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Full text of "Illustrierte Haus-Bibliothek zur Unterhaltung und geistigen Anregung Jahrg 2, Band 12"

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Baus-Bibliothek 
Jahrgang lo . 4 2 


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Ein guter Kamerad. Vach einem Semälde von Rudolf Trade. 








Jllustrierte | 
Baus-Bibliothek 


ur Unterhaltung = » - 
und geistigen Anregung 





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Band XII 


Berlin-Leipzig 
WU. Vobah & Co. 
Derlagsbuchhandlung, 


® Druck von 


W. Dobach & Eo. 
in £eipsig-R. 





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Inbatts-Verzeichnis. 


2 
Seite 

Ein guter Kamerad. Vach einem Bemälde von 
Rudolf Trade, Kitelbild. 

Wer wird fiegen? Ein Zeitroman in drei Büchern 
von Reinhold Ortmann. (Sortfeßung). . . 2663 

Deutiche Dichtergrüße: 

Die Fuge Tochter. Don Diktor Blüthgen. . 2724 

Im deutfchen Reichstag. Ein Blid in die parlamen- 
tarifhe Mafchineriee Don U, Oskar Klauß: 
mann. Erſter Geil) . ae Br nie ir 223 

mit 3 Abbildungen. 

Deutfche Dichter der Gegenwart. \ulius Lob: 
meyer. Don Dr. 4. St. ae DAAD 

Mit Bildnis und Salfimile des Dichters. 

Das Rätfel der Abnenburg. Roman von ae | 
(Sortjegung) . 2753 

Das Germanifche ern. in Nürnberg. Don 

Dr. Julian Marceufe . 2823 

Mit 4 Abbildungen. 

Märchen äuf der Wanderung. Dom Urfprung und 
Wejen der m Don Dr. en a 
born. . 2831 

Weiße Haare. Kovelle von 5. —V . 2837 

Deutfche Dichtergrüße: 

Babe. Don Betty Paoli. . . . 2852 

Wildbad Gaftein. Don Wolfgang Ense, . 2853 


Mit 6 Abbildungen. 





SISnhalts-Derzeichnis. 





Der letzte Befuch, Don Johannes Bernhard 


Seite 


. 2865 


Wie überwintert unfere beimatliche Tierwelt? 
Don Dr. Konrad Erdmann . 


Deutfche Dichtergrüße: 
Boffnungslos. 


Allerlei; 


Königin Luiſe und die ANESHOANEN: Don Bujtav 
Walter . Er 


. 


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. 


Die Straffolonie von Yenealibaniene. 
Zur Sefchichte der Difitenfarte . 
Das Derjchwinden der toten Tiere 


Sutes Bedächtnis 


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Der Zuftballon als Gieffeeforfcher. 
Das Porträt des Königs. 
Hus der guten alten Zeit. 


Rätfel-Ece . 


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Don Theodor Kirchner. 


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RR, 1:72: 


. 2880 


. 2881 
. 2887 

. . 2889 
2891 
. 2892 
2892 

. 2893 
2893 


‚2895, 2896 








Wer wird fiegen? 


Ein Zeitroman in drei Büchern von Reinhold Brimann. 





(4. sortfegung.) (Nachdrud verboten.) 


Achtzehntes Kapitel, 


us der alten Gafje im Innern der Stadt war Dolly 
Förſter in eine der. neuen, vornehmen Straßen des 
J Weſtens gezogen, wo man durch die verſchwenderiſche 
" Anwendung von unechter Vergoldung und gipfernem 
Stud dem Innern der Häufer ein jo bejtechendes, „palaftartiges“ 
Ausjehen zu geben weiß. Für eine Wohnung nach der Straße 
freilich reichten ihre Mittel nicht aus, jondern fie hatte fich im 
dritten Stock eines jogenannten Gartenhaujes eingemietet, wo 
die VBergoldungen noch unechter, die Stucverzierungen noch hin= 
fälliger waren und wo fie feine andere Ausficht hatte alß den 
Blick auf einen vieredigen, hepflafterten Hof, dem zwei kümmerlich 
Ichmale Rajenftreifen etwas Gartenähnliches verleihen jollten. 
Hier lebte ſie in einer bejtändigen jtillen Fehde mit der 
dur) ihre Geſangsübungen gejtörten Nachbarjchaft — einer 
Fehde, die wohl ſchon längſt mit ihrer Niederlage und ihrem 
unfreiwilligen Auszuge geendet hätte, wenn jie nicht in den 
Männern ebenſo warme Berteidiger und ftandhafte Bundes- 
genofjen gehabt Hätte, al3 ihr die Frauen erbitterte und unver- 
jöhnliche Feindinnen waren, Es hatte fie nicht viel Mühe ge- 






2664 Reinhold Ortmann. 





koſtet, ſich dieſes Beiſtandes zu verſichern; denn ſie hatte noch 
mit keinem ihrer opfermütigen Beſchützer auch nur ein einziges 
Wort gewechſelt. Ein freundlicher Augenaufſchlag bei zufälligen 
Begegnungen auf der Treppe, ein kleines, liebenswürdiges Lächeln 
bei der ſtummen Erwiderung eines Grußes waren die einzigen 
Beſtechungsmittel geweſen, deren ſie ſich bedient hatte. Und doch 
hatten dieſe mehr als beſcheidenen Gunſtbeweiſe hingereicht, die 
Herzen einiger ſonſt muſterhaft fügſamer Ehegatten mit einer 
Widerſtandskraft zu wappnen, an der alle Aufwiegelungsverſuche 
der erzürnten Lebensgefährtinnen machtlos abprallten. 

An kleinen Unannehmlichkeiten und Nadelſtichen von ſeiten 
der weiblichen Nachbarſchaft fehlte es natürlich trotzdem nicht; 
aber Dolly bewahrte ihnen gegenüber eine ſtolze Gelaſſenheit, 
die jeden derartigen Verſuch unfehlbar mit einer Beihämung 
für feine Urheberin endigen ließ. 

Sie nahm von ihrer Umgebung Feine Notiz und unterhielt 
feinen Verkehr. Auch die fcharfblidendften unter ihren Fein- 
dinnen, die befländig auf der Lauer lagen, um aus dem Er- 
gebnis ihrer Wahrnehmungen endlich eine wirffame Waffe gegen 
die Schöne Sängerin zu jchmieden, hatten bisher nicht3 entdeden 
fönnen, was fich zu ihrem Nachteil ausnugen ließ. Und man 
verzieh ihr dieſe Tadellofigfeit ihres Lebenswandels natürlich 
noch weniger als ihre goldhaarige Schönheit und den füßen 
Schmelz ihrer wundervollen Stimme. 

In der That hatte Dolly ihrem Verlobten bisher nur ein 
einziges Mal gejtattet, ihre Wohnung zu betreten. Ihre Zu- 
fammenfünfte bejchränften fich auf gelegentliche furze Befuche, 
die fie ihm während der Nachmittagsftunden in feinem Atelier 
- abitattete, und auf gemeinfame Spaziergänge in den abgelegen- 
ſten Teilen der öffentlichen Parkanlagen, wo fie ziemlich ficher 
fein fonnten, von feinem Bekannten gejehen zu werden. 

Aber nit Erichs, jondern Dolly Wünfche waren es, 
denen durch diefe ängftlich beobachtete Heimlichkeit Genüge ge- 
ſchah. Es war ihm ebenſo wenig gelungen, ihre Einwilligung 
in eine öffentliche Bekanntgabe ihres Verlöbniſſes zu erhalten, 
als er eine beſtimmte Erklärung über den Zeitpunkt ihrer end— 
lichen Vereinigung von ihr zu erlangen vermocht hatte. Sie 
ſchien ſich vollkommen glücklich zu fühlen in einem Zuſtande, 





Wer wird ſiegen? 2665 





der für Erich nachgerade zu einer faſt unerträglichen Qual ge— 
worden‘ war. Und ſo ſicher wußte fie ſich ihrer Macht über 
ihn, daß es fie nicht im mindeiten beunruhigte, wenn er bier 
und da an jeinen Ketten zu rütteln und fich gegen ihre Art, 
ihn zu behandeln, aufzulehnen verfuchte. 

„Ih muß vor allem meine Fünftlerifche Ausbildung zu 
einem gewiſſen Abſchluß bringen,“ war die einzige Erklärung, 
zu der fie fich in folchen Augenbliden verjtand. „Noch ehe ich 
dich kennen lernte, Hatte ich mir gelobt, mich in diefem Vor— 
haben durch nichtS beirren zu laffen. Und du kannſt unmöglich 
etwas Tadelnswertes darin finden, daß ich die Gewohnheit habe, 
meinen Grundjäßen treu zu bleiben.” 

E3 Half ihm nichts, wenn er fie darauf Hinwies, daß 
diefe Studien, die fie während der lebten Monate in der That 
"mit außerordentlicher Energie betrieben hatte, im Grunde eine 
höchſt überflüſſige Zeitvergeudung feien, da er ihr ja doch nie- 
mal3 geitatten würde, als Opernfängerin die Bühne zu betreten. 
Ihr Wille war unerjchütterlih, und der feinige nur allzu 
ſchwach, wenn fie die Waffen ihrer verführerifchen Schönheit 
ing Feld führte, um ihn zu breden. 

Auch an diefem Morgen hatte Fräulein Dolly ſchon ſeit 
einer Stunde mit kurzen Unterbrechungen ihre Koloraturen und 
Triller geübt. Aber ſie war heute ausnehmend unzufrieden mit 
ſich ſelbſt. Und nachdem ihr eine beſonders ſchwierige Tonfigur, 
die ſie ſonſt mühelos bewältigt hatte, zum drittenmal verun— 
glückte, warf ſie den Deckel des ſchlechten Mietsflügels unwillig 
zu und ließ ſich mit verdrießlicher Miene in einen Stuhl 
fallen. 

„Wie langweilig das iſt!“ ſeufzte ſie. „Wahrhaftig, ich 
werde mich doch endlich zu dem Entſchluß aufraffen müſſen, 
irgendwie ein Ende zu machen — fo oder jo!” 

Sie griff nach dem Cigarettenfäftchen, das ihr in Stunden 
des Alleinjeins längft unentbehrlich) geworden war, und hüllte 
fich in duftige, blaue Rauchwolfen ein, während ihre leicht zu- 
Sammengezogenen Brauen und die Heine, jcharfe Linie an den 
Naſenflügeln verrieten, daß die Gedanken, denen fie fich hin- 
gegeben hatte, nicht eben die jonmigften und erfreulichiten 
jeien. 


2666 Reinhold Ortmann. 





Es Eopfte, und da3 halbwüchſige Mädchen, das bet ihrer 
Wirtin die Dienfle einer Aufwärterin verjah, übergab Dolly 
zwei eben eingelaufene Briefe. 

Das Geficht der jungen Sängerin wurde noch verdrieß- 
Ticher, als fie den eriten von ihnen anjah. Er trug den Poſt— 
jtempel Zürich, und fie hatte nur einen Blick auf die ungleic- 
mäßige, nervöſe Handichrift der Adreſſe zu werfen brauchen, 
um den Abfender zu erraten. Mit einer zornigen Handbewegung, 
wie wenn man etwas VBerhaßtes und Widerwärtiges von ſich 
ſchleudert, warf fie ihn uneröffnet auf den Tiſch. Aber auch 
der Anblick des andern vermochte die Wolfe nicht von ihrem 
Antlig zu jcheuchen. Sie wußte, daß er von Erich kam, und 
fie hätte wohl einigermaßen neugierig fein jollen auf feinen 
Inhalt. Denn ihr Verlobter hatte ganz gegen feine Gewohnheit 
jeit drei Tagen nicht3 von fich hören laſſen, und fie konnte 
nicht zweifeln, daß ihr diefer Brief Aufflärung bringen würde 
über die Urjache feines Schweigend. Trotzdem ſchien fie nicht 
neugierig und drehte ihn lange unjchlüffig zwiſchen den Fingern, 
ehe fie langjam und fichtlich mit einem gemwiffen inneren Wider- 
jtreben den Umjchlag aufriß. Ein auf allen vier Seiten eng 
beichriebener Briefbogen war e3, den jie entfaltete. Und fchon 
die Anrede, die nicht „AUngebeteter Schag!”" oder „Mein ge- 
liebtes Leben!" — fondern fehr kurz und fühl „Liebe Dolly!” 
lautete, mußte fie auf Unerfreuliches gefaßt machen. 

Aber fie war nicht überrafcht. Gewiſſe Eigentümlichkeiten 
in Erich3 Benehmen hatten fie fchon bei ihrer lebten Zufammen- 
funft vor vier Tagen argwöhnen lafjen, daß er fich mit irgend 
welchen großen Entjchlüffen in Bezug auf ihr Verhältnis trug. 
“Und fie glaubte aud) zu erraten, worin dieje Entjchlüffe, für 
deren Ausreifung es einer jo langen Zeit bedurft hatte, beitehen 
würden. 

Ohne jede Spannung, beinahe gleichgültig, glitten ihre 
Augen über die erjten Zeilen hinweg. Dann aber funfelte e3 
plöglich wie Erjtaunen oder Erjchreden in ihnen auf, und die 
feinen Najenflügel der Sängerin vibrierten in heftiger Erregung, 
während fie ihre Lektüre beendete. 

Das war allerdings etwas ganz anderes, als fie erwartet 
hatte — und fie mußte mehrere Stellen des Briefes zweimal 





Wer wird fiegen? 2667 





leſen, ehe fie wirklich daran glauben Tonnte, daß e3 ihr füg- 
famer Freund, der willenloſe Sklave ihrer zaubermächtigen 
Schönheit war, der jo zu ihr zu reden tagte. 


Denn Erich von Brunned hatte gejchrieben: 


„Liebe Doliy! Sch Habe Dich auffuchen wollen, um mit 
Dir von Angeficht zu Angeficht über dieſe bitter erniten Dinge 
zu reden. Aber an der Thür Deines Haufes bin ich zweimal 
wieder umgekehrt, weil es mir an Mut gebradd. Und viel- 
Yeicht nicht jo jehr an Mut als an Vertrauen in meine Kraft. 
Sch wußte ja, welchen Berlauf alle unjere früheren Unter- 
redungen über den nämlichen Gegenjtand genommen und wie 
wenig ſelbſt meine feſteſten Vorſätze mich davor geſchützt hatten, 
in ſchwächlicher Nachgiebigkeit Deinem Willen zu erliegen. 
Diesmal aber könnte von ſolcher Nachgiebigkeit nicht mehr 
die Rede ſein. Es wäre zu Deinem Verderben wie zu meinem. 
Daß ich ſeit der Erkenntnis der unerbittlichen Notwendigkeit 
noch mehrere Tage habe verſtreichen laſſen, ehe ich ſie Dir 
offenbare, mag Dir ein Beweis dafür ſein, wie reiflich und 
gründlich ich alles erwogen. Ich habe ſchwer gekämpft; aber 
ich habe keinen anderen Ausweg aus dieſer Wirrnis finden 
können als den, Dir Deine Freiheit zurückzugeben und die 
meinige von Dir zu erbitten. Wir ſind in einem Irrtum 
geweſen — beide, Du und ich — und wir müſſen uns aus 
feinen Banden losmachen, ehe fie uns erdroſſeln. Sch ſehe 
den zürnenden Blick Deines Auges, während e3 auf diejen 
Beilen ruht, aber ich kann troßdem nichts zurüdnehmen von 
dem, was ich gejchrieben. Ein verhängnisvoller Jrrtum war 
e3, als ich mich ſtark genug glaubte, zu der Sorge um meine 
eigene Zukunft noch die Verantwortung für ein anderes 
Menfchenlos auf meine Schultern zu nehmen. Und jelbft 
wenn heute nichts anderes zwilchen uns jtände als Dies, 
müßte ich e3 für eine fträfliche Leichtfertigfeit Halten, die 
Dinge in den bisherigen Geleifen weiter gehen zu lafjen. 
Sch bin fein Künſtler — und auch wenn e3 mir gelänge, 
mich noch einmal in die alten Illuſionen einzuwiegen, würde 
dem erneuten Anlauf unfehlbar nur eine neue Enttäufchung 
folgen. Mit meinem vermeintlichen Malerberuf iſt es vor- 


2668 Reinhold Ortmann. 





bei — für immer vorbei. Und die graufame Erfenntnis hat 
mich jo viel von meinem Lebensmut und von meinen Lebens— 
. hoffnungen gefojtet, daß ich an der Möglichkeit verzweifeln 
muß, mir auf den Trümmern meiner zweimal zufammen- 
gebrochenen Erijtenz nun zum dritten Male ein neues Dafein 
aufzubauen. Wohin mein armjeliges Scifflein treiben wird, 
ich weiß es nicht, und ich bin in meiner gegenwärtigen 
Gemütsverfaflung nicht einmal fähig, darüber nachzudenken. 
Wie dürfte ich mich da vermeſſen, noch länger ein anderes 
Schidjal mit dem meinen zu verfnüpfen! Es wäre zugleich 
Thorheit und Verbrechen. Mein Konto aber ift in dieſer 
Hinficht wahrlich ſchon ſchwer genug belaftet, als daß ich die 
Schuldfumme freventlich noch weiter vergrößern follte. 

Vielleicht hätte ich mich damit begnügen follen, Dir Vor— 
ftehendes al3 den einzigen Grund meines Entſchluſſes mitzu- 
teilen. Aber Du haft ein Recht auf die ganze Wahrheit. 
Und e3 foll in diefem entjcheidungsfchweren Augenblid nichts 
Unausgefprochenes zwiſchen ung bleiben. 

Wir müfjen und trennen, Dolly, nicht nur, weilich ein 
trauriger Schwädhling bin, der ſich von den Wellen des Lebens 
haltlos bald hierhin, bald dorthin werfen läßt, fondern aud), 
weil ich e3 längſt verlernt habe, an die Wahrhaftigkeit Deiner 
Liebe zu glauben. Das ift der andere Irrtum, der ung ver- 
hängni3voll geworden ift — und diejer war augfchließlich 
bei Dir. Deine vermeintliche Neigung für mich war von 
allem Anbeginn nicht3 al3 eine Laune und ein Spiel — eben 
gut genug, eine kurze Spanne Deine Daſeins angenehm 
auszufüllen. 

Früher oder ſpäter — deſſen bin ich gewiß — würdeſt Du 
das Gefallen an diefem Spiel verloren und das langweilig ge- 
wordene Spielzeug für immer beijeite geworfen haben, un⸗ 
-befümmert darum, wieviel Du an ihm zerbrochen und zerftört 
hatteſt. Könnteſt Du mir zürnen, wenn ich mir in all dem un- 
aufhörlichen Kämpfen und Unterliegen doc) noch einen winzigen 
Reit von Selbitahhtung bewahrt hätte, der mir verbietet, ge- 
duldig diefen Augenblid des Ueberdruſſes abzumwarten, und der 
mich bejtimmt, mit feſtem Entſchluß — wenn auch vielleicht mit 
bintendem Herzen — ein Band zu löſen, in deſſen Bejtändig- 


Wer wird ftegen? 2669 





keit ich fein Vertrauen mehr zu ſetzen vermag? Du wirft mir 
die Anerkennung nicht verjagen können, daß ich ein gläubiger 
und fügſamer Liebhaber geweſen bin, der ſich demütig von 
Deinen wechlelnden Launen quälen ließ, jelbjt wenn e3 nur auf 
Koiten feiner Manneswürde gejchehen fonnte. Sch habe Dir 
rüdhaltlos mein ganzes vergangenes Leben offenbart und habe 
mich nicht dagegen aufgelehnt, ala Du mir verboteft, dem _ 
Deinigen nachzuforschen. Sch habe den quälenden Zweifeln 
Schweigen geboten, die Deine Zurüdhaltung immer auf3 neue 
in mir wachrufen mußten, und ich habe wie ein Bettler von 
den Brojamen der Zärtlichfeit gelebt, die Du mir hier und da 
gnädig zu teil werden ließeſt, wenn Dein Wanfelmut, Deine 
Kälte, Deine oft geradezu empörende Gleichgültigkeit mich bis 
an den Rand der Verzweiflung gebracht hatten. Ich Habe 
meine beiten Kräfte vergeudet in diefem graufamen Spiel, und 
ich Habe darüber fchließlich den Boden unter den Füßen ver- 
loren. Nun aber iſt's an der Beit, eine Ende zu machen, es 
koſte mich, was es wolle. Sch gebe Dir Dein Wort zurüd, 
und ich fordere von Dir ein Gleiches. Wir wollen verfuchen, 
das Erlebnis diejes halben Sahres für einen aufregenden Traum 
zu halten, der beglücdend und verheißungsvoll begonnen, um 
mit dem wehmütigen Ausklang der Entjagung zu enden. Ohne 
Groll und Bitterfeit wollen wir jcheiden, nachdem wir erfannt 
haben, daß es uns durch äußerliche wie durch innere Gründe 
verjagt ift, einander glücklich zu machen. Um Deine Zukunft 
it mir nicht bang, denn Du befiteft ja das Zaubermittel, Dir 
die Herzen der Männer unterthan zu machen, wo immer e3 
Dir gefällt. Und Du wirft Dich feiner bald genug von neuem 
bedienen, dejjen bin ich gewiß. Mögen denn Glück und Er- 
folg Deine treuen Gefährten bleiben bis an das Ende Deines 
Lebens. Uud möge feine läftige Erinnerung Dir je die Freude 
am Genuß des Augenblid3 vergällen. Das ift der Wunfch, 
mit dem ich mein leßtes Lebewohl begleite — ein Lebewohl 
auf immer. 

Willit Du mir antworten, fo mag e3 auf demjelben Wege 
gejchehen, den ich für dieje Erklärung gewählt habe. Denn 
ein nochmaliges Wiederjehen wäre wohl nur eine nubloje 
Dual für ung beide. Aber auch Dein Schweigen würde eine 


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2670 Reinhold Ortmann. 





Antwort ſein, die ich zu deuten und mit der ich mich zu 
beſcheiden weiß. 


Dein unglücklicher Freund Erich von Brunneck.“ 


Der letzte Teil des Briefes war ſo unleſerlich geſchrieben, 
daß Dolly Mühe gehabt hatte, ihn zu entziffern. Nun warf 
ſie mit einem kurzen Auflachen, das ſicherlich nicht der Ausdruck 
einer heiteren Gemütsſtimmung war, das Blatt zu Boden und 
durchmaß ein paarmal mit raſchen Schritten das Zimmer. 
Das wechſelnde Mienenſpiel ihres Antlitzes verriet, wie ſtürmiſch 
hinter der weißen Stirn die Gedanken arbeiteten, und wie 
ſchwer es ihr fiel, zu einem beſtimmten Entſchluß zu gelangen. 

Da fiel im Vorübergehen ihr Blick auf den zweiten Brief, 
deſſen Daſein ihr in der Aufregung über Erichs unerwartete 
Abſage ganz aus dem Gedächtnis entſchwunden war. Und 
jetzt zögerte ſie nicht mehr, auch ihn zu erbrechen. Die Mit- 
teilung, die er enthielt, war im Gegenſatz zu jener langen 
Herzensergießung ſehr kurz. Sie war in franzöſiſcher Sprache 
abgefaßt und lautete: 


„Ich rufe Dich heute zum letztenmal. Biſt Du binnen 
einer Woche nicht hier bei mir in Zürich, ſo werde ich 
kommen, Dich zu holen. Und verſuche nicht, mir zu ent— 
ſchlüpfen. Wo immer Du Dich verbergen könnteſt, ich werde 
Dich zu finden wiſſen. Und diesmal, das ſchwöre ich Dir, 
würdeſt Du umſonſt alle Deine Künſte verſchwenden, mich 
zu hintergehen.“ 


Der Brief zeigte weder eine Anrede noch eine Unterſchrift: 
aber Dolly wußte gut genug, von wen er kam. Und ſie wußte 
auch, daß der, der ihn gefchrieben, jehr wohl der Mann war, 
feine Drohung zur Ausführung zu bringen. Wenn fie big 
dahin noch im Zweifel geweſen war, wie fie ſich der Erklärung 
Erich3 gegenüber zu verhalten habe, jo hatte der Lafonifche 
Befehl, den ihr in demfelben Augenblick jener andere zufommen 
ließ, mit einem Schlage ihrer Ungemwißheit ein Ende bereitet. 

Sie ftellte ihre nervöje Wanderung durch das Zimmer ein, 
riß beide Briefe in Stüde und zündete die in den Ofen ge- 
worfenen Feen mit einem Streichholz an, das Zerſtörungswerk 





Wer wird fiegen? 2671 
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der züngelnden Flamme mit den Augen verfolgend, bis nur 
noch ein winziges Häuflein ſchwarzer, kniſternder Aſche übrig 
geblieben war. 

Dann aber ging ſie in ihr anſtoßendes Schlafgemach und 
kleidete ſich um, langſam und ſorgfältig, wie wenn es ihr heute 
mehr denn je darauf anfäme, jchön zu fein. Wohl war es 
nur ein einfaches Promenadenkoſtüm, das fie gewählt hatte; 
aber das nad) engliſchem Schnitt gefertigte leid ſaß wie an- 
gegoffen auf ihrem herrlich gebildeten Körper. Und als fie 
nach Verlauf einer halben Stunde noch einmal vor den hohen 
Toilettenfpiegel trat, um fich prüfenden Blides vom Kopf bis 
zu den Füßen zu betrachten, durfte fie wahrlich vollfommen 
zufrieden fein mit dem entzüdenden Bilde, das ihr die kryſtallene 
Fläche zurücdwarf. Die heftige Gemütsbewegung hatte feine 
entjteliende Spur in ihrem Antliß zurüdgelaffen, und das fieges- 
gewiſſe Aufleuchten in ihren wundervollen Nirenaugen jchien 
zu jagen: | 

Jun wollen wir jehen, ob ich wirklich noch dag Bauber- 
mittel befiße, mir die Herzen der Männer unterthan zu machen, 
wann e3 mir gefällt. 


Neunzehntes Kapitel. 


Beim erjten Morgengrauen hatte Erich von Brunned 
feinen zehnmal begonnenen und ebenſo oft wieder zerriffenen 
Brief an Dolly beendet. Und auf der Stelle war er hinunter 
gegangen, ihn in den Kaften zu werfen, als fürchte er, der 
ſchwer erfämpfte Entjchluß könnte ihn wieder gereuen, wenn 
er bis zum Anbruch de3 Tages mit jeiner Ausführung warte. 

Nun war e3 gefchehen. Und feine erite Empfindung, als 
das inhaltsjchwere Billet feinen Fingern entglitten war, glich 
faft einem Gefühl freudiger Erleichterung, als jei ihm eine 
ihwere Sorge vom Herzen genommen worden. Aber diefe 
Regung ging ſchnell vorüber, und an ihre Stelle trat eine 
dumpfe Gleichgültigfeit gegen alles, was nun noch weiter er- 
folgen konnte. Es war jo wenig Furcht als Genugthuung, 
was nach diefem entjcheidenden Schritt in feiner Seele zurüd- 
geblieben war. ine öde, trojtlofe Leere war in ihm wie um 


2672 - Reinhold Ortmann. 





ihn her. Das fahle Grau des langjam heraufziehenden Winter- 
morgens war ein getreues Abbild der Stimmung, die ihn be- 
herrſchte. 

| In jeine Wohnung mochte er nicht zurückkehren, denn er 
wußte, daß er nun doch feinen Schlummer mehr finden würde. 
Und was hätte er ſonſt da oben in feinem Atelier beginnen 
jollen, jest, wo er auf Grund eigener Entichließung aufgehört 
hatte, ein Maler zu fein, und wo er das Handwerkszeug der 
Kunſt, in der er nach feiner Ueberzeugung zeitlebens nur ein 
elender Stümper geblieben wäre, nicht ohne ein Gefühl der 
Beihämung und des Widerwillens anjehen Fonnte! 

Ohne die empfindliche, ja ſchneidende Morgenfälte zu jpüren, 
ging er aufs Geratewohl durch die Straßen, in denen fich all- 
gemach die Neußerungen neu erwachenden großftädtilchen Lebens 
bemerflich machten. Und da er in feiner gegenwärtigen Gemüts— 
verfaffung nicht Energie genug hatte, fich an irgend einem tröft- 
fihen Vorja für die Zukunft aufzurichten, bejchäftigten feine 
Gedanken ſich ausschließlich mit der Vergangenheit — mit diejer 
Vergangenheit, die in Wahrheit jeßt hinter ihm zu liegen jchien 
wie ein, wüfter, noch in der Erinnerung peinigender und be- 
drüdender Traum. | 

Denn er hätte fie faſt an den Fingern herzählen fünnen, 
die Stunden reinen, ungetrübten Glüdes, die er jeinem Verlöbnig 
mit Dolly zu danken gehabt. Und fie waren vorüber gegangen 
wie eine Fata Morgana, ohne eine Spur zu binterlafjen; 
während fich feiner Seele unauslöjchlich dag Gedächtnis ein- 
geprägt hatte an alle die zahllofen Dualen und Bitternife, 
deren Urjache jeine Leidenjchaft für die fchöne Kofette ge- 
weien ar. 

Uber e3 war, als hätten dieſe Erinnerungen jebt ihren 
Stachel für ihn verloren. Obwohl der Brief, der feine Sflaven- 
fetten zerbrechen jollte, noch nicht einmal in Dollyg Händen 
war, jchien ihm doc die Zeit feiner Knechtſchaft ſchon meit, 
weit zurüd zu liegen. Und er betrachtete da3 lange Martyrium 
dieſes Verlöbnifjes jo fühl und nüchtern, als wäre er durch 
ein halbes Menjchenleben von ihm getrennt. 

Durfte er denn in Wahrheit Dolly allein verantwortlich 
machen für alles, was er mährend dieſer legten Monate ge- 


Wer wird ftegen? 2673 





litten? Lag nicht ein großer, vielleicht jogar der größere Teil 
der Schuld auch bei ihm? Und Hatte er ein Recht gehabt, die 
Wahrhaftigkeit ihrer Liebe anzuzweifeln, ihr Launenhaftigfeit 
und Wankelmut zum Borwurf zu machen, während fein Ge— 
willen ihn nicht freifprechen fonnte von der Anklage, ihr in feinen 
geheimjten Gedanken mehr als einmaldieTreuegebrochen zuhaben ? 

Denn ihre Macht über ihn war nur dann eine völlig 
ſchrankenloſe geweſen — da3 heiße Begehren nad) ihrem Beſitz 
hatte mit elementarer Gewalt nur dann Beli von ihm ergriffen, 
wenn fie förperlich) und lebendig vor ihm ſtand, wenn ihre 
Schönheit ihn trunfen machte, wenn ihr lockendes Nirenlachen 
und der Sirenenflang ihrer Stimme feine Sinne verwirrte. 

Dann freilich hatte e3 für ihn auf der ganzen weiten 
Welt nicht3 anderes gegeben als fie, Teine Seligfeit al3 die 
Geligfeit in ihren Armen — und fein Unglüd als das Unglüd, 
‚fie zu verlieren. | 

Uber es war jedesmal nur ein Rauſch gewejen. Und 
jedesmal war ihm die Ernüchterung gefolgt, wenn der Reiz, 
der ihn hervorgerufen, nicht mehr auf Erich wirkte. Er hatte 
ih manchmal geradezu vor dem Alleinjein gefürchtet, weil er 
wußte, daß ſich in jolchen Stunden immer wieder ein anderes 
Bild vor das Bild der Geliebten drängte, und daß zu allen 
anderen Kämpfen und Wirrnilfen feiner vergebens nach) Ruhe 
ringenden Seele fich auch noch diefer quälende Zwieſpalt gefellte, 
der ihn an feiner eigenen Redlichkeit und Ehrenhaftigfeit zweifeln 
machte. | | 

Mit Feiner noch fo energifchen Anjtrengung des Willens 
hatte er die ftändige Erinnerung an feine Coufine Magda aus 
feinem Herzen bannen können. Und feine fophijtiich erflügelte 
Rechtfertigung feines Verhaltens gegen fie hatte der Gemwißheit, 
daß fie ihn verachtete, ihren bohrenden Stachel genommen. 

Smmer reiner, immer verflärter hatte fich die Borjtellung 
bon ihrer Perjönlichkeit und ihrem Wefen in jeiner Einbildung 
gejtaltet. Er hatte fie feit jenem Bejuche in feinem Atelier 
nicht wiedergejehen; aber e3 verging troßdem fein Tag und feine 
Stunde, wo fie nicht greifbar deutlich vor ihm geftanden hätte, 
ganz jo, wie fie an dem unglüdjeligen Morgen zum letztenmal 
feinem leiblichen Auge erjchienen war. 

Ju. Haus-Bibl. II, Band XII. 168 


2674 Reinhold Ortmann. 





Und er hatte jich nicht damit begnügt, nur an Ste zu denfen, 
ondern er hatte zweimal den Verſuch gemacht, wieder eine Brüde 
zu jchlagen über die Kluft, die fie von ihm trennte. 

Aus ihrem durd) einen bloßen Zufall verjpätet eingetroffenen 
Briefe, der ihm damals ihren Bejuch Hatte ankündigen jollen, 
wußte er ja, wo fie fich befand. Mit einem gewiſſen freudigen 
Stolz hatte fie ihm in jenem Schreiben mitgeteilt, daß es ihr 
endlich gelungen jei, da3 Widerjtreben ihres Vormundes gegen 
ihre Zufunftspläne zu bejiegen und jeine Einwilligung in eine 
Wiederaufnahme ihrer unterbrochenen Studien zu erlangen. Es 
ſei ihre Abficht, zunächft die noc) vorhandenen Lüden in ihren 
Borkenntniffen auszufüllen und dann eine Schweizer Univerfität 
zu beziehen, um fich durch ernites Fachſtudium für irgend einen 
Lebensberuf tüchtig zu machen. Da fie fich doch niemals ent- 
Ichließen würde, auf dem Lande zu leben, und da aud die 
wirtichaftlichen VBerhältnifie auf dem von ihrem Vater ererbten 
Gute nicht die beiten feien, Habe Herr von Rocholl ihrer Bitte 
zugeltimmt, Oeſterhof für fie zu verfaufen, und fie werde alfo 
in der Wahl ihrer Vebensaufgabe wie ihres fünftigen Aufenthalts 
nicht mehr wie bisher durch die läftige Rückſicht auf dies Be— 
figtum, das doch nur noch Schmerzliche Erinnerungen in ihr 
hätte wachrufen fünnen, behindert fein. In Berlin, wohin fie 
in Begleitung einer älteren Verwandten des Rochollichen Hauſes 
fäme, wolle fie zunächft in einem ihr empfohlenen Benfionat 
Wohnung nehmen, um jich dann ein pafjendes Unterfommen 
in einer anjtändigen Familie zu fuchen. Sie freue jich herzlich 
auf das Wiederjehen, hatte fie dieſen in ihrer gewohnten klaren 
und phrajenlojen Weile gemachten Mitteilungen hinzugefügt, 
und Sie hoffe, daß fie einander in ihren Arbeiten gegenjeitig 
würden nüßlich und fürderlich fein können. 

Shre Freude wie ihre Hoffnungen waren durch das, mas 
jie bei ihrem Beſuche hatte wahrnehmen und erleben müfjen, 
nun freilich gründlich zerjtört worden. Und Eric) Fannte ihren 
Charakter gut genug, um zu willen, wie gering feine Ausficht 
lei, fie zu verjöhnen. Aber er konnte die Vorjtellung nicht er- 
tragen, daß Ste ihn für fchlechter und ehrlojer Hielte, als er’s 
verdiente, und darım hatte er den Verſuch einer brieflichen 
Aufklärung gemacht, die nach Möglichkeit auch feine Rechtfertigung 


Wer wird fiegen? | 2675 





- fein ſollte. Er hatte fie zugleich) um eine perjönliche Unter- 
redung gebeten und um die Erlaubnis, fie mit feiner Braut 
näher befannt zu machen. Aber Magdas Antwort hatte ihm 
eine bittere Enttäufchung bereitet, denn fie war eine Ablehnung 
gewejen in fühljter und bejtimmtelter Form. Er habe nicht 
nötig, ſchrieb fie, fich ihr gegenüber zu verteidigen oder ihr 
über fein Thun und Laſſen Rechenſchaft abzulegen; zur An- 
fnüpfung neuer Belanntichaften aber fehle es ihr an Zeit wie 
an Neigung, da fie ſich während ihres Berliner Aufenthalts 
angejtrengter Arbeit zu widmen gedenfe. 


Seine Bitte um eine Zufammentunft hatte fie überhaupt 
feiner Erwiderung gewürdigt. Und wenn Eric) jich bis dahin 
noch irgendwelche SUufionen Hinfichtlid). einer Ausſöhnung 
- gemacht hatte, jo mußten fie durch den Inhalt und die Faſſung 
dieſes Schreibens auf das unbarmherzigſte zerjtört werden. 

Anfangs Hatte er denn auch in einer Aufwallung zornigen 
Trotzes gemeint, e3 möge aljo in Gottesnamen alles zu Ende 
fein zwijchen ihnen. Uber fein Troß hatte ihn nicht lange zu 
wappnen vermocht gegen die nagenden Vorwürfe ſeines Gewiſſens 
und gegen eine ſehnſüchtige Stimme in ſeinem Herzen, die 
immer wieder nach einer Annäherung verlangte. 


Ohne Vorwiſſen Dollys, der er auch von dem Brief⸗ 
wechſel kein Wort verraten, hatte er ſich einige Wochen ſpäter 
in jenem Penſionat nach dem Verbleib ſeiner Couſine erkundigt. 
Und dann war er viele Tage lang in den Abendſtunden, wenn, 
wie er meinte, ſein häufiges Erſcheinen keine Aufmerkſamkeit 
erregen konnte, durch die ihm bezeichnete Straße gewandert, 
immer in der Hoffnung, daß ein glüdlicher Zufall Magda in 
jeinen Weg führen würde. 

Aber der Zufall war ihm nicht zu Hilfe gefommen, und 
er Hatte fie nicht gejehen. Da, an einem Tage, der ganz 
erfüllt gemwejen war von quälenden Herzensfämpfen und von 
bitteren Zweifeln an der HBulänglichfeit feiner Fünftlerifchen 
Talente, hatte er in untwiderftehlichem Verlangen nach) einer 
mitfühlenden Menjchenfeele, der er ich ganz hingeben und 
vertrauen dürfe, alle jeine bisherige Scheu von fich geworfen 
und war ungeftüm pochenden Herzens in jenes dritte Stockwerk 

168* 


, Ti gruen — Tg" - 4 * 
7 


2676 Reinhold Ortmann. 





emporgeſtiegen, wo nach den ihm gewordenen Mitteilungen 
Magda wohnen ſollte. 

Man hatte ihm geſagt, daß er recht berichtet ſei, und auch, 
daß er ſie anweſend fände. Aber das Dienſtmädchen, dem er 
ſeine Karte übergeben hatte, war nach Verlauf einiger banger 
Minuten mit dem Beſcheide zurückgekehrt, Fräulein von Brunneck 
müſſe bedauern, keinen Herrenbeſuch empfangen zu können und 
laſſe, falls es ſich um etwas ſehr Wichtiges handeln ſollte, um 
eine ſchriftliche Mitteilung bitten. | 

Wie ein abgewiejener Bettler war er von dannen gegangen, 
und ſeit jenem Tage hatte er feinen Verſuch mehr gemacht, 
Magda zu verjühnen. 

Aber die Sehnfucht nad) ihr war nicht auß feinem Herzen 
gewichen. Sie hatte alle Eraltationen jeiner Leidenjchaft für 
Dolly überdauert, und fie war niemals ftärfer geweſen ald an 
diefem grauen Morgen, der ihm den jo wenig hoffnungsfreudigen 
Beginn eines neuen Lebens bedeuten jollte. — 

Ohne zu wiljen, auf welchem Wege er dahin gelangt war, 
ah fid) Erih in der Straße Unter den Linden und vor. den 
großen Spiegeljcheiben eines vornehmen Kaffeehauſes, deſſen Pforten 
für die einer Erfriſchung bedürftige „Lebewelt“ die ganze Nacht 
hindurch geöffnet waren. Er erinnerte ſich, daß er jeit geſtern 
Mittag nichts genojjen habe, und trat ein, um an einem der 
Marmortifchen in möglichit weiter Entfernung von der Straße 
Platz zu nehmen. | 

Tas Frühſtück, das ihm ein übernächtig.ausfehender Kellner 
brachte, rührte er allerding8 auch jet nicht an, wohl aber griff 
er mechaniſch nad) einem der Blätter, Die der dienjteifrige 
Beitungsgroom neben ihn auf den Stuhl gelegt hatte. 

Es waren die „Hamburger Nachrichten”, und fein Blid 
fiel zuerft auf eine der mit zahllojen Anzeigen bedruckten Inſeraten— 
jeiten. Gleichgültig, ohne zu wiljen, was er las, ließ Erich Die 
Augen über da3 krauſe Durcheinander von Ankündigungen und 
Geſuchen dahingleiten, bis fie an einer Annonce haften blieben, 
die ihn um ihrer eigentümlichen Faſſung willen für einen Moment 
interejlierte. Denn jie lautete: 

„Geſucht werden tüchtige und arbeitöwillige Hilfskräfte, 
möglichjt mit Kenntniffen und Erfahrungen im Ingenieurfach, 


Wer wird fiegen? 2677 








für ein neues induftrielle8 Unternehmen, deſſen Lage zur Zeit 
die Zahlung größerer Gehälter noch nicht geitattet. Für ftellen- 
loje Ingenieure, ehemalige Genieoffiziere uſw. bietet jich in— 
dejjen hier die Möglichkeit, Durch Fleiß und rüdhaltlofe Hin— 
gabe an eine ohne Zweifel ausfichtöreiche Echöpfung nach und 
nad) eine günjtige und geachtete Lebensſtellung zu erringen. 
Nur Reflektanten, die fich die dazu erforderliche Ausdauer zu= 
trauen und die bereit ſind, ihre Anjprüche für den Anfang auf 
da8 beicheidenjte Maß herabzujegen, wollen jich unter genauer 
Angabe ihrer perjönlichen Verhältniffe und ihrer bisherigen 
Zhätigfeit melden bei Asmus Chriftenjen, Hamburg, Rödings- 
markt 67.” 

Da hätten wir ja vielleicht etwas für mich! dachte Erid) 
in bitterer Selbitironie. Der Mann, der feine Zeute mit ſchönen 
Ausſichten auf eine nebelhafte Zukunft zu bezahlert gedenft, ſpeku— 
fiert ja ganz unverkennbar auf jchiffbrüchige Exiftenzen meines 
Sclaged. Und für das zweifelhafte induftrielle Unternehmen des 
Herrn Asmus Chriftenjen würden meine Fähigkeiten am Ende 
noch außreichen. — 

„St 8 möglich? — Täuſchen mid) meine Augen nicht? Sie 
find’8, Brunneck? Und Sie ftudieren den Stellenanzeiger wie ein 
brodlojer Commis?“ Ä | 

Erid war beim Klang der unangenehm jcharfen und 
Ichnarrenden Männerjtimme betroffen zufammengefahren, und etwas 
von dem Unbehagen, das ihm dieje Ueberrajchung bereitete, malte 
fih ziemlich deutlih auf feinem Geſicht, aß er den Gruß 
zurücgab: 

„Guten Morgen, Herr von Gerftein! Sa, ich bin's wirklich 
— und ih fam in der That zu feinem andern Zweck in das 
Kaffeehaus, al3 um in den Beitungen nach einer paflenden Stel- 
lung zu ſuchen.“ 

„Ad, Spaß!” lachte der andere. „Ein Mann wie Cie! — 
Aber Sie erlauben doch, daß ic) mic) zu Ahnen jeße. Kellner, 
einen Schwarzen! — War eine jcharfe Sigung heute Nacht, und 
ohne jo einen Heinen Beitjchenhieb wollen die verflirten Nerven 
ihre Schuldigfeit nicht mehr recht thun.“ - 

Erich jah den ehemaligen Slameraden jeit der Nacht, die ihn 
nad Magdas Willen jeinen Offiziersrock gefojtet hatte, heute 


2678 Reinhold Ortmann. 





zum -erjtenmal wieder. Und die Antipathie, mit der er fich feiner 
erinnert hatte, fonnte faum verringert werden durch die Ver— 
änderung, die mit dem früheren Offizier inzwiſchen vorgegangen 
war. Sein Gejicht war noch hagerer und jchlaffer, feine Züge 
noch ſchärfer geworden, und die unruhigen, ſtechenden Augen 
lagen tief in den dunkel umrandeten Höhlen. Dieſer mit ſtutzer— 
bafter Eleganz gekleidete Mann, in defjen Kravatte und an deſſen 
feinem Finger rviefige Brillanten funfelten, war nur noch eine 
traurige Menjchenruine, und man mochte e8 ihm ohne weiteres 
glauben, wenn er darüber Hagte, daß jeine Nerven ihre Schuldig- 
keit nicht mehr thun wollten. 

Er go ſich ein Gläschen feinften Cognaks in jeinen Kaffee 
und jtürzte haftig daS dampfend heiße Getränk hinunter. Dann, 
nachdem er ſich eine friſche Cigarette angezimdet hatte, wendete 
er fich wieder an Eric), der bis dahin fein Bedürfnis gefühlt 
hatte, das Geſpräch fortzujeßen. 

„Sie find nur borübergehend i in Berlin, nicht wahr? Wollen 
jih in unjerer Reſidenz ein bißchen von der Langeweile des 
Zandlebens erholen? Denn Sie haben doch wohl nach Ihres 
Herrn Onkels Tode feine Befißung übernommen? Hätten ja jonjt 
nicht die geringjte Veranlajjung gehabt, bunten Rod auszuziehen.“ 

„Doch — ich hatte eine andere Veranlaſſung dazu, Herr 
von Gerſtein! Und ich habe meines Oheims Beſitzung nicht über- 
nonmen, jondern ich lebe feit meiner Verabſchiedung dauernd in 
Berlin.“ 

„Bon Shren Nenten — wie? Beneidendwerte Situation 
für einen jo jungen Mann! Wundere mich nur, daß wir ung 
noch nirgends begegnet ind. Iſt doch am Ende gar wi jo 
groß, die Welt, in der man fich nicht langweilt.“ 

„Nein, aber ſie ift nicht die mieinige. Denn ic) befinde mid) 
feinesweg3 in der angenehmen Lage, von meinen Renten zu leben, 
ſondern muß jehr ernftlich darauf bedacht jein, mir durch Arbeit 
meinen Lebensunterhalt zu verdienen.“ 

Herr von Gerjtein machte ein erjtauntes Geſicht. 

„21H, es wäre alſo Ernit gewejen, was Sie da von Be— 
ichäftigungfuchen oder jo 'was jagten? Sie wollen jich in Joch 
ſpannen laſſen? Bielleicht gar von irgend einem jchmußigen 
Plebejer?“ 


Wer wird fiegen? 2679 





„sch hoffe, mir in jeder Thätigfeit meine Manneswürde 
zu erhalten, Herr von Gerſtein!“ 

Der Andere überhörte die nachdrückliche Betonung dieſer Worte. 
| „Pah, das find jchöne Illuſionen, mein Lieber! Nach meiner 
‚Erfahrung giebt es gar feine unglüdlichere Kreatur als einen 
verabichiedeten Offizier, der ums tägliche Brot arbeiten muß. Und 
- wenn ich Ihnen einen freundjchaftlichen Nat geben darf, ift es 
der, ſich auf Derartige aofnuungeioie Verſuche gar nicht erft 
einzulafjen.“ 

„Und wovon, wenn ich fein Vermögen bejige, jollte ich 
Ihrer Meinung nach mein Leben friften?“ | 

Mit einem unangenehmen Auflachen lehnte ſich Gerſtein in 
feinen Stuhl zurüd und betrachtete den ehemaligen Regiments— 
fameraden mit jcharfem, lauerndem Blick. 

„Das it allerdings eine Gewiſſensfrage, verehrter junger 
Freund! Aber ich denfe, bei einigem Scharffinn könnte e8 Ihnen 
gar nicht jo ſchwer fallen, ſelbſt die richtige Anttvort zu finden. 
Sie brauchen doc nur die Augen aufzumachen und fi ein 
bischen umzujehen. Wovon mögen wohl zum Beilpiel die beiden 
gejchniegelten Jünglinge da drüben ihr Dafein früten? Sieht 
man ihnen nicht den Börfenjobber auf hundert Schritte an? Und 
läßt nicht ihr ausgezeichneter Ernährungszuftand darauf schließen, 
daß fie ſich in Diefem mühelojen Berufe jehr wohl befinden? 
Eh bien, weshalb ſoll man fi nicht ein Beilpiel an ihnen 

nehmen?“ 
| „Für Börjengeichäfte fehlt es mir leider ebenfo jehr an den 
nötigen Vorkenntniſſen als an jeglichem Talent.“ 

Herr von Gerſtein lachte wieder. 

„Würden auch nicht weit Damit fommen gegen die Konkurrenz 
bon dem Schlage da. — Aber Sie ind gar nicht jo naiv, mein 
lieber Brunned, wie Sie fich jebt jtellen. Wifjen recht gut, was 
ich meine. — Jeder nad) jeiner Erziehung und feinen Lebens— 
gervohnheiten. Was für jene da die Börſe ijt, it für ung der 
Rennplab und der grüne Tiih. Der eine Erwerb ilt jo legitim 
wie der andere, denn Jeu it Jeu, ob man’3 num Differenzgejchäft 
. nennen mag oder Baccarat. Habe ich nicht recht?“ 

„Aber man kann doch nicht von Spiel leben — kann doc 
unmöglich jeine ganze Eriftenz darauf aufbauen.“ 


2680 Reinhold Ortmann. 


nn 





„Und warum nicht? Sit nicht ſchließlich jeder, der nicht wie 
der Saul am Karren durch Leben geht, den Wechjelfällen des 
Glücks unterworfen? Heute auf, morgen nieder — ein geichidter 
Menſch fällt zulet doch immer auf die Füße. Und ich fenne 
viele Berufsarten, die gefährlicher find al3 der Beruf eines Spielers 
Noch einmal — wenn ich Ihnen als Freund und alter Kamerad 
raten jo, fo kümmern Sie fi) den Teufel um die Annoncen da 
und fallen die Sachen lieber von der philofophilchen al3 von der 
moraliſchen Seite an! ch erkläre mich gern bereit, Sie für den 
Anfang unter meine jchübenden Sittiche zu nehmen, und wenn 
Sie wollen, machen wir biß auf mweitered gemeinjchaftliche Sache. 
Sie haben doch au ihrer Leutnantszeit und von Ihren fonftigen 
geiellichaftlichen Verbindungen her hier gewiß viele Belfannte, 
die Sie in unjeren Kleinen @irfel einführen können. Dafür, 
daß fie ihn etwas erleichtert verlaffen werden, will ich dann 
ſchan jorgen.“ 

Die Nöte der Scham und der Entrüftung brannte auf 
Erichs Wangen. - 

„Das heißt, ich jollte Shnen als Schlepper dienen, Herr 
von Gerjtein?“ 

Der andere aber gab dem Unwillen, der in Diejer Frage 
zitterte, eine falſche Deutung. 

„Dit, mein Beiter! Dergleichen denft man ı vielleicht, aber 
man Ipricht ed nicht aus. Wir find doch Feine Bauernfänger, 
jondern ehrliche Leute. Und es ift feine Gefahr bei der Sache, 
dafür jtehe ich Ihnen ein.“ 

Unfähig, ſich länger zu beherrichen, hatte Erich fich erhoben. 

„Trotzdem haben Sie ſich mit Ihrem freundjchaftlichen Vor— 
ihlag an den Unrechten gewendet. Ich jollte mich durch Ihre 
abjcheuliche Zumutung beleidigt fühlen; denn ich habe Ihnen 
niemals ein Recht gegeben, mich in dieſem Sinne für Ihres— 
gleihen zu halten. Aber Sie werden die Gründe verjiehen, aus 
denen ich auf jede Genugthuung oder jede weitere Erörterung 
verzichte.“ 

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er davon, während 
Herr von Gerſtein ihm erſt verblüfft nachſchaute, um dann mit 
zitternder Hand fein Cognakgläschen aus der geſchliffenen Glas— 
karaffe noch einmal zu füllen. 


Wer wird fiegen? 2681 





Beſchämt und erniedrigt durch das, was er joeben hatte über 
fih ergehen laſſen müfjen, jchritt Erich in finfterjter Yaune dent 
Brandenburger Thor zu, um auf den verichneiten Wegen des 
Tiergartens die Einſamkeit zu juchen, nad) der es ihn verlangte. 
Bald genug war es denn auch ganz jtill um ihn her. Aber als 
er in eine der Alleen einbog, die nad) den „Zelten“ führen, 
Ihlug eine mwehleidige, weibliche Stimme an fein Ohr: 

„Ah, Lieber Herr, haben Sie Mitleid mit mir! Ich bin 
jo ſchwach, daß ich mich faum noch auf den Füßen Halte.“ 

Er blidte zur Seite und gewahrte, auf eine Bank gefauert, 
die Geſtalt einer dürftig gekleideten, ältlihen Frau, die ihm ihre 
zitternde, runzlige Hand entgegenjtredte und aus entzündeten, 
glanzlofen Augen flehend zu ihm auflah. 

Er griff in die Tajche, um nach einer kleinen Münze zu 
Juden. Da er aber nur größere Goldftüce zwijchen den Fingern 
fühlte, jeßte er feinen Weg fort, ohne der Bettlerin ein Almofen 
gegeben zu haben. Ein paar unverftändliche Worte und einige 
unarfifulierte Laute Eangen hinter ihm drein — jeltiame, be- 
ängftigende Laute, die ihn unter anderen Umjtänden gewiß ver- 
anlaßt haben würden, den Kopf zu wenden. 

Sn dieſem Augenblick aber hörte er fie nicht, wollte er fie 
nicht hören. Ein ſchiffbrüchiges Menfchendafein mehr — mas 
weiter! Dieje Alte, die all ihren Sammer vergefjen haben würde, 
jobald die Großmut eines Vorübergehenden fte in den Stand ge- 
fett hätte, jich für einen Grojchen Branntwein zu kaufen, fie war 
vielleicht jogar noch beffer daran al3 er, für den es fein Mittel 
gab, die quälenden Vorwürfe ſeines Gewifjens zu betäuben. Auch 
ſie hatte ſich ihr Schickſal wahricheinlich jelbjt bereitet; mochte fie 
denn damit fertig werden, jo gut ſie fonnte, — ganz jo, wie er 
ohne eine8 Menschen Beiltand mit dem jeinigen würde fertig 
werden müſſen! — 

Aber das jonderbare, verzweifelte Stöhnen der Bettlerin, 
das er geflifjentlich hatte überhören twollen — er hatte es nod) 
immer im Ohr, auch als er längft in einen der Nebenwege ein— 
gebogen und um viele hundert Schritte von der Bank des alten 
MWeibes entfernt war. Es verfolgte ihn unabläſſig, wie energijch 
er auch bemüht war, an etwas anderes zu denken. Und es ließ 
ihm feine Ruhe, bis er nach Verlauf einer Vierteljtunde, wie von 


2682 Reinhold Ortmann. . 





einer unmiderjtehlichen Macht dazu gezwungen, halb gegen jeinen 
Willen umfehrte und die Allee wieder aufjuchte, in der er ſo— 
eben die erſte wirklich hartherzige Handlung jeined Lebens be= 
gangen. | | 

Aus eigener Entfernung jchon nahm er wahr, daß die Frau 
nicht mehr allein war. Eine andere weibliche ©ejtalt ſtand neben 
der. Bank, halb über die Sitzende herabgeneigt und anjcheinend 
mit ihr beichäftigt. Auch al3 er jchon ganz nahe gefommen war, 
fonnte er ihrer gebeugten Haltung wegen das Geficht der Dame 
nicht erfennen. Er jah nur, daß fie von ſchlanker, jugendlicher 
Figur und ganz in Schwarz gekleidet war wie eine Trauernde. 
Aber er ſchämte jich im innerjten Herzen feiner vorigen Teil- 
nahmloſigkeit und bejchleunigte die Schritte, um mwenigitens jeßt 
jeinen Beiftand anzubieten, fofern man von demſelben noch Ge— 
brauch machen fünnte. 

„Verzeihen Sie, mein Fräulein — aber wenn ich hier von 
irgend welchem Nutzen ſein kann —“ 

Das Wort erſtarrte ihm im Munde, als die Angeredete 
ſich nach ihm umwandte, um kühl und befehlend, ohne jeden 
Anflug von Ueberraſchung zu erwidern: 

„Ja — du kannſt dich nach einem Schutzmann umſehen, 
der ſich dieſer Unglücklichen annimmt und ſie in ein Kranken— 
haus ſchafft. Denn ich fürchte, ſie ſtirbt mir ſonſt unter den 
Händen.“ 

„Magda —“ ſtammelte er, noch ganz benommen von dem 
Unerwarteten diejer Begegnung. Und er machte einen Verſuch, 
ihre Hand zu ergreifen. Ihr Stirnrunzeln aber ließ feinen 
erhobenen Arm wieder herabſinken, und im nächiten Moment 
ſtürmte er davon, in der Richtung nach der Charlottenburger 
Chaufjee, mo er am eheiten hoffen durfte, einen der im Fall 
der Not jo ſchwer auffindbaren Wächter der öffentlichen Ord- 
nung anzutreffen. Das Glück war ihm günftig, denn jchon 
nach wenig Hundert Schritten ſah er die Helmjpigen zweier 
auf ihrem Batrouillengange befindlichen Schußleute in einiger 
Entfernung zwilchen dem kahlen Strauchwerf aufblinfen. Er 
rief fie an und unterrichtete jte mit furzen Worten über den 
Fall, der ihr Eingreifen nötig mache. Zwar leijteten die beiden 
Beamten feiner Aufforderung Folge; aber jie hatten es nicht 


Wer wird fiegen? | 2683 





fonderlich eilig, und als fie der Erfanften anfichtig wurden, 
meinte der eine von ihnen: 

„Ra, wegen der Landitreicherin hätten Sie ſich nicht jo 
viel Mühe zu geben brauchen, Fräulein! Die ift' einfach be- 
trunfen. Und ob fie ihren Rausch hier ausfchläft oder auf der 
Polizeiwache, ift am Ende ziemlich einerlei.“ 

Magda drehte fich nach ihm um, und aus ihren fchönen, 
ausdrudsvollen Augen flammte die Entrüftung. 

„Rein, es ijt nicht einerlei!” ermwiderte fie. „Die Frau ift 
ſchwer krank und jedenfalls vollitändig erfchöpft. Sie bedarf 
dringend ärztlicher Hilfe, und Ihre Pflicht ift es, fie ihr zu 
verſchaffen.“ 

Der energiſche Ton, in dem ſie zu ihm ſprach, ihre vor— 
nehm gebieteriſche Haltung und die Diltinktion ihrer ganzen 
Erfcheinung blieben nicht ohne Eindrud auf den Beamten. 
Er neigte fich über die leife ächzende Frau, die offenbar gar 
nicht3 mehr wahrnahm von dem, was an ihr und um fie her 
geſchah, und gab feinem Kameraden einen Winf. 

„Bir wollen fie zur Wache jchaffen,“ meinte er, „da wird 
man jchon herausfinden, was e3 mit ihrer ſchweren Krankheit 
auf ſich hat.“ 

„Nein,“ beharrte Magda mit Entſchiedenheit, „ich verlange, 
daß Sie die Frau unverzüglich zu einem Arzt oder in ein 
Krankenhaus bringen. Ich bin gern bereit, die Droſchke zu 
bezahlen.“ 

„Sie verſtehen ſich ja ausgezeichnet aufs Kommandieren, 
mein Fräulein!“ lachte der Schutzmann. „Aber vielleicht haben 
Sie recht. Und wenn Sie für die Auslagen aufkommen 
wollen, fahre ich die alte Frau auch in Gottesnamen gleich 
zur Charite, . | 

Magda hatte ihr fleine3 Portemonnaie jchon in der Hand, 
und als Erich, der beihämt und unthätig beijeite gejtanden 
hatte, Miene madte, ihr mit der Bezahlung zuvorzufommen, 
wies fie durch einen jtrengen Blick jeine Einmiſchung zurüd. 

„Hier ijt mein Name und meine Adreſſe,“ ſagte fie, indem 
fie dem Beamten ihre Vifitenfarte zugleich mit einem Goldftüd 
überreichte. „Ihre Behörde mag mir der Ueberſchuß zurüd 
eritatten, wenn e3 nicht des ganzen Betrages bedürfen jollte.“ 


2684 Reinhold Ortmann. 








Die Schugleute faßten die wimmernde Bettlerin unter den 
Armen, um fie jo glimpflic” wie möglich bis zum nächiten 
Drofchtenitandplaß zu transportieren. Magda blidte ihnen eine 
Heine Weile nach; dann wandte fie fich nach der entgegen= 
gejegten Richtung, ohne Erich, defjen Augen unverwandt an ihr 
hingen, auch nur eine Blickes zu würdigen. 

„Willſt du mir nicht wenigſtens gejtatten, dir einen guten 
Tag zu wünſchen, Magda?“ fragte er. „Oder verachteſt du 
mich jo tief, daß du es nicht einmal über dich gewinnft, mir 
deine Hand zu reichen?” 

„Wenn dir jo viel daran gelegen iſt — —“ Mit einer 
Bewegung, die fait Fränfender war als es eine Weigerung ge 
wejen wäre, bot jie ihm die jchmale, behandichuhte Rechte, um 
fie nach flüchtiger Berührung fogleich wieder zurüdzuziehen. 
„Aber du mußt mid) entjchuldigen. Sch habe mich hier ſchon 
länger aufgehalten, als meine Zeit es gejtattet.” 

Doc er war feit entjchloffen, fich die Gelegenheit zu einer 
Ausſprache diesmal nicht wieder entichlüpfen zu laffen. Und 
al3 ſie rajhen Schritte ihren Weg fortießte, wie jemand, der 
e3 wirklich jehr eilig bat, blieb er an ihrer Seite. 

„Du Halt es abgelehnt, meinen Bejuch zu empfangen, 
Magda, und haft mir damit jede Möglichkeit einer Rechtfertigung 
abgejchnitten. Nun aber mußt du mich hören. Ich kann ein 
Verhältnis, wie es jebt zwiſchen uns bejteht, nicht länger 
ertragen.“ | 

„Und was jollte deine fogenannte Rechtfertigung, auf die 
ich gar feinen Anjpruch habe, daran. ändern? Wenn es dich 
beruhigt, zu hören, daß ich dir nicht böfe bin und daß ich dir 
von Herzen alle8 Gute wünjche, jo will ich e8 hiermit aus— 
geiprochen haben. Aber ich bitte dich, mich dann auch nicht 
weiter zu quälen. Wozu joll uns eine Auseinanderjeßung 
frommen, die da8 Vergangene aufmwühlt, während wir es viel 
bejjer ruhen lafjen!“ 

„Du biſt jehr unbarmherzig für ein junges weibliches 
Mejen. Sind ed denn nur alte Zandjtreicherinnen, die dein 
Mitleid wachrufen können?“ 

Mit ernſtem Blick ſah ſie zu ihm auf. 

„Ich Hoffe, Erich, daß es nicht mein Mitleid -ijt, an das 





Wer wird fiegen? 2685 





du dich wenden wollte. Du — ein Mann — an das Mit- 
leid eines Mädchens!” 

„Vielleicht würde ich feiner anderen eingejtehen, daß es jo 
iſt. Vor dir aber will ich mich bereitwillig demütigen, wenn 
ed mir damit nur gelingt, deine Verzeihung zu erhalten. Sa, 
id) brauche eine teilnehmende, mitleidige Menjchenjeele — 
jemanden, der mich vor mir felber rettet. Siehſt du denn nicht, 
Magda, wie elend ich bin?“ Ä 

„So offenbare Dich deiner Braut, und laß fie Deine 
Netterin fein. Sie ift doch wohl die Nächite dazu, wie ich denke.“ 

„Rein, jie wäre die Lebte dazu gewejen, auch wenn fie 
noch ein Recht hätte auf den Namen, den du ihr da giebt. 
Aber mein Verlöbnis beiteht nicht mehr. Heute — in Ddiejer 
Nacht — habe ich es gelöjt.” 

Wenn er gehofft hatte, fie durch diefe Erklärung milder 
zu ftimmen, jo fah er fich ſchmerzlich enttäuſcht. In ihren 
Augen jprühte e8 vielmehr auf wie zorniger Unwille, und der 
harte Zug, der fo jchlecht zu der jugendlichen Weichheit ihres 
Antlites ftimmte, erichien wieder an ihren Mundiwinfeln. 

„Ah — und deshalb mwillft du mic, deines Vertrauens 
würdigen? Deshalb Hoffteft du, bei mir heute ein willigeres 
Ohr zu finden für deine jogenannte Rechtfertigung! Aber du 
beurteiljt mich falſch. Sch weiß nicht, aus welchen Gründen 
du deine Verlobung gelöft haft, und ich will es nicht wiſſen. 
Denn unjere Lebensanjchauungen find jo himmelweit bonein= 
_ ander verjchieden, daß ich dir in meinem Urteil wahrjcheinlich 
unrecht tun würde, nur, weil es mir nicht gegeben ift, mic) 
in deine Denkungsweiſe hineinzufinden. Wir werden ung nie 
veritehen, Erich, und darum ift es befjer, wenn wir nicht erit 
den Verſuch machen, und zu veritändigen. Ich fühle nicht 
mehr den Beruf in mir, deine Vertraute oder deine Retterin 
zu werden.“ . | 

„Da3 heißt, du glaubft nicht mehr an den Ernſt meiner 
Vorſätze und an meine Kraft, fie durchzuführen?“ 

„Nein,“ ſagte fie feit, und ohne auch nur eine Sekunde 
lang mit ihrer Antwort zu zaudern. „Ich glaube nicht 
daran. Und du jollteit auch willen, weshalb es nicht anders 
jein kann.“ 


2686 Reinhold Ortmann. 





„Dann allerdings muß ich wohl die Hoffnung aufgeben, 
dich zu verjühnen. und das alte freundichaftliche Verhältnis 
zwilchen ung wieder herzuſtellen. Aber du thuft nicht recht 
daran, Magda, mich heute fo von dir gehen zu laſſen. Und 
leicht genug Fönntelt du eines Tages deine Härte bereuen.“ 

„Wer ſelbſt hart genug ift, um ungerührt an einem ber- 
zweifelnden Mitmenjchen vorüber zu gehen — hat der ein Necht, 
ih über die Mitleidlofigfeit anderer zu beflagen? Und nun 
noc einmal, Erich, laß es genug jein diejer Erdrterungen, die 
ebenjo peinlich wie zwecklos find. Vielleicht, wenn du mir eines 
Tages beweilen kannſt, daß du ein Mann geworden bift, mag 
es zwiſchen und wieder werden, wie es einjt gewejen. Bis 
dahin aber bleibt es am beiten bei dem jeßigen Zuſtande. Du 
findet wohl andere, die dir bejjer al ich bieten fünnen, wonach 
es dich verlangt.“ 

Sie war stehen geblieben, zum Zeichen, daß fie ſich hier 
von ihm zu verabichieden wünſche. Und er verjuchte nicht 
länger, ihr feine Gejellichaft aufzudrängen. "Seitdem ihre 
bitteren Worte ihm verraten hatten, daß ſie fein Herzlojes Be— 
nehmen gegen die kranke Bettlerin beobachtet Hatte, wußte er 
ja, daß es ein vergebliche8 Bemühen bleiben würde, fie umzu= 
ſtimmen. Er verjtand, daß Ste ihn jegt nicht nur für leichtfertig, 
wanfelmütig und wortbrüchig, jondern auch für jchlecht halten 
müfje. Und er war fehr geneigt, ihr in diefem Verdammungs— 
urteil rückhaltlos zuzuſtimmen. 

Ohne eine Erwiderung auf ihre letzten Worte lüftete er 
ſeinen Hut. 

„Lebe wohl, Magda!“ 

Nun zauderte ſie doch. Etwas im Ausdruck ſeines Ge— 
ſichts und im Klang ſeiner Stimme mochte ſie ſtutzig machen. 
Aber die kleine Anwandlung von MER ging ſchnell 
vorüber. 

„Lebe wohl, Erich!” gab fie zurüd. 

Und ohne einen lebten Händedrud gingen fie nach ent= 
gegengejebten Richtungen auseinander. 


Wer wird ftegen? 2687 





Zwanzigſtes Rapitel. 


E3 war Mittag geworden, als Erich, zum Tode ermüdet 
und doch mit jagenden Pulſen, endlich feine Wohnung wieder 
betrat. Er hatte die legten Stunden jeit feiner Verabſchiedung 
von Magda in der eriten beiten Weinftube zugebracht, die er 
auf feinem Wege gefunden. Aber, wenn er gehofft hatte, mit 
dem feurigen Rebenblute Vergefjen oder neuen Lebensmut zu 
trinken, jo war es ein jehr thörichtes Unterfangen geweſen. 
Denn ſeine Stimmung war nur Düjterer und troſtloſer ge— 
worden mit jedem Ölaje, das er unter Empfindungen des Ekels 
über jich jelbit hinabgeſtürzt. Und er befand jich jebt gerade 
in der rechten Gemütsverfaſſung, irgend etwas Verzweifeltes 
zu beginnen. 

Es ſchien, — die Haushälterin, die ihm geöffnet hatte, 
Willens geweſen ſei, ihm eine Mitteilung zu machen. Aber 
ſeine haſtig abweiſende Geſte und ein Blick in ſein erſchreckend 
verändertes, verſtörtes Geſicht hatten ſie betroffen verſtummen 
laſſen. Erich warf Hut und Mantel auf dem Vorplatze von 
fih und trat in das Wohnzimmer, das ihn: hier zugleich als 
Atelier gedient hatte. 

Das zerichnittene Gemälde, von dem die Leinwand in langen 
Sehen herabhing, jtand noch auf der Staffelei, und in wülter 
Unordnung lagen jeine Malgerätichaften umher; denn er hatte 
der Haushälterin ausdrüdlich verboten, irgend etwas anzurühren. 
Angewidert durch den trojtlofen Anblick blieb er nach den erjten 
Schritten jtehen. Da ließ ein Geräufch Hinter feinem Rücken 
ihn erjchroden zufammenfahren. Er drehte fih um und ah in 
Dollys reizendes Gelicht. 

„Du — du hier?“ ftieß er hervor. „Du haft aljo meinen 
Brief nicht erhalten ?* 

„Wäre ich Hier, wenn ich ihn nicht erhalten hätte?” gab 
‘fie zurüd, jo weich, jo demütig und unterwürfig, daß er das 
Opfer einer Sinnestäufchung zu fein glaubte. „Konnteſt du 
denn im Ernſt eine andere Antwort erwarten al3 dieje?“ 

Beim erjlen Ton ihrer Rede fühlte er, wie er wieder an 
ihn heranjchlich, diefer ſchmeichleriſch füße, firenenhaft lockende 
Bauber, der von ihrer Holden Perfönlichkeit ausging wie von 


2688 Reinhold Ortmann. 


σ, 





der wunderthätigen Fee im Kindermärchen. Und er fühlte auch, 
daß er niemals weniger als in dieſem Augenblick gerüſtet ge— 
weſen ſei, ihm zu widerſtehen. 

Aber er wollte nicht unterliegen. Und im Bewußtſein 
ſeiner Schwäche nahm er ſeine Zuflucht zu einer erkünſtelten 
Brutalität. | 

„Du hättet dir und mir die nublofe Aufregung erſparen 
ſollen!“ jagte er rauh. „Hatte ich mich) denn noch immer nicht 
deutlic) genug ausgeſprochen? Und fann dir wirklich jo viel 
daran liegen, daß ich dir's ins Geficht hinein wiederhole?“ 

„Kein. Es war an dem einen Mal genug, um mir mein 
Unrecht zum Bewußtfein zu bringen. Und nur um deine Ber- 
zeihung zu erbitten, bin ich gefommen.“ 

„Meine Verzeihung?“ wiederholte er mit einem harten 
Auflahen. „Was it daran gelegen? Aber es fommt mir 
durchaus nicht darauf an, fie dir zu gewähren, wenn e3 jonit 
nicht3 iſt, was du verlangit. Denn etwas anderes darfit 
du von mir nicht mehr erwarten. Du fiehft ja, ich bin ein 
Bettler.“ 

„Am fo beifer, wenn du es bift. Haft du Hier nichts mehr 
aufzugeben und nicht zu verlieren, jo gehörit du fortan nur 
um jo gewiller mir allein. Und jest erſt werde ich dir in 
Wahrheit fein können, was du jo lange vergeblich in mir ge- 
jucht, deine treue Gefährtin und hingebende Bundesgenojjin im 
Kampf mit dem feindlichen Leben.“ 

„Was heißt das?“ fiel er ihr in die Rede. „Worauf ſoll 
das nun wieder hinaus? Du glaubjt vielleicht, daß ich über- 
treibe, daß ich mich Hinter eine lügnerifche Phraſe verichanze, 
um mich deiner zu entledigen? Uber ich jchwöre dir, Dolly: 
es ijt mir bitterer Ernjt geweſen mit jedem Wort, das ich dir 
gejchrieben. Sch bin Fein Künftler, bin es niemals gewejen. 
Und ich tauge wahrjcheinlich zu irgend einem anderen ordent- 
lichen Beruf ebenjo wenig wie ich zum Soldaten und zum Maler 
taugte. Es find erit ein paar Stunden vergangen, jeitdem mir 
einer meiner ehemaligen Freunde, der fih recht und jchlecht 
al3 gewerbsmäßiger Spieler durchs Leben jchlägt, den mohl- 
gemeinten Borjchlag machte, ihm gegen einen angemefjenen 
Beuteanteil die Dienfte eines Gehilfen und Gimpelfängers zu 


Wer wird ftegen? 2689 





leilten. Der Mann war ohne Zweifel ein Menfchenfenner und 
veritand fich darauf, Leute meines Schlages zu beurteilen. Ich 
denfe, daß ich gut hun werde, jein Anerbieten in ernitliche Er- 
wägung zu ziehen.“ 

Dolly hatte ihn ausreden laſſen; aber al3 er geendet, eilte 
fie auf ihn zu und fchlang troß feines Widerſtrebens ihre Arme 
um feinen Naden. 

„Mein armer, armer Freund! Wenn ich doch früher ge- 
ahnt hätte, wie es in deinem Herzen ausfieht! Dann wäre ja 
dies alles nicht nötig gewejen — und wir fünnten längjt voll- 
fommen glüdlich fein.“ 

„sch veritehe dich nicht!" ſagte er unficher. „Was wäre 
nicht nötig gewejen! Und wie hättejt du e3 anfangen wollen, 
mic glüdlich zu machen, wenn dir mein Seelenzuftand früher 
befannt gemwejen wäre?“ 

„Aber Haft du denn niemals geahnt, du thörichter Mann, 
daß ich bei diefem fogenannten Spiel mit deinen Empfindungen, 
aus dem du mir in deinem Briefe einen jo bitteren Vorwurf 
machſt, noch unendlich viel mehr gelitten als du? Daß ich mir 
immer wieder Gewalt anthun mußte, um dir hinter jcheinbarer 
Zaunenhaftigfeit und erheuchelter Kälte zu verbergen, wie heiß, 
wie glühend heiß ich mich nach dem Augenblick unjerer endlichen 
Bereinigung jehnte!“ 

„Und da3 joll ich dir glauben, Dolly? Welche vernünftige 
Urſache hätteſt du dafür gehabt, eine fo graujame und gefähr- 
lihe Komödie zu ſpielen?“ 

„Die triftigite von der Welt, mein Freund! ch mußte 
den Wünſchen meines eigenen Herzens Zügel anlegen, weil ich 
dir hier in Deutjchland al3 dein rechtmäßig angetrautes Weib 
nicht hätte gehören dürfen.” — 

„Das find immer neue Rätjel. Du hätteſt hier in Deutich- 
land mein Weib nicht werden dürfen?“ fagit du. „Was aber 
hätte den entgegen gejtanden? Der Widerjtand deiner Familie 
etwa — diejer Familie, die fich längſt von dir losgeſagt hat 
und die darum faum noch ein Recht bejißt, über dein Schidjal 
zu bejtimmen? Das wäre doc wahrlich fein unüberwindliches 
Hindernis geweſen?“ 

JU. Haus-BibL IL, Band XU. 169 _ 


2690 Reinhold Ortmann. 











„Es ift nicht der Widerftand meiner Jamilie allein, Erich,“ 
flüfterte fie, ihr Geficht verihämt an feiner Schulter bergend. 
„Aber e3 giebt ein Geheimnis in meinem Leben, das über 
meinem Haupte jchwebt wie ein ewig drohendes Verhängnis. 
Und dies Geheimnis war es, das mich bis heute gehindert hat, 
dich glücklich zu machen.“ 

„Bis heute nur? Du haſt dich alſo entſchloſſen, es mir 
zu offenbaren?“ 

Dolly ſchüttelte den Kopf; aber als Erich daraufhin eine 
unmwillige Bewegung machte, jchmiegte fie fich nur feiter an 
jeine Bruft. 

„Du mußt an mic) glauben, Geliebter!” hauchte fie. „Es 
iſt nicht3, das mich deiner unwürdig machte — ich ſchwöre e3 
dir bei allem, was mir heilig und teuer ift auf Erden. Aber 
ich darf es dir nicht fagen — heute noch nicht. Erit an dem 
Tage, da wir Mann und Frau jein werden, brauche ich Dir 
nicht8 mehr zu verbergen.” 

„Und wie jollte diefer Tag jemals erjcheinen, da noch, wie 
du ſagſt, unſrer Vereinigung unüberwindliche Hinderniſſe ent— 
gegenſtehen?“ 

„Wir können uns nicht hier in Deutſchland trauen laſſen. 
Aber die Welt iſt groß, und wir werden überall wohl auf— 
gehoben ſein, wo wir miteinander glücklich ſein dürfen. Begreifſt 
du nun, weshalb ich deinen Entſchluß, auf die Fortſetzung 
dieſer Künſtlerlaufbahn zu verzichten, viel mehr mit Jubel als 
mit Betrübnis vernommen habe — und weshalb es nichts 
Schreckhaftes für mich hat, wenn du dich für einen Bettler 
hältſt? Nun giebt es ja nichts mehr, das dich an die deutſche 
Erde feſſelt. Wir werden uns ein neues Leben zimmern — 
drüben, jenſeits des Ozeans, in einem freien, glücklichen Lande, 
wo keine hemmenden Vorurteile ſich uns entgegenſtellen und wo 
wir nicht die Vergangenheit wie eine Kette mit uns herum— 
ſchleppen. Iſt es nicht eine herrliche, eine berauſchende Aus— 
ſicht, Liebſter? Und kannſt du dich nur einen Augenblick bedenken, 
all dies Häßliche und Bedrückende abzuwerfen, das dir hier das 
Leben verbittert hat und weiter verbittern würde?“ 

Der Strom ihrer Nede flutete über ihn dahin wie eine 
ſüße Muſik, der er Ohr und Herz nicht verjchließen fonnte, wie 


Wer wird fliegen? 2691 





eindringlich auch die warnende Stimme der Vernunft ihn dazu 
mahnen wollte Vielleicht hätte er vor den Erlebniſſen des 
heutigen Morgens noch Kraft genug gehabt, der holden Ver— 
führerin zu widerjtehen; die Unterhaltung mit dem ehemaligen 
Kameraden aber, und vor allem ver beichämende Verlauf feiner 
Begegnung mit Magda Hatten ihm fo ganz allen Glauben an 
ich felbft und an jeine Zukunft geraubt, daß ein Ausblid, wie 
Dollys Leidenjchaftlich zärtliche Beredfamfeit ihn vor jeine 
Geele zauberte, auf ihn wirken mußte wie ein himmlijches 
Wunder. 

Wenn e3 Wahrheit werden könnte, was fie da ausmalte! 
Wenn er in einer anderen Umgebung, unter völlig neuen Ber- 
hältnifjen, losgelöjt und unabhängig von allem, was ihn bier 
einengte und behinderte, doch noch den rechten Weg fände, den 
er nach jeiner lebten großen Enttäufchung hier nirgends mehr 
fich öffnen fah! Es war eine zu verlodende Hoffnung, als daß 
jeine lebensdurftige Jugend fich nicht jogleich hätte an fie an- 
klammern jollen, allen Einwendungen des zweifelnden Verjtandes 
zum Troß. 

Dolly Hatte ihn neben ſich auf das Sofa niedergezogen, 
und ohne feine Hand aus der ihrigen zu laljen, ſprach fie 
. weiter — raſch, lebhaft, mit. einer Klarheit und Beitimmtheit, 
die etwas wunderjam Ueberzeugendes hatten. Denn für fie gab 
e3 nicht3 Ungewiſſes und HZweifelhaftes mehr in Bezug auf 
da3, was nun weiter gejchehen würde. Sie hatte einen fertigen 
Plan mitgebracht, und fie entwidelte ihn bis in alle Einzelheiten 
mit einer fieghaften Zuverficht, die alle Einwendungen und Be- 
denken im Keime erfticte. 

Sobald wie möglich wollten fie Berlin verlafjen, um fich 
in Helgoland trauen zu laffen und dann von dort auß Die 
Reife nach Amerika fortzujegen. Ihr erites Ziel würde natür- 
lich New-York jein; aber e3 lag keineswegs in Dollys Abficht, 
dort zu bleiben. 

„SH Habe mir immer gewünjcht, irgendwo im Weſten 
der Bereinigten Staaten zu leben,“ plauderte fie. „Ein Ver— 
wandter unjere® Haufe, der ein ganze Menfchenalter in 
Colorado zugebracht hatte, pflegte und das dortige Leben in jo 
verlodenden Yarben zu fjchildern, daß ich ſchon als Badfild) 

169* 


2692 Reinhold Ortmann. 





eine unbezwingliche Sehnſucht hatte, dahin zu kommen. Wir 
werden uns natürlich das ſchönſte Plätzchen ausſuchen, das wir 
auf unſerer großen Hochzeitsreiſe entdecken, und werden uns 
dann ein Leben ganz nach unſeren Neigungen geſtalten. Du 
wirſt eine Thätigkeit finden, die dir zuſagt. Denn ich weiß, 
daß deine Kräfte nur Raum und Gelegenheit brauchen, um 
ſich zu entfalten. Ich aber — nun, ich werde bis zu dem 
Zeitpunkt, wo du ein reicher Mann geworden biſt, Muſikunter— 
richt geben und im Kirchenchor ſingen, was da drüben ſehr 
gut bezahlt wird. Darum, daß wir ohne Not und Sorge 
unſer Leben friſten werden, iſt mir wahrhaftig nicht bange! 
Zwei, die fic lieb Haben, wie wir, können es ſchon mit Dem 
Schickſal aufnehmen, wenn jie nur bereit find, die Hände zu 
rühren und wenn fie fih um die Thorheiten der Welt nicht 
fümmern.“ 

Erich hörte ihr zu, ohne fie zu unterbrechen. Wohl 
raunte ihm von Zeit zu Zeit Die warnende Stimme in ſeinem 
Innern zu: 

Es ſind phantaſtiſche Luftſchlöſſer, die ſie da aufbaut. 
Nichts von alledem kann jemals Wirklichkeit werden. Und deine 
Pflicht iſt es, mit einem bündigen, unzweideutigen Wort ihre 
thörichten Illuſionen zu zerſtören. 


Aber er mußte doch wohl den rechten Augenblick verſäumt | 


haben, dies Wort zu ſprechen; denn als er ſich endlich aufraffen 
wollte, e8 zu thun, brauchte jie nur ihr goldhaariges Köpfchen 
an jeine Schulter zu Jchmiegen und aus ihren mwunderjamen 
Augen voll Hingebender Zärtlichkeit zu ihm aufzujehen, um ihn 
verjtummen zu machen. | 

„Wir werden jo glüclich fein!“ flüfterte fie mit einem 
Ausdrud, der jeden Widerftand dahinjchmelzen ließ wie lebten 
Aprilfchnee im Kuß der Frühlingsfonne. „Und taufendfach ſoll 
meine Liebe dich entjchädigen für alles; wa3 du um meinet- 
willen gelitten.“ 

„And deine Familie, Dolly?” wagte er endlich zu fragen. 
„Auch wenn man uns auf Helgoland trauen jollte, ohne nad) 
der Einwilligung deiner Eltern zu fragen, fürchtet du nicht, 
daß e3 dich eines Tages gereuen könnte, dich mir ohne ihren 
Segen zu eigen gegeben zu haben?“ 


Wer wird fliegen? 2693 





Sie jchüttelte den Kopf mit einem Lächeln, daS hundertmal 
beredter war al3 alle Berficherungen, und das ihn vor einigen 
Monaten zu dem glüdlichjten aller Sterblichen gemacht hätte. 
Auch Heute ließ e3 fein Blut aufwallen und jein Herz in 
raſcheren Schlägen Hopfen; aber was er empfand, war nicht 
mehr das jauchzende Glüdsgefühl jenes erjten Liebesrauſches. 
Es miſchte fich darein eine Negung des Unmuts und des Groll3 
über die rätjelhafte, unmiderftehliche Macht, der er da erlag. 

„Halt du aber auch recht bedacht, was du da thun willſt?“ 
lagte er. „Biſt du dir wirklich Har geworden über die Trag- 
weite eines folchen Entſchluſſes? Ein Schritt wie dieſer ift 
nicht mehr ungeschehen zu machen. Und fein verjpätetes Be— 
dauern könnte dich aus den Feſſeln löſen, von denen ich dich 
heute hatte befreien wollen.‘ 

„Aber wie oft noch foll ich dir jagen, du thörichter Mann, 
daß id) von ihnen gar nicht befreit jein will — daß ich dich 
lieb habe — über alles lieb, und daß ich mit Freuden nod) 
viel, viel mehr al3 meine Familie und meine Künftlerträume 
hingeben würde für da3 Glüd, dir zu gehören.‘ | 

„Und die Geſchichte deines Lebens — das Geheimnis 
der Vergangenheit — ich ſoll fie wirklich nicht erfahren?‘ 

„Richt vor unjerer Hochzeit, Liebjter! Aber du brauchit 
darum nicht fo finfter und mißtrauifch zu bliden. Nie würde 
ich dein Vertrauen begehren, wenn ich mich deiner unwürdig 
wüßte.‘ | 

Erih war aufgejtanden und hatte gejenften Hauptes ein 
paarmal das Atelier durchmeilen. Dann blieb er vor jeinem 
zerjchnittenen Gemälde ftehen, und noch einmal zogen in raſchem 
Wechiel allerlei Erinnerungen an die Gefchehniffe des lebten 
Sahres vor jeiner Seele vorüber. Es waren viele darunter, 
die ihn jehr wohl wieder hätten wanfend machen können in 
feinem ſchon halb gefaßten Entichluffe. Aber ein legtes, nur 
zu lebendiges Bild, das fchlieglich alle anderen zurücddrängte, 
gab nach kurzem Zweifeln und Wägen den Ausichlag zu Dollys 
guniten. Es war das Bild jeiner heutigen legten Begegnung 
mit Magda — die Erinnerung an die jchroffe Zurückweiſung, 
die er von ihr erfahren, und an die unbarmherzige Rücdjichts- 
Iofigfeit, mit der fie ihn troß feiner reumütigen Vorſätze Die 


2694 Reinhold Ortmann. 





ganze Schwere ihrer Verachtung hatte fühlen laſſen. Er hatte 
fi) vor ihr fo tief gedemütigt, al3 ein Mann fich nur immer 
vor einem Mädchen demütigen kann. Und doch hatte fie es 
verjchmäht, jeine flehend ausgeitredte Hand zu ergreifen — 
doch hatte fie ſich kalt und gleichgültig von ihm abgewendet 
wie von einem rettungslos Berlorenen! 

Es war, als fäme ihm erit jet die ganze Grauſamkeit der 
tödlichen Kränfung zum Bemwußtlein, die er durd) fie erlitten. 
Etwas wie wilder Haß gegen ihre Hochmütige Tugend und 
wie leidenfchaftliches Berlangen, ihr den heutigen Schinpf durch 
eine gleich demütigende Beſchämung zurüdzuzahlen,' regte ſich 
in jeiner Bruft. Das aber wußte er, daß es nur einen einzigen 
Weg gab, diefem Verlangen Erfüllung zu verjchaffen. Nur 
wenn er ihr eines Tages durch unmwiderlegliche Thatfachen den 
Beweis erbringen fonnte, daß fie ihn falſch und ungerecht 
beurteilt hatte — wenn er es zu etwas Großem brachte, zu 
einer gejellichaftlichen Stellung, die ihr jelbit gegen ihren Willen 
Achtung abnötigte — nur dann würde er wirklich den Triumph 
genießen, fie bejchämt und gedemütigt zu jehen. Hier aber — 
dejjen war er gewiß — gab es feine Möglichkeit für ihn, ein 
jo Hoch geſtecktes Ziel zu erreichen. Wenn e8 ihm überhaupt 
gelingen ſollte, konnte e8 nur unter neuen Verhältniſſen ge= 
ſchehen — unter Verhältnifjen, wie Dollys jchmeichelnde Bered- 
jamfeit fie ihm eben fo anjchaulich und verführerifch gefchildert 
hatte. Weshalb aljo jollte er zaudern, den Schritt zu thun, 
zu dem fie ihm riet! Daß die Liebe des ſchönſten Weibes ihm 
den Kampf erleichtern und die harte Arbeit verjüßen jollte, war 
doch fürwahr fein Grund, auch diejer legten Ausficht feige den 
Rüden zu ehren! 

„But denn,“ fagte er, „ich bin mit deinem Vorſchlage 
einverjtanden.“ 

„D, wie glüdlich bin ich! Aber ich wußte ja, daß du 
nicht Nein jagen könnteſt. Und wann werden wir reijen?“ 

„Das läßt ſich wohl nicht jo ohne weitere bejtimmen. 
Sch Habe Hier noch Verjchiedened zu ordnen, und es wird 
immerhin einige Zeit vergehen, bevor ich den Heinen Reit 
meined Vermögens flüjjig machen kann,” 

Ein Schatten der Enttäufhung glitt über Dollys Geſicht. 


Wer wird fiegen? 2695 





„Sit dazu deine perjönliche Anwejenheit jo unbedingt er- 
forderlih? Man kann dir das Geld doch nach New-York nach— 
jenden! Und du haſt gewiß irgend einen vertrauensmwürdigen 
Sreund, der jtatt deiner hier ordnen fann, was du noch zu 
erledigen Halt. Sch möchte fo gerne, daß wir bald, redt 
bald — lieber heute als morgen — dieſes jchredliche Berlin 
verlaſſen.“ 

Aber in dieſem einen Punkte gelang es ihr nicht, ihren 
Willen durchzuſetzen. 

„sch kann mich nicht davonſchleichen wie ein Dieb,“ ſagte 
Erich, „und ich habe auch feine Veranlafjung dazu. Natürs 
lich iſt es am beiten, den einmal gefaßten Entſchluß jo jchnell 
wie möglich durchzuführen. Unſere Abreije braucht aber des— 
wegen noch nicht zu einer Flucht zu werden. Und es -ijt 
durchaus notwendig, daß ic) meine Angelegenheiten perjönlich 
ordne.“ | 

Dolly war von der Entjchiedenheit feiner Erklärung er- 
jichtlich jehr unangenehm berührt; aber fie jah ein, daß es am 
beiten jei, jich vorläufig zu fügen, da fie leicht genug auch das 
ſchon Errungene wieder aufs Spiel jeben fonnte, wenn fie 
hartnädig auf ihrer Forderung bejtand. Und als jie nad) 
einer kleinen Weile daS Atelier verließ, war der liebevollen 
Zärtlichkeit ihres Abjchied3 nichts von der Verſtimmung anzu= 
merfen, die daS teilweile Fehlichlagen ihrer jehr bejtimmten 
Abfichten in ihr zurückgelaſſen. 


Einundzwanzigſtes Kapitel. 


Eine eigentümlich ſchwüle Atmojphäre hat jeit der Stunde, 
da Helene ihren Gatten während jener Porträtfißung in einer 
jo zweideutigen Situation mit jeinem ſchönen Modell überrafcht 
hatte, das Sarloſche Haus erfüllt. 

Nicht, daß die junge Frau Gabor mit eiferfüchtigen Vor— 
würfen gequält oder ihm aud) nıır eine gefränfte und beleidigte 
Miene gezeigt hätte! Sie war im Gegenteil freundlich und 
ruhig wie immer, und ein unbefangener Dritter würde jchiver- 
lih eine Veränderung in ihrem Benehmen bemerkt haben. 
Gabors ſchlechtes Gewiſſen aber hatte feine Empfindlichkeit hin- 


\ 


2696 Reinhold Ortmann. 





länglich gejteigert, um ihn Diefe Veränderung troßdem fühlen 
zu lajjen. Und nachden ein etwas ungejchiefter Verjuch, den 
häßlichen Schatten durch ein erkünſteltes Wiederaufflanmen 
leidvenfchaftlicher Zärtlichkeit zu verjcheuchen, an der gelafjenen, 
doch darum nicht weniger entjchiedenen Ablehnung der jungen 
Frau ziemlich fläglich und beſchämend gejcheitert war, wußte er 
nichts Beſſeres zu thun, als jeinerjeitS den trogig Schmollenden 
zu ſpielen. 

Er ging dem Alleinjein mit feiner Frau fo viel wie mög— 
ih aus dem Wege, faß bei ihren gemeinfamen Mahlzeiten 
\hweiglam und verdrießlich am Tiſche, und ging allabendlich 
aus, um irgend eine ©ejellichaft zu bejuchen, aus der er erit 
in ſpäter Nachtſtunde und jcheinbar zum Tode ermüdet nad 
Hauje Fam. 

Co war e8 nun jchon jeit fünf Tagen gegangen, und da 
ji) im übrigen alle8 im gewohnten Geleife beivegte und Helene 
eine klärende Aussprache nicht zu wünschen fchien, hatte es ganz 
das Ausſehen, als ob dieſer unbehagliche Zuftand der jungen 
Ehe zu einem dauernden werden jolle. 

Arch Heute waren noch kaum zwanzig Worte zwijchen den 
beiden Gatten gewechjelt worden, als Gabor, der bis zum Ein: 
bruch der frühen Dunkelheit gearbeitet und dann nach einer 
neuerlichen Gewohnheit ein paar Stunden im Kaffeehaufe zu— 
gebracht hatte, gegen acht Uhr heimfehrte, um ſich umzukleiden. 

Sein Gejellfchaftsanzug lag vorſorglich im Schlafzimmer 
bereit, wie er ihn um Diefe Zeit immer zu finden gewöhnt war. 
Aber er hatte noch nicht mit jeiner Toilette begonnen, al3 gegen 
ihre ſonſtige Öepflogenheit und zu feiner etwas peinlichen Ueber- 
rajhung Helene eintrat. Gabor glaubte wahrzunehmen, daß jie 
auffallend bleich ei, aber er gab jich den Anjchein, es nicht zu 
bemerfen, und begann in erheuchelter Unbefangenheit irgend 
eine luſtige Melodie vor jich Hin zu fummen. Gerade weil er 
jein Gewiſſen nicht rein fühlte, hatte er ſich während dieſer 
fünf Tage mit allerlei fophiftiichen Scheingründen jo hartnäcig 
zu überreden verjucht, jeinerjeit3 der Beleidigte zu fein, daß er 
ſich wirklich von der Berechtigung dieſer Auffaſſung überzeugt 
hielt, und daß er feſt entſchloſſen war, bei einer etiwaigen Aus— 
einanderjegung diefen Standpunkt mit allem Nachdrud zu ver- 


- Wer wird ftegen? 2697 





treten. Hatte ſeine unmännliche Gefügigfeit in Helenes 
praltifch=nüchternen Erwerbsſinn ihn die Erfüllung feiner ehr- 
geizigen künſtleriſchen Hoffnungen gefojtet, jo wollte er doc) 
wenigſtens jeine perjönliche Freiheit biß zum Aeußerſten gegen 
ihre Herrjchgelüjte verteidigen, itber deren Vorhandenſein die 
gleichmäßige Sanftheit ihres Weſens ihn nicht länger zu täujchen 
vermochte. 

Sn innerjten Herzen beflommen, und darum nur um fo 
mehr bereit, jich beim erjten Anzeichen eines beabjichtigten 
Kampfes mit aufbraufender Heftigfeit zu wappnen, erwartete er 
die Anrede feiner Frau. Und er glaubte über den Zweck ihres 
Erſcheinens genügend orientiert zu fein, al3 Helene nad) kurzem 
Schweigen fagte: 

„Darf ich fragen, Gabor, wohin du heute abend gehſt?“ 

„Seit wann hätte ich dir ein Geheimnis daraus gemacht? 
Aber du ſollteſt e3 eigentlich willen. Die Einladung hat ja 
lange genug offen auf dem Tiſche gelegen.“ 

„But denn, ic) weiß es. Du willſt eine Ballfeftlichfeit bei 
den Imgarts bejuchen.“ 

„Daß ijt allerdings meine Abficht. Haft du etwas dagegen?“ 

„sch würde dir jehr dankbar jein, wenn du dich entichließen 
könnteſt, darauf zu verzichten.” 

Er hörte am Stang ihrer Stimme, daß e3 ihr nicht leicht 
geworden war, dieje Bitte auszujprechen, und ſeine natürliche 
Gutmütigkeit, die ihn noch immer fügſam und nachgiebig gemacht 
hatte gegen jeden ihrer Wünsche, drängte ihn auch jeßt, dem un— 
natürlichen Zuſtand diejer legten Tage einfach dadurch ein Ende 
zu bereiten, daß er mit liebenswürdiger Heiterkeit ihrem im 
Grunde ja gar nicht Jo unbegreiflichen Begehren entſprach. Aber 
er beſann ich noch zu rechter Zeit, daß es dann um jeine Autorität 
und um die Freiheit ſeines Handelns wahrjcheinlich für immer 
geihehen jein würde, und darum nahm er fi) vor, wenigjtens 
dies eine Mal unerjchütterlich feft zu bleiben. 

„Eine jonderbare Zumutung!“ jagte er, vorjichtig darauf 
bedacht, ihrem Blick nicht zu begegnen. „Und weshalb jollte ich 
nicht hingehen? Denn du mußt doch wohl ganz beſonders triftige 
Gründe haben, eine jo beijpielloje Ungezogenheit von mir zu 
verlangen.” 


2698 _ Reinhold Ortmann. 





„sch möchte den Abend mit dir verbringen, Gabor! Könnte 
das nicht für einen einzigen Ausnahmefall als Grund ge— 
nügen?” 

„Wenn du e8 mir vierundzwanzig Stunden früher mitgeteilt 
hätteft — gewiß! Aber daß es jest für eine Ablage zu ſpät ge- 
worden iſt, mußt du doch ſelbſt einjehen. Sch habe Herrn Imgart 
erjt heute nachmittag gejprochen und mit ihm verabredet, daß er 
morgen früh herfommt, um dag Borträt jeiner Tochter in, Augen— 
ihein zu nehmen, woran mir aus verichiedenen Urjachen außer- 
ordentlich viel gelegen ift. Ich könnte mich aljo nicht einmal mit 
einem plößlichen Unwohlſein herausreden. Und mein Ausbleiben 
wäre eine Beleidigung, die man im Imgartſchen Haufe mit Recht 
als unverzeihlich anjehen würde.“ 

„Es ließe fich doch wohl ein Vorwand finden, ſofern du nur’ 
den Wunsch hätteft, meine Bitte zu erfüllen. Und es ist eine jehr 
herzliche Bitte, Gabor!“ 

Wie er e8 über fich gewann, aud) jeßt noch zu widerftehen,. 
war ihm eigentlich jelbjt ein Rätſel. Er jtellte fid) vor, wie 
hübſch die Verſöhnung fein würde, wenn er jebt Sa jagte. Aber 
dann dachte er wieder an Hertha Imgart und daran, wie er.ihr 
morgen gegenübertreten jolle; und der fnabenhafte Troß, hinter 
den er fich jeit dem Beginn diejer Unterredung geflüchtet hatte, 
behielt den Sieg. 

„Sage lieber: eine jehr thörichte Bitte. Denn ihre Er- 
füllung würde‘ nicht nur einen vollitändigen Bruch mit den 
Imgarts bedeuten, jondern fie würde mich wahrjcheinlich in dem 
ganzen Geſellſchaftskreiſe unmöglich machen, deſſen Mittelpunkt 
fie bilden. Und wenn ich dir zu Liebe bisher die ſchwerſten 
Dpfer gebracht habe, um mir die einträgliche Gunſt diejer er— 
leuchteten Kunjtfreunde von der Fonds- und der Produften- 
Börſe zu erwerben, jo jehe ich nicht ein, weshalb ich fie jebt um 
einer bloßen Laune willen wieder aufs Spiel jeßen jollte. Daß 
man dich nicht mit eingeladen hat, ift lediglich deine eigene 
Schuld, und du weißt, wie unzufrieden ich damit bin. Aber 
wenn es dich langweilt, allein zu Haus zu bleiben, koſtet e8 mich 
nur eine leiſe Andeutung, um Darin Fünftig eine Aenderung 
herbeizuführen.“ 

Helene machte eine entjchieden abwehrende Bewegung. 


Wer wird fliegen? 2699 








„Davon ijt nicht die Rede. Ich wünjche jenes Haus nicht 
zu betreten — wünjche es jetzt weniger denn je. Geh’ aljo in 
Gottes Namen, wenn dein Herz dich Jo unmiderjtehlich dahin 
zieht. Aber vergiß nit, daß ich heute den Verſuch gemacht 
babe, dich vor einer Thorheit, wenn nicht vor Schlimmerem, 
zu bewahren.” 

Wie heftig er ſich auch wegen diejer Feigheit zürnte, hatte 
Gabor doch nicht den Mut, eine nähere Erklärung ihrer legten 
Worte zu fordern, deren verborgenen Sinn er ja gut genug ver— 
ſtand. Er fand feine andere Erwiderung, als ein jpöttijches 
Auflachen, und er verjuchte nicht, Helene zurüdzuhalten, al3 fie 
jetzt das Zimmer verließ. 

Die Stimmung aber, in der er jeine Toilette beendete, war 
eine nicht3 weniger als feitlich-freudige. Und von einem Gefühl 
der Genugthuung über den erfämpften Sieg war durchaus nichts 
in jeiner Seele. Die Art, wie jeine Frau ihre Niederlage hin— 
genommen, die geradezu hoheitvolle Würde, mit der fie ihm jene 
legte Warnung zugerufen, hatten doch einen tiefen Eindrud auf 
ihn gemacht. Und feine troßige Hartnädigfeit würde ſchwerlich 
Itand gehalten haben, wenn Helene noch einmal verjucht hätte, 
ie zu brechen. 

Aber fie that e3 nicht, und ſie mußte ſich wohl in die 
Küche zurückgezogen haben, um einer nochmaligen Begegnung 
vor ſeinem Fortgehen auszuweichen, da er ſie nirgends fand, als 
er langſam und in der halb uneingeſtandenen Hoffnung auf eine 
freundliche Verſtändigung durch alle Zimmer ging. So machte 
er ſich denn auf den Weg, ohne ſie noch einmal geſehen zu 
haben. Aber er nahm ſich vor, nur kurze Zeit bei den Imgarts 
zu bleiben und frühzeitig heimzukehren. War er es auch ſeiner 
Manneswürde ſchuldig geweſen, diesmal ſeinen Willen durch— 
zuſetzen, ſo lag es doch keineswegs in ſeiner Abſicht, Helene 
ernſtlichen Kummer zu bereiten. Und wenn er zurückkam, 
konnte er ihr, dem Verlangen ſeines Herzens folgend, die Hand 
zur Verſöhnung bieten, ohne ſich etwas zu vergeben, wie es 
vorhin durch eine allzu bereitwillige Fügſamkeit der Fall ge— 
weſen wäre. 

Mit ſolchen Abſichten betrat er eine Viertelſtunde ſpäter das 
vornehme Haus in der Lennäeſtraße, deſſen erſtes Stockwerk 


2700 Reinhold Ortmann. 





Herthas Eltern bewohnten. Die lange Zimmerflucht war glänzend 
erleuchtet, und ein bunter Schwarm gepußter Gäſte bewegte ſich 
bereit3 in den prächtigen Räumen. 

Die meiſten diefer blafiert und gelangweilt dreinjchauenden 
Herren wie der juwelengejchmücdten rauen und Mädchen, die 
in den foitbarjten und raffinierteften Toiletten ihre Reize zur 
Schau trugen, waren für Gabor bereit3 alte Bekannte. Und 
auch der ſinnenſchmeichelnde Luxus des Reichtum, der fich rings 
um ihn her jo hundertfältig offenbarte, hatte den bejtrickenden 
Bauber des Neuen und Ungefannten für ihn verloren. Bis zu 
dem Augenblid, wo er Hertha gefunden hatte, die anfangs durd) 
irgend eine Urjache in einem anderen Zeile der Wohnung feſt— 
gehalten jein mußte, wollte ihm das alles heute jogar, recht 
fade und inhaltleer erjcheinen. Die Unterhaltung, in die ein 
al3 „Lebemann“ berühmter Bankdirektor ihn zu verwickeln juchte, 
dünkte ihn mit der jeichten Geſchmackloſigkeit ihrer oft gehörten 
Scherze als fait unerträglich. Und während fein Blick über die 
defolletierten Damen mit den durch hundert Toilettenfünfte ver- 
jüngten oder verjchönten Gefichtern dahinglitt, fagte er ſich, daß 
eigentlich nicht eine einzige unter ihnen jei, die im Ernſt einen 
Vergleich mit jeiner hübjchen, energilchen, jungen Frau hätte aus— 
halten können. Auch die haftige, nervöſe Art des Hausherren, 
der ihm im Vorübergehen die Hand gedrüdt hatte, vielleicht ohne 
im Moment zu wiflen, wen er vor jich hatte, gefiel ihm heute 
iveniger denn je. Und wenn er nicht gewußt hätte, daß er durch 
fein vorzeitige Verſchwinden irgend eine an feiner Berjtimmung 
ganz unjchuldige, junge Dame in peinliche Verlegenheit bringen 
würde, hätte er vielleicht noc) vor dem Beginn der Tafel un- 
auffällig die Flucht ergriffen. f 

Darum, wer dieſe junge Dame jein würde, hatte er id) 
noch nicht einmal gefümmert. Er hatte dag draußen vom Diener 
überreichte Kärtchen, auf dem, wie er wußte, der Name feiner 
Tilchnachbarin verzeichnet ſtand, achtlo8 in die Wejtentajche ge= 
jtecft, weil e8 ja immer noch früh genug war, unmittelbar vor 
den Beginn des Soupers von jeinem Inhalt Kenntnis zu 
nehmen. Und da ihm unter diejen Eofetten, leichtlebigen Frauen, 
wie unter den beängftigend frühreifen und weltflugen, jungen 
Mädchen die eine jo gleichgültig war wie die andere, verlangte 


Wer wird fiegen? 2701 





e3 ihn vorläufig durchaus nicht darnach, den Schleier des Ge— 
heimniſſes zu lüften. 

Eine geraume Zeit ſchon mußte feit feinem Eintritt ver— 
gangen jein, als er endlich der Tochter des Haufes anfichtig 
wurde. Sm lebhaften Geplauder mit einer anderen jungen Dame 
war Hertha plöglih ganz nahe bei ihm im Rahmen einer 
offenen Thür erjchienen. Und ihr Anblid hatte mit einem 
Schlage feine gelangmweilte und gedrücdte Stimmung von Grund 
aus verwandelt. 

Denn jo oft auch ihre Anmut ihn bereit3 entzückt Hatte, heute 
fand er jie Doc) reizender als je zuvor. Und er zögerte nicht, 
ſich auf ziemlich rückſichtsloſe Art von feinem gefchwäßigen Ge— 
ſellſchafter los zu machen, um fie zu begrüßen. 

Mit einem bezaubernden Lächeln und einem Aufleuchten 
der Freude in den ſchönen, ausdrudsvollen Augen reichte fie ihm 
die Hand. 

„Sie müſſen ſehr ſpät gefommen fein, Herr Sarlo; denn id) 
habe Sie vorhin überall vergeblich gefucht.“ 

Er fügte die behandſchuhten Fingerchen und ſtammelte eine 
Entſchuldigung. Wie war e8 nur möglich, daß er vorhin für 
einen Augenblic in allem Ernſt hatte daran denken können, dem 
Verlangen Helened nachzugeben! 

„sc habe nämlich eine große Neuigfeit für Sie,“ plauderte 
Hertha in vertraulichem Flüfterton weiter, als ihre Freundin fich 
disfret zurücdgezogen hatte. „Eine Ueberraſchung — und hoffent— 
ih eine angenehme. Aber es muß vorläufig noch ein Geheimnis 
bleiben zwilchen uns beiden. Denn ich habe meinem Papa ver= 
Iprechen müſſen, zunächlt gegen feinen Menjchen etwas davon zu 
erwähnen.“ 

„Und doch wollen Sie es mir verraten, Fräulein Smgart? — 
Bin ich einer ſolchen Auszeichnung denn auch wert?“ 

„Das werden wir gleich jeden,“ jagte jte lachend. „Es wäre 
allerdings jchrecklich, wenn ich mich in Ihnen getäufcht hätte. — 
Kommen Sie — e3 brennt mir auf der Seele. Und wir fünnen 
uns jegt vor Tiſche wohl leichter auf ein paar Minuten unbemerkt 
fortitehlen al3 nachher.“ 

Höchlich verwundert und ohne auch nur entfernt zu ahnen, 
was ihm da bevorjtehen muchte, folgte Gabor der behend Vor— 





2702 Reinhold Örtmann. 








ausfchreitenden durch die von gedämpftem Stimmengejhwirr 
und einem jchier atembeflemmenden Gemiſch der verjchiedeniten 
Wohlgerüche erfüllten Gemächer. 

Daß ihre gemeinjchaftlihe Flucht aus der Geſellſchaft un— 
bemerft bleiben würde, war freilich eine allzu optimiftiiche Vor— 
ausſetzung Hertha geweſen. Denn von überall ber folgten 
ihnen neugierige Blicke und bedeutjames Flüftern. Aber jelbjt 
wenn fie c8 bemerft hätte, würde fie dadurch in ihrem Vorhaben 
chwerlich irre gemacht worden fein. Es war eben ihre Art, 
dergleichen fleine Verjtöße gegen Sitte und Herfommen mit 
jouveräner Gleichgültigfeit zu behandelu. 

Sie jhlug am Ende der langen Zimmerreihe eine bejtidte 
Samtportiere zurüd und lud mit einer anmutigen Kopfbeivegung 
ihren aufs äußerfte geipannten Begleiter zum Betreten des da— 
binter liegenden kleinen Raumes ein. 

„Das iſt mein Allerheiligites, Herr Sarlo — mein Schmoll= 
winkel, in den jonft jo leicht niemand feinen Fuß jegen darf. 
Hoffentlih wifjen Sie. die Ausnahme, die ich heute mit Ihnen 
mache, nad) ihrem ganzen Werte zu jchäßen.“ 

Das Gemach, in das fie ihn geführt hatte, war ein mit 
erlefeniten Geſchmack und feinſtem Stilgefühl ausgeſtattetes 
Boudoir, über defjen zierliche Möbel und zartfarbige Seiden- 
tapeten die durch rötliche Gläſer abgedämpften, elektrischen Glüh- 
lampen nur eine wohlthuend milde Helligfeit breiteten — ein 
Raum, mehr geichaffen für daS gelegentliche Einſamkeits— 
bedürfniß einer mit allen Genüfjen des Dajeins vertrauten Welt- 
dame, al3 für die unjchuldigen Träumereien einer noch unberührten 
Mädchenſeele. 

„Wie hübſch Sie ſich Ihren Schmollwinkel eingerichtet haben, 
Fräulein Hertha!“ ſagte Gabor mit dem Ausdruck einer vom 
Herzen kommenden Anerkennung. „Ich habe nie etwas ſo Aller— 
liebſtes geſehen.“ 

„Es freut mich, daß er Ihnen gefällt. Aber nicht, um Ihnen 
mein Mädchenſtübchen zu zeigen, habe ich Sie den Freuden der Ge— 
ſelligkeit da drinnen entzogen, — hier — das war es, was ich Ihnen 
zeigen wollte. Finden Sie auch das nach Ihrem Geſchmack?“ 

Sie hatte die Schublade eines im Stil Ludwigs des Fünf— 
zehnten aus Roſenholz gearbeiteten Schreibtiſches geöffnet und 


Wer wird fiegen? 2703 





reichte dem jungen Maler eine große Photographie, die Aufnahme 
eines malerilch am Seeufer hingelagerten Schlößchens. 

„Ein richtiger Wohnſitz für eine Märchenfee! Das ift der 
Lago di Como, wenn ich nicht irre.“ 

„Erraten! Und die Villa ift die unjrige. Geſtern ift nach 
langen Verhandlungen der Abjchluß perfekt getworden, der ſie in 
den Beſitz meined Vaters übergehen läßt.“ 

„sch gratuliere Ihnen von Herzen. Wer in der Lage it, 
ji) ein ſolches Fleckchen zu fichern, darf in der That unter die 
beneidenswerten Sterblichen gerechnet werden.” 

Ich danke Shnen! Sa, es ift ſehr hübſch, eigentlich noch 
viel hübjcher, als e8 hier auf dem Bilde ausfieht. Wir lernten 
die Befigung, die biß jegt einem etwas fpleenigen Engländer ge- 
hört Hat, im letzten Winter auf unjerer herfömmlichen Sstalien- 
reite kennen, und wir — das heißt, ehrlich gejprochen: ich — 
waren jo entzüdt davon, daß mein Papa ſchon damals im 
itillen den Entjchluß faßte, Villa und Park zu erwerben. Der 
Engländer erklärte auf eine Anfrage, daß er gar nicht daran 
dächte, ſich ſeines Eigentums zu entäußern. Aber wenn mein 
Papa fih einmal etwa vorgenommen hat, weiß er es aud) 
durchzuführen, und das Wort ‚unmöglich‘ iſt für ihn nicht 
vorhanden. Gejtern überraichte er mich mit der Kunde, daß 
der Raufvertrag unterzeichnet jei, den er in etwa acht Tagen 
al3 fein Angebinde auf den Geburtstagstiih der Mama legen 
werde.” 

„Ein fürftlicheg Geburtstagsgeſchenk! Ihre Frau Mutter 
wird einige Urjache haben, ſich zu freuen.“ 

„Sie wird ſehr überrajcht jein, denn fie ahnt nicht das 
Mindeite. Und damit dieje Ueberraſchung, die das Beſte an der 
Sache ijt, nicht verdorben werde, habe ich mich zu jtrengiter 
Berjchwiegenheit verpflichten müjjen. Daß ichh mein Gelöbnis Ihnen 
gegenüber breche, muß natürlich feine bejondere Urſache haben. 
Können Sie fie erraten?“ 

Gabor dachte ein wenig nad; dann jehüttelte er den Kopf. 

„sch geitehe, daß mein Scharflinn mid) vollftändig im Stiche 
läßt, Fräulein Hertha!” 

„Nein, es ift auch eigentlich unmöglich. Alſo hören Sie! 
Gleich als der Bapa mir feine große Enthüllung machte, Habe ich 


2704 Reinhold Ortmann. 





ihm erklärt, daß ich auch meinen Anteil haben volle an dem Ge— 
Ihenf. Und auf jeine Frage, worin diejer Anteil beſtehen jolle, 
verlangte ich von ihm das Verjprechen, den architektonisch jehr 
. prächtigen Speijefaal und die daran anjtoßende große Garten 
halle, deren künſtleriſche Ausſchmückung mir nicht gefallen hatte, 
nad) meinem Gejchmad umgejtalten zu dürfen. Er machte mir 
eine Blanfozujage, und er war jelbftverftändlich zu vornehm, jein 
Wort zurüdzuziehen, als ich mit meiner Abjicht herausfam, die 
großen Wandfelder wie Die Lünetten von einem bedeutenden 
Maler, den ich aber ganz nach meinem Ermefjen auswählen wollte, 
mit einer Anzahl allegorijcher Gemälde ſchmücken zu lafjen. Daß 
ih über die Perſon dieſes Maler3 von vornherein nicht einen 
Augenblick im Zweifel war, werden Sie nun den Umständen nach 
vielleicht erraten.“ | 

Es war fo viel reizende Schelmerei in dem lang ihrer 
legten Worte und in dem Blick, der dabei über Gabor hin= 
jtreifte, daß er fich hoch beglüct fühlte, noch ehe er Die ganze 
Bedeutung der Aufgabe begriffen hatte, die ihm zu Teil werden 
jollte. 

„Sie hätten an mich gedahht? DO, Fräulein Hertha, das ijt 
mehr Freundlichkeit, als ich verdient habe.“ 

„Aber Sie wifjen ja nod) gar nicht, um was e3 fich handeln 
lol, und ob e3 für Sie überhaupt der Mühe wert fein würde, 
den Auftrag zu übernehmen. Vielleicht ift es eine ganz kindiſche 
Idee, in die ich mich da verliebt habe, und Sie lachen mich ein= 
fach aus. Ich behalte mir nämlich vor, den Künſtler zu in= 
ipirieren, der fie) da in meinem Dienft begiebt. Ich will ge- 
wiſſermaßen meinen jchöpferischen Anteil haben an diefen Bildern, 
und darum werde ich mich nicht damit begnügen, die Motive ans 
zugeben, jondern ich werde die Arbeit Schritt für Schritt durch 
jedes Stadium ihrer Entwidelung begleiten — ich werde mir 
das Recht berausnehmen, Kritif zu üben und meine Meinung 
frei zu äußern — ohne Eigenfinn natürlich und immer bereit, 
mich) von der überlegenen Einsicht des berufenen Künſtlers be— 
lehren zu laffen, aber auch ohne Scheu, eine empfindliche Künſtler— 
eitelfeit zu verlegen. Würden Sie nicht von vornherein davor 
zurüchchreden, Herr Sarlo, auf einen Vertrag mit folchen Be— 
dingungen einzugehen?“ 


Wer wird fiegen? 2705 





„sch könnte mir nichts Köftlicheres und Beglüdenderes denken 
al3 eine ſolche Gemeinſamkeit des Schaffens,” fagte er in einem 
Ton, der wahrlich feinen Zweifel an jeiner Aufrichtigfeit Yafjen 
fonnte. „Aber ich möchte Ihnen faſt zürnen, Fräulein Hertha, 
daß Sie dieje herrliche Phantasmagorie vor meine Seele ge- 
zaubert haben, denn fie wird ja aller Vorausſicht nad) bleiben, als 
was fie mir in diefem Augenblick erjcheint: ein jchöner Traum, 
der niemals Wirklichfeit werden kann.” 

„Und weshalb nur ein Traum? Wenn Ihnen der Gedanke 
gefällt, jehe ich wahrhaftig nicht ein, welche unüberwindlichen 
Hindernifje fich feiner Ausführung entgegenjtellen follten. Die 
Beit und die Arbeitöfraft, die Sie mir zum Opfer bringen, 
würden ja nicht nutzlos verjchwendet fein. Denn ich bin nicht 
jo graufam, meine Schäße ganz für mich allein zu begehren. 
Sie jollen die Wände nicht etwa al fresco bemalen, einzig zur 
Augenweide für die Bewohner der Billa und ihre gelegentlichen 
Bejucher; jondern e8 werden richtige, trangportable Gemälde fein, 
die Sie meinetiwegen ein Jahr lang auf alle Ausſtellungen ſchicken 
fönnen, ehe jie dauernd an ihrem Bejtimmungsort verbleiben. 
Und dann dürfen Sie aud) nicht mißverſtehen, was ich da über 
meine Mitarbeit gejagt habe und über die Inſpiration, die von 
mir ausgehen fol. Nicht in der Art Shrer jebigen Auftrag- 
geber möchte ich Sie beeinflufjen, jondern gerade im entgegen 
gelegten Sinne, indem ich lediglich) darüber zu machen verjuche, 
daß Sie in feinem Augenblid bon dem Wege der reinen Kunit 
abweichen, um auf irgend einem Seitenpfade den wohlfeilen Bei⸗ 
fall der Menge zu ſuchen.“ 

Nun erſt begriff er ſie ganz, und das Herz ging ihm weit 
auf in einem Empfinden beglückter Dankbarkeit. 

„Was für ein großes und ſeltenes Weſen ſind Sie, Hertha! 
Was Sie da thun wollen, ſoll alſo in keiner anderen Abſicht ge— 
ſchehen, als um mich vor der Verſumpfung und dem künſtleriſchen 
Untergange zu retten? So viel wollen Sie an einen Menſchen 
wagen, der Ihnen noch vor wenig Wochen ein Fremder war, 
und der niemals in der Lage ſein wird, Ihnen ſolche Großmut 
nach Gebühr zu danken?“ 

„Nicht doch, Herr Sarlo! Sie bringen mich ja in Verlegen— 
heit, wenn Sie es ſo anſehen, daß ich mir von meinem Papa 

Ill. Haus⸗Bibl. II, Band XII. 17G 





2706 Reinhold Ortmann. 





vielleicht etiwaS anderes außgebeten hätte, wenn ich nicht den Wunſch 
gehabt hätte, Ihnen ein wenig nüßlich zu jein — warum foll ich 
e3 leugnen? Denn Sie werden dod) hoffentlich mein Anerbieten 
nun nicht darum gleich Eurzer Hand ablehnen. Aber von irgend 
welcher Dankbarkeit oder dergleichen darf- niemals die Rede fein 
— das mache ich zur Bedingung. Wenn es mir nicht eine wahre 
Herzensfreude wäre, zu denken, daß es mir vielleicht vergönnt 
ſein ſoll, ein verirrtes Genie auf die rechte Bahn zurück zu führen, 
würde ich mich auf das alles gewiß nicht eingelaſſen haben. Ich 
habe alſo meinen Lohn dahin.“ 

| Gabor Sarlo nahm ihre beiden Hände, ohne daß fie einen 
Verſuch gemacht hätte, ihn daran zu hindern, und drüdte fie an 
ſeine Lippen. 

„Daß es Wahrheit werden fünnte!“ mitcmelte er. „Daß ich an 
Ihrer Hand mich jelbjt und meinen wahren Künitlerberuf wieder⸗ 
finden dürfte!“ 

„Sie ſollen es, Herr Sarlo!“ ſagte ſie herzlich, ihm endlich 
ſanft ihre Hände entziehend. „Und ich will Ihnen auch gleich 
ſagen, wie ich mir die Ausführung meines Planes in reiflichem 
Nachdenken zurechtgelegt habe. Die Villa wird in dieſen Tagen 
von ihrem bisherigen Eigentümer geräumt und ſoll nach etwa 
zwei Wochen zu unſerer Aufnahme bereit ſein. Dann werden 
wir vorausſichtlich einen Monat dort zubringen. Und wenn 
Sie ſich entſchließen könnten, während dieſes Monats unſer Gaſt 
zu ſein, würden ſich alle Einzelheiten für die Ausführung der 
Gemälde bejprechen und feititellen laſſen. Ob Sie dann. die 
Arbeit jelbjt dort an Ort und Stelle oder in Ihrem biefigen 
Atelier bewirken wollen, jtände natürlich ganz bei Ihnen. — 
Eine aber — wie peinlich e8 mir auch fein mag, es aus— 
zujprechen — müßte ich allerdings zur unerläßlichen Bedingung 
machen.“ 

Gabor ahnte injtinktiv, worin diefe Bedingung beitehen 
würde, und Hertha mochte auf jeinem Geſicht leſen, was in 
ihm vorging; jie fam ihm und feinen Einwänden zuvor, indem 
ſie ſagte: 

„Gaben Sie mir nicht zu verſtehen, Herr Sarlo, daß Ihre 
Frau Gemahlin einen lebhaft entwickelten Geſchäftsſinn habe und 
ein ſehr feines Verſtändnis für die praktiſche Seite Ihres Künſtler— 


Wer wird fiegen? 2707 





beruf? Nun, vielleicht wird fie fich leichter zu dem allerdings 
nicht geringfügigen Opfer entjchliegen, Sie auf ganze vier Wochen 
von fich zu lafjen, wenn mein Bapa wegen der Gemälde vorher 
ein fejtes Abkommen mit Ihnen trifft, deſſen Vorausſetzung dann 
aber jener Beſuch in unſerer Billa fein würde. Sie wiſſen, es 
iſt nicht jcehiver, in ſolchen Sachen mit meinem Vater handelseins 
zu werden. So peinlich genau er in jeinen faufmännifchen An- 
gelegenheiten ijt, jo generös ilt er in allen Dingen, die außerhalb 
diejer rein gejchäftlichen Sphäre liegen. Und ic) ſage Ihnen jchon 
jebt, daß Sie für die Mebernahme des Auftrages, der Sie ja 
gewiß viele Monate hindurch ausſchließlich bejchäftigen wird, 
fordern fünnen, was Sie wollen.“ 

„And meine Thätigfeit als Borträtmaler? Glauben Sie 
wirfli, daß ich es verantiworten fünnte, fie ganz zu vernach— 
läjligen? Einige Monate der Unthätigfeit würden ohne Zweifel 
binreihen, mich auf dieſem Gebiete, auf dem ein jo eifriger 
und erbitterter Wettbewerb herrſcht, ganz aus der Mode zu 
bringen.“ 

„Vielleicht ift es eben daS, was ich herbeizuführen wünſche. 
Und wenn Sie die Verantwortung dafür jcheuen, To gejtatten 
Sie mir, ſie auf mich zu nehmen. Habe ich mid) einmal auf da3 
Wagnis eingelafjen, in einem gewiſſen bejcheidenen Sinne Ihre 
Muſe zu fein, jo muß ich wohl auc) bereit fein, alle möglichen 
Folgen zu tragen.“ 

Gabor verjtand nicht recht, wie dieſe Erklärung gemeint jein 
fonnte; oder er war auch nicht in der Verfaſſung, fich jebt den 
Kopf darüber zu zerbrechen. Während diejer leßten Minuten hatte 
ſich's vor ihm aufgethan wie der Ausblick in eine Zukunft voll 
blendenden Glanzes und beraufchender ©eligfeiten. Was er an- 
fänglih nur für die unausführbare Augenblid3faune eines er- 
finderijchen und etwas phantajtischen Mädchenköpfchens gehalten, 
jeßt hatte e3 die greifbare Geftalt der Wirklichkeit angenommen, 
und jeßt — das fühlte er mit voller Gewißheit — mußte e3 
Wirklichfeit bleiben, tvenn die Enttäufhung ihn nicht ganz zu 
Boden jchmettern sollte. 

Frei und ungehindert Schaffen zu dürfen, wie fein künſtle— 
riſches Gewiſſen e8 ihn gebot — ledig der ſchimpflichen SHaven- 
fette des Broterwerb3 — und in dieſem Schaffen mit fein= 

170* 


2708 Reinhold Ortmann. 





finnigem, teilnehmendem Verſtändnis begleitet von dem hold- 
jeligften und liebenswürdigſten Geſchöpf, das ihm bisher auf 
jeinem Lebenswege begegnet war — was konnte er Köftlicheres 
erträumen — und was blieb ihm noch zu wünjchen übrig, wenn 
dieſem monnigen PBhantafiegebilde eine volle Verwirklichung be= 
ihieden war? 

„Und wann —“ fragte er — „wann würde die Entjcheidung 
erfolgen?” 

„Sie würden zunächſt volle acht Tage Bedenkzeit haben. 
Und id) mache es Ihnen zur Pflicht, während dieſer acht Tage 
mit niemandem zu Rate zu gehen als mit fich ſelbſt. Zu allen 
gewünfchten Auskünften und zur Beleitigung aller etwa auf- 
tauchenden Bedenken jtehe ich Shnen natürlich zur Verfügung. 
Und wir werden Gelegenheit. genug haben, uns über meinen 
Plan zu unterhalten, da ic) ja in dieſer Woche täglich zur Sitzung 
fommen muß, wenn das Bild noch rechtzeitig zum Geburtstage 
meiner Mama fertig werden fol. Bei der Feitlichkeit, die aus 
Anlaß dieſes Geburtötages bei uns ftattfindet, wird mein Vater 
dann mit der Frage an Sie herantreten, ob Sie geneigt find, 
die malerilche Ausjchmüdung der Villa am Comer See zu über- 
nehmen. Und dann ift mit Ihrem Sa oder Nein die Sache 
entjchieden.“ 

„Wie meine Antwort ausfallen wird — id) brauche es 
Ihnen wohl nicht erjt zu jagen. Aber meine Frau —! Muß 
ic) auch ihr gegenüber bis dahin Stillichweigen bewahren?“ 

„sa — ich halte e3 für unerläßlid — einmal um des 
feiten Verjprechens willen, daS ich meinem Vater gegeben, und 
dann ein wenig aud) Ihretwegen. Je weniger Gelegenheit Sie 
Ihrer Gattin zu langem Erwägen und Ueberlegen geben, deito 
leichter werden Sie ihre Zuftimmung erlangen. — Nun aber 
dürfen wir ung wohl nicht länger der Gejellichaft entziehen, ohne 
einige Dubend gejchäftiger Läfterzungen in Bewegung zu jeßen. 
Warten Sie nur einen Augenblid, bis ich) das Bild wieder ver- 
ichlofien Habe. So — und nun geben Sie mir Ihren Arm; 
denn es dürfte gerade an der Zeit jein, daß Sie mich zu Tijche 
führen.” Ä 

„Sie — Fräulein Imgart?“ — Er z0g haltig das ver- 
gejjene Kärtchen aus der Taſche und errötete vor Vergnügen, als 


Wer wird fiegen? 2709 





er wirklich ihren Namen darauf lag. „Das ift eine Auszeichnung, 
auf die ich jelbit in meinen fühnjten Träumen nicht zu hoffen 
gewagt hätte?“ | 
| „Sind Ihre kühnſten Träume jo bejcheiden?* necdte fie 
lachend. „Ich will doch hoffen, daß fie gelegentlich auch einen 
etwas höheren Flug nehmen. Aber im Vertrauen will ich Ihnen 
offenbaren, daß ich daS Placement noch im legten Augenblick durch 
eine Kleine Kriegsliſt zuftande gebracht habe, weil ich Hoffte, es 
würde Ihnen jo recht fein. Ein Gejtändnis, das ich Ihnen als 
ein mwohlerzogene3 junges Mädchen eigentlich nicht machen dürfte 
— nicht wahr?” 

Gabor fand darauf feine andere Antwort al3 die, daß er ihr 
wiederum die Hand küßte, bejeligt durch den leichten Druck der 
Ichlanfen Finger, den er dabei verjpürte. 

Dann führte er jte hinaus. Und ihr gemeinjfames Wieder- 
ericheinen wurde jebt vielleicht weniger bemerkt, als es zehn 
Minuten früher der Fall gewejen wäre, da die Gejellichaft in der 
That eben im Begriff war, ſich zur Tafel zu begeben. 

Von dem, was er während der nächſten Stunden erlebt, 
hatte Gabor nachher nur Die beglüdende Erinnerung an einen 
holden Rauſch, der alles um ihn her gleichſam in einen rojigen 
Nebel eingehüllt und ihn auf Flügeln des Entzückens hoch über 
alle nüchterne Wirklichkeit emporgetragen hatte. Hertha jchien 
all ihren beſtrickenden Liebreiz heute nur für ihn zu entfalten, 
und es war, als ob daS geheime Einverjtändnis, das jeit der 
Unterredung im Boudoir zwilchen ihnen obwaltete, ihnen plößlic) 
‚die Berechtigung gegeben hätte zu einer Vertraulichkeit, wie fie 
vor diejer Stunde ihrem Verkehr niemal3 eigen gewelen mar. 
Immer wieder, abfichtlid oder unabfichtlih, fanden ſich zu 
flüchtiger, Eojender Berührung ihre Hände, und öfter noch — 
namentlich danı, wenn fie mitten in dem braujenden Stimmen 
geſchwirr Minuten lang beide in traumverlorenem Schweigen da= 
gejefjen — begegneten ſich ihre Augen zu einer verjtohlenen Zivie- 
ſprache, von der fie glauben mochten, daß fie feinem aus ihrer 
Umgebung wahrnehmbar oder verjtändlich jei. 

Dann, nad) Aufhebung der Tafel, hatte der Ball feinen 
Anfang genommen, und unter den vielen eifrigen und unermüd— 
lihen Tänzern war Gabor der eifrigjte und unermüdlichite ge- 


RE 
& 7 
— 


2710 Reinhold Ortmann. 





weſen. Das feurige Temperament der Raſſe, der er entſtammte, 
kam bei ihm niemals ſo augenfällig zu Tage, als wenn er ſeine 
ſchlanke, geſchmeidige Figur nach den rythmiſchen Klängen eines 
Walzers oder einer Mazurka bewegen konnte. Dann ſprühte 
alles an ihm von Leben und jugendlicher Daſeinsfreude. Seine 
Augen leuchteten wie die eines vom fröhlichen Spiel erhitzten 
Kindes, und die weichen Lippen unter dem martialiſchen Schnurr— 
bart lächelten gleichfalls mit einem naiven, unſchuldigen Kinder— 
lächeln, das dem friſchen, roſigen Geſicht einen Ausdruck herz— 
gewinnender Liebenswürdigkeit verlieh. 

Er war ein Gegenſtand freundlichſter Aufmerkſamkeit für alle 
anweſenden Damen; aber er gewahrte die ermutigenden Blicke 
gar nicht, die ihm von allen Seiten zuflogen. Er tanzte faſt nur 
mit Hertha, und er würde in ſeiner freudetrunkenen Welt— 
vergeſſenheit überhaupt keine andere aufgefordert haben als ſie, 
wenn nicht ſie ſelbſt, während ſie in ſeinem Arm dahinflog, ihm 
gelegentlich die Bitte zugeflüſtert hätte, ſich dieſes oder jettes 
ſchmachtenden Mauerblümchens zu erbarmen. 

Eben hatte er ſie wieder an einen anderen Tänzer abtreten 
müſſen, als er ſich plötzlich am Arm berührt fühlte und zu 
ſeiner fatalen Ueberraſchung in das lächelnde Geſicht des Doktor 
Roberti ſah, von deſſen Anweſenheit in der Geſellſchaft er bis 
dahin überhaupt nichts gewußt hatte. 

Seit jener Unglücksnacht in Erich von Brunnecks Atelier 
hatte jeder Verkehr zwiſchen ihm und dem Journaliſten aufgehört 
und bei gelegentlichen, zufälligen Begegnungen auf der Straße 
war er ohne Wort und Gruß an ihm vorübergegangen. Aber 
der Doktor hatte ihm gegenüber den Großmütigen geſpielt und 
hatte es verſchmäht, ſich für dieſe beleidigend geringſchätzige 
Behandlung mit den Waffen ſeiner beißenden Satire zu rächen. 

Wiederholt hatte er in den von ihm bedienten Zeitungen 
und Journalen in Ausdrücken warmer Anerkennung von dem 
Talent des vielverheißenden jungen Malers geſprochen, und er 
hatte ſeiner letzten Porträtausſtellung ſogar einen größeren 
Artikel voll faſt überſchwänglichen Lobes gewidmet. . 

Deſſen erinnerte fi) Gabor in diefem Augenblid peinlicher 
Ueberraſchung ſehr gut, und ein gewiſſes Danfbarkfeit3bedürfnis 
feiner liebenswürdigen, jedes dauernden und tiefen Grolls ganz 


[le nn — - 


Wer wird fiegen? 9711 





unfähigen Natur, wie auch die Rückſicht auf den Schauplah 
der unerwarteten Begegnung, machten e3 ihm unmöglich, den 
Sournalilten zu brügfieren. 

„Buten Abend, mein mwerter Herr Sarlo! Sieht man 
Sie auch einmal wieder? — Ein fehr amüfantes Feſt, nicht 
wahr?“ 

„Ich fir meine Perſon wenigſtens unterhalte mich recht gut.“ 

. „Man braudt Sie nur anzujehen, um davon überzeugt 
zu fein. Darf ich vielleiht auch Ihre Frau Gemahlin be- 
grüßen?” 

„Meine Frau ift nicht hier, Herr Doktor!” 

„Ach, wie fchade! Ein kleines Unmwohljein vermutlich? 
Jedenfalls bitte ich, meine beſten Empfehlungen zu übermitteln 
und meine herzlichſten Wünſche für baldige Geneſung. Was 
macht denn die Kunſt? Sie geht nach Brot — nicht wahr? 
Oder nach Auſtern und Champagner, wie man in Ihrem Falle 
wohl richtiger ſagen muß. — Uebrigens ein verteufelt reizendes 
Mädchen.“ 

„Wer, Herr Doktor? — die Kunſt?“ 

„Seit wann ſind Sie ſo witzig, lieber Freund? Nein, 
nicht die Kunſt meinte ich, ſondern die holdeſte ihrer Be— 
ſchützerinnen, die liebenswürdige Tochter dieſes gaſtlichen Hauſes. 
Als ich Sie ſo mit ihr dahinfliegen ſah, habe ich zum erſten— 
mal in meinem Leben bedauert, nicht auch ein flotter Tänzer 
zu ſein, und ich habe Sie zum taufenditen Mal um ihren un- 
widerjtehlichen Schnurrbart beneidet.” 

Gabor wußte nicht recht, ob er den Empfindlichen ſpielen 
oder mit einem Lächeln über die Bemerkung hinweggehen follte. 
- Aber Roberti ſelbſt half ihm aus dieſer Verlegenheit, indem 
er in feiner gleichmütig jpöttifchen Weiſe auf ein anderes, jchein- 
bar weit abliegendes Thema überjprang. 

„Kennen Sie den Herren da drüben — den mit dem 
ſchwarzen Spisbart und dem Augenaufichlag eines Sterbenden? 
Nein? Es giebt alſo wirklich noch einen Menjchen in Berlin, 
der ihn nicht fennt, den berühmten Ludwig Feldern, den 
genialiten Dramatifer der Gegenwart und Zukunft? Dann 
haben Sie vielleicht auch noch gar nicht3 von dem interefjanten 
Roman gehört, deſſen Held er augenblidlich iſt?“ 


2712 Reinhold Ortmann. 





Gabor, der ſchon wieder fehnfüchtig nach Hertha ausjchaute, 
hatte feinen anderen Wunjch als den, von den unangenehmen 
Schwätzer loszufommen. | 

„Nein. Und ich muß geftehen, Herr Doktor — —“ 

„oO, fallen Sie ſich's nur erzählen. Es ift eine amüjante 
Geſchichte, und vielleicht ſogar ein bißchen lehrreich. Aber 
wenn ich jagte, daß Feldern der Held des Romans ift, ſo Habe 
ich mich nicht ganz korrekt ausgedrüdt. Einen Helden giebt e3 
bei jolchen Gejchichten überhaupt niemals, weil fich die männ- 
lichen Akteure nichts weniger als heroiſch zu benehmen pflegen. 
E3 giebt da immer nur eine Heldin. Und die ift in diejem 
Tall die überjchlanfe Dame mit der Botticelli-Frifur, mit der 
Sie unjern großen Dramatiker eben jo lebhaft plaudern jehen. 
Sie ift die gejchiedene Frau eines Bankier und die glücdliche 
Beliterin einer Rente von dreißigtaufend Mark. Seit zwei 
Sahren it fie auf der Jagd nach einem berühmten Manne, 
und bei der Premiere, die Ludwig Feldern über Nacht zu einer 
Berühmtheit machte, hat fie ihn gefunden. Alle Welt betrachtet 
die beiden jchon al3 eine Art Brautpaar. Man verjäumt nie, 
fie zufammen einzuladen und fie bei Tijch nebeneinander zu 
eben. Hundert gefällige Leutchen arbeiten mit rührender Ge- 
Ihäftigfeit an dem LZuftandefommen des hübſchen, Kleinen 
Skandals, ohne den e3 nicht abgehen zu jollen jcheint, ehe die 
beiden in den Hafen der Ehe einlaufen "Tönnen.“ 

„Eines Skandals?“ fragte Gabor, der nur mit halbem 
Ohr zuhörte, weil er Hertha eben im Geſpräch mit einigen 
Herren an der anderen Seite des Saales jah. Und Doktor 
Roberti neigte fi) ganz nahe zu ihm, um mit jcharfer Be- 
tonung zu flüftern: 

„E3 giebt da nämlich ein kleines Hindernis, injofern als 
der große Dichter leider verheiratet iſt. Ich Fannte ihn und 
feine Frau jchon zu der Zeit, da er noch weit davon entfernt 
war, der berühmte Ludwig Feldern zu fein, und da der Ge— 
richtsvollzieher jehr viel häufiger bei ihm erjchien al3 der Geld- 
briefträger. Damals wäre er vermutlich elend zu Grunde 
gegangen, wenn nicht die Heine, tapfere Frau dageweſen wäre, 
um das ſchwanke Schifflein feines Lebens mutig an allen 
Klippen vorbei zu fteuern. Ein Philiſter würde jagen, daß er 


Wer wird fiegen? | 2713 





ihr nicht weniger als alles zu danken bat, und daß er fie dafür 
bis an das Ende jeines Lebens auf den Händen tragen müßte. 
Aber wir find ja hier glüdlicherweije feine Gejellichaft von 
Philiſtern, jondern von freidenfenden, vorurteilslofen Leuten. 
Und wir finden e3 darum ganz in der Ordnung, daß der 
große Feldern einer Gefährtin überdrüflig wird, die nur eben 
für den fleinen Feldern gut genug war. “Gebt, da er die 
- Höhe gewonnen hat und mit einem Sahreseinfommen von 
Hunderttaufenden rechnen darf, braucht er natürlich eine andere 
Frau als eine, die fich aufgezehrt hat im Kampf mit der 
Mijere des Lebens. Jetzt braucht er nur noch eine Mufe, die 
ihn injpiriert, eine Göttin, vor der er anbetend auf den Knieen 
liegen fann. Und wenn es eine Dufe mit dreißigtaufend Mark 
Rente jein fann — nun, um fo bejjer! Nur Heingeijtige und 
engherzige Pfahlbürger können darin jo etwas wie eine Schurferei 
erbliden. — Uber fie hören mir ung zu, Herr Sarlo — meine 
Geſchichte langmweilt Sie?” 

„DO, durchaus nicht. Sie fagten, daß Herr Feldern — 

„Daß er im Begriff iſt, einen Schurfenftreich zu begeben 
— nad philiftröfer Auffaſſung. Wir Dichter und Künftler 
denken darin jelbitverjtändlich ganz anders. Wir haben ja den 
wunderschönen Begriff erfunden von dem Rechte der Perſönlichkeit, 
ich auszuleben. Und damit haben wir die Rechtfertigung ge- 
funden für alles, was uns auf Kojten unferer Nebenmenschen 
zu thun beliebt. Aber ich will Sie nicht länger aufhalten, Herr 
Sarlo! Mir jcheint, daß Ihre jchöne Mufe jehnfüchtig nach 
Ihnen ausschaut.“ 

Damit war er wieder im Gewühl verſchwunden; Gabor 
aber glaubte noch jein fatales, ſpöttiſches Lachen zu vernehmen, 
und all das beraujchende Glüdsgefühl, das ihn während der 
lebten Stunden erfüllt hatte, war mit einem Mal dahin. 

„So ernjt, Herr Sarlo?“ hörte er im nächſten Augenblid 
Herthas weiche Stimme. „Sit Ahnen etwas Unangenehmes 
widerfahren? Oder fangen Sie an, fich zu langweilen?“ 

Er proteitierte natürlich gegen eine ſolche Vermutung, und 
wenige Sefunden jpäter wirbelte er wieder mit ihr im feurigen 
Tanze dahin. Aber e8 war nicht mehr dasjelbe wie vorher; 
das fühlte Hertha mit ficherem weiblichen Inſtinkt, und fie ſchien 


2714 Reinhold Ortmann. 





entichloffen, der Urjache der Veränderung auf den Grund zu 
kommen. 

„Ich ſah, daß Sie ſich mit dem Doktor Roberti unter- 
hielten,“ jagte fie. „Hat er Ihnen vielleicht eine feiner beliebten 
Bosheiten verſetzt, daß Sie jo arg veritimmt find?“ 

Und mit naiver Aufrichtigfeit erwiderte der junge Maler: 

„Nein, er hat mir nur eine häßliche Klatjchgeichichte eraählt, 
eine, die ich Lieber nicht gehört hätte?“ 

„Und darf man fragen, wen fie betraf?“ 

„Ach, man follte dergleichen nicht wiederholen. Wahr- 
icheinlich ijt ja auch gar nichts daran.” 

Aber fie ließ nicht nach, in ihn zu dringen, bis er ihr 
wiederholt hatte, was ihm von Robertis Erzählung im Ge- 
dächtnis geblieben war. Er hatte vielleicht erwartet, daß fie 
voll fittliher Entrüftung die beiden Gäfte gegen einen jo 
Ihimpflihen Verdacht in Schuß nehmen würde. Aber fie that 
nicht3 dergleichen, fondern fagte vielmehr zu feiner Ueberraſchung 
in eigentümlich ernitem Ton: 

„Was der hämifche, Kleine Doftor Ihnen da zugetragen 
hat, it vermutlich vollfommen wahr. Zwei große und ftarfe 
Naturen, die das Schickſal gleichfam von allem Anbeginn für 
einander beſtimmt hatte, ringen da nach Vereinigung. Und ich 
hoffe, daß es ihnen gelingt, die Hinderniffe zu überwinden, 
die fi) der Berwirffihung ihrer Wünjche entgegenitellen.“ 

Gabor war ganz betroffen von der Ruhe und Beſtimmtheit, 
mit der fie das Jagte. 

„Sie meinen aljo, daß Herr Feldern recht daran thäte, ſich 
von feiner Frau jcheiden zu laſſen — auch wenn fie ihm feinen 
Anlaß gegeben hat, fich über fie zu beflagen?” 

„Ste macht ihn unglüdlich durch ihr bloßes Dafein; weil 
er dies fremde Dafein, zu dem er feine innere Beziehung mehr 
hat, wie einen Leichnam mit fich herum fchleppen muß. Sit 
das noch nicht Grund genug?“ 

„Sit Ste denn von feinen Wiünfchen und von feinem Ber-. 
hältni3 zu jener anderen, das doch alle Welt zu fennen und 
zu billigen jcheint, nicht unterrichtet?” 

„Sie müßte blind und taub umhergehen, wenn fie e3 nicht 
wäre. Aber fie will ihn nicht freigeben. Und es fehlt ihm, 


Wer wird jiegen? 2715 





wie es ſcheint, an der rechten Energie, fich feine Freiheit zu 
erzwingen. Unter den Männern viel mehr al3 unter den Frauen 
find ja die mitleidswürdigen Schwächlinge zu ſuchen, die ſich 
ihr Leben durch eigene Schuld verpfuſchen, weil ſie den Mut 
nicht aufbringen können, glücklich zu ſein.“ 

Die Muſik verftummte, und auch wenn Gabor auf ihre 
legten Worte: eine Erwiderung in Bereitichaft gehabt Hätte, 
hätte fie unausgejprochen bleiben müfjen, da eben einige junge 
Damen heranjchiwirrten, um ſich von Hertha zu verabjchieden. 
Und nun wurde der Aufbruch bald allgemein. Gabor fand 
feine Gelegenheit mehr, verjtohlene Worte mit der Tochter des 
Gaſtgebers zu taufchen. Ein Händedrud und ein nur für ihn 
vernehmliches, von einem bedeutfamen Lächeln begleitetes: „Auf 
morgen aljo!" mar alles, was ihm in diefer Nacht noch an 
Bunftbeweifen von ihr zu teil wurde. 

Bon einem nahen Kirchenturme jchlug e3 Vier, als er in 
die Straße einbog, in der feine Wohnung lag. 

Und er Hatte fich Jo feit vorgenommen, frühzeitig wieder 
daheim zu fein, weil er jich mit feiner Frau hatte verjühnen 
wollen! Wie jeltiam, daß er während der ganzen Nacht nicht 
mehr daran gedacht hatte — nicht ein einziges Mal! Wie 
hatte doc) Hertha gejagt? Mitleidswürdige Schwädhlinge, die 
fi) ihr Leben durch eigene Schuld verpfujchen, weil fie den 
Mut nicht aufbringen fünnen, glüdlich zu fein! — Ob fie viel- 
leicht auch ihn im Verdacht hatte, einer diefer Schwädhlinge 
- zu fein? Und ob er nicht vielleicht in Wahrheit zu ihnen 

zählte? 

Se mehr er über ihre Worte grübelte, deſto mehr wollte 
es ihn bedünfen, al3 ob fie nicht ohne eine ganz bejtimmte Be- 
ziehung auf ihn gejprochen worden jeien. Aber wenn es jo 
war — mein Gott, welcher Ausblid that ſich dann vor ihm 
auf! War e3 möglich, daß Hertha in der Freundfchaft, die fie 
mit ihm verband, ein Seitenjtüd jah zu dem Roman, der ſich 
da zwiſchen den dramatischen Dichter und der gejchiedenen 
Bankiersgattin abjpielte? Siedend heiß ſtrömte ihm alles Blut 
zum Herzen, al3 jeine Gedanfen bis zu diefem Punkte gelangt 
waren. Er mußte jeinen Hut lüften und feinen Ueberrod auf- 
reißen troß der fchneidenden Kälte der Winternacht. Und ob— 


2716 Reinhold Ortmann. 





wohl er ficher war, daß Helene bereits im tiefen Schlafe lag, 
gewann er es nicht über‘fich, in diefem Zustande der Erregung, 
der fich feiner plößlich bemächtigt Hatte, feine Wohnung auf- 
zujuchen. Bier- oder fünfmal noch jchritt er die Straße auf 
und nieder, ehe er fich wieder Herr geworden glaubte über den 
Sturm beunruhigender und unflarer Empfindungen, der da 
mit elementarer Gewalt feine Seele durchbrauft Hatte. 

Er war jebt voll Zorn über fich ſelbſt, und fortwährend 
glaubte er die jchrille, höhnifche Stimme des Doktor Roberti 
zu hören, wie er ihm zurief: 

„Ein Schurfenjtreih — nad der Auffaffung der Philiſter! 
Wir aber find eine Gejellichaft von freidenfenden, vorurteils- 
(ojen Leuten.“ 

Kein, bei Gott — auch wenn es wirklich das Glüc war, 
das ihm da winkte, nicht um jolchen Preis wollte er es feit- 
halten. Taufendmal eher wollte er alle ehrgeizigen Hoffnungen 
begraben, als daß er zum Schurfen würde an feinen Weibe! 

Niemals war feine Seele voll beſſerer Vorſätze geweſen 
als jest, da er leile die Treppen emporitieg und geräufchlos 
die Entreethür öffnete, um Helenens Schlummer nicht zu 
Itören. | 
Die Thür zum Wohnzimmer war nur angelehnt, und 
durch den Spalt fiel ein heller Lichtichimmer auf den Vorplatz 
hinaus. Er jchlich auf den Fußſpitzen Hinzu und warf einen 
ſpähenden Blid in das Gemach. Es war ficherlich nicht feine 


Schuld, daß ihn die hübſche Einrichtung, an der er noch vor . 


wenig Monaten jeine helle Zreude gehabt, dürftig und reizlog 
anmutete nach) all der verſchwenderiſchen Pracht und Dem 
raffinierten Luxus, Die ihn vorhin umgaben? Oder war es 
vielleicht nicht jo jehr die Einrichtung al3 das Bild, zu dem 
fie in dieſem Augenblid den Rahmen abgab? Denn Helene 
war nicht zur Ruhe gegangen, wie fie e8 auf feinen ausdrüd- 
lihen Wunſch ſonſt immer that, wenn er ohne fie eine Gejell- 
ſchaft beſuchte. Sie ſaß vielmehr vollitändig angelleidet am 
Tiſche und er fonnte nicht im Zweifel fein über die Art der 
Beihäftigung, der fie fich während feiner Abwetenheit hin- 
gegeben hatte. Sie hielt einen Strumpf in der Hand und ein 
mit Strümpfen gefüllte Körbchen ftand vor ihr auf dem Tiiche. 


Wer wird fiegen? 2717 








Wahrjcheinlich Hatte jie fich in der Erwartung jeiner Rückkehr 
bis lange nad; Mitternacht die Zeit mit Strümpfeltopfen ver- 
fürzt, um dann doch endlich von der Müdigkeit überwältigt zu 
werden. Denn 'fie war in den Stuhl zurüdgelehnt und jchlief 
jest; ihr Köpfchen war nad) hinten gefunfen, und die ruhigen 
Atemzüge einer friedlich Schlummernden hoben ihre Bruft. Sie : 
jah jehr hübſch aus, und Gabor hätte fich wahrlich Feine befjere 
Gelegenheit für die beabfichtigte Verfühnung mwünjchen können, 
al3 fie fi) ihm da durch die Gunſt des Zufall bot. Er 
brauchte ja nur hin zu gehen und Helene mit einem zärtlichen 
Kup aus dem Schlummer zu weden, um ihrer Verzeihung ge= 
wiß zu jein. | 

Aber um nichts in der Welt hätte er über fich vermocht, 
es zu thun. Wie lieblich auch vielleicht jedem andern das Bild 
diefer über ihrer hausmütterlichen Beichäftigung vom Schlafe 
überrajchten, rofigen, jungen Grau erjchienen wäre — ihn mutete 
e8 an, wie eine Allegorie der häuslichen und künſtleriſchen 
Miſere, in der er fein Talent und jeine Schaffensfreude zu 
Grunde gehen fühlte. 

Sparen und erwerben, fliden und Strümpfe ftopfen — das 
war es, was feine Frau unter den Pflichten einer Künftlers- 
gattin verjtand und was fie ewig darunter verjtehen würde! 
Wenn er fie jebt übervollen Herzens in jeine Arme gejchlofjen 
hätte, fie wäre imjtande gemwejen, ihn zu fragen, ob er viel— 
leicht einen neuen Auftrag mit nad) Haufe bringe. Und darauf 
oder auf etwas dem Wehnliches durfte er es nicht ankommen 
lafjen, wenn nicht diefer Augenblid von verhängnispoller Be- 
deutung werden jollte für die ganze Zukunft feiner Che. | 

So trat er nicht über die Schwelle, jondern juchte nad) 
einem Mittel, Helene zu weden und ihr feine Anmejenheit fund 
zu thun, ohne daß er ihr darum Auge in Auge hätte gegen- 
über treten müfjen. Er begab fich in jein Atelier und warf 
die Thür desjelben jo heftig hinter fich zu, daß die Schlummernde 
Dadurch notivendig aufgejchredt werden mußte. Dann zündete 
er die Gasflammen an, weil er ihr Zeit laſſen wollte, fich zur 
Ruhe zu begeben, ehe er felbft das Schlafzimmer auffuchte. 
Aber die PViertelftunde, die er da zwilchen jeinen fertigen und 
angefangenen Porträts verbrachte, diejer jchablonenhaftern Dußend- 


2718 Reinhold Ortmann. 





ware, deren Anblid ihm ein Gefühl tiefiten Widerwillend er- 
zeigte — fie war für das Glück feiner Ehe vielleicht verhängnis- 
al3 irgend ein unbedachtes Wort der ‚Jungen Stau es 
hätte fein können. 

Unter es dieſen Arbeiten der lebten Monate, ſo weit ſie 
ſich noch in ſeinem Atelier befanden, war ja nur eine einzige, 
die er aus künſtleriſchem Empfinden heraus und mit wahrer 
fünjtleriicher Schaffensfreude begonnen —: Hertha Imgarts 
Borträt. Und vor dieſem bis auf einige unbedeutende Kleinig- 
keiten vollendeten Bildnis ſtand er jebt wie in andächtiger 
Verzückung, um noch einmal zu durchleben, was diefer Abend 
ihm. an unvergeßlich ſeligen Augenbliden gebracht hatte. Bor 
denn Blick diejer gemalten Augen, deren Wiedergabe ihm fait 
über die eigene Erwartung hinaus gelungen war, zerjtoben alle 
jeine großen und edlen Vorjäße in leereg Nicht. Und wenn 
Helene jeßt auf den Gedanken gekommen wäre, ihn zu über— 
rajchen, würde ihr ein einziger Bli auf fein jenem Gemälde 
zugemwandtes Antlitz offenbart haben, wie es um feine Empfindungen 
beitellt war. 

Aber fie war wohl zu jtolz, ihn zu belaufchen. Als er 
nach einer geraumen Weile leife daS eheliche Schlafgemach be— 
trat, jah er ihr blondes a mit geichlofjenen Augen auf 
dem Kiffen ruhen, wie wenn jie bereitS wieder feſt eingejchlafen 
wäre. Und er fonnte Jich entkleiden, ohne ein Wort mit ihr 
zu jprechen. Die Öefahr einer Auseinanderjeßung, die in- diejer 
Stunde vielleicht don unerwarteter Tragweite gemwejen wäre, 
war aljo durch das von ihm gewählte AuskunftSmittel glücklich 
abgewendet. Aber während er nun bis gegen Tagesanbruch 
hin ſchlummerlos in die Dunkelheit jtarrte, umgaufelt von immer 
wechjelnden, verführeriich lockenden Bildern, flang es ihm fait 
unabläffig im Ohre nad), daS bedeutjame Wort Hertha von 
den Schwächlingen, denen daS Glück entichlüpft, weil fie den 
Mut nicht aufbringen können, es feitzuhalten. 


Zweiundzwanzigites Kapitel. 
Nun waren auch die legten Vorbereitungen erledigt, und 
Erich) von Brunned hatte, wie er bei fich jelber jagte, die 


Wer wird jiegen? 2719 





Schiffe verbrannt, die ihm eine Nüdfehr in das alte Beben er= 
möglicht hätten. 

Wie heftig auch Dolly unaufgörlich zur Eile gedrängt 
Hatte, waren doch volle acht Tage vergangen, ehe er alles hin- 
länglic) geordnet hatte, um die große Reife antreten zu können. 
Und er hatte fich damit einverjtanden erklären müſſen, Daß jeine 
Berlobte, der der Berliner Boden buchſtäblich unter den 
Füßen zu brennen jchien, feitden der entjcheidende Entſchluß 
einmal gefaßt worden war, ſchon einige Tage vor ihm nad) 
Hamburg fuhr. 

Auch einem anderen von ihr fundgegebenen Wunjche, der 
ihn an und für ſich noch weniger ſympathiſch war, hatte er 
ih unter dem Zwang der Umstände fügen müfjen. 

Doly Hatte ihm nämlich erklärt, daß fie aus Rückſicht 
auf ihre in Hamburg lebende Zamilie, mit der ſie durchaus 
feine nochmalige Berührung zu haben wiünjche, während Des 
dortigen Aufenthalt3 nur unter faljchem Namen in einem Hotel 
logieren könne. Und alle feine Einwendungen waren an Der 
Beharrlichkeit geicheitert, mit der fie auf ihrem Willen beftand. 

Nach den Erfundigungen, die er eingezogen hatte, fonnte 
auch in Helgoland die Trauung nur auf Grund von Ausweiſen 
erfolgen, deren Beibringung man ihm al3 ganz unerläßlich 
bezeichnet hatte. Yür jeine eigene Perjon machte Die Be— 
Ihaffung der nötigen Papiere allerdings nicht die geringjten 
Schwierigkeiten. Dolly aber war über die Notivendigfeit, ſich 
mit derartigen Dokumenten zu verjehen, jehr verjtimmt geweſen, 
und hatte fein Erbieten, ihr zur Erlangung derjelben behilflich 
zu fein, mit der Motivierung abgelehnt, daß ihre Familie leicht 
auf ihr Vorhaben aufmerkfjam werden könnte, wen jie etwa 
zufällig erführe, daß irgend ein Unbekannter auf jolche Art um 
ihre Angelegenheiten befiimmert jei. 

„Zur rechten Zeit werden die Schriftſtücke Schon da ſein,“ 
hatte fie ihn verfichert. Und da er ſie über die Wichtigkeit 
derjelben ja nicht im Zweifel gelaſſen hatte, glaubte er fich mit 
diefer vollkommen zuverjichtlich Hingenden Erklärung begnügen 
zu können. 

Er hatte darauf verzichtet, fie zu dem Abendzuge, mit 
dem fie gefahren war, an die Bahn zu begleiten, weil alles 


2720 Reinhold Ortmann. 





vermieden werden follte, was ihre Abficht vorzeitig verraten 
fonnte. Und er hatte die wenigen Tage, die ihm dann nod) 
in Berlin verblieben waren, ausschließlich auf die Erledigung 
gejchäftlicder und perjönlicher Angelegenheiten verwendet, ohne 
irgend einem feiner alten Freunde und Belannten, von denen 
feiner über fein Borhaben unterrichtet war, einen Abſchieds— 
beſuch zu machen. 

Wohl that es ihm leid, daß er nicht wenigſtens Gabor 
Sarlo und feinem Schwiegervater zum lebten Lebemwohl die 
Hand drüden konnte, und wohl kämpfte er lange mit der Ver— 
ſuchung, einen jchriftliden Scheidegruß an Magda zu richten. 
Aber Dolly Hatte feine feite Zufage, daß er nicht Derartiges 
tun würde, und er hielt fich verpflichtet, feinem Verſprechen 
treu zu bleiben. 

Das Kapital, das ihm nach Erfüllung aller Verbindlic- 
feiten noch verblieb, war Fleiner als er e3 vorausgejehen hatte, 
und er mußte fich jagen, daß die Ausfichten für feine und 
Dolys Zukunft trübe genug jeien, wenn es ihm nicht gelang, 
drüben in der neuen Welt bald eine fichere Eriftenz zu finden. 
Uber e3 Half ja zu nichts mehr, ſich jebt mit Sorgen zu 
plagen um das, wa3 fommen würde. Es gab fein Zurüd 
mehr, jondern nur noch ein unerbittliche8 Vorwärts, und es galt, 
gleichlam mit gejchloffenen Augen den Sprung in dag Ungewiſſe 
zu thun. 

Erich kam fich vor wie ein abenteuernder GlüdSritter, als 
er an einem vegneriihen Winterabend zum leßtenmal feine 
Berliner Wohnung verließ, um die unten harrende Droſchke zu 
beiteigen, die ihn zum Bahnhof bringen follte. 

Während er dem Kutjcher behilflich war, feinen Reiſekoffer 
auf dem Bod unterzubringen, fiel fein Blick auf einen Vorüber— 
gehenden, der ihn jeinerjeitS eigentümlich jcharf und lauernd 
zu beobachten fchien. Es war ein auffallend groß und breit- 
Ihultrig gebauter Mann mit dunklen, ſeltſam gligernden Augen, 
und Erich hatte auf der Stelle die fichere Empfindung, daß er 
diefen Menfchen nicht zum erjtenmal in jeinem Leben jah. 
Aber er vermochte fich nicht zu erinnern, wo und unter welchen 
Umftänden er ihm begegnet jei. Und da der Unbekannte hajtig 
weiter ging, hatte er ihn bald vergeſſen. Als er eine halbe 





\ 


Wer wird fiegen? 2721 





Stunde jpäter einen lebten Blid durch das Fenfter feines 
Wagenabteils auf den Bahnfteig warf, wollte es ihm jcheinen, 
als wäre der hochgewachlene Mann, der in großer Eile an 
dem jchon zur Abfahrt bereiten Zuge entlang lief, um fich noch 
im legten Moment einen Platz zu fichern, derjelbe, deſſen jcharf- 
geichnittene Züge vorhin jeine Aufmerkjamfeit erregt hatten. 
Aber er hielt diefen flüchtigen Eindrud für eine durch eine zu= 
fällige Nehnlichfeit hervorgerufene Täufchung, und feine Ge— 
danken waren in diejen enticheidungdjchweren Angenblicken zu 
ſehr mit anderen, bedeutjameren Dingen bejchäftigt, al3 daß 
er auf eine jo nebenſächliche Wahrnehmung hätte Gewicht 
legen follen. 

Beim Morgengrauen traf er in Hamburg ein. Aber er 
nahm jein Quartier nicht in demjelben Hotel, das Dolly ge= 
wählt hatte Denn wenn jchon dieſe heimliche Helgoländer 
Trauung fehr wenig den Vorjtellungen entipradh, die er ih 
bisher von der Würde und Feierlichkeit einer Eheſchließung 
gemacht, jo würde er ſich's vollends nimmermehr verziehen 
haben, wenn jein Verhalten während dieſer fluchtartigen Neije 
die weibliche Ehre jeiner Verlobten noch mehr fompromittiert 
hätte. Er hatte fie auch nicht von dem Zeitpunkt feiner An— 
funft unterrichtet, um zu verhindern, daß fie ihn etwa am 
Bahnhof erwarte, und eine unerflärliche Scheu, eine Feigheit, 
die er nicht zu überwinden vermochte, wie ſehr er ſich auch ihrer 
ſchämte, hielt ihn ab, ſchon in der erſten ſchicklichen Morgen— 
ſtunde zu ihr zu eilen. 

Es war faſt Mittag geworden, als er ſein Hotel verließ, 
um das ihrige aufzuſuchen. An der Loge des Pförtners ver— 
weilte er einen Augenblick, um ſich zu erkundigen, ob ihm etwa 
ein Brief oder ein Telegramm nach Hamburg nachgeſandt 
worden ſei. Und in dieſem Moment — jetzt war es ſicherlich 
keine Täuſchung — ging draußen vor der offenen Thür der 
ſonderbare Unbekannte von geſtern vorüber, ihn mit demſelben 
funkelnden Blick betrachtend, der ihm zuerſt die Empfindung 
erweckt hatte, daß es nur die Wiederholung einer früheren 
Begegnung ſei, die er da erlebte. Auch jetzt wußte er ſich 
nicht zu erinnern, wo dieſe Begegnung ſtattgefunden; aber er 
eilte, einem gebieteriſchen Zwange folgend, auf die Straße 

Ill. Haus⸗Bibl. U, Band XII. 171 


2722 Reinhold Ortmann. 





hinaus, um den Mann, der ihn allem Anfchein nad) ge- 
fliffentlich verfolgte, jchärfer ind Auge zu fallen, oder ihn, wenn 
es fich al3 möglich erwies, geradezu zur Rede zu jtellen. 

Doc wie aufmerkſam er auch nach allen Seiten ausſpähte, 
der Unbefannte war ihm während Diejer wenigen Sekunden 
entjchwunden, als ob die Erde ihn verjchludt hätte, und Erich 
mußte jeinen Weg antreten, ohne feiner noch einmal anfichtig 
geworden zu jein. — 

Mit ſtürmiſcher Zärtlichkeit wurde er von Dolly empfangen. 
Sie wurde nicht müde, ihn zu verfichern, daß fie während der 
Ichredlihen Tage, die jie wie eine Gefangene hier in ihrem 
Hotelzimmer verlebt Habe, von der Sehnfuht nach ihm und 
von der brennenden Ungeduld fat verzehrt worden je. Und 
ihr Ausſehen zeugte hinlänglich dafür, daß fte nicht übertrieb, 
denn fie war bleich und übernächtig, ihre Nafenflügel vibrierten 
in heftiger, nerpöfer Erregung und ihre Augen glühten mie im 
Sieber. Als er fie fragte, ob fie inzwiſchen in den Beſitz der 
Papiere gelangt ſei, erklärte fie haftig, es jei alles in Ordnung, 
und fie habe feinen fehnlicheren Wunſch als den, noch heute 
zu reifen. Ihre Kleinen Hände frampften fih zujammen, als 
Erich ihr auseinanderjegen mußte, daß daran nicht zu denken 
jei, da erit am übernädjiten Tage ein Schiff abginge, das fie 
benußen könnten. Auch fei dem Geiftlichen auf Helgoland erit 
für diefen Tag ihre Ankunft angekündigt worden, jo daß fie 
nicht darauf rechnen könnten, ſchon bei einem früheren Eintreffen 
ihre Wünfche erfüllt zu jeher. Das Gewicht feiner Gründe 
war ein derartiges, daß fie wohl einjah, es werde ihr aud) 
diesmal nicht3 anderes übrig bleiben, als fich in jeine Wünjche 
zu fügen. Aber es jchien ihr heute noch ſchwerer zu werden, 
al8 an jenem Tage in Berlin, und Erich war geradezu bejtürzt 
bon der nervöſen Aufgeregtheit in ihrem Benehmen. 


Er machte ihr den Borjchlag, ihn auf einem Spaziergang 


durch die Stadt oder auf .einer Fahrt nach irgend einem Punkt 
der Umgebung zu begleiten. Aber fie lehnte es ab mit der 
Begründung, daß fie Gefahr laufen würde, einem ihrer An- 
gehörigen oder ihrer früheren Bekannten zu begegnen. Da: 
gegen übergab ſie ihm ein Verzeichnis von allerlei ver— 
Ichiedenartigen Gegenftänden, deren fie noch für .die meite 





Wer wird fiegen? 2123 


Reiſe bedurfte und deren Bejorgung fie vor der Abfahrt von 
Berlin verjäumt hatte, mit dem Erjuchen, diefe Dinge für jte 
zu faufen. 

So wenig er jich auch eine jolche Empfindung eingejtehen 
mochte, war Erich doch vielleicht im Grunde des Herzens froh, 
der Notwendigkeit eine längeren Beilammenjeing, da unter 
den obwaltenden Umpftänden etwas jehr Peinliches und Be— 
drückendes für ihn hatte, durch dieſen Auftrag vorerjt über- 
hoben zu jein. Und er verließ Dolly mit dem Verſprechen, 
ihr gegen Abend das Gemwünjchte zu überbringen. Als er 
\hon auf der Schwelle jtand, warf ſie ſich noch einmal, wie 
vorhin bei feinem Erjcheinen, ſtürmiſch an feine Brujt nnd 
flüfterte: 

„Wären wir doch erſt fort — weit fort! Mir ift jo 
bang, mein ©eliebter, jo unausjprechlich bang!“ 

Er juchte fie zu beruhigen, joweit es ihm in feiner eigenen 
feinesweg3 ruhigen und zuderjichtlichen Stimmung möglich war. 
Aber er ſah qn dem Zucden ihrer Mundwinfel und an dem 
ungejtümen Wogen ihres Buſens, daß jeine Worte die beab- 
fichtigte Wirkung auf fie nicht hervorbrachten, wenn jte Sich 
auch nach einer Weile den Anjchein gab, von der Grundlojig- 
feit ihrer unerflärlichen Furcht überzeugt zu jein und ihn mit 
einem leidlich gefaßt Elingenden: „Auf Wiederjehen denn heute 
abend!“ entlieg. — — (Sortfegung folgt.) 











NORDEN GERSOL 
ISCH. Deutliche Dichterarüße. TER“ 

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Die Fluge Tochter. 


Diltor Blüthgen. 


Mutter ſprach, wie Mütter ſind: 
„Kind, laß Klugheit walten! 

. Wenn dein Herzchen Liebe fpinnt, 
Nimm dir feinen Alten! 
Alter Mann ift wunderlich; 
Blickſt du auf, fo ärgern dich 
Weißes Baar und Salten.“ 





Mutter fprah: „Ach, denfe dran, 
Willſt du einft nicht härmen: 
Kommt ein junger Sreiersmann, 
Mußt nicht gleich erwärmen! 
Junge Treu ift feltner Art; 
Glücklich macht fein fchmuder Bart, 
Loch verliebtes Schwärmen.“ 


Ei, das wär’ ein feltfam Ding. 
Mied' ich den und diefen! 

Wenn ich nach der Mutter ging, 
Hätt' ich’s wohl zu büßen. 

Wer mich liebt, der mag mich frein! 
Müßt' ich immer Sräulein fein, 
Sollt’ es mich verdrießen. 


ib 


— 





| Im dentfchen Reichstag. 


Ein Blid in die parlamentarifche Majchinerie. 
Don A. Dakar Rlaußmann. 


(Nahdrud verboten.) 
er in Berlin lebt oder Gelegenheit hat, für längere 
14 oder fürzere Zeit nach Berlin zum Beluch zu fommen, 

nimmt wohl Gelegenheit, einmal einer Sitzung des 
deutjchen Reichſtags beizumwohnen. Wenn es Zeit und 
Umjtände erlauben, macht man wohl auch unter Führung der 
Hausbeamten einen Nundgang durch diejenigen Räumlichkeiten 
des Reichstags, welche dem Publikum gezeigt werden. Hallen 
bon riefigen Dimenfionen, von gewaltiger Länge und Höhe thun 
ſich dann vor dem Belucher auf, große Näume, faft ausnahms— 
108 zu Sitzungszwecken dienend, zum Teil noch nicht einmal 
fertig ausgeführt, mehr oder minder koſtbar möbliert und aus— 
geſchmückt, fieht der Beſucher. Sein Fuß wandelt auf Diden 
Riejenteppichen, die aus einem Stüc nach bejonderen Maßen 
gefertigt jind, und in welche meiſt das Monogranım D. R. 
(Deuticher Reichstag) eingewebt iſt. Das Auge erfreut fich an 
‚Kunftwerfen au8 Marmor und aus Sitrianer Kalkſtein, kunſt— 
volle, bunte Glasfenſter ſpenden gedämpftes Licht, und man 
empfindet es, daß etwas von Wichtigfeit und Feierlichkeit in den 
Räumen dieſes Hauſes liegt. Aber der Bejucher ift noch nicht 
imstande, fich ein richtiges Bild von dem parlamentarijchen Be— 
triebe zu machen, befommt feinen Meberblid über die Thätigfeit 











2726 4. Oskar Klaußmann. 





der verjchiedenen Faktoren, die notwendig find, um die Mafchinerie 
de3 deutſchen Reichſstags in Gang zu erhalten, und bejonder3 
bleibt e3 ihm unklar, wo die treibende Kraft diefer Mafchinerie 
eigentlich ſteckt. | 

Die drei Faktoren der Gejebgebung und der Regierung im 
deutjchen Reiche find erſtens der Sailer, dem der Reichskanzler 
und die Staatsjefretäre zur Seite jtehen, zweiten? der Bundes- 
rat, deſſen einzelne Mitglieder von den Bundesfürſten Bayerns, 
Sachſens, Württemberg, Badend, Heſſens ꝛc. ernannt find und 
die Intereſſen der Bundesfürjten und Bundesitaatern vertreten. 
Als dritter Faktor fommt der Reichötag hinzu, Der aus den ge— 
wählten Vertretern des deutjchen Volkes beiteht. Das Reichstags-⸗ - 
gebäude ift daS Geſchäftshaus ſowohl für die einzelnen Parteien 
des Volkes, als für den Bundesrat, denn diejer verfügt nicht 
über ein bejondere® Gejchäftshaus. So: find innerhalb des 
Reichstagsgebäudes alle Faktoren zu gemeinfamer Arbeit ver— 
einigt. Deshalb hat auch der Reichskanzler, haben die Minifter 
ihre bejonderen Arbeit3- und Unterfunftsräume, und felbft für 
den Kaiſer jtehen für den Fall jeiner Anmejenheit Räume zur 
Verfügung. Das Reichstagsgebäude enthält nicht nur im jo- 
genannten Zwiſchengeſchoß eine Kaijerloge, in welcher der Kaiſer 
mit jeinem Gefolge den Sitzungen beiwohnen kann, fondern hinter 
diejer Hofloge find noch Räume für den Kaijer und fein Gefolge 
vorgejehen. Es find hier Jogar Einrichtungen vorhanden, die 
dem Kaiſer geftatten, zu arbeiten und ſich Vorträge halten zu 
laſſen. | 

Das Reichstagsgebäude ift bekanntlich nad) den Plänen des 
ehemaligen Frankfurter Architekten Paul Wallot ausgeführt, der 
bei dem PBreisaugjchreiben im Jahre 1882 für feinen Entwurf 
den erſten Preis erhielt. Am 18. Juni 1883 bejchloß der Neichs- 
tag die Berufung des Architeften Wallot zur Ausführung des 
Baues, und am 9. Juni 1884 wurde durch Kaiſer Wilhelm 1. 
der Grundſtein des NeichStagshaufes gelegt. Am 5. Dezember 1894 
war der Bau hergeitellt, und Kaiſer Wilhelm II. legte den 
Schlußſtein des Reichſstagsgebäudes. Die eigentlichen Baufojten 
haben ſich auf einundzwanzig Millionen Mark geſtellt. Es wurden 
außerdem bewilligt: für die innere Ausſtattung des Hauſes 
an Möbeln 600000 Marf, wobei ein Zeil des Mobiliar aus 


Im deutjchen Reichstag. 2727 





dem alten Reichstagsgebäude in der Leipzigerſtraße mit verivendet 
wurde; für Beleuchtungsförper 400000 Mark, für Teppiche, 


Totalanficht des Neichstagsgebäudes, im Pordergrunde das Bismard-Dentmal. 


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Läufer und Vorhänge 275000 Mark. Für die fünjtlerische Aus— 
ſchmückung des Innern des Haujes war von 1893 bis zu Be— 


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—2 — — 


2728 U, Oskar Klaußmann. 








ginn der jetzigen Reichſtags-Legislatur-Periode (1898 bis 1903) 
mehr al3 eine Million Mark ausgegeben worden. Die fünitle- 
riſche Ausſchmückung ift jedoch noch nicht fertig, und diefer Mangel 
macht ſich an verjchiedenen Punkten für den Bejucher ſtörend 
bemerkbar. 

Machen wir nun einen Rundgang dur) das Gebäude nad) 
anderen Grundſätzen, al3 jonjt die Führung der Befucher erfolgt. 
Suchen wir einmal hinter die Couliffen dieſes Rieſenbetriebes 
zu jehen, und mögen ſich Leſerin und Leſer und vertrauensboll, 
wenigſtens im Geiſte anjchliegen. Sie werden Einblid gewinnen 
in eine Rieſen-Hauswirtſchaft, in welcher e8 allein vierzig Scheuer- 
frauen giebt. 

Um un im voraus einen Weberblic über da3 Innere des 
Neichtagsgebäudes zu verichaffen, jei feitgeitellt, daß der Rieſen— 
bau fünf Gefchofje hat und zwar: ein Kellergeſchoß, ein Erd— 
geichoß, ein Hauptgeſchoß, ein Zwiſchengeſchoß und ein Ober— 
geſchoß. Das Zwiſchengeſchoß ijt recht eigentümlich eingerichtet, 
es enthält gegenüber den anderen Geſchoſſen auffallend wenig 
Räume, die an und für ſich benußbar find. Der große Sitzungs— 
faal, die riefigen Wandelhallen, welche den Sitzungsſaal umgeben, 
die koloſſalen Vejtibüle an den vier Eingangsſeiten de Haufe 
reichen nämlicd) vom Erdgeſchoß bis in das Zwiſchengeſchoß 
hinein. Die erjterwähnten Räumlichkeiten gehen durch daS ganze 
Haupt= und durch das ganze Zwiſchengeſchoß. Beinahe den 
Mittelpunkt des großen Gebäudes bildet die Kuppel; unter dieſer 
liegt, durch das ganze Obergejchoß gehend, ein leerer Raum und 
dann unter diefem der Sitzungsſaal. Zivei Höfe von rechtecdiger 
Form liegen innerhalb des Reichstagshauſes, einer mit den 
Längsfeiten nad) Norden, der andere mit den Längsjeiten nacı 
Süden (Brandenburger Thor), Wir begeben uns Ddireft nad) 
dem Hauptgejchoß, und zwar nad) der Nord-Dftleite desſelben 
und kommen hier in das Bureau des deutjichen Reichstags. 

Diefes Bureau iſt die Achje des ganzen parlamentarifchen 
Betriebes, die treibende Kraft des großen Mechanismus, ge— 
wijjermaßen der feite Bol in der Erjcheinungen Flucht. Andere 
Abgeordnete kommen in das Haus, andere Präſidenten und 
Schriftführer leiten die Geſchäfte des Hauſes, andere Reichs— 
fanzler und Staatsjefretäre, andere Bundesrats-Mitglieder treten 


BE = — i⸗ 


Im deutjchen Reichstag. 2729 





im Laufe der Zeit auf. Gleichmäßig bleibt nur das Bureau, 
welchen alle Pflichten eines Hausverwalters, einer Verwaltungs— 
Behörde, gewiſſermaßen die Pflichten einer Hausfrau und eine 
Menge techniicher Verpflichtungen obliegen, von deren Größe 
man ſich auf den erjten Blid gar feinen Begriff machen kann. 
Wollte man Pflichten und Aufgaben des Reichstagsbureaus auS- 
führfich ſchildern, ſo witrde ein ziemlich) dicfleibiger Band dadurd) 
entjtehen. Wir müſſen und damit begnügen, anzuführen, daß 
das Bureau eine Reichsbehörde it, die zu feiner anderen Be— 
hörde in Beziehungen oder im Abhängigkeit3verhältnis jteht, und 
welche lediglich dem Reichsſtags-Präſidenten unterjteht, für den 
da3 Bureau wiederum die rechte Hand, die Helferin und Die 
augführende Behörde ijt. Der Reichstag jelbit iſt feine Behörde, 
er it einer der gejeßgeberifchen Faktoren des Reiches und fteht 
mit den anderen Faktoren in gleihem Range. So find 3. B. 
Reichdtagspräfident und Reichskanzler ſich vollitändig gleich- 
gejtellt. 

Der Haudherr, diejenige PBerjönlichkeit, die im Neichstags- 
hauſe alle Anordnungen zu treffen hat, ift der Reichstag3- 
Präſident, den die Mitglieder des Reichstags aus ihrer Mitte 
wählen und zu deſſen Unterjtüßung zwei Bice-Prälidenten und 
einige Schriftführer ebenfalls durch Wahl beſtimmt erden, 
Da aber der Reichstags-PBräfident nicht jelbjtändig alle Einzel- 
heiten bearbeiten fann, da es zu gewijlen Beiten, 3.8. nad 
Auflöfung eines NReichstages oder nach Ablauf einer Sibungs- 
periode überhaupt fein Reichsſtags-Präſidium giebt, bildet das 
Bureau des Reichstags die Vertretung des Präfidenten, natürlich 
unter jeiner Kontrolle und vorbehaltlich feiner Genehmigung 
der einzelnen Schritte. An der Spite de3 Bureaus ſteht feit 
vielen Jahren eine jehr verdienjtuolle Berjönlichkeit, ver Geheime 
Regierungsrat Knack, ein Mann, auf deſſen Schultern, wenigſtens 
zeitweife, eine ungeheure Arbeit lajtet. Während der Sibungs- 
periode giebt es Tage, an denen Taufende von Zujchriften und 
Zufendungen ankommen, die ohne allen Aufenthalt erledigt 
werden müſſen. Dieſe Arbeiten verteilt der Bureau-Direktor 
an jeine Beamten; er bejtimmt, von wen und wie die Eingänge 
zu bearbeiten find. Er vermittelt den Berfehr im ganzen Haufe, 
er weilt den einzelnen Abgeordneten nötigenfalls Beamte zır, 





2730 4. Osfar Klaußmann. 





ſucht alle Wünfche der Abgeordneten zu erfüllen, beauffichtigt 
. die Haus-Inſpektoren, nimmt alle Anträge, die Abgeordnete in 
der Sitzung ſchriftlich zu Stellen beabfichtigen, entgegen, empfängt 
die in den Kommilfionen entworfenen Berichte, um ihre weitere 
gefchäftliche Behandlung zu veranlaffen; außerdem erledigt der 
Direktor jelbftändig den größten Teil der riefigen Korreſpondenz 
mit Behörden und Privaten. Er nimmt die Petitionen ent- 
gegen, die aus dem Reiche einlaufen, er führt den Abgeordneten 
da3 don ihnen gewünschte Arbeitsmaterial zu, er bejorgt die 
Drudjachen, er hat den brieflichen Verfehr mit den Abgeord- 
neten, wenn ſie in der Heimat find, er bejchäftigt die Druderei 
im Haufe, er dirigiert hundert verjchiedene Dinge und muß 
jelbjt am Schreibtiich täglich eine Arbeit leiſten, die jehr oft 
das Maß von Menjchenfräften überjteigt. Ihm unterjteht das 
Stenographenbureau und die Bibliothek, ihm unterstehen das 
Archiv und die Führung der Generalaften, er trifft vor jeder 
Seſſion die nötigen Vorbereitungen, um die Wiederaufnahme 
der Arbeiten im Haufe zu ermöglichen. Wenn nad) der Neu- 
einberufung des Reichstags die erjte Situng beginnt, und der 
Präfident die Worte ausſpricht: „Die Sigung iſt eröffnet!” 
jo ift eine Riejenarbeit des Bureaus in der Zwiſchenzeit voll- 
zogen worden, um der parlamentarischen Majchinerie die Wieder- 
aufnahme der Arbeit zu ermöglichen. Auch wenn der Reichs— 
tag während einer Legislaturperiode gejchloffen iſt und feine 
Situngen ftattfinden, hört die Arbeit im Bureau nicht auf. 
Es müſſen dann Ueberſichten angefertigt werden über Die 
Thätigfeit des Reichsſtags und der Kommillionen. E3 find die 
verjchiedenartigften Arbeiten, die der Reichstag gewünscht oder 
angefangen hat, weiterzuführen, es jind beitändig Eingänge ent- 
gegen zu nehmen, die Arbeit hört nicht auf! Sie vermindert ſich 
allerdings, wenn der Reichstag geſchloſſen ift, und deshalb wird 
um dieſe Zeit auch das Perſonal des Haufes und des Bureaus, 
das nicht etatmäßig angejtellt it, entlaſſen und erſt wieder ein- 
geitellt, wenn die Sigungen beginnen. Zum ftändigen Perſonal 
des Haufes gehören außer dem Bureau-PDireftor und den haupt- 
ſächlichſten Bureau-Beamten die Bibliothefare, der Chef des 
Itenographijchen Bureau, die Haus-Inſpektoren, der ingenieur, 
dem die Ventilation, die Beleuchtung und die Heizung unter- 





Im deutfchen Reichstag. 21 





ſteht, die Portiers, der Botenmeiſter und eine Anzahl von 
Dienern. Auch die Zahl der vierzig Scheuerfrauen, die unter 
einer beſonderen Oberin ſtehen, wird, während der Reichstag 


8 RR Tan ARTE AN REIN) EA £ 2 
Dis 


— — 


Zimmer des Kaiſers im Reichstagsgebäude. 





geſchloſſen tft, vermindert, weil ja dann nicht täglich in großen 
Stil reingemacht zu werden braucht. Wird aber eine neue 
Sejjion des Neichstages eröffnet, dann finden ſich die Leute, 
die entlafjen wurden, wieder zum Dienſt ein, die Fraftiong- 
diener, die Saaldiener, die Thüröffner, die Aufzugmwärter, die 


2732 A. Oskar Klaußmann. 





Maſchiniſten und Heizer, die Stenographen, die Boten, die 
Kolonne der Reinigungsfrauen uſw. 

Zu den notwendigſten Dingen für den Betrieb im Hauſe 
gehört, außer der Inſtandhaltung des Gebäudes, der Räumlich— 
keiten; der Möblierung und Ausſtattung, außer der Reinigung 
und der jetzt noch notwendigen Vollendung der künſtleriſchen 
Ausſchmückung vor allem die Heizung, Lüftung und de- 
leuchtung. | 

Die Beleuchtung der Innenräume des Reich3tages geichieht 
ausſchließlich durch eleftriiches Licht. Es find viertaufend 
Glühlampen und ungefähr Hundert Bogenlampen vorgejehen. - 
Die eleftriiche Kraft wird im Haufe ſelbſt erzeugt. 

Senjeit3 der Sommerftraße, der Oſtfront des Reichstags— 
gebäudes gegenüber, befindet „jich (jet noch im Neubau) ein 
gewaltiges Gebäude im Monumentalitil, die Amtswohnung 
des Reichstags-Präſidenten. (Augenblicklich befindet fich die— 
jelbe bis zur SHeritellung des Neubaues am Pariſer Platz.) 
Hinter dieſem Monumentalbau befindet ſich noch ein Gründſtück, 
auf welchem ein hoher Schornſtein, ein Keſſelanlage- und ein 
Maſchinenhaus ſtehen. In dieſem Keſſel- und Maſchinenhaus 
werden Dampf und Elektrizität für die verſchiedenen Zwecke 
des Reichstagsbetriebes erzeugt. Erſt ſeit kurzem hat ſich die 
Reichstags-Verwaltung dieſe eigene Elektrizitätsanlage ein— 
gerichtet. Sie entnahm früher den Strom von den Berliner 
Elektrizitätswerken, wie auch die ganze elektriſche Inſtallation 
von der Allgemeinen Elektrizitäts-Geſellſchaft, von der die 
Elektrizitätswerke eine Abteilung ſind, geliefert wurde. Die 
Elektrizität dient nicht nur zur Beleuchtung, ſondern auch zum 
Antrieb der zwölf großen Ventilatoren, die im Kellergeſchoß 
des Hauſes aufgeſtellt ſind. Dieſe ſaugen friſche Luft vor 
allem durch die oberen Fenſter der beiden Weſttürme des 
Neichstags-Gebäudes in das Haus ein. Durch eine beſonders 
kunſtvolle Einrichtung wird bejtändig frifche Luft, die, wenn 
nötig, vorher erwärmt wird, durch alle Räume, Korridore, 
Säle und Höfe geleitet und die verwandte Luft nach dem Keller 
zurüdgeführt, von wo aus fie durch die beiden Türme an der 
Ditieite wieder in3 Freie gedrücdt wird. Der große Sitzungs— 
ſaal erhält einen fünfmaligen Luftwechjel in der Stunde, für 








Im deutſchen Reichstag. . 2733 





die übrigen Sitzungsſäle, für die Erfriſchungsräume und den 
Leſeſaal ift ein ziweimaliger, für die Kloſetts und Garderoben 
ein zwei- bis Ddreimaliger, für die fonjtigen Räume ein ein- 
maliger LZuftwechjel in der Stunde vorgejehen. 

In der falten Sahreszeit werden ſämtliche Räume des 
Haufes auf 20° Celſius geheizt, die Borhallen werden auf 
10° Celſius erwärmt. Die Korridore, Treppenhäufer und Bor- 
hallen find durch Dampfluftheizung, die Bibliothek, der Leje- 
jaal, der lange Saal der Reftauration, die Bureaus und 
Wohnungen durch Warmwaſſerheizung erwärmt. 

Gemijchtes Heizſyſtem, nämlich Luftheizung und außerdem 
noh Warmmafjer-Heizförper in den Fenſterniſchen haben die 
Sigungsfäle, ferner ‚der Schreibjaal und der Edjaal der 
Rejtauration. 

Für den großen Sibimgsjaal ift eine von der übrigen 
Anlage getrennte Dampf-Warmwafjer-Luftheizung eingerichtet. 
Die Lüftung und Erwärmung des Haufe fteht unter beftändiger 
Kontrolle durch fogenannte Ferninftrumente, insbeſondere durch 
Thermometer. Dieje Apparate zeigen in einem Zimmer im 
Erdgeichoß, in welchem der Ingenieur des Haufe ſitzt, beitändig 
an, welche Temperatur in jedem einzelnen Raume herricht, mit 
welcher Geihwindigfeit ſich die Lüftung in den verjchiedenen 
Räumen vollzieht, und welche Beichaffenheit die Luft in jedem 
einzelnen Raume des Haufes hat. Die eine Längswand des 
Sngenieurzimmers ijt von einem Riejenschaltbrett in Anſpruch 
genommen, auf welchem metallene Hebel befeitigt find, die man 
nach recht3 und links, nach) unten und oben oder durch da3 
Umdrehen eines an ihnen befeitigten Rädchens bethätigen kann. 
Der Ingenieur oder feine Leute brauchen nur hin und wieder 
einen Kontrollblid auf dieje Apparate zu werfen, um jederzeit 
über Temperatur und Lüftung des Haujes unterrichtet zu ein. 
Wollen fie einem oder mehreren Räumen mehr oder weniger 
warme, mehr oder weniger frilche Luft zuführen, beablichtigen 
fie tm Sommer, die Temperatur gewiljer Räume durch Zu- 
führung frischer Luft herabzufegen, fo brauchen fie nur an 
den am Schaltbrett vorhandenen Hebeln zu manipulieren, um 
auf weite Entfernung in dem betreffenden Raum den gewünjchten 
Erfolg zu erreichen. Die Fahrſtühle im Haufe werden hydraulisch 


2734 : 4. Oskar Klaußmann. 





betrieben; den Dampf, das Heiz- und Drudwaffer liefert die — 


bereit3 erwähnte Keſſel- und Mafchinenanlage jenjeit3 der 
Sommeritraße. 

Beginnen wir jet unjeren Rundgang von dem Bureau 
de3 Direftord aus. Der Eingang zu demjelben liegt in einer 


langgeitredten, mit Oberlicht verjehenen Halle, welche den Vor- 4 


raum für die Zimmer de3 Präſidenten bildet. Säulen von 
rechteckigem Duerjchnitt und gewaltiger Stärke, aus iftrijch- 
dalmatijchem Kalkitein gefertigt, tragen die.Wölbung der Halle. 
Ein rotbrauner Teppich dedt den Fußboden, hohes, eichen- 
geichnigtes Geftühl, deſſen Rückwand mit Gold und bunten 
Farben gepreßtes Leder bildet, und dag in Riefen-Dimenfionen 
den ftilifierten Reichsadler zeigt, jchmüdt diefen Vorraum. Wir 
wollen hier gleich darauf hinmweilen, daß, ebenfo wie in diejem 
Raume, im ganzen Reichstagsgebäude für die Ausführung der 
Dekorationen, der Möbel, der Beleuchtungskörper uſw. die beiten 
Firmen im ganzen Reiche zugezogen worden find. 

Sp find z. B. in diefem Raume die zwei gewaltigen Kron— 
feuchter für Gasglühlicht von einer Augsburger Firma geliefert, 
und e3 find an den Dekorationen beteiligt Firmen in Mann- 
heim, Hamburg, Berlin, Darmjtadt uf. 

Nahe der Thür, die zu dem Bureau des Direktors führt, 
mündet eine zweite Thür in den Edjaal der Bibliothek, der die 
Heine Bibliothek enthält, nämlich die Nachjchlagewerfe, die für 
den jofortigen Gebrauch der Reichstagsmitglieder hier bereit 
ſtehen. Der große Arbeitsfaal und die Bücherei befinden ſich 
im Obergejchoß, jtehen aber mit dem Raum hier unten durch 
Aufzüge und eine Art Rohrpoft in Verbindung. An der öft- 
lichen Langjeite der Präfidial-VBorhalle liegen ſolide, aber ver- 
hältnismäßig einfach ausgejtattete Zimmer für die Schriftführer, 
für die Bice-Präfidenten, für den Präfidenten, und außerdem 
befindet fih hier noch ein Konferenz- Zimmer, in dem der 
Neichstagsvorjtand feine Situngen abhalten kann. Die un- 
mittelbare Nähe des Pirektorial-Bureaus3 neben dem Zimmer 
des PBräfidenten ermöglicht ein rajches und ficheres Zufammen- 
arbeiten. Dieſem Vorraum der Präfidial-Abteilung entiprechend 
liegt jenjeit3 des Ofteinganges, auf der anderen Seite des Ge— 
bäudes, ein ganz gleicher Vorraum, welcher für den Bundes- 








Im deutjchen Reichstag. 2735 





rat beitimmt if. Bon bier aus gehen Thüren nad) dem 
Zimmer de3 Neichsfanzlerd Grafen von Bülow und der 
Staat3jefretäre Grafen Poſadowsky, von Thielmann und von 
Richthofen. Auch der Reichsfanzler und die Staatsſekretäre 
haben ein bejonderes Konferenzzimmer. Dielen Räumlichkeiten 
reihen fich ein VBorzimmer und zwei Situngsfäle für den 
Bundesrat an. Der Bundesrat bejchließt über die im Reichs— 
tag zu machenden Vorlagen und hat fich darüber zu erklären, 
ob er die vom Reichstag gefaßten Bejchlüffe annimmt. , Er be- 
Ichließt ferner über die zur Ausführung der Reichsgeſetze er- 
forderlichen Verwaltungs-Vorſchriften und Einrichtungen. Er 
beichließt ferner über Mängel, welche bei Durchführung der 
Neichsgefege oder der erwählten Vorſchriften und Einrichtungen 
hervortreten. Es find adhtundfünfzig Stimmen im Bundesrat 
vorhanden. Bon dieſen hat Preußen feiner Einwohnerzahl 
entiprechend fiebzehn Stimmen, Bayern ſechs, Sachſen und 
Württemberg je vier, Baden und Helfen je drei, Medlenburg- 
Schwerin und Braunſchweig je zwei, alle anderen Staaten und 
freien Städte je eine Stimme. Jedes Bundesrat3- Mitglied 
ilt befugt, Vorjchläge zu machen und zum Bortrag zu bringen, 
und das Präſidium des Bundesrat3, d. h. der Reichsfanzler, 
it verpflichtet, diejelben zur Beratung zu jtellen. Trotzdem e3 
nur adhtundfünfzig Stimmen im Bundesrat giebt, find doch 
einhundertvierundvierzig Bevollmächtigte und deren Stellvertreter 
zum Bundesrat vorhanden. Für verjchiedene Beratungs- 
angelegenheiten lafjjen fich die Staaten eben durch verjchiedene 
Bevollmächtigte vertreten, welche den Gegenjtand der Beratung 
bejonder8 genau fennen und beherrichen. Nur die Kleinen 
Staaten und freien Städte haben gewöhnlich nur einen jtändigen 
Bertreter. Aus dem Borraum fommen wir nad) links in den 
eigentlichen Bundesrat3faal, wo ein hufeilenfürmiger Tijch 
jteht, um welchen die ſchweren, mit Seidenplüfch bezogenen 
Stühle für die Vertreter der einzelnen Staaten ftehen. Auf 
jedem Platz liegt eine Ledermappe, die den Reichsadler, ſo— 
wie den Namen des Bundesftaat3 oder einer der den Bundes- 
ſtaaten gleichgeitellten, freien Städte Hamburg, Lübeck oder 
Bremen in Golddrud trägt. Ein ziemlich breiter, veranda- 
ähnlicher Balkon umgiebt dieſes Zimmer, welches leider zu 


Er in —n 





2738 2. Oskar Klaußmann. 





denjenigen gehört, welche noch immer nicht fertig ſind. Die 
neun Felder in der Tannenholz-Decke ſollen mit Gemälden ge— 
ſchmückt werden, und es iſt bis jetzt nur eine Probe der Bemalung 
der Decke gemacht worden, welche ſonderbar genug ausſieht. 
Die Gobelins, welche die Wände bekleiden ſollen, ſind noch nicht 
fertig, und die Wände ſind daher vorläufig mit grauem Stoff 
beſpannt. Ueber dem großen Kamin aus iſtriſchem Kalkſtein 
iſt ein rechteckiger Raum ausgeſpart, in welchen ſpäter ein 
Relief aus vergoldeter Bronze eingelaſſen werden ſoll. Dieſes 
Relief ſoll Kaiſer Wilhelm J. von einem Eichbaum längs eines 
Kornfeldes zu einem Lorbeerbaum reitend, darſtellen. 

Durch den Vorraum des eben beſichtigten Hauptſitzungsſaales 
gelangen wir nun in den einfacher gehaltenen Sitzungsſaal für die 
Ausichüffe des Bundesrat3. Der Bundesrat bildet nämlich aus 
feiner Mitte folgende dauernde Ausſchüſſe: 1. Für das Land— 
heer und die Feftungen, 2. für das Seewejen, 3. für Zoll- und 
Steuerweſen, 4. für Handel und Verkehr, 5. für Eijenbahn-, Poſt— 
und Telegraphenwejen, 6. für Juftizwejen, 7. für Rechnungs— 
wejen. In jedem diejer Ausſchüſſe müfjen, außer dem Präſidium, 
mindeſtens vier Bundesstaaten vertreten fein, von denen jeder 
nur eine Stimme hat. Die Zufammenjegung der Ausjchüffe 
wird für jedes Jahr erneuert. Es wird außerdem im Bundes- 
rat aus den Bevollmächtigten der Königreiche Bayern, Sachjen 
und Württemberg und zwei vom Bundesrat alljährlih zu 
wählenden Bevollmächtigten anderer Bundesftaaten ein Aus— 
ſchuß für die auswärtigen Angelegenheiten gebildet, in welchem 
Bayern den Vorſitz führt. Bayern Hat auch) noch andere 
Refervatrechte im Bundesrat. Es hat 5.8. in dem Ausſchuß 
für das Landheer und die Feitungen einen jtändigen Sitz. Die 
übrigen Mitglieder dieſes Ausjchuffes werden ebenfo wie die 
des Ausſchuſſes für das Seewejen vom Kaijer ernannt, wohin- 
gegen die Mitglieder der anderen Ausjchüjfe vom Bundesrat 
gewählt werden. Neben diefem Saal befindet fich die hoch— 
elegant eingerichtete, mit allen Bequemlichkeiten verjehene 
Garderobe de3 Bundesrat. Im Reichstag Hat man für 
„Garderobe“ das Wort „Kleider-Ablage” eingeführt; obgleich 
diefer Ausdrud nicht volljtändig das Fremdwort vertritt. In 
der Garderobe find ja auch Wajchapparate und andere Ein- 


— ——— — — - 


Im deutſchen Reichstag. 2737 





richtungen für Toilette aufgeftellt und e3 handelt fich alfo nicht 
allein um das Ablegen der Kleider. Erwähnenswert find hier 
die Telephon-Apparate, welche ſowohl in den Sitzungszimmern, 
al3 auch in den Klorridoren und im Foyer angebracht find und 
e3 ermöglichen, das nächjtgelegene Fernſprechamt anzurufen. 
Eine eigene Vermittelungs- oder entralitelle für das Fern- . 
ſprechweſen hat der Reichsſstag nicht, während z. B. eine folche 
im preußijchen Abgeordnetenhaufe zur Erleichterung des Ver— 
fehres vorhanden it. Mit dem preußijchen Abgeordneten- und 
mit dem Herrenhaus ift der Reich3tag durch zwei direkte Leitungen 
verbunden. Es ijt dies deshalb nötig, weil ja jehr oft die Mit- 
glieder des Reichstags auch Mitglieder des preußiſchen Herren- 
oder preußilchen Abgeordnetenhaufes find, und e3 notwendig 
werden kann, die Herren bei wichtigen Abjtimmungen aus einem 
der Parlamente nad) dem andern zu berufen. 

Da wir auf der Ditjeite de8 Gebäudes jind, befichtigen 
wir gleich die Logen, da am Oſtportal die Aufgänge für Die 
Diplomaten und HofsXogen liegen. Das Publikum, welches 
die Neichstagsfikungen befuchen will, muß durch den Nordein- 
gang, durch Portal V, jeinen Eintritt nehmen. Hier befindet 
ih unten linf® die Billet-Ausgabe, welche jo viel Billetg, 
natürlich unentgeltlich, ausgiebt, als Plätze vorhanden find. 
Sobald die Tribünen bejegt find, werden Billet3 erjt wieder 
ausgegeben, wenn Bejucher die Tribünen verlajjen haben. Aus 
dem Beltibül, in dem fich die Billetausgabe befindet, kommt 
man auf den Nordhof, der ebenjo wie der Südhof, eine Länge 
von 25 und eine Breite von 14 Meter hat, und zu einer 
Treppe nad) der für das Bublifum bejtimmten Tribüne. 
Steigen wir dieſe hinauf, jo fommen wir in den Sitzungs— 
ſaal jelbft, der für die Plenarberatungen dient. Diejer Raum 
iſt gewiffermaßen die Hauptjache im Haufe, denn hier finden 
die Beratungen des Reichſtags in Anmejenheit der Bundesrats— 
Vertreter Statt. Viele Bejucher, die zum erjtenmal in dieſen 
Saal treten, find über die Dimenfionen enttäufcht gemejen. 
Sie hatten fich die Größenverhältniffe anders gedacht, ins— 
bejondere, nachdem fie draußen die koloſſalen Hallen gejehen 
hatten. Der Saal hat 22 Meter Breite, 29 Meter Länge 
und 13 Meter Höhe. Das ift aber die äußerſte Grenze der 

Ill. Baus:Bibl. II, Band XII. 172 





2738 4. Oskar Klaußmann. 





„Hörfähigkeit”. Würde man die Dimenfionen größer gewählt 
haben, jo mwären die Redner nicht mehr verftändlich gemefen. 
Der Saal ijt vieredig, und die gejamten Wände find mit Holz- 
werk bekleidet, um die Akuſtik des Haufes zu verjtärfen. Der 
Sitzungsſaal im Haufe der Gemeinen in London ift halb jo 
groß wie der Sitzungsſaal im deutjchen Neichttagshaufe. Des— 
halb aber bietet er auch kaum für die Hälfte der Abgeordneten 
Plag und bei großen Sitzungen müfjen die englifchen Ab- 
geordneten felbjt auf den Tribünen des Hauſes Pla nehmen. 
Der engliiche Barlamentzfaal hat auch) feine Schreibpulte, jondern 
nur Roßhaarbänfe, auf denen aber fein Abgeordneter einen 
beitimmten Plab Hat. Nur derjenige Platz, auf dem ein 
Eylinderhut jteht, gilt für befeßt und darf von feinem anderen 
englijchen Abgeordneten eingenonmen werden. Der deutjche 
und der engliihe Sitzungsſaal haben rechterfige Grundform. 
In anderen neueren PBarlamentsgebäuden, 3. B. in Wien, in 
Paris und in Madrid, find diefe Säle halbrund. Dieje Form 
eignet fi) aber nur dann, wenn die Redner ſämtlich von der 
Rednertribiine aus |prechen und nicht von Plaß, wie das leider 
im deutſchen Reichstag meijt üblich ift. Die deutjchen Ab- 
geordneten find zu bequem, um jelbjt bei längeren Auseinander- 
ſetzungen exit die Nednertribüne zn befteigen und ich hinter 
das Pult zu Stellen. Sie lieben es, vom Pla aus, in recht 
legerer Haltung, womöglich die Hände in den Hojentajchen, 
ihre Rede zu Halter. Sie bleiben dadurch unverjtändlich und 
der Preſſe, welcher fait die. ganze Tribüne an der Südſeite 
de3 Saales eingeräumt iſt, wird Die Berichteritattung durch 
dieje8 Sprechen vom Platze aus jehr erichwert. An der Süd- 
feite liegen neben der Tribüne der Preſſe die Logen für den 
Bundesrat, an der Nordfeite diejenigen für den Hof und Die 
Diplomaten. An der Weiteite jchliegen fich die Tribünen für 
das Publikum und die Mitglieder der Behörden an. An der 
Oſtſeite des Saales befinden fich feine Tribünen. Hier ift im 
Saale ein Podium errichtet, auf welchem in nochmaliger Er— 
böhung der Aufbau Pla gefunden hat, der die Redner— 
tribüne und über ihr die Site für den Schriftführer und den 
Präſidenten enthält. Zur Rechten und Linken diejes Bräfidial- 
aufbaues ftehen auf Ddiefer Empore lange, breite Tijche und 


— — 





Im deutſchen Reichstag. 2739 





hinter dieſen ſchwere, eichene, ledergepoliterte Lehnſeſſel. Rechts 
vom Präſidenten fiten an einem langen Tiſch der Neichsfanzler, 
die Minijter und die Staatsjefretäre, Linf3 die anderen Bundes— 
ratövertreter. Unter der Nednertribüne jteht der jogenannte 
„Tiſch des Haufes“ mit zwei Wahlurnen in dunkler Bronze, 
deren Deckel mit der vergoldeten Kaiſerkrone geſchmückt Jind. 





BEL 


Stuhl Bismards, aus dem alten Reichstagsgebäude übernommen, jetzt der Sit 
des Reichstagsabgeordneten Singer Ey ra tionszimmer der joztaldemofratifchen 
artei, 


Bor dem Tiſch des Haufe befindet ſich eine Baluftrade, und 
innerhalb dieſer jteht der ziemlich lange Tiich für die Steno- 
graphen. Die Zimmer der Stenographen liegen im Erd— 
geichoß und ſtehen durch einen langen Gang und durch eine 
Kleine Treppe mit dem Sißungsjaal im Hauptgejchoß in direkter 
Verbindung. Die Stenographen, von denen die Hälfte dem 
Syſtem ©abel3berger, die andere Hälfte dem Syſtem Stolze 
angehört, nehmen paarweile, je zehn Minuten lang, die Ver— 
handlung auf. Der Chef de Stenographen-Bureaus jigt an 
1727 


2740 4. Oskar Klaußmann. 





einem bejonderen Pult innerhalb des durch die Baluftrade ein- 
gefriedigten Raumes und bleibt ftändig auf jeinem Pla, um 
die Zwilchenrufe und die anderen Notizen, wie zum Beilpiel: 
„Laute Heiterkeit”, „Pfuirufe“, „Unruhe im Haufe”, „lebhafter 
Beifall” zu firieren und an der richtigen Stelle im Bericht 
einzufügen. Die Ablöfung der Stenographen erfolgt, da aud) 
die Treppen und Gänge mit diden Teppichen belegt find, ſtets 
lautlos. Die zwei von der Aufnahme der Debatte zuriüd- 
fommenden Stenographen diftieren in den Arbeiträumen ihr 
Stenogramm den dazu angejtellten Sefretären, welche das Diktat 
auf gleichmäßig große Duartblätter in Aurrentjchrift nieder- 
Ichreiben. Dann können die abgelöjten Stenographen ſich einige 
Minuten ausruhen und treten dann wieder zur Ablöſung an. 
Die Manuffripte werden den Rednern fofort zur Korrektur 
vorgelegt und nach Diefer noch während der Sitzung in Die 
Drudereien befördert. Der Borjteher des ftenographijchen 
Bureaus trägt die Verantwortung dafür, daß unlorrigierte 
Manuſkripte nur mit der Öenehmigung des betreffenden Redners, 
beziehungsweile des Präfidenten, bereit3 korrigierte Manuffripte 
aber nur mit der Erlaubnis de3 die Oberaufficht über Die 
Stenogrammeführenden Bize-Bräfidenten, beziehungsweiſe Schrift- 
führer oder des Nednerd au dem Bureau tweggegeben, fort- 
gejendet oder einer dritten Perſon zur Einficht vorgelegt werden. 
Dieje Berichte geben die Reden wortgetreu wieder, und wenn 
man die unforrigierten Berichte liejt, überzeugt man ſich davon, 
daß ſehr viele Parlamentarier ein recht fchlechtes Deutih in 
ihren Neden zum beiten gegeben und daß den meilten Die 
präzile Form des Ausdrucks mangelt. Eine Entjchuldigung 
dafür ijt ja in manchen alle die perjünliche große Erregung, 
in der fi) die Nedner befinden, bejonder3 wenn die Wogen 
der Debatte jehr hoch gehen. Die Berichte, die auf dieſe Weile 
aufgenommen werden, ind im Drud ungefähr nad) 48 Stunden 
fertiggeftellt. Wer ji) das Vergnügen machen will, die Reden 
und die ganzen Verhandlungen mwortgetreu zu lejen, kann auf 
diefe Berichte bei der Pot abonnieren. Der Erwerbspreis 
beträgt pro Bogen 5 Pfennige. Zür die Tageszeitungen find 
dieſe offiziellen Berichte aus zwei Gründen nicht zu verwenden; 
eritend find fie zu lang, zweitens aber erjcheinen fie zu fpät. 





Re. 
" 2 
— 


Im deutſchen Reichstag. 2741 








Die großen Zeitungen unterhalten daher mit ſehr großen Koſten 
eigene parlamentariſche Bureaus, welche die Debatten, wenn 
auch nicht wortgetreu, ſo doch in den Hauptſachen ſtenographiſch 
aufnehmen, und das Manuffript geht durch beſondere Boten 
und Radfahrer bruchſtückweiſe nach der Druderei und in den 
Satz. Es giebt auch bejondere parlamentarische Korrefpondenz- 
Bureaus, welche derartige Berichte telegraphiich, telephoniſch 
oder in Yorm von heftographierten und raſch gedrudten 
Manuffripten an Berliner oder auswärtige Zeitungen liefern. 
Diefe palamentariiche Berichterftattung ift für den Neichstag 
und feine Mitglieder von höchſter Wichtigkeit. Wenn fich die 
parlamentarifchen Berichteritatter, wie dies in London vor- 
gefommen ijt, zu einem Streik entjchliegen würden, jo Fäme 
der Reichstag in ſchwere Bedrängnid. Er würde dann „mit 
Ausschluß der Deffentlichkeit” verhandeln. Wenn die Zeitungen 
feine Berichte veröffentlihen, würde im Publikum von den 
geijtvolliten Reden der Parlamentarier und den wichtigften Ver— 
handlungen nicht3 bekannt, denn Die offiziellen wortgetreuen 
Berichte find im Publikum ja gar nicht verbreitet. 

Man Hat für die Preſſe im Neichdtag einigermaßen ge= 
lorgt. Man Hat ihr 10 Arbeit3zimmer zur Verfügung geftellt, 
welche in Zwiſchengeſchoß liegen, man bat ihr jogar einen 
Heinen Leſeſaal eingerichtet. Im Obergeſchoß befinden fich noch 
eine Anzahl von Telephonzellen für die Prefje, welche die Ver— 
bindung mit Berlin und den auswärtigen Telephonäntern er- 
möglichen. Ferner befindet ſich bier eine kleine Rejtauration 
für die Vertreter der Prejje, jowie eine Anzahl von Warte- 
räumen für die Radfahrer und Boten der Redaktionen. Bon 
dem fchweren und anjtrengenden Dienft, den gerade die parla= 
mentarijchen Berichterjtatter Haben, macht man fich im Publikum 
gar feinen Begriff. Es ift Förperli und geijtig geradezu 
aufreibend und nervenzerftörend, ftundenlangen, wichtigen Ver— 
handlungen beizumohnen und gleichzeitig mitzufchreiben, und 
zivar jo mitzujchreiben, daß nicht3 Wichtige im Bericht ver— 
geilen und nichts Unmichtige8 angegeben wird. Die Art und 
Weije, wie die Redner vom Plate aus jprechen, erjchivert, wie 
bereit3 erwähnt, das Hören; dazu fommt die große Unrube, 
welche bei vielen Rednern im Haufe dadurch Herricht, daß fi 





2742 4. Oskar Klaußmann. 





während der Rede desſelben die übrigen Parlamentarier un— 
geniert laut unterhalten. Ferner erſchweren das Hören bei 
bewegten Sitzungen die oft „wilden“ Zurufe und das Geſchrei, 
das ſich im Hauſe ſelbſt gegen den Redner, bald von der Rechten, 
bald von der Linken her erhebt. Dazu kommt im Sommer 
eine trotz der Ventilation oft unerträgliche Hitze, die fortwährende 
Rückſicht auf die Uhr, das Geizen mit Minuten, das Haſten 
und Heben, um die Berichte ja nur rechtzeitig: noch auf dag 
Telegraphenamt, in die ZTelephonzelle oder in die Druderei 
Ihaffen zu können, und e8 giebt faun einen anderen Beruf und 
eine andere Form der Berichterjtattung, bei der jo viel Leiftung, 
Sicherheit und Anfpannung aller Kräfte verlangt wird, wie 
gerade bei den parlamentarischen Berichten. 

Die Einrichtungen für den gejamten parlamentarijchen 
Betrieb und für die Bedürfniffe und Bequemlichkeiten der 
Bolkövertreter werden wir am beiten überjehen und betrachten 
fönnen, wenn wir einen Reich3tagsabgeordneten auf feinem 
Tagewerfe begleiten. Natürlid) wählen wir einen der fleißigen 
und gewiſſenhaften Abgeordneten, der e3 für feine heilige Pflicht 
hält, das Vertrauen jeiner Wähler durch eifrige Arbeit zu 
rechtfertigen. Ein ſolcher Abgeordneter hat ein gar ſchweres 
Amt und muß feine gefamte Kraft in den Dienit des Barla- 
mentarismus jtellen. Es fei zur Ehre der deutjchen Volks— 
vertretung gelagt, daß es folcher Abgeordneten jehr viele giebt, 
die allerdings in fchreiendem Gegenſatz zu den Leuten ftehen, 
die ihre Mandat-Pflichten nur als einen Sport betrachten und 
„im Nebenamt“ erfüllen. Es giebt auch Abgeordnete, die über- 
haupt nicht in die Situngen gehen, die nie die Drudjachen 
(efen, die ihnen zugehen, und die ſich während der Seſſionszeit 
in Berlin aufhalten, um ihre Privatgefchäfte hier zu erledigen 
oder um ſich zu amüfieren. Wenn eine Reichstags-Seſſion be- 
ginnen fol, werden die Neichstagsabgeordneten durch Briefe 
vom Reichstagsbureau aufgefordert, zu erjcheinen, und e3 wird 
ihnen gleichzeitig Tagesordnung, Tag und Stunde der eriten 
Sitzung angegeben. Die in Berlin eintreffenden Abgeordneten 
melden fih im Bureau und teilen fofort mit, welches ihre 
provijorische oder definitive Wohnung ift. Eine größere Zahl 
ver Abgeordneten wohnt in Hotels, und zwar immer in dem- 





Im deutjchen Reichstag. 2743 





felben Hotel, wo dem Abgeordneten gewöhnlich auch ein be- 
ſtimmtes Bimmer für die ganze Selfion zu entjprechend er- 
mößigten Preifen zur Verfügung gejtellt wird. Ein anderer 
großer Teil der Abgeordneten wohnt „möbliert“, und gewiſſe 
Bimmervermieterinnen, im Berliner Jargon die „parlamenta= 
rilhen Witwen” genannt, jowohl im lateinifchen Viertel von 
Berlin, wie im Stadtteil Moabit, find auf die Beherbergung 
von Abgeordneten eingerichtet. Auch diejelben möblierten Zimmer 
beziehen die Abgeordneten meiſt wieder, und manche wohnen 
jahrelang bei derjelben Wermieterin. Der verjtorbene Ab- 
geordnete Windthorſt hat 3. B. zwanzig Jahre in einem ein- 
fachen Stübchen in der alten Jacobſtraße als „möblierter Herr“ 
gehauft. Gewöhnlich nehmen die Abgeordneten im Hotel und 
in den möblierten Wohnungen nur ihren Morgenfaffee und 
höchſtens den Abendthee. Wollen fie ihre Abgeoröneten-Pflicht 
erfüllen, jo find fie den ganzen Tag im Reichstagsgebäude in 
Anfpruch genommen und fommen erjt wieder am Abend nach 
Haufe. Der Abgeordnete muß am Morgen gewöhnlich einige 
Stunden dem Lefen der Drudjachen widmen, die ihm von der 
Botenmeijterei de3 Reichstags durch bejondere Boten, von denen 
jedem ein bejtimmter Bejtellbezirk zugeteilt ift, in das. Haus 
gebracht werden. Gemöhnlich treffen diefe Drudjachen in den 
Nachmittags- und Abenditunden ein. Sie beftehen aus Tage3- 
ordnungen, Gejeßes-Entwürfen mit den dazu gehörigen Motiven 
und Anlagen, aus Kommilfionsberichten, gedrudten Auszügen 
aus Petitionen, aus den Wwortgetreuen Situngsberichten, aus 
Denkichriften, aus ſogenannten Blau- und Weißbüchern, aus 
Rechnungsabſchlüſſen, aus Ueberfichten über die Thätigfeit von 
Behörden und Verwaltungen und aus den Etat3. Der Haupt- 
etat iſt allein ein dicleibiges Werk, das mehrere Kilo wiegt, 
und feine Durcharbeitung erfordert für den gewifjenhaften 
Parlamentarier viele Wochen. Um den Etat zu verftehen, dazu 
muß man fich allerdings in ihn hineingelefen haben und ein 
routinierter Parlamentarier fein, und der Abgeordnete Eugen 
Richter gilt felbit bei feinen Gegnern für den beiten Kenner 
und Benrteiler de3 Etats. Keiner findet fih in dem Ddid- 
leibigen Werfe fo gut zurecht, wie er. Diefe Drucdjachen, wenig 
rejpeftvoll im parlamentarischen Deutſch „Schinken“ genannt, 


2744 A. Oskar Klaußmann, Im deutfchen Reichstag. 





jammeln fi) in der Wohnung des Abgeordneten zu ganzen 
Haufen an. Am Schluſſe einer langwährenden Seſſion find 
e3 jchließlich zwei bi8 drei Gentner Mafulatur, deren Verkauf 
der Abgeordnete gewöhnlich der Wirtin überläßt, nachdem er 
lich die Stüde, die ihn intereffiert haben und die er aufbewahren 
will, herausgefucht hat. ES giebt auch Abgeordnete, welche das 
ganze Sahr über feinen Blid in diefe Drucjachen thun, und 
die fie unberührt auf dem Stapel Liegen lafjen, ohne fidh je- 
mals mit ihnen zu bejchäftigen. (Schluß folgt.) 








Deutfche Dichter der Gegenwart. 


Julius Lohmeyer. 
Don Dr. R. St. 





(Vachdruck verboten.) 
in liebgewordener Hausfreund, der draußen in der 
Welt viel erlebt hat und, was er mit finnigen Augen 
2 geſchaut und mit warmem Herzen gefühlt, in an— 

heimelnder Weiſe uns mitzuteilen weiß, verlockt uns 
wohl nach jahrelanger Bekanntſchaft zu der teilnahmsvollen 
Frage: „Wo kamſt du her des Weges? Wie biſt du geworden, 
was du biſt?“ Ein ſolcher lieber Hausfreund iſt unſeren Leſern 
Julius Lohmeyer geworden, der, wie kein zweiter, durch ſeine 
herzerquickenden Dichtungen zu erfreuen verſteht. Nur wenige 
wußten Näheres über die Perſönlichkeit des liebenswürdigen 
alten Herrn; aber auch, die ihn nicht kannten, hatten ihn um 
ſeiner zarten und launigen Dichtungen willen ins Herz ge— 
ſchloſſen. Ueber den Werdegang eines ſo beliebten und unſeren 
Leſern jo naheſtehenden Dichters Genaueres zu erfahren, iſt 
gewiß ein berechtigtes Verlangen. 

Am 6. Oktober 1835 wurde Julius Lohmeyer in der 
maleriſch gelegenen Feſtungsſtadt Neiße in Oberſchleſien ge— 
boren; er war, als der älteſte von vier Geſchwiſtern, beſtimmt, 
die väterliche Apotheke zu übernehmen. Einer ſelten glücklichen 
Jugend, vor allem ſeinen Eltern, dem edlen, ſonnigen Kinder— 
gemüt ſeines naturbegeiſterten Vaters, das ihm die Welt er— 
ſchloß, dankt er es, wie er ſelbſt ausſprach, wenn er die Fähig— 
keit beſitzt die Herzen der Kinder zu begeiſtern. 






2746 Dr. 4, St. 





Urjprünglich ſollte er die väterliche Apothefe übernehmen 
und wurde don einem Freunde feines Vaters in diefen Stand 
eingeführt. Eifrig gab er fich dem Studium der Naturmifien- 
Ichaften hin. Seine Neigungen aber gingen fchon von der 
Schülerzeit an auf Dichtung und Litteratur. Der Wunsch, 
einem liebenswürdigen Mädchen feine Hand reichen und einen 
Hausſtand begründen zu Fünnen, ließ ihn von anderen Plänen 
wieder zu dem zunächit ergriffenen Berufe zurüdfehren. 1863 
übernahm er nach abgelegtem Staat3eramen al3 Befiter die 
Königliche Hofapothefe in Elbing. 

- Die parlamentarijchen Kämpfe vor und nach 1866 zogen 
ihn in das politiche Leben hinein, und ſchon in diefer Heit 
befundete er fich al3 warmer Patriot. Eine Reihe ſchwung— 
voller, erniter und Humoriftiicher SKampfgedichte, die der 
„Kladderadatſch“ von ihn veröffentlichte, veranlaßten den da- 
maligen Leiter des berühmten Witblattes, Ernſt Dohm, ihm 
im Jahre 1867 eine Stellung an der Redaktion des einfluß- 
reihen Organs anzutragen. Lohmeyer gehörte der Redaktion 
des „Kladderadatich” bis zum Jahre 1873 an und machte fich 
vor allem in den Kriegsjahren 1870/71 durch feine hinreißenden, 
vaterländiichen Gedichte, die vielfach) in Sammlungen und 
Schulbücher übergegangen jind, befannt. 

Einige Kinderjchriften, die Lohmeyer auf Veranlaffung 
de3 Sladderadatich-Verlegers jchrieb, erlebten jeltenen Exfolg, 
der den Dichter völlig überrafchte und ihn 1873 zur Gründung 
der „Deutjchen Jugend“ veranlaßte, einer im vornehmſten Stil 
gehaltenen Kinderzeitichrift. Lohmeyer Hat den mweitgehenditen 
Einfluß auf die gefamte Sugendlitteratur, vor allem nach 
fünjtlerifch-poetifcher Seite Hin, ausgeübt. Die Lektüre des. 
Kindes, welche feit Jahrzehnten einem trodenen Dilettantismus 
überantwortet gewejen war, gewann durch die Mitwirkung 
einer Reihe namhafter Talente, die ſpäter zu reichem Dichter- 
ruhm gelangten, wie Bictor Blüthgen, Johannes Trojan, 
Frida Schanz, Heinrich Seidel und anderen, fünftlerijch- 
edle Form und atmete wieder Humor, Phantafie, Geihmad. 
Werner Hahn urteilte in feiner „Geſchichte der poetifchen 
Litteratur": „Lohmeyers Jugendwerk wird durch feinen 
dauernden Wert in der Litteraturgefchichte den Ruhm einer 


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Deutſche Dichter der Gegenwart. 








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2748 Dr. 4. St. 


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Durch die Beziehung zu den Künjtlern, die für feine Beit- 
Ichrift Zeichnungen lieferten, trat Lohmeyer bald auch zum 
„Berein Berlin Künftler” in nahe Verbindung. Jahrelang 
dichtete er für diefen Verein Künjtlerfeitfpiele, welche mit großer 
PBracdtentfaltung zur Aufführung gebracht wurden, und zum 
Danf wurde er zum Ehrenmitgliede des Verein ernannt. 

Durch ſchweres Leid follte die Weltanfchauung des Dichters 
jene Bertiefung erfahren, die wir in feinen jpäteren Werfen 
bewundern. Aus einem behaglichen Heim in einem zurüd- 
gezogenen Winkel Berlins, nicht zu fern dem Tiergarten ge- 
legen, riß den Dichter plöglich ein jelten trauriges Geichid 
heraus. Sein Weib und fein Kind wurden von unheilbaren 
Leiden erfaßt, er jelbit erkrankte an einem ſchweren Augen- 
nervenübel, das ihn zu jeder jchriftitelleriichen Thätigfeit lange 
Zeit unfähig machte. Eine ruheloje Periode des Reiſens und 
Wandern begann. Drei Sahre vermweilte Lohmeyer in der 
Schweiz, ohne Heilung für fi) und die Seinigen zu finden. 
Nach unjagbaren Leiden ftarben ihm Weib und Kind. In dem 
beiten Mannesalter jtehend, durch fein Augenleiden bereits 
lieben Jahre unfähig zu jeglicher Arbeit mit der Feder, Fehrte 
er allein, ohne Familie, in die Heimat -zurüd. Aber in jenen 
Sahren bitterjten Lebenswehes, die er in der Einjamfeit der 
großen Alpennatur, unter den weiten Sternenhimmel der Hoch- 
alpen zugebracht, hatte fich feine Weltanschauung gereift und 
geläutert, er hatte fi) „zu der Weisheit des Gemüt und 
Geiſtes durchgefämpft, welche den Schmerz des Einzelnen auf- 
hebt in höherer Harmonie des Ganzen.“ 

Endlich wurde ihm Erlöjung. Ein ausgezeichneter Augen- 
arzt, Profeſſor Albert Nagel in Tübingen, erkannte fein Leiden 
und befreite ihn von namenlojen Qualen. Und wieder auf den 
Alpen, wo er fein Schwerjtes erlebt und fein innerlich Beſtes 
gefunden, fand er auch ein neues ſchönes Eheglüd. Aus dieſem 
Zuſammenhang eine zur Ruhe durchgerungenen Wehes und 
eines neu aufdämmernden Heimat3- und Eheglücks erwuchſen 
die „Gedichte eines Optimiſten“. E3 find reife Lebens- 
früchte, dieje Ehelieder, voll jubelnden Dankgefühls und frommer 
Innigkeit, diefe Wanderflänge, Tagebuchblätter, bejchaulichen 
Sprüde Es läßt fich nicht aufzählen, was das Buch allen 





Deutiche Dichter der Begenmwart. 2749 





Herzensfreunden bietet. „Der Wandel des Flüchtigen“ hat den 
Dichter wahres Glück kennen gelehrt. Beichränfung ohne Neid, 
Liebe zum Haufe, zur Natur, Aufblid zum Ewigen; alles weiſt 
ihn über fich hinaus auf etwas Bleibendes, Allwaltendes; das 
Weltgeheinnis ift ihm die Liebe und erfchließt fich nur der Demut. 

Seitdem hat fich ihm ein Jahr ftillen Ehe- und Familien- 
glüdes an das andere gereiht. Zwei Knaben und ein Mädchen 
beleben jein den Freunden teures Haus. Charakteriſtiſch für 
die erjte Zeit wiedererlangten ftillen Glüdes und Schaffens iſt 
wohl das von uns mitgeteilte Gedicht „Großſtadt-Idylle“. 

Wandte ſich Lohmeyer bisher in jeinen projaischen Werfen 
vorzugsweiſe an die reifere Jugend, ſprach er in den poetilchen 
Gaben vorzugsweile zu der frohen Welt der Kleinen und 
Kleiniten, jo wandte jich das fonnige Gemüt des Dichters fortan 
mehr dem finnigen Erwachjenen zu. Am befannteiten wurden 
wohl jeine Xebensiprüche „Auf Pfaden des Glücks“, feine 
Kovellen „Die Beſcheidenen“ und „Wir leben noch” und 
jeine Jugendnovellen „Junges Blut“ und „Sugendwege 
. und Serfahrten.” 

Dr. Julius Lohmeyer it eine echte Poetennatur. Eine 
wunderbare Gabe befißt diefer Dichter, das Glück zu finden 
in Kleinsten, Unfcheinbarjten. Es giebt wohl feinen zeit- 
genöffichen Dichter, welcher weiter vom Peſſimismus entfernt 
wäre al3 Lohmeyer, eine Natur, welche von Liebe und Pietät 
itrahlt. Jedes Gejchöpf it ihm eine Freuden- und Genuß— 
quelle. Dazu fommt eine urjprüngliche Verklärungsfraft, welche 
unbefchreiblich liebenswürdig wirkt. Da ift nicht Bacchantiſches, 
nichts Trotziges, nichts Biſſiges; aber auch nichts Süßliches, 
Ueberweichliches, Schwärmerifches. Ein reifer Mann, auch ge= 
Ichmadßreif, jchreitet abgeklärt durch dag Leben und legt hier 
und da feine Finger auf Dinge, die ihn innerlich über ſich ſelbſt 
hinausheben und ihm eine Ausſprache abzwingen. Wir find 
überzeugt, daß Julius Lohmeyer wie fein anderer jeine große 
Gemeinde hat. Nur die bedeutendjten der lebenden Dichter 
bieten in ihren Gedichtſammlungen jo wenig Nieten wie Loh— 
meyer, liebenswürdiger aber wirkt feiner. | 

Als die vaterländiiche Bewegung fi, vor allem auf An— 
regung Kaiſer Wilhelms II. der Schaffung einer ftarfen deutichen 





2750 Dr. X. St. 





Seemacht zumwandte, begründete Lohmeyer zur Unterjtüßung der 
von den Gegenparteien bedrohten „zweiten Flottenvorlage* die 
ſeinerzeit viel genannte „Freie Vereinigung für Flottenvorträge“, 
die jogenannte „ProfejjorensVereinigung“, unter deren 
Mitgliedern die erlauchtejten Männer in Wiſſenſchaft, Litteratur, 
Kunft und Technik al3 Kronzeugen für die Notwendigkeit der 
Stärkung deutſcher Seemaht in Wort nnd Schrift eintraten. 
Schließlich vereinigte Lohmeyer den großen Kreis hervorragender 
patriotiicher Männer zu einem Zuſammenwirken in der jeit 
1901 unter jeiner Leitung erjcheinenden nationalen „ Deutjchen 
Monatsjchrift für das gefamte Leben der Gegenwart.“ 

Schließen wir diefe Skizze mit den Worten de3 finnigen 
Ludwig Ziemſſen: „Nichts gleicht dem Gefühl tiefer Er- 
quidung, das die Lektüre dieler Föftlichen Bücher Hinterläßt; 
man fühlt fich ſelbſt beſſer, froher, glüclicher in der Nach— 
empfindung dieſer bezaubernden Lieder, auf denen es wie 
Sonnenglanz einer jchöneren Sphäre ruht, und gewinnt in— 
mitten einer tief in fich zerriffenen und gejpaltenen Gegenwart 
neue Zuverſicht zu Menfchen, Zeit und Leben. Schöner, inniger, 
weihevoller ijt faum je das Glüd, dag ein twaderer, jinniger 
Mann im Befiß von Frau und Kind empfunden, ausgelprochen, 
ausgejungen worden. Hier ijt in vier Heilen oft Tiefites und 
Herzbewegendſtes gegeben. Ueberall ringt ſich bei Julius 
Lohmeyer eine fein organiſierte Natur vollſtändigen, dichteriſchen 
und humanen Andachtsgeiſtes zu vollem, harmoniſchem Ausdruck. 
O glücklicher Poet, in deſſen Herzen Natur und Liebe alle 
Diſſonanzen löſen und alles Vergängliche ein Unvergängliches 
weckt!“ 


Seſam! Sefam! Peffne dich! 


Papa im Arbeitsſtübchen Da ſpürt Papa ein Rühren 
Zieht ernſt die Stirne kraus, Und lächelt übers Buch; 
Iſt heut' ſelbſt für ſein Bübchen, Wohl öffnet alle Thüren 
Für niemand heut' zu Haus. Solch holder Zauberſpruch. 
Es klopft. Wer wagt zu ſtören? Und tönen ihm die Worte 
Er hört e8 mit Verdruß. Zum drittenmal ans Ohr, 
Ein Stimmchen läßt fih hören: ann öffnet er die Pforte 
„Bapa, nur einen Kup!“ Und zieht fein Kind empor. 
Er fheucht in raſchem Grimme Und ob auch fein Gewiſſen 
Das Kind mit barichem Droh'n, Ihm ernite Mahnung hält: 
Doc wieder wirbt die Stimme Sein Büblein abzuküſſen 


Mit ſüßem Schmeidelton. Muß Beit fein auf der Welt. 


Deutjche Pichter der Begenwart. 2751 





Das Roggenkörnlein. 


Jüngſt wogte hier ein weites Aehrenfeld, 

Nun ging dahin jein fonmerliches Prangent, 

Am Dornftraud nur blieb eine Aehre Hangen, 
. Aus der ein Körnlein in die Hand mir fällt. 


Aus diefem arauen Aderkorne fteigt 

Ein neuer Halm und eine neue Aehre, 

Ein Kornfeld einst, das fich gleich goldtem Meere 
Leis rauſchend vor dem Saud des Ew'gen neigt. 


Von Segen fühl' ich träufen meine Hand: 
Ein unbegrenzter Strom von Lebensfülle 
Ergießt ſich aus der unſcheinbaren Hülle 
In ſonn'gen Segenswogen durch das Land. 


Denn alle Macht, Gewalt und Herrlichkeit 
Des Lebensſtroms aus ew'gem Liebesborne 
Wogt jetzt durch meine Hand in dieſem Korne 
Dahin von Ewigkeit zu Ewigkeit. 


JIragemãaulchen. 


Du holdes Fragemäulchen, ſüße Plage, Keimt doch empor in jenem dunklen Triebe 
Komm nur, du lieber Störer meiner Ruh'; Der Baum, der einſt in Gottes Sterne ragt, 
Geduldig leih' ich Antwort jeder Frage: | Das Heil’ge Sehnen, das in Weh und Liebe 
„Warum, Bapa? Wohin? Weshalb? Wozu?“ | Sich bis zum Urquell alles Daſeins fragt. 


GrouRffanf-Ioylie. 


Ein Sonntagnachmittag. Im Schatten ruh'n 

Die ftillen Gärten ung zu Füßen mu; 

Ein bunter Sommerflor hüllt den Balkoıt, 

Der ſchwebend wie ein luft'ger Blumenthron 
Hinaushängt in die fonntagsftille Stadt, 

Ans heimlich bergend Hinter Blüt' und Blatt, 

In dichtes Weingerank und blüh'nde Roſen; 

Fernher der Großſtadt Braufen, dumpfes Tofen: 

Ein rafend Halten nach der Woche Plagen, 

Genuß und Glück dev Stunde abzujagen 

Durh Dunst und Glut und Staub. Hier Raft und Fülle. 
Ein Finkenlied Schalt ſchmetternd durch die Stille; 
Sonft alles jtumm. Um uns die grüne Bucht, 

Und über uns der Sommerwolfen Flucht. 

So ſitzen wir — der Bube jauchzt und lacht — 

Der Tag verlifcht, — der Abend fommt, — die Nacht. 
So Hand in Hand flieh’n uns die Sternenftundent, 
Und Mund an Mund haucht glückberauſcht: Gefunden! 


Bor ven Goldkaferſchuhchen. 


(Daterträume.) 
Bor meines Bübleind Kämmerlein Die Schühlein müfjen Wunder thun: 
Zwei Kleine Schuhen ftehen, Wie lernt' mein Büblein ſpringen! 
Die find fo niedlich, find fo fein, Bald wird ihm in den Käferfchuh’n 


Wie ich noch fein? gejehen. Der erſte Echritt gelingen. 


WET, ——— —— — — 


2752 


— — — 
7 
* 


Dr. A. St., Deutſche Dichter der Gegenwart. 





Allein die Schühlein wachſen aus 
Beim Tippen und beim Tappen: 
Bald hört man durch das ſtille Haus 
Schnürſtiefel munter klappen. 


Die ſtapfen nun mit Allgewalt 
Herum auf Gottes Erden, 

Bis auch die Stiefeletten bald 
Zu Schäftenjtiefeln werden! 


Da ſitzt der ganze Mann erjt drin, 

Die können tapfer knarren 

Und patjchen, Hu! durch dick und dünn, 
Und mit dem Abjap fcharren. 


Feſt aufzutreten immerdar 

Mag er fich drin befleißen, 

Und manches Paar in mandhem Jahr 
Bertragen und verreißen. 


Tanzſchuh' leg’ ich ihm jpäter zu, 
Sudt er erjt Holde Fraüen, 

Und ein paar derbe Wanderichuh’, 
Die ſchöne Welt zu jchauen. 


Und müßt’ es fein, jo wollt’ ich frod — 
Sm flotten Wichs zu prahlen — 

Einjt meinem Bruder Studio 

Kanonen nocd bezahlen. 








Das Rätſel der Ahnenburg. 


Roman von Egon Fels. 





((. Sortiegung.) (Vachdruck verboten.) 


10. Der Shah. 


SS obert jchob die Klappe, nachdem er fie ein paarmal 
Fee | hin und her bewegt, damit fie leichter ginge, wieder 
zu und ſprach weiter: „Set haben wir nach allen 
Regeln der Kriegskunſt unfern Rückzug gelichert. 
Nun denke ih — kann es los gehen.“ 

Er nahm jeine Laterne auf und jtieg langſam, Stufe nach 
Stufe vorfichtig beleuchtend, dem Freunde voran, die Treppe 
hinunter. Es waren zweiunddreißig ziemlich hohe Stufen 
zurüdzulegen, ehe man wieder ebenen Boden erreichte und ſich 
in einem halbrunden, ziemlich niederen, aber, wie die Treppe 
und der obere Raum vor derjelben, von einer durchaus reinen, 
falten Luſt erfüllten Raume befand. 

Ueber die Möglichkeit, wie in diejem tief unter der Burg 
liegenden, ein Sahrhundert völlig verjchlofjen geweſenen Gelaß 
die reine Luft erhalten bleiben Eonnte, gaben ſpätere Unter— 
ſuchungen die Beftätigung der Vermutung, welche gleic, anfangs 
die bier herrſchende Zugluft in ihnen auffteigen ließ. 

Kleine runde Löcher, dicht oben an der Dede der ge— 
waltigen Wölbung, forrejpondierten mit einem eng vergitterten, 
bieredigen Luftloch im Schorniteine des Kamines und führten 
der Schabfammer ftet3 frijche Luft zu, während eine finnreiche 

SU. Baus:Bibl, I, Band X. 173 






2754 | Egon $els. 





Vorrichtung, welche, im Schlote jelbft angebracht, das Gitter 
Ihüßte, den jo benußten Quftzug verhinderte, auf das Feuer im 
Kamine des Sanles jelbft beeinträchtigend zu wirken. 

Das Burgpverließ war zu feiner Zeit ein gar gefürchteter 
Drt, den jelbjt der VBorwibigite der Diener niemal3 zu betreten 
gewagt haben würde, hätte es überhaupt einen benußbaren 
Eingang gegeben. Doc da war nicht der Fall. 

Der Gefangene, welcher an diefem furchtbaren Orte einige 
Tage oder Wochen zubringen jollte, wurde mitteljt eines 
Seile8 durch eine jchwere Fallthür binuntergelaffen und aus 
diefem Grabe zur Zeit wieder empor geholt, wenn er über- 
haupt das Licht des Tages wieder erbliden durfte So mußte 
diefe Lage der Schatzkammer als die Jicherite und pafjendite 
ſich dem Urenfel von ſelbſt aufdrängen, der nach jo langer 
Zeit die Früchte der VBorficht und Sparjamfeit feiner Ahnen 
ernten follte. 

Waren diefe Früchte wohl auch zum größten Teile nicht 
in einer Weije getvonnen worden, die jein unbejtechliches Ehr- 
gefühl als ehrenhaft anjehen fonnte, jo waren fie doch nun um 
jo jicherer fein unbejtritteneg Eigentum, als e8 wohl niemand 
mehr gab, der ein Necht, und fei es auch nur ein eiigebildetes 
geweſen, daran hätte nachweilen fünnen. So that er niemand 
Unrecht, wozu aljo jollte er ſich Sfrupel machen? 

Alle Zweifel, die Chutbert je gegen das Vorhandenſein 
dieſes rätjelhaften Schaßes gehegt, wurden glänzender widerlegt, 
al3 es fich jelbit die Fühne Phantafie feiner Mutter träumen 
gefonnt. Da ſtanden Kiften und Kaften an den Wänden hin, 
dicht nebeneinander, ja übereinander gejtelt. Da war ein 
Kaſten, bis an den Rand gefüllt mit Goldftücen aller vormals 
üblichen Werte. Da jtand eine große Kifte mit Silberbarren 
und daneben eine Fleinere, aber mit Juwelen ohne Fafjung und 
mit gefaßtem Schmud aller Art, mit Berlenjchnüren und anderen 
Kleinodien, ziemlich) 6iß zum Nande gefüllt. Dort war eine 
jehr große Kijte mit filbernen und goldenen Gefäßen. Daneben 
eine Reihe eben folcher Kijten mit Eojtbaren Waffen, Rüftungen 
und Helmen, auf daS reichjte gearbeitet, mit Gold verziert und 
teilweiſe ſogar mit Edeljteinen geſchmückt. Da gab es Kiſten 
voll feinjter Linnen und andere, mit fojtbarem Gold und 


Das Nätfel der Ahnenburg. 2755 





Silber durchwirkter Seidenjtoffe und ein Kleines Käftchen voll 
jener herrlichen, flandriſchen Spiten, die als Wunderwerke 
menſchlichen Fleißes angejtaunt und mit Gold aurgeinogen 
wurden. 

Alles das war ſehr gut und wohl erhalten; was gelitten 
hatte, ließ ſich wohl wieder herſtellen, ja, die trockene Reinheit 
der Luft hatte ſelbſt Eiſen und Stahl ſo ziemlich vor Roſt 
bewahrt. 

Faſt ſprachlos, nur hin und wieder durch einen Ausruf 
des Erſtaunens bei- einen beſonders reichen Funde das tiefe 
Schweigen unterbrechend, hatten die Freunde all dieſen Reich— 
tum oberflächlich gemuſtert. 

Chutbert kniete eben vor dem Juwelenkaſten und ließ 
gedankenlos, ſich an dem Schimmer ergötzend, einen Regen 
funkelnder Steine, die im Lichte der Laternen tauſendfarbige 
Strahlen ausſtreuten, durch die Finger laufen. 

Robert ſaß auf einer daneben ſtehenden Kiſte und blickte, 
das ehrliche, treue Geſicht vor Eifer und Freude hochgerötet, 
mit blitzenden Augen zu ihm nieder. Endlich ward ihm nach— 
gerade das tiefe Schweigen drückend, und er begann, es unter— 
brechend: „Nun, Chutbert, haſt du vor Freuden die Sprache 
verloren? Wer Hatte mm recht? Du ungläubiger Thomas! 
Heila! das wird ein Leben werden! Du bilt jeßt ja falt reicher 
als Graf Richard ſelbſt.“ 

Ungeftüm warf Chutbert die Sumelen, welche er eben 
anfgenommen, um fein Spiel von neuem zu beginnen, in Die 
Kite zurüd und ſchlug den Dedel zu. Aufipringend rief er: 

„Das bin ich! ja, das bin ich! aber es freut mich nicht, noch 
kann ich dies alles als mein rechtmäßiges — ich meine, als 
mein alleiniges Eigentum betrachten.“ 

„Nun, als was denn ſonſt? Wer in aller Welt hätte 
außer dir darauf ein Recht?“ rief erſtaunt Robert. 

„Du biſt blind oder willſt blind ſein,“ entgegnete Chutbert, 
ſich neben ihn ſetzend. „Glaubſt du wirklich, Richard würde, 
wenn er gewußt, welcher Reichtum hier in dem alten Eulen— 
neſte verborgen liege, es mit allem, was es enthält und ver— 
birgt — ſo lautet ausdrücklich die Klauſel der Urkunde — mir 
und meinen dereinſtigen Erben für ewige Zeiten abgetreten haben?“ 

173* 


2756 Egon Sels. 





„Warum denn nicht? Der Graf ift reich genug, er liebt 
di, er iſt nicht geizig und gönnt Dir don Herzen alles 
Gute.“ | 

„Das weiß ih. Aber — ich liebe ihn auch und kenne 
die Pflicht, welche die Ehre und das gewöhnlichſte Gerechtig- 
feitägefühl mir auferlegt. Sch werde mich nicht eher meiner 
Reichtümer freuen können, bis er fie mit mir geteilt hat.“ 

„Sroßmütig bis zum Exceß, wie immer!“ rief Nobert, 
dem bei feiner genauen Kenntnis des Charakters feines Freundes 
diejer Entſchluß keineswegs überrajchend Fam. „Nur glaube 
ich durchaus nicht, daß du den Grafen zur Annahme diefer 
Großmut wirt bewegen fönnen. Du weißt, er nimmt nie fein 
gegebenes Wort zurück, ſollte er es auch bereuen und es ſein 
eigener Schade ſein. Er gab dir ſein Eigentumsrecht an den 
alten Stammſitz ſamt Inhalt und Umgebung, und du wirſt 
alles ohne Ausnahme behalten müſſen. 


„Aber — er gab es mir im Irrtum — vielmehr in 
Unkenntnis über den ungeheuren Wert ſeiner Abtretung 
an mich.“ 


„Nun — du kannſt es ja verſuchen, lieber Chutbert, aber 
du wird ſehen, ich behalte recht. Laß aber doch alle dieſe 
Grübeleien der Zukunft und freue dich mit mir deines 
Glückes. Was wirſt du mit all dieſem Reichtum zunächſt 
beginnen?“ 

„sch werde ihn gewifjenhaft in zwei Teile jcheiden und 
mit meiner Hälfte dag alte Raubneſt ausbauen, den Wald in 
der Nähe lichten laſſen, und wenn alles fertig iſt, auf dem 
Greifenſtein mit meiner lieben Mutter und mit dir, du Ge— 
treuer, haufen, bis es mir zu einſam wird im Forſte und ich 
für ein paar Wochen benachbarte Burgen bejuche, oder aud) 
nah Wien reife, um Richard heimzufuchen, mich in jeinem 
Haufe oder am Hofe zu beluftigen und —“ 

„Eines fchönen Tages irgend ein edles Fräulein vom 
Hofe als Burgfrau heimführen auf mein Schlog —“ er- 
gänzte lachend Robert die Rede Chutberts, da diejer inne ge= 
halten hatte. 

Doch diefer fchüttelte den Kopf ſehr energifch und er- 
widerte, Halb lachend, halb ernthaft: „Nein. Das wirt du 


Das Nätjel der Ahnenburg. 2787 





jobald nicht erleben. Dazu habe ich feine Luft, denn einmal 
babe ich meine Freiheit zu lieb, um fie jelbit dem ſchönſten 
Weibe zu opfern, und zweitens werde ich nimmermehr eine 
jener hoffärtigen, im Minneſpiel nur zu geübten Schönen des 
Hofes als Hausfrau heimführen. Ich will, wenn ich überhaupt 
jemals heirate, mein Weib für mich und nicht für andere haben. 
Zum Spiel ſind mir dieſe Hoffräuleins gut genug, zum Ernſte 
aber noch lange nicht. Uebrigens habe ich — du weißt es 
wohl, noch keine Frau geſehen, bei der mir der Gedanke, für 
ihren Beſitz meine Freiheit herzugeben, auch nur einen Augen— 
blick denkbar geſchienen. Es hat auch noch keine unter allen, 
denen ich hofieret, dies große Opfer von mir verlangt, die 
meiſten hätten ſich billiger gegeben, wenn — ich nur Miene 
dazu gemacht. — Aber — der Zug wird nachgerade recht 
empfindlich hier. Das Gewitter muß gewaltig abgekühlt haben 
da draußen. Laß uns wieder emporſteigen in den Saal. Die 
armen, zerfetzten Ahnenbilder da oben ſollen mir bald wieder 
anders ausſchauen. Die ſoll Meiſter Ritter mit ſeinen Schülern 
in die Kur nehmen, ſoll ausflicken, was ſich flicken läßt und 
anderes nach den vorhandenen Reſten neu malen. 

„Die Stoffe da und die Juwelen werden die Mutter in 
Entzüden verjegen. Ich freue mich jchon darauf, wie ihre 
Ihönen Augen beim Anblid diefer Schäße glänzen werden, Die 
nun ihren — Betteljunfer, wie fie mich in bitterer Anklage 
gegen das Schicjal jo oft zu nennen pflegte, mit einem Schlage 
am reihen Manne machten. 

„Du, mein guter Robert, wirft nun auch nicht mehr nötig 
haben, deine Armut mit mir zu teilen, jondern fortan als mein 
eriter Dienftmann vor der Welt, al3 meine rechte Hand in 
Wahrheit, all daS Gute mit mir teilen, welches mir diejer 
Reichtum mitbringt.” 

„Ich danke dir, Chutbert, für deine Güte und nehme fie 
an, wie fie mir geboten wird. Mehr Liebe und Treue als 
Bisher kann ich dir dafür freilich nicht verſprechen, denn alles, 
was mein Herz an beiden aufzumenden Hat, iſt bereit ganz 
dein eigen.“ 

„Das weiß ich, mein lieber, treuer Gefährte, e8 bleibt in 
allem übrigen alles beim alten, wir find und bleiben Brüder 


J 2 
Er tn. F 


2758 Egon Fels. 





im Herzen —“ erwiderte Chutbert bewegt, und eine herzliche 
Umarmung beſiegelte aufs neue den alten ———— zwiſchen 
Herr und Diener. 

Beide ſtiegen hinauf und betraten, nachdem ſie die Thür 
und die Steinplatte des Kamines hinter ſich geſchloſſen, wieder 
den Saal. 

Der Kamin bewahrte nun mit der dicken Rauch- und 
Rußkruſte jeiner Hinterwand wieder jo ſorglich al3 bisher die 
Schatzkammer ſamt ihren fojtbaren Inhalte. 

Mittelſt ihrer Mäntel und Mantelſäcke bereiteten ſich die 
jungen Männer in dem Nebengemache ihr Lager und ſchloſſen 
mit vereinten Sräften die ſchwere, in den Angeln arg verroftete 
Thüre, die fi nur mit einem Mark und Bein durchdringenden 
Kreiihen zu dem von ihr geforderten Dienste herbeiließ, 
hoben mit großer Anſtrengung den gleichfal8 verrofteten 
Riegel vor und legten fich, obſchon vor aller äußeren Störung 
gefichert, doch aus langgeübter Gewohnheit, mit den Waffen 
dicht zur Seite, nieder, um, ermüdet wie ſie waren, mit all 
der Schnelligkeit, wie der holde Gaſt der Jugend zu nahen 
pflegt, alsbald in tiefen Schlaf zu ſinken. 

Das Rauſchen des Waldes draußen, in dem der Wind, 
welcher ſich noch immer nicht ganz gelegt hatte, jene geheimnig- 
volle, die Seele in allerhand Träume wiegende Muſik weckte, 
lang den Schlummernden da3 Wiegenlied, und die über Die 
Mondesſcheibe zuweilen gleitenden Wolken vollführten auf 
den Fußboden des Gemaches einen ſeltſamen, geſpenſtiſ Hg 
Schattentanz. 

Hier und da Hujchte ein Mäuschen aus jeinem Verſteck 
hervor und betrachtete verwundert mit den glänzenden, Fugen 
Aeuglein die Störer feiner Einſamkeit. Näher und näher 
huſchten die Mondegitrahlen dem Lager und woben ein 
Ihimmerndes Neb über die Schläfer, weckten in Chutberts 
blonder Löwenmähne die ſchlummernden Goldfunfen, woben aus 
ihnen eine Art von Heiligenichein um das jchöne, Fühne, vom 
gefunden Schlummer mit Rojen überhauchte Geficht, und küßten 
die gejchloffenen Lider jo Fräftig, daß der Schhummernde uns 
ruhig ward und erwachte. 


Das Nätfel der Ahnenburg. 2759 





11. Die weiße Frau. 


Chutbert war mit dem ſeltſamen Gefühle erwacht, welches 
wir empfinden, wenn ohne unſer Wifjen der Blid irgend einer 
Berjon fih auf uns heftet. Ihm war, als müfje fich außer 
dem Freunde an feiner Seite, dejjen tiefe, regelmäßige Atem— 
züge den ungeftörten Schlummer verrieten, deſſen er fich er- 
freute, nocd) irgend jemand im Zimmer aufhalten, deſſen Nähe 
er unbehaglich empfand. 

Er richtete fi) auf und blickte umher. Das glänzendite 
Mondlicht erhellte daS ganze Zimmer. Es war jo leer, wie 
vorher. Kein Laut ließ fich hier hören als Nobert3 ruhiger . 
Atem und draußen des Windes bald fanfte, bald braufende Mufif. 

Chutbert meinte endlich), der Mondenjtrahl allein fei es 
gewejen, der ihn gewedt und jenes unbehagliche Gefühl in ihm 
erregt. Er rüdte ein wenig zur Seite und war im Begriff, 
jich wieder umzulegen und ſorglos weiter zu jchlafen, als fein 
Blick, ich noch einmal aufwärts wendend, auf eine weiße ©e- 
ſtalt fiel, die dicht an jeinem Kopfe, regungslos, jo gegen Die 
Mauer gejchmiegt jtand, als gehöre fie zu dieſer. 

Ein dichter, weißer Schleier verhüllte daS Geſicht, doch 
war er nicht dicht genug, al8 daß Chutberts Blick, der troß 
des augenblidlichen Schredens die gewohnte Schärfe beivahıte, 
nicht dahinter zwar geifterbleiche, aber Tieblihe Züge und ein 
paar große, Schwarze, leuchtende Augen zu entdeden vermocht 
hätte, die beivegung3los, ftarr auf ihn geheftet waren. 

Schon öffnete er den Mund, um die Geitalt anzurufen, 
als urplößlic) das Mondenlicht entſchwand und tiefſte Dunfel- 
heit das Gemach erfüllte. 

Eine große, ſchwarze Wolke glitt über den Mond dahin, 
ſein freundliches Licht neidiſch verhüllend. 

Chutbert ſchnellte empor, ein raſcher Griff und die Laterne 
ſprang auf, gerade jene Stelle, wo noch ſoeben die Geſtalt ge— 
ſtanden, ſcharf beleuchtend. 

Die Stelle war leer — die Geſtalt verſchwunden. 

Er hob die Laterne hoch empor und ſah eben noch die 
Geſtalt im Begriff, jenen geheimen Gang durch die Thür neben 
dem Kamine zu betreten. 


2760 Egon Fels. 





Chutbert wollte rajch fein Schwert emporraffen, ftolperte 

aber in feiner Haft und fiel über Nobert3 außgeftredte Füße. 

Dieſer erwachte nicht einmal darüber, er murmelte einige 
unartifulierte Zaute vor fi) Hin und fchlief weiter. 

Zwar Hatte Chutbert jich rasch wieder emporgerafft und 
eilte, fein Schwert unter dem Arme, mit der anderen Hand 
die Laterne hoch haltend, der Geftalt nach, die er indes nicht 
gleich Jah, da fie großen Vorſprung gewonnen hatte, deren 
Kühe er aber gleichjam inſtinktiv empfand. 

Danf der früheren Unterfuchung des Ganges konnte er 
jich unbedenklich rajch vorwärts wagen und fah denn auch bald 
die weiße Frau vor Sich her ſchweben. Er rief fie an, 
doch dies hatte feinen anderen Erfolg, ald daß fie raſcher 
a 

Die weißen Gemwänder wehten im Luftzuge, der auch hier 
Eingang fand, da Chutbert die Thür hinter ſich offen gelaſſen, 
um ſie her und ſchienen ſie gleichſam zu tragen, als ſeien es 
Flügel oder Wolken. 

Plötzlich fuhr ein heulender Windſtoß daher, ſchien die 
Geſtalt zu erfaſſen und herum zu wirbeln, die Flamme in der 
Laterne ſchlug hoch empor und — verlöſchte. 

In tiefſte Finſternis gehüllt, ſtand Chutbert ſtill. Er 
rief nochmals die Geſtalt an. — Alles blieb ſtill, nur das 
Heulen, Jammern und Winſeln des Windes antwortete ihm. 

Trotz all ſeines Mutes wagte Chutbert doch nicht, der 
Erſcheinung im Finſtern weiter zu folgen. 

Mißmutig tappte er ſich an den Wänden hin nach ſeiner 
Lagerſtätte zurück und ſchlief endlich trotz des Grübelns über 
das Geſpenſt ein, ſchlief fort, als längſt der helle Tag in das 
Gemach ſchien und Robert ihn bereits mit der Morgenſuppe, 
die er im Kamine bereitet hatte, erwartete. 

Denn in der damaligen Zeit mußten die Reiſenden alles 
mit ſich führen, was ſie unterwegs bedurften, da es der Her— 
bergen nur wenige gab und dieſe ſelbſt oft nichts als nur ein 
Lager und Unterkunft zu bieten hatten, das allerdings noch 
öfter von ſolcher Beſchaffenheit war, daß es Perſonen höheren 
Standes vorzogen, im Freien zu kampieren, wenn es anders 
das Wetter und die augenblickliche Sicherheit der Umgebung 


Tas Nätfel der Hhnenburg. 2761 








geftattete. Deshalb war fein Neijender ohne das nötige Ge— 
Ihirr und die Utenfilien zur Bereitung eines Mahles denkbar. 

Als Robert ihn geweckt und er fi) den Schlaf aus den 
Augen gerieben Hatte, genoß er jehr jtil und nachdenklich fein 
Frühſtück. 

Robert ließ ihn gewähren; als Chutbert aber auch dann 
noch ſchweigſam blieb, ſagte er: „Du biſt ſo ſtill und nachdenklich 
— haſt du etwa einen ſchweren Traum gehabt in der Nacht?“ 

Chutbert fuhr ſich mit der Hand über die hohe Stirn, 
wie um ſchwere Gedanfen zu verjcheuchen, und ermwiderte auf- 
Ihauend mit halbem Lächeln: „Das nicht gerade. Aber — ich 
babe dein Geſpenſt von gejtern abend wieder gejehen.“ 

„Wie? — Haft du wirflih? Saheſt du e8 in der Nähe? 
Wie jah e8 aus?“ rief Robert, feine Frogen Hinter einander 
berjagend, und fauerte ſich neben dem Freunde nieder, der, als 
ſei er noch ermüdet, ſich wieder auf feinem Lager dehnte. 

ChHutbert erzählte nun, was er gejehen und wie e3 ihm 
bei der Verfolgung der Geitalt ergangen. 

Robert hörte ihm mit atemlojem Intereſſe zu und rief 
dann: „Das iſt ja greulich, Hier in deinem Eigentume jold) 
unheimlichen Gajt zu finden! Wahrlich, eine ſchlimme Zugabe 
zu dem herrlichen Schage! Du mußt fchleunigit Pater Stephan 
oder irgend einen anderen Prieſter, vielleicht hier aus der 
Nähe, fommen lafjen, daß er den Geilt bannt!“ 

„Das werde ich bleiben lafjen, mein guter unge. Sch 
bin wohl mindeſtens ein ebenjo guter Chriſt, wie ſolcher 
Prieſter, und getraue mir mit dem Kruzifix in der Hand den 
Geiſt allein zu bannen, wenn ich nur erjt weiß, wo er eigent= 
lich hauft. Jetzt —“ jehte er kurz abbrechend, und eine ver- 
juchte Erwiderung Roberts mit einer abmwehrenden Hand- 
bewegung diefem auf die Lippen bannend, hinzu, „dürften 
wohl endlich) unjere Leute anfommen. Willſt du nicht einmal 
unten nachjehen? Dem Stande der Sonne nad) muß e3 in 
der neunten Stunde jein und —” 

„Wenn man den Wolf nennt, fo fommt er gerennt —“ 
citierte Robert das Sprichwort und wies auf die herfulifche 
Geſtalt eines alten Mannes, der joeben ur der Schwelle des 
Ahnenſaales erſchien. 





2762 | Egon Fels. 





Der Alte, dem man den ehemaligen Sriegäfnecht auf 
Hundert Schritte anſah, obgleich er jetzt die Kleidung eines 
höheren Diener3 in den Farben des Haujes Greifenklau, 
dunfelblau mit Silber, trug, jchritt dröhnend über den Saal, 
und auf der Schwelle de3 Gemaches ftehen bleibend, riß er 
mit einer jtattlichen Verbeugung feinen Schlapphut von dem 
weißen Haupte und rief fröhlich: „Gott zum Gruß, Junker 
Chutbert! und Ihr, Meilter Robert!“ 

Er erhielt den Gruß von beiden gleich freundlich zurüd, 
und der Junker rief aufltehend: „ES iſt mir lieb, daß ihr da 
jeid. Dich, Alter, brauche ich hernach. Wie gefällt dir denn 
mein Erbe?“ 

Er war dabei zu den Alten getreten, hatte ihm die Hand 
gereicht und überjchritt nun, von ihm gefolgt, die Schwelle. 

Der Alte warf einen mufternden Blid im Saale umher, 
jtreifte die gemißhandelten Ahnenbilder, mit ihren zum größten 
Teile ausgejtochenen Augen, und den jonftigen Spuren vanda- 
liſcher Hände, ſowie die zerfraßten, zerhauenen Mauern, das 
aufgeriffene Getäfel des Fußbodens mit den Augen, und er- 
widerte endlich in fomisch-verlegener Weile: 

„Na, 's könnte freilich beſſer, aber auch noch jchlechter 
fein! Wenn wir nur Geld hätten, da wäre ung bald geholfen. 
Denn die Mauern, daS hab’ ich ſchon gefjehen, find zum 
größten Teile alle noch feſt und gut, die waren der Schwefel- 
bande von Krämern denn doc zu ftark, die haben fie nicht 
zeritören fünnen wie alle8 andere, und die halten wohl noch 
ein paar Hundert Jahre. Ein Heidengeld wird's freilich 
toten, und wenn nicht Frau Adelheid oder der Herr Graf —“ 
er fragte fich verlegen hinter dem Ohre und ſetzte bedauernd 
Hinzu: „O je, 's iſt doch recht ſchade, daß es heutzutage nicht 
mehr erlaubt ift, das Krämervolf zu fchröpfen! Sa, ja, ich 
jag’3 immer, die alten Zeiten waren doch befjer.” 

Der Junker erwiderte lachend: „Na, Hans Jochem, e3 ging 
in alten Zeiten auch nicht immer fo glatt ab mit dem Schröpfen, 
wie dir dieſe Burg am beiten bemweilen fann. Tröfte dich 
aber, Alter, wir haben ſolche Geiwaltmittel nicht nötig. Das 
Geld tft da, jo viel wir nur brauchen und noch viel mehr — 
heidenmäßig viel Geld! Das Schloß wird aufgebaut! Dazu 





= 5 — 7 — 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2763 


brauche ich dich eben, daß du ſogleich nach der Stadt reiteſt 
und Meiſter Hildebrandt, den hochberühmten Baumeiſter, hierher 
holſt. Kannſt ihm immer ſagen, er ſolle mir mit ſeinen Geſellen 
mein Erbe wieder herſtellen, ſchöner, prächtiger als es je ge— 
weſen. Du, mein Alter, ſollſt mein Burgwart, und Brigitte, 
deine Frau, Beſchließerin werden.“ 

„Juchhe! Mein junger, gnädiger Herr ſoll leben! Potz 
Wetter! das ift ne Beſcherung und 's iſt doch nicht Weih— 
nachtszeit!“ jchrie der Alte jubelnd und ftürzte fich auf des 
Junkers Hand, um feinen borftigen, grauen Schnurrbart 
wiederholt darauf zu drüden. 

Chutbert ließ ihn Lächelnd eine Weile gewähren, dann 
zog er feine Hand zurüd und fagte: „Laß es gut fein, mein 
Alter. Mache dich nun auf, meinen Befehl zu vollziehen. 
Je jchneller du reitet und den Meifter hierher bringit, deito 
eher werden die Arbeiten begonnen. Sage zugleic) dem 
Meiſter, er folle ſogleich Zimmerleute mit dem Nötigiten hier- 
her beordern, damit.ich Thüren in die Thore befomme und 
mein Eigentum nicht mehr jedem beliebigen Strolche offen 
Iteht, dem e3 etwa einfällt, hier zu nächtigen und mir vielleicht 
die Pferde zu jtehlen. Mache ihm begreiflich, daß dies vor 
allem das Nötigite jei und noch heute notdürftig hergeftellt 
werden müſſe. Das llebrige beipreche ich ſchon jelbjt mit ihm.” 

Der Alte nickte verjtändnispoll, verbeugte fich, ftapfte, jo 
raſch er fonnte, aus dem Saale die Treppe hinab und teilte, 
während er wieder fein Pferd beitieg, jeinen Gefährten — 
drei jüngeren Dienern, welche Frau Adelheid, die alte Gräfin, 
ihrem Sohne zum Geleit mitgegeben, die große Neuigfeit im 
Fluge mit, die mit nicht geringem Jubel aufgenommen ward. 
Dann ritt er jpornitreich® von dannen, jo raſch es nur der 
Wald erlaubte. 

Während der Junker fich niederfegte, um' in feine Schreib- 
tafel einen kurzen Bericht von dem glücklichen Auffinden des 
Schatzes an feine Mutter, und die Aufforderung an jeinen 
Bruder, zu fommen und den Schab mit ihm zu teilen, nieder- 
zufchreiben, ftieg Robert auf feinen Befehl in das Schab- 
gewölbe hinab, um der mit Goldjtüden gefüllten Kiſte eine 
genügende Zahl von Doppeldublonen zu entnehmen, die Meister 


2764 Egon Fels. 





Hildebrandt als Vorſchuß zu der Beihafjung der Materialien 
erhalten jollte. 

Robert hatte dem Junker zivar vorgefchlagen, er ſolle 
doch lieber perſönlich die Meldung des Glückfalles nach Wien 
bringen, während er, hier zurückbleibend, die erſten not— 
wendigſten Arbeiten beaufſichtige und mindeſtens ein Zimmer 
fertig ausbauen und einrichten laſſe, damit der Rückkehrende 
ſchon ſeine Bequemlichkeit finde. Doch Chutbert hatte dieſen 
ſehr vernünftigen und ihm gewiß viele Unanehmlichkeiten er- 
jparenden Borjchlag ſehr eifrig abgelehnt. 

Ohne daß er ich felbit deſſen bewußt ward, fpielte das 
brennende Verlangen, der nächtlichen Erjcheinung möglichit 
bald auf die Spur zu fommen, bei diejer rajchen Ablehnung 
eine große Rolle und überwog den einen Augenblick verlodend 
auftauchenden Wunſch, bei der geliebten Mutter und dem 
Bruder jelbit als. der Verkünder feines Glüdes zu erjcheinen. 

Sp ritt denn einer der Diener mit der Freudenbotjchaft 
und dem Auftrage, die andere nötige Dienerjchaft her zu be- 
ordern, fort, und Junker Chutbert blieb auf Greifenftein. 

Meiiter Hildebrandt, der bewährte Baumeiſter, griff mit 
einer großen Anzahl feiner Gefellen raſch und mit Eifer den 
ihm gerade jehr willfommenen Auftrag der Reftauration der 
Ruine Greifenftein an. 

Bald umgab ein Gerüft den halb eingeftürzten Wartturm 
und den daran jtoßenden linfen, vom Feuer zeritörten Geiten- 
flügel. Sm Inneren des unverjehrten Teile der Bura aber 
war ein Haufen Arbeiter — Glaſer, Tifchler, Zimmerleute, 
Schlofjer, Anftreiher — mit der Neftauration eifrigft be- 
ſchäftigt. | 
Die Ahnenbilder waren aus ihren in die Wand ein- 
gelafjenen Rahmen herausgenommen und in Meifter Ritters 
Kur gegeben worden. Der Maler hatte freilich über die 
vandaliſch zeritörten Gemälde die Hände über dem Kopfe zu- 
lammengejchlagen, aber dann doch gemeint, die Heritellung 
werde zwar fchwierig, aber nicht unmöglich jein und jelbit, 
wo dies unmöglich, würden die Kopieen nach den zerfeßten 
Originalen an Aehnlichkeit nichts zu münfchen übrig laffen, 
das fünnte er verjprechen. 


Das Rätjel der Hhnenburg. 2765 





Bei der guten Bezahlung trat nirgends eine Stockung ein 
und alle Arbeiten nahmen einen gedeihlichen, vajchen Fortgang. 
In ein paar Wochen war das Gemach neben dem Ahnenfaale, 
das Sich der Junker zum Schlaf- und einftweilen auch zum 
Wohnzimmer erforen, bereit3 fertig und gewährte mit feinen 
friich getünchten Wänden, welche einige Bilder zierten, mit 
den nach damaliger Mode zwar jehr jchwerfälligen, aber über- 
aus bequemen, mit dunfelgrünem Damaſt bezogenen Polſter— 
möbeln und einigen Schränken von jchöner und reicher Arbeit, 
mit dem breiten, von einem Betthimmel überragten Bett, deſſen 
Vorhänge von demfelben Stoffe waren, wie die Bezüge der 
Möbel, einen überaus freundlichen Anblid. Der Laden am 
Fenſter war entfernt, und neue helle Scheiben, die an den 
Rändern und im oberen Teile von. farbigen Gläfern eingefaßt 
waren, glänzten in den Bleigittern des Feniters. 

Bon dem großen Yenfter aus, Hinter dem zu beiden 
Seiten grüne Damaftgardinen niederhingen, hatte man eine 
ſchöne Ausficht auf den im Umkreiſe der Burg ſtark, aber mit 
Geſchmack und forgfältigiter Schonung der ältejten und Schönsten 
Bäume gelichteten Wald. 

Auf Robert3 bejonderes Drängen hatte Sunfer Chutbert 
eingewilligt, daß dieſer einen zierlich von glängendem Meffing 
gearbeiteten, aber troßdem recht ftarfen Riegel an jener 
Ichmalen, nach dem geheimen Gange führenden Thür anbringen 
ließ. Diejen Riegel unterjuchte Robert an jedem Abende, ehe 
er den Freund vorm Schlafengehen verließ, auf das Sorg— 
fältigjte, ob er auch feit gefchloffen und jo Chutbert vor jedem 

Ueberfalle von diejer Seite eben jo gefichert ſei, wie von der 
anderen. 

Der Vorforgliche Tieß e3 fich wenig träumen, daß der 
Junker, ehe er fich niederlegte, ebenſo jorgfältig, al3 er ihn 
geichlofjen, diefen Riegel zurüdzog und die Thür probierte, ob 
fie fih auch leicht genug öffne, und dann lange bis nad 
. Mitternacht wachend und laufchend in feinem Bett lag, und 
auf die Erfcheinung der weißen Frau wartete. 

Doc er wartete umſonſt. Nichts regte ſich. Die weiße 
Fran erſchien nidt. 

Vergebens unterfuchte er jo häufig jenen Gang, daß er 


2766 Egon Fels. 





gar Fein Licht mehr bedurfte, jondern feinen Weg im Finjtern 
gefunden hätte. Vergebens beobachtete er von einem verjtecten 
Winkel aus, abend in der Dämmerung, die Fenſter der 
Kemnate. Vergebens hatte er den Hof jamt dem anjtoßenden 
Garten, ſowie das ganze Hintergebäude ſelbſt, von allen 
Störungen durch die Arbeitsleute fern gehalten, all viele 
Plätze für verbotenen Boden erklärt. 

Er hörte weder jemals wieder jene feltfamen, geheimnis- 
vollen, harmoniſchen Geiftertöne, noch ſah er die Erſcheinung 
der weißen Fran. 

Der junge Mann Tannte ji) ſelbſt nicht mehr in der 
ſeltſamen Unruhe, die ihn hin und hertrieb. Ein geheimes 
Verlangen, das er ſelbſt der brennenden Neugierde zuſchrieb, 
welche jene Erſcheinung in ihm erregt, machte ihn ruhe- und 
friedlod. Die Unmöglichkeit, den Wejen und der Art jener 
Erſcheinung auf die Spur zu kommen, bejchäftigte ihn fort- 
während, und das immermwährende Grübeln darüber begann 
jein förperliches Wohlbefinden zu jtören. Er verlor den Appetit 
und die gute Laune. Die gejunde Farbe feiner Wangen ver- 
blich ſichtlich. 

Robert wurde ängſtlich, da er durchaus nicht in Erfahrung 
bringen konnte, was eigentlich das ſchöne Gleichgewicht der 
Natur ſeines Herrn und Freundes jo anhaltend ſtörte, denn 
zum erjten Male im Leben verweigerte Chutbert ihm fein 
Vertrauen, weil er fich feiner Empfindung ſchämte und fürdhtete, 
Robert werde ihn auslachen. 

Und gerade dieſe Furcht war ein bedenfliches Zeichen, 
wie fchwer das Gleichgewicht feiner durchaus gefunden, unver- 
fünjtelten Natur bereit3 verrüdt var. 

Wann hätte ſonſt je irgend eine Handlung de3 Freundes, 
den er jo ganz als einen notwendigen Teil ſeines eignen 
Selbit bisher betrachtet hatte, ihn Schon im voraus in Gedanken 
jo verlegen fönnen? 

Robert hatte bisher jtet3, ohne Bedenken damit anzujtoßen, 
jagen dürfen, wa3 er dachte, denn zwiſchen ihnen ivar das 
böje Wort „Empfindlichfeit” nie ein Gebrauch geweſen. 

Mit Chutbert3 Abficht, den Schab mit dem Bruder zu 
teilen, ging es ihm auch nicht nach Wunjche. 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2767 





Graf Richard verſprach zwar zu fommen, aber nicht vor 
der völligen Beendigung des Baued. Er machte es aber zur 
ausdrüdlichen Bedingung, daß von einer Teilung des Schabes 
zwilchen ihnen, in die er nie und nimmer willigen werde, 
niemal3 wieder die Rede ſei. Da Chutbert die Stammburg 
mit allem, was fie über und unter der Erde enthalte, jamt 
dem umgebenden Walde, ohne jeden Vorbehalt erhalten, jei 
jeder Ziveifel an die Rechtmäßigkeit feines Beſitzes, über den 
er fih Sfrupel zu machen jcheine, barer Unfinn. Selbit wenn 
Chutbert in feiner Burg den Nibelungenhort, von dem die Sage 
erzähle, gefunden, müſſe es dabei jein Bewenden haben, daß er 
nur ihm und ihm allein gehöre, und damit — Punktum. 

Sp jchrieb der Graf in feiner etwas derben Weile, und 
Chutbert Fannte feinen Bruder zu gut, um von einem noch— 
maligen Berjuche, ihn zur Teilung zu bewegen, einen bejjeren 
Erfolg zu erwarten. Dennoch) ward e3 ihm fchwer, fich in 
den Gedanken ungeteilten Beſitzes ſeines Schabes hinein zu 
finden, e3 jchien ihm dies nicht beſſer, al3 eine ungerechte 
Uebervorteilung des Bruders, und fein Beli nicht gerade ein 
unberechtigter, aber auch nicht ein völlig berechtigter. 

Robert hatte viele Mühe, feine Unzufriedenheit mit des 
Bruders Zurückweiſung zu befchwichtigen, und e3 gelang ihm 
dies Schließlich nur dadurch, daß er ihm begreiflich machte, 
wie es ja nur von feinem Willen abhänge, den Grafen und 
jeine junge Gemahlin durch gelegentliche Gejchenfe an ihren 
Namenstagen und zur Weihnacht doch mit einigen der ſchönſten 
Stüde aus dem Schage zu überrafchen. 

Das ftellte Chutbert endlich zufrieden. Das war ein 
willfommener Ausweg. Auf diefe Weile mußte nach und nad 
jo mandes foftbare Stüd den Herrn finden, dem e3 nad) der 
großmütigen Ueberzeugung ſeines uneigennüßigen Herzens 
zugehörte. 


12. Die weiße Frau erfcheint wieder, 
Der Sommer war bereit3 auf feiner Höhe angelangt. Es 
war ein fehr heißer Tag geweſen, dem eine wundervolle, jchün- 
heitstrunfene Mondennacht folgte. 





2768 Egon Fels. 





Die Freunde Hatten fich jpät, erit kurz vor Mitternacht 
getrennt. 

Ehutbert war’ nad) abermaligem bergeblichen Warten auf 
die Erjcheinung der weißen Frau endlich eingelchlafen. 

Das Fenjter war offen, und wie damals in jener erften 
Nacht feiner Ankunft in feinem Erbe ſchwebte das Mondenlicht 
in breiten, wogenden Silberitreifen in das Stile Gemach, glitt 
über die Möbel hin und fpielte auf dem farbenreichen, prächtigen, 
flandrifchen Teppich, der die Mitte des Zimmers zierte, Eletterte 
an den ſchweren, gedrehten Füßen des Tiſches empor und ließ 
die filberne Trinffanne und die goldenen Becher daneben, aus 
denen die Freunde den Nachttrunk gejchlürft Hatten, in jeinem 
Scheine funfeln und glänzen. Die farbigen Gläſer aber oben 
in dem Spibbogen des Fenjters ſchienen einen Regen leuchtender 
Juwelen über die weiße Dede des Lagers und den ruhig atmenden 
Schläfer hinzuftreuen. 

Plöglich fuhr Chutbert, aus dem Schlafe ertvachend, empor 
und ſetzte ſich auf. 

Irgend ein Laut hatte ihn geweckt, daß wußte er, aber — 
was für ein Laut? 

Er lauſchte und blickte, die Gardinen des freiſtehenden 
Bettes an der geſchloſſenen Seite zurückſchiebend, nach der ge- 
heimen Thür — fie war verſchloſſen, das Zimmer leer. | 

Da — War e3 wieder. — E3 pochte an der Thür zum 
Ahnenjaale. 

Ehutbert war mit einem Sabe aus dem Bette, und fein 
am Bette lehnendes Schwert ergreifend, ſchickte er ſich an, die 
Thür zu öffnen. 

Aber ehe feine Hand den Riegel der Thür zurüdgezogen, 
hörte er Schon Roberts Stimme: „Mach’ raſch auf, Chutbert, 
ih bin e3 ja!“ 

Ohne dem haſtig Oeffnenden Zeit zu einer Frage zu laſſen, 
rief der Eintretende, noch halb atemlo3 vom eiligiten Laufe: 
„Sie iſt wieder da! Sch Habe fie gejehen!“ 

Chutbert zudte zufammen, wie unter einem eleftriichen 
Schlage, und nach jeinen Kleidern Springend, die er mit Roberts 
Hilfe in fieberifcher Haft anzulegen begann, fragte er: „Wo — 
wo haft du fie gejehen?“ 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2769 





Ihm Fam gar fein Zweifel, wen der Freund meine, und 
e3 erfüllte ihn fait mit Neid, daß jenem gelungen, was er jo 
lange vergeblich erwartet. — Robert hatte die weiße Frau 
“ gejehen. 

Warum war fie nicht ihm, der ihren Anblid jo erjehnt, 
allein erſchienen? 

„Sm Garten unten —“ erividerte Robert, ich im ftillen 
über die fieberhafte Spannung wundernd, mit der des Freundes 
jeltfjam glänzende Augen an jeinen Lippen hingen, um ihm 
gleichlam die Worte von diejen abzulejen, ehe fie dem Munde 
entglitten. Ihm erjchien diefe Aufregung, nach der Chutbert 
in letter Heit eigenen Apathie, um jo jeltfamer und auf- 
fallender. | 

Doch hielt er es nicht für Hug, feiner Verwunderung 
Worte zu geben, und jagte: „ALS ich vorhin von dir fam — 
begegnete mir Sürgen, der heute die Stallwache Hat, und 
meldete mir, dein Liebling, der Almanfor, ſei Frank. Ich eilte 
hinab und fand das Tier, ftöhnend und wild um fich her— 
Ichlagend, fi) auf dem Boden mwälzend. Sch ordnete jofort das 
Nötige an und fonnte mich nach anderthalbjtündiger Arbeit be- 
ruhigt entfernen, da meine Mittel geholfen hatten. 

Ich war jedoch zu aufgeregt und erhigt, um zur Ruhe 
zu gehen und wollte auch aus Vorſicht noch einige Zeit ver- 
Itreichen lafjfen, um dann nochmals im Stalle nachzufehen, ob 
die Beſſerung anhalte und der bedenkliche Anfall fich nicht 
wiederhole. Sch jchlenderte alfo im Hofe auf und nieder, be- 
trat dann, verlodt von der wunderbaren Schönheit der Nacht, 
den kleinen Hof und trat aus diefem in den Garten. Sch 
dachte nicht einmal an die Möglichkeit der Erfcheinung der 
weißen Frau, hatte überhaupt in der legten Beit ihrer fait ganz 
vergejien, gejchah es ja einmal, fo freute ich mich, daß der 
Lärm und die Anmelenheit jo vieler arbeitenden Menfchen den 
unheimlichen Spuf vertrieben habe. Doc wie gejagt, an 
diefem Abend fam mir fein Gedanfe an fie, da auf einmal 
jah ich fie plöglih vom Hügel am Ende des Garten herab- 
ſchweben. | 

Das Mondliht umfloß die weiße Geftalt mit einem 
leuchtenden Silberfchimmer, der gleihjam von ihr auszuftrömen 

ZU. Baus-Bibl. I, Band XII. 174 


2770 Egon Fels. 





ſchien. Sch wollte ihr erit den Weg vertreten. Da fie aber 
feine Abficht zeigte, den Garten zu verlafjen, fondern in einen 
Seitenweg einbog, jo bejann ich mich anders und lief, um dich 
zu holen.“ | 

„Das ift recht, Robert, ich danke dir! — Komm, ich bin 
fertig —“ und Chutbert wollte, indem er dies fagte, hinaus— 
ſtürmen, ohne den Schwertgurt umzulegen oder dasjelbe über- 
haupt mitzunehmen. | 

Robert hielt ihn zurüd und mahnte ihn daran. 

„Bah! was joll mir das Schwert gegen einen Geijt nüben!“ 
rief er ſpöttiſch — duldete aber doch, daß Robert ihn das 
Schwert mittelit des Gurtes an der Seite befejtigte. 

„Wiffen wir, ob es wirklich ein Geiſt iſt?“ ermiderte 
Robert, während beide bereit3 die wieder hergeftellte, große 
Treppe binabeilten. | 

„Run — iſt es fein Geift, dann doch gewiß ein Weib, das 
noch viel weniger zu fürchten it.“ 

„Das ſchon, aber willen wir auch, ob diefe den Geiſt ab- 
ſichtlich ſpielende Perſon allein it? Es können andere dahinter 
ſtecken.“ 

„Ich möchte wiſſen, wo? — Haben wir nicht etwa jeden 
Winkel durchſtöbert? Doch da ſind wir!“ 

„Ja — und nun denke ich, wir teilen uns. Einer von 
uns betritt den Garten und ſcheucht das Geſpenſt auf, welches 
ohne Zweifel, hier in der Kemnate feinen geheimen Schlupf- 
winfel haben muß, während der andere hier am Eingange der 
Halle ihm den Weg dahin abjchneidet.” 

„Ganz recht, Nobert. — Sch werde hier bleiben, treibe 
du die weiße Frau hierher.“ 

„Nein, laß mich lieber bleiben und gehe du. Die Stelle 
fann gefährlich werden, wenn —“ 

„Punktum! Du gebft und ich bleibe —“ 

Robert war durch diefen Befehl zum Schweigen gebracht, 
er wußte, daß er gehorchen müſſe. 

Er flüfterte daher nur noch: „Sei vorlichtig, Chutbert —“ 
und eilte, forgfältig den Schatten der Zierfträucher und Bäume 
aufjuchend, die, unbehindert von ordnender Menſchenhand, nod) in 
alter, wilder Urfprünglichkeit in dem Garten fortwuchern durften. 


u 


. Das Rätfjel der Ahnenburg. 2771 





Er durchſtreifte ihn nach allen Richtungen, ohne zu finden, 
was er juchte, und war bereits im Begriff, unter der Annahme, 
daß die Geftalt fich einen anderen Ort für ihre Promenade 
ausgefucht habe, fein Suchen als vergeblich aufzugeben, als er 
fie zwilchen einem dichten Gebüjch, wie aus der Erde gewachien, 
plöglic) auftauchen jah. Der Weg, welchen fie aller Wahr- 
icheinlichfeitt nach kommen mußte, führte an einem großen 
Sliederbufch vorüber, der ihm ein willfommenes Beritef und 
die Möglichkeit bot, fie unbemerkt an fich vorübergehen zu lafjen 
und jo in ihren Rüden zu gelangen. 

Er verſteckte jich dahinter, und der Mond war jo gefällig, 
fein Vorhaben zu erleichtern, indem er jich für einige Momente 
Hinter einer jchwarzen Wolfe verbarg, deren Ränder mit 
leuchtenden Silberrändern ſäumend. 

Robert war ein beherzter, mutiger Mann, der Tod und 
Teufel nicht fürchtete, aber im Augenblide, als er die weiße 
Geſtalt jo langjam jchwebend auf fich zufommen ſah, von einer 
Fledermaus bald in engeren, bald in weiteren Kreifen umflogen, 
fopfte doch jein Herz in lauten, bangen Schlägen gegen die 
Rippen, und ein Falter Schauer glitt ihm am Rüden herab, 
al3 er, da fie fich dicht vor ihm befand, durch die Falten des 
dichten Schleier8, der fie bi3 zu den Boden verhüllte, ein 
ſchmales, totenblafjes Gejicht hindurchſchimmern, und ein Paar 
dunfle Augen, die, gerade vor fich Hinftarrend, dennoch nichts 
zu fehen fchienen, phosphoriſch leuchten ſah. 

Die Geſtalt hatte etwas unbeſchreiblich Unheimliches in ihrer 
totenhaft ftarren Unbeweglichkeit. Sie fchien Fein Glied zu be- 
wegen, fie ſchritt nicht, fie glitt nicht, fie chien vielmehr von einer 
unfichtbaren Gewalt vorwärts getrieben, getragen zu werden. 

Einen Moment noch blieb Robert, von Schreden an feinen 
Platz gefeflelt, ſtehen, als fie bereit3 vorüber war, dann er- 
mannte er fich und eilte ihr mit lautem Rufe nad). 

Beim Tone feiner Stimme zudte fie zufammen und wendete, 
ohne einen Augenblid ihr plößlich überaus raſch werdendes 
Borwärtsgleiten zu unterbrechen, den Kopf zurüd. 

Robert ſah die leuchtenden Augen einen Moment auf fich 
gerichtet, dann Hatte jie al wieder gewendet und glitt noc) 
raſcher vorwärts. 

174* 


2772 Egon $els. 





Dies eigene Fliehen verdoppelte jeinen Eifer, all 
fein Mut kehrte zurüd. 

Er lief und kam ihr näher, ſchon ſtreckte ſeine Hand ſich 
aus, ihr Gewand zu erfaſſen, da — ging es ihm, wie einſt 
Chutbert. Er ſtolperte und fiel. Eine von ihm in ſeiner Haſt 
nicht bemerkte Baumwurzel hatte ihm dieſen Unfall bereitet. 
Das Geſpenſt hatte entſchiedenes Glück oder tückiſche Geiſter in 
ſeinem Dienſte. 

Zwar erhob ſich der Geſtürzte raſch wieder, doch die Ge— 
jtalt war inzwiſchen aus feinem Augenkreiſe verſchwunden. 

Er eilte trotz eines heftigen Schmerzes an dem beim 
Falle aufgeſchlagenen rechten Knie raſch vorwärts, und ſah ſie, 
am Ausgange des Gartens angelangt, eben die Halle unter 
dem Söller betreten. 

Dort erwartete ſie Chutbert, ihm lief ſie alſo gerade in 
die Hände. 

Da durchzitterte ein lauter, ſchriller Schreckensſchrei das 
Schweigen der Nacht, er kam unfehlbar aus der Halle. Das 
Geſpenſt konnte alſo ſchreien — faſt gleich darauf folgte ein 
lauter Fluch und der vorwärts humpelnde Robert erkannte des 
Freundes Stimme. 

Als er in der Halle anlangte, fand er niemand, hörte 
aber doch das laute Atmen einer Perſon, die eine große Kraft— 
anftrengung machte. 

Er rief: „Chutbert! wo biſt du?“ 

„Hier bin ih! Komm hierher und Hilf mir! Sie ijt ent- 
flohen, und das Gitter will nicht weichen.“ 

„Was für ein Gitter?“ fragte Robert, der fich nicht gleich 
orientierte und dem überdies dur eine Schalltäufchung 
Chutberts Stimme aus einer gerade entgegengejeßten Rich— 
tung, von der, in welcher er ſich nun befand, herzu— 
fommen fchien. 

„Run, Hier unten, das Gitter zum geheimen Gange! 
Sie iſt bier durchgeſchlüpft und Hat es Hinter fich ge= 
ſchloſſen.“ 

„Ei, dann gieb dir feine Mühe und komm hervor. Das 
Gitter it nur von innen zu Öffnen. Ich habe daS lange jchon 
unterſucht und hätte ſonſt troß dem Riegel in deinem Zimmer 





Das Rätſel der Ahnenburg. 2773 





feine Nacht ruhig geichlafen. Komm aber hervor und gieb 
mir Raum. Sch habe auch auf dieſer Seite einen gut ver— 
ſteckten Riegel anbringen laſſen, den wollen wir borjchieben. 
Wir haben dann unſer fchreiendes Geſpenſt wie die Maus in 
der Falle und fangen e3 von deinem Zimmer auß mit aller 
Bequemlichkeit.” 

Chutbert fam langfam hervor, wehrte aber Robert ab 
und fagte: „Sieb dir doch feine Mühe, für heute ijt es nichts. 
Sie iſt längft durch mein Zimmer entwilcht.“ 

„Da Tann fie ja nit. Der Riegel it an feiner 
Stelle. Sch Habe ihn, wie jeden Abend unterjucht, ehe ich Dich 
verließ.“ 

„Das glaube ich wohl, aber ich Habe ihn, al3 du fort 
wareſt, wie jeden Abend, zurüdgejchoben, immer auf den Be- 
ſuch wartend, der niemals kam,“ erwiderte Chutbert jehr 
gelafjen. ! 
Ein leiſ— Pfeifen war Roberts einzige Antivort auf dieſe 
überrajchende Eröffnung, die ihm mit einem Male alles erklärte, 
was ihm im Wejen des Freundes in der lebten Beit unerflär- 
lich gewwejen. Dann folgte er dem Voranjchreitenden, der, den 
fleinen Hof verlafjend, in den großen trat und fich über Die 
große Treppe in jein Zimmer begab. 

Alles war dort, wie er e3 verlafjen. Rein Beichen ver— 
riet, daß inzwiſchen ein anderer Fuß das ſtille Gemach be- 
treten Hatte. 

Sene Thür des geheimen Ganges war gefchloffen wie vorher. 

Leicht auffeufzend, warf ſich Ehutbert in einen Stuhl. 

Robert, in deflen Knie inded der Schmerz ſchon nach— 
gelafjen hatte, ließ fih neben ihm nieder und ſagte: 
„3 ilt doch jchade um den ſchönen Schlumnter, in dem ich dich 
geſtört.“ 

Er hätte zu gern gewußt, wie des Freundes Zuſammen— 
treffen mit’ der weißen Frau eigentlich ausgefallen war, hielt 
e3 aber, dejjen verjtimmtem Schweigen gegenüber, nicht für 
ratjam, darnad) zu fragen. — „Sch hätte nicht geglaubt, daß 
unjer Verſuch jo rejultatlo8 verlaufen würde.“ 

„Reſultatlos? Meinft du? Nein, das war e3 denn doch 
nicht. Ich meinesteild bin außerordentlih mit dem Reſultate 


2774 Egon Fels. 





zufrieden. Sch weiß nun mindeſtens gewiß, was = bon allem 
Anfang vermutete.” 

„Und was ijt das?“ fragte Robert, da * Freund 
inne hielt. 

„Daß es fein Geſpenſt, ſondern — ein Weib iſt.“ 

„Und wo iſt dieſer Beweis?“ fuhr Robert zu fragen 
fort, der, den vernommenen Schreckensſchrei abſichtlich ignorierend, 
mehr wiſſen wollte. 

„Was es mir beweiſt?“ rief Chutbert, lachend aufſpringend. 

Es war das alte heitere Lachen, das Robert nun ſchon 
ſo lange nicht mehr von ihm gehört. 

„Ei! — mein Gefühl und dieſer Finger hier!“ er hob 
die Rechte empor, an deren Daumen langſam ein Blutstropfen 
nach dem anderen niederrann. „Ich hörte in meinem Leben 
noch nicht, daß die Geſpenſter Zähne haben, um zu beißen. 
Die kleine Katze hat ſcharfe Zähne, ſo viel iſt gewiß!“ ſetzte 
er noch immer lachend hinzu und tauchte den verletzten Finger 
in das Waſſer des Waſchbeckens. 

„Was? Die Geſtalt hat dich gebiſſen? Ja, mein Himmel! 
wie kam denn das?“ rief Robert erſtaunt. 

„Ja, wie kam es — das iſt raſch geſagt. Alſo — ſie 
kam in die Halle geſtürzt, gerade auf mich los, ohne mich, wie 
es ſchien, zu ſehen, obgleich mich der ſeltſam leuchtende Glanz 
ihrer Augen vermuten läßt, ſie habe von Natur oder durch 
lange Gewohnheit die Eigenſchaft, im Finſtern zu ſehen. 

Sie wollte mit der Behendigkeit einer Schlange und mit 
nicht mehr Geräuſch, als dieſe im weichen Mooſe verurſacht, 
an mir vorüberſchlüpfen, aber ich griff zu und erfaßte einen 
Arm, einen zarten,, ſchön geformten Arm, wie mein Gefühl 
mir jagte. Sie jtieß einen jchrillen Schredenzichrei aus, den 
du doc gehört haben mußt, und verjuchte, mit einer wilden, 
überrajchend Fräftigen Bewegung ſich los zu reißen. Wergeb- 
lich, ich hielt fejt wie eine Eiſenklammer den zarten Arm ums 
ſpannt, obgleich ich mich in acht nahm, ihn nicht zu ſehr zu 
drücen, denn wehe thun wollte ich dem armen, ertappten Ge— 
ipenfte denn doc nicht. 

Da fühlte ich plößlic ein heißes Wehen über meiner 
Hand, und ein fcharfer Schmerz im Daumen lieg mich unwill 


4 
4 


BER WEZ. „mit... . — —“ 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2775 





fürlich einen Moment im Drude nachlaffen. Gleichzeitig flog 
mir eine große Fledermaus gerade ins Gejiht. Während jo 
meine Aufmerfjamfeit ein wenig abgelenkt ward, indem ich nad) 
dem Tiere fchlug, entwand fie ſich meiner Hand mit aufer- 
ordentlicher Gewandtheit. Zwar folgte ich) der Entfliehenden 
jofort, doch da ich mich der wiederholten Angriffe der Fleder— 
maus, die e3 durchaus auf mein Geſicht und beſonders meine 
Augen abgejehen zu haben jchien, zu erwehren hatte, war id) 
lange nicht jo jchnell, wie es notwendig geweſen, um fie zu 
verhindern, in den Gang zu gelangen, den fie, wie ich richtig 
vermutete, zu ihrem Entkommen wählte. Sch kam zu jpät. 
Das Gitter fchnappte mir vor der Naſe zu. Ich hörte ein 
leiſes, melodiſches Lachen, gleich einen: Silberglödchen und — 
alle8 war til. Das infame Tier, die Fledermaus, ſchien nur 
ihren Nüdzug gededt zu haben, gerade als jei fie dazu ab- 
gerichtet, denn fie ließ mich nun völlig in Ruhe. Ich rüttelte 
wütend an dem Gitter — da kameſt du.“ 

„Seltjam, in der That!” bemerkte Robert. „Wo in aller 
Welt mag das Weib nur jteden? Wer mag fie jein? Wie 
lange jchon und zu welchem Zwecke hauft fie hier?“ 

„sa, mein lieber Junge, das alles find Fragen, die ich 
jelbjt gern beantwortet hätte!” lachte Chutbert, der mit einem 
Male all feinen Frohfinn wieder gefunden hatte. 

„Aber nur Geduld, Geduld! 's ift das freilich ein bitteres 
Kraut, das ich gerade nicht ſehr liebe, aber da es nun einmal 
nicht ander ift, jo muß ich verjuchen, wie es mir ſchmecken 
mag. Morgen müfjen wir den Gang unterfuchen. Sch denke, 
e8 muß da noch irgend einen geheimen Eingang zu einem 
Veriteef geben. Die Töne, welche wir damal3 hörten, können 
ihr Geſang oder auch ihr Saitenjpiel gewejen fein. Das Ueber- 
irdiiche, ©eifterhafte, welches fie Hatten, mag die Schallver- 
änderung Durch Die dazmwilchen liegenden Mauern ihnen ge- 
geben Haben. Weiß ich nur erſt, wo fie Fampiert, jo will ich 
fie ausgraben, wie einen Dachs aus feinem Baue.“ 

„Du wirft wohl num auch die Kemnate jamt Hof und 
Garten in Arbeit nehmen lafjen?“ | 

„Rein, Das nicht. Dort bleibt alles wie bisher. Ich will 
jenes ſeltſame Weſen wenigſtens vor fremder Beläftigung ſchützen.“ 


2776 Egon Sels. 





„Und du?” 

„Ra, mit mir ilt e8 etwas andere. Ich will ihr zwar 
die Zuflucht, die fie vielleicht braucht, nicht entziehen, aber ich 
denke Doch wohl als Herr des Hauſes dag Necht zu haben, zu 
erfahren, wer auf meinen Grund und Boden fi) ohne meine 
Erlaubnis eingeniltet hat.“ 

„Das haft du, Chutbert, ohne allen Zweifel, und wer 
weiß überdies, ob dies Geſpenſt von Fleiſch und Bein nicht 
noch irgend welchen unliebjamen Anhang hat. Notwendig ift 
es jedenfalls, der Sache auf den Grund zu gehen, denn es hat 
troßdem etwas recht Unheimliches, wenn e3 im eignen Haufe 
Schlupfwinkel giebt, deren Vorhandenſein man zwar ahnt, die 
man aber partout nicht auffinden kann.“ 

„Da haft du redt. Wir wollen fie jedoch jchon finden. 
Und nun, Gott befohlen! Mit dem Schlafe wird es wohl 
freilich nicht8 mehr fein, denn dort ift ſchon das Morgenrot, 
die Sonne ift nicht mehr weit. Sch will e8 aber trotzdem 
verjuchen, damit ich heute Nacht um jo muntrer bin.“ 

Nobert entfernte jich, und Chutbert, den der Freund den 
verwundeten Daumen mit einem Stücchen Leinwand verbunden 
hatte, treckte fich, ohne die Kleider nochmal3 abzulegen, auf 
dem Bett aus, verſank auch wider Erwarten al3bald in 
Schlummer, der allerdings fein erquidender genannt werden 
fonnte, denn im Traume erjchien ihm die weiße Frau wieder 
und lodte ihn fliehend nach, weiter und immer weiter. Weber 
Berg und Thal, über Ströme und durch) Wälder ging Die 
Hebjagd, und wenn er ermattet inne halten wollte, hörte er 
immer wieder jenes leife, harmoniſche Lachen, und daS ftachelte 
ihn von neuem zu den unerhörteften Anftrengungen, biß er 
endlich die Fliehende auf einem Berge erreichte. Er erfaßte 
ihr Gewand, aber es war nur ein Duft, der fie umfloß, denn 
e3 zerrann unter feinen Händen, während fie lachend ihn: ent= 
ſchwand und er ſich hart an einem gähnenden Abgrunde be— 
fand. Ihm jchwindelte — und taumelnd ſank er Hinab, tief 
und immer tiefer, biß er unten, hart auf dem eljenboden auf— 
Ihlagend? — erwachte und ih, in Schweiß gebadet, mit 
feuchender Bruft, aber im übrigen jehr wohlbehalten, auf dem 
Wolfsfell vor feinem Bette liegend fand, 





Das Nätjel der Ahnenburg. 2777 





Das war der tiefe Fall in den Abgrund. Lachend jprang 
er empot und begrüßte wohlgemut die fchon Hoch ſtehende 
Sonne. 


13. Enldecktk. 


Junker Ehutbert hatte e3 ſich zwar, wie wir wifjen, nicht 
gerade als leicht, aber doch als erreichbar vorgeitellt, den 
Schlupfwinfel jenes rätjelhaften weiblichen Weſens zu entdeden, 
das jo geheimnisvoll in feinem Eigentum lebte und webte, 
mußte aber endlich, jelbjt nachdem er die Hilfe des Meijter 
Hildebrandt in Anjpruch genommen, einjehen, daß er ſich mehr 
vorgenommen, als ſich ausführen lie. 

Der Gang ward ſorgſam unterfucht, die Wände durch- 
geflopft, aber nichtS gefunden, wa3 einer geheimen Thür ähn- 
li) gewejen wäre, oder deren VBorhandenjein auch nur ver- 
muten ließ. Ueberall fam der gleiche volle Klang zurüd, die 
durchaus egale Stärke der Mauer bezeugend. 

Nun Fam der Fußboden daran, der aus feit geitampftem 
Lehmboden beitand, unter welchem fi Steinplatten befanden. 
Hier war es nun freilic) etwas andere. Ungefähr an der- 
jelben Stelle, wo damals die Freunde jene geheimnisvollen 
Töne gehört hatten, Hang der Boden in der vollen Breite de3 
Ganges und in einer Länge von fünfundzwanzig Schritten hohl, 
doch war, mie gejagt, nirgends ein Eingang zu dem ohne 
Zweifel hier befindlichen, darunter liegenden Naume zu ent- 
defen. Meiſter Hildebrandt meinte naiv, der Eingang müſſe 
anderswo jein. 

Wo aber war diefer Eingang? Das war die Frage, 
worauf auch Meilter Hildebrandt jchlieglich die Antwort jchuldig 
bleiben mußte, denn ale Vermutungen ermwiejen ſich als 
trügerifch. | 

Nun ſchlug er allerdings ein Radikalmittel vor, welches 
wohl mit Sicherheit zum Ziele geführt haben wide Er 
wollte den Fußboden durchichlagen. Aber davon mochte der 
junge Freiherr nicht3 hören und verweigerte dazu die Erlaub- 
nis. Die Gewaltſamkeit dieſes Verfahrens, die undermeidliche 
Bloßſtellung der geheimnisvollen Bemwohnerin, die er da drinnen 


Enz En nn nn nn. 
7 J — = * 
+ * 


2778 Egon Fels. 





vermutete, widerſtrebten ſeinem Zartgefühle; er ließ ſich daher 
nochmals das Verſprechen des Baumeiſters, das dieſer ſchon 
vorher hatte leiſten müſſen, über die ganze Angelegenheit gegen 
jedermann zu ſchweigen, BILDEN und alles blieb beim 
Alten. 

Deshalb waren aber die Verjuche, den Verfte auf Die 
Spur zu kommen, feinesweg3 aufgegeben, jondern die beiden 
Freunde fuchten und ſuchten, laufchten und lauerten, fchliefen | 
viel bei Tage und wachten während des größten Teiles der 
Nacht, jelbit gleich ruhelojen Geijtern in der Burg und deren 
Umgebung umberirrend. 

Doc die weiße Frau gehörte zu den Spröden ihres Ge- 
Ichlechtes und ließ ſich vergebens ſuchen. Keine Erſcheinung 
war zu ſehen. 

So verging abermals ein Monat. 

Es war wieder eine wunderſchöne, nur etwas kühlere 
Vollmondsnacht als jene vor einem Monat. Beide Freunde 
hatten ihre nächtliche Runde wieder einmal beendet und trafen, 
wie gewöhnlich, im großen Burghofe zuſammen, ſich gegen— 
ſeitig die Erfolgloſigkeit ihrer, nach verſchiedenen Richtungen 
unternommenen Unterſuchung mitzuteilen. Da faßte Chutbert 
plötzlich krampffaft des Freundes Hand und flüſterte mit 
zitternder, vor Bewegung heiſerer Stimme: „Sieh doch, um 
des Heilandes willen! Sieh dort!“ 

Robert folgte der Richtung, welche des Freundes angft- 
voll gejpannter Blick und deffen deutende Hand ihm wieſen, 
und ſah, vor Schred eritarrend, auf dem höchſten Punkte des 
von Mondlicht fürmlich triefenden Turmgerüſtes die Geftalt 
der weißen Frau wandeln, die fich dort oben auf dem gefähr- 
lihen Pfade mit einer Sicherheit bewegte, als befinde fie fich 
auf ebener Erde. Das verjchleierte Haupt umjchivebte die 
Fledermaus, und das kluge Tier jchien befjer die große Gefahr 
feiner Herrin zu kennen als dieje jelbjt, denn die reife, in 
welchen fie um deren Haupt jchwebte, waren weit größer, al3 
damal3 unten im Garten und kamen ihr niemals näher, e3 
war, als fürchte fie, der Luftdrud ihrer Flügel könne den 
Schwerpunkt der Nachtiwandlerin da oben verrüden und fie 
hinabftürzen in die furchtbare Tiefe. 





Das Rätſel der Hhnenburg. 2779 





SE 


Die jungen Männer wagten faum zu atmen. — „Sie iſt 
mondſüchtig,“ ſagte endlich Robert leiſe. — „Aengſtige dich 
nicht, Chutbert, ſie wird nicht fallen, der Mond hält ſie mit 
zauberiſcher Gewalt. Am ganzen Himmel iſt keine einzige Wolke, 
es iſt daher nicht die mindeſte Gefahr vorhanden, daß ſie da 
oben erwacht. — Still! um Gotteswillen keinen Laut!“ er 
preßte gleichzeitig die Hand feſt auf Chutberts Mund, und es 
gelang ihm, den unwillkürlichen Entſetzensſchrei im Entſtehen 
zu erſticken, daß er nicht die Höhe erreichen Fonnte. 

Chutbert Hatte ihn ausgeitoßen, als fie plößlich einen frei 
über die Tiefe Hinausragenden Balfen betrat, an dejjen Ende 
ein Slafchenzug befeftigt war, mitteljt deſſen fich die Bauarbeiter 
das nötige Material heraufzuziehen pflegten. 

Die weiße Frau fchritt Hinaus big an des Balfens äußerſtes 
Ende und jtand nun, frei ſchwebend zwiſchen Himmel und Erde, 
Ihlug mit einer anmutsvollen Bewegung den Schleier zurüd 
und hob das geifterbleiche Antlitz, deſſen Züge jelbit für die 
Icharfe Sehfraft, deren die jungen Männer fich erfreuten, bei der 
großen Entfernung freilich nicht zu erfennen waren, zu dem 
Monde empor, der die ganze weiße Geitalt mit feinen Strahlen 
förmlich einzufpinnen ſchien, daß fie fich in leuchtender Glorie 
auf dem Hintergrunde des tiefblauen Zirmamentes, gleich einem 
Boten aus dem Jenſeits, ſtrahlend vom Abglanze des Aller- 
höchiten, abzeichnete. | 

Die Arme ausbreitend, begann fie einen janften, lieblichen 
Geſang, indem fie fich nach dem Tafte der Melodie hin und 
her wiegte. Der Gejang war zu leife, al3 daß man verstehen 
fonnte, in welcher Sprache fie jang, er glich dem Teilen, 
träumenden Gezwitjcher eines jchlafenden Vögleins im Neſte 
und ſchien dem Rhythmus nach eine Art Wiegenlied zu jein. 

Chutbert lehnte jih an den Freund. Er fchien der Stüße 
Dringend zu bedürfen, denn der Starke, junge Körper diejeg, Feine 
Gefahr jcheuenden, tollfühnen Mannes zitterte und bebte vor 
tiefiter Angft und namenlojfem Entjeßen. Er hörte faum, was 
Robert ihm tröftend zuflüfterte. 

Diefer Hatte dur Mitteilungen jeiner Mutter, deren 
jüngere Schweiter an derſelben geheimnißvollen, früher viel 
häufiger als heutzutage auftretenden Krankheit gelitten, einige 


BZ niit. 2 A 





2780 Egon Fels. 





Erfahrung. Jene Unglüdliche war, wie jo viele, ein Opfer 
derjelben geworden, indem fie in der ſchönſten Jugendblüte 
dadurd) den Tod fand, weil eine unborfichtige Magd fie beim 
Namen angerufen, als fie gerade auf dem Dacdje ihres väter- 
lihen Haujes ihre Mondpromenade machte. Sie war erwacht 
und, vom Schwindel erfaßt, Hinabgeftürzt in den Hof, wo fie 
fih da8 junge Haupt auf den Steinen zerjchmetterte. 

Reife verhallte da oben der ſüße Geſang und das Unglaubliche 
geihah, die Nachtwandlerin wendete ſich um auf dem ſchmalen 
Balken, der ihren Füßen faum Raum zum Schreiten bot, und 
legte mit nicht einen Moment wankender Sicherheit ihren gefahr- 
vollen Weg wieder zurüd bis auf die vergleichsweiſe ficheren 
Bretter des Gerüſtes, wo fie noch eine furze Zeit hin und ber 
wandelte und dann langjam herabzufteigen beganır. 

Die wie von jchiwerer, Eörperlicher Pein erlöft aufatmenden 
Freunde verftändigten fich raſch über ihre fernere Handlungsweile. 

Sie verbargen fich in: dem tiefen Schatten des Turmes 
und ließen die weiße Frau an fich vorüber gehen. 

Wie damald im Garten, ehe Robert fie angerufen, ſchritt 
fie fteif und bewegungslos, gleich einer wandelnden Statue, an 
ihnen vorüber. Die dunklen, glänzenden Mugen blidten ftarr 
gerade aus. Die Fledermaus umfchwirrte in engen Kreijen daS 
hochgetragene Haupt, defjen jchöne, geijterbleiche Züge von hin— 
reißender Lieblichfeit der zurüdgejchlagene Schleier nicht ‚mehr 
verhüllte Die Arme hingen ihr an beiden Seiten nieder und 
die Freunde hörten jelbjt nicht in dem Augenblick, als fie an ihnen 
vorüber fam, das Geräufch ihrer Schritte. 

Borfichtig, jo geräuſchlos als nur möglich, folgten fie ihr 
in geringer Entfernung. 

Sie ſchien noch nicht gewillt, fi) zur Ruhe zu begeben, 
denn fie jchlug den Weg nach dem Garten ein. 

Am Cingange blieben die Freunde ftehen. Hier war fie 
ihnen ficher, fie mußte, wenn fie in die Burg wollte, diejen 
wieder pajlieren. 

„Was jollen wir nun machen, Chutbert?“ fragte Robert. — 
„Ich fchlage vor, wir ftellen uns zu beiden Seiten hier auf, 
und im Momente, da fie heraus will, faſſen wir zu gleicher 
Beit ihre beiden Arme und halten fie feſt. Dann mag fie ver- 





RREFET.N 
“ala h- 


Das Rätjel der Ahnenburg. 2781 





juchen, uns zu entwilchen. Ballen kann fie hier nicht, und fo 
hat es feine Gefahr für jie, wenn fie plötzlich aus dem Schlafe 
aufgeſchreckt wird.“ 

„Aber fie wird erjchreden, zum Tode erjchreden! Bedenfe 
doc), welch zarte Wejen fie ift.“ 

„sa, das ift freilich wahr. Aber wie jonft ſollen wir aus— 
findig machen, wo fte eigentlich Hauft? Sie ſelbſt muß es jagen 
und jie wird es thun, wenn fie ſich in unjerer Gewalt befindet.“ 

„Beſſer it eg, wir folgen ihr unbemerkt —“ 

„Damit fie uns wieder entwijcht, nicht wahr?“ 

„Mag jie denn, ich will mich lieber diefer Gefahr ausjeßen, 
al3 fie irgend erichreden und Fränfen. Wir werden —“ 

„Still! da ift fie! — fie fommt zurück!“ 

AUS Robert dies flüfternd ſagte, war jie bereit3 ganz nahe, 
und zum Verbergen war e8 zu jpät. Das Geräujch Eonnte fie 
erwecken. | 

Steif, gleih Bildfäulen, ohne fi) zu regen, ja faum zu 
atmen wagend, blieben die Freunde, welche leife bei ihrem 
Erjcheinen auseinander gewichen waren, jtehen. 

Sie fam näher. Sie war da — Schritt mitten zwijchen 
ihnen hindurd). 

Kein Blick fiel auf fie. Automatenhaft, den leeren Blick 
geradeaus gerichtet, fam fie vorüber. Keine Ahnung der Nähe 
anderer, durchdrang die tiefe Betäubung ihres Schlummers. 

Sie jchien zu träumen, denn der fchöne, bleihe Mund 
lächelte, man jah die Doppelreihe der glänzenden, perlengleichen 
Zähne, und über dem jüßen, jungen, blaſſen Geſicht lag der 
Schimmer einer traumhaften, ſchwärmeriſchen Glüchſeligkeit, jeinen 
hohen Reiz noch erhöhent. | 

Leile wie vorher folgten die jungen Männer. Sie jchritt 
geradeswegs über den Hof in die Halle der Kemnate, jtatt aber, 
wie jene erwartet hatten, ihre Schritte nad) der Seite des 
geheimen Ganges zu lenfen, fchritt fie nad) der entgegengejegen 
Seite, verließ die Halle und jtieg die nach der erſten Etage führende 
Wendeltreppe hinauf, ging durch die Bimmer der Kemnate und 
geradesweges auf den Kamin los, der fi in dem Zimmer mit 
den bibliichen Fresfen befand, griff mit der Hand an die linfe 
Geite, gerade an der Stelle, wo ſich der Kaminmantel in reicher 


2782 Egon Fels. 





Studarbeit der Wand anjchloß, und dfejer löjte ſich gleich einer, 
fich in den Angeln bewegenden Thür von der Wand. Sie fchritt 
hindurch und langjam fiel der Kaminmantel gleich einer Thür 
hinter ihr zu. 

Doch nicht ganz, denn das verhinderte der rajch dazwiſchen 
geichobene Dolchknauf Roberts. 

Borfichtig die Deffnung wieder ermeiternd, laufchten beide 
auf das leife Schleifen ihrer Gewänder auf den Stufen einer 
Treppe. Dann Hörten fie das Deffnen und Schließen einer 
Thür. Darauf trat Grabegitille ein. 

Tief aufatmend, ſagte Chutbert leife zu Robert: „Endlich!“ 

„Sa, endlich fennen wir den Ort, wo diefe geheimnisvolle 
Schöne — die übrigens nicht geheimnisvoller ilt, al3 deine Stamm- 
burg, die unterwühlter zu jein jcheint, als ein Fuchsbau — 
fih verbirgt. Sollen wir aber nicht, unjere Entdeckung ver- 
folgend, der weißen Frau, jchon als Vergeltung, daß fie ung 
fo lange genarrt, einen Bejuch in ihrem Palaſte da unten ab- 
Itatten? Wenn wir diefe Kaminmantelthüre recht weit öffnen, 
gewinnen wir wohl Licht genug, um uns die Treppe hinab- 
zufinden, die hier in ihre Klauſe führen muß.“ 

„Das iſt zweifelhaft. Jedenfalls wäre es nicht angenehm, 
wenn wir unferen Beſuch Kopf über, Kopf unter, bei ihr ab⸗ 
ſtatteten.“ 

„Du haſt recht. So warte ein wenig hier, ich laufe und 
hole eine Laterne.“ 

Da Chutbert nichts erwiderte, ſo hielt Robert das für 
eine Bejahung und entfernte ſich. Als er, mit der Laterne 
zurückkommend, ſich anſchickte, dem Freunde vorauf hinab— 
zuſteigen, ſagte dieſer, ihn zurückhaltend: 

„Rein, nicht jetzt will ich ſie heimſuchen. Nicht unvor- 
bereitet ſoll das zarte Geſchöpf von mir überrajcht werden. 
Sie joll vorher wiſſen, daß ihre Behaufung entdedt iſt und ſie 
meines Bejuches gemwärtig fein muß. ch werde jet hinab- 
Iteigen, die Laterne auf die unterjte Stufe ſetzen und mein 
Barett daneben legen. Sie wandelt wohl aud) während de3 
Tages hier herum; dann wird fie beides entdeden und 
mein Beſuch in einigen Tagen ihr nicht mehr überrajchend 
fommen.“ 


Das Nätfel der Ahnenburg. 2783 





„Wenn fie aber, fich entdeckt jehend, entfliedt, jo wirft du 
nie da3 Geheimnis erfahren, welches ſie umgiebt.“ 

„Wohin ſoll jie fliehen? und wann? Am Tage hat fie 
die Arbeiter zu fürchten und während der Nacht werden wir 
Wache Halten, daß es nicht geichieht, bis ich fie geiprochen. 
Veberdies, hätte fie fliehen wollen, jo wäre ihr feit der lebten 
Bollmondsnacht reichlich Zeit und Gelegenheit geblieben.“ 

Nachdem er jeinen Borja ausgeführt hatte und der 
Kamin nad) forgfältigem Studium feines Mechanismus wieder 
an feine Stelle gebracht worden war, verließen fie die Kemnate. 

Unterwegs ſah ſich Chutbert die Thüröffnung an, welche 
den Gang, der von dem großen Burghofe nad) dem Fleinen 
führte, ehemal3 verjchloffen hatte, und fagte: „Hier muß mir 
noch heute eine Thür her. Sch will es der weißen Frau un- 
möglih machen, noch einmal ihr Leben in folch fürchterliche 
Gefahr zu bringen. Auch die Gartenmauer joll jofort in An- 
griff genommen und die zufammengebrochenen Stellen neu 
aufgeführt werden. Das wird fie nicht nur vor möglicher 
Beläftigung von außen, fondern aud) davor fügen, ſich ſelbſt 
Schaden zuzufügen, indem fie etwa nachts fchlafend durch die 
Brüche der Mauer in den Wald gerät.” | 

„And der dritte Zweck diejes jehr löblichen Vorſatzes iſt 
der, deinen ſchönen Geiſt fiherer an. Ort und Stelle zu 
bannen,” erwiderte Robert lachend und lief, ohne Chutberts 
Antwort abzuwarten, den Korridor entlang, jeinem eigenen 
Gemache zu. | 

Chutbert trat lächelnd in fein Zimmer und nidte gedanfen- 
vol ein paarmal mit dem Kopfe, al3 wolle er jagen: Sa, ja 
— So iſt e8, recht hat er. 

Während die Freunde in der folgenden Nacht unten in 
der Halle Wache hielten, um eine etwaige Flucht der geheimnig- 
vollen Dame zu verhindern, hatte Junker Chutbert ihren Bejuch 
in feinem Bimmer verfaumt und damit den Beweis erhalten, 
daß doch noch irgend eine geheime Verbindung ihrer Klauſe 
mit dem Gange oder — wer weiß e8, noch ein zweiter Ein- 
gang don ihrer Wohnung vielleiht nach feinem Gemache 
führen müſſe. 

Als er todmüde und überwacht fein Bett aufjuchen wollte, 


EZ nie... RE — — 


2784 Egon Fels. 





fand er auf dem Kiffen desjelben, mit einer Nadel von felten 
Ichöner Arbeit und großem Werte der fie zierenden Steine ein 
Pergamentblatt befeitigt. 

Die zierlihen Schriftzüge, welche es bededten, zeugten 
von einer, für die damalige. Zeit, wenigſtens in Deutjchland, 
ſeltenen Geſchicklichkeit im Schreiben, auch ließ die Gewandt- 
heit, mit der fich die Schreiberin ausdrüdte, auf eine überaus 
lorgfältige Erziehung jchließen, die fie genoffen. Sie jchrieb: 

„Die Unglüdliche, welche durch jchwere Schickſalsſchläge 
genötigt ift, ungeladen noch immer die Gajtfreundfchaft des 
Beligers diefer Burg in Anfpruch zu nehmen, dankt ihm auf 
das innigſte für die zarte Weile, mit welcher er ihr Die 
Meldung zufommen ließ, daß ihr Aufenthaltsort von ihm 
entdedt ward. Gleichzeitig bittet fie ihn aber um Chrifti 
willen, auch noch ferner ihre Zurückgezogenheit zu ehren und 
ihr zu geitatten, ihm verborgen zu bleiben, wie bisher. Die 
Zeit ist nicht mehr fern, wo eine Veränderung eintreten und 
ihr erlauben wird, dem Hausherren, der mit jo viel zarter 
Rückfiht jede Störung von ihrer Umgebung durch den lauten 
Arbeitertroß fern hielt, von ihrer jtörenden Gegenwart zu be- 
freien. Sie wird jedoch nicht gehen — fie verfichert daS bei 
ihrer unbefledten Ehre — ohne dem gütigen Manne für die 
Zuflucht, die fie noch von ihm erbittet, zu danken, und den 
Schleier des Geheimnifjes, das fie umgiebt, zu lüften. Jetzt 
noch zu jchweigen, gebieten ihr zwingende Verhältniffe und ein 
Schwur, den fie geleitet. Die weiße Frau.” 


14. Geſpenſter und kein Ende. 


Die Köchin und der Kellermeiſter, beide mit anderem 
Geſinde von der forgenden Mutter dem Sohne zu feiner Haus— 
haltung nachgeſchickt, jobald er nur gemeldet, daß Unterkunft 
für fie befchafft jei, wunderten fich nicht wenig, al3 ihr Herr, 
der in letzter Beit jo überaus wenig getrunfen und faſt noch 
weniger gegellen, mit einen Male, wenigitens bei feinem Abend- 
ejlen, dag er fortan in feinem Zimmer einzunehmen pflegte, 
einen ganz außerordentlichen Appetit und ganz leidlichen Durft 
entwidelte. 


Das Nätjel der Ahnenburg. 2785 





Zu gleicher Zeit ward das Verbot, den Garten und den 
Kleinen Hof zu betreten, an die Arbeiter jowohl, wie an die 
Dienerjchaft erneuert und die jtrenge Befolgung desjelben da- 
durch gefichert, daß das Thor, welches die beiden Burghöfe 
verband, ſowie von dem vorderen Teile der Burg nad) 
dem hinteren Teile, der fogenannten Kemnate führte, durd) 
Itarfe Thüren und Schlöffer verwahrt wurden, deren Schlüffel 
der Herr in alleinige Verwahrung nahm. 

Damit war die Verwunderung der Leute indejjen immer 
noch nicht erichöpft, fie jollte eine Steigerung dadurch erfahren, 
daß Frau Brigitte, die Beichließerin, eines jchönen Tages ent- 
dedte, daß die beiden, mit allen Bequemlichkeiten und nicht 
geringem Luxus eingerichteten Gemächer der Frau Gräfin 
Adelheid von Greifenflau, der gnädigen Mutter des jungen 
Freiherrn, vollſtändig ausgeräumt und all die Eojtbaren Möbel 
ſpurlos verſchwunden waren: 

Sie erhob ein großes Zetergefchrei und Tief zu ihrem 
gnädigen Herrn, die unerhörte Dreiftigfeit der Spigbuben von 
Arbeitern, denn nur unter Re frechen Bolfe könnten die 
Diebe jtefen, anzuflagen. 

Allein der Junker lachte fie ang und meinte, fie müſſe 
geichlafen. haben, daß fie nicht bemerft, wie er die ganze Ein- 
richtung, die ihm nicht gefallen, wieder habe fortichaffen Lafjen. 

Frau Brigitte ſchwieg und entfernte fich. 

Wenn aber der Junker geglaubt hatte, mit feinem Spotte, 
womit er fie freilich zum Schweigen gebracht, ihre Bedenken 
auch niedergefchlagen zu haben, jo irrte er fich gewaltig. 

Frau Brigitte fragte und forjchte und erwarb damit die 
Genugthuung, daß niemand mehr mwilfe, als fie jelber; es war 
allen dasſelbe Rätjel wie ihr, wohin die Möbel gefommen 
waren. Kein Menjch Hatte fie fortichaffen jehen, feiner der 
Arbeiter wollte fie fortgefchafft baben. 

Die arme Frau Brigitte zerquälte nun ihren Kopf mit 
der Löſung des Rätſels, ohne mit all dem Kopfzerbrechen ihr 
auch nur einen Schritt näher zu kommen. 

Dabei ward ihr auch noch von anderer Seite das Leben 
ſchwer gemacht und ihr nicht allein, fondern ihrem Alten, dem 
guten Hans Kochen, mit. 

U. Haus⸗Bibl. I, Band XII. 175 


BEE EZ nn... —— —: 


2786 22 Egon Fels. 





Wie fie die Oberaufficht über die weibliche, jo führte er 
diejelbe über die männliche Dienerſchaft — Robert natürlich 
ausgenommen, der über Allen jtand und von allen gleich 
reipeftiert wurde, nur im ftillen von Frau Brigitte nicht, die 
ihn mit aufgezogen hatte und fich jo manches herausnahm. 

Die Dienerfchaft machte beiden mit einem Male das Leben 
jauer, denn fie ward jchwierig, jtedte die Köpfe zufammen und 
that nichts, wie es gethan werden jollte und mußte, damit der 
Freiherr, der, ſo gütig er war, doch ſtrenge Ordnung liebte 
und einen regelmäßigen Dienſt von ſeinen Leuten forderte, 
zufrieden geſtellt werden konnte. 

Nach einigen heftigen Worten, die ſich ſowohl von ſeiten 
des Burgwarts, als der Veſchließerin, auf die Häupter 
Schuldiger und Unſchuldiger entluden, kam als Urſache der 
Zerſtreuung und gelegentlicher kleiner Unglücksfälle eine all- 
gemeine Gejpeniterjeherei zum Vorſcheine. 

Der und jener, ſowie dieſe und jene, wollten bald eine 
weiße, bald eine ſchwarze Frau, bald einen Hund mit glühen⸗ 
den Augen, der aus der Schnauze Feuer ſprühte, bald einen 
Mann ohne Kopf, dieſen fein ſäuberlich unter dem Arme 
tragend, in irgend einem dunfeln Winfel oder Korridor ge— 
ſehen haben oder ihm gar begegnet fein. 

Endlich jah eine der Dienerinnen im Dunfel eines trüben 
Tages, Ende Oktober, in der Dämmerftunde, vom Fenfter eines 
oberen Korridord aus, im Garten eine weiße Öeftalt wandeln; 
ihr Betergefchrei rief andere herzu, und ein jeder jah in 
der inzwijchen vollends eingetretenen Nacht etwas Anderes, 
Schredlicheres. 

Das Gerede unter den Dienern hatte fein Ende und feiner 
mehr wollte nach Dunfelwerden die weiten, hallenden Korridore 
der oberen Stodwerfe betreten. Die ärgerlichiten Auftritte 
fanden fat täglich Statt. Frau Brigitte, die mit den Wider- 
Ipenjtigen fast noch weniger anzufangen wußte, al3 ihr Mann, 
war in heller Verzweiflung, denn fie jah ihre ganze Herrichaft 
bedroht. Endlich war ihre Geduld erſchöpft und fie faßte den 
großen Entſchluß, die Hilfe ihres jungen Herrn in Anfpruc zu 
nehmen, indem ſie ihm zugleich Mitteilung von all den Greueln 
machte, deren Schauplaß in letzter Zeit die Burg geweſen. 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2787 





Leider mußte Frau Brigitte den Kummer erleben, daß ihre 
furchtbare Erzählung all des Spufes keineswegs den davon 
erwarteten Eindrudf auf den Freiheren machte. Denn dieſer 
lachte nur, und Robert lachte ebenfall2.. 

Die ſtille Indignation der Beſchließerin war eine gar große. 
Den einzigen Troſt empfing ſie dadurch, daß das Reſultat ihrer 
Klage ein beſſeres war, als deren Eindruck ſie zu erwarten 
berechtigte. 

Jenes Fenſter — es war das einzige, von dem man den 
Hof und Garten des Hintergebäudes ſehen konnte — ward 
mittelſt eines ſtarken, verſchließbaren Ladens undurchſichtig 
gemacht und der Neugierde der Leute entzogen, die während 
des Tages und beſonders, ſobald die Dämmerſtunde herannahte, 
dorthin liefen und auf neue Nahrung für ihre Geſpenſter— 
ſeherei und abergläubiſche Furcht lauerten, ſtatt die ihnen an— 
befohlene Arbeit zu thun. Ferner ward denjenigen, die ſich 
etwa weigerten, nach Dunkelwerden die Korridore zu pallteren, - 
unm ihre Obliegenheiten zu erfüllen, mit Einſperrung ins Burg- 
verließ gedroht. 

Das half nun freilich zum Gehorſam, aber nicht gegen 
die Furcht der Leute, und Hans Jochem ſowohl wie Frau 
Brigitte hatten ſomit nach wie vor ihre liebe Not mit ihnen, 
und beſonders die letztere lag Robert unaufhörlich mit Fragen 
an, ob denn die gnädige Frau Mutter nicht bald kommen werde, 
um ihre längſt wieder fertig eingerichteten Gemächer in der 
Burg zu beziehen und die Zügel der Oberherrſchaft über das 
Geſinde wieder in ihre Hände zu nehmen. 

Doch Robert zuckte jedesmal die Achſeln und meinte, Frau 
Adelheid werde wohl ſchwerlich vor gänzlicher Vollendung des 
Baues, und dann wahrſcheinlich mit ihrem älteſten Sohne, dem 
Grafen, zufammen fommen. 

Frau Brigitte ließ es ſich nicht träumen — und das war 
gut für Robert, ihre Neugierde hätte ihn ſonſt zu Tode geplagt 
— wie genau er ihr Auskunft über alles, was ihr rätſelhaft 
erſchien, hätte geben können. 

Hätte ſie das gewußt, o, wie würde ſie ihn feſtgehalten, 
welch energiſchen Verſuch würde ſie gemacht, welche Liſt und 
Schlauheit, welche Schmeichelei und Beharrlichkeit würde ſie 

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2788 Egon Sels. 





ins ‚Treffen geführt haben, um ihm, was er wußte, zu ent- 
reißen. _ 

Wie würde fie ihre Augen aufgeriffen haben, hätte fie er- 
fahren, welch fehöne Bewohnerin der Junker mit feinem Ber- 
bote, jenes Bereich zu betreten, das man, wie auf gemeinjchaft- 
liches Uebereinfommen, nur noch den Geſpenſterwinkel nannte, 
habe fichern wollen. 


Sie war mit allen anderen feit in die Meinung verrannt, 


daß die Abjperrung des hinteren Teiles der Burg, ſowie die 
Eile, mit welcher die zum Teil ganz bverfallene Mauer um die 
Gartenwildnis wieder hergeftellt wurde, ihre Urjache allein in 
des Herrn fejter Meberzeugung finde, daß es unmöglich ei, 
jenes Heer von Geſpenſtern, welches ihrer Anficht nach dort 
jein unheimliche Wejen trieb, zu verjagen. 


Wie würde fie erjtaunt fein, hätte Robert ihr jagen wollen, 


daß dieſe Vorfichtsmaßregeln allein dem Schube jener Schönen 
Frau, der alleinigen Bewohnerin des vermeintlichen Gejpeniter- 
tummelplage3 dienen mußten. Sie fanden ihren Grund teils 
in der ängſtlichen Fürſorge des jungen Hausherren, der weißen 
Frau jene halsbrechenden Schlummerpromenaden auf dem Turm- 


gerüſt unmöglich zu machen, fie vor der Gefahr, fchlafend in 


den Wald zu geraten, zu jchügen, und ihr auf einem ihr allein 
zugänglichen Terrain die freiejte Bewegung zn verjchaffen, in- 
den fie zugleich vor der Möglichkeit, dabei zu Schaden zu 
fommen, bewahrt wurde. _ 

Ferner war Chutbert der jehr richtigen Meinung, daß 
feinem noch jo ftrengen Verbote jo ficher zu trauen fei, als 
verjchlofjenen Thüren und hohen Mauern. 

Robert hätte ferner die bedauernde Berwunderung Frau 
Brigittens, warum ihr Herr wohl eigentlich troß überaus großen 
Appetites, deſſen er fich in letzter Zeit erfreute, troß Der über- 
reichlichen Nahrung, die er genoß, völlig beruhigen und ihr 
das Ueberflüfftge ihrer bejorgten Gedanken darüber zu Gemüte 
führen Fünnen. 


Wie hätte die gute Frau auch auf den Gedanken kommen 


follen, daß ein großer Teil der Speifen und des Weines Abend 
für Abend von Robert jorafältig in goldene und Silberne Ge— 
fäße gethan wurde — in Gefäße, welche Frau Brigitte nie 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2789 





gejehen. — Diele padte er danır ſorgſam in einen Korb und 
trug ihn, durch die behutjam von dem Freiheren geöffnete Ver— 
bindungsthür, bis in die Halle der Kemnate. Hier jedoch nahm 
der Herr ſelbſt den Korb, um ihn höchſt eigenhändig die Treppe 
hinauf zu tragen, worauf er ihn vor der Thür des Fresken— 
zimmers hinſetzte. Denn dort drüben gab e3 in den beiden 
Freskenzimmern, wie in der darunter liegenden Halle jebt ſo— 
wohl Thüren al3 Zenfter, welche Meijter Hildebrandt auf Befehl 
ſchleunigſt hatteanfertigen und Durch einen vertrauten, verſchwiegenen 
Arbeiter, der dafür glänzend bezahlt wurde, anbringen lafjen. . 

Dort wartete auch der andere leere Korb vom vergangenen 
Abende bereit3 auf ihn. Dieſer Korb, welchen der “unter 
zurücbrachte, enthielt zwar gewöhnlich nichts al3 die Fojtbaren 
leeren Gefäße, welche aus dem Schaße ftammten und die Robert 
felbft reinigte und putzte. Manchmal aber war aud ein 
Vergamentblättchen. darin, worauf irgend eine Erwiderung auf 
ein Schreiben des Junkers an die weiße Frau, einige freund- 
liche Dankesworte, oder in letzter Zeit, nach vielem jchriftlichen 
Drängen des erjteren, wohl auch irgend ein Wunſch, eine Bitte 
verzeichnet Itand. Dieſe Wünjche waren allerdings jtet3 über- 
aus bejcheidene und drehten fich immer nur um Kleinigkeiten, 
meiſt um Material zu weiblichen Handarbeiten, oder um neue 
Saiten für ihre Laute. Zur Beſchaffung diefer Dinge lag 
dann immer gleich ein Goldſtück, oder die vom vorigen Kaufe 
übrig gebliebenen Silbermünzen bei. Ein Beweis, daß, was 
es auch für Gründe fein mochten, welche die weiße Frau be- 
wogen hatten, fich hier in tiefite Einfamfeit und Verborgen— 
heit zurückzuziehen, Armut wenigftend zu ihnen nicht gehörte. 

Ein Gegenitand immerwährenden Grübeln3 blieb für die 
beiden Freunde das Nätjel, woher die weiße Frau früher die 
Nahrungsmittel genommen, ehe Chutbert ihr mit der beigelegten 
Ichriftlichen Bitte, ganz fein Gaft fein zu wollen, den Korb mit 
Lebensmitteln und Wein in das Fresfenzimmer gejtellt, und die 
Stunde bezeichnet hatte, zu welcher fie ftet3 den von neuem 
gefüllten Korb vorfinden werde. 

Sie hatte das Anerbieten mit Ausdrüden angenommen, 
welche bewiejen, daß ihres Wirtes Güte, einem tiefgefühlten 
DBedürfniffe entgegenfommend, ihr eine große Wohlthat fei. 


2790 s Egon $els. 





Wie lange war fie eigentlich jchon in der Ruine anwejend? 
War fie im vorigen Winter fc yon da? E3 war undenkbar, denn 
wie hätte dies zarte Weſen den rauhen Winter im ungeheizten 
Raume überleben können? Zwar mochte e3 wohl da unten jo 
empfindlich Falt nicht fein als oben, aber gleichviel, eg war un- 
denkbar, obgleich ihre auch jet noch weiße Kleidung, da in- 
zwijchen der Winter mit Schnee und Eis feinen Einzug ge- 
halten, zu beweiſen jchien, daß fie viel Kälte ertragen konnte. 
Wo nahm fie die ftet3 fledenlojen, weißen Gewänder her? Hatte 
fie Verbindungen nad) außen? Aber wie? wo? wann? 

Wöchentlicd) ein paarmal, an feitgejegten Abenden, jchafften 
beide Freunde mit vereinten Kräften große Spreuförbe voll 
harten Holzes bis in dag vorderjte Zimmer mit den Fresken, fie 
jo mit dem nötigen HeizungSmaterial dverjorgend. 

Wo wäre eine Grenze für Frau Brigittend Staunen zu 
finden geweſen, wenn fie dieſe Zimmer, die fie, als ſie einmal 
im Anfange hier gewejen, eine Sünde und Schande genannt 
hatte, jo ganz verändert und all die ſchwer vermißten und be= 
jammerten, jchönen Möbel aus Frau Adelheid Gemach in dem 
Zimmer mit dem Kamin und im Nebenzimmer, welches, als. 
Schlafgemach eingerichtet; von den jungen Männern nie betreten 
wurde, gejehen hätte. 

Dieſe Heldenthat hatten die Freunde, unterjtüßt don jenem 
Arbeiter, in ein paar Nächten ind Werf gejeßt, ohne bei ihrem 
Werke, daS begreiflichermweile bei der Schwere der meiſten Gegen= 
ſtände nicht geräufchlos zu vollbringen war, dank der Geſpenſter— 
furcht der Dienerjchaft, von irgend einem gejtört worden zu jein. 

Die Freunde fanden zwar, wenn fie die Holzfürbe brachten, 
ſtets das Zimmer leer, aber die umberliegenden Gegenjtände, 
bier eine Mifjale, dort Pergamentblätter und Griffel, da bie 
Laute, am Fenſter auf einem Kleinen Tiſche Seide und Gold— 
fäden, bewieſen, wie oft und gern die weiße Frau fich hier 
aufhielt. Es hätte ihrer jchriftlichen Verficherung, fie fühle jich, 
feit die Site ihres großmütigen, zartfühlenden Wirte ihr eine 
jo freundliche Wohnung geihaffen, wie neu geboren, kaum bedurft. 

Was mochte ein zweifellog zart und fein gewühntes Mädchen 
gelitten haben, da unten in dem untwirtlichen Zufluchtorte; 
welchen Entbehrungen mochte fie unterworfen gemwejen jein? 


Das Rätſel der Hhnenburg. 2791 





Es war wohl begreiflich, daß fie mit Wonne von geivohnten 
Bequemlichkeiten und Genüfjen Bei nahm. 

Ein Rätjel über alle Rätjel aber blieb den jungen Männern 
der befremdende Umjtand, daß fie die Kanne Malvafier, die ihr 
Abend für Abend gebracht wurde, niemal3 zurückwies und das 
Gefäß am anderen Abende jtet3 geleert war. 

Konnte man denn nur glauben, daß eine jo zarte- Dame 
eine ſolche Menge fchweren Weines zu ſich zu nehmen vermöge, 
und das nicht nur als Ausnahme, ſondern als Regel, Tag für 
Tag? 

Die Speijen wären allerdings für eine einzige Mahlzeit 
für eine Dame auch viel zu reichlich bemefjen geweſen, allein, 
fie lebte einen ganzen Tag, volle vierundzwanzig Stunden 
davon. Nım hatte fie zum Trinken des Weines freilich eben jo 
viel Zeit, aber e8 mußte unmöglich erjcheinen, daß fie das zu 
vollbringen imjtande ſei. Wie fie fich aber auch den Kopf 
darüber zerbrechen mochten, fie fanden nicht3 al3 Roberts endlichen 
Einfall, fie jammle den koftbaren Wein zum Bade für ſich, da 
er, wie man ſagte, die Schönheit konſervieren ſolle. 

Chutbert lachte bis zu Thränen über dieſen Einfall, und 
Robert ſtimmte bei, da aber etwas Vernünftigeres nicht aus— 
zufinden war, ſo kamen beide überein, die Sache dabei bewenden 
zu laſſen und ſich ferneres Kopfzerbrechen zu erſparen. 

Wenn nun der Junker auch, den Willen der Dame ehrend, 
ſich perſönlich von ihr fern hielt, ſo verzichtete er darum doch 
nicht darauf, ſie zu beobachten. 

Jenes, auf ſeinen Befehl durch einen Laden verrammelte 
Korridorfenſter hatte ihn auf den Gedanken gebracht, ſich in 
einer über dem Korridor liegenden Kammer, in die Rückwand 
derſelben, ein Fenſter brechen zu laſſen. Er hatte richtig kalkuliert, 
er konnte daraus die Fenſter der Kemnate, den ganzen Hof und 
Garten überſehen. Dort ſtand er denn ſo manche Stunde und 
wartete, bis er die weiße Frau hier oder dort erſcheinen ſah. 

Sie ging jetzt, wo fie ſich völlig ſicher fühlte, zu jeder 
Stunde des Tages aus den Zimmern in den Hof, um ſich Waffer 
zu holen, doc) ließ fie fich in dem Garten nie vor der Dämmerung 
bliden, wenn die Arbeiter, welche vom Turmbaue aus den 
leßteren überjehen fonnten, den Bau verlafien hatten. 


2792 Egon Fels. 





Da, eined Morgens, Jah er jie plöglich von ihrer Arbeit 
am Fenſter aufipringen und eine Minute darauf erjchien fie in 
der Thür der Halle, lief eiligft in den Hof und verjchwand im 
arten hinter dichtem Gebüſch, dag blätterlog, wie e8 war, ihm 
dennoch die Ausficht auf den Punkt veriperrte, dem fie fich zu— 
gewendet hatte. e 

Doch blieb fie nicht lange Ein großes, in weißes 
Leinen eingejchlagenes® Paket im Arm, erjdhien fie wieder 
und las troß der Schwere ihrer Laſt, die fie nur mit Mühe 
fortzujchleppen jchien, eifrig in einem Briefe, dejjen großes, 
rotes Wachdfiegel an jeinem Baden fich wie ein Pendel Hin 
und her bewegte. 

Ihre Hand, die den Brief hielt, zitterte, und einmal ſetzte 
lie, ftehen bleibend, ihre Laſt nieder, nicht um fich zu ruhen, 
jondern um die Hände in heftigjter Bewegung zu ringen und 
mit ihrem Sadtüchlein die Thränen zu trodnen, die fie im Leſen 
verhinderten. Dann las fie weiter, wobei fie jo heftig meinte 
und Ichluchzte, daß ihre ganze ©ejtalt erzitterte. Nachdem fie 
damit zu Ende gekommen, faltete fie den Brief zuſammen und 
hob ihn in ihr Kleid am Bufen, dann ſank fie auf die Kniee 
und ſchien zu beten. Nach längerer Zeit erhob fie fi) und das 
Ihwere Paket, da8 ein paarmal ihren Kleinen Händen wieder 
entglitt, aufraffend, ging ſie in die Halle zurück. 

Da Stand der Junker nım wieder dor einem neuen Rätjel. 
Wer Hatte ihr ein Zeichen gegeben? Denn fie hatte noch eine 
Minute vorher, ehe fie aufgeblict, ruhig arbeitend am Fenſter 
geſeſſen. Wie hatte die Perſon, welche das Paket gebradit, 
über die hohe Gartenmauer zu ihr gelangen Fünnen? 

Bon einer’ fieberhaften Neugierde erregt, ließ Chutbert 
fein Pferd jatteln, und ohne Robert zu benachrichtigen, wollte 
er fortreiten, da kam dieſer bereits, jein Pferd ſelbſt aus dem 
Stalle führend, heraus und fragte, ob er mitfommen dürfe. 
Während beide an der ©artennauer entlang ritten, erfuhr 
Nobert, was gejchehen war, und jah ſich, als fie endlich bei 
jener Stelle angefommen waren, welcher die weiße Frau zu— 
geeilt ivar, mit nicht minderer Spannung al3 Chutbert jelbit, 
nah den Spuren um, die jene Perjon, welche der Dame Brief 
und Paket gebracht, wohl zurickgelaffen haben mußte. 











Das Nätfel der Ahnenburg. 2793 





Hier war früher eine jtarfe Brejche in der Mauer ge— 
weſen und Deshalb wahricheinlich dieſe Stelle zum Verkehre 
mit der Außenwelt von der Dame gewählt worden. 

Jetzt jedoch war diefe Stelle gerade weniger geeignet 
al3 jede andere, denn ein großer, ftarfer Baum, welcher ehe- 
mal3 dicht an der Mauer gejtanden und feine Aeſte weit in 
den Garten Hinein geftrect hatte, war den Arbeitern im Wege 
gewejen und deshalb gefällt worden. Somit war ein bequemes 
Mittel, über die wieder hergeitellte, Hohe Mauer zu gelangen, 
in Wegfall gefonmen. 

Allein, die Perſon, welche der weißen Frau die bereits 
genannten Gegenſtände gebracht, hatte fich recht gut zu helfen 
gewußt, da fie zu Pferde war. Dicht an der Mauer war das 
Moos von Pferdehufen aufgewühlt. Der Reiter war auf dag 
Pferd und von diefem auf die Mauer gejtiegen, wie Spuren 
von Moos und feuchter Erde, die an den unberworfenen Steinen 
hängen geblieben waren, beiviejen. 

„Der Kerl kann Klettern wie eine Habe,“ bemerkte Robert 
zu Chutbert, der mit finfter zujammengezogener Stirn die 
Spuren unterjucht hatte und eine Beute der heftigiten Auf- 
regung zu fein fchien. 

Hätte e3 für Robert, der feinen Herrn und Freund ge— 
nauer kannte, als Diefer fich felbit, noch eines Beweiſes bedurft, 
dieſe allzu verräteriiche Aufregung hätte ihn geliefert. 

E3 war fein Zweifel mehr möglich. Der Freiherr von 
Greifenklau, der jchönfte Manı am Hofe von Wien, das Ziel 
zärtlicder Wünjche der ſchönſten Damen, der Schmetterling, der, 
von Blume zu Blume flatternd, ſich leider von feiner feſſeln 
ließ, wie jüß ihr Duft auch) war; der Iuftige Sunfer, der Die 
Liebe bisher verjpottet und verlacht, fie als eine närriſche Krank— 
heit erklärt hatte, war gefangen; liebte eine Namenloſe, von 
der er nicht einmal wußte, ob das Geheimnis, welches fie 
umgab, nicht gar ein jchimpfliches fei, daS fie der Beachtung 
und nun gar der Liebe eines Edelmannd unwürdig machte. 
Freilich, fie ſelbſt Hatte in ihrem Briefe von ihrer unbeflecten 
Ehre gejprochen, hatte fich eine Unglüdliche genannt, doch wer 
bürgte dafür, daß dies Wahrheit und nicht die gejchict be— 
rechnete Lüge irgend einer fahrenden Dirne fei, die Um— 








2794 | Egon $els. 





jtände, Gott weiß, welcher Art, zu zeitweiliger Verborgenheit 
‚nötigten? 

War Robert mit feinen Grübeleien bis zu dieſer Be— 
trachtung gelangt, danı gab ihm jein Gewifjen immer einen 
Heinen, moralifchen Stoß, und daS liebliche, unſchuldvolle Antlig 
der weißen rau erhob ſich vor. feinem Gedächtnid. Die 
leuchtenden, ſchwarzen Augen der Nachwandlerin jahen ihn 
jtrafend an. 

Sah etiva eine Dirne jo auß? 

War ihre ftrenge Zurückgezogenheit, ihr keuſches Zurüd- 
weichen vor jeder Gemeinjchaft mit dem jungen Burgheren, 
etwa zufanımenzureimen mit dem Thun und Treiben ſolch ver- 
ächtlichen Gejchöpfes? 

Nein — mußte er fich jelbit jagen — fo weit war fie 
wohl feines Freundes Neigung würdig. Aber dennoch — wer 
war fie? Woher kam fie? Warum verbarg fie fi) in dem 
Schoß der Erde? Was in aller Welt follte daraus werden? 

Nicht erit feit heute machte ſich Robert folche Gedanken 
und warf die inhaltsjchwere, lebte Frage auf, noch hatte er es 
an ausgeſprochenen Bedenflichkeiten und Warnungen, ja jogar 
an der Drohung, Frau Wdelheid von der geheimnisvollen 
Inſaſſin der Kemnate Runde zu geben, fehlen lajjen. 

Doh war der Erfolg von all dem ein gar Häglicher 
gewejen. 

Bedenklichkeiten verlachte, Warnungen verſpottete Chutbert 
aber bei jener Drohung war er zum erſten Male in ihrem 
gemeinſchaftlichen, freundſchaftsinnigen Leben ernſtlich böſe auf 
den Freund geworden, und hatte ihm Abſage aller Freundſchaft 
zugejchivoren, wenn er fich beikommen lafje, auch nur eine An— 
deutung vom Vorhandenjein der weißen Frau an die alte Gräfin 
oder feinen Bruder zu geben. 

Dieje gar ernft gemeinte Drohung hatte allerdings Robert 
— der überhaupt nur gedroht und nicht mit einem Atemzuge 
an die Ausführung gedacht hatte — verſtummen lafjen, aber 
feine Bedenken, feine Bejorgnifje, feine Angjt um den Ausgang 
der Sache nicht gehoben. 





Das Rätſel der Hhnenburg. 2795 





15. Der neue Diener, 


Ter Junker hatte auf Robert3 Bemerkung, jener Reiter müfje 
zu Hettern verjtehen gleich einer Kate, nichts erwidert, jondern, 
ich kurz abwendend, fein Pferd beitiegen und war fortgeritten, 
ohne jih darum zu befümmern, ob jener folge oder nicht. 

KRopfichüttelnd folgte Robert feinem Beilpiele und ritt 

hinter ihm drein, ohne fich zu eilen, an feine Seite zu gelangen, 
indem er abermals fich in jene Gedanken und Beſorgniſſe ver- 
tiefte, die wir vorhin andeuteten. 
’ Auf einer Lichtung trafen fie auf einen Mann, deſſen 
Pferd an einen Baum gebunden ſtand, während er jelbjt eine 
Ktorbflafche in einer, ein Stüd Brot in der anderen Hand, 
auf einem umgeftürzten Baume ſaß und in aller Ruhe und 
Gemütlichkeit feinen Morgenimbiß einnahm, als wölbe fich das 
herrlichſte Laubdach über feinem Haupte und das Sommer— 
lüftchen trage ihm den würzig friſchen Waldduft zu, während 
doch ein recht kalter Wind die kahlen Bäume durchſauſte und 
klappernd die dürren Aeſte aneinander ſchlug. Die Kälte, 
welche vor einigen Wochen geherrſcht hatte, war zwar, wie ſie 
viel zu früh ſelbſt für jene Gegenden — Ende Oktober — 
aufgetreten war, nur ein kurzer Beſuch und Vorbote des Winters 
geweſen und längſt milderer Luft gewichen, aber es war bei 
nur fünf Grad Wärme denn doch zu falt, um Hier im Walde 
jo gar ruhig und behäbig Raſt zu Halten. 

Die Tracht des Mannes war die gewöhnliche eine3 Hand- 
werfers, aber mit diefer harımonierte weder die joldatiiche Hal- 
tung, noch das martialishe Geficht mit dem jchneeweißen 
Knebelbarte und dem ftarfen, grau gejprenfelten Haupthaare. 

Zwar war der Mann nach der demütigen Gewohnheit 
früherer Seiten einem durch) Tracht und Weſen al3 Edelmann 
Gefennzeichneten gegenüber beim Nahen des Junkers und feines 
Begleiters fofort aufgeitanden und ftand, feine Kappe in der 
Hand, in rejpeftvoller Haltung Chutbert, der fein Pferd an- 
gehalten hatte, gegenüber, aber weder jein fühner, adlerartiger 
Blick, noch die Art zu Sprechen, harmonierte mit den demütigen 
Antworten, die er auf des Junkers Fragen gab. 

„Aus Finfenjtein fomme ich, gnädiger Herr” — das war 


2796 Egon Sels. 





eine benachbarte Stadt — „bin ein armer Schreiner meines 
Zeichens und hatte mich nad) dem Greifenjtein aufgemacht, hoffte 
dort bei dem Freiherrn lohnende Arbeit zu finden, ward aber 
abgemiejen, bin eben zu jpät gefommen, find jchon Arbeiter 
genug da. 's iſt eine gar ſchwere Zeit, gnädigiter Herr, für 
unjer einen, nirgends giebt’3 Arbeit, und man muß doch leben, 
‚und Hat man dazu nod) Weib und Kind zu verjorgen, jo wird's 
einem noch viel jchwerer, als ehrlicher Kerl durch die Welt 
zu fommen. Könnte nicht der gnädige Herr vielleicht einen 
Diener brauchen? Wenn e3 mit dem Handwerk nichts it, fo 
geht's vielleicht ſo. Ich verſtehe die Behandlung der Pferde, 
bin auch ein Stückchen Kurſchmied, weiß ferner mit dem Auf- 
warten bei Tiſche Beicheid und — 

„Den Kurſchmied glaube ich dir aufs Wort, mein Alter, 
Was aber das Aufwarten bei Tiiche anbelangt, fo möchte ich 
auf deine Gejchiklichkeit darin nicht viel geben, denn dir mag 
. wohl ein Schwert in der Hand gewohnter fein, al3 ein Braten- 
teller —“ erwiderte Chutbert, den Alten forjchend mujternd, 
der vor dem leuchtenden, blauen Auge, das ihn durch und durch 
zu Schauen fchien, den fühnen Blid ſenkte, während eine leichte 
Nöte das tiefgebräunte Geficht überflog, die man freilich nicht 
gejehen, wenn er jeine Kappe nicht abgenommen hätte, und 
nun die in ſcharfem Abſtand zu dem übrigen Gejicht jtehende 
weiße Stirn der Verräter dieſer inneren Wallung eines ehrlichen 
Gemütes geworden wäre. 

„Der gnädige Herr belieben mit einem armen Manne zu 


icherzen,“ erwiderte er, den ſcheu vor dem forjchenden Auge - 


Chutbert3 gejenften Blick ein wenig wieder erhebend, „'s iſt 
wahr, hab's wohl auch einmal verſucht, Kriegsdienſte zu nehmen 
und das Schwert zu führen. — 's gefiel mir auch nicht ſchlecht, 
aber — aber — na, die Liebe machte mir einen Querſtrich. 
Mein Schatz wollte feinen wilden Kriegsmann, und da ſagte 
ic dem Kriegshandwerfe Balet und trat bei meinem Schiwieger- 
vater. al3 Gejelle ein, damit der Schreiner erlange, was der 
wilde Kriegsgeſell nie befommen hätte.“ 

„Kun — und halt du e3 nie bereut, das Schwert mit dem 
Hobel vertauscht zu Haben?“ fragte Chutbert, dem der Mann, 
wie jeine ganze Art und Weiſe gefiel. 


Das NRätjel der Hhnenburg. 2797 


N 





„se nun, gnädigiter Herr — jo eigentlich bereut will ich 
gerade nicht Jagen, denn der Preis, den mir der Wechjel ein- 
brachte, war gerade fein geringer, ein gutes, ſchönes Weib und 
ein Geſchäft, das jeinen Mann ernährte. Freilich“ bier 
richtete fi) der Alte Ferzengerade zu feiner ganzen Höhe empor, 
und frei begegneten die Adleraugen denen des Freiherrn, — 
„Jo recht gefallen hat mir das nie fo Wie das freie, Fühne 
Neiterleben und —“ er unterbrach ich, indem er mit finfender 
Stimme und urplößlich in fih zufammenfnidender Haltung, 
wie durch einen rafchen Gedanken dazu veranlaßt, hinzuſetzte: 
„sch bin wohl auch Fein recht geſchickter Schreiner geweſen, 
und fo —“ Schloß er mißmutig — „jind wir denn berarmt, 
und ich bin froh, wenn ich den Biffen Brot für mein Weib und 
Kind gewinne.” 

Dabei ftedte er, wie fich auf einmal befinnend, die Flaſche, 
welche er noch immer in der Linfen hielt, haftig in die Tajche, 
al3 wolle er verhüten, daß der Duft ihres Inhaltes ſich dem 
Seruchfinn de3 zu ihm fich beugenden Herrn bemerklich made. 

Denn der feurige, ſpaniſche Wein, der diejelbe noch zur 
Hälfte füllte, möchte ein ſchlechter Zeuge für behauptete 
Armut geweſen ſein. 

Demütig ſetzte er dann hinzu: „Wenn mich der gnädigſte 
Herr alſo leider wohl nicht brauchen kann, ſo will ich unter— 
thänigſt bitten, mich zu entlaſſen. Ich muß mich eilen, anders— 
wo —“ 

„Das iſt nicht nötig, Alter,” unterbrad) ihn Chutbert. 
„Zwar habe ich Leute genug, unde brauche feinen Diener, aber 
du gefällit mir, und jo mag ich es wohl einige Zeit mit dir 
verjuchen. Dein Lohn ſoll auch für deine Familie mit veichen. 
Bin ich mit deinen Dienjten zufrieden und behalte dich, wenn 
der Winter vorbei ift, fo mag fich wohl auch irgend ein Fleiner- 
Bolten für dein Weib in meinem Dienjte finden. Geh’, nimm 
Abſchied von den Deinen, und melde dic) morgen oder über- 
morgen auf dem Greifenftein, ich bin der Freiherr von 
Greifenklau.“ 

Robert, der ohne ein Wort zu ſprechen, den ſtillen Be— 
obachter gemacht hatte, ſah einen Blitz des Triumphes in den 
kühnen Augen des Alten aufleuchten, der übrigens ausſah, als 


2798 Egon $els. 








überrafche ihn die Nennung des Namens jeine3 neuen Herrn 
feineswege3, jondern habe von allem Anfang, wilfend, wen er 
vor fich habe, jeine Reben wohl berechnet, und nun erreicht, 
was er gewollt. 

Seht verbeugte er ſich tief, dankte und verſicherte, daß der 
edle Herr immer einen treuen Diener an ihm haben und gewiß 
allezeit mit ihm zufrieden ſein werde, da er ſich in ſeinem Dienſte 
die größte Mühe geben wolle. 

Bei dem allen vermochte er doch eine gewiſſe Verlegenheit, 
die ſich ſeiner plötzlich bemächtigt hatte, nicht ganz zu verbergen. 
Er ward unruhig und machte ſich, nach Art verlegener Menſchen, 
irgend etwas zu ſchaffen. Er zupfte ſich hier und da an der 
Kleidung und zog das noch unverzehrte Brotſtück, das er vor— 
her auf ſeiner Bruſt ins Wams geſteckt, mehrere Male hervor, 
um es ſofort wieder einzuſtecken. 

Als er dies zuletzt that, riß er ein Pergamentblättchen mit 
heraus, das, ohne von ihm bemerkt zu werden, zu Boden fiel. 

Das ganze Gebaren des Alten, deſſen Weſen und Manieren, 
wie ſeine ganze Redeweiſe, trotz ſeiner Erklärung von dem 
Kriegshandwerk, das er einſt getrieben, ſo wenig zu der Stel— 
lung eines Schreiners, der er zu ſein vorgab, zu paſſen ſchien, 
hatte das Mißtrauen Roberts in hohem Grade geweckt. Er 
beſchloß deshalb, ſich in den Beſitz jenes Pergamentſtreifens zu 
ſetzen, deſſen Fall er bemerkt hatte. 

Er ſtieg ab, wie um an dem Riemenzeug ſeines Pferdes 
etwas zu verbefiern, und wußte dabei das junge, feurige Tier 
zu einem plößlichen Seitensprunge zu veranlafjen, wobei er 
den Bügel losließ, und das fo freigewordene Pferd fich zur 
Flucht anſchickte. 

Der Alte fprang dieniteifrig hinzu, um zu helfen, dadurch 
hatte Robert Zeit, fich nach dem PBergamentitreifen zu büden 
und ihn verſchwinden zu laflen. 

. Nun rief er: „sch danke euch, Alter — gebt Euch feine 
Mühe, der Wildfang kommt ſchon von jelber wieder.“ 

Er pfiff, und gehorfam, wie ein Hund, fam das Pferd, 
welches fich der greifenden Hand des Alten, nachdem e3 ihn 
ruhig hatte heranfommen laſſen, jedesmal durch einen nedifchen 
Seitenjprung zu entziehen gewußt, herbei getrabt. 


Das Rätjel der Hhnenburg. 2799 





Robert ſprang auf und folgte dem Freunde, der, nachdem 
er noch nach dem Namen des Alten gefragt, und diejer ſich 
Sürgen Wiedemann genannt, voranritt. 

Der Alte ſchaute ihnen mit einer ſchalkhaft triumphierenden 
Miene nach, ſchnippte vergnügt mit den Fingern, und mit dem 
Nufe: „Das nenne ich Glück haben! Was wird fie dazu 
lagen!“ holte er die Flaſche hervor und nahm einen herzhaften 
Schlud, ſchwang ſich auf fein Pferd und ritt in entgegengejeßter 
Richtung von dannen. 

Nach einigen hundert Schritten wendete ſich Chutbert zu 
Robert und fragte: „Was hobit du vorhin auf?“ 

„DO, nur dies Blättchen, welches deinem neuen Diener 
entfiel,” ermwiderte diejer und reichte ihm den bereit3 vorher 
verftohlen gelejenen Streifen Pergament. 

Noch weit mehr als vorher Robert, der nur mit Mühe 
einen Ausruf des Erftaunens unterdrüdt Hatte, ftußte Chutbert 
beim Anblide diefer wohlbefannten zierlichen Handichrift. 

Das Blatt bewegte fich auf und nieder, jo zitterte feine 
Hand, al3 er halblaut las: „Morgen Abend, eine Stunde nad) 
Sonnenuntergang.“ 

„Die Unterfchrift fehlt freilich,” bemerkte Robert, „aber 
du weißt, jo gut wie ich, daß fie lauten müßte: ‚Die weiße Fran.“ 

„Morgen früh wird alfo dein neuer Diener jchwerlich 
fommen, er muß doch erit morgen abend der Schreiberin dieſes 
Zettels melden, wie glüdlich die jedenfall3 von ihr beeinflußte 
Abſicht ihres Bertrauten, ſich als Diener bei dir einzuſchmuggeln, 
gelungen iſt.“ 

„Unſinn! Wenn du Mißtrauen ſäen willſt, Robert,“ 
erwiderte finſter Chutbert, „ſo muß der Verſuch Sinn und 
Verſtand haben. Kann bei dieſem rein zufälligen Begegnen 
von einer Abſicht die Rede ſein? Wußte Wiedemann etwa, 
daß ich gerade jetzt des Weges kommen werde?“ 

Wenn auch das nicht gerade, da du aber jo oft in. den 
Wald reitet, jo fonnte —“ 

„Schweig!“ rief Chutbert gereizt. „Es wird dir nie ge- 
lingen, mir Mibtrauen gegen fie einzuflößen. Sie ift viel zu 
unſchuldig und zu reinen, ehrenhaften Sinne, um zu ſolcher 
Hinterliſt ihre Zuflucht zu nehmen.“ 





2800 Egon $els. 





„Du bit, in Bezug auf die weiße Frau, von einer un- 
begreiflichen —“ 

Ein warnender, drohender, gebietericher Blick des Herrn, 
den Chutbert dem Freunde fo. jelten zeigte, ließ diejen das, was 
er jagen wollte, verjchluden, ftatt deſſen bemerkte er: „Erlaube, 
du kannſt Doch nach diefem Beweiſe da —“ er deutete auf den 
Bettel, den der Junker immer noch in der Hand hielt — „un- 
möglich noch zweifeln, daß jener Mann —“ 

„Der weißen Frau Freund, Vertrauter, höherer Hindi — 
was weiß ich, iſt! Das iſt richtig, aber ich glaube nimmer- 
mehr, daß fie, um feine Abficht in meine Dienfte zu treten, 
um ihr nahe zu fein, gewußt, und behaupte entjchieden, daß 
fie diejelbe mißbilligen, ja wenn fie fann, noch jet verhindern. 
wird.” 

„Dein Bertrauen in fie ift groß, Chutbert,“ erividerte 
Robert mit trübem Ernſt. „Sch hoffe, du wirft mir, obgleich 
das deinige in mich in der lebten Beit ſchwer gelitten zu haben 
icheint, die Gerechtigkeit nicht verfagen, zu glauben, daß niemand 
froher und glüdlicher fein wird als ich, wenn —“ 

„Sicht weiter, Robert,” unterbrach ihn Chutbert beſchwörend 
und reichte ihm die Hand hinüber, „ich bitte dich, mein Freund, 
mein Bruder, — laß e3 genug fein. ch verfenne ja nicht, daß 
du nur thuft, was du für deine Freundespflicht, wie nicht 
minder meiner Mutter und meinem Bruder gegenüber für deine 
Dienerpflicht erachteft. Sch zürne dir darüber weder, noch habe 
ich dir — da ſei Gott vor! — mein Vertrauen oder meine Liebe 
entzogen, beide find heute wie immer ungejchmälert dein. Doch - 
— laß gehen, was nicht mehr zu ändern iſt. Sch glaube an 
die weiße Frau, ih muß an fie glauben, denn würde id) 
von ihr getäufcht, dann hätte das Leben feinen Wert mehr 
für mich, und der Tag wäre verflucht, an dem ic) meinen Fuß 
in die Ruine meines Stammjchloffes ſetzte. Denn ich hätte, 
indem ich jenen Schatz fand, fait im gleichen Augenblide den 
größeren Schatz, die Ruhe, den Frieden meined Herzens, auf 
immer verloren, und ſomit das, was allein dem Leben Wert 
verleiht.“ 

Er ſchwieg, und Robert wagte nicht mit einem Worte, auf 
jeine vorigen, noch unbejchwichtigten Zweifel zurüd zu kommen. 





Das Rätſel der Hhnenburg. 2801 


Doc Hatte die Entdedung, wie tief bereits dieje ihm un- 
ſäglich unheilvoll erjcheinende Liebe zu der weißen Frau in des 
Freundes Herzen mwurzle, ihn mit einer peinlichen Angſt und 
Sorge für die Zukunft erfüllt. 

Endlich wagte er doch die Frage: „Willſt du nicht wenigſtens 
verjuchen, jener morgen abend ftattfindenden Zuſammenkunft 
beizumohnen? Es wäre fo leicht, und man würde dabei dem 
Geheimnis der weißen Frau fiher auf den Grund kommen.“ 

„Leicht wäre es wohl, Robert, aber auch recht und ehren- 
Haft? Wäre e3 meiner würdig, den Spion zu machen? Möchteft 
du mich dort ftehen und die Gebeimniffe des Mädchens, das 
ich liebe und ewig lieben werde, belaufchen ſehen?“ fragte 
Chutbert, mit der Hand auf ein Gebüſch, unweit jener Stelle 
der Mauer, an der fie eben vorüberfamen, deutend, das zum 
Verſteck für einen Lauſcher jo geeignet war, daß es wie ertra 
zu diefem Zwecke dorthin gepflanzt zu fein jchien. 

Robert ſenkte betroffen den Blid vor dem vorwurfspollen 
Ausdrud im Auge des Freundes, doch that er dies weniger, 
weil er fich beichämt fühlte, ihm etwas Unpafjendes, oder gar 
Unehrenhaftes zugemutet zu haben, als darum, weil er fich be- 
mübte, ihm feine Gedanken zu verbergen. Er dachte bei fich 
— freilich, er hat recht, es wäre nicht adelige Sitte, obgleich 
in feiner Zage fich wenig Edelleute Skrupel darüber, und viel- 
mehr ungeniert den Lauſcher machen würden. Doch was ſich 
für ihn nicht paßt, ſchickt ſich wohl für mich, ift fogar meine 
Pflicht, als fein treuer Diener und Freund. ch werde dort 
fein zur bejtimmten Stunde. Höre ich Schlechtes, dann müßte 
e3 ja mit dem Teufel zugehen, wenn e3 mir nicht gelänge, die 
geheimnisvolle Schöne mit der Unſchuldsmiene aus Greifenftein 
zu vertreiben und Chutbert vor ihren Künjten zu retten. 

Mit diefen Gedanken trug er fich den ganzen folgenden 
Tag, wußte fie indes jo gut zu verbergen, daß der Junker gar 

‚nit auf den Einfall fam, Robert fünne thun, was er felbit 
- verjchmäht, und fein Arg hatte, al3 er gegen Sonnenuntergang 
nach ihm fragte und von dem Burgwart den Bejcheid erhielt, 
er jei von einem Ritte nad) der Stadt noch nicht zurüdgefehrt. 

Wohl verborgen im Gebüfch, ſchon vor der in jenem Hettel 
bezeichneten Stunde, erwartete Robert den fogenannten Schreiner, 
ZU. Haus-Bibl. II, Band XII. 176 








2802 Egon Fels. 





Sürgen Wiedemann. Seine Situation dabei war Feine beſonders 
angenehme. 

Das Wetter hatte wieder umgejchlagen, e3 fror ftarf, und 
ein eifiger Wind drang troß der warmen Kleidung, troß des 
Pelzes, in den er fich gehüllt hatte, ihm big auf die Haut. 

Endlich verfündeten Hufichläge das Herannahen des Er- 
warteten und Robert wünfchte ſich Glüd, früh genug gekommen 
zu fein, denn noch immer war e3 nicht ganz die beitimmte 
Stunde. 

Sürgen überließ jein Pferd ſich felbit und behielt, ſich an 
einen Baumjtamm Iehnend, die Mauer im Auge. 

Es war bereit3 vollftändig Nacht, aber eine Flare, helle 
Nacht. Obſchon fein Mondenjchein war, funkelten die Sterne 
fo hell, daß Robert den Alten genau jehen fonnte. 

Er teilte jeine Aufmerkſamkeit zwifchen ihm und der Höhe 
der Mauer. 

Plötzlich jah er ihn emporfahren und hörte ihn einen leifen 
Pfiff ausſtoßen. 

Auf dies Signal kam das Pferd herangetrabt und ſtellte 
ſich mit einer präziſen Ruhe und Sicherheit an die Mauer, der 
man e3 anmerfte, dies fei eine lang geübte Gewohnheit. 

Oben über der Mauer flatterte etwas Weißes, und e3 ſchien 
dies das Signal’zu fein, daß die Dame zur Stelle gefommeır. 

Der Alte ftieg in den Bügel, gelangte mit der Kunftfertig- 
feit eines Gauklers jtehend auf da3 vorzüglich Stand haltende 
Roß, und ehe Robert nur gejehen, wie e3 eigentlich jo fchnell 
möglich gewejen, an der glatten Mauer empor zu gelangen, 
laß er rittlings oben. 

Neben ihm erjchien in der nächſten Minute die weiße Fran, 
die jenjeit3 der Mauer auf einer Leiter ftehen mußte. 

Robert jah freilich nur ihren wie immer dicht verfchleierten 
Kopf und vermochte feinesweges ihr Geficht zu unterjcheiden, 
doc) fie mußte es ja fein, da der Garten nur ihr allein zu- 
gänglih war. Ein Zweifel an ihrer Identität war alfo von 
vornherein ausgejchlofjen. 

Außer dem Pfeifen und Saufen des ſtoßweiſe daher- 
fahrenden Nachtwindes, der, in der Richtung der Burg her— 
wehend, dem Laufcher jedes Wort zutrug, herrichte die tiefjte Stille. 





Das Nätjel der Ahnenburg. 2803 





Nicht der leiſeſte Laut konnte ihm entgehen, ohne daß er 
den Gehörfinn bejonders anzuftrengen brauchte. 


Das Halblaut geführte Geſpräch auf der Mauer begann. 
Robert Horchte und horchte, er vernahm jeden Laut, aber ach! 
man ſprach italienisch, Hätte jedoch ebenjo gut türkiſch oder 
chinefiich Tprechen können, er würde ebenjoviel oder vielmehr 
ebenjowenig verjtanden haben. 

Der gute Robert Heinze war ein jehr Fluger, für feinen 
Stand — bejonders in der damaligen Zeit — außerdrdentlich ge- 
bildeter Mann. Jedoch für fremde Sprachen hatte er nicht das 
mindefte Talent. Das bißchen Latein, welches ihm zum Ver— 
ſtändnis der Mefje nötig war, hatte ihm jo riefiges Kopfzer- 
brechen gefoftet, daß er nicht zu bewegen geivejen, auch die 
Sprachſtunden Chutbert3, wie deſſen übrigen Unterricht, bei dem 
gelehrten Präzeptor zu teilen. 

Chutbert ſelbſt ſprach Lateinifch, Stalienisch und Franzöſiſch, 
ja ſogar ein wenig Spaniſch. Infolge dieſer Sprachfertigkeit 
‚und ſeiner ſonſtigen Bildung galt er denn auch inmitten der 
vielen ungebildeten Edelleute der damaligen Zeit für ein halbes 
Wunder an Öelehrjamfeit und hätte am Kaiferhofe gleich feinem 
Bruder eine gute Carriere machen können. 

Doch in jeinem ftarfen Unabhängigkeitsfinne wußte er allen 
Anträgen ſchon von weiten auszumweichen und vorzubeugen, und 
pflegte zu feiner Familie zu jagen, er wolle lieber als fein 
eigener Herr trodenes Brot eſſen, als fi im Dienſte eines 
anderen von lauter Delifatefjen mäften. 

Robert hätte feinen vergeblichen Laufcherpoften gern ver- 
laffen, mußte jedoh, um nicht entdedt zu werden, ausharren 
bi3 zum Ende und vertrieb fi) die Zeit damit, aus dem Tonfalle 
der Stimmen den Inhalt des Gefpräches zu erraten. 

Die weiße Frau Sprach mweinend, und der Alte antwortete 
in weichen, bejchwichtigenden Lauten. 

Allmählich ward fie ruhiger, aber auf einmal ſchien da3 
Geſpräch fich zu erhiben, fie fprach in zornigem, gebieterifchem 
Tone. Der Alte antwortete ruhig, entjchuldigend, beſchwich— 
tigend, ward zuletzt energiſch, ja jogar trotzig, obgleich jein Ton 
immer rejpeftvoll blieb. Hierauf begann die Dame wieder in 

176* 


— ee 


2804 Egon Fels. 








ängftlichen, flehenden Tönen janfter Bitte zu ſprechen, allein ! 
der Alte blieb unbewegt, feine Antwort voll ruhiger Feltigfeit. 

Die Unterredung hatte bereit3 eine Stunde gedauert. 

Dem armen Zaujcher waren von der Kälte und der totalen 
Unbemweglichkeit, zu welcher er, um fich nicht zu verraten, ge- 
ziwungen war, alle Glieder wie zu Stein eritarrt. Ihm war 
zu Mute, al3 erfriere ihm buchjtäblich die Seele im Leibe. 

Später pflegte er, wenn man ihn mit diefem verunglüdten 
Laufchverjuche nedte, zu jagen: Diejer habe wohl auch fein 
Gutes gehabt, denn ſeitdem wiſſe er ganz genau, daß es ein 
Irrtum jein müſſe, ſich die Hölle al3 Ort ewigen Feuers 
zu denfen. Er ſei in jener Stunde vom Gegenteil überzeugt 
worden. 

Diefer Ort der Dual und des Entſetzens müſſe aus Eis 
beitehen, und der Nordiwind tojend ihn durchbraufen. Denn die 
Dual, jo fürchterlich zu frieren, fei gewiß größer und ficher 
nachhaltiger, al3 die, gebraten zu werden. 

Doch wie hienieden nichts ewig dauert, hatte zu Roberts 
Trofte endlich auch das Märtyrertum diejer ihm eine Emigfeit 
lang dünfenden Unterredung ein Ende. | 

Der Kopf der weißen Frau verſchwand Hinter der Mauer. 
Der Alte rief ihr fein felicissima notte nad) und ftieg herab. 

Als er außer Hörweite war, wollte Robert fich fchleunigit 
entfernen. 

Allein da3 ging jo rafch nicht, wie er geglaubt. Die er- 
ftarrten Glieder verfagten fajt den Dienft. Nur humpelnd 
vermochte er fich fort und heim zu bewegen. Das war jedoch 
nicht das, was ihn am meiſten ärgerte, er hätte darüber nicht 
einem Gedanken des Mißpergnügens Raum gegeben, denn was 
er gethan, war ja im Intereſſe des Freundes gefchehen, für den 
ihm nicht3 zu fchwer erjchien. Aber daß er fich umſonſt ge= 
quält hatte und nun fo klug war wie vorher, darüber fonnte 
er nicht jo rajch fich beruhigen. 

Chutbert bemerkte bei dem gemeinjchaftlichen Abendefjen 
wohl, daß der Freund nicht fo heiter war al3 fonft, machte 
jedoch, tief verjtimmt, wie er war, darüber feine Bemerkung. 
Ihm erjchten im Augenblide alles gleichgültig, er war innerlich 
zu jehr beichäftigt. 


Das Rätjel der Ahnenburg. 2805 





Das Rendezvous der weißen Frau mit jenem Alten, den 
er in jeinen Dienjt genommen, hatte ihm den ganzen Tag nicht 
aus dem Kopfe gewollt. 

Wie Robert ſich gegen Abend auf feinem Laufcherpoiten 
vorbereitete, jo war er zu feinem Obfervatorium hinaufgeitiegen 
und hatte troß der Dunkelheit mit feinem Nachtglafe die weiße 
Frau in den Garten gehen und in jener Richtung Hinter den 
Sträuchern verfchwinden, fie erjt nach länger als einer vollen 
Stunde, jehr rajchen Ganges, wieder erjcheinen gejehen. 

Sollte es denn möglich fein, daß fie ſolche Täufchung 
billige, daß fie, wenn auch diefelbe vielleicht von ihr nicht ge . 
radezu veranlaßt worden, dennoch durch ihr Schweigen gegen 
ihn daran teil nehme? | 

Nein, es konnte ja nicht fein, e3 war unmöglich, fagte er ſich 
jelbjt, wußte fie überhaupt darum, jo würde fie es nicht dulden. 

Trotz alledem war er nicht ruhig, immer und immer wieder 
erhob, troß feines Glaubens an fie, der häßliche Zweifel fein 
Haupt und verhinderte ihn, ruhig zu werden. 

Er glaubte — er fürcdhtete — er zweifelte und glaubte 
wieder, er wußte jelbit nicht, welches Gefühl das ftärfere in 
jeiner Seele war. 

Als er von dem Gange zu ihr mit dem leeren Korbe 
zurüdfehrte, riß er in größter Haft die foftbaren Gefäße heraus, 
juchte und ſuchte. | 

Vergebens, feine Zeile, feine Warnung vor der Täufchung, 
die jener Hinterlijtige fich mit ihm erlauben wollte, war vorhanden. 

Einen Augenblid ftand er ganz betroffen und nieder- 
geichlagen, im nächſten jedoch ſchon Hatte die erfinderifche Liebe 
einen Ausweg entdedt. 

Was wollte er denn? — war es denn bereit3 jo gewiß, 
daß jener wirklich fam? Sie würde, ſobald fie feine Abficht ver- 
nommen, es ihm ohne Zweifel verboten haben und damit gut. 


17. Das Billet. | 
Erfüllt von diefem tröftlichen Gedanken, der ihn ein wenig 
aus der Niedergejchlagenheit emporrichtete, in die ihn die Furcht, 
ſie faljch zu finden, verjeßt, ging der Junker zur Ruhe und 


gr 





2806 Egon Fels. 





RI IN 


fand auch, nachdem er jich freilich lange ruhelog umhergeworfen, 
endlih Schlaf. | 
E Doch er war faum eine Vierteljtunde eingefchlafen, als er 
wieder erwachend emporfuhr. 

Ein leifes, ſchüchternes Klopfen an der Thür des geheimen 
Ganges hatte, jo zaghaft es Eang, dennoch Eingang in feinen 
Schlummer gefunden und ihn geweckt. 

Schon ftedte er den Fuß aus dem Bett, um herauszu- 
Ipringen, doch zog er ihn, ſich befinnend, ebenjo ſchnell wieder 
zurüd und fragte: 

„Wer ift hier? Seid Ihr es, weiße Dame?“ 

„sa, edler Herr, ih bin es —“ antwortete eine zarte 
Silberftimme. 

„Verzeiht einen Augenblid, ich bitte, ich fomme jogleich —“ 

„DO nein, nein! Sch bitte Euch, bleibt —“ rief fie ängit- 
lich. — „Nehmt dies, leſet und handelt, aber — ſeid nicht hart, 
ich bitte Euch, edler Herr.” 

Die Thür öffnete fich zu einem ganz ſchmalen Spalt. Eine 
kleine, weiße Hand ſchlüpfte hindurch, warf ein Pergamentblatt 
in das Gemach und verſchwand ſogleich wieder. Die Thür 
ſchnappte ins Schloß. 

Wie der Habicht auf die Taube, ſtürzte ſich der Junker, 
haſtig aus dem Bett ſpringend, auf das Blatt, drückte es wieder⸗ 
holt an die Lippen und dann erſt entzündete er die Lampe, um 
es zu leſen, da das ſanfte Licht des Sternenhimmels, das durch 
keine vorgezogene Gardine verhindert ward, das Zimmer zu 
erhellen — er liebte das nicht — zwar wohl hinreichend war, 
jeden Gegenſtand darinnen deutlich zu unterſcheiden, doch ſelbſt 
Augen wie den ſeinen nicht zu leſen erlaubte. 

Er las: 

„Verzeiht, edler Herr, daß Euer Gaſt diesmal freiwillig 
und mit vollem Bedacht Eure Nachtruhe ſtören muß. Doch 
vermöchte ich es nicht, auch nur eine Nacht über an der 
Täuſchung teil zu nehmen, die gut gemeinter Eifer für mein 
Wohl Euch, mein edler, großmütiger Gaſtfreund, zugedacht hat, 
und die zu verhindern ich machtlos bin. 

Ihr habt gütig, wie immer, einen Menſchen in Euren 
Dienſt genommen, der das nicht iſt, wofür er ſich ausgiebt. 


Das Nätfel der Uhnenburg. 2807 





Der vorgebliche Jürgen Wiedemann ift mein treuer Diener, 
nein, mehr al3 mein Diener, mein Bertrauter, mein Freund, 
meine einzige Stübe inmitten meiner Verlafjenheit, ehe Gottes 
Gnade mir in Euch den Freund erwedte, der mein jchiweres 
203, unter dem ich dem Zujammenbrecdhen nahe war, mit jo ' 
viel Bartheit zu erleichtern mußte. 

Dieler treue Freund nun hält es, im Hinblick auf ein — 
möglicherweife bald eintretendes, mir mit noch ſchwererem 
Kummer drohendes Ereignis, für notwendig, in meiner un— 
mittelbaren Nähe zu fein, und glaubt fich deshalb gerechtfertigt, 
wenn er fich eine Hinterlift erlaubt und, Euch über feine Perjon 
täujchend, in Euren Dienſt tritt. Sch habe ihn gebeten, da3 
zu unterlafjfen, habe ihm jein Unrecht vorgeftellt, habe gezürnt, 
alie3 vergebens. Zum erjten Male gehorcht er jelbjt dem aus— 
geiprochenen Befehle nicht und befteht auf feinem Rechte, mir 
wider meinen eigenen Willen in dieſer Weile zu Dienften zu 
fein, welche, wie er behauptet, die Umſtände rechtfertigten und 
nötig machten. 

So fagte.er und blieb dabei, was ich auch dagegen jagen 
mochte. Ich konnte jonach die Täufchung nicht anders ver— 
hindern, al3, indem ich fie dadurch, daß ich Euch davon unter- 
richte, wie e3 mir Ehre und Pflicht gebieten, unmöglich mache. 

Der, von dem ich fpreche, iſt nicht arm, bedarf weder für 
fih noch die Seinen irgend eines Geldverdienites, noch glaube 
ich jeines Schutzes fo dringend zu bedürfen, wie er meint, er- 
freue ich mich ja doch des Schußes eines fo edlen, großmütigen 
Mannes, wie Ihr es jeid. 

Wenn Ihr Jürgen Wiedemann fortfendet — ich nenne ihn 
jo, weil ich, das bitte ich zu glauben, jelbjt Euch feinen wahren 
Namen nicht nennen darf, fo gern ich Euch auch in allen Stüden 
vertrauen möchte — jo feid, ich flehe Euch) an, gütig gegen ihn 
und bedenkt, daß die Lüge, deren er fich gegen Euch fchuldig 
machte, allein aus feiner mafellofen Treue gegen mich und 
mein Haus hervorging, und verzeiht fie ihm um derer Willen, 
die fich nennt Eure dankbare Maria.“ 

Strahlend vor Freude, drüdte Chutbert feine Lippen auf 
den Namen der Geliebten. 

Endlich wußte er doch, mit welchem Namen er fie zu 





2808 Egon Fels. 





nennen hatte, fie, der jein ganzes Herz gehörte. Er hatte recht 
gehabt, fie war feiner Hinterliit fähig, war feiner vollen Liebe 
würdig. 

Was e3 auch fein mochte, das fie zu diefer VBerborgenheit 
nötigte, etwas Schimpfliches war e3 nicht, das fühlte er in 
diefem Augenblide mehr al3 je, mit unumftößlicher Gewißheit. 

Nur halb befleidet wie er war, lief er, einen Pelz über- 
werfend, mitten in der Nacht zu dem Freunde, um diejem 
jubelnd die ihn beglüdende Neuigfeit zu melden. 

Robert freute fich von Herzen mit ihm darüber, denn der 
vollendeten Thatſache der Liebe feines Freundes und Herrn zu 
Donna Maria gegenüber fonnte ihn ja nichts willfommener jein, 
al3 eine folche Beltätigung feines innigſten Wunjches, daß die, 
der Chutbert3 Herz nun zu eigen geworden, dieje8 Herzens 
würdig fein möge. Was fonnte ihm ficherere Hoffnung darauf 
machen, als diejer zarte Zug mafellofer Ehren- und Gemiljen- 
haftigfeit? — 

In feiner Freude darüber plauderte er, dem es allezeit 
ſchwer geworden, längere Zeit vor dem Freunde etwas zu ver- 
.. bergen, jeinen heutigen vergeblichen Spionierverfuch aus. 

Chutbert ſchalt zwar ein wenig, war aber zu glüdlich und 
mußte zu jehr über die Hägliche Schilderung diejes falten Ver- 
gnügens lachen, um ernitlich zürnen zu fönnen. 

Schon am frühen Morgen ward dem Junker der neue 
Diener von dem bereitS unterrichteten Hans Jochem gemeldet 
und zugeführt. 

Der Junker jaß mit großer Grandezza auf einem Lehn— 
jtuhle in jeinem Arbeitszimmer. Robert ftand hinter ihm, 
leicht auf die hohe Lehne des Stuhles, in dem fein Herr faß, 
geſtützt. | 

„Zritt näher, Alter,” ſagte ChHutbert Ffopfnidend, die 
tiefe Referenz des neuen Dieners erwidernd. „Bilt früh zu 
meinem Dienjte, das gefällt mir. ch liebe folchen Eifer an 
meinen Leuten. Es mag dir gerade heute wohl etwas jehr 
jauer geworden fein, jobald wieder den weiten Weg von Finfen- 
berg nach hier zurüdzulegen. Kannft ja faum zwei Stunden 
geichlafen haben und mußt fcharf geritten jein noch dazu, 
gelt — Jürgen Wiedemann?“ 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2809 





Ueberrajcht hob der Alte den Kopf und blidte fcharf in 
des Freiherrn offenes Geficht, denn der Ton, in dem jener den 
falfchen Namen ausſprach, die Feine Baufe vorher und die 
ganze Bemerkung, die den Nagel fo geradezu auf den Kopf 
traf, befremdete ihn höchlich und wollte ihm keineswegs 
gefallen. 

Allein der Freiherr verzog feine Miene und fuhr fort: 
„Geſtern abend zwei Meilen her und zwei zurüd, heute morgen 
wieder zwei her, machen ſechs Meilen in einer Nacht, das ift 
mit dem beiten Pferde feine geringe Anftrengung in deinen 
Jahren und giebt mir einen recht jicheren Beweis von deiner 
Züchtigfeit, mein Alter.” 

Mitten in feiner Rede hätte Chutbert beinahe laut auf- 
gelacht über die Miene vollfommenfter Berblüfftheit und Be— 
jtürzung in Jürgens braunem, wetterhartem Geficht. Er be- 
zwang ſich jedoch und fprad) ruhig zu Ende. 

„sch veritehe Euer Gnaden nicht,“ Itammelte der Alte 
endlih. „Wie meint der gnädige Herr das? Ach war doch —“ 
diesmal ging die Lüge nicht jo geläufig über feine Lippen, denn 
er war bereit3 unfjicher geworden. „Sch war ja doch geitern 
abend gar nicht Hier.” 

„Nein, hier gerade nicht, da haft du wohl recht, aber doc) 
in Greifenftein. Heh! — Jürgen Wiedemann? Warft du etwa 
nicht auf der Gartenmauer, um mit Donna Maria — die ver- 
geblich verjuchte, dich von der Täufchung, die du mir zugedadht, 
zu —" 

Er konnte nicht vollenden, denn ein wilder, objchon im 
Entitehen noch unterdrüdter, aber doch Halb verſtandener, halb 
erratener Fluch entjchlüpfte des Alten Munde. 

Hoch auf redte fich die martialijche Geſtalt, und der Alte 
jchmetterte eine Eijenfauft auf den Tiſch nieder, neben dem er 
Itand, daß die Bergamente und Stifte, die darauf lagen, in 
die Höhe jprangen, und mit einer Stimme, die: wie rollender 
Donner durch das Gemach dröhnte, rief er: „Donna Maria 
hätte etwas Beſſeres thun können, al3 mich zu verraten und jo 
ihren alten, treuen Diener bloßzuftellen, daß er, wie ein beim 
Lügen ertappfer Schulfnabe vor Euch ſteht! ’3 iſt mir eine 
ungewohnte Lage das! — Na — man ift nie zu alt, um neue 


2810 Egon Fels. 





Erfahrungen zu machen. Hätte e3 nicht gedacht von ihr —. 
O, die Weiber! die Weiber! Ja, wenn es gilt, ihren Kopf 
durchzuſetzen, da hat auch die befte diefes eigenfinnigen Ge— 

Ihlechtes ihre Tücken! — Na, da ift es denn nun freilich) mit 

dem Dienfte nicht3 und ich fann wieder gehen. — Nichts für. 

ungut, Herr Freiherr von Greifenklau, glaubt mir, ’3 ift mir 
leid, daß Shr, der Shr ein Ehrenmann feid, den alten —“ er 

biß fich auf die Lippen und verfchludte rafch den Namen, der . 

ihm in feinem Aerger beinahe entjchlüpft wäre. „Nu den — 

den alten Sohn meines Baterd jo vor Euch gejehen habt, 

Denkt deshalb, wenn Ihr fünnt, nicht ſchlimm von mir, und 

nun, gnädiger Herr, verzeiht, und — gehabt Euch wohl.“ Er 

verbeugte fich mit feinem Anftand und einer Würde, die augen- 
blidlih den höheren mwohlgeachteten Diener eines vornehmen 

Hauſes verriet, und wollte das Gemach verlafjen. 

Chutbert that nichts, ihn daran zu Hindern, aber er blicte 
fih nach) Robert um, diefem einen Augenwink gebend. 

Darauf vertrat Robert dem Alten den Weg und jagte: 
„Halt, Halt! Nicht fo vorjchnell, Meister Wiedemann. Der 
gnädige Herr hat Euch in feine Dienfte genommen und Ihr 
habt noch nicht gehört, daß er fein Wort zurüdgezogen. Möget 
Ihr auch nicht der fein, für den Ihr Euch ausgegeben, jo feid 
Ihr doch als der vertraute Diener der Donna Maria, al3 ihr 
treuer Freund, wie fie dem gnädigen Herrn gejchrieben, jeine3 
Vertrauens würdig, und gerade da3, mas er braucht, ja jozu- 
jagen dringend bedarf.” 

Nicht ohne Abficht Hatte Robert es erwähnt, wie die weiße 
Frau ihren Diener als ihren treuen Freund bezeichnet, denn 
die finitere Miene des im tiefiten Mißmut und innerlichem 
Groll über die erlittene Bloßitellung und Beſchämung ver- 
zogenen Gefichts des Alten hatte ihm ein jolches Pflaſter für 
deſſen Selbſtachtung ratſam erjcheinen laſſen. 

Die freundliche Abſicht ward auch erreicht. Die verehrte, 
geliebte Herrin hatte ihn als ihren Freund erkannt, dies glich 
alles aus und nahm jede Spur von Groll und Mißmut aus 
ſeiner Seele, verklärte gleich einem darauf fallenden Sonnen⸗ 
ſtrahl die finftere Miene. 

„Ihr wißt vielleicht durch Donna Maria,” fuhr Robert 


Das Rätfel der Ahnenburg. 2811 





fort, „jo weit wenigſtens al3 fie jelbjt davon Kenntnis Hat, 
daß mein gnädiger Herr ihr, um das Geheimnis ihres Hier- 
fein gegen jedermann zu wahren, Dienjte leiftet, die er zwar, 
al3 einer Dame und unter jo zwingenden Umständen geleiftet, 
keineswegs al3 erniedrigend für fich betrachtet, die ihm aber 
doch nicht gar leicht werden, auch nicht für ihn paflen. 

„She werdet aljo. begreifen, daß Ihr gerade, in Eurer 
Eigenschaft al3 vertrauter Diener der Donna Maria, ein wahres 
Kleinod für ihn, wie für die Dame jelbjt eine große Freude, 
ein rechter Troſt jein werdet.” 

„Wer weiß!” brummte Sürgen, deſſen Geficht, das eine 
wahre Stufenleiter wechſelnder Gefühle und verjchiedener 
Grade von Freude durchlaufen hatte, als ihm die hochwill- 
fommene Kunde geworden, er dürfe bleiben, ſich jebt plötzlich 
wieder verdunfelte. 

„Sie jcheint doch nicht mehr fo viel von mir zu halten 
al3 früher,“ brummte er weiter. — „Der neue vornehme 
Freund gilt ihr wohl mehr al3 der alte, der fie auf feinen 
Armen getragen, fie gewiegt und ihre erjten Schritte geleitet 
bat, jonft würde fie nicht jogar von geſtern abend —“ 

„Das that fie nicht, das nicht, darüber dürft Ihr Euch 
beruhigen,“ fiel Robert jchnell und befchwichtigend ein. „ch 
war e3, der dies dem gnädigen Herrn mitteilte Ich jah, ich 
belaufchte — nein, nein! erjchredt nur nicht jo,” berubigte 
er den plößlich erbleichenden, vor tödlichem Erjchreden faſt 
wanfenden Mann. „Euer und der Dame Geheimnis ift noch 
licher bewahrt. — Sch veritehe fein Wort italienisch.” 

Der Alte atmete tief auf, wie von einer ſchweren Laſt 
befreit. Die Nöte fehrte in das braune Geficht, der Glanz in 
die fühnen Augen zurüd, ja, ein launiges Lächeln umſchwebte 
jeinen Mund, al3 ex, Robert von der Seite betrachtend, erwiderte: 
„Das war Euch wohl recht fatal? Habt Euch jchwer darüber 
geärgert, gelt, junger Herr?" 

Nobert errötete, eriwiderte aber ruhig, ihm offen und frei 
in da8 Geficht jchauend: „Sa, in der That, das ift wahr. 
Doc war es nicht Neugierde, die mich zu den Verfuche, den 
Zaujcher zu jpielen, veranlaßte. Was ich that, ich that eg ohne 
Wiſſen meined gnädigen Herrn und zu dejjeu nachträglicher, 


— ER re 2: —* 
De © . 


2812 | Egon Fels. 





ernfter Mißbilligung, doch bereue ich es weder, nod) habe id) 
mich defjen zu jchämen. Ein treuer Diener ift für die Ehre 
und das Wohl jeine8 Herrn bejorgter, als für jein eigenes, 
und wacht über beides, wenn er auch dazu nicht aufgefordert 
wird und fi zu Schritten bequemen muß, die er für id 
jelbjt nicht gethan hätte. Ihr werdet es verftehen, warum id), 
erfüllt von diefem Gefühl meiner Pflicht, es verjuchte, einen 
Bipfel des Geheimnifjes zu lüften, der Donna Maria umgiebt. 
Sch fürchtete —“ 

„Doch nicht etwa, daß dies Geheimnis eines fei, das Unehre 
bringe? —“ ward- er ungejtüm von dem plößlih auffahrenden 
Alten unterbrochen, deſſen braunes Geficht plötzlich wie in Blut 


. getaucht erglühte. Einen Schritt näher zu Robert tretend, fuhr 


er nachdrüdlich fort: „Sagt das nicht, junger Mann, hütet Euch 
jelbft, e& nur zu denken, ſonſt jchlage ich Euch nieder, jo wahr —“ 
er hielt inne, fchluckte heftig und fuhr fort: „So wahr ich ein 
alter — Ejel bin! Verzeiht! gnädiger Herr, ich vergaß mich — 


betrug mich in Eurer Gegenwart, wie es jich nicht ziemt — es 


ol nicht wieder vorkommen.“ 

„Run, laßt e8 gut fein, Alter,“ ermwiderte der Junker 
gütig, ein Lächeln über daS drollige Umjchlagen de Grimm 
in Berlegenheit und Aerger unterdrüdend. „Ihr wollt mir 
aljo dienen?“ 

„sa, gnädiger Herr,” ermwiderte er, ſich verbeugend. 

„Nun, mwohlan. — So nehme ich did) denn in meinen 
Dienſt, Sürgen Wiedemann, oder wie du funjt heißen magit, 
und nun verſöhne dich raſch mit Meifter Robert Heinze, meinem 
Schreiber. Was du für Donna Maria bijt, ift er mir, ja, er 
teht mir durch Gleichheit der Jahre und Neigungen, durch ge— 
meinjchaftliche Erziehung noch weit näher, ift mein lieber Sugend- 
gefährte und Freund. Was ich ehre, daS ehrt er, und wem 
ih meinen Schuß veriprochen, den wird er verteidigen, und 
jei e8 mit Gefahr ſeines Lebens. Ich bin überzeugt, ihr beide 
werdet, troß dem großen Abjtand der Jahre zwijchen euch, noch 
gute Freunde werden.” 

„Das iſt mein Wunſch, Meilter Robert,“ jagte der Alte 
und bot dem Angeredeten, mit einem guten Xächeln auf dem 
fühnen Geficht, die Hand — „vergebt mir meinen vorigen Ungeftüm.“ 


— —7 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2813 


—— 





„Von ganzem Herzen, Meiſter Jürgen,“ erwiderte Robert 
freundlich, kräftig in die dargebotene Rechte einſchlageud. — 
„Ich verſtehe und ehre ihn, würde es auch nicht gelinder machen, 
träte jemand meinem gnädigen Herrn zu nahe.“ 


„So, das ſehe ich gern,“ ergriff der Junker wieder das 
Wort. — „Wir ſind alſo einig. Geh' jetzt mit Robert, er wird 
dir deine Kammer anweiſen und dich von den Dienſten unter— 
richten, die ich von dir erwarte.“ | 

Damit reichte er dem Alten die Hand, die diejer Fräftig 
drückte und dann mit feinen bärtigen Tippen berührt. Man 
jah, dies war ihm eine ungewohnte Huldigung einem Manne 
gegenüber, aber fie fam ihm von Herzen und war ein beredter 
Ausdrud feiner Dankbarkeit. 

Diefen Abend trug Jürgen den Speijeforb für Jeine junge 
Herrin, während der Junker ihn nur begleitete, um ihm den 
Weg zu zeigen und die Thür aufzufchließen, deren Schlüfjel er 
auch in der Folge nicht aus den Händen ließ, oder den viel- 
mehr Sürgen, der fortan allein ging, nach jedesmaliger Be- 
nußung wieder an ihn abliefern mußte. 

Wenn fich aber der Junker auch dem Heinen Hofe von 
jenem Abende gänzlich fern hielt, war er doch weit entfernt, 
auch auf feinen Beobachtungspoften oben auf dem Boden zu 
verzichten, benutzte ihn vielmehr immer eifriger, je jeltener er 
die weiße Frau im Freien erjcheinen ſah. Auch an ihrem 
Fenſter, wo fie zu fihen und zu lefen oder zu ſticken pflegte in 
den Morgenstunden, zeigte fie fich jeltener, fie jchien trauriger 
al3 früher und oftmals jah er fie weinen. 

Wie jehr er fich darüber auch beunruhigte, wagte er doch 
nicht nach der Urjache diejer Traurigkeit und diefer Thränen 
bei Jürgen zu forjchen, fein Zartgefühl verbot ihm jede Frage, 
außer der nach ihrem Befinden. 

Als Jürgen an jenem Abende von feiner Gebieterin zurüd- 
gefehrt war, hatte er dem Freiherrn einen Zettel gebradt, 
worauf die Dame ihm ihren Dank fendete. 

Er las den Zettel mit ftrahlendem Blide und barg ihn 
dann auf der Bruft in feinem Wamfe. 

„Bar Donna Maria jehr erfreut?” fragte er. 


2814 Egon Fels. 





„DO, und Wie, gnädiger Herr!” rief der Alte mit be- 
wegter Stimme. — „hr hättet fie jehen ſollen. Es wäre ein 
Ihöner Lohn für Eure Güte und Großmut gewejen. — Sie 
lachte, fie weinte und fiel mir um den Hals, ja —“ hier 
lächelte der Alte ſchelmiſch — „fie hat wahrhaftig mit ihren 
Rojenlippen meine bärtige Wange berührt! ch wußte gar 
nicht, wie mir wurde, ſolch Glüd, ſolche Ehre ift mir in meinem 
Leben nicht widerfahren.“ 

Der Junker war blutrot geworden und zum erjtenmal 
in feinem Leben empfand er einen Augenblid das häßliche 
Gefühl bittern Neides. Wie gern wäre er an des Alten Stelle 
gemwejen! | 

Deffen Stimme unterbrach feine Gedanfen. 

„Donna Maria läßt Euch jagen, gnädiger Herr, daß fie 
nach diefem nenen Beweis ſchrankenloſer Großmut und Ber- 
trauens von Eurer Seite e3 auf das Lebhafteite bedaure, Euch) 
nicht durch Mitteilung ihres Geheimnifjes ihrerjeit3 beweiſen 
zu fönnen, daß ihr Vertrauen zu Euch nicht geringer ſei. Doch, 
da e3 nicht von ihrem Willen abhänge, jo —“ 

„Genug davon, Sürgen — fage der Dame, ich jei nicht 
neugierig und von ihrem guten Willen völlig überzeugt, fie ſolle 
jichh jeder Sorge in dieſer Beziehung entichlagen. Ich werde, 
wie ſehr ich auch wünſchte, mit ihr perjönlich zu verfehren, ihr 
mindeſtens zumweilen einen Beſuch abjtatten zu dürfen, doch nicht 
ungeduldig fein, wenn fie es für unthunlich hält, und dauerte 
das auch noch Jahre.‘ 

„Das wird es nicht, gnädiger Herr, fie wird bald frei 
fein, zu gehen, wohin fie will, und dann nicht zögern, Euch 
Ichleunigjt von der Laſt zu befreien, die ihre Gegenwart ohne 
Zweifel für —“ 

„Laſt!“ jchrie der Junker auf, dem der Gedanke, fie könne 
vielleicht den Greifenftein bald verlaffen, gleich einem zmwei- 
Ichneidigen Schwert durch die Seele ging. 

„Sie eine Laſt für mich?! Sie, die —“ 

Er hielt inne, jich erinnernd, daß es ihm faum zieme, die 
Gefühle feines Herzens für fie dem Diener zu verraten. 

„Du bilt ein Narr, mein guter Sürgen, mit deinen Voraus— 
ſetzungen,“ jeßte er, fich gemwaltjam faſſend, anjcheinend ſehr 


Das Rätſel der Ahnenburg. 2815 





ruhig hinzu. „Kommt jene Beit, die du angedeutet, jo wird 
- Donna Maria mic) empfangen und dann wird fich alles 

finden. Sch bedarf deiner nicht mehr, geh’ und lege dich 
auf's Ohr.” Bazenn 


18. Der geheime Gang. 


Der Gewinn Jürgens wies fich nachgerade al3 ganz un- 
\hägbar für den Freiherrn, denn er gewährte ihm die Mög- 
Yichfeit, fich für einige Zeit Robert3 zu entäußern, indem er 
ihn mit jeinen Weihnachtsgejchenfen aus dem Schabe für 
die Mutter, den Bruder und die Schwägerin nad) Wien fendete. 

Es war nicht der große Wert der Gejchenfe, der ihn etwa 
veranlaßte, gerade Robert mit der Sendung zu betrauen, die 
der treue Burgwart, Hans Jochem, mit den dreien der Sicher- 
heit halber ihm al3 Geleit und Bededung mitgegebenen Knechten 
eben jo ficher an ihre Beitimmung gebracht haben würde, wie 
jener, jondern die Ueberzeugung, daß des guten Alten diplo- 
matijche Gejchiclichfeit der Neben- oder eigentlich Hauptauf- 
gabe dabei nicht gewachlen jein erde. 

Diefer Meberzeugung brachte er das Opfer, fi) von dem 
Freunde zu trennen, was ihm feineswegs leicht wurde; feine 
Gegenwart, feine treue Anhänglichleit und anmutige Plauderei 
war ihm mehr al3 je in diefem Augenblid zum Bedürfnis 
geworden. 

Dad A und D ihrer Geſpräche war vor allem natürlich 
Donna Maria, denn jeit einmal jener Augenblid das Siegel 
von Chutbert3 Lippen genommen, war er ganz und gar zur 
alten vertrauten Gewohnheit, alles mit ihm zu teilen — feinen 
‚Schmerz, wie feine Freude. — zurüdgefehrt und jchüttete gar 
oft jein volles Herz, den überreichen Strom feiner Gefühle in 
des treuen Freundes Bufen aus. 

Diejen bitterfüßen Troft mußte er nun für längere Zeit 
entbehren und alle jeine Gefühle in fich verjchließen. 

Man begreift, daß ihm dies nicht leicht wurde. Doc) 
Das Opfer wurde gebracht, weil es gebracht werden mußte. 

Es war nämlich als gewiß anzunehmen, daß die alte 
Gräfin den Wunſch hegen werde, die Gelegenheit zu benußen, 
um im ficheren ©eleite des Boten und der Knechte die Neije 






2816 Egon Fels. | — F 
— — — — — — — — nn 


nach Greifenſtein anzutreten und ihren Lieblingsſohn mit ihrie- ' 
Ankunft zu überrafchen. Diejen Wunſch der Mutter im Enin 
ſtehen zu eritiden, war nun Roberts diplomatische Aufgabe. . 
Er jollte zu dieſem Zwecke eine möglichit abjchredende Schilderung 
de3 rauhen Klimas der Gegend entwerfen und dazu die Klagen 
gejellen, daß es mit dem Baue nicht jo recht vom Flecke wolle, 
da das überaus frühe Hereinbrechen des Winterd allzu raſch 
die Einftelung der Arbeiten nötig gemacht und ſich dadurd) 
die Burg noch in einem jo unfertigen Zuftande befinde, daß 
außer der Wohnung des Herrn noch fein einzige8 der herr- 
Ichaftlichen Gemächer fi in bewohnbarem Zuftande befinde. 

Einmal war die alte Dame überaus empfindlich gegen die 
Unbilden der Witterung und dann haßte fie nichts mehr als 
die Unordnung eine Baued und den Lärm der Arbeiter. Es 
war Daher taujend gegen eins zu wetten, daß ſie augenblicklich 
jeden Gedanken, jebt nach Greifenftein zu kommen, aufgeben 
werde, wenn ihr folche Kunde recht zu Gemüte geführt und 
gehörig beleuchtet würde. 

Frau Adelheid jollte und durfte nun einmal nicht jeßt 
nach ©reifenjtein fommen. Ihr, das durfte der Sohn als 
gewiß betrachten, würde weder feine eigene Veränderung, deren 
er ſich vollauf, oft zu eigener Verwunderung, beivußt war, 
noch das Vorhandenfein jener geheimnisvollen Bewohnerin der 
Kemnate lange verborgen geblieben fein. Wieviel Delikatefje 
und Bartgefühl Frau Adelheid auch bejaß, jo traute er doch 
der weiblichen Neugier nicht recht und fürchtete im eben an= 
gedeuteten Falle jchwere Beläftigungen fir Donna Maria. 

Auf Roberts Verichiwiegenheit konnte er fich in jeder Be— 
ziehung jo verlafjen, wie auf jeinen guten Willen, alles jo zu 
ordnen, wie er ed wünſchte; denn billigte diefer auch, wie er 
oft offen gejagt, daS Verſchweigen der delifaten Situation 
gegen die alte Gräfin nicht, bangte ihm auch ſchwer vor dem 
endlichen Ausgange und hegte er troß allem auch noch immer 
ein leiſes Mißtrauen gegen die weiße Frau, das Heißt, nicht 
gerade gegen fie jelbit, aber gegen ihre ganze Situation, Yo 
würde er Doch nie das Bertrauen des Freundes verraten, viel- 
mehr, wenn es galt, gegen feine eigene Weberzeugung allezeit 
treu zu ihm halten. | 


Das Nätfel der Ahnenburg. 2817 


— — 





Zwar hatte ſich Robert in letzter Zeit, ſeitdem er wußte, 
wie tief der Freund die weiße Frau liebte, nie mehr über 
ſeine eigenen Gefühle und Befürchtungen in betreff dieſer ihm 
verhängnisvoll erſcheinenden Neigung ausgeſprochen. Doch 


Chutbert, der ihn ſo genau kannte, der in ſeiner Seele las, 


wie in einem offenen Buche, bedurfte des geſprochenen Wortes 
nicht, um zu wiſſen, was Robert dachte. | 

Troßdem wußte er, daß jein Geheimnis ficher bei ihm 
war und er alles thun werde, um die Gräfin, jeine Mutter, 
fernzuhalten. 

So zog denn Robert fort, und Chutbert blieb allein zurück, 
um zum erſten Male in ſeinem Leben ein Weihnachtsfeſt ohne 
den Jugendgefährten zu verleben. Es ſollte zugleich das er— 


eignis- und folgenreichſte für ihn werden. 


Am Weihnachtsabende brachte Jürgen, der außer einem 
ganz beſonders feſtlichen Mahle das Weihnachtsgeſchenk des 
Freiherrn für die weiße Frau, ein in Samt gebundenes, an 
den goldbeſchlagenen Ecken und der Schließe mit Juwelen be— 
ſetztes, innen mit den herrlichſten Medaillons, von Meiſter 
Ritters Hand geſchmücktes Miſſale, in die Kemnate hinüber 
getragen, ihm als Gegengeſchenk einen Schwertgurt von rubin— 
rotem, reich in Gold geſticktem Samt, deſſen Schloß ein großer 
Rubin zierte, zurück. 

Der Junker betrachtete mit ſtaunendem Entzücken das 
ſchöne Geſchenk und bewunderte die Zartheit und Kunſtfertig— 
keit der Arbeit, die er, unwiſſend, daß ſie für ihn beſtimmt, 
gar oft in ihren geſchickten Händen geſehen und den Stoff be— 
neidet hatte, auf dem ihre ſchönen Augen ſo unverwandt ruhten. 

In der Freude ſeines Herzens ſchenkte er dem Alten eine 
Summe, daß dieſer ſtaunend die Augen aufriß, und beteuerte, 
ſolch ein buon mano habe er in feinem ganzen Leben noch 
niemal3 erhalten. 

Chutbert hieß ihn lachend gehen. Er wollte allein jein, 
um ſich ungeſtört ſeinem Entzücken hingeben und die herrliche 
Arbeit jener teuren Hände an ſein Herz, an ſeine pn drüden 
zu können. 

Das Hatte fie für ihn gearbeitet und ohne Bweifel freund- 
lich jeiner dabei. gedacht, wenn fie — er wagte den Gedanfen 

ZU. Haus-Bibl, II, Band XII 177 


2818 Egon Fels. 





nicht außzudenfen, es wäre ja zuviel Des Glü.ſckes auf einmal 
für ihn geweſen. 

Ach nein, das durfte er wohl nicht hoffen. Aber wer 
weiß, was noch nicht war, konnte werden. — Wenn ſie nur 
erſt dieſes läſtigen Geheimniſſes entledigt, frei war, ihn zu em— 
pfangen und mit ihm zu verkehren, dann möchte wohl vielleicht 
ſeine ehrfurchtsvolle Werbung ihre Gegenliebe erwecken. 

Zwar ſtand ſie ſo hoch über allen Frauen, war ſo viel 
ſchöner als alle, die er je geſehen, mit denen er je verkehrt — 
ihm ſchien es wenigſtens ſo — und er fühlte ſich in der Be— 
ſcheidenheit der echten Liebe ihrer kaum würdig, er war ihr 
vielleicht nicht einmal ebenbürtig, aber er zagte dennoch nicht, 
er hoffte — hoffte ſie zu gewinnen, ſie einſt ſein zu nennen. 

Bei alledem fehlte ihm doch der Freund gar ſehr, er 
hätte ſo gern mit ihm ſeine Freude, ſeine Hoffnungen beſprochen. 
Nie fühlte er tiefer die Wahrheit des alten Spruches: „Ge— 
teilte Freude iſt doppelte Freude —“ und ſehnend ſuchten ſeine 
Wünſche den Freund in der Ferne auf. 

Am zweiten Weihnachtstage kam Jürgen ſichtlich beſtürzt 
und bewegt von ſeiner Sendung zurück und bat, der Freiherr 
möge ihm geſtatten, daß er die Nacht unter der Wohnung 
Donna Marias in der Halle zubringe, da fie möglicherweije 
in dieſer Nacht jeiner bedürfe. 
| „Sie iſt doch nicht Frank?“ rief Chutbert erichroden auf- 
Ipringend. 

„Nein, bewahre, das nicht, Gott ſei Dank! Aber — ad! 
fraget mich nicht, gnädiger Herr, ich kann Euch ja nichts jagen. 
Geftatten mir Euer Gnaden vielmehr, raſch zu ihr zurüd- 
zufehren.“ 

Chutbert war dem Alten ganz nahe getreten und feine 
leuchtenden, blauen Augen bohrten fih mit einem jeelen- 
erforjchenden Blide in die Züge des Mannes, der bleich und 
angegriffen ausſah. 

„Jürgen —“ begann er dann, und legte ſeine Hand auf 
deſſen Schulter: „Donna Maria will mich doch nicht etwa ver— 
laſſen?“ In ſeinem Tone zitterte die ganze bange Seelenangſt, 
welche der grauſame, plötzlich in ihm aufſteigende Gedanke 
erweckt hatte. 





Das Rätſel der Ahnenburg. 2819 





„Gott bewahre mih! Was denkt Ihr, gnädiger Herr?“ 
fuhr der Alte auf. — „Haltet Ihr Donna Maria für eine 
fo niedrige, undankbare Seele? Könnt Shr glauben, daß fie 
ih ohne Abjchied, ohne Dank, heimlich von Hier megftehlen 
ſollte?“ 

„Nun nein, beruhige dich nur. Ich that es nicht, es 
war nur ein Gedanke des Augenblicks, er iſt bereits vorüber. 
Du ſelbſt bit an dem böſen Gedankenblitze ſchuld, der mir einen 
Augenblid jo viel Schmerz gemacht. Warum drohteſt du 
mir vor kurzem damit, daß Donna Maria den Greifenjtein 
verlafjen werde?“ 

„Aber, gnädiger Herr — einmal muß fie doch gehen, 
wenn — doch dazu ift noch nicht Die Zeit, und wenn fie geht, 
wird es nicht gejchehen, ohne daß Ihr davon wißt und ihren 
perſönlichen Danf empfangen habt.“ 

„Dank? Defien bedarf es nicht, mir genügt, daß ich fie 
ipreche, ehe fie geht. Das weitere wird ſich finden. Hier ift 
der Schlüfjel zurüd, jollte di) Donna Maria brauchen, jo 
bleib’, jo lange du willſt, bei ihr, nur vergiß nicht, daß du 
nie während de8 Tages jene Thür öffnen und durch fie hier- 
her zurückkehren darfit. Niemand darf das jehen, fonft hätte 
das Spionieren fein Ende. Willit, oder mußt du dennod) 
während des Tages zu mir fommen, jo laß dir von Donna 
Maria den geheimen Weg zeigen, den ich jelbit nicht kenne, 
mitteljt feiner gelangjt du dort durch jene Thür direkt hierher.” 

Sürgen kam nicht zurüd, ſondern blieb den ganzen 
folgenden Tag abweſend, doc) ftellie er fich abends zur ge= 
wohnten Stunde ein. Er war fehr bleich und fichtlich er- 
Ihöpft und bat wieder für die ganze Naht um Urlaub, 
jobald er fi) nur erjt unten in der Küche felbjt geftärkt 
haben würde. I | 

Der Sunfer gewährte ihm dag, jchalt ihn aber, daß er 

nicht wenigitend, um etwas zu ejjen, durch den geheimen Gang 
berübergefommen fei. 

Sürgen beteuerte darauf, feine Minute zum Efjen Zeit ge= 
habt zu haben. | 

Der Junker jchüttelte den Kopf, ſprach aber ſeine Ver— 
mwunderung nicht aus, jondern fragte nur, als Jürgen fich an— 

177* 


Be. — 


2820 Egon Sels. 





Ichiette, mit jeinem wohlgefüllten Korbe und einer Diesmal, mie 
der Freiherr jehr wohl bemerkt, viel größeren Weinfanne als 
jonft in die Kemnate abzugeben, ob das Wohlbefinden von Donna 
Maria noc) ungejtört ſei. 

„D ja,: ohne Sorge, gnädiger Herr,” erwiderte er, 
„fie ift ganz wohl, aber auch jehr — jehr betrübt, und ſollte 
doch eigentlich Gott danken, dag — na! — e3 wird ja nun 
nicht mehr lange dauern, bis Ihr alles hört, guädiger Herr — 
's geht zu Ende mit dem Geheimnis.“ Er verbeugte jid) 
und ging. 

Chutbert blieb jehr unruhig zurüd. Was ging drüben vor? 
Wozu brauchte Maria ihren Diener Tag und Naht? Sie hatte 
fi) den ganzen Tag nicht einmal blicken laſſen, jo oft er aud) 
in fein vorgebliches Studierzimmer hinaufgeftiegen war und 
nad) ihr geipäht Hatte. Er fonnte nicht einmal einen Bipfel 
ihre8 Schleier im Hofe oder im Garten erbliden,. und ebenjo 
wenig am Yenfter ihres Gemaches. 

War fie wirklich nicht Frant? Warum war fie jo betrübt, 
wie Sürgen fagte? Es follte aljo mit dem Geheimniſſe zu Ende 
gehen? Darüber war er im Grunde nicht böje, denn war er- 
auch nicht neugierig in der gemeinen Bedeutung des Wortes, ſo 
war er doch geſpannt auf die Aufklärung jo vieler Rätjel. Aber 
damit fam aud) die Stunde des Abjchiedes für ihn. Würde ſie 
wirflic) gehen und ihn verlafien, vielleicht auf — Nimmer- 
iwiederfehr? Nein, nein, das fonnte, daS jollte, daS durfte nicht 
geichehen, mehr al3 jein Leben, ſein ganzes zeitliche® Glüd, Die 
Ruhe, der Frieden des ganzen langen Lebens, da3 noch vor ihn 
liegen mochte, war an ihr Bleiben oder an ihre Wiederkehr 
geknüpft. - 
Bol peinigender Unruhe, hin- und hergeworfen zwilchen 
“ Hoffen und Bagen, verbrachte der Freiherr die qualvollite Nacht 
feines Lebens im unaufhörlichen Umherwandeln in feinem Zimmer. 
Erit al3 fi) der Himmel im Oſten bereit3 zu röten begann, 
warf er ſich vollfommen erjchöpft auf jein Bett, ohne ſich aus— 
zufleiden, und verjuchte den Schlummer herbeizurufen, den er 
bisher geflohen. | 

Vergebens, das innere Fieber, die Gedankenjagd, die in 
ihm tobte, ließ der Nuhe nicht Raum und vericheudhte den 


Das Nätjel der Hhnenburg. 2821 





Schlaf, wenn er ſich erbarnıend über den müden Geiſt nieder- 
jenfen wollte. 

Nachdem er fid) eine Stunde ruhelo3 von einer Seite auf Die 
_ andere geworfen, erhob er ſich migmutig in dem Augenblide wieder, 

al3 es draußen laut und vernehmlic) an die geheime Thür Elopfte. 

„Wer da?“ 

„sch bin es, gnädiger Herr, darf ich hereinfonmen?“ 

Ehutbert ſprang Hin, um die Thüre zu öffnen. 

Noch bläffer und angegriffener als geſtern abend trat 
Jürgen ein. 

„Ach! Ihr feid Schon angekleidet, gnädiger Herr?” rief er 
befriedigt; „das iſt gut, denn es ift feine Minute zu verlieren! 
Donna Maria läßt ſofort um Euren Beluch bitten.“ 

Chutbert erbebte und eine helle Glut färbte jein edelſchönes 
Antlit. Da war er ja endlich, der jo heiß erjehnte Augenblic. 
Barg er Glück oder Unglüd in jeinem Schoße ? 

Mit gehaltener Würde, welche die zitternde, mit Angjt ge— 
milchte Freude, die jein Herz erfüllte, nicht ahnen ließ, erwiderte 
er, lein Barett ergreifend: „sch Itehe zu der Dame Befehl bereit.“ 

Jürgen verneigte ſich mit einer Grandezza, welche den gut 
gejchulten Diener eined hohen Hauſes mehr als je verriet und 
ſchritt voran. 

Draußen ergriff er eine Laterne, welche er auf den Boden 
geſtellt hatte und ſchloß, indem er den Freiherrn an ſich vorüber 
gehen ließ, hinter ihm die Thür. Nun bemerkte dieſer ſtaunend, 
daß ſich dicht neben ſeiner Thür im rechten Winkel, in dem 
Gange, eine andere ſchmale, jetzt bereits offenſtehende Thür be— 
fand, die ſich, wie die ſeine, nach dem Gange zu, in den ſie 
führte, öffnete. 

Der Umſtand, daß die Thür in ſeinem Zimmer, ſobald ſie 
geöffnet ward, ſich gegen die innere Wand des Ganges legte, 
und die Stelle jener anderen Thür vollſtändig bedeckte, hatte 
verhindert, daß ſie bei ſeiner eigenen Unterſuchung des Ganges, 
ſowie bei der ſpäteren durch Meiſter Hildebrandt, wahrgenommen 
worden war. Das Durchklopfen der Wände war ſeiner eigenen 
Anſicht nach, weil er den vermuteten Eingang viel weiter nach 
dem Ende des Ganges hin befindlich geglaubt, auch erſt in 
einiger Entfernung von ſeinem Zimmer begonnen worden. 


2822 Egon Sels, Das Rätſel der Ahnenburg. 


Er war eben der beitimmten Meinung gewejen, daß er zu 
jenem Raume unter dem ange führen müfje, von wo aus er 
und Robert die Geijtermufif gehört hatten. 

Darin irrte er jedodh. Die Thür führte keinesweges zu 
einem abwärts führenden Gange oder einer Treppe, jondern 
der Gang, den fie verjchloß, der faſt noch ſchmäler als der 
andere, lief ganz ebenjo zwijchen zwei Mauern hin, und führte 
direft in daS Freöfenzimmer mit dem Kamine. 

Um jene. Fresken waren barod genug Rahmen gemalt, 

wahrjcheinlih ausdrüdlid) zu dem Zwecke, den Anjchluß der 
vorzüglich in ihren Rahmen 'pafjenden geheimen Thür zu ver- 
bergen. 
E3 war das Bild von Simfon und Delila, durch welches 
Ehutbert, von Sürgen geführt, daS Zimmer der weißen Frau 
betrat. Das Bild ſchloß ſich geräuſchlos von jelbjt wieder in 
leinen Rahmen ein, und der Freiherr ſtand erbebend vor der 
weißen Frau. GFortſetzung folgt.) 








Das Germanifhe Muſeum in Nürnberg. 


Don Dr. Julian Marrule. 
(Vachdruck verboten.) 


In Nürnberg, der alten Neichsitadt, fonnte in diejem 
Sahre ein Feſt gefeiert werden, da3 einer nationalen 
J Schöpfung jo ureigenfter Art galt, wie feine zweite wohl 
im deutſchen Baterlande zu finden iſt, der fünfzigite 
Geburtstag des Germaniſchen Mujeums. Kein lofer Zufall fügt 
e3, daß diejes Schmudfäftchen in der Umfriedung der alten Noris 
Iteht, dem Städtebild längſt vergangener Zeiten! In dieſer engen 
Gaſſe und aus diefem vermwitterten Haufe tönte einft Hans 
Sachjens Lied, und nicht fern davon in feinem alten, über- 
einander gejchobenen Eckhauſe lebte Albrecht Dürer jelbit, furzum 
überall weht uns der heilige Schauer der Geſchichte an bis 
zur altehrwürdigen Burg, die in ihren Mauern die glänzenditen 
Träger der deutſchen Kaiſerkrone ſah. Enge, winklige Straßen, 
mit einer Fülle von Romantif ausgejtattet, durchziehen noch 
heute die Stadt, fojtbare Säulen und Brunnen aus alter Zeit 
bannen den Schritt, Mauer und Graben umjchließen fie. 
Wahrlich, zu diefer Umgebung fehlen die einjtens jo ſtolz ein- 
herziehenden Ratsherren, mit Halsfrauje und Barett geſchmückt, 
e3 fehlen die Iujtigen Gejellen in hellem Wams, die züchtigen 
Frauengeitalten in altdeutichem Gewande. So fteht das alte 
Nürnberg noch immer vor unjeren Augen, indes Nürnberger 








er — TIEREN 


2824 Dr. Julian Mareuſe. 





Lebkuchen und Nürnberger Spielzeug von neuem den Ruhm 
der Stadt in alle Winde getragen haben. 

In diefem Rahmen nun ijt aus Fleinen Anfängen eine 
Schöpfung erjtanden, die in ihrem eigenartigen Gepräge und 


x 


— 





* —— 2 * an 
—— 











ihrer nationalen Bedeutung eins der intereſſanteſten Bauwerke 
der modernen Zeit darſtellt, das Germaniſche Muſeum. Ein 
fränkiſcher Edelmann, Freiherr Hans von und zu Aufſeß, war 
es, der anfangs der fünfziger Jahre des vergangenen Jahr— 
hunderts von der Idee getragen wurde, einen nationalen 


— 





— — — 


Das Sermanijche Mufeum in Nürnberg. 2825 





Mittelpunkt für alle Bejtrebungen auf dem Gebiete der deutjchen 
Geſchichts- und Altertumsforichung zu begründen. Reiche 
Sammlungen aller Art, die er jein eigen nannte, ein glühend 
patriotifcher Sinn waren die Hebel feines Ideenganges. Ein 


z 





Der Wajjerhof mit dem großen Treppenturm, 


fürjtlicher Proteftor, der damalige Prinz Johann, der |pätere 
König von Sadjen, eritand ihm, und unter deſſen Aegide 
wurde im Jahre 1852 der Grunditein zum Germanijchen Muſeum 
gelegt, das wenige Monate fpäter, am 15. Juni, in fleinen, 
bejcheidenen Räumen dem Publikum übergeben wurde. Die 


2826 Dr. Julian Marcuſe. 








Sammlungen, die zum größten Teil nur aus den Schäßen des 
Sreiheren von Aufjeß beftanden, waren jo wenig umfangreich, 
daß fie in dem Turme des jogenannten Tiergärtnerthores Raum 
fanden, bis durch die Munificenz König Ludwigs I. von Bayern 
da3 ehemalige Kartäujerklofter angefauft und zu einem Mufeum 
umgejtaltet werden konnte. Doch die politische Zerriſſenheit 
Deutſchlands ſchwebte wie ein Unſtern über des fränfijchen 
Edelmannes Fultureller That, und erit die Entfcheidung des 
Krieges 1866 ſollte auch über diefe Schöpfung reinigend wirken. 
Das loſe Band, welches der deutiche Bund um die Staaten 
geichloffen, war zerrijjen, aber der deutſche Einheitsgedanfe 
war nicht eritorben. Das Intereſſe an der Anftalt wuch3, und 
dur) die 1867 erfolgte Uebernahme de3 Proteftorat3 ſeitens 
des Bayernkönigs erhielt fie äußerlich ein Anjehen, das fie 
mehr fördern mußte, al3 die ſchwache Autorität des Bundestages. 
Deutſchlands Fürsten, allen voran die Kaiſer von Deutichland 
und Defterreich, betrachteten es al3 eine Ehrenpflicht, dieſes 
nationale Werk auszubauen, und jo entitand ein edler Wett- 
itreit der Regierungen und Städte, Korporationen und Verbände, 
—— Hr Scherflein zu den Sammlungen beizutragen. Unüberjehbare 
Schätze flojjen zu und legten den Grund zur Erfüllung der 
vornehmften Satung jener Gründung, die da lautet: „Das 
Germaniſche Mufeum, eine Nationalanftalt für alle Deutjchen, 
hat den Zweck, die Kenntniffe der deutjchen Vorzeit zu erhalten 
und zu mehren, namentlich die bedeutfamen Denkmale der 
deutschen Geſchichte, Kunſt und Litteratur vor der Vergefien- 
heit zu bewahren und ihr Verſtändnis auf alle Weije zu fördern.“ 
Um diefem Zwecke gerecht zu werden, war e3 nötig, alle Zeichen 
und Zeugen der Vergangenheit zu jammeln, alle Werfe der 
Kunſt, alle Gegenjtände des Fulturellen Lebens früherer Beiten 
zu erwerben. Was ein Menjch, und fei er auch der mächtigite, 
nicht vermag, da3 vermag’ die gemeinjame Arbeit vieler, die 
von derjelben befruchtenden Idee getragen find. Und jo waren _ 
e3 Fürſten und hiftorifche Adelsfamilien, Städte und Korpora- 
tionen, die aus dem reichen Born ihrer Hiltorifchen Beſitztümer 
das ihrige beitrugen. So ftifteten die deutfchen Standesherren 
eine fojtbare Waffenfammlung, die deutfchen Städte Anfichten 
und Pläne, Porträts und Bücher, Skulpturen aller Art, die 


⁊ 


Das Sermanifche Muſeum in Nürnberg. 2827 








deutichen Herricherhäufer Urkunden und Medaillen, Münzen 
und Siegel, zahlreiche Batrizierfamilien Familienwappen und 





———— ae ae 


— — — — — 


Der Wittelsbacher Hof mit dem Uhrturm, eins der Bebäude un oh 
Netionalmufeums injNürnberg. 


andere wertvolle Einzeljtücde. Das deutjche Reich ſelbſt unter- 
tüßt die Beftrebungen durch einen namhaften Zuſchuß. Dank 
diejer univerjellen Förderung iſt aus der Heinen, urjprünglichen 


—— ⸗ — 


2828 Dr. Julian Marcuſe. 





Rartaufe heute eine große Stadt geworden mit Mauern und 
Türmen, Zwinger und Gräben, Haus an Haus iſt erjtanden, - 
jedes Sahrzehnt hat wenigſtens einen Anbau- erjtehen helfen, 

und fie alle bewahren den Charakter und Stil ihrer Beit, fie 
alle ſchmiegen fich eng an Nürnbergs ehrwürdige Bauart an. 

Sn weit über hundert Räumen find die Sammlungen unter- 
gebracht, die das umfafjendite Bild der fulturellen Entiwidelung 
des germanijchen Volksſtammes darjtellen. Mit den Pfahlbau- 
bewohnern beginnend und die Anfänge der eriten Kultur vor 
Augen führend, durchitreifen wir bei einem Rundgang alle 
Perioden des Bölferlebend. Wir erbliden die Fundſtücke der 
Bronzezeit, wir gehen über zu den Denfmälern der römischen 
Kultur und zu den unter dem Einfluß der römischen Herrichaft 
jtehenden erjten Sahrhunderten des Germanentums, die ſchon 
reihe Goldſchmied- und Filigranarbeiten aufweilen. Das zweite 
Sahrtaufend mit feiner chriftlich-abendländifchen Kultur führt 
ung die Grabfteine der großen Männer und hervorragenden 
Geſchlechter jener Zeit, die auf Deutſchlands Geſchicke Einfluß 
hatten, vor Augen und weiterhin Sfulpturdenfmäler, wie Dom- 
thüren, foftbar gejchnigte Altarbilder und Taufbeden, bronzene 
Kruzifire und Figuren. Die herrlichen Skulpturen des vier— 
zehnten Jahrhunderts folgen; al3 eine der hervorragenditen 
jei die heilige Maria genannt, zahlreiche Grabdenfmäler und 
Kapellen. Das fünfzehnte und jechzehnte Jahrhundert läßt 
una den Glanz des Rittertums erkennen: Turnierwaffen und 
Rüſtungen von edeljter Arbeit, Silber- und Goldgejchirre. Und 
nun in überjchwenglicher Fülle die Sammlungen zur Gejchichte 
des häuslichen Lebens im Mittelalter, zunächſt das Haus jelbit 
mit feinen feiten, fonjtruftiven und deforativen Teilen: Fuß- 
böden, Deden, Wandtäfelungen, Defen, Schränfen und Sefjeln, 
Truhen und Tiichen, dann die Kleinen Gerätjchaften in jeder 
Form und Art. Zierlichſte Holzichnigereien, koſtbare Gewebe 
und Nadelarbeiten, prunkvolle Silber- und Goldarbeiten zeugen 
von der hohen Wertichäßung des Kunſtgewerbes und der treif- 
lihen Ausführung zur damaligen Zeit. Die Gefhichte der 
Koſtüme zeigt Trachten und Gewänder in bunter Zahl, die 
Wiſſenſchaften find durch geometrische und aſtronomiſche Apparate, 
durch eine reiche chemisch-pharmazeutifche Sammlung, die Mufik 


Das Sermanijche Mufeum in Nürnberg. 2829 





durch die eigenartigſten Inſtrumente, die in Ausfehen und Form 
wahren Ungetümen gleichen, vepräjentiert. Eine Bibliothek 
von weit über 150000 Bänden, eine der jelteniten Siegel- und 
Miünzenfammlungen, ein Kupferftichfabinett, welches das Entzüden 
jedes Sachtenners hervorruft, und noch vieles andere mehr, 
das bei einer 
flüchtigen Be— 
trachtung, mie 
der borliegen- 
den, kaum ge- 
itreift werden 
fann, ergänzen 
die hier jfiz- 
zierten Samm- 
lungen. Das 
Germanijche 
Mujeum bildet 
außer den auf- 
gejpeicherten 
Schägen der 
Bergangenbheit 
einen außer- 
ordentlich 
fruchtbaren Bo; 
den für wiſſen— 
Ichaftlichen Ge- 
danfenaus- 
taujch: hat es 
doch die weitere, 


durch die az Die Jeanne „Aienbenger To — 
as Hauptwerk der ruberger figürlichen Renaiſſanceſkulptur, 
Satzungen aus⸗ im Germaniſchen Nationalmuſeum zu Nürnberg. 


drücklich nieder- 

gelegte Aufgabe, zur Verbreitung der Kenntniſſe der hiſtoriſchen 
Denkmale und zur Vermittelung ihres Verſtändniſſes wiſſen— 
ſchaftliche und populäre Veröffentlichungen herauszugeben, 
welche ſich über alle Teile der deutſchen Geſchichte, Litteratur 
und Kunſt erſtrecken. Und weiterhin ſoll es ſich — auch dies 
iſt niedergelegt — mit allen wiſſenſchaftlichen und künſtleriſchen 





2830 Dr. %. Mareufe, Das Sermanifche Muſeum in Nürnberg. 





Snitituten und Bereinen, welche verwandte Beitrebungen ver- 
folgen, jowie mit allen hervorragenden Gelehrten, welche ſich 
mit der deutjchen Vergangenheit bejchäftigen, in Verbindung 
- jeßen, um fo einen lebendigen Zujammenhang zwilchen allen 
die Vorzeit des deutichen Volkes betreffenden Studien her— 
zuitellen. - Bu 
Daß e3 diefen Aufgaben, die feinen Begründern vor- 
Ichwebten, treu geworden, das wiſſen alle, welche die Entwidelung 
des Germaniſchen Muſeums verfolgt haben: Möge es daber 
al3 wahres Nationalmujfeum de3 deutjchen Volles für alle 
Beiten wachſen, blühen und gedeihen. 








Märchen auf der Wanderung, 
Dom Urſprung und Wefen der Dollsmärchen. 
Don Dr. AnpH Beilborn. 


= (Vachdruck verboten.) 
3 war einmal!” Mit diefen drei Worten taucht das 






ganze Paradies unjerer Kindheit vor ung auf, 
dammernde Winterabende, kniſterndes Kaminfeuer, 
jener heimliche Zauber, der ung alle mit hinaus— 
begleitet ing Leben. Damals freilich ließen wir es ung nicht 
träumen, daß hoch im Norden, in Eis und Schnee, die Esfimo- 
mutter, in den. PBrairien Amerifas die Sndianermutter ihren 
Kleinen dem weientlichen Inhalte nach diejelben Märchen er- 
zählt, wie wir fie hören, in denen das Gute über das Böſe 
fiegt und die das Gerechtigfeitsgefühl des Kleinen Erdenbürgers 
befriedigen. 

In einer Märchenfammlung des Neapolitaners Bafile, die 
aus dem Jahre 1600 ſtammt, findet ſich ein Märchen, das 
etwa folgendes erzählt: „Es war einmal eine Frau, die hatte 
zwei Töchter: eine brave, fleißige Stieftochter, die ſie aber nicht 
leiden mochte, und eine böſe, faule rechte Tochter, die von ihr 
ehr verhätjchelt wurde. Eines Tages ging die fleißige Stief- 
tochter mit ihrem Korbe aus, Futter zu holen. Da rollte ihr 
plößlich der Korb aus den Händen und fiel in eine tiefe Höhle. 
Aus Furcht vor der Stiefmutter ftieg da8 arme Mädchen nun 
in die dunkle Höhle hinab. Da fam fie zu einem fchimmernden 
Palaſte, darin drei munderjchöne Feen mwalteten. Dielen diente 


IE 





2832 Dr. Adolf Heilborn. 


fie treulih, und als die Zeit um war und fie heimzufehren 
begehrte, fiel ihr, als fie durch das Thor des Schlofjes ſchritt, 
zum Lohne ein goldener Stern auf die Stirn. Als das die 
böje Stiefjchweiter daheim jah, trachtete fie auch nach ſolchem 
Schmud. So stieg fie denn gleichfall3 durch die dunkle Höhle 
zu den Feen hinab, aber der Lohn für ihr unmirjches Weſen 
und ihre Faulheit war nur ein Schandmal auf der Stirn. er 

Als der befannte Germaniſt Wilhelm Grimm am 13. Otto⸗ 
ber 1811 aus dem Munde Dortchen Wilds, ſeiner nachmaligen 
Gattin, im Apothekersgarten zu Kaſſel das Ihöne Märchen von 
der ‚Frau Holle” vernahm und aufzeichnete, hatte er gewiß 
feine Ahnung davon, daß diejes kerndeutſche Märchen ſchon 
200 Sahre vor ihm ein Staliener zu Papier gebracht, und daß 
etwa ein Sahrhundert jpäter der Franzoſe Charles Berrault 
ein ganz ähnliches Märchen mitgeteilt hatte. Nun, Dortchen 
Wild ſtammt aus einer Genfer Familie, und die Vermutung 
liegt fo nahe, unjere „Frau Holle“ jei urfprünglich ein fran- 
zöſiſches Phantafiegebilde. 

Allein die moderne Märchenforſchung hat uns gelehrt, daß 
das „Holle-Motiv“ (wenn wir ſo ſagen dürfen) faſt durch die 
ganze Welt verbreitet iſt. In einem iriſchen Märchen wird 
das brave Mädchen von der Stiefmutter in den Brunnen ge— 
worfen und kehrt mit einem Käſtchen voll Schätze heim, „wie 
fie fein König auf Erden beſitzt“. In dem Kaſten des faulen 
Mädchens dagegen finden fich nur Kröten und Schlangen. Das 
Ichottifche Märchen von der Frau Holle weiß von einer Königs— 
tochter zu erzählen, die goldbehangen wieder heimfehrt, während 
die Stiefſchweſter mit Schmutz beworfen wird. 

In den Denkſchriften der Petersburger Akademie vom 
Jahre 1872 lautet das Holle-Märchen der Turkmenen öſtlich 
vom Kaſpiſchen Meere folgendermaßen: „Eine Frau hatte ein- 
mal zwei Töchter, eine fleißige und eine faule. Eines Tages 
fiel dem fleißigen. Mädchen der Eimer in den tiefen Brunnen. 
Aus Furcht, zu Haufe geftraft zu werden, ſpringt das Mädchen 
dem Eimer nad) und fommt auf dem Grunde des Brunnens 
zum Froſtrieſen, der e3 in feine Dienjte nimmt. Zur Belohnung 
für ihren treuen Fleiß ſchenkt ihr der Froftriefe einen Eimer 
voll Goldftüde. Und als fie daheim ankommt, fräht der Hahn: 








Märchen auf der Wanderung. 2833 


ee} 


„Kikerifi, in dem Eimer der Fleibigen find Goldftüde!” Da 
gelüftet’3 auch die Faule nach dem Golde. Ahr aber giebt der 
Froſtrieſe nur einen Eimer voll Eisftüde, und der Haushahn 
fräht: „Kiferifi, in dem Eimer der Faulen find Eisftüdel" Das 
armenijche Holle-Märchen berichtet von der „alten Frau“, zu 
der die Stieftochter fommt, und die ihr zur Belohnung Haar 
und Kleid in Gold verwandelt. Die rechte Tochter aber „wird 
jo verwandelt, daß fie wie eine Vogelicheuche ausſah“. Sa, 
jelbjt in Birma und Japan ift man der „Frau Holle“ wieder 
begegnet, wenn auch in fremdartig anmutendem Gewande, 
und e3 jei ung gejtattet, auch diefe beiden Faſſungen kurz zu 
erzählen. 

„Eines Tages,” fo lautet die birmanische Fafjung, „ging 
ein Mädchen zum Bache, um Wafjer zu fchöpfen. Da entglitt 
der hölzerne Eimer feinen Händen und wurde von der Strö— 
mung fortgeführt. Es eilte ihm nach, da kam e3 zu einem 
Wehr, das einem Rieſen gehörte. Wie diefer nun filchen ging 
und das Mädchen erblidte, wollte er e3 freſſen. Sie aber er- 
zählte ihm mweinend ihr Elend, fo daß der Rieſe von Mitleid 
ergriffen ward und fie mit fich nach Haufe nahm, wo fie ihm 
und der Riefin den Haushalt führen mußte. Sie war treu und 
fleißig, und als fie nach einiger Zeit, Heimweh fühlend, die 
Rieſen bat, fie Heimzufenden, mwilligten diefe auch ein. Nur follte 
lie vorher der Riefin noch einmal den Kopf frauen. Der war 
aber voller grüner Schlangen und großer Tauſendfüße. Da 
holte das Mädchen eine Art und erjchlug die Ungetüme. Er- 
freut führte die Riefin das Mädchen in ein Gemach, darin zwei 
Körbe ftanden, und forderte es auf, einen davon zu wählen. 
E3 nahm den unfcheinbaren, alten Korb, und fiehe da, als es 
daheim anlangte, war er bis zum Rande gefüllt mit köftlichen 
Edeliteinen und Gold. Das Glüd des Mädchens erregte Staunen 
und Neid, und ein junger Mann, der davon erfuhr, machte 
ih auf den Weg, fein Heil bei den Rieſen gleichfall3 zu ver- 
juhen. Es ging ihm zunächſt alles nad) Wunſch. Aber er ift 
zu den beiden unfreundlich und widerjpenjtig, und als ſie ihn 
von dannen fchiden, wählt er den neuen, größeren Korb. Als 
. er aber damit nach Haufe fam, waren lauter Menjchenjchädel 
darin.“ 

ZU. Haus:Bibl. TI, Band XIL 178 





2834 Dr. Adolf Beilborn. 





Noch verjchleierter, aber trogdem unverfennbar ift das 
„Holle-Motin“ in dem erwähnten japanischen Märchen, da3 in 
‚jenen Fleinen, auch bei ung befannten, reich illuftrierten Büchern 
jteht, die die Eltern den Kindern zur Unterhaltung und Be- 
lehrung in die Hand geben. 

„Ein alter Mann,” jo erzählt es, „bejaß einen Sperling, 
den er fehr liebte. Als er eines Tages nad) Haufe fam, war 
der Sperling fort. Die Frau hatte ihm die Zunge aus- 
gejchnitten und ihn aus dem Haufe gejagt, weil der Vogel ihr 
das Neismehl aufgefreifen hatte. Da war der Mann jehr be- 
trübt und machte fich auf den Weg, jeinen Sperling zu ſuchen. 
Endlih fand er ihn, und der Sperling führte ihn in feine 
Yamilie ein, wo er jehr gut aufgenommen wurde. Cr blieb 
eine Weile da, und als er heimfehren will, fordert ihn der 
Sperling auf, von zwei Körben einen mitzunehmen. Der 
Mann, der alt und ſchwach war, wählte den leichteren; aber 
al3 er zu Haufe anfam, war der Korb voll Gold und Edel— 
Iteine. Als die Habgierige Frau das fah, ging jie ebenfalls zur 
Sperlingsfamilie. Als ſie endlich anlangte, bat ſie den Sperling 
gleich um ein Geſchenk. Da führte ſie der gaſtfreundliche 
| Sperling zu den beiden Körben. Sie aber wählte den größeren. 
Keuchend Fam fie daheim wieder an. Doch als fie den Korb 
öffnete, |prangen lauter böje Kobolde heraus, die fie arg zu- 
richteten.“ 

Entkleiven wir alle diefe Holle-Märchenvarianten ihres 
jeweilig verjchiedenartigen Aufpußes, jo bleibt ung al3 nadtes 
Motiv, gewiſſermaßen als ethiſcher Grundgehalt, die Belohnung 
des Guten und Beitrafung des Böfen durch ein zauberhaftes 
Weſen. Diejes Motiv ift aber bei all den verjchiedenen Völkern 
da3 gleiche. Haben nun dieje verjchiedenen Völfer dies Motiv 
eine3 vom andern entlehnt, oder find fie unabhängig voneinander 
darauf gefommen? Das ift die Frage, die uns im folgenden 
beichäftigen jol, und die zu beantworten die moderne Märchen- 
forſchung feit langem bemüht ift. 

Zunächſt jei betont, daß, was von der Verbreitung de3 
Holle-Motivs gilt, auch für eine große Anzahl anderer Märchen» 
typen zutreffend it. Hat doch die Engländerin Miß M. Cor 
allein 345 Bartanten des Aichenbrödel-Märchens aus aller 





Märchen auf der Wanderung. 2835 





Herren Länder zufammengeftellt! Nun, für die merkwürdige 
Thatjache, daß die alte heſſiſche Bauersfrau den Brüdern 
Grimm die gleihen Märchen erzählte, die der Kaffer im Kraal, 
der Eskimo in der Schneehütte, der Indianer am Zeltfeuer 
jeinen Rindern noch heut erzählt, war jene Beobachtung von 
größter Tragweite, daß die fchier unerjchöpfliche Fülle der 
Bolfsmärchen fi) doch auf wenige Typen zurüdführen läßt, 
die immer, wenn auch in mancherlei Verkleidung, wiederfehren, 
und die meist nur in verjchiedenartiger Weiſe miteinander ver- 
ſchmolzen find, jo daß fich fchlieglih Taufende von Varianten 
ergeben. Solcher Urtypen fennt man etwa hundert. 

Der berühmte Sanskritforicher Benfey war es nun, der 
al3 erjter nachwies, daß die Mehrzahl der Urtypen unferer 
heutigen Märchen uraltindifchen Urſprungs ift. In dem älteften 
indischen Gejchichtenbuch finden fich bereits fünfhundert derartige 
Märchen und Sagen. Da aber die Indier damals jchon ein 
hochentwideltes Kulturvolf waren, nimmt Benfey an, daß fie 
auch die eigentlichen Schöpfer der Märchen find und daß mit 
ihrer Aultur auch die Märchen zu den übrigen Bölfern des 
Morgen- und Abendlandes famen. Die indiihen Märchen- 
lammlungen wurden fpäter ing Syrifche, Arabiſche und andere 
orientalifche Sprachen überjebt. Aus ihnen haben u. a. das 
arabiſche „Tauſend und eine Nacht”, das perjiiche „Bapageien- 
buch“ u. ſ. f. geichöpft, und die Araber waren e3 dann in 
eriter Linie, die jene Märchen zu uns gebradt. Die Einfälle 
der Mongolen und die Kreuzzüge trugen desgleichen zur Ber- 
breitung der orientalifchen Märchen weſentlich bei. 

Allein die geiftreiche Hypotheſe Benfeys vermag gleichwohl 
das Rätſel des Urſprungs unjerer Märchen nicht völlig zu 
löſen. Mag auch feine Annahme für alle jene Märchentypen, 
denen ein indogermanifcher Mythus (wie etwa im Dornröschen 
und Sneewittchen) zu Grunde liegt, unbedingte Gültigkeit Haben, 
jo dürfte fie doch für jene zahlreichen Märchen, die ein ethiſcher 
Grundgedanfe gebar (wie die „Frau Holle”), nicht zutreffend 
fein. Dafür ſpricht u. a. auch der Umstand, daß die alten 
Aegypter, die gewißlich zu der jpäteren indiſchen Kultur feinerlei 
Beziehungen hatten, bereit3 gleichfalls ganz ähnliche Märchen 
erzählten. 

118* 


2836 Dr. Adolf Beilborn, Märchen auf der Wanderung. 





Sp hat uns 3. B. Georg Ebers aus dem hieratifchen 
Papyrus „Harris 500" ein- „Märchen vom verwunſchenen 
Prinzen“ erzählt, das eine überrajchende Aehnlichkeit mit unferm 
Märchen vom gläjernen Berg verrät. In der Abhandlung zu 
diefem merkwürdigen Bapyrus, der aus dem lebten Jahrtauſend 
‚vor Chriſto jtammt, betont Ebers nun mit vollem Recht, daß 
die eben erwähnte Aehnlichkeit „auf Feine Entlehnung, ſondern 
auf die Aehnlichkeit des menjchlichen Denkens in allen Zeiten 
und Breiten zurüdzuführen“ fei. Und die gleiche Art des 
Märchenerzählens aller Völker, die wörtlichen Wiederholungen 
der Reden im Märchen charafterifierend, fügt er Hinzu: „Unter- 
zieht man die poetischen Leiltungen der Völfer einem Vergleich, 
jo will es erjcheinen, als wäre auch der (naive) epiſch erzählende 
Menſch, jo verjchiedene Flügel auch feinem Geiſte gewachjen 
jein mögen, gewiſſen ihm angeborenen Gejeten unterworfen.“ 

Dieje Ebersſche Hypotheſe, daß die Märchenähnlichkeit auf 
die Aehnlichkeit des Denkens zurücdzuführen fei, hat viel Beſtechen— 
de3 für fih. Auch eine ganze Reihe englifcher Märchenforfcher 
neigt ihr zu, jo namentlich Andrew Lang, der die Gleichartig- 
feit der Märchen im Often und Weiten aus der Gleichartigfeit 
der primitiven geiltigen Veranlagung aller Menjchen erklärt. 

Die Wahrheit dürfte auch hier in der Mitte liegen. Wie 
wir jchon betonten, find jedenfalls alle die Märchen, die auf 
nationale Stammmpthen zurüdgehen, über den Erdkreis mit 
der Kultur gewandert — und e3 ijt eine feinfinnige Bemerkung 
Reuleaux', wenn er an die innige Verwandtſchaft des deutjchen - 
„Wandern“ und „Wandeln“ erinnert — alle diejenigen Märchen 
aber, deren Gehalt vorwiegend ethiſch ift, autochthon, dem gleich— 
artigen Denken der einzelnen Völker entſproſſen. | 

















Weiße Haare. 


Novelle von J. Ofttmer. 





(Nahdrud verboten.) 
arum nit, Lola?" — „Weil ich ihn nicht liebe, 
Mama!” rief das jchöne Mädchen und warf den 
Kopf zurüd, daß die braunen Locken flogen. „Sit 
das nicht Grund genug? Soll ich ihn nehmen, weil 
er jung und reich, oder weil er hübſch und vornehm ift, oder 
weil er mich liebt?“ 

„Aber Lola,“ jagte die Mutter ernit, „da zählit du jelbit 
alle Eigenfchaften auf, die Werner zum begehrenswerteiten Che- 
mann machen, und fagit dann, du liebeit ihn nicht. Warum 
aber liebjt du ihn nicht?” 

„Bedarf e3 dazu eine8 Grundes?“ fragte die Tochter 
leife. Dabei errötete fie tief, was der Furzjichtigen Mutter 
entging. 

Frau Albers lehnte ſich mit befümmerter Miene in ihren 
Lehnſtuhl zurüd und fagte: „Höre, mein Kind, fo geht e3 nicht 
weiter. Das ift nun der fünfte, den du ablehnit, und immer, 
weil du ihn nicht Liebft. Es waren lauter gute Partien. Wer 
weiß, ob fich noch einer findet, wenn du auch Werner heim- 
ſchickſt. Es fpricht fich leicht herum, wenn ein Mädchen Körbe 
austeilt, und bald wagt fich Feiner mehr heran, denn fie muß 
doch einen Grund dazu haben, — entweder iſt's Hochmut, oder 
man glaubt, ihr Herz ſei nicht frei; ich weiß freilich, daß Fein 
von beiden zutrifft... Es iſt mir ein Nätjel, was dich 
bewegt!“ 


2838 &. Öttmer. 





„Muß ich denn heiraten, Mama?” fragte Lola, und ihre 
Stimme zitterte ein wenig. 

„Kind, Kind, was ſoll das heißen! Du weißt, ich bin 
frank, und wenn ich einmal fterbe, Haft du niemand auf der 
Welt, der dir nahe ftünde.“ 

63 war, als wollte das junge Mädchen etwas erwidern, 
doch ſchwieg es. 

„Ueberlege es dir. Bedenke, daß ſich dir ſchwerlich ein 
zweites Mal eine ſolche Gelegenheit zum Glück bieten wird.“ 

„Zum Glück, Mama?” ſagte Lola träumeriſch. „Glück 
denk' ich mir anders. Zum Glück gehört Liebe.” 

„Ach, Kind,“ erwiderte die Mutter, „zu einer glücklichen 
Ehe gehören Achtung, Sympathie höchſtens und eine ſorgenloſe 
Exiſtenz. Glaub' mir, die aus Leidenſchaft geſchloſſenen Bünd— 
niſſe werden ſelten glücklich. Der Rauſch verfliegt, und dann 
ſieht man mit nüchternen Augen die mangelhaften Verhältniſſe, 
für die man früher im Taumel blind war oder ſein wollte. 
Und bei Werner findeſt du alles, was die ſichere Gewähr eines 
wolkenloſen Lebens giebt. Und dazu betet er dich ja an!“ 

„Aber ich ihn nicht!“ 

„Das findet ſich,“ meinte Frau Albers. „Neigung erweckt 
Gegenneigung. Nimm ihn, Lola! Gieb mir dieſe Beruhigung, 
dich wohlgeborgen im Hafen zu wiſſen, geſchützt vor aller Un— 
bill des Schickſals. Dann kann ich ruhig ſterben. Thu's — 
thu's mir zu Liebe.“ 

„Ich kann nicht!“ Es klang wie ein Wehruf. Schmerz 
und Trotz flogen über die ſchönen Züge des Mädchens. 

Dann erhob ſie ſich und verließ das Zimmer. 

In ihrer Stube angelangt, ſetzte fie ſich auf das kleine 
Sofa, verbarg das Geſicht in die Hände und ſchien tief nach— 
zuſinnen. So verbrachte ſie eine Weile, dann ließ ſie die Hände 
ſinken, und ihr Blick ſtreifte durch. den Heinen Raum. Ein 
echtes Mädchenſtübchen: elegant und traulich, mit hundert un— 
nützen Dingen geſchmückt: Vaſen und Schälchen, Ballerinnerungen 
und Blumen und einer Anzahl von Photographien. An einer 
derſelben blieb ihr Auge hängen. Sie ſtand auf, nahm den 
Rahmen in die Hand und ſah das Bild unverwandt an. Es 
war ein ſchöner, ausdrucksvoller Männerkopf, nicht in der 


Weiße Haare, | 2839 





eriten Blüte der Jugend, vierzig vielleicht — ein frifches, kraft— 
volles Geficht. 

„Du weißt, daß ich nicht kann,“ murmelte fie. „Franz —". 

Es pochte an ihre Thür. Blitzſchnell Itellte fie das Bild 
weg und wendete fich um. Auf ihr „Herein“ trat ihr der ent- 
gegen, mit dem fie eben geheime Zwieſprache gepflogen hatte. 
Ein Leuchten ging durch ihre Augen, eine Glutwelle über ihr 
Geſicht; lächelnd trat fie ihm entgegen. 

„Du, Onfel Franz?“ 

Doch auf feiner Stirn lag eine dunkle Wolfe, und feine 
Stimme hatte einen ungewohnt rauhen Klang, al3 er jagte: 

„Deine, Mutter jhidt mid. Sch ſoll dir Vernunft 
predigen.” | 

Sie war blaß geworden bis in die Lippen, und alles Licht 
erlofch in ihren Augen. Er febte fich, fie blieb gejentten Hauptes 
vor ihm Stehen, wie ein Kind, das Schelte erwartet. 

Eine lange Pauſe trat ein. Endlich fragte er mühſam: 

„Warum giebjt du Werner einen Korb?” 

„sc habe es Mama ja gejagt: weil ich ihn nicht liebe,“ 
_ antwortete fie leile. 

„Lola, Sprich die Wahrheit zu mir, wie du es immer ge- 
than haft. Ich glaube nicht, daß dies dein einziger Grund it. 
Du biſt umſchwärmt und ummworben wie felten ein Mädchen, 
und fo oft ein Freier fommt, weiſeſt du ihn ab — das iſt nicht 
natürlih. Sag’ mir, warum du das thuft.“ Die tiefe, weiche 
Männerjtimme zitterte vor innerer Bewegung. 

Sie wich feiner Frage aus. 

„Soll ich einen nehmen, den ich nicht liebe?“ 

„Warum aber Liebit du ihn nicht?” fragte Franz. „Er 
it jchön, reich und vornehm — und jung,“ fügte er hinzu; es 
Hang wie ein Seufzer. „Wie muß denn der fein, den du 
lieben könnteſt?“ 

Sefundenlang ſchlug fie die Augen zu ihm empor, dann 
lenkte fie wieder die Lider. 

Abermals jtocdte das Geſpräch; dann fagte fie kaum hör- 
bar: „sch werde überhaupt nicht heiraten.” 

Sein Bid umſchloß liebevoll ihre zarte Geftalt, daun 
rief er: | 


2840 &. Öttmer. 





„Du nicht heiraten! Das ift ja unmöglich! Und warum 
nicht, warum nicht?” 

Sie gab feine Antwort. 

„Onkel Franz,“ fragte fie plößlich, „warum heirateft denn 
du niht?" 

Schier faſſungslos ſtarrte er fie an. 

„Ich — warum ich nicht?“ 

„Sa, Onfel Franz, du?” 

Er ſchien ſich zu befinnen., Doc ſagte er dann nur: 

„Bon mir ilt ja nicht die Rede! was kann dic) da3 
fümmern.“ 

„Kein,“ drängte fie, „ſag', warum du nicht.“ 

„Laß doch!” wehrte er. 

Doch fie ließ nicht ab. 

„Wenn du e3 denn durchaus willen willſt,“ murmelte er 
endlich und jah dabei ftarr an ihr vorbei. „Die einzige, die 
ich je geliebt habe, iſt mir unerreichbar.“ 

„sit fie verheiratet?“ 

„Kein! 

„Was denn?‘ 

„Sie ift jung und ſchön und ich — bin ein älterer Mann, 
Lola.“ 

Du, Onkel Franz! Und du liebit fie?“ 

„Unſagbar!“ flüfterte er vor fich hin, als ſpräche er zu 
ſich jelbit. | 

„Und weiß fie es?“ fragte das Mädchen. 

„Wie jollte fie anders!” ermwiderte er. 

Ein lange Baufe trat ein. In ſich ſelbſt verjunfen, ftand 
fie von ihm abgemwendet, das fchöne Geficht wie verfteint in 
Schmerz. Bon ihr ungejehen, ruhte fein Blick auf ihr in 
namenlojer Zärtlichkeit, in verjengender Glut. 

Endlich erhob er fi). 

„Meberlege dir’3, Lola, und denfe daran, daß es deiner 
Mutter jehnlichiter Wunſch iſt⸗ 


* * 
* 


Als Onkel Franz gegangen war, brach ein Sturm der 
Leidenſchaft über Lola herein. Sie ſank in die Kniee und 


Weiße Haare. 2841 


preßte ihr glühendes Geficht in die Kiffen des Sofas. hr 
war’3, al3 läge die Welt in Trümmern. Ins tiefſte Herz hatte 
fie e3 getroffen, daß Franz liebte, eine liebte, die ihn ver- 
Ihmähte. Es war ihr unfaßbar, wie ein Mädchen ihn ver- 
ſchmähen fonnte; ihr war er der Inbegriff alles Guten und 
Edlen. Zum erjten Male legte fie fi) die Frage vor, ob fie 
denn gehofft Habe, daß er fie zu feinem Weibe machen würde, 
fie, die fic) jo Klein fühlte neben ihm, die zu ihm aufblidte in 
grenzenlojer Verehrung. Sie wußte e3 nicht, fie wußte nur, 
daß er, jeitdem fie denken konnte, der Stern ihres Lebens ge- 
weſen war, der Herr über all ihr Denten und Fühlen, der Ab⸗ 
gott ihrer jungen Seele. Sie kannte feinen Willen al3 den 
feinen und fein Glück als feinen Beifall. Sie hatte nicht? ge- 
träumt als ihn und nichts erſehnt als feine Nähe — fie fühlte 
fich als fein Geſchöpf, und nun warf er fie achtlos von fih! 
Mit einem Schlage vernichtete er ihren Traum von Glüd. 
Daß er mußte, wie glühend fie ihn liebe, daran zweifelte ſie 
feinen Augenblid; wie hätte es ihm auch verborgen geblieben 
fein können! Er aber liebte eine andere, die würde er heim- 
führen, denn wer könnte ihm auf die Dauer widerftehen! Was 
lag nun daran, was aus ihr würde! Nun konnte fie den 
Wunjch ihrer Mutter erfüllen und Karl Werner heiraten. Franz 
hatte ihr doch jelbjt dazu geraten. Er verjtand ja nicht, wie 
man feine eigenen Wünſche und Hoffnungen nicht denen anderer 
unterordnen fonnte, er lebte und mühte ſich ja nur für andere 
und hatte zuerit ihrem Vater, dann ihrer Mutter und ihr feine 
Neigungen und feine Bequemlichkeit geopfert — nicht aus 
Schwäche, jondern aus jeglihem Mangel an Egoismus, aus 
geläutertiter Güte. Sie, feine getreue Schülerin, - mußte nun 
auch das Opfer bringen und mit Werner fortziehen. Ein 
Schauer durchriejelte fie. Fort! Franz nicht einmal mehr 
jehen? So weit ihr Erinnern reichte, war er ihr ftet3 zur 
Seite gewejen, der beite, der treufte Freund, und nun follte 
alles, alle aus jein? — 

Als ihr Vater ftarb, war fie ein zehnjähriges Kind; da- 
mals trat Franz in ihr Leben ein als deffen Mittelpunft. Er 
war der Compagnon ihres Vaters geweſen, nun wurde er ihr 
Bormund. Und was für ein Bormund! Wie er ihr und ihrer 





2842 &. Ottmer. 











Mutter Vermögen in raftlojer Arbeit zu mehren fuchte, jo be- 
ſchäftigte er fih unermüdlich) mit der Erziehung der Kleinen 
Lola. Täglih kam er, beauflichtigte ihren Unterricht und 
fümmerte fich um das Meinfte, was fie betraf. Der fchöne, 
dreißigjährige Mann widmete dem fremden Rinde einen großen 
Teil feiner Muße und lenkte und leitete es in allem. In jeiner 
Hand war das unbändige Ding weich wie Wachs. Wenn die 
Mutter und die alte, treue Marie nicht mit ihr ausfommen 
fonnten, nicht mit Bitten und nicht mit Drohungen, bedurfte 
e3 nur eine3 mahnenden Wortes von „Onkel“ Franz, wie fie 
ihn nannte, obgleich feinerlei verwandtichaftliche Bande fie ver- 
fnüpften, und ihr Troß war gebrochen. Einer von ihm diftierten . 
Strafe beugte fie fich ohne Widerrede und küßte wohl noch die 
Hand, die fie eben gezüchtigt hatte. 

Auch die Jahre änderten nicht viel an ihrem Verhältnis. 
Mit der Zeit lernte fie teilnehmen an feinen geiftigen Intereſſen. 
Obwohl er Kaufmann war, hatte er fich doch eine vieljeitige 
Bildung erworben und betrieb mit befonderer Vorliebe botanijche 
Studien. Dies hätte eigentlich fein Beruf werden jollen, doc) 
entjagte er auf Wunſch feines Vaters feiner Neigung und pflegte 
lie nur als Liebhaberei weiter. In diefem Fache unterrichtete 
er Lola ſelbſt; auch fonjt las er mit ihr und überwachte ihre 
Lektüre noch auf daS Genaueſte, nachdem fie längjt der Schule 
entwachlen war. Sie hatte grenzenlojes Vertrauen zu ihm, alle 
ihre Gedanken breitete fie vor ihm aus, jodaß er meinte, auf 
den Grund ihrer Seele jehen zu fünnen. Sie hingegen wußte 
nicht viel von jeinem Leben, wenn er ihr fern war. Nur Jelten 
traf fie ihn außerhalb ihres Haujes, denn während fie in den 
Batrizierfamilien der Stadt verkehrte, juchte er mit Vorliebe 
Gelehrtenkreiſe auf. Und da er zu den Menjchen gehörte, Die 
nur ungern von fich jelbjt reden, jo kannte fie feine Beziehungen 
und Freundichaften faum. Sprachen andere von ihm, jo gejchah 
e3 immer in den Ausdrüden der größten Hochachtung vor jeinem 
Edelſinn, jeiner ftillen Wohlthätigfeit, jeiner ritterlichen Großmut. 
Jedes jolde Wort war ein Geſchenk für fie, mit dem fie das 
Idol auf dem Altar ihre Herzens ſchmückte. 

So war e8 geblieben bisher. 

Wohl warf fie ſich ihm nicht mehr ſtürmiſch an den Sag 


2.35 er — rn — — 





Weiße Baare. 2843 





und küßte ihm nicht mehr die Hände, aber jeder feiner Wünſche 
war für die erwachſene junge Dame ebenjo ein Gebot wie einjt 
für das wilde Kind. 

Und nun follte alle8 aus fein — fie würde mit Werner 
nad) der großen deutichen Metropole ziehen, und Yranz würde 
‚ feine Liebe heiraten. Wer fie jein fünnte, darüber dachte fie 
nit nad); ſie würde es ja nicht erraten fönnen, da fie feine 
Beziehungen nicht Fannte. 

„Aus und vorbei!” jtöhnte Lola in ihrem einfamen Mädchen- 
jtübchen. „Leb' wohl, Franz!“ 


* * 
* 

Das HochzeitSdiner war beendet. In zivanglojen Gruppen 
Itanden die Gäfte zuſammen, die Kaffeetafjen in der Hand, und 
plauderten. Mitten unter ihnen: die junge Braut und der 
Bräutigam, der vor Glüd und GSeligfeit nicht wußte, was er 
ſprach, und wie viel er ſprach. Lola ſah wunderſchön aus unter 
der Myrtenkrone, von der der Schleier bis über die lange 
Scleppe mwallte. Etwas blaß zwar, aber wunderjchön, darüber 
waren alle einig. Sie ſchien jemand zu ſuchen. Ihr Auge glitt 
von einer Gruppe zur andern. Nun bewegte fie fich langſam 
der Thür zu und durchichritt dann die Räume bis zum lebten, 
ihrem- Mädchenftübchen, in dem heute die Geſchenke aufgejtellt 
waren. Dort fand fie Franz. Er lehnte mit dem Rüden gegen 
das Fenſter und ftarrte in die Lichter der Heinen Krone. ALS 
fie eintrat, richtete er ji) mit einem Ruck empor. Sie trat dicht 
an ihn hinan. 

„Franz,“ jagte fie — zum erjten Male nannte fie ihn nicht 
Onkel —, „ich wollte dir noch Zebewohl jagen und dir danfen, 
dir taujendmal danken, Franz, für alles, was du mir warſt, für 
deine Güte, Treue und Geduld — für alles, alles.” ihre 
Stimme zitterte. Stodend fügte fie Hinzu: „Und wünſchen 
wollt’ ich dir, daß jte noch dein werde, die du liebft, und Dich 
jo beglüde, wie du es verdienft.“ 

Er war jehr blaß geworben. 

Nun nahm er ihr Geſicht in beide Hände, wie er es s ſo oft 
gethan, da ſie noch ein Kind war, und küßte ſie auf Stirn und 
Augen innig und lange. 





2844 &. Öttmer. 





„Bott jegne dich, geliebte Kind!“ war alle, was er hervor- 
brachte. 

Plötzlich beugte fie fich Hinab und zog feine Hand an 
ihre Lippen; heiß fielen ihre Thränen darauf, dann war fie 


verſchwunden. A 
ar 


Wir Menjchen wiſſen alle nicht, was Glück ift, und was 
zum Glüde führt. Wir langen und haſchen nad) der goldenen 
Frucht, und führen wir fie an den Mund, jo hat ein Wurm 
ihr Inneres zerfreſſen. Wir jagen der jchillernden Seifenblaje 
nach, und haben wir fie endlich erreicht, zerplagt fie und jprigt 
ung ihren herben Schaum in die Augen. Yrau Albers jollte 
dies jchmerzlich erfahren. Ihre Tochter wurde in der Ehe, die 
fie jo heiß für fie erwünjcht hatte, namenlog elend. 

Anfangs freilich glaubte die Mutter, für ihr Kind dag Beite 
erreicht zu haben, Lola lebte in den glänzenditen Verhältnifjen, 
im vollen Treiben üppiger Gejelligfeit, ihr Mann betete fie an, 


und die Welt huldigte ihr. Wie ihr jelbjt dabei zu Mute war, 
davon ſprach fie nie. Gie that alle8, was ihr Gatte wünſchte 


und führte ohne Widerrede das Leben, das ihm behagte, nur 
jeine glühende Liebe erwiderte fie nicht; eine liebenswürdige 
Gattin war jie ihm, doch Feine zärtliche. Innerlich litt fie an 
unfäglihem Heimweh. Im Wachen und im Schlafe ftieg Die 
Baterftadt mit ihren gegen den Himmel ragenden Türmen, um— 
geben von einem Kranze bewaldeter Berge, vor ihr auf. Träumend 
laß fie oft ftundenlang und dachte zurück an die Beit, da fie 
durch die engen Gaſſen gewandelt war, und dann jah jie wieder 
ihr kleines Stübchen, in dem fie jo fröhlich gewejen war. Franz 
Ihritt durd) diefe Phantafien; er und die Stadt verwoben fich 
untrennbar ineinander, ſodaß fie felbjt nicht wußte, nad) wen 
von beiden ihr Herz fich jehnte, daß e3 faſt brach vor unnenn= 
barem Weh. Sie forrejpondierte mit ihrer Mutter, nicht mit 
Franz. Wohl hatte fie ihm gejchrieben, doch Hatte er ihr nicht 
geantwortet. Sie machte ihm feinen Vorwurf daraus, aber ſein 
Schweigen kränkte fie, und von Tag zu Tag erwartete fie die 
Kunde jeiner Verlobung. Indes blieb es ftill davon. 

Sp verging ein Jahr. Dann brad) ein furchtbares Schidjal 
über fie herein. Ihr Mann wurde von einem unbeilbaren 


rt Dt RI een wer 








Weiße Baare. | 2845 





Leiden befallen. Auf die erſte Schredensfunde Hin eilte ihre 
Mutter zu ihr und beſchwor fie, ihn einer Heilanftalt zu über- 
geben. Auch die Freunde und Bekannten redeten ihr zu, es zu 
thun; e8 wäre ein unmenjchliches Anfinnen, daß jie ihre Jugend 
an feiner Seite vertrauern jollte. Doch fie fonnte fi) nicht dazu 
entichliegen. Der arme Kranke war für feine Umgebung ganz 
ungefährlich und hatte feine Liebe zu ihr mit in feine Umnachtung 
hinübergenommen. Er war nur ruhig in ihrer Nähe und hing 
ih an fie wie ein Hilflofes Kind. Ohne Klage nahm fie ihr 
ſchweres Kreuz auf fih und trug es mit ftiller Ergebung. Der 
Gedanke an Franz, daran, was er recht finden würde, leitete fie 
in all ihrem Thun. Sie zog fi) ganz von der Welt zurüd und 
lebte nur dem großen Slinde, das ihrer zu jeder Stunde bedurfte. 
Der gebrochene Mann und die junge Frau wohnten in dem 
weiten Hauje mitten in der wogenden Stadt iwie auf einer ein= 
ſamen Inſel. Nur: wenn fie mit ihm ausfuhr, jah fie fremde 
Menjchen, und mancher frühere Befannte z0g bei ihrem Anblid 
tiefec den Hut in Chrerbietung vor ihrem Opfermut. Ihre 
Mutter Hatte fie längft wieder verlafjen und lebte ihrer zarten 
Gefundheit wegen an der Riviera, doc) ließ fie nicht nach) mit 
- Drängen, Lola folle den unheilbar Kranken einer Anjtalt über- 
antworten. Da fchrieb dieje endlihh an Franz, ihm die Ent- 
ſcheidung anheimgebend. 

Was er litt, fünnen feine Worte jagen. Die bitterjten Vor— 
- würfe machte er fich, daß auch er ihr zu dieſer Heirat geraten 
hatte. In namenloſer Sehnfucht ftredte er oft die Arme nad) 
ihr aus, als müſſe er fie an fich reißen als jein Eigentum für 
alle Ewigfeit. Als aber ihr Brief kam, ſchwankte er feinen 
Augenblid. Wie er ſie erzogen Hatte zu ftrengiter Pflicht- 
erfüllung, ſelbſt mit dem Beijpiel vorangehend, jo jchrieb er auch 
jet: „Du mußt bei ihm bleiben; dort ift dein Platz.“ Sie 
hatte e8 nicht ander8 erwartet und füßte jeine Beilen in 
demütiger Liebe. 

So veritrihen drei bleierne Jahre. Endlich brachte der 
Tod Erlöfung. Sie jubelte nicht auf, denn fie hatte den armen 
Kranken vor unendlihem Mitleid liebgerwonnen, und die Freiheit 
bot ‘ihr das Glück nicht, auf das fie nicht mehr hoffte, an das 
fie nicht mehr glaubte. 


2846 &. Ottmer. 





AU die Zeit war Franz nicht bei ihr geweſen; die Mutter 
hatte oft wochenlang mit ihr in ihren düftern Heim gelebt, er 
war nicht gefommen. Sie beflagte jich nicht darüber, aber e3 
that ihr weh. Hatte er fie ganz vergefjen und verſtoßen? Er 
aber fam nicht, weil er den Mut nicht dazu fand, weil er fühlte, 


alle Iangbewahrte Fafjung würde zufammenbrechen vor ihrem 


Anblick. 

Auch jetzt jollten fie fich nicht gleich wiederjehen. Sie ver- 
brachte mit der leidenden Mutter den Winter im Süden. Dort 
lebten fie ſtill und zurüdgezogen, doch ſchien Lola wunſchlos zu 
fein. Mit Franz ftand fie nun in eifrigem Briefmwechjel. Er 
hatte ihr nach ihres Mannes Tod fo-treu und herzlich gejchrieben 
wie in ihrer Mädchenzeit, wenn fie mit der Mutter auf Neijen 
war, daß fich, ihr ſelbſt unbewußt, der alte Ton des Vertrauens 


und der Verehrung in ihre Antwort eingejchlichen hatte. Er. 


erwiderte jehnell darauf, und bald waren fie in die frühere Art 
und Weile zurücdgefallen; er erzählte ihr von allem, was fie an— 


regen und erheitern fonnte, fie breitete ihr Thun und Denken 


vor ihm aus und fchilderte die Jahre, die jeit ihrer Entfernung 
verfloffen waren. Aus diejen Briefen trat ihm nicht mehr dag 
fröhliche, verwöhnte Mädchen von ehedem entgegen, jondern ein 
ernjtes, gereiftes Weib, das das Leid nicht verbittert, nur ge— 
läntert hatte. Er meinte wieder auf den Grund ihrer Seele 
ſehen zu können, die ihm kryſtallhell zu fein ſchien, und doc) 
verjtand er nicht, was ihr die Kraft zum Tragen, Mut und 
Ausdauer gegeben hatte, was fie bewahrt hatte vor jeder ſchlimmen 
Regung, daß fie rein geblieben war wie ein Kind — die namen= 
(oje Liebe zu ihm. Er lag vor diefer Seele auf den Knieen, 
und er jah nicht, daß fie fein Bild piegelte in ihren Tiefen, tvo 
e3 ruhte jeit langer Zeit: er begriff nicht, daß er fie zu dem ge— 
macht hatte, was fie war. 

Allmählich verging der Winter. 

Als der Sommer nahte, bejchlofjen fie und die Mutter, in 
die oberöfterreichiichen Berge zu gehen, Franz ſollte fie dort 
bejuchen. | 

Frau Albers und Lola wählten zu ihrem Aufenthalt einen 
Heinen, einfachen Ort, der an einem der großen Seen gelegen 
war. Das Häuschen, das fie mieteten, jtand etwas erhöht au 


Weiße Baare. 2847 





der Landſtraße, die es von der Waflerfläche trennte. Der Blid 
fonnte frei auf den blauen Wogen ruhen und ans jenjeitige 
Ufer ſchweifen, welches in nicht allzu großer Entfernung grün 
beivaldet emporitieg. Nach Dften aber, wo der See ich ſchier 
endlos breitete, war die Ausficht nicht frei, da eine eigenfinnige 
Zandzunge in nächjter Nähe des Dorfes hervoriprang. Da noch 
feinerlei moderner Komfort in diejen entlegenen Winkel gedrungen 
war, Hatten nur wenige Yamilien außer Albers ihre Zelte hier 
aufgefchlagen, und aud) mit diejen famen die beiden Frauen in 
eine Berührung, da fie eigene Wirtjchaft und ihr jtill vornehmes 
Leben wie zu Hauſe führten. 

Alle Gedanken Lolas waren auf Franzens Kommen gerichtet. 
Sie hoffte, ſie wollte ja nichts, als ihn nur wiederſehen, wieder 
ſeine Hand berühren und ſeine Stimme hören. Doch vergingen 
noch viele Wochen, ohne daß er ſich angemeldet hätte, und ſie 
ſagte ſich, daß das Wiederſehen ihm eben nichts bedeute. 

Endlich kam er. 

An einem grauen Nachmittag ſtand ſie auf dem Landungs— 
ſteg und harrte des Dampfſchiffes. Ihr Herz pochte, und ihr 
Auge ſchaute unabläſſig in die Ferne — die Vergangenheit war 
verſunken und vergeſſen, ſie wußte nur, daß er in wenigen 
Minuten da ſein würde. Nun keuchte das Boot heran, legte an, 
daß das morſche Holz der Brücke knarrte, und Franz ſprang 
als erſter über das ſchmale Brett. Keines Wortes fähig, ſtreckte 
ſie ihm beide Hände entgegen, die er in die ſeinen nahm, ſie 
immer näher an ſich ziehend, als wollte er ſie in die Arme 
preſſen. Doch ließ er ſie plötzlich fahren, und jetzt ſchritten ſie 
nebeneinander her. Er hatte ſich wenig verändert, die ſchlanke, 
kräftige Mannesgeſtalt machte einen friſchen, gefeſteten Eindruck. 
Sie in ihrem ſchwarzen Gewande, das braune Haar, das ſie 
ſonſt immer in flatternden Locken getragen hatte, zu einem 
ſchlichten Knoten zuſammengeſteckt, ſah mädchenhaft zart aus, und 
ihr Geſicht, das ſchmaler und blaſſer geworden war, erſchien faſt 
noch jünger als damals unter dem Brautkranz. Kein herber 
Zug lag auf ihm, nur wie ein Schleier wunſchloſe Ergebung. 
Wie ſie ſo an ſeiner Seite dahinging, reichte ſie ihm kaum bis 
zur Schulter, und unwillkürlich neigte er das Haupt, wenn 
er zu ihr ſprach. Sie führte ihn ihrer Mutter zu; er 


2848 &. Ottmer. 





ſollte für die Dauer ſeines Aufenthalt$ mit in ihrem Häuschen 
wohnen. | 

Diejem eriten Wiederjehen folgte eine Reihe jchöner, fonniger 
Tage. Wie ein leichter Schimmer von Nöte dämmerte es in 
Lolas Wangen auf, und in ihren Augen jtrahlte ſtille Zufrieden- 
heit. Alles Ungeftüm früherer Jahre war von ihr gemwichen, 
eine vornehme Gelafjenheit und mohlthuende Sanftmut über ihr 
ganzes Wejen gebreitet, nur eins quälte fie; er könne bald wieder 
abreifen. Denn eine eigentümliche Unruhe ſchien fich feiner zu— 
weilen zu bemächtigen. Sie verbraditen viele Stunden ganz 
allein miteinander; wenn die Mutter noch lange jchlief, zogen 
fie des Morgen? aus. Am liebjten jchritten fie nach Wejten, 
wo die Straße vom See ab in ein ſchmales Thal einbog und 
zu einem andern, Lleinern ‚See führte Dort nahmen fie wohl 
ein einfaches Frühmahl, und die Zeit verflog ihnen in heiter- 
ernten Gefprächen. Manchmal verjtummte er aber plößlich und 
verabfchiedete fih, zu Hauſe angelangt, von ihr, um fich den 
ganzen Tag nicht mehr bliden zu laſſen. Er botanifiere, hieß 
e3 dann, doch nie ſah fie, daß er etwas heimbradhte. 

So waren fie auch eines Wormittagd wieder hinüber— 
gewandert. Die Sonne hatte aber jo heiß gebrannt, daß Lola 
davon abgejpannt und ermüdet war und Franzens Vorjchlag, 
zur Heimfahrt einen Bauernivagen zu mieten, gern annahm. 
Shen jaß jie auf dem hohen Bänfchen, als Franz ihr einen 
Strauß blauer Gentianen reichte, den er eben gefauft hatte. 
Sie beugte fich zu ihm herab, jo daß ihre Wange feine Hand 
jtreifte, und jagte im alten Kinderton: „Sch danke dir, dur guter 
Onkel Franz!" Da ſchlug ihm eine dunkle Blutwelle über dag 
Antlig bis an jein blonde Haar hinauf, und mit den Worten: 
„Fahre allein, Zola, ich fomme nach,“ wendete er fich ab und 
Ichritt davon. Erſt zur ſpäten Efjenzftunde jah fie ihn wieder. 

Ein andermal hatte er fie des Abends auf den See hinaus- 
gerudert. Der Bollmond ftand am Himmel. Sie jaß am Steuer 
und wiegte fich leicht im Takte der Wellen, daß die braunen 
Loden, die fie auf feinen Wunſch wieder gelöft trug, leije mit- 
tanzten. Eine träumeriſche Stimmung hatte ſich beider bemädhtigt; 
fte ſprachen kaum ein Wort. So fuhren fie langjam hin und her. 
Da ſagte fie wie zu fich jelbit: „Wie jelig, wer hier die Liebe 


Weiße Haare, - 2849 





fände!” Ihn durchfuhr's wie ein Schlag. Sofort trieb er den 
Kahn ans Ufer, geleitete fie heim und verſchwand in die helle 
Nacht. So oft fie ihn dann auch fragte, was ihn jo jählings 
gepackt habe, nie erhielt fie eine Antwort. 

Der September war herangefommen. Die Natur der Berge 
glänzte wohl noch in vollfter Friſche, doch Schon lagen des Morgens 
die Nebel länger im Thal, und das Alpenveilchen blühte allüberall 
al3 eriter holder Bote des Herbftes. Hochſommerlich aber muteten 
noch Die ſchweren Gewitter an, die ſich fait an jedem Nachmittag 
entluden. 

So war e8 auch heute. Draußen ftürmte und tobte es. 
Sie Hatten fih in Frau Alber3’ Stube verfammelt. Franz las 
vor; Lola ſaß ihm gegenüber und laufchte der ach! jo geliebten 
Stimme. Als er emporblicte, trafen fich ihre Augen. Da jtand 
er auf und fagte, er müfje noch ing Freie. Sie folgte ihm. 

„Wohin, Zranz, doch nicht auf den See?" 

Er beruhigte fie und eilte hinab. | 

Sie blicdte ihm durch das Fenſter nad. Trotz feines Ver⸗ 
ſprechens ſah ſie ihn dem Ufer zuſchreiten, ſeinen Kahn losbinden 
und abſtoßen. Das Gewitter hatte nachgelaſſen, es regnete nur 
noch in großen Tropfen, und die Wellen hatten weiße Kämme. 
Lola lief hinab, um ihn zu beſchwören, er ſolle umkehren, doch 
ſchon war er um die nächſte Landenge verſchwunden. Seufzend 
ſchlich ſie zurück. Eine eigentümliche Beklemmung bemächtigte 
ſich ihrer. Alle Vorſtellungen der Mutter, daß Franz ein Waſſer— 
und Wetterkundiger ſei, fruchteten nichts. Bald jollte fie erniten 
Grund zur Bejorgnis haben. 

Nachdem fich der Himmel etwas aufgeheitert hatte, brad) 
mit unglaubliher Schnelligkeit ein neue Gewitter los. Die 
Plöglichkeit und Wucht, mit denen fih Orkan, Donner und Blitz 
in ihnen erhebt und die Natur in gewaltiamen Aufruhr bringt, 
ijt eine Eigentümlichfeit diefer Berge. Schäumend und braufend 
ſchlugen die weißköpfigen Wellen gegen das Ufer, der See, der 
zuerit dunfelviolett außgejehen hatte, nahm eine graugrüne Färbung 
an, dann hüllte fich alles in einen dichten Schleier, der Himmel 
und Wafjer zu vereinen ſchien. Wechzend wiegten ſich die Fichten. 
Ron Minute zu Minute zerriß ein greller Blitz die Wolfenwand, 


dem Ffrachender Donner folgte, welchen das Echo verhundertfachte. 
SU, Haus-Bibl. II, Band XL. 179 





2850 &. Ottmer. 





Graufig ſchön war es anzujehen, doch Lola jah die Schönheit 
nicht, Angit und Entjegen preßte ihr das Herz zujammen, ſchnürte 
ihr die Kehle zu. Die Hände ringend, ſtand fie am Fenſter 
und jah brennenden Auges in den wilden Taumel hinein. Die 
Mutter ſprach von ihrem Diwan aus unaufhörlich auf Ste ein, 
fie vernahm es nicht, fie hörte nur daS Toben da draußen und 
den Schrei ihrer gequälten Seele. So verging die Zeit. Endlic) 
hielt jte e3 nicht länger. Sie mußte hinaus. Mit Mühe rang 
jie fi) biS zum Stege durch; dort fand fie ein paar Schiffer 
und Sommergäfte verfammelt; es hatte ſich jchon die Kunde 
verbreitet, daß ein Boot auf dem Wafjer ſei. Auf Lolas Frage, 
ob fie nicht ausfahren wollten, ihn zu juchen, wieſen fie ſtumm 
auf den tobenden See. Sie bot ein Heine Vermögen, wenn 
fie e8 dennoch wagten — Feiner entichloß ſich; was würde es 
auch nüßen? wo jollten fie ihn juchen auf der weiten Waſſer— 
fläche, auf der man faum die Hand vor den Augen jehen konnte? 
Ihre Aufregung wuchs von Minute zu Minute — da jchien es 
ihr, als habe fie Hilferufe gehört. Die anderen hatten nicht 
vernommen. Sinnlos vor Angjt, rannte fie zum nächſten Kahn, 
um ihn loszumachen, doch mühte jie ſich vergebens; die Wogen 
trieben fie zurüd, und triefend vor Näfje, mit blutigen Fingern 
mußte jie davon abitehen. So brach) der Abend herein, und 
mit ihn wurde es ſtill. Pechſchwarz war die Nacht, fein Stern 
am Himmel; die Natur, die eben noch jo wild gerajt hatte, lag 
lautlos da. Lola war zu ihrer Mutter zurückgekehrt, fie jaß 
wieder am Fenſter und ftarrte ins Dunkel in völliger Hoffnung3= 
lojigfeit. Die Stunden vergingen. Die alte Frau war bor 
Müdigkeit auf dem Divan eingejchlafen, die Lichter waren erlojchen. 
Lola jaß regungglos. 

ALS der Morgen aufdämmerte, jchlich te hinunter. Draußen 
fein Menſch. Sie ging zum See hinab, dann die Straße entlang, 
die an jeinem Ufer hinführte, ziellos, planlos, immer weiter und 
weiter — dem Sonnenaufgang entgegen, in den herrlichen Tag 
hinein. Golden färbten ſich Firmament und See, fie jah es 
nicht, fie fühlte nicht, daß ſie jich vorwärts bewegte, jie Dachte 
nicht mehr, in ihr jchrie es nur: „Franz, Franz!“ So wanderte 
ſie wohl eine Stunde oder zwei. Die erſten blutigroten Strahlen 
der Sonne glühten ihr eben ins Geſicht, da plötzlich, bei einer 


— * 
— 


— 


Weiße Haare. 9851 





Wendung des Weges, trat er ihr entgegen. Ihre Augen öffneten 
jih weit, dann breitete jie die Arme aus und ſank lautlos zu 
Boden. 

ALS fie erwachte, Eniete Franz vor ihr. Helle Thränen 
liefen ihm über die Wangen, und er preßte ihre Xoden an feinen 
Mund, dabei murmelte er immer wieder: „Weiße Haare, weiße . 
Haare!” Zuerſt verjtand fie ihn nicht, Doch als fie ſich aufrichtete, 
fiel ihr Blid auf ihre Locken, die ihr nun über die Bruft wallten — 
da ſah fie im roten Morgenlicht ſchneeweiße Strähne in ihr 
dunkle Haar ſich miſchen. Was das Elend vieler Jahre nicht 
vermocht hatte, das hatte dieſe eine Nacht bewirkt, in der fie 
an Franzens Leben verzieifelt war. 

Nun war er aufgeftanden und hatte auch ihr emporgeholfen. 
Befeligt lag fie an feiner Bruft, doch er rang nocd immer ver- 
geblic nach Faſſung. Endlich brachte er nur wieder die Worte 
hervor: „Weiße Haare — um mich, um mich!” 

„Stanz,“ ſagte fie, „hat es exit deſſen bedurft? Wußteſt 
du nicht, daß ich dich liebe, feitdemn ich denken kann?“ 

„Hätt’ ich's gewußt, ich hätte dich nicht fortgelaffen, während 
mir daS Herz in Stüde brach. Ach gejtand dir ja meine Liebe, 
als Antwort verlobtejt du dich mit Werner, und erſt deine Ab— 
ſchiedsworte fagten mir, daß du mich nicht. verjtanden hatteſt.“ 

„sch war’3 — die Unerreihbare — ih?” 

„Wer ſonſt al3 du! Mein Kind, mein Weib!” ftammelte 
er, und zum erſten Male küßte er ihre Lippen. 





179* 








Babe; 


Betty Paoli. 


les hinzugeben 
ft der Liebe Brauch; 
Nimm denn hin mein Keben 
Und mein Sterben auch! 


Aller meiner Lieder 
Sanften Schmeichellaut, 
Die ein Eden wieder 
Sich aus Schutt erbaut. 


. Alle Kichtgedanfen, 

Die an Glück und Leid 
Kühn fich aufwärts ranfen 
In die Ewigkeit. 


AI mein ftilles Sehnen, 
Innig dir vertraut, 
Das in felgen Thränen 
Auf dich niedertaut! 


imm, daß nichts Dir fehle, 
Wenn die Stunde ruft, 
Meine ganze Seele 

Din als Opferduft! 


€ 


Wildbad Gaftein. 


Don Wulfgang Engel. 





(Nadhydrud verboten.) 


in Weltlurusbad wie Karlsbad oder Dftende, wie 
Wiesbaden oder Trouville ift das Wildbad Gaftein 
nicht. Wohl wird der Zudrang zu feinen heilfräftigen 
Duellen von Jahr zu Jahr ſtärker, und auch die Zahl 
der Gefunden, die vorübergehend dort Aufenthalt nehmen, um 
die wildromantifche Schönheit der Natur zu genießen, hat in 
ven lebten Jahren eine beträchtliche Steigerung erfahren. Aber 
jene3 blendende, buntjchillernde Leben, das die Kaſinos und 
Wandelgänge der ausgeiprochenen Zurusbäder erfüllt, jene teils 
wirkliche, teil3 gemachte Eleganz, die dort zur Entfaltung ge- 
langt und fich äußerlich in einem durch alles Raffinement der 
Mode ausgezeichneten Glanz und Reichtum der Toiletten kund— 
giebt, jene raujchenden Vergnügungen, ohne die die Lurusbäder 
gar nicht mehr denkbar find und die nicht zum wenigſten den 
Kitt bilden, durch den die einzelnen reife der Badegefellichaft 
einander näher geführt und zufammengehalten werden — da3 
alles fehlt Gajtein oder bewegt fich doch in fo befcheidenen 
Grenzen, daß e3 nicht imftande ift, dem Kurort jeinen Stempel 
aufzudrüden. 

Damit joll jedoch nicht gejagt werden, daß Gaftein Fein 
bornehme® Bad if. Eine überrafchende Fülle glängender 
Kamen findet man dort alljährlich vereinigt. Beſonders ſtark 






2854 Wolfgang Engel, Wildbad Sajtein. 


RISSE 


vertreten ift der öfterreichiiche Adel; aber auch zahlreiche Glieder 
der deutjchen, der italienischen und der franzöfiichen Ariftofratie 
geben fich hier alljährlich ein Stelldichein. Schon im Jahre 1436 
weilte Erzherzog Friedrich III. von Defterreich, der nachmalige 
Kaifer Friedrich IV., mit einem glänzenden Gefolge in Gaftein 
als Badegaft, und nach ihm haben viele hoch- und Höchitgeftellte _ 
Perjönlichkeiten die wunderbaren Duellen aufgefucht. Kaiſer 
Wilhelm I. fuhr zwei volle Jahrzehnte Hindurch allſommerlich 
nach Gaſtein, und die belebende Wirfung, die die Bäder dafelbft 
auf den greifen Herrjcher ausübten, hat wohl nicht zum wenigiten . 
dazu beigetragen, den Ruf der Gafteiner Quellen in alle Welt 
zu tragen. Ebenſo begab fich Kaiſer Franz Joſef wiederholt 
dorthin, nachdem er im Jahre 1886 das Badeſchloß, die 
Thermalquellen und das Dunjtbad durch Kauf in feinen Privat- - 
befig gebracht hatte. Auch feine unglüdliche Gemahlin, die - 
Kaiſerin Elijabeth, ging gern nad) Gaſtein, deſſen pittoresfe 
Naturjcenerie ihrem jchönheit3durftigen Sinn befonders zufagen . 
mochte. we 

Leopold II, der König der Belgier, ift feit Jahren ftändiger 
Sommergaft in Saftein, ebenfo der regierende Fürjt Heinrich XIV. 
Reuß j. L., Prinz Morik von Sachjen-Altenburg, Herzog Georg - 
von Sachfen-Meinigen, der regierende Herzog Ernit von Sachjen- 
Altenburg. Bis zu feinem Tode zählte auch FZürft Günther 
von Schwargburg-Sondershaufen zu den regelmäßigen Befuchern 
des Wildbades, und eine Unmenge von Anefooten find noch - 
heute über fein Badeleben im Umlauf. „Wiffen Sie,” fagte 
der Fürſt einmal zu einem Kurgaſte, „wie ich es anfange, um 
mit einer fremden Dame ein Geſpräch anzufnüpfen?” — „Das 
it jehr einfach, Durchlaucht laffen fich ihr vorftellen.“ — „Fehl- 
gejchofien, mein Lieber! ch gehe nahe, aber ohne fie zu be- 
rühren, an der Dame vorüber und frage, ob ich fie geitoßen 
hätte. Natürlich anttwortet fie freundlich mit Nein. Nun, er- 
widere ich, das kann ich ja nachholen. Damit gebe ich ihr 
einen Stoß mit dem Ellenbogen, und die Bekanntſchaft ift | 
gemacht.“ 

Ich muß natürlich) die Verantwortung für die Glaub- 
würdigkeit diefes Gejchichtcheng ablehnen. Aber ob wahr, ob 
erfunden, auf alle Fälle jcheint es mir ungemein charakteriftifch 


5. | 








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2856 Wolfgang Engel. 





zu fein, nicht nur für den Fürſten Günther, fondern namentlich 
auch für die Ungezwungenheit des Verkehrs, die zwijchen den 
Öafteiner Badegälten beiteht. Dieſe Ungezwungenheit hat ihren 
tieferen Grund. Die weitaus große Mehrheit derjenigen, die 
das Wildbad aufjuchen, umfchließt ein gemeinfames Band: das 
Band der. Krankheit. Mag das Leiden bei dem einfachen Be- 
amten, der da mühlam am Stode fich fortbewegt, weiter vor- 
geichritten jein ala bei dem ordengejchmüdten Staat3penfionär, 
der noch verhältnismäßig elaftiich an ihm vorüberjchreitet, 
diefen wie jenen hat der gleiche Grund nach Gaſtein geführt, 
und dieſe Gemeinſamkeit des Leidens veranlaßt naturgemäß 
eher, als es jonjt der Fall zu jein pflegt, zur Ausſprache, zu 
teilnehmenden Fragen und freundlichen Troſtesworten. 

Das Wildbad Gaſtein blickt auf eine lange Geſchichte 
zurück. Im Jahre 680 nämlich ſollen in dem damals noch 
ganz im Urzuſtande befindlichen Hochgebirge, das Herzog 
Theodor von Bayern dem erſten Biſchof von Salzburg, dem 
heiligen Rupertus, geſchenkt hatte und das zur Stadt Juvavia 
gehörte, drei Jäger von Goldegg einen Hirſch angeſchoſſen 
haben, bei deſſen Verfolgung ſie, wie die Sage erzählt, zuerſt 
ins Gaſteiner Thal eingedrungen ſeien. Hier hätten fie den 
Hirſch gefunden, wie er an der Quelle jeine Wunde badete. Es 
ſoll dies die Stelle gewejen fein, wo jet die Hauptquelle ihren 
Ausflug Hat, und der Name Wildbad mag ebenjo von dem 
„Bade des Wildes” al3 von der wilden oder vielmehr wild— 
ſchönen Gegend abgeleitet worden jein. 

Wenn aber die Sage auch) die Entdedung der Heilquelle 
erit an das Ende des fiebenten Sahrhundert3 unjerer Zeit— 
rechnung verlegt, befannt war das Gaſteiner Thal bereits be- 
deutend früher. Denn es fteht hiſtoriſch feit, daß fchon die 
Nömer dort ausgedehnte Bergwerfe angelegt hatten, um nad) 
Gold und Silber zu graben. Dieſe von ihnen verlafjenen 
Bauten wurden von 790 an von den Erzbiichöfen wieder fort- 
gejegt. Aber troß des regen Lebens, das fich nun entiwidelte, 
bejchränfte jich diejes mehr auf den Bergbau und Handel, ala 
auf den Bejuch der Heilquellen, da der Zugang bei den meilt 
höchſt gefährlichen, Schmalen Wegen nur auf Saumtieren mög- 
lich war. Das Wildbad beitand damals nur aus vier oder 


Wildbad Sajtein. | 2857 


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Wildbad_Bajtein < Der obere Woafjerfall der Ache. 


fünf elenden Hütten mit Heinen Verfchlägen als Bäder, die man 
in jenen Beiten nur gegen Wunden und Gejchwüre brauchte. 


2858 Wolfgang Engel, Wildbad Baftein. 





Erſt ala im Jahre 1436 Erzherzog Friedrich III. mit 
zahlreichem Gefolge das Wildbad aufjuchte und wegen einer 
Schenfelwunde fieben Wochen lang dort badete, wurde die Auf- 
merkſamkeit mehr auf diejes jelbjt gelentt. Die Wege wurden 
verbefjert, die Badeeinrichtungen erweitert, jo daß einem zahl- 
reicheren Bejuche der Quelle nicht3 mehr entgegenftand. Und 
diefer Beſuch ließ nicht auf ich warten. Während der Gold- 
und Silberbergbau, wie der Handel mit Stalien und Deutich- 
land ihre Blütezeit erreichten, wurde das Wildbad von zahl- 
reihen Kranken aus den höchiten wie aus den niederften Ständen 
aufgejucht, und immer weiter verbreitete ſich der Ruf des 
legenipendenden Waſſers. In jene Periode fällt die Gründung 
des Armenbadipital3 durch den reichen Wechsler Strochner in 
Salzburg und eines Gaſthofes durch einen gewiſſen Straubinger, 
deſſen Nachkommen noch heute die Beſitzer des „Straubinger 
Hotels“ find. 

Um die Mitte des jechzehnten Sahrhundert3 aber begann 
eine trübe Zeit für das Wildbad. Das Thal wurde durd) ein 
ſchweres Erdbeben Heimgejucht, und diefem elementaren Natur- 
ereignis folgten Feuersbrünfte, verheerende Ueberfchwemmungen 
und Seuchen. Der Bergbau und der einft jo lebhafte Handel 
ſchritten unaufhaltiam dem Berfall entgegen, doch auf die Ent 
widelung des Badeortes hatten die mannigfachen Unglüdsfälle- 
auf die Dauer feinen Einfluß. Schon im Jahre 1753 war 
der Fremdenftrom, der ſich nah Wildbad Gaftein ergoß, To 
gewaltig, daß man ſich zur Anlage eines Filialfurortes ent- 
Schließen mußte. Herrliche Kunſtſtraßen wurden angelegt, und 
an die Stelle der hölzernen Hütten traten die erjten Häufer 
von Stein. Auch die Begründung einer eigenartigen Chronik 
von Bad Gaftein fällt in dieje Zeitperiode. Sie wird ſeit dem 
Sahre 1680 von den Kurgäſten ſelbſt gejchrieben und iſt nieder- 
gelegt in den noch von jenem Jahre an im Pfarrhaufe auf- 
bewahrten „Ehrungsbüchern”. Diefe Chronif wird bis zum 
heutigen Tage fortgejebt und iſt ſchon aus dem Grunde von 
hohem Intereſſe, weil man darin in allen Sprachen, in Poeſie 
und PBroja, die individuellen Eindrüde der Badegäſte aus— 
gejprochen findet. 

Viele diejer Inſchriften preijen die wunderthätige Heilkraft 


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Der Klamm:Paß. 


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Zandjichaftsbild aus der Umgebung von Wildbad Bajtein 


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2860 Wolfgang Engel. 





der Quellen, deren man heutzutage jechzehn zählt. Bon ihnen 
werden die Fürſten-, die Doktors-, die Kaiſer-Franzens-, die 
Spital- und die Grabenbäderquelle am meijten benußt. Sämtliche 
Quellen ſcheinen einen gemeinjchaftlihen Urſprung im Geſtein 
des 2491 Meter hohen Graufogel3 zu haben, an deſſen Fuße, 
1012 Meter über dem Meeresipiegel, das Wildbad liegt. Die 
Quellen haben eine Temperatur von 45 bis 47° C. und geben 
zujammen täglich gegen 43000 Heftoliter Wafjer, das, in Form ° 
von Bädern angewendet, ungemein belebend und anregend auf 


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Das Badeichloß ii. Wildbad Saftein, 
regelmäßiger Aufenthaltzort des verjtorbenen Kaiſers Wilhelm I 


das Nerven, Gefäß- und Muskelſyſtem wirt. Man benußt eg 
bei Nervenfrankheiten, bei gichtiichen und rheumatiſchen Leiden, 
bei chronischen Hautkrankheiten, bei Folgen von Berwundungen 
und anderen Leiden. | 

Die Art all diefer Krankheiten bedingt es, daß in Bezug 
auf gejellichaftliche Zerjtreuungen ſoviel al3 möglich Maß gehalten 
wird. Immerhin Jorgt die Badeverwaltung mit anerfennenswertem 
Eifer für die Unterhaltung der Kurgäſte. Al eine bejondere 
Sehenswürdigkeit gilt mit Recht die eleftrijche Beleuchtung des 
großartigen Wafjerfalles. der Ache, die während der Saiſon jeden 
Mittwoch und Sonntag nad) eingetretener Dunkelheit und bei 
halbwegs günjtigem Wetter jtattfindet. 


Wildbad Bajtein. | 2861 





Diefer Wafjerfall bildet die vornehmlichite Schönheit des 
an Naturichönheiten reichen Wildbades. Aus wilden Schluchten, 
umjäumt von reichen Fichtenwaldungen, bricht die Ache hervor, 


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Wildbad Baftein: Denkmal Kaifer Wilhelms T, 


um ſich fofort in zwei mächtigen Fällen, deren oberer 63 Meter 
hoch it, während der untere gar eine Höhe von 85 Metern 
erreicht, ind Thal herabzuftürzen. In ununterbrochenem Tofen, 
Schäumen und Ziichen ftreut der Doppelfall den Wafjerjtaub 
umher, der durch hölzerne Schußwände von den tiefer gelegenen 


2862 Wolfgang Engel. 





Häujern abgehalten wird. Den prächtigiten Anblid des oberen 
alles gewinnt man von der Reichsſtraßenbrücke, den des unteren 
bon einer Terrajje beim Unterfrämer. 

Den Hauptjammelplag der Gaſteiner Badewelt bildet der 
Straubingerplaß, zwilchen dem Hotel Straubinger und dem dem 
Kaiſer von Oeſterreich gehörigen Badeichloß. Lebteres murde 
1794 vom Erzbiihof Hieronymus von Salzburg erbaut und 
diente alljährlich Kailer Wilhelm I. zum Wohnfiß. Unweit des 
Straubingerplaßed, auf dem die Kurfapelle zweimal täglich 
fonzertiert, beginnt die prächtige, mit dem Denkmal Kaiſer Wilhelms I. 
gejchmücte Kaiſerpromenade, die in das ſchöne Kötſchachthal führt. 
Vielleiht noch lohnender aber ift ein Spaziergang auf der 
Poſtſtraße nach) Hof-Gaftein, an der Wandelbahn, dem Kurkaſino 
und einer Reihe von Villen vorüber, deren helle Türmchen und 
Giebel freundlich aus dem dunklen Nadelgrün hervorlugen und 
faft durchweg einen herrlichen Ausblid gewähren. Unter ihnen 
it architeftonijch von bejonderem Reiz die dem Grafen Lehndorf 
gehörige Solitude, in deren Nähe Jich die Heine proteftantijche 
Kirche, Eigentum des Deutjchen Kaiſers, befindet. Hier beginnen 
zur Rechten der Poſtſtraße die Schwarzenbergjchen Anlagen, 
die fich anderthalb Kilometer weit bis zu dem außgfichtreichen 
König Otto-DBelvedere hinziehen. Auch die Pyrferhöhe, dem 
Andenken des im Jahre 1847 verfiorbenen Erzbiſchofs Ladislaus 
Pyrker von Erlau gewidmet, gewährt eine prächtige Ausficht. 
Nicht weit davon befindet fi) ein Echo, welches das Brauſen 
der Ache trefflich wiedergiebt. 

Bon den weiteren Ausflügen darf man den in das zwei 
und eine halbe Stunde entfernte Naßfeld als eine der ſchönſten 
und lohnenditen Bartien des Gafteiner Thals bezeichnen. Die 
Heine Ortjchaft liegt in einem eine Stunde langen, von drei 
Bächen, die vereint die Ache bilden, durchfloffenen Thal und 
it rings don riefigen, vielfach vergletjcherten Bergen ein— 
geſchloſſen. Das Thal Hat echten Hochgebirgscharafter. Bon 
befonderem Intereſſe ift auf dem Wege nach Naßfeld der jo- 
genannte „Aufzug“. Es war dies eine jäh aufiteigende, 530 Meter 
lange, hölzerne Schienenbahn, auf der ein fünfzehn Meter hohes 
Waflerrad einen Rollwagen zur Beförderung der Bergfnappen 
und Erze in wenigen Minuten zum Knappenhaus hinaufzog. 


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Wildbad Baftein. 2863 
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Die unübertrefflichen Thermalquellen Gaſteins mit ihrem 
ſeltenen Waſſerreichtum und ihrer Heilkraft, die wundervolle 


Kurlafino und Wandelbahn in Wildbad Gaſtein. 


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Lage inmitten der erhabenen Bergwelt, die Pracht der Alpen- 
flora und der Reiz der gejchichtlichen Erinnerungen bilden ver- 
eint die Anziehungsmittel, die von Jahr zu Jahr mehr Fremde 


2864 Wolfgang Engel, Wildbad Baftein. 





nach dem Gajteiner Thale führen. Die Bejuchsziffer hat ſich 
in den lebten jechzig Jahren verzehnfacht; im Sahre 1842 be- 
trug ſie 857, während fie im vorigen Jahre auf 8725 geitiegen 
war. Entiprechend diefem Anjchwellen der Fremdenzahl hat 
lich) naturgemäß auch das äußere Bild des Wildbades verändert. 
Modern gebaute Billen tauchen überall aus dem Grün der 
Tannen und Fichten hervor, reizvolle Anlagen, in denen fich 
Natur und Kunft gejchwilterlich die Hand reichen, jchmüden 
die bequem hergerichteten Bromenaden, und die Baderäume find 
mit allen Erfordernifjen der neueren Hygiene ausgeitattet. So 
reiht fich Wildbad Gaftein würdig den bejuchteiten Kur- und 
Badeorten an, unter denen e3 durch feine landichaftliche Schön- 
heit und durch die Heilkraft feiner Duellen einen der erjten 
Plätze einnimmt. Kein Wunder, daß mancher Badegait, der 
alljährlich nach Gaftein zu gehen genötigt iſt, ven Wunſch hat, 
dort ein eigenes Befigtum zu erweben. Durch die räumlichen 
Berhältniffe und die gebirgige Umgebung des Wildbades find 
jedoch der vermehrten Anfiedelung natürliche Grenzen gezogen. 








Der lebte Beſuch. 


Don Iuhannes Bernhard. 





F * (Vachdruck verboten.) 


3 war eine prachtvolle September-Nacht. Die Luft 
war Har, und jo hell leuchteten die Strahlen des 
Mondes, daß man jelbit die entfernteften Gegenftände 
jo deutlich wie bei Tage fah. Als ich aus einem der 
Fenſter meines Heinen, etwa eine Stunde von Newyork ent- 
fernten Landſitzes fchaute, ergriff mich ein außerordentliches Wohl— 
behagen bei dem Gedanken, daß ich hier draußen, fern von dem 
Dunft und der Hite der Großitadt, weilen und den herrlichen 
Abend in ftiller, ländlicher Ruhe verleben durfte. 

Ich hatte meinen beiden Kleinen gute Nacht gewünjcht, 
und eine Stunde fpäter hatte auch meine Frau fich zur Ruhe 
begeben. Die Nacht war jo mild und die Landichaft jo zauber- 
haft jchön, daß ic) mir einen Stuhl herausholte, eine Cigarre 
anzündete und. mich feßte, um bier auf der Terraſſe die köſt— 
liche Luft und das gligernde Monpdlicht zu genießen. Plößlich 
blieben ‘meine Gedanken bei meinem teueriten Sugendfreund 
Sad Wilton hängen. As wir das Gymnafium verließen, 
- hatten wir beide, Sad und ich, uns ewige Freundichaft geſchworen. 
Das Schickſal hatte ung dann getrennt, und in den folgenden 

SU. Baus:Bibl. II, Band XII. 180 





2866 Johannes Bernhard. 





Sahren jahen wir una nur felten. Daß meine Gedanken in 
diefer ungewöhnlichen Stunde bei Sad weilten, kann ich mir 
nur dadurch erklären, daß mein Blid über die Wiefen vor mir 
auf eine Anhöhe fiel, auf der Sad und ich uns in früheren 
Sahren oft genug im Mondjchein getummelt hatten. 

Wir ftammten beide aus demfelben Orte. Später befuchten 
wir gemeinſchaftlich das Gymnaſium, und dann ging e3 
in die weite Welt hinaus. Beide hatten wir von Haufe aus 
Geld, doch war das Bermögen meines Freundes erheblich 
größer al3 meines. Fünf Jahre vor der Nacht, von der ih 
Ipreche, kurz vor meiner Hochzeit, ging Jad nach Europa. 
Er war Sunggejelle und durchitreifte ſchon ſeit Sahren den 
ganzen Erdball. Heute war er hier, morgen dort. Gelegent— 
Yich fchrieb er mir auch, und von Zeit zu Zeit hörte ich von 
dem einen oder anderen heimfehrenden Touriſten, daß er fich 
in London oder Paris, in Rußland oder Stodholm aufhalte. 
Stet3 lauteten die Nachrichten gut. Jack genoß fein Leben 
und feine Freiheit. 

Plöglich, während ich jo träumend da jaß, hörte ich daS 
Iharfe Zujchlagen der Gartenthür und jah einen Mann fich 
dur) den Garten dem Haufe nähern. Indeſſen Hatte Die 
Geſtalt etwas eigenartig Unbeftimmtes, obgleich fie vom Mond- 
licht hell beleuchtet war. Sch muß geitehen, daß ich bei diejem 
blisfchnellen Auftauchen einer menjchliden Erjcheinung ſtutzig 
wurde. Die Landitraße, die allein zu meinem Beſitz führte, 
lag auf weite Entfernung Ear und deutlich vor mir, und id) 
hatte auf ihr niemanden kommen jehen. Sch hatte das Gefühl, 
al3 habe fich die Gejtalt eben au8 dem Erdboden erhoben, jo : 
plöglic) war fie da. Als fie ſich aber näherte, erkannte ich in ' 
ihr Jack Wilton. Sch fuhr aus meinem Seſſel auf, fprang die 
Treppe hinab und ergriff, freudig bewegt, feine Hand. 

„Hallo, Sad, alter unge!“ rief ich, „wie merkwürdig! 
Soeben dachte ich noch an dich!“ 

„Lieber, alter Freund,“ ſagte er, und feine Stimme Hang 
jo Hohl, als fäme fie aus dem Grabe, „es war fehr liebens— 
würdig don Dir, daß du deine Gedanken bei mix weilen ließeſt.“ 

Sad machte einen müden Eindrud. Sein Antlit war - 
geipenjterhaft bleih. Seine Hand war falt und fteif, ein matter, 


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Der lebte Befuch. | 2867 
| 
toter Bli lag in feinen Augen, und feine Lippen zudten nervös. 
Indeſſen achtete ich nicht jo jehr darauf. Das Wiederjehen mit 
dem alten Freunde machte mid) jo glücklich, daß ich auf derartige 
Kleinigkeiten in dieſem Augenblid Fein Gewicht legte. 

„Komm, alter Zunge,“ jagte ich, „jeb’ dich ımd mad)’ e8 
dir bequem. Das nenne id) eine Weberrafchung! Eben noch) 
wähne ich dich Hunderte von Meilen entfernt, und jegt ſtehſt du 
dor mir!“ 

Ich rüdte einen Stuhl an den meinen, und Sad ſank mit 
einem tiefen Seufzer darauf nieder, al3 ich ſagte: „Du halt 
heute wohl jchon einen tüchtigen Weg gemacht.” 

„Ja,“ antwortete er matt. „Ich habe ſeit heute morgen 
ſchon eine große Reiſe gemacht," und die müden, glanzlofen 
Augen wandten ſich mir zu, während ein eigenartige, beinahe 
liitige8 Lächeln über fein bleiches Antlib 300. 

„Du kommſt von Newyork?“ fragte id). 

„Biel weiter her,“ entgegnete er, während er jeine müden 
Augen auf mir ruhen ließ. „sch komme von London.“ 

Seine jonderbare Antwort ergriff mich eigenartig, aber doch 
nicht jo jehr, al fein ununterbrochenes fremdes Starren. Dann 
fiel mir ein, daß er, der Weitgereijte, nich meiner etwas Elein= 
lichen Neugierde wegen wohl aufziehen wollte ch antwortete - 
denn auch jcherzend: „Das ift allerdings eine großartige Leijtung, 
die dir jo leicht fein anderer nachmachen wird.“ 

&3 So faßen mir etwa eine Stunde bei einander, die Koſten 
der Unterhaltung bejtritt ich indeſſen faſt allein. Sad beantwortete 
. nur einige wenige Fragen, und dies gejchah mit leijer, dumpfer 
- Stimme. Ich hatte das Gefühl, al3 kämpfe er mit einem großen, 

ſeeliſchen Schmerz. Während unjerer Unterhaltung Jah ic) James, 
mein Faktotum, der jeitwärtd an der Ede des Hauſes ſtand und 
mir zuwinkte. 

„Entſchuldige mich für einen Augenblid, Sad,“ fagte ich, 
„mein Verwalter jcheint etwas auf dem Herzen zu haben.“ 

Ich ging zu James hinüber und fragte ihn nach ſeinem Begehr. 

„Entihuldigen Sie, Sir,” erwiderte er, „daß ich Sie in 
Ihrer Unterhaltung ſtöre. Die braune Stute hat ein Eijen 
verloren, weshalb ich fragen wollte, ob ic) morgen mit ihr ins 
Dorf reiten und fie beichlagen laſſen joll.“ 

180* 





2868 Johannes Bernhard, 








„Kein, ich werde fie morgen jelbit hinüberbringen. Ich 
habe die Stute lange nicht geritten und muß im Dorfe auch 
nod) einige Gejchäfte bejorgen.“ 

„Sehr wohl,“ entgegnete James und entjchuldigte fich noch— 
mals, daß er mein Gejpräd mit dem Herrn oben auf der Ter- 
raſſe unterbrochen habe. Dann wünſchte er mir eine gute Nacht, 
itecfte jeine Pfeife wieder in den Mund und verjchwand in der 
Richtung nach dem Stalle. Als ich wieder auf meinen Plab 
zurückkehrte, erſchrack ich noch mehr als vorher über die auf— 
fallende Bläſſe in Jacks Antlitz. 

„Komm' jetzt, alter Freund,“ ſagte ich, „du biſt abgeſpannt. 
Ich will dich auf dein Zimmer bringen. Schlaf' nur ordentlich 
aus, und morgen werde ich dir Gelegenheit geben, deine Lungen 
zu ſtählen und dich der friſchen, kräftigen Landluft zu erfreuen. 
Ich wette darauf, daß du ſchön ſchlafen wirſt.“ 

„Ja,“ erwiderte mein Freund in müdem Ton und mit einem 
eigenartigen Klang in der Stimme. „Ich werde ſchön ſchlafen.“ 

Wir betraten den Flur, und ich leuchtete ihm mit einer 
Lampe, die ich vom Tiſche nahm, die Treppe hinauf. Auf halbem 
Wege machte ich plötzlich Halt. Es fiel mir auf, daß ich ſeine 
Schritte nicht hörte, obgleich er unmittelbar hinter mir ging. 

„Dies iſt unſer Fremdenzimmer,“ ſagte ich, als wir oben 
waren. „Es iſt allerdings nur ein beſcheidenes Stübchen. Sind 
wir erſt wieder in der Stadt, und du beſuchſt mich dann, ſo 
werden wir dir ein beſſeres Quartier geben.“ 

Als er neben mir ſtand, bemerkte ich, daß die Lampe, die 
ich in der Hand hielt, unſere beiden Schatten auf die Jalouſie 
warf. Der meinige war voll und kräftig, während Jacks 
Schatten einer ſchwachen, unklaren Kopie glich. Es war in der 
That ſonderbar. 

„Gute Nacht, Jack,“ ſagte ich zum Abſchied, „und bevor du 
einſchläfſt, vergiß nicht, das Licht auszumachen. Morgen früh 
ſehen wir uns wieder.“ 

Er richtete ſeine glanzloſen Augen auf mich, und das fremde 
Lächeln zog wieder über ſeine bleichen Züge. Als ich ihn verließ, 
fühlte ich eine gewiſſe Erleichterung. Denn der Blick hatte 
mich faſt ängſtlich gemacht. Als ich unſer Schlafzimmer betrat, 
fand ich meine Frau noch wachend vor. 


Der lebte Beſuch. 2869 


REITS 





„Mit wen unterhielteft du dic) auf der Terrafje?“ fragte 
fie. „War e3 einer unjerer Nachbaren? Ich gab mir alle 
Mühe, eurer Unterhaltung zu folgen. Der Mann fprad) aber 
jo undeutlich, daß ich feines feiner Worte verftand.“ 

Mit einem Lächeln über ihre Neugierde antwortete ich: 
„Kein, es war fein Nachbar. Sch habe eine Ueberraſchung für 
dich, Beſſie. Rate, wer ed wur!” 

Sie nannte die Namen einer Reihe meiner Freunde, die 
häufig aus der Stadt zum Beſuch herausfamen, doch traf fie 
natürlich nicht den richtigen. 

„Erinnerſt du dich, daß ich dir öfters bon meinem beiten 
Ssugendfreunde Jack Wilton erzählte?“ 

„Jawohl, aber er kann doch unmöglich hier fein. Du 
ſagteſt mir wenigſtens, daß er in London lebe.“ 

„ein, er ijt nicht in London, er it für dieſe Nacht unjer 
Saft,“ antwortete ich), „und morgen wird er das unbezahlbare 
Glück haben, Dich, mein ‚Liebling, kennen zu lernen.“ 

„Wenn er hier ift, muß ich morgen früh aufitehen und 
nad) dem Rechten jehen. Auf Hannah fann id) mich nicht ver- 
lafjen. Sie ijt zu unbeholfen.“ 

Während Beſſie gleich einjchlief, Tag ich noch lange wach. 
Ein eigenartige Gefühl Hatte fich meiner bemächtigt. Als ich 
meine Augen Ichloß, Jah ich Jacks bleiches Antlitz und glanzlofe 
Augen unaufhörlih vor mir. Der Morgen graute fehon, als ich 
die Augenlider ſchloß, und auch diefer Schlaf war nicht er- 
quidend; denn fortwährend träumte ic) von Geiltern und 
Gräbern. 

Als ich aufmwachte, fand ich, daß Beſſie bereit3 das Schlaf- 
zimmer verlafjen hatte. Ich Heidete mich jchnell an und wollte 
mich gerade nach unten begeben, als Bellie mit einer Zeitung 
in der Hand eintrat. 

„Das war ein recht jchlechter Wi von dir, Will,“ jagte . 
ſie mit einem Ton, den ich bis dahin bei ihr noch nie gehört Hatte. 

„Welchen Wit meinst du?” fragte ich verwundert. 

„Du erzählteit mir doch, das Jack Wilton hier fei. Armer 
Menſch, hätteſt du von dem Unglüdf gewußt, daß den Aermſten 
betroffen Hat, jo hättejt du nicht noch er jeine Koften Wibe 
gemacht.” 


2870 | Johannes Bernhard. 








„Welches Unglück?“ Ich fragte ärgerlich, mit einer eigen- 
artigen Erregung in meinem Herzen. u. 

„Dein Freund Sad ift geitern in London von einer Droſchke us 
überfahren und jo ſchwer verlegt. worden, daß er nach einer 
Stunde gejtorben it.“ . 

„Aber das iſt ja Unfinn, Beifie! Sad iſt hier. Er kam 
geitern abend an. Haft du mic) nicht ſelbſt mit ihm draußen 
iprechen hören?“ 

„a, aber Will! Sieh’ doch die Morgenausgabe, die James 
ſoeben von der Bahn geholt hat. Sie bringt die telegraphijche 
Mitteilung des Unglüdsfalles.“ | 

Sch ergriff das Blatt. Richtig, fie enthielt einen tele- 
graphifchen Bericht aus London über den Unglüdsfall, der dem 
Mr. John Wilton aus Newyork zugeltoßen war. Er war 
überfahren worden und eine Stunde fpäter im Kräanfenhaug 
gejtorben. 

„Zweifelsohne ist es eine Verwechſelung,“ rief ich in meiner 
Erregung. „Es kann unmöglich mein Sad fein. Er ſchläft 
noch ganz ruhig oben im Fremdenzimmer.“ 

Beſſie blickte mich aber erjtaunt an und jagte: 

„Ich verjtehe dich nicht, Will, wie du den Scherz jebt noch 
weiter treiben Fannit.”“ 

Sch wollte nicht mehr hören. In der äußerften Erregung 
eilte ich durch den Flur und ſprang die Treppe hinauf. Auf 
mein Klopfen erhielt ‚ich feine Antwort. Da, zum erſten Male - 
in meinem Leben, padte mich das unbegreifliche Gefühl, das 
im Augenblid eines tödlichen Schreden3 den Menjchen befallen 
fann. Sch wollte Jack rufen, meine Stimme verjagte aber 
ihren Dienft. Endlich Hatte ich meine Bejinnung wieder er- 
langt. Entichlofjen öffnete ich die Thür und trat ein. Zu 
meinem größten Erjtaunen ſah ich nicht3 von meinem Freunde. 
Sa, jogar das Bett var unberührt. 

Ich ſtand wie veriteinert da. Hatte ich geſtern abend ge— 
träumt? Sicher hatte ich es gethan. Denn von Jack war 
keine Spur zu finden. Und doch konnte ich nicht geträumt 
haben. Denn auf dem Tiſche ſtand die Lampe, die ich mit 
hinauf genommen hatte, mit niedergeſchrobenem Docht, ſodaß 
das Licht vorſichtig ausgemacht worden war. Wie ſollte ich 





_ —— — — Dumm. ae. = — 


Der lebte Beſuch. 2871 





dies erflären? Hatte ich mich, ohne e3 zu ahnen, in der Gejell- 
Ihaft eines Geijtes, eines Etwas befunden, deſſen Dafein ich 
früher ſtets beitritten hatte? 

Sch erzählte meiner Frau ausführlich, was ich am vorher- 
gehenden Abend erlebt hatte, und fie war im höchſten Grade 
beitürzt. 

„Es unterliegt feinem Zweifel, daß ich Sad gejtern ge— 
jehen babe,” erklärte ich feſt. „Wir haben uns etwa eine 
Stunde miteinander unterhalten, und du Haft ja auch. jelbit 
jeine Stimme gehört.“ 
| „a, ich habe geitern abend zwei Stimmen gehört. Deine 

und die Stimme eines Fremden, deren Töne ungewöhnlich dumpf 
Hangen,“ war Bellie Antwort. 

„Dann habe ich alfo nicht geträumt. War Jack Wiltonz 
Geiſt hier? Bah, an dergleiden glaube ich nicht. Nein, Sad 
war e3 in eigener Perſon. — Nun, was giebt’3?" fragte ich 
Sames, der gerade das Speijezimmer betrat. 

„Ein Telegramm, Sir.” 

Sch öffnete es eilig mit einem leichten Gefühl von Be- 
Hemmung. Der inhalt lautete: 

„Bruder Sad gejtern in London infolge eines Unglüds- 
falle gejtorben. Mutter verzweifelt. Kommen Sie bald- 
möglichſt zu una in die Stadt. Henry Wilton.“ 

Raum hatte ich das Telegramm gelejen, als ich, der ſtarke, 
fräftige Mann, plöglich wie ein Taſchenmeſſer zufammenflappte. 
ALS ich wieder zur Befinnung fam, lag ih im Wohnzimmer 
lang hingeſtreckt auf der Chaijelongue. James hatte mich mit 
Beſſies Hilfe dorthin getragen. 

„James,“ jagte ich, als ich wieder Herr meiner Sprache 
war, „haben Sie mich gejtern abend in Gejellichaft eines Fremden 
auf der Terraſſe fiten ſehen?“ 

„Jawohl, Herr, ich habe noch um Entjchuldigung gebeten, 
weil ich die Unterhaltung ftörte.” 

„Sie find aljo Ihrer Sache ficher, daß Sie dort jemanden 
gejehen haben?“ 

„Eine bejtimmte Erklärung fann ich darauf nicht abgeben. 
Ich ſah die Perſon nicht deutlich. Sch Jah nur den Schatten. 
Der Mond ftand Hoch. Sch bin nicht neugierig, Herr, und 


2872 Johannes Bernhard, Der lebte Befuch. 





habe mich deshalb um den Fremden nicht befümmert. Ihre 
beiden Schatten ſah ich aber auf dem Fußboden der Terroffe . 

„Haben Sie den Mann jprechen hören?“ 

„Ja, Herr, und welch eigenartige Stimme er hatte. Sie 
fang jo merkwürdig hohl.” 

„Wo waren Sie, al3 wir uns ins Haus begaben?“ 

„SH war noch im Garten und rauchte meine Pfeife. Sch 
hörte, wie Sie die Thür ſchloſſen, und furz darauf fah ich auf 
der Jalouſie des Fremdenzimmer Ihre beiden Schatten, oder, 
um ganz ftreng bei der Wahrheit zu bleiben, einen und einen 
halben.” 

„Einen und einen halben! Was heißt das?“ 

„Ich meinte damit, daß ich Ihren Schatten klar ſah, der 
andere aber nicht ſo deutlich war. Er war transparentartig, 
ſodaß ich ihn nicht für voll rechnen kann.“ 

„Danke, James,“ ſagte ich und entließ ihn. Kopfſchüttelnd 
ging er davon. Er war ſich nicht darüber klar, was das Verhör 
bezwecken ſollte. 

Jetzt drängt ſich mir ſo oft die Frage auf: Wie läßt ſich 
dieſe eigenartige Erſcheinung erklären? Ich denke oft daran, 
daß das Ganze wohl ein Traum war. War dies der Fall, 
ſo war die Löſung ja da. Wie kann man aber ſo lebhaft 
träumen und noch am nächſten Morgen von dem Geträumten 
einen ſo packenden Eindruck haben? 

Aber auch die Traumtheorie zerfällt in ein Nichts, wenn 
man in Betracht zieht, daß auch meine Frau zwei Stimmen 
gehört hat. Unmöglich konnte fie und ich ganz dasjelbe ge— 
träumt haben. Und außer ihr hatte auch James die Stimme 
gehört und James hatte ferner mich mit einer Perſon auf der 
Terrafje fißen oder vielmehr unjere Schatten gejehen. Diejelben 
Schatten jah er jpäter auf der Saloufie des Fremdenzimmers 
wieder, beide verfchieden, meinen Schatten deutlich und Fräftig, 
den anderen durchfichtig und verjchivommen. Ferner war Die 
Lampe, die noch brannte, als ich das Fremdenzimmer verließ, 
lorgfältig ausgedreht. Das war eine unumftößliche Thatjache. 
E3 giebt aljo feine andere Erklärung. Sch muß an das Da- 
jein von Geiltern glauben und die fonderbare Erfcheinung als 
den leßten Beſuch meines Freundes auffallen. 


IBBBBBBBE 


Wie überwintert unſere heimatliche Tierwelt? 
Don Dr. Ronrad Erdmann. 

(Vachdruck verboten.) 

e nach der klimatiſchen Anpafjungsfähigfeit unjerer 
heimijchen Tierwelt ijt die Art ihrer Neberwinterung 
eine verjchiedene. Ein Teil unjerer gefiederten Freunde, 
jomweit fie zu den Zug- und Wandervögeln zählen, 
verläßt mit dem beginnenden Herbite die nordilche Heimat, um 
in jüdlicheren Zonen die Zeit zu überdanern, während daheim 
der grimme Winter fein Elirrendes Eisfcepter ſchwingt und ſeinen 
Flockenmantel ſchüttelt. Sie find ohne Frage am beiten daran, 
denn fie gehen einfach dem unangenehmen Herrn aus dem Wege 
und damit auch den Unbilden, die feine Gefolgſchaft bilden: 
Hunger und Kälte. 

Für den zurüchleibenden, minder glüdlichen Teil unferer 
heimilchen Tierwelt hat Mutter Natur in ziwiefacher Weile 
gejorgt: durch die weiſen Snititutionen des Winterfleides 
und des Winterjchlafes. Erftere kommt vorzüglich für unjere 
Bierfüßler in Betracht, während am Winterjchlaf auch Fiſche, 
Amphibien und Inſekten teilnehmen. Die Dame der vornehmen 
Sejellichaft, die mit dem beginnenden Winter ihre „Pelzrobe“ 
anlegt, thut jchließlich nicht8 anderes als unfere lieben Haus— 
tiere und ihre vierfüßigen Genoſſen in Wald und Flur, nur 
mit dem Unterjchiede, daß le&teren koſtenlos ihre Winterrobe 
von Mutter Natur auf den Leib geliefert wird. 









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E; - ee 





2874 Dr. Konrad"Erdmann. 








Bei unjeren Haustieren, bis herab auf Katze und Hund, 
fünnen wir dieſen ZToilettenmwechjel leicht beobachten. Mit Be- 
ginn der falten Jahreszeit bildet fich fait gleichzeitig mit dem 
Gallen der Blätter eine weiche Schicht dichten Flaumhaares 
am Grunde der gewöhnlichen Fellbedekung. Dieſe Neubildung 
geht oft jo weit, daß ihr das alte Haarkleid völlig weichen 

muß, wie das bei den meilten Arten unſeres heimijchen Wildes 
der Fall ift, jo daß damit unter Umjtänden ein gleichzeitiger 
Farbenwechſel des Felle8 verbunden if. Im Gegenſatz zur 
„Wintermode” unjerer Damenwelt, bevorzugt unjere heimijche 
Tierwelt ein heller gefärbtes Winterfleid und trägt im Sommer 
dunklere Farben, wie jedes Eichhörnchen und jedes Reh dies 
zeigt. Aehnlich dieſer alljährlichen „Haarung“ zeigen die bei 
‚uns überwinternden Vögel eine „Mauferung“, die auch nichts 
anderes als daS An- bezw. Ablegen des Winterfleides bedeutet. 

Eine innere Ergänzung findet diefer äußere Garderoben 
wechfel durch eine ebenjo finnreiche wie ziwecentiprechende Ein- 
vihtung der Natur: im jelben Maße nämlich, in dem die 
Dichtigfeit des Haarkleides mit der eintretenden fälteren Jahres— 
zeit zunimmt, verjtärken ji) die Fettgewebe des Tierlörpers - 
- und arbeiten damit dem Wärmeverluft entgegen. Herbeigeführt 
wird dieſe Ausdehnung der Fettichichten durch die nährende 
Herbitloft der Tiere, während mit Beginn des Frühjahr all- 
mählich die Fettgewebe wieder ſchwinden. 

Stellt der Wechſel von Sommer- und Winterkleid bei 
unſerer heimiſchen Tierwelt ſozuſagen einen „automatiſchen“, 
d. h. ſich von ſelbſt und ohne eigenes Zuthun vollziehenden 
Vorgang dar, ſo kommt andererſeits der ſelbſtthätige Inſtinkt 
des Tieres demſelben im Kampfe gegen die Winterkälte und 
ihre Gefahren zu Hilfe Eine ganze Anzahl von Feld- und 
Waldtieren baut ſich nämlich eine „Winterwohnung“, bezw. 
richten diefe Tiere ihre Sommerwohnung durch ziwedentiprechende 
Vorkehrungen zur Wintermohnung ein. Bor allem zeigt ſich 
dies in der „Innengarnitur“, die aus wärmendem Laub, Stroh, 
Haaren uſw. kunſtgerecht hHergejtellt wird. Der ganze Bau 
wird „gedichtet“, alle überflüffigen Zugänge, die der Kälte 
Einlaß bieten, werden mit großem Geſchick zugeitopft; das Eich- 
hörnchen geht ſogar fo weit, daß es die Deffnungen jeines 


LETTER TE 


Wie überwintert unjere heimatliche Tierwelt? 2875 





Baue je nach der Richtung des Windes fchließt oder öffnet. 
Andere Tiere, die wie Dachs und Hamſter in Erdbauen Haufen, 
vertiefen mit Beginn der älteren Jahreszeit ihren Kefjel und 
ziehen ſich in die tiefitgelegene Kammer zurüd und befolgen 
damit das alte Naturgejeß: je tiefer, "je wärmer. 

Eine weitere, durch den natürlichen Inſtinkt veranlaßte Vor— 
fehrung gegen die Unbilden des Winters befteht in der Beichaffung 
eined ausreichenden Wintervorrats an Nahrung. Vorbildlich 
in diefer Beziehung ift ja bekanntlich der Hamſter, jo vorbildlich, 
daß feine vorforgliche Thätigfeit in der hübſchen ſprichwörtlichen 
Wendung vom „Einhamftern”“ ſelbſt auf eine gemwifje Kategorie 
von Menjchen angewandt wird. E3 ift erjtaunlich, mit welch 
wirtichaftlichem Sinn dieſes Huge Tier Vorſorge für die lange 
Winterszeit trifft, die e3 in feinem Bau zuzubringen gezwungen 
iſt. Nicht wahllos trägt er feinen Winterproviant zujammen; 
nur die größten und ſchwerſten Getreideförner jammelt er und 
Ihichtet fie in feinem Bau, ſorgſam nach Arten geordnet, in 
einer Ertravorratäfammer auf. Durchichnittlich Hat man in ſolchen 
Dachsbauten einen Winterborrat an Rörnern von 30—35 Kilo— 
gramm gefunden, aljo über einen halben Centner Getreide! 

Am beiten freilich ind die zahlreichen Tiere daran, die 
in den jogenannten Winterjchlaf verfallen. Beim Heran- 
nahen der Falten Jahreszeit ziehen ſich unjere Winterjchläfer 
an frojtfreie nnd windgejchügte Orte, in Erdlöcher, hohle Bauın= 
ſtämme uſw. zurüd, um in einen ohnmachtartigen, dem Schein- 
tode ähnelnden Zuſtand zu verfallen, in dem fie gewöhnlich ver- 
harren, bis die linden Frühlingslüfte fie zu neuem Leben er- 
wecken. Dabei rollen jich diefe Tiere möglichjt eng zuſammen, 
um einen möglichit geringen Wärmeverluft zu erleiden. Die 
Bluttemperatur, die fi) nahe an den Grenzen der menschlichen, 
nämlich zwilchen 35 und 39 Grad Lelfius, bewegte, finft bis 
zu 12 Grad. Die Schnelligkeit des Herzichlage® und der 
Atemzüge nimmt in gleihem Maße ab, und mit diejen Trieb- 
fräften des tierifchen Lebens finfen alle andern Lebensbethäti— 
gungen auf ein Mindeftmaß, ohne jedoch gänzlich) aufzuhören. 
Die fonjt jo beweglichen Glieder werden jtarr und gefühllog; 
die Verdauung fommt zum Stillitand, und felbjtverjtändlic) 
geht damit auch das Bewußtſein verloren. 


2876 Dr. Konrad Erdmann. 








Bon den bei uns heimilchen Naubtieren Huldigt in erjter 
Linie der Dachs der Gepflogenheit der twinterlichen Ruhe. 
Der phlegmatiiche Meifter Grimbart zieht fich im Herbſt Fugel- 
rund in feinen tiefen, tweitverziveigten Bau zurüd, verjtopft 
ſämtliche Ausgänge, fo gut er kann, und bettet ſich an der 
tiefiten Stelle de8 Baues, dem Kefjel, wo jämtliche Ausgang3- 
röhren zujammenlaufen, zum Schlafe, in dem er mit über den 
Kopf geichlagenen Vorderpfoten durch mehrere Monate verhartt. 
Die Ruhe wird allenfall3 durch den Eintritt vorübergehenden 
Tauwetters unterbrochen, und dom Januar und Februar an 
fann man den nun bedenklich ſchlank gewordenen Gejellen häufig 
beobachten, iwie er an warmen Sommertagen emfig na) Wurzeln 
gräbt oder einem armjeligen Nagetier auflauert. 

In der nächitniederen Säugetierklafje der Inſektenfreſſer it 
e3 von einheimilchen Arten nur der Igel, der fich einer durch 
ihre ununterbrochene Sortdauer ausgezeichneten Winterruhe hin— 
giebt. Um fo zahlreicher find aber die Winterjchläfer in der 
Gattung der Nagetiere. Neben der weniger befannten Haſel— 
maus und dem Ziejel ilt es vor allem der Hamſter, der ſich 
in jeine wwohlverproviantierte Burg zurüdzieht, in der er, 
Ihmaufend von den gejammelten Worräten und nur in den 
fälteften Tagen jchlafend, das Frühjahr erwartet. Das Aeußerſte 
an Berichlafenheit leiten aber der Siebenjchläfer und jein 
Halbbruder, der Gartenjchläfer, die ebenjo wie der Hamſter 
wegen der langen Dauer ihres Winterjchlafe8 Vorratskammern 
anlegen, in denen ſie in der That meijtens fieben volle Monate, 
von Oftober bis Ende April, zumeilen von den Vorräten zehrenDd, 
meiſtens aber jchlafend verbringen. Als Dauerjchläfer reiht ich 
ihnen ebenbürtig an das Murmeltier, deſſen Schlafdauer auf 
den hochgelegenen Alpenbergen mindeiten3 ſechs Monate dauert, 
und bei dem die Blutwärme auf acht bis neun Grad Celſius 
herabſinkt. 

Als letzter Winterſchläfer unter den Säugetieren iſt noch 
die Fledermaus zu erwähnen. Sowie das kalte Wetter ein— 
ſetzt, ſind dieſe vom Volke mit Unrecht gehaßten und doch ſo 
nützlichen und harmloſen Tiere verſchwunden. Wir finden ſie 
dann, wenn wir einmal zu dieſer Jahreszeit in Höhlen, auf 
Böden, in Speichern, in Türmen einen Rundgang machen, in 


Wie überwintert unfere heimatliche Tierwelt? 2877 


V 





dieſen Räumen maſſenhaft vor, an den Zehen der Hinterfüße 
kopfabwärts aufgehängt, in vielfachen Reihen nebeneinander, ſich 
dergeſtalt gegenſeitig geger Wärmeverluſt ſchützend. 

Iſt unter den Säugetieren der Winterſchlaf immer nur eine 
auf kleinere Kreiſe beſchränkte Eigentümlichkeit, welche bei den 
Vögeln ſogar überhaupt nicht vorkommt, ſo iſt er bei allen 
wechſelwarmen und kaltblütigen Tieren, ſoweit fie der Winter- 
fälte ausgejeßt find, nahezu Regel. Hier ift er aber keineswegs 
eine Folge des Nahrungsmangel3 — denn dieje Tiere vermögen 
nach einer reihen Mahlzeit auch ohne Winterjchlaf wochen- und 
monatelang ohne neue Nahrungszufuhr in wachen Zuſtande zu 
leben —, jondern die lähmende Wirkung der Kälte auf die 
tieriichen Lebengerjcheinungen. . Wer einmal einige Zeit dem 
Noden der Baummurzeln im Winter zugejchaut hat, wird ge— 
jehen haben, wie ganze Neſter von Blindichleichen, NRingelnattern 
und Kreuzottern zum Vorſchein fommen, welche tief unten im 
Wurzeliverf, wohin der Froft nicht dringen fonnte, fich verborgen 
hatten, und die zahlreichen Prämien zum Beilpiel, welche die 
preußiſche Behörde alljährlich für erlegte Kreuzottern zahlt, be- 
ziehen fich zum großen Teil auf die bei der Rodung der Wurzel 
itöde im Winter gefundenen Exemplare, welche mitten im Winter- 
Ichlafe überrajcht wurden. 

Endlich wäre als Winterjchläfer noch ein großer Teil der 
heimischen Inſekten zu nennen, die teil als ausgewachſene Tiere, 
teil3 im Eier oder Yarvenzuftande zu überwintern pflegen. Die 
in irgend einem Verſteck (Baumlöchern, Erdhöhlungen, Mauer- 
rißen ujw.) übermwinternden Inſekten find im Erjtarrungszuftande 
völlig gefühl- und leblos, fo daß fie von einem toten Tiere ihrer 
Gattung faum zu unterjcheiden find. Zum Teil gefrieren jie 
geradezu, ohne indeſſen Schaden zu erleiden, wie dies Verjuche 
mit Raupen ergeben haben. Spinnen und Sruftentiere, twie die 
befannte Kellerafjel und der Taujendfuß überwintern meilt in 
jugendlichem aber außgebildetem Zujtande; die Arten der Witrmer, 
wie 3. B. der NRegenwurm, juchen ſich zur Webermwinterung 
tiefere Bodenihichten aus, die Egel den Schlamingrund der 
Tümpel und Teiche. Unter der Rinde von Bäumen überwintern 
zahlreiche Inſekten, beſonders Schmetterlinge im Eizuftande, 
während die Wafjerinjekten zum größten Teil als Larven den 


2878 | Dr. K. Erdmann. 





Winter durchmachen. Als verhältnismäßig wenig zahlreiche Aus- 
nahmen find die Schmetterlinge zu betrachten, die in völlig aus— 
gebildetem Zustande überwintern und‘ von den erſten wärmenden 
Strahlen der Frühlingsfonne zu neuem Leben geweckt werden. 
E3 find immer nur verjchwindend wenig Exemplare gegen die 
Menge derjenigen, die im Ei- oder Buppenzuftande den Winter 
durchmachen. Am nachteiligjten für die gefamte Schar der In— 
jeften find naßfalte Winter, in denen Froſt mit Näfje wechſelt. 
Auf fie find die müdenarmen Sommer zurüdzuführen, während 
die Kerbtiere gegen trocdene, gleichmäßige Kälte fich bemundern3- 
wert twiderjtandöfräftig zeigen. 

Wenig befannt dürfte es übrigens fein, daß fich zum tierischen 
Winterjchlaf gewiſſe Analogien in ähnlichen menjchlichen Schlaf- 
zuftänden aufweiſen laffen. Das ftatiftiiche Bureau des ruffiichen 
Gouvernements Pſkow, das an das Goudernement Peteröburg . 
und Nowgorod grenzt, macht diesbezüglich äußerft intereſſante 
Mitteilungen. Es wird von dieſer Seite darauf hingewieſen, 
daß der rujliihe Bauer in den Diftrikten, die dauernd unter 
Ihlechten Ernten und demzufolge unter Hungerdnöten leiden, e3 
veritanden hat, fich dem Hunger gleichſam anzupafjen, indem ex 
eine Qebensweije, man möchte jagen: eine Xebensfunft angenommen 
hat, die ſich ſonſt nur bei Tieren findet. Er macht nämlich einen 
rihtigen Winterjchlaf durch, der folgendermaßen bejchrieben wird: 
Sobald daS Haupt einer Familie am Ende des Herbites merkt, 
daß bei normalem Verbrauch der ©etreidevorrat nicht das 
fommende Jahr hindurch ausreichen werde, trifft es Anftalten, 
die tägliche Nation aller FSamilienmitglieder zu verringern. Er 
weiß nun aber aus Erfahrung, daß feine und der Seinen Ge— 
jundheit darunter leiden würde und fie namentlich durch den 
Hunger die für die Feldarbeiten im Frühling notwendigen Kräfte 
verlieren würden; Daher entjchließt er ſich mit feiner ganzen 
Familie zu einem Winterjchlaf, für den man dort einen bejonderen 
Namen, „Lejka“, erfunden hat und der darin beiteht, daß fich 
alle Leute des Hauſes 4 bis 5 Monate lang in der Nähe des 
Ofens hinlegen. Sich jeder Bewegung möglichjt zu enthalten, 
ift dann das oberſte Gebot. Man fteht nur auf, um die Hütte 
zu heizen oder ein Stück Schwarzbrot in Wafjer zu ejjen; man 
Jucht ſonſt jede Bewegung zu vermeiden und jo viel wie möglid) 


Wie überwintert unfere heimatliche Tierwelt? 2879 





zu Schlafen. Auf oder an ihrem Ofen in völliger Unbeweglichfeit 
ausgeſtreckt, vielleicht auc) nicht einmal denkend, vegetieren Die 
Menjcen den ganzen Winter hindurd) und leben nur der ein= 
zigen Sorge, jo wenig wie möglid) von der tieriichen Wärme 
zu verbrauchen. Jede unnötige Bewegung muß notwendigertveije 
dem Organismus Wärme entziehen, was ein Erwachen de3 
Appetit zur Folge haben und den Menjchen nötigen würde, 
dad Minimum jeined Brotverbrauchs zu überjchreiten, jo daß 
der Öetreidevorrat nicht bis zur nächjten Ernte ausreichen könnte, 
Der Inſtinkt rät den Menjchen daher, zu jchlafen und immer 
wieder zu ſchlafen. Dunfelheit und Stille herrichen in der 
Hütte, wo in den wärmſten Eden die Mitglieder der Familie 
ihren Winterjchlaf halten. Im Verlauf der vorjährigen Hungers- 
not hat die Preſſe mehrmals jolche Fälle berichtet, aber bis 
jebt wußte man nicht, daß die Lejfa Fein vorübergehender oder 
zufälliger Vorgang, jondern ein durch eine Reihe von Genera— 
tionen hindurch ausgearbeitetes Syſtem iſt, indem ſich Diele 
Bauern allmählich daran gewöhnt haben, die halben Nationen 
als Regel und die völlige Sättigung als ein unerreichbares 
‚ Speal zu betrachten. Der Hunger ift eine Unannehmlichkeit, 
der fie ſich mittelft eines Winterjchlafe8 anpafjen, genau wie 
dies bei unjeren tierischen Winterjchläfern der Fall ift. 








Hoffnunaslos. 
Theodor Kirdhner. 


Sf fprach zur fanften Nachtigall: 
„® laß dein Lied erklingen, 

Daß deiner Stimme füßer Schall 
Die £ieb’, die ich im Herzen nähr’, 
Mög’ in den Schlummer fingen!“ 
Sie aber fprah: „Es ift zu ſchwer!“ 


Zur Schwalbe fprach ich: „Döglein traut, 
Auf, brauche deine Schwingen! 

Es blüht am Nil ein föftlih Kraut, 

Das heilet alles Herzeleid, 

Das Kraut follft du mir bringen!” 

Sie aber fprah: „Es ift zu weit!” 


Da rief den Salfen ich herzu: 
„Du follft denn Arzt mir heißen! 
. Wit deinen Krallen mögeft du 
Die Kiebe, die nicht von mir geht, 
Mir aus dem Herzen reißen!” 

Er aber ſprach: „Es ift zu ſpät!“ 





— — — 
al. Era 





Königin Luife und die Küjterstochter. 
Don Buftav Walter. 


Ds achtzehnte Jahrhundert ging zur Neige. An einem herrlichen 
Frühlingstage des Jahres 17... rollte ein leichtes Gefährt, mit zwei 
mutigen Nappen beipannt, die „Zrankfurter Linden“ in Berlin hinab 
dem Thore zu. — In dem zurüdgejchlagenen Wagen jagen zwei Menfchen 
mit glücklich dreinichauenden Augen. 

Schnell ging die Fahrt. Kaum fonnten die Leute, die zur Geite 
des Weges gingen, es gewahr werden, wer an ihnen jo raſch vorüber- 
fuhr. Erkannten fie aber da3 Paar, dann blieben fie ehrerbietig ftehen, 
blictten ihm nad und grüßten mit freudeitrahlenden Mienen, eines 
buldvollen Gegengrußes gewiß. | 

Denn e3 waren der Kronprinz und die Kronprinzejfin von Preußen, 
die jo heiter und nur von einem Diener in einfacher Xivree begleitet, 
ihre Reſidenz verließen. 

Sie hatten ſich diefen fonnigen Frühlingstag ausgewählt, um wieder 
einmal eine jener Ausfahrten zu unternehmen, auf denen fie Land und 
Leute der Umgegend der Königsſtadt jo gerne aufſuchten. Diesmal 
galt es einen etwas weiteren Ausflug. | 

In einem weiten Bogen wollten fie das Schloß Köpenick erreichen, 
diejem einen Beſuch abjtatten, und dann längs den grünen Ufern der 
Spree in ihre Reſidenz zurüdfehren. 

Zu dem Zwecke waren ſchon tags zuvor Pferde vorausgeſchickt, 
die in einer der größeren Ortichaften das fürftlihe Baar erwarteten, 
danıit da3 Gejpann mit neuen Kräften die Fahrt fortjeßen könne. 

Jetzt lag das Thor hinter dem jugendlichen Paare, und die weite 
Ebene breitete fich vor feinen Bliden aus. Im veinjten Blau fpannte 
ih das Himmelsgewölbe über fie Hin und begrenzte den Horizont in 
Ihimmernden Duft. Steigende Lerchen über ihnen, jeder Buſch in 
Blüte, der Wohlgeruch der friichgefucchten Adererde — alles machte da3 
Herz der beiden fat zu voll und weit, und als ob fie fürchte, fih in 
dieſer Unendlichkeit zu verlieren, jchmiegte fich die junge Frau feiter an 
ihren Gatten. Ihr Schleier umfpielte jchmeichelnd jeine Wangen. 

„O mein Gemahl, welch ein Tag!“ jubelte e8 aus der Brujt der 
Prinzeſſin Luiſe. „Sieh’ nur, dies reine Blau! Auch nicht ein einziges 
Wölfchen zeigt ji) am ganzen Himmel.“ 

„So Kar und blau wie deine Augen, Geliebte,“ eriwiderte ihr Gatte, 
und feinem natürlichen Ernſte folgend, fügte er Hinzu: „Gott gebe, daß 
nie düftre Wolfen e3 trüben mögen! Läge es nur in meiner Madıt, 
dir alles Ungemach aus dem Wege zu räumen!” 

ZU. Baus-Bibl. II, Band ATI. 181 





2882 | Allerlei. 





IST 


„Und thuſt du das nicht? Du, der gütigjte und bejte der Menſchen!“ 
rief Luiſe aus und erfaßte feine Hand mit leifem Drude. 

„Still, tl!“ wehrte der Prinz. „Wir find alle nur Werkzeuge 
einer höheren Macht. — Aber ich ſehe ſchon die Kirchturmſpitze unſerer 
Station. Hoffentlich treffen wir dort alles in Ordnung.“ 

Nicht lange, ſo erreichte das Gefährt das große, ſtattliche Dorf, das 
mit feinen blühenden Gärten in dem Haren. Sonnenſchein ausjah, als 
hätte es ſich befonders für diefen Beſuch gejhmüdt. Und wie ſchmuck 
grüßte das ftattliche Gaſthaus mit feinen blinfenden Fenfterjcheiben und 
dem twohlgefehrten Pla davor! Der Wirt. in ‚feinem Sonntagsſtaat 
ſtand vor der Haustür, jeine Hohen Gäfte erwartend. „ Alles blickte 
Heiterkeit und Freude, und die Augen der Prinzefjin ſtrahlten vor Jubel 
und innerer Luſt. 


Schnell entſtiegen die Herrſchaften dem Wagen und eilten dem 


Hauſe zu. Doch ihre Schritte wurden durch eine kleine Mädchenſchar 
gehemmt, die der hohen Frau beſcheiden in den Weg trat. Der König 
ſchritt voraus. 

Mit beſtem Putze angethan, ſo klar gewaſchen und gekämmt wie 
gewiß ſelten, blickten die jungen Geſichter glücklich und halb verſchämt 
die hohen Gäſte an, bis endlich nach wiederholtem Räuſpern und gegen⸗ 
ſeitigem Anſtoßen die größte von ihnen hervortrat und, einen mächtigen 
Blumenſtrauß der Prinzeſſin entgegenhaltend, einen kurzen Knix machte 
und die haſtig eingelernten Worte ziemlich glatt deklamierte: 


„Es bringt, o hohe, güt'ge Frau, 
Hier dieſe frohe Kinderſchar 

Aus ihres Herzens tiefſtem Grund 
Dir ihre treuſten Wünſche dar. 


Wie dieſe Blumen zart erblühn, 

So blühe ſanft dein Leben Hin, 

Bis unſer Mund mit frohem Schall 
Ruft: „Heil dir, unſere Königin!“ 


Beſſer hatte es der Dorfpoet in der Eile, von geſtern bis heute, 
nicht ſchaffen können, und es wäre auch nicht nötig geweſen, denn die 
einfachen, gut gemeinten Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. 

Mit den heiterſten Mienen und ſehr beluſtigt durch dieſen ländlichen 
Aufzug, beugte ſich Prinzeſſin Luiſe' zu der Blumenſpenderin und be— 
lobte ſie, freundlich das Bouquet entgegennehmend, ihres ſchönen Spruches 
wegen. Sanft ließ ſie ihre freundlichen Augen über die muntere Schar 
gleiten, und in ihrer herzgewinnenden Weiſe fragte ſie: „Wie viele ſind 
eurer denn, Kinder?“ 

„Wir ſind unſerer zwölfe,“ tönte es ihr entgegen. 


„Zwölf, eine ſchöne Zahl.“ Doch mit ſchnellem Ueberblick fragte 


ſie weiter: „Wo iſt denn die zwölfte? ich zähle doch nur elf von euch.“ 


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Da machte fi) wieder ein Anjtoßen, Räufpern und verlegenes - 


Schürzenftreichen unter den Keinen Mädchen bemerkbar, denn auf jo 


viele Fragen waren die Kinder nicht ein- oder abgerichtet. Ratlos 
ichielten fie fich von der Seite an, und um ihrer. Rot entgegen zu 
kommen, fuhr die Prinzeſſin freundlich fort: 


Allerlei. 2883 


nr TIGE 





„Eurer zwölften ift doch nicht ein Unglück zugejtoßen, daß fie nicht 
mit euch fommen fonnte?“ 

„Ja!“ — „Nee! — ließ e3 fi) aus der Heinen Schar vernehmen. 
Endlich trat die Beherztefte auf dem Kreiſe hervor, der ſich allmählic) 
um die Prinzelfin gebildet Hatte, und plaßte mit allem Mut, den fie 
im Augenblid zujammenraffen fonnte, heraus: 

„Miene Droz jollte do Hus bliewen, wiel dat je jo häßlich wier.“ 

„Wie?“ fragte die Brinzefjin verwundert. „So häßlich? Doch nicht 
böſe und unartig?” 

„O nee,” fuhr die Kleine nun mit noch größerem Mute fort, „fe 
i3 de beit’ von uns, oc in de Schul, aber fied de letzt' Krankheit is 
je jo häßlich worden.” 

„O das arme Kind!” rief die Prinzeffin teilnehmend, und zu dem 
Wirte gewendet, der als Schulze des Ortes fich auf diefe feitliche Ver— 
anjtaltung nicht wenig zu gute that, fragte fie: „Wie ift denn daS ge- 
meint, Herr Wirt? Wie Hat dem armen Kinde eine jo jchmerzliche 
Beleidigung wiederfahren können?“ 

Sich entjchuldigend, erklärte der Schulze mit feiner tiefiten Ver— 
beugung: 

„Haltens zu Gnaden, Königliche Hoheit, das arme Kind hat jüngft 
erſt die Pocken überftanden, und obgleich jetzt gänzlich wieder hergeftellt, 
hat doch die Krankheit jo arge Spuren hinterlafjen, daß wir vermeinten, 
es fünnte Eurer Königlichen Hoheit zu erjchrecklich fein, fie anzufchauen, 
und ließen wir fie derowegen zu Haufe.“ 

„Wie traurig für das arme Kind!” rief die Prinzeſſin mitleid3voll. 
Schnell entichloffen wandte fie fich den Kleinen wieder zu: „Wer von 
euch ijt wohl die Schnellite und Holt mir Mine Droz her?“ 

Erfreut, des ungewohnten Zwanges ledig zu fein, ftob die Kleine 
Schar im Nu auseinander und Luiſe jchritt dem Haufe zu, mo ihr 
Gemahl, faſt Schon ungeduldig über den Heinen Aufenthalt, fie bei einem 
Imbiß erwartete. 
| Kaum war diejer beendet, als der Wirt daS zwölfte der Kleinen 
Mädchen ankündigte. 

„Laßt fie nur immer näher treten!“ rief Prinzeß Luiſe heiter, und 
zu der Kleinen gewendet, die jchüchtern, Thränen in den Augen, mit 
einigen Begleiterinnen jich an der Thür zeigte, fagte fie: „Komm her, 
mein Kind! Gieh, wie Gott gütig war, dich aus einer jo jchweren 
Krankheit zu erretten. Nicht wahr, du weißt, daß die Flecken und 
Narben des Gefichts dir nicht3 jchaden, wenn du nur deine Seele rein 
erhält. Thu’ das immer, mein Kind, und damit au) du dich mit 
Freuden dieje® Tages erinnert, nimm dieſes Tuch: mein Name jteht 
darin. Bewahre es wohl auf, und follteft du jemals meiner Hilfe be- 
dürfen, jo erinnere mid) durch dasſelbe an die heutige Stunde, und ich 
werde mich freuen, dir meinen Schuß gewähren zu können.“ 

Damit reichte die Prinzeflin dem jungen Mädchen das Taſchentuch 
bin, daß ſie in der Hand trug. 

Das Kind war ganz überwältigt von fo viel Sitte und Teilnahme 

181 * 


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und beugte fi, um die Hand der Zürftin zu küſſen. Diefe aber fttid 
ihr janft über die narbige Stirn. -„Sp,” ſagte fie, „nun geh’, freue 
dich des jchünen Tages, und behalte feit meine Worte im Gedächtnis!” 


* * 
* 


Jahre vergingen. Wolfen türmten ſich über dem Vaterlande auf, 
jchwere Unwetter drohten. Da fiel plöglich der fürchterliche Schlag, der 
alles Beftehende in jeinen innerften Tiefen erjchittterte: die gegen 
Napoleon verlorenen Schladhten von Rena und Auerftädt brachten den 
preußilchen Staat an den Rand des Abgrunds. Alles brach zuſammen. 
Niemand wußte im erjten Schreden, woran er ſich halten, was er nod) 
hoffen ſollte. Sorgen und Entjeßen lagen auf allen Gefichtern, der 

Feind rüdte der Hauptitadt näher und näher. 
- Wieder eilte ein flüchtige® Gefährt die „Frankfurter Linden“ ent- 
lang, dem Thore zu. Aber nicht an einem Frühlingstage. E wat ein 
düfterer Herbſttag. Blätter flatterten von den Bäumen, der Wind 
peitfchte fie durch die Straßen; aus dunflen Wolfen meinte der Himmel 
große Tropfen. 

. Drinnen im Wagen faßen zwei bleiche Frauen, die ältere tief in 
die Ede gedrüdt, fi) vor Froſt und Heftigem Unwohlſein jchüttelnd, 
dag fie kaum noch zu verbergen imftande war, die jüngere ftarren 
Auges durch die trüben Scheiben der geichlofjenen Kutjche biidend. 
Aber fie jah nicht die Menfchen, die in fcheuer Angſt die Straße 
binunterhufchten, um jo jchnell als möglich ihre gejchloffenen Häufer 
wieder zu erreichen; fie Jah das Thor nicht, das ihr jebt die weite Ferne 
öffnete. Sie jaß in diefem Traume verloren, fie dachte der VBergangen= _ 
heit. Ach, wie gern hätte fie auch in die Zukunft geblidt! 
Wie oft Hatte man ihr „Heil Dir, Zuije, Preußen? Königin!” zu= 

gerufen. War fie es denn noh? Alte Sagen rühmten den prophetijchen 
Geiſt deuticher Frauen; fonnte ihr nit ein Blid Hinter den Punklen 
Borhang der Zukunft geftattet fein? 

Schwer jeufzend legte fie die Hand auf das Herz, als ob fie fein 

Ihmerzlihes Pochen bejchwichtigen wollte, und mit einem Blid zum 
Himmel jagte fie vor ji) Hin: „Und die gerechte Sache wird und muß 
jiegen, aber wann?!" — — Die Königin war auf der Fludt. Nach 
Oſten ging diefe. Das Heer war gejchlagen, Preußen dem Webermute 
des Sieger preißgegeben, der umjomehr feine Macht fühlen ließ, als 
e3 allein von allen deutjchen Staaten feine Ehre und Würde ihm gegen 
über hatte wahren wollen. Sebt war alles vorbei! 
WVon Weimar aus, wohin die Königin ihrem Gemahl gefolgt war, 
um in jo ſchweren Stunden der Entjcheidung in feiner Nähe zu jein, 
war fie, ven unglüdlichen Ausgang der Schlachten ahnend, nad Berlin 
zurüdgeeilt, um hier noch daS Teuerjte, was ihr nod) geblieben, in 
Sicherheit zu bringen. 

In aller Haft waren die Kinder in den Wagen gepadt worden, 
der fie nad) Stettin bringen ſollte. Gie, als die lebte, welche das 
Schloß und die Nefidenz, nur von einer Kammerfrau begleitet, verließ, 
beeilte fi, ihnen nachzufommen und fi) mit ihnen auf einer der erften 


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Allerlei. 2885 


LE LE LE LE RL LEE En LER mE BIER RL m LER LEE En ERLITT LA ZT FIELEN 


Stationen Hinter Berlin wieder zu vereinigen. Doch, jo jehr die 
Königin ihre Fahrt zu bejchleunigen wünjchte, erlitt diejelbe einen un— 
erwünfchten Aufichub. 

Ihre Begleiterin erkrankte fo heftig, daß fie dieſe in dem erſten 
Städtchen hinter Berlin der Pflege eines Arztes überlafjen mußte. 

Der Arzt beichwor die Königin, die Reife aufzufchieben, wenigftens 
bis man eine andere Begleitung für fie gefunden hätte; doc). davon 
wollte Luiſe nicht? hören. „Nur fort, fort!“ rief fie und gab den Be- 
fehl zur Abfahrt. Schon Hatte fie den erjten, verabredeten Anjchlup 
an die vorausgeſchickten Wagen verfäumt, jeßt galt es mit friſchen 
Pferden die nächſte Station jo jchnell als möglich zu erreichen. Nur 
weiter, — weiter! 

Die Station war ein größere® Dorf. Der Poſtillon hielt vor 
dem Wirtshaufe. Der Wirt trat an den Kutichenichlag und erjuchte 
die Königin, unter feinem Dache fi einige Stunden der Ruhe zu 
önnen. 

Wie ſehr bedurfte die Königin dieſer! Faſt willenlos ließ ſie ſich 
aus dem Wagen heben. Doch wie fie der Schwelle des Hauſes zu— 
Schritt, blieb fie plöglich jtehen und jah dem Wirt voll ins Antlig. 

O, welche Erinnerung ſtieg in dem Herzen der ſchwer Heimgejuchten 
auf! War das nicht der Heitere Ort, wo fie einst durch den froben 
Gruß der Kinder fo überrafcht und erfreut worden war? Ja — er 
war es! Wo waren fie hin, all die fröhlichen Maitage! 

Große Tropfen entperiten den wunderbaren Augen der Fürftin, 
und ohne eine Wort zu Sprechen, folgte fie dem Wirt in die einjame 
Pug- und Prunkſtube des Haufes, wo fie ermattet auf dem harten Sofa 
niederjanf. 

Wie allein war fie! Ganz ihrem Schmerz hingegeben — niemand 
da, der fie tröften, niemand, der ihr, der Königin, die Kleinjte Hilfe 
leiſten fonnte! 

Da hörte fie ein leiſes Pochen an der Thür, und gleich darauf 
trat der Diener mit der Meldung ein, ein junges Mädchen fei auf dem 
Flur, das un die Gnade bäte, vorgelaffen zu werden. Zum Zeichen, 
daß fie Majejtät nicht ganz unbekannt jei, ſchicke fie dieſes Tuch. 

Der Diener überreichte ed. Luiſe erfannte es als das ihrige, und 
erinnerte fich jehr wohl, in welchem Angenblid und mit welchen Worten 
fie e3 einjt verjchentt hatte. 

Gütiger Gott, jebt nahte jemand, um bei ihr Hilfe zu erbitten? 
Gab es denn noch einen unglüdliheren Menjchen auf der Welt al 
fie? Doch auch jet, in ihrem tiefften Kummer verichloß ſie ihr Herz 
der Teilnahme nicht, und befahl, die Bittftellerin eintreten zu lafjen. 

Ein junges, hochaufgeſchoſſenes Mädchen in fauberjter, jehr ein- 
facher Kleidung zeigte fi auf der Schwelle Nach einer Aufforderung, 
näher zu treten, eilte fie vafch auf die Königin zu, die fich halb erhoben 
hatte, hielt ihr einen duftenden Blumenftrauß entgegen und, vor ihr 
niederfintend, bedecte fie ihre Hand mit Küffen und Thränen. 

Die Königin, faft überwältigt durch diejen Auftritt, erhob fie ſanft, 
‚und ihre Hand auf die veine, wenn auch mit Narben bedecdte Stirn 





2886 Allerlei, 


— 


des Mädchens legend, ſagte ſie, ihrer Bewegung Herr werdend: „Sieh', 

mein Kind, wie ſich die Zeiten ändern! Was könnte ich jetzt wohl 

thun, ſo du meiner bedürfteſt?“ 
„O, Majeſtät thun genug,“ erwiderte das junge Mädchen, „wenn 


Sie die Gnade Haben, dieſe geringen Blumen anzunehmen, die ich ſelber 


gepflegt, und von denen ich immer gehofft hatte, fie noch einmal Majeftät 
überreichen zu dürfen.” 

„Wie fonnte ich Hoffen, heute noch ſolch eine Freude zu haben,“ 
jagte die Königin gerührt... „Du gutes Kind, wie ſchön aber aud) 
deine Blumen find!” fuhr fie, den Strauß anblidend, fort. „Wie 
iſt — möglich geweſen, ſie in dieſer ſpäten Jahreszeit noch zu 
ziehen?“ 

„Seitdem ich ſo allein ſtehe in der Welt,“ erwiderte das Mädchen, 
beſcheiden ſtockend, „ſind meine Blumen meine einzige Freude, und 
en nod) jo einen Gedanken dabei hat, dann: glücdt e8 damit 
oppelt.“ 

„Du ſtehſt allein?“ fragte die Königin teilnehmend. 

„Ja,“ antwortete das junge Mädchen, „mein alter Vater, der 
Lehrer hier am Orte war, ſtarb vor einem Jahre, und da ich etwas 
Handarbeit verjtehe und mic) die Leute brauchen fünnen, fo haben fie 
mir ein Dachſtübchen in unſerm alten Schulhauſe bewilligt, in dem ich 
wohne und meinen Unterhalt von meiner Hände Arbeit gewinne.” . 

Ein plößglicher Gedanke fam der Königin — und zu ihrem jungen 
Gaſt gewendet jprad) fie: | 

„Sieh, jo wunderbar fügen fich die Gejchiefe der Menfchen! Sch 
gab dir das Tuch, damit du mich dereinft an eine verjprochene Gunjt 
erinnern könnteſt, und jebt wird es dad Mittel, daß ich did) um eine 
Gefälligfeit bitten kann. Meine Kammerfrau it erkranft, und ich bin 
ganz allein, ohne jede weibliche Unterſtützung, die mir jo jehr Bedürfnis 
it. Es ijt nicht ganz ficher, wo und wann wir den übrigen Neijezug 
treffen werden. Bei dieſem Wetter und den aufgeweichten Wegen ijt 
e3 jehr beichwerlich, weiter zu kommen. Möchteft du mich wohl be- 
gleiten, bis ich eine andere Gejellfchafterin finde? E3 find vielleicht 
nur einige Tage, die du abmwejend zu fein brauchft.” 

„DO, wie gerne,” rief da3 Mädchen und ergriff noch einmal die 
Hand der Königin, fie mit Küſſen bededend. „Welches Glück widerfährt 
mir heute!” 

„Run, wenn du mir folgen kannſt, dann eile dich,“ ermahnte 
Luiſe. „Mache dich ſchnell reijefertig, wir müſſen in fürzejter Zeit 
wieder aufbrechen.“ 

Es brauchte nicht auf Mine Droz gewartet zu werden. Gehr bald 
en jie vor der Thitr, im warmen Mantel eingehüllt, ihr Reiſebündelchen 
am rm. 

Welh ein Troſt auf ihrer bejchwerlichen Neife war die einfache 
Landkind mit ihrem harmlojen, bejcheidenen Geplauder der unglüdlichen, 
einfamen Königin! — — 

Schwere Jahre waren vergangen, umſonſt warteten die Einwohner 
des Dorfes der Rückkehr ihrer fleigigen Näherin, harrte da einjame. 


Allerlei. 2887 
— ———— LE LG AEARLENRLEALERALA ———— ———— —— — 


Stübchen ſeiner ſtillen Bewohnerin. Statt zurückzukehren, war ſie 
immer weiter enteilt nach dem fernen Oſten. Mine Droz hatte ihre 
Königin auf den Schmerzenswegen nach Königsberg, Memel und Tilſit 
begleitet, war immer in ihrer Nähe geblieben, hatte geſehen und kennen 
gelernt, wie alle Größe und Hoheit dieſer Welt eitel iſt, nur nicht die— 
jenige des menſchlichen Herzens. Nur ab und zu hatten die Bewohner 
ihres Heimatortes eine Nachricht von ihrer Mitbürgerin erhalten. 

Als endlich nach den großen Kämpfen, Demütigungen und An— 
ſtrengungen Preußen wieder ſo weit von der Macht ſeines harten 
Feindes befreit war, daß es aufs neue aufzuatmen vermochte und auch 
das Königspaar mit ſeiner Familie wieder in ihre Reſidenz Berlin ein— 
ziehen konnte, da eilte auch Mine Droz, in Berlin nur kurze Raſt 
haltend, zurück in ihren Geburtsort. Voll Freude, ſich ihrer Kindheit 
erinnernd, betrat ſie die Heimat. 

Ihren erſten Gang lenkte ſie nach dem Küſterhaus, um zu ſehen, 
was aus ihrem Stübchen geworden ſei. 

Freundlich wurde ſie von den ihr bekannten Lehrersleuten begrüßt. 
Sie baten ſie, nur näher zu treten, ſie würde den Schlüſſel zu ihrer 
Thür wohl ſchon oben finden? 

Gie eilte die Treppe hinauf — doch überrajcht blieb fie ftehen ! 
Um die Thürpfojten des Eingangs zu ihrem alten Hein ſchlang ſich 
ein voller Kranz. Sie trat in das Stübchen. Da ftanden ihre Blumen 
wohlerhalten, fajt zu Bäumen herangewachfen: Myrten und Rofen, all 
ihre Lieblinge. 

Und davor und dahinter, unter lautem Jubel, Lachen und Will- 
kommenrufen begrüßten fie ihre früheren Freundinnen un Schulgenojjinnen, 
jetzt Jungfrauen und junge Frauen des Orts. Gie alle hatten e3 jich 
nicht nehmen fafjen, in der Pflege der Blumen und ded Stübchens zu 
wetteifern. Alles ftand hier noch nad) langen Jahren jo da, als ob es 
die Eigentiimerin eben erjt verlaſſen Hätte, nur heute feftlich geſchmückt 
und verichönt durch YFreundeshände. — — 

Sie lebte Hier noch lange Jahre, unterftügt durch eine Heine Benfion 
der Königin, geachtet und geliebt von ihren Dorfgenojjen. 


Die Strafkolonie von Peuraledonien. Wie England 
e3 einjt mit Auſtralien gethan, jo hat Frankreich) in Neucaledonien den 
Verſuch gemacht, durch verbannte Verbrecher eine Kolonie zu gründen. 
Indeſſen ift der Verſuch im großen und ganzen als mißglüdt zu be= 
zeichnen. Die franzöfiichen Beamten leiden an einen fortwährenden 
Heimweh und jehnen den Augenblicf herbei, der ihnen geftattet, ſich 
zurüdzuziehen und mit ihrer Benfion irgendwo in dem geliebten Frank— 
reich ihr Leben zu bejchließen; inzwiſchen aber vertreiben fie fich die 
Zeit nit ganz unvergnüglich mit Mufifaufführungen, Cafes und auf 
andere Weile. Die Hausarbeiten werden durch Verbrecher oder frühere 
Verbrecher beforgt. Der Freinde, der die Kolonie befucht, kann ich erſt 
Ichwer an den Gedanken gewöhnen, ſpäter aber findet er nichts be— 
jondere3 daran, daß er von einem jehr liebengwiürdigen und zuvor— 





2888 Allerlei. 





fommenden Mörder rafiert wird und dab eine Dame ihm das Bett 
macht, die vielleicht ihren Kindern die Kehle abgejchnitten Hat. Es iſt 
in der That Mode in Neucaledonien, Mörder als Diener zu verwenden. _ 
Die Mörder find nad) Anficht der Beamten zuverläſſig. Sie find die 
Ariftofraten unter den Verbrechern und geben fich nie mit Kleinigkeiten 
ab. Sie würden beleidigt fein, wenn fie Diebe genannt würden. Gie 
 fommen auch nicht mehr auf den Gedanken, jemand zu tüten. Wozu 
auch? Sie wiſſen genau, daß fie nicht die geringjte Möglichkeit des 
Entlommens Haben. 

Thatſache ift, daß in allgemeinen mweniger Disziplinarvergehen 
von den jchweren Verbrechern begangen werden, als von denen, die 
wegen geringerer Vergehen nach Neucaledonien verbannt worden find. 
Mit diefen haben die VBerwaltungsbeamten die meilten Schwierigkeiten. 
Das find Leute, die eine bejondere Eigenart der franzöſiſchen Recht: 
ſprechung dahingebracdht hat. Leute, die in anderen europäiſchen Ländern 
Heinere Verbrechen begangen Haben, aber vielfach rückfällig geworden 
find und eine Beſſerung nicht erwarten lafjen, ſperrt man für mehrere 
Kahre ind Zuchthaus. Wenn aber in Frankreich jemand der hoffnungs— 
lojen Smmoralität, des Alfoholismus und anderer Dinge überführt und 
vielfach rückfällig it, jo wird ihm gejagt: Nach Verbüßung der lebten 
Strafe wirft du der „Relegation“ verfallen... Das heißt: Du halt dich 
al? ee und unwürdig bewiejen, in der Gejellichaft deiner Mit- 
bürger zu leben. Die Strafen Haben dir nicht geholfen. Du willft dich 
weder bejjern, noch gebefjert werden, deshalb ſtößt dich die Gejellichaft 
aus, du bijt verbannt! Du wirt Nahrung und Kleidung und Pflege - 
haben, wenn du frank bijt, du wirſt Arbeit für dich finden, für die du . 
bezahlt wirſt, aber wenn du nicht arbeiten willft, dann iſt das Ge— 
fängni3 für dich da. Nun gehe hin und fiehe, wie du zurecht kommſt.“ 
Im allgemeinen ilt die Behandlung der Sträflinge eine humane, fie 
werden gut ernährt und gut gekleidet. Das Ziel ift mehr auf ihre 
Befjerung, als auf ihre Peinigung gerichtet. ES giebt feine Härte und 
feine Grauſamkeit, bis auf eine Strafforn, daS „cachot noir“ (die 
ſchwarze Zelle). Einer meiner Freunde hatte Gelegenheit, eine ſolche 
Folterfammer im Innern zu jehen, und er jchildert fie wie folgt: „Aus 
einem Winkel kam eine menfchliche Gejtalt gefrochen, die fich die Augen 
- rieb und nur blinzelnd in da3 ungewohnte Licht ſchaute. Er war Schon 
drei Jahre in dieſer fürchterlichen Höhle, die3 Meter lang und 1'/, Meter 
breit war. Sch gab ihm ein Felt in Geitalt von Sonnenjcein und 
freier Quft, alS ich auf einige Minuten feine Stelle einnahm. Nad) 
den erjten zwei oder drei Minuten dehnten fich die jpäteren zu Stunden 
aus. Ich verlor volljtändig das Bemwußtjein des Sehens. Ich war jo 
blind, als jei ich) ohne Augen geboren worden. Die jhwarze Dunkelheit 
Ihien ji) auf mich herabzujenfen wie ein greifbarer Gegenitand und 
meine thränenden Augen in den Kopf zurüdzudrängen. Die Dunkelheit 
war thatſächlich fühlbar und ich fühlte fie, da Schweigen war ein 
folche3 wie in den nberiten Negionen des Luftmeeres. Als die doppelte 
Thür wieder geöffnet wurde, drang das Licht in meine Augen wie 
Dolce. Der Bewohner der Zelle hatte eine Lilte von Schändlichfeiten 





Allerlei. 2889 


— LEERE un u RER EEE DEE RUE 


auf dem Gewifjen, die nicht wiedergegeben werden fünnen, und dennoch 
mußte ich ihn bedauern, als er in diejen lebenden Tod von Dunfelheit 
und Schweigen zurückkehrte.“ 

Dieſe entjegliche Mafchine zum geijtigen Morde war das Ergebnis 
der fentimentalen Anmwandlungen einiger franzöfifcher Deputierten, die 
die Anwendung der Beitjche, als Disziplinarmittel im Gefängniffe, als 
brutal bezeichneten. 

Die jchweren Verbrecher künnen, wenn fie fich gut führen, aus dem 
Gefängnijje entlaffen werden mit dem Rechte, Yandeigentum zu erwerben, 
Handel zu treiben, zu heiraten uſw. Die Ackerftadt Burail befindet fich 
faft in den Händen von entlafjenen Sträflingen. Sie haben dort ein 
gemeinfames Magazin, wo fie ihren Bedarf einkaufen, da3 von Mördern, 
Dieben und Einbrechern geleitet wird, aber bei den monatlichen Kaſſen— 
reviſionen ſtimmt alles bis auf den halben Centime. Al ich in Burail 
weilte, hatte ich eine Unterhaltung mit dem Leiter des Magazins, einem 
„achtbaren und wohlgelittenen“ Einbrecher, der fich mit‘jeiner Frau jehr 
wohl befand, die im Berdacht ftand, ihr eigenes Kind in der Seine 
ertränft zu haben. Ueber die Tage der Kolonie im allgemeinen fann 
man fein Urteil dahin zuſammenfaſſen, daß die freie Kolonijation des 
Landes infolge der Schwäche des franzöfiihen Syſtems feinen Erfolg 
gehabt Hat. Wenn der Sranzofe, jei er Landwirt oder Handiverfer, 
feine Heimat verläßt und fich zu einer der überjeeilchen franzöfiichen Be— 
fißungen wendet, jo bat er dort einen Beamten vor fi), einen an jeder 
Seite und einen hinter fich, damit er nicht von der Linie abweiche, die 
ihm die Weisheit der Regierung vorgejchrieben hat. Selbitändig Handeln 
zu wollen, hieße das Geſetzbuch verlegen und irgend einem Beamten zu 
nahe treten. Das Beamtentum hat überhaupt die wirtjchaftliche Ent— 
wicelung unterbunden. Neucaledonien ift nicht® weiter als eine 
franzöfilche Straffolonie und ein wirtſchaftliches Anhängſel Australiens, 
von dem die Zukunft des Landes mehr abhängig ift, als von dem 
fernen Frankreich. EN. 


Zur Geſchichte der Viſttenkarte. Die Bifitenfarte ift nicht 
eine Erfindung der modernen Menjchheit, der Gedanke eines müßigen 
Kopfes, fie ftammt vielmehr aus dem Kulturlande China, aus der 
eigentlichen Heimat der Etifette, und iſt dort ſchon ein jehr alter Braud). 
Bor taufend Kahren und mehr haben die Chinefen fich ihrer bereit3 
bedient; ihnen ijt die Bilitenfarte eine gejellichaftliche Unentbehrlichkeit 
geworden, ohne die ſich nicht augfonmen liege. Es wäre geradezu 
unmöglich, den Grad der Vornehmheit eines Bejuches, den man empfängt, 
zu bejtinnmen, beſäße man dort nicht die Vifitenfarte. Während bei 
uns Titel und Würden außer dem Namen auf der Karte prangen und 
den mehr oder minder vornehmen Charakter des Bejuchers anzeigen, 
läßt fi in China der Rang nur an der Größe des Formats an der 
Karte erfennen. Je größer, dejto vornehiner. Der außerordentliche . 
Geſandte Englands, Lord Mocartney, joll einjt von dem Vizekönig von 
Petichili eine Vifitenfarte von fo viefenhafter Größe empfangen haben, 
daß ſechs Diener fie herbeilchleppen mußten. Das ganze Haus, in dem 


On Allerlei, 


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der englifche Würdenträger damals feine hohen Befuche erwartete, hätte 
man bequem darin einmwiceln fünnen. 

Einem Wechjel in der Größe find bei ung die Bilitenfarten unter- 
tworfen, je nachdem e3 die herrſchende Mode will, aber zu ſolch un⸗ 
geheuerlichen Dimenſionen, wie die chineſiſchen, wuchſen ſie nie im ent— 
fernteſten heran. Bei uns im Abendlande, in$bejondere in Deutichland, 
fennt man die VBilitenkarte kaum länger als anderthalb Jahrhunderte, 
und ſie diente urſprünglich lich zur Anmeldung fürſtlicher wie über— 
haupt vornehmer Beſuche. Aber ihre Ausſtattung war trotzdem eine 
überaus einfache — ein —* Goldrand, der ſich um den Namen 
ſchlang, das war alles. Später wurde man luxuriöſer. Man ſchmückte 
ſie mit allerhand Emblemen und Malereien. Die Viſitenkarten Caſa— 
novas beiſpielsweiſe ſollen — ſo wird berichtet — das Bild eines von 
einem Eſel getragenen Banners enthalten haben, auf welchem der Name 
verzeichnet ſtand. 

Mit der ſplendideren Ausſtattung der Karte ging dann ihre 
mannigfaltigere Verwendung Hand in Hand. Man fing an, ſie zur 
Ueberbringerin von — zu benutzen, verſah ſie mit aller 
hand Schnickſchnack, Liebesleute parfümierten fie und benußten- jie dann 
zu Liebesbotichaften, und nicht lange danach jchrieb man ſich ſogar 
einfache Grüße darauf, tie nod) heutzutage. Allerdings iſt jeßt der 
Gebrauch der Viſitenkarten ein jo ausgedehnter, ein ſolch verichiedener, 
daß man eigentlich ſchon von einem Mißbrauch veden könnte. Denn 
muß es nicht als Mißbrauch bezeichnet werden, wenn daS zierliche 
Kärtchen feinem eigentlichen Daſeinszweck dadurch entfremdet wird, daß 
man Konzeſſionen, Berträge, Küchenrezepte und allerhand andere 
profaifche und nüchterne Dinge darauf vermerft? Wer hat nicht jchon 
an fich jelbjt erfahren, wie peinlich es oft ift, wenn man jeine Bifiten- 
karten vergejjen. Denn nächſt dem Portemonnaie gehört das Feine 
Täſchchen, in dem jene Kärtchen aufbewahrt werden, wohl zu den un— 
entbehrlichiten Dingen des Geſellſchaftsmenſchen. Macht man eine neue 
Belanntihaft, jo tauscht man feine Karten aus; macht man einen Be— 
ſuch, jo jdidt man zur Anmeldung jeine Karte voran vder hinterläßt 
fie demjenigen, dem man einen Beſuch zugedacht, ohne ihn anzutreffen. 
Will man fi) vor feiner Abreife verabichieden, ohne Zeit zum perjün- 
lichen Abjchied zu finden, fo jendet man feine Bilitenfarte mit dem 
Bermerf: „p. p. c.*, feine Teilnahme an einem Todesfall drüdt man 
auf der Viſitenkarte durch die Buchjtuben: „p. c.“ aus, feine Glück— 
wünjche duch: „p. £.* Aber auch Hierin ijt die launiihe Mode Ge: 
bieterin. Mit der Zeit ändern ſich auch die Ausdrudsformen. Aber 
nit nur die Dienerin der Höflichkeit ift die Viſitenkarte; fie wird zu= 
weilen auch in den Dienſt der Unhöflichkeit, der Grobheit geftellt, und 
da hat fie gewöhnlich eine jehr erufte Bedeutung. In Beleidigungs- 
fällen fordern „Savaliere“ fie einander gegenjeitig ab, und fie leitet 
dann gewöhnlich eines jener Dramen ein, die wir „Duelle“ nennen und 
die nicht jelten einen tragiihen Ausgang nehmen. Die jchönite und 
heiterjte Beitimmung der Bilitenfarte bleibt aber immer diejenige: 
Weberbringerin von Glüdwünjchen zu jein. 





Allerlei. 2891 





Das Verſchwinden der koten Tiere. Wo bleiben die 
Tiere, die eines natürlichen Todes fterben? Auf dieje Frage hat wohl 
noch fein Naturforicher eine befriedigende Antwort geben können. Berjonen, 
die ihr ganzes Leben in der Nähe der wildreichen Gegenden des Indus, 
in Vorderindien zugebracht haben, verjichern, daß fie noch nie die Leiche 
eines Tieres gejehen hätten, das nicht durd) einen Menjchen oder ein 
anderes Tier getötet worden wäre. Der Elefantenjäger Sanderjon, der 
jahrelang Britiſch-Indien nad) allen Richtungen durchkreuzte, hat er— 
Härt, nur zweimal die Leihen von Elefanten, die eines natürlichen 
Todes gejtorben waren, gejehen zu haben. Auch Die Hindus behaupten, 
daß ſie noch nie die ftofflichen Ueberreſte eine3 Elefanten gejehen hätten, 
außer wenn eine Epidemie unter den Tieren herrſchte. Die Thatjache 
ift jo merkwürdig, daß die Scholaden im Bittigarudgung = Gebirge fejt 
überzeugt find, die Elefanten ftürben Feines natürlichen. Todes, während 
die Rurrabas von Kafantote glauben, daß die Elefanten, wenn fie ihr 
Ende herannahen fühlten, fih nad einem Ort zurüczögen, den die 
Menſchen nicht erreichen könnten. Befanntlich erreichen Elefanten ein 
hohes Alter — bis 150 Jahre; — doc mögen fie noch jo alt werden, 
einmal müfjen fie jterben, und doch wurde noch nirgends eine Leiche 
gefunden. 

Dieſe wunderbare Thatjache ift aud) bei anderen Tieren zu fon- 
Itatieren. Seder, der auf dem Lande wohnt, wird bemerkt haben, daß 
er jelten tote Feldmäuſe, Eichhörnchen, Dachle, Igel, Wieſel und der- 
gleichen angetroffen, welche eines natürlichen Todes geftorben find. Ein 
Kaninchen ftirbt vielleicht in feiner Höhle; wo aber bleiben die toten 
Vögel? Taujend und abertaufend Sperlinge iterben jährlich, doch wann 
fände man — außer etiwa nad) einem Sturm oder bei Froſt — ihre 
Keihen? Auch in den Gegenden, die von vielen wilden Tieren belebt 
find, macht man diefe Erfahrung. Tote Tiger, Biſons, Löwen uſw. 
werden jelten gefunden, wenn ihnen nicht der Jäger den Garaus ge= 
macht oder eine Epidemie unter ihnen aufgeräumt hat. Kein Jäger, 
der: jeiner Jagdluft in den Tropen die Zügel ſchießen ließ, der die 
Didihte nach allen Richtungen durchſtreifte, hat je ein Tiergerippe ent- 
det, und doc müßten während der Jahrhunderte, wo die Didichte 
nicht betreten worden find, die Gebeine frepierter Tiger, Elefanten uſw. 
den Boden bededen. 

Dazjelbe ift in Afrika der Fall, wo, als die erſten Koloniften fich 
am Kap niederließen, es von Antilopen, Yöwen, Giraffen, Zebra und 
Elefanten wimmelte, wo man jedoch) von all diefen Beitien faum einen 
Kadaver fand. 

Auch der Jäger fragt fih: Wo bleiben die gejtorbenen Tiere? 
Kriechen fie fort, um ſich vor den Augen der Menſchen zu verbergen? 
Verſtecken ſie ſich an einem Platze, den noch kein menſchlicher Fuß 
betreten? Warum aber hat man dann noch nicht einen ſolchen Platz 
entdeckt? 

Den Eingeborenen Auſtraliens iſt es gleichfalls ein Rätſel, wo die 
Millionen toter Känguruhs und Beuteltiere bleiben, die dem Pfeil-, 
Gewehrſchuß oder den Hunden entkommen. Gleicherweiſe können ſich 





2892 Allerlei. 





die Bewohner von Ceylon dad Wunder nicht erklären, weshalb es zu 
den größten GSeltenheiten gehört, ein Tiergerippe zu finden. Die 
Singhaleien find überzeugt, daß alle Tiere, wenn fie den Tod nahen 
fühlen, fich nach einem von ‚den Bergen des Adanıd-Peaf umgebenen 
Thal zurüdziehen und dort am 1lfer eines kryſtallklaren Sees den lebten 
Atem ausblafen. Niemand aber hat den See und feine Ufer bis jet 
finden können. 


Bufes Bedärfnig. „Am 22. Dezember 1869 lag ich, während 
es rings um mic, völlig dunfel war, im Bett und konnte nicht ein— 
ihlafen. Um mid) zu zeritreuen, machte ic) mir das Vergnügen (!), 
die Quadratwurzel von 3000... ... (folgen 36 Nullen) auszuziehen. Ich 
fand als Nefultat 177205... . (folgen 15 Zahlen)... Dann konnte ich 
endlich einschlafen. Am nächſten Morgen fiel mir die Wurzel plößlich 
wieder ein, ich Habe fie aufgejchrieben und dann nachgerechnet, ob fie 
rihtig war, Sie jtimmte genau.“ So drüdte fid) in einem Briefe an 
einen Freund der engliihe Mathematifer Wallis aus. 

Phänomenale Gedächtnifje find oft erblid. Da ift z.B. die Familie 
Bidder. Georg Bidder, der im Jahre 1806 als Sohn eines GStein- 
Ichneiderd geboren wurde und im Jahre 1878 als Direktor einer Eifen- 
bahngejellihaft und fehr reiher Mann ftarb, verarbeitete wenige 
Stunden vor feinem Tode im Kopfe geradezu grauenerregende Multi- 
plifationen: fünfzehn Ziffern im Multipliflant und eben jo viel im 
Multiplifator. ALS er zehn Jahre alt war, brauchte er weniger als 
zwei Minuten, um die Zinſen zu finden, die 4444 Guineen, welche zu 
41/, Prozent pro Sahr angelegt werden, in 4444 Tagen bringen. Einer 
jeiner Brüder war ein fajt ebenjo hervorragender Mathematiker; ein 
anderer war ein PBaftor, der da3 Alte und das Neue Teitanıent voll- 
tändig auswendig wußte und in feinen Citaten aus der Bibel fich nie- 
mals Hinfichtlich der Zahlen von Buch und Ver täufhte Sein Sohn 
und feine Enkelfinder (auch die weiblichen) find „Bligrechner”. Profeſſor 
Aſa Gray ſoll die ganze botaniſche Nomenklatur auswendig wifjen, und 
Profeſſor Theodor Gill ift auf dem Gebiete der Nomenklatur der Fiſche 
ebenjo groß. 

Alles dies iſt aber eigentlich nicht jo phänomenal, wie man glauben 
fünnte. Viele Brahmanen mifjen die 10000 Verje des Rig-Veda aus— 
wendig. Ebenſo beherrichen zahlreiche Muſelmanen den ganzen Koran 
und zahlveiche Chinefen jämtliche Bücher von Confuctus und Mencius. 
Die polynefishen Häuptlinge jagen fortwährend ihre — her, 
die gewöhnlich ſo lang iſt, daß man fünf bis ſechs ganze Tage braucht. 
um ſie vollſtändig „herunterzuleiern.“ 


Der Tuftballon als Tiefſeeforſcher. Als vor kurzem der 
Verſuch gemacht wurde, das Mittelländiſche Meer im Luftballon zu 
überqueren, konnten die Luftſchiffer zu ihrer Ueberraſchung vom Luft— 
ballon aus in ſolche Tiefen des Meeres hinabblicken, in welche der in 
einem Schiffe fahrende Menſch nicht ſehen kann. Dieſe Beobachtung 
iſt aber durchaus nicht neu, und gerade in Frankreich ſchon früher 
praktiſch verwertet worden. Dort gelang es nämlich, von der Gondel 


Allerlei. 2893 





eines nur in mäßiger Höhe ſchwebenden Luftballons aus in einer 
Wafjertiefe von 10 biß 22 Meter Torpedo aufzufinden, welche bei einer 
Gefechtsübung verloren gegangen waren. Hiernad) machte man aud) 
in Rußland den Verſuch, in der Oſtſee ein verloren gegangenes Schiff 
durch Beobachtung des Meeresgrundes vom Luftballon aus zu finden. 
Diefer rufftiche Verſuch mißlang, und man erflärte den Miherfolg damit, 
daß man jagte, das betreffende Gewäſſer fei zu trübe gemwejen, um dem 
Luftſchiffer einer Durchblid zu gejtatten. Wielleiht ift aber der Miß— 
erfolg dem Umjtand zuzufchreiben, daß der Ballon, von dem aus die 
Meeresunterſuchung erfolgte, zu hoch in der Luft fchwebte; im Gegenjak 
zu den mäßigen Höhen bei den franzöfilchen Verſuchen befand ſich der 
ruſſiſche Ballon 400 Meter Hoch. Eine weitere Verfolgung der Sache 
erſcheint ſchon deswegen als angezeigt, weil die Meeresgrundbeobadhtung 
vom Luftballoen aus nicht bloß zur Auffindung im Meer verjunfener 
Gegenftände nutzbar gemacht werden kann, wiewohl auch dies unter Um— 
ftänden wichtig genug ift. Aber da man in der jüngften Zeit darauf 
ausgeht, einen Zeil der Seekriege durch unterjeeilche, aljo von den 
Kriegsſchiffen aus unfihtbare Boote zu führen, liegt vielleicht in der 
Benutzung des Ballon eine Waffe gegen dieje unterjeeilchen Boote 
injofern, als die Ballonbeobachtung ſolche Unterjeeboote offenbart. 
Dana) würde aljo der Seefrieg der Zukunft auf dem Wafler und 
über den Waſſer geführt werden. 

Das Porträt des Könige. In der Zeit, als die Schweiter 
Friedrichs des Großen, die Herzogin von Braunjchweig, bei ihren 
füniglihen Bruder in Berlin zum Beſuch meilte, jchenfte Friedrich II. 
eined® Tages dem Grafen Schwerin eine Schnupftabafsdofe, auf 
deren Dedel ein Ejel gemalt war. Der Graf hatte den König kaum 
verlafjen, al3 er feinen Diener mit der Doſe zu einem Künjtler jchickte 
und denfelben erfuchen ließ, den Ejel zu entfernen und ftatt dejjen — 
da3 Porträt des Königs auf die Doje zu malen. Wad) einigen 
Tagen ließ der Graf jeine Doſe abjichtlich, wie aus Verjehen, auf der 
Tafel liegen, und der König, der die Herzogin veranlafien wollte, auf 
Koſten des Grafen zu lachen, erzählte, daß er ihm eine Doſe gejchenft 
habe. Die Herzogin wünſchte fie zu ſehen. Man übergab jte ihr, und 
jobald ſie einen Blick darauf geworfen hatte, wendete fie ſich an den 
König mit den Worten: „Welche Aehnlichkeit! Wahrhaftig, Herr Bruder, 
e3 ilt daS eines der beiten Borträts von dir, daß ich bis jest 
gejehen babe. Wie aus dem Spiegel gejtohlen!“ Der König geriet 
begreiflicherweije in Werlegenheit und meinte, man treibe den Scherz 
etwas zu weit. Die Herzogin gab die Dofe ihrem Nachbar, fie wanderte 
jo an der Tafel rund herum, und alle Anmejenden jtimmten in dev 
Behauptung überein, daß fie nie ein ähnlichere3 Bild ihres Königs ge= 
jehen hätten! Diejer wußte nicht, was er denken jollte, bis die Dofe 
endlich auch an ihn gelangte und er gewahr wurde, welchen Streich ihm 
Schmerin gejpielt hatte. &ı lachte nun jelber von Herzen mit. 

Mus der gufen alten Beil. In dem Archiv der Familie 
von Hardenberg befindet fid) eine „Hausordnung“, welche der Statthalter 
Chriſtoph von Hardenberg am 10. März 1686 erließ. Diejelbe ijt in 








2894 Allerlei. 





der Hauptjache für die Dienerjchaft beſtimmt und enthält u. a. folgende 
Kraftitellen: „Wer nicht? aus der Predigt behält, foll wie ein Hund, 
auf der Erde liegend, jein Mittagsbrot frefien.” — „Wer in Briefe 
gudt, wenn fie auch offen da liegen, joll drei Tage hintereinander die 
Baltonnade erhalten und al3 infam fortgejagt werden.” — „Wer die 
Zeit verjchläft, dem ſollen zwei feiner Kameraden je jech$ Hiebe geben.” 
— „Die Speijen find in guter Ordnung, ohne etwas zu verjchütten, 
aufzutragen, die Schüfjeln mit Reverenz wieder abzunedmen. Wer aber 
naſcht und Naje, Maul und Finger in allen Schüffeln hat, ſoll ge- 
zwungen werden, zur Bertreibung jeines Appetit3 Heike und brennende 
Speijen zu frefien. Jeder ift jchuldig, auf erhaltenen Befehl mit einer 
Neverenz hervorzutreten und deutlich und laut das Tijchgebet zu ſprechen. 
Wer ſtockt, empfängt jech3 jpanifche Najenftüber.” — „So einer mit 
ungewajchenen Händen aufmwartet, joll er fich geberden, als wenn er 
E waſche, während einer ihm Wafjer auf die Hände gießt, dann aber 
oll ein anderer fie ihm mit zwei jcharfen Ruten jo lange abtrodnen, 
bi3 fie bluten. Desgleichen, wer ungefämmt aufivartet, jolcher fol im 
Stall mit dem Pferdelampel tüchtig gefampelt werden.“ — „Wer jid) 
mit ind Geſpräch milcht, grinſt oder laut lacht, fol vier Knippchen auf 
die Finger empfangen.” — „Wer ein Glas übervoll einjchenft und es 
dann mit feinem eigenen Maule abtrinkt, erhält zwanzig Hiebe nad) der 
Peitfchenordnung. Wer unreine Gläſer präfentiert, kann wählen zwijchen 
vier Obrfeigen oder ſechs Nafenjtübern.” — „Dieweil e8 auch ein 
Ihändliche8 und unleidentliches Werk, wenn die Bedienten langjam efjen, 
jo ſoll denen, die länger als eine Viertelſtunde damit zubringen, da3 
Ejjen vor dem Maul weggenommen werden. Wer die vorgejeßten Speifen 
nicht eſſen mill, faftet die folgenden 24 Stunden ganz und gar.” — 
„Sofern der Statthalter einem Bedienten etwas befiehlt und diefer läßt 
ſich's beigehen, es wieder einem anderen zu befehlen, jo joll er von dem, 
welchent er befohlen, vier Obrfeigen empfangen.” — „Haben fich zwei 
geprügelt, jo follen fie ihre Sache noch einmal, mit Steden fechtend, 
in Gegenwart des Hofmeiſters ausmachen, und wer den andern jchont, 
ſoll Prügel erhalten.“ — „Wer ohne Erlaubnis ausgeht oder gegen den 
Herrn murrt, hat nad) Umständen Peitſche, Kette oder Pfahl zu er- 
warten.” — — Das ift, wie gejagt, nur einiges aus der ziemlich 
umfangreichen Gejegtafel. Wie ſich die Zeiten doch geändert haben! 
Heute find wir faſt Schon an das entgegengelehte Ertren gelangt, und 
un e3 jo weiter geht, werden bald die Dienjtboten „Haußordnungen” 
geben ... u 








Auszähl-Rätfel. 
D«R+«V,L,sAA«T«N«sE «+ 


Die vorftehende Reihe von Buchjtaben und Sternen ift aus— 
zuzählen mit einer bejtimmten Zahl, die immer auf einen Buch 
jtaben treffen muß. Die Sterne zählen mit, und mit dem aus: 
gezählten Buchjtaben wird ftets wieder angefangen. Pie Löjung 
ergiebt ein Wort von hohem Klang. 


Maaifches Buchitaben-Quadrat. 









N In 'ofolr 
airjs|s|rt 
T|u uju|v 


Die Buchftaben in den Keldern des Quadrats find fo zu 
ordnen, daß die wagerechten Reihen gleich den ent|prechenden ſenk⸗ 
rechten lauten. Die fünf Reihen (aber in anderer Solge) bezeichnen: 

1. Eine der neun Muſen. 
. Zine Kreisftadt im Negierungsbezirt Frankfurt. 
. Zine Söttin der Römer. 
. Eine Stadt in Afrika. 
i Einen belannten Aſtronomen. 





2 
3 
4 
5 


Tanjch-Rätiel. 
Hedwig, Palme, Negen, Moſel, Heller, Orden, Aufter, Srankfurt, 
Zifel, Segel, Bafe, Amfel, Wagen, Edfu, König. 
Don jedem der obenitehenden Wörter ift die Anfangsfilbe zu 
entfernen und an deren Stelle je eine der folgenden zu jeßen: 
au, brüs, cor, de, er, en, fen, gut, bo, il, Iud, ro, u, ul, wie. 


Nach richtiger Einftellung der Silben ergeben die Anfangs— 
buchjtaben der neuen Wörter den Namen eines Philofophen. 





2896 Rätfel- Ede. 





Scherzrezept. 


Nimm eine Rüde und Foche jie ganz, 

Dazu von einer Maus den Schwanz, 

Dom AUhu das Mittel, 

Dom Rabenei ein Drittel; 

Hierauf fiebe es fein, 

Chu’ ein Diertel Mehl darein, 

Zin Sünftel Eſſig dann 

Und ein Sechftel.vom Nettig dran! 

Schau hin, die Mifchung tit klar und rein — 
Probiere, kaum giebt es bejjeren Wein. 





Diamanträtiel. 


AR CK 


X 
N 
nPBumß® 


ne 
Die Punkte der obigen Figur jollen durch Buchſtaben erjegt 
werden, fodaß ſich Worte mit folgender Bedeutung ergeben: 


1. Teil des Huges. | 3. Mädchenname. 
2. Schmaler Weg. 4. Kanton der Schweiz. 


Die zu verwendenden Buchftaben find: 
a, a, c, d, e, g, i, l, l, x, s, u. 


Auflösungen aus Band XI. 

Nätjel: Freier. 

Umftellungsrätjel: Zola, Omar, Lama, Arad. 

Silbenrätfel: Sröbel, Arno, Ulrich, Seume, Turban, Urfprung, 
Niger, Dödi, Sulden, Rudau, Emden, Taufend, Chile, Hobel, 
Eris, Norma. 

Buchftabenrätjel: Lena, Lina, Zuna. 

Rätſel: Dielleicht. 

Metamorphojenrätfel: Ernjt ift das Leben, heiter ijt die 
Kunft. 


Buchitaben-Süllrätjel: Auftern, Baunad), Braunau, Strauß, 
Reblaus, Ilmenau. 


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