unjere
Bierfüßler in Betracht, während am Winterjchlaf auch Fiſche,
Amphibien und Inſekten teilnehmen. Die Dame der vornehmen
Sejellichaft, die mit dem beginnenden Winter ihre „Pelzrobe“
anlegt, thut jchließlich nicht8 anderes als unfere lieben Haus—
tiere und ihre vierfüßigen Genoſſen in Wald und Flur, nur
mit dem Unterjchiede, daß le&teren koſtenlos ihre Winterrobe
von Mutter Natur auf den Leib geliefert wird.
en -
E; - ee
2874 Dr. Konrad"Erdmann.
Bei unjeren Haustieren, bis herab auf Katze und Hund,
fünnen wir dieſen ZToilettenmwechjel leicht beobachten. Mit Be-
ginn der falten Jahreszeit bildet fich fait gleichzeitig mit dem
Gallen der Blätter eine weiche Schicht dichten Flaumhaares
am Grunde der gewöhnlichen Fellbedekung. Dieſe Neubildung
geht oft jo weit, daß ihr das alte Haarkleid völlig weichen
muß, wie das bei den meilten Arten unſeres heimijchen Wildes
der Fall ift, jo daß damit unter Umjtänden ein gleichzeitiger
Farbenwechſel des Felle8 verbunden if. Im Gegenſatz zur
„Wintermode” unjerer Damenwelt, bevorzugt unjere heimijche
Tierwelt ein heller gefärbtes Winterfleid und trägt im Sommer
dunklere Farben, wie jedes Eichhörnchen und jedes Reh dies
zeigt. Aehnlich dieſer alljährlichen „Haarung“ zeigen die bei
‚uns überwinternden Vögel eine „Mauferung“, die auch nichts
anderes als daS An- bezw. Ablegen des Winterfleides bedeutet.
Eine innere Ergänzung findet diefer äußere Garderoben
wechfel durch eine ebenjo finnreiche wie ziwecentiprechende Ein-
vihtung der Natur: im jelben Maße nämlich, in dem die
Dichtigfeit des Haarkleides mit der eintretenden fälteren Jahres—
zeit zunimmt, verjtärken ji) die Fettgewebe des Tierlörpers -
- und arbeiten damit dem Wärmeverluft entgegen. Herbeigeführt
wird dieſe Ausdehnung der Fettichichten durch die nährende
Herbitloft der Tiere, während mit Beginn des Frühjahr all-
mählich die Fettgewebe wieder ſchwinden.
Stellt der Wechſel von Sommer- und Winterkleid bei
unſerer heimiſchen Tierwelt ſozuſagen einen „automatiſchen“,
d. h. ſich von ſelbſt und ohne eigenes Zuthun vollziehenden
Vorgang dar, ſo kommt andererſeits der ſelbſtthätige Inſtinkt
des Tieres demſelben im Kampfe gegen die Winterkälte und
ihre Gefahren zu Hilfe Eine ganze Anzahl von Feld- und
Waldtieren baut ſich nämlich eine „Winterwohnung“, bezw.
richten diefe Tiere ihre Sommerwohnung durch ziwedentiprechende
Vorkehrungen zur Wintermohnung ein. Bor allem zeigt ſich
dies in der „Innengarnitur“, die aus wärmendem Laub, Stroh,
Haaren uſw. kunſtgerecht hHergejtellt wird. Der ganze Bau
wird „gedichtet“, alle überflüffigen Zugänge, die der Kälte
Einlaß bieten, werden mit großem Geſchick zugeitopft; das Eich-
hörnchen geht ſogar fo weit, daß es die Deffnungen jeines
LETTER TE
Wie überwintert unjere heimatliche Tierwelt? 2875
Baue je nach der Richtung des Windes fchließt oder öffnet.
Andere Tiere, die wie Dachs und Hamſter in Erdbauen Haufen,
vertiefen mit Beginn der älteren Jahreszeit ihren Kefjel und
ziehen ſich in die tiefitgelegene Kammer zurüd und befolgen
damit das alte Naturgejeß: je tiefer, "je wärmer.
Eine weitere, durch den natürlichen Inſtinkt veranlaßte Vor—
fehrung gegen die Unbilden des Winters befteht in der Beichaffung
eined ausreichenden Wintervorrats an Nahrung. Vorbildlich
in diefer Beziehung ift ja bekanntlich der Hamſter, jo vorbildlich,
daß feine vorforgliche Thätigfeit in der hübſchen ſprichwörtlichen
Wendung vom „Einhamftern”“ ſelbſt auf eine gemwifje Kategorie
von Menjchen angewandt wird. E3 ift erjtaunlich, mit welch
wirtichaftlichem Sinn dieſes Huge Tier Vorſorge für die lange
Winterszeit trifft, die e3 in feinem Bau zuzubringen gezwungen
iſt. Nicht wahllos trägt er feinen Winterproviant zujammen;
nur die größten und ſchwerſten Getreideförner jammelt er und
Ihichtet fie in feinem Bau, ſorgſam nach Arten geordnet, in
einer Ertravorratäfammer auf. Durchichnittlich Hat man in ſolchen
Dachsbauten einen Winterborrat an Rörnern von 30—35 Kilo—
gramm gefunden, aljo über einen halben Centner Getreide!
Am beiten freilich ind die zahlreichen Tiere daran, die
in den jogenannten Winterjchlaf verfallen. Beim Heran-
nahen der Falten Jahreszeit ziehen ſich unjere Winterjchläfer
an frojtfreie nnd windgejchügte Orte, in Erdlöcher, hohle Bauın=
ſtämme uſw. zurüd, um in einen ohnmachtartigen, dem Schein-
tode ähnelnden Zuſtand zu verfallen, in dem fie gewöhnlich ver-
harren, bis die linden Frühlingslüfte fie zu neuem Leben er-
wecken. Dabei rollen jich diefe Tiere möglichjt eng zuſammen,
um einen möglichit geringen Wärmeverluft zu erleiden. Die
Bluttemperatur, die fi) nahe an den Grenzen der menschlichen,
nämlich zwilchen 35 und 39 Grad Lelfius, bewegte, finft bis
zu 12 Grad. Die Schnelligkeit des Herzichlage® und der
Atemzüge nimmt in gleihem Maße ab, und mit diejen Trieb-
fräften des tierifchen Lebens finfen alle andern Lebensbethäti—
gungen auf ein Mindeftmaß, ohne jedoch gänzlich) aufzuhören.
Die fonjt jo beweglichen Glieder werden jtarr und gefühllog;
die Verdauung fommt zum Stillitand, und felbjtverjtändlic)
geht damit auch das Bewußtſein verloren.
2876 Dr. Konrad Erdmann.
Bon den bei uns heimilchen Naubtieren Huldigt in erjter
Linie der Dachs der Gepflogenheit der twinterlichen Ruhe.
Der phlegmatiiche Meifter Grimbart zieht fich im Herbſt Fugel-
rund in feinen tiefen, tweitverziveigten Bau zurüd, verjtopft
ſämtliche Ausgänge, fo gut er kann, und bettet ſich an der
tiefiten Stelle de8 Baues, dem Kefjel, wo jämtliche Ausgang3-
röhren zujammenlaufen, zum Schlafe, in dem er mit über den
Kopf geichlagenen Vorderpfoten durch mehrere Monate verhartt.
Die Ruhe wird allenfall3 durch den Eintritt vorübergehenden
Tauwetters unterbrochen, und dom Januar und Februar an
fann man den nun bedenklich ſchlank gewordenen Gejellen häufig
beobachten, iwie er an warmen Sommertagen emfig na) Wurzeln
gräbt oder einem armjeligen Nagetier auflauert.
In der nächitniederen Säugetierklafje der Inſektenfreſſer it
e3 von einheimilchen Arten nur der Igel, der fich einer durch
ihre ununterbrochene Sortdauer ausgezeichneten Winterruhe hin—
giebt. Um fo zahlreicher find aber die Winterjchläfer in der
Gattung der Nagetiere. Neben der weniger befannten Haſel—
maus und dem Ziejel ilt es vor allem der Hamſter, der ſich
in jeine wwohlverproviantierte Burg zurüdzieht, in der er,
Ihmaufend von den gejammelten Worräten und nur in den
fälteften Tagen jchlafend, das Frühjahr erwartet. Das Aeußerſte
an Berichlafenheit leiten aber der Siebenjchläfer und jein
Halbbruder, der Gartenjchläfer, die ebenjo wie der Hamſter
wegen der langen Dauer ihres Winterjchlafe8 Vorratskammern
anlegen, in denen ſie in der That meijtens fieben volle Monate,
von Oftober bis Ende April, zumeilen von den Vorräten zehrenDd,
meiſtens aber jchlafend verbringen. Als Dauerjchläfer reiht ich
ihnen ebenbürtig an das Murmeltier, deſſen Schlafdauer auf
den hochgelegenen Alpenbergen mindeiten3 ſechs Monate dauert,
und bei dem die Blutwärme auf acht bis neun Grad Celſius
herabſinkt.
Als letzter Winterſchläfer unter den Säugetieren iſt noch
die Fledermaus zu erwähnen. Sowie das kalte Wetter ein—
ſetzt, ſind dieſe vom Volke mit Unrecht gehaßten und doch ſo
nützlichen und harmloſen Tiere verſchwunden. Wir finden ſie
dann, wenn wir einmal zu dieſer Jahreszeit in Höhlen, auf
Böden, in Speichern, in Türmen einen Rundgang machen, in
Wie überwintert unfere heimatliche Tierwelt? 2877
V
dieſen Räumen maſſenhaft vor, an den Zehen der Hinterfüße
kopfabwärts aufgehängt, in vielfachen Reihen nebeneinander, ſich
dergeſtalt gegenſeitig geger Wärmeverluſt ſchützend.
Iſt unter den Säugetieren der Winterſchlaf immer nur eine
auf kleinere Kreiſe beſchränkte Eigentümlichkeit, welche bei den
Vögeln ſogar überhaupt nicht vorkommt, ſo iſt er bei allen
wechſelwarmen und kaltblütigen Tieren, ſoweit fie der Winter-
fälte ausgejeßt find, nahezu Regel. Hier ift er aber keineswegs
eine Folge des Nahrungsmangel3 — denn dieje Tiere vermögen
nach einer reihen Mahlzeit auch ohne Winterjchlaf wochen- und
monatelang ohne neue Nahrungszufuhr in wachen Zuſtande zu
leben —, jondern die lähmende Wirkung der Kälte auf die
tieriichen Lebengerjcheinungen. . Wer einmal einige Zeit dem
Noden der Baummurzeln im Winter zugejchaut hat, wird ge—
jehen haben, wie ganze Neſter von Blindichleichen, NRingelnattern
und Kreuzottern zum Vorſchein fommen, welche tief unten im
Wurzeliverf, wohin der Froft nicht dringen fonnte, fich verborgen
hatten, und die zahlreichen Prämien zum Beilpiel, welche die
preußiſche Behörde alljährlich für erlegte Kreuzottern zahlt, be-
ziehen fich zum großen Teil auf die bei der Rodung der Wurzel
itöde im Winter gefundenen Exemplare, welche mitten im Winter-
Ichlafe überrajcht wurden.
Endlich wäre als Winterjchläfer noch ein großer Teil der
heimischen Inſekten zu nennen, die teil als ausgewachſene Tiere,
teil3 im Eier oder Yarvenzuftande zu überwintern pflegen. Die
in irgend einem Verſteck (Baumlöchern, Erdhöhlungen, Mauer-
rißen ujw.) übermwinternden Inſekten find im Erjtarrungszuftande
völlig gefühl- und leblos, fo daß fie von einem toten Tiere ihrer
Gattung faum zu unterjcheiden find. Zum Teil gefrieren jie
geradezu, ohne indeſſen Schaden zu erleiden, wie dies Verjuche
mit Raupen ergeben haben. Spinnen und Sruftentiere, twie die
befannte Kellerafjel und der Taujendfuß überwintern meilt in
jugendlichem aber außgebildetem Zujtande; die Arten der Witrmer,
wie 3. B. der NRegenwurm, juchen ſich zur Webermwinterung
tiefere Bodenihichten aus, die Egel den Schlamingrund der
Tümpel und Teiche. Unter der Rinde von Bäumen überwintern
zahlreiche Inſekten, beſonders Schmetterlinge im Eizuftande,
während die Wafjerinjekten zum größten Teil als Larven den
2878 | Dr. K. Erdmann.
Winter durchmachen. Als verhältnismäßig wenig zahlreiche Aus-
nahmen find die Schmetterlinge zu betrachten, die in völlig aus—
gebildetem Zustande überwintern und‘ von den erſten wärmenden
Strahlen der Frühlingsfonne zu neuem Leben geweckt werden.
E3 find immer nur verjchwindend wenig Exemplare gegen die
Menge derjenigen, die im Ei- oder Buppenzuftande den Winter
durchmachen. Am nachteiligjten für die gefamte Schar der In—
jeften find naßfalte Winter, in denen Froſt mit Näfje wechſelt.
Auf fie find die müdenarmen Sommer zurüdzuführen, während
die Kerbtiere gegen trocdene, gleichmäßige Kälte fich bemundern3-
wert twiderjtandöfräftig zeigen.
Wenig befannt dürfte es übrigens fein, daß fich zum tierischen
Winterjchlaf gewiſſe Analogien in ähnlichen menjchlichen Schlaf-
zuftänden aufweiſen laffen. Das ftatiftiiche Bureau des ruffiichen
Gouvernements Pſkow, das an das Goudernement Peteröburg .
und Nowgorod grenzt, macht diesbezüglich äußerft intereſſante
Mitteilungen. Es wird von dieſer Seite darauf hingewieſen,
daß der rujliihe Bauer in den Diftrikten, die dauernd unter
Ihlechten Ernten und demzufolge unter Hungerdnöten leiden, e3
veritanden hat, fich dem Hunger gleichſam anzupafjen, indem ex
eine Qebensweije, man möchte jagen: eine Xebensfunft angenommen
hat, die ſich ſonſt nur bei Tieren findet. Er macht nämlich einen
rihtigen Winterjchlaf durch, der folgendermaßen bejchrieben wird:
Sobald daS Haupt einer Familie am Ende des Herbites merkt,
daß bei normalem Verbrauch der ©etreidevorrat nicht das
fommende Jahr hindurch ausreichen werde, trifft es Anftalten,
die tägliche Nation aller FSamilienmitglieder zu verringern. Er
weiß nun aber aus Erfahrung, daß feine und der Seinen Ge—
jundheit darunter leiden würde und fie namentlich durch den
Hunger die für die Feldarbeiten im Frühling notwendigen Kräfte
verlieren würden; Daher entjchließt er ſich mit feiner ganzen
Familie zu einem Winterjchlaf, für den man dort einen bejonderen
Namen, „Lejka“, erfunden hat und der darin beiteht, daß fich
alle Leute des Hauſes 4 bis 5 Monate lang in der Nähe des
Ofens hinlegen. Sich jeder Bewegung möglichjt zu enthalten,
ift dann das oberſte Gebot. Man fteht nur auf, um die Hütte
zu heizen oder ein Stück Schwarzbrot in Wafjer zu ejjen; man
Jucht ſonſt jede Bewegung zu vermeiden und jo viel wie möglid)
Wie überwintert unfere heimatliche Tierwelt? 2879
zu Schlafen. Auf oder an ihrem Ofen in völliger Unbeweglichfeit
ausgeſtreckt, vielleicht auc) nicht einmal denkend, vegetieren Die
Menjcen den ganzen Winter hindurd) und leben nur der ein=
zigen Sorge, jo wenig wie möglid) von der tieriichen Wärme
zu verbrauchen. Jede unnötige Bewegung muß notwendigertveije
dem Organismus Wärme entziehen, was ein Erwachen de3
Appetit zur Folge haben und den Menjchen nötigen würde,
dad Minimum jeined Brotverbrauchs zu überjchreiten, jo daß
der Öetreidevorrat nicht bis zur nächjten Ernte ausreichen könnte,
Der Inſtinkt rät den Menjchen daher, zu jchlafen und immer
wieder zu ſchlafen. Dunfelheit und Stille herrichen in der
Hütte, wo in den wärmſten Eden die Mitglieder der Familie
ihren Winterjchlaf halten. Im Verlauf der vorjährigen Hungers-
not hat die Preſſe mehrmals jolche Fälle berichtet, aber bis
jebt wußte man nicht, daß die Lejfa Fein vorübergehender oder
zufälliger Vorgang, jondern ein durch eine Reihe von Genera—
tionen hindurch ausgearbeitetes Syſtem iſt, indem ſich Diele
Bauern allmählich daran gewöhnt haben, die halben Nationen
als Regel und die völlige Sättigung als ein unerreichbares
‚ Speal zu betrachten. Der Hunger ift eine Unannehmlichkeit,
der fie ſich mittelft eines Winterjchlafe8 anpafjen, genau wie
dies bei unjeren tierischen Winterjchläfern der Fall ift.
Hoffnunaslos.
Theodor Kirdhner.
Sf fprach zur fanften Nachtigall:
„® laß dein Lied erklingen,
Daß deiner Stimme füßer Schall
Die £ieb’, die ich im Herzen nähr’,
Mög’ in den Schlummer fingen!“
Sie aber fprah: „Es ift zu ſchwer!“
Zur Schwalbe fprach ich: „Döglein traut,
Auf, brauche deine Schwingen!
Es blüht am Nil ein föftlih Kraut,
Das heilet alles Herzeleid,
Das Kraut follft du mir bringen!”
Sie aber fprah: „Es ift zu weit!”
Da rief den Salfen ich herzu:
„Du follft denn Arzt mir heißen!
. Wit deinen Krallen mögeft du
Die Kiebe, die nicht von mir geht,
Mir aus dem Herzen reißen!”
Er aber ſprach: „Es ift zu ſpät!“
— — —
al. Era
Königin Luife und die Küjterstochter.
Don Buftav Walter.
Ds achtzehnte Jahrhundert ging zur Neige. An einem herrlichen
Frühlingstage des Jahres 17... rollte ein leichtes Gefährt, mit zwei
mutigen Nappen beipannt, die „Zrankfurter Linden“ in Berlin hinab
dem Thore zu. — In dem zurüdgejchlagenen Wagen jagen zwei Menfchen
mit glücklich dreinichauenden Augen.
Schnell ging die Fahrt. Kaum fonnten die Leute, die zur Geite
des Weges gingen, es gewahr werden, wer an ihnen jo raſch vorüber-
fuhr. Erkannten fie aber da3 Paar, dann blieben fie ehrerbietig ftehen,
blictten ihm nad und grüßten mit freudeitrahlenden Mienen, eines
buldvollen Gegengrußes gewiß. |
Denn e3 waren der Kronprinz und die Kronprinzejfin von Preußen,
die jo heiter und nur von einem Diener in einfacher Xivree begleitet,
ihre Reſidenz verließen.
Sie hatten ſich diefen fonnigen Frühlingstag ausgewählt, um wieder
einmal eine jener Ausfahrten zu unternehmen, auf denen fie Land und
Leute der Umgegend der Königsſtadt jo gerne aufſuchten. Diesmal
galt es einen etwas weiteren Ausflug. |
In einem weiten Bogen wollten fie das Schloß Köpenick erreichen,
diejem einen Beſuch abjtatten, und dann längs den grünen Ufern der
Spree in ihre Reſidenz zurüdfehren.
Zu dem Zwecke waren ſchon tags zuvor Pferde vorausgeſchickt,
die in einer der größeren Ortichaften das fürftlihe Baar erwarteten,
danıit da3 Gejpann mit neuen Kräften die Fahrt fortjeßen könne.
Jetzt lag das Thor hinter dem jugendlichen Paare, und die weite
Ebene breitete fich vor feinen Bliden aus. Im veinjten Blau fpannte
ih das Himmelsgewölbe über fie Hin und begrenzte den Horizont in
Ihimmernden Duft. Steigende Lerchen über ihnen, jeder Buſch in
Blüte, der Wohlgeruch der friichgefucchten Adererde — alles machte da3
Herz der beiden fat zu voll und weit, und als ob fie fürchte, fih in
dieſer Unendlichkeit zu verlieren, jchmiegte fich die junge Frau feiter an
ihren Gatten. Ihr Schleier umfpielte jchmeichelnd jeine Wangen.
„O mein Gemahl, welch ein Tag!“ jubelte e8 aus der Brujt der
Prinzeſſin Luiſe. „Sieh’ nur, dies reine Blau! Auch nicht ein einziges
Wölfchen zeigt ji) am ganzen Himmel.“
„So Kar und blau wie deine Augen, Geliebte,“ eriwiderte ihr Gatte,
und feinem natürlichen Ernſte folgend, fügte er Hinzu: „Gott gebe, daß
nie düftre Wolfen e3 trüben mögen! Läge es nur in meiner Madıt,
dir alles Ungemach aus dem Wege zu räumen!”
ZU. Baus-Bibl. II, Band ATI. 181
2882 | Allerlei.
IST
„Und thuſt du das nicht? Du, der gütigjte und bejte der Menſchen!“
rief Luiſe aus und erfaßte feine Hand mit leifem Drude.
„Still, tl!“ wehrte der Prinz. „Wir find alle nur Werkzeuge
einer höheren Macht. — Aber ich ſehe ſchon die Kirchturmſpitze unſerer
Station. Hoffentlich treffen wir dort alles in Ordnung.“
Nicht lange, ſo erreichte das Gefährt das große, ſtattliche Dorf, das
mit feinen blühenden Gärten in dem Haren. Sonnenſchein ausjah, als
hätte es ſich befonders für diefen Beſuch gejhmüdt. Und wie ſchmuck
grüßte das ftattliche Gaſthaus mit feinen blinfenden Fenfterjcheiben und
dem twohlgefehrten Pla davor! Der Wirt. in ‚feinem Sonntagsſtaat
ſtand vor der Haustür, jeine Hohen Gäfte erwartend. „ Alles blickte
Heiterkeit und Freude, und die Augen der Prinzefjin ſtrahlten vor Jubel
und innerer Luſt.
Schnell entſtiegen die Herrſchaften dem Wagen und eilten dem
Hauſe zu. Doch ihre Schritte wurden durch eine kleine Mädchenſchar
gehemmt, die der hohen Frau beſcheiden in den Weg trat. Der König
ſchritt voraus.
Mit beſtem Putze angethan, ſo klar gewaſchen und gekämmt wie
gewiß ſelten, blickten die jungen Geſichter glücklich und halb verſchämt
die hohen Gäſte an, bis endlich nach wiederholtem Räuſpern und gegen⸗
ſeitigem Anſtoßen die größte von ihnen hervortrat und, einen mächtigen
Blumenſtrauß der Prinzeſſin entgegenhaltend, einen kurzen Knix machte
und die haſtig eingelernten Worte ziemlich glatt deklamierte:
„Es bringt, o hohe, güt'ge Frau,
Hier dieſe frohe Kinderſchar
Aus ihres Herzens tiefſtem Grund
Dir ihre treuſten Wünſche dar.
Wie dieſe Blumen zart erblühn,
So blühe ſanft dein Leben Hin,
Bis unſer Mund mit frohem Schall
Ruft: „Heil dir, unſere Königin!“
Beſſer hatte es der Dorfpoet in der Eile, von geſtern bis heute,
nicht ſchaffen können, und es wäre auch nicht nötig geweſen, denn die
einfachen, gut gemeinten Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.
Mit den heiterſten Mienen und ſehr beluſtigt durch dieſen ländlichen
Aufzug, beugte ſich Prinzeſſin Luiſe' zu der Blumenſpenderin und be—
lobte ſie, freundlich das Bouquet entgegennehmend, ihres ſchönen Spruches
wegen. Sanft ließ ſie ihre freundlichen Augen über die muntere Schar
gleiten, und in ihrer herzgewinnenden Weiſe fragte ſie: „Wie viele ſind
eurer denn, Kinder?“
„Wir ſind unſerer zwölfe,“ tönte es ihr entgegen.
„Zwölf, eine ſchöne Zahl.“ Doch mit ſchnellem Ueberblick fragte
ſie weiter: „Wo iſt denn die zwölfte? ich zähle doch nur elf von euch.“
a > 997% 52 un
Da machte fi) wieder ein Anjtoßen, Räufpern und verlegenes -
Schürzenftreichen unter den Keinen Mädchen bemerkbar, denn auf jo
viele Fragen waren die Kinder nicht ein- oder abgerichtet. Ratlos
ichielten fie fich von der Seite an, und um ihrer. Rot entgegen zu
kommen, fuhr die Prinzeſſin freundlich fort:
Allerlei. 2883
nr TIGE
„Eurer zwölften ift doch nicht ein Unglück zugejtoßen, daß fie nicht
mit euch fommen fonnte?“
„Ja!“ — „Nee! — ließ e3 fi) aus der Heinen Schar vernehmen.
Endlich trat die Beherztefte auf dem Kreiſe hervor, der ſich allmählic)
um die Prinzelfin gebildet Hatte, und plaßte mit allem Mut, den fie
im Augenblid zujammenraffen fonnte, heraus:
„Miene Droz jollte do Hus bliewen, wiel dat je jo häßlich wier.“
„Wie?“ fragte die Brinzefjin verwundert. „So häßlich? Doch nicht
böſe und unartig?”
„O nee,” fuhr die Kleine nun mit noch größerem Mute fort, „fe
i3 de beit’ von uns, oc in de Schul, aber fied de letzt' Krankheit is
je jo häßlich worden.”
„O das arme Kind!” rief die Prinzeffin teilnehmend, und zu dem
Wirte gewendet, der als Schulze des Ortes fich auf diefe feitliche Ver—
anjtaltung nicht wenig zu gute that, fragte fie: „Wie ift denn daS ge-
meint, Herr Wirt? Wie Hat dem armen Kinde eine jo jchmerzliche
Beleidigung wiederfahren können?“
Sich entjchuldigend, erklärte der Schulze mit feiner tiefiten Ver—
beugung:
„Haltens zu Gnaden, Königliche Hoheit, das arme Kind hat jüngft
erſt die Pocken überftanden, und obgleich jetzt gänzlich wieder hergeftellt,
hat doch die Krankheit jo arge Spuren hinterlafjen, daß wir vermeinten,
es fünnte Eurer Königlichen Hoheit zu erjchrecklich fein, fie anzufchauen,
und ließen wir fie derowegen zu Haufe.“
„Wie traurig für das arme Kind!” rief die Prinzeſſin mitleid3voll.
Schnell entichloffen wandte fie fich den Kleinen wieder zu: „Wer von
euch ijt wohl die Schnellite und Holt mir Mine Droz her?“
Erfreut, des ungewohnten Zwanges ledig zu fein, ftob die Kleine
Schar im Nu auseinander und Luiſe jchritt dem Haufe zu, mo ihr
Gemahl, faſt Schon ungeduldig über den Heinen Aufenthalt, fie bei einem
Imbiß erwartete.
| Kaum war diejer beendet, als der Wirt daS zwölfte der Kleinen
Mädchen ankündigte.
„Laßt fie nur immer näher treten!“ rief Prinzeß Luiſe heiter, und
zu der Kleinen gewendet, die jchüchtern, Thränen in den Augen, mit
einigen Begleiterinnen jich an der Thür zeigte, fagte fie: „Komm her,
mein Kind! Gieh, wie Gott gütig war, dich aus einer jo jchweren
Krankheit zu erretten. Nicht wahr, du weißt, daß die Flecken und
Narben des Gefichts dir nicht3 jchaden, wenn du nur deine Seele rein
erhält. Thu’ das immer, mein Kind, und damit au) du dich mit
Freuden dieje® Tages erinnert, nimm dieſes Tuch: mein Name jteht
darin. Bewahre es wohl auf, und follteft du jemals meiner Hilfe be-
dürfen, jo erinnere mid) durch dasſelbe an die heutige Stunde, und ich
werde mich freuen, dir meinen Schuß gewähren zu können.“
Damit reichte die Prinzeflin dem jungen Mädchen das Taſchentuch
bin, daß ſie in der Hand trug.
Das Kind war ganz überwältigt von fo viel Sitte und Teilnahme
181 *
— F *
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2 ——
Eh
DE Allerlei.
und beugte fi, um die Hand der Zürftin zu küſſen. Diefe aber fttid
ihr janft über die narbige Stirn. -„Sp,” ſagte fie, „nun geh’, freue
dich des jchünen Tages, und behalte feit meine Worte im Gedächtnis!”
* *
*
Jahre vergingen. Wolfen türmten ſich über dem Vaterlande auf,
jchwere Unwetter drohten. Da fiel plöglich der fürchterliche Schlag, der
alles Beftehende in jeinen innerften Tiefen erjchittterte: die gegen
Napoleon verlorenen Schladhten von Rena und Auerftädt brachten den
preußilchen Staat an den Rand des Abgrunds. Alles brach zuſammen.
Niemand wußte im erjten Schreden, woran er ſich halten, was er nod)
hoffen ſollte. Sorgen und Entjeßen lagen auf allen Gefichtern, der
Feind rüdte der Hauptitadt näher und näher.
- Wieder eilte ein flüchtige® Gefährt die „Frankfurter Linden“ ent-
lang, dem Thore zu. Aber nicht an einem Frühlingstage. E wat ein
düfterer Herbſttag. Blätter flatterten von den Bäumen, der Wind
peitfchte fie durch die Straßen; aus dunflen Wolfen meinte der Himmel
große Tropfen.
. Drinnen im Wagen faßen zwei bleiche Frauen, die ältere tief in
die Ede gedrüdt, fi) vor Froſt und Heftigem Unwohlſein jchüttelnd,
dag fie kaum noch zu verbergen imftande war, die jüngere ftarren
Auges durch die trüben Scheiben der geichlofjenen Kutjche biidend.
Aber fie jah nicht die Menfchen, die in fcheuer Angſt die Straße
binunterhufchten, um jo jchnell als möglich ihre gejchloffenen Häufer
wieder zu erreichen; fie Jah das Thor nicht, das ihr jebt die weite Ferne
öffnete. Sie jaß in diefem Traume verloren, fie dachte der VBergangen= _
heit. Ach, wie gern hätte fie auch in die Zukunft geblidt!
Wie oft Hatte man ihr „Heil Dir, Zuije, Preußen? Königin!” zu=
gerufen. War fie es denn noh? Alte Sagen rühmten den prophetijchen
Geiſt deuticher Frauen; fonnte ihr nit ein Blid Hinter den Punklen
Borhang der Zukunft geftattet fein?
Schwer jeufzend legte fie die Hand auf das Herz, als ob fie fein
Ihmerzlihes Pochen bejchwichtigen wollte, und mit einem Blid zum
Himmel jagte fie vor ji) Hin: „Und die gerechte Sache wird und muß
jiegen, aber wann?!" — — Die Königin war auf der Fludt. Nach
Oſten ging diefe. Das Heer war gejchlagen, Preußen dem Webermute
des Sieger preißgegeben, der umjomehr feine Macht fühlen ließ, als
e3 allein von allen deutjchen Staaten feine Ehre und Würde ihm gegen
über hatte wahren wollen. Sebt war alles vorbei!
WVon Weimar aus, wohin die Königin ihrem Gemahl gefolgt war,
um in jo ſchweren Stunden der Entjcheidung in feiner Nähe zu jein,
war fie, ven unglüdlichen Ausgang der Schlachten ahnend, nad Berlin
zurüdgeeilt, um hier noch daS Teuerjte, was ihr nod) geblieben, in
Sicherheit zu bringen.
In aller Haft waren die Kinder in den Wagen gepadt worden,
der fie nad) Stettin bringen ſollte. Gie, als die lebte, welche das
Schloß und die Nefidenz, nur von einer Kammerfrau begleitet, verließ,
beeilte fi, ihnen nachzufommen und fi) mit ihnen auf einer der erften
ee, si
= - 2 — ——
Allerlei. 2885
LE LE LE LE RL LEE En LER mE BIER RL m LER LEE En ERLITT LA ZT FIELEN
Stationen Hinter Berlin wieder zu vereinigen. Doch, jo jehr die
Königin ihre Fahrt zu bejchleunigen wünjchte, erlitt diejelbe einen un—
erwünfchten Aufichub.
Ihre Begleiterin erkrankte fo heftig, daß fie dieſe in dem erſten
Städtchen hinter Berlin der Pflege eines Arztes überlafjen mußte.
Der Arzt beichwor die Königin, die Reife aufzufchieben, wenigftens
bis man eine andere Begleitung für fie gefunden hätte; doc). davon
wollte Luiſe nicht? hören. „Nur fort, fort!“ rief fie und gab den Be-
fehl zur Abfahrt. Schon Hatte fie den erjten, verabredeten Anjchlup
an die vorausgeſchickten Wagen verfäumt, jeßt galt es mit friſchen
Pferden die nächſte Station jo jchnell als möglich zu erreichen. Nur
weiter, — weiter!
Die Station war ein größere® Dorf. Der Poſtillon hielt vor
dem Wirtshaufe. Der Wirt trat an den Kutichenichlag und erjuchte
die Königin, unter feinem Dache fi einige Stunden der Ruhe zu
önnen.
Wie ſehr bedurfte die Königin dieſer! Faſt willenlos ließ ſie ſich
aus dem Wagen heben. Doch wie fie der Schwelle des Hauſes zu—
Schritt, blieb fie plöglich jtehen und jah dem Wirt voll ins Antlig.
O, welche Erinnerung ſtieg in dem Herzen der ſchwer Heimgejuchten
auf! War das nicht der Heitere Ort, wo fie einst durch den froben
Gruß der Kinder fo überrafcht und erfreut worden war? Ja — er
war es! Wo waren fie hin, all die fröhlichen Maitage!
Große Tropfen entperiten den wunderbaren Augen der Fürftin,
und ohne eine Wort zu Sprechen, folgte fie dem Wirt in die einjame
Pug- und Prunkſtube des Haufes, wo fie ermattet auf dem harten Sofa
niederjanf.
Wie allein war fie! Ganz ihrem Schmerz hingegeben — niemand
da, der fie tröften, niemand, der ihr, der Königin, die Kleinjte Hilfe
leiſten fonnte!
Da hörte fie ein leiſes Pochen an der Thür, und gleich darauf
trat der Diener mit der Meldung ein, ein junges Mädchen fei auf dem
Flur, das un die Gnade bäte, vorgelaffen zu werden. Zum Zeichen,
daß fie Majejtät nicht ganz unbekannt jei, ſchicke fie dieſes Tuch.
Der Diener überreichte ed. Luiſe erfannte es als das ihrige, und
erinnerte fich jehr wohl, in welchem Angenblid und mit welchen Worten
fie e3 einjt verjchentt hatte.
Gütiger Gott, jebt nahte jemand, um bei ihr Hilfe zu erbitten?
Gab es denn noch einen unglüdliheren Menjchen auf der Welt al
fie? Doch auch jet, in ihrem tiefften Kummer verichloß ſie ihr Herz
der Teilnahme nicht, und befahl, die Bittftellerin eintreten zu lafjen.
Ein junges, hochaufgeſchoſſenes Mädchen in fauberjter, jehr ein-
facher Kleidung zeigte fi auf der Schwelle Nach einer Aufforderung,
näher zu treten, eilte fie vafch auf die Königin zu, die fich halb erhoben
hatte, hielt ihr einen duftenden Blumenftrauß entgegen und, vor ihr
niederfintend, bedecte fie ihre Hand mit Küffen und Thränen.
Die Königin, faft überwältigt durch diejen Auftritt, erhob fie ſanft,
‚und ihre Hand auf die veine, wenn auch mit Narben bedecdte Stirn
2886 Allerlei,
—
des Mädchens legend, ſagte ſie, ihrer Bewegung Herr werdend: „Sieh',
mein Kind, wie ſich die Zeiten ändern! Was könnte ich jetzt wohl
thun, ſo du meiner bedürfteſt?“
„O, Majeſtät thun genug,“ erwiderte das junge Mädchen, „wenn
Sie die Gnade Haben, dieſe geringen Blumen anzunehmen, die ich ſelber
gepflegt, und von denen ich immer gehofft hatte, fie noch einmal Majeftät
überreichen zu dürfen.”
„Wie fonnte ich Hoffen, heute noch ſolch eine Freude zu haben,“
jagte die Königin gerührt... „Du gutes Kind, wie ſchön aber aud)
deine Blumen find!” fuhr fie, den Strauß anblidend, fort. „Wie
iſt — möglich geweſen, ſie in dieſer ſpäten Jahreszeit noch zu
ziehen?“
„Seitdem ich ſo allein ſtehe in der Welt,“ erwiderte das Mädchen,
beſcheiden ſtockend, „ſind meine Blumen meine einzige Freude, und
en nod) jo einen Gedanken dabei hat, dann: glücdt e8 damit
oppelt.“
„Du ſtehſt allein?“ fragte die Königin teilnehmend.
„Ja,“ antwortete das junge Mädchen, „mein alter Vater, der
Lehrer hier am Orte war, ſtarb vor einem Jahre, und da ich etwas
Handarbeit verjtehe und mic) die Leute brauchen fünnen, fo haben fie
mir ein Dachſtübchen in unſerm alten Schulhauſe bewilligt, in dem ich
wohne und meinen Unterhalt von meiner Hände Arbeit gewinne.” .
Ein plößglicher Gedanke fam der Königin — und zu ihrem jungen
Gaſt gewendet jprad) fie: |
„Sieh, jo wunderbar fügen fich die Gejchiefe der Menfchen! Sch
gab dir das Tuch, damit du mich dereinft an eine verjprochene Gunjt
erinnern könnteſt, und jebt wird es dad Mittel, daß ich did) um eine
Gefälligfeit bitten kann. Meine Kammerfrau it erkranft, und ich bin
ganz allein, ohne jede weibliche Unterſtützung, die mir jo jehr Bedürfnis
it. Es ijt nicht ganz ficher, wo und wann wir den übrigen Neijezug
treffen werden. Bei dieſem Wetter und den aufgeweichten Wegen ijt
e3 jehr beichwerlich, weiter zu kommen. Möchteft du mich wohl be-
gleiten, bis ich eine andere Gejellfchafterin finde? E3 find vielleicht
nur einige Tage, die du abmwejend zu fein brauchft.”
„DO, wie gerne,” rief da3 Mädchen und ergriff noch einmal die
Hand der Königin, fie mit Küſſen bededend. „Welches Glück widerfährt
mir heute!”
„Run, wenn du mir folgen kannſt, dann eile dich,“ ermahnte
Luiſe. „Mache dich ſchnell reijefertig, wir müſſen in fürzejter Zeit
wieder aufbrechen.“
Es brauchte nicht auf Mine Droz gewartet zu werden. Gehr bald
en jie vor der Thitr, im warmen Mantel eingehüllt, ihr Reiſebündelchen
am rm.
Welh ein Troſt auf ihrer bejchwerlichen Neife war die einfache
Landkind mit ihrem harmlojen, bejcheidenen Geplauder der unglüdlichen,
einfamen Königin! — —
Schwere Jahre waren vergangen, umſonſt warteten die Einwohner
des Dorfes der Rückkehr ihrer fleigigen Näherin, harrte da einjame.
Allerlei. 2887
— ———— LE LG AEARLENRLEALERALA ———— ———— —— —
Stübchen ſeiner ſtillen Bewohnerin. Statt zurückzukehren, war ſie
immer weiter enteilt nach dem fernen Oſten. Mine Droz hatte ihre
Königin auf den Schmerzenswegen nach Königsberg, Memel und Tilſit
begleitet, war immer in ihrer Nähe geblieben, hatte geſehen und kennen
gelernt, wie alle Größe und Hoheit dieſer Welt eitel iſt, nur nicht die—
jenige des menſchlichen Herzens. Nur ab und zu hatten die Bewohner
ihres Heimatortes eine Nachricht von ihrer Mitbürgerin erhalten.
Als endlich nach den großen Kämpfen, Demütigungen und An—
ſtrengungen Preußen wieder ſo weit von der Macht ſeines harten
Feindes befreit war, daß es aufs neue aufzuatmen vermochte und auch
das Königspaar mit ſeiner Familie wieder in ihre Reſidenz Berlin ein—
ziehen konnte, da eilte auch Mine Droz, in Berlin nur kurze Raſt
haltend, zurück in ihren Geburtsort. Voll Freude, ſich ihrer Kindheit
erinnernd, betrat ſie die Heimat.
Ihren erſten Gang lenkte ſie nach dem Küſterhaus, um zu ſehen,
was aus ihrem Stübchen geworden ſei.
Freundlich wurde ſie von den ihr bekannten Lehrersleuten begrüßt.
Sie baten ſie, nur näher zu treten, ſie würde den Schlüſſel zu ihrer
Thür wohl ſchon oben finden?
Gie eilte die Treppe hinauf — doch überrajcht blieb fie ftehen !
Um die Thürpfojten des Eingangs zu ihrem alten Hein ſchlang ſich
ein voller Kranz. Sie trat in das Stübchen. Da ftanden ihre Blumen
wohlerhalten, fajt zu Bäumen herangewachfen: Myrten und Rofen, all
ihre Lieblinge.
Und davor und dahinter, unter lautem Jubel, Lachen und Will-
kommenrufen begrüßten fie ihre früheren Freundinnen un Schulgenojjinnen,
jetzt Jungfrauen und junge Frauen des Orts. Gie alle hatten e3 jich
nicht nehmen fafjen, in der Pflege der Blumen und ded Stübchens zu
wetteifern. Alles ftand hier noch nad) langen Jahren jo da, als ob es
die Eigentiimerin eben erjt verlaſſen Hätte, nur heute feftlich geſchmückt
und verichönt durch YFreundeshände. — —
Sie lebte Hier noch lange Jahre, unterftügt durch eine Heine Benfion
der Königin, geachtet und geliebt von ihren Dorfgenojjen.
Die Strafkolonie von Peuraledonien. Wie England
e3 einjt mit Auſtralien gethan, jo hat Frankreich) in Neucaledonien den
Verſuch gemacht, durch verbannte Verbrecher eine Kolonie zu gründen.
Indeſſen ift der Verſuch im großen und ganzen als mißglüdt zu be=
zeichnen. Die franzöfiichen Beamten leiden an einen fortwährenden
Heimweh und jehnen den Augenblicf herbei, der ihnen geftattet, ſich
zurüdzuziehen und mit ihrer Benfion irgendwo in dem geliebten Frank—
reich ihr Leben zu bejchließen; inzwiſchen aber vertreiben fie fich die
Zeit nit ganz unvergnüglich mit Mufifaufführungen, Cafes und auf
andere Weile. Die Hausarbeiten werden durch Verbrecher oder frühere
Verbrecher beforgt. Der Freinde, der die Kolonie befucht, kann ich erſt
Ichwer an den Gedanken gewöhnen, ſpäter aber findet er nichts be—
jondere3 daran, daß er von einem jehr liebengwiürdigen und zuvor—
2888 Allerlei.
fommenden Mörder rafiert wird und dab eine Dame ihm das Bett
macht, die vielleicht ihren Kindern die Kehle abgejchnitten Hat. Es iſt
in der That Mode in Neucaledonien, Mörder als Diener zu verwenden. _
Die Mörder find nad) Anficht der Beamten zuverläſſig. Sie find die
Ariftofraten unter den Verbrechern und geben fich nie mit Kleinigkeiten
ab. Sie würden beleidigt fein, wenn fie Diebe genannt würden. Gie
fommen auch nicht mehr auf den Gedanken, jemand zu tüten. Wozu
auch? Sie wiſſen genau, daß fie nicht die geringjte Möglichkeit des
Entlommens Haben.
Thatſache ift, daß in allgemeinen mweniger Disziplinarvergehen
von den jchweren Verbrechern begangen werden, als von denen, die
wegen geringerer Vergehen nach Neucaledonien verbannt worden find.
Mit diefen haben die VBerwaltungsbeamten die meilten Schwierigkeiten.
Das find Leute, die eine bejondere Eigenart der franzöſiſchen Recht:
ſprechung dahingebracdht hat. Leute, die in anderen europäiſchen Ländern
Heinere Verbrechen begangen Haben, aber vielfach rückfällig geworden
find und eine Beſſerung nicht erwarten lafjen, ſperrt man für mehrere
Kahre ind Zuchthaus. Wenn aber in Frankreich jemand der hoffnungs—
lojen Smmoralität, des Alfoholismus und anderer Dinge überführt und
vielfach rückfällig it, jo wird ihm gejagt: Nach Verbüßung der lebten
Strafe wirft du der „Relegation“ verfallen... Das heißt: Du halt dich
al? ee und unwürdig bewiejen, in der Gejellichaft deiner Mit-
bürger zu leben. Die Strafen Haben dir nicht geholfen. Du willft dich
weder bejjern, noch gebefjert werden, deshalb ſtößt dich die Gejellichaft
aus, du bijt verbannt! Du wirt Nahrung und Kleidung und Pflege -
haben, wenn du frank bijt, du wirſt Arbeit für dich finden, für die du .
bezahlt wirſt, aber wenn du nicht arbeiten willft, dann iſt das Ge—
fängni3 für dich da. Nun gehe hin und fiehe, wie du zurecht kommſt.“
Im allgemeinen ilt die Behandlung der Sträflinge eine humane, fie
werden gut ernährt und gut gekleidet. Das Ziel ift mehr auf ihre
Befjerung, als auf ihre Peinigung gerichtet. ES giebt feine Härte und
feine Grauſamkeit, bis auf eine Strafforn, daS „cachot noir“ (die
ſchwarze Zelle). Einer meiner Freunde hatte Gelegenheit, eine ſolche
Folterfammer im Innern zu jehen, und er jchildert fie wie folgt: „Aus
einem Winkel kam eine menfchliche Gejtalt gefrochen, die fich die Augen
- rieb und nur blinzelnd in da3 ungewohnte Licht ſchaute. Er war Schon
drei Jahre in dieſer fürchterlichen Höhle, die3 Meter lang und 1'/, Meter
breit war. Sch gab ihm ein Felt in Geitalt von Sonnenjcein und
freier Quft, alS ich auf einige Minuten feine Stelle einnahm. Nad)
den erjten zwei oder drei Minuten dehnten fich die jpäteren zu Stunden
aus. Ich verlor volljtändig das Bemwußtjein des Sehens. Ich war jo
blind, als jei ich) ohne Augen geboren worden. Die jhwarze Dunkelheit
Ihien ji) auf mich herabzujenfen wie ein greifbarer Gegenitand und
meine thränenden Augen in den Kopf zurüdzudrängen. Die Dunkelheit
war thatſächlich fühlbar und ich fühlte fie, da Schweigen war ein
folche3 wie in den nberiten Negionen des Luftmeeres. Als die doppelte
Thür wieder geöffnet wurde, drang das Licht in meine Augen wie
Dolce. Der Bewohner der Zelle hatte eine Lilte von Schändlichfeiten
Allerlei. 2889
— LEERE un u RER EEE DEE RUE
auf dem Gewifjen, die nicht wiedergegeben werden fünnen, und dennoch
mußte ich ihn bedauern, als er in diejen lebenden Tod von Dunfelheit
und Schweigen zurückkehrte.“
Dieſe entjegliche Mafchine zum geijtigen Morde war das Ergebnis
der fentimentalen Anmwandlungen einiger franzöfifcher Deputierten, die
die Anwendung der Beitjche, als Disziplinarmittel im Gefängniffe, als
brutal bezeichneten.
Die jchweren Verbrecher künnen, wenn fie fich gut führen, aus dem
Gefängnijje entlaffen werden mit dem Rechte, Yandeigentum zu erwerben,
Handel zu treiben, zu heiraten uſw. Die Ackerftadt Burail befindet fich
faft in den Händen von entlafjenen Sträflingen. Sie haben dort ein
gemeinfames Magazin, wo fie ihren Bedarf einkaufen, da3 von Mördern,
Dieben und Einbrechern geleitet wird, aber bei den monatlichen Kaſſen—
reviſionen ſtimmt alles bis auf den halben Centime. Al ich in Burail
weilte, hatte ich eine Unterhaltung mit dem Leiter des Magazins, einem
„achtbaren und wohlgelittenen“ Einbrecher, der fich mit‘jeiner Frau jehr
wohl befand, die im Berdacht ftand, ihr eigenes Kind in der Seine
ertränft zu haben. Ueber die Tage der Kolonie im allgemeinen fann
man fein Urteil dahin zuſammenfaſſen, daß die freie Kolonijation des
Landes infolge der Schwäche des franzöfiihen Syſtems feinen Erfolg
gehabt Hat. Wenn der Sranzofe, jei er Landwirt oder Handiverfer,
feine Heimat verläßt und fich zu einer der überjeeilchen franzöfiichen Be—
fißungen wendet, jo bat er dort einen Beamten vor fi), einen an jeder
Seite und einen hinter fich, damit er nicht von der Linie abweiche, die
ihm die Weisheit der Regierung vorgejchrieben hat. Selbitändig Handeln
zu wollen, hieße das Geſetzbuch verlegen und irgend einem Beamten zu
nahe treten. Das Beamtentum hat überhaupt die wirtjchaftliche Ent—
wicelung unterbunden. Neucaledonien ift nicht® weiter als eine
franzöfilche Straffolonie und ein wirtſchaftliches Anhängſel Australiens,
von dem die Zukunft des Landes mehr abhängig ift, als von dem
fernen Frankreich. EN.
Zur Geſchichte der Viſttenkarte. Die Bifitenfarte ift nicht
eine Erfindung der modernen Menjchheit, der Gedanke eines müßigen
Kopfes, fie ftammt vielmehr aus dem Kulturlande China, aus der
eigentlichen Heimat der Etifette, und iſt dort ſchon ein jehr alter Braud).
Bor taufend Kahren und mehr haben die Chinefen fich ihrer bereit3
bedient; ihnen ijt die Bilitenfarte eine gejellichaftliche Unentbehrlichkeit
geworden, ohne die ſich nicht augfonmen liege. Es wäre geradezu
unmöglich, den Grad der Vornehmheit eines Bejuches, den man empfängt,
zu bejtinnmen, beſäße man dort nicht die Vifitenfarte. Während bei
uns Titel und Würden außer dem Namen auf der Karte prangen und
den mehr oder minder vornehmen Charakter des Bejuchers anzeigen,
läßt fi in China der Rang nur an der Größe des Formats an der
Karte erfennen. Je größer, dejto vornehiner. Der außerordentliche .
Geſandte Englands, Lord Mocartney, joll einjt von dem Vizekönig von
Petichili eine Vifitenfarte von fo viefenhafter Größe empfangen haben,
daß ſechs Diener fie herbeilchleppen mußten. Das ganze Haus, in dem
On Allerlei,
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der englifche Würdenträger damals feine hohen Befuche erwartete, hätte
man bequem darin einmwiceln fünnen.
Einem Wechjel in der Größe find bei ung die Bilitenfarten unter-
tworfen, je nachdem e3 die herrſchende Mode will, aber zu ſolch un⸗
geheuerlichen Dimenſionen, wie die chineſiſchen, wuchſen ſie nie im ent—
fernteſten heran. Bei uns im Abendlande, in$bejondere in Deutichland,
fennt man die VBilitenkarte kaum länger als anderthalb Jahrhunderte,
und ſie diente urſprünglich lich zur Anmeldung fürſtlicher wie über—
haupt vornehmer Beſuche. Aber ihre Ausſtattung war trotzdem eine
überaus einfache — ein —* Goldrand, der ſich um den Namen
ſchlang, das war alles. Später wurde man luxuriöſer. Man ſchmückte
ſie mit allerhand Emblemen und Malereien. Die Viſitenkarten Caſa—
novas beiſpielsweiſe ſollen — ſo wird berichtet — das Bild eines von
einem Eſel getragenen Banners enthalten haben, auf welchem der Name
verzeichnet ſtand.
Mit der ſplendideren Ausſtattung der Karte ging dann ihre
mannigfaltigere Verwendung Hand in Hand. Man fing an, ſie zur
Ueberbringerin von — zu benutzen, verſah ſie mit aller
hand Schnickſchnack, Liebesleute parfümierten fie und benußten- jie dann
zu Liebesbotichaften, und nicht lange danach jchrieb man ſich ſogar
einfache Grüße darauf, tie nod) heutzutage. Allerdings iſt jeßt der
Gebrauch der Viſitenkarten ein jo ausgedehnter, ein ſolch verichiedener,
daß man eigentlich ſchon von einem Mißbrauch veden könnte. Denn
muß es nicht als Mißbrauch bezeichnet werden, wenn daS zierliche
Kärtchen feinem eigentlichen Daſeinszweck dadurch entfremdet wird, daß
man Konzeſſionen, Berträge, Küchenrezepte und allerhand andere
profaifche und nüchterne Dinge darauf vermerft? Wer hat nicht jchon
an fich jelbjt erfahren, wie peinlich es oft ift, wenn man jeine Bifiten-
karten vergejjen. Denn nächſt dem Portemonnaie gehört das Feine
Täſchchen, in dem jene Kärtchen aufbewahrt werden, wohl zu den un—
entbehrlichiten Dingen des Geſellſchaftsmenſchen. Macht man eine neue
Belanntihaft, jo tauscht man feine Karten aus; macht man einen Be—
ſuch, jo jdidt man zur Anmeldung jeine Karte voran vder hinterläßt
fie demjenigen, dem man einen Beſuch zugedacht, ohne ihn anzutreffen.
Will man fi) vor feiner Abreife verabichieden, ohne Zeit zum perjün-
lichen Abjchied zu finden, fo jendet man feine Bilitenfarte mit dem
Bermerf: „p. p. c.*, feine Teilnahme an einem Todesfall drüdt man
auf der Viſitenkarte durch die Buchjtuben: „p. c.“ aus, feine Glück—
wünjche duch: „p. £.* Aber auch Hierin ijt die launiihe Mode Ge:
bieterin. Mit der Zeit ändern ſich auch die Ausdrudsformen. Aber
nit nur die Dienerin der Höflichkeit ift die Viſitenkarte; fie wird zu=
weilen auch in den Dienſt der Unhöflichkeit, der Grobheit geftellt, und
da hat fie gewöhnlich eine jehr erufte Bedeutung. In Beleidigungs-
fällen fordern „Savaliere“ fie einander gegenjeitig ab, und fie leitet
dann gewöhnlich eines jener Dramen ein, die wir „Duelle“ nennen und
die nicht jelten einen tragiihen Ausgang nehmen. Die jchönite und
heiterjte Beitimmung der Bilitenfarte bleibt aber immer diejenige:
Weberbringerin von Glüdwünjchen zu jein.
Allerlei. 2891
Das Verſchwinden der koten Tiere. Wo bleiben die
Tiere, die eines natürlichen Todes fterben? Auf dieje Frage hat wohl
noch fein Naturforicher eine befriedigende Antwort geben können. Berjonen,
die ihr ganzes Leben in der Nähe der wildreichen Gegenden des Indus,
in Vorderindien zugebracht haben, verjichern, daß fie noch nie die Leiche
eines Tieres gejehen hätten, das nicht durd) einen Menjchen oder ein
anderes Tier getötet worden wäre. Der Elefantenjäger Sanderjon, der
jahrelang Britiſch-Indien nad) allen Richtungen durchkreuzte, hat er—
Härt, nur zweimal die Leihen von Elefanten, die eines natürlichen
Todes gejtorben waren, gejehen zu haben. Auch Die Hindus behaupten,
daß ſie noch nie die ftofflichen Ueberreſte eine3 Elefanten gejehen hätten,
außer wenn eine Epidemie unter den Tieren herrſchte. Die Thatjache
ift jo merkwürdig, daß die Scholaden im Bittigarudgung = Gebirge fejt
überzeugt find, die Elefanten ftürben Feines natürlichen. Todes, während
die Rurrabas von Kafantote glauben, daß die Elefanten, wenn fie ihr
Ende herannahen fühlten, fih nad einem Ort zurüczögen, den die
Menſchen nicht erreichen könnten. Befanntlich erreichen Elefanten ein
hohes Alter — bis 150 Jahre; — doc mögen fie noch jo alt werden,
einmal müfjen fie jterben, und doch wurde noch nirgends eine Leiche
gefunden.
Dieſe wunderbare Thatjache ift aud) bei anderen Tieren zu fon-
Itatieren. Seder, der auf dem Lande wohnt, wird bemerkt haben, daß
er jelten tote Feldmäuſe, Eichhörnchen, Dachle, Igel, Wieſel und der-
gleichen angetroffen, welche eines natürlichen Todes geftorben find. Ein
Kaninchen ftirbt vielleicht in feiner Höhle; wo aber bleiben die toten
Vögel? Taujend und abertaufend Sperlinge iterben jährlich, doch wann
fände man — außer etiwa nad) einem Sturm oder bei Froſt — ihre
Keihen? Auch in den Gegenden, die von vielen wilden Tieren belebt
find, macht man diefe Erfahrung. Tote Tiger, Biſons, Löwen uſw.
werden jelten gefunden, wenn ihnen nicht der Jäger den Garaus ge=
macht oder eine Epidemie unter ihnen aufgeräumt hat. Kein Jäger,
der: jeiner Jagdluft in den Tropen die Zügel ſchießen ließ, der die
Didihte nach allen Richtungen durchſtreifte, hat je ein Tiergerippe ent-
det, und doc müßten während der Jahrhunderte, wo die Didichte
nicht betreten worden find, die Gebeine frepierter Tiger, Elefanten uſw.
den Boden bededen.
Dazjelbe ift in Afrika der Fall, wo, als die erſten Koloniften fich
am Kap niederließen, es von Antilopen, Yöwen, Giraffen, Zebra und
Elefanten wimmelte, wo man jedoch) von all diefen Beitien faum einen
Kadaver fand.
Auch der Jäger fragt fih: Wo bleiben die gejtorbenen Tiere?
Kriechen fie fort, um ſich vor den Augen der Menſchen zu verbergen?
Verſtecken ſie ſich an einem Platze, den noch kein menſchlicher Fuß
betreten? Warum aber hat man dann noch nicht einen ſolchen Platz
entdeckt?
Den Eingeborenen Auſtraliens iſt es gleichfalls ein Rätſel, wo die
Millionen toter Känguruhs und Beuteltiere bleiben, die dem Pfeil-,
Gewehrſchuß oder den Hunden entkommen. Gleicherweiſe können ſich
2892 Allerlei.
die Bewohner von Ceylon dad Wunder nicht erklären, weshalb es zu
den größten GSeltenheiten gehört, ein Tiergerippe zu finden. Die
Singhaleien find überzeugt, daß alle Tiere, wenn fie den Tod nahen
fühlen, fich nach einem von ‚den Bergen des Adanıd-Peaf umgebenen
Thal zurüdziehen und dort am 1lfer eines kryſtallklaren Sees den lebten
Atem ausblafen. Niemand aber hat den See und feine Ufer bis jet
finden können.
Bufes Bedärfnig. „Am 22. Dezember 1869 lag ich, während
es rings um mic, völlig dunfel war, im Bett und konnte nicht ein—
ihlafen. Um mid) zu zeritreuen, machte ic) mir das Vergnügen (!),
die Quadratwurzel von 3000... ... (folgen 36 Nullen) auszuziehen. Ich
fand als Nefultat 177205... . (folgen 15 Zahlen)... Dann konnte ich
endlich einschlafen. Am nächſten Morgen fiel mir die Wurzel plößlich
wieder ein, ich Habe fie aufgejchrieben und dann nachgerechnet, ob fie
rihtig war, Sie jtimmte genau.“ So drüdte fid) in einem Briefe an
einen Freund der engliihe Mathematifer Wallis aus.
Phänomenale Gedächtnifje find oft erblid. Da ift z.B. die Familie
Bidder. Georg Bidder, der im Jahre 1806 als Sohn eines GStein-
Ichneiderd geboren wurde und im Jahre 1878 als Direktor einer Eifen-
bahngejellihaft und fehr reiher Mann ftarb, verarbeitete wenige
Stunden vor feinem Tode im Kopfe geradezu grauenerregende Multi-
plifationen: fünfzehn Ziffern im Multipliflant und eben jo viel im
Multiplifator. ALS er zehn Jahre alt war, brauchte er weniger als
zwei Minuten, um die Zinſen zu finden, die 4444 Guineen, welche zu
41/, Prozent pro Sahr angelegt werden, in 4444 Tagen bringen. Einer
jeiner Brüder war ein fajt ebenjo hervorragender Mathematiker; ein
anderer war ein PBaftor, der da3 Alte und das Neue Teitanıent voll-
tändig auswendig wußte und in feinen Citaten aus der Bibel fich nie-
mals Hinfichtlich der Zahlen von Buch und Ver täufhte Sein Sohn
und feine Enkelfinder (auch die weiblichen) find „Bligrechner”. Profeſſor
Aſa Gray ſoll die ganze botaniſche Nomenklatur auswendig wifjen, und
Profeſſor Theodor Gill ift auf dem Gebiete der Nomenklatur der Fiſche
ebenjo groß.
Alles dies iſt aber eigentlich nicht jo phänomenal, wie man glauben
fünnte. Viele Brahmanen mifjen die 10000 Verje des Rig-Veda aus—
wendig. Ebenſo beherrichen zahlreiche Muſelmanen den ganzen Koran
und zahlveiche Chinefen jämtliche Bücher von Confuctus und Mencius.
Die polynefishen Häuptlinge jagen fortwährend ihre — her,
die gewöhnlich ſo lang iſt, daß man fünf bis ſechs ganze Tage braucht.
um ſie vollſtändig „herunterzuleiern.“
Der Tuftballon als Tiefſeeforſcher. Als vor kurzem der
Verſuch gemacht wurde, das Mittelländiſche Meer im Luftballon zu
überqueren, konnten die Luftſchiffer zu ihrer Ueberraſchung vom Luft—
ballon aus in ſolche Tiefen des Meeres hinabblicken, in welche der in
einem Schiffe fahrende Menſch nicht ſehen kann. Dieſe Beobachtung
iſt aber durchaus nicht neu, und gerade in Frankreich ſchon früher
praktiſch verwertet worden. Dort gelang es nämlich, von der Gondel
Allerlei. 2893
eines nur in mäßiger Höhe ſchwebenden Luftballons aus in einer
Wafjertiefe von 10 biß 22 Meter Torpedo aufzufinden, welche bei einer
Gefechtsübung verloren gegangen waren. Hiernad) machte man aud)
in Rußland den Verſuch, in der Oſtſee ein verloren gegangenes Schiff
durch Beobachtung des Meeresgrundes vom Luftballon aus zu finden.
Diefer rufftiche Verſuch mißlang, und man erflärte den Miherfolg damit,
daß man jagte, das betreffende Gewäſſer fei zu trübe gemwejen, um dem
Luftſchiffer einer Durchblid zu gejtatten. Wielleiht ift aber der Miß—
erfolg dem Umjtand zuzufchreiben, daß der Ballon, von dem aus die
Meeresunterſuchung erfolgte, zu hoch in der Luft fchwebte; im Gegenjak
zu den mäßigen Höhen bei den franzöfilchen Verſuchen befand ſich der
ruſſiſche Ballon 400 Meter Hoch. Eine weitere Verfolgung der Sache
erſcheint ſchon deswegen als angezeigt, weil die Meeresgrundbeobadhtung
vom Luftballoen aus nicht bloß zur Auffindung im Meer verjunfener
Gegenftände nutzbar gemacht werden kann, wiewohl auch dies unter Um—
ftänden wichtig genug ift. Aber da man in der jüngften Zeit darauf
ausgeht, einen Zeil der Seekriege durch unterjeeilche, aljo von den
Kriegsſchiffen aus unfihtbare Boote zu führen, liegt vielleicht in der
Benutzung des Ballon eine Waffe gegen dieje unterjeeilchen Boote
injofern, als die Ballonbeobachtung ſolche Unterjeeboote offenbart.
Dana) würde aljo der Seefrieg der Zukunft auf dem Wafler und
über den Waſſer geführt werden.
Das Porträt des Könige. In der Zeit, als die Schweiter
Friedrichs des Großen, die Herzogin von Braunjchweig, bei ihren
füniglihen Bruder in Berlin zum Beſuch meilte, jchenfte Friedrich II.
eined® Tages dem Grafen Schwerin eine Schnupftabafsdofe, auf
deren Dedel ein Ejel gemalt war. Der Graf hatte den König kaum
verlafjen, al3 er feinen Diener mit der Doſe zu einem Künjtler jchickte
und denfelben erfuchen ließ, den Ejel zu entfernen und ftatt dejjen —
da3 Porträt des Königs auf die Doje zu malen. Wad) einigen
Tagen ließ der Graf jeine Doſe abjichtlich, wie aus Verjehen, auf der
Tafel liegen, und der König, der die Herzogin veranlafien wollte, auf
Koſten des Grafen zu lachen, erzählte, daß er ihm eine Doſe gejchenft
habe. Die Herzogin wünſchte fie zu ſehen. Man übergab jte ihr, und
jobald ſie einen Blick darauf geworfen hatte, wendete fie ſich an den
König mit den Worten: „Welche Aehnlichkeit! Wahrhaftig, Herr Bruder,
e3 ilt daS eines der beiten Borträts von dir, daß ich bis jest
gejehen babe. Wie aus dem Spiegel gejtohlen!“ Der König geriet
begreiflicherweije in Werlegenheit und meinte, man treibe den Scherz
etwas zu weit. Die Herzogin gab die Dofe ihrem Nachbar, fie wanderte
jo an der Tafel rund herum, und alle Anmejenden jtimmten in dev
Behauptung überein, daß fie nie ein ähnlichere3 Bild ihres Königs ge=
jehen hätten! Diejer wußte nicht, was er denken jollte, bis die Dofe
endlich auch an ihn gelangte und er gewahr wurde, welchen Streich ihm
Schmerin gejpielt hatte. &ı lachte nun jelber von Herzen mit.
Mus der gufen alten Beil. In dem Archiv der Familie
von Hardenberg befindet fid) eine „Hausordnung“, welche der Statthalter
Chriſtoph von Hardenberg am 10. März 1686 erließ. Diejelbe ijt in
2894 Allerlei.
der Hauptjache für die Dienerjchaft beſtimmt und enthält u. a. folgende
Kraftitellen: „Wer nicht? aus der Predigt behält, foll wie ein Hund,
auf der Erde liegend, jein Mittagsbrot frefien.” — „Wer in Briefe
gudt, wenn fie auch offen da liegen, joll drei Tage hintereinander die
Baltonnade erhalten und al3 infam fortgejagt werden.” — „Wer die
Zeit verjchläft, dem ſollen zwei feiner Kameraden je jech$ Hiebe geben.”
— „Die Speijen find in guter Ordnung, ohne etwas zu verjchütten,
aufzutragen, die Schüfjeln mit Reverenz wieder abzunedmen. Wer aber
naſcht und Naje, Maul und Finger in allen Schüffeln hat, ſoll ge-
zwungen werden, zur Bertreibung jeines Appetit3 Heike und brennende
Speijen zu frefien. Jeder ift jchuldig, auf erhaltenen Befehl mit einer
Neverenz hervorzutreten und deutlich und laut das Tijchgebet zu ſprechen.
Wer ſtockt, empfängt jech3 jpanifche Najenftüber.” — „So einer mit
ungewajchenen Händen aufmwartet, joll er fich geberden, als wenn er
E waſche, während einer ihm Wafjer auf die Hände gießt, dann aber
oll ein anderer fie ihm mit zwei jcharfen Ruten jo lange abtrodnen,
bi3 fie bluten. Desgleichen, wer ungefämmt aufivartet, jolcher fol im
Stall mit dem Pferdelampel tüchtig gefampelt werden.“ — „Wer jid)
mit ind Geſpräch milcht, grinſt oder laut lacht, fol vier Knippchen auf
die Finger empfangen.” — „Wer ein Glas übervoll einjchenft und es
dann mit feinem eigenen Maule abtrinkt, erhält zwanzig Hiebe nad) der
Peitfchenordnung. Wer unreine Gläſer präfentiert, kann wählen zwijchen
vier Obrfeigen oder ſechs Nafenjtübern.” — „Dieweil e8 auch ein
Ihändliche8 und unleidentliches Werk, wenn die Bedienten langjam efjen,
jo ſoll denen, die länger als eine Viertelſtunde damit zubringen, da3
Ejjen vor dem Maul weggenommen werden. Wer die vorgejeßten Speifen
nicht eſſen mill, faftet die folgenden 24 Stunden ganz und gar.” —
„Sofern der Statthalter einem Bedienten etwas befiehlt und diefer läßt
ſich's beigehen, es wieder einem anderen zu befehlen, jo joll er von dem,
welchent er befohlen, vier Obrfeigen empfangen.” — „Haben fich zwei
geprügelt, jo follen fie ihre Sache noch einmal, mit Steden fechtend,
in Gegenwart des Hofmeiſters ausmachen, und wer den andern jchont,
ſoll Prügel erhalten.“ — „Wer ohne Erlaubnis ausgeht oder gegen den
Herrn murrt, hat nad) Umständen Peitſche, Kette oder Pfahl zu er-
warten.” — — Das ift, wie gejagt, nur einiges aus der ziemlich
umfangreichen Gejegtafel. Wie ſich die Zeiten doch geändert haben!
Heute find wir faſt Schon an das entgegengelehte Ertren gelangt, und
un e3 jo weiter geht, werden bald die Dienjtboten „Haußordnungen”
geben ... u
Auszähl-Rätfel.
D«R+«V,L,sAA«T«N«sE «+
Die vorftehende Reihe von Buchjtaben und Sternen ift aus—
zuzählen mit einer bejtimmten Zahl, die immer auf einen Buch
jtaben treffen muß. Die Sterne zählen mit, und mit dem aus:
gezählten Buchjtaben wird ftets wieder angefangen. Pie Löjung
ergiebt ein Wort von hohem Klang.
Maaifches Buchitaben-Quadrat.
N In 'ofolr
airjs|s|rt
T|u uju|v
Die Buchftaben in den Keldern des Quadrats find fo zu
ordnen, daß die wagerechten Reihen gleich den ent|prechenden ſenk⸗
rechten lauten. Die fünf Reihen (aber in anderer Solge) bezeichnen:
1. Eine der neun Muſen.
. Zine Kreisftadt im Negierungsbezirt Frankfurt.
. Zine Söttin der Römer.
. Eine Stadt in Afrika.
i Einen belannten Aſtronomen.
2
3
4
5
Tanjch-Rätiel.
Hedwig, Palme, Negen, Moſel, Heller, Orden, Aufter, Srankfurt,
Zifel, Segel, Bafe, Amfel, Wagen, Edfu, König.
Don jedem der obenitehenden Wörter ift die Anfangsfilbe zu
entfernen und an deren Stelle je eine der folgenden zu jeßen:
au, brüs, cor, de, er, en, fen, gut, bo, il, Iud, ro, u, ul, wie.
Nach richtiger Einftellung der Silben ergeben die Anfangs—
buchjtaben der neuen Wörter den Namen eines Philofophen.
2896 Rätfel- Ede.
Scherzrezept.
Nimm eine Rüde und Foche jie ganz,
Dazu von einer Maus den Schwanz,
Dom AUhu das Mittel,
Dom Rabenei ein Drittel;
Hierauf fiebe es fein,
Chu’ ein Diertel Mehl darein,
Zin Sünftel Eſſig dann
Und ein Sechftel.vom Nettig dran!
Schau hin, die Mifchung tit klar und rein —
Probiere, kaum giebt es bejjeren Wein.
Diamanträtiel.
AR CK
X
N
nPBumß®
ne
Die Punkte der obigen Figur jollen durch Buchſtaben erjegt
werden, fodaß ſich Worte mit folgender Bedeutung ergeben:
1. Teil des Huges. | 3. Mädchenname.
2. Schmaler Weg. 4. Kanton der Schweiz.
Die zu verwendenden Buchftaben find:
a, a, c, d, e, g, i, l, l, x, s, u.
Auflösungen aus Band XI.
Nätjel: Freier.
Umftellungsrätjel: Zola, Omar, Lama, Arad.
Silbenrätfel: Sröbel, Arno, Ulrich, Seume, Turban, Urfprung,
Niger, Dödi, Sulden, Rudau, Emden, Taufend, Chile, Hobel,
Eris, Norma.
Buchftabenrätjel: Lena, Lina, Zuna.
Rätſel: Dielleicht.
Metamorphojenrätfel: Ernjt ift das Leben, heiter ijt die
Kunft.
Buchitaben-Süllrätjel: Auftern, Baunad), Braunau, Strauß,
Reblaus, Ilmenau.
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